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rbuch
für
vischen:
Berücksichtigung
exualität.
gegeben
lamhafter
^n des
initären Korr
Hirschfei
lottenburg.
Band.
pohr.
Richard Freiherr von Krafft-Ebinj
geb. 14. August 1840 in Mannheim, gest. 22. Dezember N
ftru
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% ^Y ^f Jf/~s\
/fin /Uli M^y^K V /i
Ursachen und Wese
des
Uranismus.
Von
Dr. Magnus Hirschfeld.
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Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft. Äph. '
Alle Arten Passionen müssen einzeln
werden, einzeln durch Zeiten und Voll
kleine Einzelne verfolgt werden; ihre g
soll ans Licht hinaus!
Thomas Carlyle:
Jedes Gute, das irgend möglich, wird
sein; so tief und traurig wir es empfinde]
in finsterer Nacht stehen, so fest und i
ist unser Vertrauen, daß der Morgen n
wird. Schon sehen wir, vorausblicken«
Streifen der Dämmerung. Wenn die !
wird der Tag anbrechen.
Inhalts-Ver;
Ursachen und Wesen des Uranisn
Hirschfeld-Charlottenburg (2
Titel: „Der urnische Mensch"
I. Das urnische Kind
II. Das Harmonische der
III. Die Unausrottbarkeit
IV. Die Naturnotwendigke
V. Heredität und Homos*
Anhang. Lebensgeschichte d
Einige psychologisch dunkle Fälle \
irrungen in der Irrenanstalt. ^
N ä c k e - Hubertusburg
Chirurgische Überraschungen auf c
zwittertums. Von Dr. med. Fr
Warschau .
Brief Wolfgang von Goethes über (
in Rom
Felicitas von Vestvali. Von Rosa
Quellenmaterial zur Beurteilung an]
Uranier. Von Professor Dr. F.
4. Heinrich Hößli (1784—1
5. Franz Desgouttes (178*
6. Herzog August der Glt
7. Mademoiselle Maupin (
<*> /LA
Ursa«
Dr.
Nietzech i
Alle
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kleine
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Thomas Cc
Jedes
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wird.
Streifei
wird di
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*^-*99 .
Fröhliche Wissenschaft. Äph. 7:
Lrten Passionen müssen einzeln durchgedacht
, einzeln durch Zeiten und Völker, große und
Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft
Licht hinaus!
lyle:
ate, das irgend möglich, wird einst wirklich
tief und traurig wir es empfinden, daß wir noch
er Nacht stehen, so fest und unerschütterlich
Vertrauen, daß der Morgen nicht ausbleiben
hon sehen wir, vorausblickend, im Aufgang
ier Dämmerung. Wenn die Zeit erfüllt ist,
Tag anbrechen.
• „Beol
Worten b
herr von
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in Fleiscl
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Bloch, ein um
Forscher,1) bei
sehr großen S
Effertz,2) daß
dessen Buch«
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Beobachtung,
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Homosexue
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Krankheit«
*) Dr.
pathia sexua
*) O. I
4 —
i\>er die Ursachen der Tuberkulose
neu Schwindsüchtigen untersucht zu
sen des Weibes spräche, ohne eins
.ch wandte sich, ein Gelehrter, der
Homosexualität veröffentlicht hatte,
ich, ihm doch Homosexuelle vorzu-
nicht Gelegenheit gehabt habe, solche
l lernen. Ein anderer Autor, Dr, Iwan
reschichte der Medizin sehr verdienter
, wo er von der nach seiner Meinung
leit der Homosexualität spricht, von
3r, — wir zitieren wörtlich — „aus
ie große Erfahrung spricht, noch
n Homosexuellen gesehen haben will."
o, so führt auf dem Gebiete des Ura-
nien zum Erkennen, nur die objektive
rsuchung und Vergleichung zum rieh*
takten Methode nicht ganz mit Uureeht
sie zu ausschließlich mit den Sinnes-
inge, die diesen nicht direkt zugänglich
in der Erforschung des Menschen über
das Seelenleben vernachlässigt habe.
zu betonen, daß auch der Einblick in
des Menschen unr durch zahlreiche
Achtungen gewonnen werden kann [ Nur
age — sagen wir, mindestens hundert —
gehend und sorgsam persönlich erforscht
»Aie aller Altersstufen und Gesellschafts-
leren Eindruck nicht durch akzidentelle
Konflikte verwischt ist, wird mit voller
an Bloch: Beiträge zur Ätiologie der Peycho-
jil. Dresden, Vertag von Dotim, 3909, Seite 218,
IberNeurastheniaseiiialis, New-Yorkl894. 8,192.
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- 6 -
en Hümoseiuellen reden, immer nur
HamJioQgeo, an die „Mechanik
eieo, daß es eine reine Liebe gibt,
?d; daß Homosexuelle vorkommen —
üge derart, die sich auch als homo-
die keusch lebeo. Das hängt nicht
iera mit der Stärke des Triebes und
i. Wie es frigide Frauen, asexuelle
leidenschaftslose Urninge, die sich
en beherrschen können. Die Art
itätigung Erwachsener sollte dritten
tchgültig sein. Etwas anderes ist
les Uranismus überhaupt Diese
der im Menschen nach Goethe
sieht, ganz unerläßlich zu sein.
licht erbracht, welche Bolle der
:eluDgsgeschichte der Menschheit
l erbracht werden. Dieser Zweck
s viel höher, als die Abschaffung
ild v) ihnen als einzige Tendenz
hat doch nur dann einen Zweck,
n Ländern haben es zur Evidenz
entliehe Meinung das Wesen der
tat erfaßt hat, die — wir be-
md wiederholt — gewiß nicht
iche und weibliche Komplex,
tiger.
ann man auch die Ursachen
ndung nur auf dem Boden
rials stehend aus direkt Ge-
man beispielsweise ein Urteil
Trieb eine Degenerations-
der Straf Würdigkeit des homo-
* Arohiv f. Strafrecht. 1902. S. 38.
erscheinung ist
Dutzend damit
geistige Degen
bedauerlich, da
wie Iwan Blocl
forschung nich
viele sachliche
Stelle nur ein
die große Seit«
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zu suchen ist,
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so wären ihm
typen, wie die
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auch nicht jen
die Urninge de
namen anzurec
unter ca. 150«
letzten 7 Jahr
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zember 1900
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mit Sicherheit ]
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in dem Sinne s
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Wachenfeld r) di
besonders stark v<
ohne statistische .
sehen Ländern, i
namentlich in Ita
verbreitet ist, wi
Wir haben, um
den verschiedene
gleichsweise zu
haltene Anfrage
urnisch bekannter
unter den Urning
Lande zu Lande
Worten sprechen i
Sexualität überall i
sämtliche ander
und angelsächsisch«
sexuelle vorfanden,
in Italien und De
rein germanische I
auf, als die lateini
richtet: .Ich hab
geschlechtliche Li*
der Türkei wenij
Schweden und Da
„In Italien, einem
Aufenthalt kennen
keit viel weniger 1
anderer Schriftstell
im Norden mehr ^
England sehr häuf
») Blochs Beitrag
a) Wachenfeld in
2 zu den Jaden soll nach Bloch ') und
? Homosexualität unter den Romanen
r breitet sein. Letzterer schreibt : „Aach
(eiege ist es sicher, daß in den romani-
ie keinen Urningsparagraphen kennen,
en, die Homosexualität in einer Weise
man sie in Deutschland nicht ahnt".
e Verbreitung des Uranismus unter
Völkern, Bässen und Ständen ver-
nitteln, eine völlig unparteiisch ge-
einer beträchtlichen Anzahl uns als
jlobetrotters" veranstaltet Es gibt
viele, die ihr ganzes Leben von
en. Unter 40 einwandsfreien Ant-
18 dahin aus, daß sie die Homo-
gener Ausdehnung gefunden hätten,
tonen, daß sie bei den germanischen
tflkern verhältnismäßig mehr Homo-
bei den Romanen. Ein abwechselnd
!and lebender Arzt schreibt: »Die
weist mehr wirklich Homosexuelle
Ein vielgereister Kaufmann be-
Erfahrung gemacht, daß gleich-
Frankreich, Spanien, Italien und
rkommt, als in Deutschland,
.* Ein Schriftsteller bemerkt:
>, das ich durch fünfjährigen
ah ich die Gleichgeschlechtlich-
•teil, als in Deutschland. * Ein
rtet: «Homosexualität kommt
m Süden ; besonders ist sie in
"alien geben sich zwar junge
9 IT.
rs Archiv S. 57 ff.
Leute für Geld
eigentliche Urn
Aristokratie end
in etwas ironis
für einen Staat
bedeutet, so w<
Deutschland Pw
Sieben Experter
Straffreiheit der
sei, wie in Berli
der Homosexual
die auch wir i
eingänge bestäti
„ Ungewöhnlich
den Kurländern
kennt in Riga
Dolmetscher end
hat, teilt mit: „
Volke Oberbay«
gesundes ist." ^
welchen Trugscl
fluß des warme
können oder auc
ohne Nachprüfu
Immerhin
dankbar sein, <
unzureichenden
zu kommen.
Wissenschaft n
salitätsgesetze.
*) Bloch stufe
dessen Werk 1768
seine Studien verö*
ganz zu schweigen
kenntnis der Ursachen i
sondern auch einen ei
kritischer, forensischer i
Kritisch insofern, als die g<
den Homosexuellen ganz a
sie seinen Zustand als ei
gegebenen ansehen, als w
Onanie (Bloch 8. 135 ff.)
entstanden. Gelingt es un
beweisen, daß niemand hoi
nicht ist, daß äußere Umstiir
normal noch einen Normalse
daß die Urninge ihrer ih
nicht widernatürlich handel
vielfach geschehen, Haß ui
Achtung verwandeln.
Auch für den Strafri«
Unterschied sein — wir stii
bei — ob die Neigung d<
in die Wiege gelegtes Mif
Lebenswandels * zu gelten
zwar: ,Für uns Krimina
boren oder erworben, gle
Strafbarkeit hiervon nicht
Moll3) vertritt in einer ge
denselben Standpunkt, irn
auch mit demselben Rech
angeborenem Blödsinn mü
erworbenem Blödsinn hl
l) Goltdammera Archiv, \
*) Im Archiv für Krituiua
Heft S. 195. Bei Besprechung
•) Albert Moll: Sez^;.
10. Jahrgang 1902. Xr. SO. '>
- 10
achen nicht nur einen theoretischen,
aen eminent praktischen Wert in
eher und therapeutischer Hinsicht.
5 die gelehrten und ungelehrten Stände
ganz anders beurteilen werden, wenn
als einen ihm von Geburt an mit-
ah wenn sie glauben, er sei durch
5 ff.) oder Vielweiberei (Bl. S. 170.)
es uns, dem Volke unzweifelhaft zu
d homosexuell werden kann, der es
nstände weder einen Homosexuellen
aalsexuellen konträr machen können,
• ihnen eingeborenen Natur nach
adeln, so wird sich, wie es bereits
> und Hohn in Milde, Mitleid und
richter wird es ein wesentlicher
timmen hier Wachenfeld l) völlig
ies Homosexuellen „als ein ihm
ßgeschick oder als Folge seines
i hat. Hans Groß2) behauptet
listen ist die Frage, ob ange-
ichgütig, weil die Frage der
abhängig sein kann", und auch
aer letzten Veröffentlichungen
*m er meint, daß man dann
behaupten könne, Leute mit
en straffrei, Leute, die an
bei gleichen kriminellen
fahrgang. 1, «n* 2. Heft. S. 40.
bropologie, 10. Band. 1. und 2.
Blochs Beiträgen zur Ätiologie.
rlschenstufen, in der Zukunft,
Handlungen str:
halten, daß wob
Gedanken gekom
unter Strafe zu s
Motive gemeint
ihnen natürlichen
brief I. 24 fl'.).
des Paragraphen
Bestandes : mauj
heit hat aber vo
wie Böswilligkeil
Für den Sti
Urnings gleich ra
angeborenes, un
schädliche aebun
folgerichtig sein,
zum Tode zu vei
geschlossenen A:
der Staat allerdi
Quantität der
aber nur als Gr
wohuheitsmäßige
der „modernen
wird man auch d*
nicht außer Aeli
Ähnliche G
handlung der H
hat dies schon
„Für die Beurt
namentlich in B<
Ätiologie von
l) Dr. A, Ft
thenipie bei krank
Stuttgart, 1892. S.
y
anderer Stelle: „Je mer
in denen bleibende theraj
sind, um so geringer ers
Anteil, den die erblich
dieser Anomalie beansp
Aussichten, einen Trieb
lieren, wesentlich größei
Anlässe, wie fehlerhafte
S. 167 ff.), hervorgerufen
— wenn wir von der .
vidualität reden — klarzul
Heilbarkeit noch keinesw<
Standes beweist.
Solange das Problen
schaftlich erörtert wird,
Grundursachen vor oder
der einen Seite befinden i
ein sehr großes Beobachtur
Krafft-Ebing, Moll und ic
eingeborene Anlage das H;
sionellen Momenten demge
Wert bei. Wie Gelegenhei
malen Trieb auslösen, erwec
oft den schlummernden, ab<
homosexuellen Trieb. Diese .
Natur, das Primäre bleibt
des Individuums, seines (
Körpers. Ein hervorragende
ein Muster gewissenhaften
folgenden Worten bei: „Ich
ich niemals einen Fall von H
habe, dem ich nicht das Prä
legen müssen. In allen von
sobald die Betreffenden siel
ihren äußerlich zur Schau ge
12
sich die Zahl der Fälle häuft,
utische Resultate erzielt worden
leint nach unserer Meinung der
Disposition in der Entstehung
chen kann/ Gewiß sind die
urch äußere Einflüsse zu ver-
wenn derselbe durch äußere
Erziehung (Schrenck-Notzing
?t. Wir werden freilich später
istigkeit der urnischen Indi-
en haben, daß die hypnotische
3 das Erworbensein eines Zu-
der Homosexualität wissen-
•eitet man darüber, ob ihre
ich der Geburt liegen. Auf
h die Forscher, welche über
material verfügen, vor allen
selbst. Diese legen auf die
jtgewicht und messen occa-
nüber nur untergeordneten
irsachen aller Art den nor-
i auch äußere Einwirkungen
doch deutlich vorhandenen
lasse sind jedoch sekundärer
besondere Beschaffenheit
irns, seines Geistes und
elbst urnischer Psychiater,
rbeitens, stimmt uns in
n und muß erklären, daß
>sexualitüt kennen gelernt
it „angeboren" hätte bei-
• untersuchten Fällen —
ur natürlich gaben und
eiien „Normalmenschen"
bei Seite ließen — waj
dem ganzen Wesen d<
Individuum Adaequates
als die einer angeborei
tionellen Anlage gerad
Auf der andern 5
liehe Anzahl von G
Notzing, A. Hoche, 1
Meinert, Wollenberg, E
den entgegengesetzten I
mit Bloch1): „Ein vi
in ein typisch homos
werden.* Der Verfass
über 60 verschiedene
erzeugen. Es ist wo!
Ausnahme von Schrencl
theorie zusammengenor
aufzuweisen haben, wi
Ärzte. Auf einem Gebi
der meisten so fern li
deutung, ob sich ein c
oder 5 Fälle stützt. Bl
so sagt Prof. Dr. Euh
dem Blochschen Wer!
„ Angeborensein " der
Homosexualität, muß
heblich eingeschränkt
die Letzten, um ihr ei
wir es mit erworben
äußerer occasioneller ^\
die Verhältnisse kün
haben, werden wir un
*) Dr. J. Bloch: Zwi
Psychopathia sexualis. Di
fühlen dürfen, ihnen
prophylaktisch wirksaor
Dr. jur. L. Kuhlenbeck
gegebenen .Juristisch*
äußerst anerkennend
ist, keine unzeitige Na
Bestrebungen, die daj
giften und die bereits ;
oder sexuelle Zwischen
losigkeit das Haupt 2
entarteten Altertum fr
wohl schon der Apo-tr
als eine der schlimmst
nischen Zivilisation ken:
im Jahre l&öi
Es stehen sich al-
schiedenheit gezeu^rer
^angeborenen* Fäule t
überhaupt nicht.* W.:
Urning aus desa ztlL*
sexuelle Main m>d ilj
Bloch beha^jÄ*!: Jbi.
zahl d-r Fll^e ezzezrjL,
aaierea o^»^fc>«S:o*L.*ri J
ru «ier5#ert«€s* ist ***-Lr
seih«.* Wir r.trz&vi'^
n*i.»#es
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S*SiSe* -r-ervt;:i^
m'i^ii.*
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iSe^eü.
+&S*.
w*rjb fci^#-n
l&JLH&u
:* iiat^riiiJi v
wiiii«:
2.^
t»*Tt ^ ::u***l
3 3<r ä hü: Ü i*-^
14 -
;iv und vor allem präventiv,
egenzutreten." Ein Jurist aber,
Dricht in der von ihm heraus-
ochenschrift" *) Blochs Buch
fügt hinzu: „Die Hauptsache
itigkeit zuzulassen gegenüber
en an seinem Ursprung ver-
Namen wie Homosexualismus
literarisch mit einer Scham-
eben wagen, die selbst dem
gewesen zu sein scheint, ob-
lus ihre Widernatürlichkeit
Ichte der verfallenden heid-
len mußte." So Kuhlenbeck
Ansichten mit großer Ent-
h sagt (Bd. I. S. 11): „Die
nosexualität existieren wohl
r „Nur aus dem geborenen
[inde kann sich der homo-
sexuelle Weib entwickeln."
5.): „In der großen Mehr-
jleichgeschlechtliche Liebe
an, eine originäre Anlage
scheinlich, jedenfalls sehr
kann sich weder ein männ-
in ein gleichgeschlechtlich
3I1 ist das Umgekehrte
iinde der Homosexualität
r meinen, sie liegen aus-
buchen Organisation, sie
nschen heraus.
ust 1902, Verlag W. Moeser.
Es sollte selbstv
lieh Wachenfelds >) E
eigens betont werder
der homosexuell em
sexuell betätigt odei
liehen, wenn auch i
nebensächlich. Ein
sexuell betätigt, ist n
sexueller, dem es g<
zu verkehren, trotzd
beiden handelt es siel
trieb, sondern um m
wandte Manipulation«
Normalsexuellen, die
wird vielfach sehr üb
Jahrbüchern, die den
sind, überhaupt nicht
hängern des § 175 m
würden. Aus weicht
Natur Widersprechenc
unterscheiden :
a) solche, die
verkehren: Prostitu
b) solche, die
Dankbarkeit, Mitlei
c) solche, die
Personen dazu gr
Klöstern, Gefängnis
*) Vgl. Jahrbuch, I
Wachenfelds.
2) Die in manchen u
besser den Kern der i
„Homosexueller*4 und „Kc
kannten Personen vielfact
mit) und „t. u." (total un
Alle diese haben »
: sexuelle Verkehr für sie
darstellt, daß sie völlig
sobald ihnen Gelegenhe
außerehelich mit dem \\
die Mitglieder dieser dr<
Die Gründe, welche
gewerbsmäßig den Hon
sind dieselben, die bei
rächt kommen, wie übei
Unzucht in ihren Ersehe
aufweisen. Auch für dei
zu prostituieren, teils in e
ererbten oder anerzogene
zum Müßiggang und M
Verhältnissen. Aus let
die männlichen Prostitui
ärmeren Kreisen. So ud
die nicht davor zurück«
lieh wenn sie durch ein
erscheinen — ebenso w
diesem traurigen Beruf
einem der bekanntesten
verlässig berichtet unc
eigenen Eltern ihn ber
Laufbahn brachten. In
jedoch die treibenden M<
Beispiel und Verführun
vor — und solche Falb
urteilt werden — daß «
zur Prostitution verftih
in welchem er arbeitet,
es vor, daß ein junger
raten sich vergebens
kommen, die Bekanntsc
16
ben das gemeinsam, daß der homo-
r sie nur eine vorübergehende Episode
ö'Jlig normalempfindend bleiben und,
mheit geboten ist, ehelich oder auch
1 Weibe verkehren. Betrachten wir
drei Abteilungen noch etwas näher.
che junge Männer veranlassen, sich
lomosexuellen für Geld hinzugeben,
n weiblichen Prostituierten in Be-
berhaupt beide Arten gewerblicher
Meinungen sehr viel Gemeinsames
len Mann hegen die Ursachen, sich
seiner inneren Veranlagung, einer
ien großen Willensschwäche, Hang
Wohlleben, teils in den äußeren
tzterem Grunde rekrutieren sich
ierten in der großen Anzahl aus
glaublich es klingt, es gibt Eltern,
jhrecken, ihre Söhne — nament-
chöneres Aussehen dazu geeignet
» ihre Töchter anzuhalten, sich
n die Arme zu werfen. Von
Jerliner Prostituierten wird zu-
von ihm bestätigt, daß seine
5 in seinem 14. Jahre in diese
*n weitaus meisten Fällen sind
e die Not, demnächst schlechtes
Nur ausnahmsweise kommt es
nnen nicht scharf genug ver-
romosexueller einen Burschen
ndem er ihn dem Geschäfte,
lehi. Häufiger schon kommt
., welcher außer Stellung ge-
,üht, wieder in Brot zu
nes Urnings macht, mit dem
er gegen Entgelt intim
und Kleidung, behande]
Kreise ein, was seiner
queme Verdienst, der :
veranlagt ist, noch dazu *\
leben werden ihm so se
mehr davon lassen kann
boten würde, in ein el
rückzukehren. Sehr oft
folgendermaßen ab: Eir
und frierender Junge ste
Friedrichstraße. Bald m
„Herrchen" gewahr, die
ab stundenlang die Straß
ein vornehmer Herr ans
Hauptes von dannen zieh«
dann kühnere Versuche,
eines Tages glückt es ihn
nehmen Herren lieben gei
ihren schmutzigen Kraj
scheinigen Eöcken und z
ihnen einmal gelungen, d
es ist ihnen gär zu schlec
tauschen möchten. Mit <
liehen Prostitution häng
manche besonders schied
Gewerbe im Nebenberuf
bürgt gelten, daß sich in
stellten des Telegraphenc
spärliches Einkommen (5
einen solchen Nebenverdiei
ist es in London mit den
diese und andere Mitteiln
stitution 'einem äußerst zu
mann, der sich. Pherander
Jahrbuch V.
— 28 —
der bei den Dragonern diente. Aufme/i F
weshalb er mit Männern verkehre erw* 1
meiner Braut treu zu bleiben." ICJ, b^:*
Kadettenbäusern eine Reihe von Bericht r
daß, trotzdem leider wechselseitige Ona " ' *
Weise geübt wird, nur ein ganz kleiner Bricht *
sexuell wird, nämlich solche, die nachweLsluV '
männlich, sondern urnisch sind. Ich ^m \ l l
veröffentlichten Beispielen einen r»*»k+ i l °. Vu
u iL r v. xir . rvcni 'ehrreich«
aus einem katholischen Waisenhause hm
verdanke die Mitteilung einem mir h t '
verlegen Beobachter K. A, der daseCTo 7
unter 120 Mitschülern erzogen wurde
„Ich war 8 Jahre alt, als ich in dien* I
schon früher gerne mit Knaben zusammen °8titut ^ai
ersten Tage etwas Heimweh und fühlte mi iT**' **attv h
den 120 Knaben im Alter bis zrj 14 Ja.Cft ftehr b*id \
15 und 16 Jahre alt Der freundschaftlich"* v *** Wni}
Knaben war ein so inniger, daß man glaube er^e^r uni
vom reinsten Wasser vor sich zu habe mUfite' Jauf('
älteren suchten sich unter den jüngeren R aIie
den sie alsdann hegten und schützten. Di * e'n,*B
Teil nicht gerade unangenehm, denn ante ** *ar^r(Jen
die kleineren gewöhnlich manchen Stoß * 80Jlpl Knabe
einen älteren zum Freunde, so durfte kein ** teUl hatt
anzufassen, beide überboten sich gegenseiH * ♦*** Wa^t<ni
Zärtlichkeiten. Als ich selbst 9 Jahre alt * ** ^rwp,hü"
2 ältere auf einmal um mich warben und*^' *e8cnan
weichen wollte. £s wurde dann durch einen K mer ^'m
entschieden, die anderen stellten eich he ^^ UDter (*n
nichts sehen sollten, und schauten zu w ^ (*,('
wurde, der Sieger hatte alsdann ein öffentr l 6Iner *amI>f
Dieser war mein Freund fast ein ganzt.8 , f Anre(,ht *,
seinem 14. Jahre aus der Anstalt entlag ]ang' '"H
Freundschaft erinnert mich noch heute ein *• WI1^^e• Ai,
stabe, der Anfangsbuchstabe seines Namen/1!?11^ ^roii('s
seitig damals mit chinesischer Tusche und • wir un*
Oberarm tätowierten. Da dies sehr oft v t ^^T ^a<*vi
darin eine ziemliche Fertigkeit. Ich erin« r *m' Valien
^nere *ich nach
— 29
*>als war, für d
7en. Dieser Jui
daß er mir a)
Da er vermö$
}kam er jede \
öglichen besch
n er gewöhnli
\ann war sein,
v,ze vor mir au
, ,datf er Beibdi
i wir abends
[oment abzuw
1. Hatte mai
*s gefiel, so
ld Tritt und
lachte ihm Gm
zu spielen.
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jern hatte, d
usgeBchloasei
7 denn eine
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le, wobei u
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ehlä^e sehr
riehen. Nai
16 und läsai
ir mir, er K,
l war glück;
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atte, bei
I Laufende
i.en Freun
, daß jed«
i er, wenn
iges Beste
5r benutzi
Besteck
— M) —
Schmutzkasten und kaufte neue. Ebenso bmiu* *
Winter seinen bestimmten Shawl, man trnat ab » J*
Freundes, da derselbe in so enger Berührung m/7 /"
Halse gewesen. Das Tätowieren der Anne
bnehstaben des Freunde» war an der Ta^JT^r* '*
mußte man bei dem allen sehr vorsichtig »emV*H *l
nichts merkten. Sahen diese von zweien eineh********
Freundschart, so wurde ihnen strenge verböte ?Dti* '
zu verkehren, doch tat man es alsdann um s *i*>Iter "
man Strafe, so war man glücklich, ffo. tfen° J,ej>er» ' '
können. Hatte einer einen Streich gespielt- ander,*D
daß der Freund die Tat auf sich nahm der 3^**° **Hcl j
litt und der Lehrer alsdann 2 Missetäter vor ' T di<H
nicht wußte, wer der eigentliche war. Bekam rf *tl*'1«
so ging das dem andern so nahe, daß er 6r^r<Ml1 I
kleinen Einzelheiten zeigen, wie der Freund ein t Weior
Innigkeit in dieser Freundschaft W r**? *Ue* Wa
__,_,e_^^_ ,r._L^_ _it. __ _^_. T* «aß dabei
UäDl
jünger. Besonders bot der Winter tum geschl ""k* .mÄnt'
viel •ßatapAnheit. man snntt abend« nn*A. j_ __ Cn^icA
sohlechtiiche Verkehr nicht ausblieb, ist 8eih * 6i
war 9 Jahre alt, als ich die Onanie kennen i"^^
keßaen lernte,
viel -Gelegenheit, man ging abends unter dem V CÄf*°
zu müssen, hinaus, der Freund folgte einige J^^n, a
draußen war man dann ungestört, wenn dies a*611 *''*
geschah, um sich küssen und umarmen zQ k>. na°pt>
regung blieb dann das andere nicht aus. Dann ****** }° '
auch viel nachts in den Betten statt. NaturUch derV
den übrigen Knaben dies verheimlicht werden, d m.1Iöte aH
ein Verräter darunter sein können. Ich gj^k *]* ieicln
dabei nur Onanie getrieben wurde. Kam ein ne . timni
so wurde sofort darauf geachtet, ob er hübsch ' lD ^e ^
es auch nicht lange und der oder jener hatte si h** ^ d
freundet, wobei es oft nicht ohne heftige j^6 ^'üm
ging. Es würde zu weit führen, noch mehr Ein ° ene
geben. Man findet ja in allen Instituten, ^lhei^
schlechtlieh miteinander verkehren, aber wohl seit * ^°a^ei
Diese leidenschaftliche liebe, so aufopfernd ^^ \ .80 *^8(>i
man glaubte, alles sei tot für einen, wenns dem vÜ*^^
zu schmollen, und man toll eifersüchtig g^ u *en&de ei
einen anderen bevorzugt glaubte, müßte auf das • Wenn l
gemüt verhängnisvoll wirken-, wenn man von e' 6 ^na*
der Homosexualität sprechen könnte, so müßte 8» hJ- ^Derw'Pi
bewahrheiten, besonders da die meisten weni^fn ?68 ^ier d<
g8ten*3biB4j,Ä
— 31
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— 32 —
worden ist. Hat nun Schrenck-Xotzing, der in <l
Ziehung, Schiminelbusch, der in der Onanie die l
der Homosexualität erblickt, Recht, oder diejenigen,
in der angeborenen Beschaffenheit de« (Jehir
Grund dieser Erscheinung suchen?
Außer diesen drei Kategorien sind es l>e.M>ml
heterosexuellen Wüstlinge und Rouls, von den*
annimmt, daß sie „aus Verlangen nach Variation*
„Reizhunger", Übersättigung, Raffinement schlic-Ü
das eigene Geschlecht verfallen. Dieser Glaube i
nur im Volke weit verbreitet, er findet sieh u
vielen Ärzten und Juristen. So beruft sich ttloi
Wollenberg*), der die Homosexualität in den
Fällen als das Endprodukt eines lasterhaften Gcm
lebens betrachtet. Und Wachenfeld8) sagt: „Den
mit dem gleichen Geschlecht als einen spezifisch s
Reiz sucht der Rou6, der nach Durchkostung alle
liehen und unnatürlichen Genüsse am Weibe üb
ist." Ich habe mir große Mühe gegeben, diese „Wi
ausfindig zu machen, es ist mir nicht gelungen
der großen Anzahl Homosexueller, die ich beo
war nicht ein vom Weibe Übersättigter, die meist
froh gewesen,* wenn sie überhaupt nur vom Weil
„kosten* können, geschweige denn, daß sie satt ,
wären. Zweifellos hätten homosexuelle Jüngl
eine Vorliebe für ältere Männer haben, solcl
kennen lernen müssen. Sie stellen ihr Vorkom
schieden in Abrede. Ich habe es mich auch n
drießen lassen, männliche Prostituierte und Chan
wohl homosexuelle als heterosexuelle, zu intei
*) S. 235 a. a. 0.
. a) Wollenberg. .Über die Grenzen der strafrecht
rechnungsfähigkeit bei psychischen Krankheitszuständ«
rologischen Zentralblatt 1899. No. 9.
a) A. a. 0. in Goltdammers Archiv S. 48.
— 33
Dg, der in der Er-
)nanie die Ursache
r diejenigen, welche
des Gehirns den
es besonders die
von denen man
Variationen" aus
ü schließlich auf
Glaube ist nicht
3t sich auch bei
ich Bloch *) auf
3 den meisten
m Geschlechte-
„Den Verkehr
Ssch stärkeren
g aller natür-
»e übersättigt
„ Wüstlinge"
gen. Unter
beobachtete,
isten wären
eibe Latten
; geworden
•Jinge, die
he Rou4a
men ent-
icht ver-
teure, so-
lellieren,
,hen Zu-
ini Neu-
von welchen Leuten sie lebten. Sie
eine Antwort, die in die wissenschl
tragen lauten würde: „Ausschließlich
lieh Veranlagten." Es müßte nach]
männer doch auch einmal ein hoc
— und es gibt deren genug
das Weib verfallen. Es wäre dl
ein therapeutischer Weg gegeben.]
nicht vor. Ich halte nach meinen)
Wüstlingspäderasten für ebensolche
Hexen, von deren Aussehen, Sitten]
man zur Zeit der Hexenprozesse au
Schilderungen zu geben wußte. Mal
der köstlichen Hexenszenen in Goethl
licher Weise erzählt sich das Volk»
allerlei von dem stieren Blick der wari
ganz kleinen oder sehr langen dünnen G
eine Art Ungeheuer halten sie sich mit V<
versteckt, jeden Augenblick bereit, üb
herzufallen u. dgl. Noch ein neuere
schildert das Auge der „Anhänger der
liehen Liebe" folgendermaßen: „Sein fr
erloschen; es blickt verschleiert, gläsern,
sich die Lidspalte fast durchweg verengt
kleiner Teil des Augapfels sichtbar gebl
nehmlich der Urning im mittleren und re
daran; den Greis läßt dieses Kainszeichen
Man vergleiche mit dieser Beschreibung
Photographie eines urnischen Arbeiter*
überhaupt hier von einem Typus rede
dieses große, träumerische Auge — der g<
des geschilderten — in viel höherem Gra
ristisch für den Urning anzusehen.
*) M. Braunschweig. Das dritte Geschlec
homosexuellen Problem. Halle a. S., Carl Marhc
Jahrbuch V.
34
Ist mithin diese vielgenannte Menschenklasse der
vom Weibe übersättigten Homosexuellen empirisch nicht
nachweisbar, so ist sie auch theoretisch höchst unwahr-
scheinlich. Wessen Naturtrieb mit elementarer Gewalt
zum Weibe neigt, kann, wenn er auch noch so wüst ge-
Th. Widdig, urnischer Arbeiter.
lebt hat, nicht plötzlich den Mann begehren. Groß1) hat
vollkommen ßecht, daß ein solcher Umschlag der Ge-
schmacksrichtung in das Gegenteil außer aller Logik und
*) Groß: Archiv f. Kriminalanthropologie. 10. Band. 1. u 2.
Heft. S. 195.
Wahrscheinlichkeit liegt,
wohl auf die Art der Betätigung
aber auf die Neigung des Geschled
sich. Dieser Trugschluß dürfte auf \
zuführen sein, daß der Homosexü
chismus, Sadismus, Fetischismus und!
gleichzusetzen sei, mit denen er seitj
gemeinsam dargestellt ist. Bei letzt!
um etwas ganz anderes, nämlich um!
trophieen normaler Triebe, nicht etwa u1^
stufen (Mischung männlicher und weiblij
wie manche Autoren in völligem Miß^
uns gewählten Titels glauben. Jederl
Geliebte erobern, der Sadist will sie tj
bringen; der Liebende will ihr gefäl
Masochist ihr Sklave, ihr „Hund" sd
legt sich die Locken seines Mädchens \
Fetischist bewahrt sich Weiberzöpfe \\
auf. Selbstverständlich kann ausnahmst
sexueller ebenso wie ein Heterosexueller \
Fetischist sein, vielleicht alles zugleich, $
ein Homosexueller ein Heterosexueller \
kehrt. Groß1) bemerkt: „Der sogenannt
sättigte ist aber nicht übersättigt, sonde^
nur, daß von den zwei Wegen, die seij
standen : dem heterosexuellen und dem hol
der erstere für ihn nicht der richtige war!
er auf den zweiten Weg." I
Der Autor fühlt hier ganz richtig r\
namentlich die psychischen Hermaphrodi
sexuellen sind, die von vielen als Rou6s dj
desten als Menschen angesehen werden, dl
das Weib verlassen. Ich gestehe offen, daß
») Archiv f. Kr.-A. S. 195.
— 36 —
meines Beobachtungsmaterials noch nicht in der Lage bin,
über das Vorkommen, die Häufigkeit und Bedeutung der
Bisexuellen ein abschließendes Urteil zu fällen. Früher
hielt ich sie für eine weit verbreitete Gruppe. Aber die
gewissenhafte Exploration vieler verheirateter Urninge
hat mich schwankend gemacht. Krafft-Ebing hob, als
er die psychische Hermaphrodisie als erste Stufe der
angeborenen konträren Sexualempfindung beschrieb f), her-
vor, daß in diesen Fällen die Neigung zum andern Ger
schlecht viel schwächer und episodischer sei, „während
die homosexuale Empfindung als die primäre und zeitlich
wie intensiv vorwiegende in der vita sexualis zu Tage
tritt." Um hier, wie in der ganzen Frage klar zu sehen,
muß man unbedingt den Geschlechtstrieb von den ge-
schlechtlichen Handlungen, die möglich sind, unterscheiden.
Nur der natürliche Trieb ist das Ausschlaggebende. Man
glaube nur nicht, daß wer mit beiden Geschlechtern ver-
kehren kann, auch beide liebe. Wer urnische Ehe-
männer befragt, wird meist hören, daß sie entweder in
völliger Unkenntnis ihres Zustandes heirateten oder weil
«ie meinten, von ihrem sie quälenden Triebe loszukommen.
Betrachten wir einmal die Verhältnisse, wie sie wirklich
sind. Ein junger Uranier wächst heran. Von allen
Seiten hat er die Liebe zum Weibe preisen hören, sie
erscheint ihm als das begehrenswerteste Ziel. Die ganze
heterosexuelle Umgebung wirkt auf ihn wie eine mächtige
Suggestion. Die erwachende und erstarkende Sinnlichkeit
führt ihn, indem sie ihn dem allgemeinen Triebe der
Kameraden folgen läßt, zu einer Art Schwärmerei für
weibliche Personen. Vom Uranismus weiß er nichts; die
Päderastie hält er, nach allem, was er gehört hat, für
etwas Abscheuliches. Es kommt die Zeit, wo ihm „nur
noch die Frau fehlt.* Man macht ihn auf ein Mädchen
») Psych, sex. S. 251.
— 37 —
aufmerksam, die für ihn wie geschil
eine kennen, die ihm „sympathisch^
die ihrer äußeren Erscheinung und \
nach viel männliche Eigenschaften ^
Scheidung von Liebe und Freundschsi
leicht; so geht er in allen Ehren di^
zieht „pflichtschuldigst" vielleicht die
Geschlechtsverkehr, vielfach — wie \
lied heißt, — „nicht um der schnöi
um Gottes Willen zu erfüllen". Sei
harmonisch, während es ringsherum \
Ehen gibt, in denen die Männer ihi
fremden Frauen befriedigen. Er aber
des Nächsten Weib. So stirbt er, oh
tums bewußt geworden zu sein; denn
verbringen ihr Leben in einer Art Dämme|
folgen sie den andern, individuelle Ke^
für „Schwächen," alles, selbst das koinpl
nur in ihrem Unterbewußtsein ab. Ihre 8,
reflektorisch. Sie kommen aus einem dum
stand trotz aller scheinbaren Aktivität
Vielen aber geht doch schließlich — eiri
Oberbewußtsein hat über das Unterbewui
errungen. Aber oft kommt dann die Erk^
„Seit ich wissend bin, schreibt uns ein hoher!
kleide ich die Freundschaft zu meiner ¥r\
wand der Liebe und die Liebe zu meinen!
das Gewand der Freundschaft, und so seil
einer Täuschung meiner Umgebung — ursprl
getäuscht — weiter durch das Leben." 1
Sehr fein hebt Krafflt-Ebing *) hervor,!
bei sexueller Frigidität in Wirklichkeit unj
Hermaphrodisie handeln kann. Auf die Da^
*) A a. 0. S. 252.
— 38 —
aber doch nur mit sehr schwachem Geschlechtstrieb be-
gabte Personen diesem Irrtum verfallen. Viele soge-
nannte Bisexuelle müssen sich zum Coitus stark mecha-
nisch erregen lassen, andere bedürfen psychischer Kunst-
hilfe. Ich will zur Charakterisierung dieser Gruppe eine
Auswahl von Antworten wiedergeben, welche ich von
Bisexuellen über die Art ihres „normalen" Geschlechts-
verkehrs erhielt. Ein verheirateter Universitätsprofessor
berichtet: „Ich bin zum Coitus mit dem andern Geschlecht
ohne besondere Vorstellungen und Kniffe fähig, habe
keinen Widerwillen dagegen, aber auch keinen Genuß
davon.* Ein Fabrikant schreibt: „Hätte ich vorher die
über die Homosexualität aufklärende Lektüre gekannt,
ich hätte nicht das Unglück der Ehe über mich herein-
gebracht. Es war gewissermaßen ein Verzweiflungsakt
in dem törichten Wahn, ich könnte mich doch vielleicht
ändern; ich habe mich aber nur doppelt unglücklich ge-
macht und leider noch dazu eine gute Frau, die ein
anderes Glück verdient hätte, als einen Urning zum
Manne zu haben. Der Akt ist möglich, ich bringe es
zur Ejakulation, aber ganz ohne Wonnegefühl und bin
nachher sehr angegriffen. Mir bei dem mir widersprechenden
Verkehr eine edle Jünglingsgestalt vorzustellen, bringe
ich nicht fertig." Ein Offizier teilt mit: „Ich habe viele
Bordells besucht, und mit Erfolg, d. h. ich blamierte mich
nicht. Ich sagte den Damen immer, daß sie bald wieder
einen ordentlichen Lebenswandel führen sollten und sie
versicherten mir noch nie einen solchen braven Herrn
gesehen zu haben. Vor dem Beginn habe ich meistens
gezittert, aber es galt meinen guten Ruf zu erhalten und
nachher triumphierte ich wie ein Feldherr nach ge-
wonnener Schlacht.* Ein Dolmetscher gibt an: „Ich habe
auch viel mit Wr eibern verkehrt, aber nur im angetrunkenen
Zustand/ Ein Arbeiter, der Frau und Kinder hat, gibt
folgende Schilderung: „Ich führe den Beischlaf aus, aber
mit größtem Widerwillen und fü
Sterben unglücklich; am liebsten mc
darauf den Akt mit einem Manne
Ein Jurist antwortet: „Ich gehe se!
zwei bis drei Wochen ins Bordell,
als Dirnen habe ich nie verkehrt.
Mädchen gefallen mir wohl, aber da
intensiver anzieht und ich nach den|
Weibe mich nach männlicher Umarrr^
ich mir nicht die Mühe, mich den lal
zu unterziehen, die nötig sind, Mädchel
sind, zu gewinnen. Sentimentale Liebe
von einer Tanzstundenschwärmerei i
für Frauen nie empfunden, für Männ<
letzten zehn Jahren drei heftige Leidj
Kaufmann erwidert: „Ich kann mit Fr*
ausüben, aber nur durch den Gedanken'
mir das Weib besessen hat." Ein junger
erzählt: „Als ich siebzehn Jahre alt w!
gleichaltrigen Kollegen Verhältnisse
schafften, nahm ich mir auch mein Mädc
meines eigenartigen Wesens nicht bewuß
mir selbstverständlich, daß ich mir auch
eine Frau anschaffen mußte. Beim Gesch!
der sinnliche Reiz stets durch psychische!
geführt werden. Nachher war ich durch 1
strengung sehr abgespannt und ich schwuil
wieder auf derartiges einzulassen. Ich fühlt
zu einem Verwandten sehr hingezogen. \
Ältere und bei den Weibern Einflußreiche
ihn immer die Mädchen beschwatzen und
oft nach einander den Akt vollführt. Die
seines heißen Temperamentes reizte mich bis 5
und war mir dann die Ausführung des ^
leichtes." Ein anonymer Briefschreiber m
Verkehr ejakulieren können. Per^
Zeichen der Verliebtheit einmal vo^
Mal vom Manne gefesselt werden -4
Bisexuelle — habe ich nicht ermitteln!
scheint mir noch ein annähernd gleid
für beide Geschlechter bei Fetischistj
Sadisten vorzukommen. So kenne 1
schisten, der fast in gleicher Weise zu h
neigt und eine Sadistin, die feminine ^
peinigt, wie normale Mädchen. In so^
Perversion als solche so vorherrschend,!
ein bestimmtes Geschlecht hinwegzusi
Perversion hebt dann die Inversion auf. \
man wohl bei den sexuellen Zwischenstt
der Bisexualität für naheliegend anseht
Vereinigung männlicher und weiblicher 1
rücksichtigt, die beide nach einer ge\i
streben. Anderseits ist aber zu bede^
einzelne Geschlechtscharakter, zu denen d\
lieh der Geschlechtstrieb gehört, sich
männlicher oder weiblicher Eichtung ges]
die einfach auftretenden, sondern auch die b-
wie die Keimdrüsen. Baraus könnte m\
das auch für das sexuelle Triebzentrum der!
falls halte ich einen ausgesprochenen u
Trieb zu beiden Geschlechtern für unwahrsj
wiederhole ich, daß ich in dieser Frage ein \
Urteil noch nicht abgeben möchte. \
Viele H.-S. halten sich fiir bisexuell^
einer „grande passion" befallen werden, a^
Unterschied zwischen „lieb haben" und „lii
werden. Ich erinnere an den obengeschildei
Oberlehrers. Es wurde bereits darauf hing
schwer die Selbsterkenntnis des urnischen See
ist, von dem man garnichts oder doch nur
— 42 —
teiliges gehört hat. Selbst wenn die Erkenntnis allmählich
aufdämmert, sträubt sieh bei den meisten der Verstand
mit aller Kraft gegen das Gefühl. Mehr wie einmal habe
ich aus körperlichen und geistigen Stigmen die Früh-
diagnose der Homosexualität stellen können, bei Personen,
die über ihre urnische Natur keine Ahnung hatten; spätere
Tatsachen bestätigten die Richtigkeit der Diagnose. So
fällt mir ein Herr ein, mit dem ich vielfach auf Gesell-
schaften zusammentraf. Einmal erzählte er mir von einem
uns beiden bekannten Selbstmörder und fügte ziemlich
wegwerfend hinzu „er soll mit Männern geschlechtlichen
Umgang gehabt haben." Ich konnte mich nicht enthalten,
ihm zu erwidern: „Wissen sie wer ebenso empfindet?
Sie selbst ; Ihre keusche Kameradschaftlichkeit dem Weibe
gegenüber, Ihre langjährige so starke Schwärmerei für
den Bildhauer X., Ihre weiblichen Charaktereigenschafben
und Bewegungen, Ihre Kunstfertigkeit die berühmte
Sängerin X. in Stimme und Haltung zu kopieren, sagen
genug." Er wies meine Annahme in breiten Auseinander-
setzungen mit großer Entschiedenheit zurück. Nach
längerer Zeit sah ich ihn wieder, glücklich über die endlich
erlangte Klarheit und innere Buhe, die im Anschluß an
ineinen berechtigten Hinweis bei ihm eingetreten waren.
Ist es schon schwierig, über die eigene Natur ein
richtiges Urteil zu gewinnen, so schwer, daß manche
Unglückliche sich ihr ganzes Leben schuldig fühlen, ohne
es zu sein, so nimmt die Schwierigkeit noch zu, wenn es
sich darum handelt, die Ursachen eines von der Norm
abweichenden Seelenzustandes richtig zu bewerten. Jeder
Arzt weiß, wie unzuverlässig die Angaben eines Patienten
über den Grund eines körperlichen Leidens sind, wie oft
für ererbte und bazilläre Krankheiten, beispielsweise
tuberkulöse, ein Trauma, eine Erkältung, Anstrengung oder
Aufregung als Ursache angegeben werden, während wir
doch genau wissen, daß keiner dieser Anlässe eine causa
43 —
sufficiens abgeben kann, daß die Hs
da sein muß. Ist das schon auf
möglich, wie viel mehr auf geistig^
nervöse und psychische Störungen
Anlage, sondern stets auf äußere
Selbstverständlich wird daher ein gesc}
hafter Arzt alle Angaben seiner KU
vergleichend würdigen müssen. Eil
gläubigkeit vorzuwerfen, wie es in dei
Sexualität wiederholt geschehen ist, hej
losigkeit zeihen, und das bedeutet ein arge
in Bezug auf seine fachliche Tüchtigkei
es aber auch, die Homosexuellen für ve^
Schrenck-Notzing *) meinte, daß „ die Seil
Urninge nur mit großer Eeserve zu berüi
Nur in einem mißt dieser Autor ihren!
Glauben bei, nämlich in dem, was sie ül
der Hypnose berichten, trotzdem es docl
oft gerade Hypnotisierte dem um sie bei
complaisance" die Unwahrheit sagen.
Schrenck und Cramer2) nur unbewußte!
unter dem Einfluß diesbezüglicher Leki
geht Bloch 8) bedeuten^Kweiter, er spricht
Täuschungen und Fälschungen, die siel
in ihren Autobiographieen zu schulden
„Die kritiklosen Theorien eines Ulrichs," sl
„wurden von vielen Urningen für Wahrh(
und auf den eigenen Zustand übertragen." \
späteren Stelle 4) fügt er hinzu „Ulrichs Schi
*) A. a. 0. S. 195.
2) A. Cramw. Die konträre Sexualempfinduni
Ziehungen zum § 175 des R.-Str.-G.-B. Berliner klin^
1897. N. 43. Seite 964.
3) A. a. 0, S. 13.
4) A. a. 0. S. 198.
— 45 — I
1
Urning. Mit großer Entschieden hei
Ebing den so bequemen Einwurf \
worden" zurückgewiesen *). Neuerdin|
auf diese Beschuldigung eingegangen
Behauptung, diese Leute lögen oder i
etwas weiß, ist nicht haltbar, denn!
und da zutrifft, bleiben so viele unanti
übrig, daß an der Ursprünglichkeit,
Dauer der abnormen Gefühle nicht zu
möchten gegenüber dem schweren Vor
die Homosexuellen noch hervorhebe^
Übereinstimmung zahlloser Anamnesen ^
Stände, namentlich auch von urnischen \
ein Buch über den Gegenstand gelesen 1
haftigkeit des Gesagten über allen Zwei^
daß diese Angaben in einer sehr großen
von den Angehörigen, Vätern, Müttern!
bestätigt wurden, — erst vor kurzem k\
ein protestantischer Geistlicher mit einem \
der ebenfalls Theologie studierte und sagt
Anfang an anders, wie meine 5 anderen So!
rühren die Mitteilungen oft genug von Uni
sich nie in ihrem Leben homosexuell betätigt
unantastbarer Integrität, für die auch nicht
Grund besteht, die Unwahrheit zu reden. '
den vielen uns zur Verfügung stehenden Selb,
nur eine einzige im Anhang wiedergegeben,
einem ganz einfachen Arbeiter her, ist
orthographisch richtig geschrieben, aber für 4
dessen, was dieser schlichte Mann aussagt, st
wenn es überhaupt noch Treue und Glauben!
*) In der Schrift „über sexuelle Perversionen* ' bi
Schwarzenberg. 1901. Seite 130.
2) Dr. P. J. Möbius in Leipzig. Geschlecht mi
bei Marhold in Halle 1903. S. 30. '
— 46 —
lese dieses Lebensbild, wo kann da von einem Variations-
bedürfnis, von Reizhunger, der leichten Beeinflußbarkeit
des Geschlechtstriebes durch äußere Einwirkungen, von
Suggestion, Nachahmung oder choc fortuit die Rede sein ?
Enthält nicht allein diese eine Biographie eine ganz
furchtbare Anklage gegen die Wachenfeld und Bloch,
welche in einer so wichtigen Frage vom grünen Tisch
ihr Urteil fällen, ohne die, welche sie richten, gesehen,
gehört, beobachtet und untersucht zu haben?
Es genügt natürlich nicht, die Lebensgeschichte der
H.-S. zu durchforschen, sondern ein jahrelanges Beob-
achten vieler Urninge aller Altersstufen und Stände,
ihrer Lebensäußerungen und Lebensgewohnheiten ist not-
wendig, um sich über die Gesamtpersönlichkeit ein Urteil
bilden zu können. Diese Aufgabe wird dadurch er-
schwert, daß vielen Urningen nach Lage der Verhält-
nisse durch Selbsterziehung und Gewohnheit manches
zur , zweiten Natur" wird, was ihnen ursprünglich nicht
zukommt. Man wird bei der psychologischen Erkenntnis
nicht nur auf positive Äußerungen zu achten haben, sondern
auch auf negative Züge, so ist beispielsweise bei manchen
Uraniern die sexuelle Negierung des anderen Geschlechts
viel vorherrschender, als die durch intensive Geistes-
tätigkeit abgelenkte oder zum Schweigen gebrachte posi-
tive Neigung zum gleichen Geschlecht.
Sehr wesentlich wird die Exploration und Beob-
achtung unterstützt durch die Körperuntersuchung mög-
lichst zahlreicher Zwischenstufen aller Art. Den Sektionen
H.-S. können wir hingegen vorderhand noch keine so
hohe Bedeutung beimessen, solange das sexuelle Centrum
im Gehirn noch nicht ermittelt und wir über die Ge-
schlechtsunterschiede zwischen männlichen und weiblichen
Gehirnen noch so wenig unterrichtet sind. Der von
Rüdinger gefundene und neuerdings von Waldeyer be-
stätigte Satz, daß die Windungen des Stirn- und Schläfen-
lappens beim Weibe schwächer entwii
Manne stützt sich auf ein zu geringe!
als daß er eine Grundlage für die \
suchung urnischer Leichen abgeben
wie die Geschlechtsunterschiede im
wir später noch eingehender, zurückkc
Wir sind mit den angegebenen
der Lage, sofern nur eine genügende
beobachtungen vorliegt, ausreichende
wir werden als Endergebnis dieser Objel
sicheren Beweis erbringen können, da
und das gleichgeschlechtliche Empfinder
Sexualität niemals durch äußere Ursach^
anerzogen, sondern stets angeboren
I. Das urnische Kinc
Für das Angeborensein einer Eigens«
hohem Maße bezeichnend, wenn dieselbe,
innerung reicht, nachweisbar ist. Berei
der große französische Psychiater, welcher!
Sexualempfindung noch zu den Geistesstörul
arteten zählt, sagt:1) „Sie zeigt sich oft sei
Jugend und gerade das ist charakteristisch ; 1
deutlicher für die ererbte Beschaffenheit diesl
als ihr frühzeitiges Auftreten." Und zwei \
bemerkt derselbe in einer anderen Vorlesung: \
sich bei dem Zustand, den Westphal kontri
empfindung nannte und Charcot und ich als \
des geschlechtlichen Empfindens (inversion du sl
*) Psychiatrische Vorlesungen, IL/HL Heft übersetz^
Leipzig bei Thieme 1892 in der II. aus dem Jahre 1887 \
Vorlesung Seite 26 und in der III. über geschlech^
weichungen und Verkehrungen vom Januar 1885,
Ta,e,,-^chf.sexue„e
(le,p»*- Verla« von Max Spoi
Willibald von Sadler-Grüi
in verschiedenen Trachten.
— 49 —
rnais einzusehen, daß ich anders geartet war/1
nischer Chemiker, der sich noch nie in seinem j
^tätigte, berichtet: „Ich war als Kind sehr artij
abe im Gegensatz zu meinen Brüdern von meinen ]
ie Prügel bekommen. Onanie ist mir unbekannt.;
bilden Knabenspiele waren mir zuwider, ich schloß
ait Vorliebe an Mädchen an und hatte deswegen!
Meckerei und Spott zu erdulden; das waj
sehr unangenehm, doch konnte ich nicht dagegej
Ich liebte zu nähen, zu stricken, beim Kochen und Bä
zu helfen und mich mit Bändern wie ein kleines Mä^
zu schmücken. Es ist mir jetzt immer sehr peic
wenn diese Jugenderinnerungen von Angehörigen aij
kramt werden." Andere Mitteilungen von Urningen laij
„Im Kadettenkorps hieß ich die keusche Jungfrau." j
der Schule nannte man mich allgemein Fräulein." ]
ich 13 Jahre alt war, sagte unser Hausarzt, ich sei 1
Kerl, sondern ein hysterisches Frauenzimmer." „IVJ
Vater rief mich Wilhelmine." „In der Tanzstunde nanij
mich die Damen: Willy mit den Mädchenaugen." „Sej
zu Hause, wie später in der vornehmen Gesellschaft fül
ich den Spitznamen: Die Baronesse." „Wenn ich eii
Stein in die Luft warf, sagten die Jugendgespielen: |
Widdigs Jong wirft grad wie ein Mädchen." „Mel
Mutter sagte oft von mir, er ist meine kleine Tocht^
„Von mir und meiner ältesten Schwester hieß es st^
wir seien verwechselt worden." „Man meinte stets, mei
Schwester hätte der Junge und ich das Mädel werd
sollen." „Als Kind schon hieß ich Mademoiselle." „J
Hause nannte man mich den Träumer." „Als ich kiel
war kämmte man mir die Haare ins Gesicht und freu!
sich: der Junge sieht wie eine kleines Mädchen aus." A
wurde oft gesagt, er ist kein Junge." „Meine Stiefmuttj
meinte: er ersetzt mir mehr als eine Tochter." Urniscl
I Damen berichten: „So lange ich denken kann, wurde ic
Jahrbuch V. 4
— so -
boy genannt". Eine andere: »Schon tU K
mit Vorliebe Mütze und Rock meine* Vat
auf die höchsten Bäume und wurdt* initiier »hi
< >ft nutzen die Angehörigen dif Wrunlug
Kinder aus. Die Väter fühlen «ich zu urni*c
besonders hingezogen — man denke an da
lichkeit fein abgelmuolita Verhältnis * wisch
Kramer und seiner Tochter Michaeli na in Ger
mann- Michael Krämer — die Mütter hin
besonders ihre u mischen Sohne, welche
allerlei häuslichen Beschilft igungen, wie Be
der Geschwister, verwenden. Man glaube n
erat durch die Erziehung diese femininen
Eigenschaften hervorgerufen werden , hei
umischen Knaben würde die Mutter übe
solche Verwendung versuchen* Auch hie
Beispiele, „Meine neue Mama — schreibt
ließ sich die Vorzüge meiner angeborenen 1\
wohl gefallen, ich verstand im Haushalt alle;
sie sich um nichts zu kümmern brauchte, i
lagen vollendet bereit zu jeder Gelegen hei
das Haar wurde frisiert, die Flute auf dt
garniert-, die "Wirtschaft besorgt, Menüs beste
wacht, eigenhändig die Tafel dekoriert, u
dann zu den Gästen in den Salon, hieß
geringem Erstaunen der Anwesenden: „So je
Tochter fertig, uun kann der Sohn uns etwa
Gute Alte, ich höre sie noch und habe sie
ich ihr aber letztes Jahr die Augen offne
Tochterschaft ihres vermeintlichen Sohnes, litt
sie sehr, leider vergeblich," Eiu junger Lern
n Sobald ich dem Schulzimmer entflohen war
meinen Freundinnen; ich galt überhaupt h\
und Lehrern als Musterknabe* Meine Mutl
mich zu ihren Geschäftsgängen mitzunehmei
1
— 51 — \
\
mich dann bei Einkäufen, wie mir\
gefiele. Bei jedem neuen Hut, den \
kaufte, wurde ich als Modell verwan\
wurden die verschiedenen Damenhüt
gesetzt und der mich am besten kl^
meine Mutter für sich. „Du siehst wie!
chen aus, sagte mir meine Mutter häui
probe, schade, daß du kein Mädel gewoi
selbe Gewährsmann gibt noch folgende s\
Schilderung: „Mein Vater war Offiz^
Willen gemäß sollten seine drei Söhnel
werden. Ich stand im 13. Lebensjahr!
Kadettenkorps einberufen wurde. Von \
setzten habe ich nur Gutes erfahren, da\
recht braver Schüler war und zum Tadeln
lassung bot. An den wilden Jugendspiele:
mich wenig und nur auf höheren Befehl,
waren Plauderstündchen mit gleichgesinnte:
die wilden mied ich, eines Tages aber h
Erfahrung machen, daß ein solch wilder
besondere Zuneigung zu mir faßte, mich öfters!
keiten beschenkte und mir half, wo er hei
dabei bemerkte er, ich besäße ein so „ätherisc!
das gefiele ihm so, er behauptete, ich duftete
Vanille. Im Singen war ich die Säule des S<
der Lehrer sich ausdrückte, und als in der
stunde Schillers Jungfrau von Orleans mit
Rollen gelesen werden sollte, und es sich u
Setzung der Jeanne d'Are handelte, da war m
keinen Augenblick im Zweifel und übertrug di<
unter allgemeiner Akklamation der Kameraden,
ab behielt ich im Korps den Titel: „Jungi
Orleans" oder auch „ Fräulein Johanna."14 Die
der normalsexuellen für den urnischen Mitschüler
weibliche Grundnatur sie instinctiv herausfühlen,
— 52 —
charakteristisch; so berichtet ein anderer Offizier, d«-r auf
einer Ritterakademie erzogen wurde, daß, als er 13 Jahr«*
alt war, fast alle älteren Knaben in ihn verliebt waren.
Mit der Märchenhaftigkeit hängt es auch ziisumim-ii,
daß urnische Knaben oft eine sehr große Ähnlichkeit mit
der Mutter haben, bei manchen wird auch die auffallend«'
Übereinstimmung mit der Großmutter hervorgehoben.
Doch ist beides durchaus nicht durchgängig der Fall, viel-
mehr zeigt die Erfahrung, daß ebenso wie die männlichen
und weiblichen auch die urnischen Kinder körperlieh und
geistig unter dem Einfluß der gemischten und latenten
Vererbung stehen. Viele scheinen in der Jugend mehr
der Mutter, später mehr dem Vater zu gleichen.
Von manchen Seiten, besonders von Tarnowsky, ist
vorgeschlagen, Knaben, welche zu weiblichen Beschäfti-
gungen neigen, recht zu verspotten, um so der Ent Wicke-
lung homosexueller Triebe vorzubeugen. Es heißt die
Macht der Erziehung weit überschätzen, wenn man an-
nimmt, daß eine so tief in der Persönlichkeit wurzelnde
Triebkraft dadurch nennenswert beeinflußt werden könnte.
Wir halten diese prophylaktische Maßnahme nicht nur
für wirkungslos, sondern auch für verhängnisvoll, weil sie
geeignet ist, das ohnehin schüchterne, empfindsame, zum
Weinen geneigte urnische Kind noch zaghafter und scheuer
zu machen. Diese Kleinen spüren es instinktiv, daß sie
eigentlich weder zu den Knaben, noch zu den Mädchen
gehören, ihr Selbstvertrauen leidet unter diesem Zwiespalt,
sie nehmen alles tiefer und ernster wie die gleichaltrigen
Kameraden. Unter den jugendlichen Selbstmördern, die
sich wegen gekränkten Ehrgeizes ein Leid antun, befinden
sich gewiß relativ viel urnische Knaben. Eine wohl-
bedachte Erziehung sollte das psychologische Erfassen der
Kindesseele zur Grundlage haben, sie sollte individuali-
sieren, indem sie die vorhandenen guten Keime in die
rechten Bahnen leitet, die schlechten Anlagen liebevoll
— 53 — \
hemmt. Statt dessen wird in völligel
Kindesnatur von Eltern und Lehrern ni
siert. Gerade die urnische Kindesseele, \
deutlich von der Knabenseele durch eine d
tat, von der Mädchehseele durch stärke
unterscheidet, enthält viele Keime, deren!
sich außerordentlich verlohnen würde. \
Die meist in hohem Maße vorhande\
f ähigung urnischer Kinder wird durch eine gel
heit und Verträumtheit, oft auch durcß
infolge allzureger Phantasie wesentlich beeinl
kommen die meisten recht gut in der Sch\
besondere Vorliebe besteht für schöngei^
namentlich Literatur, für Geschichte und\
Musik und Zeichen, etwas weniger für Sprac\
zeigen sich von 100 urnischen Kindern 90 ii
schwach für Mathematik veranlagt. Merkwüri
es demgegenüber, daß von den übrig bleibl
jedoch 4 eine weit über dem Durchschnitt stehe
matische Befähigung aufweisen. So schreibt eil
Ingenieur: „Ich habe auf dem Fragebogen meiii,
Fähigkeiten als „ hervorragend " bezeichnet, deni
ohne Überhebung sagen, daß ich als Knabe d^
schnittsmaß sicherlich ganz erheblich überragte. \
vor allen Dingen als guter Rechner und Math,
bekannt und von den Kameraden war meine ß
ihren Arbeiten stark gesucht. Vokabeln lernte ich \
leicht. Zu Hause zu arbeiten, hatte ich überhaui
nötig, ich lernte alles bei der ersten Durchnahme
Schule. Das sogenannte Präparieren und Rep
kannte ich überhaupt nicht, ich extemporierte st\
es sich um lateinische, griechische, französisch ei
englische Klassiker handelte. In Mathematik übern
ich meine Lehrer häufig durch rasche, elegante L
der Konstruktionsaufgaben und fand ein großes Vergn
— 54 —
daran, meine Lehrer selbst gelegentlich J
Den Primusplatz hatte ich bis in die <>
Urne.** Wim die übrigen Flfclicr iinhrhingt.
die Reifezeit herum bei uro lachen Kmthcn
religiöse Schwärmerei» zum Turnen nmng
Muskelkraft und Mut, doch wird «I
Geschicklichkeit, üslheti&ehcs Wohlgefallen
liehen Übungen der Mitwirkenden und 1
nachzutun, ausgeglichen.
Das [nUrflMI für den r«terricht«ge|
bei vielen im engsten Zusammenhang mit i
Lehrers, Die Verehrung urniseher Knalu
Lehrer, diejenige uniischer Mädchen I
Lehrerinnen und Erzieh erinneo tragt oft
hochgradiger Schwärmerei. Daneben geh
Zurückhaltung vor den Übrigen MitsehüU
heftige Zuneigung zu eiucm Kameraden, ch
typus besonders reizt; vielfach ist derse
anderen Klasse oder Schule. Masturbiert
Junge, was häufig der Fall ist, so gesc
Phantasiegebilde oder unter Yorstelluri
Personen, manche haben Abneigung vor sol
Hang zu mutueller Onanie. Im Traum spi
dem Erwachen des eigentlichen Geschlechts!
Kameraden eine grotie Rolle. Ein Urning
„Es bestanden schon sehr frühe seh wärm eri>
gleichgeschlechtliche Empfindungen, eine li
liebe hatte ich für schone Ministranten i
mit 8, 9 Jahren. Ich konnte mich nicht
sehen, im Traume setnvebten sie mir wied
vor/ Die leidenschaftliche Zuneigung un:
für Personen desselben Geschlechts ist von
schaft liehen Verhältnissen normaler Knabe,
einen erotischen Beigeschmack haben , w
schieden, Indem es sich bei letzteren oft
— 55 —
\
starken Freundschaftsenthusiasmus, oft
tive Herausfühlen des Ändersgeschlech
haften im TJrningsknaben, oder auch um
Manipulationen handelt. Ich halte die\
Professor Dessoir vertretene Auffassung,!
bische Geschlechtstrieb undifferenziert is
für richtig, als er nach der Reife erst klarer
tritt. Wie alle Geschlechtszeichen bereits!
faltung latent einen bestimmten Charakter!
der Trieb. Nur so sind die vom heterosö,
sichtlich abweichenden Ereignisse zu vers^
im Urningskinde abspielen, von denen icl
recht anschauliche Belege geben will; diei
Schilderungen rühren von Edelleuten, die viel
Kaufmann her.
1. Als Kind lebte ich in Märchenphantasieet
häufig Schelte, weil ich mir mit den Spielsachen mej
lieber zu schaffen machte, als mit Peitsche, Schau1
Zinnsoldaten. 1870 — ich war 8 Jahre — kam ein\
inspektor zu uns, der mich völlig bezauberte. Ich s
Mann bei Tische so unablässig an, daß mein Vater ;
was ich an ihm habe, worauf ich erwiderte, sein rt
gefiele mir über alles. Verabschiedete sich dieser Heri
von meinen Eltern, lief ich ihm auf den Korridor \
nach und erbettelte einen Kuß von ihm. Hatte ich eiE
erlangt, drückte ich diesen Kuß in meine Linke, ballte
Faust und nahm den Kuß so mit zu Bett, um in der 1
die Hand immer wieder zu küssen, bis ich einschlief. S
ich es auch, den Inspektor Sonntags in seinem Zimme
suchen und, wenn er auf dem Sofa lag, mich neben ih
strecken.
2. Ich haßte Knaben und Knabenspiele; das größt
war mir und meiner um 1 1/2 Jahr jüngeren Schweste
gegenseitiges, überaus inniges Verhältnis. Wir waren beid
all die Lieblinge, sie brünett, graziös und energisch, ich
sinnend, träumerisch, am glücklichsten waren wir ohne
Menschen. Meine Schwester war mein alter ego, wahrem
13 Jahre älterer Bruder, ein sehr schöner Mann, mein lOjä
— 56
El
reine«, unschuldiges Herx furchtbar verwirrte. Ich habe ihn tm-it
mehr seiner Schönheit, als seiner guten Eigenschaften weg«*n an-
gebetet. Dabei wurde ich äußerlich immer schroff «*r gegt-n ilm.
Mit 10 Jahren weinte ich eine ganze Nacht, als ich mich in »••in»T
mir schaurig-süßen Gegenwart zur Ruhe habe begeben iuii«««-n.
Ich empfand ein Schamgefühl, wie ich es in Vaters, Mutter» im<l
Schwester« Gegenwart nicht kannte. Ich erinnere mich irniau,
daß im 6. oder 7. Jahr vorübergehend meines Bruders Schönheit
mir wie ein geoffenbartes Mysterium durch Mark und Bein zitterte.
Klar und bewußt, natürlich als tiefstes Geheimnis zumal vor ihm,
habe ich ihn vom 10. bis 15. Jahr angebetet, am höchsten stand
diese Verehrung vom 10. bis 12. Jahr, als er sich verheiratet«*.
Ich war totunglttcklich, daß er uns dadurch ferner rückte und
empfand es als etwas Entsetzliches, daß er, wie ich glaubte, nun
seine Jungfräulichkeit einbüßte.
3. Ich bin auf dem Lande unter denkbar günstigen Verhiilt-
nissen aufgewachsen als achtes Kind unter neun (Jeschw intern,
von denen eine Schwester früh am Scharlach starb, zwei erlaben
der Schwindsucht während ihrer Brautzeit Erwiesenermaßen int
die Krankheit vom Bräutigam erst auf die eine, dann auf die
andere übertragen worden. Dies sind die einzigen Fülle von
Lungenschwindsucht, die überhaupt in unserer Familie vorge-
kommen. Meine Brüder und meine übrigen Geschwister sind <1.im
Bild der Gesundheit, wie ich selber. Von Kinderkrankheiten hatte
ich nur Masern und Keuchhusten, neigte aber bei den geringsten
Erkältungen sehr leicht zu Fieber, was sich aber seit meinem
zehnten und elften Jahre gänzlich gegeben hat.
Das Entzücken meiner Kindheit war das Puppenspiel. Mit
ausschweifendster Phantasie begabt, zeichnete und schrieb ich, so
gut als ich es damals vermochte, Modejournale für meine Lieb-
linge. Ich erfand zum Entsetzen meiner jüngsten Schwester,
meiner Spielgefährtin, die abnormsten Kostüme, meist Schlepp-
gewänder aus zarten, durchsichtigen Stoffen und Schleiern; insze-
nierte Tauf- Sterbe- und Heiratszenen, ich hielt Reden, bei denen
ich mich selber zu Tränen rührte.
Ich lernte sehr rasch und leicht, hatte aber ein schlechtes
Gedächtnis für Zahlen, während ich frühzeitig Liebe und Talent
für lebende Sprachen entwickelte, bei deren Erlernung sich stets
mein Gedächtnis als treu und fest erwies. Mit ziemlichem Wider-
willen dagegen betrieb ich Griechisch und Lateinisch. Mathematik
ist stets meine größte Schwäche gewesen, und bin ich darin,
trotzdem ich seinerzeit die Abiturientenpri
bestanden, unglaublich unwissend. \
Früh hatte ich ein leidenschaftliches Ve|
stellerisch tätig zu sein. Mit acht Jahren v\
spiel, das als Kuriosum noch bis heute in uns
blieb. Ohne je einen Roman gelesen zu habt
ein halbes Dutzend so betitelter Sachen in mei
und zwölften Jahre. Ich habe einiges davon a
manchmal noch mit stiller Freude gewisse Ste;
absoluter Unkenntnis des sexuellen Lebens ge\\
denn unter anderem ein Paar Zwillinge über 1
Vaters zur Welt kommen. Am Morgen beme^
die Überraschung, und beeilt sich, der ahnung^
Freudenbotschaft zu überbringen. \
Da es mir verboten war, andere Sprachei
Schule gelehrten zu betreiben, so verfaßte ich heil
erfundene Sprache mit besonderen Buchstaben. .
eigene Grammatik, in der Regeln mit den ungehe
nahmen vorherrschend waren; ich verfaßte Üb^
Lexika. Ein Resultat der Stunden der physikalisch
waren eigens gezeichnete, gemalte und geschriebi
unseren Buchten und inselreichen Seen, zu einer Z\
das Wasser als Land und das Land als Wasser a
schrieb sogar eine Geschichte der damals dort le^
und deren tragischen Untergang infolge vulkanisch*
welche dann schließlich die heutige Gestalt der Erdt
Folge hatten.
Die ersten noch unbewußten Regungen des h\
Lebens fallen etwa ins zehnte und elfte Jahr. Wir
Kutscher, einen schönen und kräftig gebauten M
dunkelm, langem Schnurrbart. Es machte mir stets
um ihn zu sein und ihn in seinen hohen Stiefeln, Led
Livreerook oder Winters in seinem russischen Sd
betrachten. Ich hatte schließlich das unwiderstehliche
ihn zu umarmen, da das aber schwer anging, so schlicl
öfters, wenn ich ihn bei der Arbeit wußte, in seine
schlüpfte in seine riesigen Stiefel, hing seinen Rock odi
mich und hatte ein Gefühl des seligsten Wohlbeha|
drückte die Kleidungsstücke fest und krampfhaft an n
der Geruch der Lederstiefel und der ledernen Hosen, w
auf meinem Schoß hielt und öfters an mich drückte, vt
mit dem Gedanken an den schönen groß gebauten Kutsc
— 58 —
ich mir dachte, indem ich die Kleidungsstücke an meinem K«»r|»«-r
befühlte, verursachten mir heftige Erektionen, über die ich j«-«it-w-
mal, ohne mir bewußt in sein infolge wovon sie entstanden, ent-
setzt war, da ich sie für eine krankhafte Erscheinung hielt. —
Eines Tages, nach reiflichem Hin- und Herdenken, wußte ich mit
Hilfe meiner Kameraden, Knaben, die mit mir erzogen wur<l«*u.
eine Szene ins Werk tu setzen, bei welcher der Kutscher veran-
laßt wurde, mich zu sich emporzuheben. Diese fielegmhHt
benutzte ich nun, da meine Kameraden mich ihm entreißen wollten,
meine Wange an sein bärtiges Gesicht zu legen, meinen Arm um
seinen Nacken zu schlingen und meine Beine fest an seinen Körper
zu pressen. Ich schloß die Augen und verspürte ein Gefühl
schwindelnder Wonne.
Im Sommer pflegten wir ein Haus am Strande zu beziehen.
Dicht an der Veranda, zwischen Haus und Meer, führte eine
Straße vorbei, auf welcher zu gewissen Stunden die Strom lan-
darmen vorbei patroullierten. — — Ich fühlte mich sofort zu
den strammen Kerlen mit hohen Stiefeln, straffer Uniform und
gebräunten Gesichtern mit flottem Schnurrbart, hingezogen. Bald
konzentrierte sich all mein Denken auf sie. Abends im Bett, vor
dem Einschlafen, malte ich mir die ungeheuerlichsten Szenen mim:
Es klopft ans Fenster, ich öffne neugierig, da langt plötzlich eine
braune Hand, ein Arm herein, an dessen Ärmel ich die mili-
tärischen Aufschläge und Knöpfe wahrnehme. Ehe ich mich
umsehe, werde ich hinausgezogen. Unter dem militärischen Mantel
geborgen, an der Brust eines Mannes liegend, den ich fest, fest
umklammere, so daß ich mein und sein Herz zusammen schlagen
höre, werde ich eilenden Schrittes davongetragen. Dazu höre ich
den Säbel klirren, empfinde den festen Tritt der derben Stiefel
und den Ledergeruch, den sie ausströmen. In eine Hütte tief
im Walde bringt mich der Gendarm, er legt mich in «ein Bett,
küßt mich und legt sich dann mir zur Seite, ich klammere mich
fest an ihn — und bin endlos glücklich, selig. Resultat
dieser Phantasien waren die Träume, in denen sie fortgesponnen
wurden, wobei ieh zum erstenmal Pollutionen hatte, bei denen ich
stets erwachte und entsetzt war über die merkwürdige Erschei-
nung, die ich für eine Krankheit hielt.
Schließlich verspürte ich ein riesiges Verlangen, diese Phan-
tasien zu verwirklichen. — Abends wenn es bereits dämmerte,
versteckte ich mich im Walde hinter einen Busch an der StraUe
auf welcher der Gendarm vorbei kommen mußte. Wie klopfte
mein Herz, wenn ich seine Schritte hörte Oft ging er so nahe
— 59 —
vorbei, daß ich nur meine Hand hätte a
um seine Füße zu berühren — aber ich tat
in einer Art Starrkrampf lag ich da, mit gei
der Hoffnung, er würde mich entdecken, unter!
und mit mir davon gehen — wie im Traumj
unendlichen Kummer nie geschah, gab ich
suche schließlich auf und tröstete mich in
Meinen Angehörigen teilte ich nie etwas vi
und Gefühlen mit — nicht weil ich etw
glaubte, aber doch wohl, weil ich mir schon
werde bewußt gewesen sein, etwas zu empi
selber verständlich war.
Ein anderes Erlebnis steht lebhaft in
Es ist ein wolkenloser, sonnig klarer Herbstti
ist geschnitten und liegt in schimmernden Garfi
pelfelde. Das Laub der Bäume in den Alleen A
mert gelblich, rötlich, und in der Ferne, voml
bis in die hellsten Schattierungen des Blau, dei
sich verlierend, die endlosen Wälder meiner Heim
sind auf der Jagd nach Feldmäusen, die wir unt
häufen hervorscheuchen. Da ein heller, schallend^
aufhorchen macht — und in der Richtung, wo e|
bhtzt und glitzert es. Die Musik wird lauter —
und Funkeln, das auf der Landstraße näher um
ist ein Trupp Soldaten mit blinkenden Säbeln im
biegen sie von der Straße ab und marschieren
die sich längst dem Felde hinzieht, auf dem wir
Den Soldaten voran marschiert ein Offizier, der i
in meinem Leben gesehen. — Er ist groß und kräi
dem Schnurrbart und blauen, froh leuchtenden
Bewegung an ihm ist Kraft und Leben und Freude
als wäre er die lustige Militärmusik, die ich hörte,!
der klare wolkenlose Himmel und die reine, köstlich!
die mich umgab. Es überkommt mich ein Gefühl gro\
Freude, ein Gefühl edler Taten- und Schaffensfreul
zugleich eines schrecklichen, mich erstickenden Sehn|
ich unwillkürlich die Hände emporstrecke — und dani}
beginne — mir selber nicht bewußt warum. — Die andei
waren den davonmarschierenden Soldaten nachgelaufen,
unbeachtet geblieben. — Zu Hause angekommen, erfut
der Offizier unser Gast war. — Aus welcher Veranlass^
sich der kleine Trupp Soldaten in unsere weltentleg«
— 60 —
einsamkeit verirrt hatte, vermag ich heute nicht zu sagen. — --
Im Vorhanae entdeckte ich den Säbel und Mantel de* ofiizi» m.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Silin* l zu
befühlen, und meinen Kopf in den Mantel zu stecken, wobei mir,
mit den peinlichsten Erektionen verbunden, deutlich die Stent» auf
dem Felde vor Augen stand. — Bei Tisch, wo ich kaum mrine
Augen zu erheben wagte, fesselten die strammen Beine un»«'re*
Gastes meine Aufmerksamkeit. Ich hätte diese Beine, in <l«r
kleidsamen Uniform sitzend, umarmen und drücken mögen. Beim
Abschiede hängte mir der Offizier ein goldenes Kreuzcheo, an
einer braunseidenen Schnur, um den Hals. Ich war daiiialn, wie
wenigstens meine älteren Geschwister behaupten, ein au*nehmen<i
hübscher Junge. — Das Geschenk machte mich selig. Man Melle
sich daher meinen Schmerz und meine Wut vor, wie meine streng
orthodoxe, evangelisch-lutherische Mutter mir verbot das Kreuz
zu tragen, weil es ein nach griechisch-katholischem Muster
geformtes war, und es mir einfach fort nahm. Ich heulte, aber
was half es! Noch Jahre ist der Besitz dieses Kreuzes das höchste
Ziel meiner Wünsche gewesen, ja ich ging sogar einmal mit dem
Gedanken um, den Schreibtisch meiner Mutter zu erbrechen, um
mich so in den Besitz des Heiligtums zu bringen. Aber die
Jahre vergingen, und das Kreuz ist in Vergessenheit geraten.
4. Mein Vater las und studierte viel, zum Landwirt war er
garnicht geeignet. Störungen liebte er garnicht. Wenn wir zu
laut wurden, und dann sein Befehl „Ruhe- bis in die Kinderstube
drang, wurden wir sofort vor Schreck mäuschenstill. Wir mieden
die Zimmer, in welchen er sich aufhielt, tunlichst und waren ihm
eigentlich stets merkwürdig fremd geblieben. Um mein Seelen-
leben hat er sich nie recht bekümmert. Mein weibliches Weaen,
meine mädchenhaften Eigenheiten entgingen selbstverständlich
ihm ebensowenig, wie Anderen. „Der Junge ist das richtige
Mädel", äußerte er sich zu meinem Ärger oft Fremden gegenüber.
Mit Zinnsoldaten spielte ich nur, weil ich als Junge doch eigent-
lich mußte. Das war der Beginn meines Urningschicksals: im
Leben stets Komödie spielen zu müssen, beständig etwas Anderen
vorstellen zu müssen, als man in Wirklichkeit gern möchte.
Am liebsten stellten meine Schwester und ich erwachsene
Herren und Damen dar. Meiner Schwester imponierten die
schwarzen Husarenoffiziere der Garnison, die ständige Besucher
unseres gastlichen Elternhauses waren und sich manchmal auf
Bällen den Scherz machten, die kleine Dame zu einer Extratour
zu engagieren. Sie umgürtete sich mit einer Elle als Sähel,
— ■ 61 —
stülpte einen ausrangierten, altmodischen
den Kppf, machte sich aus Blumendraht ei
den Herrn Leutnant vor. — loh entlehnt«
eine gebrauchte Küchenschürze, die ich verkl
Schleppe zu markieren, hing mir Mamas
setzte den Gartenhut meiner Schwester, di
Fliederzweig oder eine dem Gärtner entwend
zu geben suchte, kokett auf den Hinterkopf, u:
für die „Stirnlöckchen" zu haben, und bildet
sehr schöne und vornehme Dame zu sein,
haben heute wieder ganz wun-der-bare Toilette^
dann meine Schwester, die Hacken zusamme]
Herr Leutnant, es ist nur ein ganz einfaches
meiner Meinung nach sehr distinguiert die Auj
indem ich die Kattunschleppe meiner imagi
möglichst graziös aufraffte und mir mit einem gr<
welches den Fächer vorzustellen hatte, KtihlunL
ich in der Stadt zur Schule kam, fingen meine 1
Ein nicht normal veranlagtes Kind sollte man
Schablone erziehen. Für mich hätte ein einsicl
lehrer ein Segen sein können. Das Gymnasium, zri
ich fortan zählen sollte, war für mich — in den
wenigstens — einfach eine Marter. Wenn man
schüchternes Mädchen in eine Klasse von 40 bis 50
steckt, wird es sich unter diesen sicher nicht behl
und es hat doch wenigstens den Vorteil voraus, gl
als andersartig gekennzeichnet zu sein. Ich arme,
liehe Mädchenseele im Knabenkörper, befand mich
inmitten eines halben Hundert derber Großstadt) ungei
große Hoffnungen auf die Schule, angenehme Lehrei
Mitschüler gesetzt; ich sollte gräßlich, enttäuscht we
all den Jungen hätte ich nicht einen zum Freunde hat
ebenso hätte sich wohl ein Jeder von ihnen für mei^
schaft bedankt. Wir waren gar ^u verschieden geartet \ii\
Mein Lehrer war ein Mensch, der gern durcl.
Scherzchen über meine Zimperlichkeit den Hohn meiner a
die ohnedies zu Hänseleien nur zu sehr geneigt waren
forderte. Zimperlich war ich, das , steht fest, heute muß i
darüber lachen. Als ein Beweis meiner tibergroßen Schill
keit, die vielleicht durch meine Veranlagung bedingt wi
erwähnt, daß ich es Jahre lang nicht über mich gewinnen-
den gemeinsamen Abort zu benutzen.
r>2 —
Mit einigen meiner Mitschüler wurde ich genauer Im1umi(.
Für einen schönen Polen, ein Bild von einem Mcnnchen, inter-
essierte ich mich sehr; er war, wenn iche* recht bedenke. m»-ixir
erste Liebe. Küssen durfte ich ihn bei allen möglichen Anlagen
ohne Auffälligkeit, da es ja bei den Polen sehr üblich ist. Ich
machte ihm kleine Geschenke, erwies ihm, so oft es anging. Auf
merksamkeiten, nm wieder geküßt zu werden; zu meinem Leid-
wesen tat er es ganz leidenschaftslos. Er war jünger al* ich.
und meine Klassen kollegen verdachten e* mir »ehr, daß ich mit
dem Jnngen umging und sie vernachlässigte. Meine Neigung « ar
so groß, daß ich mir nichts daraus machte nnd die rnlirhen»-
würdigkeiten, die das im Gefolge hatte, willig ertrug. Kr l»«uii
die den meisten Polen eigene oberflächliche Liebenswürdigkeit :
sehr tief war seine Neigung zu mir nicht, es schmeichelte ihm,
von dem Schüler der oberen Klasse bevorzugt zu »ein. Ge-
schlechtliche Annäherungen haben weder mit ihm, noch mit
anderen Schülern stattgefunden ; ich ergab mich stillen Ergüssen.
Als ich meinen Adonis nach Jahren wiedersah, hatte er viel \ « m
seiner Schönheit eingebüßt, war ein großer Mädchenjäger ge-
worden und litt an einer Geschlechtskrankheit
Bemerkenswert ist noch ein Traum, der ganz homosexueller
Natur war, obgleich ich damals von gleichgeschlechtlicher Lieb«»
nicht die geringste Ahnung hatte. Dieser Traum ist für mich «1er
untrüglichste Beweis, daß mein Urningtiim angeboren ist: Einer
meiner Lehrer, ein hübscher, unverheirateter Herr, war mein Ideal.
Bei ihm hatten wir Geographie und Geschichte, meine Lieblings-
fächer. Um ihm zu gefallen, bereitete ich mich für seine Stunden
mit der größten Sorgfalt vor und blieb selten eine Frage schuldig.
Von ihm träumte mir nun, und zwar so lebhaft, daü ich noch
beim Aufwachen das deutliche Gefühl davon hatte, er läge bei
mir im Bett. Der Traum war ungeheuer wollüstig und bewirkte
eine Ejakulation. Ich mußte sehr oft daran denken, sprach «her
zu Niemandem davon, weil ich mich schämte. Als ich nach dem
Abiturienten-Examen bei ihm, der mir in der letzten Zeit keinen
Unterricht mehr erteilt hatte, meine pflichtschuldige Visite machte,
küßte er mich glück wünschend und abschiednehmend auf die
Stirn. Dieser Kuß erregte mich so stark, daß ich an mich halten
mußte, ihm nicht um den Hals zu fallen. Heute bedaure ich, es
nicht getan zu haben; ich glaube, er hätte mir meine Dreistigkeit
verziehen.
Die letzten Schuljahre waren besser als der unglückselige
Beginn. Meine Zeugnisse waren befriedigend, und die Lehrer
lobten mein musterhaftes Betragen — ein 1
nie gewesen. Während der letzten drei 4
Primus und meine Mitschüler gestanden mir ä
eine gewisse Autorität zu. Ich konnte also!
alles gut!" Diese Vergeltung war mir dasScrn^
der vielen vorherigen, ich kann wohl sagen — ui
die mir die Kindheit vergifteten, schuldig. I
die Leiden der Knabenzeit auf mich machten,!
daß ich selbst jetzt noch, „im
bangen Schulträumen heimgesucht werde; ich ei
um dann aufzuatmen mit dem erhebenden Bewii
Kümmernisse zum Glück längst nicht mehr
angehören. \
Von hohem psychologischen Interesse ist!
Schilderung:
Ich habe mein Leben lang ein so zartes S
sessen, wie es nur wenigen Menschen eigen zu sein
Schamgefühl äußerte sich spontan und unwillküri
allein dem männlichen Geschlecht gegenüber. Mi
über befliß ich mich zwar gleichfalls eines züchtig«
haften Benehmens, aber ich befliß mich desselben eb<
einem Gebot der Sitte, es war nicht ein natürlicher
dem ich mich angetrieben fühlte. Noch erinnere ich
daran, wie einst, als eine Blatternepidemie ausgebroc)
Arzt erschien, um in der Schule zu impfen. Die Kn
die Böcke ausziehen und den Hemdärmel zurückschlage!
war ich nun völlig empört und ich wollte heim!
schleichen. Ich gab meinen Unwillen und meine Befa]
so deutlicher Weise kund, daß ich dem Lehrer auffiel,
befragt, äußerte ich, daß ich mich vor den anderen Kn
mit entblößten Armen sehen lassen wollte. Es nutz)
nichts, ich mußte. Aber als ich an die Reihe kam, bri
Gesicht mir heiß vor Scham und das Herz pochte mir h<
Aufregung. Hätte ich mit den Mädchen zusammen mich e\
müssen, es wäre mir vollständig gleichgiltig gewesen,
nicht die leiseste Spur irgend eines Gefühls der Unlust
Scham in mir wahrgenommen. So aber ging ich nach be
Impfung gekränkt und in meinem kindlichen Gemüt aufsl
verletzt von dannen. — Ich hätte um alles in der Welt t
mit anderen Knaben zusammen gebadet oder mich auch n
offenem Hemd vor ihnen gezeigt. Ich hatte deshalb vu
fl
— 64 —
meinen Kameraden zn leiden and wurde oft bis aur rn<*rträfrlirhkt-it
geneckt Aach am Gymnasium ging es mir nicht vi«»l t>«4»»«r.
Als einst der Religionslehrer vom heiligen Aloysius erzählt«« und
erwähnte, daß dieser es nicht einmal über sich gebracht ln»l»«\
barfuß vor irgend jemand sich sehen su lassen, da gm* «in
kicherndes Gemurmel durch die ganze Klasse, aus dem drutluh
mein Name herauszuhören war, und von den verschieden» t<-n
Seiten richteten sich die Blicke auf mich. Am Schluß der Stund«*
traten einige besonders übermütige Jungen an mich heran und
apostrophierten mich: „Heiliger Aloysius, bitt Air uns!44 — AU
einst in die Wand zwischen dem Abort unserer Klasse und dem
eines anderen Kurses der Unterhaltung wegen ein Loch gebohrt
worden war, wagte ich zwar nicht Anzeige zu erstatten, da ich
dabei verlacht zu werden fürchtete, aber ich nahm nun stet*, wu*
für ein Bedürfnis ich auch zu befriedigen haben mochte, ein
Blatt Papier und eine Stecknadel mit mir, so lange, bis das Loch
vom Schuldiener bemerkt und Abhilfe geschaffen worden war. —
Als ich zum ersten Mal — ich war etwa 16 Jahre alt — vou den
Sitten und Gebräuchen der Kaserne erzählen hörte, war ich
darüber so entrüstet, daß mich ein völliger Haß gegen den ganzen
Militarismus erfaßte. Ich erblickte in ihm eine Negation meiner
Natur und meines Empfindens, einen Hohn auf meine Gefühle.
Und ich bin seither dem Militarismus nie wieder hold geworden.
Der Tag, an dem ich mich selber stellen mußte — ich war nur
einmal dazu genötigt — ist mir einer der qualvollsten meines Indiens
gewesen. Dagegen empfinde ich, wie gesagt, dem weiblichen
Geschlecht gegenüber nichts, was über ein bloßes Anstandsgefühl
hinausginge. Ein eigentliches Schamgefühl dem Weib gegenüber
kenne ich nicht Es ist mir vollkommen fremd.
Diese lebenswahren Schilderungen, herausgegriffen
aus einer größeren Anzahl ähnlicher, gewähren einen höchst
wertvollen Einblick in die Psychologie der urnischen
Kindesseele.
In der Reifezeit zeigen sich bei urnischen Knaben
und Mädchen allerlei von der Norm abweichende Er-
scheinungen. Der Stimmwechsel tritt oft überhaupt nicht
ein, manchmal erstreckt er sich über eine lange Zeit, nicht
selten macht er sich verhältnismäßig spät mit 19 oder
20 Jahren bemerkbar; sehr viele haben nach der Mutation
noch die Neigung, Sopran oder Fistelst
andere, die nicht mutiert haben, sind\
methodische Übungen ihr Organ wesentl
So berichtet W. v. S., ein ganz hervorra;
sänger (mit Tenorqualitäten), dessen Bild il
Damentracht wir beifügen1): „Meine Stim^
merklichen Umschlag oder Übergang g
Jahren konnte ich Sopran singen, und \
heute (30 J.), tiefere Sprech- und Singtön4
durch Schule und Übung erlangt.* Währ
größerung der Stimmbänder ausblieb, veri
während der Reife um so mehr die Brüste, <\
wie ich mich durch Inspektion und Palpatio\
einen vollkommen weiblichen Charakter \
werden junge Urninge wegen ihrer hohen m
geneckt, so schreibt ein urnischer Arbeit^
Stimme ist nicht gebrochen, man nannte mich \
kreisen mit 19 Jahren wegen meiner helld
„Gretchen." Bei vielen bleibt die Stimme d
liehe Kraft. Urnische Mädchen bekommen zil
Pubertät oft eine tiefere Stimmlage. Ich M
derartigen Fall, wo ein Spezialarzt für Halskr^
weil er Kehlkopfkatarrh annahm, mehrere Monat*
Eine urnische, jetzt 25jährige Journalistin bericti
der ßeifezeit trat der AdamsapfeJ stärker bei m\
Ich bekam eine Singstimme, die sich nur bi^
zwischen der dritten und vierten Linie erstreckt,
das tiefe c des Basses umfaßt. Ich pflege Lie^
anderes stets in der tieferen Oktave des Soprans,
Tenor zu singen. Man sagt allgemein, ich hättl
einen Tenorklang." Der Bartwuchs stellt sich bd
sehen Jünglingen oft sehr spät, oft auch recht sj
und ungleich ein. Dagegen ist ein hie und ä
J) Siehe Tafel 1 in Anlage.
Jahrbuch V.
— es —
Schmerzhaftigkeit verknüpfte An*chw
zur Reifezeit i in bei urnincbeii KnaU»
seltenes Vorkommen, während hingegtO
recht häufig sehr mangelhafte lirustentwi
Bei ti mischen Knaben weheint mir en
ein besonders Üppiger an da» Weib ei
des Haupthaares vorzukommen, hingegen
hebaarung iirnischer Knaben oft fem in
Mädchen oft virile Anklänge auf. V%
Störungen findet man bei tiroisch» OB B
mäßig häufig Migräne und Chlor
von denen sonst mit Vorliebe das wei
heimgesucht wird.
'■•
Sind diese letztgenannten Zeichei
1
nicht in jedem Fall nachweisbar, und U
i
auch nicht mit unbedingter Sieh er hei t i
Empfinden schließen, so wird die Dia
mit den vorher geschilderten psycho
doch eine völlig sichere.
Ich habe wiederholt her 10 bis 14
die Diagnose Uranismus gestellt. So
eine Mutter mit einem 12jährigen
Migräne litt, sehr schreckhaft war un»!
wurde von seinen Mitschülern, an derei
nicht beteiligte, viel gehäuselt, war am
Cousine zusammen und hesatt einen F
der Sommerfrische kennen gelernt hatte
täglich korrespondierte. Er liebte hesoi
Musik, dagegen konnte er Mathematik
^^^^^■H
Die Untersuchung des bei großer Liebem
ordentlich schamhaften Knaben ergab
(
unentwickelten Genitalapparat, der Pcnü
4 jährigen Kindes, dagegen zeigte sicLi e
^^si
der Mammae wie bei Mädchen im Beg
y^
Ich stellte die Diagnose auf Uran Um u
I
Eltern entsprechend auf. In diesem ui
Fällen ist die Zeit noch zu kurz, sodaß eil
Bestätigung ermangelt. Dagegen habe ichi
18jährigen ausgesprochen homosexuellen \
bereits vor 4 Jahren , ehe derselbe ei
Uranismus diagnosticieren können. Noch
Beobachtung gehört hierher. Ich erinnd
meiner Gymnasialzeit an einen Knaben, \
Mitschülern „ Mieze* genannt wurde. N^
femininen Eigenschaften besaß er eine besoi
fertigkeit im Kochen und der Verwendung
die er Papierpuppen sehr geschickt aufnäh!
der vorjüngste von sieben Geschwistern, meiste
die alle dieselbe strenge Erziehung genossen,
wurde, als der Sohn in Quarta war, versetzt
mir dieser Mitschüler völlig entschwunden, i
Zwischenstufen-Studien fiel er mir ein und i{
nach mehr als 20 Jahren, was aus ihm \
sei. Ich erfuhr, daß er Damenhutmacher \
geblieben war und seit Jahren ein anscheinend s^
Verhältnis mit einem von ihm überaus verehrtet
hatte, auch lagen andere Anzeichen vor, die ül
Geschlechtszugehörigkeit keinen Zweifel ließen,
urnischen Kinde war ein homosexueller Mann g
mit derselben Naturnotwendigkeit, mit der sich \
Normalkinde ein heterosexueller Mensch entwicfc
IL Das Hartnonische der urnischt
Persönlichkeit.
Es spricht ganz außerordentlich für das Angebot
einer Eigenschaft, wenn diese mit der ganzen Persfc
keit aufs innigste verknüpft ist, mit ihr in völj
Übereinstimmung steht, sozusagen aus der Tiefq
ganzen Individualität emporsteigend mit elementare!
— 68 —
walt hervorbricht. Das ist bei der Homosexualität in
höchstem Grade der Fall. Wären die gleichgeschlechtlich
Empfindenden körperlich und seelisch in Nichts vom weib-
liebenden Mann unterschieden, wären sie dieselben kraft-
voll erobernden, selbstbewußt berechnenden, mutig wollen-
den Menschen, wären die homosexuellen Frauen die
gefühl- und stimmungsvollen, anschmiegenden, zurück-
haltenden, von Kindessehnsucht und Mutterliebe erfüllten
Wesen, die Gegner hätten Recht: diese Menschen, die
zu einer Wiederholung ihrer selbst Neigung verspürten,
böten etwas Disharmonisches, Monströses dar. Es gereicht
der Menschheit zur Ehre, daß ihr so kraße Inkonsequenzen
nicht eigen sind, der Mann, der Männer liebt, die Frau,
welche Frauen begehrt, sind nicht Männer und Frauen
im landläufigen Sinn, sondern ein anderes, ein eigenes,
ein drittes Geschlecht. Naturgesetze werden durch
mangelndes Natur Verständnis nicht Naturwidrigkeiten,
eine Erscheinung, deren Sinn wir nicht erfassen, ist darum
noch nicht sinnlos, so wenig etwas, dessen Zweck uns nicht
klar, zwecklos ist. Bei der Beurteilung eines Naturrätsels
dürfen wir uns freilich nicht an Teile halten, sondern
müssen das Ganze zu ergründen suchen, ein körperlicher
Teil kann irreleiten, das psychische, dessen Bedeutung in
unserer materialistischen Zeit so sehr unterschätzt wurde,
bringt uns dem Ding aii sich schon näher. Martials
Pentameter, „pars est una patris, caetera matris habet/ nur
ein Teil ist männlich, alles übrige weiblich, paßt auch
noch heute auf sehr viele Menschen. Wenn man auch
diesen Teil als den Geschlechtsteil xar e^o^v bezeichnet,
so bleibt er doch immer nur ein Teil. Die Auffassung
mancher Gelehrter über die Geschlechtszugehörigkeit einer
Person erinnert lebhaft an den Vorschlag, den ich als
Sachverständiger vor Gericht wiederholt von Laien hörte,
man möchte doch den Menschen, die sich gegen § 175
vergingen, den Penis abschneiden, dann würden sie ja
ganz brauchbare Bürger sein. Ich erwicl
täte dann besser, ihnen den Kopf abzii
dieser, nicht das membrum, sei der Teil
sündigten.* Tiefer in den Kern der Saci
eine Antwort, die ich bei einer andern Geric\
hörte, zu der ich als Gutachter zugezogen \
Vorsitzende die Zeuginnen fragte, was sie \
Angeklagten gedacht hätten, der beschuldig},
belästigt zu haben, welche mit ihnen im Dui
gartens den Koitus vollzogen, entgegnete \
stituierten unter großer Heiterkeit des Q
„Wir glaubten, es sei ein Weib in Männergestä
falls können die primären Geschlechtschara
nicht den Ausschlag geben, das Zentrum ist\
wie die Peripherie; da es mehr als zwei G
gibt, ist die innere Empfindung, nicht allein \
Erscheinung das Entscheidende.
Die Äußerungen dieser inneren Empfi
schränken sich allerdings keineswegs auf rein
liehe Handlungen. Die Sexualpsyche im wer
beherrscht mehr oder weniger unbewußt die ganz
führung und Geschmacksrichtung einer Person,
auch nicht im entferntesten geahnten Umfangt
die Schicksale und Werke der Menschen ihre gel
volle Hauptaxe in das Geschlechtszentrum hinein
wir bei der Beurteilung und Abschätzung eines Mi
seiner Sexualpsyche mehr Berücksichtigung zu Teil \
lassen, wir würden die Gestalten und Geschehnis
Weltgeschichte ganz anders zu verstehen im Stand
wie es bisher der Fall ist. Mit Recht sagt Niet\
„Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Men
reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hii
und der Dichter Przybyszewski hebt seine Totenri
(1893) mit den gewichtigen Worten an: „Ani Anfang
das Geschlecht, nichts außer ihm, alles in ihm."
— 70 —
Deshalb ist es auch für das Verständnis hoher und
führender Menschen von so unschätzbarem Wert, ihre
Sexualpsyche richtig zu erfassen. Man meine doch nicht,
— ich bemerke das besonders gegenüber Fuld — daß,
wenn wir in diesen Jahrbüchern große Geister sexual-
psychologisch analysieren, damit zwecklose Indiskretionen
begangen werden; so fern es uns liegt, wenn von Bismarcks
männlicher Kraft, von der Weiblichkeit der Königin
Louise die Rede ist, an heterosexuelle Handlungen zu
denken, ja so abstoßend der bloße Gedanke daran ist,
genau so niedrig sollte es sein, homosexuelle Akte im
Auge zu haben, wenn von Michelangelos oder des großen
Friedrich Urningtum gesprochen wird. Der Betätigung
— das kann nicht oft genug wiederholt werden — ist
nur ein ganz untergeordneter, höchstens symptomatischer
Wert beizumessen gegenüber der Gesamtheit der psychi-
schen Sexualität.
Wenn wir im folgenden von der Urningspsyche eine
Schilderung entwerfen wollen, so sind wir uns voll be-
wußt, nur ein Schema geben zu können. Denn ist es
schon schwierig, das Charakteristische der männlichen
und weiblichen Seele klar zu fassen, das individuelle von
dem gemeinsamen, das nebensächliche vom wichtigen zu
trennen und zu unterscheiden, was vom Geschlecht, was
vom Alter abhängig ist, was Natur, was Kunst bewirkte,
so erhöhen sich diese Schwierigkeiten ganz ungemein bei
dem Urning, wo der innere und äußere Zwang ein un-
gleich größerer ist. Die meisten bemühen sich, wesent-
liches in ihrer Natur zu unterdrücken, anders zu erschei-
nen, als sie sind; viele sind stolz darauf, wenn sie ihre
männliche oder weibliche Rolle so gut spielen, daß „ihnen
keiner etwas anmerkt."
Es kommt hinzu, daß die Typen Mann — Urning —
Urninde — Weib nicht fest normiert einander gegenüber-
stehen, sondern daß es naturgemäß zwischen diesen auch
- 71 - \
wiederum Übergänge gibt. Die weiblicl
die in jedes Mannes Geist und Körper nal
finden sich in geringerem und höheren G
Summe so stark ist, daß für den Gesehl©
mehr in dem Weibe, sondern in dem Jü^
gänzung empfunden wird. Das ist die Gt
ab wir den Mann als Urning bezeichnen, in \
männlichea und weiblichen Eigenschaften^
stark auftreten, bis sie ganz allmählich, in
loser Linie über das urnische Weib, die meli
ger männliche Frau zum Vollweibe führen. \
also Mann — Urning — Weib als drei Geschieh
getrennt und umgrenzt gegenüberstellen, so %
in den früheren Fehler. Wie von Mann \
können wir auch vom Urning nur einen Durchsei
geben. \
Wenn wir die Wesenheit der reinen Manlj
der Aktivität, die der Frau in der Passivität zij
haben, so läßt sich von der Urningsseele sagei
viel aktiver, wie die weibliche, aber nicht so
die männliche ist, ferner, daß sie viel passiver^
männliche, aber bei weitem nicht so passiv wie i
liehe Psyche erscheint. \
Äußere Eindrücke wirken auf den Urning
stärker ein, als auf den Mann, sein Gemüt ist
widerstandsfähig, weicher, empfindsamer, dieBesti;
keit größer, die Stimmung wechselnder. Freude, H<^
Begeisterung heben ihn höher, Schmerz und Leid d
ihn viel tiefer darnieder. Oft besteht eine ausgesprl
Neigung, sich Stimmungen hinzugeben; so bericht
Urning, er schlösse sich mit Vorliebe Leichenbegäng
an, um weinen zu können.
Demzufolge treten auch das Mitgefühl, das Mi
die Hilfsbereitschaft stärker hervor. Der erbitterte
kurrenzkampf, das energische Eintreten für gewöhn
— 72 —
Interessen, das Kriegführen, Schießen und .lagen liefen
dem Urning im allgemeinen nicht, auch ist der Hang *"
verbrecherischen Handlangen — selbstverständlich zu
wirklichen Verbrechen — bei ihm gan« außerordent-
lich selten. Zum strengen Vorgesetzten ist er nicht
recht geeignet Sehr bezeichnend ist folgende Schilderung
eines umischen Offiziers: „Meine Leute hatten mich gern ;
ein junger Rekrut, dem infolge Blutvergiftung der Arm
amputiert werden mußte, wünschte ausdrücklich, daß ich
bei der Operation zugegen sein sollte. Der Arzt will-
fahrte seinem Wunsche; ich reichte ihm die Hand vor
der Narkose und so schlief er ruhig ein. Nach der < >pe-
ration verließ ich auf kurze Zeit das Krankenzimmer -
da hörte ich vom Nebenzimmer aus meinen jungen Rekru-
ten, der soeben wieder erwacht war, die Worte aussprechen:
„Wo ist denn mein Leutnant?44 Sofort erschien ich wie-
der am Krankenlager, reichte meinem armen Patienten,
der mich traurig anblickte, die Hand. Ich nahm mich
meiner Rekruten in jeder Weise an, die Leute gingen für
mich durchs Feuer, vermied übermäßigen Drill, war stets
in der Kaserne, da ich am Wirtshausleben keinen Heiz
fand — so fiel die Rekruten Vorstellung glänzend aus und
dank auch meiner guten theoretischen Kenntnisse gewann
ich das besondere Lob meines Kommandeurs.*
Man kann häufig beobachten, daß in exklusiven Ver-
bänden, namentlich in militärischen und studentischen
Korps, urnische Mitglieder wegen ihres höflichen, ge-
fälligen, aufopferungsfähigen Wesens anfangs sehr wohl
gelitten sind, im Laufe der Jahre aber Schwierigkeiten
haben, weil sie sich nicht in die strenge Etiquette fügen
können und mit Außenstehenden freundschaftliche Be-
ziehungen anknüpfen. Ebenso erwachsen ihnen oft auch
mit ihren Familien Unannehmlichkeiten, weil sie in Krei-
sen verkehren, die diesen nicht standesgemäß erscheinen.
Die Unterschiede des Standes, der Religion, der Rasse
- 73 - \
\
und Nationalität spielen bei dem Urning
ferntesten die Rolle, wie bei dem normale
Er besitzt nicht den Stolz, das Selbstbe^
häufigen Dünkel des Vollmannes. Für den^
begriff fehlt ihm das Verständnis. Wohl ist \
und leicht verletzt, aber die Fähigkeit zu hass
abzugehen. Er ist eben nicht das, was man \
Kerl" nennt. Eine Beleidigung durch eine and
zu erwidern ist ihm nicht gegeben. Findet siel
in der Grettissaga (28) der kriegerischen Y
bezeichnende Spruch; „Der Sklave rächt sici
(d. i. der Urning) nie." Weniger aus Feigh^
ihm das Gefühl der Rachsucht mangelt, zii
lieber zurück, meist ohne Groll. Immer \
Verzeihen geneigt, oft in . zu hohem Maße vers^
er im Gegensatz zum Weibe gewöhnlich weder na^
noch kleinlich. Die Gutmütigkeit vieler Urani«
weit, daß es ihnen unmöglich Jst, eine Fliege umz
Selbst seinen ärgsten Feinden, den Erpressern \m
gegenüber, bewahrt der Homosexuelle ein sympl
Gefühl. Was von Leonardo da Vinci berichtet
er den Lieblingen, die ihn bestahlen, nie seine Liebt
klingt durchaus glaubwürdig. Die Großmut, weli
Urning Feinden gegenüber zu zeigen imstande ist
geradezu erstaunlich. Freier von Vorurteilen a
Durchschnittsmann, ist er meist unfähig, ein hartes \
zu fällen. Alle diese Eigenschaften befähigen ihn ung
zum Altruisten und Vermittler, zum Friedensstift^
Überwinder sozialer Gegensätze. Dabei beschränkt
sein philantropischer Zug fast nie auf seine Klasse*
gar seine Familie, sondern geht auf die große ~Ml\
Ein urnischer Arbeiter schreibt: „Dort wo es gilt, 1^
zu erkämpfen, wo es sich darum handelt, die schlumm
den Geister aufzurütteln, die starre Masse eine Si
weiterzubringen zur Veredelung und Vermenschlicht
— 74 —
dort bin ich der höchsten Begeisterung fähig und möchte
Schulter an Schulter vorwärts stürmen mit den edlen
Kämpfern für Wahrheit und Recht* Ein anderer streng
katholischer Urning aus Arbeiterkreisen: „ich möchte alle
Menschen glücklich sehen, alle sollten sie die Allmacht
Gottes preisen, ich möchte ein Bild malen, alles in Nebel
gehüllt, darüber eine leuchtende Sonne, die mit Gewalt
die Nebel zerteilt." Urnische Fabrikbesitzer geben wieder-
holt an, daß sie einen förmlichen Drang haben, für die
ihnen unterstellten Arbeiter zu sorgen, Wohlfahrts-
einrichtungen zu schaffen.
Oft fehlt es jedoch an Mut und Beständigkeit, das
gute Vornehmen in die Tat umzusetzen. Der Wille ist
beim Urning durchaus nicht so schwach, aber es besteht
daneben vielfach ein beträchtlicher Hang zur Bequemlich-
keit und Scheu vor der Menschen Gerede. Jedenfalls
zieht ihn im allgemeinen die geistige Arbeit mehr an als
die körperliche. Es kommt das instinktive Bestreben
hinzu, etwas zu leisten, was auf Personen desselben Ge-
schlechts Eindruck macht, sie fesselt und erfreut. Von
vielen wird auch die Arbeit als große Trösterin empfunden.
Der Trieb, andere geistig zu befruchten, ist häufig sehr
ausgesprochen. Es resultiert daraus eine bei Urningen
weit verbreitete Befähigung zum Pädagogen, zum Volk.s-
erzieher im engeren und weiteren Sinne. Unterstützt
wird dieser Drang durch den mehr oder weniger unbe-
wußten Ehrgeiz, sich geistig vor der Umgebung auszu-
zeichnen. Besonders an urnischen Bauern und Arbeitern
fällt es auf, wie sehr sie ihr Milieu überragen. Mit
diesem Ehrgeiz verbindet sich oft starke Empfänglichkeit
für Beifall und Bewunderung, die aber fast immer in
eigenartiger Weise mit einer gewissen Bescheidenheit und
Scheu verknüpft ist. Der Urning schafft fast stets aus
dem Gefühl heraus. Das zielbewußte, verstandesgemäße
Arbeiten des Mannes ist ihm nicht eigen. Das Zahlen-
— 75 —
gedächtnis ist vielfach sehr schwach, Math
Mehrzahl geradezu „ein Gräuel" Voren
ihm der Trieb zu empfangen, aufzunehmen,
der Empfängnis heraus formt und gestalte
starken Gefühlsleben entsprechend ist d;
Empfinden, der Sinn für schöne Form*
Kunst und im täglichen Leben boehgradi
In erster Reihe steht das Verständnis für
ebenso groß ist die Freude an der Plastik,
an der Malerei und Architektur anschließt
Interesse für Schauspielkunst, Litteratur, E,
ist ein lebhaftes. Für alle „schonen Kunst i
Kochkunst und Kunststickerei bis zur Bildi
finden sich starke Talente im Urning tum. I
die von der Sexualpsyche abhängige Gesohniac
meist eine eigentümliche Mischung männlicher
lieber Tendenzen, die im großen und kleinen d
Tage tritt; beispielsweise ist das in der Kle
Fall, viele halten das antike griechische Gewan*
schönste, ein urnischer Künstler bemerkt: „Ichs
für lange, wallende Gewänder, trotz der Gewöhn;
halben Menschenalters schäme ich mich in der
liehen Männerkleidung, ohne langen Mantel he*
nie die Straße, am meisten geniere ich mich iL
bei Ausübung meines Berufs auf dem Podium, zi
trage ich nur schleppende Gewandung." Ein
h.-s. Künstler äußerte sich: „Ich liebe Kleidung »
Geschlecht nicht erkennen läßt, weil diese i
eigentlichen Wesen entspricht ." Und ein urnischer '
bahnarbeiter schreibt : „Es tut mir leid, daß der Pek
mantel altmodisch wurde. Ein schöner Jüngling
jedoch stets einen glatten Überzieher tragen," Wir \
noch einen eingehenden Bericht eines 31jährigen lj
sexuellen Chemikers folgen, der die urnische Geschmj
richtung charakterisiert: „ Die Vorliebe, die ich als }
— 76 —
für Nähen und Sticken hatte, ist glück licherwei>e j?t*-
schwunden. Mein Talent zum Kochen, wozu ich al«
Junggeselle manchmal gezwungen bin, wird allerdings
von meinen Freunden sehr gerühmt Doch wäre ich
ganz froh, wenn es mir jemand abnähme. Wirkliche*
Vergnügen macht es mir dagegen, wenn ich Gäste habe,
alles, Tisch u. s. w., hübsch anzuordnen und zu schmücken.
Blumen habe ich von jeher sehr geliebt und habe großes
Geschick, Blumensträuße geschickt zu arrangieren. Von
Sport liebe ich nur das Bergkraxeln, doch entspringt die»
mehr der Freude an der Natur, ich wandere manchmal
während meines Sommerurlaubs wochenlang allein in den
Bergen; das gehört zu meinen höchsten Freuden. Ein-
samkeit bedeutet für mich nicht Langeweile, ich ziehe sie
der Gesellschaft nüchterner Alltagsmenschen und Stumm-
tischphilister vor. Ich interessiere mich sehr für Politik,
namentlich innere Politik, für Theater und vor allem für
Musik. In Theatern fesseln mich sowohl die Klassiker
als auch die Modernen, dagegen langweile ich mich in
Lustspielen h. la Bhimenthal-Kadelburg. Ich bevorzuge
in der Kunst überhaupt im allgemeinen die düstere
Färbung, doch erfüllt mich auch der Humor der Meister-
singer mit sonniger Freude. Außer für Naturwissenschaft,
speziell Chemie, die ich erwählt habe, fühle ich Neigung
für Philologie."
Sehr häufig tritt bei dem Uranier eine Vorliebe für
„neue .Richtungen* hervor. Wenn es ihm seine Mittel
verstatten, unterstützt er gern junge aufstrebende Künstler.
Während ihn der übliche gesellschaftliche Verkehr mit
den Festessen, Tischdamen, dem vielen Trinken, Hauchen,
Kartenspielen vielfach abstösst, liebt er die ungebundene
Geselligkeit, wie sie sich beispielsweise in dem Treiben
der Böhfeme sowie oft in Wirtschaften niederer Gattung
kundgiebt. Er geht gern auf Abenteuer aus, liebt es,
immer neues kennen zu lernen, ist oft sehr reiselustig
und fast nie einseitig. Un verhältnismässig
interessieren sich deshalb flir Entdeckungsr
künde, Tiefseeforschungen.
Daneben findet sich ein Hang zum Ai
Sammeln von Büchern, Kunstwerken uud
aller Art. Viele Urninge eignen sich dadt
Zeit eine tiefe, umfassende Bildung an, wol
gutes Gedächtnis und ihre leichte Auffassu
Hilfe kommt.
Hält man gewöhnlich schon eine einzige
genannten Eigenschaften, beispielsweise die n
Befähigung, für angeboren, um wie viel m\
ganzen in sich durchaus nicht disharmonischen
der von der männlichen und weiblichen Natur t
abweicht und stets mit einer gewissen Kindlici
knüpft ist, nicht solcher, in der wir ein Zurückgeb
zu erblicken haben, sondern jenen ungekünstelten,
teren, harmlosen, offenen Art, welche leider so oft ui
durch die Verhältnisse beeinträchtigt wird, ind*
den Urning mißtrauisch, unwahr und verschüchtert
Der geschilderte Komplex befähigt die Urningi
Kreise besonders auch für den Dienst iü der Dip
Ein aristokratischer Gewährsmann, über dessen
Würdigkeit auch nicht der leiseste Zweifel bestehe
teilt uns mit, daß er Homosexuelle besonders za
in der Diplomatie gefunden hat, am meisten in Er
dann in Rußland und Deutschland. Derselbe gibt
folgende interessante Einzelheiten : „Persönlich keni
neun deutsche Prinzen aus regierenden Häusern,
aus andern souveränen Staaten. Aus reichsunmittell
Familien sind mir 14 bekannt. Vier Botschafter
höchste Hofbeamte kenne ich, deren Anlage mir hii
Detail bekannt ist. Mir ist ein preußisches Kavallt
regiment bekannt, in dem neun Offiziere homosex
sind. Stets fand ich, daß es fast durchweg reizei
— 78 —
intelligente Menschen waren, die viel Interessen hatten
und der Menschheit zur Zierde gereichten."
Man kann leicht konstatieren, daß der Homo.- .uelle
in den Kreisen, in denen er verkehrt, und über diese
hinaus meist sehr beliebt ist Als vorzüglicher Gesell-
schafter ist er überall gern gesehen. Schon als Kinder
sind sie ihres ruhigen und geschickten Wesens Siegen
die Lieblinge der Eltern und Geschwister. Erst, wenn
den Angehörigen eine mehr oder weniger klare Er-
kenntnis ihrer Abweichung aufgeht, macht sich eine g gen-
seitige Entfremdung und Verstimmung geltend. Vangt
die weitere Umgebung an, allerlei zu vermuten uhd zu
flüstern, wird der an sich schon ängstliche Uranier ver-
bitterter und scheuer. Viele Edeluranier zieheri f sich
schließlich ganz in die Einsamkeit zurück und 'T^Vn
gänzlich isoliert mit ihren Büchern und geistigen V.
essen, vielleicht auch „mit .einer trauten Seele, ds
versteht.* Kommt es zum Skandal, ist das Ersta1.' -
der Verwandten und heterosexuellen Freunde sehr groß.
Man kann das Unfaßbare nicht glauben, man hielt den
so zartbesaiteten, hochgeschätzten Freund, der fast nie
das sexuelle Thema berührte, für „asexuell". Schließlieh
finden sich doch allerlei Anhaltspunkte, die für die Rich-
tigkeit des Unglaublichen sprechen und man enfoctz' '<)
über diesen Menschen, dem man etwas so Gräßliches
allerwenigsten zugetraut hätte. Noch ist die Geschfr1 *
der Urningsverfolgungen nicht geschrieben, wie V
Geschlechter ein drittes in seinem Heiligsten zu m »-
drücken suchten, aber sie wird geschrieben werden und
sich als einer der dunkelsten Abschnitte der Menschheits-
geschichte erweisen.
Genau so wie in geistiger Hinsicht
wachsen e Homosexuelle auch in körperl
eine Xt>aige Mischung männlicher und weit
Schäften dar, von der es an und für sich
schlössen ist, daß sie künstlich erworben sein
somatischen Stigmata sind wie die psychisch«
bald weniger deutlich ausgesprochen, fehU
sorgsamer Beobachtung niemals. Allerdii
Nachweis nicht immer leicht. Vieles Chan
wird^man nur bei großer Übung herausnnri
Wer hunderte von Urningen und Urninden g
wird nicht zweifeln, daß sie ganz bestimmte Gei
aufweisen. So schwer es sich aber definiren
im C runde den männlichen oder weiblichen
aus ' ,rack ausmacht, so wenig kann man dem
y ..tümliche, klar machen,, das dem Kenner
•Anblick der Photographieen in die Au£
Jen die Geschlechter dieselbe Kleidung trag,
m .lx sich vermutlich gewöhnt, die Übergangsstufec
herauszukönnen, so beeinflußt die Verschieden;
Anzug und in der Haartracht das Urteil ganz,
ordentlich. Doch kommt es auch so noch oft geri,
daß urnische Männer für verkleidete Mädchen und u
Dornen Jjir verkleidete Herren gehalten werden.
Si^i XJrninge, selbst solche, die recht männlich erscl
d^ Bart abnehmen und legen weihliche Kleidungsi
ar 7 .50 ist es meist geradezu verblüftend, wie seh
wa^ gliche Typus, namentlich in der Augen partie, ,
Vorschein kommt. Ich befand mich einmal mit 4
urnischen Gelehrten in dem seiner Volkstrachten',
Volkssitten wegen hochinteressanten Fischerdorf Volen.
am Zuidersee. Wir betraten des Studiums halber i
der eigenartigen Behausungen. Im Laufe der Un'
haltung setzte sich mein Begleiter eine der ortsiiblicl
Frauenhauben auf. Der Erfolg war überraschend, 1
— 80 —
braven Fischerfrauen konnten sich über die Verwandlang
garnicht beruhigen and riefen ein über das andere Mal;
„wie ein Mädchen, wie ein Mädchen." Auch ich selbst
konnte seitdem nicht mehr den weiblichen Eindruck los-
werden, der mir in dem Gesichte des Forschers, weil ich
darauf nicht achtete, zuvor nie aufgefallen war. Viele
Homosexuelle sehen „als Weib bedeutend besser aus, wie
als Mann.* Ich erinnere mich eines urnischen Aristokraten,
den ich Jahre lang nur in Damentoilette gesehen hatte,
in der er sich höchst elegant ausnahm. Als er mich das
erste Mal im Herrenanzug besuchte, erkannte ich ihn
kaum wieder, so zu seinen Ungunsten verändert sah er
aus. Bei manchen tritt das undefinierbar Weibliche erst
im Affekt stärker hervor. Ein Richter schreibt, sein
Gesicht sei scharf geschnitten, doch sei ihm von Damen,
die seine homosexuelle Natur nicht kannten, bemerkt
worden, wenn er lächle, habe er die Augen eines Weibes.
Ein urnischer Offizier, der sich durch eine „ martialische"
Erscheinung (bei etwas breiten Hüften) auszeichnet, teilt
mir mit, daß, wenn er sich in Erregung befände, seine
sehr großen, blauen träumerischen Augen von gänzlich
unbefangener Seite als weiblich erkannt worden seien.
Die Körperkonturen des Urnings sind nicht ganz so
abgerundet und weich wie beim echten Weibe — das
urnische Weib ist meist hager — aber äußerst selten so
hervortretend, wie beim Mann. Diese Rundung beruht
auf stärkerer Fettablagerung, die mit der größeren Passi-
vität des Urnings im Zusammenhang steht. Ganz beson-
ders auffallend ist diese Konturierung bei den passiven
Pygisten, die daher ein geübter Beobachter unter den
übrigen Homosexuellen leicht herauserkennt. Sehr wichtig
ist es, auf das Verhältnis der Schulterdurchschnittslinie
zur Beckendurchschnittslinie zu achten, welches am geeig-
netsten mit dem bei gynäkologischen Untersuchungen
üblichen Beckenmesser festgestellt wird. Während beim
D'Eon de Beaumont
Kopie von Angelika Kauffmann,
nach einem Bilde von Latour aus der Sammlung des George Keate, Esq.
Ritter D'Eon de Beaumont, geb. am 5. Oktober 1728, als Knabe erzogen, schon
früh Neigung in Frauenkleidern zu gehen; 1755 am russischen Hofe als Dame
vorgestellt.
*4
CHARLKS-GKNEVlEVK-L<)riS-Ar(HSTK-ANim^>TlMoTHri;
CHARLOTTE-GP:NEViEYJ:-Lori8A-ArnrsTA-AxiH:KK-TiMoTiir.j.-MAi:ii
D'EON DE BEAUMONT.
Doctor of Civil and of Canon Law, and Advooate of the Parliaiiifut
of Paria.
Cenfor Royal for Hiftory and Belh's-Lettres.
Sent to Ruffia, firft fecretly, then officially, with the Chevalier I>c>ii^I:ih
for the Purpofe of re-eftablifhing friendly Relation» betwem that Cuimtry
and Francs.
Secretary of the EmbtHTy Extraordinary at the Court of Her Imperial
Majefty, the Empreff Elizabeth.
Captain of Dragoons and Aide-de-Camp to Marfhal the Duke und
to the Count de Broglio.
Secretary of the Embaffy Extraordinary from France to Ureat Iirit:iin
for concluding the Peace of 1703.
Knight of the Royal and Military Order of Saint Louis.
Refidcnt, and afterwards Minifter PI eni potent iary
r* from France to Great B ritain,
and, finally,
a Ladyat the Court of Marie Antoinette,
and an occafional and honoured Ininate
at
L'Abbaye Royale des Danies de Hauteg Brnyeres,
La Maifon des Demoifelles de St. Cyr,
and at the
Monaftere des Fi lies de Ste. Marie.
f
normalen Mann die Schulterlinie um ein
länger ist als die Beckenlinie, und beim
viel breiter als die Schulterlinie, ist
der Unterschied meist 3ehr gering, o\
nicht vorhanden, und nicht selten umgeke
schon dem Laien, namentlich den Schneider!
nehmen, auffällt. Urnische Arbeiter haben
holt erzählt, daß sie die Beinkleider über
bequem ohne Hosenträger tragen können,
berichtet, bei der militärischen Einkleidun
Vorgesetzte gesagt „er habe wohl bei der Ve
Gesäßes zweimal ,hier* gerufen."
Die Hände und besonders die Füße des II:
im Verhältnis zu der Figur oft klein, die Häi
sich zumeist eigentümlich weich an. Die Hail
stets bedeutend zarter, glatter und weißer wi* bei!
wenn auch selten in so hohem Grade wie bei i
Die Blutgefäß- und Tastpapilkn der Haut sind gel
sehr affizierbar, was sich einerseits in erhöhter $
empfindlichkeit zeigt, anderseits in sehr leichtem
und Erblassen. Mündliche und schriftliche Mittel
wie die eines Schriftstellers: „Ich erröte mädd
leicht bei jedem kleinen obszönen Witz* oder d^
Geistlichen: „Ich erröte, wenn ich öffentlich au!
muß, ganz außerordentlich" sind sehr häufig. Nich
erklärlich ist das entschieden geringere Wärmebe-
vieler Uranier. Sehr zuverlässige Selbstbeobachter
das hervor, so gibt einer derselben an, daß er So
und Winter stets bei offenem Fenster schlafe, ohne
bett, nur bei tüchtiger Kälte mit zwei leichten T>e\
bedeckt. Es gibt allerdings auch Ausnahmen, doch \
sich die Haut der Urninge meist wärmer an, wie \
ihrer Umgebung. Ich glaube, daß die im Volke i
breitete Bezeichnung „warmer Bruder" (auch das Wl
schwul = schwül meint ähnliches)^in dieser Erscheine
Jahrbuch V. 6 \
— 82 —
seine physiologische Begründung hat, während der rümischt-
Ausdruck homo mollis, weicher Mann, auf die Weichheit
der Haut und Muskulatur zurückgeführt werden dürfte.
Die Haare des Urnings sind meist feiner und weicher,
wie die männlichen, am Kopfe oft ungewöhnlich üppig,
der Bart ist vielfach, aber keineswegs immer, schwach
entwickelt Viele empfinden den Bart als etwas Unange-
nehmes, ebenso wie die Urninden das lange Kopfhaar.
Lucians1; Erzählung von der Megilla, die von ihren
Freundinnen mit männlichem Namen gerufen zu werden
wünschte, Demonassa ihre Gattin nannte und sich die
Haare wie ein Athlet schor, und dann rief: „Ha«t
du je einen so schönen Jüngling gesehen wie mich/ Ut
recht charakteristisch.
Die Muskeln der Uranier sind schwächer wie die
männlichen, wenn auch selten so schwach wie die weib-
lichen. Infolgedessen besteht meist ein natürlicher Trieb
zu ruhigen Bewegungen, wie Fußtouren, Wandersport,
Bergsport, Radfahren, Schwimmen und Tanzen. Wo die
Körpermuskulatur zu wünschen übrig läßt, zeigt gewöhn-
lich die Zungenmuskulatur eine stärkere Aktivität, und
so finden wir denn, daß bei den Urningen, ähnlich wie
bei den Frauen, die Redseligkeit oft eine recht beträcht-
liche ist. Einer bemerkt: „Plappern kann ich für zwei,
aber nur mit Damen oder Gleichgesinnten, Herren dagegen
genieren mich."
Von jeher haben Kenner den Gang und die übrigen
Bewegungen des Homosexuellen als kennzeichnendes
Merkmal hervorgehoben. Es finden sich kleine, trippelnde,
tänzelnde, schlürfende, oft geziert erscheinende Schritte,
auch ein leicht schwebender Gang, dabei leichte drehende
Bewegungen in Schulter- und Beckengiirtel ; der Rumpf
') Luciani Samosatenis opera ex recensione, G. Dinriortii.
Parisii» 1890. Dialogi meretricii S. 671.
ist vielfach ein wenig vornübergeneigt, der K\
unruhiger, als dies beim ausgesprochen män^
viduum der Fall ist. Die Gangart ist so chai
daß ich sehr oft von meinem Sprechzimmer i
treten erkannte, wenn ein Urning ins Wartezl
Ein urnischer Pastor gibt folgende Schilderung
„Es besteht Neigung zu wiegenden Bewegungen
jedoch diese Neigung so gut als möglich zu ü\
da ich mich äußerst beschämt fühle, wenn jen\
Damenhaftes an mir entdeckt. Trotzdem ist\
dann und wann schon vorgekommen. Besonci
Gang wurde schon öfters „damenhaft* gefund
Schritte sind mehr klein, mitunter schlürfend, die S
wiegen sich beim Gehen etwas hin und her, wei
wenn ich mir keine Gewalt antue, auch die \
Weise, wie ich mich niedersetze, ist schon aufgi
Ein homosexueller Polizeibeamter erzählt, daß eini
stets von ihm sagte: „Der Kommissar mit dem 1\
Mädchenschritt. tf Der Gang eines Menschen is,
anatomischen und psychischen Faktoren abhängig
meine, daß die somatischen Verhältnisse des Urning
Breite der Hüften, die infolgedessen stärker konvergier«
Oberschenkel, die schwache Entwickelung der Beuge
Streckmuskeln auf den Gang nicht ohne Einfluß
können, daß aber auch seelische Einwirkungen in F^
kommen. Dafür spricht, daß Urninge, die sich, um
nicht zu verraten, ruhigere, gravitätischere Schritte aii
wohnen, leicht bei Erregungen, oft schon beim Lau
iu ihre natürliche Gangart verfallen. Der eben zitie
Polizeikommissar bemerkt: „Meine Schritte waren s
klein und hüpfend, ich habe es mir aberzogen, es tr
aber immer wieder hervor, sobald ich neben jungf
schönen Herren gehe." Auch die urnischen Armb
wegungen sind meist typisch — man vergleiche d
Jugend-Bildnis König Ludwigs II. — insbesondere sin
84 —
es auch diejenigen Bewegungen, aus denen die Handschrift
resultiert, welche von ähnlichen körperlichen und psychischen
Momenten abhängig ist wie der Gang. Dieselbe zeigt
bei Urningen oft einen
durchaus weiblichen, bei
Urninden einen männ-
lichen Charakter, bei bei-
den nicht selten auch
einen solchen, den die
Graphologen als ge-
schlechtslos zu bezeich-
nen pflegen. Daß die
Brust- und Stimmbe-
schaffenheit häufig Ab-
weichungen aufweist, habe
ich bereits bei Besprech-
ung der urnischen Puber-
tätszeit erwähnt, hier will
ich noch bemerken, daß
bei den erwachsenen Ho-
mosexuellen selten volle
Umkehrungen dieser sekundären Geschlechtszeichen son-
dern gewöhnlich nur Mittelstufen konstatierbar sind.
Wie in seelischer, so zeigt auch in körperlicher Hin-
sicht der Urning und die Urninde eine bemerkenswerte
Jugendlichkeit. Viele haben kleine, zarte, ihrem Alter
nicht entsprechende Figuren. Ein hervorragender, mir
persönlich bekannter Schriftsteller, der jetzt Mitte der 40
ist, sagt von sich, daß er den Körperbau eines etwa
15jährigen Jungen habe. Das ist natürlich ein sehr
extremer Fall, aber Tatsache ist, daß die Urninge meist
für viel jünger gehalten werden, wie sie sind. Ist die
Uranierin unverheiratet, so bildet sich bei ihr viel weniger
der bekannte Typus der alten Jungfer heraus, in der wir
ein verkümmertes Geschlechts wesen zu erblicken haben.
König Ludwig II. von Bayern
in stark femininer Haltung.
■n
^ ^
^7
— 85 —
Die Urninde bewahrt sich im Gegensatz zui
malen Weibe bis ins hohe Alter eine erstaunliche
und Elastizität. Ebenso treten auch beim ur
Junggesellen weniger wie beim normalsexuellen Hai
die Griesgrämigkeit und die anderen Eigentümlicl
des ledigen Standes hervor. Im allgemeinen erfreij
der Urning eines guten Gesundheitszustandes, die
Standsfähigkeit seines Nervensystems ist in Anbei
dessen, was er durchzumachen hat, eher als günstl
bezeichnen. Neben der früher bereits genannten Chli
und Migräne finden sich nicht selten hysterische Störui
verschiedener Art, besonders hervorzuheben sind I
Affektionen, welche an die weiblichen Menstruatid
erinnern. Ein mir seit einer Reihe von Jahren bekani
femininer Uranier leidet seit seinem 14. Lebensjahr 1
28 Tage an Migräne, zugleich an heftigen Rücken- il
Kreuzschmerzen. Dieselben waren Veranlassung, d
seine Stiefmutter, bereits als er 20 Jahr war, bemerkt
„das ist ja bei dir, wie bei uns." Eine Untersuch u\
des Urins auf Blutkörperchen hat leider nicht sta^
gefunden. Neuerdings — Patient ist jetzt 36 Jahr -\
haben die Erscheinungen wesentlich nachgelassen, docl
tritt immer noch vierwöchentlich eine hochgradige Mattigi
keit auf. 1
Der Urning ist im allgemeinen wohlgestaltet]
sein meist sympathisches Äußere trägt viel zu seiner
Beliebtheit bei, keinesfalls ist er häßlicher — Möbius 1)1
sieht in der Häßlichkeit ein Hauptzeichen der Entartung!
— wie der Durchschnitt der Normalen. Ich hebe dies |
besonders Wachenfeld und Bloch gegenüber hervor, welche 1
auf diesen Punkt in ihrer Ätiologie der Homosexualität
Wert legten. Wachenfeld2) sagt: „ Mißgestaltete Personen,
J) Stachyologie S. 186.
2) A. a. 0. S. 49.
— 86 —
die einen naturgemäßen ehelichen Genuß nicht erhotl'eii
können, neigen eher zur Homosexualität, als solche, die
dem Weibe begehrenswert erscheinen,- und Bloch ') ver-
tritt sogar die kühne Hypothese, daß Michelangelo wegen
seiner Häßlichkeit homosexuell geworden sei. Er sagt
wörtlich: „Michelangelos Häßlichkeit war so groß, daß
er in jungen Jahren nie die Liebe kennen lernte und zu
homosexuellen Neigungen, die sich in seinen Sonetten an
Tommaso Cavalieri, Luigi de Riccio, Cecchino Bracci
kundgaben, gedrängt wurde." Diese Angaben beruhen
auf völliger Unkenntnis des einschlägigen Materials.
Man hat eingewandt, daß es Männer gibt, die sehr
feminin erscheinen und gleichwohl völlig normal em-
pfinden. Das mag vorkommen, ebenso wie es vorkommt,
daß manche homosexuelle Männer einen durchaus männ-
lichen Eindruck machen. Es ist jedoch zu bemerken, daß
derartige Urteile meist nach dem Äußeren ohne die un-
bedingt erforderliche Körperuntersuchung abgegeben
werden und daß in solchen Fällen der sorgsame Expert
stets psychische Zeichen finden wird, welche die Ubergangs-
stufe charakterisieren. Einen Homosexuellen, dersich körper-
lich und geistig nicht vom Vollmann unterscheidet, habe
ich unter 1500 nicht gesehen und glaube daher an sein
Vorkommen nicht eher, bis ich ihn persönlich kennen
gelernt habe.
Was neben den bisher genannten Symptomen den
Urning und die Urninde nun aber in ganz hervorragen-
dem Maße vom Vollmann und Vollweib unterscheidet,
ist, daß ihnen der Trieb der Arterhaltung gänzlich
mangelt. Diese negative Seite der Erscheinung, die zum
mindesten so wichtig ist, wie die positive, die gleieh-
Bd. I.
— 87 —
geschlechtliche Anziehung, haben die Autor«
Variationsbedürfnis, in Verführung oder
Ursache der Homosexualität erblicken, fast i
Wenn nicht äußere Einflüsse und Rücksicht^
schlag gäben, würde kein Urning überhaupt
Gedanken kommen, eine Familie zu gründen.!
von denjenigen ab, die aus Zweckmäßigkeitsgri
eingingen, so haben nur 3% den Wunsch, Kin
sitzen, und zwar sind dies ganz besonders fei
sehr pädagogisch Veranlagte. Die ersteren wünl
dann selbst zu gebären, so schreibt ein urnischer
„Ich möchte ein Kind bekommen, aber selbst!
einer Frau" und ein anderer bemerkt: „Ein Kin
ich haben, doch muß ich es selbst zur Welt bril
der Vater müßte schön und gut sein." Umgeki
eine sehr virile Urninde aus: „Ich möchte ein B
sitzen, doch natürlich nur, wenn ich der Vater^
Die pädagogische Gruppe der Uranier wünscht si^
einen Knaben, den sie heranbilden und erziehei
Die urnischen Ehefrauen fühlen sich oft überaus ur\
lieb, wenn sie gravid werden, es mangelt ihn
mütterliche Instinkt meist gänzlich und sie suche
Möglichkeit einer Empfängnis vorzubeugen oder gl
geschehene zu anullieren. Mir sind drei verhei!
homosexuelle Damen bekannt, von denen zwei bek!
Namen tragen, die wegen ihrer Schwangerschaft vori
gehend maniakalische Erregungszustände mit Suicf
ideen bekamen. Bei vielen kommt es überhaupt nie
zum Koitus. Nicht selten schreitet man dann zur
Scheidung, die früher, als man noch „gegenseitige j
neigung* als Scheidungsgrund gelten ließ, wesentl^
leichter war. Die urnischen Frauen, welche eine E
eingehen, für die sie nicht geschaffen sind, versündig
sich schwer, wenn auch unwissentlich, an den normi
sexuellen Frauen, denen sie die für sie bestimmten Männ<
"'»'»II r~, *» —
SSrsSSSSC-ssfcs
Schuld zur Hölle für uns werden sollte. — Ich bq
los getäuscht über die Macht der mir offenbar an^
Trotz Aufbietung meiner gesaraten Willenskraft
Horror, den ich stets gegen geschlechtlichen
Weibe empfunden, auch der mir angetrauten,
gegenüber nicht überwinden; die Hochzeitsreise na^
Italien wurde zu einer seelischen Marter für uns \
verstimmt und einander entfremdet kehrten wir zi
Heim, das, von treuer Eltern- und Geschwisterlich^
geschmückt, unser wartete.
Seither sind lange 15 Jahre vergangen; meine\
leben neben-, aber nicht für einander und führen ii
der Welt eine musterhafte Ehe! Über den schwere
Punkt haben wir nie mehr gesprochen, seitdem ich 4
anbot, damit sie an der Seite eines ihr würdigeren \
glücklicheres Dasein finden könne. Sie, die von meii
keine Ahnung hat und meint, es liege demselben ein
Fehler bei mir zu Grunde, erklärte mir, mich Dicht vi
wollen, da sie mich trotz Allem liebe. — Wie sehr ich\
Schuldbewußtsein leide, ein so edles weibliches Wesel
elendes Schicksal gekettet zu haben, kann ich nicht bei
Mein Dasein ist eine endlose Kette geheimer Seelenqui
Ängstigungen; ich lebe immer in Furcht, meine Leid
könne offenkundig werden, namentlich erst recht seit dem 1
prozeß, der sich erst vor wenig Monaten in den hiesigem
abgespielt und in welchem durch eine Bande schrecklii
presser mehrere Herren aus der besten Gesellschaft 'ö{
bloßgestellt und unmöglich gemacht worden sind, dank
immer noch verfolgenden öffentlichen Meinung.
Die sexuelle Gleichgültigkeit des Homosexii
gegen das andere Geschlecht ist fast stets eine vollkomn
bei sehr vielen ist die Abneigung vor dem Akt, nanl
lieh, wenn sie ihn erst kennen gelernt haben, ganz u^
mein groß; manchen steht der vorgenommene Vers\
als ein schreckliches Ereignis in der Erinnerung, and
geben an, sie hätten auf Rat eines Arztes den Verk^
vollziehen wollen, es aber höchst lächerlich gefundi
wieder andere sprechen von dem Gefühl tiefster Erniecf
rung, das sie dabei verspürten, während bei einer niel
\
— 90 —
unbeträchtlichen Zahl schwere Nervenstörungen post
coitum aufgetreten sind. Wir geben einige Mitteilungen
wieder, die zeigen, wie sehr die Urninge die Fortpflanzung
und den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe, wohl ge-
merkt nur diesen, perhorrescieren. Ein 31 jähriger Land-
wirt schreibt: «Familiensinn ist bei mir nur insoweit vor-
handen, als ich meine Eltern zärtlich liebe, auch zu
meinen Geschwistern fühle ich mich hingezogen. Der
Gedanke, selbst eine Familie zu gründen, existiert für
mich nicht, weil er mir schaudererregend ist. Geschlechts-
verkehr mit dem Weibe ist mir ganz unmöglich, ich fühle
mich von Ekel erfüllt, wenn ich nur an die Möglichkeit
denke. Versuche, den normalen Akt auszuüben, habe
ich nie angestellt und werde es voraussichtlich, weil der
Widerwillen zu groß ist, niemals können. Weil mir junge
Damen unheimlich waren, nahm ich schon keine Tanz-
stunde, ich besuche keine Bälle und meide möglichst Ge-
sellschaften, zu denen junge Damen herangezogen werden.
Meine Unbehülflichkeit jüngeren Mädchen gegenüber
scheint man, ohne Argwohn zu schöpfen, bemerkt zu
haben, denn es ist mir neuerdings angenehm aufgefallen,
daß man mich zwischen bejahrte setzt, mit denen ich
mich zwanglos, gern und rege unterhalte." Ein anderer
berichtet: „Meinem Freunde zu Liebe besuchte ich das
erste Mal das Bordell. Ich war entsetzt, daß es mir
nicht gelang, den Coitus zu vollführen, jeglicher Sinnes-
regung baar lag ich in den Armen des Weibes. Außer
mir vor Scham sprang ich endlich auf und markierte den
Betrunkenen. Ich habe mich wohl ein Dutzend Mal für
junge Mädchen interessiert, es fielen aber dabei nur ihre
geistigen Eigenschaften ins Gewicht, ein Geschlechts-
verkehr ist mir dabei nie wünschenswert erschienen. Diese
meine sogenannten Geliebten waren meist Mädchen von
auffallender Häßlichkeit, während ich mit einem häßlichen
Kameraden nie gern verkehrte. Ein besonderes Ver-
91 —
gnügen bereitete es mir von meiner Gymnasi!
Brüderschaften zu trinken, da das dabei v<J
dreimalige Küssen mir höchst angenehme G\
ursachte. Dagegen beteiligte ich mich höchst!
Pfänderspielen, bei denen die Gefahr bestand!
küssen zu müssen." Ein urnischer Hotelier, !
Bekannten „die wissenschaftliche Köchin B nennen!
„Ich begreife den normalen Akt ebensowenig^
normaler Mensch den meinen begreift, ich war!
merkte aber noch rechtzeitig, daß es sinnlos \
und mein Unglück, da machte ich uns wiedl
Ein Franzose von 38 Jahren gibt an: „Ich habe \
einem Weibe zu tun gehabt und könnte es nicht u\
in der Welt. Hübsche Gesichtszüge bewundere!
vorübergehend bei einem Weibe, wie man ein hü
Bild betrachtet, sollte ich dasselbe Weib aber nacl
mir sehen, oh, mon dieu! ich würde die Flucht ergr^
Ahnlich erzählt ein Schweizer: „Vor dem intimeren!
kehr mit weiblichen Personen empfinde ich einen uni
windlichen Abscheu und habe daher nie ein Weib!
rührt. Der Umgang mit Damen ist herzlich, so 14
sie keine wärmeren Gefühle für mich zeigen, gescr
dies, so erwacht ein Unlustgef ühl und ich ziehe mict
bald wie möglich zurück. tf Ein 26 jähriger Arbeiter
richtet: „Als ich, 17 Jahre alt, einmal von einem älter1
Freunde verleitet wurde, mit einem Weibe geschlect
liehen Umgang zu pflegen — ich wußte damals no<!
nichts von meiner urnischen Natur — empfand ich eine!
derartigen Ekel, daß ich Erbrechen bekam. Seitdem hatti
ich eine heilige Scheu vor der Berührung mit dem Weibe»
bis ich vor wenigen Wochen, zur Verzweiflung getrieben,!
mit meiner Natur zu brechen suchte, vergebens, es trat»
weder eine richtige Erektion noch Ejakulation ein, dagegen
habe ich mir infolge der vergeblichen Anstrengungen eine
Gliedentzündung zugezogen." Endlich ein Kaufmann
— 92 —
aus Bayern: „Die Folgen des wiederholten Verkehrs mit
dem Weibe waren schwere Nervenstörungen, starkes Un-
wohlsein mit Erbrechen und tagelange Migräne. Der
Geruch, welchen das Weib ausströmt, verursacht mir das
größte Unbehagen, ich bin unfähig, ein Weib zu befriedi-
gen, wogegen die Umarmung eines Soldaten mir ein un-
aussprechliches Wonnegefühl verschafft und mich kräftigt
und stärkt" Es ist durchaus nicht selten, daß Urninge
die erste Kenntnis ihrer Homosexualität von Prostituierten
erhalten. Einen bezeichnenden Fall berichtet mir ein
herrschaftlicher Diener, welchem von einem Arzt, den er
wegen Impotenz konsultierte, nach längerer Anwendung
des elektrischen Stroms geraten ward, einen Kohabitations-
versuch vorzunehmen. Als die Prostituierte in ihrer
Wohnung sich vergeblich bemüht hatte, ihn sexuell zu
erregen, betrachtete sie sich ihn etwas genauer und sagte
dann in unverfälschtem Berliner Dialekt: „Weeste denn
nich, daß Du en Warmer bist, ick werde Dir meenen
Luden (Zuhälter) rufen, paß uf, mit dem kannste." Der
Vorschlag wurde von den drei Beteiligten erfolgreich
in die Tat umgesetzt und der Diener wußte seitdem über
sich Bescheid.
Schrenck-Notzing hat in seinem Werke ') den Homo-
sexuellen die Eheschließung und einen geregelten Ge-
schlechtsverkehr mit dem Weibe geraten, wobei er sogar
empfiehlt, unter Umständen bei den ersten Debüts die
Alkoholwirkung zu Hilfe zu nehmen. Der Vergleich mag
etwas kraß erscheinen, aber mir kommt dieser Vorschlag
nicht viel anders vor, als wenn ein Arzt einem Normal-
sexuellen, der ein Mädchen unglücklich liebt, raten würde,
er solle, um seinen Trieb loszuwerden, sich berauschen
und mit einem Manne sexuell verkehren.
') a. a. 0. S. 205 ff.
— 93 —
Die Abneigung vor dem zur Erhaltung
eigneten Verkehr ist bei fast allen Urninj
tiefgehende, ich möchte fast sagen selbstverstä]
sich daraufhin unter der Mehrzahl von ihne
nung gebildet hat, die Natur wolle durch sie \
völkerung vorbeugen. Nun bin ich zwar auc\
sieht Näckes, daß man die ganze Homosexual\
mit theologischen noch mit teleologischen Augd
dürfe, sondern nur mit nüchtern naturwissensch
ich möchte aber doch dieser weitverbreiteten An\
gegenüber geltend machen, daß, wenn das Ai
eines Stammes der Hauptzweck der Homosexualiti
es völlig unnötig erscheinen würde, der negath
positive Gefühlsrichtung entgegenzusetzen. Ich me\
letzterer wohl auch ein positiver Zweck entsprechen^
nämlich der, daß der homosexuelle Trieb, welcher
heterosexuelle, mit dem ganzen Fühlen und Wol^
fest verknüpft ist, auch wie dieser Anstoß und Kri
nutzbringender Betätigung der Persönlichkeit gebe:
Wenn es für den Menschen einen Daseinszweck gi
ist es jedenfalls die Liebe an und für sich, die stets fri
bar ist, auch wenn sie nicht der Erzeugung wiedei
zeugender Wesen dient. Die Liebe ist eine Triebk5
die sich immer in produktive Arbeit umsetzt zur Gei
tung und Weiterbildung von Menschen und zwar nJ
nur in körperlichem Sinn. Tolstoi sagt einmal: „Liel
ist Streben nach dem Wohle anderer," ein Wort, das
der Bibelspruch, daß Gleichgültigkeit alles tot, Liebe al
lebendig macht, eine unantastbare Wahrheit enthä]
Würden die von der Fortpflanzung ausgeschlossene^
Menschen überhaupt keine Liebe fühlen, ihre egozentrischi
Interesselosigkeit würde eine Gefahr für die andern bei
deuten. In den Uranfängen der Sprache erhellen sich!
oft durch Gewohnheit verdunkelte Begriffe. Das Wort
Sexus = Geschlecht kommt von sequi = folgen, der Ge-
— 94 —
schlechtstrieb ist ursprünglich nur der Trieb zu folgen,
sich andern anzuschließen, und damit ist er der freilich
oft nur leise durchschimmernde psychologische Hintergrund
jeder sozialen Regung. Der Monosexuelle folgt nur sich
allein; die wenigen Monosexuellen, die ich persönlich ge-
sehen habe, es waren drei zur Einsamkeit und Eigen-
bewunderung neigende Onanisten mit ausgesprochener
Antipathie gegen beide Geschlechter, zeichneten sich durch
den denkbar größten Indifferentismus nicht nur allen
Menschen, sondern auch allen Dingen gegenüber aus.
Daß es sich aber bei der homosexuellen Empfindung
um wirkliche Liebe handelt, die in allen ihren Details ein
vollkommenes Äquivalent der heterosexuellen Liebe dar-
stellt, darüber kann für den Kenner auch nicht der ge-
ringste Zweifel obwalten. Auch Krafft-Ebing hat auf
die absolute Analogie hingewiesen *), welche sich in der
Entfaltung der normalen und conträren Vita sexualis
findet; diese Übereinstimmung ist, wie allerdings nur eine
sehr lange und genaue Beobachtung erweisen kann, in der
Tat in allen physiologischen und pathologischen Einzel-
heiten eine so eminente, daß es eigentlich nur zwei Mög-
lichkeiten gibt, entweder sind beide Triebe als integrierender
Bestandteil der Persönlichkeit eingeboren oder es ist auch
die Liebe zwischen Mann und Weib kein eingeborener
Naturtrieb, sondern eine durch äußere Ursachen im Ver-
laufe des Lebens erworbene Eigenschaft.
Wie bei den Heterosexuellen, so gibt es auch bei den
Homosexuellen solche, bei denen der Geschlechtstrieb im
engeren Sinn nur eine mehr oder weniger untergeordnete
Rolle spielt, und andere, die von ihrer Leidenschaft völlig
beherrscht werden. Man hat den Urningen dann und
wann vorgeworfen, daß ihre sinnliche Neigung sie in viel
höherem Maße erfülle und beschäftige wie die Normalen.
l) Über sexuelle Perversionen S. 129.
Doch ist hier zu bedenken, daß letztere in der \
Lage sind, ihre Frauen und Mädchen so oft
sehen, wie sie wollen. Sinnesregungen, dene
jeder Zeit und ohne Gefahr Genüge geleistet wei
sind nicht dazu angetan, die Seele sonderlich in '
zu nehmen. Anders bei dem Uranier, der denselt
meist nur mit den größten, oft seine ganze Exi^
drohenden Schwierigkeiten, nach langer Zurüct
seiner Gelüste befriedigen kann. Immerhin gibi
nug Urninge, die die Kraft völliger Entsagung
es wäre aber verfehlt, wollte man daraus den
ziehen, daß sich alle anderen ebenso gut beher\
könnten, so wenig man außereheliche Abstinenz ver^
wird, weil ein gewisser Prozentsatz * sie innehält. \
fallen dabei die Worte ein, welche mir einmal ein Mi
seiner Neigung gemaßregelter Offizier in begreifll
Aufwallung schrieb: »Die Herren der Schöpfung sol
wissen, was es heißt, wegen irgend einer erotischen Läpp*
ewig boykottiert zu sein. Drehe man einmal den Sri
um und stelle einen Gesetzesparagraphen hin, nach d\
jeder außereheliche Beischlaf mit Zuchthaus oder n
Gefängnis und mit Aberkennung der bürgerlichen Ehre!
rechte zu bestrafen sei. Selbst wenn solcher Paragraph
nur ein Jahr in Kraft wäre, was würde die Welt für eil
herzzereißendes Schauspiel erleben; wieviel Existenzen
würden vernichtet werden, wieviel junge Leute sich dem^
freiwilligen Tode weihen; aber wir Uraniden würden ge-
rächt sein für die unendliche Schmach, die man seit
Jahrtausenden über unser Haupt heraufbeschworen hat."
Hören wir einige Berichte keuscher Homosexueller.
Ein urnischer Student von 23 Jahren schreibt:
„Ich habe keinerlei geschlechtlichen Verkehr gepflegt. Der
Geschlechtstrieb ist sehr stark, die Selbstbeherrschung jedoch
ebenfalls stark. Daß ich mich auf Kosten der Gesundheit be- \
herrsche, ist mir völlig klar. Der Kampf hat mich schon so er-
— 96 —
mattet, daß ich zusammenstürzte. Der Gedanke an die Blöße
eines Weibes ist mir so verhaßt, daß es mir absolnt unmöglich
ist, auch nur an den Versuch eines normalgeschlechtlichen Aktes
zu denken. Mich fesseln nur hochgebildete, vornehme Naturen,
die ich am höchsten stelle, wenn sie sanftmütig und kraftvoll
zugleich sind. Ärzten und Offizieren gebe ich den Vorzug. Beide
Typen sind gebildet und stehen im freien, tätigen, gesunden
Leben. Bei beiden ist das Moment der Bewegung, das mir auch
die Musik zur liebsten Kunst macht. Von meinem 15. bis 22. Jahr
war mein Leben beherrscht von einer nie zu beschreibenden
idealen Liebe zu einem jungen Mediziner, einem trotz seiner
Jugend — er ist jetzt 26 — ganz eminenten Kopfe. Es ist eine
schlanke, strenge Gestalt, mit einem Empirekopfe, durchaus
normalempfindend und ein harter Charakter. Im ersten Jahr
unserer Bekanntschaft war er mir freundschaftlich außerordentlich
zugetan. Damals war ich ganz glücklich, ganz wunschlos und
bemitleidete alle Könige der Welt ob ihrer Armut. Ich verband
meinen Freund in mystischer Weise mit meinem Gottesbegriff;
mein Leben hatte als Pole: „Christus" — „Lothar." Als mir
nach P/g Jahren klar wurde, daß — um mit Platen zu sprechen
— der schöne Spröde seine Seele mir nie offenbaren würde, ver-
lor ich damals schon viel, ja das eigentliche Wesen meines
Himmels. Ich kämpfte hart, auch mit ihm und namentlich wegen
seiner irreligiösen Lebensauffassung. Vor einem Jahre verlobte
er sich, ich war nicht eifersüchtig, ich war nur wie tot; nur mein
Gedanke, ins Kloster zu gehen, hielt mich aufrecht. Ich sagte
ihm damals alles — er nahm es kalt, wissenschaftlich, nicht ohne
etwas Roheit auf. Seit einem Jahre sah ich ihn nicht mehr,
korrespondiere auch nicht mehr mit ihm. Wachend fühle ich auch
keine Sehnsucht mehr nach dem einstigen Geliebten, die hat sich
in 6 Jahren an seinem Egoismus und seiner materialistischen
Lebensauffassung verblutet. In längeren Abschnitten träume ich,
daß er zu mir kommt und mich küßt und dann weine ich im
Schlaf. Im Leben hat er mich nie geküßt."
Ein sehr intelligenter Akademiker von 39 Jahren,
der die große Merkwürdigkeit aufweist, daß bei ihm
überhaupt noch nie eine Ejaeulatio seminis stattgefunden
hat, giebt folgende Schilderung:
„Meine Leidenschaft ist keine gewaltig lodernde Flamme,
die über mein ganzes Denken und Sinnen zusammenschlägt und,
wenn sie keine Nahrung findet, alles Glück verzehrt, sondern ein
glimmendes Feuer, das nur von Zeit zu Zeit stärl^
Ich kann nicht sagen, daß mit der Unmöglichkeit, ]
„all mein Glück dahin" ist. Ich habe noch so viele \
Ideale in der Freude an der herrlichen Natur und \
daß ich bis jetzt ein im ganzen glückliches Leben
jedenfalls intensiver genießend, als mancher normi
außer im Geschlechtsleben die Kulmination seiner \
Stammtisch findet. Nur bisweilen, wenn meine
stärker erregt, vergebens nach Befriedigung ringt,
meine Dornenkrone stärker. Einst liebte ich einer!
meinem Alter, an Bildung weit unter mir stehend, del
Beobachter kaum schön genannt haben würde. Meil
wurde erst zur Leidenschaft, als ich ihn persönlich kel
und fand, daß er einen sehr ehrenwerten Charakter, gut!
und einen auffallenden Bildungsdrang hatte. Ich u{
seine Lernbegierde und seinen Eifer, seine Fortschritte
mich manchmal in Begeisterung, dann schien er mir \
schön zu sein. Er sah in mir seinen Freund und Wohl\
liebte ihn nicht nur geistig, sondern mit allen meinen Sil
oft kostete es mir meine ganze Willenskraft, mich zu behd
Jede Gelegenheit suchte ich, um seine Hand zu berühr^
gar neben ihm sitzend, den Arm vertraulich um seine
zu legen. Ob ich ihm nicht mitunter in meinem Benehmel
auffällig vorkam, ich weiß es nicht. Jedenfalls blieb er\
gleichmäßig freundlich. Alle Qualen der Eifersucht hat
durchgemacht, wenn ich einmal zu bemerken glaubte,
gegen jemand anders freundlicher war, als gegen mich. Es '
strebt mir, näher auf dies Verhältnis einzugehen, ich möcht^
bemerken, daß es durchaus ideal geblieben und nie über di
wähnten Vertraulichkeiten hinausgegangen ist.
Noch „platonischer* ist die homosexuelle Liebd
einem dritten Fall: \
„Kurz bevor ich meine Natur entdeckte, indem mir \
Kollege, der mich über sich selbst aufklären wollte, den Moll\
die Hand gab, hatte ich mein Herz an einen Unteroffizier d
Artillerie verloren, einen Mann von stolzer, herrlicher Schönhe
Er wohnte ganz in meiner Nähe. Als ich ihn zum ersten Mai
auf der Straße sah, blieb ich wie festgewurzelt stehen und blickt
ihm nach, bis er mir entschwand. Von nun an sah ich ihn öfte
und wie sehnte ich mich nach diesen Begegnungen, und wenn e\
kam, wie stockte mir der Atem, die Kehle war mir wie zuge4
Jahrbuch V. 7
— 98 —
schnürt! Gingen wir entgegengesetzt, dann kehrte ich um und
folgte ihm, mit den Blicken die wunderbare Gestalt verschlingend.
Ich fand bald heraus, um welche Zeit er ungefähr abends aus der
Kaserne nach Hause kam. Ich saß dann am Fenster und wartete
geduldig, ein moderner Toggenburg, um ihn blos für einige
Sekunden zu sehen. Wenn sich seine Heimkehr verzögerte, saß
ich so wohl eine Stunde und länger, ein Buch oder eine Zeitung
in der Hand, bei jedem Säbelklirren zusammenfahrend. Oft
fürchtete ich, er könne mein Benehmen bemerken, aber nein,
gleichgültig streifte mich sein Blick wie jeden beliebigen anderen
Menschen, wenn ich an ihm vorüberging. So ging es viele Jahre,
ohne daß ich je gewagt hätte, seine Bekanntschaft zu machen."
Wie die Sehnsucht, so trägt auch die mit ihr so
oft verschwisterte Eifersucht bei beiden, der anders- und
gleichgeschlechtlichen Triebrichtung einen vollkommen
entsprechenden Charakter. Ein urnischer Militär— Inten-
dantur-Beamter erzählt, dass er aus Eifersucht einem
normalsexuellen Freunde, den er „ wahnsinnig" liebte, alle
Mädchen „ausspannte," in die dieser sich , vergafft* hatte.
Unter den Homosexuellen findet man genau wie unter
den Heterosexuellen polygame Don Juan-Naturen, deren
Liebe sich bald diesem, bald jenem zuwendet, und mono-
game, deren beharrliche Treue jedem Ehebündnisse zur
Ehre gereichen würde. Auch hier zwei Beispiele. Ein
homosexueller Buchhändler von 33 Jahren erzählt:
„Als ich 20 Jahre alt war, lernte ich einen 17 jährigen Jüng-
ling kennen. Ohne von meiner Veranlagung zu wissen, fühlte
ich mich zu ihm unaussprechlich hingezogen. Da er vollständig
weibliebend war, konnte er meine Liebe nur mit Freundschaft
erwidern. Ich nahm den Jüngling zu mir und arbeitete und darbte
für ihn. Auch er hing an mir mit einer Freundesliebe, die ihres
gleichen suchte. Ich verlebte selige, glückliche Zeiten. Nach drei
bis v}er Jahren aber kam das Unglück, in ihm erwachte jetzt die
Liebe zum Weibe. Er konnte es nicht verstehen, daß es mich
schmerzte, wenn er sich in den Armen eines Mädchen befriedigte.
Ich rang und kämpfte mit mir selbst, ich wollte fühlen lernen wie
andere Menschen. Mein Herz sträubte sich, daß mein Liebling
nicht mehr ganz mein eigen sein sollte, wenn er mir auch sagte»
daß er mich noch eben so lieb hätte wie früher. Damals war ich
noch sehr religiös, ich flehte zu Gott, aber mir w\
keine Bettung. Mein Freund wußte mir keinen \
geben, als es auch mit Weibern zu versuchen. 1
und ging eines abends mit zu einer Maitresse. Ä
bei ihr im Zimmer war, bebte ich an allen Gliedern}
liehe Erregung war kein Gedanke, kurz entschlösse;
Hause und ließ dort meinen Tränen freien Lauf,
mir klar, daß ich nicht wie andere Mensch en war,
die Stunde der Erlösung. Ich kaufte „die Enterb tel
glucks" und wie Schuppen fiel es mir von den
wußte nun, daß ich mit meinen Gefühlen nicht
Welt war; der Schmerz war stark, wie ich mich je\
kannte, aber ich segne die Zeit, wo ich Aufklärung fa
sie lernte ich auch Nachsicht mit den Gefühlen meind
haben. So sind die Jahre dahingegangen und noch heute i
zehn Jahren wandle ich mit meinem Liebling, den ich all
jährigen Jüngling kennen lernte, Hand in Hand dui
Leben. Mit meinem Schicksale zufrieden, die heilige
liebe im Herzen, denke ich mir oft, der glücklichste Ml
Erden zu sein. Selbst nicht die harten Urteile der Mens<}
unsere Liebe sind mehr im Stande, die Zufriedenheit
meines Herzens zu erschüttern. Ich denke: „Sie sind wit
und wissen nicht was sie tun." Meine grenzenlose Liebt
den vielen Jahren nicht vermocht, in meinem Liebling ai
eine Idee von dem Triebe zum Weibe auszulöschen, obw\
stets von Zeit zu Zeit mit ihm geschlechtlich verkehrte." \
Im Gegensatz zu diesem Fall will ich die
Zeichnungen eines polygamen Homosexuellen wieder]
Es ist derselbe, den wir schon früher als urnischen Kd
kennen lernten und den im weiteren Verlaufe des Le
der Fluch seiner orthodoxen Familie durch alle
jagte. Er schreibt:
„Ich habe mich, um meinen geschlechtlichen Reiz zu befriedig
in der Folge wohl hunderten von Leuten der verschieden!
Nationen hingegeben. Dabei habe ich aber absolut meinen eigei
Geschmack gewahrt, denn mit einem mir physisch unsympatisc]
Menschen ist es mir überhaupt nicht möglich, geschlechtlich
verkehren. Männer, die ich geliebt habe, hatten immer etwi
von der Idealgestalt meiner Jugend. Dahin gehören männlicl
aussehende, kräftige Gestalten und Gesichter, frische, gesundi
Farben, fröhliche, wenn möglich, blaue oder graue, treuherzige!
7*
— 100 —
offene Augen, ein frischer Mund, schöne Zähne und möglichst
großer Schnurrbart. Schöne Männer, die sich weibisch benehmen,
sind mir ekelhaft. Jnnge Leute, oder auch ältere ohne Schnurr-
bart kann ich nicht leiden, ebenso ist mir jeder Bart außer dem
Schnurrbart höchst unsympathisch. Schöne Gestalten sind mir
lieb, aber das Gesicht ist ausschlaggebend. In Deutschland sind
es Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere, Schaffher, Schutzleute, Post-
beamte, Droschkenkutscher, Portiers, Maurer, Arbeiter, besonders
in hohen Stiefeln und Lederhosen, unter denen ich die mir sym-
pathischen Erscheinungen meistenteils gefunden. Selbstverständ-
lich kann ein solches Verhältnis nie von Dauer sein, da nur das
rein sinnliche Element dabei in Beträcht kommt, doch momentan,
noch kürzlich, konnte ich mich für einen schönen Ulanenunter-
offizier dermaßen interessieren, daß ich ihm stundenlang nachge-
laufen bin, bis es mir gelang, eine Gelegenheit auszunützen, bei
der ich in unauffälliger Weise mich eng an ihn schmiegen konnte.
Ich entdeckte in ihm einen Gleichgesinnten und längere Zeit war
dieses Verhältnis im^Stande, mich völlig auszufüllen. Unter den
höheren Ständen finde ich viel seltener mir körperlich sympathische
Leute, dagegen unterhalte ich mich oft und gerne mit ihnen und ver-
kehre in ihren Kreisen. — Ich finde überhaupt, daß im Vergleich
mit dem wirklich gebildeten Amerikaner, Irländer oder Engländer
der Deutsche, was männliche Erscheinung und männliches Wesen
anbelangt, oft einen gezierten, fast weibischen Eindruck macht.
Im homosexuellen Verkehr ist mir der Franzose am unange-
nehmsten. Er hat eine mir abscheuliche Art und Weise hundert
Küsse zu geben, die nicht einen wert sind. Er ist in seinen
Liebesbezeugungen von einer hastigen, affektierten Leidenschaft.
Den Italiener ziehe ich bedeutend vor, er ist wirklich leiden-
schaftlich empfindend und in seiner Art sich zu geben liegt etwas
tieferes, ernsteres. Mit Spaniern ging es mir ebenso. Am liebsten
hatte ich den Irländer, es ist entschieden die männlichste Nation,
die ich kenne. Wenn er jemand wirklich zugetan ist, so ist er
treu und aufopferungsfähig wie kein anderer. Amerikaner und Eng-
länder waren mir meist angenehm — oft aber etwas zu kühl und
geschäftsmäßig. Dänen, Norweger und Schweden fand ich oft
geziert. Rein sinnlich beim Akt, den Reiz oft bis zum Wahnsinn
steigernd, sind die slavischen Völker. Mit Negern, außer Misch-
lingen mit rein kaukasischer Gesichtsbildung und ohne Wollhaar,
habe ich nie zu tun gehabt, obwohl sie vielfach ihrer stark aus-
gebildeten Genitalien wegen beliebt sind, Sie sind feurig, fast
tierisch wild, wenn sinnlich erregt. Vor den asiatischen Rassen
habe ich stets Abscheu empfunden, mit Ausnah
und Persern, mit denen ich nie homosexuell verk^
Wenn ich die frischen Lippen eines Mannes
küsse, und seine feste Gestalt umfasse, dann eri
in mir die Sehnsucht, auch Geist und Verständnis!
mich körperlich reizt, vereinigt zu finden. Im Grun<^
immer unwillkürlich die mit den Augen des
Knaben geschaute und wohl in der Erinnerung id\
stalt jenes Offiziers, nach der ich rastlos jage und;
allen Nationen, in den verschiedensten Klassen der
die zu finden ich jetzt fast aufgegeben habe, ohne^
danach lassen zu können.
Bei der Diagnostik der echten Homosexua\
Näcke *) mit vollem Recht besonders Wert auf d^
weis, daß auch, ebenso wie der Heterosexuelle
sexuell träumt, das Traumleben der Homosexuell
seiner Triebrichtung beherrscht wird. Wie eil
große Anzahl von Einzelmitteilungen zeigt, ist dl
sächlich durchgängig der Fall. Dabei erscheint \
beachtenswert, daß die angenehmen Träume der \J\
auch schon vor Eintritt der Reife von gleichgescli
liehen Vorstellungen erfüllt sind,2) sowie daß nich\
tische Träume qualvoller Art durchaus nicht selten i
normale Gohabitationsversuche hervorgerufene Beän
gungen zum Gegenstande haben. Ein Urning gibü
„Ich träume oft, ich bin verlobt oder verheiratet. Dl
habe ich das Gefühl furchtbarer Beklommenheit \
einer undefinierbaren Angst." Hie und da kommt\
*) Näcke: Kritisches zum Kapitel der normalen und patl
logischen Sexualität. Archiv f. Psych. Bd. 32. Heft 1. (1899.)\
Näcke: Die forensische Bedeutung der Träume. Archiv \
Kriminalanthr. 1900. 3. Bd. \
Näcke: Probleme auf dem Gebiet der Homosexualität in de
H. Laehrschen Zeitschrift f. Psychiatrie etc. 59 Bd. S. 812. 81^
und 825.
2) Man vergl. das bei der Schilderung des urnischen Kinde?
Angeführte.
— 102 —
vor, daß Urninge sich scheuen, mit Angehörigen das
Zimmer zu teilen, weil sie befürchten, sie könnten durch
„Sprechen aus dem Schlaf* ihre homosexuellen Neigungen
verraten. Ähnlich wie im Traum dokumentiert ' sich auch
in der Trunkenheit deutlicher die geschlechtliche Tendenz,
indem ja der Alkohol durch Lähmung des kritischen
Oberbewußtseins das Gefühlsleben mehr hervortreten
läßt. Überhaupt tritt das Elementare und Natürliche
der urnischen Liebe überall da besonders deutlich her-
vor, wo die Hemmungsvorstellungen in stärkerem Grade
ausgeschaltet sind. Ein älterer urnischer Staatsbeamter
teilte mir mit, daß er einem lang gehegten Wunsche
entsprechend vor einiger Zeit in seinen engeren Kreisen
einen jungen Konträrsexuellen von etwa 20 Jahren kennen
lernte. Er berichtet darüber: „Der betreffende Jüngling
ist bereits in seinem Äußern, vollständig aber in seinem
Fühlen und Denken, feminin. Erst seit kurzem unter-
richtet, daß es Konträrsexuelle gäbe, war er über sich
selbst noch nicht klar. Ich hatte ihn eingeladen, mich
auf einige Tage zu besuchen und als ich ihn des Abends
in sein Schlafzimmer geleitet und ihm gute Nacht ge-
wünscht, war er so ungeheuer erregt, daß er mir wortlos
in die Arme fiel. Wenn man solche hervorbrechende
Leidenschaft mit dem Worte Unnatur abtun will, so
haben die Leute, deren Urteil leider heute noch maß-
gebend ist, niemals ein solches Menschenkind in dem
Augenblicke gesehen, in dem mit so elementarer Macht
zum ersten Male die Liebe gebieterisch ihr Recht ver-
langt und zwar in einer für das betreffende Individuum
normalen Form." —
Durch die Hebung der ganzen Persönlichkeit er-
klärt es sich, daß trotz der beispiellosen Widerwärtig-
keiten, denen die Homosexuellen ausgesetzt sind, 90 von
hundert keine Änderung ihres Zustandes wünschen, djr
Rest dieselbe auch fast ohne Ausnahme nur aus sozialen,
nicht aus persönlichen Gründen erstrebt, i
sich zeitweise höchst unglücklich fühlen, ni
vorübergehend an Selbstmord ideen litten, ni
Selbstmordversuche vorgenommen haben, fühl\
liehe den homosexuellen Trieb so sehr als\
ihrer selbst, daß sie sich ohne denselben kauß
können und meinen, mit demselben eines ^
Lebensguts beraubt zu werden. Ein urniscbl
den ich wegen Schlaflosigkeit hypnotisierte, \
einmal ein förmliches Versprechen ab, daß ich \
Hypnose nicht an seiner Homosexualität „herumsii
Ich gebe noch einige Bemerkungen Homosexuell\
die sich auf diesen Punkt beziehen. Ein V\
schreibt: „ Meine Natur hätte mir von vorn he\
sein müssen. Nur künstliche Konstruktionen aul
anerzogener Begriffe konnten über sie hinwegti
sie aber nicht im Geringsten unterdrücken. Eiii
änderung meiner Veranlagung wünsche ich nicht,!
damit meine ganze Persönlichkeit negieren würde],
Richter äußert sich : „Ich verspürte schon lange vd,
körperlichen Berührung ein so inniges Glücksgefühl \
meine Neigung, sie war so sehr ein Teil meines inn\
Wesens, daß ich nur dann anders sein möchte, wei^
wüßte, wie ich mich alsdann fühlen und befinden wii
Ein alter Pfarrer bemerkt: „Sollte ich noch die \
merzung des § 175 erleben, so würde nichts zu me\
Glücke fehlen. Ich bin der festen Überzeugung, daßl
der sogenannte anormale Zustand vom Schöpfer geg^
ist und für mich gerade so normal ist, als der gewÖ
liehe Sexualzustand für die übrigen Menschen. Ich \
neide sie nicht im geringsten um das Kleinod, welches sie \
Weibe besitzen, sondern danke Gott, daß ich meine Liä
und Zuneigung einem Jüngling schenken kann." So seh
wir, daß wie der Heterosexuelle nicht homosexuell, aud
der Homosexuelle nicht heterosexuell empfinden möchte
— 104 —
Diese absolute Kongruenz, die sich ausnahmslos auf
alles erstreckt, was es in der Liebe und im Geschlechts-
trieb Physiologisches und Pathologisches, Hohen und
Niederes, Gutes und Böses, Schönes und Häßliches gibt,
ist nur begreiflich und erklärlich, wenn es sich um zwei
völlig analoge, nebengeordnete und auch in ihren Ursachen
gleichgeartete Gefühlsrichtungen handelt.
III. Die Unausrottbarkeit der
Homosexualität
Es ist anzunehmen, daß ein Trieb angeboren ist, wenn
äußere Einflüsse nicht imstande sind, denselben umzu-
wandeln; wenn Homosexuelle durch Umstände irgend
welcher Art im Verlaufe ihres Lebens normal fühlend
werden, so würde das sehr dafür sprechen, daß es sich
um eine erworbene Eigenschaft handelt. Schrenck-Xotzing,
der unter denjenigen, die Näcke neuerdings *) als wirkliche
Sachverständige in dieser Frage bezeichnete, der einzige
Vertreter der Erwerbstheorie ist, sagt mit einem gewissen
Recht8): Je mehr sich die Zahl der Fälle häuft, in denen
bleibende therapeutische Resultate erzielt worden sind, um
so geringer erscheint nach unserer Meinung der Anteil,
den die erbliche Disposition in der Entstehung dieser
Anomalie beanspruchen kann." Die Therapie, von der
hier die Rede ist, ist die hypnotische Suggestionsbehand-
lung. Aber gerade die Wirksamkeit dieses Heilmittels
kann nach allem, was verbürgt über die Erfolge der Hyp-
nose auch bei angeborenen Eigenschaften berichtet ist,
hier als beweiskräftig nicht herangezogen werden.
*) Näcke, Probleme auf dem Gebiete der Homosexualität, in
der Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie etc. S. 809.
2) S. 149 a. a. 0.
Wenn es möglich ist, durch Beeinflussuni
körperliche Veränderungen wie Brandblase!
rufen, wenn man Blindheit und Taubheit, A\
Ageusie suggerieren konnte, wenn man in d^
tiefgreifende Wirkungen auf die Menstruatl
Pollutionen ausüben kann, Medien zu veranl^
mochte, nach dem Erwachen „ etwas zu sehen,
da war, etwas nicht zu sehen, was da war,"
alte Leute davon überzeugte, sie seien wieder K\
worden, warum soll es denn etwas Ungewöhnlic
Homosexuellen Genuß am Weibe zu suggerier^
Anmerkung. Man vergleiche über die hypnotische!
lung der Homosexualität neben von Schrenck-Notzing: \
gestionstherapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschleo
und Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis S. 303 ff. bö
Fuchs: Therapie der anormalen Vita sexualis 1899, S, 45; W\
Strand: Der Hypnotismus und seine Anwendung in der
tischen Medizin, 1891, p. 52 ff.; Bernheim: „Hypnotisme",!
1891. S. 38. \
Über Beeinflussung und Umwandlung angeborener Eigenset
durch Hypnose findet man Berichte ausführlich angeführt in: ^
1. Jame-Braid: Neurypnology or the rationale of ner^
sleep considered in relation with animal magnetisme. Lon\
Churchhill. 1843.
2. A. Liebault: Du sommeil et des etats analogues, considi
surtout au point de vue de l'action du moral sur le physique. Pa
Masson, 1866.
3. A. Liöbault: Le sommeil provoque et les 6tats analogu^
Paris. Doris, 1889.
4. H. Bern heim: De la Suggestion dans Tetat hypnotique
dans l'ßtat de veille. Paris, 1884.
5. H. Bernheim: De la Suggestion et de ses applications
la the>apeutique. Paris, 1886.
6. H. Bernheim: Hypnotisme, Suggestion, Psychotherapie.'
Etudes nouvelles. Paris, 1891.
7. R. Haidenhain: Der sogenannte tierische Magnetismus.
Physiologische Beobachtungen. Leipzig. Breitkopf & Härtel. 1880.
8. Albert Moll: „Der Hypnotismus". Berlin. Kornfeld. 1889.
— 106 —
würde sicher in ähnlicher Weise auch gelingen — ob
derartiges bereits versucht. wurde, ist uns nicht bekannt
— Heterosexuellen homosexuelle Libido einzuflößen.
Würde man nun aber aus der Umwandlung heterosexueller
Empfindungen den Schluß ziehen, daß der Trieb der
Männer zum Weibe nicht angeboren, sondern erworben
sei? Mit nichten, ebensowenig kann man es dann aber
auch aus den hypnotischen „Heilungen* Homosexueller.
Ich teile nicht die pessimistische Ansicht Binswangers J)
9. A. Forel: Der Hypnotismus, seine psychologische, medi-
zinische, strafrechtliche Bedeutung etc. Stuttgart. Enke. 1895.
(III. Aufl.)
10. Ewald Hecker: Hypnose u. Suggestion im Dienste der
Heilkunde. Wiesbaden. Bergmann. 1898.
11. Otto St oll: Suggestion und Hypnotismus in der Völker-
psychologie. Leipzig. Koehler. 1894.
12. Wetterstrand: „Der Hypnotismus". Wien und Leipzig.
1891. S. 31.
13. J. M. Charcot: „La foi qui guerit". Revue hebdomadaire.
Tome VH. Dec. 1892.
14. Reinhold Gerling: Der praktische Hypnotiseur. Berlin.
Möller. HI. Aufl. 1902.
15. Zeitschrift für Hypnotismus. Seit dem Jahre 1893
herausgegeben von A. Forel u. 0. Vogt. Leipzig. Barth.
Wie weit sich unter bestimmten Verhältnissen die ganze Per-
sönlichkeit unter hypnotischem Einfluß umgestalten kann, zeigt
die noch so geheimnisvolle Erscheinung des doppelten Bewußtseins.
Man findet darüber näheres in:
1. Max Dessoir: Das Doppel-Ich. Leipzig. Günther. 1890.
2. Azam: Hypnotisme et double conscience. Paris. Alcan. 1893.
3. Uson Osgood: „Duplex personality" Journ. nerv, and
ment. diseases. Spt. 1893.
4. Freiherr v. Schrenck-Notzing: Über Spaltung der
Persönlichkeit etc. Wien, Holder, 1896.
Endlich auch in:
Robert Macnish: „The philosophy of sleep", Glasgow und
London.
*) Bins wanger: Verwertung der Hypnose in Irrenanstalten.
Therap. Monatshefte 1892. Heft 3 u. 4, S. 167.
„daß den Aussagen der an perverser Sexua
Leidenden über Erfolge in der Hypnose k^
beizumessen sei," umsomehr stimme ich aber !
der — gleich groß als Kenner der Hypnos
Homosexualität — erklärt,1) daß selbst die
Erfolge der Hypnose „nicht auf wirkliche^
sondern auf suggestiver Dressur beruhen*
bewunderungswürdige Artefakte hyi
Kunst, keineswegs Umzüchtungen der psychi
Existenz." Krafft-Ebing führt, als bezeichne!
den glänzendsten Heilerfolg Schrenck-Notzings
Repräsentant nach vollendeter „Heilung11 von sie
sagte: „Ich fühle immer eine gewisse, nicht
windende Schranke, die nicht auf moralischen
basiert, sondern, wie ich glaube, direkt auf die Beha
zurückzuführen ist.* Der Verfasser der Psyche
sexualis schließt diese Bemerkungen mit dem
„Jedenfalls beweisen solche „Heilungen11 (die hiel
vorher bei diesem Wort angebrachten Anführungssi
finden sich im Original) nichts gegen die Annahmi
originären Bedingtseins der konträren Sexualempfindii
Ich selbst habe sehr viele Urninge gesehen, die sich
geblich hypnotischen Kuren unterzogen haben. Mir
ein Jüngling im Gedächtnis von so femininer Beschafi
heit, daß außer dem eigentlichen Genital apparat ai
nicht das geringste männliche an ihm zu entdecken w\
Derselbe hatte sich über ein Jahr erfolglos bei ein^
süddeutschen Kollegen hypnotisieren lassen. Ich kenl
persönlich nur einen Homosexuellen, der mir mitteilt^
daß er sich durch die suggestive Behandlung des Kollegel
Fuchs in Wien von seinem gleichgeschlechtlichen Triebi
befreit fühle. Doch, wie gesagt, wenn auch hundert
solcher Heilberichte vorliegen würden, sie würden nicht!
l) Psychop. sex. S. 311 ff.
— 108 —
das Erworbensein der konträren Sexualempfindung er-
weisen, abgesehen davon, daß, die Realsuggestionen, die
das Leben dem homosexuell Veranlagten erteilt, die Auto-
und Fremdsuggestionen, die fortgesetzt auf ihn wirken,
viel stärker sind, als die Verbalsuggestionen eines noch
so befähigten Arztes. Wären äußere Einflüsse imstande,
die Triebrichtung zu ändern, so müßte der gleich-
geschlechtliche Trieb längst erloschen sein.
Wie sehr ist die ganze Erziehung darauf gerichtet,
aus dem urnischen Knaben einen Vollmann zu entwickeln;
zu Hause und in der Schule wird er genau so wie die
anderen normalen Kinder erzogen, schon früh wird ihm
alles förmlich als Schande, zum mindesten als Unschick-
lichkeit, ausgelegt, was man als dem anderen Geschlechte
zukömmlich ansieht. Fangen dann die Kameraden oft
schon mit dreizehn, vierzehn Jahren an, für das Weib
zu schwärmen, so gibt sich der homosexuelle Jüngling
die größte Mühe, es den andern nachzutun, er schämt
sich förmlich, daß er noch „keine Flamme* hat und ihm
kein Name einfallen will, wenn es im Rundgesange heißt:
„Bruder, Deine Liebste heißt?" Sehr häufig tritt auch
die erste sexuelle Verführung von weiblicher Seite,
namentlich durch Dienstmädchen, ein. Aber so wenig
ein Heterosexueller durch die ebenfalls nicht seltene erste
geschlechtliche Erregung einer männlichen Person homo-
sexuell wird, ebenso wenig wird ein Homosexueller dadurch
weibliebend. Eine ganze Reihe von Urningen erklären
auf das allerbestimmteste, daß sie sich genau erinnern^
daß die erstmaligen Erregungsversuche vom anderen Ge-
schlecht ausgingen. So schreibt einer unserer bedeutenderen
Schriftsteller: „Ich lege das Hauptgewicht darauf, daß,
trotzdem der erste sexuelle Anstoß weiblicher Art war
— eine Kindsmagd verführte mich — , trotzdem mir das
weibliche Geschlecht durch Erziehung von Jugend an
sozusagen auf dem Präsentierteller gereicht wurde und
109 —
meine Lektüre nur die Weiberliebe verherrli
Neigung zum männlichen Geschlecht doch eir
ich des Zwanges ledig war." In der Tat
Suggestionskraft der gesamten Literatur, dil
Romanen und Epen, ihren Dramen und lyrischen!
nahezu ausschließlich die normale Liebe zum Mi\
hat, nicht imstande, den Trieb auf das Weib z\
seine Richtung ist unerbittlich und unveränderlich
es dem jungen Mann allmählich klar wird
um das zwanzigste Jahr herum der Fall ist —
sein Begehren von dem seiner Umgebung wesentlich
scheidet, beginnt gewöhnlich ein Kampf gegen siel
der an Stärke wohl kaum seines gleichen hat. Ein
sexueller Künstler berichtet: „Ich habe ganz ful
gekämpft mit Aufgebot meiner ganzen Willenskraft
gebens; ich habe so gelitten, daß ich eine langil
Nervenkrankheit bekam. Kaum genesen , begani
aufreibende Kampf von neuem. Als ich merkte, dafl
die ureigenste Natur nicht umwandeln läßt, verfiel
in eine tiefe, lange Melancholie, die sich — obwohl
nie äußere Konflikte hatte — bis zum ärgsten Leb\
Überdruß steigerte etc." Ein Schweizer Uranier schrei
„Von Jugend an bin ich hartnäckig gegen mich an\
gangen und habe mir die größte Mühe gegeben, mel
Neigungen zu beherrschen. Es gelang mir hie und
aber leider machte ich stets dieselbe Erfahrung; je läng
ich anscheinend siegreich den Trieb unterdrückte, um
heftiger kehrte er auf einmal zurück. Hauptsächlich g^
schieht dies nachts beim plötzlichen Erwachen, wenn dii
Willenskraft durch den Schlaf vermindert ist. Was habe
ich nicht alles angewandt: feste Entschlüsse und Gelübde,\
Ärzte zu Rate gezogen, ( Wasserkuren, Hypnose und\
Elektrizität, systematische Ablenkung der gefährlichen \
Gedanken durch körperliche Übungen, Ackerbau, Reisen, \
Militärdienst, Studien, Lesen etc. Ich opferte geliebte
— 110 —
Gegenstände ; weder Religion noch Philosophie waren mir
behtilflich. Ich litt stark an Lebensüberdruß. Vier Jahre
war ich leidenschaftlich in einen jungen Mann gleichen
Alters verliebt, bis derselbe im 24. Jahre starb, ohne daß
ich ihm jemals eine Äußerung machen durfte. Es war
ein Höllenleben." Noch einen urnischen Arbeiter wollen
wir hören: „Ich hatte von meinem 19. — 21. Jahr ein sehr
inniges und ideales Freundschaftsverhältnis, mein Freund
war ein Jahr jünger als ich, von großer Lebhaftigkeit,
Natürlichkeit und Fröhlichkeit Nichts wäre imstande
gewesen, uns zu trennen. — Da entdeckten seine Eltern
in ihm den Urning und jagten ihn njit Schimpf und
Schande aus dem Hause. Er ging nach Paris und ist
seit 4 Jahren verschollen. O, diese elterliche Unvernunft!
Damals lernte ich erkennen, daß auch ich voll und ganz
zu jenen von der ehrbaren Welt Ausgeschlosseuen gehöre,
öfter als einmal war ich nahe daran, diesem jammervollen
Leben ein Ende zu machen. Was ich infolge meiner
urnischen Natur gekämpft und gelitten, vermag ich auch
nicht annähernd zu schildern. Wenn ich nicht los-
knallte, so ist es wahrhaftig keine Feigheit gewesen,
sondern allein die Erkenntnis hielt mich ab, daß ein
größerer Mut dazu gehört, auszuharren, und daß nicht
die Natur, sondern die kurzsichtige Menschheit in Ver-
blendung den Fluch über uns geschleudert hat, welcher
— ich sage leider — hundertfach auf sie zurückfiel, indem
sie tausende von Menschen, deren geistige Tätigkeit für
sie von größtem Nutzen gewesen wäre, zur Verzweiflung
und in den Tod getrieben hat."
Unter den Mitteln, die angewandt wurden, den homo-
sexuellen Trieb auszurotten, steht die Religion obenan.
Sehr viele Urninge haben jahrelang auf den Knieen ge-
legen und Gott um „Errettung" angefleht. Eine nicht un-
beträchtliche Anzahl hat mitgeteilt, daß sie in diesem
langen vergeblichen Ringen schließlich ihren Glauben
verloren haben. Ich zitiere zwei. Der eine -
— schreibt: „ Durch meine sehr fromme Mutti
Religion erzogen, habe ich nach Erkenntnis
lischen Zustandes Gott in heißen Gebeten
solle mir in meiner Not einen Ausweg zeige^
sah, daß sich trotz eiserner Beherrschung und
Kämpfe mein Zustand nicht änderte, habe ich
vertrauen verloren/ Ein zweiter berichtet: ,
zu dem Gott, der mir in der Schule gelehrt
von dem gleichgeschlechtlichen Triebe, den ich
haft hielt, zu befreien. Der Himmel aber blieb ta\
kam mir oft vor wie ein Schiff, das mitten
Ozean den Wellen preisgegeben ist. Obwohl
solchen Stunden dann niederkniete und im Geb^
Erlösung schrie, blieb ich verlassen. Schließlich
darüber alle meine religiösen Anschauungen ins ^
ken. Jetzt glaubte ich an nichts mehr. Ich
nicht mehr glauben."1) Einige stark religiöse Nd
J) Anmerkung: Vor kurzem schrieb mir zu diesem Punl
Ordensgeistlicher folgendes: Ich zweifle nicht daran, dass zahlr!
Urninge um ihrer Geschlechtsnatur willen den Glauben verlieren.!
kommen allmählich dazu, sich selbst als lebendige Argumente wide^
Bibel und wider die Lehren der Kirche zu betrachten. Man
sicher nicht fehl, wenn man annimmt, dass der Anteil des Uranisii
an dem Kampf gegen das kirchliche Prinzip von jeher ein sehr
trächtlicher gewesen ist. Andere werden Zweifler und Grübl\
Auch homosexuelle Geistliche, und vielleicht diese gerade
meisten, gehen oft ihrer Glaubensfreudigkeit verlustig und kämpft
ihr Leben lang mit schweren Zweifeln. Je mehr die Reflexion übd
sich selbst ihr [Innenleben beherrscht, um so schwerer wird el
ihnen, die religiöse Disziplin ihrer Gedanken aufrecht zu erhalten!
Wieder andere, und dahin dürften wohl ganz vorzugsweise Theologen!
gehören, regt das Geheimnis, das auf dem Grund ihrer Seele liegt,!
zu positiver Geistesarbeit an. Die Argumente aus dem Consensus
communis und aus der Auctoritas doctrinalis, denen der Urning
überhaupt mit einem für ihn naturgemässen Skeptizismus gegen-
übersteht, werden ihnen zum Gegenstand der Kritik und sie fangen
— 112 —
kommen nach langen vergeblichen Kämpfen zu der
Überzeugung, daß ihr Zustand von Gott gewollt sein
muß. Ein katholischer Graf sagt: «Die Annahme, meine
Gleichgeschlechtlichkeit sei Sünde, Laster, Unnatur, er-
scheint mir als Beleidigung des allweisen Weltenschöpfers."
Und ein protestantischer Pfarrer meint: «Wenn ich um
meines mir eingepflanzten Triebes willen ein Verbrecher
bin, dann ist es der Schöpfer, der mich als Verbrecher
erschaffen hat. Das aber heißt doch, den Schöpfer einer
Untat bezichtigen. Gott erschafft niemand als Verbrecher.
Wer das sagt, lästert GottB Einige wenige endlich be-
sitzen die Kraft, sich durch die Religion zur Abkehr
durchzuringen. Im unklaren über die Natur ihrer
Neigungen, die sie als niedrige Fleischeslust empfinden,
gelangen sie schließlich — meist nach Ablegung von
Keuschheitsgelöbden — zum Enthaltsamkeit*- und Sittlich-
keitsfanatismus. Ich behandele ein 25 Jahre altes Mit-
glied des weißen Kreuzes an hochgradiger Neurasthenie,
an dessen Uranismus nicht der mindeste Zweifel besteht.
Er zeigt die vier charakteristischen Stigmata, somatische,
psychische Zeichen, große Abneigung gegen das Weib,
das er noch nie berührte, und einen Freundschafts-
enthusiasmus, über dessen geschlechtlichen Grundcharakter
er nicht unterrichtet ist. Nachdem er viele Jahre mastur-
bierte, hat er das Gelübde der Keuschheit abgelegt, das
er seit drei Jahren durchführt.
an, energisch zwischen Dogma und Schulmeinung, zwischen kulturell
bedingter äusserer Form und wesentlichem Inhalt, zwischen objek-
tivem und subjektivem Christentum zu unterscheiden. Sie betonen
das Recht der Naturwissenschaft und der weltlichen Wissenschaft
überhaupt sowie die Notwendigkeit des Anschlusses an sie, sie ver-
urteilen die übertriebene Berücksichtigung der Tradition und ihrer
Auffassungen, sie bekennen sich zum Grundsatz „des durch das
Naturgesetz verbürgten Rechtes auf die ganze Wahrheit", sie
werden notwendig dahin gedrängt, wo das Losungswort „Reform"
und „Fortschritt" ausgegeben ist.
— 113 —
Noch weniger wie die Religion ist das
Stande, die Homosexualität nennenswert einzJ
Selbst die drohende Todesstrafe, die in einige]
früher auf dieser Art der Liebe ruhte, ver
Urninge trotz ihrer Ängstlichkeit nicht abzul
Die übereinstimmende Erfahrung von Leuten, die
im Stande sind, darüber ein Urteil abzugeben,
ganz -außer Zweifel, daß homosexuelle Handlu\
gleicher Häufigkeit vorkommen, ob Gesetze
oder nicht; so sind diese Akte in Deutschlai!
England keinesfalls seltener, nach Ansicht viel^
ninge sogar eher häufiger als in Holland und
reich, wo die entsprechenden Paragraphen gest
sind. Mir teilten Homosexuelle mit, daß ihr
gedanke im Gefängnis die Sehnsucht nach dem Fr4
war, durch dessen Umgang sie ihre Freiheit
loren hatten. Wiederholt habe ich von urnisi
Richtern gehört, wie sehr sie gerade unter dem Koni
zwischen ihren Berufspflichten und den eigenen Triei
zu leiden hatten. Ein noch junger Jurist schrieb m
„Einmal hatte ich, selbst homosexuell, als Staatsanw.
gegen Homosexuelle zu plaidiren, einmal als Rieht
über einen Homosexuellen zu urteilen, einmal über m
bekannte Homosexuelle, darunter war ein guter Freun
und einer, mit dem ich oft geschlechtlich verkehrt, aL
Richter mitzuurteilen wegen Vergehen gegen § 175.
„Letztere Zwangslage wurde mir erspart, indem ich mich
durch einen anderen Richter vertreten ließ.*
Auch der Verlust der Lebensstellung nützt nichts,
ebenso wenig schützen die Erpressungen, von deren
Furchtbarkeit und Ausdehnung sich niemand eine Vor-
stellung machen kann, da ja nur ein ganz verschwindender
Bruchteil an die Öffentlichkeit gelangt. Es ist das Gleiche
wie mit venerischen Ansteckungen, unehelichen Schwänge-
rungen etc. der Heterosexuellen, von denen wir ja auch
Jahrbuch V. 8
— in —
wissen, daß sie trotz der entstehenden Unannehmlichkeiten,
vor Wiederholung normalsexueller Akte mit zweifelhaften
Personen selten abhalten.
Der Konflikt mit der Familie, unter dem der ge-
fühlvolle Urning ganz besonders heftig leidet, vermag
ebenfalls nichts. Am ehesten scheinen noch die Mütter
für das abweichende Empfindungsleben der Söhne Ver-
ständnis zu haben. Ein Urning erzählte mir einmal, daß,
als seine Mutter auf dem Sterbebette lag und ihre fünf
Kinder mit dem Gatten um sich versammelt hatte, sie
als letzten ihn zu sich herabzog, ihn länger umarmte als
alle andern und mit sterbender Stimme sagte: «Grüße
mir Deinen Freund.* „An dem Blick, mit dem sie mich
dabei ansah," schloß der Mann, , merkte ich, daß meine
Mutter, mit der ich nie darüber gesprochen, alles wußte.*
Als eines der wirksamsten Mittel zur Bekämpfung
homosexueller Triebe wird von manchem der Geschlechts-
verkehr mit dem Weibe und die Eheschließung angesehen.
Scbrenck-Notzing rät1) sogar: „Man bestimme solche In-
dividuen (gemeint sind Urninge) temperamentvolle Frauen
mit lebhaftem Geschlechtstrieb zu heiraten.* Ich kenne
unter vielen Hunderten auch nicht einen einzigen, der
durch den heterosexuellen Verkehr seines Triebes Herr
geworden wäre, im Gegenteil, der inadäquate, oft er-
zwungene Verkehr scheint oft einen Anreiz zu geben, die
subjektiv natürliche Befriedigung zu suchen. Es stimmt
diese Erfahrung damit überein, daß von Normalsexuellen
den Urningen gegenüber oft angegeben wird, ein homo-
sexueller Akt reize sie zu heterosexuellem Verkehr.
Die Regelung der Lebensweise sowie physikalische,
diätetische und pharmakologische Medikationen sind wohl
imstande, hie und da das Beherrschungsvermögen, die
Willenskraft, die Triebstärke günstig zu beeinflußen, nie
>) a. a. 0. 8. 205.
115 —
aber den Trieb selbst in seiner Richtung
Auch in Spezialheilanstalten, die Bloch und\
Homosexuelle vorschlagen, dürfte schwerlich jl
heilt" werden. Mir ist ein junger Kollege bei
auf Veranlassung seines Vaters, der ebenfalls
zur Behandlung in eine geschlossene Anstalt
einigen Wochen aber bereits vom Chefarzt gefra^
ob er nicht lieber als Assistenzarzt der Heilanst
hören wolle, ein Vorschlag, der acceptiert wur
kenne Homosexuelle, die aus therapeutischen
eine sehr energische Sportstätigkeit entfalteten,
die Vegetarier, wieder andere, die alkoholabstinent '
ohne daß sie die Richtung ihres Triebes im ger
beeinflußen konnten.
Als ein etwas besseres Mittel Wirkt intensiv g^
Arbeit, durch die viele sich zu betäuben suchen,
zwischen geistiger und geschlechtlicher Betätigung \
Art Gegensatz besteht, ist ja seit langem bekl
Besonders scheint die rein verstandesgemäße Tätig!
wie sie sich beispielsweise bei den großen Philosopl
vorfindet — man denke an das große Dreiges
des XIX. Jahrhunderts, Kant, Schopenhauer, Nietzsc)
— die A Sexualität zu begünstigen; eine dauern!
Unterdrückung oder Ablenkung des Geschlechtstrieb*
gelingt aber nur verschwindend wenigen, ja es scheint
als ob gewisse Arten geistiger Produktion, die mehr ir
Gefühlsleben wurzeln, also künstlerische, sogar eine^
Steigerung der Libido eher förderlich sind.
Alles in allem kann man sagen, daß der homo-
sexuelle Trieb durch gewisse Umstände wohl in seiner
Gewalt beeinflußbar, aber an und für sich völlig un-
ausrottbar ist, geschweige denn, daß es möglich ist,
ihn in einen heterosexuellen umzuwandeln.
So wenig äußere Faktoren den homosexuellen in
einen heterosexuellen Trieb abändern können, genau so
8*
— 116 —
wenig können sie aber auch den Heterosexuellen — wie
es die Anhänger der Erwerbstheorie glauben — homo-
sexuell machen. Die von uns angeführten Tatsachen
stehen im denkbar größten Widerspruch zu der Meinung
Blochs, daß der Geschlechtstrieb durch Gelegenheitsur-
sachen ganz außerordentlich bestimmbar sei und daß wir
im Variationsbedürfnis das „Ur- und Grundphänomen des
Geschlechtslebens" zu suchen . haben.1) Geben äußere
Einwirkungen für psychologische; Zustände fast niemals
einen zureichenden Erklärungsgrund, beruhen, wie — wenn
ich nicht irre — Möbius einmal sagt, „Erklärungen aus
dem Milieu fast stets auf Oberflächlichkeit", so trifft dies
in hervorragendem Maße bei einem Triebe zu, der, wie
wir sahen, aufs innigste mit der ganzen Persönlichkeit
verwachsen ist, der vielleicht sogar die Basis aller übrigen
psychischen Erscheinungen bildet. Die zuerst von Binet
in der Revue philosophique (Paris 1887. Nr. 8) aufge-
stellte, später in ähnlicher Weise oft wiederholte Ver-
mutung, daß die konträre Sexualempfindung durch „patho-
logische Associationen" in frühester Kindheit, durch „einen
„choc fortuit'^ ein psychisches Trauma bedingt sei, ist
eine bisher durch kein Tatsachenmaterial erhärtete Hypo-
these. Wenn es wirklich lediglich darauf ankäme, ob
jemand die erste Erektion durch ein Weib oder durch
einen Mann gehabt hat, dann müßte die Zahl der Homo-
sexuellen weit größer sein, da nachweislich in den Schulen
sehr viele zuerst gleichgeschlechtlich erregt werden. Wie
soll aber ein derartiger choc die doch meist im Vorder-
grunde stehende negative Seite der Erscheinung, die Ab-
neigung gegen das Weib, erklären und wie vor allem soll
er imstande sein, eine solche Umgestaltung der ganzen
körperlichen und geistigen, Beschaffenheit hervorzurufen,
wie sie doch beim Homosexuellen die Regel bildet? Ich
*) a. a. 0. BaDd II. S. 364.
erinnere mich der Bemerkung eines Kollege
einmal einen Homosexuellen vorstellte, der iii
seines Gesichts, in der kleinsten Bewegung, in \
und im ganzen Gebaren den geborenen Urnii
Der Kollege rief mit feiner Ironie aus: „Wie \
bei dem Manne der choc fortuit gewesen sein H
Würden wir übrigens annehmen, was ich für\
geschlossen halte, daß eine occasionelle Ideenassocii
partum den Geschlechtstrieb so fest zu determinil
die ganze Individualität dementsprechend umzui
imstande wäre, so würde das nach allem früheren \
fassung nicht beeinträchtigen können, daß es sich \
eine unveränderlich normierte und unverschuldete!
schaft handelt. Im Widerspruch mit der soeben erw
Theorie steht die Ansicht derer, welche glauben, dai^
sowohl der erste Eindruck, sondern mehr die Sucht!
Abwechslung, das Bedürfnis nach dem Neuen«
dem Einfluß „ äußerer Reize" das Entscheidend«
(Bloch, II.R, S.260 u. 364). Beide Ätiologieen Ü
das gemeinsam, daß sie Gelegenheitsursachen für Gri
Ursachen, Anlässe für Bedingungen halten. Die gesi
derten Beize sind gänzlich wirkungslos, wenn nicht!
angeborene Anlage als das wahre ätiologische Mom\
vorhanden ist. Bloch hat das Verdienst, in seiner fleißig
Arbeit eine Reihe von Umständen zusammengestellt \
haben, die zur Manifestation des Triebes den Anstoß gebe
von dessen Stärke es abhängig sein wird, ob er selbstänctt
hervorbricht oder Gelegenheiten bedarf, die ihn aus deii
Latenzstadium erwecken. Daß die zahlreichen angeführte!
Gründe — über 60 — unmöglich als ausreichend ange-\
sehen werden können, geht mit Sicherheit daraus hervor,^
daß es wohl überhaupt keinen Menschen gibt, der nicht
im Leben einem oder mehreren der genannten Faktoren
nachdrücklichst und wiederholt ausgesetzt war. Tatsäch-
lich wird von diesen aber nur ein ganz kleiner Teil homo-
— 118 —
sexuell. Derselbe Reiz läßt den einen vollständig kalt
oder beeinflußt ihn nur ganz vorübergehend, für einen
andern bildet er das höchste Lustgefühl, und er beginnt
sich dauernd homosexuell zu betätigen. Der Grund hier-
für kann nur in der verschiedengearteten Psyche
der Beteiligten gefunden werden, nur die unterschiedliche
Konstitution kann bewirken, daß sich Menschen denselben
Umständen gegenüber so unterschiedlich verhalten. Deß-
halb ist das wesentliche die angeborene Be-
schaffenheit Gerade daß diese äußeren Eindrücke,
wie Bloch meint, mit solcher Leichtigkeit Homosexualität
erzeugen, beweißt ja, eines wie geringen Anstoßes es be-
darf, den vorhandenen Trieb zu erregen.
Es gibt nach Blochs Ätiologie der Psychopathia
sexualis fast nichts, was nicht als Entstehungsursache
der Homosexualität in Betracht gezogen werden müßte;
es hat förmlich etwas Rührendes, zu beobachten, wie sich
dieser eifrige Autor abmüht, alle nur möglichen äußeren
Anlässe zusammenzutragen, und dabei an dem ausschlag-
gebenden inneren Faktor gänzlich vorübersieht Unter
den Dingen, die allein durch ihre Einwirkung Homo-
sexualität erzeugen sollen, befinden sich vielfach die voll-
kommensten Gegensätze. So führt Bloch als Ursachen
der Homosexualität an zu heißes (Bd. I. S. 21 u. 174) und
zu rauhes (S. 33) Klima, Askese (S. 97) und Über-
sättigung (S. 67, S. 221), Ehelosigkeit (S. 61) und Viel-
weiberei (S. 170), Jugend (S. 52) und Greisenalter (S. 53),
mangelnden (S. 38) und übermäßigen (S. 68) Geschlechts-
trieb, Verehrung (S. 74) und Verachtung (S. 96) der
Körperschönheit, Anblick des bekleideten (S. 141) und
des nackten Körpers (S. 185, 221). Leben in Arbeiter-
wohnungen (S. 179) und bei Hofe (S. 179), in Fabriken
(S. 184) und auf dem Lande (S. 51).
Als weitere ätiologische Momente, welche bei normal-
sexuellen gesunden Menschen zur Homosexualität führen
sollen, nennt Bloch Berufe, die mehr de\
Charakter entsprechen wie die der KöcH
Damenschneider, Damenkomiker (S. 65), s^
oder irregeleitete Phantasie (S. 70) besonders b^
(S. 74), religiösen Affektzustand1) (S. 78 ff). AI
der Genitalien2) (S. 126), übermäßige Kl\
membrum virile, abnorme Weite oder ^
Vagina (8. 127), Gonorrhoe (8. 127), Kastr^
Eunuchentum (S. 128), körperlichen Hermaph
(S. 130), Onanie (S. 132), chronischen Alkol
^Anmerkung: Bloch erwähnt die mohamedanische
Sufis und zitiert F. v. Hellwald*), welcher berichtet, q
äldyn-Kaschy zu beweisen versuchte, daß nur ein Päi
großer Sufi sein könne. Bloch fügt diesem Zitat wörtli
„Hier haben wir also bereits ein typisches Beispiel einer \
giösen Entstehung und Ausübung der homosexuellen Befr
des Geschlechtslebens." Diese kühne Hypothese erinnert 1
die später (S. 117) ebenfalls von Bloch erwähnte Vermute
Baas**), daß die Beschneidung weniger eine hygienische M
sei als vielmehr in der fetischistischen Verehrung der Pr
(„Fetischoperation") ihren Grund habe. Von S. 120 ab ve^
sich der Autor noch ausführlich über die „religiöse Homosexu
und gibt der Meinung Ausdruck — ohne sie allerdings durcl
Sachen zu begründen — daß man anfangs wohl weibische, 1
sexuell empfindende Menschen gern zu Priestern bestimmt \
deren Neigungen dem primitiven Menschen als etwas bescn
Dämonisches erschienen seien, später habe man wohl auch s<
künstlich gezüchtet, besonders in gewissen Sekten relig
Fanatiker.
*) Hellwald: Kulturgeschichte. Augsburg 1875. S. 5111
**) H. Baas: Die geschichtliche Entwickelung des ärztlicl
Standes. Berlin 1896. S. 7.
9) S. 126 heißt es wörtlich: „Auch die Phimose kann dire
homosexuelle Zustände erzeugen/
3) S. 137 heißt es: „Es ist sehr bezeichnend, daß in Zansib^
das Suaheli- Wort „Walevi" = Säufer direkt für Päderast gebrauch
wird." \
— 120 —
(S. 137), Opiümgenuß (S. 138) *), Haschischgebrauch (S. 138),
Effemination in Tracht und Sitte (S. 161), Bedürfnis nach
Variation in den sexuellen Beziehungen, welches sich
zum geschlechtlichen Reizhunger steigern kann (S. 166),
Wüstlingtum, Don-Juanismns, Müssiggang und Blasiert-
heit (S. 171), direkte Verführung, besonders durch Auf-
sichtspersonen (S. 174) und in Bordellen (S. 177), sowie
durch andere Urninge (S. 238), Zusammenwohnen gleich-
geschlechtlicher Personen in Kasernen (S. 179), Schulen,
Pensionaten (S. 180), Kadettenhäusern, Harems (S. 182),
Mönchs- und Nonnenklöstern, Gefängnissen (S. 183),
großen Hotels (S. 184) und Theatern (S. 185), die öffent-
lichen Bedürfnisanstalten (S. 185), den Anblick tierischer
Geschlechtsakte sowie das intime Zusammenleben mit
Tieren (S. 186), die erotische und obscöne Litteratur*)
(S. 188), auch nicht obscöne Werke wie die Bibel und
die Schriften der Kirchenväter (S. 189), den Anblick ge-
schlechtlich erregender Kunstwerke (S. 200), die Betrach-
tung des eigenen Spiegelbildes 8) (S. 201), obscöne Photo-
graphien (S. 202 ff. und Bilder*) (S. 302), obscöne Täto-
') S. 138 sagt Bloch: „H. Libermann (les Fumeurs d'Opium en
Chine. Etüde medicale Paris 1862. S. 63 ff.) führt daher wohl
nicht mit Unrecht die Verbreitung der Homosexualität in China auf
den Opiumgenuß zurück."
*) S. 196 heißt es: „Die ätiologische Bedeutung derartiger
Lektüre für die Genesis geschlechtlicher Verirrungen wird vor allem
dadurch erwiesen, daß die meisten geschlechtlich abnormen Indi-
viduen eifrige Leser solcher Werke sind.4'
*) S. 201 : „Unter Umständen kann die Darstellung des eigenen
nackten Ich im Spiegelbilde die Phantasie in abnormer Richtung
beeinflußen, besonders bei noch undifferenziertem geschlechtlichem
Empfinden und bei Unkenntnis des anderen Geschlechts."
4) S. 208 erklärt Bloch wörtlich, „daß die große Verbreitung
der obscönen Bilder mit ihren Darstellungen aller geschlechtlichen
Verirrungen, perversen Akte und scheußlichster Unzucht einen un-
verhältnismäßig größeren Anteil an der Genesis und zunehmenden
Häufigkeit der sexuellen Perversionen hat, als irgend eine ange-
borene oder auch nur durch Krankheit erworbene Anlage."
— 121
wirungen (S. 210), ferner den Besuch von Mr
tiken und modernen Statuen, noch mehr abe
nannten anatomischenMuseen mit plastischenNal
männlicher und weiblicher Geschlechtsteile (&
wie der öffentlichen Kunstausstellungen (8.
Ballette, Tänze, gewisse Darbietungen im Zi\
zialitätentheater, lebende Bilder, Poses plastiques 1
oder idyllischer Natur, sowie den Anblick von\
in Damen- und Mädchen in Männerkleidern
weiterhin die zufällige Beobachtung männlicher
z. B. des väterlichen Membrums (S. 221), eig
stoßende Häßlichkeit (S. 222), Furcht vor ven\
Leiden (S. 223), abnorme Beschaffenheit der Ana
(S. 224), Analmasturbation (S. 224). *) Flagellatil
Analgegend (S. 227), Annahme männlicher Lebensfl
namentlich bei Prostituierten (8. 232), umgekehrt \
liehe Angewohnheiten bei Männern 2) (S. 233)\
Mysogynie des Lebemannes (S. 235), die mäni
Prostitution (S. 241). Als besondere Ursachen!
weiblichen Homosexualität führt Bloch an einmal!
„mutuelle Masturbation der Clitoris cum digito et ling
(S. 244), „den Überdruß am Manne, den Widerwillen g^
den Verkehr mit dem Manne" (S. 244 und 245),
Wunsch mancher Männer, besonders der voyeurs (S. 2\
*) S. 226 beruft sich Bloch auf Leo Taxil, der in seini
Buche „La corruption fin-de-siecle Paris 1894 S. 245 berichte, „\
gäbe Subjekte, die sich in coitu cum femina von deren Zuhältei
gleichzeitig pädicieren ließen" und fügt dann seinerseits wörtlic
hinzu: Hieraus entwickelt sich dann naturgemäß häufig genug eti
gleichgeschlechtlicher Verkehr, der den ehemals heterosexuelle^
Wüstling zu einem typischen Urning stempeln kann."
■j S. 233 behauptet Bloch: „Der wirkliche „Weibling" wird\
meist künstlich gezüchtet" und S. 235 : „Es ist kein Zufall, daß
Komiker, die Frauenrollen darstellen, fast stets homosexuell sind.
Diese scheinbar rein äußerliche Effemination vermag eben den
ganzen inneren Menschen umzuwandeln."
— 122 —
und last not least die moderne Frauenbewegung (S. 248) ,
von der er sagt: „Einen meines Erachtens nicht unbe-
denklichen ätiologischen Faktor in der Genesis der
Tribadie bildet die moderne Frauenbewegung, die das
Weib auf sich allein stellt, männlich empfindende Charaktere
züchtet etc.* — Bloch beschließt seine sorgsame Auf-
zählung, in der wohl nichts übergangen ist, was für die
Erwerbstheorie in Frage kommen könnte, mit dem Satz
(8. 249): „Wir haben erfahren, daß in der großen Mehrzahl
der Fälle die gleichgeschlechtliche Liebe aus äußeren
occasionellen Momenten entspringt, daß eine originäre
Anlage zu derselben sehr unwahrscheinlich, jedenfalls sehr
selten ist*.
Der Beweis, daß diese „äußeren occasionellen Mo-
mente* unmöglich für die Entstehung der Homosexualität
genügen können, ist sehr leicht zu erbringen. Man kann
die von Bloch aufgeführten Erwerbsmöglichkeiten unschwer
in drei Gruppen teilen.
In der ersten Abteilung sind die zahlreichen
Dinge unterzubringen, die viel zu allgemein verbreitet
sind, um überhaupt als einigermaßen vollgiltiger Grund
in Frage kommen zu können. Da Millionen und aber
Millionen Menschen tierische Geschlechtsakte erblicken
oder eine Bedürfnisanstalt benutzen, unter hundert
Menschen aber nur einer homosexuell ist — nach Bloch
sind es noch viel weniger — so kann nach allen Gesetzen
der Logik hier unmöglich ein Causalnexus statuiert werden.
Wenn von den vielen, die im heißen oder rauhen Klima,
in Arbeiterwohnungen oder bei Hofe leben, die eine sehr
lebhafte Phantasie oder ein sehr religiöses Gemüt besitzen,
die öffentliche Kunstausstellungen oder Museen aufsuchen,
in, Schulen und Pensionaten zusammen wohnen oder sich
nackt im Spiegel erblickt haben, nur ein ganz ver-
schwindend kleiner Prozentsatz Urninge sind, so müssen
die genannten Umstände einer anderen Causalität gegen-
123 —
über völlig irrelevant sein. Dasselbe gilt ai
Onanie. Berücksichtigen wir, daß sich unt<5
sonen 99 Onanisten befinden, unter diesen
ein Homosexueller, so werden wir niemals die\
hinreichenden Grund für den homosexuellen Tr
dürfen. Es sei hier übrigens angesichts der imr
kehrenden Betonung dieser angeblichen En\
Ursache betont, daß der wohl größte Sachverstäl
diesem Gebiet, Rohleder, in seiner trefflichen Mon\
„Die Masturbation" die Onanie wohl als eine Folg
nung der konträren Sexualempfindung hervorhebt, ^
Entwickelung der letzteren aus der Onanie abei^
zu berichten weiß1).
Wir sind damit bei der zweiten Gruppe an^
bei den nicht weniger zahlreichen Momenten Blöd
denen die Verwechslung von Ursache und Wirkut
verkennbar ist. Nicht aus der Ehelosigkeit oder Imi
eines Menschen entsteht seine gleichgeschlechtliche Nei
sondern diese hat seine Ehelosigkeit zur Folge, el
ist der Widerwillen der Frau vor dem Manne nich\
Ursache, sondern eine Wirkung ihrer homosexul
Natur. Auch bedingt nicht die weibliche Kleidung
Umgestaltung des inneren Menschen, sondern der ini
Mensch verschafft sich die Kleidung, die ihm zusi
Die Ursache des Charakters liegt also nicht in der Trac
sondern die Ursache der Tracht im Charakter des Menschl
Ebenso ist es mit dem Beruf des Urnings. Er wird nie
feminin, weil er Frauenrollen spielt, sondern, weil
feminin ist, bevorzugt er Frauenrollen. An homosexuelle
Kunst- und Literaturwerken wird nur derjenige Interess\
nehmen, der dafür empfänglich ist. Dem Normalsexuell e^
*) Dr. med. Hermann Rohleder. Die Masturbation, eine Mono-\
graphie für Ärzte und Pädagogen. Berlin. Fischers mediz. Buch-\
handlung 1899. Seite 65 und 287.
— 124 —
wird ein urnischer Roman gleichgültig oder abstoßend
sein. Wer keine Jünglingsphotographieen liebt, wird sich
auch keine kaufen.
Die dritte Rubrik endlich umfaßt alle jene Behaup-
tungen, die gänzlich eine Kenntnis des Homosexuellen
vermissen lassen. Wenn Bloch nur 200 Homosexuelle
untersucht haben würde, hätte er ganz sicherlich nicht
geschrieben, daß Abnormitäten der Genitalien, abnorme
Beschaffenheit der Analgegend, abstoßende Häßlichkeit
oder gar chronischer Alkoholismus zur Homosexualität
führen können. Es entspricht einfach nicht den Tat-
sachen, daß der Durchschnitt der Homosexuellen häßlicher,
trunksüchtiger oder im höheren Maße mit Genitalanomalien
behaftet ist, wie der Durchschnitt der Normalsexuellen.
Manche der angegebenen Gründe lassen sich unter zwei
Gruppen rubrizieren. So sind die Anhängerinnen der
Frauenbewegung viel zu zahlreich im Verhältnis zu der
Menge urnischer Frauen, als daß dieser Emanzipations-
kampf — so sehr er immerhin in der Häufigkeit sexueller
Zwischenstufen seine Stütze findet — einen ausreichenden
Erklärungsgrund abgeben könnte, andererseits besitzen
allerdings gerade die homosexuellen Frauen Eigenschaften,
die sie zu besonders aktiven Vorkämpferinnen für die
Rechte der Frau befähigen. Diese Qualifikation ist aber
nicht die Ursache, sondern lediglich die Folgeerscheinung
ihres Uranismus. Daß aus der Verführung, dem Variations-
bedürfnis und dem Wüstlingtum nie ein homosexueller
Geschlechtstrieb entstehen kann, haben wir bereits oben
sehr eingehend auseinandergesetzt. Wenn übrigens Bloch,
Hoche u. a. so oft betonen, daß ein Normalsexueller aus
jpReizhunger" homosexuell werden könne, so bleiben sie
stets den Beweis schuldig, worin denn die Reizsteigerung
hier bestehen soll. Welche Vorteile oder Vorzüge bietet
denn dem Homosexuellen der Verkehr mit demselben
Geschlecht, welcher doch im Gegenteil an seine psychische
Potenz mindestens so hohe Anforderungen si
Umgang mit dem Weibe? \
So gelangen wir denn auch, indem wi
Ursachen, die für das Erworbensein der c. S. \
kommen, leicht als nicht stichhaltig oder nicht i
widerlegen können, per exclusionem zu dem Seil
die Homosexualität nicht erworben, sondern
angeborenen Konstitution des Menschen begründet'
IV. Die Naturnotwendigkeit de\
Homosexualität.
Es ist ein Beweis für das Natürliche und Ur*
liehe einer Erscheinung, wenn sich dieselbe in ein\
laufende Reihe verwandter Naturerscheinungen
fügt, daß ihr Mangel geradezu einen Ausfall n
lückenlosen Linie bedeuten würde. Für die Ersch«
der Homosexualität triflt dies im vollsten Umfanj
Es wäre sehr merkwürdig, wenn von. den fließ«
Übergängen, die sich an jedem Organ, an jeder Fun]
von einem zum anderen Geschlechte führend nachw<
lassen, der Geschlechtstrieb ausgenommen wäre,
sämtliche männliche Eigenschaften gelegentlich verein!
oder in größerer Anzahl bei einem Weibe und umgekel
sämtliche weiblichen beim Manne auftreten könnt
woran auch nicht mehr der mindeste Zweifel besteh^
kann, so würde es etwas ganz Außerordentliches sei
wenn der Geschlechtstrieb hier die einzige Ausni
bilden sollte. Das Nichtvorhandensein der Homosexualiül
würde ein viel größeres Wundör gewesen sein, wie ihr)
Existenz, die vielen befremdlicher und naturwidriger er-
scheint, wie das gelegentliche Vorkommen eines wohl!
entwickelten Bartes beim Weibe oder railchgebender
— 126 —
Brüste1) beim Manne. Wie man nach den Atomge-
wichten die im periodischen System der Elemente noch
fehlenden Stoffe vorausberechnen konnte, ehe man sie fand,
wie man aus den Abständen der Planeten die Stelle und
die Umlaufsbahn des Neptun beschrieb, ehe man ihn
entdeckte, wie man die Zwischenstufen zwischen den
Vögeln und Reptilien eingehend schilderte, ehe man im
Solenhof er Kalkschiefer auf den Archaeopteryx stieß, so
hätte ein gescheiter Kopf die Homosexuellen nachweisen
können, ehe er sie von Angesicht zu Angesicht sah.
Keine Erscheinung steht in der Natur isoliert da, jede
zeigt die vielseitigsten Verbindungen mit den übrigen
Naturkörpern, überall gibt es Übergänge; wie zwischen
dem Kinde und dem Erwachsenen der Jüngling und
die Jungfrau, so bildet zwischen Mann und Weib der
Urning und die Uranierin eine Naturnotwendigkeit. Man
hätte .vermutlich diese Übergangsreihen viel eher er»
kannt und gewürdigt, wenn sie sich nicht auf jeden Ge-
schlechtscharakter für sich beziehen könnten, ohne daß
entsprechend die anderen miteinbezogen sind, dadurch
entsteht ja eben die ungeheure Variation und kaum zu
übersehende Mannigfaltigkeit. Im Grunde genommen ist
jeder Mensch erst durch das ihm innewohnende Mischungs-
verhältnis männlicher und weiblicher Teile verständlich.
Selbst im gröberen ist die Verschiedenartigkeit und Menge
der Abweichungen so groß, daß alle Versuche, die
körperlichen und geistigen Zwischenstufen in eine be-
stimmte Ordnung zu bringen, a) gescheitert sind. Zwischen
*) Milchgebende Männer werden bereits von Alexander von
Hnmboldt und Bonplandt erwähnt in der „Reise in die Äquinoctial-
gegenden des neuen Kontinents in den Jahren 1799—1804. 2. Teil.
Stuttgart und Tübingen 1818. S. 40 ff.
') Derartige Klassifizierungs-Versuche wurden unternommen von:
1. Leonidas, Chirurg in Alexandrien, im 3. Jahrhundert, dessen
Werke verloren sind; seine Einteilung wird angeführt von Aetius,
— 127
den echten, Pseudo- und psychischen Her
den scheinbar rein somatischen und anschl
geistigen Formen sind keine sicheren Grenzer
Mit der Menge wissenschaftlicher Beobachi
sich das System mehr und mehr komplizier^
schließlich dahin zu vereinfachen, daß im
nommen jeder Fall in der Unsumme der Zwis^
einen Fall für sich, eine Klasse für sich, ein
für sich bildet \
Der Vollmann und das Vollweib sind in Wir
nur imaginäre Gebilde, die wir nur zu Hilfe \
müssen, um für die Zwischenstufen Ausgangspu
der in der lütte des 6. Jahrhunderts in Mesopotamien lebte
Angaben finden sich zitiert bei Haller- Bibliotheea Chirurg
1774. T.L/p. 79.
"2. Ulisse Aldrovandi, Monstrorum historia, Bononiae 16
Ämbrosini veröffentlicht. Früher hatte Aldrovandi, der 160$
erklärt, eine Klassifizierung der Hermaphroditen sei wegen d(
den Autoren beschriebenen großen Zahl und Verschiedenhe
Formen unmöglich. Einer seiner Vorgänger, Argelata Pietro, Vi
1499, erklärte in seiner Chirurgia den Hermaphroditismus für,
„unerklärliche und abscheuliche Affektion bei den Menschen".
3. Pierre Dionis, Gours d'operations de Chirurgie. Br
1708, p. 197. Er befürwortete das auch noch im 19.
hundert wieder vorgebrachte Gesetz, daß die Hermaphroditen
für eins der beiden Geschlechter entscheiden, und es ihnen verbd
sein sollte, das nicht gewählte zu gebrauchen.
4. Albrecht v. Haller, Comm. Göttiugen. 1752. T. I. 1?
hatte Haller eine Schrift verfaßt: An dentur hermaphroditi ?
5. H. A. Wrisberg, Commentatio de singulari genitalium di
formitate in puero hermaphroditum mentiente cum quibusdam obsei
vationibus de hermaphroditis. Göttingen 1796. Par. 19. S. 541 — 542
6. J. Fr. Meckel, Handbuch der pathologischen Anatomie\
Zwitterbildung, Leipzig, 1816. Bd. 2, Abt 1, S. 196—221.
7. R. Lippi, Bizarre formi degli organi della riproduzione di
due individui della specie umana. Firenze 1826.
8. Johannes Müller, Bildungsgeschichte der Genitalien. Düssel-
dorf 1830.
— 128 —
besitzen. Einen hundertprozentigen Mann gibt es nicht,
solange noch jeder die Brustwarzenrudimente und den
uterus masculinus aufweist, wohl aber einen, der zu 95,
94, 93 etc. % männlich, zu 5, 6, 7 etc. % weiblich ist,
die männlichen Qualitäten nehmen ab, und wir erreichen
die Stelle, wo 50% männliches und 50% weibliches in
einem Körper verbunden sind, von nun ab überragen die
weiblichen Charaktere die männlichen bis wir ganz all-
mählich dicht an den Typus des Vollweibes gelangen, an
dem vielleicht nur noch die Paradidymis an den Mann
erinnert Es ist durchaus nicht gesagt, daß ein Indivi-
duum, das zu 75% weiblich, zu 25% männlich ist „ein
Weib" sein muß, es kann ebenso gut „ein Mann" sein,
an dem alles, abgesehen von dem Membrum und seinen
Adnexen, weiblich ist.
Was von dem Ganzen gilt, [ gilt auch von seinen
Teilen. Wenn die Zellen des weiblichen und männlichen
9. E. F. Gurlt (Berlin), Lehre von der pathologischen Anatomie.
1832. S. 183 (34 Tafeln).
10. Isidore Geoffroy de St. Hilaire, Histoire des anomalies de
l'organisation. Paris, 1836. T. II, p. 36.
11. Carlo Cotta, Alcune idee sulTermafroditismo. Milano 1844.
(Gazz. medico d. Milano.) T. III, S. 205.
12. A. Förster, Die Mißbildungen des Menschen. Jena 1861.
13. Edwin Klebs, Handbuch der pathologischen Anatomie.
Berlin 1876. Bd. 1, Abt. 2, S. 736.
14. E. F. Gurlt, Über tierische Mißgeburten. Berlin 1877.
15. F. Ahlfeld, Die Mißbildungen des Menschen. 2. Abschn.
Leipzig 1880. S. 243.
16. G. Pozzi, De Termaphroditisme. Gaz. hebdom. 1890.
Nr. 30, p. 351.
17. Cesare Taruni, Hermaphrodismus und Zeugungsfähigkeit,
deutsch von Dr. R. Teuscher. Berlin 1903 (Barsdorf).
18. Die psychischen Hermaphroditen klassifizierte Krafft-Ebing.
Psychopathia sexualis. Auch seine Klassen gehen unabgegrenzt in-
einander über, ebenso wie die von Ulrichs aufgestellten Gruppen
der Mannlinge und Weiblinge.
— 129 —
Organismus in ihrer Größe und Konsistenz
aufweisen, was durchaus wahrscheinlich ist,
wir sicher sein, daß es zwischen der einen uk
Durchschnittsform zahllose Abstufungen gibt,
jedes beliebige Stück am Menschen herausgrei
wird man diesen ganz allmählichen Übergang leU
nehmen können. Nehmen wir die kräftige, der\
des Vollmann-Typus und die relativ und absolut \
zartere, weichere Hand des weiblichsten Weibes, z\
beiden gibt es eine Legion unmerklich in einandi
gehender Formen. Das Durchschnittsbecken des \
und des Mannes weisen wesentliche Differenzen a\
doch sind auch hier die Zwischenformen so zahlreich
es bei ausgegrabenen Becken häufig sehr schwer hl
sagen, ob es ein männliches oder weibliches war,\
Becken, die der Gynäkologe als „allgemein verei
bezeichnet, sind tatsächlich nur virile Becken. Da^i
gilt vom Schädel, von den weiblichen und männli
Brüsten, von der Schrift und Gangart der Geschlecl
von ihrem Fühlen, Denken und Wollen, stets wird \
zwischen der spezifisch männlichen und typisch weiblicl
Form die Zwischenstufen, die Überbrückung der Geg\
sätze ohne Schwierigkeiten entwickeln können. \
Auch der Geschlechtstrieb besitzt eine männlicl
also auf das Weib gerichtete und eine weibliche, also de\
Manne zugeneigte Form. Die Reize der Außenwelt, dl
Objekte, die den Geschlechtstrieb passieren, sind an sic\
gleich, der Eindruck, den sie auf die Nervenendorgane
von wo sie hirnwärts projiziert werden, machen, ist der-^
selbe; das von der hübschen Frau auf der Netzhaut!
entstehende Bild, die Klangwirkung ihrer Stimme auf\
das Gehör, die Fortleitung ihrer Ausdünstung auf das \
Geruchsorgan sind nicht verschieden. Auch die sen- \
siblea Nerven, die von diesen, wie von allen Punkten
der Körperoberfläche durch das centrum libidinosum
Jahrbuch V. 9
— 130
Urnischer Arbeiter
131
mit weiblichem Becken.
9*
132 —
ziehen, sind anatomisch und physiologisch identisch, aber
dieses Zentrum selbst muß verschieden bei Mann und
Weib konstruiert sein. Auch der Urning sieht da«
Weib nicht „mit anderen Augen" an, sondern mit
einem anders gearteten
Zentralorgan. Die motori-
schen Nervenbahnen, die
von diesem Zentrum peri-
ph er ie warte ziehn, dürften
ebenfalls bei beiden Ge-
schlechtern nicht wesent-
lich von einander ab-
weichen. Daß bestimmte
Sinneseindrücke, die von
dem erregenden Objekt
ausgehen, bei manchen mit
besonders starken Lustge-
fühlen verknüpft sind —
die besonders vom Ge-
sichts-, Gehörs- und Ge-
ruchssinn ausgehende feti-
schistische, sowie die vom
Hautsinn wahrgenommene
masochistische Reizung ge-
hören hierher — sind ange-
sichts der spezifischen Er-
regung des bestimmten
Zentrums durch ein be-
stimmtes Geschlecht von
ebenso untergeordneter Be-
deutung wie die zentri-
fugale im Sadismus zum Ausdruck gelangende gelegentliche
Steigerung und Störung' sexueller Motilität. Worin die
verschiedene Beschaffenheit des zentralen Organs ana-
tomisch liegt, können wir um so weniger sagen, als ja
Allgemein verengtes weibliches
Becken.
— 133 — \
\
der Sitz desselben noch nicht lokalisiert ist.\
sind es auch nur Größenunterschiede, wie bei 4
Geschlechtscharakteren, sodaß also etwa das \
einer bestimmten Größe nur durch weiblich^
Mitschwingungen versetzt wird, während in an^
dehnung männliche Reize wirksam sind. Dochi
natürlich nur Hypothesen, immerhin ist eine \
achtete Mitteilung Galls, *) des neuerdings wii
Möbius und Bunge2) zu Ehren gebrachten genialen B
bemerkenswert, daß er „bei Männern, die eine Ab
gegen das andere Geschlecht an den Tag legten, \
sonders schwach entwickeltes Kleinhirn gefunden^
Bekanntlich nahm Gall an, daß das Kleinhirn d\
des Geschlechtstriebes sei und zwar stützte er siel
im wesentlichen auf folgende Argumente:
I. Das Kleinhirn ist bei Neugeborenen im
hältnis zum Gesamthirn schwach entwickelt, wie 1 : 9<
Es wächst am stärksten nach der Pubertät, besonde^
18. Lebensjahr, und ist beim Erwachsenen dann das "\
hältnis wie 1 : 5 — 7.
\
II. Die individuellen Verschiedenheiten in der fi
wickelung des Kleinhirns sind sehr groß. Der Grad i
Entwickelung ist beim lebenden Menschen äußerli
kenntlich an dem Abstand der Processus mastoidei. \
weiter diese von einander abstehen, je breiter und stärkt
ist die Nackenmuskulatur. Gall will nun an einem seh
umfassenden Material beobachtet haben, daß Persone^
*) Franz Joseph Gall. Anatomie et Physiologie du systeme\
nerveux. 4 Bände. Paris 1810—18. Die uns interessierenden Stellen
finden sich Vol. III. P. 85—138.
2) P. J. Möbius: Über Franz Joseph Gall. Schmidts Jahr-
bücher. Bd. 262. S. 260. 1899. G. v. Bunge -Basel. Lehrbuch
der Physiologie des Menschen. Leipzig bei Vogel 1901. I. Band
16. u. 17. Vortrag S. 222 u. ff. besonders auch S. 236.
— VM —
mit breitem muskulösen Nacken einen besonders starken
Geschlechtstrieb haben.
III. Das Kleinhirn ist beim Manne durchschnittlich
stärker entwickelt als beim Weibe. Diesen Unterschied
fand Gall in der ganzen Säugetierreihe von der Spitz-
maus bis zum Elephanten bestätigt.
IV. Werden Menschen und Tiere vor der Pubertät
kastriert, so bleibt das Kleinhirn in seiner Entwicklung
zurück.
V. Wird nur ein Hoden exstirpiert, so atrophiert
nur die eine Hälfte des Kleinhirns und zwar an der ge-
kreuzten Seite. Gall will dies nicht nur bei Tieren,
sondern in mehreren Fällen bei zufälligen Verletzungen
am Menschen beobachtet haben.
VI. Der Mensch, in welchem der Geschlechtstrieb
das ganze Jahr über rege ist, bat ein stärker entwickeltes
Kleinhirn als die Tiere, bei denen sich der Geschlechts-
trieb nur zur Zeit der Brunst regt.
Galls bestechende Behauptungen entbehren vielfach
einer exakten zahlengemäßen Grundlage, sie sind daher
auch vielfach bestritten und heftig angegriffen — der
edle Gelehrte hatte unter dem Haß der Kirche und dem
Neid der Fachgenossen namenlos leiden müssen — sie
sind aber noch keineswegs widerlegt. Für seine Annahme
spricht die neuerdings festgestellte Tatsache, daß sich die
sensiblen Nervenbahnen von der ganzen Körperoberfläche
her bis zum Wurm des Kleinhirns verfolgen lassen, und
zwar reichen die ersten Neurone bis zu den Clarkeschen
Säulen, von wo aus sie auf den Kleinhirnseitenstrangbahnen
weiter ziehen.
Mag das Geschlechtstriebzentrum nun im Klein-
hirn oder anderswo seinen Sitz haben, jedenfalls ist
nach dem Gesagten mit Sicherheit anzunehmen, daß es
einen männlichen oder weiblichen Typus trägt \
hin, daß auch hier wie bei allen anderen mäni
weiblichen Teilen fortlaufende Übergänge vorh\
und zwar selbständig, ohne daß eine Übereii
mit den übrigen Sexualcharakteren unbedingt ei
ist. Theoretisch ist zuzugeben, und ich selbst t
Meinung früher vertreten,1) daß das Centrum li^
aus zwei Teilen zusammengesetzt ist, indem \
vorhandenen körperlichen und geistigen Ru^
des anderen Geschlechts auch ein Triebrudim^
verschiedener Stärke entsprechen muß, so da\
eine doppelseitige Erregbarkeit in verschieden \
Grade möglich wäre. Wäre dies der Fall — wi
bereits auseinandergesetzt, bin ich mit der Fül
Materials schwankend geworden — so würde das fl
häufigere Vorkommen der ßisexualität sprechen, \
dings nur bei einer gewissen Größe des Rudiments^
sexuelle Erregbarkeit durch beide Geschlechter läßi
ohne weiteres noch nicht in diesem Sinne verwenden, \
abgesehen von Suggestivwirkungen handelt es sich
oft nur um mechanische Reizungen, rein spinale Refi
im Gegensatz zu den viel komplizierteren und zweck!
sprechenderen zentralen Reflexen, die von der Psy\
ihren Ausgang nehmen und für deren Beschaffenheit \
allein Entscheidende sind. Darum sind auch gerade i
Träume für die Richtung oder besser gesagt die man
liehe oder weibliche Qualität des Triebzentrums von 1
hohem Wert, weil im Schlaf zahlreiche Assoziationen i
Wegfall kommen, die im wachen Zustand modifizierend
und störend eingreifen. \
Zwei Umstände machen die große Häufigkeit dei
sexuellen Übergänge und Zwischenformen erklärlich und
*) Dr. med. Hirschfeld, Sappho und Sokrates etc. IL Aufl. \
1902, S. 8 ff.
— X36 —
wahrscheinlich. Einmal die Tatsache, daß jedes Individuum
mit beiden Geschlechtern in unmittelbarem Erbschat ts-
verhältnis steht. Der männliche Sproß erbt nicht nur vou
seinem Vater, sondern auch von der Mutter und diese ge-
mischte Vererbung wird noch wesentlich erweitert durch die
latente Vererbung, nach deren Gesetzen auch die Mütter
und Großmütter väterlicher- und mütterlicherseits an jedem
Knaben partizipieren. Gewiß wird dieser Einfluß durch
die sexuelle Vererbung, nach der Knaben gewisse väter-
liche, Mädchen bestimmte mütterliche Eigenschaften er-
halten, durchkreuzt, aber doch nicht in dem Grade, daß
die vorher genannten wichtigen Gesetze der Heredität
ausgeschaltet werden. Es hat vieles für sieb, daß bei
der Vereinigung der weiblichen und männlichen Keim-
zelle von vornherein ein bestimmtes Mischungsverhältnis an-
gelegt ist, sodaß bereits die befruchteten Eier in männ-
liche, weibliche und gemischte zerfallen würden. Diese
sehr variable Mischung legt als Sexualbasis, vielleicht
sogar als Sexualzentrum in der Hauptsache den Körper
und Geist des Individuums für die Dauer seines Be-
stehens fest
Der zweite Umstand, welcher die Häufigkeit der
Zwischenstufen so naheliegend erscheinen läßt, ist der,
daß alle qualitativen Unterschiede der Geschlechter in
Wirklichkeit nur quantitative sind. Alle sexuellen
Charaktere verharren eine gewisse Zeit im neutralen Zu-
stand, dann findet bei allen in einem bestimmten Alter
vor oder nach der Geburt ein gemeinsamer Anlauf statt,
der bei manchen Teilen früher, bei anderen später sein
Ende erreicht, indem die unbekannte Zentrale auf das
Wachstum der einzelnen Organe bald hemmend, bald
fördernd einwirkt. Von dieser Wachstumsenergie ist es
abhängig, ob ein Stück männlich oder weiblich geartet
erscheint; gänzlich schwindet keins dieser Stücke, selbst
beim Vollweibe ist alles männliche in mehr oder weniger
großen Resten vorhanden, so wenig die
weiblichen bei keinem Manne fehlen. Bei diei
duellen Verschiedenheit der Individuen und (^
kann es nicht Wunder nehmen, daß eine V\
der Grenzen so häufig ist.
Man hat wohl behauptet, daß die Trennung
schlechter umso schärfer sei, je höher ein I
stehe, daß die Natur auf eine immer größere Differl
der Geschlechter hinarbeite. Das entspricht \
nicht den Tatsachen. Die Geschlechtsunterschi^
bei den niederen Tieren viel größer, als bei den \
so sind bei manchen Insekten die Männchen und W
so verschieden gestaltet, daß man sie lange als
derselben Art garnicht erkannt hat. Selbst
meisten Säugetieren unterscheidet sich das Mal
mehr vom Weibchen, als beim Menschen. Dabe\
halten sich die sexuellen Geschlechtscharaktere \
stabil, der weibliche Typus, der männliche und d^
Zwischenstufen hat sich soweit unsere Kenntnisse rel
weder bei den Tieren noch beim Menschen nach\
und Zeit erheblich verändert. Namentlich sind die V\
gangstypen unter den Menschen zu allen Zeiten uni
allen Zonen nachweisbar. Schon aus diesem Grunde \
scheint es nicht gerechtfertigt, im Uranismus einen Atavisfi
zu erblicken, wie es wiederholt geschehen ist. Gewiß
die Geschlechtseinheit im Naturreich das Ursprüngliche!
die zwei Geschlechter stellen eine höhere Stufe der Ee
wickelung dar. In den Zwischenstufen tritt uns ab^
kein Rückschritt zum eingeschlechtlichen, sondern vie
eher ein Fortschritt zum mehrgeschlechtlichen entgeger
Das dritte Geschlecht stellt nichts einfacheres, sondere
eher etwas komplizierteres dar. Mit ihm gestaltet sich!
die Menschheit nicht einförmiger, sondern reichhaltiger \
und vielseitiger. Läge wirklich eine immer schärfere
Differenzierung der Geschlechter im Plane der Natur, so
— 138 —
müßten die Männer immer männlicher, die Frauen immer
weiblicher, die Kluft zwischen beiden Geschlechten) mithin
immer größer und klaffender werden. Wir vermögen darin
weder etwas Zweckmäßiges, noch etwas Segensreiches
zu erblicken.
V. Heredität und Homosexualität
Angeboren ist nicht immer ererbt. Wäre beispiels-
weise unsere Vermutung richtig, daß das Männliche und
Weibliche im Menschen von dem Mischungsverhältnis
der männlichen und weiblichen Zeugungsstoffe abhängig
ist, so wäre der homosexuelle Trieb wohl eingeboren,
aber nicht ererbt im eigentlichen Sinne des Wortes. Genau
genommen kann man nur etwas erben, was die Eltern
besitzen. Demnach müßte von den Eltern eines urnischen
Kindes zum mindesten eines urnisch sein. Das ist aber
verhältnismäßig sehr selten der Fall. Der wissenschaft-
liche Sprachgebrauch hat allerdings den Begriff der Ver-
erbung wesentlich erweitert, und nennt ererbt auch
solche Eigenschaften, deren Auftreten erfahrungsgemäß
von gewissen oft ganz anders gearteten Zuständen der
Eltern hereditär beeinflußt wird, so nennen wir die
Skrophulose ererbt, wenn das Kind einer tuberkulösen
Familie entstammt, die Epilepsie ererbt, wenn der Vater
ein Trinker war, die Taubstummheit ererbt, wenn die
Eltern blutsverwandt waren. Auch die Definition von
Möbius1): „Entartete sind die, welche vermöge krank-
hafter Zustände ihrer Erzeuger mit einem krankhaften
Geisteszustände zur Welt kommen", gehört hierher. Rich-
tiger wäre es in allen diesen Fällen nur im allgemeinen
von ererbter Belastung oder von Belastung allein zu reden.
*) V. Magnan: Psychiatrische Vorlesungen; in der Einleitung
von Möbius S. VI.
— 139 — \
\
Die Forscher, welche die Überzeugung ve^
die Homosexualität angeboren sei, haben u\
achtens dieser erblichen Belastung einen zu h\
beigelegt und zwar dürfte die Überschätzung des ll
Einflusses mit der Besonderheit des verarbeiteten
zusammenhängen. Sie berücksichtigten zu wenig
alle Konträrsexuellen, die zu ihnen als hervor\
Nervenärzten kamen; sich subjektiv leidend füll
objektiv oft in indirekter Verbindung mit ihrei,
Sexualität meist an Neurasthenie litten, einer ebenf^
fach auf neuropathischer Heredität basierenden Ä
Meist handelt es sich auch um Patienten aus ti,
Ständen, in denen es wohl kaum noch eine Famili
bei der nicht unter den Angehörigen Abweichungen z\
statieren sind, etwa Migräne der Mutter, Selbstmora
Vetters, die sich im Sinne psychopathischer Dispq
verwenden lassen. Wer sehr viele gesunde Homosej
exploriert hat, wird erstaunt sein, wie häufig her4
belastende Umstände — auch bei weitester Fas|
des Begriffs der Erblichkeit — fehlen. Von denen, dii
beobachtete, stammen mindestens 75% von gesuq
Eltern aus glücklichen, oft sehr kinderreichen E
Nervöse oder geistige Anomalien, Alkoholismus, Bl
Verwandtschaft, Lues sind in der Aszendenz keineswi
häufiger, wie unter den Vorfahren normalsexueller P<
sonen. In der Mehrzahl der Fälle heirateten Vater ui
Mutter aus Neigung, sehr viele Urninge heben das b<
sonders glückliche Zusammenleben ihrer Eltern hervo:
Der Altersunterschied der beiden Eltern weist großi
Schwankungen auf, im Durchschnitt ist der Vater 5 bi^
10 Jahre älter wie die Mutter, in einem Falle betrug de^
Altersunterschied 45 Jahre, der Vater war 64, die
Mutter 19 Jahre, als das urnische Kind, welches das
einzige blieb, geboren wurde. Unehelich geborene Homo-
sexuelle kenne ich 8. Wiederholt schien es mir, daß die
— 140 —
Mutter eine mehr aktive, der Vater mehr eine passive
Natur war, ohne daß eins von beiden direkt urni**h
gewesen wäre. Das von manchen als ätiologisch be-
deutsam angegebene Moment, daß die Mutter sich ein
Kind entgegengesetzten Geschlechtes gewünscht habe,
entbehrt einer statistischen Unterlage. Die Mutter eines
urnischen Leutnants teilte diesem auf seine Anfrage mit,
daß sie sich allerdings vor seiner Geburt — er ist der
dritte Sohn — eine Tochter gewünscht habe, noch mehr
aber habe sie dies vor der Geburt des vierten Knaben
getan, aus dem ein scharf heterosexueller Frauenfreund
und Familienvater geworden ist. Bei den 20 — 25° 0 der
Homosexuellen, wo erbliche Belastung vorlag, fanden sich
fast durchgängig Zeichen der Degeneration,
die von der Homosexualität als solcher unabhängig waren.
Sind also in 8/4 der Fälle „ krankhafte Zustände der
Erzeuger" bei gewissenhafter Nachforschung nicht zu
eruieren, so gibt es doch eine Tatsache, aus der sich mit
Sicherheit schließen läßt, daß eine Familienanlage zur
Homosexualität bestehen muß, wenn auch keine krank-
hafte. Dieses Faktum ist das verhältnismäßig sehr häufige
Vorkommen homosexueller Geschwister. Unter 100
Urningen finden sich durchschnittlich 8, deren Bruder
oder Schwester ebenfalls homosexuell sind. Diese Zahl,
die mit der Gesamtmenge der Urninge in gar keinem
Verhältnis steht, kann kein Zufall sein, auch ist der Ein-
fluß der gleichen Erziehung oder psychischer Ansteckung
auszuschließen, denn meist haben diese Personen noch
eine ganze Reihe normalsexueller Geschwister, die in dem-
selben Milieu aufgewachsen sind und in nahezu der Hälfte
der Fälle handelt es sich um Bruder und Schwester, auf
die, wenn sich Homosexualität züchten ließe, ganz ent-
gegengesetzte Faktoren eingewirkt haben müßten, denn die
Umstände, die den Sohn effeminierend beeinflussen könnten,
müßten die Tochter erst recht weiblich machen und um-
141
gekehrt, es sei denn, daß Eltern absichtlich i\
nach weiblicher, ihre Töchter nach männlich^
ziehen, was schwerlich vorkommen dürfte. Oft i
die urnischen Geschwister getrennt von einandd
wachsen. So berichtet ein höchst femininer Ur^
russischer Abkunft, der in Deutschland erzoger
„Meine einzige Schwester, von der ich seit Kindl
trennt bin, hat fast alle Vorzüge eines Mannes, sie
in Petersburg Medizin, raucht und treibt sehr viel\
sie schwärmte in der Schule sehr für ihre Lehrer\
lebt mit einer Studiengenossin in enger Freundschd
sammen.* Unter 58 urnischen Geschwistern, die mJ
sönlich oder dem Namen nach bekannt sind, finden
26 mal Bruder und Schwester, 21 mal homosexuelle Br\
darunter 2 mal Zwillingsbrüder, 3mal homosexuelle Sei
stern, 6 mal 3, 1 mal 4, lmal 5 urnische Geschwil
29 mal sind sämtliche (2, 3 und 5) Kinder homosex^
in 7 Fällen hat sich ein Bruder wegen Homosexuall
das Leben genommen. Verhältnismäßig häufig finden s\
auch Homosexuelle in der Vetterschaft. In einer eul
päischen Fürstenfamilie, welche im Jahre 1880 14 män\
liehe Mitglieder zählte, fanden sich nachweislich vie
wahrscheinlich sogar sechs Urninge. In den Fällen,
mehr als zwei Kinder homosexuell sind, scheint mir eini
psychopathische Belastung häufiger vorzuliegen, soweit
sich dies bei dem relativ spärlichen Material sagen läßt]
Im Falle der 4 urnischen Geschwister waren der Vater \
und der Großvater mütterlicherseits Brüder, in dem der
5 Geschwister berichtet der älteste Bruder, ein mir auch
persönlich bekannter tüchtiger Schriftsteller : „Meine vier
jüngeren Geschwister, eine Schwester und 3 Brüder, sind
wie ich veranlagt. Mein 2. Bruder nahm sich im 28. Jahr
das Leben. Er verlobte sich, glaubte aber nach kurzer
Zeit das Mädchen nicht wirklich lieben und befriedigen
zu können, wurde krankhaft mißtrauisch gegen seine
— 142 —
Umgebung, von der er sich in seiner Anomalie durch-
schaut glaubte und erhängte sich in einem Sanatorium.
Wir Geschwister sind sämtlich von der Mutter her sehr
musikalisch und schöngeistig veranlagt, die Mutter war
eine kluge energische Frau von vorzüglichen Gemüts-
eigenschaften. In ihrem Gesicht lag ein männlicher Zug.
Sie starb im 50. Jahr an Unterleibskrebs. Der Vater
war skrophulös, schwerhörig, willensschwach, er starb im
58. Jahr nach langjährigem Rückenmarksleiden. Die
Mutter meines Vaters hatte in ihrem Tun etwas ent-
schieden Männliches und hatte im Alter einen Bart."
Ich bemerke, daß der Berichterstatter körperliche und
geistige Degenerationszeichen aufweist (u. a. unregelmäßige
Zahnstellung, verbildete Zehen, allerlei Absonderlichkeiten
und Exzentrizitäten neben hoher geistiger Befähigung,
Zwangsvorstellungen, so ist es ihm unmöglich rechts von
jemandem zu gehen, exhibitionistische Anwandlungen etc.).
Es handelt sich hier also um einen erblich belasteten
Homosexuellen, der zugleich ein Degenerierter ist.
Die Frage zu entscheiden, wie gesunde Eltern zu
homosexuellen Kindern kommen, werden wir schwerlich
im Stande sein, bevor wir nicht wissen, wovon es ab-
hängt, daß das eine Mal Knaben, ein anderes Mal Mädchen
geboren werden. Vorläufig können wir nur die uns in
ihren Gründen völlig unklare, aber höchst weise Tatsache
konstatieren, daß in Deutschland wie fast in ganz Europa
auf 100 Mädchen durchschnittlich 106 Knaben zur Welt
kommen. Wir werden kaum fehlgehen, wenn wir hieraus
und aus der Erfahrungstatsache, daß — soweit unsere
Kenntnis reicht — überall Homosexuelle in gleicher
Menge vorhanden sind, folgern, daß auf ein bestimmtes
Quantum Knaben und Mädchen ein konstanter Prozent-
satz urnischer Personen geboren wird. Die Größe desselben
auch nur annähernd anzugeben, besitzen wir keine exakten,
einwandfreien Grundlagen; sie zu beschaffen, dürfte
143
eine der wichtigsten Aufgaben des wissenschaftlich,
tären Komitees sein. Als statistisch erwiesen dl
dagegen ansehen, daß die Homosexuellen in der 1
der Fälle nicht erblich belastet sind, wie es bisfi
geglaubt wurde. Diese Feststellung spricht wi
dagegen, daß es sich in allen Fällen von Homosö
um eine Degenerationserscheinung handelt. Bek^
waren die Psychiater, die sich zuerst mit der kol
Sexualempfindung beschäftigten, namentlich Magna
Krafft-Ebing auf Grund ihres Materials zu dieser \
zeugung gelangt. Magnan *) hatte gesagt: „Die \
kehrung des geschlechtlichen Empfindens ist nicht^
Krankheit für sich, sondern das Zeichen eines a
meinen krankhaften Zustandes, ein Syndrom im 1
der ererbten Entartung. " Krafft-Ebing2) gelangt ha\
sächlich unter Berücksichtigung der „in fast allen Fä\
vorhandenen neuropathischen Belastung* zu dem Schluß
„daß diese Anomalie der psychosexualen Empfinduni
weise als funktionelles Degenerationszeichen klinisch a
gesprochen werden muß." Mit der Menge der zu sein!
Beobachtung gelangenden Homosexuellen hat er allei
dings diesen Standpunkt wesentlich eingeschränkt und il
seiner Arbeit im III. Bande dieser Jahrbücher (S. 6) er\
klärt er ausdrücklich : „Daß die konträre Sexual empfindung
an und für sich nicht als psychische Entartung oder\
gar Krankheit betrachtet werden darf." Neuerdings hat^
Möbius in der geistvollen Schrift: „Geschlecht und Ent-
artung"8) die Anschauung vertreten, daß die Homo-
sexualität stets eine Form angeborener Entartung sei,
er beruft sich dabei besonders darauf, daß stets erbliche
Belastung nachzuweisen sei und daß stets auch außer-
halb der Geschlechtlichkeit liegende körperliche und \
*) Magnan. Psychiatrische Vorlesungen, IV. V. Heft. S. 38.
2) Psychop. sex. S. 209.
3) S. 28 ff.
— 144 —
geistige Zeichen der Entartung vorhanden wären. Wir
sahen bereits, daß die erste Voraussetzung nicht zutrifft,
und werden erfahren, daß auch die zweite Prämisse einer
Massenbeobachtung gegenüber nicht Stich hält. Übrigens
rechnet Möbius ') (3. 36) die Homosexuellen „nur zu den
Leichtentarteten oder wie man gewöhnlich sagt, zu den
Nervösen." Ein anderer sehr erfahrener Psychiater —
selbst Urning — schreibt: „Meine Studien haben mir kein
positives Resultat ergeben. Wohl fand ich in einzelnen
Fällen von Homosexualismus hereditäre Einflüsse, die
aber bei anderen fehlten. Allerdings fand ich unter
Homosexuellen Typen mit ausgeprägten psychischen und
körperlichen Degenerationszeichen, andererseits fand ich
aber wieder so kerngesunde, harmonische Naturen, daß
sich für mich trotz eifrigsten Bestrebens nichts Eindeutiges
zur Entscheidung dieser Frage ergab. Allerdings ist ein
so verhältnismäßig kleines Material, wie es bisher jedem
auch dem bedeutendsten Forscher vorgelegen hat, nicht
geeignet, absolut einwandfreie Schlüsse zu ziehen. Ein
entscheidender Beitrag zur Lösung dieser Frage ist wohl
nur von der Bearbeitung des großen einschlägigen Ma-
terials, das dem wissenschaftlich-humanitären Komitl zur
Verfügung steht, zu erwarten.*
Vor kurzem hat sich auch Näckez) zu der Frage ge-
äußert und zwar in dem Sinne, daß die Homosexualität
allein für sich bestehend noch keine Entartung ausmacht,
!) Möbius sagt in dieser Broschüre S. 40: „Auch ich bin der
Meinung, daß die Abschaffung des § 175, dessen Wirkung haupt-
sächlich in Erpressungen und weiterhin in Selbstmorden besteht,
dringend zu wünschen sei." Wir betonen dies Bloch gegenüber,
der sich gegen die Aufhebung dieses § ausspricht und sich dabei
auch (B. I. S. 252) auf frühere Ausführungen von Möbius stützt. Auch
die zwei anderen Hauptgewährsmänner von Bloch: Eulenburg und
v. Schrenck-Notzing haben die Petition unterzeichnet, welche für
die Beseitigung dieser verhängnisvollen Strafbestimmung eintritt.
*) In Laehrs Allg. Zeitschrift f. Psychiatrie 1902. S. 827.
— U5 —
daß es geistig und körperlich völlig normal
sexuelle gibt, daß man dagegen die Homosext
ein Stigma neben anderen gelten lassen kann,
nicht als ein so schweres, wie es vielfach h^
wurde. Ich habe in Gemeinschaft mit dem
Dr. Ernst Burchard, mehrjährigen psychiatrischi
stenten, die Beziehungen zwischen Degeneratil
Homosexualität einem eingehenden Spezialstudiuu
zogen und können wir den Thesen Näckes voll un^
beipflichten.
Wir legten uns zuvörderst die Frage vor, in\
die Homosexualität als Teilerscheinung bei Persöl
keiten auftritt, die ihrer gesamten körperlichen \
geistigen Veranlagung nach als Entartete zu bezeicl
sind. Wir gingen dabei von dem jetzt allgemein gült
Grundsatze aus, daß ein vereinzeltes Degenerationszeic
noch kein Beweis von Entartung ist, daß es in jec
Fall des Zusammentreffens mehrerer solcher Eigenschaf
bedarf, von denen Möbius sagt: „Wo sie sind, da
Entartung, wo ihrer viel sind, viel, wo ihrer wenig, weniji
Auszuschließen waren bei dieser Untersuchung von vor!
herein psychische und- somatische Erscheinungen, welch
mit der Homosexualität in unmittelbarem Zusammenhangs
standen. Wenn beispielsweise Möbius1) sagt: „Kindern
liebe ist ein wesentlicher Zug des weiblichen Geistes ;\
wenn ein Mann seine Kinder abscheulich findet, so erregt \
das kein Bedenken, tut es ein Weib, so ist sie mit Be- '
stimmtheit als entartet zu bezeichnen", so trifft dies für
ein normalsexuelles Weib gewiß zu, nicht aber für eine urni-
sche Individualität, zu deren Gesamtbild diese Abneigung
gegen Fortpflanzung und Kinder als Teilerscheinung ge-
hört. Ebensowenig werden wir bei einem homosexuellen
Manne sehr weiche Hände oder starke Brustentwickelung
*) Staohyologie S. 176.
Jahrbuch V. 10
— 146 ■ —
oder Bartlosigkeit als Stigma der Degeneration, sondern
vielmehr als urnisches Stigma ansehen dürfen. Von
körperlichen Degenerationszeichen hatte Kollege Burchard
folgende für unseren Zweck zusammengestellt:1)
Abnormer Kopfumfang
Asymmetrie des Hirnschädels.
Asymmetrie des Gesichtsschädels.
Abnorme Häßlichkeit.
Mikro- und Anophthalmus.
Fehlen, Colobom der Iris.
Farbenungleichheit der Iris.
Ektopie und Ungleichheit der Pupillen.
Retinitis pigmentosa.
Angeborene Kataract.
Cysten der Augenhöhle.
Schielen, Nystagmus.
Die zahlreichen Anomalien im Bau des äußeren Gehörorgans
(wie Spitzohr, Darwinsches Knötchen, tibermäßig große,
sehr stark abstehende Ohren).
Fisteln der Ohrmuschel.
Anhänge der regio aiiricularis und regio colli.
Eiemengangcysten.
Gesiohtsspalten.
*) Es wurden besonders folgende Werke berücksichtigt:
Morel: Degenerescences de l'espece humain, Paris 1856.
Magnan: Psychiatrische Vorlesungen, Deutsch von Möbius,
Leipzig 1891.
Fere: Nervenkrankheiten und ihre Vererbung. Deutsch von
Schnitzer, Berlin 1896.
Möbius: Über Entartung, Wiesbaden 1900.
Nordau: Über Entartung, Berlin 1898.
Arndt: Biologische Studien (II. Artung und Entartung,
Greifswald 1895).
Rhode: Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach der
Entstehung und Vererbung individueller Eigenschaften und Krank-
heiten, Jena 1895. (Mit eingehender Litteraturangabe über Ver-
erbung bis 1895.)
Cohn: Ein Beitrag zur Lehre von der Vererbung. — Deut-
sche medicinische Presse.
Fuhrmann: Das psychotische Moment, Leipzig 1903.
— 147 —
Hasenscharten.
Cysten des Zwischenkieferspalts.
Anomalien der Zahnstellung und des Zahnbaus.
Hoher und spitzer Gaumen.
Spaltungen des Gaumens.
Auffallend massiver Unterkiefer.
Mikro- und Makroglossie.
Anomalien des Zungenbändchens.
Stottern, Stammeln.
Angeborene Abweichungen der Wirbelsäule.
Fehlen von Extremitäten und£einzelnen Gliedern.
Entwickelungshemmungen in der Länge der Finger und'
Polydaktylie, Syndaktylie.
Schwimmhäute.
Zu harte knochige, zu breite tatzenartige, zu weiche
knochenlose, übermäßig feuchte kalte Hand.
Klumpfuß, Pferdefuß etc.
Hammerartige Mißbildungen der großen Zehe.
Angeborene Luxationen, Neigung zu Luxationen.
Größenmißverhältnisse der Extremitäten zum Rumpf.
Riesen-, Zwergwuchs.
Angeborene Exostosen.
Akromegalie.
Spina bifida.
Mangelhafte Muskelentwickelung.
Fehlen einzelner Muskeln.
Starke Fettleibigkeit.
Multiple Lipome.
Hämophilie.
Situs inversus.
Neigung zu Krampfadern.
Aplasie der Arterien.
Pigmententartung der Haut (Flecken etc.).
Albinismus.
Hornartige Gewächse der Haut.
Mangelhafte und abnorme Behaarung.
Vorzeitiges Ergrauen.
Doppelter Haarwirbel.
Ungenügendes Wachstum der Haare.
Zartheit der Nägel.
Brüche, Bruchanlage.
Atresie, Prolapse des Mastdarms.
10*
— 148 —
Abnorme Länge des proz. vermiformis.
Neigung zu Appendicitis.
Überzählige Brüste.
Pseudo-Hermaphroditismus.
Kryptorchismns. Ektopie der Teatikel.
Hypospadie. Epispadie.
Phimose.
Natürlich sind die einzelnen Stigmata in ihrer Be-
deutung sehr verschieden zu bewerten, so werden vor-
zeitiges Ergrauen, Neigung zu Appendicitis, zu Krampf-
adern und Bruchanlage zusammengenommen weniger zu
besagen haben als eine Verbindung von Hasenscharte
und Polydaktylie. An die körperlichen Entartungszeichen
schließt sich die Neigung zu bestimmten konstitutionellen
Erkrankungen an, die man ebenfalls als Entartungszeichen
ansieht. Im Wesentlichen sind es Rachitis, Tuberkulose,
Skrophulose, Diabetes und die Krankheiten der arthriti-
schen Gruppe. Die Anlage zu gewissen nervösen Er-
krankungen, der man eine gleiche Bedeutung beilegt, zur
Chorea, Basedowschen, Parkinsonschen, Thomsenschen
Krankheit, Muskelatrophie, M igräne, Neuralgieen, Epilepsie,
Hysterie und Neurasthenie leitet uns auf das Gebiet der
psychischen Degenerationszeichen über. Hier kommt es
für uns weniger auf die ausgesprochen pathologischen
Zustände des sogenannten Entartungsirreseins an, die
ohnehin von den übrigen endogenen Psychosen schwer
zu trennen sind, als vielmehr auf jene psychischen Stigmata,
die außerhalb eigentlicher Geistesstörungen den Entarteten
charakterisieren. Es sind dies nach F£r6: Extreme Reiz-
barkeit des Charakters, Veränderlichkeit der Gefühle und
Neigungen, Absonderlichkeit des Geschmacks (z. B. im
Alkoholismus und Morphinismus hervortretend) , damit
im Zusammenhang steht die für den Entarteten charakte-
ristische Tatsache, daß bei ihm der Impuls zum Handeln
stärker ist, als es nach den bestimmenden Motiven der
Fall sein sollte. Magnan stellt in den Vordergrund die
149 — \
verringerte Fähigkeit sich geistig konzentrieren zi\
nebst der Unfähigkeit, lästige Gedanken zu ban^
zu Zwangshandlungen führt (Platzfurcht, Onomai
Arithmomanie, Selbstmordmanie etc.). Möbius \
sieht das wesentliche in der psychischen Unbestän\
und Disharmonie, die in Gleichgewichtsstörungen
Ausdruck gelangt. Wichtig für die Bewertung psycH
Entartungszeichen ist der Satz, daß diejenigen, M
unter gleichen Lebensbedingungen stehen, wissen we
was an dem Betreffenden atypisch ist. Hier ist je\
wieder zu berücksichtigen, daß dem Normalsexui
vieles atypisch erscheinen wird, was dem spezifisch ho\
sexuellen Empfinden entspringt und mit der urniscl
Natur vollkommen harmoniert, sodaß von diesem Gesich
punkt aus von einer Disharmonie der psychischen Persq
lichkeit nicht die Rede sein kann. Weiterhin sind aui
die nervösen Stigmata in Abzug zu bringen, welche a,
unmittelbare Folgeerscheinungen der homosexuelle]
Triebrichtung aufzufassen sind. Wenn wir uns vergegeri
wärtigen, welchen gewaltigen Faktor die honiosexuell^
Leidenschaft im individuellen Leben ausmächt, so werdeni
wir begreifen, daß stärkere Alterationen dieser Sphäre \
auf das ganze mit dem Sexualtrieb so eng verknüpfte \
Nervensystem besonders nachteilig wirken werden. Un-
glückliches Lieben steht unter den Ursachen der Neu-
rasthenie obenan und man sollte nie versäumen, wenn man
bei Patienten die mit erhöhter Erregbarkeit verbundenen \
nervösen Depressionen findet, das Sexualleben im weitesten \
Sinn als ätiologisches Moment in Betracht zu ziehen. \
Gilt das schon für Normalsexuelle, um wie viel mehr für \
Homosexuelle, deren innere Angst und Erregungszu- \
stände, deren so oft zu Selbstmordversuchen führende \
Liebeskonflikte, deren qualvolle Unterdrückungskämpfe \
oft eine fortlaufende Reihe psychischer Traumen darstellen. \
Wir müssen also bei unseren Untersuchungen die auf dem
\
— 150 —
Boden der Entartung und die auf dem der Homosexualität
entstandene Neurasthenie wohl unterscheiden.
Wenn wir uns nun nach Auschluß der mit dem homo-
sexuellen Triebe im unmittelbaren Zusammenhang stehen-
den Stigmen die Frage vorlegen: Bestehen bei Homo-
sexuellen die körperlichen und geistigen Entartungszeichen
in höherem Prozentsatz als bei Normalsexuellen?, so
lautet die Antwort: Nein. Burchard und ich fanden
unter 200 beliebig ausgewählten Homosexuellen 32 mit
ausgesprochenen Degenerationszeichen also ca. 16% und
zwar waren diese fast sämtlich erblich belastet.
Stände die Homosexualität im unmittelbarem Zu-
sammenhang mit der Degeneration, so müßten die Zeichen
der Entartung nicht nur bei Homosexuellen, sondern auch
die Homosexualität in größerem Umfange bei schwerer
Degenerierten nachzuweisen sein. Auch das trifft nicht
zu. Man vergleiche . die im II. Aufsatz dieses Bandes
von Näcke mitgeteilten Beobachtungen aus der Irren-
anstalt Hubertusburg, auch Dr. Burchard sah während
seines mehrjährigen Aufenthalts in der Heilanstalt Ucht-
springe unter dem dortigen überaus zahlreichen Material
von Degenerierten schwerster Art nur einen Fall aus-
gesprochen homosexueller Veranlagung (bei einem Epi-
leptiker.)
Tritt also die Homosexualität in gut 4/ft der Fälle
bei völlig Gesunden und nur in knapp 1/B bei Degene-
rierten auf, steht sie demnach keineswegs so oft in Ver-
bindung mit sonstigen Zeichen der Degeneration, daß sie
notwendig mit ihr verknüpft erscheint, so bleibt noch der
Einwand übrig, und dieser ist erhoben worden, daß die
Homosexualität allein für sich ihren Träger zum Degene-
rierten, zu einem minderwertigen Repräsentanten der
Gattung Mensch stempelt. Auch Möbius scheint dieser
Meinung zuzuneigen. Er sagt (Stachyologie S. 132) einmal :
„Mit der Zivilisation wächst die Entartung, d. h. die Ab-
— 151 —
weichung von der ursprünglichen Art. —
wichtigsten Arten geistiger Abweichung bestet
daß der Geschlechtscharakter an seiner Bestimmt!
liert, daß beim Manne weibliche Züge, beiml
männliche auftreten/ . Man mißt dabei diesen Züget
Symptomenkomplex doch zweifellos eine Einheit \
eine Bedeutung bei, die man keinem anderen Stigi
erkennt, und setzt sich in Widerspruch mit dem v^
Psychiatern allgemein angenommenen Satz, daß es zur\
Stellung der Entartung stets mehrerer Degenerat
zeichen bedarf. Um zu entscheiden, ob die Homosexu\
für sich eine Entartu'ng bedeutet, muß man sichl
allem über diesen Begriff Klarheit verschaffen, \
durchaus nicht leichte Aufgabe, denn die Erkläru
„Entartung ist ein krankhafter Geisteszustand auf Grii
krankhafter Zustände der Erzeuger ", sowie die andi
Definition: „Entartung ist eine ererbte Abweichung vi
Typus, die die durch die Variabilität gezogenen Grenzi
übersteigt", rufen sofort die Gegenfragen wach: was i\
krankhaft? was ist der Typus ? was ist die Norm? welche
sind die Grenzen physiologischer Varietät? Wir könnei
doch unmöglich Lombroso beipflichten, der auf die tele-
graphische Anfrage des New York Herald: Was ist ein,
normaler Mensch? antwortete: „Ein Mensch, der über\
einen gesegneten Appetit verfügt, ein tüchtiger Arbeiter, \
egoistisch, geschäftsklug (routin£) geduldig, jede Macht- \
Sphäre achtend . . ein Haustier."
Gewiß stellt der Homosexualismus die Minorität des
geschlechtlichen Empfindens dar, sodaß man ihn ver-
gleichsweise als von der Norm abweichend und in
diesem Sinne als abnormal bezeichnen kann. Sieht
man aber von Vergleichen ab und betrachtet ihn ganz
objektiv, rein für sich, als etwas einmal Bestehendes,
so bildet er in sich etwas so Übereinstimmendes, die ihm
eigenartige Geschlechtsempfindung entspricht so sehr
— 152 —
seinem ganzen Wesen und zeigt so bis ins einzelne
gehende Analogieen mit der heterosexuellen Geschlechts-
empfindung, daß man bei ihm wohl von einer besonderen
Art, einem besonderen Geschlecht absolut gesprochen,
aber nicht von einer Anomalie im pathologischen Sinne
reden kann. Das Disharmonische, die Störung der nor-
malen geistigen Proportionen (d£s£quilibration), auf welche
die Psychiater mit Recht hohen Wert legen, ist beim
Homosexuellen nur scheinbar vorhanden. Die Ansicht
Molls, welche er in einer deiner letzten Arbeiten1) mit
den Worten vertritt: „Zu den krankhaften Erscheinungen
rechne ich unter allen Umständen die ausgeprägte Homo-
sexualität. Wo ein solches Mißverhältnis zwischen Körper-
bildung und seelischer Verfassung besteht, haben wir
einen pathologischen Zustand vor uns,* diese Ansicht
wäre richtig, wenn der Homosexuelle körperlich und
geistig so konstituiert wäre, wie der Normalsexuelle. Wir
haben ausführlich dargetan, daß ein derartiges Mißver-
hältnis in Wirklichkeit nicht besteht. Nicht ohne
Berechtigung schreibt ein homosexueller Gelehrter:
„Wenn jemand, der sonst gesund ist, durch die Be-
friedigung eines Triebes Glück empfindet, dürfte doch
das Prädikat „krankhaft" widerlegt sein. Ich verspüre
nach jeder Auslösung meines Triebes ein so erhöhtes
Kraftgefühl, soviel innere Harmonie, eine so arbeitsfrohe
Stimmung, daß seine völlige Unterdrückung für mich
eine kontradiktio in — subjekto bedeuten würde." Die
Pathologen verstehen unter Krankheit eine den Körper
schädigende, meist auch unangenehm empfundene Er-
scheinung. Die Homosexualität an und für sich verschafft
ihren Trägern aber weder Schaden noch Unannehmlich-
keiten, diese erwachsen ihnen nur aus den Verhältnissen.
Auch der häufige Mangel hereditärer Belastung spricht
*) Zukunft: Sexuelle Zwischenstufen. S. 433. 1902.
sehr dagegen, daß die homosexuelle Empfindung i
ein Degenerationsphänomen ist, ebenso der Unist
sich die Homosexuellen sehr oft einer ersta
körperlichen und geistigen Gesundheit, Kraft unci
keit erfreuen; erst kürzlich besuchte mich ein \
jähriger Uranier, der mir mitteilte, daß er nie kra
wesen sei und es im alpinen Sporte, dem er mi\
huldigte, noch jetzt mit jedermann aufnehmen \
Eulenburg1) und Bloch meinen, daß die Ubiquit^
Homosexualität, ihre Unabhängigkeit »von Zeit und,
von Rassenverhältnissen und Kulturformenu gegeii
Annahme einer Degenerationserscheinung spräche, \
ist dem mit Recht entgegenzuhalten, daß es überall \
artete geben kann. Richtig ist, daß Kultur und Civilisa\
sowie „ das Zeitalter der Nervosität11 nicht verantwortt
zu machen sind und es freut mich, nach so viel
Meinungsverschiedenheiten hierin mit Bloch überei
stimmen zu können, wennschon ich gewünscht hätte, d^
der Autor aus dem Ergebnis seiner historischen Fol
schungen: Die Homosexualität kann kein ÄKulturprodukti
sein, den Schluß gezogen hätte: Dann wird sie wohl ei^
„Naturprodukt* sein. \
Manche erblicken in der relativen Fortpflanzungs4
Unfähigkeit der Homosexuellen einen Beweis ihrer Krank- \
haftigkeit. So sagt Wachenfeld2): „Die Homosexualität
kann nichts rein Natürliches, Physiologisches sein; denn
sonst würde die Natur die homosexuelle Befriedigung,
ebenso wie die heterosexuelle, in den Dienst der Fort-
pflanzung und Arterhaltung gestellt haben." Auch Krafft-
Ebing schwebte wohl diese negative Seite des homosexu-
ellen Triebes vor Augen, als er sagte8): „Die Verletzung
*) Eulenburg in der Vorrede zu Blochs Beiträgen z. Ätiol. d.
Psych, sex. S. IX u. Bloch ibidem S. 3 u. ff.
*) A. a. 0. S. 38.
8) Ps. sex. S. 248.
— 154 —
von Naturgesetzen ist anthropologisch und klinisch als
eine degenerative Erscheinung anzusprechen." Wie aber,
wenn hier gar kein Naturgesetz verletzt würde, wenn es
im Plane der Natur gelegen hätte, Wesen hervorzubringen,
für die es nicht normal ist, sich fortzupflanzen? Unter-
scheiden wir recht genau die Gesetze, welche wir schufen
und die Gesetze, welche uns schufen.
Gewiß ist der geschlechtliche Verkehr die Ursache
der Fortpflanzung, diese ist seine Folge, eine — wie die
Erfahrung zeigt — oft nicht einmal erwünschte Begleit-
erscheinung. Auch ohne daß wir bisher über den Prozent-
satz der Homosexuellen zur Gesamtbevölkerung genaue
Angaben machen können, dürfen wir behaupten, daß der
im homosexuellen Verkehr der Fortpflanzung entgehende
Zeugungsstoff prozentual verschwindend ist gegenüber dem
im normalen Geschlechtsverkehr bewußt und unbewußt
verschwendeten. Die schöpferische Natur geht mit dem
Zeugungsstoff allüberall in ungemein verschwenderischer
Weise um. Es genügt ihr, wenn von diesem Stoff nur
ein ganz ungeheuer geringer Prozentsatz der Befruchtung
dient. Der Anatom Henle1) berechnete die Zahl der
Eier in dem Eierstock eines 18 jährigen Mädchens auf
36000, in beiden Ovarien zusammen also auf 72 000. In
den 30 Jahren von der ersten Periode bis zum Klimacte-
rium werden davon nur 30 X 12 = 360 Eier abgestoßen.
Und von diesen werden selten mehr als 10 befruchtet.
Unvergleichlich größer noch ist die Verschwendung des
männlichen Zeugungsstoffs. 500 Millionen Samenzellen
füllen den Raum einer einzigen Kubiklinie aus;3) be-
') J. Henle: Handbuch der System. Anatomie de» Menschen
Bd. 2 S. 483. Braunschweig, Vieweg 1866.
*) Man vergL Banges Physiologie Band I 1901 S. 344 u. Bd. 11
S. 100. Über die Spermamenge bei einer Ejakulation finden sich
Angaben bei:
1. William Acton: The functions and desorders of the repro-
rücksichtigen wir nun, daß die bei einer Entle^
gegebene Spermamenge c. 10 gr. beträgt, da#
Eskalationen im Jahr gewiß nichts seltenes sind,\
man getrost sagen, daß von vielen Milliarden mi
Keimzellen kaum eine den Keim zu einem neuen
legt. Sterben doih die direkten Nachkommen fi
einzigen Menschen — man vergleiche die genealo)
Tafeln — nach wenigen Generationen aus. Der nah
Mensch denkt beim Geschlechtsverkehr auch gar\
an die Fortpflanzung. Für ihn ist der Geschlechtsv«
nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Voll
er den Geschlechtsakt zum Zwecke der Fortpflan\
so handelt er aus Reflexion. Von den beiden Koi
nenten des Geschlechtstriebes, dem Kontrektations- und
tumescenztriebe Molls, dem Ergänzungs- und Geschieh
befriedigungstrieb, hat der erstere mit der Fortpflanzt
direkt überhaupt nichts zu tun. Dabei ist er für i
Charakter und die Richtung des sexuellen Triebes i
wesentlichere. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß, wel
die Fortpflanzung beim Menschen, wie bei so viel'
Lebewesen, ungeschlechtlich wäre, der Gefühlskomplel
der in der geschlechtlichen Zuneigung zum Ausdruck g
angt, nicht völlig aus der Welt verschwände. Das, wj
wir im weiteren Sinne Herdentrieb, im engeren Sinm
Ergänzungstrieb (Kontrektationstrieb) nennen, würde sicher
lieh auch dann noch fortbestehen. Denken wir uns den\
Ergänzungstrieb- vom Geschlechtsbefriedigungstrieb los- ■
gelöst, so wird es uns nicht mehr so rätselhaft erscheinen,
duetive organs etc. III. ed. London. Churchhill 1862 p. 151, (A.
nimmt 8 — 10 gr. an.)
2. Dr. J. Marion Sims: „Klinik der Gebärmutterchirurgie"
deutsch von H. Beigel. Aufl. 3. Erlangen. Enke 1873. S. 317.
(o. 10 gr.)
3. Paolo Mantegazza: Sullo sperma umano. Reale istituto
Lombardo di soienze e letere. Rendiconti Vol. III 1866. p. 184.
— 156 —
daß das Objekt dieses Ergänzungstriebes, der Gegenstand
der Liebe, auch eine Person sein kann, mit der ein neues
Wesen zu zeugen nicht möglich ist. Andererseits wird
es uns auch verständlicher werden, daß sich der Ge-
schlechtsbefriedigungstrieb (Detumescenztrieb) demjenigen
Objekt zuwendet, auf das der Kontrectafiionstrieb gerichtet
ist. Der Detumescenztrieb ist, so groß seine praktische
Bedeutung sein mag, dabei doch nur untergeordnet, sekun-
där, und man sollte ihm daher bei einer objektiven Beur-
teilung der Homosexualität nicht die erste Rolle zuweisen,
wie es vielfach geschieht.
Der Geschlechtsverkehr beansprucht für die Er-
haltung de* Arten keineswegs die Bedeutung, welche
ihm mit dem Gegenstand nicht Vertraute zuerkennen.
Bunge sagt in seinem meisterhaften Lehrbuch der Physi-
ologie1): »Die Konjugation, die geschlechtliche Zeugung
ist fiir die Fortpflanzung unwesentlich. Das Wesentliche
ist die Zeugung durch Teilung einer Zelle, die vom
Wachstum nicht verschieden ist. Welche Bedeutung
die geschlechtliche Zeugung hat, wissen wir
nicht."
Das Ausschlaggebende bei der Fortpflanzung, die
Befruchtung, die Vereinigung der Keimstoffe, ist ja über-
dies ein völlig gefühlloser Vorgang, von dem wir ebenso-
wenig wie vom Wachsen das geringste merken. Bunge
hat vollkommen recht: „Wachstum und Fortpflanzung sind
im Grunde genommen ein und dasselbe. Wachstum ist
Fortpflanzung innerhalb der Grenzen des Individuums.
Fortpflanzung ist Wachstum über die Schranken des
Individuums hinaus"; auch der Mensch, der über
sich hinaus wächst, der durch neue Gedanken
undWindungen seine und des anderen Gehirn-
oberfläche vergrößert, pflanzt sich fort. Vom
*) 1. Aufl. 1901 erschienen.
— 157 —
Wachstum zur ungeschlechtlichen Fortpflanzt
dieser zur geschlechtlichen Zeugung führen alli
denklichen Übergänge. Gerade die imposante
keit, die unendliche Mannigfaltigkeit, mit der d\
an der Erhaltung und Vervollkommnung ihrer G^
arbeitet, sollte uns vor der Vermessenheit schüt:
Natur ins Handwerk zu pfuschen. Wie können \
verantworten, dem Menschen ein Recht abzuerkenn
keinem anderen Lebewesen vorenthalten ist. D
schlechtlichen Beziehungen erwachsener und zurech^
fähiger Wesen gehen wahrlich keinen dritten etwl
Wie, wenn der Zweck des Geschlechtstriebes nul
Liebe wäre, die Liebe, die stets fruchtbar ist, zeugi
gebiert, auch wenn ihr keine neue Lebewesen entspri^
Man kann auch produktiv sein, ohne sich fortzupflail
Wenn Möbius die Fortpflanzung als wichtigsten Nal
zweck1) bezeichnet, so setzeich dem Leipziger Psycho
den Leipziger Psychologen entgegen, Wundt, den n^
den größten Philosophen der Jetztzeit genannt hat Diel
stellt als mittelbaren und unmittelbaren. Zweck des Lebe
die Erzeugung geistiger Schöpfung hin.2) Haben dei
Michelangelo, Beethoven und Friedrich der Große ihre
Naturzweck verfehlt^ weil sie keine Kinder zeugten? Ic\
meine, sie bedeuten der Menschheit mehr, als 100 ihreii
Zeitgenossen, die 1000 Kinder hinterließen. Nicht um4
sonst hat man von geistiger Befruchtung und Zeugung\
gesprochen. Genie kommt von yevaco-zeugen und die
Spenderin der Wissenschaften nennt man alma mater,
nährende Mutter. Die Erzeugnisse des Geistes, die Ge-
*) In dem Aufsatz „über die Vererbung künstlerischer Talente" \
sagt Möbius (Stachyologie S. 123): „Das Talent ist dem wich- \
tigsten Naturzweck, der Fortpflanzung, nicht förderlich. \
Gerade unter den großen Talenten finden wir viele kinderlose Leute." \
2) Eisler. Wilh. Wundts Philosophie und Psychologie in ihren \
Grundlagen dargestellt. Leipzig. Barth 1902. S. 183. \
— 158 —
danken, sind Taten, treibende Kräfte, Entwickeier der
Menschheit, Vorkämpfer besserer Zeiten. Wer neue
Wahrheiten entdeckt und verbreitet, neue Gestalten bildet
und formt, ist ein zeugender und säugender Förderer.
Tolstoi ruft einmal aus: „Möchten doch die Menschen
begreifen, daß die Menschheit nicht durch tierische Er-
fordernisse, sondern durch geistige Kräfte fortbewegt
wird.* Das Leben absolut schön zu schaffen, reich, reif
und rein, das ist der Arbeit Ziel, des Daseins Zweck.
Bis aus Ideen dieses Ideal entsteht, wird noch manche
Generation dahingehen, manche Denkerstirn sich furchen
und manche Arbeitskraft erlahmen. Nur der Tatenlose
ist nutzlos, zwecklos nur, wer nicht am gemeinsamen
Werke der Erziehung, Weiterbildung, Vervollkommnung
mitarbeitet. Der Wert eines Menschen hängt von den
Werten ab, die er erzeugt. Hand in Hand mit den
beiden anderen Geschlechtern hat der Uranismus trotz
allem und allem Werte und Werke geschaffen für den Ein-
zelnen und die Gesamtheit. Das war des Uraniers, wie
jedes Menschen Zweck und Pflicht.
Und nun schlagen wir die Brücke vom Erkennen
zum Leben. Groß sagt einmal:1) „Heute sperren wir die
Homosexuellen ein und geschieht es ohne Berechtigung,
so wurden eben so und so viele Menschen ungerecht
ihrer Freiheit beraubt und etwas Ärgeres können wir
überhaupt nicht tun/ Und ich füge hinzu, — indem
ich vor meinem Geiste noch einmal die vielen hunderte
von Uraniern vorüberziehen lasse, vom Prinzen zum
Tagelöhner,, die ich in sieben Jahren sah, diese hülf-
losen Ärzte und Priester, diese angsterfüllten Staats-
anwälte und Richter, diese bedeutenden Gelehrten und
Künstler, die braven Offiziere, die pflichttreuen Be-
amten, die tüchtigen Kauf leute , Landwirte, Studenten,
*) Archiv für Kriminalanthrop. 10. Band 1 u. 2 H. S. 195.
Arbeiter alle, alle stigmatisiert, verstümmelt, £
in ihrem Heiligsten, — : Solange Staat und \
schalt in diesen von der Fortpflanzung, nicht a\
der Liebe Ausgeschlossenen Verbrecher sehen, l\
Mittelalter sein Ende noch nicht erreicht Ich fü\
Teil werde nicht aufhören, für das Recht dieser \
drückten zu kämpfen, nicht aus Ruhmbegier, so
weil ich es nicht ertragen könnt«, untätig Mitwisser \
so gewaltigen Unrechts zu sein.
Anhang: \
Lebensgeschichte des uniischen Arbeiters Franz S.,\
von ihm selbst erzählt.
Als Kind armer Eltern — mein Vater war Schreiner — kai,
ich im Allgemeinen auf meine Jugendzeit eigentlich nicht als ai
eine goldene Zeit zurückblicken, zumal da meine Mutter frühe starl
und wir 2 Brüder, die wir von 5 Geschwistern zurückgeblieben
waren, bald eine Stiefmutter bekamen. Unsere Stiefmutter, die noch
heute lebt und unseren Vater in der Folge noch mit 2 Söhnen be-\
schenkte, war eine äußerst rechtschaffene Frau und uns eine liebe- \
volle Pflegerin, die uns gewiß in jeder Beziehung die rechte Mutter
zu ersetzen bemüht war. Allein die dürftigen Verhältnisse unserer
Familie brachten es mit sich, daß wir schon als Jungen zum Lebens-
unterhalt mit beitragen mußten. Der rücksichtslose Kampf ums
Dasein warf schon frühe seine grauen Schatten in den Sonnenschein
unserer Jugend. Die Stunden, wo ich frei mich meinen Alters-
genossen zugesellen durfte, waren mir bedeutend knapper zuge-
messen als allen anderen Kindern. Um so eifriger und in steter
Angst, daß der Ruf meiner gestrengen Mutter mich, ach nur zu
frühe, wieder abrufen würde, gab ich mich den Kinderspielen mit
meinen — Kameradinnen hin. Freilich, Kameradinnen, denn Mädchen
waren damals meine liebsten und fast ausschließlichen Spielgefährten.
Ich fand bei ihnen stets willige Annahme und war ihnen offenbar
ein angenehmer Spielgenosse. Abhold jenen lärmenden, wilden
Knabenspielen zog ich es vor, in Gemeinschaft mit gleichaltrigen
— 160 —
Mädchen der Nachbarschaft mich an Puppenwagen, Puppenstuben,
Kochherd u. s: w. zu ergötzen. Dort war ich in meinem Element
Keine meiner Gespielinnen konnte die kleinen Möbel und Säohelchen
des Puppenheims so schön zurechtstellen, die kleinen Betten und
Deokohen so glatt falten, keine konnte so schöne Chokoladen- und
Milchsuppen zurechtpantsehen, so delikate Mohrrüben mit Zucker
einmachen, als ich. Deshalb mußte ich auch meistens bei den
Spielen die Mutter markieren, obwohl mitunter von einer neidischen
Kleinen Einspruch dagegen erhoben wurde, wobei man lakonisch
auf meine Hosen als unzweifelhafte Qualifikation zur „Vaterschaft"
hinwies. Zuweilen mischte sich auch die Mutter Derjenigen, in deren
Behausung wir spielten, dazwischen, um uns auf diese Umkehrung
der Begriffe aufmerksam zu machen. Die Majorität der kleinen
Schar entschied meistens, nach einigen Wenn und Aber, doch für
meine „Mutterschaft/ Und zwar vornehmlich im Hinblick auf die
Chokoladensuppe und die eingemachten Rüben. Und um auch
etwaigen Nörgeleien wegen der „Hose" zu begegnen, wurde oft ein
altes Umschlagtuch nebst dem Häubchen der Mutter herbeigeschafft.
Angetan damit war ich glücklich, meine Rolle bis zu Ende des
Spiels durchführen zu können. —
Welch rosiger Hauch bolder Unschuld lag über diesen naiven
Jugendspielen ausgebreitet! Und doch — wenn der Forscher den
Schleier jugendlicher Naivität durchdrang, bot sich ihm nicht schon
in dem Verhalten des Kindes manch deutliches Merkmal psycho-
logischer Abnormität? — Woiter aber: Je älter ich wurde, um so
deutlicher entwickelten sich meine Neigungen zu allen möglichen
weiblichen Beschäftigungen. Meine Stiefmutter bemerkte sehr bald,
mit welchem Geschick ich stets die kleinen Hilfeleistungen ausführte,
welche sich auf den Haushalt bezogen.
Bald wurde ich von ihr mit Vorliebe zu solchen Arbeiten
herangezogen. Und ich erinnere mich lebhaft jener freudigen Ge-
nugtuung, die Ich empfand, als anläßlich der Geburt meines jüngsten
Bruders, ich hatte eben mein zehntes Lebensjahr überschritten —
schon ein großer Teil der häuslichen Verrichtungen mir übertragen
wurde. Körperlich entwickelte ich mich recht langsam, dafür wurde
mir aber öfter eine gewisse, nach innen gekehrte geistige Reg-
samkeit nachgesagt. Mit dem elften Jahr hörten die Spielereien
mit den Mädchen nach und nach auf. Die Personen der kleinen
Mädchen hatten ja bei den vorbenannten Spielen wenig oder keine
Anziehungskraft ausgeübt. Es war nur immer die Art des Spieles,
die mich festhielt. Eine auffallende, offen und naiv ausgedrückte
Vorliebe für sehöne Formen und Linien wurde schon frühe bei mir
— 161 —
von meiner erwachsenen Umgebung bemerkt und als ein
Kuriosum an mir belächelt. Gelegentlich eines Wohnund
meiner Eltern wurde mein Geschick allgemein bewundert,!
ich in der neuen Wohnung Bilder, Spiegel und sonstige Sa
an den Wänden geschmackvoll zu arrangieren wußte. Vö\
Jahre an gab ich mich nun mehr und mehr mit Knaben,
Alters ab, doch war die Art des Verkehrs wiederum sei
Gegenstand vieler Bemerkungen, namentlich der Mütter, \
überhaupt mehr Gelegenheit nehmen, das Tun und Treiben \
ganze Wesen ihrer Kinder zu beobachten. Man fand mein\
mit den Freunden sich abzugeben, komisch, so „eigentümlich,
anders," garnicht jungenhaft. Wenn ich mit Knaben spiel^
kamen die sonst üblichen Katzbalgereien, Gezanke und Feinet
keiten, die ja sonst unter Jungen gang und gäbe sind, gar\
vor. Ich wußte immer alles gleich wieder zu arrangieren un\
versöhnen, so daß jeder zu seinem Rechte kam. Nahm auch wohl
den Rest auf meine Kappe, damit sie nur alle „wieder gut" wuri
paukte mich mit den Einzelnen nie, gab immer, oft mit tränent
Augen nach und war froh, wenn sie mich nur leiden mochten, wfij
ich ihnen nur immer gut sein durfte. Deutlich erinnere ich
noch, wie mich oft meine Mutter schalt wegen meines duckmäus\
rischen, mädchenhaften Benehmens und mir einschärfte, daß ich mic\
wenn ich im Rechte sei, zu wehren hätte und mir nicht „alles ge
fallen lassen dürfte"! Gewöhnlich ohne Erfolg. Soldaten-, Kriege
und Räuberspiele, die bei allen Jungen doch die begehrtesten Spiele
sind, mir waren sie ein wahrer Horror. Ich erinnere mich, nur ein\
einziges Mal das Spiel „Indianer und Pflanzer" mitgemacht zu\
haben, aber bloß unter der Bedingung, daß mir dabei die An-
fertigung der phantastischen Lendengürtel und Kopfputze über-
tragen wurde, bei welcher Beschäftigung ich dann eine geradezu
abenteueriiehe Phantasie entwickelte. An den Spielen selbst hatte
ich nur insofern ein Interesse, als ich dabei mit kritischem Blick die
äußeren Erscheinungen der verschiedenen Knaben in Vergleich bringen
konnte. Gewöhnlich lief ich neben und hinter den einherstürmenden
Knaben und weidete meine Augen an dem schlanken Oberkörper,
den tippigen Lenden, den glühenden Wangen und den funkelnden
Augen desjenigen, der meinen Schönheitsbegriffen besonders ent-
sprach. Schöne, lebhafte, sprechende Augen liebte ich schwärmerisch,
und wenn ihr Besitzer gar womögüch noch leichtgelocktes Haar
hatte, dann wars immer um meine Ruhe geschehen. So einer durfte
unbeschränkt über mich verfügen. Ich suchte auf alle mögliche
Art seine Gunst zu erwerben, war glücklich, wenn ich in seiner
Jahrbuch V. 11
— 162 —
Nähe weilen oder gar seine Hände fassen durfte. Ein solcher
Knabe, Willy M , zwei Monate jünger als ich, doch bedeutend
kräftiger entwickelt, war es denn auch, für den mich bald eine
heftige und tiefe Zuneigung ergriff. Er war es, für den ich meine
ersten „Liebesschmerzen" erduldete. Jenes oben genannte Spiel,
„Indianer und Pflanzer," hatte uns näher zusammengeführt. Ich
hatte bei dem Spiel die mehr passive Rolle unter den indianischen
Kriegern übernommen. Ich mußte die gemachten Gefangenen be-
wachen. Willy geriet ebenfalls, nach heldenmütiger Gegenwehr
gegen die Übermacht der Wilden, in ihre Gefangenschaft und wurde
mir im Triumph zugeführt, damit ich ihn bewache, bis die even-
tuellen Sieger in den „Wigwam" zurückkehrten, um ihn dem qual-
vollen Tode am Marterpfahl zu überantworten. Schweigend nahm
ich ihn in Empfang und schweigend betrachteten wir uns eine Weile
gegenseitig. Er nahm seine Rolle sehr ernsthaft und betrachtete
mich mit ungeheurer Verachtung. Ich nahm meine Rolle weniger
gewissenhaft, sondern musterte seine äußere Erscheinung mit heim-
licher Bewunderung.
So wie wir uns später oft einiger 'an sich unbedeutender Epi-
soden unserer Jugend lebhaft bis ins hohe Alter hinein erinnern,
mit derselben Lebendigkeit, als sei es gestern geschehen, erinnere
ich mich noch heute jener unsagbar wonnigen, süßen Freude,
die ich damals empfand, als dieser Knabe, gefesselt, in seiner
stolzen Hilflosigkeit vor mir stand. Im Stillen dankte ich es
meinem gescheiten Einfall, daß ich mich hatte zum Wächter der
Gefangenen benutzen lassen. War ich doch nun in die glückliche
Situation gekommen, meinen geliebten Freund vollständig in meiner
Gewalt zu sehen. Mein erster Gedanke, nachdem wir allein gelassen,
war, ihn in seiner Hilflosigkeit in meine Arme zu schließen, um ihn
nach Herzenslust abzuküssen und an mich zu drücken. Was
wollte er machen; er war gebunden, konnte sich nicht wehren und
mußte sich meine Liebkosungen gefallen lassen. Allein die Furcht
vor seiner wirklichen Verachtung hielt mich davon ab. Wonne-
trunken saß ich eine Weile neben ihm und bewunderte verstohlen
den schlanken Körper, den schönen Kopf meines Gefangenen,
Willy war in der Tat eine außerordentlich schöne Jugenderscheinung.
Tannenschlank gewachsen, waren Kopf und Gliedmaßen geradezu
klassisch zu nennen im Ebenmaß ihrer Formen. Den schönen Kopf
schmückte eine Fülle seidenweichen, blonden Haars, das in leichten
natürlichen Kräuseln die blendend weiße Stirn umrahmte und ein
paar große, wunderbar sprechende Augen, stahlgrau und von langen
dunklen Wimperhaaren beschattet, strahlten aus diesem schönen
— 163 —
Gesicht mir entgegen. An ihnen konnte ich mich nie s*
Möglich, daß sich die Erscheinung Willys in meiner jung
in übertriebenen Reflexen widerspiegelte. Ich weiß m:
noch genau zu entsinnen, wie ich damals nicht begreifei
und wie ich eigentlich jedem Menschen böse war, der ihn
nicht dabei ausrief: '„Wie unendlich schön ist dieser Knabe
muß betonen, daß ich niemals dabei in meiner ganzen Kna
sexuelle Regungen empfand, das geschah erst in und nach d
Wicklung meiner Pubertät.
Das Ende jenes Spiels aber war ausschlaggebend gev
für unsere nachherige Freundschaft. Willy hatte bei jener Ge
heit mein Mitgefühl nicht umsonst benutzt, indem er behau
die Fesseln seien „zu fest*' und täten wehe, und ich war n
bereit, diese etwas zu viel zu lockern, und war auch nachher g(
nicht allzusehr erschrocken, als plötzlich mein Gefangener in grc
Sätzen entwischte. Das Spiel, hiess es, „gilt nicht," ich wurde tue
wegen meiner Unzuverläßigkeit ausgescholten. Und als ich di
noch obendrein meinen Freund Ausreisser in Schutz nehmen wo.
geschah, was oft zu Ende solcher Spiele zu geschehen pflt
irgend jemand bekam seine Hiebe und hier in diesem Falle war
es, der seine schöne Tracht Prügel von seinen Kriegskumpanen e
heimsen musste. Das waren meine ersten „Liebesschmerzei
Und Willy machte nicht einmal Miene, mich zu trösten oder nur i
bedauern. Und doch ist eben dieses Jugendspiel der Grundstei
zu unsrer langjährigen innigen Freundschaft geworden. Es mocht
Willy doch wohl leidgetan haben, dass ich seinetwegen so jämmerlich
gepufft worden. Er liess sich von da an öfter vor dem Hause, wc
meine Eltern wohnten, sehen. Ach und ich, mir fuhr jedesmal ein
Wonneschauer durch die Brust, wenn ich ihn nur erblickte. Heisse
Blutwellen schössen mir ins Gesicht und mehr stürzend rannte ich
auf ihn los, um seine Hand zum ?,guten Tag" zu fassen, die ich
dann oft überlange festhielt, in seinen Anblick versunken und ohne
zu hören, wenn er mich nach diesem und jenem frug. Von nun an
begann die schönste Zeit meiner Jugend. Ich war überglücklich,
dass Willy anfing, sich mit mir zu beschäftigen. Nun bot ich alles
auf, ihn an mich zu fesseln. Wir besuchten uns gegenseitig und
wenn ich einmal .von der Mutter einen freien Nachmittag erhielt,
dann wusste ich's trefflich einzurichten, ihn von den wilden Spielen
mit den andern Jungen abzuhalten und ihn zu überreden, mit mir
zusammen in der Umgegend nmberzustreifen. Er tat mir auch öfter
den Gefallen und ging mit, trotzdem die Neigung dazu bei ihm nicht
sonderlich gross zu sein schien. Dann lagen wir oft an einem kleinen
11*
— 164 —
Abhang oder im Gebüsch versteckt and lauschten dem Gesänge
der Lerchen über unseren Häuptern und folgten ihren Bewegungen,
wenn die kleinen Sänger jubelnd in den blauen Äther aufstiegen.
Zuweilen war Willy, den Kopf in meinem Schoas ruhend, sacht«*
eingeschlafen, während ich meiner Lieblingsbeschäftigung oblag,
grosse Mengen von Blumen zu allerlei Kränzen, Sträussen und
Guirlanden zu verarbeiten. Dann hielt ich ab und zu inne und
lauschte auf seine tiefen Atemzüge, betrachtete zärtlich sein schönes
Haupt von allen Seiten und versenkte heimlich und schüchtern
meine Lippen in das üppige Haar des Lieblings. Fortan gab ich
mich dieser berauschenden Zuneigimg mit einer Inbrunst hin, die
bald mein ganzes junges Dasein ausfüllte.
Wo ich ging und stand, begleiteten mich die Gedanken an ihn.
Ich mischte mich jetzt nur noch sehr selten unter die anderen
Knaben, wenn „er" nicht unter ihnen war, sondern streifte allein
umher oder ging zu ihm, und wenn ich ihn nicht zu Hanne traf,
setzte ich mich in irgend eine Ecke, um auf ihn zu warten. Schalten
schon früher meine Eltern öfter über mein „närrisches" Wesen, so
war ich nun völlig ein Träumer geworden. Stundenlang sass ich oft
in der Kammer in einer Ecke und sann und sann und suchte nach
einem Mittel, wie ich meinem schönen Freund noch mehr wie bisher
meine Liebe beweisen könnte. Allerlei abenteuerliche Pläne wogten
in meiner Seele auf und nieder. Ich stellte mir vor, wie dos Haus,
in dem Willy wohnte, plötzlich in Brand geriete und Willy darin
in grosser Lebensgefahr sich befinden würde. Ich würde dann, das
gelobte ich mir, sofort mich in die Flammen stürzen, würde ihn
natürlich „ganz gewiss" in meinen Armen aus dem Feuenueer er-
retten u. s. w. So brachte ich oft die Zeit bin in solchen für mich
wundersüssen Träumen.
Immerwährend hungrig nach irgend einer Gunstbezeugung
von seiner Seite, war im Gegensatz dazu WilJy eigentlich recht
sparsam damit. Willy war im Ganzen ein herzensguter Junge.
Jedoch geschlechtlich offenbar normal veranlagt, konnte er mir
gewiß keine anderen Gefühle entgegenbringen, als er für mich eben
hatte. Nämlich jenes Gemisch von Anhänglichkeit und Dankbarkeit,
das er mir ja auch bereitwillig zugestand, wohl mit dem dunklen
Bewusstsein, dass er an mir einen Freund besass, von dem er alles
verlangen konnte. Was aber in meinem kaum 13jährigen Herzen
schon damals brannte und wühlte, war eben etwas anderes als
kameradschaftliche Zuneigung. Es waren die ersten steigenden
Funken jenes gewaltigen unterirdischen Feuers, jener leidenschaft-
lichen Glut, die man Liebe nennt. Blieb dem Dreizehnjährigen, in
— 165 —
keuscher Unschuld, auch die erotische Natur dieser En\
noch unbewusst, so stieg mir doch bereits die dunkle Ahni
dass diese Liebe ebensolche, gleich heisse und stürmisch
schaftlichkeit von dem anderen fordern müsse. Ich war n\
zufrieden, dass er mich viel aufmerksamer und rücksii
sanfter behandelte wie die anderen, mich auch wohl mal\
sein „Puppchen" nannte, meine Hände packte und mit mir i
herumjagte, mich plötzlich losliess und dann schnell hinzuspr
mich auffing, wenn ich, schwindlig geworden, zu stürzen \
war auch nicht zufrieden, wenn ich seinen Kopf dac
wann an meinen Busen drücken durfte, ihm Haar und \
zu streicheln. Nein, freiwillig sollte er selbst dergleichen aii
mir tun, sollte meinen schüchternen Kuss erwidern. Täglich i
Stunden, wo wir nicht beisammen waren, waren doch meht
danken bei ihm. Dann stellte ich mir in meiner Phantasie!
wie er mich innig umarmte, an sich drückte und küsste. Bei sol
Träumen stieg mir immer der Schlag meines Herzens gleichsah
zum Hals herauf und ich wäre in solchen Augenblicken nich^
stände gewesen, wenn mich Jemand überrascht hätte, auch nur\
Wort hervorzubringen. Fest hing ich mich dann im Geiste an i
um ihn nie, nie mehr loszulassen, er sollte mich tragen, weit, w^
fort, irgendwohin, wo wir immer, immer beisammen sein dürfti
Wie geistesabwesend sass ich dann oft in einem Winkel und riihr\
mich nicht. Oft traf mich meine Mutter so und riss mich scheitern
unsanft aus meinen süssen Träumen. So viel ich nun auch vo\
solchen Umarmungen träumte, Willy tat nie etwas dergleichen, un<|
ich musste mich weiter mit den kärglichen Gunstbezeugungen dieses;
wild umherstürmenden Knaben begnügen. Und doch — bald sollte,
ein Teil meiner heimlichen Träume in Erfüllung gehen. Wie ichl
schon eingangs meiner Zeilen bemerkte, waren meine Eltern arme \
Leute, die schwer um die rechtschaffene Erhaltung unserer zahl- \
reichen Familie kämpfen mussten. Mit Eintritt in mein 13. Lebens-
jahr machte sich, hervorgerufen durch lange Krankheit meines
Vaters, auch für mich die Notwendigkeit geltend, nun dauernd zum
Unterhalt der Familie mit beizutragen. Ich war im Ganzen etwas
zart, aber sonst kerngesund und leidlich wohlgebaut. So erhielt ich
denn eine Stelle in einem grossen Speditionsgeschäft, als sogenannter
— Rollmops, so wurden jene halbwüchsigen Jungen genannt, welche
den Rollkutscher auf dem schwerbeladenen Speditions wagen zu be-
gleiten hatten, vom Güterbahnhof durch die Stadt, wo die Kisten
und Ballen bei den verschiedensten Firmen abgesetzt wurden. Hier
begann nun eine sehr trübe Periode meiner Jugend, und doch fiel
— 166 —
in sie der erste Sonnenstrahl eines reinen zarten Licbe*glücke<«.
Der Leser mag mir gestatten, hier die kleinen, an sich ja recht un-
bedeutenden Vorkommnisse dieses meines jungen Da« ein« etwa«
ausführlicher zn erzählen. Denn es bieten sich in ihnen, meiner
allerdings laienhaften Auffassung nach, wohl filr den Forscher alle jene
charakteristischen Merkmale dar, die schon den Knaben in Heiner
ganzen psychologischen Entwicklung als ausgesprochenen Homo-
sexuellen erscheinen lassen. — Heine ganze körperliche und seelische
Verfassung stand eigentlich im Widersprach zu meinem neuen Tätig-
keitsfelde. Die ganze Umgebung, in die ich nun plötzlich hinein-
kam, behagte mir schon von Anfang an nicht. Und doch war
ich nun verpflichtet, täglich von V«2 bis meistens Abend* nach
10 Uhr in dieser neuen, für mich so ungünstigen Atmosphäre zu-
zubringen, unter der ich ungemein litt Meinen geliebten Willy
sah ich jetzt nur noch selten, denn ich hatte ja nun in der Worin«
überhaupt keine freie Zeit mehr. Mein ganzes Wesen sträubte sich
gegen die Art meiner nunmehrigen Beschäftigimg. Der Umgang
mit den Pferden, das An- und Ausspannen, Füttern und Tränken
derselben, sowie das Streumachen, alles dieses gehörte zu den Ob-
liegenheiten eines ordentlichen „Rollmopses" und war mir ein
Gräuel. Dazu kam, daß ich unter dem ungemein rohen Tun und
Treiben der Kutscher zu leiden hatte. Das beständige wüste Ge-
fluche, die brutalen gemeinen Spaße flößten mir Abscheu ein.
Scheu und furchtsam tat ich, was mir geheißen wurde und hatte in
Folge dessen auch noch die frechen Sticheleien meiner neuen
„Kollegen", deren es eine Menge auf dem Speditionshofe gab, ein-
zustecken.
Mit Wehmut dachte ich an die schöne Zeit, wo ich mit Willy
zusammen so glücklich war. Ach wie sehnte ich mich so furchtbar
nach diesem meinen liebsten, meinem einzigen Freund. Und fast un-
bewusst lenkte ich meine Schritte nach jener Strasse, in der er
wohnte, drückte mich in irgend eine Ecke, von wo aus ich seine
Fenster sehen konnte, und blickte unverwandt hinauf. Meistens
war es schon immer nach 10 Uhr und meine geheime Hoffnung,
Willy vielleicht noch treffen und sprechen zu können, war immer
vergeblich. Fast verzehrte mich die Sehnsucht nach ihm und un-
sagbare Traurigkeit erfüllte meine Seele. Ich dachte mir dann
meinen Liebling hinter jenem Fenster, vielleicht schon friedlich in
seinem Bette schlummernd, er dachte am Ende gar nicht mehr an
mich, seinen Freund, ja, hatte vielleicht den ganzen Tag, die ganze
Zeit, wo wir uns nicht gesehen, nicht mehr an mich gedacht, hatte
mich wohl gar schon ganz vergessen. 0 dann fühlte ich mich so
furchtbar einsam und verlassen auf der Welt und fing an \
in mich hinein zu weinen. Ich war tief unglücklich und
schlich ich nach Hause. — Solche Abende wiederholten \
— Und doch sollte mir hier gerade die glücklichste Stunde
jungen Dasein's schlagen. Was ich mit meinen glühendsten \
sien bis dahin mir heimlich ausgedacht, nie aber verwirkll
glauben gewagt, das wurde mir an einem Abende zuteil. Ict
mich, wie oft, nachdem die Feierabendstunde für uns gesc^
verstohlen vom Speditionshof davon gemacht, um nicht mi
anderen Burschen auf der Strasse zusammen zu geraten. Trau;
trabte ich durch die Strassen und stand auch bald wieder vor\
Hause meines Freundes. Ich hatte ihn fast 3 Wochen lang i
gesehen und bildete mir ein, Willy mtisste nun doch unbedingt \
nach mir ausschauen. Meine unendliche Zuneigung konnte sich n
damit abfinden, dass er so ganz und gar nicht an mich denken so\
Lange wartete ich vergeblich, dass er vielleicht zufällig irgend
noch sichtbar würde. Schliesslich ging ich, da ich nun das ri
zufällig diesmal noch offen fand, durch den Hausflur und lunger
wartend und missmutig auf dem mir wohlbekannten Höf umhe
Im Hause wohnte ein Lohnkutscher, der in den Seitengebäude!
Remisen und Ställen mit seinen Kaleschen, Droschken, Pferden uni
allerlei Gerätschaften den ganzen Hof beherrschte. Ich kannt^
jeden Winkel, denn ich hatte mich mit Willy zusammen manches^
liebe Mal hier umher getummelt. Ich setzte mich auf einen umge-
stülpten Wassereimer, am Eingang einer offenstehenden Wagenremise
und starrte nun eine Weile nach dem Küchenfenster der Wohnung
meines Freundes hinauf. Eine Weile hatte ich so gesessen, schwer-
mütig seufzend, den Kopf in die Hände gestützt, als ich plötzlich
aus dem Innern des Schuppens, wo einige Bündel Stroh, Futtersäoke
u. s. w. lagen, meinen Namen flüstern hörte. Ich bekam einen ge-
waltigen Schrecken , sprang auf und lauschte. Hinter dem Bündel
Stroh regte sich etwas, kam vorsichtig näher und mit freudigem
Erstaunen erkannte ich nun — Willy, meinen sehnlichst erwarteten
Freund. Er liess mir aber keine Zeit zum langen Fragen, zog mich
am Arm in den dunklen Winkel zurück und erzählte mir flüsternd
und mit vor Angst zitterndem Athem, wie er in dieses Versteck
gekommen sei und wie er sich, aus Furcht vor dem strafenden Arm
seines sehr strengon Vaters, nicht hinauf getraue. Es war eine
lange Geschichte. Willy hatte offenbar wieder einmal bei einem tollen
Knabenstreich die Hauptrolle gespielt. In Gesellschaft mit anderen
Knaben hatte er einer in der Nahe wohnenden Grünkramhändlerin
einen Schabernack zugedacht. Das Geschäftslokal dieser Frau befand
— 168 —
sieh unterhalb der Strassenfront, die Treppe ging von der Strasse
aus naeh unten, und die bösen Buben hatten nun einen grossen Blech-
topf mit Wasser herbeigeschleppt und hatten diese Pandorabtichse
jene Treppe hinunter „fallen lassen". Das Wasser war natürlich in
den Laden geflossen und hatte die alte, etwas korpulente Frau sehr
in Bewegung gesetzt. Nach vollbrachter Tat- fliehend, waren jedoch
einige der Übeltäter erkannt worden. Und gegen Abend nahte die
rächende Nemesis in Gestalt der sehr rabiaten Grünkramfrau. Sie
kam in die Wohnung der Eltern, strengste Strafe heischend fUr den
„ungeratenen Bengel", widrigenfalls sie sich bei der Polizei be-
schweren wolle, da das schon „öfter vorgekommen". Willy beteuerte
mir allerdings, dass er diesmal „wirklich und wahrhaftig" gänzlich
schuldlos sei, indem die anderen den ganzen Eoup ausgeheckt und
vollbracht hätten, er aber nur „zugeguckt" hätte. Mit pochendem
Herzen hatte ich seinem Bericht gelauscht. Mitleid erfüllte meine
Seele und ich tiberlegte bereits, wie ich meinem Freunde helfen
könnte. Ich riet ihm zunächst, hinauf zu seinen Eltern zu gehen,
denn, da er „nichts dafür" könnte, so setzte ich ihm auseinander,
war doch keine Strafe zu erwarten. Allein mit der gänzlichen Un-
schuld mochte es wohl seinen Haken haben, und ich konnte ihn
nicht dazu bewegen, hinauf zu gehen. Schliesslich erklärte er
schluchzend, er wolle „in's Wasser" gehen, denn sein Vater sei „zu
strenge". Entsetzt packte ich seinen Arm, als musste ich ihn fest-
halten. So sassen wir eine Weile stumm nebeneinander. Seine
Angstlaute schnitten mir in's Herz und ich zermarterte mein arm-
seliges Hirn nach irgend etwas, womit ich ihn retten könnte. Denn
helfen musste ich ihm, so viel war sicher. Mit einem Male kam
mir auch ein trefflicher Gedanke, ja so musste es gehen, so konnte
ich ihn vielleicht von der drohenden Strafe befreien. Ich überlegte
garnicht erst, ob auch alles, was er mir erzählt hatte, wahr sei und
ob er wirklich nur „zugeguckt" hätte. Schnell sprang ich auf,
flüsterte ihm hastig ein paar Worte über meinen Rettungsplan zu
und ehe er ein Wort erwidern konnte, rannte ich über den Hof,
die Treppe zur Wohnung seiner Eltern hinauf und schellte. Beim
schrillen Klang der Schelle aber erschrak ich doch heftig über meine
Kühnheit und mir war auf einmal sehr bange. Aber hier blieb mir
keine Zeit mehr zum Überlegen, denn im nächsten Moment stand
ich schon vor dem gestrengen Herrn Vater meines Freundes.
Stockend begann ich nun zuerst und zähneklappernd vor Angst
und Aufregung eine umständliche Erzählung, wie ich Willy vorhin
getroffen hätte, wie er auf der Brücke am Kanal gestanden, sich
nicht nach Hause getraue, in's Wasser wolle aus Angst vor der
— 169 —
Strafe und wie er so geweint habe, weil er diesmal „gl
macht", sondern bei der ganzen Sache „nur zugeguckt
ich es „ganz genau" gesehen, wie ein andrer Junge den 11
dem Wasser in den Keller gestürzt, Willy aber nur in d<
gewesen sei und eben nur zugeguckt habe. Das alles hatte ici
genau gesehen" u. s. w. Ich log das Blaue vom Himmel un
wohl in der Hitze in meine Rede „dramatisches Leben" ge\
haben, denn Geschwister und Mutter meines Freundes stand
mich herum und lauschten athemlos. Warum sollte es auch
so gewesen sein? Es war schon ziemlich spät, man war b
unruhig geworden, da sich Willy noch nicht hatte blicken la\
Also klang meine Erzählung nicht unwahrscheinlich und die M
fing bereits zu jammern an um „den armen Jungen"; man dran;
mich, ich sollte ihn holen oder wenigstens sagen, wo er stecke!
solle ihm nichts geschehen u. s. w. Mir aber, angesichts des u
warteten schnellen Erfolges, schwoll gewaltig der Kamm, ich
an, mit meinen höheren Zwecken zu wachsen und erklärte achsl
zuckend, das Versteck Willy's nicht verraten zu können, bevor m
nicht Straflosigkeit vollkommen einwandsfrei zusichere. Plötzü
fiel mir der Vater, der mich während des ganzen Auftritts aufm er]
sam beobachtet hatte, gelassen mit der Frage in's Wort, ob nich
wohl ich der wirkliche Täter sei, denn da ich alles so genau wtisstel
müsse ich doch zum mindesten dabei gewesen sein. Verdutzt^
senkte ich die Augen zu Boden, nun hatte mein schönes Lügen-
gewebe ein ziemliches Loch bekommen, schnell aber besann ich
mich, schmolz flugs Dichtung und Wahrheit zusammen und erklärte
prompt, dass ich, auf dem Rollwagen sitzend, zufällig alles mit an-
gesehen hätte. Die Sache schien plausibel, Willy's Mutter nament-
lich glaubte alles und suchte ihren Gemahl von der Möglichkeit der
Wahrheit meiner Angaben zu überzeugen. Dieser war nun freilich
nicht so schnell von der Unschuld seines Sprossen überzeugt,
namentlich wollte ihm der Passus von dem „blossen Zugucken"
nicht recht einleuchten. Die ganze Geschichte schien ihn aber
endlich zu amüsieren, da ich nicht aufhörte fortwährend die Engel-
reinheit seines Sohnes zu beteuern. Schliesslich meinte er, man
könnte es ihm ja diesmal schenken, obgleich es eigentlich um jeden
Hieb schade sei, der vorbei ginge u. s. w. Mein Herz hüpfte vor
Freuden und als der grosse bärtige Mann wohlwollend lächelnd
meinte, ich sei ja ein verteufelt eifriger Fürsprecher und wir hielten
wohl „dicke Freundschaft", da ward ich über und über rot und \
konnte kein Wort mehr sagen. Ich erhielt nun beim Fortgehen noch- \
mals den dringenden Auftrag von der Mutter, den Sohn sofort \
— 170 —
hinauf zu schicken. Nochmals nahm ich ihr die Zusicherung ah,
dass ihm nichts passieren dürfe, flog' die Treppe hinunter, über den
Hof und teilte meinem Freunde triumphierend die Freudenbotschaft
mit. Willy traute jedoch dem Frieden noch nicht so recht und
zögerte. Nun versprach ich, bereits mit tränenden Augen, mitzu-
gehen und nochmals alles zu bekräftigen in seiner Gegenwart, da
ich sah, dass er meinen Worten nicht glauben wollte. Ich rounste
nun nochmals mit hinein und das Damoklesschwert über dem teuren
Haupte meines Freundes wurde glücklich beseitigt. AU mich
Willy nachher hinausbegleitete, um mir das Tor aufzuHchliessen,
— da es mittlerweile spät geworden war — , blieb er auf dem
Hausflur plötzlich vor mir stehen, fasste meine Hand, sah mich
eine Weile an und meinte dann in seiner treuherzigen Weine: „Du
bist aber furchtbar gut, weisst Du, und was Du flir Courage haut!
Wärst Du nun nicht gekommen, hätte ich immer noch die schreck-
liche Angst." Ich konnte nichts erwidern, sondern drückte nur
leise seine Hand. Er aber, wohl in unmittelbarer Aufwallung seines
dankbaren Herzens, schlang nun seine Arme fest um meinen Hals
und küsste mich dreimal herzhaft auf die Wange, indem er mich
seinen liebsten Freund nannte. — loh war wie betäubt. Die
schnelle, unerwartete, zärtliche Berührung Willys raubte mir fast
die Sinne. Mein Kopf glühte plötzlich wie Feuer, und das Herz
drohte mir zu zerspringen, so stürmisch begann es zu pochen.
Ein unbeschreibüches Gefühl durchrieselte meine Adern und im
Übermass seligen Entzückens erbebte mein ganzer Körper. Nun
konnte ich mich nicht mehr halten. Zitternd hing ich am Haine
meines Freundes und bedeckte sein Antlitz mit tausend leiden-
schaftlichen Liebkosungen. Der erste Strahl heisser Sinnlichkeit
durchschoss meinen Körper. War das nicht die Erfüllung meiner
seligsten Träume, die ich so oft im stillen Winkel, immer und
immer von neuem, geträumt? Nun sagte er es mir selbst, dass ich
sein liebster Freund sei — minutenlang war ich nicht imstande,
einen Laut von mir zu geben.
Dann aber, unter neuem langen Kuss, gab ich mein süsses, so
lange bewahrtes Geheimnis preis. Leise kam es von. meinen Lippen.
Ich bin dir ja so schrecklich gut! „Ich dir auch", beteuerte Willy
überzeugungsvoll. Und nun lösten sich die Zungen, innig um-
schlungen gaben wir uns gegenseitig das Versprechen unverbrüch-
ücher Treue. Nichts sollte uns mehr trennen, nie, nie wollten wir
uns böse werden, wie es „die andern" so oft gegenseitig täten.
Willy schwor hoch und teuer, er wolle jedem die „Knochen kaput
schlagen", der mich beschimpfen oder mir gar „was tun" wollte.
— 171 —
Meinen glühenden Kopf an seine Brust gelehnt, erzählte ic\
von meinem Missgeschick auf dem Speditionshof, von den Bu
die mir immer nachstellten und von all den kleinen Sorge
Kümmernissen dort. Er versprach mir, mich zu schützen,
nur könnte. So schwatzten wir noch lange von Diesem und ■
und konnten nicht voneinander kommen. — Weshalb ich!
alles so breit und ausführlich schilderte? — Weil ich diesi
mich so bedeutsamen Momente meines ersten Liebeslebens nie
nimmer vergessen kann und mag. Weil die unendliche Ge*
der liebe mir in jenen Tagen zum ersten Male wirklich be?
wurde. Und liegt nicht ein unbeschreiblich poetischer Hauch
diesem Stückchen Jugendidyll ausgebreitet, der in seiner schl
losen Naivität das Herz jedes Menschenfreundes bezaubern mu
Was wussten wir von der Welt, was von der rauhen Wirklich^
mit ihren Regeln und Gesetzen? Was für Begriffe macht s\
ein 131/« jähriges Gemüt von dem starren Sitten- und Moralkocl
der Kulturgesellschaft? Ach, keine! Aus dem reinen Lebensimpul
aus dem sprudelnden Quell lebendiger Jugendkraft und Füi
schöpfte ich dieses unendlich schöne Empfinden, diesen unwidei
stehlichen Drang nach innigster Vereinigung des Körpers und de
Seele. Immer und immer wieder presste ich den Körper Willy!
fest an mich, streichelte seine blühenden Wangen, liebkoste dk
strahlenden Augen dieses Knaben, den ich über alles liebte. Ich^
ahnte noch nicht, dass in diesem ewigen stürmischen Verlangen^
bereits die schwellenden Keime einer „naturwidrigen Perversität" \
emporsprossten. Dass diese meine Zuneigung zu dem Wesen meines
eigenen Geschlechts bereits alle Merkmale einer verbrecherischen \
Leidenschaft aufwies, die der Paragraph so und so mit Gefängnis, \
Zuchthaus und Ehrlosigkeit bedroht, was wusste der Knabe von \
alledem? Mit kindlicher Sorglosigkeit gab ich mich dieser Liebe
hin, ging ganz in ihrem Gegenstand auf und konnte überhaupt
garnicht anders, weil es eben meinem natürlichen Wesen entsprach.
Ein hohes Glück fand ich in dem stolzen Bewusstsein, von Willy,
dem schönsten, dem unbändigsten unter den ganzen Kameraden,
geliebt zu werden. Er hatte es mir ja selbst gestanden, weil ich
„so gut und so tapfer" war. Ach, mit meiner Tapferkeit war es
sonst nicht weit her. Aber eben, für „Ihn", meinen Geliebten,
wäre ich noch aller möglichen Thorheiten fähig gewesen. Rastlos
nährte und pflegte ich meine Liebe. Über die nun folgende trübe
und doch so glückliche Zeit meiner Jugend will ich schweigend
hinweggehen. Sie flog schnell genug hin und aus den Knaben
wurden Jünglinge. Willy und ich, wir waren und blieben die
— 172 —
zwei Unzertrennlichen. Beide mussten wir ein Handwerk lernen
und nachdem jwir die Lehrzeit absolviert, blieben unsre Verhält-
nisse und unser beiderseitiger Wohnort vorerst noch so , dass wir
immer zusammen sein konnten. Willy hatte sich schnell zu einem
wohlgewachsenen, blendendschönen jungen Mann herausgewachsen.
Ich war mit meinen 17 Va Jahren immer noch eine recht knaben-
hafte, unreife Erscheinung, wenigstens musste es nach dem Urteil
meiner Umgebung wohl so sein. Zart und schwächlich gebaut,
mit blassem Gesicht, sprach ich noch hell und sang einen tadellosen
Sopran. Wir waren uns noch immer in treuer Freundschaft zuge-
tan. Ich mit immer wachsender leidenschaftlicher Glut, Willy mit
immer gleichmässiger ruhiger Treue und Anhänglichkeit.
Mir gentigte natürlich diese ruhige, platonische Liebe durch-
aus nicht. Ich verlangte gleiche, heisse Leidenschaftlichkeit. Aber
bald sollte ich inne werden, dass er mir das, was ich von ihm
verlangte, eben nicht gewähren konnte. Gutmütig lächelnd, dul-
dete er wohl meistens meine heftigen Liebkosungen, wehrte auch
mitunter sanft ab mit der Bemerkung, er sei ja doch wohl kein
Mädchen. Dann ward ich böse, nannte ihn einen kalten Frosch,
eine Fischnatur und schmollte. Er nahm meine Ausfälle gelassen
hin und tat im übrigen nichts, meine Ansicht zu entkräften. Wenn
ich ihn dann aber einmal 8 Tage nicht gesehen, hielt ich es nicht
mehr aus, ging wieder zu ihm und alles war gut. Ich liebte ihn
zu sehr und seine Abwesenheit aus meiner Lebenssphäre war für
mich ein unfassbarer Begriff.-
In dieser Zeit begann ich natürlich auch, poetische Erzeug-
nisse von mir zu geben. Unendlich lange Verse entrangen sich
meiner Feder. Sie alle waren an „ihn" gerichtet. Er hat die
ersten nie zu Gesicht bekommen. Später wurde ich hartnäckiger
und dichtete ein riesiges Epos, das ebenfalls auf „ihn" Bezug hatte.
Dieses liess ich Willy „zufällig finden". Er las es im Schweisse
seines Angesichts und staunte mich an ob meines „Genies", wollte
aber, zu meinem heimlichen Verdruss, durchaus nicht merken, dass
dieses alles nur ihn selbst zum Gegenstande hatte. Unsere sonn-
täglichen Vergnügungen waren auch durchaus von denen der
meisten unsrer Kameraden, die ja alle, wie wir, dem Handwerker-
stande angehörten, verschieden. Während diese sich in Rudeln
Sonntags in den Strassen herumtrieben oder in Kneipen „Schafs-
kopp" oder Billard spielten, verachteten wir beide natürlich solche
„barbarischen" Genüsse. Wir gingen gewöhnlich ins Theater oder
in Konzerte und nahmen nachher das Dargebotene häufig gar
superklug unter die kritische Lupe.
— 173 —
Allein bald sollte unser schönes Verhältnis einen jähd
bekommen. Wir gingen nun bereits dem 19. Jahre entgegen
fing es an, aufzufallen, dass Willy nicht mehr seine freie Zeit ga
gar mit mir teilte. Es kam erst einige Male, dann sehr oft vor!
er, wenn ich Sonntags zu ihm kam, um ihn abzuholen, schon fori
oder sich bei mir entschuldigte. Er Hess mich ruhig öfter alleirj
gehen und kam auch immer seltener zu mir. Die Liebe ist wachsan
bald erkannte ich, dass er mir auswich, die Gesellschaft eine^
deren Person mir vorzog. Sachte schlich sich ein unbehaglil
Gefühl bei mir ein, das immer stärker und stärker wurde. Es|
meinem Herzen immer weher und weher und frass mit züngeli
Flammen an meiner Seele. Ich war eifersüchtig, rasend eifersticll
geworden. Er kam immer seltener, und wenn er kam, war!
nicht mehr bei mir, sondern schien immer etwas anderes vorzuhabi
Und wenn ich ihn dann in alter Liebe zärtlich begrüssen wolll
wehrte er ab mit den Worten: „Ach lass doch, wir sind dot
keine Kinder mehr!" Eisig kalt schoss es mir dann durchs Herl
ich fühlte, ich war im Begriff, ihn zu verlieren. Still und in mic
gekehrt sass ich dann neben ihm und hörte nur halb auf sein!
Erzählungen. Bald kam er dann aber auch auf die Weiber zi
sprechen und dann wurde er immer sehr aufgeräumt und begami
begeistert ihr Lob zu singen. Wütend biss ich mir die Lippen
blutig und machte boshafte Anspielungen. Freimütig gab er dann!
zu, sich da und dort mit andern Freunden in „Damengesellschaft \
köstlich amüsiert" zu haben und beschrieb mir umständlich diel
„feinen Mädels". Und wenn ich höhnisch bemerkte, dass er mich \
mit so was garnicht interessieren könne und mich verschonen
möge, dann lachte er mich aus, nannte mich ein „Bählämmeben",
das in Damengesellschaft nicht „Zip" sagen könne und meinte, ich
würde wohl einmal bei Muttern hinterm Ofen versauern. Dann
wurde ich furchtbar aufgebracht und schalt ihn einen Schürzen-
jäger und Pantoffelhelden. Er. antwortete prompt, ich sei wohl
neidisch und bot mir an, mit ihm zu gehen, er wollte michs auch
lehren, wie man die Mädels „rumkriegen" könnte. Giftig spuckte
ich dann aus und vermass mich bei allen Heiligen, „so was" könne
mir nicht einfallen. Zankend schieden wir dann jedesmal von
einander, ohne den üblichen Händedruck. Einsam blieb ich zurück.
Das also war es. Die Weiber hatten ihn mir entrissen. Ihnen
folgten meine schwärzesten Flüche, meine ärgsten Verwünschungen,
die ich schliesslich in Tränen ohnmächtiger Wut erstickte. Mit der
ungemeinen Lebhaftigkeit meines ganzen Naturells nahm ich diesen
ersten wirklich grossen Liebesschmerz auf. Traurig ging ich umher.
— 174 —
Wie grauer Nebel senkte sich» herab auf die Träumt» meiner Lift»«»,
auf alle jugendfrohen Pläne und Hoffnungen. Ach, und wir hatten
so schöne Pläne mit einander geschmiedet! Wollten bald in die
Fremde gehen, wollten auf der Wanderschaft Welt und Menschen
kennen lernen! Natürlich gemeinschaftlich! Hatten wir« uns nicht
damals gelobt, dass wir uns nie, nie trennen wollten? O, ich hatte*
es noch nicht vergessen! Und da wir uns die gemeinschaftliche
Reise schon in allen Details ausgemalt, trug ich nun seit
längerer Zeit eine geheime Hoffnung mit mir herum, eine Hoffnung'
auf Erfüllung des höchsten Wunsches meiner Liebe, den ich bisher
nie gewagt vor Willy auch nur anzudeuten, ja ich hatte in meinen
stillen Gedanken kaum den Mut, mir selbst diesen Wunsch einzu-
gestehen. Und doch verfolgte mich dieser Gedanke seit Langem,
wenn ich still und einsam meinen Gedanken nachhing, in lautren,
schlaflosen Nächten, im Beisammensein mit Willy, überall hin verfolgte
mich dieser Wunsch, ich wurde ihn nicht los, wollte ihn auch gar-
nicht los werden. Alles hatte ich mir bereits ausgemalt: Per pedes
die Welt durcheilen, Städte und Dörfer, ja vielleicht fremde Länder
sehen und immer beieinander sein können! Hülsten wir nicht auf
unsern Reisen in Herbergen übernachten V So würden wir dann
gewiss auch Nachts im Schlummer bei einander weilen können
auf gemeinschaftlicher Lagerstätte, an seiner Brust ruhend, könnte
ich selig dem neuen Tag entgegenschlummern. — Wie fest und
innig wollte ich mich an ihn schmiegen, wollte den Geliebten an
mein brennendes Herz pressen! In unmittelbarer zärtlicher Be-
rührung mit dem blütenweissen Körper meines Freundes würde ich
der höchsten Seligkeit einer mächtigen Liebe teilhaftig werden,
das süsseste Glück meines Daseins gemessen können, das ich bis
jetzt vergebens erhofft hatte! — War dieses Begehren etwa aus
den Abgründen verbrecherischer Phantasien eines übersättigten
Lüstlings geboren? — Ach nein, ich war als 18 jähriger Jüngling
in der Blüte meiner Jugendkraft, weder geschlechtlich übersättigt,
noch war meine Begierde auf irgend eine bewusste oder bestimmte
geschlechtliche Handlung gerichtet. War ich doch damals noch
ein in geschlechtlichen Dingen vollständig unerfahrener, unwisHender
Bursche. Gewiss hatte ich wohl, wie das bei allen jungen Leuten
der Fall, viel abenteuerliches Zeug von Geschlechtsakten zwischen
Mann und Weib gehört, und heute noch lächelt man über alle die
unmöglichen und ungeheuerlichen Vorstellungen, die wir uns als
junge Burschen auch von den Geburtsvorgängen machten.
Ich hatte eine Art mystische Scheu vor allen diesen Dingen
und heillose Furcht vor den Folgen geschlechtlicher „Verirrungen".
— 175 —
Inzwischen war jedoch der Knabe zu einem vollkommene:
schlechtswesen herangereift, in dem sich bereits der mächtige
nach Ergänzung regte. Was Wunder, wenn sich dieser Dran
Gewalt auf jene Wesen richtete, die von Jugend auf mein gi
Sein beherrscht hatten. Die gewaltige Liebe des Geschiel
konzentrierte sich ganz von selbst und ohne sich klar bewußt
sein auf das eigene Geschlecht.
Damit war aber, weil der unerbittliche Sittenkodex dieser
darin die Momente einer verbrecherischen Handlung erblickt,
Fluch der Gesellschaft auf das Haupt des Liebenden gefallen, d^
nur noch recht und billig geschah, wenn er aus der Gemeinschg
aller anständigen Menschen verbannt wurde. Jener Fluch soll!
auch mir später im reichsten Maße zu Teil werden. Zu jener Zel
aber, da sich in mir die ersten Blüten des Geschlechtsbewusstseinl
eben erschlossen hatten, ahnte ich von alldem noch nichts. Niemanc
hatte mir noch bis dahin jemals etwas davon gesagt. Wie konnte
ich selbst etwa dies edle Feuer in meiner Brust verdammen, da es\
doch ein Element von meinem ureigenen Selbst war und zwar ein
gar gewaltiges ? — 0 nein, ich konnte nichts Unmoralisches darin
finden, dachte gar nicht daran, daß wohl irgend Jemand kommen
könnte und sagen : „Deine Gefühle sind verbrecherisch" ! Ich hätte
ihn schön abfahren lassen. Denn heilig war mir meine Isiebe zu
Willy, sie, die mich schon als Knabe für alles Edle begeistert hatte.
Heilig war mir auch die Person meines Freundes. Ich hatte ja zu
dieser Zeit nicht die geringste Ahnung von irgend einem bestimmten
Geschlechtsakt, irgend einer Form sexueller Befriedigung zwischen
Männern. Konnte mir gar keinen Begriff davon machen und dachte
auch niemals an etwas dergleichen, da ich bis dabin von solchen
Dingen noch nichts gehört Und doch ist die Tatsache nicht zu
leugnen, sie war vorhanden, es zog mich mit unwiderstehlicher
Gewalt nach der körperlichen Berührung mit meinem Freund. Was
war es denn nun, das mich immer und immer wieder mit magischer
Gewalt hinzog, mich ewig drängte und trieb, seine Nähe zu suchen?
Ach, ich machte mir keine langen Gedanken erst über die etwaige
Unnatur meiner Empfindungen. Unbewußt gab ich mich ihrem
Zauber hin. Ja es war ein Reiz ohne Ende, der von der Person
dieses wunderschönen Jünglings ausstrahlte. Alles liebte ich an
diesem Körper, dies schöne blonde Haupt mit der blendend weißen
Stirn, die herrlichen Augen, die mir so oft treuherzig entgegen
gestrahlt, die frischen Wangen, die roten Lippen so schön ge-
schwungen, auf die ich schon als Knabe so oft im schüchternen
Kuß die meinen gedrückt, die kräftigen Hände und die hohe breite
— 176 —
Brust, an der ich so oft geruht, und alles was diese teure Brust
umschloß, dieses stolze und doch so gute Herz, das sinnige Gemüt,
alles, alles liebte ich an diesem teuren Wesen und ging völlig in
ihm auf. Aber auch das Verlangen nach innerer Gemeinschaft
brannte in meiner Seele. Die Gleichheit des geistigen Daseins, das
Ineinandertauohen beider Herzen war es, was ich erstrebte. — Ich
kehre zum Faden meiner Erzählung zurück. Willy konnte mir nicht
das gewähren, was ich glaubte von ihm verlangen zu dürfen. Ganze
Hingabe, so wie meine Liebe zu ihm mein ganzes Wesen beherrschte,
so sollte es auch bei ihm sein. Die Natur meiner Empfindun-
gen duldete nicht, daß ich seine Zuneigung mit andern teilen
sollte. Unser gegenseitiges Verhältnis wurde deshalb in der Folge
merklich kühler. Willy suchte immer mehr der Richtung seiner
Entwicklung nachgehend, Verkehr mit dem weiblichen Gesohlechte.
Ja er wurde sehr bald ein von den Damen viel umworbener Don
Juan, der eben dank der äußeren Vorzüge, die ihm Mutter Natur
verliehen, diese Bolle mit sehr viel Geschick überall durchzuführen
verstand. Trauernd stand ich abseits und verfolgte trotzdem mit
Beharrlichkeit sein Tun und Treiben. Ich war nur noch das fünfte
Bad, das „liebe alte Haus", das er noch für würdig genug hielt,
ihm alle seine neuen Interessen und zarten Geheimnisse anzuver-
trauen. . All' die kleinen pikanten Sächelchen, die ein rechter Don
Juan vor den Augen der Welt verbirgt, ich wußte sie, mir vertraute
er sie an, ohne daß ich danach frug. Und wenn er mir dann all1
diese kleinen Intimitäten unbefangen mitteilte, zerriß unsagbarer
Schmerz mein Innerstes und blutenden Herzens gestand ich es mir
in der Stille meiner Einsamkeit, daß ich ihn verloren hatte, ihn,
den ich vergötterte, der mein Alles war auf dieser Welt, dem ich
alles, was mir heilig, geweiht hatte ! Ich kannte meinen Willy bald
nicht mehr wieder. Aus dem sinnigen, treuherzigen Jungen war
bald ein pomadisierter Weiberfex geworden, der aus dem Füllhorn
seiner Wohlgestalt Kapital schlug. Aber ich konnte und konnte
noch immer nicht von ihm lassen, obgleich sich alle meine Empfin-
dungen gegen sein nunmehriges Wesen aufbäumten. Ein weiteres
Jahr war dahin und aus unserer phantasieumwobenen Wander-
schaft war natürlich nichts geworden. Willy hatte dazu die Lust
verloren, ihm schien es so am Besten zu gefallen und mir war durch
den Tod meines Vaters eine neue Pflicht erwachsen. Ich mußte in
Gemeinschaft mit meinem ältesten Bruder für die Mutter und zwei
noch unerwachsene Brüder sorgen. Obwohl das Verhältnis zwischen
Willy und mir immer mehr verflachte, kamen wir doch noch
sehr häufig zusammen. Ich konnte eben dieses Wesen, das ich
— 177 —
mehr wie mich selbst geliebt, nicht so ohne weiteres aus m^
Herzen reißen. Leider sollte auch dieser Zustand nicht lange da
und Willy selbst war es auch hier wieder, der, wohl unbe^
meinem Herzen den letzten brutalen Stoß gab. Eines Tages \
Willy zu mir, nahm mich auf die Seite und vertraute mir\
neues Geheimnis an. Diesmal war es ernster Natur. Er hatte \
im sorg- und schrankenlosen Geschlechtsverkehr infiziert, hatte I
Sache vertrödelt und frug mich nun, da die Geschichte schlimmi
werden drohte, um meine Meinung. Er behauptete, daß er sich l
einer Prostituierten den Schanker geholt und war nun in groß,
Angst, wie er „das Ding" los werden möchte. Zum Arzt zu gehdi
wozu ich ihm riet, hatte er keine rechte Lust. Es sei ihm „z
schenant" und koste auch gleich zu viel, meinte er. Es war da
erste Mal in meinem Leben, daß ich eine Geschlechtskrankheit ml
all' ihren widerlichen Begleiterscheinungen kennen lernte. Begreift
licher Abscheu erfüllte mich und da er die unbedingte Notwendig-^
keit einer ärztlichen Behandlung nicht gleich einsehen wollte, so!
konnte ich ihm natürlich sonst weiter keinen Rat geben und begriff!
überhaupt nicht, wie er sich in diesem Fall an mich wenden konnte, \
da er doch in solchen Dingen zum mindesten mehr Erfahrungen \
hatte als ich. Ich hielt es viel mehr für angebracht, ihm allerlei \
Vorhaltungen zu machen. Er verteidigte sich so gut er konnte \
und da er trotzdem bei mir kein Verständnis fand, nannte er mich \
einen närrischen Kauz und gab mir schließlich den wohlgemeinten \
Rat, mich nicht so von allem zurückzuhalten, sondern mitzutun. \
„Das Leben ist so schön", rief er aus, „und man soll es genießen,
so lange man jung ist, dazu hat man ein Recht". Dann bedauerte
er mich mit meinen „ewigen Ansichten", wurde sehr heiter und bot
sich an, mich in lustige Gesellschaft einzuführen , da sollte ^ch das
Leben erst kennen lernen, fühlen, was überhaupt leben heisst. Und
hätte ich erst das „himmlische Manna" der Liebe geschmeckt, dann
würde ich schon ein Anderer werden, darauf schwur er einen heiligen
Eid. Er nannte mich schliesslich seinen lieben alten Freund, mit
dem er gern „alles teüen" wolle, schwatzte noch eine ganze Weile
auf mich ein und rückte zuletzt in freundschaftlichem Eifer mit
folgendem Vorschlag heraus. Er wollte mir ja gern, um es mir
leicht zu machen, sein neuestes „Verhältnis", eine dralle Küchen-
jungfer, die in der Nähe bedienstet war, „überlassen". Das Mädel
sei „ganz doli", immer zu haben und nehme es auch nicht so genau.
Er habe schon einige Mal daran „genascht" und da es mit ihm doch
nun gegenwärtig nicht ginge, so wollte er mich mit ihr bekannt
machen. Sprachlos starrte ich meinen ehemals Vielgeliebten an.
Jahrbuch V. 12
— 178 —
War das mein Willy noch, der einzige geliebte Mensch, dem ich mit
Freuden mein Leben zu Füssen legen wollte? So weit war es also
mit ihm gekommen, so jung, so schön und eine solche Auffassuiifr,,
solche Achtung vor den heiligsten Empfindungen der Meii*ch<»n,
das Gefühl, in dem selbst das Tier geadelt wird? Ein Gefühl end-
loser Leere überkam mich. Eine solche unsäglich gemeine Denk-
und Handlungsweise musste ich bei dem erleben, der bin dahin
in meinem Ideenkreis den vornehmsten Platz eingenommen.
Von nun an war ich bemüht, sein Bild gewaltsam aus meiner
Seele zu reissen. Ich behandelte ihn kalt, ging nie mehr zu ihm
und wenn er, was auch nur noch selten geschah, zu mir kam, stahl
ich mich leise aus dem Hause und ttberliess ihn meinen Brüdern,
an die er sich bald enger anschloss. In meinem zertretenen Herzen
hat es noch lange getobt und geschrieen, ehe dies schönste Bild
meiner Jugendträume daraus entwich. Später, nachdem wir auch
örtlich von einander getrennt, hörte ich nur noch durch meine Brüder
von ihm. Er hat schliesslich die Tochter eines wohlhabenden
Kaufmanns heimgeführt und ist heute selbst als* Inhaber eines
renommierten Geschäftshauses in Leipzig ein wohlhabender Mann, der
sich kaum noch seines einstigen Jugendfreundes erinnert. Wohl
weiss ich, dass er von meinen ferneren Schicksalen durch meine
Familie unterrichtet wurde, ich habe jedoch von ihm kein Lebens-
zeichen mehr erhalten. Er ist eben schnell in den Raten der
gesellschaftlichen Behaglichkeit eingelaufen. Ihn haben die konven-
tionellen Lügen dieser Kultlirgesellschaft weiter nicht behelligt. —
Über die nun folgende Periode meines Lebens will ich mich
bemühen weniger ausführlich zu sein. Ich begann alsbald ein
höchst unsolides Leben zu führen. Im Taumel aller möglichen
tollen Vergnügungen suchte ich Zerstreuung, Vergessen. Eine
wilde Flucht vor der gähnenden Leere, die in meinem Inneren zu-
rückgeblieben war, begann nun. Und von dem ungeheuren Wust
der widerstreitendsten Empfindungen, die mich dann wieder plötz-
lich durchtobten, hin- und hergeschleudert, tappte ich suchend, wie
ein Blinder. Die tollste und ausgelassenste Gesellschaft ward mir
bald die üebste. Eine schon ziemlich trüh erwachte Vorliebe für
dramatische Kunst und ein bescheidenes Talent in derselben, führte
mich bald in Gesellschaften ein. In Dilettantenvereinen übte ich
mit großer Hingabe meine kleinen Fähigkeiten und so bekam ich
auch leicht Verkehr mit vielen jungen Leuten beiderlei Geschlechts.
Ich wurde ziemlich schnell gewandt in allen Eigenschaften, die dazu
gehören, in der Gesellschaft etwas zu scheinen, was man nicht ist.
Ich wollte ja durchaus das „himmlische Manna" der Liebe schmecken,
179 —
wovon mir Willy so begeistert erzählt hatte. Ich gab n
auch die grösste Mühe, bei den Damen den Schwerem
spielen. Denn, so dachte ich, was alle Anderen mit so a
schick und Erfog betrieben, warum sollte ich es auch nicht 1
schliesslich lag es am Ende bloss an meinem Mangel an Tale
Gunst der Damen zu erwerben. So warf ich mich denn ge
in die Brust, um mich endlich zur Mannbarkeit aufzuraffen un
Hänseleien der Anderen zu entgehen, die mich nur „den i
Franz" nannten. Und um auch auf den zahlreichen Kränze hei
Bällen der Vereine in Gesellschaft der Damen bestehen zu kö;
ging ich auch noch in die Tanzstunde und verliebte mic
in den jungen Kellner des betreffenden Restaurants. Er wai
bildhübscher Bursche mit pechschwarzem gekräuselten Haar
ein Paar kohlschwarzen Augen, die wie Diamanten funkelten,
hatte nur noch Blicke für ihn und wenn ich die Tanzerei n
mitmachte, so geschah es nur, um in seiner Nähe bleiben zu könn
Ich suchte Annäherung und mit überraschend schnellem Erfolg.
Neue Seligkeit zog in mein Herz ein. In kurzer Zeit war
wir vertraut mit einander. Hier war ich wieder in meinem Elemei
hier durfte ich lieben, das fühlte ich sofort. Welch ein Unte
schied ! Während ich in Gesellschaft junger Damen mich mit mein!
Bolle des Schwerenöters mühsam abquälte, trat hier wieder sofol
das echte Feuer natürlicher Leidenschaft hervor. Hier gab echfl
Liebe das von selbst, wonach ich dort mühsam den Plan absucht!
um einen gequälten Abklatsch des „himmlischen Mannas" zu eil
halten, was ich garnicht himmlisch fand, um mich künstlich unJ
scheinbar daran zu ergötzen, zu dem Zweck, vor den Augen dei
Welt als das zu gelten, was ich nicht war. Als ich die ersten
schüchternen Liebkosungen wagte, fühlte ich, dass sie ihm nicht]
unempfindlich . waren. Er erwiderte sie und jubelnd ahnte ich
meinem Liebling eine verwandte Seele, loh widmete ihm all diel
Hingabe, deren nur die echte Liebe fähig ist. All die kleinen!
Aufmerksamkeiten, in der die Liebe so selbstlos, so erfinderisch!
ist, tauschten wir nun gegenseitig aus. Doch das Auge des Ge- 1
setzes wacht und der beleidigte Sittenkodex der „Normalen" im
Land schrie nach Sühne. Unvorsichtig und tollkühn ist die Liebe.
Eines Abends spät ereilte uns das Verhängnis, das für mein Leben
so folgenschwer werden sollte. Wir wurden beide vom Wirte in
einem hinteren Zimmer bei frischer Tat ertappt. Die Situation
war über jeden Zweifel erhaben und wir konnten uns auch nicht
mehr retten, da wir ganz unvermutet überrascht wurden. Ein un-
beschreiblicher Skandal folgte. Man brüllte nach dem Arm des
12*
— 180 —
Gesetzes. Ich wurde festgehalten und mtisste noch mit an*«»ht*ii.
wie der Wirt meinen Liebling brutal mißhandelte. WahnHtnni^rer
Schmerz durchtobte mein Innerstes und zitternd bat ich um Scho-
nung für den Armen. Willig folgte ich dann dem Di«*ii«»r <l«»r
heiligen Gerechtigkeit. Ich befand mich in einer Art Traum zustand,
sah und hörte kaum, was um mich herum geschah. Wie in
nebelhafter Ferne erschien mir alles. Und immer weiter und weiter
rückten Welt und Menseben von mir ab, so daas ich sie nicht mehr
erkennen konnte. Zwei Monate sass ich in Untersuchung, ich be-
griff nicht, weshalb, da ich alles eingestanden hatte. Wan ich in
dieser Zeit einsamer Zellenhaft ausgestanden, genügte, um mich
vollständig niederzuschmettern. Mit all ihrer Schärfe hielt die be-
leidigte Moral ihr Strafgericht über mich. Nichts blieb mir an De-
mütigungen erspart Schon auf dem Polizeipräsidium schallte mir
die Stimme des diensttuenden Beamten entgegen: „Ein Päderaat!
Ein Päderast! In Einzelhaft mit dem!" Ich hatte keine Ahnung
von der Bedeutung dieses Wortes. Aber die Art, wie mir die«
offenbar inhaltsschwere Wort entgegengeschleudert wurde, lies»
mich ahnen, welch ein verabscheuungswürdiger Verbrecher ich sein
musste. In ohnmächtiger Verzweiflung wand ich mich auf dem
Boden meiner einsamen Zelle. War ich denn wirklich eine so
schändliche Kreatur V Wen hatte ich denn beleidigt, wem etwas ge-
nommen, wem hatte ich ein Leid zugefügt? In meiner hilflosen
Verwirrung vermochte ich keinen klaren Gedanken zu fassen.
Verbrecher, Verbrecher, Päderast ! höhnte es mir nur immer in die
Ohren. „Bedenke doch, was du nun geworden bist!" so hiess es
in dem Briefe, den mein ältester Bruder unter dem Eindruck der
Nachricht meiner Verhaftung an mich geschrieben und in dem er
sich im Namen der ganzen Familie von mir lossagte. In meiner
grenzenlosen Verzweiflung über alles dieses reckte ich schliesslich
die Arme gen Himmel und erflehte von Gott irgend eine Gewiss-
heit, wie weit die Grösse meines Verbrechens reichte. Aber der
Himmel rührte sich nicht und ich fand nicht einmal Trost in der
tränenvollen Busse und Reue, der ich mich in kraftloser Zerknirschung
nun hingab. Ich wusste ja nicht, was ich eigentlich büssen sollt«*,
bei wem ich um Verzeihung für zugefügte Schmach betteln sollte.
Die Stunde meiner Aburteilung schlug und hier sah ich meinen
Liebling wieder. Bei seinem Anblick brach ich in Tränen au».
War er es am Ende, dem ich Beleidigung und Schande zugefügt?
Aber, o Wunder, als wir beide vor der Bailustrade neben-
einander standen, um unseren Richtern Rede und Antwort zu
stehen, fühlte ich plötzlich seine Hand in der meinen, die er einen
— 181 —
Moment zärtlich und verstohlen drückte. Da zog es einen
blick wie stiller Friede durch meine Seele und ruhig und
antwortete ich auf die Fragen des Präsidenten. Freilich, m
Augenblick bewahrte ich meine Fassung, dann war es wied
bei, als der Herr Staatsanwalt für mich, als den Verführet
§ 175 des St.-G.-B. eine empfindliche Strafe verlangte. I»
und flehte und erklärte unter Schluchzen, dass ich meinem 1
niemals etwas habe „zu Leide tun" wollen. Und die Herren E
lächelten über meine naiven, fortwährenden Beteuerungen,
wurde schliesslich unter Annahme von mildernden Umstände
6 Monaten Gefängnis verurteilt. Adolf kam, weil er nur der
dende Teil und der von mir „Verführte" war, mit 7 Tagen da
Ausserdem wurde auch wohl auf seine Jugend Rücksicht genomi
er war noch nicht ganz 16 Jahre alt. Ich hatte mich um das A
meines Freundes nie bekümmert, hielt ihn aber für bedeutend äl
Er machte in jeder Beziehung den Eindruck eines mindest
18 jährigen, war ebenso gross wie ich und körperlich viel mehr e
wickelt. Die Täuschung über sein Alter mochte um so leicht
sein, als er auch die Entwicklung zur Pubertät bereits hinter si
hatte. Ich konnte deshalb auch mit gutem Gewissen dem Her!
Präsidenten auf seine Frage antworten, dass ich mich im Altl
meines Freundes getäuscht hätte. Das hatte mir denn aber weit!
nichts genützt, am Urteil änderte das ja nichts. Ich wurde wiedd
abgeführt und hatte gerade noch so viel Zeit, einen letzten Scheidd
gruss von ihm aufzufangen, einen stillen Blick liebevoller Teil
nähme für mich. Diesen stummen Blick habe ich als einzigen Trosl
mit in mein Gefängnis genommen. Ihn, das wusste ich nun, hattl
ich nicht beleidigt, er grollte mir nicht. Ich habe ihn nie wieder!
gesehen, diesen herzigen, schwarzäugigen Jungen, meine späteren
Nachforschungen nach ihm blieben resultatlos. Ich bin überzeugt,!
er hat nur gut von mir gedacht. — Der Mensch fügt sich in alles,!
auch in das anfänglich Unfassbare. Ich ertrug meine 6 monatliche]
Einzelhaft verhältnismässig gut und wurde zuletzt von dem Auf-
seher des „Flügels A," der ein halbes Jahr mein Domizil war, mit]
einigen wohlwollenden Worten entlassen und mit dem guten Rat, '
mich fürderhin „in Obacht zu nehmen," damit ich nicht zu bald wieder
käme. Gerührt drückte ich dem alten Manne die Hand und trat in
die goldne Freiheit mit dem festen Vorsatz, nun ein „Anderer,"
„Besserer" zu werden. Hatte ich nicht in der langen Zeit der Sühne
bewiesen, wie man sich beherrschen kann? Hatte ich nicht die
6 Monate vollständig keusch zugebracht? — Ich kannnte die
Onanie sehr wohl, doch nicht ein einziges Mal war ich ihr in der
— 182 —
ganzen Zeit zum Opfer gefallen. Ja, ich wollte and rousntt* wi«*<l«-r
ein guter Mensch werden. Hütte ich nur damals schon klar jr«»nujr
die unabweisbare Bestimmung meiner Geschlechtsnatur begrittVn.
Ich hätte wohl in jenen oft durchwachten Nächten im (Jefnnjr-
nisse die Kraft gefunden, ein Ende zu machen mit einem Dasein
so dunkel und reuevoll bis auf den heutigen Tag.
In wie weit ich später ein besserer, anderer Mensch geworden,
mag der Leser aus dem weiteren Fortgang meines Lebens entnehmen.
Meine Familie nahm mich in Gnaden wieder auf, man verzieh
mir, wie man sagte, um meinetwillen. Ja, mein ältester Bruder
hielt es von da ab für eine Art väterlicher Pflicht, mich wieder
auf den rechten Pfad der Sitte und Tugend sorgsam zurückzu-
führen. Er fing an, mich auf Schritt uud Tritt zu bewachen. Kr
hatte das Glück, eine vermögende Frau zu bekommen und nun
ging seine brüderliche Fürsorge so weit, im Einverständnis mit den
Verwandten seiner Frau mir einen kleinen Geschäftsbetrieb einzu-
richten, der in mein Fach schlug. Ich nahm alles dankbar an,
geschah doch alles zu meinem Besten. Die Sache klappte auch
im Anfang ganz gut. Ich fühlte mich bald wieder und gefiel mir
in meiner Eigenschaft als selbständiger Geschäftsmann, war fleissig
und suchte mein Geschäft hochzubringen. Doch ich hatte meine
Rechnung ohne mich selbst gemacht. Abgesehen davon, da** es
ja an und für sich schon ein Missgriff war, einem jungen Menschen
von kaum 21 Jahren Führung und Verantwortung über ein Ge-
schäft anzuvertrauen, mit deren fachgemässer Leitung eine be-
reiftere Manneskraft vollauf zu tun gehabt hätte, so war ich doch,
meiner ganzen natürlichen Veranlagung nach, viel zu sehr Ge-
fühlsmensch, als dass ich auf die Dauer einen brauchbaren Ge-
schäftsmann abgegeben hätte. Wohl hatte ich so etwas wie eine
dunkle Ahnung davon, dass auf mich noch kein Verlass war.
Wohl meinte ich im Stillen dies und das, aber sollte ich meinem
Bruder meine eigene Unfähigkeit und Schwäche eingestehen, sollte
ich ihm offen sagen, dass mir diese seine Wohltat im Grunde
eigentlich Plage sei? Welche Antwort hätte ich bekommen? Sie
konnte nicht zweifelhaft sein. Und hatte ich überhaupt eine Meinung
zu haben? Als ein in Gnaden wieder aufgenommener Missetäter
musste ich dankbar und froh sein, dass mir mein liebevoller Bruder
Gelegenheit verschafft hatte, mich wieder „ins Geleise" hinein zu
bringen. Er meinte es zweifellos gut mit mir, also hatte ich, das
fühlte ich wohl, die Pflicht, mich zu fügen. Ich musste stillhalten
und mich bescheiden, denn sie alle waren „besser" als ich. Mein
Bruder Hess es sich angelegen sein, über mein Schicksal zu wachen.
183
Er achtete beständig und sorgtältig darauf, dass ich mein
schäftlichen Pflichten nicht versäumte und ich gab mir die
Mühe, ihm keinen Anlass zur Unzufriedenheit zu geben,
weiter hinaus ging auch sein Einfluss nicht, weiter reich
Kraft seiner Autorität nicht. Er war wohl in der Lage, mic!
merksam zu bewachen, aber einsperren konnte er mich füll
nicht und mir, dem 21jährigen, das fühlende Herz aus dem
zu reissen, das vermochte er freilich auch nicht. Und so kai
denn, wie es wohl kommen musste.
Ich hatte natürlich nicht die Kraft, lange mit mir allein
umzulaufen, mein Herz verlangte nach einem Wesen, das ich liel
könnte. Bald fand ich es in der Person des jungen Angestelli
eines benachbarten Geschäftes. Es dauerte auch gar nicht lanj
so hatten wir Freundschaft geschlossen. Die fürsorglichen Schwieg<
eitern meines Bruders, in Gemeinschaft mit meiner guten Mutti
hatten zwar bereits für eine „passende" Partie gesorgt und ich hatl
mir's auch zur Pflicht gemacht, dieser jungen Dame recht fleissii
den Hof zu machen. Das Mädchen war sonst nicht übel, hatte etwal
Vermögen, mit diesem sollte sie „ins Geschäft hineinheiraten", so hatten
es meine Verwandten beschlossen. So schnell, wie ich hier eine Braut
angewiesen bekam, wäre ich niemals imstande gewesen, mir selbst einet
zu erobern das fühlte ich, darum war ich auch eifrig dabei, ich hatte es
mir ja selbst gelobt, den „dunklen Fleck" aus meiner Vergangenheit
mögtichst zu tilgen. Ich war sehr aufmerksam gegen meine Braut,
sagte ihr viel Artigkeiten und machte ihr Geschenke. Das hinderte
mich aber durchaus nicht, mich mit meinem neuen Freund viel mehr
abzugeben als mit meiner Braut. Er war ein ausgezeichneter junger
Mann mit guten Manieren und einem natürlichen Wesen. Im trauten
Beisammensein mit ihm entschädigte ich mich für alle Beklemmungen
und Unbehaglichkeiten, die ich stets in Gesellschaft meiner „Ange-
beteten" empfand. loh will kurz sein. Die Sache gedieh so weit,
dass uns eines Tages ein argwöhnisch gewordener Nachbar, in
meinem eigenen Geschäftslokal, durch den Türspalt beobachtet hatte.
Der Mann schlug Lärm und benachrichtigte sofort meine Familie.
In kopfloser Bestürzung floh ich, so wie ich ging und stand, zum
nächsten Bahnhof und fuhr zu Verwandten meines Vaters nach M.
Diese telegraphierten an meinen Bruder und verlangten Aufklärung,
da ich jede Auskunft verweigerte. Bald erschien mein Bruder, setzte
meine Verwandten von allem in Kenntnis, sagte sich abermals und
diesmal für immer von mir los, indem er mich einen Ehrlosen und
Undankbaren nannte, der nicht wert sei der Achtung anständiger
Menschen. Meine Verwandten taten ein Übriges, man überliess mir
— 184 —
ans Menschlichkeitsrücksichten eine kleine Summe Geldes und so
musste ich augenblicklich das Hans verlassen.
Planlos irrte ich eine Zeit lang in der fremden Stadt umher.
Die Angst vor Verfolgung trieb mich wieder zum Bahnhof und so
floh ich mit dem nächsten Zug über die holländische Grenze, kam
bis Amsterdam und irrte, der Sprache des Landes nicht mächtig,
hilflos umher. Von jeder Verbindung mit der Welt losgerissen stand
ich nun da und fing an zu überlegen. Die liebe znm Leben trieb
mich weiter. Ich fing nun an, zu Fuss durch endlose Schnee be-
deckte Felder und Wiesen, über zugefrorene Kanäle, von Ort zu
Ort zu wandern, mir durch stummes Betteln weiter helfend. In
Gr , einer mittelgrossen, holländischen Stadt geriet ich, halb
verhungert, von Allem entblösst, todesmüde in einen Gasthof, wo
viele Deutsche verkehrten, hier vernahm ich die süssen Laute meiner
Muttersprache wieder. Es schien ein Labsal von zweifelhafter
Qualität zu sein, denn es stellte sich heraus, dass die Inhaberin und
die weibliche Bedienung meist spät nachts .allerlei Gäste empfingen,
mit denen bis zum hellen Morgen wüste Orgien gefeiert wurden,
wobei die Wirtin mit ihren Helferinnen anscheinend gute Geschäfte
machte. Ich hatte Gnade vor den Augen der fetten Inhaberin
dieser Höhle gefunden. Sie schien Mitleid mit meiner Lage zu
haben und da sie auch etwas deutsch sprach und ich ihr einen
ganzen Roman von der Ursache meiner Anwesenheit vorgelogen
hatte, so konnte ich vor der Hand dableiben als Hausbursche, Gläser-
spüler u. s. w. Mir war alles egal, nur weiter leben, mochte
kommen was wollte. Das Leben, wie es sich nun hier in der Folge
vor meinen Augen abspielte, lieferte mir einen ungefähren Begriff,
in welch' unsäglich niedriger Weise sich oft das normale Geschlechts-
leben der Menschen abspielt. Beispielloser Ekel erfasste mich hier
vor der Art, mit der hier die Menschen sich der „normalen" Liebe
hingaben. Ich war der einzige männliche Bedienstete im Hause,
und hatte bald heraus, dass meine würdige Herrin mehr von mir
verlangte als blosse Dienste für das Haus und die Gäste. Ein
fürchterlicher Schrecken packte mich bei dieser Erkenntnis. Mir
schauderte vor dem Gedanken, längere Zeit hier unter diesen Men-
schen weilen zu müssen. Aber ich hatte gar keine Ursache, mich
zu beklagen, war ich doch selbst ein aus der Gesellschaft aller
anständigen Menschen Ausgeschlossener. Wohin sollte ich auch in
dieser fremden Welt, in der ich vollständig einsam stand. Ohne
irgend welche Mittel konnte ich doch überhaupt nicht weiter kommen.
Und als Landstreicher würde ich sehr bald in die Hände der Polizei
geraten. Dann aber war es doch sicher um mich geschehen, denn
— 185 —
wenn jener menschenfreundliche Nachbar die Sache angezeil
war sicher ein Steckbrief hinter mir; welche Aussichten eröfl
sich da für mein Leben! — Und zum Sterben war ich zu
Sterben, wenn man noch so jung* ist. War nicht di« Welt 1
alledem schön? Ich fügte mich deshalb, so gut es ging in
Lage, wich den zudringlichen Freundlichkeiten meiner Herrin \
schickt aus und war nur still und zähe darauf bedacht, etwas Mi
in die Hand zu bekommen um möglichst bald fort zu kommen '
dieser Höhle, in deren Pesthauch ich zu ersticken fürchtete. Nl
14 wöchentlichem Aufenthalt war ich denn auch wieder unterwel
Ich hatte mir in dieser traurigen Zeit unter allerlei Entbehrung
von meinem geringen Lohn, eine kleine Summe erübrigt mit
ich hoffte irgend eine Küstenstadt zu erreichen. Dort wollte ü
mich als Kohlenzieher oder sonst als dienstbarer Geist auf irgenl
einem Schiff ohne weitere Barmittel nach Amerika hintiberarbeiteq
Ich hatte diesen Plan in meinen einsamen, oft schlaflosen Nächtei
sorgsam durchdacht. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass in
Küstenstädten sogenannte „Heuerbaasse" ihr Wesen treiben, die ein!
schwunghaftes Geschäft daraus machten, Aus wanderungslustigen |
mit Hat und Tat an die Hand zu gehen in der Erlangung günstiger \
Überfahrtgelegenheit. Auch solche Leute, die in ähnlicher Lage,
wie ich, sich befanden, „verheuerten" diese Leute auf irgend ein
Schiff, damit sie so ohne grosse Baarmittel das ^gelobte Land,"
nach der Versicherung dieser Heuerbaasse, sicher erreichten. Dort
in dem freien Lande, in der neuen Welt, wollte ich dann abermals
ein neues Leben, ein „besseres" beginnen. Von Neuem hatte ich
mir selber hoch und teuer zugeschworen, nunmehr meiner unseligen
Leidenschaft zu entsagen. Zähneknirschend verfluchte ich meine
erbärmliche Schwäche, die mich hatte zum Sklaven einer Neigung
werden lassen, die alle Welt als verbrecherisch bezeichnete. Ich
glaubte ihnen, wenn sie sagten, es sei ein Verbrechen, sich mit
„so was" zeitlebens unglücklich zu machen. Hatte ich nicht den
Frühling meines Lebens damit zerstört? — Sprach doch Jeder-
mann mit Verachtung und Hohn von diesem abscheulichen Laster
für das manche die Prügelstrafe empfahlen. Wie ungeheuer schlecht
und erbärmlich kam ich mir vor. Nun aber sollte, nun musste das
alles anders werden, wenn ich erst „drüben" sein würde. Dort, wo
mich Niemand kannte, wollte ich versuchen auf andere Art vielleicht
wieder glücklich zu werden wie tausend Andere. Mit gutem Ge-
wissen darf ich sagen, ja ich habe es redlich versucht ein „Anderer"
zu werden. Ich bin es nicht geworden. Bin bis heute der Alte
geblieben. Gefängnis, Flüche, Tränen, Gebete, Schwüre, Hunger
— 186 —
und Entbehrungen, ja selbst die letzte, tiefste Erniedrigung, die
einem Menschen widerfahren kann, körperliche Misshandlungen, die
mir auf jener schrecklichen Ozeanfahrt nicht erspart geblieben sind,
sie alle hatten nicht vermocht, die liebe zu meinem eigenen Ge-
schlecht zu ertöten. Und ob alle diese unsäglichen Leiden, Geist
und Seele in beispiellosem Maasse quälten und folterten, der ge-
waltsam hin- und hergehetzte Körper, schier bis auf den Rest aus-
gemergelt wurde, siegreich ist die Natur über dies alles hinweg-
geschritten und verlangt nach wie vor, gebieterisch die Erfüllung
ihrer Rechte.
Ich will den Leser nun nicht mehr allzulange mit den Einzel-
heiten meiner weiteren Erlebnisse ermüden. Die körperlichen und
seelischen Qualen, die ich auf all' den Irrfahrten zu erdulden ge-
habt, alle ausführlich zu schildern, fühle ich mich ausser Stande.
Sie haben bei mir den Grundstein gelegt für eine stete nervöse
Empfindlichkeit, unter der Körper und Seele fortgesetzt zu leiden
haben. Namentlich war es der fürchterliche, wenn auch nur kurze
Aufenthalt auf jenem Schiffe, auf welchem mich ein schuftiger
Heuerbaas als Kohlenzieher verdingt hatte, der nach meiner Über-
zeugung ein bis heute regelmässig wiederkehrendes Leiden (Rheuma-
tismus) in meinem Körper zurückgelassen hat. Mein Vorhaben, nach
Amerika auf diesem Schiffe zu kommen, war gescheitert. Ich war
zu dumm und unerfahren für solche Finessen und musste die Reise
unfreiwillig als Kohlenzieher wieder zurück machen. Kaum an
deutschen Gestaden angelangt, entfloh ich, halb wahnsinnig von
den unmenschlichen Strapazen und beispiellos roher Behandlung
bei Nacht und Nebel, von dieser schwimmenden Hölle. Von einer
zweiten solchen Reise nach Amerika war ich gründlich geheilt.
Ich hätte dem denn doch den Tod vorgezogen. Ruhelos zog ich
nun wieder durchs Land, von Ort zu Ort, was nun mit mir ge-
schehen würde, war mir gleichgültig. Ich blieb jedoch während
meiner ganzen Wanderzeit von der Polizei unbehelligt, ein Steck-
brief gegen mich existierte wohl demnach nicht. Nachdem ich auf
meinen Irrfahrten in unzähligen Städten und Ortschaften mich durch
allerlei Beschäftigungen redlich arbeitend durchgeschlagen und meinen
äusseren Menschen wieder in Ordnung hatte, konnte ich endlich
wieder in meinem jetzigen Aufenthaltsort festen Fuss fassen. Jahre
waren darüber hingegangen und meine Familie hatte bis dahin kein
Lebenszeichen von mir erhalten. Wieder in meinem erlernten Ge-
schäft tätig, erlangte ich nach und nach eine gewisse Sicherheit.
Ich lebte still und zurückgezogen für mich hin, ging fast nie aus
und beschäftigte mich in meinen vielen einsamen Stunden damit,
^ k
— 187 —
alles zu lesen, was mir nur in die Hände fiel. Ich führte i
meinen Büchern im stillen Stübchen ein beschauliches Dasein
Aber nicht lange dauerte dieser Zustand. Wohl hatte ici
vorgenommen, fürderhin die Geseilschaft der Menschen inögl\
zu meiden, namentlich war ich ängstlich bemüht, nicht mit jui\
Leuten meines Geschlechts zusammen zu kommen. Darin lag
nun freilich die einfachste Bestätigung meines noch völlig un^
änderten Geschlechtszustandes. Aber statt durch fleißiges, rü^
sichtsloses Nachdenken zur endlichen Klarheit über meine
schlechtliche Verfassung, zu kommen und in deren Konseque^
wenigstens einigermassen mein Leben einzurichten, vermied ich
vielmehr nun ängstlich, an alle diese Dinge auch nur einen Augen
blick zu denken. Ich glaubte durch die eiserne Standhaftigkeit!
mit der ich das Denken und die Gelegenheit von mir fern hielt,\
das beste Schutzmittel gewonnen zu haben, durch das ich von\
fernerem Unglück bewahrt blieb. So verbiss ich mich in einem
fortwährenden Abwehrkampf gegen meine Leidenschaft. Ich hatte
mich noch nicht soweit zur geistigen Freiheit durchgerungen, dass
ich mich hätte von der üblichen Meinung der grossen Masse
emanzipieren können. Ich fühlte mich abhängig von ihr und hielt
in Wahrheit meine Neigung für verbrecherisch, so dass ich glaubte,
sie mit diesen Mitteln erfolgreich bekämpfen zu können. Die
äusseren Umstände schienen mir günstig in meinem Vorhaben. Ich
kam durch einen Kollegen, der mich einst zur Kirmess in sein
Heimatsdorf lud, mit dessen Familie in nähere Berührung. Das
kleine Dörfchen lag in reizender, romantischer Umgebung an der
Weser hingestreut, war von der Stadt, wo ich wohnte, nicht allzu-
weit entfernt und mit der Bahn allsonntäglich bequem zu erreichen.
Als schwärmerischen Naturfreund zog es mich mächtig hin zu
diesem kleinen idyllischen Nestchen. Ich fing an, regelmässig
dies Dörfchen aufzusuchen und lernte nun hier in der Famüie
meines Kollegen, dessen Schwester kennen. Sie führte, da die
Mutter unlängst gestorben war, dem Vater den Haushalt. Die
Familie . war gross. 3 erwachsene Geschwister arbeiteten in der
Umgegend und 3 unerwachsene hatte sie im Hause zu überwachen.
So lernte ich dies echte Naturkind kennen, wie es treu und um-
sichtig waltete in dem kleinen Anwesen; es war ihrem Vater und
den zahlreichen Geschwistern eine sorgsame Hausfrau und liebe-
volle Pflegerin. Eine ungemein frische, sympathische Erscheinung,
gefiel sie mir mit der Zeit immer mehr. Ich genoss bald das Ver-
trauen der Familie und ging darin ein und aus. Es gefiel mir so
unendlich wohl in diesem kleinen Ort, inmitten der herrlichen
— 188 —
Natur. Ich streifte in dem nahen Walde umher, lag stundenlang
an dem Ufer der Weser, oder machte mir im Garten und Feld zu
schaffen. Und wenn Sonntags nachmittags Vater und Brüder das
Gasthaus im Dorfe aufsuchten, dann leistete ich der Schwerter
meines Kollegen Gesellschaft, wenn sie einsam zu Haus die jüngeren
Geschwister hütete. So lernte ich anch Wesen und Charakter dieses
trefflichen Mädchens kennen, an denen ich schliesslich nur ange-
nehmes finden konnte. Ich war nie im Leben ein fanatischer
Weiberfeind und wusste Schönheit, Tugend und natürliche Anmut
beim Weibe wohl zu schätzen. Hier aber fand ich alles in seltenein
Masse vereinigt. In der Person dieses Mädchens schien mir
plötzlich ein Fingerzeig gegeben, meinem ferneren Leben sitt-
lichen Halt wiederzugeben. Ich hatte zur Zeit keinen männ-
lichen Verkehr und war, seit ich diesen Ort entdeckt, ganz stadt-
fremd geworden, arbeitete nur noch in der Stadt und lebte auf
dem Lande. Hier in der Stille der Natur unter den Kindern der
Natur hatte ich den langersehnten Frieden wiedergefunden. Ich
wurde der Freund und Berater Mathildens, half Jihr getreulieh bei
allen möglichen häuslichen Angelegenheiten. Bald war es im Dorfe
ausgemachte Sache, dass ich Mathildens Mann werden würde, und
ich tat nichts, um diese Meinung zu entkräften, im Gegenteil, nie
schmeichelte meiner Eitelkeit und ich war fest überzeugt, Mathilde
würde meine Hand nicht abweisen. Ich war stets artig und takt-
voll in meinem Benehmen ihr gegenüber und hielt mich körperlieh
in respektvoller Entfernung von ihr, was mir leider nicht schwer
fiel. Ich genoss deshalb ihr unbegrenztes Vertrauen, wir waren
wie Geschwister und ich war in die Angelegenheiten der Familie
bald besser eingeweiht, als selbst ihre Geschwister. Ach, hätte sie
mir nie dieses Vertrauen geschenkt, hätte sie mich abgewiesen, ihr und
mir wäre wohler gewesen. Ich aber bildete mir ein, dieses Mäd-
chen zu lieben, redete mir selbst beständig zu mit allen möglichen
Phrasen vom häuslichen Herd und Geldeswert — belog mich selbst,
indem ich vor meinen eigenen schüchternen Bedenken behauptete,
dass diese Heirat der einzige Weg sei, um im Leben noch einmal
glücklich zu werden. Was habe ich mir nicht alles vorgelogen,
um endlich den vermeintlichen Frieden zu finden, nach dem ich
mich so sehr sehnte. Ich Hess nun ein erstes Lebenszeichen an
meine Familie daheim gelangen, indem ich einen langen de- und
wehmütigen Brief an mein Mütterchen richtete. Sie war nur meine
Stiefmutter, aber ich hatte ihr stets eine innige Liebe und Anhäng-
lichkeit bewahrt. Ich gab in dem Brief einen ungefähren Überblick
meiner Schicksale von jenem Tage an, da ich sie verlassen musste, bat
— 189
alle um Verzeihung, und wenn es ihnen möglich sei, mich
als Mitglied der Familie anerkennen zu wollen; teilte
nicht ohne einiges Selbstbewusstsein mit, dass ich mir jetzt\
achtbare Existenz begründet, und im Begriff stände, — mich
verloben, und bat schliesslich um ihren Rat und um ihren müi
liehen Segen. Nach kurzer Zeit erhielt ich Antwort von mein
Bruder. Alles war hocherfreut von meinem Lebenszeichen
namentlich von meinem Entschluss. Man gratulierte mir, wünscü
mir Glück, alles sollte vergessen und vergeben sein, denn ich hät\
ja nun bewiesen, dass ich ein andrer geworden. Mein Bruder ga\
mir den Rat, ja nicht mehr länger mit der Heirat zu warten
kündigte mir an, mich baldmöglichst aufzusuchen, um sich von
meinem Glück zu überzeugen. „Du glaubst nicht, wie ich mich^
freue," so hiess es am Schluss seines Briefes, „dass wir Dich als \
einen Menschen wiedergefunden, der nun wieder als vollberechtigtes \
und nützliches Glied in die Gesellschaft aufgenommen werden \
kann. Dadurch, dass du dich der Liebe zu einem Weibe hin-
gegeben, hast du deinen Beruf als Mann und Geschlechtswesen
der Gesellschaft gegenüber erfüllt, und hast ein Recht, wieder
unter Menschen zu erscheinen." (!!!) Wenn ich ehrüch sein will,
so kann ich nicht sagen, dass dieser Brief meines Bruders in
meinem Herzen einen völlig harmonischen Wiederhall gefunden
hätte. Es lag in ihm etwas, was ich nicht recht definieren konnte.
Nur soviel wusste ich, damals, als ich Willy und nachher Adolf
liebte, war ich doch auch gewissermassen ein Mensch gewesen. Aber
immerhin, der Brief freute mich sehr und beseitigte meine letzten
Bedenken. Ich verlobte mich. Und als ich bald darauf im näheren
Umgang mit meiner Braut ein leidenschaftüches, heissbegehrendes
Weib vorfand, dessen jungfräuüche Liebesglut mir den normalen
Koitus leicht machte, da freute ich mich ganz unbändig und war
nicht wenig stolz auf meine Manneskraft. Um endlich zum Schluss
dieser Bekenntnisse zu gelangen: Mathilde ist mein Weib ge-
worden, und so lange wir nun nebeneinander durchs Leben
wandeln, bin ich ihr nicht einen Augenblick treu geblieben. Das
bischen Reiz war bald entschwunden. Er war bewusst und plan-
mässig herbeigezogen und künstlich genährt, war eine Art Onanie,
war nicht die Liebe, das grosse, heilige Feuer, das aus den dunklen
Tiefen der Menschenseele emporlodert, mächtig und unmittelbar,
mit leuchtenden Flammen das geliebte Wesen gleichsam verklärt
und mit heissem Odem erwärmt. Ein elender Abklatsch, ein
Popanz war es, der sich heuchlerisch Liebe nennt und im Grund
nur Eigenliebe ist, die für ihren feigen Schwindel eine legitime
— 190 —
Unterlage benötigt. 0 ja, ich leugne es nicht, ich war feige, un-
endlich feige, dass ich der lügnerischen Ehrenretterei das Glück
meines Lebens zum Opfer brachte und sohlecht dazu, dass ich ein
rechtschaffenes, braves Menschenkind damit an mein Dasein kettete
und auch ihm die Blüten seines Lebenslenzes stahl.
Allzu langsam ist mir der Schleier von den Augen getrunken
und als ich endlich nun mein eigenes Selbst im Lichte der Er-
kenntnis sah, da war es leider zu spät Neue Fesseln habe ich mir
durch diesen unseligen Schritt auferlegt, ein Zurück gibt es
nun nicht mehr und vorwärts? — wo wollt ich denn da hin? Da
müsste ich ja erst ein „Anderer" werden. Wer ratet mir? Soll ich
meinem armen Weibe, das mir rechtschaffen und treu bis jetzt ge-
dient, „reinen" Wein einschenken? Die sorgsame Hausfrau und
die zärtliche Mutter meiner Kinder hinaus stossen in die Welt, in-
dem ich das Band gewaltsam durchschneide, das uns vor den
Augen der Welt bindet. Solche gigantische Kraftleistung mag man
von mir nicht eher verlangen bis man mir sagen kann, was damit
für uns Beide, für unsere Kinder gewonnen. Unsere Kinder, jawohl,
zwei herzige kleine Wesen sind diesem Scheinbunde entprossen.
Jeder Homosexuelle, der los und ledig ist, mag sich wundern, wie
ein Homosexueller dazu kommen kann. Aber Jeder, der in ähnlicher
Lage sich befunden, wird nichts Verwunderliches darin finden. Ich
liebe meine Kinder, die beide aus den ersten 2 Jahren meiner Ehe
stammen und umgebe sie mit aller Sorgfalt, die in meinen Kräften
steht; sorge für mein Weib nach bestem Können. Und doch muss
ich sie ständig betrügen. Überall gelte ich als der beste Gatte und
Vater meiner Familie. Und beständig breche ich die Ehe. Habe
ich das Glück, einen jungen, starken, edlen Freund zu treffen, dann
kennt meine Freude keine Grenzen. All' mein Leid, 'all' die düstren
Tage, die ich auf dem qualvollen Weg meines Lebens, an der Seite
eines hochgeachteten, aber ungeliebten Weibes durchwandern muss,
sie sind vergessen. Vergessen ist meine Gefangenschaft, in der ich
mein Dasein vertrauern muss im Kreise meiner „Familie", vergessen
alle Gesetze der moralischen Gesellschaft. Ich schreite unaufhaltsam
weiter auf der Bahn des — „Verbrechens". Denn ich kann ja nicht
anders das Glück wirklicher Liebe finden als im „Verbrechen". Wo
ich hinblicke nichts als Sünde, und wollte ich diesem unsäglichen
Zustand ein ewiges Ziel setzen, dann erst wird mir der Fluch, Ver-
brecher, noch übers Grab geschleudert werden. Was also kann
ich tun? Ich werde weiter zu leben versuchen, um weiter zu sündigen.
Die Liebe ist so gross, so erhaben, so edel, sie vermag alles
und sie gibt auch mir immer wieder von neuem die Kraft des
Lebens wieder. Ja der Eindruck, den die licht- und kraft\
Gestalt eines edlen Jüngling auf mich hervorzubringen verj
lockt sogar noch hier und da ein paar einfache und schlichte 1
von meiner längst verrosteten Leier. \
So erst vor Kurzem als ich auf einem Abendessen einen junj
Handwerker kennen lernte: Ein schöner Jüngling mit seltei
Geistesgaben, wie er mir ähnlich immer im Geiste vorschweb
Er zeigte sogleich am Abend unserer Bekanntschaft tieferes V^
ständnis als alle Anderen für meine bescheidenen Darbietunge
durch die ich zur Unterhaltung der Gesellschaft beizutragen sucht,
Wir kamen in ein kleines Gespräch und ich war überrascht unl
erstaunt über die Tiefe seiner Begriffe über Ästhetik und Kuns
sowie über die Kraft seiner Lebensanschauung. Ich war sofort voi
diesem starken Charakter gefangen. Selbst Arbeiter, war ich freudig
bewegt, auch unter meines Gleichen, einen so fein empfindenden
und edel denkenden jungen Mann entdeckt zu haben. Ich suchte1
näheren Verkehr, besuchte ihn in seiner Wohnung, wo ich ihn stets
lesend oder malend, auch musizierend — er spielte gut die Klari-
nette — antraf. Ich war entzückt und verliebte mich unsterblich
in dieses herrliche Wesen. Eine neue Sonne schien über mein
düsteres Dasein aufgegangen. Ich hatte nur noch Gedanken, Sinne,
Interesse, Zeit, für ihn. Mein armes Weib, die von dieser neuen
Liebe, mit der ich sie betrog, natürlich keine Ahnung hatte, konnte
garnicht begreifen, was in mich gefahren war. Ich vernachlässigte
alle meine sonstigen Obliegenheiten. Ich suchte ihm erst zu ver-
heimlichen, dass ich verheiratet sei, bald jedoch fügten es die Um-
stände, dass ich ihm die Wahrheit sagen musste. Lächelnd meinte
er, es täte ihm leid, dass er das nun wüsste. Denn nun könne er
doch meine Zeit, mein Interesse für ihn nur in halben Portionen in
Anspruch nehmen, die grössere Hälfte gehöre meiner Familie. Und
als ich ihm eifrig erwiderte, das käme garnicht in Betracht, da
schaute er mich lange an und warf die Worte still und leicht hin
„Hättest dich nicht verheiraten sollen" — ich war fassungslos,
durchschaute er mich, hatte er in meiner Seele zu lesen verstanden?
Hier, fühlte ich, war ich der Schwächere, aber gerade deswegen
liebte ich ihn umsomehr. Lange haben wir an jenem Abend noch
zusammen gesessen und langsam aber sicher bin ich in seine Seele
eingedrungen. Und als ich bald darauf das erste Zeichen der Liebe,
den Kuss von ihm begehrte, lehnte er zuerst ruhig und bestimmt
ab, und ich hatte zu viel Achtung und Respedkt vor seiner Person,
als dass ich hätte weiter in ihn dringen wollen. Später hat er mir
dies Zeichen gern und freudig gewährt. Fester und immer fester
— 192 —
schlössen wir uns dann zusammen. In ungetrübter Harmonie gingen
unsre Seelen in einander auf. Als Geschleehtswesen normal, hat
er mir doch in hingebender Freundschaft das höchste Glück der
Liebe gewährt. Er fühlte sich nicht dadurch mit Schmach und
Schande bedeckt. Er war frei und unabhängig genug im Geiste,
meine Empfindungen, meinen Zustand zu begreifen. Und konnte
er auch meine leidenschaftliche Liebe nicht mit derselben Glut er-
widern, so war er doch sichtlich bemüht, durch verdoppelte treue
Anhänglichkeit, durch wahrhaft hochherzige Freundschaft und Teil-
nahme für meine traurige Lage, diesen Mangel wett zu machen.
Leider währte mein Glück nicht lange. Durch mein Verhältnis mit
ihm drohte mir ein ernster Konflikt mit meiner Familie. Ich ver-
wendete natürlich meine freie Zeit nur für ihn. Seine Person be-
herrschte nur noch allein meinen Ideenkreis. Ich überliess Frau und
Kinder sich selbst, sorgte nur materiell für sie, und war im übrigen
stets bei meinem Ludwig anzutreffen. Er selbst hat mich im Kreise
meiner Familie nur ein einziges Mal besucht. Er hatte, feinfühlend
wie er war, die Situation bald begriffen und achtete darin gewiss
nur die Meinen. So war ich denn stets bei ihm. Wir musizierten,
lasen, studierten und philosophierten miteinander. Die Sache
wurde zu auffällig und Ludwig bat mich, meine Besuche einzu-
schränken. Dazu war ich natürlich nur in ganz geringem Masse
im Stande. Meine Frau musste mich öfter aus seiner Wohnung
abholen lassen. Kurzum, es gab ernsthafte Auseinandersetzungen
zwischen mir und meiner Frau. Dies alles merkte Ludwig, und
eines Tages überraschte er mich mit der Mitteilung, dass er die
Stadt verlassen wolle. Seine Eltern hatten geschrieben, er solle
in die Heimat zurückkehren. Ich war wie vom Schlage gerührt,
mich von diesem Menschen trennen, das war ja rein unmöglich.
Mein erster Gedanke war — ich scheue mich nicht, ihn hier nieder-
zuschreiben — ich wollte ihn begleiten und sprach diese Absicht
sofort aus. Kuhig und bestimmt verbot er mirs und brachte mich
durch sein liebevolles Zureden wieder zur Vernunft zurück. Nur
seiner ruhigen, festen Besonnenheit habe ich es zu danken, dass
es keine Katastrophe gab. Er versicherte mir zuletzt, dass er mir
dann seine Freundschaft und Achtung versagen müsse, wenn ich
ihm folgen wollte. Das half, und still ergab ich mich in diese
Trennung. 14 Tage noch war es mir vergönnt, ihn zu sehen. Ich
half ihm bei seinen Vorbereitungen zu der weiten Reise. Ludwig
hatte m Jütland seine Heimat. Er war mit 17 Jahren in die Fremde
gegangen, hatte Dänemark, Deutschland und die Schweiz schon be-
reist und hatte sich auf seinen Reisen, die er meistens zu Fuß ge-
— 193 —
macht, 2 fremde Sprachen angeeignet (Deutsch und Französin
die er beide geläufig sprach; für einen mittellosen Handwer,
gesellen eine zweifellos ausserordentliche Leistung. Dabei sta
er erst im 22. Lebensjahre. Und von diesem herrlichen Jüngling sol\
ich mich trennen. Ich konnte mich mit dem Gedanken garnio
vertraut machen. Aber was half es. Nach 5 monatlichem sonnel
vollen Glücke ist nun wieder die düstere Öde meines Dasein
über mich zusammengebrochen. Niemals im Leben ist es mir i
vergönnt gewesen, einen edleren Menschen an mein Herz drtickel
zu dürfen, als diesen dänischen Jüngling. Nie ist mir eine Scheide!
stunde qualvoller erschienen, als die des Abschiedes von ihm]
Immer und immer wieder musste ich diesen Kopf an mich pressen,!
immer wieder in diese dunklen, tiefen Augen blicken. \
Wenn je einem Homosexuellen seine Gefühle zum Fluch \
seines ganzen Lebens geworden sind, so bin ich es. Und
wenn je Anstrengungen gemacht wurden, um diese Empfindungen
loszuwerden, ihnen eine andere „normale" Richtung zu geben, so
habe ich es getan. Und doch musste ich bei meinem Ver-
hältnis zu Ludwig erkennen, dass mein Geschlechtszustand heute
homosexueller denn je ist. Der Zustand, in dem ich mich ge-
rade ihm gegenüber befand, mag die Art und Weise dartun,
mit der ich von ihm Abschied nahm. Wir hatten den ganzen
Abend vor seiner Abreise auf seiner Stube zusammen verbracht,
und ich hatte schliesslich weinend unter unzähligen Umarmungen
mich von ihm losgerissen. Ruhelos lief ich durch die Strassen und
konnte es nicht fertig bringen, nach Hause zu gehen. Ich kehrte
schliesslich zurück, um meinen Freund noch einmal zu sehen. Er
war bereits zur Ruhe gegangen. Dumpf vor mich hinbrütend,
setzte ich mich auf den Flur vor seiner Tür hin und schlief, den
Kopf an die Tür gelehnt, schliesslich ein. So wurde ich mitten in
der Nacht von ihm aufgefunden. Liebevoll bereitete er mir eine
Stätte neben sich. So habo ich dann die letzten Stunden dieser
letzten Nacht an seiner Brust zugebracht. Noch in der letzten
Minute unseres Beisammenseins klagte ich mich an über mein un-
vernünftiges Verhalten. Er tröstete mich und versicherte mich seiner
treuen Freundschaft, auch in der Ferne. So ward auch dieser mir
entrissen. Einsam und trauernd lebe ich nun wieder ftir mich hin
und denke daran, welche Leiden mir wohl noch im Schoosse der
Zukunft zugedacht sind.
Erlöst uns, nehmt uns die Fesseln ab: der Kultur wird es nicht
zum Schaden, der Menschheit aber wird es zur Ehre gereichen.
Jahrbuch V.
13
Einige psychologisch dunkle Fälle
von geschlechtlichen Verirrungen in der Irrenanstalt
von
Medizinalrat Dr. P. Nicke
in Hubertusburg.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass sexuelle Perversi-
täten aller Art im Irrenhause häufiger als sonst sich
finden. Statistische Untersuchungen hierüber in streng
wissenschaftlicher Weise giebt es aber leider nur ganz
wenige. Ausser meiner hieher gehörigen grossen Arbeit1)
kenne ich nur eine solche von Meilhon2) aus der Irren-
anstalt zu Aix und eine Notiz von Pelanda3), die zu
Verona betreffend. Während Meilhon unter 83 Geistes-
kranken 18 Sodomiter, 16 Onanisten und 8 Exhibitio-
nisten fand, notierte Pelanda unter 240 Männern 12 mit
„veränderter" Sexualität (ohne nähere Angabe). Ich
habe dagegen das bisher grösste Material verarbeitet,
nämlich 1481 Geisteskranke (darunter 509 M.) der Irren-
anstalt zu Hubertusbiirg. Berücksichtigt habe ich hierbei
die isolierte und mutuelle Onanie, den Exhibitionismus,
*) Näcke: Die sexuellen Perversitäten ,in der Irrenanstalt.
Psychiatrische en Neurologische Bladen 1899, Nr. 2, und in „Wiener
klinische Rundschau" 1899, No. 27—30.
2) Meilhon: Nach Referat in: Archives d'anthropol. crim, etc.
1898, p. 360.
3) Pelanda: Ernie ed anomalte sessuali. Archivio delle
psicopatie sessuali, 1896.
— 195 —
die aktive Päderastie und endlich die Fellatores und
Schmierer. Tabellarisch wurden die einzelnen Prozeß
sätze für die Gesamtheit und für die einzelnen Kran
heitsformen berechnet. Speciell betone ich hierbei, da
je nach den einzelnen Anstalten diese Prozentsätze vel
schieden ausfallen werden, da ausser vielen ander
Momenten insbesondere die Anzahl der aufgenommene!
Krankheitskategorien eben überall sehr schwankt und ei
ferner hierbei sehr wesentlich erscheint, ob die Kranker
mehr vom Lande, oder aus der Stadt, oder gar der\
Grossstadt sich rekrutieren. Unsere Ermittelungen können \
daher nur einige allgemeine Züge . mehr oder minder
wahrscheinlich machen.
An unserem Material stellte ich fest, dass alle
Perversitäten bei Männern häufiger waren, als bei den
Frauen. Leider musste aber sogleich hinzugesetzt werden,
dass es bei Weibern viel schwieriger ist Näheres zu
erfahren, als bei Männern, so dass sämtliche Prozentsätze
bei ihnen noch viel mehr Minima darstellen, als bei
Jenen. Onanie fand sich am häufigsten vor — wiederum
scheinbar mehr bei Männern — , Exhibitionismus dagegen
nur selten (blos bei 3 Männern!), bei den Frauen doppelt
so häufig, während öfter homosexuelle Handlungen statt
fanden, die bei den Paralytikern ganz fehlten. Unter
den gleichgeschlechtlichen Handlungen war die gegen-
seitige Onanie am häufigsten (sicher oder sehr wahr-
scheinlich bei ca. 3% der M. und bei ca. 0,5% der W.)
Fellatores gab es nur 2 (M). Wirkliche Päderastie
endlich fand sich bei l°/0 der M. vor, viel häufiger als
bei Frauen und bei beiden Geschlechtern wieder in erster
Linie bei den Imbezillen. Letztere und die Idioten
weisen überhaupt die Höchstziffer aller Perversitäten auf.
Daher kommt es hauptsächlich, dass je mehr diese Art
von Kranken und auch Epileptiker in einer Anstalt sich
ansammeln, um so mehr die Zahl aller sexuellen Ver-
13*
— 196 —
irrungen zunimmt. Leider waren unter niciuen Kranken
nur sehr wenige Epileptiker vorhanden und gerade hier
wäre eine diesbezügliche Untersuchung an grossem
Materiale deshalb sehr erwünscht.
Unter unseren 509 Männern wurden 5 Personen bei
eigentlicher Pädicatio betroffen (== 1°0) und zwar 4
Idioten und 1 Paranoiker. Rein passiv verhielten sich
hierbei 2 Idioten, aktiv und passiv zugleich die 2audern. Alle
vier onanierten zugleich, zum Teil auch mutuell. Der Eine
(ein älterer Mann) ist auch Fellator. Die Passiven sind mehr
apathische Naturen. Der Päderastie sehr verdächtig war
ein Verrückter, — daher oben mitgezählt — , der, wenn er
erregt war, in das Bett Anderer kroch. Unter den 972
Frauen exhibitionierten 16 (der einfachen Seelenstörung
angehörig); der gegenseitigen Onanie sehr verdächtig waren
4 andere, 2 weitere endlich der aktiven Päderastie. Cunni-
lingae fehlten ganz. Erwähnen will ich schließlisch, daß fast
stets bei allen unsern männlichen und weiblichen Kranken
Onanie die Vorstufe zu deu übrigen sexuellen Abweich-
ungen bildete, ohne daß damit aber irgend ein Zusammen-
hang zwischen Beiden statuiert sein soll (siehe später!).
Diese obigen Zahlen habe ich nur mitgeteilt, um
zu zeigen, daß alle sexuellen abnormen Praktiken
im Irrenhause doch meist viel seltener sind?
als der Laie, ja sogar viele Aerzte sich dies
vorstellen. Wegen aller weiteren Details muß ich schon
auf meine angeführte Arbeit verweisen, die außerdem
auch versucht gewisse Aktedem Verständnisse psychologisch
näher zu bringen.
Jedenfalls ersieht man aus Vorstehendem, daß homo-
sexuelle Akte nicht häufig waren, am seltensten
die eigentlichen Päderasten und Fellatores, dass weiter
die Schwach- und Blödsinnigen auch hier den
höchsten Prozentsatz zeigten. Es erhebt sich nun
hier vorab die Frage, ob wir in diesen Fällen echte
— 197 —
Inversion vor uns haben oder nicht. In allen Fällen, gla^
ich, müssen wir eine wirkliche Homosexualität ablehn;
trotzdem nähere anamnestische Daten vollständig fehl!
Es handelt sich hier nur um homosexuelle Handlungen, faij
de mieux, um Surrogatshandlungen, wie ich dies nannte!
Die Verführung meist durch Schwachsinnige, spielt dl
Hauptrolle dabei. Das Gros der Irren allerdings hl
friedigt den Geschlechtstrieb nur durch Onanie, die hie\
gleichfalls, besonders bei Verheirateten, meist nur al^
Surrogat auftritt. Immerhin mag sie öfter auch central
bedingt sein, durch stärkeren centralen Reiz auf diej
Genitalsphäre, wofür namentlich die bisweilen frenetisch!
ausgeübte Masturbation bei tief Verblödeten oder ganz!
Benommenen spricht, was in anderen Fällen viel weniger i
wahrscheinlich ist. Schon daß unsere Päderasten neben \
der paedicatio noch alle isolierte und gegenseitige \
Onanie betreiben, z. T. auch gleichzeitig Fellatores sind, |
spricht einigermassen gegen echte Inversion. Das Haupt- \
argument liegt aber in der Tatsache, daß die Betreffenden
in der Zwischenzeit den Partnern gegenüber sich völlig
kühl verhielten, sie nie umschmeichelten etc., bis auf
Aborten, in dunkeln Ecken, in Gegenwart apathischer
Schwachsinniger oder sekundär Dementer etc. der
raptus sie überkam und sie die Andern mißbrauchten.
Wären ihnen Frauen zur Wahl belassen worden, so
hätten sie sich wohl sicher auf sie gestürzt. Auch sonst
sprach bei ihnen alles gegen echte Homosexualität und
nie zeigte sich effeminierter Typus. Eher könnte schon
bei den Frauen von Inversion die Rede sein.
Mag dem nun aber sein, wie ihm wolle, so glaube ich
aus meinen Erfahrungen schließen zu dürfen, daß in den
unteren Volkschichten — aus solchen rekrutiert sich
') Näcke: Einige Probleme auf dem Gebiete der Homo-
sexualität. Lähr's Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie u. s. s.
1902. 59. Bd.
— 198 —
vorwiegend unser Material — wahre Homosexualität
ganz abnorm selten ist. Aehnliches wird sich im
ganzen wohl auch bei anderen Irrenanstalten herausstellen.
Sehr beachtlich ist aber weiter die Tatsache, daß unter
einer so grossen Masse von Entarteten — wenn
man nicht gar, wie manche wollen, alle Geisteskranken
überhaupt dazu rechnen will — wahrscheinlich kein
einziger echter Invertierter sich befand, trotzdem
die Inversion gerade bei Entarteten so häufig sein soll.
Jedenfalls ist sie bei den schwer Entarteten,
wie man die meisten unserer Kranken wohl bezeichnen
kann, sehr selten. Somit bleibt nur die andere Mög-
lichkeit übrig, daß sie nämlich bei leichter Entarteten
aller Art auftritt, oder gar vielleicht bei völlig Normalen
(in der gewöhnlichen Gesundheitsbreite sich bewegenden).
Letzteres halte ich sehr wohl für möglich, ja sogar für
gar nicht so selten, wie ich dies in meiner 2. zitierten
Arbeit des näheren auseinander setzte. Endlich möchte
ich noch hervorheben, daß trotz der häufigen und jahre-
lang geübten Onanie, welche besonders bei Imbezillen,
Jugendlichen oder sekundär Verblödeten nicht selten
beobachtet wird, diese doch nicht in einem einzigen Falle
zu Inversion oder nur zu homosexuellen Handlungen
geführt hatte, die sich vielmehr meist als Produkt der
Verführung darstellten, und als Surrogathandlungen auf-
traten. Schon daraus ersieht man, daß Onanie an sich
kaum je Homosexualität erzeugt.
Hier will ich nun einige psychologisch dunkle und
interessante Fälle sexueller Abnormitäten besprechen,
die ich in der letzten Zeit in hiesiger Anstalt zu beob-
achten Gelegenheit hatte. Es handelt sich um 3 Fälle
von homosexuellen Handlungen und 5 Fällen von Exhi-
bitionismus.
1) E., 67 Jahre, Händler, ledig. Seit 3—4 Jahren
erkrankt, halberregt, verschwenderisch, Spieler. Senile De-
— 199 —
\
menz mit Erregtheit. Kam hier noch hypomanisch an, \
ruhigte sich aber relativ bald und ist jetzt ruhig, fleißig al
schwatzhaft. In seinem hypomanischen Zustande stecl
er viel mit Idioten und Jugendlichen zusammen, w^
wiederholt bei gegenseitiger Onanie betroffen und auci
wie er am Penis eines jungen Katatonikers' saugte, wj
er aber, sogar in flagranti ertappt, leugnete. Durch d^
Pfleger auseinander gebracht, ging er immer wieder wi
besessen auf seinen Kumpanen los. Nie aber ward e
bei der Päderastie betroffen. Seit seiner Beruhigung ha^
er sich nichts mehr zu schulden kommen lassen. \
Da in der Anamnese nichts auf Inversion bezügliches!
sich vorfindet, Pät. auch jede homosexuelle Neigung stricte!
leugnet, so ist er wohl sicher kaum eigentlicher Homo- \
sexueller. Es ist anzunehmen, daß er in seiner hypo- \
manischen Unruhe von Anderen zu homosexuellen Hand-
lungen verleitet ward und Geschmack daran fand. Er
gab der Versuchung um so eher nach, als einerseits durch
sein Senium gewisse Hemmungen gelockert waren, anderer-
seits durch die Erregtheit vielleicht die libido sexualis ge-
steigert wurde, und endlich günstige Gelegenheit sich
anbot. Nach Abklingen der Hypomanie hat er alles bei-
seite gesetzt und damit eben gezeigt, daß er kein Homo-
sexueller ist.
2) S., ca. 27 — 28 Jahre alt, Musiker. Dementia
präcox; total verwirrt und scheinbar verblödet, zeitweis
gewalttätig unter dem Ansturm von Sinnestäuschungen
und Wahnideen. Im Mai und Juni dieses Jahres ward
wiederholt gesehen, wie er sich auf den Bauch eines
sekundär verblödeten jungen Mannes, der sich in einer
dunklen Ecke auf die Diele ausgestreckt hatte, der
Länge lang legte und ihn längere Zeit so fest mit
den Armen umklammert hielt, daß er einmal nur
mit grosser Gewalt von dem Andern losgerissen
werden konnte. Dabei waren weder seine noch des
— 200 —
Anderen Genitalien entblößt und jede koitusartige Be- !
wegung fehlte. Die beiden glichen Fröschen in der Co- j
pulation. S. erschien dabei aber durchaus nicht geschlecht- ,
lieh erregt. Zu anderen Zeiten exhibitionierte er vor |
Frauen und riss Zoten. I
Bei seinem total verwirrten Zustande fehlt uns jede
Angabe über dieses auffällige Benehmen. Nur während
zweier Monate zeigte er diese merkwürdige Art der
Beschlafung. Sexuelle Erregung schien abgängig zu sein.
Er empfand sonst durchaus heterosexuell, wie seine
Exhibition vor Frauen bewies. Er ist also kein Inver-
tierter. Nie hat er seinen Partner sonst aufgesucht und
sich ihm freundschaftlich genähert. Wahnideen und
Sinnestäuschungen können nicht wohl mit im Spiele ge-
wesen sein, eher schon Zwangsimpulse. Vielleicht war
es aber nur ein rein automatischer Akt, der jedoch
möglicherweise nicht ganz eines sexuellen Hintergrundes,
wenn auch unbewusst, entbehrte. Denkbar wäre es end-
lich, daß hierbei Erinnerungen an normalem Coitus mit
unterliefen. Jedenfalls ist gerade dieser Fall psychologisch
ganz dunkel, aber interessant und lehrreich.
3) O., tiefster Idiot und taubstumm, Ende der
zwanziger Jahre. Stösst nur unartikulierte Töne aus.
Ich ertappte ihn kürzlich, als er einen anderen Idioten
beim Kopfe festhielt, ihn wiederholt auf den Mund
— doch ohne sichtliche Zeichen geschlechtlicher Er-
regung — küsste und ihn am Ohre streichelte. Der Kuss
ward erwidert. Nach Aussage des Oberpflegers soll
dieser O. sehr verschiedene Kranke in ähnlicher Weise
liebkosen, wobei aber nie Onanie bemerkt ward.
Ist hier etwa Inversion im Keime vorhanden? Ich
glaube es kaum, da eben Zeichen des Orgasmus fehlten
und die verschiedensten Personen so traktiert wurden.
Ich möchte vielmehr glauben, daß es hier nur eine Be-
tätigung von Anhänglichkeit und Gutmütigkeit war, ohne
201
sexuellen Anstrich. In meiner erwähnten 2. Arbeit macl
ich darauf aufmerksam, daß bisweilen — immerhin se
selten — bei Irren Freundschaftsbündnisse sich heran
bilden. Diese sind entweder völlig harmlos oder aber d^
homosexuellen Handlungen sehr verdächtig. Letzteres
anscheinend das häufigere — war bei uns nur bei Idiotel
oder Verrückten der Fall, wobei der eine der aktiv^
Teil ist. Aber auch bei ganz harmlosen Verhältnisse!
sieht man, wie es vorwiegend der eine ist, der denl
andern liebkost, unterstützt etc. Obigen Fall möchte ich \
nun zu dieser harmlosen Kategorie zählen, abgesehen
davon, daß hier kein eigentliches Freundschaftsbündnis
bestand. Es giebt nicht selten gerade Idioten, die ihre
Liebe zu Eltern, Geschwistern, Pflegern etc. durch Küssen,
Streicheln u. s. f. rudimentär bezeugen, und dies dann
in andern Verhältnisse auf andere Personen übertragen,
und zwar unterschiedslos männlichen oder weiblichen
gegenüber, und ohne Zeichen von libido.
Die folgenden Fälle betreffen Exhibitionisten.
4) PI., Paralytiker, 42 Jahre alt, ganz dement und
meist ruhig. Als er noch leidlich bei Kräften war, lief
er einmal 2 Tage lang — sonst nie wieder! — auf dem
Korridore mit heraushängendem Gliede meist in
dunkeln Ecken stehend und ganz benommen. Niemand
sah ihn dabei onanieren, was er später, als er bettlägerig
wurde, öfter tat.
5) L., berühmter Pianist, Ende der Vierziger, ganz
dementer Paralytiker, stand monatelang während des
Gartengangs mit der ganzen Vorderseite des Körpers
fest gegen die Hauswand gedrückt, mit entblößtem Gliede,
ohne Masturbation, und ging so auch dann auf seine
Station zurück. Ließ sich nie davon abbringen.
6) Schi., 35 Jahr alt. Totale Verwirrtheit und Ver-
blödung nach dementia praecox; lief sehr oft mit ent-
_ 202 —
blößtem Penis auf dem Korridore herum und ließ sich
gleichfalls davon nicht abbringen. Im Garten wurde es
nur einmal beobachtet. Er lebte ganz in seinem Sinnes-
traum und in seiner Wahnwelt befangen.
7) Seh., dem. praecox, Mitte der 20 er, ganz verwirrt
und schon verblödet, entblößte wiederholt sein Glied und
spielte daran herum.
8) Gr., 29 Jahre alt, verblödet und verwirrt nach
dem. praecox, trägt wegen steten Zerreißens seit Monaten
den sog. (unzerreißbaren) Göttinger Anzug. Läßt aus
dem Schlitz stets den Penis herabhängen und ist davon
nicht abzubringen.
Diese Entblößer haben zunächst das Gemeinsame,
daß sie dem jüngeren und mittleren Alter angehören, aus
Paralytikern und jugendlich früh Verblödeten bestehen und
bis auf die sehr mobilen Nr. 7 und 8 ganz in sich ver-
sunken, tief benommen waren. Homosexuelle Exhibition
ist hier sicher auszuschließen, schon weil die Betreffenden
keine Invertierten waren und nur zeitweise und oft bloß
in dunkeln Ecken exhibitionierten. Siehe namentlich
Nr. 5. Sexualerregung schien dabei bei Niemandem zu
bestehen und nur bei Nr. 7 ward Spielen an den Genita-
lien beobachtet.
Was war nun der Grund zur Entblößung? Man
könnte zunächst daran denken, daß dies der Abkühlung
halber geschah, sei es nun, daß gewisse lokale Reiz-
vorgänge an den Geschlechtsteilen bestanden, oder
central bedingte brennende oder sonstige unangenehme
Gefühle am Penis, die durch Aussetzen des Gliedes an
der Luft Linderung ergaben. Lokale Reizzustände fehlten
aber, ebenso wie die dadurch oft bedingte Masturbation
und für die andere Erklärung liegt auch kein Beweis
vor. Man könnte ferner auch an Druckwirkung des
Göttinger Anzuges in Nr. 8 denken, doch muß man diese
Erklärung hier fallen lassen, da bei den meisten Kranken
— 203 —
im „Göttinger" Exhibition nicht bemerkt wird. 1
Falle 8 kam mir dagegen eine andere Erklärungsmö
keit in den Sinn. Ich sah den Pat. nämlich einmal h
seitliche Hüftbewegungen machen, wobei der lange .
hin- und herpendelte. Vielleicht war ihm gerade
pendelnde Gefühl angenehm. Bei unserm Kranken
man ferner als etwaigen Grund Wahnideen, Zwa
impulse oder Sinnestäuschungen wohl ziemlich si<
ausschließen, ebenso einen central bedingten Reizzust
der Geschlechtssphäre, da nie Zeichen von libido sich c
boten, das Glied stets schlaff herabhing und nie masturbi
wurde. Es bleibt also fast nur übrig an einen re
automatischen Mechanismus zu denken, a
Grund dunkler organischer Reizungen oder unbewußt
Vorstellungen. —
Auf alle Fälle ist in allen unsern mitgeteilten Bei
spielen jede beabsichtigte Befriedigung der libido ausge
schlössen, im Gegensatze zu der gewöhnlichen Exhibition,
Auch in der Irrenanstalt sieht man letztere nicht selten
vor dem andern Geschlecht eintreten und besonders
Frauen entblößen sich gern vor Männern. Vor dem
gleichen Geschlecht geschieht es aber, abgesehen von
Invertierten, höchstens nur dann, wenn tiefe Verachtung
dem Andern gegenüber kundgegeben werden soll, manch-
mal auch der Abkühlung halber, oder aus Wahnideen,
Sinnestäuschungen, Zwangsimpulsen bei mehr oder minder
erhaltenem Bewußtsein. Tief Benommene endlich, ent-
blößen sich auch, wie unsere obigen Fälle zeigen; sicher
ist dies aber keine homosexuelle Exhibition. Ob diese
überhaupt, wie Bräunschweig1) behauptet, so häufig bei
Homosexuellen stattfindet, möchte ich um So mehr be-
zweifeln, als hierüber in der Literatur wohl nur wenig
bekannt ist.
J) Braunschweig: Das 3. Geschlecht. Halle, Marhold. 1902.
— 204 —
Zum Schlu (Je möchte ich endlich auf eine Erklärung
des gewöhnlichen Exhibitonismus aufmerksam machen,
die ich für die meisten Fälle für richtig halte und
es auch schon klar aussprach1). Ich sehe nämlich in der
Entblößung nur eine Abart des Sadismus. Der
Exhibitionist weidet sich am Schreck, Unwillen oder an
der Verlegenheit der Zuschauerinnen, was sexuell erregend
auf ihn wirkt, zumal wenn jene junge Mädchen sind.
Die andere Erklärung dagegen, daß der Exhibitionist sich
geschlechtlich aufrege, weil er die libido im andern geweckt
hätte, dürfte nur in den seltensten Fällen uud nur bei
depravierten Mädchen oder Frauen zu beobachten sein.
Eher könnte dies im Irrenhause stattfinden, wo durch die
Psychose einerseits gewisse Hemmungen ganz oder teil-
weise beseitigt sind, wodurch der Geschlechtstrieb freier
sich zeigen kann, anderseits durch die Krankheit immer
oder zu gewissen Zeiten die Geschlechtssphäre direkt
gereizt wird, was in concreto freilich schwer zu beweisen
sein dürfte. So beobachteten wir kürzlich einen älteren
Paranoiker, der öfter dort exhibitionierte, wo die Bretter-
wand des Frauengartens an die Stacketwand des Männer-
gartens stiess und hier die Gelegenheit sich bot die
Frauen, welche den dort in der Ecke belegenen Abort
aufsuchten, zu sehen. Wiederholt drückte er hierbei
seinen Penis durch das Stacket [hindurch und forderte
eine ältere, total verwirrte Frau auf, denselben in die
Hand zu nehmen, was diese dann auch unter Streicheln
und Bewunderung des wohl geformten Organs tat!
So kamen Beide in sexueller Hinsicht mehr oder weniger
auf ihre Kosten.
Hubertusburg, Nov. 1902.
*) Siehe meine 2. angezogene Arbeit.
Chirurgische Überraschungen \
auf dem Gebiete des Scheinzwittertumä
Kasuistik von 134 Beobachtungen mit 54 Fällen-
\
irrtümlicher Geschlechtsbestimmung \
\
\
größtenteils durch das Skalpell der Chirurgen erwiesen. \
(Mit zahlreichen Abbildungen im Text.)
Mitgeteilt von
Dr. med. Franz Neugebauer.
Vorstand der gynäkologischen Abteilung des Evangelischen
Hospitals in Warschau.
Es sei mir gestattet in diesem Jahrgange des Jal
buches der Frage des Scheinzwittertumes von einer re
praktischen Seite näher zu treten. Es soll hier d
Kasuistik, derjenigen Fälle synoptisch zusammengestel
werden, wo der Chirurg in Beziehungen zu dem Pseudc
hermaphroditismus trat. Der Leser wird überrascht seil
von der großen Anzahl von Fällen, wo das Skalpell des
Chirurgen eine „Erreur de sexe" feststellen durfte!
Doch abgesehen davon gibt es eine große Reihe von
Beobachtungen, wo bei richtiger Geschlechtsbestimmung
der Chirurg Gelegenheit hatte aus der oder jener Ur-
sache einzugreifen und zu höchst überraschenden und
lehrreichen Resultaten gelangte. Die im folgenden zu-
sammengestellten Beobachtungen entstammen der bisher
von mir gesammelten Gesamtkasuistik von 910 Fällen
von Scbeinzwittertum. Im Interesse der Leser des Jahr-
buches werde ich, soweit dies wichtig erscheint, bei den
einzelnen Beobachtungen auch dem psychosexuellem Em-
pfinden der einzelnen Individuen Rechnung tragen, so-
weit darüber Notizen vorliegen. Doch gehen wir gleich
in medias res vor. Ich beginne mit einer Reihe von
sogenannten Bruchoperationen bei männlichen Schein-
zwittern, welche irrtümlich als Mädchen getauft und als
solche erzogen worden waren, ja, einige dieser Individuen
waren bereits als Frauen verheiratet.
— 208 —
Erste Gruppe.
38 Bruch-Leistenschnitte bei als Mädchen erzogenen
Individuen mit Feststellung von Hoden als Bruchinhalt
Ich muss hier bemerken, daß die Bezeichnung Bruch-
operation nicht für alle diese Fälle zutreffend ist, da in
manchen Fällen operirt wurde ohne auch nur einen Bruch
zu vermuten wie z. B. in einem Falle um eine angeblich
vereiterte Drüse aus der Leistengegend zu entfernen
— richtiger wäre es von Operationen mit Inguinoscrotal-,
resp. Inguinolabial-Schnitt zu sprechen, also einfach ge-
sagt mit Leistenschnitt.
1) Alexander [Deutsche Medizinische Wochen-
schrift 1897 No.: 38 pg. 307J beschrieb folgende inte-
ressante Beobachtung aus der chirurgischen Abteilung des
Dr. Hahn im städtischen Allgemeinen Krankenhause am
Friedrichshain in Berlin: Am 8. Juni 1897 trat die
16jährige Klara D. wegen eines Leistenbruches in das
Hospital ein. Der Bruch war ein linksseitiger. Vor drei
Jahren hatte Dr. Erasmus bei ihr eine rechtsseitige
Bruchoperation vollzogen, beschrieben von Jordaeus.
Vor 8 Tagen wurde die Patientin während eines Spazier-
ganges plötzlich von starken Schmerzen in der linken
Leiste befallen, kurz darauf bemerkte sie selbst eine
Anschwellung, einen Bruch, der sioh als irreponibel erwies.
Man diagnosticierte einen linksseitigen Leistenbruch mit
fraglichem Inhalte und verordnete zunächst Ruhe. Da
sich hierbei das Befinden besserte, beschloss man, sich
abwartend zu verhalten. Sobald jedoch das Mädchen das
Bett verlassen hatte, traten die heftigsten Schmerzen auf
und es wurde deshalb von Dr. Hahn die Herniotomie
vollzogen. Ein 5 Centimeter langer Bruchsack ver-
schmälerte sich nach- oben zu gegen den Leistenkanal hin.
In dem jeder Flüssigkeit baaren Bruchsacke fanden sich
— 209 —
in dessen oberer Hälfte ein eiförmiges Gebilde
Kirschgröße und zwei kleinere rundliche Gebilde
drüsenartigem Aussehen. Alle drei Körperchen hatte!
eine glänzende Oberfläche, wiesen Verwachsungen mi\
dem Bruchsacke auf und wurden entfernt. Die mikros4
kopische Untersuchung machte Professor Hansemann;
Hoden und Nebenhoden konstatiert. Erst nach einem!
so unerwarteten Operationsbefunde betrachtete man mit '
grösserer Aufmerksamkeit die äußere Erscheinung des
Mädchens. Die Brüste sowie das subcutane Fettpolster
waren sehr schwach entwickelt, das Haupthaar in Zöpfen
angeordnet. Die Oberlippe wies etwas Bartanflug auf, die
äußeren Schamteile waren absolut weiblich gebildet.
Mons Veneris schwach behaart, große und kleine
Schamlippen wenig entwickelt im Verhältnis zur allgemeinen
Körpergröße. Clitoris 2 Cent, lang und 6 Mill. dick,
Präputium clitoridis verschieblich. Der Penis bypo-
spadiaeus wies eine Lacuna Morgagnii von drei Milli-
meter Sonden tiefe in der gespaltenen Harnröhre auf; unter-
halb der weiblichen Harnröhrenmündung lag der Introitus
vaginae von halbmondtörmigem Hymen garniert. Fossa
navicularis und Frenulum labforum normal weiblich
gebildet. Keine Spur von Uterus oder Tuben per rectum
getastet, ebensowenig eine Prostata.
Die Scheide endete in der Höhe von drei Zentimetern
blind. Becken nach Gestalt und Maaßen männlich. Nach
dem unerwarteten Ergebnis der mikroskopischen Unter-
suchung der exstirpierten Gebilde wurden nunmehr auch
die früher rechtsseitig von E r a s m u s entfernten Gebilde
untersucht und ergaben sich gleichfalls als Hoden und
Nebenhoden [siehe Jordaeus: Inhalt einer Leisten-
hernie bei Mißbildung der Genitalien — Festschrift zur
Feier des 50-jährigen Bestehens der Gesellschaft
der Ärzte des Regierungsbezirks Düsseldorf 1895.]
Damals existierte noch kein Leistenbruch linkerseits,
Jahrbujh V. 14
— 210 —
sondern nur der rechtsseitige. Man fand als Inhalt des
Bruchsackes den processus vaginalis peritonaei ohne flüssi-
gen Inhalt. In dem Bruchsacke lag ein birnfürniiges
Gebilde von der Größe einer welschen Nuß, weich von
Konsistenz und nicht mit dem Bruchsacke verwachsen.
Der Tumor hatte eine glänzende Oberfläche und enthielt
zwei Gebilde von drüsigem Aussehen, die nach obenzu
in eine Art gegen den Leistenkanal hin ziehenden Strang
übergingen. Da die Reposition nicht gelang, hatte man
diese Gebilde operativ entfernt Linkerseits war neben
Hoden und Nebenhoden auch eine Samenblase ent-
fernt worden, rechterseits auch ein vas deferens. In
keinem der Hoden Spermatogenese nachgewiesen, also
atrophischer Zustand. Am 27. Juni 1895 war Klara D.
aus dem Hospitale entlassen worden, am 30. Januar 1896
trat sie wieder ein wegen Scheidenausflusses und schmerz-
hafter Anschwellung in beiden Leistengegenden. Die
Schmerzen waren die Folge eines Coitusversuches mit
einem Manne. Der Beischlaf kam nicht zu Stande wegen
Sehmerzhaftigkeit, wohl aber acquirierte Klara D. einen
Tripper mit nachgewiesenen Diplokokken. Am 16.
Februar wurde Patientin nach längerer Kur entlassen.
Klara D. hatte weder jemals die Regel gehabt noch
irgendwelche Molimina, es handelte sich einfach um ver-
späteten Herabtritt der beiden Hoden. Die angeblichen
Leistenbrüche veranlaßten die operative Entfernung der
Gebilde, die sich unter dem Mikroskope als Hoden und
Nebenhoden etc. erwiesen, also eine erreur de sexe
aufklärten. Zur Zeit der ersten Operation war Klara 13
Jahre alt, zur Zeit der zweiten 16.
2) Henry Avery (Philadelphia Med. and. Surg.
Reporter 1868 XIX. 8. pg. 144) entfernte bei einem 24-
jährigen aus Neuschottland stammenden Mädchen, Anny C.
auf dessen Verlangen hin und auf Grund einer Konsulta-
tion mit noch zwei anderen Aerzten einen Tumor aus
— 211 —
einer Leistengegend. Der Tumor erwies sich als Hod«
Allgemeinaussehen, Stimme und Brüste männlich. L
Scheide endete in der Tiefe blind. Kein Uterus getastt
Clitoris zwei und einen halben Cent. lang. Hypospadias
penoscrotalis mit einseitigem Kryptorchismus.
3) Brycholow [siehe: Garin: Wjestnik Obszczest
wennoj Gigjeny, Ssudebnoj i Prakticzeskoj Medicin)
[Russisch] — T. XXIX. Kniga II. Februar 1896 — und
Protokoly Anthropologiczeskawo Obszczestwa 1894 No.: 1
pg. 29 No.: 207.] Die 14jährige Marie X. trat in das
Petersburger Marienspital ein wegen doppelseitigen Leisten-
bruches. Die operativ aus den beiden Brüchen entfernten
Gebilde erwiesen sich als Hoden. Beide hatten in den
Schamlefzen gelegen, waren also voll herabgestiegen.
Kein Uterus vorhanden, wohl aber neben den großen
auch kleine Schamlippen. Die Vulva sah absolut weib-
lich aus bis auf die infolge ihres Inhaltes strotzenden
Schamlefzen. Während der Operation konstatirte man
Erektionen des hypospadischen Penis; zur Zeit der
Operation noch keinerlei Geschlechtstrieb vorhanden nach
Aussage des Kindes.
4) Briuchanow [Ein Fall von Pseudohermaphroditis-
mus masculinus externus — Bolnicznaja Gazeta BotkhV
a [Rußisch] Petersburg 1899 No.: 44.J Bei einem 14jährigen
Mädchen mit absolut normalem weiblichen Aussehen der
Vulva wurde ein doppelseitiger Leistenbruch operiert:
die hierbei exstirpierten Gebilde erwiesen sich als Hoden :
„Erreur de sexe*. Ich weiß nicht anzugeben, ob diese
Beobachtung nicht etwa identisch ist mit der vorher-
gehenden, die Jahreszahlen 1894 und 1899 scheinen
dagegen zu sprechen.
5) Buchanan (in Glasgow) [Medical Times, 14
February 1885 — siehe: Centralblatt für Gynäkologie
1885 pg. 464] beschrieb ein 9jähriges Mädchen von knaben-
haftem Aussehen. In der rechten Schamlefze tastete er
14*
— 212 —
ein härtliches, durch einen Strang mit dem Leistenkanale
in Verbindung stehendes Gebilde; links der gleiche
Befund, nur der Leistenkanal etwas weiter klaffend.
Große und kleine Schamlippen, Clitoris und Hymen
normal. Buchanan glaubte, es handle sich gleichwohl
nicht um ektopische Ovarien, sondern um Hoden und
zwar wegen des deutlich ausgesprochenen Cremasteren-
reflexes. Bei der Untersuchung sub narcosi fand der Finger
eine Vagina von normaler Länge, aber in ihrem Grunde
statt einer Vaginal portion eines Uterus ein sagittales
Septum, welches den Scheidengrund in zwei seitliche
Taschen teilte von je Fingerhutgröße. Jederseits vom
Scheideneingange fand Buchanan je eine feine Oeffnung.
Er sprach diese Oeffnungen als Mündungen der Ductus
ejaculatorii resp. Vasa deferentia an. In der Voraus-
setzung, die in den Schamlefzen liegenden Gebilde könnten
in Zukunft Ursache von Beschwerden werden, seien sie
nun ektopische Ovarien oder Hoden, entfernte er sie
operativ. Die mikroskopische Untersuchung [siehe auch:
Pull mann] ergab, daß es die Hoden waren: man hatte
also das Kind, einen verkannten Jungen, kastriert.
6) Chambers [Transactions of the Obsterical Society
of London 1859 citirt von Mundet1] beschrieb ein
24-jähriges Mädchen von weiblichem Allgemeinaussehen,
dessen Genitale ebenfalls einen weiblichen Aspectus bot,
jedoch war die Scheide in der Höhe von drei Centimetern
blind geschlossen und keine Spur von Uterus, Tuben
oder Ovarien zu tasten. Zwei in den Schamlefzen tast-
bare härtliche Gebilde wurden operativ entfernt und er-
gaben sich als Hoden. Ob Spermatogenese nachgewiesen
wurde, ist nicht erwähnt.
7) Clark [WA case of spurious hermaphroditisme,
hypospadias and undescended testes in a subjeet, who
>) Munde: Centralbl. f. Gyn. 1887. N. 42. f. 671: Vagina
blind endend.
— 213
had been brought up as a female and had been marrj
for sexteen". — Lancet 1898. Vol. I pg. 616] beschri
eine 42-jährige Frau, welche vor 16 Jahren geheira^
hatte und zur Zeit als Witwe in seine Behandlur
gekommen war. Die Vulva sah echt weiblich aus, dl
geräumige Vagina war in der Tiefe blind geschlossej
und nichts von inneren Genitalien zu tasten. In jedel
Leistengegend feine Anschwellung; die linksseitige sehl
druckempfindlich bei der 'leisesten Berührung Mammae!
weiblich, Areolae .kaum ausgesprochen, Warzen atrophisch.!
Kehlkopf vorstehend, männlich. Hände groß, Scham-
behaarung sehr spärlich, im Gesicht keine Spur mann- '
licher Behaarung. Vom 12. Lebensjahre an sollen Blutungen
aus dem Genitale stattgehabt haben, anfangs unregelmäßig,
aber vom 25. bis 38.jJahre regelmäßig aller vier Wochen
je 24 Stunden andauernd. Die Frau hatte vor einigen
Tagen einen schweren Gegenstand aufgehoben und war
sofort von starken Schmerzen in den beiden Leisten
befallen worden, es waren plötzlich Leistenbrüche aus-
getreten. Clark glaubte, es handle sich um einen
Descensus retardatus testiculorum, wurde jedoch in dieser
Voraussetzung wieder schwankend angesichts der von der
Frau betonten regelmäßigen Blutausscheidungen aus dem
Genitale. Er wollte also eine solche Genitalblutung ab-
warten, die Menstruation: das Warten erwies sich jedoch
als vergeblich — , so schritt er denn zur beiderseitigen
Bruchoperation: es wurde jederseits ein Hoden nebst
Samenstrang entfernt, keine Spermatozoiden nachgewiesen..
Da die Scheide blind endete und keine Spur eines Uterus
zu tasten war, so kann man natürlich nicht anders als
mit Unglauben dep Angabe der Frau bezüglich jener
regelmäßigen Genitalblutungen gegenübertreten, wie denn
in der Kasuistik des Scheinzwittertums so mancher Fall
sich findet, wo von dem Individuum die Unwahrheit
ausgesagt wurde aus dem oder anderen Grunde. Die
— 214 —
Frau hatte mit ihrem Manne stets im besten Einvernehmen
gelebt. Clark sah keine Veranlassung, dieser Person
Mitteilung von der konstatierten Erreur de sexe zu
machen, umsomehr als sie seiner Zeit Witwe war.
8) Green [„Hypospadias" Quarterly MedicalJournal
1898 Vol. I. pg. 169]. Ein 24jähriges Dienstmädchen
meldete sioh mit der Frage, warum die Periode bei ihm
noch ausstehe? Die Untersuchung ergab Hypospadiasis
peniscrotalis eines männlichen Scheinzwitters mit je einem
Hoden in jeder Schamlefze. Trotz Konstatierung der
Erreur de sexe wollte das Mädchen absolut nichts von
einer Änderung seines bisherigen sozialen weiblichen Standes
wissen und verlangte durchaus die Entfernung der beiden
Hoden. Green folgte dem Wunsche des Mädchens, voll-
zog die Operation de complicit£ und schrieb: „The
question now arrose, as to what should be done, as the
patient in mind and habit is more a woman than a man.
and is illegal for him to remain as he is in female attire,
„he expressed a desire to have the testicles removed and
continue a woman and it seems to me, that is the best
Solution of the difficulty". — Die mikroskopische Unter-
suchung ergab, daß normal funktionierende Hoden entfernt
worden waren. Nach Entlassung aus dem Hospital nahm
diese Person sehr bald wieder einen Dienst als Dienst-
mädchen an. Green hatte dieses Individuum kastriert
„at his own urgent request!"
9)Griffith[„ Hermaphroditismus transversus virilis"
Journal of Anatomy and Physiology. January 1894] be-
schrieb ein 23jähriges Individuum mit weiblichen Brüsten,
weiblichem Mons Veneris und blind endender Scheide.
Man tastete in der Beckenhöhle ein Gebilde, das man
für einen Uterus ansah mit zwei seitlichen Gebilden und
tastete auch zwei Gebilde in den Schamlefzen, die exstir-
piert, sich als Hoden erwiesen. Cremasterreflex beider-
seits ausgesprochen, aber keine Samenstränge getastet.
— 215 —
10) Groß [MonthlyJourn.forMedicalSciences. Dezeni
ber 1852-Referat: Casper's Vierteljahrschrift 1853 ü|
pg 268: „Ein Fall von Hermaphroditismus mit Castrationl
Osterlen gibt im III. Bande des von Maschka herausi,
gegebenen Handbuches der gerichtlichen Medicin (pg 83jj
folgende Einzelheiten dieses Falles an: Ein dreijähriges!
Kind, als Mädchen erzogen, verriet schon vom zweiten!
Lebensjahre an knabenhafte Neigungen und Liebhabereien.
Statt einer Clitoris fand sich ein Penis, statt einer Scheide
eine seichte mit Schleimhaut ausgekleidete Grube ohne
irgend eine Öffnung in der Tiefe. Harnröhrenöffnung
normal weiblich, kleine Schamlippen kümmerlich gebildet,
jede Schamlefze enthielt ein härtliches Gebilde, einen wohl-
gestalteten Hoden. Groß fragte sich, ob es nicht richtig
sei, diese Gebilde zu entfernen, welche im geschlechtsreif en
Alter Geschlechtstriebe hervorrufen könnten und eventuell
eine Verheiratung herbeiführen, aus der nur Kummer
und Verdruß resultieren werde, ja sogar der Tod. Dem-
gemäß entfernte er im Einverständniß mit den Eltern
diese Gebilde, die Hoden und Samenstränge, am 20. Juli
1849 unter Assistenz zweier Kollegen. Diese Organe
erwiesen sich als normal gebildet. Von dem Moment der
Operation an soll das Kind sein Gebahren geändert haben
und fortan nur weibliche Neigungen aufgewiesen haben,
die auch nach zwei Jahren noch weibliche geblieben
waren. Das Kind macht mit Vorliebe weibliche Hand-
arbeiten, reitet nicht mehr auf dem Spazierstocke seines
Vaters und spielt nicht mehr mit Knaben. Osterlen
unterzog das Vorgehen des amerikanischen Kollegen unter
Paragraph 224 D. S. G. der österreichischen Gerichts-
ordnimg — als „Beraubung der Zeugungsfähigkeit" des
deutschen Strafkodex und unter Paragraph 169, welcher
Gefängnisstrafe verlangt „für vorsätzliche Veränderung
oder Unterdrückung des Personenstandes eines Anderen".
— C asper verurteilt ebenso das Vorgehen von Groß,
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so wurden sie abgetragen. Bei der Operation hatte ni^
auch den Samenstrang gefunden. Linkerseits lag dl
Hoden noch im Leistenkanale. Da die Extraktion ai^
demselben nicht gelang, stieß Heuck den Hoden in di^
Bauchhöhle hinein und vernähte die gesetzte Wunde!
Kurz darauf kamen jedoch die Beschwerden linkerseits,
wieder. Heuck wiederholte linkerseits die Operation!
und entfernte jetzt auch den linken Hoden. Nach Aus-1
sage der Mutter der Patientin sollen beide Brüche bereits ]
im ersten Lebensjahre entstanden sein und zwar infolge
von Hustenanfällen. Dieses Mädchen hatte bereite mehrere
Male mit Männern kohabitiert, aber dabei niemals ein
angenehmes Gefühl empfunden. Niemals Menstruation
oder Tormina menstrualia. Allgemeinaussehen und ebenso
der Gesichtsausdruck weiblich. Langes weibliches Haupt-
haar, aber Kehlkopf und Stimme männlich. Mammae
mäßig entwickelt, Hände groß. Fast gar keine Scham-
behaarung vorhanden. Mons Veneris fettarm, die kärglich
entwickelten großen Schamlippen bedeckten nicht die
kleinen, Clitoris von normaler Größe, die Harnröhre öffnete
sich im Scheiden vorhofe. Keine Prostata zu tasten,
Hymenaireste vorhanden, die Vagina läßt zwei Finger
zugleich 7 Centimeter tief ein und endet in der Tiefe
blind. Sehr deutlich tastete man ein Ligamentum vesicoum-
bilicaie medium. Per rectum tastete man etwas wie eine
Duplikatur des Bauchfells jederseits von der Mittellinie.
Der rechte Hoden war 5 Cent, lang und zwei und einen
halben Cent, dick, der Nebenhoden anderthalb Cent, breit.
Der linke Hoden makroskopisch einem Ovarium ähnlich
war 5 Cent, lang und zwei Cent, breit, der Nebenhoden
zwei Cent. lang. Vasa deferentia wurden nicht gefunden.
13) Jablonski [Un caso di ermafroditismo n Bolletino
delle levatrice" 23 Maggio 1893 Anno. I Fascicolo 5 pg.
228]: Die 28jährige AnnaLuiseG. hatte eine weibliche
Erziehung erhalten. Im Alter von 16 Jahren erschien
— 218 —
bei ihr männlicher Bartwuchs, die Periode aber wurde
vergeblich erwartet und kam überhaupt nicht. Die drei
Centimeter lange Clitoris wurde sub erectione 10 Cent,
lang (!) Die rechte Schamlefze enthielt ein hoden artiges
Gebilde. Vor 8 Jahren hatte man linkerseits eine Hernio-
tomie vollzogen und nach Angabe der Patientin damals
eine Ovarialektopie konstatiert. Nach Ansicht von
Jablonski hatte man den Hoden für ein ektopisches
Ovarium angesehen, trotzdem bei der Operation die Ge-
schlechtsdrüse bloßgelegt worden war. Ob eine mikrosko-
pische Untersuchung der vor 8 Jahren in Brüssel ent-
fernten Geschlechtsdrüse seiner Zeit vorgenommen wurde,
ist nicht bekannt. Falls Jablonski wirklich einen Hoden
tastete, so dürfte wohl auch jenes ektopische Ovarium
einfach ein Hoden gewesen sein.
14. Dixon -Jones [„Double inguinal Hernia in a
hermaphrodite" — Medical Record XXXVIII — 27.
XII. 1890 pg. 724]: Die 27jährige Emma M. meldete
sich am 2. December 1888 wegen bisheriger Amenorrhoe
und beiderseitigen Leistenbruches, beiderseits sehr stark
empfindlich. Weder jemals Tormina menstrualia noch
vicariirende Blutungen. Von 7 Schwestern der Patientin
sollen zwei ebenso wie sie mißgestaltet sein, bei einer der
Schwestern hatte Dr. Webber Mangel des Uterus und
Amenorrhoe konstatiert. Allgemeinaussehen, Stimme und
Brüste weiblich. Die Schamteile weiblich gebildet, aber
wie in der Entwickelung zurückgeblieben. Clitoris
kleiner als normal — !!!!!!! — Scheidenöffnung sehr
eng, Hymen vorhanden. Die Scheide endet in der Höhe
von zwei Zoll blind. Weder Uterus noch Tuben oder
Ovarien getastet per vaginam oder per rectum. Kleine
härtliche Gebilde in den beiden Schamlefzen wurden für
die ektopischen Ovarien angesehen; sie waren äußerst
druckempfindlich und ließen sich nicht in die Bauchhöhle
zurückdrängen. Schmerzen in beiden Leistengegenden.
Nach Einschnitt in die Schamlefzen fand man keiii
Kommunikation der Bruchsäcke mit der Bauch höhl*
Man fand nur jederseits je einen bindegewebigen Strang
von dem in der Schamlefze enthaltenen Gebilde nach deni
Leistenkanale zu verlaufend. Dixon fügte den Bauch4
schnitt hinzu, indem er in der Linea alba einschnitt, um\
sich zp überzeugen, ob er bei Entfernung der in den!
Schamlefzen enthaltenen Gebilde nicht Organe, welche \
in der Bauchhöhle liegen, beschädigen würde, fand aber \
in der Bauchhöhle auch nicht die Spur von inneren weib- \
liehen Genitalorganen, sondern nur jederseits einen Binde-
gewebsstrang vom Leistenkanal in die Beckentiefe
verlaufend. Er schloß also die Bauch wunde und exstirpierte
die in den Schamlefzen enthaltenen Gebilde, welche sich
als Hoden erwiesen. Das Becken war weiblich. Dixon-
Jones vermutet gleich mir, daß in vielen Fällen von
Ovariocele wahrscheinlich Erreurdesexe bestehe, also
ein Hoden des männlichen Scheinzwitters, der irrtümlich
als Mädchen erzogen wurde, irrtümlich für ein ektopisches
Ovarium angesehen wurde. Ich habe die bisherige
Kasuistik angeblicher Ovarialektopie bereits gesammelt,
jedoch noch nicht die Zeit gefunden, dieselbe einer Kritik
zu unterwerfen, jedoch, was noch nicht geschehen ist,
wird geschehen, sobald es meine Zeit erlaubt. —
DixonJones vollzog in seinem Falle die Kastration,
nachdem er zuvor einen diagnostischen Leibschnitt dem
beiderseitigen Leistenschnitte hinzugefügt hatte, ähnlich
wie auch Snegirjow und P£an in je einem Falle.
15. Kociatkiewicz-Neugebauer: Dr. Kociat-
kiewiez bat mich für den 13. VII. 1897 zu einem
Konsilium betreffend ein junges Mädchen von 21 Jahren,
Josephine K. Das Mädchen hatte sich in Begleitung
seines Vaters und Bräutigams im Hospital gemeldet und
verlangte eine operative Entfernung der Gebilde, welche
in den Leisten vorhanden seien und ihm Schmerzen
— 220 —
bereiten. Allgemeinaussehen weiblich, große, weibliche
Brüste, dabei hängend, weibliche Stimme, weibliche
allgemeine und Schambehaarung, weiblicher Charakter
und weibliches geschlechtliches Empfinden.
Diese Beobachtung kommt auf Konstatierung einer
erreur desexe heraus, bei einem als Mädchen erzogenen
und mit einem Manne verlobten männlichen Scheinzwitter
von 21 Jahren — die Kastration durch Dr. Kociatkiewicz
vollzogen ergab normale Hoden mit normalem Sperma. —
Die Einzelheiten habe ich in meinem Aufsatze im vorigen
Jahrgang dieses Jahrbuches bereits veröffentlicht.
16. Lannelongue: [Siehe Fieux: „Anomalie du
däveloppement des Organes g^nitaux" — Journal de
M&lecine de Bordeaux — 1871 — Jpg. 502], Lannelongue
vollzog eine Operation bei einem jungen Mädchen wegen
Schamlefzentumors, welchen er zunächst wegen vorhandener
Fluktuation für eine Cyste angesehen hatte: es lag auf
derselben Seite ein Leistenbruch vor. Zwischen der Cyste
und dem Bruchsacke fand sich sub operatione eine Gebilde,
das sich unter dem Mikroskop als Hoden erwies, also
„erreur de sexe"! Keine Spur eines Uterus getastet.
In dem Bruche fand sich auch ein Teil des Omentum
majus. — Die Operierte genas. Vulva normal, weiblich,
ebenso Brüste und Gesichtsausdruck. Niemals Regel,
Scheide in der Tiefe blindsackartig geschlossen. Bei Druck
auf die Gegenden, wo normal die Ovarien liegen, große
Empfindlichkeit.
17. Levy [„Ueber ein Mädchen mit Hoden und
über Pseudohermaphroditismus* Hegaus Beiträge zur
Geburtshülfe und Gynäkologie. Leipzig 1901 Bd. IV.
Heft III pg. 347 — 360] beschreibt zwei Beobachtungen
von Scheinzwittertum aus der Tübinger Klinik, eine davon
betrifft eine von Döderlein an einem Mädchen aus-
geführte Castration — es wurden die Hoden entfernt
durch Leistenschnitt. Die 19jährige Näherin Ch. L.
— 221 —
trat in die Klinik ein wegen Beschwerden, welche hei
vorgerufen wurden durch von ihr bemerkte Tumorei
Bis jetzt hatte Patientin weder jemals die Regel noci
auch Tormina menstrualia gehabt. Als sie 15 und cii
halbes Jahr alt war, bemerkte sie zum ersten Male in dei
rechten Leistenbeuge ein Knötchen von Kirschengrössei
welches damals noch keine Schmerzen veranlasste. In den!
letzten zwei Jahren jedoch wurde dieser Knoten immer 1
mehr schmerzhaft, gleichzeitig bemerkte Patientin ein
ebensolches Gebilde in der anderen Leiste. Endlich wurde
Patientin infolge dieser steten Schmerzen arbeitsunfähig,
sie hatte früher in einer Druckerei gearbeitet, später als
Näherin. Ein von ihr konsultierter Arzt hatte ihr eine
Salbe zum Einreiben verschrieben, zugleich aber ihr die
Weisung gegeben, sie solle niemanden etwas davon sagen,
„daß sie solche Dinger im Leibe habe!" Der All-
gemeinzustand der Patientin wurde in der Folge immer
schlimmer, Erbrechen trat hinzu, sehr hartnäckige Ver-
stopfung etc., endlich gestand die Tochter der Mutter
ihr Leiden ein und die letztere veranlasste die Auf-
nahme in die Tübinger Klinik behufs Entfernung jener
schmerzhaften Gebilde in den Leisten. Das Mädchen ist
von großem Wuchs, 168 Centimeter, aber so abgemagert,
daß es nur 84 Pfund wiegt. Knochen und Muskelsystem
schwach entwickelt, zart, Haupthaar lang, keine Spur von
männlicher Gesichtsbehaarung , Kehlkopf vorspringend,
männlich, Brüste gut entwickelt, Becken weiblich wie
das Röntgenskiagramm erwies. Jederseits in der Leisten-
gegend ein walzenförmige» elastisches Gebilde, verschieblich
vom Leistenkanal zur grossen Schamlefze herabreichend.
Diese Gebilde machen den Eindruck von Hoden und
Nebenhoden; die linksseitigen Gebilde sind grösser als
die rechtsseitigen. Schambehaarung weiblich, grosse und
kleine Schamlippen existieren. Die linke grosse Scham-
lippe ist 11 Centimeter lang, die rechte nur 6. Das linke
— 222 —
labium pudendi majus, pigmentirt, macht wegen seiner
runzeligen Oberfläche mehr den Eindruck einer Scrotal-
hälfte. Die Gebilde in den Leistengegenden lassen sich
aber nicht in die Bauchhöhle hineindrängen. Frenulum
labiorum vorhanden. Die kirschengrosse Clitoris erinnert
an einen penis fissus rudimentarius. Harnröhrenöffnung
weiblich, unterhalb die Öffnung der Vagina von einem
Hymenal8aume umgeben. Die rudimentäre Vagina
läßt eine Sonde vier Zentimeter tief eindringen. Per rectum
tastete man selbst unter Narkose weder einen Uterus
noch dessen Anhänge. Döderlein vermutete männliches
Scheinzwittertum und entfernte wegen deren S^hmerzhaf-
tigkeit die in den Leistengegenden liegenden Gebilde am
13. Januar 1901 mit dem Ligamentum Poupartii parallel
verlaufenden Hautschnitten von je 5 Centime ter Länge.
Nach Durchschneid ung der Hautdecken und der Fascie,
der Mm. obliqui externi abdominis, eröffnete das Messer
jederseits eine Höhle, die nicht mit der Bauchhöhle
kommunicierte, die Höhle der Tunica vaginalis. Man
fand jederseits Hoden und Nebenhoden und Vas deferens.
Der Samenstrang wurde unterhalb der Oeffhung des
Leistenkanals jederseits durchtrennt und der Stumpf in
den Leistenkanal in der Wunde versenkt unter Vernähung
mit dem Muskelrande, die Hautdecken wurden darüber
geschlossen. Prima reunio vulnerum. Die Kranke, ein
kastrierter männlicher Scheinzwitter, irrtümlich als Mädchen
erzogen, verließ nach einem Monate, von ihren Beschwer-
den befreit, die Klinik, um nunmehr als Mädchen weiter zu
gelten. Der linke Hoden war 6 Centimeter lang und 2
breit, anderthalb dick, der rechtsseitige Hoden etwas
kleiner. Auf dem Durchschnitte typischer Hodenbau
sichtbar; man fand aber in der ausgepressten Flüssig-
keit keine Spermazoiden aber Wucherung des interstitiellen
Gewebes an einen rudimentären Hoden erinnernd. Man
fand ferner Spermatogonien, Spermatocyten, cylindrisches
223
Epithel des Sainenausführungsganges etc. Nirgends einl
Spur von Ovarialgewebe in den exstirpierten Gebilden
deren Schnitte von Professor Hei den hain geprüft wurden^
Die Maße der einzelnen Knochen mit der Tabelle vor
Rauber verglichen, ergaben männliche Knochenmaße. Diel
Geschlechtsdrüsen und die Maße der Knochen waren inj
diesem Falle männlich, alle sekundären Geschlechts-
charaktere aber weiblich mit Ausnahme des Kehlkopfes
und der Stimme. Der Charakter war weiblich, sympatisch.
Die Beschwerden waren offenbar die Folgen eines ver-
späteten Descensus testiculorum. Soweit eine Ejakulation
möglich war, hätte dieses Individuum eventuell ein weib-
liches Individuum befruchten können.
18) August Martin [siehe: Kochenburger:
„Ein Fall von Hermaphroditismus transversus
virilis" Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie.
Vol. XXVI. pg. 73 und Zentralblatt für Gynäkologie
1892 pg 983] operierte eine 33jährige, seit 10 Jahren
verheiratete Frau, welche ihn wegen Schmerzen in den
Leistengegenden konsultiert hatte. Die Schmerzen waren
zunächst linkerseits aufgetreten und zwar im Anschluß
an einen Fall im 12. Lebensjahre. Niemals ßegel, nur
ein einziges Mal im 25. Lebensjahre eine kleine Blutung.
Coitus stets schmerzhaft und ohne die geringste Annehm-
lichkeit für die Patientin. Allgemein aussehen ganz weib-
lich. Clitoris normal, Vagina 5 Cent, lang, blindsack-
förmig endend. Per rectum tastete man ein elastisches
Gebilde von Haselnußgröße, welches aber in keiner Ver-
bindung mit der Vagina zu stehen schien. In jeder
Schamlefze lag ein sehr druckempfindliches Gebilde.
Martin sah diese Gebilde für ektopische Ovarien an
und entfernte sie operativ mit jederseitigem Leistenschnitte
am 24. September 1892. Das Mikroskop erst erwies,
daß er unbewußt Hoden entfernt hatte, daß also diese
verheiratete Frau ein männlicher Scheinzwitter war. Keine
■— 224 —
Spermatogenese konstatiert in den herausgeschnittenen
Hoden.
Martin glaubte auch nach der Operation zunächst
ektopische Ovarien exstirpiert zu haben und zwar
follikelhaltige, ja, er glaubte sogar an einer Stelle ein
corpus luteum gesehen zu haben; erst das Mikroskop
wies nach, daß sowohl die klinische Prasumptivdiagno.se
falsch war als auch die makroskopische Beurteilung des
anatomischen Charakters der exstirpicrten Geschlechts-
drüsen.
19) A. Martin [siehe: Anton Hengge: „Pseudo-
hermaphroditismus und secundäre Geschlechtscharaktere,
ferner drei neue Beobachtungen von Pseudoherraaphro-
ditismus beim Menschen"] operirte die 19jährige Martha
W., Hausmädchen dem Berufe nach. Die Eltern hatten
6 Kinder, von denen die vier mittleren normal gebildet
waren, zwei Töchter aber, die älteste jetzt 32 Jahre alt,
und die jüngste jetzt 19 Jahre alt, mißgestaltet. Der Vater
starb an Starrkrampf. In der Familie bisher keinerlei
Mißbildungen verzeichnet. Von den drei Schwestern
sind drei verheiratet und haben Kinder, ein Bruder,
verheiratet hat ebenfalls Nachkommenschaft. Martha W.
ist von sehr hohem Wüchse (178 Centimeter) und wurde
von der Krankenkasse am 28. I. 1902 in die Greifswalder
Klinik gesandt. Seit dem 14. Lebensjahre hatte sie alle
4 Wochen 1 Tag Kopfschmerzen, Schwindel, Brechreiz
und bis Oktober 1901 bei diesen Anfällen regelmäßig
etwas Nasenbluten. Seit vier Monaten treten diese Anfälle
alle 8 Tage auf und sind so sehr quälend, daß Martha
nicht mehr arbeitsfähig war. Das Nasenbluten hat sich
seit vier Monaten verloren. Niemals menstruelle Blutung.
Patientin hat keine andere Krankheit bisher durchgemacht
als Bleichsucht im 15. Jahre.
Das Gesicht rötet sich auffallend leicht. Mammae
gut entwickelt, aber hängend. Wenig Fettgewebe, aber
viel Drüsengewebe darin. Auffallend ist, daß die Be-
haarung des Mons Veneris und in den Achselhöhlen nur
aus wenigen blonden Haaren besteht. Die Besichtigung
der äußeren Genitalien erinnert
an das Bild einer doppelseitigen
Leistenhernie, wobei die rechts-
seitige etwas größer ist als die
linksseitige, sonst ist die Bildung
der Scham eine echt weibliche.
Mons Veneris fettarm, Clitoris
absolut nicht vergrößert, ihre
Glans kaum etwas entblößt. Die
Vulv aerscheint geschlossen, die
kleinen Schamlippen enden nach
unten zu an dem auffallend
kurzen Damm. Das rechte
Labium majusj erscheint als
hühnereigroßer Wulst, in dem
man einen pflaumengroßen
elastischen ovalen Körper tastet,
dem von untenher ein zweites
festeres Gebilde von Kastanien-
größe anhaftet: von diesen Ge-
bilden, die gleich gut nach oben
und nach unten zu verschieblich
sind, zieht ein etwa zwei Milli-
meter dicker Strang in den
Leistenkanal hinauf. Das linke
Labium majus kleiner, nicht so „. - -.n-u • m..jä.a
J / Fig. 1. 19jahnges Madchen,
vorgewölbt, linkerseits findet sub herniotomia ais männ-
sich dicht unterhalb der Mün- licher Scheinzwitter erkannt,
düng des Leistenkanales ein
wenig unter der Haut verschiebliches, unebenes Gebilde
von der Größe einer welschen Nuß. Auch hier läßt sich
ein gegen den Leistenkanal hin verlaufender Strang tasten,
Jahrbuch V. 15
— 226 —
wenn mau diese Gebilde etwas nach unten herabdrängt.
Die beiden Gebilde rechts und links sind mäßig druck-
empfindlich. Vestibulum vaginae normal, sowie auch die
Urethralmündung, Hymen und die Vaginalöffnung;
Hymen nicht eingerissen, aber deflorirt; die Scheide läßt
zwei Finger zugleich ein und ist in der Höhe von einigen
Fig. 2. Äußere Genitalien eines 19 jähr, als Mädchen erzogenen
männlichen Scheinzwitters. Beobachtung von A. Martin.
Centimetern blind geschlossen ; man fühlt im Scheidengrunde
etwas wie eine Art querverlaufender Raphe. Mündungen
von Vasa deferentia nicht aufzufinden. Per rectum tastet
man sub narcosi nur einen Strang von der Dicke eines
dünnen Bleistiftes, etwa zwei Centimeter über dem
Scheidengrunde. [Siehe Fig. 1 u. 2.]
— 227 —
Nach diesem merkwürdigen Befunde wurde
die allere Schwester untersucht: 32 Jahre alt und
9 Jahren kinderlos verheiratet und niemals menstr
Allgemeinaussehen und Entwickelung der Geschlec.
organe fast genau so wie bei der jüngeren Schwes
Kräftiger Knochenbau; Körperhöhe 169 Zentimet
schlechter Ernährungszustand. Im rechten Labium ma
Gebilde getastet, die sich genau wie Hode und Nebe
hode präsentieren, links liegt ein Gebilde vor der Oei
nung desLeistenkanales, ist aber kleiner als das entsprechenc
bei der jüngeren Schwester und läßt sich in den Leister
kanal hineinschieben. Scheide in der Höhe blind geschlossen
im Scheidengrunde etwas wie eine schräg verlaufene Rapht
zu tasten; keine inneren Geschlechtsorgane tastbar. Du
ältere Schwester klagt nur ab und zu über Kopfschmerzen
und Schwindel, ist sonst ganz gesund. Sie übt den
Beischlaf nicht gerade oft, aber regelmäßig aus und
eigentlich mehr dem Manne zu Gefallen als um des eigenen
Vergnügens willen, doch empfindet auch sie manchmal
dabei Befriedigung und sexuelle Wollust. Irgend welche
Sekretausscheidungen niemals bemerkt. Wegen andau-
ernder Allgemeinbeschwerden und großer lokaler Schmerz-
empfindlichkeit der in den LaBien enthaltenen Ge-
bilde entfernte A. Martin dieselben operativ bei
der jüngeren Schwester. Nach Längsspaltung des rechten
Labium entfernte er dessen Inhalt nach— Unterbin-
dung und Durchschneidung jenes Stranges unterhalb
desLeistenkanales: Etagennaht der Wunde : prima reunio;
ähnlich war die Operation linkerseits. Die entfernten
Gebilde erwiesen sich unter dem Mikroskop als Hoden
und Nebenhoden, es wurde aber keine Spermatogenese
konstatiert. Diese Organe waren atrophisch. Linkerseits
fand sich eine Cyste im Kopfe des Nebenhodens, sein
Schwanz war fibrös entartet. Am 21. IL wurde Martha W.
geheilt entlassen. Während des Aufenthaltes in der
15*
— 228 —
Klinik traten die Wallungen nach dem Kopfe noch
wiederholt auf, dagegen stellten sich die sonstigen
Allgemeinbeschwerden nicht mehr ein. Rechterseits fand
man am Präparate auch ein Stück eines Vas deferens.
Es ergab sich also, daß Martha W. ein männlicher
Scheinzwitter war; per analogiam wurde auch die ältere
verheiratete Schwester jetzt für einen männlichen Schein-
zwitter angesehen; sie wurde nicht operiert, da keine
Beschwerden entsprechender Art vorlagen. Trotz Gegen-
wart von Hoden waren alle secundären Geschlechts-
charaktere bei beiden Schwestern rein weibliche, auch
die Stimme war weiblich, es fehlte jede Spur männlicher
Gesichtsbehaarung. Beide hielten sich für Frauen und
hatten keinen ausgesprochenen Begattungstrieb und wohl
auch kein normales Wollustgefühl, doch ließ sich bei der
älteren Schwester durch Reibung der Clitoris Wollust-
gefühl wecken; die jüngere Schwester machte dabei
unregelmäßige Angaben, zeigte aber ein gut ausgeprägtes
Schamgefühl. Eigentümlich sind bei der jüngeren Schwester
die allmonatlich auftretenden specifisch weiblichen Be-
schwerden: Kopfschmerz, Schwindel, Wallungen. Hengge
erklärt sich diese Beschwerden als auf suggestivem Wege
entstanden. Martha 'lebte mit einer vier Jahre älteren
noch unverheirateten Schwester längere Zeit ständig
zusammen. Jene Schwester litt an Dysmenorrhoe und
klagte dabei alle vier Wochen über starke Molimina,
Unterleibsschmerzen etc. Die jüngere Schwester erwartete,
sie werde auch die Regel bekommen und fing an ähnliche
Tormina zu empfinden, indem ihre Gedanken ständig
darauf gerichtet waren, daß die Periode endlich kommen
werde. Mir erscheint diese suggestive Deutung etwas
gewagt: weil die ältere SchwTester dysmenorrhoische
Beschwerden angab, die jüngere Schwester stets Zeugin
dieser Leiden war, soll sie selbst ähnliche Beschwerden
empfunden haben ! Hengge macht unter anderen folgende
z\
— 229 —
Schlußfolgerung: »Die operative Entfernung der
schlechtsdrüsen bei Scheinzwittern ist nur dann statt
wenn durch dieselben starke Beschwerden verurs
werden und zugleich eine volle geschlechtliche Funk
dieser Drüsen durch den Mangel der entsprechen
Begattungsorgane unmöglich gemacht wird." — In d
Aufsatze von Hengge fehlt eine Angabe, die m
interessieren würde. Ich wünschte zu wissen, ob Profes*
Martin zur Operation schritt mit der Überzeugung, di
jene Körperchen Hoden seien oder ob man an ektopiscl
Ovarien gedacht hatte, ob die Diagnose der erreu
de sexe schon vor der Operation gestellt war, oder ers
nach der Operation, bez. nach der mikroskopischen Unter
suchung der entfernten Gebilde?
20) CristopherMartin [The British Gynaecological
Journal. Part. 37. May 1894. pg 35] trug am 8. III. 1894
in der Britischen Gynäkologischen Gesellschaft einen Fall
vor, welcher beweist, wie ungemein schwierig unter Um-
ständen eine richtige Geschlechtsbestimmung sein kann.
Ein 20 jähriges Kindermädchen, niemals menstruiert, hatte
sich vor 12 Monaten wegen rechtsseitigen Leistenbruches
einer Radikaloperation unterzogen. Die Operation war
mit bestem Erfolge von einem anderen Arzte gemacht
worden. Jener Arzt fand in dem Bruche ein Gebilde,
welches er für ein ektopisches Ovarium ansah und in
die Bauchhöhle zurückstieß. Im Januar 1894 war nun
auch linkerseits ein Leistenbruch entstanden. Diesmal kam
die Patientin nicht zu dem früheren Arzte, sondern zu
Christopher Martin und zwar sowohl wegen Schmerzen
in der Leiste als auch beunruhigt durch die bisherige
Amenorrhoe. Gesichtsausdruck, Stimme und Brüste weib-
lich, auch das Allgemeinaussehen weiblich, keine Spur
männlicher Behaarung im Gesichte. Mons Veneris aus-
gesprochen, aber ohne Spur von Behaarung, ebenso die
ganze Schamgegend unbehaart. In der rechten Leisten-
— 230 —
gegend sieht man eine postoperative Narbe ohne Spur
Recidiv eines Bruches. Linkerseits in der Leistengegend
ein ovaler nicht sehr harter sehr druckempfindlicher
Tumor. Dieser Tumor lag direkt vor der äußeren Öffnung
des Leistenkanales, war irreponibel und schien ein solider
Tumor zu sein. Das äußere Genitale dieser Person sah
genau aus wie dasjenige einer Nullipara. Große und
kleine Schamlippen regelrecht gebildet, Clitoris von natür-
licher Größe, keineswegs einem Penis ähnlich! Harnröhren-
öffnung weiblich. Die Scheide ließ nur eine Fingerkuppe
ein, indem sie in der Höhe von dreiviertel Zoll blind
abschloß. Keine Spur von Uterus zu tasten. Harnröhre
anderthalb Zoll lang, ohne Spur einer Prostata. Zwischen
Finger und Katheter in Vesica tastete man keinerlei Ge-
bilde, die als Uterus oder Prostata gedeutet werden
konnten. Martin entschloß sich zur Exstirpation des
Leistentumors wegen der großen durch seine Gegenwart
verursachten Schmerzen. Der Leistenschnitt wurde ge-
macht; man fand einen serösen Sack, der ein solides Ge-
bilde enthielt, einen ovalen Körper, man fand den Hoden
mit seiner Tunica vaginalis testis. Ein deutlich sichtbares
Gubernaculum Hunteri verlor sich unterhalb in den
Geweben der Schamlefze. Nach Isolierung entfernte
Martin den Hoden. Der durch den Leistenkanal in
die Bauchhöhle eingeführte Finger tastete in derselben
keine Spur eines Uterus, konnte aber den Verlauf eines
Vas deferens bis an die Seitenwand der Harnblase ver-
folgen. Dieser Verlauf ließ sich leicht kontrollieren, wenn
man den Samenstrang etwas nach außen zu anzog. Die
Operation wurde radikal vollzogen, die äußere Wunde
vernäht. Genesung. Professor Allan fand bei mikro-
skopischer Untersuchung in den entfernten Gebilden den
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang, die Tunica vaginalis
testis und Tunica albuginea, Samenkanälchen von ver-
schiedenen Entwickelungsgraden und in einigen Tubuli
— 231 —
vollständig ausgebildete Spermatozoiden. Interessant wa:
besonders, daß eine ältere Schwester dieses Mädchen!
sich gleichfalls als männlicher Hypospade erwies mit Hypo-
spadiasis penoscrotalis, descensus retardatus testiculorum
rudimentärer Scheide bei allgemeinem weiblichem Körper-
aussehen, kindlich gebildeten Brüsten und absoluter
Amenorrhoe, völlig unbehaarten Genitalien und blind
endender Scheide. Diese Schwester war zwei Jahre älter.
Der Vater dieser beiden Mädchen war zur Zeit der
Schwängerungen seiner Frau geisteskrank . . Die von
Christopher Martin vollzogene Operation wies also
eine „erreur de sexe" nach und ist diese Beobachtung
besonders dadurch interessant, daß der Arzt, welcher die
erste Bruchoperation hier vollzogen hatte, sogar nach
Bloßlegung des Hodens ihn doch noch für ein ektopisches
Ovarium gehalten hatte, welches er in die Bauchhöhle
zurückstieß. — Ein Fall, der wie aus meinem heutigen
Beitrage ersichtlich ist, durchaus nicht einzig dasteht
und zur größten Zurückhaltung in der sofortigen Be-
urteilung des anatomischen Charakters der exstirpierten
Gebilde sub operatione auffordert!
[Paul Mund 6 hatte in einem eigenen Falle der
Köchin Marie O' Neill eine diagnostische Incision
der Schamlefzen vorgeschlagen um festzustellen, ob die
in ihnen getasteten fremden Gebilde Ovarien oder Hoden
seien, indem er Hoden vermutete. Patientin ging jedoch
auf diese Operation nicht ein. Sie war niemals menstruiert
gewesen, und hatte einen beiderseitigen Leistenbruch.
Nach Reduction eines jeden Bruches tastete man jederseits
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang; Hymen intakt.
Scheide in der Höhe von 8 Zentimeter blind geschlossen,
keine Spur von Uterus getastet. — Vulva normal, Clitoris
nicht vergrößert.]
21) Pech („Auswahl einiger seltener und lehrreicher
Fälle, beobachtet in der chirurgischen Klinik der chirurg.-
— 232 —
med. Akademie zu Dresden* — Dresden 1858) Maria
Rosina Göttlich, der spätere Gottlieb Göttlich,
machte seiner Zeit in ganz Europa viel Aufsehen und
wurde deshalb vielfach beschrieben. Da ich im vorigen
Jahrgange dieses Jahrbuches die bezügliche Kranken-
geschichte in extenso berichtet habe, führe ich hier nur
die heute in Frage kommenden Einzelheiten an. Maria
Rosina wurde am 6. März 1798 in Görlitz geboren und
als Mädchen getauft. Bereits im 6. Lebensjahre fand man
einen Leistenbruch von der Größe einer Nuß rechterseits.
Das Kind vertrug ein ihm verordnetes Bruchband absolut
nicht und riß es stets wieder herab, sodaß die Mutter
statt desselben eine Leinen binde anfertigte. Im lti. Jahre
war der Bruch hühnereigroß geworden, gleichzeitig hatte
sich schon damals ein stark ausgesprochener Geschlechts-
trieb eingestellt und zwar als Neigung zum Geschlechts-
verkehr mit Männern. Vom 16. — 18. Jahre nahmen die
Brüste ganz bedeutend an Umfang zu, später trat wieder
Schwund ein. Eosina kohabitierte schon im 16. Jahre
lebhaft mit Männern, wobei die allmälig bedeutend
erweiterte Harnröhre die Stelle der fehlenden Scheide
vertrat. Gleichzeitig rühmte sich das Mädchen, daß es
sowohl mit Männern als auch mit Frauen kohabitieren
könne, ziehe es jedoch vor mit Männern zu tun zu haben,
weil es Frauen gegenüber für sie beschämend sei, ein so
kleines „Organ* zu haben. Im 20. Lebensjahre entstand
ein Leistenbruch links. Für den rechtsseitigen Bruch
empfahl abermals ein Arzt ein Bruchband. Vom 16. — 24.
Jahre hatte Rosine alle Monate etwa drei Tage lange
diverse Beschwerden nach Art der Tormina menstrualia,
allgemeines Mißbehagen, empfand jedoch während dieser
Zeit keinerlei Schmerzen in den Leistenbrüchen, ebenso-
wenig schwollen in jenen Tage die Brüche an, woraus
man vielleicht auf ektopische Ovarien hätte schließen
können. Niemals war die Periode eingetreten, wohl
— 283 —
aber öfters Nasenbluten. Rosine huldigte viele Jan
lang der freien Liebe und erkrankte im 28. Jahre i
einem Ulcus molle; eine große Narbe hinterblieb nac
einem eröffneten Bubo inguinalis. Damals will Rosin
zum ersten Male Blutspuren auf ihrer Wäsche nach einei
Beischlafe mit einem Manne bemerkt haben. Der links
seitige Bruch begann vom 28. Jahre an sich so zu ver
größern, daß er im 32. Jahre beinahe zweifaustgroß war
Rosine diente damals als Dienstmädchen, hatte abei
jetzt so starke Bruchbeschwerden, daß sie den Dienst
aufgeben und in das Hospital eintreten mußte. Man
vollzog in Dresden linkerseits die Bruchoperation, fand
jedoch weder Netz noch Darm im Bruche vor, sondern
nur eine Hydrpcele und konstatierte dabei das Vorhanden-
sein eines Hodens in dem vermeintlichen Bruche, also
„erreur de sexe". Rosine verlangte nun durchaus
die Ausführung der Operation recht erseits: die Aerzte
verweigerten jedoch diese Operation, weil keine Indikation
dazu vorliege. Rosine nahm nun ihren Dienst wieder
auf und ergab sich auch von Neuem wieder der Prosti-
tution. Im 33. Jahre trat sie wegen Verstauchung eines
Beines abermals in das Dresdener Hospital ein und
machte jetzt hier eine antisyphilitische Kur durch, später
ging sie in ein Hospital nach Leipzig, endlich nach Halle
mit der Bitte, man solle den rechtsseitigen Bruch operieren,
wurde aber überall abgewiesen. Von 1832 bis 1848 reiste
nun Rosine in Frankreich, Deutschland und England
umher und zeigte sich für Geld als Hermaphrodit bis
sie schließlich im 59. Jahre infolge Einklemmung des
nicht operierten rechtsseitigen Bruches starb. Das Allge-
meinaussehen dieses männlichen Hypospaden war ein rein
männliches, auch die Gesichtsbehaarung, nur war das
Haupthaar weiblich gekämmt. Andromastie mit behaarten
Brustwarzen, der hypospadische Penis war anderthalb
Zoll lang, mit faltiger, gerunzelter Vorhaut. In der linken
— 234 —
Hälfte des gespaltenen Scrotum fand man bei der Sektion
Hoden, Nebenhoden and Samenstrang, rechterseits die
gleichen Gebilde, ferner einerseits einen Leistenbruch
mit Darminhalt. Hodensack sehr spärlich behaart Die
Scheide, an der Mündung von einem harten Ringe umgeben,
endete in der Höhe von sechs und einem halben Centi-
meter blind. Nur auf der hinteren Scheidenwand fand
man Querfaltung ihrer Schleimhaut, auf der vorderen
aber nicht. Pubes weiblich behaart; es scheint, daß für
den Beischlaf ausschließlich die Harnröhre gedient hat,
vielleicht war das als Vagina angesprochene Gebilde eine
durch langjährigen Beischlaf künstlich geschaffene kanal-
artige Depression, Einstülpung der Gewebe, wie dies in
analogen Fällen schon öfters beobachtet wurde. In den
verschiedenen Beschreibungen der Rosine, des späteren
Gottlieb Göttlich, finden sich so viele Widersprüche,
daß es schwer ist zu sagen, was der Wahrheit am nächsten
kam. Der rechte Hoden war bei dem kr vptorch istisch
geborenen Individuum im 6. Jahre herabgetreten, der
linke im 20. erst. Nach Eröffnung der Bauchhöhle fand
man nichts von Uterus, inneren weiblichen Genitalien,
sondern nur eine leere Excavatio rectovesicalis. Man fand
auch keine Samen blasen; die ektatischen Vasa deferentia
öffneten sich in die klaffenden Ductus ejaculatorii (?— N.).
Marie Rosine hatte wie gesagt einen sehr früh schon
aufgetretenen und sehr stark ausgesprochenen Geschlechts-
drang. Trotzdem sie Erektionen und Ejakulationen hatte,
verkehrte sie viel lieber geschlechtlich mit Männern als
mit Frauen. Das geschlechtliche Empfinden war also
homosexuell. [Bezüglich Einzelheiten und Abbildung
siehe meinen Aufsatz in vorigem Jahrgange dieses
Jahrbuches: Gruppe VI Fall 21 und Figur 40 daselbst.]
■ 22) Philippi [Note sur un cas d'Hermaphrodisme
apparent, ectopie testiculaire, castration double — Union
Medicale du Canada. Montreal 1893 No. 46 — Referat:
— 235 —
Zentralblatt für Gynäkologie 1894 No. 47 pg. 1212]. Eir
28-jähriges nie menstruiertes Mädchen wandte sich ar
Philippi wegen Schmerzen im Leibe und den Leisten
Schon vor 10 Jahren hatte Patientin einen Tumor in dei
rechten Leiste bemerkt, welcher ihr zeitweilig Beschwerden
gemacht hatte und an Grösse und Konsistenz sehr wech-
selte. Gewöhnlich war der Tumor weich, stellten sich
aber Schmerzen ein, so fühlte er sich hart an. Gleich-
zeitig wurde dann ein Gefühl von schmerzhaftem Zuge
in der Leiste empfunden. Vor einigen Monaten war nun ein
ähnlicher aber kleinerer Tumor auch linkerseits erschienen.
Diesen Tumor konnte Patientin eigenhändig nach oben zu
reponieren, beim Gehen fiel er aber sofort vor in die linke
Schamlefze. Seit drei Jahren hatten die Schamlefzen sich
stark vergrössert und strahlten die Schmerzen auch in
den Schenkel und die Hüfte aus. Selbst im Bett hatte
die Kranke keine Linderung und konnte nicht schlafen. Es
kamen allgemeine nervöse Reizbarkeit, Erbrechen etc. hinzu.
Allgemeinaussehen, Brüste und Stimme weiblich,
aber Körperbau sehr kräftig. Die grossen Schamlefzen,
gut entwickelt, sind in ihrer unteren Hälfte in der Aus-
dehnung von 8 Centimern miteinander verwachsen, sodaß
der Damm ganz auffallend lang erscheint^ dabei 5 Centi-
meter breit. Die kleinen Schamlippen sind nur in ihrer
unteren Hälfte entwickelt, die Clitoris ausnehmend groß.
Die Schamöffnung ist so eng, daß sie knapp den kleinen
Finger eintreten läßt und .zwar nicht tiefer als 3 Centi-
meter weit. Die Harnröhrenöffnung erscheint verborgen
unterhalb einer Schleimhautfalte in dem Vestibulum
vaginae. Von einem Uterus war nichts zu tasten, die
in der Höhe blindsackartig abgeschlossene Scheide weist
keine Faltung ihrer Schleimhautwände auf. Der in der
linken Schamlefze enthaltene Tumor läßt sich in den
Leistenkanal hinein und in die Bauchhöhle reponieren,
er bestand aus einer oberen elastischen und einer unteren
— 236 —
weichen Partie. Dämpfung bei Perkussion. Der rechts-
seitige gänseeigroße Tumor läßt sich bis auf den Boden
der Schamlefze herunterdrücken, er erscheiut elastisch
und wie durch eine Einschnürungsfalte in zwei Teile
zerlegt, sehr druckempfindlich bei Berührung und nicht
reponibel. Philipp! entfernte zunächst den rechtsseitigen
Tumor : der dicke Bruchsack wurde reseciert. Der kleine
Tumor war von einer hufeisenförmigen durchsichtigen
Cyste bedeckt von oben her, sein Stiel war dick. Schon nach
einem Monate kehrte die Patientin zu Philippi zurück
und verlangte nunmehr auch die Entfernung der links-
seitigen Geschwulst, welche ihr jetzt auch lästig falle.
P. fand bei der Operation einen Tumor von der gleichen
Größe wie rechterseits durch eine Art Einschnürung wie
zweigeteilt; die obere Hälfte entsprach dem Nebenhoden,
die untere dem Hoden mit dessen Tunica albuginea.
Auf dem Querschnitt des Präparates sieht man den Bau
des Hodens. Das Mikroskop bestätigte diese Erkenntnis,
wenn auch keine Spermatozoiden gefunden wurden. Es
handelte sich also hier um Hypospadie des Penis, teil-
weise Spaltung der Scrotum, Vorhandensein einer rudi-
mentär gebildeten Vagina, und [Descensus retardatus
testiculorum, bei allgemeinem weiblichen Aussehen und
weiblichen secundären Geschlechtscharakteren, wo das
Individuum an und für sich auch nicht den leisesten
Verdacht einer „Erreur de se xe" weckte. Erst das Er-
gebnis der Operation stellte die „ Erreur de sexe" fest.
23) Charles T. Poore [siehe: F. S. Mathews:
„A male Pseudo- Hermaphrodite* -The Medical Record
27. Mai 1899 pg. 764] operierte im Januar 1902 ein
zwölfjähriges Mädchen und entfernte eine angeblich ent-
zündete Leistendrüse. Dieselbe lag linkerseits dicht vor
der äußeren Öffnung des Leistenkanales. Im Jahre 1899,
also nach sieben Jahren, wurde diese damals exstirpierte
Drüse von Mathews mikroskopisch untersucht und jetzt
— 237 —
in der Ärztlichen Gesellschaft demonstriert. Die t
suchung ergab, daß diese Drüse ein Hoden war. 1
ohne große Schwierigkeiten gelang es Mathews, d
Mädchen jetzt aufzusuchen und die Genehmigung zu i
Untersuchung zu erlangen.
Die äußeren Genitalien sahen absolut wie die 1
malen Geschlechtsteile eines 19jährigen Mädchens s
es fand sich aber keine Spur von Behaarung der Geschlech
teile, eben so wenig fand sich im Gesicht männliche I
haarung. Scheide einen und ein Viertel Zoll lang. Kei
Spur von Uterus oder Prostata zu tasten ; der rechtsseitig
Hoden wurde nicht gefunden, dürfte also wohl in dt
Bauchhöhle liegen. Hypospadiasis penoscrotalis mit eir
seitigem Kryptorchismus.
24) Porro [siehe Debierre: „L'Hermaphrodisnie.6
Paris 1891 pg. 94] vollzog in einem Falle zweifelhaften
Geschlechtes bei einem jungen Mädchen von 22 Jahren
eine diagnostische Operation. Allgemeinaussehen absolut
weiblich, ebenso das Aussehen der Scham bis auf zwei
in den Schamlefzen enthaltene Gebilde, welche hart waren
und dicht unterhalb der äußeren Öffnungen der Leisten-
kanäle lagen. Porro schnitt jede Schamlefze auf und
legte Hoden und Nebenhoden bloß. Nach zwei Wochen
verließ das bisherige Fräulein hochbeglückt von dem
Ergebnis dieser Operation in männlichen Kleidern dieKlinik.
25) Pozzi [„Sur un Pseudo-hermaphrodite androgy-
noide: Pr^tendue femme ayant de chaque cöte un testi-
cle, un ^pididyme (ou trompe?) kystique et une corne
ut^rine rudimentaire , ä gauche formant hernie dans le
canal inguinal. Cure radicale, examen microscopique",
— Acade'mie de M6decine , 28. Juillet 1896, — Annales
des maladies des organes g^nito-urinaires. Jan vier 1897
No. 1. pg. 62 — 74.] Das Eigentümliche dieser Beobach-
tung liegt darin, daß das Allgemeinaussehen der Person,
— 238 —
die secundären Geschlechtscharaktere durchweg weiblich
waren, aber ebenso das Aussehen der Vulva und^zwar
ohne die sonst bei männlichen Scheinzwittern mit peno-
scrotaler Hypospadie so auffallende Disproportion zwischen
der tibergrossen Clitoris bei sonst in Miniatur angelegter
Fig. 3. Vulva des von S. Pozzi operierten 33jährigen männlichen
Scheinzwitters Marie C. ohne Spur von Clitorishypertrophie [Nymphen
vorhanden].
Vulva. In diesem Falle konnte niemand männliches
Geschlecht auch nur vermuten, erst das Mikroskop brachte
Klarheit in die Frage. Die 33-jährige Stubenmagd
Marie C. war als drittes Kind ihrer Eltern geboren
worden. Als die Mutter sich im dritten Monate der
Schwangerschaft befand, erschrak sie einmal sehr, als
sie zufällig davon Zeuge war, „qu* un nomine füt 6cras£". \
Von jenem Schreck an war sie ständig krank. Ein Bruder \
von Marie C. leidet an infantiler Paralysis, sonst ergab \
die Anamnese bezüglich der Familie nichts von Belang.
Marie C. war bisher niemals ernstlich krank gewesen,
im zweiten Lebensjahre mußte sie ein linksseitiges Leisten-
bruchband tragen. Vom 12. Jahre an oft Nasenbluten,
zuweilen mehrmals an einem Tage, einmal sogar 12-malig
innerhalb 24 Stun- :y
den; diese Blutun-
gen wiederholten
sich niemals länger
als zwei Tage 'nach
der ßeihe, sie wie-
derholten sich aber
allmonatlich in ge-
wissen Zeitabstän-
den. Diese Blutun-
gen wurden begleitet
von Schmerzen in
der Lendengegend,
dem Unterleibe und
den Beinen, dem Ge-
fühl von Hitze,
Atemnot und Kopf-
schmerz. In dem-
selben Jahre traten
die Erscheinungen der erreichten Geschlechtsreife auf,
die Behaarung des Mons Veneris und Stimmbruch.
Im 14. Jahre trat einmal während jener praemen-
strualen Beschwerden ein dreimaliger Anfall von Som-
nambulismus ein mit nächtlichem Herumspazieren im
Hause. Die Nasenblutungen samt dem gesamten Komplex
der Geleiterscheinungen dauerten bis zum 22. Jahre.
In diesem Jahre erkrankte Marie C. an fieberhaftem
Fig. 4. Linkes Uterushorn und Hoden (sub
herniotomia entfernt) der 33 jähr. Marie C.
T = Testikel, U = Uterushorn, C = Stumpf,
V, V = Tunica vaginalis.
Ansicht von hinten.
— 240 —
polyarticulärem Gelenkrheumatismus aber ohne Komplika-
tionen von Seiten des Herzens. Im 30. Jahre stellte sich
ein Rückfall dieses Leidens ein mit Schmerzen in Bauch
und Lenden.
Vom Januar 1895 bis Juni wiederholten sich 3 — 1 mal
Blutungen aus dem Mastdarme bei Verstopfung. Obwohl
die Nasenblutungen seit dem 22. Jahre sich ganz verloren
hatten, so litt Marie C. doch alle Monate an Lenden-
schmerzen, Gefühl von Hitze im Unterleibe. Im 22. Jahre
wurde sie zum ersten Male untersucht und zwar wegen
der Amenorrhoe und jenen periodisch sich wiederholenden
v,-
Fig. 5. Linke» Uterushorn und Hoden (Fall S. Pozzi).
Ansicht von vorn.
Kongestionserscheinungen. Damals erklärte ein Arzt,
Marie sei ein geschlechtsloses Wesen ! Marie C. ging
infolge dessen zu Dr. Siredey, welcher den Mangel
eines Uterus konstatierte. Schon im 15. Jahre hatte
Marie bemerkt, daß sich in ihrer linken Leiste eine
Geschwulst von Hühnereigröße befinde, es war dies ein
mobiler Leistenbruch, reponibel. Im 23. Jahre trat ein
ebensolcher Tumor rechterseits in der Leiste auf. Von
Zeit zu Zeit wurden beide Brüche schmerzhaft und zwar
nur für 2 — 3 Tage und zwar nur während der obenge-
nannten Kongestionserscheinungen. Die Brüche setzten
— 241 —
Marie so zu, daß sie dieselben durchaus loswerd
wollte» Sie ging im Januar 1895 zu Dr. Landriei
um sich untersuchen zu lassen zwar, weil ein jung
Mann um sie angehalten hatte. Sie wollte wissen, ob s
heiraten könne, da ihr jemand gesagt habe, sie müss
ihren Freier von ihrem Zustande in Kenntnis setzei
Landrieux riet ihr in 'das Hospital einzutreten: Ar
6. Juni 1895 wurde sie hier untersucht von Beaussenat
B o n c o u r und später von P o zz i. Körperhöhe mittelgroß
Körperbau kräftig, langes weibliches Haupthaar, leichter
Anflug männlicher Gesichtsbehaarung, Kinn behaart, Hals
kurz, Kehlkopf nicht hervortretend, Brustumfang über
die Mammae gemessen 94 Centimeter, ober und unter-
halb 69 Centimeter. Mammae groß, gut entwickelt mit
Drüsensubstanz, Becken breit, weiblich, Linea alba unbe-
haart, Atmungstypus männlich, abdominal. Stimme und
Konturen der Extremitäten weiblich. Scham behaarung
äußerst dürftig, kaum hier und da einige blonde Härchen
auf dem Mons Veneris und den Schamlefzen. Perineal-
gegend gänzlich unbehaart. Die sehr große linke Scham-
lefze bedeckt teilweise die kleinere rechte und enthält
ein frei verschiebliches taubeneigroßes Gebilde, elastisch
und einem Hoden ähnlich anzufühlen, von diesem Gebilde
zieht eine Art Strang nach unten herab zu dem Boden
der Schamlefze. Ein Strang zieht auch nach oben hin
gegen den Leistenkanal und weist an einer Stelle eine
druckschmerzhafte Verbreiterung auf; der erweiterte
Leistenkanal läßt zwei Finger zugleich ein, das elastische
Gebilde läßt sich leicht in den Leistenkanal hineindrängen,
der Strang jedoch nicht. Diese Hernie verschwindet
spontan niemals, wohl aber tritt sie beim Husten tiefer
herab und enthält keinen Darm. Rechterseits tritt beim
Husten ein Bruch hervor, reponibel, aber niemals spontan
verschwindend. Der rechtsseitige Bruch ist ein beginnen-
der und leicht zu reponieren.
Jahrbach V. 16
— 242 —
Die Schamteile sehen aus, wie bei einem Müdchen
vor erreichter Geschlechtsreife. Von der Clitoris maß
man2Centimeterbiszur Urethralmündung, von daanderthalb
bis zum Frenulum labiorum, von da bis zum After 3 Centi-
meter. Große Schamlefzen wenig prominent, die rechte bildet
einen kaum erhabenen Hautwulst, die Bedeckungen der
linken Schamlefze gerunzelt, erinnern an ein Scrotum
eines Knaben. Kleine Schamlippen atrophisch, anderthalb
Centimeter hoch, nur in der oberen Hälfte der Schamspalte
sichtbar, sehen aus wie am unteren Ende abgeschnitten.
Hymen annularis mit Spuren von Einrissen nach einem
Stuprationsversuch (im 8. Lebensjahre), Harnröhrenöffnuug
normal weiblich, oberhalb die „bandelette masculine*
von Pozzi, welche aber kaum im unteren Drittel des
Vestibulum ausgesprochen ist und nicht die Clitoris
erreicht. Die Clitoris äußerst klein, ragt nicht aus ihrem
Präputium hervor. In Lumen des Hymens sieht man
die Falten der Columnae rugarum der Scheidenwand.
Die Scheidenuntersuchung sehr erschwert durch Enge
und Empfindlichkeit; ein Speculum konnte nicht ange-
wendet werden. Die Scheide dürfte in der Tiefe blind
abgeschloßen sein, nichts von einem Uterus getastet.
Die Patientin hat normale Verstandesentwickelung und
hat eine gute elementare Erziehung erhalten. Bis jetzt
hatte sich noch niemals Geschlechtsgefühl bei ihr gemeldet
und mit Ausnahme jenes Stuprations Versuches im 8.
Lebensjahre war sie nie mit männlichen Genitalien in
Berührung gekommen. Peyrot diagnosticierte eine beider-
seitige Hernie der Uterusadnexa bei mangelndem Uterus
und vollzog am 19. VI. die Radikaloperation. Linker-
seits fand er am Niveau des Leistenkanales eine hühnerei-
große Cyste mit Flüssigkeit gefüllt, welche durch eine
Art Stiel mit einem drüsigen Gebilde zusammenhing, das
er für ein Ovarium ansah. Dieses drüsige Gebilde
wiederum lag einem Körperchen von Haselnußgröße an,
243
welches er für einen rudimentären Uterus ansehen
wollte: die Cyste faßte er als Hydrosalpinx auf. Nach
Resektion dieser Cyste schob er die anderen Gebilde,
welche er für Uterus und Ovarium angesehen hatte, in
die Bauchhöhle zurück! Den Leistenkanal vernähte er.
Rechterseits fand er ebenfalls eine cystische Bildung,
welche einer graugefärbten Masse anlag, die er für den
anderen Eierstock hielt. Da keine Kommunikation mit
der Bauchhöhle vorlag und jene beiden Gebilde in einem
extraperitonealen Sacke zu liegen schienen, so trug er
sie mit dem Messer ab nach Unterbindung einer Art
Stieles. Leistenkanal geschlossen. Die Schmerzen ver-
schwanden nach der Operation und Patientin schien
geheilt.
Im Februar 1896 kam es jedoch linkerseits zu einem
Recidiv und trat abermals ein linksseitiger Leistenbruch
hervor unter der Narbe. Der Tumor senkte sich nach unten
herab und wurde beim Gehen hinderlich. In horizontaler
Rückenlage läßt sich der Tumor in die Bauchhöhle
reponieren, jedoch auch weiter nach unten herabdrängen
bis in die Schamlefze. Seit der Operation begann
Patientin eine vorher nie bemerkteLibido sexualis
zu empfinden und hatte oft psychische Emotionen, welche
mit Tränen und Traurigkeitsgefühl endeten, und zwar
traten solche Stimmungen auf ohne die geringste äußere
Veranlaßung. Der Geschlechtstrieb war auf Männer
gerichtet, nicht auf Frauen! Pozzi glaubte, es handle
sich um ein Recidiv der Hernie von Uterus und Ovarium
und machte am 6. V. 1896 die Radikaloperation. Er
fand einen aus zwei Anteilen bestehenden Tumor: Ein
längliches weißliches Gebilde von drüsigem Aussehen
[Hoden oder Eierstock?] und dicht an der inneren und
hinteren Fläche dieses Gebildes eine harte dreieckige
Masse. Eine Art Vaginalis umhüllte das Ganze und man
konnte leicht mit dem Finger eine Art Stiel unterscheiden.
16*
— 244 —
Nach dieser Operation nahm die Melancholie der Patientin
noch bedeutend zu, sodaß die Patientin jetzt fast ständig
weinte. Die mikroskopische Untersuchung sowohl der
jetzt durch Pozzi als auch der früher durch Peyrot ent-
fernten Gebilde wies eine erreur de sexe nach: männ-
liches Geschlecht der Marie C: sie war ein Androgynoid
mit Uterus bicornis; ein Hörn desselben lag neben dem
Hoden in der Hernie (siehe Abbildungen Fig. 3, 4, 5.)
Pozzi machte folgende Schlußfolgerungen: 1. Die
Entwickelungsanomalie sollte eine Folge der durch den
Schreck veranlaß ten psychischen Erregung der schwangeren
Mutter sein. 2. Das Eintreten der Geschlechtsreife soll
sich bei Marie C. durch 10 Jahre lang sich periodisch
wiederholendes Nasenbluten verraten haben, heute nach
Aufhören der Epistaxis treten doch noch die früher jenes
Nasenbluten begleitenden anderen Symptomenkomplexe
auf. Diese Symptome sollen abhängig sein von der
anomalen Entwicklung der Müller'schen Gänge [rudi-
mentärer Uterus, Vagina], 3. Marie C. empfindet trotz
Gegenwart von Hoden weiblichen Geschlechtsdrang.
4. Dieser Geschlechtsdrang ist erst erwacht nach operativer
Entfernung des rechten Hodens, eine schwer zu erklärende
Erscheinung. Leichter ist die Veränderung des Charakters
zu verstehen, die nach der vollständigen Kastration
eintrat, welche dieses Individuum noch mehr einem weib-
lichen ähnlich machte. Es ist dies ein Phänomen, wie
man es öfters bei Männern und Tieren beobachtete nach
Entfernung der Hoden. Die Kastration dieses Individuum
schuf solche Verhältnisse, daß es heute nicht gerecht-
fertigt wäre, eine Rectifikation der Metrik im Standesamte
zu verlangen: dieses Individuum gleicht heute mehr einer
Frau, an welcher man einer Castratio uteroovarialis vor-
genommen hat, als einem männlichen Scheinzwitter.
5. Die männlichen Scheinzwitter-Hypospadiäen — Andro-
gynoides — besitzen keine Spermatozoiden, sind also nicht
— 245 —
zur Befruchtung einer Frau fähig. — Ein Trugschluß,
da die Fähigkeit zur Schwängerung in erster Linie von
dem Entwickelungsgrade der Hoden abhängt, zweitens
von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der
zugehörigen Emissionswege für das Sperma. Gibt es
doch zahlreiche Fälle von Schwängerung gerade durch
einen solchen männlichen Scheinzwitter und auch einen
Fall wo diese Zwitterbildung sich vom Vater auf den
Sohn vererbte, welchen ich im vorigen Jahrgange dieses
Jahrbuches wiedergegeben habe. [Fall von Traxler.]
Irrtümlich ist ferner auch die Angabe Pozzi's, es
seien hier zum ersten Male die bei einem Scheinzwitter
operativ entfernten Geschlechtsdrüsen zur mikroskopischen
Untersuchung gelangt. Die mikroskopischen Untersu-
chungen wurden von Dr. L a 1 1 e u x gemacht. Marie C.
war also ein männlicher Scheinzwitter par erreur de
s exe als Mädchen auferzogen mit weiblichen Brüsten
weiblichem Allgemeinaussehen, einer weiblichem Scham,
Molimina menstrualia, einem Uterus bicornis und weib-
lichem geschlechtlichem Empfinden. Die beigefügten drei
Abbildungen entstammen der OriginalbeschreibungPozzi's.
Zwei von diesen Abbildungen stellen den Uterus rudi-
mentarius nebst Hoden und Tunica vaginalis vor und
zwar die Ansicht des postoperativen Präparates von
vorn und von hinten. Es lag ein Uterus bicornis vor
mit inguinolabialer Ektopie der beiden Uterushörner und
descensus retardatus testiculorum. Der anatomische
Charakter der seinerzeit von Peyrot entfernten Cyste
blieb zweifelhaft, ich möchte am ersten vermuten, daß es
sich um eine Cyste des Parovarium handelte oder um
eine Cyste des Nebenhodens. Die Testikel waren atro-
phisch, ohne nachweisbare Spermatogenese. In dem von
Pozzi amputierten Uterushorne fand man keine uterine
Schleimhaut.
26) Sa eng er [siehe Kutz: „Über einen Fall von
— 246 —
Pseudohermaphroditismus masculinus mit Feststellung
des Geschlechtes durch Exstirpation eines Leistenhodens •-
Zentralblatt für Gynaekologie 1898 No. 165 pg. 889]:
Ein 23jähriges Dienstmädchen wurde S aenger aus der
Poliklinik überwiesen: erstens wegen absoluter Amenorrhoe,
zweitens weil alle vier Wochen einige Tage lang an-
dauernde Schmerzen im Unterleibe, den Leisten und den
Brüsten sich regelmäßig wiederholten. Diese Schmerzen
sind in letzter Zeit so stark geworden, daß Patientin ihre
Arbeitsfähigkeit einbüßte. Allgemeiner Typus weiblich,
Gesichtsfarbe gesund, Wangen gerötet, das Haupthaar
in Zöpfe geflochten. Die Brüste wenig entwickelt, aber
weiblich. Achselhöhlen reich behaart. Schanigegend und
Perianalgegend spärlich behaart. Hymen intakt, mit enger
Öffnung, Scheide geräumig, in der Höhe blind geschlossen.
Kein Uterus per rectum getastet. In der rechten Leisten-
gegend ein ovaler, glatter, harter Körper, verschieblich,
hühnereigroß, sehr druckempfindlich und nicht nach der
Bauchhöhle zu reponibel. Es wurde eine rechtsseitige
inguinolabiale Hernie des rechten Ovarium diagnosticiert.
In der linken Leiste fand Sänger ebenfalls eine Hernie,
welche ein weiches reponibles Gebilde enthielt, in der
Tiefe eine härtere Masse. Der rechtsseitige Leistenbruch
soll in frühem Kindesalter aufgetreten sein, der links-
seitige aber erst nach Beendigung der Schule. Angesichts
der Schmerzhaftigkeit der rechtsseitigen Hernie führte
Sänger die Herniotomie aus, indem er darauf rechnete
es werde vielleicht gelingen das ektopische Ovarium
zu reponieren und dann den Bruchsack ganz zu schließen.
Bei der Operation zeigte sich, daß der Bruchsack nichts
Anderes war, als der Processus vaginalis peritonaei, die
tunica vaginalis testis communis; das für ein Ovarium
angesehene Gebilde war ein Hoden. Sänger entfernte
den Hoden samt dem rudimentären Nebenhoden und Vas
deferens und schloß die Operationswunde in toto. Dann
— 247 —
schritt er zu der linksseitigen Herniotomie und fand dort
in dem Bruche nur ein Harnblasendivertikel , wie der
Katheter nachwies. Hernia extraperitonealis vesicae uri-
nariae. Man fand weder eine Öffnung, welche nach der
Bauchhöhle zu kommunizierte, noch eine Geschlechtsdrüse
in dieser Hernie. Der entfernte rechte Hoden enthielt ein
kleines Fibroadenom, hart und von der Größe einerrHasel-
nuß. Wahrscheinlich liegt der linke Hoden noch in der
Bauchhöhle. Über das geschlechtliche Empfinden dieses
Individuums ist leider in dem Bericht ebensowenig etwas
gesagt, wie in den'meisten anderen, es heißt nur von der
Hymenalöffnung, sie sei dehnbar gewesen aber ohne Einrisse.
27) Sänger [siehe Schultze - Vellinghausen:
„Ein eigentümlicher Fall von Pseudohermaphroditismus
masculinus" Zentralblatt für Gynäkologie 1898 No. 51,
pg. 1377 — 2385]. Eine 32-jährige Lehrerin, welche nie
menstruiert war, aber alle 3 — 4 Wochen regelmäßig* an
Unterleibsschmerzen litt, meldete sich bei meinem leider
zu früh verstorbenen Freunde unvergeßlichen Andenkens,
Professor Sänger. Im 18. Lebensjahre hatte sie zum
ersten Male einen Tumor in der linken Leistengegend
bemerkt, der in der Folge allmählich sich vergrößerte.
Ein damals konsultierter Arzt sagte ihr, der Tumor sei
angeboren und enthalte die Gebärmutter. Die Kranke
konstatierte selbst, daß der Tumor im Laufe der letzten
5 Jahre um einige Zentimeter an Umfang zugenommen
hatte und verlangte jetzt dessen Entfernung, weil der
Tumor ihr beim Gehen hinderlich sei. Allgemeinaussehen
und Becken weiblich, keine Spur von männlicher
Behaarung, Brüste klein aber weiblich. Der linksseitige
Leistenbruch ist irreponibel und reicht nach unten zu bis
in die linke Schamlefze herab, der Bruchinhalt ist elastisch,
aber wenig verschieblich. Gesichtsausdruck weiblich ohne
irgend ein männliches Charakteristikum. Die äußeren Scham-
teile sind normal weiblich, aber die Schambehaarung sehr
— 248 —
spärlich. Die Scheide nur 7 — 8 Zentimeter tief, schließt
in der Höhe blind. Es wurde weder ein Uterus noch
eine Spur von Adnexa getastet. Sänger glaubte zunächst
auf Grund seiner Untersuchung, der in hernia liegende
Körper sei ein Hoden, es liege also eine erreur de sexe
1 2
7 6 5
Fig. 6. Operativ sub herniotomia Ton Sänger gewonnenes Präparat.
Ansicht von vorn.
1 = Uterus, 2 = Hoden, 3 = Tube, 4 = Cyste, 5 = Lig. latnm,
6 — Amputationsstumpfnache des Uterus, 7 = Bruchsack.
vor, er glaubte, jenes Gebildein der Hernie sei ein Hoden
von einer Hydrocele umgeben. Am 13. VII. 1898 voll-
zog er die Herniotomie, in dem Bruchsacke fand er einen
ovalen Körper von Gänseeigröße, von glänzender gelblicher
— 249 —
Oberfläche, cystisch entartet. Das untere Ende dieses
Körpers war von einem Gebilde umgeben, welches als
eine Tube erkannt wurde mit sichtbarem peripheren Ende
2 1 7
5 6
Fig. 7. Dasselbe Präparat von hinten gesehen.
1 = Uterus, 2 = Hoden, 3 = Peripheres Tubenende, 4 = Cyste,
5 = Lig. latum, 6 = Amputationsstumpffläche des Uterus,
~ 7 = Bruohsaok.
und Fimbrien. Der Bruchinhalt bestand aus jener cysti-
schen Bildung und einem härtlichen Gebilde einem klein-
fingerlangem Uterus in Verbindung mit einer Tube.
Zwischen dem Fundus uteri und jener cystischen Bildung
— 250 —
lag noch eine härtliche Masse von unbestimmter Natur
vielleicht eine Geschlechtsdrüse?] Das Lumen des Leisten-
kanales erwies sich durch einen secundären EntzUndungs-
prozeß obliteriert, sodaß es nicht gelang einen Finger in
die Bauchhöhle einzufuhren. Der Bruchinhalt wurde mit
Resection des ßruchsackes entfernt, die Wunde in toto
geschlossen. Der Stiel der entfernten Gebilde retrahierte
sich etwas in den Leistenkanal, wurde aber wieder^ heraus-
geholt und in der Leistenkanalmündung eingenäht. Nach
zwei Wochen verließ Patientin geheilt von ihren Be-
schwerden das Hospital. [Siehe Fig. 6 u. 7].
An dem Präparate fand man das amputierte obere
Uterusende 5,5 Centimeter lang, 2 Centimeter breit. Die
rechte Tube hatte 6 und einen halben Centimeter Länge
und wies kein Lumen auf am peripheren Ende. In
Mesosalpinge lag die vorerwähnte Cyste, linkerseits vom
Uterus fand man keine Tube; das ligamentum latum si-
nistrum war rudimentär. Der amputierte Uterus besaß
kein Lumen. In der Struktur des Uterus konnten glatte
Muskelfasern, Bindegewebe und Blutgefäße nachgewiesen
werden. In den äußeren Schichten der Uteruswand
fanden sich Längsfasern muskulöser Natur, in den inneren
Schichten schräg verlaufende Muskeln. Das Ligamentum
latum enthielt glatte, muskulöse Längsfasern und lockeres
Bindegewebe. Die Tube erschien wie ein flachgedrückter
Strang, aber von normalem Bau ihrer Wände. Die Tube
besaß ein Lumen und war ausgekleidet mit dicht ge-
drängtem cylindrischem Epithel. Die Cyste erwies sich
als subserös, das Peritoneum konnte man in Falten ab-
heben. Die innere Cystenauskleidung bestand aus fibril-
lärem Bindegewebe mit zahlreichen Gefäßen und ein-
schichtigem Epithel ohne Spur von Flimmerepithel.
Trotzdem es nicht gelang, auch nur eine Spur von einem
^Epoophoron oder Paroophoron zu konstatieren, so han-
delte es sich doch sicher um eine Cyste, entstanden aus
— 251 —
Resten der Urniere, angesichts des analogen Baues dei
Parovarialcysten. Nirgends fand man eine Spur vor
Struktur, welche an den Eierstock erinnerte. Der Körper
welcher zwischen Uterus und jener Cyste lag, wies auj
dem Durchschnitte überall den mikroskopischen Bai
eines Hodens auf, trotzdem man nirgends eine Sperma-
togenese nachweisen konnte.
Man fand keine Spur von einem Vas deferens, vor
einer Saraenblase, einer Prostata etc. Es handelt sicr
also um einen männlichen Scheinzwitter par erreur de
s e x e als Mädchen erzogen, mit hoher Entwickelung de,i
Weber'schen Organes, der Müll ergehen Gänge, Uterus
Tuben und Vagina und weiblicher Bildung der äußerer
Geschlechtsorgane. Trotz Gegenwart des Hodens resj
der Hoden vollzog sich die Entwickelung der äußere
Geschlechtsteile nach weiblichem Typus. In der rechl
seitigen Leistengegend wurden keinerlei Gebilde getaste
es scheint^ also, daß rechterseits bisher Krytorchismus voj
liegt. Sänger fügt der Beschreibung die Bemerkun ;
hinzu : Als er dieses Individuum zum ersten Mal ansal
so hielt er es für einen Mann trotz weiblicher Stimrr ;
und langen Haupthaares und Mangels männlicher G<
sichtsbehaarung, als er während der Operation in hern
einen Uterus fand samt Tube und jener Cyste, so glaub :
er, er habe sich geirrt und die Person sei doch weibliche
Geschlechtes, erst die mikroskopische Untersuchung wi ;
nach, daß Sängers erste Vermutung richtig war, dj ;
tatsächlich eine Erreur de sexe vorlag. Wenn irgei
ein Fall aus unserer Kusuistik, so ist besonders dies i
zweite Fall von Sänger lehrreich und muß zu ga i
besonderer Vorsicht in der Diagnose auffordern, sowc
vor einer eventuellen Operation als auch während eir i
solchen und auch nachher. Das Mikroskop allein ka
in zweifelhaften Fällen Aufklärung geben und leider au
dieses nicht immer, denn bei rudimentärer Entwickelu ;
— 252 —
der Geschlechtsdrüsen wird uns hin und wieder auch
das Mikroskop die Antwort auf die Frage nach dem Ge-
schlechte schuldig bleiben, ebenso bei maligner Entartung
oder Teratom der Geschlechtsdrüse, das mehrmals kon-
statiert wurde.
28) Shattock: [Histological characters of testicle
removed in the Radical eure of hernia „British Medical
Journal 1897" Vol. I. pg. 460]: Einem 42 jährigen
Scheinzwitter mit Hypospadiasis penoscrotalis behaftet,
wurde wegen doppelseitigen Leistenbruches die beider-
seitige Herniotomie gemacht. Man entfernte beide noch
in den Leistenkanälen liegenden Hoden [Descensus in-
completus]. Man fand in den exstirpiertem Hoden weder
Spermatozoiden noch Spermatoblasten, aber eine sehr
starke Hypertrophie des Bindegewebes in dem Hoden-
stroma. Nach der Kastration dieses Individuum ent-
wickelte sich sehr starke Obesitaet. Ich weiß nicht, ob
in diesem Falle eine Erreur de sexe vorlag, ob dieser Fall
bestimmt hierher gehört.
29) Snegirjow [siehe Blagowolin: Wracz 1893
[Eussisch] Fall von Hermaphroditismus transversus. Pro-
tokolle der Geb. Gyn. Gesellschaft in Moskau. Januar
1893 Nr. I. pg. 2—5]. Eine 25 jährige Köchin trat am
21. März in die Klinik ein. Niemals Periode oder Mo-
limina menstrualia. Im 13. Jahre einmal während eines
Kopfschmerzanfalles etwas Nasenbluten, ein ander Mal
im Jahre 1892 eine stärkere Nasenblutung. Im 17. Jahre
heiratete das Mädchen, vollzog schon ein halbes Jahr
nach der Hochzeit den Beischlaf cum libidine, später
wurde ihr der Beischlaf gleichgültig, endlich zuwider,
weil sie sich nach jedem Beischlaf matt, krank und arbeits-
unfähig fühlte, geplagt von den rheumatischen ähnlichen
Schmerzen in Kopf und Gliedern. Schon seit Jahren
perhorresciert sie den Akt des Beischlafes, der zweimal
jeden Monat stattfindet. Obgleich sie ihren Mann liebt,
253 —
so erscheint er ihr verhaßt zur Zeit des Beischlafes,
welcher für sie eine Qual ist.
Sie beschreibt diese Qualen so: „Eine ganze Menge
verschiedenartiger Schmerzempfindungen entströmt einer
Welle gleich aus dem Unterleibe und richtet sich nach
dem Herzen zu, wobei ihr vor den Augen dunkel wird
und sie glaubt das Bewußtsein zu verlieren.* — Seit einigen
Monaten klagt diese Frau über Kopfschmerz, Schlaf-
losigkeit und klonische Krämpfe in den Extremitäten;
diese Krämpfe treten auf ohne irgend eine erklärliche Ur-
sache. Brüste und Mons Veneris gut entwickelt, Pubes
weiblich veranlagt. In jeder Schamlefze tastete man ein
Gebilde, welches 2/8 der Schamlefze einnahm, das links-
seitige Körperchen erschien tiefer herabgesenkt als das
rechte. Diese Körperchen, taubeneigroß, mit glatter
Oberfläche, waren elastisch und ausnehmend druckem-
pfindlich. An der Rückseite eines jeden tastete man ein
weicheres, nicht druckempfindliches Gebilde. Das rechts-
seitige Körperchen ließ sich leicht nach oben dislocieren,
das linksseitige ließ sich nicht in den Leistenkanal hin-
einschieben.
Kleine Schamlippen normal, Clitoris nicht vergrößert;
bei Zurückschiebung der Vorhaut wird die Clitoris
strotzend, indem sie anschwillt Ein Hymen fimbriatus
liegt vor, der sich dehnbar erweist. Vestibulum vaginae
normal. Die Scheide erweist sich als ein glattwandiger
Kanal, in der Höhe von drei Zoll blind endigend. Weder
Uterus noch Adnexa per rectum getastet. In der Mittel-
linie des Beckens tastete man einen gänsefederkieldicken
Strang. Nach Angabe der Marie X. sollen jene
Körperchen in den Schamlefzen schon von Kind auf sich
dort befinden. Allgemeinaussehen weiblich. Man stellte
hierauf die Diagnose : Def ectus uteri, hernia inguinolabialis
utriusque ovarii. Am 23. März 1893 vollzog Snegirjow
die beiderseitige Hernlotomie und fand in jeder Hernie
— 254 —
einen Hoden. Das Mikroskop bestätigte die Richtigkeit
dieser Angabe. Am 7. Tage nach der Operation befand
sich die Person wohl. Erreur de sexe.
30) Snegirjow [siehe: Blagowolin 1. c.J vollsog
in einem anderen Falle, beschrieben von Galaktjonow,
die beiderseitige Herniotomie bei einem Mädchen:
Erreur de sexe. Hypospadiasis peniscrotalis. Sne-
girjow eröffnete die Bauchhöhle, fand dort weder Uterus
noch Ovarien, exstirpierte hierauf die in den Schamlefzen
enthaltenen Gebilde, die sich unter dem Mikroskop als
Hoden erwiesen.
31) Solowij («Ein Beitrag zum Hermaphroditismus"
— Monatsschrift für Geb. u. Gynäkologie. Februar 1899
pg. 210"] R. Ch. 21. Jahre alt, ledig, niemals menstruiert,
erinnert sich, daß bei ihr von Kind auf in der Gegend
der Schamfuge zwei Höcker existierten, welche nicht
schmerzhaft waren. Vor vier Wochen traten plötzlich
ohne wahrnehmbare Ursache heftige Schmerzen in dem
rechtsseitigen Höcker auf. Seit dieser Zeit nahm derselbe
bedeutend an Größe zu und blieb anhaltend schmerzhaft.
Schlecht genährtes Individuum; Kopfhaare lang, kein
männlicher Haarwuchs im Gesiebt, Brustdrüsen gut
entwickelt, Habitus ganz weiblich, Mons Veneris schwach
behaart; jederseits der Schamfuge liegt in jeder Scham-
lefze je ein Gebilde, links taubeneigroß, länglich, glatt,
verschieblich, von ovaler Gestalt, am unteren Ende etwas
zugespitzt, von innen eine seichte Vertiefung aufweisend.
Die Schamlefzen verlieren sich auffallend flach nach
unten. Clitoris zwei Centimeter lang, hat eine undurch-
bohrte Eichel, von der zwei Falten zu den großen
Schamlippen ziehen. Kleine Schamlippen fehlen, nur
linkerseits eine Andeutung vorhanden. Damm 4 Centi-
meter hoch, gegen den Scheideneingang etwas vertieft.
Scheide endet in der Tiefe von 5 Centimeter blind. In
der vorderen Scheidenwand, etwas mehr rechts, verläuft
— 255 —
nach oben ein dünner Strang. Unterhalb der H
röhren mündung befinden sich zwei kleine Schleimhautfa^
Durch den Mastdarm fühlt man einen querverlaufen
mit unerheblichen Verdickungen versehenen Strang, welc
links etwas breiter endet. Solowij deutete die in (
Schamlefzen enthaltenen Gebilde als ektopische Ovari
wenn er auch die Möglichkeit ins Auge faßte, daß
etwa Hoden sein könnten. Wegen der schmerzhaft*
Entzündung der rechten Keimdrüse, welche trotz vie
wöchentlicher Ruhe und entsprechender Behandlung nicl
weichen wollte, vollzog er die Exstirpation. Nad
Spaltung der Haut ließen sich die beiden Keimdrüsei
mit Leichtigkeit exstirpieren, da die Leistenringe bereits
verschlossen waren. Schon makroskopisch konnte man
feststellen, daß es sich jederseits um Hoden und Neben-
hoden handelte. Das Mikroskop bestätigte diese Er-
kenntnis: in den Hodenschnitten fand man Samenfäden
in verschiedenen Graden der Ausbildung. Ebenso typisch
fielen die Nebenhodenschnitte aus. An mehreren Präparaten
war auch ein Vas deferens zu sehen. Das Uebrige bildeten
vielfache Schichten glatter Muskelfasern, eingescheidet
und durchzogen von reichlichem und zum Teil kleinzellig
infiltriertem Bindegewebe. Abgesehen von dem wissen-
schaftlichen Interesse zögerte S. nicht, diese Gebilde zu
entfernen, seien es nun Hoden oder Ovarien, weil sie für
die Fortpflanzung des Individuums keinen Wert hatten,
andererseits die schmerzhafte Entzündung, namentlich
des rechtsseitigen Gebildes die Entfernung indicierte.
Erreur de sexe festgestellt auf operativem Wege.
Solowij erwähnt nichts über das geschlechtliche Empfinden
der von ihm operierten Person.
32) Stonham [Complex or vertical Hermaphrodisme.
Transactions of the Patholog. Society of London. British
MedicalJournal 1888. I. pg. 416] beschrieb die Genitalien
eines nach Herniotomie verstorbenen Kindes. Die äußeren
— 266 —
Geschlechtsteile männlich bis auf Kryptorchismus, eine
Prostata war vorhanden, teilweise Hypospadie. Man
fand zugleich eine Vagina, einen Uterus bicornis, zwei
Tuben, zwei Hoden und zwei Nebenhoden in der Bauch-
höhle; letztere Organe lagen an den Stellen, wo bei
Frauen die Ovarien liegen. Keine Samenbläschen kon-
statiert. Die Mutter dieses Kindes war 14 mal schwanger,
hat aber darunter 8 mal abortiert. Zwei Kinder erschienen
Fig. 8. Genitalien desNambrok Sadinah, eines Straf lings im Ge-
fangnisse zu Soerabaja, der von S t r a t z für einen männlichen
Scheinzwitter gehalten wurde.
als Knaben, aber mit Kryptorchismus behaftet, — falls es
Knaben waren. Eine Schwester der Mutter galt als
Hermaphrodit, hat aber in der Folge ein Kind geboren.
[Siehe auch Referat in Frommel's Jahresbericht für
1888 pg. 306.] —
Stratz proponierte einem im Gefängnis zuSörabaja
internierten Sträfling NambrokSadinah eine diagnostische
— 257 —
Incision der Schamlefzen behufs Feststellung des Ge-
schlechtes, indem er eine erreur de sexe vermutete.
Der Sträfling ging jedoch ebenso wenig wie die von
M u n d 6 beschriebene Köchin auf den Vorschlag ein. Das
Allgemeinaussehen war eher männlich als weiblich, die
Clitori8 2 — 4 Centimeter lang, die Harnröhrenöffnung
weiblich, eine Vagina war nicht nachzuweisen, aber es
Fig. 9.
existierten große und kleine Schamlippen. Weder Uterus
noch Ovarien per rectum getastet, in jeder Schamlefze
lag ein sehr druckempfindliches Gebilde von Haselnuß-
größe, welches beim Gehen schmerzhaft war. (Siehe
Fig. 8, 9, 10 Stratz.)
33) Swiencicki (Nowiny Lekarskie 1896 No. 4. pg.
176 — 178). Die 23jährige B, J. wurde zu Swiencicki
17
Jahrbuch V.
Kg. 10.
Äußere Genitalien des Sträflinges Nambrok Sadinah,
— 259 —
gebracht behufs Ausführung einer Operation. D
Centimeter hohe Mädchen machte einen männliche
druck ihrer Allgemeinerscheinung nach trotz ihres
rigen Wuchses. Gesichtsausdruck männlich, Hau]:
kurz geschnitten, Bartanflug im Gesichte. Amasti
ganz kurzen Brustwarzen, abdominaler, männl
Athmungstypus, männliches Becken, Mons Veneris l
angedeutet. Linkerseits vom Schamhügel eine eifön
nach unten sich erstreckende Anschwellung von 24 C*
metern Umfang. Median wärts von dieser Anschwell
die Clitoris von vier Centimeter Länge, einem Pt
gleichend, aber hakenförmig nach unten gekrüm
Man entdeckt leicht eine drei Centimeter lauge hyj
spadische männliche Harnröhre an der Unterfläche dies
scheinbaren Clitoris. S. tastete in der . stark vergrößert
rechten Schamlefze in deren oberem Teile Hoden ut
Nebenhoden von normaler Gestalt. Auch den Samei
sträng konnte er leicht tasten. Keine Prostata entdeck
Erektionen vorhanden. Linkerseits fand sich eine Hydro
cele. S. entleerte durch Paracentese aus dieser Hydroöeh
etwa zwei Tassen voll einer durchsichtigen serösen
Flüssigkeit und gelang es ihm nach Entleerung der
Hydrocele auch linkerseits Hoden und Nebenhoden zu
tasten, sowie auch den Samenstrang. Die Mutter brach
in Tränen aus bei Mitteilung des Sachverhaltes der statt-
gehabten „erreur de sexe", die Tochter jedoch nahm
jedes Wort von S. mit Begeisterung auf und jauchzte
vor Freude darüber, daß sie fortan ein Mann sein werde,
denn sie habe schon seit jeher einen feurigen Drang
zu Frauen empfunden! Sie liebte Zigaretten zu rauchen,
hatte einen Widerwillen gegen alles Weibliche, Kleider-
nähen, Stopfen und Strümpfestricken, rasierte sich heim-
lich und hatte sogar, wie sie unter vier. Augen eingestand,
schon im 16. Jahre einen Beischlaf mit einem Mädchen
versucht, dessen Bett sie zufällig teilte. Die peniscrotale
17*
— 260 —
Hypospadie hatte die erreur de sexe veranlaßt. Hätte
nicht die einseitige Hydrocele existiert, so wäre wohl
auch jetzt noch nicht die erreur de 8 exe verraten
worden. Descensus testiculorum retardatus. Die Person
sagte aus, sie habe sich oft so unglücklich gefühlt dadurch,
daß sie als Frau gelten müsse und daß sie sich deshalb
mit Selbstmordgedanken getragen habe.
34) Tillaux: [siehe Voelker: Article: Plnis. — du
Nouveau Dictionnaire de Mldecine : Enfant male pris pour
une fille]" — ZuTillaux wurde ein 12 jähriges Mädchen
gebracht mit der Bitte der Mutter, dem Kinde ein Bruch-
band zuzupassen. Till au x konstatierte das Vorhanden-
sein eines einseitigen Leistenbruches, gleichzeitig entdeckte
er in der Hernie ein Gebilde, welches zunächt den Eindruck
einer Cyste machte. Instinktiv untersuchte er nun auch
die andere Schamlefze und tastete in derselben ein ana-
loges Körperchen. Die Sache erweckte in dem Chi-
rurgen Bedenken : er machte in jeder Schamlefze einen
diagnostischen Einschnitt und fand Hoden vor, konstatierte
jetzt auch, daß ein rudimentärer hypospadischer Penis
existierte und konstatierte also die „erreur de sexe."
35) G. K. Turner [,A case of hermaphroditisme"
Lancet 30, VI, 1900 pg. 1884-1885]: Ujähriges Mädchen
mit einem linksseitigen Leistenbruche geboren. Der Bruch
erwies sich als irreponibel und das Kind trug auf Ver-
langen der Ärzte hin ein Bruchband bis zum 12. Jahre,
obgleich das Bruchband gar keine Linderung brachte.
Niemals die Regel bisher, die Ärzte diagnostizierten eine
Labialektopie des linken Ovarium; endlich wurde eine
Herniotomie beschlossen. Das aus der Hernie entfernte
Gebilde erwies sich als Hoden und Nebenhoden.
In letzterem fand man einige kleine Cysten. Das Mi-
kroskop (Dr. Rolleston) erwies hier die erreur de sexe.
Turner vollzog dann gemeinsam mit Dr. W. R. Dakin
eine Narkosenuntersuchung des Kindes: Brustdrüsen gut
— 261 —
entwickelt im Vergleich zum Alter des Kindes,
normal, weiblich, ohne auch nur im geringsten
Verdacht auf erreur de sexe zu wecken. Die S
schon behaart, die Harnröhrenmündung, unregelE
umrandet, wies Karunkelbildungen auf. Die Scheide
einen Finger ein und erwies sich in der Tiefe blind
schlössen; keine Vaginalportion eines Uterus gefun
wohl aber tastete man ein dünneres strangförmiges Geb
(Tube oder Vas deferens?). Die Scharalefzen er wie
sich leer. Man fand weder eine Spur von Uterus ni
von einer Prostata. Das anatomische Präparat des (
stirpierten Hodens wurde aufbewahrt im Museum o
St. Georges Hospital. Das von Turner operier
Kind hatte bisher keinerlei Hang verraten zu dem eine
oder zu dem anderen Geschlechte zu gehören und hal
der Mutter bei der Beaufsichtigung seiner jüngerei
Geschwister.
36) Wegradt [Demonstration stereoskopischer Ab-
bildungen der Präparate, gewonnen sub herniotomia bei
einem als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter —
in der Ärztlichen Gesellschaft in Magdeburg; — siehe
Münchener Medizinische Wochenschrift 28. V. 1901]:
Beiderseitige Herniotomie bei einem Individuum, dessen
äußere Geschlechtsteile weiblich veranlagt waren. Die
rechtsseitige Hernie enthielt einen Hoden, die linkseitige
ein Fibroadenom. [Einzelheiten fehlen in dem Referate].
Auf Grund der Ergebnisse dieser Operation wurde
das Geschlecht als männlich erkannt.
37) B. Will („Ein Fall von Hermaphroditismus
masculinus." — D. I. Greifswald 1896) beschrieb die
erreur de sexe bezüglich der 54jährigen unverehe-
lichten Kristine W. aus der Umgegend von Greifs-
wald, welche in die Klinik eingetreten war mit der Bitte;
sie von einem beiderseitigen Leistenbruche zu befreien.
Niemals hatte Kristine die Regeln gehabt, wohl aber
— 262 —
von dem 17. big zum 40. Jahre allmonatlich ziehende
Schmerzen im Unterleibe. Körperhöhe groß, Knochen
und Muskelsystem stark entwickelt Stimme männlich,
Brüste schlecht entwickelt, Warzen prominent, unbe-
deutender Bartanflug im Gesicht. Schamgegend sehr
spärlich behaart, große und kleine Schamlippen von nor-
maler Gestalt, Scheidenöffnung eng, die Scheide in der
Höhe von anderthalb Zentimetern blind geschlossen, die
Harnröhre ist aber so stark erweitert, daß sie ohne Weiteres
die Spitze des großen Fingers einläßt. Per rectum tas-
tete man weder Uterus noch Geschlechtsdrüsen, sondern
nur einen bleistiftdicken Strang von der Mittellinie nach
links zu verlaufend. Jederseite in der Leistengegend ein
Tumor, linkerseits deutlicher als rechterseits ; ein jeder
Tumor schien aus zwei Anteilen zu bestehen; der link-
seitige Tumor bestand aus einem hühnereigroßen fluk-
tuierenden Anteile und einem kleineren härteren von
Taubeneigröße, der bis in die Schamlefze herabreichte.
Der obere flüssigkeitserfüllte Tumor hing strikt mit dem
unteren weicheren zusammen. Der rechtsseitige Tumor
war kleiner, ließ sich teilweise reponieren und bestand
ebenfalls aus einem fluktuierenden und einem weicheren
Anteil. Außer dem Tumor existierte auch ein Leisten-
bruch. Nach Reposition des Bruches drang der Finger
in den Leistenkanal ein. Man machte linkerseits einen
Einschnitt parallel dem Poupart'schen Bande, unterband
die blutenden Gefäße und legte den Tumor bloß, wobei
einige Unzen einer klaren, serösen Flüssigkeit abflössen
Auf der äußeren Kuppe des glattwandigen, harten Tu-
mors von rosenroter Farbe hing eine taubeneigröße
Cyste mit durchsichtigen Wänden. Man zog den Tumor,
soweit es anging aus dem Leisterikanale heraus, unter-
band den Stiel, durchschnitt ihn dann, fixierte ihn durch
einige Seidennähte unter gleichzeitiger Vernähung des
Leistenkanales und schloß dann die Hautwunde mit
— 263 —
8 Nähten. Rechterseits könnte nach Entfernung
Tumors der Finger bequem in die Bauchhöhle eindrii
linkerseits gelang das nicht. Prima reunio vulne:
Kristine W. wurde am 7. I. 1896 geheilt entlas
Erst die mikroskopische Untersuchung der entfernten
bilde wies hier eine erreur de sexe nach. Der lic
seitige Tumor hatte vier und einen halben Zentinu
Länge und zwei und einen halben Breite, der rech
seitige fünf und einen halben und zwei und einen halb
Zentimeter Länge und Breite. Die Tumoren waren jed
von einer mehrschichtigen Bindegewebskapsel umhül
die Schnittfläche sehr uneben, für den Hoden charakt
ristisch. Die Farbe des Durchschnittes war bronzero
Auf dem linken Hoden saß eine kleine Cyste gestielt au
auf dem rechten eine ebensolche ungestielt. Wo de
Nebenhoden am linken Hoden liegen sollte, sieht man eil
härtliches, bohnengroßes Gebilde, auf dem Durchschnitt
den drüsigen Bau verratend. Sonst fand man keinerlei
Spuren von Nebenhoden oder Vasa deferentia. W. gibt
eine sehr detaillierte Beschreibung der mikroskopischen
Präparate, die ich hier nicht wiederholen will; es genüge
zu wissen, daß die Untersuchung eine erreur de sexe
konstatierte. Der rechte Hoden war fibrös degeneriert.
Kristine besaß also Hoden, hatte aber keine Aus-
führungsgänge für deren Produkt wegen Obliteration der
Wolff sehen Gänge. Das geschlechtliche Empfinden der
Kristine W. war ein rein männliches, doch folgte sie
dem Beispiele anderer Frauen und kohabitierte mit
Männern, aber ohne jede Libido. Obgleich sie eine rudi-
mentäre Scheide besaß, so benützte sie doch für den
Beischlaf die Harnröhre, welche mit der Zeit dadurch
sehr erweitert wurde. Kristine empfand nur einen
auf Frauen gerichteten, also männlichen Geschlechts-
drang, hat es jedoch nie gewagt, einen Beischlaf mit
einem Weibe zu versuchen.
— 264 —
38) v. Winckel soll ein Mädchen von männlichem
Aussehen beschrieben haben, weiblicher Kopfbehaarung,
gut entwickelten Schamlefzen und Clitoris peniformis
Eine spätere Herniotomie soll erreur de sexe, also
männliches Geschlecht, erwiesen haben, indem die aus
den Schamlefzen entfernten Gebilde sich als Hoden er-
wiesen. Persönlich habe ich die Beschreibung eines
solchen Falles aus v. Winkels Feder stammend nirgends
finden können, erwähne aber diesen Fall, weil er von
anderen Autoren erwähnt wird.
<. [Sollte der Fall vonShattock sich nicht auf eine
erreur de sexe beziehen, resp. auf einen irrtümlich als
Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter, so wäre
. dieser Fall aus vorstehenden 38 Fällen zu eliminieren. N.j
Zweite Gruppe.
Vier Herniotomien bei weiblichen Scheinzwittern mit
2 Fällen von irrtümlicher Geschlechtsbestimmung.
1) Brohl („Hernia uteri bei Pseudohermaphroditimus
femininus" — Deutsche Medicinische Wochenschrift
1894 No.: 15.) Eine 36 jährige Person, seit dem 18.
Jahre normal menstruiert, die sich stets für eine Frau
gehalten hatte, wünschte sich zu verheiraten. Gesicht
und Behaarung, Stimme und Kehlkopf männlich, Bart-
wuchs ausgesprochen, Brüste aber weiblich. Clitoris 65
Anmerkung: Beiläufig erwähne ich folgenden Fall von
Pozzi u. Grattäry (Progres mädical 16. IV. 1887. — ^Referat:
Repertoire Universel d'Obst. 1887 p. 467): Eine 69 jährige Frau
wurde wegen Einklemmung eines Leistenbruches in das Hospital
gebracht und starb trotz Reduktion des Bruches, welche Marchand
vollzog, infolge Peritonitis. Die Nekropsie erwies eine „Erreur de
sexe." Hypospadiasis peniserotalis, in den Hoden Spermatozoiden
gefunden. Kein Uterus vorhanden, Behaarung spärlich, Allgemein-
aussehen männlich.
— 265 —
Millimeter lang, wird sub erectione 11 Centimeter lang!
Große Schamlippen gut entwickelt, die kleinen mangel-
haft. Scheideneingang von einem Hymen garniert. Die
linke Schamlefze enthält einen Tumor, welcher seit 1881,
also seit 13 Jahren schon, der Dame viele Schmerzen
verursacht. Dieser Tumor soll plötzlich erschienen sein
nach Aufheben einer schweren Last. Da der Tumor
während der Regel an Größe zunahm, also offenbar
anschwoll, vermutete man, es handle sich um eine Hernia
uteri und ovarii. Von diesem Tumor zog eine Art
Strang nach dem Leistenkanale zu. Da eine Reduction
der Hernie nicht gelang, so machte Brohl die Hernio-
tomie: er fand in dem Bruchsacke den Uterus und beide
Ovarien. Er amputierte den ektopischen Uterus au niveau
des Collum uteri und fixierte den Stumpf in der Inguinal-
wunde mit einigen Nähten. Nach 5 Wochen verließ das
Mädchen das Hospital kastriert und von den Beschwerden
befreit. Der linke Eierstock war atrophisch, der rechte
lag in ligamento lato. Beide Tuben waren bedeutend
erweitert. Der Uterus war bicornis und die Höhle durch
ein Septum im oberen Teile zweigeteilt. Collum uteri
stark verlängert — (wohl infolge der Ektopie des Fundus
? — N) — Weder Hoden noch Nebenhoden noch Prostata
gefunden. Es handelte sich also um eine im extrauterinen
Leben erworbene Hernia inguinolabialis uteri bicornis et
utriusque ovarii bei ganz ungewöhnlicher Hypertrophie
und Erektilität der Clitoris und einigen männlichen
secundären Geschlechtscharakteren. — [Wäre es nicht
rationeller gewesen, den Leistenkanal soweit als nötig zu
spalten und die ektopischen Gebilde in die Bauchhöhle
zu reponieren? — N.] —
2) P<*an (Bulletin M^dical, 3. April 1895 — und —
Gazette des Höpitaux 1896 No.: 41) Ein 15 jähriges
Mädchen wurde schon seit drei Jahren in ihrem Aussehen
immer mehr und mehr männlich, es trat Stimmbruch ein,
— 266 —
die Stimme wurde männlich, es trat männliche Gesichte-
behaarung auf, es traten Erektionen der Clitoris ein!
Ein Arzt schickte das 15jährige Mädchen nach Paris,
wo eine erreur de sexe konstatiert wurde, das Ge-
schlecht für männlich erklärt. Das bisherige Mädchen
erhielt männliche Kleider und sollte nun einen männlichen
Beruf erlernen. Der Junge fand aber an männlicher Be-
schäftigung keinen Gefallen, er wurde von einem Meister
zum anderen gebracht in verschiedenen Handwerken,
wollte aber nicht lernen. Endlich klagte er über allmonatlich
sich wiederholende Schmerzen im Unterleibe. Einer
seiner Lehrmeister schöpfte Verdacht, ob der Junge nicht
doch ein Mädel sei und nun wurde das Kind zum zweiten
Male nach Paris gebracht behufs erneuter Untersuchung
und zwar zu Pe"an. Pe"an konstatierte eine Hypos-
padiasis peniscrotalis und Kryptorchismus und vollzog
einen Einschnitt in den Leistengegenden wie bei Herniotomie,
um die Hoden aufzusuchen, fand aber nicht einmal die
Oeffnungen der Leistenkanäle da, wo sie sein sollten.
Er eröffnete jetzt die Bauchhöhle, holte ein Organ hervor,
das er anfänglich für einen Hoden gehalten hatte, es war
der Uterus; daneben lag die rechtsseitige Tube, regelmäßig
geformt, er fand endlich auch die linksseitigen Adnexa,
aber weder Prostata noch Samenblasen. Er beschloß
nunmehr, da eine erreur de sexe sich ergeben hatte,
auf plastischenrWege eine Vagina zn bilden, um einen
Kanal zu schaffen, durch den im Falle von Entstehung
einer Hämatom etra das Blut nach außen abgeleitet werden
konnte, er mußte jedoch auf diesen Plan verzichten, da
die Harnröhrenwand zu nah der vordem Mastdarmwand
anlag. Er fürchtete auch die Corpora cavernosa penis
resp. clitoridis dabei zu verletzen. Er diktierte also nur
die einmal gesetzte Wunde zwischen Urethral mündung
und Analmündung, indem er darauf rechnete, wenn das
Mädchen einmal heirate, so werde der Gatte allmählich
— 267 —
den heute geschaffenen Recessus erweitern per cohabita-
tiones. Endlich fügte er noch den Bauchschnitt hinzu
und entfernte beiderseits die Uterusadnexa, um der
Bildung einer Hämatometra, Hämatosalpinx, Hämatocele
vorzubeugen. Cornil und Briault konstatierten mikros-
kopisch am Präparat, daß die Geschlechtsdrüsen wirklich
die Ovarien waren. Es handelt sich also um einen weib-
lichen Scheinzwitter mit Def ectus vaginae, hypertrophischer
erectiler Clitoris, allgemeinem männlichen Aussehen,
Behaarung, Andromastie etc. In diesem Falle würde
wohl ein jeder Gynäkologe denselben diagnostischen
Fehler gemacht haben wie P£an. Interessant ist, daß
das Kind gleich nach seiner Geburt richtig als Mädchen
erkannt und auch als Mädchen getauft wurde, die
Aenderung der Metrik in späteren Jahren in eine männliche
falsch war. — Dieser Fall steht, was mehrfache Änderung
der Metrik anbetrifft, nicht einzig da!
3) Sujetinow [Medicinskoje Obozrenje [Russisch]
1897 pg.] beschrieb eine 45 jährige Frau, welche in
jüngeren Jahren zwei Jahre lang unregelmäßig ihre
Menstruation gehabt haben soll, später aber gar keine.
Männliche Gesichtsbehaarung mit Schnurrbart und Backen-
bart; Andromastie, männliches Becken, männlicher Typus
der Extremitäten. Rechterseits ein reponibler Leisten-
bruch. Die rechte Schamlefze enthält ein Gebilde von
der Gestalt eines Hodens, von letzterem zieht eine Art
Strang nach dem Leistenkanale hin. Clitoris 5 Zentimeter
lang und zwei Zentimeter dick, macht eher den Eindruck
eines hypospadischen Penis. Kleine Schamlippen fehlen
ganz. Die Scheide eng, in der Tiefe blindsackartig ge-
schlossen, läßt den Finger nicht ein. Per rectum keinerlei
charakteristischen Gebilde getastet, bezüglich Ent-
scheidung fraglichen Geschlechtes. Es wurde später bei
Incarceration die Herniotomie gemacht. Das in der einen
Schamlefze enthaltene Gebilde war der Eierstock und
— 268 —
der Strang die Tube. Es handelte sich also um einen
weiblichen Scheinzwitter mit Hernia uteri, salpingis et
ovarii lateris dextri, hypertrophischer erectiler Clitoris
und zahlreichen männlichen secundären Geschlechts-
charakteren bei mangelhafter Ausbildung der Müll erWien
Gänge, sowie Mangel der kleinen Schamlippen. (In dem
Referate [Journal für Geburtshülf e und Frauenkrankheiten.
Petersburg 1898 pg. 248] ist leider nicht gesagt, ob eine
mikroskopische Untersuchung der Geschlechtsdrüse vor-
genommen wurde oder nicht, welche für die endgültige
Entscheidung des Geschlechtes ein wichtiges Desiderat
sein muß, da makroskopisch man sich mehr als leicht in
solchen Fragen irren kann. N.).
4) Walther [Bulletins et M&noires de la Soctete
de Chirurgie der Paris 1902, Tome XXVIH. No. 31 pg.
938 und N: 32 pg. 972]: „ Anomalie genitale" — Höchst
interessante Beobachtung von erreur de sexe. Ein
24j ähriger Sattler trat in das Hospital de la Piti£ ein
am 3. IX. 1902 und verlangte operative Abhilfe wegen
Mißgestaltung seiner Geschlechtsorgane. Gleich nach der
Geburt war sein Geschlecht als weiblich bestimmt worden,
später wurde jedoch auf den Rat eines Arztes hin die
Metrik in eine männliche geändert. Am 4. März 1902
stellte Petit dieses Individuum in der Soci£t£ M^dicale
des Höpitaux vor. Die äußeren Geschlechtsteile sehen
aus wie bei Hypospadiasis peniscrotalis oder wie eine
Vulva mit bedeutender Clitorishypertrophie. Das Scrotum
fissum resp. die Schamlefzen leer, aber dicht unterhalb
der äußeren Öffnung des rechtsseitigen Leistenkanals
fühlte man ein kleines eiförmiges Körperchen, eine weiche
Inguinalhernie, in der man ein härteres Gebilde tastete,
das den Eindruck einer Geschlechtsdrüse machte und
sehr druckempfindlich war. Eine ähnliche Hernie mit
einem analogen Körperchen wurde nun auch links getastet.
Per rectum waren keine für das eine oder andere Ge-
— 269 —
schlecht charakteristischen Gebilde zu tasten. Das Aus-
sehen dieses Individuum war weder männlich noch weib-
lich, sondern gemischt. Man bemerkte eine gewisse Infan-
tilität der Entwickelung, keine Spur von Gesichtsbehaarung
trotz des Alters von 24 Jahren. Becken und Brüste
weiblich, Taille eher männlich, Stimme indifferent, weder
männlich noch weiblich. Den Harn gibt der Sattler nach
Frauenart ab; seit dem 16. Jahre sollen alle Monate
etwa 160 Gramm Blut aus der Harnröhre entleert werden,
die Blutung dauert jedesmal 2 — 3 Tage, die Blutaus-
scheidung ist jedesmal begleitet von Anschwellen der in
den Leisten getasteten Gebilde (der Ovarien?) — Trotz
dieser anscheinenden Menstruation ist der Geschlechtstrieb
rein männlich, sowie auch der Sattler von seinem männ-
lichen Geschlechte überzeugt ist.
Der Penis fissus hypospadiaeus verrät sofort Erektio-
nen, wenn der Sattler sich in weiblicher Gesellschaft
befindet und nur die Krümmung nach abwärts zu ist
die Ursache, weshalb der Sattler bis jetzt noch keinen
Beischlaf mit einer Frau versucht hat. Während der
Erektionen kommt es zur Ejakulation einer klebrigen
Flüssigkeit, in der jedoch Laignel-Lavastine keine
Spermatozoiden fand. Einige Tage nach dieser Demon-
stration vollzog Walther die beiderseitige Herniotomie
und fand rechterseits einen atrophischen Eierstock und
die rechte Tube, die er in die Bauchhöhle zurückschob,
den Inhalt des linksseitigen Bruches trug er ab; es war
das zusammengeknickte Mittelstück der linken Tube,
deren Abdominalende sowie das uterine in der Bauch-
höhle lagen — eine Sactosalpinx verbacken mit dem
sklerotischen Ovarium, das cystisch entartet war, und
mit dem Netz. Der linke Eierstock enthielt ein Corpus
luteum. Die operative Entfernung dieser Gebilde war
sehr schwierig. Walther fügte einen kleinen diagno-
stischen Leibschnitt hinzu um den Zustand des Netzes zu
— 270 —
kontrollieren, das er in vier einzelnen Bündeln unterbunden,
teilweise hatte abtragen müssen, sowie die swei Stümpfe
der linksseitigen Adnexa, und fand bei dieser Gelegenheit
einen kleinen Uterus vor. Die Herniotomie konstatierte
hier also weibliches Scheinzwittertum bei einem Indivi-
duum, das absolut den Eindruck eines Mannes machte.
In der Diskussion hatten vor Ausführung dieser Operation
sowohl Lucas-Championni£re als auch F£lizet dieses
Individuum mit aller Bestimmtheit für einen Mann erklärt.
Bruno T. Carreiro: „Pseudohermaphrodismo
androgynoide on un caso de supposto hernia inguinal
d'ovario." O Correio med. de Liaboa. Octob. 1896 p.
149. [Da mir der Aufsatz nicht zugänglich, vermag ich
keinerlei Einzelheiten anzugeben.]
Dritte Gruppe.
13 Leistenschnitte bei Männern resp. männlichen
Scheinzwittern mit Konstatierung eines mehr oder
weniger entwickelten Uterus oder einer oder der bei-
den Tuben in hernia resp. in der Bauchhöhle.
1) Billroth (siehe Klotz: „Extraabdominelle
Hystero-Ovariotomie bei einem wahren Zwitter" Archiv
für klinische Chirurgie Vol. XXIV pg. 454 — 1880 —
siehe Referat: Zentralblatt für Gynäkologie, 1880 No. 1.
pg. 15) (siehe Fig. 19 u. 20). Ein 24 jähriger jüdischer
Kaufmann, Israel Jaroszewski aus Rußland, kam zu Bill-
roth wegen einer Leistenhernie. Billroth konstatierte
eine Hypospadiasis peniscrotalis mit einer Pseudovulva
mit großen und kleinen Schamlippen und weiblicher
Urethralmündung. In der linken Schamlefze lag ein
Hode, Nebenhode und Samenstrang, rechterseits jedoch
enthielt die Schamlefze einen Tumor und wies eine Fistel-
öffnung in ihren Hautdecken auf, welche eine Sonde
einige Millimeter tief einließ. Der Tumor soll nach
— 271 —
Aussage ^deö^Patienten schon viele, viele Jahre existieren,
fing jedoch erst im 16. Jahre an, sich zu vergrößern und
von eben diesem 16. Jahre an. bekam Israel J. alle vier
Wochen periodisch starke Schmerzen im Kreuz und diverse
Molimina, welche jedesmal 4 — 10 Tage anhielten. Während
dieser Schmerzperiode entleerte sich stets Blut sowohl
aus der Harnröhre als auch aus der vorgenannten
Fistel des rechten Labium pudendi majus. Diese Blutung
wiederholte sich alle Monate und dauerte gewöhnlich
vier Tage. Israel verfiel sowohl infolge seiner Leiden,
sowie auch infolgedessen, daß er sich angesichts seiner
genitalen Mißbildung nicht verheiraten konnte, in einen
Zustand von Melancholie, welche sich mit der Zeit so
steigerte, daß er sich sogar mit Selbstmordsgedanken
getragen hatte. Er gestand ein, geschlechtlich sowohl
mit Knaben als auch mit Mädchen verkehrt zu haben,
wobeier Erektionen und Ejakulationen hatte. Billroth
konstatierte zunächst einen rechtzeitigen Leistenbruch,
der aber keinen Darm zum Inhalte hatte, wie ihm schien,
und setzte ein Neoplasma des rechten Hodens voraus.
Am 25. Juli 1878 schritt er zur Herniotomie. Er fand
in dem Bruchsacke eine cystische Bildung, deren Stiel
in den Leistenkanal hineinreichte. Er unterband diesen
Stiel, wobei er teilweise die Bauchhöhle öffnen mußte,
unter sehr starker Blutung. Er durchschnitt dann den
Stiel und unterband die Gefäße einzeln und vernähte
dann die Hautdecken wunde. Nach zwei Tagen erfolgte
unter Kollapserscheinungen der Tod. Als Ursache ergab
sich eine Blutung in die Bauchhöhle hinein infolge von
Abgleitens einer arteriellen Ligatur. Die Sektion des
Leichnames wurde von Chiari gemacht. Die Brüste
waren groß, weiblich, in der linken Schamlef ze fand man
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang von normaler
Anlage, der exstirpierte Tumor bestand aus mehreren
Teilen : es hatte eine hernia inguinolabialis uteri unicornis
— 274 —
der Samenblasen und der Prostata. Eine Erklärung der
allmonatlichen Blutungen ex Urethra und aus der Fistel
im rechten Labium majus steht aus. Geschlechtsdrang
männlich. (Siehe Fig. 11 u. 12).
2) Bö ekel [„Exstirpation d'un uterus et d'une trompe
herntee chez un homme". Acad&nie de M&iecine de
Paris. 19. Avril 1892. — Semaine M^dicale 1892 Vol. XIL
pg. 146]: Bö ekel fand in einer Inguinolabialhernie bei
einem männlichen Individuum . einen Uterus bicornis,
welcher eine Höhle enthielt, eine Tube und einen Hoden
samt Nebenhoden und Vas deferens, welche letzteren Ge-
bilde im Ligamentum latum gelagert waren. [Da mir die
Arbeit von Böc.kel nicht vorliegt, so muß ich mich auf
das kurze Referat von Prof. Stumpf beschränken].
3) Carle [siehe Grüner: „Utero e. trombe di Fal-
loppio in un uomo* — Giornale della Reale Academia
di Torino. — 1897 Anno LX. pg. 229 und pg. 257—286].
Die mikroskopische Untersuchung wurde im Laboratorium
des Professors Giacomini gemacht. Am 9. November
1894 trat ein 36-jähriger Telegraphist in die chirurgische
Klinik von Carle in Turin ein wegen eines links-
seitigen Leistenbruches, der vor einem Monate erst unter
heftigen Schmerzen entstanden war. Der Kranke selbst
glaubte, der linke Hoden habe sich vergrößert und sei
härter geworden. Carle machte die Herniotomie und
fand in hernia einen nicht schmerzhaften, beweglichen
Körper von Hühnereigröße, welcher sich leicht reponieren
ließ auf dem Wege der Taxis. Der Patient vertrug ab-
solut ein Bruchband nicht und kam deshalb in das Hospital,
Der Hodensack enthielt nur den linken Hoden und ober-
halb dieses linken Hodens jene reponible Hernie, einen
Tumor. Nach zwei Monaten kehrte der Patient am
26. IV. 1894 wieder in die Klinik zurück und wurde
jetzt die Hernitomie gemacht mit gleichzeitiger Eröffnung
der Bauchhöhle. Man überzeugte sich hierbei, daß dieser
— 273 —
Hypothese aus! Nach unseren [heutigen Kenntnissen ist
ein derartiges Vorkommnis beim Menschen bisher über-
haupt nicht zweifellos erwiesen worden. Es scheint viel-
mehr, daß es sich um einen cystisch degenerierten rechten
Hoden handelte. Scham behaarung weiblich, die allgemeine
Behaarung jedoch sowie die des Gesichtes männlich,
Ftg. .£.
Fig. 12. Äußere Genitalien desselben Individuum bei Spreizung der
Pseudovulva.
a, b = Geschlechtssäcke (Scrotalhälften), c = Geschlechtsglied,
d = Frenulum, f=Orificiimi sinus urogenitaiis, g = Präputium,
h = Nymphen, i = fistulöser menstruierender Ausfuhrungsgang
der in hernia inguinoscrotali liegenden Uterushälfte.
Hypospadiasis peniscrotalis; Penis 8 Centimeter lang.
Keine Prostata gefunden, linker Hoden normal. Das
Ergebnis der Sektion lautete: Uterus unicornis hohen
Entwickelungsgrades samt Vagina und Hymen — der
Uterus teilweise in hernia inguinali liegend — bei einem
männlichen Hypospaden mit Mangel eines Vas deferens,
Jahrbuch V. 18
— 274 —
der Samenblasen und der Prostata. Eine Erklärung der
allmonatlichen Blutungen ex Urethra und aus der Fistel
im rechten Labium tnajns steht aus. Geschlechtsdrang
männlich. (Siehe Fig. 11 u. 12 j.
2) Bö ekel [„Exstirpation d'un utärus et d'une trompe
herni£e chez un homme". Acad£mie de Mldecine de
Paris. 19. Avril 1892. — Semaine Mädicale 1892 Vol. XII,
pg. 146]: Bö ekel fand in einer Inguinolabialhernie bei
einem männlichen Individuum . einen Uterus bicornis,
welcher eine Höhle enthielt, eine Tube und einen Hoden
samt Nebenhoden und Vas deferens, welche letzteren Ge-
bilde im Ligamentum latum gelagert waren. [Da mir die
Arbeit von Böc,kel nicht vorliegt^ so muß ich mich auf
das kurze Referat von Prof. Stumpf beschränken].
3) Carle [siehe Grüner: „Utero etrombe di Fal-
loppio in un uomo* — Giornale della Reale Academia
di Torino. — 1897 Anno LX. pg. 229 und pg. 257—286].
Die mikroskopische Untersuchung wurde im Laboratorium
des Professors Giacomini gemacht. Am 9. November
1804 trat ein 36-jähriger Telegraphist in die chirurgische
Klinik von Carle in Turin ein wegen eines links-
seitigen Leistenbruches, der vor einem Monate erst unter
heftigen Schmerzen entstanden war. Der Kranke selbst
glaubte, der linke Hoden habe sich vergrößert und sei
härter geworden. Carle machte die Herniotomie und
fand in hernia einen nicht schmerzhaften, beweglichen
Körper von Hühnereigröße, welcher sich leicht reponieren
ließ auf dem Wege der Taxis. Der Patient vertrug ab-
solut ein Bruchband nicht und kam deshalb in das Hospital,
Der Hodensack enthielt nur den linken Hoden und ober-
halb dieses linken Hodens jene reponible Hernie, einen
Tumor. Nach zwei Monaten kehrte der Patient am
26. IV. 1894 wieder in die Klinik zurück und wurde
jetzt die Hernitomie gemacht mit gleichzeitiger Eröffnung
der Bauchhöhle. Man überzeugte sich hierbei, daß dieser
- 275 —
Mann einen Uterus samt zwei Tuben besaß, deren linke
in jener Hernie lag. Beim Leistenschnitte erwies sich
der linke Hoden pathologisch entartet und wurde deshalb
abgetragen. Oberhalb des Hodens fand sich ein läng-
liches Gebilde, welches durch den Leistenkaual hindurch
sich in die Bauchhöhle fortsetzte. Es war dies eine Tube,
welche mit dem Hoden durch einen fibrösen Strang in
Verbindung stand. Bei Eröffnung der Bauchhöhle vom
Leistenschnitte aus fand sich ein Uterus auf der rechten
Fossa iliaca gelagert und die zweite Tube. — Neben der
linken Tube fand sich das linke Vas deferens. Der
Uterushals stand nach unten zu im Cavum rectovesicale
mit der Prostata in Verbindung. Es wurde der Hoden
linkerseits abgetragen samt dem Uterus, die Wunde ge-
schlossen. Wegen postoperativen Fiebers wurde die
Wunde wieder geöffnet, es fand sich aber kein Eiter;
die Wunde heilte per secundam intentionem. Später
erfuhr Giacomini, daß dieser Mann gestorben sei
infolge eines intraabdominellen Tumors (?) und zwar
nach Heimkehr in sein Haus. Von der Frau dieses
Telegraphisten erfuhr er, daß ihr Mann normalen Verstand
hatte und gutmütigen Charakters war, daß er seinen
ehelichen Pflichten regelmäßig nachkam, aber die Ehe
war eine kinderlose; weiter erfuhr er, daß, soweit der
Frau bekannt, ihr Mann niemals genitale Blutungen ir-
gend welcher Art gehabt hatte. Bei der Operation war
die linke Tube, ein Uterus bicornis und das zentrale
Ende der rechten Tube entfernt worden. Grüner, welcher
das postoperative Präparat untersuchte, gibt die Ab-
bildung von vorn und von hinten gesehen, und Bilder
der mikroskopischen Schnitte von Uterus, Tube und Vas
deferens und eine sehr detaillierte Beschreibung. Uterus
und Tuben viabel, linke Tube 8 Centimeter lang, 7 Milli-
meter im Umfange. Bezüglich des Tumors der ent-
arteten linksseitigen Geschlechtsdrüse konnte das Mikros-
18*
— 276 —
kop einen sicheren Entscheid nicht geben, O. rechnete
diesen Tumor zu den Teratomen. Per i preparati fatti
dal tumore PA. lo ascrive alla categoria dei tumori da
resti fetali in prolif erazione : Questi appartenavo con tutta
probilita ad una ghiandola sessuale gia, differenziate in
testicolo,* 6. gibt an, er sei absolut nicht im Stande,
auf Grund der sorgfältigsten mikroskopischen Unter-
suchung in diesem Falle zu entscheiden, ob der Tumor
aus einem Hoden oder einem Ovarium entstanden war.
Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte es sich doch um
einen degenerierten Hoden gehandelt haben.
4) D e r v e au, Uterus, trompe et testicule contenus dans
une hernie inguinale cong£nitale chez un homme" —
Cercle M&iical de Bruxelles 5. IV. 1902 — siehe: Re-
ferat: Zentralblatt für Chirurgie Vol. XXVUI. pg. 952J.
Bei einem 69 jährigen Manne, der Ejakulationen hatte
und aus dessen Ehe 6 Kinder hervorgegangen waren,
fand Derveau bei der Operation eines angeborenen
Leistenbruches im Bruchsacke einen Uterus, Tuben und ein
scheidenähnliches Gebilde, welches wahrscheinlich in die
Harnröhre mündete. Der Hodensack enthielt außer der
Hernie keinen Inhalt, in jedem der ligamenta lata fand
sich ein normaler Hode. Die Blase kam während der
Operation nicht zu Gesicht. Über den Zustand der äußeren
Genitalien wird nichts berichtet, schreibt Mohr in dem
Referate; ich schliesse daraus, daß wahrscheinlich der
Penis normal gebildet war. Kryptorchismus bilateralis
bei hochgradiger Entwickelung der Müller'schen Gänge.
5) Fantino (Giuseppe): Der Prof essor der Gynäko-
logie Fantino in Bergamo teilte mir am 10. III. 1902
brieflich mit, er habe am 5. III. bei einem Manne in
hernia inguinali im Bruchsacke einen Uterus gefunden
mit beiden Tuben und zwei Hoden. Der linksseitige
Leistenkanal war leer. (Der Fall scheint bis jetzt noch
nicht publiziert zu sein.)
277 —
6) Filippini [H Morgagni. Dicembre 1900 —
siehe Referat: Münchener Medizinische Wochenschrift
1901 No. 10 pg. 403] beschrieb einen Fall von angeblich
wahrem Zwittertume: Er fand bei einem 23 jährigen
Manne bei Operation eines rechtsseitigen Leistenbruches
in hernia einen Uterus und eine Tube und angeblich
eir^Ovarium, während linkerseits im Scrotum ein Hode
lag. Die Allgemeinerscheinung dieses Mannes war rein
männlich. Offenbar liegt hier ein Irrtum in der mikros-
kopischen Deutung der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse
vor. [Leider bin ich nicht im Besitz der Original arbeit,
das Referat ist aber so kur«, daß damit nicht viel anzu-
fangen ist, obwohl ein so seltener Fall gewiß ein ein-
gehenderes Referat verdiente.]
7) Griffith [siehe Gruppe I Fall 9: Uterus bei
einem männlichen Scheinzwitter sub Castratione entdeckt],
8) Guldenarm [siehe: Siegenbeck van Heu-
k e 1 o m : Ueber den tubulären und glandulären Hermaphro-
ditismus beim Menschen. „Ziegl er's Beiträge zur patho-
logischen Anatomie und allgemeinen Pathologie." 1898 Vol.
XXIII. Heft I. pg. 144 — 160]. S. beschreibt einen Mann mit
rechtsseitigem Kryptorchismus und Leistenbruch. Penis
und Scrotum normal. In dem offen gebliebenen Pro-
cessus vaginalis peritonaei fand sich ein Uterus, sehr
wohl ausgebildet. Am 7. XII. 1896 sandte Guldenarm
aus Rotterdam das postoperative Präparat an Siegenbeck
van Heukelom zur Untersuchung. Guldenarm hattedie
Herniotomie gemacht, weil der Mann absolut kein Bruch-
band vertragen konnte. Ein Arzt hatte ein Bruchband
wegen von ihm vorausgesetzter Hernia omenti verordnet.
Guldenarm entfernte sub operatione die in dem Bruche
enthaltenen Gebilde sowie den linken Hoden und Neben-
hoden. Rechterseits lag Kryptorchismus vor. Statt des
Omentum fand sich in hernia ein vom Peritoneum um-
hülltes Körperchen von 13 Mill. Länge und zylindrischer
— 278 —
Gestalt; das rechtsseitige Ende dieses Gebildes endete
frei, das linksseitige war in strikter Verbindung mit dem
linken Hoden. Das Gebilde hatte eine dreieckige Ge-
stalt und saß an einem Stiele, der dnrch den Leisten-
kanal in das kleine Becken ging. In diesem Stiel konnte
man eine Art Strang tasten, welcher in der Richtung
nach dem kleinen Becken zu immer dünner wurde, Dach
außen zu aber immer dicker. Dieser Stiel inserierte
in der Mitte jenes dreieckigen Gebildes. Der Stiel wurde
bei der Operation durchschnitten und es zeigte sich,
daß er einen Kanal enthielt, in welchen eine Sonde tief
eindringen konnte bis zur Pars prostatica urethrae.
Dieses zylindrische Gebilde war abgetragen worden dicht
bei der Epididymis. Schon während der Operation ver-
mutete Guldenarm, dieses zylindrische Körperohen sei
ein Uterus und jener sondendurchgängige Kanal ein ductus
genitalis femininus, der sich in die Urethra in capite gal-
•Hnaginis eröffnet. Keine Prostata getastet. Das Präpa-
rat enthielt den amputierten Uterus bicornis, Hoden und
Nebenhoden. Letztere Gebilde standen in inniger Ver-
bindung mit dem peripheren Ende der linken Tube. Es
gelang sub operatione auch den rechten Hoden und
Nebenhoden aus der Bauchhöhle herauszuziehen, wenn man
an jenem Stiele zog.
Die Hernie hatte also das rechte Hörn eines Uterus
bicornis enthalten. An dem Präparate fand man den
Ductus genitalis femininus 10 Mill. lang, eine cervix uteri
mit Plicae palmatae ausgestattet, — die rechte Tube war
56 Mill. lang und ohne Morsus diaboli, sie verlor sich im
rechten Nebenhoden. Man fand am Präparate sowohl
eine Hydatis pedunculata als auch eine Hydatis sessilis;
rechterseits von dem ductus genitalis femininus verlief
das rechtsseitige Vas deferens, verbunden mit dem rechts-
seitigen Nebenhoden. Man fand Spuren eines ligamen-
tum rotundum, konnte aber eine Arteria uterina nicht
■
— 279 —
mit Sicherheit am Präparate nachweisen. Siegenbeck
gibt eine genaue mikroskopische Beschreibung. Man
hatte sub operatione den Uterus bicornis samt beiden
Tuben entfernt und auch den rechtsseitigen Hoden und
Nebenhoden, welche aus der Bauchhöhle durch den links-
seitigen Leistenkanal herausgezogen worden waren. Die
Gegenwart so hochgradig entwickelter Müll e r 'scher Gänge
bei diesem Manne erinnert an das normale Verhalten
beim Biber, wo normal die Müller'schen Gänge auch
beim Männchen zur Entwickelung gelangen. Siegen-
beck van Heukelom fügt hier eine sehr interessante
Bemerkung hinzu: Die strikte Vereinigung der beiden
Hoden miteinander durch den Uterus bicornis, ein mus-
kulöses, nicht dehnbares Organ, war die Ursache, wes-
halb der rechte Hoden nicht seinen descensus vollziehen
konnte angesichts der'Kürze des Uterus und seiner Tuben.
Der tubuläre Hermaphroditismus war in diesem Falle
die^Ursache, weshalb rechtsseitig Kryptorchismus vor-
liegen mußte. Die rechte Tube durchbohrte in schräger
Richtung den rechten Nebenhoden und reichte bis an
jene, zwischen Hoden und Nebenhoden belegene Hydatis
pedunculata, wo sie "mit epithelbedeckten Fimbrien en-
dete. Das soll die Richtigkeit der 1871 von Fl ei sc hl
ausgesprochenen und von Waldeyer acceptierten Ver-
mutung beweisen, daß die Hydatis Morgagnii nichts
Anderes sei als das persistierende periphere Ende des
Müller'schen Ganges.
Siegenbecks Ansicht, daß bei einem so stark aus-
gebildeten tubulären männlichen Hermaphroditismus, wie
er hier vorliegt, entweder ein Kryptorchismus bilateralis
oder Kryptorchismus unilateralis mit einer hernia conge-
nita da sein muß, erscheint mir durchaus gerechtfertigt.
Er motiviert dieselbe folgendermaßen: Die Müll er'schen
Gänge haben sich, statt zu schwinden, zu einem überall
dickwandigen Gange umgestaltet. Während die oberen
— 280 —
Teile sioh jeder für sich entwickelt haben, sind die
unteren von einer Cervix uteri zusammengeschmolzen und
so sind die Hoden und Nebenhoden mittelst eines un-
unterbrochenen, dicken und verhältnismäßig kurzen Stranges
fest mit einander verbunden. Dadurch wird bei inten-
diertem Descensus testiculorum das Eintreten der Hoden
in je eine Scrotalhälfte unmöglich. Es können sich da-
raus nach Siegenbeck 2, nach meiner Ansicht 3 ab-
norme Lagerungen der Hoden entwickeln. Entweder
bleiben beide Hoden in der Bauchhöle zurück, oder einer
kann in die Scrotalhöhle eintreten, der andere muß in
der Bauchhöhle bleiben nach Siegenbeck, in welchem
Falle der Uterus und die Tuben fest verbunden mit dem
descendierten Hoden notwendig den Descensus des anderen
Hodens verhindern; ich betone als dritte Möglichkeit den
Austritt von Uterus und beiden Hoden in eine und dieselbe
Scrotalhälfte wie im Falle Fantin o's (s. i. Vorhergehenden).
9) Pozzi (siehe im Vorgehenden Fall No. 25]. Bei
einem als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter in
einer Inguinalhernie neben dem Hoden ein Hörn eines
Uterus bicornis.
10) Sänger [siehe im Vorgehenden Fall 27]. In einer
Inguinalhernie ein Uterus samt Tube und Parovarialcyste
neben dem Hoden liegend.
11) Stonham [siehe im Vorgehenden Fall 32]. Die
Sektion eines nach Herniotomie verstorbenen Mädchens
ergab männliches Geschlecht, Hypospadiasis peniscrotalis
mit Kryptorchismus. Neben inneren männlichen Genita-
lien fand sich ein Uterus bicornis nebst Tuben und Vagina.
Hoden lagen da, wo die Ovarien bei Frauen liegen, keine
Samenblasengefunden. Hier istSiegenbeck's theoreti-
sches Postulat des Kryptorchismus bilateralis erfüllt. 2
12) Thiersch [siehe Schmorl: „Ein »Fall von
Hermaphroditismus* Virchow's Archiv. Bd. CXI. 1888.
pg. 229 — 244]. Schmorl beschrieb eine interessante Be-
— 281 —
obachtung von Thiersch. Ein 22-jähriger Schüler der
Leipziger Kunstakademie trat in die chirurgische Klinik
1887 ein mit der Bitte, auf operativem Wege ihm die
Möglichkeit zu schaffen nach Art der Männer harnen zu
können und daß er auch als Mann den Beischlaf ausüben
könne. Thiersch sagte ihm nach der Untersuchung, er
halte nicht viel von derartiger Plastik, was das Endresultat
anbetreffe. 1882 war ein rechtsseitiger Leistenbruch
ausgetreten, welcher bis in die Tiefe des gespaltenen
Scrotum herabreichte, in derselben Hälfte des Scrotum
tastete man Hoden und Nebenhoden, die linke Hälfte des
Scrotum erwies sich geschrumpft und leer. Thiersch
vollzog eine ganze Reihe plastischer Eingriffe, um den
hypospadischen nach unten gekrümmten Penis gerade zu
machen ! Nachdem er Wasser in die Harnblase eingespritzt
hatte, bemerkte er ein Anschwellen der linken Leisten-
gegend, in der Folge aber erwies sich sowohl die normale
Entleerung der Harnblase erschwert als auch diejenige
durch einen Katheter. Um die Ursache dieser eigentüm-
lichen Erscheinung festzustellen, machte Thiersch jetzt
eine andere Operation, er machte einen Einschnitt wie
bei Herniotomie und fand im Leistenkanale ein Gebilde
von 5 Centimeter Länge und 2 Centimeter Dicke, welches
er zunächst für den linken Hoden ansah. Nach Unter-
bindung des Stieles trug er diesen scheinbaren Hoden ab,
den Samenstrang kauterisierte er mit Paqueli n's Brenner.
Gleich nach dieser Operation stellte sich eine Peritonitis
ein mit Singultus, Coma und Tod am nächsten Tage. Bei
der Sektion fand man einen Uterus bicornis und eine
Scheide, welche in capite gallinaginis der Urethra mündete.
Der Uterovaginalkanal hatte 15 Centimeter Länge. Das
von Thiersch als Hoden abgetragene Gebilde erwies sich
als das periphere Ende der linken Tube mit zwei kleinen
Cysten. Das Abdominalende der rechten Tube lag im
rechten Leistenkanale, die rechtsseitige Inguinalhernie ent-
— 282 —
hielt das große T^etz. Neben der rechten Tube fand ich
ein Parovarium, die rechte Hälfte des gespaltenen
Scrotum enthielt einen atrophischen Hoden ohne Neben-
hoden und ohne Vas deferens.~ Schmorl betrachtete ein
atrophisches kleines Gebilde, halbkirschengroß rechterseits
im Bindegewebe unterhalb des abdominalen Endes der
Tube belegen, als einen rudimentären Eierstock, freilich
ohne den geringsten Beweis für die Richtigkeit dieser
Annahme bringen zu können. In diesem Falle wies nicht
die Herniotomie, sondern die postmortale Leichenschau
das Existieren eines Uterus bicornis und einer Scheide
nach. Kryptorchismus unilateralis bei hochgradiger Ent-
wicklung der Müll ergehen Gänge.
13) Winkler [„Über einen Fall von Pseudoherma-
phroditismus masculinus externus*. I. D. Zürich 1898].
52-jähriger Mann behaftet mit einem angeborenen Leisten-
bruche. Während einer Herniotomie im Jahre 1878 hatte
man Kryptorchismus konstatiert 1892 kam es zu einem
Recidiv des Bruches. Man machte den Bauchschnitt und
durchschnitt einen Adhaesionsstrang, welcher die Darm-
nnwegsamkeit veranlaßt hatte. Der Kranke starb trotz-
dem am nächsten Morgen infolge von Peritonitis acutissima.
Die Nekropsie wies einen Hoden, den rechtsseitigen, in
der Bauchhöhle nach, linkerseits fand man in der Mün-
dung des Leistenkanales das periphere Ende der linken
Tube. Man fand in der Bauchhöhle einen Uterus bicornis
mit Scheide, — der Uterovaginalkanal hatte eine Länge von
17 Centimetern. Der Uteruskanal war 9 Centimeter lang,
die Vagina 8. Das untere Scheidenende war von der
Prostata umschlossen. Penis klein aber normal, Scrotum
leer. Oberhalb der Prostata fand man die Mündung des
linken Vas deferens in die Vagina, die linke Samenblase
lag seitlich von der Vagina. Fundus uteri 2 Centimeter
breit. Man fand natürlich eine Excavatio rectouterina
und vesicouterina. Die linke Tube verlief in Ligamento
— 283
Fun.
;.TNe.Ho. Uu. lyas def ,
Lig la,
- vag.
---r.Saf.
— LSa.
--• du.ej
.— Prost
- 'Et.
RiTOert (Tel
Fig. 13.
Anatomisches Präparat der inneren'Geni tauen eines 52jähr.*!Kryptorchisten fmit
hochgradiger Entwickeluog der Müller 'schen]Gänge. Beobachtung von W i n c k l e r,
Nekropsie von Ribber t vollzogen. Der weibliche Genitalschlauch ist~von]|hinten
der Läpge nach eröffnet. Ei = Einmündungsstelle*des|Uterus in die. Urethra, ent-
sprechend dem Sitz einer normalen Vesicula prostatica ; Prost. = Prostata ; du. ej. =
Ductus ejaculatorius ; 1. Sa. = linker Samenleiter; r. Sa. = rechter Samenleiter;
Vag. = Vagina; Ut. = Uterus; 1. vas Tdef. = linkes Vas deferens; r. Tu. = rechte
Tube ; Cy. = Cysten ; r. Ho. = rechte Hode ;"Lig. la. = Ligamentum latum ;'l. Tu. =
linke Tube ; Ne. Ho. = Nebenhodenkanälchen ; j.l."Ho. — linker Hode; Firn. =
Fimbrien der.linkenVTube.
SSektionspräjparat vom^Uterus masculinus eines'Kryptorchiaten.
— 274 —
der Samenblasen und der Prostata. Eine Erklärung der
allmonatlichen Blutungen ex Urethra und aus der Fistel
im rechten Labium majus steht aus. Geschlechtsdrang
männlich. (Siehe Fig. 11 u. 12).
2) Bö ekel [„Exstirpation (Tun utärus et d'une trompe
herni£e chez un homme". Acad£mie de Mldecine de
Paris. 19. Avril 1892. — Semaine M^dicale 1892 Vol. XII,
pg. 146]: Bö ekel fand in einer Inguinolabialhernie bei
einem männlichen Individuum . einen Uterus bicornis,
welcher eine Höhle enthielt, eine Tube und einen Hoden
samt Nebenhoden und Vas deferens, welche letzteren Ge-
bilde im Ligamentum latum gelagert waren. [Da mir die
Arbeit von Böc.kel nicht vorliegt, so muß ich mich auf
das kurze Referat von Prof. Stumpf beschränken].
8) Carle [siehe Grüner: „Utero e. trombe di Fal-
loppio in un uomo" — Giornale della Reale Academia
di Torino. — 1897 Anno LX. pg. 229 und pg. 257—286].
Die mikroskopische Untersuchung wurde im Laboratorium
des Professors Giacomini gemacht. Am 9. November
1894 trat ein 36-jähriger Telegraphist in die chirurgische
Klinik von Carle in Turin ein wegen eines links-
seitigen Leistenbruches, der vor einem Monate erst unter
heftigen Schmerzen entstanden war. Der Kranke selbst
glaubte, der linke Hoden habe sich vergrößert und sei
härter geworden. Carle machte die Herniotomie und
fand in hernia einen nicht schmerzhaften, beweglichen
Körper von Hühnereigröße, welcher sich leicht reponieren
ließ auf dem Wege der Taxis. Der Patient vertrug ab-
solut ein Bruchband nicht und kam deshalb in das Hospital,
Der Hodensack enthielt nur den linken Hoden und ober-
halb dieses linken Hodens jene reponible Hernie, einen
Tumor. Nach zwei Monaten kehrte der Patient am
26. IV. 1894 wieder in die Klinik zurück und wurde
jetzt die Hernitomie gemacht mit gleichzeitiger Eröffnung
der Bauchhöhle. Man überzeugte sich hierbei, daß dieser
- 275 —
Mann einen Uterus samt zwei Tuben besaß, deren linke
in jener Hernie lag. Beim Leistenschnitte erwies sich
der linke Hoden pathologisch entartet und wurde deshalb
abgetragen. Oberhalb des Hodens fand sich ein läng-
liches Gebilde, welches durch den Leistenkanal hindurch
sich in die Bauchhöhle fortsetzte. Es war dies eine Tube,
welche mit dem Hoden durch einen fibrösen Strang in
Verbindung stand. Bei Eröffnung der Bauchhöhle vom
Leistenschnitte aus fand sich ein Uterus auf der rechten
Fossa iliaca gelagert und die zweite Tube. — Neben der
linken Tube fand sich das linke Vas deferens. Der
Uterushals stand nach unten zu im Cavum rectovesicale
mit der Prostata in Verbindung. Es wurde der Hoden
linkerseits abgetragen samt dem Uterus, die Wunde ge-
schlossen. Wegen postoperativen Fiebers wurde die
Wunde wieder geöffnet, es fand sich aber kein Eiter;
die Wunde heilte per secundam intentionem. Später
erfuhr Giacomini, daß dieser Mann gestorben sei
infolge eines intraabdominellen Tumors (?) und zwar
nach Heimkehr in sein Haus. Von der Frau dieses
Telegraphisten erfuhr er, daß ihr Mann normalen Verstand
hatte und gutmütigen Charakters war, daß er seinen
ehelichen Pflichten regelmäßig nachkam, aber die Ehe
war eine kinderlose; weiter erfuhr er, daß, soweit der
Frau bekannt, ihr Mann niemals genitale Blutungen ir-
gend welcher Art gehabt hatte. Bei der Operation war
die linke Tube, ein Uterus bicornis und das zentrale
Ende der rechten Tube entfernt worden. Grüner, welcher
das postoperative Präparat untersuchte, gibt die Ab-
bildung von vorn und von hinten gesehen, und Bilder
der mikroskopischen Schnitte von Uterus, Tube und Vas
deferens und eine sehr detaillierte Beschreibung. Uterus
und Tuben viabel, linke Tube 8 Centimeter lang, 7 Milli-
meter im Umfange. Bezüglich des Tumors der ent-
arteten linksseitigen Geschlechtsdrüse konnte das Mikros-
18*
— 286 —
Vorschlag ein. Die Operation ergab folgenden merk-
würdigen Befund: Nach Durchtrepnung des als Bruch-
sack vorgewölbten Peritonäalblattes ließ sich an einer
Peritonaealfalte ein sicher als Tube anzusprechendes
Gebilde hervorziehen, das sich in seinem uterinen Ende
in der Peritonäalplatte verlor; unter ihr subperitonaeal
lag ein höckriger, anscheinend aus einem Schlauchgeflecht
zusammengesetzter Körper, der als Parovarium bezw.
Ovarium aufgefaßt wurde; aus dessen in die Bauchhöhle
ziehenden Peritonäalblatt trat sodann ein etwa taubenei-
großer gelblicher Körper hervor, dem kappenartig ein
halbbohnengroßer, mehr weißlicher Knoten, ursprünglich
als Epididymis angesprochen, aufsaß; es zeigte sich jedoch,
daß in dem von diesem als Keimdrüse imponierenden
Gebilde abgehenden Peritonäalblatt ein festerer Strang
verlief, der nur als Vas deferens aufgefaßt werden konnte,
und neben diesem subperitonäal ein erbsengroßer, höck-
riger Körper, mutmaßlich der Nebenhoden.
Da somit der männliche Geschlechtsapparat vorhanden
zu sein schien, wurden als unbrauchbar die Tube und der
unter ihr gelegene Körper abgetragen, aus den übrigen Teilen
der Keimdrüse kleine Keile excidiert, desgleichen ein Teil
des neben dem Vas deferens gelegenen Körpers exstirpiert.
Die Präparate wurden von Dr. Simon, Volontärarzt
der Klinik, mikroskopisch untersucht. Der größere untere
Teil der Keimdrüse soll darnach einen Hoden mit den
Charakteren des Leistenhodens ohne Zeichen von Sper-
matogenese darstellen, der kleinere dem unteren kappen-
artig aufsitzende weißliche Knoten ein Ovarium, der unter
der Tube gelegene Körper ein Parovarium und das neben
dem Vas deferens gelegene Gebilde eine Epididymis.
Ovarium und Hoden sollen beide histologisch gut ausge-
bildet sein. Garr£ vermutet, daß die beiden bei Unter-
suchung per rectum linkerseits getasteten Körperchen,
von denen der eine flacher, der andere rundlicher er-
— 287 —
schien, Ovarium und Hoden seien, es würde dann bila-
teraler glandulärer Hermaphroditismus vorliegen. Es sollen
in diesem Falle zum ersten Male am lebenden Individuum
sowohl grob anatomisch als auch histologisch an frischen
Präparaten Testis und Ovarium nebeneinander konstatiert
worden sein.
Wie bekannt hat von sämtlichen Fällen, wo bisher
glandulärer, also echter Hermaphroditismus beim Menschen
beschrieben wurde, keiner der älteren einer mikros-
kopischen Kontroiuntersuchung Stand gehalten, nicht ein-
. mal die von Blacker und Lawrence beschriebene
Ovotestis — eine Geschlechtsdrüse mit gemischtem Bau.
Bisher ist nur der einzige Fall von v. Sal£n noch nicht
angefochten worden. Gleichwohl wäre es dringend zu
wünschen, daß sowohl die Präparate dieses Falles als
auch diejenigen des von Keller (Bloomfontein) ver-
öffentlichten, eines neuerdings im Anatomischen Anzeiger
angezeigten Falles und diejenigen von Garr£ und Simon
einer strengen mikroskopischen Kontrole unterworfen
würden. Theoretisch muß die Möglichkeit des Vorkommens
von glandulärem Hermaphroditismus beim Menschen laut
Analogie mit der Tierwelt zugegeben werden, es wäre
unendlich wichtig, wenn die Behauptungen Simonis
bezüglich der Königsberger Präparate sich als tat-
sächlich begründet erweisen würden.
Vierte Gruppe.
45 Fälle von Coincidenz von gut- oder bösartigen
Neubildungen mit Scheinzwittertum einschliesslich
der an Scheinzwittern vollzogenen Bauchhöhlen-
operationen.
1) Abel [„Ein Fall von Hermaphroditismus mas-
culinus mit sarkomatöser Cryptorchis sinistra* — Vir-
chow's Archiv Bd. CXXVL Berlin 1891].
— 288 —
Am 21. Oktober 1890 kam die 33jährige AI bertine
R. aus Schlawe in die Greifswalder Frauenklinik. Das
Mädchen war verlobt, wurde von ihren Freundinnen
vielfach gehänselt wegen ihres immer stärker werdenden
Leibes und suchte nun die Klinik auf, um von der im
Bauche sich entwickelnden Geschwulst befreit zu werden.
Patientin soll früher stets gesund gewesen sein, vom
20. Jahre an soll sie die Regel allmonatlich drei Tage
lang ohne Beschwerden gehabt haben. Im Frühling 1890
fühlte Patientin einmal unabhängig von der Regel heftige
Schmerzen im Leibe, bald darauf begann der Leib stärker
zu werden und nahm bis jetzt unausgesetzt an Größe zu.
Auch während dieser ganzen Zeit blieb die Regel schmerz-
los. Die letzte Regel vor 14 Tagen etwas schwächer
als sonst Miktion und Defäkation normal.
Patientin war klein, zart gebaut, von gesunder Gesichts*
färbe ohne Ödeme. Der Körper scheint normal gebaut.
An den Genitalien und in den Achselhöhlen fehlt jede
Spur von Behaarung. Patientin fühlt sich wohl, verlangt
aber trotzdem eine Operation. Leib aufgetrieben, besonders
unterhalb des Nabels, namentlich links. Ein elastischer
cystischer Tumor liegt größtenteils links im Leibe. Der
Tumor reicht nach unten zu bis an den Beckeneingang,
wo er etwas spitz zuläuft. Der Tumor hat die Gestalt
einer Birne, deren spitzes Ende nach unten rechts zu,
das obere breite nach oben links zu gerichtet ist, sodaß
auch die Kuppe des Tumors links von der Mittellinie
liegt, 6 Centimeter oberhalb des Nabels, während der
Tumor in der Mittellinie den Nabel nur um 4 Centimeter
überschreitet Oberfläche glatt, Konsistenz gleichmäßig
prall, elastisch. Scheideneingang eng, Hymen vorhanden,
der Finger findet die Scheide als einen kurzen Blindsack;
drängt man den Tumor herab, so kann man ihn durch
das Scheidengewölbe fühlen.
— 289 —
Eine Portio vaginalis uteri tastet der Finger nicht;
im Speculum sieht man im linken Scheidengewölbe eine
Andeutung der Portio vaginalis uteri, welche aber eine Sonde
nirgends einläßt. In der rechten Leistengegend fühlt man
einen Körper von der Größe und Gestalt eines Eierstockes,
welcher sich leicht nach der Bauchhöhle zu verschieben,
aber nicht in dieselbe hinein schieben läßt. Vom unteren
Rande der Urethralmündung hing ein etwa bohnengroßer
Polyp herab. Die Diagnose wurde auf congenitalen
Verschluß der Vagina und Haematometra gestellt. Man
versuchte sub narcosi mit einer Sonde durch die Portio
vaginalis uteri sich einen Weg zu bahnen, nachdem die
Kuppe der Vagina im Speculum eingestellt war. Da
es nicht gelang, das Gewebe bis zu dem Tumor stumpf
zu trennen, so spitze Lanze. Man schafft einen Kanal,
der Finger dringt ein und fühlt jetzt den Tumor deut-
licher. Man führt einen Katheter in die Stichkanalwunde
ein und daneben eine Kornzange, welche jetzt geöffnet
wird, um den Kanal zu erweitern. Endlich wird ein
Troicart eingeführt und in den Tumor eingestoßen: dann
seine Canüle weiter eingedrängt. Es entleeren sich bei
Druck auf den Tumor nur einige Klümpchen geronnenen
Blutes und einige Bröckel einer glasigen, grauen,
weichen Masse. Man spricht jetzt den Tumor als bös-
artig an. Tamponade der Scheide. In derselben Sitzung
entfernte man mit einem Scherenschlage den Urethral-
polypen. Abends Fieber + 39° C, am nächsten Tage bis
+ 41° und nach 36 Stunden Tod an Peritonitis.
Sektion : Aussehen der Leiche weiblich, Brüste klein
mit kaum erkennbaren Warzen, in der Beckenhöhle ein
Tumor, welcher einem 8 Monate schwangeren Uterus
ungemein ähnlich sieht. Im rechten Leistenkanale ein
nach der Bauchhöhle zu verschiebliches Gebilde, welches
aus zwei Anteilen besteht, die wie Hoden und Neben-
hoden aussehen, durch einen breiten Strang an den Boden
Jahrbuch V. 19
— 290 —
der rechten Schamlefze fixiert. . Der Leistenkanal ist für
einen Finger durchgängig, aber sein Abdominalende ver-
schlossen. Die Scham sieht aus wie die eines 12jährigen
Mädchens. Mons Veneris fettarm und nicht behaart.
Die Lefzen liegen einander an und vereinigen sich unten
unter einem spitzen Winkel. Damm drei Centimeter lang.
Kleine Schamlippen ganz normal gebaut, vom Charak-
ter einer Schleimhaut (?), umfassen nach oben zu die
kleine etwa drei Mill. weit vortretende Clitoris. Urethra
4 Cent. lang. Vagina mündet in vestibulo, ihr Eingang
von Hymenairesten umgeben (Einrisse sub operatione
entstanden oder nach Beischlaf s versuch ?-N.) — Columnae
rugarum an den Scheidenwänden deutlich. 4,8 Centimeter
oberhalb des Scheideneinganges sieht man keine Schleim-
haut mehr, sondern den neugeschaffenen Wundkanal.
Nach links von dessen Öffnung sieht man einen kleinen
Wulst als Rest der Portio vaginalis uteri. Von der
Öffnung aus verläuft der Stichkanal 4,7 Centimeter weit
durch straffes oberhalb der Vagina liegendes Gewebe,
durchbohrt zweimal die Harnblasenwand und dringt ein
wenig in den Tumor ein. Der mannskopfgroße Tumor
erwies sich als ein Sarkom des linken, in der. Bauchhöhle
retinierten Hodens. Cryptorchis sinistra sarcomatosa
rechts mit dem Omentum inajus verwachsen. Das Bauch-
fell überzog den Tumor und bildete an seiner Vorder-
seite eine Duplikatur, einer Wagentasche ähnlich, deren
freier Rand 12 Centimeter in der Länge maß, deren Tiefe
bis zu drei und einen halben Centimeter reichte. 1 Centi-
meter nach unten und rechts vom Grunde dieser Tasche
entsprang retroperitoneal ein fester Strang von Bleistift-
dicke, völlig solid und an der einen Seite in der Ge-
schwulst endend, an der anderen Seite verlor er sich im
Bindegewebe der linken Leistengegend. Die Gebilde
im rechten Leistenkanale erwiesen sich als der rechte
Hoden und ein ihm aufsitzendes Leiomyom, wohl aus dem
— 291 —
Nebenhoden entstanden. . Samenleiter und Sanienbläschen
fehlten. Der Strang, welcher von dem Tumor nach der
linken Leistengegend verlief, wird von Abel als Guber-
naculum Hunteri aufgefaßt. Was nun die angebliche
regelmäßige Periode anbetrifft, schon vom 20. Jahre an,
so glaubt Abel, es seien Blutungen, veranlaßt durch den
Harnröhrenpolypen, irrtümlich als menstruelle Blutung
von der Patientin aufgefaßt worden. Was das geschlecht-
liche Empfinden anbetrifft, so fühlte sich Albert ine
als Mädchen und liebte innig ijiren Bräutigam. [Per-
sönlich möchte ich vermuten, die Entstehung des Harn-
röhrenpolypen stehe in Zusammenhang mit Beischlafs-
versuchen als Produkt eine& künstlich geschaffenen
Ektropium urethrae deficiente vagina oder vagina pro
immissione membri virilis nimis arcta. N.]
Dieser von Abel beschriebene Fall zeigt zur Evidenz,
welchen groben diagnostischen Irrtümern der Chirurg
hier unterworfen sein kann und wie unendlich vorsichtig
man in der klinischen und anatomischen Beurteilung
solcher Fälle vorgehen muß! — Welcher Gynäekologe
würde wohl hier die richtige Diagnose gestellt haben?
Es erscheint ja rationell, in einem solchen Falle zunächst
einen diagnostischen Leisteneinschnitt, in diesem Falle
rechterseits zu machen, um den Charakter der dort
getasteten Geschlechtsdrüse festzustellen, selbst mit Exstir-
pation derselben. Hätte man dies ausgeführt und kon-
statiert, daß dieselbe ein Hoden ist, so wäre selbstver-
ständlich die Operation per vaginam, welche den Tod
herbeiführte, nicht ausgeführt worden, sondern man hätte
sofort den Bauchschnitt gemacht um den jetzt von vorn-
herein diagnosticierten Hodentumor zu entfernen. [Die
Kasuistik solcher Fälle ist reicher als der Chirurg ahnt,
aber sie ist noch zu wenig berücksichtigt — wer dieselbe
kennt, der wird natürlich leichter solche grobe diagnostische
Mißgriffe vermeiden. — Gerade auf diese Kasuistik in
19*
— 292 —
weiteren Kreisen aufmerksam zu machen, ist der Zweck
meiner heutigen Zusammenstellung. N.J
2) Audain [„Hermaphrodisme double, kyste der-
moide des ovaires" Annales de Gyn^cologie et d' Obst<?-
trique Vol. XL 1893 pg. 362], Es handelt sich um eine
beiderseitige Ovariotomie bei Dermoidcystomen bei einem
Individuum mit männlicher Behaarung und bedeutender
Clitorishypertrophie. Die Clitoris der 29 jährigen Kranken
war fingerlang und 3 Centimeter dick. Schnurrbart. Neben
dem größeren der beiden Dermoide fand sich auch eine
Parovarialcyste. Die Person genas. [Da ich die Original-
arbeit nicht gelesen habe, sondern nur ein Referat von
Stumpff, so kann ich nicht sagen, ob der ovarielle
Charakter der Tumoren mikroskopisch festgestellt worden
ist; wo nicht, so bleibt immer noch ein Zweifel erlaubt,
ob es sich nicht um Tumoren der in der Bauchhöhle
retinierten Hoden eines verkannten männlichen Schein-
zwitters gehandelt hat. Die vorstehende Kasuistik würde
uns zu so einem Zweifel vollauf berechtigen, da makros-
kopisch eine Bestimmung, ob ovarieller oder testiculärer
Tumor, lange nicht in allen Fällen möglich, geschweige
denn leicht ist. N.J
3) Bacaloglu und Fossard [„Deux cas de Pseudo-
hermaphrodisme (Gynandroides) La Presse M^dicale 6.
XII. — 1899 pg. 331 — 333]: Die 31jährige
A. Lefranijois trat am 15. August 1899 wegen starker
Leibschmerzen, welche schon vier Tage dauerten, in das
Hospital ein und wurde auf dem Krankensaale des Dr.
Troisier untergebracht. Die bisher absolut gesunde Person
giebt an, sie habe ganz plötzlich nach dem Abendessen
am 12. August sehr starke Schmerzen rechterseits im
Unterleibe bekommen. Sie wandte zunächst keinerlei
Mittel an, in der Hoffnung, die Schmerzen werden über
Nacht vergehen — es kam jedoch anders! Am nächsten
Tage wurden die Schmerzen [noch stärker trotz Kata-
plasmen mit Opiumzusatz. Wegen habitueller Verstopfung
verordnete man Clysmata mit Zusatz von Glycerin. Am
14. August Status idem. Am 15. Meteorismus des Leibes,
stark galliges Erbrechen, ständige Uebelkeiten. Darum
entschloß sich die Kranke in das Hospital zu gehen. Es
fiel den Aerzten sofort auf, daß diese Person trotz an-
scheinend normalen weiblichen Körperbaues einen männ-
lichen Gesichtsausdruck hatte. Behaarung weiblich ,
außer Anflug von Bart an Oberlippen und Kinn. Extre-
mitäten klein, weiblich. Becken weiblich, Brüste minimal.
Leib sehr aufgetrieben, besonders schmerzhaft in der
Gegend der fossa iliaca dextra. Erbrechen von kopiösen
grünlichen Massen. Facies peritonitica, trockne Zunge,
Puls 130 pro Minute. Man vermutete zunächst eine
Appendicitis oder eine Erkrankung der rechtseitigen
Uterusadnexa und untersuchte per vaginam. — Zu ihrem
größten Erstaunen bemerkten nun die Aerzte, daß gar
keine Väginalöffnung vorlag, sondern daß der Finger in der
ganz bedeutend erweiterten Analöffnung sich befand. Der
Finger tastete per rectum ausgezeichnet sowohl den Uterus
als auch die beiderseitigen nicht druckschmerzhaften
Adnexa. Man schloß jetzt eine Genitalerkrankung aus,
vermutete eine Appendicitis und holte einen Chirurgen
Dr. Bougle. Derselbe vollzog nachts um 1 Uhr den
Bauchschnitt in der Mittellinie. Aus der Wunde ergoß
sich sehr viel Eiter; man fand den Wurmfortsatz stark
geschwellt und hyperämisch. Man fügte einen Einschnitt
der Bauchdecken in der rechten regio iliaca hinzu,
öffnete den Wurmfortsatz, der fäkale Massen enthielt,
und resecierte ihn; hierauf wurde die Bauchhöhle aus-
gespült und die Wunden vernäht. Trotz Kochsalz-
infusion etc. erfolgte der Tod nach zwei und einer halben
Stunde. Am 17. August Sektion: Penis 8 Centimeter
lang und 5 Centimeter im Umfange statt einer Clitoris
gefunden, Scham üppig behaart. Unterhalb der weib-
— 294 —
liehen Harnröhrenöffnung keine Spur von Vaginalostium
gefunden, zwischen den Schanilefzen zog sich eine glatte
Haut von der Urethralöffnung bis zur Analöffnung hin;
ein Damm von 10 Centimetern fand sich. Bei der Er-
öffnung der Bauchhöhle fand man einen rudimentär ent-
wickelten Uterus mit Tuben, Ovarien und Ligamenta
rotunda. Uterushöhle 5 Centimeter lang, Cervix andert-
halb Centimeter lang. Arbor vitae deutlich. Die Scheide
8 und einen halben Centimeter lang, schließt unten blind,
infolge von Verwachsung der großen Schamlippen mit
einander. Die cystisch entarteten Ovarien haben, das
rechte 6 Centimeter Breite und 5 Höhe, das linke 6
und 4. Man fand mikroskopisch in den Ovarien keine
Graafschen Follikel, sondern nur ein sklerotisches
Gewebe, wenig Blutgefäße, sehr viel Bindegewebe mit
kleinen proliferierenden Embryonalzellen. De facto
sahen mikroskopisch die Ovariengewebe aus wie Narben-
gewebe. ,Od y peut distinguer des vaisseaux ä parois
hypertrophtees et scleros^es et des bandes de tissu fibreux
adulte." Auch in dem Uterusgewebe fanden sich die
Anzeichen einer ausgesprochenen Sclerose. Co rnil kon-
statierte, daß es sich um Ovarien und nicht um Hoden
handelte. Die Periode hatte diese Person niemals gehabt,
sonst wäre es zur Bildung einer Hämatokolpometra ge-
kommen. Dieser Fall würde also in das Gebiet der
weiblichen Genitalatresien gehören mit Hypertrophie der
Clitoris und einigen männlich entwickelten seeundären
Geschlechtscharakteren.
4) Bazy [Bulletins et M£moires de la Soci£t£ de
Chirurgie de Paris, Tome XXVIII1 — 1902. N: 31
pg. 943]; Eine Weibsperson trat in das Hospital ein
wegen Appendicitis und wurde von Chevallier operiert.
Nach der Operation wurde diese Person Herrn Bazy
als Mann vorgestellt. Es war ein männliches Individuum
mit Hypospadiasis peniscrotalis und Anwesenheit beider
295 —
Hoden in dem gespaltenen Scrotum. Trotz seiner 26
Jahre hatte dieser Scheinzwitter dennoch keine Spur von
Bartanflug im Gesicht. Mangel der Brüste. Bis jetzt
keinerlei Geschlechtstrieb ausgesprochen. In diesem Falle
führte die Appendicitis zu einem Kontakt mit dem
Chirurgen und führte so die Aufklärung einer Erreur
de sexe herbei.
5) Carl Beck [,,A case of Hermaphrodism" —
Medical Record. 25th July. 1896 Vol. I. N: 1342 pg 135,
und pg. 694 und 14. XI. 1896. N: 1358 pg. 724 und
Medical Eecord 20. IL 1897 pg. 260: „Description of
specimen taken from a hermaphrodite"] : L. M., 21 Jahre
alt, als Mädchen getauft, hatte bis zum 19. Jahre als
Mädchen gegolten, war aber zu dieser Zeit als Mann er-
klärt worden und wechselte demnach seinen Civilstand.
Allgemeinaussehen, Gesichtsausdruck, Stimme und Be-
haarung weiblich; gleichwohl hatte dieses Individuum
schon im 15. Jahre den Beischlaf als Mann praktiziert,
Penis hypospadiaeus zwei und einen halben Zoll lang.
Scrotum gespalten. An der Unterfläche des Penis sieht
man die Narbe nach einer plastischen Operation, um die
Abwärtskrümmung des Penis zu beseitigen. Die Scheide,
vier Zoll lang, weist einen eingerissenen Hymen auf, läßt
den Finger ein. Im Scheidengrunde tastet man das
Collum uteri. Niemals Menstruation. Während des Bei-
schlafes entleeren sich aus zwei Öffnungen jederseits des
„Infundibulum", wie der Mann sich ausdrückte, mit
Ejakulation einige Tropfen einer klebrigen Flüssigkeit.
Der Penis wird sub coitu strotzend und zweimal größer
als sonst. Man fand einen schmerzhaften, fluktuierenden
Tumor rechterseits im Unterbauche und einen kleineren
linkerseits. Am 25. Juli 1896 entfernte Beck mit
Bauchschnitt beide Tumoren, die er für sarcomatös ent-
artete Hoden ansah. Die Operation war sehr schwierig
wegen zahlreicher Verwachsungen der Tumoren mit der
— 296 —
vorderen Bauchwand und den Därmen. Während der
Operation gelang es nicht, eine genauere Inspektion der
Bauchhöhle vorzunehmen. Der Patient starb am 18. Tage
nach der Operation infolge einer Pneumonie. Bei der
Sektion fand man einen Uterus von zwei und einem
Viertel Zoll Länge, dessen Höhle im oberen Teile von
Flimmerepithel, im unteren von plattem Epithel ausge-
Fig. 14. Vulva eines als Mädchen erzogenen männlichen
Scheinzwitters. Beobachtung von Beck.
kleidet war. Die Tuben enthielten kein Lumen, besaßen
aber Ampullae. Unterhalb der Tuben soll man angeblich
Ovarien gefunden haben (? — N. — ) — Brooks unter-
suchte mikroskopisch die Tumoren und erklärte sie für
Teratome oder Blastoderme; einige Anteile der Tumoren
boten das Aussehen und den Bau eines alveolaeren
297
Sarcomes. Man fand weder Bartholini'sche noch
Cowper'sche Drüsen, welche ja Produkte der gleichen
Anlage sind, also einander entsprechen. Becken und
Schambehaarung männlich. Der Patient war untersucht
worden von Garrigues, Bangs, Wallach, Irwin,
Sprague, Dowling, Johnston, Little, Schoene-
berg, Cavanagh. Da eine mikroskopische Unter-
Fig. 15. Vulva eines als Mädchen erzogenen männlichen
Scheinzwitters. Beobachtung von Beck.
suchung der angeblichen Ovarien nicht ausgeführt wurde,
so muß man Mund£ [Med. Record 1896 pg. 214] und
Keller [ibidem] Recht geben, wenn sie das Individuum
einfach für einen männlichen Hypospaden ansahen mit
Bildung von Uterus und Vagina. (Siehe Fig. 14 u. 15.)
6) Carle [siehe im Vorhergehenden: Dritte Gruppe
No. 3] fügte in seinem Falle von Herniotomie den Bauch-
— 298 —
schnitt hinzu, um sich über diesen Fall Klarheit zu ver-
schaffen.
7) Chevreuil [siehe Georgus Steglehner: „De
Hermaphroditorum Natura tractatus anatomo — physiologico
— pathologicus." Bambergae et Lipsiae 1817 — pg. 91]:
Anna Bergaul t, Andegariensis, habitu masculino et
barba nigra instructa virorum moribus , amictu feminarum
ex tumore magno in inguine sinistro gravibus sympto-
matibus afflictatur; petit auxilium chirurgi Pelletier,
qui examine de tumore instituto, insuetam genitalium
fabricam advertit, de quo certiorem reddit celeb. Bon-
denarium Parisiensem et Dr. Chevreuil Andegariae
medicinam exercentem. Hie quae vidit et in viva et in
cadavere, sequentibus refert. Instructa erat pene
clitorideo, Septem ad octo linearum diametri, pollices
unum et dimidium longo, glande terminato praeputio
cineta; sub glande sulcus aderat, qui pro reeipienda
Urethra destinatus videbatur. Canalis urethrae tenuis sed
dilatatus sub virgae medium orificio desiit, et sulco
glandis ad urethram usque frenulum apparuit cutaneum.
Ab orificio urethrae in dextro latere descendit plica
cutanea major, quae pudendi labium simulabat; in sinistro
latere haec cutis plica a tumore qui cutim distenderat,
deleta erat. Vaginae ostium null um sed annus infra
patuit. Ex annulo prodiit tumor, qui capitis infantilis
magnitudine ab ilei ossis spina superiori versus pubis
arcum oblique duetu procedens in immi ventris cava
versus hypochondrium sinistrum et epigastrium ascendit.
Post mortem aegrotae Chevreuil cadaver apperiebat, qui
sub tumore vesicam deorsum urgente uterum cavum
pollicem longum et uteri cervicem detexit, qui in urethram
ovali ostio hiabat, superius labio rubente obtecto. In
latere uteri dextro ligamentum rotnndum adhaesit et
inter ligamenti lati laminas ovarium et tubae reperie-
bantur, in sinistro latere observatus fuit tumor hydropicus
— 299 —
ovarii, cui tuba sinistra imponebatur; pars hujus tumoris
in abdomine erat^ pars ejus autem per annulum transiit?
et tumorem exterius visendum constituit, in abdomine
mesenterium in massam scirrhosam ab ilei regione ad
processum sterni xyphoideum coaluerunt."
In diesem Falle scheint es sich also um einen Tumor
einer Geschlechtsdrüse zu handeln, der sanduhrförmig
teilweise in der Bauchhöhle lag, teilweise durch den
Leistenring nach außen getreten war. Steglehner gibt
Chevreuils Angabe wieder, es habe sich um einen Ovarial-
tumor gehandelt. Möglich ist ja dieses, aber es erscheint
auch nicht ausgeschlossen, daß es ein Hodentumor war
bei Zurückhaltung des anderen Hodens in toto in der
Bauchhöhle und Vorhandensein eines hochgradig ent-
wickelten Uterovaginalkanales, der in die männliche
Urethra mündete. Heute ist natürlich von einer Ent-
scheidung solcher zweifelhaften Fälle nicht zu reden, da
nur das Mikroskop, aber nicht das makroskopische Aus-
sehen einer Geschlechtsdrüse entscheiden kann. Zum
Beweise führe ich den oben erwähnten Fall an, wo
Martin in dem Glauben, ektopische inguinolabiale
Ovarien exstirpiert zu haben, noch bei makroskopischer
Betrachtung der exstirpierten Gebilde fest überzeugt
war, es seien Eierstöcke — ja er glaubte sogar Follikel
zu sehen — , wo doch das Mikroskop auf Hoden mit aller
Bestimmtheit verwies.
8) Clark [„Nephrolithotomie chez unhermaphrodite*
— M^decine Moderne 1896 No. 43 — Referat: FrommePs
Jahresbericht für 1897 pg. 927 No. 18] : Eine Frau starb
nach einer von Clark vollzogenen Nephrolithotomie. Die
Sektion erwies, daß diese Person, die zeitlebens als Frau ge-
golten hatte, ein männlicher Scheinzwitter war. Penis hypo-
spadiaeus rudimentarius, rudimentaere Prostata, kein Uterus,
Brüste männlich angelegt, Scrotum gespalten, der rechte
Hoden lag in der Schamlefze, der linke im Leistenkanale.
— 300 —
9) Delagenifere aus Tours berichtete der Pariser
Soctetö de Chirurgie [siehe Progrfes Mqflical 1899 No. 2]
folgende interessante Beobachtung: Er fand bei einer
27 jährigen Frau eine absolut normal gestaltete Vulva
mit ganz kleiner Clitoris, regelrechten Schamlippen,
sodaß absolut nichts und nichts vorlag, das einen Zweifel
an dem Geschlechte hätte hervorrufen können. Die
Scheide erwies sich aber in der Höhe von 5 Centimetern
blind geschlossen. Von Zeit zu Zeit sollen menstruale
Phaenomene aufgetreten sein. Er konstatierte jederseits
einen „petit point d'hernie inguinale". — Ein Bruchband
vertrug die Person absolut nicht: Taxisversuche waren
äußerst schmerzhaft. Delagenifere machte also den
Bauchschnitt, fand dabei weder einen Uterus noch
Spuren von breiten Mutterbändern. Die von ihm ent-
fernten Geschlechtsdrüsen erwiesen sich unter dem
Mikroskop als Hoden. [Siehe auch: Semaine M&licale
1899, No. 2 pg. 13]: Delagenifere hatte dieser Frau
den Bauchschnitt vorgeschlagen, um den Uterus aufzu-
suchen und mit dem oberen Ende der blind endenden
Scheide zu vereinigen und vollzog die Operation am
5. VIII. 1897 unter Assistenz von Dr. Parisot. Er
operierte in Trendelenburg's Hängelage und fand
zunächst nichts von inneren Genitalien als zwei anfäng-
lich von ihm für Ovarien angesehene Gebilde, deren je
eines an der inneren Öffnung je eines Leistenkanales lag.
Später glaubte er den Eindruck zu gewinnen, als seien
es atrophische Hoden. Um diese Gebilde entfernen zu
können, mußte er die innere Öffnung eines jeden Leisten-
kanales etwas spalten. Bauchwunde geschlossen. Heilung.
Das Mikroskop erwies atrophische Hoden. [Siehe auch:
Annales de Gynecologie et d'Obst&rique. 1896. pg.
57 — 63, mit zwei Abbildungen.]
10) v. Engelhardt [„Ueber einen Fall von Pseudo-
hermaphroditismus femininus mit Carcinom des Uterus"
— 301 —
— Monatsschrift für Geb. u. Gyn. December 1900 pg.
729—744 mit drei Abbildungen]:
Als Todesursache eines lange Jahre hindurch ver-
heirateten Mannes von 59 Jahren, Karl Menniken,
wurde ein Carcinoma uteri erhärtet. Die Sektion stellte
fest, daß Karl Menniken keine Hoden sondern Ovarien
hatte und ein Weib war, obwohl er jahrelang cum uxore
den Beischlaf ausgeführt. Bezüglich Einzelheiten —
siehe meinen Auf satz im vorigen Jahrgange diese Jahr-
buches sub I No. 18. —
11) Fehling („Ein Fall von Pseudohermaphro-
ditismus femininus externus* Archiv für Gynaekologie.
Bd. 42. pg. 361. 1892]: Im Januar 1891 trat die (s. Fig.
16 u. 17) 21 jährige P. . in die Klinik ein. Die Periode
trat im 15. Jahre ein und wiederholte sich regelmäßig;
anfangs im 16. Jahre war sie postponierend und blieb
im 17. ganz aus. Schon damals bemerkte das Mädchen
einen apfelgroßen Tumor im Bauche. Die ständig zu-
nehmenden Leibschmerzen zwangen sie endlich unter
Aufgabe ihres Dienstes in das Hospital einzutreten. Man
konstatierte Scheinzwittertum. Becken weiblich, Brüste
rudimentär entwickelt, Stimme eher männlich, schnurr-
bartartige Gesichtsbehaarung. Schambogen weit, Clitoris
5 Centimeter lang, von Daumendicke, erectil, mit aus-
gesprochener Eichel und Vorhaut. Die Erektionen traten
sogar auf während einer libidinösen Unterhaltung.
Vagina von Hymen am Eingange umgeben. Die linke
Schamlefze ist schwach entwickelt, aber behaart, das rechte
Labium majus stellt im oberen Teil einen rundlichen
Sack dar, wie eine Sero tal half te. Man fühlt darin einen
kleinen druckempfindlichen Körper nebst dünnem Strange.
Der Finger läßt sich hier in den Leistenkanal, in die
Bauchhöhle einstülpen. Darmschlingen sind im Bruchsacke
nicht nachweisbar. Unter Narkose stellte man eine retro-
versio uteri fest mit nicht durchgängigem Cervikalkanal.
— 302 —
Fig. 16. Äußere Genitalien eines weiblichen Scheinzwitters mit
Hypertrophie der Clitoris, Inguinolabialektopie des rechten Ovarium
u. der rechten Tube. Ansicht bei hängender Clitoris.
Beobachtung von Fehling.
303
Im vorderen Scheidengewölbe fühlte man einen fluk-
tuierenden Tumor, der nach einigen Schwanken als
Fig. 17. Äußere Genitalien eines weiblichen Scheinzwitters, bei
dem wegen Neoplasma des linken Ovarium der Leibschnitt gemacht
wurde. Beobachtung von Fehling.
Haematometra angesehen wurde. Fieber. Eine zweimalige
Punktion des Tumors durch die vordere Bauchwand
— 304 —
ergab keinen positiven Bescheid. Da es endlich gelang,
die Uteruskontouren zu tasten, so wurde ein uteriner
Sitz des Tumors ausgeschlossen und angenommen, er
entstamme dem linken Ovarium, während wahrscheinlich
der rechte Eierstock in hernia labiali liege. Der Bauch-
schnitt am 21. Januar bestätigte vollkommen diese
Voraussetzung: Es fand sich ein Myxosarcoma ovarii
sinistri: der Tumor wurde abgetragen, das rechte Ovarium,
welches mit der Tube in die rechte Schamlefze ausgetreten
war, wurde in die Bauchhöhle hineingezogen, wo diese
Organe auch in der Folge verblieben. R. P. war also
ein weiblicher Scheinzwitter mit ganz bedeutender Hyper-
trophie der erectilen Clitoris peniformis, und nicht ein
männlicher Scheinzwitter wie man wohl von vornherein
hätte vermuten können. Die ektopische Tube konnte
leicht einen Samenstrang, der ektopische Eierstock einen
Hoden vortäuschen, die Vulva eine peniscrotale Hypospadie.
Der Uterus war infantil entwickelt. Fehling unterließ
die beabsichtigte Vernähung der inneren Oeffnung des
Leistenkanales, weil er die Operation angesichts schlechter
Atmung schneller beenden wollte. Neben dem Myxo-
sarcoma ovarii sinistri globocellulare fand sich ein kleines
Fibrom mit starker Verkalkung. Der Tumor wog 5 Pfund.
12) Grub er [M&noires de TAcad&nie Imperiale
des Sciences de St. P&ersbourg 1859 Tome 41. No. 13]
beschrieb mit einer Abbildung ein 22 jähriges Individuum
infolge von Carcinom einer Geschlechtsdrüse verstorben.
Es war ein männlicher Scheinzwitter mit Hypospadiasis
peniscrotalis; im sinus urogenitalis lagen die Öffnungen
der Urethra und der Vagina. Es fand sich ein Uterus
und eine Vagina von je 8 Centimeter Länge. Linkerseits
fand man neben der Tube eine carcinomatös entartete
Geschlechtsdrüse, seiner Zeit von G r u b e r für ein Ovarium
angesehen, in der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse fand man
canaliculi seminiferi und konstatierte, daß letztere ein
— 305 —
Hoden war. Man fand auch den dazugehörigen Neben-
hoden und das Vas deferens, konnte aber dessen peri-
pheres Ende nicht entdecken. Offenbar liegt hier in der
Deutung der ovariellen Natur der carcinomatösen links-
seitigen Geschlechtsdrüse ein Irrtum vor und handelt
es sich um männliches Scheinzwittertum und Kryptorchismus
mit bösartiger Entartung des einen Hodens (siehe Fig. 18).
i-dtf.
*jiiii
Fig. 18.
Innere Genitalien eines männlichen Scheinzwitters mit hochgradiger
Entwickelnng der Müll er 'sehen Gange und Carcinom einer Ge-
schlechtsdrüse. Zeichnung kopiert nach Ahlfeld's Atlas. Beob-
achtung von Grub er. ves. = Harnblase, prost. = Prostata, ter. =
ligamentum teres uteri sinistrum, proc. v. per = processus vaginalis
peritonaei.
13) Gunkel [„Über einen Fall von Pseudoherm-
aphroditismus." I. D. Marburg 1887.] erwähnt einen inter-
essanten Fall folgender Art: Ein Mädchen verriet im
geschlechtsreifen Alter geschlechtlichen Hang zu Frauen,
also männlichen Geschlechtsdrang. Infolge einer De-
nunciation wegen Incest wurde das Mädchen 1863 einer
gerichtlich-medizinischen Untersuchung unterworfen und
für einen männlichen Scheinzwitter erklärt, einen Hypo-
spadiaeus mit Kryptorchismus bilateralis behaftet [männ-
licher Bart, Penis hypospadiaeus etc.] aber ein Decret
der Regenz gestattete dem Scheinzwitter, auch weiterhin
Jahrbuch V.
20
— 306 —
weibliche Kleidung zu tragen. Im 50. Lebensjahre starb
diese Person. Die Sektion konstatierte zur Überraschung
der Experten, daß sie sich geirrt hatten: Obgleich das
Aussehen der äußeren Scham tatsächlich mehr einer
männlichen als einer weiblichen ähnlich sah, fand man
einen Uterus und zwei Ovarien, Tuben und die zum
Uterus gehörigen Ligamente. Die Vagina, nach unten
zu sehr verengt, öffnete sich in capite gallinaginis in die
männlich veranlagte Harnröhre. Die äußere Öffnung der
Harnröhre lag aber nicht in der Glans, wie es beim
Manne sein sollte, sondern zwei und einen halben Centi-
meter nach hinten unten von dieser Stelle — der
vorderste Teil der männlichen Harnröhre war also
hypospadisch. Auch eine Prostata wurde gefunden. Der
Uterus war myoniatös entartet. Dieser Fall gehört zu
den selten vorkommenden Fällen von clitoris peniformis.
[Sind die Ovarien mikroskopisch als solche bestätigt? N.)
14) W. Hall [„Carcinoma of the ovary in a herm-
aphrodite". Transactions of the St. Louis Obstetric. and
Gyn. Society. 17. VIII 1898, siehe: American Gyn. and
Obstetric Journal. Vol. XIII. 1898 pg. 181, siehe:
Referat Fromme Ps Jahresbericht für 1898 pg. 901]
Scham weiblich, aber hypoplastisch und miniaturell,
dagegen Clitoris anderthalb Zoll lang. Becken schmal,
Brüste sind nicht da, Stimme männlich, Extremitäten und
Oberlippe des 17jährigen Individuum behaart. Im 14.
Lebensjahre soll einmal eine Blutausscheidung aus dem
Genitale stattgehabt haben; in der rechten Beckenhälfte
lag ein Tumor, in dem nach Exstirpation ein Carcinoma
ovarii erkannt wurde. Der andere Eierstock erschien
klein, atrophisch. Das Original der Arbeit war mir
nicht zugänglich.
15) Hansemann [Drei Fälle von Hermaphroditis-
mus. ■ — Berliner Klinische Wochenschrift 1898. No. 25.
pg. 149 u. ff.]: Eine 82jährige Frau Kristine Bock-
— 307 —
fleisch, durch lange Jahre in Amerika verheiratet, starb
im Berliner Krankenhause am Friedrichshain. Der Leichnam
wurde von Professor Fiirbringer seziert. Ein Sektions-
protokoll fand sich nicht vor, dagegen vier Photo-
gramme und die Krankengeschichte. In der pathologisch-
anatomischen Sammlung des Hospitals finden sich die
Beckenorgane mit den äußeren Genitalien sowie der
Kehlkopf. [Präparat I, 268]. Die Sektion fand am
27. V. 1887 statt. Der Tod war eingetreten infolge von
Sepsis und Nierenabscessen bei Blasenkrebs. Es bestand
niemals Zweifel über den männlichen Charakter dieser
Person, obwohl sie als Frau verheiratet gewesen war.
— Auch die Photogramme zeigen ein starkknochiges
männliches Individuum und machen trotz Bartlosigkeit
und dem lang ausgewachsenen Haupthaar den Eindruck
eines verkleideten Mannes. Das Scrotum ist gespalten,
an jeder Seite befindet sich ein normal gebildeter Hoden.
Penis hypospadiaeus an der oberen Fläche gemessen 8
Centimeter, an [der unteren 3 Centimeter lang, haken-
förmig nach unten gekrümmt. An der gespaltenen
männlichen Harnröhre sieht man eine Anzahl von Lacunae
Morgagnii in der Mittellinie belegen. Vorhaut kurz.
Die Urethra ist weit und mag im Leben für den kleinen
Finger durchgängig gewesen sein, jetzt in dem ge-
schrumpften Zustande kann man noch leicht einen Blei-
stift einführen. In der Umgebung der Urethra ist die
Epidermis etwa in Centimeterbreite glatt, ähnlich einer
Vaginalschleimhaut. Nach außen wird sie runzlig und
geht in die Bedeckung der beiden Scrotalhälften über.
Diese glatte Stelle erweckt den Eindruck eines Introitus
vaginae, da die beiden Scrotalhälften dicht bei einander
liegen. Nach hinten biegt diese Partie zum Damm in
einer scharfen Kante um und von hier bis zum After
sind noch 5,5 Centimeter. Die Urethra ist bis zum
Eintritt in die Blase 10,5 Centimeter lang, eine Prostata
20*
— 308 —
nicht vorhanden, dagegen Corpus gallinaginis gut ent-
wickelt. Die Mündungen beider Vasa deferentia sicht-
bar. Samenblasen atrophisch, aber an normaler Stelle
gelegen. In der Harnblase sieht man den flachen
ulcerierten Krebs. Ureteren und Nierenbecken erweitert,
in beiden Nieren zahlreiche Abscesse. Kehlkopf etwas
klein, aber nicht unverhältnismäßig.
16) Howitz [siehe: Blom: Gynaekolog. obstetr.
Middelelser. T. X. Heft HI pg. 194—216]. Eine 49jährige
Frau trat in die gynaekologische Klinik in Kopenhagen
ein wegen eines Bauchtumors. Howitz exstirpierte
einen myomatösen Uterus, die Frau starb am 5. Tage
nach der Operation infolge von Embolie. Obwohl das
Aussehen der äußeren Genitalien für männliches Geschlecht
sprach, fand man doch bei der Nekropsie weibliches
Geschlecht, aber die Ovarien enthielten keine G raaf sehen
Follikel! Diese Person war unverheiratet und hatte
kaum einige Mal eine Blutung aus dem Genitale gehabt
zwischen dem 30. und 40. Lebensjahre und zwar in
Abständen von einem oder mehreren Jahren. Diese
Blutungen waren stets minimal, dauerten kaum wenige
Tage und waren stets ohne irgend welche Molimina
menstrualia gewesen. Vor 6 Monaten bemerkte die
Person zum ersten Male einen Bauchtumor, welcher aber
schnell wuchs und immer größere Beschwerden hervorrief.
Die Frau war klein von Wuchs, spärlich behaart bis auf
das lange Haupthaar, mager, mit scharfen Gesichtszügen,
mußte sich oft rasieren wegen Bartwuchses; Stimme und
Brustkorb männlich, Kehlkopf vorspringend, Brüste
fehlten. Schambehaarung und Becken männlich; die
Schamlefzen waren leer, kleine Schamlippen mäßig ent-
wickelt, Clitoris 6 Centimeter lang und zwei Centimeter
dick; die glans Clitoridis zwei Centimeter lang, an ihrer
unteren Fläche sieht man sowie an der unteren Fläche
des Corpus clitoridis eine Rinne wie bei einem hypo-
309 —
spadischen Penis und in dieser Rinne einige Krypten.
Sinus i urogenitalis eine flache einen Centimeter lange
Vertief ung? eine Fingerspitze nicht aufnehmend. Keine
Spur von einem Hymen zu entdecken, Durch eine feine
Oeffnung am Boden des Sinus urogenitalis dringt eine
dünne Sonde auf 7 Centirueter in eine Vagina ein.
Damm 8 Centimeter breit, weist eine deutliche Raphe
auf. Am 29. VI. vollzog Howitz den Bauchschnitt
in der Meinung, es handle sich um einen myomatösen
Uterus, er entfernte einen Tumor von der Größe einer
Kokosnuß, bildete eine Art Stumpf und nähte den-
selben in die Bauch wunde ein. Am vierten Juli starb
die Frau plötzlich infolge von Embolia arteriae pulmonalis.
Der Tumor erwies sich als ein Fibromyom und enthielt
einen mit Schleimhaut ausgekleideten Kanal; nach unten
zu erweiterte sich dieser Kanal bedeutend und konnte
man in seinem unteren Abschnitte deutlich die Zeichnung
des Arbor vitae erkennen an Vorder- und Hinterwand.
Die Cervikalhöhle kommunicierte durch eine nur steck-
nadelkopfgroße Öffnung mit einer Vagina. Portio vagi-
nalis uteri nur einen Mill. lang, die Cervix dagegen
war sieben und einen halben Zentimeter lang. Ligamenta
rotunda uteri normal, ligamenta lata sehr niedrig, linker-
seits eine normale Tube aber ohne Fimbriae um die sehr
enge abdominale Öffnung, Rechterseits fehlte die Tube,
an Stelle der Ovarien lag jederseits eine Gebilde von
Gestalt und Größe einer Mandel: linkerseits außerdem
ein gänseeigroßes Fibromyom. Keine Spur von einer
Prostata, Die Scheide war 7 Centimeter lang und einen
halben Centimeter breit. An der hinteren Wand der
Urethra einen Centimeter unterhalb der Blasenmündung
sah man jederseits eine feine Öffnung, kaum nadelspitzen-
weit, welche jederseits in einen feinen Kanal führte,
welcher in der Höhe von 1,35 Centimetern blind schloß.
Diese Gärtnerischen Kanäle verliefen nach außen und
— 310 —
nach hinten zu unter der Schleimhaut der Harnröhre.
Chiewitz untersuchte die Geschlechtsdrüsen und kam
zu dem Schlüsse, es seien Ovarien aber ohne Follikel-
bildung. Das Stroma war härter als das Stroma eines
normalen Eierstockes einer erwachsenen Frau, erinnert
aber in nichts an das Stroma eines Hodens. Keine Spur
von Vasa deferentia gefunden.
[Meines Erachtens muß das Geschlecht in diesem Falle
unentschieden bleiben, denn Chiewitz lieferte keinen Be-
weis, daß die Geschlechtsdrüsen wirklich Ovarien waren,
er fand Geschlechtsdrüsen in rudimentärem Entwickelungs-
zustande, die meiner Ansicht nach ebensowohl rudimen-
täre Hoden sein konnten als rudimentäre Ovarien. N.]
17) Dixon-Jones [siehe im Vorhergehenden: Erste
Gruppe: Fall 14] fügte in seinem Falle von doppel-
seitiger Herniotomie den Bauchschnitt hinzu, um sich
von dem Aussehen der intraabdominalen Geschlechts-
organe zu überzeugen.
18) Kapsammer [Zentralblatt für die Krankheiten
der Harn- und Sexualorgane. 1900. No. 1] hat eine in
ihrer Art einzig dastehende Beobachtung beschrieben:
Nitze in Berlin entfernte bei einem 30 jährigen Manne
operativ einen Kalkphosphatstein von 165 Gramm Ge-
wicht, welcher in der Höhle eines Utriculus masculinus
lag, der mit enger Oefihung in die Pars prostatica
urethrae sich öffnete. „Gänseeigroßer Kalkphosphatstein
in einem Vaginalsack beim Manne" [siehe Referat:
Deutsche Medicinische Wochenschrift 1900, No. 4,
Litteraturbeilage No. 3 vom 25. I. 1900, pg. 20.]
19) Kr ab bei [Vortrag in der Vereinigung nieder-
rheinisch -westphälischer Chirurgen in Düsseldorf, am
20. Juli 1901 — siehe: Monatsschrift für Geb. und
Gynaekologie, Oktober 1901, pg. 597] beschrieb eine
Ovariotomie bei einem 32 jährigen Manne. Dieses Indi-
viduum war als Knabe getauft und als Mann erzogen
— 311 —
worden, indem man eine Hypospadiasis peniscrotalis
diagnosticierte mit Existenz von Schamlefzen und einer
engen Vagina. Nachdem der junge Mann das Gymnasium
und die Universität beendigt hatte, erhielt er eine staat-
liche Anstellung als Lehrer in einer höheren Schule.
Niemals Periode. Es wurde ein Bauchhöhlentumor
diagnosticiert [wie alt war das Individuum zu dieser
Zeit? — N.] und ein multilokulares Cystom des linken
Eierstockes entfernt. Sub operatione fand man in der
Bauchhöhle einen kleinen Uterus und ein Organ, welches
man für den rechten Eierstock ansah. Der Uterushals
ließ eine Sonde eindringen, wie man sich vor der
Operation überzeugt hatte. Anderthalb Jahre nach
dieser Operation wurde wegen Recidivs abermals der
Leib geöffnet; der jetzt entfernte Tumor wurde von
Professor Marchand als Teratom charakterisiert mit
sarkomatösem Bau. Seit dieser Operation soll der Mann
sich gesund fühlen. Erst im Februarheft 1902 der
Monatsschrift für Geb. und Gyn. (pg. 227) fand ich einen
etwas eingehenderen Bericht über diese seltene Beob-
achtung: Der Mann war klein von "Wuchs und von
zartem Körperbau, mit Schnurrbart versehen und
knappem Backenbart, weiblicher Stimme, nicht promi-
nierendem Kehlkopf und flachen Brüsten. Hypospadiasis
penis; die Glans schien ohne Vorhaut. Statt eines
Scrotum und der Hoden fanden sich zwei Schamlefzen.
Sub narcosi tastete man per vaginam eine portio
vaginalis uteri. Nach Entfernung eines Bauchhöhlen-
tumors von 23 Pfund Gewicht fand man einen kleinen
Uterus und rechterseits ein Ligamentum latum. Der
Tumor war aus den linkseitigen Adnexa uteri hervor-
gegangen, auf dem Tumor lag das linke Ovarium auf,
das gleichzeitig mit entfernt wurde. Bei der mikro-
skopischen Untersuchung jedoch erwies sich das als
Ovarium aufgefaßte Gebilde als ein Parovarium. Der
— 312 —
postoperative Verlauf war gut, aber nach anderthalb Jahren
mußte, wie gesagt, wegen Reoidivs der Leibschnitt wieder-
holt werden. Der jetzt entfernte Tumor war so groß wie der
früher entfernte und erwies sich als Teratom von ge-
mischtem Bau mit sarkomatösem Bau. Inhalt teilweise
myxomatös ; hier und da fanden sich auch Epithelnester.
Krabbel sah in dem Tumor ein Embryom (Wilms).
Dieser Mann hatte weder Menstruation noch Ejakula-
tionen und soll seit der letzten Operation gesund sein.
20) Krug [„Ovariotomy in a herraaphrodite* —
Eeferat: The British Gynaecological Journal, August 1891
VoL VII. No. 26. pg. 254] in Newyork machte den
Bauchschnitt bei einer jungen Polin von 19 Jahren.
„When ten years old, a copious growth of hair appeared
all over the body, especially the face. At sixteen ab-
dominal pains with epistaxis occured monthly, but there
was never any show. A s well in g appeared a few months
before she entered hospital. It was diagnosed as haema-
tometra and haematokolpos. Krug noted the masculine
appearence of the patient. Nothing womanly exists save
here long tresses. The wiskers and moustache were well
developed and she shaved daily. The skeleton, espe-
cially the pelvis, was massive. The external genitals at
first sight were like those of a male; the clitoris was two
inches long. Two folds, resembling a scrotum, when they
lay together, concealed a narrow vaginal orifice. The Ure-
thra opened, immediately under and behind the penis like
clitoris. The vagina contained no rugae. The Portio
vaginalis of the cervix was minute. Itf as a pinhole
orifice, admitted a fine sound for about two inches. The
tumor descended into the pelvis and appeared as though
connected with the Uterus. It caused extreme distension
of the Abdomen. Bronchitis and kidney disease compli-
cated the case. A large sarcoma of the right ovary was
removed. Its base had „to be shelled out of the right
— 313 —
broad ligament The left ovary formed ä smaller sarco-
matous tumour also sensible; it was removed. The stumps
on either side of the small Uterus, where two ligatures
had been employed, were normal. — Krug hatte die
irrtümliche Diagnose einer Haematometrokolpos gestellt
vor dem Bauchschnitte. Die Operation erwies weibliches
Scheinzwittertum mit gewissen arrhenoidalen Erscheinungen,
Pseudohermaphroditismus femininus — der Fall ähnelt
demjenigen von Fe hl in g in mancher Beziehung.
21) Lesser (Deutsche Zeitschrift für praktische
Medizin 17—1878 No. 10 — Referat: Schmidt's Jahr-
bücher Jahrgang 1878, Band 178. pg, 42].
Die 25jährige L., als Mädchen erzogen, hielt sich
ganz abseits von jeglichem Verkehr, sei es mit Männern,
sei es mit Frauen. Ihre reine Stimme sowohl als ihr allge-
meines männliches Aussehen, erweckten schon seit langer
Zeit in ihrer Umgebung den Verdacht) sie sei ein verkleideter
Mann. Um endlich einmal diesen Gerüchten die Spitze
abzubrechen, nahm die L. zu einer Lüge Zuflucht, sie
erzählte nämlich, sie habe vor einigen Jahren unehelich
ein Kind geboren, welches aber kurz nach der Geburt
verstorben sei. Die L. selbst starb eines plötzlichen Todes.
Sektion: Körperlänge 146 Centimeter, männliche Gesichts-
behaarung, Schnurrbart und Backenbart, Gesichtsausdruck
gleichwohl weiblich. Pomum A dam i hervortretend, Brüste
sehr schwach entwickelt; in der Bauchhöhle ein Tumor.
Im linken Leistenkanale ein weiches verschiebliches
ovales Körperchen von Pflaumengröße. Scham stark
behaart. Man fand ein penisartiges Glied von 5,5 Cent.
Länge ohne Frenulum praeputii und ohne Praeputium,
Penis hypospadiaeus. Die Rinne an der unteren Fläche
des Penis reicht nach unten herab bis zwei Centimeter
vor dem Anus und schließt mit einer Art Delle, welche
die Kuppe des kleinen Fingers aufnimmt. Jederseits
von dem Penis ein Hautdecken wulst von 10 Centimeter
— 314 —
Länge und drei Centimeter Breite. Auf der runzligen
Oberfläche dieser Hautwülste hier und da einige rötliche
stecknadelgroße Erhabenheiten. Hände und Füße weib-
lich aussehend. In der Bauchhöhle fand man ungefähr
3000 Kubikcentimeter dunklen flüssigen Blutes, das kleine
Becken war von einem fluktuierenden Tumor ausgefüllt,
der Tumor hatte die Größe des Kopfes eines erwachsenen
Mannes. Die Därme, ja sogar das Coecum erwiesen sich
durch den Tumor stark nach oben dislociert. Der Tumor
war mit der vorderen Bauchwand verwachsen in der
Ausdehnung eines Fünfmarkstückes in der Gegend der
inneren Öffnung des linken Leistenkanales. Bings um
diese Stelle war das Bauchfell besät mit kleinen blut-
infiltrierten Knötchen von verschiedener Größe und ver-
schiedenem Aussehen. Die Lymphdrüsen und die linke
Niere entartet. Von dem Tumor zieht ein 5 Millimeter
dicker Strang zu dem im linken Leistenkanale liegenden
ovalen Gebilde. Der Tumor war ein Alveolarsarcom.
Der in die vorgenannte Delle am Damme eingeführte
Finger gelangt in einen zylindrischen Kanal, in dessen
Tiefe sich zwei Öffnungen befanden. Der Kanal war
der Sinus urogenitalis, 2 Centimeter lang und anderthalb
im Umfange messend. Wand sehr dick. Die obere der
beiden Öffnungen im Sinus urogenitalis war die Harn-
röhrenöffnung, die untere führte in eine 1 und einen
halben Centimeter lange Vagina, die unten drei und einen
halben Centimeter breit, weiter oben oberhalb einer Striktur
5,5 Centimeter breit war. Der Tumor entstammte dem
Uterus und umgab teilweise sogar die Scheide in deren
oberem Abschnitte. Der Tumor war an einer Stelle
geplatzt und hatte so eine tötliche Verblutung herbei-
geführt. Man fand keine Spur von Ovarien oder Pro-
stata oder Samenbläschen — wofür wurde denn jenes
im linken Leistenkanale liegende Gebilde angesehen? —
Der Penis besaß deutlich drei Corpora cavernosa. [Wenn
— 315 —
der Penis hypospadiaeisch war, so ist mir die Möglichkeit
der Existenz von drei Corpora caversa mindestens zweifel-
haft, jedenfalls ganz unverständlich. — N]. — Lesser er-
klärte die Verstorbene für ein Weib mit gewissen Mängeln,
da sie niemals menstruiert hatte. Einen Beweis bringt
er jedoch für die Richtigkeit seiner Vermutung nicht —
meines Erachtens erscheint es viel wahrscheinlicher, daß
L. ein männlicher Scheinzwitter war und daß wahrschein-
lich der Tumor ein Sarkom eines in der Bauchhöhle reti-
nierten Hodens war, während der andere Hoden im linken
Leistenkanale lag. Selbstverständlich sind das nur ver-
mutete Möglichkeiten. Da ich die Originalarbeit Lesser's
nicht besitze, so möchte ich einen Kollegen, welchem die
Deutsche Zeitschrift für praktische Medizin für das Jahr
1878 zugänglich ist, ersuchen, die Arbeit Lesser's auf
diesen Punkt hin kritisch durchzusehen.
22) Levy [Berliner klinische Wochenschrift XX.
Jahrgang 1882 pg. 620] stellte in der Berliner geburts-
hülflich gynaekologischen Gesellschaft am 8. XH. 1882
[Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynaekologie IX. Bd.
1883 pg. 235: ^ Hermaphroditismus spurius femininus mit
Tumor in Abdomine"] ein 16 jähriges Mädchen Anna
Schulze vor. Da ich in der Sitzung zugegen war, damals
noch Volontair in der Klinik des verstorbenen Professor
Karl Schroeder, so benützte ich die Gelegenheit, um ein
Modell der äußeren Genitalien dieses Mädchens anzu-
fertigen. Das Mädchen hatte seit einem halben Jahre
die Regel, wie es aussagte; die Regel soll stets schmerz-
haft sein. Körperhöhe 145 Centimeter, Haupthaar lang,
Mammae wenig entwickelt, Allgemeinaussehen weiblich,
Clitoris peniformis ähnelt einem hypospadischen Penis,
ist drei Centimeter lang, sub erectione 5 Centimeter; die
Erektion ist sehr energisch, sub narcosi. In jeder Scham-
lefze tastet man ein härtliches verschiebliches Gebilde
von 10-Pfennigstückgröße. Unterhalb der Harnröhren-
— 316 —
mündung liegt die von einem Hymen garnierte Vaginal-
öffnung. Die Vagina ist 5 Centimeter lang. Die Scham-
lefzen sind schwach behaart und runzlig, über dem rechten
horizontalen Schambeinaste sieht man eine Hervorwölbung,
fühlt aber dort keine vergrößerte Resistenz; niemals
Menstruation, wohl aber Molimina vorhanden. Ob der
Tumor eine Haematometra oder ein Neoplasma des rechten
Eierstockes ist, schreibt L e v y, wird die weitere Be-
obachtung zeigen. Per rectum fühlte man einen Strang,
nach oben etwas dicker werdend, und darüber mehr nach
rechts gelagert, einen Tumor von der Größe einer großen
Orange, festweich, nicht fluktuierend, mit glatter Ober-
fläche; diesem liegt links oben ein mandelförmiges Gebilde
an, das aber auch von dem Tumor abhebbar ist. Unter-
halb des Tumors findet sich noch ein erbsengroßes Gebilde,
aber außer Zusammenhang mit ihm. „Das Aussehen der
Clitoris sowie die in den Schamlefzen getasteten Gebilde
müssen den Verdacht einer erreur de sexe" wecken, für
mich muß das Geschlecht in diesem Falle vorläufig
unentschieden bleiben, da ja die Angabe der stattgehabten
Menstruation eine fragliche ist.
23) Ernst Levy [„Über ein Mädchen mit Hoden
und über Pseudohermaphroditismus" — Hegar's Beiträge
zur Geburtshülfe und Gynäkologie. Leipzig 1901. Bd. IV.
Heft III. pg. 347 — 360.] beschreibt einen von Do e der-
lei n operierten Fall, der nach Kastration eines Mädchens
feststellte, daß die exstirpierten Geschlechtsdrüsen Hoden
waren und giebt im Anschlüsse hieran die Kranken-
geschichte einer von v. Saexinger mit letalem Aus-
gange operierten Person. Die 20jährige M. Str. bot ein
weibliches Allgemeinaussehen, sowie auch manche sekun-
dären Geschlechtscharaktere weiblich waren. Als sie
geboren wurde, sagte die Hebeamme, das Kind sei ein
männliches mißbildetes Kind, es wäre aber besser, das-
selbe als Mädchen zu erziehen, weil der Harn nicht vorn
— 317 —
am Gliede abgegeben werde. Nieraals Regel bisher,
wohl aber schon seit zwei Jahren alle drei Wochen je
4 — 5 Tage andauernde Leibschmerzen mit ärztlicherseits
dabei konstatierten Temperatursteigungen. Seit drei
Monaten schon bemerkte Patientin, daß ihr in der rechten
Hälfte des Unterleibes ein Tumor wachse. Seit dieser
Zeit ist sie sehr abgemagert und arbeitsunfähig geworden.
Patientin ist 168 Centimeter hoch, anaemisch, ohne Spur
von männlicher Gesichtsbehaarung. Stimme und Kehlkopf
männlich, Andromastie. Im rechten Hypogastrium ein
schmerzhafter glatt wandiger, harter ovaler Tumor von
Kindskopf große: der Tumor entspringt aus dem kleinen
Becken und läßt sich nicht in das große Becken hervor-
heben. Linkerseits ein ähnlicher kleinerer Tumor, da-
hinter ein sehr druckempfindliches Gebilde, welches den
Eindruck eines etwas vergrößerten Ovarium macht. Der
bei Druck auf diese Gebilde empfundene Schmerz
gleicht absolut dem sonst periodisch allmonatlich em-
pfundenen Schmerze. Schambehaarung weiblich. Statt
einer Clitoris fand man einen hypospadischen Penis von
5,7 Centimeter Länge, hakenförmig nach unten gekrümmt,
an der Unterfläche drei Centimeter lang. Die Glans
kastaniengroß. Der Penis erwies sich erectil. An
seiner unteren Fläche eine Rinne, die bis zwei Centimeter
oberhalb der Analöffnung reicht. Nach hinten unten zu
wird diese Rinne ständig breiter und wird zuletzt einen
Centimeter breit. Hier liegt eine Oeffnung, welche den
Katheter in die Blase einläßt. Das Präputium, nach
hinten gestreift, läßt sich soweit vorziehen, daß es die
ganze Glans Penis bedeckt.
Keine Spur einer Vagina zu finden, wohl aber
existieren große Schamlefzen, mit einer Spur von kleinen
Schamlippen, welche die Harnröhrenöffnung seitlich um-
geben. In jeder Leistengegend tastet man ein festweiches
kleines Gebilde von Haselnuß- resp. Bohnengröße. Diese
— 318 —
Gebilde lassen sich leicht in die Bauchhöhle hineinstoßen.
Beide waren sehr druckschmerzhaft. Per rectum fühlte
man zwischen per urethram eingeführtem Katheter und
Finger kein Gebilde in der Art einer Vagina. Per
rectum tastete man den rechtsseitigen sehr schmerzhaften
Tumor, welcher hier Fluktuation aufwies. Während des
Aufenthaltes in der Klinik hatte das Mädchen 'seine
Monatsschmerzen und die Tumoren erschienen dabei ver-
größert. Am 14. März vollzog Professor v. Saexinger
den Bauchschnitt, konnte aber die Tumoren nicht ent-
fernen. Die Operation blieb unvollendet, zudem mußte,
da es an einer Stelle kontinuierlich blutete, ein Gaze-
tampon eingelegt werden, also die Bauchwunde nicht
ganz geschloßen. Die Kranke starb am nächsten Morgen.
Die beiden Tumoren erwiesen sich sub nekropsia als
Rundzellensarcome, und zwar entsprangen sie an den
Stellen des Beckens, wo normal die Ovarien liegen. Man
fand aber nirgends auch nur die geringste Spur von
O variaige webe; man fand aber zwischen den Tumoren
hinten und rechterseits gelagert ein Gebilde von dreieckiger
Gestalt, welches als Uterus angesprochen wurde. Uterus-
wände sehr dünn, die Uterinhöhle kommunicierte nach
unten zu mit einem Kanäle von 18 — 19 Centimeter Länge,
einer Vagina, welche sich dicht hinter der Urethral-
mündung in jene vorgenannte Rinne am Damme öffnete.
[Man hatte in vivo diese Oeffnung übersehen ? — N.] —
Das Lumen der Scheide war im oberen Teile so groß,
daß der Zeigefinger einging, im Scheidenausgange aber
nur kleinfingerweit. Die Cervix uteri war mit den Tumoren
eng verwachsen und so verlängert, daß man eine deutliche
Grenze zwischen Cervix und Corpus uteri nicht feststellen
konnte, ebensowenig fand man eine ausgesprochene Grenze
zwischen Uterus und Vagina. Die Eileiter waren da,
ebenso die Ligamenta rotunda, welche außerhalb der
Leistenkanäle abschlössen mit einer Art cystischen Bildung
— 319 —
von zwei Centimeter Länge. [Hydrocele? — N.] —
Hinter der Vagina fand man zwischen ihr und Rectum
in der Höhe des äußeren Muttermundes einen fluk-
tuierenden Sack mit gespannten Wandungen. Dieser
faustgroße Sack war eine mit seröser Flüssigkeit gefüllte
Cyste mit glatter blasser Innenwand. Harnröhre vier
Centimeter lang, von weiblichem Bau, ohne Spur einer
Prostata, eines Caput gallinaginis oder Öffnungen der
Ductus ejaculatorii. Die Cyste war mit Flimmerepithel
ausgekleidet. Die härtlichen Gebilde, in der Gegend der
Leistenkanäle unter den Hautdecken getastet, erwiesen
sich als Metastasen der Tumoren. Man fand keine
Spur von Hodengewebe. Doederlein, welcher den
v. Saexinger operierten Fall beschreiben ließ, vermutete,
die Person sei ein weiblicher Scheinzwitter gewesen mit
maligner Degeneration der Geschlechtsdrüsen, penisartiger,
hypertrophischer und erektiler Clitoris, bei großer Enge
der äußeren Scheidenmündung und Existenz einer Cyste
aus einem Wolff sehen Körper entstammend — wohl
Parovarialcyste. [Da keine Spur von Ovarialgewebe ge-
funden wurde, ebensowenig wie eine Spur von Hoden-
gewebe, so kann hier von einer Entscheidung • des Ge-
schlechtes gar nicht die ßede sein — ich persönlich
würde eher männliches Scheinzwittertum in diesem Falle
vermuten, gestützt auf analoge Fälle von Hodensarkom bei
Vorliegen eines hochgradig entwickelten Uterovaginal-
kanales. N.]
24) Lieb mann [Budapesti Kir. Orvooseg. 1890.
10. V. siehe: Referat: Centralblatt für Gynaekologie.
1890 pg. 928]: Bei einer 45jährigen Frau war vor einem
Jahre ein elastischer Tumor in der linken Leiste ent-
standen, schnell bis Faustgröße anwachsend. Man fand
keine Spur von Uterus oder Ovarien. Die äußeren
Schamteile dürftig angelegt; Brüste gut entwickelt.
Weder jemals Periode noch auch Molimina menstrualia.
— 320 —
Die Person heiratete im 27. Jahre einen Mann von 66
Jahren und hatte auch nicht die geringste Ahnung von
ihrer Mißbildung. Der Tumor sollte ein Lipom sein.
[Leider ist das Referat zu kurz, um alle die Fragen zu
beantworten, die sich in diesem zweifelhaften Falle von
selbst aufwerfen. N.]
25) Litten [Ein Fall von Androgynie mit malignem
teratoidem Kystom des rechten Eierstockes mit doppel-
seitiger Hydrocele cystica processus vaginalis peritonaei
— Virchows Archiv 1879 — Bd: 75]. —
Am 31. Mai trat in die Klinik von Professor Frerichs
die 16jährige Klara Hacker ein, angeblich wegen
Ascites. Gleich bei der ersten Inspektion fiel das eigen-
tümliche Aussehen der Genitalien auf und schwankte
man, ob die Patientin in einem Frauensaal oder in einem
Männersaal unterzubringen sei. „ Der allgemeine Körperbau
weiblich, aber das Aussehen des Genitale rein männlich,
nur fiel ein klaffender Spalt auf, welcher sich in der
Raphe der als Scrotum imponierenden stark gerunzelten
Hautfalten bis gegen das hintere Ende derselben hin
erstreckte" — Penis am Dorsum 5 und einen halben
Centimeter lang, zwei und einen halben an der unteren
Fläche. Sub erectione wird das Glied 10 Centimeter
lang, man tastet die Schwellkörper* Man gewinnt das
Bild einer Hypospadiasis peniscrotalis mit einer Rinne,
welche bis 4,5 Centimeter vor der Analöffnimg reicht. Zu
beiden Seiten dieser Rinne fanden sich derbe, gerunzelte
und mit kurzen Härchen besetzte Hautfalten, welche in
ihrer Beschaffenheit aufs Lebhafteste an die Scrotalhaut
erinnerten. Beim Auseinanderziehen dieser fettreichen
Falten erkannte man in dem nunmehr geöffneten Kanal
deutlich die oben liegende Urethralmündung und darunter
den außerordentlich engen, eben noch für die Sonde
passierbaren Scheiden eingang. Klara war als Mädchen
erzogen, hatte aber die Stimme eines 20jährigen Mannes.
321 —
Sie war das älteste von 8 Kindern ihrer Eltern, die
Geschwister waren alle normal gebaut. Es fiel jedermann
auf, wie ungemein rasch sich der Verstand Klara's ent-
wickelt hatte sowie ein ausgesprochener Trieb zu Selbst-
ständigkeit und Unabhängigkeit. Sobald Klara bemerkt
hatte, daß sie anders körperlich gebaut war, als ihre
Freundinnen, zog sie sich von jedem Verkehr mit ihnen
zurück. Die Regel trat im 15. Jahre ein, war stets
spärlich und schmerzhaft und mit Anschwellen der Brüste
verbunden. Im zweiten Jahre nach Eintreten blieb die
Periode einige Monate lang aus, in dieser Zeit fing der
Leib an, an Umfang zuzunehmen. Die Harnsecretion
nahm sehr zu und das Harnen wurde schmerzhaft. Der
Tumor, die Bauchhöhle ausfüllend, reichte bis 11 Centi-
meter oberhalb des Nabels, erschien nicht einheitlich,
sondern gelappt^ mit ungleicher Konsistenz, asymmetrischen
Kontouren etc. Im ersten Augenblicke dachte man an
Schwangerschaft um so mehr als die Regel ausgeblieben
war, aber die Gestalt des Tumors sprach gegen Schwanger-
schaft, ebenso das Aussehen der äußeren Genitalien,
ganz besonders aber die Enge der Scheidenmündung,
welche kaum eine dünne Sonde einließ. Da man also
eine Schwangerschaft ausschloß, so wurde der Uterus
sondiert. Die per vaginam eingeführte Sonde drang 19
Centimeter tief ein in der Richtung nach rechts oben.
Die Kuppe der Sonde konnte man in dem kleineren rechts-
seitigen Tumor tasten, der dem größeren gleichsam aufsaß.
Dieser kleine Tumor wurde also für den Uterus an-
gesprochen, nach rechts dislociert durch einen von links
ausgehenden Tumor. Scheide, Uterus und Blase wiesen
sämtlich eine bedeutende Verlängerung auf, der Katheter
drang auf 15 Centimeter Tiefe in die Blase ein! In der
linken Scrotalhälfte tastete man ein Gebilde von Mandel-
größe; rechterseits lag ein ebensolches Gebilde vor der
äußeren Öffnung des Leistenkanales ; von jedem dieser
Jahrbuch V. 21
— 322 —
Gebilde schien ein Strang nach dem Leistenkanale zu
zu verlaufen. Nach einer am nächsten Tage vollzogenen
Punktion stellte man die Diagnose auf einen Ovarialtumor,
ein vielkämmeriges Cystom. Die mandelförmigen Ge-
bilde in scroto fisso sah man für Hoden an, jene
Stränge für Samenstränge. Die Kranke starb unoperiert
nach siebenwöchentlichem Aufenthalte im Hospital an
Erschöpfung. Die Sektion wurde von Professor V i r c h o w
gemacht.
Er hatte die Klara Hacker noch vor ihrem Tode
gesehen und damals das Geschlecht für weiblich erklärt,
obgleich die Hypertrophie der Clitoris sowie jene in den
Schamlefzen tastbaren Gebilde auf männliches Geschlecht
hinweisen. Virchow schloß männliches Geschlecht aus,
weil er neben den als Hoden gedeuteten Gebilden keine
Nebenhoden tasten konnte, und glaubte, es handle sich
um inguinolabiale Ektopie der Ovarien. Dafür sprach
auch das Anschwellen dieser Gebilde intra Menses.
Trotzdem hatte Virchow sich geirrt; die von ihm für
ektopische Ovarien angesprochenen Gebilde waren aller-
dings nicht Hoden, wie man in der Klinik von Frerichs
vorausgesetzt hatte, aber auch nicht Ovarien, sondern
abgeschnürte praeinguinale Teile der Processus vaginales
peritonaei. Linkerseits war daraus eine kleine Hydro-
cele, rechterseits eine Haematocele entstanden. Der
Bauchtumor erwies sich als ein Myxosarcom des rechten
Ovarium, das linke erwies sich als normal. Da der
rechte Eierstock degeneriert war, der linke aber eine
glatte Oberfläche hatte, ohne Spuren geplatzter Follikel,
so bezweifelte Virchow den menstruellen Charakter der
von Klara Hacker angegebenen Blutungen, eine An-
sicht, die sich wohl heute nicht mehr halten lässt, da,
wie wir wissen, manche Frauen auch nach operativer
Entfernung beider Ovarien trotzdem noch eine Zeit lang
ihre katamenialen Blutungen behalten können. Man
— 228 —
fand auch Metastasen des Myxosarcoms in der Leber
und eine Nephrolithiasis ulcerosa.
• 26) Merkel [Beiträge zur pathologischen Anatomie
und allgemeinen Pathologie. Bd. XXXII. I. Heft, pg.
157 — 1902]. Bei der Sektion eines 52jährigen Mannes
fand Merkel in einer Leiste eine Hernie. Der Mann
Fg. 19: Uterus eines männlichen Scheinzwitters von 52 Jahren.
Sektionspräparat. Beobachtung von Merkel,
Ut= Uterus, T = Tube, N = Nebenhoden, H = Hoden, V = Vas
deferens, Ur = Ureter, B = Blase, A = Ampulle, S = Samenblasen,
D = Duct. ejaculatorii, P = Prostata.
war infolge von Carcinoma recti gestorben. In hernia
fand er einen gut gestalteten Uterus und jederseits von
demselben je eine Geschlechtsdrüse, die wie ein Ovarium
jede aussahen: sie waren oval und tauben eigroß. Pseudo-
hermaphoditismus masculinus internus mit gleichem Ent-
21*
— 324 —
wickelungsgrade der Müll ergehen und der Wolf fachen
Gänge, da die Geschlechtsdrüsen sich mikroskopisch als
Hoden erwiesen. Der Uterovaginalkanal war 20 Centi-
meter lang. Die Vagina mündete in capite gallinaginis
ü parte prostatica urethrae. Prostata normal. Merkel
fand vier Samenblasen. Das linke Vas deferens war in
ganzer Länge viabel, das rechte nur im oberen Abschnitte.
Die Samenblasen enthielten normales Sperma. Allgemein-
aussehen, Stimme und Behaarung männlich; der Mann
hatte normal mit seiner Frau kohabitiert und, wenn die
Ehe kinderlos blieb, so muß die Sterilität von den Or-
ganen der Frau und nicht von dem Manne abgehangen
haben. Der Uterus enthielt weder Blut noch Schleim
und ging ohne eine Spur einer sichtbaren Portio vaginalis
nach unten zu sehr dünnwandig in die Vagina über.
Das Lumen der Vagina war bleistiftweit, die Hoden
lagen da, wo bei Frauen die Ovarien liegen; man fand
jederseits ein Ligament, dem Ligamentum ovarii proprium
entsprechend. (Siehe Fg. 19). Merkel gibt an, er habe in
der Literatur 16 Fälle von Uterus masculinus von hoher
Entwickelung gefunden, die Fälle sind aber, wie ich ge-
legentlich nachweisen werde, ganz bedeutend häufiger.
Ich werde die gesamte Kasuistik der Entwickelung der
Müll ergehen Gänge bei Männern, resp. männlichen
Scheinzwittern, Foeten an anderer Stelle veröffentlichen.
27) Mies [„Pseudohermaphroditismus masculinus1* —
Münchener Medizinische Wochenschrift 1899. Bd. XLVL
pg. 998]. Man vermutete eine „Erreur de sexe" bezüglich
der 66jährigen Else G., in das Hospital aufgenommen
wegen Krebs der Unterlippe — angesichts dessen, daß diese
Lokalisation des Krebses bei Frauen eine äußerst seltene
ist, angesichts der männlichen Stimme der Kranken, ihrer
männlichen Behaarung, des Mangels von Brustdrüsen,
des absoluten Mangels der Regel zeitlebens. Bei der
näheren Untersuchung konstatierte man eine Hypospa-
— 325 —
diasis peniscrotalis mit Hoden und Nebenhoden in jeder
Schamlefze, man tastete auch eine Prostata. Dieser Fall
beweist eklatant, wie wichtig es ist, bei der Kranken-
aufnahme auch den Zustand der Geschlechtsorgane zu
untersuchen.
28) F. Neugebaue r. Persönlich behandelte ich einen
weiblichen Scheinzwitter, die 56 j. Anastasie K., behaftet
mit sehr bedeutender Hypertrophie der Clitoris, die drei
und einen halben Centimeter lang und erectil war. Die
Kranke hatte ein weit vorgeschrittenes Uteruscarcinom
und Carcinoma ovarii sinistri.
29) F. Neugebauer:, „ Sarkom einer Geschlechts-
drüse durch Bauchschnitt entfernt bei einem als Frau
verheirateten Scheinzwitter auch jetzt noch zweifelhaften
Geschlechts." Am 2. III. 1903 vollzog ich den Bauchschnitt
an einer 35jähr. seit drei Jahren steril verheirateten Frau
von hohem männlichen Körperwuchs, großem, vorspringen-
den Kehlkopf und allgemeinem männlichen Aussehen, ab-
dominalem Athmungstypus. Niemals Menstruation, niemals
irgend welche sog. Tormina menstrualia, niemals irgend
welcher Geschlechtsdrang. Äußere Scham weiblich, aber
hypoplastisch, Mons Veneris fettarm, Behaarung sehr
spärlich. Hymenalspuren vorhanden, Vagina in der
Höhe von einigen Centimetern blind geschlossen. Ascites,
kachektisches Aussehen. Seit einem Jahre ständig zu-
nehmende heftige Leibsehmerzen. Diagnose: Tumor
malignus der inneren Genitalien. Tumor größer als eine
Kokosnuß, das Cavum Douglasii mit einem weicheren
Anteile ausfüllend, mit härteren Anteilen im linken
Hypogastrium tastbar. Beim Bauchschnitt gelang es,
den gesamten Tumor aus dem Becken stumpf herauszu-
holen nach Resektion eines Anteiles des mit ihm ver-
wachsenen Netzes. Der Tumor von Herrn Dr. Stein-
haus mikroskopisch untersucht, erwies sich als Sarkom
einer Geschlechtsdrüse ohne Spur von ovariellem oder
— 326 —
testiculärem Gewebe; die größte Wahrscheinlichkeit sprach
dafür, daß es sich um eine Cryptorcbis sinistra sarcomatosa
handelt, umsomehr als ein in einer Duplikatur des Bauch-
fells über den Tumor verlaufender Strang sich als Yas defe-
rens erwies. Das centripetale Ende dieses Stranges senkte
sich in einem schmalen Spalt ein zwischen 2 scheinbare
Gyn an der Tumoroberfläche, das periphere Ende verlor
sich spurlos in der lateralen Oberfläche des Tumors. Ich
fand nirgends eine Spur der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse,
weder in der Gegend vor dem Leistenkanale noch im
Becken, fand dagegen einen Strang, der an der hinteren
Beckenwand nach oben zu verlief, wahrscheinlich liegt die
zweite Geschlechtsdrüse höher oben lateral von der Lenden-
wirbelsäule, in welchem Falle der rechtsseitige Strang des
Vas deferens dextrum sein dürfte. Der Tumor hatte eine
Art Mesenterium, eine Art Gekröse, das behufs Entfernung
des Tumors durchschnitten wurde mit nachfolgender
fortlaufender Naht und Unterbindung eines arteriellen
Gefäßes am lateralen Ende des Gekröses. Ich vermutete,
es liege vielleicht ein höchst rudimentärer uterus unicornis
sinister vor — wobei der linksseitige Strang als Tube
sich deuten ließ, fand jedoch keinen Anhaltspunkt für diese
Annahme. Eine Prostata fand ich nicht. Das Geschlecht dieser
Person bleibt zweifelhaft, trotz Exstirpation einer malign
entarteten Geschlechtsdrüse. Aus der Bauchhöhle er-
gossen sich einige hundert Gramm Ascites. Die Frau
verlor ihre Schmerzen sofort und verließ meine Klinik
nach glatter Wundheilung am 20. Tage nach dem Bauch-
schnitte. Werde diesen Fall gesondert mit Abbildungen
veröffentlichen. Es ist dies in der Kasuistik von ca. 400
von mir vollzogenen Bauchhöhlenoperationen der erste
Fall zweifelhaften Geschlechtes.
30) Obolonski [„Beiträge zur pathologischen Ana-
tomie des Hermaphroditismus." Zeitschrift für Heilkunde.
Bd. 9. pg. 211]. In der Klinik von Chiari starb eine
— 327 —
50jährige Arbeiterin, welche zeitlebens als Weib gegolten
hatte. Sie soll vom 17. bis zum 49. Jahre stets ihre
Regel gehabt haben. Gleichwohl erwies die Sektion männ-
liches Scheinzwittertum mit Hypospadiasis peniscrotalis;
der gespaltene Penis war 6 Centimeter lang; unterhalb
der Harnröhrenmündung fand man die Öffnung der 6
Centimeter langen Vagina, von einem Hymen garniert:
die Scheide war unten 1 Centimeter breit. Man fand
einen rudimentär entwickelten Uterus bicornis, linkerseits
vom Uterus einen Hoden und Nebenhoden und Samen-
strang, rechterseits fand man keine Geschlechtsdrüse,
wahrscheinlich war aus derselben ein maligner Tumor
hervorgegangen, das bei der Sektion gefundene Sarkom,
welches den Tod herbeigeführt hatte. Zu Lebzeiten hatte,
man an ein Carcinoma uteri gedacht. Dieses Neoplasma
hatte auf dem Wege der Kompression eine beiderseitige
Hydronephrose hervorgerufen. Da Obolonski rechterseits'
ein Vas deferens fand, welches ganz dem linksseitigen
entsprach, so vermutete er ganz mit Recht, daß auch die
rechtsseitige Geschlechtsdrüse ein Hodenge wesen sein mag,
daß also die Verstorbene ein Mann war, wie schon Wrany
vor ihr behauptet hatte. Eigentümlich berührt die An-
gabe von der angeblichen periodischen Genitalblutung,
Regel, so viele Jahre hindurch, der wir natürlich vor-
läufig skeptisch gegenübertreten müssen. * Allgemein-
aussehen ganz weiblich, auch das bis heute in Prag
konservierte Skelett weist absolut einen ganz weiblichen
Bau auf.
[Ich werde in einer anderen Arbeit die sämtlichen
Fälle von angeblicher Menstruation bei männlichen
Scheinzwittern kritisch zusammenstellen. N.].
31) Paton, (der Assistent der Chirurgischen Ab-
teilung des Londoner Westminster-Hospital) beschrieb
eine bisher einzig dastehende Beobachtung [,,A case of
vertical or complexe hermaphroditism with pyometra and
— 328 —
pyosalpinx; removal of the pyosalpinx". Lancet 1902.
10. VII. No. 4116. Vol. CLXIIL pg. 148—149]: Am
17. V. 1902 kam zu ihm ein 20 jähriger Mann wegen
Schmerzen in der Harnblase und erschwerten Hamens.
Er konstatierte eine Hypospadiasis peniscrotalis mit
beiderseitigem Kryptorchismus. Der Penis hatte kaum
2 — 3 Zoll Länge. Auf den Bauchdecken des recht-
seitigen Hypogastrium sah man eine ausgedehnte
Operationsnarbe nach Discision eines Abscesses vor
einem Jahre. Nach letzterer Operation war eine eiternde
Fistel hinterblieben, welche sich erst nach Ablauf eines
halben Jahres geschlossen hatte. Man fühlt in der
Gegend der Narbe eine ausgesprochene Resistenz, ohne
jedoch weiteren Bescheid über deren Charakter erlangen
zu können. Der Harn enthält zeitweilig Eiter, zeitweilig
Blut Der Katheter entleert dicken Eiter. Stimme und
Gesichtsausdruck weiblich, keine männliche Gesichts-
behaarung; Schamgegend spärlich behaart. Der Mann
ist klein von Wuchs und hager. Brüste wie bei einem
Mädchen von 15 Jahren. Der Mann war nach dem
Tode seines Vaters in einem Waisenhause erzogen
worden und hatte immer für schwächlich gegolten; ob er
jemals die Periode hatte, ist nicht bekannt. Ein Bruder
und eine Schwester sollen normal gebaut sein. Das
Individuum - wurde bisher stets als Mann angesehen und
scheint bis jetzt keinerlei Geschlechtstrieb em-
pfunden zu haben. Eine Ausspülung der eiternden
Harnblase — wenigstens glaubte man, es handle sich
um eine solche — brachte dem Kranken Linderung
seiner Beschwerden. Am 7. April tastete man sub
narcosi im Unterleibe einen fluktuirenden Tumor von
bedeutender Grösse, den man für die Harnblase hielt,
aber der Katheter entleerte kaum einige Tropfen Harn
und Eiter. Per rectum tastete man ein Gebilde wie eine
sehr bedeutend nach oben verlängerte Prostata, deren
— 829 —
oberes Ende der Finger, als zu kurz, nicht zu erreichen
vermochte. Man tastete auch einen zweiten Tumor
unter der Bauchdeckennarbe gelegen rechterseits ! Drei
Tage später wurde sub narcosi der Bauchschnitt ge-
macht. Dabei fiel zunächst auf, dass der früher getastete
grosse Tumor verschwunden war; man tastete jetzt nur
den kleinen linksseitigen Tumor. Man machte einen
medianen Einschnitt unterhalb des Nabels und fand in-
mitten zahlreicher Verwachsungen einen Uterus mit zwei
Eileitern, deren rechtsseitiger mit der Bauchwand ver-
wachsen war und im Zusammenhang mit jener post-
operativen Bauchdeckennarbe stand. Dieser rechtsseitige
Eileiter war mit Eiter gefüllt, heißt es in der Beschrei-
bung. Der linksseitige sah normal aus. (?) Man fand
jederseits vom Uterus ein Ligamentum rotundum und
an der Rückfläche des linken Ligamentum latum ein
Gebilde, das wie ein Ovarium aussah. Der frühere
Tumor war offenbar die momentan leere Harnblase, die
sich als sehr erweitert erwies. Man resecierte den links-
seitigen Eileiter sowie die linksseitige Geschlechtsdrüse,
rechterseits fand man keine Geschlechtsdrüse — aller-
dings konnte man angesichts der schlechten Narkose und
drohender Asphyxie nicht allzusehr gewissenhaft darnach
suchen. Man mußte wegen schlechten Zustandes des
narkotisierten Patienten die Operation möglichst bald
beendigen. Fortwährend floß Eiter mit Harn gemischt
aus der Harnröhrenmündung ab. Am 8. Mai, als dieser
Abfluß fortbestand, beschloß man, die Harnröhrenöffnung
durch einen Einschnitt zu erweitern, aber wegen
schlechten Allgemeinbefindens des Kranken wurde dieser
Eingriff auf später verschoben. Eine durch die Harn-
röhre vier Zoll tief eingeführte Sonde drang nicht in die
Harnblase ein, sondern in eine andere Höhle. Nach
einiger Zeit verließ der Kranke das Hospital in relativ
gutem Zustande: es wurde beschlossen, falls sich das
— 330 —
notwendig erweisen werde, auch die rechtsseitigen Adnexa
uteri zu entfernen. Die mikroskopische Untersuchung des
linken Eileiters wies eine Pyosalpinx nach; die Ge-
schlechtsdrüse, welche dem Ligamentum latum hinten
auflag, war ein Hoden von rudimentärer Entwicklung.
Die Öffnung im gespaltenen Scrotum, welche man für
die Urethralmündung angesehen hatte, war keineswegs
eine solche, sondern das Ostium vaginae, die Harnröhre
Öffnete sich in die Vagina, in welche also sowohl die
Harnröhre als auch die Cervix uteri mündeten.
Man hatte sub operatione, sowie sich aus der Be-
schreibung zu ergeben scheint, den Uterus samt links-
seitigen Adnexa, welche statt eines Ovarium einen Hoden
enthielten, entfernt; ob rechterseits eine Geschlechtsdrüse
existierte und welcher Art, diese Frage blieb offen. Ob
eine Prostata existierte und Samenleiter blieb ebenso
fraglich. Das Allgemeinaussehen dieses Mannes war
eher weiblich als männlich.
32) Pfannenstiel [sieheEmilv.Swinarski: »Beitrag
zur Kenntnis der Geschwulstbildungen der Genitalien bei
Pseudohermaphroditen." D. I. Breslau 1900]. — Die
55jährige unverehelichte Chr. Seh m., niemals menstruiert
imd aller Geschlechtstriebe bar, hatte schon vor drei
Jahren einen Tumor im Leibe bemerkt. Da der Leib
stetig wuchs, mußte sie ihre Beschäftigung aufgeben und
trat in das Hospital ein: Gesichtsausdruck männlich,
ebenso die Gesichtsbehaarung, Patientin mußte sich jede
Woche rasieren wegen starken Bartwuchses. Stimme
männlich, Brustbeingegend und Brüste behaart um die
Warzen herum. Brüste schwach entwickelt, Bauch- und
Schamgegend stark männlich behaart, ebenso die Perianal-
gegend und die Extremitäten. In der Bauchhöhle ein
harter, wenig beweglicher Tumor, bis an den Rippenbogen
reichend. Clitoris stark hypertrophisch, drei Centimeter,
sub erectione 5 Centimeter lang. Langes mobiles Prae-
— 331 —
putium clitoridis an der großen Glans. Unterhalb der
Clitoris liegt eine 1 Centimeter lange Öffnung, unterhalb
sind die Schamlefzen durch eine Raphe miteinander ver-
einigt. Durch jene Öflhung dringt der Finger zwei
Centimeter weit in einen Sinus urogenitalis ein und ent-
deckt in dessen Tiefe sowohl die Harnröhrenmündung
als auch die Öffnung der Scheide, welche einen kleinen
Finger einläßt. Im Grunde der Scheide tastet der Finger
eine bohnengroße portio vaginalis uteri, die in enger
Verbindung mit dem Tumor zu stehen scheint. Am 19.
VI. 1897 diagnostizierte Pf an nen stiel ein Uterusmyom
und machte den Bauchschnitt mit uteroovarieller Ampu-
tation. Der Tumor, acht und ein halbes Kilo wiegend,
erwies sich als ein Kugelfibromyom des Uterus, die ver-
längerten Eileiter waren 14 und 17 Centimeter lang:
beide Ovarien vergrößert, verlängert mit glatter Ober-
fläche, ohne Spur irgend welcher Einschnürungsfurchen,
und ohne Spur von Ovarial-Parenöhym auf dem Durch-
schnitte. Der Bau der Ovarien wies nur ein binde-
gewebiges Stroma auf mit einigen Blutgefäßen: Keine
Spur von Graafschen Follikeln oder corpora albicantia.
Es fehlte bei allgemeinem weiblichen Baue der inneren
Genitalien absolut . das essentionelle Charakteristicum
der Weiblichkeit der Geschlechtsdrüsen. Diese Person
von allgemeinem männlichen Aussehen, mit Persistenz
des Sinus urogenitalis, besaß ein Uterusfibromyom und
Ovarien ohne Spur von ovariellem Parenchym. Es war
in dem hypoplastischen Uterus ein hyperplastisches Ge-
bilde, jene Neubildung, entstanden. Das Individuum
verriet eine hochgradige psychische Depression, mied
jede menschliche Gesellschaft und saß stets einsam
schweigend in der Klinik. [Da kein typisches Ovarial-
gewebe nachgewiesen werden konnte, so möchte ich
vorsichtigerweise auch hier das Geschlecht für zweifel-
haft erklären. Die, wie sich herausstellt, verhältnismäßig
— 332 —
zahlreichen Fälle, wo man einen hochgradig entwickelten
Uterus beim Manne fand zugleich mit Hoden an der
Stelle der Ovarien liegend (Kryptorchismus bei fehlendem
Descensus beider Hoden) geben viel zu denken. N.]
33) P£an [siehe im Vorhergehenden Gruppe II No. 2]
fügte in seinem Falle von vergeblichem Suchen nach
den Testikeln mit beiderseitigem Leistenschnitt den Bauch-
schnitt hinzu, um sich von dem Zustande der inneren
Genitalien zu überzeugen und vollzog schließlich noch
die Abtragung der beiderseitigen Uterusadnexa um der
späteren Entstehung einer Haematometra vorzubeugen.
34) Primrose [,,A case of Uterus masculinus"
British Medical Journal 1897. Vol. II pg. 881]. Man
diagnosticierte bei einem 25jährigen mit beiderseitigem
Kryptorchismus behafteten Manne einen Tumor eines
Hodens und machte den Bauchschnitt mit Entfernung eines
Hodensarkomes. Der Mann starb, die Sektion wies nach,
daß ein Uterus sammt Tuben und Vagina existierte; die
Vagina öffnete sich in parte prostatica urethrae in capite
gallinaginis. [Referat : Fr o m m e 1 s Jahresbericht für
1897 pg. 933].
35) Quisling [Pseudohermaphroditismus femininus
externus" — Kristiania. Sep. Afdr. af Norsk Magazin
for Laegevidenskab. No. 5. 1902]: Am 26. VI. 1893
kam zu Quisling ein 18jähriges Fräulein wegen Bleich-
sucht und bisherigem Ausbleiben der Periode. Das
Mädchen glaubte bemerkt zu haben, es sei körperlich
anders veranlagt, als andere Frauen und verlangte des-
halb eine Untersuchung. Körperwuchs niedrig, schwäch-
liche Konstitution, männliche Stimme. Dolichocephalische
Kopfform mit hoher Stirn. Gesichtsausdruck männlich.
Starke männliche Gesichtsbehaarung, so daß das Mädchen
sich diesen Bartwuchs durch Scheere oder Ausreißen der
Haare beseitigt. Der Haarwuchs nimmt trotzdem ständig
zu. Schmaler flacher Brustkorb ohne Brustdrüsen. Der
— 333 —
gesamte Unterleib ist stark behaart, ganz besonders
der Mons Veneris und die Innenflächen der Oberschenkel,
sowie die Perianalgegend; Schambehaarung männlich.
Betrachtet man das Mädchen, nachdem es die Kleidung
ganz abgelegt, so fällt die Gegenwart eines Membrum
virile auf, wenn das Mädchen steht. Das Becken er-
scheint schmal, ein Scrotum ist bei geschlossenen Schenkeln
nicht zu sehen. Die Vorhaut bedeckt nicht die Glans
penis, läßt sich aber soweit vorziehen, um die Glans zu
bedecken. Harnröhrenöffnung weiblich. Die Schamlefzen
erscheinen als zwei stark behaarte Hautdecken wülste,
aber sie sind wenig entwickelt, viel mehr dagegen die
kleinen Schamlippen, die nach oben zu in die Crura
clitoridis und die Vorhaut des Präputium übergehen.
Man findet eine untere Kommissur der Schamlefzen, ein
Frenulum labiorum! Die Hymenalöffnung ist sehr eng,
unterhalb der Harnröhrenöffhung belegen. Per rectum
tastet man einen viereckigen in der Mittellinie gelegenen
Körper und linkerseits daneben ein rundliches Gebilde.
Eine Art Strang verbindet diese beiden Gebilde, welche
wahrscheinlich Uterus und Adnexa sind, ßechterseits
tastete Quisling ein härteres Gebilde dicht an der
seitlichen Beckenwand liegend; es war von ovaler Gestalt.
Der Vater des Mädchen ist vor drei Jahren gestorben,
die Mutter, drei Schwestern und drei Brüder leben und
sind normal gebaut.
Am 31. Juli klagte das Mädchen über Schmerzen
in der Art von Molimina menstrualia. Zum zweiten
Male sah Quisling dieses Mädchen am 18. I. 1895 und
konstatierte damals eine leicht verlaufende Appendicitis.
Am 29. Juli fand ein Nasenbluten statt, welches sich in
letzter Zeit periodisch wiederholt laut Angabe des Mädchens
und jedesmal drei bis vier Tage dauern soll (Menstruatio
vicaria?) Das Mädchen ist fest überzeugt von seiner
Weiblichkeit und empfindet weiblichen Geschlechtsdrang.
— 334 —
Als Quisling dem Mädchen riet, sich fürderhin männ-
lich zu kleiden angesichts des Bartes, so rief es aus
„Aber, Herr Doktor!" — Am 24. XL 1897 sah Quis-
ling das Mädchen zum dritten Male: er fand abermals
Symptome der Appendicitis und zugleich Schmerzen im
linken Hypogastrium sowie hartnäckige Stuhlverstopfung ;
während der Untersuchung konstatierte er Erektionen des
Penis. Der Scheideneingang ließ kaum die Kuppe des
kleinen Fingers ein, eine Sonde drang aber 10 Centi-
meter tief in eine Vagina ein. Per rectum tastete man
dasselbe wie vor 4 Jahren. Am 8. III. 1899 gestand das
Mädchen Masturbation zu, seit lange prakticiert Zur
Zeit war das Mädchen 23 Jahre alt.
Seit dem letzten Besuche starke Abmagerung. Die
heute von Patientin angegebenen Schmerzen hingen aus-
schließlich von der Appendicitis ab, waren also ganz
unabhängig von der genitalen Mißstaltung. Quisling
erstaunte, als es ihm jetzt gelang, ohne Schwierigkeiten
seinen ganzen Finger in die Vagina einzuführen — das
Mädchen erzählte zu seiner Rechtfertigung, es habe sich
wegen seines Bartwuchses von einem Dermatologen be-
handeln lassen. Letzterer habe um die Erlaubnis einer
vaginalen Untersuchung gebeten und dabei sei wahr-
scheinlich die Jungfrauenhaut eingerissen. An der Ge-
sichtshaut sah man zahlreiche von dem Gebrauche des
Thermokauters herrührende Narben, aber die männliche
üppige Gesichtsbehaarung war dieselbe geblieben. Der
Uterus erschien jetzt als ein Körperchen von drei Centi-
meter Länge und zwei Zentimeter Breite, Uterus foetalis.
Von ihm geht jederseits eine Art Strang aus zur vorderen
Beckenwand hin verlaufend. Man konnte jetzt bequem
in die Vagina ein Milchglasspeculum 10 Centimeter tief
einführen und fand in speculo eine Vaginalportion eines
Uterus einen Centimeter weit in das Lumen der Vagina
vorragend. Linkerseits vom Uterus tastete man ein läng-
— 335 —
liches Gebilde, wahrscheinlich ein Ovariura; ein ähnliches
Gebilde rechterseits lag nach der seitlichen Beckenwand.
Aus dem Muttermunde trat etwas Schleim hervor. Die
Sonde drang in den Uterus drei Centimeter tief ein. Der
Penis resp. die hypertrophische Clitoris maß jetzt 4 Centi-
meter Länge, 2 Centimeter Dicke. Man sah deutlich eine
ßaphe perinaei. Im Oktober 1901 erfolgte wieder ein
schmerzhafter Anfall von Appendicitis in regione
ileocoecali: darnach will Patientin etwas Blutabgang aus
den Genitalien bemerkt haben, vielleicht infolge einer
zufälligen Verletzung sub masturbatione. Die Mutter
dieses Mädchens erzählte Quisling, sie habe nach der
Geburt dieses Kindes selbst eine Zeit lang Zweifel ge-
hegt, ob denn das Kind auch ein Mädchen sei, desto
mehr sei sie später beunruhigt worden durch den Bart-
wuchs bei der Tochter. Als Quisling der Mutter
mitteilte, ihre Tochter sei wirklich eine solche und kein
verkannter Junge, äußerte die Mutter alle Anzeichen
großer Befriedigung. Augenblicklich lebt die Mutter nicht
mehr, sie wurde von einem Leberkrebs dahingerafft Im
gegebenen Falle hat sich Quisling für das weibliche
Scheinzwittertum geäußert; es bleibt abzuwarten, ob eine
eventuelle Nekropsie seine Vermutung bestätigt oder nicht.
36) E. v. Sal£n (Stockholm) [„Ein Fall von Herm-
aphroditismus verus unilateralis beim Menschen." — Ver-
handlungen der deutschen pathologischen Gesellschaft,
herausgegeben von Professor Ponfick. Zweiter Jahr-
gang. Berlin 1900. pg. 241 — siehe Referat: Zentral-
blatt für Gynaekologie. 1900. No. 32. pg. 862.]: Au-
gustePersdotter, 43 jährig, unverehelicht, menstruiert
seit ihrem 17. Jahre. Coitus mit einem Manne schmerz-
haft, Coitus mit Mädchen oder Frauen bisher nicht ver-
sucht. Allgeraeinaussehen weiblich, Clitoris 5 Centimeter
lang mit Glans von Haselnußgröße. Schamlippen normal
gebildet, sowohl die großen als auch die kleinen. Unter-
— 336 —
halb der Harnröhrenöflhung liegt die enge Öffnung der
Vagina, welche kaum eine dünne Sonde einläßt Die
Sonde dringt 8 Centimeter tief ein. v. Sal£n entfernte
mit Bauchschnitt ein cystisches Fibroid von der Größe
des Kopfes eines erwachsenen Mannes, an einem Stiele
sitzend, sowie die Geschlechtsdrüsen, welche da lagen,
wo bei Frauen die Ovarien liegen. Tuben und Ligamente
des Uterus normal. Die Patientin verließ am 8. 1. 1899
geheilt das Hospital Die mikroskopische Untersuchung
der einen Geschlechtsdrüse sollte einen gemischten testi-
culoovariellen Bau aufweisen, die Drüse sollte eine Art
Ovotestis sein; eine Hälfte der rechten Geschlechtsdrüse
soll Hodenstruktur aufgewiesen haben, die andere
Ovarialstruktur. In dem ovariellen Stroma wurden, wie
es in dem Referate heißt, Graafsche Folikel entdeckt und
typische Eier; inmitten reichen Spindelzellengewebes fand
man in dem Hodenstroma nirgends Spermatogonien oder
andere Samenzellen. Die linke Geschlechtsdrüse erwies
sich als Ovarium. Die wörtliche Beschreibung lautet so:
„Die Untersuchung der Geschlechtsdrüsen ergab linker-
seits ein ziemlich kleines höckriges Ovarium mit
Graafschen Follikeln und Eiern, rechterseits eine Zwitter-
drüse, deren eine Hälfte Eierstockgewebe, deren andere
Hodengewebe zeigte. Der Ovarialteil ist grobhöckrig,
von gelber Farbe und derber Konsistenz und zeigt bei
der mikroskopischen Untersuchung Graafsche Follikel
und ganz typische Eizellen in einem spindelzellenreichen
Stroma eingebettet. Der Hodenteil ist oben von ziem-
lich weicher Konsistenz, mit weißglänzender Tunica
albuginea. Das Parenchym ist locker, von braungrauer
Farbe und von weißen Bindegewebssepta durchzogen;
mikroskopisch zeigt es tubuli seminiferi,. die in einem
lockeren, von größeren und kleineren Anhäufungen fett-
und pigmentreicher- Zwischenzellen durchsetzten Binde-
gewebsstroma liegen. Die Tubuli sind stark geschlängelt
— 337 —
von beinahe gleicher Weite. Ihre Membranae propriae
sind größtenteils verdickt, sehr reich an concentrisch an-
geordneten Fasern. Das Epithel besteht aus Follikel-
zellen und S er tolini* sehen Zellen. Nirgends Sperma-
togonien oder andere Samenzellen. Die Struktur zeigt
im Ganzen eine auffallende Ähnlichkeit mit derjenigen
des ektopischen Hodens nach der Pubertät." —
[Ich weiß nicht, ob die mikroskopischen Präparate
auch von anderen Forschern die gleiche Deutung er-
fahren haben. Blacker und Lawrence waren die
Ersten, die in ihrem Falle eine solche Zwitterdrüse ent-
deckt zu haben glaubten. Ihre Deutung des mikro-
skopischen Präparates hat jedoch einer Kontrollunter-
suchung und Kritik des Herrn Professor Nagel nicht
Stand gehalten.] Neuerdings hat Prof. Landau diese
mikroskopischen Präparate in Berlin demonstriert.
37) Snegirjow [siehe im Vorhergehenden: Gruppe I,
Fall 30] fügte in seinem Falle von Herniotomia bilateralis
bei einem irrtümlich als Mädchen erzogenen männlichen
Scheinzwitter die Koeliotoraie hinzu, um sich von dem
Zustande der inneren Genitalien zu überzeugen, also eine
diagnostische Koeliotomie.
38 J E. Sorel und Ch^rot [,,Un cas de pseudo-
hermaphrodisme" — Archives Provinciales de Chirurgie.
T. VII. 1. Juni 1898. pg. 367.]: Die 36jährige Ali ne
C, als Mädchen erzogen und niemals menstruiert, hatte
ein allgemeines männliches Aussehen. Der männliche
Bartwuchs zwang das Mädchen vom 21. Jahre an sich
täglich zu rasieren. Andromastie. Brust nicht behaart,
aber die unteren Extremitäten bedeutend behaart.
Stimme männlich. Statt der Clitoris sah man zwischen
den Schamlefzen einen Penis hypospadiaeus von fünf
und einem halben Centimeter Länge, in der Höhe
der Corona glandis von 6 Centimeter Umfang. Die
volle Erection dieses Gebildes wurde sehr erschwert
Jahrbuch V. 22
— 338 -
durch die Äbride", welche das Glied nach unten zu
hakenförmig gekrümmt erhält. Labia majora reich be-
haart, aber gut gestaltet. Die Harnröhre erweist sich
gespalten an der unteren Wand; keine Spur von Hoden
zu entdecken, keine Spur von Vulva oder Vagina. Der
Charakter von AI ine erscheint ernst, ohne eine ausge-
sprochene Leidenschaft; sie hat Erektionen ihres Gliedes
und fühlt einen männlichen Geschlechtsdrang, auf Frauen
gerichtet, und hat sogar den Beischlaf mit Frauen ver-
sucht, aber „sans pouvoir y aboutir*. — Früher war
AI ine stets gesund, aber seit einiger Zeit empfindet sie
starke Schmerzen rechterseits im Unterbauche. Augen-
blicklich, am 15. III. 1898, fühlt sie sich schon seit 6
Wochen krank: die früheren Schmerzen haben sich
wieder gemeldet zugleich mit Erbrechen und Durchfall.
Am 12. III. 1898 trat sie wegen eines Bauchtumors in
das Hospital ein. Fieber und Meteorismus. Der harte,
schmerzhafte, druckempfindliche Tumor nahm die ganze
rechte Hälfte der Bauchhöhle ein, reichte bis zur Linea
alba und bis drei Querfingerbreit unterhalb der Leber.
Perkussion oberhalb des Tumors ergab tympanitischen
Schall. Am 15. März wurde der Bauchschnitt vollzogen
— und zwar rechterseits seitlich ; es ergoß sich etwa ein
halber Liter Eiter aus der Wunde, welcher dunkel ge-
färbt war und faekaloid aussah. Der Finger tastete in
der Wundhöhle höckrige Gebilde, welche den Eindruck
von epitheliomatösen Wucherungen machten, so daß
man an Carcinom des Blinddarmes dachte! Man legte
in die Wunde einen Gazedrain ein und verschloß den
Rest der Wunde, -f- 38,0 ° C. Am nächsten Morgen
war der Verband von Faeces durchtränkt, 16. III;
am 17. IH. Tod.
Bei der Nekropsie fand man eine allgemeine
Peritonitis: die gesamte rechte Hälfte des Unterbauches
war von einem Tumor eingenommen, der carcinomatös
— 339 —
war, mit zahlreichen cystischen Bildungen. Auf der
Höhe des fünften Lendenwirbels fand man keine Hoden,
in der Beckenhöhle fand man keine Spur von inneren
weiblichen Genitalien. Harnblase normal. Zwischen
Harnblase und Mastdarm fand man einen Sack, gefüllt
von Flüssigkeit, 8 Centimeter lang und 6 Centimeter
breit. Die Wände dieses Sackes, ebenso dick wie die
Blasenwände, waren innen von einer Schleimhaut ausge-
kleidet, nach unten zu kommunizierte dieser Sack durch
eine feine Öffnung mit der Harnblase. „A la partie
inferieure et sur la face peritoneale de cette poche
aboutit de chaque eöt£ un canal gros comme une plume
h parois ^paisses, dans lequel on peut enfoncer un stylet
fin ; chacun de ces canaux a une longueur de 6 — 8 Mill.]
— Cette v^sicule contient un liquide jaune £pais,
visqueux et est accol£ sur les cötes de la poche." — Man
fand weder in den Schamlefzen noch in den Leisten-
kanälen noch in der Bauchhöhle Hoden. Verlauf der
Harnröhre wie bei Frauen. Keine Prostata gefunden.
Der Sack zwischen Vesica und Rectum entsprach einem
hypertrophischen Utriculus masculinus, die beiden seit-
lich gelegenen Blasen sollten die Samenblasen sein.
Mangel der Vulva, Vagina, der Hoden; Gegenwart eines
Utriculus masculinus und Spuren von Müller'schen
Gängen.
Kommentare lassen sich zu diesem Falle nicht
geben, da sie allzu willkürlich ausfallen würden. Das
Geschlecht bleibt hier zweifelhaft resp. unentschieden
für immer.
39) L. Stimson [„A case of rare form of pseudo-
hermaphrodism". Med. Record. 24. IV. 1879. — Siehe
Referat: Zentralblatt für Gynaekologie 1897. No. 43
pg. 1306]: Nach dem Autor handelt es sich um interne
Zwitterbildung (Klebs), bisexuelle Entwickelung des
Hermann' sehen mittleren Segmentes. Ein 48 jähriger
22*
— 340 —
Neger von männlichem Aussehen konsultierte Stimson
wegen eines Bauchhöhlentumors. Penis normal gestaltet,
von mittlerer Länge; der kleine Hodensack enthält nur
den rechten Hoden. Rechterseits eine leicht reductible
Leistenhernie. Damm normal. Dieser Mann ist zum
zweiten Male verheiratet und hat einen 25 jährigen Sohn.
Man tastet in der Bauchhöhle linkerseits oberhalb der
Schamfuge einen faustgroßen Tumor, der auch bei der
Untersuchung per rectum tastbar ist. Man vermutete
ein Neoplasma des einen in der Bauchhöhle retinierten
Hodens. Beim Bauchschnitte fand man einen unregel-
mäßig gestalteten Tumor von einer weißen Hülle um-
geben, beweglich und durch eine Art Strang in Verbin-
dung stehend mit einem Uterus bicornis mittlerer Größe
— beide Tuben vorhanden. Man fand keine runden
Mutterbänder. Rechterseits gelang es, den Finger durch
den Leistenkanal von der Bauchhöhle aus in den Hoden-
sack einzuführen. Es gelang nicht, das untere Ende des
Uterus ■ zu tasten und sein Verhältnis zur hinteren
Blasenwand sowie zur Harnröhre festzustellen. Der
entfernte Tumor erwies sich als ein Sarcom des linken
Hodens. Stimson vergleicht seine Beobachtung mit 6
ähnlichen von Hermann zusammengestellten Beob-
achtungen.
40) H. Stroebe [„Ein Fall von Pseudohermaphroditis-
mus masculinus internus, zugleich ein Beitrag zur patho-
logischen Entwickelungsmechanik". Beiträge zur patho-
logischen Anatomie und zur Allgemeinen Pathologie.
Her. v. Professor Dr. E. Ziegler. Bd. XXII. (Siehe
Fig. 20 u. 21.)] beschrieb in ganz ausgezeichnet genauer
Weise ein Sektionspräparat, abstammend von einem im
Alter von 63 Jahren in Hannover infolge von Carcinoma
oesophagi verstorbenen männlichen Scheinzwitters Ernst
L. Da diese Beobachtung ungemein interessant ist, sei
sie hier wiedergegeben. Ernst L. verstarb bereits am
— 341 —
13. Tage nach seiner Aufnahme in das Hospital.
Allgemeinaussehen männlich, Gesichtsbehaarung spärlich.
Äußere Genitalien männlich. Penis 10,5 Centimeter lang.
Harnröhrenöffnung an normaler Stelle. Scrotum ein
leerer Sack. Schambehaarung männlich. In der Bauch-
höhle fand sich ein hochgradig entwickelter Uterus
mit Ligamenta lata und Tuben. Die Tuben waren
dünner und länger als normal. Der Uteruskörper, in
fundo 6 Centimeter breit, verschmälerte sich bedeutend
nach unten zu. Schon 5 Centimeter unterhalb des
Fundus stellt der Uterus nur einen cylindrischen Strang
vor von der Dicke des Mittelfingers, von vorn nach
hinten zu etwas abgeplattet. Der Uterus reicht nach
unten zu bis in das Cavum Douglasii. Die größte Länge
des Uterus, an der Hinterfläche gemessen, beträgt 20
Centimeter, auf der Vorderfläche hingegen nur 10 Centi-
meter, hier geht das Bauchfell, ohne 'irgend ein Falte
zu bilden auf die hintere Blasenwand über. Anus nor-
mal. Die rechte Tube reicht bis auf die rechte Fossa
iliaca. Das Ligamentum latum dextrum teilt sich am
•peripheren Ende in zwei Blätter, deren vorderes auf das
Coecum und den Wurmfortsatz übergeht In der Ecke
zwischen Wurmfortsatz und Tube lag ein ovales, plattes,
bohnengroßes Gebilde, eine Geschlechtsdrüse, darunter
ein kleineres, nicht ganz vom Bauchfell überzogenes
Gebilde. Das rechte Ligamentum latum ist 26 Centi-
meter lang. Das rechte Ligamentum rotundum verliert
sich in der rechten Scrotalhälfte im Bindegewebe. Der
rechte Leistenkanal ist verschlossen. Vom Uterus ver-
läuft nach der erwähnten rechtsseitigen Geschlechts-
drüse zu eine Art Ligamentum ovarii. Die linke Tube,
nur 14 Centimeter lang, ist bleistiftdick, an ihrem
peripheren Ende liegt die linke Geschlechtsdrüse, daneben
ein kleineres Gebilde wie rechts. Der Uterus macht den
Eindruck eines Uterus bicornis mit stärkerer Entwicke-
Fig. 20. Beobachtung von Stroebe (Sektionspräparat).
Geschlechtsorgane des 63 jähr, männlichen Scheinzwitters E. L. von vorn gesehen (^ der
natürlichen Grösse) U = Fundus uteri ; SH = linkes Uterushorn, U = Uterus, T. = Tuben an
der Kante der Ligg. lata (Das rechts Lig. latum ist künstlich etwas torquiert, so dass nahe
beim Uterus seine vordere Fläche, gegen die seitliche Beckenwand dagegen seine Hinter-
fläche zur Ansicht kommt, dadurch tritt die rechte Geschlechtsdrüse hervor.) H = Hoden,
E = Nebenhoden, Hy = Hydatiden des Hodens und Nebenhodens rechts). R = Ligg. rotunda,
endigend in der rechts geschlossenen, links mit (vorn aufgeschnittener) Peritonaealaus-
stülpung versehenen Scrotalhälfte. S L = Gegend des Leistenringes, Sp = Strang mit Vasa
spermatica interna (links), Nx N2 N3 = Verbindungsbriicken zum unteren Rande des grossen
Netzes vom linken Nebenhoden (Nx) und dem linken stielförmig ausgezogenen Ligamentum
latum (N2 N8), N = grosses Netz, C = Coecum, I = Ileum, Pr, = Processus vermiformis,
B = Harnblase vorn aufgeschnitten durch Nadeln auseinandergehalten, Ur = Ureteren, der
rechte nach oben, der linke nach unten gezogen, Pr== Prostata mit vorn aufgeschnittener
Harnröhre, P = Penis, dicht hinter der Glans subcutan aufgeschnitten mit unten seitlich
aufgeschnittener Harnröhre Ut, M = seitlich aufgeschnittener Mastdarm, O = Anus.
Fig. 21. Beobachtung von Stroebe (Sektionspräparat).
Halbschematische Zeichnung des Genitalapparates (von vorn gesehen).
U = Uterns masculinus mit Uterushorn links. Aus den beiden Ecken des
Uteruslumens zweigen die Tubenlumina ab; nach unten tritt eine allmähliche
Verengerung des Uteruslumens, dann wieder eine Erweiterung ein (Scheiden-
teil); Mündung des schließlich wieder sehr eng werdenden Kanales auf dem
Colliculus seminalis (C) in die Pars porstatica der Harnröhre mit längsovalem
Schlitz. An beide Seiten des Uterus schließt sich je ein Ligamentum latum
an. B = Harnblase, deren oberer Teil abgeschnitten ist mitUreteren; Pr=
Prostata. P = Penis, hinter der Glans durchschnitten. Harnblase und Pars
prostatica der Harnröhre sind vorn in der Mittellinie aufgeschnitten und
auseinandergeklappt, ferner sind in der Zeichnung diese beiden Teile durch-
sichtig gemacht, so daß man die hinter ihnen verlaufenden Geschlechts-
stränge bis zu ihrer Mündung auf dem Colliculus seminalis C hindurch
sehen kann. H = Hoden, E = Nebenhoden, Hy = Hydatiden, V = Vasa
deferentia (geschlängelt), A= Ampullen derselben, D = Ductus ejaculatorii
auf dem Colliculus seminalis C = mündend, T = Tuben, G = Ligamenta
testis, R = Ligamenta rotunda, rechts in der geschlossenen, links in der
mit einer (vorn aufgeschnittenen) Peritonaealausstülpung versehenen Scrotal-
hälfte (S) endigend, L = Gegend der Lei9tenkanäle, Sp = Strang, enthaltend
die Vasa spermatica interna (links), N1 N2 N3 = Verbindungsbrücken vom
linken Nebenhoden (E) und dem stielartig ausgezogenen linken Lig. latum
zum unteren Rand des großen Netzes. Die punktierten Linien markieren den
Verlauf der Arterien : an beiden Seiten des Uterus je einer Arteria uterina, von
welcher ein mit dem Lig. testis zum Hoden verlaufender Ast abgeht; bei
Sp die linken Vasa spermatica intorna im unteren Strang der freien recht-
eckigen Platte des Lig. latum, sie anastomosieren durch eine schräge ge-
schlängelte Getäßverbindung mit dem im linken Lig. testis verlaufenden
Getäße. Von letzterem geht ein Ast in das linke Lig. rotundum über.
Sp = Arteria spermatica interna dextra.
— 344 —
lung des linken Hornes. Von ihm zieht ein Strang in .
den linken Leistenkanal, der offen ist und einen Finger
in die leere Scrotalhälfte einläßt, deren Höhlung von
dem Bauchfell ausgekleidet ist. Man fand in diesem
Strange das linke Ligamentum rotundum sowie parallel
der Tube belegen ein Ligamentum ovarii. Auf einem
Durchschnitte des Uterus, 10 Centimeter unterhalb des
Fundus, sieht man drei Lumina: das Lumen der Uterus-
höhle und die Lumina der beiden Wo lff 'sehen Gänge,
welche in der Uteruswand nach unten zu verlaufen. Das
Lumen der Uterushöhle ist mit einer gelblichen, teigigen
Masse erfüllt. Man kann die Kuppe einer von obenher
in die Uterushöhle eingeführten Sonde am Blasengrunde
tasten. Penis klein, die Prostata hat sehr kleine Lappen.
Am Caput gallinaginis sieht man ausgezeichnet den
Sinus prostaticus in Gestalt einer Rinne von 5 Milli-
meter Länge und 2 Millimeter Breite. Trigonum
Lieutaudii und UrethraJmündungen normal, Nieren
normal. Der Uteruskanal mündet in capite gallinaginis.
Das Mikroskop ergab, daß die rechtsseitig und linksseitig
peripher gelagerten Gebilde die Hoden und Nebenhoden
waren. Es handelt sich also um hochgradige Entwickelung
der Mülll ergehen Gänge bei einem Manne, der mit
Kryptorchismus behaftet war. Der Kryptorchismus ist
für mich auch ein für die Hypothese von Siegenbeck
van Heukelom bestätigendes Moment. Die Wolff sehen
Gänge sind vollständig normal entwickelt, sie treten in
die Uteruswand ein unterhalb des Angulus tubouterinus,
nachdem sie bisher in ligamentis latis verlaufen wareD.
Die Tuben besaßen keine Fimbrien und keine Ampullen,
die rechte dünne Tube endete dicht beim Nebenhoden,
die linke schwand in Fettgewebe in der Nähe des linken
Hodens. Was die Geschlechtsfunktionen des Ernst L.
intra vitam anbetrifft, erfuhr Stroebe nichts weiter, als
daß Ernst L. kinderlos verheiratet gewesen war, ob er aber
— 345 —
Erektionen hatte, den Beischlaf ausführen konnte etc. ist
nicht bekannt, ebensowenig, ob Pollutionen oder menstru-
elle Entleerungen vorgelegen haben mögen. Stroebe
vermutet, die gelbe, teigige Masse im Uteruslumen könnte
von Blut abstammen, da sie durch Salzsäure und
Ferrocyankalium blaugefärbt wurde. Stroebe liefert eine
ganz ausgezeichnete detaillierte mikroskopische Beschrei-
bung seiner Präparate. Im Interesse des Lesers will ich
hier 2 mikroskopische Abbildungen des Präparates
wiedergeben, welche sehr instruktiv sind. (S.Fig. 20 u. 21).
41) Unter berger [„Ein Fall von Pseudoherm-
aphroditimus femininus externus mit Coincidenz eines
Ovarialsarkoms. Laparotomie" — Monatsschrift für Geb.
u. Gyn. April 1901 pg. 436]: Am 17. XII. 1900 stellte
Unterberger in dem Verein für wissenschaftliche
Medicin in Königsberg ein Mädchen von vierzehn und
einem halben Jahre vor, welches man an ihn gewiesen
hatte behufs Exstirpation eines Unterleibstumors. Das
Geschlecht des Kindes erschien zweifelhaft; sein Allgemein-
aussehen sowie sein Glied, aussehend wie ein hypospadischer
Penis, sprachen für männliches Geschlecht, ebenso die
Hypospadie des Scrotum; auf Grund der Untersuchung
der inneren Geschlechtsorgane jedoch glaubte Unter-
berger, das Kind sei ein Mädchen. Drei Brüder und
vier Schwestern sind normal gebaut, desgleichen die
Eltern. Das Kind war als Mädchen erzogen worden,
weil die Hebamme sofort nach der Geburt es für ein
solches erklärt hatte. Das Kind spielte lieber mit Mädchen
als mit Knaben, half jedoch angesichts seines kräftigen
Körperbaues am liebsten dem Vater bei dessen Arbeiten.
Im April 1900 trat einmal eine 8 Tage andauernde
Blutung aus der Scham auf, von der Mutter für die erste
Periode angesehen; diese Blutung wiederholte sich jedoch
in der Folge nicht mehr. Seit jener Zeit fing das Mädchen
über Unterleibsschmerzen zu klagen an, endlich bemerkte
— 346 —
man vor einem halben Jahre den Tumor im Leibe, welcher
rasch wuchs. In den letzten Monaten wurde dieser Tumor
recht druckschmerzhaft bei Berührungen. Das Mädchen
ist übermäßig hoch gewachsen — 164 Centimeter hoch,
die Extremitäten sind lang, männlicher Knochenbau
sehr kräftig, männliche Stimme, männliche Gesichts-
behaarung fehlt dagegen. Becken sehr schmal im Ver-
gleiche zu der Größe des Körpers. Behaarung von Scham
Fig. 22. Vulva eines 14 jähr, als Mädchen erzogenen Scheinzwitters.
Beobachtung von Unterb erger. 1 = Urethralmündung.
und Damm spärlich, weiblich. Der Tumor überragt den
Nabel. Die Scham sieht durchaus männlich aus. Penis
hypospadiaeus von der Größe und Dicke des großen
Fingers. Vorhaut nach hinten retrahiert. Zwischen den
getrennten Scrotalhälften sieht man eine Art Schamspalte,
in deren Grunde die Öffnung der Harnröhre, seitlich
von ihr je eine kleine Schamlippe. Wenn man das Kind
drängen heißt, so stülpt sich in jeder Leiste eine An-
— 347 —
Schwellung vor wie eine Hernie; rechterseits kann man
sich leicht vom Darminhalt dieser Hernie überzeugen,
außer Darm liegt aber in diesem rechtsseitigen Leisten-
bruche noch ein kleines, rundliches Gebilde, welches weder
ein Hoden noch ein Ovarium zu sein scheint. Per rectum
tastet man in der Mittellinie ein Gebilde, welches in
Zusammenhang mit dem Tumor steht; nach unten zu
Fig. 23 Vulva eines 14 jähr, als Mädchen erzogenen Scheinzwitters.
Beobachtung von Unterberge r.
1 = Vaginalhernie im Scrotalsack. 2 = Urethralmündung.
3 = Dellenförmige Einziehung, vielleicht entsprechend der Vagjna.
verjüngt sich dieses Gebilde und scheint am unteren
Ende eine Art Delle zu besitzen. (?) Die äußere Scham
sprach für männliches Geschlecht, besonders, wenn man
annehmen wollte, daß das Gebilde in der rechtsseitigen
Hernie ein Hoden sei. Unterberger jedoch glaubte,
daß der per rectum getastete Körper ein Uterus sei, der
rasch wachsende Tumor ein Ovarialsarkom und daß die
— 348 —
Vagina sich wahrscheinlich in die Urethra offene, daß
jene Blutung aus dem Genitale eine katameniale gewesen
sei Am 19. XII. entfernte er durch Bauchschnitt den
Tumor, der sich als mannskopfgroßes Sarkom des linken
Ovarium erwies. Man fand einen kleinen Uterus, die
linke Tube auf dem Tumor liegend, in dessen Substanz
die Ovarialsubstanz gänzlich aufgegangen war. Man
fand auch die rechte Tube und den rechten sehr kleinen
Eierstock, kaum haselnußgroß. Man fand ferner die
runden Mutterbänder und glaubte ein unterhalb des
Uterus getastetes Gebilde wie einen aus zwei Wänden
bestehenden Schlauch für eine Vagina ansehen zu dürfen,
welche sich wahrscheinlich in die Urethra eröffnete oder
mit ihr zusammen in den Sinus urogenitalis in der oben
angegebenen Öffnung in der Schamspalte. Nirgends
Hoden gefunden, die Öffnungen der Leistenkanäle waren
von Darmschlingen bedeckt. Das Mikroskop erwies ein
typisches Endotheliom oder Sarkom der Geschlechtsdrüse.
Unterberger gibt jedoch nichts darüber an, ob dieses
Sarkom wirklich aus einem Ovarium entstanden war und
nicht etwa aus einem in der Bauchhöhle retinierten Hoden.
Da die andere Geschlechtsdrüse nicht herausgeschnitten
wurde, also nicht zur mikroskopischen Untersuchung
gelangte, so dürfte man wohl sagen, die Entscheidung
von Unterberger beruhe auf seiner Vermutung, aber
nicht anatomischen Beweisen. Das Kind konnte demnach
ebensowohl ein männlicher Scheinzwitter sein, wie ein
weiblicher; freilich wurde die Blutung aus dem Genitale
eher zu Gunsten der Annahme Unt er berge r's sprechen.
Jedenfalls hatte Unterberger wohl angesichts der
sarkomatösen Entartung der linken Geschlechtsdrüse das
Recht, auch die rechtsseitige Geschlechtsdrüse mit heraus-
zuschneiden, deren mikroskopische Untersuchung vielleicht
das fragliche Geschlecht entschieden hätte — wenngleich
ihr Entwickelungszustand auch so rudimentär sein konnte,
— 349 —
daß auch das Mikroskop nicht im Stande wäre auf die
uns vorliegende Frage zu antworten. Meines Erachtens
erscheint auch in diesem Falle das Geschlecht fraglich trotz
der Exstirpation einer Geschlechtsdrüse (s. Fig. 22 u. 23).
42) Westermann [„Over een geval van Herm-
aphroditism" Nederl. Tijdschr. v. Geneesk. 1901. No. 11
— siehe Referat: Monatsschrift für Geb. u. Gyn. Juni
1902. pg. 955]: Ein 30 jähriges Mädchen starb infolge
von ulceröser Appendicitis. Schon die Mutter war im
Zweifel über das Geschlecht dieser Tochter gewesen und
zwar wegen deren absoluter Amenorrhoe. Bei der
Sektion konstatierte man Mangel der Brustdrüsen, einen
Penis hypospadiaeus von 6 Centimeter Länge mit nicht
von der Vorhaut bedeckter Glans. Auch das Scrotum
war gespalten. Unterhalb der Urethralmündung lag die
von einem Hymen garnierte Öffnung der Vagina
Männliche Schambehaarung; die auf der Innenseite be-
haarten Schamlefzen enthielten keine Hoden. Von der
Rückwand der Harnblase geht linkerseits eine 7 Centi-
meter lange Tube aus mit ausgesprochenen Fimbriae,
mesosalpinx und Ligamentum rotundum. Wo das Ovarium
sinistrum liegen sollte, fand man fest zusammengeballtes
sklerotisches Bindegewebe. In den äußeren Schichten
dieses Gebildes fand das Mikroskop ein aus zahlreichen
Zellen bestehendes, von einer Schicht weniger zahlreicher
Zellen umgebenes Gewebe, in der inneren Schicht Binde-
gewebe, Fett, einige blutgefüllte Bläschen und einige
Blutgefäße, aber keine Spur von Graafschen Follikeln,
Pflüger'schen Schläuchen. Erst nach Abpräparieren
des Bauchfelles von der hinteren Blasenwand • fand man
einen Uterus von 5 und eine Vagina von 8 Centimeter
Länge. Der gesamte Uterovaginalkanal war für eine
Sonde viabel. Mit Mühe entdeckte man den rechten
Müller'sehen Gang, 22 Centimeter lang, mit seiner
Tube, welche jedoch nur im peripheren Anteile eine
— 350 —
kurze Strecke weit viabel war. Rechterseits fand man
im Leistenkanale den Processus vaginalis peritonaei offen
und in ihm ein Gebilde von Bohnengröße: einen Hoden
mit seiner Tunica albuginea und zahlreichen Tubuli
contorti. Man fand keine Spermatozoiden. In Mesosal-
pinge lag der cystisch entartete Nebenhoden. Erst die
Nekropsie wies in diesem äußerst lehrreichen Falle die
erreur de sexe nach und den hohen Entwicklungs-
grad der Müller'schen Gänge.
43) Winckler [siehe im Vorhergehenden: Dritte
Gruppe, No. 12]. 14 Jahre nach einer erfolgreichen
Herniotomie wurde wegen Occlusio intestinorum der
Bauöhschnitt gemacht und zwar mit letalem Ausgang
bei einem männlichen Scheinzwitter von 56 Jahren, der
einen hochgradig entwickelten Uterus besaß.
44) Zahorski [in Wilno] (Gazeta Lekarska 1900.
No. 26. — Polnisch) beschrieb folgende eigene Be-
obachtung von Pseudohermaphroditismus femininus
externus. Er wurde von Dr. Waszkiewicz behufs
Konsultation zu einem 25 jährigen Dienstmädchen geholt
wegen eines fluktuierenden Bauchtumors und beginnender
Peritonitis. Allgemeinaussehen, Stimme, Brüste, Be-
haarung ganz weiblich, aber Clitoris drei und einen
halben Zentimeter lang, einem hypospadischen Penis sehr
ähnlich. Wegen großer Schmerzhaftigkeit konnte eine
genaue Tastuntersuchung weder per vaginam noch per
rectum durchgeführt werden. Im Sawicz -Hospital
wurde eine Parancetese durch die Bauchdecken vorge-
nommen und ungefähr ein Liter einer sanguinolenten
Flüssigkeit entleert; rechterseits eine große Inguinolabial-
hernie. Momentan folgte auf die Paracentese eine subjective
Erleichterung, aber der Tumor wuchs in der Folge so
rasch, daß er schon nach drei Wochen die gesamte
Bauchhöhle auszufüllen schien. Angesichts dessen, daß
offenbar ein maligner Tumor vorlag, verzichtete man auf
— 351 —
eine Operation, entgegen dem Verlangen der Patientin,
die in der vierten Woche nach der Aufnahme . starb. Bei
der Nekropsie fand man in der Bauchhöhle viel
sanguinolente Flüssigkeit, einen bis an die Leber
reichenden Tumor, mit dem großen Netze, mit dem
Bauchfell und den Darmschlingen verwachsen, ein
riesiges, weiches Sarkom, ausgehend aus dem rechten
Ovarium. Der linke Eierstock klein, flachgedrückt, der
rudimenätre Uterus kaum 2 Centimeter lang. Niemals
Periode oder Molimina menstrualia. Da der Autor mit
keiner Silbe einer mikroskopischen Untersuchung des
linken, für ein flachgedrücktes Ovarium von ihm an-
gesehenen Geschlechtsdrüse erwähnt, so hat wahrschein-
lich eine solche mikroskopische Untersuchung nicht statt-
gefunden. Es ist also auch in diesem Falle ein gerechter
Zweifel an der ovariellen Natur dieser Geschlechtsdrüse
gestattet, die ebensogut ein Hoden sein konnte. Für mich
bleibt also auch hier das Geschlecht trotz der stattgehabten
Nekropsie zweifelhaft.
45) S. Pozzi vollzog an einen von ihm undMagnan
in Paris behandelten verheirateten Manne den Bauchschnitt
wegen eines Tumors, der sich hinterher als Ovarialtumor
erwies. Der Mann, ein weiblicher Scheinzwitter, über-
stand die Operation gut und ist jetzt Witwer. [Laut
mündlicher Mitteilung durch Herrn Poz z i im Februar 1903].
Fünfte Gruppe.
23 Fälle von teils ausgeführten, teils von Ärzten vor-
geschlagenen oder von einem Scheinzwitter verlangten
chirurgischen Eingriffen an den Genitalien mit An-
schluss einiger Hypospadieoperationen bei männlichen
Scheinzwittern.
1) Aetius und Paulus Aegine'.ta erwähnen, daß
in Agyten bei den Stämmen der Ibbos undMandingos
— 352 —
häufig vor der Hochzeit die hypertrophische Clitoris
amputiert wurde.
2) Arn au d [„Dissertation sur les Hermaphrodites"
Paris 1766], dessen Sammelwerk dreißig Jahre lag, ehe
es im Druck erschien und eine Fundgrube für die ältere
Kasuistik des Scbeinzwittertumes ist, erzählt folgende
interessante eigene Beobachtung [siehe Fig. 24.]
Im Jahre 1725 untersuchte er eine unverehelichte
Näherin aus M£nilmontant bei Paris, welche all-
monatlich schreckliche Leiden ausstand infolge von
heftigen Molimina menstrualia: Leibschmerzen, Schwindel-
anfälle, Erbrechen etc. plagten jedesmal die Kranke.
Allgemeinaussehen, Gesichtsbehaarung, Brüste, Stimme
männlich, in jeder Schamlefze tastete man Hoden, Neben-
hoden und Samenstrang. Hypospadiasis totius penis
neben Hypospadiasis partialis scroti. Die Schamlefzen
erschienen in ihrem untersten Teile mit einander ver-
wachsen, indem sie eine Art Frenulum labiorum bildeten.
Der Damm erschien infolgedessen ausnehmend hoch.
Keine Spur einer Raphe zu sehen. Man konnte die
Hautdecken zwischen der Analöffnung und der Öffnung
in der Schamspalte mit dem Finger ziemlich tief ein-
stülpen in eine nach außen hin durch die Hautdecken
verschloßenen Höhle, wenigstens ergab der tastende
Finger so |eine Vorstellung für Arn au d. Während
jener katamenialen Beschwerden stülpte sich diese Partie
der Hautdecken am Damme etwas konvex nach außen
vor, aber „ohne gleichzeitige auffallende Verfärbung der
Hautdecken an dieser Stelle.* Die Anschwellung wurde
stets sehr schmerzhaft zu jener Zeit; nach einigen Tagen
ließen die Schmerzen nach und es erfolgte eine mehr-
tägige Blutung ex ano, obgleich keine Haemorrhoiden
vorhanden waren. Arn au d hielt diese Näherin für
einen regelmäßig menstruierenden Mann. Die Bluten-
leerung werde aber aufgehalten, weil die Scheide keine
— 353 —
AusführuDgsöffnung nach außen zu besaß — er hielt
jenen geschlossenen, oben erwähnten Hohlraum für eine
nach außen zu verschlossene Scheide, in welche man von
außen her die Hautdecken am Damme einstülpen konnte.
Dieses retinierte Menstrualblut sollte sich alsdann durch
eine Fistel e vagina in den Mastdarm ausscheiden und
dann aus diesem abfließen. Arnaud hatte sich persönlich
Fig. 24. Vulva eines erwachsenen als Mädchen erzogenen Schem-
zwitters von fraglichem Geschlecht. Beobachtung von Arnaud.
mehrmals überzeugt von der Wahrheit aller der kata-
menial auftretenden Beschwerden und der darauf folgenden
Blutung ex ano, wie er sagt. Er machte unter Assistenz
zweier Kollegen einen Einschnitt in die Hautdecken an
der schon erwähnten Stelle am Damme und drang mit
dem Finger in eine zwei Zoll tiefe Höhle ein, in deren
Jahrbuch V. 23
— 354 —
Grande er eine Portio vaginalis uteri zu tasten glaubte.
Die folgenden Menstrualblutungen entleerten sich be-
schwerdefrei durch die von Arnaud geschaffene Öffnung.
Leider aber wurde trotz Drainage die künstlich ge-
schaffene Fistel immer enger, schloß sich nach 6 Monaten
ganz und die alten Beschwerden waren wieder da. Die
Patientin ging auf die Wiederholung der Operation nicht
ein, verlangte aber statt dessen durchaus, Arnaud solle
ihr das Geschlechtsglied abschneiden, den hypospadischen
Penis, resp. die hypertrophische Clitoris, welches Organ
ihr sub erectione sehr lästig falle. Da Arnaud das
Individuum für einen Mann hielt, so schlug er diese
Operation rundweg ab. Die Patientin wurde auch von
Malaval, Puzos, Gu6rin, Morand, Garengeot
und anderen Ärzten untersucht, welche sämtlich Ar-
naud's Diagnose billigten, wie er schreibt. Als die un-
glückliche Näherin im Jahre 1740 starb, 15 Jahre nach
der von Arnaud vollzogenen Operation, bestimmte die
Pariser Akademie zwei Delegaten für die Ausführung
der Nekropsie: die Herren Verdier und Foubert.
Verdier vollzog die Sektion des Leichnams und nahm
die herausgeschnittenen Geschlechtsorgane mit sich nach
Haus. So oft auch Arnaud und Foubert auf eine
Aufforderung Verdiers hin zu ihm gingen, um gemein-
sam das Präparat zu untersuchen, so wußte es Verdi er
so einzurichten, daß sie ihn niemals zu Hause antrafen,
bis schließlich das Präparat so verfault war, daß es nicht
mehr zu untersuchen war. Arnaud sah in diesem Vor-
gehen Verdi er's eine Intrigue, um vorzubeugen, daß
ein Bericht an die Akademie abgesandt wurde. Nach
Arnaud sollte es sich hier um einen menstruierenden
männlichen Scheinzwitter mit mangelnder Vaginalöffnung
handeln, also mit Haematokolpometra per rectum pro-
fluens. Wenn man auch diesen älteren Mitteilungen mit
Recht skeptisch gegenübertritt, so ist andererseits ihnen
— 355 —
doch nicht von vornherein jeder Wert abzusprechen.
Wollen wir heute diesen Fall beurteilen, so werden wir
eher annehmen, die Näherin war vielleicht ein weiblicher
Scheinzwitter mit Hypertrophie und Erektionen der
Clitoris und teilweiser Verwachsung der Vulva mit
Atresie der Scheidenöfihung. Arnaud glaubte wohl,
daß die in den Lefzen vorhandenen Gebilde Hoden,
Nebenhoden und Samenstränge waren, das schließt jedoch
keineswegs aus, daß es sich um ektopische Ovarien und
Tuben z. B. gehandelt hat. Die Geschichte mit dem
Verhalten Verdi er's hat sich auch wohl später schon
in Arztekreisen wiederholt, so etwas kommt leider vor,
da nicht immer das gegenseitige Handeln der Arzte von
wissenschaftlichem Interesse und Kollegialität geleitet
wird.
3) Mc Arthur [Gynaecological Society of Chicago.
7. I. 1902 — Referat: Monatsschrift für Geb. u. Gyn.
1902. pg. 993]: „ Hermaphroditismus und Atresia ani."
Es wurde ein neugeborenes Kind wegen Atresia ani 12
Stunden post partum operiert, aber es starb trotzdem.
Bei der Sektion konstatierte man weibliches Schein-
zwittertum mit Persistenz der Kloake.
4) Aveling erwähnt ein Individuum zweifelhaften
Geschlechtes, welches im Londoner Saint Georges Ho-
spital untersucht wurde. Es war eine Frau mit ganz
fcesonderer Hypertrophie der Clitoris, welche Aveling
amputierte, weil sie infolge der Reibung an den Kleidern
der Frau lästig fiel. Aveling hatte bei dieser Person
die Menstruation konstatiert.
5) Benoit [Journal de la Soci£t£ de M£decine pra-
tique de Montpellier. Novembre 1840] beschrieb folgende
interessante Beobachtung: „Consultation sur un cas
d'hermaphrodisme" : Ein 27jähriges verlobtes Mädchen
wandte sich behufs Untersuchung an einen Arzt, welcher
eine Atresia hymenis konstatierte. Er machte einen Ein-
23*
— 356 —
schnitt, um die Scheide zu eröffnen, traf jedoch auf kein
Lumen und die Operation blieb resultatlos. Trotzdem
blieb das Fräulein in dem Glauben, dem weiblichen Ge-
schlechte anzugehören. Es schob den Termin der Hochzeit
unter stetig neuem Vorwande immer wieder hinaus, bis
der Bräutigam endlich die Geduld verlor — da gestand
es ihm die Ursache des Zögerns ein, es wisse, daß es
mißgestaltet sei inbezug auf die Geschlechtsorgane. Der
Bräutigam bestand dennoch auf der ehelichen Verbindung
sobald wie möglich. Marie erbat sich noch einige
wenige Tage Bedenkzeit und ging jetzt zu Benoit.
Sie hatte jetzt begonnen an ihrem weiblichen Geschlechte
zu zweifeln. Sie fragte Dr. Benoit direkt, zu welchem
Geschlechte sie gehöre, ob sie einen Mann heiraten könne
und ob bezüglich der Eheschließung eine Operation nötig sei
oder nicht? — Nach genauer Untersuchung konstatierte
Benoit männliches Scheinzwittertum, erklärte dem jungen
Mädchen direkt, es sei ein Mann, keine Operation könne
etwas daran ändern und die Hochzeit dürfte demnach
nicht stattfinden.
6) Berendes [siehe Koesters: „Ein neuer Fall
von Hermaphroditismus spurius masculinus" I. D. Berlin
1898, siehe auch Jahrgang für 1902 dieses Jahrbuches
in meiner Arbeit: Gruppe IV. Fall IV. von Landau]
amputierte einem Mädchen von vier Jahren auf Wunsch
der Eltern die hypertrophische Clitoris. Das Mädchen
erwies sich in der Folge als männlicher Scheinzwitter
[siehe auch die farbige Abbildung in meiner vorerwähnten
Arbeit].
7) W. Bittner [„Hermaphroditismus spurius mas-
culinus completus", Prager Medizinische Wochenschrift
1895 N: 43 pg. 491 mit zwei Abbildungen] : Interessante
Beobachtung von erreur de sexe aus der Klinik von
Bayer in Prag. Emilie P., 13j ährig, macht den Ein-
druck eines Weibes, aber ihr Charakter und ihre Gewohn-
357 —
heiten kontrastieren damit ganz auffällig. Die Körper-
kontouren weisen nirgends die weibliche Rundung auf,
die Schulterbreite übertrifft die Beckenbreite, das Haupt-
haar ist in zwei lange Zöpfe zusammengeflochten. Man
suchte an den oberen Extremitäten vergeblich den Puls-
schlag der arteria bracchialis, cubitalis, radialis, ulnaris,
was auf einen abnormen Verlauf dieser Gefäße hinwies.
Die Genitalien sahen aus wie die eines Weibes mit be-
Fig. 25. Äußeres Genitale des von Bittner beschriebenen
Scheinzwitters.
deutender Clitorishypertrophie : die Clitoris ist 5 und
einen halben Centimeter lang, hat eine deutlich sichtbare
Glans mit langer Vorhaut. An der Spitze der Glans
sieht man die Mündung eines Kanales, welcher eine
dünne Sonde 5 Centimeter tief einläßt (!). Aus diesem
Kanal kann man etwas Schleim ausdrücken, der ganz
ähnlich dem Prostataschleim aussieht. Bei Betastung
entdeckte man in dieser Clitoris einen zentral verlaufenden
— 358 —
Strang, der erst unterhalb der Schamfuge verschwand.
Dieser Penis ist an seiner unteren Fläche gespalten und
weist hier eine 3 bis 4 Millimeter breite Rinne auf, die
nach unten zu immer schmäler werdend, im Abstände
von drei Centimetern von der Spitze des Penis endet.
Harnröhrenöffnung weiblich, der Katheter weist eine be-
deutende Dilatation der Harnblase auf, indem er beinahe
bis in Nabelhöhe eindringt. Dr. Busch in Teplitz
Fig. 27.
Schematischer Sagittalscbnitt der
Beckengegend.
Fig. 26.
Fig. 26^ u. 27: Genitale eines männlichen Scheinzwitters von 13
Jahren, irrtümlich als Mädchen erzogen. Beobachtung von Bittner.
wegen Dysurie gerufen, hatte die Harnröhre mittels
Bougies erweitert. Diese Erweiterung der Blase nach
oben zu würde für eine Persistenz des Urachus sprechen.
Die untere Harnröhren wand stülpt sich etwas nach unten
vor, so als ob eine portio vaginalis uteri existierte. Unter-
halb der Harnröhrenöffnung liegt die Mündung der Vagina.
Beide Öffnungen liegen in dem 8 Millimeter langen Sinus
— 359 —
urogenitalis, der ganz glattwandig ist und ohne Spur von
kleinen Schamlippen. Anus normal, Damm breit. In
jeder Schamlefze tastete man ein Gebilde, von dem eine
Art Strang bis in die Bauchhöhle verläuft. Diese Ge-
bilde machen den Eindruck rudimentärer Hoden. Per
rectum tastend, gewahrt man ein bohnengroßes Gebilde in
der Mittellinie querliegend und leicht verschieblich, dicht
hinter der Blase liegend und bei Anfüllung der Blase
dem Finger entweichend Tuben oder Ovarien nicht getastet.
Man betrachtete die in den Schamlefzen liegenden
Gebilde als Hoden. (Siehe Fig. 25, 26, 27). Das per
rectum getastete Gebilde war anscheinlich ein rudimen-
tärer Uterus. Die Mutter verlangte durchaus die Ampu-
tation der hypertrophischen Clitoris, man willfahrte diesem
Verlangen jedoch nicht, weil man das Kind für einen
männlichen Scheinzwitter hielt.
8) M. R Blondel [„Observation de Pseudoherma-
phroditisme" — Soci£t£ Obst^tricale et Gyn^cologique
de Paris, S£ance du 12. Janvier 1899 — Bulletins et
M^moires de la Soci£t£ Obst&ricale et Gyn£cologique
de Paris. Paris 1899] beschrieb eine äußerst interessante
Beobachtung folgender Art: Frau X. aus Angers, 45
Jahre alt, seit 18 Monaten verheiratet, kam am 14. X.
1998 in seine Klinik mit Klagen über Unterleibschmerzen
Schwindelanfälle, Mattigkeit und Abgeschlagenheit und
in letzter Zeit häufiges Nasenbluten; außerdem bemerkte
sie seit zwei Jahren krampfhafte Zuckungen der Augen-
lieder, welche von Herrn Landolt behandelt worden
waren. Frau X. glaubt, alle diese Beschwerden stehen
mit ihrem Alter, einer beginnenden Climax, im Zu-
sammenhange. So hatte sich auch der Okulist ausge-
drückt, so äußerten sich auch ihre Bekannten. Sie hat
aber von all* diesen Beschwerden ihrem Hausarzte nichts
gesagt, sondern zog es vor, einen Spezialisten in Paris
zu konsultieren, da in ihrer Organisation etwas Absonder-
— 360 —
liches vorliege, was weder sie noch ihr Mann sich zu
deuten im Stande seien. Sie verlangte jetzt eine genaue
Untersuchung. Sie hatte niemals die Periode und konnte
mit ihrem Gatten niemals den Beischlaf normal ausführen,
weil sie dabei jedesmal vehemente Schmerzen empfinde;
sie glaubt bemerkt zu haben, es müsse ein mechanisches
Hindernis für die Vollziehung des Beischlafes vorliegen.
Eltern normal gebaut und gesund, drei Schwestern haben
normal die Periode, zwei haben Kinder. Frau X. hatte
im Alter von 12 — 13 Jahren alle die Symptome an sich
beobachtet, welche dem Eintritt der Regel vorauszugehen
pflegen. Schmerzen in der Lendengegend, Schweregefühl
im Unterleibe, Schwindelanfälle. Der Hausarzt verord-
nete verschiedene Emmenagoga: Apiol,Senf, ließ Blutegel
setzen, natürlich ohne jeden Erfolg. Ihre Leiden ver-
loren sich später nach etwa zweijähriger Dauer! Als
sie 19 Jahre alt war, bewarb sich ein junger Mann um
ihre Hand. Obgleich der junge Mann ihr wohlgefiel,
so zerschlug sich doch das Heiratsprojekt nach einem
Jahre infolgedessen, daß sowohl die Eltern als auch das
junge Mädchen voraussahen, die Ehe werde nicht glück-
lich ausfallen angesichts zu erwartender Kinderlosigkeit,
denn wie sollte sie eine Mutterschaft erwarten können,
da sie noch nie die Periode gehabt hatte? Aus dem
gleichen Grunde wurden auch mehrere andere Freier
abgewiesen. Jetzt, wo Fräulein X. bereits 44 Jahre alt
war, meldete sich abermals ein Freier, ein GOjähriger
Wittwer, welcher von vornherein erklärte, er habe
Kinder aus erster Ehe und verzichte auf weiteren
Kindersegen freiwillig. Die Heirat kam zu Stande, aber
der Beischlaf erwies sich als ganz unmöglich. Vor 6
Monaten stürzte Frau X. aus einer Höhe von vier
Metern herab und wurde mit einem Armbruch und der
Verstauchung einer Hand aufgehoben: sie empfand
gleichzeitig starke Schmerzen im Leibe, in den Leisten-
— 361 —
gegenden und Schweregefühl in den Schamlefzen. Der
Arzt legte auf den Arm einen Gipsverband, bezüglich
der Leistenschmerzen erkannte er einen doppelseitigen
Leistenbruch als Ursache und verordnete ein Bruchband.
Frau X. erklärt jetzt, sie könne dieses Bruchband auch
nicht einen Augenblick missen, da sie sonst sofort von
heftigen Schmerzen befallen werde in den Leistenringen.
Sie hat auch bemerkt, daß seit jenem Falle in jeder
Schamlefze ein Tumor existiere, den sie früher niemals
bemerkt hatte. Blonde 1 vollzog nun die Untersuchung
und fand zunächst absolut nichts, was eine erreur de
sexe hätte voraussetzen lassen. Körperhöhe 170 Centi-
meter. Das Gesicht ist vielleicht nicht ausgesprochen
weiblich zu nennen, entbehrt aber jeder Spur männlicher
Behaarung. Haupthaar lang, fein, wellig geringelt.
Stimme etwas scharf, aber nicht gerade unweiblich,
eher eine Art Mezzo-Sopran als Contraalt. Hände und
Füße groß, Taille breit, Hüften stark, Muskelsystem
üppig entwickelt. Bei Betrachtung der Vulva wird man
zunächst frappiert von der Größe der Clitoris sowie auch
der Schamlefzen. Die Hautdecke der Schamlefzen sieht
gerunzelt aus wie das Scrotum; hier und da auf den
Schamlefzen Haare. Clitoris kleinfingerdick, im flacciden
Zustande 4, sub erectione 6 bis 7 Centimeter lang.
Das Praeputium reich, umfaltet die Corona glandis und
geht nach unten zu in die kleinen Schamlippen über.
Zieht man die kleinen Schamlefzen auseinander, so ge-
wahrt man eine schmale, enge, infantile Schamspalte.
Es fallen hier mehrere Eigentümlichkeiten auf, welche
Blondel wörtlich so beschreibt:
„A la partie inf^rieure de Porifice vulvaire existent
une fourchette et un vestibule indentiques k ce qu'on
trouve ä l'£tät normal. Au milieu on trouve un orifice
£troit, borde* d'un bourrelet frang6, tout-k-fait semblable
& certains hymens. Au-dessus de celui-ci se montre la
— 362 —
vofite formte par la face inf£rieure du clitoris. : le raph£
parti du sillon median de celui-ci et qui correspond bien
ä la bride dlcrite dans un cas semblable par Buisson
la divise suivant son milieu en deux parties Egales et
vient se perdre un peu au-dessus de la partie sup^ricure
de l'hymen; k ce niveau existent deux orifices k la direc-
tionlongitudinale; situ£ de part et d'autre du raph£ ils sont
r£lativement volumineux et admettent chacun sur un
trajet d' un demi k un centimfetre Pextr£mit£ d'un fin
stylet : un liquide filant, trfes transparent, tout ä fait sem-
blable k la s£cr£tion prostatique de Fhomme, s^cbappe
devant nous de ce deux orifices." Man sah zunächst
nirgends eine Harnröhrenöffnung: dieselbe lag scheinbar
in einer pseudovaginalen Höhle, etwas nach hinten und
nach innen zu von der Hymenalöffnung. Einen Katheter
kann man längs des Fingers in die Blase einführen:
Urethra etwa vier Zentimeter lang. Die Einführung des
Fingers in die Hymenalöffnung bereitet der Frau viele
Schmerzen, die Sander des Hymen sieht man auf dem
Fingergliede gelagert. Die Hymenalränder sind dünn
und sehr gespannt. In der Tiefe von drei Zentimetern
erscheint die Vagina blindsackartig geschlossen. Per
rectum tastet man sowie auch per vaginam an der Hinter-
fläche der Harnblase zwei längliche Gebilde von vagen
Kontouren, welche vielleicht einer Prostata oder den
Samenblasen entsprechen. Beim Harnen mag ein Teil
des Harnes in die Vagina fließen infolge der versteckten
Lage der Urethralöffnung. In jeder der auffallend großen
Schamlefzen tastet man je einen Hoden: der linke ist
atrophisch, weich, abgeplattet, mit kleinem Nebenhoden
und Samenstrange, die rechtsseitigen Geschlechtsdrüsen-
gebilde sind normal. Man kann Kopf und Schwanz des
Nebenhodens und den Samenstrang unterscheiden. Die
Hoden gleiten unter Fingerdruck in ihrer Tunica vaginalis
hin und her, die eine offenbar mit Lumen versehene
— 363 —
Tasche bildet. Die Hoden lassen sich erheben bis zur
Leistenkanalmündung; der Versuch einen Hoden in den
Leistenkanal einzuschieben ist zu schmerzhaft, obwohl
die Hoden, wie oben gesagt, erst vor 6 Monaten infolge
eines Trauma in das Scrotum fissum herabgestiegen waren.
Bei dieser Frau wurde also eine erreur de sexe kon-
statiert. Hypospadiasis peniscrotalis mit Persistenz eines
Utriculus masculinus [resp. Vagina], welcher von Vesti-
bulum pseudovulvare durch eine Art Hymen geschieden
ist. Der Sinus urogenitalis, der Pseudovaginalkanal, das
hinter dem Hymen belegene Stück eingerechnet, ist
immerhin 5 — 6 Centimeter lang, läßt den Finger ein, aber
nicht das Membrum conjugis. Der Gatte war bisher
nicht im Stande den Widerstand jenes Hymen zu brechen.
Der Mann hat gleichwohl mehrmals eine Immissio in jene
Vulvargrube versucht mit Ejakulation in dieselbe hinein,
aber jeder Angriff auf den Hymen ist von einem
Schmerzenschrei der Frau gefolgt. Die Frau sagt, daß
sie gleichwohl bei diesen Versuchen ihres Gatten Wollust
empfinde, deren Kulminationspunkt der Moment sei, wo
bei dem Gatten die Ejakulation erfolgte* In diesem
Moment empfindet sie eine Art krampfartiger Erschütterung
des ganzen Körpers rhytmischer Natur, und sie fühlt, daß
bei ihr selbst eine Flüßigkeit sich in die Vulva ergießt.
Nach diesen Spasmen erfolgt eine tiefe Prostration und
hochgradige nervöse Depression. Die Frau unterscheidet
sehr wohl diese Gefühle, welche sie erst seit der Hochzeit
kennen gelernt hat, von anderen mehr oder weniger aus-
gesprochenen aber vagen Wollustempfindungen mit
Erektion der Clitoris und von Ejakulation gefolgt —
aber nicht ruckweise sondern kontinuirlich diese Ejaku-
lation — , welche sie schon früher vom 20. Jahre an manch-
mal empfunden, wenn sie einen Roman las oder tränmte.
Ob die Hoden während jener Spasmen nach oben
wandern, vermag sie nicht anzugeben, sie sind aber äußerst
— 364 —
druckempfindlich und, wenn zufällig einmal ein Hoden
einer Quetschung unterliegt, so empfindet die Frau starken
Schmerz, den sie selbst als nauseös bezeichnet.
Blondel war Zeuge einer Erektion und Ejakulation
einer durchsichtigen, fadenziehenden, stark riechenden
Flüßigkeit, welche vollständig dem Prostatasecret ent-
sprach: er sammelte sogar etwas davon auf ein Schälchen
zur Untersuchung. Die beiden Öffnungen, aus welchen
diese Flüßigkeit ausgeschieden wurde, lagen unter-
halb der Clitoris aber oberhalb der Harnröhrenöffnung.
Es war leicht, diese beiden Öffnungen mit bloßem Auge
zu sehen; man sah die Flüßigkeit aus ihnen hervorquellen.
Die Flüßigkeit enthielt nur einige platte Zellen, aber
keine Spermatozoiden. Keine Brustdrüsen vorhanden,
nicht einmal merkliches Fettgewebe. Die Sternalregion
war leicht behaart. Die scheinbar vaginale Mündung
der Urethra in seinem Falle bezeichnet Blondel als
einzig dastehend. Blondel wagt nicht zu sagen, ob
jene beiden Öffnungen oberhalb der Urethra den Öffnungen
von Cowper'schen Drüsen entsprachen oder Prostata-
ausführungsgängen; jedenfalls funktionierten die drüsigen
Gebilde, deren Secret sie ausschieden, energisch. Ob das
per rectum getastete Gebilde eine Prostata war oder
Samenblasen oder ein Uterus bicornis, kann Blondel
nicht entscheiden. Keine männliche Gesichtsbehaarung.
Neigungen und Geschmack dieser Person waren ganz
weiblich und hat sie niemals männlichen, auf Frauen
gerichteten Geschlechtsdrang empfunden. Was die kon-
gestiven Erscheinungen der Pubertätsperiode anbetrifft
sowie mensuelle Nasenblutungen im Alter der Menopause,
so hat man solche Erscheinungen auch bei anderen
männlichen Scheinzwittern ausgesprochen gefunden, die
noch weit mehr männlich veranlagt waren als diese Frau.
Was die sociale Stellung dieser Frau anbetrifft, so ist
es klar, daß die Ehe eine nichtige sein muß. Durfte
— 365 —
man, fragt sich Blondel, in diesem Falle sowie die
Frau es verlangte, einen operativen Eingriff unternehmen,
um den Beischlaf in der Rolle einer Frau zu erleichtern?
— Er beriet sich mit Maigrier und die Herren kamen
dahin überein, daß das Verlangen der Frau ein berech-
tigtes sei, er beschloß also den Hymen mit dem Messer
zu spalten und dann die Pseudovagina zu verlängern
durch einen Schnitt im Scheidengewölbe mit d^doublement
des Septum recto vaginale und eventueller plastischer
Bedeckung der geschaffenen Wunde. Die Frau gab an,
sie werde sich am 20. November behufs Ausführung der
Operation melden, kam aber nicht wieder.
Beiläufig erwähne ich, daß Herr Kociatkiewicz
in dem von mir früher beschriebenen Falle nach Exstir-
pation der Hoden eines als Mädchen erzogenen männ-
lichen Scheinzwitters, behaftet mit Hypospadiasis peni-
scrotalis, um den Beischlaf in der Rolle einer Frau zu
ermöglichen, eine Erweiterung des Aditus ad vaginam
versuchte ohne jedoch eine wesentliche Veränderung zu
erzielen.
Bezüglich desBlondePschenFalles ist hervorzuheben,
daß diese Frau, ein verkannter Mann, absolut weiblichen
Geschlechtsdrang empfand.
8) Realdo Colombo [siehe Debierre] „I/Ethio-
pienne de Realdo Colombo de Cremone": Clitoris zu groß,
Scheidenöffnung zu klein; Beischlaf weder mit Männern
noch mit Frauen möglich. »Elle ne pouvait agir ni patir
commod^ment." Diese Person verlangte die Amputation
des männlichen Gliedes: Colombo schlug aber die Aus-
führung dieser Operation ab, indem er die Verantwortung
für diese Operation vor den Behörden scheute.
Steg lehn er [1. c. pg. 89] schreibt bezüglich dieses
Falles: „Realdus Columbius observavit mulierem,
cni erat genitale membrum ambiguum crassum digiti
minimi longitudinem aequans sed perforatum, sub eodem
— 366 —
ostium canalis sie angustum ut non nisi digiti minimi
apicem admitteret. Viros haec ita coneupivit ut penis
clitoridei resectionem et ostii vaginalis dilatationem a
chirurgo expeteret. Qua strueturae vicissitudine manifesto
patet, clitoride increscente muliebris genitalis canalem
eadem proportione contrahi et coaretari." — Nach dieser
Beschreibung scheint es sich hier um einen männlichen
Scheinzwitter zu handeln mit Hypospadie des Scrotum
und mehr oder weniger hochgradiger Entwickelung der
Mü Herrschen Gange — jedenfalls scheint eine Scheide
existiert zu haben. Der Fall ähnelt am meisten dem-
jenigen von Maude aus der neueren Kasuistik.
9) W. A. H. Coop [,,A curious anomaly of the
female genitalia with striking resemblance to some of
the external male elements changed by plastic surgery
into a woman of normal appearance." American Gyn.
and Obstetric. Journal-New York. May 1895. pg. 594]:
24jährige Frau, verheiratet bei vollständig männlichem
Aussehen der äußeren Genitalien infolge von Verwachsung
der Schamlefzen untereinander. Plastische Operation mit
gutem Ausgange. Coop ermöglichte durch eine Discision
der Verwachsung die Ausführung des Beischlafes sowie
auch Hu guier in einem später zu erwähnenden Falle
— so wie auch eine solche einfache Operation den Bei-
schlaf in der Rolle einer Frau Marie Magdalene
Lefort ermöglicht hätte, wenn die Person sich der An-
sicht von B£clard angeschlossen hätte, der ihr Geschlecht
als weiblich richtig erkannt hatte entgegen der Meinung
der sämtlichen anderen Ärzte, welche sie untersucht
hatten.
10) Coste [Marseille] [Journal des connaissances
m^dico-chirurgicales par les Docteurs A. Trousseau,
J. Lebaudy, H. Gouraud: 3-eme annee, 1835, pg. 276
„Conformation vicieuse des organes g£nitaux chez une
femme. Operation."] ermöglichte den Beischlaf in der
— 367 —
Rolle einer Frau einer Person von zweifelhaftem Ge-
schlechte. Im September 1834 kam zu ihm Frau X. mit
ihrer 21jährigen Tochter, weche eine genitale Mißstaltung
hatte. An Stelle der zu erwartenden Clitoris fand Coste
ein männliches, unten gespaltenes Glied, so groß wie bei
einem etwa 12jährigen Knaben. Die Glans dieses Gliedes
war infolge von Retraction des Praeputium vollständig
entblößt. Aus der weiblichen Harnröhrenöffnung entleert
sich nicht nur der Harn, sondern vom 13. Jahre an auch
regelmäßig alle vier Wochen das menstruelle Blut;
Unterhalb der Harnröhrenöffnung keinerlei Vertiefung
zu sehen, man sah dort zwischen den kleinen Schamlippen
nur eine behaarte Haut mit Anzeichen einer Raphe. Die
großen Schamlippen waren rudimentär entwickelt, reprä-
sentierten einfach zwei Hautfalten. Allgemeinaussehen
dieses Mädchens, sowie die Brüste und allgemeine Be-
haarung ganz weiblich, ebenso die Schambehaarung, aber
das Becken und die Extremitäten waren männlich ver-
anlagt. Charakter und Neigungen vollkommen weiblich,
das Mädchen liebte zärtlich seinen Bräutigam, kannte
keine Masturbation und hatte niemals eine Erektion
seines Geschlechtsgliedes bemerkt. Die Mutter kam zu
Coste mit der Frage, ob ihre Tochter heiraten könne
oder nicht? Coste antwortete, daß ein Beischlaf nicht
möglich sein werde, es sei denn nach Ausführung einer
Operation. Da allmonatliche Blutungen vorlagen, so war
Coste überzeugt von der Existenz eines Uterus: die
Ausscheidung des Blutes durch die Harnröhre wies
darauf hin, daß eine Kommunikation zwischen Uterus
und Harnröhre existiere. Es ging nun um zwei Sachen :
erstens um Schaffung einer Vagina zwischen Urethra und
Rectum, zweitens um Amputation der hypertrophischen
Clitoris. Das Fräulein ging im Prinzip auf die Operation
ein, die auch von Coste am 20. IX. 1834 vollzogen
wurde. Aus Rücksicht auf die Schamhaftigkeit der
— 368 —
Patientin, sowie darauf, daß es darauf ankam, das größte
Geheimnis zu wahren, begnügte er sich mit einem einzigen
Assistenten, Dr. Dun£s. Er begann die Operation mit
einem Längsschnitte in der Raphe dartos zwischen
Urethral- und Analmündung, wobei die Kranke so ge-
lagert war wie bei einem Steinschnitt Da Coste selbst
in der Tiefe von einem Zoll keine Scheide antraf und er
befürchtete, die naheliegende Urethra oder das Rectum
zu verletzen, so führte er jetzt einen Katheter in die
Blase ein, indem er aber dem Katheter eine Richtung
gab nicht nach der Harnblase sondern nach der Gebär-
mutter zu. Die Sonde drang spontan in einen Kanal ein,
welcher die Vagina zu sein schien. Jetzt entschloß sich
Coste unter dem Risiko, eine Urethrovaginalfistel zu
schaffen, dazu, das Septum zwischen dem in Urethra
liegenden Katheter und der vermuteten Vagina von der
Urethralmündung aus mit einem Messerschnitte zu spalten
bis zu dem vermuteten Scheideneingange. Der in die
Tiefe der Wunde eingeführte Finger gelangte in eine
Höhle, die mit Schleimhaut ausgekleidet war; er tastete
aber auch in dieser Höhle eine Portio vaginalis uteri.
Coste tamponierte nun diesen ganzen Kanal mit Charpie,
die er mit Wachs durchtränkt hatte. Dann zog er die
Vorhaut der hypertrophischen Clitoris soweit er konnte
nach hinten zurück und amputierte die Glans clitoridis
mit einem Messerzuge so nah als es möglich war an der
Symphysis ossium pubis. Er legte einen Heftpflaster-
verband an und brachte die Operierte zu Bett. Das
postoperative Fieber wurde durch strikte Diät bekämpft.
Am dritten Tage nach der Operation erfolgte eine starke
Blutung aus den durchschnittenen Corpora cavernosa
clitoridis, welche Coste nicht fürchtete, weil diese Blutung
eine vorteilhafte Depletion setzte!!!! Druckverband.
Am 7. Tage nach Amputation der Clitoris war deren
Wunde vernarbt. Nach zwei Monaten war die chirur-
— 369 —
gische Pflege der neugeschaffenen resp. eröffneten Vagina
mittels Tamponade und Lapisgebrauch vollendet. Die
Ränder der Harnröhrenwunde sollen spontan mit einander
verwachsen sein, sodaß schließlich der Harnweg ganz
separiert erschien von dem Genitalwege der Vagina. Die
Periode erschien zur erwarteten Zeit und wurde per
vaginam entleert. 8 Monate nach der Hochzeit hieß es :
Matrimonium est consummatum. Die junge Frau sagte
ihrem Operateur, der Beischlaf finde statt ohne Schwierig-
keiten und sie sei zufrieden und habe auch Annehmlich-
keit dabei, aber schwanger sei sie noch nicht seit dem
letzten Besuche des Arztes. Es scheint, daß es sich in
diesem Falle um einen weiblichen Scheinzwitter handelt
mit inguinolabialer Ektopie eines Ovarium, welches Coste
fälschlich für einen Hoden angesehen hatte, um eine
Verwachsung der Schamlefzen unter einander und Mün-
dung der Vagina in die Urethra oder in den Sinus
urogenitalis. Interessant ist für den modernen Chirurgen
die Art und Weise, wie damals solche Wunden behandelt
wurden, wie z. B. die nach Amputation der Clitoris und
ihrer Schwellkörper entstandenen.
12) Duval [siehe: Debierre 1. c. pg. 46]: De-
moiselle d'Anjou — „Nach Angaben von Duval ver-
langte der Gatte die Scheidung" : „La cause du di-
vorce pr^tendu £tait que cette demoiselle avait un membre
viril, long de deux travers de doigts en la partie sup£-
rieure de Povale muli&bre, lieu auquel devoit 6tre le
clitoris, qui se dressait alors que son mari voulait avoir
sa compagnie, et le blessait, de sorte qu'il n'avait encore
eu d^cente habitation et copulation avec eile." Das
Gericht entschied, daß die Ehe aufrecht erhalten werden
wird, insofern die Gattin sich einverstanden erklärt zur
Abschneidung „de la dicte partie superflue et inutile k
une femme." Da jedoch die junge Frau auf eine Ope-
ration nicht eingehen und nicht das verlieren wollte, was
Jahrbuch V. 24
— 370 —
die Natur selbst ihr verliehen, „le mariage füt de con-
sentement des deux parties d£clar£ solu et cass£* —
Diesen Fall habe ich früher schon erwähnt in meiner
Kasuistik der Mißehen „par erreur de sexeu, deren ich
bis jetzt 63 gesammelt habe.
13) Hartmann [Bulletins et M^moires de la Soci£t£
de Chirurgie de Paris. Tome XXVIII. 1902. Nr. 31. pg.
931 und No. 34]. Im Jahre 1892 schnitt Hart mann bei
einem 7 jährigen Mädchen, welches hartnäckig masturbierte,
auf Wunsch der Mutter hin die hypertrophische Clitoris
ab. Nach 10 Jahren sah Hartmann das Mädchen
wieder. Angesichts einer Diskussion über das von
Walther in der Pariser Soci£t6 de Chirurgie vorgestellte
Individuum erinnerte er sich an dieses Kind und be-
richtete einige Details: das 7jährige Kind verriet vor-
zeitige geschlechtliche Entwicklung: der fette Mons
Veneris und die Schamlefzen waren schon behaart.
Während normal bei einem 7 jährigen Mädchen die Clitoris
nicht länger am Dorsum ist als 47 (?) Millimeter lang, so
hatte in seinem Falle die Clitoris die Größe des kleinen
Fingers, sub erectione erschien sie noch größer. Das
Organ sah aus wie ein hypospadischer Penis, die Crura
clitoridis gingen über in die kleinen Schamlippen. An
der unteren Fläche der scheinbar gespaltenen männ-
lichen Penisharnröhre sah man eine weißliche glänzende
Membran und darin hintereinander liegend mehrere
Öffnungen: Lacunae Morgagni i. Hymen falciformis
läßt den Finger in Yaginam eindringen bis an den
Mutterhals. Die Schamlefzen vereinigen sich nicht mit
einander oberhalb der Clitoris, sondern haben dort einen
Abstand von einander von anderthalb Zentimetern. Per
rectum tastete man das Corpus uteri, aber der Uterus
lag nicht antevertiert, wie es sein sollte, sondern in
retroversione. Jederseits tastete man im Becken in der
Region der Articulatio sacroiliaca einen bohnengroßen.
— 371 —
druckempfindlichen Körper — . Die Oberlippe wies eine
männliche Behaarung auf. Die Clitoris glich an Größe
dem Membrum eines 7jährigen Knaben, wurde bei
Digitalberührung steifer und näherte sich dabei der
Schamfuge. Da Hartmann überzeugt war von dem
weiblichen Geschlechte des Kindes und um der Onanie
ein Ende zu machen, entschloß er sich zu der Amputation
des inkriminierten Gliedes. Jetzt nach 10 Jahren bot
das Mädchen ein absolut männliches Aussehen. Das
Gesicht war üppig behaart, Brustkorb und Becken
männlich. Das Individuum erwirbt sich den Unterhalt
als Näherin und soll bis jetzt keinerlei Geschlechtstrieb
empfunden haben. Schambehaarung weiblich. Der Stumpf
der einstens amputierten Clitoris strotzt fingerdick unter-
halb der Schamfuge, ist von rosaroter Färbung. Die
10 Centimeter lange Scheide läßt ein Speculum bis an
den Mutterhals vordringen, eine dünne Sonde dringt in
den Uterus vier und einen halben Centimeter tief ein.
Kegel bis jetzt noch nicht aufgetreten, aber alle Monate
2 — 3 Tage lang Leibschmerzen, mehr linkerseits als
rechterseits ausgesprochen und bis auf die Fossae iliacae
ausstrahlend. Hartmann hält das Individuum für ein
Mädchen, ich möchte dieses Urteil doch nicht ohne
Weiteres unterschreiben und halte das Geschlecht bisher
für zweifelhaft und die ausgeführte Operation für un-
berechtigt, solange nicht das weibliche Geschlecht sicher-
gestellt war — erinnere dabei an einen bekannten Fall,
wo ein berühmter französischer Chirurg von einem seiner
männlichen Patienten ermordet wurde aus Eache dafür,
daß er ihm während einer Varicocelenoperation einen
Hoden abgeschnitten hatte!
14) HectorleNu wurde zu der 6 jährigen Tochter
des Wilhelm Fr£rot gerufen, um deren hypertrophische
Clitoris zu amputieren, schlug aber die Operation ab,
weil er in jeder Schamlefze je einen Hoden und Neben-
24*
372 —
hoden getastet, somit eine erreur de sexe konstatiert
hatte. Hypospadiasis peniscrotalis.
15) Huguier: Es handelte sich um die 1839 in
Saint-Quentin geborene Louise D. [siehe Le*on leFort:
„Les vices de conformation de Putärus et du vagin*
Paris 1862. pg. 200—207.] (s. Fig. 28 u. 29.) Es waren
die kleinen Schamlippen mit einander verwachsen, indem
sie so die untere Wand eines Kanales bildeten, welcher
Art
Fig. 28 u. 29. Vulva eines 20 jährigen weiblichen Seheinzwitters
Louise D. mit Verwachsung der Schamlefzen. Abbildung vor
und nach Discision durch Huguier.
A = Clitoris, B = Sonde in die Vulvaöffnung eingeführt, C *= Linkes
Ovarium in hernia labiali, D=Urethralmtindung, I=Vaginalostium.
unterhalb der Clitoris nach außen mündete. Louise D.
hatte sich sonst regelrecht entwickelt und hatte vom
18. Jahre an ihre Perioden, die allerdings jedesmal sehr
schmerzhaft waren. Das Menstrualblut entleerte sich
stets mit Harn gemischt durch jene unterhalb der
Clitoris belegene Öffnung. Im 20. Jahre sollte Louise
heiraten. Der Hausarzt erklärte eine Heirat für unmög-
lich. Am 14. IX. 1859 stellte Debout in der Pariser
— 373 —
Soci£t£ de Chirurgie ein Gipsmodell der Geschlechtsteile
der Louise D. vor, welche für einen Hermaphroditen
angesehen wurde. Clitoris 1 — 5 Centimeter lang mit
starken Erektionen. In einer Schamlefze lag ein Ovarium,
welches eventuell für einen Hoden angesprochen werden
konnte. So oft eine Erektion der Clitoris eintrat, sah
man „un mouvement ascensionel se produire dans les
grandes lfcvres comme si elles £taient doubl£es d'un muscle
Cr^master". — Oberhalb jenes ektopischen Ovarium
tastete man einen nach dem Leistenkanale zu verlaufenden
Strang! Die Sonde, in die Öffnung unterhalb der Clitoris
eingeführt, drang nicht in die Harnblase ein, sondern 11
Centimeter tief in die Vagina und konnte per rectum
nicht getastet werden. Debout war daraufhin fest über-
zeugt, daß Louise ein Mädchen sei, und brachte sie in
das Hospital Beaujon zu Huguier, welcher die ver-
langte Discision der mit einander verwachsenen kleinen
Schamlippen vollzog bis auf den Abstand von zwei
Centimetern von der Analöffnung. Sofort erblickte man
das Orificium vaginae von einem Hymen garniert, sowie
die Harnröhrenmündung. Uterus sehr klein. In der
Folge fügte Huguier noch einen zweiten kleinen Ein-
griff hinzu, da die Öffnung der Schamspalte sich als sehr
eng erwies.
16) Als Seitenstück zu diesem Falle füge ich hier den
berühmten Pariser Fall betreffend Maria Magdalena
Lefort hinzu samt einigen Abbildungen sehr instruktiver
Art. Dieser Fall ist vielfach diskutiert und mehrfach
von französischen Autoren beschrieben worden, weil er
in der Tat lehrreich ist. Die beiden Abbildungen stellen
die Person vor im Alter von 16 und von 65 Jahren.
[Siehe Debierre: L'Hermaphrodisme. Paris 1881. pg.
70—83] (s. Fg. 30, 31, 32, 33). Am 16. Februar 1815
wurde die damals 16 Jahre alte Maria Magdalena
in der Pariser Ärztlichen Gesellschaft vorgestellt.
— 374 —
Chaussier, Petit-Radel und Beclard sollten sie
untersuchen. Das Mädchen war von mittlerem Wuchs,
hatte viele paradoxe Erscheinungen an sich; einen auf-
fallenden Kontrast bildete die üppige männliche Gesichts-
Fig. 30. Maria Magdalena Lefort, weiblicher Scheinzwitter
im Alter von 16 Jahren.
behaarung mit gleichfalls üppig entwickelten weiblichen
Brüsten. Üppige Schambehaarung. Die Clitoris, mög-
licherweise ein hypospadischer Penis, war im flacciden
Zustande 7 Centimeter lang, sub erectione länger. Prae-
— 375 —
putium mobil. In der Mittellinie sieht man an der unteren
Fläche dieses Gliedes eine seichte Rinne und darin fünf
hintereinander liegende feine Offnungen, Lacunae Mor-
gagni i. Zwei kurze schmale Schamlefzen sind stark
Fig.r31. Maria Magdalena Lefort im Alter von 65 Jahren.
Beobachtung von Bßclard.
behaart an ihrer Außenseite und reichen von der Clitoris
bis etwa 10 Linien vor dem After. Zwischen den Scham-
lefzen liegt eine Haut, durch die hindurch man eine da-
rüber liegende Höhle zu tasten meint. Die Schamlefzen
— 376 —
sind leer, enthalten also keinerlei Geschlechtsdrüsen.
Unterhalb der Clitorisbasis liegt eine Öffnung, durch
welche der Harn abfließt und in die man eine dünne
Sonde einführen kann. In den Leistengegenden tastet
man nichts von Geschlechtsdrüsen. Magdalena gibt an,
der Harn fließe ab aus der besagten Öffnung unterhalb
Fig. 32. Scheinatischer extramedianer Sagittaldurchschnitt durch
das Becken von Maria Magdalena Lefort
J = Sonde unterhalb der Clitoris in das Orificium vulvae
eingeführt, M = Vagina, 0 = Ovarium, T = Tube, U = Uterus,
1 = lig. rotundum, V = Blase, U = Ureter, d = Orificium urethrae
R = Rectum, g = große Schamlippen.
der Clitoris sowie aus den vorher als Lacunae Mor-
gagnii erwähnten feinen Öffnungen, was wohl auf einem
Irrtum beruhen mag. Das Mädchen gibt an, schon vom
8. Jahre an menstruiert zu sein — Menstruatio praecox.
Sie ist absolut außer Stande, vor Zeugen zu urinieren.
— 377 —
Ein durch jene Öffnung eingeführter Katheter entleert
keinen Harn, gerät nicht in die Blase, sondern nimmt
eine Eichtung nach hinten zu. Am nächsten Tage trat
die Menstruation ein, wovon die Ärzte sich persönlich
überzeugten. Der Katheter, jetzt eingeführt, wurde blut-
gefüllt extrahiert aus einer Höhle, welche offenbar nicht
die Harnblase war und vor dem Rectum lag. Zwischen
dem Katheter und der Haut, welche die Schamlefzen
miteinander verband, tastete man eine Scheidewand,
welche etwa zweimal so dick erschien als die Haut selbst.
In der Tiefe von 8 — 10 Centimetern stieß der Katheter
Fig. 33. Vulva der Maria Magdalena Lefort.
in dieser Höhle auf einen Widerstand. B^clard gelang
es sogar, per rectum ein Gebilde wie eine Portio vaginalis
uteri zu tasten. B^clard allein erklärte das Kind für
ein Mädchen und proponierte die Durchschneidung der
Labialverwachsung, welche von der Clitoris an bis zur
Commissura labiorum posterior reichte. Auf diese Operation
ging jedoch das Mädchen unvernünftigerweise nicht ein.
Die Harnröhre erschien länger als sonst bei Frauen,
sie reichte bis „au de la Symphyse pubienne se pro-
longeant sous le clitoris — disposition qui le rapproche
— 378 —
du p£nis et est fort rare" — Maria Magdalena hatte
die Regel vom 8. bis zum 49. Jahre, empfand stets rein
weiblichen Geschlechtsdrang auf Männer gerichtet und
soll auch einen Beischlafsversuch gemacht haben, der
aber natürlich nur ein Beischlafsversuch blieb. Trotz der
so eingehenden und genauen Untersuchung durch B 4 c 1 a r d
und der richtigen Deutung des Untersuchungsbefundes
durch Be'clard blieb die Mehrzahl der Parsier Chirurgen
der Ansicht, daß hier Hypospadiasis mascula mit Kiypt-
orchismus vorliege. Man stritt sich so lange hin und her,
bis Maria Magdalena Lefort am 20. XIII. 1864
infolge einer Pleuritis im Hospital in Paris starb. B^clard
machte die Sektion, welche 40 Jahre nach seiner ersten
Untersuchung glänzend seine früher geäußerte Meinung
bestätigte. Die Person hätte, wenn die von B^clard
geforderte Operation vollzogen worden wäre, selbst conci-
pieren können, wie die Sektion zeigte. Die Sektion erwies,
daß die vorgenannten 5 Offnungen in der Rinne an der
unteren Fläche der Clitoris nicht mit der Harnröhre
kommunizierten, sondern einfach den Lacunae Mor-
gagni i entsprachen. Die Öffnung unterhalb der Clitoris
führte zunächst in ein durch Verwachsung der Scham-
lefzen miteinander in eine Höhle umgewandeltes Vesti-
bulum vaginae von 6 Zentimeter Höhe und 2 Zentimeter
Umfang. Man fand, wieB6clard vermutet hatte, einen
Uterus, normal gebaut, und eine normale Vagina von
6 Centimeter Länge und 74 Millimeter Umfang. Columnae
rugarum vorhanden. In Utero fand man drei kleine
Fibrome. Uterus von normaler Größe. Der rundliche
Muttermund ließ eine Sonde nur 51 Millimeter tief
ein. Tuben je 7 Centimeter lang, Ovarien normal mit
rupturierten und vernarbten Graafschen Follikeln.
Legros untersuchte mikroskopisch die Ovarien, fand aber
keine Ovula mehr, was ja nicht zu verwundern steht, da
M ar i a Magdalena im Alter von 65 Jahren gestorben war.
— 379 —
17) Beiläufig füge ich hier ein Bemerkung ein be-
treffend die ihrer Zeit berühmte Katharina Ho hm an
aus (Mellrichstadt, den späteren Karl Hohmann.
KatharinaHohmann war als Mädchen getauft worden,
obgleich das Aussehen der Genitalien nichts Mädchen-
Fig. 34. Katharina Hohmann, männlicher Scheinzwitter.
haftes bot. Die Hebamme schämte sich in der Folge
ihrer Bestimmung so, daß sie von Mellrichsstadt fortzog.
Katharina erreichte im 15. Jahre die Geschlechtsreife und
es stellten sich Pollutionen ein. Damals begann sie mit
Frauen ;zu kohabitieren, aber die Ejakulation erfolgte da-
bei stets sehr schnell und die Immissio penis wurde wegen
— 380 —
seiner Abwärtskrümmung niemals eine vollständige. Bis
zum 20 Jahre verriet sich bei ihr nur das männliche
Geschlecht, später aber traten die angeblich menstruellen
Blutungen ein und zwischen dem 20. und 30. Jahre sah
sie Colostrum in den Brüsten. Damals begann Katharina
weiblichen Geschlechtsdrang zu empfinden und kohabitierte
jetzt mit Männern. Während des Beischlafes mit Männern
erfolgte keine Erektion, Katharina hatte aber dabei
Samenergüsse, auch hatte sie mehr Geschlechtsgenuß, wenn
Fig. 35. Äußere Genitalien der Katharina Hohmann.
sie mit Frauen kohabitierte. Der männliche Geschlechts-
drang war bei ihr stets am stärksten in den ersten 2 — 3
Tagen nach der angeblichen Periode. Diese Periode soll
vom 20. — 30. Jahre regelmäßig, dann seltener geworden
sein, aber bis zum 42. Jahre gedauert haben.
Diese Person, welche von Virchow, Rokitansky,
Schultze, Friedreich und vielen anderen hervorragen-
den Ärzten untersucht und vielfach beschrieben wurde,
hatte durch die Zweifelhaftigkeit ihres Geschlechts lebhafte
— 381 —
Kontroversen hervorgerufen, indem sie bald für einen
Mann, bald für ein Weib, bald für einen echten Zwitter
erklärt worden war. Tatsache ist, daß Virchow nor-
males Sperma bei ihr konstatierte, es kann also keinem
Zweifel unterliegen, daß Katharina Hohman ein
männlicher Scheinzwitter war, — damit stimmt auch die
Angabe, daß Katharina, welche mehr als 40 Jahre als
Frau gelebt hatte, später als Mann in New- York heiratete
und einen Sohn erzeugte. Eigentümlich und bisher nicht
aufgeklärt erscheint nur der Umstand, daß Katharina
bis zum 38. Jahre die Periode gehabt haben soll. Unter-
halb des hypospadischen Penis lag die Scheidenöffimng.
Als Katharina, 40 Jahre alt, untersucht wurde, konnte
man per vaginam die Portio vaginalis uteri tasten. In
der scheinbaren rechten Schamlefze tastete man den
rechten Hoden, der linke lag unterhalb der äußeren
Öffnung des linken Leistenkanales. Die Schamlefzen
waren im unteren Teile in großer Ausdehnung mit ein-
ander verwachsen, also das Scrotum nur im oberen Teile
gespalten. Billroth proponierte Klara Hohman die
Durchschneidung dieser Verwachsung: sie ging jedoch
auf die Operation nicht ein. — Dieser Vorschlag Bi 11-
roth's ist es, weshalb ich diese Beobachtung hier er-
wähne. Katharina hat sowohl mit Männern als auch
mit Frauen kohabitiert, was ja auch verständlich ist,
insofern die physische Möglichkeit dazu vorlag. Katha-
rina resp. Karl Hohmann starb 1881 in New- York
zur Zeit als Mann verheiratet. Sie war ein männlicher
Scheinzwitter mit stark entwickelten Brüsten, Hypospadie
des ganzen Penis und teilweiser Hypospadie des Scrotum
und angeblicher Menstruation. — Siehe Abbildungen:
Fig. 34 u. 35. —
R. Virchow [„Vorstellung eines Hermaphroditen"
Berliner klinische Wochenschrift 1872, No. 49, pg. 585]
stellte die Katharina Hohmann in der Berliner ärzt-
— 382 —
liehen Gesellschaft vor, nachdem sie bereits 1867 in
Berlin untersucht worden war. Der Erste, welcher
Katharina für einen Zwitter erklärt hatte, war Dr.
Reder in Mellrichstadt, dem Geburtsorte Katharina's:
sie hatte ihn wegen eines Leistenbruches konsultiert.
Friedreich beobachtete Katharina lange Zeit hindurch
in seiner Heidelberger Klinik, dann Bernhardt
Schultze in Jena, dann v. Koelliker und v. Reck-
linghausen in Würzburg, Krause in Budapest, Hoff-
mann in Basel und Andere. Friedreich konstatierte
zuerst normales Sperma der Katharina, konnte aber
weder eine Prostata noch Samen blasen als reeeptaculum
seminis tasten, v. Franqu6, v. Scanzoni, v. Reck-
linghausen garantieren dafür, daß die von Katha-
rina angegebene regelmäßige Blutausleerung aus den
Genitalien, die angebliche Menstruation, auf voller Wahr-
heit beruhe. Die Blutungen dauerten je zwei Tage, das
ausgeschiedene Blut war mit Schleim gemischt. Alle
diese Autoren behaupten, das TJlut sei aus der Harn-
röhrenöffnung ausgeschieden. Friedreich untersuchte
das Blut mikroskopisch und schlug jede Vermutung
nieder, daß das Blut kein menschliches sondern tierisches
sei. Virchow sagt, die Blutungen seien zwar nicht
absolut periodische, regelmäßige gewesen, sollen sich aber
von Zeit zu Zeit wiederholt haben. Wenn eine menstruelle
Blutung einer Eireifung entspricht, wo soll man also hier
den Eierstock suchen? fragt Virchow.
Rokitansky gab an, er halte das vor dem linken
Leistenkanale liegende Gebilde nicht für eine Geschlechts-
drüse, sondern für einen obliterierten Bruchsack. Vir-
chow möchte diese Behauptung nicht ohne Weiteres
aeeeptieren, er verzichtete darauf, eine bestimmte Ansicht
über die Natur dieses linksseitigen Gebildes auszusprechen.
Virchow schreibt bezüglich der von den Forschern
bei Katharina gesuchten Ovarien wörtlich folgendes:
— 383 —
„Man ist daher, weil das Ovarium bisher nirgends in den
äußeren Genitalien getastet wurde, nach Innen gewiesen
und hier stehen sich die Angaben der verschiedenen
Untersucher stark entgegen. Zuerst hat Bernhard
Schultze die positive Angabe gemacht, daß er innerlich
auf der linken Seite und zwar ziemlich weit nach außen
einen mehrere Zentimeter großen gegen Druck stark
empfindlichen Körper gefunden habe, der durch einen
Verbindungsstrang mit einem noch zu erwähnenden
Uterus im Zusammenhange stehe. Er spricht diesen
Körper als Ovarium an, welches demnach relativ an der
richtigen Stelle liegen würde. Friedreich erklärte
jedoch ebenso positiv, daß es ihm unmöglich sei, irgend
etwas von diesem Körper zu finden. Die Höh mann
sagte mir nach langjähriger Erfahrung, daß ein längerer
Finger dazu gehöre, als der meinige ist. In Breslau sei
nur ein einziger Professor gewesen, der soweit habe
hinaufreichen können. Ich muß also in diesem Punkte
mein Urteil salvieren. Jedenfalls habe ich diesen Körper
nicht gefühlt. [Nach dem Buche, welches die Höh mann
mit sich führt, haben die Erlanger Professoren Ziemsse n,
Zenker, Roßhirt, C. E. E. Hoffmann, Hegar,
Breisky und Spiegelberg diesen Körper gefühlt, in-
dessen differierten ihre Angaben erheblich in bezug auf
seine Größe.] Anders verhält es sich in Beziehung auf
den mittleren Teil des Geschlechtsapparates. In dieser
Beziehung darf ich wohl hervorheben, daß alle Herma-
phroditen hierin die größte Übereinstimmung bieten.
Alle Zwitter, auch die unvollständigen, kommen darin
überein, daß der mittlere Teil des Geschlechtsapparates
für einen Mann zu stark, für eine Frau zu schwach
entwickelt ist. Auch bei männlichen Hermaphroditen
findet sieh statt der Vesicula prostatica, die, wie man
gewöhnlich sagt, Repräsentantin des Uterus ist, während
man eigentlich sagen sollte, der Vagina, ein wirk-
— 384 —
licher Uterus. Wenn mau in die Urethra eingeht, so
kann man, wie es auch bei der Hohmann der Fall
ist, den Katheter ohne Schwierigkeit bis in die Blase
bringen: die Urethra ist länger als beim gewöhnlichen
Frauenzimmer. Geht man mit dem Katheter aber an
der hinteren Fläche fort, so stößt man in gewisser Ent-
fernung auf einen klappenartigen Widerstand, und wenn
man hier sehr vorsichtig, etwa mit einer Sonde eindringt,
so gelangt man in einen Kanal, die Vagina. Dieselbe
ist durch ein langes Stück Urethra [Canalis urogenitalis],
welches in diesem Falle also gleichzuachten ist einem
verlängerten Vestibulum vaginae, von der äußeren Ober-
fläche getrennt Die Vagina ist allerdings klein und
kurz, aber unverkennbar. Dagegen ist der Uterus höchst
rudimentär. Das Verhältnis ist so, daß an der verhältnis-
mäßig langen Vagina ein ganz kurzes Endstück sitzt und
von diesem aus ein Strang nach links hinabgeht, an dessen
Ende man, nach Schultzeu. A. auf ein wirkliches Ovarium
stößt. Wenn man durch das Rectum eingeht, so kann
man den nach links gehenden Strang deutlich fühlen.
Ob am Ende dieses Stranges ein besonderer Körper liegt,
kann ich nicht angeben, nur kann ich bestätigen, daß die
Person an dieser Stelle sehr empfindlich ist. Das ist
Dasjenige, was ich über den Befund an den Genitalien
mitteilen kann: ein sehr kurzer, stark nach rückwärts
gebogener, unter den Hautdecken größtenteils verborgener
hypospadischer Penis, über dessen Oberfläche zwei
nymphenartige Krausen sich hinziehen, ein entwickeltes
rechtes Scrotum mit einem Hoden, ein stark verkümmertes
linkes ohne einen solchen, eine für ein Weib unverhältnis-
mäßig lange Urethra, welcher nach rückwärts ein feiner,
enger Vaginalkanal ansitzt, der in ein kleines, ver-
kümmertes Ende [Uterus] ausläuft, von welchem noch
ein kleiner, vielleicht dem Ligamentum ovarii oder der
Tuba entsprechender Teil entspringt, auf der linken
— 385 —
Seite eine Tuba, endlich keine Samenbläschen und keine
Prostata, sondern nur ein Vas deferens, von welchem
man allerdings vermuten kann, daß es in den eigentlich
urethralen Teil münden wird. Die. Mammae der 48-
jährigen Katharina sind sehr stark entwickelt, obwohl
sie schon im Rückgänge begriffen sind seit Aufhören der
Menstruation. Katharina behauptet, daß zuweilen auf
Druck sich aus den Mammae weißliche Flüssigkeit ent-
leerte. Haarwuchs im Allgemeinen mehr dem weiblichen
Typus entsprechend. Kopfhaare mäßig lang, glatt,
schwarz. Katharina behauptete, die Haare seien
früher länger gewesen, sie seien sehr ausgegangen und
haben nicht mehr die frühere Länge angenommen, nach-
dem ein Lehrer der Anatomie ihren Testikel so sehr
gedrückt hätte, daß sie nicht blos vor Schmerz umge-
fallen, sondern auch eine Zeit lang darnach infolge einer
Entzündung krank gelegen habe. Virchow bestätigt,
daß das Haupthaar früher länger gewesen ist. Umge-
kehrt ist der Bartwuchs nicht so sehr entwickelt, es
existiert kein Bart in der Art eines männlichen, sondern
nur hier und da einige längere Haare, welche sich die
Katharina herunterschneidet."
Virchow hat Katharina Ho hm an n als Mann
und als Weib gekleidet gesehen und behauptet entgegen
früheren Beobachtern, der Gesammteindruck, den er
empfangen, sei eher weiblich als männlich, die weibliche
Erscheinung sei viel mehr harmonisch. Auch die Form
des Rumpfes und der Extremitäten sei mehr weiblich,
nur das Becken sei männlich. Katharina hat den
Beischlaf mit Mann und Frau versucht und gibt an, in
ihrer Jugend habe sie mehr die Neigung empfunden, sich
als Weib zu gerieren, in späteren Jahren aber die um-
gekehrte, als Mann. In ihrer Heimat trat sie in den
letzten Jahren nur als Frau gekleidet auf; die männliche
Kleidung, die sie auf ihren Schaustellungsreisen trägt,
Jahrbuch V. 25
— 386 —
legt sie auf der letzten Station vor ihrer Vaterstadt ab.
Sie war auf den Namen Katharina getauft und galt
bei sich zu Hause rechtlich und gesellschaftlich als Frau,
als Kind dürfte sie also wohl einen weiblichen Eindruck
gemacht haben. Schwerlich würde sie die Schulzeit als
Mädchen durchgemacht haben, schreibt Virchow, wenn
man sie für einen verkleideten Jungen angesehen hätte.
Von besonderer Bedeutung ist, daß die linke Seite, auf
welcher sich an den Genitalien die wesentliche Anomalie
concentriertj auch am übrigen Körper weniger entwickelt
ist. Es gilt dies nicht bloß von den Extremitäten, an
denen ein solches Zurückbleiben weniger auffällig wäre,
sondern auch vom Rumpfe und Gesicht. An letzterem
ist die mangelhafte Entwickelung schon von weitem recht
auffällig. Daraus scheint hervorzugehen, daß es sich
nicht bloß um eine lokale Bildungshemmung handelt, daß
vielmehr der Hermaphroditismus nur eine Teilerscheinung
einer allgemeiuen Störung ist." — Soweit Virchow.
Ich habe absichtlich an dieser Stelle dieses ausführ-
liche Citat nach Virchow eingefügt, weil in demselben
Gedanken angeregt sind, denen sonst in der Betrachtung
von Scheinzwittern und in der Beschreibung nur selten
einmal Rechnung getragen wurde so z. B. in der Be-
merkung bezüglich eines Falles, die rechte Gesichtshälfte
habe einen männlichen Ausdruck gehabt, die linke einen
weiblichen, die obere Körperhälfte habe einen männlichen
Eindruck gemacht, die untere einen weiblichen etc. An
anderer Stelle werde ich auf diese Punkte näher ein-
gehen.
18) K ei ff er [Un cas de virilisine „Socidte* Beige
de Gyn^cologie et d'Obst&rique 1896 No. 10 pg. 214.]
(Referat; Centralblatt für Gynäkologie 1897 No. 17 pg. 479)
stellte ein Individuum vor, eine Frau, bei der er infolge
von intermittierender Amenorrhoe und Dysmenorrhoe den
Uteruskanal erweitert und eine Auskratzung vorgenommen
— 387 —
hatte. Trotz rudimentärer Entwicklung der Genitalien
war die Periode schon im 10. Lebensjahre eingetreten,
wiederholte sich aber nur in Abständen von je 7 — 8
Monaten. Die äußeren Genitalien sehen kindlich aus, die
inneren Genitalien machen einen weiblichen Eindruck,
die äußeren dagegen einen männlichen bei Hypospadiasis,
also die Scham sieht männlich aus. Die 25jährige
Josephine X. mit langem Haupthaar trägt weib-
liche Kleidung, rasiert sich oft ihren Schnurrbart und
Backenbart. Wegen mangelnden Unterhautfettpolsters
kontourieren sich die Muskeln sichtbar. Unterleib und
untere Extremitäten sehr reich behaart. Mammae rudimen-
tär entwickelt, Mamillae behaart, Skelett und Becken
ganz männlich. Josephine macht sowohl in sitzender
Position sowie auch in stehender ganz den Eindruck
eines Mannes. Die sehr gering angelegten kleinen
Schamlippen liegen zur Seite einer sehr engen Scham-
spalte; oberhalb der Schamspalte eine erectile Clitoris-
Pseudopenis — so groß wie bei einem 10jährigen Knaben.
Harnröhrenöffnung weiblich, aber an der unteren Fläche
der hypertrophischen Clitoriseine deutlich sichtbare Rinne.
Scheide eng und tief, Uterus sehr klein, 6 cm lang, mit
engem Kanal. Auch sub narcosi gelang es nicht, Ge-
schlechtsdrüsen irgendwo zu tasten. Aus der Beschrei-
bung ist es nicht ersichtlich, ob Keiffer seine Opera-
tion bei einem männlichen oder bei einem weiblichen
Scheinzwitter gemacht hat. Das Einzige, was für weib-
liches Geschlecht zu sprechen scheint, ist die Angabe
der stattgehabten menstrualen Blutungen, wenn es sich
tatsächlich um solche gehandelt hat.
19) P£an [siehe im Vorhergehenden, Gruppe IL
No. 2) versuchte auf plastischem Wege durch einen Ein-
schnitt zwischen Orificium urethrae und Orificium ani
eine Scheide zu schaffen bei einem ursprünglich als Mäd-
chen erzogenen, später irrtümlich als Knaben bestimmten
25*
— 388 —
Individuum, bei dem er schliesslich auf dem Wege des
Bauchschnittes weibliches Geschlecht konstatierte.
20) Roux [Annales de Gyn^cologie et d'Obst^trique
1891 Vol. XXXV pg. 324] beschreibt eine 36jährige
verheiratete Frau mit Atresia vaginae und labialer Ektopie
beider Ovarien. Niemals Periode. Nach Vollziehung
einer plastischen Operation wurde diese Frau beischlafs-
fähig. Leider stand mir die Originalbeschreibung nicht
zu Gebote, sodaß ich nicht sagen kann, ob man nur ver-
mutete, daß die in den Schamlefzen liegenden Gebilde
Ovarien waren oder ob ein Beweis dafür geliefert wurde.
21) Sonnenburg [siehe Jacoby. „Zwei Fälle von
Hermaphroditenbildung" D. I. Berlin 1885] operierte in
einem Falle von weiblichem Scheinzwittertum im Berliner
Israelitischen Krankenhause. Er durchschnitt eine Ver-
wachsung der großen Labia pudendi bei einem Mädchen
mit Clitorishypertrophie behaftet. Das Original von
Jacoby war mir nicht zugänglich, auch konnte Herr
Professor Sonnenburg mir nicht mehr mit einem
Exemplare der Dissertation aushelfen.
22) Tauber [Warschau] amputierte den hypospadi-
schen Penis in einem schon im vorigen Jahrgange dieses
Jahrbuches von mir ausführlich beschriebenen Falle von
Erreur de sexe [Gruppe IV., Fall 7] Bei dem 21jähri-
gen verlobten Mädchen wurde nach Abtragung der
Hoden aus den Schamlefzen durch Dr. Kociatkiewicz
zweifellos männliches Scheinzwittertum konstatiert, gleich-
wohl amputierte Professor Tauber zwei Jahre später
das hypospadische Membrum virile. Die Person wurde
nach dieser zweiten Operation noch korpulenter als nach
der Kastration und sehr melancholisch, soviel ich gehört
habe. Eine Berechtigung zu dieser Operation sehe ich
in diesem Falle nicht ein.
23) Vincent [„Sexe incertain" LyonM^dical 1897]
wurde zu einem sechswöchentlichen unehelich geborenen
— 389 —
Kinde geholt. Defectus ani et urethrae. In der Gegend
der Scham zwei „bourgeons cutan^s": es blieb
fraglich, ob dies rudimentäre Schamlefzen waren oder
Hälften eines Scrotum fissum? Zwischen diesen „bour-
geons" lag eine dellenf orange Vertiefung, von einer
glatten Membran ausgekleidet. Vincent durchschnitt
diese Membran, eine Sonde drang jetzt 5 Centimeter
tief in einen Kanal ein, aus dem der Harn floss: es sollte
dies die Vagina sein, eine Urethra fehlte. Er machte
künstlich eine zweite Öffnung, legte einen Anus coccygeus
an. Das Kind lebt, wurde also durch diesen Eingriff
gerettet, das Geschlecht blieb fraglich.
Anhang :
Sechste Gruppe:
Auf die Beseitigung der penlscrotalen Hypospadie
gerichtete Operationen.
Anhangsweise füge ich hier die Kasuistik der Fälle
hinzu, wo bei männlichen Scheinzwittern resp. bei Hypo-
spadiasis peniscrotalis ausgedehntere plastische Operationen
zur Anwendung kamen, um dem Manne das Harnen
nach Männerart zu ermöglichen, resp. einen Beischlaf und
Schwängerung zu erleichtern.
1) C. Beck [A case of Hermaphrodism (?) —
Medical Record 25. Juli 1899] beabsichtigte in seinem
im Vorhergehenden erwähnten Falle auf dem plastischen
Wege nach Thiersch eine penile Urethra herzustellen,
jedoch kam es dazu nicht, da das Individuum nach
dem Bauchschnitte verstarb [siehe im Vorhergehenden,
Gruppe IV, Fall 5.) Nachdem Hoden-Sarkome aus der
Bauchhöhle herausgeschnitten worden waren, erkrankte
die Person am 18. Tage nach dem Bauchschnitte an
Lungenentzündung und starb drei Tage darauf. [Medical
— 390 —
Record 25. Juli 1896 pg. 2 und 3 des Separatabdruckes
finden sich die Abbildungen der äusseren Genitalien.
Carl Beck: „Die Operation der Hypospadie." Münch.
Med. Woch. 1901, Nr. 45, pg. 777.
2) Thomas Brand vollzog in Gegenwart von
Hunter an einem bis zum 7. Jahre als Mädchen geltenden
männlichen Scheinzwitter eine Operation wegen schmerz-
haften Hamens. Der Penis war nach abwärts gekrümmt
aber von der Urethra durchbohrt. Die äußeren Ge-
schlechtsteile sollen wie bei einem Mädchen ausgesehen
haben. (Scrotalhypospadie?) [„The case of a boy had
been mistaken for a girl."] London 1787.
3) Castellana vollzog eine ausgedehnte Plastik bei
einem als Mädchen erzogenen Scheinzwitter mit so glän-
zendem Resultate, dass die neugeschaffene Harnröhren-
mündung kaum einige Centimeter rückwärts einer nor-
malen männlichen Harnröhrenöffnung zu liegen kam und
das Individuum den Harn abgeben konnte nach Männer-
art „senza bagniarsi i Calzoni." (Uretroplastia e chiusura
dell orificio vaginale in uno caso d'ipospadie perineale con
Cryptorchismo e vagina rudimentale bifida," Riforma
Medica. Aug. XV. N. 213—215 pg. 769). Siehe meinen
Aufsatz im vorigen Jahrgange dieses Jahrbuchs, Fig. 5
daselbst.
4) Fe*lizet [Bulletins et M&noires de la Soctete'
de Chirurgie. Paris 1902. Tome XXVIII. Nr. 32 pg.
973]. Im Jahre 1899 wurde in das Pariser Hospital
Tenon ein lOjähriges Mädchen gebracht, ein Zwitter
mit sehr hypertrophischer Clitoris. Grosse Scham-
lefzen gut entwickelt, die kleinen rudimentär. Die
grossen Schamlefzen waren trotz des jugendlichen Alters
schon behaart, eine Vagina fand man nicht. In jeder
Schamlefze tastete man Hoden, Nebenhoden und Samen-
strang. Keine Hernie vorhanden. Per rectum tastete
— 391 —
man eine 5 Millimeter dicke Membran, welche das kleine
Becken in eine vordere und hintere Hälfte zu teilen schien.
Kein Uterus getastet. Man konstatierte also eine
Erreur de sexe und brachte zunächst das Mädchen
aus der Frauenabteilung in einen Männersaal herüber.
F^lizet frischte die Ränder der Schamlefzen, also der
beiden Scrotalhälften, an und vernähte sie miteinander.
Die Plastik an dem Penis hypospadiäus ergab momentan
nicht den gewünschten Erfolg, weil das Kind sich nicht
vernünftig genug betrug für eine aussichtsvolle Nach-
behandlung. Jetzt nach drei Jahren kam der Knabe
wieder in das Hospital, um die Hypospadie von Penis
und Glans zu beseitigen. Der Knabe masturbierte be-
reits und hatte Erektionen und Ejakulationen. F^lizet
beabsichtigt jetzt die noch nötigen Eingriffe zur Voll-
endung der Plastik vorzunehmen.
5) Garrä [siehe Doerf ler: „Hypospadiaperinaealis"
Rostocker Aerzteverein II. VI. 1898. Referat:
Münchener Medicinische Wochenschrift 1898 Bd. XLV.
pg. 356 — 361]. Ein löjähriges Mädchen wurde von den
Eltern in das Hospital gebracht, weil dieselben dessen
weibliches Geschlecht bezweifelten. Man konstatierte eine
erreur de sexe. Hypospadiasis peniscrotalis, Hoden
und Zubehör lagen in den Scrotalhälften; der hypo-
spadische rudimentäre Penis lag zwischen den Scrotal-
hälften verborgen nach unten gekrümmt. Eine Vaginal-
öffnung fand man nicht; orificium urethrae drei Centimeter
oberhalb der Analöffnung belegen. Garr£ vollzog eine
Reihe plastischer Eingriffe mit dreifachem Ziel: erstens
um das Glied gerade zu richten und zu verlängern,
zweitens, um nach der Methode von Duplay eine Penis-
harnröhre zu schaffen, drittens, um die so neu geschaffene
Penisharnröhre zu vereinigen mit der scheinbar weiblichen
Harnröhrenöffnung. Das Resultat war so vorzüglich, daß
heute auch der Laie nicht mehr an dem männlichen
— 392 —
Geschlechte zweifeln dürfte. Das Kind verließ die Klinik
in männlichen Kleidern.
6) Krajewski begann eine Plastik bei peniscrotaler
Hypospadie in einem von mir beschriebenen Falle von
erreur de sexe, ein 18 jähriges Mädchen betreffend,
jedoch wurde nur die quere Durchschneidung des den
Penis hypospadiaeus nach unten biegenden Stranges ge-
macht mit Längsvernähung der gesetzten Wunde, dann
entzog sich diese Person der weiteren Behandlung.
7) Malt he [Magazin for Laegevidenskab 4 -de
raekke, 10- de Bind, pg. 58: Forhandlinger Med.
Selskab Moede 20 -de Marts 1895]. Man konstatierte
bei einem 28jährigen Mädchen eine erreur de sexe
und fand Hypospadiasis peniscrotalis: die Hoden lagen
in scroto fisso. Anna Marie diente als Milchmädchen
in einer Milchwirtschaft. Man machte 8 Operationen
nach der Reihe behufs Plastik — und — h'/ute öffnet
sich die neugeschaffene Harnröhre in glande penis. Die
Ejakulationen finden so statt, daß der Mann jetzt ohne
Weiteres befruchtungsfähig erscheint.
8) Marwedel: „ Erfahrungen über die Beck'sche
Methode der Hypospadieoperation." Beiträge zur klinischen
Chirurgie XXIX. — I pg. 25 — 1901.
9) Thiersch vollzog eine Reihe plastischer Opera-
tionen bei einem männlichen Scheinzwitter, der jedoch
infolge einer Peritonitis zu Grunde ging — siehe im
Vorhergehenden Gruppe III Fall 11.
10) Tuffier Traitement de Phypospadiasis par la
tunellisation du p6nis et Papplication des greffes Olli er
— Thiersch (Annales des maladies des organes genito-
urinaires. Paris Avril 1899.)
11) Vi 11 e min [Soctete* de Pädiatrie. S^ance du
14. Mars 1899. U Inde'pendance m^dicale 1899 No. 12
pg. 94] stellte einen 15jährigen Knaben vor nach von
ihm vollzogener Plastik bei Hypospadiasis peniscrotalis.
— 393 —
Der verkannte Junge war bisher als Mädchen erzogen
worden und hatte man dem Mädchen ein Bruchband
angelegt, in der Meinung, es liege ein Bruch vor, während
dieser durch den Hoden vorgetäuscht worden war.
12) Waitz: „PerinaealeHypospadie bei einem Knaben
durch plastische Operation behoben." Münchener Medicin.
Wochenschrift 1899 pg. 300.
Es liegt auf der Hand, daß eine Analyse der vor-
liegenden Kasuistik nach sämtlichen Richtungen hin eine
Arbeit liefern würde, welche den Rahmen eines Beitrages
für dieses Jahrbuch weit überschreiten würde, würde doch
z. B. die Betrachtung jeder einzelnen zu berücksichtigenden
Frage ein umfangreiches Kapitel bilden, z. B. die Zusammen-
stellung des Verhältnisses der secundären Geschlechts-
charaktere zum anatomischen Charakter der Geschlechts-
drüsen, die kritische Sichtung des überaus reichen Materials
von katamenial wiederkehrenden Molimina bei männlichen
Scheinzwittern, welche den Molimina menstrualia gleich-
kommen, das Verhältnis des Geschlechtstriebes zu den
Geschlechtsdrüsen, die mangelnde oder excessive Energie
des Geschlechtstriebes etc., die kritische Beleuchtung der
als menstruell bezeichneten periodischen Genitalblutungen
bei männlichen Scheinzwittern und viele andere Fragen.
Ich werde, soweit meine Zeit es gestattet, jede dieser
Fragen gesondert erörtern und muß mich heute gemäß
dem Plane dieses Aufsatzes auf die Erörterungen der für
den Chirurgen in Frage kommenden Tatsachen beschränken.
Die Kasuistik liefert uns ein überreiches Material.
Da in der dritten Gruppe drei Fälle von Konstatierung
der Gegenwart eines Uterus mit aufgezählt wurden,
welche schon in der ersten Gruppe aufgezählt waren
[Fälle von Pozzi, Sänger und Stonham], so reduziert
— 394 —
sich die Zahl der in Frage kommenden Individuen auf 54.
Auf 54 Individuen kommen nicht weniger als 42 Fälle
von Erreur de sexe vor, ein für die Diagnose des
Geschlechtes schwerwiegendes Moment, umsomehr als in
den meisten Fällen das angebliche Geschlecht der einer
Operation unterworfenen Person gar nicht angezweifelt
worden war — in den weitaus meisten Fällen war das
Resultat der Operation quoad sexum ein für den Operateur
überraschendes, unerwartetes! Nur Buchanan
(Gruppe I, Fall 5), Green (Gruppe I, Fall 8), Doederlein
(Gruppe I, Fall 17), Porro (Gruppe I, Fall 24), Sänger
(Gruppe I, Fall 27), Swiencicki (Gruppe I, Fall 33),
Tillaux (Gruppe I, Fall 34) vermuteten vor der
Operation eine Erreur de sexe, also nur 6 mal auf
die 38 Operationen der ersten Gruppe wurde eine
Erreur de sexe vermutet. Bei 35 Mädchen, 2 ver-
heirateten Frauen und 1 Witwe wurden Hoden entdeckt.
In der zweiten Gruppe wurde zweimal weibliches Geschlecht
eines Knaben resp. eines erwachsenen Mannes konstatiert
(Fälle von P6an und Walt her). In der dritten Gruppe
wurde 13 mal tubulärer Hermaphroditismus, also mehr
weniger hochgradige Entwicklung der Müller' sehen
Gänge bei Männern resp. bei 3 als Mädchen erzogenen
männlichen Scheinzwittern entdeckt.
Die Veranlassung zu dem Leistenschnitt ergaben
meist Bruchbeschwerden, und in den Fällen von Pean,
Porro, Tillaux und Thiersch wurde der Leisten-
schnitt resp. Labial- resp. Scrotalschnitt ausschließlich zu
diagnostischen Zwecken vorgenommen. Bei dea 38 als
Mädchen erzogenen Scheinzwittern lag in den wenigsten
Fällen ein Bruch mit Darm-, Netz- oder Harnblasen-
anteil als Inhalt vor, meist handelte es sich um einseitigen
oder beiderseitigen Descensus testiculi retardatus.
395 —
Erste Gruppe.
38 Operationen an männlichen Scheinzwittern, als
Mädchen erzogen. In welchem Alter wurde die
Erreur de sexe konstatiert?
Fall 1: Nach rechtsseitiger Herniotomie bei der 6 jähr.
Klara Hacker. Der Bruch war vor 8 Tagen plötzlich
aufgetreten. Im 13. Jahre war ein linksseitiger Bruch
operiert worden: Hoden, Nebenhoden und Samenblase
entfernt.
Fall 2: Einseitige Herniotomie im 24. Jahre bei ander-
sartigem Kryptorchismus.
Fall 3 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 14jähr. Mädchen.
Fall 4 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 14jähr. Mädchen.
Fall 5 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 9jähr. Mädchen.
Fall 6 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 24jähr. Mädchen.
Fall 7 : Beiderseitige Herniotomie bei einer 42jähr. Witwe.
Der Descensus testiculorum war erst vor einigen
Tagen, also im 42. Lebensjahre, nach Aufheben einer
Last plötzlich entstanden.
Fall 8: Beiderseitige Herniotomie bei einem 24 jähr.
Mädchen. Erreur de sexe vor der Operation erkannt.
Castration auf ausdrückliches Verlangen des Mädchens
hin.
Fall 9: Beiderseitige Herniotomie bei einem 23jähr.
Mädchen.
Fall 10: Beiderseitige Herniotomie bei einem 3jähr.
Mädchen. Castration, angeblich um späteren sozialen
Unannehmlichkeiten vorzubeugen.
Fall 1 1 : Beiderseitige Herniotomie bei einem erwachsenen
Mädchen: erst einerseits der Hoden entfernt, dann auf
ausdrückliches Verlangen des Mädchens hin auch der
andere.
Fall 12: Bei einem 28jähr. Mädchen trat ein rechtsseitiger
Leistenbruch auf, Hoden entfernt, der linke durch
— 396 —
Leistenschnitt, im Leistenkanal, liegend in die Bauch-
höhle hineingestoßen. Nach kurzer Zeit trat der linke
Hoden heraus, jetzt wiederholter Leistenschnitt links,
Abtragung.
Fall 13: Im 20. Jahre bei linksseitiger Herniotomie
angeblich labiale Ovarialektopie konstatiert, nach 8
Jahren war rechterseits ein Hoden herabgetreten [keine
Operation],
Fall 14: Beiderseitige Herniotomie bei einem 21 jähr.
Mädchen bei Diagnose einer Ovarialektopie. Kastration :
Hoden.
Fall 15 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 21jährigen
Mädchen.
Fall 16: Einseitige Herniotomie bei einem jungen Mädchen
bei Diagnose einer Labialcyste: als Bruchinhalt Netz,
eine Cyste und ein Hoden, die entfernt wurden. Ander-
seits Kryptorchismus.
Fall 17: Im 16. Jahre war der rechte Hoden, im 18.
der linke herabgetreten. Im 19. Jahre „erreur de sexe"
vermutet, Kastration.
Fall 18: Im 12. Jahre nach einem Fall linkerseits Hoden
herabgetreten, später der rechte. Im 33. Jahre beider-
seitige Herniotomie bei der verheirateten Frau. Diagnose :
Ovarialektopie, auch nach der Kastration die Gebilde
für Ovarien angesehen: Mikroskop.: Hoden.
Fall 19: Beiderseitige Herniotomie bei einem 19 jährigen
Mädchen. Kastration: Hoden.
Fall 20: Im 19. Jahre rechtsseitige Herniotomie, im 20.
linksseitige. Hoden entfernt.
Fall 21: Im 6. Lebensjahre Leistenbruch rechts, im 20.
Jahre links. Im 32. Jahre linkerseits Herniotomie.
Nur Hoden und Hydrocele gefunden. Die dringend
verlangte rechtsseitige Herniotomie in Dresden, Halle,
Leipzig verweigert. Im 59. Jahre Tod infolge Ein-
klemmung des rechtsseitigen Bruches (Inhalt ?)
— 397 —
Fall 22 : Im 18. Jahre Leistenbruch rechts, im 28. Jahre
links Herniotomie erst einerseits, später auch anderseits.
Kastration. Mikroskop: Hoden.
Fall 23: Im 12. Jahre eine angebliche entzündete Leisten-
drüse linkerseits entfernt, nach 7 Jahren mikroskopisch
als Hoden erkannt. Rechterseits Kryptorchismus.
Fall 24: Bei einem 22jährigen Mädchen bei vermuteter
„Erreur de sexe" beiderseits diagnostischer Labialein-
schnitt konservativ: Hoden, keine Kastration.
Fall 25: Im 12. Jahre linkerseits Leistenbruch, im 23.
Jahre beiderseitige Herniotomie bei Diagnose: Ektopie
der Uterusadnexa beiderseits. Nach einem Jahre
Bruchrecidiv linkerseits: Jetzt nur linkes Hörn eines
Uterus bicornis und linker Hoden entfernt, auch das
früher rechterseits entfernteGebilde erwies sich als Hoden.
Fall 26: Rechterseits Leistenbruch im frühen Kindes-
alter, linkerseits in der Pubertät. Im 23. Jahre beider-
seitige Herniotomie: Rechterseits Hoden und Neben-
hoden entfernt, linkerseits Bruchinhalt: Ein Harn-
blasendivertikel. Linkerseits Kryptorchismus.
Fall 27: Im 18. Jahre linkerseits Leistenbruch, im 32.
Jahre Herniotomie bei vermuteter „ Erreur de sexe* :
Uterus samt linker Tube, Parovarialcyste und einer
jetzt für ein Ovarium angesehenen Geschlechtsdrüse
entfernt: Mikroskop.: Hoden.
Fall 28: Beiderseitige Herniotomie im 42. Jahre, Hoden
entfernt.
Fall 29: Beiderseitige Herniotomie bei einer 25jährigen
Frau: Kastration bei Diagnose: Ovarialektopie. Mikros-
kop: Hoden.
Fall 30: Beiderseitige Herniotomie bei einem jungen
Mädchen: Kastration. Mikroskop: Hoden.
Fall 31 : Beiderseitige Herniotomie im 21. Jahre bei an-
geborenen Leistenbrüchen. Diagnose: Ovarialektopie.
Kastration. Mikroskop: Hoden.
— 398 —
Fall 32: Tod eines Kindes nach einseitiger Herniotomie
[Bruchinhalt: Darm], Sub nekropsia beiderseitiger Krypt-
orchismus gefunden.
Fall 33 : Im 23. Jahre nach Entleerung einer linksseitigen
Hydrocele Hoden und Nebenhoden getastet. Der andere
Hoden gleichfalls in scroto fisso. Konservative
Operation.
Fall 34 : Beiderseitiger diagnostischer Labialeinschnitt bei
vermuteter „Erreur de sexe". Hoden. Konservative
Operation.
Fall 35: Angeborener linksseitiger Leistenbruch, im 14.
Jahre Herniotomie: Hoden entfernt.
Fall 36: Beiderseitige Herniotomie (in welchem Lebens-
jahre ?) rechts Hoden, links ein Fibroadenom entfernt.
Fall 37: Beiderseitige Herniotomie im 54 Jahre. Kastra-
tion: Hoden.
Fall 38: Beiderseitige Herniotomie: Kastration: Hoden.
Inhalt des echten oder vermeintlichen Bruches.
Auf die vorstehenden 38 Leistenschnitte kam also
ein echter Bruch nur wenige Male vor:
Fall Pech (Darminhalt), Fall Pozzi (Uterushorn)
Fall Sänger (Uterus), Fall Sänger (Ein Blasen-
divertikel), Fall Stonham (Darminhalt), Fall Lanne-
longue (Netz), sonst handelte es sich bei den vermeint-
lichen Brüchen stets um Descensus retardatus oder in
einigen Fällen congenitus eines oder beider Hoden.
Zweimal führte eine Hydrocele zur Operation. Fall
Pech, Fall Swiencicki. Was das Alter, wann der an-
gebliche Leistenbruch entstand, anbetrifft, ist leider nur
in wenigen Fällen eine Angabe gemacht.
4 mal wurde konservativ operiert in den Fällen von
Pozzi, Swiencicki, Tillaux, Stonham.
— 399 —
7mal wurde nur ein Hoden entfernt: Fälle:
Jablonski, Lannelongue, Pech, Pozzi, Sänger,
Sänger, Turner,
27mal wurden beide Hoden entfernt: Fälle:
Alexander Av£ry, Brycholow, Brjuchanow,
ßuchanan, Chambers, Clark, Green, Griffith,
Groß, Halloppeau, Heuck, Dixon-Jones, Kociat-
kiewicz, Levy, A. Martin, A. Martin, Ch. Mar-
tin, Philippi, Pozzi, Shattock, Snegirjow,
Snegirjow, Solowij, Wegradt, Will, v. Winckel.
2 Operationen betrafen verheiratete Frauen : Fälle :
A. Martin, Snegirjow, 1 eine Witwe: Fall Clark,
35 Operationen an Mädchen im Alter von 3 bis zu 54
Jahren.
Nur in sehr wenigen Fällen war eine „Erreur de
sexe8 vor der Operation erkannt resp. vermutet worden,
in einem Falle vermutete man männliches Geschlecht
der in den Schamlefzen enthaltenen Geschlechtsdrüsen
wegen ausgesprochenen Cremasterreflexs.
Zweite Gruppe.
Tier Leistenbrüche bei Frauen resp. 2 als Männer
erzogenen weiblichen Scheinzwittern.
Im Falle Brohl ein linksseitiger Leistenbruch bei
einem 36 jähr. Fräulein, seit mehr als 13 Jahren be-
stehend. Diagnose: Ektopie des Uterus und linken
Ovarium, der Bruch enthielt Uterus bicornis, beide Tu-
ben und beide Ovarien. Kastration.
Im Falle Sujetinow: Incarceration eines rechts-
seitigen Leistenbruches, Operation, Uterus, Tuben und
Ovarium in hernia. Dreimal auf diese 4 Fälle „Erreur
de sexe" konstatiert.
Im Falle P6an wurde ein 12 jähriges Mädchen
für einen Knaben erklärt, mehrfache operative Eingriffe
im 15. Jahre erwiesen weibliches Geschlecht
— 4C0 —
Im Fall Walther wurde ein Mädchen noch im
Kindesalter für einen Jungen erklärt Beiderseitige Her-
niotomie im 24. Jahre bei dem Manne. Rechts Ovarium
und Tube in hernia, die in die Bauchhöhle geschoben
wurden, linkerseits Mittelstück einer Sactosalpinx, Ovar
und ein Stück Netz abgetragen.
Auf diese 4 Fälle kam also dreimal ein echter
Bruch und zwar zweimal ein einseitiger, einmal ein beider-
seitiger Bruch.
Dritte Gruppe.
Dreizehn Leistenbrüche bei Männern resp. männlichen
Scheinzwittern mit Konstatierung eines Uterus.
IndenFällen Billroth, Bö ekel, Carle, Derveau,
Fantino, Filippini, Gulden arm, Sänger, Pozzi,
Thiersch fand man einen Uterus, resp. ein Uterushorn
resp. eine Tube in hernia neben dem Hoden, in den
Fällen Winckler und Stonham sub nekropsia früher
oder später nach Bauchoperationen einen Uterus in der
Bauchhöhle, im Falle Griff ith tastete man nach Ent-
fernung beider Hoden einen Uterus. Vier von diesen
Männern waren als Mädchen erzogen worden (Fälle von
Griffith, Pozzi, Saenger und Stonham).
Vierte Gruppe.
Betrachten wir nun die 45 Einzelbeobachtungen
dieser Gruppe von einzelnen Gesichtspunkten aus:
Es kommen auf diese 45 Fälle nicht weniger als
17 Fälle* von „Erreur de sexe".
11 Mädchen als männliche Scheinzwitter er-
kannt: Fall Abel, Audain, Bazy, Delage-
ni£re, Gruber, (sub nekropsia), Hansemann
(Nekropsie einer 82jährigen Witwe), Dixon-Jons,
Mies, Obolonsky, Snegirjow, Westermann
Nekropsie: Hoden).
— 401 —
6 Mädchen als weibliche Scheinzwitter er-
kannt: Fall Bacaloglu u. Frossard, Fehling,
Hall, Krug, Litten, Neugebauer.
9 Männer als Scheinzwitter erkannt: Fall Beck
(2 lj ähriger Mann bis zum 19. Jahre als Mädchen er-
zogen) Carle, Kapsammer, Merkel, Paton
(Pyosalpinxoperation] bei einem Mann), Primrose,
Stimson, Stroebe, Winckler.
5 Männer als weibliche Scheinzwitter er-
kannt: Fall v. Engelhardt (sub nekropsia eines
verheirateten Mannes Ovarien und Uteruscarcinom
gefunden.) Gunckel (Geschlecht eines Mädchens irr-
tümlich für männlich erklärt, sub nekropsiaim 50. Jahre :
Ovarien), Krabbel (Ovariotonie bei einem Manne),
P£an, Pozzi (Ovariotomie bei einem verheirateten
Manne.
11 mal blieb das Geschlecht fraglich:
a) Trotz operativer Eröffnung der Bauchhöhle:
Howitz, Neugebauer, v. Saexinger und E.
Levy, Pfannenstiel, Sorel u. Ch£rot, Unter-
berger: 6 mal,
b) Trotz Nekropsie: Chevreuil, Howitz, Lesser,
v. Saexinger u. E. Levy, Sorel und Ch£rot,
Zahorski: 6 mal,
c) bei klinischer Untersuchung: Levy, Lieb-
mann, Quisling: 3mal.
lmal angeblich wahres Zwittertum einer Geschlechts-
drüse erkannt: Fall von v. Salän.
Da von diesen 45 Beobachtungen 2 bereits in der
I. Gruppe (No. 14 Dixon-Jones und No. 30
Snegirjow) und 1 in der II. Gruppe (No. 2 P£an),
mitgezählt sind, so kommen nur 42 Beobachtungen hier
zur statistischen Verwertung : auf diese 42 Fälle wurden
9 mal männliches Scheinzwittertum bei Mädchen und
5 mal weibliches Scheinzwittertum bei Männern konsta-
Jahrbuch T. 26
— 402 —
tiert, also im ganzen 14 mal eine erreur de sexe, 11 mal
blieb das Geschlecht fraglich.
8 mal konstatierte man einen mehr oder weniger ent-
wickelten Uterus samt Tuben event. Ligamenten bei
männlichen Scheinzwittern. lmal einen Harnstein in
utriculo masculino (Fall Kapsammer).
32 mal fand sich Coincidenz des Scheinzwitter-
tums mit gut- oder bösartigen Neubildungen:
Fall 1 (Abel): Sarkomatoese Cryptorchis sinistra [rechter-
seits Hoden und Nebenhoden im LeistenkanalJ bei einem
33jähr. Mädchen.
Fall 2 (Audain): 2 Ovarialdermoide bei einem weib-
lichen Scheinzwitter.
Fall 5 (Beck): 2 Teratome der Hoden bei einem bis zum 19.
Jahre als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter.
Fall 7 (Chevreuil): Multilokularer Ovarialtumor (?) bei
einem Scheinzwitter.
Fall 10 (v. Engelhardt): Carcinoma uteri eines 59jähr.
als Mann verheirateten weiblichen Scheinzwitters.
Fall 11 (Fehling): Myxosarcoma eines Ovarium bei
einem 26jähr. Scheinzwitter.
Fall 12 (Grub er): Carcinom eines Hodens bei beider-
seitigem Kryptorchismus eines 22jähr. als Mädchen
erzogenen männlichen Scheinzwitters.
Fall 13 (Gunckel): Myomatosis uteri bei einem 50 jähr.
weiblichen Scheinzwitter, der irrtümlich früher für
einen Mann erklärt worden war.
Fall 14 (Hall): Carcinoma ovarii unius eines 17jähr.
weiblichen Scheinzwitters.
Fall 15 (Hansemann): Carcinom der Harnblase eines
82jähr. männlichen Scheinzwitter, der als Frau verheiratet
gewesen war.
Fall 16 (Howitz): Myomatosis uteri bei fraglichem
Geschlecht.
Fall 19 (Krabbe 1): Cystosarcom eines Ovarium, später
— 403 —
ein neues Gewächs: Teratom — bei einem als Mann
erzogenen weiblichen Scheinzwitter.
Fall 20 (Krug): 2 Ovarialsarkome bei einem 19jähr.
weiblichen Scheinzwitter.
Fall 21 (Less!er): Alveolarsarkom (des Uterus?) eines
25jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitters. Geschlecht
fraglich.
Fall 22 (Levy): Unterleibstumor fraglicher Natur bei
einem 16jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitter
fraglichen Geschlechts.
Fall 23 (E. L e v y — v. S ä x i n g e r) : Maligne Degeneration
der in der Bauchhöhle liegenden Geschlechtsdrüsen
eines 20jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitters von
fraglichem Geschlecht.
Fall 24 (L i e b m a n n) : Inguinolabialtumor fraglicher
Natur [cystisch ?] bei einem 45jähr. als Frau verheirateten
Scheinzwitter fraglichen Geschlechts.
Fall 25 (Litten): Myxosarkom des rechten Ovarium
eines 16jähr. weiblichen Scheinzwitters.
Fall 26 (Merkel): Carcinoma recti eines 63jähr. männ-
lichen Scheinzwitters.
Fall 27 (Mies): Unterlippenkrebs eines 66jähr. als
Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitters.
Fall 28 (Neugebauer) : Carcinoma ovarii unius et uteri
eines 56jähr. weiblichen Scheinzwitters.
Fall 29 (Neugebauer): Sarkom einer Geschlechtsdrüse
bei einer verheirateten Frau, wahrscheinlich Sarkoma
cryptorchidis.
Fall 30 (Obolonsky): Sarkom des rechten Hodens eines
56jähr. als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitters.
Kryptorchismus bilateralis.
Fall 32 (Pfannenstiel): Fibromyoma uteri eines 55-jäh-
rigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters von frag-
lichem Geschlecht.
Fall 34 (Pr im rose): Sarkom eines Hodens eines 25-jäh-
26*
— 404 —
rigen männlichen Scheinzwitters bei Kryptorchisinus
bilateralis.
Fall 36 v. (Sal£n): Fibromyoma uteri eines 43-jähr. als
Mädchen erzogenen Scheinzwitters, angeblich ein Ova-
riam links gefunden, rechts eine Ovotestis.
Fall 38 (Sorel u. Chärot): Carcinom des Blinddarms
eines 36-jährigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters,
von fraglichem Geschlecht.
Fall 39 (Stirn so n): Sarkom des linken Hodens eines
46jährigen männlichenScheinzwitters. Cryptorchissinistra.
Fall 40 (Stroebe): Carcinoma oesophagi eines 63-jähr
männlichen Scheinzwitters., beiderseits Cryptorchismus.
Fall 41 (Unterberge r): Sarkom eines Ovarium eines
14-jährigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters von
fraglichem Geschlecht.
Fall 44 (Zahorski): Sarkom einer Geschlechtsdrüse in
der Bauchhöhle belegen bei einem 25jähr. als Mädchen
erzogenen Scheinzwitter fraglichen Geschlechts.
Fall 45 (Pozzi): Ovarialtumor bei einem als Mann ver-
heirateten weiblichen Scheinzwitter.
Auf diese 32 Fälle kommen:
Carcinom des Ovarium: Fall 14, 28
des Hodens: Fall 12,
des Uterus : Fall 10, Fall 28,
des Rectum : Fall 26,
der Harnblase: Fall 15,
des Blinddarms: Fall 38,
des Oesophagus : Fall 40,
der Unterlippe: Fall 27,
Sarkom eines Ovarium: Fall 11, 19, 20, 25,
einer Cryptorchis: Fall 1, 30, 34, 39,
des Uterus: Fall 21.
Maligne Degeneration fraglicher Geschlechts-
drüsen: Fall 23, 29, 41, 42.
— 405 —
Dermoide der Ovarien: Fall 2.
Teratome der Hoden: Fall 5.
Multilokulare Cysten einer fraglichen Ge-
schlechtsdrüse: Fall 7.
Myomatosis uteri: Fall 13, 16, 31, 36.
Tumoren fraglicher Natur: Fall 22, Fall 24.
Welcher Art Operationen wurden in diesen
45 Fällen vollzogen?
Nephrolithotomie: Fall 8.
Pyosalpinxoperation mit Bauchschnitt bei einem Manne:
Fall 31.
Harnsteinoperation: Fall 18.
Bauchschnitt wegen Darmocclusion : Fall 43.
Bauchschnitt wegen Appendicitis: Fall 3, 4 — in einem
dritten und 4. Falle von Appendicitis (Fall 35 u. 42)
wurde nicht operiert.
Diagnostischer Bauchschnitt bei zweifelhaftem Geschlecht:
im Falle 9 mit Entfernung des Hoden, im Falle 33
der Ovarien, Konservativ: Fall 37, Fall 6, 17.
Amputation des myomatösen Uterus: Fall 16, 32, 36.
Bauchschnitt bei Carcinom des Blinddarmes: Fall 38.
Bauchschnitt mit Exstirpation von Ovarialtumoren: Fall
2, 11, 14, 19, 20, 45.
Bauchschnitt mit Exstirpation von Hodentumoren bei
Kryptorchismus: Fall 5, 29, 34, 39.
Bauchschnitt mit Exstirpation von Tumoren fraglicher
Geschlechtsdrüsen: Fall 23, 29, 4L
Paracentese von Bauchhöhlentumoren durch die Bauch-
wand: Fall 11, 44.
Paracentese einer als Haematometra angesprochenen
Cryptorchis sinistra per vaginam: Fall 1.
Entleerung einer Hydrocele durch Paracentese: Fall 34.
Auf diese 45 Beobachtungen kommen 26 Fälle, wo
nicht operiert wurde, sondern das Scheinzwittertum nur
— 406 —
a) klinisch oder b) sub nekropsia konstatiert wurde,
a: Fall 22, 24, 27, 28, 35, = 5 mal.
b: Fall 7, 10, 12, 13, 15, 21, 25, 26, 30, 40, 42, =
11 mal.
Scheinzwitter wurde sub nekropsia nach tötlich ver-
laufener Operation konstatiert:
Fall 1, 3, 5, 8, 16, 23, 34, 38, 43, 44 = 10 mal.
Fünfte Gruppe:
Auf die hierher gehörigen 23 Einzelbeobachtungen
kommen :
Verlangte aber abgeschlagene Amputation der angeblichen
hypertrophischen Clitoris: Fall 2, 7, 9, 12, 14.
Ausgeführte Amputation der hypertrophischen Clitoris:
Fall 4 und 11.
Ausgeführte Amputation des irrtümlich für eine hypertro-
phische Clitoris angesehenen hypospadischen Penis :
Fall 6, 17 (?) 22.
Es kommen auf diese Gruppe 8 Fälle von konstatierter
„erreur de sexe" Fall 5, 6, 7, 8, 9 (?), 12, 14, 17,
Fraglich blieb das Geschlecht: Fall 2, 13, 18, 23.
Männliches Scheinzwittertum im Fall: 5, 6, 7, 8, 9, 12,
14, 17, 22.
Weibliches Scheinzwittertum im Fall: 3, 4, 10, 11, 15,
16, 19, 20, 21.
Eine Discision einer Schamlefzenverwachsung bei weib-
lichen Scheinzwittern wurde vorgeschlagen Fall 16, aus-
geführt in Fall 10, 11, 15, 20, 21. Dieselbe Operation
wurde einem männlichen Scheinzwitter vorgeschlagen:
Fall 17.
Im Falle 2 wurde angeblich ein Hämatokolpometradurch
Einschnitt vom Damme aus entleert.
Einmal wurde wegen Atresia ani bei einem Neonaten
operiert mit tötlichem Ausgange: Fall 3, einmal mit
gutem Ausgange, Fall 23.
— 407 —
Einmal wurde ein Hysteroekpetasis gemacht bei frag-
lichem Geschlecht: Fall 18.
Einmal vergeblicher Versuch zwischen Urethral- und Anal-
mündung eine Vagina zu schaffen: Fall 19.
Sechste Gruppe.
Bezüglich der in der VI. Gruppe erwähnten plasti-
schen Hypospadieoperationen an männlichen Schein-
zwittern ist zu bemerken, daß eine „erreurde sexe" vorlag
in den Fällen von Beck, Brand, Castellana, F^lizet,
Garr6, Krajewski, Malthe, Villemin.
Zum Schluß bleibt nochj Folgendes zu bemerken:
1. Die gesamte Kasuistik dieser Arbeit von
137 Beobachtungen erstreckt sich, da einzelne
Beobachtungen in mehreren Gruppen figurieren,
auf 118 Scheinzwitter, wovon
männlichen Geschlechts: 79,
weiblichen Geschlechts: 23,
fraglichen Geschlechts: 16.
Auf diese 118 Scheinzwitter kommen 53 irrtümliche
Geschlechtsbestimmungen, darunter merkwürdigerweise
2 Fälle, wo das Geschlecht bei der Taufe des Kindes
richtig als weiblich angegeben war, später aber irrtümlich
für männlich erklärt worden war (Fälle von P£an
und von Gunckel).
2. Sind die zur Nekropsie gelangten Fälle zu
vermerken:
a) Todesfälle nach vorausgegangener Operation: aus
Gruppe III; Fall 1 (Billroth) Verblutungstod nach
Herniotomie, Fall 12 (Thiersch) Tod nach
Herniotomie an Peritonitis, Fall 13 (Win ekler) Tod
nach Bauchschnitt an Peritonitis. Aus Gruppe IV:
Fall 1 (Abel) Tod an Peritonitis nach vaginaler
Paracentese einer Kryptorchis sinistra sarcomatosa»
Fall 3 (Bacaloglu und Fossard) Tod an Peritonitis
— 408 —
nach Appendicitis-Bauchschnitt, Fall 5 (Beck) Tod"
infolge von Pneumonie 3 Wochen nach Bauchschnitt
Fall 8 (Clark) Tod nach Nephrolithotomie, Fall 16
(Howitz) Tod an Peritonitis nach Bauchschnitt
Fall 23 (Levy — v. Saexinger)Tod an Peritonitis
nach Bauchschnitt ohne Entfernung des Tumors,
Fall 34 (Primrose) Tod an Peritonitis nach Bauch-
schnitt bei Hodensarkom, Fall 36 (E. v.Sal<*n) Tod
an Peritonitis nach Amputation eines myomatösen
Uterus, Fall 38 (E. Sorel und Ch<*rot) Tod nach
explorativem Bauchschnitt bei Blinddarmcarcinom.
Aus Gruppe V: Fall 3 (Mc. Arthur) Tod nach
Operation wegen Atresia ani.
b) 14 Todesfälle ohne vorausgegangene chirurgische
Eingriffe :
Gruppe I Fall 21. (Pech) Tod infolge Einklemmung
des rechtsseitigen Leistenbruchs, dessen operative
Beseitigung verweigert worden war.
Gruppe IV Fall 7 (Chevreuil) Tod infolge eines
Ovarial- resp. Hodentumors. Fall 10 (v.Engelhar dt)
Tod infolge von Uteruscarcinom. Fall 12 (Grub er)
Tod infolge eines Hodencarcinoms. Fall 13 (Gun-
ckel) Tod ans unbekannter Ursache. Fall 15
(Hansemann) Tod infolge von Blasenkrebs. Fall
21 (Lesser) Tod infolge von Blutung in der Bauch-
höhle nach spontaner Ruptur eines Tumors. Fall 25
(Litten) Tod infolge Myxosarcoma ovarii unius. Fall
26 (Merkel) Tod infolge Carcinoma recti. Fall 30
(Obolonski) Tod infolge eines Hodensarkoms.
Fall 39 (Ströbe) Tod infolge eines Carcinoma
oesophago Fall 41 (West er mann) Tod infolge
von Appendicitis ulcerosa. Fall 44 (Zahorski) Tod
infolge von Kachexie bei Sarkom einer Geschlechts-
drüse.
— 409 —
Gruppe V. Fall 2 (Arnaud) Tod aus unbekannter
Ursache.
Indem ich mir vorbehalte, in nächster Zukunft das hier
zusammengestellte kasuistische Material auch in Beziehung
auf andere als chirurgische Beziehungen zu sichten, schließe
ich diese heutige Arbeit, die hoffentlich dazu beitragen
wird, dem Gebiete des Scheinzwittertums auch in weiteren
Arztekreisen ein regeres Interesse zu widmen. Wenn
wir auch in den wenigsten Fällen dem physischen Ge-
brechen Abhilfe schaffen können, so können 'wir doch viel
dazu beitragen, diese unglücklichen Existenzen, die Schein-
zwitter vor den psychischen Leiden und Qualen zu be-
wahren, die aus einer irrtümlichen Geschlechtsbestimmung
erwachsen !
An sämtliche Fachgenossen richte ich die Bitte, jede
neuere zu ihrer Kenntnis gelangende Beobachtung von
Scheinzwittertum möglichst eingehend beschrieben, mir
übermitteln zu wollen, womöglich mit Photogrammen
und Berücksichtigung aller in Frage kommenden Einzel-
heiten.
Dr. med. Franz Neugebauer.
Warschau, Leszno 33, am 3. Februar 1903.
Inhaltsübersicht
Erste Gruppe.
38 Leistenschnitte bei Mädchen, bez. Frauen mit Konstatierung
männlichen Geschlechtes.
1. Fall von Alexander: Klara D., 16 jährig, im 13. Jahre links-
seitige Herniotomie durch Er asm us, im 16. Jahre rechtsseitige
durch Hahn: Beiderseits Hoden und Nebenhoden abgetragen.
Vagina vorhanden ohne Uterus, Gonorrhoe, Beischlaf mit
Männern.
— 410 —
2. Fall von Avery: Einseitige Herniotomie der 24jährigen Ann y
C: Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
3. Fall von Bryeholow: Beiderseitige Herniotomie bei der 14-
jährigen Marie X.
4. Fall von Brjuohanow: Beiderseitige Herniotomie bei einem
14jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt.
5. Fall von Buchanan: Beiderseitige Herniotomie bei einem
9jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt Vagina von nor-
maler Länge vorhanden ohne Uterus. B. vermutete richtig eine
erreur de sexe wegen vorhandenen Cremasterreflexes an den
Schamlefzen.
6. Fall von Chambers: Beiderseitige Herniotomie bei einer 24-
jährigen Frau: beide Hoden entfernt Vagina vorhanden, ohne
Uterus.
7. Fall von Clark: Beiderseitige Herniotomie bei einer 42jährigen
Witwe: beide Hoden entfernt. Beischlaf mit dem Gatten.
Vagina vorhanden ohne Uterus.
8. Fall von Green: Konstatierung der erreur de sexe bei
einem 24jährigen Dienstmädchen. Kastration auf das aus-
drückliche Verlangen des Scheinzwitters hin.
9. Fall von Griffith; Beiderseitige Herniotomie bei einem 23-
jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt. Uterus und Vagina
vorhanden.
10. Fall von Groß: Doppelseitige Herniotomie bei einem 3jährigen
Mädchen: beide Hoden entfernt
11. Fall von Hallopeau: Konstatierung der erreur de sexe bei
einem Mädchen nach Exstirpation eines Hodens. Auf das
ausdrückliche Verlangen der Person hin wurde auch der an-
dere Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
12. Fall von Heuck: Bei einem 28jährigen Dienstmädchen rechts-
seitiger Leistenbruch: Netz als Inhalt vermutet — Hoden und
Nebenhoden entfernt. Später auch der linke Hoden entfernt.
Vagina vorhanden ohne Uterus. Beischlaf mit Männern ohne
Libido.
13. Fall von Jablonski: Bei der 28 jähr. Anna Luise E. kon-
statierte J. die Gegenwart eines Hodens und schließt daraus,
daß auch die sub herniotomia 8 Jahre zuvor in hernia vorge-
fundene Geschlechtsdrüse, für ein ektopisches Ovarium damals
angesehen, ein Hoden gewesen sei.
14. Fall von Dixon Jones: Beiderseitige Herniotomie bei der
21jähr. Emma E. und diagnostischer Bauchschnitt: beide Ho-
den entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
— 411 —
15. Fall von Kociatkiewicz-Neugebauer: Beiderseitige Her-
niotomie bei der 21jährigen verlobten Josephine K., beide
Hoden durch Eociatkiewicz entfernt. Vagina vorhanden
ohne Uterus. Nach der Kastration starke Obesität und Me-
lancholie.
16. Fall von Lannelongue: Einseitige Herniotomie bei einem
jungen Mädchen: (Netzinhalt) Unterhalb des Bruches eine
Cyste in der Schamlefze und darüber ein Hoden, der entfernt
wurde. Vagina vorhanden ohne Uterus.
17. Fall von Levy: Bei der 19jährigen Näherin Chr. L. vermutete
Doederlein Hoden als Bruchinhalt. Beiderseitige Herniotomie :
beide Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
18. Fall , von A. Martin: Bei einer 33jährigen, seit 10 Jahren ver-
heirateten Frau entfernte Martin sub diagnosi einer beider-
seitigen Ovarialektopie beide Hoden. Erst das Mikroskop
klärte den Irrtum auf. Vagina vorhanden ohne Uterus.
19. Fall von A. Martin: Beiderseitige Herniotomie bei einem 19-
jährigen Hausmädchen Martha W.: beide Hoden entfernt.
Vagina vorhanden ohne Uterus.
20. Fall von Chr. Martin: Bei einem 20 jähr. Kindermädchen
hatte man vor einem Jahre sub herniotomia rechterseits ein für
ein ektopisches Ovarium gehaltenes Gebilde in die Bauchhöhle
geschoben. Jetzt Herniotomie links, ein Hoden entfernt. Scheide
vorhanden ohne Uterus.
— Fall von Mund 6: In der Vermutung einer erreur de sexe
schlug M. der 46 jähr. Köchin Marie O'Neill den beiderseitigen
Leistenschnitt vor, es kam jedoch nicht zur Operation. Vagina
vorhanden, ohne Uterus.
21. Fall von Pech: Linksseitige Herniotomie bei der 32jährigen
Marie Rosine, dem späteren Gottlieb Goettlich: der
Bruch enthielt weder Darm noch Netz sondern eine Hydrocele
und einen Hoden. Im 59. Jahre Tod infolge Einklemmung
eines rechtsseitigen Leistenbruches. Rosine huldigte der freien
Liebe, erkrankte zuerst an einem Ulcus molle, später an
Syphilis. Sie kohabitierte mit Frauen und mit Männern, mit
letzteren lieber. Die dilatierte. Urethra vertrat die angeblich
mangelnde Vagina.
22. Fall von Phil ippi: Bei einem 28jährigen Mädchen erst rechts-
seitige, nach einigen Monaten linksseitige Herniotomie: beide
Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
28. Fall von Poore: P. entfernte bei einem 12 jähr. Mädchen eine
angebliche entzündete Drüse durch Leistenschnitt. 7 Jahre
— 412 —
später erhärtete das Mikroskop, daß diese Drüsen ein Hode war.
Vagina vorhanden, ohne Uterus.
24. Fall von Porro: bei einem 22 jähr. Mädchen vermutete P. eine
erreur de sexe, legte durch diagnostischen Einschnitt beide
Drüsen bloß, konstatierte Hoden, die er nicht exstierpierte.
25. Fall von Pozzi: Bei einem 32 jährigen Stubenmädchen Marie
C. diagnosticierte Peyrot einen beiderseitigen Leistenbruch
mit Diagnose einer Ektopie der beiderseitigen Uterusadnexa
bei fehlendem Uterus. Beiderseitige Herniotomie: Linkerseits
eine Cyste, für Hydrosalpinx angesehen, ein Gebilde für ein
ektopisches Ovarium angesehen und ein Körperohen für einen
rudimentären Uterus angesehen. Cyste reseciert, Uterus und
Ovarium in die Bauchhöhle gestoßen. Rechterseits 2 nicht
reponible Gebilde abgeschnitten, eine Cyste und eine Drüse,
für das rechte Ovarium angesehen. Nach 1 Jahr Bruohrecidiv
linkerseits. Jetzt operierte Pozzi und entfernte den Bruch-
inhalt: 2 Gebilde: den linksseitigen Hoden und das linke Hörn
eines Uterus bicornis. Das Mikroskop wies nach, daß auch die
rechtsseitige von Peyrot entfernte Geschlechtsdrüse ein Hoden
war. Vagina und Uterus vorhanden. Nach der ersten Operation
erwachte der Geschlechtstrieb und zwar ein weiblicher, gleich-
zeitig stellte sich Melancholie ein, die nach der zweiten Operation
noch zunahm. Hymen eingerissen bei einer Stupration im 8.
Lebensjahre.
26. Fall von M. Saenger: Beiderseitige Herniotomie bei einem
23 jähr. Dienstmädchen sub diagnosi: Ovarialhernie. Rechter-
seits Hoden und Nebenhoden entfernt, im linksseitigen Bruchsack
ein Blasendivertikel. Scheide vorhanden ohne Uterus.
27. Fall von M. Saenger: Bei einer 82 jähr. Lehrerin vermutete
S. bei linksseitigem Leistenbruch eine „erreur de sexeu, Hoden
mit Hydrocele, fand aber bei der Herniotomie einen Uterus
samt Tube, eine Parovarialcyste und eine Geschlechtsdrüse,
die er jetzt makroskopisch für ein Ovarium ansprach. Das
Mikroskop erwies einen Hoden. Bruchinhalt entfernt mit
Uterusamputation. Uterus und Vagina vorhanden.
28. Fall von Shattock: Beiderseitige Herniotomie bei einem
42jährigen Scheinzwitter: Beide atrophischen Hoden entfernt.
Nach der Kastration starke Obesität.
29. Fall von Snegirjow: Bei einer 25 jähr, verheirateten Köchin
beiderseitige Herniotomie : beide Hoden entfernt. Vagina vor-
handen ohne Uterus. Beischlaf mit dem Gatten anfangs cum
libidine, später perhorresciert.
— 413 —
30. Fall von Snegirjow: Beiderseitige Herniotoinie bei einem
Mädchen: beide Hoden entfernt. Diagnostischer Bauchschnitt
hinzugefügt.
31. Fall von Solowij: Beiderseitige Herniotomie bei einem 21-
jährigen Mädchen bei Diagnose: Ovarialhernien. Beide Hoden
entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
32. Fall von Stonham: Tod eines Mädchens nach Herniotomie.
In der Bauchhöhle neben Hoden ein Uterus bicornis mit 2
Tuben gefunden, Vagina existierte.
— Fall von Stratz: S. vermutete eine erreur de sexe bei
Nambrok Sadinah und schlug einen diagnostischen Leisten-
(resp. Labial-) einschnitt vor, Operation verweigert.
33. Fall von Swiencicki: Labialtumor linkerseits bei einem 23-
jährigen Bauernmädchen: Hydrocele, Punktion, Entleerung,
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang getastet, gleiche Gebilde
in der rechten Schamlefze. Geschlechtsdrang männlich, schon
im 16. Jahre. Beischlaf mit einem Mädchen versucht. Vagina V
34. Fall von Till au x: Bei einem 12jährigen Mädchen beider-
seitiger Leistenbruch: T. sollte ein Bruchband anlegen, ver-
mutete erreur de sexe. Diagnostischer Labialschnitt. Hoden
3ö. Fall von Turner: Bei einem 14jährigen Mädchen linksseitige
Ovarialhernie diognosticiert, Bruchband nicht vertragen, Her-
niotomie mit Entfernung eines Hodens. Vagina vorhanden
ohne Uterus, noch keinerlei Geschlechtstrieb.
36. Fall von Wegradt: Beiderseitige Herniotomie bei einem
Mädchen: rechterseits ein Hoden entfernt, linkerseits ein Fi-
broadenom.
37. Fall von Will: Beiderseitige Herniotomie bei einem 54jährigen
Mädchen Kristine W.: beide fibrös entarteten Hoden ent-
fernt. Vagina vorhanden ohne Uterus. Geschlechtsdrang
männlich, aber E. S. hatte niemals einen Beischlaf mit einem
Weibe versucht, sondern stets nur mit Männern unter Benutzung
der dadurch stark dilatierten Urethra, obgleich eine Vagina vor-
handen war.
38. Fall von v. Win ekel: (?) Beiderseitige Herniotomie bei einem
Mädchen. Entfernung beider Hoden.
Zweite Gruppe:
Vier Leistenschnitte bei weiblichen Scheinzwittern, von
denen 2 als Männer erzogen waren.
1. Fall von Brohl: Bei einer 36jährigen Dame linksseitige Her-
niotomie: Uterus und beide Ovarien im Bruchsacke. Uterus-
— 414 —
amputation und Kastration. Uterus bicornis. Clitoris 6,5 cm,
sub erectione 11 cm lang. Seit dem 18. Jahre normale Men-
struation.
2. Fall von P6an: Ein löjähr. Mädchen wurde für einen Knaben
erklärt mit Kryptorohismus. Beiderseits Leistenschnitt, um die
Hoden aufzusuchen. Bei späterem diagnostischen Bauchschnitt
Uterus und Ovarien konstatiert. Kastration. Mangel der Vagina.
Clitoris erectil. Männlicher Stimmbruch. Keine Menstruation.
3. Fall von Sujetinow: Herniotomie rechterseits wegen einge-
klemmten Leistenbruches bei einer 4öjähr. Frau. Vagina blind-
sackförmig geschlossen, in hernia Uterus, eine Tube und
Ovarium. Clitoris 5 cm lang. Nur 2 Jahre lang Menstruation
und sehr unregelmäßig. (???)
4. Fall von Walther: Beiderseitige Herniotomie bei einem 24-
jährigen Sattler: rechtsseits Tube und atrophisches Ovarium in
die Bauchhöhle reponiert, linkerseits Sactosalpinx, sclerotisohes
Ovarium und ein Stück Netz abgetragen. Clitoris stark hyper-
trophisch, erectil, starker rein männlicher Gesohlechtsdrang mit
angeblicher Ejakulation sub erectione. Bis jetzt hat der
Sattler, der sich für einen Mann hält, noch keinen Beischlaf
als Mann versucht, weil sein Glied, das wie ein hypospadischer
Penis aussieht, hakenförmig nach abwärts gekrümmt ist. W.
fügte einen Bauohschnitt hinzu, um die Netzstümpfe zu kon-
trollieren und fand einen kleinen Uterus. Vagina mündet
wahrscheinlich in die Urethra. Seit dem 16. Jahre alle Monate
2 — 3 Tage lang Blutungen aus der Harnröhre.
Dritte Gruppe:
13 Leistenschnitte bei Männern, bez. männlichen Schein-
zwittern mit Konstatierung eines mehr oder weniger ent-
wickelten Uterus uni- oder bicornis, einer oder beider
Tuben in hernia bez. in der Bauchhöhle.
1. Fall von Billroth: Rechtsseitige Herniotomie bei einem 24-
jährigen Hypospaden. Tod infolge von Verblutung nach Ab-
gleiten einer Ligatur. Das sub herniotomia resezierte Ge-
bilde erwies sich als ein amputierter Uterus mit Tube.
Vagina mündete in die Urethra. In der linken Schamlefze
Hoden und Nebenhoden. Vom 16. Jahre an periodische Blu-
tungen ex Urethra und aus einer Fistel der rechten Schamlefze
ex utero eotopioo. Obwohl der Geschlechtsdrang männlich, hatte
dieser Mann mit Knaben und Mädchen kobabitiert.
— 415 —
2. Fall von Boeckel: In einer Leistenhernie bei einem Manne
sub operatione ein Uterus bicornis mit einer Tube, ein Hoden
und ein Nebenhoden gefunden.
3. Fall von Carle: Linksseitige Herniotomie bei einem 36jährigen
Telegraphisten. In hernia ein Uterus bicornis mit Tuben neben
Hoden (Teratom ?) und Nebenhoden, die Organe wurden abgetragen.
Der Mann übte den Beischlaf mit seiner Gattin aus, aber die
Ehe war kinderlos. Bei der Operation wurde vom Leistenkanal
aus die Bauchhöhle eröffnet.
4. Fall von Derveau: Herniotomie bei einem 69jähr. Manne,
Vater von 6 Kindern trotz Kryptorchismus. In hernia Uterus
mit Tuben und oberer Anteil der Vagina, ^die wahrscheinlich
in urethram mündete.
5. Fall von Fantino: Rechtsseitige Herniotomie bei einem Manne
mit Entfernung eines Uterus mit 2 Tuben und beider Hoden.
Linke Hodensackhälfte leer.
6. Fall^Fillippini: Rechtsseitige Herniotomie bei einem 23 jähr.
Manne: Uterus, Tube und angeblich ein Ovarium ex hernia
entfernt, in der linken Scrotalhälfte ein Hoden.
7. Fall von Griffith: siehe Gruppe I No. 9: Uterus entdeckt
nach beiderseitiger Herniotomie mit Entfernung beider Hoden
bei einem 23 jähr. Mädchen.
8. Fall von Guldenarm: Linksseitige Herniotomie bei einem
Manne mit rechtsseitigem Kryptorchismus. Ex hernia ein Uterus
bicornis, Hoden und Nebenhoden entfernt. Vagina mündete
im urethram.
9. Fall von Pozzi: siehe Gruppe I Fall 25: Uterushorn in hernia
neben Hoden.
10. Fall von Sa eng er: siehe Gruppe I Fall 27: Uterus mit einer
Tube und Parovarialcyste in hernia neben dem Hoden.
11. Fall von Stonham: siehe Gruppe I Fall 32: Uterus neben
Hoden.
12. Fall von Thiersch. Bei einem 22jährigen Hypospaden links-
seitiger Leistenschnitt mit unbewußter Amputation der linken
Tube. Tod an Peritonitis: Uterus bicornis, Vagina mündet in
urethram. Kryptorchismus unilateralis.
13. Fall von Winkler: Herniotomie rechterseits. Später Bruch-
recidiv, Bauchschnitt, im 25. Jahre Tod an Peritonitis. Uterus
bicornis mit Tuben und Vagina, linke Tube im Leistenkanal,
beide Hoden in der Bauchhöhle, Vagina mündet in urethram.
— 416 —
Anhang: Fall von Garr6: angeblieh Hoden und Ovarium in
einer Leistenhernie gefanden bei einem als Mann erzogenen
Individuum.
Vierte Gruppe:
45 Einzelbeobachtungen betreffend 32 Fälle von Coincidenz
gut oder bösartiger Neubildungen vorherrschend der Ge-
schlechtsorgane mit Scheinzwittertum, 29 an Scheinzwittern
vollzogene Bauchschnitte, 1 Nephrolithotomie, 1 Stein-
operation bei Sitz des Steines in utriculo masculino. Auf
diese 45 Beobachtungen kommen nicht weniger als 20 Fälle
von erreur de sexe, 9 mal blieb das Geschlecht fraglich,
darunter 5 mal trotz vollzogenen Bauchschnittes, ein einziges
mal sollen Hoden- und Ovarialgewebe gleichzeitig
vorgelegen haben in einer Geschlechtsdrüse (?) (Fall
von v. Sal6n).
1. Fall von Abel: Tod der 33jährigen Albertine R. an
Peritonitis nach vaginaler Paraoentese einer vermeintlichen
Haemtometra, die sich sub necropsia als sarkomatöse Cryptorchis
sinistra erwies. Vagina vorhanden, man glaubte eine rudi-
mentäre Portio vaginalis uteri im Scheidengrunde zu tasten.
Erreur de sexe.
2. Fall von Audain: 2 ovarielle Dermoide bei einem weib-
lichen Scheinzwitter entfernt. Bedeutende Clitorishypertrophie.
3. Fall von Bacaloglu und Fossard: Bauchschnitt bei der
31 jähr. A. Lefrangois mit tötlichem Ausgange. Clitoris 8
Centimeter lang, 5 Centimeter dick, Vaginalostium fehlte infolge
Verwachsung der Schamlefzen miteinander. Weibliches Schein-
zwittertum.
. 4. Fall von Bazy: Gelegentlich einer Operation wegen Appen-
dicitis bei einem 26 jähr. Fräulein männliches Geschlecht mit
Hypospadiasis peniscrotalis konstatiert. Keinerlei Geschlechts-
trieb bisher ausgesprochen. Erreur de sexe.
5. Fall von Bock: Bauchsohnitt bei einem 21 jähr. Manne der
bis zum 19. Jahre als Mädchen gegolten hatte. (Syphilis
acquiriert). Vagina vorhanden, collum uteri getastet. 2 Teratome
der Geschlechtsdrüsen, angeblich Ovarien, wahrscheinlich Hoden
entfernt. Tod am 18. Tage an Pneumonie. Sub coitu Ejaku-
lation aus 2 seitlich vom „Infundibulum" belegenen Oeffnungen.
Hypospadiasis peniscrotalis, Hymen eingerissen.
6. Fall von Carle: sub herniotomia Bauchhöhle zu diagnostischen
Zwecken eröffnet (siehe: Gruppe III> Fall No. 3).
— 417 —
7. Fall von Chevreuil. Sanduhrförmiger angeblicher Ovarial-
tumor sub necropsia der Anna Bergault entdeckt, teils in
der Bauchhöhle belegen, teils durch einen Leistenring in eine
Schamlefze hineingetrieben. Clitorishypertrophie. (Geschlecht
fraglich).
8. Fall von Clark: Die Nekropsie einer Frau nach Nephrolitho-
tomie wies eine Erreur de sexe nach, ein Hoden in scroto
fisso, der andere im Leistenkanal.
9. Fall von Delageniere: Bauchschnitt bei einem Mädchen um
die blind endende Vagina mit dem Uterus zu vernähen. Kein
Uterus gefunden, aber 2 atrophische Hoden in der Bauchhöhle.
Erreur de sexe.
10. Fall von Engelhardt: Als Todesursache des 59jährigen
Witwers Karl Menniken wurde Carcinoma uteri sub necropsia
gefunden. Ovarium vorhanden. Vagina mündete in Urethra.
Clitoris hypertrophisch, von der Harnröhre durchbohrt. Erreur
de sexe. Der Mann hatte in seiner Ehe mit der Gattin zu
deren Zufriedenheit kohabitiert, obgleich er selbst ein verkanntes
Weib war.
11. Fall von Fehling. Bei einem 21 jähr. Mädchen erst Fehl-
diagnose einer Haematometra, nach vergeblicher Paracentese
Diagnose richtig auf Tumor eines Ovarium gestellt bei inguino-
labialer Ektopie des anderen. Myxosarcom des linken Ovariums
durch Bauchschnitt entfernt, rechtes Ovarium und Tube in die
Bauchhöhle hineingezogen. Clitoris hypertrophisch und erectil.
12. Fall von Gruber: 22 jähr. Mädchen an Carcinom einer Ge-
schlechtsdrüse verstorben. Vagina und Uterus vorhanden, die
andere Geschlechtsdrüse ein Hoden. Erreur de sexe,
Ery ptor chismus .
13. Fall von Gunkel. Ein Mädchen mit männlichem Geschlechts-
trieb wegen Incest angeklagt wird nach Untersuchung für einen
männlichen Scheinzwitter erklärt, erhält aber die Erlaubnis auch
ferner weibliche Kleider zu tragen. Im 50. Jahre Tod. Sektion
erweist Erreur de sexe. Ovarien, myomatöser Uterus
mit Tuben, Vagina mündet in capite gallinaginis urethrae.
Prostata vorhanden, Clitoris hypertrophisch, penisartig von der
Urethra durchbohrt bis an eine Stelle 21/» Centimeter nach
rückwärts von der normalen männlichen Harnröhrenöffnung
belegen.
14. Fall von Hall: Carcinoma ovarii unius durch Bauchschnitt
entfernt bei einem 17 jähr, weiblichen Scheinzwitter. Clitoris
hypertrophisch.
Jahrbuch V.
27
— 418 —
15. Fall von Hansemann: Die Sektion der 32 jähr., lange Jahre
hindurch verhreiatet gewesenen Kristine Book fleisch,
verstorben an Blasenkrebs, ergibt eineErrenr de sexe. Hypo-
spadiasis peniscrotalis mit Hoden und Nebenhoden jederseits in
scroto. Keine Vagina vorhanden, Urethra 10,5 Centimeter lang,
ließ den kleinen Finger in die Blase ein. Beischlaf als Frau.
16. Fall von Howitz: Sektion eines 49jährig«n Mädchens nach
letal verlaufenem Bauchschnitte mit Amputation eines fibroma-
tösen Uterus. Vagina vorhanden. Clitoris 6 Centimeter lang.
Die mandelgroßen Geschlechtsdrüsen von Chiowitz für rudi-
mentäre Ovarien gehalten. Beweis fehlt. Gesohlecht fraglich
trotz Mikroskop.
17. Fall von Dixon-Jones: Diagnostischer Bauchsohnitt einer
beiderseitigen Herniotomie hinzugefügt bei Erreur de sexe
(siehe Gruppe I, Fall 14).
18. Fall von Kapsammer: Unicum! Nitze entfernte operativ
bei einem 30jährigen Manne einen Harnstein von 165 Gramm
aus dem Utriculus masculinus. Pseudoherm. masculinus internus.
19. Fall von Kr ab bei: Bauchsohnitt bei einem 32 jähr. Manne er-
gab einen Ovarialtumor, also Erreur de sexe. Clitoris
hypertrophisch, Vagina vorhanden, Uterus klein, das rechte
Ovarium normal. linksseitiger Ovarialtumor ein multilokulaeres
Cystom. Nach Vj2 Jahren zweiter Bauchschnitt mit Entfernung
eines Teratoms von sarkomatösem Bau.
20. Fall von Krug: Ovariotomie bei einem 19jährigen Mädchen.
Clitoris 2 Zoll lang, 2 Ovarialsarkome. Uterus und Vagina
rudimentär. Weibliches Scheinzwittertum.
21. Fall von Lesser: Tod eines 25jährigen Mädchens durch Ver-
blutung infolge von Platzen eines Alveolarsarkoms, von Lesser
auf den Uterus bezogen. Sektion: Keine Ovarien gefunden,
Vagina vorhanden, Clitoris 5,5 cm lang. Geschlecht fraglich.
22. Fall von Levy: 16jähriges Mädchen, Anna Schulze, mit
hypertrophischer erectiler Clitoris und Tumoren der Geschlechts-
drüsen. Geschlecht fraglich.
23. Fall von E. Levy: Bauchschnitt bei einem 20jährigen Mädchen
durch v. S a e x i n g e r. Tod nach unvollendeter, wegen Blutung
abgebrochener Operation. Clitoris 5,8 cm lang, erectil. Uterus
und Vagina vorhanden. Sektion ergab 2 Sarkome der Ge-
schlechtsdrüsen. Es war weder Hoden- noch Ovarialgewebe
gefunden worden. Geschlecht fraglich.
24. Fall von Lieb mann: Elastischer Tumor in der linken Leiste
einer 45jährigen Frau, die mit 25 Jahren einen 66jährigen Mann
— 419 —
heiratete. Keine Spur von Uterus, Vagina, Ovarien zu ent-
decken. Geschlecht fraglich.
25. Fall von Litten: Die 16jährige Klara Hackerwegen Bauch-
tumor aufgenommen, man schwankte ob Mädchen oder Knabe.
Clitoris 5,5, sub erectione 10 cm lang. Uterus und Vagina
vorhanden. Nach Paracentese Tumor für ovariell erklärt, die
Gebilde in den Schamlefzen für Hoden entgegen Virchow,
der sie für ektopische Ovarien hielt. Nekropsie: Myxosarcom
des rechten Ovariums, linkes glattwandig klein. Die Gebilde
in den Schamlefzen ein Haemato- resp. Hydrocele processus
vaginalis peritonaei. Weibliches Scheinzwittertum.
26. Fall von Merkel: Sektion eines 63jährigen an Carcinoma rect.
verstorbenen Mannes ergab die Gegenwart eines Uterus und
einer Vagina. Normales Sperma, normaler Beischlaf mit der
Gattin.
27. Fall von Mies: Die 66jährige Else G. wegen Unterlippen-
krebs aufgenommen. Die Seltenheit dieser Krebslokalisation
bei Frauen sowie diverse männliche Erscheinungen erweckten
den Verdacht einer Erreur de sexe. Männlicher Schein-
zwitter mit Hypospadiasis peniscrotalis, Hoden und Nebenhoden
in scroto fisso, Prostata.
28. Fall von F. Neugebauer: Carcinoma uteri et ovarii sinistri
bei der 56jährigen Anastasia K. Clitoris 3l/a cm lang.
Weibliches Scheinzwittertum.
29. Fall von Neugebauer: Bauchschnitt bei einer 35 jähr, als
Frau verheirateten Person von männlichem Aussehen. Niemals
Periode, Scheide rudimentär, Sarkom einer Geschlechtsdrüse,
die andere Geschlechtsdrüse nicht zu finden. Geschlecht fraglich.
30. Fall von Obolonsky: Sektion einer 50jährigen Arbeiterin er-
wies Erreur de sexe. Vagina, Uterus bicornis, Kryptorchis-
mus bilateralis, Sarcoma testiouli dextri. Hypospadiasis peni-
scrotalis.
31. Fall von Paton: Bei einem Bauchschnitte fand man bei einem
20jährigen jungen Manne einen, Uterus, pyosalpinx duplex pro-
fluens, eine in scroto fisso mündende Vagina; die Urethra mün-
dete in die Vagina. Uterus und linksseitige Tube samt an
Stelle des Ovarium liegendem Hoden entfernt. Hypospodiasis
peniscrotalis mit Kryptorchismus. Noch kein Geschlechtstrieb.
Unioum.
32. Fall von Pfannenstiel: Bauchschnitt bei einem 55jährigen
Mädchen Chr. Schm.: Clitoris 3, sub erectione 5 cm lang.
Vagina und Uterus vorhanden. Uterus wegen Fibromen am-
27*
— 420 —
putiert. Tuben stark verlängert. Die exstirpierten Geschlechts-
drüsen als Ovarien angesprochen aber ohne Nachweis ovariellen
Baues. Geschlecht fraglich trotz Mikroskop. Melancholie.
33. Fall von P6an: Diagnostischer Bauohschnitt nach beiderseiti-
gem Leistenschnitt bei einem Knaben: Erreur de sexe. Ab-
tragung der Uterusadnexa. (siehe Gruppe II. No. 2).
34. Fall von Primrose: Tod eines 25jährigen Kryptorchisten
nach Entfernung eines Hodensarkomes durch Bauchschnitt.
Nekropsie: Uterus entdeckt. Vagina mündet in capite gallina-
ginis urethrae.
35. Fall von Quisling: Appendicitisanfälle bei einem angeblich
weiblichen 27jährigen Scheinzwitter mit Uterus und Vagina,
Clitoris 4 Centimeter lang, Masturbation, weiblicher Geschlechts-
drang. (Geschlecht fraglich?)
36. Fall von E. v. Sal6n: Bauchschnitt bei der 43 jähr, unverehe-
lichten Auguste Persdotter mit Entfernung eines grossen
Cystofibrom (des Uterus?) und der Geschlechtsdrüsen: linke
Geschlechtsdrüse ein Ovarium, die rechte soll (Ovotestis) ova-
rielle und testiculaere Struktur aufgewiesen haben. Uterus
und Vagina vorhanden, Clitoris 5 Centimeter, Beischlaf mit
Männern schmerzhaft, mit Frauen nicht versucht.
37. Fall von Snegirjow: Diagnostischer Bauchschnitt einer
beiderseitigen Herniotomie mit Kastration hinzugefügt. Erreur
de sexe.. (Siehe Gruppe I Fall 30).
38. Fall von Sorel u. Chßrot. Bauchschnitt bei der 36jährigen
Aline C. Carcinom des Blinddarmes. Clitoris 6 Centimeter
lang, erectil, Geschlechtsdrang männlich, aber Beischlafver-
suche mißglückten. Tod. Nekropsie: Mangel der Vulva,
Vagina, der Hoden und Ovarien, Utriculus masculinus gefunden. l
Geschlecht fraglich.
39. Fall von Stimson: Bauchschnitt bei einem 46jährigen Neger,
der Vater war. Sarkom des linken Bauchhodens, der rechte in
scroto non fisso unterhalb eines Leistenbruches. Uterus bicornis
mit beiden Tuben.
40. Fall von Stroebe: Sektion eines 63jährigen an Carcinoma
oesophagi verstorbenen Mannes. Kryptorchismus beiderseits.
Ausgebildeter* Uterus mit beiden Tuben und Vagina, in die
capite gallinaginis urethrae mündet. Penis normal, Sero tum i
leer. Der Mann war kinderlos verheiratet gewesen. ;
41. Fall von Unterberger: Bauchschnitt bei einem 14jährigen
Mädchen: Diagnose Ovarialsarkom trotzdem die Scham das
Aussehen einer Hypospadiasis peniscrotalis bot. Mannskopf-
421
großes Sarkom der linken Geschlechtsdrüse, Uterus vorhanden
Vagina öffnet sich wahrscheinlich in urethram, rechtsseitige
atrophische Geschlechtsdrüse für Ovariuin gehalten, aber ohne
mikroskopischen Beweis. Geschlecht zweifelhaft.
42. Fall von Westermann: Sektion eines 30jährigen an Appen-
dicitis ulcerosa verstorbenen Mädchens: Erreur de sexe.
Hypospadiasis peniscrotalis, Kryptorchismus beiderseits, Uterus
mit Tuben und Vagina vorhanden.
43. Fall von Win ekler: Bauchschnitt wegen Darmocclusion bei
einem 56jähr, männlichen Scheinzwitter: Uterus sub nekropsia
entdeckt. (Siehe Gruppe III No. 12).
44. Fall von Zahorski: Bauchparacentese wegen Bauchtumor
bei einem 25jährigen Dienstmädchen. Tod an Erschöpfung.
Sarkom der linken Geschlechtsdrüse, rechte klein, flachgedrückt,
Uterus und Vagina vorhanden. Clitoris Sxl2 Centimeter lang.
Geschlechtsdrüsen für Ovarien angesehen ohne mikroskopische
Untersuchung. Geschlecht zweifelhaft.
45. Fall von Pozzi u. Magnan: Bei einem verheirateten Manne
ein Bauchtumor entfernt, der sich als Ovarialtumor erwies.
Erreur de sexe.
Fünfte Gruppe:
23 Fälle von teils ausgeführten, teils nur von dem Arzte,
dem Scheinzwitter oder seinen Eltern verlangten chirur-
gischen Eingriffen an den Genitalien mit Anschluss einiger
Hypospadieoperationen bei männlichen Scheinzwittern.
1. Amputation der hypertrophischen Clitoris bei den Stämmen
der Ibbos und Mandingos im antiken Aegypten.
2. Fall von Arn and: Verlangte aber vom Arzte abgeschlagene
Amputation der hypertrophischen erectilen Clitoris bei einer
35 jähr. Nähterin: angebliche Hämatokolpometra per rectum
profluens bei unterem Scheidenversohluß, Eröffnung, Wieder-
verschluß. Angeblich Hoden, Nebenhoden und Samenstränge
in scroto fisso getastet. Nach 15 Jahren Tod, Nekropsie.
Geschlecht fraglich. Fall aus dem 18. Jahrhundert.
3. Fall von Mo. Arthur: Operation wegen Atresia ani bei einem
neugeborenen Scheinzwitter fraglichen Geschlechts. Nekropsie:
weibliches Scheinzwittertum mit Persistenz der Kloake.
4. Fall von Aveling: Amputation der hypertrophischen Clitoris
bei einer Frau nach Eonstatierung der Menstruation.
— 422
5. Fall von B6noit: Vergeblicher operativer Versuch bei einem
27jährigen verlobten Mädchen, die angeblich verwachsene
Scheidemttndung zu eröffnen. Erreur de sexe, Hypospadiasis
peniscrotalis. Verlobung gelöst.
6. Fall von Berendes: Amputation der angeblichen hypertrophi-
schen Clitoris bei einem 4jährigen Mädchen auf Verlangen der
Eltern, später von Landau Erreur de sexe, männliches
Scheinzwittertum konstatiert Verlobung gelöst (siehe Neu-
gebauer: dieses Jahrbuch für 1902: Gruppe IV. Fall 4).
7. Fall von Bittner: Die Mutter eines 14jährigen Mädchens ver-
langte durchaus, Bittner solle die 5l/2 Centimeter lange Clitoris
amputieren, wurde aber abschlägig beschieden wegen Erreur
de sexe. Hypospadiasis peniscrotalis. Vagina vorhanden,
vielleicht auch Uterus. Harnröhrenöffhung weiblich, früher
von Dr. Busch künstlich erweitert. An der Spitze derGlans
penis öffnet sich ein Kanal, welcher eine Sonde 5 Centimeter
tief einlässt, schleimgefüllt. Es scheint aber nur die basale
Partie des Penis, resp. nur das Scrotum gespalten zu sein, eine
seltene Form der Hypospadie.
8. Fall von Blond el: 45jährige Frau seit 18 Monaten verheiratet.
Beischlaf stets schmerzhaft aber libidinös, früher mehrere Be-
werber abgewiesen wegen befürchteter Kinderlosigkeit einer
Ehe wegen genitaler Mißstaltung. Ein Sturz vor 6 Monaten
führte zur Entstehung eines beiderseitigen Leistenbruches. Der
jetzt erst im 45. Jahre erfolgte Deoensus testiculorum retar-
datus führte zur Erkenntnis einer Erreur de sexe. Hypospa-
diasis peniscrotalis mit Vagina, noch unzerrissenem rigiden Hymen,
der incidiert werden sollte mit nachfolgender plastischer Er-
weiterung der Vagina. Penis fissus sub erectione 6—7 Centi-
meter lang. Hoden und Nebenhoden in den Schamlefzen getastet.
Vagina eng, ohne Uterus (?). Geschlechtsdrang absolut weiblich.
9. Fall von Realdo Colombo: Amputation der Clitoris ab-
geschlagen bei einer Aethiopierin, die weder mit Männern noch
mit Frauen bequem sexuell verkehren konnte. Wahrscheinlich
männlicher Hypospade mit rudimentärer Vagina, deren künst-
liche Erweiterung verlangt wurde. Geschlechtsdrang wohl
weibüch.
10. Fall von Coop: Discision einer Schamlefzenverwachsung bei
einer 24jährigen verheirateten Frau, einem Scheinzwitter, er-
möglichte den Beischlaf.
11. Fall von Coste: Bei einem weiblichen Scheinzwitter, einem
21jährigen Mädchen, welches heiraten wollte, Beischlaf ermöglicht
— 423 —
durch Durschneidung einer Atresie mit teilweiser Spaltung der
Urethra. In der so eröflheten Vagina ein collum uteri ge-
tastet. Amputation der hypertrophischen Clitoris. Die Vagina
mündete in urethram. Hochzeit, Beischlaf gelingt Periode
tritt ein.
12. Fall von Duval: Behufs verlangter Ehescheidung vom Forum
ecclesiasticum verfügt: falls Amputation der angeblichen hyper-
trophischen Clitoris gestattet wird von der Frau, soll die Ehe
fortbestehen. Die Frau geht darauf nicht ein, Ehe geschieden,
Erreur de sexe. Männlicher Scheinzwitter, ein Hypospade,
war als Frau verheiratet gewesen.
13. Fall von Hartmann: Auf Verlangen der Mutter Amputation
der angeblichen hypertrophischen Clitoris wegen Masturbation
bei einem 7jährigen Mädchen. Clitoris kleinfingergroß, sub
erectione noch größer. Vagina und Uterus vorhanden. Geschlecht
fraglich, möglicherweise Hypospadiasis peniscrotalis mit
KryptorcMsmus, Vagina und Uterus.
14. Fall von Hector le Nu: Vom Vater Amputation der angeb-
lichen hypertrophischen Clitoris bei der 6 jähr. Tochter verlangt,
aber abgeschlagen, weil männlicher Scheinzwitter. Erreur
de sexe.
15. Fall von Huguies: Die 20 jähr. Louise D. sollte heiraten,
Menstruation vorhanden, Clitoris 5 Centimeter lang, erectil,
Schamlefzen, verwachsen mit einander, täuschen ein leeres
Scrotum vor. Discision bei zutreffender Diagnose. Beischlaf
ermöglicht. Erfolg genügend.
16. Fall von B 6 c 1 a r d u. Anderen : Weiblicher Scheinzwitter Maria
Magdalena Le fort mit erectiler hypertrophischer Clitoris und
partieller Verwachsung der Schamlefzen mit einander. Discision ,
verweigert.
17. Fall von Virchow: Katarina, der spätere Karl Hohmann,
ein männlicher Scheinzwitter, angeblich menstmierend. Penis
hypospadiaeus, Scrotum teilweise gespalten. Billroth schlug
die Durchschneidung der Schamlefzenverwachsung vor, um den
Aditus ad vaginam bloßzulegen. Operation verweigert. Bei-
schlaf mit Männern und mit Frauen. Vom 16. — 20. Jahre nur
männlicher Geschlechtsdrang, nach dem 20. Jahre weiblicher,
nach dem 40. Jahre heiratete Karl, früher Katarina Hoh-
mann, ein Mädchen.
18. Fall von Keiffer. Hysteroekpetasis wegen intermittierender
Amenorrhoe und Dysmenorrhoe bei einem 25 jähr. Mädchen
— 424 —
Josephine X. — Hypertrophische, erectile Clitoris, Geschlecht
fraglich, eher weiblich als männlich.
19. Fall von P6an: Vergeblicher Einschnitt zwischen Urethral-
nnd Analmündung im Bestreben eine Vagina zu schaffen bei
einem irrtümlich als Knabe erzogenen Mädchen. (Siehe Gruppe
H No. 2.)
20. Fall Roux: Verheiratete Frau mit beiderseitiger labialer
Ovarialektopie und teilweiser Schamlefzenverwachsung wurde
durch Discision der Verwachsung beischlafsfähig. Das weib-
liche Geschlecht nur vermutet.
21.* Fall von Sonnenburg: Durchschneidung einer Schamlefzen-
verwachsung bei einem Mädchen mit hypertrophischer Clitoris.
22. Fall von Tauber: Amputation des Penis hypospodiaeus bei
einem 23jährigen männlichen Schemzwitter, der bis zur Kastra-
tion (Hoden) vor 2 Jahren als Mädchen galt und mit einem
Manne verlobt war, jetzt einem männlichen Kastraten (siehe
Gruppe IV. Fall 7).
23. Fall von Vincent: Bei einem mit Defectus ani eturethrae ge-
borenem Kinde zweifelhaften Geschlechtes ein Anus coccygeus
angelegt. Lebensrettender Eingriff. Geschlecht fraglich.
Anhang.
Sechste Gruppe.
Auf die Beseitigung der peniscrotalen Hypospadie ge-
richtete Operationen.
1. Beck, 2. Brand, 3. Castellana, 4. Fälizet, 5. Garre,
6. Krajenoski, 7. Malthe, 8. Marwedel, 9. Thiersch,
10. Tuffier, 11. Villemin, 12. Waitz.
425
Brief Wolfgang von Goethes
über die mannmännliche Liebe in Rom.
Dr. P. I. Möbius übersandte uns zur Veröffentlichung
im Jahrbuch folgenden bisher wenig bekannten Brief
Goethes, welcher für den vorurteilsfreien Blick des großen
Mannes auch in dieser Hinsicht Zeugnis ablegt.
Am 29. December 1787 schreibt Goethe aus Rom
an den Herzog von Weimar:
„Mich hat der süße kleine Gott in einen bösen Weltwinkel
relegiert. Die öffentlichen Mädchen der Lust sind unsicher
wie überall. Die Zibellen (unverheurathete Mädchen) sind
keuscher als irgendwo, sie laßen sich nicht anrühren und
fragen gleich, wenn man artig mit ihnen thut: e che con-
cluderemo? Denn entweder soll man sie heurathen oder
verheurathen und wenn sie einen Mann haben, dann ist die
Messe gesungen. Ja man kann fast sagen, daß alle ver-
heuratheten Weiber dem zu Gebote stehn, der die Familie
erhalten will. Das sind denn alles böse Bedingungen und
zu naschen ist nur bey denen, die so unsicher sind als
öffentliche Kreaturen. Was das Herz betrifft, so gehört
es garnicht in die Terminologie der hiesigen Liebeskanzley.
Nach diesem Beytrag zur statistischen Kenntniß des Landes
werden Sie urtheilen, wie knapp unsere Zustände sein müssen
und werden ein sonderbar Phänomen begreifen, das ich
nirgends so stark als hier gesehen habe, es ist die Liebe
der Männer untereinander. Vorausgesetzt, daß sie selten
biß zum höchsten Grade der Sinnlichkeit getrieben wird,
sondern sich in den mittleren Regionen der Neigung und
Leidenschaft verweilt: so kann ich sagen, daß ich die
schönsten Erscheinungen davon, welche wir nur aus grie-
chischen Überlieferungen haben (S. Herders Ideen III. Band
pg. 171) hier mit eigenen Augen sehen und als ein aufmerk-
samer Naturforscher das psichische und moralische davon
beobachten konnte. Es ist eine Materie, von der sich kaum
reden, geschweige schreiben läßt, sie sei also zu künftigen
Unterhaltungen aufgespart."
(Goethes Briefe. S. Band p. 314. Weimar 1890.)
Felicita von Vestvali.
Felicita von Vestvali.
Von
Rosa von Braunschweig.
Das Quellenmaterial, welches uns zuverlässige Mit-
teilungen aus dem Leben urnisch veranlagter Frauen
bietet, ist bei weitem nicht so vielfältig als über ihre
männlichen Genossen. Nicht etwa, weil diese eigenartige
Veranlagung bei Frauen weniger verbreitet wäre — es
kommt weit öfter vor als man ahnen kann — sondern
weil sich die Frauen eine größere Zurückhaltung auf-
erlegen. Es ist dies eine Folge ihrer Erziehung, denn
schon als Kinder werden die Mädchen zu größerer Scham-
haftigkeit erzogen als die Knaben, und dieses sensible
Empfinden hindert sie später, wenn der sexuelle Trieb in
seine Rechte tritt, sich zu decouvrieren.
Zwar bedroht in Deutschland die homosexuelle Liebe
zwischen Frauen kein Gesetzparagraph, doch gesellschaft-
lich leiden sie vielleicht noch mehr unter dem Vorurteil
als die Männer, da ihre Neigung von der unwissenden
Menge meist als niedere Sinnlichkeit gebrandmarkt wird.
Wie anders wäre es, wenn die Eltern sich über das Wesen
der Homosexualität aufklären ließen und erkennen lernten,
daß dieselbe etwas von der Natur Gegebenes ist. Leicht
würden sie dann schon im Kinde die eigenartige Ver-
anlagung erkennen ; wenn z. B. die Mädchen mehr Inter-
esse für knabenhafte Spiele haben, als für ihre Puppen,
— 428 — v
und sich bei der späteren Entwickelung des Charakters
deutliche Spuren einer männlichen Richtung zeigen. Bricht
dann schließlich — durch irgend einen nebensächlichen
Umstand veranlaßt — die homosexuelle Neigung deut-
licher durch, so könnten die Eltern manche Unbesonnen-
heit der Tochter zum Guten lenken. Wie oft treibt man
Mädchen gegen ihren Willen in eine Ehe, durch die sie
nicht allein sich, sondern noch einen zweiten unglücklich
machen. Lernten es die Eltern, aus den ihrem Geschlecht
widersprechenden Charaktereigentümlichkeiten ihrer Kin-
der auf deren sexuelle Veranlagung richtig zu schließen
und diese mit mildem Sinn gerecht beurteilen, so würde
viel Unheil in der Welt verhütet werden.
Daß die urnische Veranlagung keineswegs den
Charakter verdirbt oder minderwertig macht, m beweisen
unzählige Beispiele. Vereinigt der weibliche Urning doch
meist mit spezifisch weiblichen Eigenschaften, wie Zart-
heit der Empfindung und Gefühlstiefe, zugleich männliche
Energie, Tatkraft, zielbewußtes Wollen und ist frei von
der Kleinlichkeit, Eitelkeit und Unselbständigkeit der
Frauen, während anderseits ihm allerdings auch oft Sinn-
lichkeit und Leichtsinn des Mannes bescheert sind — doch
vollkommene Geschöpfe sind schließlich die hetero-
sexuellen Menschenkinder auch nicht. Jedenfalls bildet
der Verein männlicher und weiblicher Eigenschaften —
unter günstigen Bedingungen entwickelt — sehr oft
Wesen, deren Begabung die der Mutterweiber weit über-
flügelt, und sie leisten in Kunst und Wissenschaft der
Menschheit oft ebenso wertvolle Dienste, als die der
Fortpflanzung des Menschengeschlechtes dienenden Frauen.
Zu diesen außergewöhnlichen Geschöpfen gehörte
Felicita von Vestvali. Sie hat die alte und neue Welt
mit ihrem Ruhm erfüllt und nicht zum geringsten Teil
dankte sie es ihrer urnischen Natur, daß sie mit männ-
licher Energie alle Hindernisse zu überwinden wußte und
— 429 —
ihr unbegrenztes Streben siegreich das hohe Ziel erreichte,
zu dem ihr Genie sie prädestinierte.
Vielfach ist behauptet worden, sie sei ein weiblicher
Zwitter gewesen. Die Anfeindungen, die sie von den
Herren der Schöpfung erfuhr, waren zahllos, und man
scheute keine Verdächtigung, um sie herabzusetzen. Diesem
gegenüber wollen wir mit aller Bestimmtheit erklären,
daß alles, was über diesen Punkt gefabelt worden ist,
in's Reich der Märchen gehört. Sie ist sogar Mutter
einer Tochter, welche heute noch in Amerika lebt.
Es gehört eben nicht zu den Seltenheiten, daß ganz
homosexuelle Frauen ihr Wesen erst erkennen, nachdem
sie durch einen Mann in die Mysterien der Liebe einge-
weiht sind. So erging es Felicita von Vestvali. Als
sie aber näher aufgeklärt war, hätte sie — wie viele
urnische Frauen — einen ferneren intimen Verkehr mit
einem Mann als eine Unmoralität betrachtet, da er ihrem
innersten Empfinden auf das Entschiedenste widersprach.
Allerdings fühlte sie oft mit tiefem Schmerz den Konflikt,
in den sie dadurch mit den bestehenden Gesetzen der
Sitte geriet, aber die Wahrheit gegen sich selbst stand
ihr höher, als ein Sittenkodex, der ohne Rücksicht auf
das dritte Geschlecht gemacht ist, dessen Dasein nun
einmal nicht weggeleugnet werden kann und über welches
die Menge aufzuklären sich jetzt hervorragende Männer
der Wissenschaft bestreben.
Felicita von Vestvali's wirklicher Name war Anna
Marie Stägemann. Sie war die jüngste Tochter eines
höheren Beamten in Stettin und dort am 25. Februar
1829 geboren. Die Eigenartigkeit ihres Wesens trat
schon früh hervor. So wünschte sie als Kind — Missions-
prediger zu werden. Wenn das Schulzimmer im elter-
lichen Hause leer war, schlich sie sich hinein, stellte sich
aufs Katheder und predigte mit einer über ihr Alter
hinausgehenden Begeisterung, wie sie die Menschen
— 430 —
bessern wolle. Ihr Vater hörte ihr einst vom Garten
aus zu und umarmte dann tränenden Auges sein Kind. —
Zu anderen Zeiten tollte sie wieder mit ihren Brüdern
um die Wette, wie der wildeste Junge.
Furchtlosigkeit und Edelmut war ein Grundzug ihres
Wesens bis zu ihrem Tode, und diese Eigenschaften zeigten
sich schon in ihrer Kindheit Sollte eines der Geschwister
von dem sehr strengen Vater bestraft werden^ dann trat
sie nicht selten vor und nahm die Schuld auf sich. Als
sie das Theater kennen lernte, erwachte in ihr der glühende
Wunsch Schauspielerin zu werden, doch wie so oft
wollten auch ihre Eltern absolut nichts davon wissen und
kurz entschlossen enfloh sie in Knabenkleidern. Bei
einer herumziehenden Schauspielgesellschaft Brökelmann
fand sie ein Engagement. Der Direktor, ein alter Theater-
praktikus, erkannte sehr bald das hervorragende Talent
des jungen Mädchens und wollte dasselbe für längere
Zeit an seine Bühne fesseln. Felicita oder Marie, wie
sie damals noch hieß, zog es jedoch bald aus den klein-
lichen Verhältnissen fort, sie fand in Leipzig ein Engage-
ment und hier wurde sie Proteg^e der berühmten
Wilhelmine Schröder -Devrient. Unter deren Leitung
sang sie dort recht erfolgreich Partien wie Agathe,
Regimentstochter und schließlich sogar Norma. Ihr dem
Höchsten zustrebender Geist fühlte aber den Mangel
wirklichen Könnens; was das Publikum entzückte, war ihre
jugendfrische Stimme. Um gründliche Gesangsstudien zu
machen, begab sie sich nach Paris an das dortige Konser-
vatorium. Sie studierte mit unermüdlichem Eifer, aber
daneben genoß sie auch das Leben mit vollen Zügen.
Hier war es auch, wo sie durch eine Freundin über ihre
urnische Veranlagung aufgeklärt wurde. So sehr nun
auch ihre nach Lebensfreude dürstende Natur Liebes-
glück verlangte, so war ihr dasselbe doch stets nur eine
Blume, welche ihren Lebenspfad schmückte, der Kern
In Straßentoilette.
— 432 —
ihres Strebens galt ihrem Beruf. So ergriff sie ein ^
Anerbieten zu einer größern Konzerttournee, ehe sie ihre I
Studien vollendet hatte. Diese Tournee, die sie auch auf
die Insel Jersey führte, wurde dort jäh unterbrochen, da
der Impresario mit der Kasse das Weite suchte. Kurz
entschlossen ließ sich unsere junge Künstlerin dort als
Gesangslehrerin nieder und spielte Sonntags in der Kirche
Orgel. Ihr Unternehmungsgeist, vereint mit ihrer jugend-
schönen Erscheinung, verhalfen ihr zu einem glänzenden i
Erfolge, und schon nach einem Winter war sie in der
Lage, ihre Gesangsstudien bei Mercadante in Neapel
wieder aufzunehmen. Unter seiner Leitung entwickelte
sich ihre Stimme zu einem Kontra- Alt von so phänomenaler
Tiefe, daß spekulative Impresarien ihr rieten, Tenor-
partien zu studieren, aber die Ärzte erklärten, ihre Stimme
würde dies Experiment höchstens 10 Jahre aushalten.
Das war zu wenig für ihren Ehrgeiz. Um nun ihre
schwere Stimme auch für den leichten Gesang gefügig
zu machen, ging sie noch zu dem in Florenz lebenden
berühmten Gesangsmeister Romani und trat bald darauf
zum ersten Mal öffentlich auf in der Scala zu Mailand, ^
gelegentlich der ersten Aufführung von Verdi's „Tro- !
vatore" als „Azucena". Sie nahm nun den Namen
Felicita von Vestvali an. Ihre nächsten Rollen waren i
„ Romeo*4 in Bellini's „Romeo und Julia" und „Tancred*. j
Ihr Erfolg war ein grandioser. Dann sang sie in ver- j
schiedenen Konzerten in London und wurde von der \
dortigen Aristokratie so ausgezeichnet, wie wenig Sänger-
innen vor und nach ihr. Im Hause von Lord und
Lady Palmerston verkehrte sie wie eine Freundin.
Das Land ihrer Sehnsucht war jedoch Amerika und im
Jahre 1854 schiffte sie sich dorthin ein. Die Yankees trieben
gleich nach ihrem ersten ^Auftreten einen förmlichen \
Kultus mit ihr, man verglich ihre Erscheinung mit der
amerikanischen Freiheitsgöttin und nannte sie: Vestvali,
— 433 — .
the Magnificent! In New-York erhielt sie eine Monats-
gage von 10,000 Franks. Nun folgte eine Tournee durch
sämtliche große Städte der Union.
In Mexiko war die berühmte Sängerin Henriette
Sonntag, welche die Direktion des dortigen National-
theaters leitete, gestorben und man bot der Vestvali das
Theater mit einer jährlichen Subvention von 45000 Dollars
an. Sie reiste nach Europa, um sich eine auserlesene
Gesellschaft zusammen zu stellen. Als sie mit derselben
in Mexiko eintraf, war die ganze Stadt wie zu einem
Nationalfest geschmückt, der damalige Präsident Caminfort
empfing sie mit den Spitzen der Behörden, man machte
ihr 6 herrliche Pferde zum Geschenk, gab ihr im Palast
Iturbid ein großes Fest, und brachte ihr einen Fackel-
zug. Wahrlich Ehrungen, wie sie wohl selten einer Frau,
einer Künstlerin zuteil geworden.
Auf ihre große Beliebtheit pochend, machte sie in
Mexiko das Experiment, den „Figaro" im „Barbier von
Sevilla" in spanischer Sprache zu singen.
Als später die Revolution ausbrach, konnte man ihr
die ganze Subvention nicht auszahlen und gab ihr ein
Stück Landes, welches noch heute nach ihr den Namen
führt.
Des aufreibenden Lebens müde, kehrte sie nach
Italien zurück, um sich zu erholen. Allein ihr blieb nur
kurze Ruhezeit. Das neue Theater in Piacenza wurde
eingeweiht und man ersuchte sie, in der Vorstellung mit-
zuwirken. Dann bot sich ihr ein Engagement an der
großen Oper in Paris, wo sie mit mehreren hervor-
ragenden Sängerinnen, so auch der bekannten Tietjens,
in Konkurrenz trat und alle besiegte. Kaiser Napoleon
schenkte ihr sogar für ihren „Romeo" eine Rüstung aus
gediegenem Silber. Zwei Jahre blieb sie in Paris, und
in ihrem Salon vereinigte sich alles, was Anspruch machte
in der literarischen Welt einen Namen zu haben, sowie
Jahrbuch V. 28
. — 484 —
die Geburts- und Geldaristokratie. Viel schöne Frauen
wetteiferten um die Gunst der Vestvali und mancher
Ehemann hatte Grund, auf den schönen, ritterlichen
Romeo eifersüchtig zu sein.
Wieder zog es sie jedoch nach Amerika. Sie wollte
dort Glucks „Orpheus" auffuhren. Felicita hätte aber
den Geschmack der Amerikaner besser kennen sollen,
die stilvolle, klassische Musikweise des Altmeisters Gluck
war nichts für den Geschmack der Yankees. Das Unter-
nehmen scheiterte. Zeit, Mühe, Geld waren verschwendet
und erbittert zog sich die Vestvali auf eine Villa in der
herrlichen Umgebung von St. Franzisko zurück.
Zu ihrer Erholung studierte sie hier den „Hamlet",
für den sie seit Jahren schwärmte. Sie führte das Buch
auf allen Reisen mit sich und ebenfalls den „Romeo"
des großen Briten, denn schon in der Oper hatte sie
dem Bellinischen „Romeo" stets etwas Shakespeareschen
Geist eingehaucht.
Da erkrankte am Theater in St. Franzisko der erste
Liebhaber, und man bestürmte die Vestvali, als „Romeo*
aufzutreten. Der Mißerfolg vom „Orpheus" hatte ihr
den Geschmack an der Oper genommen, und mit Be-
geisterung ergriff sie die Gelegenheit zum Schauspiel
überzugehen und diese ideale Jünglingsgestalt im Drama
und in englischer Sprache zu verkörpern. Das Publikum
bereitete ihr eine enthusiastische Aufnahme, wieder be-
reiste sie die Städte der Union und abermals folgte ein
Triumphzug ohne gleichen, zu den Rollen des „Romeo"
und „Hamlet" hatte sie noch einige Männer- und Frauen-
rollen genommen.
Von dieser Zeit datierte auch eine Freundschaft mit
einem Fräulein E. L., einer deutschen Schauspielerin, die
bis zu ihrem Tod währte, und der sie den größten Teil
ihres Vermögens vermachte, obwohl diese Verbindung
ihr kein ungetrübtes Glück gewährte.
— 435
Im Jahre 1868 gastierte die Vestvali am Königl.
Lyceum-Theater zu London. Sie spielte dort 20mal den
„Hamlet" und 22mal den „Romeo", sowie den Petruchio
(Bezähmte Widerspenstige). Auch hier wurden ihr her-
vorragende Ehrungen zu teil. Die Königin Viktoria em-
Felicita von Vestvali
als Petruchio in:
„Die bezähmte Widerspenstige."
pfing die Vestvali in Privataudienz. Lord Bulver ver-
sicherte, nie eine geistvollere Wiedergabe des „Hamlet"
gesehen zu haben und die englischen Zeitungen nannten
sie den „weiblichen Kean". Die „Union of Art" in
28*
— 430 —
London ernannte die Vestvali zum Ehrenmitglied, eine
Auszeichnung, die sie von der „Santa Cecilie" in Rom
schon lange besaß.
Bisher hatte sie, die Deutsche, alle ihre Erfolge nur
in fremden Sprachen erzielt. Sie hatte in italienischer,
französischer und spanischer Sprache gesungen und in
englischer Sprache im Drama gewirkt. Plötzlich regte
sich aber der deutsche Geist in ihr und sie, die beide
Hemisphären mit ihrem Ruhm erfüllt hatte, wollte auch
in ihrem Vaterlande zeigen, was Genie mit unbezähm-
barem Schaffensdrang und außergewöhnlicher Energie
zu erreichen vermochte.
Vielfach hatte man ihr abgeraten. Leider ist Deutsch-
land ja das Land, wo man dem Außergewöhnlichen am
wenigsten Berechtigung zugesteht, selbst wenn geistige
und körperliche Vorzüge dasselbe rechtfertigen. Aber
Vestvali ließ sich nicht abschrecken. In Hamburg trat
sie zuerst als „ Romeo" in deutscher Sprache auf. Das
große Publikum nahm sie sofort enthusiastisch auf, aber
die Presse hatte viel zu nörgeln, so auch, daß ihre
Aussprache etwas englischen Accent verriet. Sie arbeitete
mit Eifer, sich die langentwöhnte Muttersprache wieder
mundgerecht zu machen und schon als Hamlet war der
Fehler beseitigt. In Leipzig schrieb der bekannte Kritiker
Gottschall :
„Der weibliche Hamlet. Gastspiel von
Felicita von Vestvali. Bei ihrem gestrigen Debüt
konnte man annehmen, daß wohl der größte Teil des
Publikums nur der Absonderlichkeit willen und teilweise
sogar mit dem Vorsatz gekommen waren, eine Dame,
die so kühn war, den Hamlet zu spielen, mindestens
— „abfallen" zu lassen. Als die Vestvali zuerst als
Hamlet erschien, empfing man sie lautlos. Die edle
Gestalt — die den König und viele andere mitspielen-
den „Helden" an Größe der Gestalt, alle aber an
437 —
Noblesse der Haltung überragte, das ausdrucksvolle
Gesicht zu Boden geheftet — entwaffnete schon das
Vorurteil. Der zweite Zweifel fiel als sie zu sprechen
begann — dieses sonore Altorgan, diese verständliche
und dialektlose Deklamation zeigten die ihrer Aufgabe
auch in dieser Beziehung gewachsene Künstlerin und
der erste Akt war noch lange nicht zu Ende, als man
ihr schon reiche Beifallsspenderi zuteil werden ließ,
die sich bald in dem Maße steigerten, daß die Gastin
am Schluß etliche 18 mal gerufen worden war. Ver-
gessen war vor der Macht des Genies alles, was man
vorher von den verschiedenartigsten Standpunkten aus
gegen das Männerrollenspielen einer Frau hatte geltend
machen wollen; der Eindruck, den dieser Hamlet her-
vorbrachte, war ein gewaltiger. Frl. v. Vestvali gab
ihn nicht bloß als sentimentalen Träumer, sondern sie
brachte auch das energische Wollen, den drängenden und
bohrenden Entschluß zur Tat und seine Schwankungen
bis zum Augenblicke der Ausführung zu lebendiger
Anschauung. Die bedeutendste Szene war vielleicht
der Kampf am Grabe Ophelia's und das Hervorbrechen
der Liebe zu ihr — und um neben der geistigen Auf-
fassung auch das Technische nicht zu vergessen : fechten
sahen wir auf der Bühne noch niemals besser."
Frl. von Vestvali setzte ihr erfolgreiches Gastspiel
in Leipzig als „Romeo*, „Elisabeth" in Laube's „Essex*
und „Isabella* in „Braut von Messina" fort. Laube
selbst erklärt sie als seine beste Elisabeth-Darstellerin.
Von Leipzig aus eroberte sich die Vestvali durch
ihr Gastspiel am National-Theater in Berlin — dasselbe,
schon vor Jahren ein Raub der Flammen geworden, wird
nur noch älteren Theaterbesuchern erinnerlich sein —
die Gunst der Metropole und somit gewissermaßen erst
volle künstlerische Anerkennung ihres Wertes für
Deutschland.
n
in
k
— 438 —
Ein gefürchteter Kritiker des Berliner Tageblattes
schrieb damals:
„National-Theater. Am 20. Januar:
Hamlet, Prinz von Dänemark. Hamlet, Fräul.
von Vestvali als Gast.
Felicita von Vestvali
als Hamlet.
„Ein blonder Nordlandssohn, mit hellem Haar und
frischer, gesunder Farbe", behäbig, schon ein wenig
„embonpointiert" und darum von Haus aus hypochon-
drischer Neigung — so der Hamlet Felicita von
Vestvali's. Er ist mit Recht eine der berühmtesten
— 439 —
und ohne Zweifel eine der originellsten und genialsten
Leistungen der gesamten Schauspielkunst — ja er steht
einzig in seiner Art und Bedeutung da.
Zur äußeren Verlebendigung eines weiblichen
Hamlet hat Mutter Natur wohl Keine, Keine so glänzend
begabt und specifisch „männlich" bemittelt, wie eben
Felicita von Vestvali. Schon der ganze Gliederbau
dieser Gestalt gemahnt an den — sogenannten —
Herrn der Schöpfung. Dazu ein machtvolles Organ,
das oft tiefer gestimmt scheint als ein Tenor.
Was die geistige Auffassung der Rolle anlangt,
so deuteten wir unsere Meinung schon an: von den
zirka zwei Dutzend Hamlete, welche wir im Laufe
der Jahre sahen, ist der unserer Gastin jedenfalls der
originellste gewesen — auch hier nicht vom Äußer-
lichen gesprochen, sondern lediglich vom Intellektuellen,
nicht von der Schale, sondern vom Kern der Leistung."
Auch aus Wien liegt uns noch der Ausspruch einer
der beliebtesten Dichter Österreichs vor, derselbe sagte:
„Eine hervorragende Existenz wie die Vestvali
hat die Berechtigung; ihrem vulkanischen Genie die
Zügel schießen zu lassen. Weder die Sitte, noch der
ästhetische Regelzwang kann für das geistige Bedürfnis
eines solchen schrankenlosen Kunstnaturells maßgebend
sein. Daß dem so ist, ist keineswegs ein Kunstverderbnis,
es ist nicht darüber „Wehe" zu rufen, wie einige
Kritiker es tun. Die bewundernswerte Intelligenz der
Vestvali macht alle Angriffe zu Schanden."
Wir haben hier Stimmen der Presse aus den maß-
gebendsten Städten angeführt, die beweisen, wie siegreich
die Vestvali aus den vielen ihr entgegentretenden An-
feindungen hervorging. Sie bereiste denn auch Deutsch-
land mehrere Jahre und gastierte stets überall mit größ-
tem Erfolg.
— 440 —
Aber die großen Anstrengungen, die sie Zeit ihres
Lebens durchgemacht, blieben nicht ohne Einfluß auf
ihre Gesundheit. Immer öfter wurde sie genötigt, ihrem
rastlosen Streben Kühe zu gönnen. Sie zog sich denn
auf ihre Villa in Warmbrunn zurück. Ein ganz tatenloses
Leben war ihr jedoch unmöglich ; war sie also nicht durch
die Ausübung ihrer Kunst in Anspruch genommen, so
warf sie sich auf Bauspekulationen. Sie baute in Warm-
brunn die ganze russische Kolonie. Ein Besuch bei ihrer
in Warschau lebenden, verheirateten Schwester ließ sie
auch dort Terrain ankaufen und Bauten ausführen, die
sie selbst leitete und beaufsichtigte. All diesen Strapazen
war ihre Gesundheit nicht mehr gewachsen. Eine un-
heilvolle Krankheit warf sie nieder und machte diesem
reichen, tatenvollen Leben ein zu frühes Ende. Sie starb
in Warmbrunn am 3. April 1880, im 52. Lebensjahr.
Wir lassen noch einige kurze Auszüge aus Briefen
an eine junge Schauspielerin folgen, mit der aufrichtige
Freundschaft sie bis zu ihrem Tode verband. Treue
Freundschaft war ein Grundzug ihres edlen und idealen
Wesens, und diejenigen, die sie derselben würdigte,
hängen noch heute mit rührender Verehrung an dieser
hervorragenden Natur, die sich oft selbst „Hamlet*
nannte, wie sie jene junge Schauspielerin — ich bin es
selbst — in ihren Briefen „Horatio" anredete. Die Briefe
beleuchten in kurzen Blitzen sowohl ihre künstlerische
Anschauung, als auch ihre urnische Natur. In einem
derselben heißt es u. a.:
„Ach, es ist schrecklich langweilig, so von Stadt
zu Stadt zu gastieren. Ich komme mir schon wie ein
Dorfküster vor, der mit dem Klingelbeutel herumgeht.
Amen! — Wenn man nur immer tüchtig darin vor-
findet, meinte E.1), dann geht es schon. Auch ein
*) Ihre langjährige Freundin und Begleiterin. Anm. d. Verf.
— 441 —
Standpunkt für einen idealen Schöngeist, nicht wahr,
Horatio? Nein, ein ordentliches Theater möchte ich
in Berlin haben und nirgends anders, ausgenommen
Amerika. Ach, wenn die verdammte Reise nicht
wäre — so wäre ich gewiß schon längst drüben, mir
sagen nun mal abenteuerliche Sachen zu — ich bin
nun wie ich biri.Ä
Der letzte Brief, den sie von ihrem Krankenbett aus
in Warschau an mich schrieb, lautete wie folgt :
„Wie ist alles anders gekommen, wie ichs mir
gedacht, mein nervöses Leiden, das furchtbar ist, ist
mir durch G/s1) Gegenwart versüßt. Sie ist himmlisch
gut. Sie können mir glauben, Horatio, ich fühle meine
Leiden nicht die Hälfte, wenn sie bei mir ist. Ich
bin ihr rasend gut und möchte ihr Tag und Nacht was
Liebes tun. Jetzt ist's auch gleich, ob's unterm Pfirsich-
baum oder Apfelbaum war, ob sie mich oder ich sie
verführt, wir haben uns rasend lieb. Ich möchte bloß,
daß Sie bei uns wären, lieber Horatio. Sie hätten Ihre
Freude an uns. Gedenken Sie noch unseres Gesprächs
nachts in der Charlottenstraße h, propos von G. ?
Das Resultat ist, ich "liebe sie rasend. G. wird Ihnen
bald selbst schreiben, sie muß jetzt auf die Bahn und
E. abholen und hat die ganze Nacht nicht geschlafen,
sie wohnt nämlich jetzt Bett an Bett neben mir. Wir
beide grüßen Sie herzlich und ich drücke Sie an mein
Herz in alter Freundschaft
Ihr Hamel-fett.Ä
Die Vestvali, welche bei ihrer Schwester in Warschau
erkrankte, wurde dort von einem Frl. G. mit rührender
Sorgfalt gepflegt, erst in der letzten Zeit kam auch
x) „G." war die letzte Liebe der Vestvali, doch konnte sie von
ihrer langjährigen Freundin E. sich nicht trennen, es spielten da
pekuniäre Verhältnisse mit, die zu lösen, Vestvali zu ehrenhaft dachte.
— 442 —
Frl. E. gleichfalls zu ihrer Pflege, da die Beziehungen
zwischen der Vestvali und der E. längst nicht mehr be-
glückende waren, so vermochte sie dieselben doch nicht
zu lösen, während ihr ganzes Herz der „G." gehörte.
Dieser Zwiespalt drückte die Vestvali sehr, obwohl sie
die ganze Sache, wie vorstehender Brief zeigt, immer noch
mit einem gewissen Humor behandelte. Mit welcher
Liebe dies Frl. G. an der Vestvali ihrerseits hing, zeigt
folgender Brief:
„Lieber Horatio, mit Feli geht es immer schlechter;
gestern den ganzen Abend hatte sie so rasende Schmerzen
im Kücken und im rechten Arm, daß sie laut stöhnte,
dann leise wimmerte und Gott um Hülfe anflehte, daß
Einem das Herz hätte brechen mögen. Die Ärzte
sagen nun auch, daß es die alte Krankheit sei und
große Blutarmut. Und nicht helfen zu können, sein
Liebstes auf so schaudervolle Weise zu Grunde gehen
zu sehen. Sie will die E. kommen lassen und ich kann
ihr nicht widerraten, denn es regt sie alles so sehr auf.
Vielleicht also sehen wir uns bald in Berlin, lieber
Horatio. Erschrecken Sie nicht, wenn ich frühmorgens
bei Ihnen auftauche. Tausencf Grüße von Ihrer G.*
So wollen wir depn das Bild der Vestvali, welches
wir hier in diesen Blättern entrollt haben, schließen. Sie
war ein an Geist, Gemüt und Talent gleich hervorragender
Mensch, und niemand, der je mit ihr in nähere Berührung
gekommen, wird den Zauber ihrer Persönlichkeit ver-
gessen. Die bestrickende Liebenswürdigkeit ihres Wesens
lag wohl in der Natürlichkeit, mit der sie sich gab, denn
trotz ihrer großen Erfolge, war sie frei von jedem Hoch-
mut, förderte bereitwillig jedes aufstrebende Talent, doch
trat sie unnachsichtig jedem Nichtskönnen entgegen. Sie
betonte nie ihre urnische Natur und darum fühlten sich
auch Männer, die dieser Veranlagung durchaus abhold
waren, durch ihre geistige Begabung zu ihr hingezogen
— 443 —
und es bestand manch kameradschaftliches Band zwischen
ihr und hervorragenden Vertretern des männlichen Ge-
schlechts. Auf Frauen wirkte sie in geradezu fascinieren-
derJWeise und es würde weit über den Rahmen dieser
kleinen Skizze führen, wollte man anführen, wie vielfach
sie angebetet worden war. Jedenfalls gehörte Felicita
von Vestvali zu den Ausnahme-Erscheinungen sowohl in
der JKunst, wie im Leben, deren Eigenartigkeit nur von
einem Kenner der Homosexualität verstanden werden kann.
Rosa Braunschweig,
die Verfasserin vorstehender Arbeit,
in einer Offiziersrolle.
Quellenmaterial zur Beurteilung
angeblicher und wirklicher
Uranier.
Zusammengestellt
von
F. Karsch
Dr. phil., Privatdozent in Berlin.
Zweite Reihe.*)
„Es ist besser, in jeden andern, als in sich
selbst verliebt zu sein." Jean Paul.
Auf die erste, drei der Geschichte angehörende
Männer: Theodor Beza, Johann von Müller und
Alexander von Ungern-Sternberg enthaltende
Reihe angeblicher und wirklicher Uranier folgt hier die
zweite Reihe, welche wiederum drei Männer, den Ver-
fasser des „Eros": Heinrich Hößli von Glarus, den
Mörder sein es Geliebten : Franz Desgouttes von Bern
und den Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg:
Emil Leopold August, außerdem aber noch eine der
interessantesten tribadischen Gestalten der Neuzeit, die
Opernsängerin Madame (genannt Mademoiselle) Maupin,
darzustellen unternimmt.
Zwischen den drei männlichen Gestalten dieser Reihe
besteht ein gewisser Zusammenhang. Als der einfache
Mann aus dem Volke, der Putzmacher Heinrich Hößli
von Glarus (1784 — 1864), als erster Kämpe unsrer Zeit-
rechnung im Jahre 1836 für die absolute natürliche und
sittliche Berechtigung des gleichgeschlechtlichen Liebes-
triebes mit allen Waffen des Geistes und mit mutiger
Preisgabe seines Namens in seinem tiefgründigen wissen-
schaftlichen Werke „Eros", 52 Jahre alt, in die Schranken
*) Erste Reihe in diesem Jahrbuche für sexuelle Zwischenstufen,
IV. Jahrgang, 1902, Seite 289—571 : 1. Theodor Beza (1519—1605)
S. 291-349, 2. Johann von Müller (1752—1809) S. 349—457 und 3
A. von Sternberg (1806—1868) S. 458—571.
i
— 448 —
trat, hatte bereits dreißig Jahre vorher (1805) der deutsche
Herzog August (1772—1822), 33 Jahre alt, die Leidenschaft
desselben Liebestriebs an einem anschaulichen, konkreten
Beispiel als erster Novellist in seiner Novelle „Kyllenion*
mit dichterischer Naivetät geschildert und darin die
gleichgeschlechtliche Liebe als mit der gegengeschlecht-
lichen Liebe vollkommen auf der gleichen Stufe stehend
dargestellt. Den Rechtsanwalt Dr. Franz Desgouttes
(1785 — 1817) aber, der nicht das Geringste von Bedeu-
tung, weder für seine Zeit noch für die Nachwelt, leistete
und dessen Persönlichkeit man kaum irgend etwas
Rühmenswertes wird nachsagen können, unter den beiden
obengenannten Männern einen Platz anzuweisen, erscheint
absurd; insofern lag jedoch dazu ein Zwang vor, als seine
Leidensgeschichte zum „Eros" Heinrich Hößli's den
Anstoß gab.
Nur die Maupin (1673 — 1707) steht ohne Beziehung
da. Sie gibt sich bei äußerlicher Weiblichkeit als einen
Uebermann, als eine überaus seltene Erscheinung, wie
solche in mehreren Jahrhunderten wohl nur einmal vor-
kommt; diejenigen Gelehrten und Ungelehrten, welche
es für ihre Pflicht halten, in den Erscheinungen gleich-
geschlechtlichen Liebestriebs nicht etwas Urwüchsiges,
nicht etwas von der Natur durch die Allmacht der Vari-
ation Gegebenes, sondern überall nur Degeneriertes, Ent-
artetes zu sehen, werden diese Kraftgestalt für ihre
Schwächenhypothese zu verwerten schwerlich im Stande
sein.
1 I
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*Tt *2
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4. Heinrich Höfsli (1784—1864)
(mit 5 Textbildern und 1 Kupfertafel)
„Findet da eine Wahrheit an deinem Wege,
Hülflos und nackt und sonder Pflege,
Viel Schriftgelehrte gehn vorbei,
Du aber ihr Samariter sei."
Paul Heyse.
Die seit einigen Jahren in Deutschland erwachte
und von Jahr zu Jahr gewachsene Bewegung zu Gunsten
der Beseitigung des § 175 des geltenden Strafgesetzbuches
befindet sich in der Lage, auf ein Vor mehr als 60 Jahren
in der Schweiz erschienenes deutsches Buch sich zu
berufen, welches die gleichgeschlechtliche Liebe nicht
als „widernatürliche Unzucht", sondern als eine in den
ewigen Gesetzen der Natur begründete, zu Recht bestehende
Erscheinung auffaßt und darstellt, den Glauben an deren
Unnatürlichkeit mit dem Hexenglauben und die Ver-
folgung der dieser Liebe Unterworfenen mit den Hexen-
prozessen auf eine Stufe stellt. Das Buch fuhrt den
Titel: „Eros. Die Männerliebe der Griechen:
ihre Beziehungen zur Geschichte, Erziehung, Literatur
und Gesetzgebung aller Zeiten* und den Untertitel:
„Die Unzuverlässigkeit der äußern Kennzeichen im Ge-
schlechtsleben des Leibes und der Seele. Oder: Forschungen
über platonische Liebe, ihre Würdigung und Entwürdigung
für Sitten-, Natur- und Völkerkunde" *); gewidmet ist
*) Erster Band, Glarus, 1836, bei dem Verfasser, XXXIII und
304 Seiten. — Zweiter Band, St. Gallen, 1838, in Kommission bei
C. P. Scheitlin. XXXII und 352 Seiten in Oktav.
Jahrbuch V. 29
— 450 —
es „ dem Schutzgeist des menschlichen Geschlechts.* Das
Buch hatte seine eigenen Schicksale: von der Behörde
des Schweizerkantons, in dem es zum größten Teile
gedruckt wurde, verboten, ward der Restbestand der Auf-
lage bei einer Feuersbrunst vollständig vernichtet
Was vom Leben und Streben, Wesen und Charakter des
Verfassers dieses zweibändigen „Eros", Heinrich Hößli,
bisher bekannt geworden ist, beschränkt sich auf die im
„Eros* selbst enthaltenen gelegentlichen Angaben; wir
erfahren aber nur bitter wenig: Im Jahre 1817 fiel ihm
die Binde von den Augen und 1819 reiste er mit Büchern
bepackt von Glarus nach Aarau zu dem damals populärsten
Schweizer Volks-Schriftsteller Heinrich Zschokke1),
um diesen durch Zurede und Unterweisung zur Abfassung
und Herausgabe einer aufklärenden Schrift über seine
Idee des Eros oder der gleichgeschlechtlichen Liebe als
Natur- und Sittengesetz zu veranlassen, weil er
selbst „ der Regeln der Schulen seines Landes* sich nicht
kundig fühlte und daher sich nicht für geeignet hielt,
als Schriftsteller aufzutreten und erfolgreich zu wirken.
Wirklich erschien im Jahre 1821 aus Heinrich Zschokke's
Feder eine Novelle im Druck „Der Eros oder über die
Liebe" 2); hier läßt Zschokke den edlen Vater Holmar,
Mitglied des Obergerichtshofes, die Erosidee Heinrich
1) Joh. Heinr. Dan. Zschokke, geb. 22. März 1771 zu Magdeburg,
gest. 27. Juni 1848 zu Aarau; anfangs Schauspieldichter, seit 1792 Privat-
dozent in Frankfurt, dann 1795 Leiter einer Erziehungsanstalt in
Reichenau (Graubtindten), kam er 1798 als Deputierter nach Aarau,
dem damaligen politischen Mittelpunkte der Schweiz, wurde Mitglied
des großen Rats und ein fruchtbarer Volksschriftsteller. Als solcher
zeigte er weniger kühne Genialität und theoretische Tiefe als Gesund-
heit und praktischen Verstand.
2) Nach Hößli's Eros I S. 277 bildet der Eros von Zschokke das
achte Heft von Zschokke's Erheiterungen, Jahrgang 1821, und erschien
in seinen Ausgewählten Schriften als X. Teil, in den 1836 erschie-
nenen Ausgewählten Novellen und Dichtungen als 14. Stück. Mir
liegt nur eine spätere Ausgabe vor in: „Ausgewählte Novellen und
Dichtungen von Heinrich Zschokke. Erster Teil. Mit der Abbildung
von H. Zschokke's Landhaus: die Blumenhalde. Taschen- Ausgabe
in zehn Teilen. Sechste vermehrte Original- Auflage.*4 Aarau, Sauer-
länder. 1843. Seite 231—292.
29*
— 451 —
Hößli's vertreten; allein die Bedeutung seiner Anschauung
und seiner Beweisführung läßt Zschokke am Schlüsse des Ge-
sprächs durch Holmar's Zugeständnis wieder abschwächen,
daß er sich so gut irren könne, wie seine Gegner: „Die
Natur u, läßt er ihn sagen, „hat in ihrem Buche viele
dunkle Stellen; kein Wunder, daß die Ausleger von ein- /i
ander abweichen." Solches war nun durchaus nicht in j
Heinrich Hößli's Sinne; und im Innersten empört über I
die Halbheiten der Zschokke'schen Schrift, fand sein t
Geist keine Ruhe mehr und zwang ihm die Feder in
die Hand. So kamen die beiden gedruckten Bände seines
in drei Bänden geplanten philosophischen Werkes „Eros*
zuStando, die er „unter Drangsalen und Rutenstreichen u,
jedoch mit unentwegter Begeisterung nach einem Zeit-
räume von 17 Jahren vollendete; erst dann haben ihn
Vertrauen und Hoffnung auf den Sieg seiner Idee, die
als ewige Wahrheit ihn bis in seinen Tod begleitete,
verlassen.
In Heinrich Hößli's „Eros" pulsiert eine gewaltige
Kraft, die nie versagt und sich nirgends erschöpft; er
überzeugt, er reißt fort; er ermüdet nie; er scheut nicht
Wiederholungen, wenn er wuchtig und eindringlich wir- '
ken will; und wirken will er; eigene Gedanken belegt
er womöglich mit zahlreichen Stellen aus den Werken
der hervorragendsten Schriftsteller aller Völker und Zeiten.
Seine Idee vom Eros als Natur- und Sittengesetz beleuchtet
er von allen Seiten und immer wieder neu mit anders- ;
farbigem Licht. Aus den Schätzen aller Wissenschaften, ■
aller Künste sucht er mit kundiger Hand geschickt /
hervor, was immer geeignet ist, erklärend und verklärend
— 452 —
für seine verachtete und verlassene Wahrheit zu wirken.
Ein hohes Pathos beherrscht ihn und sein Satzbau flutet
in oft gedehnten Perioden dahin; vom höchsten sittlichen
Ernste getragen arbeitet er seine Ideen rastlos heraus
und schreckt nie vor vielfältigem Ausdruck eines und
desselben ihm fruchtbar erscheinenden Gedankens zurück.
Heinrich Hößli's „Eros" ist nicht mit dem Kopfe allein
geschrieben und darf nicht allein mit diesem beurteilt
werden; er ist mit dem Herzen verfaßt und solche Bücher
sind selten; selten müssen wohl auch Menschen sein, die
solches zu Wege zu bringen fähig sind, und man ist
beständig versucht, man glaubt ein Recht zu haben, Miß-
trauen in Hößli's wiederholte Versicherung zu setzen,
daß er die Regeln der Schulen seines Landes nicht gekannt,
ja nicht einmal eigentlich lesen und schreiben gelernt
habe. Seit des großen griechischen Philosophen Plato
„Gastmahl"1) und „Phädrus* ist Heinrich Hößli's
„Eros* das bedeutendste Werk über Männerliebe; was
jene unsterblichen Schriften für das Altertum gewesen
sein mögen, eben das bedeutet Hößli's „Eros* für die Neu-
zeit oder wird es ihr noch bedeuten; mit vollster, bewußter
Klarheit erkennt er die Liebe von Mann zu Mann als
ein unzerstörbares Natur- und Sittengesetz und stellt
dieses lichtvoll und allseitig mit höchstem sittlichen
Ernste dar.
So war denn wohl der Wunsch selbstverständlich,
über diesen einzigen, merkwürdigen Menschen, so lange
die Möglichkeit noch vorlag, mehr in Erfahrung zu bringen,
als das bescheidene Maß dessen betrug, was er selbst in
seinem „Eros" über seine Person mitzuteilen für gut
befunden hatte, und das Gefundene der drohenden Ver-
gessenheit zu entreißen. Von diesem Verlangen beseelt,
*) Deutsch von Schleiermacher in Ph. Reclam's Universal-
Bibliothek, Nummer 927 (20 Pfennig).
— 453 —
unternahm Verfasser dieses im Herbste 1902 eine For-
schungsreise in die Schweiz; das Glück war ihm hold;
es ließ gar Manches sich noch feststellen und das Wich-
tigste des Ermittelten findet sich hier gewissenhaft zu-
sammengetragen.
Angenehmste Pflicht wäre mir Nennung aller meiner
Quellen, meiner Gewährsmänner und Gewährsfrauen.
In Glarus und in Zürich gelang es mir, bejahrte Leute
aufzufinden, welche mit Heinrich Hößli in persönlichen
Beziehungen gestanden hatten und mancherlei über ihn
und von ihm zu berichten wußten; auch jüngere, ihm
näher oder entfernter Verwandte wußten Wichtiges, bald
vom Hörensagen, bald durch Augenschein ; — ihre Namen ■
alle hier mitzuteilen, wird mir leider durch die Verhält-
nisse verwehrt. ;
Die absolut genauen und zuverlässigen Angaben über l
Heinrich Hößli's und seiner nächsten Anverwandten ;
in aufsteigender und in absteigender Linie, sowie seiner
sämtlichen Geschwister Geburts- und Todestag, welche
im allgemeinen Interesse mir geboten erschienen, verdankt
man einzig dem überaus freundlichen Entgegenkommen
des Herrn Polizeiinspektors J. J. Kubly-Cham in
Glarus, welcher mit unermüdlicher, fast übermenschlicher
Arbeitskraft eine ihrer Vollendung entgegenreifende, viele
Foliobände füllende, kalligraphische, vollständige und
übersichtliche Genealogie aller Glarner Leute ausarbeitet i
Allen genannten und ungenannten liebenswürdigen t
Landsleuten des unvergeßlichen Heinrich Hößli, welche
Anteil an diesem Biogramme haben, des Verfassers herz- ,
lichster Dank!
I. Heinrich Hößli's äußeres Leben.
Heinrich Hößli wurde zu Glarus in der Schweiz im
Hause 525 der Straße Innere Abläsen, im fünften Hause
der Abläsch vom Landsgemeindeplatze aus, am G. August
t
!
— 454 —
1784 geboren; in diesem Hause hatte Heinrichs Vater,
der Hutmachermeister Hans Jakob Hößli, sein Geschäft.
Vorher war dasselbe Haus Eigentum des Besitzers Stein-
müller gewesen, bei welchem die am 21. Juli 1782, also
nur zwei Jahre vor Heinrich Hößli's Geburt, als Hexe
hingerichtete Anna Göldin gewohnt hatte, deren Hößli
in seinem „Eros* gedenkt.1) Heinrich war seiner Eltern,
die es auf nicht weniger als 14 Kinder — 8 Mädchen
und 6 Knaben — gebracht haben, viertes Kind und
erster Sohn; seine Mutter Margreth war eine geborene
Vogel aus Glarus.
Sein ganzes Kindesalter scheint Heinrich in seiner
Geburtsstadt verlebt zu haben; erst als im Jahre 1799
die Russen unter dem General Suwarow2) die Schweiz
und speziell Glarus heimsuchten und daselbst Hungersnot
herrschte, gaben Heinrichs Eltern einige ihrer Kinder
an andre Leute in der Schweiz; und so kam Heinrich
nach Bern, wo er seine Handelschaft erlernt haben
dürfte, später aber wieder nach Glarus zurück.
Am 5. Mai 1811 verheiratete sich der noch nicht
siebenundzwanzigjährige Mann mit der Elisabeth Grebel
von Zürich, des Adjutanten Rudolf Grebel Tochter; das junge
Paar blieb aber nicht beisammen; Elisabeth lebte in
Zürich weiter und Heinrich in Glarus; doch besuchte er
öfter sein Weib und zeugte mit ihm zwei Söhne: den
am 19. April 1812 geborenen Jakob Rudolf und den
am 9. Januar 1814 geborenen Johann Ulrich, auf
welche wir später noch zurückkommen werden.
In seinem bürgerlichen Berufe war Heinrich Hößli
Putzmacher; er besaß einen ausgebildeten weiblichen
Geschmack, den sogenannten Schick; in den zwanziger
*) Eros von Hößli I. S. 62*)
2) Eine Gedenktafel kennzeichnet jetzt zu Riedern bei Glarus
das Haus, in welchem der russische General Suwarow am 1. Ok-
tober 1799 Aufenthalt genommen hatte.
Heinrich Hößli's Geburtshaus in Glarus auf der Abläsch,
vom großen Brande in der Nacht des 10. auf den 11. Mai 1861
verschont; nach einer photographischen Aufnahme im Januar 1903;
links erblickt man den Gipfel des Glärnisch.
±1
— 456 —
Jahren des 19. Jahrhunderts war er „die erste Putz-
macherin* von Glarus; er war auch zeitlich der erste,
welcher dort Damenhüte herstellte; diese lieferte er geleimt,
nicht genäht, und er war so ganz bei seiner Arbeit, daß man
im schwarzen Adler sein Mittagessen um 7 Uhr Abends
noch unberührt neben ihm stehen fand. Er hat auch
das erste „Trüböri", einen dreieckigen Hut, Napoleons-
hut oder Dreimaster, verfertigt und eingeführt, die Kopf-
bedeckung des Landammanns, des Souverains des Kan-
tons Glarus, dessen Landgemeinde, was auch heute noch
der Fall ist, am ersten Sonntage im Mai jeden Jahres
zusammentrat. Auch dekorierte er mit einem Faltenwurfe
aus grünem Stoffe die Kanzel der Kirche zu Glarus.
Am württembergischen Hofe zu Stuttgart, woselbst sein
Eheweib, die Elisabeth Grebel, als „ höhere Hülfe" an-
gestellt war, hat Heinrich Gardinen aufgesteckt, war er
doch auch geschickter Dekorateur.
Weil Heinrich Hößli die Mode angab und Mode-
waren verkaufte, so erhielt er den Spitznamen „Modenhößli."
Aber Heinrich war nicht allein Putzmacher und
Dekorateur, er war auch Handelsmann und lebte als
solcher stets gut situiert und in durchaus geordneten
Verhältnissen, sodaß er in Hinsicht seines Auskommens
nicht Ursache zu klagen fand. Ein offenes Geschäft
betrieb er zuerst in der „Meerenge* zu Glarus im Gast-
hofe zum seh warzen Adler (1827 — 1832); alsdann hat er
eine Zeit lang dieses Geschäft aufgegeben und „im Sand*
gewohnt, später aber wieder einen gut frequentierten
kleinen Laden auf dem Kirch weg (Glarnerisch Kilchweg),1)
l) „Im Kilchweg auf den Wurzeln der alten Birn- und Apfel-
bäume an einer Reihe von 20 neuen Häusern bewohne ich jetzt ein
eigenes recht artiges Haus, das ich letzten Winter kaufte, schnurgrad
Seckelmeister Dinners gegenüber mit freier fröhlicher Aussicht."
(Brief vom 9. July 1842 an seine Schwester Regula Rehlinger in
Kaufbeuern.)
— 457 —
Ecke der äußeren Zaunstraße am jetzigen Volksgarten, auf-
getan. Hier handelte er mit Damenkleiderstoffen aller
Art, besonders englischen Ursprungs (bedruckte Indienne
u. dergl.), aber auch mit Futter-, Bettzeug-, Vorhang-
stoffen u. s. w., alles solider, praktischer Ware. Drei
Häuser von seinem Geschäft wohnte ein ihm Zeit seines
Lebens befreundet gebliebenes Fräulein Margaretha
Brunner, die spätere Frau Präsident Vögeli-Brunner.
Heinrichs Eigentum war auch das nahe seinem Ge-
schäft gelegene Haus Ecke der Bärengasse, welches er
seinem langjährigen Ladendiener und Neffen Jakob Kubli
für 2500 Franken billig abtrat. Im Kirch weg liquidierte
Heinrich 1848, verkaufte sein Geschäft, wohnte zuerst
auf der Almei als Privatier und führte alsdann bis April
1851 ein neues Geschäft auf dem Spielhofe im Löwen
(Leuen). Zur Hülfeleistung im Geschäfte bediente sich
Heinrich seines Neffen Jakob oder Jogg Kubli, der
Margaretha Hößli Sohn, welcher von seinem zwölften
Jahre an fast bis zum 30. Lebensjahre als Ladendiener
bei dem Onkel aushielt und dessen bevorzugter Lieb-
ling blieb.
Bald jedoch begann für Heinrich Hölili ein unruhiges
Wanderleben ; er verließ Glarus als dauernden Aufenthalt
für immer und ließ sich zuerst in Stäfa am Nordufer des
Zürichsees nieder, woselbst er im Mai und Juni im Stern
und dann bis Oktober 1852 in der Mühle im Kehlhof
wohnte. Von Stäfa zog es ihn nach Schmerikon am
obern Ende des Zürichsees unweit der Einmündung der
Linth; hier stieg er in der Krone ab und mietete gleich
am 1. Oktober 1852 drei neben einander liegende Kammern
beim Kronenwirt Franz Wenk; im November 1854 hatte
er Wohnung beim Landammann Kriech, im Oktober 1855
machte er einen Abstecher nach Zürich und besorgte sich
1856 einen auf 12 Monate lautenden Paß nach Deutsch-
land. 1857 siedelte er nach Lachen am Südufer des
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— 460 —
Ztirichsees über, woselbst er im Gasthaus zum Ochsen ver-
kehrte; aber schon im November 1858 finden wir ihn
wieder im Kanton Glarus, in Mollis, am rechten Ufer
des Escher Kanals; bis September 1860 hielt er sich in
Vogelsang bei Winterthur auf, zog Ende Oktober 1860
nach Wtilflingen nahe Winterthur, wo er seinen „fort-
währenden Aufenthalt* bis April 1861 im Pfarrhause beim
Pfarrer Freuler nahm, und zog von da nach Winterthur
selbst, wo er zur Zeit des großen Brandes im Mai 1861,
welcher halb Glarus einäscherte, weilte; bis Ende Juni
wohnte er hier im gelben Ring an der Metzgasse, mietete
am 29. Juni 1861 in S. Grüblers Haus den zweiten Stock und
Platz für Holz, wofür er diesem vierteljährlich 60 Franken
bei 8 Wochen vorheriger Kündigung zu zahlen hatte; den
Monat November 1861 hat er in Haltli bei Mollis zuge-
bracht; April 1862 hatte er Wohnung im Seidenhof, im Mai
in der Steinhütte zu Winterthur und hier ist er im einund-
achtzigsten Lebensjahre am 24. Dezember 1864 Morgens
9Va Uhr nach kurzer Krankheit im Spital verstorben.
Seine beiden Knaben hat Heinrich Hößli nicht
selbst erzogen, vielmehr tat dieses deren Mutter Elisa-
beth Hößli-Grebel. Was über diese einzigen Nachkommen
Heinrichs zu erfahren war, dürfte, so weit es für ihre
Individualität charakteristisch ist, nicht ohne Interesse sein.
Heinrichs älterer Sohn Jakob Rudolf, kurz Jogg oder
Jöggi genannt, wurde Ingenieur und wanderte nach
Amerika aus; er hat sich daselbst verheiratet, blieb dann
aber vollständig verschollen; sein Totenschein lautet
auf den 1. Januar 1871; er war Erbe der gesamten
Hinterlassenschaft seines Vaters ; diese belief sich zwanzig
Jahre nach Heinrichs Tode mitsamt den Zinsen auf
etwa 28000 Franken; lange Jahre, bis zur Teilung,
verblieb das Vermögen im Waisenamte in Glarus. Vor
seiner Auswanderung nach Amerika, wo er zuletzt in
Otisco Önondago County, State of New- York, gelebt haben
— 461 —
soll, war Jakob Hößli am Hofe des russischen Kaisers
in St. Petersburg beschäftigt gewesen und hatte für seine
dortigen Verdienste vom Zaren ein Diplom erhalten. Er
dürfte demnach durchaus nicht ohne Talente gewesen sein.
Heinrich Hößli's jüngerer Sohn Johann Ulrich oder
kurz John, Heinrichs „lieber Hansi", „hatte des Vaters
im „Eros" niedergelegte Anschauungen geerbt" ; er war als
„Weiberfeind" bekannt, was ihn jedoch nicht hinderte, an
seiner Mutter mit der innigsten Liebe zu hängen, seine
Jugendfreundin Ammann als Universalerbin einzusetzen
und mit vielen Damen sowohl in Amerika als in Europa
in regem freundschaftlichen Verkehr zu stehen. Er wird
als ein großer, schöner und intelligenter Mann von nobel-
ster Gesinnung geschildert. Während des amerikanischen
Krieges zwischen Nord und Süd hatte er in seine
Schweizer Heimat aus New- York geschrieben, er habe
Besitz genug im Norden, wenn dieser siegen sollte, und
Besitz genug im Süden, falls jener unterliegen sollte.
Sein erstes Vermögen erwarb sich John durch seine Ge-
schäfte in „Dry Goods" in Galveston,dann spekulierte er
in großartiger Weise in Bauterrains und zwar besonders
in New- York. Sobald er jenseits des Meeres festen Fuß
gefaßt hatte, ließ er seine Mutter nachkommen; Ende
Mai 1842 trat er, fast zehn Jahre nach seiner Aus-
wanderung, in Begleitung der geliebten Mutter von Texas
aus „mit aller möglichen Bequemlichkeit" die erste Heim-
reise an ; später aber kam er, da er die Mutter in Europa
zurückgelassen hatte, alle zwei oder drei Jahre in sein
Heimatland und besuchte Mutter und Vater, mit welchem
er in regelmäßigem Briefwechsel stand. Niemals unter-
ließ er dann, bei der Familie Jakob Kubli's einzukehren,
dessen jüngere Tochter Rosina Magdalena (Rosalina) sein
Patenkind war. In Glarus traf er anfangs der vierziger
Jahre auf der Straße vor dem Rathause einen weinen-
den Knaben und fragte ihn voll Mitleid, warum er weine.
— 462 —
Die Antwort des Bürschchens lautete, seine Mutter habe
sich als Salzverkäuferin gemeldet, sei aber nicht gewählt
worden und nun fehle es ihr und ihren Kindern am
täglichen Brode. „Ich nehme dich mit nach Amerika,
wenn du mit mir kommen willst", bot nun John dem
weinenden Knaben an; hatte er doch schon vergeblich
ein gleiches Angebot dem Jakob Kubli früher gemacht;
dieser war aber zu ängstlicher Natur und überdies bereits
Vater eines Sohnes geworden ; bei dem fremden Knaben
Heinrich Bosenberger aber stieß John Hößli nicht auf
Widerstand. Er schickte den Knaben in eine Fabrik bei
Glarus und bevor er ihn nach Amerika mitnahm, beließ
er ihn noch einige Zeit im Geschäfte seines Vaters in
Glarus, damit er hier einige Warenkenntnisse sich an-
eigne. In Amerika stand John mit dem jungen Bosen-
berger in freundschaftlichem Verhältnisse; sie führten
anfangs ein gemeinsames Geschäft, blieben aber nicht
dauernd beisammen; Bosenberger wurde Schweizer Konsul
in Galveston, blieb jedoch an Johns Geschäft beteiligt.
Als John im Juni 1854 wieder in seiner Heimat weilte,
entschloß sich die Mutter zum zweiten Male, dem ge-
liebten Sohn nach Amerika zu folgen, wo sie 1858 starb.
Der Sohn sollte die Mutter nicht lange tiberleben; am
11. Mai 1861 geriet das Schiff, welches ihn von Halifax
(Canada) aus in die Heimat zum geliebten Vater tragen
sollte, zwischen zwei gewaltige Eisblöcke, welche es mit
allem auf ihm Befindlichen erdrückten. Die merkwürdige
Geschichte zweier Testamente Johns, in welcher Hein-
rich Bosenberger eine nicht wenig zweideutige Bolle
spielte, muß hier übergangen werden. Als Haupterbin
war im ersten Testamente von 1851 mit einem Vermögen
von 20 000 Franken das Fräulein Ammann, eine Gold-
schmiedstochter in Zürich, von John Hößli eingesetzt
worden, weil dieselbe den beiden bedürftigen Knaben Hein-
rich Hößli's und der Elisabeth Grebel, denen es mit
— 463 —
ihrer Mutter oft recht traurig erging, viel Unterstützung
hatte zu Teil werden lassen. Auch der Knabenanstalt
Linthkolonie und Bitten im Kanton Glarus hatte John
in diesem Testamente 20 000 Franken mit dem Bemerken
vermacht, daß ein Teil der Zinsen zur Unterstützung
für junge intelligente, nach Amerika auswandernde Söhne
verwendet werden sollte.
Genealogie des Heinrich Hößli von Glarus.
1. Heinrich Hößli's Eltern:
Hans Jakob Hößli, Hutmachermeister, auf der Abläsen, Sohn
des Tuchhandelsmanns und Löwenwirts Heinrich Hößli und der
Elisabeth Eimer, geb. 25. November 1758, gest. 18. September
1846.
Margret h Vogel von Glarus, Tochter des Meisters Johannes Vogel
und der Margreth Ltitschg, geb. 11. August 1757, gest. 2. März.
1831, kopuliert mit dem Vorigen 21. Juli 1780.
2. Heinrich Hößli's Geschwister:
1781. 6. Januar: Anna Magdalene, ehelichte den Uhrmacher
Bernhard Milt.
1781. 19. Dezember: Margaretha; ehelichte den Melchior Kubli
von Glarus.
1783. 26. März: Elisabeth ...
1784. 6. August: Heinrich, siehe unter 3.
1785. 14. September: Barbara, ehelichte den Feldwebel Heinrich
Tschudi von Glarus.
1786. 23. September: Johannes, gest. an der Schwindsucht
12. Juli 1793.
1787. 26. Oktober: Kegula, gest. 27. März 1789.
1789. 4. Februar: Johann Jakob, wohnhaft in Chur.
179Ö. 12. Mai: Johann Ulrich, Hutmacher in Glarus.
1792. 30. Januar: Cosmus, gest. an den Blattern 28. März 1797.
1793. 4. März: Kegula, ehelichte den Jonas Daniel Kehlinger
von Kaufbeuern.
1796. 3. August: Verena, ehelichte den HansJHeinrich Gamper
von Stettfurt, Kanton Thurgau.
1800. 23. Februar: EUbeth, gest. an den Blattern 1. August 1801.
1802. 6. September: Johannes, gest. 2. Dezember 1802.
t
— 464 —
3. Heinrich Hößli jünger nebst Eheweib:
Heinrich Hößli von Glarus, Patzmaoher und Tuchhandelsmann,
Verfasser des „Eros" 1836/38, Sohn des Hutmachers Johann
Jakob Hößli und der Margaretha Vogel, geb. 6. August 1784,
gest. 24. Dezember 1864 in Winterthur.
Elisabeth Grebel von Zürich, des Adjutanten Rudolf Grebel
Tochter, kopuliert mit Heinrich Hößli jünger am 5. Mai 1811.
4. Heinrich Hößll's Nachkommenschaft:
1812. 19. April: Jakob Rudolf, zuletzt in Otisco-Onondago
County, State ot New -York, dann verschollen; sein Toten-
schein lautet auf den 1. Januar 1871.
1814. 9. Januar: Johann Ulrich (John), nach Amerika aus-
gewandert, ertrank während einer Heimreise auf dem Ozean
am 11. Mai 1861.
II. Heinrich HöBli's Wesen und Charakter.
Heinrich Hößli war von mittelgroßem Wüchse und
erschien in Folge kurzer Beine von fast kleiner Gestalt;
er war nicht schön, aber von gesunder Stärke; er hatte
einen breiten Mund und trug das Gesicht glatt rasiert,
das braune Kopfhaar struppig, ungepflegt, wild genial,
indem er sich selten eines Kammes bediente. In seiner
Erscheinung durchaus männlich ohne das geringste Weibi-
sche, zeigte er ein Benehmen wie eine höfliche Frau und
besaß ganz das Temperament seiner um ein Jahr jüngeren
Schwester Barbara, der Ehefrau des Feldwebels Heinrich
Tschudi, als Witwe unter dem Namen „Hebamme Hößli"
in Glarus bekannt, von Heinrich zärtlich „Baby* genannt.1)
*) Von Heinrich Hößli als Mann in den mittleren Jahren habe
ich ein Portrait nicht aufgetrieben. Die hier als Titelbild beigegebene
Kupferradierung mit Autogramm beruht auf einer nach der Erinne-
rung und unter Benutzung der Autotypieen des Jünglings und des
Greises vom Zeichner Caspar Müller in Glarus mit Bleistift ausge-
führten Zeichnung. Caspar Müller bemerkt dazu : „Eine Charakte-
ristik eines Bildes von Hößli liegt in dessen schwarzseidenem Hals-
tuche, ebenso auch in diesem Hauskäppchen, das er sich immer
.selbst anfertigte."
— 465
Auf der Straße vor dem Hause, am Brunnen, selbst
in der Wirtsstube erschien Heinrieh oft im Schlafrock;
er zeigte sich stets freundlich und zuvorkommend gegen
jedermann, besonders liebenswürdig gegen seine ausschließ-
lich weiblichen Kunden, und pflegte wohlgefällig zu
lächeln. Nie ist er Soldat gewesen. In Glarus war er
Mitglied der Kasinogesellschaft und, gern gesehen über-
all, galt er als Mann von Lebensart, Sein Geist war
von außerordentlicher Lebhaftigkeit, unruhig, rastlos, sein
Temperament nicht jedoch eigentlich sanguinisch. Daheim
schlief er selten in einem Bett, sondern auf Matrazen
mit einem Dutzend zusammengehüufter Leinentücher am
Boden oder auf einer Kiste; diese Schlaf weise fand er
sauber. Er fegte seine Zimmer selber aus, kochte seinen
Kaffee selbst und säuberte auch eigenhändig sein Tafel-
geschirr; zu seiner Freundin, Fräulein Brunner, die ein-
mal bei ihm Kaffee trank und ihr Mißbehagen nicht
überwinden konnte, äußerte er? sie solle sich nicht ekeln,
er sei sehr säuberlich. In Heinrichs Geschäftsräumen
sah es wohl recht unordentlich aus; die Ellenwaren
hingen da oft wüst über den Ladentischen; selbst die
Kasse für die Kupfermünzen stand offen da, so daß jeder
hatte hineingreifen können. In Glarus gab es ein Sprich-
wort: „Das ist eine Ordnung wie beim Hueter-Hößli."
Auf diesem Mangel an Ordnung beruhte wohl auch vor
allem ein gewisser Grad von Miß trauen ? der Heinrieh
stets fürchten ließ, bestohlen zu werden; man sagte ihm
nicht nur nach, daß er überall Spiegel anbringe, um zu
wissen, ob, wann und von wem er bestohlen würde,
sondern er tat dieses ) wirklich. Wurde er nun bestohlen,
so gewahrte er es leicht und wußte sich dann ohne viel
Aufhebens wieder in Besitz seines Eigentums zu setzen.
Brillen hatte Heinrich wohl ein halbes Hundert und
kaufte solche auch dutzendweise, jedoch faud er sie nicht
am rechten Ort und zur rechten Zeit und während er
Jahrbuch v. oO
Heinrich Hößli
als Jüngling von neunzehn Jahren nach einer anscheinend am
11. Februar 1804 vollendeten Aquarellzeichnung.
Heinrich Hößll
als Greis nach einer Daguerrotypie,
Von sechs Personen, welche HÖßli gekannt haben, ist mir bestä-
tigt worden, daß dieses Bild den Verfasser des „Eros" „leibhaftig"
darstelle, wenn auch gealtert und verbittert.
— 468 —
zwei bis drei Stück auf der Nase hatte, suchte er solche
gleichwohl in allen seinen Taschen. Auf Reisen verbarg
er sein Geld in einem Strumpfe und versteckte es, wenn
er irgendwo zu Besuch weilte, hinter einem Spiegel.
Auch in seiner Kleidung war Heinrich nachlässig
und zerstreut; an einem Leichenbegängnisse nahm er
einmal mit einem Stiefel und einem Pantoffel bekleidet
teil und bemerkte das erst, als er sich schon im Zuge
befand; ein andermal wollte er seinen Hut abnehmen,
trug aber keinen auf dem Kopfe. Er gab nicht viel auf
. eigenen Kleiderputz und eigene Eleganz, wo es aber
Andern daran fehlte, bemerkte er es sofort. Demunge-
achtet zeigte er sich nicht ganz ohne Eitelkeit; stets trug
er einen schweren goldenen Ring und eine goldene
Uhrkette.
Der Gewohnheit des Rauchens hat Heinrich nicht
gehuldigt, doch soll er einer Prise nicht abgeneigt ge-
wesen sein.
Heinrich war ein wenig rechthaberisch, besaß eine
nicht geringe satirische Anlage und konnte von göttlicher
Grobheit sein; diesbezüglich weiß man in Glarus mancher-
lei zu erzählen. Jedoch auch rührende Züge großer Gut-
mütigkeit und reichen Gemütslebens werden, von ihm
berichtet. In Glarus pflegte Heinrich im Löwen auf dem
Spielhofe zu speisen, da er in jenem Gasthofe, wie frü-
her bei der gleichen Familie im schwarzen Adler, seinen
Verkaufsladen und sein Logis im Erdgeschoß inne hatte.
Zeitlebens stand er mit dieser Familie in aufrichtiger
Freundschaft, welche sich auf deren Kinder übertrug;
dieses Freundschaftsverhältnis war so bekannt, daß der
jüngste Sohn des Löwenwirts, mit dem und mit dessen
Frau Heinrich stets freundschaftlich verkehrte und in
regelmäßigem Briefwechsel stand, anläßlich seiner zum
Tode führenden Krankheit in Winterthur von den
Glarner Behörden kurz vor Hößli's Tode zum Vormunde
— 469 —
und Liquidator seiues Vermögens ernannt wurde. Für
Heinriche fast zarte Liebe zum hülf losen Tiere erlebte
ein jetzt achtzigiähriger Greis in Glarus einen äußerst
charakteristischen Fall, Einst kam dieser mit einem
Freunde nach Lachen und traf im dortigen Gasthause
zum Ochsen auch Heinrich Hößli an. Nach Tische lad
dieser seine Ortsgenossen zur Besichtigung seines schön
gelegenen originellen Heimwesens ein; in der Wohnstube
befand sich hier ein großer runder Tisch mit Büchern
aller Art überlegt und mitten darin ein Vogelkäfig mit
einem Kanarienvögelchen, Auf des Ortsgenossen Bemer-
kung: „Sie halten also auch ein Vögel chen?" erwiderte
Heinrich: „Ja, leider! Ich kann Ihnen damit den Beweis
liefern, daß einer kein freier Mann ist, wenn er nur ein
Vögel chen besitzt. Ich begab mich auf eine Reise, als
mir unter wegs? da eben mein SchitF in Stäfa landete,
plötzlich in den Sinn kam, daß ich mein Vögelchen zu
füttern vergessen hatte. Was tun ? Um das Tierchen
am Leben zu erhalten, mußte ich mit dem nächsten Schiffe
wieder umkehren und die geplante Heise aufschieben/
Heinrich war ungeachtet mancher Fehler und
Schwachen, wie solche wohl jedermann eigen sind, ein
edler, ideal gesinnter Mensch, Gauz besonders stark war
sein Gerechtigkeitsgefühl entwickelt. Hörte er, daß man mit
einem Steine oder dergl, nach einer Katze geworfen hatte,
so brummte er: „Teufel auch! Wenn man die Menschen
so hetzte wie eine Katze, so würden auch sie falsch und
diebisch!" Eine seltene Willenskraft, welche weder durch
die Ueberzeugung von der eigenen Unzulänglichkeit
zurücksehreckte, noch durch äußere Widerwärtigkeiten
schlimmster Art lahm gelegt wurde, hat Heinrich durch
die Herausgabe des zweiten Bandes seines „Eros" hin-
länglich dargetan ; auch daß er seinem einmal ergriffenen
Berufe treu geblieben, ohne je höher hinaus zu wollen,
ungeachtet des Vorherrschens seiner Hinneigung zu an-
— 470 —
gestrengter geistiger Tätigkeit, zeugt für seine intensive
Willensstärke nicht weniger als verschiedene kleine, mehr
Augenfällige positive Züge seines Wesens, so z. B., daß er,
wenn er am 1. eines Monats Zahnschmerzen hatte, mit
Kreide an die Wand schrieb: Am 4. habe ich sie nicht
mehr. Ueberhaupt schrieb er alle Wände voll mit allerlei
Notizen, selbst über der Türe, so daß manche einfältige
Leute glaubten, daß er ein halber Zauberer oder Hexen-
meister sei, was ihn oft recht belustigte, und in seinem
Nachlasse fanden sich hunderte beschriebener Papier-
schnitzel vor, zumeist geschäftlichen Inhalts. In seiner
Einsamkeit gewöhnte er sich an, laut mit sich selbst
zu sprechen.
Heinrich gehörte der evangelischen Kirche an, war
aber vollkommen freidenkerisch und spottete freisinnig
über Religionsbekenntnisse und „Pfaffen", ohne aber dabei
im Geringsten Atheist zu sein; auf die Geistlichkeit hatte
er einen gewissen scheinbar unversöhnlichen Haß geworfen,
welcher jedoch sicherlich nur der von derselben vertretenen
Sache, keineswegs der Person galt, wie seine Freundschaft
mit mehreren geistlichen Herren, dem Pfarrer Freuler
in Wülflingen, dem Pfarrer Speich in Glarus, genugsam
beweist; diesem Hasse gab er auch durch Spott gelegentlich
deutlichen Ausdruck; seine vertraute Freundin Fräulein
Brunner, die er aus der Kirche kommen sah, fragte er
höhnisch: „Nun, was hat der Herr Pfarrer gepregelt?", wo-
rauf sie ihm erwiderte: „Wenn Sie so fragen, werde ich es
Ihnen niet sagen". Heinrich spottete aber nur über die
bigotte Geistlichkeit und „Pfaffenwelt" und deren oft eng
begrenzten Horizont; und wenn er die Geistlichkeit zum
Teil haßte, so war dazu wohl auch ein Grund der, daß
manche Geistliche s. Z. sich hervortaten, damit der
weitere Druck seines Buches „Eros" verboten werde.
Wenn er vom Sterben und vom Tode sprach, so betonte
er oft: Er werde dereinst ruhig vor den Richterstuhl
— 471 —
Gottes treten, denn er habe stets nur das Gute gewollt
und er hoffe, Gott werde ihm seine Irrtümer und Fehler
wie allen s und igen und reuigen Menschen verzeihen*
Für alles Gute, Edle und Schöne war Heinrich stets
begeistert; er schwärrate für Gesang, besonders für die
Lieder des Sängervaters Hans Georg Naegeli von Zürich;
auch war er ein aufrichtiger Freund der Natur und ein
scharfsinniger Beobachter derselben«
Vermöge seiner hochentwickelten Intelligenz zeigte
er sich auf keinem geistigen Gebiete verlegen; er konnte
sich mit Künstlern und Gelehrten3 unter denen er ver-
traute Freunde besaß, unterhalten, obwohl er Schule nicht
genossen hatte; und dieses war nicht nur die Meinung
derer, die ihn dieses Vorzuges wegen zu beneiden Ursache
hatten, sondern ebenso auch die Auffassung der gebildeten
Kreise. Als Zeugnis dessen diene das nachfolgende in der
Orthographie des Originals wiedergegebene Schreiben
des Dr. Müglich an die Gräfin v. Bentzel-Sternau:
„ Ihrer Hochgeboren der
Frau Gräfin v. Bentzel-Stemau
gebornen Baronin v, Seckendorf
Mariahalden,
Gnädige Frau Gräfin,
Wenn ich auch sonst auser Berührung mit Ihrem edeln
Hause bleiben eolte> so nehme ich mir doch die Freiheit,
mich zuweilen durch die Feder mit demselben noch in
Verbindung zu sezen. So jezt. Herr Heinrich Hößli
von Glarus wünschte auf einer Reise nach Zürich Ihre
Gemälde zu sehen. Ich sagte ihm, Sie seyen so ge-
fällig, ihm dieselben auch ohne mein Billet sehen zu
lassen: er drang aber in mich und ich wilfahre ihm,
Diser Mann ist mir Üuserst merkwürdig erschiuen.
Er ist ein Autodidakt und ich mögte wohl sagen, ein
Filosof, ob er gleich bürgerlich nur ein Fuzmacher
— 472 —
ist. Ich furcht also nicht, daß Ihre Excellenz ihn so
sarkastisch aufnehmen werde, wi Napoleon diStael, indem
er si fragte, wivil kostet eine Elle der Spizen hir an
Ihrer Hälskrause?
Hochachtungsvol
Ihrer Excellenz
ergebenster Diner
Mollis, 1827. Dr. J. K. A. Müglich".
Und diese Auffassung von Heinrich Hößli's Geistes-
art galt nicht nur zu der Zeit, als er noch am „Eros"
arbeitete, sondern auch noch, als dieser längst er-
schienen und verboten war, blieb sein Verfasser überall
äußerst beliebt und jedermann hielt ihn für einen ge-
scheidten Kopf. Er interessierte sich lebhaft für jeg-
lichen Fortschritt; in den vierziger Jahren "pflegte er be-
züglich der Erfindungen seines Jahrhunderts zu äußern:
„Es kommt noch so weit, daß man in den Hafenkübel
hineinhockt und — zum Fenster hinausfliegt." Eine be-
sonders große Liebe war Heinrich zum gestirnten Him-
mel eigen und kundig war er der Sterne und ihrer
Bahnen, ihres Standes und ihres Erscheinens. Er war
ein leidenschaftlicher Freund guter Bücher und hielt
streng auf deren sorgfältige Behandlung; „Eselsohren"
waren ihm ein Greuel; seiner vertrautesten Freundin,
Fräulein Brunner, lieh er Werther's Leiden, weil er wisse,
daß sie das Buch angemessen behandeln würde, er gäbe
es aber nicht einem jeden. Aus dem Hause des
Pfarrers Freuler zu Wülflingen ersuchte er noch am
22. November 1860, bereits über 76 Jahre alt, J. J.
Siegfriede Buchhandlung und Antiquariat in Zürich um
Zusendung von 37 wissenschaftlichen und dichterischen
Werken aus dessen 127. Verzeichnisse; a/8 davon wolle
er jedenfalls behalten, wahrscheinlich alle ; und er sendete
20 Franken Vorschuß ein. Seine erstaunliche Kenntnis
473 —
der Literatur war seinen Freunden wohl bekannt; sie
ließ nicht tiach, als Heinrieh die Fortsetzung seines
„Eros" definitiv aufgegeben hatte; ein Brief des W. E.
von Gonzenbach am Berg aus St, Gallen vom 24. No-
vember 1854 hebt diese Kenntnis Hößli's und seine
Liebe zur Literatur hervor. *) Bei seinem Tode hinter-
ließ er 8 Kisten mit Büchern. Heinrichs um sechs Jahre
jüngerer Bruder Johann Ulrich, mit dessen weder lieb-
reichem noch aufrichtigem Charakter sich Heinrich nicht
zu befreunden vermochte, nannte ihn nur den „gefehlten
Gelehrten".
Ein langjähriger Bekannter Heinrich HöJMi's zeich-
nete diesen mit den sechs Worten: „Er war Idealist —
Eros sein Steckenpferd."
Mit dem eingetretenen Greisenalter scheint nicht
zum mindesten das trostlose Schicksal seiner Idee vom
Eros an Heinrichs Herzen genagt zu haben; er galt
mehr und mehr als Sonderling, wurde im Verkehr mit
seinen Mitmenschen eher wortkarg als mitteilsam und
äußerst vorsichtig und zurückhaltend in Rede und
Urteil. Auch verfiel er auf Sonderbarkeiten, die bei
I
') Von der Tiefe seines Interesses tttr Philosophie und Dicht-
kunst zeugt auch die Tatsache, daß er aus den Vorlesungen an
der Universität Zürich im Wintersemester 1853/54 nach der „Neuen
Zürcher Zeitung- % Nummer 238, Beilage, in seinem Notizbuch
notierte i
„Philosophische Fakultät — Prot; ord. Dr, H, A. Th. Kochly
1. Geschichte der griechischen Weltliteratur (der allge-
meinen griechischen Literaturgeschichte zweite Hälfte)
4 Stunden.
2* Vergleichende Erklärung der Elektra des Sophokles
und der Elektra des Euripides; 3 Stunden,
3. Ausgewählte Gedichte der römischen Elegiker; 3, St
4, Uebung-en der philologischen Gesellschaft (Erklärungen
von Piatons Fhädrus), unentgeltlich; 2 Stunden.
Anfang 31. Oktober."
— 474 —
seinem sonst so ausgesprochen edlen Wesen nicht recht
verständlich sind.
Ein glücklicher Mensch ist Heinrich Hößli nie
gewesen. In einem Briefe an seine sehr unglücklich ver-
heiratete Schwester Frau Regula Rehlinger geb. Hößli
in Kaufbeuern, aus Glarus vom 9. Juli 1842 datiert, in
welchem der 58jährige Mann schildert! der Vater sei
noch so gesund wie ein junger Hirsch und die Brüder
befänden sich in Wohlstand und ziemlichem häuslichen
Frieden, findet sich der nachfolgende erschütternde Satz :
„Bei diesen1) Dingen aber kenne ich, liebe Schwester,
das Leben und Schicksal der Menschen, ich darf wohl
sagen, von allen seinen fürchterlichen Seiten. Meine
Vergangenheit ist eine Reihe beinahe unaufhörlichen Un-
glücks und Leidens; ich sehe mit Schaudern zurück; und
wenn Du einmal hörst, daß ich auch den letzten Streit
vorüber habe, so falle vor Dank und Freude nieder vor
Deinem Gott**
Allein trotz dieser durch manches Bittere, das er
erleben mußte, notwendig hervorgerufenen düsteren
Stimmungen, die Heinrich nicht Herr über sich werden
ließ, sah man ihn oft heiter und froh, besonders dann,
wenn freudige Ereignisse in den ihm befreundeten Fa-
milien eintraten oder wenn in den Zeitungen von einem
weltbewegenden Fortschritte zu lesen war.
Als Rekapitulation und zugleich als Dokument aus
der damaligen Zeit folgt hier der Nekrolog Hößlis im
„Republikaner."
„ — Winterthur. (Einges.) Ende letzter Woche
verschied hier im 83.2) Lebensjahre ein auch in weitern
Kreisen bekannter origineller Glarner, Namens Heinrich
Hößli. Derselbe wurde im Jahre 17828) von unbemittelten
*) (d. h. Heinrichs Wohlstand betreffenden)
2) Im 81. Lebensjahre nach Seite 460 und 464.
3) 1784 nach Seite 454 und 464.
— 475 —
Eltern geboren, kam dann in den auch fürs Giamerland
so verhängn iß vollen neunziger Jahren mit einem Trausporte
armer Kinder nach Zürich und später in ein Handlungs-
geschäft in Bern.
„Im Anfang dieses Jahrhunderts eröffnete er in
Glarus ein sogenanntes Putzgesehäftj das er mit Erfolg
bis Ende der vierziger Jahre betrieb? nnd gab es damals
wohl wenige Familien landauf und ab? die nicht mit dem
Putzmacher Hößli verkehrten, Neben seinem Geschäfte
hatte derselbe einen unermüdlichen Drang nach Wissen
und Bildung und verausgabte auch einen großen Tb eil
seiner Ersparnisse für Bücher und Schriften aller Art.
In Folge dessen eignete er sich eine tiefe Denkungsart
an und erhielt sein Geist einen philosophisch gelehrten
Zug. Hößli stand s. Z. auch in Verbindung mit Zschokke
und Troxler und erzählte stets mit Freuden, daß auf
seine Eingebung hin jener den „Bros" in seine Novellen
schrieb,
„Mit seinem selbstgeschriebenen Werke „Eros" hatte
der Verfasser jedoch wenig Glück, indem der damalige
Rath von Glarus dasselbe weiter zu schreiben1) verbot;
immerhin wird dieses Buch, wie wir schon Gelegenheit
hatten 211 hören, von sehr gelehrten Personen weit milder
beurtheilt und sagten einst die Verleger selbst, daß frag-
liches Buch von Laien meist nicht verstanden, dagegen
oft von Literaten gekauft werde, um daraus zu schöpfen,
und es bewuudernswerth sei, wie es einem uugeschidtcn
Manne möglich geworden, einen solchen Schatz von Ge-
lehrsamkeit und eigenen neuen Ideen darin niederzulegen.
„Nach Aufgebung seines Geschäfts in Glarus arbei-
tete der Alte mit regem Interesse an einem dritten Bande
seines Werkes2), um Unterlassenes nachzuholen und über-
*) Zu drucken, nicht zu schreiben, nach S. 450 u, S. 500
") Dieser war von vornherein geplant nach S. 451 u. S, 477.
— 476 —
baupt seine Idee verständlicher und klarer zu machen,
konnte denselben jedoch nicht mehr beenden, indem er
von seinem unruhigen Geiste stets hin und her getrieben
wurde und ein wahres Wanderleben führte.
„Von Jugend auf ein Freund der Natur, fesselten
ihn besonders die Gestade des schönen Zürichsees und
so wohnte er oft in Glarus, dann in Stäfa, Richterswyl,
Lachen, Mollis, wieder Glarus und endlich zog er nach
Winterthur.
„Bis zu der Zeit, wo jenes in den Blättern veröffent-
lichte eigenthümliche Testament seines Sohnes „JohnHößli
aus New-York" ihm zu Ohren drang, blieb der Alte,
seine angebornen Eigenheiten abgerechnet, immer heiter
und froh und als guter Gesellschafter stets gerne gelitten;
seither war aber eine Veränderung an ihm wahrzunehmen,
die ihn nach und nach körperlich und geistig zerstörte.
Hößli behauptete nämlich immer und vielleicht nicht mit
Unrecht, daß fragliches Testament nicht das richtige sei
und noch ein anderes späteres Dokument existiren müsse.
„In der That klingt es etwas sonderbar, wie ein unver-
heiratheter Sohn, der ein Vermögen von beiläufig einer
halben Million besaß, seinen alten, nicht sehr bemittelten
Vater in seinem letzten Willen nur mit Fr. 5000 beden-
ken und seinen einzigen Bruder ganz übergehen konnte,
währenddem die Hauptsumme seiner damals schon seit
vielen Jahren abgeschiedenen Mutter zukommen soll oder
nach deren Tod einer ehemaligen Jugendfreundin des
Erblassers, die außer der Familie steht. Um so mehr,
da der Sohn seinen Vater einige Monate vor seiner Ver-
unglückung auf dem Meere noch von seiner Ankunft
unterrichtete mit der freudigen Mittheilung, daß er nun
in der Schweiz zu bleiben und irgendwo einen hübsch
gelegenen Landsitz zu kaufen gedenke, auf welchen er ihn
dann zu sich nehmen wolle, um ihm den Rest seines un-
ruhigen Lebens noch zu verschönern.
— 477 —
„Hbßli bemühte und härmte sich vergebens, dieses
Dunkel zu lösen, es sollte ihm nicht mehr beschieden
sein, diese Sache in klarem Lichte zu sehen.
„Er hat nun ausgekämpft mit der Welt, die ihn so
oft mißverstanden, Rühe seiner Asche!"
Aus: Der Republikaner, Zürcher Intel ligenzblatt,
Elfter Jahrgang. Nr.l. Sonntag, 1. Januar 1865, Seite 2*
III. Heinrich Hoßli's zweibändiger „Eros14.
Den Entschluß zur Abfassung seines Lebenswerkes
,Erosu hat Heinrich Hößli erst einige Jahre nach dem
Erscheinen der durch ihn angeregten Novelle „Der Eros
oder über die Liebe * von Heinrich Zschokke (1821) ge-
faßt; seine Erosidee aber, nachdem sie IB17 in Hößli' s
03. Lebensjahre geboren war, hat ihn bis in sein Todes-
jahr unablässig begleitet und ihn nicht früher Ruhe finden
la&seil, als bis er 1836 den ersten und 1838 auch den
zweiten Band gedruckt vor sich sah. Dann erst gab er
den Plan, einen dritten Band folgen zu lassen, auf und
es blieben die zu demselben fertigen Kapitel un gedruckt,
die auf ihn bezüglichen Notizen unfertig liegen.
Es dürfte nunmehr eine dreifache Aufgabe mir zu-
fallen: erstlich den wesentlichen Inhalt der beiden ge-
druckten, 721 Oktavseiten füllenden Bände und, soweit
es sich feststellen läßt, auch den geplanten Inhalt des
dritten, ungedruckt gebliebenen Bandes in möglichster
Gedrängtheit wiederzugeben; — alsdann den Werde-
gang und das Schicksal des „Eros" zu verfolgeu ; —
und drittens dem Leser einige der bedeutendsten Stellen
des Eroswerkes unverkürzt vorzuführen, Stellen, welche
die geistige Bedeutung Hoßli's hervortreten lassen und
entweder durch die Eigenartigkeit oder durch den Reich-
tum der Gedanken oder aber durch ihre Kraft oder
— 478 —
ihren individuellen Ausdruck für die Denkweise und die
Schreibart Höfili's charakteristisch sind.
1. Der wesentliche Inhalt von Heinrich Höfili's „Eros".
Versuchen wir, den Erosinhalt unter Vermeidung
aller subjektiven Phraseologie aus dem an allgemeinen
Gedanken und eigenen Gesichtspunkten, besonders in den
Vorreden zu beiden Bänden, überreichen Buche rein
herauszuschälen, ohne uns streng an den Gedankengang
des Werkes zu halten.
Eine außergewöhnlich fürchterliche Hinrichtung, die
des Doktors der Rechte und Bürgers von Bern Franz
Desgouttes,1) der 1817 seinen Schreiber und Liebling
Daniel Hemmeier ermordete und dafür gerädert
wurde,2) hatte bei ihrem Bekanntwerden in Hößli die
noch schlummernde Empfindung der Notwendigkeit
einer aufklärenden Schrift über die den alten Griechen
als Natur bewußt gewesene, der Neuzeit jedoch als
Unnatur dunkle und mit schweren Strafen bedrohte
Knaben- oder Männerliebe geweckt. Hößli schmerzte
es als das unerträglichste aller Leiden, zahlreiche seiner
Mitmenschen ohne jede Schuld unaufhörlich von den
Gesetzen bedrängt zu sehen.8) Die Liebe zu den Lieb-
lingen hatte er aus seinem durch vieljährige Prüfung4)
erlangten Wissen und durch seine von der Literatur be-
stätigte und bestärkte Ueberzeugung0) als eine von der
1) Ueber ihn handelt das folgende (5.) Biogramm dieser Quellen-
materialien. Hößü's Eros handelt über ihn I S. IX, S. XVI, S. 61
u. S. 278; femer II S. 53, S. 212—213, S. 225, S. 239, S. 263—264,
S. 279, S. 327*) und S. 351.
2) Darüber in Hößli's Eros I S. IX; S. XVI; S. 61; S. 278;
— Eros II S. 53; S. 212— 213; S. .225; S. 263—264; S. 279;
S. 327*); S. 351.
3) Eros I S. XXIII— XXIV. 4) Eros I S. XXIX.
6) Eros I S. XXV- XXVI.
— 479 —
Natur geforderte, reine, einfache, ewige, unwandelbare,
sittlich berechtigte Naturerscheinung längst erkannt. l)
Diese Natur, die gleichgeschlechtliche Liebe, kann
als Naturerscheinung zum Laster, zum Verbrechen führen/2)
braucht es aber nicht notwendig. Solche Eigenschaft
hat sie mit der zweigesehlechtlichen Liebe gemeinsam
und ebenso wie diese beruht sie auf geschlecht-
licher Anziehung.0) Sie ist aber, obschon sie ihre Wur-
zeln im Erdreiche hat, auch zugleich gottlichen Ursprungs
und sie ist vom Schöpfer für höhere Zwecke, gleich der
zweigeschlechtlichen Liebe, bestimmt.4) Dieserhalb ist sie
auch, wie diese, der Veredlung, der Vergöttlichung, der
Idealisierung nicht nur fähig, sondern bedürftig.6) Die
der Männerliebe zu Grunde liegende Natur zeigt über-
all sowohl die weiblichen als die männlichen
Hauptzüge und Eigenschaften der Seele und
des Gemüts mit allen ihren mannigfachen
Kräften und Stimmungen in sich vereinigt,6)
derart, daß die bloß äußerlichen Kennzeichen
des Geschlechtes, welche für die Bezeich-
nungen „Mann" und „Weib" maßgebend sind,
für das Geschlechtsleben des Leibes und der
Seele nicht den Ausschlag geben.7) Genau so
wurde die gleichgeschlechtliche Liebe von Plato und
den alten Griechen überhaupt aufgefaßt und von ihnen
nach Möglichkeit veredelt, vergöttlicht und idealisiert*)
In der griechischen Kunst ist auch der Gegenstand der
Männerliebe durch jungfräuliche Männlichkeit, die nicht
weibische Mannheit ist, zur Darstellung gebracht9)
Ganz anders in der Neuzeit Alle jene Wahrheiten
hat man völlig vergessen und daher müssen sie von
») Eros I S. 35. *) Emu I S. 148; II S. XV— XVL; 8. 240.
•) Eros II S. XVI; S. 35-86; S. 295—296. 4) Eros U S. 29—33.
*) Eros II S. 24—25. •) Eros II & 299-801. *) Eros I S, 44;
II S. 16—53. *) Eros I S. 120; II S. 194—195 u. öfter, ■) Eros H S. 325.
— 480 —
neuem bewiesen werden.1) Zwar haben in neuerer Zeit
drei deutsche Schriftsteller, von Ramdohr, Meiners
und Zschokke, die der Neuzeit dunkle Sache aufzu-
klären versucht,9) allein ihre Auffassungen sind nur halb
wahr und daher auch halb unwahr.8) Diese unsere Neu-
zeit übersah ganz den göttlichen Ursprung der gleich-
geschlechtlichen Liebe; sie vereitelte den Plan des
Schöpfers, verhinderte ihre mögliche Veredlung, drückte
sie in den Sumpf hinab und führte sie so naturnotwendig
zum Laster und zum Verbrechen [bei Desgouttes], ent-
göttlichte sie, anstatt, gleich den Griechen, sie zu ver-
göttlichen.4) Individuen, deren äußere Kennzeichen als
unzuverlässig für das Geschlechtsleben ihres Leibes und
ihrer Seele sich erwiesen, gab es stets, bei allen Völkern und
zu allen Zeiten, 6) solche gibt es auch in der Gegenwart;
von ihrer Gefährlichkeit spricht jedermann
so halblaut, gerade so wie unsere in Gott
ruhenden Väter von den Hexen geredet
haben.6) Man kann sie nicht nennen, ohne sie zugleich
dem Verderben durch unsere Henkersanstalt preiszu-
geben, und man ist genötigt, auf Stimmen und
Zeugen, die derMenschheitsgeschichte angehören,
sich zu beschränken.7) Als solche Stimmen und Zeugen
führt Hößli in 42 Nummern, fast 100 Seiten füllend,
Dichtungen und Aussprüche, die gleichgeschlechtliche
Liebe betreffend, aus allen Zeiten und von allen Völkern
stammend, auf.8) Indem das Christentum die Tatsache
der Unzuverlässigkeit der äußeren Geschlechtskennzeichen
übersieht,9) bemüht man sich, andere Erklärungen für
die Erscheinung, die man weder leugnen, noch aus der
Welt schaffen kann, aufzufinden; so soll die Ursache der
gleichgeschlechtlichen Liebe bald Schönheitssinn, bald
») Eros I S. 44. 2) Eros I S. 275—280. 3) Eros I S. 66.
4) Eros I S. 116—119; S. 272. B) Eros II S. 43—44. 6) Eros II S. 189.
7) Eros II S. 44; S. 172. 8) Eros II S. 53—150. e)Eros II S. 161.
— 481 —
Ausartung, bald Willkür oder Selbstbestimmung, bald
bloß griechische Liebe sein, bei uns aber weniger oder
gar nicht mehr vorkomm en, bald soll sie ein Laster wie
andere, bald bloß ein Heldenlaster, ja selbst Knaben-
schändung sein : allein alle diese Erklärungsversuche sind
nur untergeschoben1), und gegenüber der auf geschlecht-
licher Anziehung beruhenden, gegenüber der reinen,
naturnot wendigen, der Veredlung fähigen gleichgeschlecht-
lichen Liebe sind sie hinfällig.
Au und für sich wäre die Liebe zu den Lieblingen
nicht ein so bedeutender Gegenstand, daß ein dreibän-
diges aufklärendes Werk über sie brauchte geschrieben
zu werden; allein bei deu irrigen Vorstellungen, welche
das falsche Christentum der Neuzeit von ihr hat, wird
sie dazu gestempelt.2) Der Naturforscher, der Erforscher
der Wahrheit, hat nicht danach zu fragen, ob durch die
erkannte Wahrheit und ein dieser entsprechendes Aufgeben
falscher Vorstellungen geltende Sitten-, Natur- und
Hechts -Lehren und -Begriffe in Trümmer fallen, da er
nur einen Richter^ die Natur, über sich anerkennt j
was durch Naturwahrheit gestürzt wird, war nicht selbst
Natur und kann nur durch Vernichtung der unschuldigen
Natur mit Gewalt aufrecht erhalten werden. s) Das über
die Ausübung der gleich geschlechtlichen Liebe gesetzte Ge-
richt unserer Zeit ist die größte Unrechtsanstalt auf der
ganzen Erde;4) Auch ist es eine unmenschliche Scham, zu
glauben, daß ein diesen so dunklen Gegenstand aufklärendes
Buch dem Christentum irgend welchen Schaden stiften
könne. &) Wer sich Erzieher, wer sich Lehrer nennt und den
nicht kennt, nicht kennen will, den er erziehen, den er
lehren soll, führt einen Spottnamen und ist in Wirk-
lichkeit nur Barbar oder HalbnieDschJ1)
*) Eros II S. 214—269. *} Eros I S. 96. *) Eros I S. 172—173.
*) Eros I S. XXV. fi) Eros I S. XXXII. B) Eros II S, 274—575,
Jahrbocb V, 31
— 482 —
Hößli gibt im 2. Bande des „Eros" 1838 seiner be-
sondern Befriedigung darüber Ausdruck, daß er in dem
1837 erschienenen Drama „Die Freunde* von Wiese
schon so bald nach Ausgabe seines 1. Bandes (1836) eine
Unterstützung seiner Bestrebungen fand.1)
Ich lasse nun eine einfache Inhaltsübersicht
des Eroswerkes folgen, welche den Besitzern desselben
gewiß nicht unwillkommen sein wird, da eine solche dem
Werke fehlt und Gesuchtes ohne solche nicht leicht auf-
findbar ist.
Inhalt des ersten Bandes:
Dem Schutzgeist des menschlichen Geschlechts S. V — X.
Einleitende Worte als Vorrede S. XI — XXXIX.
Erster Abschnitt: Hexenprozeß und -glaube, Pfaffen und
Teufel als würdiges Seitenstück zu dem Wesen unserer Meinungen
und Begriffe vom Eros der Griechen, wie er in seinen Folgen und
Einflüssen mitten in unserm Leben waltet S. 1 — (274 statt) 30.
Zweiter Abschnitt: Wahn und Wahrheit, Aberglaube und
Unwissenheit, unsere Meinungen und Begriffe vom Eros der Grie-
chen, unser Irrglaube an eine Zuverlässigkeit der äußeren Kenn-
zeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele S. 31 — 72»
Dritter Ab schnitt: Deutungen des Charakters der Mensch-
heit zu allen Teilen und Bestimmungen ihrer geistigen und leib-
lichen Natur S. 73—92.
Vierter Abschnitt: Nähere Bezeichnungen und Bestimmun-
gen der Aufgabe dieses Buchs und des Unterschieds zwischen uns
und den Griechen in Betreff des Eros, oder der Natur, der An-
sichten und der Behandlung der Liebe zu den Lieblingen, wie
unseres Glaubens an eine (nicht vorhandene) Zuverlässigkeit der
äußern Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele,
in sittlicher, moralischer und anthropologischer Hinsicht und. Be-
ziehung S. 93—112.
Fünfter Abschnitt: Das Wesen der menschlichen Ge-
schlechtsliebe (Erfahrungen und Glaubensbekenntnis) S. 113 — 154.
Sechster Abschnitt: Natur S. 155—174.
Siebenter Abschnitt: Plato S. 175—192.
*) Eros II S. 327**).
— 483 —
Achter Abschnitt; Leb od und Wissenschaft der Griechen
in der Idee der Manne rliebe und die spateren Zeiten außer derselben
S. 193—238.
Neunter Abschnitt: Unsere Schriften und Schriftsteller
über die Liebe des Plato, welche Keeultate geben sie uns, was
leisten sie uns ftlr das Studium der Griechen, des Geschlechtslebens
und des Eres und was die Schriften der Alten für Wissenschaft und
Leben? S. 239—304.
Verbesserungen (Druckfehler) 2 Seiten.
Inhalt des zweiten Bandes:
Verb ess er un gen ( D ruc kie hl er) .
Einleitende Worte als Vorrede und Fortsetzung derjenigen im
ersten Band S. I— XXXIL
Erster Abschnitt: ') Die Zuverlässigkeit der äußern Kenn-
zeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele ist Wahn;
platonische liebe nach unsern Begriffen: ein Hirngespinst; die
Männerliebe der Griechen ; reine und unwandelbare Natur S, 1—352,
Stimmen und Zeugen: 1. Bejli Hassan S. 53—65; —
2. Flavins Philostratus S. 55—56; — 3, Des persischen Dichters
Sadi 5 Blumen S, 56 — ö7; — 4, Bora« S. 58; — 5. Hiero, Simonides u,
Xenophon S. 59—61; — (J, Griechische Antholog-ie S, 61—64; —
7. Agesilmis und Xenophon S. 64—66 ; — 8. Zeugnis der männlichen
Liebe aus Persien. Sechs Dichtungen, verdeutscht von v. Hammer
g, &J—71 ; _ 9. Xenophon iindSokrates S. 71—73; — 10. Apollodor
S. 74; — 11. Vakrius Maximus und Ephialtes S. 74—75; — 12.
Mo ha med Ferdi (aus dem Türkischen übersetzt von Thomas Seh aber t)
S. 75—78; — 13. ÄJistotele* S. 78; — 14. Sokrates und Plato
S« 79; — 15. Monla Abdul Latifi mit Schejch Elwan SchJrasi
SP 79—80, Ssubhi (Brussa) 8. 80—81 und Bassiri (Herat) S. 81—82:
16. Anakreons Grab S, 82 — 88; — 17. Schejch Husch eni, 3ftad|
Tachelebi und Äsaji S. 88—93; — 18. Der Di van des Mahomed
Scherased-Din Hafis (nach v. Hammer) S. 93—95; — 19. Tibidla 4.
und 9+ Elegie S. 95— 99; — 20, Erasistratua undPlutaroh.S. 99—101;
— 21, Perikles, Sophokles und Valerius Muxiinus S. 105; — 22.
v. H aminer' s Zueignung des persischem Divans an den Grafen
V, Harrach und drei von ihm Übersetzte Oden aus demselben
S. 105—109; — 2B, Plato und sein Zeitalter 5. 109—110; — 24,
Arian, Alexander und Aelian S. 110—112; — 25, Xenophon (Ana-
l) 4Dpr * weile Band ersehe lju durch Zufall nicht in bCMOd/BBS Abschnitt«
St?ürdjiLa.u HöflK: Erua IL S. 44,
31*
— 484 —
basis 2. VI) S. 112—114; — 26. Sadi (Rosengarten, nach v. Ram-
dohrs Venus Urania IV. S. 25) S. 114—115; — 27. Virgil (zweite
Ekloge) S. 116—118; — 28. Lucian im Eingang seines Gespräches :
Das Schiff oder die Wünsche S. 118—121; — 29. Ishak Tschelebi
S. 121—122, Ussuli S. 123 nnd Affitabi S. 123—124; — 30. Ahmed
Pascha S. 125—126; — 31. Theokrits siebente Idylle S. 126—129;
— 32. Antinous und Hadrian S. 129; — 88. Morgenländischc
Stimmen und Zeugen der platonischen liebe S. 129—131 ; — 34. Die
Insel der Liebe (von Herder aus dem griechischen) S. 132; — 35.
Griechische und römische Geschichte (Aelianus und Athenäus) S. 132
bis 133; — 36. F. W. B. von Ramdohr, über die Natur der Liebe,
über ihre Veredlung und Verschönerung. 3. Bandes 1. Abteilung,
12. Kap. S. 134—135; — 37. Persische Stimmen und Zeugen S. 135
bis 136; — 38. Theokrits Idyllen S. 136—141; — 39. Ahmed
Daji, Dichter aus dem Lande Kermjan in Kleinasien S. 141; — 40.
Xenophon im Symposion S. 141 — 143; — 41. Durch v. Hammer
tibersetzte kleine orientalische Dichtungen S. 143 — 148; —
42. Plutarch S. 148—150.
Die Männerliebe der Griechen war weder A: Schön-
heitssinn S. 215—219, noch B: Seelenliebe S. 219—224, noch C:
Ausartung S. 224—226, noch D: Willkür, Selbstbestimmung S. 226.
bis 234, noch E : bloß griechische Liebe S. 234—287, auch ist sie
F: nicht bei uns weniger oder gar nicht vorhanden S. 237—239,
noch G: ein Laster und Verbrechen wie andere S. 239 — 264, noch
H: bloß ein Heidenlaster S. 264, noch I: Knabenschändung
S. 264—269.
Für den dritten Band des „Eros" waren außer der
Leidensgeschichte Desgouttes' von Hößli die folgenden
fünf Kapitel geplant:
1. Die Bedeutung und Heiligkeit der Geschlechtsnatur, physisch,
psychisch und intellektuell, die innerhalb ihrer Schranken möglichen
Gefahren und Entwürdigungen und was an ihr zu bilden oder zu
zerstören ist (nach Eros II. S. XH und S. XV).
2. Die besondere gleichgeschlechtliche Geschlechtsnatur, jetzt
unterdrückt und verwahrlost, bleibt trotzdem vorhanden und ab-
solut wirksam (nach Eros IL S. 343—344).
3. Der große und unabwendbare Einfluß des jetzt verworfe-
nen Teils der Geschlechtsliebe (der gleichgeschlechtlichen) auf alle
Gebiete des Lebens mit besonderer Rücksicht auf den körperlichen
Punkt (nach Eros II S. VII UDd S. 346—347).
, ! '
— 485 —
4. Verfiittlichiing der Mann erliebe ; der Lichtkreis, in welchem
□hb künftig1 alles Rätselhafte, Rechtliche und Unrechtliche, Sittliche
und Unsittliche, kurz, der ganze Geist, die Moral und Idee des Eros
und der Lehren des Flato aufgehen wird (nach Eros II S. XXHI
und S. 342—343),
5. Was hat die Religion aus dem Eros zti machen und die
diesem Versuche zu widersprechen scheinenden Bibelstellen (nach
Eros U S. 351*).
2. Entstehung, Werdegang und Schicksal des „Eros".
Als Heinrich Hüßli 1817 bei Bekanntwerden der
Ermordung des unglücklichen Bure au Schreibers Daniel
Hemmeier durch die Hand des nicht minder un glück liehen
Rechtsagenten Dr. jur. Franz Desgouttes in Langenthai
die „Fesseln dieser Zeit um seinen Geist* sich lösen fühlte,
war er 33 Jahre alt, schon 6 Jahre Ehemann und bereits
Vater seiner beiden begabten und später so unternehmungs-
lustigen Sohne geworden. In seinem überaus empfäng-
lichen, allem Unrecht abholden Gemüt e verschmolz mit
dem lodernden Zorne, in welchen er durch den ihm
überall entgegentretenden Mangel an Erkenntnis der
Natürlichkeit und Naturnotwendigkeit der gleich-
geschlechtlichen Liebe geriet, der Unmut über den
von der Geistlichkeit seines Landes geduldeten, wenn
nicht gar genährten Aberglauben an Hexen, deren letzte,
Anna Göldin, in Heinrichs Geburtsbause zu Glarus ge-
lebt hatte und kurz vor seiner Geburt durch Menschen-
hand vom Leben zum Tode gebracht worden war, zu
einer in seiner Seele gewaltig kochenden Empörung. Die
völlige Verstandnislosigkeit seiner Zeitgenossen für das
nach seiner Ueberzeugung auf der gleichen Stufe mit
der zweigescblechtlichen Liebe stehende Problem der Liebe
zu den Lieblingen war im Falle Desgouttes wieder einmal
grauenvoll an das Tageslicht getreten. Hößli zermarterte
sein Gehirn mit dem Versuche, io unwiderleglicher Dar-
stellung der Welt zu zeigen, wie sie in Hinsicht ihrer
Verfolgung der Erscheinungen gleich geschlechtlicher
— 4«6 —
Liebe noch völlig demselben finstern Aberglauben ver-
fallen, in einer analogen Wahnidee befangen sei, wie die
Welt des früheren Jahrhunderts bezüglich der Hexen.
Aber noch fühlte Hößli sich nicht reif für ein wirksames
eigenes Unternehmen, noch fehlte ihm die Kraft, ein
Werk zu schaffen, das um ein Jahrhundert den Zeit-
genossen vorauseilen sollte, noch vermochte er nicht,
seine Gedanken so zu sammeln und zu sichten. Es kam
ihm der Einfall, einen seiner Meinung nach würdigeren
Mann, als er selber war, zum Mundstück seiner Ideen
zu gewinnen. Er schrieb nun einen Aufsatz „über Ge-
schlechtsverhältnisse* nieder und suchte 1819 Heinrich
Zschokke in Aarau auf, um ihn außer durch Uebergabe
seines Aufsatzes auch mündlich zum Schreiben über seine
Idee für den Druck anzuregen. Der damals als Lehrer
der Philosophie in Luzern tätige, Hößli befreundete
Trox ler1) übernahm es, Hößli bei seinem Duzfreunde
Zschokke einzuführen; Abends spät traf er mit Hößli in
Aarau ein und beide suchten noch am selben Abend
Zschokke in dessen Landhause, der Blumenhalde, auf.
Schon im Gange rief Troxler seinem Freunde Zschokke
seinen Gruß entgegen und fügte hinzu: „Ich bringe Dir
hier einen halben Gelehrten," worauf dann Zschokke
schlagfertig erwiderte: „Entweder ist's ein ganzer Ge-
lehrter oder ein Narr!" Von dem Empfange bei Zschokke
teilt Hößli in seinem „Eros*2) mit, daß jener ihn als Fremd-
ling mit großer Güte und Gastfreundschaft aufgenommen
und behandelt, auf seine Ansicht hingegen, seiner eigenen
2) Ignaz Paul Vital Troxler, geb. 11. Aug. 1780 zu Münster
im Kanton Luzern, wurde von Jesuiten erzogen, widmete sich kurze
Zeit der praktischen Medizin, ergab sich dann ganz seiner Lieblings-
wissenschaft, der Philosophie, und war nacheinander Lehrer der-
selben in Luzern und Basel und Professor der Philosophie in Bern.
Seine „Metaphysik" hat Heinrich Hößli in seinem „Eros" benutzt.
2) Hößli: Eros I S. 278.
487
vielen allbekannten Arbeiten, Amtsgesehäfte und Lieb-
lingsforsehungen wegen, äußerst wenig Zeit verwendet
habe. Als Zschokke's sehnliehst erwarteter „Eros" 1821
erschien, sah Hößli eich um so bitterer getäuscht, je mehr
er sich von ihm versprochen hatte; er erkannte voll-
kommen die Vergeh liehkeit seines Schrittes. „Ihm be-
wies ich" — heißt es in Hoßli's handschriftlichem Nach-
lasse — „mit meiner Reise und Mittheilung die größte
Achtung, das größte Zutrauen, eigentliche Verehrung . * .
In meinem Aufsatz hat es ganz offenherzig Desgouttes
geheißen, was Herr Zschokke in Lucasson verwandelte ♦ . .
Ich erstarrte gleichsam über diese Schrift (Eros), in der
Holmar meistens meine eigenen Worte ausspricht — da-
mit die Anderen ihn widerlegen können, verlor meinen
Glauben an Mensch und Wahrheit — und nahm mir vor,
zu schweigen und zu sterben. — Jahre vergingen und
nun rufen Stimmen von außen und innen . . , Die männ-
liche Natur und Liebe — nicht entmannte — in solcher
Gestalt tb eilte ich meine Idee Herrn Zschokke mit und
vorn in seinem Gespräch scheint^ als wolle er nichts
Castriertes zum Besten geben — aber auf einmal muß
das Geschlechtliche weg und das Verstümmelte an dessen
Stelle, aber da erkenne ich meine Wahrheit in Herrn
ZschokkeJs Gewand nicht.'*
Um den ganzen In grimm Hoßli's gegen Zschokke's
Schändung seiner Eros-Idee zu verstehen, müssen wir
Zschokke selbst zu Worte kommen lassen.
Heinrich Zschokke's Novelle „Der Eros oder über
die Liebe* kennt von uraischen Liebespaaren Dämon uud
Pythias, Achilles und Patroklus, Orestes und Pylades,
Theseus und Pirithous, Harmodius und Aristogiton,
Epaminondas und Kaphisodor, Sokrates und Alcibiades,
Jonathan und David, Jakob I, von England und Bucking-
hanij Lucasson und Walter (erdichtete Namen für Franz
Desgouttes und Daniel Henimeler); von Urningen macht
I
— 488 —
die Schrift namhaft: Heinrich III. und Ludwig XIII.
von Frankreich, Pabst Julius IL und Lord Byron.
Bei vielen schiefen Auflassungen erscheint als wichtigste
Stelle der Passus »Menschenkenner"1), welcher als eine
Art Selbstbekenntnis Zschokke's, zum mindesten aber als
ein Bekenntnis Zschokke'scher Auffassung des Uranismus
anzusehen ist. Hier erklärt er die Liebe zwischen Per-
sonen einerlei Geschlechts für eine Zauberei, mit welcher
der vermummte Amor ein Herz schlagen macht, das sich
selbst noch nicht versteht; es gebe wohl wenige Männer
von gefühlvoller Gemütsart-, welche nicht auch als
Knaben von irgend einem andern hübschen Knaben
stärker denn von allen andern sich angezogen fühlten
und diesem mit einer fast leidenschaftlichen Zuneigung
anhingen, welche sie nachher nie wieder in dieser Art
gegen Personen ihres eigenen Geschlechts em-
pfänden. Er erinnere sich eines solchen Zuges aus
seinem eigenen Kindesalter. Daher stamme die lange
bleibende Sehnsucht nach einem Freunde, wie man ihn
sich gern träumt und nie findet, besonders im Ungestüm
der Jünglingsjahre, wo mancherlei Verhältnisse noch vom
nähern Umgang mit Frauenzimmern entfernt halten oder
noch keine weibliche Schönheit den Sieg über uns errang.
Daher die überspannten Begriffe sowohl bei jungen
Männern als bei Jungfrauen, welche sie von der wahren
Freundschaft zwischen Personen einerlei Ge-
schlechts hegten. Die mancherlei Verhältnisse aber,
welche vom nähern Umgang mit Frauen entfernt halten,
sind nach ihm diese: Der wildere Knabe spiele am liebsten
mit seines Gleichen und plage das kleine Mädchen, weil
es immer etwas voraus haben wolle oder weine. So
bleibe er immer von diesem entfernt; als werdender Jüng-
J) Zschokke:
451 Fußnote.
Der Eros, Ausgabe 1843, S. 281—284, siehe S.
489 —
ling nicht minder, denn teilweise reife er viel später ab
die Jungfrau, teils zerstreuten ihn Anstrengungen und
Arbeiten auf dem Felde, in den Werkstätten, in den
Schulstuben. Und wann im Jüngling die dunkle Sehnsucht
des Herzens heller werde, trete er scheu vor dem andern
Geschlecht zurück, sei es, weil ihm der Zwang lästig sei,
welchen er seiner ungebundenen, noch knabenhaft-rohen
Art in Gegenwart fein gesitteter Frauenzimmer auflegen
müsse; oder weil er im Gefühl einer gewissen Unbeholfen-
heit, die dem Alter eigen sei, welches Jean Paul das der
Flegeljahre heiße, blöde und scheu dastehe; oder weil er
stark und besonnen genug sei, zu begreifen, daß er auf
seiner erwählten Lebensbahn noch mit keinem Ernste an
irgend eine Liebe denken dürfe; oder weil ihm bei seiner
eigentümlichen Sinnesart der Umgang mit Weibern,
wie sie ihm bisher erschienen, nicht zusage. Während
so vom andern Geschlecht mehr oder minder willkürlich
sein Herz entfernt bleibe, verstumme die Stimme der
Natur in diesem Herzen nicht Sie rede der Freund-
schaft das Wort für irgend einen Liebling und erhöhe
diese mit Leidenschaft zu irgend einer Schwärmerei, von
deren Ursprung es sich selbst nicht Rechenschaft zu
geben wisse. Je entschiedener und standhafter die
Denkart des Mannes sei, um so dauerhafter werde
seine Neigung; je weniger befriedigend diese neben seiner
ewigen Sehnsucht stehe, um so stürmischer, alles über-
wältigend werde die Zuneigung, welche zuletzt sein ganzes
Wesen so verzehre, wie die unglückliche Liebe eines
W e r t h e r oder S i e g w ar t oder eines Mädchens ver-
zehrend werde, das hoffnungslos um den Geliebten seufzt.
Wenn es bei uns in Europa möglich sei, daß junge
Männer von der Sehnsucht ihrer von ihnen selbst ver-
gessenen Natur sich irre führen lassen: um wie viel
leichter sei es im alten Griechenland gewesen, wro die
Scheidung beider Geschlechter schärfer als bei uns
— 490 —
gezogen gewesen wäre; dort hätten mehr und längere
Zeit als bei uns Männer ausschließlich mit Männern
gelebt; in Werkstätten, Schauspielen, Bädern, auf Märkten
und Feldzügen hätten sie meistens nur sich gesehen,
während die Weiber in den Gynäceen verschlossen mit
Vätern, Brüdern, Verlobten und Ehemännern umgingen.
Alle Wissenschaft, alle Kunst, alle geistige Bildung sei
das Gut des Mannes gewesen, während das Weib auf
das Treiben im engen, häuslichen, ruhmlosen Leben und
auf die Kunst des Putzes beschränkt geblieben sei. Daher
hätte sich früh die Achtung des Mannes dem Mann zu-
gelenkt, während das durch die bürgerlichen Ordnungen
stiefmütterlich versäumte Weib selten oder nie durch
Hoheit des Gemütes und durch Reichtum geistiger
Bildung bleibendes Wohlgefallen hätte erregen können.
Die vergängliche Schönheit der Jungfrau, ihr schwäch-
liches Wesen seien des helden sinnigen Griechen und
seiner Leidenschaft für Ruhm und Vaterland unwert
gewesen. Seine Neigung hätte sie daher nur auf kurze
Zeit und nur, weil sie Weib war, fesseln können. Dauer-
hafter und genußreicher hätten die Freundschaften der
Männer unter einander sein müssen, oft durch gegenseitige
Hülfe, oft durch gleiche staatstümliche Ansichten, bürger-
liche Bestrebungen und andere Interessen gestärkt. Denke
man sich noch hinzu: die Schwärmerei der Jugend, das
Fernstehen vom weiblichen Geschlecht, den Zauber des
Schönen für den allem Schönen aufgeschlossenen Sinn
des Griechen. Es sei nicht zu leugnen, daß im Antlitze
eines schönen Jünglings wreit seelenreichere Züge sprächen
und mehr Heldenmut, Hochgefühl, Zärtlichkeit und
Schwärmerei uns darin anrede, als im Gesicht des schönsten
Mädchens, weil jener schon früh seine Leidenschaft offen
spielen lasse, die dann seinen zarten Mienen die ersten
Spuren eingrabe, während das Mädchen mit sittiger
Klugheit ihr Innerstes verhehle und gerade das Gesicht,
— 491 —
statt zum Spiegel, nur zum Schleier ihres Gemütes
mache* Die erste Liebe des Jünglings und der Jung-
frau sei in ihrem Streben heilig, alles vergütt behend
und voll Grauen vor roher Tierheit, Anschauung
und schweigende Anhetung und ein beseligendes Er-
widern des liebebekennenden Blickes seien ihnen höch-
ster Genuß ; der bloße Gedanke an einen Kuß sei
schon Entweihung und frevelvolles Vergehen am Heilig*
tum. Diese gegenseitigen Vergötterungen zweier Lie-
bender hätte n ihren Ursprung im allgewaltigen Gebot der
Natur, deren Zepter alle beseelten Geschöpfe wissend
oder unwissend gehorchten. Plato, Xenophon und Plutarch,
die Gesetzgeber und die Dichter Griechenlands erwiesen
die angebliche Heiligkeit ihres Eros unverkennbar als
Selbsttäuschung. Er entspringe bei Einzelnen wie bei
Völkern zwar aus der Verirrung des Naturtriebes; doch
sei die gleichgeschlechtliche Liebe rein und erhaben, wie
immer die erste und wahrhafte Liebe; aber zuletzt gehe
bei Einzelnen und Völkern diese Liebe ekelhaft aus.
Alle Weisen hätten die herrsehenden, selbst üblen Sitten
ihrer Nation nur mit sorgsamer Umsicht berührt und,
wenn sie nicht hoffen konnten, dieselben auszurotten, nur
getrachtet, dieselben vom Unflat zu reinigen und zu
adeln, oder sie zu Stützen und Unterlagen des Edlern
zu machen. Je länger er über diesen Gegenstand denke,
je schauderhafter sei ihm der Gedanke, Griechenlands
Gesetzgebung in dieser Hinsicht zum Muster zu nehmen.
Über solchen „Verrath* konnte Hößli sich nicht be-
ruhigen; sein handschriftlicher Nachlaß enthalt darüber
blind ige Belege: „Hätte Herr Zschokke damals nur seinen
Hol mar und nicht alles reden lassen es gilt hier nicht
einen Menschen; es gilt hier tausend und tausend Men-
PC 1 le n dasein und eine unumwundene, schlichte, einfache,
nicht gekräuselte Wahrheit, unabänderliche, feste, ewige
Naturerscheinung und nicht eine in allen Fahnen und
— 492 —
Fähnchen gezierte Meinung, es gilt tausend und aber-
mal tausend Menschendasein . . . Ich wage nicht zu sagen,
daß die Liebe eine Krankheit sei, wage auch nicht zu
behaupten, daß sie keine sei — doch ist sie eine gebä-
rende Gährung der menschlichen Wesen — sie ist eine
gewaltsame, in unsrer Natur wirkende Kraft und es wird
wohl kein Moment im Kreislauf des Menschenlebens
geben, in dem alles Innere der Menschennatur sich le-
bendiger offenbarte, als in der Liebe — mögen wir sie
für Krankheit oder für Gesundheit halten, und darum ist
die Liebe zu kennen auch von dieser Seite wichtig . . .
Ich theilte früher meine Ansicht dem Verfasser mit, und,
wie es scheint, hat er solche seinem Holmar in der Ab-
sicht, mich zu widerlegen, in den Mund gelegt; und doch
sind Holmar's Reden die Wahrheit und diese zu suchen
und retten zu wollen ist Menschenpflicht und Menschen-
beruf, da allervörderst, wo es unmittelbar um die Rettung
oder die Schändung von tausend Mitmenschen zu thun
ist. — Meine Idee sie ist mein Kind, von
den innersten Falten des Lebens habe ich sie geboren,
ohne ihr damals Obdach und Kleidung, Heimath und
Pflege zu wissen; das arme Kind trug ich mit Vertrauen
und Thränen zu ihm — aber er entließ es zur unglück-
lichen Schaar der Heimatlosen — nackend und kalt . . .
wäre Holmar je einer gewesen, so wäre er's noch und
wäre er's jetzt, so wäre er's Immer gewesen . . . daß
er es noch bis zu diesem Verrath fortsetze, das habe ich
nicht gedacht — aber Z. gewiß auch nie, wie gleichgül-
tig er mir ist dieser Verrath — und wie zwecklos von
ihm — denn gesetzt, ich sei selbst — oder ich sei es
nicht — so gleich als zwei Wassertropfen — so gleich
wie blondes oder schwarzes Haar u. s. w."
Indem Hößli sich diese Gleichgültigkeit einredete,
brachte er es fertig, an Zschokke nachfolgendes Schreiben
zu entwerfen:
— 493 —
„Glarus im Juny 1826,
„Verehruugs würdiger Herr!
„Ich habe vor etlichen Jahren meine Freude, Sie
kennen gelernt zu haben, meinem Freunde, dem Herrn
Pfarrer Speich, nicht verborgen. Er kommt jetzt, im
Begriff, nach Aarau abzureisen, zu mir, daß ich ihn
Ihnen empfehlen möchte, wenn Sie ihm ßath geben
könnten, eine Pfründe in Ihrem Canton zu erhalten,
seine hiesige beträgt nur f. 350, was zu wenig ist Wenn
er nicht so still und recht und fromm sein ganzes bis-
heriges Leben seiner jetzigen Gemeinde gewidmet hätte
ohne Tadel, so würde ich gewiü nicht wünschen, daß
Sie ihm Rath ertheilen möchten. Er hat mich über-
rascht, ich weiß ihm jetzt nicht zo entgehen, kein
schicklicher Vor wand stellt sich mir dar, so verwegen
es ist, Ibnen nach Ihrem letzten Schreiben wieder mit
einem Briefe beschwerlich zu sein. Vergeben Sie mir!
Es soll Jahre lang nicht wieder geschehen . . . . und
hier noch das allerletzte Wort des Eros halber » . . .
Vor etlichen Monaten erst habe ich zu meinem Er-
staunen eingesehen, daß ich geradezu eine Sache ver-
theidigtc, deren Dasein in der Natur ich mir be-
weisen wollte, ich bin mit sammt der Thür ins Haus
gerannt, dunkel ahnend, daß Gutes lieber gehört werde
als Böses, und schöner sei, dem Guten das Wort zu
reden als dem Bösen u, s. w, — so ist, was ich schrieb,
eine Art Apologie geworden, mit der ich mir Ihr
Schreiben zugezogen habe. Piaton beschreibt genau
die Natur der Männerliebe, er schildert und glaubt
sie, wie ich sie geschildert habe und ewig glauben
muß? aber der göttliche Plato lehrt, wie das Thierische
dieser Natur überwunden werden soll — er will for-
schen, er will reinigen, bilden, gerecht sein, erziehen,
erheben, nicht ersticken, nicht wegwerten, nicht un-
— 494 —
gehört verdammen, nicht verwahrlosen; wirkliche Na-
turen, die unter seinen Augen stehen, nicht leugnen,
ihnen sagen: «Ihr seid nicht," aber wie durch des
Geistes Macht sie sich vom Staub erlösen sollen,
lehrt sie sein himmlischer Geist, der es nicht könnte
und sich auch nicht dazu gedrungen fühlen würde,
wenn er an ihrem Dasein gezweifelt hätte. Das, was Ihr
Schreiben meine Hauptidee nennt, verachtet Piaton, wie
Sie es verachten, und schreibt ebendeßhalb seine Er-
lösungslehre von derselben. In Ihrem Eros aber sehe
ich jene Naturen bezweifelt — nicht angenommen —
und ich, indem ich das Dasein einer Sache erweisen
wollte, schrieb eine erbärmliche Apologie derselben,
was ich, gegeißelt durch Ihr Schreiben, mit Scham und
Reue einsehen gelernt habe. Dagegen habe ich aber
dennoch eine der jetzigen Welt, selbst Ihnen und Herrn
Doktor Troxler unbekannte Wahrheit laut und rein und
ohne Scheu und ohne Furcht ausgesprochen und ver-
diene von dieser Seite her keine Verachtung. Zwar bis
auf weiteres schweige ich und keinem Freund und keinem
Bruder wird darüber sich mein Herz aufthun; ich
habe das meinige gethan — das ist süß! und sehe, was
die Menschheit ist, das ist bitter! !
„Ueber die im Xenophon (der die Frauen liebte)
angestrichenen Stellen darf ich der Weitläufigkeit
wegen, die Sie mir nicht vergeben würden, nicht ein-
treten, was mich Ueberwindung kostet. Aber beweist
nicht die kürzeste derselben streng das, was ich eigent-
lich will, nämlich, Liebe sei ihrer Natur nach nicht
Freundschaft beim Homer und Freundschaft nicht
Liebe — sie lautet also: Achilles rächt den Tod
des Patroklus nicht als den Tod eines Lieblings,
sondern eines Freundes. Und was sind die Lob-
reden auf des Sokrates Keuschheit ohne das Dasein
dieser Liebe, welcher auch der Liebhaber des herr-
— 495 —
liehen Dichters Agathon sogar in ihrer ungereinigten
Sinnlichkeit eine Lobrede gehalten hat, welche Xeno-
phon zwischen von mir angestrichenen Stellen aus-
schwatzt.1'
„Ich schließe mit dem innigsten Wunsch, daß
Sie und Ihr theures Haus gesegnet sei und stets ge-
segnet bleibe, und mit der Bitte, daß Sie mir groß-
müthigst alles vergeben, und mit der Versicherung
meiner unveränderlichsten Hochachtung
Herr Cantons Kath
Dero ergebenster Diener*
Mit Sicherheit geht aus dem obigen an Zschokke
gerichteten Schreiben Hößli'ä hervor, daß dieser im Juni
1826 die begreifliche Scheu, mit seiner Idee selbst schrift-
stellerisch hervorzutreten, noch nicht überwunden hatte
und der mutige Entschluß zu seinem „Eros* damals noch
nicht von ihm gefaßt warj und doch war er bereits 42 Jahre
alt. Den Zeitpunkt, in welchem diese Wandlung in
seiner Seele vorging, habe ich nicht ermittelt.
Als Heinrich Hößli zu Anfang der dreißiger Jahre
am „Eros* arbeitete, wohnte er auf dem Spiel hofe im
„süßen Winkel" beim Schlossermeister Andreas StüssL
Die Gedanken an seinen Gegenstand beschäftigten ihn
derart, daß er Schiefertafeln und Kreide mit in's Bett
nahm, um deren über Nacht entstandenen Inhalt am
nächsten Morgen zu ordnen und abzuschreiben; auch
schrieb er im dunkeln Hinterzi romer des schwarzen
Adler seine Ideen, so wie sie ihm kamen, um sie nicht
aus dem Gedächtnisse zu verlieren, mit Kreide au die
getäfelte Wand j er spannte eine Schnur an der Wand
aus, um beim Schreiben in der dunkeln Stube die Linie
innehalten zu küuneu; Lieht anzuzünden verschmähte er,
vielleicht, weil im Dunkeln die Gedanken reichlicher und
ungestört ihm zuflössen.
— 496 —
Vom 11. Dezember 1834 bis über den 13. Juli 1835
hinaus stand Heinrich Hößli, damals im schwarzen Adler
zu Glarus wohnhaft, in Unterhandlung mit dem Buch-
händler Fr. Schultheß in Zürich bezüglich des Druckes
seines „Eros". Er hatte sich erboten, 200 Franken zu
zahlen oder die Hälfte der Druckkosten für die beiden
ersten fertigen Bände tragen zu wollen gegen Ueber-
lassung der Hälfte der zu druckenden Exemplare. Die
Verhandlungen liefen aber zunächst ohne positives Er-
gebnis aus, indem die Schultheß'sche Buchhandlung an
Heinrich Hößli schon unter dem 31. Dezember 1834
schrieb: „Wir bedauern wirklich sehr, Ihnen hinsichtlich
der Verlagsübernahme eine ablehnende Antwort ertheilen
zu müssen, denn obgleich wir den Werth der Schrift
vollkommen anerkennen und den Fleiß des Verfassers
bewundern, so können wir uns doch nicht überzeugen,
daß der Absatz der Schrift mit den Kosten des Druckes
im Verhältniß sein werde/ Auf der Rückseite des
Schreibens der Firma steht von Hößli's Hand vermerkt:
„20 Bogen würden höchstens 30, vielleicht nur 25 Ldors.
kosten". Später jedoch betraute dieselbe Firma einen
Freund, „einen Geist-, nicht Buchstaben-Philologen", mit
der Durchsicht des Hößli'schen Manuskriptes zu den bei-
den ersten Bänden; und da der vorsichtige Freund, be-
vor er ein Urteil fällte, auch noch das Manuskript zum
dritten Bande zu sehen wünschte, so erbat sich die
Firma unter dem 13. Juli 1835 auch dieses, erhielt es
aber nicht, da es noch nicht fertig war. Endlich schrieb
die Schultheß'sche Buchhandlung auch noch an den
Buchdrucker Cosmus Freuler in Glarus, nachdem dieser
von Heinrich Hößli mit dem Druck des „Eros* beauftragt
worden war: „Hinsichtlich des Werkes des Herrn Hößli
möchte ich Ihnen rathen, vorsichtig zu sein, indem ich
nicht glaube, daß der Debit die Druckkosten decken
könne; ich habe dies dem H. Verfasser mehrmals ge-
497
sagt und ihn von der Herausgabe abzunehmen gesucht.
— Aus dem gleichen und noch einem andern Grande
müßte ich es ablehnen, daß meine Firma auf den Titel
gedruckt werde und ich mich des Absatzes im Auslande
annehme, der ganz gewiß auch mehr Kosten als Ein-
nahme nach sich zöge/
Bevor Hößli sein Manuskript der Buchdruckerei
Freuler übergab, wünschte er dessen Durchsicht von
Seiten eines Gebildeten; er wählte zu diesem Behuf e den
Lehrer an der Elementarschule zu Glarus Burghard
Marti; dieser jedoch wies HöJJli's Ansinnen zurück; Da-
gegen übernahm diese Revision bereitwillig der Lehrer
an der Sekundärschule zu Glarus Gottlieb Strässer *).
Noch während des Druckes des ersten Bandes seines
„Eros* erhielt Hößli durch den Studenten der Philosophie
Job. Christ Tschudi aus Zürich Anfangs Juli 1836 von
diesem erbetene Bücher zugesendet mit dem brieflichen
Vermerk: „Es wird überflüssig sein, zu bemerke n3 daß
Sie in Platon's Symposion, das ich gerade in der Ur-
sprache durchlese, bedeutende Materialien zu Ihrer
J) Gottlieb Strässer wurde 1801 au Keraecheid geboren,
war bis 1852 Lehrer an der Sekundärschule zu Glarus, einer vier-
klangen Realschule, welche von den jungen Leuten, nachdem sie
diel Elementarschule im 12. Lebensjahre absolviert, im 18. besucht
wurde, und kam von da nach Abö haften bürg-, woselbst er erkrankte,
von seinen ehemaligen Glarner Schülern durch eine freiwillige
Kollekte unterstützt wurde und am 23, Juli 1862 arm verstarb; er
war eine Zeit lang auch Vorsteher der ehemaligen ^Evaugel. Lan-
desbibliothek0 in Glarus, welche jetzt im Geriehtshause unter-
gebracht ist; hier wird ein Manuskript aufbewahrt des Titels:
„Quellen zur Glarnergesehlehte. Mit Vorrede von G. St 184^, Mit
Nachträgen von Peter Leuzinger* Fol*" In diesem Manuskripte fin-
det sich die Notiz: „H, Hößli f 1864. Verf. d, Eros, die Männer-
liebe der Griechen. Der grüßte Theil wnrde seiner Zeit confiscirt,"
— Diese Notiz brachte mich erst auf den richtigen Weg, um wel-
chen von den zahlreichen Heinrich Hößli von Glarus es hier sich
handelt.
Jahrbuch Y. 32
— 498 —
\
Schrift finden" — ein Beweis, daß Hößli für ihn frucht-
bare Hülfe zu finden verstand, daß man seinen Wert
zu schätzen wußte und daß es ihm an entgegenkommen-
dem Verständnis nicht fehlte. Erst im Dezember 1836
hatte des „Eros" erster Band die Presse verlassen und
konnte versendet werden; hierüber Aufschluß gibt ein
Schreiben des H. Dietrich Schindler aus Mollis vom
20. Dezember 1836, welcher das ihm zum Kaufe ange-
botene Exemplar mit dem Bemerken zurücksandte: „Ich
las mir einige Abschnitte und halte es nach diesem für
einen interessanten Versuch, über einen in mannigfacher
Hinsicht wichtigen Punkt mehreres Licht zu verbreiten
oder zur weiteren Untersuchung Veranlassung zu geben."
Hößli's reine Freude über das gelungene Werk bezeugt
folgendes Fragment seines Schreibens an einen Unge-
nannten (wahrscheinlich Troxler):
„Aber ob wir dies Denkmal unter eines Galgens
schauderhaftem Schutt zu errichten Pflicht hatten oder
nicht — das entscheide der Genius der Menschheit —
der Geist wahrer Religion.
„Was Sie, Freund der leidenden Menschheit, hier
empfangen, hatte bei den Griechen nicht gefunden werden
können; es sind Resultate jener und späterer Zeiten —
und ich schreibe über ein Verkennen und dessen Folgen
und über eine Unwissenheit, die Griechenland nicht um-
nachtet haben. Die Humanität der Griechen und das
spätere Versinken unsers Geschlechts haben nur vereint
mir diesen Blick in's innere Menschenthum geben können.
„Ich zweifle nicht, daß, wenn ich hier die Erzeugungs-
und Fortbildungs-Geschichte meiner Idee beschrieben hätte,
auch sich mein Endzweck sicherer gefunden haben würde.
Aber das wäre der Arbeit für Jahre genug und in einer
Lage wie die meine nie möglich.
„Wenn das, was ich hier Gott weiß wie hingeschrie-
ben habe, zu überzeugen hinreicht — so ist mein Triumph
r
— 499 —
der größte eines Sterblichen, man hat nur alsdann einen
Maßstab für ihn, wenn man glaubt, daß ich mit meinem
Leben der Menschheit diese Wahrheit kaufen wollte. Sic
steht in ihrer Himmelshoheit vor mir, aber ich vermochte
keinen Zug in seiner Majestät von ihr zu geben und Winke
sind es nur und Wünsche, — Ob sie verstanden und erfüllt
werden können oder nicht? — Im letzt ern (Fall bab' ich
die schwere Pflicht erfüllt — meinen Schlaf und Schweiß
und vieles noch zum Opfer dargebracht und mich ver-
senkt in alle Dunkel einer Menschen seele — wegen
der ewigen Wahrheit und der namenlosen Dulderin, der
Mutter und ihres Sohns am Rad, Jetzt thun Sie das
Beste — ich weiß es — die Seele eines edlen Mannes
umarmt eine Welt. Im erstem Fall — ertrüg ich ihn 1
vermag ich ihn zu denken? empfing noch vor dem Tode
der Dulderin des Sohnes gebrochenes Bein ein Friedhof?
Und meine Lehre schrieb ich besser hin — ein anderes
Denkmal der erlösenden Wahrheit und der Völkertugend
Griechenlands*
„Zu unsrem Gebäude ist die Naturlehre das Funda-
ment, hier sind zwar noch roh durch einander geworfen,
die Materialien dazu, weihen Sie! den Eckstein ein —
so bau' ich fort — der Entwurf zu einer Sitten- und
Bildungslehre ist da. Diese zwei letzteren Theile
werden erst, was jetzt noch roh und frucht- und planlos
scheint, erklären.
„Wäre es vielleicht ein Scherflein auf dem Altar
Griechischer Weisheit, wenn Herr Professor Dannecker,
den ich zwar nie gesehen habe, aber wegen seines Eros1)
um ein Urtheil über meine Idee gebeten würde?
„ So viel ich noch zu sagen hätte, muß ich schließen,
Gott segne Ihr Thun, Wohlthäter der Menschheit ! Ich bin
mit tiefster Hochachtung Ihr Verehrer,"
Heinrich HöMi: Eros I S. 296.
82*
— 500 —
i i
Allein sein Glück sollte dem Verfasser des „Eros"
bald vergällt werden. Denn kurz nach dem Er-
scheinen des ersten Bandes, am 13. Januar 1837, wurde
Heinrich Hößli auf Veranlassung des Evangelischen Rates
von der Kanzlei der Regierung von Glarus eingeladen
und aufgefordert, von seiner Schrift »Eros*, dessen 1. Band
nebst den bereits gedruckten Bogen des 2. Bandes ein-
zureichen der Buchdrucker Freuler als Verleger schon
beauftragt wäre, den ganzen Rest des Manuskriptes zum
2. Bande umgehend „zu geeignetem Gebrauche" zu
übermitteln.1) Hößli scheint der Aufforderung auch
nachgekommen zu sein, aber zugleich eine Rechtfertigung
seines Buches versucht zu haben, indem er dem Evange-
lischen Rate seine Meinung nicht vorenthielt. Zeugnis
dessen sind in seinem handschriftlichen Nachlasse be-
findliche Papiere mit Bemerkungen, welche nicht wohl
*) Das Schreiben lautete:
Herrn Heinrich Hößli, Handelsmann, Dahier.
Glarus den 13ten Jänner 1837.
Im letzten Evangelischen Rathe wurde die von Ihnen dem
Druck übergebene Schrift, betitelt „Eros oder Männerliebe"
besprochen und uns von demselben der Auftrag ertheilt, sich den
gedruckton ersten Band sowie die gedruckten Bogen zum 2ten
Band und zugleich das Manuscript zu verschaffen.
Wir wandten uns sofort an Herrn Buchdrucker Freuler als
Verleger dieser Schrift, der uns auch den ersten Band sowie die
gedruckten Bogen des 2. Bandes übermittelte, dabei aber bemerkte,
daß das Manuscript in Ihren Händen sich befinde.
In Folge dieser erhaltenen Rückäußerung wenden wir uns an
Sie mit der Einladung und Aufforderung, uns umgehend das
Manuscript dieses besagten Werkes zu geeignetem Gebrauche zu
übermitteln.
In dieser bestimmten Erwartung besteht achtungsvoll
Die Kanzlei.
Für dieselbe
Schmid
Landschreiber.
— 501
anders denn als Entwürfe zu einer solchen Antwort ge-
deutet werden können:
BE Pfr. * * *
„Richter — Anatomen — Gesetzgeber — Natur-
forscher — sind alle ihre Angelegenheiten und Stoffe
Gegenstände geselliger Unterhaltung?!!
„Habe ich eine Schrift für Ihren Wirkungskreis ge-
schrieben? oder wird ein vernünftiger Mensch sie in
solchen hineinreLßen ? ! !
„Man kann nicht bezweifeln, daß gerade diejenigen
Dinge, Über die man sich in einer öffentlichen Gesell*
schaft zu reden billigermaßen schämte, dennoch zuweilen
zu den wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens ge-
hören können; es ist also ©ine tiefe Bosheit oder Dumm-
heit, die diese Schrift gewaltsam in einen Kreis hinüber-
reißt, für den sie nicht bestimmt ist, in den sie nicht
gehört, also bloß, uro sie dann da zu verdammen; in
der Bibel sind mehr Stellen, die sich ohne Erröthen in
keiner Gesellschaft verhandeln ließen, als in meinem Buch.
„Dem Buch, das durch den Stillstand von Glarus jetzt
zum Gegenstand Ihrer Verhandlung geworden, hat sein
Verfasser absichtlich den nicht anziehenden Titel gegebe n,
den es nun hat, damit es sowohl hier als anderwärts nur
von wenigen wissenschaftlichen Männern gekauft und
verstanden werden möchte. Daher kann es ihm nur
höchst erwünscht sein, Hoehdemselben hiermit die
schriftliche Erklärung ehrerbietigst zu überreichen, nämlich
daß er dieses Buch im hiesigen Canton (außer an seine
wenigen Herren Subscribenten als nunmehrige Besitzer
des 1, Bandes) an niemand weiter mehr verkaufen, noch
sonst abgeben, ankündigen oder fortdrucken lassen werde.
Er bittet aber dagegen Hochdenselben um seine Schrift,
sein Eigenthum, damit er gelegentlich den ehrenden Still-
stand der Gemeinde sowohl als den Hohen Rath des
— 502 —
j Cantons Glarus über die vollständige Idee und Gefahr-
j losigkeit seines Baches beruhigen könne. Inzwischen er
; sich in dieser Angelegenheit mit ehrfurchtsvollster Er-
gebung dem Schutze seiner hohen Obrigkeit empfiehlt.
„Meine Schrift führe zu einem Verbrechen — Knaben-
1 schänderei — also ich schrieb über dieses Verbrechen,
i '
| ich will es prüfen und damit jedem Richter einen Dienst
leisten, dafür ich allen Dank erwarte: man ist über einen
■ Kriminalgegenstand hoffentlich doch gern im Reinen.
! »Will man eine Schrift, Idee oder Lehre verurtheilen,
ohne sie zu kennen — und kennt man ein nicht halb
; geborenes Werk? weiß man jetzt schon ganz, was ich
will? Man muß mich ganz abhören, das heißt, mir gnädig
erlauben, mein Buch mit meinem Geld zu drucken und
ihm alsdann — sein Recht widerfahren lassen.
„Man will hier die Obrigkeit vorführen, man will
sie hier zum Werkzeug der Unwissenheit und Bosheit
mißbrauchen.
„Ich sage immer und zwar mit allem Recht: dieses
Buch ist ein rein wissenschaftliches — und man will da
diese hohe Behörde gegen mein Buch und mich zu einer
rein wissenschaftlichen machen — man spielt mit ihr gegen
einen Bürger, der nicht weniger werth als meine Gegner.
„Die zwei Titelblätter, genau, buchstäblich, wie sie
jetzt vor beiden Bänden stehen, gab ich, gedruckt bei
C. F., herum — auf diese hin machte man sich für. den
Ankauf eines Exemplars verbindlich. Nim fragen wir:
sprachen diese zwei Titelblätter mit ihren Motto's eine
bestimmte, begreifliche, menschliche, vernünftige Aufgabe
aus oder keine?
„Herr Straßer hat gesagt, das Buch ist wahr, aber
— Ich Monarch verbiete es — Griechenland ist durch
die Ausschweifungen der Mäunerliebe untergegangen —
Stehlen ist ein Verbrechen und man kann mit dieser
Natur geboren sein — Man kann doch gleich heirathen,
iL
j03 —
es gibt ja nur Unglück liehe Ehen — Abnormitäten, Aus-
artungen, Auswüchse, Unkraut! Poesien sind Phantasie,
gelten und bedeuten nichts.
„Ich erinnere mich eben, daß einst ein Mann anläß-
lich zu mir sagte: Alle diese (oder solche) Menschen
machen nie ein Glück, sie kommen immer in Zerfall
— und erst nach Jahren ward es mir sonnenklar,
daß dieses eine höchst wichtige Beobachtung und Wahr-
heit sei ■ — die wohl wenig eingesehen wird; so sind
sie ganz richtig durch uns zum Fluch geboren, ja
durch uns zum Fluch geboren, und das ist die ganze
Wahrheit, der ganze Triumph unsers diesfühlig herrlich-
sittlichen Standpunkts.
„Preßfreiheit ist nicht Lasterfreiheit, Durch die Presse
tritt der Urheber des Guten und Schlechten, eben in
diesen Eigenschaften, ans Licht; und es tritt der Mensch,
die Wahrheit, die O Öffentlichkeit, die allgemeine Vernunft
in ihrer vom Schöpfer beabsichtigten Thätigkeit auf —
darin liegt eben der Werth der Presse. Ein schlechtes
Buch wird durch sein Erscheinen nicht sicher, es über-
liefert sich selbst wie rasend dem Gericht der "Welt, der
Verachtung, dem Spott, und es muß, was in seiner Absicht
nicht liegt, gerade dem Guten und Wahrhaften Thür und
Thor öffnen,
„ Wollten Hochderselbe mir mein nun einziges Ehre-
Rettungsmittel untersagen? (das heißt^ den Druck meines
Buchs) — — — Wenn Sie mich das Buch drucken
lassen, alsdann geschieht gewiß, was in der Pflicht liegt,
ich werde gerichtet durch das Buch oder geschützt und
gerettet durch das Buch und das liegt beides in der
Obliegenheit
„Geben Hochderselbe auch zu, daß sich verlarvte
Menschen, das heißt solche, die sich mir nicht nennen
(ich habe mich genannt), geheim gegen die h. Wahrheit
— Ö04 —
meines Buchs und auch gegen mich, meine bürgerlichen
Rechte stellen? Ich heiße hier und vorn auf meinem
Buch
Heinrich Hößli."
Das Endergebnis der Verhandlungen Heinrich
Hößli's mit der Behörde war dieses, daß er die Auflage
seines Werkes zwar behielt, auch sein Manuskript zurück-
bekam, daß er aber innerhalb des Kantons Glarus weder
ein weiteres Exemplar des bereits Gedruckten verkaufen,
noch sein Manuskript weiter drucken lassen durfte. Ge-
mäß einer Bekundung soll er eine schwere Buße (angeb-
lich 2000 Franken oder mehr) haben zahlen müssen, nach
einer andern Quelle kam er dagegen ohne Buße davon.
Seinem bisherigen Buchdrucker Freuler war damit die
Möglichkeit des Weiterdruckes abgeschnitten.
Man wird sich schwer des Argwohns entschlagen
können, daß das Vorgehen des Evangelischen Rates
gegen Hößli nicht lediglich Heinrich Hößli's wenn auch
entschiedener so doch von jeglicher Lüsternheit freier Ver-
teidigung der gleichgeschlechtlichen Liebe gelten sollte,
sondern mehr und vielleicht besonders seine religiös-freie
Denkungsweise, der er durch Einbeziehung von Hexen-
prozeß und -glauben, Pfaffen und Teufeln in sein Werk
von der Männerliebe der Griechen unverhohlenen Aus-
druck gab, zu treffen bestimmt gewesen ist. War schon
die Darstellung der geschlechtlichen Natur der Männer-
liebe zu damaliger Zeit eine sehr bedenkliche Kühnheit,
welche höchste Vorsicht erforderte, so muß gar ihre
Verquickung mit Angelegenheiten des Glaubens als
äußerst unvorsichtig bezeichnet werden. Der Gedanke
eines Parallelismus zwischen Verfolgung gleichgeschlecht-
licher Liebe und den Prozessen gegen Hexen, welche
wie ein roter Faden durch beide Bände des „Eros" sich
hindurchzieht, mag dazu mitgewirkt haben, daß auch
Solche Hößli nicht verstehen wollten, die ihn hätten ver-
. i
— 505 —
stehen nnd der Verbreitung seiner Erosidee hätten förder-
lich werden können, daß er zur Zeit seines Auftretens,
im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts, unbeachtet blieb
oder totgeschwiegen wurde, daß er tauben Ohren predigte
und nach dem Erscheinen seines ersten „ Eros "-Bandes be-
reits einem geschlossenen Widerstand sich gegenüber sab?
an dem selbst seine im höchsten Maße opferwillige und
trotzige Energie und seine von un unterdrück barer Ueber-
zeugung getragene Willenskraft nach kurzem Kampfe
zerschellte; diese unglückselige Verquickung von Liebe
mit Glauben, welche freilich in seinem Gerechtigkeits-
gefühle wurzelte, mag vorzugsweise die Schuld tragen,
daß Hößli am Siege seiner Wahrheit für absehbare Zeit
endgültig verzweifeln mußte und ein Prediger in der
Wüste nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern bis auf die
heutige Stunde geblieben ist Sein großes unsterbliches
Lebenswerk, sein zweibändiger „Eros", hat denn auch tat-
sächlich das Schicksal erlebt, daß es an der Wende des
19. Jahrhunderts, fast 60 Jahre nach seinem Erscheinen
und fast 30 Jahre nach Hößli's Hinscheiden, von einer
Seite, welche HößIiJs Wiesen und Bedeutung mit Ver-
ständnis zu erfassen vermochte, in zwei völlig getrennte
Bücher zerlegt worden ist — in „Hexenprozeß und
-glauben, Pfaffen und Teufel" einerseits und in
„Mann er liebe der Griechen* andererseits.1)
J) 1, Hexenproceß — und Glauben, Pfaffen und Teufel. Als
Beitrag zur Cultur- und Sittengeschichte der Jahrhunderte. Von
Heinrich Hüßii, Leipzig, H, Barsdorf. 1892. 80 Seiten in Oktav.
— Diese Schrift enthält manches ausgeführt, was in Hößli1 s „Erosu
nur angedeutet ist, außerdem vieles von Hößli gar nicht berührte,
eodaß über die Hälfte ihres Inhalts gar nicht von unserem Heinrich
Hößli stammt.
2. Eros. Die Männerliebe der Griechen, ihre Beziehungen
zur Geschichte, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten, Oder
Forschungen über Platonische liebe, ihre Würdigung und Ent-
würdigung für Sitten-, Natur- und Völkerkunde. Von H* Ho"ßli. Zweite
— 506 —
Dieses Mißgeschick jedoch, das Verbot des Vertriebes
und des Weiterdruckes seines Eros innerhalb der Gren-
zen des Kantons Glarus, brach Hößli's Wagemut noch
nicht; — er sah sich nur genötigt, nach einem Ersätze
für den Drucker Freuler in einem anderen Kanton sich
umzusehen, und einen solchen fand er alsbald in der
Person des J. Fr. Wartmann in St Gallen. Mit Hülfe
dieses ausgezeichneten Mannes gelangte Heinrich Hößli
sicher und schnell zu seinem ersehnten Ziele. Vom
zweiten Erosbande waren bereits 8 Bogen gedruckt, nur
die Seiten 43 und 44 mußten als unbrauchbar verworfen
werden; der schriftliche, den Druck des Eros betreffende
Verkehr zwischen beiden Männern währte vom 17. März
1837 bis zum 31. Oktober 1838; alsdann war der Druck
auch des 2. Erosbandes vollendet. Der Austausch der
Gedanken zwischen Wartmann und Hößli hatte in-
zwischen vertraulich, fast herzlich, ja freundschaftlich sich
gestaltet ; öfter war die Rede von geplanten persönlichen
Zusammenkünften, bei denen dann auch der „liebe Kubli"
immer eine Rolle spielte. Wartmann führte Klage bei
Hößli über unleserliches Manuskript: „Bei diesem Anlaß"
— schreibt er am 10. Juni 1837 — „nehme ich mir die
Freiheit, eine Bitte an Sie zu richten, die Sie mir gewiß
nicht übel deuten werden. Es kommen nämlich in dieser
Manuskriptsendung einige Blätter vor, wovon ein paar
nur mit der größten Mühe und eines (wie Sie in der
Korrektur finden werden) an einigen Stellen gar nicht
entziffert werden konnten. Ich muß Sie deßwegen im
Interesse der Sache wirklich dringend bitten, etwas mehr
Auflage. Münster i. d. Schweiz. IL und 125 Seiten in Oktav. Von
H. Barsdorf, Leipzig, übernommen. — Diese Schrift ist ein etwas
dürftiger, stark vernüchterter Auszug aus dem Originalwerke mit
Auslassung aller auf Hexenprozeß und -glauben, Pfaffen und Teufel
bezüglichen Stellen; die Wortstellung Hößli's ist z. T. modernisiert,
die Reihenfolge der Sätze willkürlich gewechselt.
— 507 —
Sorgfalt auf dasselbe zu verwenden; denn äußerst unan-
genehm ist es für den Verfasser eines Werkes wie für
den ebrliebenden Buchdrucker, wenn auf diese Weise
sinn- und gei st störende Fehler einschleichen." Ein an-
deres Schreiben Wartmann's vom 10. Oktober 1837
nimmt Bezug auf den Evangelischen Rat: „Die Glarner
Sperren scheinen Retraite schlagen lassen zu wollen und
zu dem lieben Juste-milieu zurückzukehren. War es dann
wohl der Mühe werth, einen so gewaltigen Lärm in der
Welt zu machen, wenn man am Ende doch den Muth
nicht hat, einigen intriganten Pfaffen den Hals zu brechen?"
Wartmann gelang es? auch die Verlagsbuchhandlung C.
P, Scheitliu in St Gallen zur Uebernahme der Kommis-
sion für beide Erosbände mit 50 % Provision zu ge-
winnen: „Dem mit dem Bucbhäudlergeschäft nicht Ver-
trauten" — schreibt er unter dem 28. Januar 1838 an
Hößli — »mag allerdings diese Forderung etwas hoch
erscheinen ; allein es ist zu bemerken, daß Hr. Scheitlin
allen andern Buchhandlungen 25 % geben muß, daß ferner
alle Spesen für Fracht, Ankündigungen des Werkes und
dergl. auf seine Rechnung1 fallen. Den Preis der zwei
Bände dürfte man auf 3 h\ oder mindestens auf 2 fl. 42
stellen/
Ueber Heinrich Hößli's Gemütsverfassung während
des Druckes des 2, Bandes seines „Eros* in St. Gallen
giebt ein Schreiben Auskunft, welches aller Wahrschein-
lichkeit nach für den von Hößli im „ErosÄ zitierten Ver-
fasser einer Metaphysik, den Professor Troxler, bestimmt
war und dessen Konzept in HößÜ/s Nachlasse vorliegt;
„Glarus, ira May 1838.
„Hochzu verehr ender Herr Professor!
„Obscbon mich die so vollständige Uuverhältnili-
mäßigkeit meines geistigen Standpunktes zu dem Ihrigen
abschrecken will von dem Schritt, den ich hier wage:
— 508 —
so ermuthigt und treibt mich dagegen wieder der Geist,
den ich bald am Himmel, bald über der Erde, bald außer
mir, bald in mir wandeln und wirken sehe, der mich
genöthigt hat, diese Schrift, die ich Ihnen, ehrwürdiger
Herr! hier in Demuth und Ehrfurcht lasse zuschicken,
und die auch in Ihrem Geist in viel weiterem Sinn und
Kaum als in mir wirksam ist.
„In den zwei platonischen Gesprächen Phädrus und
Symposion sind, obwohl von unsrer Zeit noch nicht
erkannt, Religion, Natur und Kunst — von deren Ein-
heit oder ewigen Unzertrennlichkeit Ihre Seele so tief
erleuchtet ist — dennoch gleich gewiß vorhanden, als
diese zwei Schriften selbst vorhanden sind. Da indessen
aber das ihnen zu Grunde liegende Prinzip oder ihr eigent-
liches und ausschließliches Natur-Element uns darum im
Dunkeln liegt, weil wir es bisher immer nur umgangen,
statt erforscht, aufgesucht oder festgehalten haben — und
uns dadurch dann auch zugleich ihre Religion und Kunst,
wie sie mit der Natur unzertrennlich Hand in Hand
gehen — eben gerade weil sie in ihrem eigentlichen
Leben untrennbar sind, in die größte Verwirrung, Un-
bestimmtheit und Nutzlosigkeit gestellt, verloren oder,
da wir ihre Natur im Begriff, in der Idee nicht haben,
so haben wir auch ihre Kunst nicht und ihre Religion
nicht. Aber die in menschlicher Natur tief und unzer-
störbar begründete, ewige Idee derselben umfaßt und
bedingt, ganz angemessen Platon's geweihter Seele,
wahrlich weit andere, bestimmtere, unaufhörlichere,
wichtigere und heiligere Beziehungen zur Menschen-
gesellschaft, als wir bisher eingesehen, geahnt oder
unsere schwankenden Begriffe enthalten und angedeutet
haben.
„Der Wink ernster Menschenliebe, über die Folgen
und Bedeutungen unsres da so irrigen, so unbestimmten
Standpunktes — und des griechischen, nicht irrigen zu
— 509 —
Plato und der Menschheit in Betreff" des so wichtigen,
positiven und unverborgenen Naturgegenstandes der
beiden benannten Kunstwerke — den ich Ihnen liier
zur Beurtheilung durch gefällige Vermittlung des Herrn
J. F. Wartmann zu überreichen wage, ist freilich nur
das überaus mangelhafte und rohe Werk eines eben
so wohl Schule und Erziehung, als Hüfsmittel und
Muße ermangelnden, in aller Verlassenheit leidenden
und zum Theil auch verfolgten Menschen. Ich will
Ihnen, ehrwürdiger Herr, hier keine von den Gedanken
der Vorworte beider Bände wiederholen, sondern nur
auch für diese Sie um einen Ihrer Tief blicke in das Wesen
der Religion, Natur und Kunst oder des Mensehen
eben so dringend bitten, als um ein kurzes Resultat
Ihrer mir so hochwichtigen Ansicht und zugleich dann
endlieh auch um groß inüth ige Vergebung der Freiheit,
die ich anmit zu nehmen mich gedrungen fühlte, und
diesen Anlaß nur noch dazu benutze, der besondern,
individuellen Verehrung zu gedenken, mit der ich zeit-
lebens sein werde3 hochzu verehrender Herr Professor,
Ihr ergebener
H. Hößli jünger,"
Bis zur Fertigstellung des 2. Bandes des „Eros* reichte
Hößli?s Kraft und Energie; dann hat er jede Absicht
öffentlichen Wirkens jäh aufgegeben. Die zahlreichen Vor-
arbeiten zum 3. Bande ließ er unverändert liegen, aber
ohne sie zu vernichten. Er redete sich fortan ein, daß
sein Werk nichts tauge^ daß der wirksamen Darstellung
seiner Eroaidee er selber nicht gewachsen sei» In einem
Briefe wegen der j iiugsten Schrift über den Hexen-Prozeß
und eine ältere von J, F, Rubel schreibt er: „Bios um
Wort zu halten, kommt der Eros hier auch mit. Sie
werden ihn nicht lesen — ■ wegwerfen, denn schlechter ist
kein Buch geschrieben; und es ist auch zum Theil dieses
— 510 —
Gefühl, diese Ueberzeugung, daß ich den 3. Thl. liegen
ließ; je tiefer ich von der großen Bedeutung der Idee
ergriffen bin, um so sicherer ist auch meine traurige Ueber-
zeugung, daß sie nur durch einen großen, gebildeten,
gelehrten Mann unsrer Zeit gemäß darstellbar ist; wie
einst den Griechen durch Plato, der noch so prächtig
dasteht. Der Stoff, wie jedes Element der ganzen Schöpfung
ist immerwährend vorhanden: zum Heil oder zum Ver-
derben ... da aber sitzt der Verfasser des ersten oben
berührten Schriftleins Pag. 157 Zeile 4, 5 u. 6 wahrlich
noch im dicken Nebel."
Allein wie sehr seine Erosidee bis in sein Greisen-
alter Hößli beschäftigte und ihm am Herzen lag, davon
zeugt die verlorene rührende Klage im Konzepte eines
Briefes von ihm aus dem Jahre 1855: »Wie froh wäre
ich, alle meine die Idee des Eros betreffenden zahlreichen
Bücher einem fähigen Manne im Interesse einer ver-
lassenen Wahrheit überlassen zu können: und der hätte
bei mir den Rechtstitel darauf — weil ich heute oder
morgen sterbe, denn ich bin schon 71 Jahre alt." Und
hatte Hößli auch mit dem Jahre 1838 alle Hoffnung auf
öffentlichen Erfolg vollends aufgegeben, so verlor er da-
mit gleichwohl nicht die Lust, seine Erosidee weiter zu
begründen, zu erforschen und zu vertiefen. Zeugnis
dessen sind zahlreiche Auszüge und Bemerkungen seines
handschriftlichen Nachlasses, Notizen, welche bis in das
Jahr des Todes des achtzigjährigen Greises reichen, von
denen eine beschränkte Auslese hier Aufnahme finden möge:
Nov. 1854 : Es war der Fluch unserer Irridee, die
auch am Leben dieses Göttlichen (J. v. Müller) nagte.
24. December 1858: Glarnerzeitung. Bern. Die
Fleischvergehen scheinen sich auch in diesem Canton,
wie in Zürich, zu vermehren. So werden nächstens vor
den Geschwornen des Mittellandes wieder 3 Anklagen
auf widernatürliche Unzucht verhandelt.
J
— 511 —
*7' 4. Juni 1859: Neue Glarnerzeitung, 3, Jahrgang,
kriminal statistische Notizen vom May 1858 bis 59.
. . . . jene Prozeduren moderner Raffiniertheit, die ander-
wärts im Vordergrund der Schwurgericht! ich en Dramen
stehen, kennen wir bei uns noch nicht und auch das
wüste Feld der unnatürlichen Fleischverbrechen, die
anderwärts in der ganzen Abscheu! ich k ei t ihrer Formen
immer wieder auf den Traktanden stehen, ist unter uns
Gottlob unbekannt!
1859: Die Liebe von J, Michelet. Uebersetzt von
F. Spielhagen, Leipzig, J. J. Weben 1859. — Dir habe
ich Michelet's ewig bewunderungswürdiges Buch „von
der Liebe" oder vielmehr von der göttlichen Tiefe des
Weibes zu danken und durch solches die Ueberzeugung
gewonnen, daß es wirklich Mensch en, Männer, Geister
gibt wie dieser Michelet; das sind Seher, Lehrer, Ge-
miither, Seelen, Engelszungen, Priester und Diener an
den Altären der Menschheit, der Tugend, der Religion,
der Natur. Von diesem Buch mochte ich viel reden —
das ist ein Sinn, ein Griffel, eine Sprache, ein Geist
Daß du den Sinn hattest, mir dieses Buch mitzutheilen,
freut mich sehr, — Ü daß wir auch über andre Sphären
der Wunder dieser Weltschöpf ung solche Bücher hatten. ])
18. Nov. 1860: — ja! ja! aber um der Tugend und
der Vergöttlichung der männlichen Liebe willen — wie
bei der zweigeschlechtlichen die Venus Urania — war
für die Männer liebe der Eros in Tempeln und Gym-
nasien , . , .
9. April 1861 : Landbote No. 84, Winterthur. Ver-
mischtes. — Unter den Miszellen eines deutsehen Blattes
*) Das Werk J, Michelet's, Die Liebe, Übersetzt von Fried r.
Spielhagen, bildet 3 Bündchen (2523—2525) der Philipp Reclanf sehen
Univers al-Bibliothek (Preis fiO Pfennige).
— 512 —
lesen wir folgendes : In Vevey am Genfersee genießt das
Hotel des Trois Couronnes, auch Hotel Monnet genannt,
eines altbewährten Rufes. Aber Herr Monnet, der dieses
Etablissement gründete und so glücklich emporbrachte,
genießt nunmehr einer behaglichen Kühe. Und die
Sache ist folgender Maßen gekommen. Vor etwa zwei
Jahren logierte in dem Hotel ein reicher Russe und fand
an dem ihn empfangenden Oberkellner, einem Frankfurter-
kinde, ein besonderes Wohlgefallen; ja seine Zuneigung
stieg so weit, daß er den jungen Mann um seine An-
sichten und Pläne für die Zukunft befragte. Diese
waren so bescheidener Natur, daß er die Frage seines
Gönners, „ob er nicht gern dieses Hotel übernehmen
würde?1*, für einen Scherz nahm. Aber der Russe meinte
es anders; nach Jahresfrist kehrte er nach Vevey zurück,
hat das große Etablissement für 1250000 Franken ge-
kauft und unter bestimmten, sehr mäßigen Bedingungen
dem glücklichen Oberkellner überlassen, der es hoffentlich
eben so gut verwalten wird, als der Gründer desselben.
3. December 1862 : Landblatt No. 288. — Lucern.
Jener Heini, Bedienter des Nuntius, der wegen unnatür-
licher Vergehen verhaftet wurde, ist vom Kriminalgericht
zu 6 Jahren Zuchthaus verurtheilt worden.
4. Juni 1863: Neue Glarner Zeitung No. 67. Unter
Verschiedene*. Turin. In dem ökandalprozeß der
Priesterkongregation der unwissenden Brüder „Ignoran-
j telli* kommen ttlglieh neue Fakta zur Kenntniß, welche
es unbegreiflich erscheinen lausen, wie diese Gesellschaft
ihr (lewerbe so lange ungestraft treiben konnte. Von
den 260 ZOgllngen, welche das Institut von San Primi-
tive umfaßt, soll mehr als ein Drittheil der viehischen
Gemeinheit der Brüder zum Opfer gefallen sein. Der
Prozeß gegen die Ignomntelli soll auch zu Untersuchun-
gen bei einem ihnen verbündeten Frauenorden geführt
— 513
haben, wobei sehr ärgerliche Dinge an das Tageslicht
gekommen seien.
6. Juli 1863 : Landblatt No. 159. Turin. Bekannt-
lich ist vor längerer Zeit ein Prozeß gegen die Brüder
„ Ignorant! " (eine klerikale Genossenschaft) wegen Ver-
brechen gegen die Sittlichkeit anhängig gemacht worden.
Das nun gefällte Urtheil lautet auf 5 Jahre Gefängniß-
strafe gegen Bruder Arcadius wegen Unzucht; zwei an-
dere Brüder worden auch der Unzucht schuldig erkannt,
mußten aber, da kein Privatkläger aufgetreten, frei ge-
sprochen werden.
Der schwerste Schlag, der Heinrich Hoßli überhaupt
treffen konnte, war ihm für sein Greisenalter vorbehalten.
Als er 1857 oder 1858 nach Lachen, Bichterswyl
(oder Wadenschwyl) zog, übergab er den ganzen ihm
noch verbliebenen Rest seiner „Eros "-Auflage dem Besitzer
der Eisenhandlung im Löwen zu Glarus, Herrn Josua
Durst, der ihn oben im Ritters aale unterbrachte — und
hier ist, was vom „Eros" den Weg in die Welt noch nicht
gefunden hatte, vom 10. bis 11. Mai 1861 bei dem großen
Brande von Glarus *), der die halbe Stadt einäscherte,
noch 3 Jahre vor Heinrich Hößli's Ableben, durch Feuer
vollständig vernichtet worden.
*) Die Literatur über den großen Brand von Glarus 1861;
1. Der Brand von Glarus am 10/11. Mai 18(51. Berichterstattung
des Htilfskomite in Glarus, Glarus, Friedr, Schund jun,, 1862. 80
Seiten nebst Beilagen von 44 und 60 Seiten in Quart. — 2. Der
Brand in Glarus in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1861. Ab-
druck aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Mai 1861. Zürich,
Grell, Ftißli und Comp. 1861. 16 Seiten nebst Karte von Glarus,
aufgenommen am 12. Mai 1861. In Oktav. — 3. Das alte Glarus,
Album mit Plan und 20 Ansichten aus Glarus vor dem Brande von
1861 nach Aufnahmen von H. Brunner Haffter in Glarus, in Licht-
druck vervielfältigt von Rom ml er & Jonas in Dresden. Mit er-
läuterndem Text herausgegeben von der Gasin nges ellschaft in Glarus.
Glarus 1901, 10 Seiten und 18 Tafeln.
Jalubiich v. 33
1 1
— 514 —
Zum Schicksal eines Buches gehört auch die Er-
örterung, wie es vom Publikum verlangt und wie es be-
urteilt wird.
Durch den großen Brand von Glarus zu einer Rari-
tät geworden, ist der „Eros* Hößli's im Buchhandel äußerst
selten ; da aber Hößli mit geschenkten Exemplaren nicht
kargte, so kann man am ehesten noch darauf rechnen,
ein Exemplar aufzutreiben, wenn man sich an die noch
lebenden Freunde oder Verwandten Hößli's oder deren
Nachkommen wendet; allein auch dann wird man oft
eine Enttäuschung erleben.
Gedruckte literarhistorische Urteile über Heinrich
Hößli's „Eros" sind mir keine bekannten dem Riesenwerke
„Allgemeine deutsche Biographie* (Leipzig, Duncker und
Humblodt) ist Hößli nicht aufgenommen. Von einem
guten Freunde Heinrich Hößli's wurde mir gesagt, daß
der schweizerische Schriftsteller Iwan von Tschudi mündlich
den „Eros" als ein gutes Buch bezeichnet habe. Ein-
zig Karl Heinrich Ulrichs, Heinrich Hößli's Nach-
folger !) im Kampfe für Anerkennung der Natürlichkeit
und sittlichen Berechtigung der gleichgeschlechtlichen
Liebe, hat Hößli wiederholt zitiert2) und auch ein kriti-
sches Urteil über seinen „Eros" geäußert. 8) Er tadelt am
„Eros", daß er ermüdend weitschweifig sei, 2 starke Bände
*) Ulrichs trat mit seiner ersten Schrift über mannmännliche
Liebe „Inclusa" als Numa Numantius 1864 — also im Todesjahre
Heinrich Hößli's — hervor; erst am 12. Februar 1866 erfuhr er
vom „Eros" seines Vorgängers, nachdem er bereits den letzten
Federstrich an seiner fünften Schrift „Ära speia (1865) getan
(nach Ulrichs' siebenter Schrift „Memnon" 1868, Abt. II S. 128).
a) Ulrichs, sechste Schrift „Gladius furens" 1868 S. 1—2;
S. 4, Fußn. 3; S. 11, Fußn. 10; S. 18, Fußn. 16; S. 21, Fußn. 16 u.
.20; — siebente Schrift „Memnon" 1868 I S. XIV; II S. X, 6, 7;
.8. 94, § 109 u. 110; S. 128—130, § 134,8; — neunte Schrift
„Argonauticus" 1869, S. 157, 12.
8) Ulrichs siebente Schrift „Memnon" 1868 II S. 119—130.
— 515 —
umfasse, daß er etwas zu viel mit Phrasen und etwas zu
wenig mit Gründen die Verfolger angreife und daß alle
und jede Gliederung des Stoffes fehle. Jedoch sei auch
dem 9 Eros \ wie ihm . das An g ebo rensei n der Männer-
liebe das Fundament, auf das er ihre Berechtigung
gründe. Freilich werde dies Fundament von ihm nur
behauptet, nicht bewiesen. Wenigstens sei das kein Be-
weis, was er dafür anführt; urnische Lieb esge dichte,
griechisch e^ römische, persische u. a. Diese bewiesen ja
nur die gar nicht bestrittene Tatsache, daß Männerliebe
existiert Die ganze naturwissenschaftliche Seite des
Gegenstandes, so namentlich die Muliebrität. werde nicht
berührt. Einmal nur (Eros I S, 296) könne er nicht
umhin, diesen Punkt wenigstens zu streifen. Aber er
fürchte, von ihm in ein Labyrinth geführt zu werden
ohne Ausweg. Dennoch sei Hößli's^Eros" reich an glän-
zenden Partien, Erschütternd sei neben allem edlen Zorn
das unendlich tiefe Gedrücktsein, das fast aus jedem
Satz hervorleuchte und das noch gar fern sei von jener
inneren Sicherheit, welche allein durch die Vorahnung
der Freiheit verliehen werde. Gegen Ulrichs1 Kritik ist
einzuwenden, daß Hößli die Muliebrität des Urnings sehr
wohl erkannt hat und nicht nur im Band 1 S. 296
streift, sondern im Band II S. 325 eingehender behan-
delt; alle anderen Vorwürfe aber treffen auch Ulrichs
selbst; sein angeblicher Beweis ist nicht ein solcher,
sondern eine Hypothese, welche viel Wahrscheinlichkeit
für sich hat; auch seine Schriften lassen in Folge der
Art ihres Erscheinens in 12 Heften innerhalb eines Zeit-
raumes von 15 Jahren die gewünschte Gliederung und
Uebersicht des Stoffes vermissen. Und schließlich war
Hößli noch nicht fertig mit seinem zweibändigen „Eros",
sondern hatte noch einen dritten Band geplant*
33*
— 516 —
8. Stellen aus Heinrich Höfili's „Eros"
a. Allgemeine Sentenzen.
Wir stehen uns beim Suchen immer selbst im Wege!
(II 263).
Es gibt einen religiösen, einen politischen, einen
I sittlichen Fanatismus (I 52).
Wir liegen erst in den Wehen für wahrhaft
menschliche Sitten und Gesetze (II, X).
Zeit ist es, aus diesem Sündenschlaf zur Wahrheit,
zur Vernunft und zum Recht zu erwachen .... (1 118).
Gesetze ohne Wissenschaft sind Henker ohne Obrig-
keit (I 118).
Religion ohne Liebe, Staaten ohne Gerechtigkeit,
Kirchen ohne Wissenschaft — das sind vollkommen teuf-
lische Dinge (II 175).
Wir sind vielleicht zu unheidnisch, um einzusehen,
daß wir kein einziges Laster weniger als die Heiden
haben (II 264).
Aller Forschung voran geht die Naturforschung . . .
Die Gesohlechtsnatur des Menschen ist nicht Wille
des Menschen, nicht Wahl des Menschen; so darf sie
nicht stehen in unsern Menschen-Natur-Lehren, denn sie
ist es nicht; die dießseitige Auffassung, Darstellung und
Behandlung des Menschen ist darum von der höchsten
Wichtigkeit, weil eben hier alle Radien seines Lebens,
entweder verbindend oder auflösend, verwirrend oder
erklärend, verherrlichend oder entwürdigend, glücklich
oder unglücklich machend, ausgehen und zusammen
treffen (II 4).
— 517 —
Keine Natur Wahrheit hat eine andere Behörde über
sich anzuerkennen, als wieder eine Naturwahrheit, also gar
keine — weil es in der Wahrheit keinen Widerspruch
und keine Rangordnung, nur eine ewige Harmonie giebt,
und Wahrheiten nicht über- und untereinander, sondern
nebeneinander stehen, wie die Blumen des Feldes, der
Flur oder des reichen und wohlbestellten Gartens
(H, XI).
Im Samen, im Keim, im Embryo ist der ganze
Mensch; wir können nichts in solchen hineinbringen,
nur sich entwickeln lassen das in ihm Verschlossene, und
wenn schon viel, das in ihm ist, zur Verkriipplungnöthigen,
ersticken und nicht aufleben lassen, es doch nicht tilgen
(XI 201—202),
Der Hexenglaube und HexenprozeU, der schreck-
lichste Abgrund, in den unser Geschlecht je versank, be-
stand im Mangel der Naturlehre; durch deren erste
Schritte war er weg: weil man Gespenster nur sieht —
wenn's Nacht ist (II, XXVII).
Es ist in unserer und jeder Zeit nicht genug, das,
war wahr, was recht, was schön ist, zu studieren, man
muß auch, es ist noch wichtiger, das, was unrecht, was
Unwahrheit, was befleckt und entstellt ist, erforschen,
enthüllen, retten, um — eine bessere Menschheit zu
werden (II, IX).
Wir sollten freudig Alles, was uns auf irgend eine
Weise an der Ausübung eines Unrechte auch gegen den
geringsten unsrer Mitmenschen verhindert., was das Be-
gehen eines solch en erspart oder erwehrt, segnen. Aber
das einzusehen, mangelt es nns vielleicht an der dazu
nöthigen Demuth, und wir zanken lieber darüber (II, XV).
— 518 —
Weder übersehen, noch verachten, weder entstellen,
noch verdammen soll der Mensch etwas an seiner
Schöpfung — nur kennen, leiten, erziehen und dahin
stellen, wo seine Endzwecke sichtbar werden können
(II 243).
Nur der Wahnmensch sagt zum Bruder: „Das ist
nicht deine Natur, weil sie die meine nicht ist — Sünde
ist die deinige, weil sie wie meine nicht ist — verderblich
ist deine, weil es außer der meinigen keine andere giebt,
du bist nicht da, Staat und Kirche wissen dich nicht
und darum will ich mitwirken, dich zu verderben, zu
verdammen; denn außer unsrer Wissenschaft und meinen
Begriffen kann es nichts geben" (I 116 — 117).
Wie durch die Liebe, so ist der Mensch auch zur
Liebe erschaffen, und zwar zu der, die sich von selbst,
ohne Hinzuthun eines Menschen, in ihm kundgiebt, reget;
wie es auch noch in keines Menschen Gehirn, nicht ein-
mal in dem eines Verrückten, zur Frage gekommen sein
kann: was will ich lieben? Dazu brauchts eine National-
verrücktheit, für Individualitäten ist sie unmöglich . . .
(II 240—241).
Bei uns kennt man rechtlich, sittlich und wissen-
schaftlich nur die allgemeine Liebe der zwei Geschlechter;
was nicht zu ihr gehört, ist uns Willkühr, Selbstbestim-
mung und Verbrechen; das ist unser Standpunkt; den
Griechen aber wäre ein solcher in aller auf Geschlechts-
liebe bezüglichen Menschenbehandlung und Menschendar-
stellung Frevel an der allgemeinen wie an der besondern
Menschennatur gewesen (I 100).
— 519 —
Wo ein Mensch mit gutem. Willen und klarer Ein-
sicht gegen irgend ein Anliegen der Menschheit eine Er-
gänzung, einen Einklang, .Erklärung und Genugthuung
für und gegen einen geachteten oder verachteten Gegen-
stand aufzufinden bemüht und dazu von der Natur
gleichsam bestimmt und gestimmt ist, da kann nur ein
entartetes Geschlecht ungeprüft verfolgen; die SchäcUich-
Erklärung eines Unschädlichen ist nichts anderes als
Schuldige machen, um sie bestrafen zu können (II, IX).
So grundfalsche Ansichten haben wir gräßlicher
Weise bei der Leitung, Erziehung und aller Behandlung
von Millionen eben so menschlicher als schuldloser Einzel-
wesen fiir ihre leibliche und geistige Zerstörung gesetzt
und festgehalten und, erblindet für Wahrheit und Natur,
das Vorhandene nicht gesehen und das Nichtvorhandene
am Platz des Vorhandenen behandelt und verkündiget.
Aber die Lügen, die sind wahrlich schlechte Grundlagen
der Menschenerziehung, der Sitten und Gesetze. Wahrheit
mangelt unserm Leben und Wahrheit seinen Richtungen.
Auf Lügen gebaute Sitten verwandeln endlich das Leben
selbst in eine Lüge (II 197).
Der Gesetzgeber muß jede vorhandene, wirkliche
Natur, die der Gesellschaft gefährliche Handlungen be-
gehen könnte, wissen, beachten, durchschauen, unter das
Gesetz stellen; aber das Gesetz darf nicht den Menschen
aufheben, darf nicht lügen, und darf keine Naturerschei-
nung als Nichtnatur erklären, um sie verfolgen zu können.
Der Mensch soll im Gesetz groß, nicht klein werden.
Der Gesetzgeber muß überall Wahrheit suchen und über-
all Wahrheit reden, denn wichtiger als bei ihm ist sie
nirgends. Das Gesetz ist in der Natur von Gott und im
Gesetz ist das Wesen Gottes. Im Gesetz ist der Mensch
von Gott und sich selbst am höchsten gestellt. Laster
— 520 —
und Verbrechen verhüten, oder sie im Geheimen und
Oeffentlichen gleichsam künstlich erzeugen, hervorbringen,
noth wendig machen, das sind verschiedene Dinge. Am
gewissesten wird die unterdrückte Natur lasterhaft und
begeht Verbrechen, denn sie sind alle auf eine Natur,
die wir ehren und leiten .sollen und die kein Verbrechen
ist, zurückzuführen und sind darum aber, wegen ihrer
Folgen und Einflüsse, wieder nichts desto weniger Ver-
brechen (II 250).
b. Bemerkungen über Zweck und Bedeutung
des Eroswerkes.
Wer ein mit Blut gefärbtes Samenkorn auf den
Brachfeldern des Guten auferweckt, der arbeitet im Garten
und Vertrauen Gottes an der Menschheit (I 189 — 190).
Das Schicksal dieser zwar äußerst mangelbaren Schrift
wird dennoch ein Meilenzeiger und Gericht dieser Zeit
sein für den Geist der Geschichte der Menschheit
(II, XXIII).
Habe ich meine Wahrheit und Erfahrungen unge-
lehrt geschrieben, so schreibe sie gelegentlich ein anderer
gelehrt; habe ich sie nicht christlich geschrieben, so schreibe
sie ein anderer christlicher. Wahrheit aber ist sie und
wenigstens doch rein menschlich geschrieben — eben so
gewiß, als sie aller Christenheit neu ist — und wenn es
unchristliche Wahrheiten geben könnte, es läge die Schuld
nicht an der Wahrheit — weil es weder im Himmel noch
auf Erden eine einzige gibt, die eine andere zu widerlegen
vermöchte (I, XXV— XXVI).
Ja, es sind da nun große Menschennamen (die
Stimmen und Zeugen) entweder wissenschaftlich zu reinigen
oder — mit neuem Unflat und alter Blindheit zu ver-
— 521 —
unstalten; die Wissenschaft dieser Zeit aber wird nun
von diesen beiden das thun, was — - sie kann (II 52).
Wer eich über das bisher Aufgeführte, über diesen
Theil der alten klassischen Litteratur, über diese Stimmen
des Erdkreises jener und aller Zeiten nicht nach Licht
und Erklärung umsehen mag, der sitzt wahrlich unwürdig
auf jedem Lehrstuhl, er sei der Alterthuniskunde, dem
Recht, der Philosophie, kurz, dem Genius des Menschen-
geschlechts, in welcher Richtung es immer sei, geheiliget,
er befleckt ihn! (II 161).
„Ueber nichts Göttlicheres kann wohl ein Mensch
einen Beschluß zu fassen haben, als über seine eigene
und seiner Angehörigen Ausbildung"1) und „Manches, was
im Allgemeinen als unbedeutend erscheint, kann dennoch
auch aus besonderen Gründen, für viele oder einige, von
Werth sein, — wenn das Kenn eräuge solches entdeckt
und an's Licht zieht" -). So wäre und ist der Gegenstand
dieser Schrift, über welchen wir noch ganz im Finster»
sitzen, an und für sich unbedeutend, aber unsere Mei-
nungen, unsere Urthe.il e, Vorstellungen von ihm, das, was
wir aus ihm gemacht haben, was wir auf ihn gründen,
das ist jetzt über den halben Erdkreis noch eine weit
gefährlichere Pest, als die blos vorübergehende Cholera-
Epidemie* Wenn einer an und für sich allenfalls unbedeu-
tenden Sache eine solche Richtung gegeben wird, daß
dadurch Millionen Menschen vernichtet werden, auf
tausendfache Weise, alsdann ist sie nicht mehr klein
und unbedeutend, vielmehr aller Untersuchung reif und
werth (I 95—96).
l) Plato,
3) v. Rotteck.
— 522 —
. . . wir haben in diesem Gebiete nur Schriften, die
uns. nichts erklären, und andere, die uns nicht erklärt
sind. Die gegenwärtige, unter völlig ertödtenden Um-
ständen und Drangsalen, unter unaufhörlichen Ruthen-
streichen, aber auch unter unaufhörlicher Begeisterung
für alle Wahrheit geschrieben, ist nur bloße Hindeutung
auf die hier ja nicht kunstgerecht entwickelte oder be-
leuchtete Idee, und noch viel weniger ist sie die Spezial-
Charte zum entdeckten neuen Land — aber sie ist gleich-
sam das Gefühl, die Ueberzeugung von dessen Dasein,
von seiner nöthwendigen Nähe und von der Lücke auf
unserm Globus der Anthropologie. Aufmerksame Reisende
hören und sehen ohnehin in dieser Gegend immer so
wunderlich und bedeutsam brausen und tönen und leuchten,
die einen Gespenster und die andern Geister durch dicke
Nebel auf- und abhuschen, und es sollen da die Alten
laut Bericht und — Versteinerungen sogar eine ihrer
kostbaren und wichtigen Pflanzungen besessen haben —
und Metallgruben, aus denen jetzt immer noch Kobolde
aufhüpfen und hie und da eine Apotheke noch Gift —
aber nur granweise und gegen die polizeilichen Be-
stimmungen, mithin nicht ohne Gefahr für ihre eigene
Existenz, verkauft (II, II).
Für Menschen, die noch nie eingesehen, nie empfun-
deq haben, welchen Raum die Liebe in ihrem irdischen,
individuellen Dasein einnimmt, habe ich nicht geschrieben,
auch nicht zum Zeitvertreib, denn Menschen haben doch
keine zu vertreiben. Ich weiß, es ist dieses ein trau-
riges Buch, aber ich weiß auch, daß es ein Samenkorn
reiner Menschlichkeit ist; ich werfe es trauernd und
hoffend unter Disteln und Dornen — dazu fiel mir das
ernste Loos; und der Mensch mag ja solchem Schicksal
nicht entgehen. Mit ertödtenden Lebensverhältnissen
ringend, bin ich wohl auch schon im Begriff und in Ver-
— 523 —
suchung gestanden, diese Schrift aufzugeben; aber es war
der Satan ; und dann standen wieder vor mir das Gericht
und die ewigen Griechen und von seinen Weisen und
Helden, seinen Sängern und fiednern, seinen Künstlern
und Gesetzgebern diejenigen, die der Natur des Eros,
von der Plato immer redet, selbst angehörten, und die iu
ihr und durch sie geworden sind, was sie in ihr und ihrem
Griechenland der Menschheit werden konnten; und ich
fragte und sah wieder vor mir, was wir aus ihnen gemacht
hätten — unsere Erwürgten — die todten Hingerichteten
und die lebendigen Hingerichteten und die noch nicht
gebornen Hingerichteten und die unseligen Mütter an
den Wiegen der schuldlos Verdammten, die Richter und
Erzieher mit verbundenen Augen — und der Todten-
gräber zuletzt den Sargdeckel über meine Nase schiebend . . .
dann faßte mich wieder siegend die Macht der Menschen-
liebe und der Wahrheit mit ihrer ganzen Gewalt an
und ich suchte, dachte und schrieb wieder fort und
wendete sorglos, selbstvergesscnd meine Augen vorsätz-
lich ab von allen denen, die dafür, wie ich wohl weiß,
an meinem Verderben arbeiten. Zu schon begangenen
Verbrechen schweigen, das lasse ich hier liegen; wenn
aber Greuelthaten begangen, wenn Feuer eingelegt, ver-
giftet und das Vaterland verratlien und der Unschuldige
geschlachtet werden will — alsdann habe ich menschlicher
Weise durchaus keine Wahl mehr zwischen reden und
schweigen — zwischen Schuldlosigkeit und Theilhaftig-
keit — an dem, so geschieht! -*- Das, Mitmenschen, ist
wieder der individuelle Ursprung dieses Buchs, Wer
aber mit über Tod und Leben entscheidendem Wahn
und der solchen aufhellenden Wahrheit blos geistreich
uud gewissenlos um Geld spielt, mit beiden seinen Spott
treibt, Wahrheiten nach Gewinn und Ruhm wiegt und
mißt und feil bietet, an geheiligte Lügen sich festklammert,
in allerlei Narrentrachten verschachert, um seiner ver-
— 526 —
geht und sich verschließt, wo sie sucht und wo sie fin*
det, wo es ihr Tag ist und Nacht ist und Reichthum ist
und Armuth ist und ihr Himmel ist und ihre Hölle ist?
Muß die Wissenschaft am Menschen das Vorhandene
aufsuchen oder das Nichtvorhandene? Muß die hier zu
erledigende Frage von der Natur beantwortet werden
oder nicht? An wen kann und wird da eine wahre
Menschenforschung ihre Fragen stellen? Oder soll oder
darf oder muß sie da gar nicht fragen, nur verurtheilen,
verfluchen, verzerren, verwirren, tödten, läugnen, hin-»
richten? (H 163).
Wenn diese Neigung in der wirklichen Natur, wenn
sie Natur und Wirklichkeit selbst ist und als ihr Gesetz
in tausend unabänderlich niu* für sie bestimmten Wesen
besteht; kann es in diesem Fall noch schwer zu ent-
scheiden sein, wer da als Unmenschen und Barbaren ge-
handelt habe und wer menschlich, wir oder die Griechen ! !
Und welche Folgen uns und ihnen da zu Theil werden mußten
und konnten. Und wenn sie ist, diese Liebe, ist es gut,
recht, rathsam, daß sie als solche außer unsern Gesichts-
kreisen sei und durch die, so fälschlich an ihr nichts zu
verlieren glauben, in den Verbrechertafeln klebe ? —
(II 282).
Der Griechen Behandlung der Männerliebe eröffnete
den männerliebenden Naturen eben so ein sittliches
Heiligthum — wie sie und wie wir, in der Ehe, für die
Liebe der beiden Geschlechter eines eröffnet haben. Die
Griechen waren durch ihr Wissen und Festhalten der
Unzuverläßigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechts-
leben des Leibes und der Seele auf ein weit geistigeres,
sinnigeres und mannigfaltigeres Beachten alles mensch-
lichen Innenlebens und eben dadurch auch auf einen
vielseitigeren Kreislauf von Kräften und Formen und
— 527 —
Eichtungen des allgemeinen Mens chth ums geleitet als wir
(I 297—298).
Naturwurzeln haben alle Verbrechen; Gut und
Habe besitzen wollen ist Natur, Zorn und Rache sind
Natur, in der zweigeschlechtlichen Liebe sind die Wur-
zeln zahlloser Verbrechen und zahlloser Tugenden und
großer Handlungen. Die wahrste Menschenkunst und
Wissenschaft hat aber keinen wesentlicheren Beruf, als
der ist, die Wurzelfasern der menschlichen Verbrechen
und Tugenden aufzusuchen und darzulegen und ihnen
in ihre untersten Tiefen nachzuspüren; beide sollten
gerade da, wo ihre Blicke die natürlichen Wurzeln eines
Verbrechens nicht erreichen, nachdenkend stille stehen
und eben so ernst als demüthig eine neue Aufgabe der
Seelenforschung glauben lernen. Griechen haben keine
Tugenden zu begründen und eben so keine Laster zu be-
strafen gesucht, deren innerer Zusammenhang mit der
Menschennatur ihnen nicht klar gewesen wäre; aber unsere
hohe Menschenkunst — die ist über solche Kleinigkeiten
weit erhaben (II 152—153).
Sitten und Gesetze für Erschaffung oder Zernichtung
einer Liebe sind lächerlicher, oft aber verbrecherischer
Unsinn gegen die Schöpfung, gegen die Natur des Menschen !
Die Griechen sind frei von ihm — wir aber, indem wir die
eigenthümliche Daseins-Sphäre der Natur des Eros der
der andern, allgemeinen, zweigeschlechtlichen auferlegen,
begehen ihn in beiden Richtungen zugleich und im
Sitten- und Criminalwesen wird das Lächerliche zum
bittern Ernst. Wir glauben eine Proklamir- und Trans-
portirbarkeit der Geschlechtsliebe; wir bilden uns ein,
es sei durch uns, durch unsere sittliche Erhabenheit das-
jenige nicht mehr vorhanden, was den Griechen durch
ihre Sittenlosigkeit, durch die Art und Weise ihres un-
— 528 —
gebundenen Lebens in das Leben gekommen sei. — Diese
schamlose Verkündigung steht wieder ganz neu, als ein
Götze dieser verrosteten Zeit, breit und frech in einer
bei uns vielgelesenen Zeitschrift (II, XXIX).
Eben weil wir jene Liebe als Natur nicht kennen
und als Unnatur weglästern aus allem Leben, aus dem
unsrigen wie aus dem der Griechen, seine ganze Entfaltung,
alle seine geistigen Einflüsse, alle im Wesen des Menschen
wurzelnden und vorbereiteten Natur- und Kunstgestal-
tungen, was alles, theils durch den Natursinn der
Griechen, wie durch die Hände ihrer Weisen als
die zarteste und reinste Lebensentwickelung aufblühte,
noch nie mit Ehrfurcht und Bewunderung, nicht
einmal mit Schonung oder frommem Nachdenken
angeschaut haben, so halten wir nur ein Teufli-
sches, ein vom Göttlichen Abgetrenntes oder ihm in
und an sich entgegenstehendes Scheusal in allen unsern
Forschungen und Lehren und Auslegungen und An-
wendungen der Griechen fest. Aber nur verworfenen
Menschen, ohne allen Kunst- und Natursinn, kann dieses
ohne Bedeutung sein. Es mangelt uns da an allem Licht
und vorzüglich an dem heiligen Element der Menschen-
liebe Jesu (II 203).
Der Lasterhafteste kann die Frauen und der Tugend-
hafteste die Männer lieben. Die Erde, die Geschichte ist
dieser Erweise voll; keine Liebe ist an sich Tugend oder
Laster, so wenig als Wille und Selbstbestimmung. In
diesen wenigen und einfachen Wahrheiten liegt wahrlich
ebensowohl der Erweis unseres Irrglaubens als unsers
Irrwissens, ebensowohl unseres Unrechts als unserer
Schmach — und die volle Gewißheit, daß wir bis auf
diese Stunde, schon durch unsere finstern Lästerungen
allein, noch in jener entmenschenden Stockfinsterniß der
— 529 —
Hexen- und Ketzerzeit sitzen und einem gräßlichen Wahn-
götzen einen bedeutenden Theil unsers gesunkenen Ge-
schlechts hinmorden. Der Wahn würgt mit verhüllten
Augen, er kennt seine Schlachtopfer nicht; er ist der
Abgott wähnender, unwissender, blinder Völker und Zeiten.
Die Priester seiner Tempel sind nicht blos Pfaffen; auch
unsere Geld- und Mode-Schriftsteller, die ihre Produkte
nach Thalern und Zeitumständen modeln und schwelgen,
sind es; — ihre Gegner darben jederzeit gefährdet, ver-
folgt und verdächtigt (II 233).
Hat die Liebe der beiden Geschlechter Zwecke und
Rechte und Pflichten? Giebt der Mensch sie sich selbst
oder ist sie ihm gegeben? Kann er sie ablegen, wenn
er sie hat? Kann er sie annehmen, wenn er sie nicht
hat? Giebt es keine Menschen ohne sie oder sind die,
so sie nicht haben, keine Menschen? Was sind sie dann?
Was können, was sollen, was müssen sie sein? Was
waren sie den Griechen ? Was haben wir ein Recht aus
ihnen zu machen? Und was sie aus sich selbst? Ge-
hören sie keinem Plan, keinem Zweck, keiner Idee der
Schöpfung an? Sind sie wirklich außer diesem allem
und doch da? Soll man ihnen zu dem, was sie werden
können, verhelfen, wie die Griechen? Und warum sich
ihnen entgegenstellen? Sind sie von Gott. selbst außer
seine Haushaltung gestellt, kann er sie erschaffen haben,
wenn es ein Recht zu ihrer Verfolgung giebt? Kann
er sie erschaffen haben, wenn es ein wahres Naturrecht
für die Zernichtung dieses ihres Daseins giebt? Gehören sie,
in diesem Fall, nicht in den Plan eines weltregierenden
Satans und keinem Gott an ! ! Und wenn sie sind, diese
Wesen, und in diesem Augenblick ihrer wieder eben so
viele, als in jeder Vergangenheit, sich der Stunde ihrer
Geburt für diese Erde nähern, hat die Menschheit und
die Wissenschaft ihnen kein Menschenschicksal zu be-
Jahrbueh V. 34
— 530 —
reiten ? Und endlich, wer, welche Kunst> welche Wissen-
schaft löset alle diese Fragen? (II 165—166).
Unsere Antipathie gegen eine vorhandene, an ihrem
Dasein und dessen Wirkungen völlig schuldlose Menschen-
natur hatten die Griechen (was eben mit und bei ihrem
vollendeten Schönheits- und Zartsinn uns als ein höchst
wichtiger Umstand auffallen sollte) nicht, sondern vielmehr
das unbedingteste Mitgefühl, das absolut auf nichts An-
derem, als da diese Liebe Natur ist, auf Menschensinn,
Gefühl, Güte und Liebe beruhen konnte. Sie hatten
eine geläuterte Abneigung gegen Unnatur, wir dagegen
haben eine solche gegen die Natur. Wenn wir von da
aus den merkwürdigen Bedingungskräften, die unser Ge-
fühlsvermögen beherrschen, nachsinnen, so werden wir
gar mannigfaltige Aufschlüsse über die Macht des Wahns,
der Vorstellung, der Irrideen, des Hexenglaubens und
Hexenprozesses aufzufinden und festzustellen Anlaß und
Gelegenheit finden. Der Irrthum unserer Ansicht, nach
welchem es sich hier um gar keine Natur handelt, ist all-
zugroß, als daß seine Folgen und Wirkungen nicht noth-
wendig schrecklich sein müßten. Diese Sphäre ist uns
völlig leer an Licht, an Werth, an Wahrheit, an Gott,
also im engsten und eigentlichsten Sinne — gottlos
(II, XVII).
Man kann nichts Armseligeres sagen, als man dürfe
irgend einem rein psychischen Leben, seiner leiblichen
und sinnlichen Offenbarungen wegen, nicht in die Augen
sehen, oder, da wo das Leibliche eines Psychischen her-
vortrete, oder, da wo unsere Augen nur das Physische
wahrzunehmen vermögen — sei kein Seel- und Geistleben
im Innern und Plato habe, wie dieser Versuch, da blos
zur Beschönigung eines Lasters geschwärmt ! — Laster und
Plato! Laster und Liebe!! Griechen und Unnatur !! ! —
— -^
— 531 —
Da sind die Stempel unsers sittlichen Verfalls, unsers
geistigen Elends; ja wir würden, wenn man uns die Aus-
fertigung eines Verzeichnisses abscheulicher Gesetze, die
die Menschen zu allen Zeiten gemacht haben, auftrüge,
solches mit denen der Griechen, bezüglich auf den Eros, nicht
blos erweitern, nein, anfangen und ein Verzeichniß unsrer
sittlichen und moralischen Vorzüge vor den Griechen auch
von dieser Seite her beginnen und krönen — nicht
wahr ? Wer aber einen Plato begreift, der begreift auch
leicht, daß es mit unsrer Ansicht ja nicht so ganz richtig
sein könnte, wie wir glauben. Wir sind eine Nation,
welche ihr Geschlechtsleben noch nicht zu der ihm ein-
wohnenden geistigen Erhabenheit und Bedeutung in die
freie Idee empor zu heben gelernt hat (II, XVI).
Wir haben diese Keim- und Wurzelgewalt, Neigung,
Sympathie, Instinkt, Fleisch, Gemüth nur verdammen,
nicht ertödten und nicht erziehen mögen ! Und wahrlich,
wahrlich, kein Barbar und Unmensch aller Zukunft wird
sie ausrotten, denn sie sind Wahrheit und andere Natur
bedingende Natur von Gott — sie werden immerdar
sein, wie sie immerdar waren; sie müssen, als gegebenes,
erschaffenes Fleisch- und Sinuengesetz, erzeugen ent-
weder was sie den Griechen erzeugten oder was sie uns
erzeugen! ! Was sie aber seien als Gesetz der Natur,
unabhängig und völlig geschieden von dem, was wir
von ihnen lehren, wie von dem, was die Griechen von
ihnen gelehrt haben, und wo und warum — darüber,
kalter Sünder, willst du rechten mit dem Ewigen und
anspeien und verurtheilen einen Plato, und dich aber
baden in den Lüsten deiner, andern Zwecken dienenden,
sonst gleichen Natur . . . und eine andere anders machen,
als sie ist — und zur brennenden Sonne aufwärts kehren
und dörren die frevelhaft vom Erdreich entblößten
Wurzeln und gewaltsam reißen abwärts aus dem ener-
34*
— 532 —
gischen Licht und dem luftigen Aether und Glanz und
Duft des Ewigen, Geistigen, in den Erdenkoth die Kronen
und Wipfel der Seelen, des Lebens, der Liebe, und wenn
sie zerstampft sind und erwürgt sind und entheiliget sind
und gebrandmarkt von deinem Wahne, alsdann predigen
deine Rechte und deinen Triumph der Hölle über deine
Schande, über dem Zerstörten, und verkündigen die Herr-
lichkeit und das Heil deiner Völker und Zeiten den
Völkern und Zeiten und das Ermordete abnagen, wie ein
Hund, und tausend Lügen, frech und entmenscht, hinauf-
heulen zum verspotteten Gott und hinab zur betrogenen,
verführten, entstellten und nicht verstandenen Mensch-
heit!!! (II 24—25).
Daß diese Liebe, die kein Wesen des andern Ge-
schlechts anfachet, wohl aber das eigene, diese griechische
Liebe, nicht oder wenig mehr sei, gegen diese größte
aller gedruckten Lügen auf Erden rufe ich, so laut ich
vermag, Jedem das Gegentheil zu; sie ist noch und zwar
aus dem ganz einfachen Grunde, weil sie Natur ist, weil
sie es einmal war und deßhalb auch nie als mit dem
Menschengeschlecht selbst aufhören kann .... Und ihr
fraget nun, wo und was sie denn jetzt sei, diese Liebe
der Griechen, und ich will euch antworten : O, es ist sehr
leicht. Sie schleicht als Laster unter den Lasten einer
allgemeinen Verdammung, zerstöret und zerstörend, segen-
und kraft- und thatenlos, voll Schuld und Qualen, außer
aller Menschenwürde und Idee, meist in abstoßenden,
nicht Griechengestalten, einen ganz eigenen Kreis der
Verdorbenheit, der Laster, der Sünden, der Verderben,
deren Ursprung wir nicht suchen, bildend, in unserer
Mitte umher, sie durchrinnet als eine eigne vergiftete,
reiche Quelle der Entwürdigung und des Elends, als
Irridee ein ganzes Reich des Guten und Menschlichen
verschlingend, alle Kreise unsers häuslichen und öffent-
— 533 —
liehen Lebens, nachtet als schreckliches Räthsel, verwahr-
loset, in sich selbst zerrüttet und versunken, über tausend
schuldlosen Familien, heulet ausgestoßen in tausend Ge-
fängnissen unseres Welttheils, sich selbst und der Stunde
ihrer Geburt fluchend, in Nacht und Finsterniß gehüllet,
ein täglich sich erneuendes, selbstverzehrendes und un-
aufhörlich widersprechendes Ungeheuer, und liefert, so
gestaltet, Kerkermeistern und Henkern Arbeit und Brod
oder löset auch zuweilen hie und da die Schmachfesseln
eines also verdämmten Erdenlebens, das Räthsel solchen
Daseins, durch uns unerklärliche Selbstmorde .... Und
es spricht in ihnen die heilige Nemesis und redet der
Engel der Menschheit fürchterlich warnend und weinend
für meine Idee! (II 237—239).
Unsere ganze Behandlung dieser Erscheinung, wie
wir alle gar wohl wissen, beruht lediglich auf dem Aus-
spruch: „Sie ist nicht Natur." Das menschlichste und
in sich klarste Volk, das je gelebt hat> vor dem wir
nichts voraus haben, als etliche mechanische und
physikalische Erfindungen und Maschinen (von denen
die jetzige Menschheit selbst die größte und merkwürdigste
ist), dieses Volk aber sagte: „Sie ist Natur." Wir aber
und die Schand- und Schmachzeiten alles Menschlichen
sagen das Gegentheil; aus diesen ganz entgegengesetzten
Ansichten, Aussprüchen und Behandlungsweisen sind dann
auch die sich so vollständig entgegengesetzten Wirkungen
und Einflüsse entstanden; — ob darin denn nun für uns
auch weiters keine Bedeutung und keine fernere Lösung
für Menschenrecht und Wissenschaft mehr liege, das ist
wieder eine andere und ebenfalls noch nie beantwortete
Frage. Der Griechen Menschensinn und Menschenbe-
handlung war auf Menschennatur-Wissenschaft gegründet;
unsere aber wurzeln in Zeiten, wo das Wort und der
Begriff Natur auf den Scheiterhaufen führte. Sollte es
— 534 —
in der That noch nicht möglich und noch nicht an der
Zeit sein, sowohl der Griechen Ja als unser Nein auf
die Wage ächter Menschen- und Naturforschung zu legen?
Schaudert uns etwa vor den Verbrechen, die durch
solchen Entscheid auf uns erweislich würden? Wollen wir
sie lieber noch anhäufen und auf den Nacken unserer
Kinder richten, als einsehen ? Im Namen der wissenschaft-
lichen Dreifaltigkeit: der Wahrheit, der Menschlichkeit
und des Rechts, lege ich diese Frage, an Gottes schönem
Sonnenschein, ich weiß zwar nicht eigentlich, wem, vor;
nehme sie auf, wer ihrer werth ist, gewiß ist sie ein
Samenkorn des Bessern (II 182 — 183).
Hr. Goldhagen läßt in seiner Uebeisetzung des
Gesprächs zwischen Simonides und Hiero das ganze,
sich ausschließlich auf die Liebe zu den Lieblingen be-
ziehende Blatt, ohne Umstände zu machen, weg! — Ach,
wenn man so einen Hrn. Goldhagen neben Xenophon
sieht — wie er ihn corrigirt und amputirtü — Wir begehen
aus lauter Zucht und Ehrbarkeit solche literarische Unzucht!
Unsre Schriftsteller sind, durch unsern Gesichtspunkt,
mit dem wissenschaftlich vielsagenden Wörtlein „unnatür-
lich" immer so unvorsichtig als freigebig, obschon es
das Menschengeschlecht zu unaussprechlichen Unthaten
gestimmt und bestimmt hat . . . Man sollte nie un-
natürlich sagen, bis man recht wüßte, was Natur ist . . .
Es braucht schon Natur, um Natur zu beurtheilen (I 260).
Das ist wahrlich in der Literatur ein Frevel, wie
wir uns unter Sodomiterei in der Liebe einen zu denken
gewohnt sind, und wie der auch ist, wenn unsre Geist-
lichen im Tempel des Herrn, im Namen Gottes, des Vaters,
des Sohnes und des heiligen Geistes, Wesen zu unaus-
weichlichem "Verderben zusammenschmieden, die sich ihrer,
ihnen völlig dunklen Natur gemäß ewig abstoßen und
"I
— 535 —
sich selbst eben so fremd sind, wie ihrem Priester. Hätten
unsere Gelehrten schon längst über diesen Theil der
Menschennatur Licht gesucht und zu verbreiten verstan-
den, so läge über diesem fürchterlichen, das Glück und
Heil, die Tugenden und Laster, den Tod und das Leben
vieler Tausenden entscheidenden und bedingenden Gegen-
stand nicht noch solche Mordnacht — solcher Fluch
der Ketzer- und der Hexenzeit, der tiefsten Unwissenheit!
Ihr, die ihr durch Unwissenheit die Schätze des mensch-
lichen Gemüths veruntreuet und mit ihnen Spiel und Spott
und Wucher treibet, wisset, die Folgen eurer Verhunzungen
der Klassiker, eurer literarischen Schinderstreiche und Dieb-
stähle sind die hauptsächlichsten Stützen der kalten, alten,
eisernen Mörderanstalten des neunzehnten Jahrhunderts
(I 268—269).
Bei uns und unserm Wahn nimmt hier jeder Narr
und Sündenknecht und Sinnensclav voll eitlen Wahns
noch immerfort mit aller Gravität seinen hohen Ehrensitz
im Tempel der Sittlichkeit und Keuschheit ein und
dunkelt sich rein von — einer Sünde, die mit seiner innern
Geschlechtsorganisation und Stimmung in gar keiner Be-
rührung steht, und weiß nicht, daß da seine Tugend
etwa die eines Schweines, das nicht davon fliegt, ist; er
meint, seine Natur sei die jenes Frevlers und die jenes
Frevlers sei ursprünglich wie die seinige; er aber habe
sie bewahret und heilig gehalten, er ehre sie, er habe
sich selbst bestimmt und an sie angeschlossen, er sei in
ihr, nicht sie in ihm, der andere aber habe sich von seiner
Natur entfernt u. dgl. m. So schaut er richtend und ver-
achtend und behaglich, oft vom Unflat seiner Unenthalt-
samkeit, auf andere Menschen — auf Griechenland und
Plato hoch herab und schämt sich ihrer und mißt und
demonstrirt sich selbst und andern diese Höhe seiner
Kraft und seines Werths und sein Verdienst vor Gott
— 536 —
und seiner Zeit und zeigt durch die Verdammung anderer
die Herrschaft seiner Seele über solche Sünden an. Ja
es ist, als wie wenn wir an diesem stummen, aber viel
entscheidenden Ungeheuer gerade noch darum festhielten,
damit der Auswurf unserer Gesellschaft, damit der Greuel
und Abscheu unsers Geschlechts, alle die tausend non
plus ultra der Charakterlosigkeit, der Bosheit und Ent-
würdigung, der physischen und moralischen Verworfenheit,
damit alle diese Schmachwesen, alle diese Muster der
eigentlichsten und vollständigsten Scham- und Sitten-
und Gottlosigkeit, in jeder Gemeinde zerstreut, für ihre
innere Verruchtheit noch — Etwas unter sich selbst
aufzuweisen und zu verurtheilen wissen, statt — sich
selbst .... Auch das, diese Schutzwehr der Ver-
worfensten im Schooße der menschlichen Gesellschaft, war
den Griechen nicht vorhanden und bewirkte ihnen nicht
in tausend Fällen die Vergeblichkeit unsers Erziehens
und unserer sittlichen Bestrebungen und gab den
Schlechtesten ihrer Menschheit nicht ein scheinbar noch
Schlechteres zu ihrer Rechtfertigung und Beruhigung an
die Hand. Wahrhaft wissenschaftliche, stille und ge-
wissenhafte Menschen werden da prüfen, der ihnen gegen-
überstehende Troß aber urtheilen und verurtheilen, ohne
untersucht — ohne gelesen zu haben (II 13 — 15).
Ich frage euch Menschen alle: Könnte jetzt einer
von uns aufhören, das, was er ist, zu sein ? Könnte jetzt
einer von uns unberührt bleiben von Allem, was ihn bis-
her berührte, oder ergriffen von dem, was bisher seinem
innersten Menschen fremd war, seine Natur aufgeben, sie
nicht mehr haben, nicht mehr fühlen und ein leidenschaft-
licher Knabenliebhaber werden? Jeder, der da Ja sagt,
lügt, und Jeder, der da Nein sagt, widerspricht und
Verläugnet sich also selbst. Hexen und Gespenster^
Wunder und Teufel sind aus unsern Listen der Wirklich-
— 537 —
keit gestrichen; aber die Sünder und Sünde wider die
Natur — deren es in der Natur nie gegeben hat, so we-
nig als Hexen — die sind uns noch mit allen Einflüssen
des Hexen- und Zauberglaubens geblieben. Hier ist der
erste ernstliche Versuch dagegen. Ich kann mich vor
dem, was man einem Menschen in solchen Fällen anlügt
und andichtet, wissenschaftlich noch lange nicht so ent-
setzen, als wie über das, was man ihm abspricht, weg-
disputirt, wegdichtet, weglügt oder an ihm nicht einsieht.
Wir verfolgen und verdammen in wirklichen, rein und
deutlich gegebenen Menschennatureu, die wir aber weder
wissen noch sehen, ganz andere, die gar nicht sind, deren
es, solange die Welt steht, keine gegeben hat, so wenig
als Hexen. Wir richten tausend Wesen moralisch hin, als
solche,1 die ihre Natur verlassen haben, als solche, die in
sich die Liebe zum andern Geschlecht zwar tragen, aber, um
sie in sich zu ersticken, mit frevelndem Willen widernatür-
liche Neigungen und Begierden, das heißt, unsere Sünde
wider die Natur, in sich aufgenommen haben. Wir setzen
in ihnen eine Natur voraus, die sie nie gehabt haben, die
ihnen ewig fremd bleiben muß, und die sie nie haben
können, nie haben sollen und nie haben werden; und
ihre eigentliche, einzige, wahrhafte, ihre wirkliche, wahre,
unwandelbare aber, die sprechen wir ihnen ab und erklären
sie blos für die Handlung einer freien Willkühr und
Selbstbestimmung und verabscheuen in und an ihnen
eine Handlung, die nie ein Mensch begehen kann ....
So trug die Allmacht eines blutigen Wahns, in die Nebel
geweihter, geheimnißvoller Unwissenheit, in die Prunk-
gemächer der Gelahrtheit, des Herrscher- und Kirchen-
thums gehüllet, als Mordprivilegium, als Saat und
Zeichen des Todes, den Eros über anderthalbtausend
Jahre durch alle Abgründe einer versunkenen Menschheit
triumphirend in alle Winkel unsers Erdtheils . . . Und
dadurch nun ist es jedem Haus eine schwarze, verhäng-
— 538 —
nißvolle Stunde des Verderbens, unter dessen Dach eine
unglückselige Mutter ein neues Opfer unsers Irrwahns
und unserer Unwissenheit mit Schmerzen gebiert, und, o
es wäre besser, daß der Tod beider Leben in dieser un-
heilvollen Stunde zernichtete Oder wenn ihr
ihnen, ihrem Dasein hienieden eine andere Erklärung, andern
Spielraum des Lebens außer in eurer Henkeransicht
oder meiner Idee wisset, so thut das Eure, wie ich hier das
meine . . . damit fürderhin keine Eltern mehr die Stunde
jener Zeugung zu verwünschen haben und nicht mehr
ein über alles Dasein, über Zeit und Grab hinausrei-
chendes Unglück, ohne alle Selbstverschuldung, auf ihr
ruhen könne! ! (II 280—288).
Wo aber freche Wuth statt frommem Menschensinn
und blinder Stolz statt reiner Wissenschaft ein Volk er-
greift, da mordet es. Keinem Wahne ward je so viel
geopfert, als dem: Der Mensch kann seine Natur aus-
ziehen, wie ein Kleid, oder es giebt eine Zuverläßigkeit
der äußern Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes
und der Seele, was man auf diesen Tag noch wähnt,
noch träumt, noch glaubt — nämlich, daß jeder, der in
einen Jüngling sich verliebe, zuerst seine Urnatur, die
wir nach den äußern Kennzeichen bestimmen, ausgezogen,
mit Füßen getreten und weggeworfen habe .... Das
kann nur Unwissenheit wähnen, die weiters wähnet, es
sei jedes Geschlecht nur das andere zu lieben von der
Natur angewiesen, von innen aus bestimmt und gestimmt,
und jedes Wesen anderer Art und anderer Neigung sei
nur Willkühr, Selbstbestimmung und frecher Sünden
willen und liege in keinem Plan und Gang der Natur
und sei darum reif zu aller Verfolgung, Schmach und
Entwürdigung, es sei entweder der Gesellschaft unschäd-
lich zu machen oder aber im menschlichsten Fall wieder
durch die Kraft der Ueberzeugung und der Moral zu
— 539 —
seiner angebornen und wahren Natur zurückzuführen. . .
Das Schandmal solchen Glaubens trägt unsere stolze
Zeit (für die Zukunft als Stempel ihrer Unwissenheit und
ihres Barbarenthums) noch an ihrer Stirne, sie sieht eine
Blumenwiese (Plato's Garten des Menschlichen) noch
immerfort für einen Abgrund an und baut noch immer-
fort ein Feld mit Henkern, das Griechenland durch seine
Koryphäen der ewigen Kunst gepflegt, und brütet noch
Schmach und Verderben und Entehrung und schmiedet noch
Ketten für Wesen ohne irgend eine Schuld, mit denen und
für die Plato einst so geredet, wie ich zeigen werde und
es geschrieben steht in der heiligen Schrift der Klassiker und
der noch heiligern der ewigen Natur, mit ganz wahr-
haften und natürlichen Menschen, die immerhin im Plan
der Schöpfung und unablöslich in der Wesen wandel-
losen, lebendigen Reihen sind und bleiben!! — „Nein
ihr seid nicht ! Ihr macht euch selbst und wir zernichten
euch, nach Recht und Gesetz," so spricht unsere Zeit der
Weisheit und der Wissenschaft, gewöhnt, Mitmenschen,
die Griechenland als solche erkannt, begriffen und be-
sessen hat, durch die es seine Unsterblichkeit mitbe-
gründete — für naturabtrünnige Scheusale, physisch und
moralisch, tausendweis zu erwürgen und immerhin be-
müht, sie mit Mord und Tod durch Gewalt und Nacht
von ihrer einzigen und wahren, von ihrer einen und
reinen, von ihrer unabänderlichen, innern, unwandelbaren
Wesenheit mit Schmach und Schwert abzuschrecken, in
sich selbst zu ersticken, zu verwirren, umzubringen —
und postulirt, entblöst von allem Menschensinn und
Wissenschaft, die da einzig retten können, auf Priester
und Barbaren vergangener Zeit verweisend, so gräuel-
haftes Handeln, auf heiligen blutgefärbten Mordwahn —
und mordet tändelnd noch immerhin ihr eigenes Ge-
schlecht und verdammt im Arm der fürchterlich ge-
täuschten Mutter noch den Säugling, denn ich sage, sie
— 540 —
ist ewig Natur und schlummert im Kind so gewiß und
so wahr vorbereitet^ als sie im Leben des vollendeten
männerliebenden Mannes ist und so gewiß der Keim
der allgemeinen Geschlechtsliebe in jedem für sie ge-
bornen Kind auch vorhanden ist. Die Nachwelt wird
über die Verhältnisse, die wir den Geschlechtern an-
gewiesen, wie wir dießfalls den Menschen erfasset, er-
zogen, behandelt, was wir an ihm zertrümmert, benutzet,
entwürdiget und gepflegt haben, Rechenschaft fordern,
wir fordern sie auch von den Griechen — aber wir
verstehen sie nicht, wir lästern sie lieber, es ist leichter,
als wissenschaftlich prüfen. — Natur heißen wir Frevel
und Sünde wider sie; wir haben Criminalgesetze gegen
sie, wir haben einen Irrwahn, eine Einbildung, ein Phan-
tom, einen Machtspruch, eine stumpfsinnige Lüge, mit
Menschenblut eingeweiht, auf den Richterstuhl gesetzt
und diesem Gespenst schon Millionen Menschen ohne alle
Schuld geschlachtet, ihm die Würde und Kraft unsres
Geschlechts hingeopfert, wie seiner Zeit dem Phantom
der Hexen und Ketzer; wir wähnten der Menschheit
Würde zu retten und entwürdigten sie — logen ihr
Verbrechen an, die sie nie beging und verübte; und ver-
herrlichten solche, die ihr ewiges Schandmal bleiben
werden; man wähnte ein Uebel, das nicht war, auszu-
rotten, und zog eine Pest über die halbe Welt; man
brüstete sich, Laster auszutilgen, die nie gewesen sind,
und beging die grausenvollsten Verbrechen an der
Gesellschaft, an Mensch und Natur, man gab Menschen-
rettung vor und versenkte Millionen in den Ab-
grund innern Widerspruchs und äußerlicher Schmach
und rettete keinen! — Die Menschheit hat nie
einen Frevel an Größe diesem ähnlich begangen und
ahnet ihn auf diesen Tag noch nicht! Im Reiche mensch-
licher und unmenschlicher Verirrungen hat kein Wahn
so lange als dieser gewüthet; bis auf diese Stunde ist
— 541 —
uns unser Geschlecht im Allgemeinen mit dieser Liebe,
mit der Wahrheit, die ich nun zu bewähren habe, eben
so wenig gedenkbar, als solches den Griechen ohne sie
gedenkbar war. Ihnen war sie Garten und Treibhaus
herrlicher Menschen und göttlicher Thaten, so wie sie,
die uns nun durch Irrwahn und Unwissenheit und Bar-
barenthum geschändete und verworfene Natur, noth-
wendig oder ununterdrückbar nur Verbrechen, Unrecht
und Verwirrung und aus diesen Un- und Halbmenschen
für Familien Jammer und Elend, für Rad und Galgen,
für Kerker und Galeere liefert; diese Notwendigkeit,
diese völlig naturgemäße Folge, wird sich im Fortgang
unserer Prüfung von selbst ergeben. Die Entdeckung
alles dessen, so uns in der Menschennatur noch verborgen
und räthselhaft, aber der Zukunft zu beleuchten aufbe-
halten ist, wird uns, wenn's denn einmal tagt, dieses
alles ebenso bejammern lehren, wie wir jetzt die Millio-
nen dem Hexen- und Ketzerglauben Erwürgten bejam-
mern; denn alles, was Barbarenmacht und Nacht Zer-
störendes an der Menschheit je verübt, ist für den Gang
und das Leben, für die Formen und Schicksale der
Menschen und der Menschheit, weit weniger als diese
Saat des Todes, ist wenig gegen den Glauben an eine
Zuverläßigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechts-
leben des Leibes und der Seele, sobald er einer Menschen-
behandlung unterlegt wird, und wenig gegen den Glau-
ben, ein Theil der Gesammtnatur unsers Geschlechts sei
entweder gar nicht vorhanden oder nicht Natur oder
freier Menschenwille, Selbstbestimmung, Verbrechen oder
Spiel der Natur, das Menschen an Menschen zu rächen
oder zu strafen hätten; kein Wahnglaube, dem die Men-
schen je für ihre Verkrüppelung gehuldigt und irrig zum
Richtmaß ihrer Sittlichkeit und Erziehung erhoben haben,
ist so entsetzlich als der, Menschen können die Grund-
richtung der Triebe und Sinne, also ihres Wesens tiefste
— 542 —
Urneigungen, ihr wahrhaftigstes und eigentlichstes Selbst,
ihren Geschlechtssinn , ihr Geschlechtsleben , mithin
immerfort währende und in tausend Richtungen wirkende
Theile und Gesetze der ewig unabänderlichen Natur,
ihre Liebe mit ihren unzählbaren Fasern des Lebens
könnten Menschen willkührlich, wie ein Kleid, ausziehen
und mit einer andern verbotenen, mit einer Nichtnatur
vertauschen — man könnte eine Natur behalten oder
nicht behalten oder unter zweien wählen, annehmen oder
wegwerfen, man könne in einer leben oder nicht leben
— wie nian's nach den Aussprüchen Anderer gut und
nöthig, erlaubt und nicht erlaubt finde, und die Oeffent-
lichkeit, das Gesetz, die Sitten, die Theorien und Lebens-
lehren, die dürfen und sollen und können dann nach
Gutdünken verfügen, anerkennen, gutheißen oder ver-
dammen, sehen oder nicht sehen . . . Nicht die Forschung
und die Wissenschaft und das Vorhandene in der Natur,
— Staat und Kirche, die haben da zu wählen, zu
befehlen, zu taxiren, zu erschaffen ; es gebe da ganz un-
bedingt und durchaus ein willkührliches Abirren, ein
Um- und Austauschen, ein An- und Ausziehen seines
Innenlebens, seines Seins und derjenigen Grund-
eigenschaften der Menschennatur, von denen aus und
unbedingt und einzig sich der Faden ihres Daseins und
ihrer tiefsten Naturbestimmung auch naturgemäß und
ohne Störung spinnt und abwindet; da seien keine als
ihre, der Barbaren, Gesetze und Aussprüche nöthig und
gültig und heilig und unabänderlich und gut und gerecht,
— da, wo Gottes Finger gedeutet, geordnet, festgestellt,
gewogen und erschaffen hat, könne der Mensch für sich
und Andere gebieten, verfügen, unterdrücken, wählen,
verbessern, ändern, ausrotten, richten, verdammen, gut
oder schlecht heißen ; damit sei alles Nöthige gethan und
des Menschen Innenleben und Innennatur nicht weiters
zu fragen, die äußern Kennzeichen seien da Richter und
— 543 —
Gesetz, und der, einst auch aus Wahn entstandene Ab-
scheu vor Hexen, der jene Millionen Morde ruhig und
pflichtgemäß beging, könne jetzt in anderer Richtung, im
Wahn, der Mensch solle oder könne über die Grundan-
lagen seines Geschlechtslebens verfügen, wieder eben so
ruhig und pflichtgemäß wie ehemals im ähnlichen Irr-
glauben fortwirken und walten und morden! — Nicht
Strick und Schwert allein, auch Meinung und Gesetz mor-
den oft eines und dasselbe Menschenleben tausendmal.
Aus frevelhaftem, licht- und liebeleerem, blindem und
wissenschaftlosem Unsinn, der keine Griechenmenschheit
schändete, aus dem sind unsere Barbarenansichten und
unsere Mördergesetze hervorgegangen. Durch ein sol-
ches Gesetz wider alle Natur, nicht nur gegen eine,
mußte auch im Allgemeinen der Glaube an den heiligen
Ernst und die Einfalt, an die Kraft und das Wesen aller
Natur selbst gleichsam untergehen. Kirchen, die in
ihrem Schooße Hexen brüteten und Ketzer gebratet
haben — die konnten auch Pia to's Liebe, diese zu
allen Zeiten und überall vorhandene, unwandelbare und
fest bestimmte Menschennatur, die ich erweisen werde,
statt erfassen und erziehen, mit ihrem Geifer also be-
flecken und ihr denn von Sodom, von Athen nicht Na-
men suchen und geben — daher sind wir nun schon seit
Jahrhunderten gewöhnt, sie, diese bestimmten Natur-
wesen, diese Menschen, als der Natur abtrünnige Ver-
brecher und Nichtmenschen zu behandeln und sie zu-
folge unserm Glauben an eine Zuverläßigkeit der äußern
Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der
Seele als in der Natur nicht gegebene zu erklären, von
ihnen anderes Leben als ihr Leben fordernd, ihnen das
größte Verbrechen gegen die Natur als Pflicht auferle-
gend und sie dadurch in einen eigenen und besondern
Kreis von Nacht und Widerspruch, von Sünden und
Vergehen drängend, und dieses alles gegen eine Natur-
— 544 —
erscheinung und eine Naturwissenschaft, die einst
Griechenland, beide, in sein ganzes Leben — in seine
ewige Kunst der Menschheit verflochten . . . Ihr Leben
aber und unser Leben und aller Menschheit Leben ist
eines und dasselbe Leben, ein Bleibendes, ein Unwandel-
bares, ein Ewiges, aus diesem haben wir im Wahn- und
Irrglauben an die nie vorhandene und von aller Mensch-
heit und aller Zeit widerlegte Zuverläßigkeit der äußernKenn-
z eichen imGeschleehtsleben des Leibes und der Seele einen zu
großen Zwecken (wie der Griechen allgemeines Leben dem
Nichtblinden zeigt) bestimmten Theil verdammend ab-
gelöset (zernichten können wir ihn nicht), dieser nun
dergestalt entwürdigte und verfolgte Theil brütet und
trieft Verderben und Elend, als Saat des Todes und
Sold der Völkermissethat und Blindheit, als physischer
und moralischer Pesthauch, voll schrecklicher Verhäng-
nisse und Schicksale über Einzelne, über Familien, über
Völker und Staaten, wie ich zeigen werde. Und da diese
so hingerichtete Liebe als Natur unvertilglich wie unaus-
löschlich nie aufhören kann, nie aufhören konnte, aber
das, was sie ist, nicht mehr heißen im Leben, und in der
Idee nicht mehr sein durfte, dagegen aber von der Eisen-
hand des Wahns am schwarzen Höllenzug der Laster
angeschmiedet, als Verbrechen nun denn einen Namen
haben mußte; da gaben ihr versunkene, Wissenschaft- und
würdelose Völker, entgegen den Griechen, Namen, die
keine andere gebildete Menschheit, worunter wir Israels
auch nicht zählen mögen, je kannte — also zur Unnatur
und zum Verbrechen und zur willkührlichen Abirrung ge-
stempelt und verkündigt — entwürdigt sie nun in der
That und Wahrheit, in solcher Form und Gestalt, wie
jede andere Zeit, die so verfügte, auch diese unsere noch!
Als unvertilgbare Natur aber, entblößt vom Menschlichen
und abgelöst von allem Menschensinn und allem Menschen-
wissen, entstellet und mit Fluch bedeckt, muß sie auch
— 545 —
diese unsere Zeit und Menschheit mitten im Schooße ihres
innern und äußern Lebens an ihren Wunden darbend
tragen, mit allen Sohreöken und aller Nacht und allen
Lebenszerrüttungen und allem leiblichen und geistigen
Verderben und allem physischen und moralischen Elend
und allem blutigen Unrecht und allen Menschenmorden,
deren wirkliches Dasein und Quelle ich in unseren Wahn-
wort und aller Nacht, in der es waltet, aufdecken will
. . . Von Gnade rede ich nicht, es ist da um Recht und
Wahrheit, um Licht und Wissenschaft, und nicht und
nie um Gnade zu thun. „Es ist schändlich, o Kaiser, eine
Ueberzeugung zu hegen von etwas, das du nicht unter-
sucht hast" (Apollonius bei Flav-Philost.). Wer eine
Wahrheit verwirft, verschmäht, verdreht, verachtet, von
der Hand weist, um durch den ihr gegenüberstehenden
Wahn und Aberglauben Brüder, Menschen ohne Schuld,
zu verderben, wäre der kein Mörder? Bedarf die Obrig-
keit keiner Wissenschaft, — nur Gesetze und Henker?
Ist es nicht jedem, der durch Ansicht und Gesetz, durch
Stand und Amt, in enger oder weiter Umgebung einen
Einfluß ausübt, Amts-, Berufs- und Menschenpflicht, mit
Ernst ohne Wahn und Vorurtheil zu untersuchen und
untersuchen zu lassen, — als bestimmte Natur für un-
natürlich mit Füßen zu treten, mit Nacht und Geifer zu
bedecken, zum Weltverderben zu gestalten. Solche Prüfung
wird, was ich wohl hoffen darf, hier leicht gemacht —
Zeit ist es, aus diesem Sündenschlaf zur Wahrheit, zur
Vernunft und zum Recht zu erwachen Wehe dem,
der keine Thränen hat über seiner Brüder Elend und
seiner Väter und seines Vaterlandes Unrecht und Misse-
thaten — der nicht einsehen, der nicht bereuen, und
nicht bejammern kann, was er selbst, und andre mit und
vor ihm, aus Unwissenheit und Stumpfsinn, an seinen
Mitmenschen, in blindem Wahn verbrochen. Solcher ist
der eigentliche Sünder wider die Natur und der Frevler
Jahrbuch V. 35
— 546 —
wide rallen Beruf des Menschen für die Menschheit!!
Gesetze ohne Wissenschaft sind Henker ohne Obrigkeit;
und selbst ihr alle, die ihr mit Ernst am Heil der Mensch-
heit arbeitet, mit Kraft, mit Willen und Würde nach
dem Licht und den Polen, um die wandellos sich alles
wahre Heil der Sterblichen beweget, hinweiset — selbst
ihr seid in dieser Beziehung noch Inquisitoren, wie jene,
die auch sonst in allem Uebrigen empören — Diener
des Unrechts und der Unwissenheit und der Nacht, wie
jene schwarzen Spaniolen, blinde Werkzeuge barbarischer
Macht und frevelnder Gewalt — und jeder aus euch
bildet da in dieser Angelegenheit noch mit Plato die
Gruppe des Erzengels und des Satans (I 102 — 113).
Im achtzehnhundert und siebenunddreißig-
sten Jahr unserer Zeitrechnung glauben wir, daß Un-
menschengesetze, etliche Mährchen, das Geschwätz alter
Weiber, die Erklärungen der Universitäten, wie im Ketzer-
und Hexenproceß, und Bibelstellen, die man noch nie zur
Ehre der Bibel ausgelegt hat, was leicht ist, . . . hin-
reichen, eine Menschennatur aufzuheben, anders zu machen
oder zu ersticken, eine nicht vorhandene hervor zu bringen*
Das ist der pure, leibhaftige Hexenglaube, die voll-
ständigste Teufels- Wirthschaft, eine auf gleiche Funda-
mente gegründete Finsterniß, in der man noch alle Gräuel
jener Mörderzeiten an Schuldlosen, denen man die Natur
eines Andern und Verbrechen aufbürdet, die nie ein
Mensch verüben kann, begeht (II 293 — 294).
Die Geschlechtsnatur Heinrich Hößli's.
Es darf die Frage nicht unerörtert bleiben : war der
Mann, welcher mit einer Entschiedenheit ohne Vorbild
und mit edler • Unerschrockenheit für die Natur- und
Sittengesetzlichkeit der gleichgeschlechtlichen Liebe zu
— 547 —
einer Zeit und bei einem Volke in die Schranken trat,
wo die Ausübung derselben mit schweren Strafen ge-
ahndet wurde — war Heinrich Hößli selbst Uranier?
Er hat sich im Alter von 26 Jahren vermählt und
zwei Söhne als seine leiblichen Kinder anerkannt; allein
er führte nicht, wie sonst Eheleute pflegen, mit seinem
Weibe gemeinsamen Haushalt, sondern lebte von Anfang
andauernd und sogar örtlich von seinem Weibe getrennt.
Es scheint dieser Umstand für die Auffassung seiner
wahren Geschlechtsnatur um so bedeutsamer, als er selbst
bekennt, erst 1817, also 6 Jahre nach seiner Verheiratung und
3 Jahre nach der Geburt seines zweiten und letzten Sohnes,
sei ihm durch einen äußern Anlaß (Desgouttes' Hinrichtung)
die Binde von den Augen gefallen. Es bleibt demnach zum
mindesten zweifelhaft, ob ihn nicht doch mehr Unklarheit
über sich selbst^ vielleicht gar bloßer Nachahmungstrieb,
geachteten Vorbildern es gleich zu machen, als persön-
liche Zuneigung in die Ehe getrieben habe.
In den zahlreichen Briefen der Frau Elisabeth Hößli
geb. Grebel an Heinrich Hößli1) redet sie diesen ihren
Ehemann niemals als das an, was er für sie doch war;
vielmehr nennt sie ihn durchweg „ Meinen Freund* und
sich selbst bezeichnet sie als seine „ Freundin", seine
„ wahre Freundin"; nach einem dieser Briefe vom 21.
September 1846 aus Zürich fühlt sie für ihn eine „alte
unauslöschliche Freundschaft, wie es in unserm Ver-
hältniß nicht anders sein kann*. Sie macht ihm sanfte,
*) Die Reihe dieser Briefe, etwa 100, beginnend mit dem 28.
Januar 1825 und endend mit dem 30. Oktober 1854, weist nur für
die Jahre des ersten Aufenthalts der Frau Hößli in Amerika 1834
bis 1843 eine erhebliche Lücke auf; allermeist sind sie aus Zürich
datiert, einige wenige aus Meilen, Cannstatt, München und Rheinek;
die Schreiberin zeigt sich darin als eine liebevolle und resignierte,
in der Sorge für ihre beiden Söhne aufgehende und um das Wohl
und die Gesundheit ihres von ihr getrennt lebenden Ehemannes
bekümmerte echte Frau.
35*
— 548 —
aber entschiedene Vorwürfe wegen seines unmännlichen
vielen und langen Besinnens, seines Eigenwillens und
seiner Schwerfälligkeit im Entschluß und im Handeln.
Mit seinem Sohne Hansi stand Heinrich Hößli in
regem Brief verkehr; leider sind von dieser Korrespondenz
nur die Briefe des Sohnes erhalten; aus ihnen geht aber
bestimmt hervor, daß Vater und Sohn nicht nur über
den „Eros" ihre Gedanken austauschten, sondern auch,
daß der Sohn dem Vater gegenüber aus seiner Geschlechts-
natur duchaus kein Hehl machte. Unterm 27. Dezember
1848 schrieb Hansi aus Galveston (Texas) seinem Vater:
„Ich würde recht gut und angenehm in der Schweiz leben
und wegen Dir wäre es mir über Alles . . . aber siehe,
die mehreren Gründe dagegen rühren von Einer Quelle
her oder doch meist von einer Quelle. Ich will sagen
E[ros]. Besonders die verflossenen Sachen von der Zeit
des rothen Löwen in * M. herrührend, das war eine un-
angenehme Geschichte, es wirkten dort viele Umstände zu-
sammen. Ich war wohl unvorsichtig und ich wäre auch
eher verschwatzt worden als andere, es war mein Fehler,
aber wie kannst Du böse darüber sein, ich that doch
nichts mit bösem Herzen .... Hier bin ich verhältniß-
mäßig glücklich und frei . . . Etwas ganz Anderes auch,
wovon ich Dir sagen will. Einen Jungen in N. York,
den ich gleich einem nahen Verwandten liebe, ohne Eltern,
irländischer Abstammung, habe ich im Sinn, als Sohn
anzunehmen; er ist 16 bis 17 Jahre alt, heißt Henry
Wilson, er könnte daher einmal Deinen Namen bekommen.
Er ist arm, sehr arbeitsam, ohne Fehler, nicht besonders
hübsch oder groß. Ich konnte noch nie irgend etwas für
ihn thun, da er alles da hat, wo er arbeitet. Wie ich
das letzte Mal in N. York war, sah ich ihn blos ein
Mal und stehe auf sehr ceremoniellem Fuße mit ihm,
da er so jung ist; ich bin nie in seiner Gesellschaft wie
mit den zwei jungen Männern, die, obschon jung, doch
— 549 —
erwachsen sind. Henry ist noch Bube. Er kann ziem-
lich deutsch sprechen, auch deutsch lesen. Nun, ehe ich
in die Schweiz gehe auf einen allfälligen Besuch, treibt
es mich, eine Art Geschäft oder Heimath, wenn
auch eine Farm, zu haben und daß er bei mir
zuerst angestellt sei. Er scheint sehr anhänglich gegen
mich und würde mit mir auf Land oder Stadt in irgend
etwas gehen, ich versprach ihm das schon lange. Solches
und Aehnliches halten mich immer ab." — Noch deut-
licher redet die Einlage eines nicht vorgefundenen Briefes
Hansis an den Vater vom Februar 1853: „Zerstöre den
Zettel! Ich muß Dir auch sagen, wie es mit der Sache
vom letzten Sommer. Jener junge H. ging von Hause
weg d. h. er war in Deutschland und kam hieher. Sein
Vater schrieb zuerst, ich soll doch machen, daß er zurück
gehe, er wolle ihn nicht strafen und in Deutschland
lernen lassen was er wolle. Ich sprach zum Sohn und
er ging zurück. Aber es kamen andere Briefe, welche
Monate lang unterwegs geblieben, ich solle ihn doch
nicht zurückgehen machen, wenn er in der Buchdruckerei
gut sei, das Wechseln sei nicht gut, ich solle mich seiner
annehmen und zu ihm sehen, und er wolle mir für seinen
Sohn eine artige Summe Geldes geben, für ihn zu ver-
wenden. Er war aber schon weg, was mir auch recht
war, indem ich nicht weiß, wie er ausfallen wird. Seinem
Sohn schrieb der Vater, mir zu folgen — aber nicht
andern in der Schweiz zu sagen, daß er mit mir in einem
Verhältnisse sei, er, der Vater, sage es nicht. Er bat
mich sehr, ihn nicht aus den Augen zu lassen und „rüstete
mich mit väterlicher Gewalt aus.* Es war zu spät, da
der Brief mehrere Monate unterwegs war. Ich schrieb
dem Sohn durch den Vater in Zfürich], mir nicht mehr
zu schreiben und ganz den Wünschen des Vaters zu
leben. Er schrieb mir aber doch seine Ankunft von
Hamburg und er will wieder aufs Meer, was nicht gut
— 550 —
ist; ich schreibe ihm aber nicht mehr. Er war hier in
einer Buchdruckerei, wo er sich gut hielt. Es war eine
Verläumdung. In der Schweiz möchte ich natürlich jetzt
nicht mehr leben, denke aber etwa für 2 Monate im
Sommer zu kommen. Nach der Schweiz geht der junge
H. jedenfalls nicht.* — Zerstöre den Zettel! Der Vater
hat den Zettel nicht nur nicht zerstört, sondern ihn noch
einmal abgeschrieben, so daß er nun doppelt in seinem
Nachlasse erhalten ist!
Als dann später Heinrich seinem Hansi schrieb, ihm
möge das Heil, einen wahren Freund für das Leben zu
finden, zuteil werden, diese Aussicht für ihn erschüttere
sein Herz vor Freude und Hoffnung, schrieb Hansi zurück,
daß das wohl oft sehr schwer sei, wenigstens für seine
Person finde er das. Und in demselben Schreiben aus
N. York vom 21. April 1857 äußerte er sich in Beant-
wortung vom Vater gestellter, auf den „Eros" bezüg-
licher Fragen: „Ich glaube gar nicht, daß in mir Kraft
liegt oder Mittel mir zu Gebote stehen. Ich glaube eben
nicht so sehr an menschliche Unwissenheit, sondern an
der Menschen Bosheit und Gefühllosigkeit gegen Andere
und Lust, Andere zu erniedrigen, und eine Art Neid,
besser Mißgunst. Von Allem, was aus dem Alterthum
und auch für Natur- Anlage — ich spreche immer spe-
ziell von diesem Falle — bewiesen werden kann, wird
gesagt: BDas ist eine alte Sache, das ist allbekannt" und
„das macht die Sache nicht besser". Die Meinung Ein-
zelner gilt nicht viel. Allerdings wenn die Unwissenheit
des Volkes im Ganzen nicht wäre, so würde Alles anders
sein; Unwissenheit aber ist hier, in diesem Falle, mehr
Vorurtheil, und es ist (in der Politik) bekannt, daß all-
gemeine Vorurtheile, selbst von starken Regierungen,
innerhalb einiger successiven Generationen nicht gehoben
werden können, daher alle Regierungen, die bestehen
wollen, die Vorurtheile sich zu Nutzen ziehen müssen.
— 551 —
Meine Ansichten sind in diesem Fälle unangenehm.
Es ist gegen meine Natur, die Menschen so anzusehen;
aber wie helfen, wenn die Sache so liegt? Eine gewisse
negative oder doch zweiseitige Anschauung in einem
Werk wie das Buch in vier Bänden V(enus) U(rania)
oder wohl auch Zschokke's mögen eher angehen, aber
wie wenige lesen Alles und Solches, und wenige, die
Solches lesen, sind eigentlich unwissend, haben aber doch
Vorurtheil oder kein Gefühl für Andere und die Besten
scheuen sich wenigstens so, daß sie eigentlich neutral
sind, aber nicht ein Mal so viel Bekenntniß ablegen.
Die Hebung des Vorurtheils würde wohl Tugend för-
dern und Laster vermindern, in großen Städten wie hier
muß das sehr bemerkt werden. Es hat zwar auch eine
andere Seite füVs Allgemeine: Würden Gesetze weggethan,
ohne andere Gesetze zu machen, so gäbe es viel Böses,
und wie könnten andere gemacht werden? An eine
solche Möglichkeit ist unter bestehenden Umständen und
Ansichten ja nicht zu denken. — Das Liebste ist mir,
wenn ich mit meinen Vettern (von denen Du redest)
unter obwaltenden Umständen in keine Berührung
komme.*
Meine Aufgabe kann es hier nicht sein, den Nach-
weis zu führen, Heinrich Hößli sei nicht weibliebend
gewesen; diese Aufgabe könnte selbst dann mir nicht
zufallen, wenn es überhaupt logisch zu den Möglichkeiten
gehörte, überzeugend nachzuweisen, daß etwas nicht sei.
Aber auch für mehr als bloß hohe Wahrscheinlichkeit,
daß Heinrich Hößli rein mannliebend gewesen ist,
kann aus dem von mir Ermittelten irgend ein zwingender
Beweis nicht ' herjgeleitet werden , weit weniger noch
der Nachweis irgend einer Art gleichgeschlechtlichen
Verkehrs. Wir erfahren aus dem Leben des Ver-
fassers des „Eros* nichts von einer großen
— 552 —
Liebe, die ihn fortgerissen habe. Eine lange Reihe von
Jahren hat er treue Freundschaft oder Kameradschaft
mit seinem Neffen Jakob Kubli gehalten; es war das um eben
die schwere Zeit, als sein „Eros" entstand; die geschäftige
Fama brachte den „Eros" mit Kubli in Verbindung; sie
machte aber ein enttäuschtes Gesicht, als bei darauf aus-
gehenden Prüfungen Jakob Kubli sich als völlig unschuldig
erwies und es sich zeigte, daß dem Harmlosen der Gegen-
stand des „Eros* — spanische Dörfer waren. Damit war es
also nichts ! Es wird bestimmt versichert, Heinrich Hößli
sei ein alter lieber Freund der Familie des Löwenwirts
gewesen, ein edler, sittenreiner und makelloser Charakter,
dem Eltern und Kinder stets die höchste Achtung zollten;
den Kindern gab Heinrich nie den leisesten Anlaß zu
einer Klage, weder in Tat, noch Wort, noch Blick;
wäre ein solcher Anlaß vorgekommen, so hätte deren sehr
guter, aber leicht heftiger Vater den Freund, trotz bisherge-
pflogener echter Freundschaft, erwürgen können; um
Hößli's im „Eros* niedergelegte Anschauungen habe
man sich nicht in der Familie gekümmert, da man der
Sache gänzlich fern stand und diese Frage im Familien-
kreise überhaupt nie wäre besprochen worden. Dem
jüngsten der drei Söhne des Löwenwirts hatte Heinrich
auf seinen Wunsch hin im späteren Alter den „Eros*
gegeben, in der Erwartung, daß er ihn sorgfältig studieren
werde; aufrichtig gestand ihm der jüngere Freund, daß
et zwar im „Eros" geblättert, die Sache aber nicht be-
griffen habe, die vielen Zitate langweilig fände und das
Bu<3h wieder bei Seite gelegt habe; der alte Freund
lächelte und sprach: „Recht so! Du hast Besseres zu
tun in Deiner Familie und in Deinem Geschäfte!"
Ein ausgesprochen urnischer Zug in Heinrich Hößli's
Wesen war lediglich seine Geschicklichkeit in weiblichen
Arbeiten. Um sein selbstloses mannhaftes und furchtloses
Eintreten für seine heiligsten Ueberzeugungen aber hätte
— 553 —
unser sich selbst hochpreisendes Männervolk alle Ursache,
ihn ehrlich zu beneiden!
Was Heinrich Hößli in seinem zweibändigen „Eros*
von Selbstbekenntnissen offenbart, das bezieht sich
auf seine Anschauungen, nicht notwendig auf seinen
Geschmack, nicht notwendig auf seine Lebensfüh-
rung; da er bestimmt erklärte, daß die Männerliebe der
Griechen zwar auch dem Leben und der Wirklichkeit
seiner Zeit noch angehöre, jedoch ohne schwarzen, „ver-
dammlichen Brüderverrath" an ringsum lebenden Menschen
und Lebensverhältnissen sich nicht zeigen lasse — »und
ich bin kein Judas", fügt er (Eros II S. 44) in Klammern
bei — so lag ihm auch die Pflicht nicht ob, sich selber
bloß zu stellen.
In dem hinterlassenen ungedruckten Manuskripte
zum dritten Bande seines „Eros" findet sich der nach-
folgende Passus wortgetreu:
„(Aus den Selbstbekenntnissen eines Unglücklichen
ohne Liebe zum andern Geschlecht)
„Ich sitze im Reise wagen, mir gegenüber eine männ-
liche Schönheit — tausend andre hätten sie nicht für
eine solche genommen — oder vielmehr — es hätte sich
in den tausend andren für diesen Menschen nichts be-
wegt und dieser Mensch nichts in diesen tausend andren.
— Die Stadt ist zurück; Berge und Thäler und Bilder
am Himmel und auf Erden wogen und rollen dahin; ich
hatte schon große Reisen gemacht; aber so gerollt und
so gewogt — solchen Himmel, solche Erde, solche Selig-
keit — und ich wußte eigentlich nicht, ob sie in mir
oder im Postwagen oder rings um denselben her sei —
ich war trunken und, o du guter Gott, hätte ich's ewig
bleiben können
— ea war der Eros! —
„Ich bin in der Kirche, mir zur Rechten eine ver-
klärte Menschengestalt, die auch meine ganze Seele ver-
— 554 —
klärt und mit glühender Andacht, mit dem Himmel
selbst erfüllt. Der Tempel erbebt, er verschwindet . . .
und warum dachte ich: zu den Füßen dieses göttlichen
Jünglings wäre es selig zu sterben? —
— es war der Eros! —
„Ich sehe die Lichter brennen unter dem Thron
Gottes — die Glanzmeere unendlich ausgesäet am wolken-
losen Himmel ... er feiert einen Sabat der Welten und
seine Flammen funkeln Ewigkeit und Liebe; ich sinke
nieder, ich liege im Staub . . . und . . . ich weiß nicht
o Gott woher . . . die Gestalt eines holden Jünglings
steht neben mir
— Stimme des Eros! —
„Ich stehe im Winter allein am einsamen Fenster;
es schneit; der Fink für sein Weibchen sucht Körnlein
vor der Scheuer . . . und ich bin voll Liebe und voll
Wehmuth — und denke, wie selig so ein paar vereinte
Menschen auf dieser Welt voll Sehnen und Trübsal
leben . . . und wie viel Herrlichkeit im Hintergrund
einer Menschenseele sei . . . und wenn Gott mir noch
so ein Menschenwesen gäbe und ich mein ganzes Leben
mit ihm meinen Bissen Brod theilen könnte. — Es saß
ein freundlicher Jüngling am Ofen es war eine
Erscheinung
— es war der ewige Eros, der in den
Zeugen und Stimmen redet und im Plato
und in der ewigen Natur und bei den
Griechen!
„Ich sitze am Bach und denke und fühle und sinne
so hin und her und auf und ab . . . und bin voll Heim-
weh — und weiß nicht wohin ich vor allem diesem
soll . . . denn es ist Frühling . . . und sagen möchte
ioh's, wie es in mir wogt und Wellen schlägt und
so einsam ist und mir all' die Herrlichkeit so zu keinem
— 555 —
Frieden hilft . . . und meine Sehnsucht nach dem Engel
in Jünglingsgestalt mich in namenlose Traurigkeit ver-
senkt, wo soll ich hin? . . .
„Ich wandle allein in einer schönen, einsamen Ge-
gend, ich sitze in dem Schatten des kleinen Gartens vor
einer unbewohnten Hütte, wie ich in selig hoffenden
Träumen schon manche erbaut habe. Daß du da dein
Leben zubringen und diesen Acker pflügen könntest und
säen und erndten und im Sommer und Winter die Abend-
röthe sehen und diese Bäume blühen, und leben und
sterben könntest mit — dem Einzigen unterm Himmel
und auf Erden. — Ihr tiefsten stillen Bilder des Lebens,
ihr goldnen unvergeßlichen Träume . . . ich saß noch da,
als die ersten Sterne durch die Zweige redeten ... ich
mußte fort, denn es wohnten keine Menschen in dieser
Gegend und ich kannte nicht
den Eros in des jungfräulichen Virgil's und
Theokrit's Hirtengedichten.
„Eine Mutter traf ich auf einem Dorfkirchhof an;
ihre Tochter war gestorben und ihr Sohn; und was sie
da that, fragt wohl kein Mensch. Ich erfuhr, daß die
Tochter Braut gewesen, und daß sie Anna geheißen, sah
ich am Kreuz und daß ihr Heinrich nun in die weite
Welt geflüchtet — und Johann der beste und schönste
Mensch weit und breit gewesen sei. Nachdem die Mutter
fort gegangen war — und ich so froh, allein zu sein,
und ringsum alles so still und kein Menschenwesen weit
und breit — und die Auferweckten wieder wie Nebel
verschwanden und meine Seele überfloss von unsäglicher
Wehmuth, — hätte ich zu dem schönen gestorbenen Jo-
hann in das Grab hinab und mich zu ihm in sein Leichen-
tuch wickeln und dort bei ihm sein mögen — ewig —
wegen all' der Trübsal und dem Heimweh und der Liebe
— 556 —
auf dieser Welt .... und ich wußte nicht, warum das
alles so wundersam in mir war — und nichts
von der Anthologie der Griechen — den
Sängern der Vorwelt!"
Wer war der Schöpfer dieser Bilder, die uns zeigen,
daß der Eros der Griechen auch heute noch unter uns
weilt? Daß er Menschenherzen erfüllt und Menschen-
verhältnisse beeinflußt? Wer schrieb so? Schrieb so
noch ein anderer? Hößli verrät es uns nicht; er läßt
es uns erraten — aber er fügt an dieser Stelle bei:
„ in diesen Bildern, in diesen Begriffen,- — in
diesen Wahrheiten, an die ich noch so manche
eigene tiefere Erfahrung knüpfen könnte . . .
in ihnen ist der Eros der Griechen — sie, ihre Stimmen
und Zeugen sind da gültig . . . nicht Greuellehren der
Hexen- und Ketzer-Prediger* . . .
Nach allem halte ich für wahrscheinlich, daß Hein-
rich Hößli zeitlebens mannliebend war und daß sein „Eros"
nicht bloß ein Produkt seines Nachdenkens und Studiums
und seines ausgesprochenen Rechtsempfindens war, son-
dern vorwiegend als der Ausfluß seines innersten Seelen-
lebens auf zufassen ist. War der Verfasser des „Eros" aber
nicht mannliebend, so wiegt sein Zeugnis für die Männer-
liebe nur noch um so schwerer.
Franz Desgouttes (1785—1817)
„Alles kommt mir wie im Traume vor."
Franz Desgouttes.
Da der „Eros" Heinrich Hößli's nach dessen
eigenem Geständnisse ein Ausfluß seines unendlichen Mit-
leidens mit den Qualen und seines zornigen Ingrimms
über die ungewöhnlich fürchterliche Hinrichtung des
reumütigen Mörders, des Berner Bürgers Franz
Desgouttes gewesen ist, Hößli selbst aber die Schilde-
rung der Leiden und der Verworfenheit dieses Unglück-
lichen in den beiden erschienenen Bänden seines -Eros"
*
unterlassen und sich wahrscheinlich für den dritten Band
aufgespart hat, so wird durch Nachholung des von Hößli Ver-
säumten an dieser Stelle lediglich eine Pflicht schuldiger
Pietät gegenüber dem so verdienstvollen Verfasser
des „Eros* erfüllt. „An meiner Idee," sagte Hößli, „ist
Desgouttes' innere Zerstörung, sein Elend und sein schauer-
volles Ende zu prüfen und Fluch dem Menschen, der
diese Prüfung verschmähte, wenn sie ihm für noch nicht
verlorene Mitmenschen Licht und Rettung an die Hand
geben könnte" (Eros II, 213).
Als seine Quelle gibt Hößli (Eros I, 277—278) die
Schrift an:
„Leben und Lebensgeschichte, Verbrechen
und Hinrichtung des Herrn Joh. Franz Nikiaus
Desgouttes, Doktors der Rechte und Bürgers
der Stadt Bern", Bern, 1817 in 4°. Da die damalige
Regierung das Erscheinen dieser Geschichte in ihrem
— 558 —
Gebiete unterdrückte, so erschien nach H ößli diese Schrift
darauihin französisch in Lausanne und 1827 wieder
deutsch in Berlin. Desgouttes' Schicksal hat bei seiner
Bekanntwerdung H ößli 's Gemüt mit Grausen erfüllt, er
konnte nicht schweigen und Mensch bleiben. Die Schrift
„hat keinen andern als den Werth eines Beitrags zur
Geschichte des namenlosen Elends der Opfer unserer
Unwissenheit und Unkenntniß der Menschennatur in
allen Zweigen. Nach meiner Ansicht gehört sie zu unserer
Literatur des Eros — das ist fürchterlich, aber natür-
lich; wie wir dieses Feld bestellt^ so trägt es uns Früchte"
(Eros I, 278).
Diese einzige von Hößli angeführte Quelle für
Desgouttes ist aller Mühe ungeachtet mir völlig unzu-
gänglich geblieben; sie fehlt auch den drei öffentlichen
Bibliotheken in Bern, woselbst man sie am ehesten noch
erwarten könnte.
Die übrigen das Schicksal Desgouttes' behandelnden,
mir bekannt gewordenen Druckschriften bieten für den
Zweck dieses Biogramms wenig Belangreiches und deuten
eigentlich nur an. So
Heinrich Zschokke, Der Eros oder über die
Liebe, in: „Ausgewählte Novellen und Dichtungen von
Heinrich Zschokke. Erster Theil, Aarau, 1843% S. 231
bis 292. Desgouttes heißt hier Lukasson, sein
Geliebter •Hemmeier wird Walter genannt. Seite
232—233, 244, 252—254, 256, 270—271, 289,
291—292.
Heinrich Hößli, Eros. Die Männerliebe der
Griechen u. s. w. I. Band, Glarus 1836; IL Band,
St. Gallen 1838. Ueber Desgouttes handeln Band I
S. IX, XVI, 61 und 278, Band H S. 53, 212—213, 225,
239, 263—264, 279, 327*) und 351.
Anonym, Dr. Franz Desgouttes, Dieb und Mörder.
In: -Die interessantesten Kriminal-Geschichten aus alter
— 559 —
und neuer Zeit Ein Buch zur Unterhaltung, Warnung
und Belehrung für Jung und Alt, nach den vorgelegenen
Akten bearbeitet und herausgegeben von einem viel-
jährigen höhern Gerichtsbeamten. St. Gallen. Altwegg-
Weber." IV und 706 Seiten in 8°, Seite 633—650. Das
Erscheinungsjahr fehlt; das Datum des Vorworts ist
November 1866.
Während Zschokke und Hößli nur zusammen-
fassende Urteile geben, bringt der anonyme Verfasser
der Kriminal-Geschichten viel interessantes Detail, aber
gerade bezüglich der hier in Frage stehenden Materie
schweigt er sich aus und begründet seine Zurückhaltung
S. 644 mit den Worten : „Es ekelt uns nachgerade an, von
dieser „ Freundschaft* mehr zu schreiben, leider aber hängt
sie mit der ganzen Geschichte unzertrennlich zusammen.*
Ich würde nun ratlos dastehen und Hößli's Zusage
nicht einlösen können, wenn ich nicht durch das freund-
liche Entgegenkommen des Staatsarchivars des Kantons
Bern, des Herrn Dr. Heinrich Türler, in die dankens-
werte Lage versetzt worden wäre, die im Staatsarchiv in
Bern befindlichen schriftlichen Prozeßakten nebst
dem Tagebuche Desgouttes' auf das Eingehendste
studieren zu können, derart, daß alles, was im Nach-
folgenden über Desgouttes mitgeteilt wird, einzig dem
genannten Akten-Material entnommen ist
I. Ein Mord und seine Folgen«
Am 29. Juli 1817 Morgens nach 9 Uhr erstattete
der Bärenwirt Gustav Wiedmer in Langenthai im Kan-
ton Bern dem Gerichtstatthalter daselbst die Anzeige,
der Schreiber des Eechtsagenten Dr. Franz Desgouttes,
Daniel Hemmeier von Aarau, liege tot in seinem
Bette und scheine ermordet zu sein. Der Gerichtstatt-
halter ließ die Anzeige an den Amtsstatthalter in Aar-
wangen weiter befördern und dessen Gegenwart erbitten.
— 560 —
Dieser erschien mit dem Amtsschreiber alsbald in Langen-
thal behufs Besichtigung von Oertlichkeit und Leiche.
Im Hause des Bärenwirts befand sich zu ebener Erde
gleich links von der Eingangstür die Schreibstube des
Rechtsagenten Dr. Desgouttes; ihre Besichtigung er-
gab nichts Absonderliches; eine Treppe hoch bildeten eine
Flucht von drei Vorderzimmern und diesen gegenüber zwei
Zimmer und die Küche die Privatwohnung des Dr. Des-
gouttes und hier wurde folgendes festgestellt: Im ersten
Zimmer stand links neben der Tür ein völlig in Un-
ordnung gebrachtes Bett, auf dem unter anderm ein blut-
bespritztes, „F. D.* gezeichnetes Hemd und ein Offiziers-
säbel mit eiserner Scheide lag, während am Fußboden
um das Bett herum viele unvollkommene blutige Fuß-
spuren sichtbar waren; eine halboffene Tür führte in
das Mittelzimmer, dessen Boden zahlreiche blutige Fuß-
spuren von solcher Deutlichkeit aufwies, daß die fünf
Zehen unterschieden werden konnten, ein Beweis dafür,
daß unbekleidete Füße sie hervorgerufen haben mußten;
auf einem kleinen Tischchen lag ein großes ledernes
halboffenes Säckchen mit drei verschiedenen Behältern,
welche Bleikugeln, Patronen und ein kleines Ladestöckchen
zu einer Pistole enthielten; im letzten Zimmer endlich,
dem Schlafgemache des Schreibers Hemmeier, lag ein
junger Mann im Bette auf dem Rücken, kalt, bleich und
starr, den Kopf hoch auf dem Hauptkissen mit halb-
geschlossenen Augen und offenem Munde, die Arme dem
Leibe nach gekrümmt haltend, die Hände auf dem Unter-
leibe gefaltet und den linken Fuß aus dem Bette hervor-
streckend; eine wollene Decke reichte dem Jüngling bis
fast an den Hals, das eigentliche Deckbett bildete einen
Knäuel am Fußende des Bettes; der mit dem Hemde be-
kleidete entseelte Körper zeigte wie das Bett überall
Blutspuren; dicht am Leibe zwischen dem Ellenbogen
und der Achsel des rechten Armes fand sich ein fast
— 561 —
offenes blutbedecktes großes Sackmesser mit zwei frisch-
geschlfffenen Schneiden; auch hier wies der Fußboden
ungezählte Spuren blutiger nackter Füße auf.
Der Tote war Daniel Hemmeier von Aarau, ein
junger Mann von 22 Jahren. Geboren am 2. März 1794
hatte er sich von früher Jugend auf durch Ordnungsliebe,
Lernbegierde und gute Aufführung ausgezeichnet und
wurde auf Verwendung seiner Tante Salome Anderes, der
Dienstmagd des Herrn Fürsprech Franz Jakob Desgouttes,
vom 1. November 1810 an in dessen Schreibstube beschäf-
tigt, um den Advokatendienst zu erlernen. Bei der voll-
ständigen Mittellosigkeit seiner mit sieben Kindern ge-
segneten Eltern war die Dauer seiner Lehrzeit auf fünf
Jahre festgesetzt worden; vom 1. November 1815 an
war alsdann Hemraeler in derselben Kanzlei als Gehülfe
tätig geblieben und nach dem am 6. Juli 1816 erfolgten
Ableben des alten Desgouttes zugleich mit der Kanzlei
von dessen Sohne Dr. Franz Desgouttes übernommen
worden. Hatte Hemmeier schon als Lehrling viel für
seinen leidenden Vater und seine kränkliche Mutter ge-
tan, so war er als Gehülfe die Stütze, der Trost und
die Freude seiner bis dahin in drückender Armut leben-
den Eltern geworden — ein stiller und strebsamer, wohl-
geratener und hoffnungsvoller Sohn.
Gleich nach dem Bekanntwerden der Auffindung
des Hemmeier als Leiche lief vom Markte zu Langenthai
aus, wo Wochenmarkt tagte, durch das ganze Amt mit
Blitzesschnelle das Gerücht von Mund zu Mund, daß
kein anderer, als der Dr. jur. Franz Desgouttes, der
des guten Jünglings Berater und Wohltäter hätte sein
sollen, der Urheber des grausigen Mordes wäre. Dieser
hatte am 29. Juli sein nur durch ein Zwischenzimmer
vom Schlafzimmer des Ermordeten getrenntes Schlaf-
gemach nicht vor 8 Uhr Morgens verlassen, war dann
mit einem Portefeuille unterm Arm auf der Straße nach
Jahrbuch V. 36
— 562 —
Aarwangen von verschiedenen Personen angetroffen wor-
den, hatte sich im Dorfe Aarwangen aufgehalten und
sich nach dem Dorfe Muhmenthal begeben wollen, wurde
jedoch auf dem Wege dahin mit Hülfe von zwei Bauern
durch einen Polizeiwächter, der ihm mit einer eisernen
Schnur die Hände fesselte, angehalten; er schien zer-
schlagen, müde und traurig und mußte starke Getränke
zu sich genommen haben ; auch seufzte er viel, faßte sich
an die Stirn und klagte über. Zahnschmerzen. Zu den
sich einfindenden Neugierigen sagte er : „Ihr lieben Leute,
ich will Euch gewarnt haben, ergebt Euch nicht dem
Trünke" und „Im Rausche und im Zorn soll man nicht
sündigen". So wurde er drei ihn suchenden Landjägern
übergeben, welche ihm anfangs Handschellen anlegten,
als sie aber gewahrten, daß er sehr schwach und Wider-
stand zu leisten unfähig war, vielmehr sagte, sie könnten
mit ihm machen, was sie wollten, ihm auch einen Schuß
geben, ihn wieder davon befreiten und gegen 1 Uhr
Mittags als Untersuchungsgefangenen in das Schloß Aar-
wangen abführten. Im Wartezimmer daselbst gab er
dem Schloßknecht eine silberne Uhr mit dem Ersuchen,
sie zu verkaufen ; der Erlös solle zur Erleichterung seiner
Gefangenschaft dienen. Als der Knecht später hörte,
daß des Hemmeier Uhr vermißt werde und die in seinen
Händen befindliche die gesuchte sei, gab er sie zurück;
Desgouttes hatte sie nach dem Morde von der Wand
genommen und zu sich gesteckt; ebenso Taschentücher
des Hemmeier; beides hatte er selbst dem Hemmeier
geschenkt und dachte nun bei sich: Ich habe sie ihm ge-
schenkt und er braucht sie nicht mehr.
Schon am Tage nach dem Morde nahm der Amts-
statthalter im Beisein von drei Amtsrichtern und dem
Aktuar das Präliminarverhör mit dem des Mordes
Verdächtigen vor, in welchem dieser die Tat unumwun-
den eingestand; zu seiner Tat, die Vorsatz und Absicht
— 563 —
gewesen sei, habe er sich den nötigen Mut durch starke
Getränke getrunken; seine Tat sei eine prämeditierte
Handlung; in einem an Wahnsinn grenzenden Zustande
habe er den Hemmeier so zugerichtet, daß er hätte ver-
bluten müssen; hätte er nur ein wenig Besinnung ge-
habt, so würde er Aerzte oder anderweite Hülfe herbei-
geholt haben; in seinem Zustande aber sei das ausge-
schlossen gewesen. Im zweiten Verhöre am 5. August
fährte der Geständige aus, wie ihn die Absicht des
Mordes gepackt habe; auch Handlungen im betäubten
Zustande, in welchem alles zu tun möglich sei, seien
mehr oder weniger mit Absicht verbunden. Nebenher
legte er das Geständnis ab, mit seinem Lehrling Hans
Ulrich Leib und Gut „Unzucht* getrieben zu haben.
Bereits am 2. August hatte die Kriminal-Kommission
zu IJern wegen Behinderung des Oberamtmanns in Aar-
wangen durch Krankheit die Transportierung des Des-
gouttes nach Bern und Uebertragung der Untersuchung
an das Verhörrichteramt in Bern vom Präsidenten des
Justizrats der Stadt und Republik Bern erbeten und
der Auftrag dazu war am 4. August erfolgt. So wurde
der geständige Mörder am 5. August nach Bern ge-
schafft und ihm die Zelle 12 der „ oberen Gefangenschaft"
angewiesen; nach Aussage des Gefangenen in der Nach-
barzelle 11 ging Desgouttes bis über Mitternacht vom
7. auf den 8. August in seiner Zelle umher, klopfte an
Tür und Wände, warf sein Lager hin und her und
schrie immer: „Hemmeier, ich hab's nicht gern getan!
Ihr Herren, laßt mich doch heraus! Man bringe mir
doch Schnupftabak!" Mit dem gefangenen Nachbarn hat
er endlich durch die Wand gesprochen und gesagt, wie
er heiße und warum er gefangen sitze; hernach ward er
wieder ruhig und still wie bei Tage und verlangte nur
immer nach Schnupftabak. Seitens des Berner Verhör-
richteramtes wurden durch den Verhörrichter v. Wat-
36*
— 564 —
tenwyl vom 9. bis zum 19. August noch sieben Ver-
höre mit Desgouttes vorgenommen, in denen dieser viele
seiner Antworten dem Schreiber in die Feder diktierte ; er
verblieb bei dem Bekenntnisse seiner Tat, erklärte, sie
sei mit Vorbedacht begangen und er hätte, obwohl er
betrunken gewesen sei, Besonnenheit genug bewahrt, um
vor • und bei der Ausführung des Mordes genau zu
wissen, daß er dem Hemmeier das Leben nehme; er
machte nur die eine Einschränkung, der Mord sei un-
streitig mehr seiner unglücklichen Imagination beizu-
messen als seinem Verstände. Um sein Gewissen zu
entlasten, bekannte er, mit dem Hemmeier Jahre hin-
durch „unzüchtigen Umgang* gehabt und auch mit an-
deren männlichen Personen „ Unzuchthandlungen * verübt
zu haben. Außerdem gestand er zahlreiche auf anderen
Gebieten liegende Straftaten und Verbrechen ein:
Diebstahl an Geld und sonstigem Gut, zweimalige De-
sertion vom Militär und eine ungerechtfertigte Quartier-
bestellung, mehrmalige Fälschung seines Namens, Ur-
kundenfälschung, Betrug und Uebervorteilung in seiner
juridischen Amtstätigkeit, Mißbrauch von Canthariden
bei seinen nächsten Angehörigen, bei den Dienstmädchen
seiner Eltern und beim Hemmeier, Mordversuche, end-
lich Raub- und Mordpläne, die er nur deshalb nicht
ausgeführt habe, weil es ihm an dem dazu nötigen Mute
gefehlt hätte. Noch nach Abschluß der Vernehmungen
schrieb er an den Verhörrichter eigenbändig sechs frei-
willige ausführliche Bekenntnisse zwischen dem 27.
August und 22. September nieder; in diesen fügte er den
früheren immer wieder neue Geständnisse hinzu; durch
seine Geständnisse hat er sich allmählich in eine solche
Scham, in einen so tiefen Abscheu vor sich selbst hineingelebt,
daß er in all' seinem Tun und Lassen nur noch Aus-
fluß seiner Eigenliebe, Unzucht, Völlerei, Verschwen-
dung, Genußsucht und Bosheit zu erkennen vermag und
— 565 —
in Absicht und Tat für das verworfenste Scheusal der
Erde, für das größte Ungeheuer, das die Erde getragen,
angesehen sein will. Tief hat ihn die Leichenrede auf
Hemmeier gerührt; der bloße Anblick seines Opfers
senkt ihn in des Jammers Tiefen. Er erklärt, auf einen
Verteidiger zu verzichten und seiner eigenen „Ver-
teidigung* eine schriftliche „demütige Supplikation"
an seine Richter vorzuziehen. Er hält sich des Todes für
schuldig und wünscht den Tod auf dem gesetzlichen Wege.
Am 20. August legte der Verhörrichter die Unter-
suchungsakten Desgouttes der Kriminal-Kommission des
Obersten Appellations-Gerichts der Stadt und Republik
Bern vor und am 23. August konnte der Präsident der
Kriminal-Kommission zu Bern an das Oberamt Aarwangen
berichten, daß die Prozeß Verhandlung zu Ende, die
wichtigsten Zeugen vernommen und die nötigen Infor-
mationen eingeholt seien; er übermittelte die Akten dem
Amtsgericht Aarwangen als erstinstanzlichem peinlichen
Richter zur Beurteilung, wobei er der Meinung Ausdruck
gab, die Eingeständnisse des Delinquenten eigneten sich
so wenig zur Bekanntmachung wie zu einer längeren
Behandlung. Das Oberamt zu Aarwangen, bestehend aus
drei Amtsrichtern und zwei Suppleanten unter dem Vor-
sitze des Amtsstatthalters, erkannte am 2. September
einmütig auf schuldig des Meuchelmordes und der Ver-
urteilung zur Hinrichtung durch das Schwert. Woraufhin
das Oberste Appellationsgericht zu Bern revisionsweise zu
Recht sprach und am 27. September erkannte: Der Delin-
quent solle, nachdem er in Sachen seines Heils unter-
richtet sein würde, auf der Richtstätte vom Leben zum
Tod hingerichtet, zuerst erwürgt und dann gerädert, sein
Leichnam hernach auf das Rad geflochten, erst am Abend
davon abgenommen und zuletzt an dem verschmäheten
Orte verscharrt werden. Aus seinem allfälligen Ver-
mögens-Nachlaß sollen sowohl Schaden-Ersatz als auch
— 566 —
die Kosten der Prozedur, Gefangenschaft und Hinrichtung
bestritten werden.
Diese Exekution wurde an dem Verurteilten zu
Aarwangen am 30. September vollzogen; der Delinquent
zeigte bis zum Lebensende eine außerordentliche Geistes-
gegenwart und Standhaftigkeit und ging seinem Tode
mit Reue und Ruhe entgegen.
Die letzte Stunde des Mörders behandelt eine kleine
Druckschrift, deren wortgetreuer Abdruck hier folgt:
* Rührende Standrede des hingerichteten
Johann Franz Nikiaus Desgouttes von Bern,
ehemaligen Doktors der Rechte in Langen-
thal, mit Christlicher Unerschrockenheit vor-
getragen auf dem Hinrichtungsplatze zu Aar-
wangen den 30. Herbstmonat 1817. — (Sein Vortrag
war feurig und schnell.) — Bern, gedruckt bey Ulr. Niki.
Schönauer, No. 218 am Stalden. *)
Zahlreich versammelte Zuschauer meiner wohlver-
dienten Todesstrafe, die Mehrern ohne Zweifel auch
Zeugen meines ungläubigen sündenvollen Lebens!
Höret! ach höret nun die letzten Worte eines reuig
sterbenden Uebelthäters ! Ja! ich bin es der Allerheiligsten
Ehre meines tief beleidigten himmlischen Vaters und
Heilandes, ich bin es Seiner mit Füßen getretenen
göttlich wahren Religion schuldig, ich bin es allen durch
mich Geärgerten, im Glauben Irregemachten und Ver-
führten und auch dem Heil meiner eigenen armen Seele
schuldig, noch vor meinem Ende ein lautes öffentliches
Bekenntniß vor Euch abzulegen und Euch zu sagen,
wohin die verblenderische Zaubergewalt der von mir so
vergötterten sogenannten Welt- Weisheit, die vor Gott
wahre Thorheit ist, mich in meinem Leben gebracht und
durch was für erbarmungs volle Führungen und ehemals
1) 4 Seiten ohne Paginierung in Quart, mit Trauerrand.
— 567 —
von mir verachtete Kräfte mein ganz verarmter Geist
aus dem tiefen Abgrunde, worinnen ich mit Leib und
Seele ewig verloren gewesen wäre, zu dem gegenwärtigen
glückseligen Zustand wieder erhoben worden sey.
Glaubt mir, theure Freunde! daß, wenn an irgend
einen Menschen alle Aufopferungen, Mühe und Unterricht
zur höchstmöglichen Bildung seines Verstandes verwendet
worden, welche heutzutage meist für hinreichend gehalten
wird, um den Menschen wahrhaft gut und glückselig
machen zu können, so ist es gewiß an mir geschehen. Auch
habe ich bey der Welt aller daraus fließenden schönen
Vorzüge genossen. —
Aber ach! was ist bey aller hohen Erziehung des
Verstandes eine von angeborner Ehrsucht, Hochmuth,
Fleischeslust und Liebe zur Eitelkeit irregeführte und
überdieß noch von Unglaubens- und Romanbücher-Gift
verfinsterte menschliche Vernunft, die sich selbst über-
lassen und vom allmächtig verbessernden Lichte des
Geistes und Wortes Gottes leer bleibet? Ein unge-
staltes Ungeheuer, ein gefährliches Irrlicht, eine Seelen-
mörderin und höchste Feindin zeitlichen und ewigen
wahren Glücks! — bey welchem allem sie doch auf
eingebildete Weisheit und Kräfte so stolz ist.
Ja! vor den Ohren meines Obersten Richters, vor
dem keine Heucheley mehr möglich ist, bekenne ich
hier mit bald sterbendem Munde, aus aller Kraft meines
Herzens: ,Einzig und allein diese thörichte Vernunft
und die Verführerin so vieler Tausenden, die falsche
Weltweisheit war es, welche zuerst zum verborgenen
Fall den Grund legte, dann von einem Laster zum
andern mich verstrickte, mein Herz zu einer unreinen
Wohnung aller bösen Anschläge machte und mich, da
ich nach völliger Sünden-Freyheit und Ruhe vor dem
Nagen meines Gewissens dürstete, auch noch in die
schrecklichsten Finsternisse der Verachtung und Verspott-
— 568 —
ung alles Glaubens an einen Gott und Heiland, an
Unsterblichkeit und ewige Vergeltung hineinsenkte,
worinnen ich dann der vollkommensten Herrschaft aller
wilden Geister und Leidenschaften und endlich auch dem
Mord-Geiste so preisgegeben war, daß ich keine Ruhe
mehr hatte, bis ich hier anlangen mußte/
Aber wer hat mich dagegen aus diesem Elend heraus-
gezogen? O, wer anders als alleine die göttliche
Barmherzigkeit, die auch mir, ihrem Verächter,
immer noch mitleidsvoll nachgieng! Ja, durch sie allein
bin ich in die heilsame Stille der Gefängnisse geführt,
über meinen schrecklichen Seelenzustand erleuchtet und
zum Nachdenken gebracht, durch sie allein bin ich vor
völliger Verzweiflung bewahret und endlich als ein tief
gedemüthigter armer Sünder mit allen meinen unnenn-
baren Sündengräueln, zu meiner allertiefsten Beschämung,
zu unbegreiflicher Gnade wieder angenommen worden;
wofür ich sie ewig nie würdig genug werde preisen
können.
Und nun bekenne ich aus innigst dankbarem
Herzen ebenfalls öffentlich: Daß allein Jesus Christus,
der wahre Gott-Mensch, mein Heiland und Retter
geworden sey; daß Er auch für mich hier gelebt, Sein
unschuldiges Blut vergossen und den Kreuzestod zur
Versöhnung für meine Sünden ausgestanden habe, daß
Er alleine mich ewig fluchwürdigen Sünder aus dem
Sumpfe von Elend, worin jene verkehrte Weltweisheit
mich bereits versenkt hatte, errettet; ja daß ich auch
nur durch Seine Kraft alleine (indem ich aus mir selber
nichts bin noch vermag) bis auf diesen Augenblick noch
von der Furcht des Todes frey und ruhig geblieben und
nun vertraue, daß Er mich auch zur letzten Arbeit bey
der Zerstörung meines schwachen Fleisches allmächtig
stärken und in Sein herrliches Reich hinüber führen
werde !
— 569 —
O Ihr alle, lieben Freunde! höret doch diese Stimmen
eines sterbenden Sünders an Eure Herzen ! Glaubet doch
an Euern Gott und Heiland! Haltet Euch ganz und
ewig an Ihn! Ohne Ihn seid Ihr fast ohne Rettung
verloren, Ihr möget thun, was Ihr wollet! Der Herr er-
barme sich über Euch alle! Betet nun für mich, daß Er
sich auch über mich erbarme! —
Und nun will ich eilen! [Hier erhob er mit in die
Höhe gerichteten, gefalteten Händen einen unaussprech-
lichen Blick in den heitern Himmel] Denn meine Seele
sehnet sich nach dem Himmlischen Vater und
seinem liebenswürdigsten Sohne Jesu Christo,
vor welchem ich nun bald erscheinen zu können mich
freue! Ihm übergebe ich zum letztenmale meinen Leib
und meine Seele zum ewigen Eigenthum! Amen.
(Hierauf entkleidete er sich selbst mit aller Ruhe
und legte sich sanft auf das Todeswerkzeug nieder, bis
er mit ernstem Blicke, aber standhaft ruhig bis an's
Ende, die Augen schloß.)
IL Franz Desgouttes' Leben und Charakteranlagen.
Das zu Bern 1785 ehelich geborene Kind des Proku-
rators Franz Jakob Desgouttes und seiner Ehefrau Jo-
hanna Margaretha geb. Holzer erhielt am 8. März bei
seiner im großen Münster zu Bern nach katholischem
Ritus erfolgten Taufe die Namen Johann Franz Nikiaus.
Franz hatte drei Geschwister: einen Bruder Emanuel und
zwei Schwestern, die späteren Ehefrauen Steinhäusli und
Debary. Sein Großvater väterlicher Seits hatte nach
Angabe des Pfarrers Friedrich Rütimeyer nicht wenig
Ueberspanntes in seinem ganzen Wesen gehabt und sein
Großonkel war ein „blödsinniger Verrückter/ Franz
— 570 —
blieb nur bis in sein 7. Jahr im Vaterhause zu Langen-
thal unter der Aufsicht seiner Mutter und wurde als-
dann in verschiedene Pensionsanstalten gegeben. Erst
den 14 Jahre alten und ziemlich verwahrlosten Knaben
nahm der Vater wieder auf und übergab ihn dem Reli-
gionsunterrichte eines Pfarrers, bei welchem sich der junge
Mensch mit großem Eifer zum hl. Abendmahle vor-
bereitete; nicht leicht habe, gesteht er selbst, jemand
diese Handlung so feierlich begangen und sein Leben sei
dazumal fleckenlos und un tadelhaft gewesen. Bis Juli
1800 blieb er im Vaterhause mit den Vorbereitungen zu
einem Lebensberufe bes. durch Kopieren von Rechtsschriften
beschäftigt und kam, nachdem er in Lützelflüh beim
Pfarrer Moser sich schöne Kenntnisse in Philosophie und
Sprachen angeeignet hatte, 1802 nach Lausanne, wo er
leichtsinnig Schulden machte, in seiner Not einen Ge-
nossen bestahl, ertappt entfloh, aber nach erfolgter Fest-
nahme nach Langenthai geschafft wurde. Der ratlose
Vater gab den ungeratenen Sohn 1803 einer Frau de
Feiice zu Yverdon in Kost, nahm ihn aber 1804 wieder
zu sich, da der junge Mensch nichts lernte, allerhand
Unfug trieb und „nur eine Tugend, die der Mäßigkeit im
Trinken, zeigte," woher er den Namen boi Peau (Wasser-
trinker) erhielt. Im Herbst 1804 bezog er die Univer-
sität Tübingen, welche er 1806 mit dem Diplom eines
Doctor juris wieder verließ. Im Elternhause wurde er nun
vom Vater, der viele Schulden für ihn zu bezahlen
hatte, streng gehalten, was ihü mißmutig machte und
ihn nicht nur zu tollen Streichen trieb, sondern auch zum
unmäßigen Trinken, dem er sich in Tübingen schon er-
geben hatte, veranlaßte, um seinen Unmut zu betäuben;
er trat in ein sinnliches Verhältnis zur Dienstmagd seines
Schwagers und zog mit ihr Monate hindurch im Lande
umher, bis er 1807 bei einem Einbruchs versuche fest-
genommen und zu seinem Oheim nach Bern geschafft
— 571 —
wurde ; als er auch hier sich schlecht führte, ward er ge-
zwungen, im 3. Schweizer Regiment zu Beifort franzö-
sische Dienste zu nehmen ; nach zweimaliger Desertion,
einem tollen Leben und einer Gefangenschaft von 135
Tagen wurde er im Mai 1809 nach Hause entlassen, ob-
wohl er erst 1812 seinen eigentlichen Militärabschied
erhielt. Im Elternhause geriet er 1813 in schwere Ver-
schuldung, die ihn außerordentlich drückte; ein Lotterie-
gewinn im Jahre 1814 deckte zwar einen Teil derselben,
machte jedoch den glücklichen Gewinner um so kühner
im Einsetzen. Alles in allem war dieser Zeitraum der
glücklichste in seinem unruhigen Leben, indem Franz ganze
7 bis 8 Monate hindurch des Genusses geistiger Getränke
sich enthielt. Aber nach einem Mägdewechsel im Eltern-
hause ergab er sich sinnlichen Ausschweifungen mit der neu
eingetretenen Dienstmagd; diese erklärte, um ihn auszu-
nutzen, sich als von ihm geschwängert und da er nun
beträchtliche Summen bezahlen mußte, verlor er bis in
den Herbst 1815 alle Besinnung, machte zu seiner Zer-
streuung kostspielige und unsinnige Reisen und ergab
sich dem Trünke, so daß ihn bald wieder eine große
Schuldenlast drückte. Eine Prokuratorstelle, auf welche
er rechnete, erhielt er nicht, ein Unglück, welches seinem
starblinden Vater den physischen, ihm den moralischen
Todesstoß versetzte. Sein Verkehr mit Hemmeier be-
darf einer gesonderten Behandlung.
Franz Desgouttes war ein Mann von schlankem,
hohem Wüchse mit kastanienbraunem Haar und eben-
solchen Augenbrauen, grauen Augen, mittelgroßem Munde
und lauger Habichtsnase. Er war Gemütsmensch und
nichts weniger als kalter Verstandesmensch. Seine Seele
war voller Einbildungskraft und seine Phantasie von
außerordentlicher Lebhaftigkeit; nachdem er ein medi-
zinisches Buch studiert, glaubte er alle Krankheiten zu
besitzen, von denen er gelesen hatte; die Schilderungen ge-
— 572 —
schichtlicher und dichterischer Werke vergegenwärtigte er
sich mit solcher Unmittelbarkeit, daß er bei ihrer Wiedergabe,
mit der er einsame Stunden ausfüllte, in starke Er-
regung geriet und dann bisweilen ganz unkenntlich
wurde; besonderes Wohlgefallen fand er am Ueber-
triebenen; die Musik besaß eine große Macht über sein
Gemüt; obwohl ein Verächter des „ Pf äffen wesens" und
der Klosterbrüder zeigte er sich besonders als werdender
Jüngling und als Delinquent von tiefgehender Religiosität.
Bei solch' eigenartiger Veranlagung fanden sich in seinem
Wesen die widersprechendsten Charaktereigenschaften
nebeneinander; bald war er lange Zeit völlig nüchtern,
bald ergab er sich dem Trünke bis zur Besinnungs-
losigkeit; in der Trunkenheit faßte er Entschlüsse zu
Diebstahl, Einbruch und Mord, vor deren Ausführung er
nach erfolgter Ernüchterung mutlos zurückbebte: „Alle
Ausführungen unterblieben, nicht aus Tugend, sondern
aus Mangel an Muth"; ja die Furcht vor Gespenstern
und Mördern in seiner Knabenzeit ward er auch später
nicht ganz los; einmal voll Offenheit, Lebensart und Witz,
ja selbst kindischen Scherzen nicht abgeneigt, war er das
anderemal launisch, verdrießlich und abstoßend ; bisweilen
von einem solchen Jähzorn besessen, daß er alles zer-
schlug, was ihm erreichbar wurde, schämte er sich im
nächsten Augenblicke seiner selbst und verfiel dann in
eine an Schwäche grenzende Gutmütigkeit; er brachte
es fertig, zu stehlen, wo es etwas zu nehmen gab, und zeigte
doch überall eine auffallende Geringschätzung des Geldes,
indem er mit demselben mitleidsvoll Bedürftige beschenkte;
fleißig und belesen, schlug seine anhaltende Arbeitskraft
urplötzlich in Unfähigkeit und Widerwillen um; dann
raste er fort, durchjagte Flur und Wald und nahte nur
nachts den Dörfern; ohne jede Spur von Eltern- und
Geschwisterliebe erwies er sich fremden einfachen Leuten
als einen „ herrlichen Ratgeber". Den Verdacht der
— 573 —
Blutgier wollte er nicht auf sich sitzen lassen : Wenn er mit
Pistolen knallte, so sei es nicht geschehen, um Vögel und
andere Tiere zu töten, sondern lediglich, um ein Echo
hervorzubringen, an dem er seit seinem 13. Jahre ein
lebhaftes Wohlgefallen gehabt; einem jungen Fuchs, den
er eine Zeitlang gehalten und sehr geliebt hatte, habe er
in plötzlicher Eingebung den Kopf vom Rumpfe getrennt,
weil der Unhold ihn und andere gebissen habe. Sein
Geschlechtstrieb erwachte bereits in seinem 14. Jahre und
sofort gebieterisch; zeitlebens war er von gänzlich unge-
bändigter und unbefriedigter Sinnenlust ^ wenn schon das
Lesen von Wielaud's „Agathon" ihn zu sinnlichen Aus-
schweifungen verleitete, wie müssen erst Beispiele, die er
erlebte, auf ihn eingewirkt haben!
III. Franz Desgouttes' Liebesleben.
Für die Kenntnis des Liebeslebens Franz Desgouttes'
liefert neben den Prozeßakten sein Tagebuch ein bedeut-
sames Quellenmaterial. Wie aber einerseits die Prozeß-
akten Angaben Desgouttes' über seine Pläne und Absichten
enthalten, welche von ihm selbst als zweifelhaft hinge-
stellt werden oder einander zu widersprechen scheinen,
auch den Eindruck erwecken, als ob sie durch an ihn
gerichtete Fragen beeinflußt oder unter dem Drucke
seines Abscheus vor seiner eigenen übertriebenen Schlechtig-
keit ihm in die Feder geflossen seien, so erstreckt anderer-
seits das Tagebuch sich nur über den Zeitraum eines
einzigen, des letzten Jahres seines Lebens. Scheint so
viel gewiß zu sein, daß Desgouttes sich nicht allein in
maßloser Weise der einsamen Onanie ergab, sondern auch
seinen Mitmenschen gegenüber von fast schrankenloser
Sinnlichkeit war, indem ihn das Verlangen trieb, alle
hübschen Mädchen zu verführen und mit allen hübschen
— 574 —
Knaben und Jünglingen sich zu vereinigen *), so ist nicht
minder gewiß, daß er einzig den Hemmeier mit Leib und
Seele geliebt hat, den Hemmeier, der das Glück und das
Unglück seines Lebens war.
Desgouttes' Geschlechtstrieb war bereits erwacht, als
der Knabe in der zweiten Hälfte des Jahres 1800, 15
Jahre alt, beim Pfarrer Moser in Lützelflüh als einziger
Schüler und Tischgenosse lebte; er war hier „leider zu
oft einsam * und diese Einsamkeit entwickelte immer
mehr die „unglücklichen" Anlagen seiner lebhaften Ein-
bildungskraft; er hatte bereits „Visionen" aller Art, die
„ verzerrtesten Bilder der Imagination" umlagerten ihn
unaufhörlich; das war auch der Grund, warum er in
dieser Zeit öfters „Unzucbtsünden" trieb, die seine Nerven
schwächten und ihn noch reizbarer machten. Ueberhaupt
fing nach erwachter Phantasie seine Unzucht mit Onanie
an, besonders geweckt durch die Lektüre von Wieland's
„Agathon". „Dieses schreckliche Laster11 verließ ihn nie
und er hat es „in einem unglaublichen Maße" getrieben;
zum letzten Male geschah das am 28. Juli 1817 Morgens
nach einem Attentat auf Hemmeier, nur einen Tag vor
der Ermordung dessen, den er von allen Menschen am
meisten und innigsten liebte. Die Onanie und die Trunk-
sucht redete er sich selbst als „Produkte" seiner Phantasie
und als die Grundlagen aller seiner Verbrechen ein. In
l) Ob es richtig wäre, den Desgouttes wegen dieser Vielseitig-
keit (mit dem Verfasser der Schriften „§ 143 des Preußischen Straf-
gesetzbuchs" und „Das Gemeinschädliche des § 143 des Preußischen
Strafgesetzbuchs vom 14. April 1851", Leipzig, Serbe 1869) als
Mono-, Homo- und Normal-Sexualisten zu rubrizieren, ist eine
andere Frage. Gibt es doch Kenner des Sexuallebens, welche das
Vorkommen von Bisexualität entschieden in Abrede stellen; ein
Physiognom dos Urningtums schrieb mir in Bezug auf Goethe
. . . „in modo ejaculationis, ja, da kenne ich Menschen, denen ist
es gleich, ob sie rechts oder links gehen; in modo amoris, nein,
ganz entschieden nein, da kenne ich niemanden".
— 575 —
einem seiner freiwilligen schriftlichen Bekenntnisse an
den Verhörrichter von Bern sagt er: „Ich bitte den
Hohen Richter um Gottes willen, ich beschwöre Hochden-
selben um des höchsten letzten Gerichts willen, alle Haus-
und Familienväter furchtbar und ernstlich zu warnen,
auf ihre Kinder ein unendlich wachsames Auge zu haben,
denn diese Seuche herrscht allgemeiner, als Jemand
glaubt. — In meinem Pulte in der mittlem Stube liegt
ein von Hamburg gekommenes Mittel, welches dazu dient,
den geschwächten Körper herzustellen; aber man
sollte darüber einen nicht selbstsüchtigen Arzt fragen,
ehe man es bekannt macht. Doch wenn nur die Jugend
streng beobachtet wird, so bedarf man solcher Mittel
nicht. — Solche schreckliche unnatürliche Verbrechen
entquillen aus der Onanie, wie ich begangen habe.
Möchte ich der letzte Onanit gewesen sein!"
Von fast unbegrenzter Eindrucksfähigkeit gegenüber
seiner Gattung fand seine Phantasie in Finsternis und Ein-
samkeit Erlösung allein in der Onanie; im Bette wirkte
die Imagination so ausgedehnt, daß sie ihm Bilder bestimmter
männlicher oder weiblicher Personen vorspiegelte, ihm
Gemälde von Wollust vorzauberte und Begierde nach
Genuß in ihm erweckte, welche nach seinen Eingeständ-
nissen hin und wieder nicht an der Sinnenlust der Liebe Ge-
nüge fand, sondern mit Mordgedanken in Verbindung trat;
nach erfolgter Erlösung durch Onanie unterblieb alsdann
die Ausführung sowohl des Mordplanes als des erträumten
Sinnengenusses; in diesen Zuständen kommt bei Des-
gouttes das Pathologische unverkennbar zum Durchbruch.
Die dominierende Triebrichtung in Desgouttes' Ge-
schlechtsleben vom Erwachen der Phantasie und der ersten
Regungen an bis zur Mordkatastrophe war und blieb die
auf jugendliche männliche Personen; hier fühlte sich seine
Geschlechtsnatur in ihrem wahren, eigentlichen Elemente
und wurde von einer Person auf Jahre hinaus gefesselt.
— 576 —
In Zofingen schlief der junge Desgouttes 1799, 14
Jahre alt, gewöhnlich bei dem siebenjährigen Sohne des
Schulmeisters Sutermeister; schon hier begann er Wollust-
trieb zu fühlen und „ vereinigte • sich mit dem Knaben;
„allein aus Mangel an Kraft erfolgte nichts/ In Lützel-
flüh hat er 1801 „einen kleinen Knaben mißbraucht";
derselbe, gibt er an, sei „ längst, aber nicht dadurch,
verstorben." 1802 trieb Desgouttes in Lausanne mit
seinem Schlafkameraden Jakob Mettler „öfters Unzucht";
wie zu seiner Entschuldigung fügt er bei: „Dieselbe hatte
aber keine Folgen für ihn". In seiner Soldatenzeit er-
lebte Franz mannigfache Szenen von Ausgelassenheit der
Soldaten mit dem anderen Geschlecht; doch scheinen
solche ihn nicht sonderlich angefochten, seine Sinne zur
Nachahmung gar nicht gereizt zu haben. Dahingegen er-
innerte er sich lebhaft, wie zu Lille im Bette neben ihm
„ein Freiburgischer Bedienter mit einem jungen Trommel-
schläger beinahe alle Nächte sein Wesen trieb", was
seine Phantasie dazumal (1808) außerordentlich in Be-
wegung setzte. Er selbst schlief zu Beifort gegen
Ende seines Dortseins (1809) mit einem jungen Re-
kruten in einem Bette, „woselbst leider das Laster
der Unzucht öfter getrieben ward, und zwar von beiden
Seiten." Im Januar 1811 befand sich beim Amtsweibel
Johann Dennler in Langenthai ein Pensionär von 16
Jahren, Louis Vuillemier; schon bei seiner ersten Bekannt-
schaft mit diesem Jünglinge, der vom Zeugen Dennler
als „ganz verdorben" gekennzeichnet wird, faßte Des-
gouttes den Entschluß, ihn sich anhänglich und dann
willfährig zu machen. Er entführte ihn in der Nacht
vom Donnerstag auf den Freitag und trieb während der
Flucht im Bette mit ihm „Unzucht", wurde aber schon
am Samstag mit dem jungen Menschen vom Knecht
seines Vaters wieder eingeholt und kehrte willig zum
Vater zurück; er hatte geplant, auf einen von ihm selbst
— 577 —
gefälschten Paß als Karl Meyer mit dem Vuilleinier
als seinem Bedienten Ludwig Ernst nach Zug zu seiner
Schwester und von da nach Deutschland zu wandern.
Kaum zu Hause wieder eingebracht, beschloß er einen
zweiten Entführungsversuch des Vuillemier; er wollte in
das Haus des Amtsweibels dringen, durch des Kostherrn
Stube schleichen, bei Widerstand Gewalt gebrauchen, den
Vuillemier zur „Unzucht" und Flucht bewegen und im
Falle seines Widerstrebens oder selbst nach erreichtem
Genüsse den jungen Menschen umbringen; zunächst
aber berief er den Vuillemier in seine Wohnung und
redete auf ihn zu einem nochmaligen Fluchtversuche ein;
als aber der Gegenstand seiner Wollust ihm trotzig be-
gegnete und nicht einwilligen wollte, so kam ihm in der
Angetrunken heit der teuflische Gedanke, schon jetzt den
Widerstrebenden zu töten und in den Abort zu werfen;
nur die Stimme eines Freundes des Vuillemier, der diesen
auch mit Desgouttes zusammengebracht hatte und vor
dem Desgouttes sich scheute, hielt letzteren von der Aus-
führung seines Vorhabens ab. Auch den eigenen Sohn
des Amtsweibels Dennler, ein Bürschchen von 11 Jahren,
schonte er nicht; ihn hat er um eben diese Zeit „ein
paar mal in sein Zimmer gelockt und mit ihm, jedoch
nicht nackt, dieses Laster ausgeübt." Er fügt hinzu, der
Knabe habe nichts davon gewußt und befände sich jetzt im
Waadtland. Späterhin hatte er noch geschlechtlichen
Umgang mit einem Jakob Kummer, mit einem Nach-
barssohne Jobannes Madliger und mit dem zur Zeit des
Mordes an Hemmeier 22 Jahre alten Analphabeten
Jakob Herzig.
In allen diesen und überhaupt allen Fällen der Aus-
übung seines Geschlechtstriebes an männlichen Personen
bekennt sich Desgouttes als den „Selbstverführer* und
gesteht: „Die Phantasie half mir leider nur allzu ge-
treulich nach."
Jahrbuch V. 37
— 578 —
Da trat 1810 Daniel Hemmeier, 16 Jahre alt,
als Kopist in den Dienst des alten Desgouttes, in dessen
Hause er wie ein Familienmitglied gehalten wurde. Der
junge Desgouttes, oberflächlicher Geselligkeit abhold
und doch durch seine starke Liebesnatur genötigt, eng-
sten Anschluß zu suchen, wo er irgend ihn finden konnte,
gewann den um zehn Jahre jüngeren ordentlichen und
fleißigen, guten und tugendhaften Hausgenossen lieb und
immer lieber und bemühte sich, das Vertrauen und die
Zuneigung desselben für sich zu erobern. Außer den
Arbeitsstunden verlebte er die meiste Zeit mit dem
Hemmeier; da er von seinen akademischen Freunden
nur selten jemand bei sich sah und doch gelehrte Ge-
spräche liebte, so war es seine größte und reinste
Freude, seinen jungen Freund, die griechischen Philo-
sophen nachahmend, spazierend zu unterrichten. Er
machte ihm oft kleinere und größere Geschenke an
Büchern, Waffen und dergleichen; auch sorgte er teil-
nehmend für dessen körperliches Wohlergehen; er ba-
dete mit ihm in einer Badeanstalt und teilte mit ihm
die Genüsse des Weines und der Tafel. Er scheint es
zuwege gebracht zu haben, daß der junge Mensch
Reiz an seinem Umgang fand und ihm gern und allein
angehörte. So wuchs durch die Gewohnheit und durch
die Möglichkeit, den Freund immer zu haben, wenn er
seiner bedurfte, Desgouttes' Zuneigung zum Hemmeier
zu einer leidenschaftlichen Neigung heran und der
Jüngling flößte durch sein unschuldvolles Wesen dem
älteren Manne überdies eine unwillkürliche hohe Achtung
ein, so daß Aussicht war, der leidenschaftliche Mann habe
an dem ruhigen, besonnenen Jünglinge den ihm so
nötigen Halt für sein Leben gefunden.
Im Jahre 1812 begann Desgouttes mit dem Hem-
meier in geschlechtlichen Verkehr zu treten, während
bei dem Jüngling der Geschlechtstrieb erst 1814 er-
— 579 —
wachte; alsobald gab Desgouttes dem Unschuldigen
wollüstige Bücher zu lesen, um dessen Begierde nach
geschlechtlichen Genüssen in seinem eigensten Interesse
anzufachen. Denn seine Liebe zum Hemmeier war doppel-
ter Art, war „edler" und „phantastischer", aber auch
„niedriger" und „grobsinnlicher" Natur. Aber diese bei-
den Seiten seines Wesens flößen Hemmeier gegenüber
völlig in einander. So oft er bei dem Geliebten schlief,
gewann er es nicht über sich, den Jüngling in Ruhe zu
lassen; wenn er dann bei diesem ein Entgegenkommen
für sein Triebleben nicht fand und auch mit Gewalt und
List nichts zu erreichen vermochte, so tat er, als ob er
eigentlich immerdar „dieses Laster" verabscheue und
seine Ausübung jedesmal besonders bereue; er unterlieft
dann oft Monate lang, den geliebten Jüngling mit seinen
Zudringlichkeiten zu belästigen, und fing nur wiederum
an, wenn er angetrunken war; gelegentlich tat £r dem
Widerstrebenden den feierlichen Schwur, alles Geschlecht-
liche ganz und gar zu unterlassen, insofern der Geliebte
seine ganze Freundschaft ihm ungeteilt schenken und
dafür ihm auch Sicherheit gewähren wolle. Aber der
«bessere Mensch" in ihm vermochte nur so lange sich
zu behaupten, bis Hemmeier eine Probe seines Undanks
für Desgouttes' Sorge und Aufwendungen dadurch ab-
legte, daß er gleichsam zum Trotze den Liebhaber hint-
ansetzte, was er dann freilich schon im nächsten Augen-
blicke, seiner gutmütigen Naturanlage entsprechend,
wieder zu bereuen schien; aber auch dann noch fügte
sich Hemmeier dem leidenschaftlichen Liebhaber immer
nur mit Widerwillen. Diese Art der Führung eines
halb zurückgewiesenen Liebeslebens kränkte den Lie-
benden tief und er machte darüber dem Geliebten die
bittersten Vorwürfe; nahm er doch wahr, daß durch
ihren gemeinsamen Geschlechtsverkehr weder das physi-
sche Wesen, noch die moralische Natur des innigst Ge-
37*
— 580 —
liebten Schaden litt. Im höchsten Grade unglücklich,
fiel Desgouttes wiederum der Onanie anheim und fühlte
sich bald geschwächt; dann schämte er sich gegenüber
der größeren Mannbarkeit des Hemmeler, der selbst sei-
nen Körper nie befleckte, und in seinem Widerstände
gegen die wechselseitige Selbstbefleckung ward dann Hem-
meier wieder durch seinen unglücklichen Liebhaber da-
durch bestärkt, daß dieser in ruhigen Stunden ihm über
das Abscheuliche „ dieses Lasters" allerlei Gedanken dar-
legte, als ob es seine eigenen seien. Dieses ewige
Widerspiel brachte den noch immer nicht verzagenden
Liebhaber auf die sonderbarsten Versuche. Da Hemmeler
seinen geschlechtlichen Umgang nicht suchte, so erregte
Desgouttes, sobald seine Geschlechtslust wieder rege
ward, oft künstlichen Streit oder führte den Anlaß zu
einem solchen herbei, einzig, damit Hemmeler wieder mit
ihm Frieden schließe und dann in guter Laune seine
Wollustausbrüche gestatte; weigerte sich aber Hemmeler
auch dann, so ließ Desgouttes ihn bei sich schlafen und
erzwang die „Unzucht"; kein Mittel ließ er unversucht,
seine unbefriedigte, zu einer wahren Satyriasis ausartende
Wollust an dem einzig Geliebten auszuüben. Um den-
selben geschlechtlich anzuregen, ließ er den Hemmeler
viel Wein trinken, nach dessen Genuß seiner Erfahrung
gemäß auch regelmäßig die erwartete Wirkung sich ein-
stellte; der Genuß von Canthariden aber, die Desgouttes
dem Hemmeler heimlich beibrachte, um dessen Ge-
schlechtsdrang zu steigern, hatte nur eine krankmachende
Wirkung. Auch ließ er den Hemmeler starke Chocolade
mit unsäglich viel Zimmet, den er hinzufügte, des Abends
trinken, dann vielen Wein, alles in der gleichen Absicht,
deren Erreichung fast immer mißlang oder ohne Hemme-
ler's Willen gelang. Wenn, was öfters vorkam, der an
hektischer Anlage leidende Hemmeler erkrankte, an
Magenschwäche, Durchfall oder Halsweh litt, so wich
581 —
Desgouttes ganze Tage und Nächte kaum von dessen
Lager und verrichtete für den, den er über alles liebte,
öfters die Geschäfte der niedrigsten Dienstmagd. Allein
alles dieses konnte Hemmeler's Gegenliebe nicht er-
wecken. Obwohl beide öffentlich in guter Zufriedenheit
mit einander auszukommen schienen, brach Desgouttes'
verhaltener Unmut mit der Zeit öfter und stärker her-
vor. Dann klagte er wohl auch Personen seiner Um-
gebung, daß Hemmeier von ihm angebotene Geschenke
ganz ohne Danksagung annehme. Schlug aber Hemmeier
solche Geschenke, die er für Bestechungsgeschenke an-
sehen mußte, gänzlich aus, so konnte das den Desgouttes
bis zur Raserei empören und verleitete ihn zu den hef-
tigsten Vorwürfen; doch augenblicklich bereute er sein
übereiltes Verfahren, bat seinen Liebling um Vergebung
und bot ihm, um dessen gänzliche Zufriedenheit zu er-
wirken, wieder neue Geschenke an. Geschenke und
Vorwürfe hatten immer wieder den Hauptzweck,
den ungefügigen Hemmeier willfährig zu machen.
Dieser ewige Wechsel von Verdruß und halber Seligkeit
wirkte auch auf Desgouttes' sonstige Launen, so daß sein
Zustand bisweilen schrecklich war; alsdann schonte er
niemanden, mißhandelte die Mägde, schlug sie blutwund,
mißhandelte den unschuldigen Hemmeier und zerschlug,
was ihm unter die Finger kam. Und doch fühlte er
sich so eins mit dem Geliebten, daß er einen Tadel über
ihn aus fremdem Munde nicht ertragen konnte; die
Dienstmagd Salome Anderes, Hemmeler's Tante, welche
ihrem Herrn zu bemerken wagte, daß der Hemmeler des
Morgens zu lange im Bette liege, zog sich augenblicklich
des Gestrengen grimmigsten Haß zu, da dieses eine An-
gelegenheit beträfe, in die sie nach seiner Ansicht sich
nicht zu mischen habe. So ganz war der Hemmeler
Desgouttes' zweites Ich geworden.
Desgouttes wollte seinen Liebling allein für sich be-
— 582 —
sitzen und ihn ausschließlich wollüstig genießen; er duldete
daher nicht, daß irgend ein Nebenbuhler daran Anteil
habe; er hielt den Jüngling so lange wie möglich ganz
davon ab, Bekanntschaften zu machen, und hoffte so zu
verhindern, daß derselbe einen noch größern Abscheu
gegen den geschlechtlichen Umgang mit ihm empfinden,
Verachtung gegen ihn fühlen und zum Bewußtsein des
Druckes seiner tyrannischen Freundschaft gelangen würde.
Als aber der überall beliebte junge Mann endlich doch
Bekanntschaften anknüpfte, entwickelte sich bei Desgouttes
zu der unbefriedigten Liebe noch eine quälende Eifersucht.
Desgouttes' Anhänglichkeit an den Hemmeier war un-
begrenzt; er machte für denselben große Aufwendungen;
von dem Geliebten fern zu sein, schien ihm unerträglich;
er dachte daher sein Zusammensein mit dem ihm Unent-
behrlichen so weit möglich zu verewigen und ihm ein
Glück zu bereiten, das denselben über alle irdische Sorge
hinausheben sollte; er wollte es Aufopferungen aller Art
sich kosten lassen, um dem Hemmeier dieses Glück
zu bereiten, selbst mit dem Opfer seines eigenen irdischen
Glücks; so gedachte er durch vorteilhafte Verheiratung
mit einer Person, welche, weil sie weit älter war als
er und unangenehme Eigenschaften besaß, ihn gewiß
unglücklich gemacht hätte, in den Besitz eines stattlichen
Vermögens zu gelangen und vermittelst dessen dem
Hemmeier sich zu assoziieren, um ihn so bis an sein
Lebensende bei sich zu behalten. Wirklich fand sich bei
seiner Festnahme am 29. Juli 1817 in seinem Besitze
eine vom 25. Januar 1816 datierte Eheversprechung
zwischen Franz Desgouttes und der Jungfer Susanne von
Wagner vor. Er plante sogar, seinen anders gearteten
Hemmeier dann ebenfalls zu verheiraten, unter dem
Beding des immerwährenden Bleibens an des Liebhabers
Seite. Für die Opfer, die er dem Geliebten brachte,
wollte er schlechterdings keinen Rivalen neben sich dulden,
— 583 —
der des Jünglings Freundschaft mit ihm teilte; auch
war er überzeugt, daß es niemand so gut mit dem Jüng-
ling meinen könne wie er und niemand daher dessen
Freundschaft so wie er verdiene. Bloße Bekanntschaften
wollte er dem Hemmeier wohl erlauben; dennoch war
er immer eifersüchtig, wenn jemand sich vertraulich
dem Hemmeier näherte, und er machte dem Freunde als-
dann die bittersten Vorwürfe über seinen Undank, der,
wie er selbst später seinem Richter zugestand, oft wirk-
lich nur eingebildet war. Wenn Hemmeier dann sich
beleidigt fühlte und aus purem Trotze oft Stunden oder
halbe Tage lang fortblieb, den verlassenen Liebhaber in
seiner ungewollten Einsamkeit dann aber die fürchterlichste
Sehnsucht peinigte, so führte seine glühende Phantasie
dem Unglücklichen die quälendsten Bilder der Untreue,
des Undanks des Geliebten vor Augen; und besonders
dann, wenn der so Gemarterte der großen künftigen Auf-
opferungen gedachte, die bei seiner traurigen Vermögens-
lage ihm nichts weniger als leicht wurden, gab es bei
des Heißersehnten Rückkunft in Folge der Empfindlich-
keit und des Jähzorns des unglücklich Liebenden die
ärgerlichsten Auftritte. Und als dann Hemmeier nach
und nach öfters und länger sich entfernte, so glaubte der
Verlassene daraus schließen zu müssen, daß er dem
Hemmeier nicht mehr so wert sei, wie ehedem; und
Hemmeier ging, um mit jungen Leuten, besonders dem
Koramis Kaspar Vogel und dem Johannes Trösch, beide
jünger als er selbst, sich zu zerstreuen; diese führten
ihn zu verschiedenen Mädchen; Desgouttes aber hatte
dem Hemmeier nur gestattet, die gute Jungfer Viktoria
Dennler zu besuchen, weil er glaubte, es sei für den
jungen Menschen besser, an eine Person sich zu halten,
als allenthalben herumzuflattern ; auch fürchtete er,
Hemmeier dürfte, wenn er jedem Mädchen nachgehe,
gleich seinem Kameraden Trösch, alles Gedächtnis ver-
— 584 —
lieren, seine Aufträge vergessen und zu einer ernsthaften
Arbeit nicht mehr aufgelegt sein; und schließlich besorgte
er auch, Herameier möchte durch ein solches Schraetter-
lingswesen ihn gänzlich vergessen und sich allen Leuten
mitteilen, mit denen er täglichen Umgang pflegte. Bald
aber wurden Einsamkeit und Eifersucht dem Aermsten
unerträglich und sofort änderte er seinen Plan; er be-
günstigte den Umgang, teils um bei dem Liebsten
berechtigte Vorwürfe anbringen und bei einer Häu-
fung des Unrechts seitens des Hemmeier gegen ihn
dessen Handlungen mit seinen eigenen Wollust-Forder-
ungen in's Gleichgewicht bringen zu können und auf
diese Art zum Rechte der Ausübung des ersehnten
Liebesaktes mit dem Geliebten zu gelangen; teils, um
Reize in ihm anzufachen und aufzusammeln, welche seinem
Wollustdrange gelegentlich zu Statten kämen. So ver-
anlaßte er den harmlosen Jüngling zu nächtlichem Aus-
bleiben, gab seinen Freunden und der Viktoria Dennler
Geld, damit diese die Mittel hätten, den Hemmeier betrunken
zu machen, ohne die eigentliche Absicht zu verraten,
und wenn dann, was mehrmals geschah, Hemmeier be-
trunken nach Hause kam, so gebrauchte er ihn zu seinen
„schändlichen Lüsten*; aber meistens scheiterte sein
Plan. Je mehr aber während dessen seine Satyriasis ge-
wachsen war, um so dringender und ungestümer wurden
seine Forderungen. Er versuchte dann auf tausenderlei
Weise zum Ziele zu kommen und verfiel dabei auf alle
nur erdenklichen Mittel.
Um den so viel abwesenden Freund einmal wieder
ganz für sich zu haben, faßte er den Entschluß, ihn krank
zu machen; er gab ihm Brechstein ein und redete ihm
vor, es handle sich um eine Krankheit, die allein er heilen
könne; er war dann so lange glücklich, als er bei dem
Leidenden wachen und seiner Bangigkeit beiwohnen
konnte. Aber als einen traurigen Erfolg aller seiner
— 585 —
Mühen mußte er erleben, daß Hemmeier den Verkehr
mit anderen Personen immer .weiter ausdehnte und bald
ungebührlich übertrieb; schließlich blieb dieser nicht nur
des Abends bis in die Nacht hinein von Hause fort,
sondern er vernachlässigte auch seine dienstlichen Pflichten,
so daß sein Liebhaber als sein Brodherr im Geschäfts-
interesse es nicht unterlassen durfte, ihm ernstliche Vor-
stellungen zu machen, deren Vergeblichkeit den doppelt
Unglücklichen dann vollends zur Verzweiflung brachte.
Immer unerträglicher wurde ihm die Vorstellung: „Wenn
du tot bist, so genießt dann Hemmeier die Welt und
genießt selbsttätig die Wollust; dann gedenkt er deiner
nicht allein mit Abscheu, sondern dann hast du nichts
davon". Je mehr er nachdachte, desto schrecklicher kam
ihm dieses vor, insonderheit, wenn er erwog, daß Hemmeier
nicht mit Knaben, sondern mit Mädchen Umgang haben
würde. Selbst nüchtern wogten solche mit Mord-Gedanken
verknüpfte Bilder in seiner wollustatmenden Seele; je
mehr seine Sinnlichkeit und seine ungezügelte Phantasie
durch Getränke noch gesteigert wurden, desto fester
wurzelte bei ihm der Entschluß, all' dem Jammer einmal
ein Ende zu bereiten; schon weidete er sich an der Vor-
stellung, den Hemmeier vor und nach der gewaltsamen
Ermordung seiner unzüchtigen Begierde zu unterwerfen,
und der Entschluß, ihn zu ermorden, eroberte sich immer
mehr Raum in des unglücklichen Mannes Seele. Es
wechselten bei ihm unaufhörlich Satyriasis und unbefrie-
digtes Liebesverlangen mit durch Onanie hervorgerufenen
Schwächezuständen ab ; in diesen kam ihm der Einfall, bei
Hemmeier Uebelkeiten deshalb hervorzubringen, um die
Mannbarkeit desselben seiner Schwäche gleich zu stellen,
damit Hemmeier nicht wegen überwiegender Mannbar-
keit ihn verlassen möchte; so hoffte er des Jünglings aus-
schließlichen Umgang und seine Häuslichkeit zu erzielen; er
wünschte in solcher Verfassung, die Natur oder ein Zufall
— 586 —
hätte den Hemmeier zum Kastraten gemacht, nur damit
derselbe sich an Niemanden hänge; er verfiel auf den
unseligen Gedanken, des Jünglings Pudenda zu schwächen;
er wurde der Urheber, daß Hemmeier verschiedene
„Kiltgänge* *) machte; dann wollte er seinem Opfer
Mittel geben, um sein Beischlafsvermögen derart zu
schwächen, daß er mehrere Jahre hindurch gar nicht
an sinnliche Lust denken, sie gar nicht ausüben könnte,
hingegen seine Freundschaft ausschließlich für ihn be-
wahren solle. Diesen Plan gedachte Desgouttes auf einer
Reise im August 1817 auszuführen; als er dann den Ruin
seines Vermögens vor Augen sah, verwandelte sich dieses
Bild in einen Mordplan für seine Reise, auf welcher er
entweder mit Hemmeier sterben oder als Einsiedler bei
dem teuern Leichnam leben und sterben wollte; nur die
Verzweiflung, den innigst Geliebten ganz zu verlieren
oder für andere zu behalten, erfüllte seinen Geist mit
Mordplänen.
Bei alledem versicherte Desgouttes, daß seine Wollust
nicht das Ueberwiegende in seiner Neigung zum Hem-
meier gewesen sei; er habe ihn geliebt, weil ihre Charaktere
in vielen Stücken zusammentrafen, ausgenommen, daß
Hemmeier keines der Laster seines Liebhabers an sich
hatte; er liebte den Hemmeier, weil inneres Gefühl, Ge-
wohnheit und langer Umgang ihn an den jüngeren Ge-
fährten ketteten; er liebte ihn aus „übersinnlichen" Gründen,
von denen er Rechenschaft sich nicht zu geben wisse
und wenn er nach dem ausschließlichen und ewigen Be-
sitze seiner Freundschaft strebte, so sei es nicht aus sinn-
lichen Motiven geschehen, denn diese paßten nicht für
die Ewigkeit.
x) Dem Verhörrichter gestand Desgouttes, daß es beim Hem-
meier zu einem „unmoralischen Lebenswandel mit Mädchen" nie ge-
kommen sei und daß er „nur einmal sich vergangen" habe.
— 587 —
Um Neujahr 1817 sah Desgouttes rückwärts und
vorwärts schauend den Zerfall seines Vermögens und
seiner Liebe unrettbar vor Augen. Sylvester mit dem
Hemmeier zu feiern, dünkte ihn in dieser trostlosen Aus-
sichtslosigkeit ein unendliches Glück; aber Hemmeier
kam äußerst spät nach Hause und da betrank sich Des-
gouttes entsetzlich und seine Besinnung war wieder dahin.
Fortan quälte er den jüngeren Genossen, um diesen seine
Abhängigkeit von dem älteren Freunde recht herb fühlen
zu lassen, noch mehr und raffinierter als vordem. Im
Januar kassierte Desgouttes eine Barsumme von 1700
Franken für die Erbschaft Neukom ein, von welcher
aber die Hälfte schon seit bald zwei Jahren verbraucht
war; mit der anderen Hälfte entwich er planlos, er wußte
nicht wohin; allein freiwillig kehrte er zurück, haupt-
sächlich, weil er die Gesellschaft seines Substituten Hem-
meier nicht entbehren konnte und ohne ihn ganz außer
aller geselligen Verbindung war. Bei seiner Rückkehr
machte ihm Hemmeier die schwersten Vorwürfe und
brachte ihn nahe an den Rand der Verzweiflung; indessen
überlegte er sich, daß aus diesem Verhalten Hemmeler's
dessen wahre Freundschaft für ihn zu ersehen sei, und
nun gelobte er sich und ihm, alles zu bessern, insofern
die Umstände einmal nicht ungünstig wären; aber als bald
darauf wieder ein Ruf von der IrmePschen Schuld erschien
und andere Schuldenrufe einliefen, wußte er durchaus
nicht mehr, wie er sich helfen sollte. Da verhalf ihm
starkes Trinken zum Vergessen für den Augenblick; aber
dann erfüllte ihn wieder mit Schaudern die Vorstellung,
die Welt zu verlassen und den Hemmeier mitzunehmen
oder diesen vorauszuschicken und dann nachzufolgen.
Die ganze Zeit vom Palmsonntag (30. März) bis zum
Umzug in die neue Wohnung (17. Juli) blieb ernüchtern,
ohne daß die unglückliche Idee, ausschließlich im Besitze
Hemmeler's sein zu wollen, und die Furcht, traurige Um-
— 588 —
stände könnten denselben von ihm trennen, ihn jemals
losgelassen hätten; das alles, die Irmel'sche Schuld und
das Benehmen Hemmeler's zu Beginn des Lebens im
neuen gemeinsamen Heim leiteten in Verbindung mit
Desgouttes' periodischem Hang zum Trünke und mit seiner
ausgesprochenen Anlage zum Uebertriebenen das, was nun
folgte, ein. Am 17. Juli, dem Tage seines Umzuges in die neue
Wohnung und des Anfangs eines eigenen Haushalts mit
dem Busenfreunde erwartete Desgouttes, daß Hemmeier
nun für alle seine Vernachlässigungen und seinen viel-
fachen Undank den Liebhaber um Verzeihung bitten
und zur Versöhnung und zu dauerndem Frieden die
Hand zuerst bieten würde; Hemmeier hätte dazu um so
stärker sich gedrungen fühlen müssen, als er wohl wußte,
wie unendlich Desgouttes litt, wenn es unterblieb, und in
welch* ratlose Verzweiflung er den unglücklichen Liebhaber
stürzen würde ; — aber als er im neuen Heimwesen dem
Hausherrn ganz allein gegenüberstand, sprach er kein
Wort; er stand da wie ein Klotz und tat, als wäre
gar nichts geschehen. Dieses empörte den ohnehin
Gereizten aufs äußerste; er verlor alle Selbstbeherr-
schung und geriet in fürchterlichen Zorn und dann in
Wehmut; er wußte sich weder zu raten, noch zu helfen; alle
seine Vorstellungen blieben fruchtlos und so nahm er wie
früher seine Zuflucht zum Trinken; dieses besänftigte
ihn in etwas und außerdem führten ihn auch notwen-
dige geschäftliche Ueberlegungen dazu, einen halben
Scheinfrieden mit dem Hemmeier zu schließen; da er
das Unzulängliche dieses Friedens schmerzlich empfand,
so trank er mehr und weiter; in diesem Scheinfrieden
gelang es ihm, in der Nacht vom 17. auf den 18.
Juli, mit dem Hemmeier — zum letzten Male — geschlecht-
lich zu verkehren. Von diesem Tage an befand sich
Desgouttes ununterbrochen in einem an Besinnungslosig-
keit grenzenden Zustande, in einer durch starken Genuß
— 589 —
von Absinthextrakt, Wein und Liqueuren hervorgebrachten
ausnehmend hohen Trunkenheit, welche seine Sinne im
höchsten Grade aufregte, was dann wieder seine glühende
Phantasie in Tätigkeit setzte, während sein Verstand
und seine Ueberlegung gänzlich ausgeschaltet wurden, so
daß ihm, was er tat, nicht zum klaren Bewußtsein kam.
Hatte er sich in Tübingen schon dem Trünke ergeben,
um die lebhaften Bilder seiner Phantasie noch zu erwei-
tern und höher zu spannen, so geschah es in dieser
Periode, um im Gaukelspiel seiner durch den Trunk her-
beigeführten Phantasieen die erbärmliche Wirklichkeit
vergessen und sich auf Augenblicke an diesem Gaukel-
spiele ergötzen zu können. In der Nacht vom 18. auf
den 19. Juli ließ er seinen, seit Neujahr 1817 bei ihm
beschäftigten 15jährigen Lehrling Hans Ulrich Leib und
Gut, der sonst allabendlich nach dem Dienste in das
benachbarte Schoren zu seinen Eltern zu gehen pflegte,
angetrunken bei sich im Bett schlafen, um sich an dem
unschuldigen Knaben zu vergreifen, da er in dieser Nacht
zu Hemmeier, dem er Opium zu trinken gegeben, nicht
gehen mochte ; zweimal mißlang sein Plan, da der Knabe
erwachte; Desgouttes näherte sich ihm unter dem Vor-
wande, ihm die Vorhaut zu erweitern, weil sich sonst
dort Unreinigkeit sammle; er gab ihm den Rat, sie öfter
zu erweitern, und brachte durch Reiben einen „fast
inflammablen Reiz" in des Knaben Rute hervor; er
wollte ihn so zum Verluste der Unschuld und zum- Mit-
genusse bringen, was aber nicht erfolgte; erst der dritte
Versuch gelang: der Knabe schlief fest und schlief weiter.
Am nächsten Morgen fühlte Desgouttes sich allzu nüchtern,
als daß er seinen Tags vorher gefaßten Plan, den Hemmeier
zu betäuben und dann aus dem Fenster zu stürzen, hätte
ausführen können. Aber einige Tage später, als in der
Frühe des Morgens bereits der „Weingeist" ihn benebelt
hatte, entstand wieder der Entschluß in seinem Kopfe,
— 590 —
den Hemmeier umzubringen. Er ergriff eine Pfanne mit
nassem Stroh, um es in Hemmeler's Zimmer anzuzünden,
den Schlafenden zu betäuben und dann zum Fenster
hinaus zu werfen. Nur das Mitleid, das Bedauern mit
dem unglücklichen, ihm so werten Jüngling und der
Gedanke, er könnte Schmerzen fühlen, brachte ihn wieder
gänzlich von dem Mordplane ab und nun wollte er eine
Zeitlang keinen Gedanken mehr daran in sich aufkommen
lassen, den Hemmeier zu töten.
Ein mit dem Todestage seines Vaters, zugleich dem
Geburtstage seiner eigenen wirtschaftlichen Selbständig-
keit, dem 6. Juli 1816 begonnenes Tagebuch führte der
Unglückliche noch bis zum 25. Juli 1817 fort — alsdann
brach er es jäh ab. In diesem Tagebuche ist niederge-
legt, wie der unglücklich Liebende in dem langen Zeit-
raum vom 26. Juli 1816 bis dahin 1817 um den innigst
Geliebten gebangt und was er um ihn gelitten hat. Lassen
wir ihn selbst zu Worte kommen.,
Aus dem Tagebuche des Dr. Franz Desgouttes:
1816: 26. Juli: Dem Daniel Hemmeier eine Badfreude
gemacht.
28. Juli: Der Daniel geht in's Bad und läßt den
Freund allein, der düster und traurig zu Hause
bleibt.
. 31. Juli : Reise nach Bern mit Freund Hemmeier.
15. August: Vorwürfe an Daniel H. wegen seinem
Undank. . . Mit Daniel H. ins Bad.
16. August: Besichtigung des Perpetui mobil is
bezahlt für den Daniel.
17. August: Besuch bei Daniels Eltern.
5., 6., 7. September: Dem Daniel Hemmeier ge-
geben Wein, Chokolade u. dergl. Aber Er ist
immer gleichgültig.
591 —
1816: 11. September: Dem Daniel Hemmeier gegeben
Wein, Weggeld. Immer gleichgültig.
2. November: Ich hatte mich von jeher des Da-
niel Hemmeier innigst angenommen; ich achtete
Nichts für unmöglich, wenn es nur zu seinem
physischen oder moralischen Wohl diente. Oft ent-
zweite ich mich mit meiner Familie, weil ich mich
des H. eifrigst angenommen und seine wehrlose Ju-
gend geschützt hatte. Seine physische Constitution
wäre ohne mein Zuthun zu Grunde gegangen.
Er nähert sich jetzt der Festigkeit, die jedem
Jüngling wünschenswerth ist. Er blühet gleich einer
Rose, Er, der sonst Anlage zur Hektik hatte.
Seine Garderobe ist wohl versehn. Seine Kennt-
nisse hat Er einzig meinem immerwährenden
Unterrichte zu danken. Nichts habe ich versäumt,
ihn zu bilden, Nichts unterlassen, ihm das Leben
von allen Seiten anschaulich zu machen. Geld,
Reisen . . . Nichts sparte ich, ihm meine Pflicht-
erfüllung zu beweisen. Zu hunderten habe ich an
ihm verwendet, vergeudet.
Des Tags dachte ich für ihn und sein Wohl und
oft wachte ich des Nachts an seiner Seite. Ich
empfahl ihn allenthalben, sprach, handelte für ihn,
verwandte mich für ihn — Kurz! ich lebte bloß
für ihn und in ihm. Meine Freundschaft genoß
er in vollstem Maaße und meine Zuneigung in
vollsten Zügen. Bei Gott: ich hätte mein Leben
für ihn gelassen, wenn Er es hätte nützen können.
Ach! und was für Dank ernte ich jetzt von ihm?
Jetzt, da ich gleichsam verlassen bin, da ich in
ziemlichen Schulden stecke, da ich durch zweijäh-
rigen Kummer mich krank, ja fast aufgerieben
fühle, da ich ohne Aussicht bin, — jetzt zeigt er
seinen Undank! O kaltes, fühlloses Wesen, o
— 592 —
starrer junger Mensch! Wie höchst unglücklich
machst Du mich! — Die Gefühle überwältigen
mich so entsetzlich, daß Worte mir fehlen und die
Hand mir ihren Dienst versagt!
1816: 4. November: Muß denn alles zusammenschlagen.
Noch kein Patent, Mortifikationen aus dem Aargau,
Mißverständnisse mit Herrn Gerber, daher sein
Brief vom 3. h., wo ich ganz mißkannt werde.
Muß ich denn ewig der Spielball der Menschen
sein, während ich möglichst meine Leidenschaften
bändige und der Phantasie Spiel verdränge ? Und
Daniel, Daniel, den ich liebe, kehrt mir den
Rücken?!!
10. November: Traurige, melancholische Stunde!
Beinahe von Allen, ach! verlassen, in allen Hin-
sichten! Daniel auch.
22. November: Dem Daniel wieder gegeben eine
Flasche Wein. Anderer Dinge nicht zu gedenken.
Wenn ich die Menschen um mich betrachte, so
überfällt mich alternatim Wuth und Wehmuth,
wenn ich bedenke, wie vielen Hunderten ich schon
geholfen und wie mir alternatim Niemand hilft.
Verdammter Eigennutz! Alles will an mir saugen !
Allen soll ich helfen und wenn ich, ich Etwas
will — so ist Niemand zu Hause. Selbst meine
Nächsten machen mir's so. Wer mich nicht betrügen
will oder nicht kann, der versagt mir sonst Alles,
ja selbst die edelsten Gefühle, welche Natur einflößt.
4. Dezember: Weinfrüchte des Daniel Hemmeier,
da er erst um 1I21 Uhr Morgens heimkam.
15. Dezember : Den Daniel Hemmeier von 3/4 auf
4 Uhr an mit Herrn Bachmann ins Wirthshaus
gehen lassen. Er blieb aber bis fast 8 Uhr aus
und ich mußte annehmen, daß er von einem Haus
in's andere schwärmte, worüber ich ihm nachher
f,
— 593 —
deutliche, doch sanfte Vorwürfe machte. Ach!
er mißkennt mich. Wüßte er doch, wie unendlich
ich ihm anhänge und was ich für ihn entweder
bereits aufgeopfert habe oder noch ferner auf-
opfern werde — o, Er würde keinen Augenblick
mich verlassen oder selten.
1816: 16. Dezember: Daniel Hemmeler's Benehmen gegen
mich. Wiederholte Rüge. Befragung vom letzten
Band an mich.
So weicht Alles von mir! Auch er, an den ich
Alles wende. Kalte Seele! Diese Pein möge dir
nicht vergolten werden!
18. Dezember: . . . Und heute war auch der Tag,
an dem ich dem Daniel Hemmeier bittere Vorwürfe
wegen seinem Betragen gegen mich machen mußte.
Ach! daß ich ihm so anhänge, um ihm, gewiß aus
Liebe, derlei Vorwürfe machen zu müssen; aber
Er treibt es zu arg. Alles, Alles, was ich ihm an
den Augen ansehe, Alles thue ich ihm zu Gefallen
und überhäufe ihn mit Liebkosungen aller Art.
Wenn ich ihn betrachte, seitdem der unselige
Geschlechtstrieb in ihm erwacht ist, so muß ich
diesen verwünschen; denn mich vergißt Er und
denkt nur an das Vergnügen, Ball, Mädchen und
Wein, ohne doch ein Säufer oder Wüstling zu sein.
Bedenke ich meine traurigen Umstände, meine
entsetzliche Lage und den Undank des Daniel,
so nimmt's mich Wunder, daß nicht die vollste
Verzweiflung mich ergreift. Doch Glauben an
Gott, Philosophie, Hoffnung — das hält mich empor!
21. Dezember: Dem Daniel Hemmeier Vorwürfe
machen müssen: a. daß Er den 20. Dez. Abends
den ganzen Abend bis 8 Uhr ausgeblieben; b. daß
Er bis 1/2IO Uhr den 21. Vormittags 3/4 Stunden
lang bei Vogel geblieben.
Jahrbuch V.
38
— 594 —
1816: 22. Dezember: Dem Daniel Hemmeier einige sehr
herbe Vorwürfe machen müssen, weil Er ohne alle
Aufmerksamkeit für mich sich nur mit Andern
beschäftigt und ungeachtet aller liebreichen und
ernsten Ermahnungen mich stehen läßt. Dann
ihm Geld gegeben, um einen Schoppen zu trinken.
Dann ihm erlaubt, bis um 10 Uhr Abends die Berg-
knappenmusik anzuhören. Sechs ganze Stunden lang.
25. Dezember: Dem Daniel Hemmeier erlaubt,
mit seinen Bekannten spazieren zu gehen. Er
ging um */j3 Uhr fort und returnirte um 5 Uhr.
Ging um 6 Uhr wieder fort und returnirte erst
um i/,9 Uhr.
26. Dezember: Dem Daniel Hemmeier, dem ich
spaß weise Etwas vorbrachte, ohne ihn zu be-
leidigen, und welcher sich plötzlich in seiner
Eigenliebe höchlichst ergriffen fühlte [:Gnug nii,
gnug mi:], derbe Vorwürfe gemacht und ihn aus
der Stube gewiesen.
27. Dezember : Dem Daniel H. allerhand gegeben.
Frieden!
29. Dezember: Dem Daniel Hemmeier erlaubt, aus-
zugehen. Er ging um 4 und kehrte erst um 8 Uhr
zurück.
30. Dezember: Dem Daniel H. gegeben:
1. Einen derben Verweis wegen seiner Saum-
seligkeit.
2. Eine Brochüre.
3. Geld für Neujahrsbelustigung.
30. Dezember: Dem Daniel H. gegeben zum Neu-
jahrsgeschenk ein Jagdgewehr.
31. Dezember: Heute war Daniel H. fast immer
abwesend und dennoch erlaubte ich ihm noch, zu
Sylvestern. Er blieb auch aus von 5 Uhr bis 11
Uhr Abends: Mädchengesellschaft.
— 595 —
So schließt sich dieses Jahr, schrecklich in seinem
Anfange, traurig in seinem Verfolge und entsetzlich
in seiner Mitte; endlich in den Merkmalen des
Schrecklichen, Entsetzlichen und Ungeheuren am
Ende, ohne Aussicht, mit einer unendlichen Schulden-
last, Verzweiflung im. Herzen — ach! wer hilft
mir? Da mich Alles verläßt, so muß ich selbst
für mich sorgen!!!
Jacta est alea!
Mit Dir, o Daniel, bin ich sehr unzufrieden; es
ist, als wenn der Dämon der Zerstreuung oder
aber der Gleichgültigkeit gegen mich in deine
sonst gute Seele gefahren wäre. Ach! ich ver-
diene das nicht; denn innigst liebe ich dich und
wünsche dir allen erdenklichen Segen, alles mög-
liche Glück und Heil. Ach! daß du mich mißkennst!
So rollt das Jahr ab und läßt mich einsamlich!
1817: Anfangs Januar: Schön begann das Jahr 1817
— war aber nicht gut im Verfolge. Ach! guter
Daniel, hab* ich auch gegen dich gefehlt, so ver-
zeihe; denn dein kalt verwerfendes Wesen könnte
mich verzweifeln machen.
Man könnte mich fragen — warum den Daniel
so in den Strudel der Vergnügen werfen, während
du es ihm selbst verboten hast? — Am Neujahr
feierte ich meine seligsten Stunden im Kreise
meiner Geliebten. Warum fehlte da Daniel? Warum
betrug Er sich schon am Morgen kalt? Warum
blieb Er aus, da Er doch wußte, wie sehr ich
daran hing, ihn auch bei mir am Abendessen zu
sehen? Warum mußte ich selbst ihn holen? O, das
war für mich ein Todesstich! Ich sah nun, daß
Er mich gar nicht, Andre aber über Alles liebt! O
Gott, welche marternde, verzweifelnde Empfindung !
Dies betäubte mich fürchterlich, brachte mich halb
38*
— 596 —
zur Wuth. Ach ! die grimmige Empfindung folgte
mir nach. Ich trank immer und immer mehr,
bis ich von Tumult zu Tumult stürzte. Da, da ver-
gißt sich der Mensch mit der glühenden Phantasie.
Deswegen geschah, was leider geschehen ist. Hätte
Daniel, eingedenk, daß ich ihn so manchen Abend
vermißte, den Neujahrsabend mit mir gefeiert —
o, ich würde nie so derbe tumultuirt haben.
1817: 8. Januar: Gott gebe, daß an mir geholfen werde.
13. Januar: Dem Daniel H. gegeben Müller's
Schweizergeschichte in 4 Bänden.
Ende Januar: Seit dem 15. dem Daniel allerhand
geschenkt und Er bringt mich dafür in Verzweiflung.
Ende März: Während dem März dem Daniel
und seinen Kameraden sehr viel an Wein und
Objekten zum Vergnügen geschenkt, damit sie
sehen, daß ich ihnen dergleichen in Maaße sehr
wohl und gern gönnen möge.
6. April: Dem Daniel Hemmeier, meinem Sub-
stituten, vorgestellt: 1. für seinen Körper Sorge
zu tragen; 2. dfte Zerstreuungen einzustellen; 3. die
beiden Mädchen aufzugeben und 4. mit Vogel
und Trösch weniger Umgang zu haben; überdies
mir mehr Freundschaft und Liebe zu schenken.
Insonders soll Er aufrichtig und aufmerksam
sein. — Welch' Alles Er auch mit Mund und
Hand versprochen.
Dazu erlaubte ich ihm, Montag den 7. hujus
auf Aarburg zu gehen, seine Schwester und seinen
Schwager zu sehen.
Daniel Hemmeier geht, wegen Langeweile, mit
Vogel und Trösch spazieren ins Bad seit 1/25 Uhr
bis 8 Uhr.
Den 7. April befand sich Daniel Hemmeier den
ganzen Tag abwesend in Aarburg und returnirte
597 —
erst um 1/29 Uhr mit zwei Schwestern und seinem
Schwager.
Den 8. April blieb Er bis 10 Uhr Morgens weg
und ich versah indessen seine vices.
Mit dem Daniel Hemmeier einen Lohnvertrag
errichtet bis 1. Juli 1817.
Heute spürte Daniel Hemmeier erst die Folgen
seiner Reise auf Aarburg durch Faulheit, Mattig-
keit und Schmerzen in den Waden und am Fuß,
Erhitzung und Abgespanntsein. Fast den ganzen
Nachmittag lag Er faul da oder befand sich bei
Vogel. Daselbst zweimal.
9. April: Daniel Hemmeier spürt noch immer die
Folgen der Anstrengung nach Aarburg durch
Schmerzen auf der Fußballe und in den Beinen,
dann Engbrüstigkeit, Schweiß des Nachts.
Daniel Hemmeier überläßt sich schon wieder
der Zerstreuung bei Vogel und Viktoria Dennler,
vernachlässigt mich und seine Studien.
10. April: Er läuft zu Vogel; gibt sich selten
mit mir ab; sagt mir offen, daß Er Andre, z. B.
Viktoria D., mir vorziehe und malt für selbige
(Oster-) Eier aus, statt zu studiren, verbraucht
mehrere Stunden dafür und arbeitet für Andre
öfter.
Abends verwfeilt Er von 7 bis 8 Uhr bei Vik-
toria Dennler.
Was soll ich, Verlassener, bei solchen Connexionen
denken? O daß ich diesen Menschen je so selbst-
ständig machte! — Besser wäre es für mich, den
Tod zu erhalten, ohne ihn selbstmörderisch zu
suchen. Aber Gott wird helfen!
Den 11. April mit Daniel Hemmeier gesprochen und
ihm ernstliche Vorstellung gemacht:
— 598 —
a. seine Distraktionen zu meiden,
b. dann seinen Studien mehr Fleiß und mir
mehr Liebe zu schenken.
Welches Er auch versprochen.
1817: 13. April: Daniel Hemmeier geht um 1 Uhr aus
und bleibt bis 2 Uhr bei Lise Muhmenthaler.
Daniel Hemmeier geht aus zu Vogel von l/a7
bis 1jA ab 8 Uhr. So bin ich oft einsam!
Den 16. April befand sich Daniel 1/i Stunde bei
Vogel und Trösch, welche Messieurs auch unseren
Unterricht um 6 Uhr unterbrachen.
17. April: Verdruß mit Daniel Hemmeier, weil
Er oft weggeht und niemals mich für den Unter-
richt begrüßen mag. Doch am gleichen Abend
Frieden.
Den 19. April geht Daniel Hemmeier bis 1 Stunde
zu Vogel.
Der Daniel Hemmeier bleibt von lj2l bis 9 Uhr
bei seinen Freunden Vogel und Trösch und im
Wirthshause.
20. April: Daniel Hemmeier geht um 8/4 auf 4
Uhr weg zu Viktoria Dennler und bleibt bis 3/4
auf 5 Uhr weg.
Dann geht Gleicher um y26 Uhr wieder weg
und zwar mit dem fast betrunkenen Vogel —
kömmt erst um y29 Uhr wieder.
21. April: Daniel Hemmeier geht mit Viktoria
Dennler spazieren während 1. Stunde.
Idem thut nicht viel und geht von 8/4 auf 5
bis y26 Uhr zu Viktoria Dennler.
26. April: Mstr. Daniel Hemmeier geht spazieren
mit Vogel l/2 Stunde lang, mich verlassend.
Daniel Hemmeier geht zu Viktoria Dennler lJ2
Stunde.
— 599
Idem geht zur Gleichen und bleibt weg 5
Viertelstunden lang, ohne den Effekt hervorzu-
bringen. Der Esel! ....
1817: 27. April: Daniel Hemmeier geht um 5 Uhr weg
zu Viktoria Dennler und bleibt weg bis 8 Uhr.
28. April: Daniel Hemmeier steht alle Morgen
spät auf: circa lj2 8 oder 8 Uhr. Ich mag ihm
das gönnen; doch wünschte ich dann auch, en retour
egard für mich, Aufmerksamkeit und was ich gar
nicht erhalte.
Ende April : Auf den ganzen Monat bleibt Daniel
weg = Tage 6, Std. 28/4.
2. Mai: Daniel H. geht zur Viktoria Dennler
und bleibt vor dem Eßen 2l/3 Stunden lang weg.
Nachts 11 Uhr geht Er zu Viktoria D. und returnirt
um 4 Uhr Morgens.
4. Mai: Wie drängt man mich von allen Seiten!
Eltern, Gerber, Daniel, Pf. Wagner, Geschwister!
Ich soll heirathen! — Was? Geld! . . . eigene
Wahl! aber durch Vaters Seufzen hervorgebracht.
Oft bereut, ach, ohne Hoffnung zur Wiederkehr.
Elendes, schreckliches Leben! Damit meine Um-
gebungen fröhlich sein und lustig oder bequem
leben können, soll ich elend sein.
Heirathen soll ich bei schrecklichem Mangel,
beim Dasein meiner vielen Schulden, bei schreck-
licher Theuerung, bei halber Dienstlosigkeit, ohne
Stand, ohne Patent, ohne Aussichten, ohne Hoff-
nung, kränklich Gott, welche Dunkelheit !
Wenn ich mein ganzes Leben, wenn ich mein
Sein, Thun etc. betrachte, so nimmt mich Wunder,
daß ich noch bin. Wie viel Undank muß ich
ansehen! Genüsse . habe ich keine und für die
Zukunft keine Erwartung, als, wenn ich heirathe,
die Anwartschaft auf ein elendes kurzes Leben.
— 600 —
Nein, ich heirathe nicht, bis — körperlich, öko-
nomisch und ab Seite meines Patentes bessere
Zeiten da sind. Ich bin es der ersten Pflicht,
meiner Selbsterhaltung, schuldig. Wer will mir
dies wegraisonnieren ? — Gewiß Niemand.
Mit dem Daniel H. ernstliche Rücksprache ge-
nommen, mehr Aufmerksamkeit mir zu schenken.
Ihm geschenkt Schlenbach's Welthistorie mit
Kupfern.
Daniel H. geht um 1 Uhr zu seinen Freunden
und returnirt nach Va2 Uhr. Mich läßt er allein.
Dan. H. geht an 3/4 auf 2 Uhr wieder zu seinem
Vogel und Trösch — um zu spazieren auf St.
Urban und kehrt erst um 8/4 auf 8 Uhr wieder.
So bin ich immer einsam! Soll das Aufmerk-
samkeit sein?
1817: 7. Mai: Ich muß mein Leid bemerken, daß Daniel
H. tagtäglich negligenter wird. Wenig Aufmerk-
samkeit zeigt er mir, denn von den ehemaligen
gemeinern Verrichtungen will der junge Herr nichts
mehr thun. Ich, der ich eine unbegrenzte Auf-
merksamkeit habe, kann auf seine Dienste nicht
mehr rechnen ; von seiner Aufopferung ist längst
keine Rede mehr. Ach ! ich fürchtete nicht vergeblieh
den Moment seines Ausflugs zu Freunden außer-
halb dem Hause!
Daniel H. kehrt sich an meine freundschaftlichen
Winke wegen seiner nicht ganz seltenen Unord-
nung nicht. Gebe ich Erinnerungen, Ermah-
nungen, so werden sie entweder bald vergessen
oder übel aufgenommen, weil Er in großen Un-
willen geräth, wenn man seine geglaubte Infalli-
bilität antastet. Wenn ich endlich barsch rede,
so hilft's ein paar Tage, und dann ist's bald wieder
im Alten. — — — Ordnung, Produkt der
— 601
Regelmäßigkeit muß sein, muß vom 1. Juli
an streng eingeführt und beobachtet werden; oder
lieber will ich sterben, ungeachtet ich an Daniel
H. unendlich und so hänge, daß ich ihn über
Alles liebe, aber nicht über Alles schätzen kann!
1817: 8. Mai: Daniel H. geht auf eine Stunde nach dem
Musterplatz, kömmt dann um 2 Uhr wieder mit
Vogel, macht sich mit ihm bis 3 Uhr in meinem
Zimmer lustig; ich gab Beiden 3 Schoppen Wein
und Haselnüsse; dann geht er damit weg um
3 Uhr und returnirt um 4 Uhr.
Daniel H. geht wieder auf i/2 Stunde weg.
Idem geht um 8/4 auf 6 Uhr weg mit Vogel
und kehrt wieder um ^7 Uhr. Dann kommt
Vogel und geht erst um 7 und 1ll Uhr. Daniel
H. entfernt sich zum Balle um 8 Uhr.
Zum erstenmal e, mein Daniel ! für dich Ball !
ach! folgenreicher Schritt! ich — warnte brüderlich,
aber ach!!!
Ja! dieser Ball- war folgenreich für mich!
Denn er öffnete mir die Augen über Daniel und
zeigte mir ihn in seiner ganzen Blöße! O ich Thor,
der ich ihm zu Liebe meine Harfe verbrannte! —
Nicht zu rechnen, daß Er mich nicht einmal um
meine Einwilligung befragte, kömmt der Herr
erst um 3 und lj% Uhr Morgens heim und belohnt
mich dann noch sonst mit Undank. Der Elende!
9. Mai: Daniel H. geht erst um 9 Uhr aus dem
Bette und ging bis 11 Uhr weg. Den ganzen
Nachmittag schob Er sich von einem Sessel zum
andern. Dann geht Er um 1j2l Uhr und returnirt
erst um 8V4 Uhr heim, etwas beübelt. Dann geht
er um 11 Uhr zum Tanze und returnirt um
7,6 Uhr.
10. Mai: Mit Daniel H. lange Rücksprache ge-
I
Hl
— 602 —
halten wegen seinem Verhalten. Ich gönne ihm
Freunde, ich bin glücklich dabei! aber Er soll
j Vernunft dareinsetzen und mich nicht nur nicht
so vernachlässigen, sondern seine Liebe mit meinen
Aufmerksamkeiten in das völligste Gleichgewicht
] setzen, da ich der Schöpfer seiner vielen, vielen
I Freuden bin! Ach! er verspricht wohl, ob Ert
auch halten wird? Hoffe.
Daniel H. geht von 9 bis IOV4 Uhr wieder zum
Tanze und kommt halb krank heim. Ich laufe
! für ihn in die Apotheke.
1817: 11. Mai: Daniel ist den ganzen Tag theils krank,
theils zu Allem untüchtig.
Dem Daniel in seiner Krankheit treulich ab-
I ' gewartet.
! Dem Daniel H. habe ich zwei Clystiere gegeben
'. und ihm bis 10 Uhr Abends abgewartet und geholfen.
j Den 20. und 21. Mai bleibt Daniel H. von 9 Uhr
I bis um 1 Uhr des Morgens fort. Ich muß wachen
j und für ihn im Schweiß erkalten.
I 21. Mai: Daniel H. thut den ganzen Tag nicht
viel, einige Briefe ausgenommen. Nachts von 9 Uhr
bleibt Er bis 7*1 Uhr.
22. Mai: Der arme, von Viktoria Dennler ge-
plagte Daniel H. verzweifelt fast, ist bis um 5 Uhr
Abends zu Allem untüchtig, wo Er dann bis 7
Uhr arbeitet.
23. Mai: Daniel H. kommt mit Viktoria D. wieder
zum Frieden; ich begebe mich deswegen und um
zu traktiren zu derselben und verwende mich
mit Worten und Geschenken bei ihr eine Stunde
lang.
25. Mai: Daniel H. bleibt von 1 Uhr bis 8 Uhr
weg und ist bei Viktoria D. Er behandelt mich
sonderbar, nachlässig und auf alte Art.
— 603
1817 : 29. Mai : Daniel H. bleibt des Abends von 10 bis
1 Uhr Morgens bei Elisabeth Bracher.
Ende Mai: Auf den ganzen Monat bleibt Hemmeier
weg: 9 Tage.
I. Juni: War Daniel H. den ganzen Tag un-
tüchtig und krank; ich wartete ihm ab und pflegte
sein.
Den 10. Juni — ist Daniel Hemmeier 10 Stunden
zu Allem unfähig, weil er Abends vorher ribotierte
bis um 12 Uhr, wo ich wachen mußte.
II. Juni: Daniel H. absentirt sich seit 11 Uhr
des Morgens bis Abends um acht Uhr.
Den 12. Juni — befand sich Daniel H. den gan-
zen Tag krank. Ich wartete ihm ab und gab ihm
Arzneien.
Den 13. Juni befand sich Daniel H. den ganzen
Tag krank. Ich wartete ihm ab und gab ihm
viele Arzneien.
Er ist entsetzlich ungeduldig, eigensinnig und
bös, daß man kaum bei ihm aushalten kann.
14. Juni: Derselbe geht 2 Stunden zu Viktoria D.
15. Juni: Daniel H. bleibt 3 Stunden weg bei
Viktoria D. Nicht zu rechnen, wie oft Er seine
Arbeit vernachlässigt, Sachen verschiebt, Nichts
thut. O tempora, o mores!
Den 21. Juni — ist Daniel H. den ganzen Tag
nicht tauglich und schwärmt doch herum.
23. Juni: Ankunft von Vogel und Trösch —
derbe, nachdrückliche Rücksprache mit Daniel H.
wegen dem künftigen Umgang mit ihnen.
Öftere Abwesenheit des Daniel H., die ich nicht
einmal notire, weil sie zu häufig kömmt.
24. Juni: Daniel H. geht auf ll/Ä Stunde zu
Vogel und versäumt allerhand.
— 604 —
1817: 30. Juni: Dem Daniel H. Vorstellung gemacht et
alia.
Wann, o Schicksal, wann wirst du mich be-
günstigen? Elendes Leben, wo meiner Jugend
Rest planlos und ungenützt hingeht! Und dennoch
arbeite ich rastlos! O, daß doch Niemand einen
Augenblick leichtsinnig wäre! — O unseliges
Schuldenmachen !
Bald, bald, wenn Gott nicht hilft
ist's aus, dann vermag Niemand m^hr mich zu
retten! O, daß ich noch einmal ganz schulden-
frei sein könnte! Noch einmal nie, nie
würde ich mehr so handeln — wie vorher! Wie
kann der Körper gedeihen, wenn immerwährende
Unruhe die Seele hinwirft? — Wie kann ich
einen Gedanken mit Festigkeit verfolgen, wie seine
Ausführung mit Energie bethätigen, wie auf freiem
Spielraum mich bewegen, wenn alle, alle Be-
rührungspunkte sklavisch mich fesseln — Alles
mich kettet?!?
30. Juni: Disput mit Daniel Hemmeier wegen
Undank.
Ende Juni: Auf den ganzen Monat bleibt Daniel
Hemmeier weg : 9 Tage, nicht zu rechnen kleinere
Abwesenheiten, Arbeiten für sich und zahlloses
Andre !
5. Juli: Daniel Hemmeier nokturnirt bei Viktoria
Dennler wie auch schon am 3. Juli.
6. Juli: Einsam sitz' ich hier, kein Daniel, der mich
tröstet, mich aufrecht hält und mir beisteht, wenn
schwache, melancholische Stunden mich umdüstern.
■ Welch' ein Mensch! Wo ist, wo bleibt die
Freundschaft, die er so hoch preist? Wo sein
hohes, inniges Gefühl für mich? Ach, es lebt
nur in seinem Innern und sein Aeußeres wendet
605- —
ll
sich zu Andern, die keinen Anspruch auf ihn
haben, als die Macht der Gewohnheit und den
Titel des bloßen Umgangs. Wo sind die seligen
Zeiten, da Er nur in mir und durch mich lebte?
Wo die Verhältnisse, die ihn allein an mich ban-
den? Wo die Reize, die er einzig in meinem
Umgang fand ? — Ach ! von allem dem ist nichts
mehr vorhanden, als das traurige Andenken, das mir
nur schmerzhafte Erinnerungen gibt! Und nun, was
ist zu thun — bei solcher Sachlage, wo ich mit großem
Aufwände von Kräften, mit Zeitverlust, mit star-
kem Geldauslegen, selbst auf Kosten meiner Ehre
und mit enormen Schulden, ohne Kredit, ohne
Gesundheit — keine Zwecke erreicht habe, als
die, welche der Zufall mir in die Hände
schickte oder in meine Lebensbahn warf??? —
Aenderung, Besserung, Hemmung der Leiden-
schaften, Herrschaft der Vernunft! Aber dann
auch Kälte gegen Daniel, Zurückziehung von ihm,
Ernst gegen ihn und öftere Objurgation mit Ver-
nunft. — — Ha! herrliche Räthe, wenn man
noch im Labyrinth der schrecklichsten Verhält-
nisse ist und ohne ein Wunder sich nicht heraus-
winden kann ! O, wenn ich noch einmal wieder auf
den alten Standpunkt käme, wie wollte ich mich
ändern, wie meinen ehedem festgesetzten Lebens-
plan konsequent ausführen! O Deus adjuvet!
Möge es noch heute geschehen! Dann würde,
dann müßte eine neue, herrliche Morgenröthe auf-
gehen in Erkennung wie im Handeln!
1817: Den 6. Juli — geht Daniel H. wieder am Abend
1 Stunde fort und richtet Verdruß im Hause an.
7. Juli: Derselbe ist den ganzen Tag krank; ihm
eine Arznei gegeben. Des Abends ein schreck-
liches Wetter; Einschlag in Bleybach.
— 606 —
1817: 8. Juli: Von J. J. Christen Avis vom Leeraus-
gehen meiner Lotteriezedeln. Soll ich denn Alles
verlieren und will Niemand und nichts mir helfen ?
10. Juli: Daniel H. geht am 9. Juli den ganzen
Tag fischen.
11. Juli: Von Bruder Emanuel Desgouttes einen
impertinenten Brief empfangen . . .
14 Juli: Von nun an bemerke ich Daniels Ab-
wesenheiten , Entfernungen und Regellosigkeiten
nicht mehr. Es gibt mir zu viel zu thun. Das
bemerke ich noch, daß Er in diesem Monat bei 6
Stunden sich hin und her absentirte und mich
unendlich reizte. Dennoch will ich hoffen, es
werde Alles noch zum Besten kehren und in
dieser Voraussetzung und weil mir solche Noten zu
viel zu thun geben, unterlasse ich es. Ebenso
mit dem Geben und Schenken.
16. Juli: Mit Sack und Pack gezügelt, d. i. d£lo-
girt und in's neue Haus, den Bärenstock, trans-
portirt.
25. Juli: — Daniel — ich rufe wie einst Gott
unser Herr:
Saul, Saul, was verfolgest du mich ? — denk* an
Donnerstag!!!
Damit bricht Franz Desgouttes' Tagebuch plötzlich
ab — es schließt mit einer Drohung, welche besagen
will, der Schreiber werde es dem Hemmeier nie vergessen,
daß dieser am Donnerstag, beim Einzug in das neue ge-
meinsame Heim, den ersehnten Frieden hVs Haus nicht
habe bringen wollen!
In diesem Tagebuche vielfach rührenden Inhalts hat
der Liebhaber Hemmeler's mit großer Peinlichkeit selbst
über die unbedeutendsten Geringfügigkeiten, die er seinem
— 607 —
Liebsten zuwendete, genau Buch geführt und alles mit dem
Kostenpreise versehen; da finden sich immer wieder
Speisen, wie Brödchen, Brezeln, Kuchen, Eier, Zucker,
Chocolade, Thee, Milch, Bonbons, Nüsse, Kirschen,
Trauben, Wein, Liqueur, Medizin und ihr Geldwert und
zwischendurch Ausstattungsgegenstände, wie Strümpfe,
eine seidene Weste, ein Spazierstock, ein Jagdgewehr und
deren Kosten — alles für den Hemmeier bestimmt —
aufgezeichnet. Und diese seine Eigenart erklärt er, indem
er — das einzige Mal an seinen Leser sich wendend —
in seinem Tagebuche niederschreibt:
1816: 21. Dezember: Dem Daniel Hemmeier allerhand zu
Gefallen gethan, mit Aufmerksamkeiten aller Art.
Du, der du einst etwa dies lesen mögest, glaube
nicht, daß Prahlsucht die Feder führte, als ich
das, was ich dem Daniel H. that, fleißig aufzeichnete.
— Nein! gewiß nicht. Sondern einzig die Sucht,
um mich von Zeit zu Zeit zu erinnern, daß ich
meine Liebe zu ihm in allerhand kleinen Aufmerk-
samkeiten zeigte und zugleich damit Er mir nicht
vorwerfen könne, ich besolde ihn zu wenig.
* *
So nahte denn wohl vorbereitet die Katastrophe.
Desgouttes versuchte noch einmal, den Hemmeier zu er-
weichen; er gab diesem, während er krank lag, seine Ent-
lassung; es geschah das in keiner andern Absicht, als den
Jüngling „in sich selbst zu nöthigen", um längeres Ver-
bleiben in des altern Freundes Hause anzuhalten, womit
ja dann freilich Desgouttes' Zweck, den Hemmeier von
sich völlig abhängig zu machen, beinahe erzielt gewesen
wäre; doch war die Kündigung dem Liebhaber im ge-
ringsten nicht Ernst, denn schon bei dem ersten Ausbruche
des Bedauerns seitens des Hemmeier blutete sein Herz.
Hemmeier aber war zu kalt und zu verschlossen, als daß
er sich offenherzig gegen Desgouttes hätte aussprechen
M v .4
l!
— 608 —
mögen. Die Dienstmagd Salome Anderes war sehr ver-
wundert, als sie durch ihren Herrn vier Tage vor dem
Morde, am 25. Juli, erfuhr, ihr Neffe Hemmeier komme
fort; denn Hemmeier hatte es der Tante verschwiegen
und nun wollte diese ihn nicht fragen, weil er krank war.
Am 26. Juli müssen die Spuren geistiger Verwirrung bei
Desgouttes schon recht deutlich hervorgetreten sein; denn
der Pfarrer Friedrich Bütimeyer, der ihn, mit dessen
Vater er befreundet gewesen war, an diesem Tage in
seiner neuen Wohnung zum ersten und letzten Male be-
suchte, eilte bald weg, weil er aus Desgouttes' tiefliegen-
den Augen und entflammtem Gesicht schloß, daß es mit
ihm nicht ganz richtig sei; seine Blicke blieben, so sehr
er bemüht war, sich Zwang anzutun, wild und verstört.
In diesen Tagen des eigentlichen Mordentschlusses be-
lebte den Verzweifelten einzig der grobsinnliche Trieb
des Genusses oder der unausweichliche Drang des Mordens
mit der Absicht, zum Genüsse zu gelangen, der den
Unglücklichen zu der grausigen Tat bestimmt haben
mag. Am 27. Juli, einem Sonntag, besuchte er noch des
Abends um 10 Uhr die Familie des Schreiners Jakob
Herzig .Vater und traf die Eltern und das achtjährige
Töchterchen bereits im Bette an; er veranstaltete mit
Hülfe des zweiundzwanzigjährigen Sohnes Jakob, den er
fortschickte, um Wein, Bier und Essen zu holen, ein
Gelage, bei welchem er viel mit dem Säbel spielte und
den einfachen Leuten, deren Umgang er vor anderen den
Vorzug gab, zeigte, wie schön sein Säbel sich biegen
ließe. Am Montag, den 28. Juli, morgens, begab sich
Desgouttes in das Bett des Hemmeier und machte gegen
den Erwachenden allerhand unzüchtige Geberden, infolge
deren der Ueberraschte mechanisch aus dem Bette heraus-
und wieder hineinsprang und bestimmt erklärte, daß er
lieber sterben, als dem Willen Desgouttes' sich fügen
wolle ; nun stellte sich der Peiniger, als ob der erwartete
— 609 —
Widerstand des Jünglings ihn mit Bedauern und Herze-
leid erfülle, er bat ihn knieend um Verzeihung, die er
auch erhielt, und versprach ihm, dergleichen ihm nicht
mehr zuzumuten; dieses ganze Spiel aber führte Des-
gouttes in der einzigen Absicht auf, den Hemmeier mit
einem Federmesser, das er bei sich führte, zu verletzen
oder zu töten und ihn dann zu vergewaltigen; war er
doch mit Mordplänen des Nachts eingeschlafen, mit
solchen in der Nacht aufgewacht und mit ihnen des
Morgens aufgestanden; aber als er nun glaubte, sein
Opfer beruhigt zu haben, und seinen Mordplan ausfuhren
wollte, da setzte der Bedrohte mit jammernden Worten
sich zur Wehr, und mit dem Ausruf des Mitleids:
„Lebe!" ließ Desgouttes noch einmal von seinem Vor-
haben ab; er ging in sein Schlafzimmer und onanierte.
Um 9 Uhr begab er sich zu seiner Zerstreuung in die
Wohnungen Herzig's und Bracher's. Während des Nacht-
essens kam die Frau Rosina Dennler zu Desgouttes; dieser
verließ den Tisch, zeigte ihr sein neues Heim und be-
merkte dabei, daß der Hemmeier das schönste aller
Zimmer habe; so könnte doch, meinte er, nichts mehr
fehlen an seiner Zufriedenheit, da Hemmeier beinahe
Meister wäre und hätte, was er wollte. Noch nach dem
Abendessen rieb er, als er sich mit Hemmeier allein be-
fand, nüchtern dessen Pudenda mit einer Komposition von
Cantharidenessenz, Salmiakgeist und Oel ein, „bloß um zu
beschauen"; dieses hat den Hemmeier „mannbarer" ge-
macht, aber eine Ejakulation nicht hervorgerufen. Als-
dann, gegen 10 Uhr, ist Desgouttes wieder zu Bracher's
gegangen, hat dort eine halbe Stunde verweilt und in
einem kleinen Rausche von allerhand Sachen, besonders
aber von dem Hemmeier gesprochen, wie er das schon
vorher gegen 6 Uhr getan hatte. Nachdem er die ein-
fachen Leute verlassen, lief er über das Kirchenfeld zu
•einem Mädchen, das er beschlief, und traf um 11 Uhr
39
Jahrbuch V.
— 610 —
wieder in seinem Hause ein; als er hier sein Zimmer be-
trat, rief ihm Hemmeier zu, er sei eben noch rechtzeitig
eingetroffen ; Desgouttes aber scheute sich, zum Hemmeier
hinüber zu gehen, weil er nicht wollte, daß dieser seine
Trunkenheit bemerke. Um halb 12 Uhr trat er an die
Tür des Schlafzimmers der Dienstmagd Salome Anderes,
pochte an, gab auf die Anfrage der Magd, was er wolle
und ob sie aufstehen solle, die Antwort „nein!* und ging
wieder fort. Nach festem Schlafe wachte er in der
Morgendämmerung gegen 3 Uhr mit wehmütigen Em-
pfindungen auf, erhob sich, ergriff eine kleine Flasche
Liqueur, die auf dem Ofen stand, und trank in Hast da-
von; da fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf: „Wie,
wenn du ihn jetzt tötetest?" Und dann wieder: „Wenn
du seiner noch vorher genießen würdest?" So stand er
im bloßen Hemde in seinem Schlafzimmer am Ofen.
Schnell trank er, wie um sich Mut zu holen, die Flasche
bis fast auf den Grund leer und geriet, ein zum Morde
geeignetes Instrument suchend und ein Taschentuch er-
greifend, in entsetzliche Wildheit, in „Kannibalen wut" ; in
der Mittelstube fand er einen Pfriem, warf ihn aber
wieder hin, indem er dachte, durch ihn würden Hemmeler^
Leiden zu lange währen und die lange Leidenszeit könnte
den Mörder verraten; dann stieß er auf ein frisch ge-
schliffenes Messer, das er schnell ergriff und öffnete p
dieses in der rechten Hand haltend, stürzte er in
Henimeler's Schlafzimmer. Hier lag der Schutzlose mit
unbedeckter Brust auf dem Rücken im Bette, seine
linke Seite dem Trunkenen zugewendet. Dieser suchte
mit der linken Hand die Herzgegend und versetzte ihm
mit dem Messer einen Stich dahin. Mit der Frage: „Wa&
soll das?" schlug Hemmeier die Augen auf, schrie zwei-
mal laut und warf sterbend einen wehmütigen Blick auf
seinen unglücklichen Mörder; da hörte dieser die Magd
vor der verschlossenen Türe fragen, was dem Daniel
— 611 —
fehle, weshalb er schreie, und er gab zur Antwort:
„ Hemmeier' träumt nur; es ist nichts!* Die große Menge
des aus der Wunde des Verblutenden hervorsprudelnden
warmen Blutes versetzte den verstörten Mörder in
Schrecken und Grausen und er rannte in sein Zimmer, von
wirren Gefühlen bestürmt ; so war ihm noch nie gewesen.
Auf einmal wachte, als wenn dem Drama der Schlußakt
fehlte, seine Wollust auf und ging schnell in Satyriasisr
über; er eilte in das Zimmer des Hemmeier zurück und
deckte den verblutenden Körper bloß; allein der Anblick
des Erstarrenden erfüllte ihn mit physischem Abscheu
gegen Befriedigung seiner Sinnenlust. „Boshaft wütend"
über die Unmöglichkeit, unter solchen Umständen Wollust
ausüben zu können, goß er ein Fläschchen Scheidewasser
auf die Geschlechtsteile seines Opfers hin und fühlte
jetzt auch moralischen Abscheu gegen die Luststillung;
so ergriff er, wie zum Abschied, des Geliebten Hand und
zog die Decke über den Leib des Sterbenden bis an den
Hals; sein Entsetzen ging in Wehmut und völlige Ab-
spannung über und so drückte er dem, den er über alles
geliebt hatte, die Augen zu. Dann packte ihn die Angst
vor Entdeckung, die Furcht vor der Schande, welche er
seiner Familie bereitet, und er kroch auf allen Vieren
durch das Mittelzimmer, dessen Fenster nicht verschleiert
waren, in sein Schlafgemach, kleidete sich an und verließ
das Haus — ohne Plan und ohne klare Besinnung. Er
fühlte noch große Liebe zum Leben, war sich noch nicht
klar über den unersetzlichen Verlust, den er sich selbst
bereitet hatte, und wähnte noch, der Welt durch ein
nützliches Leben, dem er fortan sich widmen wollte, mehr
bieten zu können als durch einen schimpflichen Selbst-
mord. So wurde er gefangen, verhört, verurteilt und ge-
richtet, wie im I. Abschnitt dargestellt ist.
39*
— 612 —
IV. Die Beurteilung des Falles Desgouttes
durch Zschokke und Hößli.
In Heinrich Zschokke's „Gespräch über die Liebe" lenkt
sich die Unterhaltung »gleich anfangs, wie dies immer zu ge-
schehen pflegt, auf die widerlichste Merkwürdigkeit des
Tages" : die Ermordung des Hemmeier (Walter) durch
Desgouttes (Lukasson). Den Wortführern des Gesprächs
erscheint die verbrecherische Tat um so rätselhafter, als
Desgouttes den hingemordeten Freund noch bis zum
letzten Augenblicke geliebt und denselben im Schlafe
erstochen hat; so konnte sie, nach jedermanns Urteil,
doch nur in einem Anfall von Wahnsinn geschehen sein.
War es doch bekannt, daß Desgouttes, von jeher unge-
stümen und mit sich selbst entzweiten Wesens, zwischen
leichtsinnigen Ausschweifungen und schwermütigen Bereu-
ungen schwankend, zuletzt immer das unselige Mittel
der Selbstbetäubung durch starke Getränke ergriff. Die
Frage, wie der tugendhafte Jüngling Hemmeier eines
solchen Ungeheuers Freund sein konnte, wird dahin
beantwortet, daß auch sein Mörder, ungeachtet seiner
Leidenschaften und Verirr ungen, doch im Besitze von
Tugenden, die ihn liebenswürdig machen konnten, gewesen
sein mußte. Man kommt darin überein, den Verbrecher
nicht zu verdammen: weil böse Taten überhaupt nur aus
Irrtum oder Krankheit des Gemüts geschähen; Desgouttes
aber wurde durch eine unharmonische Entfaltung seiner
Natur zum Verbrechen hingejagt; er ward durch eine
wütende, alle Vernunft, alle Tugend zerstörende Leiden-
schaft, welche er nicht zur rechten Zeit meisterte und
welche ihn zum Wüstling machte, unglücklich und endlich
zum rasenden Mörder. Desgouttes „mußte nicht nur nach
dem Gesetz sterben, sondern er war auch strafbar.*
Holmar, der in Zschokke's Gespräch Hößli's Idee vertritt
und (S. 270) von sich selber gesteht, er wäre vielleicht
— G13 —
auch unglücklich geworden, wenn er als Jüngling den
mit unbestimmter Sehnsucht gesuchten Freund gefunden
hätte, steht mit seiner Auffassung allein: „In Griechen-
land wäre er vielleicht der großen Künstler, der Weisen
oder Vaterlandshelden einer geworden, durch die Freund-
schaft der Seelen, bei uns ward er dadurch Mörder und
die Gesetze führten ihn zum Rabenstein. Sein ganze*
Leben voller Widerspruch und Verirrung; sein Alles-
opfern für den Geliebten; sein ewiges Bemühen, diesen
zum vollkommensten, tugendhaftesten und edelsten Mann
zu bilden; sein Kampf mit sich und einer Leidenschaft^
die ihn irre an sich selbst machte; seine Anstrengungen,
Zerstreuung zu finden; sein geflissentliches Streben, sich
selbst mit geistigen Getränken zu betäuben; seine wieder-
holten Entschlüsse zum Selbstmord ; endlich die Ermord-
ung des Freundes — Alles erklärt sich aus seiner nicht
anerkannten Seelenberechtigung. tt
Und hören wir nun Hößli selbst, so sieht er in
Desgouttes „eine Natur, die in sich, in ihren Tiefen,
verborgnen Lebens wurzeln, uns unsichtbar, doch ewig
gewiß, alle jene Blumen und Kunstgestalten der griechi-
schen Muse des Eros, wie die Qualen und die Verworfen-
heit eines Desg. verbindet." (Eros II Seite 351) „er, der
Ermordete, war zwar ein Mörder, aber unsere Irridee hat
ihn zuerst zum verlornen und lasterhaften Menschen und
endlich dadurch zum Mörder gemacht; er hatte weder
eigentliches Dasein noch Leben mehr zu verlieren, darum
spielte er mit beiden fürchterlich . . .* (Eros II 213).
Die ganze Fürchterlichkeit solcher Wesen wie Desgouttes
erklärt Hößli für begründet durch moralische Zernichtung
in Folge ihrer völligen Verkennung und daher für not-
— 614 —
wendig und natürlich. Eine Bestätigung für die Richtig-
keit seiner Auffassung des Wesens Desgouttes' sieht er
in dessen Verhalten nach der Gefangennahme unter dem
suggestiven Einflüsse seiner Richter, besonders in der
rührenden Standrede. „Wenn ich," sagt Hößli (Eros I S.
61), „in Dr. J. F. Eisenhart's Rechtshändeln des achtzehn-
jährigen, am 10. Juni 1651 verbrannten Mädchens letzte
Worte im Briefe an ihre Mutter (sie war zu ihrer Zeit
ein sehr gebildetes Mädchen, gebildeter als Desgouttes
in der seinigen war) lese: „Aber ich habe nun Gnade
gefunden, dem Teufel abgesagt, mich zu meinem Jesu
begeben, bei dem will ich nun leben und sterben! Amen.
Amen**, so habe ich auch den armen unglückseligen
Desgouttes leibhaftig vor mir."
6, Herzog August der Glückliche
(1772—1822)
(mit 5 Textbildern).
KaXoV V7T€Q TO? Xfl.koV ÜVTfiXElV
(Im Genüsse des Schönen sterben ist schon)
Epigraph August des Glücklichen.
„ * . . er Trar eine so bimtschülerade
Erscheinung, dalt man mit wenig Worten
über ihn nicht aus kommt u
H. A. 0. Keichard 1877, 505.
Aemil Leopold August, der z weitgeborene Sohn
des Herzogs Ernst IL von Sachsen-Gotha und Alten bürg
mit der Herzogin Charlotte, der Tochter des Herzogs
Anton Ulrich von Sachsen - Meiningen , erblickte am
23. November 1772 in Gotha das Licht der Welt. Von
seinen drei Brüdern — Schwestern hatte er nicht —
— wurde der jüngst e, Ludwig, 1777 geboren, nur 6 Tage
alt und der älteste, der am 27. Februar 1770 geborene
Erbprinz Ernst, starb bereits im Alter von 9 Jahren
(November 1779). Die Erziehung der beiden übrig
gebliebenen jungen Prinzen, Augusts, der nun Erbprinz
war, und seines um 2 Jahre jüngeren Bruders Friedrich,
leitete anfangs der aus Stuttgart berufene Freiherr Joachim
Ernst von der Luhe und späterhin der waadtländische
Naturforscher Legationsrat Samuel Elisa von Bridel-
BriderL Da beide Knaben von zarter Gesundheit zu
sein schienen, so wurden sie von den besorgten Eltern zu
ihrer Kräftigung im Jahre 1788 nach Genf geschickt ;
— 616 —
hier erlernte der Erbprinz die Beherrschung der franzö-
sischen Sprache. Erst 1791 kehrten beide Prinzen nach
Gotha zurück. Daheim waren Vorlesungen des jenaischen
Professors Ulrich über Philosophie, des Geheimrats von
der Becke über Geschichte und über Staatsrecht des
deutschen Keicbs, des Archivars Welker über die vater-
ländische Geschichte bestimmt, der allgemeinen Bildung
der beiden Jünglinge den Abschluß zu geben. Alsdann
nahm der Erbprinz August an den Sitzungen des
Ministeriums teil, um mit den Regierungsgeschäften ver-
traut zu werden.
Noch nicht 25 Jahre alt, vermählte sich der Erb-
prinz August auf den Wunsch seines Vaters am 21.
Oktober 1797 mit der am 19. November 1779 geborenen
achtzehnjährigen Prinzessin Louise Charlotte von
Mecklenburg-Schwerin J), welche aber, nachdem sie dem
Gatten am 21. Dezember 1800 ein Töchterchen Louise
geschenkt hatte, schon am 4. Januar 1802 im Wochen-
bette verstarb. Schon ein und ein drittel Jahr später,
am 24. April 1801, ging der Erbprinz eine zweite Ehe
ein mit der ihm ziemlich gleich alterigen Karoline Amalie,
der jüngsten, am 11. Juli 1771 geborenen Tochter des
Landgrafen und späteren Churfürsten Wilhelm von
Hessen- Cassel, eine Ehe, welche kinderlos geblieben ist.
Nach dem Ableben seines Vaters Ernst II. am
20. April 1804 trat der Erbprinz, 31 Jahre alt, als
Herzog August die Regierung des Herzogtums Sachsen -
Gotha und Altenburg an; er hat sie in einer für ganz
Deutschland äußerst kritischen, durch die Schlacht bei
Jena genügend gekennzeichneten Zeit achtzehn Jahre
') Ueber die erste Gemahlin des Erbprinzen August, Louise
Charlotte, eine Tochter des nachmaligen Großherzogs Fr. Franz
von Mecklenburg-Schwerin mit der Prinzessin Auguste, Tochter
des Prinzen Johann August von Kode, äußert sich 1902 Katharina
von Bechtolsheim Seite 111—112.
— 617
hindurch glücklich geführt; „er hatte ein unerschütter-
liches Vertrauen auf sein Glück, wie er denn auch zu
sagen pflegte, daß, wenn er einen Beinamen führen
sollte, es der des Glücklichen sein müßte."1) „Klug be-
sorgt und umsichtig lavirte er, ohne seiner Würde etwa»
zu vergeben, durch die schwierigen politischen Ver-
hältnisse, die Deutschland einen andern Charakter gaben,
so daß Napoleon selbst ihn einen der geistvollem deutschen
Fürsten nannte." 2) Schnell und unerwartet starb der
Herzog, der niemals ernstlich krank gewesen war, noch
nicht volle 50 Jahre alt, am 17. Mai 1822 in Folge „einer
in den Körper geschlagenen Flechte"3) nach kurzem
Krankenlager und wurde auf der „Insel" im Park zu
Gotha neben seinem Vater und seinen im Tode ihm
vorausgegangenen beiden Brüdern beigesetzt.
Herzog Augusts zweite Gemahlin 4) überlebte den
Gatten sechsundzwanzig Jahre; sie starb am 22. Februar
1848 und wurde zu ihrem Gemahl auf der Parkinsel be-
stattet. Mit Augusts jüngerem Bruder Friedrich ö),
seinem Nachfolger in der Regierung des gothaischen
Landes als Friedrich IV., der unter der Wirkung eines
Gehirnpolypen nach kaum dreijähriger Regierung schon
am 11. Februar 1825 verstarb, erlosch sein Stamm.
Durch seine einzige Tochter Louise6), die spätere
*) Jacobs 1822, Seite 499—500; Beck I 1868, Seite 431.
2) v. Weber 1 1864, Seite 322. — 3) Beck 1875 Seite 683.
4) Ueber Augusts zweite Gemahlin, Karoline Amalie, äußert
sich Louise Seidler 1874 Seite 86 und Katharina von Bechtolsheim
1902 Seite 112.
6) Sein liebenswürdiges Wesen hebt v. Weber I 1864 S. 374
hervor und sein schreckliches Leiden schildert H. A. 0. Reichard
1877 Seite 510—514.
6) Nach Galletti V 1824 S. 26 hieß sie Dorothee Louise, nach
Beck I 1868 S. 430 Louise Pauline Friederike Charlotte Auguste;
über sie handelt Louise Seidler 1874 S. 86—88, welche mit ihr be-
kannt wurde zur Zeit, als sie noch Herzogin von Coburg war.
— 618 —
Gemahlin des Herzogs Ernst von Sachsen - Coburg-
Saalfeld, deren zweiter Sohn, Albert, Prinzgemahl der
britannischen Königin Viktoria wurde, ist Aemil Leopold
August Urgroßvater des gegenwärtig regierenden Königs
von England, Eduard VII.
Aemil Leopold August machte als Herzog einen
Unterschied zwischen seinen Taufnamen Aemil und August;
seines Rufnamens August bediente er sich als Regent und
in Geschaftssaehen, den Namen Aemil, den er seinem
Paten Friedrich dem Großen folgend und diesem zum
Andenken Emile schrieb, gebrauchte er als Mensch im
freundschaftlichen Verkehre und in seinen Briefen.1)
Diese Doppelnamigkeit war nicht eine leere Spielerei,
sondern von tieferer Bedeutung und dem Herzoge,
dem das rein Menschliche hoch galt, ein inneres
Bedürfnis; er selbst versicherte, als er das Gesuch
einer sehr geliebten Person nicht erfüllen konnte, auf
den durch seine Unterschrift bezeichneten Unterschied
des Fürsten und Freundes verweisend, als August nicht
erfüllen zu können, was er als Aemil gern gewünscht
hätte.2) Es läge daher nahe und ist auch vorgeschlagen
worden, in einer Lebensbeschreibung des Herzogs seine
Namen Aemil und August zur Inhaltsbezeichnung ihrer
zwei Hauptabteilungen zu verwenden.8) Es kann indessen
hier der Ort nicht sein, den Regenten August zu schildern;
vortreffliche Charakteristiken desselben haben von
Wüstemann, Eichstädt und diesen folgend von Lupin auf
Illerfeld, ferner Galletti, Beck und der geheime Kriegsrat
H. A. O. Reichard entworfen. Die Behauptung, um die
Regierung seines Landes habe sich Herzog August wenig
') von Wtistemann 1823 Seite 7.
2) von Wüstemann 1823 Seite 7—8.
*) von Wüsteinann 1823 Seite 8.
J
— 619 —
gekümmert, er habe sie lediglich seinen trefflichen
Ministern überlassen1), deckt sich weder mit dem Hinweise
auf „oft sehr bedenkliche Regierungs-Geschäfte" des
Herzogs2), noch mit der bestimmten Angabe, daß viele
Aenderungen seiner Regierung aus seinem Geist hervor-
gegangen sind8), noch mit der Versicherung, daß er die
Regierungsgeschäfte, die er mild und gerecht führte, bis
zu seinem Ende ohne Aufschub erledigte.4) Als Regenten-
Tugenden des Herzogs August werden hervorgehoben
sein ausgesprochener und unbeugsamer Sinn für Recht
und Billigkeit5), welcher ihn nicht nur hinderte, jemals
den Lauf eines gerichtlichen Verfahrens zu hemmen6),
sondern auch dahin führte, daß aus seiner Regierungs-
zeit nicht ein einziger Gewaltstreich, nicht eine einzige
vorsätzliche Ungerechtigkeit zu berichten ist.7) Der
Herzog ehrte Anhänglichkeit8), aber er besaß auch
selbst diese Tugend und harrte in schwerer Zeit bei
seinem Volke aus ohne Furcht um seine Person.9) Er
war ein eifriger Wohltäter seines Landes10) und trug
Sorge für die Verschönerung seiner Residenzstadt.11)
Jedermann aus seinem Volke stand der Zutritt zu ihm
offen.12) Auch liebte er das Volk und ganz besonders
seine Altenburger Bauern, die er seine „Renibrandts" zu
nennen pflegte.13) Als er im Februar 1819 zum Landtage
in Altenburg weilte, erschien er auf einem am 2. Februar
von der vereinten Kasino- und Ballgesellschaft im Gast-
hofe zum Hirschen veranstalteten Maskenballe in der Tracht
eines Altenburger Bauern, begleitet von der Frau Hofrat
*) Louise Seidler 1874 Seite 94. — *) GaUetti V 1824 Seite 42.
— 3) von Wüstemann [Geh. Kanzleisekretär] 1823 Seite 20. —
4) Jacobs VII 1840 Seite 177—178. — 6) Reichard 1877 Seite 483.
— 6) Derselbe Seite 490. — 7) Derselbe Seite 482—483. — 8) Der-
selbe Seite 482. — 9) Derselbe Seite 484 ; Jakobs VII 1840 Seite 178.
— 10) Reichard 1877 Seite 484. — ") Derselbe Seite 484. —
12) Derselbe Seite 479 — 13) G. bei Hennings 1832 Seite 27.
— 620 —
Pierer als seiner Bäuerin; er hatte, anstatt einen Hof-
schneider mit der Anfertigung eines solchen Bauern-
anzuges für sich zu betrauen, das Festkleid, welches er
trug, von dem Bauern Michael Pohle entliehen und stiftete
diesem dann für seine Gefälligkeit einen silbernen Becher
mit der Inschrift: „Ehret der Väter Sitte und ihre
Tracht* Erst nach 11 Uhr hat er den Ball, auf dem er
sich zwanglos bewegte, verlassen. Aus Dankbarkeit
brachten die Altenburger Bauern dem Herzoglichen Paare
durch acht Deputierte, je vier Männer und Frauen, im
März 1819 als Geschenk die vollständige Tracht eines
Bauern und einer Bäuerin, welche der Herzog und die
Herzogin mit Hülfe der Deputierten anlegten; bei diesem
Anlasse äußerte launig der Herzog, er werde nun endlich
so glücklich sein, die Waden seiner Frau zu sehen, die
er noch nie zu sehen gekriegt habe.1)
Bei so großen Tugenden bestanden die Regenten-
Schwächen des Herzogs hauptsächlich darin, daß er
Geldeswert nicht kannte2) und eine allzugroße Liebe zu
äußerm Prunke besaß8), welche ihn zu unnötigem Auf-
wand trieb.4) Auch herrschte am Hofe eine Günstlings-
wirtschaft5); diese ging aber nie so weit, daß es möglich
gewesen wäre, den Herzog lange zu täuschen.6) „Nie-
mand besaß außer dem ihm angewiesenen Wirkungskreise
eine fremdartige Einwirkung; jeder Versuch, sie zu er-
langen, hätte sofortige Abfertigung oder (ging eine Er-
örterung vorher) nachher eine desto beschämendere zu
erwarten gehabt. Anmaßung und Unrechtlichkeit fanden
an ihm einen entschiedenen und offenen Feind."7)
J) Hempel 1819 besonders Seite 23—24; 35—36; 53—54; 65;
67; 79 und 83. — 8) Reichard 1877 Seite 486. — 8) Derselbe Seite
491. — 4) Derselbe Seite 484—485. — 5) Derselbe Seite 486—487.
— 6) von Wtistemann 1823 Seite 9. — 7) von Wüstemann 1823
Seite 14.
— 621 —
Die Persönlichkeit des Herzogs als Mensch mit
wenigen Strichen zu zeichnen, ist eine Unmöglichkeit; nur
allzu leicht wird er dem, der ihn nicht begreift, zur
Karikatur1) . . „er war eine so buntschillernde Er-
scheinung, daß man mit wenig Worten über ihn nicht
auskommt/2)
„Einer der geistvollsten Fürsten, die ich kenne**3)
— „ein Fürst, der zu den merkwürdigsten Erscheinungen
unserer Zeit gehört*4) — »von unbezweifelbarer
Genialität, mit Excentricität gemischt**5) — alles dieses
sagt zwar mit wenigen Worten viel, erschöpft aber die
Eigenart des Mannes bei weitem nicht; mehr enthalten
schon die Epitheta: „geistreich und edel**6) oder „Große
Klugheit, kein bösartiges Herz, aber beißender Witz,
dabei Gefühl für Edelmuth — das waren allerdings die
Grundzüge seines Charakters.**7)
Im Wesen des Herzogs August flößen zwei an-
scheinende Gegensätze zu einem nicht unharmonischen
Ganzen zusammen; das waren gewinnende Liebenswürdig-
keit und beißender Witz. Seine Liebenswürdigkeit konnte
bezaubern8); aber seine Satire schonte niemanden; bald
wirkte sie verblüffend, bald verletzend ; aber den, welchen
er beleidigte, versöhnte er durch Huldbeweise.9) Seine
beißenden Epigramme, Rätsel, Wortspiele und Witzworte,
die fast alle den Stempel plötzlicher Eingebung tragen,
so daß Jean Paul Friedrich Richter ihn ohne Schmeichelei
den „witzigsten Fürsten*1 nennen konnte10), wurden meist
l) So nennt ihn Louise Seidler 1874 Seite 88 einfach „dieses
größte Original seiner Zeit.** — 2) H. A. 0. Reichard 1877 Seite 505.
— *) Napoleon I. bei von Weber 1864 Seite 321; 322; G. bei
Hennings 1832 Seite 27. — 4) Jacobs VI 1837 (1828) Seite 456. —
*) von Weber I 1864 Seite 373. — 6) H. A. 0. Reichard 1877 Seite
505. — 7) Derselbe Seite 482. — 8) wie sie den Komponisten Carl
Maria von Weber bezauberte; von Weber I 1864 Seite 325. —
*) von Weber I 1864 Seite 323. — 10) Richter 1805 Seite 14.
— G22 —
bei Tische laut vorgebracht, durch die umstehenden
Diener weiter verbreitet und bisweilen zum Stadtgespräche.
„Die Vornehmen fürchteten daher diese «Satyre des
Herzogs, weil sie oft wunde Flecke traf, und so wurde
manche Schlechtigkeit verhütet. Man scheute sich mehr
vor dem Herzog August und seinem Spott, als vor dem
würdigen Ernste seines trefflichen Vaters, der es höchstens
bei einem stummen Achselzucken bewenden ließ, wenn
es ihm zu arg wurde/1)
Leider sind die Scherze des Herzogs August nicht
gesammelt worden; immerhin wurde genug zur Charakter-
istik ihres Schöpfers durch den Druck bekannt2); nur
einige wenige für die Eigenart des Herzogs besonders
typische, aus Werken entnommen, in denen man sie kaum
vermutet, mögen hier Platz finden. Dem Kammerherrn
Ernst Ludwig Karl von Seebach, einem höchst achtungs-
werten Herrn von wenig gesellschaftlichen Talenten, der
neben ihm bei Tische saß, gab der Herzog das leicht zu
erratende Rätsel auf: „Was ist das? Die erste Silbe ist
ein großes Wasser, die zweite ist ein kleines Wasser —
das Ganze aber ist doch unbeschreiblich trocken.*8) —
Auf einem Masken balle bemerkte der Herzog, wie ein
junger Kaufmann namens Tröbsdorf, den er unter der
Verkleidung erkannt hatte, einer weiblichen Maske stark
den Hof machte; der Herzog trat auf ihn zu, klopfte
ihm vertraulich auf die Schulter und sagte laut: „Tröbs-
dorf mit der Elle — verliebt sich schnelle!" Der An-
x) Reichard 1877 Seite 483—484. Derselbe sagt Seite 501 :
„Diese Spiele des Witzes zu sammeln, wäre ein verdienstliches
Werk" . . .
*) In der am Schluß aufgeführten Literatur sind deren etwa 30
enthalten; sie finden sich bei Appun, Beck (I 1868 Seite 449—451),
Förster (III 1847 Seite 787 ; IV 1854 Seite 334), G.. bei Hennings
(1832 Seite 25—27), Reichard (1877 Seite 483; 495; 500—505),
Louise Seidler (1874 Seite 90—91) und von Weber (I 1864 Seite 323).
8) „Anekdote" 1805; Louise Seidler 1874 Seite 91.
— 623 —
geredete, welcher sein Gegenüber sofort erkannte, ant-
wortete mit großer Geistesgegenwart : „Ich führe meine
Elle mit Verstand — das Scepter ruht in August'*
Hand!" Weit entfernt, „dergleichen gegen ihn gerichtete
Sarkasmen" übel aufzunehmen, ergötzte sich der Herzog
darüber im Gegenteil außerordentlich; eine passende Ent-
gegnung imponierte ihm; auch konnte er über eine solche
aus vollem Halse lachen1); Freimut und geistreiche
Lebendigkeit sprachen ihn an.2) — Eines Tages erschien
er bei einer festlichen Gelegenheit im Kreise des ver-
sammelten großen Hofstaates und sprach mit jedem der
Anwesenden außerordentlich freundlich einige Worte, die
indes auch jeden ein sehr verdutztes Gesicht machen
ließen. Als man sich nach der Feier eifrig fragte: „ Was
hat der Herzog zu Ihnen gesagt?", äußerte der Erster
„ Wunderbar! mir sagte er höchst liebenswürdig: „Eins!
zwei! drei!*. «Und mir", sagte der Nächste, „rief er
höchst herablassend in's Ohr: „Vier! fünf! sechs !"j und
so hatte der Herzog, statt des ebenso wenig sagenden
Courgesprächs, zählend seinen fürstlichen Cercle gemacht.8}
Goethe teilt 1 808 4) von ihm mit: „Ich habe mich nicht
über ihn zu beklagen; aber es war immer ängstlich, eine
Einladung zu seiner Tafel anzunehmen, weil man nicht
voraussehen konnte, welchen der Ehrengäste er schonungs-
los zu behandeln zufällig geneigt sein möchte*. Und der
Herzog fragte eines Tages die aus Weimar gebürtige
Malerin Louise Seidler: „Was macht Euer Kunstpapst?"
Damit meinte er Goethe5). Auch nannte er Goethe einen
„Pedanten "6).
*) Louise Seidler 1874 Seite 91. — Sonderbar klingt gegenüber
diesem „Lachen ans vollem Halse" Jacobs' Versicherung (VII 1840
Seite 177): „Sein Geist schien immer in Bewegung. Ich habe ihn
nie gähnen, aber auch nie von Herzen lachen gesehnu. — a) Reichard
1877 Seite 382. — 8) von Weber I 1864 Seite 323. — 4) J. W.
von Goethe (1808) 27. Teil Seite 181 n. 695. — B) Louise Seidler
1874 Seite 90. — 6) Beck I 1868 Seite 448.
— 624 —
Des Herzogs weiches, gefühlvolles Herz erfreute gern
andere; er war von so wohltätiger Sinnesart, daß ihm
nichts größere Freude bereiten konnte, als Geschenke zu
geben, worin seine Freigebigkeit keine Grenzen kannte1);
daß die Wahl seiner Geschenke bisweilen recht un-
zweckmäßig ausfiel, so wenn er einem Küchenjungen eine
astronomische Uhr schenkte, den Frauen kleiner Beamten
mit Blumenguirlanden gezierte seidene Schleppkleider an-
fertigen ließ9) oder aus Dankbarkeit kleine Gegenstände,
«inen Fächer8), Ringelchen und dergl. fortgab, die für
jeden anderen, als einen Liebhaber wie er selbst,
wertlose Dinge waren4), kann seiner wohlwollenden Ge-
sinnung keinen Abbruch tun, da diese Geschenke für ihn
großen Wert besaßen und er sich dennoch ihrer ent-
äußerte, und konnte auch überdies in jedem Falle seinen
ganz besonderen Grund haben. Diese Freigebigkeit war
weit entfernt, eine Schwäche zu sein, da der Herzog An-
maßungen auch seiner Begünstigten scharf zurückzuweisen
pflegte5). Eine ganz besondere Leidenschaft, welche viel-
leicht seiner Liebe zu Kindern entsprang, hatte er für
das Gevatterstehen : er bot sich selbst als Paten an, gleich-
viel, ob es sich um das Kind einer vornehmen Familie
oder um das eines Lakaien handelte0). Er anerkannte Ver-
dienste jeder Art, ermunterte Talente, unterstützte die Armut
aus seinen Handgeldern und begünstigte überall nicht die
Aristokratie der Geburt, vielmehr mit sichtlicher Vor-
liebe die des Wissens, des Könnens und der Bildung.7)
Des Herzogs Schwächen als Mensch bestanden gegen-
über allen diesen Vorzügen namentlich in grenzenloser
*) Beck I 1868 Seite 446; Louise Seidler 1874 Seite 89. —
•) Louise Seidler 1874 Seite 89. — 3) Dem Oberbibliothekar Rat
Viüpius-Weimar nach G. bei Hennings 1832 Seite 27 ; von Weber I
1864 Seite 323. — 4) von Weber I 1864 Seite 374. — •) G. bei
Hennings 1832 Seite 27; Beck 11868 Seite 446. — 6) Reichard 1877
JSeitc 500. — 7) Hempel 1819 Seite 83.
— 625
Eitelkeit1), Geneigtheit zum Zorn2), Neigung zur Reizbar-
keit8), Mangel an Geduld4), völligem Mangel an Ver-
ständnis für Geldsachen5) und daraus hervorgehender
Verschwendungssucht6). Es fehlte ihm, der viele seiner
Günstlinge verachtete, an einem von ihm geprüften, an-
erkannten und aufrichtigen Freunde, dessen ernste Vor-
stellungen seinem hellen Verstände eine würdigere Rich-
tung gegeben haben würden; Beweis dafür ist, daß er in
seinem reiferen Alter manche Auswüchse aus eigener
Ueberlegung beseitigte7).
Lässiger Bequemlichkeit ergab der Herzog sich allzu-
gern. Gegen Abhärtungen des Leibes besaß er starke
Abneigung. Ritterliche und militärische Uebungen, Reiten,
Jagen, Schießen waren ihm zuwider8). Die einzige Be-
wegung, welche ihm behagte, war der Tanz, dem er sich
mit Anmut und Grazie hingab; um die Tanzlust zu för-
dern, besuchte er auch Tanzvereine der höhern Stände
seiner Residenzstadt Gotha9). In den späteren Jahren
Jag er viel zu Bett und erhob sich erst zur Zeit der
Mittagstafel; im Bette liegend, mit Ringen geschmückt,
empfing er Besuche, auch seinen Ministerrat und die
Gesandten, hier diktierte er seine
Worte gebrachten Phantasieen10).
Lebensweise sich zu binden,
Jtfatur11).
Den Herzog beherrschte eine Prachtliebe, die er nur
schwer zu zügeln vermochte. Die Einrichtung seiner
Briefe und seine in
An eine geregelte
widerstrebte seiner
*) Reichard 1877 Seite 485; 486; 491—492. — 2) G. bei Hennings
1832 Seite 4. — 3) Beck 1 1868 Seite 447. — 4) G. bei Hennings
1832 Seite 4. — 5) G. bei Hennings 1832 Seite 26; Beck I 1868
Seite 447.— 6) Louise Seidler 1874 Seite 89—90. — 7) Reichard 1877
Seite 485. - 8) Beck I 1868 Seite 446—447. — 9) Eichstädt 1823
Seite 21—22; 1849 Seite 54; Galletti V 1824 Seite 41—42; Beck I
1868 Seite 447. — 10) Beck I 1868 Seite 447; Reichard 1877 Seite
494. — ii) Jacobs VII 1840 Seite 177.
Jahrbuch V. 40
— 626 —
Gemächer1), der Glanz des Hofes8), die zahlreichen
Stellen seines Hausstaais, welche er neu geschaffen hat8),
legen dafür Zeugnis ab; doch wird anerkannt, daß er
begründeten Vorstellungen, wie der des alten Obergärtners
Wehmeyer, der an der Ueberzahl der kostspielig zu
unterhaltenden Kieswege Anstoß nahm, obwohl er sich
anfangs solchen gegenüber ablehnend verhielt, in der Folge
doch sich zugänglich zeigte4); dagegen versagte sich der
Herzog ohne Schwierigkeit den Aufwand für Reisen in
entfernte Länder, für Jagden, für Theater, für Spiel und
für kostspielige Liebschaften mit Frauen0).
Herzog August gehörte der lutherischen Kirche anr
doch zeigte er eine ausgesprochene Vorliebe für [den
römisch-katholischen Kultus, „vielleicht nur, weil ihm
dieser die Farben darbot, deren er zu seinen Gemälden
bedurfte"6); er trat aber nicht, wie sein unglücklicher
Bruder und Nachfolger Friedrich, zur katholischen Kirche
über, nahm vielmehr wie sonst alljährlich auch auf seinem
Sterbebette das Abendmahl nach lutherischem ^Ritus7),
Lebhaftes Interesse gab er auch für die (indischen
Religionslehren kund8).
Seine politische Auffassung war der der Mehrzahl
seiner deutschen Zeitgenossen entgegengesetzt; er verehrte
schwärmerisch Napoleon; der Umschwung der Verhält-
') Beck I 1868 Seite 442— 444; Louise Seidler 1874 Seite 98
bis 94. Beschreibung des Fliederzimmers bei Appun X 1900. —
2) Reichard 1877 Seite 492. — 8) Galletti V 1824 Seite 42. —
4) Reichard 1877 Seite 484. — *) Galletti V 1824 Seite 46— 47/J— -
6) Jacobs VII 1840 Seite 177. — 7) Beck 1 1868 Seite 447—448. Nach:
Reichard 1877 Seite 505 verlangte er das Abendmahl von dem.
greisen Oberbofprediger Schäffer, der als Kanzelredner den auf iha
gesetzten Hoffnungen nicht entsprochen hatte, nur um ihn nicht zu
kränken, mit der Begründung: „Ich schätze den Mann, denn er
glaubt, was er lehrt." — 8) Louise Seidler 1874 Seite 160;.
186-187.
627
nisse im Jahre 1813, dem er sich klug unterwarf, berührte
ihn nicht angenehm1).
Dem Herzog August war ein so hochgradiger
Sammeltrieb eigen? daß er sein eigenes und ein geerbtes
enormes Vermögen durch Ankauf von Raritäten aller Art
verschwendete3); der Sammelgeist d er säch s i sc h en F ürs t e n
war auf ihn Übergegangen; seine Wohnräume und sein
Schlafzimmer bargen reiche Galerieen von Seltenheiten
und Merkwürdigkeiten aus allen Gebieten der Natur, der
Kunst und der Literatur bunt durcheinander; so kam
unter anderem die Seetzen*sche (asiatische) Sammlung und
das auch jetzt noch bedeutende chinesische Kabinett des
Herzogs zu Stande3). Wenn Alex, von Stern berg sagt:
Herzog August war in China mehr zu Hause als auf dem
Friedensteine 4\ so ist das indes wohl nur eine von den
vielen in Bezug auf diesen Herzog beliebten Übertreib-
ungen.
Die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft, die
Unterhaltung mit durch Kenntnisse, Genie oder Bildung
ausgezeichneten Männern und literarisch gebildeten geist-
reichen Frauen zog Herzog August den gewöhnlichen
Hof Versammlungen vor5). Er selbst war mannigfach be-
gabt. Er hatte nicht griechisch gelernt, wahrend sein
Vater den Homer in der Ursprache lesen konnte, und
auch von den neueren Sprachen beherrschte er nur die
französische gut und sprach sie gern ; erst nach und
nach wurden auch seine wissenschaftlichen Neigungen
ernster6); der Grundzug seines Wesens war eben ein
künstlerischer. Der Witter'schen S ch au spiel er ges ellschaft
räumte er mehrere Jahre hindurch sein Hoftheater ein,
') Beck 11868 S. 447. — *) Louise Seidler 1874 Seite 89, —
■) Reichard 1877 Seite 496—499. — *} nach Beck 1 1868 Seite 445; wo
v. Steraberg- dieaen Anspruch getan, ist mir verborgen geblieben;
Beck gibt es nicht an. — "*) Galletti V 1824 Seite 41. — a) Jacobs
VI 1837 (1828) Seite 484; Reichard 1877 Seite 493—494.
40*
— 628 —
erteilte aber hernach der Feuersgefahr wegen die Er-
laubnis nicht mehr1). Viel beschäftigte ihn das Zeichnen;
er war Meister im Entwerfen und Ausführen besonders
landschaftlicher Gegenstände durch flüchtige Federzeich-
nung2). Kunstwerke der Architektur auszusinnen, war
eine seiner liebsten Beschäftigungen; nach seinen Angaben
entwarf ein talentvoller gothaischer Architekt viele Risse
von Bauwerken, in denen sich die reiche Phantasie oder
der richtige Geschmack ihres Erfinders zeigt. Während
er diktierte, zeichnete er oft mit der Feder oder dem Bleistift,
um durch reiche, sinnvoll angelegte Landschaften, meist
Inseln, seine Besitzungen, wie er scherzte, zu vermehren ;
auch gelangen ihm Karikaturzeichnungen gut9); in den
Federzeichnungen kleiner Landschaften gelang ihm be-
sonders der Baumschlag4). Der Kandelaber auf der
Höhe von Altenbergen wurde 1811 nach dem Entwürfe
des Herzogs August errichtet5); mit der Ausführung
seiner Ideen konnte er den Maler Joseph Grassi6) vollauf
beschäftigen. Nicht minder lebhaftes Interesse wandte
er der Tonkunst zu, wenn auch zu tieferem Eindringen
und beharrlichem Fleiße seine Natur nicht neigte. Mit
Hülfe seines Kapellmeisters Louis Spohr und nach dessen
Fortgang Andreas Romberg's setzte der Herzog selbst
Lieder und Sonaten auf7). Einige seiner Gedichte wurden
durch Kompositionen von Himmel und Carl Maria von
») Galetti V 1824 Seite 41. — a) G. bei Hennings 1832
Seite 15 nota*). — 8) Jacobs 1822 Seite 502; nach diesem von
Lupin auf IUerfeld 1826 Seite 74; Beck I 1868 Seite 443. —
4) Reichard 1877 Seite 493 und 494. — 6) Appun 1900. —
e) Ueber den Maler Professor Joseph Grassi 1756—1838, gebürtig
aus üdine, handeln Galletti V 1824 Seite 40; v. Sternberg 1857
Seite 94; Beck I 1868 Seite 445; Louise Seidler 1874 Seite 249.
— i) Jacobs 1822 Seite 502; VI 1837(1823) Seite 465—466; Galletti
V 1824; von Lupin 1826 Seite 74; von Weber I 1864 Seite 321;
326; 373— 374; 381; Beck 1 1868 Seite 440; 442; Reichard 1877 Seite
494-495.
— 629 —
Weber dem weiteren Publikum bekannt7). Den größten
Teil seinerzeit aber nahmen sein ausgedehnter Briefwechsel
und seine phautasiereiche schriftstellerische Tätigkeit in
Anspruch; lebte er doch in seiner Phantasie wie in der
Wirklichkeit; besaß er doch eine di vi notorische Kraft oder
glaubte wenigstens an eine solche in sich und überredete
sieb gern, daß auch seine Träume der Abdruck des
Wirklichen wären-). Bei seiner Schriftstellerei kam ihm
sein phänomenales Gedächtnis zu Statten3), Seine Schrift^
stellerei selbst aber, ebenso des Herzogs ausgesprochene
Weiblichkeit erheischen an dieser Stelle je ein besonderes
Kapitel,
Diese allgemeine Schilderung des Wesens des Herzogs
August beschließt wohl am besten eine auf manchen seiner
Porträts in Kupferstichen befindliche recht passende Unter-
schrift :
„Beschützer des Rechts, von den Musen geliebt und
der Grazien Zögling*'*).
Des Herzogs Weiblichkeit
Alle Nachrichten über den Herzog August stimmen in
einem Punkte, der für die Beurteilung seiner Geschleehts-
natur von wesentlicher Bedeutung ist, überein: „Daß
ungeachtet des hohen Wuchses und der regelmäßigen
schönen Formen seines Körpers eine fast weibliche Weich-
heit bemerkt werden konnte"5) . . , . „Schlank und von
hohem Wüchse, hätte er ini Bau der Brust, der Hüften
und Arme ein schönes Modell des Bacchus gegeben, die
Umrisse seiner Glieder waren leicht und fließend; Hände
und Füße vorzüglich schön; die Haltung des Körpers
*) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 4Ö5; Beck 1 1868 Seite 440.
— a) Jacobe 1822 Seite 502. — 5) Derselbe 1822 Seite 502. —
*) Appun IdOO, — a) Beck J 2868 Seite m
— 630 —
zum weiblichen hingeneigt*3) .... „Obgleich sich sein
Teint und die Bildung seines Körpers zur weiblichen
Natur neigte, konnte er, bei seinem hohen Wuchs im
richtigsten Ebenmaaße, für einen schönen Mann gelten **).
Lassen wir von den Personen, welche auf Grund
engerer persönlicher Berührung mit Aemil August wirklich
Beobachtetes über ihn berichten konnten, zuerst die
Frauen zu Worte kommen, so haben die Malerin Louise
Seidler und die Hofdame Katharina Bueil (spätere von
Bechtolsheim) ihn schon kennen gelernt, als er noch Erb-
prinz war. Die Seidler, eine Weimarerin, teilt mit, daß
der „phantastische Erbprinz" im Hause ihrer Tante Et-
tinger in Gotha verkehrte und auch nicht fortblieb, als
er den Thron bestiegen8), daß er nach einem Hofballe seine
sämtlichen Tänzerinnen mit Pariser Blumen fürstlich be-
schenkte4); seine zweite Gemahlin habe ihn, dessen Geist
sie anstaunte, schwärmerisch geliebt5); und sie schildert
den Herzog mit folgenden Worten: „Dieses größte Ori-
ginal seinerZeit war schön von Gestalt; seine Erscheinung
hatte etwas Damenhaftes, besonders wohlgeformt waren
seine sorgfältig gepflegten Hände und seine Füße. Auch
der Kopf wäre schön gewesen, hätte ihn nicht ein schie-
lendes Auge verunstaltet. Barock in Allem, was er that,
liebte er es, bisweilen mit einem türkischen Shawl drapirt
oder in noch phantastischeren Costümen zu erscheinen.
Gewöhnlich trug er eine ä la Titus gelockte Perücke
vom zartesten Blond, die in Paris verfertigt war. Der
Herzogliche Bibliothekar und Sekretär, mein guter Onkel
Jacobs, berühmt als gelehrter Philolog, mußte zu seinem
größten Kummer sehr oft wegen dieser Perücke mit
pariser Friseuren correspondiren. Des Herzogs Finger
— die Daumen ungerechnet — strotzten von kostbaren
*) Jacobs 1822 Seite 497; wörtlich aufgenommen von Lnpin
auf IUerfeld 1826 Seite 70. — a) G. bei Hennings 1832 Seite 8.
— 8) Louise Seidler 1874 Seite 32. — *) Dieselbe Seite 33. —
*) Dieselbe Seite 86.
=j
Aemil August als Erbprinz
(nach einem Oelgemälde von Jos. Grassi).
— 632 —
Bingen, die Arme von Spangen und Armbändern. Oft,
wenn er sich einbildete, krank zu sein, blieb er Wochen
lang im Bette liegen. Dort ertheilte er Audienzen und
empfing seine Damen. Als ich mit meiner Tante mich
einst nach seinem Befinden erkundigte, nahm er auch
unsern Besuch in seinem Bette liegend an. Während des
Gespräches streifte er den Aermel seines weiten weißen
Nachtgewandes kokett bis an die Schulter zurück und
zeigte uns den mit einer ganzen Reihe der prachtvollsten
Armbänder geschmückten Arm. Den Kopf bedeckte eine
Art Haube, mit kostbaren Spitzen garnirt. Großen Werth
legte er auf die Toilette der Frauen, welche er mit
Kennerblick musterte; mit seinen Bemerkungen darüber
hielt er nicht zurück; „das ist ja ein wahres Pfauenkleid",
sagte er, als ich einst in einem Gewände von buntem
Seidenstoff erschien; bei einer anderen Gelegenheit rief
er aus: „ Welch ein schöner, feiner Sammt!" und strich
mit der Hand über meinen Rock. Parfüms aus Paris
verbrauchte er in Menge; ein besonderes Vergnügen fand
er darin, Eintretenden ganze Gläser davon entgegen zu
schütten/1) „Uebertrieben eitel, wie Herzog August war,
hatte er die Eigenheit, sich von allen Malern, die nach
Gotha kamen, portraitiren zu lassen, um zu sehen, wie
jeder ihn auffasse. Ich hatte ihn zu malen in einem
violetten Sammetrock und einer Weste von Goldstoff.
Von dieser Weste erbat ich mir eine kleine Probe, um
den Stoff richtig nachzuahmen. „Nein!*, sagte er, „keine
Probe, sondern ein ganzes Stück von der Goldtresse
sollen Sie haben." Wollte Jemand seine Freigebigkeit
abwehren, so verdoppelte er sie; ich weiß dies aus eigener
Erfahrung. Bisweilen genoß ich den Vorzug, mit ihm
und seinem Kammerherrn allein zu speisen; nach der
Tafel ging der Herzog auf und nieder und ließ sich von
') Louise Seidler 1874 Seite 88—89.
— 633 —
mir erzählen oder er that in seiner originellen Art allerlei
Fragen."1) Das von der Seidler entworfene Bild des
Herzogs vervollständigt der folgende Zug: „Excellenz
von Thtimmel, der vormalige Minister, war ein schöner,
origineller, geistreicher Mann, von dem die geheime Ge-
schichte berichtet, daß er sich die Gunst der damaligen
Erbprinzessin von Gotha, gebornen Prinzeß von Mecklen-
burg, erworben, deren weibischer Gemahl — der wunder-
liche Herzog August — dem Lande keinen Erben ver-
hieß.u2) . . Katharina Freifrau von Bechtolsheim, geborene
Gräfin Bueil, etwa 15 Jahre jünger als der Herzog
August und Hofdame seiner zweiten Gemahlin, äußert
sich über diesen also: „An einem der Tage, die Frau
von Stael bei uns zubrachte, wobei sie von Benjamin
Consta nt begleitet wurde, kam auch Herzog August
von Gotha, um ihre Bekanntschaft zu machen, noch ehe
sie an seinem Hofe erschien. Was soll ich von diesem
seltsamen Manne sagen, der, von Phantasie, Witz und
Geistesfülle strotzend, der verkehrteste Kopf war, den
ich je gesehen? — Von meinen Kinderjahren an von
ihm mit zuvorkommender Güte überhäuft und bald nach
jener Zeit, hauptsächlich durch ihn, zur Hofdame seiner
Frau erwählt, begegnete er mir von Neuem auf das
Freundlichste. Gern las er mir und noch einigen Damen
seine Gedichte und Romanzen vor. Trotz aller Güte und
Zuvorkommenheit, die er mir beständig und bei jeder
Gelegenheit bewies, konnte ich ihm jedoch nicht nur
l) Louise Seidler 1874 S. 90. — 2) Dieselbe S. 161. Und S. 86—87
sagt die Seidler mit Bezug auf die einzige Tochter des Herzogs,
Louise: „Auch die sarkastische Art des Herzogs hatte sicherlich
keine gute Wirkung auf das junge, leicht empfängliche Gemüth:
einmal hörte ich selber bei einem Souper im engeren Kreise des
Hofes, zu welchem ich mit meinen Tanten eingeladen war (die
Herzogin war nicht anwesend), was für unpassende Neckereien der
Vater sich gegen seine Tochter erlaubte." Leider verschweigt die
Seidler, welcher Art diese Neckereien waren.
— 634 —
keinen Geschmack abgewinnen, sondern fühlte mich sogar
im grellsten Gegensatz zu seinem ganzen Wesen und
seinen phantastischen Anschauungen. Wie auf glühenden
Kohlen befand ich mich, wenn er mir dieselben im Feuer
der Bede auseinandersetzte, fast noch mehr als da er sie
vorlas. Ich konnte in meinem damaligen Alter viel
weniger als späterhin verbergen, was ich dachte und
fühlte, begreife daher nicht, daß ich ihm nicht bald
ebenso unerträglich wurde, als er es mir gewesen. Ob
ihn davon bisweilen etwas anwandelte, weiß ich nioht,
jedenfalls konnte ich es nicht bemerken; sehr wunderte
ich mich, als er sich einstmals mit einer geistvollen
jungen Person, der Tochter des Dichters Gott er und
Schwester der Frau von Schelling, verabredete, mich
in einem Sonett zu besingen, das sie mir, zugleich mit
dem ihrigen, zeigte. — Herzog August traf mit Frau von
Stael bei uns gerade an einem Tage zusammen, an dem
sein phantastischer Kopf übersprudelte; die beiden konnten
über keinen Gegenstand einig werden. Ohne eigentlich
interessant zu sein, war das Gespräch in seiner Art
merkwürdig, ich fand es sogar ermüdend und wünschte
ihn in meinem Herzen weit hinweg, worin mir aber nicht
gewillfahrt wurde, und es dauerte übermäßig lange, bis
er uns verließ."1)
Während das Ueberweibliche im Herzog August
auf beide Frauen unsympathisch wirkte, fällt das Urteil
der Männer mehr ungleich aus.
Goethe schrieb von ihm im Jahre 1808: „Des re-
gierenden Herzogs August von Gotha darf ich nicht
vergessen, der sich als problematisch darzustellen und
*) von Becbtolsheim 1902 Seite 103—105. Katharina von
Bechtolsheim, damals noch Gräfin Bueil, lebte bei ihrem Pflegevater,
dem französischen Enzyklopädisten und Literaten Friedrich Melchior
Baron von Grimm; der oben geschilderte Besuch der Madame de
Stael fällt in das Jahr 1804.
— 635 —
unter einer gewissen weichlichen Form angenehm und
widerwärtig zu sein beliebte" . . .*)
Der Philologe Friedrich Jacobs, dem der Herzog
August von 1810 ab viel in die Feder zu diktieren pflegte,
legt die weibliche Natur desselben in folgender Schilderung
fest: „Der Bau seines Körpers war ausgezeichnet zu
nennen, sowohl wegen seiner Größe, als wegen seiner
Regelmäßigkeit. Die starke Rundung seiner Hüften gab
ihm einen weiblichen Character, dem auch die Weichheit
seiner Muskeln und die Weiße seiner Farbe entsprach.
Diesen äußerlichen Eigenschaften waren auch seine Nei-
gungen analog, die mehr den Stempel des Weiblichen als
des Männlichen trugen, seine Liebe zum Putze und, in
Jüngern Jahren, zu phantastischer Bekleidung und zum
Gebrauche kosmetischer Mittel. Auch Anderes hing durch
geistige Fäden mit dieser Anomalie zusammen; vorzüglich
eine gewisse divinatorische Kraft, die ihn auch das wahr-
nehmen ließ, was in einer Ferne geschah, zu der seine
sehr kurze Sehkraft nicht reichte. Das Innere Anderer
errieth er leicht."2)
Der Komponist Carl Maria von Weber hat eine
Schilderung des ihm befreundet gewesenen Herzogs ge-
geben, welche die Haupteigenschaften desselben, seine
Weiblichkeit und sein weiches Empfinden mit seiner
Spottlust in sinnlich-harmonischer Verschmelzung veran-
schaulicht: „Seine Erscheinung hat Etwas ungemein
') Johann Wolfgang von Goethe 1808 Seite 181 n. 695. — Der
Herausgeber der angezogenen Ausgabe setzt Seite 454 zu n. 695
hinzu: „Herzog August von Gotha war problematisch bis
zum entschiedenen Sonderling, und in seiner weichlichen Form
ging er so weit, daß er bei öffentlichen Veranlassungen in Frauen-
kleidern erschien. Ueber das Zusammentreffen mit ihm 1808 in
Karlsbad spricht G. ähnlich wie hier sich im Brief an Frau v. Eyben-
berg vom 12. August aus, desgleichen in ungedruckten Briefen an
Silvie v. Ziegesar vom 3. und 5. desselben Monats."
2) Jacobs VII 1840 Seite 177.
— 636 —
Edles und, trotz seiner hohen Statur, Weiches, fast Weib-
liches, woher auch seine Liebhaberei für weibliche Putz-
stücke rührte. Das Obergesicht mit der runden, fast
Schiller'schen Stirn, der feingeschnittenen, krummen Nase,
den schönen, tiefen Augen bewohnte der Ausdruck fast
lieblich zu nennender geistvoller Freundlichkeit, während
das Ganze durch die faunisch emporgezogenen Winkel
des sinnlich geformten Mundes mit etwas vorgeschobener
Unterlippe einen Beigeschmack von Satyrhaftem erhielt,
der indeß der Interessantheit der Erscheinung keinen
Abbruch that." . . . -1) Ueber des Herzogs Gefallen an
weiblichem Putz heißt es bei von Weber: . . . „Ein
andermal erschien er mit einem Frauenrocke zum Galla-
ahzuge oder in römischem Costüm mit Toga, rothen
Corduan-Schnürstiefeln und einem Kranz im Haar oder
mit einem Frauenschleier auf dem Hute, ein drittes Mal
überreichte er Vulpius für eine Hofdienstleistung zur
Belohnung einen — Fächer, den die Gräfin Cosel getragen
hatte u. s. w., ohne daß er sich indeß solche Scherze je-
mals in Staatsgeschäften erlaubt hätte. Fast täglich er-
schien er mit anders gefärbtem Haar, sodaß ihn sehr oft
seine eigenen Diener nicht kannten/2) „Ein Freund des
heitern Glanzes, der vornehmen Form und feinen Sitte,
wachte er streng darüber, daß in den Ton des Hofes
kein Anklang von der militärischen und jagdmäßigen
Derbheit kam, die damals an vielen kleinen Höfen, in
Nachahmung des Napoleonischen Soldatenhofes zu Paris,
an die Stelle der gedrechselten Haarbeutelformen trat,
mit denen man sich fünfzig Jahre lang gegenseitig ge-
quält hatte/3)
Die Eigentümlichkeiten, welche den Herzog August
als Sonderling erscheinen ließen, glaubte der gothaische
Geheime Kriegsrat H. A. O. Reichard unparteiischer als
l) von Weber I 1864 Seite 323—324. — 2) von Weber I 1864
Seite 323. — 3) von Weber I 1864 Seite 324.
■"1
— 637 —
irgend ein anderer würdigen zu können; da er weder
über des Herzogs Ungnade zu klagen, noch ausgezeichneter
Gnadenbezeugungen von ihm sich zu rühmen hatte, so
konnte er sich mitten zwischen Lob und Tadel stellen.
Er macht sich daher nicht ganz die schiefe Auffassung
L. A. Böttiger's zu eigen, der in einem Briefe an Reichard
vom 25. Mai 1822 den ihm persönlich bekannten Herzog
„aus Eitelkeit Weichling, aus Witzsucht Sonderling,
übrigens den edelsten Menschen, und dabei sehr klug"
genannt hatte.1) Freilich führt auch er den weibischen
Zug in des Herzogs Wesen, seinen Anschluß an einige
Damen in den ersten Jahren seiner Regierung und seinen
Umgang mit „schönen Mannspersonen" auf seine
„grenzenlose Eitelkeit" zurück; diese wiederum erklärt
er als durch falsche Erziehung ursprünglich geweckt und
durch Schmeicheleien mancher Speichellecker in seiner
Umgebung genährt.2) Als eine Kundgebung seiner
Eitelkeit faßt er auch des Herzogs Vergnügen auf, sich
derart oft malen zu lassen, daß überhaupt nur wenige
Maler nach Gotha gekommen wären, die ihn nicht gemalt
hätten; bald ließ er sich als Apollo, bald als Raphael,
bald in einer andern Maske malen; als das dem Herzoge
ähnlichste Bild erklärt er das Bild von Grassi, welches
den Herzog im Momente des Diktierens darstellt und,
durch Steinla in Kupfer gestochen, dem 12. Bande von
Hennings7 Deutschem Ehrentempel, Gotha 1832, beigegeben
ist8) ; mit der Eitelkeit bringt Reichard die üppige Pracht-
entfaltung des Hofes, welche in Gotha seit den Tagen
der geistreichen Louise Dorothea nie so glänzend ge-
wesen, wie unter dem Herzog August, in Zusammenhang,
nach dessen Tode wich das Gewühl schöner gestickter
Uniformen, das Rauschen prächtiger seidener Gewänder,
*) Reichard 1877 Seite 482. — a) Derselbe 1877 Seite 485. —
8) Derselbe 1877 Seite 485. Eine verkleinerte, aber getreue Wiedergabe
dieses Bildes findet der Leser auf Seite 639 dieser Arbeit.
— 638 —
das Gedränge von Lakaien und der strahlende Schimmer
der Kerzen plötzlich einer unheimlich-gespensterhaften
Oede in dem leeren, unermeßlichen Gebäude des Frieden-
steins1); die Eitelkeit veranlaßte auch den Herzog, sich
mit Orden zu schmücken, deren er elf bei seinem Tode
besaß; gewöhnlich trug er eine große Schnalle eigener
Erfindung, einen ovalen Goldreif mit acht verkleinerten
Ordenskreuzen2). In seiner Prachtliebe nicht weniger
als in der freigebigen Fordernis aller Künste und Wissen-
schaften findet ihn Reichard Lorenzo von Medici, dem
Prächtigen, vergleichbar8); allein an Ringen fand man
bei seinem Tode hunderte; sie waren oft von einer sehr
geistreich ersonn enen Fassung und Form, welche der
Herzog selbst angegeben. „Er hatte dazu einen jungen
Künstler namens Rosenberg angeleitet, der, ohne im
Auslande einen langen Aufepthalt genommen zu haben,
doch mit den Künstlern von London und Paris wett-
eifern konnte; er starb kurze Zeit vor seinem fürstlichen
Herrn.*4) Als einen besondern Zug des Herzogs führt
Reichard an, daß er in Gegenwart von Damen es
manchmal liebte, „schmutziger, unanständiger Ausdrücke*
sich zu bedienen; als einmal eine nicht gerade vornehme
Dame durch solche Ausdrücke veranlaßt mit den Worten
aufstand: „Ich merke, Ew. Durchlaucht wünschen, daß
wir uns entfernen sollen*, brachte ihn dieser Freimut
sogleich zum Schweigen — ein Beleg, wie er feine
Zurechtweisungen nicht übel nahm6). Was Reichard über
den Verbrauch des Herzogs an Pomaden u. dergl. und
von seiner Günstlingswirtschaft mitteilt, sei hier wörtlich
wiedergegeben: „Leider hatte man dem Herzog August
weder in seiner Jugend, noch selbst später Geld in die
Hände gegeben oder ihn auch nur mit dem Geldwerthe
*) Reichard 1877 Seite 492—493. — 9) Derselbe 1877 Seite 493.
— 8) Derselbe 1877 Seite 485; 491; 493. — *) Derselbe 1877 Seite
491. — 6) Derselbe 1877 Seite 503.
Aus
August,
Herzog zu Sächsen-Gotha und Altenburg.
„Deutscher Ehren-Tempel", Zwölfter Band, Gotha 1832.
J. v. Grassi gem. M. Steinla gest.
— 640 —
vertraut gemacht; der Fürst, der Tausende wegschenkte,
wäre nicht im Stande gewesen, einen Thaler nach Groseben
und Pfennigen zu zählen. Es ging ihm, wie dem Spieler,
der mit Marken spielt und diese zu ganzen Händen voll
auf die Karte setzt, während er mit wirklichem Golde
oder Silber sich weit anders bedenken würde. Weil es
ihm immerfort an baarem Gelde gebrach, so war er in
Waaren über Gebühr freigebig, denn diese konnte er zu
hohen Preisen und Procenten stets auf Wechsel erhalten;
da jedoch zuletzt deren Zahlung nach zwanzig- und
mehrjährigen Fristen angesetzt war, so kosteten dem
Fürsten die Artikel, welche er verschenkte, das Zehn-
*ind Zwanzigfache ihres wahren Werthes. Beispielsweise
fand man gelegentlich der Inventur in einem Zimmer
Oele, gebrannte Wasser, Eaux de senteur, Pomaden,
Schminken, Obstweine und ähnliche Dinge immer zu
zwölf Dutzenden; nach den Rechnungen hatte das alles
nicht weniger als vierzigtausend Thaler gekostet, war aber
nun keine viertausend werth, denn der Fürst hatte das
Depot vergessen und vieles war verdorben. Die Bestände
wurden nachher verkauft und mehrere tausend Thaler
-daraus gelöst.
„Der Herzog äußerte in meiner Gegenwart einmal
bitter: mit allen seinen Wohlthaten schaffe er sich doch
nur Undankbare. In der That wurden seine Geschenke
häufig ganz ungescheut von den Beschenkten mit 25
x)der 30 Procent ihres Werthes an den Dritten wieder
versilbert, worin namentlich Palmer1) Starkes leistete.
Daß die geschenkten Waaren von den Empfängern um-
getauscht wurden, war das Gewöhnliche; so z. B. hatte
^er in Leipzig für einige hundert Dukaten echtes Rosenöl
gekauft und unter verschiedene Personen aus seiner
*) Ueber Palmer, den „Regierungs-Palmer", und seinen Einfluß
auf den Herzog handelt Reichard 1877 S. 483; 486; 487—491. Er
soll Jude gewesen sein, seine Frau eine Köchin aus Wien.
— 641 —
Umgebung vertheilt; die alte Generalin von Zastrow ver-
tauschte das, was sie empfangen, sogleich wieder gegen
andere, ihr nützlichere Dinge um hundert Thaler. Erfuhr
er dergleichen, so nahm er es bisweilen übel; ungehalten
war er z. B., als der Gratulationsgesandte eines Hofes,
dem er bei seinem Regierungsantritte eine Dose mit
einem Brillanten im Werthe von 5000 Thalern gab, letzte-
ren an einen Juwelier verkaufte. Als ein Günstling von
ihm die Patentpistolen aus dem Nachlasse des Herzogs
Ernst erhalten und zu Gelde gemacht hatte (ich gedachte
oben dieser Pistolen als eines Gegenstandes meiner stillen
Wünsche) mußte der Käufer sie zurückgeben und sich
ein paar andere in Suhl bestellen. Dann wiederum —
je nachdem er bei Laune war — litt der Herzog, daß
die von ihm an seine Günstlinge geschenkten Häuser,
Mühlen, Landgüter u. s. w. von den Empfängern wieder
verkauft werden durften. Ein heimgefallenes, ansehn-
liches Lehen, Liebenstein, schenkte er noch ein Jahr vor
seinem Tode einem Lieblinge, dem er es versprochen
hatte; denn strenge Gewissenhaftigkeit im Halten einer
einmal gegebenen Zusage war eine seiner Tugenden.
Jener verkaufte Liebenstein schon einige Wochen darauf.
Wenn es wahr ist, daß die Schuldenmasse des Herzogs
bei dessen Tode 541 000 Thaler . betrug, so ist ihre Größe
nicht nur kein Wunder, sondern es erscheint bei dem
vorhin von mir geschilderten Geschäftsgange eher
wunderbar, daß sie nicht weit riesiger ist, denn wenn
man mit den 18 Regierungsjahren in jene Summe hinein-
dividirt, so fällt noch immer wenig genug aufs Jahr;
es giebt Regenten seiner Zeit, gegen deren Schuldenhöhe
die Verschuldung des Herzogs August als eine wahre
Kleinigkeit gelten kann.* *)
Alles in allem war der Herzog von einer eigenen,
höchst bezeichnenden, buntscheckigen Vielseitigkeit seines
*) Reichard 1877 Seite 486—487.
Jahrbuch V. 41
__ 642 —
Wesens. „Er war — . besonders wenn er es sich vor-
genommen hatte — im Umgange der liebenswürdigste,
aufheiterndste, geistreichste, glänzendste, hochsinnigste,
dezenteste, würdevollste Sterbliche; allein er konnte
in ganz demselben Grade auch das grelle
Gegentheil von dem allen sein."1) Seine Be-
trachtungen über den Herzog August schließt Reichard
mit den Worten: „Und wenn auch kein Ernst IL, so
war Herzog August doch sicher nicht die groteske
Caricatur, zu der man ihn, ohne auch nur das aller-
geringste Gute an ihm zu lassen, hat machen wollen, und
zwar leider vielfach gerade von solcher Seite, die dem
Verewigten für manche Wohlthat dankbar verpflichtet
gewesen wäre.**2)
Eine solche Karikatur hat von den Schriftstellern,
welche dem Herzoge persönlich begegnet waren, Friedrich
Förster aus ihm zu machen versucht, indem er denselben
bei Gelegenheit der Schilderung einer dem Herzöge zu
Ehren veranstalteten Festlichkeit zu Altenburg folgender-
maßen beschreibt: »Eine komischere Erscheinung wie
diese Durchlaucht ist mir in meinem ganzen Leben nie
wieder zu Gesicht gekommen. Er war damals wrohl
schon ein Mann von reifen Jahren, verwandte aber die
Toilettenkünste des Boudoirs einör Pariser Modistin
darauf, für eine weibliche Schönheit zu gelten. Es war
von ihm bekannt, daß er einst, als Fanchon verkleidet,
mit dem Leierspiel der Savoyardin die Leipziger Messe
besucht und auf Classig's Kaffeehause, in Auerbachs
Keller, in der „ blauen Mütze" und anderen Kneipen gute
Geschäfte gemacht hatte. Er trug eine blonde Locken-
perrücke, schielte ganz verzweifelt^ war roth und weiß ge-
schminkt, unter einem rosaseidenen Gilet schimmerten
Blonden am feinen Battistchemisett, dessen Brillantknöpfe
*) Reichard 1877 Seite 508. — a) Derselbe 1877 Seite 505.
— 643 —
absichtlich gelöst waren, um die Wellenlinien des
Schwanenhalses und des Busens sehen zu lassen; an den
schön gepflegten Fingern seiner alabasterweißen Hände
rosige Nägel, so lang, daß man hätte Kämme daraus
schnitzen können. Insonderheit erschien Se. Durchlaucht
Herzog August von Gotha als Griechin
(nach einem Bilde der „Gartenlaube" 1857, Nummer 7, Seite 93)
am Frühstückstische in vollständiger Damentoilette, mit
einem Morgenhäubchen von den feinsten Brüsseler
Kanten, Mantille, Spitzenkragen und dergleichen Aermeln,
die jedoch sehr kurz waren, da er seine Oberarme für
die schönsten Gliedmaßen seines Körpers hielt. Als eine
der anwesenden Damen einen Blick nach den unteren
41*
— 644 —
Partien richtete, warnte er scherzend, da es Gefahr
bringe, wenn man sich nicht an den, den höheren
Regionen angehörenden Schönheiten Melusinens begnüge.
— Uebrigens mußte man dem Herzoge Witz und selbst
einen Anflug von dem Humor Jean Pauls zugestehen,
mit dem er eine Zeit lang in sehr freundschaftlichem Ver-
kehr stand, den er aber mit einem allerhöchst unhöflichen
Briefe abbrach. — Einige seiner Witze, welche er bei Tische
losließ, sind mir im Gedächtniß geblieben." J) In Försters
Geschichte werk ist der Herzog ihm „der Durchlauchte
Kakerlak von Gotha." 2)
Daß Schriftsteller, die den Herzog August nicht
persönlich kannten, eine Karikatur aus seinem Bilde
machten, ist weniger verwunderlich. So Perthes8), der
nur erzählt, was er vom Hörensagen weiß, so Alexander
v. Sternberg 4).
Bezüglich der Frauen, deren Umgang der Herzog
suchte, bemerkt von Wüstemann: „Sein Sinn fiir das
Innerlich-Schöne und Feinheit im Umgang zog ihn zur
Gesellschaft der Frauen hin, in denen er jedoch nur eben
diese Eigenschaften suchte und ehrte: äußere Schönheit
war dazu nicht nöthig, wohl aber Anspruchslosigkeit und
Tugend/ ö)
Wie sehr aber der Herzog selbst sich als Weib
fühlte und wie wenig hoch er seine Männlichkeit be-
2) Friedrich Förster 1873 Seite 12—13. — 2) Derselbe IV 1854
Seite 334. — 8) Friedrich Perthes III Seite 16—17.
4) A. von Sternberg, Jena und Leipzig 1844 II Seite 3 — 5 und
8 — 11. Ich muß hier zu S. 489 meines Quellenmaterials im 4. Jahr-
gang dieses Jahrbuchs berichtigen, daß t. Sternberg mit seinem
weibischen Herzoge von Gotha nicht den Herzog Friedrich, sondern
Aemil August im Sinn hatte.
6) v. Wtistemann 1823 S. 14. — Seite 5 heißt es daselbst:
„Kein Name eines Favoriten männlichen oder weiblichen Geschlechts
ist seit mehreren Menschenaltern verflucht worden."
— 645 —
wertete, hat er in einem Briefe an seine Freundin
Fräulein Sidonie von Dieskau unter dem 19. November
1815 markant zum Ausdruck gebracht, in dem er seinen
Zustand also schildert: „Hell flackerten Selbstliebe und
Selbstachtung in mir auf, und mich stärker und besser
fühlend als vorhin fielen bald von meinem Ich die müh-
sam mir angeklebten erbärmlichen Schlacken der mir an-
gezwängten Männerey."1) . . .
Bringt man die von allen Augenzeugen bestätigte
zum Weiblichen neigende Körperbildung des
Herzogs August in Verbindung mit dem weibischen
Zug in seinem Wesen und seinem von Reichard
betonten „Umgang mit schönen Mannspersonen",
so kann kaum ein Zweifel obwalten, daß der Herzog
Urning war; wofür seine Zeitgenossen ihn hielten, sprach
die Seidler aus, indem sie mitteilte, daß man Leibeserben
von ihm nicht erwartet habe. Die Berechtigung dieser
Annahme findet noch eine weitere Stütze in dem Um-
stände, daß Aemil Leopold August im zweiten Jahre
seiner Regierung eine Novelle verfaßte und drucken ließ,
welche die Genuß suchende leidenschaftliche Liebe zweier
schönen Jünglinge zu einander als eine Glückseligkeit
und als eine Naturnotwendigkeit ohne sittliche Bedenken
dem Leser vor Augen führt. In welcher Weise und in
welchem Maße der Dichter des „Kyllenion" seine eigene
urnische Natur auslebte oder unterdrückte und vor der
Welt verbarg, erfahren wir nicht; mau wird aber kaum
umhin können, eine bezeichnende Schilderung A. v.
Sternbergfs, falls sie Wahrheit ist, auf August des
Glücklichen unbefriedigtes urnisches Empfinden zu be-
ziehen: t August konnte auch sehr traurig sein, ja es
gab besonders in seinem letzten Lebensjahre bei ihm
*) Eichstädt 1823 Seite 50; 1849 Seite 80; G. bei Hennings 1832
Seite 22; Reichard 1877 Seite 495.
— 644 —
Partien richtete, warnte er scherzend, da es Gefahr
bringe, wenn man sich nicht an den, den höheren
Regionen angehörenden Schönheiten Melusinens begnüge.
— Uebrigen8 mußte man dem Herzoge Witz und selbst
einen Anflug von dem Humor Jean Pauls zugestehen,
mit dem er eine Zeit lang in sehr freundschaftlichem Ver-
kehr stand, den er aber mit einem allerhöchst unhöflichen
Briefe abbrach. — Einige seiner Witze, welche 6r bei Tisch*
losließ, sind mir im Gedächtniß geblieben." J) In Förster'-
Geschichtswerk ist der Herzog ihm „der Durchlaiu !
Kakerlak von Gotha." 2)
Daß Schriftsteller, die den Herzog August
persönlich kannten, eine Karikatur aus seinem
machten, ist weniger verwunderlich. So Pertl..
nur erzählt, was er vom Hörensagen weiß, so /
v. Sternberg4).
Bezüglich der Frauen, deren Umgang
suchte, bemerkt von Wüstemann: „Sein
Innerlich-Schöne und Feinheit im Umir
Gesellschaft der Frauen hin, in denen er
diese Eigenschaften suchte und ehrte:
war dazu nicht nöthig, wohl aber An*
Tugend/ ö)
Wie sehr aber der Herzog
fühlte und wie wenig hoch
2) Friedrich Förster ifc
Seite 334. - ij Friedrich
4) A. von Stembei
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gang diese* Jührbuel
weibischen Hera
Aemil Ao^uut
ß) v, w I
„Kein N au -
ist seit mel
t reiche Wendungen
^ zeigten auch seine
Wendungen und Ge-
„opalisirenden" Geist;
tägliche Begebenheiten
ltner in ungewöhnlicher
die Aufbewahrung.2)
Aemil Augusts diene
11 Knaben Eduard Manso;
von dem Knaben an ihn
eschenke eines Ringes be-
u zum Geburtstage des
i tl, war mir der gestrige Tag
Tag. Ja freylich war es
von Lupin 1826 Seite 72; Jacobs
: (Jt, bei Hennings 1832 Seite 4; von
23; Becfe I 1868 Seite 448; Reichard
f3 Seite l'i '. Gedruckt sind von des Herzogs
sok-he rin Uie Frau von Stael (bei Eich-
: 18W, Sritr 89-91; G. bei Hennings 1832
' jiin^e «iriiin Sidonfie von Dieskau
i im Seite I*— 53; 1849 Seite 79— 83 ; G. bei
.- W^\; Reinhard 1877 Seite 495); an Papst
VII im Seite :>22— 526; Louise Seidler 1874
i 1*77 Seite 406 und 495 nota 1); an die Malerin
\\v Henriette aus dem Winckel, 1806
von Mctzsät-h-Scliilhuch 1893); an Jean Paul
Kichter (Richter 1805 Seite 16—21, 23—25,
32^ Xt — :\i\)i iin den k renken Dichter Ernst Wagner
\1 1320 Seite 17- — Tr. ; Seite 91; G. bei Hennings
1— _'(K voq Weber I [864 Seite 323); die Briefe an
t and Ernst Wagner sind nach v. Weber „Muster des
£ einer edlen, greüen, oft fast tiberreichen, für Freundschaft
ianglielien Seele", Leidet haben Jean Paul und Mosengeil
jti# befunden, die Briefe <l<x Herzogs zu kastrieren (Richter
kutc 37: MosengeU II 1826 Seite 17).
— 646 —
Stunden, in denen eine wahrhaft dämonische, mit den
schwärzesten Gebilden gefüllte Hypochondrie bei ihm die
Oberhand gewann1). Alsdann war der französische Stutzer
und Spötter gar nicht mehr wieder zu erkennen. Er
trieb sich dann Nachts herum, durchirrte mit fliegendem
Nachtgewande, eine Kerze in der Hand, die Säle seines
Palastes und schien irgend etwas Geheimnißvolles zu
suchen, das rer nicht fand. Er stieß namenlos rührende
und erschütternde Klagen aus, die in der Stille und Ein-
samkeit der Nacht die Seele jedes lebenden Wesens, das
sich in seiner Nähe befand, tief bewegten. Hatte er
seinen nächtlichen Lauf vollendet, so warf er sich auf die
Teppiche seines Schlaf gemaches und wimmerte, indem er
sich unter Schmerzen wand. In der Seele dieses Mannes
mußte in diesen Augenblicken etwas vorgehen, was nicht
Schein und nicht Lüge war. Diese Stunden söhnten mit
seinen Bizarrerien und Lächerlichkeiten aus, denn un-
willkürlich empfand der Beobachter der menschlichen
Natur, daß ein Wesen, das so zu leiden im Stande war,
die Tiefen und Geheimnisse der Sterblichen zu ahnen
verstand und daß sein irregehender Geist nach einer
Größe suchte, die er nicht zu erfassen und ^festzuhalten
verstand. Seine Widersacher erfuhren von diesen Stunden
nichts, sonst hätten sie ihn milder beurtheilt."2)
Herzog Augusts Schriftstellern.
Jahre hindurch führte Herzog August mit wenigen
auserwählten befreundeten Personen unter Beobachtung
gewissenhaftester Regelmäßigkeit einen Briefwechsel,
blieb aber auch sonst schwerlich irgend Einem, der an
ihn schrieb, die Antwort schuldig. Alle seine Briefe
zeichnen sich durch einen von ihm selbst geschaffenen
J) Nach dem Tode ßosenberg's, vergl. Seite 638.
2) A. v. Sternberg 1857 Seite 94.
— 647 —
Stil, ungewöhnliche Ideen, zarte und geistreiche Wendungen
aus; wie seine mündliche Unterhaltung zeigten auch seine
Briefe eine unerschöpfliche Fülle der Wendungen und Ge-
danken und verrieten überall seinen „opalisirenden" Geist;
auch wenn, was selten vorkam, ihn alltägliche Begebenheiten
darin beschäftigten, so geschah es immer in ungewöhnlicher
Form1). Seine Briefe verdienten die Aufbewahrung.2)
Als Probe des Briefstils Aemil Augusts diene
sein Brief an den siebenjährigen Knaben Eduard Manso;
er ist die Antwort auf ein von dem Knaben an ihn
gerichtetes und mit dem Geschenke eines Ringes be-
gleitetes Glückwunschschreiben zum Geburtstage des
Herzogs :
„ Ja freylich, mein Eduard, war mir der gestrige Tag
ein wichtiger, ein mild-herber Tag. Ja freylich war es
*) Jacobs 1822 Seite 500; von Lupin 1826 Seite 72; Jacobs
VI 1837 (1823) Seite 456—463; G. bei Hennings 1832 Seite 4; von
Weber I 1864 Seite 321; 323; Beck I 1868 Seite 448; Reichard
1877 Seite 494—495.
a) v. Wüstemann 1823 Seite 20. Gedruckt sind von des Herzogs
Briefen meines Wissens solche an die Frau von Stael (bei Eich-
städt 1823 Seite 53—56; 1849, Seite 89-91; G, bei Hennings 1832
Seite 24—25); an die junge Gräfin Sidonpe von Dieskau
1815—1822 (Eichstädt 1823 Seite 48—53; 1849 Seite 79— 83 ; G. bei
Hennings 1832 Seite 20—24; Reichard 1877 Seite 495); an Papst
Pius VII (Jacobs VII 1840 Seite 522—526; Louise Seidler 1874
Seite 93; Reichard 1877 Seite 466 und 495 nota 1); an die Malerin
Therese Erailie Henriette aus dem Winckel, 1806
bis 1811 (von Metzsch - Schilbach 1893); an Jean Paul
Friedrich Richter (Richter 1805 Seite 16—21, 23—25,
26—27, 30—32, 35—36); an den kranken Dichter Ernst Wagner
(Mosengeü H 1826 Seite 17—76; Seite 91; G. bei Hennings
1832 Seite 4—20; von Weber I 1864 Seite 323); die Briefe an
Jean Paul und Ernst Wagner sind nach v. Weber „Muster des
Ausdrucks einer edlen, großen, oft fast überreichen, für Freundschaft
tief empfänglichen Seele". Leider haben Jean Paul und Mosengeil
es für nötig befunden, die Briefe des Herzogs zu kastrieren (Richter
1805 Seite 37; Mosengeil H 1826 Seite 17).
— 648 —
mir gestern recht schön, recht wunderbar zu Muthe,
mein lieblich liebes Kind ! Aber erst als ich Deine Worte
gelesen, als Dein Ring, Dein schöner, lieber Bing meine
Rechte schmückte, da verschwand alles Herbe, alles
Trübe. Hättest Du ihn nicht selbst bringen können,
mein zarter Liebling? Freylich, die Wege sind sehr
böse; aber Du kömmst mir immer wie ein gewisser
Junge vor, den ich nur aus den Bildern kenne und
den Du hoffentlich recht spät wirst kennen lernen und
von dem Dir Deine Emilie viel Gutes und Auguste viel
Böses zu erzählen hat. Nimms nicht übel: aber bey
Dir fällt mir immer der Junge ein; und da bild' ich
mir immer ein, Du hättest zu mir fliegen können; da
wäre freylich der gestrige Tag noch weit, weit schöner
gewesen. Weißt Du wohl, Eduard, Deine Schwestern,
die immer in der Stadt sind und immer in der Stadt
viel zu thun und zu schaffen haben, hätten mir Deinen
schönen Ring bringen können. — Doch nein, die kommen
nicht zu mir; die haben mich lange vergessen. Emilie hat
viel zu viel zu hoffen, Auguste hat viel zu viel zu wünschen,
als daß die an mich denken könnten. Grüße sie, doch
ohne mich zu nennen. Umarme sie und die lieben Eltern.
Bleibe gut und mir gut. Emile.*1)
Mit besonderer Vorliebe betrieb der Herzog in seinem
einförmigen Leben poetische Arbeiten, welche sich wie
seine Briefe durch Zartheit und großen Reichtum unge-
2) Eichstädt 1823 Seite 57; 1849 Seite 85—86; G. bei Hennings
1832 Seite 25. — Reichard 1877 Seite 494—495 findet in der Ver-
öffentlichung dieser für die Oeffentlichkeit ursprünglich nicht bestimmt
gewesenen Ergießungen und in der der Briefe des Herzogs an die
Gräfin Sidonie von Dieskau (eine Probe aus diesen siehe vorher
Seite 645) eine Taktlosigkeit und eine Beschimpfung seiner
eigenen in Ciceronianischem Latein verfaßten Schrift „Memoria
Augußti" seitens des gelehrten Philologen Eichstädt. Man kann
'darüber verschiedener Ansicht sein, wie dieses auch die unbeanstandete
Aufnahme derselben Briefe durch G. bei Hennings 1832 beweist.
— 649 —
wohnlicher Wendungen und Ideen auszeichnen.1) Er war
nicht nur Schöpfer musikalischer Liederkompositionen
in denen Kenner seine Eigenartigkeit wieder finden
wollen2), sondern auch Dichter und Verfasser einer An-
zahl poetischer Prosawerke; von diesen wurde nur ein
einziges, sicher und allein von ihm herrührendes, durch
den Druck bekannt, nämlich die 1805 erschienene Novelle
„Ein Jahr in Arkadien.*8) Nach einigen Angaben4)
hätte der Herzog noch eine Uebersetzung der „Lettres
d'un Chartreux par Charles Pougens" (Briefe eines Kar-
thäusers) verfaßt und in wenigen Exemplaren für seine
vertrautesten Freunde drucken lassen; allein nach Eich-
städt5) erscheint die Autorschaft des Herzogs ungewiß und
nach Jacobs6) hat er zwar diese Uebersetzung begonnen,
sie jedoch wieder aufgegeben und den Geheim-Sekretär
Wüstemann, späteren Geheimen Rat von Wüstemann zu
Altenburg mit der Uebersetzung der „Lettres" betraut,
sich dann die fertige Uebertragung vorlesen lassen, Einiges
geändert, einiges Eigene hinzugefügt und das Werkchen
so in Druck gegeben.7)
*) Ueber den Herzog Aemil August als Schriftsteller haben sich
mehr oder weniger ausführlich verbreitet: Jacobs 1822 Seite 500
bis 504; von Lupin 1826 Seite 72—75; von Wüstemann 1823 Seite
19; Galletti V 1824 Seite 41; G. bei Hennings 1832 Seite 28—41;
Jacebs VI 1837 (1823) Seite 456—458; 464— 492; von Weber 1 1864
Seite 322—823; 373, 570; Beck I 1868 Seite 440—441; 1875 Seite
683; Louise Seidler 1874 Seite 91—92; Reichard 1877 Seite 494 bis
496; v. Bechtolsheim 1902 Seite 104—105; 112. — «) Jacobs 1822
Seite 501. — s) Jacobs 1822 Seite 500 und öfter; von Wtistemann
1823 Seite 19. — 4) G. bei Hennings 1832 Seite 33—35 (woselbst
die Briefe 2, 7 und 11 abgedruckt sind); Beck I 1868 Seite 441;
1875 Seite 683; Reichard 1877 Seite 496. — 6) Eichstädt 1823 Seite
32; Seite 70 nota 32; 1849 Seite 95 nota 30. — 6) Jacobs VI 1837
(1823) Seite 471—473; 491—492 nota 8. — *) Das Werkchen muß
sehr selten sein; es führt den Titel: „Vierzehn Briefe eines Kar-
thäusers. Geschrieben im Jahre 1755 zu Paris. Herausgegeben von
Karl Pougens. Paris 1820." Darunter stehen die verschlungenen
Initialen E und A. Es ist nur 45 Seiten stark. In kl. 8°.
— 650 —
Den Herzog haben wenigstensdrei große poetische
Prosawerke beschäftigt, welche nicht zum Drucke gelangten.
Noch vor seinem Regierungsantritt nahm seine Aufmerk-
samkeit der weitläufige Plan zu einem Märchen in An-
spruch: das Polyneonoder Panedonej nach seinem
Begierungsantritt ein Werk, das ohne Titel blieb und ein
Roman Aemilia(Emilia)oder Emilianische Briefe.1)
1. Polyneon (Viel-Neu) oder Panedone (All-
Lust2) nach der Hauptfigur des Romans, einem auf eine
entfernte Insel verbannten Götter wesen Panedonia,
neben welcher als zweite Hauptperson ein lykaonischer
Jäger Barys steht; in die Geschicke der aus ihrem
Himmel Verwiesenen sind noch verflochten: ein blühender
Jüngling Cyparissus, ein anmutiger Flötner und ein blasser
König. Nach des Dichters Angaben stellte Grassi die
vornehmsten „in diesem Labyrinth" sich bewegenden Per-
sonen in sieben großen Bildern dar8); eins derselben zeigt
uns Panedonia 4), zum Himmel aufschauend, eine Leier in
*) Wenn ich Jacobs recht verstanden habe, so muß aber
der Herzog noch an einem vierten Werke gearbeitet haben; der
Kaltsinn, meint Jacobs VI 1837 (1823) Seite 465, mit welchem
„Ein Jahr in Arkadien" aufgenommen wurde, dürfte verursacht
haben, daß der Herzog ein ähnliches Werk, das er um jene Zeit
unternahm und von dem sich Antänge in seinem Nachlasse fanden,
unvollendet ließ ; leider wird weder ein Titel genannt, noch der Inhalt
angedeutet. Vielleicht „Schwarz und weiß" (v. Metzsch-Schilbach
1893 Seite 7). — a) Reichard nennt 1877 Seite 495 den Roman „Pane-
donia" und fügt bei: „(in Grassi's lebensgroßem, idealisirten Portrait:
Bildniß des Herzogs in schwarzer spanischer Tracht. Es wird noch
jetzt im Schlosse zu Gotha gezeigt legt er die Hand darauf)." —
3) Nach Reichard 1877 Seite 496 (Fußnote) wären es im Ganzen nur
6 Bilder, welche in der Herzoglichen Gemäldegalerie zu Gotha in
der Abteilung VI als Nummer 5, 6, 7, 9, 10 und 11 aulbewahrt
werden; nach Louise Seidler 1874 Seite 75 wurden die Bilder laut
Katalog der Gemäldegalerie 1809 gemalt.
4) Dieses Gemälde Grassi's veranlaßte Jacobs zu einem Sonett
an den Maler (veröffentlicht bei Jacobs VI 1837 Seite 477—478
nota 3) und als Grassi es dem Herzog gab, dichtete dieser mit Be-
— 651 —
der Hand; diese sieben Bilder waren ursprünglich be-
stimmt, ein Schlafzimmer zu schmücken, in dem der
Herzog alle Herrlichkeiten eines Feentempels vereinigen
wollte; das Zimmer ist aber nicht gebaut, das Märchen
nicht zu Ende geführt worden und ßo fehlt diesen schönen
Gemälden der erläuternde Kommentar.1)
2. Nach dem Antritt seiner Regierung begann Aemil
August ein neues poetisches Werk, dem er einen Titel
nicht gegeben hat. Der Roman sollte ganz aus Briefen
zweier Freundinnen hohen Ranges bestehen; die eine
dieser Freundinnen war die geistreiche Baronin Cäcilie
von Werthern, die andere — der Herzog Aemil August
im Charakter einer jungfräulichen Witwe unter dem
Namen einer Großherzogin Anna. Da die Baronin von
Werthern bald das Interesse an dem Briefwechsel verlor,
so führte der Herzog den Roman allein, teils in Form
eines Tagebuchs, teils in Briefform, fort; manches in
diesem Roman beruhte für den Eingeweihten auf persön-
lichen Verhältnissen des Verfassers und der Roman
zug auf zwei andere Gestalten seines Märchens Panedone mit Bei-
behaltung der Reime des Jacobs'schen Sonetts als Fortsetzung noch
zwei Sonette hinzu: „Der Sybarit" und „Der Lykaonier" (ver-
öffentlicht bei Jacobs VI 1837 (1823) Seite 478 und 479).
*) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 466-467. „Das Polyneon ... ein
großes episches Mährchen über die Liebe . . ., welches alles, was große
Kenntniße und große Kräfte von Frucht- und Blumen-Gewinden, Perlen-
schnüren und Venus-Gürteln in einander flechten können, zu seinem
Zauber-Kreis der Liebe rundet. Doch das was schildert, kann nicht
selber geschildert werden; der Kreis wird zuletzt ein Trauring — der
Ring ein Juwel — der Juwel ein Lichtblick — der Blick ein
Geist. Der Tadel, womit man das Polyneon so gut belegen kann
als mit Lob, ist bloß schwerer zu verdienen als zu vermeiden.
Eine geniale Phantasie ist, gleich dem Luftballon, leicht in die
Höhe und in die Tiefe zu lenken; aber das wagrechte Richten wird
bei beiden etwas schwer ; indessen hielt man es bisher doch für das
größere Wunder, sich in den Himmel zu erheben, als sich darin zu
steuern." Jean Paul (Richter 1805 Seite 15).
— 652 —
wurde unabgeschlossen bei Seite gelegt, als diese Ver-
hältnisse sich änderten.1)
3. Emilianische Briefe.8) In diesen Briefen und
Tagebuchblättern erscheint der Herzog in doppelter Ge-
stalt, als eine Jungfrau Erailie und als ein Fürst, an
dessen Hof ein junger von Emilie heftig geliebter Jüng-
ling Xaver lebt; beide Hauptpersonen, die der Idee nach
nur eine sind, werden ganz verschieden, Emilie mit zärt-
licher Vorliebe, der Fürst mit oft an Bitterkeit streifen-
der Ironie behandelt. Dieses Werk, das den Herzog bis
an seinen Tod beschäftigte, war ihm selbst von allen das
liebste; „es ist geschlossen, aber nicht vollendet . . .
Das Mangelnde zu ergänzen, wäre Niemand im Stande,
sollte er auch vollkommen in die Gedanken des Herzogs
eingeweiht sein ... In der Ausführung aber seine
Manier nachzubilden, würde ein eitles Bemühen sein."8)
Friedrich Jacobs, „unter dessen Fingern der Armida-
Garten entstanden ist"4), veröffentlichte sieben von ihm
verfaßte und dem Herzoge gewidmete Gedichte, welche
in Beziehung auf die Emilianischen Briefe „die Stelle
eines convexen Spiegels vertreten können, der die Gegen-
stände einer weiten Gegend in einem engen Räume ver-
kleinert zeigt", und er faßt sein Urteil über die schrift-
stellerischen Fähigkeiten des Herzogs also zusammen:
„Das Einzelne ist reich, neu, glänzend, oft wunderbar und
außerordentlich; aber das Ganze leidet an dem Mangel
fortschreitender Bewegung, der sich aus der Art seiner
Entstehung und Fortbildung, vielleicht auch überhaupt
*) Jacobs VI 1887 (1828) Seite 467-468. — *) Reichard 1877
Seite 495 nennt den Roman „Emilia" und sagt S. 496, der Herzog
habe das bändereiche Werk besonders gern in engvertrau ten
Kreisen vorgelesen und viele Lebende hätten zu den darin auftreten-
den Personen gesessen. — 8) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 468—470;
482—491 nota 5, 6, 7. — 4) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 484—491
nota 7.
— 653 —
aus der Eigentümlichkeit des Verfassers erklärt. Für
ihn war die Abfassung eines Romans nicht ein Geschäft,
sondern eine Ergötzung, wobei er sich gern mit Bequem-
lichkeit auf breiten Bahnen bewegte, ohne durch die vor-
aus bestimmte Richtung eines festen Plans gebunden zu
sein. Fast immer dictirte er. Wenn nun der dazu Be-
rufene an den bestimmten Tagen zur bestimmten Stunde
erschien, fuhr der Herzog an der Stelle fort, wo er in
der vorhergehenden Sitzung abgebrochen hatte, und di-
ctirte oft drei und vier Stunden nach einander, ohne
Unterbrechung, die geistreichsten Dinge in der gewähl-
testen Sprache und in gut geordneten, wohlklingenden
und richtig gebildeten Sätzen. Nie verwirrte, nie ver-
besserte er sich. Der erste Wurf hätte für den Druck
genügt.141)
Ein zwar wenig umfangreiches Werk des Herzogs,
das aber den großen Vorzug besitzt, abgeschlossen zu
sein und gedruckt vorzuliegen, ist das Kyllenion.
„KYAAHNION" (Kyllenion) ist nur der Untertitel der
Novelle :
„Ein Jahr in Arkadien. 1805."
Diese 124 Seiten starke Novelle erschien zu Gotha
bei Ettinger in Oktav und enthält ein Titelbild und eine
Schlußvignette. Ziemlich die Hälfte der Novelle schildert
die anfangs hoffnungslos erscheinende, später aber doch
Entgegenkommen findende glühende Liebe des jugendlich
schönen arkadischen Hirten Iulanthiskos zu dem männlich
schönen reichen Arkadier Alexis und es kann daher das
Werkchen als die erste deutsche urnische Novelle
in Anspruch genommen werden. Sie verdankt ihre Ent-
stehung den Lobpreisungen der Geßner'schen Idyllen,
durch die eine sechszehnjährige Französin, die Gräfin
') Jacobs 1822 Seite 501—502; VI 1837 (1823) Seite 482-483
nota 6.
— 654 —
Adfele de Bueil, den Widerspruch des Herzogs so reizte,
daß er sich anheischig machte, da die Gräfin voi>
nehmlich den griechischen Geist der Geßner'schen Idyllen
hervorgehoben hatte, selbst Idyllen zu schreiben, welche auf
eine ganz andre Art durch und durch griechisch sein
sollten; durch dieses Versprechen kann nach Jacobs
manches im Kyllenion Getadelte erklärt werden. Die
Novelle besteht aus 14 Kapiteln, deren 12 die Namen
der atheniensischen Monate tragen; der Inhalt ist nach
Jacobs „an persönliche, aber nur leise angedeutete Ver-
hältnisse geknüpft.1* Das Manuskript ging vor dem
Drucke durch Jacobs' Hände und kehrte „mit einigen un-
bedeutenden Veränderungen und einem Sonett „Arkadien"
an den Herzog zurück, der an demselben Tage in einem
Sonett „Ruf" darauf mit den nämlichen Reimen er-
widerte1). Gewidmet hat Herzog August seine Novelle
der Tochter seines Verlegers, des Kommissionsrats Karl
Wilhelm Ettinger, Karoline Ettinger, der späteren Frau
Arnold in Bromberg, deren Mädchennamen das dem
Werkchen Seite 3 vorgedruckte Akrostichon verrät2).
Die Zeit, in welcher die Novelle erschien, war ihrer
Verbreitung nicht günstig; ihr Verfasser war nur wenigen
bekannt; „die kritischen Tribunale schwiegen; auch in
leichtern Tagblättern geschah ihrer nicht oft Erwähnung";
*) Abgedruckt bei Jacobs VI 1837 (1823) Seite 475-477.
•) Jakobs VI 1837 (1823) Seite 465 und S. 474— 475*nota 1.
Nach Reichard 1877 Seite 496 war Karoline Ettinger, Reichard's
Nichte, ein „damals in ihrer Bliitbe stehendes sehr gebildetes
Frauenzimmer, welches mit anmuthiger Jugendfrische und ein paar
schönen Augen Begabung und Liebenswürdigkeit vereinigte". Ihr
ist auch noch ein anderes Werk gewidmet worden, nämlich „Die
Einsamen im Chiusato. Eine piemontesische Novelle" mit demUntertitel
„Das geraubte Landmädchen". Arnstadt und Rudolstadt, Langbein
und Kläger. 2 Teile. 1802 (278 und 272 Seiten). „Seiner ver-
ehrungswürdigen Freundin Karoline Ettinger hochachtungsvoll
gewidmet vom Verfasser". Der „Prolog des Autors" dieser
._ 655 —
die kleinen, der Novelle eingewebten Gedichte setzte der
Herzog selbst in Musik1).
In der Nummer 115 vom 24. September 1805 der
„ Zeitung für die elegante Welt" (Leipzig) erschien ein
mit »Aug. Klingemann" unterzeichneter Bericht über diie
ohne den Namen ihres Verfassers erschienene Novelle
folgenden Wortlauts:
„Zwölf arkadische Monate mit ihren Blumen und
Früchten lieblich dahin gezaubert. Die darin verflochtenen
Idyllen sind größten theils nur Staffage und von den
Blumengewinden so überhüllt, daß oft die Gestalten nur
zum Theil erscheinen und die ganze Handlung sich in
einen Kuß auflöst. Uebrigens ist es eine romantische
Natur, die diesen Blumengarten in das Alterthum hinein
versetzt, und antik ist eben an dem Werke nichts als
der Theil, der das angehängte Lexikon nothwendig macht,
bei dem man entweder bedauern muß, daß die Unwissenheit
so vieler Leser es nothwendig machte, oder daß die Muse
des Dichters nicht ohne einige Koketterie ihn begeisterte."
Diese Kritik gab dem Herzog Anlaß, sich in seiner
ganzen Eigenartigkeit zu zeigen; er lud den Redakteur
der Zeitung, den Dichter Siegfried August Mahlmann,
nach Gotha an seinen Hof. Mahlmann kam und wurde
in einer Staatskarosse mit Hoffourier und Haiducken
abgeholt. Der Herzog bewillkommnete ihn als eine der
größten Kapazitäten, bat um seine Freundschaft und
wünschte eine Vorlesung von ihm zu hören, zu welcher
Novelle I Seite 4 ist „Kajetan ******" unterzeichnet. Man
könnte auf Grund dieser Widmung, der liebevollen Schüderung
der Natur und des einfachen Landlebens, des Doppeltitels und der
Anonymität des Verfassers im Herzog August den Schöpfer auch
dieser Novelle vermuten und sogar in den sechs Sternen (? August)
die Bestätigung dieser Vermutung erblicken; da aber diese Novelle
Urnisches nicht enthält, so kann die angeregte Frage hier unerörtert
bleiben.
*) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 465—466.
— 656 —
der nächste Abend bestimmt wurde ; der Herzog erklärte^
zu dieser Vorlesung sei der gesamte Hof bereits ein-
geladen und er habe schon eine geeignete Schrift für
den Vortrag gewählt. Da erfuhr die stolze Herzogin zu
ihrem Entsetzen von der Oberhofmeisterin, daß Mahl-
mann bürgerlicher Herkunft, nur ein Zeitungsredakteur
und ohne Titel sei; unter solchen Umständen, erklärte
6ie, könne Mahlmann bei Hofe nicht erscheinen und der
Herzog ordnete daher an, daß der Minister von Francken-
berg in aller Eile ein Hofratsdiplom für den Vorleser
Ausfertige1). Zur Vorlesung aber hatte der Herzog — ■
sein Kyllenion bestimmt und Mahlmann kam in ziemliche
Verlegenheit, da er die spöttischen Neckereien des Herzogs
-ertragen mußte*).
Ein von Friedrich Jacobs8) unterschriebenes Urteil
über das Kyllenion hat Eichstädt4) gefällt; er rühmt an
ihm besonders die Lebendigkeit und Glut der Phantasie^
•eine gewisse Kühnheit der Gestaltung, einen bewunderns-
würdigen Reiz der Neuheit und durch Belesenheit
•erworbene Kenntnis griechischer Eigenart Demgegenüber
klingt es herb, wenn ein anderer Kritiker5) die Novelle
bloß deshalb »völlig geschmacklos und unlesbar* findet,
.„weil jedes Ding, das im gewöhnlichen Leben vorkommt,
hier mit einem griechischen Namen genannt wird".
Auch den urnischen »Liebeshandel", der den Kern
-der Novelle bildet, findet dieser Kritiker „vor lauter
*) Der Verfasser der Lebensgeschichte Siegfried August
Mahlmann's, K. L., in „Mahlmann's sämmtliche Werke" (8 Bändchen
Leipzig, Volkmar 1839—40) teüt I 1839 Seite 20 nur mit: „Der
Herzog von Saohsen-Gotha ehrte sein Verdienst durch Ertheilung
-des Hofrathstitels."]
2) Beck I 1868 Seite 448—449.
8) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 475 nota 2.
4) Eichstädt 1823 Seite 30—32; 1849 Seite 62—64; S. 91 nota 29.
B) A. v. Sternberg 1857 Seite 94.
— 657 —
Ziererei und Schwulst bitter langweilig." Wolfgang
Menzel tut die Novelle kurz als „vorzugsweise senti-
mentaltt ab1). Ein lebender Schriftsteller bezeichnete
mir die Arbeit als bei manchen Mängeln und Flüchtig-
keiten schön und eigenartig; selbst in Neu Wortbildungen
sei der herzogliche Dichter glücklich, so z. B. mit dem
Neu wort „ Einton g für das eintönige Picken des Spechtes.
Das Nachfolgende ist der urnische Auszug aus dem
„Kyllenion" (der Name wurde dem arkadischen Gebirge
Kyllene entnommen). Ein passender Titel für diesen
Auszug als solchen würde
„Julanthiskos 2) und Alexis
oder
Verbotener Himmel44
sein, da es sich bei der Freundschaft zwischen den
genannten schönen Jünglingen um leidenschaftliche Liebe
oder, wie die allwissende Alethophone sich ausdrückt3),
um „Verbotenen Himmel* handelt.
*) Wolfgang Menzel III 1859 Seite 74: „Die Natürlichkeits-
periode; die Gräkomanie".
Ueber das Kyllenion handeln besonders: Jacobs 1822 Seite
500; 1823 Seite 86; VI 1837 (1823) Seite 464^-467 ; von Wüstemann
1823 Seite 18; Eichstädt 1823 Seite 30—32; 69; 1849 Seite 62—64
91; Galletti V 1824 Seite 41; G. bei Hennings 1832 Seite 28—30
von Weber I 1864 Seite 322; 373; Beck I 1868 Seite 440; 448—449
Louise Seidler 1874 Seite 92; Reiohard 1877 Seite 496. Ferner
„Todesfälle" 1822.
2) Der grichische Name Julanthiskos bedeutet „männliche
Blüte" und müßte demnach mit I geschrieben werden, während er
in der Novelle stets mit J gedruckt steht.
8) Seite 17 des Kyllenion, Seite 664 dieses Jahrbuchs.
Jahrbuch V. 42
Szene aus dem „Kyllenio
Das Dankopfer vor der wundertätigen scr
(zu Seite 680 dieses Jahrl
— 659 —
Kannst Du den Flug mit mir, o Freundinn, wagen,
Auf leichten Schwingen zu der Dichtung Aun?
Rasch sollen Dich die Purpurschwäne tragen;
Orangenduft soll süß herniederthaun.
Leicht trenn* Aurorens Saum der goldne Wagen; *
Ihn wird der Hören Schaar bewundernd schaün.
Nichts soll der Reise Götterlust Dir trüben;
Eil unverzagt! Dir will ich Zauber üben!
Entfleuch des schwülen Tages bangen Sorgen,
Trägt Dich der treuen Freundschaft Schwanenpaar!
Tränk* Deinen Blick im Purpur schöner Morgen;
Jasmin, Granaten flechte Dir ins Haar.
Nimm! Dir will ich Euterpens Chelys borgen;
Gestimmt und rein ist ihrer Saiten Paar.
Ergreifen muß ich meiner Schwäne Zügel;
Reich' mir die Hand! Wir sind auf meinem Hügel.
42*
— 660 —
Eros.
In des Orasis friedlich stillen Auen
Erreicht mein Götterflug sein holdes Ziel.
Bald werd' ich Wunder über Wunder schauen,
Die ich geschaffen, mir zu leichtem Spiel.
Soll ich der Mutter trüben Winken trauen?
Wozu der Zwang, der niemals mir gefiel?
Soll ich nicht mehr auf meine Allmacht bauen? -
Für schwache Menschen wäre das zu viel!
Ich mag nicht lösen meine Zauberbinde;
Ich kann nicht missen meine leichte Schwingen,
Die Fackel nicht und auch die Waffen nicht;
Und wenn ich hier den Widersacher finde,
Wie mag mir dann der schwere Kampf gelingen,
Wenn mir's an Zauber und an Reiz gebricht?
— 661 —
Die Verheißungen.
Nie hatte man bey einem Feste so. kunstreiche Tänzer
und Tänzerinnen gesehn; doch der Koryphant1) Alexis mit seiner
göttlichen Eburgestalt, in welcher männliches Ebenmaas und
jungfräulicher Mildreiz mit erhabener Einfalt und ruhiger stolzer
Kälte unbegreiflich schön zusammen schmolz, übertraf an Kunst-
Geschmeidigkeit und zephyrinischer Leichtigkeit alles; auch den
schönen braunlockigen, f eueräugigen , lieblichen Julanthiskos
schier. Schon längst hatte man beide Beherrscher der Herzen
einstimmig als Anführer jeder Freude, jedes Spiels, jedes Tanzes
in Arkadien erkohren. Sie beneideten sich aber nicht. Phoibos-
Alexis war der Liebling der Männer und der Frauen; hingegen
Hermes-Julanthiskos der Apfel des Neides für die Mädchen.
Julanthiskos saß mit mühsam verhaltenen Zähren und
stützte das welke schmollende Haupt mit der glühenden Rechten;
neben ihm die niedliche Freundin und Base Nikrion, mit den
Fingerspitzen seiner Linken nachlässig in ihrem Schoose tändelnd.
Aber, lieber Bruder, so fasse dich! Ist denn ein versagter Kuß,
ein unterbrochenes Spiel, ein schnelles Schweigen bey deinem
Nähern und ein fortgesetztes Gespräch mit den eleusinischen
Jungfrauen, sind denn das alles, guter Julanthiskos, so grausame
Beleidigungen? Ach! und giebt es keine unter uns, die dich
zerstreuen kann? — Liebe Base, holdblickende Nikrion, wählte
mich nicht die gastfreundliche Wirthinn, die Spiele zu ordnen,
und sollte nicht bey dem Tone meiner Stimme, bey dem Winken
meiner Blicke das schwer zu fesselnde Vergnügen und die leicht
zu verscheuchende Freude ihren Rosenthron zwischen uns auf-
stellen; ist es nicht so? Und der Stolze da .... und
Julanthiskos wies auf Alexis, der, sorglos zwischen Mitylenis
und Eunome auf das Ruhebett hingegossen, freundlich ihm
gegenüber mit der holden Wirthinn und ihrer Freundinn plauderte.
Dabey wurde seine Stimme kindlich schmollend, und er warf
trutzig die zarten Rosenlippen schwellend auf, das lockige
Maiaporhaupt2) mürrisch schüttelnd. Nein; der Böse da, dem
ich freylich nicht den Rang in Liebreiz und königlicher Hoheit
und städtischer Bildung und mystischer Weisheit streitig machen
kann, könnte doch fühlen, wenn man ihn liebt. — Und könntest
du dich, unterbrach ihn ungeduldig seine Freundinn, ihm mit leiser
Drohung einen kleinen Schlag auf die Wangen gebend, und mit
ihrem schalkhaften Auge die doppelte Röthe der Schaam auf
seine Wangen verbreitend; ach! könntest du doch die Männer
1) Anführer des Tanzes.
2) Sohn der Maja, Hermes.
— 662 —
kennen lernen, die am liebsten, wie die Parther, fliehend ver-
wunden, — und dabey stand sie auf, um sich unter die Schaar
der Mädchen zu mischen, die mit neidischen Blicken die ver-
traulich Plaudernden bewacht hatten. Auch Julanthiskos erhob
sich langsam, ordnete das leichte Gewand in zierliche Falten,
und reichte seiner Freundinn die Hand zum Tanze; denn eben
spielte das Chor eine leichte, wirbelnde Weise, und im schnellen
Strome der raschen Freude wollte er seine Laune verrauschen.
Aber Alexis plauderte noch mit den vier reizenden Jung-
frauen. Ja, das — das wollen wir; und dabey funkelten doppelt
schön in dem Glanz einer heiligen, göttlichen Freude seine
langgewimperten Onyx-Augen, und der gewöhnliche Stolz milderte
sich zum Ausdruck der fröhlichsten Schwärmerey. Auch
Eunome und ihre Tochter Agathyllis haben viel durch des Orasis
Verheerungen gelitten; — und er legte drey kleine Goldmünzen
in den verschleyerten Kalathiskos, den Alcine, die Barmherzige,
unter ihren Gästen sammelnd herumgetragen hatte. Auch die
Oberreste der Speisen, sagte sie, bekommen meine armen
Arkadischen Landsleute. Alexis flüsterte, das Gähnen mit dem
Saum seiner Chlamys1) bergend: Beim Anteros! Julanthiskos
ist schön! der Myris ins Ohr. Ihr schwört bey dem rechten
Eide, flüsterte schalkhaft seine Nachbarinn Mitylenis, denn du
bist jetzt sein Priester; und — sein Opfer? — entgegnete, sich
unwissend stellend, der verführerischte der Männer. Sprechet
leise, lispelte die schlaue erröthende Eunome ihrem
Nachbar ins Ohr raunend: den du lobest und doch so streng
mishandelst! Misbilligend und kalt lächelnd hüpfte Alexis von
dem aufschwellenden Polster, mit leichter Verbeugung die vier
Jungfrauen grüßend. Eben schwiegen die Töne und die ermüdeten
Paare warfen sich hastig athmend auf den bunten Teppich der
niedern Periklima2). Er ergriff den verlegenen Julanthiskos bey
der weigernden Hand und schwebte schnell mit ihm den
weiten Raum des Tanzsaals auf und nieder. Man kann nicht
immer tanzen, nicht immer plaudern, nicht immer spielen. Die
Lampe will Oel und die Freude Abwechselung, sagte er, nach einem
langen Schweigen, und Julanthiskos nach einem langen Seufzer —
„die Liebe — Gegenliebe." — Was! Du minnest so? armer
Knabe, unterbrach ihn achselzuckend der Undankbare, und maß
ihn mit zweifelnden Blicken. Eine Taube wird es wohl seyn,
Kleiner? — Nein, ein Pfau! — und die Jünglinge trennten sich
flugs mit Groll im Herzen. Julanthiskos hat recht gesprochen.
Liebe stirbt ohne Gegenliebe. Aber Alexis sagte auch die
*) ein kurzer Mantel.
2) ein Sofa, das an der Wand hinlaufend das Zimmer einfaßt.
— 663 —
Wahrheit: Man kann nicht immer tanzen, und immer plaudern, und
immer spielen; denn die Langeweile fing schon an ihre Giftnebel
über die ermüdeten Gäste auszugähnen, zumal da die entzweyten
Könige des Festes, jeder verstimmt in seiner Ecke schmollte.
Alles seufzte, sich die Augen reibend, ach! wo bleibst du, holde
Veränderung? Aber sie blieb nicht aus. Plötzlich öffneten
sich die cedernen Pforten des Saals. Das Katapetasma1), mit
Fimbrien8) und Scharlach-Säumen geziert, rauschte auf, und
athemlos kam hereingestürzt eine der Dienerinnen Alcinens,
freudig rufend: Heute ist unserm Hause Heil widerfahren, und
das bey so später Nachtzeit! Die göttliche Alethophone verlangt
ein festliches Kleid und einen Becher Wein. Nachdem sie sich
gewärmt, ihre Lyra gestimmt, die Haare gesalbet und mit Raute
gekrönt, entbietet sie ihren Gruß durch mich der edlen Wirthinn,
und wünscht ihr und den Gästen auf verlangte Weise die Zukunft
zu enthüllen. — Sie sey mir willkommen! rief, der Räthselhaften
entgegeneilend, Alcine. Alles schlug mit freudiger Ungeduld in
die Hände, alles drängte sich jauchzend und neubegierig nach
der Pforte; und Alexis, Mitylenis und Eunome raunten sich
verstohlen zu: Eleusis! — Plötzlich theilten sich die gedrängten
Haufen. Freymüthig und edel trat die hehre Demeterissa in
den hell erleuchteten Saal und grüßte alle mit den Worten:
ATAUAN KAI &IAQI1AN &1A012.*)
Wie eine längst Bekannte grüßte sie alles, Jung und Alt,
Weib und Mann, Jungfrau und Jüngling, Mädchen und Knabe,
freundlich nahend, aber jedes Herz mit Ehrfurcht und traulicher
Rührung füllend. Man wagte nicht zu fragen, man unterstand
sich nicht zu bitten, und alles schwieg zagend und hoffend; nur
die, welche Eleusis geflüstert hatten, verbargen ihre heftige
Freude unter dem vielsagenden Lächeln der milden Geheimniß
ahndenden Zuvorkommniß. .Aber Alethophone errieth aller
Wunsch, und setzte sich, ihre Lyra stimmend, auf den vergoldeten
Hippogriphen-Sessel der freundlichen Wirthinn. Ich kam, sagte
die Vielwissende, zu trösten, zu warnen; und dabey drückte sie
lieblich mit ihrer Wange Alcinens Fingerspitzen, welche die hinter
ihr stehende ihr auf die runde Eburschulter gelegt hatte, und ihr
schöner Mund umgrübte sich wie zum Kusse. Nun verlangte
sie von jedem die Reihe herum seine Lieblingsweise zu hören,
und sagte jedem in dem bekannten Rhythmus eine Lehre, oder
eine Weissagung. Jeder fühlte die Wahrheit; jede Wange färbte
') der die Thtiren bedeckende Vorhang.
*) Fransen.
3) Eine freundschaftliche, glückverheißende Begrüßungsformel.
— 664 —
sich vor Hoffnung oder Scham; aber alle schrieben sich tief ins
Herz, was sie gesungen, denn selbst der Tadel der Holden war
schonend und schmeichelnd. Zu Julanthiskos wandte sie sich,
die Allwissende, ihm einen Kuß auf die bescheidenen Wimpern
drückend:
Lieblicher, wohin, wohin? —
Über Gluthen, über Sehnen,
Über Küsse, über Reize
Treibet dich dein kühner Sinn,
Nach verbotnem Himmel hin.
Julanthiskos verbarg sich erröthend, und ein Strahl der
Hoffnung erheiterte sein trübes Gemüth; denn als sie ihn küßte,
sagte sie ihm leise: Treue siegt. Aber als er sich unter die
Menge der jungen Arkadierinnen zurückzog, warf ihm der stolze
Alexis einen spöttischen Blick zu, der diesem aber einen strengen
von der alles bemerkenden Sängerinn zuzog.
Treue siegt;
Treu* erringt den schönsten Preis.
Laß dich nicht erschrecken
Durch des Stolzen Kälte;
Strahlen folgen Strahlen
Bis die Wolken schwinden.
Und die Herzen der trauernden Ungeliebten füllten sich
mit Hoffnung, und ihre bleichen Wangen glänzten im Rosenlicht
der Ahndung; aber Julanthiskos mußte seitwärts treten, um seine
Zähren zu verbergen, und Alexis sein schadenfrohes Lächeln;
aber Cypariß und Minoe drückten sich freudig die Hände, sicher
vor Älternzwang durch Alethophone's schützende Gegenwart.
Noch manches sang die Demeterissa1), was nur einige verstanden ;
dann hüllte sie sich in ihre tausendfaltigen Schleyer, und nach-
dem sie jedes gegrüßt, und im Weggehen der Wirthinn lieb-
kosend den schönen Arm gereicht hatte, und als Jung und Alt
sie lobend und dankend und preisend, bis an die Cedernpforte
des Saales geleitete, wandte sie sich noch einmal um, und ent-
hüllte noch einmal ihr hehres Angesicht. Dreyfacher Huldreiz
verbreitete sich über Alethophone's göttliche Züge, und indem
sie die glückdeutende Linke Julanthisken und die strafende Rechte
Alexis reichte, sprach sie weissagend also:
Wenn des Stiers und des Adlers Geblüt dich, König
der Berge,
Netzt, und zierliches Gold des Gottes Wangen umglänzet,
Welcher die Fluren beglückt, die Wiege sich findender
Geister:
Dann, o Eros, umarmt dich Anteros, ewig versöhnet.
l) Priesterin der Demeter oder Ceres.
— 665 —
Und als die Kraft des heiligen Ausspruchs zwey sich grol-
lende Herzen erweicht hatte, verhüllte sie sich wieder, von neuem
ihrer Wirthinn Arm umschlingend. Plötzlich verstummte das
Chor, es erloschen die Lampen, und jeder schlich ermattet und
betäubt zur Lagerstätte; aber nicht um zu schlafen, nein, um
nur von Alethophonen wachend zu träumen. — Was Julanthiskos
geträumt, ließen seine Korallenlippen und seine blassen Wangen
ahnden; auch Minoens und Cyparissens hoffendes Nähern bey
Pans Bomos1) schien ihrer Träume Folge zu seyn. Was aber
manchem andern erschienen, wissen nur Alethophone und die
alles ergründenden Götter; denn nicht alle waren zum Opfer
geblieben.
Die Jagd.
Zephyros heulte durch die entblätterten Wälder, und
schwarze tiefe Wolken wälzten sich über die kalten, öden, über-
schwemmten Auen. Hier und da fielen einzelne schwache Sonnen-
strahlen durch schräge Regengüsse und wirbelnde Schnee-
gestöber. Dort umkreisten Flüge von magern Raben hungrig-
krächzend den fetten dampfenden Rauch der sorgfältig über-
moosten Wohnungen, und nur schwach blockten die eng zusammen
gedrängten Schaafe, die trockene Fütterung wiederkäuend; und
schwächer möckerten die gesonderten Ziegen, behaglich das ihnen
dargebotene Salz leckend; und um Stall und Hütte schlichen
in frühem Dämmern des langen Abends ausgehungerte Wölfe,
mit ekelhafter Gier den Auswurf der Hütten erharrend, und
hämisch heulend und zähnknirschend um die häßliche Kost
streitend. Von innen lagen die Hunde mit steifen Ohren, längs
den Schwellen das stumme kampfgierige Haupt platt auf die
Erde gelegt. Zornig funkelten die treuen Augen, und langsam
und rund bewegte sich der langhaarige Schweif. Bey dem hell-
lodernden Feuer saß Julanthiskos stumm und sehnend, das krause
Haupt in eine phrygische Mütze gehüllt, und die betenden Blicke
wehmütig und fromm auf das schwarz berauchte Hermesbild
geheftet, bedacht* er das Lied der weissagenden Thrazierinn.
Sein Bruder Barys, der rohe Hipparchos2) aus Larissa, der ihn
besucht hatte, um mit ihm die Wölfe zu bejagen, saß, die halb-
garen Rüben mit seinem breiten geraden Xiphos8) in der Asche
l) Altar.
8) Anführer der Reiterei.
8) Degen.
— 666 —
wendend. An der Wand hingen sein Schild, seine Speere und
sein Helm, neben den Warfen, dem Hirtenstab und der Flöte
seines reizenden Wirthes. In einer Ecke glänzten an hohen,
dünnen Lampadophoren1) die doppeltdochtigen Lampen, und
verbreiteten ihr ungewisses Licht über die glatt getäfelte Zelle,
und in der andern Ecke saßen auf der niedern Bank der alte
treue Myrion und der muntre Phryx, der eine Kalathisken, der
andere Diktyeri *) flechtend. Barys hatte genug von Schlachten
und Gelagen, Spielen und Festen, Orgien und Lampsakalien8)
gelogen, worauf Julanthiskos, der minnezerstreute, nicht hörte,
als er, das schwarze, dick- und nahgebraunte Auge nach
idem Innern der Zelle wendend, mit rauher gebieterischer Stimme
rief: Sklaven, flugs! des besten Weins einen Becher; einen
weiten, tiefen Becher, denn das Reden und der Rauch haben mir,
beym Priap! die Gurgel ganz zugeschnürt; und du Julanthiskos
bist so zerstreut und so wunderlich, wie eine Braut beym Gesänge
der Paranymphen.4) Kannst Du noch immer nicht den stolzen
Alexis vergessen, und seine Sprödigkeit? Ein Seufzer war die
traurige Antwort des Hoffnungslosen. — Beim Pan! so biete ihm
einen Becher, oder einen schön geschnittenen Krug. — Ach!
was ich ihm biete, verschmäht ja der Böse. — Ey, so vergiß
ihn, bei dem freudebringenden Gott! Barys wollte noch etwas
härteres sagen, als der dienende Knabe mit den tiefen, blinken-
den Kratern herein trat, und sie ihm lächelnd darbot. Der
durstige Krieger trank hastig, und reichte Phryx das leere Gefäß
wieder zurück, ihm so dankbar die Wangen streichelnd, daß der
Knabe darüber erröthete. Dann sprach er mit ungewischten
Lippen, daß er dem Sklaven mit dem getrunkenen Naß die Stirne
besprützte: Sing' mir ein Lied, Bube, aber ein kurzes; denn es
scheint, als wittere der Hund einen Wolf in der Nähe. Phryx
spähte Erlaubniß in den Augen seines Herrn, und als Julanthiskos
traurig ein gefälliges, brüderliches Ja nickte, begann Phryx die
muntere Weise:
Wer sich wund gekämpft, der trinke;
Wer sich matt gejagt, der trinke;
Wer sich müd' geküßt, der trinke;
Wer sich arm gespielt, der trinke;
Wer sich stumm gegrämt, der trinke!
*) Gestell zur Befestigung der Leuchter.
2) Netze.
8) Geheime und ausschweifende Feste des Bacchus und des
Gottes der Gärten.
4) BrautfUhrerinnen.
— 667 —
Und dabey reichte er einen kleinern Becher seinem durch
Zähren lächelnden Herrn. — Auf einmal unterbrach Melag und
Okypos lauteres Bellen Gesang und Gespräch. Hastig raffte
der jagdliebende Barys seines Bruders Waffen von der Wand,
und ungeduldig schnaubend durch die Kammern, die Flur und
die Vorhalle rennend, kam er an die verriegelte Hausthür, wo
die ungeduldig kratzenden Hunde ihr Gebell hören ließen. Mit
einem: Beym Priap! dem muß ich den Hals brechen! riß er die
Thür auf und stürzte mit den wüthigen Bestien in den beschneieten
Hof hinaus, schwang sich über die blätterlosen, bereiften Hecken
hinweg, sah in der Ferne noch die fliehenden Unthiere, wollte
immer den Feinden nach, und fiel — o weh! über eine im
Schnee versteckte Pinienwurzek Übelgelaunt und mit blutiger
Nase hinkte er wieder in die warme Hütte zurück. Dem habe
ich, beym lampsakalischen Kolosse, einen Stich beygebracht, an
den er lange denken wird, sagte er, die ungebrauchten Waffen
an die Wand hängend. — Hat Dich der Wolf gebissen? fragte
spöttisch Julanthiskos, als er sah, dass sich Barys das Blut mit
der Chlamys abwischte. Mismuthig setzte sich der Thessalische
Held, und zog seine Machära1), nicht um den erlegten Wolf zu
zerstücken, nein, um die angespießten Rüben aus der Asche zu holen.
Aber ach! sie waren verbrannt. Hoch lachte Julanthiskos; mürrisch
sprang darob Barys auf, um in Morpheus Armen zwischen den
weichen Bärenhäuten des nächtlichen Lagers von Beute, Wollust,
Gewinnst und Rausch zu träumen; und Phryx, der schadenfroh
von ferne die unglückliche Jagd belächelt hatte, sang ganz leise,
als er Barys den Schlaftrunk und das rauchende Melikrama 2)
reichte:
Wer sich blutig fiel, der trinke.
Der Traum.
Blaue Sommernebel überzogen von der Morgengluth
niedergedrückt die tiefen Kühlen der Waldthäler, die in dem
Schatten der hohen Gebirge lagen, welche ihre runden Arme
um die bethaueten Wiesen lagerten. Blockend weideten in den
feuchten Tiefen Nikrions dürstende Heerden; aber ihre bräun-
lichen Ziegen hüpften in wilden Schaaren die schroffen Felsen
am See auf und nieder, das Kaperngesträuch und die wilden
Weinranken benagend. Lykanor, der treueste Diener der
*) Schwert.
2) Ein aus Wein und Honig gemischtes Getränk.
— 668 —
schönen Hirtinn, lag im Schilfe und neben ihm sein Hund.
Lykanor saß stumm, den braunen Finger auf die Lippen geheftet,
in der andern Hand die eben geschälten Rohrstängel haltend,
die er zur Flöte für seine Gebieterinn bestimmt hatte, deren
streng wiederholtes Pst! seinen frohen Liedern ein schnelles
Ende gesetzt hatte; denn Nikrion saß träumend im Schatten
der Haselbüsche am murmelnden Bach, und stützte das matte
Köpfchen, die großen Feueraugen halb schließend halb öffnend,
auf ihre Rechte, mit der Linken den krummen Hirtenstab nachlässig
haltend. Zu ihren Füßen im hohen Farrenkraut lag ihr mit
rosenrothem Rittersporn und feuerfarbigem Mohn gefülltes Hüt-
chen und auf der andern Seite stand ihr zierliches Galakterion *).
Die reizende Schwärmerinn hätte' noch länger geträumt in dem
dunkeln Schatten der Haselbüsche, ihr lykaonischer Diener noch
länger stumm und müssig gelegen im hohen flüsternden Schilfe des
Sees, wären nicht die Freundinnen Mitylenis und Eunome mit
ihren Heerden durch die nämlichen Fluren daher gezogen, und
hätten nicht die Weitsehenden ihre Vielgeliebte in der Tiefe der
düstern Gesträuche erspäht. Wachst du, oder träumst du,
kleiner Liebling unsrer Gemüther, frug auf einmal das plötzlich
sich nahende Schwesternpaar? Du reibst dir noch die schwarz-
beschirmten Wimpern; schnelle Röthe bedeckt deine Stirn, und
du seufzest gar verlegen, zierliche Nikrion. Neckend ergriff sie
Eunome bey dem lieblich gegrubten Kinn und Mitylenis bey den
rosigen Fingerspitzen und flüsterte ihr ein bedenkliches, Bist du
verliebt? oder was fehlt dir? ins kleine Ohr. Also antwortend
erhob sich die Schönste aus Arkadien, freudig die weit ge-
öffneten Augen gen Himmel kehrend, und dabey entschlüpfte
ihren Korallenlippen ein hoffender Seufzer: —
Langersehnte Götterbotinnen seyd ihr mir, ihr holden Ge-
fährtinnen. Ja, du traumdeutende Mitylenis, du räthsellösende
Eunome. Laßt euch umarmen, ihr theuern, holden Schwestern,
denn ihr kommt mir in einer herrlichen Stunde. Dank euch,
Erebos und Morpheus; und dabei ergriff die Fromme das hoch-
gefüllte Galakterion, und besprengte siebenmal den Boden und
streute feuerfarbigen Mohn und Ajax rosige Blumen zu den
Füßen der Deutung bringenden Schwestern; dann winkte sie
dem schwarzen Hirten, sich zu entfernen. Du träumtest also,
liebes Mädchen, fragte freundlich nach kurzem Nachdenken die
edle Mitylenis; und das nach der hohen Mitte der Nacht, als
schon Phosphoros, der Liebe -weckende, dem argolischen Meere
entstiegen war? Sage, wenn opfertest du zum letztenmal
Hygiäen und den Nymphen? Vor vier Tagen, erwiederte Nikrion,
l) Milchgefäß.
— 669 —
sittsam erröthend. Was aßest du, ehe du einschliefest? Einige
Feigen und etwas Melimala1). Nun erzähle und laß die Grillen
weichen, denn die Allmächtigen meynen es gut mit dir, da sie
uns so früh zu dir senden. Wir kamen, setzte die jüngere
Eunome hinzu, dich zu bitten, uns das neue Lied zu lehren,
welches jüngst der reiche Alexis aus Megalopolis euch bey
Myris Feste sang, und welches du auf deiner Flöte so zierlich
begleitetest. Gern, holde Freundinnen, will ich mich damit
lösen. Setzt euch; hier ist es kühl, weich und trocken. Ge-
fällig griff sie in ihren Kalathiskos, um die beschriebenen Rinden
zu suchen, worauf sie Alexis Lied gegraben, ihre Ungeduld und
ihre Wißbegierde unterdrückend. Nein, bey den Nymphen, sagte
noch Eunome, sich liebend an sie schmiegend: erst erzähle
deinen Traum, denn darum sind wir doch hier; dann ist es
noch immer Zeit, uns dein Lied zu lehren. Auch kommen wir
eben von jenen Hügeln, wo wir Julanthiskos weinend fanden;
auch ihm brachten wir Frieden. — Und mit welcher Botschaft,
fragte lächelnd Nikrion, oder welchem weissagenden Spruch?
Ei, beym Panl rief schalkhaft Eunome, was geht dich der
schöne Jüngling an? Was er mich angeht? — Alexis Lied,
Julanthiskos Thränen, Myris Feste .... Erlaube, daß ich einmal
errathen darf. Vermuthlich frug er euch, ob man ihn immer
mishandeln würde, und ob stets minnearm und schmerzenreich
seine Tage über ihn wegschleichen würden? — Errathen! kleine
Pythia, riefen lachend die Freundinnen. Ja, der trostlose Jüng-
ling wollte wissen, ob stets der spröde Alexis ihn verhöhnen
würde, wie jüngst an Myris Fest. Wir sagten: Wenn Alexis
bespritzt von dem feindlichen Blute liegt, hingestreckt an des
Kyllene gähnendem Abgrund, findest du, Heblicher Jüngling, nach
dreyßig Tagen und Nächten Minne in Klüften und Minne am
heiligen Male; doch mußt du opfern das herrlich glänzende
Strephon 2) dem schützenden Sohne der Maja. — Doch auch du
träumtest von Julanthiskos? — Damit endigten die allwissenden
Jungfrauen ihre vielbedeutende Rede. Warum soll ich läugnen,
sagte Nikrion, und schlug beherzter die Augen auf. Ja, eine
Art von Julanthiskos war's, der mich führte; aber große Riesen-
schwingen bogen sich noch über den Scheitel und die mächtigen
Pinnen 3) berührten die Erde. Eburn und blendend die unver-
gleichliche Göttergestalt, phönix4) die serischen6) Haarschleifen
auf der ehrfurchtgebietenden Stirn. Majestätisch und voller
Siegreiz schwebte er daher, tadellos und gewandlos. Wo er
sich hinwandte glänzte Morgenroth; und Hyacinthendüfte um-
') Honigäpfel. — 2) Halsband. — s) Schwingen. — 4) dunkel
purpurrot. — 5) seidenen.
— 670 —
flössen ihn tiberall,— gemischt mit des Euphons süßem Getön.
Mit der Flöte, die er hielt, berührte er mir die Augen, und vor
mir lag eine Rose, größer wie dieses Thal und schillernd und
funkelnd in tausend Farben, und aus der Rose sprudelte ein
ambrosischer Lichtstrom, warm und höher als der Olymp und
der Sitz der Unsterblichen. Rechts, sagte er mir, unter diesem
Rosenblatte ist Hyacinthos Grab; links, der Dioskuren Wiege;
hier Orions Lager, und zu deinen Füßen Narcissens Quelle.
Plötzlich entflog aus jedem Lichttropfen der Quelle eine bunte
phantastische Ephemere, aber jede trug ein schönes Kinderhaupt,
und küsste den nackten geflügelten Gott im Vorbeyfliegen, so
dass zuletzt keine Stelle seiner herrlichen Gestalt ungeküßt blieb.
Ich erkannte unter der Menge Julanthiskos Züge, menschlicher
und arkadischer, aber doch meinem himmlischen Führer ähnlich.
Die Julanthiskjsche Grille verschmolz sich mit ihr. Ihre Locken
wurden brauner und ihre Färbung menschlicher; ihre Schwingen
und die Rose verschwanden. Beschämt und getäuscht zog ich
die Hand zurück. Eros wollte ich folgen, aber nicht einem
arkadischen Flöter. Und mit einem Schrey des Zorns erwachte
ich, und noch immer schwebt die entgötterte Liebe um mich
her, und erfüllt mein Herz mit Scham und Groll. — Nähre dieses
Gefühl, riefen begeistert die weissagenden Jungfrauen; nimm
diesen Ring. Hier erblicke den Käfer und drunter gegraben die
Schlange und den Hahn und das Wiesel. In Eleusis wirst du
finden, wonach du so lange schon schmachtest. — Weiter
wollten sie reden ; aber Julanthiskos kam mit seiner Heerde, und
die Schwestern flüsterten schalkhaft der schönen Träumerinn ins
Ohr: „Nimm dich in Acht; da kommt der entgötterte Eros."
Aber Unwillen und Zorn entschwanden schnell aus Nikrions
trefflichem Herzen, denn Thränen des Unmuths bedeckten des
Jünglings glühende Wangen. „Lieber Nachbar", rief sie, ihm mit
sanfter Holdseligkeit die Flöte reichend, „Mitylenis und Eunome
wünschen, daß ich das Lied singe, das ich jüngst bei Myris
bließ. Bitte, komm!" und er kam und begleitete sanft und
schön Nikrions Silberstimme, daß die Vögel des Waldes
schwiegen und die Hirten und Hirtinnen der Nähe herzueilten:
Kennst du das Thal, der Vorzeit Zauberspiegel,
Wo ewig Unschulds-Lilien bltih'n?
Es ist des Traumes Geisterland.
Kennst du das Thal — es glänzt in Phöbos Strahlen ■
Wo üppig Cypris Rosen glüh'n?
Es ist des Traumes Geisterland.
— 671 —
Kennst du das Thal, umstrahlt vom Zukunftsterne,
Wo singend jede Welle rollt?
Es ist des Traumes Räthselland.
Julanthiskos Thränen rollten in der Flöte sanft hüpfendem
Tacte, und er dachte an der Schwestern tröstende Weissagung.
Auch die singende Hirtinn dachte an Eleusis und der heiligen
Alethophone Umarmung, und ihre Blicke verließen nicht den
räthselhaften Ring, den sie eben von den Freundinnen erhalten.
Lange standen Julanthiskos und Nikrion in Gedanken verlohren,
und hatten nicht gemerkt, daß die Jungfrauen der Wahrheit
durch das Gebüsche verschwunden waren. — Ich werde doch
endlich glücklich lieben, seufzte der hoffende Jüngling! In
Eleusis werde ich Frieden und Vollkommenheit finden! flüsterte
Nikrion, ihren Ring küssend; und sie trieben ihre Heerden
weiter in den Wald hinein, denn die Sonne glühte am hohen
Mittage.
Die Früherndte.
Bei Pans [von fünf riesenmäßigen Feigenbäumen malerisch
umstrickten und vom brausenden, sich nördlich in den heiligen
Nymphensee am Fuße des entfernten Kyllene ergießenden Orasis
bespülten] Altare saßen die Schwestern Myris und Alcine im
Schatten mächtiger Buchen, um welche sich rothbeeriges Geisblatt
und zierlich gefächerte Waldreben, Kränze windend, hinauf
klammerten, und schieden die rothwangigen Gaben des Herbstes
in hohen Kalathisken1) und auf breiten Diskoiden2) und in tiefe
kleinere Kraterinen8), alle zierlich und eng und haltbar aus
Weiden, Rohr oder Binsen geflochten. Neben ihnen saßen die treuen
Mägde, lasen und halfen, säuberten und wählten. Lang war die
Arbeit, denn überschwenglich waren dieses Jahr Pans frühe
Wohlthaten. Zu ihnen gesellte sich die muntere Phylis und
Teukrion, ihr älterer Bruder. Auch die Muhme Lesbia mit
ihrem Bräutigam, dem Megalopolischen Barys, und Barys der
Jäger, des reizenden Julanthiskos älterer Bruder, und Kleanth
mit Leucinoe, Melissa und Psyche, alle Freunde, oder nahe mit
Myris und Alcine verwandt. Singend, plaudernd und lachend
vergingen die geschäftigen Stunden. . . . Die Sonne schien heiß
und feurig durch die welkenden Blätter, und die jauchzenden,
naschenden und küssenden Freunde setzten sich eng und ver-
*) Körbehen. — 2) Schüsseln. — 3) Schalen.
— 672 —
traulich in die kühlen Schatten der Stämme zusammen. Die
Mädchen hatten gesungen, und die Jünglinge jeder sein Mährchen
erzählt. Jetzt kam die Reihe an Barys und seinen Bruder
Julanthiskos. Barys ergriff die gelbe Flöte, nachdem er sich die
mit dem Blute der Kirschen gefärbten Lippen abgewischt.
Julanthiskos stimmte die hohle, braungefleckte Zistra in den
weichen Lydischen Modus. Eben will er das Lied der Schwalben
beginnen, als sie alle fröhlich und begeistert ausrufen: „Sieht
er nicht aus, der Liebliche, wie Hermes-Zistrophoros!"
Bescheiden erröthend verbeuget er sich hold und demüthig,
während der ältere spöttisch unter den tiefgedrückten Braunen
zu ihm hinaufschielte. Doch Julanthiskos lächelt dankend und
beginnt das liebliche Lied:
Chelidon, wohin, wohin? —
Über Berge, über Flüsse,
Über Länder, über Meere
Treibet mich mein innrer Sinn
Nach entferntem Frühling hin.
Chelidon, woher, woher?
Über Meere, über Länder,
Über Flüsse, über Berge,
Fand ich's fremd und freudenleer;
Darum komm* ich reuig her.
Chelidon, so bleibe hier;
In dem Schatten unsrer Hütte
Findest Ruhe du und Minne. —
Ewig rasten räthst du mir?
Nein; nur Wechsel lieben wir.
Nachdem der reizende Sänger geendet und sich wieder
zu den Füssen der holden Hirtinnen gesetzt, begann von neuem
das muntere Gespräch. Nur ein Mann konnte das Lied des
Wankelmuths singen, sagte seufzend Lesbia — und des Undanks
dazu, seufzte Philis, — und der Eitelkeit, lächelte bitter Leucinoe.
— Aber Julanthiskos ist ja nicht alles dieses? flüsterte erröthend
Meine. Auch wollte ich alles dieses nicht rühmen, antwortete
der fein Hörende; auch ich kenne mein Geschlecht, und Thränen
traten ihm ins dunkle blaue Auge. — Ihr sehet, Schwestern,
daß euer Urtheil den Holden betrübt, und dabey hielt sie den
traurigen Jüngling zurück. Er geht ja nicht mit seinem Bruder
und den andern Männern zu den berauschten schreyenden
Winzern, oder zu den frechsten Dirnen, wie er; nein, er bleibt
bey uns, ob wir gleich ihn miskannten. Alle die Mädchen
— 673 —
baten ihn um Verzeihung und küßten ihn zärtlich. Acine setzte
ihm einen Kranz von Myrthen und Spätveilchen auf das
gebückte Haupt; und Myris und Melissa kränzten mit Wintergrün
seine Chelys, und Psyche salbte die Fingerspitzen mit köstlicher
Myrrha; aber alle ernannten ihn zum Könige des herbstlichen
Festes; und sie plauderten und sangen noch lange, obgleich die
neidischen Jünglinge sie schmollend verließen, um ihren Groll
in dem berauschenden Saft der Reben zu ersäufen. Julanthiskos
blieb bescheiden, denn unter den Gehenden war sein Bruder. Jetzt
tönte das ferne Evoe! Mein Bruder opfert, und wir vergessen
undankbar, daß diese Schätze Pans Gaben sind. Sein Altar
stehet leer, und wir sammeln und genießen. Ein heiliges Feuer
begeisterte alle. Dankbarkeit und Götterfurcht erfüllten jedes
Herz. Die Wirthinnen ergriffen mit jungem Most gefüllte Becher
und begossen damit zur Weihe das unter den Feigenbäumen
errichtete Mal. Julanthiskos bekränzte die Zweige mit späten
Blüthen, und die Abendsonne beschien lächelnd das schönste
Fest der Dankbarkeit. Aber der Mond beleuchtete bey seinem
Untergehn die blassen Gesichter der Männer, wo die Farbe des
Ekels und des Nachrausches schon lange die der Reue und der
Schaam verscheucht hatte. —
Die Hoffnung.
Der Herbst schüttelte mit seinen lohfarbenen Sperber-
schwingen feuchte röthliche Abendwolken und rasselnde gekrümmte
Blätter und schwärzliche Schiefersplitter in das trockne Moos
und die welkenden Geniststräuche, über die runden Abfälle des
heiligen Kyllene, in die tiefen wärmern Thäler, die der hoch-
uferige Orasis schäumend laut durchmurmelt. Nur die immer-
grünen Eichen, die stolzen kernreichen Pinien, die harzigen
Mastixbäume, die glänzenden Tinos, die korallentragenden Stech-
palmen, und die Felsen umklimmenden Smilaxbüsche trotzten
dem alles Verheerenden. Phoibos streckte segnend seine goldenen
Arme über Arkadien aus, und ruhte sein pürpurlockiges Götter-
haupt an die Lazurpfosten seiner nächtlichen Kammer, eh' er
Messenien und Elis sein Abschiedslied hören ließ, und bange,
süße Ahndung zirpte wie Grillenklang durch die müden Herzen.
Julanthiskos stand freudenlos unter den hervorragenden Felsen,
schlaff hing sein schönes Haupt auf die matt wallende Brust
herab, naß und ungekräuselt die weichen bräunlichen Locken um
Nacken und Schultern. In der unthätigen Rechten hielt er einen
Kranz von späten Veilchen und Wintergrün, in der Linken
Jahrbuch V. 43
— 674 —
schwebte in der unbekümmerten Fingerspitze der schlaffe Bogen.
Von den weißen Hüften war das kurze ätolische Jagdgewand
zu den Knien herab geglitten, und zu seinen gekreuzten Füßen
lag im hohen Moose der Vorhöhle sein leichter, pfeilreicher
Köcher. Des schönen Knaben treue Jagdgefährten, Melos, Kyanos,
Okypos, die spitznasigen Verfolger der Rehe, durch eine Kuppel
gefesselt, schlichen wähnend, als hielte sie noch ihr träumender
Herr, längs dem schwärzlichen Schieferfelsen mit tiefstreifenden
Schnauzen die weit duftenden Pilze des Herbstes auswitternd.
— Aber der Unzufriedene fühlte nicht die kalte Feuchte des
Heiligthums der Hamadryaden; er hörte nicht das ängstliche
Mökkern eines zarten verirrten Lammes, das längs dem steilen
Abhang der Untiefen athemlos durch das welke Moos kletterte,
daß die rollenden Kiesel und die gebröckelte Erde raschelnd
in die Felsenklüfte herabfielen; und von ihm ungehört ahmte
Echo seine Seufzer, und das Angstgestön des zitternden Lammes,
und das Rauschen der Blätter und Steine nach. Auch hörte er
nicht das entfernte Rufen Onikleiens; er sah auch nicht in seiner
traurigen Zerstreuung einen riesenmäßigen Lämmergeyer, der in
weiten, dann in engern und immer engern Kreisen die niedere
Luft vor Julanthiskos düsterm Schmollwinkel pfeifend durch-
schnitt. Ach! er hörte und sähe nichts; denn er träumte von
unbelohnter Freundschaft und mordendem Undank. — Auf ein-
mal schlugen dreymal seine drey Gefährten an. Durch den
wohlbekannten Ton schallte das ängstliche Rufen einer athem-
losen Mädchenstimme. Sich selbst unbewußt, blickte er durch
die Zähren des Unmuths, rasch Bogen und Pfeile ergreifend.
Er hörte noch einen krachenden Fittigschlag des gierigen
Mörders, und blutend rollte Onikleiens unschuldiger Liebling von
Felsen zu Felsen in die unendliche Tiefe. Umsonst sandt er
den unsichern Pfeil von der kaum gespannten Sehne, und eben
so umsonst schallte das zürnende Gebell seiner Hunde in das
Thal hinab. Der König der Klüfte hatte glücklich gejagt. Mis-
muthig und ärgerlich wollte Julanthiskos in seine Lieblingshöhle
zurückkehren; da lag hinter ihm höher am Abhänge des Berges
blaß und erstarrt im blutigen Farrenkraut Onikleia, die schönste
der Hirtinnen, das Gewand, zerrissen, und die schwarzen üppigen
Locken hingen herab über Stirn, Wangen und Busen, und die
grüngelben Blätter des Farrenkrauts schlugen hoch, wie eine Laube,
über der lang hingegossenen Mädchengestalt zusammen, als
freuten sie sich des schönen Fangs. Julanthiskos schöpfte
erweckendes Kalt «aus der nahen Quelle, und bestrich damit die
zarten Schläfen der langsam Erwachenden. Ein sprödes Ach l
entfuhr den sich wieder röthenden Lippen, und spröder stieß sie
den verlegenen Knaben zurück. Mit einem Ach! richtete sie
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sich auf, in die verwirrten Gewänder sich hüllend. Glücklich
für beyde kam die jüngere Molyssa herzugestürzt. Die undank-
bare Spröde befahl im kalten Ton dem reizenden Jäger, den
Ort zu verlassen. Er nahm bitter lächelnd seine Pfeile, seinen
Köcher, seinen Bogen, und verhüllte seine zu entblößte Gestalt
in das ätolische Jagdgewand. Er ergriff schmollend die Leitseile
seiner schnellfüßigen Hunde, und stieg den heiligen Berg mit Groll
gegen die undankbaren Menschen im Herzen herab ; und im
Herabsteigen hörte er noch lange das fruchtlose Jammergeschrey
der trostarmen Schäferinnen. — An der Flamme seines heimi-
schen Heerdes schwur er bey dem Heiligthum der Hamadryaden,
sobald nicht wieder auf Männerliebe und Mädchendank zu
rechnen; aber ein Etwas stahl sich in ihn mit der leuchtenden
Wärme, die seinen Körper durchdrang, und lächelnd grub sich
die Hoffnung einen werthen Namen in sein treues, zärtliches
Herz. Hermes — lispelte er — und ihr heiligen Nymphen, die
ihr meines Unmuths und meiner Wünsche Zeuginnen wart! —
und indem er so dachte, hüpften seine Pulse freudiger; und
lächelnd setzte er den Veilchenkranz dem rusigen Hermeshaupte
auf, und das Lied der Hoffnung:
Nenne mir bey drohenden Gefahren
Jenen Stern, der niemals sich verbirgt,
Dessen Glanz das tödtende Entsetzen
Mächtig in der Zukunft Raum verbannt.
Nennen will ich meines Führers Namen,
Hoffnung, dich, des Glückes Morgenstern —
entquoll seinen Rosenlippen. Wie beschämt gedachte er des
Eides bey der Hamadryadischen Höhle, und schlug noch immer
die Cyanen-Augen von langen 'schwarzen Wimpern beschattet,
in die hochrothe Gluth; aber eine mächtige Stimme, wohllautend,
übermenschlich, erscholl durch die gemächliche Hütte, ihn nennend.
Zitternd sank er zu dem heiligen Wunderbilde der Vorzeit, und
um den schlanken Hals des herabblickenden Gottes wand sich
ein leuchtendes Strephon. Da gedachte er plötzlich der tröst-
lichen Verheißungen, welche ihm die Jungfrauen der Weihe
gegeben hatten, und die herrliche Ahndung, die des Jünglings
hochklopfendes Herz bey diesem Gedanken durchbebte, täuschte
ihn nicht. Julanthiskos ward überzeugt, daß kein Freundschafts-
bund gedeiht ohne Beständigkeit und ohne Majapors segnende
Macht; und dieses Bewußtseyn war eben die Stimme Hermes
Philozügetes1), der an jenem glücklichen Abend über Arkadien
wegflog.
*) des Freunde verbindenden.
43*
676 —
Die Erfüllung.
Du, Mynion, bleibst in der Hütte, und du, Limeus, weidest
die leicht sich zerstreuenden Ziegen längs der hohen Ufer des
Orasis; und du endlich, erfahrner Phryx, führst die Lämmer
seitlang der lotusreichen Tiefen der warmen Quellen. Nimm
diesen Kalathiskos und pflücke mit schonenden Fingerspitzen
auf den sammtigen Blättern mir die schwarzen leicht zerschmelzen-
den Beeren des Herbsts; denn durchnässende Nebel umhüllen
schon des Kyllene Steilen. Du aber, Mynion, erhalte das kleine
Feuer und öffne klüglich die Züge des Heerdes, damit der Rauch
die Kammern nicht verderbe. Also sprach Julanthiskos, der
schönste der arkadischen Jünglinge, die schwankenden Speere von
der glattgetäfelten Wand herablangend, und den braunen flachen
Hut sich unter das weiche Kinn festriemend. Du, Phryx, hefte
mir auf der linken Schulter den runden Mantel deines Mutter-
landes. Recht! Noch einmal wandte er grüßend das bräunlich
gelockte Haupt zu dem schützenden Bilde des Gottes, selbst
nicht ahndend, daß er so bemäntelt und behütet wie ein unbe-
flügelter Hermes aussah, und verließ, nachdem er alles besorgt,
schnell die älterliche Wohnung. Zuerst eilte er durch den
schattigen Gang der Reben, dann durch den Garten der obst-
tragenden Bäume, dann über die Wiesen am Orasis, dann bey
Menalkas Hütte und bey Grynions und Myrtills Wohnungen
vorbey, itzt bey dem Kedrischen Born, der bey den Cypressen
rauscht, dann schnellen Trittes den Hügel hinauf; jetzt unter den
immergrünenden Eichen, dann bey dem Ulmenwalde vorbey und
den Tinosgebüschen, dann bey den hohlen Felsen der S.chiefer-
brüche. Jetzt grüßt er Minoe, die Neuvermählte; schäkernd
hält sie ihn beym flatternden Mantel. Wo so schnell hin,
Julanthiskos? Zwar sind wir gewohnt, daß du den scharfen
Wurfspieß dem krummen Schäferstab vorziehst, doch nie sah
ich dich so schnell die Räume durchschneiden. Höre, was zieht
dich den mit Herbstnebel bedeckten Kyllene so unwiderstehlich
hinauf? Ich lasse dich nicht eher los, du sagst mir den Zweck
deines Eilens, oder du singst mir ein Lied. Sagen kann ich
dir nicht den Zweck meines Strebens, denn ich weiß noch nicht
die Beute der Jagd, die mir zu Theil wird; aber singen will ich
dir wohl ein Lied, und was noch mehr ist, das Lieblingslied
deines Cyparissos. Doch zuerst gieb mir einen Kuß. — Wenn du
gesungen, so will ich sehen, ob es der Mühe lohnt. . Und
Julanthiskos stimmte das Lied des Jägers Arkas in dem Phrygi-
schen Modus an:
— 677 —
Beym kindlichen Strahl des erwachenden Phoibos
Ergreifen wir Speere,
Pfeil, Bogen und Hörner,
Und folgen dem Drange
Zum Hayne, zum Walde;
Und folgen dem Streben
Nach Beute, nach Ruhm.
Beym göttlichen Glühn des alltreffenden Phoibos
Verlassen wir Speere,
Pfeil, Bogen und Hörner,
Und schleichen ermüdet
Zu kühligen Grotten,
Und folgen dem Durste
Zum murmelnden Bach.
Beym scheidenden Purpur des segnenden Phoibos
Heimkehren wir singend.
Es klirren die Waffen;
Es tönen die Hörner.
Wir folgen belastet
Dem plaudernden Zuge,
Mit Beute, mit Ruhm.
Ehe er das Lied geendet, kam Cypariß selbst, und mit
dem letzten Klange der phrygischen Weise hielt Minoe und ihr
Gatte liebkosend und lobend den unwiderstehlichen Jüngling in
ihren Armen; aber hochglühend entwand sich der Reizende, und
entfloh wie der unaufhaltbare Pfeil den Hügel hinauf, und durch-
schnitt den Raum und die Herbstnebel. Noch lange sprachen
die Gatten von Julanthiskos, dem schönsten der Jünglinge, dem
vorzüglichsten der Sänger, und dem raschesten, muthigsten der
Jäger aus dem kyllenischen Gau, ehe sie heimkehrend die
blockenden Lämmer und die hüpfenden Ziegen in ihre
geräumigen Hurten gesammelt hatten. Julanthiskos, von Kälte
und Nebel durchnäßt, hatte umsonst Wälder und Büsche durch-
späht, war umsonst von Felsen zu Felsen gehüpft, denn heute war
der heilige Berg wie ausgestorben. Hier und dort hackte ein
einsamer Specht die glatte Rinde des Lorbeerbaums, oder die
dicke Borke der Korkeiche, und die nachäffende Echo wieder-
holte den Einton, oder sie schrie dem heisern Pfeifen des gierigen
Weihe oder des fernhorstenden Aar nach, oder brüllte schwach
und traurig wie der Büffel in moosigen Klüften. Alles war öde und
schauerlich. Selbst die zaghaften Eidechsen schlüpften langsam
über die rothen Nadeln der Pinien durch das welkende Farrenkraut,
und durch die dürren Akanthen zurück in ihre heimische Ritzen.
Keine Grille wagte zu zirpen, und Julanthiskos ahndender Seufzer
— 678 —
und ungeduldiger Fußtritt war der einzige Klang, der mühsam die
dichten, grauen, kalten Nebel durchdrang. Doch wer hemmt den
rastlosen Schritt des spähenden Jägers? Wer vermag der suchen-
den Hoffnung der Liebe einen neuen Weg zu lehren? Julanthiskos
seufzte sehnend dreymal: Alexis. — Da hörte er plötzlich fernes
ängstliches Rufen, und sein Alexis wurde Gegenruf. Er stürzte von
Felsen zu Felsen, nur der Stimme der Ahndung folgend; denn
undurchdringliche Nebel und herbstliche kalte Schatten bedeckten
die schlüpfrigen Schiefer, und die glatten niedergedrückten Geniste
und Haiden der kyllenischen Einöden. Itzt klang es wieder wie
Hülfe, Hülfe! und Julanthikos mußte sich wenden, denn die Klage-
stimme kam von der entgegengesetzten Seite; aber näher und ver-
nehmlicher, bekannter und theurer klang das flehende Hier, Hier!
Krampfhaft schlug ihm das ungeduldige Herz; itzt drängte er sich
durch die eng gepflanzten Stämme hoher Pinien, dann wieder durch
die verwirrten Dornen der Kapern und Hippophaen, und die wilden
Gestrüppe der Felsen; zuletzt schurrte sein müder Fuß bis an den
jähen Abhang einer schwarzen Untiefe, und durch den graublauen
Schleyer am entgegengesetzten Rande erkannte er die geliebte
Gestalt seines Alexis. Die Freude, ihn endlich zu treffen, ver-
scheuchte schnell den innerlichen Schauder des Schwindels. Bist
Du es, Julanthiskos? tönte es schwach jenseits der Kluft; bist Du
es, Alexis? erschallte es entzückt, doch athemlos diesseits. Komm,
ach! komm; — und ein mächtiger Sprung über den fürchterlichen
Felsensturz vereinigte, die sich vielleicht sonst nie gefunden hätten.
Der reiche Bewohner des Kyllene, Besitzer der schönsten Palläste
und Gärten in Arkadien, ja selbst im ganzen Hellas, der stolze
Jüngling, um den so lang der treueste der Hirten gedient hatte, lag
verwundet und matt, durchnäßt und waffenlos auf dem blutigen
Felsen. Gejagt hatte er die brüllenden Bewohner dieser nebelichten
Höhen. Der Wege unkundig, von seinen Dienern verlassen, war
er in die Irrgänge der übereinander gestürzten Basaltklippen
gerathen. Den letzten Wurfspieß hatte er seinem grimmigen
Gegner in den feisten Wanst gerennt, und rollend und sinkend
stürzte das gehörnte Ungeheuer auf seinen Sieger, ihn zu
zerquetschen drohend; und so fand ihn Julanthiskos verwundet
und mit Blut bespritzt neben dem noch röchelnden Büffel.
Die Jünglinge wurden endlich von Alexis Sklaven gefunden, wie
sie Mund an Mund auf dem weichen Moose einer der Kylieni-
schen Höhlen schlummerten. Alexis, der Gerettete, war nicht
mehr undankbar, und Julanthiskos, der Findende, nicht mehr
unglücklich; mit Alexis Strephon geschmückt Julanthiskos, und
in Julanthiskos Mantel eingewickelt Alexis.
— 679 —
Das Dankopfer.
Der nasse Spätherbst hätte sein schäckiges Gewand über
die Thäler gebreitet und schier die Bäume entblättert. Gesammlet
waren die Früchte in die trocknen Speicher. Die blockenden
Heerden begnügten sich mit der dunkeln Kost des Spätjahrs.
Die Jungfrauen bekränzten sich die Stirn mit der blassen Mutter
des Krokus. Der buntgefleckte Sperber wußte schon längst
nicht mehr, was es gewesen, verfolgte schreyerid durch das
rauschende Laub die Pfleger seiner nackten Kindheit, und die
goldgefiederten Ammern umkreisten zwitschernd die platten
Dächer der Schäfereyen. Alles verfolgte sich, aber nicht wie
im Frühling zur Liebe, sondern zum Krieg und zum Mord; und
der arkadische Jüngling vertauschte das ländliche Pedum *)
mit den scharfgespitzten Melieri2); und die leichte Hirtentracht
gegen den wärmeren phrygischen Mantel, und anstatt des glatten,
beschattenden Basthuts hüllte er die krausen Haare in die sackige
Mütze der Lakonier, die doppelten Riemen sich unter das Kinn
schlingend; denn frischer wurden die feuchten nebelichten Tage,
traurig die langen düstern Abende. Der hämische Winter verließ
schon seine unterirdischen Schlupfwinkel, und Zephyros, der
Wolkensammelnde, verbarg mit Eis und Schwarz die blassen
Sterne. Ach, nur selten blickte Phoibos über die traurige Flur,
wenn er die Safran-Rosse in dem Ionischen Meer badete, und die
kupfernen Gewölbe seiner westlichen Halle von seiner Nähe
erglühten. — Seht ihr, Brüder, den glänzenden Anblick des
sinkenden Tages, sagte Menalkas, sich zu seinen Brüdern Mikon
und Myrtillos wendend, die mit Reißig beladen ihm folgten
schneH hinab den steinichten Hohlweg des steilen Kyllen's; seht
die goldenen Streifen, die sich in das dunkelblaue Thal wie
Lichtströme hinabgießen, wie sie kämpfend mit dem kalten
Nachtnebel die runden Schirme der Pinien, die Nadeln der
Kypressen und die lohfarbige Krone der Nußbäume vergolden?
Laßt uns, Brüder, hier ausruhen bey dem schwarzbeerigen Kassis,
den stachlichten Kapergöbüschen und den braunroth gefärbten
Akanthen, die üppig ihre mächtigen Ranken so frech um den
dunkeln Hermes winden. Als ich den centnerschweren Aenogyps»)
mit den Pfeilen erzielte, schwur ich's beym Maiapor, dem Be-
schützer dieser Klüfte, ihm den gemordeten Wütherich der Heerden
zu opfern; billig ist, daß ich das Gelübde halte. Seht, ihr
Brüder, gerade traf ich sein Herz, und der wiederhakende Pfeil
hängt noch blutig in der zähen Haut. Du, Myrtillos, nimm die
*) Hirtenstab. — 2) Spießen. — 3) ein Geier der größten Art,
der Lämmergeier.
— 680 —
eine der Schwingen, und du, Mykon, die andere, und entfernt
euch jeder in entgegengesetzter Richtung. Beym lampsakalischen
Gotte! mehr als vier Orgyen mißt seine Spannung. Sieh* die
fürchterlichen Krallen. Gewiß war es dieser, der noch jüngst
mit dem Schlag seiner kupferfarbigen Schwingen Onikleiens
geliebtes Lamm von jenem Felsen herabstürzte. Ach! noch
weint sie, die Thörinn, um den zerschmetterten Liebling; dabey
gab er einen zürnenden Schlag dem erstarrten Mörder, daß sein
schlaffes Riesenhaupt zurückfiel. Laut lachend legten die rüstigen
Brüder den König der Vögel zu dem Fuß des hundertjährigen
Bildes. Zu groß für deinen Petasus1) wären die schweren
Flügel gewiß, sprach unverschämt der jüngste der Brüder; und
die rohen Gesellen rannten mit frechem Gelächter den Berg
herab, daß die runden Steine ihnen lärmend nachrollten. Von
weitem in den Myrthengebüschen versteckt, hatte Julanthiskos,
der blauäugige, der reizendste unter den Kylienischen Knaben,
das ländliche Opfer bemerkt. Leicht und schlank und braun-
gelockt, wie der göttliche Beherrscher von Paphos, hüpfte er
aus den schwarzgrünen Gebüschen, daß die bräunliche Chiana
um den runden Nacken flog, und die krausen Locken um die
schalkhaften Augen und die durch den kalten Abendwihd hoch-
gefärbten Wangen. Nimm auch, schönster der Götter, das Opfer
eines dankenden Gemüths an; auch du, Leiter der Verirrten,
Beherrscher der Schatten, Wohlthäter der Lebenden wie der
Todten, auch du hast mir ein Herz zugewandt, was mich lange
mit grausamer Härte peinigte; und dabey hing der Glückliche
ein goldenes Strephon dem Gotte um den gesenkten Hals. —
Du hast mich gelehrt den Weg bey Nacht und Graus. Ach!
und in meines Alexis prächtiger Wohnung fand ich mehr Glück
und Wonne, als ich je geträumt hatte. Vor Freundschaft glühend
und vor Ehrfurcht sank der liebliche Beter zu dem Fuße der
schlanken Hermessäule nieder. Freundes-Arm schlang sich um
den freudebebenden Julanthiskos. Alexis, der reiche Bewohner
des Kyllene, war seinem neuen Liebling nachgefolgt. Komm,
sagte er, mit ihm die Fingerspitzen zärtlich verschränkend und
die Lippen ihm auf die weißen Schultern drückend, komm, treues,
frommes Gemüth. Einmal führtest du mich durch Irrwege und
Dunkel; itzt stütze dich auf meinen Arm, ich will dich führen.
Stumm folgte der Überselige seinem Beschützer nach. Ich will
dich ein Lied lehren, sagte endlich Alexis nach langem Schweigen,
ein Lied, das unsern düstern Weg kürzet. Kommen wir zu Hause,
so schenke ich dir eine Lyra; du rührst sie ja. Julanthiskos, höre
mich, da wir uns kaum sehen:
*) der beschwingte Hut des Hermes.
— 681 —
Treue siegt;
Treu' erringt den schönsten Preis.
Laß dich nicht erschrecken
Durch des Stolzes Kälte;
Strahlen folgen Strahlen,
Bis die Wolken schwinden.
Treue siegt;
Treu' erringt den schönsten Preis.
Laß dich nicht verdrießen,
Lang umsonst zu dienen.
Tropfen folgen Tropfen,
Bis die Felsen weichen.
Treue siegt;
Treu* erringt den schönsten Preis.
Auch du hast durch Treue mein Herz erweicht; ach! wie
vermag ich dir zu lohnen? — Ach, erwiederte Julanthiskos, mit
dieser Hoffnung senkte an Myris Feste Alethophone einen
erheiternden Strahl in mein gekränktes Herz, und mit eben diesen
Tönen, von dir damals unbeachtet, begrüßte mich die göttliche
Seherinn, welcher die Räthsel der Zukunft klar und offenbar sind.
— So sprach er dankbar gerührt, und zog den Freund fester an
sich, in seinen Arm sich schlingend. Und so verschlungen gingen
sie neben einander, und es wurde immer kälter und finsterer, und
sie mußten ihre Schritte verdoppeln. Aber endlich wurden die
Wege ebener und bequemer die Rasenstiege. Unter entblätterten
Granatbäumen und durch Ulmengäoge, die welker Wein umschlang,
gingen sie itzt; dann durch die niedrige Befriedigung aus glatten
Quadern, an deren Eingang zwey eherne Karyatiden standen, hohe
Körbe auf den zierlichen Häuptern tragend. Ach, nun sind wir
in Hesperiens Gärten! rief der entzückte Jüngling, zog seinen
Führer durch die Thymian- und Lavendelbüsche und durch die
starkriechenden Chirandus- Gesträuche, vor dem rauschenden
Wasserbecken vorbey, die fünf Marmorstufen hinauf; denn finstre
Nacht bedeckte den zierlichen Wintergarten und die herrliche
Wohnung des reichen Alexis, und die Freunde umarmten sich nicht
eher als in der räumigen Stoa; dann eilten sie zusammen in das
wärmende Bad, wo hochgeschürzte Korinthierinnen ihre erstarrten
Glieder mit köstlichen Salben rieben; dann zu der gewürzten
Tafel, und dann sanken sie schlaf- und wonnetrunken auf das
schwellende Lager, nachdem Julanthiskos seinem Alexis für ein
anderes prächtigeres Strephon und eine zierlich geschmückte Leyer
zärtlich gedankt, und den Kylleniscnen Hermes noch einmal ge-
— 682 —
priesen; und sie entschliefen Hand in Hand, um sich nie zu ver-
lassen. Und noch hängt Julanthiskos Strephon an dem Halse des
wundertätigen Bildes, aber Menalkas, Mykons und Myrtillos
blutiges Opfer ward bald die Speise der unreinsten der Vögel. —
Das Thal der Orakel.
Phoibos, der mächtige Schützer der Eleusinischen Waller,
bannte den flockigen Schnee und den schneidenden Frost, den
durchdringenden Nebel und alle die erstarrenden Begleiter des Win-
ters hinauf zu den Eisspitzen des Erymanthos, in die Pinienthäler
des kältern Achaiens, und der thauende Athem seiner laut
wiehernden Rosse erfüllte, warmem Nebel gleich, das glückliche
Arkadien; denn der goldgelockte Herrscher des Tages lächelte
segnend den ungeduldigen Jungfrauen, die enggedrängt auf dem
dicht verschleyerten ,Wagen von nichts als von Mysterien und von
Wundern träumend plauderten, und von seinen wärmenden
Strahlen getäuscht die Byssus-Kalyptrien von den hoffnungglühen-
den Stirnen entfalteten. Itzt verläßt der Zug der Eleusinischen
Neophyten J) den schwarzen, lautröpfelnden Wald, wo die grauen
Vögel Aphroditens buhlend und zwitschernd sich wiegen. Itzt
sprengen die Reiter heran, unter ihnen Alexis der herrliche, und
Julanthiskos, der nicht minder liebliche, und ihre gleichen
Scharlach-Chlänen2) flattern durch die milden Lüfte dahin. Ähnlich
den Dioskuren fliegen sie über das weiche Moos. — Itzt halten
sie, und demüthig trennt sich bey Alethophonens Namen die
harrende Menge. „Schweigt, ihr Männer, schweiget, ihr Jünglinge,"
so sprachen sie im festen Tone, „daß kein beleidigendes Lied mit
dem Grimm der Scham den erstummenden Jungfrauen die Brust
engt. Alle sind Alethophonens Freundinnen. Schweigt, ihr spotten-
den Sänger, wenn ihr eure Rinder und eure Heerden und eure Hütten
liebt." Also sprachen die vorüber jagenden Jünglinge, und ruhig
und ungestört rollt der Wagen der zagenden Jungfrauen über die
dumpftönende Brücke des Orasis; und noch lange stehen mit
offenem Munde die sonst so unverschämten Spötter und wissen
nicht, sind es Menschen oder Heroen, die ihren Mund also banneten.
Ungestört und ungehöhnt blieb also das herrlich bespannte Fuhr-
werk der werdenden Demeterissen, Dank der allmächtigsten der
Sängerinnen und ihren Gesandten. Jetzt zieht sich langsam der
Zug längs den nassen Ufern des heiligen Sees, wo vor wenig
') Neu-Eingeweihte.
2) warme Mäntel.
— 6S3 —
Monden Eros bey nächtlicherweile zwey lang getrennte Minnende auf
ewig vereint, dann an dem Fuße des Ulmenwaldes, wo einst die
spröde Onikleiä das Lied der Bienen gesungen und ihre Sprödigkeit
abgelegt, dann die südlichen immergrünen Hayne des göttlichen
Kyllene hinauf. Itzt halten sie bey dem wunderthätigen Bilde des
dort erzeugten Gottes, sein goldenes Strephon bewundernd; itzt
steigen die holden Jungfrauen aus ■— Charikleia, Mäotis, Alkmena,
Charis, Julanthiskos Base Nikrion und die Schwestern, Alexis Freun-
dinnen, die reichen Töchter aus Mantinäa. Hier umarmten sich die
sich einst fliehenden Freunde, Hermes und Anteros opfernd. An
dieser heiligen Stätte fand jede Kommende eine Gastfreundinn oder
eine Verwandte unter dem versammelten Hirtengeschlechte, und
Küsse wechselten mit Küssen, und Gaben mit Gaben, und herzliches
Kosen mit herzlichem Kosen. Nachdem Minoe und Nikrion sich
geküßt und sich hundert Fragen gemacht und beantwortet, flüsterte
die jüngst vermählte Hirtinn ihrer städtischen Freundinn ins Ohr:
„Du weißt also, wer uns die schwere Leyer brachte?" Ja, bey der
Weisheit verwahrenden Göttinn, dein Herz hat sich nicht geirrt:
Der falsche Jüngling war die Allwissende. — Doch es flüsterte durch
die Gipfel der immergrünen Eichen wie Dämonen-Lied:
Schweigen ziemt der Wallerinn,
Schweigen ziemt den Liebenden,
Schweigen ziemt den Wissenden,
Schweigen ziemt den Hoffenden,
Drum so schweigt und schweigt und schweigt.
Erschrocken kehrten die Freundinnen zu den übrigen Jung-
frauen; erblaßt und Thränen in den Augen trennten sie sich,
denn Ahndung sagte ihnen, daß sie sich nie wieder sehen wurden.
Über Korinth ging der Zug; denn Julanthiskos Hodoiporos *)
und Alexis wollten bey dem Bruder Barys übernachten; auch waren
mehrere der Jungfrauen von der Reise ermattet. Segnend blickten
ihnen, so lange sie konnten, Minoe und Cyparissos nach ; und als sie
wieder in ihre Hütte heimgekehrt, setzte sich die treue Hausfrau an
dem Heerde nieder, wo sie einst Liparos Ring vergraben hatte,
stimmte zur traurigsten Weise ihre Chelys, und sang zum bebenden
Saitenklang das Lied der Trennung:
Sterne trennen sich von Sternen,
Und der Thau benetzt die Flur;
Geister trennen sich von Geistern,
Und es löschen Opferpflammen,
der Wanderer.
— 684 —
Herzen trennen sich von Herzen,
Und es löschen beyder Leben.
Sterne rollen nah1 an Sternen,
Und es werden neue Sonnen;
Geister schmelzen sich mit Geistern,
Und es rauschen Hekatomben;
Doch wo Herz von Herzen scheidet,
Giebt es weder Schlaf noch Lethe!1)
Cypariß, der liebende Hirte, nahm die eburne Chelys und
hing sie stumm an die glatt getäfelte Wand des wirthbaren Zimmers;
aber Minoe, die trostlose Freundinn, weinte lang, ob es ihr gleich
an Thränen gebrach, denn sie wußte, daß die Base Nikrion und
Julanthiskos Hodoiporos nicht wiederkehren und daß sie in dem Thal
der Orakel bald die Hirten und Arkadien vergessen würden; ach!
und Vergessen ist Trennung auf Ewigkeit, denn es trennt auf
Ewigkeit. —
Schlaf und Hoffen flohen die Arme, und nur ein trauriges
Gefühl erfüllte ihr bangendes Herz, das, ihre Freundinn nie wieder
zu sehen, und eine Angst, die, den wundersamen Pilger oder Aletho-
phonen, die Allmächtige, beleidigt zu haben. — Immer hörte sie
noch das Lied, das in dem Eichenwald erklang, als sie von ihrer
Freundinn und von Alexis und von Julanthiskos Abschied genommen.
Schweigend saß sie, hoffnungslos und ahndungslos, die Zukunft
stumm erwartend.
[Ein Pilger von Eleusis mit Gruß von Nikrion, Minoe's und
Julanthiskos* Base, nebst einem Briefe von Minoe fordert sie auf,
mit Cypariß nach Alsotheonien zu wandern, dem Lieblingsthale
Alethophonens, der Beschützerinn Arkadiens].
Itzt umfaßten Alethophonen Julanthiskos und seine Base
Nikrion und Chrysotrichiens kleiner Bruder Eranthos, benetzend
ihr leichtes Gewand mit Thränen des Dankes, der Hoffnung und
der Ahndung. Aber Julanthiskos, lieblicher Jüngling, thatst du
unrecht, mein Lied nicht zu vergessen? Und warum ist Alexis
nicht mit seinem Freunde hier? Ach! entgegnete Alethophonen
der überglückliche Hirt: Spotte nicht länger über meine kindische
Kleinmuth. Alexis blieb daheim schamhaft erstaunend und über
Eros und Anteros Frieden erröthend. Die Thessalische Jungfrau
küßte ihn auf die Korallenlippen. Ein herrliches Gewand faltete
l) Dieses vom Herzog auch komponierte Lied wurde bei
seinem Begräbnisse gesungen [Beck I 1868 Seite 445 ; Appun 1900].
— 685 —
sich um seine majaporische Gestalt, und er lag doppelt reizend in
seines Beschützers Armen, der nicht gewagt hatte, seinen Wankel-
sinn der Allmächtigen zu gestehen. Sie behielt aber die reizende
Base und den kleinen Eranthos bey sich. Julanthiskos Bruder,
der rohe Jäger, der ungebildete Hipparche, Barys, kannte nicht den
Weg nach Alsotheonien; drum blieb er in Korinth, um sich in den
Warfen Ares und Cyprias zu üben, und wie sonst zu schwelgen,
zu buhlen und spielen.
Es kamen noch andere Arkadier und Arkadierinnen gebessert,
geheilt, getröstet und beglückt; aber alle kamen, um zu danken, aus
ihrer niedern Alltäglichkeit zu Alethophonen herauf getragen. Ja,
so erhebt Gebet und Dank den niedern Bewohner des Staubes
zur fernen Gottheit. Aber die bescheidene Zauberinn bewunderte
nur der Hirten Dankgefühl, wie die geringste, aber die seltenste
der Tugenden. Gerührt wandte sie sich zu den neunmal neun
verschleyerten Königinnen: „Anfangs des Jahrs sang ich, und mein
weissagendes Lied erkaufte mir alle diese Herzen. Seyd so gütig,
ihr Verehrten, und singet mir ein Lied am Ende des Jahrs, daß ich
meine Erdenbannung und meine Unvollkommenheit vergesse, ehe
mich Eros und Anteros, die Versöhnten, abholen." Die neunmal
neun Königinnen sangen — doch die Welten und die Sonnen
schwammen in unnennbarer Lust, und ihre Unvollkommenheit
kleidete sich in Himmelsträume ein, und die Unermeßlichen, wie
das kleine enge Arkadien, wußten nicht, was die neunmal neun
Königinnen der Allmacht sangen. Nikrion vergaß bald die Welt
und ihre unbelohnte Liebe, und der kleine Eranthos lernte nie
Männer hinter den purpurnen Vorhängen der krystallenen Propyläen
kennen.
— 686 —
A n t e r o s.
In düstern Wäldern, unschuldsvollen Auen,
Erfinden wir des Daseyns hohes Ziel. —
Bald werden wir vereint die Himmel schauen,
Vergessen bald der Kindheit thöricht Spiel.
Mir magst Du, Eros, künftig immer trauen;
Ich raube nicht, was einmal Dir gefiel.
Du kannst getrost auf meine Allmacht bauen; •
Ich täusche nicht, verspreche nicht zu viel!
Wozu des kurzen Truges mürbe Binde?
Wozu des Wahnes matte Mückenschwingen? —
Wir blenden nicht und wir verwunden nicht!
Und wenn ich hier auch Männerherzen finde,
So soll durch Dich das Bessern mir gelingen,
Wenn mir's an Zauber und an List gebricht.
Schlußvignette der Novelle „Kyllenion".
— 688 —
Nachwort
Es wäre zu wünschen, daß die Akten über den
Herzog August noch nicht geschlossen sein möchten, in
einer Zeit besonders, welche erst beginnt, den Regungen
auch der Menschenseele mit Vorurteilslosigkeit nachzu-
forschen. Solcher Zeit wird die Aufgabe zufallen, den
Widerspruch zu lösen, welcher in der Beurteilung dieser
buntschillernden Menschen-Erscheinung durch zwei ihr
nahe gestandene Männer zu liegen scheint, von denen
der eine sagen konnte: „Hätf er ein Herz, sein Dichter-
kopf, wäre der größte" *) und der andere ein goldenes
Herz entdeckte mit den Worten: „Wem vergönnt war,
das innere Heiligthum zu beobachten, der schätzte diesen
Vorzug; ein Blick in dasselbe zeigte eines der edelsten
Gemüther, das je gewesen.*2)
Literatur über Emil August.
„Anekdote". In: Zeitung für die elegante Welt. Leipzig, Georg
Voß. 1805. Nummer 177 vom 28. September. Spalte 936.
Anonym, Ulrich Jaspar Seetzen. In: Zeitgenossen. Biographieen
und Charakteristiken. Leipzig und Altenburg, F. A. Brockhaus.
Zweiten Bandes dritte Abtheüung. 1817 (1818). Seite 83—106
[Des Herzogs August wird Seite 86 und 105 gedacht].
A[ppun] (G.), Ein Erinnerungsblatt an Herzog August von Sachsen-
Gotha und Altenburg 1804—1822. In: Gothaisches Tageblatt,
52. Jahrg. 1900. Nr. 253, 27. Oktober. Zweites Blatt.
von Bechtolnheim (Katharina), Erinnerungen einer Urgroßmutter
(Katharina Freifrau von Bechtolsheim geb. Gräfin Bueil) 1787
—1825. Mit Originalbriefen von Goethe, Wieland, Herder,
Kai Herin Katharina IL, Kaiser Alexander I. und Kaiserin Maria
von Rußland, Herzog Carl August von Weimar, Ernst IL von
Hachson-Gotha, Frau von Stael, Fürst von Ligne, Graf Segur,
l) Jean Paul Friedrich Richter an Villiers 1810 bei Beck I
1868 Seite 448.
9) von Wüstemann 1823 Seite 12.
— 689 —
Fürst-Primas von Dalberg und von anderen. Herausgegeben
von Carl Graf Oberndorff. Mit 12 Illustrationen und 6 Facsimile-
Beilagen. Berlin, F. Fontane & Co. 1902. XIV und 474 Seiten
in 8°.
Beck (August), Geschiebte des gothaischen Landes. Gotha, £. F.
Thienemann. 1868. Band I. Geschichte der Kegenten. VIII
und 536 Seiten in 8°. Seite 428—451.
August: Emil Leopold, Herzog von Sachsen-Gotha und Alten-
burg. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Erster Band.
Leipzig, Duncker & Humblot. 1875. Seite 681—683.
Döring (Friedrich Wilhelm), Ad memoriam tristissima morte populo
suo nuper erepti serenissimi Saxoniae ducis Aemilii Leopoldi
Augusti a. d. IV. Iul. hora deeima summa pietate inGymnasio
nostro celebrandam omni, qua decet, vereeundia invitat Fridericus
Guilielmus Doering Gymnasii Gothani director. Gothae literis
Reyherianis. MDCCCXXII. 12 Seiten in 4°.
Frid. Guil. Doeringi Commentationes Orationes Carmina latino
sermone conscripta. Accednnt Friderici Jacob si Epistola ad
Doeringium senem felicissimum et E. F. Wuestemanni Oratio in
Doeringi memoriam habita. Norimbergae. Sumtibus Friderici
Campe. 1839. XL und 308 Seiten in 8°. Enthält: 1. Oratio
in memoriam serenissimi ducis Aemilii Leopoldi Augusti habita
4 Jul. 1822. Seite 147—155, IL — 2. Pompam solemnem qua
prineeps juventutis Serenissimus Aemilius Augustus Leopol dus
cum nova conjuge serenissima Luisa Charlotta ducis serenissimi
Suerino-Megapolit. filia urbem ingressus est celebrat Gymnasium
illustre Gothanum. Elegia.1) Seite 197—200, I. — 3. Principi
juventutis serenissimo Aemilio Leopoldo Augusto cum nova
conjuge serenissima Carolina Amalia serenissimi terrarum
Cattiacarum prineipis filia faustissimis auspieiis urbem ingre-
dienti pietatem suam reverenter declarat Gymnasium illustre
Gothanum.2) Seite 201—202, IL
Döring und Kries, Reden bey der zum Andenken des Hochsei. Her-
zogs Herrn Herrn Aemil Leopold August im Gymnasium zu Gotha
den 4. Jul. 1822 angestellten Todtenfey er gehalten von Friedrich
Wilhelm Döring, Director des Gymnasiums und Friedrich Kries
Professor. Auf Allerhöchsten Befehl dem Druck tibergeben.
Gotha, Reyher. 38 Seiten in. 8°.
J) Editio prima mense Novembri 1797. 8 pg. in 4°.
*) Editio prima mense Maj. 1802. 8 pg. in 4°.
Jahrbuch V. 44
— 690 —
Eichstädt (Heinrich Carl), Memoria Augusti Duois Saxoniae
Prinoipis Gothanorutn atqne Altenburgensium. Scripsit Henr.
Carolus Abr. Eichstadius. Editio altera auctior et emendatior.
Gothae in libraria Henningsiana. 1828. VIII und 74 Seiten
in 4°.
Henr. Car. Abr. Eiohstadii Opuscula Oratoria. Orationes
Memoriae Elogia quorum duo inedita Schulen et Ludenii
memoriae dicata. Colleotionem ab auctore inohoatam post eius
mortem absolvit indices adiecit Herrn. Jo. Chr. Weissenborn.
Jenae in libraria Maukiana. MDCCCXLIX. XXXII und 804
Seiten in 8°. Enthält: 1. Parentalia serenissimo nuper prineipi
ac domino Augusto duci Saxoniae prineipi Gothanorum atqne
Altenburgensium sacra in templo Paulino academico rite concele-
branda indieuntur. Seite 14 — 15. — 2. Oratio de felieitate
Aoademiarum ex virtutibus prineipum oriunda in parentalibus
academicis Augusto duci Saxoniae die XXX Jun. a. MDCCCXX1I
celebratis in templo Paulino dieta. Seite 16 — 30. — 3. Memoria
Augusti dneis Saxoniae prineipis Gothanorum atqne Alten-
burgensium. Seite 31 — 95.
Förster (Friedrieh), Preußens Helden in Krieg und Frieden. Eine
Geschichte Preußens seit dem großen Kurfürsten bis zum Ende
der Freiheitskriege. In Biographien seiner großen Männer.
Berlin, Gustav Hempel.
Dritter Band, 1847, Seite 684; Seite 787.
Vierter Band, 1854, Seite 334.
Kunst und Leben. Aus Friedrich Försters Nachlaß. Heraus-
gegeben von Hermann Kletke. Berlin, Gebr. Paetel. 1873.
VHI und 240 Seiten in 8°.
G. (D.), Emil Leopold August, Herzog zu Sachsen-Gotha und
Altenburg. In : Deutscher Ehren-Tempel. Bearbeitet von einer
Gesellschaft Gelehrter und herausgegeben von W. Hennings,
Herzoglich Sächsischem Geheimen Legations-Rath. Gotha,
Hennings. Zwölfter Band. 1832. 41 Seiten in 4° mit dem
Kupferstich „August, Herzog zu Sachsen-Gotha u. Altenburg".
Galletti (Johann Georg August), Geschichte Thüringens. Gotha
beym Verfasser und Ettinger. 6 Bände in 8°. Sechster und
letzter Band. 1785. XVI und 392 Seiten nebst 4 Geschlechts-
tafeln. Seite 237; 246; 257 und 336.
In SächsischeProvinzialblätter, Mai 1822 (nach Beck 1868 IS. 428).
Geschichte und Beschreibung des Herzogthums Gotha, Gotha,
C. W. Ettinger. 4 ältere Theile: 1779—1781. — Theil V 1824.
116 Seiten in 8°. S. 25—47.
— 691 —
von Goethe (Johann Wolfgang), Tag- und Jahres-Hefte als Er-
gänzung meiner sonstigen Bekenntnisse (1749 — 1822). In :
Goethe's Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidirte
Ausgabe. 27. Theil. 1. Abtheilung. Berlin, Gustav Hempel
(Ohne Jahr). Seite 1—291; Anmerkungen von W. Frh. v..
Biedermann Seite 359—548. Register Seite 638.
Heidler (Carl), Bltithen der Phantasie. Zeitz 1819.
Hempel (Friedrich Ferdinand), Herzog August von Sachsen- Alten-
burg und Seine Bauern, eine erfreuliche Geschichte unsrer
Tage. Altenburg, Verlag der Redaction der Osterländischen
Blätter. 1819. 92 Seiten in 4°.
Hennings, siehe D. G.
von Hoff (Karl Ernst Adolph), Aufsätze in „Jenaische allgem.
Litter.-Zeitung, Mai 1822, oder Gothaische privilegirte Zeitung
1822, Nr. 100" (nach Beck 1868 I Seite 428 Fußnote 236). In
der vier Bänden „Jenaische allgemeine Literatur -Zeitung"
19. Jahrgang, 1822, fand ich nichts über den Herzog August;
• in dem Exemplar „Privilegirte Gothaische Zeitung. Auf das
Jahr 1822." der Berliner Königlichen Bibliothek fehlt die auf
der 4. (unpaginierten) Seite der Nr. 100, 25ste Woche, Frey tag»
den 21. Junius, angekündigte, den Nekrolog des Herzogs August
Durchl. betreffende „Extra-Beylage."
Jacobs (Friedrich), Nekrolog. Emil Leopold August, Herzog von
Sachsen-Gotha und Altenburg. In: Allgemeine Literatur-
Zeitung. Vom Jahr 1822. Halle und Leipzig. Zweyter Band..
May bis August. — Julius 1822, Nummer 172. Spalte 4197—504.,
Vermischte Schriften von Friedrich Jacobs. — Erster Theil,.
Gotha, Ettinger, 1823. XXVIU und 546 Seiten. — Sechsler
Theil, Leipzig, Dyk, 1837. XXXII und 592 Seiten. — Siebenter
Theü, Leipzig, Dyk. 1840. XXVIII und 620 Seiten in 12°. —
Inhalt: Theil I: Rede zum Andenken Herzog Ernst des Zweyten
im Gymnasium zu Gotha in Gegenwart des regierenden Herzogs
August gehalten den 9ten Junius 1804. Seite 1 — 86, I (über
Emil August Seite 81—86).
Theil VI : Zerstreute Blätter : 3. A 1 1 o tri a. 1828. Seite 451—463 :
Romantische Studien des Herzogs August Emil Seite 456. —
Erklärung einer Inschrift S. 458—463. — 4. August Emil als
Schriftsteller. 1823. S. 464— 473 : Das Kyllenion Seite 464. —
Polyneon Seite 466. — Roman ohne Titel Seite 467. — Emilia-
nische Briefe Seite 468 — 470. — Briefe eines Kartheusers Seite
471—473. — Anmerkungen. Seite 474—492. — Sonnette
durch das Kyllenion veranlaßt Seite 475—479. — Terminen auf
44*
— 692 —
ein Gemähide von Grassi Seite 480. — Sonnette und Elegie».
Seite 485—491. — Verbesserungen S. 592.
Theil VII: Personalien gesammelt von Friedrieh Jacobs. Mit
dem in Stahl gestochenen Bildnisse des Verfassers. — August
Emil, Herzog von Gotha. Seite 176—179. — 50. Herzog
August Emil. Seite 517—521. — 51. August Emils Brief an
Pius VII. Seite 522—526.
Kletke, siehe Förster.
Klingemann (August), Ein Jahr in Arkadien. In: Zeitung für
die elegante Welt. Leipzig, Georg Voß. 1805. Nummer 115
vom 24. September. Spalte 918.
Jean Paul, siehe Richter.
von Lupin auf Illerfeld (Fr.), Biographie jetzt lebender, oder
erst im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts verstorbener
Personen, welche sich durch Thaten oder Schriften denkwürdig
gemacht haben. Stuttgart & Tübingen, J. G. Cotta. Erster
Band. 1826. VIII und 748 Seiten in 8°. August (Emil Leopoldj
Seite 70—75.
Menzel (Wolfgang), Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf
die neueste Zeit. In drei Bänden. Stuttgart, Ad. Krabbe.
1858—1859. 8°. 3. Band 1859 Seite 74.
von Metzsch-Schilbach (Wolf), Briefwechsel eines deutschen
Fürsten mit einer jungen Künstlerin (Herzog August von Sachsen-
Gotha und Altenburg und Fräulein aus dem Winckel). Mit zwei
Porträts. Berlin, Karl Siegismund. 1893. 308 Seiten in 8°.
Mos engeil (Friedrich), Briefe über den Dichter Ernst Wagner;
enthaltend: Lebensgeschichtliche Nachrichten; Mittheilungen aus
dem handschriftlichen Nachlasse des Dichters; Auszüge aus
Briefen von ihm selbst; vom Herzoge August von S. Gotha;
Jean Paul Friedrich Richter; Fichte u. A. herausgegeben
von Friedrich Mosengeil. Schmalkalden, Varnhagen. 1826.
228 und 164 Seiten in kl. 8°. [Zweites Bändchen Seite 17—76;
Seite 91].
Graf Oborndorff (Carl), siehe von Bechtolsheim.
Perthes (Clemens Theodor), Friedrich Perthes Leben. Nach dessen
schriftlichen und mündlichen Mittheilungen aufgezeichnet. Gotha,
Perthes. 3 Bände 1848—1852—1855 in 80.1) — Ueber Herzog
August: III Seite 16—17.
*) Aohte (Jubiläums-)Ausgabe. 3 Bände. Gotha 1896. 8°. — Band 3 Seite
14—16.
— 693 —
Reichard (Heinrich August Ottokar), Gotha. Aus dem Briefe
eines Reisenden im Junius dieses Jahres. In : Beilage zur All-
gemeinen Zeitung. Donnerstag 4. Jul. 1822. Nr. 109. Seite
433—434 (nach Reichard: H. A. 0. Reichard 1877, Seite 503>
von ihm verfaßt, ebenso ein mir unbekannt gebliebener Aufsatz,
über den Herzog August in der „Staatszeitung").
H. A. 0. Reichard (1751—1828). Seine Selbstbiographie
überarbeitet und herausgegeben von Hermann Uhde. Stuttgart,
J. G. Cotta. 1877. VI und 554 Seiten in 8°.
Richter (Jean Paul Friedrich), Jean PauTs Freiheits-Büchlein ; oder
dessen verbotene Zueignung an den regierenden Herzog August
von Sachsen-Gotha ; dessen Briefwechsel mit ihm; — und die
Abhandlung über die Preßfreiheit. Tübingen, J. G. Cotta.
1805. 128 (nicht 138) Seiten in 8°.
Seid! er (Louise), Erinnerungen und Leben der Malerin Louise
Seidler (geboren zu Jena 1786, gestorben zu Weimar 1866).
Aus handschriftlichem Nachlaß zusammengestellt und bearbeitet
von Hermann Uhde. Berlin, W. Hertz. 1874. X und 480 Seiten
in 8°. — Zweite, umgearbeitete Auflage. 1875. X und
396 Seiten.
von Sternberg (Alexander), Jena und Leipzig. Novelle in zwei
Theilen. Berlin, Lesecabinet. 1844. 282 und 274 Seiten. —
Ueber den Herzog ohne Namennennung II Seite 3 — 5 und 8—11.
v. S t g. ( A. v. Sternberg), Aus der guten alten Zeit. Nr. 2. Fürst-
liche Sonderlinge. In : Die Gartenlaube. Leipzig, Ernst Keil.
1857, Nr. 7. Seite 93—95. Mit einem Textbilde „Herzog
August von Gotha als Griechin" Seite 93.
„Todesfälle". In: Allgemeine Literatur-Zeitung. Vom Jahre
1822. Halle und Leipzig. Zweyter Band. May bis August.
Nummer 165. Julius 1822. Spalte 447.
Uhde (Hermann), siehe Reichard und Seidler.
von Weber (Max Maria), Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild.
Leipzig, Ernst Keil. 3 Bände. 1864—1866 in 8°.
von Wüstemann (Ernst Friedrich), Gothaischer genealogischer
Kalender auf das Jahr 1823. Sechzigster Jahrgang. Gotha,
Justus Perthes. — Ueber Herzog August Seite 7 — 22; Seite 34.
7.Mademoiselle Maupin ( 1 673— 1 707)
„ — je suis d'un troisieme sexe ä part qui
n'a pas encore de nom: au dessus ou au
dessous, plus deieotueux ou superieur" . . .
Thßophile Gautier:
„Mademoiselle de Maupin" (1835).
„ Maderaoiselle Maupin* war die Tochter des
Herrn d' Aubigny, eines Sekretärs des Grafen
d'Armagnac. Geboren im Jahre 1673 wurde sie in
sehr früher Jugend und wohl gegen ihre Neigung mit
einem Herrn Maupin aus Saint-Germain-en Laye ver-
heiratet, lebte aber nicht mit ihrem Manne zusammen,
sondern erlangte für ihn eine Anstellung in den Filialen
der Provinz. Sie besaß eine natürliche leidenschaftliche
männliche Vorliebe für den Gebrauch der Waffen und
als sie während der Abwesenheit ihres Gatten die Be-
kanntschaft des Fechtmeisters S Granne machte, ent-
sprach es ihrem natürlichen Triebe, sich an diesen, der
an ihren weiblichen Reizen Gefallen fand, eng
anzuschließen und bei ihm Unterricht in der
Fechtkunst zu nehmen; dabei zeigte sie eine solche
Geschicklichkeit und machte so schnelle Fortschritte,
daß sie bald ihren Lehrmeister überholte und imstande
war, es mit dem geschicktesten Fechter aufzunehmen.
Ihrem Lehrer und Liebhaber folgte sie nach Marseille.
Hier zwang die Not des Lebens das Paar, noch von
— 695 —
anderen ihrer natürlichen Anlagen als dem Fechttalent
Gebrauch zu machen, und da beide eine gute Stimme
besaßen, so wurde es ihnen nicht allzuschwer, an der
Marseiller Oper Beschäftigung zu finden. Als Sängerin
wollte Frau Maupin nicht Madame Maupin sein, sondern
nannte sich Mademoiselle Maupin und sie wurde wegen
ihrer hervorragend schönen Stimme, einem Konteralt,
der ausgesprochene Liebling des Publikums. Indes
nicht lange sollte diese Oper des Besitzes der Maupin
sich erfreuen und die Schuld daran trug ein Liebes-
abenteuer.
Der Maupin, die es liebte, Männerkleidung zu tragen,
hatte sich als einer neuen Sappho eine so zärtliche Zu-
neigung zu einer jugendlichen Marseillerin (aus guter
Familie) bemächtigt, daß die Eltern des jungen Mädchens
es für nötig hielten, ihr Kind vor den gefährlichen Ein-
flüssen der Sängerin zu schützen und in einem Kloster
von Avignon zu verbergen. Allein die Leidenschaft
macht verwegen. Der Maupin gelang es, den Zufluchts-
ort ihrer Angebeteten zu ermitteln und schnell ent-
schlossen meldete sie sich im Kloster zu Avignon als
Novizin an und ward unter ihrem Mädchennamen als
Demoiselle d'Aubigny aufgenommen. Ungeachtet sie hier
völlig ungestört ihrer Liebe leben konnte, scheint der
dauernde Aufenthalt im Kloster ihr doch wenig behagt
zu haben; denn als gelegentlich eine Nonne gestorben
und eben begraben war, verfiel die Maupin auf einen
höchst abenteuerlichen Gedanken, den sie auch zur Aus-
führung brachte. Sie grub in der Stille den Leichnam
der Nonne aus, schleppte ihn in das Bett ihrer Geliebten,
steckte Bett und Zimmer in Brand und benutzte den
durch die Feuersbrunst (welche das Kloster in Asche
legte) entstandenen Wirrwarr, mit ihrem Herzblatt un-
bemerkt zu entfliehen. Als dann' später nicht nur die
Flucht entdeckt, sondern auch die näheren Umstände
— 696 —
derselben durchschaut wurden, machte man der Demoi-
selle d'Aubigny den Prozeß; es ward zunächst versucht,
das jugendliche Opfer ihren Händen zu entreißen (ein
Versach, welcher zwei Gerichtsdienern das Leben
kostete); nachdem aber alle Schritte als vergeblich sich
erwiesen hatten, wurde sie zum Scheiterhaufen verurteilt,
ohne daß sie vor Gericht erschienen wäre [par contumace];
doch dieser Gerichtsspruch ward wieder aufgehoben, als
eines Tages die junge Marseillerin bei ihren beglückten
Eltern wieder auftauchte.
Inzwischen hatte unsere Heldin in der Provinz ein
unstätes Leben voller Abenteuer geführt; sie war aus
der Männertracht, die sie vorzüglich kleidete, nicht her-
ausgekommen. Auf ihren Irrfahrten gelangte sie endlich
auch nach Paris. Hier debütiert^ sie unter dem Namen
ihres Mannes als Mademoiselle Maupin im Dezember
1690 in der Oper des Palais Royal. In Lully's Oper
„ Cadmus et Hermione* sang und spielte sie die Rolle
der „Pallas*. Mit ihrem seltenen Konteralt bei hervor-
ragender schauspielerischer Begabung erntete sie bei
ihrem ersten Auftreten allgemeinen Beifall; um ihre Er-
kenntlichkeit den Beifall klatschenden Zuschauern kund
zu tun, erhob sie sich in ihrem Wagen und begrüßte
das Publikum, indem sie ihren Helm vom Kopfe nahm:
neues Beifallklatschen! Wirklich war sie sehr hübsch,
besaß prachtvolles Haar und eine Adlernase, und voll-
kommen schön waren auch ihr Mund, ihre Zähne und
ihr Busen. Ob sie gleich nicht eine Note kannte,
wußte sie durch ein erstaunliches Gedächtnis sich zu
helfen. So konnte sie ein und ein halbes Jahrzehnt hin-
durch — freilich nicht ohne freiwillige Unterbrechung
ihrerseits — auf der Pariser Oper in den ersten Rollen
verwendet werden.
Wenn die Maupin in Paris Lust verspürte, für ihr
angetane Beleidigungen sich zu rächen, oder wenn sie
— 697 —
verliebten Abenteuern nachgehen wollte, so vertauschte
sie ihr Frauenkleid mit Mannestracht.
So war sie von einem männlichen Kollegen an der
Oper, dem Sänger Dum&ii *), beleidigt worden und
wartete seiner eines Abends auf der Place des Victoires;
in ihrer Männerkleidung unerkannt geblieben, wollte sie
dem Ankömmling den Degen in die Hand zwingen, um
sich mit ihm zu schlagen; da er aber sich weigerte, so
gab sie ihm eine Tracht Prügel und entriß ihm Tabaks-
dose und Uhr. Am nächsten Morgen gab Dum£ni bei
der Probe sein Abenteuer, das viel Aufsehen erregt hatte,
zum besten; allein er erzählte es nicht dem wahren Vor-
gange gemäß, sondern mit andern Umständen, indem er
sich rühmte, am Abend vorher von drei Straßenräubern
überfallen worden zu sein und sich tapfer zur Wehre
gesetzt zu haben; die Uebermacht aber habe ihn über-
wältigt und ihm Uhr und Tabaksdose entrissen. Nach-
dem Dum^ni die Erzählung seiner Großtaten beendigt,
trat die Maupin, welche unter seinen Zuhörern sich be-
funden hatte, vor und rief ihm zu: „Da hast du mal
schön gelogen! Du bist nichts weiter als ein feiger
Maulheld, denn ich, ich ganz allein, habe dich verhauen;
hier hast du Uhr und Tabaksdose wieder; sie sollen als
Beweis für meine Behauptung dienen." Ein anderer
Kollege der Maupin, der Sänger Gabriel TheVenard2),
der sie ebenfalls beleidigt hatte, fürchtete nach dem Bekannt-
werden dieses Streiches der Sängerin, daß ihm Aehnliches
bevorstehe; er fand es für gut, drei Wochen hindurch dem
Palais Royal fern zu bleiben, und um sich ganz aus der
') Dumeni, oder Dumesnil, starb 1715; seine Glanzrollen
waren: Atys, M6dor, Phaeton, Renaud, Amadis.
*) Thevenard starb 1741, 72 Jahre alt, ein schöner Baryton-
Tenor; er sang zehn Jahre hindurch mit der Rochois, im ganzen
vierzig Jahre (bis 1730), und trank so gut wie er sang („il buvoit
aussi bien qu'il chantoit." Aneodotes dramat. III 1775 S. 472).
— 698 —
Klemme zu ziehen, wählte er schließlich den Ausweg,
die Maupin um Verzeihung zu bitten.
Unter den Besuchern des Wintergartens befand sich
auch ein gewisser Baron de Servan, ein Geck und Prahl-
hans von grenzenloser Eitelkeit. Dieser Mann besaß einen
wahrhaft herkulischen Körperbau und eine schallende
Stimme, zeigte ein anmaßendes Benehmen und prahlte
gern mit den vielen Duellen, die er hervorgerufen
haben wollte. Eines Abends ging er wieder sein Ver-
zeichnis all der Schönen durch, welche der Leidenschaft
für ihn zum Opfer gefallen sein sollten, und redete bei
diesem Anlaß abfällig von einer jungen Balletttänzerin,
einem Fräulein PeYignon, deren untadelhafte Aufführung
jeglicher Verleumdung trotzte. Ein allgemeines GemurmeL
der Mißbilligung einer so unedlen Leistung, welches durch
den Garten lief, hinderte den Baron nicht an der Fort-
setzung seines albernen Geschwätzes. Da erhob sich die
Maupin, welche in einer Ecke des Saales auf einem
Polster geruht, schweigend gelauscht und den
Baron hatte ausreden lassen, trat plötzlich hervor und
wandte sich stolz dem Schwätzer zu ; in ihrem männlichen
Lieblingsgewande sah sie aus wie ein stattlicher junger
Kavalier. „ Wahrhaftig", rief sie, „ich wundere mich über
die Geduld der Anwesenden ! Ihre dreisten und dummen
Fälschungen fordern nicht allein Zurückweisung, sondern
sofortige und ganz exemplarische Züchtigung. Sie sind ein
ehrloser Lügner, und ich bin es, der Ihnen dieses ins
Gesicht sagt.14 „Aber bitte, wer sind Sie, mein Herr?"
fragte vor Wut bebend der Baron. „Der Chevalier de
Kaincy — ein weit besserer Edelmann als Sie und bereit,
Ihnen eine nützliche Lehre zu erteilen," antwortete die
Maupin mit verächtlicher Gebärde. Ihre Lehre aber war
von durchschlagender Wirkung. Der Baron erhielt einen
Pistolenschuß in den Arm, welcher eine Amputation
unumgänglich nötig machte. Und als er erfuhr, daß
— 699 —
die Hand eines Weibes ihn so zugerichtet, verfiel der
Herkules in eine unbeschreibliche, unbändige Wut; — er
verließ Paris und zog sich auf seine Güter zurück. l)
Der eigenartige Liebestrieb dieses Weibes zu Personen
des eigenen Geschlechts war so stark, daß die Maupin
von dieser Seite häufig Unannehmlichkeiten sich aussetzte,
zumal sie es an aller Vorsicht fehlen ließ. So belästigte
sie durch die zärtlichsten Zudringlichkeiten die jugend-
liche Opernsängerin Mademoiselle Moreau, wurde von
dieser aber abgefertigt. Auf einem von dem einzigen
Bruder des Königs Ludwig des Großen in dem Palais
Royal gegebenen Ballfest hatte sie, nach ihrer Gewohn-
heit als Mann gekleidet, sich dazu hinreißen lassen, einer
Dame Anträge zu stellen, welche seitens des männlichen
Begleiters der Dame als die größte Beleidigung aufgefaßt
wurden. Drei von den Freunden dieser beleidigten Dame,
über die Handlungsweise der Maupin entrüstet, beschlossen,
sie auf der Stelle dafür abzustrafen, und lockten sie auf
den Hof; mutig trat sie heraus, griff zum Degen, schlug
alle drei Gegner zu Boden und kehrte, als sei nichts
geschehen, in den Ballsaal zurück. Bei dem hohen Ball-
geber, dem dieser Vorfall zu Ohren kam, brachte die
Maupin es fertig, daß er Gnade walten ließ.
Mitten in ihrem glänzendsten Erfolge als Opern-
sängerin kam die Maupin auf den Einfall, Paris zu ver-
lassen und nach Brüssel überzusiedeln. Hier wurde sie
die Maitresse des Kurfürsten von Baiern, der, nachdem
er ihrer überdrüssig geworden, sie im Stiche ließ, um
seine Gunst der Gräfin d'Arcos zuzuwenden. Behufs Ab-
findung sandte er der Maupin eine Börse mit 40 tausend
*) Ellen Clayton I 1863 Seite 56—57. Für diese Geschichte
mit dem Baron de Servan, deren Quelle die Clayton nicht angibt,
habe ich eine französische Urquelle nicht aufgefunden und schließe
daraus, daß mir doch noch eine auf die Maupin bezügliche Urquelle
muß entgangen sein.
— 700 —
Franken und den Auftrag, Brüssel sofort zu ver-
lassen. Als Ueberbringer dieses Auftrages und der Geld-
summe war kein andrer als der Graf d' Arcos selbst
bestimmt worden. Die Maupin empfing den Abgesandten,
wie man einen Diener empfängt; sie nahm die Börse und
warf sie ihm an den Kopf mit den Worten, das sei der
Lohn für einen Geschäftsmann wie er. So verließ sie
Brüssel mit einer vom Kurfürsten von Baiern ihr zuge-
standenen Pension von jährlich 2 tausend Franken.
Die Erzählungen von dem wunderbaren Spanien,
welche ihr zu Ohren gekommen waren, erregten ihre
Einbildungskraft und sie redete sich ein, daß in diesem
angenehmen und glücklichen Lande ein Erfolg ihrer
Kunst ihr sicher sei. Allein schon bald sah sie sich
grausam enttäuscht und ging in ihren Vermögensverhält-
nissen schnell so zurück, daß sie gezwungen wurde, eine
Stelle als Kammerzofe bei der Gräfin Marino, der Gattin
des Ministers, anzunehmen. Diese Dame war äußerst
verdreht und eigensinnig; die arme Soubrette hielt dennoch
lange ohne Murren bei ihr aus, da sie, bei allen ihren
Fehlern, eine sehr gute Natur besaß und eines sorglosen
Temperaments sich erfreute; zuletzt aber war dennoch
auch ihre Geduld erschöpft und sie entschloß sich, das
ihr lästige Amt aufzugeben, jedoch nicht, ohne vor ihrem
Weggang für alles, was sie hier erduldet hatte, sich zu
rächen. Als sie eines Tages die Gräfin für einen Hofball
zu putzen hatte, brachte die mutwillige Exsängerin beim
Ordnen der Coiffüre ihrer Dame eine Anzahl kleiner
roter Radischen, von ihren Blättchen umrahmt und mit
großen schwarzen Nadeln befestigt, im Nackenhaare ihrer
Gebieterin an; Stirn und Schläfen bedeckte sie zur Her-
vorbringung einer bezaubernden Wirkung mit Federn der
Unterschwanzdecken des Marabut (einer äthiopischen
Storchart, Leptoptilus crumenifer Lesson). Die so ge-
schmückte Gräfin warf einen wohlgefälligen Blick in den
— 701 —
Spiegel und begab sich in gehobener Stimmung auf den
Ball, woselbst der entscheidende Eindruck, den sie dort
hervorrief, sie in eine Aufregung wonniger Eitelkeit ver-
setzte, bis ein vorsichtiger Freund ihr die Wahrheit ge-
stand. Schleunigst verließ sie rot vor Scham und vor
Wut fast erstickend in ungestümer Hast den Ballsaal.
In fliegendem Zorn erreichte sie ihre Wohnung, um ihn
an der verräterischen Kammerzofe auszulassen; aber es
war zu spät — diese hatte klugerweise ihre Rück-
reise nach Paris bereits angetreten.1)
In Paris trat sie wiederum bei der Oper ein, ohne
jedoch ihre großen Erfolge der früheren Zeit wieder
erringen zu können. Sie schloß sich nun dem Grafen
d'Albert an, einem ehrlichen Liebhaber, der sie schon
einmal umworben hatte, anscheinend der einzige Mann,
dem die Maupin eine gewisse Anhänglichkeit bewahrte.
Auf einmal aber gab ihre Laune ihr ein, sich von allen
ihren Liebhabern loszusagen, mit den außer ihrer Gage
allein ihr verbleibenden Mitteln des Kurfürsten von Baiern
ein regelmäßiges Leben .zu führen, ihren bis dahin ver-
nachlässigten Ehemann nach Paris kommen zu lassen und
mit diesem in vollständigster Einigkeit bis zu seinem im
Jahr 1701 erfolgenden Tode zu leben.
Endlich um die Mitte des Jahres 1705 — die Maupin
war jetzt 32 Jahre alt — entstand bei ihr der Plan, auch
dem Theater zu entsagen. Da sie nichts Folgenschweres
zu unternehmen pflegte, ohne ihres redlichsten Liebhabers,
des Grafen d'Albert, Bat einzuholen, für den sie so viel
Achtung wie aufrichtige Freundschaft empfand, so schrieb
sie diesem, teilte ihm ihren Entschluß, sich von der Welt
zurückzuziehen, mit und bat ihn um seine Ansicht darüber;
sie erwarte, daß er diesen ihren Entschluß billige, um
*) Ellen Clayton 1 Seite 59—60. Auch von diesem Passus, dem
Aufenthalt der Maupin in Spanien, gilt das in der Fußnote Seite
699 dieser Arbeit Gesagte.
— 702 —
ihn mit desto größerem Vertrauen unternehmen zu können.
Das Schreiben der Maupin war der Anlaß zu einer Ant-
wort des Grafen, welche von dem starken und nachhaltigen
Eindruck Zeugnis gibt, den die Maupin auf den Grafen
gemacht; der erhaltene Teil dieser Antwort lautet:
„ Bedenken Sie auch, an wen Sie sich wenden? Ist
es meine Religion, die Sie auf die Probe stellen wollen,
mein Herz, meine Gefälligkeit? Und rechnen Sie etwa
darauf, indem Sie mich um Rat befragen, daß ich Herr
genug meiner eigenen Empfindungen sei, um Sie in den
Ihrigen bestärken zu können? Haben Sie die Vorstellung
von dem gänzlich verloren, was ich Ihnen gegenüber bin ?
Man will mich zwingen, mein eigenes Unglück gut zu
heißen — heißt das nicht, mich zu alP meinem Unglück
noch beschimpfen? Und verdienten nicht Sie, für Ihre
Ungerechtigkeit dadurch gestraft zu werden, daß ich
gegen Sie Partei für die Welt nähme? Dessen bin ich
gewiß, daß bei Ihnen kein Zweifel besteht über den An-
teil, den ich an allem nehme, was Ihr Glück bewirken
kann; allein übersehen Sie dabei nicht, daß Sie das, was
Sie erstreben, nur auf Kosten meiner Wünsche erreichen
können und nicht ohne daß es mir meine Ruhe raubt?
Müssen Sie nicht furchten, indem Sie mich nötigen, für
das, was Sie treiben, mich zu interessieren, daß ich mir
alle Mühe gebe, Ihnen den geplanten Schritt zu wider-
raten? Und können Sie sich verständigerweise einem
Manne anvertrauen, dem es unmöglich ist, ohne Verrat
an seinen eigenen Interessen, ehrlich und aufrichtig zu
raten? Das alles wissen Sie; in dem Augenblick, in
welchem Sie der Welt entsagen, gehen unsere Wege aus-
einander. Welch einen Koloß von Güte machen Sie aus
mir, damit ich der guten Meinung, welche Sie von mir
hegen, entsprechen könne! Und wie schwer kommt es
mir zu stehen, daß ich Sie von meiner Aufrichtigkeit
überzeugt habe! Es fehlt nur noch, daß ich mich von
— 703 —
mir selbst loslöse, um mich ganz Ihnen anzupassen; daß
ich alle Gefühle von Empfindlichkeit und Zärtlichkeit
ersticke; daß ich endlich Ihnen gegenüber eine Sprache
führe, welche den wahren Regungen meines Herzens
schnurstracks zuwider läuft, und daß ich mich opfere, um
Ihnen zu gefallen. Niemals wirkt die Vernunft so mächtig
auf die Natur. So setzen Sie denn auf dieses Opfer den
vollen Lohn, den es wert ist; es ist das größte, welches
ich gebracht habe und je in meinem Leben bringen
kann." Im Verlaufe des Schreibens entwickelte der Graf
d' Albert der Maupin alle Gründe, welche sie veranlassen
könnten, der Welt weiter anzugehören, ohne ihr zu ver-
schweigen, daß noch triftigere Gründe ihr die Weltent-
sagung nahelegten, und konnte so nicht umhin, die Mau-
pin in ihrem Beschlüsse zu bestärken. Und die Maupin
führte ihren Entschluß auch aus; sie zog sich in ein
Kloster zurück, in welchem sie (im Gerüche besonderer
Heiligkeit) schon im Jahre 1707 verstarb.
* *
*
Karl Heinrich Ulrichs hat die Absicht gehabt,
in seiner geplanten Zeitschrift „Uranus" unter den „histo-
rischen Urninginnen u zuerst der „Fechtmeisterin Maupin Ä
ein Biogramm zu widmen1); diese Absicht hat er leider
nicht ausgeführt; es ist hier der Versuch gemacht worden,
das Versäumte nachzuholen.
Aus den im Li teratur-An hange aufgeführten^ die
Maupin betreffenden wenigen Schriften sind hier die
französischen Quellen zu Grunde gelegt; das der
englischen Quelle Entnommene ist besonders ange-
geben. Zusätze der deutschen Darstellung, deren
Quellennachweis ich nicht führen kann, sind durch eine
runde Klammer ( ) kenntlich gemacht.
•) K. H. Ulrichs: „Prometheus", Leipzig, Serbe, 1870, Seite 80
unter 9).
— 704 —
Es wäre im höchsten Grade verwunderlich, wenn der
reiche Romanstoff dieses kurzen Menschenlebens nicht
einen Nachdichter gefunden hätte. Er ist ihm auch ge-
worden: in der Person des französischen Schriftstellers
Th^ophile Gautier(1811 — 1872), welcher in seinem
kecken Roman „Mademoiselle de Maupin*1) die Natur
unserer Heldin in durchaus selbständiger Erfindung durch
Umgestaltung in eine Art Zwitterwesen mit Beibehaltung
ihres Namens verwendet hat. Er läßt sie in der Gesell-
schaft unter dem Namen Madelaine de Maupin als Weib
und unter dem Namen Theodore de S&rannes als Mann
auftreten und legt ihr selbst ein unzweideutiges Bekennt-
nis ihrer Zwitternatur in den Mund: „In Wirklichkeit,
weder das eine noch das andere der beiden Geschlechter
Mann und Weib ist mein Geschlecht, ich besitze weder
die schmähliche Unterwürfigkeit, noch die Aengstlichkeit,
noch die Kleingeistigkeit des Weibes; ich habe auch nicht
die Fehler der Männer, ihre widerliche Schlemmerei und
ihre rohen Triebe: — ich gehöre einem dritten Sonder-
Geschlecht an, das einen Namen noch nicht erhielt : höher
oder tiefer stehend, mangelhafter oder vollkommener2);
*) Thöophile Gautier, Modemoiselle de Maupin, Paris,
E. Renduel, 1835. 8°. — Nouvelle Edition, Paris, G. Charpentier Co.,
1885, 1 vol., 421 Seiten.
A. B., La preface de Mademoiselle de Maupin dans l'edition
originale et dans les editions actuelles. in: La Curiosite' littßraire
et bibliographique, premiere serie, Paris, I. Liseux, 1880. Seite 159
bis 164.
Ein Porträt der Maupin habe ich leider nicht aufgetrieben.
Der Eoman Gautier's aber scheint auf die Phantasie darstellender
Künstler mehrfach befruchtend eingewirkt zu haben; so bringt
Aubrey Beardsley in seinem „The later work. With upwards
of 170 designs, including 11 in photogravure and 3 in colour.<k
London 1901 in 4°, als Frontspice ein Phantasiebild der „Mademoi-
selle de Maupin" in Männertracht.
2) Dieses ist die Uebersetzung des Motto Seite 694 dieser
Arbeit.
— 705 —
mir ward der Leib und die Seele eines Weibes, der Geist
und die Kraft eines Mannes und ich habe zu viel oder
nicht genug vom einen und vom andern, um mit einem
von beiden mich paaren zu können."1)
Literatur über die Maupin.
a. Die französischen Quellen:
Aneodotes Dramatiques. Tome troisieme. Paris, Daohesne.
1775. Article „Maupro". Seite 328—334.
Biographie universelle ancienne et moderne. Nouvelle Edition.
Paris, C. Deplaces. Tome XI. 1852. Article „Dumeni ou
Dumesnil" par Z. Seite 515. — Tome XXVII. 1860. Article
„Maupin" par A. B-t. Seite 331—332.
Biographie universelle des Musioiens et Bibliographie
generale de la Musique. Deuxieme Edition. Par F. J. Fetis,
Paris (8 Bände und 2 Supplementbände). Tome VI. 1870.
Seite 36—37.
Bibliotheque historique illustre^ L'ancienne France. Le
Theatre: Mysteres — Tragödie — Comedie et la musique:
instruments — Ballet — Opera jusqu'en 1789. Ouvrage illustrß
de 228 gravures et d'une Chromolithographie. Paris, Firmin-
Didot & Cie. 1887. Auch: Le Theatre et la Musique. 304 1
Seiten in 8°. |
Dictionnaire des Optras par Felix Clement et Pierre La- |
rousse. Paris, Administration du grand Dictionnaire universal. B
Ohne Jahr. Article : „Cadmus et Hermione". Seite 128.
b. Die englische Literatur:
Clayton (Ellen Creathone): Queens of Song: being memoire of
some of the most celebrated female Vocalists who have appe-
ared on the lyric stage, from the earliest days of Opera to the
present time. To which is added a chronological list of all
the operas that have been performed in Euröpe. By Ellen
Creathone Clayton. In two Volumes. London, Smith, Eider
& Co. 1863 in 8°. With six portraits. Vol. I. With 2 portraits.
XVI und 382 pg. — Vol. IL With 4 portraits. 462 pg. —
Ueber die Maupin handelt Band I Seite 52 — 61.
^Thßopbile Gautier, Mademoiselle de Maupin, nouvelle
edition, Paris, 1885, Seite 398.
— 706 —
o. Die deutsche Literatur:
Schilling (Gustav): Encyclopädie der gesammten musikalischen
Wissenschaften oder Universal-Lexikon der Tonkunst Neue
Ausgabe. Stuttgart, Franz Heinrich Köhler. IV. Hand. 1840.
Seite 606—607.
Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles
Wissenswerten für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theater-
freunde. Herausgegeben von R. Blum, K. Herloßsohn, H.
Marggraff. Altenburg und Leipzig, Expedition des Theater-
Lexikons (H. A. Pierer, C. Heymann). Band V. 1841. Ar-
tikel „Maupin": Seite 258—259.
Paul (Oscar): Handlexikon der Tonkunst 2 Bände. Leipzig,
Heinrich Schmidt. 1873. Zweiter Band. Artikel „Maupin":
Seite 86.
Berichtigung einiger Druckfehler:
Seite 508 Zeile 4 von oben ist zu lesen: zu dieser Schrift — statt:
diese Schrift
„ 545 „ 13 „ „ „ „ „ Flav. Philost.
„ 548 „ 10 „ „ „ „ „ durchaus — statt: duchaus
„ 557 „ 1 „ „ „ „ ergänzen: 5.
„ 616 „ 18 „ „ „ „ lesen: 1801 statt: 1802
„ 628 ist in Fußnote 6) vor Appun zu ergänzen: Reiohard 1877
Seite 502;
„ 649 muß es in Zeile 5 der Fußnote ') heißen: Jacobs VI 1837
(1828) Seite 456—458; (1823) Seite 464—492.
„ 657 Zeile 1 der Fußnote 2) ist zu lesen: griechische — statt:
grichische
„ 704 Zeile 1 der Fußnote l) ist zu lesen: Mademoiselle — statt:
Modemoiselle
Druck von G. Reichardt, Groitzsch.
Jahrbuch
für
sexuelle Zwischenstufen
mit besonderer Berücksichtigung- der
Homosexualität.
Herausgegeben
unter Mitwirkung namhafter Autoren
im Namen des
wissenschaftlich-humanitären Komitees
von
Dr. med. Magnus Hirschfeld,
prakt. Arzt in Charlottenburg.
V. Jahrgang II. Band.
Leipzig.
Verlag von Max Spohr.
1903.
j
Inhalts-Verzeichnis.
Über die androgynische Idee des Lebens. Von Drs. L. S. A. M.
v. Römer-Amsterdam 707
Die Ainoweiber von W. Cohn-Antenorid . . 941
Bibliographie der Homosexualität. Von Dr. jur. Numa
Praetorius 943
Annie Jones f 1902 . . .1157
Die Homosexualität im Russischen Strafgesetzbuch. Von
Vladimir v. Nabokoff, Prof. d. Straf rechts, Petersburg 1159
Aus den Aufzeichnungen eines Geistlichen .1172
Zeitungsausschnitte 1179
Jahresbericht 1292
R. v. Krafft-Ebing f 1902 1293
Georg, Prinz von Preußen f 1902 . . 1298
F. A. Krupp f 1902 1304
General Macdonald f 1903 1322
VI. Abrechnung 1355
t
Abb. 1. Hermaphrodit im Berliner Alten Museum.
Naoh Original-Photographie.
Über
die androgynische Idee
des Lebens.
Von
L. 8. A. M. v. Römer
Arzt, med. doct| zu Amsterdam.
M
i
Das Leben des Menschen können wir unter zwei
absolut verschiedenen Gesichtspunkten betrachten:
Einmal, wie der Mensch sich zu der Gottheit, der ge-
dachten Ursache als reinen Abstraktion, und der Essentia
von Allem, was ist, verhält, — dann aber hinsichtlich
der Verhältnisse der Menschen unter einander.
In jeder von diesen Sphären können wir verschiedene
Teile unterscheiden, wovon wir aber nur einen Teil ge-
nauer untersuchen wollen.
In der ersten Sphäre wollen wir den Teil unter-
suchen, den man Religion nennen kann, d. h. das Sich-
verbunden-fühlen mit etwas, was wir Gott nennen,
und das Streben nach völligem Einswerden, nach einem
Sich-durchdrungen-wissen vom göttlichen Princip, nach
der höchsten Harmonie mit Gott. In der zweiten Sphäre
aber den damit analogen Teil, den man Liebe nennen
kann, d. h. das Erkennen einer Harmonie zwischen uns
und einem anderen Menschen, oder das Erkennen einer
mehr oder weniger großen Harmonie in dem anderen; das
Erkennen der Gottheit im Anderen und das Streben eins
mit diesem zu werden. — Bis dorthin spielt sich dies
alles nur im Seelenleben ab; wenn aber diese rein
psychische Empfindung ihren höchsten Grad erreicht hat,
so reflectiert sich diese Emotion, diese Extase auf den
Körper; man will also, daß auch die Körper eins
werden, und in der Umarmung, dem ersten Ausdruck
dieses Strebens, geschieht der Akt, den wir gewöhnlich
„sexuell" zu nennen pflegeu.
— 712 —
Diese Liebe möchte ich „absolute Liebe* nennen
und ich glaube, daß sie in dieser Form vielleicht nur
beim ersten Liebesempfinden absolut rein sein kann.
Sowie einmal sexueller Orgasmus empfunden wurde,
kann einer folgenden Strebensäußerung ein Wieder-
empfindenwollen des bereits gekannten Genusses beige-
mischt sein. Allerdings ist dies nicht absolut notwendig.
Dringt das oben erwähnte Psychische nicht über
die Schwelle des Bewußtseins, d. h. wird solch ein Akt
nur als direkte Folge einer Plethora seminalis oder
anderer rein-körperlicher Zustände verübt, so kann man
nicht von Liebe sondern nur von Sexualität sprechen.
Diese letztere wollen wir hier nicht weiter untersuchen,
sondern uns nur an die erste Form halten.
Wir haben also zwei analoge Fälle. Im ersten Falle
ein Sich-vereinigen-wollen mit der Gottheit, im zweiten
mit einem Menschen. — Selbstverständlich ist in dem
ersten nur von einer psychischen Vereinigung die Rede,
obwohl wir viele Fälle kennen, in denen religiöse Extase
die höchste Reflectierung auf den Körper, bis zu sexueller
Erregung hervorbrachte. Vielleicht erklären sich daraus
am besten die Tentationen der Heiligen, wenn sie in
ihrer extatischen Anbetung statt des Crucifixes einen
weiblichen Körper vor sich sahen.
Anmerkung: Als interessantes Beispiel für unserer Auffassung
reproducieren wir eine Abbildung aus C. S. 79 — als unsere Abbüdung 2.
Die Heilige Theresia ist hier sicherlich in höchster erotischer, d. h.
körperlicher Extase dargestellt, zu der sie durch eine
ursprünglich geistige Extase gelangte. — Daß unsere Auffassung
hierdurch wirklich illustriert wird, beweisen die beiden folgenden
Citate aus Taine und aus den Memoiren der H. Theresia, welche
wir aus Lemesle's Arbeit übernommen haben:
(Taine Voyage en Italie t I, p. 298.)
Elle est adorable, couchee evanouie d'amour les mains,
les pieds nus pendants, les yeux demi-clos, olle s'est laissee
tomber de bonheur et d'extase. Son visage est maigri mais
combien noble! C'est la vraie grande dame qui a seche dans les
— 713 —
feux, dans les larmes en attendant celui qu' eile aime. Jusqxi'aux
draperies tortillees, jusqu'ä l'alanguissement des mains däfaillantes
il n'y a rien en eile ni autour d'elle qui n' exprhne l'angoisse volup-
tueuse et le divin elancement de son transport. On ne peut
rendre avec des raots üne attitude si enivrße et si touchante.
Renversße sur le dos, eile päme, tont son §tre se dissout: le
raoment poignant arrive, eile gßmist : c'est son dernier gemissement
la Sensation est trop forte. L'ange cependant, im jeune page de
14 ans en lagere tunique, la poitrine dßcouverte, jnsqu'au-dessous
du sein, arrive gracieux aiinable, c'est le plus joli page de grand
Abb. 2. Transverberatio Sa e Theresia e (Kirche Sancta Maria della
Vittoria, Marmor-Gruppe v. Bernini.) — Aus Lemesle.
seigneur, qui vient faire le bonheur d'une vassale trop tendre.
Un sourire demi-complaisant , demi-malin creuse des fossettes
dans ses fraiches joues luisantes : Sa fleche d'or ä la main indique
le tressaillement dßlicieux et terrible dont il va secouer tous les
nerfs de ce corps charmant, ardent, qui s'etale devant sa main.
On n'a jamais fait de roman si sßduisant et si tendre.
Memoires de Sainte Th6rese d'Avila, (edition Arnault Andry
— la Transverberation).
„A mon cote gauche, j'ai vu un ange, dans une forme
corporelle. II etait petit d'tine merveilleuse beaut6 et son visage
— 714 —
Itincelait de tant de lnmiere, qu'il me paraissait nn de ceux de
premier ordre, qni sait tont embrases de l'amour de Dien, et qne
Ton nomme seraphins. Cet ange, avait a la main nn dard, qni
6tait d'or, dont la pointe 6tait fort large et qni me paraissait
d'avoir a l'oxtremitä nn pen de fen; il me semble, qn'il l'enfonca
diverses fois dans mon coenr et qne toutes les fois, qu'il Ten
retirait, il m'arrachait les entrailles et me laissait tonte brülante
d'un si grand amonr de Dien, que la violence de ce fen me
faisait jeter des cris, mais des cris meles d'nne si extreme joie
qne je ne ponvais desirer d'etre delivree d'une donlenr si agreablo
ni tronver de repos et de contentement qu'en Dieu senl. Cette
donlenr dont je parle n'est pas corporelle mais tonte spirituelle
qnoiqne le corps ne laisse pas d'y avoir beanconp de part.u
Es kann nichts Befremdendes an sich haben, daß
die höchste psychische Extase sich sozusagen in eine
körperliche verwandelt, da ja im Menschen, welcher
Seele und Körper ist, notwendig der Körper das teilen
muß, was im Seelenleben sich abspielt, wie andererseits
die Seele durch körperliche Zustände beeinflußt wird.
So kann man sich also sehr wohl denken, daß die
obenerwähnte Plethora seminalis als körperlicher Zustand
an sich zwar unbewußt bleibt, den betreffenden Menschen
aber für Liebesreize empfindlicher macht. —
Als sich nun der Mensch der göttlichen Idee bewußt
wurde, wollte er sich diese Idee auch vorstellen und, da
er sich eine handelnde Idee am leichtesten, anthropomor-
phisch denkt, bildete er sich Götterbilder. — Die große
Gefahr, die darin liegt, daß der Mensch die Bilder mit
der Idee verwechseln könne, veranlaßte wahrscheinlich
Moses zu seinem Verbot, Bilder von der Gottheit zu
machen.
Aber wie kann man die Gottheit in höchster Form
sich anders denken wie als vollkommene Harmonie von
Allem, was ist? Umfassend das Seiende, sich äussernd
in allem, und im Vollbesitze jeder Eigenschaft der Natur?
Wir erkennen nun in der Natur zwei große Gruppen
von Eigenschaften: nämlich die aktive d.h. die schöpfende,
— 715 —
erzeugende, generative, die reizende, die handelnde und
die passive, die empfindende, vegetative.
Da aber die Gottheit sich durch beide Gruppen
äußert, so muß die Gottheit die aktiven und passiven
Kräfte umfassen, die reizende und die empfindende,
die generative und die vegetative — das heißt also nach
Analogie die männlichen sowohl wie die weiblichen Kräfte.
Kann es uns nun wundern, wenn man sich die Gott-
heit als Einheit dachte, sich materiell als Mannweib,
als Androgyne vorstellte?
Die Gottheit, die Harmonie von Allem, von den
beiden Prinzipen: Mann und Weib, ward dann auch
immer als Androgyne gedacht und dementsprechend ab-
gebildet (XXII. — T 1. p. 461. — XL VIII p. 56 c. 5). j
Wir wollen zuerst beweisen, daß wirklich in fast i
jeder ßeligion der höchste Gott, oder der einzige Gott i
bestimmt androgynisch gedacht und abgebildet wurde. >
Anfangend mit der ältesten von mir studierten Religion, 1
der Indischen, finden wir zuerst, daß Gott von den indischen
Weisen die aktive Kraft und der in der Schöpfung
als passiv betrachtete Stoff genannt wird, und man
kann die Ausdrücke: „männlich" (pooroosha) und „ weiblich*
(prakritee) sehr oft in ihren Schriften finden: „Gott besitzt
Form, wenn die aktiven und die passiven Kräfte vereinigt
sind/ (ügustyu p. 33. — CLXXXIX T. IV. p.XXII.)1)
Als älteste Götterprinzipen erkennen wir in der
Indischen Religion : das Wasser (Wischnu) und das Feuer
(Qiva). »Der Vischnu aber mußte seinem Bruder Qiva
einst die Dienste eines Weibes leisten, damit die Welt >
geschaffen werde" (CXXVI v. Schiba). Das Zeichen Qiva's
*) God is spoken of by the Hindoo sages as the active power
and mother as passive in the work of creation, and hence the terms
male (pooroosha) and female (prakritee) are frequently found in
their writings: „God, when the active and passive powers are
united, possesses form." [Ugustyu p. 33.]
— 716 —
war ein Triangel mit Spitze nach oben (^), das auf-
wärtsstrebende Feuer versinnlichend, wie das umgekehrte
(\J), des feuchten Wischnu Symbol, das abwärtsfließende
Wasser versinnbildlichte (Ebenda)2). — Schon hier wollen
wir darauf hinweisen, daß also dem Akt der Schöpfung
das Zeichen jfa gegeben worden ist, welches bei den
Juden zum Symbole Jehovah's wurde.
Aus Vischnu entstand die Welt. Aus dem Nabel
Vishnus sehen wir in Abbild. 3 einen Lotus empor
Abb. 2*. Aus Soldi.
wachsen. Der Lotus ist aber der zweifache Typus des
göttlichen und menschlichen Hermaphroditen, da er
sozusagen beide Geschlechter in sich vereint 3) (XXII
T. I. p. 409). Diese Pflanze, welche im Wasser lebt,
2) Eine interessante Abbildung ist unsere 2*, welche die Eins-
werdung von Wasser und Feuer nach indischer Auffassung wieder-
gibt. Reproduziert aus CLXXII IL S. 125.
8) The Lotus is the two-fold type of the Divine and human
Hennaphrodite being so to say, of dual sex.
— 717 —
bringt zwischen ihren breiten Blättern eine Blume hervor,
deren Kelch die Form einer Glocke hat. In dieser Blume
entwickeln sich dann die befruchteten Samen für junge
Pflanzen, welche sich von der gemeinsamen Mutterblume
ablösen, auf dem Wasser schwimmend Wurzel fassen,
wohin sie eben getrieben werden. Diese gewissermaßen
aus sich selbst sich erzeugende, aus sich selbst sich
entwickelnde, nicht direkt von der Erde genährte Pflanze
ist das Symbol der produktiven Kräfte des Wassers,
über welche der aktive Geist des Schöpfers, der Odem
Gottes, sich verbreitete, um das Leben zu erwecken
(XCIV p. 47: XCIII § 146, XLIV, I tf. 412). Dieser
Lotus trägt nun den Brahma, den neuen Schöpfer der
Abb. 3. Aus Creuzer.
Welt. — (XXII, Bd. II S. 344) — XLIV Bd. I S. 572
No. 8). In unserni Bilde ist m. E. gerade' der Umstand
sehr -interessant, daß Vishnus Gattin, Lakschmi, nur zu
4) Vishnu is represented with a Lotus growing out of his
navel — or the Universe of Brahma evolving out of the Central
point, Nara — .
— 718 —
Vishnus Füßen sitzt, aber an der Schöpfung nicht Teil
nimmt. Aber auch Brahma ist wieder androgynisch
gedacht. (XXII Bd. I p. 38) b) Brahma teilt sich, die
eine Hälfte war männlich, die andere aber weiblich.
Diese wurde Väch genannt. Brahma vereinigte sich mit
Väch und erzeugte Virädj (CXXXVI. S. 79 6) — Bd. I S.
117 7). Und dann geht Manu (CXXXVI S. 80) 8) weiter:
Abb. 4. Aus Cfruzer.
6) Brahman (neuter) the unmanifested is the Universe in
abscondite, and Brahma the raanifested is the Logos, made
male-female in the symbolical orthodox dograas.
6) Ayant divise son corps en deux parties, le souverain maitre
devint moitie male et moitie femelle, et s'unissant ä cette partie
femelle, il engen dra Virädj.
7) According to Manu, Hiranyagarbhe is Brahma, the first
male formed by the undiscernable causeless Cause in a Golden
Egg resplendent as the Sun. — That Being is surely androgynous
and the allegory of Brahma seperating into two, and creating in one
of his naives (the female Väch) himself as Viräj is a proot of it.
R) Apprenez, noble Brahmanes, que celui, que le divin male
(Pouroucha) appelß Virädj, a produit de lui meme en se livrantäuno
devotion austere c'est moi, Manou, le createur de tout cet univers.
— 719 —
„Hört, edle Brahmannen, der, welchen der göttliche
Männliche (Pouroucha), genannt Virädj, aus sich selbst
erzeugt hat, in strengster Devotion versunken, bin ich j
Manu der Schöpfer des Alles*.
Die Auffassung aber, daß Brahma androgynisch ist,
war schon dem Porphyrius bekannt, wie Creuzer uns
mitteilt (XLIV, Bd. I, S, 451).
Sehr oft ward der Qiva mit seiner Gattin so sehr
verbunden vorgestellt, daß die Gottheit nur einen Körper
bildet, der Qiva ardhanaricvara. Man sehe die Abbil-
dung 5 nach dem Original im Leidener Museum für
Altertümer, und die Abbildung 4 [nach einer Abbildung
in Creuzer (XLII).]
Wir werden später sehen, um wie viel höher ent-
wickelt die materielle Vorstellung der Gottheit in Egypten
und dem klassischen Altertum war. \.
Mit Bezug auf das Leidener Bild ist die Mit- [
theilung von Knight (XCIII § 50) interessant, der ein g
analoges Bild beschreibt, und meint, daß vielleicht die f
Kenntnis der Griechen von solchen Bildern als letzte f
Ursache für die Sage von der Verstümmelung der j
rechten Brust der Amazonen angesehen werden könne. \\
Blavatsky schreibt, daß in einem der ältesten <
Katechismen von Süd-Indien, Madras, die androgynische {!
Göttin Ardhanari, in der Mitte ihres Körpers das <l
„Svastika", Crux ansata, das Henkelkreuz (XXII. Bd,IL
S. 34) „das männliche und weibliche Zeichen" hält. Diese
Mitteilung wird vervollständigt durch das, was dieser
Autor aufS. 33 schreibt: Ein Kreis mit einem Durchmesser
0 symbolisiert die weibliche Natur. Theosophisch stimmt
dieses dann überein mit der primitiven Stammrasse (the
primitive ßoot-llace). Als die weibliche Natur aber an-
drogynisch ward, da entwickelte sich, wie die Rassen,
(man sehe später) auch dieses Symbol zu einem Zirkel
mit Diameter, wovon aber eine vertikale Linie entspringt
AbK \ 0N^ *v^!UN*rio\ÄV* hu* tWro \ eUe^Nr Museum*
9) I an the father of this Universe, the mother, the creator,
the grandsire .... the syllable Om".
10) I alone am your mother, father, and I too am the Son.
") „The hermaphrodite [Urjoonu] who taught the children to
dance, was skilful in driving the chariot in time of war" und:
„Urjoonu [resolve] in conformity to a curse that had been pronoun-
ced upon him by Rumbda, to become an hermaphrodit, and teach
the kings children to sing and dance."
f
— 721 —
0, d. h. männlich und weiblich, aber noch nicht völlig
geschieden, und somit androgynisch. Dies letzte Symbol
aber ist dasselbe wie -^ das Henkelkreuz der Egypter
und Jndier, aber auch dasselbe wie Q, das Zeichen für
Venus, was höchst interessant ist für das, was man jj
weiter unten lesen wird.
Weitere Belege dafür, daß die Indier sich die Gott-
heit als androgynisch dachten, finden wir in Bhagavadgitä
(XVII S. 83 eh. IX). Die Gottheit sagte dem Arguna:
„Ich bin der Vater dieses Alls, die Mutter, der Schöpfer,
der Urvater .... der Laut Om9) und Sanatsugatiya
(CLXVIS.193Ch. VI, 24): Ich allein bin deine Mutter,
dein Vater, und ich bin auch der Sohn.14 10)
Arguna ist aber selber androgynisch, wie uns Ward
CL(XXXIX Bd IV S, 437 u. 439) mitteilt.
In der Mahabharata, einem epischen Gedichte, kommt
eine Stelle vor, wo Arguna der Helden-Krieger, den
Kindern des Königs tanzen und singen lehrt, als er sich,
als Hermaphrodit, im Palaste befand. ] J) Wenn wir oben
sahen, wie die alten Indier sich ihre androgynischen
Götter abbildeten, so lehren uns die Abbildungen 5 und
6, wie die tibetanischen Buddhisten ihre Schutzgötter
darstellten, der männliche Gott steht und an ihm hängt,
ihn mit ihren Beinen umschlingend, das weibliche Prinzip,
seine Qakti.
Die erste Abbildung soll der Yi-dam bDe-mccog
d. h. der Schutzgott, der das höchste Glück symbolisiert,
Abb. 6. Aus Grün w edel.
— 723 —
die andere aber Yi-dam Hevajra darstellen. Ausführlich
beschreibt Grünwedel (LXXI S. 105—106) diese Bilder;
ich will seine Beschreibung hierhersetzen.
„Der Name des ersten Samvara (tibetisch bDe-mccog)
weist deutlich darauf hin, daß wir es mit einer rein
Abb. 7. (Aus Griinwedel).
9ivaistischen Bildung zu thun haben. Der letztere hat
eine gewisse historische Merkwürdigkeit dadurch, daß
als Kh ubilai Kh agan und seine Gemahlin von aPcags-
pa, die Weihen erhielten und sich damit zum Buddhis-
Jahrbuch V. 46
— 724 —
mos bekannten, dies durch die Hevajra-vsujitä (Weihe
des Hevajra) geschah
„Der Kultus des bDe-mccog soll in der Provinz
Tsa-ri seinen Haupteitz haben. Dort soll der wahrhaftige
Mahädeva (£iva) hausen. Der zwölfarmige vierköpfige
Gott schreitet von seiner Qakti umarmt, nach links. Er
trägt über seinem vierfachen Kopf eine Schädelkrone
und einen hohen Haarwirbel, auf dessen Vorderseite ein
vierfacher Donnerkeil, und auf dessen linker Seite ein
weißer Halbmond erscheint. Die Hände halten die
folgenden Attribute: rechts den Zipfel eines weißen
Elefantenfells, das über den Rücken herabhängt^ die
Trommel, ein Beil, einen Dreizack mit Fahne, das Messer
Gri-gug, und mit der sechsten Hand im Rücken der
Qakti einen Donnerkeil; links mit der obersten Hand
den andern Zipfel des Elefantenfells, dann ein Katvanga
(Stuhlbein) 12) eine Schädelschale, eine Fangschlinge, den
abgehauenen viergesichtigen Kopf des Hindu - Gottes
Brahma und mit der letzten Hand hinter dem Rücken
der Qakti einen Donnerkeil ; der Gott ist blau, die Qakti
kirschrot, der Schmuck weiß. Unter dem linken Fuß
liegt eine nackte vierhändige weibliche Leiche mit weißem
Schmuck und dem Katvanga in einer Hand, unter dem
rechten Fuß eine blaue, gekrönte vierhändige männliche
mit Schurzfell aus Tigerfell. — Die Qakti umschlingt
mit der Linken den Hals des Gottes, mit der Rechten
hält sie das Messer Gri-gug hoch. — tf
Die Beschreibung des zweiten Bildes lassen wir fort,
um nicht zu ausführlich zu werden. Man kann die-
selbe finden Op. cit. S. 105. —
12) Op. cit. 100 : Ein weißer Stab mit einem aufrechten Donner-
keil als Spitze, darunter ein weißer Schädel, ein roter alter Kopf,
ein blauer junger Kopf, darunter der vierfache Donnerkeil und ein
Gefäß mit Unsterblichkeitstrank.
— 725 —
Wenn man auch die letzte Abbildung nicht bestimmt
androgynisch nennen darf, so ist es doch ihre Idee
bestimmt.
Nachdem wir kurz erwähnt haben, daß in der
japanischen Kosmogonie auch wieder aus dem Welt-ei
der Geist der Erde entsteht, und auch dieser ein Wesen
ist mit zwei Charakteren, von denen der eine das männ-
liche Element, der andere das weibliche repräsentiert und
ersterer Isu no goi no Kami, letzterer Eku goi no Kami
(XXII. Bd. I. S, 237) genannt wird, wollen wir noch
einen flüchtigen Blick auf verschiedene Religionssysteme
werfen, um dann das Egyptische näher zu untersuchen.
Zuerst erwähnen wir die persische Religion des
Mithras-Mitra (XLIV Bd. LS. 228—230). Mithras ist
das geschaffene alles durchdringende, alles belebende
Licht (Windischmann cit CI v. Mithras). Nun erzählt
uns Firmicus (LX S. 251) „[Die Perser] teilen den
Jupiter in zwei Mächte, seine Natur als zweigeschlecht-
lich auffassend, und das Bild eines Mannes und eines
Weibes begreifend als das Wesen des Feuers. Und sie
bildeten das Weib ab mit drei Köpfen und umgaben sie
mit fürchterlichen Schlangen. . . . [Den Mann] nennen
sie Mithras 18)tf Wenn also wirklich die oben erwähnte
Mitra die weibliche Hälfte des Feuergottes ist, so
würde, wenn die Nachricht des Firmicus wahr ist, diese
Mitra dreiköpfig sein und der Hekate gleichgestellt
werden müssen. Cumont, in CI. v. Mithras, meint aber,
daß Hekate nicht so aufgefaßt werden darf, und gibt
dafür den Grund an, daß das Feuer eine männliche
Gottheit war.
13) Iovem in duas dividunt (Persae) potestates, naturam eius
ad ntriusque sexus transferentes et viri et foeminae simulachra ignis
substantiam deputantes : et niulierem quidem triformi vulta con-
stituant monstrosis serpentibus illigantes [Virum] Mithram
dicunt.
46*
— 726 —
Sie wird nach seiner Auffassung nur als Drujas in
Mazdäismus aufgefaßt werden müssen.
Herodot lehrt uns, daß die Mitra der Perser die
Aphrodite Mylitta der Assyrier und der Alilat der
Araber gleich ist.
Meyer (CI v. Anaitis) meint, dass Herodot hier
Mithra mit Anahita verwechselt hat, dem Clemont bei-
stimmt. —
Die Anaitis (Anahita) aber wird von den Griechen
der Artemis gleich gestellt, d. h. der Artemis als Mond-
göttin, als Göttin des Naturlebens und der Fruchtbarkeit.
Es gibt aber eine Artemis Iphigeneia und diese Iphige-
neia (CXXXV. Lib. II. c. 35 § 19414) wurde schon von
Hesiod (CXXXV. Lib.I. c. 43 § 103 l6) mit der Hecate
identifiziert. Und Schreiber (CI v. Artemis) citiert Aeschylos
und Euripides, bei denen Artemis und Hecate völlig
gleich sind, eine Identifizierung, die inschriftlich in
Athen (C. I. A. 1, 208) und in Delos beglaubigt ist16)
Auch trägt die Hecate wie die Artemis den Beinamen
Lichtträger ((QaxHpoQog)
Röscher gibt (CI v. Hecate) eine Abbildung der
Hekate triformis, welche s. E. wahrscheinlich der Zeit des
Synkretismus d. h. des sinkenden Heidentums angehört.
— Wenn dieses letzte auch richtig sein dürfte, so beweist
dieses Bild doch, daß in dieser Zeit die Hecate mit dem
Mithras etwas zu schaffen hat. „Die eine der drei Ge-
stalten, welche eine mit Strahlen versehene phrygische
u) ^ÄQTBiiiSog emxXri<uv *I(piy8veiag atixiv Ibq&v.
15) Olda Sa cHöiodov noirßavxa ev xaraXoyo^ yvvai-
xwv, 'fyiyeveiav ovx ärro&aveiv, yvcofi^ Se Ugrefiidog
'Exdrrjv elvat.
16) Man sehe auch (CXXIX S. 234, fragm. 201)
'Htfäga dl 'Exdrrj naidbq, fxeXe av&t Xtnovaa
Avpovs evnXoxdfioio xoqyj nqofSBßr^ai "OXvfinov
— 727 —
Mütze trägt, scheint die Sonne zu repräsentieren; denn
die Strahlen können nur vom Helios entlehnt sein, und
die phrygische Mütze wird wohl mit Eecht von Mithras
abgeleitet; die zweite Figur, welche Fackeln hält und mit
der Mondsichel geschmückt ist, stellte den Mond dar."
Diese Figur ist also die wirkliche Mondgöttin, und die
erste eine weibliche Mithrasfigur. Auch die anderen
Embleme, welche Röscher 1. c. nennt, stimmen mit dem
Mithrasdienste überein; so: das Messer und die Schlange der
ersten Figur, die Fackeln der zweiten und der Schlüssel
der dritten, so daß ich in dieser Statue das Bild eines
weiblichen Princips erkennen zu dürfen glaube, das die
Perser von ihrer höchsten Gottheit, als androgyn gedacht,
trennten und Mitra nannten, wie sie den männlichen Teil
als Mithras bezeichneten.
Daß aber Herodot Mitra mit Aphrodite identificiert>
ist nicht befremdend. — Artemis war doch auch die
Göttin der vegetativen Fruchtbarkeit, Geburtsgöttin und
Ehestifterin, (Schreiber 1. c.) Und Strabo ( lib. XI p.
532), erzählt uns, daß der Anaitis Sklaven und Sklavinnen
geweiht wurden, und daß auch die Töchter des Landes
bis zu den höchsten Ständen hinauf sich ihr zu Ehren
prostituierten. 1 7)
Mit dem oben über Hecate-Mitra Gesagten steht
ebenfalls im Einklang, daß Mithras ganz bestimmt ge-
nannt wird: niqarig (XLIV Bd. I, S. 232) die Hecate
aber TteqaeCri (CXXIX Hym I).
Ueber die Anaitis, welche als Göttin in Armenien,
Kappadocien und Pontus verehrt ward, wollen wir nur
kurz erwähnen, daß Creuzer diese Göttin ganz bestimmt
als androgynisch auffaßt (XLIV Bd. II S. 469). Später
17) ciXXa xai ^vyariqag oi inixpaveatatoi rov e&voog
ävL8Qov<si ncLQ&evovg, alg vouog fioti, xaTanoQvov^elaatg
noXvv %q6vov naqa x\ üew ^Avafaidi.].
— 728 —
werden wir sehen, daß auch die religiösen Gebräuche
damit in Uebereinstimmung stehen. „In allen Religionen
des vorderen und mittleren Asiens tritt sehr deutlich
ein Dualismus der Geschlechter in den verehrten
Wesen hervor. Es ist ein Sonnengott als actives Prin-
cipium, als himmlischer Herrscher, als mächtiger starker
Befruchter. Ihm zur Seite die Mondgöttin als weibliches
Princip, als Empfängerin.« (XLIV Bd. II S. 330 sqq).
Hiervon haben wir bereits einige Beispiele gezeigt
und wir werden dann bei der Beschreibung der griechi-
schen Götter noch sehr oft auf Asien zurück greifen
müssen.
Creuzer fährt dann fort: „Jener Geschlechtsdualis-
mus in diesen Culten wird nicht selten in eine Person
gelegt, die dadurch Mannweib (agae v6&r\h)q) wird oder
ein Weibmann, je nachdem dieses oder jenes Geschlecht
vorwaltet. — Wie nun jenes Doppelgeschlecht oft in einer
Person vereinigt erscheint, so verschwindet hinwieder
auch bei der Zweiheit die eine derselben, manchmal im
Volksdienste. Sie tritt in den Hintergrund zurück und
es wird oft bloß das weibliche Principium gefeiert, doch
oft mit helleren oder dunkleren Beziehungen auf ein
männliches.*
Wir wollen uns nun mit der aegyptischen Religion
beschäftigen.
Da lernen wir zuerst aus Hermes Trismegistes, daß
in der ägyptischen Priesterweisheit, der höchste und erste
Gott die Vernunft, der Geist, Mens, Phtha war.18)
Das Licht (man. denke an Mithras, und Qiva) und
das Wort, entstammend dem Geiste, sind Söhne Gottes.19)
(Man denke an den Logos des Johannes Evangeliums).
18) LXXVHI S. 367 Sum Pimander, mens divinae potentiae
Idem S. 368 Lumen illud ego sum, mens, deus tuus.
19) LXXIX. S. 49, Het woord, uijt het gemoet luohtende den
Sone Gods.'
— 729 —
Hermes sagt uns dann weiter: Die Vernunft, welche
Mann und Weib ist, . . . Leben und Licht hat durch
das Wort eine schaffende Vernunft erweckt, welche ist
der Gott des Feuers und die Göttlichkeit des Geistes 20).
Hieraus folgt, daß man vielleicht besser thut in dieser
Philosophie, den erstgenannten Mens durch „Bewußtsein*,
oder Träger des Bewußtseins, das primäre Ich zu über-
setzen. Denn der Träger des Bewußtseins erkennt in
sich die Persönlichkeit, den zweiten Mens, das secundäre
Ich. — Ferner erkennt der Träger des Bewußtseins im
Bewußtsein das active Prinzip das Denkende, das
Schaffende, das Herrschende und das Passive, das
Empfindende, daö Sichhingebende, d. h. Er erkennt das
Mannweibliche des Bewußtseins und also das Mann-
weibliche der Persönlichkeit.
Somit: — Ich bin mir bewußt, daß v. Kömer sich
bewußt ist: d. h. das Primäre Ich erkennt, daß das
Sekundäre Ich, die Persönlichkeit v. R's sich bewußt ist.
Phtha ist aber das Feuer und wird von den Griechen
wie uns Jambliphus belehrt, dem Hephaistos gleichgestellt.
XL. SectVIII, C. HI S. 159 al)- Dasselbe sagt das Chat aus
Cicero, welches Jablonski mitteilt: de natura Deorum
lib. IH c 22 Secundus Vulcanus Nilo natus, Phthas ut
Aegyptii vocant.
Im Museum zu Leiden befindet sich ein Bild des
Gottes Phtha, das aus der Spätzeit stammt und sehr
deutliche weibliche Brüste besitzt. (Siehe Abbildung 7.)
Wir werden sehen, daß die Ägypter sehr oft nur durch
20) LXXVIII S. 369. Mens antem deus utriusque sexus foe-
cunditate plenissimus, vita et^lux cum verbo suo mentem alteram
opificem peperit, qui quidem deus ignis atque Spiritus numen.
LXX1X S. 52. Maar het ghemoet (God) 't gheen Man en
Wijf, leven en licht is, heeft door 't woord een ander werckende
ghemoet gebooren, Zijnde des vijers en des Gheestes God.
21) 'EXhifveg dk9 eig cH<pou<sxov ixBraXafxßdvovdv tov 4>&d.
Abb. 8.
— 731 —
weibliche Brüste und Bart die androgynischen Götter ab-
bildeten.
Aus Horapollon erfahren wir, daß Phtha andro-
gynisch aufgefaßt wurde. (LXXXVI. lib. I. c. XII.)
„Hephaestos" schreiben sie mit den Hieroglyphen
„Scarabaeus" und „Geier*, „Athena" aber mit „Geier"
und „Scarabaeus". Die Welt schien ihnen doch aus
Männlichem und Weiblichem zu bestehen. Athena aber
zeichneten sie als Geier. Denn diese Götter allein halten
sie für mannweiblich22).
Wie aber der Hephaestos = Phtha ist, so ist Athene
= Neith (CXLII Timaeus S. 1043. A) 23).
' Neith wird im Tempel von Latopolis, dem Sais des
Südens, folgendermaßen genannt (CIX S. 175, cit. Brugsch):
Neith die Große, die Mutter des Gottes, (oder die gött-
liche Mutter), der Vater der Väter, die Mutter der
Mutter, er ist „Scarabaeus-Geier" (oder umgekehrt? v.R.)
Der Scarabaeus ist das Symbol für den Einzig-
geborenen, oder für die Schöpfung, oder für den Vater,
für das Weltall, für den Mann. Denn die Alten meinten,
daß es nur männliche Scarabaeen gab. (LXXXVI, lib. I.
c. X — CL lib. IV c. 9, 54, xdv&aqog ydq nag äqQ7\v.
— I, lib. X, c. XV41 — 48. — o xdvdaqog a#r\Xv £ai6v e&rt.
— XXXIX Strom lib. X S. 658. [Alyvmioi (paar.
&7\Xvv xdv&aQoi fxri ylveö&at,. — Aristoteles kennt aller-
dings auch weibliche), die Geier aber waren für die
22) 'H<pat,(toov de yqdyovreg xdv&aqov xai yvna ^(oyqa-
(povaiv, *A&Tjväv de yvna xai xdv&aqov. doxal ydq avroig
o xoöfjiog avveötdvai ex re äqtievixov xai &rjXvxov. eni de
xffi 'A&rjväg %ifv yvna yqatpovtiiv' ovtoc ydq npvou &ecov
naq* avTolg äqqevo&rjXeig vndq%ov<u.
23) Aiyvnxi(Sxl fiev to ovvofxa Nr\l&9 'EXXrjvitirl de
*A§v\va.
— 732 —
Alten nur weiblich (I — Hb. II, c. 46, 21 Tvna de
aQQeva ov <pa<st,ylvea&ai noTB9 aXXa fhjXeiag andtiaq.) —
aScarabaeus-Geier will also sagen „Mann- weiblich",
gerade so wie „Geier-Scarabaeus", aber im ersten Falle
tritt das Männliche, im letzteren das Weibliche in den
Vordergrund. Als zweite Gottheit, die wir androgynisch
finden, nennen wir Isis. Die Abbildung 9, welche wir
aus Creuzer reproduziert haben, stellt die Göttin mit
Horus auf ihrem Schöße dar. — Creuzer zitiert von
Abb. 9.
Minutoli: Es stellt dieses Eelief meines unmaßgeblichen
Dafürhaltens Isis dar, und da sie einen Bart oder viel-
mehr Bartscheide hat, in welcher der Bart bei strengem
Kostüme eingewickelt war, und mit der Kalantica ver-
sehen ist, so dürfte sie, nach Creuzer, die mannweibliche
Natur bezeichnen, denn die produzierende Erde ist, als
männlich gedacht, almus Venus der Syrischen Religionen
{A(fQodiTog).u
Wenn dieses Eelief auch einer sehr späten Zeit
entstammt, so haben wir doch eine Mitteilung Plutarchs,
die uns die androgynische Natur der Isis beweist, wenn
— 733 —
nämlich Isis dem Mond gleich gestellt werden darf.
Drexler CI. sagt von Isis Sp 363 — 364: „Es ist ein arger,
wenn auch weit verbreiteter Irrtum, wenn man meint,
die ägyptischen Göttinnen oder ihre Hörner hätten mit
dem Monde irgend etwas zu thun — der Mond
ist bei den Ägyptern immer ein männliches Wesen." —
Daß der Mond nicht ein männliches, sondern ein
mann-weibliches Wesen ist, zeigen uns sowohl gerade
die Stelle bei Plutarch und mehrere andere. Plutarch
schreibt: Am Neumond, Phamenoth, feiert man ein Fest,
welches das Hinabsteigen des Osiris in den Mond heißt.
Auf diese Weise setzen sie die Kraft des Osiris in den
Mond und behaupten, er habe der Isis, welche die Geburt
ist, beigewohnt; sie nennen daher auch den Mond die
Mutter der Welt und schreiben ihm eine Zwitternatur
zu, weil er von der Sonne erfüllt und geschwängert wird,
und dann wiederum selbst zeugende Stoffe in die Luft
sendet und herumstreut24)". (Übersetz, des J. Ch. F.
Bähr^s in Osiander's Ausgabe.)
Die Gleichstellung der späteren Griechen von Isis
mit dem Mund ist sehr begreiflich, da wirklich die Charak-
tere beider sehr übereinstimmen.
Die folgenden vier Abbildungen (10 — 13) stellen nach
Lanzoni, die Göttin Muth dar. — Muth aber ist: „die
Mutter." (CL Drexler v. Muth oder wie Lanzoni schreibt:
Muth era la madre per eccellenza.) Auch Isis ist die Mutter
der Götter, wie Lanzoni ebenfalls Muth nennt. Plutarch
schreibt: Isis wird aber bisweilen auch Muth oder auch
Athyri und Methyer genannt.26) Wie wir sagen, gibt
24) öco xai \vt\xiqa ttjv öeXifvriv tov xoöfiov xaXovai,
xqi <pvöt,v e%eiv aQGevoSr\Xvv olovrai, nXt\qoviiivT\v vnb
cHXiov xai xvMfxofievriv, avTrp> de ndXw elg tov aiqa
nQoiBfXBvriv yevvt\Tvxag aq%ag xai xaTaöneLQovaav. (CXLV
c. 43.)
— 735 —
Horapollon an, daß ein Geyer als Hiroglyph ein Weib
und eine Mutter bezeichnete, und Muth wird dann auch
als Geier dargestellt (Drexler 1. c), und auch Isis trüge
sehr oft den Geierbalg als Kopfputz (CI. Drexler El Isis).
Die interessantesten Bilder der Muth aber sind die
Abb. 10 und 11.
Abb. 10 ist nach einem Papyrus in Leiden (Leemans
T. 1 [Pap. C. No. 11 b.] PI.) und ich gebe hier die Be-
schreibung aus Pleyte (CXLIV S. 23— 24) wieder:
„Eine Göttin Muth mit drei Köpfen.
„Der erste ist wie der Kopf der Göttin Pechet mit
zwei Federn (mit der roten Krone).
„Der zweite wie der Kopf eines Menschen, tragend
die weiße und die rote Krone.
„Der dritte wie der Kopf eines Geiers mit zwei
Federn.
„Man sieht hier also die Vereinigung dreier Gott-
heiten Pechet, Neith und Muth,
„Mit einem Phallus, dem Symbol der erzeugenden
Natur, stehend auf Löwenfüßen, als Symbol der ver-
nichtenden Natur des Ewigen Wesens.-
„Mit zwei Flügeln, dem Symbol der Allgegenwärtigkeit.
Die zwei anderen (Abb. 12 u. 13) sind copiert aus Lan-
zoni, der dieselbe so beschreibt: „Von einem Papyrus in
Turin : Die Göttin ist abgebildet flügeltragend und mit einem
Phallus und mit Löwenfüßen. Sie hat drei Köpfe, die beiden
seitlichen sind Geierköpfe tragend, den Modius mit
zwei Federn (und einer roten Krone? v. R.), derjenige
in der Mitten aber ist menschlich, und hat die doppelte
Krone,« (Abb. 12—13.) (XCVII tav CXXXVIII. Fig. I.)
Und: „Flügeltragend und mit einem Phallus, und
mit Löwenfüße; sie hat drei Köpfe; einen Löwenkopf
25) ij de lais, eöriv ore xal Movd' xal ndkiv "A&vql
xal MsSvbq nqoaayoqsvBTai. (CXLV c. 56.)
— 736 —
mit dem Modius, worauf zwei Federn, ein Menschenkopf
mit der doppelten Krone und ein Geierkopf mit der
roten Krone." (XCVH tavCXXXVH. Fig. 5.) (Abb. 11.)
Drexler nennt die Bilder nur interessant^ aber weißt
nicht auf ihre androgynische Bedeutung hin. Wir
Abb. 11. Muth (oder Neith) aus Lanzoni
sind geneigt, uns diese Muth auf Abb. 10 — 11 als Muth-Isis
vorzustellen oder besser noch als Pechet-Muth-Isis-Neith.
Denn auch Pechet ward in späterer Zeit mit Isis zu-
sammengebracht.
— 738 —
Und die Neit von Sais nennt Plutarch Isis;20) das-
selbe geschieht auch in den Totenbüchern (CL Drexler
Abb. 13. Muth (aus Lanzor»).
27) S. 35. Ainsi en 6tait-il d'Isis, appeläe dans Finscription du
sarcophage de Petisis, aujourd'hui auMusee de Berlin: Isis la grande
du temple de Sa'is. S. 123. Parmi les sculptures peintes copiees
par Champollion dans le tombeau de Meneptah I Hotep hi Ma, se
trouvent . . . Neit ... et Isis. Neit . . . est ainsi qualifiee : Neit la
grande, la mere divine, maitresse de tous les dieux dominant sur les
pays 6trangers. Isis porte des titres analogues, ce qui prouve
qu'alors Tidentifieation est eomplete entre les d^esses.
— 739 —
v. Nit sp. 440) und auf Sarkophagen (CIX. j$. 35 und
S. 123.27)
Und so kommen wir zu der selben Auffassung wie
L. Georgii (in CXXXIV. v. Neith p. 518), wo er mitteilt,
daß Champollion in seinem Pantheon Egyptien PI. 6. 2
eine Neith-Abbilduug gibt, welche identisch ist mit der
oben aus Lanzoni zitierten:
„Eine mannweibliche Göttin, die Arme gestreckt, auf
ausgebreiteten Geierfliigeln, auf denen links ein Geier-
kopf, rechts ein Löwenkopf, zwischen beiden der der
Göttin mit Löwenfüssen, mannweiblich im Zustande der
Erection. Nach einem hieroglyphischen Manu-
skript von Belzoni." —
Wenn wir also annehmen dürfen, daß die Abbildung
des Papyrus aus Leiden ebenso die Neith-Isis darstellt,
dann sind wir geneigt, die beiden anderen Figuren
als Osiris und Phtha aufzufassen. Pleyte nennt den
ersteren einen Zwerg, der Süden oder Norden vorstelle
(CXLIV)28), Lanzoni aber glaubt, daß diese Figur ein
Form des Osiris sei (XCVII v. Nemma) 29).
Die Abbildung zeigte ein doppelköpfiges Bild, einen
26) CXLV. c. IX, to <f ev 2del x^g 34&r)väg (rjv xal
*Iaiv vofxC^ovaLv) edog.
28) „Et un nain devant eile et deriere eile et son visage est
dirigß vers eile, il porte deux plumes et il ä le bras lev6, il a un
phallus, il a deux visages, Tun comme celui d'un epervier, l'autre
qui est devant eile a le visage d'un honwne, il a un fleau et il a
un Phallus." II n'y a rien ä ajouter ä cette description. On peut
supposer que le sud et le nord sont figureY par les deux nains,
mais les attributs sont si peu caracteiistiques, que je n'ose pas
raffirmer.
20) sono descritta con due penne sul capo ed braeeio alzato,
che sosteine il flagellum, falloforie con due volti, l'uno desparviero
e l'altro umano . . . Credo che sotto queste figure si nasconda una
delle forme di Osiride.
Jahrbuch V. • 47
— 740 —
Menschen und einen Sperberkopf, ithyphallisch, mit einer
Geißel in der Hand.
Die dritte Figur nennen wir Phtha, l£ da seine
Brust ein Scarabaeus ist, woran ein Vogelleib, den wir
als Geierkörper auffassen (also wie Horapollon will:
androgynisch), 22. da er seinen erigierten Phallus mit seiner
Abb. 14. Neilos (aus Lanzoni).
Hand festhält, und dieses will sagen : Weisheit, :J0) 3^. da
er grün gefärbt ist (CXXXIV L. Georgi v. Phthas).
30) LXXXVI. Cit II, C. VII. Aldolov xscqI xQarovpevov,
aa)(fQoavvrjv drjXol äv&Qa'7iov. — Penis manu compre-
hensus temperantiam indicat hominis. —
— 741 —
Die letzte Gottheit der Egypter, welche wir näher
betrachten wollen, ist der Nil.
Drexler (CI v. Neilos sp. 95) sagt nach Brugsch,
daß er dargestellt wird „als fettleibiger Mann mit
Abb. 15. Neilos (aus Lanzoni).
herabhängenden Brüsten", und er gibt dann als Bei-
spiel dieselbe Abbildung wie wir (siehe Abb. 14), die aus
Lanzoni entlehnt ist.
Obwohl wir nun sehr gut wissen, daß gerade in
Egypten sehr oft Männer mit sehr entwickelten Brüsten
47*
\ l
— 742 —
gefunden werden,81) so glauben wir doch, daß die weiteren
Bilder genugsam beweisen, daß auch diese Vorstellung
androgynisch ist, wie dies auch Lanzoni (XCVJI v.Hapi)
sagt82) (CLXXII, S.). Denn dieselben stellen den Neilus
dar, wie er Milch aus seinen Brüsten drückt. Und ein
zweiter Strom von Wasser entspringt aus einem Frosch,
welcher aus dem Nilschlamme entstand, und das Symbol
des noch ungeformten Menschen ist (Abb. 15 — 16).
Auch das späte Altertum wußte von dem Neilos
audrogynos, wie wir dies bei Gregor von Nazianz lesen,
der von den Ehrenbezeugungen spricht, die bei den
Egyptern die Androgynen dem Neilos bringen.88)
Abb. 16. Neilos (aus Lanzoni).
31) III S. 32. m Ex viris phiriinos usque adeo pingues inspexi, ut
mammas haberent longe mulier um maximis inammis maiores, cras-
siores ac pinguiores.
32) Tav. CLXXXXVIII Fig. 1 [unsre Abbildung 17] Rappresenta
i due Nili Hapi Kenia e Hapi Mehit androgyni col capo sur-
montato delle rispettive pianti caratteristiche . e in atto di iegare il
segna sam con corde ricavata et formate da piante di toto che
stanno ai loro piedi.
33) LXIX. xarä Iovfoav 2THA1T. B. S. 300: ai
nag lalyv7trloig Sc ävSqoyvvwv rifial tov Nellov.
— 743 —
Sehr oft will man den Mitteilungen der Kirchenväter
nicht trauen, aber wir glauben, daß, wenn auch die
Kirchenväter den tieferen Sinn der gottesdienstlichen Ge-
bräuche nicht mehr begreifen konnten oder wollten, ihre
— 744 —
Mitteilung über die Gebräuche an sich dennoch nicht
unwahr sein können, da der Widerstand der Heiden
gegen Lügen über Tatsachen doch zu groß gewesen
wäre, mit der Interpretation ist es freilich etwas ganz
anderes.
So viel über die ägyptische Religion. — Einige
wenige Mitteilungen wollen wir noch über die nordischen
Religionen machen, um dann die jüdische mit der kaba^
listischen, die christliche mit der gnostischen Religion und
die neuere- mystische Schule zu betrachten. Zuletzt
wollen wir dann die griechische und römische Religion
behandeln, da in derselben eine Religion der Androgyne,
als Gottheit für sich, des Hermophroditos, bestanden hat.
Wie wir weiter unten sehen werden, hatten die
Griechen neben der Aphrodite den Aphroditos, und so
hatten die Skandinavier neben ihrer Freya den Friggo.
— Auch diese Gottheit war androgynisch. (CXCIV S.
16). Friga, welcher der sechste Tag geweiht war, wurde
hermaphroditisch gedacht. Sie wurde abgebildet mit den
Teilen beider Geschlechter, an einer Säule stehend, in
der rechten Hand ein Schwert, in der linken einen Bogen
haltend. Nach ihr heißt der sechste Tag Frigedag34).
Auch citirt Worm Albertus Grantzuis, welcher in der
Vorrede des ersten Buches von seinem: „Sweden" schreibt:
— In diesem Tempel [in der Nähe von Upsala] waren
die Bilder von drei Göttern verehrt, bevor sie an Christus
glaubten .... Die dritte Gottheit Fricco regierte den
Frieden und die Wollust, und ihr Bild zeigte deutlich
M) Friga e sextum erat, quod Hermaphroditicum pentabatur,
sexus utriusque membris delineatum, columnae insistens, dextra
gladium, sinistra arcum tenebat, ab hoc veneris dies Frigedag.
S. 10, fügt Worm hinzu: ab hoc dies veneris Fr e dag vel
Frei dag nostratibus indigitatur, Frejar item quas Fruer iam
dicimus, nuncupantur.
— 745 —
die Schändlichkeit (Olaus magnus fügte hinzu des Ge-
schlechtes 85). —
Und aus Olaus lib. 3. Cap. 3. citirt Worm:
Frigga ist mit Schwert und Bogen abgebildet, da in
diesen Ländern beide Geschlechter gut die Waffen zu
führen verstehen86).
Und S. 10 sagt Worm : Ich finde, daß sie von einigen
Fricco oder Frigo, von Anderen aber Frigga, Frea oder
Frega genannt werden.
In CXCI V S. 55 schreibt er über Frigga und Friggo :
Einige halten Friggo für die Wollust — und Genuss-
repräsentanten unter den Göttern, dem zu Ehren dieser
Tag (welchen die Römer Venus, die Nordischen aber
Frigge weihten) zubenannt ist. Sie berichten ferner,
daß diese Gottheit an einigen Orten in männlicher Ge-
stalt, an anderen aber in weiblicher verehrt worden ist87).
(Man sehe auch CXXI Bd. I S. 253, 251.) Sodann
schreibt Worm über den Mond. (Maan heißt das dänische
Wort, welches auch das holländische und hier weiblichen
Geschlechtes ist), S. 15.
Den zweiten Tag widmen sie (die Saxen, nach
Richardus Verstegan) dem „Maantf; das Bild dieser
Gottheit ist von menschlicher Gestalt, mit einem Kapp-
mantel, Eselsohren, den Mond in seinen Händen, und
3ö) S. 13 In hoc templo (apud Upsalienses in Suecia) statuas,
trium venerabantur Deorum, antequam Christo crederent. . . . Ter-
tius Fricco pacem et voluptatem moderatur, cuius etiam simulachrum
turpitudinem (Olaus magnus addit sexus) prae se ferebat.
36) Addit vero Olaus lib. 3 cap. 3. Friggam depictam etiam
fuisse cum gladio et arcu: cum armis, quod in illis terris uterque
sexus semper ad arma promptissimus esset.
87) Sunt qui Trigonem quendam inter Deos relatum referant ut
voluptatibus aliis que illecebris praesideret; cui hunc diem ascrip-
serunt (quem Romani veteres Veneri, Septentrionales Friggae dica-
runt). Eundem vero quibusdam in locis virili quibusdam vero muliebri
habitu cultum fuisse quidam memorant.
— 746 —
mit einem kurzen bis an die Kniee reichenden Gewand,
so daß es eher einen Mann als ein Weib darstellt38). Ich
meine also, daß auch hier wiederum das Androgyne sich
feststellen läßt, wie es sich auch noch im genus der ger-
manischen Wörter für „Luna*, wie schon oben angeführt,
ausdrückt.
Mone nennt (CXXI Bd. I S. 93) ferner unter den
großen Göttern zu Romowe den Stammgottheiten der
Lithauer und Preußen Potrimpos. „Potrimpos aber*
fährt er fort, „ist mit Garbe, Topf, Schlange und Milch
der Fruchtgott und kein anderer als der priapische Friggo
in Upsala. Er ist die Erde und wie Friggo mann weiblich."
Wir sahen schon früher, daß die Indier als Schöpfer der
Welt den androgynischcn Brahma annahmen, hier bei den
Skandinaviern hören wir, wie aus dem Tropfen, welcher
aus dem Eis von Ginnimga-Gap durch den heißen Wind
aus Muspell zheim er entstanden, wie aus diesen Lebens-
tropfen ein Wesen in Mannes-Gestalt, Ymir genannt, und
mit ihm zugleich die Kuh Andhumla erweckt ward.
Diese leckte die salzig bereiften Steine und dadurch ent-
stand aus dem Felsen am ersten Abend das Haar, am
zweiten Tag der Kopf, am dritten der ganze übrige Mann
— Buri, der schön von Gliedern, groß und stark war.
Ymir aber fiel in Schlaf und Schweiß; da entstanden
unter seiner linken Hand ein Mann und ein Weib, und
seine Füße zeugten mit einander einen Sohn. Dies war
das Geschlecht der Eisriesen. —
Ymir ist also ebenfalls mann weiblich gedacht. Er
wird von den Söhnen Pörs, des Sohnes des Buri, getötet,
*8) Diem secundum Lunaa eos [vicinos Saxones] consecrasse vult
[Richarduß Verstegan] cuius effigiem (ridicule sie expresserunt :
comlumnari basi) statuam hominis integram (im) posuerunt cuculla-
tam, asininis auribus assutis, manibus lunam gestantis, chlamide
brevi genua lanibente, ut habitu virum potius quam foeninam ex-
primeret. —
— 747
und aus seinem Körper wird die ganze Welt gebildet,
nämlich aus seinem Blute das Meer und die Wasser, aus
seinem Fleisch das feste Land etc. etc. — (CXXI S. 314
S. 99.)
In der jüdischen Religion, welche verbot, sich Bilder
der Gottheit zu machen, ist es natürlich unmöglich an
Statuen zu beweisen, daß die materielle Darstellung des
Gottes androgynischer Natur war, aber wir können doch
mit logischer Sicherheit beweisen, daß in abstracto
Jehovah so aufgefaßt wurde.
Gott schuf den ersten Mensch nach Seinem Bilde,
d. h. wie Rashie (C XXX VII) erklärt: so wie der Gott
gewöhnt ist sich zu zeigen. — Wie aber ward nach
jüdischer Auffassung der erste Mensch, Adam, geschaffen ? —
Wir lesen im Bereschit Rabba (CXX. Parascha VIII
Cap. I. 26). „Nach R. Jeremja benEleasar bildete Gott
in der Stunde, wo er den ersten Mensch erschuf, ihn
als Androgynos, wie es heißt: „Mann und Weib erschuf
er sie." Nach R. Samuel bar Nachman hatte der Mensch
bei seiner Erschaffung zwei Gesichter, Gott durchsägte
ihn aber in zwei Hälften und bildete zwei Rücken aus
ihm, den einen nach dieser, und den andern nach jener
Seite hin (d. h. einen für den Mann und einen für die
Frau). Es heißt doch aber: er nahm eine von seinen
Rippen? Nein, (entgegnete Samuel, es Jbeißt:) von den
zwei Seiten s. Ex. 26, 20 Rashie in seinen Commentarien
(CXXXVII S. 18, 31—32) nimmt die Auffassung des
R. Samuels an.89)
39) S. 18. — Mannelijk en vrouwelijk schiep hij hen en ginds
zegt men: „en hij nam 6en zijner ribben enz". (Gen. 2, 21) dus
werden man en vrouw niet tegelijk geschapen? Een agadische
verklaring is, dat Hij bij de eerste schepping hem [den mensch]
heeft geschapen met twee gezichten [6en mannelijk en 6en
vrouwelijk gelaat] en hem later gesplitst heeft [tot twee personen],
S. 31 — 32 „En hij nam van zijne zijde, etc. dit is [komt overeen
met] wat men zegt," met twee gezichten werden zij geschapen.
— 748 —
Im Midrasch Schemot Rabba, (CXX L Parascha
XIV Cap XII, 2) lesen wir etwas ähnliches wie oben
im Bereschit Rabba, nur mit dem Unterschiede; daß hier
R. Samuel bar Nachman sagte: „Als Gott Adam
erschaffen hatte, war dieser ein Mannweib (avdQoyvvogy .
Resch Lakisch gibt an dieser Stelle genau dieselbe
Auffassung wie oben der R. Samuel.
Der große Gelehrte Maimonides (Moses ben Maimoun)
schreibt (CVII Part, II; eh. XXX, S. 247): „So ist es,
daß man sagt : Adam und Eva sind zusammen geschaffen
worden, vereinigt mit ihren Rücken; (diesen doppelten
Menschen teilte Gott und nahm die Hälfte, welche
Eva war, und dieselbe ward der anderen Hälfte (Adam)
gegeben, als Gefährtin Begreife wohl, daß man
deutlich gesagt hat, in gewisser Beziehung waren sie zwei,
aber doch bildeten sie ein Wesen, nach den Wörtern:
ein Teil von meinen Körperteilen und Fleisch
von meinem Fleisch. (Gen. II, 23) und diese Auf-
fassung hat man noch bestätigt, dadurch, daß man sagt,
daß diese Beiden zusammen mit einem Namen genannt
waren: sie wird Ischa genannt werden, da sie vom
Isch genommen ist, und um noch besser ihre Ver-
einigung hervorzuheben hat man gesagt: „Er wird
sich mit seinem Weibe verbinden, und sie
werden ein Fleisch sein, (ibid v. 25.) Wie groß ist
doch die Unwissenheit derer, welche nicht begreifen,
daß in diesem Allen notwendig ein bestimmter Gedanke
verborgen liegt."40)
40) C'est ainsi qu'ils disent, qu'Adam et Eve furent cr£6s
ensemble, unis dos contre dos; (cet homme double) ayant 6t6
divis6, il (Dien) en prit la moittä, qui fnt Eve, et eile fut donnee
ä l'autre (a Adam) pour compagne Comprends bien comment
on a dit clairement, qu'ils etaient en quelque sorte deux, et que
cependant ils ne formaient qu' un, selon ces mots: un membre
de mes membres et une ehair de ma chair (Gen. II, 23) ce
— 749 —
Rabbi Manasseh ben Israel gibt noch mehrere
Mitteilungen: Er sagt in CX S. 87—88: „R. Samuel
meint, Adam sei mit einer Rippe mehr geschaffen, woraus
,Eva gemacht ward ; Maimonides, Arama, Abarbanel, Ben
Soeb, Shemtob Alschech und andere sagten dasselbe.
R. Samuel bar Nachman meint, daß das Weib mit dem
Manne geschaffen ward, von hinten mit ihm vereinigt,
so daß die Gestalt Adam's doppelt war, der eine Teil
vorn männlich, und der andere hinten weiblich. Diese
Auffassung teilen Jarchi, Aben Ezra, R. Bechayai, Eliezer
Askenasi und Isaac Caro, in ihren Commentarien, welche
alle sagen, daß das „männlich und weiblich hat er sie
geschaffen" buchstäblich verstanden werden muß, d. h.
Adam und Eva waren zusammen in einem Körper
geschaffen, und diesen Körper nannte er „Adam", welches
sowohl männlich als weiblich bezeichnet Es soll
nicht übersetzt werden, „Gott nahm eine seiner Rippen",
sondern eine „seiner Seiten" also, „nehmend eine seiner
Seiten" heißt: er schnitt, schied, oder teilte diese beiden
Körper von einander; und von den Teilen, welche da
schmerzhaft und wie eine offene Wunde waren, wird
gesagt: „Er schloß sein Fleisch, das da geöflhet war,
und, da dies keine neue Schöpfung war, sondern schon
in und mit Adam geschaffen, wird weder das Wort:
„erschuf" noch: „er bildete" gebraucht." Aus dem Text:
„Es ist nicht gut für den Mensch allein zu sein, ich will
einen Gefährten für ihn machen", geht offenbar hervor,
daß Adam einige Zeit ohne Weib war; derselbe Vers,
qu'on a encore confirme' davantage en disant que les deux ensemble
ätaient designäs par an seul nom: Elle sera appelee Ischa,
parce qu'elle a 6t6 prise du Tsoh, et pour faire mieux encore
ressortir leur union on a dit: II s'attaehera ä sa femme, et
ils seront une seule chair (ibid v. 25). Combien est forte
l'ignorance de eeux, qui ne comprennent pas, qu'il y a neces-
sairement au fond de tout cela une certaine idee.
— 750 —
erklärt die Absicht und bedeutet dasselbe, als wie wenn
es noch deutlicher hieße: ÄEs ist nicht gut für den
Menschen, allein zu sein/ d. h. einsam und allein in der
Welt, verschieden von jedem Tier; darum mußte sein
Gefährte oder Gegenstück ihm gegenüber gestellt werden,
d. h. in front, so daß der Körper, der mit seinem Rücken
verbunden war, vor ihn gebracht wurde.
„Mein armes Urteil nimmt diese letzte Auffassung
als wahrscheinlich an, denn der königliche Psalmist
singt von der Schöpfung des Menschen und sagt in
Beziehung auf diese doppelte Figur: Du hast mich von
hinten und von vorn umschlungen. Die Vernunft scheint
dasselbe ebenfalls zu fordern, denn Adam war geschaffen
entweder mit einer überflüssigen Kippe, woraus Eva ge-
macht ward, oder mit der erforderten Anzahl von Rippen.
Wenn dieselbe überflüssig war, so wurde Adam unvoll-
kommen erschaffen, was der Lehre unserer Weisen wider-
streitet. Alle Werke waren im Anfange vollkommen,
wurde er aber nur mit der erforderten Anzahl erschaffen,
dann würde er, als ihm eine Rippe fortgenommen wurde,
unvollständig und gebrechlich geworden sein, da ersieh
natürlich nach der Seite, aus der die Rippe genommen
worden war, gebogen haben würde. Daraus wird also
folgen, daß seine Nachkommen dem Vater, der sie er-
zeugte, ähnlich ohne diese Rippe geboren worden wären
und somit unvollständig; die Erfahrung beweist das
Gegenteil. Ferner: die Schrift sagt nichts darüber, daß
Gott Eva die Seele eingeblasen hat: dieses alles drängt
zu dem Schlüsse, daß Eva mit Adam verbunden erschaffen
ward, und Gott, die Seele in Adam bringend, bedeutet
in diese männliche und weibliche Figur, da der Name
„Adam* für beide gilt. Die Septuaginta übersetzt
statt : männlich und weiblich schuf er sie, denn auch
männlich und weiblich schuf er ihn.41)
41 ) Die Ausgabe der Septuaginta, welche wir gebraucht haben,
gibt: sie.
— 751 —
„Andere, die buchstäbliche42) Auffassung verwerfend,
legen diese Stelle metaphorisch aus, so Maimonides, Ben
Soeb und Arema, welche sagen männlich und weiblich
stehen für Form und Stoff oder die intellectuelle und die
sensitive Seele, worüber aber kein Zweifel stattfinden
kann."
Aus allen diesen Stellen ist absolut bewiesen, daß
die jüdischen Gelehrten darüber eins waren, daß Adam
geschaffen worden war als Mann-weib. Beigefügt sind
zwei phönicische Münzen aus Judea-Gaza, aus dem königL
Münzkabinet in Haag, welche, wie wir glauben, sehr schön
diesen androgynischen Adam darstellen. (Abb. 18.)
Abb. 18. Phönic. — Jüdische Münze Judea-Gaza (aus Koninklijk
Penning-Kabinet in 's Gravenhage).
Über die christliche Auffassung dieser Stellen werden
wir unten handeln.
Aber wenn wir uns nach jüdischer Auffassung den
ersten Mensch androgyn denken müssen, so können
wir, wenn wir uns den Jehovah als Bild vorstellen wollen,
nur zu einer androgynischen Darstellung kommen.
42) In der englischen Übersetzung steht „liberal". Wir glauben
daß hier ein Druckfehler stehen muß, und lesen „literal".
— 752 —
Man wird mir nun einwenden: aber die Genesis ist
doch nicht eine einheitliche Erzählung, sondern besteht
aus verschiedenen Büchern, welche zusammen gezogen
wurden, wie uns die neuere Bibelkritik gelehrt hat. Da-
her sind in der Genesis sehr verschiedene Quellen zu
einer einzigen vereinigt: die Geschichte des Jahvisten
und des Elohisten, welche dann durch die Jehovisten
vereinigt und redigiert wurde; dazu kommt noch der
Priesterkodex, und diese alle wurden zuletzt noch
durch einen Redaktor zu einem Buche zusammengesetzt.
(LXIII S. LXXI— LXXXVIL)
Was beweisen aber diese philologischen Entdeck-
ungen anders, als daß die Genesis, wie wir dieselbe jetzt
besitzen, genau die jüdische Auffassung der Schöpfung
zur Zeit dieser Endredaktion wiedergibt (nach 444).
Und dieses führt notwendig wieder dazu, daß in derselben
Zeit Adam schon androgynisch gedacht worden war.
Ehe wir kurz die kabbalistische Auffassung geben,
wollen wir auch nach einer anderen Seite hin den Andro-
gynismus Jahvehs sehr wahrscheinlich machen.
Diodor (XL VIII. üb. I. c. 94) schreibt, daß: bei
den Juden Moses den Gott, welcher Jao genannt wird,
[seine Gesetzgebung zugeschrieben hat.42) ]
Dann sagt uns Clemens: Der mystische Name Tetra-
grammaton, welcher nur denjenigen zukam, die ins
Heiligste des Tempels eintreten dürfen, ward aber ge-
lesen Jaou, d. h. Wer ist und sein wird.48) (XXXIX
Strom, lib. V, S. 666.)
42) naqavoig ' Iovdatotg Mwvarjv tov 'law euLxaXövfjievov
üiov.
43) to TeTQayQafifiov ovofjta to [ivanxov, 6 nsQiixevTo
aig fiovoig to SSvtov ßa<U[iov tjv, XeyGTCU de ' Iaov o
fjL6#E()firivov€Tat, 6 cov xal o eaofievog.
— 753 —
In der Ausgabe des Clemens, welche wir ge-
brauchen, stehen weiter die folgenden Citate, in der
Note 2, S. 666.
Der Heilige Hieronymus an Fabiola über das
priesterliche Gewand: „Der Name Gottes ist mit vier
hebräischen Buchstaben geschrieben Jod He Vau He,
welche bei [den Hebräern] nicht ausgesprochen werden
darf44) und Theodoret p. 15 in Exodum: Dieser aber, so
heißt es, ist bei den Hebräern unaussprechbar: derselbe
wird mit vier Buchstaben geschrieben, und darum tetra-
grammon genannt. Die Samaritaner nennen aber diese
Namen Jabe, die Juden Jao.45) Tacitus schreibt dann
in seinen Historiae, lib. V c. 5: Weil ihre [4 h, die
Jüdischen] Priester mit Flöten und Paukenspiel, Epheu-
kränze tragen, auch eine goldene Weinrebe sich im Tempel
fand, glaubten Einige Vater Liber, des Morgenlands
Bändiger, werde verehrt, was keineswegs zu ihren
Satzungen paßt. Denn des Bacchus Gebräuche sind
festlich und froh, die Judäischen aber widersinnig und
finster.«4 46)
Aber wir wissen aus Johannes Lydus (OIV de
mensibus libr. IV c. 38): die Chaldäer nennen den Gott
[Dionysos] Jao (für das Licht, das nur der Geist be-
44) Nomen Dei est scriptum Hebraicis quattuor letteria Jod
He Vau He, quod apud [Hebraeos] ineffabile nuneupatur,
4Ö) Tövto de naq cEßQaiotg dygaaiov ovo^dCsrat
än€i()r)T(u yd' nag avroTg öia Trjg yXuTTrß 7iQog<fiqeivt
YQCt(p€TCU de 6td x&v TeacaQvov GxoLyfiitoV die* -vBigay^dfifiov
amo Xsyovöi. xahovat, de avro 2afiaQeTzat ft&? Iaߣy
'iovdatoi, de law.
46) Quia sacerdotes eorum [Judaeorum] tibia tympanisque eonoi-
nebant, hedera vinciebantur, vitisque aurea temploreperta: Liberum
patrem coli , domitorem Orientis quidam arbitrari sunt,
nequaquam congruentibus institutis, quippe Liber festoa laetosque
ritus posuit: Judaeorum mos absurdus sordidusqu .
i
m
— 754 —
greifen kann) mit einem phönizischen Worte, und er wird
oft Sabaoth genannt, d. h. welcher über sieben Himmel
herrscht, d. h. also der Schöpfer.47)
Hiermit stimmt wiederum der Orakelspruch bei
Macrobius lib. I c. XVIII (CV S. 206) überein:
Sage, der höchste aller Götter ist Jao, im Winter
Hades, im kommenden Lenz Zeus, im Sommer Helios,
im Herbst aber der weibliche Jao. 48) Warum Höfer
(CI v. Jao) hier sagt, Jao sei ein Name des Helios, ist
uns nicht deutlich : ebenso gut war zu sagen, daß Jao
eine Name des Hades oder des Zeus war. Selbstredend
ist für uns, daß Jao auch hier Dionysos bezeichnet,
oder lieber das erste Jao bedeutet der Erzeuger des
Lebens. Im Winter hat der Erzeuger keine Kraft, ist
wie ein Unterweltsgott ; im Lenz aber wird er wie Zeus,
denn als Zeus und Hera auf dem Ida schliefen, ent-
spross die neue Blume und kam der Lenz:
[Zeus dann] umfing mit den Armen die Gattin
Unter der heiligen Erde entsprosseten blühende
Kräuter
Thauige Lotosblum, auch Krokos samt Hyakinthos,
Dicht und lockergeschwellt, sie empor vom Boden
zu heben.
Darauf ruhten sie nun, und umher rings gössen
sie schönes
Goldnes Gewölk, und oben entthaueten funkelnde
Tropfen.
(Homer, Ilias XIV, 346 — 349, Übersetzung von Wiedasch.)
47) ol XaXdaZot, xbv &eov [Jiovvaov] 'law Xeyovatv.
£avri tov (pwg votjtov) rrj (poivtxcov yhw<f<fß xal 2aßdv&
de noXXa%ov Xeyercu, olov 6 ineq rovg enxa noXovg,
rovreaviv 6 drjfiiovQyog.
48) <D(>d£eo tov ndvToov vuarov &e6v efi^iev *Idw.
Xetfixart, fxev t 'Atdrjv, Jia 6' etagog aQ%o(A£voio,
lHefoov de üegeog, (xbtotkoqov S9 aßqbv 'idco.
— 755 -
Aber im Sommer erscheint der Erzeuger in voller
Pracht und Kraft, dann iat er Helios, und im Herbst
Obst und Früchte wie ein Weib gebend, ist er Dionysos*
der weibliche, wie wir aßgog übersetzt haben 40), denn
wir werden später sehen, daß Dionysos der androgyni-
sche Gott xaTJe%oxi]v ist. So ist die Gleichstellung des
Jahve d. h. Jao mit Dionysos von Lydus? sehr wahr-
scheinlich der Wahrheit entsprechend.
Ferner spricht noch dafür, daß, wie wir auch bei
Tacitus (s. o.) gelesen haben, dem Jahve der Weinstock
geweiht war (XV. Bd. IL S, 432) und was Tiele
(CLXXXIV Bd. I, 8. 282) schreibt: „Als der Gott des
Lichts und des Lebens aber ist (Jahve) ein gnädiger
und wohltätiger Gott, der den Landbauer segnet, das
Korn und den Weinstock gedeihen laßt", und dann
noch: daß die jüdische Münze sehr oft die Traube und
das Blatt des Weinstocks zeigt.
Diese Auffassung teilte schon Knight (XCIV S. 106)
und auch Blavatsky gibt derselben Meinung Ausdruck.
(XXII Bd. II, S. 487 cit. aus Isis unveiled; Bd. II,
S. 137.)
Aber was noch mehr sagen will, diese Auffassungen
welche wir nur aus den Schriften der Rabbiner und aus
klassischen Zeugnissen geschöpft haben, stimmen völlig
mit der mystischen Interpretation der Kabala üherein.
49) Der Grund für unsere Übersetzung ist der folgende ;
aßQöe ist mollis, delicatus, eft'eminatus sagt Stephanos; und er
gibt als Beweis die Stelle bei Lucirmt DiaL Dt-» omni 18.
Diese Stelle bezieht sieh gerade auf Dionysos. Hera sagt
dem Zeus: „Ich würde mich schlimen Zeus, wenn ich einen so
weibischen (^Xvg) und durch Trunk entnervten Sohn hätte, der
sein Haar mit einer Mitra aufbindet, meistenteils mit rasenden
Weibern lebt und noch weichlicher (aßg^Ts^os) als jene ist"
So glauben wir, daß wir gerade am genauesten übersetzt
haben, um das weiblich- weichliche wiederzugeben,
Jahrbuch V. 48
f
— 756 —
In der Broschüre: »Der kabbalistisch - biblische
Occident*, finden wir S. 1 — 7 eine kurze Auseinander-
setzung dieser jüdischen Geheimlehre* (XCV). Am An-
fang war das unendliche Nicht-Sein — En-soph, der an
sich unteilbare, scharfe Punkt-Chad — der reine Geist.
Und der Geist waltete im Urzustände der Ruhe als
reine Substanz — Je so d — bewußt nur des ihm Äußern
— Thehom — , über dem er schwebte.
„Ohne zu erkennen (empirische Betätigung) wußte
(unmittelbarer Zustand) durch das eigene innere Wesen
bedingt der Geist, daß er nimmer auf das neben ihm
ruhende Thehom wirken könne, der regungslos, er-
wartend aufzunehmen die Kraft der Gestaltung, neben
ihm in paralleler Richtung — gleich nah, gleich fern,
unerreichbar weilte, denn das Dritte war noch nicht vor-
handen, in dem sie sich treffen sollten. — Und er tritt
aus dem Stadium, dem ersten der contemplativen Ruhe,
setzt seine Subjectivität — Jod= i — durch
innere Betätigung sich gegenüber, sich trennend, teilend
als Objectivität — He = ;-| = Chochmah. Diese
wiederum erfassend im geheimnisvollen dritten Vav = *|
— tritt er versöhnt wiederum in sich selbst zurück, in
das Stadium des Selbstbewußtseins — Binah.
Und hat sich wiederum in geschlossener Einheit durch
die Dreiheit als Ihu (iao). Jetzt erst aus dem
Centralpunkt seines Wesens sendet er Strahlen
aus — Tiphereth, die, außer sich Objekte suchend,
die Ewigkeit erfassend und die Unendlichkeit — die
zwei Hauptformen aller Objectivität erzeugen; die Zeit
und den Raum.
„Durch diese empirische Betätigung gewinnt die
Ausstrahlung selbst concrete Form, wird Krone-
Chether (Einigung des Idealen und Empirischen),
— wird die sich selbst bestimmende, und das, was außer
ihr, — Pracht — Hod; aus der die stille selbstbewußte
— 757
Fülle der Macht — Gebirr ah wird. Diese sich selbst
setzend, in der Betätigung des Momentes, wird Kraft
— Nezach. Die Kraft, deren Leben nur der kurze
Moment der Geburt, setzt sich schaffend — Materie
— vonihraus — trennend — richtend — Adonai
und endlich einigend versöhnend — Gnade — Chesed.
Im Kosmischen Prozesse der reinen Idealität in
ihrer Betätigung ward das All — subjectiv: Alam
objektiv: Olam.
„In den Zehen Sephiroth haben wir die reine
Subjectivität, sich selbst durcharbeitend; in den drei
ersten: schaffend, empfangend, erzeugt aber im
Kreise noch die innersten der reinen Subjectivität —
tibergehend auf die Materie, sie erfassend als das
Aeußere, Obj ecti vi tat, in den sechs folgenden,
und zwar:
1) Thipherett (Strahlenpracht) = Jehi or (Licht)
2) Chether (Krone) = Rakiah (Himmelsgewölbe)
3) Hod (stille Majestät) = Maim (tiefe Ruhe des
Wassers)
4) Geburah (Macht) = Schemesch (Wärmemacht)
5) Nezach (produzierende Kraft) = Nephesch,
Chajah, Oph (Belebung, Tat setzend)
6) Adonai (der Höchste, Richtende) = Adam; —
Zelem Elohim, durch diese endlich
7) Chesed (Gnade, Liebe) = Sabbath aus der
Objectivität in seine, durch Entäußerung erfaßte
Subjectivität wiederum zurückkehrend — Einheit
durch Trennung — Versöhnung.
„Wir haben hier eine dreifache Gliederung in der
großen kosmischen Erscheinung:
I) Subjectivität, sich setzend die Objectivität (II)
und daraus zurückkehrend — Subjectivität (III).
„Doch in jeder besonderen Erscheinung finden wir
wieder dreifaches Bestehen:
48*
im
(Jehovah)
(Alam)
der Ver-
borgene.
— 758 —
a. Dachar das Zeugende, der Aus-
strahlende Punkt = •)
h. Nukbah das Empfangende, schon
der Form nach = n
c. Bar-buchrah, der Erstgeborene, die
Erscheinung beider ^
„Diese in Dreiheit einig geschlossene Sub-
jektivität geht über auf
II) Objektivität, in welche sie, als Ganzes als in die
Empfangens Gewärtigte, ihre schaffende Kraft über-
strahlt. In ihr selbst aber, als in reiner O b j e c t i vi t ät,
finden wir, correspondierend der reinen Subjec-
tivität, dieselbe dreifache innere Tätigkeit — in
gedoppelter' Erscheinung :
a. Schemesch-Maim50) schaffend |
b. Or-Rakiah empfangend l °lam
c. Chaj ah- Adam erzeugt. | Kosmos, All.
„Das die Rückkehr aus der Objectivität ver-
mittelnde in die Subjectivität, der Schlußakt der großen
Erscheinung in der neunten Sephirah das als drittes,
— tertium comparationis, — Merkabah. — Adam.
III) Adam, der gezeugte Beider, Zeuger Beider,
involviert Beide, (eso-exoterische Erscheinung : mikro-
kosmos), hat als solcher in sich den dreifachen Akt,
der den allmählichen Durchgang des Ideals zur
Materie (die sich sonst als Parallelen niemals treffen
können, s. oben) vermittelt.
Er weist die ihrem Quellpunkt Chad, unmittelbar
ausgestrahlt befreundete
a. Jechidah, sich erfassend als Neschama, idealste
Seite zum
b. Euach übergehend — auf
B0) Man denke an £iva und Vishnu in der Indischen Kos-
mogonie (s. o.)
— 759 —
c. Nephesch,
erreicht in dieser schon materialisierten Seite die reine
Materie — Adamah.
Haben wir hier die drei ersten Sephiroth,
correspondierend nach oben, des Adam Kadmon, so
zieht er, nachdem er sich selbst in den Kreis seiner
Dreiheit als einheitliche Individualität gesetzt,
hinab in die Materie — Adamah, durch das Dritte
vermittelt, die Form — Zelem E loh im — dann
durch die siebenfache von Ruach ausstrahlende in die
Materie, Sinnenbetätigung (fünf subjektiv — und
der die Tat [objectiv] vermittelnde "Wille und jene
selbst in die sieben folgenden Sephiroth, widergebend
den bedingenden Proceß, in der Erfassung seiner
selbst, als der Inbegriff der Schechintah elaah und
der Schechintah thathaah Vollendung somit des
Geistes, Vaters; Materie — Mutter als der von
der Erde zum Himmel reichende Sohn, (darum
die lange Form) diese und jene in sich tragend," 6J)
Wir haben vollständig citiert, erstens da wir meinten,
es würde sein Interesse haben diese mystische Philosophie
in großen Zügen vorzuführen, und dann da wahrscheinlich
eine kurze • Mitteilung unverständlich sein würde. —
Deutlich ist, daß der Adam Kadmont der Vater und die
Mutter, androgynisch gedacht ist, d. h. in ihm waren die
Activität und* die Passivität vereinigt.
Aber auch für den Jehovah finden wir in dieser
Broschüre Mitteilungen, die höchst interessant sind.
S. 8 wird gesagt, daß Jehovah nach den Engelehen
(Genesis Cap. VI v. 1 — 2) sich aus der Unmittelbarkeit
4t) Der Autor fügt hinzu: Diese Zusammensetzung- des
Menschen ist von späteren Kabbalisten falsch gefaßt worden, als
concret — urtypisch Androgynisch. Wir glauben, daß dieses ver-
fehlt ist, denn wie wir oben sahen, war es auch die rabbimische
Ansicht, daß Adam androgynisch war. —
1
— 760 —
zurück zog, das Princip verhüllend, erscheinend den ihm
sich Entfremdenden nur in seinen Consequenzen — aber
wieder in dreifacher Form und (empirisch) Tätigkeit:
I) als El-roi1) = Gott -Sehen; Aug, Punkt = ^
II) als El-schaddaia) = Gott-Fülle; Brust,
Körper = j-|
III) als El- k an ah8) = Gott-Strafe; Stab, lang = i
Die Anmerkungen aber geben:
*) Auge, Quelle, ausstrahlender Punkt
2) Brüste; Fülle, deren lebenspendende Tätigkeit erst
nach der Empfängnis (Wir cursi vieren v. Römer.)
3) Erscheinung von Beiden: Strafe, Stab, Eifer. — ^ Sohn.
Spricht sich nun hierin nicht die androgynische
Natur des Jehovah aus?
Und weiter unten (S. 16) finden wir:
„Die ideelle Subjektivität ging verloren —
Jah-patar (Jupiter) indem sie in die Form Zelem
(per metathesin Semel, Semele) untertauchend einging;
dort suchend, um verborgen dereinst wieder zu kommen
— ba-chos (Bacchus62)." Ist dieses Citat nicht der
absolute Beweis, daß für die Kabbalisten Jehovah und
Bacchus derselbe Gott war? Denn wie wir früher sagen,
als der Geist seiner Subjektivität gegenüber sich als
Objektivität gesetzt hatte, erfaßte der diese wieder, und
kommt versöhnt wieder zurück in das Stadium des
Selbstbewußtseins, und hier findet er sich als Ihu 53) (iao).
Diese Auffassung teilte auch Blavatsky, welche
andere kabbalistische Autoren citiert. Diese moderne
Mystica und von den Theosophen sehr hochgeschätzte
Schriftstellerin schreibt z. B. XXII Bd. II S. 137:
Die aspirierte Form des Wortes eua (Eva) „sein",
ist nin Heve (Eva), und dies ist die weibliche Form von
62) Die Wörter in Klammern sind keine Beifügungen von
uns, sondern stehen im Original, v. R.
5S) Man liest bei Sanchuniatho : der Gott der Juden genannt
rem, Ieuo [CLXVII].
*
— 761 —
HIPP un(l derselbe Name wie Hebe die griechische Göttin
der Jagend und die olympische Braut des Herakles.
So wird der Name Jehovah noch deutlicher in seiner
primitiven doppeltgeschlechtlichen Bedeutung.64)
Und Bd. II, S. 132 :
Jehovah, oder Jah-Hovah, bezeichnend männliches
Leben und weibliches Leben, — erst androgynisch, dann
in Geschlechter geteilt — ist in dieser Auffassung ge-
braucht in der Genesis. Der Autor von „ Source of
Measures" (Ralston Skinner) sagt (S. 159): Die zwei
Wörter wodurch Jehovah geformt wird, zeigt deutlich
die originelle Idee des mann-weiblicheh des Geburts-
ursprunges. [Der hebräische Buchstabe Jod war das
membrum virile und Hovah war Eve, die Mutter
von Allem, was ist, oder dieProcreatrix, Erde undNatur."55)
Aber sie geht noch weiter. Sie schreibt (1. c.) ferner,
daß „das bi-sexuelle Element sich zeigt in jeder
Schöpfungs-Gottheit, sowohl in Brahma- Yiraj-Vach, als
in Adam- Jehovah-Eve und in Cain-Jehovah-Abel. Denn
in dem „Buche des Stammbaums Adams" wird keine
Meldung getan von Kain und Abel, sondern da wird
gesagt:
„Männlich und weiblich schuf er sie, und nennt ihren
Namen Adam."
ßl) The aspirate of the word eua [Eva] „to beu being niH
Heve [Eve] which is the feminine pf HIPP an<* the same of Hebe,
the Grecian Goddess of youth, and the Olympic bride of Herakles,
makes the name Jehovah appear still more clearly in its primitive
double-sexed form.
6Ö) Jehovah or Jah [Hovah] maening male life and female
life first androgynotts, then separated into s'exes, is used in this
sense in Genesis. As the author of the Source of Measures says
[p. 159] „The two words of which Jehovah is composed make up
the original idea of male-female of the birth originator. For the
Hebrew letter Jod was the membrum virile and Hovah was
Eve, the mother of all living, or the procreatrix Earth and Nature.
\
— 762 —
Und dann wird fortgefahren:
„ Und 'Adam erzeugte einen Sohn, nach seinem Bilde
und Gleichnis, und nannte seinen Namen Seth."
Nachher erzeugte er andere Söhne und Töchter^
was beweist, daß Cain und Abel nur die allegorische
Permutation von ihm selber waren." &6)
Und dann Bd. II S. 406: „ Jehovah-Cain, der männ-
liche Teil von Adam, der zweifache Mensch, sich selber
abgeschieden habend von Eva, erzeugt in ihr Abel das
erste natürliche Weib und vergoß das jungfräuliche
Blut." 57) Und auch S. 143, citiert sie aus Professor
Wilder: „Der Name Hebel ist derselbe wie Eva, und
seine Kennzeichen geben das weibliche. „Nach dir soll
seine Sehnsucht sein," sagt der Herr Gott zu Cain, „du aber
sollst über ihn herrschen.* Dasselbe wurde zu Eva gesagt:
„Nach deinem Manne geht deine Sehnsucht und er soll
herrschen über dich."68)
ö8) The bi-sexuell element [is] founded in every creative Deity,
in Brahma- Viraj-Vach, as in Adam-Jehovah-Eve, also in Cain-
Jehovah-Abel. For the „Book ot the Generation of Adama does
not even mention Cain und Abel, but says only : „Male and female
created he them .... and called their name Adam." Then it
proceeds to say: „And Adambegata sonin his own likeness, after
his image and called his name Seth." After which he begets
other sons and daughters thus proving that Cain and Abel are
his own allegorical permutations.
57) Jehovah-Cain the male part of Adam the dual man, having
separated himself fromEve, creates in her Abel, the first natural
Woman, and sheds the virgin Blood [Cit. of Source of Measures].
58) The nameHebel is the same asEve, andits characteristic
seems to the feminine. „Unto thee shall be his desire," said the
Lord God to Cain, and thou shalt rule over him.'* The same
language had been uttered to Eve: „Thy desire shall be to thy
hüsband, and he shall rule over thee.*' Diese hier gebrauchten
Verse sind Genesis IV, 7 und III, 16. Der erste Vers soll wie
LXIV S. 38, Note 7 angegeben wird, absolut verdorben sein. Wie
wir schon oben schrieben : Wenn es auch wahr sein darf, daß die
— 763
Wir wollen nun nachweisen, daß auch im Christentum
Spuren des Androgynismus, wenn auch nur solche vor-
handen sind.
Die Stelle aus der Apokalypsis des Johannes, worauf
Frau Blavatsky sich bezieht, ist m. E. nicht an und für
sich beweisend.
Apokalypsis I, 13 steht nl: Und mitten zwischen
den sieben Leuchtern [sah ich] einen dem Sohn des
Menschen ähnlich, in einem Gewand, das bis zu seinen
Füßen herab hing, und um seine Brüste einen goldenen 4
Gürtel tragend.60)
Wie der Leser aus dem Citate ersieht, ist im
Griechischen das Wort fxaazog gebraucht. Es ist wahr,
daß ixaGTog meistens für weibliche Brust gebraucht wird,
doch sehr oft wird es auch auf männliche Brüste an-
gewendet, wie das Etymologicum Magnum lehrt60).
Genesis aus verschiedenen Quellen zusammengestellt ist, so können
wir aber doch nur denken, daß zur Zeit der Zusammenstellung die
Auffassung die war, wie diese sei es auch noch so heterogenen
Fragmente, es als eine ununterbrochene Darstellung geben; dieses
gilt natürlich auch für die durch die neuere Wissenschaft als ver-
dorben erkannten Verse. Dann aber stimmt die Auffassung der
Blavatsky auch absolut, denn es steht nicht, wie auch Gunkel sagt,
im Hebräischen ein weibliches Pronomen possessivum, was doch das
weibliche Wort „Gier" oder „Sehnsucht" notwendig machen soll,
sondern das männliche, wie es denn auch z. B. die alte holländische
Synodale Bibelübersetzung wiedergibt.
59) xai ev fieatp t£v enxa h)%v(üv^ ofioiov vly avüqwjiov
\eidov\ edsdvjjtevov nodr^qv xai nsQie'gwGfievov nqog %olg
[MXGTolg ^(jivr\v %QvaT]v.
60) LIV v. Maarog. Maarog xai [xa£og diacpeget,. Maarog
fxsv yaq eanv 6 yvvacxelog xvQtwg, dia rb elvat, pearbg
ydkaxrog. [ia£og de o avdqeZog.
Tiveg de diacpo'gcog xgcovrat, ralg Xe^eav.
— 764 —
M. E. kann man wegen dieser Stelle allein nicht so
apodiktisch wie Frau Blavatsky schreiben: „In St. Jo-
hannes Vision, in der Offenbarung, ist der Logos, welcher
nun mit Jesus verbunden ist, ein Hermaphrodit, denn
er ist beschrieben mit weiblichen Brüsten. 61) (XXII,
Bd. I, 8. 101).
Wenn aber steht Bd. II, S. 143: „Mystisch war
Jesus ein Mann-weib." 62), so ist dies, wie wir später
sehen werden, genauer.
In den verschiedenen christlichen Sekten aber,
.welche in den ersten Jahrhunderten des Christentums
bestanden haben und seither untergegangen sind, war
diese Auffassung sehr verbreitet.
So lehrt uns Origenes (CXXVII 1. V. 6, 42 sqq.)
daß die Naassenier unter allen Gnostikern den Menschen
und den Sohn des Menschen am meisten verehren.
Dieser Mensch aber ist mann-weiblich und wird von
ihnen Adamas genannt. Sie haben viele und verschiedene
61) In St. John's Vision, in Revelation, the Logos, who is
now connected with Jesus, is Hermaphrodite, for he is described
as having female breasts.
69) Mystically Jesus was held to be man-woman." Höchst
interressant ist aber die folgende Mitteilung der Blavatsky (Bd. I,
S. 101 — )
In Southern India the writer has seen a converted native
making püjä with offerings before a statue of Jesus, clad in
woman's clothes and with a ring in its nose. On asking the raea-
ning of this masquerade, we were answered, that it was Jesu-
Maria blended in one, and that it was done by the permission of
the Padre, as the zealous convert had no money to purchase two
Statues or „idols" as they, very properly, were called by a witness,
another but a non-converted Hindu. Blasphemous this will appear
to a dogmatic Christian, but the Theosophist and the Occultist
niust award the palm of logic to the converted Hindu. The
esoteric Christ os in the Gnösis is, of course, sexless, but in
exoterio Theology he is male and female.
705 —
Hymnen an ihn 63). Dann gibt Origenes ein Beispiel
einer solchen Hymne : „Von dir, Vater, und durch dich,
Mutter, die beiden unsterblichen Worte Erzeugers der
Aeonen, Himmelsbewohner, ruhmreicher Mensch."64) Und
weiter V. 7, 43 — 55, spricht Origenes wie folgt: „Daß
die Mutter der Götter Attis entmannte und sie ihn als
Liebling hat, will sagen, daß die glückselige Natur der
Hyperkosmischen und A eonischen in der Höhe die männ-
liche Kraft der Seele zu sich gerufen hat. Denn, sagen
die Naassenier, mannweiblich ist der Mensch
Denn die Entmannung des Attis bedeutet, daß von den
irdischen Teilen der Schöpfung hier unten einige nach
den aeonischen oben steigen, wo weder Weib noch Mann
ist, sondern eine neue Schöpfung, ein neuer Mensch, der
mannweiblich ist 65).
Das Evangelium, worauf die Naassenier ihren
Glauben gründeten, das Evangelium secundum Aegyptios
sagt denn auch sehr deutlich:
63) Ovtoi tmv äXXcov dndvTwv nctQa tov avrwv
Xoyov TifjiüoGiv äv&Qionov xal vlbv äv&QtoTiov. *E<Svi de
™Av#Q(onog ovrog aqaevo^riXvg, xaXelxai de 'Addfiag na(
amolg.
64) ^Ano aov naT^Q xal dla ae jUifnj^ ia dvo d&avara
6vofiara9 ämvcov yovelg noXlxa ovqavov, fxeyaXcovvfie
av#Q(07ie.a
65) 'Eav de (pqalv, ij ixvxr\Q rwv #eoh> anoxoipn xov
* Axxiv xal avTT[ tovtov e%ovaa egwfievov, rj xwv vneQxoafilwv,
cprjol, xal äicovtcov ävco f.iaxaqia <pvGig xrp> dqqevixi\v
dvvafiiv xfjg ijjvyftig dvaxaXelxai jiqbg avxr]v. "Eaxi yäg
q>v\Glv> aQaevo&rjXvg 6 äv&Q<onog *Anex6nri yäg
<pi}Giv, o "Axxig xovxeaxcv oltto xwv xolxwv, iyg xzcaecog
xcxco&ev iieq&v xal enl xx\v amviav avco fiexeXrjXv^ev
ovaiav, onov, <priaw, ovx eaxtv ovde ÖrjXv ovde äqaev,
äXXc. xaivr xxiaig, xatvog avtiqixmog, o eaxtv aqGevo&riXvg.
i:
— 766 —
[„Mein Königreich wird kommen] wenn .... Zwei
Eins wird, und das Äußere wie das Innere, und das
Männliche mit dem Weiblichen, weder männlich noch
weiblich.*4 66)
Eine andere Secte, die der Valentinianer, gab ein
System, welches mit dem der Kabbala in verschiedenen
Punkten übereinstimmt. Wir glauben, daß dieses System
aber von der andern Seite nur darum von der Orthodoxie
so stark abweicht, weil es jede Äußerung der Gottheit
des Einzigen Vaters, sich darstellt als Symbol für sich,
und zwar in menschlicher Figur. Dem Inhalt der Lehre
nach aber sind sie beide u. E. nicht so verschieden.
Im Anfang war Bythos ein Aeon von höchster Voll-
kommenheit, der vor Allem gewesen war, in unsichtbaren
und unnennbaren Höhen : diesen Aeon nennen [die Valen-
tinianer] Proarches (Vor-dem-Anfang) und Propator (Vor-
dem-Vater) und Bythos (Tiefe) und dieser, unbegreiflich und
unsichtbar, ewig und ohne Anfang, war in unendlicher
Ewigkeit gewesen in Ruhe und Stille. Mit ihm bestand
von Ewigkeit her Ennoea (Gedanke), welche sie auch
Charis und Sige (Stille) nennen. Und Bythos wollte
von sich aussetzen den Beginn von Allem und er brachte
diesen Theil, als seinen Samen in die Gebärmutter, in
die mit ihm ewig seiende Sige. Und diese nahm den
Samen auf und ward schwanger, und gebar den Nus
(Geist), den ihm aus sich setzenden ähnlichen und
gleichen, der allein die Größe des Vaters begreift.
Diesen Nus nennen sie auch Monogenes (Ein-geboren),
Vater und Beginn von Allem. Mit ihm ward die Wahr-
heit. — Und Monogenes selber erzeugte Logos und
66) [CH ßaaiXela fxov yj&i] oxav yevtjxat xa
Svo ev, xai xo e£w cog xo eaco xal xo &qqsv fiexa xf(g
drikeiag, ovxe äggev, ovxe #ijAt/.
(CLXXXI, Evang. sec Äg.)
— 767 —
Zoe (Wort -und -Leben) und er war der Vater von
Allen, die nach ihm kamen.
Und aus Logos und Zoe ward nach der Begattung
der Mensch und Ecclesia [die Kirche] geboren.
Diese sind aber alle, jeder für sich, mannweiblich,
denn der Propator war eins mit Ennoea durch die Be-
gattung, und Monogenes, welche Nus ist, mit der Wahr-
heit; der Logos mit Zoe, und der Mensch mit Ecclesia.
Logos und Zoe erzeugten, nachdem sie den Menschen
und die Ecclesia erweckt hatten, noch zehn an-
dere Aeonen, Bythius und Nixis, Ageratos und He-
nosis, Autophyes und Hedone, Acinetos und Syncrasis,
Monogenes und Macaria. — Aber auch der Mensch und
die Ecclesia erweckten zehn Aeonen: Heracletos und
Pistis, Patricos und Elpis, Matricos und Agape, Aeinous
und Synesis, Ecclesiasticos und Macariotes, Theletos und
Sophia " 67)
Wie wir oben sahen, konnte Nus allein den Bythos
erkennen, aber jeder der Aeonen strebte nach Erkenntnis
des Vaters. Sophia aber, die jüngste und letzte von allen,
verzehrte sich in leidenschaftlichem Verlangen nach dem
Vater. „Sie brannte von der heftigsten Begierde, und
jede Vereinigung mit Theletos, ihrem Gatten verschmähend,
wollte sie sich, gleich dem Monogenes, mit Bythos ver-
einigen. Da sie ihi^r Natur nach nicht für solchen Grad
von Vollkommenheit gemacht war, so unternahm sie ent-
schlossen, das Unmögliche zu versuchen, einen so heftigen
und für sie so gefährlichen Kampf, daß sie sich selbst
vernichtet haben würde, wenn Gott ihr nicht den Aeon
Horus zu Hilfe geschickt hätte. Dieser Horus, der Genius
der Begrenzung, wies nun auch die Sophia wieder in die
Schranken ihres Wesens zurück und hielt sie darin fest"
[CXII Bd. II, S. 85].
1;
Man sehe über die Bedeutung dieser Namen weiter unten.
— 768 —
Dieser Horos ward vom Vater, durch den Monogenes
erzeugt, ohne Gatten und mannweiblich [LXXXVIII
libr. I. c. 2, 4 S. 231 68)
„Er [der Horos] wirkte auf sie vornehmlich durch
den geheimnisvollen Namen Jao und die Wiederherstellung
der ursprünglichen Harmonie war, wenigstens für die
Person [der Sophia], bewerkstelligt " [CXII Bd. II, S. 85.
— LXXXVIII üb. I c. 4, 1 S. 40].
Aber auch die anderen Aeonen waren in Disharmonie.
Nus erzeugte, um auch da die Harmonie herzustellen,
Christos und den heiligen Geist [LXXXVIII Hb. I,
c 2, 5 S. 26].
Deutlich kommt hier heraus, daß wie schon gesagt
wurde, jeder mannweiblich gedacht ist. Denn den Geist
als männlich zu betrachten, wie Billius in seinen
Annotationes (LXXXVIII Bd. IS.542) will,«9) ist ziemlich
albern.
Gerade verschiedene Gründe, welche Matter bei-
bringt, um den Geist als weiblich hinzustellen, beweisen,
daß er mann-weiblich sein muß. Er sagt CXII Bd. I,
S. 187, worauf er Bd. II. S. 86 not. 2 hinweist, daß der
68) O de ncLTrq xlv nQoecQrjfxtvov *'Oqov btzi tovtolq
dtä rov. Movoyevovg nyoßdXlexcu ev %xovi Idiq, ä<fv£vyov9
aQQevoSrjXvv.
Der Herausgeber meint, daß 'aPfowTov stehen bleiben muß.
Die alte lateinische Übersetzung hat aber in imagine sua, sine
coniuge masculo-femina. Wenn man hinter coniuge ein Komma
setzt, dann entsteht der Sinn : nach seinem Bilde, aber ohne Gattin,
also mann-weiblich. Bythos war doch der mit Eunoia Vereinigte
und mann-weiblich ; nach seinem Bilde schaffen war also den Horos
mit einer Gattin schaffen. Aber Horos wurde ohne Gattin erzeugt,
muß also notwendig mann-weiblich sein.
60) Merito hanc conjungationem ridet Tertullianus, ut turpissimam
nempe duorüm marium.
— 769 —
H. Geist ein Weib sein soll, daß im Systema des
Bardesanes, (eine andere gnostische Sekte) auf den
Christus, den Sohn, als Emanation folgte die Schwester
und Gattin desselben „der heilige Geist".
Häufig sei das Pneuma als Weib betrachtet, so in
der Kosmogenie der Genesis:
„Das Pneuma ist dort dargestellt als schwebend
über den Wassern, als Schöpferkraft/ d. h. aber so weit
wir sehen können, daß das Pneuma hier als männliche,
erweckende Kraft gedacht ist. — Und S. 121, wo er das
System des Symon untersucht, sagt er:
„Sie (die Schüler Simons) nannten die Ennoia merk-
würdig genug „heiliger Geist und Prunikos"
andererseits gaben sie ihm den Namen „Minerva",
indem sie auf Allmutter Sophia Alles anwendeten,
was die Griechen von ihrer Artemis-Selene sagten, d. h.
von dem Mond als der Mutter alles irdischen Seins."
Wir sahen schon früher, daß die Minerva der Aegypter,
Neith, mannweiblich war und später werden wir sehen,
daß auch die Athena und die Minerva der Römer
androgynisch sind, und über den Mond als Androgyn
haben wir oben schon viel gesagt.
Matter sagt dann weiter: „Die Bezeichnung des
h. Geistes als Frau darf bei einem Manne, der sich
vertraut gemacht hatte mit den Vorstellungen der
Chochmah, der Binah, der Sephiroth im Allgemeinen, und
der Sophia der jüdisch-alexandrinischen Schule insbesondere
nicht befremden" (1. c).
Man braucht sich nur an die weiter oben gebrachte
Auseinandersetzung der Kabbala zu ^erinnern, um zu
begreifen, daß all diese Begriffe wirklich androgynisch sind.
Die Stelle des Epiphanius über die Ossenier, welche
Matter citiert, beweist aber etwas anderes.
„Der H. Geist ist eine Frau, und gleicht dem Christ."
— 770 —
Also entweder Christ war auch eine Frau, oder beide
waren androgynisch.70)
Auch der letzte Grund, den Matter beibringt, muß
als verfehlt angemerkt werden, denn das Gebet aus den
Reisen des Thomas:
Komm, heiliger Name von Christos, Name über allen
Namen; komm Kraft von oben, komm vollkommene
Gnade, komm, höchste Gabe!
Komm, Mutter des Erbarmens; komm, Gattin des
Mannes; komm Da, die die verborgenen Mysterien offen-
bart; komm, Du Mutter von den sieben Häusern, damit
Du in dem achtesten deine Ruhe fändest.
Komm, der Du bist älter als die fünf heiligen Glieder,
— Geist, Gedanke, Betrachtung, Überlegung, Beratung, —
teile dich diesen jüngeren mit; komm, Heiliger Geist?
Du reinigst ihre Nieren und Herz, und verriegelst sie im
Namen des Vaters, und des Sohnes, und des heiligen
Geistes!71)
70) LIII S. 25. elvai de xal xo äytov nvevfjia, xal
atxo ^rjXeiav, oguoiov xw %qigto> dvdgidvxog 8ixv\v vtisq
vecpeXrjv, xal dvafisaov ovo oqswv eGxwg. — Oder will dieser
Satz sagen, daß der H. Geist weiblich war, und daß er ebenso
wie Christ, wie eine Statue auf den Wolken stand etc.?
71) EX&e xo aywv ovofxa xov %qlgxov9 xo vttbq nav
ovofxa' iX#e tj dvvafxig xov vxptGxov xal r) evGnXayyyia yj
xeXeta* eX&e xo %aQiGfia xo vxpiaxov eX&e r) (urjxriQ i)
evGnXayyyog* eX&e i) olxovofxia xov äogevog* eX&e r) xd
jLivaxrjQta änoxaXvTtxovaa xd anoxQvtpa* iX&e r] [irjxrjg
xwv STtxd oixcov, Iva q dvdnavGig goi eig xov oydoov
oixov yevrjxar eXüe o nqeGßvxeqog xwv nevie fxeXwv,
voog evvoiag (fQovr\G£(og ev&vfxriGewg XoyiGfjiöv, xoiviovr\Gov
jLisxa xovxcov xcov veioxegtov iX$e xo ayeiov nvevfia xal
xa&dqLGov xovg vetpgovg, avxtov xal xtjv xagdtav, xal
entGxqdyiGov avxovg eig ovo[,ia naxqtg xal vlov xal dyfav
nvsvpaxog. (Ia Acta Thomae c. 27.)
- m -
Mead sagt (CXIV S. 423: „Der Name ist nicht der
Name „ Christos", sondern der Name oder die Macht des
Christs, Seine Shakti (um einen Ausdruck der Indischen
Theosophie zu gebrauchen) oder Sein Syzygia."
Aber es heißt dann weiter: „„Der, welcher älter ist als
die fünf Glieder/ ist der Mensch, der Gatte von Sophia
oder des Heiligen Geistes, Christos.* Wir glauben, daß
aus dieser Invokation des Heiligen Geistes nur zu deut-
lich herauskommt, daß die Gnostische Secte, welcher diese
Hymne angehört, den Heiligen Geist nur als mann-
weiblich betrachtet haben kann. Denn der heilige Geist
wird in einigen Teilen als Frau, als Mutter aufgefaßt, in
anderen aber als Christos selber: älter als die fünf
Glieder! Er ist also ein and rogyni scher Begriff, viel-
leicht mit einem Vorherrschen des weiblichen Prinzips.
Für Christos ist er Gattin, für die Menschen aber
männlich, denn er durchdringt ihre Seelen und
reinigt sie.
Wenden wir uns nun wieder dem System des Va-
lentinus zu.
Christos und Pneuma brachten das Pleroma wieder
in Harmonie; alle Aeonen liebten und glichen einander,
so daß die einen zu Nus, Logos, Anthropos und
Christos, die anderen zu Aletheia, Zoe, Pneuma und
Ecclesia wurden (CXII Bd. II, S. 86 — LXXXVHI lib.
I, c. 2, 6).
Die Aeonen wollten Bythos ehren, und indem sie alles
zusammenbrachten, was jeder von dem Schönsten das er in
sich hat, dies alles dann in höchster Harmonie vereinigten,
gebaren sie zur Ehre und Ruhm des Bythos, die voll-
kommenste Schönheit und den Stern des Pleroma's, die
vollkommene Frucht Jesus, der Erlöser und Christos
Jahrbuch V. 49
— 772 —
und nach seinem Vater Logos und Pan [(All) da er aus
Allen stammte] genannt wird 72).
Sophia aber hatte in ihrer feurigen Leidenschaft aus
sich selber, ohne Begattung, eine Frucht geboren, welche
wie ein unausgetragenes Kind formlos und ohne Ge-
stalt blieb.
Christos, der höhere, hatte Mitleid mit dieser Frucht
und als sie durch Stauros getötet wurde, bildete er aus
eigener Kraft ihre Gestalt, aber nur nach ihrer Natur,
nicht nach der Erkenntnis. — Sie hat in sich etwas
Unsterbliches, das von Christos und dem Heiligen Geiste
in ihr zurückgelassen wurde. Deshalb wird sie mit zwei
Namen benannt. Sophia nach ihrem Vater (denn ihr
Vater wird Sophia genannt) und Heiliger Geist nach
dem Geiste, der um Christos ist.73)
™) LXXXVlll lib 1, c. 2, 6. Kai vtvbq xrfi eijcouag
rdvrrjg ßovlfi iiiq, xal yviifi-Q ro nav nkwQtofia tiov
Altuvtov, ävvBvdoxovvTog tov Xqlgiov xal tov lIvevfiaTog,
tov de üaxQog dir tov tivvBTCiatpQayi^ouBvov, eva exaötov
tcov Altovtüv 07t€Q bl%bv ev eavTw xdlfotiTov xal uviyrjQOTa-
tov (fvveveyxdfievovg xal eqavitidiiBvovg, xal xavxa ag^io-
dmg nXsgavTag xal ififielwg BvtSaavTagy ngoßakeaüai tvqo-
ßkrjfia elg Tt[iir)v xal dogav tov Bv&ov, TeXevoTaTov xdXXog
TS xal aüTQov tov IlXrjQoifiaTog, tUbiov xaQnbv tov
*Irioovv, bv xal SwTrjga nqotiayoQBvÜBvai xal Xqiastov xal
Aoyov rtaTQwvvfiixtoc xal JIdvTa, die to dno ndvToov slvat.
73) OlxTeiQavTa tb avTrjV tov Xgiötov ävco xal 6iä
3tov 2tüvqov enexTaÜivra tt\ XSia Svvd\iBi (lOQtpwöai,
fxoQcpwGiv Trjv xaT* ovölav fiovov, all' ov tyjv xaxa yvcoövv.
e%ovad Tiva oöfirjv ätp&aQtiiag eyxaTaXeup&eloav
*v amy vnb tov Xqio*tov xai tov ayiov JIvsvixaTog. Jio
xal avrrjv Tolg dfxcpQozeQotg ovo/nacn xaXela&ai 2o<piav tb
TtaTQoovvfivxcjg, o ydq naTjjQ avTrjg 2oq?la xXrji&Tai) xai
Ttvsvfia ayiov aito tov ^t^^qC tov Xqlöt&v 7tv£v(xaTog.
— in -
Hieraus sehen wir wieder, daß die höhere Sophia
mann weiblich gedacht war, denn der Vater wird
Sophia genannt, ebenso aber auch die niedrige Sophia,
da sie in sich hat, was Christos Heiliger Geist in ihr
zurückließ.
Die niedere Sophia wird auch Achamoth genannt
(LXXXVHI Hb. I, c. 3, 6)74) und lib. I, c. 5, 3, sagt
Irenaeus: Diese Mutter (Achamoth) wird auch Ogdoas,
oder Sophia, oder Gea, oder Jerusalem, oder Heiliger
Geist oder (männlich) Kyrios genannt75). Damit ist doch
der absolute Beweis erbracht, daß die Sophia und der
Heilige Geist wirklich mann-weiblich waren.
Diese niedrigere Sophia hat noch größere Leiden-
schaft nach dem Vater, und sie konnte, sich nicht mit
ihrem Mutter-und- Vater aufschwingen zu dem Pleroma,
wohin dieser durch Horos, Christos und Pneuma zurück-
geführt wurde; sie stürzte sich in das Chaos und ver-
mischte sich mit demselben.
In dem Stande ihrer Erniedrigung wechselten in ihr
Traurigkeit und Angst mit Lust und Freude. Bald
hatte sie ein Vorgefühl ihrer Vernichtung, bald ent-
zückte alle Kräfte ihres Wesens das Bild des Lichtes,
von dem sie abgefallen war. Ihre heißen Begierden
schenkten mehreren Wesen das Dasein, der Seele der
Welt, und der Seele des Demiurgen (Schöpfers).
Endlich flehte sie zum Christos des Pieromas, daß
er ihr zu Hilfe komme" (CXII Bd. U, S. 88. —
LXXXVHI lib. I o 4, 4—5) und dieser schickte ihr
Paracletos, den Erlöser. Er ward ihr geschickt mit den
74) CH * Ev&vfiqtfig rrjg ävw 2o(piag> rjv xal 'AxctfitoÜ
xaXovtiiv.
75) Tavrrjv da trjv firjreQa ^A%aiuoÖ\ xal *Oydodda
xaXovtii xal 2o<piav xal Trp xal IeQovtfaXrjfi, xal ayiov
JlvBv[ia xal Kvqlov agdevcxtlg.
49*
— 774 —
Engeln, die so alt wie er waren. Und Achamoth deckte
sieb zuerst vor Scham mit einem Schleier, dann aber,
als sie ihn sah, wie er mit allen reinen Früchten kam,
eilte sie ihm entgegen, da sie Kraft schöpfte aus seinem
Anblick. Nun bildete er sie nach der Erkenntnis und heilte
ihre Leidenschaften. Er trennte diese so von ihr, daß
sie nicht sorglos sein würde, es war unmöglich, sie zu
vernichten, wie es bei der ersten Sophia geschah, denn
hier hatten sie schon Form angenommen und waren
kräftig. Er mischte die Einzelnen; erstarrte sie und
brachte sie von den unkörperlichen Leidenschaften zur
Vnkörperlichen Materie. Er gab ihr eine solche Eigen-
schaft und Natur, daß sie zu einfachen und zusammen-
gestellten Körpern wurden. Dadurch entstanden zwei
Substanzen, die erste böse aus den Leidenschaften, die
zweite aber leidenschaftlich aus der Sehnsucht. Und
darum nennt man den Erlöser den Schöpfer. Achamoth
aber von ihren Leiden befreit, und in Freude vor dem
Anblick der Lichte, die mit ihm waren, vor den Engeln
versunken und sich sehnsuchtsvoll nach ihnen sehnend
gebar Früchte nach deren Bilde — eine geistige Ent-
bindung nach dem Bilde der Leibwache des Erlösers.76)
So ward aus der Leidenschaft die Substanz der
Materie, aus der Sehnsucht die Substanz der Psyche und
Achamoth gebar selber die Substanz der Geister, die sie
nach ihrem Bilde geformt hatte.
Aus der Psychischen Substanz bildete sie den Vater
und den König von Allen, die ihm gleich sind d. h.
die Psychischen, welche man die Rechtsseitigen nennt
und jene, welche aus der Materie oder aus der
Leidenschaft erzeugt wurden, welche man die Linksseitigen
nennt. Und dieser hat Alles, was nach ihm kam, von
seiner Mutter bewogen (was ihm unbewußt blieb), gemacht.
™) LXXXIH.
— 775 —
Darum nennt man ihm Metropator 77) und Apator uad
Demiurg (Schöpfer) und Vater.
Seine Mutter wollte aber alles zur Ehre der Aeonen
machen, oder besser: der Erlöser wollte durch die Mutter
des Demiurgen Alles schöpfen, und somit war durch den
Erlöser in ihr etwas von dem Bilde des unsichtbaren
Vaters zurückgeblieben, das dem Demiurgen unbekannt
war. Dieser wurde im Bilde des Sohnes des Monogenes
geschaffen, die Erzengel und die Engel aber, die durch
ihn gemacht werden, wurden nach dem Bilde der anderen
Aeonen geschaffen. Dieser Demiurg tritt dann im System
weiter auf als der jüdische Jehovah des alten Testaments.
Dieser aber kennt nicht die göttliche Geistesnatur des
Menschen, welche durch seine Mutter heimlich hinein
gebracht worden war, und als er dann sah, daß der
Mensch — Adam — ihm gleich geworden sei, stieß er
ihn aus dem Paradies. —
Aber einst wird die Erlösung kommen, und diese malen
die Valentinianer folgenderniasen aus:
Die Valentinianer lehrten, daß man sich auf das
Mysterium der Syzygia (göttliche, hier Aeonische, Be-
gattung) legen muß. — Nicht daß die Tat ins Pleroma
führen werde, aber der Samen, der nur schwach aus-
gestoßen wird, wird dort vollkommen werden.78) „Wenn
aber all der Samen vollkommen geworden ist, dann wird
77) Was soll dieses heißen? Der Großvater von Mutterseite?
Dies würde aber ein Unsinn sein; wir glauben daher mit dem alten
Übersetzer [LIII S. 60c] daß gemeint ist : Vater-Mutter. [Metropator id
est: mater et pater.] Auch Stephanos stellt diese Übersetzung als
möglich hin.
78) Lib. 1., c. 6, 4.) ex TtavTog tqotiov delv avrovg
ael to rrjg dvtvyiag iieXexäv fivtfrrjQtov.
Ov yäq Ttqä^tg lg IlXtjQWfia eladyei, älla to
GTteQiia to exel&ev vrjTtiov^fiev €X7tefi7t6fA6vov,jev&a de reXet-
OVfJLBVOV.
— 776 —
Achamotb, unsere Mutter, aus dem Orte der Mitten79)
herauskommen und eintreten ins Pleroma, und empfangen
ihren Bräutigam, den Soter (Erlöser), welcher aus Allen
geworden ist, damit die göttliche Begabung des Erlösers
und der Sophia, Achamoth geschehe. Diese sind dann
Bräutigam und Braut, und das ganze Pleroma ist die
Brautkammer.*80) (Man sehe Tabelle I.)
Wir glauben, daß in der Angabe des Irenaeus die
folgende Änderung aus Epiphanius anzubringen sind:
aus der Zusammenfügung der Aeonen aus Logos und
Zoe entstehen: der Antophyes soll vereinigt werden mit
Synkrasis, und der Akinetos mit der Hedone ; statt
Makaria soll geschrieben werden Henotes. — Dann aber
wollen wir noch eine Conjectur machen, nl. daß man
statt evcoäig (Henosis) lesen soll evoaig. — Der ursprüng-
liche Name ist nicht zu übersetzen, machen wir aber
diese Änderung, so ist dieses Paar ganz in Überein-
stimmung mit den Andern, von denselben Aeoneneltern
erzeugt. Denn in diesen Zehn sind immer paarweise
zwei Antithesen ausgedrückt, welche zusammengefügt,
eine Harmonie bilden oder besser gesagt, sich aufheben.
— Diese Zehn sind erzeugt von Logos und Zoe, durch
das Wort und das Leben — zusammen das Abstrakte
— gegenüber, wie wir weiter unten sehen werden,
70) Denn sie war zwischen der Erde und dem höheren Aeoni-
schen Himmel aber dennoch höher als der Demiurg [LXXXVIII lib.
I c. 5. 3].
80) "Orav de nav xo cneqiia TeXetto&fj, tyjV fiev
yA%aixwÜ rrjv firjTSQa avTtov [ißTaßrjvcu ex tov T07tov
leyovöi, xal evvog nlrjQcofiaTog elael&elv, xal aTtokaßelv
tov vvfiifcov avTrjg tov 2wTfjga9 tov ex itdvTiov yeyovoTa,
Xva övtvyta yevrjTai tov ItoTrjQog xal Trfi loopiag Trfi
'AxaiiLoü. Kai tovto elvai vv/xoptov xal vvfioprjv vvfi(ftova
de to Ttäv nXrgwfia.
Die Übersetzung der Aeonen-Namen geben wir hier. Wir fü
Übersetzungen (L III.) bei und weiters noch die Conjecturen, welch
Irenaeas.
Epiphanias.
Ursprünglicher Name bei
Epiphanius.
/Bythos
\Sige, Ennoia
II /N°US
1Lm \Aletheia
„ '/Sagos
/Bythius
Ampsiu
Aurana
Butua
Obukua
Thargum
Thardadaie
Bnkiatha
(Mixis
/Ageratos
\Henosis
Saddaria
Damadan
Oren
fAuthophyes
fAutophyes
Lanaphechudaplech
(.Hedone
/Akinetos
\Synkrasis
/Monogenes
(Makaria
[Synkrasis
/Akinetos
(Hedone
/Monogenes
\Henotes
Emphibokebua
Laxariche
Masemon
Amuache
Belimah
jAnthropos
1V |Ekklesia
Merexa
Atarbaba
/Parakletos
\Pistis
/Patikros
\Elpis
Uruah
Resten
üdud
Eua
jMetrikos
lAgape
Esslen
Amphe
LAeinous
JSynesis
Essumed
Uananim
/Ekklesiastious
\Makariotes
/Theletos
\Sophia
/Ekklesiasticus
^Sophia
fTheletos (Phoos)
jMakariotes
'Athames
Ubinah
Lamer oder Allora
Thardes
Namen wie dieselbe bei Epiphanius vorkommen, mit seinen
• (CXII, B. II S. 83 Not. 2) darüber anstellt:
tation aus Matter zitiert, nach
Anordnung bei Epiphanius.
iu = substantia
it = socia, sige
atohu = vacuum et inane
3ach = et est in ea vis
i = interpretatio
chajjah = occupatio vitae.
atthah = tu es aperiens te
jah = Ordo Dei
Adon = similis est Deo
a-udahhak = sibi ipsi prodiit
impellente
h = non eversus
aechah = voluptate afficiens
jhad = f actus unicus
h = causa primaria (Monas)
)z = de terra sumptus
bah = Art des Augapfels
>s, Kirche
5h = hie est Spiritus
laetchen — arcus gratiae= Glaube
= hie est dilectus
= expeetare
)en = pertinet ad matrem
m = mater oris oder was das
eingibt = Liebe
i meaed = hie est ab aeterno
anin = et qui oecupat (intelle-
im)
isch = perfectus vir
= et sapientia
= Dens luminis
oi = quod offert unde quis ipse
lufficiat
Kurze Übersetzung der Namen bei
Irenaeus und (einige) Epiphanius.
Tiefe, das Unbekannte.
Stille, Gedanke, Begriff, Bekannte.
Geist.
Wahrheit.
Wort, Auffassung.
Leben.
Was-in-der-Tiefe (Bythos) ist. — Das
Ungemischte, Reine, das Einzelne —
auch ungeordnete, chaos. —
Mischung — die Ordnung Gottes.
Unvergänglich.
evcüotg = Vereinigung; evoaig = Er-
schütterung (?)
Aus-sich-selber-entstehend.
Was-Genuß-gibt. — Wollüstig.
Unbeweglich.
Das sich-mit-einander vereinigen.
Der Eingeborene.
Glückseligkeit — Epiphanius = Einheit
(Monas).
Mensch.
Kirche.
Tröster. — Geist. Heil. Geist.
Glaube. — Treue.
dem-Vater-ähnlich.
Hoffnung. — das Erwarten, — aber
auch: voller Sorgen sein,
der Mutter ähnlich.
Liebe.
das Ewige-fließende.
das Bewustsein.
der zu der Kirehe gehört.
Glückseligkeit. — Der selbstgenl
der Wollende — das Licht.
Weisheit.
Tabelle I zu Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen V Seite 776.
Die Übersetzung
Übersetzungen (L III.
Irenaeus.
IL
III
fBythos
)Sige, Ennoia
JNous
(Aletheia
?Sogos
\Zoe
/Bythius
(Mixis
{Agerato^
Henosis
fAuthoi
[Hedoi
jAkin
\Synl.
/Mor
)Ma;-
IV
{Antbn
Ekklt-
r
— 777
mcreten; Mensch-und-Kirche — , denn das Wort,
ffassung, Interpretation ist die Speeulation, das
aber die Realität in abstracto. Und diese Beiden
lann wieder erweckt durch den Geist-und-die-
leit. Aber auch wie diese der Mensch- und-die
: das Concrete. In den Namen der Aeonenj welche
I is entstehen, glauben wir die Ordnung des Irenaeus
halten zn müssen, nur für Theletes möchten wir
sagen : Phoos, das Licht In diesen Zwölfen finden
dann immer: — Ein Aeon mit seiner Haupteigen-
ft als Genosse oder das Symbol verbunden mit dem
riffe. Wir setzen hier nochmals die Aeunen, wie
sie begreifen, zusammen, damit jedem die Einheit-
ikeit unsrer Auffassung deutlich werden kann.
Das Unbekannte und das Bekannte.
Geist und Wahrheit
Yo rt { A uff aa aitng)- und -Le b en
i nz ein- Miischuug";llnvergäii^lic b -
Irsohüttert (also Vergänglich) ;
Yua-si eh-solb er-onta tobend (un d-
n-sieh-äelber-besteheDd) — sich
mit einander vereinigen; Un-
beweglich (Starr) — Sehr be-
weglich ( Wo Ulla t ig) ; das Ein als
Gefolge, — das Ein als Ursache;
Mensc h- und-K i rc h e .
IL G e ist (Symbol der) Glaube;
der Vate rliche (Symbol der)
Sorgsamkeit, die Mitttor
(Symbol der) Liebe; — das
Ewig-flieJiende (Symbol des)
Bewußtseins; der zu der
Kirche gehört (Priester)
(Symbol der) Glückseligkeit;
das Licht (Symbol der)
Weisheit
Auch mit den weiteren Ausführungen stimmt diese
Auffassung: denn die Weisheit wollte das Unbekannte;
Uukcnnbare, kennen; da ward ihr der Horus, die
enzuug, geschickt: und dieser brachte die niedere
Bit, d. h, die Weisheit von dem Erkennbaren, die
le Weisheit dar. — Aber d&q Universum
rar in Disharmonie und so emanierten aus
-Ennoia, durch den Geist, Christos-und-
— 778 —
Pneuma, die beiden Mittler, der concrete und der ab-
stracte Mittler,81) wodurch die Harmonie zu Stande kam.
Jesus war ihr Symbol, das aus dem Abstracten und dem
Concreten, der Verbindung zwischen Beiden entstanden
war. Die niedere (menschliche) Weisheit machte sich
dann zum Schöpfer der Erde (Demiourgos, Jaldabaoth,
Jehovah) — aber wie die menschliche Weisheit unvoll-
kommen ist, so ist es auch ihre Schöpfung: der Schöpfer,
obwohl dieser, wie die menschliche Weisheit selber, ver-
meint allwissend zu sein. Aber wie allwissend sich auch
jemand dünke, so kommt doch immer und immer wieder
zum Bewußtsein, daß es eine höhere Weisheit geben
muß, und dieser Gedanke, als Zusammenfassung der ab-
soluten Realität, d. h. des Abstrakten und des Concreten,
ist symbolisch durch Jesus, der warnt, daß die Mensch-
heit nicht allwissend sein kann, und darum durch den
sich Allwissend-wähnenden hingerichtet wird. — Aber
am Ende der Zeiten wird die menschliche Weisheit be-
greifen, daß sie nur durch Jesus, d. h. durch den das
Abstrakte und das Concrete in sich vereinigt habenden
zur Vollkommenheit kommen kann: dann vollzieht sich
die Hochzeit des Jesus mit der Sophia.
Was uns gerade in diesem System, das an und für
sich schon sehr interessant ist, aufgefallen ist, das ist das
Verständnis für die hohe Bedeutung der Sexualität, wenn
auch die vielleicht zu drastische Ausübung im materiellen
Leben für heutzutage lebende Menschen zu weit geht.
Wir wollen noch kurz aus einigen anderen Systemen
die mannweiblichen Symbole anführen.
81) Man merke sich wohl: erst ist emaniert: das Abstrakte, dann
das Concrete; diese sind in Disharmonie, dann emanieren sich
zwei Aeonen, von denen der erste das Concrete ist, und der zweite
das Abstrakte, womit das Concrete das Abstrakte , das Abstrakte
das Concrete ordnete.
— 779
Li
Unter den Valentinianern gab es wieder Sekten, so
z. B. jene, welche den Bythos weder männlich noch weiblich
auffaßten, andere sagten, daß er männlich und weiblich
war, und gaben ihm das Geschlecht des Hermaphroditen,82)
wie dies auch die wahren Valentinianer taten.
In Systemen anderer gnostischer Sekten haben wir
folgende Ansichten:
Als erstes Prinzipium der Bythos, das glückselige
reine; unendliche Licht; ihn nennen sie Vater von
Allen, und ersten Mensch. Und aus ihm kam hervor
Ennoia, die wieder einen Sohn gebar, den Sohn des
Menschen, den Zweiten Mensch. Und unter diesen aber
war der heilige Geist, und unter diesen höheren Geist,
die geteilten Elemente, das Wasser, die Finsternis, die
unermeßliche Tiefe, Chaos, und über diesem schwebte
der Geist, welchen sie die erste Frau nannten. Dann
aber jauchzte der erste Mensch mit seinem Sohn über
die Schönheit des Geistes, d. h. der Frau, und sie
erleuchtend, erzeugte er aus ihr das unantastbare Licht
des Dritten Menschen, den man Christus nennt den Sohn
des Ersten und Zweiten Menschen und des Heiligen
Geistes, der Ersten Frau. Als aber der Vater und der
Sohn die Frau schwängerten, die man die Mutter der
Lebenden nennt, konnte sie die Größe dieses Lichtes weder
ertragen noch umfassen, sie war überfüllt und aus ihrer
linken Seite quoll es mächtig hervor: aus ihrer rechten
aber kam der Sohn von Beiden, Christus, hervor, der,
in die Höhe geführt, mit seiner Mutter unmittelbar in
dem unantastbaren Aeon gezogen ward. Dieser aber ist
die wahre und heilige Kirche, welche war die Benennung
82) Ol fxev ydq alrov äKvyov leyovtii, ^tjt6 aqqeva,
lir\re frrjXeiav, fxijre oXcug tu "AXXoi de aQQevofrrjXvv av~
rov Xeyovöiv elvai, eQfiatpQodirov (pvtov amm TtegtaTtrovreg
(LXXXVIII lib. I c. 11, 5.)
— 780 —
und die Zusammenkunft und die Einswerdung des Allvaters,
des Ersten Menschen, und des Sohns, des Zweiten Menschen,
und des Christus, der Sohn von Beiden und dieser Frau.
Die Kraft aber, welche aus der Frau emporquoll, und
welche die Befeuchtung des Lichtes ist, ward durch die Väter
mit ihrem Willen abgeschnitten. Diese nennen sie Sinistra
(Linke) oder Prunikus oder Sophia, oder Mannweib.83)
Diese Sophia erweckt dann wieder einen Sohn, den
Jaldabaoth. Dieser ist der Jehovah des Alten Testaments,
der aber in diesem System den irdischen Mensch aus
Übermut schuf. Seine Mutter, die Sophia schickte, um
diesen Menschen zu retten, die Schlange ins Paradies.
Später, als sie das Elend der Welt sah, bat ihre
Mutter ihren Bruder, Christos, zu schicken, und die
Menschheit zu erlösen. Er kam und vereinigte sich mit
ihr, und ließ sich in einen irdischen Körper, den Jesus,
nieder — und so wurde es im System begreiflich, wie
Jesus gekreuzigt werden konnte, denn er wollte die
Menschen aus der Macht Jaldabaoth's erretten. —
Wir glauben aber, daß die aus sich selber erzeugende
Figur in diesem System^ wenn es durch den Irenaeus
vollständig beschrieben wurde, auch androgynisch dar-
gestellt worden ist.
Als letztes Beispiel dieser Gnostischen Androgyne
wollen wir das System Simons, des Magiers, schildern:
Origenes (CXXVIII, VI, 18, 58—90) schreibt:
„Euch sage ich also, was ich sage, und schreibe was ich
schreibe. Meine Schrift aber lautet: Zwei Auswüchse
gibt es von allen Aeonen, ohne Anfang und ohne Ende,
aus einer Wurzel, welche ist die Macht: Still, unsichtbar,
unkennbar. Von diesen aber erscheint der Eine von
oben, und dieser ist eine große Kraft, der Geist von
Allem, Alles lenkend, männlich; der Andere aber, von
unten, der große Gedanke, weiblich, Alles gebärend.
88) LXXXVni 1. I c. 30, 1—2-3.
— 781 —
l;
Und sich begegnend begatteten sie sich, und brachten
hervor den Mitte-Raum, die unkennbare Luft, ohne Anfang
und ohne Ende. In dieser ist der Vater, der Alles
unterstützt und nährt, was Anfang und Ende hat. Und,
dieser ist Wer war, ist und sein wird, eine mann-weibliche
Kraft, wie die von Anfang an bestehende Kraft, welche
unendlich ist, ohne Anfang und ohne Ende, seiend Eines.
Von dieser aber hinaustretend wird der Gedanke, welcher
in der Einheit war, zwei. Er war aber Eines; in sich
ihn habend war er allein, aber nicht der Erste, obwohl
Er vom Anfang an bestand, erst als Er sich an sich
selber zeigte, ward er der Zweite. Und nicht ward
Er Vater genannt, bevor der Gedanke ihn Vater nannte.
Als Er sich selber durch sich selber erzeugte, zeigte
Er sich seinen eignen Gedanken, so auch machte der
erschienene Gedanke Ihn nicht, aber Ihn sehend, hüllte
der Gedanke den Vater in sich, die Kraft, und er ist
mann weiblich, Kraft und Gedanke; darum begegneten
sie sich, denn Kraft und Gedanke sind in nichts ver-
schieden, da sie eines sind. Aus dem Höheren wird die
Kraft, aus dem Unteren der Gedanke gefunden. Und so
kommt es, daß Was, von ihnen gezeigt wird, Eines seiend
für Zwei gehalten wird, denn es ist mann weiblich, das
weibliche in sich habend.
So ist auch der Geist in dem Gedanken nicht von
einander getrennt, sie sind Eins, aber Sie werden für
Zwei gehalten.
So soll Simon der Magier selber geschrieben haben
in seiner Apophasis (Verkündigung).
Wir haben die ganze Stelle wieder aus dem
Griechischen übersetzt, weil wir meinen, daß hier deutlich
gesagt wird, was man in abstracto bei diesen Worten
männlich, weiblich und mann-weiblich denken soll, und wir
bitten dringlichst bei der Lesung unserer weiteren Aus-
führungen immer zu denken, daß man nur, wenn man
— 782 —
die absolut abstrakten Begriffe in körperliche Symbole
übersetzt, von Androgynischem reden darf, d. h. daß
die Symbole so genannt werden können, nicht aber der
Mensch, welcher der Träger dieser Symbole war, also
körperlich androgynisch war.
Wir schließen hiermit die Auseinandersetzung der
Gnostischen Systeme ab.
Aber war denn in der Schrift d. h. in der kanoni-
schen Bibel etwas, das den Grund für diese Philosophie
in sich trug?
Auch in der Bibel, im N. Testament, sind sehr viele
Stellen, welche man wirklich, wenn uns einmal die Über-
setzung der abstrakten Begriffe durch körperliche Symbole
geläufig geworden ist, in diesem selben Lichte erblicken
kann. —
Erst wollen wir aber einige Citate von Synesius,
dem Bischof von Cyrene, anführen, der kein Haeretiker
war, sondern der orthodoxen Kirche angehörte.
In seiner zweiten Hymne, die er an Gott singt, lesen
wir (CLXXVII):
v. 59 — 67. Alles hängt an deinem Ratschluß: Du
bist Wurzel von Allen, die sind, und denen, die sein
werden, und denen die sind! Du bist Vater, bist Mutter
du Mann, du Frau ! Du Stimme, du Stille ! Fruchtbare
Natur der Natur, du, König, Ewigkeit der Ewigkeit.84)
8*) Td de Ttdvxa aelo ßovXäg
"E%£rac av ö'hal gltß
naqsovTioVy tvqot eovrwv,
MereovrcoVy eveovrtov.
Ev jtarfjQ, av d'elöl fiar^Q'
Ev <T aQQrjv, <sv de &rjlvg*
Ev de <p<x)vä <fv de tsiyd"
(bvtieiog (pvtfig yovtooa.
Ev ä' aval;, aiwvog alwv.
— 783 —
In seiner dritten Hymne finden wir noch mehrere
sehr deutliche Stellen, auch in Beziehung zu der gnosti-
schen Auffassung, aber sagt Marruettus (LXXXVIII
Bd. I, S. 92): sensu quidem catholico, et ab haereticorum
somniis procul dissito.
V. 145 — 150. Aller Vater Vater, Vater von dir
selber, Vor-den- Vater, Ohne- Vater, Sohn von dir selber,
Einheit eher als die Einheit, Samen von dem was ist.85)
V. 161 — 162. Vater der Ewigkeiten, Leben der
Ewigkeiten.86)
V. 180—189. Ein und All, Ein von Allen, und Ein
vor Allen, Samen von Allen, Wurzel und Zweig, Natur,
in den Vernünftigen, weiblich und männlich. Mystischer
Geist der dies und das sagt, unaussprechbare Tiefe.87)
Und aus Hymnus Quartus:
8ö) IlaTEQcov navTcov
ndreQy amondxwq
nQondrwQ, ändTWQ,
€Yie öeavTov.
*Ev svog nqüTSQov*
86) AlwvoToxe
Alwvoßie.
87) "Ev xal ndvxa,
cEv <T (XTtavroov
27teQfia tcov 7idvr(ov,
P££a xal oqjta^
(Dvöig ev vo-eqoZg
OrjXv xal äggev.
Mfaiag de voog
Ta TB xal xa Xeyet,
Bv&ov aqqriTov.
— 784 — '
V. 142 — 144. Samen von Allen, Samen von Allen
hat dich gesät.88)
Es wird wohl nicht nötig sein, mit Nachdruck auf
die Übereinstimmung hinzuweisen, welche die griechischen
Wörter mit den in den verschiedenen gnostischen Syste-
men gebräuchlichen zeigen; die Begriffe stimmen ebenso
überein.
In den Briefen des Apostels Paulus an die Epheser
lesen wir (CLXXX c. 5, V. 22—33):
„Ihr Weiber, seid euren Männern untertänig, wie
dem Herrn, denn der Mann ist das Haupt des Weibes,
wie Christos das Haupt der Kirche, und Er ist der Retter
des Körpers .... Ihr Männer, liebt eure Weiber, wie
auch Christos die Kirche geliebt hat, und sich selber
für sie hingegeben hat ....
So müssen auch die Männer ihre Weiber lieben, wie
ihre eignen Körper. Wer sein Weib liebt, liebt sich
selber. Niemand noch haßte sein eigen Fleisch, sondern er
nährt und pflegt es, wie Christos die Kirche. Denn wir
sind Teile Seines Körpers von Seinem Fleisch, von Seinem
Bein. Darum wird der Mensch seinen Vater und seine
Mutter verlassen und seinemWeibe anhängen, und diese beide
sollen im Fleische Eins sein. Dieses Mysterium ist groß;
aber ich sage es in Beziehung auf Christos und die Kirche/
Und in dem 1. Briefe an die Corinther C. 3, V. 16
heißt es : Wißt ihr nicht, daß ihr die Tempel Gottes seid?
und V. 17: Die Tempel Gottes, die ihr seid, sind heilig.
Und im selben Briefe C. 12, V. 27: Ihr seid der Körper
Christi und jeder für sich ist ein Glied.
Finden wir hier nicht die selbe Bildersprache. Von
den alten Kirchenvätern der Orthodoxie, wie auch später
88) UniQfxa twv novxuav
ZjieQfid ae Ttdvvmv
*E(mä()[iijV£.
785 —
noch vou Anderen wurden die selben Symbole gebraucht
und angenommen, und die Kirche erhielt diese Tradition.
Christos war der Bräutigam, die Kirche die Braut,
und sie war wirklich als Weib gedacht.
Wie Eva aus der Seite Adams gemacht war, so ent-
stand die Kirche aus Christos Geiste, als er am Kreuze hing.
Wir citieren aus der Einleitung der Biblia Pauperum
(XXa) bei der Beschreibung des XXIVten Bildes.
„Die Eröffnung der Seite Christi vor der Kreuz-
abnahme ist den Vätern der Augenblick des Werdens
der Kirche, der Braut Christi und der Sacramente, wie
Eva die Mutter der Lebendigen, aus Adam hervorging.
So sagte Augustinus (Tract. 120 in Joann): Propter hoc
prima mulier facta est de latere viri dormentis et apellata
est vita materque vivorum. Magnum quippe significavit
bonum ante magnum praevaricationis malum. Hie seeun-
dus Adam inclinato capite in cruce dormivit ut inde for-
maretur ei conjux quae de latere dormientis efflux.89)
„Wie das Officium des Festum Corporis Christi uns
schon so oft geführt hat, so auch hier. Innocenz VI.
(1352 — 62) sagt (in Officio de Lancea et Clavis): Illud
celebriter memorandum est, quod ipse Salvator emisso
in cruce jam spiritu sustinüit perforari lancea latus suum ut
inde sanguinis et aquae profluentibus undis formaretur unica
et immaculata ac virgo saneta mater Ecclesia sponsa sua.90)
89) Darum war das erste Weib aus der Seite des schlafenden
Mannes gemacht, und ward genannt das Leben und die Mutter der
Lebenden, was bedeutet das große Gut vor dem großen Übel des
Sündenfalles. Dieser zweite Adam schlief mit gebeugtem Kopfe am
Kreuze, damit dort seine Gattin hervorgebracht würde, welche aus
der Seite des Schlafenden ausströmte.
90) Daran soll feierlich erinnert werden, daß der Erlöser selber,
als Er schon am Kreuze den Geist aufgegeben hat, duldete, daß
seine Seite mit einer Lanze durchbohrt werde, damit aus dem heraus-
strömenden Blute und Wasser gebildet würde die Einzige, Unbefleckte,
die Magd, die heilige Mutter Kirche, seine Braut.
i
an,|lr\ffow*fl*r> g>fr y^yyxäytv
Mu*eteiiev,T\öfrtt* fcduan^m ■-
craog, tut äez.^ttg'/ylct'blugAja, tmfc.
Abb. 19.
— 787 —
„In Bezug auf das Hervorgehen der Kirche aus der
Seitenwunde Christi belehrt uns der Hymnus ad Matut.
des Offic. de corde Jesus.
Ex corde scisso Ecclesia'
Christo jugata nascitur
Hoc ostium arcae in latere est
Genti ad salutem positum.
Ex hoc perennis gratia
Ceu septiformis fluvius
Stolas ut ille sordidas
Lavemus Agni in sanguine.91)
„Wir brauchen kaum die Bemerkung hinzuzufügen,
daß die Kirche bei diesem Officium aufs Strengste der
Tradition folgte.14
Wir haben hier zwei Bilder aus der Biblia Pauperum
beigefügt, in welchen aufs deutlichste sich dokumentiert, daß '
wirklich die aus der Seite Adams gebildete Eva mit dem
Gefolge der Seitenwunde Christi gleichgestellt wird.
Die Abbildung 19 entstammt der Biblia Pauperum,
welche in der Lyceumsbibliothek zu Constanz sich befindet
(XXa, Bild XXIV} Der Text lautet:
„Femina pma viri de costa cepit oriri (Das erste
Weib nahmen ihren Ursprung aus der Rippe des Mannes).
Man liese in dem ersten buche Moysi: du Adam
slif du nam got uz ym eyn rip un machte doruz eyn
wibiznam, Adam der slofende bedutet Christum der do
slummete den slof dez totiz an dem Cruice uz dez zite
vloz blut un wazzer zu eyme zeichen daz wir bekentn
daz alle sacramenten weren gevlozzen un craft entpangen
betten uz der ziten Christi an dem cruicze."
ol) Aus dem durchbohrten Herzen wird die Kirche, die Braut
Christi, geboren. Diese Öffnung des Leichnams an seiner Seite ist
dem Menschengeschlecht zum Heil geworden. Daraus drang hervor
die Ewige Vergebung, wie ein siebenfaltiger Strom, auf daß wir
unsere beschmutzten Kleider wüschen in des Lammes Blut.
Jahrbuch V. 50
— 788 —
Die Abbildung 20 ist auch aus XXa reproduziert
und gibt eine Vorstellung wieder, welche in der Biblia
Pauperum des Stiftes St. Florian vorkommt.
In der Mitte Christus am Kreuze, dessen Seite durch-
bohrt wird; rechts die Erschaffung Evas, wobei gerade
interessant ist, daß auf diesem Bilde es scheint, als sei
die Eva. schon vollständig bestehend und werde nur von
Adam getrennt, wie es mit der oben gegebenen Auffassung
der Juden übereinstimmt. Auf dem andern Bilde ist es,
Abb. 20.
als wenn Eva aus dem Bauche des Adams heraustrete,
was übereinstimmen würde mit einer unten folgenden
Erzählung. — Links ist Moses abgebildet, wie er Wasser
aus dem Felsen schlägt, denn man sagt, daß auch dieses
ein Vorbild für das Mysterium der Seitenwunde Christi
wäre, und dadurch wird gerade das Symbolische dieser
Auffassung bewiesen.
Daß die oben citierte Stelle aus dem Briefe Paulus
an die Epheser wirklich aufgefaßt war, wie wir es taten,
wollen wir durch einige Citate aus XXXIIa beweisen:
— 789 —
de Dominica XX postFestum SS. Trinitatis. S. 637.
„[Gott der Vater] machte diese Hochzeit [seinem Sohne],
als Er Ihm die Braut ohne Runzeln, die Kirche, verlobt
hat. Ihr aber sagt die Göttliche Weisheit: Ich habe
gesucht mir eine Braut zu nehmen, und ich bin ein Lieb-
haber ihrer Gestalt geworden. — Diese Hochzeit wird
gefeiert in der Passion Christi, da ihm, am Kreuze
hängend, seine Seite durch die Lanze der Soldaten ge-
öffnet wurde, denn wie aus der Seite des schlafenden
Adams Eva gebildet war, so ist aus der Seite Christi,
der am Kreuze schlief, die Kirche gebildet worden. Des-
halb auch sagt der Apostel: Dieses Sakrament ist groß,
ich aber sage es, in Beziehung auf Christus und die
Kirche.92) a Und weiter spricht der Orator dann über die
Hoheit des Bräutigams, die Schönheit der Braut und die
Feierlichkeit der Hochzeit.
In einer anderen Oration ebenfalls de Dominica
XX post Festum SS. Trinitatis, sagt er (S. 613): Über
Hochzeiten ist zu bemerken, daß es deren drei gibt:
Fleischliche, welche sind zwischen Mann und Frau; geist-
liche, welche sind zwischen Seele und Christus und "von
welchen die evangelischen Gleichnisse reden; himmlische,
welche in dem Himmel geschlossen werden.93)
9a) [l>eus Pater] fecit nuptias [filio suo] quando sponsam sine ruga,
Eoclesiam, desponsavit. De qua Divina Sapientia [8] ait: Quaesivi
mihi sponsam assumere, et f actus sum amator tormae illius. Hae
quidem nuptiae faotae sunt in passione Christi in cruce pendentis,
quando latus suum apertum fuit lancea militis, nam sicut de latere
Adae dormientis formata est Eva: ito de latere Christi dormientis
in cruee formata est Eeelesia, et Christo coniuneta. Unde et
Apostolus [Ephes. 5]. Sacramentum hoe magnum est, ego autem
dico In Christo et in Eeelesia. —
93) De nuptiis hie notandum, quod sint triplices: Carnales
videlicet, quae fiunt inter virum et uxorem: Spirituales, quae
fiunt inter animam et Christum, de quibus et Evangelica
parabola agit: Coelestes, quae fiunt in Coelo.
50*
übersetzen :
— 79Ö —
Verwandte Auffassungen finden wir auch noch bei
Ambrosius und Origines. —
Bei diesen Kirchenvätern wird Jesus allegorisch
angerufen, als Scarabaeus, und Vermis. Wir geben die
ganze Stelle als Note unten wieder, wollen aber hier was
in unmittelbarer Beziehung zu dieser Frage steht
„Er hat gerufen, wie der Scarabaeus: Gott, mein
Gott, gedenke meiner, warum hast Du mich verlassen?
Der gute Scarabaeus, welcher den Schmutz unseres
Körpers , früher mißgestaltet und kraftlos durch die Kenn-
zeichen seiner Tugend geändert hat. Der gute Scarabaeus,
welcher aus dem Kothe den Armen aufrichtet. Er hat
Paulus, der Christi halber geliebt wird, wie Koth, auf-
gerichtet. Er hat Job, der im Kothe saß, aufgerichtet94)"
und dann Origines in Lucam Homilia XV S. 948 b. F.:
„Ich bin ein Wurm und kein Mensch. Aus dem Manne
und Weibe jedoch wird der Mensch geboren, ich aber
bin weder aus einem Manne noch aus einem Weibe nach
dem menschlichen Brauche und der Natur geboren,
sondern wie der Wurm, welcher aus dem Samen, der
94) Ambrosius IV a Comment. Lib. X. Euang. Luc. Cap. XXTIT
S. 220 M. & S. 221 A.-B.
Denique licet in cruce erat Dominus Jesus, supra cruceni tarnen
regis maiestate radiabat. Vermis' in cruce, scarabaeus in cruce.
Et bonus vermis, qui haesit in ligno, Bonus scarabaeus, qui
clamavit e ligno. Quid clamavit? Sequitur: Jesus autem dicebat,
Pater dimitte Ulis: non enim sciunt, quid faciimt.
Pater, dimitte illis: hoc est, ne statuas illis peccatum. Clamavit
latroni, Hodie mecum eris in paradiso. Clamavit quasi scarabaeus,
Dens, Deus meus respice in me, quare me dereJiquisti? Et
bonus scarabaeus, qui latum corporis nostri ante informe atque
pigrum, virtutum versabat vestigiis. Bonus scarabaeus, qui de
stercore eriget pauperem. Erexit Paulum, qui propter Christum
aestimatus est ut stercora. Erexit Job, qui sedebat in stercore.
(Man sehe auch de Obit. Theodosii S. 123 L.)
791
nicht von einem andern Tiere, sondern in und aus ihnen
selber, in ihren eigenen Körpern, entsteht.96)
Diese Auffassungen beruhen wohl auf einer falschen
Übersetzung des Habakuks II, 11 durch die Septuaginta,
oder vielleicht besser durch deren lateinischen Übersetzer,
aber dieselbe gaben doch die Überzeugung dieser Väter
wieder.96)
Wir glauben, daß dieses Alles genügend beweisend
ist, um, wenn wir in Körper-Symbolen uns plastisch diese
Allegorien darstellen wollen, annehmen zu müssen, daß
0Ö) Salvator loquitur: Ego sum veniiis et non homo, oppro-
brium hominum et objectio plebis. Videbat in matris utero
immunditiam corporum, visceribus eius hinc inde vallatus terrenae
aecis patiebatur angustias : unde assimilat se vermi, et dicit : Ego
sum Vermis et non homo. Ex mare quippo ao foemina homo
nasci solet : ego veri non ex mascula et foemina eecundum ritum
humanum atque naturam sed in exemplis vermis natus sinn, cuius
non aliunde semen, sed in ipsis, et ex ipsis in quibus coalescit
corporibus, origo est. (CXXV1II.)
oö) Die Stelle in Habakuk lautet (CLXXXII1).
Jiozt Xtäog ex %oiypv ßotfaeTCU, xai xdvüaqoq e£ %vXov
(p&ey&Tai, avrd.
Kdv&aQog ward dann übersetzt durch Scarabaaus oder vermis
— denn man soll auch tixooXrfe in einigen Mannscripten der Septua-
ginta gefunden haben. —
Bei Vitruvins (CLXXXVI libr. IV c. 2) wird aber gefunden,
daß cantherius Querbalken bedeutete und scheint es uns nicht
unmöglich, daß es ein griechisches Wort xdv&ctQog gegeben hat,
daß auch Querbalken bezeichnet hat. Die Stelle des Vitruv's lautet:
Ita uti ante in Doricis triglyphoruin et rautulorum est inventa
ratio, item in Jonicis denticulorum constitutio propriam in operibus
habet rationem: et quemadmodum mutuli cantheriorum projecturae
ferunt imaginem, sie in Jonicis denticuli ex projecturae ferunt
inmaginem. ltaque in graecis operibus nemo sub mutulo denticulos
constituit: non enim possunt subtus cantherios asseres esse. Quod
ergo, supera cantherios et templa in veritate debet esse collocatuin
id in imaginibus si infra constitutum fuerit mendosam habebit
operis rationem.
— 792 —
auch im Christentum die Androgynische Idee deutlich
ausgesprochen wird, und hiermit beweist gerade nach
unserer wahren Überzeugung die katholische Kirche ihre
tiefe Erkenntnis des Lebens07). Da, wie wir schon sahen,
die Idee des Christus am innigsten mit der Vorstellung
des Adams verknüpft war, wollen wir hier die christliche
Auffassung über Adam anführen.
Wenn wir gesehen haben, daß die Juden be-
stimmt den Adam als Androgyn betrachteten, so haben
dies die Christen meistens verworfen.
So sagt S. Augustinus: Er sagt, männlich und
weiblich schuf Er sie, damit man nicht meine, daß in
einem Menschen die beiden Geschlechter ausgedrückt
wären, wie manchmal Menschen geboren werden, welche
man Androgynen nennt.98)
Franciscus Georgius aber schreibt in dem ersten
Teil seiner Problemata, (Cit. CLXIX. Bd. II S. 35) daß
der Mensch im Anfange Androgynisch erschaffen war,
d. h. als ein Mensch, in dem zwei Körper; nl. männlich
und weiblich am ßücken verbunden waren.99)
Strabus verwirft aber diese Auffassung. (CLXIX
1. c): Männlich und weiblich schuf Er sie, nicht so, daß
Er Adam zuerst mit beiden Geschlechtern geschaffen
und gebildet hätte, wie dumme Juden phantasieren,
sondern auf daß Er das Menschengeschlecht in zwei
97) Ausdrücklich erklären wir, daß der Autor nicht der katho-
lischen Kirche angehört, sondern einer orthodox-prostestantischen
Familie entstammt.
98) Ne quisquam arbitraretur ita factum, ut in nomine singulari
uterque sexus exprimeretur, sicut interdum nascuntur, quos androgynos
vooant. (XII)
") Homo ä principio geminus, id est masculus simul et foemina
creatus fuit; fueruntque, ut Plato docet, in eo coniuncti masculus
et foemina per dorsum et postea secti, ut e regione coniungerentur
ad prolem procreandem et in hoc Plato edoctus fuit integerrimo
philosophi Mose.
— 793 —
Geschlechter geschieden hat, und, aus zwei Personen
bestehend wollte.100)
Cornelius a Lapide sagt (XCVIII Commentar in
Genes. Kap. I, S 58 b. C. & D.): Neulich hat ein
Neuerer in Frankreich versichert, daß Adam hermaphro-
ditisch geschaffen wurde und sowohl männlich als weib-
lich gewesen ist. So meinte auch Piaton, im Symposium,
daß die ersten Menschen androgynisch gewesen wären.
Aber diese Auffassung ist sehr blödsinnig, denn die
Schrift sagt: er schuf nicht ihn, sondern sie, d. h.
Adam und Eva: Adam schuf er männlich, Eva aber
weiblich. Hieraus zeigt sich deutlich, daß dieses (d. h.
männlich und weiblich schuf er sie) nur als kurze vor-
läufige Mitteilung gesagt wird. 101) Auch verwirft a Lapide
die Auffassung der Juden und des Franc. Gcorgius,
welche wir oben mitgeteilt haben.
Und weiter unten dann ad Cap. II, v. 18, ver-
suchte er zu beweisen, daß Eva buchstäblich aus der
Rippe des Adam gebildet worden war (XCVIII S. 74
b. D. — S. 75 b. C.)
Auch Heidegger drückt sich wie a Lapide aus
(LXXV Exercit. IV, c. XIX)
10°) Masculum et foeminam creavit eos, non quod in utroque
sexu ipsum Adam primum creaverit et formaverit, ut stolidi Judaei
fabulantur, sed quia sexu utroque humanuni genus discrevit, et
consistere voluit duplici persona.
t01) Masculum et Feminam creavit eos. Hinc novator quidam in
Francia (welcher wird gemeint sein?) unper asseruit: Adamum
creatum esse hermaphroditum fuisseque eum tarn feminam quam
masculum. Sic et Plato in Symposio censuit primos homines fuisse
androgynos. Verum insulte hoc dicitur non enira dicit Scriptura
creavit eum sed eos, seil. Adamum et Evam: putä Adamum creavit
masculum, Evam vero feminam. Unde patet haec per antieipationem
dici .... Aeque insulsum este, quod tradunt aliqui Hebraei et
Franc. Georgius t. 1 probl. 29 . . .
— 794 —
Er wie auch Bayle (XVI v. Adam) citieren den
christlichen Autor Eugubinus, welcher eine entgegen-
gesetzte Meinung ausgesprochen haben soll. Bayle sagt
in Not. F.: Eugubinus meinte, daß sie mit den Seiten
an einander geklebt waren, und daß sie sich in Allem
gleich waren, mit Ausnahme des Geschlechts. Der
männliche Körper war rechts, er umarmte den anderen
Körper mit seiner Linken, wie dieser ihn mit seiner
Rechten. Beide waren beseelt, und über beide kam tiefer
Schlaf, als Gott Eva bilden, d. h. sie vom männlichen
Körper trennen wollte.
Die Kirche verdammte solche Auffassungen völlig
und nannte dieselbe Ketzerei. So ward z. B. 1208 in
Paris ein Doktor der Theologie Almaricus verbrannt,
welcher u. A. auch erklärt hat, daß Adam und Eva nie
fleischliche Gemeinschaft gehabt haben würden, wenn sie
in der Gestalt, in der Gott sie geschaffen hatte, ge-
blieben wären, daß sie auch nicht verschiedenen Ge-
schlechtes gewesen seien, und daß die Fortpflanzung der
Menschen wie die der Engel gewesen sein würde.108)
Im Anschluß an das Christentum wollen wir noch
den großen Mystiker Jakob Böhme, den „teutonischen
Philosophen14 (1575—1624) behandeln.
Seine Ansicht über die Natur Adams und Christus,
und somit auch Gottes, wollen wir durch Citate aus
seinen verschiedenen Werken wiedergeben :
„Adam war ein Mann und auch ein Weib, und doch
der Keines, sondern eine Jungfrau voller Keuschheit,
Zucht und ßeinigkeit, als das Bilde Gottes. Er hatte
beyde Tincturen vom Feuer und Liechte in sich, in
103) Adam et Evam nunquam carnali copula iugendos, si in
statu illo in quo Deus Mos condidit permansissent, verum etiam
sexuum differentiam nullam, sed hominum multiplicationem aeque
atque angelorum futuram asserebat [Almaricus, Parisiensis Dector]
(CLL v. Almaricus).
— 795 —
welcher Conjunction die eigene Liebe als das Jung-
fräuliche Centrura stund, als der schöne Paradisische
Rosen- und Luft-Garten, darinnen er sich selber liebte:
Als wir denn in der Aufferstehung dergleichen seyn
werden, wie uns Christus Matth. 13 und 22 saget: Daß
wir uns weder freihen noch freihen werden lassen, sondern
gleich sind den Engeln Gottes (XXIX. Cap. 18, 2).
„Adam war nackend, und doch mit der größten
Herrlichkeit bekleidet, als mit dem Paradis ein gantz
schön hell crystallinisch Bilde, klein Mann, kein Weib,
sondern beydes, als eine männliche Jungfraw, mit beyden
Tincturen in der Temperatur, als nehmlich die
himmlische Matrix, im ge bahr enden Liebe-Feuer,
und denn auch der Limbus, aus der Natur der essen-
tiali sehen Feuers, darinnen in diesen beyden das
erste und andere Principium der heiligen göttlichen
Natur verstanden wird, da Veneris Tinctur, (als das
Gebähren und Geben aus des Sohnes Eigenschafft), das
Weib, als die Mutter der Gebährerin ist und verstanden
wird, und die feurische Eigenschafft, aus des Vatters
Eigenschafft als die Scientz der Mann verstanden
wird, welche zwey Eigenschaften sich hernach in Mann
und Weib geschieden haben, (XXVII, Cap. 5. 35.)
„Nun hatte der Mensch auch den Geist der Welt,
denn er war aus der Welt, und er lebete in der Welt,
so war nun Adam die züchtige Jungfrau, verstehe, der
Geist, so ihm von Gott wurde eingeblasen, und der Geist,
den er aus Natur von der Welt ererbet hatte, der
Jüngling, die waren nun beyde beyeinander und ruheten
in einem Arm (XXX, Cap. 12, 40).
„Nun war Adam doch nur einer und in solcher
großen Herzlichkeit innestehend, als ein gantz Gl eichnüss
nach Gott in Würcken, Leben und Gebähren: Gleich
wie Gott alle Dinge aus seiner Einigkeit gebohren hatte,
und im Fiat, welches in allen Dingen war, in sein
— 796 —
Bilde nach der Eigenschafft geschaffen (XXVI, V. 356),
so hätte Adam mögen magisch nach göttlicher Art
gebähren, wie Gott die Creatur gebahr, und ins Sicht-
bahre darstellete: denn die Matrix der Vermögenheit
war in ihm (XXVI, 357).
„So wäre die Magische Gebührt also geschehen, nicht
durch einen sonderlichen Ausgang von Adams Leibe,
wie jetzunder, sondern wie die Sonne das Wasser durch-
scheinet, und nicht zureißet, also wäre der geistliche
Leib als die Gebührt ausgegangen, und im Ausgehen
substantualisch worden ohne Mühe und Noht, in
einer großen Freudenreich und Wohlthun wäre das Ge-
schehene, auff Art, wie die beyde Saamen Mannes und
Weibes in ihrer Conjunction einen freudenreichen
Anblick empfahen: Also wäre auch die Magische
Schwängerung und Gebührt gewesen ein Jungfräuliches
Bild, nach dem ersten ganz vollkommen (XXIX,
Cap. 18, 10.)
„Denn Adam ward vierzig Tage versucht im Paradies,
im Garten Eden, vorm Versuch-Baum, ob er könte
bestehen, daß er seine Anneiglichkeit setzete ins Hertze
Gottes, und ässe alleine vom Verbo Domini, so wolte
Gott ihme (seinem Leibe) geben von himmlischen Limbo
zu essen, daß er ässe im Maule, und nicht in Leib. Er
sollt aus ihm geboren der Jungfrawen Kind, denn er
war kein Mann und auch kein Weib: Er hatte die
Matrix, und auch den Mann in sich, und sollte gebähren
auss der Matrix die Jungfraw voller Zucht und Keusch-
heit Zerreissung seines Leibes (XXX, Cap. 12, 10).
„Als aber Gott erkannt, daß der Mensch nicht be-
stehen würde, daß er je nach Bösem und Gutem
imaginiret und lttsterte, sprach Gott: Es ist nicht
Gut, daß der Mensch alleine sey, wir wollen ihm eine
Gehülffin machen, die um ihn sey. Dann er sähe wohl
— 797 —
daß Adam nicht konnte magisch Gebähren, weil seine
Lust in die Eitelkeit einging.
„So sagt nun Moses: Und er ließ einen tieffen
Schlaff auf ihn fallen, und er entschlief! Das ist: Weil
er nicht wolte im Gehorsam der Göttlichen Harmony
bleiben, in den Eigenschaften, daß er hätte als ein
Werckzeug dem Geiste Gottes stille gehalten: So lief
er ihm von der Göttlichen Harmony in eine eigene
Harmony fallen als in die auffge wachten Eigenschafften,
in böse und gut: Da hinein ging der seelische Geist.
„ Allda starb er in diesem Schlaf der Englischen Welt
abe und fiel dem äußeren Fiat heim: Und war jetzt
geschehen um das ewige Bild nach Gottes Gebährung.
Allhie lag seine Engels-Gestalt und Macht zu boden,
und fiel in Ohnmacht: So machte Gott durch Fiat das
Weib, auß Veneris Matrice, das ist aus der Eigen-
schafft darinnen Adam die Gebährerin in sich hatte aus
ihm auss einem Leibe zween und teilte die Eigenschafften
der Tincturen, als im Element das wässerische und
feuerische Gestirn, nicht ganz im Wesen, sondern im
Geist; als die Eigenschafften der wässerischen und
feurischen Seele, und da es doch nur eine ist; aber die
Eigenschafft der Tinctur war getrennet. Die eigene
Liebe-Begierde ward Adam genommen, und in ein Weib
formiret nach seines gleichen. Und darum begehret
nun der Mann so hefftig des Weibes Matricem; und
des Weib begehret des Mannes Limb um, als das Feuer-
Element, den Urständ der wahren Seele, darinnen des
Feuers Tinctur verstanden wird. Dann die zwey waren
in Adam eines, und darinn stund die magische Gebührt.
(XXX a lib. V, Cap. 2, 16—18).
„Adam hat sich in seiner Vollkommenheit an den
Thieren vergafft. Dieweil er Mann und Weib war, und
die Magische Schwängerung in sich hatte, und sich in
Thierische Lust eingeführet, beydes nach thierischen
— 798 —
Essen und Gebähren. Also hat im auch das Fiat in
derselben Lust gefangen, und also in seinem* Schlaffe
geformet wie die Lust war; und jedes Glied an seinem
Orte zur Conjunction der viehischen Vermischung
geformet, denn eine jede Begierde hat ihren Mund zur
Offenbahrung bekommen. (XXIX Cap. 19, 25.)
„Bey der Formirung der Evae ist die gröste Ge-
heimnüß zu verstehen, denn man muß die Gebührt der
Natur und Menschlichen Urständ gantz inneglich ver-
stehen und ergreiffen, wil man den Grund sehen: denn
sie ist der halbe Adam nicht von Adams Fleisch gantz
genommen, sondern aus seiner Essentz, aus dem weiblichen
Theile: Sie ist Adams Matrix.
15. Von Adams Fleische und Beinen ist nicht mehr
zum Weibe kommen, als die Rippe in seiner Seiten, und
das halbe Creutz am Kopffe welches des Lebens Geburt-
creutz war, daran Christus den Tod zerbrach. Die
Matrix des himmlischen Theils war in Adam Magisch
das ist schwebende in der Essentz aber das äußere Teil
der äußeren Welt war eingefleischet und waren beyde
miteinander verbunden, gleichwie die Zeit mit der
Ewigkeit.
16. Also ward Adam aus seiner Essentz die weib-
liche Eigenschafft im Fiat ausgezogen als sein liebster
Rosengarten, und er behielt den Limbum himmlich und
irdisch noch des ewigen Vatters geoffenbahrten Eigen-
schafft, als der Feuer-Seelen Matricis Eigenschafft.
17. Des Mannes Limbus, den er behielt, als das
Weib aus ihm gemacht ward, war des Vatters Eigen-
schafft nach allem Wesen, und das Weib ward aus dem
Manne nach des Sohnes Eigenschaffifc, nach allen Wesen,
verstehet das himmlische Theil: Darum war Christus in
des Weibes Theil ein Mensch und führte des Mannes
Theil wieder in die heilige Matricem ein, daß der
Limbus und die weibliche Matrix wieder ein Bild
799
war, als eine männliche Jungfrau über und in allen drei
Principien als ein creatiirlich geformeter Gott, in dem
der ewige ungeformte Gott mit gantzer Fülle innen
wohnete, zu gleiche in dem Geformten und außer dem
Geformten. Denn also war auch Adam vor seiner Heva,
und also müssen wir in Christo auch werden, wollen wir
das Bild und Tempel Gottes seyn.
18. Allhie, als die Matrix der Gebährerin von
Adam genommen war, ward das Weib in aller Gestalt
mit solchen Gliedern zur Fortpflanzung geformiret, als
sie noch heute ist, so wohl auf Adam. Denn zuvorhin,
als Adam Mann und Weib war, dörffte er der Glieder
kleines, denn seine Geburt war magisch, seine Schwän-
gerung wäre in der Matrice schwebende, durch Imagi-
nation geschehen, denn das Verbum Fiat war in dem
offenbahrt.
19. Und anstatt der weiblichen Matrix ward Adam
der thierische Madensack der Därmen angehänget ....
so wohl auch dem Weibe anstatt des himmlischen L im bi.
(XXIX, Cap. 19, 14—19.)
83. Als nun Adam und sein Weib hatten von der
irdischen Frucht gegessen, schämeten sie sich vor ein-
ander, denn sie wurden gewahr der thierischen Glieder
ihres Leibes Fortpflanzung, und sie brachen Stauden ab,
und hielten sie vor die Scham: Und die Stimme Gottes
gieng im Garten hoch in ihrem Gemüthe, und sie ver-
steckten sich unter die Bäume im Garten.
84. Alhier sehen wir klar und greifen es ja, daß
Gott im Anfang nicht eine solche Bildniß mit thierischen
Gliedern zur Fortpflanzung hatte geschaffen. Denn was
Gott schaffet zur Ewigkeit, davor ist keine Schäme. Auch
so wurden sie erst gewahr, daß sie nacket waren.
„85. Und ist an diesem Orthe nichts greiflichers als
daß man siehet und erkennet, daß Adam vorm Schlaffe
vor seinem Weibe keine thierische Gestalt gehabt hat.
— 800 —
Denn er war weder Weib noch Mann, sondern eine
Jungfraw ohne thierische Gestalt. Er hatte keine Scham
und Brüste, er durffte sie auch nicht. Er hatte gebohren in
Liebe der Zucht, ohne Wehe oder Eröffnung seines
Leibes, eine Jungfraw, wie er war, und wäre müglich ge-
wesen, daß das ganze Heer der englischen Menschen,
wäre aus einem Brunnen aus einem ausgegangen, wie
bey den Engeln, so er in der Versuchung wäre be-
standen. (XXX. Cap. 17, 83—86.)
„Die Menschwerdung Christi ist ein solch Myste-
rium, davon die äußere Vernunfft nichts weiß, denn
sie ist in allen dreyen Principien geschehen und mag
nicht ergründet werden, man kenne dan den ersten
Menschen in seiner Schöpffung vorm Falle gründlich, denn
Adam solte den andern Menschen aus sich selber dem Charak-
ter der H. Dreifaltigkeit, aus sich gebähren, in dem der
Name Jesus eingeleibet stund, aber es konnte nicht seyn.
Darumb muste ein anderer Adam kommen, deme es mög-
lich war, denn Christus ist das jungfrawliche Bild mit
dem Charakter der H. Drey faltigkeit: Er ist empfangen
in Gottes Liebe und gebohren in diese Welt; Adam
hatte Göttliche Wesenheit, und seine Seele war aus dem
ersten Principio aus des Vatters Eigenschafft, die solte
sich mit der Imagination richten in des Vatters
Hertze, als ins Wort und Geist der Liebe und Reinig-
keit, und essen von der Liebe Wesenheit, so hätte sie
Gottes Wesen im Wort des Lebens an sich behalten,
und wäre mit der Krafft auss dem Hertzen Gottes ge-
schwängert worden, davon sie denn auss sich sellber in
ihrer Wesenheit imaginieret und ihre Wesenheit
selber geschwängert hätte, daß also wäre ein gantzes
Gleichniß nach dem ersten Bilde durch Imagination
und der Seele Willen Einergeben entstanden, und in der
Krafft der Wesenheit empfangen worden (XXVIII,
Buch I, Cap. 10, 2.)
— 801 —
„Und ist uds erkänntlieh, daß weil der erste Adam
seine Imagination hat in die Irrdigkeit gesetzt, und
irrdisch worden, auch solches wider Gottes Vorsatz ge-
than, dennoch Gottes Vorsatz bestehen muste. Denn
allhier setzte Gott seinen Vorsatz in Adams Kind und
fuhrete seine Imagination in die verderbte Bildnüß
und schwängerte dieselbe mit seiner göttlichen Krafft
und Wesenheit, und wendete umb der Seelen willen aus
der Irrdigkeit in Gott, daß Maria eines solchen Kindes
schwanger ward, als Adam solte schwanger werden,
welches die eigene Vermögenheit nicht thun konte,
sondern sanck nieder in den Schlaff, als in die Magiam,
da denn das Weib aus Adam gemacht ward, welches
nicht solte gemacht werden, sondern Adam solte sich
in Veneris Matrice selber schwängern und Magisch
gebähren (XXVIII, Buch I, Cap. 10, 4).
„Die Zerbrechung Adams seiner Essentz, als das Weib
ward aus ihme genommen, ist die Zerbrechung des Leibes
Christi an Creutze
„7. Und als Christus am Creutz, unser jungfräulich
Bild wieder erlösete vom Manne und Weibe, und mit
seinem himmlischen Blute in Göttlicher Liebe tingirte;
als er diß vollbracht hatte, so sprach er: Es ist voll-
bracht. (XXIX Cap. 19, 6—7.)
„Christus und die Jungfrau Sophia (sind) nur eine
Person, als die wahre männliche Jungfrau Gottes, welche
Adam vor seiner Heva war, da er Mann und Weib, und
doch der Keines war, sondern Jungfrau Gottes. (XXIX
Cap. 50, 48.)
„Wenn wir Christum sehen, so sehen wir die H.
Dreyfaltigkeit in einem Bilde: seine Creatur ist ein Bilde
gleich und auß uns Menschen, unser Höh erpriester und König,
unser Bruder, unser Immanuel. Seine Krafft ist unsere
Krafft, sind wir aber auß Gott im Glauben an ihn wieder-
gebohren : Er ist uns nicht frembde oder schrecklich, sondern
^H
— 802 — '
ist unser Liebe-Tinctur: Er ist mit seiner Krafft unserer
Seele Erquikkung, uuser Leben, und unserer Seelen-Wonne.
Wenn wir ihn finden, so finden wir unseren Gehülffen,
gleich wie ihn Adam finden solte, und er ließ sich be-
triegen und fand endlich eine Fraw, da sprach er: Das
ist Fleisch von meinem Fleisch, und Beine von meinem
Gebeine, und er nahm sie zu sich zu einer Gesellin.
„24. Also wenn ihn unsere Seele findet, so saget sie:
Das ist meine Jungfraw, die sich in Adam hatte verloren,
da ein irdisches Weib aus ihr ward, jetzt habe ich, meine
liebe Jungfraw aus meinem Leibe wieder funden, nun
wil ich die nimmermehr von mir lassen, sie ist meine,
mein Fleisch und Blut, meine Stärcke und Krafft,
die ich inAdam verlohr, O ein freundlich halten ! freundlich
inqualiren! Schönheit, Frucht, Kraft und Tugend.
(XX VIII, Buch I Capitel 9, 23—24.)
„Aber den ledigen Jungfrawen und Mannen ohne
Frawen ward gesagt, so wohl den Wittiben, daß sie den
Bund Christi zum Gemahl haben, vor deme sollen sie
züchtig und demühtig seyn, denn Christus ist des Mannes
Braut, seine züchtige Jungfraw, die Adam verlohr, und
ist auch der ledigen Jungfrawen und Wittiben der
Bräutigamb, denn seine Mannheit ist ihre Mannheit, daß
sie also vor Gott als eine männliche Jungfraw erscheinen.
(XXVIII Buch I, Cap. 7, 16.)
„Von Adam haben wir alle den Tod geerbet, von
Christo erben wir das ewige Leben: Christus ist das
jungfräwliche Bild, das Adam auß sich solte gebähren
mit beyden Tincturen. Weil er aber nicht konte ward
er zertheilet, und muste durch zweene Leiber gebähren,
biss der Siloh kam, das ist, der Jungfrawen Sohn,
welcher auss Gott und Menschen gebohren ward. (XXVIII
Buch I, Cap. 11, 6.)"
Wir haben Böhme selber reden lassen, und glauben,
daß er ohne Commentar verstanden werden kann. Wir
- 803 -
wollen nur darauf hinweisen, wie viel verwandte Begriffe,
wir schon in allen bisher behandelten Systemen gefunden
haben.
Wir teilen ferner noch eine Vision aus späterer Zeit
mit, um zu zeigen, wie sich eine Seherin Adam und
Christus gedacht hatte. Antoinette Bourignon, geboren
1616, gestorben 1680, eine höchst interessante Frau, die,
wie es scheint, sehr religiös und sehr woltätig war, von
der verschiedene Priester sagten, daß sie wirklich den
H. Geist in sich hat (XXXIII, Bd. I," aus beigefügtem
Briefe), schrieb, als sie in Amsterdam (1667) war, ein
Buch: Le nouveau Ciel et la noveau Terre. Hierin
beschreibt sie Adam folgendermaßen:
XXXIII, Bd. II, eh. XXI, S, 315, 316. Adam,
der erste Mensch, [hatte] einen Körper, reiner und
durchscheinender als Kristal, ganz Licht und so zu
sagen schwebend. Man sah wie durch und in diesem
Körper Ströme und Bäche von Licht, aus allen
seinen Öffnungen heraus strömten. Die Ströme,
Flüssigkeiten von aller Art, von allen Farben, sehr leb-
haft und ganz klar, waren nicht nur von Wasser oder
Milch, sondern auch von Feuer, Luft und anderen Stoffen.
Seine Bewegungen ließen wunderschöne Harmonien hören,
Alles gehorchte ihm, Nichts widerstrebte ihm oder konnte
ihm schaden. Er war größer als die heutigen Menschen
mit kurzlockigen Haaren, die einen Stich ins Schwarze
hatten, die Oberlippe mit etwas Flaum bedeckt, und statt
mit thierischen Theilen, die man nicht nennt, war er so
gebildet, wie unsere Körper im ewigen Leben sein werden,
und wovon ich nicht weiß, ob ich es sagen darf: Er
hatte in dieser Region etwas, das wie die Nase des Ge-
sichtes gebildet war, und dasselbe war eine Quelle von
wunderherrlichen Düften und Gerüchen und aus dem-
selben sollten auch die Menschen herauskommen, deren
Principien er alle in sich trug. Denn er hatte in seinem
Jahrbuch V. 51
— 804 —
Bauche einen Strom, worin kleine Eier entstanden und
einen andern Strom voll von Flüssigkeit, welche diese
Eier befruchtete. Als dann der Mensch sich erhitzte in
der Liebe für seinen Gott> machte sein Verlangen, daß
es auch andere Wesen wie er geben würde, um jene
große Majestät zu loben, lieben und anzubeten, durch
das Feuer seiner Liebe für Gott, daß diese Flüssigkeit
sich verbreitete über ein oder mehrere dieser Eier, mit
unbegreiflicher Wollust; und dieses befruchtet gewordene
Ei ging kurze Zeit später durch die. Öffnung hinaus,
ein Ei, woraus später ein vollkommener Mensch entstand.
So wird im ewigen Leben eine heilige unendliche Fort-
pflanzung sein, ganz anders wie jene, welche die Sünde
durch das Weib gebracht hat, welches Gott gebildet hat
aus dem Menschen, dadurch, daß er aus den Seiten
Adams das Eingeweide, welches die Eier enthält und
das Weib besitzt, herausnahm, woraus auch heute noch
in ihr die Menschen geboren worden, wie die neueren
Untersuchungen der Anatomie lehren. Der erste Mensch,
den Adam allein aus sich selber in seinem glorreichen
Staate erzeugte, ward durch Gott ausgewählt, der Thron
der Gottheit zu sein, das Organ und das Instrument,
wodurch Gott sich mit dem Menschen ewig verbinden
wollte, und dieser war Jesus Christus. 108)
103) Adam, le premier homme, [avoit] le corps plus pur et plus
transparent que le cristal, tout leger et volant pour ainsi dire ; dans
lequel et au travers duquel on voyoit des vaisseaux et des ruisseaux
de lumiere qui penetroit du dedans en dehors par tous ses pores,
des vaisseaux, qui rouloient dans eux des Hqueurs de toutes sortes
et de toutes couleurs, tres-vives et toutes diafanes, non senlement
d'eau, de lait, mais de feu, d'air, et d'autres. Ses mouvements
rendoient des hannonies admirables tout luy obeissoit, rien ne luy
resistoit et ne pouvoit luy nuire. II etoit de stature plus grande
que les hommes d'ä present: les cheveux courts, anneles, tirant sur
le noir, la levre de dessus couverte d' un petit poil: et au lieu
des parties bestiales que Ton ne nomme pas, il estoit fait comme
805 —
Es wird nun Kritiker geben, die fragen werden,
weshalb der Autor solche Hallucinationen citiere. Wir
gaben dieselbe nur zum Beweise dafür wieder, daß immer
und immer wieder dieser Gedanke des Androgynismus
den Menschen bewußt wird, und auch, um anzuzeigen,
wie es ja auch schon dieser Clair-voyante bekannt war,
daß die religiöse Ekstase sich in das höchste körper-
liche Entzücken übersetzt, das wir sexuell nennen. —
In der griechischen Religion finden wir die andro-
gynische Idee am schönsten ausgeprägt. Auch hier ist
wieder die höchste Gottheit der Zeus, in der Geheim-
lehre wenigstens, als Mann- weib gedacht.
Man denke nur an die Orphischen Verse:
seront retablis nos corps dans la vie eternelle, et que je ne scay,
si je dois dire : II avoit dans cette region, la structure d'un nes,
de meme forme que celuy du visage, et c'estoit-lä une souree
d'odeurs et de parfums admirables de la devoient aussi sortir les
hommes, dont il avoit tous les principes dans soy, ear il y avoit
dans son ventre un vaisseau oü naissoient de petits oeufs, et un
autre vaisseau, plein de liqueur qui rendoit ces oeufs feconds. Et
lorsque l'homme sr echauffoit, dans l'amour de son Dieu, le desir
oü il eloit qu'il y eust d'autres creatures que luy pour louer, pour
aimer et pour adorer cette Grande Majestß faisoit repondre par le
feu de l'amour de Dieu, cette liqueur sur un ou plusieurs de ces
oeufs avec des delices inconcevables; et cet oeuf rendu fecond
sortoit quelque temps apres de ce Canal hors de rhomme en forme
d' oeuf, et venoit peu apres ä eclore un homme parfait. C'est ainsi
que dans la vie eternelle il y aura une generation sainte et sans
fin, bien autre que celle que le peche a introduite par le moyen
de la femme, laquelle* Dieu forma, de rhomme en tirant hors des
flancs d' Adam ce viscere, qui contenoit les oeufs, que la femme
possede, et des quels les hommes naissent, encore ä present dans
eile, conformenents aux nouvelles dßcouvertes de l'Anatomie. Le
premier homme qu' Adam produisit par luy seul en son etat
glorieux, fut choisi de Dieu pour etre le Tröne de la Divinite
l'organe et l'instrument, par lequel Dieu vouloit se communiquer
eternellement avec les hommes, c'est lä Jesus Christ.
51*
Zeus war der Erste, Zeus der letzte Herrscher
des Blitzes,
Zeus das Haupt, Zeus die Mitte, aus Zeus ist
Alles bereitet,
Zeus ward Manu, und Zeus ward unsterbliche
Jungfrau 104)
Und aus Zeus selber entstehen andere Götter, welche
selber wieder androgynisch sind. Aus seinem Kopfe ent-
steht die Athene, die Androgynische, wie wir später
unten sehen werden, aus seinem Samen, der im Schlafe
ihm entfloß, entstand Agdistis, wieder ein Mann-weib, und
Dionysos entstand eigentlich erst aus seinem Schenkel.106)
Der Agdistis wird durch die Götter entmannt, und
so wird er ein Weib, die Große Mutter, Kybele, und
aus dem Gliede entsteht ein Mandelbaum. Als
dessen Früchte gereift waren, steckte eine Tochter des
Flußgottes Sangarios eine derselben in ihren Busen,
ward schwanger und gebar den Attis: Und der Attis
war der Liebling der Grossen Mutter106).
,04) Die Übersetzung stammt aus Creuzer, Th. I, S. 24.
Zeig itqGytog yevero, Zevg rtiTarog, aQyixeQavvog'
Zeig x£(paXtf, Zeig /neaoa, dCug d'ex ndvra tetvxtcli'
Zeig aqöriv yevero, Zsvg äfißqoTog htXexo vvficptj.
10ft) Oder aus seinem Gliede? so meint A.Maury Not 5. S.646,
er weist auf verschiedene Analogien hin, worin Sehenkel oder
Hüfte für Genitalien gebraucht werden: unter mehreren Gen. 24. 2,
wo Abraham dem ältesten Knechte seines Hauses, als er ihm einen
Eid abnahm, sagte: „lege deine Hand unter meine Hüfte," was
auch Gunkel (LXIV) als einen Schwur beim Zeugungsglied auffaßt.
— Maury sagt: Aujourd'hui encore lorsque les Arabes veulent
donner la plus grande solennite' a leurs serments, ils prennent leurs
parties naturelles." Er meint, daß vielleicht mit der Seite des
Adams, woraus die Eva gebildet ward, dasselbe gemeint wird.
108) Jfa VTtvcofxivov atpiivai Giteqiia ig yr(v> %v\v de dva
Xgovov dvelvai dalfiova diTtXa e%ovra aldola, tcl fiev avdqog,
ra de avzo) yvvcuxog. ovojtia de *Aydi<fTtv avTcp tiSevrai)
— 807 —
Denn Attis, sagt Kaiser Julian, ist ein Generations
Gott. (XCI S. 113.) Er ist der Generator . xa#'l£oxip.
Aber auch seiner göttlichen Erzeugungskraft ist ein Ende
gesetzt: das ist die Entmannung Attis. Nachher nimmt
Attis dann weibliche Formen an, und weibliche Kleider
(Lucianus, dea Syric. 15), nachdem er durch die Ent-
mannung, gestorben oder durch einen Löwen getötet, und
vom Tode wieder erweckt ist.
Entsprechend ist auch der Mythus des Adonis, nur
mit Ausnahme der Entmannung: aber der Adonis ist eine
Androgyne.
Schon der Orphische Hymnus singt: Hör mich,
den flehenden, o Viel-namiger, guter Demon, Du, mit
deinen lockigen Haaren , Du, Jungfrau und
Jüngling, O, Adonis.107) Der Adonis, der Liebling
der Aphrodite, aber auch die Aphrodite ist androgynisch.
Wir stimmen Raoul ßochette völlig in seiner Auf-
fassung bei, daß die beigefügte Abbildung den andro-
gynischen Adonis darstellt. (Abb. 21.)
Erstens wird dafür sprechen, daß dieses pompejanische
Gemälde ein Pendant zu einem anderen ist, welches den
Tod des Adonis darstellt. Aber mehr noch spricht dafür
die Anwesenheit der zweiten Androgyne, welche den
Spiegel in der Hand hält, mit weiblichen Brüsten, gehüllt
in weibliche Kleider und mit einem Bart, ganz über-
&eol d£ "Aydt&viv detoavTSQ, ra aldola ol ra avdqog awco-
xoTtTovöiv oog de arfairw ävacpvöa dfxvydaXfj el%ev mqalov
rbv xaQ7cbv, SvyaTSQa rov Eayyaqiov Ttovaiiov Xqßelv <paöi
xovg xaQTtovg. ets^e^ievrig de ig rbv xoXtcov, xaqTtog fiev
exelvog iqv äcpavrig avrtxa, airi] de exvet. (CXXXV, libr. VII,
17. S. 566.)
l07) KXvüi [A£v ev%ofievovy 7tokvoovvfie, öaTfxov aQLtfte
äßgoxo/nrj, — — — — — — — — — — — .
xovqb xal xoqb. "Aötovi. (CXX1X H. LV1.)
Abb. 21. Androgynischer Adonis.
— 809 —
einstimmend mit der Darstellung der mannweiblichen
Aphrodite, wie wir sie unten sehen werden. Und üben
haben wir gesehen, daß sehr oft der Androgynianms der
Götter durch die Vereinigung der weiblichen Brüste mit
dem Barte demonstriert ward.
Den Androgynismus des Adonis finden wir noch
begründet durch die folgende Stellet
Ptolemaeus Hephaestius schreibt nach Photius
(CXLa S, 151, 5 b): Man sagt, daß der androgynische
Adonis ein Mann gewesen war für die Aphrodite, ein
Weib aber für den Apollon.loe)
Und der Komiker Piaton gibt, nach (XI B. X. c.
83. S. 101) den folgenden Orakelspruch an Kinyras:
„O, Kinyras, Konig der Cyprier mit behaarten
Hinterbacken, dir ward geboren ein Sohn, der schönste
und bewundernswerteste von allen Menschen. Zwei Götter
werden ihn verlieren: die Erste gerudert werdend mit
geheimnisvollen Rudern, der andere aber selber rudernd*
— Und er meinet damit Aphrodite und Dionysos, die
beide den Adonis liebten." im)
' /;/ üXXwva.
10U) IImuwv 6Jiv ifj) \/3wvtüt jj^c/t^ dntt-f[vat Xiyw
Ktvv(ja i\if-it \fSwvi3QQ rov tnor tfijGtv:
Sl KtvvQttt ßamlBv Kvsit*iuiv avSjf&fo daavjiQtaxTwv
Ihug am xdhlttiioc ftdv ttfv üavfiaatOTaros re
IhiriMv &y&Qw7t(*w, Uro tfaviov datfwv* o?.eTtov
A&fU dh ^Atp&oäfayjv xat Jtovvüov afitp&tEgog yag r$wv
Stepbanua aagt EQBTfiftv tet Im ob stauen Siane ib avßgstov
aidotoV) und el&vvw agitare, (aber hier im obsctmea Simie)*
— 810 —
In Zusammenhang mit der Agdistis wollen wir hier
die Mise kurz erwähnen, — „eine unzüchtige mann-
weibliche Gottheit aus dem Kreise der phrygischen
Großen Mutter", wie Tümpel sagt.
Die Orphische Hymne XLII, stellt diese Mise,
zusammen mit Dionysos, (v. 1) mit der phrygischen
großen Mutter (v. 6), mit Aphrodite auf Cyprus, (v. 7),
und mit Isis in Aegypten (v. 9), und nennt sie: „männlich
und weiblich, mit beiden Geschlechtern * (v. 4).110)
Später kommen wir auf diese Göttin, welche zu
Zeiten noch einen Misos, oder Mismos, als männliche
Form fand, bei den religiösen Gebräuchen zurück.
Zum Kreise des Zeus gehört der Ganymedes. Wir
sind der Ansicht, daß auch dieser androgynisch aufgefaßt
worden ist, und meinen also, daß die Stelle bei Tatianus
(CLXXIX, S. 170 A 9) buchstäblich aufgefaßt werden
muß, wo gesprochen wird von: Ganymedes, dem ALndro-
gynischen. — Wir sind nl. der Ansicht, daß Gany-
medes abgeleitet werden muß, (wie auch das Etymo-
logicon Magnum in V. gibt) von ydvva&ai und za inqdea.
Aber wir meinen, daß dieses letzte Wort nicht übersetzt
werden muß mit : „Rath* sondern mit: „männliche Scham-
teile * — wie das Epitheton (ptXofirjdrjg bei Aphrodite;
110) XLII, Mvar\g &v(iia/jia arvqaxa.
V. 1. Kakkto vaq&TjxoipoQov Jtovvtiov,
V. 3. cAyvi\v t' bvvsqov %e MLm\v> aQQrjTov avaaaav,
V. 4. "AQtiBva xd &rjXvv, dtcpvfj.
V. 6. Eive xal ev Q>Qvyur\ tfbv firjTEQi (iv&ciTto-
Xeveig,
*H KV7tQ(Q T€Q7tJj ÖVV SV&tBipdvq KvSeQSljl,
™H xal TtvqoffOQotg Ttedloig £7taydXk€a9 dyvolg
Aiyvitrov Ttaqd xevjia tfvv dii<pi7tcXotöi %i-
^vaig.
— 811 —
wenn auch der Vers bei Hesiod, worin dieses Wort
vorkommt, unecht sein mag: denn was würde beim
Ganymedes das Epitheton: „verständig* bedeuten? Dieser
unserer Auffassung stimmt mit der Nork's (CXXVI)
überein. Wir geben seine Beschreibung hier vollständig,
da dieselbe wirklich wunderschön die Figur des Ganymedes
beleuchtet:
„ Ganymedes (v. yavvvcu und fxrjdea wie Aphrodite
(ptXo/xrj&rjg) dieser durch seine Schönheit sprichwörtlich
gewordene Knabe, welcher auf mehreren Bildwerken mit
dem Liebesgott spielend oder beide gegenseitig im Ringen
ihre Kräfte messend, dargestellt ward, ist die personifizierte
Regenerationskraf t ; daher die Becher des Heils, die
Schaale Hygieens das weibl. Geburtsorgan in der Hand;
daher der Adler des Zeus, welcher mit dem sich
regenerierenden Phönix verwechselt wird, (Pf. 103, 5) . . .
oderZeus verwandelte sich selbst in den Adler, als er ihn ent-
führen wollte. Zeus führte das Präd. devdqiTrig als starker
Eichengott, also war er selbst jener Hos (ilex v. olesco) dessen
Bruder Ganymed, und auf dem '/Ja, dem Berge der
Zeugung, wo Zeus mit Here, Anchises mit Venus sich
begattet, die drei Göttinnen um den Preis der Schönheit
streiten; auf dem Ida hatte Zeus den Ganymed zum
erstenmal erblickt, und war sogleich in Liebe zu ihm
entbrannt. —
„Im Homer rauben die Götter überhaupt den Ganymed,
eben weil sie Unsterbliche sind, denn wer im Besitze des
(Leben erzeugenden, stets recreirenden) Ganymed ist,
dem kann der Tod als der Gegenpol desselben nichts
anhaben.
„ Darum wird Ganymedes in blühender Jugend von
der Erde entrückt, denn der Begriff, den er bezeichnet,
ist dem Altern der Erde entgegengesetzt, wo die Macht
des Todes sich ununterbrochen kund gibt, und findet
seine künftige Stätte im Himmel, aus welchem mittelst
— 812 —
des Sonnenstrahls und des Regens die Mittel der
vegetativen Wiedererzeugung herabkommt.
„Vor dem Ganymed hatte schon Hermes olvoxoog, den
man als l&vtpdX'kixog in der Urzeit phallo erecto abbildete,
das Mundschenkenamt im Olymp gehabt. (Schweighäuser
zu Athen III p. 64.) Winckelmann erwähnt des Reliefs
des Barberinischen Candelabers, auf welchem Mercur
mit einer Schale abgebildet ist, mithin Mundschenk der
Götter, über welches Amt als ein lästiges der scherzende
Lucian den Gott bei seiner Mutter sich beklagen läßt (in den
Göttergesprächen XXIV : ngiv rbv veoovrjTov tovtov
olvo%6ov rpisiv xal to vsktclq syco £ve%eov.) Hier bedenke
man auch, daß der Knabe, welcher bei Hochzeiten der
Braut den Krug vortrug, an den xddfxcXog der Mysterien,
also an Hermes als naQdvvficpcog erinnern sollte. In
diesem Kruge befindet sich, wie in Hygieens Schaale —
aus welcher der (phallische) Heildrache geführt wird, —
das Wasser des Lebens, d. h, das neue Leben erzeugt.
„Also war Ganymed der Herden Weidende ein Wesen
mit Hermes sifirjlog evavdgog, welcher als personifizirter
Regenerationstrieb allerdings der »gute Hirte" ist;
Hermes, welcher auch geistige Wiedergeburt verleiht,
wenn er als vsxQ07cofi7iog die Seele gereinigt wieder in
den Himmel zurückführt, oder sie als Dionysus aus jener
Vase trinken läßt, welche die Erinnerung an ihren
himmlischen Ursprung in ihnen wieder auffrischt. Das
war Bacchus puer, wie der jugendliche Gott der Lust
zum Unterschiede von dem graubärtigen Silen genannt
wird. Als dieser wird Ganymed durch die phrygische
Mütze erkannt, welche er fast auf allen Abbildungen hat,
und Phrygien besaß bacchischen Cult, in welchem die Eigen-
schaft des Dionysus als Spenders des wohlthätigen Naßes,
welcher selbst aus einem Felsen mit seinem Thyrsus Ge-
tränk hervorlockt, besonders hervorgehoben ist. Nicht müßig
— 813 —
hat dann die Sage hinzugefügt : Zeus habe für den geraubten
Ganymed seinen Vater Laomedon (Tzetz ad Lycophr. v. 34)
mit Rossen entschädigt (Apld. III 4,9), jenen Thieren,
welche wegen ihrer Schnelligkeit Sinnbilder des schnell
dahinfließenden Stromes wurden {Innog v. snoa fließen,
equus-aequor). Aber tnnog bedeutete ursprünglich:
Priap, folglich konnte der oben mit Priapus und Eros
indentificierte Ganymedes auch gegen Rosse, als Symbole
seines Wesens ausgetauscht werden. — *
Noch spricht für diese Auffassung, daß vor dem
Ganymed die Hebe Schenkin der Götter war: Hebe,
die Jugendblüte, die Jugendreife, früher Ganymeda
genannt, (nach Pausanias libr. II c. 13). Aber Hebe
will auch sagen die Schamteile, und dadurch wird doch
der Zusammenhang der anderen Namen mit den Genitalien
begründet
Die Art, auf die der Androgynismus des Ganymedes
dargestellt wird, beruht auf der Verbindung des durchaus
männlichen Körpers mit überaus weiblicher Zartheit.
Ebenso zeigen die Monumente das Androgynische
Apollons: „Denn die Alten gaben einigen [von ihren
Gottheiten] in mystischer Bedeutung beide Geschlechter
in einem vermischt, und diese Vermischung
ist vorzüglich dem Apollo .... eigen," schreibt Winckel-
mann (CXCIII Buch 4. Kap. 2, § 38) und Payne Knight
meint, daß der Apollo Didymaeus dieser androgynische
Gott ist, welchen er auf macedonischen Münzen gefunden
hat, immer in androgynischer Gestalt mit den Gliedern,
Locken, und dem Gesichte eines Weibes, mit dem Bogen
oder dem Pfeile, oder beiden in seinen Händen111), Der
Apollon, der Gott des Lichtes, und der Musik und
ln) CXIII § 133 but always in an androgyneous form, with the
limbs, tresses, and features of a wo man, and holdes the bow of an
arrow, or bolt in his hand.
— 814 —
Weissagung, (das Licht des Geistes), war auch der Gott
der Knabenliebe, wie wir weiter unten sehen werden.
Gegenüber dem Apollon steht die Arterais, als das
weibliche Licht, als die Mondgöttin, — aber auch diese
ist androgynisch, gerade so wie wir es oben in der Analyse
des Mithras-Mitra, und der aegyptischen Religion sahen.
Als Abbildung geben wir ein aus Tischbein
(CLXXXV Vol. II planch. 21.) reproduciertes Vasenbild.
'S5ü i
Abb. 22.
Tischbein beschreibt dieses Bild:
„Der Hermaphrodit, gezogen in einem Wagen durch
einen Gryph und einen Luchs, muß die Diana sein.
Macrobius (Buch LIII, c. XIII) und Orpheus gaben ihr
die beiden Geschlechter. Der Luchs war eins der Tiere,
welche sie am liebsten jagte. Der Gryph wurde von ihr
geliebt, denn unter den verschiedenen, auf den symboli-
— 815 —
.sehen Statuen der ephesischen Diana abgebildeten Figuren
waren Gryphe112),
Die Orphiker singen von der Selene, der wahren
Mondgöttin der Griechen, (Hymnus IX)
„Höre mich, königliche Göttin, Lichttragende, gött-
liche Selene,
Stierhornige Mene, Nachtlaufende, Tagflüchtende
— — — — — weiblich und männlich118).
Und wenn dann auch Mene, der weibliche Name ist, so
steht der männliche Men, Deus Lunus, dieser gegenüber.
Wir werden weiter unten sehen, daß auch in dem
Gottesdienste des Hercules Gebräuche vorkamen, welche
mit absoluter Gewißheit anzeigen, daß in ihm eine an-
drogynische Idee ausgesprochen war. Auch er wird oft
dargestellt mit einem Becher oder Schale, oder mit dem
Hörne des Ueberflusses in seinen Händen, wie dieses
auch beim Ganymed der Fall war. —
Auch die Dioscüren, Castor und Pollux, die Zeus-
söhne, waren androgynisch, und wurden schon in sehr
früher Zeit so aufgefaßt. Denn Epimenides lehrte, daß
sie männlich und weiblich waren, den Ewigen als
Monas, die Natur als Dyas bezeichnend, denn aus dem
n2) The Hermaphrodite, drawn in the car by a griffin and a
lynx must be Diana. Macrobius (LI1I, c. XIII) and Orpheus*) give
her the two sexes. The lynx was one of the animals that she
was fond of hunting. The Griffin was agreeable to her as among
the different figures represented on the Symbolik Statue of the
Diana of Ephesus, there were griffins.
*) Hymne XXXVI. Aorefiidos, &vtuiafxa yiavvav. KXvdi {ä£v,
(6 ßaaileia,
(tQGEVO[jLOQq)£
ll3) Klv&t,. Uta ßaöiXeia, ipaeöipoqe, dla 2eXrfVY\.
TavQox€Q(og Mrp>r)9 wx^löqüiios, ijspoyom, — — —
— — — — — — — — — — &rkvg T€ xal aQü^v,
— 816 —
Monas und dem Dyas entsteht alles körperliche und
geistige Leben114)
Wie wir früher gesehen haben, war die Neith der
Ägypter mann-weiblich, auch die Athene der Griechen
ward so gedacht, wenigstens in der orphischen Geheim-
lehre, denn sie wird in der XXXII Hymne genannt:
Du bist männlich und weiblich entstanden115).
Wir sind geneigt anzunehmen, daß die Auf-
fassung Creuzers (XU V. Bd. II, S. 332 sqq.), — obwohl
diese offenbar von den neueren Mythologen ganz verlassen
ist — daß nämlich die Pallas in Verbindung steht mit einem
höheren Phallus-begriffe, zutrifft. Dadurch wird die mann-
weibliche Idee der Athene im Ursprung deutlicher.
(Man sehe auch S. 213) XLIV, Bd. II, S. 334: ... .
[Pallas] wachet [für die Erhaltung der Substanz der
Welt], Pallas, die gerüstete, im Olympus, bekämpft die
finsteren Kräfte, die Giganten, und als es den Titanen
gelungen ist, den Zagreus-Dionysos zu zerfleischen, so
rettet sie in seinem noch schlagenden Herzen die Sub-
stanz der Natur." ll6) Etwas weiter schreibt derselbe
iH) libr. IV, 13. Ol de Tteql * Ertifievtdrjv aqqeva xal
Srikeiav efiv&evtiav rovg Jioüxoqovg, tov fiev alwva Stfjteq
povdda, rfjv de <pvGiv cog dväda xaXeaavreg* ex yaq povadog
xal dvädog o jtäg ttooyovixog xal ipv%ovixhg e%eßXaGTr\(Sev
agißfiog.
116) o(f<ft)v fiev xal ^Ivg e<pvg.
116) Dieses erzählen Firmicus, de errore prof. relig. (LX S. 253)
und auch Clemens (XXXIX Protrept. S. 15). Preller gibt in
CXXXIV, v. Liber diese kurze Zusammenfassung: Mit der Rhea-
Demeter zeugt Zeus die Persephone-Artemis-Hecate, denn diese
drei Göttinnen sind nach Orphischer Lehre Eine Person, ein kos-
misches Wesen, dessen Wirkungen durch die ganze Welt reichen,
so wie auch Zeus Alles in Allem ist. Von diesen Eltern wird
Zagreus geboren, noch ehe Persephone durch Raub des Pluton
Gattin wird.
— 817 —
Gelehrte (XLIV, Bd II. S. 336): „Die Phallen, und
[auch] die edelsten derselben, die Palladien, nachdem
sie vom Himmel auf Erden geworfen waren, [stehen] als
große Buchstaben für die Nachwelt aufgerichtet, als
bleibende Zeichen des Lebens und des Bestehens." Auch
fast jede Statue der Pallas Athene gibt das sehr Männ-
liche in dem Körper deutlich an, wie schon Schorn
(CLXVin S. 206) bemerkt hat.
Nach Schol. Luc. dial. deor. 23, 1, wird, wie Herr-
mann in CI v. Hermaphroditos schreibt, auch dem Pria-
pos androgyne Natur zugeschrieben. Der Priapos ist
der Erzeuger xatf s^ox^v und in dieser Beziehung kann
der Androgynismus uns nicht wundern.
Der Priapos wird dargestellt, entweder als Herme, welche
erst unter dem Phallus, der gewöhnlich ungemein groß ist
(Man sehe die Abb. weiter unten), anfängt, der Oberleib
hat die Stellung der XoQdwaig (CXXXIV v. Priapos)
oder wie man in Clarac (XXXVIII) oder in Eeinach
(CLVH) nachsehen kann, als bärtige Figur, mit langem
Gewände bekleidet, das er aber mit beiden Händen auf-
hebt und so sein erigiertes Glied zeigt. Das aufgehobene
Zagreus ist der Liebling des Vaters, zum Weltregimente be-
stimmt, der mit kindischer Hand schon mit dem Blitze spielte. Er
und der Vater sind eine eng verbundene Dyas. Zagreus ist haupt-
sächlich x&ovios, und mehr die Allegorie des Natur- und Welt-
lebens in seinem Wirken und Vergehen, während Zeus selbst die
dauernde Substanz der Welt ist. Zeus aber, heißt es, machte ihn
zum König über alle Götter, obgleich er noch jung und unmündig
war. Er wird nun erzogen wie das Zeuskind aus Furcht vor der
Hera umgeben von Kureten. Da schickt Hera die Titanen, die
Zagreus beim Spiel überraschen. Es wird ein langer Kampf; das
verfolgte Kind nahm alle möglichen Gestalten an, ehe es erlag.
Die Mörder zerstückelten es, das Herz wird herausgenommen, der
Körper zerteilt, gekocht und von den Titanen aufgegessen. Das
Herz trägt Athene davon und bringt es dem Zeus. Dieser gibt es
der Semele oder verschlingt es selbst, und so wird hernach ein
anderer Zagreus, der jüngere Dionysos geboren.
— 818 —
Gewand ist oft mit Obst und Blumen gefüllt oder der
Gott hält darin Eroten.
Wir geben hierbei vier Abbildungen von Herma-
phroditen, welche sehr deutlich diese Caracteristica
zeigen, obwohl wir nicht behaupten können, daß dies be-
Abb. 23.
Abb. 24.
stimmt hermaphroditische Priape sind, da das Um-
gekehrte nämlich priapische Hermaphrodite natürlich auch
möglich wäre. Gerade Abb. 23 und 24 (Clarac 667,
1549 A. Rome Coli. Giustia, resp. 670, 1549 Paris, Mus.
Royal) die beiden anderen Abb. 25 und 26, (Clarac 668,
— 819 —
1554 A, Stockholm, resp. 670, 1548 Eome Coli. Chablais)
sind sehr demonstrativ gehalten in priapischer Gebärde.
Abb. 26 * u. ** nach zwei Bronzen im Louvre, geben
auch ähnliche Haltungen : wir meinen aber, daß die ganze
Auffassung hier ein Nicht-Begreifen der ursprünglichen
Idee verrät, und so diese Bildchen eher zu den obscönen
Abb. 25.
Abb. 26.
gezählt werden müssen. Wir verstehen unter obscönen
Bildern diejenigen, welche nur in der Absicht sexuell
erregend zu wirken, verfertigt sind, nicht aber diejenigen,
welche tiefen Sinn verraten, obwohl lascive Geister aus
diesen Darstellungen sinnliche Erregung schöpfen können.
Wir bitten sehr, diese Definition in unserer Arbeit zu
berücksichtigen.
Jahrbuch V.
52
— 820 —
Gegenüber dem Priapos, der mehr die absolut ma-
terielle Äußerung der Liebe durch die Sexualität dar-
stellt, wollen wir den Eros setzen.
Abb. 26*.
26**
Der Begriff des Eros setzt u. E. eine androgynisohe
Idee voraus: das Streben nach harmonischer Zusamm-
s
51 <
— 822 —
ftigung kann anthropomorphisch doch nicht besser dar-
gestellt werden als durch die Zusammenfassung beider
Abb. 28.
Begriffe, welche die Harmonie formen werden. Meistens
wird denn auch der Eros dargestellt mit männlichem
— 823 —
Körper, aber verbunden mit der höchsten, fast weiblichen
Zartheit. Aber in späterer Zeit gab es doch auch bestimm-
tere androgynische Darstellungen, wie durch den (LVIII)
Abb. 29.
orphischen Hymnus Eros auch als digtvrj angerufen wird,
also: beide Geschlechter habend. — Deutlicher tritt dieses
hervor an den Abbildungen nach Terracotta-Figuren.
Die Abbildung 27 gibt drei unedierte Eroten, zwei
— 824 —
beflügelte und einen ohne Fügel, aus dem Museum von
Altertümern in Leiden.
27* (No. S. 707) ist gefunden zwischen Cyme und
Grunium, die beiden Anderen (No. L. K. A. 1024 und
L. K. A. 1139) stammen aus Metropolis. Die Körper-
formen sind sehr weiblich mit Ausnahme des 27*** der
bestimmt männlicher gehalten ist. Die beiden anderen
Abbildungen sind reproduziert aus Bullet, de correspond.
hellen., G pl. 15 (Abb. 28) und 7 pl. 17 (No. 29). Im
Gegensatz zu den vollständig nackten Leidener Figuren
ist Abb. 28 bekleidet mit einem kurzen Chiton, welchen
der Eros mit seiner rechten aufhebt, so daß seine Ge-
schlechtsteile sichtbar werden. Die Faltenformung in
dem Chiton auf der Brust verrät deutlich weibliche Brüste
und auch die Bildung der Oberschenkel ist weiblich.
In Abbildung 29 ist nur ein wulstartiges Gewandstück
um den Bauch gewunden, ein Motiv, das wir auch bei
einem Hermaphroditen begegenen.
Ehe wir den Hermaphroditen in engerem Sinne
behandeln, wollen wir die beiden Gottheiten, zu deren
Kreise er gehört, und in deren Umgebung verschiedene
Dämone als Hermaphroditen auftreten, behandeln.
Die erste ist der Dionysos.
Wir gaben schon oben einen Teil der Geburtsage
des Dionysos. Den andern Teil wollen wir hier bringen.
Semele verlangte von Zeus, daß er sich ihr in seiner
vollen göttlichen Herrlichkeit zeigen möchte. Als aber
der Zeus mit Blitzen und Donner auf die Erde hinab-
stieg, verbrannte der Palast des Kadmos und den unge-
borenen Dionysos nahm der Vater Zeus und barg ihn
in seiner Hüfte, aus der er später geboren ward, darum
nennen ihn die Griechen nvqlroxog, d. h. aus dem Feuer
geboren, und firjQOTQacprjg, d. h. in der Hüfte genährt.
Doch wird er auch 'aQQevoihfjXvg d. h. Mann-weib genannt.
Und Johannes Lydus (CIVlibr.IV, 95) fährt dann fort: So
— 825 —
war er von den Griechen genannt, die aber die philosophi-
sche Auffassung von ihm nicht kannten. Dieselbe ist aber : Er
ist der warme Geist, der aus allem Erzeugten, von jedem
geistig Lebenden zusammenbringt zum Lebendig -werden
und Wachsen, von Allem was in der Welt ist. Mr\QOTqa<prfi
aber wird er genannt, weil in der Haut und in der Gegend
der samenbereitenden Teile und in den Schenkeladern
diejenige Substanz von jedem Lebenden gefunden
wird, woraus alles geworden ist. Und mann-weiblich
wird er genannt, weil, nachdem die mann-weiblich Erzeugten
sich nach zwei Richtungen differentierten d. h. männlich
oder weiblich wurden, jeder von Beiden aus sich selbst
nichts fortbringen kann, sondern sie zusammen kommen
müssen und so das Lebendige, das dadurch entsteht,
erzeugen. Und sie sagen, daß er vernichtet und wieder
geborenward, weil auch Alles, was aus ihm erzeugt ist, fort-
während vernichtet wird und zum Leben wieder erweckt.118)
118) Jiovvöcg eöTi to ev voj TtvQt yevofnevov Ttvevfia,
TOVzeöTi, to Üiqixov, a&ev Ttvqvtoxog ixXtf&r] xai [tv)qo~
TQacprjg xai äqaevoÜrjXvg vno 'EXXrjvwv, äyvorjadvTwv
exeivwv (ffjv neql avTov <piXoöo(piav xal rtg TeTV%v\xev cov
ovrog ydq eoTi to Seqiibv nvevfia to ex nd^rjg anoqäg
Tcavxog £(*)ov nvevjuaTixov avyxaTOTiSeiievov elg tqoyoviav
xai av£rj(fiv ndvTcov tcov ev tcw xoV/xco.
JlrjQOTQacprjg de exXförj, enei ev Talg firjviy'gi xai Tolg
oyxolg xoCg yovijuoig xai Talg (pkeipl Talg ev Tolg firjqoig
eyxaTüfxHfTa rj ToiavTtj ovaia navTog £($ov, ej ov tivveöriq
to Ttdvza.
'AqqevoürjXvg de eqqe&rj dcä to Tag äqqevo&rjXeig
GTtoqdg yivetöai &uo9 äqaevixrjv T8 xal frrjXvxrjV (pvöiv, xai
ovx £Gtiv ereqov äy? foäqov to dvva^ievov yewrjaai, ei f.ir
cfiiov eXSoiev xai Ccpoyovrjtfwtfi t<x £<pa to vno tovtov
deqrjpiovqyr] flava. avaXveö&ai t£ amov vneiXr^aai xai
rcdXiv yewäö&ai, enei xal tol e% ovtov yevvto^ieva o^ioiiog
avexXeiTtTcog SanavoTai xal näXiv ZwoyoveiTai.
— 826 —
Wir haben diese ganze Stelle des Lydus übersetzt,
da wir glaubten, so am kürzesten den Begriff des Dionysos
wiedergeben zu können.
Noch einmal wird der Dionysos getötet und noch ein-
mal steht er vom Tode auf und steigt nach dem Himmel
empor mit seiner Mutter, Semele, der Erdenmutter. So
glauben wir, wie schon Zoega schrieb, das Spätere aus
dem Dionysosleben interpretieren zu dürfen.
Als der Dionysos auf seinen Umzügen auch nach
Argos kam, wollte Perseus den bakchischen Thiasos nicht
annehmen und bekriegte denselben, und Dionysos mit seinen
Bakchen soll von Perseus getötet und in den Alcyonischen
See von Lerna geworfen worden sein.
Wir bringen dieses nach (CI v. Dionysos sp. 1057).
Die Stellen, welche er angibt, erzählen uns:
Cyrillus sagt adv.: Jul. libr. X, p. 341: daß Perseus
Dionysos tötete und daß dieser in Delphi bestattet sei.
Augustinus de Civitate dei lib. XVIII, Kap. 13
Corpus Script eccles. latinor. Vol. XXXX): Nonnulli
[scribunt istum Liberum] occisum in pugna a Perseo, nee
ubi fuerit sepultus.
Seh. in Iliad. B 319. (zitiert in Lobeck Aglaoph) sagt
uns, daß man versuchte dem Perseus die höchste Ehre
zu erweisen und ihn selbst über Herakles zu erheben,
denn man erzählte, daß er den Gott Dionysos getötet und
in den Lernaischen See geworfen hat.
Wir finden auch bei Pausanias viele Beweise
für einen stattgehabten Kampf zwischen Perseus und
Dionysos, «welcher offenbar mit einer großen Niederlage
des Dionysos endete.
Buch II, C. 20. Das Grabmal in der Nähe heißt
das der Bacchantin Chorea, und man erzählt, daß diese
den Heereszug der Weiber mit Dionysos nach Argos
begleitete, Perseus aber, da er im Kampfe siegte, den
größten Teil der Weiber tötete. Die Übrigen nun
— 827 —
erhielten ein gemeinschaftliches Grab. Dieser aber, da
sie durch ihre Würde ausgezeichnet war, errichtete man
besonders dieses Grabmal.
Und auch in Cap. 22 spricht er von einem Grabe
der Weiber, welche von den Inseln des Ägäischen
Meeres dem Dionysos auf seinen Heereszügen folgten
und in dem Treffen gegen die Argiver und den Perseus
gefallen waren und deswegen heißen sie Weiber des Meeres.
Cap. 23 aber schreibt er: [Sehenswert ist] ein Tempel
des Dionysos Kresius. Man erzählt nämlich, daß ihm
nach seinem Kampfe mit Perseus und nach erfolgter
Aussöhnung mit demselben sowohl sonst große Ehre von
den Argivern erwiesen, als auch dieser abgesonderte Platz
geheiligt wurde. Des Kresius Tempel wurde er in der
Folge genannt, weil er Ariadne, als sie gestorben war,
hier begrub.
Diesen großen Kampf erzählt uns sehr dramatisch
Nonnus (CXXV Buch. XLVII, S. 1234). Dort wird
die Ariadne durch Perseus getötet: auch da kommt eine
Versöhnung zwischen Dionysos und Perseus zu Stande.
Uns scheint aber, daß Nonnus der Reihenfolge der
Sache dichterisch etwas Gewalt angetan hat. Und auch
in dem Bericht des Pausanias sollte etwas geändert werden.
Wie wir oben schon anführten sagt S. Cyrillus nach
dem Dichter Dinarchus, daß Perseus den Dionysos
tötete. Und diese Stelle wird auch von Joh. Malala
citirt (CVIII lib. II S. 45, 1 — 10.), der aber Dionysos
vor Lykurgus flüchtend, in Delphi sterben läßt; und er
sagt dann, „daß Dionysos nächst dem goldenen Apollon
da begraben war. Das Grab war in Form einer
Stufe, worauf geschrieben stand: Hier ist begraben
Dionysos der Sohn der Semele. So hat der Gelehrte
Philochoros geschrieben."
Eusebius führt auch an, daß er durch Perseus
getötet war, wie Dinarchos, der Dichter geschrieben
— 828 —
hat, welcher auch das Grab in Delphi gesehen haben
soll (Xqovix. xav. p. 122 in Seal. thes. tempor. citirt
bei Philochorus ed. Siebeiis).
Wir können wohl behaupten, daß in dem Mythos der
Dionysos in Archos mit seinem ganzen Heere getötet
worden ist. Die spätere Versöhnung mit dem Dionysus
soll nicht aufgefaßt werden als eine mit einem unter den
Menschen lebenden Heros, sondern mit dem Gotte, also
durch seine Priester.
Wenigstens für einen Teil wollen wir zeigen, wie
dieses verstanden werden kann.
Apollodoros erzählt uns in seiner Mythologischen
Bibliothek. Buch II, c. 4, 4, wie Perseus mit Danae
und Andromeda nach Argos geht und wie Akrisius, der
Vater der Danae, diese in ein unterirdisches, ehernes
Gemach geschlossen hat, aus Furcht, daß sie geschwächt
werden könnte. Denn durch einen Sohn würde er sterben,
hat das Orakel gesagt. Zeus kam als Goldregen, und
erzeugte mit ihr den Perseus.
Sie trafen den Akrisius, der aus Furcht Argos ver-
lassen hat, und Perseus tötete den Akrisius beim Discus-
werfen. Da Perseus aber lieber nicht in Argos, dem
eigentlichen Gebiet des Akrisius herrschen wollte,
tauschte er mit dem Sohne des Proitos, Megapenthes,
und dieser herrschte über die Argiver, Perseus über die
Stadt Tiryns. Wir sahen oben den Kampf zwischen
Perseus und Dionysos, und Hesiod (cit. bei Apollodorus)
erzählt, daß die Schwestern des Megapenthes, und die
Weiber von Argos, weil sie die Religionsgebräuche des
Dionysos mißbilligten, wahnsinnig wurden.
Der einzige, der hier retten konnte, war Melampos,
der große Seher, und der erste Erfinder der Heilkunde
durch Arzneikräuter und Reinigungsmittel. — Herodot
sagt von ihm : (LXXX Buch II c. 49) daß er den Phallus in
Griechenland eingeführt hat, sowie den Namen Dionysos
— 829 —
und sein Opferfest. Nur hat er nicht genau die ganze Sache
erfaßt und dargestellt, sondern die Weisheitslehrer nach
ihm haben es noch weiter herausgestellt sagt Herodot
weiter, und dann: „[er hat] unter den Hellenen das
Dionysische mit einigen Abweichungen eingeführt", und
Herodot hält am meisten dafür, daß Melampus das
Dionysische kennen gelernt hat durch Kadmos den
Tyrier, und diejenigen, welche mit diesem aus Phönicien
in das Land gekommen sind, das jetzt Boeotien heißt.
Wir geben hier einige Genealogien, insoweit sie zu
unserer Sache Beziehung haben.
Abas
Proitos Akrisios
i
Agenor
Megapenthes Iphianassa Danae Europa Kadmos
| verheiratm. | | |
Iphianira Melampos Perseas Pelops Minos Semele
verheirat mit (nach | *— *- * ^— ^^-^ |
Melampos Apollo- Sthenelos- Nicippe Atreus Katreus Ariadne Dionysos
(nach Diodor) doros) | |
Plisthenes-Aerope
Agamemnon
Nach Apollodor nun waren die argivischen Weiber
unter Proitos von der Raserei besessen, und dieser König ließ
Melampos kommen. Diodor Buch IV, c. 68, aber schreibt:
„Melampos als Wahrsager heilte in Argos die Weiber,
die durch den Zorn des Dionysos in Baserei geraten
waren. Zum Dank für dieses Verdienst trat ihm der
König von Argos, Anaxagoras, der Sohn des Megapenthes,
zwei Dritteile des Reiches ab. Er ließ sich nun in
Argos nieder und regierte [daj. Er nahm Iphianira, die
Tochter des Megapenthes zur Ehe."
Diese letzte Lesung stimmt absolut mit der oben
gegeben Argivischen Mythe überein: Dionysos, der jugend-
liche Heros in. B. zu Perseus, wird durch den Argiver ver-
schlagen. Zur Rache schickt er dann die Raserei über
— 830 —
die Weiber. Und dann ruft Megapenthes, der mit
Perseus die Länder getauscht hat, Melampus, den
Dionysos-Priester, und dieser versöhnt die Gottheit. Me-
lampus stammt aus Thessalien, und in Thrakien bestand
der Dionysos-dienst schon, also aus dem Norden wird
der Sühner geholt. Dann gibt Pausanias noch eine Er-
zählung wie der Dionysos später die Argiver schützte,
und sie ein bestimmtes Bild verehrten, daß sie, als sie von
Troja zurückkamen, aus Euboea mitgenommen hatten:
(Buch II, c. 23) wo sie beim Vorgebirge Kaphereus
Schiffbruch litten. „Da beteten sie zu einem der Götter,
er möchte in der gegenwärtigen Not, ihr Retter sein und
es zeigte sich ihnen sogleich, wie sie vorwärts gingen,
eine Grotte des Dionysos, und eine Bildsäule des Gottes
war in der Grotte, und wilde Ziegen, welche vor dem
Sturme flöhen, hatten sich dort gesammelt. Diese
schlachteten die Agiver, speisten das Fleisch und ge-
brauchten die Häute zur Bekleidung."
Der Tod des Dionysos durch Perseus wird aber
offenbar von den Agivern als Tatsache angenommen.
Und dieses, so sagt Zoega, (S. 215, Not. 21) würde
es sein, was die Griechen, welche fürchten, die Nieder-
lage des Gottes außerhalb der Mysterien zu besprechen,
in die folgende Erzählung umänderten:
Der Dionysos wollte seine Mutter aus der Unterwelt
empor bringen und im Olympus einführen, und er sollte
durch den Alcyonischen See hineingestiegen sein; den
Weg aber, der hier hinabführt, soll ihm Polymnus ge-
zeigt haben. Die Feierlichkeiten jedoch, welche all-
jährlich bei Nacht dem Dionysos zu Ehren auf diesem
See angestellt werden, durften nicht Allen bekannt werden.
So weit Pausanias.
Zoega sagt, daß Polymnus abgeleitet ist von €id(o,
somit einen Todesgenius bezeichnen soll.
— 831 —
Mehr über diesen Mythus, welchen Pausanias nicht
erzählen darf, geben uns, mit Hyginus in seinem Poeti-
con Astronomicon, auch einige Kirchenväter, natürlich
gemischt mit grausamen Anzüglichkeiten, welche oft ein
„Nichtbegreifen wollen* zeigen.
Der Name des Genius wird sehr verschieden ge-
geben : Polymnos gibt Pausanias, wie wir oben sahen,
Prosymnus nennen ihn Clemens Alexandrinus (Protrept.
Bd. I, S. 29) und Arnobius (Adv. Gentes libr. V, S. 176. X.)
Hyginus nennt ihn Hypolipnus, was wahrscheinlich nach
Wouwern und Muncker (CXXIV S. 29, Not, 12) als
Polyhypnos gelesen werden muß, was dann wieder zu
Zoegas Ableitung zurückbringt.
Prosymnus will dem Dionysos den Weg zeigen, aber
nur unter einer Bedingung, daß er sich nämlich ihm hingibt.
Und Dionysos schwur dem Prosymnos, daß er, wenn er
seine Mutter herausgeführt hätte, dieses bestimmt tun
würde. Als der Dionysos oben wieder heraufgestiegen
war, fand er den Prosymnus tot. Und um seinen Schwur
zu halten, soll er dann einen Phallus aus Feigenholz ge-
schnitten haben und diese da gepflanzt haben, und damit
den Akt, welchen er dem Prosymnus versprach, vorge-
nommen haben110).
ii9) yy\r geben hier den lateinischen Text des Arnobius wieder.
(Clemens hat dieselbe Erzählung, welche dann auch Arnobius abschrieb,
da Clemens griechisch schrieb, Arnobius aber lateinisch, so geben wir
seine Version. Hyginus gibt diese Mythe nur bis zu dem Schwur).
Arnobius' Version ist auch darum interessant, da dieselbe den
kirchenväterlichen Haß gegen die griechische Religion in seiner
vollen Grausamkeit zeigt.
Cum inter homines (inquiunt) esset adhuc Nysius et Semeleius
Liber nosse inferos expetivit, et sub tartari sedibus quidnam rerum
ageretur, inquirere sed oupiditas haec eins nonnuüis difficultatibus
impediebatur: quod qua iret ac pergeret inscitia itineris nesciebat.
Prosumnus quidam exoritur, ignominiosus amator dei atque in
nefarias libidines satis pronus, qui se ianuam Ditis atque acherusios
— 832 —
Wenn auch der Phallus viel früher in Griechenland
verehrt worden ist, als es übereinstimmen würde mit der
Stiftung der Lernäischen Mysterien, welche Pausanias
„nicht alt14 nennt, so ist doch dieser Mythos in Griechen-
land geglaubt worden.
Wenn man sich wirklich hineindenkt in die grie-
chische Auffassung des gedachten Zeitalters, kann doch
die Mythe nicht schöner mystisch erzählt werden.
Denn als der Erzeuger und der Regenerator in die
Unterwelt hinabsteigen wollte, mußte er durch den Tod
hindurch, d. h. er sollte sich dem Prosyranus hingeben.
Aber der Regenerator ist ewig und stirbt nicht, darum
wird er die Hingabe erst nach dem Hinabsteigen voll-
bringen. Wenn nun die Kirchenväter aber das Ge-
storbensein des Prosymnos erzählen, so liegen zwei Möglich-
keiten vor, entweder sie haben eine Erzählung wieder-
gegeben, worin schon der Genius in einen Heros ver-
Aditus pollicetur indicaturum, se sibi gereret morem atque uxorias
voluptates pateretur deus, ex se earpi. Deus faeilis iurat potestatis
futurum ae voluntatis se eius, sed cum primum ab inferis compos
voti atque expeditionis redisset. Viam comiter Prosymnus edisserit
atque in limine ipso prostituit inferorum. Interea dum über Stygem,
Cerbernm Furias, atque alias res omneis curiosa inquisitione col-
lustrat, ex viventium numero iudex ille decidit, atque ex more
sepelitur humano: emergit ab inferis Evius et recognoseit extinc-
tum ducem. Qui ut fidem compleret pacti et iurandi solveret re-
ligione se iuris, locum pergit ad funeris et ficorum ex arbore
ramum validissimum proesecans dolat, runcinat, levigat et humani
speoiem fabrioatur in penis figit super aggerem tumuli et postioa
ex parte nudatus, accedit: subdit, insidit. Lasoivia deinde luxuriantis
assumpta, huc atque illuc elunes torquet et medidatur ab lignopati,
quod iamdudum in veritate promiserat. Ao ne quis forte a nobis
tarn impias arbitretur confietas res esse, HeracHto ut testi non
postulamus ut credat, nee mysteriis volumus quid super talibus
senserit ex ipsins aeoipiat lectione totam interrogat Graeiam, quid
sibi veluit Ithyphalli, quos per rura, per oppida mos subrigit et
veneratur antiquus?
— 833 —
wandelt ist, denn ein Todesgenius kann doch nicht
sterben, oder sie fügen etwas hinzu, um die griechische
Religion erst recht abscheulich darzustellen. Hyginus
hat diesen Teil nicht, was mehr für die letzte Möglich-
keit spricht. Wohl ist denkbar, daß die Argiver an
diesem Mythos die Verehrung des Phallus anknüpften,
denn wenn Dionysos zurückkam, der Regenerator aus
dem Totenreiche heraufstieg, was würde dann mehr
passen als die Pflanzung des plastischen Symbols der Erzeu-
gung, der Regeneration ? Aber auch als Symbol der Hingabe
der Mann-weiblichen Gottheit dem männlichen Tode:
einer kurzen Vereinigung mit dem Tode, um dann er-
klärt und erstarkt wieder aufzuerstehen. Denn auch aus
dem See von Lerna riefen die Argiver den Dionysos
ßovyevifi unter Trompetenschall empor: er ist die leben-
zeugende Naturkraft, als deren Symbol in diesem Kultus
auch der Phallos gebraucht wurde", schreibt Voigt (in
CI v. Dionysos Sp. 1057.) (Plutarch, Is. u. Os. c. 35).
Wir haben als Abbildung 30, den göttlichen
Dionysos-Kopf aus dem Museum in Leiden beigefügt,
denn besser als Worte und schöner als andere Statuen
gibt dieser Kopf, wie verstümmelt er auch ist, die heilige
extatische Entzückung wieder, welche in der herrlichen
Regeneration der Natur jauchzt und jubelt.
Die Mannweiblichkeit des Gottes wird weiter noch
erwähnt von vielen Schriftstellern des Altertums. Euripides
nennt ihn in seinen Bacchi: weibgestaltet ($r]Xv[io()<pog),
die orphysche Hymne : Mit zwei Geschlechtern (CXXIX
XX, v. 2 di<pvij), und dann Aristides (VIII) in seiner
Rede über Dionysos:
So ist der Gott männlich und weiblich. — Er hat eine
Gestalt seiner Natur gemäß, so wie er überall für sich
selber wie ein Zwilling ist; denn er ist zwischen Jüng-
lingen ein Mädchen, zwischen Mädchen ein Jüngling,
Abb. 30.
— 835 —
und zwischen Männern ein Bartloser und ein von
brausender Lebenskraft überfließender120).
Eusebins schreibt in der oben angeführten Stelle:
Dionysos wird weibgestaltet genannt, verschiedener
unsittlicher Ursachen wegen, und weil er mit einem mit
Weibern gemischten Heer kämpfte; und in seiner Praep.
Evag. 3, p. 66 (cit. Philoch ed. Siebeiis) sagt er: „ Dionysos
ist weibgestaltet so bezeichnend die mannweibliche Kraft
der Fruchtbäume, soweit es cfie Zeugung anbelangt."
Siebeiis nennt dieses: ridiculam rationem. Uns
scheint es aber sehr richtig zu sein, wenn wir nl. Frucht-
120) "Aqqtjv t€ xal &rjhvg 6 ösog e<fri de t[\
(fvast xal ttjv fAOQgyrv nQotjeocxwg' waneq yaq dldvfiog
ndvirj avrcg TiQog eavrov ktfrr xal yäg iv r^&eoig etfrl
xoQrj, xal ev xoqaig rjt&eog, xai' av cog ev äqqs(Stv ayeveidg
T€ ßQMtevg.
Wie man sieht, haben wir ßQtaevg übersetzt, wie wir oben
taten: wir taten es nach Creuzer, Th. IV S. 104. der Name von
ß(>i;<o, ßgifrco ß^voo, welches eine Fülle des Lebenstriebes in seinen
mannigfaltigen Aeusserungen bedeutet. Welcker: CXC, Th. II,
S. 607, und Not. 102, und S. 608. Brisens fließend, segentriefend.
(Not. 102, noch jetzt heißen die Brunnen ßQvaia. — Ausdrucksvoll
Persius 1,76 Brysaei . . . venosus über AttiJ S. 608. Anschaulich
wird das Wort durch die überschwengliche Fruchtbarkeit und
Saftigkeit der Trauben etc., die man auf griechischen Inseln, die
Bergabhänge und mit der Fülle der Früchte zum Teil den Boden
bedecken, sieht. Teufel schreibt über diese Stelle bei Persius :
„Persius nennt [Attius] den Briseischen und seine Stücke „adrig"
um damit die Überschwenglichkeit, Überladenheit, die überspru-.
delnde Kraftfülle, wohl auch die Derbheit des Dichters und
seiner Produkte zu bezeichnen." Stoll (CXXXIV v. ßqioalog
schreibt: „Das Wort bezeichnet den Dionysos als Gott des Früh-
lings, wo alles treibt und schwillt", und v. Brisae : Ihre Bedeutung
geht wohl weiter und bezeichnet die schwellende Fülle des Natur-
lebens." Wir übersetzten das Wort, da hier dasselbe unmöglich
den Gottesnamen meinen kann, sondern nur einen aus der Götteridee
abgeleiteten Begriff. Ob dies Alles in einem heutzutage obscön ge-
nannten Sinne gemeint ist, lassen wir dahingestellt.
Jahrbuch V. 53
— 836 —
bäume in dem ausgebreitetsten Sinne nehmen, d. b. als
Symbol der Vegetation, ja selbst der Zeugung überhaupt.
Wir haben überdies noch den Dionysos Dentrites,
(Platarch Symp. V. 1).
Snidas v. AvdQoywog sagt: Dionysos dem männ-
lichen Thun und dem weiblichen Leiden nach, der Un-
männliche und der Hermaphroditos.
Knight faßt diese Mannweiblichkeit auf wie die
Vereinigung des Dionysos mit Ariadne. (XCIII § 100).
Es gibt verschiedene Tatsachen, welche diese
Auffassung nicht zu unwahrscheinlich machen.
Wie Stoll (CI v. Ariadne) sagt: „scheint es eine in
der Sage zur Heroine herabgesunkene, besonders auf
Naxos und Creta verehrte Naturgöttin zu sein, die der
Aphrodite sehr nahe stand und den fruchtbaren Erd-
boden bezeichnet Die Etymologie des Namens, wie sie
Nork (CXXV1 v. Ariadne) gibt, stimmt damit sehr
auffallend überein : 'Agi-ddvrj, s. v. a. 'Advrj i. q. fSovr(, vgl.
Ev-d&vr] sc. nyiy. Stw. n^iy Skr. ad Zeugen — daher:
die sehr Wollüstige.
Kann dieser Göttin-Name auch zusammenhängen
mit: n^ty was entblößen bezeichnet, und HJiy was Scham,
Blöße ist?
Diese Etymologie würde eine Stütze in der Tat-
sache finden, daß auf den Gemälden und Sculpturen,
wo Dionysos die Ariadne findend dargestellt wird, immer
die Entblößung der Ariadne stattfindet. Oder wird vielleicht
mit dem letzten Worte Ariadne, das Welcker von
äväavco mit dem Sinne: Evcdvr], die Gefällige ableitet
(CXCBd. II S. 590), zusammenhängen? Dann würde also die
Ariadne die weibliche Repräsentation des Zeugungsgliedes,
d.h. der Zeugung, und dann kann sie nur die vom allgemeinen
Zeugungsgotte abgelöste weibliche Potenz sein.
— 837 —
Und die Begattung des Dionysos und der Ariadne
wird dann wieder darstellen die Harmonie des Alls.
Als Abbildung 31 fügen wir einen androgynischen
Dionysus bei, ebenfalls ein Gipsabdruck einer Camee
in Leiden. Wenn auch auf der Ab-
bildung die androgynische Natur nicht so
deutlich ausgesprochen ist, als wünschens-
wert war, so kann man aus der Beschreibung,
welche Lippert I, 367 davon giebt, sich doch
von der Mann Weiblichkeit des Originals
überzeugen.
„ Bacchus sitzet auf einem Leoparden, der um den
Hals mit Weinreben, an denen Trauben hangen, ge-
schmückt ist. Er selbst ist mit Epheu und Trauben
gekrönet; seine Haarlocken hängen auf die Schultern,
und mit dem Becher tränket er den Leoparden und
hält in der linken den Thyrsus, welcher mit Bändern
aber ohne Epheu, nur mit dem Fichtenapfel gezieret ist.
„Dieses Werk kann man wegen der Zeichnung, der
Stellung und des schönen Fleisches, nicht genug betrachten
und bewundern. Der Reiz, den es hat, ist mehr der
Reiz einer schönen Weibsperson, als daß es einer jungen
Mannsperson gleich sehen sollte. Wie denn auch Euripides
(in Bacchis) ihn &rjXvfioQg>ov, der eine weibliche Gestalt
hat, nennet."
Ein zweites Beispiel gibt uns, die in CI zum ersten
Male veröffentlichte Abbildung, welche wir verkleinert
beifügen (Abb. 32).
Der androgynische Dionysos, denn so meinen wir
den Hermaphrodit nennen zu dürfen, da er die Symbole
des Dionysos führt, den Kantharos, und die brennende
Fackel, und der Silenos, der treue Gesell des Dionysos,
neben ihm ist, steht vor einen Altare mit Früchten, die
vor einer ithyphallischen Panherme liegen.
53*
— 838 —
Hermann (C) v. Hermaphroditos erwähnt dann noch
ein pompejanisches Gemälde — wie auch das oben gegebene
Bild — , worauf der Hermaphrodit sich stützt auf den
Nacken des Silen, neben dem ein die Doppelflöte
blasender Erot einherschreitet. Links vom Hermaphroditos
steht ein bärtiger Panisk mit gesenkter Fackel. Er blickt
zur Scham des Hermaphroditen empor und erhebt erstaunt
die Rechte. Dahinter wieder eine ßachchantin. (Heibig
Nr. 1372).
■ -\
Abb. 32.
In dem ersten oben reproducierten Bilde „ist offenbar
ein dionysisches Opfer dargestellt. Hauptfigur der darge-
stellten Scene ist Hermaphroditos. Man muß annehmen,
daß ihm das Opfer gilt, daß er also gewissermaßen identisch
mit Dionysos, dieselben Opfer wie dieser empfängt."
In der Umgebung des Dionysos kommen nächst
dem Priap, den wir schon oben kurz angeführt haben,
die Satyren, Pan, und die Nymphen.
— 839 —
Die Ersteren, deren Name nach Preller (CLIi Bd. I}
S. 600 Anm. 1) eines Stammes mit tfd&rj (männliches
Glied) additiv (Jungen) sein soll, und die Letzteren, deren
allgemeine Benennung, nach Bachmann (bei Bloch CI v.
Nymphen) zusammenhängen soll — so wie auch lat. nubere,
mit einer Wurzel, von der auch nhd. Knüpfen, Knospe
abgeleitet wird, und deren Grundbedeutung die rundliche
Erhebung, Anschwellung ist also „die Schwellende" oder
das fruchttragende Weib, — offenbar sind also die Beiden
vom allgemeinen Erzeugungsgotte, dem Androgynen, ab-
gelöste verschiedene Potenzen.
Wir bitten, hieran sich weiter unten zu erinnern,
wenn wir den Hermaphroditos im engeren Sinne behan-
deln. —
Als Abbildung 33 reproduzieren wir die tav. d'agg.
L. aus Ann. delP Inst. 1884, darstellend einen jugend-
lichen Hermaphroditen mit lachenden satyrischen Zügen, in
der Sammlung Barracco, publiziert von Robert, woraus
hervorgeht, wie der Satyr auch in späterer Zeit als Zeu-
gungsgott wieder aufgefaßt in der aprioristischen andro-
gynischen Gestalt dargestellt worden ist. Der Pan, der
alte Hirtengott (Röscher, CI v. Pan) „das Prototyp eines
arkadischen Ziegen- und Schafhirten, gewissermaßen die
Verkörperung des gesamten arkadischen Hirtenlebens."
Es ist dann auch höchst interessant, wie Röscher aus dem
Leben des Hirten alle Eigenschaften dieses Gottes erklärt.
Aber wir glauben, daß in dem Kultus ihm wahrscheinlich
am meisten geopfert worden ist als Schutzherrn der Schafe
und Ziegen, und dann in B. auf Zucht, d. h. als Erzeugungs-
gott. Hierfür spricht noch, daß die Griechen Pan
mit dem ägypt. Chem oder Min identifizierten der, nach
Drexler (CI v. Min) besonders ein Gott des Feldbaues,
der Fruchtbarkeit und der Zeugung war, und mit Mendes.
(Strabon, lib. 17, S. 1154, Mevdrjg, o rov rov Jläva Tifiwöt
— 840
xai t(ov Zwwv TQ(iyovy und Herod. 2. 46. xaXserai öh o ts
rqdyog xai 6 hav AiyvitxiGTl Mev&qg), der offenbar wie
Eduard Meyer CI v. Mendes
sagt als ein Gott der Zeugung,
der speziell den Frauen Frucht-
barkeit gewährt, aufgefaßt
worden ist.
Dem Pan waren Schild-
kröten geheiligt (CXXXV lib.
8. am Ende), und wir können
nicht glauben, allein darum,
weil er als musikalischer Gott
auf der Leier spielte, welche
Apollo aus einer Schildkröte
gebildet haben soll; ja, die
Stelle bei Pausanias wird ge-
rade das Entgegengesetzte
lehren, nämlich daß man keine
Leier verfertigen darf von
Schildkrötenpanzer; denn die
Gebirgsbewohner des Parthe-
niums, wo die zur Fertigung
von Lyren brauchbarsten
Schildkröten gefunden werden,
scheuen sich dieselben zu
fangen und gestatten dieses
auch den Fremden nicht, weil
sie dem Pan für geheiligt
gelten.*4
Die Schildkröten sind aber
auch der Aphrodite geheiligt
— daß sie dieses als Symbol
der Häuslichkeit und der Schweigsamkeit sind, wie Plu-
tarch Conjugalia praecepta S. 421 meint, wird wohl nicht
wahr sein. Dagegen wird dieses wohl die Ursache sein,
Abb. 33.
— 841 —
daß die Schildkröten den Alten, wie Aelian. I lib. XIV, c.
XIX, erzählt, für sehr wohllüstig, aber auch sehr lebens-
kräftig gelten (idem lib. IV, c. 28). So noch mehr die
Eidechse (idem lib. II, a XXIII). Diese Eigenschaften
werden auch diese Tiere zu dem Pan Geheiligten gemacht
haben.
Knight (XCIII § 51) will in den Schildkröten auch
die androgynische Idee erkennen, so auch in den Meer-
schnecken (buccinum), „deren Gehäuse oft in einem
Strahlenkranze in den Händen verschiedener Hindoo-
Idole vorkommen,, um Wasser und Feuer anzudeuten,
die Prinzipien, aus denen diese doppelte Kraft der Natur
entsprang. Die Schildkröte ist nun das Symbol dieser
Eigenschaften, obwohl sie auch etwas anderes bedeutet
haben wird, denn, wie die Schlange, ist auch sie sehr lebens-
kräftig: denn jedes Glied und jede Muskel behält seine
Beweglichkeit lang nachdem sie es vom Körper geschieden
worden ist. So wird sie die Unsterblichkeit, aber auch
das Doppelgeschlecht symbolisiert haben und wir finden
sie denn auch unter den Füßen vieler Gottheiten, wie
Apollon, Hermes, Aphrodite."
Und ferner sind als immer wiederkehrende Symbole
des Pans zu betrachten, das Pedum, der Hirtenstab, „das
Symbol des An-sich-ziehen" (Attraction) und der Syrinx,
„das Symbol der Harmonie, Mittel und Erfolg seiner Wirk-
samkeit". (Knight XCIII c. 190.)
In den Thiasos des Dionysos gehört aber auch
eine bestimmte androgynische Figur, wie diese abgebildet
ist auf Abbildung 34 — 36, resp. reproduc. aus den Einzel-
aufnahmen, und aus Annali delT Instituto 1882. Wenn
wir in Abb. 36 sehen, daß der Tänzer oder vielmehr der in
ekstatischer Bewegung fortschreitende Hermaphrodit, mit
dem Thyrsus auch einen weiblichen Haarputz hat, so
erkennen wir auf den beiden anderen Bildern deutlich die
Abb. 34.
— 843 —
Phrygische Mütze. Wie in Abb. 34 werden auch die
Hermaphroditen der beiden folgenden wohl dasselbe
Objekt in der rechten Hand halten. Wir glauben, daß
gerade dieses Bild beweist, daß dieses Objekt, wie Blanchet
Abb. 35.
will, ein Klappspiegel ist. Dasselbe Objekt kehrt wieder
in Abbildung 37, und wenn man dort noch an einen eigen-
tümlich geformten Krotal denken könnte, so beweist die
hier gegebene Abbildung, daß hiervon absolut keine Rede
— 844 —
ist, denn man wird doch annehmen müssen, daß ein in
ekstatischer Bewegung fortschreitender Dionysosfolger
seinen Krotal so halten wird, daß er damit klappern könne.
Auf diesem Bilde aber, wo die Hand sich zwischen den
beiden Teilen befindet, ist dieses absolut unmöglich.
Abb. 36.
Blanchet weist auf die analoge Stellung seiner Statuette
der Aphrodite Callipygos (XXI S. 161) (Abb. 37) hin.
Eine ähnliche Stellung wird man sich in Abb. 38
— 845 —
denken können, obwohl der rechte Arm, welcher den
Spiegel halten sollte, nicht mehr da ist. Diese Haltung
Abb. 37.
Abb. 38.
kehrt, wenn auch etwas modifiziert, in Abb. 38* u. 38**
wieder. Der Androgyne steht hier aber ruhig. Der erste
— 846
Beschreiber sah in diesem Bilde einen Kybelepriester, der
ein Cymbal in seiner Hand hält121).
Abb. 38*.
Abb. 38**.
121) CLIX, The first of the Figure, is five inches high, and in
perfect preservation, except the head. The figure is naked and de-
cidely of the hermaphrodite character. In the right hand on partly
resting on the arm, are, as I presume cymbals (by some antiquaries
a doubt has been suggested, wether the object may be not a
speculum) evidently placed in that peculiar and temporary position
to admit of the left hand being at liberty to adjust the sacred
bandage or veil, which it is to be inferred, has during the celebration
of the rites of the goddess been loosened by dancing.
— 847 —
Wie die Nymphe, der abgelöste weibliche Teil der
Natur und der Satyr, der männliche, in den Thiasos des
Dionysos gehörte, so gehört auch der Androgene, die Zu-
sammenfassung von Beiden, dahin.
Knight, der oft die — freilich erst spätere — tiefe
Bedeutung der classischen Darstellung gibt, sagt XCIV
S. 38: „ Ausser den Faunen, Satyren, und den Nymphen,
die fleischgewordenen Emanationen der aktiven und
passiven Kräfte des Schöpfers, finden wir in den classischen
Skulpturen verschiedene androgynische Figuren. Ich
glaube, daß dieselben die organisierte Materie darstellen,
Abb. 39.
in der primordialen Zeit, wo diese, losgelöst vom Chaos,
noch nicht durchdrungen war von der ätherischen Essenz
des Schöpfers. Auf einem prächtig geschnittenen Stein
[wir geben die Abbildung 39, reproduziert aus XCIV,
wenn auch das Bildchen gerade das Gegenteil von
„ Prächtig1* genannt werden muß. v. ß.], welchen
R. Wilbraham Esq. besitzt, ist solch ein Androgyne dar-
gestellt, schlafend, mit entblößtem Geschlechtsorgane [auf
der Abbildung nicht deutlich dargestellt, v. ß.], und das
Ei des Chaos liegt zerbrochen unter ihm. Auf der
— 848 —
anderen Seite steht Dionysos der Schöpfer, eine Fackel
tragend, das Emblem des ätherischen Feuers, welche er
nach dem Schlafenden hinneigt, während einer von seinen
Dienern den Befehl abzuwarten scheint, um eine Verrichtung
anzufangen, welche er, nach den äußerlichen, sehr deutlichen
Kennzeichen mit Kraft und gutem Erfolge tun wird. Der
Schöpfer stützt sich auf eiqe dieser Gestalten, die man
Silenen nennt, und welche nach ihren plumpen, schweren
Formen zu urteilen, das Symbol der rauhen und harten
Natur, aus der alles geschöpft ist, die aber aus sich selber
nichts zu erzeugen vermag, sehr richtig dargestellt ist als
Stütze des Schöpfers.
„Die Kahlköpfigkeit dieser Figur drückt den
nichts hervorbringenden Zustand der Materie aus, wenn
die erzeugenden Kräfte nicht darin sind, denn es war
die Auffassung der Alten, und ich erinnere mich, es in
Aristoteles gelesen zu haben122), daß jeder Stoß beim Coitus
eine leichte Vibration im Gehirn erweckt, welche die
Wurzel der Haare ändert, und daß also die Kahlköpfig-
keit ein Zeichen der Unfruchtbarkeit ist, entstanden
durch wiederholte Exzesse. Die Figuren des Pan wären
ungefähr denen ähnlich, die, wie ich meine, die inerte
122) Wir fanden in den Problemata Sect. IV. (IX. s. 860 Frage
19. (Wir geben die lateinische Übersetzung des Gaza).
Quicumque autem ex pilis congenitis aetate iam provecta non
crescunt, hi omnes decidunt libidinis usu immoderato. [Capillus et
eilium] eadem illa de causa deficiunt, quod partes superiores san-
guinis parum obtinentes, libido sefrigerat. Ita enim efficitur ut
locus hie alimentum concoquere non possit: cum autem pili ali-
mento xsaruerint, defluant necesse est.
Und Hippokrates, die Entstehung des Kindes, Cap. IX (Über-
setzung v. Fuchs): Diejenigen aber, welche einen kahlen Kopf
bekommen, haben zuviel Schleim; bei ihnen wird während des
Beischlafes der im Kopfe befindliche Schleim aufgerüttelt und er-
hitzt, er wendet sich gegen die Epidermis und verbrennt die Haar-
wurzeln, und die Haare fallen aus.
— 849 —
Materie darstellen, wenn nicht ihre Körper vereinigt wären
mit denen des Bocks, dem Symbole der schöpferischen
Potenz, welche die Materie befruchtet und organisiert
hat Dieselben haben oft ein Geschlechtsorgan von
enormen Dimensionen, um die Anwendung der schöpferi-
schen Kraft zum edelsten Zwecke anzudeuten: die Er-
zeugung von fühlenden und vernünftigen Wesen."
Abb. 40.
Wir finden mehrere Bilder, welche etwas ähnliches
in den verschiedensten Posen darstellen.
So Abbildung 40 reprod. nach Clarac, 610, 1550
(Florenz. Reale Gall), wo Pan sich dem Androgynen
nähert. Die Syrinx hängt am Baum, und eine Eidechse
läuft am Boden. Der Androgyne widerstrebt, aber nicht
sehr energisch.
Abb. 41.
— 851 —
In der großen Gruppe in Berlin (Abb. 41 nach einer
für uns verfertigten Photographie) ist deutlich die
gegenseitige Zunäherung ausgesprochen. Auf dem Boden
ist die Schildkröte, das Pedum und die Syrinx hängen
am Baum, worauf der Androgyne sitzt, sich stützend auf
die Linke, in der er den Cymbal hält. Auf dem Baume
hängt eine Löwenhaut. Wenn auch der Kopf des
Androgynen nicht schön ist, und selbst etwas imbeciles
zeigt , so ist doch in beiden Köpfen das wollüstige
Necken sehr ausgeprägt
Auch in Abb. 42 (S. 852) nach dem wunderschönen Stich
in CXLI, ist das Widerstreben des Androgynen gegen
das Liebherzen des Satyrs nicht sehr energisch, und das
Gesicht des Androgynen in träumerische Ferne blickend,
drückt das „sich hingeben werden1* schon aus.128)
Noch deutlicher wird dieses in den folgenden
Bildern.
Abbildung 43 (nach einem Gips-
abdruck in Leiden) gibt den phalli-
schen androgynischen Dämon mit
großer Energie den jugendlichen Satyr
zu sich auf ein Ruhebett nieder
ziehend, bedeckt mit einer Löwenhaut. Abb~43
War in den vorigen Bildern der
Pan und der Satyr die angreifende Partei, so ist es
l23) Interessant und etwas komisch ist die folgende Beschrei-
bung. Der Autor meinte, daß die jugendliche Figur eine Nymphe
sein soll, und fährt dann so fort, wir lassen den originellen Text folgen.
CXLI. La parte, onde costei dovrebbe esser donna, e rico-
perta da tale che mostra sesso diverso. Credeano gli antichi, e vi
e chi anche oggi lo creda, potere nell' umana specie trovarsi quelia
mescolanza, di sessi, che in molti bruti si osserva. Ma i piü
accorti ci avvertom, che se cio nelle donne tal volta comparisca,
mai sia veramente altro che.un allungamento di parte femminile.
Avvisano i medici, che sia cio nelle donne un argomente di natura
focosa e lasciva.
Jahrbuch V. 54
— 852
Abb. 42.
— 853 —
Abb. 44.
I %■
Abb. 45.
54*
— 854 —
liier gerade umgekehrt, der Satyr strebt energisch sich
den Umarmungen des androgynischen Dämons zu ent-
ziehen.
Abb. 46.
Wenn unsere Auffassung des Androgynen, wie wir sie
oben gegeben, richtig ist, so kann dieses nur das Werben
der harmonisch zusammengefaßten schöpferischen Potenz
— . 855 —
um die nur aktiv-wirksame Emanation des Schöpfers, den
Satyr, darstellen, um durch Vereinigung mit ihm es zur
höheren Tätigkeit zu bringen.
Abb. 47.
Es wird auch begreiflich, wie auf den Bildern (44
und 45) der Pan mit fast „panischen Schrecken* zu flüchten
sucht, als der Androgyne sich entblößt, und die schon
absolut abgetrennte, selbstbewußte Aktivität des Pan, den
— 856 —
alles umfassenden, gleichzeitig passiven und aktiven
Dämon erschaut.
Aber auch die Abbildungen 46, und 48 sind so zu
verstehen, daß der absolut harmonisch Gebildete der
rauheren aktiven Potenz widerstrebt. So finden wir in
dieser ganzen Bilderserie deutlich ausgesprochen den
wechselseitigen Kampf zwischen der harmonischen Natur
und den einseitigen abgelösten aktiven Kräften/
Auch Abb. 47 gehört hierher, aber hier wie in Abb. 41
wünscht auch der Androgyne offenbar, den Akt zu
verüben.
Abb. 48.
Die schöne androgynische Figur in Venedig (Abb.
49 a und b nach einer speziell für uns angefertigten Original-
Photographie) ist offenbar falsch aufgestellt, denn sie
wird wohl einen Teil ausgemacht haben von einem
Symplegma, vielleicht wie in Abb. 46. Eine Vergleich-
ung dieser beiden Abbildungen wird unsere Auffassung
beweisen. Die ganze Haltung der Figur ist dem Androgynen
in Abb. 46. analog. Der linke Arm geht nach unten,
der rechte Arm nach hinten abwehrend, und der Rücken
— 857 —
ist nach rechts rotiert; durch das rechte sehr stark addu-
cierte Bein werden die Genitalien nach oben gedrückt,
alles wie in Abb. 46.
Abb. 49a.
Zu dem Dionysos -Aufzug (Abb. 50) auf einem
Sarkophag (nach Zoega CXCV Bd. 2, 77) ist der Andro-
— 858 —
gyne dargestellt in einer Haltung, welche wir weiter
unten als sehr charakteristisch erkennen werden. Ein
junger Genius gießt aus einer Flasche auf den Kopf des
Abb. 49b.
sich Niederlegenden den Schlaf, wie es sehr plastisch
dargestellt ist, durch die Haltungen der nächstfolgenden
— 859 —
Figuren : niederfallend,
sich beugend, mit trau-
rigen Gebärden, weiter
nach unten aber jauch-
zend. Dann folgt der
Dionysos mit der Pal-
las. (Man sehe früher!)
Hier nimmt der
Androgyne den Platz
der Ariadne ein, also
der Ariadne, die wie
wir oben sahen, die
Göttin der Weiblich-
keit, der passiven
Fruchtbarkeit durch
die vollständige Natur
ist.
Dieselbe Bedeu-
tung hat auch wieder
Abb. 51, wie schon
Zoega selber meinte.
(Naxm CXCV Bd. II,
tav. LXXII). Oben
rechts die beiden
höheren Potenzen des
Schöpfers von einander
gelöst, Dionysos und
Ariadne von Bacchan-
ten jauchzend begrüßt.
Rechts unten aber der
Androgyne durch den
Satyr entblößt, und das
Mysterium der All-
Natur den beiden an-
deren Satyr en zeigend
HsSSMs
AP^
l J i£>*
•X
-7-
y ^ v v-tV-
860
während wieder andere Satyren mit Trompeten eine
Hymne blasen (oder den Gott herbeirufen?).
fe* ' 'a
^
v.
er
er
&
M
\ v
J* ^^
*-i
*V.
<yr.
Als letzte Abbildung in diesem Teil über Dionysos
geben wir (Abb. 52) das bekannte Relief Colonna. Wie
— 861 —
viel Male ist dieselbe schon beschrieben, und immer
wieder anders. Wir geben das Relief nach dem Stich
bei Montfaucon.
Der Androgyne stützt sich mit seinem rechten Arm
auf eine Säule, welche ein Bildchen einer weiblich be-
kleideten Figur trägt, die ein Hirschkalb und eine Ziege
trägt. Was wird diese Figur bedeuten? Gerhard LXV sah
darin die Libera, Th. Schreiber eine Mise, denn wir glauben,
daß das Relief, welches er, nach Drexler CI v. Mismos,
beschreibt, in „den Hellenistischen Reliefbildern*, wenn
nicht identisch so doch unserm Relief sehr analog sein wird.
Die Herme ist für einen bärtigen Philosophen
angesehen worden, für Pan (CXLII Toilette des Herma-
phroditen), für Dionysos (Herrmann CI v. Hermaphro-
ditos;) Montfaucon meinte in den Objekten, welche im
Hintergrund stehen, u. A. sehen zu dürfen: un bassin
rond, soutenu par des colonnes d'ordre dorique. Du
milieu du bassin s'eleve un vase £troit et long: c'est
peut-etre une fontaine." Raoul-Rochette sah in diesem
Gegenstande, ein Mausoleum, und auch in dem Anderen
„une colonne ionique, que surmonte une vase cineraire."
Wir sympathisieren sehr mit dieser letzten Auffassung,
doch die Herme werden wir eher dem Dionysos zu-
schreiben, obwohl in den Gesichtszügen etwas Panisches
nicht zu verkennen ist.
Die kleine Statue an der andern Seite wissen wir
nicht genau zu benennen, aber, ob sie Artemis, oder
Libera, oder Juno Sospita (Raoul Rochette) darstellt,
wir können jedenfalls annehmen, daß sie die abgelöste
weibliche Potenz darstellen wird, wie die Herme die
männliche Potenz.
Und so wird die tiefe Bedeutung dieses Reliefs
klar: die harmonisch-zusammengefaßte Natur ist durch
den Eros, d. h. das Streben nach Eins-werden, nach
Harmonie, aus der weiblichen und männlichen Schöpfers-
Abb. 52.
— 863 —
kraft die hoch-heilige Einheit, das Zwischenglied zwischen
den beiden äußersten Differentiationen. Der Hintergrund,
die Verehrung des Todes durch Symbole darstellend,
gibt den Contrast wieder, und dadurch bringt derselbe
die Bedeutung des Vordergrundes noch deutlicher hervor.
Dann noch als Abb. 53 (S. 864): Eine Bronze imLouvre,
welche Reinach als Hermaphrodit, Satyr und Priap
bezeichnet, daß wird also heißen: Die Allnatur sich
stützend auf den tierischen Fortpflanzungstrieb (Priap),
und den höheren Liebestrieb; denn der Satyr ist doch
hier überaus zart gebildet, und ist einem die Syrinx
spielenden Eros ähnlicher.
Die Aphrodite war auch eine androgynische Gottheit,
von der sich einerseits die weibliche Göttin, andererseits
der Aphroditos ablöste.
Das Bild der Gottheit soll einen Bart, aber weib-
lichen Körper und weibliche Kleider gezeigt, ein Scepter ge-
führt haben, und von hoher männlicher Gestalt gewesen sein ;
denn man meinte, daß dieselbe männlich und weiblich
war. Aristophanes nennt sie Aphroditos. Auch Laevinus
sagt: Anbetend die spendende Venus, die Weib und
Mann ist, so wie die spendende Leuchte der Nacht (der
Mond). Philochorus versichert, in seinem Athis, daß
dieselbe der Mond ist, und daß ihm Männer in Weiber-
kleidern, Weiber aber in Männerkleidern das Opfer bringen,
da sie sowohl männlich und weiblich aufgefaßt wird.124)
124) C. V. lib. III, c. 8. Signum etiam [Veneris] est Cypri
barbatum corpore sed veste muliebri cum sceptro et statura virili.
Et putant, eandem marem ac feminam esse. Aristophanes eam
: *A(pQoätrov appellat. Laevinus etiam sie ait: Venerem igitur al-
mum adorans. sive femina sive mas est, ito uti alma noctiluca est.
Philochorus quoque in Athide eandem affirmat esse lunam;
nam et ei sacrificium facere viros cum veste muliebri, mulieres cum
virili, quod eadem et mas existimatur et femina.
Wir meinen, daß man doch lesen muß: statura statt natura,
wie andere wollen.
Abb. 53.
— 865 —
Wie wir früher gesehen haben, kommt auf dem
Bild des androgynischen Adonis (Abb. 21) eine Figur
vor, welche mit der von Macrobius gegebenen Beschreibung
völlig übereinstimmt:
So lehrt Hermes in seinem Buche über die Welt-
schöpfung, daß die Teile der Aphrodite, welche über den
Hüften sind, männlich, die darunter aber — weiblich sind.
Darum verehrten die Pamphylier früher eine Aphrodite mit
einem Bart. Diese, sagen sie, ist aus den Geschlechts-
teilen des Kronos geboren, d. h. also aus der Ewigkeit.126)
Der Aphrodite war der sechste Tag gewidmet, da sechs
die Zahl war, welche aus der Vereinigung beider Ge-
schlechter entstanden ist, d. h. aus der Dreizahl (Tryas),
welche männlich, d. h. ungerade, und der Zweizahl
(Dyas), welche weiblich, d. h. gerade ist, denn zwei mal
drei macht sechs. So befahl auch Pythagoras, daß der
sechste Tag Aphrodite gewidmet werden soll: da diese
Zahl die erste aller Zahlen ist, welche an der ganzen
Natur der Zahlen teil hat. fJamblichus de Vita Pytha-
gorae lib. I, Cap. XXVIII, citiert in CXVI.)
Weiter unten werden, wir die mystische Auffassung
der Zahlen betrachten, um unsere Darstellung der andro-
gynischen Idee zu controlieren.
Von dieser älteren Form des Aphroditos haben wir
fast keine' Monumente mehr, nur die oben schon ge-
dachte Figur auf dem pompeianischen Gemälde und
dann die als Abb. 54 gegebene spät kaiserliche Münze
126) CIV. , IV, 9—13. "Ev&ev cEqiir\<; ev xf\ xoCfio-
rcoua xa (xsv V716Q ba<pvv aQQeva Ti\q 'AyQodfarjQ, tol de
fX€T9 avTtjV TtaQadldwviv o&ev Jld/xtpvXot, xal Tttoyoova
s%ovöav ezcfirjöav *Aq)Qo8vcif> tcotb . . Te%&rvaL 6f clvttv
ä&ovtiiv &7ZO twv xqovov fxrjdewv, Tovtecriv ano iov
alavog.
— 866 —
aus Halikarnassus, glauben wir mit Ratgeber (CLVI)
auf den Aphroditos beziehen zu müssen.
Denn Karien war doch das Land, wo nach Ovid die
Entstehung des Herrn aphroditos erfolgt war, und Ovid
wird doch wohl aus einer alten Sage geschöpft haben;
und wir glauben, wenn auch die neueren Mythologen
diese Auffassung nach dem Beispiel von Welcker (CXCI)
verwerfen, (Vergl. CI. Hermann, v. Hermaphroditos)
annehmen zu müssen, daß in Halikarnassos ein Tempel
des Aphroditos gewesen ist, und wir glauben ferner,
daß dieses Bild auf der betreffenden Münze diesen Gott
altertümlicherweise darstellt. Auf den Bäumen, welche
an beiden Seiten der bärtigen in Weiberkleider gehüllten
Abb. 54.
Figur, mit männlicher Gestalt und doch weiblichen
Brüsten stehen, sitzen zwei Vögel.
Der rechte Vogel ist deutlich anders gebildet, als
der linke, denn er hat eine Haube, auch der Hals ist
länger, und der Körper ist anders geformt: in allem
gleicht dieser Vogel dem anderen, welchen der Herma-
phrodit (Abb. 57) in seiner Hand hält, Hermann (CI
v. Hermaphroditos) sagt von diesem Vogel nur: „ einen
langgeschnabelten Vogel, dem er eine Traube vorhält,
ein Genremotiv, das mit der Natur des Hermaphroditen
nichts zu thun hat." Auf dem Clarac'schen Bildchen
aber können wir einen langen Schnabel nicht erkennen. Wir
— 867 —
glaubeu, daß dieser Vogel eine Art Haubentaube darstellen
wird, und daß auf der Münze gerade diese Haubentaube
dargestellt war, um ihn von dem anderen Vogel zu
unterscheiden: vielleicht ist dieser letztere ein Rebhuhn,
ebenfalls ein der Aphrodite heiliger Vogel. — Das
Rebhuhn aber war der Hieroglyph für mann-raännliche
Liebe, die Taube126) aber kann als weib-weibliche Liebe
betrachtet werden. Diese Hypothese würde mit der
androgynischen Mittelfigur am besten stimmen. Wir
wissen wohl, daß im Alterturae angenommen wurde,
daß, wenn etwas wichtiges bevorstand, die Priesterin
der Athene im Binnenlande oberhalb Halikarnassos einen
großen Bart bekam (Herodot (LXXX) I, 175; VIII,
104; Aristoteles, III, 7); allein wir meinen, daß doch
12«) Horapollon (LXXXYL üb. II. CXCV.)
llwg 7taideQaarlav. IIaideQa<STiav ßovkofievot cnjjUQvat,
ovo rcegdixag £<oyea(pov<siv' - exelvoi yaQ eicäv %eqevG(*)(Uv,
iavToig a7toxe%Qr\vTai.
„Wenn sie Knabenliebe schreiben wollen, zeichnen sie zwei
Rebhühner: denn wenn diese kein Weibchen haben, gebrauchen
die Männchen einander." Man sehe auch Aelianus de natura ani-
malium, lib. III, XVI, 42—50: Das Geschlecht der Rebhühner ist
aber so zügellos in seinem Triebe, daß, wenn die Weibchen sie
verlassen, um zu brüten, sie sich geflissentlich gegeneinander in
Zorn setzen und einer den andern auf das Grimmigste packt, und
der Besiegte wird wie ein Huhn getreten, und der Sieger tut dies
ohne Scheu, bis er seinerseits von einem andern besiegt wird und
in dieselbe Not gerät.
Ungefähr Dasselbe, bei Arist. Buch IX, c. 8.
Über die Taube schreibt Aristoteles, de Hist. Animalium
lib. VI. c. III.:
Auch haben sie noch das Eigentümliche, daß auch die Weib-
chen einander /besteigen, wenn kein Männchen vorhanden ist, und
wie die Männchen schnäbeln, und obschon sie einander nicht be-
fruchten, so legen sie doch mehr Eier, als wenn diese durch
Samen erzeugt worden wären; daraus entsteht aber kein Küchlein,
sondern alle solche Eier sind Windeier.
Jahrbuch V. 55
— 868 —
eher an den Aphroditos, als an die Athenische Priesterin
zu denken sein wird.
Nach Heinrich soll in Halikarnassos ein Tempel des
Hermaphroditos bestanden haben, da er aber4selber diesen
Namen ableitet von Herme des Aphroditos, so wird es
wahrscheinlicher sein, anzunehmen/daß dort ein Heiligtum
des Aphroditos war. Diese Auffassung stimmt auch mehr
mit der Stelle bei Vitruvius überein; dort heißt es: daß
auf dem höchsten rechten Bergrücken ein Tempel „Ve-
neris et Mercurii* in der Nähe der Quelle der Salmacis sich
befinde. Aus dieser letzten Erwähnung schließt Heinrich
(LXXVI,S. 11), daß ein Tempel des Hermaphroditos gemeint
ist und in der Übersetzung der griechischen Quelle, welche
Vitruv gebraucht haben soll, durch'unwissende Übersetzer
dieser Name in die zwei Teile zerlegt war. Dem Einwand
Welckers (CXCI S. 195 sqq, u. Anm.^38) stimmen wir
ganz bei, und außerdem würde es doch sehr eigentümlich
sein, daß die Götternamen in umgekehrter Ordnung auf
einander folgen.
Denn „Venus1* kann sowohl männlich als weiblich
sein ; wir glauben aber mit Heinrich, daß die Erwähnung
der Salmacis durch Vitruvj mit der Bemerkung, daß diese
Quelle verweichlicht, doch zu viel Übereinstimmungrmit
der Erzählung des Ovid hat, um nicht an Identität zu
denken. Es ist doch sehr begreiflich, daß in dem
Tempel des Hermes und der Aphrodite die Gottheit als
Zusammenfassung dieser beiden Begriffe, d. h. des ithvpha-
lischen Hermes, also des männlichen Erzeugers, und der
weiblichen Erzeugungskraft verehrt worden ist. Eine
dreifache Herme, wie Abb. 55, könnte sehr gut diese Idee
darstellen.
Clarac nennt diese Herme: Venus, Hermaphrodite
et Priape, Creuzer und Andere wollen die drei Götter der
Samothrakischen Mysterien sehen, aber nichts spricht
• gegen unsere Auffassung : der alte Hermes wurde ithy-
— 869 —
phallisch und mit Bart dargestellt, und der Hermes war
auch der Erfinder der Lyra, sodaß die Beifügung des
lyra-spielenden Gottes, den Creuzer als Apollon deutet,
doch sehr gut auf Hermes Bezug haben kann. Ursprüng-
lich war die Aphrodite immer ganz bekleidet dargestellt,
und die Hinzufügung der nackten Aphrodite in der sehr
Abb. 55.
bekannten Haltung deutet u. E. deutlich die Bedeutung
der größeren Figur an; die sehr weiblich gehaltene Bil-
dung der dritten Figur mit den männlichen Genitalien
streitet nicht mit dem Androgynismus dieser Gottheit und
auchfder beigefügte Gott, der Eros, stimmt damit überein.
55*
— 870 —
Der Eros war u. A, auch der Sohn des Hermes und
der Aphrodite, welche aus dem Meeresschaum entstanden
war. (Cicero, de nature deorum, III, C. 59 u. 60) wie
auch der Hermaphroditos selber, welcher wie Hyginus
(CXXIV) will, Atlantius genannt war.
Zu erwähnen ist noch im Zusammenhang mit dieser
Auffassung, die Etymologie, welche Nork (CXXVI v.
Salz) von Salmacis gibt:
„Salz (das), nach dem Meere cahg (sal) benannt, aus
welchem Aphrodite, die Schaumgeborene, hervorstieg, war
darum dieser Göttin — mit welcher die in den Herm-
aphroditus verliebte Quellnymphe Salmacis (Venus al-
ma mater rerum) identisch ist — geheiligt und das erste
Erfordernis bei ihren Opfern. Wie Aphrodite, ist ja auch
Salz das Erzeugnis des Meeres. . . ."
„Die [aegyptischen] Priester enthielten sich . . . des-
selben in der Reinigungszeit auch darum, weil es die
Keuschheit gefährde. (Plat. Symp. V, 10). Dadurch
wird die Bezeichnung: homines salaces (geile Menschen)
erklärt, sowie, warum Loth's Frau, welche der Tradition
zufolge Aditt (PPTiy voluptuosa) hieß, „sich umblickend
nach der Stadt der Sünder* in eine Salzsäule verwandelt
wurde/
So wird auch verständlich, wie der Sohn des Hermes
und der Aphrodite, Atlantius genannt sein kann, denn
Hermes war der Enkel des Atlas, und auch Salmacis
durch Ovid (CXXXI) Atlantiades: denn in Ovid's Zeit
wurde der Okeanos auch wohl mare Atlanticum genannt,
(man sehe Strabon CLXXIV, libr. I, p. 5) und also der
Okeanos mit Atlas identifiziert, und die aus dem Meere
geborene Aphrodite kann sehr wohl, etwas dichterisch
frei, so genannt sein.
Wir möchten Abb. 56 (nach Einzelverk. 185) als eine
Herme auffassen, welche gerade an die ithvphallische
Hermenform des alten Hermes erinnert.
Abb. 66.
— 872 —
Eine andere Herme ist die Abb. 57, welche wir oben
zum Vergleich mit dem Vogel auf der Karischen Münze
schon erwähnten. Die ganze Form ist hier mehr weiblich
gehalten und auch der Vogel weist mehr auf die Aphro-
dite hin. Zwei andere Hermen haben wir schon be-
Abb. 57.
Abb. 58.
sprochen, ul. Abb. n, welche wir in den bakchischeu Kreis
setzen zu dürfen glauben. —
Wenn diese Hermen den Aphroditos als Hermen des
Aphroditos aus späterer Zeit darstellen, so finden wir in
Abb. 58 und 59 den Aphroditos als ganzes Gottesbild vor uns.
— 873 —
Abb. 58 gibt eine Reproduktion nach Clarac 677,
1548?.. Durch die Schwäne, welche sich am Fuße dieser
Statue finden, wird dieselbe bestimmt als Aphrodite be-
zeichnet. Auch der Manual: die Brüste deckend, ist
der Aphrodite entlehnt: die Entblößung, welche der
linke vornimmt, begegnet uns z. B. auf Abb. 69.
— 874 —
Wir lassen die Beschreibung von Abbildung 59
folgen :
Eine palermitaner Figur. Es ist ein Hermaphrodit.
In der übermäßigen Schlankheit der Haltung und Ge-
wandung ist eine Verwandtschaft mit Taf. XXVIII. 3
nicht zu verkennen (eine Aphrodite).
Der Kopftypus ist edler, die Modellierung scheint
feiner. Über die Bemalung teilt Otto folgendes mit: „Die
Figur war gewiss vergoldet, denn am Gesicht, Haar und
ganzen Körper sind noch starke Überreste von rotbraun,
am Gewand dagegen ist die erste Deckfarbe weiß, doch
sehen wir auch an einzelnen Stellen rosa, die wirkliche
Farbe des Gewandes."
Selbst eine oberflächliche Betrachtung beider Bilder
wird beweisen, daß sie zu einer Gruppe von Dar-
stellungen gehören. Aus diesem Aphroditos aber hat
sich der Hermaphroditos als Gottheit an und für sich
gebildet.
Als androgynischer Dämon erscheint dieser im
bakchischen Kreise , aber auch als selbständiger Gott ist
er verehrt worden, worauf sich die bekannten Stellen
des Theophrastus m) und des Alciphron 12S) beziehen.
Wohl die schönste und erhabenste Darstellung der
androgyuischen Idee, gibt die Statue in Berlin (Abb.
am Anfang unseres Artikels nach einer Original-Photo-
127) CLXXXIV, XVI, Tteql detaidaiiioviag. Kai eiael^tov
eiato areyxxvtov tovg 'EQixcKpQodvvovg oXrjv rrjv f^iegav.
(Er selbst geht auf den Markt, um Myrten und Weihrauch
und Opferkuchon zu kaufen, und wenn er nach Hause kommt, so
bringt er den ganzen Tag damit zu, die Hermaphroditen-Bilder zu
bekränzen.)
i2s) H Hb. III, cp. XXXVII. Eiqecuoixriv i$ av9iov
nhtgaaa, rjeiv ig 'EQfxatfQodfaov, tw 'AhcoTtexrfttv raiTiqv
ava&tjoovaa.
Abb. 60.
Abb. 61.
877 —
graphie u. Abb. 60 aus Caylus (XXX V,) vergl. noch Abb. 61,
(im Einzelverkauf) und Abb. 62 (nach Clarac 666,
1546D.) Die sublime Nobilität und die erhabene gött-
liche Gestalt beweist m. E. das Furtwänglers Ansicht,
diese Berliner Statue sei eine Kopie nach dem Herma-
phroditos nobilis des Polykles, welchen Plinius erwähnt,
und zwar des altern Künstlers, die einzig richtige ist.
(LXI1. S.
582 ff.)
Abb. 62.
Der prachtvolle fast männliche Körper, d. h. die
aktive, erzeugende Kraft, nur mit eben angedeuteten weib-
lichen Brüsten, d. h. die passive, nährende Kraft, und der
wunderschöne tiefsinnige Kopf, welcher die mysterische
Bedeutung des Dämons ahnen läßt, können nur durch
einen sehr ernsten Künstler verfertigt sein, der tief in
— 878 —
die Bedeutung eingedrungen ist: Und wenn dieses auch
(m. E. wenigstens) bei den unten folgenden Bildern der
Fall sein muß, so ist die Tatsache, daß diese Statue
eher eine Kopie nach einem Erzbilde sein wird, als es
die anderen sein können, schon ausreichend, um Fürt-
wanglers Auffassung zu teilen.
Alle Autoren sehen in diesen Bildern nur Lascivität
und Raffinement eines wollüstigen Zeitalters, und wir
wollen nicht leugnen, daß sehr viele Kopien darin viel-
leicht ihre Begründung haben können, aber man darf
doch nicht vergessen, daß es in der griechischen Mytho-
logie auch eine Mythe gab, welche wir schon oben er-
wähnten, wie Zeus Same im Schlafe auf die Erde ge-
flossen und daraus Agdistis entstanden ist. Diese Mythe
ist doch keine Lascivität und ihre Bedeutung ist deut-
lich. Aus dem All-Gott Zeus, dem Schöpfer, entsteht
die Göttermutter, und aus dieser wieder die ganze Welt.
(Man sehe oben.)
Aber auch der Androgyne, der Hermaphroditos, ist
der Schöpfer, wie Dionysos es war, und Hermes als
aktive, männliche und Aphrodite als weibliche Kraft;
er aber umfaßte beide Kräfte und kann man nun nicht
eher als darin eine Lascivität zu erblicken, annehmen, daß
der Künstler, der das Original verfertigte, denn uns liegen
nur Kopien vor, diesen Akt des Zeus auf den Herma-
phroditos übertragen hat, um so eher, als Zeus doch
auch androgynisch aufgefaßt ward? Daß Kopien aus
Sinnlickkeit gemacht sein können, wollen wir selbstver-
ständlich nicht in Abrede stellen, aber wir halten unsern
Fall für analog mit dem Priapus-Bilde und anderen
ithyphallischen Bildern. Erst wurden die Bilder in
tiefer Religiosität gemacht, später vielleicht aus Obscönitüt.
Abb. 63 a und b gibt den schlafenden Hermaphroditos
aus dem Museo Nazionale in Rom.
Der ganze Körper ist gleichsam durchzuckt von der
Abb. 63 a.
Abb. 63 b.
— 880 —
höchsten körperlichen Extase. Der halb geöffnete
Mund, die aufgezogenen Nasenflügel, welche die keuchende
>
er
er
er
er
Atmung des Schlafenden meisterhaft demonstrieren, die
starke Kontraktion der musculi glutaei dextri, mit dem
kräftig gegen das Tuch, auf dem der Dämon ruht, an-
— ,881 —
gestemmten Beine, und das fast krampfartige Ergreifen
der Unterlage mit den Händen, der eingezogene Bauch
Abb. 66. Abb. 67a.
und das kräftig erigierte Membrum, geben den Augen-
blick des Orgasmus meisterhaft wieder.
— 882 - —
Ähnliche Statuen zeigen Abb. 64 (Galleria della
Villa Borghese); 65 (Museum des Louvre); 66 (Museum
Abb. 67 b.
Abb. 67 c.
von Athen). Gerade im Pariser Monument ist der
Spasmus der Glutaei sehr ausgesprochen. Nicht genug
— 883 —
kann man die Wiederhersteller dieser Bilder tadeln, die
offenbar nur obscön denken konnten, denn durch das
untergestellte neumodische Bett ist der göttliche Dämon
zu einem gynäekomastischen Jüngling in pollutione nocturna
gemacht worden.
Etwas anderes ist das Bild aus Florenz (Galleria
Uffizii). Der. Künstler hat hier den Dämon dargestellt,
nachdem der Orgasmus vorüber ist und der Schläfer sich
bald umwenden wird. Im Gesichte ist der Ausdruck
der Anstrengung verschwunden, der Spasmus der Glutaei
hat nachgelassen, das Membrum fängt wieder an schlaff
zu werden und das unterliegende Tuch, wogegen sich
das Bein in dem Orgasmus angestemmt hat, ist in
großer Unordnung niedergefallen (Abb. 674 a, b und c).
Dieser letzteren Gattung der „schlafenden Hermaphroditen-*
ist vielleicht eine triviale Bedeutung nicht abzusprechen:
das höchste körperlich-extatische Moment der All-natur
darzustellen, verrät tiefen religiösen Sinn; das Moment
der Erschlaffung zu reproduzieren aber eher eine oberfläch-
liche Auffassung jener originellen Darstellung, als gebe
sie eben nur die sexuelle Erregung wieder.
Wenn also diese beiden Gattungen yon Hermaphro-
diten-Bildern (repräsentiert durch die Abbildungen' am
Anfange unseres Artikels und Abb. 63) die Gottheit in
ihrer höchsten hehren Majestät, und in ihrer tiefen
mystischen Bedeutung, als aktive Kraft, darstellten, so
war der Androgyne als passive — nährende Kraft dar-
gestellt auf einer Statue, welche in Clarac als „Venus en
Nymphe endormie* abgebildet ist, unter. 628, No. 1425 B.
Michaelis (CXVIII, 343, Ince 25) . schreibt, daß ur-
sprünglich die Statue von drei Genien umgeben war, von
denen einer durch die Brüste des Hermaphroditos ge-
nährt wurde; da man diese Darstellung zu raffiniert-
obscön fand, wurden die Genitalien abgemeißelt und die
Genien verschwanden auch. — Wir reproduzierten diese
Jahrbuch V. 56
884 —
Abbildung nicht, da durch übel angewandte Prüderie
gerade da* ('liarfiktertatiKche verschwunden war. — Wohl
tiifit'litpti wir aber fragen, wer obsctfner war, der heidnische
K 1111*11*% der die All-natur in ihrer passiv-nährenden
Aellltenmg darstellen wollte, oder der christliche Besitzer,
der nur ne*uelle« Raffinement darin erblicken konnte?
Mdtflleh l*t, dal) Abb. 25 etwas ähnliches darzustellen
beabsichtigte, (auw der Zeichnung bei Clarac aber war
tlltw»* «loht Ml entnehmen): so finden wir eine andere
AH I torntelhuigen, welche «wischen den serenen und
\\v\\ U\Y Viele Mt drastischen Vorstellungen stehen.
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7>v ^|«JV«tuv in ttofrv ><»lh*ih^frH4^tfunp mit ften
— 885 —
Prinzips, spielend auf dem Instrumente, welches Hermes,
das Prinzip der männlichen Potenz, erfunden hat und
welche die Harmonie bedeutet, und der dritte Eros mit
Abb. 70.
dem Blatte eines Lotus, der heiligen Pflanze, dem Symbol
des Androgynismus. (Man sehe oben.)
56*
— 886 —
Abb. 71:
Ein ähnlicher Gedanke liegt m. E. in Abb. 71. Der
Dämon entblößt sich selber, indem er das Tuch mit dem
er bekleidet war, zwischen den Beinen
durchzieht und betrachtet seinen Kör-
per mit großer Andacht. Neben ihm
auf dem Boden sitzt ein in tiefes Nach-
denken versunkener Eros. Abb. 70, den
bronzenen Beschlag der Lehne einer
Kline, welche in Südrußland gefunden
ist, darstellend, worauf der Dämon
und auch ein Erot, welcher Syrinx
spielt, genau in derselben Haltung vorkommen, geben
wir als Beweis dafür, daß wahrscheinlich auch eine Statue
existiert hat, nach der sowohl die Cameen als auch diese
Lehne nachgebildet worden sind (CI, v. Hermaphroditos).
Das Motiv der Entblößung, dem wir schon oben
begegneten, also die Enthüllung der Mysterien der All-
Natur, wird am schönsten wiedergegeben durch den
Karneol des Berliner Museums, welchen wir
nach einem Schwefel- Abdruck in Leiden in
Abbildung 72 wiedergeben. Von dem als
Hintergrund hochgehaltenen Tuche hebt sich
der wunderschön gebildete Körper des ithy-
phallischen Dämon prachtvoll ab (CI, v. Herm-
aphroditos). Es wird wohl nicht nötig sein,'
wieder zu erklären, daß wir in der ithyphalli-
schen Bildung des Dämon, absolut kein „schlüpfriges
Element" erkennen können — gegenüber Hermann (CI).
„Ithyphallisch und ganz nackt ist der
Dämon dargestellt auf Abb. 73 (Lippert I,
299). Carneol. Wieder der Hermaphroditus,
sitzend und vorwärts gekehret. Da er beyde
Hände über das linke Knie, und auf die-
selben sein Haupt traurig gelegt hat, so scheint
er hier sein Schicksal zu beklagen. Es ist ein altes und
Abb. 72.
Abb. 73.1»
— 887 —
besonderes Werk, so die ersten Züge der Steinschneider-
kunst zu erkennen gibt*.
Interessant ist die Än-
derung, welche die Umgebung
des Dämon auf der Kamee
(Lippert Suppl., 182) zeigt
(Abb. 74). Zu Füßen des
liegenden Hermaphroditen
steht eine Urne, ein Symbol
des Todes; und an einem
toten Baume hängt eine Leier,
ein Attribut des Hermes und des Apollon, die beide aber
lebenerzeugende Götter sind.
Die Abbildung 75 gibt eine Reproduktion nach einem
herkulanischen Gemälde. Hier steht der androgynische
Dämon, wieder mit dem großen Tuche, das vom Kopfe
herabhängt, den wir schon so oft begegneten, in der
Linken hält er ein Blatt, das wir als Lotusblatt auffassen
zu können meinen. Dasselbe haben wir oben auf der
Kamee, in der Hand eines Eroten gefunden, und die
Symbolik wird wohl deutlich sein.
Sehr monumental gedacht ist ferner die Statue
(Abb. 76), welche Clarac als 677 No. 1548a publiziert,
Matz-Duhn aber als Appollon deutet.
In Abb. 77 (Clarac 669, 1551), finden wir wieder
das Tuch, wulstartig um den Bauch gewunden, welches
wir oben bei den Eroten fanden. Auch hierin ist das
ernsthafte der Auffassung deutlich.
In Abb. 78 und 79 (S. 890, Clarac resp. 668, 1554
und 666a, 1554c) geben noch zwei Statuen.
?"In Abb. 80 (S. 891) ist der Dämon mit einer Kette
versehen, welche wir auf Vasenbildern so oft sehen. Als
Beispiel hiervon geben wir Abb. 81 (S. 892). und zwar
nicht nur als Beispiel, sondern auch aus Pietät für Blumen-
Abb. 75.
— 889 —
bach, den großen deutschen Physiologen aus dem An-
fange des 19. Jahrhunderts (XXIII tab. II).
Etwas religiöses vermissen wir aber vollständig in
den folgenden Abbildungen.
Abb. 76.
Abb. 77.
Abb. 82 a und b sind aus Caylus reproduciert,
ebenso Abb. 83 (S. 893 — 894). — Die ersten sind interessant
durch die typische Haltung und die sehr eigentümliche
Bekleidung (XXXV, tom. 5, S. 220).
890 —
In Abb. 83 (tom. V. S. 108) glaubte Caylus eine
etruskische Arbeit sehen zu dürfen, der viel ägyptischen
Motiven Entlehntes beigefügt war. Welcker sprach diesem
Bildchen die hermaphroditische Natur ab. (CXCI S. 181);
wir können aber nicht umhin, aus der Abbildung dem
Caylus beizustimmen.
Abb. 78.
Abb. 79.
Wie tief die androgynische Idee in den Geist
der Menschen gedrungen war, beweisen die folgenden
Abbildungen.
Zunächst als Ornament in Gewerbekunstarbeiten ver-
wendet (Abb. 84, 85. S. 895, 896) finden wir in Abb. 86
ein kleines irdenes Krüglein aus dem Leidner Museum,
891
welches in Form eines sitzenden Hermaphroditen ver-
fertigt ist. Früher hat man hierin ein gebärendes Weib
gesehen! (VII.) (S. 897.)
Abb. 80.
Wenn wir nun kurz zusehen, wie es sich mit der
mystischen Bedeutung der Zahlen verhält, so finden wir
die schönste Übereinstimmung zwischen der oben ge-
gebenen Bedeutung der androgynischen Idee und der
Mystik der sogenannten androgynischen Zahlen.
Wir führen hier ohne Commentar aus der Ausein-
— 892 —
andersetzung des Meursius (CXVI unter den verschiedenen
Zahlen) die Namen der androgynischen Zahlen an.
Eins: die Mannweibliche; — Geist; Gott; Materie;
Chaos; Zusammen-mischung; Finsternis; Schatten-weit;
Gähnende Kluft; Tartaros; Styx; Schauer; die Oede;
Abb. 81.
Unterirdischer Abgrund; Lethe (Vergessenheit); die
harte Magd (d. h. Artemis oder Athene); Atlas; Achse;
Sonne; Morpho (d. h. Aphrodite); Burg des Zeus; Be-
deutung der Saamen; Apollon; Prometheus; — das
Erzeugte; das Seiende; die Ursache der Wahrheit; das
Zusammenklingen (Symphonia); das Gleiche; das
Mitten; das Maß-haltende; das Gegenwärtige; Schiff;
Wagen; Freund; Leben; Glückseligkeit; Form; Zeus;
— 893 —
Eros; Eintracht; Gottesfurcht; Freundschaft; Proteus;
Mnemosyne (Gedächtnis).
Vier: Weibgestaltet, das Männliche aber be-
sitzend. ($rjlv[ioQq)6c rs xal B7tavdQog); Herakles;
Abb. 82a.
Abb. 82b.
Erhebung; der sehr Starke; der Männliche; der Nicht-
effeminirte; Hermes; Hephaestos; Dionysos; Maiades;
— 894 —
der Segenreiche; der Kräftige; Dioskoros; Bassareus
(d. h. Dionysos); Zwei-Mütter-habend (Dionysos); das
Männliche-vor-sich-austragender; das Zur-Bakchischen-
extase-bringende ; Harmonie; Urania; Kosmos; Körper;
Gerechtigkeit.
Abb. 83,
Fünf: Androgyne; Frei- von-Z wiespalt; Aenderung;
Licht; das Aeußerste der tierischen Natur; Nemesis
(da dieselbe in guten Verhältnissen das Himmlische,
Göttliche und Körperlichein jedem Geschöpf zusammen-
fügt); Bubastis (Göttin der Fruchtbarkeit); Aphro-
dite; Cytherea, Zonaea (Epithetader Aphrodite); Mittel-
linie; Halbgott; Zwilling; feste Achse; Unsterbliche;
895
Pallas; die, welche wie das Herz in Mitten von allem steht;
die Führerin; die Gleichgewicht-habende; Nicht-mit-
einem-anderen-verbundene (d. h. in und aus sich selber
vollkommen); Orthiatis (abgeleitet vom Epitheton der
Artemis Orthia); Melpomene; Nährer; Vorsehung;
Natur; Gott; Geist; Seele der Welt; Begattung.
Abb. 84.
Sechs: der Androgyne, Mannweibliche; Form
der Form (Prototyp) ; Gelenk von allem, was die
Seele macht; Harmonie; Unverletztsein; Aphrodite;
Gespann; Heirat; Begattung; Liebesgenuß; Friede;
— 896 —
Freundschaft; Gesundheit (Hygiea); Hecate-beletis ;
(doch wohl- in Verband stehend mit, hecatebolos, ein
Epitheton der Artemis-Hecate); der Drei-wege-habende
(man denke an die dreifache Herme oben) ; der Zwei-
Abb. 85.
seitige (ober und unter der Erde lebend, man
denke an Persephone, Dionysos; Adonis u. s. w.); Per-
seia; Dreiformige; Amphitrite (die Meergöttin) ; Thalia;
Panacea.
— 897 —
Jeder, der diese Liste nachsieht und sie mit
unsren Ausführungen oben vergleicht, wird jeden Zug
Abb. 86.
der Androgyne wieder finden: 1^ der Schöpfer; 2.1 die
All-natur; 3JL das Chaos, woraus alles entstehen wird;
4_^ der Schöpfungs-akt, anthropomorphisch aufgefaßt.
— 898 —
Ja, selbst Details der monumentalen Darstellungen,
finden in dieser mystischen Nomenclatur ihre tiefe Be-
deutung. Wir wollen nur auf den finstern, fast traurigen
Gesichtsausdruck auf den Gemmen und der Berliner Statue
hinweisen, welcher den Gedanken wunderschön wiedergibt^
der in Styx, Lethe, Chaos, Tartaros etc. liegt. Und
ebenso erhellt am deutlichsten aus dieser langen Liste,
wie so absolut verschiedene Darstellungen des Herma-
phroditos aus dem Altertum zu uns gekommen sind.
Bevor wir den Gottesdienst näher betrachten, d. h.
die Ceremonien, wodurch die Menschen ihrer be-
wußten Verbindung mit der Gottheit Ausdruck verleihen,
wollen wir eine Frage untersuchen, welche noch immer
auf der Tagesordnung steht. Wie kamen die Künstler
zu Modellen für ihre Schöpfungen des Hermaphroditen?
Hermann schreibt (CI. v. Hermaphroditos Sp. 2320}:
„Die Idee des doppelgeschlechtlichen Wesens, die
durch eine einfache Zusammenstellung der charakterist-
ischen Kennzeichen beider Geschlechter an einem Indi-
viduum einen unbeholfen kindlichen Ausdruck fand,
wurde von einer fortgeschritteneren Kunstepoche mit Be-
gierde aufgenommen und weiter ausgebildet. Diese suchte
und fand ihre Aufgabe darin, aus der Idee eines doppel-
geschlechtigen Wesens heraus ein wirklich neues Gebilde
zu schaffen, das die männliche und weibliche Natur voll-
kommen in sich vereinigt und in dieser Vereinigung ein
wirklich neues ganzes und vollkommenes Geschöpf dar-
stellt, einen in sich fertigen neuen Organismus, der zwar
mit aller natürlichen Erfahrung in direktem Widerspruch
steht, aber durch die größere oder geringere Meister-
schaft des ausführenden Künstlers einen Schein von Exi-
stenzmöglichkeit erhält, ohne von einem in der Natur
vorhandenen Vorbilde abstrahiert zu sein. Denn wenn
es auch wissenschaftlich feststeht, daß Zwittergeschöpfe
in der Natur vorkommen und auch im Altertum nicht
— 899 —
unbekannt waren, so wird doch niemand im Ernst glauben,
daß ein derartiges, noch dazu selten vorkommendes ab-
normes Naturgebilde einen wirksamen Stoff für die bil-
dende Kunst geboten habe."
Es ist gerade interessant zu sehen, wie ein Begriff,
aus dem medicinisch-lateinischen Jargon entlehnt, immer
wieder im Kopfe der Menschen spukt: Hermaphroditen
nannte man doch im früheren medicinisohen Küchenlatein,
welches bei den Laien noch immer fortlebt, nur Individuen,
welche die beiden Geschlechter in sich vereinigten
und man sah als einzig bestimmendes Abzeichen die
Genitalien an.
So weit uns bekannt, gibt es keine Denkmäler
der androgynischen Idee in anthropomorphischer Dar-
stellung, welche die Genitalien der beiden Geschlechter
zeigen. So weit uns Quellen zugänglich waren, fanden
wir keine solchen Denkmäler, wohl aber eine Vereinigung der
beiden Geschlechtsteile an sich, aber nie in anthropomor-
phischer Gestalt Die vereinigte Darstellung der Ge-
schlechtsteile, der wir oft auf den altindischen Monumenten
begegnen, können aber nie Androgyne oder Hermaphroditen
genannt werden, wenn auch die Darstellung einer analogen
Idee beabsichtigt war.
Schon vor langer Zeit sind durch den Physiologen
Blumenbach ganz andere Ansichten verkündet worden, An-
sichten, welche die neuen Mythologen aber auch die neueren
Mediziner wohl einmal lesen sollten. Es ist wirklich
staunenerweckend, wie schon durch diesen Gelehrten
Auffassungen niedergeschrieben wurden, welche der neueren
Theorie über Uranier vollständig entsprechen.
In dem Vorbericht der Amalthea II, S. XVII (XXXI)
gibt Böttiger den folgenden Auszug aus einem Schreiben
des großen Physiologen.
Böttiger hatte in XXXI Bd. I S. 354 sqq. nament-
lich ganz ähnlich wie Hermann geschrieben:
Jahrbuch V. 57
— 900 —
„Aus der. Art, wie sie meine Specimina anführen,
könnte der Verdacht entstehen, als ob ich eifriger
Physiolog, der aber auch an archäologischen Studien
seine Freude hat, die wunderschönen antiquarischen
Hermaphroditen mit den unglücklichen Menschenkindern
mit den mißgestalteten Genitalien verwechselte, die man
überhaupt ganz unrichtig mit jenem Namen belegt, da
mir wenigstens bis jetzt auch nicht ein einziges unbe-
zweifeltes Beispiel der Verbindung der beiderlei Sexual-
organen in einem menschlichen Individuum bekannt
ist. Was man am häufigsten damit verwechselt, sind die
armen Hypospadiaei mit mangelhafter Harnröhre, wohin
auch das ex Voto aus Tonnleys Sammlung gehört, das
in meinem Specimen abgebildet ist,129) und davon ich
zwei lebende Erwachsene zwar mit großen wissenschaft-
lichem Interesse, aber — im Vertrauen gesagt — nicht
ohne Ekel untersucht habe, ohne freilich, wie der humane
Verfasser jenes Zusatzes die armen Creaturen gleich zur
Säckung zu verurtheilen. Uebrigens hoffe ich in meinem
Handbuche der Naturgeschichte S. 22 ff. den dreifachen
verschiedenartigen Begriff der Hermaphroditen (worunter
aber die monströsen Hypospadiaei überhaupt nicht ge-
hören) deutlich bestimmt zu haben. Von den ersten der
daselbst unterschiedenen zwitterartigen Gebilden in
129) (XXIII S. 15) Argenteum est
sigillum quod primo intuitu utriusque
Sexus genitalia invicem connata exhibere
videtur, adeoque ab ipso desideratissimo
possessore itidem pro symbolo Bacchi
biformis ut in Orphicis carmiDibus audit,
habebatur. Mihi vero nisi omnia me
fallunt, potius votivum Signum viri esse
Abb. 87. videtur, eo obscoenarum partium male
conformatarum spurco vitio laborantis quod vago quidem nee satis
definitio hypospadias nomine venit et urethrae hiatu sive sub
cole, sive ut in hoc roriore exemplo in ipso perinaeo contra naturam
fissae constat.
— 901 —
physiologischem Sinne (nicht im gemeinem Sprachgebrauche)
ist mir, wie schon gedacht, nie ein zu verläßiges Beispiel
im Menschengeschlecht je vorgekommen. Desto mehr
aber von den übrigen beiden Hauptarten, z. B. der der
zweiten Klasse von Jünglingen und Männern mit weib-
licher Brust, deren ich drei selbst gesehn. Es läßt sich
denken, wie solche Hermaphroditen zuweilen in prodigiis
und hinwiederum i n deliciis habiti seyn konnten.
Namentlich ist dieser Fall der männlichen Brust in
Aegypten nicht selten (Pr. Alpinus) und an plastischen
Kunstwerken des aegyptischen Altertums bemerkbar
(Zoega de Obelisc. p. 478), so daß auch Fea einen
Pastophoros für eine weibliche Figur ansah. Auch ließen
sich wohl Männer, die sich solcher Weiblichkeit schämten,
durch eine chirurgische Operation davon befreien (Paul.
Aegineta VI, 46). Und von dieser gefälligen Abweichung
des Bildungstriebes könnten doch wohl die alten Künstler
die veredelten Formen ihrer Hermaphroditen entlehnt
haben, wie auch Osann in Ihrer Amalthea S. 349 nicht
in Abrede zu seyn scheint. ' Was aber im angeführten
Handbuch am Schluß gesagt worden, weibliche Weichlich-
keit in der Totalform des Männlichen, dafür finden sich
Belege, so wie in der schönen Natur unter den herrlichsten
Climaten, so in der hellenischen Plastik, wie z. B. aus
anthropometischer Rücksicht im Verhältniß der Hüften
und deren Zubehör* zu den Schultern bei der grandiosen
Pallas in der Dresdener Gallerie."
Die Stelle seines Handbuchs, auf die ßlumenbach
sich oben bezieht, lassen wir hier vollständig folgen:
XXIV, IL Absch. § 10. „Durch die bestimmte
zweckmäßige Wirksamkeit des Bildungstriebes (d. h. sehe
Anm. 2 § 9. Hoffentlich ist für die mehrsten Leser
die Erinnerung überflüssig, daß das Wort Bildungstrieb
selbst, so gut wie die Benennungen aller anderen Arten
von Lebenskräften an sich weiter nichts erklärt, sondern
57*
— 902 —
bloß eine besondere . (das mechanische mit dem zweck-
mäßig modificirbaren in sich vereinende) Kraft unter-
scheidend bezeichnen soll, deren constante Wirkung aus
der Erfahrung anerkannt werden, deren Ursache aber so
gut wie die Ursache aller andern noch so allgemein
anerkannten Naturkräfte für uns hier nieden im eigent-
lichen Wortverstande qualitas occulta bleibt). — in den
bestimmten, dafür empfänglichen organisirbaren Stoffen,
wird nun die oben so bestimmte Form und der Habitus
aller einzelnen Gattungen (Species) von organisierten
Körpern erhalten; und bei denen, wo es statt findet, auch
ihre Sexual Verschiedenheit, durch welche sich nämlich
die männlichen Geschöpfe von den weiblichen in derselben
Gattung auszeichnen. —
„§ 11. Aber freilich kann der Bildungstrieb auch
eben sowohl als jede andere in ihrer Thätigkeit gestörte
oder fremdartig modificirte Lebenskraft auf mancherlei
Weise von seiner eigentlichen bestimmten Richtung ab-
weichen. So entstehen dann ( — der bloss krankhaften
nicht ins Gebiet der Naturgeschichte gehörigen Abweich-
ungen zu geschweigen — ) durch ganz gewaltsame
Störungen desselben ganz widernatürliche Formen der
organisirten Körper nähmlich die Mißgeburten.
,2) Dadurch, daß der zweifache Sexual-Charakter,
der sonst in den beiden Geschlechtern getrennt seyn
sollte, mehr oder weniger in einem und eben demselben
Individuum verbunden ist, die Zwitter.
„3) Dadurch daß zwey Geschöpfe ganz verschiedener
Gattung (zweyerlei Species) einander befruchtung, die
Bastarde.
„Endlich 4) durch den Einfluß der mancherlei
Ursachen der allmählichen Ausartung die Rassen und
Spielarten.
„§ 13 s. 19. Zwitter nennt man zwar im engern
Sinne bloß solche einzelne Individua von organisirten
— 903 —
Körpern bei welchen widernatürlicher Weise die Spuren
der zweyfachen eigentlichen Sexualorgane mehr oder
weniger verbunden sind, die sonst in den männlichen
und weiblichen Geschöpfen derselben Art getrennt seyn
sollten. Dergleichen finden sich selbst zuweilen unter
warmblütigen Thieren, zumahl unter dem Rindvieh,
Schafen und Ziegen, aber im Menschengeschlechte sind
sie noch unerwiesen.
„Nächstdem aber verdient auch derjenige Abweichung
des Bildungstriebes hier einer Erwähnung wenn andere
körperliche Funktionen oder Charaktere, die dem einen
Geschlechte eigen seyn sollten, sich bei Individuis des
andern äußern. Wenn z. B. Hirschkühe, und Reh-
Geißen Geweihe aufsetzen, oder Fasan und Pfau-Hennen
mit zunehmenden Jahren männliches Gefieder kriegen;
oder Mannspersonen oder andere männliche Säugethiere
Milch geben, u. s. w. Endlich aber zeigt sich auch
zuweilen im ganzen Verhältniß des Körperbaues einzelner
übrigens noch so regelmäßig und schön gebildeter Ge-
schöpfe des einen Geschlechts doch mehr oder weniger
vom Totalhabitus des Andern ; z. B. weiblicher Weichlich-
keit in der Totalform des Männlichen *.
Dieses wurde geschrieben in der zwölften recht-
mäßigen Ausgabe des Handbuchs, welches seiner Zeit
ins Englische, Französische, Italiänische, Holländische,
Dänische und Russische übersetzt worden ist, im Jahre 1830.
Ist es nicht unbegreiflich, daß diese Ideen in der
wissenschaftlichen Welt fast absolut vergessen zu sein
scheinen ?
Die Stelle des Specimen, welche Böttiger unbegreif-
licher Weise mißbraucht hat, verrät eine so tiefe Er-
kenntnis der Natur wie des Altertums, daß wir nicht umhin
können, dieselbe auch vollständig in der Ursprache zu
citieren XXIII S. 14—15.
— 904 —
„Aliter vero se res habet cum alius generis conunbio
a graecis antiquae artis auctoribus in Hermaphroditis
fingendis adhibito quod quidem, ut Heyni, viri sumnri
mihique coniunctissimi, verbis utor, non eo modo factum
arbitror, ut utriusque sexus genitalia efficta essent; verum
ut in signis quae adhuc extant, praestantissimae artis,
expresso corpore pueri pulcherrimo sed ad omnes puellac
veneres in pectore femoribus aliisque partibus accomodato,
ia ut summa pulchritudo pueri ad summam puellac
pulchritudinem attemperata artificis ingenio incedisse dicen-
da sit. Imo vero non ex ingenio tantum sed ad ipsam
naturae veritatem ea signa ficta esse dixerim; siquidem,
quod alias iam tetigi, ut in viraginibus barbigeris raasculus
habitus, ita in iuvenili quoque corpore sui sexus organis
genitalibus rite instructo, quoad reliqua possim perfercte
feminea mollities et muliebris conformatio ac partium
proportio locum habet. Aliis antiquae artis monumentis
quae puellares eiusmodi iuvenes exhibent qui vulgo herma-
phroditorum nomine veniunt addere liceat. Similem
in vasculo etrusco quod in propria supellectile servo
iuvenem alatum bacchicorum mysteriorum symbola prae
se ferentem et cui itidem partibus quibus mares sumue,
femineum pectus et coma iuncta sunt". (Siehe Abb. 81.)
Man nennt diesen Autor wie soviel Andere „veraltet1*.
Ach, wenn man sich nur aus Pietät wieder diesen weisen
Alten zuwenden möchte!
Es gab eine Zeit, in der man wenigstens die
Auffassung Blumenbachs in archaeologischen Kreisen teilte,
wenn auch ohne Erwähnung seines Namens. Raoul
Rochette meint (CLXII S. 140 Anm. 10.):
„Ce qui n'est pas moins certain, c'est que par une
conformation propre k la race grecque et qu'on observe
encore m£me chez les Grecs modernes, il arriva souvent
que les adolescents offrissent les formes feminines qui
contribufcrent beaucoup ä produire ces habitudes h la
— 905 —
soci&e* greoque si connues qui faisaient dire k la cour-
tisane Glycere apud Athen XIII c. 84 p. 1347. Tore
yaq xal ol naldig eltii xaXol, taov eolxatai yvvaixi
XQovov. — "
Wenn auch Rochette's Meinung nicht ganz zutrifft,
und unter den Griechen auch wohl Uranier gewesen sein
werden, die gerade weibliche Jünglinge nicht liebten, so
ist seine Auffassung, daß solche „puellares iuvenes* wohl
den Künstlern der androgynischen Bilder Modell gestanden
hatten äußerst wahrscheinlich, wenn nicht als bestimmt
sicher anzunehmen.
Wir wollen aber auch Stellen aus klassischen Autoren
beibringen, welche als Grundlage für Blumenbachs Auf-
fassung dienen können.
Diodor (XL VIII lib. IV, c. 6, 5) schreibt:
„Der Sage von Priapus ist die von Hermaphroditus
ähnlich, der, als Sohn des Hermes und der Aphrodite von
beiden Eltern zusammen seinen Namen erhalten haben soll.
Einige glauben nämlich, es sei dieses ein göttliches
Wesen, das zu gewissen Zeiten unter den Menschen er-
scheine und einen Körper habe, in dem männliche und
weibliche Elemente gemischt wären; die Schönheit und
Zartheit seines Körpers sei einem Weibe fast ähnlich,
andererseits habe er die Mannhaftigkeit und die Tatkraft
eines Mannes. Andere dagegen behaupten, solche Wesen
seien Mißbildungen der Natur, welche selten vorkommen
und immer eine gute oder schlimme Vorbedeutung
haben130)."
13°) (XLVIII). naqa7thf\(Si(ja(; de %($ ügidTto) nveg
[iv$okoyov(SL y6y6vrj(f9cu rov cEQ[ia<pQ6dtTov9 cv ej cEq[iov
xal ^(pQodtTtjg yevvtj&evTcu tvxsIv rrjs e£ afKforiqmv rcov
yovscov Gvvre&eiarjg 7ZQo<fj]yoQtag. Tovtov <T ol fiev <pao*iv
el'vat, &£bv xal xaxa xivag XQovovg <paivea&ai Ttag' dvd-Qco-
Ttoig xal yevväaüai zrv %ov acofiarog <pvaiv %%ovxa pe-
— 906 —
Wir wissen aus verschiedenen Epigrammen, daß man
im Altertum die Darstellung des Hermaphroditen so
auffaßte, wie wir sie noch in Monumenten vor uns haben.
So schreibt Martialis (CXI. Epigr. XIV, 174) für einen
marmornen Hermaphroditus :
„Masculus intravit fönte, emersit utrumque,
Pars est una patris caetera matris habet",
und Christodorus beschreibt (LH. V. 102 bis 107) ein
Bild des Dämon:
„Dort stand ein lieblicher Hermaphroditus, weder ein
ganzer Mann noch ein ganzes Weib. Gemischt war das
Bild. Leicht wird man ihn nennen, den Sohn der Cypris,
mit schönen Brüsten, und des Hermes. Er zeigte seine
schwellenden Brüste, wie ein Mädchen; allein auch die
erzeugende Form der männlichen Scham, aufweisend die
gemischten Zeichen von beider Pracht 18I).<*
Und als Beispiel eines Epigramms an „einen schönen
Jungen" gerichtet, geben wir das CVII. Ep. des Ausonius
(XIII), welches sehr viel Ähnlichkeit hat mit der oben
gegebenen Stelle in Athenaeus. „Während die Natur
zweifelte, ob sie einen Knaben oder ein Mädchen schöpfen
[uyiiivYjv e £ dvögog xal yvvcuxog* xal ttjv h&v ev7TQ£7zeiav
xal iiakaxlnvpa rot» Gcofiarog e%ew yvvavxl 7taQ£iA<pe(>f[, t%
Je aQQBVbOTtov xal dqatSTixbv e%eiv avÖQog* evioi de rd
Toiavra yivrj xalg (piaeatv a7to(paCvovTai zeqaia v7taQ%eiv,
xal yevrtJfieva anavlwg 7tQoarjfiavTixä ytvetr&ai, Ttoxk fxev
xaxtov 7Tore d'dyaSwv,
1ZI) V. 102-107.
'imaro <F € EQiiatpQoditog i7ti[qa%og oi>&' oXog avijq,
Ovöe yvvtf' iilxtIv yäg ecrjv ßQixac; r\ TayjOL xovqov
KvTtQtSog evxoXjcoto xal 'Egfidcovog evitpeig*
Matovg fxh (f(pQcy6a>VTag eäelxvvsv oid re xovqt[
2%rjtJia de näoiv e<paivs (pvroaxogov äqüevog adovg
&vvrjg dylaCrjg xexeqaafiiva arniaaa tpalvoav.
— 907 —
möchte, bist da erzeugt, o schöner Knabe, fast ein
Mädchen!« 182)
Als Modelle der Hermaphroditen wurden unzweifel-
haft diese mädchenhaften Jünglinge verwendet, die doch
die mann-weibliche Natur für die tiefdenkenden und
mystisch-erkennenden Alten am schönsten demonstrierten :
sie gaben die Harmonie der Natur wieder als lebende
Personen, sie waren die Abbilder der Gottheit.
In den Mysterien und in dem Gottesdienste, wo
immer drastisch der Inhalt der Mythen der Theologie
dargestellt wurde, sind ebenso unzweifelhaft diese Jüng-
linge aufgetreten als Symbolisierung der Gotteskraft 188).
Und wie wir oben gesehen haben, gibt, es sehr viele
Beispiele in der Geheimlehre von Verbindungen der ver-
schiedenen Emanationen der Gotteskraft, welche anthro-
promorphisch aufgefaßt — und wie könnten Menschen
in der plastischen Darstellung dieser Theorien, anders als
anthropromorphisch verfahren — nur als sexuelle Akte
dargestellt werden können. Denn in dieser körperlichen
Vereinigung, welche mit psychischer Extase verbunden
ist, wird doch am schönsten die göttliche Harmonie de-
monstriert, und wie in Knossos und Samos der Hieros-
gamos, die Hochzeit des Zeus und der Hera, wie sie nach
der Ueberlieferung einst geschehen ist, nachgebildet
wurde bei einem großen Feste zur Ehre des Zeus
(Diodor, XLVIII, b. V. c. 72), so darf man wohl be-
stimmt annehmen, daß auch die Verbindung der aktiv-
erzeugenden Kraft mit dem Androgynen durch Nach-
bildung gefeiert worden ist: so auch andere Episoden
aus den Götter-mythen , wie das sich Hingeben des
Dionysos an Prosymnos und die Verbindung der Sonne
132) In puerum formosum. CVII.
Dum dubitat natura, marem faceretne puellam
Factus es, o pulcher, paene puella, puer.
133) Vergit Lobeck, Aglaophamus S. 197, sqq.
— 908 —
mit dem Mond, und die des letzteren mit dem All.
(Siehe oben, wo wir diese Mythe besprachen.)
Bei so vielen religiösen Festen der Griechen traten
als Weiber gekleidete Jünglinge auf. Die tieferen
Mysterien werden uns selbstverständlich durch die
griechischen Schriftsteller nicht mitgeteilt, aber gerade
bei den öffentlichen Festen wurde so vieles getan, was
den Inhalt der Mysterien erraten läßt.
Wenn wir einige Feste in alphabetischer Ordnung
folgen lassen (nach CXVII.), so finden wir:
Ariadneia; dieses Fest soll durch Theseus ein-
gesetzt sein zur Ehre der Ariadne (man denke an die
oben geschilderte Bedeutung ;der Ariadne), Plutarchus
schreibt in Theseus c. 20; „Bei dem Opfer, welches am
zweiten des Monats Gorpiäus dargebracht wird, legt sich
ein Jüngling nieder und ahmt das Geschrei und die Be-
wegungen einer Frau in Kindesnöten nach."
Anthesterien, dem Dionysos gewidmet. Philo-
stratus, Leben des Apollonius v. Tyane Buch IV, c. 21.
„Als (Apollonius) aber hörte, daß [die Athener] nach der
Musik der Flöte üppige Stellungen aufrührten und neben
der Theologie und der Poesie des Orpheus, bald wie die
Hören, bald wie Nymphen, und wie Bacchanten thaten,
so setzte ihn Dies in Erstaunen.* In seiner Ansprache
sagte er weiter : „Ihr aber kleidet Euch noch weiblicher
als die Frauen des Xerxes; die Greise wie die Jünglinge
und die Epheben."
Heraklea, Plutarchus Quaest. graec. 58. Beiden
Coern beginnt der Priester des Herakles in Antimachia
das Opfer, in weiblicher Kleidung, den Kopf mit der
Mitra bedeckt.
Lydus (CIV. Buch IV, 46.) Darum kleiden sich bei
den Mysterien des Herakles die Männer in Weiber-
kleider, da der Samen-Keim nach der Rauheit und Un-
fruchtbarkeit des Winters zu erweichen anfängt.
— 909 —
Thärgelia, ein Fest der Artemis und des Apollon,
ein Reinigungs- und Sühnefest. Hierbei wurden zwei
Männer hinausgeführt, um symbolisch das Opfer der
Sühnung zu bezeichnen, der eine personifizierte die Männer,
der andere aber die Weiber (Harpocrat v. cpaQjuaxog.)
Oschophorien, dem Dionysos und der Ariadne
gewidmet. Hierbei führten zwei Jünglinge in Weiber-
Kleidern den Chorus an, mit Weinranken voll reifer
Trauben.
Hybristika, ein Fest der Aphrodite. Hierbei
waren die Weiber in männliche Gewänder g<ekleidet, die
Männer aber in Weiberkleider gehüllt, und brachten so
das Opfer.
Eusebius (LXXXIV, de laud. Const. p. 516. C.) er-
zählt uns, daß auf den Gipfel des Libanon ein Tempel
der Aphrodite war, welchen er „eine Schule für Lieder-
lichkeit" nennt, „für alle obscönen Männer, die ihren
Körper durch Zuchtlosigkeit beschmutzen, geöffnet.
Einige Effeminirte (d. h. Androgyni im Griechischen), die
eher Weiber als Männer genannt werden können, da sie
die Würde ihres Geschlechtes ablegten und litten, was
Weibern zusteht, verehrten so die Gottheit." Wir geben
die eigenen Worte des Kirchenvaters. Er konnte die
tiefe Mystik dieser Gebräuche nicht mehr begreifen, oder
wollte es nicht. Jeder, der den Alten gerecht sein will,
wird aber hierin nichts anders, als die Consequenz der
Theorie sehen, die plastische, concrete Darstellung des
Abstrakten. Aus diesen Ceremonien konnte nur folgen, daß
die Götter, in deren Tempel als Demonstration der Theo-
logie Geschlechtsakte zwischen Priestern und weiblich-
gearteten Jünglingen, oder zwischen weibmännlichen
Priestern und Männern verübt wurden, um die Ver-
bindung des Gottes mit der organisierten Materie, resp.
des männlich-erzeugenden Prinzips mit dem All-Schöpfer
zu versinnbildlichen, zu Göttern der Knabenliebe wurden.
— 910 —
So wurden Apollon, Dionysos, Pan, Aphrodite, Eros,
Zeus selbst und Gauymedes die Götter der Knabenliebe.
Wir wollen aus Welcker (CXC) verschiedene Stellen
anführen, um dieses zu beweisen.
Wir bitten aber, den subjektiven Tadel Welckers
nicht zu beachten, sondern nur den gegebenen Tatsachen
des Altertums Aufmerksamkeit zu schenken und dieselben
im Lichte der oben gegebenen Ausführungen zu be-
trachten. Wir werden in einigen Noten die nötigen Er-
klärungen beibringen.
„Endlich ist dem Apollon auch ein böses Patronat,
doch nur in einigen Sitzen asiatischer Weichlichkeit und,
so viel wir wenigstens sehen, nicht in früher Zeit, auf-
gedrungen worden. Der Didymaeus in Branchidä wird
von Konon Qifoog genannt. Dies kann Gott der Freund-
schaft heißen, wie Zeus Qifaog oder cEicuQeiog. Der milc-
sische Qifaog, <bikffiiog aber bedeutet der Gott der Küsse,
sodaß Varro's Worte: Philesii Apollinis nequitia den
rechten Aufschluß geben (bei Schol: Stat: Thebi 8. 198
cf. Mythogr. Vatic. I 81. II 85). Macrobius184),
immer nur die Sonne im Kopf, denkt an die Küsse,
womit diese im Aufgang begrüßt wurde (Sat. I 17).
Strabon aber berichtet von der Liebe des Apollon zum
Branchos, von der in Branchidä die Sage sey (14. p. 634).
Und Konon erzählt, daß Apollon, wo der Altar des
Apollon Philios stand, den schönen Branchos verliebt
küßte (egaa&eig etpiXriGev) und dadurch begeistert weis-
sagte (33). Dem liegt ein Knabenwettkampf, Philesia,
zu Grunde, die saubere Legende von dem Ursprung der
Branchiden von zwei Jünglingen, Zwillingen gleich ihren
Göttern, die mit Küssen um den Preis eines Schwans
134) wjp glauben, daß die Auffassung des Macrobius nicht so sehr
zu verwerfen ist d. h. philosophisch werden diese Geschichten und
Ceremonien sehr gut hiermit stimmen und anthropomorphisch konnte
es wieder nicht anders versinnbildlicht werden.
— 911 —
streiten, eines apollinischen Tiers, das aber hier auch auf
den schönsten weißen Körper "ÄQyvwoq anspielen möchte.
Ebenso setzte die Knabenkämpfe in Milet Leukothea
ein, die Weißgöttin, mit Bezug auf die Weißlinge, was
die Legende gleichfalls versteckt, um es erraten zu lassen.
(Conon 33). Liebhaber solcher Schönen gaben sogar dem
Agamemnon eine "Agyvvvos zu, nach welchem Aphrodite
Argynnus benannt worden sey (Athen. 13 p. 603 d. Plut.
Gryll. 7.)
„ Wettstreit im schönen Küssen war im Gebrauch auch
in Megara (Theoer. 12). Mit dem Branchus aber wur-
den dem Apollon nach Varro Tempel errichtet, Philesia
genannt, Philostratus nennt ihn und den Klaros (auch
von Theopomp erwähnt) „die Schönen des Apollon".
(Epist. 41. p. 931).
„Für die Bedeutung des Philesios ist auch wichtig, daß
unter dem in Trapezunt nach Arrians Zuschrift des Periplus
an Hadrian unter diesem Namen verehrte Gott Antinous
zu verstehen ist. (Peripl. Pont. Eux p. 2. — Gesner de
Deo bono puero Phosph. Comm. Gotting. T. 4. p. 104
äs.), ebenso, daß die Fabel des Tiresias, als der die weib-
liche Wollust kannte, in das überprächtige und über-
schwelgerische Heiligtum des Apollon Daphnäos zu An-
tiochien verbannte, wovon bei Joh. Malala eine überphilo-
sophische, gar erbauliche Deutung zu lesen ist.
(F. 2. p. 4b.)."
Dionysos haben wir oben schon genügend behandelt,
nur wollen wir aus Welcker noch folgendes citieren:
„Ich möchte vermuthen, daß auch die geflügelten an- .
drogynen Figuren der unteritalischen Vasen, welche
Miliin u. A. Genius der Mysterien zu nennen beliebt
haben, als Diener des androgynen Dionysos und des
Kinädismus zu betrachten sind. An den Festen nahm
die weibliche Kleidung, welche die männliche Jugend
— 912 —
häufig anlegte, in Festzügen wie an den Oschophorien
und, wie es scheint, auch sonst sehr häufig, die Bedeutung
an, die in dem Götterbilde, die weiblichen mit den
männlichen harmonisch und reizend verbundenen körper-
lichen Formen unter dem Schein Göttlichen Geheimnisses
in sich enthielt.
„Auch die Päderastie hat man nicht er-
mangelt, auf Pan zurückzuführen, so wie eine Reihe
liederlicher und frecher Epigrammendichter in Zeus als
Liebhaber des Ganymedes ihren Schutzpatron findet.
Eine anständige Benennung für diese war vßqig (Theogn.
39, in Argos waren die Knaben avvßqimai und rein,
Zenob 2, 3) ; und Pan heißt unter andern auch Sohn der
Hybris und des Hermes. (Schol. Lyc. 772. Schol. Eur.
Rhes, 36, Apollod. 1, 4, 1. Heyne schreibt mit Aegnis
und der Comrael. Ovfißgecog für "Yßqecog weil nach
Schol. Theoer. 1, 118 auf Syrakusisch der Flußname
Gvfxßqig dno rrjg vßQecog komme, worin nur liegen könnte,
daß in Syrakus für vßqig zweideutig auch gesagt wurde
üvfißQig, von dvw, Was der Erklärer umdreht. Auch das
Argum. Pind. E., P. 1 hat rov Jibg xai OvfxßQewg).
„Dieser Pan wird bei Theokrit angerufen (7, 103) und
in der plumpen Legende der Paträer bei Pausanias ver-
folgen die Pane in Mesatis den Dionysos (7, 18. 3) Pan
liebt den Daphnis bei Stesichoros, Theokrit, und vielen
Epigrammendichtern.
„Ein anderer Witz liegt in 'Oqüivotj als Mutter des
Pan: daß Jambe seine und der Echo185) Tochter genannt
l8ß) Hierauf bezieht sich, daß Pan der Erfinder der Selbstbefrie-
digung des Geschlechtstriebes genannt wird, obschon dieser wahr-
scheinlich nach Beobachtung der menschlichen Natur in dem Gottes-
dienste eingeführt war. Wie der Mensch, der keine Geschlechtsbe-
friedigung bekommen kann, zur Masturbation kommt, so auch die
männlich-erzeugende Kraft, den Wiederhall ihrer Äußerung liebend,
— anthropomorphisch also ihre Stimme, — da sie aber das Objekt
— 913 —
wird (Etym. M. p. 463) geht auf die Toten der JamheD,
so wie JJdveg (Hesych. näveg. robg eajtövSaxAvag acpoSqwg
tcbqI rag avvövaiag eXsyov 7tävag.) und 7tavevew von der
Begierde gebraucht wurde. Da auch Titan die gedachte
Bedeutung von Pan hat (Hesych) so ist der Sinn des Chors
indenTitanopanen, einer Komödie des Myrhillos, klar. Auch
von dieser Seite gleichen einander demnach Pan und die
ihrer Liebe nicht umfassen kann, da dasselbe unkörperlich ist, findet
sie in sich selber die Auslösung ihres Triebes.
Wir lassen die Stelle aus Dion Chrysostomos, welche hierauf
Beziehung hat, vollständig folgen. Dio Übersetzung ist von Karl
Kraut (in der Oslander Schwabschen Übersetzungs-BibliothekOrat. 6,
90. (16—21):
„Das aber, womit die Menschen am meisten Mühe und Kosten
haben, um dessen Willen viele Städte verödeten und viele Völker
elend zu Grunde gingen, verursachte ihm (dem Philosophen Diogenes)
am allerwenigsten Mühe und Aufwand; denn er brauchte zur Be-
friedigung seiner Lust nirgends hinzugehen. Scherzend sagte er,
Überall sei Aphrodite umsonst bei ihm, und die Dichter lügen ihrer
eigenen Schwäche wegen über diese Göttin, wenn sie sie die „ Gold-
geschmückteu nennen. Da aber viele dies nicht glaubten, that er es
offen und vor aller Augen und sagte, wären die Menschen wie er,
so wäre Troja nie eingenommen und Priamos, der Zeusentsproßte
König der Phrygier, nicht am Altar des Zeus geschlachtet worden.
Die Achäer aber seien so unverständig, daß sie meinen, auch die
Toten bedürfen der Weiber, und am Grabe des Achilleus die Poly-
zena schlachten. Zugleich bemerkte er, „die Fische zeigen sich
etwas klüger als die Menschen; wenn sie sich ihres Samens entle-
digen wollen, gehen sie heraus und reiben sich an etwas Rauhem.
Er wundere sich aber, daß die Menschen nicht daran denken, sich
den Fuß oder die Hand oder einen anderen Körperteil um Geld
reiben zu lassen, und daß die reichsten Leute dafür nicht eine
Drachme ausgeben, für jenes eine Glied aber oft viele Talente, ja
sogar das Leben aufs Spiel setzen. Er nannte diesen Umgang
scherzend eine Erfindung des Pans, der in die Echo verliebt, ihrer
nicht habhaft werden konnte, sondern Tag und Nacht auf den
Bergen herumirrte. Da habe Hermes, der Not seines Sohnes sich
erbarmend, es ihn gelehrt. Darauf sei er von seiner Not befreit
worden".
— 914 —
Satyrn, die von Sophocles in einem Satyrspiel als Lieb-
haber des Achilleus aufgeführt werden ".
Man erinnere sich, wie PanunddieSatyre so oft in Ver-
bindung mit dem Hermaphroditos angetroffen werden,
als die aktive Kraft.
„Die Aphrodite der Knabenliebe (sonst auch die
Sache des Pan, bei den Römern des Priapus, kommt
aber als ^Aqyvwig^ (Thril. 356, Leopard Emend. 11, 4
^Aqyvvvlg) Göttin der Weißlinge (sum candidus Pers. 4, 20
et O. Jahn. Phanokles in den Eroten bei Clemens ^Aqyvwov
vewv ^(pQoSkrjg) von Kratinos und Aristophanes an
nicht häufiger bei gewissen Dichtern vor als der änaXog
xal Xevxbg nalg. Dieselbe ist wohl auch die Venus Murcia
(Mvgxla) [Livius 1, 33. Orelli ad Arnob. 4, 16, T. 2,
p. 199 poXxog (fxvhtog wie fxoXyog und fxvXyog) eines mit
jxaXaxog u. Denkm. 3, 323.] In diese Klasse gehört auch
die JfCQaTeta in zwei karischen Inschriften (C. I. Gr.
No. 2693; Venus militaris bei Arnobius 4, 7)."
Bei dem Gottesdienst des Attis und der Großen
Mutter kleideten sich der Priester in Frauenkleider. Die
Griechen leiteten hiervon die Benennung ab: Kureten würde
Kovqcu Mädchen bezeichnen.
Firmicus (LX S. 249) schreibt über die Assyrier
daß diese die Luft unter den Namen der Juno oder
der Venus verehrten. Sie stellten sich dieses Element
mann-weiblich vor. Denn da die Luft zwischen Himmel
und Meer gelegen ist, verehren sie sie mit effeminierter
Stimme:
„Die Priesterschaft dient ihr mit verweiblichten
Gesichtern, mit glatt gemachter Haut, das männliche
Geschlecht durch weiblichen Schmuck verunzierend. Man
sieht in ihren Tempeln die fürchterlichste Unzucht in der
Öffentlichkeit: Männer litten, was nur Weiber leiden
dürfen und sie zeigten gleichsam mit stolzer Verherr-
— 915 —
lichiiDg diese Schande ihrer unreinen und schamlosen
Körper. Sie zieren ihre gut gepflegten Haare wie
Weiber, gehen in üppigen Kleidern und können mit
ihren ermüdeten Hälsen kaum ihre Köpfe emporhalten."
Wir glauben mit Creuzer (XLIV, Bd. II S. 574 ff.
und II S. 672 ff.), daß die Amazonen aufgefaßt werden
müssen, als sich männlich benehmende Mondpriesterinnen.
Er sagt z. B. S. 575 Note 2: „Die Amazone war eine
virago in einem kriegerischen Gestirndienste — so wie der
Eunuch (Gallus und dergleichen [wir glauben auch die
femininen Jünglinge v.R.]) in demselben siderischenOrgias-
mus das Weibliche im Manne darstellen sollte. Die Amazonen
waren eben martialische Hierodulen, und wenn die
Hierodulen durch Hinopferung ihrer Jugendblüthe Sonnen-
und Mondgötter als die großen Besamer der Erde ver-
herrlichen wollten, so war diese kriegerische Jungfrauen-
schaar dazu da, durch Verzicht auf die Mütterlichkeit
und durch Streitfertigkeit darzuthun, sowohl daß [die
ephesische Artemis] periodisch unfruchtbar ist, als daß
sie die finsteren Mächte der Nacht und des Winters
bekämpft*
Bei dem Dienste der Mise wurden zwischen Weibern
(ebenso auch im Dienste der Bona Dea und der Cybele)
sexuelle Akte verübt. Tümpel citiert (CI v. Mise, sp.
3024) den Vers des Kratinos: fiKrtjrai dk yvvalxsg oXCaßocai
„Die Frau fungierte mittels des oXtaßog (aus Leder
nachgebildeten männlichen Gliedern) als Mann."
(Tümpel 1. c.)
Daß aber in dem Gottesdienste des eigentlichen
Hermaphroditos, diese Sexualgebräuche sehr bestimmt
vorkamen, beweist gerade fast jede klassische Beschreib-
ung des Hermaphroditos und die Epigramme.
Wir geben hier einige Beispiele:
Jahrbuch V. 58
— 918 —
ist, und wie durch heilige Ceremonien diese Idee plastisch
dargestellt worden ist.
Wenn Blumenbach schon annahm, daß als Vorbilder
für die Hermaphroditen-Bilder die weibgestalteten oder
weibgearteten Jünglinge, als die die Androgynische Idee
am besten darstellenden anzusehen sind, so meinen
wir, noch einen Schritt weiter gehen zu können und
behaupten, daß diese Androgynen (in unserer Sprache
durch Uranier zu übersetzen) es auch gewesen sind,
welche in den Mysterien die Rolle der Androgynischen —
Idee-Personifikation erfüllt haben.
Man darf nicht vergessen, daß das Altertum
wenigstens in späteren Zeiten über die Personen, welche
wir Uranier nennen, ganz andere Anschauungen hatte,
als unser Zeitalter überhaupt.
Die Astrologen z. B. hatten über die Entstehung
von Menschen, welche Personen desselben Geschlechts
liebten, sehr bestimmte Anschauungen, welche wir wenigstens
zum Teil beifügen wollen. Cl. Ptolemaeus schreibt z. B.
(CLIII) II. Buch, Kap. 3:
„ Darum verachten die Völker dieser Länder
(Britannia, Galatia, Germania,186) Apulia, Sicilia, Tyrrenia
Celtica, Hispania) die Geschlechtsakte mit Weibern,
und streben demselben nicht nach, aber solchen mit
Männern verlangen dieselben sehr, und sie nennen diese
letzteren weder schändlich, noch unmännlich. Und man
hört nicht, daß sie etwa Schaden dadurch haben; sondern
sie bewahren ihre Seele echt männlich, und schützen
ihre Gemeinschaft, und sind treu, und sie lieben ihre
Hausgenossen, und sind sehr mildtätig." Und derselbe
Gelehrte schreibt in dem dritten Buche, Kap. XIX,
l86) Vide Sextus Empiricus, Pyrrh. hypot, üb. III S. 151, E.
[Der Geschlechtsakt zwischen Männern] (aggevo^ia) ist für die
Germanen, wie man sagt, nicht schändlich, sondern etwas sehr
gewöhnliches.
— 919 —
7tS(>l na&cov ipv%tom> sehr viel über die Entstehung von
Männern , welche Männer lieben und von Weibern,
welche Weiber lieben.
Firmicus (LVT) gibt noch mehr.
Er gibt genau an wie die Sterne stehen sollen, damit
Weiber geboren werden, welche mit männlicher Seele,
nur wünschen, so wie es Männer tun, mit Weibern zu
verkehren (nascent foeminae, quae virili animo succinctae,
in modo virorum, cum mulieribus coire desiderent. Liber
VII. Kap. VIT.) und wie die Sterne stehen müssen, damit
weibliche Männer, oder Hermaphroditen geboren werden
(biformes viri, vel hermaphroditi ex hoc genitura nascent,
(1. eod.) Ja, er geht noch weiter, und gibt den Stand
der Sterne, für die Geburt eines aktiven Homosexuellen
an. (Paedicorum natalia, lib. VII. c. 15), und diejenigen
für die Entstehung eines passiven Homosexuellen (Cinae-
dorum geniturae lib. VII c. 16).
Wir lassen dahin gestellt, welchen praktischen Wert
diese astrologische Bestimmungen haben dürften, aber es
folgt hieraus bestimmt, daß in jenem Zeitalter solche
Menschen, als schon durch ihre Geburt zu Uraniern be-
stimmt angesehen wurden.
Auch bei Paracelsus (CXXXH., libri meteororum
caput VII, S. 309 b.) meinen wir etwas ähnliches zu
finden:
„So entstehen zwei Gegensätze in einem Körper,
was nicht anders geschehen kann als unter herma-
phroditischen Sternen. Jeder Hermaphrodit ist vollkommen
und hat beide Teile. •
Offenbar nimmt er doch an, daß ein Hermaphrodit
so gedacht werden soll, daß derselbe fast unerkennbar
vermischt beide Naturen, beide Charaktere als ein ganzes
aufgefaßt, besitzt: und solche nennt er: vollkommen
(perfectus).
— 920 —
Selbst die alten Juden kannten Zwischenstufen
zwischen den Geschlechtern: das sind die Eunuchen,
welche so geboren sind, welche ja auch Jesus erwähnt, die
Saris der Talmudisten. Man sehe CLV. Bd. I : Jebamoth,
S. 94 u. 95.
Als Kennzeichen werden dort genannt:
„Er ist ein Mensch, der mit seinem zwanzigsten Jahre
noch keine zwei Haare auf seinem Körper hat, und .
bekommt er diese später, so ist er doch ein Saris. Er
hat keinen Bart, seine Haare sind fein und sanft, seine
Haut ist glatt: Sein Wasser bekommt keinen Schaum:
Er uriniert nicht mit einem andern. Sein Saamen ist
nicht gebunden, er ist klar wie Wasser, sein Wein ist
nicht sauer. Seine Stimme ist wie die einer Frau."
Und S. 96 werden die Kennzeichen einer weiblichen
Zwischenstufe (Ailonith) gegeben: Ein Weib, welches,
wenn sie zwanzig Jahre alt ist, noch nicht zwei Haare
auf ihrem Körper hat. Sie hat keine Brüste, und die
Cohabitation ist ihr widrig. Sie hat keinen weiblichen
Mons Yeneris. Sie hat eine männliche Stimme.
Dr. Joseph Bergel übersetzt diese Wörter mit Weib-
männer, und Mannweiber. (Die Medizin der Talmudisten,
Leipzig und Berlin 1885).
Wir haben angefangen, den innigen Zusammenhang
zu schildern, welcher zwischen der Religion und der
Sexualität besteht. Und wie in fast jeder Religion,
wenn auch in den neueren nur versteckt, als mystische
Auffassung der Gottheit sowohl wie der Allnatur die
höchste Harmonie des Männlichen-und-weiblichen, im
Androgynen besteht, d. h., daß also offenbar im Tiefsten
der Menschen-Seele, eine oft unbewußte, heilige Devotion
besteht für die Einheit, die Harmonie.
Das wirklich die androgynische Idee, die Voll-
Harmonie, noch immer, sei es auch größtenteils nur un-
— 921 —
bewußt, im Seelenleben des Menschen herrscht,, können
wir am deutlichsten bei den Künstlern erkennen. Es ist*
doch nur so zu erklären, daß gerade unter Künstlern
prozentualisch so viele Uranier vorkommen. Denn die
Künstler sind gerade die Menschen, welche am stärksten
von Harmonie erfüllt sind und die Harmonie wird für
Menschen, da Menschen nun einmal immer anthropomor-
phisch denken, am schönsten dargestellt durch Jünglinge.
Schöner als durch Mädchen gerade körperlich, denn der
Jüngling zeigt den zarten, fast mädchenhaften Körper,
das passive-nährende Kraft-Symbol, und die männlichen
Genitalien, das active-erzeugende Kraft-Symbol; der
Mädchenkörper ist auch zart, mädchenhaft, zeigt aber
nicht so deutlich das passiv-nährende Kraft-Symbol, denn
es fehlen die Brüste, was gerade das Knabenhafte beim
jungen Mädchen zum Ausdruck bringt, und die Genitalien,
welche mehr versteckt sind, geben auch noch kein
Symbol von etwas activ-erzeugendem.
Dieser quantitativ sehr große Unterschied bedingt,
wie wir glauben, auch die Tatsache, daß in klassischen
Religionen, so bald sich diese mehr entwickelt und ver-
tieft haben, die Darstellungon der androgynischen Idee
mit weiblich-zarten Körpern, mit mehr oder weniger aus-
gesprochenen weiblichen Brüsten und mit männlichen
Genitalien ausgestattet wurden, und nur in den altern
Formen als weiblicher Körper, mit männlichem Bart,
oder als Körper mit einer männlichen und einer weib-
lichen Brust.
Wir hoffen, daß durch diese Untersuchung wenig-
stens eine Seite des Lebens, klar beleuchtet ist> und sie
zum besseren Verständnis der Lebensmysterien etwas
beigetragen hat.
— 922 —
Anhang.
Liste der Abbildungen. l)
Abb. 1. Berliner Statue, nach Original-Photographie.
„ 2. La transverberation de Sainte Therese, in der
Kirche Saneta Maria della Vittoria in Rom. Nach
einer Beproduotion in Kevue de V Hypnotisme,
1901, No. 8.
„ 2* Darstellung der Schöpfung, nach Soldi, T. II, S. 125.
„ 3. Vishnu und Laksmi, betrachtend die Schöpfung und
Brahma aus des ersteren Nabel auf einer Lotos-
blume emporwachsend, um die Schöpfung zu voll-
enden, nach einer Reproduction, im XLII. Tay.
XXIV, No. 1.
„ 4. Qiva ardhanaridvara. Nach einer Statue im Museum
zu Leiden.
*) Unseren herzlichsten Dank sagen wir den Herren DDr. Boeser und Jesse,
den Konservatoren des Museums der Altertümer in Leiden, die mit der höchsten
Liebenswürdigkeit die verschiedenen Leidner Monumente photographieren Hessen,
und Dr. Jesse insbesonderen noch für die Mühe, welche er sich gegeben hat, um
von den Berliner und Venedischen Bilder für uns Original- Aufnahmen zu bekommen.
Dem Photographen des Leidner Museums Herrn Beitel sind wir für die wunder-
schöne Aufnahme sehr verbunden. — Dem Herrn Professor Dr. Holwerda, der seine
Bibliothek und die des Archaeologischen Instituts in Leiden, für uns offen stellte, und
Herrn Jhr. Professor Dr. Six in Amsterdam, der auch seine Bibliothek zur Verfügung
stellte, und uns sehr wichtige Anweisungen gab, dem Herrn Direktor des „Konink-
lijke Penning-Kabinet" im Haag, Dr. Dompierre de Chaufepte, der so liebens-
würdig war, die Abgüsse der jüdischen Münze für uns verfertigen zu lassen, den
Herren Direktoren der Amsterdamer und Leidner Uni versitäts- Bibliotheken, Herrn
Dr. Mr. Burger, und Herrn Dr. de Vries, die unsern oft fast zu indiskreten Bitten
Folge leisteten, und Herrn van Hillesum, Conservator der Bibliotheca Rosenthaliana
zu Amsterdam, und Herrn Dr. Mehler, Adj. Bibliothekar der Amsterdamer Univer-
sitätsbibliothek, und last not least Seiner Excellenz dem General-Direktor der
Königlichen Bibliothek zu Berlin, der Bücher, welche wir in den niederländischen
Bibliotheken nicht finden konnten, uns nach Amsterdam freundlichst überschicken
Hess, bringen wir die Aeusserung unserer höchsten Dankbarkeit. — Auch dem Herrn
Verleger 8. L. van Looy zu Amsterdam, der die Freundlichkeit gehabt hat, durch
seine Vermittelung alle Cliches in der Anstalt der Firma van Leer zu Amsterdam
anfertigen zu lassen, so wie auch dieser Firma selbst für die prachtvolle, Ausführung
der Cliches nach oft sehr schlechten photographischen Aufnahmen von uns, fühlen
wir uns verpflichtet, öffentlich zu danken. — Endlich auch Dank dem Herrn Her-
ausgeber und Verleger des Jahrbuches, die uns dieses fast vollständige Bildermaterial
beizubringen erlaubten.
— 923 —
Abb. 5. £iva ardhanaridvara, nach XLH. Tav. XXIV, No. 2.
„ 6. Yi-dam bDe-mcc'og, nach Abbildung 84 in LXXI.
4, 7. Yi-dam Hevajra, nach Abbildung 85 in LXXI.
„ 8. Phtha, nach einer Statue aus der Spätzeit im Mu-
seum zu Leiden.
„ 9. Isis, nach einer Reproduction in XLIV. Bd. n,
1. Heft. Taf. IV.
„ 10. Mut, nach der Reproduction eines Papyrus im Mu-
seum zu Leiden; Leemans.
„ 11. Mut |
„ 12. Mut > nach verschiedenen Tafeln in Lanzoni
„ 13. Mut j xcvn.
„ 14. Nilus \
„ 15. Nilus (nach Tafeln in Lanzoni XCVH.
„ 16. Nüus (
„ 17. Zwei Neil-Götter j
„ 18. Münze aus Juda-Gaza, in koninkl. Penningkabinet
im Haag, nach Gipsabgüssen.
„ 19. Reproduktion aus XX a.
„ 20. „ „ XX a.
„ 21. Androgynisoher Adonis, nach einer Reproduction
in CLXH.
„ 22. Androgynisohe Artemis, nach einem Vasengemälde
bei CLXXXV.
„ 23. \ Androgynisoher Priapus. Clarac, 670,1549.
„ 24. I Androgynisoher Priapus. . „ 670,1549a.
„ 25. | Androgynisoher Priapus. „ 670,1548.
„ 26. ) Androgynisoher Priapus. „ 668,1554a.
„ 26*. Bronze im Louvre, nach Phot. Giraudin.
„ 26**. Bronze im Louvre, nach Phot. Giraudin.
1 Androgynische Eroten im Museum zu Leiden,
i nach Original-Photog.
28. Androgynisoher Eros Bulletin de oorresp. hellen.
6. pl. 15.)
29. Androgynisoher Eros (Bull, de corr. hellen. 6. pl. 17.)
30. Dionysos-Kopf im Museum zu Leiden, (nach Orig.-
Photographie).
31. Androgynisoher Dionysos, nach einem geschnittenem
Stein (Iippert, DactyL)
32. Androgynisoher Dionysos, (Pompejanisches Gemälde,
nach Reproduction in CI. v. Hermapbroditos).
27*.
27**.
27***.
— 924 —
Abb. 33. Herme eines androgyn. Satyrs. — Samml. Barucco,
nach Robert, ann. dell. lnstit. 1884, Tay. d'gg. L.
„ 34. Bakohisoher Androgyne, nach „Einzelverkauf*.
„ 35. Bakohisoher Androgyne (nach Tay. d'agg. W.,
Ann. dell. Irstit. 1882.)
„ 36. Bakohisoher Androgyne (nach Tay. d'agg. V.,
Ann, dell. lnstit. 1882.)
„ 37. Androgynisoher Dämon mit Klappspiegel, (Blanchet
nach pl. IV, Revue archeol, III. Serie, XXVIII.)
„ 38. Androgynisoher Dämon, in Haltung der Aphrodite
Kallipygos. (im Louvre nach Phot. Giraudon).
„ 38*. Androgynisoher Dämon, mit Klappspiegel, (nach
Archaeologia, voL 28, pl. 4).
„ 39. Geschnittener Stein, nach XCIV. plate V, No. 3.
„ 40. Pan und Androgyne (Clarac. 610, 1550, Florenz
Reale Gallerie.)
„ 41. Satyr und Androgyne, Berlin, nach Original-Auf-
nahme.
„ 42; Satyr mit Androgyne, Fresco, in Pomp, nach Pitt.
d' Erc.
„ 43. Satyr und Androgyne, Glasoameo in Braunschweig,
nach Schwevel-Abdruck in Leiden.
„ 44. Panisk mit Androgyne (Pompejan.-Gemälde, nach
Famin, pl. 23.)
„ 45. Panisk mit Androgyne (Pompejan.-Gemälde, nach
Heibig, nr. 1370.)
„ 46. Symplegma eines Satyrs und der Androgyne
(Dresden, nach Becker, PI. 95.)
„ 47. Symplegma, Dresden, nach Becker, PI. 96.
„ 48. Symplegma, Clarac, 672, 1735 A. Coli. Blundell,
Ince.)
„ 49 a u. b. Fragment eines Symplegma in Venedig nach Ori-
ginal-Photographie.
„ 50. Relief eines Sarkophags, Zoega, .2 pl. 77.
„ 51. Relief einer Marmorschale. Zoega. 2 pl. 72.
„ 52. Relief Colonna, nach CXXII.
„ 53. Androgyne, Satyr und Priapus, Bronze in Louvre
(Phot Giraudon).
„ 54. Münze von Halicarnassus, nach Head. LXXIV.
„ 55. Dreifache Herme, Rom. Mus. Vatic, nach Clarac
613, 1367.
— 925 —
Abb. 56. Herme des Aphroditos (spät. Auff.) nach Einzel-
verk. No. 18ö. — Kunsth. Korn.)
57. Hermaphroditisohe Herme, Clarao 666,1545b.
58. Aphroditos, (spät. Auff.) Clarac, 677, 1548 B.
Coli. Pamphili).
59. Aphroditos, [spät. Auff.) CLXII, S. 20, tig. 13.
60. Der Berliner Hermaphroditos von hinten, nach
Caylus t. HI, pl. 29.
61. Torso eines Hermaphroditos nach Einzelverk.
Kunstakademie München.
62. Hermaphroditos, Florenz, nach Clarao 666,
1546 D.
63a u. b. Träumender Hermaphroditos, Museo nation. Rom.
(Phot. Anderson).
64. Träumender Hermaphroditos, Gallerie della Villa
Borghese. (Phot.)
65. Träumender Hermaphro ditos (Louvre, Phot.Girandon).
66. Träumender Hermaphroditos, (Athene, Phot.)
67 a, b, c. Schlafender Hermaphroditos, (Florenz , Galleria
Uffizii, Phot. Alinari und Borgi).
68. Ruhender Hermaphroditos (Lippert, I, 296).
69. Ruhender Hermaphroditos (Lippert I, 401).
70. Ruhender Hermaphroditos, Compte rendu 1880,
Taf. 4, No. 10.
71. Sich betrachtender Hermaphroditos, nach Schwefel-
abdruck in Leiden.
72. Karneol des Berliner Museums, nach Schwefel-
abdruck in Leiden.
73. Hermaphroditos, (Lippert 1, 299).
74. Ruhender Hermaphroditos (Lippert, Supplem. 182).
75. Stehender Hermaphroditos (Hercul. Gemälde, nach
CXLl).
76. Hermaphroditos, (Clarac. 677, 1548 A, Rom. Coli.
Pamphili).
77. Hermaphroditos (Clarac. 669, 1551, Cavaceppi).
*78. Hermaphroditos (Clarac. 668, 1554, London, Coli.
Hope.)
79. Hermaphroditos (Clarac, 666 A, 1554 C, Rom. Villa
Albani).
80. Hermaphroditos (Clarao, 666 F., 1554D. London,
Coli. Northampton).
81. Hermaphroditos, als Vasenbild nach XX1H, pl. H.
— 926 —
Abb, 82. Hermaphroditische Figur nach Caylus, t. V.pl.LXXX,
1 u. 2.
„ 83. Hermaphroditische Figur nach Caylus, t. V. pL XL,
2 u. 3.
„ 84. Hermaphroditischer Genius als Verzierung. CXXVIH,
F. VIH.
„ 85. Item.
86. Irdenes Krüglein im Leidener Museum nach
Origin.-Photogr.
87. Hypospadie nach XXIII. pl. I. No. 3.
n
B.
Liste der zu Rate gezogenen Arbeiten. *)
I. Aeliani de Natura Animalium etc. rec. Rud. Hercher
Parisiis 1858.
Ia. AotaApostolorum apocrypha ed. C. Tisohendorf.
Lipsiae 1851.
IL Aloiphronis Rhet. epistolae, graeoe et latine ed.
Bergleri, Projecti ad Rhenum 1791.
III. Prosperi, Alpini, marostic. philosophi et medioi
in Gymnasio Patavino medicamentorum simplicium
Professoris ordinarii Medioina Aegyptorum.
Lugd. Batay., editio nova. apud G. Polvliet 1745.
IVa. St. Ambrosii mediolanensis Episoopi Opera ex
editione Romana Parisiis 1603.
V. Amelung. W. DelTarte Alessandria a proposito di
due teste renvenuto in Roma.
Bulletino della commissione archael. comm. di Roma.
1897.
VI. Anthologlagraeca siv e poetarum graecorum lusus.
Ind. et Comment. adiecit Tr. Jacobs Lipsiae 1794,
VH. Archaeologischer Anzeiger No. 8, 9 1849,
pag. 85.
VIII. A. Aristidis Adrianensis opera omnia. Gr. et latine
in duo voL distrib. c. Not et emend. Gul. Canteri etc.
Oxonü 1722.
1) Wir bitten zu entschuldigen, dass einige Nummern ausgefallen sind. Die-
selben betreffen einen Unterabschnitt unserer Arbeit, der ausgefallen ist, da wir
hoffen, denselben als selbständige Arbeit im folgenden Jahre zu bringen.
— 927 —
IX. Aristotelis, (Opera) stagiritae philosophorum
ommiun longe prinoipis etc. Genevae 1597.
X. Amobius Afer. Adversus Gentes libri VII, edit
Novissima. Lugd. Bat. 1651.
XI. Athenäen», Deipnosophistae. ex reeensione Din-
dorfio Iipsiae 1827.
Athenee Banqnet des Savans traduit, etc. par M.
Lefebure de Villebrune
Paris 1789.
XII. S. Aureli August in i de Genesi ad litteram libri
duodecim reo. Jos. Zycha (oorp. Script. Eccl. latin.
Vol. XXVIH. sect. III. p. II.) Pragae — Vindobonae
— Iipsiae 1894.
XIII. Ausone, traduction par E. F. Corpet.
Colleetion des auteurs latins, avec la traduction
en franc.ais publice sous la direction de M. Nisard.
Paris Firmin-Didot 1887.
XIV. Babelon. Catalogue des Camees antiques et moder-
nes 1897.
XV. Bahr. (K. Ch. W. F.) Symbolik des Mosaischen Cultus.
Heidelberg 1837.
XVI. Bayle (Pierre) Diotionaire historique et oritique
Ed. IV.
Amsterdam. Leide 1730.
XVII. Bhagavadgitä, translated by Käshinäth Trimbak
Telang, M. A.
(The Saored Books of the East edited by Max
Müller).
Oxford 1882.
XVIII. Becker, Augusteum.
XIX. B er gel (Dr. J.) Die Medizin der Talmudisten, nebst
einem Anhange: die Anthropologie der alten Hebräer.
Leipzig, Berlin, 1885.
XX. Berosi Babylonii Antiquitatum (Mythogr. Latini.)
XXa. Biblia Pauperum, nach dem Original in der
Lyceumsbibliothek zu Konstanz herausgegeben und
mit einer Einleitung begleitet von Pfarrer Laib und
Deoan Dr. Schwarz, 2. Auflage.
Wtirzburg 1892.
XXI. Blauchet (J. A.) Statuette d'Hermaphrodite (Revue
archeol. IIIc. Serie T. XXVIII).
928 —
XXII. Blavatsky (H. P.) The sekret dootrine HL Edition
London, New- York, Madras, 1893.
XXIII. Jo. Frid. Blnmenbachii Speoimen historiae natu-
ralis antiquae artis operibus illustratae eaqne vicissim
illustrantis.
Goettingae 1808.
XXIV. Joh. Fried. Blumenbach, Handbuch der Natur-
geschichte 12. Ausgabe.
Göttingen 1830.
XXV. Jo. Frid. Blumenbachii de anomalis et vitiosis
quibusdam nisus formativi aberrationibus oommentatio.
Goettingae 1813.
XXVI. Böhme, Jacob. Apologia betreffend die Voll-
kommenheit des Menschen, das ist eine mündliche
Antwort auff Esaiae Stiefels etc.
Amsterdam 1682.
XXVII. Böhme, Jakob. Von der Gnaden-Wahl oder dem
Willen Gottes über die Menschen etc.
Amsterdam 1682.
XXVm. Böhme, Jakob. Von der Menschwerdung Jesu
Christi, wie das Ewige Wort sey Mensch worden,
und von Maria der Jungfrawen, etc.
Amsterdam 1682.
XXIX. Böhme, Jakob. Mysterium Magnum oder Erklärung
über das Erste Buch Mosis, etc.
Amsterdam 1682.
XXX. Böhme, Jacob. Beschreibung der drey Principien
Göttliches Wesens, etc.
Amsterdam 1682.
XXXa. Böhme, Jacob. Der Weg zu Christo verfasset in
neun Büchlein.
Amsterdam 1682.
XXXI. Böttiger, Amalthea oder Museum der Kunstmytho-
logie und bildlichen Altertumskunde. —
Leipzig 1822.
XXXII. Böttiger. Über die Hermaphroditen — Fabel und
Bildung (Böttiger's Amalthea Bd. I).
XXXIIa. Bottbachius (R. P. F. Paulus) Conciones sacrae
ex vetustioribus orthodoxis approbatisque authoribus
in Dominicas totius anni.
Coloniae Agrippinae 1634.
— 929 —
XXXIH. Bourignon, La vie de Demli Antoinette . . . ,
ecrite partie par elle-meme, partie par une personne
de sa oonnoissance, etc.
Amsterdam 1683.
XXXIV. Bulletin de oorrespondance hellenique. t. VI, et VII.
XXXV. Caylus (C*| de) Recueil d'antiquit6s egyptiennes,
etrusqnes, greoques, romaines et gauloises.
Paris 1759.
XXXVI. Des Herrn Grafen Caylus Sammlung von Aegyptischen,
Hetrurischen, Griechischen und Römischen Alter-
thümern, aus dem Französischen übersetzt. Heraus-
gegeben von Adam W. Wintersohmidt.
Nürnberg 1766.
XXXXVÜI. Clarac (CJ« F. de). Musöe de sculpture antique et
moderne.
Paris 1836—1837.
XXXIX. Clementis Alexandrini Opera quae extant, ed.
Potterus. Oxonii 1715.
XL. Colebrooke (H. T). On the Veda's, or sacred
Writings of the Hindus (Asiatic Researches Vol.
VHI). London 1808.
XLI. Compte-rendu de la commission imperiale arche-
ologique pour 1' Armee 1880.
St. Petersburg.
XLII. Creuzer (Fr). Abbildungen zur Symbolik und
Mythologie.
Leipzig-Dannstadt 1819.
XLIII. Creuzer (Frid). Dionysus sive Comment. academ.
de rerum Baochicarum orphicarumque originibus
et oausis.
Heidelbergae 1809.
XLIV. Creuzer Friedr. Symbolik und Mythologie der
alten Völker besonders der Griechen.
(Deutsche Schriften, neue und verbesserte, I Abteilung.
4 Bände) IH. Ausgabe.
Leipzig undDarmstadt. Carl. Wüh. Leske. 1836—1842.
XL VI. Davenport, John. Curiositates eroticae physio-
logiae, or tabooed subjects freely treated.
London, privateiy printed, 1875.
XL VII. Denkmäler des klassischen Altertums zur Er-
läuterung des Lebens der Griechen und Römer.
Herausgegeb. v. Baumeister, München-Leipzig 1889.
— 930 —
XL VIII. Diodori Siculi, Bibliotheoae historioae quae super-
sunt ex nova recensione L-Dindorfü. Parisiis. Finnin
Didot 1843.
XLIX. J. J. I. Dö Hing er, Heidenthum und Jndenthnm.
Regensburg 1857.
L. Duval (Jocy). Traite des Hermap hrodits.
Paris (Liseux) 1880.
LI. Encyolopedia (The Jewish). Isid. Singer Ph. d.
Projeotor and managing Editor.
New- York and London 1901 — ete.
LH. Epigrammatum Anthologia palatina cum
Pianudeis et appendice nova epigraminatum veterum
ex libris et marmoribns ductorum.
Parisiis Amb : Firmin Didot 1872. —
LUI. D. Epiphanii episeopi constantiäe Cypri, contra
octogintae haereses Opus interprete Jan-Cornario.
Basileäe 1578.
LTV. Etymologicon Magnum, rec. et notis varior. in-
truxit Thomas Gaisford.
Oxonii 1840.
LV. C. Farn in Peintures, bronzes et statues erotiques,
formant la collection dn cabinet secret du musee
Royal de Naples.
Paris, chez Abel Ledoux 1832.
LVI. Firmici Materni (Junii) iunioris Siculi v. c. ad
mavortium Lollianum. Astronomicon libri VIII per
Nicol. Prucknerum Astrologum imper. ad innumeris
mendis vindicati. His acceserunt:
LVII. Cl. Ptolomaei Phel. Alex Quadripartitum.
LVIU. Hermetis. Vetus-imi astrol. centum aphoris. etc. etc.
LVIX. Omar de nativitatibus lib. III.
Baseleae 1551.
LX. Julii Firmici Materni v. c. de Errore Profanarum
religionum ad Constantium et Constantem Augustos
über.
(Mythogr. Latini).
LXI. Carl Friedrichs-Paul Wolters, Die Gipsabgüsse
antiker Bildwerke zu Berlin 1885.
LXII. Furtwängler, Ad. üeber Statuen Kopieen im
Altertum.
München 1896.
— 931 —
LXIV.
LXV.
LXVJ.
LXVIL
LXVIII.
LXIX.
LXX.
LXII1. Galleria (Keale) di Firenze illustrata. Ser. IV.
Vol. n.
Firenze 1819.
Genesis, tibersetzt and erklärt v. Hermann Gunkel
2. verb. Auflage. Handkommentar zum Alten Testa-
ment, herausgegeben von D. W. Nowack.
Göttingen 1902.
Gerhard. Antike Bildwerke.
Ed. Gerhard. Etrusk. Spiegel.
Berlin 1S43.
Hyperboreisch-römisohe Studien für Archäologie, her-
ausgegeben von Ed. Gerhard I. T.
Berlin 1833. —
W. Gesenius. Hebräischer und Chaldäisches Hand-
wörterbuch über das Alte Testament.
Leipzig 1823.
Divi Gregorii,Theologi Episcopi Nazi azeni Opera.
Basileae 1550.
Grünwedel (Alb.) Mythologie des Buddhismus in
Tibet und der Mongolei.
Leipzig 1900.
LXXI. He ad (B. V.) Historia Nummorum graeca.
LXXV. H e i d e g g e r i ( J. H.) de Historia sacra patriarcharum.
Amstelodami 1667.
LXXVJ. Caroli Frid. Heinrichii Com inen tatio academica
qua Hermaphroditorum artis antiquae operibus illu-
strium origines et causae explicantur.
Hamburgi, in libraria Perthes 1805. —
LXXVH. Heibig, W. Wandgemälde der vom Vesuv ver-
schütteten Städte Campaniens.
Leipzig 1868.
LXXVUI. Hermes Trismegisti Über de potestate et sapientia
Dei, cui titulus Pim ander, Marsilio Ficino Florentino
interprete.
Lugduni 1549.
LXX1X. Hermes Trismegistus, sesthien boecken van den
voortreffelyken Philosooph, etc.
Amsterdam 1652.
LXXX. Herodotus. Historiarum libri IX ed. Dietsch (ed II)
Lipsiae 1889.
LXXXI. Hesiodi Theogonia rec. Orellio.
Turici 1836.
Jahrbuch V. 59
— 932 —
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lippi Juntae, Anno domini MDXX quinto idusAugusti
Leone X Pont. Max.
LXXXUL Hirne rii Sophistae Eclogae. ed. 6. Wernsdorfius.
Gottingae 1790.
LXXXIY. Historiae eoolesiastioae soriptores Graeci
Eusebius Pamphilus, Socrates Scholastious, etc.
graeoe et latine ex interpretatione Henrici Valesii
Amstelodami Apud Henricum Wetstenium. COIO
o. XCV, (t. I & III).
LXXXV. Hitzig, Dr. Ferd. Die zwölt kleinen Propheten
4. Aufl. von Dr. H. Steiner (Kurzgefaßtes exeg. Hand-
buch z. Altem Test.) Leipzig 1881.
LXXXVI. Horapollinis, Niloi Hieroglyphica edidit Conradus
Leemans Amstelodami 1835.
LXXXVH. Hyginis, Poeticon Astronomieon ed Lugd. 1741.
LXXXVIU. St. Irenaei Episoopi Lugdunensis, quae supersunt
Omnia ed. A. Stieren, Lipsiae 1858.
LXXXIX. Jablonski, P. E. Pantheon Aegyptiorum, Franoo-
furti ad Viadrum 1750.
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riis über, ed. Thomas Gale Oxonii 1678.
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Eugene Talbot. Paris 1863.
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XCW. R. PayneKnight, an inquiry into the symbolical
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XCIV. R. Payne Knigt, Le culte de Priape et ses rap-
ports.avec ia th^ologie mystique des anciens, suivi
d'un essai sur le oulte des pouvoirs g^nörateurs,
durant le moyen age, traduits de l'anglais par E.
W. Luxembourg, Imprimerie particuliere 1866.
XCV. Kabbalistische-biblisehe Occident (der)
XCVI. L. Coeli Firmiani Lactanti, Opera Omnia. —
Pars I. Divinae institutiones reoensunt Samuel
Brandt. Pragae, Vindobonae lipsiae (corpus Script
eccles: latinorum Vol. XIX. 1890.
XCVII. L anz on e, Dizionario di Mitologia egizia. Torino 1882.
XCVIII. R. P. Cornelio Cornelii ä Lapide, Cominentaria
in Pentateuchum Mosis auctore
Antverpiae 1681.
— 933 —
XG1X. Lenormant, Collier ötrusque — Hermaphrodite de
Bernay. (Annali dell1 lnstituto 1834).
C. Lerne sie (Dr. Henry) La transverbenttion de Sainte
Therese d'Avila (Revue de rhypnotisme sept. 1901.
p. 78—87).
CL Lexikon (Ausführliches) der griechischen und römi-
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Leipzig 1884—1902.
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Olli. Lycophronis Challidensis Alexandra sive Cassandra
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CIV. Joannes L y d us , ex recognitione Imm Bekkeri. —
Bonnae 1837. (Corpus scriptorum historiae byzantinae.)
CV. Macrobe, Oeuvres completes avec la traduetion en
fran^aise. (Colleetion des auteurs latins avec la tra-
duetion en fran^ais publice sous la direction de M.
Nisard. Paris, Firmin Didot, 1875).
CVII. MaYmonide (MoYse ben Maimoun). Le Guide
des EgarSs traite de Theologie et de Philosophie
publik p. 1. premiere fois dans 1' original arabe et
aecompagne" d'une traduetion francaise par S. Munk.
Paris, 1861.
CV1II. Joh. Malalae: Chronographia ex reoens. Dindorfii
Bonnae 1831.
C1X. Mallet. D. Le eulte de Neit ä Saft.
(Ecole du Louvre. These.)
Paris 1888.
CX. Manasseh ben Israel, (Rabbi). The Bible
oonciliator, a reconcilement of the apparent oontra-
dictions in Holy Scripture. by E. H. Liado.
Glasgow 1902.
CXI. Martiale (Staoe etc.). Oeuvres completes (Collect,
des auteur latins publ. s. la direction de M. Nisard).
Paris 1878.
CX1L Matter (Dr. J.). Kritische Geschichte des Gnosticismus
etc., tibersetzt von Ch. H. Dörner.
Heilbronn 1833.
CXIII. Maury (Alfr.). Etudes sur les documents mytho-
logiques contenues dans les philosophumena d'Origene
publies p. M. Miller.
Revue archeol. 1851.
59*
— 934 —
CXIV. Mead (G. K. 8.). Fragments of a faith forgotten,
some short sketohes among tbe gnostics etc.
London-Benares 1900.
CXVI. Meursi (Joannis). Denarius pythagoricus.
Lugd. Batav. 1631.
CXVII. Meursi, (Joannis) Graecia feriata, sive de Festis
Graecorum, libri VI.
Lugd. Bat. 1619.
CXVIII. Michaelis. Ancient marbles in Great-Britain.
Cambridge 1882.
CXX. Midrasch BereschitRabbadasistdieHaggadische
Auslegung der Genesis, zum ersten Male ins Deutsche
übertragen von Lic. Dr. Aug. Wünsche.
Leipzig 1881.
CXXI. Mone [Dr. Fr. J.]. Geschichte des Heidentums im
nördlichen Europa.
Leipzig-Darmstadt 1823.
CXX1I. Montfaucon (Bern. de). Supplement au livre de
l'Antiquite expliqnee et representee en figures Tome J.
Paris 1724.
CXXIII. Museo Borbonico T. VIII.
CXXIV. Mythologici latini (e.a.Hyginus, Fulgentius etc.)
Bibliopol. Commeliniano 1599.
CXX VI. Nork F. Etymologisch symbolisch-mythologisches
Real- Wörterbuch zum Handgebrauch für Bibelforscher,
Archaeoiogen, und bildende Künstler.
Stuttgart 1843.
CXX VII. Origenes Phüosophumena sive omnium haeresium
refutatio e codice parisino nunc primum edidit
Emm-Miller.
Oxonii 1851.
CXXVI1I. Origenes, Opera Omnia, quae Graece vel latine tan-
tum exstant et eius nomine circumferuntur Parisiis
1740.
CXXIX. Orphica, recensuit Eugenius Abel accedunt Prodi
hymni, hymni magici, hymnus in Isim aliaque eius
modi carmina. Lipsiae sumptus fecit G. Frey tag,
Pragae sumptus fecit F. Tempsky. MDCCCLXXXV.
CXXX. Osann, F., Über eine vor kurzem in Pompei aus-
gegrabene Hermaphroditenstatue (Böttigers Amalthea
Band I.)
935 —
CXXXI. Ovi de. Oeuvres completes avee la traduction en fran-
cais. (Colleetion des auteurs latins publ. s. la direc-
tion de Nisard) Paris 1876.
CXXXII. Paracelsus (Aur. Philip Theoph. Bombast ab
Hohenheiin), Opera Omnia. Genevae 1658.
CXXX1II. Paterson J. D., Of the Origin of the ffindu religion.
(Asiat, research. Vol. VIII.)
CXXXI V. Pauly, Real-Eneyclopädie der klassischen Altertums-
wissenschaft, Stuttgart 1848 etc.
CXXXV. Pausaniae, Graeciae descriptio accurata tc c.
Latina ßom. Amasali interpretatione ed Sylpurgius &
Vuchnilis, Lipsiae 1696.
CXXXVI. Pell etan et Maury, R^ligions de l'Inde. (Histoire
universelle des Keligions. Paris 1845.
CXXXVII. Nederlandsche vertaling van den Pentateuch be-
nevens eene nederlandsche verklärende vertaling
van ßashie's Pentateuch Commentaar door A. S.
Onderwyzer 1895.
CXXXV11I. Philonis ludaei, Opera Omnia Ed. stereot.
Lipsiae 1851—1880.
CXXXIX. Philostratorum quae supersunt omnia ed. G.Olearius..
Lipsiae 1709.
CXLa. Photii, Bibliotheca ex recensione Imm. Bekkeri.
Berolini 1824.
CXLb. Photii, Bibliotheca e Graeco Latin e reddita Scho-
liisqne illustrata, opera Andr. Schotti antverpiani.
Angustae Vindelicorum 1606.
CXLI. Pitture (le) Antiche d' Ercolano e contorni in-
cise con qualche spiegazione, Napoli 1757.
CXLII. Piatonis (Divini) Opera Omnia quae exstant.
Marsilio Ficino interprete. Francofurti 1602.
CXLIII. Pleyte, Chapitres supplementairs au Li vre des
Morts 164—174. Leide 1881.
CXLIV. Histoire naturelle de Pline avec la traduction en
francais par M. E. Littre. Paris Firmin Didot. 1860.
CXLV. Plutarchus, de Iside et Oseride, (PL Chaer quae
supers. omnia ed. Jo. G. Hütten, Tubingae. 1797. T. XI).
CXLVI. Plutarchus, de Mulierum virtutibus, (Plut-Chaer.
quae supers. omnia, opera J. G. Hütten. Tubingae 1796.
CXLVII. Plutarchus, Quaestiones graecae (Plutarchi Chaer
quae supers. omnia ed J. G. Hütten, T. VIH.)
Tubingae 1796.
— 936 —
CXLVIII.
CXLIX.
CL.
CLL
CLIII.
CLII.
CLIV.
CLV.
CLVL
CLVIL
CLVIU.
CLIX.
CLX.
CLXL
CLXU.
Plutarchus, Theseua (PL Chaer quae supers. om-
nia ed. Jo. G. Hütten, Tubingae 1791. T. I.)
Polyaeni Strategematum libri octo Lugd. Batav.
1691.
Porphyr ii de Abstinentia. rec. Rud. Herchei.
Parisiis 1868.
Prateolum Marcossium (Gabr.) de vitis, sectia, et
dogmatibus omnium haereticorum, etc elenchus alpha-
be ticus ete. per . . .
Coloniae 1569.
Preller, (L.) Griechische Mythologie, III. Aufl.
Berlin 1872-1875.
Prodi Diadochi Paraphrasis in Ptolemaei Libros
IV, de siderum effectionibus a Leone Allatio e Graeco
in Latinum conversa. Lugd. Bat. 1654.
Prodi Lycii, Carminum graecorum reliquae rec.
Arth. Lud wich Lipsiae 1897.
Rabbinowicz (Dr. Isr.-M.) Legislation civile du
Thalmud. Tome I. Paris 1880.
Ratgeber. Supra alcune moneti di Alicarnasso.
(BuUettino 1839).
R. Reinach Repertoire de la Statuaire grecque et
romaine.
Paris 1897—1893.
Reinach (S.) Repertoire des vases peints grecs et
romains.
Paris 1899—1900.
Roach Smith (Ch.) On some roman bronzes dis-
covered in the bed of the Thames.
(Archaeologia or miscall. traots relating to antiquity
Vol. 28.
Robert C. Der Bildhauer Polykles und seine Sippe.
Hermes Zeitschrift für classische Philologie 19. Band.
Robert C. Ermaphrodito, collezione del barone
Giovanni Baracco. —
(Annali dell' Instituto 1884.)
Raoul Rochette. Choix de peintures de Pompöi, la
plupart de sujet historique et publikes avec Texplication
archeologique de chaque peinture et une introduction
par. . . .
Paris 1846. — Livr: 3.
- 937 —
CLXHI. Roh den (Herrn, von). Die Terracotten von Pompeji
Stuttgart 1880.
CLXIV. Roug6 (Emm. de) Memoire sur la Statuette Naophore
du Musäe Gregorien au Vatican. (Revue archeologique
1861).
CLXV. de Sainte-Croix Recherches historiques et critiques
sur les mysteres du paganisme. Seconde Edition
revue et oorrigäe par M. le baron Silvestre de Sacy.
Paris 1817.
CLXVI. Sanatsugätiya translated by Käshinäth Trimbak
Telang M. A.
(The sacred Books of the East, edited by Max
Müller)
Oxford 1882.
CLXVII. Sanohoniathonis Berytii Fragmenta de cosmogonia
et Theologia Phoenicum ed. J. C. Orellius.
Lipsiae 1826.
CLXVIII. Schorn, D. üeber die Pallas-Statuen im Dresdener
Antikenmuseum. (Amalthea II. S. 206).
CLXIX. F. Sixtus Senensis, ordinis Praedioatorum, Biblio-
theca sancta.
Venetiis 1566.
CLXX. Sexti Empirie i. Opera quae exstant graece nunc
primum edit interpr. H. Stephanus et Gent.
Hervetus Aurelius.
Colon-Allogrog. 1621.
CLXXII. Soldi (Emile). La langue Sacr6e
I le Mystere de la Ovation
II le Temple et la Fleur.
CLXXTTI. Joan Stobaei. Eclogarum libri duo interpr. G.
Cantero Antverpiae 1575.
CLXXIV. Strabonis Geographia c. notes Casauboni et al.
Amstelodaroi 1707.
CLXXV. Suidae Lexieon ex recognitione Immanuelis Bek-
keri Berolini typis et impensis Georgii Reimeri.
A. 1854.
CLXXVII. Synesii Episoopi Cyrenes Opera, quae extant omnia
graeee ae latine nunc primum coniunetim edita inter-
prete Dionysio Petavio, aurelianensi societatis Jesu
Presb.
Lutetiae 1612.
— 938 —
CLXXVIII. Taruffi (Prof. Cesare) Hermaphrodismus und Zeu-
gungsunfahigkeit.
Berlin 1903.
CLXXIX. Justini Philosophi et Martyris Opera, item etc.
etc. Tatiani Assyrii etc.
Parisiis 1636.
CLXXX. Testamentum Novum, Graece ed. Tittmannus.
Lipsiae 1828.
CLXXXI. Testamentum (Novum) extra canonem recep-
tum ed. A. Hilgenfeld. ed. altera.
Lipsiae 1884.
CLXXXII. Testament (Het oude) Opnieuw uit den grondtekst
overgezet etc. door Dr. A. Kuenen, Dr. J. Hooykaas,
Dr. W. H. Kostera, en Dr. H. Oort.
Leiden 1899-1901.
CLXXXIIL Testamentum Vetus graece, iuxta LXX interpre-
tes ed. de Tischendorf. 6a. Ed.
Lipsiae 1880.
CLXXXIV. Theophrasti Characteres ad optimorum librorum lidem
recensuit, etc. D. Fridericus Astius Saxo-Gothanus
Lipsiae in libr. Weidmannia 1816.
CLXXXIVa. Tiele (C. P.) Geschiedenis van den Godsdienst in de
Oudheid tot op Alexander den Groote.
Amsterdam 1893—1902.
CLXXX V. T i s c h b e i n , W. Collection of engravings from ancient
vases of Greek workmanship etc. now in the posses-
sion of Sir. W. Hamilton.
Napleo 1795.
CLXXXVI. Vitruve (Celse etc.) Oeuvres completes (Collect, des
auteurs latins, publ. s. la direction de Nisard.)
Paris 1877.
CXXX VII. Vollmer. Vollständiges Wörterbuch der Mythologie
aller Völker. IL Auflage.
Stuttgart 1859..
CXXXVIII. Voss. (Joh. Heinr.) Antisymbolik.
Stuttgart 1826.
CXXXIX. Ward. (William). A view of the history, literature
aud mythology of the Hindoos including a minute
description of their manners and customs and trans-
lation from their principal works.
London 1820.
— 939 —
CXC. Welcker (F. G.). Griechische Götterlehre.
Göttingen 1857—1862.
CXCI. Studien, herausgegeben von Carl Daub und Friedrich
Creuzer. Jahrgang 1808 Bd. IV. Welcker, über die
Hermaphroditen der alten Kunst.
CXCII. Hodder M. Westropp and C. Staniland Wake
Ancient .symbol worship. Influence of the phallic
idea in theReligions ofantiquity, with an introduction
additional notes, and an appendix, by Alexander
Wilder M. D. Second edition.
New-York. J. W. Bonton 1875.
CXCHI. Winckelmann(s) (Joh.) Werke.
Stuttgart 1847.
CXCIV. Worm (Olao) Danicorum Monumentorum libri sex.
Hafniae 1643.
CXCV. Worm (Olao)Fasti Danici libris tribus exhibentes.
Hafniae 1643. —
CXCV. Li Bassirilievi antichi di Roma incisi da Tommaso
Piroli colle illustrazione di Giorgio Zoega.
Roma 1808.
CXC VI. Zoega (Georgius)Danus, de Origine et usu obelis-
corum ad Pium sextum, pont. maxim.
Romae 1797.
"1
o
5*
3
CA
"1
CT
— 941 —
Der Bart der Ainofrauen.
Mitteilung von Wilhelm Cohn-Antenorid.
Der Schnurrbart der Frauen aus dem Stamme der Ureinwohner
Japans ist antätowiert und zwar fast immer in blauer Farbe. Aus-
nahmsweise geht die Tätowierung auch um den ganzen Mund
herum. Der Missionar Bachelor, ein hervorragender Kenner der
Ainosprache, kann den Ursprung dieser Sitte überhaupt nicht er-
klären. Die Ainos selbst weisen nur auf das hohe Alter derselben
hin, wie denn auch schon Hinweise darauf in altchinesischen Be-
richten vorkommen. Dieser Brauch bilde einen Teil der Religion
und ohne Befolgung desselben kann kein Mädchen heiraten. Daher
sträuben sich die Ainos trotz ihrer sonstigen durch Alkoholismus
herbeigeführten Apathie gegen die dagegen gerichteten neuerlichen
Verbote der japanischen Regierung. Wenn man eine Hypothese
über den Grund dieser lediglich bei Frauen vorgenommenen Mou-
stache-Tätowierung, die Vries schon im Jahre 1643 mit eigenen
Augen sah, aufstellen darf, so könnte dieselbe entweder vielleicht
auf eins jener nur zeitweise den Männern zugänglichen Mannweiber
zurückzuführen sein, die auf der sagenhaften Weiberinsel hausen.
Die Nachahmung von deren göttlich verehrten Königin hätte dann
die heutigen recht scheuen Ainoweiber zu feminae barbatae gemacht.
Oder aber es hat vielleicht ein urnisch veranlagter Fürst diese Bart-
tracht vorgeschrieben, um beim Verkehr mit seinem Weibe im
Interesse der Fortpflanzung leichter die Vorstellung hervorrufen zu
können, es handele sich um einen Mann.
Literatur: Macritchie, The Ainos au Supplem.
du tome IV des Arch. Internat. d'Ethnogr.
pl. III No. 2; p. 13, 15, 21 et 23
Basil Hall Chamberlain, Aino
Folk-tales p. VIII, 3, 5 sq. 9 and 38 sq.
[priv. print. 1888].
Anmerkung: Dr. v. Römer meint, daß möglicherweise die eigen-
artige Sitte mit der androgynischen Gottheitsidee
der Ainos zusammenhängt.
Bibliographie
der Homosexualität.
Von
Dr. jur. Numa Praetorius.
Inhaltsangabe.
Kapitel I.
Homosexuelle Schriften aus dem Jahre 1902
mit Ausnahme der Belletristik,
Anonym: Eine praktische Enquete über die Häuf ig-
keit der Homosexualität in der Zeitschrift „Früh-
rot44 (1901) *) No. 8—13.
Bloch: Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia
sexualis, I. Teil (Dresden 1902), II. Teil (Dresden
1903).
Braunschweig: DasdritteGeschlecht. Beiträge zum
homosexuellen Problem (Halle).
Chouven: Ueber sexuelle Perversionenim Orient,
(nach einem Bericht von K^raval in den „Archives
de Neurologie" März-Nummer).
Couvöe en Wertheim Satomonson: Eengeval van
Homosex ualiteit Psychi. en Netlrol Bladen 1901/02
(nach Näcke: Die Hauptergebnisse der kriminal-
anthroprologischen Forschung im Jahre 1901 im
Archiv für Kriminalanthroprologie und Kriminal-
statistik Bd. 9 Heft 2 u. 3.)
Dubois-Desaulle: Les Infames: Pr&tres et Moines non
conformistes en amour.
*) Diesen Aufsatz aus dem Jahre 1901 habe ich voriges Jahr
nicht gebracht, weil ich eine Fortsetzung erwartete, die jedoch nicht
erschienen ist.
— 946 —
DuboiS-Desaulle : Les Mignons du Marquis deLiem-
brune in dem „Mercure de France" Mai-Nummer.
Fleischmann: a) Die Bevorzugten des Liebes-
glückes, b) Der Freund ling oder die neuesten
Enthüllungen über das dritte Geschlecht.
c) Der § 175 und die männliche Prostitution
in München und Berlin, d) Seelenzwitter oder
zwei Seelen in einem Körper, e) Die Über-
völkerungsfrage und das dritte Geschlecht.
f) Das Opfer: Ein Freundlingsdrama in
einem Akt.
Fuchs, Hanns: Die Homosexualität im Drama der
Gegenwart und der Zukunft in der „Kritik1*,
Nummer vom 1. August.
Gerling: Im Ringe der Venus (Oranienburg, Orania-
Verlag).
Groß: Besprechung von Blochs „Beiträge zur
Ätiologie der Psychopathia sexualis" im
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminal-
statistik. Bd. 10, Heft 1 u. 2.
Hirschfeld, Magnus: Sappho und Sokrates: Wie
erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu
Personen des eigenen Geschlechts? 2. Auflage.
(Leipzig, Spohr).
La Cara; Un ermaphrodita psicosessuale in der
Bivista di psichiatria forense No. 9.
Lombroso: Die Ursachen und Bekämpfung des
Verbrechens (Deutsch von Kurella und Jentsch
Berlin).
Moll: Sexuelle Zwischenstufen in der „Zukunft*1,
Nummer vom 13. September.
Moll: Wann dürfen Homosexuelle heiraten? in
der Deutschen Medizinischen Presse, Nummer vom
21. März.
— 947 —
Moll: Wie erkennen und verständigen sich die
Homosexuellen untereinander? in dem Archiv
für Kriminalanthropologie und Krimiualstatistik 9 Bd.
2. und 3. Heft
Müller, Joseph: Das sexuelle Leben der alten
Kulturvölker (Leipzig).
Näcke: 1) Angebot und Nachfrage von Homosexu-
ellen in Zeitungen.
Näcke; 2). Homosexuelle Annoncen.
Näcke: 3) Zeitungsannoncen von weiblichen Ho-
mosexuellen.
Näcke: 4) a. Besprechung von N arkissos' Erzählung:
Der neue Werther, b.Zur homosexuellen Lyrik.
In dem Archiv für Kriminalanthropologie und
Kriminalstatistik, 1) Bd. 8 Heft 3 u. 4; 2) Bd. 9 Heft
2 u. 3; 3) Bd. 10 Heft 3; 4) Bd. 10 Heft 3).
Näcke: Probleme auf dem Gebiet der Homo-
sexualität in der Allgemeinen Zeitschrift für
Psychiatrie und psychisch - gerichtliche Medizin,
59 Bd. 6 Heft.
C. Bernaldo de Quiros y. J. M'Glanas Aquilaniedo:
La mala vida en Madrid (Madrid 1901).
Reiffegg: Die Bedeutung der Jünglingsliebe für
unsere Zeit (Leipzig, Spohr).
Schrickert: Zur Anthropologie der gleich-
geschlechtlichen Liebe in der „Politisch- Anthro-
pologischen Revue" No. 5 August-Nummer.
Wachenfeld: Zur Frage der Strafwürdigkeit des
homosexuellen Verkehrsim Archivfür Straf-
recht 49 Jahrg. 1 u. 2 Heft.
Jahrbuch V. 60
— «948 —
Kapitel IL
Belletristik der Jahre 1901 und 1902.
I. Männliche Homosexualität.
Anonym: Der Abfall vom Weib (Dresden und Leipzig:
Piersons Verlag 1901).
Bob: Die Gesohlechter der Menschen (Leipzig,
Lotus- Verlag 1901).
Delacour: Le pape rouge (Paris, Verlag Soci£t£ du
Mercure de France 1901).
Essebac: D<*d<* (Paris Ambert 1901).
Essebac: Luc (Paris: Ambert 1902).
Essebac: L'Elu (Paris Ambert 1902).
GeiSSler: Ganymedes (Leipzig, Spohr 1902).
Gide: L'Immoraliste (Paris, Soci&6 du Mercure de
France 1902).
Gossez: Six attitudes d'adolescent (Le Beffroi
Hille 1902).
Hamecher: Zwischen den Geschlechtern (Zürich,
Cäsar Schmidt 1901).
Kupffer: Auferstehung (2. Auflage bei Spohr in Leipzig).
Kupffer: Sein Räthsel der Liebe in der Sammlung
Doppelliebe (Zürich, Cäsar Schmidt 1901).
Lecomte: Les cartons verts (Paris, Charpentier 1901).
LyS: La Vierge de Sedon (Paris, Offenbach 1901).
Martino und Abdel Khalek Bey Saroit: Anthologie
de Pamour arabe (Paris, Soci£t£ du Mercure
de France 1902).
Merejkowsky: Le Roman de Leonard de Vinci (ins
französische tibersetzt von Sorrfeze) (Paris, Calman-
Levy 1901).
Narkissos: Der neue Werther (Leipzig, Spohr 1902).
Pugnator: Triumph der Liebe (Leipzig, Spohr 1902).
Walloth: Ein Sonderling (Leipzig, Lotus Verlag 1901).
— 949 —
Heienreis: Übersetzung von Eekhoud's Escal-
Vigor (Leipzig, Spohr 1902).
Taflhade: Übersetzung von Petronisis Satyricon
(Paris, Charpentier 1902).
Hoffmann V: Das vierte Geschlecht (Barmen, Wie-
mann 1902).
IL Weibliche Homosexualität.
Due: Sind es Frauen? (Berlin, Ecksteins Nachf.)
Faure: La dernifere journ^e de Sappho (Paris,
Soci£t6 de Mercure de France 1901).
Janitschek: Neue Erziehung und alte Moral aus
der Novellensammlung: Die neue Eva (Leipzig,
Hermann Seemann Nachf. 1902).
Keben: Unmögliche Liebe aus der Novellensammlung:
Unter Frauen (Jenas, Verlag Herrn. Costenoble 1901).
Marie Madeleine: Sappho und Crucifixa, Gedichte
aus der Sammlung: Auf Kypros (Berlin, Vita).
Montfort: Le Journal d'une Saphiste (Paris, Offenstadt
1902).
Möller, O H: Wer kann dafür? (aus dem Dänischen
übersetzt von Meienreis, Leipzig, Max Spohr).
Pougy: (Liane de) Idylle Saphique (Paris, librairie de
la Plume 1901).
Rögnier: L'Amour et le plaisir, Novelle (in dem
Mercure de France December-Nummet 1901).
Rigal: Sur le mode sapphique (FEffort).
Willy: Claudine ä l^cole (Paris, Ollendorf).
Willy: Claudine ä Paris (Paris, Ollendorf).
Willy: Claudine en manage (Paris, Ollendorf 1901).
Kapitel III.
Besprechungen des Jahrbuchs aus dem Jahre 1902.
60*
Kapitel I.
Homosexuelle Schriften aus dem Jahre 1902
mit Ausnahme der Belletristik.
Anonym: (Dr. B.): Eine praktische Enquete über
die Häufigkeit der Homosexualität in
Früh rot, freiradikale Zeitschrift, herausgegeben
von Robert Heymann, No. 8, 9, 10, 11, 12 und 13.
. (1901).
Verfasser habe zur Frage der Häufigkeit der Homosexuali-
tät, eines der bisher unerforschesten Punkte, einen Beitrag liefern
wollen und zwar aus der Praxis heraus.
Er habe folgendes Inserat einer Anzahl von Berliner Zei-
tungen aufgegeben: „17— 21 jährigen .Freund sucht 25 jähriger
Doktor. „Zu Morgenpost, Schiffbauerdamm 2.u
Von 36 Zeitungen hätten nur 1 1 angenommen. Auf das Inserat
hätten insgesamt 1 40 Personen reagiert, darunter 111, bei denen
ein Zweifel nicht bestehe, daß sie von Homosexuellen herrührten.
Die Mehrzahl der Letzteren halte sich äußert vorsichtig in ihrem
Schreiben; 65 hätte doch schließlich der Mut gefehlt, ihre
Adresse anzugeben. Das angegebene Alter differiere zwischen
16l/2 und 30 Jahren, vereinzelt finde sich auch ein Herr von
35, 39, 40, 46, ja in noch höherem Alter.
Lese man die Briefe, so verstehe man sehr wohl, wie der
Uranier in der ihn umgebenden, für sein seelisches Empfinden
verständnislosen Außenwelt leide.
Im allgemeinen fehle der höhere Stand, soweit er das
Alter der Studenten überschritten habe, ebenso die Kadetten und
Offiziere, was sich bei der großen Vorsicht dieser Gesellschafts-
schichten gegenüber dem bestehenden Gesetze und der öffent-
lichen Meinung erkläre.
Verfasser meint dann: die Zahl von 111 Eingänge auf 13
Zeitungen Berlins . erscheine zwar gering, dabei sei aber zu be-
— 951 —
rücksichtigen, daß ein nur ein einziges Mal gebrachtes Inserat
von sehr wenigen Lesern gelesen werde, sowie daß die wenigsten
Homosexuellen es wagten, auf Inserate hin zu reagieren.
Verfasser teilt dann 33 der Briefe wörtlich mit. Die
meisten Briefschreiber bieten sich zu inniger Freundschaft an.
Viele haben sich schon lange nach einem intimen Freund gesehnt.
Ein großer Teil giebt ganz offen das homosexuelle Gefühl, das
nach Erwiderung verlangt, kund.
Das vom Verfasser gewählte Mittel, um nähere An-
haltspunkte über die Häufigkeit der Homosexualität zu
gewinnen, ist eigenartig, zu einer irgendwie bestimmteren
Feststellung der Zahl der Homosexuellen dürfte jedoch der
Weg des Inserats nie genügen, wenn auch durch diese Me-
thode der allgemeine Beweis geliefert werden kann, wie zahl-
reich die Homosexualität Vorkommt. Die Anzahl der auf das
Inserat des Verfassers eingegangenen Schreiben ist nicht
als eine geringe zu betrachten, wie Verfasser meint, son-
dern meiner Ansicht nach als eine relativ große, wenn
man bedenkt, wie viele Bedingungen erfüllt sein müssen,
bis ein Homosexueller antwortet. (Leser der betreffenden
Zeitung, Leser des Inseratenteiles, Leser des betreffenden
Inserates, Lust zu antworten, Mut zu einem solchen
Schritt u. s. w.) Von den 111 Schreiben rühren zweifel-
los fast alle der 33 vom Verfasser mitgeteilten von
Homosexuellen her, einige können allerdings lediglich
freundschaftliche Beziehungen im Auge haben und daher
nicht von Homosexuellen abgefaßt sein.
Fast alle Antworten zeigen, daß es dem Schreiber
nicht um Befriedigung eines grobsinnlichen Triebes zu
tun ist, sondern daß er ein edleres Verhältnis anzu-
knüpfen sucht, fast alle Schreiber athmen einen ernsten,
sympathischen, keineswegs frivolen oder obscönen Geist.
Bloch, Iwan, Dr. med., Arzt für Haut- und Sexual-
leiden in Berlin: Beiträge zur Ätiologie der
Psychopathia sexualis. Mit einer Vorrede
von Prof. Dr. Eulenburg. I. Teil (Dresden, Verlag
— 952 —
von H. B. Dorn, 1902. 254 S.). II. Teil (Derselbe
Verlag, 1903. 400 S.).
Dr. Hirschfeld hat in seiner obigen Arbeit: »Der
urnische Mensch" die Kernpunkte und Hauptgedanken
aus dem Buch von Bloch mitgeteilt, er hat sich an so
zahlreichen Stellen eingehend mit Bloch beschäftigt und
wie mir dünkt, durch seinen sachverständigen Aufsatz
die auf keiner eigenen Kenntnis der Homosexuellen
fußenden Anschauungen von Bloch so gründlich widerlegt,
daß sich eine Inhaltsangabe und Kritik meinerseits
erübrigt.
Braunschweig: M. Das dritte Geschlecht (Gleich-
geschlechtliche Liebe) Beiträge zum homosexuellen
Problem (Verlag von Carl Marhold: Halle a.S. 1902).
Braunschweig giebt zunächst eine Darstellung des Wesens
der Homosexualität, das er auf bisexuelle Uranlage zurückführt.
Nicht immer treffe der Begriff der Degeneration zu. Doch
könne man aus dem Vorkommen der Homosexualität bei den
Naturvölkern nicht den Schluß ziehen, sie sei eine gesunde
natürliche Erscheinung. Auch die Tuberkulose beruhe auf natür-
licher Anlage.
B. behandelt dann die Homosexualität im Zusammenhang
mit sexuellen Perversitäten (Fetischismus etc.) und führt ihre Ent-
stehung in vielen Fällen auf äußere Einflüße (Klima, Onanie etc.)
zurück. Beruhe in vielen Fällen die Homosexualität auch auf
Naturanlage, so sei sie doch keine Naturnotwendigkeit. Große
Homosexuelle seien nicht durch ihre geschlechtliche Veranlagung,
sondern durch andere Eigenschaften groß gewesen. B. will in
der Homosexualität nur Krankhaftes und Ungesundes sehen; er
erblickt in ihr eine Gefahr für die Gesellschaft, weil sie den
männlichen Geist töte. Das Vorkommen des Angeborenseins der
Homosexualität erkennt er an, hält sie aber in der Mehrzahl der
Fälle durch Gewohnheit erworben.
• B. bespricht des Weiteren Prophylaxe und Heilung der
Homosexualität, ohne zu einem bestimmten Resultat zu kommen.
Erziehung des Kindes, Anbahnung eines gesunden Kultus der
Frau, Pflege der Eltern und Kindesliebe seien die Hauptmittel
gegen das Umsichgreifen der Homosexualität; die unheilbaren
Homosexuellen seien in Irrenanstalten und Pflegehäusern unter-
zubringen. Die Homosexuellen würden schließlich die von ihnen
— 953 —
begehrte Anerkennung vielleicht erringen, wenn Klarheit über sie
gewonnen und die wissenschaftliche Erkenntnis in das Publikum
gedrungen sein werde. Bis jetzt sei die Kenntnis der Homo-
sexualität zu gering, im Läufe der Zeit werde man den Homo-
sexuellen bedingtes Gastrecht, nie aber Bürgerrecht zugestehen
müssen.
Ein Hauptfehler der Schrift von Braunschweig ist
der Fehler, den er selbst den Homosexuellen zum Vor-
wurf macht, nämlich Sprunghaftigkeit im Denken.
Die eigentliche Auffassung Braunschweigs über die
Behandlung und Beurteilung der Homosexualität ist mir
nicht klar geworden. Er scheint selbst keine bestimmte
präcise Anschauung zu haben. Die bisherigen Vorurteile
billigt er nicht und rät zu richtiger Erkenntnis, trotzdem
spricht er von Gefährlichkeit der Homosexualität und
Ausschaltung der Homosexuellen. Aber einige Seiten
später hält er für möglich, daß die Homosexualität sich
die verlangte Anerkennung erringen und sicherlich be-
dingtes Gastrecht finden werden.
Wegen der Widerlegung der Einzelheiten der sehr
feuilletonistisch geschriebenen Broschüre kann ich mich
begnügen, auf Hirschfelds Arbeit in diesem Jahrbuch und
meine vorjährige Entgegnung auf Wachenfeld zu verweisen.
Nur ein Beispiel von der Logik und der Schärfe des
Denkens, die Verfasser an den Tag legt
Als ein Argument gegen die Annahme, die Homo-
sexualität sei nicht notwendigerweise eine krankhafte Er-
scheinung, führt Braunschweig die Tatsache an, daß „an
dem Baum der natürlichen Homosexualität unnatürliche
Zweige trieben* wie z. B. der Fetischismus.
Da sich nun, wie Braunschweig selbst hervorhebt,
ähnliche krankhafte Anomalien auch bei den Hetero-
sexuellen finden, so müßte Braunschweig auch die Hetero-
sexualität als eine Krankheit betrachten.
Choven, von der: Über sexuelle Perversionen im
Orient (Obozr£ni6 psichiatrii V 1900) nach einem
— 954 —
Bericht von P. K^raval in den Archives de Neu-
rologie, 24. ann£e Märznummer 1902, S. 236 u. f.
In allen Städten Asiens von den Ufern des Marmarameeres
bis zum Yang-tze-kiang seien die Tänze und Gesänge den jungen
Burschen, genannt batcha, übertragen, die ganz und gar die
Rolle unserer Schönheiten aus den Varietes erfüllten. Die Päderastie
sei im direkten Verhältnis zur Grösse der Stadt und der Ein-
sperrung der Frau organisiert. In den Städten Mittelasiens und
bei den Nomaden, wo die Frauen frei seien, gäbe es wenig
batcha. Der batcha, Tänzer, Sänger, Schauspieler, ein halbes
Weib nach dem Kostüm und den Manieren, habe in den Khanats
Mittelasiens eine offizielle Stellung, er gehe aus den Kindern
armer Eltern hervor. Er werde von herumziehenden Musikern
oder von reichen Leuten gekauft, die ihn seinen Beruf lehrten
sowie die Funktion, zu welcher er dienen solle. Eine eigen-
artige Massage der Hinterbacken, eine durch Instrumente hervor-
gebrachte Erweiterung des Afters werde mit ihm vorgenommen.
Schläge und Rauschzustände mittels Alkohol und Haschisch spielten
dabei eine große Rolle. Dann verkehre mit dem batcha sexuell
als Erster der Dirigent der Musiker, es sei denn, daß er ihn
einem reichen Liebhaber abtrete.
Von 12 bis 16 Jahren sei der batcha in der Glanzperiode
seiner Erfolge. Aber seine Verdienste flössen den Kupplern zu,
so lange er keinem Herrn gehöre, der ihn unterhalte. Wenn der
Bart wachse, verlöre er seinen Wert. Dann könne es geschehen,
daß er ein ehrbarer Bürger werde, eine Familie gründe, seinen
Harem und seine batcha besitze. Es könne auch sein, daß, falls
er die Leidenschaft der passiven Päderastie behalten habe, er
Diener nehme zur Erregung seiner Begierden in praepostera, die
er mit seinen Frauen normaliter befriedige.
Dagegen gäbe es batcha, die gegen die Natur kämpften
und die Attribute des Femininismus durch Kastration erhalten
wollten. Wenn letzteres geschehen, verließen sie ihr Gewerbe oder
wenn sie mit der Prostitution fortführen, würden sie doch nur
wegen ihrer künstlichen Jugend verachtet. In beiden Fällen sänken
sie noch tiefer. Manche züchteten Frauen zum coitus per anum
oder zu sonstigen Verirrungen heran, seien ihre Louis oder die
Ehemänner der Prostituierten.
Keraval sagt zu den Ausführungen Chovens: „Die
Päderastie, sowie die sexuellen Praktiken mit Tieren bilde
eine moralische physische und degenerative Wunde. Die Ent-
wikelung der Zivilisation, die Freiheit der Frau und ihre
soziale Gleichstellung, das seien die Heilmittel. Den Beweis
dafür liefere der von Choven erwähnte reiche persische Kauf-
— 955 —
mann, der an den transcaspischen Ufern keine Frau habe finden
können und daher Knaben sexuell gebraucht habe. Daraus habe
sich eine Gewohnheit und eine Leidenschaft entwickelt. Später
habe er eine geistreiche Sängerin getroffen, die in Männerkostüm
getanzt habe. Er habe zuerst wie mit einem batcha sexuell
mit ihr verkehrt, aber nach und nach habe ernormaliter mit ihr
coitiert und sie dann geheiratet."
Die batcha und die, welche mit ihnen geschlechtlich
verkehren, sind selbstverständlich nicht alle Homosexuelle,
doch zweifellos ein Teil.
Die Mitteilungen Chovens über das spätere Schicksal
der batcha beweisen einmal, daß ein großer Teil derselben
homosexuell ist, nämlich jedenfalls diejenigen, deren Effe-
mination so deutlich zu Tage tritt, daß sie selbst zur
Castration schreiten, um die äußeren Merkmale der Weib-
lichkeit zu behalten; zweitens geht aus diesem Bericht
hervo^ daß die heterosexuellen batcha trotz jahrelanger
Prostitution im mannmännlichen Geschlechtsverkehr durch
letztere nicht zu Homosexuellen umgewandelt werden
können, da sie eine Familie gründen und einen Harem
sich anschaffen. Die Bemerkung K^ravals, daß die Ent-
wicklung der Civilisation und eine größere Freiheit der
Frau ein Heilmittel gegen die päderastischen Zustände
im Orient bilden würden, ist insofern richtig, als nament-
lich die Hebung der socialen Verhältnisse der Frau den
gleichgeschlechtlichen Verkehr mehr zurückdrängen,
Heterosexuelle davon abbringen, insbesondere aber den
Mißbrauch unmündiger Knaben einschränken würde. Da-
gegen wird die Aenderung in den socialen Zuständen auf
die Homosexuellen keinen Einfluß ausüben und den
gleichgeschlechtlichen Verkehr ebenso wenig beseitigen,
als dies durch die Entwicklung der Civilisation bei uns
der Fall gewesen ist.
Couvöe en Wertheim Satomonson: Een geval van
Homosexualiteit Psychi. en Neurot Bladen 1901/02
(nach Näcke: Die Hauptergebnisse der kriminal-
— 956 —
anthroprologischen Forschung im Jahre 1901 im
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalstatistik
Bd. 9 Heft 2 u. 3 S. 152.)
Homosexualität sei in Holland selten. Der Fall eines
Lehrers wird beschrieben, der erblich belastet und mit somati-
schen und psychischen Stigmata behaftet gewesen sei.
Von Jugend auf habe er konträr geliebt, meist nur pla-
tonisch und nur Knaben. Im Charakter habe er Widersprüche
gezeigt. Verfasser habe sich bezüglich der Frage nach der Un-
zurechnungsfähigkeit für incompetent erklärt. (Näcke bemerkt:
„ich hätte ihn für vermindert zurechnungsfähig erklärt.) a
Verfasser hat vergessen, mitzuteilen, woher er denn
wisse, daß die Homosexualität in Holland selten sei. In
Amsterdam habe ich eine gleich große Verbreitung der
Homosexualität wie in anderen Städten der gleichen Be-
völkerungszahl gefunden.
Vor einigen Jahren wenigstens existierte in Amster-
dam eine lediglich von Homosexuellen aus den Volks-
und Mittelkreisen, sowie von Fremden besuchte Wirtschaft,
in der jeden Abend 20 — 40 Homosexuelle zu treffen
waren.
Auch die Striche, z. B. der Vondelpark, waren
ebenso besucht, wie die Striche anderer Länder.
Dubois-Desaulle: Les Infames: Pretres etMoines non
conformistes en amour. (Memoires secrets de la
Lieutenance G£n£rale de Police). (Paris: Editions
de la Raison 1902).
Das Buch enthält die Wiedergabe einer großen Anzahl von
Auszügen, die Dubois-Desaulle den in der „Biblioth^que de
r Arsenal" unter dem Namen „Archives de Bastille" aufbewahr-
ten Geheimen Akten der „Lieutenance Generale de Police«
(d. h. des Polizeipräsidiums) aus der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts entnommen hat.
In einer Einleitung macht Verfasser darauf aufmerksam,
daß die gleichgeschlechtliche Liebe, der Non-conformisme en
amour (d. h. die Nichtübereinstimmung im Punkte der Liebe
— zu subintelligieren mit der Natur — ) zu allen Zeiten und
Orten verbreitet gewesen sei.
— 957 —
Besonders im 18. Jahrhundert, am Ende der Herrschaft
von Ludwig XIV. und zur Zeit der Regentschaft habe die Homo-
sexualität in Blüte gestanden. Die „Infamen"," wie die Polizei
die Homosexuellen genannt, die „Ritter der Manchette« (Cheva-
lier de la Manchette) wie sie sich unter einander bezeichnet,
seien am zahlreichsten unter den Geistlichen zu finden gewesen,
dann unter der Aristokratie und dem höheren Bürgerthum, so-
wie unter den Bediensteten.
Das Buch zerfällt in zwei Hauptteile; im ersteren sind nur
Geistliche, im zweiten neben Geistlichen auch Adlige und Bürger
behandelt.
Dubois-Desaulle gibt keinerlei Kritik der mitgeteilten Aus-
züge, er läßt die Akten selbst Zeugnis der damaligen Zustände
ablegen. Er bringt die Berichte über 108 „Sodomiter« (wie er
sie oft nennt); ferner sind in den einzelnen Berichten noch
zahlreiche andere „Päderasten« erwähnt.
Unter den 108 befinden sich nicht weniger als 74 Geist-
liche. :
Viele Berichte enthalten zahlreiche Einzelheiten.
Auffallend viele der Invertierten werden verhaftet, weil sie
mit einer „mouche" (Mücke d. h. Polizeispitzel) der Polizeibeamten
Haymier und Symonnet anbändelten. Haymier und Symonnet
waren die mit der Beobachtung der „Infamen" in den Gärten j
des Luxembourg und der Tuilerien besonders betrauten Polizei- I
kommissare. Nicht weniger als 30 Homosexuelle kommen in den j
Berichten vor, die unvorsichtigerweise mit Polizeispitzeln sich
einließen.
Immer ist es derselbe Vorgang, mit wenigen Änderungen
stets das gleiche Bild.
Ein Homosexueller, meist ein Abb£, der auf den Strichen
des Luxembourg oder der Tuilerien Männerbekanntschaften auf- \
sucht, trifft einen Polizeispitzel, den er für einen Gleichgesinnten
oder für einen der Verführung zugänglichen Jüngling hält. Er j
spricht mit ihm über gleichgeschlechtliche Liebe, erzählt ihm
manchmal von seinen Liebesabenteuern, die Art und Weise seiner
Befriedigung und dergleichen. Dann nimmt er Betastungen vor,
küßt die „Mücke« oder entblößt sich selber.
Die Verhaftung erfolgt meistens nicht sofort, sondern der
Spitzel sucht die Wohnung des Homosexuellen zu erfahren oder
beide werden von weitem durch Symonnet oder Haymier oder
ihren Leuten beobachtet. Sehr oft läßt sich der Spitzel ein
Rendez-vous für den nächsten Tag geben und benachrichtigt
die Polizeibeamten, die am verabredeten Orte die Verhaftung des
Homosexuellen vornehmen. Oft geht der Spitzel dem Homo-
sexuellen in seinen Wünschen sehr weit entgegen, er gestattet
— 958 —
sogar den gleichgeschlechtlichen Verkehr, um nachher alle Ein-
zelheiten in den Polizeibericht aufnehmen zu lassen.
Wenn die "Spitzel nicht angeredet werden, so beobachten
sie das Verhalten der Homosexuellen, die mit andern jungen
Leuten anbändeln. Haymier belauscht z. B. die unsittlichen An-
träge, die Abb£ Dewinot einem Passanten in den Tuilerien stellt.
SS. 199.) Ebenso hört ein Spitzel, wie Abbe Delasalle einen
üngling zum Schlafen mit nach Hause nehmen will und ver-
haftet dann den Jüngling, der gezwungen wird, die Adresse des
Abb6 anzugeben (S. 235).
Es kommt vor, daß ein Spitzel im Luxembourg zur besseren
Beobachtung der „Sodomiter" sich ins Gras legt oder unter
eine Bank versteckt (S. 292, 296).
Viele Homosexuelle werden denunziert durch die Jüng-
linge, mit denen sie verkehrt oder zu verkehren versucht haben.
Ober die Art und Weise, wie Manche ihre Verftihrungsversuche
anstellen, wird genau berichtet.
Viele Berichte enthalten ein vollständiges Bild von dem
damaligen Leben und Treiben gewisser Homosexuellen.
Zu einer bestimmten Clique gehörten der Jesuitenpater
De la Fert£, Abb£ Dumoutier und Abb6 Bouchard. Bouchard, ob-
gleich 84 Jahre alt, schlief noch täglich mit zwei Jünglingen zu-
sammen. „Da er nicht mehr eifersüchtig war, empfing er gern
die jungen Freunde seiner zwei Diener und ergötzte sich, wenn
er selbst nicht mehr handeln konnte, an ihren Vergnügungen."
Die Freunde dieser Geistlichen waren besonders Gery,
Cauv£ und Saint-Remy. „Alle drei prostituieren sich mit jedem
Beliebigen. Sie leben von ihrer Wollust und nehmen die
Schmucksachen denen weg, mit denen sie sich vergnügen. Sie
verschaffen Junge denen, die die Neuheit lieben." (S. 76).
Der Hauptgeliebte von Pater de la Ferte war Saint-Remy,
er unterhielt ihn förmlich und wollte ihm sogar eine höhere
Stelle am Hofe von Lothringen verschaffen. Saint-Remy hatte
auch lange ein festes Verhältnis mit dem Marquis de Bouthilier,
er hatte es verstanden den Marquis zu fesseln, obgleich dieser
so sehr die Abwechselung liebte, daß er sonst niemals zweimal
mit demselben Manne verkehren konnte (S. 75.)
Verschiedene Geistliche verkehren auch geschlechtlich
untereinander. So z. B. Abbe de Saint-Etienne mit Abb6 Con-
golain (s. 101); Abbe Dumoutier mit Abb£ Leconte (S. 169).
Abb6 cWret verliebte sich leidenschaftlich in den Abbe Castag-
net, „einen eingewurzelten Sodomiter", der einen großen Ruf
unter den „Infamen" genoß. Beide lebten wie Mann und Frau.
Obgleich Chöret zahlte, war Castagnet Herr im Hause. „Castag-
net, der Liebkosungen von Gieret überdrüssig und die Ab-
— 959 —
wechselung und Abenteuer liebend, verläßt Castagnet, der dann
ein Verhältnis mit Abbe Lemaire eingeht. „Um völlig glücklich
zu sein, sagte eines Tages Cheret, müßte er zwischen seinen
beiden Freunden schlafen«. (S. 139.)
Die meisten Homosexuellen der Berichte verkehren mit
Jünglingen oder Männern, einige allerdings auch mit Knaben.
„So lockt der Abbe Longis Knaben von 10—11 Jahren in sein
Zimmer, um sie unzüchtig zu berühren" (S. 311).
Auch der Abbe Patu wird unzüchtiger Handlungen mit
einem Zögling von 9 Jahren beschuldigt. (S. 314).
Bezeichnend für die Heftigkeit des homosexuellen Triebes
ist die Tatsache, daß gewisse Conträre nach den Polizeiberichten
immer und immer wieder sich öffentlich ertappen lassen, trotz
aller Warnungen und traurigen Erfahrungen, dabei ist besonders
merkwürdig, daß der Homosexuelle oft mehrere Male in die
Falle von Polizeispitzeln gerät.
Ein charakteristisches Beispiel bildet der Marquis de Bresse
(S. 213 flgd.), der im Laufe der Jahre nicht weniger als 5 Mal
sei es in flagranti wegen Versuchs unzüchtiger Handlungen, die
er mit Gewalt an Passanten (jungen Leuten) vornehmen wollte,
ertappt, sei es wegen unsittlicher Anträge von Jünglingen de-
nunziert wurde.
Aus dem Verhalten der Polizei gegenüber dem Marquis
de Bresse, der als Marquis immer wieder freigelassen wurde,
geht hervor, welche Nachsicht geübt wurde, wenn es sich um
Adelige handelte. Ähnlich wurde bei der Verhaftung von Geist-
lichen verfahren. Die meisten Geistlichen, selbst die in flagranti
ertappten, wurden sofort oder nach wenigen Tagen wieder ent-
lassen, nur wenige wurden, und dies auch nicht lange, ein-
gesperrt. Bei einigen begnügte man sich, sie in die Provinz zu
versetzen mit dem Verbot Paris zu besuchen.
Einigen gelingt es dank hoher Einflüsse alle Maßnahmen
der Polizei gegen sie illusorisch zu machen. Gewisse sehr hoch
Gestellte, wie z. B. der Bischof von Fr£jus wurden überhaupt
nicht behelligt, lediglich ihre Geliebten wurden verhaftet. (S.
154 flgd.)
Homosexuelle, die nicht zum Adel oder der Geistlichkeit
gehören, können oft dadurch dem Gefängnis entgehen, daß sie
sich zum Dienst im Heere anwerben lassen.
Eifriger fast als die Polizei verfolgte ein heterosexueller
Geistlicher, der Abbe Theru die „Infamen" mit unermüd-
lichem Eifer. In zahlreichen Polizeiakten finden sich seine An-
zeigen und Berichte über die Homosexuellen vor.
Nach Dubois-Desaulle hat Theru nahezu 40 Jahre in der
Sittenpolizei eine regere Rolle gespielt als die Polizeibeamten selber.
'.&V i*-
— 960 —
Theru ist auch durchaus nicht milder gegen die homo-
sexuellen Geistlichen als gegen die Laien, im Gegenteil: Er
dringt bei der Polizei auf größere Strenge gegen die Kleriker.
„Ihre Eigenschaft als Abb£ dürfe nicht hindern sie zu be-
strafen.« (S. 13).
„Man solle die Geistlichen noch weniger schonen, als die
Lebemänner.« (S. 15.)
Aber trotzdem gelingt es meist dem Abbe Theru nicht, die
Freilassung von Geistlichen zu verhindern, für die hohe Ein-
flüsse sich ins Mittel legen. Bei Geistlichen, die ihre hohe
Herkunft vor Verfolgung schützte, wie z. B. beim Pere de la
Ferte, Sohn eines Herzogs und Marschall, der überdies Prediger
des Königs und Mitglied des gefürchteten Jesuitenordens ist,
wagte nicht einmal Theru eine Bestrafung zu verlangen, er be-
gnügte sich, gegen dessen Geliebten Saint-Remy loszuziehen, den
er gern lebenslänglich in Bicetre eingesperrt sehen möchte.
Das Buch von Dubois-Desaulle ist eine höchst ver-
dienstvolle Veröffentlichung, wertvoll für die Sitten-
geschichte im Allgemeinen und die Geschichte der
Homosexualität insbesondere.
Ich kenne kaum ein anderes Werk, welches einen
so unmittelbaren Einblick in die homosexuellen Zustände
einer vergangenen Epoche gewährt, insofern die grob-
sinnliche Seite der Homosexualität in Betracht kommt,
mit der ja allein die Polizei sich zu beschäftigen Gelegen-
heit hat.
Die trockenen geheimen Polizeiakten, die durch
keinerlei Rücksichten zum Beschönigen und Vertuschen
gezwungen waren und vor der Wiedergabe auch der ein-
gehendsten Details nicht zurückschreckten, stellen ein
Material dar, das man zuverlässiger sich kaum wünschen
kann.
Ueber die große Anzahl der homosexuellen Geist-
lichen, die die Polizeiakten offenbaren, war ich wirklich
erstaunt.
Wenn man bedenkt, daß in diesem ersten Band über
80 homosexuelle Geistliche erwähnt werden, obgleich
Dubois-Desaulle nur Dokumente aus einem Zeitraum von»
— 961 —
50 Jahren (1700 — 1750) benutzt und noch weitere Bände
über homosexuelle Geistliche dieser Zeit ankündigt, wenn
man des Weiteren erwägt, daß meist nur die unvorsichtig-
sten, zahlreiche Abenteuer aufsuchende Priester mit der
Polizei in Konflikt gerieten und daß, abgesehen von den-
jenigen, die gar nicht erwischt wurden, es zweifellos eine
größere Anzahl zurückgezogener homosexueller Geist-
licher gab, die niemals das Auge der nur in krassen
Fällen einschreitenden Polizei auf sich zogen, so muß man
annehmen, daß die Zahl der homosexuellen Priester eine
enorme war, jedenfalls eine viel größere als heute. Dies
dürfte vielleicht darauf zurückzuführen sein, daß es im
18. Jahrhundert überhaupt viel mehr Geistliche aller Art
gab wie heutzutage und sodann, daß wohl gerade viele
Homosexuelle bei dem hohen Ansehen und den zahl-
reichen Vorteilen, die mit dem geistlichen Stand ver-
bunden waren, damals weit lieber einen Beruf ergriffen,,
dessen Gebot der Ehelosigkeit für sie keine schwere
Pflicht bedeutete. Heute jedenfalls sind die homosexuellen
Priester zurückgezogener und sittsamer.
Man wird auf den Strichen von Berlin oder Paris oder
sonst einer Großstadt nur selten Geistlichen begegnen.
Ich selbst kenne keine und habe auch nur von einigen
Wenigen sprechen hören.
In einem Punkt dürften wohl die Polizeidokumente
den wahren Sachverhalt verschwiegen haben, nämlich im
Punkt der Polizeispitzel. Die zahlreichen Fälle, in denen
Homosexuelle auf den Strichen mit Polizeispitzeln sich ein-
lassen, sind nur begreiflich, wenn man annimmt, daß die Spitzel
die Homosexuellen durch zuvorkommende Reden, Gebärden
und wahrscheinlich auch durch auffallendes Entblößen an-
gelockt haben, wovon natürlichin den Polizeiberichten nichts
enthalten ist. Es heißt immer blos, der Spitzel sei von
Homosexuellen angeredet und unzüchtig berührt worden.
Die Polizei kannte auf das Genaueste die Gewohnheiten
— 962 —
und Gebräuche der Homosexuellen ; sie bediente sich so-
gar als Spion und Spitzel zum Teil solcher Leute, die
selbst homosexuell waren oder wenigstens mit den Homo-
sexuellen früher verkehrt hatten Dies wird ausdrücklich
von einem gewissen Prunier berichtet.
Höchst interessant ist es zu sehen, wie schon damals
die Sittenzustände (Verbreitung der Homosexualität, Pro-
stitution, Zusammentreffen der Homosexuellen auf be-
stimmten Plätzen u. s. w.) kaum von den heutigen ver-
schieden waren. Nur möchte ich annehmen, daß die
Striche damals belebter waren, als heute und die Homo-
sexuellen unvorsichtiger und dreister. Besondere Her-
vorhebung verdient auch die Tatsache, daß sogar die
damals auf der Betätigung der Homosexualität stehende
Todesstrafe die Verbreitung dieser Leidenschaft nicht zu
verhindern vermochte, die damals schon einen derartigen
Umfang angenommen hatte, daß wie jetzt in Berlin be-
sondere Polizeibeamte mit einer Menge von Unterbeamten
mit der Ueberwachung der Homosexuellen betraut waren.
Schon damals sah die Polizeiverwaltung ein — wie
jetzt in Berlin — daß eine Verfolgung aller Homosexuellen
unmöglich sei und trotz der damals überaus strengen
Anschauungen schritt sie nur ein, wenn Klagen laut
wurden, öffentliches Aergernis entstand oder wenn es
sich um Prostituirte — die keinen allzu mächtigen Be-
schützer hatten — handelte.
Dazu kam noch, daß infolge der damaligen herr-
schenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse,
der Protektionswirtschaft, der Parteilichkeit der Ver-
waltung und der mangelhaften Ausbildung der Justiz,
Geistliche, Adlige und Reiche keinen großen Zwang sich
aufzuerlegen brauchten und Maßnahmen der Verwaltung
oder gar der Gerichte wohl wenig zu befürchten hatten,
wenn sie nicht, wie die in den Polizeiakten erwähnten
— 963 —
Geistlichen und Adligen allzu offen, auffällig und oft
gewalttätig ihrer Leidenschaft sich hingaben.
Dubois-Desaulle : G. Les Mignons du Marquis
de Liembrune (Die Lieblinge des Marquis
von Liembrune) in dem Mercure de France, Mai-
nummer 1902. (S. 382—412).
In diesem Aufsatz hat Dubois-Desaulle auf Grund der
Polizeiakten (Nummer 10623—10562 — 10759—10769 des in
der vorhergehenden Recension schon erwähnten Archivs der
„Lieutenance le Police«) den Lebenswandel und die homosexuellen
Neigungen des in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts geborenen
Marquis de Liembrune ganz ausführlich dargestellt.
Der Marquis hatte ein Fräulein aus vornehmer Familie
geheiratet, aber lediglich ihres bedeutenden Vermögens wegen,
denn eine andere Anziehung besaß seine Frau für ihn nicht,
erklärte er doch, daß niemals eine Frau ihm etwas bedeuten
würde und daß er lieber gehängt sein möge, als die seinige zu
berühren. Die Hauptrolle in seinem Leben spielte ein gewisser
Jacques Bouclan, den er als Diener bei sich angestellt hatte.
Zweimal verläßt Bouclan den Dienst des Marquis, einmal
weil er sich nicht dem Marquis willfährig zeigen will, das andere Mal
weil die Umgebung des Marquis seine Entfernung durchsetzt.
Die Leidenschaft des Marquis für seinen Diener ist aber so
heftig, daß er ihn immer wieder zurückberuft. Im December
1716 wird aber der Skandal derart, daß der Intendant der Stadt
(Soissons) dem Marquis befiehlt, sich endgiltig von Bouclan zu
trennen. Dieser geht mit seiner Familie nach Paris und will
jeden Verkehr mit seinen Herrn, auch den brieflichen, abbrechen.
Der Marquis überschüttet ihn mit zärtlichen Briefen und mit
Geschenken. Bouclan nimmt die Geschenke an, aber antwortet
nicht. Der durch die Entfernung Bouclans erregte Schmerz des Mar-
quis und sein Mißmut über dessen Gleichgiltigkeit verwandeln sich
in Zorn, der sich auf die unglückliche Marquise entlädt. Sie muß die
denkbar schlechteste Behandlung seitens ihres Mannes erdulden.
Auf die Beschwerde eines Onkels der Marquise an den Polizei-
präsidenten von Paris, Herrn von D'Argenson, wird dann durch
Befehl des Regenten Bouclan in Bic§tre eingesperrt.
Nach der Verhaftung Bouclans wird die Lage der Marquise
noch schlimmer; mit noch mehr Grausamkeit läßt ihr Mann
seine Wut an ihr aus.
Er eilt nach Paris um zu versuchen die Freilassung seines
Geliebten zu erwirken. Der Marquis will dem Bouclan die
Stelle eines Steuerbeamten in der Provinz verschaffen, um auf
Jahrbuch V. 61
— 964 —
diese Weise seine Freilassung zu erlangen. Bouclan scheint die
Stelle doch nicht erhalten zu haben, seit dem Bittgesuch des
Marquis an den Polizeipräsidenten verschwindet aber Bouclan
aus dem Leben des Marquis.
Doch bald wählt er sich einen neuen Geliebten, den
25— 26 jährigen , Diener Beaulieu. Dieser Beaulieu war ein
praktischer Kopf und arbeitete „weder des Vergnügens
noch des Gefühls wegen«. Er ließ sich als vornehme
Dame behandeln. Die Edelleute anstatt ihn wie ein gewöhn-
liches Freudenmädchen in Geld zu bezahlen, remunerirten ihn
mit Geschenken. Mit allen den „Kleidern, Schmucksachen und
Meubeln" die er so auf diese Weise erwarb, hielt er einen
gut ausgestatteten Laden in Paris. Neben seinen Verkaufsladen
nutzte Beaulieu noch einen „Serail" junger Burschen aus, den
er diskret im gleichen Hause hielt.
Herr von Liembrune, der ein guter Client des Serails war,
war auch ein großmütiger Lieferant des Ladens. Trotzdem
zeigte ihm Beaulieu eine große Undankbarkeit; er erklärte: er
suche nur möglichst viel vom Marquis zu erhalten, um ihn später
zum Teufel zu schicken, wie dies eine gewisse Frau von
Vienne berichtet. Diese Frau von Vienne gab stets nützliche
Auskünfte dem Polizeibeamten Symonnet. Sie erfuhr durch eine
Wirtin, bei der der Marquis ein Zimmer gemietet hatte, daß
er ein zweites Bett für Beaulieu verlangt habe und darauf von
der Wirtin vor die Türe gesetzt worden sei. Der Marquis
ging dann denselben Abend mit Beaulieu in ein anderes Hotel,
wurde aber dort durch den unermüdlichen Anzeiger der „In-
famen", Abbe Theru entdeckt.
Beaulieu wird in Bicetre eingesperrt, aber schon nach
drei Monaten setzten es seine Beschützer durch, daß er sich als
Soldat „zum Dienste des Königs" anwerben lassen durfte. Nachdem
Beaulieu eine Zeitlang gedient und die nötige Summe Geldes
erworben, kaufte er sich los und nahm sein früheres Gewerbe
wieder auf.
Am 23. Januar 1721 berichtet Symonnet wieder über
Beaulieu an den Polizeipräsidenten; „Beaulieu hat die Kühnheit
gehabt in den Dienst des Marquis von Liembrune zurückzukehren.
Er treibt sein schlechtes Gewerbe weiter. Er war gestern
Abend in den Tuilerien in dem Gebüsch, wo man ihn hat
Schändlichkeiten verüben sehen mit einem Unbekannten. Er soll
von einem vermögenden Manne ausgehalten werden. Ich glaube,
daß er verdient, nach Bicetre zurückzukehren."
Am 28. Juli 1721 erließ der Regent einen Haftbefehl
gegen ihn.
— 965 —
Der Marquis zog sich auf sein Gut in Disves zurück und
zwei Jahre vergingen, ohne daß man von ihm reden hörte. Im
November 1721 richtet ein höherer Beamter der Wasserbau-
und Forstverwaltung aus Noyon, Herr von Richourt, ein Schreiben
an den neuen Polizeipräsidenten in Paris, in welchem er ihn
bittet, gegen den Marquis einzuschreiten, und so eine Gelegen-
heit öffentlichen Skandals zu beseitigen.
Der Polizeibeamte Symonnet unterstützt bald darauf selbst
dieses Begehren.
Er kenne seit über 15 Jahre den Marquis als einen Ver-
führer junger Burschen. Er sei eine Pest in Paris oder in allen
anderen Orten, wo man ihn lassen würde. Das einzig Richtige
sei, ihn längere Zeit in ein Schloß oder in eine Citadelle einzu-
sperren, damit er keine jungen Leute mehr verführen könne.
Dem Marquis gelang es, die Entrüstung, die er bei Herrn
von Richourt erregt hatte, zu beschwichtigen. Denn im Jahre
1722 schreibt dieser abermals an den Polizeipräsidenten, aber nun-
mehr in dem Sinne, daß der Marquis sich gebessert habe. Er habe sich
mit Gott ausgesöhnt, mit seiner gesamten Dienerschaft sich dem
heiligen Tische genähert.
Die homosexuelle Leidenschaft scheint jedoch nicht ge-
schwunden zu sein, denn im August 1724 wurde er von den
Sittenpolizisten in den Tuilerien betroffen, wie er einen jungen
Mann küßte und im Begriff war noch andere Liebkosungen
mit ihm vorzunehmen. In seiner Eigenschaft als Marquis wurde
er sofort freigelassen.
Auch über einen Freund des Marquis, den reichen
Kaufmann Martin Cardot aus der Picardie berichten die
Polizeiakten. Cardot wird zweimal verhaftet, weil er Abends
in den Tuilerien jungen Leuten unzüchtige Anträge stellt, sie an
den Geschlechtsteilen anfaßt und sie mit in sein Hotel nehmen will.
Verhaftet, stellte Cardot die Sache so dar, als sei er, ein Neuling
und Fremder in Paris, den Sittenpolizisten aufgefallen und das
Opfer eines Irrtums geworden. Da Cardot nicht nur ein reicher
und angesehener Mann aus der Provinz, sondern überdies auch
der Schwiegervater eines Staatsanwaltes war, wurde er bald wieder
freigelassen.
Im Mai 1725 erhielt der Polizeipräsident abermals eine
— und zwar anonyme — Beschwerdeschrift über den Marquis
von Liembrune. Darin wird das „scheußliche Leben", das Herr
von Liembrune führe, dem Polizeipräsidenten angezeigt und dann
gesagt: „Zwar begleitet er und seine Bedienten Kerzen in der
Hand den Priester, der das heilige Sacrament den Kranken
bringt, um so das Publikum irre zu führen, aber wenn er mit
zwei seiner Diener allein ist, welche Schmähungen stößt er nicht
61*
aus gegen das, was er eben gethan. Die Mönche aus Nayon
beschäftigen ihn und haben ihm eine Würde in ihrem Hause
verliehen, die er verlangt hat, um besser sein Betragen zu ver-
decken; die guten Väter sagen dem Publikum, daß sie nicht glauben
können, daß er dessen fähig sei, was man von ihm sagt."
Das sei die letzte Urkunde, schließt Dubois-Desaulle seinen
Aufsatz, die er in den Polizeiakten über den unverbesserlichen
Marquis von Liembrune gefunden habe.
Der Fall des Marquis de Liembrune gewährt ein
typisches Beispiel für die ganz in der Sinnlichkeit auf-
gehende Kategorie von Homosexuellen. Beim Marquis
kommen noch besonders häßliche Fehler hinzu: Seine
Brutalität gegenüber seiner Ehefrau und seine er-
heuchelte Frömmigkeit. In diesem Aufsatz von Dubois-
Desaulle finden sich die meisten Merkmale der homo-
sexuellen sowie homosexuell-sittenpolizeilichen Zustände
des 18. Jahrhunderts, welche ich schon bei der vorher-
gehenden Besprechung („Les Infames* von demselben
Verfasser) hervorgehoben habe, in charakteristischer Weise
vereinigt.
Fleischmann, August: 1) Die Bevorzugten des
Liebesglücks. Volkstümliche Enthülllungen über
die Griechische Liebe (Männerliebe). Mit einem An-
hang „Bunte Gesänge", Lieder vom Dritten Ge-
schlecht. (30 Pf.)
Die Verfolgung der Homosexuellen Ursache ihres allgemeinen
Zusammenschlusses. Rückblick auf die Homosexualität in Griechen-
land und ihre damalige Ausbildung, welche beweise, daß der
Homosexuelle kein Enterbter, sondern ein Bevorzugter des Liebes-
glückes sei.
— 2) Der Freundling oder die Neuesten Ent-
hüllungen überdas Dritte Geschlecht. (30 Pf.)
Das „Dritte Geschlecht" eine von der Natur gewollte
und vollständig berechtigte Notwendigkeit. Aufforderung an alle
Freundlinge sich offen als solche zu bekennen. Die zahlreichen
gesunden Freundlinge seien den Ärzten unbekannt. Lächerlich
sei es, Freundlinge durch Dirnenverkehr heilen zu wollen. Aus-
führungen über den § 175, das Erpressertum, über berühmte
Homosexuelle.
— 967 —
— 3) Der § 175 und die männliche Prostitu-
tion in München und Berlin. Beleuchtung
eines dunkeln Punktes großstädtischen Lebens.
(30 Pf.)
Ausfälle gegen jede Prostitution, insbesondere auch gegen
die männliche. Diese würde nur mit Aufhebung des § 175
verschwinden, wenn der Homosexuelle nicht mehr mit Unbekannten
im Freien seine Befriedigung suchen müsse. Die vielen Homo-
sexuellen täten besser ihr Geld zu Aufklärungszwecken zu ver-
wenden, als ihre Geliebten zu bezahlen.
— 4) Seelenzwillinge oder zwei Seelen in
einem Körper. Neueste Enthüllungen über zwei-
geschlechtliche Wesen. (50 Pf.)
In den Homosexuellen wohnten zwei Seelen, die männliche
und die weibliche, daher das dritte Geschlecht das vollkomme-
nere, daher so viele Größen der Weltgeschichte dazu gehörig.
In der Sucht als Weib sich zu kleiden, zeige sich bei vielen
Homosexuellen die weibliche Seele.
— 5) Die Übervölkerungsfrage und das dritte
Geschlecht. Neueste Moral-psychologische Ent-
hüllungen. (50 Pf.)
Die Übervölkerung die Schuld an dem sozialen Elend. Das
Zweikindersystem das richtige Verfahren, daher Glück und Wohl-
stand in Frankreich. Das dritte Geschlecht auch dazu bestimmt,
die Übervölkerung zu verhindern.
— 6) Das Opfer: Ein Freundlingsdrama in einem
Akte nach einem Entwurf von Wilhelm Fleischmann.
(30 Pf.)
Der homosexuelle Sohn eines Präsidenten wird von einem
Erpresser angezeigt. Er soll verhaftet werden und erschießt sich.
Der bisher den Homosexuellen feindliche Vater wird zur rich-
tigen Erkenntnis gebracht.
Sämtliche 6 Broschüren in den Jahren 1901 u. 1902
in München erschienen. Druck und Verlag A. Fleisch-
mann, Zweibrückenstraße 10.
Fleischmanns Broschüren sind Volksschriften popu-
lärster Art und bezwecken auch solche zu sein. Sie
wollen die wissenschaftlichen Feststellungen über das
— 968 —
Wesen der Homosexualität vulgarisieren. Da der Funda-
mentalcharakter der homosexuellen Liebe als eines tief-
innerlichen, constitutionellen Triebes richtig dargestellt
ist und die Schriften eine auf persönlicher Erfahrung
gegründete warme Überzeugung atmen, so sind die
Werkchen auch geeignet, im Volke die Vorurteile von
dem „durch Übersättigung entstandenen Laster* zu zer-
stören. Insofern ist das Bestreben Fleischmanns löblich
und nutzbringend. Der gebildete Leser wird allerdings
Anstoß nehmen an der Art und Weise, in der Fleischmann
schwierige Probleme, wie z. B. die Übervölkerungsfrage
oder die Theorien der Seelenzwillinge behandelt, und an
manchen Stellen mit ihren Vergröberungen, Übertreib-
ungen sowie ihrer komischen Drastik sich eines Lächelns,
ja Lachens nicht erwehren können.
Der Unterschied zwischen Fleischmanns Broschüren
und der Volksschrift Hirschfelds „Was muß das Volk
vom dritten Geschlecht wissen", die auch der Gebildete
mit Genuß und Interesse lesen kann, ist ein gewaltiger.
Da Fleischmanns Broschüren weder wissenschaftlichen
Charakter haben, noch den Anspruch auf Wissenschaft-
lichkeit erheben, erscheint es recht auffallend, daß die
eine Schrift „Der Freundling* in Groß' Archiv für
Kriminalanthropologie in der Bibliographie erwähnt und
kurz besprochen wurde.
Hier in dem Jahrbuch, welches eine Übersicht über
die gesamte homosexuelle Produktion bringt, mußte über
die Broschüren referiert werden; in Groß' Archiv dagegen*
war eine Recension nicht am Platz. Der Recensent des
Archivs geht davon aus, daß Fleischmanns Schrift durch
das Komitee veranlaßt ist. Dies ist unrichtig, das Komitee
hat mit den Broschüren von Fleischmann nichts zu tun.
Wenn in der gleichen Recension gefragt wird, was
denn mit derartigen Schriften beabsichtigt werde, so ist
darauf zu antworten:
— 969 —
Erstens: daß derartige Schriften nicht wissenschaftlich
sein wollen und nicht an den Kundigen oder gar Sach-
verständigen sich wenden.
Zweitens: daß das Volk noch nicht aufgeklärt ist und
Aufklärung über die Homosexualität bedarf, damit man
nicht, wie es Manche immer noch tun, (auch z. B. Ab-
geordneter Himburg in der Kommission bei Besprechung
der Petition vgl. Jahrbuch I S. 79. „Das Volk würde
die Aufhebung des § 175 nicht verstehen",) sich auf das
irrtümliche Volksbewußtsein des Volkes weiter berufen
können.
Drittens : daß man nicht das Volk mit gelehrten
medizinischen, juristischen, oder philosophischen Werken
aufklärt, sondern durch populäre Schriften.
Fuchs, Hanns: Die Homosexualität im Drama
der Gegenwart und der Zukunft; in der
Kritik von Wrede XVII. 133. N. 215 No. 1
August 1902.
Das Altertum, welches die Lieblingminne höher geschätzt
als die Frauenliebe, habe sich nicht gescheut, in seiner schönen
Literatur homosexuelle Liebesempfindungen darzustellen.
In dem antiken Theater habe man Liebesszenen zwischen
Mann und Weib nicht gekannt. Aischylos habe die Minne des
Achilles und Patroklos, Sophokles in der „Niobe" das homo-
sexuelle Liebesleben ihrer Söhne dargestellt.
Nur wenige Dramen der Neuzeit verwendeten die homo-
sexuellen Empfindungen und zwar täten sie dies nur andeutungs-
weise. Die homosexuellen Vorgänge lägen entweder in der
Vorgeschichte oder seien so geartet, daß sie auf den Konflikt,
auf den Fortgang der Handlung keinen nennenswerten Einfluß
gewännen. Im Gegensatz zu den Alten habe es noch kein
Schriftsteller unsrer Tage gewagt, homosexuelle Liebeshändel in
derselben Weise dramatisch zu behandeln, wie die heterosexuellen
Liebeskonflikte.
Fuchs erwähnt dann das Homosexuelle in Heyse's „Hadrian",
und Wilbrandt's „Reise nach Riva". Ferner weist er auf eine Szene
in Hauptmanns „Schluck und Jau" im vorletzten , Bilde hin, des
weiteren auf Wedekinds „Frühlingserwachen" und „Kammersänger",
sowie auf Kupffers „Narkissos", auf Levetzow's Pantomime „die
beiden Pierrots" und auf Bahrs Drama, „Die Mutter".
— 970 —
Das einzige Drama der Neuzeit, weiches das homosexuelle
Problem direkt und unverblümt behandele, sei Dilsners Tragödie :
„Jasminblüte.«
Das ideale homosexuelle Drama, daß die Konflikte in der
eigenen Seele und ihren Einfluß auf das Tun, auf die Lebens-
auffassung der Homosexuellen schildere, sei noch nicht ge-
schrieben.
Fuchs führt dann Beispiele von Stoffen und Konflikten an,
die sich verwenden ließen.
Man hätte genug Tragödien vom leidenden Weibe. Ein
Jubellied vom triumphierenden Manne täte Not, daß wir an
Manneskraft und Heldentum erinnert würden. Walloth müßte
ein solches Lied singen können.
Der Realismus werde auch den Homosexuellen auf das Theater
bringen. Und wie man sich zuerst über die Schilderungen der
Realisten entsetzt, sich aber schnell an sie gewöhnt, so werde
man auch einmal, wenn eine gute, schöngeistige Literatur die
Homosexuellen der großen Menge menschlich nähergebracht habe,
die dramatische Behandlung des homosexuellen Problems
nicht mehr als seltsam empfinden.
Ein Musikdrama homosexuellen Inhalts könne treffliche
Pionierdienste tun. Die Musik würde, dank ihrer kupplerischen
Eigenschaften dem Stoffe das Seltsame, das Außergewöhnliche
nehmen und eher auf allgemeines Verständnis rechnen können
als das Wortdrama.
Die Sehnsucht nach dem reinen Menschentum der Griechen
sei in uns lebendiger denn je. Aus ihr würden Kunstwerke
geboren werden, die das Recht der Sinnenfreuden, das Recht
der Persönlichkeit verkündeten. Er (Fuchs) hoffe noch zu er-
leben, daß unsre Tragödien und Komödien auch wieder Händel
der Lieblingminne darstellten, und daß unsere Literarhistoriker
von unserem Publikum berichteten, was Athenais von den Griechen
geschrieben: „Und die Zuschauer nahmen diese Lieder günstig auf."
Bei dem Interesse, welches die Gegenwart der homo-
sexuellen Frage entgegenbringt, ist die Schaffung und
Veröffentlichung homosexueller Dramen, in den nächsten
Jahren bestimmt zu erwarten, die Zeit ihrer Aufführungs-
möglichkeit dürfte aber noch lange nicht gekommen sein.
Gerling, Reinhold: Im Ringe der Venus, a. Die
verkehrte Geschlechtsempfindung, b. Untiefen im
Geschlechtsleben. [Preis 60 Pfg. Oranienburg,
Orania-Verlag.]
— 971 —
Die, welche Verfasser dem allgemeinen Verständnis näher
bringen wolle, „Verirrte und Stiefkinder der Liebe" dürfe man
sie nennen, nicht „Ausgestoßene".
Die „verkehrte Geschlechtsempfindung", von der der erste
Teil handele, sei keineswegs krankhaft.
Teil I. Zunächst Erklärung der Worte „Urningtum" und
„Uranismus", „Urning": Dem Worte Urning sei der bis auf Plato
zurückreichende Ausdruck „Uranier" vorzuziehen.
Die große Verbreitung und das Ansehen der homosexuellen
Liebe in Griechenland und Rom seien zum Teil auf die Stellung
der Frau zurückzuführen, die man als die Sklavin des Mannes
betrachtet und nur als Werkzeug zur Kindererzeugung gebraucht
habe.
Gewisse religiöse Gebräuche und Feste hätten zur Ver-
breitung der Unmoralität beigetragen. Die antiken Religionen
hätten die Geschlechtsorgane — speziell die männlichen — als
heilig betrachtet.
Die schwärmerische Liebe, der an Anbetung grenzende
Kultus, den die Philosophen und Heroen jenes Zeitalters ihren
geliebten Freunden, Schülern oder Kriegsgefährten gezollt, sei
frei von Sinnlichkeit gewesen.
Ganz ungeheuerlich aber sei es, die heroische Liebe, die
stets in engumgrenzten ethischenSchranken geblieben, als „Knaben-
schändung" darzustellen. In der Antike habe man von der mann-
männlichen Liebe die allerhöchste Auffassung gehabt, sie habe
als ein eminenter Vorzug gegen die Barbaren des Nordens, als
Mittel zur Förderung der höchsten Kulturzwecke, als ein herr-
liches Vorrecht der Edelsten gegolten. Die allgemeine Liebe sei
aber trotzdem nicht geschmälert worden, der Fortpflanzung habe
man im Gegenteil eine Sorgfalt zugewendet, wie nie zuvor.
Auch die heutige mannmännliche Liebe sei tatsächlich kein
Frevel wider Gott und die Menschen, wie sie manche Moralisten
und Doktrinäre darstellten. Die Natur habe die Homosexuellen
geschaffen, um eine Überproduktion an Zeugungen zu verhüten.
Die Übermenschen, die großen historischen Uranier, wie
Socrates, Michel-Angelo, Shakespeare, Friedrich der Große,
schienen ihre Erschaffung einem Überschuß an Vitalität, an
geistiger Kraft, an Zeugungskraft beider Eltern zu verdanken.
Der großgeartete Uranier sei nicht Seelenzwitter, sondern Voll-
mann, besitze aber nebenbei einen Überreichtum an seelischen
Schätzen, die zum Teil der edlen Weiblichkeit entlehnt seien.
Er sei das vollkommenste Wesen, welches die Natur an ihren
Festtagen hervorbrächte.
Der kleingeistige, ganz feminin-empfindende Uranier, das
Weib mit den äußeren Geschlechtsabzeichen des Mannes dagegen
— 972 —
verdanke sein Leben augenscheinlich einer schwächeren Individu-
alität, einer gewissen geistigen Inferiorität seines Erzeugers. Bei
ihm bestehe sozusagen eine gewisse Unterentwickelung. Zwischen
diesen beiden äußersten Endpolen bewegten sich hundert-
tausende von höchst verschieden gearteten urnischen Psychen.
Es wäre zu wünschen, daß sich die höchsten Intelligenzen
unserer Zeit vereinigten, den heute noch so ziemlich auf allen
Gesellschaftsschichten in Bezug auf die Homosexualität lastenden
Bann zu brechen.
Die auf Irrtum beruhende, unwissende Volksstimme könne
nicht länger maßgebend sein.
Der gesunde, gereifte Mann sei klug und stark genug, sich
vor den Verirrungen der Perversität, vor der begehrlichen Um-
armung eines anderen Mannes aufs nachdrücklichste selbst zu
schützen. Er bedürfe vor der Schamlosigkeit und den Kämpfen der
Wollust nicht mehr Schutz als das schwäche, hilflose Weib.
Daher sei Beseitigung des § 175 notwendig.
Teil II. Außer den geschlechtlichen Wesen Mann —
Weib — Mannweib, Weibmann — Hermaphrodit — Homosexueller
fänden sich zahlreiche Zwischenstufen, die als Übergangsformen
zu betrachten seien.
Einen Normaltypus gäbe es nicht. Schon beim Heterosexuellen
seien die verschiedenartigsten Geschmacksrichtungen bezüglich des
Alters der geliebten Person vorhanden.
Verfasser bespricht sodann die verschiedenen sexuellen
Perversionen. Dazu zählt er auch die Päderastie oder den
Pygismus. Die Päderasten seien nicht übersättigte Normale,
sondern Homosexuelle, die sich nur von den übrigen Homosexuellen
dadurch unterschieden, daß sie nicht wie diese den Geschlechts-
apparat der Geschlechtsreifen suchten.
Auch heute gehöre Mut dazu, für die Perversen eine Lanze
zu brechen. Er, Gerling, wolle keineswegs, daß die in dem
2. Teile der Schrift erörterten Perversitäten geduldet oder gar
erlaubt würden. Aber das Gefängnis sei nicht der richtige
Ort für die „Ausgestoßenen". Nicht den Straf richter, sondern
den Arzt und den Erzieher gingen sie an.
§ 175 sei völlig unhaltbar, seine Revision dringend nötig;
eine Revision der Volksanschauung müsse aber vorausgehen.
Die scharfe Trennung zwischen Homosexualität und
sonstigen sexuellen Anomalien, die Gerling hervorhebt,
wonach nur letztere, nicht aber die erstere als krank-
haft zu betrachten seien, kann ich nur billigen. Dagegen
ist es nicht richtig, die verschiedensten sexuellen Ano-
— 973 —
malien, abgesehen von der Homosexualität, als sexuelle
Zwischenstufen zu bezeichnen; von solchen kann man
nur reden, wenn Geschlechtscharaktere vorhanden sind,
welche den äußeren Geschlechtsteilen nicht entsprechen,
also hauptsächlich bei der Homosexualität in ihren ver-
schiedenen Gradstufen und Arten. Besonders unzutref-
fend erscheint es, Homosexuelle, welche den coitus per
anum ausführen, oder solche, die unreife Knaben lieben
(welche von Beiden Gerling als Päderasten oder Pygisten
bezeichnet, ist nicht völlig klar) als eine besondere
Zwischenstufe aufzufassen.
Die bloße Art der geschlechtlichen Befriedigung oder die
Vorliebe für das Unreife allein kann niemals für die Annahme
einer besonderen Geschlechtsvarietät entscheidend sein.
Das Wort „Uranier" möchte auch ich dem Wort
„Urning" vorziehen. Die sprachliche Bildung des ersteren
erscheint mir besser als die des letzteren. „Uranier"
klingt auch weit ästhetischer und ruft den Gedanken an
etwas Kraftvolleres, Gesunderes hervor, als der Ausdruck
„Urning44, dem etwas Süßliches, Bizarres anhaftet. Ebenso
wäre das noch häßlichere Femininum, das geschmacklose
Wort „Urningin" (auch Urninde ist nicht schön) durch
Uranierin oder Uranide zu ersetzen und Urningtum durch
Uranismus.
Die meisten Gedanken Gerlings, namentlich in dem
ersten Teil wird man gutheißen können, doch beeinträch-
tigt der etwas zu überschwengliche, allzu sentimentale
Ton die Wirkung bei wissenschaftlich gebildeten Lesern,
anderseits läßt sich vielleicht diese Ausdrucksweise durch
den Zweck der Schrift als einer Volksschrift rechtfertigen
und mag bei Manchen sogar als Vorzug gelten.
Groß, Hans: Besprechung von Blochs „Bei-
träge zur Aetiologie der Psychopathia
sexualis44 in Groß' Archiv für Kriminalanthropologie
und Kriminalstatistik. Bd. 10 Heft 1 und 2.
— 974 —
Groß lobt Bloch, daß er reiches Material beigebracht
habe, seine Endresultate billigt er aber nicht. Wenn Bloch sage,
die Aufhebung des § 1 75 würde eine Sanktionierung, eine Gleich-
stellung des homosexuellen Verkehrs mit dem heterosexuellen
zur Folge haben, so sei dagegen zu bemerken, daß die Straf-
losigkeit einer Handlung nicht mit der Erklärung ihrer Moraliät
gleichbedeutend sei.
Sodann aber sei besonders der Schluß von Bloch, die
Homosexualität sei erworben und deshalb die Strafe gerecht-
fertigt, nicht richtig.
Für den Kriminalisten komme es für die Frage der Straf-
barkeit der Homosexualität nicht darauf an, ob sie angeboren
oder erworben sei, höchstens bei der Strafzumessung könne
darauf Rücksicht genommen werden. In sexueller Richtung seien
wohl drei Klassen von Menschen zu unterscheiden.
1) solche schon von der Geburt heterosexuell Veranlagte,
die nur Geschmack für das andere Geschlecht empfänden. Solchen
Personen gegenüber sei wohl zu jeder Zeit ein Verführungs-
versuch zu homosexuellen Dingen ebenso vergeblich als unschäd-
lich. Den Heterosexuellen erscheine der homosexuelle Akt
völlig unbegreiflich und widersinnig.
2) Solche von Anfang an homosexuell Veranlagte; bei
diesen sei jede Besserung oder Abschreckung ausgeschlossen.
Diese Leute seien eben anders organisiert wie die Homosexuellen.
3) Solche, die auf einer Zwischenstufe zwischen den reinen
Hetero- und Homosexuellen ständen. Überall in der Natur
fänden sich Zwischenstufen, deshalb müsse auch hier ein Mittel-
ding angenommen werden. Auch hier sei die unausgesprochene
Anlage angeboren und es hänge von Zufälligkeiten und dem Ent-
wickelungsgang des Einzelnen ab, in welcher Richtung er später
seinen Geschlechtstrieb befriedige.
Eine Möglichkeit sei die, daß er in der Jugend durch einen
Homosexuellen oder durch Lektüre verführt werde. Eine andere
Möglichkeit sei die, daß ein solcher unausgesprochen Veranlagter
früher oder später vom heterosexuellen Verkehr übersättigt werde.
Leute der letzteren Sorte hätten wohl nie einen heterosexuellen
Trieb von elementarer Gewalt empfunden, daher sei es begreif-
lich, daß sie durch unglückliche Heirat, durch Zusammensein mit
unsympathischen Frauen zu einer sogenannten Übersättigung ge-
langten. Eigentliche Übersättigung sei dies aber nicht, ein Über-
sättigter greife nicht zum Gegenteil. Der ärgste Prasser werde
nie ekelhafte Dinge essen. Der sogenannte Übersättigte sei eben
nicht übersättigt, er empfinde nur, daß von den zwei Wegen,
die seiner Natur offen gestanden, der heterosexuelle und der
— 975 —
homosexuelle, der erste für ihn nicht der richtige gewesen und
so gelange er auf den zweiten Weg.
Der echte Heterosexuelle werde niemals übersättigt, er könne
die Sünde verlassen oder die Sünde ihn, dann sei es eben aus ;
wenn ihm der heterosexuelle Verkehr keine Freude mehr biete,
so sei sein sexueller Verkehr eben zu Ende angelangt.
Zu diesen unentschieden Veranlagten mögen auch die sog.
Bisexuellen gehören.
Die Scheidung der Menschen in drei Klassen führe zu der
Annahme, daß es sich bei Allen um angeborene Anlage handele,
auch bei denen der dritten, deren unentschiedene Anlage eben
auch angeboren sei.
Aber für den Kriminalisten sei die Frage gleichgültig; ob
der Betreffende seine Homosexualität mit auf die Welt gebracht
oder erworben habe, könne auch nie sicher festgestellt werden.
Dagegen sei die Frage, ob die Homosexuellen einzusperren
seien oder nicht von höchster Bedeutung.
Es sei nicht zu zweifeln, daß die Meinung im Zunehmen
begriffen sei, man habe den § 175 zu streichen. Bei der Ent-
scheidung der Frage, sei aber nach den Gründen zu sehen, die
für eine Streichung des Paragraphen zu sprechen schienen.
1) Vor Allem müsse nach dem verletzten Rechtsgut gefragt
werden. Die Moral an sich sei nicht durch das Strafgesetz zu
schützen, für die Vermehrung der Menschen zu sorgen, sei auch
nicht Sache des Strafrechts, sie werde auch durch das Ein-
sperren einiger Homosexueller nicht gefördert und schließlich
sei es auch fraglich, ob die Vermehrung der Menschen ins End-
lose wünschenswert sei, einmal müsse sie doch ihr Ende errei-
chen. Wegen der Ekelhaftigkeit der Handlung allein könne nicht
gestraft werden, auch im heterosexuellen Verkehr würde vieles
Ekelhafte nicht bestraft.
2) Eine allerdings nur technische, aber doch schier unüber-
windliche Schwierigkeit liege in der Textirung des Gesetzes.
Die Ausdrücke „widernatürliche Unzucht« des § 175 R. St. B.
und „Unzucht wider die Natur" des § 129b Östr. St.-G.-B. seien
so unklar als möglich.
Niemand wisse, wo die strafbare Handlung beginnen solle.
Entweder müsse der Gesetzgeber eine aufs Äußerste ekelhafte
und widerliche Beschreibung des Strafbaren geben oder er
verstoße gegen den Grundsatz, nulla poena sine lege. Mit dem
vagen Begriff „Unzucht", wisse kein Gericht etwas anzufangen,
jedes verstehe ihn anders. Der östreichische oberste Gerichtshof
verstehe z. B. jetzt etwas ganz anderes unter „Unzucht" des
§ 129 als er vor mehreren Jahren getan.
— 976 —
Bei anderen Delicten handele es sich bei Begriffsbestimm-
ungen nur um Schwierigkeiten, hier aber um die Unmöglichkeit
und um das Versagen der Hilfe durch die Wissenschaft. Un-
sicherheit in der Rechtsprechung, und sei es auch nur in einer
einzigen Richtung, sei eben das Gefährlichste, sie erzeuge Wider-
spruch gegen das Gesetz, Unzufriedenheit, oft auch wirkliche
Ungerechtigkeit.
3) Einer der wichtigsten Momente in der Strafrechtspolitik:
Die Bestrafung eines möglichst hohen Prozentsatzes der begangenen
Delicte, falle bei den homosexuellen Vergehen weg.
Die von den Homosexuellen in Ostreich und Deutschland
begangenen Akte im Laufe eines Jahres ließen sich wohl nur in
Millionen von Delicten ausdrücken. Dagegen sei die Zahl der
Verurteilungen so gering, daß sie dem Fluch der Lächerlichkeit
verfalle, und so ergäbe sich der Schluß: Wenn man nur einen
kaum nenneswerten Bruchteil der wirklich begangenen Delicte
zur Strafe bringen könne, dann sei es besser die Strafe ganz
fallen zu lassen, zumal es sich um Vorgänge handele, deren Straf-
barkeit auch aus anderen Gründen zweifelhaft sei.
4) Ein Strafzweck werde nicht erreicht. Der einzige
consequente Vorgang wäre die lebenslängliche Beibehaltung der
Homosexuellen in Einzelhaft; aber auch der entschlossenste An-
hänger des § 175 wolle die Sache nicht energisch anpacken.
Durch § 175 sei noch Niemand abgeschreckt worden, der
Paragraph veranlasse höchstens zu größerer Vorsicht und Heimlich-
keit. Die Meinung, ein Homosexueller werde durch eine Anzahl
von Monaten Gefängnis in einen Heterosexuellen umgewandelt,
sei kindisch. Bei Vergehen gegen § 175 sei es anders als bei
anderen Delikten; betrügen, stehlen, rauben u. s. w. könne man
nur selten im Geheimen, dagegen bei einiger Vorsicht könne
gleichgeschlechtlicher Verkehr unentdeckt im Geheimen betrieben
werden, dann pralle jeder Strafzweck an dem Homosexuellen
ab und wenn einmal ein ganz ungeschickter erwischt und bestraft
werde, so habe man lediglich dem Abscheu vor der Schweinerei
Ausdruck gegeben. Dies sei aber kein berechtigter Strafzweck.
5) Eine nicht zu übersehende praktische Folge läge in
dem Heiraten der Homosexuellen. Ein Teil heirate, um sich das
Heterosexuelle „anzugewöhnen". Diese Annahme sei regelmäßig
falsch. Unglückliche Ehen seien die Folgen; geisteskranke, schwer
belastete oder perverse Kinder seien aus einer solchen Ehe zu
befürchten. Wenn, was Fachmänner wohl mit Recht behaup-
teten, ohne den § 1 75 viele Homosexuelle nicht heiraten würden,
so sei ein kleineres Übel in dem homosexuellen Verkehr der
ledigen Homosexuellen zu erblicken, als in der Ehe des Un-
— 977 —
glücklichen, der an eine ebenfalls unglückliche Frau gebunden sei
und vielleicht kranke Kinder zeuge.
6) Vielleicht verschwände nach Streichung des § 175 die
— nach Groß — verpestende, perverse homosexuelle Literatur
ganz oder zum Teil. Die Homosexuellen fühlten sich veranlaßt,
ihren Kummer über den verfolgenden Staatsanwalt in einer
erschreckenden Menge der schädlichsten und ekelhaftesten
Romane, Gedichte und Schilderungen zum Ausdruck zu bringen.
Diese Dinge seien so geschrieben, daß sie häufig auch der
Konfiskation auswichen. Der größte Teil der zur Klasse der
Unentschiedenen Gehörigen werde durch diese Literatur zur
Homosexualität gedrängt.
Es sei nicht unmöglich, daß ein großer Teil dieser Dinge
ungeschrieben bleiben werde, wenn man die Leute in ihrem
widrigen Getriebe ungestört lasse. Wolle man auch annehmen,
daß heute zu nachsichtig von den Normalen über die Strafbar-
keit des gleichgeschlechtlichen Verkehrs zwischen Erwachsenen
gedacht werde, so könne man doch sagen, dann, wenn man den
erwischten Perversen nicht mehr einstecke:
„Treibt, was Ihr wollt — aber jeder Skandal, jede Ver-
führung, jede nur entfernt pornographisch-perverse Enunciation in
Druck und Bild wird mit äußerster Strenge, bis zur äußersten
gesetzlich zulässigen Grenze und mit brutaler Gewalt verfolgt — u
Wenn das so gehandhabt würde, so habe man in der
Sache mehr Nutzen als heute mit den ohnehin nicht haltbaren
§§ 175 und 129b.
Die Bemerkungen von Groß zeichnen sich durch die
gewohnte juristische Schärfe und Eigenart des bekannten
Verfassers aus.
Der Entwicklungsgang in Groß' Anschauungen über
die homosexuelle Frage hat sich nunmehr soweit voll-
zogen, daß er in den Hauptpunkten mit den Ansichten
Hirschfelds und den meinigen übereinstimmt. Auch nach
Groß stellt die Homosexualität keine Krankheit dar und
entspringt stets einer angeborenen Anlage, auch nach ihm
erscheint das Strafgesetz unhaltbar. Die Einteilung der
Menschen in die von Groß aufgestellten drei Klassen
halte ich für durchaus richtig, nur möchte ich noch eine
vierte hinzufügen, diejenige der sog. psychischen Herma-
phroditen, die nicht mit den „Unbestimmten" zusammen-
— 978 —
fallen, bei denen vielmehr das ganze Leben hindurch der
Trieb zum Weib und zum Mann unverändert fortbestehen
kann, allerdings meist mit vorwiegendem Trieb zum Mann.
Groß' Ausführungen über die Gründe für die Straf-
losigkeit stimme ich völlig bei und verweise in diese^
Beziehung auf meine vorjährige Widerlegung von Wadien-
felds Schrift,
Mit Groß will ich nur hervorheben, daß, wenn man
tatsächlich die Aufrechterhaltung des § 175 noch ver-
teidigen zu können glaubt, man trotzdem nicht daran
denken kann, consequent dem Gesetze den begangenen
homosexuellen Handlungen nachzuforschen und die Ver-
folgung der Homosexuellen planmäßig in Angriff zu
nehmen.
Immer werden nur einige — aber immer noch zuviel
— Unglückliche dem Paragraphen zum Opfer fallen und
gerade durch diesen Paragraphen wird die Meinung er-
weckt werden, daß man die Kleinen hängt und die
Großen laufen läßt.
Würde man aber eine planmäßige Verfolgung der
Homosexuellen in Angriff nehmen, so würden dadurch
so viele Existenzen ehrbarer Männer vernichtet, so viele
angesehene Namen in Mitleidenschaft gezogen und so
viele Skandale erzeugt, daß die öffentliche Meinung selbst
bald die Aufhebung des § 175 verlangen würde.
Welche Skandale, welche allgemeine Erregung durch
diese Strafprozesse dann entstehen würden, kann man
ermessen, wenn man der Folgen und Wirkungen gedenkt,
die die Behauptung, Krupp sei homosexuell und habe
homosexuell verkehrt, hervorgerufen hat.
In einem Punkt muß ich Groß ganz entschieden
entgegentreten, nämlich in seiner Verurteilung und Ver-
dammung der homosexuellen Literatur.
Der Ekel und Abscheu, den Groß bei der Erörterung
einer wissenschaftlichen Frage zum Ausdruck
1
— 979 —
bringt, fällt unangenehm auf. Ich habe mich schon im
vorjährigen Jahrbuch ausführlich über die Berechtigung
des Dichters, die Homosexualität als künstlerischen Stoff
zu benutzen, ausgesprochen, und verweise auf meine da-
maligen Ausführungen.
Daß Unentschiedene durch Lektüre homosexueller
Literatur zur Homosexualität gedrängt würden, glaube
ich nicht. Unter den Homosexuellen der Mittel- und
Volksklassen habe ich so gut wie nie solche gefunden,
welche irgend etwas über Homosexualität gelesen hatten.
Und sollten aus den besseren Ständen einige Unent-
schiedene über ihre homosexuelle Natur aufgeklärt wer-
den, so ist das kein Unglück. Groß nimmt ja selbst an,
daß auch bei diesen Unentschiedenen eine homosexuelle
Anlage angeboren ist.
Besser eine Aufklärung über ihre Natur durch Lek-
türen, als durch sonstige Erfahrungen, vielleicht erst nach
der Heirat, wenn eine Ehefrau in Mitleidenschaft gezogen
wird.
Wer homosexuellen Einflüssen in dem Maße zugäng-
lich ist, daß er durch Lektüre „nach links gedrängt wird",
bei dem steht die heterosexuelle Anlage auf- schwachen
Füßen, in dem verliert die Heterosexualität einen Anhänger,
den sie mit Freuden los werden sollte, denn er hat be-
wiesen, daß seine homosexuelle Anlage überwog, und daß
er reif zum Abfall war; auch von ihm, wenn er auf
heterosexueller Bahn verblieben wäre, würde die Zeugung
homosexueller oder in ihrem Sexualtrieb schwankender
Kinder zu befürchten gewesen sein.
Daß manchen' Hetorosexuellen die homosexuelle
Literatur unsympathisch ist, begreife ich, obgleich eine
objektive Würdigung literarischer Produkte sich von
persönlichen Sympathien oder Antipathien für den be-
handelten Stoff freihalten muß.
Jahrbuch V. 62
— 980 —
Jedenfalls darf man nicht den Teil der Literatur, der
homosexuelle Gefühle und Probleme zum Gegenstand hat,
wegen der Wahl dieses Gegenstandes an sich als ekel«
haft bezeichnen. Dadurch trifft man einen großen Teil
schöner literarischer Produkte der Weltliteratur — wie
Groß aus der Sammlung Kupffers: „ Freundesliebe und
Lieblingminne in der Weltliteratur* ersehen mag — damit
nennt man dann auch ekelhaft insbesondere einen großen
Teil der antiken Literatur, namentlich auch einige Dia-
loge Piatos, hauptsächlich Piatos Symposion. Ebenso wie
nur die wenigsten Menschen Gefühle zwischen Bruder und
Schwester, wie sie die Walküre oder D'Anunzios herrliches
Drama „Lacittamorte* schildern, begreifen, geschweige
denn empfinden können , ebenso wie die Meisten
ein Grauen bei dem Gedanken einer sinnlichen Liebe
zwischen Geschwistern verspüren, und trotzdem Niemand
es wagen wird, die künstlerische Darstellung dieser Gefühle
als ekelhaft zu bezeichnen, ebenso muß eine solche Be-
zeichnung für die homosexuelle Literatur als völlig un-
berechtigt zurückgewiesen werden.
Noch weniger gerechtfertigt ist der Versuch, die
homosexuelle Literatur zur unzüchtigen zu stempeln.
Ein unzüchtiges Produkt liegt nur vor, wenn die
Erregung der Sinnlichkeit, der Geilheit bezweckt wird
und diese Absicht in entsprechenden Darstellungen sich
dokumentiert. Die Art und Weise, wie ein geschlechtliches
Problem behandelt wird, nicht die Wahl des Problems
als Darstellungsstoff an und für sich, entscheidet, ob eine
unzüchtige Schrift vorhanden ist oder nicht. In der
heterosexuellen Literatur finden sich weit mehr Erzeug-
nisse, die map als unzüchtige bezeichnen könnte; Schil-
derungen der intimsten geschlechtlichen Vorgänge in
mehr oder weniger verhüllter Form sind nicht selten und
doch wird man auch hier nicht einmal ohne Weiteres an
strafrechtliche Verfolgung denken und denkt auch mit
— 981 —
Recht nicht daran. In der homosexuellen Literatur ist
dagegen bisher meist ein Eingehen auf direkt grobsinn-
liche Situationen vermieden worden, überall hat man nur
Gefühle und Empfindungen, meist in sehr idealistischem
Gewand gebracht. Eeckhoud's Escal-Vigor1) undEssebac's
homosexuelle Romane2) enthalten nicht eine einzige die
grobsinnliche Seite der Homosexualität betonende Stelle.
Ueber die Berührung durch den Kuß wird in keinem der
Romane hinausgegangen, während man z. B. in Walloths
Sonderling2) nicht einmal dieser Berührung begegnet.
Auch hier hat zu gelten : Gleichheit für Hetero- und
Homosexualität. VerfolgungundBestrafungobscöner,porno-
graphischer Li teratur,Beschfltramgoderwenigstens Duldung
aller Produkte, die diesen Charakter nicht aufweisen.
Hirschfeld, Magnus Dr.: Sappho und Sokrates: Wie
erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu
Personen des eigenen Geschlechts? 2. Auflage.
(Leipzig, Spohr 1902), (36 S. Pr. 1 Mark).
Die erste Auflage der Broschüre war im Jahre 1896 unter
dem Pseudonym Th. Ramien erschienen, jetzt tritt Verfasser mit
seinem Namen auf. Und in der That würde jeder Grund zur
Beibehaltung der Anonymität fehlen, nachdem Hirschfeld als
Forscher auf dem Gebiete der Homosexualität und als Heraus-
geber der Jahrbücher sich einen anerkannten Namen erworben hat.
In seiner Broschüre führt Hirschfeld die Entstehung der
Homosexualität auf die bisexuelle Fötalanlage zurück, auf die
Divergenz zwischen der Entwicklung der Sexualorgane und der
entsprechenden Gehirnzentren. Einer der Ersten hat Hirschfeld
diese Theorie aufgestellt mit Kafft-Ebing und Ellis, die Beide
auch erst in den Jahren 1895 und 1896 mit ähnlichen Auf-
fassungen aufgetreten sind. Als Erster unter den Ärzten hat
Hirschfeld in dieser Schrift die Homosexualität als eine zwar anor-
male, aber keineswegs stets krankhafte Erscheinung bezeichnet.
Hirschfelds Broschüre enthält eine klare, richtige und
trotz des geringen Umfangs der Schrift in den Haupt-
l) Besprochen von mir im Jahrbuch II.
*) siehe weiter unten in der Bibliographie der Belletristik.
62*
— 982 —
punkten erschöpfende Darstellung des Wesens der Homo-
sexualität und der sich hieraus für die allgemeine An-
schauung und den Gesetzgeber ergebenden Konsequenzen.
Das objektive, vorurteilslos und mit tiefer Sach-
kunde geschriebene Werkchen muß jedem unbefangenen
Leser die Überzeugung aufdrängen, daß hier nicht ein
Theoretiker auf Grund abstrakter Deduktionen, sondern
ein mitten im Leben stehender Arzt dank eigener Be-
obachtung der Wirklichkeit zu seinen Schlüssen gelangt
ist und daß hier tatsächlich das wahre Wesen einer heute
immer noch sogar von manchem „Gelehrten" verkannten
Erscheinung enthüllt wird.
La Cara:1] Un ermafrodita psicosessuale Rivista men-
sile di psichiatria forense, etc. 1902. No. 9.
N. N., sehr gebildet, vortrefflicher Charakter, höchst intelli-
gent, erblich schwer belastet, lymphatisch, ward mit 7 Jahren
von einer Dienstmagd zum Coitus gezwungen, was ihm gefiel.
Mit 8 Jahren verliebte er sich in seinen Lehrer und hatte Lie-
besverhältnisse mit verschiedenen Mitschülern ; Begreifen der
Genitalien und passive Päderastie. Onanierte auch. Versuchte
normalen Coitus, kehrte aber vorher wieder zeitweise zur Männer-
liebe zurück, wobei er den passiven Päderasten abgab, selten den
aktiven. Heiratete mit 15 Jahren, hatte mehrere Söhne. Einer
davon war hysterisch. N. N. starb mit 40 Jahren. Zeigte
hysterische Stigmata. Seine Liebe war nur auf Knaben, nie auf
Erwachsene gerichtet. — Verfasser glaubt, daß keine Theorie
seinen obigen Fall erkläre. Er hält ihn für einen psychischen
Hermaphroditen, während er zweifelsohne ein reiner Homo-
sexueller ab origine war, der nur mit Widerstreben den nor-
malen Coitus ausübte. Er ist ein Hysteriker und der Eingang
zum anus bildete eine erotogene Zone und Verf. glaubt deshalb,
daß hier ein Fall von Aberration der Nerven zum Anus (Mante-
gazza) stattfindet, der dann das organische Substrat der physi-
schen Unordnung und der Homosexualität geworden wäre f — Ver-
fasser glaubt endlich, daß hier der abusus im heterosexuellen
Coitus (der kaum existiert hatte) und die Abstinenz zurln-
version geführt hatten und deshalb wäre auch die hypnotische
Suggestion unnütz gewesen!
Man sieht, wie unklar Verf. über die Sache denkt.
') Diese Besprechung hat Medizinalrat Dr. P. Näcke ge-
liefert, wofür ich ihm hiermit meinen Dank ausspreche.
— 983 —
Lombroso: Die Ursachen und Bekämpfung
des Verbrechens (übersetzt von Dr. Kurella und
Dr. Jentsch) Berlin, Hugo Bermühler Verlag, 1902.
In dem dritten Teil: „ Zusammenfassung und
Anwendung auf den Strafvollzug". Drittes Kapitel:
„Die Strafen im Sinne der Kriminal-Anthroprologie
nach Geschlecht, Alter und nach andern Verhältnissen
des Verbrechens und der Verbrecher," findet sich
folgende auf die Homosexuellen bezügliche Stelle.
Homosexuelle: Die Homosexuellen, deren Verbrechen
bei Gelegenheit des Aufenthalts in Kasernen, Kollegien, unter er-
zwungenem Cölibat auftrat, welche Neigung dazu nicht seit der
Kindheit hatten, werden hoffentlich nicht mehr rückfällig werden,
wenn man die Ursache eliminiert; es wird genügen, ihnen be-
dingungsweise eine Strafe aufzuerlegen, denn man kann sie
nicht den geborenen Homosexuellen gleichstellen, welche ihren
schlimmen Hang schon seit der Kindheit betätigen, ohne durch
besondere Ursachen dazu bestimmt worden zu sein und welche
man von Jugend auf isoliert halten muß; sind sie doch eine an-
steckende Pest und schuld an sehr vielen Gelegenheitsver-
brechen.
Hier zum ersten Male — im Gegensatz zu den in
Deutschland herrschenden Anschauungen — wird eine
mildere Bestrafung der Heterosexuellen, welche gleich-
geschlechtliche Handlungen begehen, dagegen eine
dauernde Einsperrung der Homosexuellen verlangt.
Dieser Standpunkt ist nur die logische Folgerung
aus dem von Lombroso vertretenen Sicherungszweck der
Strafen, vorausgesetzt, daß die Homosexuellen wirklich
eine derart drohende Gefahr für die Gesellschaft darstellen,
daß ihre Eliminirung erforderlich ist.
Trotzdem der Führer der neuen kriminalistischen
Richtung in Deutschland, Liszt, den Schutz der Gesellschaft
als Zweck der Strafe betrachtet, will er doch nicht die Be-
strafung der Homosexuellen. Ebenso spricht sich auch
Groß für Straflosigkeit aus.
Die Homosexuellen bedeuten eben keine ihre Elimi-
nirung rechtfertigende Gefahr für die Gesellschaft; ao-
— 984 —
scheinend von instinktiven, alt eingewurzelten Vorurteilen
beeinflußt, die sich in seinem Ausdruck „ansteckende
Pest* kundgeben, versucht Lombroso gar nicht den Be-
weis der Gefährlichkeit der Homosexualität zu erbringen.
Er behauptet nur, sie sei schuld an sehr vielen Gelegen-
heitsverbrechen, womit er ein schwer zu lösendes Rätsel
aufgibt. Denn welche Verbrechen sind Folgen der
Homosexualität ! Oder sollte Lombroso damit die Erpres-
sung meinen und um dieser zu steuern, das Radikalmittel
der Beseitigung der Homosexuellen durch Einsperrung
anpreisen, also um wirkliche Verbrechen zu verhüten,
das Opfer des Verbrechers treffen wollen? Dann wäre
die Argumentation ähnlich der desjenigen, welcher, um den
Diebstahl zu verhüten, die Beseitigung des Eigentums und
die Anerkennung des Anarchismus fordern würde.
Moll, Albert: Sexuelle Zwischenstufen in der
Zukunft von Maximilian Harden N. 50 N. v. 13.
September 1902.
Die Beurteilung vieler die Homosexualität betreffenden
Fragen sei noch streitig. So die Frage, ob sie erworben oder
angeboren sei. Die Erörterungen hierüber seien nicht frei von
Mißverständnissen, zum Teil durch ungenaue Begriffsbestimmungen
hervorgerufen, so z. B. hinsichtlich des Wortes „angeboren."
Angeboren könne nur die Anlage zum Geschlechtstrieb sein.
Es bestehe eine Strömung, welche im Gegensatz zu Krafft-
Ebing die angeborene Anlage leugne und für alle Fälle eine
erworbene Gleichgeschlechtlichkeit annähme. Das hänge offen-
bar mit den Bestrebungen der modernen Psychologie zusammen,
die sich von den frühern Anschauungen der angeborenen Vor-
stellungen möglichst frei zu machen strebe. Ihr sei es sympa-
thischer, möglichst viel als erworben aufzufassen. Unnötig sei
es heute über die Frage der angeborenen oder erworbenen
Homosexualität zu streiten, wenn nicht vorher feststehe, was
beim normalen Geschlechtstrieb angeboren sei. Wer das Ein-
geborensein des homosexuellen Triebes leugne, müsse das
Gleiche bezüglich des heterosexuellen tun und annehmen, daß
letzterer ein Produkt der Erziehung und Nachahmung sei. Die
Unannehmbarkeit dieser Auffassung glaube er aber in seiner
libido sexualis nachgewiesen zu haben; dieselbe ergäbe sich
— 985 —
insbesondere aus den Beobachtungen in der Tierwelt. Sei aber
normaliter der heterosexuelle Trieb eingeboren, so stehe vom
Standpunkt der Psychologie aus nichts im Wege, auch die Mög-
lichkeit anzunehmen, daß bei Einzelnen der homosexuelle Trieb
eingeboren sei.
Die Annahme von dem Erworbensein des homosexuellen
Triebes werde, abgesehen von dem Einfluß einer modernen all-
gemeinen, aber nicht notwendiger Weise richtigen Strömung der
Psychologie noch durch allerlei soziale, legislatorische und foren-
sische Gründe gefördert, die diese Ansicht Vielen sympathischer
erscheinen ließen.
Die Bestrafung aus § 175 suche man oft aus dem Er-
worbensein der Homosexualität mitzubegründen. Damit wolle
man die Homosexualität als eine selbstverschuldete charakterie-
sieren und die Strafbarkeit annehmbarer machen. Dieser Stand-
punkt sei in mehrfacher Hinsicht verkehrt. Erwerbung der Ho-
mosexualität schließe nicht stets Verschuldung ein, z. B. wäre
dies nicht der Fall, wenn Knaben durch . Abhaltung vom weib-
lichen Verkehr — wie dies Manche glaubten — homosexuell
würden.
Aber überhaupt würde die Annahme, daß die Homosexu-
alität selbstverschuldet sei, für die Strafbarkeit belanglos bleiben.
Sonst könnte man ebenso Leute mit erworbenem Blödsinn, die
kriminelle Handlungen begingen, bestrafen.
§ 1 75, der ganz willkürlich bestimmte sexuelle Handlungen
unter Strafe stelle, sei unberechtigt.
Moll bespricht hierauf die Bestrebungen des Komitees
und das Jahrbuch. Er berichtet insbesondere über den Aufsatz
von Neugebauer im 4. Jahrbuch sowie über Karsch's Arbeiten.
Des weiteren hebt er hervor, daß die Ausführungen über das
geschlechtliche Empfinden historischer oder anderer hervor-
ragender Persönlichkeiten im Jahrbuch ganz objektiv und kritisch
gehalten seien. Dies sei um so notwendiger, als einzelne Homo-
sexuelle die Homosexualität als einen notwendigen Wesenszug
eines großen Mannes zu betrachten schienen und in Übertrei-
bungen hinsichtlich der Anzahl der angeblichen homosexuellen
bedeutenden Männer verfielen.
In dem Aufsatz über die Stellung der Bibel zur Homo-
sexualität wirke die Feststellung überzeugend, daß der homo-
sexuelle Verkehr in der Bibel nicht in höherem Grade geächtet
worden sei als viele andere heute straflos gelassenen Handlungen.
Moll erwähnt dann mit Genugtuung, daß in den Jahrbüchern
die sachliche Art, womit Einwände der Gegner bekämpft wür-
den, besonders angenehm berühre. Kein Schimpfen sei da zu
finden, wie manchmal selbst in den sogenannten Wissenschaft-
— 986 —
liehen Zeitschriften. Ob die Gegner durch Entrüstungskomödie,
aufrichtige Meinungsäußerung oder mangelhafte Kenntniß der
Frage zum Widerspruch reizten: stets, selbst wenn ein scharfer
Ton angeschlagen werde, bleibe die Entgegnung sachlich. Jedem,
der die Bewegung zur Aufhebung des § 175 fördern wolle,
könne* nur geraten werden, auf dem beschrittenen Wege fortzu-
fahren. Den Homosexuellen werde manchmal auch von Wohl-
meinenden der Vorwurf gemacht, sie agitierten zu viel. Was
aber sollten sie tun? Wenn sie nicht agitierten, erreichten sie
ihr Ziel niemals. Sie hätten dann höchstens noch einen
andern Weg: sie müßten suchen, nach Art eines rück-
sichtslosen Feldherrn oder Politikers über einen Berg
von Leichen ans Ziel zu kommen. Sie brauchten nur
die Namen von Männern öffentlich zu nennen, deren
Homosexualität notorisch und jeden Augenblick zu
beweisen sei. Sicher würde dann mancher, der die Homo-
sexualität aus tiefster Seele verabscheue, der aber Homosexuellen
ohne deren geschlechtliche Neigung zu kennen, nahe stehe, über
die Enthüllung erstaunt sein. Mancher hohe Beamte, mancher
einflußreiche Politiker würde sich schließlich verwundert sagen:
„Ich glaubte stets, die Homosexuellen seien das elendeste Pack
der Welt, nun höre ich aber, daß mein Neffe, mein Sohn, mein
Freund gleichgeschlechtlich verkehren. Und er ist doch ein
so braver, ausgezeichneter Mensch. Wenn er auch so ist, dann
muß man doch anders über die Sache denken." Dieser Stand-
punkt wäre rücksichtslos und zahllose Existenzen würden dabei
sozial vernichtet werden. Einflußreiche Personen aber würden
dadurch unmittelbar für die Sache interessiert und ein schneller
Erfolg wäre mehr als wahrscheinlich. Trotzdem wäre solches
Vorgehen entschieden zu tadeln. Er erinnere an diesen Weg
nur, weil man den Homosexuellen, die ihn nicht beschritten,
nicht verwehren solle, sachlich zu agitieren.
Ihre Agitation habe ja auch schon zu wesentlichen Er-
folgen geführt. Selbst Männer, für die früher die ganze Frage
ein noli me tangere gewesen, hätten für nötig befunden, sich
Material zu verschaffen und sich über die Homosexualität zu orien-
tieren. Auch aus den Gegenschriften gehe hervor, daß jetzt
dort wenigstens darüber gestritten werde, wie es mit der Not-
wendigkeit des § 175 und mit der sozialen Stellung der Homo-
sexualität beschaffen sei.
Mit Recht könne allerdings gegen manche Schriften, die
für die Aufhebung des § 175 einträten, der Vorwurf erhoben
werden, daß sie nicht wissenschaftlich seien und wissenschaft-
lich nicht fundierte Behauptungen aufstellten. Aber auch Man-
ches, was Vertreter der Wissenschaft zu Gunsten der Aufrecht-
— 987 —
erhaltung des § 175, zu Gunsten der Annahme, daß die Homo-
sexualität erworben und selbstverschuldet sei, anführte«, stehe
weit unter dem Durchschnitt feuilletonistischer Leistungen. Eine
der wenigen Gegenschriften, der er, Moll, wissenschaftlichen
Charakter zuerkenne, wenn er auch ihre Behauptungen und die
Schlußfolgerungen zum Teil für falsch halte, sei die von
Wachenfeld.
Der Versuch von Wachenfeld, die von ihm (Moll) zu
Gunsten der Straffreiheit angeführten Gründe zu widerlegen, sei
ihm nicht gelungen. Immerhin sei bemerkenswert, daß auch
Wachenfeld nicht bedingungslos für Bestrafung des homosexuellen
Verkehrs einträte. Er wolle aber § 51 zu Gunsten der Straf-
freiheit der Homosexuellen benutzen.
Dies könne aber nicht gebilligt werden, denn ein Aus-
schluß der freien Willensbestimmung, wie ihn § 51 erfordere,
sei bei der Homosexualität nur in den seltensten Fällen gegeben.
Moll warnt dann, daß gewisse Homosexuelle nicht über-
triebene Ansprüche erheben sollten.
Man könne die Aufhebung des § 175 verlangen, ohne
deshalb die Homosexualität als einen begehrenswerten Zustand
zu bezeichnen. Sie sei ein pathologischer und krankhafter Zu-
stand, wenn auch das Individuum nicht krank im gewöhnlichen
Sinne des Wortes sei. Damit stehe auch nicht im Widerspruch,
daß die Homosexualität ihren Zweck haben könne, da sie
die Fortpflanzung degenerierter Personen verhindere. Weil
die Homosexualität an sich eine krankhafte Erscheinung sei,
müsse man auch das Individuum als berechtigt zur Herstellung
normaler Gefühle ansehen. Wenn einzelne Homosexuelle die
Umwandlung der Homosexualität grundsätzlich bekämpften, so
sollten diese Herrn einen einseitigen Standpunkt, den sie oft
ihren Gegnern vorwürfen, doch nicht selbst einnehmen. Auch
der Umstand, daß bei Vielen die Homosexualität nicht geändert
werden könne, spräche nicht dagegen, daß man im konkreten
Falle den Versuch mache. Wenn Homosexuelle diesen
oder jenen Fall anführten, wo die Umwandlung nicht geglückt
sei, so bewiesen sie damit nichts gegen die Möglichkeit in andern
Fällen. Es gäbe viele Fälle, wo die Umwandlung der Homo-
sexualität in Heterosexualität gelungen sei. Wenn sonst er-
fahrene Homosexuelle davon nichts wüßten, so sollten sie nicht
vergessen, daß sie von der Existenz vieler Homosexueller keine
Ahnung hätten, daß es eine große Zahl Homosexueller gäbe,
die nur dem Arzt ihre wahre geschlechtliche Natur offenbarten.
Es sei erfreulich, daß auch in diesen Fragen das Jahrbuch
verschiedene Meinungen aussprechen lasse. Nur so könne das
dunkle Gebiet aufgehellt werden.
— 988 —
Jedenfalls sei das Jahrbuch zu einem Werke geworden,
das Jeder, der sich mit den Fragen der Homosexualität be-
schäftige, nicht nur kennen, sondern auch eingehend studieren müsse.
Ein recht günstiges Zeichen, daß in der bekannten
Zeitschrift von Harden ein aufklärender Aufsatz über die
Homosexualität erschienen ist und dies aus der Feder
des Sachverständigen und Erforschers der Homosexualität
XCLT* e^oxijv. Auch in diesem Aufsatz sind wieder Molls
ausgezeichnete Eigenschaften zu rühmen, seine Klarheit,
Schärfe, Sachkunde und Objektivität. Besonders wichtig
erscheint mir, die auch von mir (Jahrbuch II S.
363) vertretene und von Wachenfeld (Homosexualität
und Strafgesetz S. 68) bespöttelte Ansicht, daß Homo-
und Heterosexualität bezüglich ihrer Entstehungsart gleich
zu beurteilen seien.
Sehr erfreulich ist auch die Anerkennung, welche
Moll dem im Jahrbuch herrschenden wissenschaftlichen,
ruhigen Ton der Objektivität in der Forschung über
homosexuelle Berühmtheiten zollt. Namentlich mögen aber
die verschiedenen feindseligen Stimmen, die schon gegen die
Berechtigung des Jahrbuchs und der Bestrebungen des
Komitees sich erhoben haben, auf Molls treffliche Aus-
führungen in diesem Punkt hingewiesen werden.
Was den von Moll berührten »Weg über Leichen
hinweg" zwecks Aufhebung des § 175 anbelangt,, so darf
derselbe nicht betreten werden, denn mit unlauteren
Mitteln sollen und wollen die Homosexuellen nicht ihr
Ziel erreichen.
Allerdings wenn der Paragraph bei der Revision des
Strafgesetzbuchs trotz allem wieder in das Gesetz aufge-
nommen werden sollte, würde es sich fragen, ob es nicht
Pflicht der Homosexuellen wäre, als ultimum refugium
ihrer Kampfesweise den Weg „über Leichen" zu be-
schreiten, namentlich wenn eine Anzahl Homosexueller
bereit wäre, selbst das Opfer ihrer Existenz im allge-
meinen Interesse zu bringen.
— 989 —
Moll, Albert, Dr.: Wann dürfen Homosexuelle
heirathen? in der Deutschen Medizinischen
Presse No. 6. 21. März 1902.
Zwei Punkte seien bei der Frage der Ehe Homosexueller
zu berücksichtigen; erstens das Verhältnis von Mann und Frau,
zweitens die Nachkommenschaft.
1) Verhältnis von Mann und Frau. Eine Vorbedingung für
die Ehe im Allgemeinen sei die Potenz. Manche ausgesprochen
homosexuelle Männer seien potent. Erection erfolge in
Folge Frictionen oder Vorstellungen sympathischer Männer
u. dgl., ferner bei psychosexueller Hermaphrodisie. Viele Fälle
gäbe es aber auch, wo vollkommene Impotenz bestehe, nament-
lich da wo horror feminae vorhanden.
In letzteren Fällen sei die Ehe ohne weiters ausgeschlossen,
während bei Fällen möglicher Potenz, deren Stärke zunächst zu
berücksichtigen sei.
Bei Manchen erfordere der Coitus eine enorme Anstrengung
und führe wohl auch eine starke Abspannung des ganzen Nerven-
systems herbei und könne daher aus diesen oder ähnlichen
Gründen nur selten ausgeführt werden. Hier bestände keine zur
Ehe hinreichende Potenz.
Für das Weib liege die Sache etwas anders. Zur Ausübung
der Coitus sei bei ihr der heterosexuelle Trieb nicht erforderlich,
auch ohne Wollustgefühl des Weibes ausgeführter Coitus könne
zur Befruchtung führen. Wichtig seien die Fälle allerdings, wo
horror viri vorliege und die Frau deshalb den Coitus zurückweise.
Bei der Heirat sei sodann aber besonders das psychische
Verhältnis beider Teile zu einander zu beachten. Man würde
beim Homosexuellen die Möglichkeit zur Ausübung des Coitus
nicht für genügend halten dürfen, vielmehr auch eine seelische
Neigung zur andern Person verlangen müssen. Dieser Punkt
sei vielleicht noch wichtiger als die Potenz, weil ein psychisches
Mißverhältnis, wie es bei sexueller Antipathie stattfinde, die
, allerbedenklichsten Folgen haben könne. Besonders sei hier
an den homosexuellen Geschlechtsverkehr zu denken, der bei
Homosexuellen, die ohne Neigung geheiratet, oft nach der Ehe
fortgesetzt werde; das gleiche geschähe oft bei homosexuellen
Frauen. Beim Mann und der Frau werde der Arzt, der ihre homo-
sexuelle Anlage kenne und auf Ununterdrücklichkeit des Triebes
schließen könne, von der Eingehung einer Ehe abraten müssen.
Aber auch abgesehen von dem geschlechtlichen Verkehr,
komme bei Homosexuellen das psychische Moment des Ge-
schlechtstriebes und der aus letzterem entspringenden* Liebe
hinzu. Die Ehen würden nicht nur durch den außerehelichen
— 990 —
perversen Verkehr gestört; geschlechtliche Gleichgültigkeit in der
Ehe, Eifersuchtsscenen mit all ihren Folgen, Gewaltakte und
Ehescheidung seien zu befürchten. Störungen der Ehe ohne
Ausübung gleichgeschlechtlichen Verkehrs kämen insbesondere
bei homosexuellen Frauen vor, indem sie Alles, Mann und
häusliche Interessen, einer Geliebten wegen hintansetzten, auch
ohne geschlechtlich mit dieser zu verkehren.
In manchen Fällen würden nun allerdings Ehen geschlossen,
bei welchen beide Teile von vornherein auf sexuellen Verkehr
und psychosexuelle Beziehungen verzichteten, z. B. bei Vernunft-
und Versorgungsehen alter Leute. Auch Homosexuelle heirateten
manchmal, die vorher mit dem andern Teil sich geeinigt, daß
ein sexueller Verkehr nicht stattfinden solle. Es seien ihm (Moll)
sogar Fälle von Eheschließungen zwischen einem homosexuellen
Mann und einer homosexuellen Frau bekannt, die beide mit einander
übereingekommen, keiner dem Anderen in Beziehung auf den
homosexuellen Verkehr Beschränkungen aufzuerlegen. Die Frage
der Eheschließung in allen diesen Fällen sei nicht ärztlicher
sondern ethischer und sozialer Natur.
Mehr in das Gebiet des Arztes gehörte die Frage, ob die
Ehe als ein Heilmittel gegen die Homosexualität zu betrachten
sei: In Fällen psychosexueller Hermaphrodisie, und zwar in
solchen, wo homosexuelle Neigung nur dann vorhanden, wenn
ein heterosexueller Verkehr längere Zeit nicht stattgefunden, könne
in der Ehe ein Heilmittel gesehen werden. Es frage sich aber,
ob dieselbe nicht aus anderen Gründen contraindiciert sei, z. B.
mit Rücksicht auf die Nachkommenschaft.
Die Heirat des Homosexuellen sei contraindiciert, wenn
eine degenerierte Nachkommenschaft zu erwarten sei. Beliebige
nervöse Sypmtome könne man allerdings nicht als hinreichend
ansehen, um von der Ehe abzuraten.
Gefährdung der Nachkommen sei jedoch wahrscheinlich,
wenn der Homosexuelle — Potenz bei ihm vorausgesetzt — aus.
einer Familie stamme, wo schwere erblich belastende Nerven-
oder Geisteskrankheiten in größerer Zahl aufgetreten seien.
Besonders sei die Ehe zu verbieten, wenn der Homosexuelle ein
nicht aus absolut gesunder Familie stammendes Mädchen oder
gar eine Blutsverwandte heiraten wolle. Der Arzt müsse in
jedem Einzelfall die einschlägigen Verhältnisse aufs genaueste
prüfen und der eingehenden Würdigung der Potenzfrage, der
Berücksichtigung des gesamten sexuellen Empfindens sowie der
Frage erblicher Belastung nach jeder Richtung seine Aufmerk-
samkeit zuwenden.-
— 991 —
Die Frage des Eheabschlusses Homosexueller ist eine
sehr wichtige und mit Recht beginnen jetzt sachverstän-
dige Aerzte ihr nahe zu treten: Im Jahrbuch III tat
es schon Hirschfeld, jetzt folgt ihm Moll mit dem obigen
kurzen, aber gediegenen und inhaltsreichen Artikel.
Die Frage beansprucht große Bedeutung, einmal, weil,
tatsächlich viele Homosexuelle verheiratet sind und dann,
weil bisher die meisten Aerzte bei der Prüfung der Vor-
bedingungen der Ehen die Homosexualität gewöhnlich
völlig außer Acht ließen oder wenn sie die homosexuelle
Natur des Patienten kannten, allzu oft ihm die Ehe als
Heilmittel „ gegen seine • schlechten Gewohnheiten und
seltsamen Gedanken" anempfahlen.
So kenne ich einen Arzt, der Krafft-Ebings Psycho-
pathia sexualis gelesen hat, aber trotzdem einem Homo-
sexuellen die Heirat angeraten hat im Glauben, der
gleichgeschlechtliche Trieb würde schon nach Eingehung
einer Ehe verschwinden!
Die Ehen Homosexueller sind allerdings nicht immer
unglücklich; zwar wird nur selten ein glückliches weiteres
Zusammenleben möglich sein, wenn die Frau die Homo-
sexualität des Mannes erfährt.
Dagegen kann ein ganz leidliches, ja glückliches
Verhältnis zwischen den Eheleuten Jahre lang bestehen,
.wenn die Frau von der Anomalie des Ehemanns nichts
ahnt und dieser potent sowie die Frau wenig bedürftig
ist. Auch solche Ehen sind mir eine ganze Reihe be-
kannt, wo der Mann außer dem Haus geschlechtlichen
Verkehr mit Männern — , aber stets nur in vorüber-
gehenden Abenteuern — sucht und ein ruhiges und be-
friedigendes Eheleben mit der nichts ahnenden Frau führt.
Mag auch bei Abschluß der Ehe noch so große Aus-
sicht vorhanden sein, daß ein etwa nach der Ehe fort-
gesetzter homosexueller Verkehr dem andern Teil ver-
borgen bleiben wird — eine Aussicht, die übrigens stets
— 992 —
nur recht ungewiß sein kann — , so wird doch der Arzt
immer von der Eingehung der Ehe abraten müssen, wenn
überhaupt homosexueller Verkehr nach der Ehe zu er-
warten ist und der homosexuelle Teil dem andern seine
Natur verschweigt.
Moll, Albert: Wie erkennen und verständigen
sich die Homosexuellen untereinander!
(Im Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminal-
statistik von Groß, 9. Bd. 2. u. 3. Heft — 3. Juli
1902 ausgegeben — S. 157—159.
Das gegenseitige Erkennen der Homosexuellen beruhe
wohl nicht auf irgend welchen mysteriösen Fähigkeiten. Der
Blick spiele eine Rolle, aber nicht in anderer Weise, als auch
sonst im Leben. Bestimmte äußere Merkmale habe er, Moll, nicht
ermitteln können, trotz Befragen der verschiedensten Homosexuellen
des In- und Auslandes. Von zuverlässigen Seiten wurde ihm
erwidert, daß die Kleidung keine wesentliche Rolle spiele. Auch
in dem Tragen eines Ringes sei ein specifisches Erkennungs-
zeichen nicht zu finden. Von glaubwürdiger Seite werde ihm
berichtet, daß eine Zeitlang das Tragen einer Nelke eine Rolle
gespielt. Eine rote Nelke habe danach bedeutet: ich bin frei,
d. h. ich suche ein Verhältnis, eine weiße: ich bin vergeben.
Als äußeres Erkennungszeichen, solle angeblich gelten eine
gewisse Bewegung mit der Zunge, bald ein langsameres Hin-
und Herziehen der flachen Zunge, bald ein schnelleres Bewegen
der spitzen Zunge von einen Mundwinkel zum anderen. Es wäre
interessant, festzustellen, ob sonst noch solche äußere Mittel
zur Verständigung beständen, ähnlich wie es Andeutungen eines
Argot • bei den Homosexuellen gäbe. In letzterer Beziehung nennt
Moll die Ausdrücke „Tante", „Onkel", „er ist so", „er ist vernünftig".
Als weniger bekannt erwähnt dann Moll das Wort: „er
wohnt in der Gabelsberger Gasse", was so viel bedeute wie der
Betreffende habe ein kleines Membrum.
Moll trifft vollkommen das Richtige, wenn er an-
nimmt, daß es überhaupt keine speziellen Erkennungs-
zeichen der Homosexuellen untereinander gibt.
Wohl wird manchmal von Homosexuellen als Er-
kennungszeichen angeführt: Winken mit dem Taschen-
tuch, Tragen einer Blume im Knopfloch oder eines
— 993 —
Ketteilrings am kleinen Finger. Ferner: Bewegen der
Zungenspitzen von einem Mundwinkel zum andern, endlich
besonders das Berühren der Handfläche des Partners mit
dem Zeigefinger beim Händedruck. Letzteres Merkmal
steht aber gerade auch bei Heterosexuellen als angeb-
liches Zeichen der Homosexuellen so sehr in Ruf, daß
manche Heterosexuelle aus Ulk oft eine derartige Be-
rührung beim Händedruck anwenden.
Alle diese Zeichen haben so gut wie keine Be-
deutung und durch sie allein werden wohl kaum
homosexuelle Bekanntschaften geschlossen. Dieselben
kommen vielmehr auf ganz natürliche Weise zu Stande:
Zwei Homosexuelle begegnen sich, finden Ge-
fallen an einander, drehen sich um und bleiben
stehen, nähern sich langsam, knüpfen ein gleichgültiges
Gespräch an und wissen nach wenigen Minuten über ihre
Natur Bescheid. Die gegenseitige Sympathie und das
aus ihr entspringende beiderseitige Entgegenkommen
haben ohne mystische Zutaten zur raschen Verständigung
und Bekanntschaft geführt. Am leichtesten wird die
Bekanntschaft auf den Strichen geschlossen, wo die Homo-
sexuellen von vornherein die Begegnung Gleichgesinnter
zu gewärtigen haben.
Hüller, Joseph, Dr.: Das sexuelle Leben der
alten Kulturvölker.
Müller erwähnt den gleichgeschlechtlichen Verkehr abgesehen
von einer kurzen Bemerkung betreffend die Perser nur in einigen
wenigen Seiten (72—76) bei Besprechung der Griechen und
später bei Behandlung der Römer, wo er nur Altbekanntes be-
richtet. Er steht ganz auf dem veralteten Standpunkte und
scheint die neueren Forschungen über die Homosexualität nicht
zu kennen oder nicht kennen zu wollen.
Die gleichgeschlechtliche Liebe der Griechen deutet er in
der Hauptsache nur als Freundschaft; Socrates nimmt er lebhaft
gegen die Behauptung, Päderast gewesen zu sein, in Schutz.
Aus den letzten Werken Piatos will er ein Verdammungsurteil
des Philosophen gegen homosexuellen Verkehr herleiten.
— 994 —
Die Verbreitung der lesbischen Liebe in Griechenland be-
schreibt Müller gestützt lediglich auf die bekannte Schrift von
Walcher, die aus dem Jahre 1816! stammt.
Die mehr wie spärliche Behandlung der Homo-
sexualität bei Müller wird begreiflich, wenn man
bedenkt, daß Müller gleichzeitig ein Buch über das sexu-
elle Leben der Naturvölker geschrieben hat (Leipzig,
Griebens Verlag, 2. stark vermehrte Auflage 1902), in
dem er es fertig bringt, trotz Karsch's Forschungen auch
nicht mit einer Silbe den gleichgeschlechtlichen Verkehr
der Naturvölker zu erwähnen. Daher nimmt auch die
oberflächliche Darstellung der Homosexualität bei den
Griechen nicht Wunder, welche sich einfach auf den ver-
alteten, vor den Forschungen über Homosexualität üb-
lichen Philologenstandpunkt stellt. Eine ausführliche
Widerlegung lohnt sich nicht; ich verweise auf MolPs
Ausführungen in seiner conträren Sexualempfindung (2.
Auflage S. 42 — 55) und besonders auf die eingehendste
Erörterung des Thema's bei Ellis und Symonds. (Das con-
träre Geschlechtsgefühl, deutsch von Kurella, Bibliothek
der Sozial Wissenschaften, jetzt Verlag Spohr Kapitel 3:
Die Homosexualität in Griechenland S. 37 — 126.)
Ich will nur bemerken: Ob Socrates selbst homo-
sexuell verkehrt hat oder nicht, erscheint gleichgiltig,
Tatsache ist, daß Socrates an der Schönheit der Jünglinge
höchstes Entzücken fand und sogar Knabenbordelle be-
suchte. Denn in einem dieser Häuser sah er zum ersten
MalePhaedon, denselben, dessen Namen ein Dialog Piatons
trägt> denselben, der noch am Abend vor Socrates Tod
bei ihm weilte (Ellis S. 90—91). Wenn Plato auch in
seinem Alterswerk, den „Gesetzen", seinen Standpunkt
geändert hat, so beabsichtigt er damit nicht absolute
Mißbilligung der Knabenliebe, vielmehr nur Mißbilligung
jeglicher Wollust zum Ausdruck zu bringen, indem er,
alt geworden, den erotischen Trieb nur als Mittel der
— 995 —
Zeugung noch gelten laäsen will, „ während er als junger
Mann Sympathie für Liebe gefühlt hatte, soweit sie
päd erastisch war und sich nicht Frauen zuwen-
dete" (Ellis S. 102). Aus diesen „ Gesetzen" kann man
aber überhaupt ebensowenig auf die allgemeine An-
schauung über Homosexualität in Griechenland schließen,
als man aus Tolstois Kreuzersonate die Verdammung der
Wollust sogar innerhalb der Ehe als allgemeine An-
schauung betrachten darf. Piatos frühere Dialoge, ins-
besondere sein Symposion beweisen, wie die homosexuelle
Liebe in Griechenland gleichsam eine staatliche Institution
bildete und wie der homosexuelle Verkehr nicht nur
nicht als verabscheuungswürdiges Laster galt, sondern
eine den damaligen Sitten tief eingewurzelte und ihnen
entsprechende Erscheinung bedeutete.
Dies geht namentlich hervor aus dem Benehmen des
Alcibiades gegenüber Socrates am Schlüsse des Symposion
und aus der Selbstverständlichkeit und Offenheit, mit der
Alcibiades Verführungsversuch dort geschildert wird, des
Weiteren erhellt dies aus dem Lob, welches Plato dem
Socrates für seine Standhaftigkeit und seine als Herois-
mus gepriesene Enthaltsamkeit spendete, ein Lob, das
heute gegenüber einem heterosexuellen Mann gar seltsam
erscheinen würde. Welchen Heterosexuellen würde man
heute als Tugendhelden feiern, weil er den Reizen eines
Jünglings nicht unterlag!
Näcke, P.: Angebot und Nachfrage von Homo-
sexuellen in Zeitungen im Archiv für Kriminal-
anthropologie und Kriminalstatistik von Groß 8. Bd.
3. und 4. Heft, Nummer vom 20. März 1902
(S. 319—350).
Näcke gibt 29 fast ausschließlich aus Berliner Zeitungen
entnommene Annoncen wieder.
Näcke teilt diese Annoncen in drei Kategorien ein.
1) verdächtige (12), 2) so gut wie ganz sicher homosexuelle
Anzeigen (7), 3) solche, die gleichzeitig durch masochistische
Jahrbuch V. 63
— 996 —
oder sadistische Neigungen auf homosexueller Basis complicirt
seien (10).
Oberall suchten fast durchweg Herrn, selten Damen. Alle
schienen den besseren Ständen anzugehören. Bisweilen werde
der Sport vorgeschoben, so das Radeln. Sonst seien viele
Annoncen so allgemein gehalten, daß möglicher Weise nichts
Homosexuelles zu Grunde liege, so namentlich in Kategorie 1.
In den Anzeigen der Kategorie II sei von Verdacht kaum
mehr die Rede. Hier seien Überschriften und Chiffre oft schon
so charakteristisch, daß die Homosexualität hier wohl außer
allem Zweifel stehe; so z. B. No. 13: „Ohne Vergütung sucht
junger Mann von angenehmen Äußeren und mit vielen Sprach-
kenntnissen Stellung als Reisebegleiter. Offerten an Uranus."
14. (Aus dem Journal de. Paris 1895) „Jeune Scandinave
cherche äme Ibs&iienne«.
Die Kategorie III sei vielleicht die interessanteste, weil hier
die Homosexualität ganz verhüllt erscheine und die damit
verbundene Complication wohl auch nicht für jeden offen zu
Tage liege. In der Kategorie III spiele die Energie oder Strenge
der betreffenden Person eine große Rolle; dieselbe scheine für
sadistische Praktiken zu sprechen; namentlich inNo. 21. „Strenge,
energische Masseurin, in Allem erfahren, wünscht noch vornehme
Dame zu massieren." No. 26 „Ergebenen Freund wünscht sehr
energischer jüngerer Herr." Es sei wohl ein bloßer Tric, daß
es sich so oft um bloße Erziehung von Knaben oder Mädchen
handeln solle wie z. B. in No. 25: „Energischer Herr erteilt
ohne Vergütung Nachhilfeunterricht."
Allerdings sei es nicht über allen Zweifeln erhaben, ob in
Kategorie III echte Homosexualität vorliege; wenn aber, dann
könne es sich nur um eine Komplication von Masochismus
oder Sadismus handeln.
Wenn man das Ganze überschaue, so scheine namentlich
in Kategorie I mehr das platonische Verhältniß in der Homo-
sexualität hervorgehoben zu werden, doch trete das Carnale in
Chiffren wie Sappho, Antinous und zum Teil gewiß auch in
Kategorie III zu Tage.
Sogar echte, d. h. angeborene Homosexuelle pflegten nur
ganz ausnahmsweise rein platonische Liebe, sie seien gewöhnlich
der ein- oder doppelseitigen Onanie ergeben, selten dem coitus
per os, dagegen betrachteten sie — und dies sei wohl ein Haupt-
unterschied zwischen dem echten und falschen Homosexuellen —
nur mit Abscheu die eigentliche Päderastie und betrieben sie nicht.
Es sei schwer zu sagen, ob die Annoncen mehr von echten
Urningen oder ganz alten Roues ausgingen, und welche von
beiden Gruppen vornehmlich auf das Zeitungsblatt reflectiere.
— 997 —
Der echte Invertierte sei wohl von Charakter zu mißtrauisch
und scheu um eine Annonce zu wagen.
Eine interessante Frage hier wäre noch die, woran sich
echte und falsche Homosexuelle gegenseitig erkennten. Man
wisse darüber nur sehr wenig Sicheres. Die auffallenden Chiffren
erkenne wohl auch der Laie als Lockvögel, ebenso gewisse
Adjective, wie „einsam", „energisch", „modern". Daneben
hätten die Homosexuellen aber vielleicht noch eigene Umdeutungen
harmloser Worte in Schrift und Wort, oder Zahlen, noch wahrschein-
licher aber gewisse äußere Zeichen in Miene, Haltung, Kleidung,
Schmuck u. s. w. Der Blick solle oft schon das Übrige tun. Immerhin
ahne man hier nur ein Rotwälsch in Wort, Schrift und im
Äußeren der Homosexuellen. Eher dürfe man etwas Näheres
hierüber von den männlichen Prostituierten und den alten Roues,
als von den verschwiegenen und scheuen, echten Invertierten
erfahren.
Näcke berichtet dann eingehend über den in dem „Frtihrot"
veröffentlichten Artikel: „Eine praktische Enquete über die
Häufigkeit der Homosexualität".
In vielen Fällen der Antworten gewinne man den Eindruck,
als wenn es sich nicht um echte, sondern um später gewordene
Homosexuelle handele, weil mehr oder minder unverfroren
die sinnliche Seite, sogar mit Ueberlassen der speciellen Form
des substituierten geschlechtlichen Aktes herausgekehrt werde.
Im Großen und Ganzen machten aber die meisten Eingaben
einen durchaus günstigen, würdigen Eindruck und man gewinne
Erbarmen mit diesen Verkannten.
Näcke bespricht dann ziemlich weitläufig eine von Panizza
in der „Gesellschaft" Januarheft 1895 mitgeteilte Annonce und
Panizzas daran anknüpfende Betrachtung über Bayreuth und
die Homosexualität.
Näcke sagt unter Anderem im Anschluß an Panizzas
Ausführungen: Man dürfe die ganze Homosexualität weder mit
theo- noch teleologischen Augen ansehen, sondern nur mit
nüchternen, naturwissenschaftlichen. Unzählige Heterosexuelle
seien heutzutage gezwungen, den „Naturzweck" nicht zu erfüllen,
besonders unter den Weibern, aber auch unter Verheirateten.
Unter den letzteren fänden sich alle Uebergänge im intimen
Verkehr zwischen allen Arten der hetero- ja sogar homosexuellen
Praktiken. Man habe sehr richtig vom sexuellen Standpunkt
die Menschen in „Denk- und Geschlechtsmenschen" eingeteilt.
Bei ersteren prävalire das stete Denken so, daß die sexuelle
Sphäre wie ausgetrocknet erscheine; sie seien geschlechtlich
kühl, brauchten deshalb aber noch lange nicht homosexuell oder
entartet zu sein. Das andere Extrem bildeten die „Geschlechts-
63*
— 998 —
menschen" die Sinnlichen, die am allerwenigsten beim Akte an
den „Naturzweck" dächten. Die Meisten bewegten sich zwischen
beiden Polen. Was sie also unterscheide, sei nur der Grad des
heterosexuellen Geschlechtstriebes. Hieraus könne Niemandem
ein Vorwurf gemacht oder ein Verdienst zudiktiert werden. Es
solle sich aber deshalb Niemand für besser Halten, als die den
Kühlem hinsichtlich des heterosexuellen Gefühls nahestehenden Homo-
sexuellen, die gleichfalls wieder bezüglich ihres invertierten Ge-
schlechtstriebes in Denk- und Geschlechtsmenschen mit allen
Nuancen einzuteilen seien. Auch hier werde man schließlich den
sinnlichen, den eigentlichen Päderasten keinen Vorwurf machen
können und nur deshalb erschienen die Meisten darunter ver-
ächtlich, weil sie alte Wollüstlinge seien, die schließlich in der
Inversion ihre letzte Zufluchtsstätte suchten. Er, Näcke, halte
die Inversion nur für eine Varietät, meinetwegen Abnormität,
aber nicht für eine pathologische Anomalie, obgleich sie auch unter
letzterer Form auftreten könne. Die „Symbiose" mit den
wahren Invertierten die zum großen Teile gewiß edle, aufopfernde
Menschen seien, könne den Heterosexuellen nur nützlich sein.
Man solle erstere also nicht abstoßend behandeln in pharisäischer
Selbstgerechtigkeit. Mit Recht betone Panizza, daß bei den
wahren Invertierten, der carnale Verkehr die „große Seltenheit"
bilde, dagegen habe Panizza Unrecht zu behaupten, daß die
ganze Richtung der Homosexulität etwas Kraftloses, Ver-
schwommenes, Weichliches, dem Grobsinnlichen Widerstrebendes,
Scheues und Feiges habe. Diese Züge, sagt Näcke, kämen
höchstens nur den passiven, weiblich gearteten Homosexuellen,
nicht den männlichen, activen zu.
Gerade der Laie stelle sich unter den Invertierten leider
immer den ersteren vor, der unter den Echten vielleicht gerade
den seltenen Typus bilde. Daß aber auch der männlich
Geartete die Oeffentlichkeit scheue, sei heutzutage ganz natürlich.
Zum Schluß wendet sich Näcke noch gegen die weiteren
Ausführungen Panizzas, wonach im Parsifal von Wagner die
homosexuellen Eigenschaften symbolisiert wären und Parsifal
sowie der Gralsritterverband völlig homosexuell gedacht seien.
Gewiß würden im Parsifal alle die betreffenden Eigen-
schaften, die der wahre Homosexuelle hoch halte, apotheosiert,
aber dies seien nur oberflächliche Analogien, die noch lange
keine Gleichheit darstellten. Die von den Gralsrittern bezweckte
Ertötung des Fleisches könne wohl sexuelle Indifferenz hervor-
bringen, was aber noch lange nicht gleichbedeutend mit Homo-
sexualität sei. Der Homosexuelle sei durchaus nicht sexuell
indifferent.
— 999 —
Die interessanten und wie stets bei Näcke von selb-
ständigem Denken zeugenden Ausführungen verdienten
eine eingehende Wiedergabe.
Die Annoncen der zweiten Kategorie sind, wie Näcke
mit Recht annimmt, wohl sämtlich von Homosexuellen.
Bemerkenswert ist der Umstand, daß von diesen 7 homo-
sexuellen Annoncen 4 von Frauen und nur 3 von
Männern herrühren. Näckes Auffassung, als sei es mög-
lich, aus den Annoncen zu entscheiden, ob es sich um
wahre Homosexuelle oder heterosexuelle Rouäs handelt,
kann ich nicht beitreten, da ich überhaupt heterosexuelle
Rou&s, die auf den gleichgeschlechtlichen Verkehr als
ein letztes Reizmittel verfielen, noch nicht kennen gelernt
habe. Näcke hat übrigens jetzt selbst die Meinung, als ob
öfters der gleichgeschlechtliche Verkehr letztes Stadium
eines Lasterlebens alter heterosexueller Rou£s bilde, auf-
gegeben (z. vgl. weiter unten : Zeitungsannoncen von
weiblichen Homosexuellen. S. 959.) Des Weiteren sind auch
nicht die meisten Homosexuellen scheu [und schüchtern.
Es gibt sogar recht Freche unter ihnen.
Die Vermutung von Näcke, als ob zwischen den
Homosexuellen eine Art Geheimsprache bestände, mittels
deren sie sich verständigten, muß ich als unzutreffend be-
zeichnen. Die Bekanntschaften zweier einander fremden
Homosexuellen kommen auf ganz natürliche Weise zu Stande
(vergl.oben den Aufsatz von Moll und meine Ausführungen
dazu S. 951.)
In einer abgekürzten Annonce vermutet Näcke
geheimnißvolle Verständigungen. Dieselbe lautet jedoch
zweifellos: Je femmedumonde d£sire collaboratrice £gale-
ment femme du mondepour travaux d'agr^nients. Dabei
erscheint die Annonce auf den ersten Blick vielleicht un-
verständlich, weil Druckfehler vorhanden sind, es muß
heißen: collaboratrice nicht collobarotrices. Ferner fe
— 1000 —
ohne Accent statt f6, vielleicht heißt es auch irrtümlich
femme du monde anstatt une femme du monde.
Der von Näcke besprochene Aufsatz von Panizza
ist mir seit seinem Erscheinen bekannt. Die Ausführungen
Panizzas, denen auch Näcke in der Hauptsache widerspricht,
geben ein völlliges Phantasiegebilde über die Homosexualität
und beweisen, daß Panizza keine Ahnung von der Homo-
sexualität hat. Sie bilden das Gegenstück zu der irrigen
Anschauung über die Homosexualität als einer einfachen
lasterhaften Gewohnheit Heterosexueller, entsprechen aber
ebensowenig wie diese Anschauung der Wirklichkeit.
Es ist völlig unzutreffend, die homosexuelle Liebe als
eine rein platonische, des Verlangens nach fleischlichem
Verkehr entbehrende, kraftlose Leidenschaft aufzufassen.
Die Akte der Homosexuellen sind nicht bloß von
symbolischer Bedeutung, es sind Aequivalente der Be-
friedigungsart zwischen Mann und Frau.
Näcke, Homosexuelle Annonce (unter Kleinen Mit-
teilungen im Archiv für Kriminalanthropologie und Kri-
minalstatistik von Groß Bd. 9, Heft 2 und 3, S. 217
u. 218).
Näcke teilt folgende ihm von einem Kollegen aus Hamburg
aus einem großen Hamburger Blatte stammende Annonce mit:
„Frauen-Freundschaft."
„Gebildete, geistreiche, freidenkende Dame sucht die Bekannt-
schaft einer reichen Dame zwecks freundschaftlichen Verkehrs.
Offerten erb. an „Sappho" hauptpostlagernd Hamburg.«
Näcke meint, unverschämte Annoncen, wie diese, seien
von Seiten der Frauen viel seltener, als seitens der Männer.
Daß hier eine reiche Dame, gesucht werde, deute viel-
leicht auf gewerbsmäßige Homosexualität, mindestens aber auf
Parasitentum hin, da ihr sonst das Vermögen der „Freundin*
gleichgiltig sein müßte. Sie wolle offenbar mit ihr und auf ihre
Kosten in dulci jubilo leben. Daß Masseure und Masseusen
gern sich zu unzüchtigen Handlungen hergäben, habe er schon
in einem früheren Aufsatz erwähnt, ebenso das schändliche
Erpressertum, dagegen habe er nicht an die Möglichkeit gedacht,
daß auch sonstige Verbrechen geschehen könnten. De Blasio 1901
— 1001 —
habe mitgeteilt, daß von den meisten jungen Langfingern Neapels
nicht weniger als 35°/o passive Päderasten seien und zwar um
die Aktiven zu bestehlen.
Näcke, Zeitungsannoncen von weiblichen
Homosexuellen in\ Archiv für Kriminalanthro-
pologie und Kriminalstatistik von Groß. Bd. 10,
Heft 3. (S. 225—229.)
Mitteilung von Zeitungsannoncen (25 von Weibern, 6 von
Männern), in denen Freundschaft mit einer Person des gleichen
Geschlechts gesucht wird.
Dieselben stammen aus Münchener Zeitungen, aus denen
sie innerhalb circa 5 Wochen von einem Studenten gesammelt
worden .
Die meisten sind verdächtig und lassen Schlüsse auf
Homosexualität zu. Näcke erörtert einen Teil der Annoncen und
knüpft einige allgemeine Bemerkungen daran. Er hält seine frühere
Ansicht, daß homosexuelle Annoncen wohl meist von Wüstlingen
herrührten, nicht mehr aufrecht.
Homosexuelle Handlungen zwischen Männern in Internaten
seien wohl häufiger als zwischen Weibern.
Näcke bezweifelt nunmehr (entgegen seiner früheren Ansicht)
stark, daß vorangegangenes Wüstlingsleben Normaler Homo-
sexualität erzeugen könne.
Näcke, Zur homosexuellen Lyrik (unter kleinen
Mitteilungen Nr. 3) im Archiv für Kriminalanthro-
pologie und Kriminalstatistik von Groß. Bd. 14,
Heft 3, S. 283—285.
Näcke teilt das von Eickhoff in einem Flugblatte abge-
druckte Gedicht eines jungen homosexuellen Arbeiters mit und
sagt daran anschließend:
Die homosexuelle Liebe enthalte fast alle die gleichen,
der dichterischen Behandlung werte Momente wie die hetero-
sexuelle, sie habe sogar wegen der sozialen Lage der Invertirten
vielleicht noch tragischere aufzuweisen. Das Gedicht des homo-
sexuellen Arbeiters sei so poetisch und fein empfunden, daß seine
Veröffentlichung gerechtfertigt sei. Die homosexuelle Novellistik
und Lyrik halte er, Näcke, auch deshalb für beachtenswert, weil
sie ein Eindringen in die innerste Psyche der Invertierten ermögliche.
Am wertvollsten sei allerdings stets die Kenntnis lebender
Homosexueller. Erst wenn die Normalen die Homosexuellen
persönlich kennen lernen würden, würden sie viele ihrer Vor-
urteile fallen lassen.
— 1002 —
Näcke. Besprechung von Narkissos Erzählung: Der neue
Werther im Archiv für Kriminalanthropologie und
Kriminalstatistik vonGroß. Band 19,Heft 3, S.295— 296.
Die Geschichte des „armen Werther" zeige deutlich das
frühzeitig erwachende Fühlen. Sie spräche für die anatomische
Theorie des Eingeborenseins, sie illustriere deutlich die Nützlich-
keit aufklärender Lektüre. Aufklärende Volksschriften wie z. B.
die des Comitees seien geboten. Ein Unsinn sei der Glaube,
Jemand könne durch Lektüre erst homosexuell werden. Unbillig
sei es auch Abstinenz vom Homosexuellen zu verlangen, nur
möge er die häßliche Päderastie im eigentlichen Sinne meiden.
Da die homosexuelle Liebe in Allem fast der normalen psyschisch
— nur anders geartet — parallel laufe, sei auch gegen eine
homosexuelle Novellistik nichts Triftiges einzuwenden, so lange
sie nicht pornographisch gefärbt sei.
Es ist sehr erfreulich, daß in demselben Archiv, in
welchem Groß sehr entschieden sich gegen die homosexuelle
Belletristik ausgesprochen hat, der bedeutendste und
eifrigste medicinische Mitarbeiter ihre Berechtigung und
ihren Wert anerkennt.
Näcke P. Dr.: Probleme auf dem Gebiete der
Homosexualität in der Allgemeinen Zeitschrift
für Psychiatrie und psychiatrisch-gerichtlichen Me-
dizin. 59. Bd. 6 Heft (ausgegeben am 15. Dezember)
S. 805—829.)
Zu unterscheiden sei Perversion d. h. : eine anormale sexu-
elle Reizerregbarkeit, die dementsprechend abnorme Akte aus-
löse und Perversität, d. h. Laster und als Spezialfall deren Surrogat-
handlung für heterosexuellen Verkehr.
Näcke erörtert dann die Entwickelung in den Anschauungen
über Homosexualität: Er, Näcke, zweifle jetzt daran, ob es eine
wirklich erworbene Homosexualität gäbe. Theorie des An-
geboren- und des Erworbenseins sei vielfach ein bloßer
Wortstreit, da der Hauptvertreter der Erwerbungstheorie,
Schrenck-Notzing, eine Erwerbung nur auf geeignetem Boden für
möglich halte. Es frage sich nun, ob es wirklich Fälle geben
könne, wo auch eine geringe angeborene Anlage völlig abgehe.
Ein begründetes Urteil könnten nur wirkliche Sachverständige
abgeben, d. h. solche, die Hunderte von Homosexuellen nicht
nur flüchtig gesehen, sondern genau ihr Tun und Treiben beob-
==L\
■M
— 1003 —
achtet und so einen möglichst vollständigen Einblick in ihre
eigentümliche Psyche gewonnen. Dergleichen Sachverständige
deutscher Zunge unter den Schriftstellern über Homosexualität
seien kaum ein Dutzend vorhanden. Als solche kenne er zur
Zeit nur Krafft-Ebing, Moll, Hirschfeld, Fuchs, Schrenck-Notzing,
und Numa Praetorius.
Alle die übrigen, so überaus zahlreichen Autoren seien
keine genügenden Sachverständigen. Sie hätten alle nur wenig
Fälle gesehen und diese meist in der forensen Praxis. Ihr
Material sei ein viel zu geringes und gewöhnlich unter ab-
normen Verhältnissen beobachtet. Ihr Urteil könne daher nur
sehr bedingt maßgebend sein. Auch Krafft-Ebing habe nach
und nach die sogenannten erworbenen Fälle für tardive erklärt, in
denen die latente angeborene Homosexualität durchgedrungen sei.
Man müsse nun die Fälle untersuchen, wo Wüstlinge
zuletzt auf die Homosexualität verfallen seien. Bei der De-
finition des Wüstlings werde vorausgesetzt:
Ein starker Geschlechtstrieb, ein rücksichtsloses, oft gewalt-
tätiges Vorgehen in sexuellen Dingen und drittens (aber
nicht absolut nötig) das Aufsuchen besonderer Pikanterien
vor und während des coitus teils bezüglich der Personen des
andern Geschlechts (sehr junge, alte u. s. w.) teils bezüglich
des Drum und Dran beim sexuellen Akte selbst, der vielfach
variirt werde.
Während perverse Handlungen der Wüstlinge, die gegen
das andere Geschlecht gerichtet seien, immerhin mit dem Nor-
malen zusammenhingen, sei ein eigentliches homosexuelles Vor-
gehen des Roues zunächst ganz unerklärlich, und eine Brücke zum
Verständnis homosexuellen Fühlens erscheine zunächst kaum
möglich. Trotzdem halte er, Näcke, homosexuelles Fühlen des
heterosexuellen Wüstlings nicht für ganz ausgeschlossen. Zu be-
tonen sei aber immer, daß nicht jeder homosexuelle Akt mit
echter Homosexualität verwechselt werden dürfe.
Die homosexuelle Handlung könne bloßer Ausfluß des
Detumescenztriebes sein, ohne daß dabei die Psyche selbst
irgendwie homosexuell denke und fühle.
Bei der sogenannten tardiven Homosexualität sei genau
zu untersuchen, ob es sich um Durchbrechen der Inversion
handele oder nicht.
Als das wichtigste diagnostische Mittel zur Feststellung
der echten Homosexualität betrachte er, Näcke, zur Zeit noch
allein den Traum, in dem sich die wahre Natur unverfälscht
widerspiegele.
— 1004 —
Auch bei den gleichgeschlechtlichen Surrogathandlungen
in Pensionaten u. s. w. entwickele sich vielleicht hier und da
doch ein gewisser Contrectationstrieb, der durch Anwachsen
wohl in einen dauernden Zustand übergehen könne, ohne daß
eine eigentliche Veranlagung vorhanden zu sein brauche.
Dasselbe wäre wohl auch beim heterosexuellen Wüstling
denkbar, der zu homosexuellen Akten übergehe.
Sei dem aber so, dann handle es sich nur um Gradunter-
schiede zwischen einem solchen rudimentären Contrectationstrieb
und dem ausgebildeten der Homosexuellen.
Alle diese Fragen seien noch nicht geklärt. Die Frage
einer wirklich erworbenen Perversion, d. h. ohne alle jede
Veranlagung dazu, sei bis jetzt noch nicht als endgiltig entschieden
zu betrachten.
Selbst aber, wenn stets eine angeborene Anlage vorhanden
sein müsse, so spiele jedenfalls ihr Grad eine bedeutende Rolle.
Bei geringer Anlage sei das Milieu bedeutsam; ob und inwiefern
die Onanie ein begünstigendes Moment sei, stehe auch noch nicht
völlig fest. Gewisse Anomalien der äußeren Geschlechsteile
könnten gleichfalls Inversionen zur Folge haben, aber auch hier
sei sicher eine angeborene Anlage nötig. Daß je Lektüre
über Geschlechts-Perversionen allein Inversion erzeugen könnte,
erscheine mehr als problematisch. Auch die Stärke und die Zeit
des Auftretens der Libido bei Invertirten unterliege noch vielfach
der Diskussion. Wohl mit Recht nähmen Viele an, daß der
Geschlechtstrieb bei Homosexuellen kaum stärker als der
normale und nicht öfters als der heterosexuelle unbezwinglich
erscheine.
Wenn nun jede Homosexualität, auch die tardive, stets an-
geboren sei, so folge daraus, daß sie kein Laster sei, sondern
nur eine andere Betätigung des Geschlechtstriebes, die aber
wegen ihres seltenen Vorkommens noch keine pathologische zu
sein brauche.
Näcke billigt dann im Allgemeinen die Auffassung von
Römer (vergl. Jahrbuch IV) über die Rechtfertigung und den
Zweck der Homosexualität. Mit Recht werde gefragt, ob denn
der Geschlechtstrieb allein Fortpflanzung bezwecke; ohne Ge-
schlechtstrieb würden eine Menge der nützlichsten männlichen
und weiblichen Eigenschaften verloren gehen: Gerade unter den
Homosexuellen hätten sich führende Geister befunden, die un-
endlich mehr für die Welt getan, als wenn sie bloß leibliche
Kinder erzeugt hätten.
Halte man aber die Homosexuellen wirklich alle für Ent-
artete, so wäre Schopenhauers Auffassung, daß die Inversion
ein geeignetes Ausmerzungsmittel von Degenerierten sei, noch
1005
gar nicht so übel und man könnte dann im Interesse der
Gattung nur wünschen, daß recht viele der Entarteten homo-
sexuell und somit meist zeugungsunfähig wären.
Rein naturwissenschaftlich betrachtet, könne man selbst
die Päderastie an sich kaum unnatürlicher finden, darum auch
nicht unmoralischer als den heterosexuellen Geschlechtsverkehr.
In beiden Fällen handele es sich, wie Römer sage, um Abstoßung
eines dem Körper unnützen, ja gefährlichen Stoffes, des Spermas,
unmoralischer höchstens nur dadurch, daß die Gattung even-
tuell Einbuße an Menschenzahl erfahre, was sicher nicht immer
ein Schaden sei.
Es frage sich nun weiter, ob die Invertirten trotz ihres
homosexuellen Denkens und Fühlens an Körper und Geist in
der üblichen normalen Variationsbreite sich bewegen könnten.
Näcke führt dann die verschiedenen Meinungen hierüber
an. Die große Meinungsverschiedenheit über diesen Punkt
liege wohl einesteils an der oft ungenügenden Erfahrung der einr
zelnen Schriftsteller, andererseits an Unklarheiten über verschiedene
Begriffe. Es handle sich da besonders um die Begriffe:
Stigma, Degeneration, Erblichkeit, neuropathologische Anlage, die
vielfach sehr subjektiv aufgefaßt würden.
Schwere, d. h. meist eine mehrfache erbliche Belastung,
die noch nicht ohne weiteres den Betreffenden zum Entarteten
stempele, scheine bei den Invertirten relativ selten zu sein,
einfache erbliche Belastung dagegen öfters, jedoch auch bei den
Normalen sei sie häufig. Gleichzeitiges Vorkommen der Homo-
sexualität in der Ascendenz und den Collaterallen sei merkwürdiger-
weise selten.
Das Vorhandensein einer leichten neuropathologischen An-
lage habe noch nicht Entartung* zur Folge, worunter zu verstehen
sei, ein Zustand schlechter oder erschwerter Anpassung an ein
gegebenes Milieu, meist auf Grund einer angeborenen, bisweilen
aber auch erworbenen, abnormen Gehirnconstitution, die sich nach
außen hin durch somatische oder (noch wichtiger!) funktionelle
Zeichen, Stigmata, kundgäbe. Eine neuropathologische Anlage
des Konträren könne auch sekundär entstehen, bedingt durch
die schiefe Stellung der Homosexuellen und der damit ver-
bundenen Schädlichkeiten auf Geist und Körper. Man müsse auch
beim Homosexuellen eine gewisse Variationsbreite bezüglich der
geistigen Gesundheit annehmen und nur von einer bestimmten, erst
festzusetzenden Grenze ab von neuropathologischer Anlage reden.
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte und obgleich ein-
gehende umfassende, systematische und besonders statistische
Untersuchungen an großem Material zur Zeit noch ausständen,
— 1006 —
könne man doch folgern, daß es auch körperlich und geistig
völlig normale Homosexuelle gäbe.
Sollte sich deren Zahl als eine nicht unbeträchtliche der-
einst herausstellen, so dürfte die Inversion dann einigermaßen
mit Recht als normale Varietät des Geschlechtstriebes hingestellt
werden. Hierfür spräche auch die ubiquitäre und zu allen
Zeiten vorkommende Verbreitung der Homosexualiät.
Immerhin könne man die Homosexualität, da bei den
meisten Homosexuellen ein leichter degenerativer Zustand bestehe,
als ein — wenn auch nicht schweres — Stigma bezeichnen.
Auch bei sonst gesunden Homosexuellen würde man die
konträre Sexualempfindung deshalb als Entartungszeichen ansehen
können, weil unter Annahme der Entstehung der Homosexualität
auf Grund der bisexuellen Uranlage des Menschen sie entschieden
eine gewisse Inferiorität in der Entwickelung des Geschlechts-
triebes darstelle.
Der körperlich und geistig gesunde Uranier sei auch völlig
zurechnungsfähig; die Ansicht von Moll, der jede Inversion
schon als krankhafte Störung der Geistestätigkeit angesehen und
behandelt wissen wolle, teile er, Näcke, nicht. Nur bei — wohl
sehr selten vorkommender und schwer zu beweisender Libido —
ferner beim Vorhandensein einer sehr deutlich neuropathischen
Anlage könne vort verminderter, (bezw. partieller) unter Um-
ständen aufgehobener Zurechnungsfähigkeit die Rede sein.
Bei der Untersuchung des „dritten Geschlechts" dürfe man
nicht die beliebte moralische Brille aufsetzen, sondern vorurteils-
los wie jede andere Naturerscheinung dasselbe betrachten.
Bisher sei es nur wenigen Forschern möglich gewesen,
viele Invertirte in ihrer Häuslichkeit, in ihrem intimen Treiben
zu studieren. Näcke weist dann auf das Komitee und Dr. Hirsch-
feld hin, die bereit seien, wirkliche Interessenten in Kreise von
Homosexuellen aller Art und Stände einzuführen, um ihnen ein
selbständiges und ungetrübtes Urteil über die Homosexuellen
zu ermöglichen. Es sei damit quasi eine „Homosexuellen-Klinik"
geschaffen, die zu benutzen vor allem dringend denjenigen zu
empfehlen sei, die so leicht über die Invertirten den Stab zu
brechen geneigt seien, ohne sie wirklich zn kennen. Denn auch
die Kenntnis einiger forensischer Fälle oder einiger Invertirter
in der Privatpraxis sei ungenügend, da sie nicht in die wahre
Psyche derselben eindringe. Die ganze Frage der Homosexualität
sei keine bloße „Modesache," sondern eine ernste, psychologische,
forense und soziale. Die Uranier seien für den Staat und
die Gesellschaft mindestens ebenso nützlich wie die Hetero-
sexuellen, nach gewissen Richtungen hin vielleicht sogar noch
brauchbarer.
_ 1007 —
Auf alle Fälle sei § 175 aufzuheben, der mehr Schaden
als Nutzen gestiftet habe. Man lasse die Homosexuellen nach
ihrer Weise selig werden und behandle sie gesetzlich nicht anders
als die Heterosexuellen. Näcke faßt dann die Ergebnisse seiner
Studien in 12 Leitsätze zusammen, unter denen No. 2 u. 3
und ein Teil von 4, die in obigem Referat nicht deutlich zum
Ausdruck gekommen sind, erwähnt sein mögen:
„Nr. 2: Die anatomische Theorie der Bisexualität gewinnt zur
Erklärung der Inversion immer mehr an Boden und hat
zweifellos die Zukunft für sich.
Nr. 3: Alle frühzeitig auftretenden Fälle von Homosexualität und
von andern geschlechtlichen Perversionen sind mehr als
wahrscheinlich originäre, d. h. angeboren.
Nr. 4: Das scheint aber auch bei der Mehrzahl der sogenannten
„Tardivena-Fälle stattzufinden, obgleich vor allem hier
noch weitere Untersuchungen nötig sind —."
In einem Nachtrag teilt dann Näcke mit, es hätten sich
ihm zwei Konträre freiwillig vorgestellt. Den einen habe er
schon lange als einen tüchtigen, körperlich und geistig absolut
normalen Landwirt gekannt, ohne seine Homosexualität zu ahnen.
Auch der andere, ein hochgebildeter junger Ingenieur, scheine
ihm in der normalen Variationsbreite sich zu bewegen. Beide
seien durch Schriften aufgeklärt worden, der Landwirt sei vor-
her nahe am Selbstmord gewesen. Man sehe daran, wie wichtig es
sei, anständige aufklärende Schriften über Inversion, von denen
er die von Dr. Hirschfeld verfaßte nennt, zu verbreiten. Viele
würden dadurch geradezu vor Verzweiflung und Selbstmord oder
der schädlichen Ehe bewahrt.
Für ihn, Näcke, sei es jetzt sicher, daß es ganz
normale Homosexuelle gäbe, deren Zahl nicht gering
zu sein scheine.
Dem von echt wissenschaftlichem, kritisch und ob-
jektiv wägendem Geist durchdrungenen Aufsatz von Näcke
ist die Palme unter den wissenschaftlichen Arbeiten aus
dem letzten Jahr zuzuerkennen.
Besonders rühmenswert erscheint es, daß Näcke
nicht zögert, eine frühere Ansicht aufzugeben, wenn er
glaubt, auf Grund besserer Einsicht nicht mehr an ihr
festhalten zu können.
In seinem Endergebnisse gelangt nunmehr Näcke im
allgemeinen so ziemlich auf den von Dr. Hirschfeld und
mir eingenommenen Standpunkt.
— 1008 —
Ich wüßte kaum einen Punkt, in dem ich Näcke zu
widersprechen hätte. Mit Genugtuung bin ich in dem
Aufsatz von Näcke auch der Forderung begegnet, die
ich in meiner vorjährigen Erwiderung auf Wachenfelds
Buch erhoben hatte, indem ich betonte, daß nur Sach-
verständige übet Homosexualität schreiben sollten und •
daß als solche nur die gelten könnten, die Homosexuelle
kennen gelernt hätten. In der Tat, was würde man auch
auf andern Gebieten von Forschern sagen, die über Ob-
jekte gelehrte Bücher schreiben, die sie nie gesehen und
untersucht haben?
Das Hauptinteresse der Erörterungen von Näcke
beanspruchen die Fragen über das Verhältnis der Homo-
sexualität zu der aus Perversität vorgenommenen gleich-
geschlechtlichen Handlung, sowie über das Verhältnis
der angeborenen und tardiven Homosexualität zur sog.
erworbenen. Gerade diese Fragen haben mich schon
öfters beschäftigt und bei der Bekanntschaft von Homo-
sexuellen bin ich stets bestrebt, sie an den konkreten
Einzelfällen zu prüfen. Wirklich zweifellos erworbene
Fälle habe ich noch nicht kennen gelernt. Auf den
theoretischen Beweis, daß eine Erwerbung der Homosexu-
alität nicht möglich sei, will ich überhaupt kein Gewicht
legen und will auch den in meiner vorjährigen Polemik
gegen Wachenfeld — übrigens von Groß aufgestellten
und von mir nur gutgeheißenen — Satz: „daß es nirgends
in der Natur einen Umschlag von Gefühlen gäbe" nicht
als unumstößliche Wahrheit behaupten, denn vielleicht
fände er in der Wirklichkeit in dem einen oder andern
Fall doch eine Widerlegung.
Theoretisch läßt sich die Unmöglichkeit des Erwerbs
der Homosexualität eher darauf stützen, daß in jedem
Menschen die Uranlage bisexuell sei und somit jedes
homosexuelle Fühlen im Zusammenhang mit dem ange-
borenen homosexuellen Trieb stehen müsse, der vielleicht
— 1009 —
zunächst verkümmert und fast völlig auf den O-Punkt
gesunken, durch besondere Umstände aber zur Entwicklung
gebracht worden sei.
Würde man in diesem Sinne auch stets eine ein-
geborene Homosexualität annehmen, so ließe sich doch
unterscheiden, zwischen Fällen, die in früher Kindheit
oder, in der Pubertätszeit oder gleich nachher aus-
geprägtes homosexuelles Fühlen aufweisen, und solchen,
die erst später und nach vorherigem heterosexuellen
Empfinden homosexuelle Neigungen zeigen.
Mag man letztere Fälle, welche vielleicht äußerlich
das Bild einer Erwerbung bieten, als erworbene oder
tardive bezeichnen, so wäre die wichtigere Frage für
solche Fälle die, welche Ursachen die Homosexualität
erzeugt bezw. geweckt haben.
Mit diesen Fällen haben diejenigen der psychischen
Hermaphrodisie, bei denen von vornherein doppeltes
Fühlen besteht, nichts zu tun. Beide Arten dürfen nicht
verwechselt werden. Von Fällen tardiver Homosexualität
kenne ich eigentlich nur einen einzigen, es handelt sich
um einen 50jährige.n reichen Herrn aus angesehener
Familie, der seit etwa 20 Jahren, wie er behauptet, nur
homosexuell fühlt und verkehrt, während er früher hetero-
sexuell verkehrte, heterosexuell fühlte, sich verheiratete
und Kinder zeugte. Erst nach Überstehung einer
monatelangen Krankheit soll sich das homosexuelle Gefühl
eingestellt haben.
Hier würde die Erweckung bezw. Erwerbung der
Homosexualität wohl einer inneren Entwicklung oder
Änderung einer endogenen Ursache zuzuschreiben sein.
Fälle, wo Heterosexuelle durch übermäßigen Verkehr
mit dem Weib, durch Übersättigung homosexuell fühlend
geworden sind, kenne ich nicht. Wohl mag es vor-
kommen, daß mitunter Heterosexuelle den homosexuellen
Verkehr „probiren" wollen, um zu sehen, ob er einen
— 1010 —
speziellen Genoß verschaff^ oder um zu versuchen, dadurch
das homosexuelle Fühlen begreifen zu können.
Ein solcher Fall ist mir bekannt Ein Heterosexueller
gab sich zu gegenseitiger Manustupration mit einem
Homosexuellen hin, er erklärte sich aber nachher von
seiner Neugierde dauernd geheilt.
Die Fälle, bei denen man manchmal am ehesten
zweifeln kann, welches Gefühl eigentlich maßgebend ist,
liegen bei den Prostituierten vor. Manche, die heterosexuell
sind, verkehren doch homosexuell ohne Ekel, ja an-
scheinend mit Genuß. Allerdings ist es schwer, hier
Simulation, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden.
Bei gewissen Heterosexuellen spielt der grobsinnliche
Detumescenztrieb eine solche Rolle, daß er seine Befrie-
digung auch im homosexuellen Verkehr findet. Ferner
gibt es Naturen, die Handlungen, welche andere abstoßen
und anekeln, mit Gleichgiltigkeit vornehmen.
Aber in allen diesen Fällen bleibt das eigentliche
heterosexuelle Fühlen unberührt, ebenso wie viele Homo-
sexuelle, trotzdem sie ohne Ekel und mit Leichtigkeit
mit ihrer Ehefrau coitieren können, dadurch ihre homo-
sexuelle Empfindung nicht verlieren und der Betätiguug
ihrer Homosexualität sich nicht zu enthalten vermögen.
Mit Näcke will ich die Möglichkeit nicht bestreiten,
daß fortgesetzte Befriedigung des Detumescenztriebes
seitens eines Heterosexuellen im homosexuellen Verkehr
Ansätze zu homosexuellem Fühlen hervorbringen möge,
ebenso wie sich Ansätze heterosexuellen Fühlens bei den
verheirateten Homosexuellen vielleicht herausbilden.
Man kann schließlich sogar in jeder Befriedigung
des Detumescenztriebs an einer Person einen Ansatz
zum Kontrektationstrieb gegenüber dem Geschlecht, dem
die Person angehört, finden.
Von Bedeutung wären aber diese Ansätze des homo-
sexuellen Fühlens beim Heterosexuellen nicht.
— 1011 —
Denn erstens ist bis jetzt nicht bewiesen, daß sie sich
zur völligen Homosexualität entwickeln können, und
zweitens, wenn dies möglich sein sollte, so geschähe dies
nur in seltenen Fällen.
Denn — und darauf kommt es an — die
Hauptmasse der Homosexuellen, wie man ihr
in der Wirklichkeit begegnet, wird gebildet
durch diejenigen, welche schon in der Kind-
heit oder zur Zeit der Pubertät oder gleich
nachher homosexuell fühlten.
Die Sachlage ist gerade umgekehrt derjenigen, die
viele Laien und im Punkte der homosexuellen Erfahrung
laienhafte Arzte annehmen. Regel ist das ausgeprägte,
in der ureigensten Natur des Homosexuellen tief einge-
wurzelte homosexuelle Gefühl; dagegen unbewiesen eine
Erzeugung der Homosexualität durch Übersättigung,
Wüstlingtum u. dgl.
Sollten solche Fälle noch erwiesen werden, so wären
sie nur verschwindende Ausnahmefälle; für die Beur-
teilung der Hauptmasse der Homosexuellen wären sie
daher ohne große Bedeutung.
Bernaldo de Qulrös y Ha. cha Llanas Agiiilaniedo. La
mala vida en Madrid. Madrid, Serra, 19011).
Aus dem hochinteressanten Buche des Verf. sei
Folgendes, die Homosexualität Betreffendes, erwähnt.
Verf. unterscheiden vorab 1. solche, die sich als anderes
Geschlecht fühlen, reine Invertirte, 2. Pseudo-Invertirte, die
nur die ihrem eigenen Geschlechte entsprechenden Gefühle
haben und Akte auslösen, 3. die Dimorphen, die aktiv
oder passiv auftreten, 4. die Polytsexuellen=sexuellen
Hermaphroditen Krafft-Ebings. Dann werden näher 19
Uranier beschrieben, mit Kopf- und Körpermaßen, alles
*) Aach diese Besprechung rührt in dankenswerter Weise von
Medizinalrat Dr. Näcke her.
Jahrbuch V.
64
— 1012 —
Prostituierte. Verf. nehmen „ geborene" Invertierte an, viel
seltener solche „aus Laster ". Aus beiden Klassen gehen
die homosexuellen Prostituierten hervor. Solche gibt es
auch in Spanien, den untersten Klassen angehörig.
Weiter wird vermerkt, daß das Geschlechtsgefühl nicht
immer dem äußeren Habitus entspricht, daß also männlichem
Typus weibliche Psyche innewohnt etc. Es sei falsch,
die Uranier als Abortiv-Männer hinzustellen, dier anatomisch
(bez. der Genitalien) den Normalen gegenüber minder-
wertig wären. In Spanien und speziell in Madrid ist das
Volk sehr homosexuell-feindlich gesinnt, wenn gleich jetzt
weniger als früher. Verf. beschreiben dann die Feier von
Hochzeiten, Entbindungen und Taufen bei Homosexuellen.
Die Invertirten huldigen durchaus nicht alle der Päderastie.
Auf den belebtesten Straßen Madrids gibt es »Striche*.
Manche bedienen sich der Inversion zum Zwecke des
ßaubes, Diebstahls, ja des Mordes. Auch die Tribadie
ist angeboren oder erworben. Häufig ist sie bei Huren
und Verbrecherinnen. Auch hier gibt es eine homosexu-
elle weibliche Prostitution.
Reiffegg, Dp.: Die Bedeutung der Jünglings-
liebe für unsere Zeit (Leipzig, Verlag Spohr,
1902. 60 Pfg.).
Einleitung. Die Jünglingsliebe, das ideale Liebesbündnis
eines gereiften Mannes mit einem erwachsenen Jüngling, könne
sozial von größtem Nutzen werden, wenn man nur, wie einst in
den besten Zeiten des alten Hellas, dieser Erscheinung das nötige
Licht und die nötige Luft zu ihrer freien Entwicklung geben wolle.
I. Die Bedeutung der Jünglingsliebe für die Erziehung.
Ein guter Lehrer könne nur der sein, der seine Schüler
liebe. Wer aus Begeisterung und Liebe für den Jüngling als
solchen das schwere Amt übernommen habe, könne die segens-
reichste Wirkung auf die Bildung des Geistes und des Charak-
ters der geliebten Zöglinge ausüben.
Aber auch das Verhältnis der Zöglinge untereinander könne
die in die richtigen Bahnen geleitete Jtinglingsliebe aufs gün-
stigste beeinflussen und so erzieherisch wirken.
— 1013 —
Würde man wie in Hellas in den Bündnissen der Knaben
und Jünglinge etwas Schönes, Herrliches sehen und ihnen durch
Anspornen der gegenseitigen Opferfreudigkeit und Hingabe einen
festen, immer klarer werdenden Inhalt geben, der das Sinnliche
ganz von selbst in den Hintergrund drängte, so würden die im
Dunkeln vorhandenen Giftgewächse, in die heute ein solches
Verhältnis nicht selten ausarte, überhaupt gar keinen Raum zur
Entwicklung haben.
II. Die Bedeutung der Jünglingsliebe in sozialer Hinsicht.
Würde die Liebe der Homosexuellen nicht verachtet, son-
dern anerkannt, so könnten die homosexuell Veranlagten, anstatt
ihr Leben in qualvoller, oft jeder Arbeitsfreudigkeit sie be-
raubenden Kämpfen hinzubringen, in edler, offener Liebes-
werbung um den Geliebten ihr Bestes entfalten und den Ge-
liebten geistig und moralisch erziehen. Die Sinnlichkeit würde
in solchen Verhältnissen ganz von selbst sehr in den Hinter-
grund gedrängt.
Der wirklich von wahrer Liebe beseelte Homosexuelle
würde sich gegenüber einem heterosexuellen Geliebten mit
geistiger Gemeinschaft edelster Art begnügen und aus seiner Liebe
die Kraft schöpfen, sinnlichen Forderungen zu entsagen.
Die Allgemeinheit könnte durch solche Bündnisse nur ge-
winnen. Durch die Anerkennung der homosexuellen Liebe werde
die Stellung der Frauen nicht herabgedrückt, wie man manch-
mal befürchte.
Da die Homosexualität nicht übertragbar sei, würden keine
Heterosexuellen vom Weibe abspenstig gemacht. Wenn aber
insofern eine Änderung einträte, als das Weib nicht mehr wie
heute so oft das beinahe krankhaft angebetete Ideal auch der
besten Männer und infolgedessen nicht selten die grausame
übermütige Spielerin mit Männerglück wäre, wenn dagegen
wieder ein wenig die echte Weiblichkeit mehr zur Geltung
käme, so wäre dies kein Schaden.
Wüßte das Weib, daß es eventuell mit den jungen Männern,
wie im alten Hellas, den Mann zu teilen habe, so würde diese
Einsicht nicht selten auf den Hochmut manches hohlköpfigen,
aber hübschen Weibes heilsam wirken.
Das Weib hätte sogar einen direkten Gewinn, wenn es
den zukünftigen Ehemann aus den liebenden Armen des auf-
opferungsfähigen erzieherischen Freundes anstatt aus den ent-
nervenden der Dirne, wie heute fast immer, empfinge.
64*
— 1014 —
III. Die Bedeutung der Jtinglingsliebe in der Kunst.
In zahlreichen mustergiltigen Werken der alten Griechen
finde sich eine herrliche Verewigung der Jünglingsliebe, ebenso
in den Darstellungen der Jünglingskörper zur Renaissancezeit, so-
wie seitens Künstler der spätem Zeit (Michel Angelo, Sodoma,
Dürer, Peter Fischer, Duquesnoy, Canova, Thorwaldsen.)
Heute überwiege in den bildenden Künsten die Darstellung
des Weibes in allen nur erdenklichen, bald rein künstlerischen,
bald auch mehr die Erweckung der Sinnlichkeit bezweckenden
Posen; man scheine zu vergessen, daß der jugendliche Mannes-
leib zum mindesten ebenbürtig an Schönheit dem des Weibes
sei! Mit Freuden seien darum auch von Seite der Homosexuellen
die mehr und mehr sich ausbreitenden Licht-, Luft- und Sport-
bäder zu begrüßen; es sei zu hoffen, daß in ihnen gerade auch
bei den „Normalen" wieder mehr Verständnis für die Schönheit
des Jünglingskörpers geweckt werde.
Auch in der Dichtung beschäftigten sich die „Führer" aus-
schließlich mit dem Weib. Doch sei schon eine Anzahl von
Ausnahmen zu verzeichnen.
Verfasser führt dann die hauptsächlichsten Vertreter der
homosexuellen Belletristik und ihre Werke an. Zum Schluß
verficht er die Berechtigung der homosexuellen Belletristik. Auf
dem Gebiete der Homosexualität seien noch so viele ungelöste
Probleme, daß eine reiche Ausbeute für echte Künstler darin zu
finden sei.
Auch die Kunst würde den schönsten Gewinn aus einer
allgemeinen Änderung der Anschauungen über die Jünglings-
liebe ziehen.
Das von warmem Idealismus erfüllte Schriftchen er-
wartet mit Recht von der Änderung in der Beurteilung
der Homosexualität günstige Folgen für das allgemeine
Wohl. Verfasser hegt wohl etwas allzu optimistische
Hoffnungen, aber hohe Ideale und weit gesteckte Ziele
sind im Grunde kein Schaden.
Gute Früchte könnten allerdings entsprießen aus
offenen Bündnissen zwischen Homosexuellen und normalen
Jünglingen, bei denen der Homosexuelle unter Über-
windung seiner Sinnlichkeit die Förderung des Geliebten
in geistiger und moralischer Beziehung erstreben würde.
— 1015 —
Natürlich wird nur ein Teil unter den Homosexu-
ellen zu einer aufopferungsfähigen Liebe edelster Art
sich aufschwingen können, ebenso wie bei den Hetero-
sexuellen eine derartige Liebe zu den Ausnahmen gehört.
Ich kann immer nur wiederholen, daß man
die Homosexualität nicht als höhere, bessere
Liebe in Gegensatz zur Heterosexuajität
bringen darf — was übrigens Verfasser des Schriftchens
wohl auch nicht beabsichtigt. Beide haben ihre Licht-
und ihre Schattenseiten. Letztere werden selbstverständ-
lich auch bei der Anerkennung der homosexuellen Liebe
nicht verschwinden.
Die Ausführungen des Verfassers in Abschnitt I
scheinen mir teilweise etwas gesucht und nicht recht be-
weiskräftig. Unter dem an und für sich schon nicht be-
sonders zahlreichen Stand der Lehrer und Erzieher wer-
den doch stets nur wenige Homosexuelle sich befinden,
so daß nur bei einer verschwindend kleinen Anzahl die
Homosexualität die Erziehungsmethode beeinflussen wird,
sodann sehe ich nicht ein, warum nicht jetzt schon die
homosexuellen Lehrer ihre Empfindung für die männliche
Jugend in einer auf selbstloser, edler Liebe beruhenden
Behandlung ihrer Schüler betätigen können, ferner glaube
ich, daß überhaupt zur Anbahnung eines edlen, vertrauens-
vollen Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler, sowie
zu einer die Individualität des Schülers berücksichtigenden
Erziehung nicht unbedingt homosexuelle Lehrer nötig
sind, manche Heterosexuellen besitzen dazu die erforder-
liche Fähigkeit und den guten Willen.
Schrickept, Wilhelm, Dr.: Zur Anthropologie der
gleichgeschlechtlichen Liebe. In der Politisch-
Anthropologischen Revue. 1. Jahrg. No. 5. August 1902
Ausführungen anknüpfend an Bloch's „Beiträge zur Ätiologie
der Psychopathia sexualis." Das wichtigste Ergebnis Blochs sei
wohl der Nachweis, daß die physiologischen wie auch patho-
— 1016 —
ogischen Erscheinungen des Sexuallebens so alt wie der Mensch
seien. Zu allen Zeiten fände man abnorme sexuelle Befriedigungs-
arten, auch bei den Naturvölkern begegne man ihnen überall.
Schrickert bezweifelt dann die Richtigkeit der Annahme
Bloch's, als sei die Homosexualität nicht angeboren. Die beiden
Argumente Blochs: „Die Homosexualität sei in fast allen Fällen
auf Verführung zurückzuführen und dieselbe sei durch Suggestions-
therapie heilbar" seien nicht durchschlagend. Wie komme es
denn, fragt Schrickert, daß unter denselben Bedingungen der
Verführung die einen so schnell und leicht in homosexueller
Richtung reagierten und andere wieder absolut ablehnend sich
verhielten? Wenn hier keine Anlage vorhanden wäre, so könnte
diese Reaktion nicht so schnell eintreten. „Von selbst" äusserten
sich diese Instinkte allerdings nicht. Die angeborenen Disposi-
tionen bedürften der äußeren psychologischen Reizauslösung, der
Nachahmung und Verführung, wenn man so sagen wolle.
Natürlich beträfe dies nur das Auftreten der Homosexualität
in den jüngeren Jahren. Die Heilbarkeit der Homosexualität sei
kein Beweis gegen die Annahme des Angeborenseins. Warum
sollten nicht auch' angeborene und ererbte Dispositionen im
Gehirn durch Suggestion umgeändert werden können. Gerade
die von Bloch nachgewiesene Tatsache, daß die Homosexualität
eine allgemeine anthropologische Erscheinung darstelle, sei ein
Argument dafür, daß sie nicht blos durch Verführung und Nach-
ahmung entstehe, sondern eine natürliche Varietät in der
Entwicklungsgeschichte des Geschlechtstriebes bilde. Wie die-
selbe körperliche Krankheit oft durch verschiedene Ursachen
hervorgerufen werden könne, so seien wohl auch die Geschlechts-
verirrungen zum Teil sexuelle Zwischenstufen, zum Teil nach-
träglich erworbene und zum Teil erbliche Entartungserscheinungen.
Welche Form zahlenmäßig tiberwiege — nach Ort, Zeit und
Verhältnissen verschieden — das werde erst festgestellt werden
können, wenn man einmal gelernt habe, die einzelnen Fälle
mehr in Bezug auf ihre anthropologische Genealogie zu analysieren.
Schrickert mißbilligt sodann die Anschauung von Bloch,
wonach die Homosexuellen in Spezialanstalten zu internieren
seien und eine gänzliche Aufhebung des Strafgesetzes von den
unheilvollsten Folgen begleitet sein würde. Das sei zu schwarz
gesehen. Heute sei dieser Paragraph eine Quelle des* schänd-
lichsten Erpressertums und aus diesem Grunde triebenfjsich in
in Berlin mehr männliche Prostituirte herum als z. B. \in Paris
und Rom, ja selbst in Neapel. Was verlangt werden müsse,
sei energischer, strafgesetzlicher Schutz der Kinder und Jugend-
lichen. Sonst widerspräche jener Paragraph dem modernen
Rechtsbewußtsein in jeder Hinsicht. Er beschütze weder Eigen-
— 1017 —
tum noch Leben, noch die öffentliche Ordnung, und man habe
nicht mit Unrecht darauf hingewiesen, daß z, B. ein Syphilitischer
straflos schweres Unheil anrichten dürfe, demgegenüber die Übel
der homosexuellen Vergehungen kaum in Betracht kämen. Im
Übrigen möge man die Homosexuellen nach ihrer Faeon selig
werden lassen. Eine direkte physiologische und psychologische
Gefahr böten sie unter sonst gesunden Verhältnissen nicht. Über-
haupt sollte man sich darüber klar werden, daß jede Kulturhöhe
zugleich eine Decadenz in sich schließe, die durch die große
Differenzierung und Variation der Triebe und Bedürfnisse einer
solchen Zeit notwendig verursacht werde, man solle auch nicht
vergessen, daß die Homosexualität oft genug mit hoher geistiger
Begabung und großer Güte des Herzens verbunden sei und in
künstlerischer Hinsicht eine psychologische Quelle bedeutender
ästhetischer Leistungen sein könne und auch gewesen sei.
In diesen wenigen Zeilen hat Schrickert treffend die
Schwächen der Blochschen Argumentation und insbe-
sondere mit Recht den Widerspruch hervorgehoben, der
darin besteht, einerseits ausdrücklich die Ubiquität der
Homosexualität nach Zeit und Ort festzustellen und
andererseits sie als Laster Heterosexueller zu betrachten.
Der Aufsatz von Schrickert beweist, daß Bloches
Ausführungen und das von ihm vorgebrachte Material
keineswegs zu der Ueberzeugung von der Notwendigkeit
der Aufrechterhaltung des § 175 drängen und keineswegs
die für das Bedürfnis einer Aufhebung bestehenden
Gründe entkräften.
Eine Bemerkung von Schrickert möchte ich be-
richtigen.
Wenn er sagt: „Diese Instinkte (die homosexuellen)
äußerten sich nicht von selbst. Die angeborenen Dispo-
sitionen bedürften der äußeren psychologischen Reizaus-
lösung der Nachahmung und Verführung", so ist dies
grundsätzlich nicht richtig.
Bei vielen Homosexuellen sind die ersten gleichge-
schlechtlichen Gefühle und Triebe durch den bloßen An-
blick gewisser Jünglinge oder Männer geweckt worden,
ohne daß irgend eine Verführung oder körperliche Be-
— 1018 —
rühruog oder irgend ein zur Nachahmung verlockender
Vorgang erfolgt ist. Viele Homosexuelle haben schon
in frühester Kindheit bei dem Anblick und der Gegenwart
gewisser männlicher Personen Gefühle der Wonne und
der Anziehung empfunden, über deren Natur sie sich erst
später bewußt wurden. Wenn sie dann später homo-
sexuelle Akte vornehmen, so werden bei Vielen hierdurch
nicht erst homosexuelle Gefühle hervorgerufen, sondern
diese Akte sind Ausfluß des längst bestehenden Triebes,
der zu diesen Handlungen endlich mit Gewalt hindrängt.
Daß bei manchen Homosexuellen erst durch die Vor-
nahme gleichgeschlechtlicher Akte stärkere homosexuelle
Gefühle, die schlummerten, geweckt werden, ist nicht zu
leugnen, aber auch hier wird der homosexuelle Trieb
nicht erst erzeugt, sondern nur deutlicher zum Bewußt-
sein gebracht, ebenso wie bei vielen Heterosexuellen erst
durch den ersten Verkehr mit dem Weib eine lebhaftere
Sehnsucht zu ihm erwacht, während vorher vielleicht
nur schwache Dränge bestanden.
Wachenfeld: Zur Frage der Strafwürdigkeit
des homosexuellen Verkehrs im Archiv für
Strafrecht von Goltdammer. 49. Jahrg. 1. u. 2. Heft.
Der Aufsatz ist eine verkürzte Wiedergabe des zweiten
und besonders des dritten Abschnittes des von mir im vor-
jährigen Jahrbuch eingehend besprochenen Buches von Wachenfeld:
„Homosexualität und Strafgesetz."
Das einzig Neue in der Abhandlung ist eine Polemik gegen
Groß und dessen Ansicht, „ein Umschlag in der Triebrichtung
finde in der Natur nicht statt und die Homosexualität sei wohl
stets mehr oder weniger als angeboren zu betrachten.«
Eine Inhaltsangabe und eine Kritik des Aufsatzes halte ich
angesichts der vorjährigen Besprechung und Widerlegung des
Wache nfeldschen Buches für überflüssig und unangebracht.
— 1019 —
Kapitel IL
Belletristik der Jahre 1901 und 1902.
I. Männliche Homosexualität.
Anonym: Der Abfall vom Weibe: Studie (Dresden
und Leipzig, L. Pierson^ Verlag, 1901, Pr. 2 M.)
161 Seiten.
Graf Alfred von Wildenegg war mit seiner Cousine Elsa,
die er innig liebte, verlobt; sie hat sich von ihm losgesagt,
weil beide nicht zu einander paßten. Dieser Bruch hat Alfred
aufs Tiefste erschüttert und den Keim des Hasses gegen das
ganze weibliche Geschlecht in ihn gesät.
Sein Freund, Hermann von Trimmerstorff, hat sich in die
Zirkusreiterin Ciaire verliebt, Alfred speist mit Hermann und
Ciaire nach der Zirkusvorstellung im Nachtrestaurant.
Als Alfred am andern Morgen auf sein einige Stunden
von der Stadt in wildromantischer Gegend gelegenes Schloß
zurückgekehrt ist, kommt ihm die ganze Hohlheit der nächt-
lichen Unterredung mit Ciaire zum Bewußtsein.
Das harmlose Gespräch, das Alfred am Tage zuvor mit
dem 15jährigen Bruder Hermann's hatte, erscheint ihm ange-
nehmer. Auch der Vergleich der Reiterin mit dem kleinen
Kammerdiener, der nur mit dem Rock auf dem nackten Leib be-
kleidet, schnell dem in aller Frühe zurückkehrenden Grafen den
Thee und die Cigaretten bereitet, fällt zu gunsten des Jungen aus.
„Als so der Knabe die erste Cigarette, um sie zu
schließen, zum Munde führte, fi^J Alfred Miß Ciaire
wieder ein. Dieselbe Bewegung — und auch sie hatte
ihm die Haut an Brust und Schultern sehen lassen —
aber natürlich verhüllt. Auf diese Art verhüllt, dachte
er, das heißt nichts anderes als: Nur einen Schein von
diesem Wunder darfst du schauen, damit du sehnend
dann darnach verlangst! Als ob es wirklich jeden
Mann reizen müßte, wenn er dieses sülzartig beweg-
liche Klumpenwunder zu Gesicht bekommt.« . . .
„Der Mann macht sich zur Arbeit den Unterarm frei
und den Hals — das ist logisch. Zwecklos ist nichts.
Das Weib geht also — indem sie Brust und Schultern
bloßlegt — auch zur — Arbeit. Pfui!« (S. 30).
-» 1020 —
Ein junger Bauernbursche, Flori, wird im Streit mit
Kameraden in der Wirtschaft durch einen Messerstich verletzt.
Alfred, der gerade vorüberfährt, nimmt sich des Verwundeten
an und läßt ihn auf das Schloß tragen.
Alfred lebt mehrere Wochen völlig zurückgezogen auf
seinem Schloß.
Mit Hermann hat er sich wegen Ciaire entzweit, da dieser
seine Familie verlassen hat und in seiner blinden Leidenschaft
mit der Reiterin zusammenwohnt.
„Alfred lebte still zurückgezogen fern vom Getümmel
der Welt. Seitdem das Band mit Elsa gelöst, hatte sich
seine ganze Lebensauffassung, seine ganze Welt-
anschauung in sonderbarer Weise geändert. Auch das
Zerwürfnis mit Hermann war ihm nahe gegangen, um
so mehr als wieder nur ein Weib daran Schuld
gewesen.« (S. 68).
Alfred widmet sich ganz der Pflege des kranken Flori.
Als Flori völlig genesen das Schloß verläßt, empfindet Alfred
wieder die Öde seines Daseins.
„Sein Leben ist nur ein freudloses Abwarten der
Sekunde, ein Gaffen in das unendliche Grau. Die That-
kraft der Liebe, die das Unmögliche möglich macht,
fehlte, und so sah er sein junges Leben dahingehen
— nüchtern und öde« (S. 70).
Alfred will noch einmal seine frühere Liebe, Elsa, sehen.
Im Versteck und von ihr unbemerkt, belauscht er sie mit ihrem
Bräutigam auf dem Spaziergang in verliebter Unterhaltung. Aber
auch Elsa läßt ihn jetzt kalt.
„War ja doch Elsa auch nur ein Weib! Wie hatte
ihm denn je diese Weiblichkeit gefallen können? Und
heute, wo er gekommen war, sich ihr Bild als Jung-
frau noch „ einmal einzuprägen, heute konnte sie ihm
nicht mehr gefallen. War er denn verdammt, nie
mehr die Wonne zu empfinden, die die Natur dem
Liebenden gewährt. Langsam schlich er davon."
(Seite 74).
Hermann, dessen Leidenschaft für Ciaire fortdauert, wird
durch Alfred über den niederträchtigen Charakter seiner Maitresse
dank einer Falle, die ihr Alfred stellt, aufgeklärt und von dem
verderblichen Weib befreit.
Hermann's Mutter und dessen Schwester, die hübsche
Maya, bezeugen Alfred ihre Erkenntlichkeit. In den Augen
von Maya liest Alfred eine wahre Liebe zu ihm, aber er kann
sie nicht erwidern, er wird das Gefühl, das er nicht empfindet,
— 1021 —
auch nicht erheucheln, er würde Maya einstens doch nur
schmerzlicher aus ihrem Traum reißen müssen.
Der alte Peter, den Flori bisher für seinen Vater gehalten,
wird bei dem Wildern betroffen und im Kampf mit den Jagd-
hütern erschossen. Vor seinem Tode erzählt er Flori, daß er
nicht sein Vater ist und daß Flori dem ehebrecherischen Ver-
hältnis des Vaters des Grafen Alfred mit Peter's Frau entsprossen.
Auch Alfred erfährt die Abkunft Flori 's, dieser ist aber
nicht sein Bruder, denn aus alten Briefen hat Alfred die Gewiß-
heit erlangt, daß er selbst die Frucht des Ehebruchs seiner
Mutter ist.
Aus den alten Papieren ersieht er auch, daß die bisher
von ihm hochgeehrte Frau Trimmerstorff eine der Geliebten
seines Vaters war.
Alle diese Enthüllungen verdüstern noch mehr das Gemüt
Alfred's; er gibt sich langen Grübeleien hin über Sinn und Zweck
des Lebens, über die ungerechtfertigte Unterdrückung der ge-
sunden Sinnlichkeit, durch welche nur Unnatur gezüchtet werde,
über die Verkümmerung des Körpers, die Beeinträchtigung der
körperlichen Schönheit um des Geistes willen, wodurch nur die
Sucht nach Wollust ohne Gefallen erzeugt werde.
„Und giebt es denn auf Erden keine Liebe, die
auch beglückend wirken könnte, ohne ein so niedriges,
häßliches Spiel zu sein, ohne ein zeitliches Ziel —
die Vereinigung — zu haben, wo nur der Kuß als
einziges, nichtentwürdigendes Zeichen
Doch wilde Leidenschaft, die unerfüllbar, unerreichbar,
weil sie nur geistige Liebe zu körperlicher Schönheit
ist, muß selbst den Kuß mit Strenge sich versagen, um
nicht zu sinken in den Abgrund, in jenen Pfuhl ent-
würdigender Unnatürlichkeit, wo doch auch solche Liebe
hfenieden schon Befriedigung sucht Dann schwindet
schnell der Trieb der Phantasie, der über menschliche
Natur sich wollt' erheben; man hat den Geist be-
trogen, und seinen Leib, dessen Natur man stolz ver-
leugnet; zur Unnatur mißbraucht« (S. 142).
Alfred verschafft Flori die Stelle eines Försters in seinen
Wäldern; so wird er seine Braut heiraten können. Alfred selbst
empfindet Zufriedenheit, daß Flori ihm sein Glück verdankt.
Sein Gemüth wird wieder ruhig. Die Hoffnung auf ein besseres
Sein, auf ein ewiges Fortleben und einen gütigen Gott giebt
ihm den Frieden»
Den Grundgedanken seiner Novelle hat Verfasser
in einem Vorwort ausgesprochen ;
— 1022 —
Bei der gänzlichen Verschiedenheit von Mann und Weib
an Körper, wie an Characteranlage sei ein bindendes Etwas —
die geschlechtliche Liebe — nötig, damit ein gegenseitiges Ge-
fallen zwischen den Geschlechtern möglich sei.
Wirkten nun — meist seelische — Einflüsse dahin, daß ein
Mensch die Liebe von sich weise, so könne er auch dem Gegen-
geschlecht keinen Reiz mehr abgewinnen.
Die tibertrieben gehässigen Stellen, wie über Frauenwürde,
körperliche Schönheit u. s. w. seien dahin auszulegen, daß, wer
die Bahn der Unnatürlichkeit betreten, sich darin gefalle, wenn
gleich er vollkommen einsehe, daß diese nie zum Glücke führen
könne. Er gefalle sich darin, weil diese Veranlagung — bevor
sie in widernatürliche Leidenschaft ausarte — einen eigenen Reiz
berge: den Nimbus, daß man durch die Liebe an nichts Irdisches
gebunden, höheren Idealen zustrebe, seine volle Kraft für höhere
Leistungen verwenden wolle, daß man mit der Lebensleistung
eines Durchschnittsmenschen sich nie zufrieden geben könne.
In diesem gemäßigten Falle, wo der Held die Unglück-
seligkeit seiner Veranlagung erkenne und bekenne, da er die
Unerreichbarkeit seiner Ideale einsehe, wolle er (Verfasser) die
Beweggründe anführen, durch welche ein Jüngling — besonders,
wenn er hierzu neige — zu solchen Ansichten angeleitet werden
könne, um zu zeigen, daß, wenn auch nicht die meisten, so doch
die wichtigsten dieser Beweggründe von den Eltern ferngehalten
werden könnten zum moralischen und physischen Wohl der
jungen Generation".
Von unklaren Gedanken erfüllt und mehr von theo-
retischen Abstraktionen, als von der Wirklichkeit aus-
gehend verrät das Vorwort Unkenntnis von dem Wesen
der Homosexualität. Kein Wunder, daß dieselben Fehler
in dem Roman selbst wiederkehren. In unklarer Weise
hat Verfasser den »Abfall vom Weibe* seines Helden
auf das Ueberhandnehmen von gewissen weiberfeindlichen
Ansichten und Anschauungen sowie auf Frauenhaß und be-
wußte Zurückweisung der Weiberliebe zurückgeführt ohne
die Veranlagung des Helden, von der er allerdings im
Vorwort spricht, irgendwie zu betonen.
Alfred wird durch Enttäuschung und verschmähte
Liebe zu Weiberhaß gebracht und durch das Verhalten
des falschen, buhlerischen Weibes, das seinen Freund
— 1023 —
umstrickt, noch mehr in seiner Abneigung gegen die Frau
bestärkt. Wie diese bösen Erfahrungen eines Hetero-
sexuellen — und als solcher wird Alfred geschildert —
den Geschlechtstrieb zum Weib ertöten und homosexuelle
Gefühle erwecken können, diese Wandlung der Empfin-
dungen hat Verfasser nicht glaubhaft zu machen ver-
mocht. Allerdings sehr schwer und fast unlösbar
erscheint dieses Problem, weil Verfasser von falschen
Voraussetzungen ausging, weil er die tardive Homo-
sexualität nur psychologisch begründet, weil er den
physiologischen Wiederhall und die Wechselwirkung
zwischen Geist und Körper vernachlässigt. Aber wenn
dieses Problem unternommen wurde, dann mußte Ver-
fasser auch tiefer in die Psychologie seines Helden ein-
dringen, seinen Charakter plastischer gestalten, seine
frühere Leidenschaft zum Weib näher darlegen.
Deutlicher mußte auch das sich entwickelnde homo-
sexuelle Gefühl hervorgehoben werden und eine unzwei-
deutigere Stellung gegenüber dem aus dem „ Abfall" vom
Weib hervorgehenden „Aufstieg" zum Manne einge-
nommen werden. Statt dessen bleiben die Empfindungen
des Helden zum Manne völlig unbestimmt und nebelhaft,
in geziemender Schwäche und Blässe des Gefühls, damit
.der brave Philister nicht Ärgernis an dem Helden nehme.
Am klarsten tritt die Unwahrheit des Helden am
Schlüsse hervor: er gewinnt Ruhe und Frieden und
entschließt sich zur Entsagung im Vertrauen auf Gott und
die Ewigkeit, bei dem Gedaifken, Andere glücklich ge-
macht zu haben, obgleich nichts eine solche fromme, ent-
sagungsbereite Ader in dem Helden verraten hatte.
Aus der Verschwommenheit der Natur des Helden
und der schiefen Stellung des Verfassers zur Homo-
sexualität erklärt es sich auch, warum die heftigen Aus-
fälle des Helden gegen Frauenschönheit und Weiberliebe
nicht als aus dem Charakter des Helden entspringend,
— 1024 —
sondern als Tiraden des Verfassers selber vom Leser
empfunden werden, als Tiraden, durch deren übertriebene
Ausdrücke Verfasser die Unnatur und Lächerlichkeit
des „ Abfalls vom Weibe" und indirekt das homosexuelle
Empfinden, das für ihn nur zum Laster führen kann,
stempeln will.
Wenn man den „Abfall vom Weibe* mit einem
andern Roman, der gleichfalls, aber so ganz anders, das
allmähliche Erwachen der tardiven Homosexualität dar-
stellt, mit Gide's Immoraliste1) vergleicht, wird man so
recht den gewaltigen Unterschied gewahr, der zwischen
beiden besteht
Trotz aller dieser Aussetzungen ist andererseits nicht
zu leugnen, daß sich interessante, angenehm geschriebene
Stellen in dem Buche finden. Ein Kritiker, Otto Flake,
spendet in der (inzwischen leider eingegangenen) „Ge-
sellschaft" vom 1. November 1902 dem Roman direkt
Lob. Er sagt: „Überhaupt ist das Künstlerische das
Beste am Buche. Durch einen leichten Schleier hindurch
scharf gezeichnete Personen." Auch er rügt dann aller-
dings die blos ideale Konstruktion und vermißt eine
glaubliche Entwicklung von Extrem zu Extrem in zu-
reichender Plastik.
Bob, A.: Die Geschlechter der Menschen. Roman.
(Leipzig, Lotus- Verlag 1901.)
Der Roman beginnt mit einer Unterredung am Biertisch
über die Homosexualität. Auseinandersetzungen eines Arztes
über das Wesen des Uranismus, Widerlegung der bisherigen
Vorurteile, Darlegung des Bestehens sexueller Zwischenstufen
und so weiter. Dagegen Vertretung des veralteten Standpunktes
seitens des Rechtsanwaltes Andreas Asmus. Der Homosexuelle
sei ein lasterhafter Mensch, ein Verbrecher, er gehöre ins Ge-
fängnis u. dgl.
Der Bruder dieses Rechtsanwalts, der junge Schriftsteller
Martin Asmus, ist selbst homosexuell, ebenso wie der Vater,
der mit Selbstmord endete, homosexuell war.
*) Siehe weiter unten.
— 1025 —
Martin hat vor der Stadt am einsamen Flußufer Stelldichein
mit seinem Geliebten, Hans, einem früheren Unteroffizier. In ihrem
trauten Gespräch werden sie durch einen dramatischen Zwischenfall
gestört. Ein junges Mädchen stürzt sich in den Fluß, um den Tod
in den Fluten zu suchen, es wird noch rechtzeitig von Martin
gerettet. Das Mädchen, Cäcilia Reuter, die Tochter eines Hof-
predigers, ist homosexuell; sie hat ein Verhältnis mit der be-
rühmten Schauspielerin Meta Schwarz. Sie wollte aus dem
Leben scheiden, des Kampfes mit ihrer Familie wegen ihres
Verhältnisses mit der Schauspielerin müde und den auf den
Homosexuellen lastenden gesellschaftlichen Fluch als unerträgliche
Last empfindend. Martin bringt sie zu ihrer Freundin. Seither
aufrichtige Freundschaft zwischen Martin und Meta. Martin
gewährt der Schauspielerin die Einsicht in die Tagebücher
seines Vaters, in welchen dieser sein ganzes Seelenleben und
Schicksal geschildert hat.
Von Jugend auf war der Vater vom Triebe zum Mann
beseelt, er verheiratete sich aber trotzdem, um sich zu „heilen";
seinem Triebe konnte er aber nach wie vor nicht widerstehen,
er fiel in die Hände eines Erpressers, der schließlich seinem
Sohne Andreas Alles offenbarte. Dieser wies den eigenen Vater
auf die Pistole als den einzigen Ausweg und zwang ihn förmlich
zum Selbstmord. Der Haß Andreas' gegen die Homosexuellen
zeigt sich bald auch gegenüber dem Bruder.
Andreas hat einen Brief von Hans an Martin geöffnet und
das Verhältnis zwischen Beiden erraten. Er überrascht früh
Morgens Martin in seiner Wohnung und findet Hans, der bei
Martin übernachtet, mit letzterem zusammen.
Heftiger Auftritt zwischen den beiden Brüdern. Andreas
beschimpft Martin, nennt ihn Verbrecher und droht mit Anzeige.
Martin gesteht offen seine Liebe im Bewußtsein der Be-
rechtigung seiner Empfindung und der Innigkeit seiner Gefühle.
Als Martin später eine nochmalige Aufforderung seines Bruders,
jeden Verkehr mit Homosexuellen aufzugeben und mit Hans zu
brechen, zurückweist, zeigt ihn tatsächlich Andreas der Polizei
an. Martin läßt Hans in das Ausland entfliehen, er selbst
bleibt und wird auch zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt.
Meta wird seine Rächerin.
Andreas ist in sie verliebt und wirbt schon lange um ihren
feesitz. Meta bringt ihn dazu, daß er Unsummen für sie ver-
schwendet und daß er schließlich eine Urkunde unterzeichnet,
wonach er für 100,000 Mk. Aktien kauft. Diese Aktien sind
fast wertlos und gehören einer vor dem Konkurs stehenden
Gesellschaft an. Andreas kennt die Sachlage und weiß, daß er
sich ins Unglück stürzt, aber nur um den Preis der Unterschrift
— 1026 —
wird Meta die seine werden. Liebestoll und halb wahnsinjug
vor Begierde unterschreibt er. Meta hält ihr Versprechen; er
darf sie hinnehmen.
Andreas hat das Geld zum Ankauf der Aktien nicht be-
sessen, er vergreift sich an fremdem Geld.
Meta hat ihren Zweck erreicht, sie gesteht nunmehr Andreas,
daß sie ihn nie geliebt, daß sie sich nur mit Ekel ihm hingegeben.
„Ich bin von der gleichen Art, wie Ihr Bruder
und Ihr Vater, auch ich liebe nur mein eigenes Ge-
schlecht und verabscheue die Berührung des Mannes.
Jawohl, ich verabscheue Siel
Sie haben Ihren Vater in den Tod, Ihren Bruder ins
Gefängnis getrieben, weil sie der angeborenen Liebe
zum eigenen Geschlecht gefolgt waren. Ich aber habe
Sie dahin gebracht, daß Sie dasselbe taten, wie die
Beiden, die Sie verdammten. Mein Geschlecht ist
männlich, wie das Ihre, und Sie haben mich geliebt."
(S. 240.)
Andreas versucht noch von seinem Bruder, der inzwischen
seine Strafe verbüßt und dessen erstes Theaterstück einen
glänzenden Erfolg davongetragen hat, das nötige Geld zu leihen.
Martin weigert sich, ihn zu retten. .
Auf die Bitten und Fragen Andreas', warum er ihm nicht
helfen wolle, schleudert ihm Martin entgegen:
„Weil hier in uns Beiden sich heute viel mehr gegen-
übersteht, als nur Bruder und Bruder. Viel mehr als
das, zwei Geschlechter der Menschen, die einander
feindlich gewesen sind die Jahrhunderte hindurch.
Ich gehöre zu denen, die Ihr geknechtet habt, Ihr
Dioninge, Ihr Herren der Welt! Ihr habt uns verhöhnt
und verachtet. Ihr habt uns aufs Rad geflochten, Ihr
habt uns ins Feuer gestoßen, Ihr habt uns lebendig
eingescharrt in die Erde. Ihr habt Mitleid und Ver-
ständnis zum Märchen werden lassen, und wenn Einer
von uns Euch in den Weg gekommen ist, so habt
Ihr ihm ins Gesicht gespieen und ihn mit Füßen ge-
treten. Heute aber hat mich das Schicksal zum Herrn
gemacht über Einen von Euch, Einen der Geknechteten,
über Einen vom Herrengeschlecht. Soll ich Mitleid
üben mit dir? Daß du mein Bruder bist, habe ich lange
vergessen. Ich bin dir gegenüber nur ein Angehöriger
des getretenen Geschlechts, das sich aufbäumt aus
Jahrhunderte langer Schmach und Erniedrigung. Soll
ich Mißhandlung durch Güte lohnen? O nein, wir
sind im Kriege miteinander — Ihr habt ihn proklamiert
1027
*
— und wir geben keinen Pardon, wenn einmal Einer
von Euch uns zu Füßen liegt und um sein stolzes,
elendes Leben fleht. Eine Bestie verschont man nicht,
und wie die wilden Bestien habt Ihr unter uns ge-
haust, habt Euch an unserem Blute berauscht und
über unser Todesstöhnen gelacht." (S. 255.)
Andreas verübt Selbstmord, indem er sich unter einen
Eisenbahnzug wirft.
Cäcilia siecht dahin und stirbt. Sie hätte doch nie mehr
Meta liebend in die Arme schließen können, seitdem diese einem
Manne angehört. Noch vor ihrem Tod gesteht sie der Freundin,
daß Andreas zwischen ihnen gestanden hätte, Alles, was mit
einem Manne in körperliche Berührung gekommen, stoße sie
zurück.
Martin geht zu Hans nach Amerika, durch sein Theater-
stück berühmt geworden und bereichert, einer glücklichen
Zukunft im Zusammenleben mit dem Geliebten entgegensehend.
Von dem üblichen, des Kunstwertes entbehrenden
Dutzendroman unterscheiden sich „Die Geschlechter der
Menschen a nur durch die Wahl eines etwas ungewöhnlichen
Gegenstandes — der Homosexualität. Die Personen sind
schablonenhafte Romanfiguren ohne Individualität und Tiefe.
In den beiden Brüdern werden in grellen Farben der gute,
edle, mit besten Eigenschaften ausgestattete Homosexuelle
und der böse, verabscheuungswürdige Heterosexuelle ein-
ander gegenüber gestellt, der eine weiß, der andere
schwarz gemalt, hie Engel, hie Teufel.
Die Figur des Rechtsanwaltes ist nicht nur ober-
flächlich und dick aufgetragen, sondern seine Handlungs-
weise kennzeichnet sich als die denkbar unwahrschein-
lichste. Auch der naiveste Leser wird das Benehmen
Andreas' gegenüber Martin als völlig unmotiviert, ja ge-
radezu widersinnig empfinden. Wohl wäre es begreiflich,
daß sich Andreas von seinem Bruder lossagt, aber daß
er ihn ohne jeden zwingenden Grund anzeigt und auf
diese Weise die Familienehre und sich selbst einem ge-
richtlichen Skandal aussetzt, bedeutet die Tat eines Un-
zurechnungsfähigen und ist nur aus dem Bestreben des
Jahrbuch V. 65
— 1028 —
Verfassers erklärlich, um jeden Preis die den Homo-
sexuellen in ungerechter Weise drohende Strafbestimmung
und die Grausamkeit der Heterosexuellen zu geißeln.
Die Verurteilung selber erscheint unverständli.ch.
Wo waren denn die Beweise eines strafbaren Ver-
kehrs ?
Künstlerische Wahrheit und psychologische Wahr-
scheinlichkeit sind äußeren Effekten und einer an plumpen
Gegensätzen sich genügenden Behandlung der Homosexua-
lität geopfert. Zwar ist anzunehmen, daß der Verfasser
es nicht auf Sensation abgesehen hat und daß er
wirklich die unglückliche, durch Gesetz und Vorurteil
geschaffene Lage der Urninge und die sich daraus er-
gebenden Konflikte schildern wollte ; es ist auch nicht zu
verkennen, daß Ernst und Überzeugung aus dem Roman
spricht, ja sittliche Entrüstung, die sich z. B. in der oben
mitgeteilten, aus dieser Empfindung quellenden wirkungs-
vollen Entgegnung Martins gegenüber seinem bittenden
Bruder zeigt. Trotzdem vermochte Bob nur eine melo-
dramatische, tendenziöse Erzählung und eine zwar gut
gemeinte, aber pathetisch aufgebauschte Verteidigung des
geächteten Homosexuellen zu geben, während die künst-
lerische Gestaltung seiner Absichten nicht gelungen ist.
Der Roman wird trotz seiner künstlerischen Mängel
und vielleicht gerade wegen derselben in den breiteren
Schichten des lesenden Publikums sicherlich gefallen und
dort seinen Eindruck nicht verfehlen.
Delacourt, Albert: Lepaperouge. (Paris, Verlag
Mercure de France, 1901.)
Der Roman behandelt einen berühmten Abschnitt aus der
Florentiner Geschichte: Die Verschwörung des Florentiner
Patriziergeschlechts der Pazzi im Einverständnis mit Papst Sixtus IV.
und dem Erzbischof Salviati gegen Lorenzo und Juliano di Medici,
welche mit der Ermordung Julianos im Dom (1478), zugleich
aber mit der Niederwerfung der Verschwörer und ihrer Hin-
richtung endete.
1029 —
Eine Reihe homosexueller Szenen und Verhältnisse findet
sich in dem Roman vor:
1) Juliano di Medici ist in den schönen Francesco di Pazzi
verliebt, er schreibt ihm nach Rom, wo Francesco sich befindet,
einen liebeglühenden Brief und bewirkt die Zurückrufung PazzPs
nach Florenz angeblich aus politischen Motiven, in Wirklichkeit
aber weil Juliano nicht länger von Francesco getrennt sein will. In
Florenz, überhäuft Juliano seinen Freund mit Zärtlichkeit, er hat
zwar eine Maitresse, aber
„die Frauen könnten nur mit dem Körper lieben,
sie hätten keine Seele. Die Harmonie zwischen zwei
Wesen, deren Eindrücke die gleichen seien, sei allein
ästhetisch, die Seele seiner Maitresse könne er nicht
nach ästhetischem Gesetz in Schwingungen versetzen,
er brauche andere Liebe."
Um Francesco ganz zu besitzen, wendet Juliano eine
List an, er führt ihn eines 'Abends in die geheime Versammlung
weit vor dem Tor von Florenz, wo an verborgenem Orte die
wildesten Mysterien des Satanismus und die schwarze Messe
auf nackten Frauenleibern gefeiert werden. Francesco muß dem
wahnsinnigen Treiben, dem wollüstigen rasenden Gebahren der
Teilnehmer beiwohnen. Dank der wüsten Orgie, die sich an
die schwarze Messe anschließt, ist Francesco, vom Weine be-
rauscht, im Strudel der entfesselten Wollust mit fortgerissen,
widerstandslos der Verführung Juliano's preisgegeben. Aber am
nächsten Tage ernüchtert, empfindet er den Sieg Julianos als
tiefste Scham und Erniedrigung. Nur der Tod des Medicäers
kann das Geschehene sühnen. Von nun an ist Francesco einer
der Eifrigsten, der die Verschwörung schürt. Er behält sich vor,
mit eigener Hand Juliano zu töten, und führt seinen Entschluß
auch durch.
2) In dem Freudenhaus zu Florenz, dem Tempel der
Wollust, wo die Sinnlichkeit in jeder Form sich befriedigt —
Pazzi wohnt sogar einer Art Vergewaltigung einer Jungfrau durch
eine Frau bei, die aus einem halbgeöffneten Zimmer sichtbar
wird — verkehrt auch der Erzbischof Salviati. Nachdem er
sich der Wollust hingegeben, erfüllt er das Haus mit seinen
Wehklagen über seine und die allgemeine Sittenverderbnis und
martert sich mit Selbstpeinigungen und Selbstpeitschungen.
Salviati, welcher täglich das Fleisch und die Sünde verflucht
und in Selbstanklagen und -geißelungen sich versenkt, ist von
dem Dämon der Wollust gefoltert und unterliegt ihm fort-
gesetzt. Sogar während seiner Geißelung vermag er die Sinn-
lichkeit nicht zu bannen und weidet sich an den körperlichen
Reizen des gedungenen Folterknechts, eines schönen Metzger-
65*
n
— 1030 —
burschen. Salviati gesteht selbst zu, daß ihm, aucn wenn die
Kirche den Verkehr mit der Frau gestatten würde, trotzdem nicht
geholfen wäre, denn er müßte doch den Mann lieben.
3) Die Geliebte von Lorenzo di Medici, Camilla, hat die
Tochter Salviati's, Alessandra, aus dem Kloster entführt, diese
will nicht mehr von Camilla lassen. Camilla offenbart dem Bischof
das Geschehene und fleht um Verzeihung. Trotz seines Schmerzes
über die Verführung seiner Tochter, die er im Kloster vor der
Welt geborgen wähnte, gewährt Salviati Verzeihung, denn er
kennt die. furchtbare Macht der Liebesleidenschaft, die Alle
bändigt.
4) Verschiedene kleinere homosexuelle Episoden: So eine
Orgie zwischen Weibern, ferner nächtliche Straßenszenen und
Sittenbilder,
„alte Reiche, die mit jungen zerlumpten Handwerkern
Geschäfte abschließen, die sie in der nächsten Sackgasse
abwickeln."
Die Menschen der Renaissancezeit mit ihren ge-
waltigen Trieben und unbändigen Leidenschaften, die
kraftstrotzenden Herrschernaturen jener Zeit mit der
alle Schranken durchbrechenden, jedem Impuls nach-
gebenden Sinnlichkeit leben und wirken in dem Roman
in plastischer Schönheit.
Die Homosexualität wird als häufige Erscheinung,
als notwendiger, charakteristischer Bestandteil der
Epoche gezeichnet, mit einem Gemisch von Christentum
einer-, von Ursprünglichkeit, Heiden- und Griechentum
andererseits. Der Firnis des Christentums führt auch
dem Homosexuellen selbst die Worte von Sünde und
Laster in den Mund, aber die Urwüchsigkeit und Gewalt
der Leidenschaft läßt ihn seinen Trieb als eine natürliche
und eingepflanzte Neigung empfinden. Selbst bei dem
Normalfühlenden wird der homosexuelle Verkehr nicht
so sehr aus den christlichen Anschauungen, aus moralischen
Skrupeln heraus verpönt, als vielmehr nur insofern, als
er die damals am meisten geschätzten Tugenden, Stolz,
Selbstbewußtsein, Männlichkeit beleidigt und Herrennatur
und Herrscherinstinkt verletzt. Deshalb gilt auch haupt-
— 1031 —
sächlich nur die passive Hingabe als schimpflich, weil
sie Demütigung, Besiegung durch einen Andern, Unter-
werfung unter fremde Leidenschaft bedeutet. Aus diesem
Gefühl entspringt der Haß von Francesco gegen Juliano.
Der Medicäer muß sterben, weil er den stolzen Patrizier-
sobn erniedrigt hat, weil er seinen Willen durchsetzte; der
Gedanke an Verleitung zu unmoralischer Handlung, zur
Übertretung göttlichen Gebots spielt dabei keine Rolle.
Aus derselben Empfindung tötet sich sogar die
Geliebte Pazzi's, die maurische Sklavin Sephora, als sie
die Demütigung ihres Herrn errät. Sie will nicht länger
Sklavin eines „Sklaven* sein, eines Mannes, der einem
andern Mann als Weib diente.
In dem Roman, der sich in dramatisch-spannender
Handlung, in charakteristischen, typischen Gesprächen, in
farbenprächtigen Gemälden entwickelt, pulsiert eine Wild-
heit der Leidenschaft, die sich stellenweise — so namentlich
in den nächtlichen Mysterien des Satanismus — zum
Grandios-Gräßlichen steigert, aber trotz allem sind die
Konturen eines Kunstwerkes gewahrt und die ästhetischen
Grenzen nicht überschritten.
Essebac, Achille1): D£cU. (Paris, Ambert 1901.) Auch
* in deutscher Übersetzung von Georg Herbert
erschienen. (Verlag Spohr 1903).
*) Außer den drei im Folgenden besprochenen Romanen hat
Essebac in dem schon im Jahre 1898 erschienenen Buch „Partenza,
Vers la beaute" an zahlreichen Stellen die männliche Schönheit ver-
herrlicht. Das Buch enthält Reiseeindrücke und Beschreibungen
von der Riviera und den Großstädten Italiens. Das Homosexuelle
tritt nicht direkt hervor, sondern nur verschleiert und dichterisch
verhüllt, nichts destoweniger liegt schon in „Partenza" unverkenn-
bares homosexuelles Empfinden vor, das sich in enthusiastischen
Schilderungen der schönen jungen Italiener sowie der männlichen
Darstellungen der klassischen Kunst äußert. Die homosexuellen
Stellen befinden sich S. 50, 100, 103, 113, 144—152, 181, 215, 230
und 261.
— 1032 —
Das Stoffliche, die äußeren Begebenheiten des Romans,
lassen sich in wenige Sätze zusammenfassen. Die Hauptsache
ist der Stimmungsgehalt, deshalb können nur wörtliche Citate
einen Begriff von dem Inhalt geben. Ich citiere aus der deut-
schen Übersetzung, die dem Geist des Originals ziemlich nahe
kommt.
Der 15 jährige Marcel und der gleichaltrige Andre Dalio
(Dede), beide Interne in einem Pariser Gymnasium, werden enge
Freunde. Dede erweckt gleich bei seinem Eintritt in die Schule
die lebhafte Sympathie von Marcel:
„Im ganzen Hof war wie ein Leuchten: der Eintritt
des kleinen „Neuen" .... Das Leid war minder groß,
mit solch entzückendem Geschöpf eingeschlossen zu sein,
wie ich es an der Hand führte." (S. 13.)
Marcel nimmt Dede unter seinen Schutz und ist ihm in
allem behülflich. Dede ist bald bei allen Mitschülern beliebt.
Marcel's Sinn für die Schönheit, für die vollendete Form
entwickelt sich dank dem Einfluß von Dede. Aber immer mehr
ist es Dede selbst, der Marcel entzückt:
„Dede war die weiche, liebliche Geschmeidigkeit und
Haltung selbst . . .
Aber ich liebte ihn!
Ich konnte keinen andern lieben als ihn" (S. 51).
„Wir waren nicht im Banne niederer Genüsse, auf
der Suche nach dem Geschlecht. Wir dachten nicht
daran, die erlaubte Freude des Sehens unterzuordnen
den ganz anders gearteten Freuden, in unserem Fleisch
zu fühlen« (S. 58).
Die Schüler organisieren eine Theatervorstellung. Dede
spielt die Hauptrolle in dem Drama. Beschreibung seiner
strahlenden Schönheit und Grazie.
Marcel und Dede finden sich im ersten Kusse.
Beim gemeinsamen Baden hat Marcel Gelegenheit, Vergleiche
zwischen der Schönheit seiner verschiedenen Kameraden anzu-
stellen.
„Dede vereinigte in vollkommenem Ebenmaß Alles,
was an Auserlesenem und Fertigem in lves und Georges
sich fand, die Kühnheit der Formen des Einen in schönem
Wechsel mit der fein vollendeten Anmut des Anderen"
(S. 93).
„Bei seinem Anblick träumte man unwillkürlich von
süßer, zagender Liebkosung, die, ohne allzu deutliche
Wallungen zu wecken, lauschen möchte, um all dem
bezaubernden Reiz, die vollendeten Formen seiner lichten
Ephebengestalt« (S. 94).
— 1033 —
Dede erkrankt, er muß die Schule verlassen, eine Zeitlang
verbringt er mit seiner Mutter in Bonn. Zärtlicher, liebevoller
Briefwechsel zwischen Dede und Marcel. Jeder Brief von Dede
ist für Marcel ein Ereignis und eine Wonne.
Aber Dede's Zustand verschlimmert sich.
Dede kehrt mit seiner Mutter nach Paris zurück.
Die Knaben sehen sich nach langer Trennung wieder!
Marcel besucht oft den kranken Freund.
Er weiß, daß Dede's Tage gezählt sind, und mehr und mehr
wird er sich des Gefühls klar, das ihn ganz erfüllt, der Liebe
zu Dede.
Dede empfängt die letzte Ölung. Marcel wohnt im Neben-
zimmer der heiligen Handlung bei und ein Hymnus auf Dede's
Schönheit, auf die Vollkommenheit seiner irdischen Hülle entsteigt
der Seele Marcel's, während der Priester an diesem schönen
Körper die kirchliche Handlung vornimmt. Dede stirbt.
Fünfzehn Jahre vergehen. Marcel sucht Verona auf, die Stätte,
wo Dede seine erste Jugend verlebte und wo sein Grabmal sich
befindet. Aber weder in den Jünglingen Veronas, noch in der
Atmosphäre der Stadt, auch nicht am Grab Dede's findet er etwas
von seinem Geist; nirgends fühlt er den
„lieben Schatten, dessen Bild immer seine Augen bereit
fand, es zu begrüßen! Nichts rührt sich, nichts gibt
Antwort . . . Nichts erinnert sich" (S. 21 V).
In Venedig erst zaubert ein junger Gondoliere das Bild
Dede's vor seine Seele.
„O! Wiederzufinden etwas von Dede! Wiederaufleben
zu sehen seine blühenden Lippen, das Sternenpaar
seiner sanften Augen in dem anbetungswürdigen Aquarell
seines Angesichts; oder doch wenigstens den Klang
seiner Stimme, die unvergleichlich schöne Linie seines
Hauptes, stolz sich hebend über dem Beben seines
ambraschimmernden Nackens; oder gar das vollkommene
Abbild seines Wuchses, die feine Silhouette der seinigen
gleichend von ferne« (S. 224).
Und die Gesänge des Jungen erscheinen Marcel:
„Dede's Seele, die von anderen Lippen, denen sie
kaum verschieden, zu mir sprach .... Ich hätte glauben
können, er sei nur größer geworden" (S. 229).
Abends läßt Marcel auf den Lagunen durch den jungen
Gondolier und seine Freunde die Totenhymnen singen.
Phantome und Visionen von Liebe, Sehnsucht und Tod
erweckt die Totenklage in Marcel.
i
— 1034 —
Essebac, Achille: Luc. (Paris: Ambert & Cie, 1902.)
Der 14jährige hübsche Luc Aubry, Sohn kleinbürgerlicher
Eltern, der schon als Chorknabe in der Trinite in Paris die Auf-
merksamkeit der vornehmen gleichaltrigen Jeannine (Nine) Marcelot
und deren Mutter durch seine Grazie und Feinheit auf sich ge-
zogen hat, macht deren nähere Bekanntschaft aus Anlaß eines
Wohltätigkeitskonzertes, in welchem Luc als Sänger mitwirkte.
Er entzückt alle Zuhörer. Die berühmte Schauspielerin Diah
Swindor interessiert sich für den jungen Sänger. Bei ihr lernt
Luc den 22 jährigen, schon bekannten Maler Julian Breard kennen.
Julian hat bisher nur wenig mit Frauen verkehrt, er hatte
bei ihnen nur Unverschämtheit oder elende Unterwürfigkeit ge-
funden. „Er brauchte etwas anderes als Dirnen." Vergeblich
hatte er auch nach einem wahren Freund gesucht.
„Zarte und liebe Jünglingsgestalten um ihn herum, an
welchen er, der Jüngling, sich glaubte anschließen zu
können, hatten bald sich in die gewöhnlichen mit den
törichten Rennen, dem gemeinen Tingeltangel und den
stinkenden Wirtshausdirnen beschäftigten Schlingel ver-
wandelt."
„Julian hatte nicht das Glück gehabt, auf seinem Weg
einen solchen Freund zu kreuzen, wie ihn seine von
Einsamkeit wunde Einbildungskraft erstrebte, den, der
dahinschreitet in allen unseren Stapfen, jung mit unser
Jugend und noch jung an der Wendung des langen
Weges, wo die unerbittlichen Zahlen der Jahre die
letzten Strecken anzeigen« (S. 49).
Julian war schon in der Trinite durch den wunderbaren
Klang der Stimme des jugendlichen unsichtbaren Sängers er-
griffen worden.
„Der unvergleichliche Zauber dieser jugendlichen,
noch in seinem Innern lebendigen Stimme war durch
die Erscheinung des herrlichen und überraschenden
Wesens ihres kleinen Besitzers übertroffen. Begierig
nach einer Freundschaft ohne Grenzen
wollte er seine Augen auf diesem Jüngling ruhen lassen.
Wie er in Jeannine eine Liebe auszubilden träumte, in
welcher die Sinne vor der Herrschaft des Geistes zurück-
weichen würden, so träumte er in Luc eine immer junge
Freundschaft zu schaffen, Schwester der Liebe, die altert,
um von dieser Freundschaft und dieser Liebe, seinem
Ideal entsprechend, die Eindrücke, die Freuden, ja die
Schmerzen zu empfangen, die er von ihnen erwartete"
(S. 52).
— 1035 —
Zum ersten Mal tritt ein
Die Schönheit und Grazie
seiner Stimme haben alle
Luc Aubry wurde sofort der Freund von Julien. Er erduldete
im Voraus das unmögliche Joch der Zuneigung, die sich ihm anbot.
„Luc wächst heran, seine Schönheit wird männlicher,
entschiedener."
Luc besucht in seinem 16. Jahre das Conservatorium, er
will Schauspieler werden. Seine Freundschaft mit Julian dauert fort.
Diah Swindor läßt ihn in ihrem Theater neben sich in
einer Ephebenrolle auftreten.
Der schöne Luc erregt die Bewunderung und Begierde
mancher Schauspieler. Seine Freundschaft mit Julian setzt sie
in Staunen.
„Sie waren erstaunt, daß Julian und Luc, kräftig und
gesund, sich zur Hingabe an die gewöhnlichen hockenden
Anbetungen der Männer, der abgelebten Verehrer ihrer
Laster, weigerten. Und die gegenseitige Freundschaft
dieser zwei sehr schönen Wesen war ein Uebermaaß
von Beleidigung dem törichten Stolz ihres Geschlechts"
(S. 109).
Der Erfolg von Luc ist groß.
Jüngling in einer Ephebenrolle auf.
von Luc, sein Talent, der Wohllaut
Bedenken zum Schweigen gebracht.
Frau Marcelot geht im Sommer auf ihre Villa. Dort läßt
sie Figaros Hochzeit aufführen. Luc wird die Rolle des Cherubin
spielen. Wochenlang weilt er dort, ebenso wie Julian und zahl-
reiche andere Gäste.
„Julian betrachtet Luc und erstaunt über seine Schön-
heit, die noch mehr hervortritt in der zarten Nachbar-
schaft des zierlichen und schmachtenden Edouard. Nie-
mals noch sind die Herrlichkeiten dieser jugendlichen
Formen so hervorgetreten wie an diesem Abend in den
reizenden Gewändern des Chenibin« (S.209).
Zwischen Nine und Luc ist eine lebhafte Zuneigung ent-
standen. Sie sind einander liebend in die Arme gesunken. Nine
verspricht Luc, ihn nachts in dem einsamen Gartenhäuschen, wo
er schläft, zu besuchen. Sie hält ihr Versprechen, beide widerstehen
nicht ihrer gegenseitigen Anziehung. Nine giebt sich Luc hin.
Auch Julian ist nicht zur Ruhe gegangen, eine ungestillte
Sehnsucht treibt ihn in den Park:
„Julian bemüht sich, das giftige und reizende Bild
von Luc von sich zu weisen. Er kämpft vergeblich
gegen das schleichende Gift, das in ihn seit Wochen,
Monaten — er gesteht es sich endlich — seit Jahren,
ja seit Jahren sich Tropfen für Tropfen eingeschlichen
hat und endlich in den Sturm seines Herzens überfließt.
— 1036 —
Die seltene Freundschaft, die seine Adern durch-
glüht, entfacht in ihm plötzlich den Neid, . . . den Neid?
schlimmeres als das ... die Eifersucht! Die Eifersucht,
vor der er sich fürchtet" (S. 211).
Julian sieht Nine in das Häuschen eintreten und nach langem
Verweilen wieder sich herausschleichen. Sein erster Gedanke ist
Haß und Rachsucht; er will Luc, der ihm seine Braut geraubt, —
es war seit langem bestimmt, daß er Jeannine als Frau heimführen
soll, — niederschmettern. Aber Luc's Anblick entwaffnet ihn.
„Luc sieht zwischen den Thränen seines Freundes
die Vergebung leuchten Julian's Augen, in
stummer Extase, suchen die Seele des Knaben im
Grunde seiner seltsamen Augen und des Freundes müde
Lippen drücken auf die brennende junge Stirn die
schmerzhafte Verzeihung. . . . Luc giebt ihm die er-
drückende Süße seines Kusses zurück, und Julian ge-
brochen und schluchzend nimmt in Mitte des unsäg-
lichen Schweigens der Nacht die Freuden und den
Schmerz der Verzeihung und des Kusses mit" (S. 234).
Die Umarmung Nine's durch Luc ist nicht ohne Folge ge-
blieben. Nine ist schwanger.
Julian heiratet sie, um sie vor Schande zu retten. Auch
ihr verzeiht er die Hingabe an diesen wunderbaren Luc.
„O, wie die Lippen von Jeannine und ihre Thränen
nach den Lippen und den Thränen von Luc schmecken!
Wie ist er voll von ihnen, dieser Kuß, wo Julian —
der alles weiß — sich erbietet, ihr anzugehören, in den
Augen der Welt ihre Ruhe, ihren Frieden zu retten" (S. 254).
Julian und Nine verweilen Monate lang in Italien; Beide
sind anfangs glücklich. Im gegenseitigen Einverständnis bleibt
ihre Ehe unvollzogen, völlig rein, um das Werk von Luc un-
berührt zu lassen. Nine hat eine tiefe Liebe zu Julian gefaßt
und dieser gedenkt in Ruhe des geliebten Jungen, dessen Bild
ihn nicht verläßt. Aber als sie Beide nach Paris zurückkehren,
da gewinnen die uralten, eingewurzelten Vorurteile Macht über
Julian; er kann in dem geliebten Knaben nur den Geliebten
seiner Frau erblicken.
„Die Heftigkeit seiner Neigung für ihn kämpfte mit
einer gewissen Antipathie, beide unvereinbar, beide un-
erklärlich."
Luc bemerkt sofort die Aenderung in Julian, der seine
Kälte nicht zu verbergen vermag.
Luc errät die Gefühle von Julian. Er ist verzweifelt.
Er fühlt sich vereinsamt, Nine hat er verloren, seine erste Liebe,
seine herrliche Freundschaft mit Julian ist im Grunde zerstört,
— 1037 —
das Leben ist ihm zur Last. Er vergiftet sich an dem Tag, wo
Nine einen Knaben — sein Kind — gebärt. In Julian's Armen,
den man kaum Zeit gehabt herbeizurufen, stirbt Luc.
Essebac, Achille: L'Elu (Paris: Edition moderne,
Ambert, 1902).
Der junge Pariser Pierre Pelissier ist auf Reisen ge-
gangen um das Mädchen, das er mehr begehrt als geliebt
hatte und das sich mit einem Andern, Du Hei, verlobt hat, zu
vergessen.
An der spanischen Treppe in Rom bewundert Pierre die
zahlreichen Modelle, die hübschen Mädchen und die Jungen.
Ein 16jähriger Blumenverkäufer, Luigi da Simone, macht einen
gewaltigen Eindruck auf Pierre. Sein bescheidenes, artiges
Wesen und seine blendende Schönheit fesseln ihn.
„Pierre schien es, als ob die Welt mit Liebkosungen
sich erfüllte, während er seine Blicke auf die Blicke
des kleinen Bettlers heftend, unter der Gewalt seiner
Schönheit festgenagelt war.« (S. 25).
Pierres Freund, Jean Berille, kennt den Jungen, er hat
sein Antlitz gezeichnet. Jean erzählt Pierre, daß Luigi so stolz
und ehrenhaft sei, daß er sich geweigert habe, von dem be-
rühmten Peterson, dem Photographen der bekannten Aktstudien,
sich nackt photographieren zu lassen. Pierre verläßt der Ge-
danke an Luigi nicht mehr.
Jean führt Pierre zu Peterson. Dort treffen sie eine An-
zahl Modelle. Zuerst sehen die sie die schöne Carolina, dann führt
ihnen Peterson fünf Jünglinge vor, alle von vollendeter Schön-
heit. Den 1 7jährigen Volturno, il typographo, den gleichalterigen
Lucio il barbiere, Giovanni il orologiaio, dieser noch herrlicher
als die beiden andern, dessen Antlitz der berühmte Professor
Paul H für die Darstellung der Jungfrau Maria in dem Ge-
mälde in der Neuen Pinakothek zu München benutzte; dann
Giovani - Batista, Modell von Beruf, der die kunstvollen Stel-
lungen und Gebärden kennt; endlich Manlio, ein junger Student,
wunderbar schön. Pierre glaubt sich bei dem Anblick aller
dieser herrlichen Jünglinge, die so natürlich in Schönheit sich
bewegen, in das alte Griechenland zurückversetzt.
„Das freie und leuchtende Griechenland war allein
fähig einstmals in seinen Gymnasien, wo Sokrates in
der Nähe von Alcibiades über Charmides und Lysis
Reden hielt, dieses Schauspiel zu bieten, dessen er-
greifende Reinheit nur durch die intensive Schönheit
erreicht wurde." (S. 63).
— 1038 —
Der Diener von Peterson hat Luigi gefunden. Luigi
willigt ein, sich nackt photographieren zu lassen, doch nur
vor Pierre.
Enthusiastische Schilderung des Jünglings, dessen strahlende
Nacktheit sich den bewundernden Blicken Pierre's darbietet.
Die Photographien von Luigi in den verschiedenen Stellungen
werden nur für Pierre hergestellt werden und die Original-
platten für Niemand anders gebraucht, damit die nackte Schön-
heit des Jünglings durch kein anderes Auge entweiht werde.
Pierre ist von dem Liebreiz und dem gesamten Wesen
von Luigi so entzückt, daß er beabsichtigt, ihn mit nach Paris zu
nehmen. Luigi hat früh seine Eltern verloren, mangels der
nötigen Mittel mußte er die Studien aufgeben und unter den
größten Entbehrungen seinen Lebensunterhalt verdienen.
„Luigi gehört also Niemand — Luigino, Gino wird
der Erwählte von Pierre sein. Und das ist die Morgen-
röte des Glückes, die in der Seele von Pierre auf-
steigt, in einer bisher von Finsternis umhüllten Seele,*
in welche nur seltene Sterne bisher hineingeleuchtet. u
(S. 84).
Luigi hat ein wenig Chemie studiert und wird Pierre, der
sich mit Keramikarbeiten beschäftigt, behülflich sein.
Pierre begleitet den Jungen in seine bisherige Wohnung,
eine schreckliche Behausung, wo der elternlose Luigi von einer
Dirne, Sanguisuga, deren Leidenschaft er entfacht, gezwungen
war, ihren Lüsten sich hinzugeben. Luigi versichert Pierre, daß
niemals sein Herz beteiligt war.
Sodann erfährt Pierre näheres über Luigi bei Kloster-
brüdern, die den kranken Luigi einst gepflegt. Fra Serafino
teilt Pierre mit, welche schwere Vergangenheit Luigi hinter sich
hat; das größte Elend mußte er durchmachen, in den schlech-
testen, kaum bezahlten Stellungen versuchte er auszuharren;
schließlich nahm ihn eine Dirne, Stefanina, durch seine Schön-
heit gefesselt, zu sich, aber der Stolz des Jungen duldete nicht
lange das entehrende Zusammenleben. Als er aber das Mädchen
verlassen und trotz seiner Bitten nicht zurückkehren wollte, ver-
setzte ihm die Dirne einen Messerstich. Lange war Luigi krank
gelegen, noch jetzt sind die Folgen nicht völlig beseitigt. Alle
großen Erregungen müssen ihm erspart und namentlich sexuelle
Excesse von ihm ferngehalten werden. Pierre's Liebe zu Luigi
steigert sich noch,' nachdem er alles erfährt, was der Junge gelitten.
„Ihre Freundschaft beruhte ganz auf der Freude
sich zu sehen und sich gegenseitig anzuvertrauen —
sie hielt sich genügend fern von allem krankhaften
oder zügellosen Trieb, so daß Pierre weder für sich
— 1039 —
noch für die, die ihn kannten, eine Entschuldigung zu
suchen brauchte für diese einfache und natürliche
Zuneigung zweier Herzen, die entschlossen waren, ganz
sich zu kennen, ganz in geistigen Freuden in einander zu
verschmelzen und sogar in einer weniger aetherischen
Sympathie das discrete, vernünftige und jedenfalls vor-
urteilsfreie Element einer Zuneigung zu finden, dessen
Charakter zu verdächtigen Pierre Niemand das Recht
zuerkannte." (S. 136.)
Die Sanguisuga hat die Wohnung von Pierre und Luigi
ausgekundschaftet; als sie merkt, daß Luigi nicht mehr in seine
frühere Behausung zurückkehrt, lauert sie Pierre und Luigi auf
Schritt und Tritt auf. Pierre beschließt, Rom sofort zu ver-
lassen, damit Luigi vor der Rache der Sanguisuga sicher sei.
Im Augenblick, wo der Zug, mit dem Pierre und Luigi abreisen,
abfährt, stürzt eine Frau, die Sanguisuga, auf den Perron. Als sie
den Zug, der ihr den Geliebten entführt, nicht mehr erreichen kann,
stößt sie sich den Dolch, den sie für Luigi bestimmt, in die Brust.
Pierre und Luigi bringen zunächst einige Zeit auf dem
Familienschloß in Savoyen zu. Dann gehen sie nach Paris, wo
Pierre in der Nähe seiner Keramik-Werkstätte seinem Liebling
eine hübsche Wohnung einrichtet. Das Glück beider ist eine
Zeitlang ungetrübt.
Aber eine Kokotte, die Maitresse des brutalen egoistischen
Du Hei, hat ihr Auge auf den schönen Luigi geworfen. Er ver-
mag nicht ihrem Werben zu widerstehen, seine lang verhaltene
Sinnlichkeit zieht ihn zu der wollüstigen Frau. Trotz der Bitten
von Pierre verläßt er ihn. Einige Wochen bleibt er fern, dann
kehrt er ermattet, bleich, erschöpft und reumütig zu Pierre
zurück, der ihm verzeiht. Die Excesse haben Luigi so erschöpft,
daß er erkrankt. Als er wieder genesen, begleitet er Pierre und
dessen zukünftigen Schwager, Marc, in eine große Gesellschaft.
Dort hört Luigi wie Du Hei über die Schwester von
Pierre in beleidigenden Ausdrücken spricht, er straft ihn Lüge,
aber spöttisch schleudert ihm Du Hei eine Beschimpfung ent-
gegen, nennt ihn Weib, auf sein Verhältnis mit Pierre anspielend.
Schon will Luigi die Hand gegen Du Hei erheben, als Marc, der
hinzukommt, dem frechen Du Hei alle seine Verachtung in zün-
denden Worten entgegenschleudert.
Luigi ist durch diese Scene so ergriffen, daß seine schwache
Gesundheit den Todesstoß erleidet.
Er stirbt in Pierre's Umarmung.
In allen drei Werken besingt Essebac die homo-
sexuelle Liebe in ihrer edelen, verklärten Form. Der
I-
\
\
— 1040 —
sinnlichen Grundlage entbehrt diese Liebe nicht, aber das
tiefe Gefühl, die Herz und Gemüt ergreifende Leiden-
schaft, sind ihr Alles, lassen den grobsinnlichen Trieb
nicht aufkommen, erkennen der Sinnlichkeit ohne echte
aufrichtige Liebe kein Recht zu.
An der körperlichen und geistigen Schönheit, an
der Grazie, Jugendfrische und Plastik des Geliebten ent-
flammt sich diese Liebe in D£d6, Luc und l'Elu.
Indem Essebac teilweise aus dem Schönheitsgefühl
und dem ästhetischen Empfinden die Neigung seiner
Helden entstehen läßt und eine - enge Verknüpfung
zwischen Schönheitsdrang und Homosexualität versucht,
leitet er die urnische Leidenschaft gleichsam zu ihrer
Rechtfertigung und Entschuldigung aus diesem Zu-
sammenhang her.
Tatsächlich erscheint aber auch diese Quelle unzu-
reichend zur Erklärung, warum die Schönheit eines Jüng-
lings die Leidenschaft von Marcel, Julian und Pierre ent-
facht und die Frau ein ähnliches Gefühl nicht auf-
kommen läßt.
Bei allen dreien liegt der Grund in ihrer angebore-
nen homosexuellen Anlage, welche Essebac nicht aus-
drücklich betont, aber in der Psyche der Dreien deutlich
zur künstlerischen Darstellung bringt.
Bei D£d£ tritt die Homosexualität in frühester
Jugend hervor mit einer Intensität des Gefühls und des
Innenlebens, mit einer frühzeitigen Entwicklung starken
Empfindungslebens, wie sie gerade zu der Charakteristik
mancher Homosexuellen zählen.
Später als bei Marcel tritt bei Julian die homo-
sexuelle Neigung hervor, die sich seit der Pubertät unter
der Sehnsucht nach edler Freundschaft und idealem
Geistesbund verbarg.
Julian's Geschlechtsnatur entbehrt des grobsinn-
lichen Dranges, sein jedes niederen Trachtens, jeder
— 1041 —
Gemeinheit abholder Geist strebt nach höheren Genüsse»
Und weil das direkt Geschlechtliche ihn nicht lockt,,
stößt ihn andererseits auch das Weib an und für sich
nicht ab, ebensowenig wie ihn der Mann an sich oder
eine Kategorie von Jünglingen geschlechtlich reizt.
Sein ungestilltes Sehnen konzentriert sich auf den.
Einzigen, in dem er sein Ideal von vollendeter Schönheit
des Körpers und Anmut des Geistes vereint findet.
Beim ersten Anblick dieses Epheben wird sein-
schlummerndes Liebessehnen geweckt, in der Freund-
schaft und dem täglichen Verkehr mit Luc entwickelt
sich seine ursprünglich unter Freundschaftsenthusiasmus
und Schönheitskult verschleierte homosexuelle Natur bis
zu sinnlichem Begehren. Seine ideale Anlage, seine ver-
edelte Sentimentalität hindern ihn aber, die Grenzen des
bloßen Begehrens zu überschreiten und die Verwirklichung
seiner aufkeimenden Wünsche durchzusetzen.
Diese sublimierte Sinnlichkeit läßt es auch begreiflich,
erscheinen, daß sich Julian mit dem symbolischen Besitz,
des Geliebten begnügt, indem er diejenige heiratet, die
Luc in Liebe umschlang und das Kind des Geliebten^
„das Fleisch seines Fleisches" als das seinige anerkennt.
In dem Charakter von Julian liegt diese etwas
eigenartige und sentimentale Befriedigung begründet und
in interessanter Weise ist es Essebac gelungen, diese Ge-
fühlsablenkung, in die Julian's überschwengliche Leiden-
schaft mündet, psychologisch zu motivieren.
Dagegen halte ich den Umschlag in Julian's Ver-
halten zu Luc am Schlüsse des Romans für verfehlt..
Die plötzliche Antipathie gegen Luc als den früheren
Geliebten Nine's, der Kampf der beiden Gefühle, der ge-
steigerten Liebesleidenschaft zu Luc und der instinktiv
sich aufdrängenden Abneigung, welche über das zwischen.
Luc und Nine's Vorgefallene sich nicht hinweg zu
setzen vermag, würden eine wirkliche Geschlechtslieber
— 1042 —
Julians zu seiner Frau voraussetzen, während seine Homo-
sexualität und seine fortdauernde Leidenschaft zu Luc
eine solche ausschließen.
Bei einer geistig überlegenen und unabhängigen
Natur wie Julian können die herrschenden Vorurteile
nicht Wurzel schlagen und nicht das Leben vergiften,
wenn sie nicht in dem Gefühlsleben der Persönlichkeit
einem Widerhall begegnen.
Auch der Held des dritten Romans trägt den Typus
des Edelpäderasten, aber jede Unklarheit über die Natur
des Gefühls, das ihn erfüllt, jeder Kampf gegen seine
Empfindung hat aufgehört.
Pierre hat das volle Bewußtsein seiner homosexuellen
Natur erlangt, und in ihr Glück und Zufriedenheit ge-
funden. Er zieht alle Consequenzen aus seiner Leiden-
schaft und zögert nicht sein Lebensschicksal mit dem-
jenigen des Geliebten zu verbinden.
Luigi wird durch Pierre's Liebe geadelt und sittlich
erhöht, während er das Laster beim Weibe kennen lernte
und auch als Opfer dieses Lasters zu Grunde geht.
Alle drei Romane haben mehr lyrischen und poetisch
sentimentalen Gehalt als psychologischen. An dem Maßstab
der Wirklichkeit darf man die Romane und ihre drei
Helden, welche die schönsten geistigen und körperlichen
Eigenschaften vereinigen, nicht allzugenau messen. L'Elu
ist vielleicht am meisten romantisch mit zum Teil etwas
grell romanhaften Ingredienzien.
Die Ueberschwenglichkeit des Gefühls und der oft-
mals an allzu pathetischem Lyrismus sich berauschende
Enthusiasmus fuhren Essebac an manchen Stellen zu ge-
suchten Wendungen und verschlungenen Sätzen, in denen
die Klarheit des Gedankens leidet, zu Ausdrucksweisen
und schwärmerischen Perioden, die zwar musikalisch
klingen, aber eine gewisse Affektiertheit verraten und
die Verständlichkeit manchmal vermissen lassen.
;
— 1043 —
Aus allen drei Büchern spricht jedoch eine echte
Künstlernatur: Das bedeutende, hauptsächlich lyrische
Talent Essebac's hat ihn befähigt, drei an Zartheit und
Feinheit der Empfindung und poetischem Schwung reiche
Werke zu schaffen.
GeiSSler,Karl Wilhelm: Ganymedes. Ein Künstler-
traum in neun Gesängen. (Leipzig, Verlag
„ Kreisende Ringe * (Max Spohr 1902. 282 S.)
Der Dichter verkündet die Aufgabe, die er sich gestellt.
Er wolle ein Denkmal eigener Art setzen.
„Klassisch der Stamm, romantisch die Verzweigung
Ein hohes Lied perverser Götterneigung."
Tros, der Stammherr der Trojanischen Könige, hat auf
Geheiß des Hohepriesters versprochen, seinen Erstgeborenen dem
Gotte Zeus zu weihen. Zeus hat die Absicht, den Königssohn
Ganymed später zu seinem Geliebten zu erheben. Schon dem
Kind schickt er Zeichen seiner Huld.
Gutklau, der Adler Zeus', bringt dem kleinen Ganymed
ein Frauenkleid, herrlichen Schmuck und Tand. Ganymed
legt freudig alles an. Von den Nymphen, denen er be-
gegnet, und den Dienerinnen ob seiner Tracht ausgelacht,
flüchtet er errötend und weinend zur Mutter. Eine eigenartige
Empfindung hat sich seiner bemächtigt, seitdem er die Frauen-
kleider angelegt. Er fühlt sich wohl in ihnen, als ob „sein
Körper zu ihnen gestrebt" und begreift selbst nicht, wie „buntes
Zeug und Bänder" ihn so im Innersten mit einem Mal verändert
Kallirrhoe (seine Mutter) findet die Erklärung seiner Gefühle in
der alten Sage von den Doppelseelen in deren Körper un-
zertrennlich „was weiblich und was männlich" gewohnt und die
durch die Gottheit getrennt, in falsche Körper sich verloren.
Der Schmuck, den Gutklau dem Knaben gebracht, war
Hera's Eigentum. Als die Göttin der Entwendung gewahr wird
und die Verwendung des Schmucks erfährt, bricht sie mit
Anklagen gegen Zeus hervor.
Sie kann sein Interesse für den Knaben nicht begreifen,
dessen Äußeres keinen Helden verspräche, an dem Zeus später
seine Freude haben könnte.
Auf Ihre Vorwürfe antwortet Zeus weiter:
„Weßhalb soll ich nicht diesen Knaben lieben,
Da ich doch alle Menschen lieben muß?
Soll meine Huld auf Weiber sich beschränken,
Und, wenn ich liebe, nur ans Zeugen denken."
(S. 126).
Jahrbuch V. 66
\
— 1044 —
Noch sieht Hera einen Ausweg, um den Knaben Zeus zu
entfremden, sie will den Mann in ihm wecken. Zeus gestattet
ihr den Versuch zu machen.
Hera läßt ein schönes Hirtenmädchen Anthia, dem das
Aussehen und die Kleider einer wundervollen Prinzessin ver-
liehen werden, zu Ganymed bringen. Durch die Anmut und die
Schönheit des Mädchen wird Ganymed anfangs entzückt und
in Liebesworten giebt er seinen Gefühlen Lauf. Aber als der
reiche königliche Glanz von Anthia abfällt und er das arme
Hirtenmädchen vor sich sieht, erkaltet bald Ganymed's ober-
flächlicher Enthusiasmus.
Gern läßt er das Mädchen auf seine Bitten hin zu ihrem
Geliebten ziehen.
Zeus beschließt sich Ganymed zu nähern. Als Erastes,
der Fürst der Phryger, kommt er an den Hof von Tros unter
dem Vorwand sich auf der Jagd verirrt zu haben. Er wird
gastfreundlich aufgenommen.
Mit innigem Behagen ruht Zeus' Blick während des Mahles
auf Ganymed, der sich an seine Mutter schmiegt.
Er erzählt wie in seinem Lande der Jüngling früh einen
Freund wählen müsse.
Tros selbst bittet Zeus sich seines Sohnes anzunehmen:
„Daß einzig du, dein Beispiel deine Nähe
Dem Jungen giebt, woran's ihm noch gebricht.
Betracht* ihn doch, sieh seine Sehnsucht brennen.
Dich Vorbild, Führer, Schützer. Freund zu nennen!"
(S. 188.)
Auf Geheiß von Tros leistet Ganymed dem Gast Schenker-
dienste:
„Fast möchte man den guten Tros d'rob hassen,
Daß er den Sohn zum Schenkerdienst gedrillt:
Hier ist der Grund, weßhalb in allen Gassen,
Wo immer man in Kneipen Humpen füllt,
Wo Bierphilister um ihr Hirn sich prassen,
Der Kellner als ein Ganymedes gilt,
Im Jammerfrack, mit schmutziger Serviette —
Der Name stinkt nach Trinkgeld, Küchenfette".
(S. 190)
Abends lustwandelt Zeus mit Ganymed im Schloßpark.
Ganymed öffnet dem Freund sein Herz, erzählt ihm, wie ein
ungestilltes Sehnen ihn erfülle, wie er, der Gottgeweihte, große
Dinge erwarte, wie stets sein Blick aufs Hohe, Oberirdische
gerichtet sei.
Ganymed findet bei Zeus-Erast, dem Geistesverwandten,
volles Verständnis.
— 1045 —
Nachdem Zeus längere Zeit am trojanischen Hof verweilt,
kündet er seinem Liebling an, daß er bald in sein Reich
zurückkehren müsse. Er fordert Ganymed auf, ihn zu begleiten,
ein Leben voll Pracht und Glanz wolle er ihm bereiten.
Ganymedes versichert ihn seiner treuen Liebe, aber so lange
die Mutter lebt wird er sie nicht verlassen.
Zeus veranlaßt die Parzen den Lebensfaden von Kallirrhoe
abzukürzen. Sie stirbt plötzlich eines Nachts. Bald verläßt der
Gott Troja. Vor seinem Weggang erinnert er Ganymed an
sein Versprechen, im Fall des Todes der Mutter dem Freund zu
folgen. Doch zuerst solle er beim Vater bleiben als Stütze und
Trost nach dem schweren Verlust. Wenn aber Ganymed dem-
nächst den Freund ersehne, brauche er nur den benachbarten
Berg zu besteigen, und nach dem Freund zu rufen.
Auf Geheiß seines Vaters muß Ganymed als königlicher
Hirte die Heerden zur Weide führen. Die ersten Tage verbringt
Ganymed glücklich und frei in der herrlichen Natur des Waldes
und der Berge zu. Aber bald kommt ihm die Oede und Arm-
seligkeit seiner Beschäftigung und seines Daseins zum Bewußt-
sein. Von dem Vater trennt ihn eine unüberbrückbare Kluft
in Denken und Empfinden; er fühlt sich verwaist und einsam.
Im Traum erscheint ihm Zeus, er ruft ihn zu sich, nicht
länger möge Ganymed zögern: „Ein Wort von dir, und dich
umfängt die Liebe«. Ganymed gedenkt der letzten Worte von
Erast, er eilt auf den Berg, der Adler Gutklau bringt ihm den
Lorbeerkranz. Ganymed weiß jetzt, daß Zeus — Erast ihn auf-
nehmen wird.
Inbrünstig betet er zum Gott.
„Da, plötzlich, fühlt vom Sturm er sich getragen,
Auf weichen Fittichen hebt er ihn sanft empor,
Bis sich zwei Götterarme hilfreich um ihn schlagen,
Ein Göttermund ihm zärtlich raunt ins Ohr:
Willkommen, Seliger! Das Alte ist vergangen,
Und neue Liebe blüht, dich ewig zu umfangen!"
(S. 281)
Das Gedicht endigt mit folgenden Versen:
wO würd' auch uns nach rasch verträumtem Leben
Solch einer Heimkehr grenzenloses Heil
Von einem Gotte, der uns Freund, gegeben —
Kein Pfad dahin erschien* uns übersteil!
Der Wunsch schon wirkt, daß, wir uns höher heben,
Wird ihm Erfüllung oder nicht zu teil:
Wenn freudig wir dem Irdischen entfliehen,
Sind würdig wir, zum Frieden einzuziehen!"
(S. 282)
66*
i<
— 1046 —
Das Poem von Geißler ist ein Geroisch von erhaben
gedachten Stellen einer- und von Parodie und Travestie
andererseits.
Die Liebe von Zeus zu Ganymed wird zwar als eine
von Sinnlichkeit nicht freie, aber edle Leidenschaft be-
sungen und die Scenen zwischen den Beiden tragen auch
den Stempel aufrichtiger Empfindung und teilweise schöner
Lyrik.
In der Schlußstrophe des neunten Gesanges wird
sogar die Sehnsucht und Liebe Ganymed's zu dem Gott
symbolistisch gedeutet und damit versucht, dem ganzen
Gedichte eine symbolistische Bedeutung zu geben, auf die
man schwerlich ohne diesen unvermittelten Hinweis . ge-
kommen wäre. Auch einige gut beobachtete psychologische
Züge in der Entwicklung der homosexuellen Natur Gany-
med's sind zu loben wie z. B. seine Freude an Weiber-
kleidung, seine Abneigung gegen männlichen Sport. In
der Hauptsache jedoch entbehrt das Buch eines tieferen
Gehalts.
In allzu ermüdender Breite wirken Begebenheiten
und Episoden, entrollt mit einem Stich ins Burleske, das
oft verblüffend wirkt und zur Frage berechtigt, ob die
Wiedergabe der schönen Bildnisse des Zeus von Otricoli
und des vatikanischen Ganymed's in dem an Offenbach's
.Operettenlibretti erinnernden Gedicht am Platze war.
Denn in Offenbachsche Verkleidung sind Geißler's
Götter und Menschen gehüllt, bei der das Erhabene und
Lächerliche fortgesetzt sich kreuzt und in einander über-
geht.
Wenn Geißler ohne höhere Absichten lediglich ein
amüsantes Gedicht hätte geben wollen, dann würde man
an den anachronistisch-parodistischen Streiflichtern, die
er auf heutige Zustände in Heine'scher Atta Troll-Manier
wirft und an seiner teilweisen Damenkomikerlyrik ehr-
licheren Gefallen finden können.
— 1047
Jedenfalls würde es gewagt seiu, wollte man den
„Künstlertraum" Geißler's einen künstlerischen Traum
nennen, aber als eine vergnügliche Lektüre kann man
das Buch immerhin empfehlen.
Gide, Andrer L'Immoraliste (Verlag, Mercure de
France 1902. 257 S.)
Michel, der Sohn eines früh verwitweten Gelehrten, hat
sich in seinem 24. Lebensjahr seinem Vater zu Liebe an dessen
Sterbebette verlobt. Er heiratet seine Frau, Marceline, ohne
Liebe, aber da er noch kein anderes Weib geliebt hat, „genügt
ihm dies als Gewähr des Eheglücks und da er sich selbst
nicht kennt, glaubt er ganz sich seiner Frau hinzugeben", er bringt
ihr Zärtlichkeit und Achtung entgegen.
Michel hat sich frühzeitig einen geachteten Namen in der
Gelehrten weit verschafft. Seine Natur war ganz in dem Studium
aufgegangen. So hatte er das 25. Lebensjahr erreicht, ohne
etwas anderes als Ruinen und Bücher geschaut zu haben, des
wirklichen Lebens unkundig. Auf seiner Hochzeitsreise
nach Algerien erkrankt Michel schwer an Blutsturz. In Biskra
nehmen die Eheleute Aufenthalt.
Dort beginnt MichePs Interesse für die jungen Araber
zu erwachen. Zuerst zieht der kleine Bachir, den Marceline in
das Krankenzimmer mitgebracht, seine Aufmerksamkeit auf sich.
Die kindliche Grazie des Jünglings entzückt ihn. Als Bachir am
andern Tage* nicht wiederkehrt, empfindet Michel zum ersten
Male Langeweile; er läßt den Jungen holen und schaut seinen
Holzschnitzereien zu. Bachir schneidet sich in den Finger und
lachend leckt er die Wunde ab.
„Seine Zunge war rosig wie die einer Katze. Ach!
welche Gesundheit der Junge hatte ! Das also war es,
was mich in ihm entzückte." x). (S. 39).
Tags darauf nimmt Michel an dem Kegelspiel des Jungen
Teil. In Folge der Anstrengung speit Michel in der Nacht wieder
Blut. Michel sieht jetzt die Gefährlichkeit seiner Lage ein, sein
erster Blutsturz hatte ihn nicht so geängstigt, ihn ziemlich
gleichgültig gelassen. Aber er beginnt das Leben zu lieben und
faßt den Vorsatz, nunmehr um jeden Preis zu gesunden. Seine
einzige Pflicht, sein einziges Ziel soll seine Genesung, seine
Gesundheit werden.
„Für gut war zu halten, gut war zu nennen, alles was
mir heilsam war, dagegen mußte alles vergessen,
zurückgewiesen werden, was nicht heilte" (S. 43)
J) Der Roman ist in der Ichform geschrieben.
— 1048 —
Dank der strengen Hygiene und Diäthik, dank der sorg-
fältigen Pflege bessert sich Michel's Zustand. Er kann wieder
mit seiner Frau ausgehen. Wieder interessieren ihn die jungen
Araber, denen er begegnet, aber in Gegenwart seiner Frau
empfindet er eine gewisse Scham sie anzureden.
Die Genesung Michel's nimmt zu. Bald besucht er die
schönen Gärten der Umgebung mit Marceline, dann allein. Alle
seine Sinne leben auf in dem herrlichen Klima und der blühenden
Vegetation. Den schönen Lassif, den Ziegenhirten, der wunderbar
die Flöte spielt, lernt Michel kennen und zahlreiche andere
junge Araber. Sie begleiten ihn oft, er gibt ihnen Geldstücke,
schaut ihren Spielen zu und läßt sie in seine Wohnung kommen.
Als die schlechte Witterung ihn an das Zimmer bannt, sind
es die Spiele der Jungen, die allein ihn zerstreuen.
Beim Beginn der heißen Jahreszeit reisen Michel und Marceline
nach Sizilien. MichePs Nerven sind gekräftigt, seine kranke Lunge
geheilt. Er fühlt sich körperlich und geistig ein anderer Mensch.
„Es war mehr als eine Genesung, es war eine Ver-
mehrung, ein Zunehmen des Lebens, der Zuzug eines
reicheren, wärmeren Blutes in den Adern" (S. 80).
Er entdeckt in sich den ursprünglichen, urwüchsigen
Menschen, den Erziehung und Studium verdeckt hatten. Seine
Gelehrsamkeit stört ihn in dem Genuß der schönen Natur, seine bis
jetzt geliebten historischen Studien scheinen ihm ohne Beziehung
zu seinem Ich.
In Sorrent hat er Gelegenheit, seine neue Kraft zu erproben,
indem er seine Frau aus einer Lebensgefahr durch energische
Züchtigung eines trunkenen Kutschers rettet.
Zum ersten Male in Italien, besitzt er wieder seine Frau
und zum ersten Male mit sinnlichem Genuß. Es war eine eigentliche
Hochzeitsnacht.
Michel denkt allmählich wieder an geschichtliche Studien.
Aber die abstrakte und kühle Betrachtung der Vorgänge hat
keinen Reiz mehr für ihn, die Philologie und Geschichte ist ihm
nur noch ein Mittel, um Leidenschaften, um das pulsierende.
Leben kennen zu lernen.
Er will die letzten Jahre des Gothenreichs studieren. Aber
am meisten zog ihn die Gestalt des jungen Königs Athalarich an.
„Ich stellte mir diesen 15 jährigen Knaben vor, der
heimlich von den Gothen angestiftet, sich gegen seine
Mutter Amalasuntha empört, seine lateinische Kultur
verschmäht, die Kultur, wie ein Pferd sein störendes
Geschirr abwirft und die Gesellschaft der unge-
schlachteten Gothen derjenigen des alten und allzu
weisen Cassiodorus vorziehend einige Jahre mit den
— 1049 —
rauhen Günstlingen seines Alters ein kraftvolles, wollust-
reiches und schrankenloses Leben führt, um 1 8 Jahre
alt ganz verdorben, ganz trunken von Ausschweifungen
zu sterben."
„In diesem tragischen Streben nach einem wilden
und urwüchsigen Zustand fand ich etwas von dem,
was Marceline lächelnd meine „Krisis" nannte.0 (S. 101 ).
Michel wird eine Professur im College de France an-
geboten. Er nimmt sie an und lebt noch zuvor einige Monate
auf seinem großen Landgut in der Normandie. Die ersten
Wochen fühlt sich Michel dort völlig glücklich. Seine innere
Unruhe hat sich gelegt, er arbeitet in völliger Ruhe und Zufrieden-
heit. Marceline ist schwanger, er umgiebt sie mit doppelter
Liebe und Zärtlichkeit.
Karl, der Sohn des Gutsverwalters Bocage, ein schöner
17jähriger Bursche, erweckt das Interesse von Michel, der sich
mit ihm befreundet und täglich lange Spazierritte mit dem sympa-
thischen Jungen unternimmt.
Im Winter beginnt Michel seine Vorlesung in Paris. Er
verteidigt darin seine Anschauung, daß die Kultur, die durch das
Leben erzeugt sei, schließlich die Ursprünglichkeit und das
Leben töte.
Ein Bekannter, Menalque, der Individualist, der jeden Zwang,
jedes Prinzip haßt und nur seiner Natur folgt, jede Handlung
die er mit Freuden ausführt, als berechtigt betrachtet, bekräftigt
Michel in seinen neuen Anschauungen und hilft ihn sich über
sich klar zu werden.
Marceline erkrankt schwer in Folge einer gefährlichen
Frühgeburt.
Als sich ihr Zustand gebessert, ziehen Michel und Marceline
wieder auf das Landgut. Michel meidet möglichst die Gäste,
die zum Besuch bei ihm weilen. Die Gesellschaft der länd-
lichen Arbeiter und der Naturburschen bereitet ihm mehr Ver-
gnügen.
Einer besonders zog ihn an:
„Er war ziemlich schön, groß, kein Tölpel, aber
nur durch den Instinkt geleitet, er handelte stets
plötzlich und gab jedem vorübergehenden Impuls
nach. Vorzüglicher Arbeiter während zweier Tage, be-
trank er sich am dritten zu Tode.
Eine Nacht schlich ich mich in die Scheune um
ihn zu sehen: er hatte sich in das Heu gestreckt;
er schlief seinen Rausch aus. Wie lange habe ich
ihn betrachtet.
— 1050 —
Eines Tages ging er weg, wie er gekommen war.
Ich hätte gern gewußt auf welche Wege — " (S. 184).
Karl, der Sohn von dem Verwalter, hat sich verändert.
„Ich sah an Stelle von Karl einen törichten Herrn
herein kommen, bedeckt mit einem steifen Hute.
Gott! wie war er verändert ... Als man die Lampe
brachte, sah ich mit Ekel, daß er seinen Backenbart
hatte wachsen lassen." (S. 187).
Die zwei Söhne des Holzhändlers Heurtevent erwecken
Michel's Interesse.
„Sie sahen wie Spanier aus und hatten wildes Blut
in den Adern. Sie schienen stolz und ich konnte kein
Wort aus ihnen herausbringen."
Dagegen spricht Michel öfters mit Bute, einem Hilfsarbeiter,
„der vom Regiment ganz verdorben — was den
Geist anbelangt, denn mit seinen Körper verhielt es
sich vorzüglich — zurückgekehrt war." (S. 190).
Mit Vergnügen lauscht Michel den Skandalgeschichten,
die er ihm über die Einwohner des Dorfes erzählt, besonders
über die Verhältnisse der in schlechtestem Rufe stehenden
Familie Heurtevent.
Durch Bute erfährt auch Michel, daß Bocage noch einen
Schlingel von Sohn hat, den junge Aleide, der strickelt.
Michel gelingt es mit Hilfe von Bute Aleide beim Wildern
zu fassen. Aber statt zu grollen, vergnügt sich Michel damit,
gemeinsam mit Aleide die Stricke zu stellen und Wild zu fangen.
Als Bocage erfährt, daß Michel mit den Wilddieben
gemeinsame Sache macht, droht er das Gut zu verlassen.
Michel, seiner eigenen Handlungsweise sich schämend,
beschließt das Gut überhaupt zu verkaufen. Mit seiner Frau
geht er nach der Schweiz. Noch einmal sucht er eine Stütze
in der Liebe zu seiner Frau.
Zwei Wochen lang bleiben sie in St. Moritz. Michel zeigt
sich immer als der liebevollste, zärtlichste Gatte.
Die Änderung in seinem Charakter schreitet aber fort.
„Jeder Tag weckt in mir das dunkle Gefühl unbe-
rührter Reichtümer, welche die Kulturen, die Sitten, die
Moral bedeckten, versteckten, unterdrückten". (S. 221)
Die Atmosphäre der ruhigen spießbürgerlichen Schweiz wird
ihm zuwider. Im Frühjahr geht er mit seiner Frau nach Italien,
wo er neu aufatmet.
Sie besuchen Florenz, Rom, Neapel. Marceline wird durch
die fortwährenden Aufenthaltswechsel ermüdet, am meisten ermüdet
sie aber die Angst, Michers Gedanken zu erraten.
— 1051 —
„Ich verstehe wohl, sagt sie eines Tages, Ihre Lehre
— Sie ist vielleicht schön, aber sie beseitigt die
Schwachen.« (S. 217.)
Michel liebt trotz allem Marceline. Niemals schien sie
ihm so schön wie jetzt, wo die Krankheit ihre Züge verfeinert
und wie verzückt hatte. Er umgibt sie mit der größten
Fürsorge.
Aber sein unbestimmtes Sehnen, sein innerer Drang nach
Lust und Leben dauern fort. In Palermo hat er Gelegenheit,
mit einem jungen Kutscher, der ihn an die Bahn fährt, zu
sprechen.
„Es war ein kleiner Sizilianer aus Catana, schön
wie ein Vers von Theocrit, herrlich . . . schmackhaft
wie eine Frucht.
„Come bella la Signora!" sagte er mit seiner reizenden
Stimme, indem er Marceline, die sich entfernte, nach-
schaute. — „Anche tu sei bello ragazzo," antwortete ich,
und da ich gegen ihn hingelehnt war, konnte ich mich
nicht enthalten, und ihn an mich ziehend, küßte ich ihn.
Er ließ es lächelnd geschehen.
„I Francesi sono tutti amanti," sagte er.
„Ma non tutti Italiani amati," entgegnete ich, gleichfalls
lachend. Ich suchte ihn alle die folgenden Tage, aber
konnte ihn nicht wieder finden" (S. 233).
In Syracus weilten sie acht Tage.
„Alle Augenblicke, die ich nicht bei Marceline ver-
brachte, verbrachte ich in dem alten Hafen.
O der kleine Hafen von Syracus! Geruch des sauern
Weines, schmutzige Gäßchen, stinkende Kneipen, wo die
Ablader, Vagabunden, trunkene Matrosen sich herum-
trieben. Die Gesellschaft der schlimmsten Leute war
mir erfreuliche Gemeinschaft. Und was hatte ich nötig
ihre Sprache gut zu verstehen, wenn mein gesamtes
Wesen sie genoß. Die Brutalität der Leidenschaften
nahm in meinen Augen einen heuchlerischen Schein
von Gesundheit und Kraft an.
Ach! ich hätte mit ihnen unter den Tisch rollen
wollen und dann morgens erwachen . . .
Ich hätte ihnen nachfolgen wollen und in ihren
Rausch eindringen . . . Dann plötzlich tauchte Marceline's
Bild auf. Was machte sie in diesem Augenblick. Sie
litt, weinte vielleicht .... Ich stand schnell auf, lief
nach Hause«. (S. 235.)
Marceline wird kränker. Michel redet sich ein, sie brauche
mehr Licht und Wärme, sie gehen nach Tunis.
— 1052 —
Nach langer Reise kommen sie nach Biskra.
Die Jungen, die Michel früher gekannt, sind völlig geändert
und in alle Richtungen zerstreut.
Der Eine, Moktir, kommt eben aus dem Gefängnis, wo
er wegen Diebstahl eine Strafe verbüßt.
Michel nimmt ihn mit nach Toggourt, wohin er und Marceline
Weiterreisen.
Michel fühlt, daß die Änderung in seinem Innern immer
mehr fortschreitet.
Seine Liebe zur Kunst und Schönheit schwindet, um
„etwas Neuem Platz zu machen." „Es ist nicht mehr
wie früher die lächelnde Harmonie ... Ich weiß nicht
mehr, welchem finstern Gott ich diene. O neuer Gott!
giebt mir die Möglichkeit, neue Rassen, unverhoffte
Arten der Schönheit kennen zu lernen" (S. 245).
In Toggourt bringen Michel und Moktir den Abend in einem
maurischen Cafg zu, Michel giebt sich einer Maurin hin. Als
er in das Hotel zurückkehrt, findet er Marceline am Äußersten,
sie stirbt in seinen Armen.
Michel läßt sich in El Kantara nieder.
Ein junger Araber hält ihm Gesellschaft. Seine Schwester,
welche im Winter in Constantine ihren Leib verkauft, war die
ersten Wochen seine Beischläferin. Aber als der Junge sich
darüber ärgerlich zeigte, wohl aus Eifersucht, hat Michel zum
Teil aus Angst Ali zu verlieren, das Mädchen fortgeschickt.
„Sie ist nicht darüber bös geworden; aber jedesmal
wenn ich sie antreffe, lacht sie und scherzt, daß ich ihr
den Jungen vorziehe. Sie behauptet, daß er es haupt-
sächlich ist, der mich in El Kantara zurückhält. Vielleicht
hat sie ein wenig recht". (S. 257.)
Der Roman bietet großes Interesse. Er stellt den
Fall einer tardiven Homosexualität in geradezu meister-
hafter Weise dar. Das homosexuelle Empfinden MichePs,
welches vor seiner Heirat nicht hervortrat, ist eigentlich
nicht erworben, sondern nur geweckt worden. Michel
hat niemals das Weib geliebt und auch ohne Liebe seine
Frau geheiratet. Sein homosexueller Trieb hat eine bei
vielen Homosexuellen charakteristische Färbung, die
Richtung auf das Naturwüchsige, Kraftvolle, auf die
Typen, welche die größte Gegensätzlichkeit zu bieten
vermögen.
— 1053 —
Die homosexuellen Momente sind in dem Roman
nicht in dem Maße in den Vordergrund gerückt, wie ich
dies in meiner Inhaltsangabe getan habe, vielmehr in der
Darstellung des gesamten psychischen Werdegangs Michel's,
als Teilerscheinungen der in seinem Wesen vorgehenden
Änderung eingeflochten.
Gide will seinem Roman einen tieferen Untergrund
geben und kleidet philosophische Gedanken, bei welchen
deutliche Anklänge an Nietzsche nicht zu verkennen sind,
in die Schilderung des Lebensschicksals seines Helden.
Michel kann stellenweise als Vertreter des Individu-
alismus, als Typus charakteristischer Eigenart gelten, der
das Recht des Auslebens jeder Persönlichkeit, die Ent-
faltung jedes nach Schönheit, Kraft und Glück lech-
zenden Gefühls verkündet, ohne Rücksicht auf die herr-
schenden Sitten, auch wenn sie dem Landläufigen und
Üblichen ins Gesicht schlagen.1)
Aber diese ganze philosophische Betrachtung ist doch
nur Beiwerk, gleichsam um der Empfindungsweise MichePs
die Berechtigung zu erwerben, das Odiöse von ihr zu
nehmen.
Die Homosexualität von Michel ergibt sich keines-
wegs als notwendiger Ausfluß des schrankenlosen Individua-
lismus und hat auch nicht als solcher geschildert
werden sollen.
Tatsächlich ist es umgekehrt die neue Gefühlsweise
MichePs, welche eine andere Weltanschauung in ihm
erzeugt.
Die furchtbare Umwälzung, die in einem in den her-
gebrachten Anschauungen und den Geleisen der Durch-
*) Hauptsächlich nur diese Bedeutung: „Das Streben nach Frei-
heit und Wahrheit der ihre Fesseln abwerfenden, ihrer ureigenen
Individualität gehorchenden Seele — hebt Lucie Delarue-Mardrus
in einer Besprechung des Romans in der Revue blanche vom 15.
Juli 1902 hervor.")
1
— 1054 —
schnittsmoral aufgewachsenen Menschen das Erwachen
and die Entwicklung des ihm bisher anbewußten homo-
sexuellen Triebes hervorbringen muß, ist es, welche
MichePs gesamte Betrachtung der Welt, seinen Gesichts-
kreis, seine Begriffe von Gut und Böse, von Erlaubtem und
Verbotenem, ins Wanken bringt und ummodelt
Die Metamorphose, die sich in MichePs Natur voll-
zieht, ist trefflich gezeichnet: Die Andersgestaltung seines
ganzen Denkens, Fohlens und Wollens, die sich in den
verschiedensten Begehrungen und Handlungen kundgibt,
das langsame Abbröckeln des früheren Menschen, der
Kampf des gahrenden Triebes mit der Anhänglichkeit
zu der Gattin und der schließliche Sieg des gleichge-
schlechtlichen Gefühls, nachdem sich MichePs Unruhe
gelegt, sein unbestimmtes Sehnen endlich den fixen Pol
gefunden und ein junger Araber ihn dauernd und reuelos
fesselt
Der homosexuelle Trieb hat sich bei Michel aus
Anlaß seiner Brustkrankheit durchgerungen.
Diese Entwicklungsursache scheint tatsächlich in der
Wirklichkeit manchmal vorzukommen.
So schildert Krafflb-Ebing Fälle von tardiver Homo-
sexualität als Folge von Krankheiten. Mir selbst ist ein
solcher Fall bekannt. Der Mediziner wird überhaupt
gern dazu neigen, Homosexualität für eine Krankheit,
eine krankhafte infolge einer Nervenschwäche zum Durch-
bruch gelangende Erscheinung zu erklären und von
diesem Gesichtspunkt aus wäre auch Michel ein Kranker,
Seine Unruhe, Unbeständigkeit, seine wechselnde
Stimmung, seine plötzlichen, seiner früheren Natur wider-
sprechenden Impulse würde ein Mediziner vielleicht ge-
rade als Zeichen von Neurasthenie deuten.
Im Sinne von Gide sollen die Symptome nur die
Äußerungen neuer Kraftfülle, neuen gahrenden Leben.«,
keimender Sinnlichkeit sein, aus denen die homosexuelle
— 1055 —
Liebe als eine aus der tiefsten Natur von Michel ent-
springende Empfindung hervorgeht.
In einer Besprechung des Romans im Mercure de
France rügt es Rachilde, daß Gide die Homosexualität
seines Helden infolge einer Krankheit sich entwickeln
lasse und daher nur ein pathologischer Fall vorliege.
Dabei übersieht jedoch Rachilde, daß Gide gerade
die Krisis des tardiven Homosexuellen darstellen wollte
und deshalb die Homosexualität aus einem bestimmten
Anlaß zur Entwicklung gelangen lassen mußte, wollte er
nicht entweder einen gewöhnlichen geborenen Homosexu-
ellen schildern, bei welchem dann die interessante Studie
der sich ändernden Natur wegfallen mußte, oder einen
Heterosexuellen darstellen, der homosexuelle Experimente
vornehmen will; in letzterem Falle wäre dann eine ganz
andere psychologische Studie in Betracht gekommen.
Die Sprache von Gide ist von klassischer Schönheit:
einfach, concis, präcis, ohne unnütze Ausführungen, da-
bei flüssig, wohllautend, harmonisch. Vieles begnügt sich
Gide nur anzudeuten, Pathos, hohle Phrasen vermeidend,
Takt, Maß, Geschmack sind bei seinem Stil zu loben.
Der Roman gehört stilistisch und inhaltlich zum
Besten der homosexuellen Literatur überhaupt.
G0SS6Z, Ä. M.: Six attitudes d'adolescent (Verlag
„Le Beffroi" Lille) 1902. Gedichte.
Das Buch von Gossez konnte ich mir leider nicht ver-
schaffen, da dasselbe vergriffen ist.
Ich bringe daher lediglich die im Mercure de France Januar-
nummer 1902 enthaltene Besprechung des Werkes aus der Feder
von Pierre Quillard (S. 180). Quillard berichtet wie folgt etwa:
Gossez habe geglaubt, die antiken Epheben wieder aufleben lassen
zu dürfen, jene herrlichen Epheben, so schön, daß ihre Liebhaber
den harmonischen Abdruck ihrer Körper auslöschten, wenn sie sich
auf den goldigen Sand hingestreckt, damit keine Begierde in den
Seelen derer erwache, die später den Strand beträten. Gossez
habe jedoch den schönen Jüngling in einem andern Land und einem
anderen Milieu besungen.
I ;
— 1056 —
Die Welt habe sich aber seit Achilles und Patroklos geändert
und manche damals heroische Leidenschaft würde heute nur noch
in krankhaften Gehirnen überleben.
Gossez wisse dies und verstehe es: Das Schlußsonett
bringe am besten seinen wahren Gedanken."
Ob Gossez wirklich die homosexuelle Liebe als ein
Produkt kranker Gehirne darstelle, kann ich nicht be-
urteilen, möchte es aber aus dem Bericht von Quillard
über die Absicht des Buches „die antiken Epheben wieder
in moderner Gestalt aufleben zu lassen* bezweifeln. Es
scheint mir, daß Quillard eher seine eigene Auffassung
zum Ausdruck bringt, die den Beweis schuldig bleibt,
warum in Folge der Änderung der Zeiten und Verhält-
nisse ein früher gesundes Gefühl als ein krankhaftes zu
gelten habe.
Hamacher, Peter: Zwischen den Geschlechtern1)
(Zürich: Verlag von Cäsar Schmidt 1901).
Zunächst Bekenntnis Hamecher's von seiner eigenen an-
geborenen Homosexualität, dann Ausfälle gegen die hergebrachte
Heuchelei, welche homosexuelle Liebesgefühle in Dichtungen als
Freundschaften auslege und besonders auch die Natur der
Freundesliebe der alten Griechen verkenne.
Aus der nun folgenden Besprechung homosexueller Werke
hebe ich hervor:
Beim Wiener Kitir betont Hamecher sein hellenisches
Empfinden und seine lyrische Eigenart; Kitir gäbe nicht
die reine Empfindung wieder, sondern lasse aus den äußeren
Umständen, die er schildere, die Stimmung entstehen. In seinen
Anschauungen über griechische Liebe reiche Kitir Kupff er die Hand.
Beiden sei sie die Offenbarung höchster Macht und Schönheit.
Kitir gehe sogar noch weiter. Ihm seien die Neuen Hellenen die
„Boten einer neuen Zeit, die lenzgewaltig naht voll Kraft und
Jugend". Aber er leugne nicht, wie Kupffer, das weiblich-weiche
träumerische Empfinden in der Seele des Uraniers.
*) Der erste Teil des Buches, eine kritische Besprechung
einer Anzahl homosexueller oder homosexuellartiger Werke, gehört
nicht in die reine Belletristik, da es sich jedoch um ein ausführ-
liches Eingehen auf belletristische Erzeugnisse handelt und da der
2. Teil eine Anzahl von Gedichten enthält, habe ich das Buch
an dieser Stelle aufgenommen.
— 1057
Die homosexuelle Gef ühls-Nüance , nicht im Sinne von
ausgesprochener, Männerliebe, sondern das passive, weiche,
träumerische, leise müde Dahingleitende, finde sich bei einem
überwiegenden Teiljung-Wiener Poeten und auch bei verschiedenen
anderen Lyrikern jüngerer Dichtung. Bei Dauthendey springe das
weiblich Passive ganz sinnfällig ins Auge.
Die unter „Jung-Wien" gekennzeichnete Poesie sei der
Widerspruch der von Kupffer verherrlichten kraftvollen Männ-
lichkeit; der Gegensatz der griechischen Knabenliebe und der
Liebe eines Michel-Angelo, Shakespeare, Friedrich II. Das
richtige Gegenteil dieser Männer sei auch der verbummelte
Fontana, den der junge Wiener Hagenauer in seinem Roman
„Muspilli" einführe. Aber diese Gegensätze würden wenig für
die Homosexualität im Allgemeinen sagen, Homosexualität sowie
•Heterosexualität seien verallgemeinerte Collektiv-Begriffe, deren
jeder eine Reihe von Typen nach oberflächlichen, in die Augen
springenden Merkmalen zusammenfasse. Daß sich gerade heute
die Entartungserscheinungen unter den Homosexuellen häuften,
läge einerseits an dem nervösen Charakter unserer suchenden,
hastenden und tastenden Zwischenzeit, und zum andern, wohl
nicht geringsten Teil an der höchst verächtlichen Stellung der
Homosexuellen in der heutigen Kulturwelt.
Ein bedeutungsvolles Wort zum Punkte „Kindererziehung"
spräche Wedekind's „Frühlingserwachen". Die ganze Brutalität,
mit welcher die Kinder sich gegenseitig über die intimsten und
heiligsten Angelegenheiten des Menschendaseins unterrichteten,
und der Unverstand, mit welchem die Jugendbildner solchen
Vorkommnissen begegneten, sei nie eindringlicher, überzeugender
und lebensmächtiger dargestellt worden.
In der Weinberg-Scene des 3. Aktes habe der Dichter
eine homosexuelle Knabenfreundschaft in herzinnigem, ergreifendem
Bilde festgehalten.
Töne zärtlichster Freundesliebe finde Oscar Wilde in
seiner Salome.1)
Ausführungen über die weibliche Homosexualität in den
Werken von Pierre Louys, bei Marie Madeleine, Dauthendey usw.
Die Auffassung der Lieblingminne bei Paul Scheerbart
sei originell. Fast in jedem seiner Bücher erwähne er sie.
Im „Tod des Barmekiden", dem köstlichen arabischen Harems-
roman, trete sie schlechthin als das orientalische Laster auf,
l) Wilde's Salome ist jetzt in deutscher Übersetzung im Verlag
von Spohr erschienen, ebenso wie die meisten der Lustspiele des
englischen Dichters (tibersetzt von Pavia und Freiherrn von
Teschenberg.)
— 1058 — .
während sie in den andern Büchern eine tiefere Bedeutung ge-
winne. Scheerbart sei vor allen Dingen Anti-Erotiker und
Weltgeistanbeter. Er sei überhaupt ein Einsamer unter den
andern Menschen.
Rückblickend auf die verschiedenen Schriftsteller der Homo-
sexualität bemerkt Hamecher: Jeder scheine andere Abarten der
Konträrsexualen vorzüglich beobachtet zu haben. Mit dem
bloßen Sammelbegriff Homosexualität komme man nicht aus.
Bei vielen sei Homosexualität eine Krankheit, seelische und
physische Ohnmacht, bei anderen außerordentliche Verfeinerung
des Gesamtorganismus oder auch schon Suchen nach „parfums
nouveaux;" bei anderen wiederum höchste Gesundheit und kraft-
vollstes Menschentum. Die Neurasthenischen und Krankhaften
seien diejenigen, welche die Öffentlichkeit und die Ärzte am
meisten beschäftigten.
An den literarischen Essay schließen sich 20 Gedichte
Hamecher's an, in denen er Lebens- und Jugenderinnerungen,
hauptsächlich aber Liebesgefühle zum Ausdruck bringt, Schmerz
bei der Trennung vom Geliebten, Sehnsucht nach verlorenem
Liebesglück u. s. w.
Wenn auch manches Gedicht durch besondere Ori-
ginalität und Vollendung sich nicht auszeichnet, so ge-
währen doch viele den Eindruck des Selbsterlebten, Selbst-
empfundenen und haben Schwung und poetischen Rhythmus
und erfüllen insofern die Grundbedingung der poetischen
Darstellung. Am höchsten schätze ich das Gedicht „In
großer Bängniß", in welchem Hamecher die seelische Ver-
fassung des gerichtlich verfolgten Homosexuellen in er-
greifender Einfachheit schildert. Das Gedicht erinnert
im Tone etwas — und es bedeutet das nur hohes Lob
— an Wilde's „Bailad of Reading Goal".
Ich führe einige Stellen aus dem Gedicht an:
Nun kommt auch mir die Stunde voll Leid,
sie werden mich führen wie Gottes Sohn
gebunden, gefesselt, den Menschen ein Hohn,
ein Mensch, dem sein Feind nur noch treu.
Ich werde unsäglich einsam sein.
Es gab wohl einmal eine Zeit,
da sehnt' ich mich manchmal nach Einsamkeit,
— 1059 —
nach einem Erdwinkel keusch und rein,
wo ich ungestört vom Gafferschwarm
die Tage verträum* in des Liebsten Arm.
Bleib fest! halt hoch den heiligen Hort!
Sie schlagen nur den Leib in Banden —
Doch weithin, wie ein Donnerwort,
wirkt deine Liebe mächtig fort
in Herzen, die treulich sich fanden.
(S. 100—102.)
Schalkhaft, lustig, im Tone gut getroffen ist „ Groß-
stadt-Liebe" die Trennung des Dichters von einem effe-
minierten städtischen Homosexuellen und seine Sehnsucht
nach einem kräftigen Naturburschen besingend.
Wieder andere Klänge enthalten z. B. „An mein Herz"
voll frischer Natürlichkeit oder „Neue Kreise*, dessen
zweiter Teil glühende Leidenschaft atmet.
Keine Lieder mag ich mehr hören
und nie ein Gedicht wieder lesen
Alles ist schaal
von deines Mundes bebenden Reimen
von deiner Stimme süßer Musik.
Wiegend und leicht wie schmeichelnde Verse
ist deines Leibes wogender Rhythmus,
und das Lächeln um deinen Mund
jagt mein Blut
knisternd empor zu tollstem Entzücken.
(S. 104.)
Nach einer Übersetzung in Prosa von Verlaine's homo-
sexuellem Gedicht: „Laeti et Erabundi" aus „Parallelement" schließt
Hamecher mit allgemeinen Erörterungen über Homosexualität
(S. 121—133).
Man habe das Angeborene der homosexuellen Neigung be-
stritten und Bekannte von Hamecher hätten z. B. ihm eingewandt,
er habe sich die Sache allmählich angelesen und durch Auto-
suggestion erworben.
Ein unbefangener Blick in die Natur zeige, wie viele
Abweichungen von der Norm und Zwischenstufen vorhanden
seien. Die relativ große Anzahl der Homosexuellen beweise,
daß es sich nicht um ein unnatürliches Laster übersättigter
Lebemänner handele. Kein Gesetz und keine Predigt habe je
Jahrbuch V. 67
I
L
— 1060 —
vermocht die homosexuelle Liebe auszurotten. Er, Hamecher,
habe erst, als sein Liebesempfinden längst ausgeprägt gewesen,
Kenntnis vom Uranismus erhalten. Er habe, als er zu dichten
angefangen, sich mancher Genüsse beim Weibe gerühmt, nie aber
ein solches berührt.
Die Heterosexuellen, soweit sie die Homosexuellen nicht
direkt bekämpften, blickten halb mitleidig, halb verächtlich auf
die Homosexuellen herab.
Sie seien die Vielen; deshalb aber nicht die Höheren. Ihre
Anbetung des Weibes schwände, wenn Schönheit und Jugend
der Frau vorüber.
In homosexuellen Verhältnissen käme vielfach ein inniges
zärtliches Zusammenhalten vor, wie es bei vielen Heterosexuellen
nicht das Gewöhnliche sei.
Hamecher wendet sich zum Schluß an die Homosexuellen:
Mit Unrecht hätten sie sich die Enterbten des Liebesglücks genannt.
Wenn sie unter Liebe die Hinneigung, das Zusammenstehen
und immer innigeres Ineinanderwachsen-Wollen gleichgestimmter
Seelen verständen, dann seien viele Menschen, ob homo- oder
heterosexuell, vom Liebesglück ausgeschlossen.
„Bemüht Euch, ein Ideal der Lieblingminne in Euch aus-
zubilden," ruft Hamecher den Homosexuellen zu. „Bemüht Euch,
durch ernstes Wirken die Achtung der Gegner zu erzwingen.
Legt Eure Feigheit ab und bekennt Euch offen und frei zur großen
Liebe des Plato. Aber haltet auch Eure Liebe hoch. Dann
werden die Gefahren, die Euch umdrohen, von selbst ver-
schwinden«.
Diese Schlußbemerkimgen Hamecher's sind kluge
und beherzigenswerte Worte, die manche Homosexuelle
beachten mögen; im allgemeinen tragen aber die Schluß-
seiten von Hamecher's Buch einen etwas feuilletonistischen
Charakter, namentlich mißfällt mir der etwas vulgäre Ton
einiger Stellen.
Den bedeutendsten Teil des etwas buntscheckig zu-
sammengesetzten Buches bildet die Besprechung der
homosexuellen Literatur. Zwar ist der Gedankengang
oft sprunghaft, so daß der Eindruck des Unzusammen-
hängenden hervorgerufen wird. Auch tritt das rein
Persönliche in dilettantischer Weise hervor, ferner stören
längere Excurse über Gesichtspunkte, welche für weitere
— 1061 —
Kreise wenig Interesse haben, wie z. B. die Ausfälle
gegen Brand.
Doch hindert dies nicht, daß der Essay eine verdienst-
volle Studie bildet. Zum ersten Mal — abgesehen von
der Bibliographie des Jahrbuches — ist das Homosexuelle
in der modernen Literatur erforscht: Hierbei entwickelt
Hamecher ein kritisches Verständnis, das nicht an der
Oberfläche haften bleibt, sondern in die Dichtung tiefer
eindringt., und nicht nur das Homosexuelle, sondern das
homosexuell Verwandte aufdeckt, nicht nur das grob in
die Augen Springende, sondern die Nuancen und Schattier-
ungen zu begreifen versteht.
Ein lebendiger und geistreicher Stil und eine
kolorierte Darstellungsweise sind Hamecher eigen. Nur
berührt manchmal unangenehm eine gewisse Nachlässig-
keit im Stil sowie eine öfters saloppe Ausdrucksweise.
Hamecher hat sich als feinfühliger Kritiker homo-
sexueller Literatur erwiesen.
Wenn er Selbstzucht übt, auf sorgfältigeren Ausdruck,
straffere Komposition und logische Durcharbeitung achtet,
wird man noch interessante literarisch-kritische Produk-
tionenauf homosexuellem Gebiete von ihm erwarten dürfen.
Eine günstige Besprechung des Buches von Robert
Jansen (Köln) findet sich in der Zeitschrift: „ Stimmen der
Gegenwart" (Herausgegeben von Beyer und Boelitz.
Eberswalde, Verlag Dyck) No. 9. 1901.
Jansen sagt gegen Ende seines Aufsatzes mit Recht:
„Mögen wir einen Standpunkt (bezüglich der Homosexualität
nämlich) annehmen wie wir wollen, Hamecher zwingt uns,
an seine Persönlichkeit zu glauben."
Kupffer, Elisar v., Auferstehung: irdische Gedichte.
2. Auflage. (Leipzig, Verlag von Max Spohr, 1903).
In dieser Sammlung von 119 Gedichten tragen etwa 25
homosexuelles Gepräge. Dieselben lassen sich in verschiedene
Kategorien einteilen:
• 67*
i
i
— 1062 —
1. Drei knüpfen an historische Begebenheiten an. Die
Gedichte:
a) Antinous S. 21: Die Klagen Hadrian's um den
toten Antinous.
b) Der einsame König (Ein Lied des Hofnarren)
S. 62, anspielend auf das Schicksal Ludwigs II. von
Bayern.
c) Der Lieblingsjünger (Schon in Brand's, „Eigenem,"
sowie in der Sammlung Kupffer's, „Lieblingminne
und Freundesliebe" veröffentlicht) S. 69, Betonung
des Gegensatzes zwischen der Liebe von Jesus zu Jo-
hannes und der Freundschaft zu den übrigen Jün-
gern, den im letzten Vers Simon formuliert:
„Uns ist er Freund, doch jenen liebt er"
2. In zwei Gedichten werden die homosexuellen Gefühle durch
den Anblick eines Bildnisses geweckt, nämlich in Wiedersehen
S. 83 (Das Bildnis eines Syrinxspielers in Pompei) und in dem
Gedichte Lebendiges Bild S. 109.
3. Häufiger gibt die Begegnung mit schönen Jünglingen
Anlaß zu homosexuellen Ergüssen:
So in „Pompejanische Idylle", wo auch schon die Er-
innerung an die Antike homosexuell wirkt.
Bajanisches Idyll: In dem Krater bei Baja begegnet
dem Dichter eine Anzahl schöner Jünglinge; einer besonders
weckt seine Aufmerksamkeit.
Im Peristylion (Träumerei) S. 45.
Siciliano (Eine lyrische Skizze) S. 75. In Pompei macht
der Dichter die Bekanntschaft mit einem jungen Sicilianer.
Im Kurpark S. 90.
Kreuzt die Schönheit deine Pfade S. 110. Abermals
ein schöner Jüngling, dessen Begegnung den Dichter entzückt.
4. Den Geliebten preisen
Hochzeitslied S. 69
Vor der Trennung S. 71.
Im Walde S. 84.
Zwiegespräch mit meinem Herzen S. 85.
Dem Liebenden S. 87.
Im Heim der Liebe S. 89.
Ein Oktobertraum S. 92.
Der Genesende spricht S. 103.
Liebling, wenn du betest
horchet Stern bei Stern
Liebling, wenn du betest,
horcht auch Gott dir gern.
1063 —
Darum mußt auch danken
du, bin ich gesund
mußt ja sonst erkranken,
schweigt dein süßer Mund.
Was ich auch gelitten,
Wiegt es noch so schwer,
deine Heben Bitten
wiegen ja noch mehr.
Im Eifer der Liebe S. 107.
Ein Liebesbrief S. 115.
In der Märchenstunde S. 128.
5. Zwei Gedichte endlich lassen eine Deutung auf die ver-
fehmte Stellung der Homosexualität in der heutigen Zeit zu:
Ungeweihte Liebe S. 48.
Die andern gedeihen ohne Sorgen,
gehütet, bewacht —
ich aber liebe verborgen
in schirmender Nacht.
Die andern prunken wie Rosen
an ihrem Spalier —
ich aber muß heimlich kosen
im Felde mit dir.
Mit ihrer Liebe sie immer
sich brüsten so laut,
die andern — denn ich bin nimmer,
bin nimmer getraut.
Kommende Zeiten S. 66.
Der Tag bricht an — der Tag der Liebe,
Da sich das Herz zum Herzen findet,
Die Macht der Finsternis entschwindet — -
Und kommt er, daß er ewig bliebe!
Der Winter unsrer Welt zerstiebe!
Fluch aller stillen Lüsternheit!
Sie kommt, die neue Zeit!
(erste Strophe.)
Und sinkt die schamerlogene Hülle,
daß wir mit nackten Armen fassen,
wovon wir nicht in Träumen lassen,
dann waltet frei in bunter Fülle
der menscherlöste tiefe Wille.
— 1064 —
Es kommt der Tag, der uns befreit —
sie kommt, die neue Zeit!
(letzte Strophe)
In seinen Gedichten besingt Kupffer offen und
unverhohlen die Homosexualität.
Kein noch so findiger Kritiker wird bei ihnen den
homosexuellen Charakter wegdeuten können.
Kupffer's Weltanschauung, wie sie aus seinem Buch
hervorgeht, hat mit den alten Idealen und den alten
Göttern gebrochen und in dem Streben nach irdischem
Glück und irdischer Schönheit das Ziel des Menschen
gefunden. Er kann daher auch nicht die Liebe als
sündhaft fühlen, die ihm die Sonne und das Licht seines
Daseins bedeutet.
Seine Poesie wie diejenige von Hamecher hat
hauptsächlich symptomatischen Wert, sie beweist, daß
nunmehr Dichter erstehn, die von der Natürlichkeit ihrer
homosexuellen Liebe durchdrungen und das Urteil der
Menge verachtend, ihre Gefühle mit derselben Freude
und Selbstverständlichkeit poetisch darstellen wie die
heterosexuellen Dichter die Liebe zum Weib.
Das Gefühl des Außergewöhnlichen und Verpönten
— nur in einem Gedicht, dem herben und bitterschönen
„ungeweihte Liebe* kommt letzteres zum Ausdruck
— hat der Empfindung der Natürlichkeit der homo-
sexuellen Liebe Platz gemacht.
Kupffer^s Gedichte atmen weniger Kraft als Hamecher's
Verse.
Die Poesie des letzteren wirkt unmittelbarer, besticht
mehr auf den ersten Eindruck hin. Kupffer's Lyrik hat
aber eine intimere Anmut, sie besitzt mehr Halbdunkel,
mehr Feinheit, leisere, gedämpftere Töne. Bei wiederholter
Lektüre erst erschließt sich ihr Reiz, und doch sind die
Gedichte weit entfernt von komplicierter oder raffinierter
Ausarbeitung, sogar den Vorwurf des Gegenteils möchte
- 1065 —
man ihnen machen.. Andererseits gelingt manchmal
Kupffer ein einfacher, fast volkstümlicher Sang vor-
trefflich, wie in dem Gedicht: „Der Genesende spricht*.
Jedenfalls wird man bei Kupffer ebenso wie bei
Hamecher eine Hauptbedingung für den Dichter vor-
finden : das Poetisieren von Selbsterlebtem. Ihre Gedichte
sind keine poetische Uebungen, kein Spielen mit fremden
Gefühlen, sondern Wiedergabe ureigensten homosexuellen
Empfindens, welches bei Kupffer in so zahlreichen
Variationen wie noch bisher bei keinem Dichter nach
poetischer Gestaltung ringt.
Kupffer, Elisar v.: Sein Rätsel der Liebe. Novelle
aus der Sammlung Doppelliebe. (Zürich, Caesar
[. Schmidt, 1901).
Der junge Alfred, der auf dem Lande bei seinen Eltern ein-
sam und zurückgezogen lebt, glaubt die schöne Schloßnachbarin
Hedwig zu lieben. Hedwig hat Wohlgefallen an dem zarten
Jüngling, sie scherzt und plaudert zwar mit ihm, aber Liebe
empfindet sie für ihn nicht.
Die Ungewißheit, ob Hedwig ihn liebt, die Qual des ver-
geblichen Hofmachens, die Angst der Zurückweisung nach dem
Geständnis der Liebe und die Scheu vor der befürchteten Demüti-
gung peinigen Alfred.
Baron Roman von Ribberg, der ehemalige Gesandtschafts-
sekretär, der frühzeitig seinen Beruf aufgegeben, um meistens in
Italien zu leben, kommt zu Besuch auf das Schloß. Hedwig
empfängt ihn zuvorkommend und mit weiblicher Koketterie.
Alfred empfindet Eifersucht und Neid gegen den gewandten
weltmännischen Kavalier, und doch macht Roman, der Hedwig
ihm entfremdet, einen nicht geringen Eindruck auf ihn.
„Roman hatte beinahe etwas Geheimnisvolles in
seinem Wesen und so gar nicht das gewöhnliche Äußere
der galanten Herren von der Gesellschaft, weder war
er herausfordernd schneidig, noch burschikos nachlässig,
noch geziert." (S. 100).
Und dazu umgab ihn in Alfreds Augen der Nimbus des Viel-
gereisten, der Italien und den Orient besucht. Alfred, der ver-
legen bei Seite steht, vermag nur naiv-neugierige Fragen über
Rom an Roman zu stellen. Aber Roman schien Alfred und
seine frische eigene Art zu fesseln, er wollte ihn näher kennen
iL
!
— 1066 —
lernen. Abends als Alfred traurig dem Tanz zuschaut, fragt
ihn Roman, warum er entgegen der Gewohnheit junger Leute
seines Alters nicht tanze. Alfred kann selbst keine richtige Ant-
wort finden.
Am Geburtstag von Hedwig sind Roman und Alfred
wieder auf das Schloß eingeladen. Roman führt Hedwig zu
Tisch, Alfred hat den Mut nicht gefunden, ihm zuvorzukommen,
er fühlt sich von Hedwig verlassen und gekränkt.
Abends, als Alfred wieder traurig und verstimmt nicht
tanzt, wundert sich Roman, dessen Blicke Alfred schon während
des Tisches oft auf sich gelenkt sah, abermals über Alfreds
Zurückgezogenheit. Er bittet ihn im Quadrille sein vis-a-vis zu sein.
Nach dem Tanz veranlaßt Roman Alfred zu einem Spaziergang
in den Garten. Roman bietet Alfred seine Freundschaft an,
zartfühlend weiß er sein Inneres zu entziffern.
„Alfred erwarte, daß Hedwig ihm entgegenkomme; er
hasse das Kokettieren des Weibes, er möge nicht den Tanz,
das Werben, Fliehen und Aufsuchen. Weil die Frauen fühlten,
daß er sich ihrem Bann zu entziehen suche, spendeten sie ihm
keine Gunst und straften ihn mit Gleichgültigkeit."
Roman klärt Alfred über seine eigne Natur auf:
„Gar manche Übergänge gäbe es in der Natur, es heiße
nicht bloß hie Mann — hie Weib. Was oft Mann scheine, sei
doch in seinem Empfinden nicht nur das, was man insgemein
männlich nenne, sondern auch weiblich.
„Sie verlangen nach Hedwig, und doch bleibt sie
Ihnen gleich fern," sagte Roman, „oder ist es nicht so?
„Ich weiß nicht ... Ich glaube ..."
„Lieber Alfred, was Sie eben befremdet, das kenn*
ich, ich rede nicht von ungefähr so zu Ihnen. Es gab
eine Welt und es gibt auch heute noch eine, in der
das nicht so unverständlich seltsam ist. Sie wollen
selbst begehrt sein, Sie schätzen und pflegen Ihr
Äußeres, und Sie sind noch jung . . . Aber das ist
mehr als ein weibliches Verlangen, das ist es, was
Ihrem Glück fehlt.«
„Ich weiß nicht, was ich von mir denken soll!"
„Daß Sie ein liebenswerter junger Mann sind, der um
seiner Vorzüge willen begehrt sein möchte, weil er nun
so empfindet, fühlt, weil die Natur ihn so geschaffen hat."
Was Alfred so lange gequält hatte, ward ihm nun
verständlich, obgleich ihn die Erkenntnis selbst be-
fremdete.
„Aber was soll ich . . .!"
1067 —
„Es ist wahr, Alfred, Sie wären nicht der Erste und
Letzte, der an dieser seiner Natur zu Grunde ginge,
weil der stumpfe Wahn der Unwissenheit sie hier
verfolgt. Wäre Ihnen die Erkenntnis verschlossen
geblieben, das Glück wäre Ihnen deshalb doch nicht
gekommen, denn die Natur waltet auch blind; und
wie Ihr Empfinden Sie bis jetzt meisterte, so würde
sie es auch ferner tun. Sie hätten sich eines Tages
doch erkannt und dann — dann wäre vielleicht kein
Ausweg mehr gewesen. Wie viel Ehen wurden nicht
so ein gebrochenes Glück!"
Alfred verzweifelt zuerst an sich und glaubt sich nun für
immer unglücklich.
Aber Roman weiß ihn aufzurichten. Er solle mit ihm hinaus
in die Welt. Auch er habe gelernt, zu spielen.
„Ich weiß, viele würden sagen: du solltest lieber
sterben, aber ich lache ihrer und lebe und liebe das
Leben.« (S. 115.)
Roman wird Alfred mit nach Italien nehmen, er ist reich
genug für zwei. Getröstet und dem Leben und der Liebe des
Freundes gewonnen, fällt ihm Alfred in die Arme.
Roman, der mehr als einmal seine Neigung Unwürdigen
geschenkt, ist glücklich, den lang ersehnten, jungen, schönen und
ihm ebenbürtigen Freund gefunden zu haben.
Wie in anderen seiner Werke erhebt sich auch hier
Kupffer bei der Darstellung eines homosexuellen Problems
über die Sphäre des Geschlechtlichen hinaus zu dem
seelisch Interessanten und dem allgemein Gedanklichen.
Die Ursache der Homosexualität wird in allgemeinen
psychologischen Erklärungen gesucht.
Alfreds Homosexualität, die zwar auf seiner weibi-
schen Artung fußt, kommt doch nur zum Durchbruch,
weil seiner Natur der männliche Werbungseifer und die
energische Kampfeslust zur Eroberung der Geliebten
widerstrebt und weil umgekehrt seine passive Natur in
dem Entgegenkommen und der Werbung des Mannes
Befriedigung und Ergänzung findet. Zugleich spielt ein
anderer Gedanke mit: die Kränkung Alfreds in seinem
männlichen Stolz durch das herzlose Kokettieren des
— 1068 -
Weibes, die Furcht vor Demütigung, die Angst sich vor
dem Weibe zu erniedrigen, die Scheu, ihr Sklave zu sein.
Ahnliche Gedanken und zwar viel deutlicher als
hier kommen in Kupffer's Drama „Narkissos" zum Aus-
druck. Hier liegen sie mehr zwischen den Zeilen als
auf der Oberfläche.
Wennman von dem allgemein psychologischen Gesichts-
punkte absieht und mehr den Maßstab des individuell
Psychologischen und Physiologischen anlegt, so erscheint
die Homosexualität von Alfred und die Umwandlung
seiner Gefühle nicht streng motiviert. Allerdings wird
man davon ausgehen, daß Alfred eben zu den unbestimm-
ten, auf der Grenze stehenden Naturen gehört. Alfreds
Liebe zu Hedwig macht zwar den Eindruck einer mehr
auf Selbstbetrug und Einbildung beruhenden Neigung
als einer wirklichen Leidenschaft, aber trotzdem liegt
das homosexuelle Empfinden, die Anziehung durch den
Mann bis zur Aufklärung durch Eoman völlig verborgen.
Wenn dann Alfred dem heterosexuellen Gefühl den
Rücken kehrt und den homosexuellen Bund mit dem
Freund schließt, so überrascht die plötzliche Wandlung.
Hedwig und Roman sind mit feinen und sicheren Strichen
gezeichnet, namentlich Roman, der selbstbewußte, klar-
blickende Konträre, der sich mit seiner Natur abgefunden
hat und dem es gelungen ist, zu innerer harmonischer
Lebensgestaltung und Lebensfreuden sich durchzuringen.
Lecomte, Georges: Les cartons verts (Paris: Char-
pentier 1901.)
Der Roman spielt in einer Abteilung des französischen
Ministeriums und beschreibt in sehr ergötzlicher, talentvoller Weise
den Bureaukratismus mit seinen Lächerlichkeiten und Schatten-
seiten und seinem unheilvollen Einfluß auf die Beamten, sowie
das traurige Los, das den Subalternbeamten das Geist und Körper
abstumpfende bureaukratische Leben bereitet.
Unter den verschiedenen Beamtentypen, die Lecomte vor-
führt, befindet sich auch ein Homosexueller, Chargnieu, ein blonder
— 1069 —
Vierziger. (Die Stellen, die von ihm handeln, sind auf S. 297,
299—301, 341, 356—361, 386, 458, 497—500.)
„Fast immer träge und schläfrig, als ob er seine
Kräfte wiederherstellen wollte, die sein Laster ihm nahm,
saß er in seinem Bureau, einer Schlange ähnlich, die
verdaut.
Während der Hundstage fächelte er sich mit der
affektierten Grazie einer Coquette an, im Winter wickelte
er seine Hände in seine Ärmel, wie eine verfrorene Frau
sanft ihre Finger in das laue Obdach ihres Muffes steckt.
Auf dem Ministerium brachte er seine Zeit damit zu,
wenn er seine Sachen hingeschmiert hatte und nicht
schlummerte, seinen blonden zarten Bart zu kämmen,
seine Haare zu frisieren, seine Nägel zu glätten, oder
sich an niederer obscöner Literatur zu ergötzen.
Seine Stimme und sein weibliches Lachen ertönten
schrill in dem Bureau
Seine weiche Hand verweilte gern in zärtlichen Be-
rührungen, seine Augen lächelten wie die einer begehr-
lichen Frau, die sich anbietet, und sein nachlässiger,
eckiger, zu Berührungen prompter Körper schien immer,
wie der einer Dirne, Kniee und Arme zu suchen, um
schmachtend sich niederzulassen "
Chargnieu nähert sich besonders gern den ganz Jungen der
Abteilung, den Vereinsamten, der Liebe Baren.
„Er setzte sich neben sie auf ihren Tisch oder zog
sie in verlassene Winkel.
Diese Neulinge, fast alle Provinzler und traurig ob
ihrer Einsamkeit, fanden die schmeichelnde Freundschaft
dieses ziemlich eleganten Kollegen, der ihnen Paris
kennen lehrte, angenehm.
Ohne Mißtrauen ließen sie die wollüstigen, mut-
willigen Spielereien Chargnieu's über sich ergehen."
Seit einigen Monaten stellt Chargnieu besonders einem dieser
Neulinge nach, einem jungen, jugendkräftigen, nach Liebe lech-
zenden, vereinsamten Bretagner, Caradec.
„Chargnieu errät sein Schmachten und seine Be-
gierden. Er schleicht wie eine Schmeichelkatze um den
Alleinstehenden. Aber dieser scheint Mißtrauen zu
schöpfen. Sein gerader Instinkt weist die liebkosenden
Gesten zurück."
Zur Karnevalszeit findet Chargnieu die gesuchte Gelegenheit.
Er bringt einen Abend mit Caradec zu, den er nach Zerstreuung
und Vergnügen dürstend auf der Straße getroffen, führt ihn ins
Variete und dann zu sich nach Hause.
— 1070 —
Aufgeregt und halbtrunken hat Caradec nicht die Kraft,
Chargnieu's Liebkosungen zurückzuweisen, nachher empfindet er
aber Ekel und entfernt sich voll Scham.
Aber eines Tages gibt es eine große Neuigkeit auf dem
Ministerium. Chargnieu, der seit einigen Tagen fehlte, wurde
abends auf einer Bank in den Champs-Elysees in Mitte der Be-
gehung unzüchtiger Handlungen mit einem Manne von der Sitten-
polizei ertappt und verhaftet. Um den Skandal zu verhüten, wird
ihm die Strafkammer erspart bleiben, aber seine sofortige Ent-
lassung vom Ministerium ist erfolgt.
Die gesamten Kollegen besprechen in sarkastischer Weise
das Geschehene und fallen über Chargnieu her.
„Stille waren nur die Jüngelchen, welche Chargnieu
mit seiner zärtlichen Freundschaft verfolgt hatte.
Mit gerötetem, von einem erzwungenen Lachen ver-
zerrten Gesicht hörten sie zu, und von Zeit zu Zeit
entschlüpfte ihrer zugedrückten Kehle ein dumpfes
Schimpfwort. Sie fürchteten, daß man in diesem Augen-
blick strenger Moral sich ihrer Gespräche mit dem Ge-
brandmarkten erinnern könnte/
Als einer der Beamten ein Wort der Verzeihung für Chargnieu
einlegen will, wird sein Satz
„durch die bitteren Worte eines Jüngelchens unterbrochen,
der wie üblich, sich unerbittlich zeigte, um über die
Schwächen hinwegzutäuschen, deren er sich vielleicht
schämte. ,Schwein . . . eklicher Bock* stieß er aus."
In Chargnieu, wie ihn Lecomte zeichnet, erkennt
man den geborenen effeminierten Homosexuellen. Lecomte
deutet aber in Wirklichkeit die Homosexualität anders:
als den durch notgedrungene Enthaltsamkeit vom Weib
auf Abwege geratenen heterosexuellen Trieb.
Lecomte beschäftigt sich an verschiedenen Stellen
mit der Gestaltung des Geschlechtslebens der ßureau-
kratie. Er hebt die mißliche Lage der kleinen Beamten
hervor, die arm und von dem sozialen Verkehr mit der
Frau abgeschlossen, überdies zu einer gewissen Rücksicht-
nahme auf ihre Stellung gezwungen, nicht nur meistens
auf Befriedigung ihrer Liebes- und Herzensbedürfnisse
verzichten müssen, sondern meist auch mangels der
nötigen Mittel ihre Sinneslust nicht befriedigen können.
— 1071 —
Die fortgesetzte Unterdrückung des natürlichen
Triebes schläfere ihn allmählich bei vielen ein, bei anderen
aber werde er auf perverse Bahnen gedrängt. Als Bei-
spiel hierfür bringt Lecomte dann hauptsächlich drei Typen :
einen, der nur an dem Ankauf und Anblick obscöner Bilder
und Photographien seine Freude fände, einen, der die
Leidenschaft habe, Liebespärchen in intimer Umarmung
auf den öffentlichen Promenaden zu erspähen, und den
dritten: Chargnieu.
Die Entstehung seiner Homosexualität denkt sich
Lecomte wie folgt: Chargnieu sei als ein junger, kräftiger
und demnach von Begierden gestachelter Mann, aber arm
und daher ohne Maitresse, einst von irgend einem Laster-
haften verführt worden und selbst dann zum Auflaurer
fremder sinnlicher Triebe, die sich nicht befriedigen
konnten, herabgesunken.
Für den Zweck des Romans paßt die Schilderung
recht gut, indem sie durch ein drastisches Beispiel die
Gefahr der Unterdrückung natürlicher Triebe veranschau-
lichen will. An dem Maßstabe der Wirklichkeit gemessen,
dürfte sie aber für den Kenner der Homosexualität wenig
glücklich sein.
Mit Recht hat daher schon ein Kritiker des Romans1)
scherzend hervorgehoben, daß doch nicht alle Homosexuellen
Bureaukraten seien!
Lys, Georges de: La Vierge deSedom (Offenstadt
frferes. Paris, 1901).
Sedom (Sodom) ist von dem Joch der Elamiter, der fremden
Eroberer durch Abram (Abraham) aus dem Thale Mamre, dem
Onkel von Lott, der als einziger Fremder in Sedom wohnt, be-
freit worden.
Bara, der König von Sedom, bietet Abram zum Dank für
den errungenen Sieg die unberührte schöne Tochter von Abimaäl,
des Hohepriesters des Gottes Nabou, die jungfräuliche Maheleth,
zur Frau an.
/ M
*) Rachilde in Mercure de France.
— 1072 —
Aber Abram schlägt die ihm erwiesene Ehre aus; obgleich
seine Ehe mit Sarah, seinem Weibe, unfruchtbar geblieben, wird
er mit keiner andern Frau das Ehebett teilen. Naphis, der
schöne Adoptivsohn Abrams, verliebt sich in Maheleth, die seine
Leidenschaft erwidert. Aber Abimaäl will seine Tochter nicht
dem Adoptivsohn des Mannes geben, der ihn durch die Weige-
rung Maheleth als Frau zu nehmen aufs tiefste gekränkt hat.
Maheleth soll Noäph, den Wüstling, heiraten, den eigenen Ge-
liebten des Hohenpriesters.
„Noöph's verweichlichter, von Wohlgerüchen durch-
setzter Körper hatte die Wollust von Abimael erregt.
Der ehrgeizige Wüstling hatte gewußt die Leidenschaft
des Greises auszunützen und als Preis für seine Gefällig-
keiten sich die Ehe mit Maheleth auszubedingen". (S. 122.)
Abimael freute sich schon, im Ehebette der eigenen
Tochter den Geliebten zu besitzen. Naphis hat im Einverständnis
mit Maheleth beschlossen, sie zu entführen. Während des
Festes zu Ehren des Gottes Nabou und der Feier der Mysterien,
denen Maheleth beiwohnen muß, wird es Naphis am besten ge-
lingen, im Gedränge der Menge seinen Plan auszuführen.
Er schleicht sich in den Tempel während der Feier der
Jieiligen Orgie.
„Im Tempel wohnten die Priester von Nabou . . .
Sie brachten die Stunden in der nervenerregenden
Atmosphäre des Tempels zu und scheuten sich nicht,
den häßlichsten Ausschweifungen sich hinzugeben. Ein
junger Sklave, zu ihren Füßen hingebettet, war stets
bereit, ihrer Begierde zuvorzukommen und sie zu be-
friedigen. In dem Allerheiligen, wo sie ohne Frevel
eindringen durften, ließen sie Jungfrauen und Jünglinge
der Stadt einführen, .... und die Lampen der
göttlichen Gebräuche erleuchteten ihre Unzüchtigkeiten.
„Schwankend mit gerötetem Antlitz schreiten die
Priester heran, ein jeder gestützt durch einen Epheben,
dessen Nacktheit mit Schmuck geziert ist, wie die einer
Prostituierten.
Die Neger von Khousk, seit der Wiege entführt, für
den Gebrauch der Priester in den Tiefen des Tempels
erzogen, haben eine bronzefarbige, glänzende, ölige Haut.
Ihre weißen Zähne lachen unter den fleischigen Lippen,
die den Rändern einer bluttriefenden Wunde gleichen.
Einige zeigen nur rosiges Zahnfleisch und haben zahnlose
Kiefer, eine absichtliche Grausamkeit, um ihre Lieb-
kosungen sanfter zu gestalten ....
— 1073 -
.'./
Die Kinder der weißen Race sind dicker, die sitzende
Lebensweise, der Luftmangel, die Nahrung, mit der
man sie vollpfropft, dunsen ihren Unterleib auf und lassen
an ihren Schenkeln fette Falten aufgehen. Einige sind
kastriert und verdanken ihrer Verstümmelung eine noch
mißgestaltere Wohlbeleibtheit.
Sie helfen ihren Herren sich auf ihrem Ruhelager nieder-
zulegen, häufen Kissen hinter ihre Häupter und lagern
sich zu ihnen
Die Hand von Abimael spielt nachlässig in dem blonden,
über die schmächtigen Schultern eines schönen Androgynen
herunterwallenden Lockenhaar, dessen doppeltes Ge-
schlecht, das seine abgestumpfte Begierde reizt, ab-
wechselnd seine Liebkosungen empfängt und wieder-
gibt . . .« (S. 201—203.)
Zuerst führen Tänzerinnen unzüchtige Tänze auf.
Darin erscheinen Epheben. „Es sind nicht mehr die
der Person des Priesters beigegebenen armen Ver-
stümmelten, aber schlanke, fein muskulierte Jünglinge
* mit geschmeidigen Gliedern und elegantem Gang. Nichts
sticht von ihrer herrlichen Nacktheit ab auf dem ge-
glätteten Elfenbein ihrer glänzenden, durch ölige Ein-
reibungen geschmeidigen Haut. Das Auge des Priesters
entzündet sich, ein tierisches Lächeln schleicht über
ihre herabhängenden Lippen. Diese Tänzer sind wirk-
lich schön." (S. 204.)
Die Tänzer sind blind — seit ihrer Aufnahme in den
Tempel geblendet durch glühendes Eisen. Sie führen plastische
Stellungen und Tänze vor, die in erotischen Umarmungen und
Gruppen enden.
Zum Schluß der Feier will Abimael noch eine besondere
Monstrosität zum Besten geben. Die eigene Tochter soll nackt
vor aller Augen tanzen. Als er selbst der Widerstrebenden die
Hülle vom Körper reißt, stürzt Naphis aus seinem Versteck
hervor, die Geliebte zu schützen. Abimael will den Frechen
zuerst dem Tode weihen, aber als er den Halbnackten in seiner
strahlenden Herrlichkeit erblickt, „sehen seine gierigen Augen
nur noch seine Schönheit." Er kennt eine bessere Rache als
den Tod, er wird Naphis dem Dienst des Gottes Nabou widmen.
Inzwischen hat Abram vom Gott Israels die Offenbarung
erhalten, daß seine Frau Sarah noch fruchtbar werden würde.
Gott hat ihm zugleich befohlen, sich und seinen ganzen männ-
lichen Stamm beschneiden zu lassen. Er sendet ihm zwei
Engel in Gestalt zweier wunderbar schöner Jünglinge, die Abram
zu Lott schicken soll, ihm die Botschaft Gottes zu überbringen.
— 1074 —
Die Schönheit der beiden Botschafter erregt die Begierde
der Einwohner Sedoms. Sie stürzen vor Lott's Haus und
begehren die Fremden. Männer und Weiber gleich stürmisch
in ihrem Verlangen, Noe'ph der Wüstling an der Spitze. Auch
der Hohepriester Abimagl gebietet, die Fremden der entfesselten
Fleischeslust des Volkes preiszugeben. Als die Menge schließ-
lich das Haus stürmt, entfliehen die Engel mit Lott und seiner
Familie durch eine verborgene Türe. Gott aber läßt den Feuer-
regen über die unzüchtige Stadt hereinfallen.
In den Gewölben des Tempels, wo Naphis als Gefangener
schmachtet, gelingt es Maheleth, zu ihm zu gelangen. In enger
Umarmung sterben sie in dem Feuerbrand.
Die . Homosexualität erscheint in dem Roman als
Culminationspunkt eines Lasterlebens Heterosexueller (bei
Abimael und Noeph) und als tierische Begierde eines
ganzen unzüchtigen Volkes, sodann überhaupt als unsitt-
licher Ritus einer heidnischen Religion, die ihren Priestern
den gleichgeschlechtlichen Verkehr gebietet und die
Tempelprostitution verlangt. In dieser Auffassung bot
die Homosexualität dem Verfasser ein willkommenes
Mittel für seine auch aus den beigegebenen Illustrationen
ersichtliche Tendenz zu grellen Effekten. Denn im
Grunde verrät der Roman das Streben nach Sensation,
und ein ziemlich hohler Inhalt verbirgt sich unter dem
pompös gesuchten und sensationell dekorativen Stil, der
allerdings in den Tempelscenen den passenden Stoff zur
geeigneten wirksamen Entfaltung findet. Diese profane
wollüstige Tempelscene, welche zum Besten des Romans
gehört, entrollt die kulturhistorisch hochinteressante
religiöse Priesterhomosexualität in einem sinnlichen und
raffinierten Gemälde voll Virtuosität und künstlerischem
Glanz.
Martino, Ferdinand de und Abdel Khalek Bey Saroit
Anthologie de l'amour arabe mit Vorwort von
Pierre Louys (Paris: Mercure de France 1902).
Das Buch enthält eine Sammlung morgenländischer Liebes-
gedichte (84 Nummern) von Dichtern der frühesten Jahrhunderte
bis zu solchen der Jetztzeit in französischer Übersetzung.
— 1075 —
Sämtliche besingen die Frau, nur zwei sind homosexuelle.
No. 29 und No. 61.
' Über den Verfasser des Gedichtes No. 29 Moudrik El Chaibani
wird in der Sammlung wie folgt berichtet S. 166:
„Er wurde in Bagdad erzogen und blieb dann in dieser
Stadt als Lehrer. Seinem Unterricht wohnten nur junge Leute
bei, unter ihnen befand sich der junge Amr. Der Dichter ver-
liebte sich in den Jungen, so daß man gezwungen war, ihn von
dem Unterricht fernzuhalten.
Aus Gram wurde Moudrik schwer krank, und da sein Zu-
stand sich verschlimmerte, baten die Freunde des Kranken die
Eltern von Amr, einen Besuch des Jungen bei seinem Lehrer zu
gestatten. Von Mitleid ergriffen, gaben sie die Erlaubnis dazu.
Als Amr am Bette des Sterbenden stand, ergriff dieser die Hand,
sagte einige improvisierte Verse her und gab seinen Geist auf."
Bei dem Ruf der orientalischen Poesie, als der
Dichtung, welche besonders häufig den Jüngling besingt,
wundert man sich, daß in der Sammlung die homosexuelle
Liebe so spärlich vertreten ist. Es scheint, daß die
Herausgeber absichtlich die homosexuellen Gedichte mög-
lichst beiseite gelassen haben. Daß sie aber in der morgen-
ländischen Poesie tatsächlich sehr zahlreich zu finden sind,
dürfte auch aus der Notiz über den Dichter Omar Ebn
Abdullah Ebn Abi ßabia El Mahzuni S. 83 hervor-
gehen, in welcher bemerkt ist, daß Omar sich stets
weigerte, solche Dithyramben zu verfassen, wie sie so sehr
zu seiner Zeit in Ehren standen. „Ich besinge die Frauen
und nicht die Männer" pflegte er zu wiederholen.1)
*) In der französischen Übersetzung der „Tausend und eine
Nacht" von Dr. Mardrus (Fasquelle, Paris) sind zahlreiche homo-
sexuelle hochpoetische Stellen.
Ein unbekannter zur Zeit in Arabien weilender Herr hat mich
auf die Übersetzung aufmerksam gemacht und mir zugleich eine
Anzahl von Stellen mitgeteilt, wofür ich ihm hiermit danke.
Zur Zeit sind 12 Bände von Mardrus herausgegeben und noch
4 zu erwarten. Nach Beendigung der Veröffentlichung wird
es wohl angezeigt sein, das Homosexuelle in den verschiedenen
Bänden in dem Jahrbuch zu besprechen. Vorläufig sei angegeben,
Jahrbuch V. 68
:!
— 1076 —
MÖPejkowsky, Dmitry de: Le Roman de Leonard de
Vinci ins Französische übersetzt von Jacques Sorr^ze
(Paris: Calmann Levy 1901) 718 So.
Der lange, grau in grau geschriebene Roman, dessen Wert
dem Umfang nicht gleichkommt, entrollt die Lebensgeschichte von
Leonardo da Vinci im Rahmen der damaligen historischen und
kulturhistorischen Begebenheiten. An zwei Stellen werden die
Verdächtigungen erwähnt, wonach Leonardo gleichgeschlechtlichen
Verkehr gepflogen haben soll.
S. 230 erzählt der Schüler Leonardo's, Cesare, einem Mit-
schüler Giovanni, der seinen Meister aufs tiefste liebt und ehrt,
über Leonardo's Vorleben:
„Im Jahre 1476 war Leonardo 24 Jahre alt und sein
Meister, der berühmte florentinische Maler Andrea
Verrochio 40. Ein anonymer Bericht, worin Beide
widernatürlicher Unzucht beschuldigt waren, wurde in
einen der runden Kasten gelegt, die sog. Tamburi, die
man an die Säulen der Hauptkirchen Florenz hinzu-
hängen pflegte. Am 9. April desselben Jahres unter-
suchten die sog. nächtlichen mönchischen Aufseher die
Sache und sprachen die Angeklagten frei, aber unter
der Bedingung, daß der Bericht erneuert würde, nach
der zweiten Anklage am 9. Juni wurden Leonardo und
Verrochio für unschuldig erklärt. Niemand erfuhr mehr
darüber. Bald darauf verließ Leonardo die Werkstätte
von Verocchio und ließ sich in Mailand nieder.
O! gewiß ist es eine schändliche Verleumdung! fügte
Cesare hinzu, mit einem ironischen Funken im Auge.
Obgleich du noch nicht weißt, Freund Giovanni, welche
Widersprüche in seinem Herzen herrschen. Siehst Du,
es ist ein Labyrinth, in dem selbst der Teufel sich das
Bein brechen würde. Einerseits scheint er Jungfer und
andererseits würde man sagen . . . "
Cesare wird von dem wütenden Giovanni unterbrochen,
der seinen Meister warm in Schutz nimmt.
S. 700 Franz I. von Frankreich besucht das Atelier von
Leonardo. Der König bewundert das herrliche Portrait der
Monna Lisa und glaubt, der Maler habe die Frau leidenschaftlich
geliebt.
daß die männliche Liebe mit orientalischer Glut und mit einer
Leidenschaftlichkeit, die ihres Gleichen sucht, besungen wird in
Bd. 4 S. 87, 91, Bd. 5 S. 10, 20, 137, 138, 139, Bd. 6 S. 216, Bd. 7
S. 240, 241, Bd. 8 S. 21.
— 1077 —
Ein Begleiter des Königs raunt ihm jedoch zu, man behaupte,
Leonardo habe nicht nur die Joconda nicht geliebt, sondern über-
haupt kein Weib .... er sei fast Jungfer.
„Und noch leiser, mit einem anrüchigen Lächeln,
fügte er etwas Unzüchtiges über die socratische Liebe
Leonardo's und die ungewöhnliche Schönheit seiner
Schüler bei.
Franz I. wunderte sich, dann zuckte er mit den Achseln
mit dem nachsichtigen Lächeln eines von Vorurteilen
freien Weltmannes, der zu leben versteht und die Andern
nicht hindert zu leben wie ihnen gut dünkt, da er
wußte, daß in dieser Art von Angelegenheiten man
nicht über Geschmack und Farben streiten soll".
In dem Roman selber wird Leonardo nicht als Homosexueller
dargestellt, nur freundschaftliche Beziehungen zwischen ihm und
besonders zwei seiner Schüler, Giovanni und Francesco, werden
geschildert, hauptsächlich aber die Verehrung und Liebe dieser
Schüler zu ihrem Meister. Die einzige Art Liebesleidenschaft
Leonardo's ist die zu Monna Lisa oder vielmehr zu dem Porträt,
das er von ihr malt, eine Leidenschaft von idealem eigenartigem
Charakter, der jede Sehnsucht nach fleischlicher Annäherung fehlt
und die sich mehr auf das Porträt der schönen Frau konzentriert,
in welches der Maler ein unmögliches Ideal hineinzulegen strebt.
Leonardo's Natur stellt M£rejkowsky überhaupt als instinktiv
dem Geschlechtsverkehr abhold dar.
S. 640 heißt es:
„Die platonischen Absurditäten der damaligen Zeit
erweckten in ihm nur Langweile oder Lachen, er konnte
sich nicht enthalten, die schmachtenden Seufzer der
himmlischen Liebschaften und die faden Sonette im
Geschmack von Petrarka zu bespötteln. Nicht minder
fremd war für ihn was die Allgemeinheit Liebe nannte.
Indem er kein Fleisch aß, weil es ihn anekelte, ent-
hielt er sich gleichfalls des Weibes; jeder körperliche
Besitz in oder außerhalb der Ehe — erschien ihm ge-
mein. Und er entfernte sich davon wie vom blutigen
Kampf, ohne sich zu entrüsten, zu tadeln, zu recht-
fertigen, indem er das natürliche Gesetz des Liebes-
und Hungerkampfes anerkannte, aber selbst nicht daran
Teil nehmen wollte, sich einem andern Gesetz von
Liebe und Schamhaftigkeit unterwerfend."
Nach M^rejkowskys Roman erscheint Leonardo's
Geschlechtsnatur dunkel und rätselhaft.
68*
//
Ml
— 1078 —
Manche Züge erinnern an das Wesen eines Edel-
päderasten, an den Homosexuellen, der sich seines tief-
eigenen Empfindens nicht bewußt ist oder sein Gefühl
im Innersten verbirgt.
Ob der historische Leonardo tatsächlich homosexuell
war oder nicht, dürfte nicht feststehen, obgleich seine
Homosexualität schon oft behauptet worden ist, so kürz-
lich von dem Kunsthistoriker Muther.
Wünschenswert wäre eine genaue Untersuchung der
Frage, deren endgültige Lösung uns z. B. Karsch in
seiner tief gründlichen objektiven Weise bringen möge.
Narkissos: Der neue Werther, eine hellenische Passions-
geschichte (Verlag Spohr, Leipzig) 1902 erschienen.
Gewählt ist die Form des Tagebuchs.
Im Vorwort bezeichnet „Narkissos" als Verfasser des Tage-
buchs einen jungen Studenten der Medizin, der Weihnachten
1901 erschossen in seinem Zimmer aufgefunden worden sei.
Das Tagebuch beginnt mit der Wiedergabe eines Antwort-
schreibens von Professor K. in Wien an den jungen Mediziner.
Er sei ein psychischer Hermaphrodit, bei dem das Gefühl
zum eigenen Geschlecht überwiege. Ratschläge streng geregelter
Lebensweise, Fernhalten alles Perversen, Anbahnung von Ver-
kehr mit dem Weibe u. dergl. Er solle sich an Professor W. in
Berlin wenden, der werde ihn von seiner Krankheit heilen.
Aus Pflicht wird der Student versuchen, sich zu heilen, im
Grunde seines Herzens widerstrebt es ihm, wegzuwerfen, „was ihm
das schönste und reinste Gefühl" ist.
Schilderung seiner ersten Jugend.
„Welch seltsame Jugend habeich erlebt! .... Meine
Schulzeit ist eine Kette von liebevollsten Hingebungen
an angebetete Lehrer und wollüstigen Freundschaften
mit erkorenen Wahlverwandten — ein Spiel von
Schwelgerei und Entsagung, glühender Eifersucht und
begehrlichstem Streben". (S. 14).
Er hat dann Krafft-Ebings Buch gelesen:
„Nie werde ich den Eindruck von damals vergessen.
Längst hatte ich erkannt, daß ich anders geartet sei,
wie die übrigen. Und ich glaubte, daß niemals die
Jahrtausende vor mir und künftig je einer das empfinden
konnte und könnte, was mich erfüllte. Ja, so mochte
1079
wohl auch die vielgerühmte Frauenliebe glühen — nur
nicht so sehnend, verzehrend, so ganz innerlich und
alles übrige tilgend.
Ich fühlte mich einsam in meiner Sonderart, wie ein
Wesen aus einer andern Welt, das irrtümlich auf diesen
Erdball geraten ist. Aber der einfachste Instinkt riet
mir zur Heuchelei."
Er suchte dann mit Erfolg trotz seines Widerwillens "Be-
ziehungen zu Mädchen anzuknüpfen.
„Das war der Anfang der großen und einzigen
Lüge, die mein Leben verunreinigte und die mich, den
Freigeborenen, zumSklaven gemacht hat."
Der eigentliche Grund, warum er an Prof. K. schrieb, war
nicht sich und seine Natur aufzugeben.
„Von der Lüge will ich mich befreien, Reinheit will
ich wieder haben, und sollte ich darüber mein Glück
verlieren !"
Er wendet sich an Prof. W.
Vier Wochen befindet er sich in Behandlung. Noch kein
Erfolg. Er soll alles meiden, was ihn reizen könnte,
„d. h. wohl, ich soll mich von meinen Freunden
fern halten, meine Empfindungen der Zuneigung und
des Wohlgefallens an ihnen selbst unterdrücken. Nun
ich tu' das ja so gut ich kann. Aber ich bin mir nicht
klar, ob ich da nicht in eine neue schlimme Lüge
geraten bin. Belüge ich nicht mich selbst? Meine
Seele schielt weg von dem, was ihr Verlangen ist.
Aber ist ein schielender Blick besser als ein aufrich-
tig voller? Denke ich jetzt wirklich weniger an das
Verbotene oder nur heimlicher , unkontrollierter?"
(S. 32.)
Inzwischen hat er im Hörsaal der Universität die nähere
Bekanntschaft eines Studenten, Alfred P. gemacht. P. ist Philosoph
und Aesthetiker. Beide werden enge Freunde, beide schwelgen
in Musik und Litteratur.
Die Freundschaft des Studenten mit Alfred P. verwandelt
sich allmälig in eine heftige Leidenschaft. Er kann ihn nicht
mehr entbehren, nicht mehr vermissen, „die Anmut seiner
schlanken Gestalt, den Zauber seiner Bewegungen, seinen Blick,
seine liebe Stimme".
Prof. W. hat mit der hypnotischen Suggestion begonnen.
Die Hypnose gelingt. Aber noch ist nicht der Grad der Hypnose
erreicht, der für die entscheidende Suggestion Erfolg verspricht.
„Der Patient sucht seine Phantasie auf die Frau zu
lenken."
— 1080 —
Nachts „quäle ich mein Hirn mit der krankhaften
Versinnlichung nackter und halbbekleideter Frauen-
körper, aus deren bewegter Schönheit mir ein Reiz er-
blühen soll. Und oft glaube ich ihre lockende Süßigkeit
zu spüren — bis eine edle Jünglingsgestalt, der Blick
eines lieben Freundes, das buhlerische Spukzeug in
seine finstern Winkel zurückjagt." (S. 44.)
Im Grunde gesteht er sich:
„Ich fürchte, ich bin keinen Schritt weiter, und
wenn ich es glaubte, belog ich mich. Die Phantasie
einer leidlich geübten malerischen Anschauung kann
mir wohl die Körper schöner Frauen vor die Sinne
zaubern, eine krampfhafte Anstrengung des Willens
kann mich sogar ihren sinnlichen Reiz im Spiegelbild
ahnen lassen." (S. 48.)
Die Notwendigkeit eines Erfolgs wird dringend, da das
Semester zu Ende geht und der Student zu seihen Angehörigen
abreisen muß.
Prof. W. wird die entscheidende Suggestion vornehmen.
„Die entscheidende Suggestion soll mich befähigen,
Mann für das Weib zu sein. Meine letzte Nacht in
dieser Stadt, die Geburtsnacht meiner Männlichkeit, sie
soll mir das erste Abenteuer bringen. Ob jemals in
kühnen Zeiten ein irrender Ritter stärkeren Mutes be-
durfte, ein Abenteuer zu bestehen? Kann es möglich
sein, ein so ganz Anderer zu werden, daß ich das ver-
gesse, was mich jetzt mit Glut erfüllt, daß ich aus
meinem Ekel meine Wollust mache?" (S. 58.)
Die Suggestion mißglückt, die entscheidende Wendung tritt
nicht ein. Der Student will nunmehr sich töten.
„Ich wollte vor der Lüge fliehen, und vor ihr bin
ich nur im Tode sicher. Lüge war mein ganzes früheres
Leben gewesen. Was ich fühlte, das Beste in mir,
mußte ich verbergen, nur gegen mich selbst durfte ich
wahr sein.
Und nun — als ich die Wahrhaftigkeit suchte, geriet
ich in eine neue, viel größere Lüge; jetzt belog ich
mich selbst. Pfui der qualvollen Anstrengungen, meine
Seele mit dem zu kitzeln, was sie anwidert! Pfui der
erlogenen Hoffnung auf ein neues Leben, in dem ich
nicht mehr ich wäre! Ich hatte mich selbst verleugnet;
der Tod sollte mir Strafe und Erlösung sein. Das sah
ich jetzt klar: als lebender Mensch konnte ich niemals
anders werden. Ich will sein dürfen, wie ich bin . . .
Wir sind in uns genug runde, volle Naturen. Wir
— 1081 —
brauchen nicht weiter zu scharfen, weil wir das Ziel des
Geschaffenen sind . . . Wir wollen Gipfel und Grenzen
der Menschheit sein." (S. 62 flgd.)
Er will sterben weil er „sich selbst verachtet".
Schon hat er den Revolver in der Hand, da tritt Alfred P. ein.
„Er sah wohl mein Leid, meine Gefahr — mit einem
Griff hatte er die Waffe entfernt und glitt an meiner
Seite nieder, mit seinen Armen meinen Leib um-
schlingend."
„Da schwand die ganze Welt und einsam und einzig
blieben wir, ein eng umschlungenes Menschenpaar,
eine ungeheure, unbegreiflich wundersame Liebe, eine
neue Welt." (S. 66.)
Am nächsten Tage muß der Student zu seinen Angehörigen
abreisen.
Die zwei Monate Ferien lebt er nur in Gedanken an Alfred
und nährt sich von seinen täglichen Briefen, von den Ver-
sicherungen seiner Liebe, seiner Treue. Allmählich werden die
Briefe seltener und weniger stürmisch.
Als die Freunde sich wiedersehen, ist Alfred's Benehmen
geändert. Er zeigt nur freundliche Gleichgültigkeit.
Aussprache zwischen den Freunden. Alfred liebt in seiner
Art, aber nicht mit dem lodernden Feuer, der himmelstürmenden
Glut des Freundes. In die Liebe des Studenten zu Alfred mischt
sich Verachtung, nachdem er die Schmach erlebt, sein Heiligstes
weggeworfen zu haben. Und trotz dieser Verachtung geschieht
es, daß er sich dem Geliebten völlig hingibt.
„Was nie geschah so lange unsere Leidenschaft neu
und stark loderte, ist jetzt in Müdigkeit geschehen; wir
sind zusammen in den Schlamm getaucht. Unsere
Leiber haben sich beschmutzt. (S. 79.)
„Was ich nur dem Freiesten geben dürfte, dem
König, der mit mir die Welt eroberte, um den Thron
mit dem Freund zu teilen — ich habe es ihm gegeben
in dem Augenblick, da ich anfing, ihn zu verachten.
So muß ich denn sterben. (S. 80.)
Der Brief, den der Selbstmörder für seinen Freund zurück-
gelassen, wird im Anhang mitgeteilt.
Was er ihm zu sagen hat, hat er in eine Erzählung
symbolistisch eingekleidet:
Er erzählt ihm die Geschichte eines chinesischen Madarinen,
der einer ausländischen Bajadere zu Liebe seinen Zopf abschneidet
und nachher, nachdem die Geliebte zur Prostitution zurück-
gekehrt, sich an seinem Zopf aufhängt.
— 1082 —
Den Widerhall der homosexuellen Zwangslage auf
einen zartbesaiteten, feinfühligen Uranier hauptsächlich
von einer Seite beleuchtend, die Seelenqualen des
Beeiden unter besonderem Gesichtswinkel betrachtend,
hebt der Verfasser eine Wirkung unter den zahlreichen
unheilvollen Ausflüssen der peinlichen Situation des
Homosexuellen hervor: die Last der Lüge und Heuchelei,
welche den ideal angelegten, wahrheitsliebenden Uranier
bedrückt
Nicht an der Qual der Nichtbefriedigung sinnlicher
Bedürfnisse leidet der „neue Werther", sondern an edleren
Leiden. Der Zwang zur Lüge, die Notwendigkeit der
Verstellung und Unwahrheit foltert ihn. Nicht deshalb,
weil seine Leidenschaft vom Durchschnitt abweicht, fühlt
er sich unglücklich, sondern wegen des heuchlerischen
Versteckspiels, zu dem er genötigt, wegen der Maske,
die er zur Schau tragen muß.
Um dieser Lüge zu entgehen, um Reinheit und Wahr-
heit zu erlangen, deswegen allein wendet er sich an einen
Arzt, unterwirft sich einer „Heilung" versprechenden
Behandlung.
Aber er fühlt, daß er nur die Lüge wechseln, daß er
seinem Innersten fremde Gefühle an Stelle seiner natur-
gemäßen Instinkte eintauschen würde.
Deshalb wird bei seiner wahrheitsliebenden Natur
auch die Hypnose keinen wirklichen Erfolg erzielen
können. Die entscheidende Suggestion, welche ihm eine
fremde Gefühlswelt aufdrängen soll, wird an seiner Wahr-
heitsliebe, an seiner eingewurzelten Eigenart scheitern.
Neben dem Motiv „Haß gegen Lüge und Heuchelei"
wird in der zweiten Hälfte und am Ende der Novelle
ein anderes Motiv in den Vordergrund gestellt, das
Motiv „des Sichselbsttreubleibens". Nachdem die Heil-
ung mißglückt, sind es nicht das Bewußtsein und die
Verzweiflung, zur fortdauernden Lüge und Heuchelei
— 1083 —
gezwungen zu sein, sondern die Scham und Rene, sich
zu einem Versuch der Änderung der homosexuellen an-
geborenen Natur hergegeben zu haben, welche ein erstes
Mal den Helden zur Pistole greifen lassen.
Um den Selbstmordversuch aus diesem Motiv heraus er-
klärlich zu machen, legt Verf asser seinemHelden eine Verherr-
lichung seiner homosexuellen Individualität in den Mund,
einen Panegyrikus der als höheres Gefühl empfundenen
homosexuellen Eigenart. Aber trotzdem erscheint die Be-
gründung des Selbstmordversuchs aus diesem Motiv der
Untreue gegen sich selbst unzulänglich.
Noch unbefriedigter wirkt beim Selbstmord am
Schlüsse die Verwendung des gleichen Motivs, welches
dort in etwas anderer Gestaltung auftritt. Der Held
tötet sich, weil er seinem hohen Ideal einer wahren
Liebe untreu geworden, weil er, nachdem Liebe und
Hochschätzung gegenüber dem unwürdigen Freund ge-
schwunden, von dem Taumel vorübergehender Sinnlich-
keit ergriffen, zu einem sinnlichen Verkehr ohne echte
Liebe sich hinreißen ließ.
Er scheidet aus dem Leben, weil er fürchtet, auch
fernerhin nicht die Kraft zu besitzen, dem grobsinnlichen
Reiz zu widerstehen und seiner edleren Natur, seiner
idealen Lebens- und Liebesauffassung treu zu bleiben.
Der Charakter des Helden ist zwar von vornherein
als ein idealer gezeichnet, nichts desto weniger bleibt das
ungenügend entwickelte, unvermittelt auftretende Motiv
zum Selbstmord überraschend.
In Konsequenz des Hauptgedankens der Novelle und
ihrer psychologischen Ausgangspunkte hätte man einen
Selbstmord aus Gram über den Mißerfolg des Heilungsver-
suchs und aus Verzweiflung über das nach kurzem Glück un-
entrinnbare Zurücksinken in die homosexuelle Zwangs-
lage erwartet, eine Motivierung, die übrigens aus der
— 1084 —
symbolischen Schlußerzählung hervorzugehen scheint, in
der Novelle selbst aber nicht zum Ausdruck kommt.
Die gerügten Mängel werden aufgewogen durch
schöne Vorzüge: interessante Schilderung der Wirkungs-
losigkeit einer hypnotischen Kur — nicht grob effekt-
voll, sondern psychologisch begründet — verständnisvolle
Darstellung seelischer Stimmungen und feine Schattierung
homosexuellen Leids.
Pugnator: Triumph der Liebe. Aus den Papieren
eines Geächteten. (Leipzig, Verlag Spohr, 1902).
Die Erzählung ist in Tagebuchform eingekleidet.
Ein Jüngling, Anfangs der zwanziger Jahre, wird von einer
innigen, tiefen Zuneigung zu einem elfjährigen Knaben ergriffen.
Der Gedanke an das geliebte Kind verläßt ihn nicht mehr.
Er wird mit der Familie des Knaben bekannt. Seine Liebe
ist eine völlig reine und ideale.
„Mein Gebet war nur ein Gedanke des Glücks und
ein Wunsch des Heiles für die Zukunft. Ich denke mir,
mein Liebling wird älter, reifer an Körper und Seele;
seine Liebe, jetzt noch unbewußte Anhänglichkeit an
den, der ihm Angenehmes tut, wird bewußtes Hingeben
an den Freund, an den Geliebten! Eine Seele, ein Herz
werden wir sein, eins in der Arbeit, in der Ruhe, in den
höchsten Momenten glühenden Lebens!" (S. 7.)
Der Jüngling darf mit dem Knaben eine Nacht im gemein-
samen Bett zubringen. Er empfindet unendliches Glück :
„Und doch, trotz allen Stürmen der Leidenschaft,
keine geschlechtlichen Begierden, im Gegenteil würde
es mir wie ein mörderisches Verbrechen vorkommen,
mein höchstes Heiligtum zu entweihen." (S. 15.)
Fünf Jahre vergehen. Der Liebhaber, der vor dem 2.
juristischen Examen steht und inzwischen von dem geliebten
Knaben getrennt war, sieht ihn als 16jährigen Jüngling wieder.
Seine Liebe dauert fort und entbehrt jetzt auch nicht des sinn-
lichen Charakters.
Um dem schmächtigen und blassen Gymnasiasten, der der
Junge geworden, einen Aufenthalt in der Sommerfrische zu er-
möglichen, verschafft ihm der Liebhaber das dazu nötige Geld,
das er durch Übersetzung der amores Lucian's sich verdiente.
Die Veröffentlichung dieser Übersetzung zieht ihm jedoch eine
Verfolgung wegen Verbreitung einer unzüchtigen Schrift zu.
1085 —
Da gelegentlich einer aus diesem Anlaß bei dem jungen Juristen
vorgenommene Haussuchung verschiedene Photographien des
Knaben mit Widmung gefunden werden, wird er wegen des Ver-
dachts unzüchtiger Handlungen mit einem Knaben unter 14 Jahren
verhaftet. Mangels Beweises wird er bald wieder freigelassen,
aber seine juristische Zukunft ist zerstört. Er wird Hauslehrer
in der Familie des geliebten Walther. Auf alle mögliche Weise
sucht er ihm seine Liebe zu erweisen. Der Junge zeigt sich aber
kühler wie früher. Die geringsten Zärtlichkeiten des Andern, auch
den bloßen Kuß, weist er zurück, und als dieser ihm offen seine
glühende Leidenschaft gesteht, vermag ihm der ähnlicher Gefühle
unfähige Junge nur Mitleid aber keine Liebe entgegenzubringen.
Nach hartem inneren Kampfe findet der Liebhaber die Kraft der
Entsagung. Er will glücklich sein im Gefühl seiner Liebe auch
ohne Erwiderung.
Ja er bringt es über sich, von Walther sich zu trennen und
eine auswärts ihm angebotene Redakteurstelle anzunehmen, welche
ihm gestatten wird, für den Geliebten das Nötige zu seiner
Unterstützung und seinem Studium zu verdienen.
In einem Nachwort sagt Pugnator, der Verfasser des Tage-
buchs sei im Laufe des Sommers 1902 gestorben, die letzten
8 Jahre habe er Gelegenheit gehabt, ihn zu beobachten.
Derselbe habe stets gearbeitet, sich selbst niemals das Ge-
ringste gegönnt und nur für den Geliebten gelebt. Diesen habe
er studieren lassen und völlig für ihn gesorgt, trotzdem er stets nur
kurze Briefe von ihm erhalten. Vor einem Jahre habe der Geliebte
sein letztes Examen bestanden und sei in einer Klinik in Wien ange-
stellt worden. Seitdem sei der unglückliche Freund wie abgemattet
gewesen und habe oft gesagt, nun dürfe er ruhen, sein Lebenszweck
sei erfüllt. Als er erkrankte, habe er absichtlich seinen Walther nicht
rufen lassen. In seinem Testament habe er 1000 Mark zum Ankauf
eines Hochzeitsgeschenks für seinen Liebling bestimmt. Pugnator
schließt mit den Worten: „Unter den vielen Tausenden findet sich
vielleicht doch einer oder der andere, der meinen Freund ver-
steht und sich vielleicht beschämt sagt: „Welch ein Mensch,
dieser Paria!"
Die Fähigkeit der Homosexualität zu höchster
Tugend, aufopfernder Hingabe, selbstlosester Liebe und
heroischer Überwindung der Sinnlichkeit wird von Pu-
gnator in einer Weise vor Augen geführt, daß man das
Werkchen gleichsam als concretes Beispiel für die Aus-
führungen betrachten kann, die in dem Schriftchen von
— 1086 —
Reiffegg „die Bedeutung der Jünglingsliebe für unsere
Zeit1)* entwickelt sind. Zeitigt doch das Verhältnis des
Helden zu seinem Walther alle die edlen Früchte, die das
genannte Schriftchen von homosexuellen Bündnissen erhofft.
Zu diesem Charakter der Novelle steht allerdings
der Anfang der Liebe des Helden in Widerspruch, da
seine Leidenschaft zu einem 11jährigen (!) Knaben ent-
facht wird.
Obgleich diese Neigung zu dem Kind als rein und
laptonisch geschildert wird und erst gegenüber dem
geschlechtsreifen Jüngling einen sinnlicheren Anstrich
erhält, so wird doch sowohl der hetero-, als auch der
homosexuelle Leser durch diese Liebesergüsse gegenüber
einem Knaben unsympathisch berührt, namentlich, weil
man den Eindruck gewinnt, als ob Pugnator diese
Pädophilie als ein den Homosexuellen gewöhnliches und
natürliches Gefühl darstellte.
Tatsächlich ist aber dieses Liebesgefühl zu einem
unreifen Knaben regelmäßig den Homosexuellen ebenso
fremd, wie die Vergötterung eines unreifen Mädchens
den Heterosexuellen.
Walloth, Wilhelm: Ein Sonderling, Roman aus der
italienischen Renaissance (Leipzig, Lotus- Verlag) 1901.
Der Roman spielt in der Renaissancezeit am Hofe des
Herzogs von Rimini. Die Trauung des Sohnes des regierenden
Herzogs, Giovanni Malatesta, mit Francesca soll vollzogen werden.
Alle Hochzeitsgäste sind versammelt, nur der Bräutigam wird ver-
mißt. Sein junger Freund und Schützling, der Goldschmied Gaddi,
findet ihn im Park von tiefer Gemütserschütterung überwältigt.
Nur zögernd hat Giovanni der Verlobung zugesagt, jetzt erfüllt
ihn mit Schaudern der Gedanke, ewig an ein Weib gefesselt zu
werden. Vergeblich führt ihm Gaddi die Schönheit seiner Braut
vor Augen.
„Er fühle," bemerkt Giovanni, „daß er nur zur edel-
sten Art der Freundschaft geschaffen sei, die Liebe
mit ihrer düsteren Extase setze herab, mache den
*) Siehe oben Kapitel I. J
— 1087 —
Geistvollen dem Dummen völlig gleich. Er könne
kaum ausdrücken, wie sehr es ihn anekle, da Lieb-
kosungen verschwenden zu sollen, wo er höchstens
achte — nie liebe! Man besinge und male freilich
vor allem die Reize des Weibes — er aber finde,
daß diese Reize nur in der Einbildung solcher vor-
handen seien, die nicht gewohnt seien, tiefer über die
Dinge nachzudenken, sondern sich blind ihrem geist-
losen Instinkt überließen. Was er von diesen „Reizen0
kennen gelernt, habe ihm die Oberzeugung beigebracht,
der Schöpfer habe im Weib ein untergeordnetes Wesen
scharfen wollen. In der ganzen Natur sei stets das
Männliche reicher begnadet, als das Weibliche. Am
genauesten könnten wir das dort beobachten, wo
unser Urteil gewiß nicht bestochen werde — beim
Tier! Der Hengst sei gewiß schöner als die Stute, der
Löwe schöner als die Löwin, der Hahn schöner als
die Henne " (S. 15).
Mit derartigen Gefühlen führt er unter heuchlerischer Maske
seine Braut zum Altar.
„Anfangs empfand er seine junge Frau neben sich
wie ein ihm völlig fremdes Wesen, wie einen Eis-
block, der Kälte auf ihn überströmte, erst als sie von
der Feierlichkeit ergriffen leise vor sich hinweinte, fühlte
er sich menschlich zu ihr hingezogen. Er fing an sie
zu bedauern, weil sie ihn zum Gatten erhalten/" (S. 22).
Abends, als er sich mit Francesca in seine Gemächer zurück-
zieht, werden ihm von seinem Erzieher zwei wertvolle Geschenke
dargereicht, die Erzstatue eines antiken Faunes, ein Meisterwerk
griechischer Kunst, und eine wertvolle alte Handschrift. Sein
aufs höchste gesteigertes Interesse und der ästhetische Genuß
lassen ihn seine junge Frau vergessen, welche ihrerseits die
künstlerische Begeisterung und die philosophischen Betrachtungen
ihres Gatten nicht versteht. Gekränkt zeigt sie ein kühles Be-
nehmen, das Giovanni wieder als Ausfluß weiblicher Anmaßung
und Herrschsucht auffaßt. Ihre Schönheit vermag nicht den sich
einschleichenden Mißton zwischen beiden zu beseitigen.
„Er mußte sich gestehen, daß sie schön sei —
ihn aber fröstelte bei dem Anblick dieser Schönheit,
vergebens suchte er in seinem Innern und suchte nach
jenem Funken, der den Mann so gewaltig im Weibe
sich verzehren läßt. Je deutlicher er es sich ausmalte,
er solle nun diese ein wenig verdrossen emporgezoge-
nen Lippen mit den seinen berühren, desto kälter
stieß ihn ein inneres Grauen zurück." (S. 30).
h^
— 1088 —
Francesca fühlt, daß ihr Gatte sie nicht liebt; Giovanni ge-
steht ihr selbst zu, daß er sie nur achte und schätze: In lehr-
haftem Ton setzt er ihr auseinander:
„Ich weiß sehr wohl, daß ich nicht bin wie Andere
— ja, ich weiß sogar, ich bin mir selbst ein Rätsel.
Meine Neigung zur Melancholie ist so groß, daß sie
mir jeden alltäglichen Lebensgenuß verdirbt. Zudem
denke ich über „das Weib" anders wie Andere. Mir
steht das Weib auf Erden so hoch, das Duldende,
Hingebende im Charakter des Weibes flößt mir eine
solche Ehrfurcht ein, ich habe so viel Achtung vor
der erlösenden Mission des Weibes, daß diese An-
betung in mir jedes Gefühl vor irdischer Annäherung
erstickt. Ich sehe in jedem Weib eine Madonna, dessen
Leib durch die Liebe entweiht würde." (S. 30).
Francesca dankt ihm spöttisch für diesen Einblick in sein
Seelenleben, sie begreift ihn kaum und beginnt an seiner gesunden
Vernunft zu zweifeln. Tief beleidigt begibt sie sich in ihre Ge-
mächer.
Die beiden Gatten leben nunmehr völlig getrennt.
Als Francesca sich dauernd vernachlässigt sieht, greift ein
stummer Unmut in ihr Platz, der allmählich in verstockten Haß, ja
in Verachtung überging. Giovanni gibt sich völlig seinen künst-
lerischen und philosophischen Bestrebungen hin, die Neigung zu
Gaddi übt immer mehr Einfluß auf ihn aus.
„Tagelang sah der Prinz seinem Günstling beim
Arbeiten zu, ritt mit ihm spazieren, musizierte, malte
mit ihm, kurz, ging ganz in einem in Kunstgenüssen
schwelgenden Leben auf, das durch seine phantastischen
Ausschreitungen oft genüg bei den nüchtern denken-
den Bürgern Rimini's Anstoß, bei dem Adel des Hofes
Neid, bei der Geistlichkeit Entrüstung erregte." (S. 50).
Die Geistlichkeit verzieh dem Prinzen seinen „Geist am
wenigsten", sein Aufrollen religiöser Streitfragen, seine Ausfälle
gegen ein versteinertes Christentum, das „aus den milden Lehren
des edlen Christus eine furchtbare Foltermaschine geschmiedet, und
des Meisters einfache schöne Worte verdreht habe, um die Unglück-
lichen noch unglücklicher zu machen" (S. 59). Besonders der Bischof
Salviati, welcher darnach strebte, Giovanni von der Thronfolge
auszuschließen, um dann um so leichter das Herzogtum dem
Papste in die Hände zu spielen, sucht gegen Giovanni den alten
Herzog aufzuhetzen. Dieser, welcher nach einer stürmischen
Jugend in seinen alten Tagen einer weltfeindlichen Frömmelei
verfallen ist, leiht nur zu willig sein Ohr den Einflüsterungen
Salviati's und dessen Anhängern. Giovanni's Lebenswandel und
— 1089 —
seine freien Anschauungen, für welche ihm jedes Verständnis
fehlt, sind ihm ein Greuel. Die Feinde Giovanni's, darunter
sein eigener Bruder Paolo, der nur an Weibern und
Pferden Gefallen findet und der verlassenen Francesca den
Gatten zu ersetzen strebt — stellen- den Prinzen nicht nur als
einen Phantasten, sondern als einen halb geisteskranken, sogar
gewaltsam auf Umsturz sinnenden Menschen dar, sodaß der Her-
zog seinen Sohn durch den Anführer der Sicherheitswache, den
wegen einer blutigen Niederwerfung eines früheren Aufstandes
berüchtigten Castoro, im Geheimen überwachen läßt.
Giovanni erfährt durch Gaddi und den Hofnarren, der ihm
gewogen, von den gegen ihn gesponnenen Intriguen.
Da sein eigentümliches Verhältnis zu seiner Frau, welches
allmählich bekannt wird, und seine Freundschaft zu Gaddi Anlaß
zu allerlei Gerüchten geben, versucht Giovanni die Öffentlichkeit
über seine wahren Gefühle zu täuschen, indem er eine Liebschaft
mit einer Jugendfreundin Emilia, die ihrerseits ihn liebt, simuliert.
„Ich möchte nicht, gesteht Giovanni ihr aufrichtig
zu, für einen Sonderling gehalten werden — nicht für
einen Weiberfeind — es ruht nun einmal ein Makel in
unserem Zeitalter auf dem, der das Weib nicht für die
Krone der Schöpfung hält — und sich daher von ihm
abwendet."
Zum Schutz gegen seine Feinde erwächst dem Prinzen eine
sichere Hilfe in der Person des Kastellanes Alberto, der sich
selbst nebst seinen Truppen dem gefährdeten Fürstensohn zur
Verfügung stellt.
Alberto ist Giovanni aufrichtig zugetan, er hat Nachsicht
mit den Eigentümlichkeiten und „Schwächen" des Prinzen.
„Ich hege keine Vorurteile", sagte er, „ich bin selbst
ein viel zu großer Verehrer der Kunst, als daß ich einem
Schönheitsbegeisterten die Bewunderung körperlicher
Formen verübeln sollte — mögen diese nun von einer
Seele durchleuchtet sein, welche es auch sei . . . ich
habe in Rom als Jüngling oft mit dem göttlichen Michel
Angelo geplaudert — ich habe ihm zum Modell gesessen
— und seine wunderbaren Reden haben mich über das,
was die Geistlichen menschliche Schwächen nennen —
o, vielleicht sind's gar keine -Schwächen — aufgeklärt,
aber schweigen wir von dem, was jeder mit sich und
seinem Gott abzumachen hat." (S. 171.)
Seitdem Giovanni sich der Hilfe Alberto's und seiner
Truppen sicher weiß, legt er sich noch weniger Zwang an, er
hält noch weniger zurück mit seinen freien Anschauungen, seinen
— 1090 —
Sarkasmen und Paradoxen. In Kunst und Philosophie schwelgt
er mit seinen Freunden, feierlich läßt er das Hauptwerk Gaddi's,
Zeus mit Ganymed zu seinen Füßen, zum Entsetzen seines Vaters
enthüllen.
Vergeblich ermahnt ihn der alte Fürst: „Denke an
dein Seelenheil, sage dich los von diesen üppigen Tage-
dieben, die dich zu unerhörten Sinnengenüssen verführen,
sage dich los von diesen Bildern, die das Nackte ver-
herrlichen, von jenen Versen, die dem Eros huldigen."
(S. 183.)
Seine Feinde werfen ihm Verschwendungssucht, Gottesläste-
rung, Menschenhaß, Weiberverachtung vor und wollen ihn
geradezu als Geisteskranken hinstellen. Giovanni soll end-
gültig vom Arzt des Herzogs auf seinen Geisteszustand unter-
sucht und dann als Irrsinniger der Freiheit beraubt werden.
Das Benehmen des Prinzen gegenüber dem Arzte und die
Antworten, die er ihm gibt, betrachtet der Arzt als Äuße-
rungen der Geistesgestörtheit. Der Arzt hatte Giovanni vor-
gehalten, er habe so gar nichts Ritterliches, Männliches in
seiner Lebensführung, fast könne man sagen, sein Denken und
Fühlen sei weibisch. Hierauf erklärt ihm Giovanni, „Das, was die
Menschheit von ihrer tierischen Rohheit im Laufe der Jahrhunderte
befreit habe, sei das Weib; die Liebe zum Weib habe den rohen
Urmenschen allmählich zum Kulturmenschen erzogen, ja ihn all-
mählich mit Weiblichkeit angesteckt, das Menschengeschlecht
gehe einer allmählichen Verweiblichung entgegen."
Als der Arzt sich erdreistet, direkt ihn einen Geisteskranken
zu nennen, zieht Giovanni das Schwert gegen ihn. Seit dieser
Zeit läßt ihn der Herzog auf Schritt und Tritt beobachten und
Giovanni weiß, daß er bei der nächsten Gelegenheit seine Ge-
fangennahme und dauernde Einsperrung zu gewärtigen hat. Ins-
besondere drängen hierzu der Herzog, GiovannFs Gattin und sein
Bruder Paolo, sowie Bischof Salviati. Letzterer hat Giovanni
schon angekündigt, daß er wegen Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit
vor das Inquisitionsgericht gestellt werden soll.
Giovanni beschließt nunmehr, seinen Feinden zuvorzu-
kommen. Während eines vom Herzog veranstalteten großen
Staatsfestes, an dem die ganze Hofgesellschaft versammelt sein
wird, wollen Giovanni und der Kastellan Alberto mit den
besten Truppen den Herzog und seinen Anhang überrumpeln
und gefangen nehmen, worauf der Prinz zum Herrscher von
Rimini ausgerufen werden soll. Schon ist Alles bereit und
Alberto's Truppen, die in den Gärten aufgestellt sind, warten nur
auf das Zeichen Giovanni's. Dieser vereitelt aber den Plan, in-
dem er beim Anblick eines unter den Gästen befindlichen Spionen,
— 1091 —
der ihn in der letzten Zeit, beobachtet hatte, von plötzlicher Wut
ergriffen, diesen niedersticht. Alles greift zu den Waffen und
die günstige Gelegenheit, ohne Kampf sich der Feinde Giovanni's
zu bemächtigen, ist verfehlt. Der Herzog und sein Gefolge
ziehen sich zurück, desgleichen Giovanni mit seinen Getreuen.
Alberto und Gaddi bestürmen ihn nunmehr, nicht zu zögern und
den Kampf zu befehlen. Aber noch schreckt Giovanni vor dem
Blutvergießen zurück. Da opfert sich Gaddi selbst auf, um den
Kampf herbeizuführen. In Gaddi, der früher mehr aus Eigennutz
und Eitelkeit dem Prinzen zugetan war, hat allmählich eine tiefere
und edlere Anhänglichkeit sich entwickelt. Allmählich hat bei
ihm auch eine gewisse Verweiblichung Platz gegriffen.
„Er entdeckte in sich eine Art von Hingebung und
Verehrung, die ihm dadurch, daß sie eher einen weib-
lich duldenden, als männlich trotzenden Zug trug, fast
erschreckte, obwohl er wußte, daß diese Bewunderung
eines edel veranlagten Menschen ihn selbst ehrte. Ihm
selbst kam es fast vor, als habe er, der früher leicht-
sinnig — oberflächlich gewesen — sich allmählich in eine
Johannesnatur verwandelt, als sei das Leben wertlos,
als hätten die weltlichen Genüsse keinen Reiz mehr
für ihn.a (S. 200.)
Gaddi bringt sich selbst eine Wunde bei und versetzt
Giovanni in den Glauben, er sei von seinen Feinden angegriffen
worden. Jetzt, da sein geliebter Gaddi tötlich verwundet worden
ist, zaudert der Prinz nicht länger und gibt das Zeichen zum
Handeln. Die ganze Nacht wütet nun der Kampf. Die Partei
des alten Herzogs wird besiegt. Der alte Herzog selber, Fran-
cesca und Paolo fallen, obgleich Giovanni ihren Tod nicht
wollte. Der Sieg hat keinen Wert mehr für Giovanni, da Gaddi
an seiner Wunde erliegt; er hat nicht mehr die Kraft, weiter zu
leben und nimmt Gift. Emilia, seine Jugendfreundin, die ihn
leidenschaftlich liebte, teilt mit ihm den Giftbecher. Das Herzog-
tum von Rimini fällt in die Hände des Papstes, Salviati's Plan ist
gelungen; noch hat der Kampf der beiden Parteien Riminis kaum
ausgetobt, als römische Soldaten einziehen und sich des Herzog-
tums bemächtigen.
Die sinnliche Seite der Homosexualität tritt in dem
Roman völlig zurück, Walloth hat Alles vermieden, was
bei einem heterosexuellen Leser Anstoß erregen könnte.
Die Idealisierung, welche die Liebe Giovanni's erfährt,
hindert aber nicht, daß man den Pulsschlag echter und
heftiger Leidenschaft fühlt. Eine weit wichtigere Rolle
Jahrbuch V.
69
— 1092 —
als die sinnlichen und die Gefühlsraomente spielt die ge-
samte homosexuelle Eigenart des Helden. Man kann den
Verfasser nur loben, daß er sich nicht auf die Schilderung
der geschlechtlichen und sentimentalen Seite der Homo-
sexualität beschränkt hat, sondern die schwierigere Aufgabe,
die Darstellung des gesamten Komplexes der eigentümlichen
Geistesverfassung eines höher gearteten, aber typischen
Uraniers zu lösen versuchte.
In allen Reden und Anschauungen des Prinzen, in
seinen künstlerischen Excursen und philosophischen Be-
trachtungen, überall zeigt sich die homosexuelle Individu-
alität und ein Gemisch männlicher und weiblicher
Charaktere:
Der weiblich bewegliche Geist und der männlich
tiefere Intellekt, das sensitive Gemüt, die feminine Ge-
fühlsbetonung und die zersetzende Ironie, die aphoristisch-
sprunghafte Denkungsart, die lebhafte Phantasie, die
künstlerische Begabung, das effektvoll-rhetorische Pathos
und der hohe Flug der Gedanken, der Mut und die
Kühnheit zu großen Plänen und die Unentschlossenheit
im entscheidenden Augenblick, die Schwäche und Zag-
haftigkeit, wenn es zu handeln gilt.
Und dann finden sich vor allem die Züge, von
denen man nicht sagen kann, welche von ihnen instinktiv
aus der homosexuellen Natur hervorwuchsen und welche
zwar aus dem Boden der uranischen Veranlagung ent-
springend, doch zum großen Teil den vielfachen Konflikten,
denen die Homosexualität ausgesetzt ist, ihre Entfaltung
verdanken : Die pessimistische Weltanschauung, welche
aus dem Schmerz und der Empörung über die Mißdeutung
und Verachtung der angeborenen und als berechtigt em-
pfundenen Gefühle fließt; die Menschen Verachtung, her-
vorgewachsen aus der Tragik ungerechter Beurteilung
und törichter Verdammung, der weltfeindliche Skepticis-
— 1093 —
s*
mus, eine Frucht des unverschuldeten Leidens, das sich
und die Welt mit Galgenhumor persifliert.
In mancher Beziehung erinnert Giovanni an Hamlet
Wie dieser durch die Last eines furchtbaren Ereig-
nisses aus seinem seelischen Gleichgewicht gebracht, zu
grüblerischer Weltbetrachtung und zu tieferem Erfassen
aller Dinge gelangt, so wird Giovanni durch das Ver-
hängnis seiner Naturanlage in seinem Innersten aufgerüttelt,
unter dem Einfluß seiner verkannten Eigenart und
der Feindschaft, der er überall begegnet, zu Sarkasmus
und Pessimismus gedrängt, so bildet sich aber auch
bei ihm die Fähigkeit aus, allen Dingen den tieferen Sinn
abzugewinnen, die Mängel und Fehler, die Schattenseiten
bloß zu legen und schonungslos zu geißeln. Rächt er
sich doch gleichsam für den Haß seiuer Feinde und die
Verfehmung seiner Eigenart durch die Zersetzung und
Zerstörung aller Vorurteile, durch rücksichtslose Verfol-
gung von Unverstand und Heuchelei.
So ist Giovanni zugleich ein Vorkämpfer freiheitlicher
Ideen, fortgeschrittener Weltanschauung, wie denn über-
haupt ein zweiter Hauptgrundzug dieses homosexuellen
Romans in dem Kampf gegen Intoleranz, Engherzigkeit
und religiösen Fanatismus, in dem Sichauflehnen eines
kühnen Geistes gegen ein reaktionäres, in mittelalterlichen
Vorurteilen befangenes Milieu zu suchen ist.
Der Roman will des Weiteren noch etwas Anderes
sein, nämlich ein Zeitgemälde der Renaissance; in der
Schilderung mancher Personen und in zahlreichen äußeren
Einzelheiten ist das Colorit der Zeit gut getroffen. Doch
habe ich das Gefühl eines gewissen Anachronismus em-
pfangen, insofern die bigotte, kleinbürgerliche Atmosphäre,
in der Giovanni's Feinde und Verwandte leben, insofern
ihr ausgesprochener Haß gegen jede Geistesfreiheit nicht
völlig zu jener gewaltigen Epoche zu passen scheint, wo
Kunst und Wissenschaft neu aufblühten, wo Lebensgenuß
69*
L
— 1094 —
und Sinnesfreude ungehemmt sich entfalteten, und selbst
ein großer Teil der Geistlichkeit auch über die geschlecht-
lichen Triebe milder dachte, zu jener Zeit, von welcher
noch jetzt Bauten und Gemälde Zeugnis der herrschenden
Pracht- und Prunkliebe ablegen.
Die Handlung ist fesselnd und interessant, sie
zeigt am Beginn dramatische Intensität und am Schluß
wirkungsvolle Tragik, dagegen ist in der Mitte des Romans
der Aufbau nicht einwandsfrei.
Der Charakter des Helden wird in verschiedenen
Episoden und zahlreichen Gesprächen breitgelegt, ohne
daß die etwas zerfließende Handlung fortschreitet.
Manchmal sind die Motive, welche die Personen
leiten, etwas unklar, den Haß und die Feindschaft der
Umgebung Giovannis müssen wir mehr dem Verfasser
aufs Wort glauben, als daß sie eingehender begreiflich
gemacht würden.
Oft gewinnt man den Eindruck, als habe Walloth
über der eingehenden Schilderung des Helden den
Zusammenhang mit dem Ganzen außer Acht gelassen
und vergessen, den Faden der Handlung straffer zu ziehen.
Das Zerfließen der Handlung paßt andererseits gerade zu
der Disharmonie des Helden selbst, vermehrt noch mehr
die Empfindung des Zerklüfteten und Zerrissenseins, das den
Helden selbst erfüllt. Das schöne Ebenmaß, dem man
in Walloth's „Paris, der Mime* begegnet, fehlt im
„Sonderling"; was aber letzterer Roman an Glätte und
Formvollendung verliert, gewinnt er an größerer Charakte-
ristik, Gedankentiefe und temperamentvoller Darstellung.
Walloth hat sich derart in seinen Helden hinein-
gelebt, daß er in manchen Stellen, in den Ausfällen, die
er seinem Giovanni in den Mund legt, die ästhetische
Grenze überschreitet, daß er sich von seinem Temperament
zu weit fortreißen läßt und auch in gewissen Ausdrücken
und Wendungen einen verfeinerten Geschmack verletzt.
4
4
1095 —
Der Sonderling ist ein ernstdurchdachtes, mit Über-
zeugung und Kraft geschriebenes Werk, das auch besonders
heterosexuelle Leser wegen des eigenartigen homosexuellen
Helden mit Nutzen und Interesse lesen werden.
Übersetzungen von Eekhoud's Escal-Vigor und
Petronius' Satyricon.
Eekhoud, Georges: Escal-Vigor. Deutsch von
Meienreis, ßichard Dr. (Verlag Spohr 1902.)
In dem Jahrbuche II S. 275 habe ich ausführlich
die Bedeutung dieses schönen Romans hervorgehoben und
eine Charakteristik desselben gegeben.
Auch in der recht guten deutschen Übersetzung von
Meienreis kann man die Vorzüge des Werkes vollauf
würdigen. Wenn auch, wie fast unvermeidlich, die Ur-
sprünglichkeit, die Farbe und das Colorit des Original*
in der Übersetzung etwas Einbuße erleiden, so hat doch
Meienreis die sehr großen Schwierigkeiten in der Wieder-
gabe des eigenartigen Stiles und der individuellen Aus-
drucksweise Eekhoud's im Allgemeinen sehr glücklich über-
wunden und im großen und ganzen den urwüchsigen
vlämischen Erdgeruch nicht verwischt. Manches ist
ihm trefflich gelungen, stellenweise hat er überraschend
glückliche, dem Original adäquate Wendungen und Worte
gebildet. Besonders gut geraten ist die wilde packend*1
Schlußszene, sowie die in schwungvolle Sprache über-
tragene Erzählung des feurigen Hirten, in welcher der
Held seinem Geliebten das Bekenntnis seiner Leiden-
schaft ablegt.
Manchmal hätte ich etwas weniger Auflösung des
Satzes in Nebensätzchen, mehr die das Original aus-
zeichnende Präzision und Concision gewünscht, auch
wäre besser ein allzuöfterer Gebrauch von trockc-
Zeitwörtern wie -sein, vorhanden
nen
sein"
ver-
mieden worden. Allerdings nur stellenweise — leider
gerade auf den ersten Seiten — fallen diese kleinen
— 1096 —
Mängel auf. An dem Gesamteindruck ändern sie wenig.
Dem glücklichen Übersetzer, der auch Möller's „Nina"
dem Deutschen zugänglich gemacht, darf man Dank zollen
für die Art und Weise, wie er die nicht leichte Aufgabe
gelöst hat, um dem deutschen Publikum die Kenntnis
des belgischen Meisterwerkes zu vermitteln.
Tailhade, Laurent: Le Satyricon de Patrone,
traduction, (Paris, Charpentier, 1902).
Der berühmte älteste Roman, in welchem ein Sitten-
bild des Tiberius und besonders auch die mit einer
Selbstverständlichkeit und Kühnheit sondergleichen ge-
schilderten homosexuellen Liebesabenteuer in packendster
Realistik entrollt werden, hat in Tailhade's Übersetzung
eine unverfälschte vollständige wörtliche Übertragung
ins Französische gefunden. Ich habe den lateinischen
Text nicht zur Hand; glaube aber annehmen zu dürfen,
daß Tailhade Ton, Stil, und Sprache der zahlreichen
Typen des Romans völlig richtig getroffen hat. Denn
alle eigenartigen und charakteristischen Eigenschaften
des Stils und der Sprechweise, die dem Original nach-
gerühmt werden, (z. B. in Huysmans' „A Rebours" s.
40 — 42) finden sich jedenfalls in der Übersetzung. Sie
scheint mir eine bedeutende Leistung.
Über seine Übersetzung sagt Tailhade in der Ein-
leitung unter Anderem:
„Da wo Petronius Kerle sprechen läßt, die aus der
Hefe des Volks, des Zuhältertums und des Stellionats
zu Reichtum und zugleich zu den „guten Prinzipien"
gelangt sind, da wo er reich gewordene Lustknaben in
Scene setzt .... habe ich für gut gehalten, reich-
liche Anleihen bei dem modernen Rotwelsch zu machen,
das allein Äquivalente für die charakteristische Unter-
haltung dieser Burschen enthält.
Ich habe auch nicht versucht, die mißlichen Stellen
abzuschwächen und zu modernisieren oder die Un-
züchtigkeit mit einem Pflästerchen zu bedecken. Die
Heiterkeit und Ruhe in der Schamlosigkeit ist ein
1097 —
Zeichen der antiken Kunst, sie glänzt bei Petronius
wie in den obscönen Statuen und Farben des Museums
zu Pompei .... Ich habe mich bemüht, den „Skan-
dal" des Textes in seiner ganzen Reinheit zu bewahren/-
Zum Schluß will ich den Roman von
Hoflfmann, V, Das vierte Geschlecht. Roman. (Barmen
Wiemann 1902.)
anführen, weil man, nach dem Titel zu urteilen, geneigt
sein könnte, Homosexuelles in ihm zu suchen. Tatsächlich
enthält er nichts dergleichen.
Unter dem „vierten Geschlecht* will der Verfasser
analog dem von Wolzogen aufgestellten, auf gewiss e
Arten (nicht homosexueller) Frauen bezogenen „dritten
Geschlecht* die Sorte von Mann verstanden haben,
„der die Frau nicht achtet, seine Kraft, Zeit und Aus-
dauer lieber verpraßt und sich im gewissen Sinne damit
groß tut" (S. 7).
Als Vertreter dieses „vierten Geschlechts" schildert
Hoflmann unter andern die beiden Weiberfeinde Wiede-
mann und Nöhring.
Auf den ersten Blick sollte man glauben, daß beide
homosexuell gedacht seien. Wiedemann, der mit Nöh-
ring zusammenlebt, strickt und stopft Strümpfe, kocht,
bratet und bäckt.
Nöhring entwirft Zeichnungen für kunstvolle Sticke-
reien und beide können nicht genug ihrem WeiberhaÜ
Ausdruck geben. Trotzdem sind sie nicht homosexuell,
denn als eines Tages ein Dienstmädchen des Hauses sich
in das Bett von Wiedemann geschlichen, läßt Wiedemann
die Gelegenheit zum Besitz des Mädchens nicht vorüber
gehen und behält sie als Dienstmädchen bei sich, während
auch Nöhring ihre Gunst nicht verschmäht.
Der Roman ist ein seichtes Machwerk, in welchem
namentlich der stellenweise geradezu ordinäre Ton und
der vulgäre Stil abstößt. Von einer irgendwelchen
— 1098 —
tieferen oder geistreichen Schilderung des vom Verfasser
benannten sogn. vierten Geschlechts kann keine Rede sein.
Der Titel ebenso wie die Decke mit der karikatur-
haften Zeichnung sind nur Mittel um sensationslüsterne
Leser anzulocken.
IL Weibliche Homosexualität.
Duo, Aimöe: Sind es Frauen? Roman über das
dritte Geschlecht. (Berlin W 57. Eckstein Nachf.
Verlag). (Ecksteins Moderne Bibliothek 50 Pfg.)
In Genf hat sich eine Anzahl homosexueller Frauen, haupt-
sächlich Studentinnen zusammengefunden. Im Hause der Stu-
dentin Minotschka Fernandoff, die ihre Freundinnen abends um
sich versammelt, lernen wir den ganzen Kreis kennen: unter
anderem Gräfin Marta Kinzey, das Verhältnis der Gastgeberin, eine
polnische Musikstudentin, die als Millionärstochter nur zu ihrem
Vergnügen studierte, und die lediglich wegen Minotschka nach
Genf gekommen war. Ferner Frau Annie, eine hübsche 30jährige
Frau, welche schon nach sechsmonatlicher Ehe gütlich von ihrem
Manne sich getrennt hatte.
Die Gastgeberin Minotschka Fernandoff hatte als zwanzig-
jährige Studentin
„ihren Leibburschen, einen jungen Juristen, gehei-
ratet, um sich nach 3 Jahren scheiden zu lassen. Sie
hatte ihren Zustand vor der Ehe nicht erkannt, und die
Ehe selbst mit dem sie über alles liebenden Mann ward
ihr ein Greuel. Als sie nach drei Jahren frei geworden,
lebte sie wieder auf, heute galt ihr jene Schreckens-
zeit, ihre sonst so glückliche Ehe, als eine verlorene
Lebenszeit." (S. 13.)
Bei Bier, Kognak und Cigaretten wird über Ehe, Medizin
und die homexuelie Frau lebhaft debattiert.
Bertha Cohn, die Pragerin, erzählt von „der Fritz, die sich
verlobt und sogar ihren Bräutigam liebt."
„Nun ja", erwidert Dr. Tatjana, die Ärztin, „so ist
sie eben ein normales Wesen und hat sich geirrt bis
dahin. Das ist doch nichts Besonderes ! Frau Annie,
Sie, liebe Minotschka und ich — wir haben uns auch
seiner Zeit geirrt, wenn auch im entgegengesetzten Sinn.
Sie beide heirateten erst, und ich, ich hatte einen Geliebten
— und dann mußten wir alle erfahren, daß wir für den
Mann keinen Sinn haben und zum dritten Geschlecht
gehören. Bei der Fritz war's umgekehrt!" (S. 13.)
— 1099 —
Die Unterredung erstreckt sich weiter auf die Medizin als
Beruf der Frau. Minotschka ist von der Medizin zur Philosophie,
Literatur und Kunstgeschiche übergegangen.
„Nicht die Medizin ist schuld daran," sagt sie,
„daß ich im Studium umsattelte, sondern der heutige
Stand unserer Wissenschaft, die Unterdrückung un-
angenehmer Enthüllungen !
Sind die Ärzte nicht unsere ärgsten Feinde, weil
sie die Wahrheit nicht im Lichte der Wissenschaft ent-
hüllen? Könnten sie nicht durch die wahren, wissen-
schaftlichen Tatsachen die Frauenfraße in andere Bahnen
lenken, die keine Frauenfrage, sondern eine Frage des
dritten Geschlechts ist?"
Minotschka verlangt dann, daß eine ihrer homosexuellen
Freundinnen den Mut haben sollte, in einer Doktordissertation
den Beweis der Existenz des dritten Geschlechts positiv zu
erbringen.
Auch Gräfin Kinzey meint:
„Gewiß, wir müssen versuchen, uns in der Öffent-
lichkeit durchzuringen, anerkannt und nicht übersehen
zu werden! Der größte Teil des Volkes und der Ge-
bildeten hat keine Ahnung von unserer Existenz, von
unseren Bedürfnissen, unserem Menschenrecht. Und
doch tragen wir an dem allen selbst die Schuld! Wir
treten nicht genug für uns ein, wir verfechten nicht
unsere Thesen, wir geben uns nicht frei zu erkennen
als Menschen, die weder Mann noch Weib sind.
Wir müssen zu jeder Zeit eintreten für unser Selbst,
wir müssen uns immer und immer wieder behaupten
und nicht zurückdrängen lassen als Kranke oder auf
eine künstliche Pose stellen lassen, als gnädigst aner-
kannte, besonders begabte Frauen, sondern wir müssen
zeigen, daß wir Vertreter einer Mischung, eine Menschen-
spezies sind, die ein Recht auf Berücksichtigung hat,
zeigt sie sich doch ausnahmslos als Intelligenz-Elite.
Wir können unser Selbst aber nur erfolgreich wahren,
wenn wir uns unerschrocken außerhalb des Kreises
echter Weiber und Männer stellen, wenn wir nicht
heuchlerisch unter falscher Etikette auf dem Lebensmarkt
herumlaufen. Schlimm genug, daß man uns zwingt,
Komödie zu spielen und als Weib auftreten zu müssen,
allem ausgesetzt, was das Weib zu erwarten hat, ein-
rangiert zu werden in die Warenmusterkarte für
Männer!" (S. 20-21).
— 1100 —
Und Minotschka antwortet:
„Es ist Pflicht, heilige Pflicht einer jeden von uns,
die mit Überzeugung zum dritten Geschlecht gehören,
unentschlossene, schwankende Gefährtinnen, deren Zu-
stand wir mit kundigem Auge und dem Gefühl der
Zusammengehörigkeit leicht erkennen, die aber nichts
von Liebe und Leben wissen, vor der Ehe zu warnen,
sie zurückzuhalten, sich und ihren Mann unglücklich
zu machen0 etc. (S. 21).
So vergehen Stunden in anregenden Gesprächen.
Einige Tage später findet sich der Kreis der homosexuellen
Frauen bei einem Glase Bier auf einer Konzertterrasse zu-
sammen.
Zwei fremde Herren, Deutsche, die am gleichen Tisch Platz
genommen, ergehen sich über die angeblichen Schattenseiten,
die das Studium der Medizin für die Frau nach sich zöge. Das
Weib müsse alle weiblichen Reize verlieren, und dann, meint der
eine, sei wohl die studierte Frau zur Ehe untauglich, denn sie
werde ihr Studierzimmer über ihren Haushalt stellen !
„Sicherlich"' erwidert Minotschka, „darum heiraten
wir auch nicht! Ich bin vollständig Ihrer Ansicht,
daß die zartbesaitete, hingebende, weibliche Frau nie-
mals eine Ärztin werden kann oder sonst Bedeutendes
im öffentlichen Leben leisten wird. Diese Frauen
gehören ins Haus, und werden sich im Hause auch stets
am wohlsten fühlen. Bitte, verwechseln Sie uns nicht
mit diesen sehr schätzenswerten Frauen, wir bilden
eine andere Kategorie." (S. 51).
Und auf den Einwand des anderen Herrn: Die Frau fände
dort immer in anderer Weise Betätigung ihrer Kraft, z. B. in der
Diakonie, sagt sie:
„Sie vergessen noch eines, zwei Berufe stehen
der Frau jederzeit offen: die Diakonie und — die
Prostitution. Der eine, der nur Aufgaben des Ichs,
Duldung und Unterdrückung der Individualität auf dem
Leidensweg des Glaubens bietet, und der zweite, der
den Frauen durch Preisgebung ihres körperlichen Seins
ein uraltes Gewerbe sichert, das man ihnen unbean-
standet überläßt Das ist so ziemlich
das Alpha und Omega des Lebens! Und als Mittel-
ding rangiert die Ehe ein." (S. 52).
Die Geliebte von Minotschka, Gräfin Kinzey, muß sich auf
eine Zeit lang von der Freundin trennen, infolge des Todes ihres
Vaters ist sie genötigt, nach Warschau zu reisen, aber sie ver-
— 1101 —
spricht, im nächsten Semester wieder zu Minotschka zurück-
zukehren.
Diese begibt sich nach Beendigung des Semesters nach
München in Begleitung der Schauspielerin Pierette, welche die
Bühne verläßt und durch Stundengeben ihr Brot verdienen will.
Pierette ist in Minotschka verliebt, findet aber keine Erwi-
derung ihrer Leidenschaft; die große gewaltige Liebe zu Marta
Kinzey erfüllt noch ganz Minotschka, zu einer Liebelei hat sie
weder Zeit noch Lust. Die Abwesenheit der Gräfin dauert an,
ihre Briefe werden immer seltener und kühler, eines Tages
kündigt sie ihre Verlobung mit einem Offizier an. Verzweiflung
Minotschka's. Zwei Jahre vergehen. Der Kreis der einstigen
Studentinnen ist in alle Himmelsrichtungen zersprengt. Von der
Gräfin hat Minotschka seit längerem nichts mehr gehört.
Der wunde Punkt in ihrer Liebe schmerzt noch immer.
Das Leben erscheint ihr zwecklos. Sie will Europa verlassen
und in Sidney eine internationale Fortbildungsschule übernehmen,
um dann dort ihr Leben zu beschließen.
Vor ihrer Abreise will sie noch ihren Geburtsort Paris
wiedersehen.
In Paris besucht sie auch den P&re Lachaise: in Gedanken
an ihre einstige Geliebte und die Zeit der ersten Liebestage ver-
sunken, wandelt sie zwischen den Gräbern. Ein eigentümliches
Schicksal fügte, daß sie auf dem Kirchhofe die Gräfin wiederfindet.
Sie ist in Trauerkleidung, ihr Mann ist vor 6 Monaten in Davos ge-
storben. Die Gräfin fleht um Verzeihung, sie habe die Hoffnung
nicht aufgegeben, die Freundin wiederzufinden, ihrem Gatten sei
sie doch nur Freundin gewesen.
„Er wußte alles und trotzdem wollte er mich nach
außen hin zum Weibe, wollte er in Kameradschaft
mein Gefährte sein ! O, Minotschka, und wie habe ich
trotz seiner Liebe und Güte gelitten, wie fürchterlich
rächte mich das Schicksal — an Dir, wenn Du willst!
Nein, Frauen unserer Art dürfen nicht heiraten,
auch nicht in Freundschaft, das ist gegen
jede Natur! Solch eine Ehe ist ein armes, namen-
loses Verhältnis, eine Fessel, ein Vergewaltigung, ein
Frevel, im leichtesten Falle eine entsetzliche Last!"
(S. 93-94.)
Minotschka verzeiht.
„Und dann gingen sie Arm in Arm der Stadt zu,
hinaus in die Seligkeit des Frühlings und ihres Lebens!
Das Interesse der Erzählung konzentriert sich auf
die Betrachtungen über die homosexuelle Frau, die Ehe
— 1102 —
und die Frauenemanzipation überhaupt, sowie auf die
Denkungsart der homosexuellen Frauen. Den Kernpunkt
dieser Auslassungen, wonach die Individualität jeder Frau
zu entwickeln, ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse zu be-
rücksichtigen seien und nur die nach ihrem Charakter
und ihren Neigungen dazu geeignete Frauen die
Ehe eingehen sollten, kann man nur billigen. Mit Recht
legt der Verfasser seine Betrachtungen über Frauen-
emanzipation gerade in den Mund der homosexuellen
Frauen, da diese zweifellos schon ihrer Natur und ihrer
männlicheren Eigenart entsprechend die typischsten Ver-
treterinnen der Frauenrechte sein werden.
An der Erzählung ist wenig Stoffliches ; die Motive
und Handlungen sind nirgends durchgeführt, das Ganze
bildet mehr eine Skizze. Der erste Teil wird durch die
interessanten philosophischen und sozial -ethischen Ge-
spräche fast ausschließlich ausgefüllt, während dann der
zweite Teil die etwas mageren Episoden der Auflösung des
Liebesverhältnisses zwischen Minotschka und der Gräfin,
sowie die Schilderung der durch diesen Bruch in Minotschka's
Seele hervorgerufenen Gefühle der Verzweiflung, der
Öde und Wehmut enthält.
Faure, Gabriel: La derniere journ^e de Sappho:
roman. (Paris: Soci£t£ du Mercure de France 1901).
Dem Roman geht eine Einleitung voran, welche einige all-
gemeine Bemerkungen über den weibweiblichen Geschlechts-
verkehr enthält:
Hinsichtlich dieses Verkehrs herrschten zahlreiche Irrtümer;
zum Teil sei die Literatur daran Schuld, die nicht genügend
zwischen Laster und Krankheit unterscheide. Man müsse zunächst
die Kranken ausscheiden, alle diejenigen, die infolge von Erblich-
keit, geistiger Gebrechen oder physischer Anomalie eher zum
männlichen Geschlecht gehörten. Diese seien zu bedauern, ihr
Leben sei verfehlt, es sei ebenso ungerecht, sie auszulachen, wie
einen Blinden oder Buckligen. Für die Lasterhaften sollte man
den Namen Lesbierin oder ähnliche beleidigende Ausdrücke vor-
behalten. Aber auch unter diesen seien nicht alle gleich ver-
dammenswert. Die, welche aus Gewinnsucht sich leiten ließen,
— 1103 —
seien es kaum mehr, als die, welche sich um Geld einem be-
liebigen Manne hingäben. Die, welche aus Bedürfnis handelten,
Gefangene, Nonnen, Mädchen, zu alt und zu häßlich, um einen
Geliebten zu verführen, seien fast ebenso sehr zu bedauern, als
zu tadeln. Die wahren Schuldigen seien diejenigen, welche aus
Perversität dem Lesbismus sich zuwendeten, diese allein verdienten
Abscheu und Verdammungsurteil. Glücklicherweise sei diese
Kategorie nicht häufig, meist beschränke sich ihr Laster auf be-
friedigte Neugierde.
Abgesehen von den Hysterischen und Krankhaften ziehe
jedes echte Weib die männliche Umarmung den läppischen Zärt-
lichkeiten der Frau vor.
Der weibweibliche Verkehr hinterlasse stets Enttäuschung
und Unbefriedigtsein, er biete nur einen erotischen Betrug sonder-
gleichen.
Man könnte nach dem, was gesagt und gedruckt werde,
zu urteilen glauben, daß heute der Sapphismus viele Anhänge-
rinnen zähle. Dies sei ein Irrtum. Der Mann beliebe stets die
Frau zu beschmutzen, und die Frauen verleumdeten sich stets
untereinander. Nichts sei leichter, als den zärtlichen, etwas
demonstrativen Freundschaften lasterhafte Motive unterzuschieben,
besonders gefährlich in dieser Beziehung seien die Lesbierinnen,
welche überall ihre eigene Verderbnis vermuteten und die un-
schuldigsten Frauen nach sich beurteilten.
Sappho selbst sei keine Kranke gewesen, sie habe auch
Männer geliebt und sei für einen Mann, Phaon, gestorben. Sie
dürfte vielmehr den Typus der lasterhaften Frau darstellen, und
doch sei sie nicht mit den modernen Lasterhaften zu verwechseln.
Abgesehen vom Klima und den besonderen in Lesbos üblichen
Gebräuchen habe Sappho Entschuldigungsgründe, die ihren Nach-
ahmerinnen nicht zur Seite ständen. Damals habe das Scham-
gefühl, wie wir es heute kennen, nicht existiert. Sappho und
ihre Freundinnen hätten ihr Laster offen gezeigt. Bei ihrem Tod
habe ganz Griechenland getrauert. Überhaupt sei diese antike
Liebe zum gleichen Geschlecht oft nur eine Art des universellen
Schönheitskultus gewesen. Aber trotz Allem verletze man nicht
ungestraft die Natur, und Sappho habe durch ihre eigenen Fehler
gelitten. Vielleicht könne man in dieser Beziehung ihm, dem
Verfasser, vorwerfen, eine allzumoderne, allzu reumütige, allzu
christliche Sappho geschildert zu haben. Dies kompensiere aber
dann andererseits die Beschuldigungen der Immoralität, welche
einige naive Leute vielleicht erheben würden.
Verfasserschließt dann seine Einleitung mit folgenden Worten,
welche den Schlüssel und Grundton seines Romans abgeben:
— 1104 —
„Keine hat mehr wie Sappho das Glück erstrebt,
sie stßrb, ohne das Höchste gekannt zu haben. Keine
hat mehr wie sie von jeder Wollust gekostet, sie starb
ohne das Höchste gekannt zu haben. Keine hat mehr
wie sie die Liebe verspottet, welche ein Liebespaar
durch alle Fasern ihres Wesens vereinte. ... Sie starb
für diese Liebe, diese Liebe, alt wie die Welt, ewig
wie sie, einzige Quelle des wahren Glücks und
der höchsten Wollust."
Der Roman: Sappho verzehrt sich in Liebesleidenschaft
zu Phaon, der aber ihren Verlockungen widerstanden hat.
Nachdem Sappho alle ihre Gelüste und Begierden befriedigt,
Mann und Frau, Jungfrau und Jüngling in ihren Armen gehalten,
ist sie zum erstenmal von echter Liebe ergriffen. Beim Fest der
Aphrodite hofft sie durch ihre Erscheinung und ihr Dichtertalent
Phaon zu gewinnen. Vor versammeltem Volk tritt sie auf, strahlend
in äußerer Pracht und Schönheit, und trägt ihre letzte Dichtung,
einen Hymnus an die Göttin vor. Aber mitten im Gesang hält
sie inne, sie hat Phaon, den sie zu besiegen hoffte, in der Menge
erblickt, gleichgültig gegen ihren Gesang und ihre Schönheit,
glückstrahlend an der Seite seiner Verlobten.
Verwirrt und bestürzt flieht sie in ihre Gemächer, wo sie
sich ihrem wilden Schmerz überläßt. Dort wird sie von einer
ihrer früheren Geliebten, Rhodope, aufgesucht, die einst von
Sappho verführt wurde. Was bei Sappho nur ein Abenteuer
unter vielen war, bedeutete für Rhodope eine dauernde Leiden-
schaft. Sappho hatte sie fortgeschickt, jetzt kehrt Rhodope zu-
rück, wähnend, der Augenblick sei günstig, um ihre Herrin wieder
zu erobern. Vergeblich sucht sie die früheren Zeiten in das
Gedächtnis der Dichterin zurückzurufen, vergeblich entrollt sie
ihre gemeinsame Liebesgeschichte: Wie sie sich beim Bruder
der Sappho, dessen Geliebte Rhodope gewesen, in Eresos
kennen gelernt, wie Sappho durch ihre Zärtlichkeiten und Schön-
heit sich einzuschmeicheln wußte, wie Sappho sie dann entführt
und beide von Eresos nach Mitylene gewandert, die Freuden der
Reise teilend, die Gefahren und Abenteuer gemeinsam bestehend,
wie dann angesichts von Mitylene zum erstenmale Sappho in
Liebe sie umfangen und ein noch nie empfundenes Glück
ihr bescheert. Umsonst fleht Rhodope in glühenden Worten
um Liebe, umsonst sucht sie durch Schilderung ihrer
früheren Wonnen Sappho's Leidenschaft wieder zu entfachen.
Sappho hat alles vergessen und bleibt stumm gegenüber ihrem
Schmerz. Sie glaubt kaum Rhodope jemals geliebt zu haben,
ein Spielzeug war sie nur, wie alle andern. Als Rhodope halb-
entblößt sich ihr zu Füßen wirft, jagt Sappho, von einem Gefühl
des Ekels ergriffen, das Mädchen fort.
— 1105 —
Kaum hat sich Rhodope entfernt, als Phaon Sappho besucht.
Er kommt sie zu trösten und ihren Schmerz durch besänftigende
Worte zu lindern. Aber Sappho will Liebe, doch diesem Manne
gegenüber ist sie machtlos. Ihr Flehen ist vergeblich. Wenn er
ihre Liebe verschmähe, möge er sie wenigstens als Werkzeug
der Wollust, als Dirne benutzen. Alle Wollust und sinnlichen
Reize, die Sappho Phaon bietet, locken ihn nicht, er sehnt sich
nur nach einer Liebe, der Liebe seiner Verlobten. Er verläßt die
verzweifelte Sappho, um nie wiederzukehren.
In wilder Fieberphantasie ziehen noch einmal vor den Augen
Sappho's alle ihre Opfer, alle ihre männlichen und weiblichen
Geliebten vorüber, im Traume treten sie an Sappho heran in
unnennbaren Umarmungen und wollüstigen Verkettungen mit-
einander sich vermengend. Im letzten Kapitel eilt Sappho von
Verzweiflung und ungestillter Sehnsucht nach Phaon übermannt,
auf den das Meer überragenden Felsen, von welchem sie sich
in die Fluten herab stürzt.
Das wirkliche Schicksal der geschichtlichen Sappho
ist wohl kaum mit Sicherheit festzustellen und der Tod
der Dichterin für Phaon, den Faure in seiner Einleitung
als geschichtliche Wahrheit hinstellt, ist gerade in den
letzten Jahren von wissenschaftlicher Seite in das Reich
der Mythe verwiesen worden.
Wie dem auch sein mag, jedenfalls wird Sappho
stets als der Typus einer homosexuellen Frau gelten,
deshalb ist es wohl zunächst als seltsam zu erachten,
daß Sappho, deren Namen einer der charakteristischsten
Bezeichnungen für den homosexuellen weiblichen Verkehr
abgegeben hat, als heterosexuelle Heldin geschildert wird.
Als ein Fehler muß es sodann betrachtet werden,
daß Faure, wie er es in seiner Einleitung selbst bemerkt,
die griechische Sappho allzu ver christlicht hat in ihrer
Reue und ihrem nachträglichen Abscheu vor dem homo-
sexuellen Verkehr, und dadurch die Wahrscheinlichkeit
des Charakters seiner Heldin getrübt hat. Noch weniger
glücklich erscheint der Versuch, das Axiom, daß das
höchste Glück in der wahren Liebe, nicht in der Jagd
nach der Wollust zu finden sei, in der Geschichte
— 1106 —
Sappho's symbolisieren zu wollen und ihre heterosexuelle
Leidenschaft in Gegensatz zu ihren früheren Regungen
zu stellen. Dabei hat Faure gerade die Leidenschaft
Sappho's zu Phaon in solchen glühenden Farben zum
Ausdruck gebracht, daß man wenig von einer idealen
und edlen Liebe spürt. Besonders in der Szene, wo die
liebestolle Sappho Phaon um Gegenliebe anfleht und
schließlich zu jeder Wollust sich ihm anbietet, tritt
Sappho's Leidenschaft in brünstiger und sinnlicher
Weise zu Tage. Umgekehrt finden sich feinere, idealere
Züge in der Schilderung des homosexuellen Verhält-
nisses mit Rhodope. Die Erzählung der letzteren von
ihrem früheren Liebesbund hinterläßt einen unleugbaren
poetischen Eindruck, ihre Gefühle erscheinen zarter,
inniger als Sappho's heftige heterosexuelle Liebesglut.
Der Roman enthält keinerlei psychologische Dar-
stellung der Leidenschaft Sappho's, keinen Einblick in
die Entwicklung der Gefühle, das Problem der Homo-
sexualität ist an und für sich von keiner Seite ergründet.
Trotzdem handelt es sich nicht um ein Marktprodukt
für das große Publikum, sondern um ein Werk für ver-
wöhntere Leser; der lyrische Erguß, die glänzende
Sprache, der poetische Rythmus des ciselierten Stiles
drücken ihm ein künstlerisches Gepräge auf, das aber
mehr den Charakter gesuchten Raffinements und über-
künstelter Berechnung als echte Empfindung verrät.
JanitSChek, Maria: Neue Erziehung und alte
Moral aus der Novellensammlung Die neue Eva.
(Leipzig, Hermann Seemann Nachfolger) S. 109 — 150.
Seffi ist seit ihrem achten Jahre nach dem Tode ihrer Eltern
bei dem Ökonom Steffert gemeinsam mit dessen sieben Söhnen
erzogen worden.
Wie ein Junge ist sie aufgewachsen, wie ein Bube von Frau
Steffert behandelt worden.
Als sie zum Mädchen heranreift, muß sie, die bisher mit
den jüngsten Adoptivbrüdern in einem Zimmer geschlafen, in der
— 1107 —
oberen Kammer übernachten. Jetzt erst gewinnt sie Interesse und
Bedeutung bei den Buben. Sie besuchen sie Abends, der eine,
ein junger Leutnant, küßt sie und drückt ihr die Brüste; von der
Mutter ertappt, muß Seffi dafür büßen.
Bald kommt ein anderer der Brüder, Alfred, zu ihr; mit ihm
liest sie Stunden lang verbotene Bücher, Casanova, Boccacio, die
ihre Einbildungskraft und Sinnlichkeit entflammen. Alfred erzählt
ihr auch seinen ersten Geschlechtsverkehr mit einem Weib. Den
älteren Fritz forscht Seffi aus, er ist erfahrener als Alfred und
kennt schon besser das Weib, er erzählt ihr die tollsten, un-
flätigsten Dinge.
Eines Abends, als sie wieder mit einander flüsterten, kommt
Ruprecht, der ältere Bruder, hinzu. Er jagt Fritz fort und warnt
sie vor den Brüdern. Er selbst gesteht ihr seine Liebe. Als sie
aber von plötzlicher, wilder Sinnlichkeit gepackt, zur Hingabe
ihres Körpers bereit ist, bemeistert sich Ruprecht, denn er kann
sie „noch lange nicht heiraten, und sie wird vielleicht ein Kind
bekommen — .a
„In der Folge belauerten die Brüder sich gegen-
seitig und alle naschten an ihr herum, was sie leicht
naschen konnten. Sie mit ihrer Jugendfülle und strotzen-
den Gesundheit, litt wie ein geknebeltes Tier unter
diesen brennenden aufstachelnden Liebkosungen. Sie
wälzte sich schlaflos in ihrem Bett und verwünschte ihr
Magdtum. Das „Kind" war für sie das drohende Ge-
spenst". (S. 142).
Frau Steffert, der Seffis Verstörtheit auffällt und die allerlei
Mutmaßungen anstellt, schildert ihr in grellen Farben die Schmach,
die ein Mädchen auf sich lädt, wenn es Mutter wird.
Nach solchen Schilderungen schwur Seffi sich, ihre Jung-
fräulichkeit zu bewahren, und schrieen auch ihre vollen Adern
noch lauter nach Erfüllung.
Agathe, eine Nichte des Hausherrn, ein zierliches, blondes
Mädchen von 16 (ahren, kommt zu Besuch und schläft in Seffi's
Zimmer. In ihr findet Seffi eine Geschlechtsgenossin, der sie ihr
Herz, ausschütten kann.
„Sie krochen in ihren weißen Hemdchen abwech-
selnd eine zu der anderen und tauschten ihre Gedanken
über dieses und jenes. Eines Nachts, als Seffi laut
schluchzt, will Agathe sie trösten, sie preßte Seffi an
sich und umschlang sie innig. In diesem Augenblick
wurde Seffi ruhig und schloß die heißen Lider. Ein
bleicher, zärtlicher Schein huschte über ihr Gesicht.
Brust an Brust schlummerten sie ein." (S. 144).
Jahrbuch V. 70
— 1108 —
Alfred bemerkt die intimere Freundschaft der Mädchen
und macht seine Mutter darauf aufmerksam.
Er erweckt den Argwohn der Mutter. „Sie machte die
Bemerkung, daß Agathe lebhafter, feuriger neben Seffi wurde, daß
beide sich unnötig lang in die Augen sahen und mehr als sonst
zwischen jungen Mädchen üblich ist, sich Zärtlichkeiten erwiesen,
daß die eine die Nähe der anderen suchte und traurig wurde,
wenn sie sie missen mußte.
Sie befiehlt, daß Agathe in einem Zimmer allein schlafe.
Vergeblich fleht sie Seffi an:
„Mutter, von klein auf hast du mich dazu ange-
halten, alle Vorgänge in der Natur ohne Scheu zu be-
obachten. Du schlugst mich, wenn ich die Augen
senkte. Nichts sollte mir erspart bleiben; alle Adern
des großen Nervennetzes der zeugenden und nichts als
zu zeugen begehrenden Natur hast du mir bloßgelegt.
Keine Milderung, keinen Schleier sollte es für mich
geben.
Nackt alles sehen und kennen lernen, war dein Wahl-
spruch, Mutter, ich bin jung und kräftig; eines Tages
habe ich selbst das Verlangen verspürt, das jede's
Naturgeschöpf in sich trägt. Mein glühendes Liebe-
bedürfnis zu erwidern, haben sich mir junge Arme
geöffnet, aber da hast du mir dein Halt zugerufen.
Eine Dirne wäre ich, wenn ich der Natur folgte, die
du tags vorher als rein und groß gepriesen, und mit
Schlägen und Schimpf jagtest du mich aus deinen
Hause. Mutter — sie legte die bebenden Lippen an
das Ohr der Frau — „du selbst bist's, die mich in die
Arme der Freundin getrieben, laß sie mir nun . . . ."
(S. 149).
In den verschiedenen Novellen des Bandes ist ein
meist sexuell-perverses Problem behandelt. Das homo-
sexuelle ist nur in der obigen Erzählung berührt.
Der geschilderte Fall hat mit typischer Homosexualität
nichts gemein und stellt nur die Ablenkung des hetero-
sexuellen Triebes in Folge der Unmöglichkeit seiner
Befriedigung dar. Der Gedanke der Novelle erhellt deut-
lich aus dem Titel: „Neue Erziehung und alte Moral",
und besonders aus der Schlußapostrophe Seffi's. Die
männliche Erziehung SeffTs, die Abhärtung des Körpers
— 1109 —
die Unterdrückung des weiblichen Feingefühls und der
mädchenhaften Schamhaftigkeit haben eine männliche
Sinnlichkeit, eine glühende sinnliche Begierde zur Folge.
Die alte Moral verlangt aber Unterdrückung 'des Fleisches,
stempelt den geschlechtlichen außerehelichen Verkehr zur
Sünde, die Zeugung des unehelichen Kindes zur Schmach.
Dieser Widerspruch zwischen der neuen Erziehung und
der alten Moral drängt Seffi auf gleichgeschlechtliche
Bahnen, wo sie mit der Stillung ihrer Glut und der Be-
friedigung ihrer Sentimentalität gleichzeitig Sicherheit
vor schmachvollen Folgen findet.
Die Ausführung dieser Gedanken ist nicht frei von
Mängeln, denn die Sinnlichkeit SeffVs wird nicht so sehr
durch Erziehung als durch die in der Novelle den brei-
testen Raum einnehmende Verführung und Einwirkung
ihrer Adoptivbrüder aufgestachelt, wenn auch ihre Er-
ziehung sie dem Einfluß der erwachenden Sinnlichkeit
leichter zugänglich macht.
Die Novelle macht den Eindruck des temperamentvoll
Improvisierten, etwas kraß Hingeworfenen, Tendenziös-
gewoll ten.
Die Schlußworte Seffis fallen eigentlich nicht aus
Seffis Munde, sondern aus dem Munde der Verfasserin,
welche mit ihnen die Moral der Geschichte verkünden will.
Keben Georg: Unmögliche Liebe aus: Unter
Frauen: Pariser Geschichten. S. 1 — 52 (Jena:
Hermann Costenoble Verlag.) 1901.
Madame Claudine Pron, die Kupplerin und Inhaberin eines
geheimen galanten Hauses, wo Lebemänner mit Frauen und Mädchen
zusammen kommen, liebt selbst nur ihr eigenes Geschlecht.
„Nur die frische Sinnlichkeit reizte sie, die ideale
Keuschheit, welche fruchtbar wurde ohne den Mann.
Ihre Lippen hätten niemals ein Weib berührt, das in
ihrem Hause verkehrte und von welchem sie sah, das
es durch Wünsche des anderen Geschlechts sicherweichen
ließ Claudine's Liebe zum Weibe war das Ende
und verletzter Stolz der Anfang gewesen.
70*
— 1110 —
Gedemütigt war sie, daß sie trotz ihrer Vorzüge nie
ein Mann aus Liebe begehrte. Sie hatte sich keinem
aufgedrängt.
Eine vernachlässigte Frau, die gefallen will, schien
ihr der Bettlerin gleich, die um ein Almosen bittet. Aber
sie wollte sich für jenen ungerechten Zufall entschädigen.
(S. 5.)
Im Nachtcaffee erlauscht sie die Unterredung zweier Unbe-
kannten: Höpfner, ein Deutscher, erzählt dem Sänger aus Mont-
martre, Alexander, seine Liebe zu Lorette, einer Buffetdame eines
benachbarten Restaurants, einer Unerbittlichen, die keusch wie der
Mond sei.
Claudine sucht Lorette auf und macht ihre Bekanntschaft.
Beide bringen einen Abend gemeinschaftlich zu. Claudine ent-
deckt der unschuldigen Lorette ihre Gefühle. Beim Souper und
beim Sekt im Nachtrestaurant überhäuft sie Lorette mit Liebes-
erklärungen und Liebkosungen. Claudine erreicht ihren Zweck.
„Lorette fand nicht mehr den Mut, Claudine zu wider-
stehen, ein lähmend schlaffes Gefühl zwang sie nieder.
Zu oft gab ihr Claudine zu begreifen, daß die Liebe
weniger zu den Wissenschaften als zu den Künsten
gehöre und in keinem Fall zu den Dummheiten. Aus
reinster Kindlichkeit war Lorette ein üppiges Opfer ge-
worden. Ihr überlistetes Denken achtete die Verführerin
mehr, als eine Entehrte ihren Verführer achtet ....
Der Kampf war vorbei. Claudine's innige Freundschaft
hatte Lorette's ganzes Wesen verändert. Ihr Mangel an
Selbstbewußtsein, der sich als Schüchternheit gab,
machte alle Stufen geheimer Entwicklung durch. Auch
war sie scheu und verschämt vor Männern, dann wurde
sie abstoßend. Höpfner kannte sie nicht mehr." (S. 20.)
Lorette wird ihr Beruf lästig, sie gibt ihn auf. Claudine richtet
ihr eine Wohnung ein und unterhält sie. Auch Lorette' s Äußeres
ändert sich allmählich:
„Claudine war von rücksichtsloser Begehrlichkeit, ihr
Temperament war für Lorette vergiftend gefährlich ....
Lorette's Gesicht mit dem fahlen Teint und den rötlich
geschwollenen, schwarz umränderten Augen erhielt für
Claudine eine eigene geistige Beleuchtung." (S. 24.)
Lorette erfährt erst nach geraumer Zeit das Gewerbe ihrer
Freundin. Sie glaubt zuerst, daß Claudine mit den in ihrem Hause
verkehrenden Männern oder wenigstens mit den Frauen sie be-
trüge. Aber als Claudine ihr schwört, sie liebe nur ihre Lorette,
sie liabe nie ein Weib beruht, das in ihrem Hause verkehrt
— 1111 —
und die „sie in widerwärtiger Umarmung mit Männern gesehen,"
verzeiht ihr Lorette."
Während des Carnevals trifft Höpfner die beiden Frauen auf
dem Maskenball der großen Oper. Er errät das Verhältnis
zwischen Beiden und daß Claudine ihm Lorette geraubt.
Höpfner spielt gegenüber Claudine den Verliebten, er ver-
steht es, sie in den Glauben zu versetzen, als begehre er sie
leidenschaftlich.
Sie weiß nicht, wer der maskierte Liebhaber ist,
„aber zum ersten Mal bekam sie einen Verehrer, für
den sie nicht Handelsartikel war, sah einen Mann als
Gefangenen der Liebe.
Ihr gesunkener Stolz, ihr gebrochenes Selbstbewußt-
sein richtet sich auf. Durch die unerwartete Anbetung
eines Mannes war ihr aufgedrungener Haß gegen das
andere Geschlecht erloschen". (S. 40).
Als sie später in dem Liebhaber Höpfner den Deutschen er-
kennt, den sie schon früher im Restaurant gesehen und der schon
damals „bezwingend männlich, naturkräftig derb auf sie gewirkt
hatte," setzt sie seinem Werben keinen Widerstand entgegen.
Sie erinnert Höpfner an seine unglückliche Liebe zu Lorette.
Aber Höpfner versichert ihr, er liebe die Spröde nicht mehr, die
jetzt so grausam entstellt, so kränklich verlebt aussähe. Claudine
zögert nicht mehr; am nächsten Tag wird Höpfner sie in ihrem
Hause besitzen dürfen.
Höpfner hat aus Liebe gehandelt, um sich an Claudine
wegen Lorette's Verführung rächen zu können. Sein Freund
Alexander setzt Lorette von dem Treubruch ihrer Geliebten in
Kenntnis, er wird sie in Claudine's Haus führen, wo sie sich von
deren Untreue überzeugen wird.
Höpfner kommt zur versprochenen Stunde zu Claudine. Sie
will sich ihm hingeben, als sie entkleidet vor ihm steht, weist er
sie jedoch kühl zurück: „Sie sind im undankbaren Alter, Madame!
Ich bedauere! Sie gefallen mir nicht!"
In diesem Augenblick tritt Lorette durch eine Seitentür
herein.
Höpfner versichert ihr, daß alles nur ihretwegen geschehen
sei, ihretwegen, die ihn lieben solle.
Aber als Lorette merkt, daß der Streich einen Racheakt
gegen Claudine bedeutete, wendet sie sich erbittert gegen Höpfner:
„Gehen Sie, Monsieur! Wenn ich Sie bisher ge-
liebt hätte, so liebe ich Sie jetzt nicht mehr! Denn
Sie haben als Mann bei Ihrer Rache vergessen: Die
Verhöhnte konnte sich nicht wehren und ist — wie ich
- ein Weib." (S. 51).
— 1112 —
Wenn ein Deutscher Pariser Geschichten schreibt,
darf natürlich eine möglichst krasse Illustrierung sogen.
Pariser Laster nicht fehlen. Und so mußte natürlich die
gleichgeschlechtliche Liebe als lasterhafte Neigung und
Unmoralität heterosexueller Frauen herhalten und den
Anlaß zu der Geschichte der erfahrenen Verführerin, die
das schwache junge Mädchen seelisch und körperlich zu
Grunde richtet, abgeben.
Zwar springt gar zu deutlich die in unwahrscheinlicher
Weise motivierte Umwandlung der leidenschaftlichen
Lesbierin in die Augen, die plötzliche Verwandlung der
von instinktiver Inbrunst und Begiede zu ihrem eigenen
Geschlecht besessenen Claudine in die mannstolle Frau,
die sich durch die erheuchelte Liebeserklärung eines
jener bisher so verhaßten Männer betören läßt und ihre
homosexuelle Glut einfach funkenlos erstickt und mit der
Leidenschaft zum Mann vertauscht.
Aber was schadet das, wenn man, wie der Verfasser
es tut, diese Änderung in den Gefühlen der Heldin zu
einem packenden Schluß- und Knalleffekt bequem ver-
wenden und dabei noch die beleidigte Sexualmoral rächen
kann.
Die gerügten Mängel und Unwahrscheinlichkeiten
werden diejenigen, welche die Homosexualität nur aus
den Büchern kennen und das Angeborensein leugnen,
nicht abhalten in Keben's Heldin ein Beispiel ihrer Theorien
zu entdecken. Hat doch schon Bloch in seiner Ätiologie
der Psychopatia sexualis mit Genugtuung auf Keben's
Novelle hingewiesen. Trotz dieser Bedenken gegen die
Richtigkeit der Schilderung von Claudine's Charakter und
Natur muß die geistreiche Silhouettierung der feurigen
Matrone anerkannt und überhaupt die elegante Pointierung
und das rasche graziöse Tempo der mit etwas Pariser Esprit
gewürzten Novelle gerühmt werden.
— 1113 —
Marie Madeleine: 1) Sappho 2)Crucifixa. Gedichte
aus der Sammlung Auf Kypros (Berlin- Vita.)
Marie Madeleine, die bekannte Dichterin, welche die
sinnliche Liebe des Weibes zum Mann in einer Anzahl
von Gedichten mit einer glutvollen, ja brünstigen Sinn-
lichkeit, aber in einer etwas forcierten, gesucht kraft-
vollen Manier besungen hat, widmet dem homosexuellen
Gefühle nur die beiden Gedichte „Sappho* und „Crucifixa".
Auch diese beiden Gedichte geben mehr ein künst-
lerisch gesuchtes, gewollt perverses Gefühl wieder, als
empfundene Ursprünglichkeit. Die poesievolle Schönheit
der kunstvollen Strophen wird man aber rückhaltslos
bewundern können.
Montfort, Charles: Le Journal d'une Saphiste:
(Offenstadt Paris 1902).
Aline, welche schon im 10. Jahr als Interne in das Mädchen-
pensionat gekommen, befreundet sich mit Juliette. Zur Zeit der
Pubertät wird Aline's Neugierde durch die Zärtlichkeiten, die
sie zwischen den übrigen Schülerinnen bemerkt, erregt und ihre {
Sinnlichkeit aufgestachelt. Die meisten Mädchen schlüpfen nachts f
in das Bett einer Freundin, Aline erlauert ihre Küsse und engen j
Umarmungen. \\
Auch sie kommt eines Nachts zu Juliette ins Bett und
seither schlafen sie stets zusammen.
Das Verhältnis mit Juliette dauert nicht lange, diese verläßt
bald die Schule.
Eine neue Schülerin, Mirette, ersetzt sie. Mirette und Aline
werden von einer gegenseitigen stürmischen Leidenschaft zu
einander ergriffen.
Sie gestehen sich ihre Liebe.
Sie schwören sich ewige Treue.
Mirette bringt auch die Ferien im Hause von Aline zu.
Beide schlafen in einem Zimmer, sie leben Tag und Nacht ihrer
Liebesleidenschaft.
Doch Aline muß jetzt das Pensionat verlassen und ihr
Vater dringt auf Verlobung mit dem reichen Hector. Aline
setzt lange dem Begehren ihres Vaters heftigen Widerstand
entgegen, endlich gibt sie nach: Aber Mirette wird sie nie
vergessen und auch nach der Heirat ihr Liebesverhältnis fort-
setzen. Die Brautnacht ist weniger schrecklich verlaufen, als sie
— 1114 —
gefürchtet. Sie haßt zwar ihren häßlichen Mann und hat, das
Bild Mirette's vor Augen, die männliche Umarmung erduldet, aber
Hector hat sich anständig benommen. Der Ehemann entdeckt
das Verhältnis seiner Frau mit Mirette, welche die Ferien im
Hause zubrachte.
Er verbietet Aline die Freundin wiederzusehen. Im Ver-
steckten verkehren aber beide weiter mit einander. Hector, der
sie ausspioniert, erfährt es. Aline muß zwischen ihm und Mirette
wählen. Sie verläßt ihren Mann und lebt mit Mirette, die
inzwischen aus dem Pensionat ausgetreten, zusammen.
Aus Neugierde, aus Langeweile und nicht zuletzt um Geld
zu bekommen — denn sie hat kein Vermögen mehr, ihr Vater
ist völlig ruiniert gestorben und ihr Mann gibt ihr nichts — wird
Aline die Maitresse eines Freundes ihres Mannes. Mirette darf
aber hiervon nichts erfahren. Die gegenseitige Liebe beider
Frauen dauert fort.
Mirette erkrankt an hysterischen Nervenkrämpfen, die
Leidenschaft und der übermäßige Sinnengenuß töten sie; ihr
Körper ist völlig erschöpft, nichts kann sie retten; sie stirbt.
Aline's Tagebuch — der Roman ist in dieser Form geschrieben —
endigt mit den Worten:
„Meine letzte Bitte wird sein:
„Frauen, erstrebet als Liebe, nur die einzige und die
starke, diejenige, welche die ganze Menschheit beherrscht;
die gesunde und ehrbare, die kräftigende und herrliche,
weil zeugende, die Liebe des Mannes." (S. 216.)
Ähnliche Ermahnungen enthalten auch der als Vorwort
dienende Brief der Heldin.
Sie will einem Freund die Einsicht des Tagebuchs gewähren,
damit „seine Maitressen und alle übrigen Frauen sich vor der
unsinnigen lesbischen Liebe hüten."
Der Roman entbehrt jeder tieferen Charasteristik, jeder
Psychologie, jeder Stimmung und sonstiger künstlerischen
Vorzüge. Die Leidenschaft der beiden Frauen wird in be-
haglicher Pikanterie und Sinnlichkeit geschildert.
Der angebliche moralische Zweck: Warnung und
Abschreckung vor dem Sapphismus insbesondere durch die
Erzählung des — übrigens in plumper und wohl medicinisch
kaum haltbaren Weise — dargestellten Todes einerLesbierin
darf über den Wert des Buches nicht hinwegtäuschen.
Das moralische Pflästerchen, mit dem Montfort das
Tagebuch zum Beginn und zum Schluß einkapselt, kann
— 1115 —
den wahren Zweck des Romans nicht verbergen, den der
bloßen lüsternen Sensation, welchen auch die beigegebenen
ans Obscöne grenzenden Bilder veranschaulichen.
Möller, O. W. : Wer kann dafür? Eine sexual-
psychologische Schilderung aus dem Dänischen, über-
setzt von Dr. Richard Meienreis. (Leipzig:
Spohr 1901.)
In einem Vorwort macht der Übersetzer auf die Wichtig-
keit der homosexuellen Frage aufmerksam.
Das Problem sei bisher wohl in der französischen Belletristik,
kaum aber in der deutschen behandelt worden.
Und doch wäre es eine ganz unangebrachte, ja verderbliche
Prüderie, sich hier mit Vertuschen, Verheimlichen und Drüber-
hingehen immer weiter helfen zu wollen, anstatt Klarheit zu
schaffen und der Sache auf den Grund zu gehen.
Viele unglücklichen Ehen und auch die Erzeugung Homo-
sexueller könnten verhütet werden.
Aufklärung und Wahrheit könnten nur Segen stiften.
Es müsse daher als hohe sittliche Pflicht einer wahrhaft
volkstümlichen Verlagsanstalt bezeichnet werden, das Dunkel zu
lichten und alte Vorurteile zu zerstreuen.
Im vorliegenden Buch werde das Problem der gleich-
geschlechtlichen Empfindung mit so feiner, bis in die kleinsten
Fasern richtiger Beobachtung, dabei mit solcher Decenz und so
hohem sittlichen Ernst behandelt, daß er (Meienreis) es für ver-
dienstlich erachte, dasselbe einem größeren deutschen Leserkreis
zugänglich zu machen.
Die Novelle: Dr. Jünger, Astronom von Beruf, und als
Verfasser eines erfolgreichen Romans bekannt, kommt als erster
Assistent an das Observatorium von Heidelberg. Dort wird er
Hausfreund in der Familie eines feingebildeten, liebenswürdigen
früheren Offiziers. Die eine Tochter, Nina, ist eine eigenartige
Persönlichkeit.
„Sie war alles andere als schön." . . .
„Es war kurz gesagt etwas — man kann nicht
sagen Emanzipiertes, nicht einmal Unweibliches oder
absolut Unschönes — über sie ausgebreitet, in Ermange-
lung eines treffenderen Ausdrucks könnte man sagen:
etwas Originelles und Problematisches. Sie würde einen
Psychologen mehr interessiert haben, als einen Ball-
kavalier." (S. 10.)
— 1116 —
„Keine sichtliche Rundung der Brust verriet das Weib,
ihre Gesichtszüge waren scharf markiert, und in ihrem
Blick lag etwas Festes und Selbstbewußtes, wie man es
nur selten bei einem weiblichen Wesen findet". (S. 25.)
Beide, Nina und Jünger, werden aufs engste befreundet;
Nina, obwohl sonst verschlossen, gewährt Jünger allmählich einen
Einblick in ihr Seelen- und Geistesleben.
Aber ein Etwas ist in ihr, das Jünger nicht begreift und sie
selbst gesteht ihm, daß er sie nicht völlig kenne:
„Ich bin bizarr", sagt sie, „viel mehr als sie ahnen.
Ich betrachte Sie als einen Freund. Nicht wahr, so
betrachten Sie mich auch? Wir haben so viele Sym-
pathien gemeinsam, und doch würden sie mich nicht
verstehen können, wenn ich Ihnen alles erzählte — selbst
meine nächsten Angehörigen würden mich am Arm
nehmen und schütteln und fragen, ob ich verrückt sei."
(S. 29.)
Jüngeres freundschaftliche Gefühle verwandeln sich allmählich
im Verkehr mit der geistig und seelisch interessanten Nina in Liebe.
Er gesteht ihr seine Zuneigung. Aber Nina liebt ihn nicht.
Verzweifelt kündigt ihr Jünger an, er werde fortziehen, sie möge
ihn vergessen.
Nunmehr offenbart ihm Nina ihre wahren Gefühle und ihr
bisher so sorgsam gehütetes Geheimnis.
Das Unglaubliche, das Seltene an ihr sei . . . ein Weib.
Sie liebe eine Freundin. Jünger könne ihr nicht mehr werden,
als ein Freund, aber dieser möge er bleiben, sie könne ihn nicht
vermissen.
Jünger betrachtet ihre seltsame Liebe als eine Art Krankheit,
noch könne ihr Gefühl sich ändern, er hofft auf Heilung.
Wiederum verkehren beide wochenlang in alter inniger
Freundschaft weiter, bis endlich Nina glaubt, Jünger zu lieben.
Jubelnd schreibt sie ihm : „Ich liebe Sie, ich liebe Sie innerlich."
Aber auch in ihren Gefühlsausbrüchen gegenüber Jünger
klingt ihre Neigung für das Weib nach.
„Ich habe niemals einen Mann geküßt, und doch
habe ich so innerlich nach Liebe gelechzt; ich wäre
vergangen, wenn ich nicht jemand geküßt hätte. Es ist
nicht Schönheit, worauf ich sehe, nein, es ist ein gewisser
leuchtender Schein, ein ganz eigener Duft, der über
eine Frauensperson ausgebreitet sein kann
Wenn ich weiter des Nachts träumte, und sie mich im
Traume küßte, war ich froh und zehrte davon den
ganzen Tag, denn sie gab mir selten mehr als die
Hand . . ." (S. 65.)
— 1117 —
Jünger glaubte Nina nunmehr für immer gewonnen zu haben,
er darf ihr den ersten Kuß auf die Lippen drücken, den sie er-
widert, ihn ihrer Liebe versichernd.
Doch nur kurz ist ihr Glück. Nina fühlt bald, daß sie Jünger
doch nicht liebe, wie sie den Gatten lieben müßte. Schon ihn
zu küssen, wird ihr schwer, sie wird sich bewußt, daß keine
Änderung ihrer Natur sich vollzogen hat und daß eine Ehe mit
Jünger unmöglich ist:
„Ich bin unglücklich darüber", schreibt sie ihm, „daß
ich Dich nicht liebe. O Gott, so war das nur ein Traum,
— ich kann also keinen Mann lieben! Du bist mein
bester, mein aufrichtigster Freund, aber nicht mehr;
ich kann Dir alles anvertrauen, aber nicht Dich lieben.
O vergib, vergib!" (S. 77.)
Noch will Jünger nicht alle Hoffnung aufgeben, ein Jahr
lang soll sie seine Braut bleiben. Vielleicht werde dann noch
alles gut, sie soll in dieser Zeit „die Freundin nicht mehr sehen,
niemanden mit Liebe küssen, bei niemanden Liebe suchen im
ganzen folgenden Jahr."
Aber auch das vermag Nina ihm nicht zu versprechen.
„Sie saß fast eine Stunde ganz still, gleichsam um
nachzudenken, dann aber bekam sie auf einmal Kraft
zum Sprechen: Nein, Otto, nein, das kann ich nicht,
selbst wenn es mein Leben gälte, hörst Du ! . . . Nein
ich mag das nicht versprechen, denn ich würde es nicht
halten können. Du ahnst nicht, was Du verlangst, Du
kennst mich doch noch nicht ganz und weist nicht, wie
groß die Leidenschaft ist, die in meiner Brust glüht.
Du könntest gerade so gut mein Leben fordern, als sie
nicht mehr sehen zu dürfen, Du würdest nur mein
Leben verbittern, ohne selbst irgend welche Freude
davon zu haben. ... Ich kann wach vor Sehnsucht
liegen, halbe Nächte hindurch, wenn die eine oder die
andere Dame — in der Gesellschaft zum Beispiel —
mir etwas Entgegenkommen gezeigt hat. Ohne ein Weib
zu küssen, kann ich nicht leben." (S. 81.)
Beide fühlen, daß Jünger nicht mehr bleiben kann, daß er
nur noch unglücklicher werde, wenn er Nina nicht zu vergessen
suche.
„Sie waren „Beide unglücklich, grenzenlos unglück-
lich". „Sein Leben, seine Zukunft hatte er auf sie gebaut,
nichts gedacht ohne sie, alles mit ihr . . . Und sie
hatte ihn lieb gehabt, innig lieb. Nur „lieben" hatte sie
nicht sagen können! Ein Haarbreit mehr, ein Milli-
— 1118 —
gramm mehr in die Wagschale und sie hätte ihn
geliebt. — Aber die Natur hatte selbst die Schranke
gezogen: sie konnte keinen Mann lieben. — " „Wer
faßt sie ganz, die Tragik derartiger Menschenschick-
sale?! . . .« (S. 84.)
Und doch müssen sie „Tausende solch unglücklicher
Geschöpfe an sich selbst erfahren, die ein wunderliches
Spiel der Natur in die Welt hinausstieß, wo sie außer
den namenlosen geheimen Seelenqualen ihres Innern oft
auch noch statt Mitleid die Verachtung und den Hohn
ihrer glücklicher gearteten Mitgeschöpfe zu ertragen
haben, wenn sie nicht ihre eigenartige Naturanlage, an
der sie schuldlos sind, als tiefstes Geheimnis stets in
sich verschließen und — zuwider dem ihnen meist inne-
wohnenden Wahrheitsdrang — zeitlebens als lebende
Lügen einhergehen/ (S. 83.
Jünger scheidet von Nina:
„Zum letztenmal schloß er sie in seine Arme.
„Küsse mich zum Abschied, Du Geliebte!" flüsterte er.
Halb mechanisch ließ sie es geschehen, daß er sie küßte,
aber ihre Lippen waren kalt wie die einer Toten.
Er riß sich los.
„Lebe wohl, meine einzige Nina", sagte er, „weine nicht
um meinetwillen; Du kannst ja nichts dafür."
„Nein, ich kann nichts dafür, ich kann nichts, ich kann
nichts dafür!" Es klang beinahe, wie ein Aufschrei. „O, daß
Du ein Weib wärest, damit ich Dich lieben könnte!"
Sie sank zurück und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
So schieden sie." (S. 86.)
Arm an äußeren Geschehnissen und klein an Umfang
ist die psychologische Analyse der Novelle um so reicher
und der Gehalt an seelischer Feinheit um so größer.
Dem Verfasser ist es gelungen, ein anschauliches
und ergreifendes Bild einer homosexuellen Frauenseele
zu geben und aus dem Einzelfall typische Züge zu ge-
winnen.
Nina empfindet die homosexuelle Neigung als natür-
liche Regung, als Naturnotwendigkeit, aber zugleich unter
dem Einfluß der sie umgebenden, anders gearteten Welt
kommt ihr das Seltsame, Außergewöhnliche ihrer Leiden-
schaft zum Bewußtsein und zwingt sie zu tiefstem Ver-
— 1119 —
bergen ihrer ureigensten Gefühle. Dieser Zwang zur
Heuchelei steht aber im vollsten Widerspruch zu Nina's
offenem Charakter, zu ihrem Wahrheitsdrang, ihrem
Freiheitsdurst. Und so bewirkt dieser Konflikt zwischen
Sein und Scheinen, zwischen Individualität und not-
gedrungenem Konventionalismus eine Disharmonie in
ihrem ganzen Wesen, die sich in ihrem Benehmen, ihrem
Denken und Wollen, ja in ihrem Äußern widerspiegelt
und zu einer mysteriösen, rätselhaften Persönlichkeit
stempelt. Aus der Aufrichtigkeit des Charakters und
der Lauterkeit ihrer Gesinnung fließt dann das tief-
empfundene Bedürfnis, dem verständnisvollen Freund
gegenüber sich von dem Druck des lastenden Geheim-
nisses zu befreien.
Allerdings zuerst zaghaft und zurückhaltend ent-
quillt das Tief verborgene ihren Lippen; beschönigend
zeigt sie zuerst nur die edleren Seiten ihrer Homo-
sexualität. Später aber wagt sie es, mutig und uner-
schrocken ihre ganze Seele mit allen ihren geheimsten
Trieben und sinnlichen Begehren bioszulegen. Mit dem
rückhaltlosen Enthüllen ihrer wahren Natur entschädigt
sich Nina gleichsam für das langverhaltene Geheimnis,
für das heuchlerische Schweigen, das ihr so lange auf-
gezwungen.
Zugleich erfleht sie in der freiwilligen Blosstelluug
ihrer Schwächen ihre Sühne und Entschuldigung für
ihre sie beherrschende glühende Sinnlichkeit.
Andererseits aber ist es Stolz und Selbstbewußtsein,
das aus ihr spricht, ist es der Durchbruch der vollen
Individualität, die ihre Eigenart nicht verläugnet, die sich
in ihren Höhen und Tiefen bejaht.
In diesem Bekenntnis offenbart sich das Urwüchsige,
Angeborene, Zwangs- und Schicksalsmäßige der homo-
sexuellen Leidenschaft, das Nichtsdafürkönnen, das
Nichtandersseinkönnen, welches eine Liebe zu Jünger zu
— 1120 —
einer durch ihre Natur bedingten Unmöglichkeit macht,
obgleich sie den wie keine andere Person ihr sympathi-
schen, mit ihr geistig harmonierenden Freund schätzt
und achtet, obgleich der Wunsch sie beseelt, ihn zu
lieben, wenn sie nur könnte.
Hierin liegt die Tragik der Novelle, in der Kluft,
die Beide, Jünger und Nina, trotz ihrer gegenseitigen
Anziehung und gemeinsamen Sympathien von einander
trennt — tiefer, als sonst Mann und Frau — , in der Unglück-*
liehen Liebe Jünger's zu einer Frau, deren Natur hoff-
nungslos Gegenliebe ausschließt, zu einem Wesen, äußer-
lich Frau und doch keine Frau, die in ihrem Innersten
stets ihm fremd bleiben muß.
Der Aufbau ist interessant und fesselnd. Das Ganze
zeichnet sich durch eine stimmungsvolle Schlichtheit aus,
die namentlich in der Schlußszene ergreifend und über-
zeugend wirkt.
Liane de Pougy. Idylle Saphi.que roman (Paris librairie
de la Plume 1901. 330 S.)
Annhine de Lys, die berühmte Pariser Courtisane, eine der
Königinnen der Halbwelt, hat die Liebe einer jungen, 20jährigen
homosexuellen Amerikanerin, Florence Bradfford, entfacht. Florence
verschafft sich ohne Weiteres Eingang zu Annhine und gesteht
ihr ihre glühende Leidenschaft. Annhine hat nicht die Seele der
gewöhnlichen Buhlerin. Zwar verkauft sie ihren Körper dem
Manne und läßt sich von einem vielfachen Millionär fürstlich
unterhalten, aber ihre Seele strebt nach Höherem, Edlerem; ein
ungestilltes Bedürfnis nach wirklicher Liebe, nach Zärtlichkeit
erfüllt sie.
Das Genus- und Luxusleben hinterläßt in ihrem Innern nur
eine furchtbare Einöde, einen unbegrenzten Ekel zurück, sie lechzt
nach Neuem, nach Veränderung..
Annhine ist nicht homosexuell und hat noch niemals von
dem „Lesbischen Laster" gekostet. Gerührt und geschmeichelt
durch die Anbetung und Vergötterung, die Florence ihr entgegen-
bringt, durch ihre Leidenschaft, Schönheit und Zärtlich-
keit, empfindet sie selbst freundschaftliche, ehrliche Zuneigung
zu dem jungen Mädchen. Ihre Seelen harmonieren und
verstehen sich. Annhine läßt sich von ihr bewundern und
— 1121 —
liebkosen, aber das Ziel ihrer Wünsche, den geschlechtlichen
Verkehr, gestattet sie ihr nicht.
Die Freundin von Annhine, Altesse, die energischere, weniger
sentimentale, zielbewußtere Courtisane warnt sie, sich nicht von
der Leidenschaft Florence's umstricken zu lassen, eine „lesbische
Liebe würde ihre schwache Gesundheit, ihre schon kranken
Nerven zerrütten, schon viele bekannte Pariserinnen seien an
dieser Leidenschaft zu Grunde gegangen."
Florence ist verlobt mit einem reichen jungen Amerikaner,
Willy. Sie hat ihrem Bräutigam ihre homosexuelle Natur offen-
bart und ihn in ihre Neigungen völlig eingeweiht. Er liebt nur ihre
schwärmerische Seele, mit ihrem Körper kann sie anfangen, was
sie will. Um ihren Bräutigam zu erproben, hat sie vor seinen
Augen weibweiblicher Umarmung sich hingegeben; er selbst mag
sich dann sinnlich befriedigen mit schönen Frauen, die sie
ihm selbst ausgesucht. Bisher war ihr Bräutigam nicht eifer-
süchtig auf ihre Geliebten, aber das Verhältnis mit Annhine erregt
seine Eifersucht, er fühlt, daß Florence eine tiefere Liebe zu der
berühmten Courtisane gefaßt hat, er fürchtet, die Seele seiner
Braut zu verlieren.
Um Florence Abscheu vor Annhine einzuflößen, bestellt er
diese, die ihn nicht kennt, durch eine Kupplerin zu einem Stell-
dichein, unter dem Vorwand eines heftigen sinnlichen Begehrens.
Annhine, die gewöhnlich auf derartige Angebote nicht eingeht —
sie hat allen nur erdenklichen Luxus von ihrem Herrn, dem sie
in 5 Jahren 4 Millionen kostete — läßt sich doch durch die an-
gebotene Summe von 25000 Fr. für die einmalige Hingabe an
den Amerikaner verlocken. Als sie nackt im Bette liegt, ruft
Willy seine Braut herein und zeigt ihr ihre angebliche Freundin,
die sich einem Fremden verkaufte.
Aber die Wirkung auf Florence ist nicht die erhoffte. Sie
bricht mit Willy und verzeiht Annhine.
Beide verkehren inniger, vertrauter als zuvor, aber immer
noch kann Annhine keine sinnliche Liebe für Florence fühlen :
„Ich bin ein ganz einfacher Charakter im Grund"
sagt sie zu Florence, „obgleich berühmt und überall
gekannt, und niemals, ich schwöre es, habe ich noch
das Laster berührt, von dem Du beseelt bist! Du ver-
stehst mich nicht, ich will nicht die Kokette mit Dir
spielen, noch weniger Deine Begierde durch meine
Weigerung steigern! Sieh, wenn Du meine Hingabe
verlangst, bin ich die Deine, nimm mich hin. Es wird
die peinliche Fortsetzung sein alles dessen, was ich seit
Jahren erduldet. Du bist in mein Leben gekommen in
— 1122 —
einem Augenblick des Ekels und des Überdrusses, als
ich irgend etwas wollte: etwas Gutes, etwas Wahres,
Neues, Besonderes. Da, Florence, hast Du mein Inter-
esse erweckt. Zuerst habe ich Dich ausgelacht, dann
hat mich Dein Liebreiz angezogen. Deine Perversität
umstrickt mich und stößt mich zurück. Sie erinnert
mich zu sehr an das, was mein Beruf ist. Du hast mir
neue Horizonte geöffnet, Du scheinst verstanden zu
haben, was in mir vorgeht. Ich liebe Dich mit zartem Gefühl,
das nichts verderbliches enthält. Deine Worte wiegen
mich in seltsamer Weise. Ich bin viel mehr, viel besser
die Deine, als auf die andere Art, handele aber nach
Deinem Willen, ich werde nicht mehr versuchen, Dir
abzuwehren, aber ziehe nicht das zarte Gefühl, das ich
für Dich fühle, in den Kot.
Ich will wahr und offen mit Dir sein und nicht
untertänig und lügnerisch wie alle Tage und wie mit
allen andern."
Bevor Florence Annhine kennen gelernt, hatte sie zahlreiche
homosexuelle Liebschaften, zuletzt mit Jane d'Espant, einer vor-
nehmen. Dame aus der Gesellschaft. Diese hat eine dauernde
Leidenschaft zu Florence gefaßt und will die Geliebte nicht preis-
geben. Verzweifelt eilt sie zu Annhine, unter Tränen flehend, ihr
nicht die Geliebte zu rauben; Annhine tröstet und beruhigt sie
durch die Versicherung, daß ihr Verhältnis mit Florence nicht
das sei, was diese glaube, da sie, Annhine, nicht Lesbierin sei.
Auf einem Ball, wo die Schönheiten von ganz Paris er-
scheinen und auch zahlreiche Lesbierinnen, bringen Annhine und
Florence, beide kostümiert, vergnügte Stunden ausgelassener
Fröhlichkeit zu. Aber Jane d'Espant hat sie erkannt. Sie hat
jetzt die Gewißheit erlangt, daß sie das Herz von Florence ver-
loren hat und von Schmerz und Verzweiflung überwältigt, ersticht
sie sich vor den Augen der Geliebten.
Das Ereignis übt eine solche erschütternde Wirkung auf
Annhine aus, daß sie erkrankt. Sie muß fort von Paris, ihrem
aufreibenden Großstadtleben, dem Einfluß von Florence ent-
zogen werden. Mit ihrer Freundin, Altesse, verweilt sie einige
Monate in Italien und Spanien. In verschiedenen Abenteuern
sucht sie Zerstreuung, aber der Gedanke an Florence verläßt sie
nicht mehr. Nachdem sie wieder nach Paris zurückgekehrt, findet
ihr Herz eine Zeit lang in einer heftigen Leidenschaft zu einem
ganz jungen Manne Befriedigung. Das Verhältnis ist jedoch nur
von kurzer Dauer. Der Geliebte muß auf Befehl seiner Eltern
Paris verlassen.
— 1123 —
Immer mächtiger wird jetzt ihre Sehnsucht nach Florence
und beide treffen sich wieder. Stunden gemeinsamen Seelen-
austauschs und innigster geistiger Gemeinschaft verbringen sie
nach der langen Trennung, wie zwei Geliebte, die sich endlich
wieder gefunden. Annhine kämpft nicht mehr gegen das Gefühl,
das sie mächtig zu Florence hinzieht, auch ihre Sinnlichkeit ist
erwacht und Alles ist sie bereit der Geliebten zu gewähren. Aber
noch fühlt sie eine Art Scham, in dem Hause, wo sie dem Manne
käuflich angehörte, sich ihrer schönen, hehren Liebe hinzugeben.
Annhine glaubt sich infolge eines körperlichen nervösen
Zustandes schwanger, und als ihr Herr diese Nachricht kühl und
mit sichtlichem Unbehagen empfängt, kommt es zwischen Beiden
zum Bruch. Annhine schleudert ihm ihren Groll und ihren Haß
gegen ihn und die Männer überhaupt ins Gesicht, geißelt seinen
Egoismus, der nur das Weib als Werkzeug der Wollust behandelt
und jeder wahren Liebe ermangelt.
Annhine erkrankt schwer, sie wird in einem Krankenhaus
untergebracht. Florence gelingt es, sie auch dort zu sehen.
Beide schmieden Pläne für die Zukunft, sie wollen weit fort von
Paris, ganz für sich in wahrer Ehe leben, Florence wird sich mit
Willy aussöhnen und ihn heiraten, er wird sich an ihrem geistigen
Besitz genügen und ihr Beider Beschützer sein. Florence schreibt
auch an Willy, der nach Amerika zurückgekehrt ist, er nimmt mit
Freuden die Versöhnung an.
Aber Annhine wird immer schwächer, sie gelobt sich, wenn
ihre Schmerzen aufhören und sie genesen sollte, alle ihre Kräfte
dazu zu verwenden, Florence von ihrer lesbischen Leidenschaft
abzubringen und sie zur wahren Gattin WilJy's zu machen.
Annhine's Krankheit nimmt jedoch zu, sie stirbt. Florence wird
jetzt Willy nicht heiraten, dies ist nun für sie zwecklos, sie tele-
graphiert ihm, nicht nach Europa zu kommen.
Ein besonderes Interesse bietet der Roman schon
deswegen, weil die Verfasserin selber zu den bekann-
testen Persönlichkeiten der Halbwelt zählt, die sie in
verschiedenen Exemplaren schildert, zu jenen fast europäi-
schen Berühmtheiten, deren Bilder die Schaufenster in
Paris, Trouville, Nizza, Ostende schmücken. Kein
Wunder daher, daß mau in der Darstellung und der
Psychologie der Cöurtisane den Eindruck der Wahr-
haftigkeit empfängt. Mag man auch die Lebensweise
derartiger Frauen in sittlicher Beziehung nicht höher
Jahrbuch V. 71
— 1124 —
werten als diejenige der gewöhnlichen Dirnen, so er-
wecken doch die blendenden Eigenschaften des Geistes
und Intellectes, wie sie die Heldin Annhine aufweist und
von denen Verfasserin selber in ihrem eigenartigen
Roman ein glänzendes Zeugnis abgelegt hat, Bewunderung
und rufen die Erinnerung an griechische Aspasien wach.
Gewisse Stellen des Buches atmen echt weibliche
Zartheit der Stimmung und des Gefühls, seelenvolle
Poesie.
Die gewagtesten Situationen und Gefühle werden
zwar mit einer Art selbstverständlicher Unverschämtheit
und Keckheit geschildert, stets wird aber Brutalität oder
andererseits auch pikante Lüsternheit taktvoll vermieden.
Die homosexuelle Natur von Florence ist mit
scharfen Augen, denen wohl die Gelegenheit nicht gefehlt
hat, ähnliche Wesen in der Wirklichkeit zu beobachten,
gezeichnet: Das frühzeitige Auftreten, das Angeboren-
sein des konträren Triebes, der mächtige sinnliche Impuls
und die stürmische Exaltiertheit der Leidenschaft und
aus dieser fließend die Auflassung der lesbischen Liebe
als der zarteren, feinfühligeren, besseren im Gegensatz zu
der gröberen, brutaleren zum Mann.
In folgenden Stellen erhält man ein anschauliches
Bild dieser homosexuellen Natur:
„Acht Jahre war ich alt, als ich unbestimmte Triebe ver-
spürte, meine Cousine war schön, ich vergaß zu schlafen,
wenn ich sie nachts betrachtete. Des Abends sagte sie
ihr Gebet und ich hätte wissen wollen, was sie wünschte,
um es für sie von Gott zu erflehen"
und vorher auf die Bemerkung von Annhine:
„Diese Leidenschaft sei weit über ihr Alter, es müsse
denn sein, daß es sich um etwas Instinktmäßiges handele,"
erwidert Florence: „Es gibt Frauen, die sich zuvor in
tausend Pfade verirren, bevor sie den wahren Weg
finden, andere haben einen guten Engel, der sie führt
und da sie ein Paradies in Übereinstimmung mit ihrer
Individualität gefunden haben, bleiben sie darin."
— 1125 —
Im Gegensatz zu der geborenen Homosexuellen wird
bei Annhine das allmähliche Sicheinschleichen des homo-
sexuellen Gefühls entwickelt: die Schwierigkeit, mit welcher
diese Empfindung sich langsam Bahn bricht, das Fremd-
artige, dem eigentlichen, urwüchsigen Wesen der hetero-
sexuellen Annhine Widerstrebende der lesbischen Liebe
und andererseits der perverse Reiz, den Florence auf sie
ausübt.
Der Charakter und das Seelenleben von Annhine ge-
währen ein treffendes Beispiel, wie mühsam und daher
— falls überhaupt möglich — wohl selten bei hetero-
sexuellen erwachsenen Frauen sich eine Umwandlung
ihres Geschlechtsgefühls vollzieht.
Obgleich Alles Annhine zur Erwiderung dieser für
sie perversen Liebe drängt: ihr Bedürfnis nach wahrer
Liebe, die Notwendigkeit der liebelosen Hingabe au den
ungeliebten Mann, die Sucht nach neuen Reizen und un-
gekannten Empfindungen, die stürmische Glut und die
Vergötterung, der sie bei Florence begegnet, bäumt
sich doch im Grunde ihre innerste Natur gegen die
sinnliche Preisgabe an die geliebte Freundin auf und
tatsächlich stirbt sie auch, ohne ihrem heterosexuellen
Wesen untreu geworden zu sein.
Der seltsame Bräutigam und sein Verhältnis zu
Florence, welche einer gewissen satirisch-humoristischen
Färbung nicht entbehren, sind wohl als sinnbildliche
Projektionen der exaltierten Leidenschaft von Florence zu
betrachten, als logisch gedachte Folgerung aus dem homo-
sexuellen Empfinden der jungen Amerikanerin, bei welcher
nur ein derartiger Verlobter denkbar ist.
Als realistischer Typus aufgefaßt, stellt Willy dagegen
einen sexuell Perversen dar, der an der fremden weiblichen
Homosexualität Entzücken findet, eine Art hauptsächlich
geistiger „Voyeur*.
71*
— 1126 —
Rögnier, Henri de: L'amour et le plaisir. Histoire
galante in dem Mercure de France, (Dezember 1901.)
Die Marqese von Rochemaure, welche seit Jahren ein Ver-
hältnis mit dem nicht eifersüchtigen und duldsamen Grafen von
Falbin hat, gewährt während dessen Abwesenheit ihre Liebesgunst
den Herrn Beaugisson und de la Blanchere, die beide mit ihren
Frauen auf dem Schloß der Marqese zu Besuch weilen.
Die Frauen der beiden Liebhaber der Marqese ■erraten die
wahre Sachlage, sie sind aber nicht über ihrer Ehemänner Untreue
ärgerlich, denn sie sind verständig genug, um zu wissen, daß „gar
viele Männer außer der Ehe ihr Vergnügen suchen."
Während die Herren von Beaugisson und de la Blanchere
den ganzen Tag mit der Marqese beschäftigt sind, unternehmen
ihre Frauen, Laurence und Am61ie, weite Spaziergänge in die Um-
gegend. Beide lernten sich schon im Kloster kennen, und sind
seit Jahren eng befreundet.
Sie stoßen im Walde auf einen Eremiten, der ihnen seine
Lebensgeschichte erzählt Er war Offizier in den Kriegen
Napoleon's I.; bei dem Eindringen in ein Kloster hat er nachts
eine Nonne besessen, am andern Tage erkennt er an ihrem
Bildnis, das er mitgenommen, die Geliebte, die ihm als Gattin
von den Eltern verweigert worden war und von ihm seit Jahren
vergeblich gesucht wurde.
Seit dieser Zeit ist er Eremit geworden. In dem Bilde der
Nonne erkennen die beiden Frauen die Oberin des Klosters, in
dem sie erzogen wurden.
Am Ende der Erzählung erwacht die Sinnlichkeit des Eremiten
und er will seine Zärtlichkeiten den beiden Frauen aufdrängen,
die vor ihm fliehen.
Seit diesem Abenteuer „empfinden die beiden Frauen eine
für die andere eine neue Freundschaft, zarter auf Seite von
Am61ie, lebhafter auf Seite von Laurence.*
„Sie gingen umher, sich um die Hüften haltend oder
wenn sie saßen, faßten sie sich die Hände.
Der Liebesgedanke äußerte sich bei ihnen durch un-
schuldige Liebkosungen, in denen sie die Erregung ihres
Herzens stillten. Sie küßten sich bei jedem Anlaß,
kitzelten, liebkosten sich. Die Küsse von Amelie waren
lang und zaghaft, die von Laurence heftig und kühn.
Beide horchten auf beim geringsten Lärm, beim Ge-
räusch eines fallenden Blattes oder dem Flug eines
Vogels."
Die Ehemänner von Am£lie und Laurence sind mißmutig und
gegenseitig eifersüchtig wegen der Marqese. Jeder möchte sie
— 1127 —
allein besitzen. Die demnächstige Rückkehr des Grafen von
Falbin veranlaßt die beiden Männer mit ihren Frauen abzureisen.
Amglie und Laurence bleiben am letzten Abend lange allein
im Salon sitzen und finden sich in Liebe.
Am andern Tage, als sie in den Wagen zur Abfahrt steigen,
drehen sie sich noch einmal um und werfen dem Schloß einen
Kuß zu.
„Sie waren glücklich, war es nicht da, wo sie gelernt
hatten, der reizenden Freundschaft, die sie vereinte, das
hinzuzufügen, was ihr gewöhnlich fehlt, um sie der Liebe
gleich zu machen, das Vergnügen?"
Nicht als Laster oder angeborene Neigung, sondern
— wie dies so oft in Frankreich bezüglich der weiblichen
Homosexualität geschieht — als unschuldiges Vergnügen j
zweier Frauen, als Krönung ihrer Jahre langen inuigen '
Freundschaft skizziert R^gnier das homosexuelle Empfinden
von Amalie und Laurence. Nachsichtig lächelnd teilt er dem
Verhältnis der beiden Frauen die schönere, edlere Rolle zu
gegenüber der Lüsternheit des Eremiten, der weiten Herzens-
gastfreundschaft der Marqese und der Untreue der Ehe-
männer. Aber nicht beweisen und lehren soll die kleine Ge-
schichte, die R^gnier selbst „histoire galante u betitelt. Sie will
nur eine anmutig-erotische, in vollendetem Stil geschriebene j
Erzählung im Genre des 18. Jahrhunderts, ein feinfarbiges J
Gemälde k la Fragonard sein, über das des Verfassers J
Ironie leicht hingleitet. !
Rlgal, Henry: Sur le mode sapphique (L'effort).
Das Buch ist im Mercure de France, Oktobernummer
1902 S. 203, angeführt und von Pierre Quillard besprochen.
Es ist mir jedoch nicht gelungen, das Werk in Paris auf-
zutreiben. Ich muß mich daher mit den kurzen Bemer-
kungen von Quillard begnügen.
Danach handelt es sich um 12 kleine Gedichte mit
einem Epigraph von Pierre Lonys:
„Wenn ein Liebespaar aus zwei Frauen
sich zusammensetzt, so ist es vollkommen."
— 1128 —
Quillard sagt ungefähr:
»In Wechselstrophen entrollt sich die Liebschaft von
Chrysea und MnaYs in einer sanften ionischen Landschaft; aber
es ist das Los liebesgewandter Freundinnen, eines Abends Er-
müdung zu zeigen, und weil ein junger und kräftiger Hirte
Chrysea betrachtet hat, träumt sie seither von stärkerer und
besserer Liebe.
Die Idylle entbehrt nicht einer gewissen wollüstigen Grazie,
obgleich man, wenn der Titel nicht wäre, sich irren und glauben
könnte, die Liebschaft zwischen Chrysea und MnaYs spiele sich
zwischen einem Mädchen und einem Epheben ab."
Willy, Claudine ä l'Ecole (Paris: Ollendorf. Titelbild
von E. della Sudda).1)
Claudine, die 15jährige Tochter eines in seine Studien ver-
tieften Gelehrten, wächst heran völlig sich selbst überlassen, sie
schildert die Eindrücke ihres letzten Schuljahres und ihrer
Examenszeit.
Intelligent, aufgeweckt, geistreich, aber ausgelassen, respekt-
los und mutwillig wie ein Junge überschüttet sie alles, Mitschüle-
rinnen, Lehrer und Lehrerinnen mit gleichem Spott, humorvoller
Ironie und Skepticismus.
An der der Vorsteherin der Schule beigeordneten Lehrerin,
der hübschen 19jährigen Aimee Lanthenay findet Claudine großen
Gefallen, ihre Gegenwart erfüllt sie mit Entzücken, sie läßt sich
von ihr englische Privatstunden geben, nur um sie öfters sehen
und küssen zu können.
Aber die Vorsteherin, die häßliche, rothaarige Frl. Sergent
liebt selbst Aim£e und veranlaßt sie mit Claudine zu brechen.
Frl. Sergent und Aim6e werden intime Freundinnen. Sie
schlafen in einer Stube und sind unzertrennlich. Selbst während
der Schulstunden, wenn sie sich nicht beobachtet glauben, lachen
und kichern sie miteinander wie zwei verliebte Turteltauben.
Sogar in den Pausen schließen sich beide ein.
„Oft schon ist das Paar von plötzlich eintretenden
Schülerinnen überrascht worden", (erzählt Claudine),
„aber man fand sie so zärtlich umschlungen oder so
*) Die drei Romane von Willy über Claudine enthalten auch
Schilderungen männlicher Homosexualität, besonders der zweite
Band „Claudine ä Paris"; die Darstellung weiblicher homosexueller
Gefühle Überwiegt aber, deshalb die Aufnahme unter die Rubrik
der weiblichen Homosexualität.
— 1129 —
vertieft in ihrem Geflüster oder Frl. Sergent ihre kleine
Aimee mit so vieler Hingabe auf ihrem Schoß haltend,
daß die Dümmsten davon bestürzt waren und auf ein
„Was wollt Ihr noch" von der Roten, schnell fortliefen,
entsetzt durch das wilde Runzeln ihrer dichten Augen-
brauen. Ich wie die andern bin oft plötzlich eingedrungen,
und sogar ohne Absicht manchmal; die ersten Male,
wenn ich es war und sie allzunahe aneinander waren,
stand man schnell auf oder man gab vor, die aufgelöste
Haartracht der Andern in Ordnung zu bringen, schließ-
lich haben sie sich nicht mehr wegen mir Gewalt ange-
tan. Dann hafs mir keinen Spaß mehr gemacht."
Die Schwester von Aimee, die junge Luce, ist Mitschülerin
von Claudine. Aimee behandelt sie schlecht. Luce stellt sich
unter den Schutz von Claudine und verliebt sich in sie. Luce
sucht alle Gelegenheiten, um mit Claudine allein sein zu können,
sie drängt sich an sie heran, streichelt sie, „schließt fast ihre
grauen Augen und öffnet ihren kleinen frischen Mund,* aber sie
reizt Claudine nicht.
„Diesen Morgen", berichtet Claudine, „habe ich sie
weich geschlagen, weil sie mich in der Scheune küssen
wollte, sie hat nicht geschrien und fing nur an zu weinen,
bis ich sie tröstete, indem ich ihr die Haare streichelte.
Ich habe ihr gesagt: Dummes Ding, Du wirst schon
Zeit genug haben, diesen Überfluß an Zärtlichkeit später
zu stillen, wenn Du in die Normalschule eintreten wirst.
Du wirst keine zwei Tage dort sein, als schon zwei
„dritten Jahres" sich wegen Dir, ekelhaftes Tierchen,
entzweit haben werden.
Sie läßt sich mit Wollust beschimpfen und wirft mir
Blicke des Dankes zu."
Schließlich richtet Luce einen Brief an Claudine, indem sie
um ihre Liebe fleht. Aber Claudine liebt nicht „Menschen, die
sie beherrscht". Sie gibt Luce den Brief in tausend Stücken zer-
rissen zurück.
Gegenüber Aim6e und Frl. Sergent wird Claudine manchmal 1 1
recht frech und ausgelassen. Einmal kommt es zur Aussprache \.
zwischen der Vorsteherin und Claudine. Frl. Sergent: I
„Unsere Beziehungen haben gleich schlecht begonnen. i
Es ist Ihre Schuld. Sie haben sich voll schlechten Willens l
gezeigt gleich von Anfang an und Sie haben meine
Zuvorkommenheiten zurückgewiesen. Sie hatten mir
jedoch intelligent und hübsch genug geschienen, mich
zu interessieren, die ich weder Schwester noch Kind habe."
— 1130 —
(„Beim Teufel, denkt Claudine, wenn ich je gedacht
hätte . .! Man kann mir nicht deutlicher erklären, daß ich
ihre kleine „Aim6e" gewesen wäre, wenn ich gewollt
hätte. Nun! nein, es sagt mir nichts, selbst wenn ich
zurückdenke. Und doch, auf mich wäre Fräulein Lanthenay
eifersüchtig zur Stunde. Welche Komödie!")
„Es ist wahr, Fräulein," erwiderte Claudine. „Aber
notwendigerweise hätte es eine schlechte Wendung ge-
nommen, wegen Frl. Lanthenay; Sie haben einen solchen
Eifer entwickelt ihre Freundschaft zu gewinnen und die-
jenige zu zerstören, die sie mir etwa entgegenbringen
konnte. Lange bin ich deswegen wütend gewesen,
verzweifelt sogar, weil ich fast so eifersüchtig bin wie
Sie . . . Warum haben Sie Aim£e genommen? Ich habe
soviel Leid gehabt, ja, da seien Sie zufrieden, es hat
mir viel Leid getan . . . Aber ich habe gesehen, daß sie
nicht an mir hielt, an wem hält sie? Ich habe auch
gesehen, daß sie wirklich nicht viel wert war: es hat
mir genügt. Ich habe gedacht, daß ich genug Dumm-
heiten machen würde, ohne die zu begehen, den Sieg
über Sie davon zu tragen."
Das letzte Drittel des Buches ist ausgefüllt mit der höchst
amüsanten Beschreibung des Examens, den Claudine aufs glän-
zendste besteht.
Willy: Claudine ä Paris (Paris, Ollendorf).
Claudine kommt mit ihrem Vater nach Paris. Sie erneuern
Bekanntschaft mit einer alten entfernten Verwandten. Deren Enkel
Marcel, ein 17j ähriger Junge, wird bald der beste Kamerad von
Claudine.
Marcel sieht aus, wie ein Mädchen in Hosen. Claudine be-
schreibt ihn wie folgt:
„Blonde Haare, ein bischen lang, den Scheitel auf
der Rechten, ein Teint wie der von Luce, blaue Augen
einer kleinen Engländerin und nicht mehr Schnurrbart
wie ich. Er ist rosig, spricht sacht, mit einer besonderen
Art seinen Kopf ein bischen auf der Seite zu halten,
indem er zu Boden schaut — man möchte ihn aufessen.
.... Er ist angezogen wie das Bild eines Mode-
journals. Und dieser Gang, dieser wiegende und rut-
schende Gang! Diese Art sich umzukehren, indem er
sich auf einer Hüfte herumbiegt. Nein, er ist allzu schön.
Marcel fragt Claudine über ihre Schulzeit und insbesondere
über ihre Freundinnen aus, sie hat ihm von Luce gesprochen und
er sofort eine homosexuelle Liebschaft erratend, möchte Nähe-
— 1131 —
res wissen. Marcel hat einen schönen gleichalterigen Freund,
Charlie Gonzales. Claudine erblickt dessen Photographie in
Marcel's Zimmer. Mit Feuer und Begeisterung spricht Marcel von
seinem Freund, rühmt seine weiße Haut, seine schwarzen Haare,
seine so reizende Seele.
Auf seine Lobeshymne antwortet ihm Claudine:
„Ich verstehe, Sie sind seine Luce" nnd als Marcel
erschrocken auffährt, Ja, seine Luce, sein Spielzeug,
sein Liebling, was! Man braucht Sie nur zu sehen,
gleichen Sie denn einem Manne? Das ist es also,
warum ich Sie so hübsch fand!"
Claudine versichert ihm dann, daß sie ihn necken wollte, ihm
aber keine Unannehmlichkeiten bereiten werde.
„Es gibt viele Dinge, die ich sehr gut im Stillen be-
trachten kann."
Allerdings, „diese kleinen Vergnügungen heißt man
bei Äädchen „Spielereien von Schülerinaen," aber wenn
es sich um Buben von 17 Jahren handelt, ist es fast
eine Krankheit."
Später muß Claudine Genaueres über die Liebe von Luce
Marcel erzählen, mit wollüstiger Neugierde und perversem Inte-
resse möchte er Einzelheiten über die Leidenschaft von Luce er-
fahren.
Seinerseits berichtet er über sein Verhältnis mit Charlie. In
der Schule lernte er ihn kennen. Zu Charlie allein, der durch seine
Schönheit und Eleganz unter den übrigen schmutzigen und un-
ordentlichen Schuljungen hervorragte, fühle er sich hingezogen.
Beide verstanden sich bald. Als jedoch dem Vater Marcel's ein
Liebesbrief Charlie's an seinen Sohn in die Hände geriet, wurde
Charlie von der Schule fortgeschickt, doch das Verhältnis der
beiden Jungen dauert fort.
Marcel zeigt Claudinen einen Brief Charlie's mit Beteuer-
ungen schwärmerischer Liebe und heroischer Freundschaft, ver-
mengt mit Exkursen über die homosexuelle LHteratur und die
berühmten geschichtlichen Freundschaften.
In Paris begegnet Claudine zufällig Luce. Diese ist völlig
verändert und lebt als die glänzend unterhaltene Maitresse eines
alten alleinstehenden Onk&ls.
Luce hat Claudine nicht vergessen, ihre Liebe zu ihr lodert
aufs Neue auf und wieder ist sie im Begriff ihre Zärtlichkeiten
Claudinen aufzudrängen. Aber diese stößt sie zurück und eilt
trotz ihrer Bitten davon.
„Es ist nicht das erste Mal, daß diese unverbesser-
liche Luce mich in Versuchung zu bringen trachtet und
nicht das erste Mal, daß ich sie schlage. Aber eine
— 1132 —
Erregung hat mich ergriffen. Eifersucht vielleicht,
ein stummer Groll bei dem Gedanken, daß diese Luce,
welche mich anbetete, mich auf ihre Art anbetet, sich
frohgemut einem alten Sünder hingeworfen hat. Und
Ekel, Ekel gewiß!"
Der Vater von Marcel, Renaud, ein überlegener Weltmann
von 45 Jahren, gewinnt Interesse für die eigenartige Claudine, die
ihrerseits in Renaud den ersten Mann findet, der ihr Achtung
und Liebe einflößt. Sie verlobt sich mit Renaud.
Willy: Claudine en manage (Paris Ollendorf 1902).
Claudine hat sich mit Renaud verheiratet, sie hat nichts von
der schüchternen, mit Scheu den Geheimnissen des Ehelebens
entgegensehenden jungen Frau. Sie liebt ihren Gatten geistig
und körperlich. Wie zwei gute Kameraden sprechen sie beide
über ihre Vergangenheit und über ihre intimsten Regungen.
Beide besuchen den Geburtsort Claudine's und die Schule
von Frl. Sergent. Durch Schülerinnen erfährt Claudine, daß das
Liebesverhältnis zwischen den beiden Lehrerinnen fortdauert.
Mit Wehmut gedenkt Claudine der Schulzeit und der treu-
ergebenen Luce, eine Sehnsucht beschleicht sie nach dieser, die
sie so schlecht behandelte und im Grunde doch geliebt hat.
Neue Schülerinnen haben die früheren ersetzt. Eine besonders,
Helene, gefällt Claudine. Sie hätte leichtes Spiel sie zu gewinnen,
mit Lust pflückt sie den Abschiedskuß auf ihren Lippen.
In Paris geht Claudine nur mit Widerwillen in Gesell-
schaft, aber ihr Mann, der reiche und bekannte Schriftsteller,
kann sich nicht völlig zurückziehen. Claudine wird von ver-
schiedenen Männern umworben, alle lassen sie kalt, aber sie ist
„auch nicht für Frauen".
Sie liebt mit allen ihren Sinnen ihren Mann und doch be-
schleicht sie ein Gefühl des Unbefriedigtseins.
Claudine lernt eine schöne Engländerin, Frau Rezi Lambrock,
kennen, die Eindruck auf sie macht. Sie befreunden sich, Claudine
mit ihren kurzgeschorenen Haaren, ihrem jugendlichen knaben-
haften Aussehen gewinnt das Herz der Engländerin.
Renaud errät die gegenseitige Anziehung der beiden Frauen.
„Wegen meines abgeschnittenen Haares und meiner
Kälte gegen sie, sagen die Männer: „Sie ist für Frauen."
Denn, es ist sinnfällig: wenn ich nicht die Männer
liebe, muß ich die Frauen begehren, o Einfältigkeit des
männlichen Geistes!
Übrigens scheinen mir die Frauen — wegen meines
geschnittenen Haares und meiner Kälte gegenüber ihren
— 1133 —
Gatten und Geliebten — zur gleichen Ansicht wie sie
hinzuneigen.
Ich habe in der Richtung nach mir hübsche neugierige
Blicke aufgefangen, verschämte und flüchtige Errötungen,
wenn ich einen Augenblick meine Augen auf der Grazie
eines sich darbietenden Halses ruhen lasse."
Er ist aber nicht eifersüchtig, im Gegenteil er fragt Claudine
über ihre Gefühle für Rezi aus, er will wissen, wie weit ihr Ver-
hältnis gediehen ist.
Solche Zärtlichkeiten und sexuelle Spielereien zwischen
Frauen seien bedeutungslos.
Und doch ist Renaud wegen Marcers Homosexualität be-
trübt und bekümmert.
„Immer dasselbe Lied, meine Liebe. Mein reizender
Sohn mitrailliert mit neogriechischer Literatur einen
Jungen aus guter Familie. Du sagst nichts mein Kind?
Ich, ich sollte daran gewöhnt sein! Leider! aber diese
Geschichten packen mich mit einem solchen Grauen.
Warum? (fragt Claudine).
Renaud springt auf.
Wie, warum?
Warum, wollte ich sagen, mein lieber Großer,
lächeln Sie, angelockt fast billigend bei dem Ge-
danken, daß Luce mir eine allzuzärtliche Freundin
war? bei der Hoffnung, ich wiederhole es, bei der
Hoffnung, daß Rezi eine glücklichere Luce werden könnte?
— Es ist das nicht dasselbe!
— Gottlob nein, nicht ganz.
— Nein, es ist nicht dasselbe! Ihr könnt alles Euch
erlauben, ihr Frauen. Es ist reizend und es ist ohne
Bedeutung.
— Ohne Bedeutung ... ich bin nicht Ihrer Ansicht!
— Doch, ich behaupte es! Es ist zwischen Euch,
hübsche Tierchen eine, wie soll ich sagen, eine Tröstung
für djen Verkehr mit uns, eine Abwechselung, die Euch
beruhigt.
— O?
— . . . oder wenigstens euch entschädigt, das logische
Suchen nach einem vollendeten Partner, nach einer
Schönheit der euren ähnlicher, in der sich eure Sensi-
bilität und eure Schwächen sich abspiegeln und wieder-
erkennen. Wenn ich es wagen würde (aber ich wage
es nicht), würde ich sagen, daß gewisse Frauen die
Frau brauchen, um ihren Geschmack für den Mann zu
bewahren."
— 1134 —
Claudine's Neigung zu Rezi wird trotz ihrer Liebe zu Renaud
immer heftiger und entwickelt sich zur sinnlichen Leidenschaft.
Sie kämpft eine Zeit lang mit sich selbst, widersteht aber schließ-
lich nicht mehr. Sie wird den Bitten Rezi's folgen und sich ihr
hingeben. Aber Beide wissen nicht, wo sie in Ruhe ihre Liebe
bergen können. Bei Rezi laufen sie Gefahr von deren eifer-
süchtigem Gatten überrascht zu werden, bei Claudine ist die
neugierige Dienerschaft störend.
Schließlich veranlaßt Rezi Claudine ihren eigenen Gatten zu
bitten, einen Zufluchtsort für sie zu finden. Renaud, der alle
Phantasien Claudine's gutheißt, der auch die intimsten sexuellen
Beziehungen zwischen den beiden Frauen mit entschuldigendem
und fast freudigem Lächeln ansieht, besorgt ihnen ein Logis, wo
sie sich nachmittags treffen können. Er selbst gibt Rezi den
Schlüssel. Später begleitet er selbst die Frauen in ihr Liebes-
nest, tändelt mit Rezi, macht geistreiche Anspielungen auf die
Liebesszene zwischen den Frauen, die folgen wird u. s. w.
Claudine empfindet selbst für ihren Mann Scham und dann
besonders Eifersucht, daß Renaud sich so vertraut und freund-
schaftlich mit Rezi benehme.
Claudine ist eine Zeit lang krank. Während ihrer Genesung
begibt sie sich eines Tages von einem Verdacht getrieben in die
Wohnung ihres früheren Stelldicheins mit Rezi. Sie findet dort
Renaud und Rezi zusammen. Beide hatten sie hintergangen.
Claudine ist zuerst unerbittlich gegen Renaud. Sie reist nach ihrem
Heimatsort und will ihren Gatten nie mehr wiedersehen. Doch
bald besinnt sie sich auf seine bittenden und zärtlichen Briefen
hin eines Andern.
Sie verzeiht ihm, er hat ja doch nur mit Rezi gemacht, was
sie selbst mit so wenig Unterschied mit ihr gemacht hat.
Nach Paris will sie aber nicht zurück. Renaud soll zu ihr,
zu seinem liebenden Weibe kommen, die nicht weiter ohne ihren
geliebten Gatten leben kann.1)
*) Alle drei Romane von Willy sind auch in deutscher Über-
setzung erschienen und zwar von Georg Nördlinger (Verlag von
G. Grimm, Budapest 1902.)
Die obigen Citate sind fast alle von mir übersetzt. Die Über-
setzung von Nördlinger ist nicht schlecht, aber, wie mir vorkommt,
etwas vergröbernd, nicht immer die exakte, allerdings schwer zu tref-
fende Nuance des Originals wiedergebend.
Die Ausstattung, d. h. namentlich das äußere vulgäre Decken-
bild des 3. Bandes paßt nicht zu dem Geist des Originaltextes und
würde auf ein ordinäres Machwerk hinweisen.
— 1135 —
In Claudine hat Willy eine Frauengestalt von sel-
tener Individualität und Urwtichsigkeit geschaffen, ultra-
modern und doch von natürlicher Weiblichkeit und
Frische, eine wilde Pflanze, die in einer Treibhausluft
aufgewachsen wäre.
Das instinktmäßige, triebartige Handeln, das Nach-
geben allen Regungen und Begehren, das lebhafte Fühlen
und persönliche Empfinden charakterisiert dies kraftvolle
Wesen, die Claudine ist. j
Hauptsächlich im ersten Roman „ Claudine ä Pecole" j
lebt das prachtvolle Exemplar des angehenden Weibes j
in dem Ungestüm seiner Triebe, seiner Aufrichtigkeit und i
Verschlagenheit, Offenheit und Tücke. i
Die Homosexualität spielt in allen drei Romanen
eine nicht unbedeutende Rolle. Die Zeichnung des mann- '
liehen Homosexuellen „Marcel* ist klar und einfach.
In Marcel begegnet man dem typischen Effeminierten und v
geborenen Homosexuellen, dessen weibische Veranlagung in j
Gang, Bewegung, Sprache, Neigungen, Charakterzügen deut- !
lieh sich ausprägt. Claudine (und Willy) hält ihn für einen
Kranken und Degenerierten. Eigentümlich ist die ver-
schiedene Auffassung, welche Willy (durch den Mund
Claudine's und Renaud's) über die weibliche und männliche
Homosexualität ausspricht. Während Marcel's Neigung
Krankheit heißt, werden die geschlechtlichen konträren
Handlungen der Weiber reizende Spielereien ohne Be-
deutung genannt. Eine verschiedene Beurteilung der
männlichen und weiblichen Homosexualität wird auch
tatsächlich im allgemeinen in Frankreich gemacht. Wenn
auch die weibliche Homosexualität nicht die Duldung
erfährt, die Renaud ihr zukommen läßt, und immerhin als
Laster betrachtet wird, so begegnet sie doch nicht dem
harten Verdammungsurteil, dem die männliche Homo-
sexualität anheimfällt.
— 1136 —
Selten läßt man die Entschuldigung der Krankhaftig-
keit gelten und spricht einfach von abscheulicher Morali-
tät des Homosexuellen.
So bemerkte mir letzthin ein heterosexueller Franzose,
als ich ihm das schöne Buch eines der gefeiertsten weltbe-
kannten französischen Schriftsteller rühmte, mit einer Miene
der Verachtung: „ich liebe X nicht und dann ist er ein
Mann von scheußlichster Moralität, ich habe es von
einem seiner Kollegen bestimmt erfahren, er ist „für
Männer" und, denken Sie sich, er ist nicht einmal aktiv,
sondern passiv.1)*
Bei Willy erscheinen die homosexuellen Gefühle der
Frauen nicht als lasterhaft, ebensowenig sind diese
Weiber als Kranke oder Vertreterinnen einer besonderen
Menschenklasse, als sexuelle Zwischenstufen aufgefaßt.
Die homosexuellen weiblichen Neigungen sind vielmehr
als natürliche Empfindungen normaler Personen, als natür-
liche Gefühlsvarietäten betrachtet.
Deshalb zeigen alle Weiber, die in den Romanen
auftreten, Hang zu Liebeleien mit ihren eigenen Geschlechts-
genossinnen, sie lieben Mann und Frau, wie sich die
Gelegenheit trifft. Aus des Verfassers liebevoller Dar-
stellung leuchtet sein halb ernsthaftes, halb spaßhaftes
Vergnügen an diesen „ Spielereien u hübscher Frauen
hervor, das ihn aller Wirklichkeit zum Trotz in jeder
Frau ein zu conträren Zärtlichkeiten neigendes Weib er-
blicken läßt
Obgleich Claudine als normale Frau gedacht ist,
bietet doch die gesamte Darstellung ihres Charakters das
Bild der psychischen Hermaphrodisie.
*) Der betreffende Schriftsteller — eine Zierde der französi-
schen Literatur — soll tatsächlich homosexuell sein und steht
wenigstens ziemlich allgemein in diesem Ruf. Seine Romane ver-
raten echt weibliches Empfinden und eines seiner Werke behandelt
eine — wenn auch verschleiert dargestellte — homosexuelle Liebe.
— 1137 —
Schon in der Schule liebt sie mit stürmischer, plötz-
lich entfachter Leidenschaft Aim6e Lanthenay und zwar
nicht aus entgleistem Trieb, oder unbestimmtem Drang
der Pubertätszeit, da sie die Bewerbungen der Männer
ausschlägt, weil gerade diese Liebhaber ihr mißfallen.
Später tritt ihre Neigung bei der Bekanntschaft mit
Rezi unwillkürlich wieder hervor, auch hier nicht infolge
Verführung, Überdruß am Mann oder sonstigen äußeren
Ursachen, denn sie liebt gleichzeitig ihren Mann auf-
richtig und findet bei ihm völlige sinnliche und geistige
Befriedigung. Ja selbst ein gewisser sadistischer Zug
tritt in ihrem Benehmen gegenüber Luce hervor.
Den seltsamsten Teil der drei Romane bildet die
Darstellung des Verhältnisses zwischen Claudine und
Rezi und die Stellung Renaud's zu demselben.
Mancher Leser wird sich vielleicht entsetzen ob
dieses Ehemanns, der seine Frau auf den Weg von Lesbos
hinlenkt und ihre homosexuelle Liebschaft beschützt.
Der juristisch und strafrechtlich Geschulte wird vielleicht
in Renaud den schweren qualifizierten Kuppler verurteilen,
der die mit homosexuellem Treiben complizierte Unzucht
seiner Frau duldet und begünstigt. Auch abgesehen von
solchen moralischen Erwägungen wird man doch der amü-
santen Gestalt des eigentümlichen Ehemanns den Mangel
künstlerischer Wahrscheinlichkeit vorwerfen können.
Allerdings mag man sein Verhalten aus seiner ein-
mal gegebenen milden Anschauung über weiblichen con-
trären Verkehr erklären und aus dem Motiv, durch Ab-
lenkung des Gefühls auf homosexuelle Bahnen gefähr-
licherem Ehebruch seiner Frau mit einem Mann vorzu-
beugen.
Aus dem gegenseitigen Ehebruch beider Ehegatten,
der trotzdem das Eheglück nicht stört, und ihrer Wieder-
vereinigung nach kurzer Trennung kann man auch eine
Lehre der Nachsicht und des Vergebens gegenseitiger
— 1138 —
Untreue und Fehler herauslesen, eine Moral fiir duldsame
Eheleute, wonach milde Beurteilung ihrer Fehler unerbitt-
lichem Groll vorzuziehen, und verträgliches, ja glückliches
Zusammenleben als Preis verständnisvollerer Ein-
sicht erworben und erhalten wird. Aber alles dies be-
rechtigt nicht zu dem Lob, das z. B. Rachilde im Mercure
de France dem Buch spendet.
Das Dreigespann Claudine, Rezi, Renaud würde
eine vertieftere Analyse erfordert haben, eine Charakte-
ristik, die die seelischen Wandlungen der Persönlich-
keiten dem Verständnis näher gebracht hätte.
Alle drei Bücher sind in dem Geist eines Schlingels
von einem Mädchen geschrieben, das mit hervorragendem
Talent, mit ungemeiner Beobachtungsgabe, Verve und
Temperament seine Eindrücke und sein Milieu zu schil-
dern verstände.
Alles saust und braust dem ungestümen Charakter der
Erzählerin entsprechend in impressionistischen Bildern,
manches grotesk verzerrt, vor dem Leser vorüber, nament-
lich in Claudine ä l^cole, dem besten der drei Romane.
In Claudine ä Paris wird der Ton etwas ruhiger,
während der 2. Teil von Claudine en Manage mit der
Schilderung des von dem Ehemann geduldeten homo-
sexuellen Verhältnisses der beiden Frauen in die para-
doxe Farce ausartet.
Das Schwelgen in ungewöhnlichen, psychologischen
Variationen und Combinationen , eine gewisse Sucht
zu verblüffen und Willy's Vorliebe zu geistreichem Spott
und Ironie (wovon er in dem Figaro unter dem anderem
Pseudonym *) „POuvreuse* seit Jahren glänzende Proben ab-
gelegt hat), stempeln Claudine en Manage zu einem zwar
psychologisch interessanten, aber künstlerisch minder-
wertigen Roman.
*) Der wahre Name von Willy ist Gauthior- Villars.
— 1139 —
Kapitel III.
Besprechungen des Jahrbuches*).
1) Ärztliche Zentral-Zeitung (Wien) 13. Dezember:
Darlegung des Wesens der Homosexualität, die leider von
Vielen noch in das Gebiet der willkürlichen und lasterhaften
Ausschweifungen verwiesen werde, ein Standpunkt, den unglück-
licherweise auch noch die Strafgesetze einer Anzahl von Staaten
teilten. Daran anknüpfend Hinweis auf das die Beseitigung der
Strafe gegen die Homosexualität bezweckende Komitee und Her-
vorhebung der wichtigsten Aufsätze des Jahrbuchs.
Zahlreiche hübsche Holzstiche schmückten vorteilhaft das
Werk und förderten wesentlich das Verständnis des interessanten
und anregenden Inhalts. Das Jahrbuch möge unter den Ärzten
und Juristen die weiteste Verbreitung finden und die edlen Zwecke
des Komitees wirksam fördern.
2) Allgemeine Deutsche Universitäts-Zeitung
15. Januar 1903.
Besprechung von Hanns Fuchs in ähnlichem Sinne wie die
weiter unten erwähnte der Politisch-Anthropologischen Revue.
3) Archiv für physikalisch-diätetische Therapie
in der ärztlichen Praxis (Herausgeber Dr.
Ziegebrock), 15. Juli:
Die Jahrbücher werden als außerordentlich lehrreich, in
anthropologischer wie rein praktischer Hinsicht gleich wertvoll
bezeichnet. Mehr noch, wie seine Vorgänger, enthalte Band 4
eine geradezu überwältigende Fülle von Material, das zur Beleuch-
tung der sexuellen Zwischenstufen und damit auch zur Klarlegung
normal-physiologischer Zustände von unendlichem Werte sei.
Erst die Abweichungen von der Norm, studiert und beobachtet,
wie sie hier vorlägen, erschlössen das Verständnis der sogen,
normalen Vorgänge. Die Norm sei keine feste und das „Abnorme"
habe tausendfältige Beziehungen zur Norm.
Sodann wird hervorgehoben die geradezu mustergiltige Aus-
stattung des Buches und die Fülle der tadellosen Abbildungen.
*) Wo der Jahrgang der Besprechung nicht angegeben ist,
rührt sie aus dem Jahr 1902 her.
Jahrbuch V. 72
— 1140 —
4) Berliner klinische Wochenschrift, 18. August
(Besprechung von Posner):
Auch wer, wie Referent, der Bewegung bezweckend die
Aufhebung des § 175 zurückhaltend gegenübertrete und keines-
wegs so weit gehe, jeden verkommenen Päderasten als Gegen-
stand des Mitleids und als Objekt rein psychiatrischer Betrach-
tungsweise anzusehen, werde anerkennen müssen, daß das
intimere Studium der Frage mancherlei Neues und Wichtiges ge-
fördert habe und daß jedenfalls in der Beurteilung des Einzel-
falles dem Arzt ein entscheidendes Wort gebühre. Von diesem
Standpunkte aus werde man die Berechtigung anerkennen müssen,
alle auf das Thema bezüglichen Ergebnisse sorgfältig zusammen-
zutragen und als Material für das etwa reformbedürftige
Strafgesetz zu sichten.
Von den Aufsätzen hebt Referent die Arbeit von Neugebauer
sowie diejenige von Karsch hervor. Er bezweifelt, daß die Homo-
sexualität von Johannes von Müller völlig sicher erwiesen sei.
Das Jahrbuch halte sich von sensationeller Aufbauschung
und Erregung von Lüsternheit fern; wer sich für das Gebiet
interessiere, werde mancherlei Stoff zum Nachdenken und zum
Studium finden.
Rezensent scheint der unrichtigen Meinung zu sein,
daß die Päderastie oft als eine lasterhafte Gewohnheit
heterosexueller Wüstlinge sich darstelle. Verkommene
Päderasten können sehr wohl homosexuell geboren sein,
und werden auch oft von Geburt an homosexuell sein.
Die Homosexuellen, welche das Prädikat „verkommen"
verdienen, verdienen dasselbe nicht wegen ihres Treibens,
sondern wegen gröblicher, sittlicher Mängel oder häßlicher
Charakterfehler.
5) Berliner Morgenpost, 26. Juli (Zwischen den
Geschlechtern, von Conrad Albert i):
Alle Welt nähme an, es gäbe zwei fest abgegrenzte Ge-
schlechter; Die Natur schaffe niemals nur Extreme; auch bei den
Geschlechtern seien Zwischenstufen vorhanden. Referent streift
dann die Frage der embryonalen Doppelnatur des Menschen.
Der homosexuelle Trieb sei in der natürlichen Organisation der
Conträren begründet, ein freier Wille komme dabei nicht in Be-
tracht. Die Bestrafung der angeborenen Neigung daher eine Un-
gerechtigkeit und die Bestrebungen des Jahrbuchs zu billigen.
— 1141 —
Mit Recht lege das Jahrbuch besonderen Wert auf den
Nachweis der Homosexualität bei historischen Persönlichkeiten.
Vor Einem aber wolle er, Referent, warnen, nämlich
nicht jedes Produkt eines Schriftstellers als eine persönliche Beichte
aufzufassen. Nichts reize den Künstler mehr, als sich in fremde
Gefühle hineinzuversetzen und sie darzustellen. So sei auch
Goethe nicht homosexuell gewesen, weil er manchmal ähnliche
Töne habe erklingen lassen.
Der Schlußbemerkung von Alberti stimme auch ich
im allgemeinen und speziell hinsichtlich von Goethe bei,
jedoch wird man bei manchen Schriftstellern und Dichtern
aus der Art und Weise, in der sie die Homosexualität
darstellen, aus ihren das innerste Herzensbedürfnis ver-
ratenden Ergüssen, in vielen Fällen die homosexuelle
Natur des Dichters selbst erraten, z. B. bei Platen.
6) Deutsche medizinische Presse, Nr. 18:
Eine Nebeneinanderstellung der Hermaphroditen und Homo-
sexuellen, wie sie im Jahrbuch erfolge durch Aufnahme der Arbeit
von Neugebauer erscheine zwar agitatorisch recht geschickt, die
medizinische und juristische Stellung beider sei jedoch grund-
verschieden. Die Zwitter hätten für ihren nur scheinbar perversen
Trieb eine anatomische Grundlage, ihr Wunsch einer Änderung
ihres Standesamts würde kaum auf behördlichen Widerstand stoßen.
Bei Homosexuellen fehle jede anatomische Stütze, wenigstens
habe noch Niemand die einst behauptete Endigung der Nervi
erigentes bei Homosexuellen nachgewiesen; immerhin seien sie als
kranke oder mindestens abnorme Menschen zu betrachten und
ganz energisch müsse gegen das auch in Jahrbuch IV hervor-
tretende Bestreben protestiert werden, die homosexuelle Liebe
als etwas Natürliches und demnach mit der heterosexuellen Liebe
Gleichberechtigtes hinzustellen.
Referent mißbilligt deswegen einige Sätze von Römer sowie
von Praetorius, namentlich wendet er sich gegen meine Auffas-
sung, wonach es keine Schande sei, wenn die idealere Seite der
Homosexualität zur Entwicklung gebracht würde.
Referent meint: Zu einer weiteren „Entwicklung" der Homo-
sexualität nach irgend einer Richtung beizutragen, scheine ihm
nicht gerade erstrebenswert zu sein. Vom ärztlichen Standpunkte
aus erscheine es vielmehr geboten, die Homosexualität nicht zu
fördern, sondern ihr in jeder Weise zu steuern.
Strafgesetze seien allerdings hierzu nicht das rechte Mittel.
Man möge §175 aufheben, da namentlich § 51 die Homosexuellen
72*
— 1142 —
kaum straffrei mache. Man möge aber nach Aufhebung des
Strafgesetzes aus öffentlichen Mitteln Heilstätten für Homosexuelle
errichten, um auch den Unbemittelten die Möglichkeit einer
Heilung zu bieten. Eine öffentliche Anerkennung der Berechtigung der
krankhaften Triebe der Homosexuellen sei dagegen nicht zu wünschen.
Eine Behandlung der körperlichen Hermaphrodisie
im Jahrbuche halte ich entgegen der Anschauung des
Rezensenten für gerechtfertigt ; denn die körperliche
Hermaphrodisie hat den Charakter der sexuellen Zwischen-
stufe mit der Homosexualität gemein und bildet einen
der zahlreichsten Ringe in der Kette, welche das rein
männliche mit dem rein weiblichen Geschlecht verbindet.
Übrigens kommen auch bei manchen Homosexuellen
anatomisch dem entgegengesetztenGeschlecht entsprechende
körperliche Merkmale vor, namentlich bei den Androgynen
und Gynandern, die Rezensent nicht zu kennen scheint.
An meiner Auffassung, daß eine Entwicklung der
Homosexualität nach der idealen Seite hin, kein Schade
sei, halte ich auch jetzt noch fest. Denn für die Homo-
sexuellen, die nicht geheilt sein wollen und die, die nicht
geheilt werden können, (die Mehrzahl wohl) ist es immerhin
besser, daß eine Veridealisierung ihres Triebes stattfindet,
als daß sie lediglich in dem grobsinnlichen Genuß völlig
aufgehen.
7) Deutsche Medicinische Wochenschrift
Literatur-Beilage, Nr. 6 1903. Besprechung von
Eulenburg:
Das außerordentlich sorgfältig und geschickt redigierte
„Jahrbuch IV" erfreue sich wieder eines reichen und in mannig-
faltiger Weise interessierenden Inhalts. Unter andern wird her-
vorgehoben die sehr vollständige und erschöpfende Bibliographie,
dagegen die Widerlegung von Wachenfeld kaum als durchweg
überzeugend bezeichnet.
8) Deutsche Praxis, Zeitschrift für praktische Ärzte,
25. November:
Es sei ein großes Verdienst des Herausgebers auf einem
Gebiet Wandel zu schaffen, auf dem die medizinische Wissen-
— 1143 —
schaft in erster Linie berufen sei, Klarheit zu schaffen und Grund-
sätze herbeizuführen, vor denen der Jurist Halt zu machen habe.
Die „stattliche Reihe hervorragender Mitarbeiter" wird hervor-
gehoben und die „geradezu splendide Ausstattung" des Jahr-
buchs rühmend anerkannt.
9) Frankfurter Neueste Nachrichten 27. September.
Zweck des Komitees und der Jahrbücher werden auseinander-
gesetzt. Es verdiene hohe Anerkennung, daß sich eine Schar
von Männern zum Kampf gegen die in Deutschland verbreitete
Unkenntnis und gegen die schreiende Ungerechtigkeit zusammen-
getan hätten. Die Jahrbücher zeugten von tiefer Sachkenntnis,
enthielten eine Menge von ernstem und wissenschaftlichen Beweis-
und Aufklärungsmaterial. Es sei zu hoffen, daß sie im Laufe der
Zeit die bestehenden Vorurteile beseitigten, sie seien ein eminent
sittliches Unternehmen.
10) Freistatt. Kritische Wochenschrift für moderne
Kultur (München), 4. November. (Besprechung von
Hanns Fuchs):
Würdigung der Aufsätze des Jahrbuchs. Referent wünscht
Sonderabdruck des „schönen" Aufsatzes „Homosexualität und
Bibel" sowie meiner Widerlegung des Buches von Wachenfeld.
Unter den kleineren Abhandlungen zählt Referent diejenigen des
norwegischen Gelehrten sowie von Merzbach zu den bedeutend-
sten. Jeder, der nicht mit dem festen Willen, seinen gegnerischen
Standpunkt zu behalten, an die Lektüre der Jahrbücher heran-
gehe, werde in ihnen eine Fülle von Anregung und Belehrung
finden. Und da ein so törichtes Wollen doch wohl selten sei, würden
die Jahrbücher erfolgreiche Pioniere werden für eine Zeit, in
welcher jeder Individualität, solange sie der Allgemeinheit nicht
schädlich sei, Existenzberechtigung zuerkannt werde.
11) Die Gegenwart, 24. Januar 1903:
Ruhige Entschiedenheit und sympathischen jeden unzüchtigen
Gedanken ausschließenden Ernst rühmt Rezensent auch an Jahr-
buch IV. Eine tunlichst vollkommene, alle Winkel erleuchtende Auf-
klärung tue not. Handele es sich um eine Naturanlage, so sei die
Strafe unhaltbar. DenBeweis für die Existenz dieses Naturtriebes führe
das Jahrbuch in ziemlich bündiger Weise. Möge man ihm auch
widerstrebend folgen, sogar, wie Rezensent, jedes freundliche
Wort nur sehr widerstrebend niederschreiben — Gerechtigkeit
über Alles: Das Jahrbuch überzeuge am Ende, weil es erschüttere
und rühre. Zu viel Ehrlichkeit, zu viel Mut und Wissen sei
darin.
— 1144 —
12) Juristische Wochenschrift 15. August 1902:
i Besprechung von Kuhlenbeck.
; Kuhlenbeck bespricht das Buch von Bloch und wendet sich
, zugleich gegen die Bestrebungen des Komitees und des Jahr-
I buchs.
Homosexualität sei Entartung, die das Volk vergifte; Bestrebun-
gen zu Gunstensexueller Zwischenstufen wagten mit einer selbst dem
Altertum fremden Schamlosigkeit das Haupt zu erheben, obwohl
schon der Apostel Paulus die Widernatürlichkeit der Homosexualität
als eine der schlimmsten Früchte der verfallenden heidnischen
Civilisation gekennzeichnet habe. Zahlreiche neuere Produktionen
unterstützten diese Bestrebungen.
Gegenüber den Forschungen von Bloch sei die Lehre des
Angeborenseins sexueller Perversitäten nicht mehr haltbar.
Die Aufhebung des § 175 würde nur die betreffenden Ver-
gehen vermehren. Eine zweckmäßige Strafe sei zu verlangen;
auch der Entartete müsse die Folgen seiner Handlungen tragen.
Zum Schlüsse hofft Rezensent, daß die seiner Zeit durch die
, lex Heinze aufgerollte gesetzgeberische Frage betreffend die
| obscöne Litteratur nicht für immer erledigt sein möge.
I Gegenüber den jeder objektiven Würdigung baren, von
( subjektiver blinder Abneigung erfüllten temperament-
vollen Ausführungen des Rezensenten glaube ich auf
j irgend welche Bemerkungen verzichten zu können.
13) Das Kleine Journal 28. Juli (Besprechung von
f Dr. Merzbach).
; Dank hauptsächlich den Bestrebungen des Komitees könnten
i die Homosexuellen ausrufen: „La värite est en marche". Die
Homosexuellen müßten ganz straflos bleiben. Diese edlen Be-
j strebungen unterstütze das Jahrbuch aufs nachdrücklichste. Günstige
« Besprechung der einzelnen Arbeiten. Gelegentlich der Wider-
legung von Wachenfeld's Buch tadelt Referent gleichfalls, wie ich
es getan, daß Wachenfeld und auch Bloch, dessen „Beiträge zur
Aetiologie der psychopathia sexualis", eine herbe Kritik heraus-
' forderten, vom grünen Tisch aus die Homosexuellen beurteilten.
Wer die Homosexuellen verstehen wolle, der solle unter sie
| treten und sie als Menschen und vor allem als sehr brauchbare
i Menschen kennen lernen, die weder anders Denkende zu bekehren
sich unterfingen, noch Gelüste ä la Sternberg heterosexuellen
! Angedenkens, an den Tag legten.
Man habe in dem Jahrbuch ein großes, bedeutungsvolles,
wissenschaftliches Faktum vor sich, an dem auch die praktische
— 1145 —
Jurisprudenz nicht länger achtlos vorübergehen könne. Die
Revision des Strafgesetzbuches stehe ja bevor. Also videant
praetores!
14) Kleine Presse: 22. Juni.
Das Jahrbuch mit seinem großen ärztlichen und juristischen
Material sei dazu angetan, die Frage, ob nicht § 175 grausam
für die abnorm Veranlagten sei, wachzuhalten. Die Ansicht, daß
die Gesetze auf die Normalmenschen zugeschnitten sein müßten,
werde so bald nicht schwinden, besonders wegen der Befürchtung
einer Verwirrung des natürlichen Gefühls im Falle der Straf-
losigkeit des gleichgeschlechtlichen Verkehrs.
Aber die gerechtere Auffassung, daß bei der Verletzung des
§ 175 meistens Unglückliche, krankhaft Veranlagte und nicht
etwa nur verächtliche, verdorbene Lüstlinge in Betracht kämen,
gewinne doch wohl immer mehr an Boden, und dazu trage auch
das Jahrbuch seinen Anteil bei.
17) Medizinisch - Chirurgisches Centralblatt
(Wien) 26. September (Besprechung von Dr. Segel).
Über die Bestrebungen des Komitees und des Dr. Hirschfeld
gäbe es wohl unter den Gebildeten der ganzen Welt nur ein
Urteil, gelte nur ein Wunsch: daß nämlich der mit den edelsten
Mitteln geführte Kampf gegen Gesetze, die vor der Wissenschaft
und Humanität längst nicht mehr bestehen könnten, bald von
Erfolg gekrönt sein mögen. Referent meint dann, es sei um so
betrübender, daß die meisten Beiträge, mit wenigen Ausnahmen,
namentlich mit Ausnahme der exakt wissenschaftlichen Arbeit von
Neugebauer nicht auf der Höhe ihrer Mission stünden. Nament-
lich gelte dies von den historischen Arbeiten des Jahrbuchs, auf
die besonderes Gewicht zu legen gewesen wäre. Die einen be-
friedigten nicht durch das Skizzenhafte, Unvollendete ihrer Art,
die anderen ermüdeten durch eine Unsumme von Details, die wohl
in einer Monographie, nicht aber in einem der Propaganda und
Belehrung dienenden Werke am Platze seien. Immerhin läge ein
Stück ehrlicher Arbeit vor, von dem er, Referent, laut wünsche,
daß es nicht vergeblich getan worden sei.
Es ist nicht meine Sache den Wert der Aufsätze
des Jahrbuches zu verteidigen. Die Aufsätze sollen der
Propaganda und Belehrung dienen, aber in erster Linie
sollen sie wissenschaftlichen Charakter aufweisen und
durch diesen Charakter der Wissenschaftlichkeit und
Wahrhaftigkeit wirken. Diesen Eigenschaften begegnet
— 1146 —
man aber gerade in hohem Maße bei Kars ch's Aufsätzen,
die allerdings nicht immer eine sog. leichte Lektüre
sind und — glücklicherweise — es auch nicht sein wollen
und sollen.
18) Medizinische Reform: Wochenschrift für sozi-
ale Medizin 9. August. Zur Sociologie der
konträren Sexualität von M. Eichhorn.
Die öffentliche Meinung betrachte leider immer noch die
Homosexualität als Verirrung und Zeichen von Dekadenz.
Ungerechtigkeit des § 175. Die Konträrsexuellen, wenn
auch nicht gleichartig, so doch vollkommen gleichberechtigt gegen-
über den normal Empfindenden. Die geschlechtlichen Anomalien
beruhten teils auf physiologischer Zwitterbildung, teils auf erb-
licher psychischer Veranlagung. Verfasser teile nicht die Auffassung
Blochs, der die Homosexualität für eine von Verführung herzu-
leitende Erscheinung betrachte.
Verfasser hebt die Nachteile des § 175 hervor und verlangt
volle Gleichberechtigung und gleiche Behandlung der Homo- und
Heterosexuellen. Er bespricht dann günstig das Jahrbuch.
Dasselbe bringe eine ganz außerordentliche Fülle wert-
vollen und interessanten wissenschaftlichen Materials, sowie
eine Anzahl vortrefflicher Illustrationen. Es sei noch mehr als
seine Vorgänger mit seiner Reichhaltigkeit und wissenschaftlich
objektiven Darstellung in- hohem Grade geeignet, bei Ärzten und
Laien die noch bestehenden, zum großen Teil auf Unkenntnis
beruhenden Vorurteile zu zerstreuen.
Die Popularisierung der Bestrebungen des Jahrbuchs und
des Komitees sei im sozial-medizinischen Sinne wünschenswert
und notwendig.
19. Mercure de France. Mainummer 1902. Henri
Albert, der über die deutsche Literatur berichtet,
bringt S. 543, 544 eine Kritik über Niemann's homo-
sexuellen Roman „Zwei Frauen" (vgl. Jahrbuch III
S. 454) und sagt bei dieser Gelegenheit in ironischem
Ton:
„Es scheint, daß das „Problem" der sexuellen Inver-
sion die Deutschen sehr interessiert. Denn sie sind
gewahr geworden, daß es da ein „Problem" gäbe
und, da man es lösen mußte, haben einige Gelehrte
das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen gegründet, das
schon seinen dritten Jahrgang aufweist. Es ist ein Fort-
— 1147 —
schritt in dem Sinne, daß die Schamhaftigkeit nicht mehr
bei der geringsten Anspielung erschrickt und daß man
beginnt, „davon" sprechen zu können."
Albert läßt sich dann ziemlich abfällig über Niemann's
Roman aus. Allerdings, sagt Albert, sei es in Deutschland
schwer von der homosexuellen Leidenschaft zu reden.
„Die deutsche Sprache hat keinen erotischen Wort-
schatz. Man müßte lateinisch sprechen. Es gibt
wohl die reizende Redensart „Warme Brüder", aber die
„warmen Schwestern" hatten bisher nicht von sich reden
machen. Niedliches Land, wo die Unkenntnis für Un-
schuld gehalten werden kann."
Henri Albert scheint die reichhaltige homosexuelle
deutsche Belletristik nicht zu kennen. Die weibliche
homosexuelle Literatur ist allerdings in Deutschland weit
spärlicher vertreten als in Frankreich, und zwar wohl
hauptsächlich deswegen, weil infolge der Bestrafung der
mannmännlichen Liebe und ihrer größeren sozialen Be-
deutung das Interesse in Deutschland mehr auf sie als
auf die konträre Liebe des Weibes gelenkt ist. Ferner
darf man nicht vergessen, daß der Franzose dank seiner
Vergötterung des Weibes auch bei der anomalen Leidenschaft
der Frau, die er mit nachsichtigem Blicke betrachtet, sich
durch den Reiz und die Anmut des weiblichen Ge-
schlechts angezogen fühlt, während der heterosexuelle
Franzose mannmännlichen Liebesäußerungen gegenüber
sich im allgemeinen noch ablehnender und unduldsamer
verhält als der Deutsche.
20) Neues Leben: Anarchistisch-sozialistische Wochen-
schrift 26. Juli. Ein Emancipationswerk der
Kulturbestrebungen von R. Hartmann.
Die Bestrebungen der Konträrsexuellen setzten sich in auf-
steigender Linie fort. Beweis hierfür sei das 4. Jahrbuch, das
zweifellos bedeutsamste der bisher erschienenen.
Referent hebt die Wichtigkeit des Aufsatzes von Neugebauer
hervor, bezeichnet denjenigen von Fuchs als gediegen, doch
stimmt er dessen Ausführungen nicht bei, insbesondere hält er
— 1148 —
auch ein momentanes Allzuviel in der homosexuellen literarischen
Produktion nicht für einen Schaden. Die meisten übrigen Auf-
sätze werden noch erwähnt.
Das Unternehmen der Herausgeber verdiene von Erfolg
gekrönt zu werden. Der sachliche, ruhige und wissenschaftliche
Ernst, mit dem die Fragen behandelt würden, müsse Jedem impo-
nieren und trage zur Beweiskräftigkeit viel bei. Freilich finde
man täglich, daß immer wieder die Märchen von der Übersättigung
und Widernatürlichkeit auftauchten. Homosexualität lasse sich
aber nicht erwerben.
Das Komitee möge in der Veröffentlichung populärer
Broschüren wie z. B. des Schriftchens „Was muß das Volk vom
dritten Geschlecht wissen" fortfahren. Jedem Einzelnen sei zu
wünschen, daß er sich mit diesem Gebiet bekannt mache. Die
Jahrbücher seien sehr geeignet dazu.
21) Politisch- Anthropologische Revue. Wochen-
schrift für das soziale und geistige Leben der Völker.
Dezembernummer. Besprechung von Hanns Fuchs.
Es gäbe kaum einen anderen Aufsatz, der so wie der von
Neugebauer in so vorzüglichster Weise die Kenntnis des für den
Gynäkologen und Gerichtsarzt gleich wichtigen Gebietes des
Zwittertums vermittle.
Der Rat von Merzbach, die Homosexuellen sollten sich als
mundus in mundo ihr Dasein zimmern, erscheint Rezensent
richtiger und humaner als die Forderung von Dr. Fuchs: die Er-
richtung von Humanitätsanstalten zum Zweck der Heilung der
Konträren.
Wahre Humanität bemühe sich doch, jeder Individualität,
die der Gesellschaft nicht schädlich sei, Existenzmöglichkeit zu
schaffen, ohne aus der Welt ein großes Krankenhaus zu machen.
Die übrigen Arbeiten werden lobend besprochen.
Für jeden, der sich mit der homosexuellen Frage beschäftigen
wolle, und das solle jeder Gebildete tun, brächten die Jahrbücher
eine Fülle von Material. Möge man sich auch mit einigen Einzel-
heiten nicht einverstanden erklären, vornehme Sachlichkeit werde
niemand diesen Büchern absprechen können.
22) Das Recht. 10. September. Besprechung von
Rechtsanwalt Dr. Fuld (Mainz).
Vielleicht werde der Umfang des 4. Jahrbuchs (fast 1000
Seiten!) schon genügen, um die wissenschaftlichen Kreise mit der
Überzeugung zu erfüllen, daß die Bewegung, welche sich mit der
— 1149 —
Stellung der Gesetzgebung zu dem homosexuellen Problem befasse,
nicht mehr unterschätzt werden könne. Rezensent könne das
von hervorragender Seite geäußerte Bedauern darüber, daß an-
scheinend die Publikationen über die homosexuelle Frage zu
einer ständigen Erscheinung in der Literatur würden, nicht teilen.
Das Jahrbuch IV., dessen vornehme Ausstattung wohltuend berühre,
halte an der streng ernsten Behandlung des Problems fest.
Fuld will in dem Weglassen der Zeitungsausschnitte einen
Fortschritt sehen, man vermeide so den Schein der beabsichtigten
sensationellen Verwertung von Pikanterien.
Von den Aufsätzen hebt Fuld hervor: die von Karsch,
Römer und Praetorius. Von Karsch sagt er, daß er durch die
Fülle des von ihm behandelten Materials in Erstaunen setzte.
Fuld erkennt zwar den historischen und literar-h ist ori sehen
homosexuellen Studien eine kulturhistorische Bedeutung zu, er
würde es aber für verfehlt halten, wenn auch in den ferneren
Bänden denselben ein gleicher übermäßig großer Raum gewidmet
würde. Er meint, das Jahrbuch würde dadurch den Charakter
der Aktualität zum Teil einbüßen, der ihm doch unbedingt gewahrt
werden müsse.
Erfreulich sei es andererseits, daß die psychologische Seite
des Problems immer stärker betont und die psychische Frage
immer mehr vertieft werde; es dürfte dies mit der Zeit doch dazu
beitragen, daß die Anschauung, welche Homosexualität lediglich
unter dem Gesichtspunkt des Lasters betrachte, mehr und mehr
erschüttert werde.
Der Ansicht von Fuld bezüglich der Zeitungsaus-
schnitte vermag ich nicht beizutreten, Das Jahrbuch hat
wohl schon zur Genüge bewiese^ daß es nicht Sen-
sation bezweckt und wird diesen Verdacht wohl nicht
zu fürchten brauchen. Im vergangenen Jahre sind die
Zeitungsausschnitte lediglich des Platzmangels wegen
fortgeblieben. Die Zeitungsausschnitte veranschaulichen
in besonders deutlicher Weise, welche Rolle die Homo-
sexualität im täglichen Leben spielt, sie führen drastisch
vor Augen die Bedeutung und Wichtigkeit der Homo-
sexualität in der Wirklichkeit sowie die Notwendigkeit der
Reformbedürftigkeit des § 175; sie tragen dazu bei, den
Charakter der Aktualität dem Jahrbuch zu wahren, den
Fuld selbst — und mit Recht — für erforderlich hält
— 1150 —
Darüber, ob nicht im Jahrbuch IV den literar-
historischen Arbeiten ein allzu großer Raum eingeräumt
worden ist, läßt sich streiten.
23) Reichs-Medizinal- Anzeiger, 26. September.
Besprechung von Rohleder (Leipzig):
Das Jahrbuch sei allen gebildeten Homosexuellen bekannt.
Wer wissenschaftlich auf dem Gebiete der Homosexualität, ja der
vita sexualis überhaupt, arbeite, begrüße stets den neuen Jahr-
gang mit Freuden. Auch der 4. Band biete eine reiche Fülle von
Abhandlungen aus der Feder wissenschaftlich hochstehender
Autoren, was dem Werk seinen wahren Wert verleihe. Die beste
wissenschaftliche Arbeit des Jahrbuchs sei diesmal die von
Neugebauer verfaßte, außerordentlich fleißige und gründliche auch
in Bezug auf ihr Quellenstudium.
Die Forderung von Fuchs: die Errichtung von Humanitäts-
anstalten zur Behandlung der Konträren werde wohl noch lange
nicht erfüllt werden. Diese Anstalten würden wohl auch nicht
den gewünschten Erfolg aufweisen, denn die homosexuelle Liebe
würde in einem solchen Sanatorium in Folge des notwendiger-
weise intimen Verkehrs der Homosexuellen und der Unmöglich-
keit völliger Isolierung wahre Orgien feiern. Der Aufsatz „Homo-
sexualität und Bibel" nötigt dem Rezensenten „die vollste Hoch-
achtung vor der Wahrheitsliebe und dem Verständnis des Ver-
fassers für die homosexuelle Frage" ab.
Die Arbeit von Katte nennt Rohleder „sehr interessant", doch
sieht er in der Erklärung „die Natur solle durch liebende Führung
den idealen Fortschritt der Menschheit steigern" eine zu gewagte
Explicatio pro domo. Alles in AUem bilde auch der 4. Band
eine Fundgrube mancher Gebiete der vita sexualis, sich würdig
seinen Vorgängern anschließend.
24) Schmidt's Jahrbücher der Medizin, August-
nummer. Besprechung von Möbius:
Erwähnung der Aufsätze. Allen, die sich für die psychologisch
und praktisch sehr wichtigen Fragen des geschlechtlichen Zwischen-
reiches interessierten, sei dieser neue Band angelegentlich
empfohlen.
25) Sozialistische Monatshefte. Besprechung von
Otto Kiefer.
Anerkennende Anführung der Aufsätze und ihrer Haupt-
gedanken. Bezüglich der Abhandlung von Katte sagt Kiefer:
Katte, der^ bereits im Band II in ungemein freimütiger Weise
seine eigene, für den feingebildeten Homosexuellen fast typisch
— 1151 —
zu nennende Autobiographie veröffentlicht habe, bringe diesmal
einen nicht gerade tiefsinnigen Aufsatz über den Daseinszweck
der Homosexuellen. Es wäre ein dankbares Unternehmen, dieses
Thema vom modern philosophischen Standpunkt einmal be-
leuchtet zu sehen.
In den Jahrbüchern handle es sich um tiefernste Bestre-
bungen, die noch viel zuwenig in weiteren Kreisen bekannt seien,
zum Schaden vieler tüchtiger Glieder des deutschen Volkes, die
schwer litten unter dem Drucke veralteter Rechts- und Moral-
anschauungen.
26) Schwäbische Tagwacht, 15. Juli:
Unter denjenigen Menschen, die über das geltende Recht in
Deutschland sich zu beschweren Grund hätten, ständen nicht
an letzter Stelle die männlichen Homosexuellen. Geächtet von
den weitesten Kreisen ihres Volkes, ewig Gefahr laufend, für die
Betätigung eines ihnen keineswegs unnatürlich vorkommenden
Triebes in das Gefängnis zu kommen, erstrebten diese Kreise
und mit ihnen auch viele andere, denen die wissenschaftliche
Erkenntnis höher als die veralteten Scheinmoralsysteme sei, die-
jenige Gleichberechtigung vor dem Gesetz, die ihnen andere
Länder wie Frankreich seit bald hundert Jahren gegeben hätten
und die ihren ohnehin glücklosen Zustand wenigstens zu einem
relativ erträglichen gestalten würde. Hieran anknüpfend macht
Rezensent auf die Bestrebungen des Komitees aufmerksam und
führt den Hauptinhalt der wichtigsten Aufsätze des Jahrbuchs an.
Man sehe aus dem Bericht, um welch ernstes Werk es sich
handle; unbefangenen Wahrheitsforschern — und die solle es
doch auch im „frommen" Schwaben stellenweise noch geben —
könne die Lektüre nur empfohlen werden.
27) Die Umschau, 1. Januar 1903. Besprechung von
Dr. Mehler:
Die bei Besprechung des 3. Jahrbuchs gerügten Mißgriffe
seien im 4. Band vermieden. Rezensent gibt dem Wunsch Aus-
druck, daß durch die Versendung von Fragekarten an Ärzte die Fest-
stellung der Anzahl der Homosexuellen wenigstens in einer Stadt
approximativ ermöglicht würde.
Die Versendung von Fragekarten an Ärzte könnte
kaum einen praktischen Wert haben, da außer wenigen
Ärzten die Mediziner so gut wie keine Homosexuellen
kennen und die große Mehrzahl der Konträren sich nie-
mals einem Arzt anvertraut.
— 1152 —
28) Vossische Zeitung, 4. Juli:
Man möge über die Bestrebungen des Komitees günstig
oder ungünstig denken; mit dem „Jahrbuch", welches das vor-
züglichste Kampfmittel des Komitees sei, könne man sich zufrieden
geben. Es trage viel dazu bei, die einschlägige Frage zu
klären.
Die Aufsätze von Neugebauer, Fuchs, Merzbach, Karsch und
Praetorius werden erwähnt. Die Arbeit von Fuchs sei die wert-
vollste; psychologisch interessant seien die Selbstbekenntnisse
zweier abnorm veranlagter Männer.
28) Die Welt am Montag (2. März 1903). 1: Beilage.
Sexuelle Zwischenstufen von Johannes
Gaulke.
Die bisherigen Theorien über die Ursachen der Homosexuali-
tät, wonach sie ein Endprodukt eines lasterhaften Lebenswandels,
oder psychopathische Erscheinung oder Vorsichtsmaßregel der
Natur zur Verhütung der Übervölkerung sei, seien unhaltbar, des-
gleichen auch die Theorie der Supervirilität. Als superviril könne
man überhaupt jeden — ob homo- oder heterosexuell —
Menschen bezeichnen, der sich von der Tyrannei des Geschlechts-
triebes frei gemacht habe. In der Kunst könne die Supervirilität
— die die Unterdrückung der mit der künstlerischen Produktion aufs
innigste verknüpfte Geschlechtsliebe zu ihrer Voraussetzung habe —
kaum als ein Vorzug betrachtet werden.
Krafft-Ebing, Moll und die Jahrbücher hätten das Wesen der
Homosexualität festgestellt. Sie sei nicht Krankheit, nicht Laster,
sondern auf eine Störung des fötalen Entwicklungsprozesses
zurückzuführen.
Erörterung des Aufsatzes von Neugebauer. Das körperliche
Scheinzwittertum sei sehr wichtig auch für die homosexuelle Frage,
ebenso wie ein physisches gäbe es ein psychisches Zwittertum.
Sodann Hinweis auf die Aufsätze von Karsch und Römer.
Viele Handlungen und Werke berühmter Männer seien erst ver-
ständlich, wenn man ihre Naturanlage, ihr Liebesleben kenne.
Der Uranismus habe in der Kulturgeschichte eine größere Rolle
gespielt, als man bisher geahnt.
Bei der Homosexualität sei zu fragen: ob die Homosexuellen
als Schädlinge der Gesellschaft zu betrachten seien oder nicht.
Jedes sentimentale Raisonnement darüber sei zwecklos und
irreführend.
Aus den Taten vieler Uranier der Geschichte sähe man,
daß sie, ebenso wie die Heterosexuellen, auf allen Gebieten
— 1153 —
Großes geleistet und Gutes gestiftet hätten ; andere dagegen, wie
z. B. Elagabal oder Papst Alexander IL hätten es an Ruchlosig-
keit mit jedem Normalgeschlechtlichen aufgenommen.
Es würde sich lohnen, auch diesen Erscheinungen einmal
nachzuforschen, bisher habe man vorwiegend nur von außer-
ordentlich tüchtigen und guten Neigungen in der Geschichte
gehört. Vom objektiven Standpunkt sei unbedingt daran festzu-
halten, daß die Art des Geschlechtsempfindens — ob hetero-
oder homosexuell — nicht den Wert eines Individuums bestimme.
29) Wiener klinische Rundschau, No. 34.
Die Idee, ein Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen heraus-
zugeben, habe nicht nur eine glänzende Verwirklichung erfahren,
sondern auch ihre Existenzberechtigung dadurch bewiesen, daß
schon der IV. Bd. dieses eigenartigen und interessanten Unter-
nehmens vorliege. Jahrzehntelanges Unrecht solle gesühnt werden
durch die Erkenntnis, welche leidenschaftslose wissenschaftliche
Forschung gebracht. Dazu habe das Jahrbuch mächtig beige-
tragen und sein Herausgeber Dr. Hirschfeld, der furchtlose und
wackere Kämpe für Recht und Wahrheit.
Der IV. Band enthalte eine große Reihe bedeutsamer Bei-
träge. Die Aufsätze von Neugebauer, Karsch, Fuchs, Römer
werden dann angeführt.
30) Wiener medizinische Presse, 1. März 1903.
Das Jahrbuch IV biete eine Fülle bemerkenswerter Abhand-
lungen dar, die hauptsächlichsten werden angeführt.
31. Zeitschrift für Psychiatrie; Bd. 59. Besprechung
von Näcke.
Pünktlich, wie immer, sei auch wieder das Jahrbuch er-
schienen, abermals mit einer Reihe interessanter Arbeiten und
meist vorzüglichen Holzschnitten in vornehmster Ausstattung.
Näcke gibt dann den Inhalt der einzelnen Aufsätze in kurzen
Worten wieder.
Einen Glanzpunkt des Ganzen bilde sicher die genaue
Bibliographie und die ausgezeichneten Kritiken von Praetorius,
die um so wertvoller seien, als er selbst viele Homosexuelle kenne.
32) Zeitschrift für Psychologie und Physio-
logie der Sinnesorgane. Januar 1903. Be-
sprechung von Dr. Guttmann.
Hervorgehoben wird: Die Ausführlichkeit, zum größten Teil
strenge Wissenschaftlichkeit der Arbeit.
Es sei ein trauriges Zeichen von der Interesselosigkeit des
Reichstags, daß nur ein einziger Abgeordneter der Aufforderung
— 1154 —
des Komitees, persönlich Homosexuelle kennen zu lernen, um sich
ein Urteil zu bilden, nachgekommen sei.
Das Verbot des Vertriebs der Volksschrift im Kolportage-
handel seitens der Polizei tadelt Referent entschieden, da die Schrift
wegen ihres ernsten Tones allen der Frage bisher Fernstehenden
zu empfehlen sei.
. Es sei zu hoffen, daß endlich die Erkenntnis sich Bahn
breche, daß es sich um eine nicht durch Strafen aus der Welt zu
schaffende Naturanlage handele.
33) 1. Beilage der Charlottenburger Zeitung: Neue
Zeit und Charlottenburger Intelligenzblatt. 14. Jan.
2. Berliner Börsen-Courier 15. Juni.
3. Die Feder: Halbmonatsschrift für die deutschen
Schriftsteller und Journalisten, 1. August.
4. Frankfurter Zeitung, 31. August.
5. Kraft und Schönheit: Zeitschrift für vernünf-
tige Leibeszucht, Septembernummer.
6. Magdeburger General - Anzeiger, Unter-
haltungsblatt, 22. Juli.
7. Die medizinische Woche, 25. September.
8. Medico: Medizinische Wochenrundschau, 25. Juni.
9. Naturistischer Gesundheitsrat, 15. August.
10. Pikanterien No. 54.
11. Unser Hausarzt: Monatsschrift für Gesundheits-
pflege, Jugenderziehung und Lebenskunst, Oktober-
nummer.
12. Straßburger Post.
Diese Zeitungen und Zeitschriften führen die Aufsätze des
Jahrbuchs unter Anerkennung ihrer Bedeutung oder Hinweis auf
ihren Inhalt an. Meistens wird betont, daß, wer noch an dem Vor-
handensein und der kulturellen Bedeutung des dritten Geschlechts
gezweifelt habe, durch die Lektüre dieses 1000 Seiten starken,
reich illustrierten und trefflich ausgestatteten Bandes eines Andern
belehrt werde.
In allen Besprechungen wird anerkannt, daß es sich um ein
Werk handele, das nicht nur vom rein wissenschaftlichen, sondern
vom allgemein psychologischen Gesichtspunkt größte Beachtung
verdiene.
— 1155 —
Die Zeitschrift Medico fügt noch hinzu, daß das Studium
des Jahrbuchs zweifellos dem Komitee neue Freunde und über-
zeugte Anhänger zuführen werde, die das Komitee in dem Be-
streben unterstützen, den § 175 abzuschaffen, unter dem die
Homosexuellen schwer und, ärztlich-wissenschaftlich betrachtet,
ungerecht zu leiden hätten.
34) Breslauer Morgenzeitung. 23. März 1903.
Die Kruppaffaire habe Veranlassung gegeben, mit größerem
Nachdruck als je zuvor die Abschaffung des § 175 zu verlangen.
An der Existenzberechtigung — auch der moralischen — der
Homosexuellen werde man nach den aufklärenden wissenschaft-
lichen Arbeiten nicht mehr zweifeln können und den Bestrebungen
des Komitees sympatisch gegenüber stehen müssen.
Der 4. Bd. des Jahrbuchs enthalte eine Fülle wichtigen,
wissenschaftlichen Materials ohne jede Beimischung sensationeller
oder auf die Lüsternheit von Laien spekulierender Einzelheiten.
Jahrbuch V. 78
Annie Jones-Elliot
geb. 1873 in Maison, W.-Virginia, gest. 1902 in New- York.
73*
Die Homosexualität
im Russischen Strafgesetzbuch
von
Vladimir Nabokoff,
Professor des Strafrechts an der kaiserlich russischen Rechtsschule
zu St. Petersburg. l)
I.
Bei der Festsetzung des dogmatischen Begriffs der
widernatürlichen Unzucht machen sich die Juristen einer
allzu großen Prüderie schuldig. Von Rosshirt ab, welcher
im Jahre 1821 in seinem Lehrbuch die Sodomie voll-
ständig aus dem Grunde übergeht, weil es sich dabei um
eine zu schmutzige Materie handele, bis zu Neklindoff,
(Handb., I 435) welcher vorschlägt, über Bestialität und
Päderastie ebenso einen Schleier zu werfen, wie über alle
Schamlosigkeiten überhaupt, von denen der Apostel Paulus
den Christen nicht zu sprechen rät, berührt die große
Mehrzahl der Schriftsteller nur vorübergehend und im
*) Wir danken Herrn Professor von Nabokoff für die freund-
liche Überlassung seiner so vortrefflichen Ausführungen, welche
einen Teil eines viel beachteten Vortrags über Sittlichkeitsdelikte
bilden, den der berühmte russische Rechtsgelehrte in der juristischen
Gesellschaft zu St. Petersburg hielt. Der russische Urtext — unsere
Übersetzung stammt von Herrn v. Nabokoff selbst — erschien in
der juristischen Zeitschrift: „Vestnik Prava" (Dez. 1902.)
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— 1160 —
Falle äußerster Notwendigkeit die rechtliche Charakteristik
dieser Formen der Unzucht. Daraus entspringen die
ungeheuren, oft fast unüberwindlichen Schwierigkeiten,
welche der Praxis bei Feststellung des Tatbestandes in
einzelnen Fällen erwachsen, umsomehr als alle Gesetz-
bücher, welche über diese Unzucht Bestimmungen ent-
halten, immer zu allgemeine und zu unbestimmte Defi-
nitionen von ihr geben. Bis in die jüngste Zeit und zwar
bis zur Veröffentlichung des Buches von Dr. Wachenfeld
„Homosexualität und Strafgesetz ", gab es überhaupt keine
monographische rechtliche Literatur der Frage. Für
Rußland hat aber dieses Thema eine besondere Wichtig-
keit. Unsere Strafgesetzgebung behandelt bis zur letzten
Zeit die Bestialität und die Päderastie mit ganz besonderer
Strenge, und wenn die erstere aus dem neuen Strafgesetz-
buch von 1903 (22. März) weggefallen ist und die Päde-
rastie mit einer milderen Strafe bedroht wird, so wurde
der Tatbestand der letzteren in Vergleich zum bisher
geltenden Recht einer viel eingehenderen kasuistischen
Ausarbeitung unterworfen. —
Schon unsere ältesten kirchlichen Gesetze behandeln
die Strafbarkeit der Päderastie. In der weltlichen Ge-
setzgebung finden wir die ersten Bestimmungen hierüber
in den Kriegsartikeln Peter des Großen, wo eine grausame
Körperstrafe für die „Mischung des Menschen mit dem
Vieh" und auch für den „Knabenschänder* festgestellt
wird. Wird dabei Gewalt angewendet, so soll das Urteil
auf Todesstrafe oder lebenslängliche Galeerenstrafe lauten.
Der „Svod Zakonow" von 1832 enthielt schon andere
Straf bestimmungen : Rutenstreiche und Deportation für
Päderastie, sowie für Bestialität; für gewaltsame Päderastie
— die Katorga.
Aus der Mittelperiode sollte hervorgehoben werden,
daß im Jahre 1785 der Senat einen berühmten Ukas,
den Fall Banze-Kasper betreffend, erließ, welcher die
— 1161 —
Bestialitätfälle dem sog. Gewissenstribunal zuwies, damit
letzteres solche Fälle „mit allerlei Nachsicht und barm-
herziger Milde" behandle, „indem die bei solchen Fällen
vorkommende Selbstvergessenheit fast jede Art Wahnsinn
übertrifft, und deshalb müssen auch solche Albernheiten,
welche sich zu Zeiten bei der ungebildeten Menschheit
einschleichen und mit grenzenloser Unkenntnis des
einzelnen Wesens verbunden sind," dem Gewissenstribunal
zuständig sein.
Das geltende Strafgesetzbuch 1845 ') (Ulosh£ni£) be-
stimmt in den Artikeln 995—997 (Ausgabe 1885), daß
der des widernatürlichen Lasters der Männerliebe „Über-
führte" der Deportation nach Sibirien unterliegt. Wurde
Gewalt gebraucht oder war das Opfer minderjährig oder
blödsinnig, so trifft den Schuldige» Katorga (Deportation
mit schwerer Zwangsarbeit) von 10 — 12 Jahren. Die
Bestialität wird bestraft mit Deportation nach den ent-
ferntesten Gegenden Sibiriens. Nachdem im Jahre 1900
die Deportation zum Teil aufgehoben wurde, tritt nun
an ihre Stelle im Falle der ungeschärften Männerliebe
Zuchthaus von 4 — 5 und bei Bestialität von 5 — 6 Jahren
ein. — Nach der „communis opinio" einheimischer Ge-
lehrten versteht die „Ulosh£ni£" unter „ Männerliebe"2)
den widernatürlichen Coitus zwischen Personen männ-
lichen Geschlechts und zwar per anum. Soweit die
Theorie. Dagegen sprach sich im Jahre 1869 der Senat
(als oberster Kassationshof) dahin aus, daß er den § 996
(gewalttätige Sodomie) in Fällen anwenden ließ, wo ein
*) Für deutsche Leser sei es bemerkt, daß bis jetzt das
Strafgesetzbuch von 1845 in der Ausgabe vom Jahre 1885 in Kraft
steht. Am 22. März dieses Jahres (1903) erfolgte die Bestätigung
eines neuen Strafgesetzbuches, jedoch wird sein Inkraftsetzen einer
noch unbestimmten Zukunft vorbehalten.
2) Der betreffende Terminus „Mujelojstwo" heißt wörtlich
„Mannesbeischlaf1*.
— 1162 —
Weib vod einem Manne widernatürlich (per anum) ge-
notzüchtigt wurde. Diese Entscheidung erfolgte, weil
das Gesetzbuch unzüchtige Handlungen gegen das Weib
als solche nicht bestraft (sie können eventuell nur als
Injuria mit verhältnismäßig unbedeutender Arreststrafe
geahndet werden), und ferner, weil die beschriebene
Handlung nicht unter den Begriff der Notzucht fällt.
Daraus erhellt auch, daß in Fällen, wo solcher wider-
natürlicher Coitus ohne Gewalt vorliegt, der Senat die
Bestimmungen über einfache Sodomie nicht anwenden läßt.
Die Grenze zwischen Versuch und Vollendung wurde
vom Senat nicht gezogen. In der Theorie herrscht da-
rüber ein Streit Nach Neklindoff fallen bei freiwilliger
Sodomie Versuch und Vollendung zusammen, zur Voll-
endung genüge schon der Anfang des erotischen Akts.
Toinitsky hingegen meint, daß die Tat mit der intrusio
membri in anum vollendet, ein Versuch dagegen juristisch
undenkbar sei. Die Motive zum neuen Strafgesetzbuche
stimmen, was den Moment der Vollendung betrifft,
Toinitsky bei und erblicken das versuchte Verbrechen
im Versuche der intrusio membri.
Über den Tatbestand der Bestialität herrschen frei-
lich Kontroversen, auf die ich hier nicht weiter eingehe,
da im neuen Strafgesetzbuche dieses Verbrechen definitiv
aufgehoben ist.1)
Ganz anders ist es im Strafgesetzbuche der Sodomie
ergangen. Die freiwillige Sodomie zwischen Erwachsenen
ist strafbar. Der Entwurf der ersten, zweiten und dritten
Lesung bestimmte Gefängnisstrafe bis auf ein Jahr; die
vierte setzte ein Minimum von drei Monaten fest. Die
Entwürfe der ersten und zweiten Lesung nahmen aus:
Sodomie mit einem Knaben unter 12 Jahren und mit
\) Dieses Wegfallenlassen der Strafe fand allgemeine Zu-
stimmung. Es erhoben sich dagegen bloß vereinzelte Stimmen.
— 1163 —
einem MiDderj ährigen von 12 bis 16 Jahren, gegen dessen
Willen oder auch mit dessen Zustimmung, allein unter
Mißbrauch seiner Unschuld. In beiden Fällen tritt Zucht-
haus (bis zu fünf Jahren) ein. Zu den qualifizierten
Fällen gehören: die Sodomie mit Verletzung eines Ab-
hängigkeits-Verhältnisses oder mit einer genötigten (im
Sinne des Gesetzes) Person. Der Versuch ist in allen
Fällen strafbar.
Einige Veränderungen wurden im Entwürfe der
vierten Lesung vorgenommen. Hier wurde dasselbe
System angenommen wie bei strafbarer Unzucht mit
Personen weiblichen Geschlechts.
Die Sodomie zerfällt in voluntaria (Gefängnisstrafe);
violenta, zu welcher die S. mit einem Knaben unter 12
Jahren oder mit Verletzung eines Abhängigkeit -Ver-
hältnisses oder mit einem Genötigten gehört; in allen
diesen Fällen wird mit Katorga, nicht über 8 Jahr, ge-
straft. Bei S. nee violenta nee voluntaria ist die Strafe
Zuchthaus nicht unter drei Jahren.
Der Vergleich zwischen der dritten Lesung und den
ersten zwei zeigt ein deutliches Streben, die Strafbarkeit
der S. zu erhöhen: noch weiter geht die vierte (an-
genommene) Lesung. Hier wird, wie gesagt, für die
freiwillige einfache S. ein Minimum von drei Monaten
Gefängnisstrafe aufgestellt. Die Altersgrenzen sind weiter
gerückt: statt 12, werden 14 Jahre aufgestellt. Die S.
mit einem Knaben unter 14 Jahr wird immer mit Katorga
bestraft, auch wenn gar keine Gewalt oder selbst Miß-
brauch der Unschuld vorliegt (z. B. mit einem Kyneden)
vorliegt. —
Der Tatbestand ist derselbe wie im geltenden Recht:
coitus per anum zwischen Männern. Da das neue Straf-
gesetzbuch mannigfaltige, ebenfalls sehr strenge Be-
stimmungen über unzüchtige Handlungen mit Personen
weiblichen Geschlechts enthält, so fällt jeder Grund weg,
— 1164 —
die früher erwähnte und zwar mit Unrecht erweiternde
Auslegung, nach welcher gewaltsame S. auch da an-
genommen wird, wo ein Weib contra naturam ver-
gewaltigt wurde, . weiter beizubehalten.
Den Motiven zufolge, genügt zur Vollendung die
Intrusio membri. —
II.
In der Frage der strafrechtlichen Behandlung der S.
kann die einschlägige — allerdings überaus reichhaltige
und interessante — medizinische Literatur leider nur von
geringem Nutzen sein, denn unter den Medizinern herrscht
eine große Meinungsverschiedenheit über diese Frage.
Der Jurist, der Willens wäre in dieser Materie dem Arzte
zu folgen, würde sich sicherlich in der großen Menge der
sich durchkreuzenden Beobachtungen und Folgerungen
verirren. Aber wenn auch diese Kontroversen wegfallen
würden, — wenn wirklich die medizinische Wissenschaft
zu bestimmten festen Sätzen gelangt wäre, — so würde
dadurch die rechtliche Seite der Frage doch keine hellere
Beleuchtung erfahren.
Nehmen wir nun mit der Mehrzahl der Forscher das
an, was wohl am wahrscheinlichsten ist, daß der Uranismus
zuweilen eine pathologische (einerlei, ob angeborene oder
erworbene), zuweilen eine nicht pathologische (lasterhafte)
Erscheinung sei. Als Merkmal einer solchen Erscheinung
dürfte die Tatsache dienen, daß bei pathologischem Uranis-
mus die Neigung zum Weibe so gut wie ausgeschlossen
und der normale Koitus dadurch geradezu unmöglich oder
wenigstens im höchsten Grade peinlich wird; dagegen bei
lasterhaftem Uranismus die Neigung zum andern Geschlecht
sowie die Möglichkeit des normalen Koitus besteht. Einen
solchen Unterschied will Wachenfeld annehmen, indem
er die erste Species konträre, die zweite nicht konträre
Homosexualität benennt. Welche Folgerung wird nun aus.
— 1165 —
diesem Unterschied gezogen? Nach Wachenfeld soll nur
die nicht konträre Homosexualität, d. h. der lasterhafte
Uranismus strafbar sein. Was dagegen die konträre H.
betrifft, so will er hier einen der Unzurechnungsfähigkeits-
gründe des § 51 des St.-G.-B., nämlich eine geistige Störung,
sehen, welche als Exkulpationsgrund für den pathologischen
Urning dienen soll.
Aber einmal ist diese Möglichkeit der Anwendung
des § 51 im hohen Grade bestreitbar. Für andere Gesetz-
bücher, und namentlich für das Russische, wäre sie aus-
geschlossen. Und zweitens: soll der konträre Urning
unzurechnungsfähig sein, so trifft ihn keine Strafe auch
wenn der Verletzte ein Minderjähriger ist, oder Gewalt
angewendet wurde, was natürlich nicht annehmbar ist.
Es erhellt hieraus, daß diese ohnehin bestrittene
Grenze zwischen pathologischem und lasterhaftem Uranis-
mus den juristischen Standpunkt garnicht fordert. Auf
diesem Standpunkte bleibend werden wir uns überzeugen,
daß die richtige Antwort auf die Frage außerhalb des
Gebietes der Medizin zu suchen ist. Und zwar werden
wir vom kriminalpolitischen Standpunkte zum Ergebnis
gelangen, daß es viel mehr Gründe für die Straflosigkeit
der (freiwilligen) S. als für ihre Strafbarkeit gibt.
Vor allem unterliegt es keinem Zweifel, daß die
rechtliche Begründung der Strafe hier auf große Schwierig-
keiten stößt. Den vollständigsten Versuch einer solchen
Begründung finden wir bei Wachenfeld. Der erste Grund,
auf den er verweist, ist die Forderung der Sittlichkeit,
welche der Staat beschützen soll. Derselbe Grund wird
von den Verfassern der Motive zum russischen Entwurf
angenommen, indem sie meinen, die S. soll verfolgt
werden als eine naturwidrige Handlung, als ein leider weit
verbreitetes Laster, dessen Bekanntwerden durch Ent-
deckung des einen oder des anderen Falles die öffentliche
Sittlichkeit verletzt und deshalb Ahndung durch das
— 1166 —
Gesetz erheischt. Dem stimmt auch bis zu einem ge-
wissen Grade Prof. Vladimirof bei, indem er die Unsitt-
lichkeit der widernatürlichen Unzucht darin erblickt, daß
dadurch die Selbstachtung des Menschen preisgegeben
wird. Die anderen von Wachenfeld herbeigezogenen
Gründe sind so offenbar nicht stichhaltig, daß eine aus-
führliche Widerlegung wohl unterbleiben mag. So sagt
er u. A., der Staat möge strafen im Interesse des allge-
meinen Wohles, in Anbetracht der damit verknüpften
physischen und psychischen Schädigung der Personen, die
mit einander S. begehen, und auf den Einwand, daß hier
eine freiwillige Gesundheitsschädigung vorliegt, antwortet
er: „der Staat muß das Mittel gebrauchen, das ihm zu
Gebote steht, und durch die Aufstellung des Strafgesetzes
zu verhüten suchen, daß gesunde Untertanen psychisch
und physisch verderbt werden". Es ist leicht sich vor-
zustellen, in welche Lage der Staat geraten würde, wenn
er ein so eingebildetes Recht gegen Raucher, Morphinisten,
Atheromanen, abgesehen von den nützlichen Professionen
— wie Telephonisten, Kohlengräber, Drucksetzer — u. s. w.
in Anwendung bringen würde. Der letzte Grund, obgleich
vom alten Feuerbach eingeflößt, klingt fast wie ein
Kuriosum und jedenfalls wie ein schreiender Anachronismus :
,der Mann, welcher geflissentlich homosexuellen Akten
den Vorzug gibt, bekundet nicht nur eine Geringschätzung
des normalen Verkehrs, sondern auch eine Verachtung
des ehelichen Lebens. Hierzu aber kann der Staat, der
die Ehe sanktioniert und ihre Heilighaltung wünscht,
nicht schweigen". In dieser Hinsicht könnte der Staat
dann auch mit Fug und Recht die überzeugten und ein-
gefleischten Hagestolze bestrafen! —
Es bleibt also schließlich nur der erste Grund übrig.
Es ist zweifellos, daß die S., wenn sie die öffentliche Sitt-
lichkeit verletzt, tatsächlich verfolgbar und strafbar sein
soll. Das Halten eines Bordells für Urninge, die mann-
— 1167 —
liehe Prostitution, die Ausübung des Koitus vor Zeugen,
u. s. w., alles das muß natürlich im Namen der öffent-
lichen Sittlichkeit streng gertigt werden. Aber bei der
S., gewissermaßen intra muros, darf von öffentlicher
Sittlichkeit^ nicht die Bede sein. Jenes „ Bekanntwerden %
von dem die russischen „Motive" sprechen, geschieht doch
gegen Wissen und Willen der Beteiligten, sie können
also dafür nicht verantwortlich gemacht werden.
Was nun die Strafbarkeit der S. als einer höchst
unsittlichen und ekelhaften Handlung betrifft, so führt
eine solche Ansicht zu unüberwindlichen Schwierigkeiten.
Es entsteht nämlich die evidente Frage, warum bloß die
S., und zwar im Sinne des coitus per anum, strafbar sei,
man muß zum Schluß kommen, daß, da vom sittlichen
Standpunkt die% Befriedigung des Geschlechtstriebes nur
in der Ehe und zwar nur auf natürliche Weise erlaubt
ist, jede außereheliche und zwischen Eheleuten jede unnatür-
liche Befriedigung strafbar sein muß. Wenn man jedoch
einwendet, die S. sei ekelhafter als andere Ausschweifungen,
so ist das erstens Sache des subjektiven Empfindens, und
zweitens sind auf einem solchen Gebiete derartige Unter-
scheidungen kaum durchführbar. Wenn man endlich auf
die große Verbreitung der S. hinweist, so ist eine solche
Assertion ziemlich fraglich, insbesondere was den coitus
per anum betrifft1).
Somit ist die Begründung der Strafbarkeit der frei-
willigen S. höchst zweifelhaft. —
Weiter muß bemerkt werden, daß in Bezug auf diese
Handlung dem Gesetze eine Alternative gestellt wird,
nämlich : S. soll entweder eine genaue Definition oder aber
die bloße Benennung enthalten. Der erste Weg ist
schwierig: es können unmöglich ins Gesetz solche unreine
und widerliche Details eingetragen werden. Der zweite,
*) Siehe darüber Moll, conträre Sexualeuipfindung. 3. Aufl. S.288.
— 1168 —
den die meisten Gesetzgebungen einschlagen, gibt aber
der Praxis keinen Fingerzeig. Es ist bekannt, welche
Schwankungen und Misverständnisse der Ausdruck „wider-
natürliche Unzucht" in der deutschen Literatur und
Gerichtspraxis hervorrief. Ich habe schon erwähnt, daß
unsere Praxis S. in Fällen annahm, wo mit einem Weibe
per anum coitirt wurde, und es ist nicht ausgeschlossen,
daß in der Zukunft die Frage auftauchen wird, ob diese
Auslegung endgiltig aufzugeben sei. Ohne in weitere
Einzelheiten einzugehen, will ich nur bemerken, daß für
die Beibehaltung dieser heutigen Auslegung ziemlich
wichtige Gründe angeführt werden können.
Es ist klar, daß alle Schwierigkeiten, welche bei der
Definition des Tatbestandes der S. entstehen, erhöht
werden, wenn das Gesetz nicht nur die vollendete, sondern
auch die versuchte Tat straft.
Diese Betrachtungen berühren die theoretische Stellung
der S. im Strafgesetze.
Sie müssen selbstverständlich auch für die qualifizierte
S. gelten. Dieselbe dürfte nicht aus dem allgemeinen
Begriff der strafbaren Unzucht (attentat k la pudeur)
ausscheiden und sollte also keinen selbständigen Teil
bilden.
Noch deutlicher und ganz überzeugend sind die
Einwände, die man in Bezug auf die Aufgaben und
Zwecke der Strafrechtspflege (Kriminalpolitik im E. S.)
gegen die Strafbarkeit der einfachen S. anführen kann.
Es fragt sich nämlich : welchen Zweck verfolgt man
und was erreicht man, wenn man den Urning auf fünf
bis sechs Monate, ja auf ein Jahr, ins Gefängnis steckt?
Den Abschreckungs-Zweck ? Aber von der Abschreckung
kann hier weniger als irgend wo anders die Rede sein.
Den Zweck der Genugtuung der verletzten öffentlichen
Moral? Aber einmal wird die öffentliche Moral wohl
schwerlich dadurch befriedigt, daß aus Hunderten von
— 1169 —
Urningen nur wenige Individuen zur Rechenschaft ge-
zogen werden; zweitens verläuft in solchen Fällen die
Gerichtsverhandlung von Anfang bis zu Ende unter
absolutester Ausschließung der Öffentlichkeit, sodaß sie
aus dem Fazit der öffentlichen Aufmerksamkeit aus-
scheiden ; und drittens stellt man einen solchen Zweck
auf, so muß vor allem festgesetzt werden, daß der Ab-
scheu, welchen die Gesellschaft den Urningen entgegen-
bringt, gleichbedeutend ist mit der Forderung des Ein-
greifens der Strafjustiz: für die gebildeten Schichten der
Gesellschaft ist die Möglichkeit einer solchen Gleich-
stellung mindestens fraglich.
Was endlich den Verbesserungszweck, den des heil-
samen sittlichen Einfluß, betrifft, so dürfte eine Meinungs-
verschiedenheit über die Unerreichbarkeit dieses Zweckes
— insbesondere was den Gewohnheits -Urning angeht —
kaum herrschen. Die Verbesserung ist nämlich im ge-
gebenen Falle der Abgewöhnung vom Laster oder der
Heilung von der Krankheit gleich, und wenn man ins
Auge faßt, wie selten selbst das Streben der Therapie in
diesen Fällen — sogar bei dem leidenschaftlichen Wunsche
des Patienten zu genesen — , mit Erfolg gekrönt wird,
so erhellt von selbst, daß das Gefängnis einen derartigen
heilenden und erziehenden Einfluß gewiß nicht bietet.
Indem also der Staat den Urning straft, gibt er un-
gerecht, zwecklos und unnütz Geld und Kräfte aus, die
auf eine zweckmäßigere Weise verwendet werden könnten.
Man darf weiter die unendlichen Schwierigkeiten
des Prozesses in solchen Fällen auch nicht unterschätzen.
Wird öffentliche Anklage angenommen, so begegnet schon
die Feststellung des Tatbestandes — insbesondere, wenn
der Versuch strafbar ist — großen Hindernissen. Welch
weiter Anlaß für Chantage, für Erpressung, wenn man
bedenkt, daß der Beweis hier naturgemäß sehr selten auf
unwiderleglichen Tatsachen beruhen kann. Welche Ge-
— 1170 —
legenheit für Feinde, durch üble Nachrede den Gegner
zu vernichten! Es liegen ganz augenscheinliche Bei-
spiele auf der Hand ....
Wachenfeld erwidert freilich, daß aus diesem Grunde
doch niemand daran denkt, den Ehebruch und die Un-
zucht mit Kindern straflos zu lassen — aber dieser
Einwand ist ein reiner Sophismus. Wenn die Schwierig-
keit der Feststellung des Tatbestandes und die leichte
Möglichkeit der Erpressung als einziges Argument gelten
würden, so hätte Wachenfeld recht. Aber dieses Argu-
ment erscheint nur als Verstärkung anderer, nicht minder
überzeugender Gründe.
Soll man noch darauf hinweisen, welche große
Schwierigkeiten und wohl auch welchen großen Schaden
die Notwendigkeit der Herbeiziehung der Polizei zur
Erhebung der Anklage bereitet? Oder auch auf die Un-
möglichkeit des öffentlichen und die Schwäche des ge-
heimen Prozesses, durch welchen es dem Angeklagten
unmöglich wird, sich vor den Augen der Gesellschaft
von dem vielleicht unverdienten Verdachte zu reinigen?
Und endlich auf eins der größten Übel, auf die tatsächliche
Nichtanwendung des Gesetzes, auf den zufälligen und
unregelmäßigen Charakter der Repression, welche den
Einen trifft und den Anderen, den seine Stellung und
seine Beziehungen schützen, schont? Auf alles dieses
hinzuweisen, hieße von allgemeinen bekannten Tatsachen
unseres sozialen Lebens sprechen.
Zum Schluß noch zwei Worte über eine Befürchtuug,
welche ausgesprochen wird, wenn der Vorschlag, die
Strafbarkeit der S. aufzuheben gemacht wird. Man sagt :
würde eine solche Aufhebung nicht einer offiziellen
Sanktionierung des Lasters gleichkommen und eine noch
größere Verbreitung desselben hervorrufen?
Die Antwort ist nicht schwer: wie das Gebiet des
Strafrechts mit demjenigen der Sittlichkeit nicht zusammen-
— 1171 —
fällt, so berührt die Aufhebung oder die Einführung von
Verboten auf einem Gebiete nicht im Mindesten das
Andere. Das einfache stuprum, die Sodomia ratione
generis (Bestialität) waren im Russischen St.-G.-ß. bis jetzt
strafbar; im neuen St.-G.-B. fällt die Strafe weg. Soll
das heißen, daß diese Handlungen dadurch eine offizielle
Sanktion fanden?
Gewiß nicht! Ferner: wenn der Wucher durch das
Gesetz von 1893 in Rußland strafbar wurde, kann man
daraus folgern, daß der Wucher bis dahin sich einer
offiziellen Sanktion erfreute? Auch ohne jegliches Straf-
gesetz wird die Sodomie in den Augen des gesunden und
normalen Teils der Bevölkerung immer und überall als
das gelten, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich als ein
abnormer, häufig pathologischer Akt, dessen Verbreitung
von dem Vorhandensein oder dem Wegfallen der Straf-
drohung durchaus nicht abhängt.
Jahrbuch V. 74
Aus den Aufzeichnungen eines Geistlichen.*)
Non intratur in veritatem nisi per caritatem.
Ehe ich in die Seelsorge hinaustrat, hatte ich schon
Kenntnis bekommen, daß verschiedene Männer sich nicht
zum Weiblichen, sondern zum Männlichen in ihrem sexu-
ellen Empfinden hingezogen fühlen. Die erste Belehrung
hierüber empfing ich von meinem Vater. Mein Vater
war sehr kräftig, äußerst viril, er hatte 3 Frauen und
mit zweien von diesen 9 Kinder gezeugt, also nicht im
entferntesten etwa selbst irgend wie homosexuell ver-
anlagt. Aber mein Vater war ein wahrhaft freisinniger
Mann, der auch anderen Menschen, die nicht wie er
veranlagt waren, Gerechtigkeit widerfahren ließ.
Der Fall Zastrow-Corny war vorgekommen. Vater
besprach abends im Familienkreise mit meinen älteren
Brüdern diesen Fall; ich durfte zuhören. Bei dieser
Gelegenheit schilderte er uns einen seiner Jugend-
kameraden, der sich einigemal in junge Burschen verliebt
hatte. Ich war Sekundaner, als ich durch mehrere Tage
auf dem Heimweg von einem feinen Herrn belästigt
*) Um auch in diesem Jahrbuch allen vier Fakultäten das Wort
zu geben, bringen wir obige Mitteilungen eines katholischen
Priesters, die in ihrer menschenfreundlichen schlichten Art für sich
sprechen. * Es erfüllt uns mit Genugtuung, daß nach wie vor eine
betrachtliche Anzahl sowohl katholischer, als auch evangelischer
Pfarrer unseren Bestrebungen vollste Sympathie entgegenbringen.
Der Herausgeber.
— 1173 —
wurde, der mir auf offener Straße seine Liebe bekannte
und mich um Gegenliebe anflehte. Ich machte, aufge-
bracht hierüber, meinem Vater Mitteilung, der mir ernst
sagte: „Sei nicht voreilig in deinem Urteil über einen
Mann, den du weder genauer kennst, noch infolge deiner
Unerfahrenheit richtig beurteilen kannst." Und nun
sprach Vater eingehender mit mir über „anders veran-
lagte" Menschen.
Auch der Herr Professor, bei dem ich Pastoral-
medizin hörte, hatte über dieses Thema zwar kurz, aber
gerecht und leicht verständlich gesprochen.
Ich war erst kurze Zeit in der Seelsorge, als ich
wegen Erkrankung meines Herrn Prinzipals die sonn-
tägliche Christenlehre übernehmen mußte. Ich sprach
zu den Christenlehrpflichtigen davon, daß sie herzhaft zu
mir kommen sollten, wenn ich in irgend einer Angelegen-
heit ihnen behilflich sein könne durch Rat oder Tat.
Einige Zeit darauf meldet sich bei mir ein lTjähriger
Christenlehrpflichtiger mit der Bitte, mir ein Anliegen
vortragen zu dürfen. Durch freundliches Entgegen-
kommen hatte ich wohl sein Vertrauen gewonnen, denn
gar bald legte er die Befangenheit ab und teilte mir
(außerhalb der Beichte) folgendes mit:
„Nach dem Tode seines Vaters wäre er zu seinem
seit iy2 Jahren verheirateten Schwager gezogen, der
Mechaniker sei; er selbst sei Lehrling in einer Engros-
Handlung. Vor einigen Wochen habe nun sein Schwager,
der stets sehr zärtlich gegen ihn gewesen sei, sein Bett
in sein Schlafzimmer übertragen lassen mit der Angabe:
„ Meine Frau bedarf des Nachts der größten Buhe, da
sie bald ihrer Niederkunft entgegen sieht.44 Schon in der
ersten Nacht habe sein Schwager ihn mit Küssen über-
häuft und da er selbst vom ersten Augenblick, da er
diesen Mann sah, ihn seiner männlichen, schönen Gestalt
wegen lieb gehabt habe, so hätte er sich dieses Küssen
74*
— 1174 —
nicht nur gefallen lassen, sondern selbst innigst erwidert.
Sein Schwager gestand ihm, daß er ihn stets sehr lieb
gehabt und daß er sich schon lange danach gesehnt habe,
ihn in seine Arme schließen zu können. So habe sich
zwischen beiden ein inniges Verhältnis herausgebildet.
Jetzt empfinde er in all seinem Glück doch Gewissens-
bisse, da er sich sagen müsse: „Ich betrüge meine
Schwester."
Durch meine Belehrung wurde er getröstet und zu
dem Entschluß bewogen, das Haus seines Schwagers zu
verlassen. Auf Wunsch des Jünglings ersuchte ich den
Schwager, mich zu besuchen. Er kam; in der Tat der
Mann war schön und kräftig gebaut, machte einen sehr
guten Eindruck durch sein festes, männliches und doch
bescheidenes Wesen. Wir besprachen die Sache. Be-
merkenswert ist seine Auslassung gleich zu Beginn des
Gesprächs: „Mein junger Schwager erzählte mir von
Ihnen; ich weiß, daß Sie mich verstehen werden; ich
habe zu Ihnen volles Vertrauen."
Dieser Mann hatte bis zu seiner Verheiratung keinen
sexuellen Verkehr mit Frauenzimmern, hingegen leiden-
schaftliche Jugendfreundschaften. Seine Frau habe ihm,
da er sie kennen lernte, gut gefallen, jedoch eigentliche
Liebe habe er gegen sie nicht empfunden, während sie
in ihn stark verliebt gewesen sei. Durch das Reden
seiner Verwandten und in der Meinung für sein ziemlich
großes Hauswesen mit Gesellen und 2 Lehrlingen müsse
er eine Frau haben, hatte er sich zur Ehe entschlossen.
Seinen jungen Schwager habe er stets lieber gehabt wie
seine Braut und jetzige Frau. Er habe sich aber nichts
merken lassen.
Der Jüngling zog zu einer achtbaren Familie, hatte
von da an jedes Zusammensein mit seinem Schwager unter
vier Augen gewissenhaft gemieden, obschon, wie er mir
später bekannte, dieses ihm ungemein schwer gefallen war.
- 1175 —
Seine Schwester gab einem sehr zarten Knaben das
Leben, starb leider selbst wenige Stunden darauf. Das
Kind wurde nur einige Tage alt. Sein Schwager hatte
sich eine Haushälterin genommen, war fest entschlossen,
nicht mehr zu heiraten. Da eines Sonntags findet sich
der Jüngling wieder bei mir ein und gesteht mir unter
Tränen, daß sein Schwager ihn täglich brieflich und
mündlich bestimme, zu ihm zu ziehen — er könne ohne
ihn nicht mehr leben — . Und als ich an den Jüngling
die Frage richtete: „Was willst du tun"?, da sagte er:
„Ich möchte gleich heute zu ihm, ich habe ihn auch so
lieb*4. —
Er zog zu seinem Schwager und als ich nach einem
Jahr diese Stadt verließ, wohnten sie noch beiein-
ander.
Die Verwaltung einer großen Pfarrei mit Fabrik-
bevölkerung wurde mir übertragen. In der Schule hatte
ich im 8. Schuljahr einen Knaben, der „anders war", als
die übrigen Knaben. Durch sein feines, mädchenhaftes
Gesicht bildete er einen großen Gegensatz zu seinen vier
übrigen Brüdern, obschon er mit diesen unverkennbare
Familienähnlichkeit hatte. Seine Mutter beklagte sich
einmal bei mir: „Ach, daß ich lauter Buben habe; ich
hätte gern auch ein Mädchen gehabt4*. Der Knabe,
welcher fleißig in der Schule und auch nach Verlassen
der Schule arbeitssam untl gesittet war, wurde von seinen
Kameraden wohl gelitten. Eines Sonntags gegen Abend
mache ich einen Spaziergang im nahen Walde. Ich be-
merke in einiger Entfernung meinen ehemaligen Schüler;
er war allein, schien traurig zu sein. Ich rufe ihn herbei,
knüpfte mit ihm ein Gespräch an, und was bisher bei
mir nur Vermutung war, fand ich nun bestätigt —
dieser Knabe, völlig unschuldsvoll und unverdorben, em-
pfand homosexuell. — Zwei Jahre hindurch konnte ich
ihn beobachten — er führte sich stets tadellos.
— 1176 —
Ich kam in eine Amtsstadt. Ein unverheirateter
Mann von 28 Jahren, der stets durch sein weibisches
Wesen aufgefallen, heiratet ein sehr wohlhabendes Mäd-
chen. Nach 3 Monaten ist Unfriede im Hause, denn
bei der letzten Einquartierung hat der junge Ehemann
Freundschaft mit einem Soldaten geschlossen und dieser,
nachdem er vom Militär entlassen, hat Wohnung bei
seinem Freunde genommen. Die arme, betrogene Frau
zeigt ihren Mann an. Der Prozeß wurde jedofch nieder-
geschlagen. Die Frau verließ ihren Mann und der Freund
blieb im Hause. Man hörte damals nur eine Stimme:
„Der hätte nicht heiraten und so seine Frau betrügen
sollen." —
Ein junger Mann aus sehr feiner Familie, bei der
Post angestellt, kommt auf Wunsch seiner Mutter zu mir,
um mir folgendes außerhalb der Beicht zu bekennen und
um Rat zu bitten. Depeschenträger und Briefträger, mit
denen er täglich in seinem Berufe verkehren muß, regen
ihn sexuell ungemein auf, lassen in seinem Herzen Gelüste
entstehen, die ihn, da er sie nicht befriedigen kann, zu
maßloser Onanie drängen. Da mir sein Nervensystem
recht zerrüttet erschien, weise ich ihn an den Arzt.
Einige Wochen vergehen, er kommt wieder. Die Mittel
des Arztes haben nicht geholfen. Versuch eines Coitus
bei einem öffentlichen Mädchen, den er auf Rat des
Arztes unternommen, war völlig gescheitert. Trost und
Rat wurde ihm gespendet. Nach einigen Wochen kommt
er freudestrahlend zu mir und erzählt, er habe jetzt
einen Freund, den er innig liebe, der ihm aufrichtig zu-
getan sei, der wie er fühle und empfinde, der ihm gesell-
schaftlich und beruflich gleich stehe. Wie doch diese
Freundschaft oder, richtiger gesagt, diese Liebe, diese er-
widerte Liebe den jungen Mann umgestaltete! Sonst miß-
mutig, verzagt und schwermütig, jetzt voller Freude am
Leben und im Beruf!
— 1177 —
In der Nähe wohnte ein etwa 50 Jahre alter Herr. Er
hatte eine Person zur Führung seines Hauswesens. Den Sohn
eines Handwerkers in der Nachbarschaft hatte er studieren
lassen und derselbe war bereits in der Oberprima; in
allen Klassen war dieser Jüngling stets Primus gewesen.
Als ich in jene Gegend kam, fiel mir das öftere und
zärtliche Zusammensein dieses Herrn und seines Schütz-
lings auf. Seine frühere Wirtschafterin schied aus dem
Dienst; an ihre Stelle trat eine Frau, die auch auf dem
Gymnasium einen Sohn hatte. Da Herr Z. sich um diesen
nicht kümmerte, aber seinem Liebling nach wie vor offene
Gunstbezeugungen gab, wurde diese Frau aus Neid an-
gestachelt, den Herrn Z. und seinen Liebling zu be-
lauschen, zu beobachten und endlich bei der Polizei an-
zuzeigen. Herr Z. legte ein offenes Geständnis ab, wurde
zu 2 Jahren verurteilt. Sein Schützling erhielt 4 Wochen
und mußte die Schule verlassen. Kaum war Herr Z. aus
dem Gefängnis entlassen, so suchte er seinen Liebling
wieder auf. Jetzt weilen beide in fernen Landen. Weder
Strafe noch Vernichtung seiner gesellschaftlichen Stellung
konnte also diesen Mann von seiner, wie er bei Gericht
auch offen eingestand, von frühster Jugend an empfun-
denen Neigung abbringen.
Ein junger Schornsteinfegergeselle, der in der Schule
einer meiner besseren Schüler war, kommt eines Sonntags
zum Besuch. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, daß
dieser homosexuell fühlt und stets so gefühlt hat.
Ein junger Bauer in meiner Pfarrei hat ein großes
Hofgut von seinem Vater geerbt. Jetzt dringt die Ver-
wandtschaft darauf, daß er heiraten müsse. Man sucht
ihm eine Braut aus, die nicht nur reich, sondern auch
kernig und gesund war; eine wirkliche „Schönheit vom
Lande". Sie voller Lebenslust und Üppigkeit; er still
und fast schüchtern. Das Brautpaar wird nach den
Hochzeitsfeierlichkeiten in der Nacht durch Burschen in's
— 1178 —
neue Heim geführt. Nach der Verabschiedung von den
jungen Burschen sagt er zur jungen Ehefrau: „Muß noch
nach dem Vieh sehen." Fort ist er, kehrt erst am nächsten
Morgen heim und gesteht offen: Ich kann mit meiner
Frau nicht in einem Zimmer schlafen ! Die ganze Nacht
hatte er im Walde zugebracht. Alles Zureden und Bitten
half nicht, der junge Bauer blieb dabei: „Ich kann mit
keinem Frauenzimmer in einen Verkehr treten". Die
junge Bäuerin hält sich an den Großknecht. Nach einigen
Wochen sind beide verschwunden, tauchen jenseits des
großen Wassers auf. Die Ehe wurde als ungültig erklärt,
da sich herausstellte, daß der junge Bauer gar nicht die
Absicht gehabt hat, eine Ehe zu schließen, bei der Frage
des Geistlichen nicht einmal „Ja* gesagt, sondern nur „so
einen Ton* hervorgebracht hatte. Schnell verkaufte der
junge Bauer sein Gehöft, nur um nicht mehr heiraten zu
müssen.
Ein junger Handwerksgeselle, der ehemals mein
Schüler war, wird krank. Ich besuche ihn und erkenne,
daß unglückliche Liebe diesem jungen Menschen am
Herzen nagt. Sein Busenfreund hatte sich von ihm ge-
wendet und sich verlobt. Ich sagte diesem Jüngling, daß
er sich ein großes Ziel setzen solle; im Streben nach
diesem Ziele werde er diese unglückliche Liebe über-
winden lernen. Er setzte sich das Ziel und ist heute
Leiter einer großen Fabrik. Seine Liebe zum Genossen
seiner Jugend ist nicht erloschen, wenn auch zurückge-
drängt. Einmal, aber nur kurze Zeit, konnte er glücklich
einen jungen Buchhalter lieben. Der Tod trennte diese
innigen Bande. Wie doch diese aufrichtige Liebe über
das Grab hinaus fortdauert!
Zeitungsausschnitte.
Vorbemerkung des Herausgebers: Mehrfachen Anregungen
entsprechend bringen wir dieses Jahr wiederum eine Aus-
wahl von Zeitungsausschnitten. Wir sagen denjenigen Lesern,
welche uns solche übermittelten, verbindlichsten Dank und
bitten, uns auch weiterhin einschlägige Notizen aus der Presse
mit möglichst genauer Quellenangabe zu senden. Wenn auch
diese kurzen Mitteilungen — meist im üblichen Reporterstil
gehalten — gewiß nicht Anspruch auf strenge Wissenschaft-
lichkeit erheben können, so haben wir ihnen dennoch
in diesem Archiv einen Platz eingeräumt, weil sie ein recht
anschauliches und unmittelbares Bild von Ereignissen und
Situationen gewähren, die ohne die Vorkenntnis sexueller
Zwischenstufen kaum richtig erfaßt werden können. Wir
haben uns auch dieses Mal auf Stichproben beschränkt und
hauptsächlich solche herausgegriffen, wo Frauen für Männer
oder Männer für Frauen gehalten wurden bezw. in der Rolle
des anderen Geschlechts vorübergehend oder dauernd lebten,
ferner Fälle von Erpressungen und Selbstmorden, welche
sicher oder mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrschein-
lichkeit durch die conträre Sexualempfindung bedingt wurden.
Eine Frau als Mann verkleidet! Einen gar seltsamen Fang
machte vor kurzer Zeit der Gendarm Katzbichler von Pasing auf
seinem Patrouillengange nach Holzapfelkreut. Schon seit längerer
Zeit bemerkte er einen jungen, mittelgroßen, bartlosen Mann, in
einen schwarzen Sackanzug gekleidet, mit schwarzem, steifem
Hut, Stehkragen und schwarzer Kravatte angetan, der sich Tag
für Tag in dem Gehölze bei Holzapfelkreut herumtrieb. Endlich
lief er dem Gendarmen in die Hände, der ihn auch sofort kon-
trollierte. Der Bursche gab an, er heiße Max Berr, sei Schneider-
geselle und zur Zeit, da außer Stelle, bei seinen Eltern in Haid-
— 1180 —
hausen. Der Gendarm sah sich den Kunden genauest an und —
stutzte. Nach eindringlichem Befragen gab der Bursche auch zu,
kein Mann, sondern die stellenlose 19 Jahre alte Kellnerin Sophie
Berr von hier zu sein. — Die „Herrenimitateuse" wurde verhaftet
und stand vor dem Schöffengerichte, angeklagt einer Verübung
des groben Unfugs, begangen durch Tragen von Männerkleidern,
eines Weiteren der falschen Namensangabe und der Arbeitsscheu.
Die Angeklagte erscheint im Frauenstrafgewande und macht genau
den Eindruck, als wenn man — einen Mann in Frauenkleider
gesteckt hätte! Die Berr hat männliche Gesichtszüge, männlichen
Gang und Bewegungen. Ihr Kopfhaar ist ä la Fiesco kurz ge-
schnitten, hinter den Ohren abrasiert und verläuft nach vorne zu
einem kleinen Scheitel, den zu beiden Seiten niedliche „Sechser"
umrahmen. — Sie fühlt sich in der Frauen kleidung sehr unbequem,
da die Röcke keine — Hosentaschen haben, und sie die Gewohn-
heit hat, die Hände in die Tasche zu stecken. Unumwunden
gesteht sie zu, seit längerer Zeit auch bei Tage, meistens aber
zur Nachtzeit, in Männerkleidung in und außerhalb der Stadt her-
umspaziert zu sein, und will auf diesen Einfall dadurch gekommen
sein, daß ihr der Friseur den „Tituskopf" zu kurz geschnitten
hätte. In Wirklichkeit hatte die Berr von der Polizeibehörde
wiederholt Arbeitsauftrag bekommen, den sie nicht befolgte, und
wollte auf diese Weise der bevorstehenden Strafe entgehen.
Charakteristisch bei der ganzen Sache ist, daß niemand der Berr,
selbst auf offener Straße ansah, daß sie ein Weib sei. Nach
längerer Verhandlung wird die Berr wegen der genannten Über-
tretungen zu einer 30tägigen Haftstrafe verurteilt ; von der An-
schuldigung einer Verübung des groben Unfugs, begangen durch
Tragen von Männerkleidern auf Straßen und öffentlichen Plätzen,
wird die Berr freigesprochen. Das Gericht ging hierbei von der
Erwägung aus, daß es überhaupt fraglich ist, ob das Tragen von
Männerkleidern durrf Frauenzimmer unter den Paragraphen des
groben Unfugs fällt und strafbar sei; man könne höchstens
einen groben Unfug dann für gegeben erachten, wenn die betref-
fende Person öffentliches Ärgernis durch ihre Handlungsweise
hervorgerufen habe. Dies sei aber bei der Angeklagten, die man
allgemein für einen Mann hielt, nicht zutreffend, es fehle deshalb
das Moment des § 360, Ziff. 11 des R.-Str.-G.-B., das eine Be-
strafung bedingt, und sei deshalb die Angeklagte von diesem
Reate freizusprechen gewesen. (Münchener n. n.)
— 1181 —
Einer Meldung des Moskauer Korrespondenten der „St. Pet.
Ztg." zufolge, ereignete sich dieser Tage ein kurioser Vorfall in
der gynäkologischen Klinik, wo sich eine weibliche Person an
Professor Snegirew mit der Bitte um Erteilung einer Bescheinigung
darüber wandte, daß sie, obgleich auf den Namen Marie getauft,
doch mehr Anrecht auf einen männlichen Namen erheben dürfe.
Nach vorgenommener wissenschaftlicher Expertise erwies sich die
Annahme der Petentin denn auch als vollkommen gerechtfertigt,
und wurde ihr, oder vielmehr ihm, die gewünschte Bescheinigung
erteilt.
Sechsundzwanzig Jahre als Mann verkleidet. Aus Anlaß
einer beim Wiener Landesgericht durchgeführten Untersuchung
kam vor einigen Tagen die überraschende Tatsache, daß eine
jetzt 42 Jahre alte Frauensperson seit ihrem 16. Lebensjahre, also
durch 26 Jahre, als Mann verkleidet und als Fabrikarbeiter be-
schäftigt war, zur Kenntnis der Behörden. Marie Kneidinger
benützte von ihrem 16. Lebensjahre an, als sie sich selbst über-
lassen war und als Fabrikarbeiterin keine Beschäftigung finden
konnte, ihr männliches Aussehen dazu, um als Fabrikarbeiter
Beschäftigung zu finden. Die Verkleidung gelang und sie leistete
in einer Fabrik in Fünfhaus die schwersten Dienste eines männ-
lichen Arbeiters. Nun geschah es, daß ein junges Mädchen, eine
Arbeitsgenossin, sich in den vermeintlichen Mann verliebte.
Marie Kneidinger, die als Josef Kneidinger gemeldet war, heuchelte
Gegenliebe, verschob aber den Termin der Heirat jedesmal mit
einer anderen Ausrede. Ein Streit, der zwischen dem „Liebes-
paare" entstand, führte zu einer strafrechtlichen Untersuchung
und damit auch zur Entdeckung des Geschlechts des „Josef
Kneidinger". (Bresl. Generalanzeiger.)
Amsterdam, 17. Nov. In der Kinkerstraat wohnt seit Jahren
ein junges Mädchen, das nunmehr als junger Mann durch die
Straßen flaniert. Als Mädchen führte der junge Mann dort jahre-
lang ein Kurzwarengeschäft und gab dabei noch Unterricht an
einer Sonntagsschule. Beim Kaffeeklatsch blies er stets die erste
Flöte. Man kann sich das Entsetzen der Kaffeeschwestern aus-
malen, als sie zur Entdeckung kamen, daß „sie" ein „er" war,
der ihnen jetzt im hellen Sommerüberzieher und Schlapphut
Fensterpromenaden macht. Gleichzeitig kündigte „er" öffentlich
seine Verlobung mit einer seiner früheren intimen Freundinnen
— 1182 —
an. Diese Vermummung, welche wohl ein gerichtliches Nachspiel
haben dürfte, wurde schon von. der Geburt des Knaben an
durchgeführt. Eine Verwandte hatte den Eltern eine bedeutende
Geldsumme in Aussicht gestellt, falls das zu erwartende Kind ein
Mädchen sei; diesem sollte nach zurückgelegtem 23. Lebensjahre
das Geld ausbezahlt werden. So wurde denn der Knabe als
Mädchen eingeschrieben. Kaum hatte er aber das 23. Jahr hinterm
Rücken, als er auch die Mädchenröckchen ablegte und in
Männerkleider schlüpfte. Seine früheren Freundinnen behaupten,
er habe in keiner Weise Veranlassung gegeben, anzunehmen,
daß er kein Mädchen sei. *
Wieder eine Frau, die als Mann gelebt hat. Ein merk-
würdiger Fall einer Frau, die sich als Mann verkleidet hat und
überall als Mann gegolten hat, ist soeben wieder einmal in
New-York durch den Tod der Betreffenden bekannt geworden.
Miß Karoline Hall, die Tochter eines Bostoner Millionärs und
Architekten, hatte im Auslande Kunst studiert und sich als
Malerin einen gewissen Ruf erworben. Vor zehn Jahren schlug
sie ihren Wohnsitz in Mailand auf, wo sie Josephine Boriani
kennen lernte, die dort an der Kunstschule war. Beide Frauen
wurden intim befreundet, und als Miß Hall später männliche
Kleidung anlegte, galt Signorina Boriani als Frau Hall.. Be-
wunderung für Rofa Bonheur hatte die erstere dazu geführt,
männliche Kleidung und Gewohnheiten anzunehmen. Sie konnte
so gut rauchen, trinken, schießen und jagen wie die Männer und
galt überall als Bonvivant und guter Kerl. Als Graf Cassini war
sie in der besten Pariser und Londoner Gesellschaft bekannt.
Sie jagte und spielte Golf in England, besuchte die Caf£s in Paris
und war in Italien Dilettant. Als sie sich mit Signorina Boriani
auf der „Citta di Torino" als „Mr. und Mrs. Hall" von Genua
nach New-York einschiffte, wurde sie während der Reise so krank,
daß der Arzt gerufen werden mußte, der ihr Geheimnis entdeckte.
Sie räumte ein, daß sie eine Frau wäre, bat ihn aber darum, es
vor den Mitreisenden zu verheimlichen, wozu der Arzt seine
Einwilligung gab. Die Krankheit verschlimmerte sich aber schnell,
und als das Schiff in den New-Yorker Hafen einlief, starb sie.
(Düsseldorfer Neueste Nachrichten.)
Ein 82jähriger Greis in Frauenkleidung. Der Greis, den wir
im Bilde bringen, hat beinahe sein ganzes Leben lang Frauen-
— 1183 —
kleider getragen. Als junger Bursche zog er sich bei einem un-
glücklichen Sturz eine so schwere Verletzung am rechten Ober-
schenkel zu, daß ihm das Bein abgenommen werden mußte. Als
er geheilt war, schämte er sich, mit dem hölzernen Stelzbein vor
den Leuten herumzugehen und zog deshalb Frauenkleider an,
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durch welche sein Gebrechen mehr verhüllt wurde. Der Greis,
welcher jetzt 82 Jahre alt ist, trägt nun die Frauenkleider beinahe
70 Jahre lang. Er lebt in Freienwalde, in Preußisch-Schlesien und
heißt Clemens Jung. Von den Ortsbewohnern wird er „die alte
Clementine" genannt. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich
— 1184 —
durch Spinnen und Aufspulen für die Weber. Da diese Arbeiten
schlecht bezahlt werden, so kann er sich im Tage bei fleißiger
Arbeit 16 Heller verdienen. In seiner freien Zeit spielt er mit
setner Harmonika auf, und die kleinen Geschenke, die er dafür
erhält, reichen hin, seine bescheidenen Bedürfnisse zu decken.
Da er jetzt schon zu alt ist, um in die eine halbe Stunde weit
entfernte Kirche von Freienwalde zu gehen, hat er sich in seinem
Hause einen kleinen Altar errichtet. Unser Bild ist nach einer
Skizze gezeichnet, die uns von einem Leser unseres Blattes, der
sie kürzlich bei einem Besuche in Freienwalde entworfen hat,
freundlich übermittelt worden ist. (Illustriertes Wiener Extrablatt.)
Un homme-femme. On cherche un cambrioleur et Ton re-
trouve une cambrioleuse. — Une perruque qui tombe mal ä
propos. La concierge de Timmeuble sis au numero 1 de l'avenue
de PAlma voyait entrer, hier matin, dans le vestibule, un individu,
äg£ d'une yingtaine d'ann6e, qui s'engagea dans l'escalier de
service. — Vous vous trompez d'escalier, cria la concierge. —
Cela n'a pas- d'importance, repondit le visiteur en continuant de
monter. Inqutete, la brave femme pr£vint son mari, qui, croyant
avoir, affaire ä un cambrioleur, se häta de fermer la porte de la
nie. Puis il monta jusqu'aux chambres de bonnes: mais il
n'apergut pas le prätendu cambrioleur. II constata seulement que
la porte de la chambre de Mlle FSlicie Witte, camäriste chez le
genäral Logereau, locataire de Pimmeuble, etait fracturSe. La
concierge, pendant ce temps, montait la garde dans le vestibule.
Au mSme instant, une jeune et jolie femme, grande, blonde, des-
cendait le grand escallier. La concierge l'interpella et lui demanda
ce quelle däsirait. — Cela ne vous regarde pas, ma brave dame,
repondit l'autre avec hauteur. Eh cet instant, le concierge, qui
redescendait, annon^ait ä sa femme le cambriolage qu'il venait
de constater. — Va chercher les agents, ajouta le concierge, moi
je surveillerai mademoiseHe, pendant ce temps. Quelques minutes
plus tard, Pinconnue etait conduite au commissariat de police des
Champs-Elysees. Elle se dgfendit d'avoir jamais commis un m£fait
de queique nature qu'il füt. Mais, dans l;ardeur de sä defense,
sa perruque blonde glissa et tomba ä terre, et Ton se trouva en
prGsence d'un jeune homme, que la concierge reconnut aussitöt
pour son visiteur du matin. Fouillä, il fut trouvä porteur de trois
bagues, d'une montre de dame en or et de divers bijoux apparte-
— 1185 —
nant ä MHe Witte. II avait, en outre, un rasoir, un revolver et
une pince-monseigneur. II dSclara se nommer Alexis Duteurtre,
äg6 de vingt-deux ans. Ce jeune homme, qui appartient ä une
honorable famille, habitant une grande ville du Nord, a refusd de
faire connaitre son domicile. II a 6t6 envoyä au D£pöt, par les
soins de M. Prälat, commissaire de police des Champs-Elysees.
(Le Journal, Paris.)
Ein merkwürdiger Mensch. Der 19 Jahre alte Kellner Wilhelm
Hans Julius Seh. ist wegen Diebstahls angeklagt; er räumt die
ihm zur Last gelegten Straftaten reumütig ein und bittet um milde
Strafe. Der Staatsanwalt beantragt wegen dreier einfacher Dieb-
stähle 10 Monate Gefängnis und 2 Jahre Ehrverlust; der Gerichts-
hof erkennt auf 8 Monate Gefängnis, rechnet dem Angeklagten
aber 6 Wochen auf die erlittene Untersuchungshaft an. Der An-
geklagte hielt sich im Oktober vorigen Jahres in Hamburg auf,
um sich eine Stelle auf einem Schiffe zu suchen; er logiert bei
Leuten, zu denen ihn sein auswärts wohnender Vater gebracht
hatte, der auch sein Logisgeld bezahlte. Eines Tages fand Seh.
in einem Schranke, der in seinem Zimmer stand, zwei Sparkassen-
bücher über 2700 Mk.; er nahm diese Bücher heraus und hob in
mehreren Raten eine Summe von ungefähr 500 Mk. bei der Spar-
kasse. Für dieses Geld kaufte er sich Frauenkostüme, die er an-
zog und damit auf die Straße ging. Der Angeklagte ist anschei-
nend ein abnorm veranlagter Mensch, der die eigentümliche Nei-
gung hat, sich wie ein Frauenzimmer zu kleiden und in dieser
Kleidung umherzustreifen. Trotzdem er auf die Sparkassenbücher
genug Geld haben konnte, hat er noch obendrein seiner Logis-
wirtin ein Paar silberne Löffel, zwei wertvolle Andenken, ge-
stohlen und für 2 Mark verkauft. Das Erkenntnis des Gerichts
ist oben mitgeteilt.
(Zweite Beilage zu No. 12 der „Neuen Hamburger Zeitung".)
Frauen in Männerkleidung. Es ist im Grunde genommen
merkwürdig genug, daß das Gesetz, wenigstens in Deutschland,
das Tragen von Männerkleidung bei Frauen, hauptsächlich und
beinahe ausschließlich aus Gründen der Moral mit Strafe bedroht,
während die überwiegende Mehrheit derjenigen Frauen, die es
vorgezogen haben, in der Kleidung des starken Geschlechts durch
das Leben zu gehen, dies aus dem Grunde taten, weil sie
glaubten, sich* damit den Kampf ums Dasein zu erleichtern- Das
— 118(5 —
englische Gesetz sieht die Sache vom rein praktischen Stand-
punkte aus an, und deshalb fällt das Vergehen hierzulande
nur unter die Kategorie des Betruges. Strafe ist aber hier wie
dort, und das ist schließlich auch nur in der Ordnung, denn
wenn jeder in diesem Punkte seinen eigenen Wünschen und
Neigungen folgen wollte, so wüßte schließlich — um auch einmal
einen weniger geistvollen Ausdruck anzuwenden — mancher
Mann gar nicht mehr, wer mancher Mann war, und das
würde doch in vielen Fällen zu argen Weitläufigkeiten führen.
Der eklatanteste Fall in dieser Beziehung wird natürlich aus
dem Lande berichtet, wo alle eklatantesten Fälle passieren, aus
Amerika. In New-York starb vor kurzem eine Dame, die dreißig
Jahre lang in Männerkleidung umhergegangen ist, ohne daß auch
nur ihre nächste Umgebung eine Ahnung davon hatte. Sie starb
im Alter von sechzig Jahren, und als nach ihrem Tode das Ge-
heimnis bekannt wurde, war ganz Neuyork erstaunt, zu hören,
daß der wohlbekannte Bürger und eifrige Tammany- Politiker
„Mr." Murrey Hall ein Weib war. Selbst ihre adoptierte Tochter
war auf das höchste überrascht, ihren Vater nach seinem Tode
von einer so gänzlich neuen Seite kennen zu lernen. Das Beste
aber ist, daß — so unglaublich es auch klingen mag — „Mr."
Murrey Hall zweimal verheiratet war und mit beiden Frauen
sehr glücklich gelebt haben soll. Mr. Murrey Hall war der erste
Teilhaber einer großen Neuyorker Firma und hinterließ ein Ver-
mögen von 250000 Kronen, nachdem sie große Summen bereits
bei Lebzeiten für wohltätige und politische Zwecke geopfert
hatte. Bei Wahlen war sie einer der eifrigsten Agitatoren, und
sie soll bei der Niederlage des Tammany-„Boß" ganz untröstlich
gewesen sein. Auf ihrem Sterbebette bekannte sie, daß sie die
Verkleidung nur aus dem Grunde getragen habe, um besser
Geld verdienen zu können, und der Erfolg hat gezeigt, daß es
ihr damit ernst war. NB. Auf ihrem Landgute in der Nähe der Stadt
Oswego, am östlichen Ende des Ontariosees, lebt der im ganzen
Bezirke wohlbekannte „Herr Dr." Mary Walker, eine Frau, die
seit vierzig Jahren nur Männerkleidung getragen hat. Vor einiger
Zeit wurde durch ' Zufall das Geheimnis verraten , aber sie
kümmert sich nicht darum, sondern führt das freie Herrenleben,
das ihr sehr zusagt, ruhig weiter, ohne daß irgend jemand daran
Anstoß nimmt. Sie kann reiten, schießen, fischen, pflügen und
ist ein sehr leidenschaftlicher Raucher. Auch in Großbritannien
sind verschiedene bemerkenswerte Fälle vorgekommen, die man für
— 1187 —
unglaublich halten könnte, wenn sie nicht gerichtskundig wären,
so daß jeder Zweifel ausgeschlossen erscheint. In dem Kohlen-
grubendistrikte Merthyr Tydvil in Wales entlief vor einigen*
Jahren ein vierzehnjähriges Mädchen und legte, in der Erwartung,
so besser und schneller Arbeit zu finden, Männerkleidung
an. Sie hatte sich darin auch nicht getäuscht, denn un-
mittelbar darauf arbeitete sie als Kohlenbursche in einer
der Gruben und bezog das für ein vierzehnjähriges Mädchen
hohe Gehalt von 15 Schilling pro Woche. Sie mietete sich ein
bescheidenes Zimmer, und alles wäre ganz schön gewesen,
wenn sie nicht bei ihrer Wirtin durch ihre „Reinlichkeit" — ein
schönes Kompliment für das sogenannte stärkere Geschlecht —
Argwohn erregt hätte, worauf diese sie aus dem Hause wies.
Diese Erniedrigung war für ihre zarten Nerven zuviel, und sie
wurde bald darauf so krank, daß sie in ein Hospital ging, wo sie
selbstverständlich ihr Geheimnis preisgeben mußte. In einer
großen Stadt im Norden Schottlands lebt ein in der Geschäfts-
welt hochangesehener Herr, von dem man sagt, daß er kein Herr
sei, sondern eine Dame. Sie (oder er?) erscheint bei allen
öffentlichen Funktionen, ihre Kleidung und ihre Manieren als
Mann sind tadellos, und ihr Geschlecht war umso leichter zu
verheimlichen, als sie nicht nur eine außerordentlich sonore, tiefe
Stimme besitzt, sondern auch einen — Schnurrbart, um den sie
mancher Gymnasiast beneiden dürfte. Vor dem Maryleboner
Polizeigerichte hatte sich vor einiger Zeit eine Frau zu ver-
antworten, die 46 Jahre lang unentdeckt und unbeargwohnt in
Männerkleidung umhergegangen war. Catherine Coombe erzählte
bei der Verhandlung ihre interessante Lebensgeschichte. Sie war
mit sechzehn Jahren einem Manne angetraut worden, den sie
nicht liebte, und benutzte daher die erste beste Gelegenheit, ihm
davonzulaufen, und um nicht per Polizei zurückgeholt zu werden,
legte sie Männerkleidung an. Mehrere Jahre war sie als Lehrerin
in einer angesehenen Schule in London tätig und nahm später
eine Stellung als Koch auf einem Dampfer der Pacific and Orient-
Linie an, die sie zwei Jahre lang behielt. Auf dem Schiffe machte
sie die Bekanntschaft einer vornehmen vermögenden Dame, ent-
deckte sich ihr und lebte vierzehn Jahre lang mit ihr zusammen.
Als sie hörte, dass ihr Gatte gestorben war, kehrte sie nach
London zurück, nahm dort erst eine Stelle als Ladengehilfe in
einem großen Handlungshause an, wo sie fünfzehn Jahre blieb,
um dann wieder auf den Dampfer zurückzukehren, auf dem sie
Jahrbuch V. 75
— 1188 —
früher als Koch gedient hatte, diesmal jedoch als Maler und
Lackierer. Von da ab scheint sie jedoch das Glück verlassen zu
haben, denn es ging ihr immer schlechter, bis sie zuletzt in einem
Armenhause Unterkommen suchen mußte, wo sie in ihrer Angst
vor dem unvermeidlichen Bade ihr Geheimnis der Verwaltung
enthüllte.
Frauen in Männertracht sind in Paris auch außer der
Karnevalszeit durchaus nicht selten, gehen aber im Alltagsleben
gewöhnlich unbemerkt vorüber, weil der Grund zu der Ver-
mummung meistens in einer sonst nur dem stärkeren Geschlechte
zukommenden Beschäftigung, nicht etwa in Abenteuerlust liegt,
und stehen in dieser Beziehung auf gleicher Stufe mit den in der
Kleidung von ihren männlichen Berufsgenossen nicht zu unter-
scheidenden Fischerinnen an den Küsten des Atlantischen Ozeans
und den Schnitterinnen des Val d'IUiez (Wallis). Übrigens finden
sich Beispiele solcher Frauen auch in gebildeten Ständen. Die
Gattin des Forschungsreisenden Dieulafoy, die diesen in Männer-
kleidung nach Persien usw. begleitete, erschien auch nacher bei
amtlichen Festlichkeiten im Kreise der Akademiker im Zylinder
und mit dem Bande der Ehrenlegion im Knopfloche ihres Fracks.
Bekannt ist ferner die Tracht der vor zwei Jahren verstorbenen
Malerin Rosa Bonheur, deren Werke nicht allein einen hervor-
ragend männlichen Charakter besitzen, sondern die sich auch
bis zu ihrem Lebensende männlich kleidete, bei ihrem Aufenthalte
in Paris häufig als Reiter ein munteres Pferd tummelte und im
blauen Malerkittel und Schlapphut im Freien Skizzen aufzunehmen
pflegte. Auch eine Pariser Schriftstellerin, eine Faktorin in einer
Buchdruckerei und verschiedene ähnliche besser gestellte Frauen
treten stets unter männlicher Maske auf. Man meint, wenn der-
artige Bräuche sich verallgemeinerten, würde eine große gesell-
schaftliche Verwirrung entstehen, die ein polizeiliches Einschreiten
erfordern könnte. Der „Petit Parisien" hat daher, wie der „Köln.
Ztg." aus Paris berichtet wird, Erkundigungen eingezogen, inwie-
weit die gedachte Vermummung gestattet sei. Ein höherer
Präfekturbeamter erklärte in dieser Beziehung nur die jährlich
zum Karneval erneuerte Polizeiverordnung über die Stunden für
maßgebend, während deren die Verkleidung auf offener Straße
erlaubt sei. Wenn aber eine Person versichere, daß sie einen
Anzug alltäglich trage, und wenn dieser der landläufigen Tracht
entspreche, sei nicht einzusehen, weshalb man sie verhindern
— 1189 —
könne, sich nach ihrer Art und nach den Bedürfnisseh des Standes*
zu kleiden. Andernfalls müßte man auch das geistliche Gewand
verbieten, weil sich darin womöglich eine Ähnlichkeit mit
einem weiblichen finden lasse. Es gäbe Fälle, wo Frauen in der
Tracht von Maurern, Fuhrleuten usw. arbeiteten, und in solchen
Fällen drücke die Polizei ein Auge zu. Im Kabinett des Präfekten
gab man die Antwort, daß die vorliegende Frage streng ge-
nommen nur noch durch eine Polizeiverordnung vom 16. Brumaire
des Jahres IX (7. November 1800) entschieden werden könne,
welche die Genehmigung zu den damals sehr häufigen Ver-
mummungen von einem ärztlichen Zeugnis abhängig macht, daß
der Bewerber oder die Bewerberin der besonderen Tracht aus
Gesundheitsrücksichten bedürfe. Mit der Zeit habe man aber
Ausnahmen hiervon gemacht, so bei Aurore Dupin (George Sand),
Rosa Bonheur und Marguerite Bellanger, der Margot Napoleons HL,
die die Eifersucht der Kaiserin erregt habe. Früher seien die
Gesuche um die Erlaubnis zum Tragen von Männerkleidern
überhaupt häufiger gewesen; seit Einführung der an das stärkere
Geschlecht erinnernden Kleidung für Radfahrerinnen aber scheine
die Sucht der Frauen nach sonstigen männlichen Trachten immer
mehr abgenommen zu haben. („Wiener Fremdenblatt".)
Frauen — als „Ehemänner". Der Fall des „weiblichen
Politikers" Murray Hall in New-York, der Frau, die dreißig Jahre
als Mann gelebt und deren Geschlecht erst nach ihrem Tode
bekannt geworden war, wird noch immer in englischen Blättern
vielfach besprochen. Am Merkwürdigsten erscheint dabei die
Tatsache, daß „Mr." Hall zweimal verheiratet gewesen ist. Und
doch steht, wie ein englisches Journal erzählt, dieser Fall durchaus
nicht so vereinzelt da. In den Gerichtsarchiven von Taunton, der
Hauptstadt der englischen Grafschaft Somerset, findet sich ein
Bericht aus dem November 1746, demzufolge eine Frau Namens
Mary Hamilton angeklagt war, weil sie sich mit vierzehn ver-
schiedenen Frauen hatte trauen lassen. Ihre letzte „Gattin" war
Mary Price, die, nachdem sie die gegen sie verübte Täuschung
entdeckt hatte, ihren weiblichen Gatten verhaften ließ; und sie
legte gegen ihn vor Gericht Zeugnis ab. Der Fall war so unge-
wöhnlich, daß die richterlichen Beamten kaum wußten, welche
Strafe sie verhängen sollten. Sie waren jedoch einstimmig der
Meinung, daß die Gefangene „eine ungewöhnlich ruchlose
Schwindlerin" wäre. Als solche wurde sie dazu verurteilt, „öffent-
75*
— 1190 —
lieh in Taunton Glastonbury, Wells und Shipton Maltet gepeitscht
und sechs Monate eingekerkert zu werden", was noch eine sehr
mäßige Strafe für jene Zeit strenger Urteile bei den leichtesten
Vergehen war. 35 Jahre später starb in London eine Frau
Namens Mary East, deren Leben einen seltsamen Roman darstellte.
Erst sechzehnjährig, wurde sie mit einem jungen Mann verheiratet,
durch dessen Verbrechen sie kurz darauf für immer von seiner
Gesellschaft befreit wurde. Er wurde gehängt. Durch ihre Er-
fahrungen mit ihm war sie aber so angeekelt, daß sie nichts mehr
mit den Männern zu tun haben wollte. Da sie ein Mädchen traf,
deren Liebe ähnlich schlecht angebracht gewesen war, kam sie
auf den Gedanken, daß sie Beide als Mann und Frau zusammen
leben könnten. Sie losten, wer von ihnen die Rolle des Gatten
annehmen sollte, und da das Los Mary East traf, nahm sie sofort
Männerkleidnng an und die Heirat wurde wie üblich gefeiert.
Das Paar lebte sehr glücklich zusammen, und da sie in einem
Rechtsstreit zehn Tausend Kronen gewannen, konnten sie es
wagen, ein Gasthaus zu begründen. Dieses gedieh unter ihrer
Leitung sehr gut. Erst nach dreißig Jahren wurde „die Frau" krank
und starb. In dieser Zeit gebrauchte eine skrupellose Frau, die
das Paar in seiner Jugend gekannt hatte, ihre Kenntnis, um von
dem „Gatten" viel Geld zu erpressen. Gegen die Erpresserin
wurde ein Verfahren angeordnet, in dessen Verlauf die erwähnten
Einzelheiten ans Licht kamen und großes Aufsehen erregten.
Mary East, deren Männername James How war, starb im Jahre
1781 im Alter von 64 Jahren. Vor einigen Jahren erzählten
amerikanische Blätter die romantische Geschichte von Alice Brown.
Derselben war ein Legat von 180.000 Kronen hinterlassen worden,
das jedoch nur im Falle ihrer Heirat ausbezahlt werden sollte.
Obgleich sie das Geld sehr gern in ihren Besitz bekommen wollte,
konnte sie sich nicht entschließen, einen Gatten zu nehmen, und
sie traf mit einem befreundeten Mädchen das Abkommen, daß
dieses das entgegengesetzte Geschlecht vorstellen und sie heiraten
sollte. Die Trauung wurde richtig in New-York vollzogen, und
nach Vorzeigung des Trauscheins wurde das Vermächtnis aus-
gezahlt. Die Täuschung wurde erst entdeckt, als die Erbin starb.
Auch bei einem Fischer in der Bretagne fand man nach seinem
Tode, daß er dem schwachen Geschlecht angehört hatte. Es ging
ihm sehr gut, er besaß eine kleine Bootflotte und hatte eine
beträchtliche Summe als Notgroschen zurückgelegt. Er genoß
aller Achtung und war bei seinem Tode Witwer. Er war tat-
— 1191 —
sächlich zweimal verheiratet gewesen und hatte ein halbes Jahr-
hundert sein wirkliches Geschlecht verbergen können; Niemand
hatte geahnt, daß er eine Frau war, noch dazu eine die Frauen
geheiratet hatte.
Kostroma. Mit der sonderbaren Bitte, seine Frau für einen
Mann zu erklären, wandte sich dieser Tage ein Bauer aus dem
Kreise Kologriw an die Kostromatische Gouvernements-Medizinal-
verwaltung. Wie die Zeitung „Russkoje Slowoa berichtet, glich
die vor der Behörde erschienene Frau ihrer Kleidung nach tat-
sächlich einem Manne: sie trug Männerhosen, ein Männerhemd,
hohe Wasserstiefel und war auch wie ein Mann frisiert. Nach
der ärztlichen Besichtigung der jungen, einem hübschen Knaben
gleichenden Frau, vermochte die Medizinal- Verwaltung das Gesuch
des Bauern nicht zu erfüllen und erklärte, daß seine Frau wirklich
eine Frau sei. Mit diesem Bescheid wollte sich das Bäuerlein
indessen nicht zufrieden geben und behauptete eigensinnig, daß
er es wohl am besten wissen müsse, wie es mit seiner Frau
bestellt sei. Weiter erzählte er, daß seine Frau trotz vierjähriger
Ehe kinderlos sei und, wie die Dinge lägen, auch kinderlos bleiben
werde. Des Zeugnisses bedurfte der Bauer, um beim Konsistorium
eine Trennung seiner Ehe beantragen zu können.
Von einem Kopenhagener Maskenball. Unser Kopenhagener
dt.-Correspondent schreibt uns: In einem hiesigen Verein wurde
dieser Tage ein großer Maskenball veranstaltet. Unter den
Anwesenden, von denen nicht jeder gerade zur Elite der Gesell-
schaft gehörte, zeichnete sich besonders eine als Pierrette
costümierte deutsche Dame durch ihre Schönheit und Anmut aus.
Niemand vermochte ihren Reizen zu widerstehen, und die Herren
wetteiferten um einen Tanz mit der entzückenden Dame. Prüde
war die schöne Pierrette gerade nicht, denn sie erwiderte jede
zarte Liebkosung und drückte ihre Tänzer sehr zärtlich an sich.
Die vielen Eroberungen der Pierrette erregten jedoch die Eifersucht
der anderen Damen, von denen eine, die das Treiben jener
scharf beobachtete, bald die unliebsame Entdeckung machte, daß
die deutsche Dame während des Tanzes die Brusttaschen der
Herren untersuchte und sich ihre Brieftaschen aneignete. Über
diese Frechheit entrüstet, machte sie einen Polizeiagenten auf
ihre Entdeckung aufmerksam. Nachdem dieser sich von der
Richtigkeit der Sache überzeugt, führte er die junge Dame auf
— 1192 —
die Wache, wo Pierrette untersucht wurde. Groß aber war das
Erstaunen der Polizei, als die schöne Deutsche sich als ein —
Mann, ein Buchbindergeselle Namens Alois Embusch entpuppte.
Man fand in seinem Besitz mehrere Portemonnaies. Er gestand,
eine ganze Reihe Taschendiebstähle verübt zu haben. Der schöne
Buchbinderjüngling wird sich nun auf eine längere Gefängnisstrafe
gefaßt machen müssen. Ben. L.-Anz.
Der weibliche Rittmeister. Eine eigenartige Scheidungsklage
wurde in Wien von einem Ingenieur gegen seine jugendliche
Gattin eingeleitet. Als Scheidungsgrund führte der Kläger Untreue
seiner Gattin an, und als Beweis schloß er der Klage ein Bild
bei, auf dem seine Gattin in Husaren-Uniform neben einem Ritt-
meister photographiert erscheint. Der Kläger, der gegenüber der
Rennweger Kaserne wohnt, bemerkte, als er kürzlich nach Hause
kam, daß seine Frau rasch einen Gegenstand zu verstecken
suchte, und er entriß ihr das erwähnte Bild. Zur Rede gestellt,
gab die Frau an, daß sie „aus Jux" sich mit dem ihr von einer
Freundin vorgestellten Rittmeister photographieren ließ und gleich-
falls „aus Juxa das Kostüm eines Rittmeisters wählte. Sie er-
blickte in dieser Handlungsweise nichts Bedenkliches, da auch
die anderen dem Rittmeister bekannten Damen sich in gleicher
Weise photographieren ließen ! Der Gatte faßte die Sache jedoch
nicht als „Jux", sondern als bittern Ernst auf und erhob deshalb
gegen seine Gattin die Ehescheidungsklage.
(Charlottenburger „Neue Zeitung".)
Eine Ballettänzerin — ein Mann. Man telegraphiert uns
aus Ofenpest unterm 16. d. M.: Das „Budapester Morgenblatta
berichtet: Vor einigen Jahren wurde bei der königlichen Oper
eine junge Tänzerin aufgenommen, die sich bald ob ihrer Anmut
und Bescheidenheit allgemeine Sympathien erwarb. Die Tänzerin
zeigte vor wenigen Tagen Spuren von Geistesstörung und mußte
deshalb in die Leopoldfelder Irrenanstalt gebracht werden. Bei
der Untersuchung durch Professor Salgo stellte es sich heraus,
daß die junge Tänzerin männlichen Geschlechts sei. Die Anzeige
über den Vorfall wurde an die Behörden erstattet.
Das männliche Dienstmädchen. Das Blumenmädchen Maria
Kral, eine vierschrötige, ältere Dame, war, wie aus Wien be-
richtet wird, vor dem Bezirksgerichte Leopoldstadt der Über*
— 1193 —
schreitung des Ztichtigungsrechtes gegenüber einem männlichen
Dienstboten angeklagt. Seit zwei Jahren steht der 66jährige
ehemalige Schneidergehilfe Josef Wolf bei ihr im Dienste und
verrichtet alle Arbeiten, welche gewöhnlich zu den Obliegen-
heiten einer Magd gehören. Er führt die Kinder spazieren, räumt
die Zimmer auf, putzte Schuhe und Kleider usw. Auch in anderer
Beziehung gleicht er den weiblichen Dienstboten. Er pflegte
gern, wenn er vom Einkaufen kam, mit anderen Dienstmädchen
und Nachbarinnen zu tratschen und ließ sich dabei auch über
seine Gnädige aus. Als Frau Kral davon hörte, zog sie den
Peppi zur Rechenschaft und versetzte ihm einige Ohrfeigen. Die
Züchtigung war aber derart, daß Wolf zehn Tage im Spital
liegen musste. Die Angeklagte gab an, sie habe im Zorn so
gehandelt, weils Dienstmadl an* so an* Tratsch g'macht hat.
Richter: War er denn bei Ihnen im Dienst? — Angeklagte: Der
Peppi ist noch bei mir. Er ist unser Dienstmadl. — Staatsanwalt-
schaftlicher Funktionär Dr. Danninger: Besteht wirklich ein
Dienstverhältnis wie mit einer Magd? — Angeklagte: No ja, er
hat alles g'macht. — Der als Zeuge vernommene Josef Wolf
erzählte weinend, er habe wenig zu essen bekommen und die
Gnädige war sehr streng mit ihm, obwohl er seine Sachen gut
machte. — Richter: Sie sollen über die Frau getrascht haben?
— Zeuge: Da müssen die Weiber her; die müssen sagen, daß
i net trascht hab\ I geh* sonst bis zu die Stufen vom aller-
höchsten Tron! — Der Richter verurteilte die Angeklagte zu 24
Stunden Arrest, indem er annahm, daß sie das ihr zustehende
Züchtigungsrecht überschritten habe. Chari. Neue Zeit.
Maria Karfiol. Aus Pilsen, 4. d., wird uns berichtet: Heute
wurde am hiesigen Bahnhofe der Pilsen-Priesener Bahn von einem
Wachmann eine Frauensperson angehalten, welche durch ihr
scheues Wesen die Aufmerksamkeit der Passanten erregte. Sie
wurde zur Ausweisleistung aufgefordert und auf die Polizei-
wachstube gebracht. Dort wurde schließlich constatiert, daß man
es mit keiner Frauensperson, sondern mit einem Manne zu tun
habe. Im Verlaufe des Verhörs wurde die Tatsache festgestellt,
daß der 19 Jahre alte Mann seit seiner Geburt als weibliches
Wesen erzogen und auf den Namen Maria Karfiol getauft und
in den Matrikeln eingetragen wurde. Er ist nach Bukowa bei
Breznitz zuständig und seit zwei Jahren bei dem Grundbesitzer
Gustav Themmel bei Brüx als Dienstmagd beschäftigt, wo er alle
— 1194 —
weiblichen Arbeiten verrichtete. Sein Arbeitsbuch lautet gleich-
falls auf den Namen „Maria Karfiol". Auf Befragen gab er an,
daß er von seinen Eltern stets als Mädchen erzogen wurde, alle
weiblichen Handarbeiten erlernt und dann einen Dienst als Magd
angenommen habe. Er ist von großer Statur, hat ein ganz glattes,
mädchenhaftes Gesicht, trägt seine langen Haare in einen Zopf
geflochten und bewegt sich in den Frauenkleidern ohne allen
Zwang. Er raucht und trinkt nicht und meidet jede Begegnung
mit dem weiblichen Geschlechte. Er behauptet ferner, daß nur
seine Eltern sein Geschlecht kennen, daß diese ihm seit jeher
den Umgang mit Knaben verboten haben und ihn nur Frauen,
kleider tragen ließen. Den Grund hierfür wußte er nicht anzugeben.
Maria Karfiol wurde nun in Männerkleider gesteckt und schließlich
des langen Zopfes beraubt. Morgen wird er in Begleitung eines
Wachmannes in seine Heimat escortiert, wo festgestellt werden
wird, ob seine Angaben auf Wahrheit beruhen. (Neues Wiener Tagbi.)
Weibliche Soldaten. Vor kurzem ging die Meldung durch
die Presse, daß in dem Kampfe der Filipinos gegen die Ameri-
kaner eine kühne Tochter der Insel Luzon an der Spitze einer
bewaffneten Schaar ins Feld gezogen sei und den Amerikanern
mehrere Gefechte geliefert habe. Sie hat sich aber nicht lange
im Felde behauptet und ist jetzt eine Gefangene der Amerikaner.
Sie ist nicht die erste Frau, die seit den Tagen Jeanne d'Arcs
die Waffen für ihr Vaterland ergriff. Die deutsche Geschichte
kennt mehrere Beispiele aus der Zeit der Freiheitskriege, und
auch die Vereinigten Staaten haben eine solche Heldenjungfrau
aufzuweisen, die als Frank Thompson während des Bürgerkrieges
mehrere Feldzüge mitmachte, in der Schlacht in der Wildnis
verwundet wurde, und kürzlich als Gattin von L. H. Seelye starb.
Eine der sonderbarsten und berühmtesten dieser Kriegerinnen
war wohl Dr. James Barry, die als General-Inspektor der eng-
lischen Militär-Lazarete im Jahre 1865, 75 Jahre alt, starb. Fräulein
Anne Barry war eine Verwandte Lord Fitzoy Sommersets, und
dessen Einflüsse hatte sie es zu verdanken, daß sie nicht wegen
ihrer wiederholten Verstöße gegen die Disciplin aus der Armee
entlassen wurde. Um die Vorschriften kümmerte sie sich wenig,
und ihre scharfe Zunge brachte sie häufig in Conflict mit den
Behörden und einzelnen Offizieren. Einmal geriet sie mit einem
Adjutanten in Wortwechsel, und da damals noch Duelle an der
Tagesordnung waren, zögerte „Dr. Barry" keinen Augenblick,
— 1195 —
sich ihrem Gegner mit der Pistole in der Hand zu stellen. Das
Duell verlief zwar unblutig, verschaffte Dr. Barry aber Ruhe vor
den Hänseleien der jungen Officiere. Sie tat Dienst in England,
Indien, Canada u. s. w. und starb in London eines plötzlichen
Todes. Daß sie eine Frau gewesen, war nur wenigen bekannt,
und auch ihr Grabstein verrät es nicht. (Beri. L.-Anz.)
Weil er sich in Frauenkleidern nächtlicher Weise auf den
Straßen herumzutreiben liebt, kommt der Artist Welzel wieder-
holt mit der Polizei in Konflikt. Vorgestern stand er aus der-
selben Veranlassung wegen groben Unfugs vor der achten Straf-
kammer des Landgerichts I. Der Gerichtshof stellte sich auf den
Standpunkt, daß das Tragen von Frauenkleidern durch Männer
nicht ohne Weiteres, sondern nur dann als grober Unfug
anzusehen sei, wenn den Straßenpassanten leicht erkennbar sei,
daß in der weiblichen Kleiderhülle ein Mann stecke. Dies sei
bei dem Angeklagten allerdings nicht der Fall, vielmehr habe
dessen Figur und Gesicht etwas weibliches an sich. Erwiesen
sei aber durch die Beobachtungen eines Schutzmanns, daß der
Angeklagte auf der Straße sich genau so gerirt habe wie eine
öffentliche Dirne, er auch mit männlicher Begleitung in den Tier-
garten hineingegangen sei, was den Kontroidirnen bekanntlich
überhaupt verboten ist. Bei dieser Sachlage verurteilte der
Gerichtshof den Angeklagten zu sechs Wochen Haft. (Vorwärts.)
Der Kammerdiener im Spitzenkleid. Eines schweren Ver-
trauensbruchs hat sich der Diener Eugen Bartels schuldig gemacht,
der sich unter der Anklage des Diebstahls- vor der ersten Ferien-
strafkammer des Landgerichts I zu verantworten hatte. Bartels
stand seit kurzer Zeit in den Diensten des Kommerzienrats B.,
als dieser mit seiner Familie eine Reise nach dem Süden unter-
nahm, ohne den Angeklagten mitzunehmen. Er verlebte nun
beschauliche Tage, von häufigen Vergnügungen unterbrochen.
Am 7. März sollte ein Maskenball im Hotel zum König von
Portugal stattfinden. Der Angeklagte hatte das Verlangen, daran
teilzunehmen, aber keine Mittel, sich eine so kostbare Masken-
garderobe leihen zu können, wie er sie zu haben wünschte. Da
kam er auf eine verwegene Idee. Die Hausdame, die in Abwesen-
heit der Frau Kommerzienrätin den Hausstand führte, hatte den
Schlüssel zum Kleiderschrank in Verwahrung. Der Angeklagte
wollte auf dem Maskenball als elegante Dame auftreten. In Ab-
— 1196 —
Wesenheit der Hausdame nahm er den zum Kleiderschrank ge-
hörigen Schlüssel fort, öffnete den Schrank und nahm unter dem
Inhalt eine Auslese vor. Es waren nicht die schlechtesten Stücke,
die er aussuchte und mit auf sein Zimmer nahm. Als er einen
der kostbaren Spitzenröcke anprobierte, zerriß dieser. Der An-
geklagte brachte ihn nach dem Aufbewahrungsort zurück, die
übrigen Sachen brachte er nach der Wohnung seines Freundes
des Masseurs D., wo er sich auch am Abend des Maskenballes
ankleidete. Nach durchschwärmter Nacht zog er sich wieder in
der Wohnung seines Freundes um und ließ die Damenkleider dort.
Nach einigen Tagen entdeckte die Hausdame, daß die Kleider
fehlten. Sie machte der Kriminalpolizei Anzeige. Als ein Beamter
den Angeklagten verhörte, gab dieser an, wo er die Kleider
gelassen und wozu er sie benutzt hatte. Man ließ die Garderobe
holen. Die Kleider sahen bös aus, sie waren teilweise zerrissen
und beschmutzt. Der Angeklagte entschuldigte sich vor Gericht
damit, daß er auf dem Maskenball angetrunken gewesen sei und
in diesem Zustande die Kleider nicht so habe in Acht nehmen
können, wie er es gewollt. Durch die Beweisaufnahme wurde
festgestellt, daß die Sachen einen Wert von über 2000 Mark gehabt
hatten und nun fast wertlos geworden waren. Als der Staats-
anwalt eine Gefängnisstrafe von drei Wochen wegen Diebstahls
beantragt hatte, erhob der Angeklagte den Einwand, daß er doch
unmöglich wegen Diebstahls verurteilt werden könne, denn er
habe doch nicht die Absicht gehabt, die Kleider zu behalten.
Nur aus Nachlässigkeit habe er verabsäumt, diese rechtzeitig
wieder an Ort und Stelle zu bringen. Seiner Ansicht nach könne
er nur wegen Sachbeschädigung verurteilt werden. Der Gerichts-
hof trat dieser Ansicht bei. Es liege kein Diebstahl, sondern
Sachbeschädigung vor und deshalb sei der Angeklagte mit~einer
Gefängnisstrafe von vier Monaten zu belegen, denn seine Hand-
lungsweise erfordere eine strenge Sühne. (B. Morgenpost.)
Ein Mannweib. Das Spital Lariboisiere in Paris beherbegt
augenblicklich einen Patienten, der in Männerkleidern sich zur
Aufnahme meldete, als Monsieur Paul ins Aufnahmeregister ein-
getragen wurde, sich aber alsbald als Weib entpuppte. Monsieur
Paul ist von Beruf Fuhrmann. Seit Jahren übt er dieses Handwerk
aus, ohne daß je irgend jemand hinter ihm ein Weib vermutet
hätte. Seine Kollegen versichern, daß er die Peitsche schwingen
kann, wie jeder richtige Fuhrmann, und auch Fluchen und
— 1197 —
Schimpfen wie ein solcher. Und doch ist „Monsieur Paul* ein
Weib, allerdings ein Weib von riesigen Körperformen, groß und
stark wie ein Mann und in jeder Beziehung von männlichem
Charakter. Ihre ganze Person zeigt männlichen Habitus, breite
ausgearbeitete Hände, kräftigen Biceps und einen scharf ge-
schnittenen, trotz des Fehlens des Bartes durchaus männlichen
Gesichtsausdruck. Monsieur Paul ist ein Findelkind. Von braven
Fuhrleuten gefunden und angenommen, hat sie ihre ganze Kindheit
— sie ist 25 Jahre alt — bei den Pferden zugebracht. Da ihr der
Beruf ihres Adoptivvaters gefiel, hat sie, als sie ins reife Alter
trat, Männerkleider angelegt und die Peitsche in die Hand ge-
nommen. Kein Mensch ahnte, daß der junge Fuhrmann ein Weib
sei. Im Augenblick, wo sie ins Spital eintreten mußte, war sie
bei einem der größten Pariser Rollfuhrwerkunternehmer bedienstet.
Seitdem ihr wirkliches Geschlecht entdeckt ist, lebt sie in steter
Angst, ihr Lohnherr werde sie nicht mehr zurücknehmen wollen.
17 Jahre ein Mädchen und dann ein — Mann. Dieses selt-
same Ereignis trug sich in Kratsch (Schlesien) zu. Auf dem
dortigen Dominium diente seit längerer Zeit eine Magd Auguste KL
Kürzlich wurde sie krank, und bei dieser Gelegenheit stellte der
Arzt fest, das „Auguste" ein männliches Wesen sei. Die Person
ist nach dem „Niederschi. Anz." armer Leute Kind aus dem
Bunzlauer Kreise und als Knabe auf den Namen „August" getauft
worden. Da das Kind jedoch zart und schwächlich blieb, wurde
es von den Eltern als Mädchen groß gezogen. Als die Eltern
starben, kam es zur Pflege zu einer Verwandten. Vor der Ein-
segnung wurde im Taufregister der Name „August" in „Auguste"
umgeschrieben. Später vermietete sich das angebliche Mädchen
als Magd. Jetzt hat der Siebzehnjährige die Unaussprechlichen
angezogen, den Namen „August" angenommen und dient als
Schäferknecht. (Oberländer Volksblatt.)
Eine bulgarische Amazone. Aus Tirnowa wird der „Frankf.
Ztg." geschrieben: Auf meiner Rückreise von der Schipka- Feier
mußte ich mich ungezwungenerweise zwei Tage in Grabovo auf-
halten, weil es dort weder Wagen noch Pferde infolge des
großen Bedarfs für das Fest augenblicklich gab, die mich die
45 km lange, noch eisenbahnlose Strecke nach Tirnowa hätten
befördern können. Als ich endlich einen Wagen erhalten hatte
und eben die letzten Abmachungen mit dem Besitzer traf, betrat
— 1198 —
ein Mann das Zimmer, der die Kleidung der bulgarischen Bauern
trug, und an dem mir außer seinem bartlosen Gesichte die für
einen Bauern außergewöhnlich kleinen Füße auffielen. Unter der
nationalen Pelzmutze schaute kurzgeschnittenes schwarzes Haupt-
haar hervor, und die Brust schmückte eine Reihe von Medaillen,
die für die Teilnahme an dem russisch-türkischen und dem
bulgarisch -serbischen Kriege verliehen worden waren. Der
Wagenbesitzer, der den Ankömmling als einen alten Bekannten
begrüßte, raunte mir zu: „Das ist kein Mann, sondern eine Frau."
Nun wurde meine Neugierde rege, und ich knüpfte ein Gespräch
mit der interessanten Person an. Sie hieß Ivanka Marcova und
war aus Rula bei Widdin gebürtig. 1877 war sie, als Mann ver-
verkleidet, in die bulgarische Legion eingetreten und hatte mit
dieser den Schipkapaß verteidigen helfen, weshalb sie jetzt auch
der Schipka-Feier als Veteran mit beigewohnt hatte. Nach dem
Feldzuge verheiratete sie sich mit einem Bauern ihres Heimats-
ortes. Als aber der Krieg mit Serbien ausbrach, litt es sie nicht
länger daheim. Sie lief ihrem Manne davon und trat wieder in
die bulgarische Armee ein, mit der sie die Schlacht bei Slivnitza
mitmachte. Ihr Mann ließ sich infolge dieser Extravaganz von
ihr scheiden, und seitdem trägt sie nur Männerkleidung. Ihr
Gesicht zeigt angenehme Formen, doch sind die Züge hart, und
die Haut ist von vielen Falten durchfurcht. Da sie darüber
klagte, daß der Stadtpräfekt von Grabovo ihr nur 1 Frank Zehr-
geld gegeben habe, der doch für ihren fünf Tage beanspruchenden
Rückmarsch nach ihrem Heimatsorte nicht ausreichend sei, so
schenkte ich ihr eine Kleinigkeit, wofür sie mir in freilich un-
militärischer Weise die Hand küssen wollte. (Chariottenb. Neue ztg.)
The Male Patti. Chaque soir paratt, ä dix heures, sur la
sc&ne des Ambassadeurs, une chanteuse amSricaine qui, succes-
sivement vetue d'une robe de bal, de la mantille espagnole ou
du travesti, sait prendre les diverses attitudes cenvenables —
tour ä tour hautaine, souriante ou desemparSe. Elle a une belle
voix de soprano, qui ne serait pas deplacSe sur nos premi&res
sc&nes Iyriques. Elle conalt Part des roulades et nuance
ingSnieusement ses intonations. Elle sait etre sentimentale,
ardente, effarSe, suppliante, dSdaigneuse, attristee, ou ioveuse.
Ses gestes traduisent ces multiples 6tats de Tarne et du coeur
avec une 616gante pröcision. Vraiment, c'est une artiste ä qui
Ton voudrait un public moins superficiel que celui qui dissipe
— 1199 —
son temps dans les music-halls. Elle a eu ce public ä New-
York et dans toutes les grandes villes amGricaines, lorsqu'elle
remplit, dans im opera intitule 1492, le röle de la reine Isabelle.
On l'appela ä cette occasion: la nouvelle Patti. Elle eut un
grand succ&s, qui la suivit ensuite, dans toutes les grandes villes
d'Europe, oü eile se ftt entendre. Peu ä peu, un bruit, qui se
repandit, contribua a augmenter encore ce succfcs par le mysfere
qu'il repandit sur la personnalife reelle de cette chanteuse enferite.
Le nom meme, sous lequel on la connaissait — Stuart — donnait
de la consistance ä ce bruit. Un manager facGtieux fit pr6c£der
et suivre ce nom de deux points d'interrogation. Nouvelle päture
ä la curiosite .... Mais tout se sait et Ton sut . . . . On sut
que dans la vie civile, en dehors des planches, Stuart etait un
jeune homme .... Mais Ton ne sut den de plus, car Stuart
se satisfait d'atteindre ä la notorfefe — il ne refuserait point la
gloire — sous la forme emprunfee d'une grande artiste, et til
tient ä n'etre, dans le priv6, et sous sa forme reelle — la forme
masculine — qu'un brave gar^on — tres simple, tr6s doux, d'une
parfaite correction d'allure, et qui n'a que deux objets pour son
amour: sa m£re, comme tout homme de coeur, et l'argent, comme
un Americain qu'il est. Cest de sa bouche m£me que nous
tenons ce trait de sa personnalife. Nous sommes dans sa löge,
simple chambre blanchie ä la chaux, gclairee de becs de gaze.
«Stuart» est assis devant sa glace et il se prSoccupe d'accroitre
l'6clat noir de ses yeux. Mlle Blanche, son habilleuse, ajoute
ä ses cheveux noirs, qu'il vient de peigner en bandeaux, une
nfeche Strangfcre pour parfaire Tillusion. Et eile s'etonne de le
sentir si difförent de son entourage et indifferent ä' beaucoup de
petites joies qui ont du prix pour ses camarades. — O ! monsieur
Stuart, dit-elle, il n'aime rien, il n'aime personne. — O! si,
r6plique-t-il . . . ma m6re et Targent. Cest qu'il lui doit beau-
coup ä sa m&re. Comme nous lui demandions si la qualite
feminine de sa voix £tait acquise ou lui £tait naturelle, il nous
rSpondit, avec un grand accent de conviction: C'est la voix de
ma mfcre; e'etait une c6febre chanteuse italienne. Elle a perdu
sa voix quand je suis n£. A ce moment, un papillon gris6 de
lumtere, heurte le mur blanc. Mlle Blanche veut le tuer. Mais
Stuart, avec une mine effray^e, s'äcrie: O! mon Dieu! Faut pas
tuer! Cest nouvelle pour moi . . ., nouvelle! II est haletant et
il suit d'un regard inquiet et doux le papillon sur la muraille,
Puis, soudain rieur, il appelle une chanteuse pui sort de la löge
— 1200 —
voisine. — Bianca, Bianca, venez ici, Bianca! Et, s'adresfcant k
nous: Bon camarade! Bianca! Bon collegue. Pas jalouse. O!
plus jalouse comme les autres. Et bon caract&re! Une drölerie
... et Mlle Biana s'enfuit. C'est son tour de chanter . . . Aprfcs,
ce sera celui de Stuart. 11 faut se häter. — Quelle robe on va
mettre ce soir ä monsieur? la rose? la blanche? questionne Mlle
Blanche. ~ Stuart est en train de mettre son corset. La meta-
morphose s'accomplit. — La jaune, repond-il. — Et le voici,
bientöt apres, vetu a'une luxueuse robe en soie paille garnie de
tulle bouton d'or. Une guirlande de roses rouges descent de
l'6paule gauche et va se perdre dans la tulle. Stuart est depout
et observe reffet de son maquillage dans une glace ä main.
Satisfait, il nous tend la glace. — Un cadeau, dit-il. Une V6rite
en 6tain, de Vibert. Je Tai regu hier d'une grande artiste. —
II nous dit un nom, mais aussitöt: Ne le dites pas. Des cadeaux,
j'en reqols tous les jours — et il nous montre ses doigis charges
de bagues de prix. Mais je n'aime pas qu'on parle de ces
choses .... C'est du cabotinage .... Parlez de ma voix.
J'aime mieux! Mlle Blanche a disparu. Elle revient avec un
verre d'eau fraiche. Stuart le boit d'un trait. — C'est tout ce
que je prends avant de chanter. 11 faut que je sois ä jeun. Je
dtne ä minuit. — Quelques heures aprfcs, en effet, Stuart est
assis dans un restaurant de nut. A voir ce jeune homme
simplement v6tu, quoique avec une grande correction, on ne se
doute pas qu'il vient de s'exhiber sur les planches et lorsqu'on
s'entretient avec lui, sa conversation empreinte de nai'vet6,
d'Gmotion, son allure discr&te, tranche avec 1'idSe que Ton se
fait d'ordinafre d'un . . . cabotin. — Quand nous quitterez-vous,
monsieur Stuart? — O! bientöt, r6pondit-il; je passe tous les
et6s ä New-York . . . avec maman. (Le Petit Bleu de Paris.)
Baltimore. Er war eine „Sie". Bekleidet mit einem netten
schwarzen Anzug, zierlichen Halbschuhen und einem modischen
Strohhut wurde heut Morgen „Herr Herman S. Wood", eigentlich
Fräulein Lola A. Sawyer, im Polizeigericht vorgeführt. Sie soll
unter Vorspiegelung falscher Tatsachen sich Geld verschafft
haben. Die Angeklagte wurde bis zu einem Verhör, das am
nächsten Mittwoch stattfand, festgehalten. Sechs Jahre lang
wußte Fräulein Sawyer sich als Mann auszugeben. Sie
spielte ihre Rolle ausgezeichnet, rauchte Cigaretten, beteiligte
sich an männlichem Sport, kurz Niemand ahnte, daß sich
— 1201 —
unter den Herrenkleidern ein weibliches Wesen verbarg. Erst
durch ihre Heirat mit Frau Ernestine L. Hauck, einer 35 Jahre
alten Wittwe mit zwei Kindern, wurde ihr wirkliches Geschlecht ruch-
bar. „Herr Wood" hatte bei der Wittwe mehrere Monate gewohnt
und vor einer Woche fand die Hochzeit des sonderbaren Paares
statt. Letzte Nacht erschien die jung verheiratete Wittib ganz
bestürzt bei dem „Rev." Anthony Bilkousky, welcher die Trauung
vor einer Woche vollzogen hatte und erzählte dem Geistlichen,
daß ihr Gatte eigentlich nicht „der Artikel" sei, den sie gesucht
habe. Der angebliche Mann sei entweder geschlechtslos oder
ebenfalls eine Frau, jedenfalls nicht so beschaffen, wie ihr ver-
storbener Erster. Der Geistliche setzte den Polizeikapitän McGee
in Kenntnis, welcher heute die Wohnung des Paares, No. 719 N.
Eutaw Str., besuchte. Der Pseudo-Gatte behauptete Anfangs steif
und fest, daß er ein Mann sei, seine Frau wisse nicht, was sie
schwätze, als aber, der Polizeikapitän schließlich verfängliche
Fragen an „Herrn Wooda richtete, brach diese zusammen und
legte das Geständnis ab, daß er eigentlich eine „Sie" sei und
Lola A. Sawyer heiße. Lola stammt aus North Carolina und ist
22 Jahr alt. Vor sechs Jahren will sie durch ein Betäubungsmittel
besinnungslos gemacht und dann vergewaltigt worden sein. Sie
gab einem Kinde das Leben, das jetzt ihre Mutter in North
Carolina in. Gewahrsam hat. Um ihre Schande zu verbergen, legte
sie Männerkleider an und kam nach Baltimore. Hier hat sie in
verschiedenen Berufen als „Mann" gearbeitet, ohne daß in Bezug
auf ihr Geschlecht Verdacht geschöpft worden wäre. Da sie der
Wittib während der Brautzeit 100 Strl. entlockt hat, erfolgte auf
Grund dessen ihre Verhaftung.
Entdeckung einer Lasterhöhle. Dem Chef des Detektivkorps
der Budapester Polizei Dr. Koloman Krecsänyi ist es gelungen,
im Hause Tabakgasse Nr. 36 eine Lasterhöhle zu entdecken. Es
ist dies der Kaffeeschank des Arpäd Röna, in welchem allabend-
lich unsittliche Orgien gefeiert wurden. Die mächtige Firmatafel
des Kaffeeschanks trägt die Aufschrift: „Muster-Kaff eeschank und
Speisehalle". Bei der Polizei wurde noch im Läufe des ver-
flossenen Monats die Anzeige erstattet, daß dieser Kaffeeschank
eigentlich eine Lasterhöhle sei. Die Polizei konstatierte alsbald
die Richtigkeit der Anzeige. Der Kaffeeschank hat zwei Zimmer.
Das erste dient als Speiseraum, das zweite ist ein Hofzimmer,
welches durch eine Glaswand und einen Peluche-Vorhang vom
— 1202 —
ersten getrennt ist. Hier hielten sich die Stammgäste auf, junge
Leute, meist vagierende Handlungsgehilfen, Raseurgehilfen, Zigeuner-
musikanten etc., und ältere Herren, von denen einige sogar im
öffentlichen Leben eine Rolle spielen sollen. Diese Gesellschaft
der „Eingeweihten" hielt sich stets im zweiten, verhängten Zimmer
auf, und wenn ein Fremder dasselbe betreten wollte, so verstellte
ihm der Cafötier mit den Worten den Weg: „Pardon, drinnen
hält eine geschlossene Gesellschaft ihre Sitzung!" Die polizeiliche
Beobachtung eruierte die eigentliche Natur der „geschlossenen
Gesellschaft". Die Männer nennen sich alle mit Mädchennamen.
Der Kellner hieß „Niobe", während der CafGtier den klangvollen
Namen „Koronäs Aranka" trug. Die Übrigen hießen: Trilby,
Ibolyka, Melanie, Bin, Beatrix, Pr6mes Zsuzsi, Idue, Czigäny
Aranka, Margit etc. Es wurden häufig Teeabende veranstaltet.
Bei solchen Anlässen wurde der $chank geschlossen, damit die
Orgien nicht gestört würden. Die jungen Leute zogen Frauen-
kleider an, schminkten und parfümierten sich, und es wurde bis
in den späten Morgen getanzt. Einem Detektiv gelang es, sich
in die Gesellschaft einzuschleichen, wo er den Namen „Ella"
erhielt. Der Kellner, „Fräulein Niobe", gab den neuen Mitgliedern
Unterricht. Samstag Nachts versammelte sich die Gesellschaft
wieder zu einer Soiree. Das Hofzimmer wurde mit Blumen-
guirlanden geschmückt und die jungen Leute legten ihre schönsten
Damenkleider an. Als die Gesellschaft beisammen war, drangen
die Detektivs durch die Hoftür in den Raum, wo gerade ein
Coupletvortrag der Niobe auf dem Programm stand. Die Polizei
verhaftete acht junge Leute und überführte sie zur Stadthauptmann-
schaft des VII. Bezirks. Sechs alte Herren, zur Ausweisleistung
aufgefordert, legitimierten sich. Die Polizei erstattete der Staats-
anwaltschaft über den Fall Bericht, gegen den Cafetier wurde die
Strafuntersuchung eingeleitet. Zugleich wurde die Bezirksvor-
stehung ersucht, demselben die Gewerbelizenz zu entziehen.
(Neues Pester Journal.)
Eine Lasterhöhle. Vor dem Strafbezirksgericht kam die
Angelegenheit des „Muster-Kaffeeschanks" (Minta-käv6csarnok) in
.der Tabakgasse zur Verhandlung, in welchem die Polizei im
heurigen Frühjahr unsittlichen Umtrieben auf die Spur kam. Es
waren dreizehn Angeklagte vorgeladen, die ohne Ausnahme leug-
neten, irgend etwas Strafbares auch nur gesehen zu haben. Inter-
essant war der Bericht Koloman SzakälTs, der Rechtshörer und
— 1203 —
gleichzeitig Angestellter der Detektivabteilung ist. Szakäll gab zu
Protokoll, daß er, um das Treiben in jenem Cafe aufzudecken,
eine zeitlang allabendlich in jenem Cafe erschienen sei und be-
müht war, das Vertrauen der betreffenden Gesellschaft zu ge-
winnen, was ihm nach einiger Zeit auch gelang. Er habe zwar
allerlei sehr Verdächtiges gemerkt, sei jedoch niemals Zeuge
eines wirklichen Vergehens gewesen. Es entspann sich nun eine
erregte Debatte zwischen dem Verteidiger Dr. Alexander Vaiß
und dem staatsanwaltlichen Bevollmächtigten Dr. Gölz. Dr. Vaiß
hielt nämlich die Eigenschaft Koloman Szakäll's als Rechtshörer
unvereinbar mit seiner Detektivtätigkeit und beantragte, daß von
der Mitwirkung Szakäll's in dem vorliegenden Prozeß dem Univer-
sitätsrektor Mitteilung gemacht werde. Nachdem der staats-
anwaltschaftliche Bevollmächtigte hierauf nicht eingehen wollte,
erklärte Dr. Vaiß die Anklage als unbegründet und bat um ein
freisprechendes Urteil. Diesem Verlangen wurde auch entsprochen
und die Angeklagten freigesprochen. (Neues Pester Journal.)
Eine eigentümliche Entdeckung wurde dieser Tage in Paris
gemacht. Dort hat ein Original das Zeitliche gesegnet, nicht
ohne, seinem sonderbaren Charakter entsprechend, der Welt eine
originelle Überraschung zu hinterlassen. Der Bureaudiener
Marius ist gestorben, eine bescheidene, witzige und allen Pariser
Journalisten bekannte Persönlichkeit, die in den meisten Zeitungs-
redaktionen der Hauptstadt ein- und ausging. Marius war klein
und bartlos; man war stets über sein Alter im Zweifel, wenn
man ihn sah. Der ehemalige Kammerpräsident Burdeau brachte
ihn in der Redaktion des „Soir" als Bureaudiener unter. Dann
kam er am Ev£cle an. Zuletzt diente Marius bei der Sport-
zeitung Auteuil - Longchamps. Gestern fand man ihn tot in
seinem Bette. Man glaubte erst an einen Selbstmord, wozu man
bei der Eigenart des Verblichenen nicht unberechtigt war. Aber
der Gerichtsarzt stellte fest, daß Marius im Alter von 62 Jahren
eines ganz natürlichen Todes gestorben sei, und hierbei kam er
auf die unerwartete Entdeckung: Marius war eine Frau!
(Charl. Neue Zeitung.)
Ein Mann als — Jungfrau von Orleans. Ein neues Reiz-
mittel für Theaterbesucher glaubt der St. Petersburger Schauspieler
Glagolin gefunden zu haben, der für die nächste Zeit sein Auf-
treten als — Jungfrau von Orleans ankündigt und sein Vor-
Jahrbuch V. 76
— 1204 —
haben eingehend begründet. Es bedürfe keines weiblichen
Künstlers, um die Kriegerin von Orleans zu verkörpern. Auch
ein Schauspieler, sofern er ein wirklicher Künstler sei, könne
ohne Beeinträchtigung der Wirkung die Rolle spielen. Sarah
Bernhardt, die die Kunst der Hosenrollen auf ihre höchste Höhe
und zum Selbstzweck geführt hat, fand also ihren Meister.
(Berliner Morgenpost.)
Brüssel. Ein ganz sonderbarer Fall beschäftigte das hiesige
Civilgericht. Die 18jährige Marianne Z. aus Bouchout war dieses
Jahr vom Lande nach Brüssel gekommen und hatte im Großstadt-
leben erkannt, daß sie die Weiberröcke zu Unrecht trug. Sie
tauschte sie daher mit der Kleidung des stärkern Geschlechts um.
Alsbald aber wurde sie darauf aufmerksam gemacht, daß es dazu
gewisser Förmlichkeiten bedürfe. Sie beauftragte daher mit diesen
einen Rechtsbeistand, und das Gericht sprach ihr mit reichlicher
Begründung vorgestern das Recht zu, auch ferner in Männer-
kleidern anzutreten. Wie der Irrtum auf dem Standesamt in
Bouchout entstanden ist, muß noch ermittelt werden. Die Eltern
des zum jungen Manne gewordenen Mädchens können wegen
Verjährung der Sache nicht mehr belangt werden. (Köln. Zeit.)
Die gefälschte Rieke. Eine merkwürdige, aber wahre Ge-
schichte hat sich im Südwesten Berlins zugetragen. Die dort
wohnende Witwe R. suchte eine Auf Wärterin. Noch am selben
Tage stellte sich eine jugendliche Maid vor, die, obwohl sie
sogenannte Titusfrisur trug, wegen ihres angenehmen Auftretens
angenommen wurde. Sie ließ sich Rieke rufen, machte alles,
selbst die Wäsche, zur vollsten Zufriedenheit und hatte nur den
einen Fehler, daß sie mit Zimmerherren der Frau R. anbändelte.
So ging das mehrere Wochen weiter, bis der eine Mieter ver-
traulich erklärte, daß er bestimmt glaube, überhaupt kein Mädchen
vor sich zu haben. Ein Zufall kam der Erfüllung des Geheim-
nisses zu Hilfe. Rieke, die nicht bei Frau R. schlief, erzählte
nämlich, daß sie zum Maskenball gehe "wolle, und war auf aus-
gesprochenen Wunsch bereit, sich in ihrem Kostüm zu präsentieren.
Als das in ziemlich leicht geschürztem Kleide geschah, sagte man
ihr auf den Kopf zu, daß sie gar kein Mädchen sei. So war es
in der Tat. Der verkappte junge Mann tat gar nicht beleidigt,
gab lachend sein Geheimnis preis und meinte, daß er das
Experiment nur unternommen habe, weil er in seinem Berufe als
— 1205 —
Maler absolut keine Arbeit finden konnte. Natürlich wurde der
talentvolle Jüngling in Weiberkleidern sofort an die frische
Luft gesetzt. (Charl. Neue Zeit.)
Der erste weibliche Romeo. Alles schon dagewesen! Sarah
Bernhardts unlängst verkündete Absicht, den Romeo zu spielen,
die so großes Aufsehen erregte, hat auch nicht mehr den Vorzug
der Originalität. Die Saturday Review erinnert an einen heute
längst vergessenen weiblichen Romeo. Um die Mitte des 19.
Jahrhunderts erregte der Romeo der Charlotte Cushman großes
Aufsehen. Die Kritik und das Publikum waren einig über den
glänzenden Erfolg. Die mutige Schauspielerin war eine Ameri-
kanerin. Sie war in Boston geboren, wurde zuerst zur Opern-
sängerin ausgebildet, wandte sich dann aber dem Schauspiel zu
und hatte ihre ersten großen dramatischen Erfolge in London.
Ihre Glanzrollen waren die Lady Macbeth, Kardinal Wolsley und
Romeo. Ihre erste Romeodarstellung fand im Haymarket im
Jahre 1846 statt. Die Schwester der Charlotte Cushman war
ihre Partnerin als Julia. Über die Aufführung schrieb ein an-
gesehener englischer Kritiker: „Es war ein ungewöhnlicher
Triumph, Romeo gab ihrer Leidenschaftlichkeit und der männ-
lichen Kraft ihres Stiles freie Hand. Als Liebhaber übertraf sie
in der Glut der Liebe alle männlichen Schauspieler, die ich in
dieser Rolle gesehen habe. In der Szene mit dem Mönch über-
traf sie Charles Kean. Alles Übertriebene und Unvernünftige in
Romeos Verhalten war vergessen in der Glut seiner Liebe, und
das Publikum- wurde zu der stürmischsten Erregung hingerissen."
Ein Rätsel. Die in Kiew erscheinenden Blätter teilen einen
rätselhaften Vorfall mit. In der Glasfabrik in Boguslawka war
ein junger Pole Namens Vincenz Szuljakowski als Packmeister
angestellt, der sich in der ganzen Gegend großer Beliebtheit
erfreute. Am 27. Mai 1901 vermählte er sich mit einer jungen
Landsmännin, einem Fräulein Szygielska aus Congreßpolen, und
dem in glücklichster Ehe lebenden Paare wurde ein reizendes
Knäblein geboren. Vor einigen Tagen nun machte Vincenz
Szuljakowski zu Pferde einen Weg in den nächsten Ort, wobei
er von dem scheugewordenen Tier aus dem Sattel geworfen
und eine lange Strecke am Boden geschleift wurde. Schwer ver-
wundet und bewußtlos wurde er in den nächsten Edelhof gebracht
und ein Consilium von vier Ärzten an sein Krankenlager berufen,
76*
— 1206 —
wobei sämtliche vier Ärzte zu ihrer größten Überraschung
konstatierten, daß der vor ihnen liegende junge Ehemann — eine
Frau ist. Der Vorfall, der bis zur Stunde noch nicht aufgeklärt
ist, wurde der Behörde zur Anzeige gebracht.
Elbing. („Herr Pieske".) Am Sonntag wurde hier ein „Mann"
festgenommen, der sich Martin Pieske nannte. Er wurde später
wieder freigegeben. Wie sich nun herausgestellt haben soll, ist
die Person kein Mann, sondern eine Frau Marta Pieske. Es ist
wahrscheinlich, so schreibt die „Elb. Ztg.a, jenes Mannweib, das
in Westpreußen schon sehr viel von sich reden gemacht hat.
Sie war die Frau eines Offiziers und Großgrundbesitzers, der
früher im Kreise Pr.-Stargard ansässig war, aber durch die tollen
Streiche seiner Frau von der Scholle vertrieben wurde. Frau
Pieske hatte von jeher eine besondere Vorliebe für Hosenrollen.
Ihre pikanten Abenteuer haben in Danzig und in der Provinz
viel Gesprächsstoff geliefert, aber sie auch mit dem Strafgesetz
wiederholt in Widerspruch gebracht. Als dann gar noch das
Geld ausging, sank Frau Pieske mehr und mehr und kam ins
Gefängnis und Zuchthaus. Nach einem schwer bewegten Leben
fand man sie auf einem Dorfe wieder. Sie war einem Bauern
monatelang ein treu ergebener und fleißiger Knecht gewesen,
als sie es sich, gelüsten ließ, ihre Kunstfertigkeit auf dem Klavier
zum besten zu geben. Dadurch erweckte sie Verdacht, und die
Folge war ein weiteres Umherirren. „Herr Pieske" scheint
übrigens am Ende seiner wechselvollen Laufbahn angelangt zu
sein. Was er seinen Kräften zumutete, war mehr, als sie aus-
zuhalten vermochte. Der Todeskeim soll bedenklich an ihm
nagen. Das Mannweib, das sein wirkliches Geschlecht geschickt
zu verbergen weiß bei den vielen Leibesuntersuchungen, die es
über sich ergehen lassen muß — u. a. verlangt jede bessere
Herberge von zweifelhaften Personen eine gründliche Untersuchung,
damit Ungeziefer ferngehalten wird — dürfte keine geborene
Verbrechernatur sein. Erst handelte es aus Obermut und dann,
als es sich auf abschüssiger Bahn befand, aus Not.
„Herr Pieske", das bekannte Mannweib, das im Januar in
Elbing seine Gastrollen gab, stellte sich heute in Männerkleidern
und Schirmmütze der Elbinger Strafkammer vor. Marta Pieske
ist am 23. Mai 1860 als Tochter des Rittergutsbesitzers Gronert
zu Gellnitz (Kreis Berent) geboren und hat ein bewegtes Leben
- 1207 —
hinter sich. Ihre Eltern sind gestorben, ebenso ihr Ehemann
der Gutsbesitzer Oskar Pieske, von dem sie geschieden war.
Frau Pieske erklärte, daß sie im Elternhause als Knabe erzogen
worden ist. Sie hat viele Tage ihres Lebens Qefängniskost
genossen. U. a. hat sie wegen Diebstahls zwei Jahre und wegen
Betruges drei Jahre Zuchthaus verbüßt. Am 26. März ist Frau
Pieske von der Danziger Strafkammer wegen verschiedener Be-
trügereien, die sie in Danzig und Pr. Stargard verübt hat, zu 3
Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Wir haben damals über
„Herrn Pieske" und seinen abwechselungsreichen Lebenslauf
Näheres erzählt. Bevor „Herr Pieske" nach Elbing kam, war er
vom 16. September bis Januar d. Js. bei Herrn Fabian in Kalthof
als Knecht tätig gewesen. Weil dessen Besitzung niederbrannte,
verlor „Herr Pieske" seine Stellung und geriet aus Not wieder
auf die Bahn des Verbrechens. Unsern Lesern sind die Taten
des „Herrn Pieske", der sich unter allerlei märchenhaften Er-
zählungen bei dem Schuhmacher Friedrich Mater (Äuß. Mühlen-
damm) Unterkunft zu verschaffen wußte, gewiß noch in Erinnerung.
Am 21. Januar besuchte Pieske den Schuhmacher Franz Hoff-
mann, um auch diesen mit Bezug auf die vermeintliche reiche
Erbschaft zur Hergabe von Essen und Nachtquartier zu bestimmen.
Hoffmann hat sich über den Verbleib der Erbschaft sehr ab-
gemüht, hat aber nichts erfahren können. Die Gerichtsverhandlung
gestaltete sich sehr amüsant, selbst die sonst so ernsten Richter
konnten ein Lächeln nicht unterdrücken. „Herr Pieske" bekam
eine Zusatzstrafe von 1 Jahr Zuchthaus und 150 Mark Geldstrafe
oder 20 weitere Tage Zuchthaus zudiktiert.
Kischinew. Eine verkleidete Dame mit Gymnasialbildung
als Eisenbahnarbeiter. Wie dem „Kiewljanin" aus Kischinew ge-
schrieben wird, wurde dieser Tage auf einer Station der Südwest-
bahnen die abenteuerliche Laufbahn eines „Wächters" aufgedeckt.
Vor ungefähr vier Jahren trat in den Dienst der Südwestbahnen
als gewöhnlicher Arbeiter ein junger, hübscher Bursche, der sich
Alexander R— ski nannte. Er arbeitete in einer Artel und lebte
mit den Mitgliedern der Artel in den gemeinschaftlichen Kasernen
und teilte alle Beschwerden des Dienstes mit seinen Kameraden.
Durch seinen Fleiß und seine Anstelligkeit erwarb sich R— ski in
kurzer Zeit das Vertrauen und die Achtung seiner Vorgesetzten,
die ihm bald einen Aufseherposten einräumten. Auch in dieser
Stellung kam R— ski in vorbildlicher Weise seinen Verpflichtungen
— 1208 —
nach und avancierte nach einem Jahre auf einen höheren Posten,
durch den er eine Vertrauensstellung einnahm. Zum Erstaunen
aller Bekannten des vermeintlichen jungen Mannes stellte sich
nun vor einigen Tagen heraus, daß sich unter der einfachen
Kleidung des Oberaufsehers eine Dame verbarg — die Tochter
eines Gouvernements-Sekretärs Namens Alexandra Alexandrowna
R— skaja; sie hatte den vollen Kursus eines Mädchengymnasiums
absolviert und dabei eine Prüfung in der lateinischen Sprache
bestanden, durch die sie das Recht erhalten hatte, in das
Medizinische Institut für Frauen zu treten. Nach Absolvierung
des Gymnasiums bekleidete Frl. R. längere Zeit den Posten einer
Lehrerin an einer Landschaftsschule und verschwand dort eines
Tages völlig spurlos. Da alle Nachforschungen erfolglos ver-
liefen, glaubte man allgemein, daß die Lehrerin verunglückt sei.
Gegenwärtig hat sich der Eisenbahnarbeiter wieder in eine Dame
verwandelt und wird sich wohl für die Metamorphosen vor Gericht
zu verantworten haben. Das russische Blatt betont nachdrücklich
die Wahrheit des Mitgeteilten und erwähnt noch zum Schluß, daß
die junge Dame durch Familienverhältnisse unglücklichster Art
zu ihrem mehr als originellen Schritte veranlaßt worden ist.
(Lodzer Zeitung.)
Der Wasserseppli. Im Schwarzwald lebt ein Original, das
außerhalb der Amtsbezirke Triberg und Waldkirch wenig bekannt
geworden ist, von dem aber mancher mit Interesse hören wird:
der Wasser- oder Marketenderseppli. Droben auf den Höhen des
Walds, in der Gegend seiner Heimat, Niederwasser im Amt Triberg,
nicht nur, sondern im ganzen Tale der Elz, von deren Ursprung
bis zum Dorfe Buchholz unterhalb Waldkirch, im Simonswälder
und im Glottertal, ist er gut bekannt und auf allen Höfen gern
gelitten. Josef Weber, so heißt der Mann, der der Glücklichste
weit umher ist — er fällt schon auf durch sein Gewand und sein
eigenartiges Gebahren. Bei der Arbeit trägt er sich vollständig
wie eine Frau. Man meint, eine Bauernmagd aus der Gegend
seiner Heimat vor sich zu haben. Wandelt er auf der Straße, so
ist er dessen nicht zufrieden; eine blaue Zwilchhose, weit genug,
hat er über den Rock her angezogen. Frauenstrohhut und Frauen-
kittel fehlen indessen auch da nicht. Einen blauen großen Zwilch-
sack, den er halbteilig über die Achsel hängt, führt er dann stets
mit sich. Wenig Male trägt er Schuhe, fast immer ist er barfuß.
Aus seinem starkknochigen, runzeligen, sonnverbrannten Antlitz
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strahlt unendliche Zufriedenheit und Sorglosigkeit. Große runde
Ohrringe sollen sein Haupt verschönen. Seine Stimme ist nicht
die eines Manns, noch eines Weibs; sie ist ein Zwitterding
zwischen beiden, aus welchem Umstand und seiner Vorliebe zu
Frauenkleidern manche schließen, daß er weder Weib noch Mann
sei. Der Wasserseppli ist geboren im Jahre 1834. Der Schule
entlassen, zog er von der Höhe seiner Heimat herab durch die
Täler des Schwarzwalds, das Elztal, Glotter- und Simonswälder-
tal. Die Wanderlust hatte ihn mit einem Male so ergriffen, daß
er es in der Folgezeit an einem „Platz" mehr wie eine Woche
nicht mehr aushielt. Und seit jener Zeit wandert der Seppli
umher. Ein paar Tage sägt er Holz, dann wandert er wieder ein
wenig, um dann wieder kurze Zeit Holz zu sägen. Wenn er bei
der Arbeit ist, so waltet er fleißig und eifrig seines Amts. Die
Leute bewirten ihn zum Zeichen ihrer Zufriedenheit, allerdings
oft auch aus Mitleid, mit seinem liebsten Genußmittel auf dieser
Erden, dem Kaffee; Wein und Bier verschmäht der Seppli. Und
trotzdem er schon so viele Jahre wandert, hat man noch nicht
gehört, daß er Kaffee, noch sonst etwas gebettelt hätte; er nimmt
mit Freuden, was man ihm gibt, aber zum „Heischen" gibt er
sich nicht herab, wie man ihm auch nicht nachsagen kann, daß
er seiner Heimatsgemeinde auch nur einen Pfennig Kosten gemacht
hätte. Der Seppli hat von seinem Vater ein stark ausgeprägtes
Rechtsgefühl überkommen. Man hat noch nie erfahren, daß er
irgendwo etwas entwendet oder Jemand sonst etwas zu Leid getan
hätte. Dagegen ist er oft schon bei seiner Arbeit auf den Höfen
in hohem Maße aufgebracht worden, wenn er sich in seinem
Rechte verletzt glaubte, grad wie sein Vater, der sich dann in
diesem Stadium durch einen „Kreuzsackrä" Luft machte und der
deshalb auch hie und da „Kreuzsackrä" genannt wurde. Der
Seppli denkt eben : Recht wider Recht. Leute, die ihm freundlich
begegnen und insbesondere ihn mit „Seppli" anreden, hält er für
brave, redliche Leut; solche, welche nicht freundlich mit ihm ver-
kehren, hält er für bös und bleibt ihnen gegenüber verstockt.
Stadtleute liebt er nicht, ist höchst mißtrauisch gegen sie und
nur mit Unbehagen spricht er mit ihnen, während alle Kinder
seine Freunde und Vertrauten sind. Auf seinen Zügen durch die
Dörfer begleiten ihn die letzteren scharenweise, und da hat er
Arbeit genüg, jedem Red und Antwort zu geben. Die Diener von
der heiligen Hermandad fürchtet er, weil ihn einmal einer, der ihn
nicht kannte, „für ins Hüsle" mitgenommen hat. Glücklicherweise
— 1210 —
aber durfte der Seppli alsbald wieder ins Freie. Im Übrigen ist
er mit den Ordnungswächtern noch alleweil gut ausgekommen,
weil er niemand behelligt und auch niemand Ärgernis an ihm
nimmt. Jedesmal, wenn er in seinen Geburtsort kommt, zeigt sich
ein schöner Zug seines Gemüts. Er versäumt nie, dort auf den
Wasserseppli als Mann auf der Wanderschaft.
Friedhof zu gehen und das Grab seiner Mutter aufzusuchen.
Sonst geht er jeden Sonntag, sei er, wo er wolle, in den Gottes-
dienst. Der Seppli hat überhaupt ein weiches Herz und eine
große Anhänglichkeit an seine Bekannten ist ihm eigen. Als ihm
der Erzähler seiner Zeit die Neuigkeit brachte, Altbürgermeister
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und Landtagsabgeordneter Blattmann im Glottertal sei auch ge-
storben — 16. Juli 1901 — da ergriff es den Seppli sehr und
weinerlich ließ er sich aus: „So, so, de Burgermeister isch gstor-
bet; a wa, i hane guat kennt. Wenns mers nu au gestert
z'Buechholz scho gsait hätta — i bi bi der große Greth und bim
Wasserseppli als Frau bei der Arbeit.
Vogtsbur gsi — so war i gwiß a d'Lücht. I hane fescht gern
gha un han scho viel Kaffee trunka beim Bürgermeister. Des
isch mer jetzt net recht".
(A. d. Monatsbl. d. Bad. «Seh warzwald Vereins von Josef Ruf- Waldkirch.)
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Martee ä une femme. Mme Ernestine E. Ranck s'est martee
ily a quelques semaines. Le manage a 6t6 cel6br£ ä Baltimore.
Jusqu'ici rien d'extraordinaire; car on se marie tous les jours ä
Baltimore. Mais oü la chose devient peu ordinaire c'est que le
marie etait une femme, Lotta Sawyer. Miß Sawyer porte des
v£tements masculins depuis plusieurs annees dejä. Mme Rank,
d6s qu'elle s'est apercue de la supercherie, a d6pos6 une de-
mande en annulation de mariage. Le juge Wright a sign6 un
ordre pour que cette affaire soit jug£e par les tribunaux. Dans
sa demande, Mme Ranck declare qu'elle est veuve, a des enfants
et a 6te martee ä Lydia Sawyer le 15 juin dernier par le räverend
Anthony Bilkowsky, et que ce n'est que deux jours apr&s la
c6r6monie qu'elle a decouvert que son mari etait une femme.
Mme Ranck ajoute dans sa demande que Paccus6 aavoue l'avoir
tromp6e. Cette demande est faite contre Lotta A. Sawyer ou
Lydia Lotta Sawyer, connue sous le nom d'Hermann G. Wood.
Un cas semblable ne s'est jamais präsente devant les juges et le
code est muet en ce qui touche un mariage entre deux per-
SOnneS du mßme sexe. (La Fronde, Paris.)
Ein Verbrecher als Stubenmädchen. In der Wohnung des
Direktors der Anglo- österreichischen Bank in Budapest, Lukacs,
erschienen, mehrere Detektives, und einer derselben machte der
Frau des Hauses die überraschende Mitteilung, daß ihr Stuben-
mädchen, das schon seit mehreren Wochen bei ihr bedienstet
war, kein Mädchen, sondern ein Mann und noch dazu ein schon
wiederholt bestrafter und von der Polizei eifrig gesuchter Ver-
brecher sei. Als das „Mädchen" unter einem Vorwande in den
Salon gerufen wurde, verhafteten die Detektivs sofort den ver-
kleideten Verbrecher. (Morgenpost.)
Der Fall, daß eine Frau den größten Teil ihres Lebens als
Mann zugebracht hat, ist jüngst wieder in London aufgedeckt
worden. Die jetzt Sechsundsechzig Jahre alte Person erschien
am 2. März unter der Anklage eines Betrugs vor Gericht und
zwar in Männerkleidung und machte folgende Angaben über ihren
bisherigen Lebenslauf: Nachdem sie einige Jahre als Lehrerin
beschäftigt war, ging sie nach Birmingham, und beschloß dort,
sich als Mann zu verkleiden, weil sie so besser durchs Leben
zu kommen hoffte. Sie diente zunächst zwei Jahre auf einem
großen Dampfer als Schiffskoch und wurde dort mit der Dienerin
— 1213 —
einer Dame bekannt. Sie „heiratete" dieses Mädchen und lebte
vierzehn Jahre lang mit ihr zusammen. Dann kehrte der „Gatte"
nach London zurück, wo dann später bei einer Aufnahme der
Person in ein Krankenhaus ihr wahres Geschlecht entdeckt wurde.
Der „Lancei" knüpft an diese merkwürdige Lebensgeschichte einen
geschichtlichen Rückblick. Außer solchen Romanhelden wie die
unsterbliche Rosalinde gibt es noch mehrere geschichtliche Bei-
spiele von Frauen, die fast ihr ganzes Leben als Mann ver-
brachten. Eine davon war Christina Davis, die im Jahre 1739
starb, nachdem sie viele Jahre im 2. Dragonerregiment, das später
wegen seiner Grauschimmel den Namen der „Schottischen Grauen"
erhielt, gedient hatte. Sie war 1667 geboren und hatte in sehr
jungem Alter einen Mann Namens Welsch geheiratet. Eines Tages
wurde ihr Gatte zwangsweise zum Heere eingezogen und nach
Holland gesandt. Christina verkleidete sich daraufhin selbst als
Mann und ließ sich bei einem Infanterie-Regiment einschreiben,
um ihrem Manne nachzufolgen. Nach vielen Abenteuern, unter
die auch ihre Teilnahme an der Schlacht von Landen fiel, wurde
sie verwundet, gefangen genommen und dann wieder ausgewechselt.
Sie geriet weiterhin in einen Liebeshandel, um deswillen sie ein
Duell auszufechten hatte, ließ sich später bei der Kavallerie an-
melden und machte die Belagerung von Namur mit. Nach dem
Frieden von Rijswick kehrte sie nach Irland zurück, ohne ihren
Gatten gefunden zu haben. Sie hatte sich aber an das Soldaten-
leben derart gewöhnt, daß sie bei der nächsten Kriegserklärung
wieder in das Heer eintrat. Nach der Schlacht von Blenheim
fand sie, als Wache bei den Gefangenen befohlen, endlich ihren
Gatten wieder, der sie seit Langem für tot gehalten hatte. Sie
beschlossen nun, sich als Brüder auszugeben und weiter beim
Heere zu bleiben. Bei Ramillies wurde sie schwer verwundet und
dabei wurde ihr Geschlecht entdeckt. Ihr Gatte fiel bei Malplaquet,
aber sie heiratete später noch zweimal. Nach ihrem Tode wurde
sie mit militärischen Ehren begraben. Zwei andere Mannweiber,
die vor etwa zweihundert Jahren viel von sich reden machten,
waren Anna Bonney und Mary Read, die ein Seeräuberleben
führten. Eine andere Frau erwarb unter dem Namen James Barry
den medizinischen Doktorgrad und machte eine glänzende Carriere
als Militärarzt, ihr Leben wurde später der Gegenstand einer
Novelle „einer modernen Sphinx". (Hannov. Courier.)
— 1214 -
A Young Woman as Gargon de Caffö. On Sunday last,
says the "Fransais*, the commissary of policfc of the Palais-Royal
received the visit of a young waiter from a cate who came to
lodge a Charge against a young woman, Jeanne D , aged
twenty-six, who had left his home, taking with her a number of
bracelets, rings, earrings and brooches, which belonged to him-
aWhat were you doing with all that jewelry, which you could
not wear?" asked the commissary. The waiter who seemed confused
by the question, stammered a vague reply and went off. Jeanne
D was soon arrested and taken before the commissary. When
the Charge was read over to her, she cried, "I like that. Do you
mean to say that she had the cheek to Charge me?" Surprised
at this reply, the magistrate questioned his prisoner as to her
relations with the gargon de cate. "Gargon de cate", exclaimed
Jeanne D , awhy Monsieur le Commissaire, she's my eldest
sister, Marie Duval, aged twenty-eight years. She found herseif
without a Situation six months ago, so she cut her hair, got a
waiter's costume and was engaged in a number of cates on the
boulevards." The commissary of police sent for the "soi-disant"
Ernest Portier, who, confronted with her sister, had to admit the
truth of her Statement and withdrew the Charge she had made.
She will be prosecuted for wearing male costume.
Ein Mann in Frauenkleidern wurde am Montag nach-
mittag gegenüber dem Hause Waterloouf er 17 aus dem Landwehr-
kanal aufgefischt. Der Tote , ein kräftiger Mann in der Mitte
der 30er Jahre, mit einem leichten Anhauch von blondem
Schnurrbärtchen, war vollständig wie eine Dame gekleidet, an
seinen Fingern befanden sich eine große Anzahl zierlicher Ringe,
welche sich jedoch später als unecht erwiesen. In seinen Taschen
fanden sich vor: Ein Deckel von einem Gummistempel in
Uhrform, zwei „Hundertmark-Blüten", zwei alte Tombakuhrketten,
das Werk einer alten Spindeluhr, Hausschlüssel und „Drücker",
neun kleine Schlüssel an einem Ringe und ein leeres schwarzes
ledernes Portemonnaie. (Beri. Morgenztg.)
Seltsame Metamorphose. Daß eine Person bis zum
26. Lebensjahre für ein Mädchen gehalten wird, sich aber dann
als Mann entpuppt und als solcher weiterlebt — dieser wohl
einzig in seiner Art dastehende Fall wird aus Guben gemeldet.
Aus der Anna K., die von Geburt an für ein Mädchen gehalten
— 1215 —
wurde und herangewachsen in dortigen Fabriken gearbeitet hat,
ist ein Albert K. geworden, der sich jetzt nach Berlin begeben
hat, um hier als Mann seinen Lebensunterhalt zu erwerben.
(Berl. Morgenztg.)
Eine amerikanische „Gesellschaftsdame". Eine in Peoria
(Vereinigte Staaten) erscheinende Zeitung schreibt: Vor un-
gefähr einem Jahre arrangierte in Peoria mit den Prominenten,
welche jede Gelegenheit benutzen, die ihnen zum Glänzen ge-
boten wird, eine Frau Katharine Howe einen sogenannten
Völker-Karneval, dem sie den Namen „Kirmes" beilegte. Katharine
imponierte durch eine edle Dreistigkeit namentlich den Blau-
strümpfen, die ein Ideal in ihr erblickten. Obgleich sie mager
war wie ein Windhund und häßlich wie eine Vogelscheuche,
machte sie mit ihrer Maulfertigkeit doch Furore. Daß sie gerade
kein sauberes Pflänzchen ist, zeigte sich, nachdem sie ihren
faulen Zauber ausgespielt hatte. Pumpe, die sie angelegt, wurden
einfach nicht bezahlt, und Männer, die ihre Rechnungen präsen-
tierten, wurden von der schneidigen Katharine mit Flüchen
traktiert, die einem Schweinetreiber alle Ehre gemacht haben
würden. Es stellte sich auch heraus, daß sie Branntweine
trinken konnte, wie ein Matrose. Katharine ist kürzlich im Staate
New -York wegen verschiedener Krummheiten verhaftet worden,
und bei der Untersuchung hat es sich herausgestellt, daß sie ein
Mann in Frauenkleidern ist und eigentlich» Henr.es heißt.
(Berliner Lokalanzeiger.)
Musketier Bertha Weiß. Die Geschichte der Völkerkriege
und Revolutionen verbucht so manche Namen streitbarer und
heldenmütiger Frauen. Frankreich hat eine Jeanne Hachette und
Jeanne d'Arc; aber die meisten Beispiele haben die Völker
germanischer Zunge aufzuweisen. Aus dem Kriege von 1870/71
ist mir dagegen kein Beispiel bekannt geworden, das eine deutsche
Frau gegeben hätte, was wohl daran liegt, daß die Entscheidung
auf Frankreichs Boden ausgefochten wurde. Dennoch hat es an
romantischen Abenteuerinnen nicht gefehlt, welche sich diese
Zeit zu nutze machten. Von einer solchen Kreatur soll im
folgenden berichtet werden. Es ist Bertha Weiß. Ich bemerke
gleich, daß man den Namen dieses Weibes im Soldatenhabit in
der Geschichte deutscher Regimenter vergeblich suchen wird.
„Musketier" Weiß war eben keine Heldenjungfrau, sondern eine
— 1216 —
— Hochstaplerin. Aus diesem Grunde schien es angezeigt, ihrer
nicht in „Lied und Heldenbuch" Erwähnung zu tun. Angesichts
des Schwindels der Familie Humbert, worin ja wieder eine Frau
die „Seele* des Ganzen bildet, dürfte aber doch auch der „Fall
Weiß" für Zivil und Militärs großes Interesse bieten. Ich schöpfe
meine Darstellung aus den mir vor mehreren Monaten über-
Musketier Bertha Weiß.
lieferten Tagebuch -Aufzeichnungen eines Rheinländers, der nach
dem Kriege in seiner Heimatprovinz zunächst als katholischer,
sodann als protestantischer Geistlicher gewirkt und nicht mehr
unter den Lebenden weilt. „Es war gegen Anfang des August
1870 abends um die elfte Stunde. Wir saßen, wie (leider) so oft,
in einem Wirtslokale, uns bei Bier, bei Sang und Dampf unter-
— 1217 —
haltend und amüsierend, als plötzlich die Wirtsstube, welche all-
mählich leer geworden — da Mitternacht herannahte — , sich
wieder mit neuen Gästen, und zwar mit marschfertigen Soldaten,
füllte. Auch wir an unserem Tische waren munter geworden und
schwatzten und plauderten, wie man zu sagen pflegt, dem Teufel
das Ohr ab und auch wieder an. Ich hatte soeben in der
größten Begeisterung eine Erzählung von meinen Erlebnissen in
der Schweiz (1861—1867) beendet, als ein junges bart-
loses Bürschchen von kleiner Statur — seiner Uniform nach, in
der er steckte, dem 29. Regiment angehörend — auf mich zu-
schritt und mit seinem zarten Stimmchen mich also anredete:
„Wie ich soeben aus Ihrer Erzählung vernehmen konnte, haben
Sie in der Schweiz in Einsiedeln studiert. Bitte, sagen Sie
mir doch, in welchem Jahre dies war ?" Als ich ihm hierauf die
J ahre nannte, sagte er rasch: „Ei, da sind wir Studiengenossen!
Auch ich habe in Einsiedeln studiert, und zwar zwei Jahre, und
zwar zu derselben Zeit!" Und meine Hand nehmend und
schüttelnd, wollte er sofort Smollis mit mir trinken auf unsere
alte Studiengenossenschaft. Obschon ich eben noch ziemlich in
Eifer und Hitze war, quasi das übliche „Bierfieber" hatte, hatte
mich der „Kamerad" doch plötzlich stutzig und kaltblütig ge-
macht. Etwas mißtrauisch frug ich denn nach seinem werten
Namen. Er nannte ihn „Bernhard Weiß". Als ich ihm hierauf
bedeutete, daß ich nicht die Ehre hätte und mich nicht besinnen
könnte, einen Studienkollegen dieses Namens gehabt und gekannt
zu haben, sagte er rasch und ohne sich irre machen zu lassen:
„Das sei leicht möglich; es seien daselbst so viele Studenten ge-
wesen, daß man alle nicht habe kennen können. Allein, er habe
in Einsiedeln studiert und, nach meiner Angabe, zu derselben
Zeit wie ich. Er sei ja in Au', einem kleinen Dörfchen bei Ein-
siedeln, geboren, also ein Schweizer." Dabei nahm er wieder
das Glas zur Hand und stieß mit mir und meinen Bekannten an.
Mit mir aber trank er Smollis. Da er mir so zudringlich und
zugleich doch so artig und freundschaftlich entgegenkam, ließ ich
mich denn auch bald herbei, und nun tranken wir fröhlich zu-
sammen . . . ." „Bernhard" Weiß kam von dieser Nacht an vier
Wochen lang täglich in das Elternhaus des Gewährsmannes, aß
und trank am gleichen Tische und wußte sich rasch bei der
Mutter des neugewonnenen Kameraden einzuschmeicheln. Mit
einer Schwester musizierte der fremde Musketier oft, wie mir
dieselbe mitgeteilt hat. Seine Stimme war nicht zart, aber heiser;
— 1218 —
doch fiel das weiter nicht auf, da junge Männer ja oft diese
Stimme besitzen. Er kam wohl nur des Bruders wegen. Traf
er ihn aber nicht zu Hause, so setzte er sich zu Mutter und
Tochter, um zu plaudern. Der jungen Dame war der Mensch
zuwider und sie sträubte sich gegen eine Unterhaltung mit ihm.
Doch die gutmütige Mutter bat dann immer, Mitleid mit dem
„armen Kerl" zu haben; denn sie meinte, er sei so zart und sie
glaube nicht, daß der die Kriegsstrapazen aushalte, sondern im
Felde bleibe. Es ist richtig, der dick- und rotwangige „Avantageur"
war als Soldat klein und nicht schön von Gestalt. Das völlig
bartlose, rundliche Kinn und das weibische Stimmchen fielen aber
weiter nicht auf, weil der „Kerl" in Uniform steckte und so man-
chem jungen, schmächtigen Offiziersaspiranten ähnlich schien.
Zwar war dem Scharfblick der Schwester nicht entgangen, daß
Musketier Weiß für einen Soldaten sehr unordentlich aussah, und
daß er immer zwischen den Brustknöpfen eine dicke Partie von
Briefen und Notizbüchern verwahrte. Und der Bruder notiert an
einer Stelle: „Ich erinnere mich, daß mir seine ziemlich wogende
Brust auffiel, als wir einmal zusammen die „Karthause" hinauf-
gingen . . . „Kerl, was hast Du immer für eine dicke Brust,"
sagte ich damals arglos zu ihm, „stopfst Du Deinen Rock vorne
mit Baumwolle aus, um Dir ein Ansehen zu geben?" Er lächelte
ziemlich verlegen und erwiderte gefaßt: „Gelt, ich gäbe einen
famosen Feldwebel!" Dabei klopfte er triumphierend auf die
Brust, als ob das, was er gesagt hatte, ein ganz Besonderes sei
. . . Nichtsahnend lenkte ich das Gespräch weiter." Nach vier
Wochen verabschiedete sich Weiß, indem er vorgab, wieder „ins
Feld" gehen zu wollen. — Es mochte nun seitdem etwa der
gleiche Zeitraum verflossen sein, als er mir eines Sonntags wieder
begegnete. Unter lauten Freudenbezeigungen drückte er mir
die Hand und begann abermals neue Kriegsabenteuer zu erzählen.
Nun war er wieder täglich bei mir, bis er nach mehreren
Wochen endgiltig Abschied nahm, um „nach Frankreich" zu gehen.
Diesmal begehrte er sowohl von mir, als von meinem Freunde
Seh .... ein Andenken. Wir wußten nicht recht, was wir ihm
geben sollten. Er verlangte aber von mir ein Messer und von
Seh ein Notizbuch. Ich kaufte ihm das Gewünschte ; und
Seh lief er bis aufs Bureau nach, um ja des ihm Ver-
sprochenenen gewiß zu sein. Meine Mutter gab ihm noch
Trauben und ich Briefbogen, damit er uns bald von Frankreich
aus schreiben sollte. Er nahm alles und zog ab. — Es vergingen
— 1219 —
Tage, Wochen, Monate — mein Freund ließ nichts von sich
hören .... Ein preußischer Artillerieoffizier erzählte zuerst
einem Freunde von einer Abenteuerin und lenkte mich auf
„Bernhard" Weiß. Wohl hatte ich schon in Romanen und Er-
zählungen ähnliche Auftritte eines Weibes als Soldat geschildert
gefunden. Aber hier in der Person unseres „Bernhard" eine
solche Vagantin leibhaftig vor Augen gehabt zu haben, das ver-
mochte ich noch immer nicht zu glauben. Doch endlich lieferten
auch Koblenzer Lokalblätter Biographien jener sonderbaren
„Heldin", und ich mußte mich nun wohl oder übel mit der trau-
rigen Tatsache abfinden, daß mein Freund „Ber-nhard" Weiß ein
— Frauenzimmer gewesen sei ..." Der Drang, als Abenteuerin
berühmt zu werden und sich einen Namen zu machen, gleich-
zeitig Schwindeleien damit zu verbinden, ließ Bertha Weiß — dies
war ihr rechter Name — Soldat werden. Sie war — so lauteten
wenigstens übereinstimmend die Recherchen— keine Schweizerin,
sondern sie stammte aus Ostpreußen. Ebenso war Bertha niemals
im Kriege gewesen, obschon sie es gewünscht hatte. Sie soll
nämlich im Griffemachen mit dem Zündnadelgewehr und über-
haupt im Dienste nicht stramm genug gewesen sein, weshalb ihr
der Hauptmann Spitz der Kompagnie das Ausrücken ins Feld
nicht gestatten wollte . . ." Rätselhaft bleibt für uns aber doch
alles. Wie war es bloß möglich, daß das Weib in Uniform ge-
steckt und im Truppenteil als löhnungsberechtigter aktiver
Soldat eingereiht werden konnte? Sie mußt^ doch zuvor mit
ihrem wirklichen Namen, Geburtsort und Daten in die Stamm-
rolle und Kompagnieliste gesetzt werden. Da ist, wenn die Ver-
mutung ausgeschlossen bleiben soll, als sei ein Mitwisser des
Betruges im Spiele gewesen, nur die Annahme möglich, daß
Bertha Weiß echte, aber gestohlene oder glaubhaft gefälschte
Heimatspapiere auf ihren nom de guerre beigebracht hat; es wäre
denn, man hätte infolge der Kriegswirren und der damit verknüpften
Truppenverschiebungen jene peinliche Kontrolle außer Acht ge-
lassen, was immerhin plausibel erscheinen könnte. Nachdem
der Weiß aber dieser Coup d'affaire, der zweifellos von ihrem
ausgesuchtesten Raffinement Zeugnis ablegt, gelungen war, ver-
mochte sie auch unbekümmert um Entlarvung den echten Soldaten
zu spielen. Ja, und als nach Koblenz gefangene Franzosen gebracht
und dort in einem Barackenlager festgehalten wurden, da
avancierte das sprachenkundige Weib flugs zum Korporal, was
trotzdem erst recht rätselhaft bleibt, da doch unter den Rheinlands-
Jahrbuch V. 77
— 1220 —
söhnen gewiß gar mancher des französischen Idioms mächtig ge-
wesen sein müßte . . . Aber hören wir weiter. Vom Rhein war
die Weiß in ihre Heimatsprovinz gegangen. In Königsberg,
Gumbinnen u. a. O. hatte sie sich in der Uniform" eines Feld-
webels als Inhaber des Eisernen Kreuzes ausgegeben, weswegen
sie mehrere Male in Haft genommen wurde. Hierbei war auch
ihr Geschlecht entdeckt worden. Nach verbüßter Haft ging Bertha
Weiß ins Schlesische hinein. Mit dem Soldatenspielen war es
jetzt in Friedenszeiten nichts mehr. Also verlegte sich das
raffinierte Weib auf einen anderen Schwindel. Sie besaß die
Kühnheit, im Kloster der Barmherzigen Brüder zu Breslau nicht
nur Eingang zu finden, sondern sich sogar als — Laienbruder
aufnehmen zu lassen . . . Indessen hielt das nicht lange. Ende
1871 verschwand sie, um fortan in der Schweiz den Kutten-
schwindel zu versuchen. Und so begegnet man ihr zunächst
unter dem Namen „Lebeuf" in Einsiedeln, wo sie seit dem
21. Juni 1872 im Benzingerschen Verlagshause in Kondition war.
Natürlich ging sie auch bald im Kloster, wo sie sich dank dem
günstigen Umstände, daß der Pater ein Sohn und Bruder jener
Koblenzer Familie war, leicht Zutritt hatte verschaffen können,
aus und ein. Ja, es dauerte nicht lange, da hatte sie dort selbst
als „Bruder* Aufnahme gefunden, weil man der festen Meinung
war, daß „Lebeuf" ein guter Freund meines Koblenzer Gewährs-
mannes und mit diesem wohlbekannt sei. Doch auch hier konnte
eine Entlarvung nicht ausbleiben. Sie soll dann noch in Bern u. a. O.
der Schweiz aufgetaucht sein, wurde aber schließlich in St. Gallen
verhaftet und auf längere Zeit kaltgestellt. Seitdem hörte man
nichts mehr von der Abenteuerin, bis 1878 aus Zeitungsnotizen
bekannt wurde, daß sie Ende Januar gestorben war.
(Nach einem Artikel: „Aus dem Leben einer deutschen Vagantin" von
Ernst Kreowski (Berlin) mit dessen Zustimmung aus der Beilage
der Berliner Morgenpost.)
Eine tolle Karnevalsgeschichte erzählt die „Tribuna" vom
letzten Maskenball im Eldorado zu Rom. Ein Student, der in einer
Parodie auf Mascagnis „Iris" die Rolle einer japanischen Tänzerin
ganz großartig verkörpert hatte, war über seinen Erfolg im
Mädchengewande so erfreut, daß er die Frauenkleider auch
während des Tanzes trug. Als er während einer Tanzpause
planlos durch die mit weinseligen Leuten besetzten Säle schlenderte,
raunte ihm plötzlich Jemand ins Ohr: „Ein herrliches Geschöpf!"
— 1221 —
, Er drehte sich um und gewahrte einen sympathischen Jüngling,
aus dessen Antlitz sich eine so naive Bewunderung ausdrückte,
daß dem Bruder Studio sofort der Gedanke durch den Kopf fuhr:
„Aha, ein verliebter Narr, der mich für ein echtes Weib hält!"
Der Verehrer der weiblichen Schönheit des Studenten hatte das
Aussehen des jugendlichen bartlosen Hausbesitzerssohnes, der
soeben flügge geworden ist und bei der ersten besten Gelegenheit
sein Taschengeld bis zum letzten Heller „verplundert". Der
Student beschloß, den grünen, abenteuerlustigen Jüngling gründlich
| hineinzulegen ; er ergriff seinen Arm, warf ihm einen seiner feurigsten
Blicke zu und flüsterte mit liebebebender Stimme: „Gefalle ich
| Dir vielleicht, Kleiner?" — „Sehr", erwiderte lieblich errötend der
junge Mann. Der Student führte nun seinen entzückten Verehrer
kreuz und quer durch die Tanzsäle und ließ dann leichthin die
i suggestiven Worte fallen : „Ich habe riesigen Appetit". — „Wirklich?
j Dann wollen wir essen", antwortete schlicht und einfach der
Jüngling. Gesagt, getan. Bald darauf nahm ein verschwiegenes
Kabinet das Liebespärchen auf. Man aß und trank vorzüglich,
und als man gerade ein Bischen zärtlich werden wollte, kam die
Rechnung. Der „Hausbesitzerssohn" sah sie nur oberflächlich
an und sagte dann mit einem reizenden Lächeln zum Kellner:
„Der Herr zahlt!" Der Kellner verbeugte sich, diskret und ver-
ständnisinnig lächelnd, und entfernte sich. Der Student aber be-
trachtete mit weit aufgerissenen Augen seinen „Verehrer" und
fragte mit kaum hörbarer Stimme: „Was sagtest Du soeben? Wer
zahlt?" — „Du!" — „Ich?" — „Na, ja, der Herr zahlt doch
immer". — „Ja, bist Du denn nicht der Herr?" — „Ich? Keine
Ahnung! Ich bin nur als Mann verkleidet, im gewöhnlichen Leben
j bin ich Modistin". Tableau! (M. N. N.)
Merkwürdige Geschlechtsverwechselung. „Ein Pfeifer von
dem hier in Garnison liegenden Gräflich Haakschen Regimente,
der beide schlesische Feldzüge mitgemacht, ward unerwartet von
einem Sohn entbunden. Natürlich war der Pfeifer also ein Weibs-
bild, und der Vater des Kindes war ein Tambour von selbiger
Kompagnie, wobei jener diente. Der Vater ward Regimentstambour,
und bei der Taufe seines Sohnes befanden sich die vornehmsten
Personen des Hofes und andere angesehene und bemittelte Leute,
welche die Sechswöchnerin so reichlich beschenkten, daß sie in
den Besitz von mehreren Hundert Talern kam". So meldet die
„Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen" aus dem
77*
— 1222 —
Jahre 1746, und geschichtliche Schriftsteller! z. B. König, bestätigen
das wundersame Faktum, daß der Pfeifer nicht bloß von einem
Sohne, sondern auch vom Dienst entbunden wurde, wird eigens
hinzugefügt, ebenso, daß Trommler und Pfeifer nachher eine gute
Ehe geführet. — In dem 1584 neu aufgesetzten Turmknopfe der
Nikolaikirche fand sich bei der Öffnung folgende Nachricht: „Anno
1583 ist allhier zu Colin an der Spree in der Schulen eine Jung-
frau offenbar geworden, so in Knabenkleidung in die Schule ge-
gangen und des Baccalaurei famulus gewesen, auch bei ihm im
Bett geschlaffen, welcher an ihr nie bemerkt, daß sie ein Weibs-
bild gewesen. Sie war von Pariß in Frankreich und hat ihre
Lektion allzeit so fleißig gelernet, das sie nie gestäupet worden.
Kam sie derowegen zu einem Bürger an einen freien Tisch und
vertrauete sich endlich der Fraue an. Der Rat, in der Meinung,
es sei eine Kundschafterin, hat sie eingesetzet, nachher aber
wieder losgelassen, da ihre Unschuld sich erwiesen. Die Gräfin
von Zollern nahm sie zu sich, da sie schön ausnähen gekonnt,
hat sie aber dann des Administrators zu Halle, Markgraf Joachim
Friedrichs Gemahl geschenket". — Im Taufregister der Nikolai-
kirche vom 23. März 1598 findet sich aufgezeichnet: „Hanns
Welens und Annen Frosts Kind getauft. Dieses Kind, weil weder
die Wehemutter Margareth, noch die Mutter, noch der Vater, noch
der Prediger nicht anders gewußt haben, denn daß es ein Töchter-
lein wäre, ist in der Taufe Maria genennt worden. Am Tage
darnach aber befand die Wehmutter, daß es ein Knäblein were;
sind die Eltern darüber erschrocken und haben solches ange-
zeiget; da ist vom Ministerio die Antwort worden, die Taufe were
darumb nicht unecht, aber das Kind sollte Maria Georg heißen
und hinfort Georg genennet werden". Merkwürdig!
(Vossische Zeitung, Berlin.)
Ein Mann in Frauenkleidern. Am 8. Juli hat sich in
Ottakring (Wien) ein Aufsehen erregender Vorfall abgespielt.
Ungefähr um 8 Uhr morgens wurden Passanten in der Sand-
leitengasse von einem Individuum mit einem Revolver bedroht,
das Frauenkleider trug. An Haltung, Gang und Benehmen
konnte man aber sofort erkennen, daß man es mit einem Manne
zu tun habe. Als ihn ein Passant festnehmen wollte, drückte er
einige Male den Revolver los, der aber nicht geladen war, und
zog dann ein großes Küchenmesser hervor, das er unter der
Frauenbluse verborgen gehalten hatte. Aus der nahegelegenen
— 1223 —
Wachstube wurden nun einige Wachleute herbeigeholt. Eine
Schar von Kindern und Passanten hatte, bevor noch die Wache
erschienen war, auf den Mann, der gegen das sogenannte
„Fuchsenloch" zu laufen begann, Jagd gemacht. Während der
Verfolgung versah er den Revolver mit zwei Patronen und
schwang nun drohend diese Waffe und das Messer in der Luft,
um die Leute von der Verfolgung abzuhalten. Als die Wachleute
erschienen und sich ihm näherten, gab er aus dem Revolver
zwei Schüsse gegen sich ab und brachte sich einen Streifschuß
an der Stirne bei, die zweite Kugel drang ihm in die Bauchhöhle.
Er stürzte hierauf zusammen und wurde von den herbeigeeilten
Wachleuten in das Kommissariat Ottakring geführt. Trotz
seiner schweren Verwundung legte er den halbstündigen Weg
zu Fuß zurück. Er gab an, Franz von Erlaf zu heißen, Wittwer,
38 Jahre alt und in Petzeiskirchen bei Scheibbs wohnhaft zu sein.
Man vermutete, daß der Mensch geistesgestört sei. Er zeigte
sich sehr apathisch, hielt die Augen fortwährend geschlossen,
gibt aber auf Fragen, die an ihn gestellt werden, Antwort.
Über das Motiv seines auffälligen Benehmens und des Selbst-
mordversuchs verweigerte er jede Auskunft. Bewohner der
Sandleitengasse, in der sich die Szene zugetragen, behaupten,
daß der Mann in dieser Gegend schon wiederholt aufgetaucht
sei und sich in Frauenkleidung herumgetrieben habe. Auch
gestern abend sei er dort bemerkt worden. Er drängte sich oft
an Frauen und Mädchen heran, um mit ihnen ein Gespräch an-
zuknüpfen. Um sich nicht zu verraten, habe er ein Taschentuch
vor den Mund gehalten, das seine untere Gesichtshälfte verbarg.
(MUnchener Neueste Nachrichten.)
Die geheimnisvolle Schönheit. Gar manche — mehr oder,
minder tiefe — schwere Seufzer sind in Dresden von den Lippen
ganz junger und älterer Mädchen, junger und „mittelalterlicher"
Frauen, anklagend zum Himmel, emporgestiegen, als es schließ-
lich bombenfest stand: Anthes ist auf und davon nach Amerika!
In der Tat, der fahnenflüchtige tonsüße Georg hat eine stattliche
Schar weiblicher begeisterter Bewunderer in Eibflorenz zurück-
gelassen . . . Daß der so plötzlich bei Nacht und Nebel ver-
duftete moderne Arion so nebenbei auch als Mann an sich des
öfteren recht lebhaft von sich reden gemacht, soll seiner Eigen-
schaft als Magnet der besseren Hälfte des Menschengeschlechts
gegenüber keinen Abbruch getan haben. Im Gegenteil. Und da
— 1224 —
fällt mir ein, mit welcher Aufregung einmal die Dresdner Damen-
welt sich unter anderem ebenfalls mit Anthes beschäftigt hat,
wo er sich wie eine verklingende berauschende Melodie über
die große Salzlake verflüchtigt hat. Amerika spielte da ebenfalls
eine Rolle. Oder vielmehr eine amerikanische Dame. Damals
lautete der Ruf der Indignation im Munde der Bewunderinnen
des Sängers zwar nicht: „O, dieses Amerika, es ist eine Sirene!"
doch ganz ähnlich. Oder war die Amerikanerin, die ihn ver-
anlaßte, eine Sphinx? Jedenfalls konnte niemand sagen, wer sie
war, wo sie wohnte, was sie in Dresden tat. Weder in Gesell-
schaften noch in Konzerten wurde das prachtvolle Geschöpf mit
der golden gewellten, etwas extravaganten Haarfrisur gesehen,
nie in der amerikanischen Kirche bemerkt. Und wie scharf auch
gewisse neugierige und eifersüchtige Elemente im Musentempel
umherspähten, wenn Anthes seine entzückten Zuhörer zu
donnerndem Applaus begeisterte, immer und immer wieder
mußten sie enttäuscht die Operngläser sinken lassen: des un-
widerstehlichen Tenors geheimnisvolle Freundin wurde auch hier
niemals entdeckt. Nur im lichten Dunkel der abendlich be-
leuchteten Straßen der Residenz war sie zu erblicken. Stets an
seiner Seite, an der Seite des „Gottbegnadeten", an seinem
Arme hängend, die großen blauen Augen an seine „edlen" Züge
geheftet, ihm hingegeben in seligstem Jugendfrohmut. Alle, die
das Glück hatten, die junge Schönheit, Anthes' Amerikanerin —
denn daß sie Amerikanerin war, mußte jedermann auf den ersten
Blick erkennen — , auf einer solchen vergnüglichen Wandeltour
zu sehen, stimmten darin überein, daß es in der ganzen Welt
wohl kein weibliches Wesen gebe mit echterer bezaubernder
weiblicher Grazie, gepaart mit einer ganz unbeschreiblichen,
•holdseligen, echt weiblichen Koketterie. Die Art, mit der sie ihr
„seidenbeseeltes", bei jeder Berührung raunend rauschendes
Gewand hob — nicht zu viel, nicht zu wenig, weder zimperlich
noch herausfordernd — , war genau so meisterhaft wie der Ge-
sang ihres berühmten Freundes. Ja, waren die beiden miteinander
nur befreundet oder waren sie Liebende? Die Sache war nicht
ganz leicht zu entscheiden. Man sah das Paar in den belebtesten
Straßen auf und ab wandeln, man hörte es schwatzen, man
glaubte, es in ein paar vereinzelten Fällen durch die vom Prima-
Ganymed eines fashionablen Traiteurs um ein Achtel zu weit
geöffnete Tür im tete-ä-t£te sitzen gesehen zu haben, essend
und trinkend und Zigaretten rauchend, aber was bewies das, wo
— 1225 —
eine „freie" Amerikanerin im Spiele war? Immerhin erhoben
sich Stimmen, die das Benehmen der faszinierenden Schönheit
nicht lady-like fanden. War sie eine Lady? Anthes lachte wie
ein Toller, wenn in diesem Sinne eine Frage an ihn gestellt
wurde, Eines Tages begab ich mich in die im sogenannten
englischen Viertel gelegene Fremdenpension der Frau S., um
einen Besuch abzustatten. Man bat mich, zunächst in den Salon
einzutreten. In einer Ecke desselben bemerkte ich ein Paar von
einem Fauteuilsitz ausgehende, langausgestreckte männlich be-
kleidete Beine. Was aber zu diesen gehörte, blieb mir durch
eine riesenhafte Zeitung fast gänzlich verborgen. Ich räusperte
mich diskret. Die Zeitungswand klappte nach vorn: ein junger
Mensch sprang auf und machte mir eine tadellose Verbeugung.
Ein prachtvoller Kerl, schlank, geschmeidig, rassig wie ein
Panther, mit hellen Augen und schwarzem Kopfhaar, auf dem ein
bläulicher Glanz lagerte. „Dich muß ich schon einmal irgendwo
gesehen haben," ist mein erster Gedanke; mein zweiter: „Ach,
ich weiß, du gleichst dem jugendlichen Lord Byron," und dann
entringt sich meinem endlich erleuchteten Gehirn triumphierend
der dritte: „Du mußt ein Zwillingsbruder sein von ihr, der viel-
besprochenen amerikanischen Sphinx!" Der junge Mensch hatte
inzwischen die Zeitung zusammengefaltet; nun verbeugte er sich
zum zweiten Male und verließ das Zimmer. Sein Gang, seine
Bewegungen, die besondere Art, die langbewimperten Augen
aufzuschlagen — wirklich eine ganz frappante Ähnlichkeit ....
Ob ich recht gehabt, sollte mir bald durch einen Zufall klar
werden. Eine Schneiderin, die in unserem Hause arbeitete, war
in die Pension gerufen worden. Dort wurde ihr ein kostbares
Samtkostüm behufs einer daran vorzunehmenden Änderung über-
geben. Bei dieser Gelegenheit zeigte ihr das Stubenmädchen
eine Anzahl, wie es sagte, „zu dem Samtkostüm gehöriger"
pompöser Toiletten, meist elegante Straßenkleider, seidene
spitzenbesetzte Unterröcke im raffiniertesten Frou-Frou-Genre,
Hüte von fabelhaftem Umfange und phantastischer Ausschmückung,
einer immer schöner als der andere, wie die Schneiderin ver-
sicherte, Mäntel, Mantelets und Jacketts von „todschikem"
Schnitt, und Boas mit geradezu ehrfurchtgebietendem reichem
Straußfedergehalt und von der Länge einer Boa constrictor.
Auch in genialer Unordnung umherliegende Fächer und Korsetts
wurden besichtigt, Schuhe und Stiefel, Regen- und Sonnenschirme,
aber auch Spazierstöcke nicht zu vergessen, eine Menge kos-
— 1226 —
metischer Mittel of first class quality, wie eine junge schöne und
eitle Modedame sie wohl in Gebrauch zu nehmen pflegt. Hatten
schon die Spazierstöcke die Verwunderung der Nadelkünstlerin
hervorgerufen, so wuchs diese noch mehr, als das Mädchen
einen Schrank öffnete, in dem sich eine Anzahl eleganter —
Herrenkleider aneinander schmiegten. „Aber um des Himmels
willen," rief unsere Schneiderin aus, die Hände zusammen-
schlagend, „wem gehört denn diese merkwürdige Aus-
stattung?" — „Nun, unserem lustigen Mr. X. Y.," gab das
Mädchen zur Antwort; „er ist ein amerikanischer Krösus, der
mit den Goldstücken nur so herumwirft. Am reizendsten und
freigebigsten ist er aber immer, wenn er dies hier aufsetzt,"
fügte es lachend hinzu, und dabei zog es ein weißes Tuch von
einem am Toilettenspiegel hängenden Gegenstand. Es war eine
wundervoll gearbeitete goldblonde — Damenperrticke.
(MUnchener Neueste Nachrichten.)
Vom Frauentage in Wiesbaden. Die Delegierte in Reform-
tracht. Der Zwischenfall, der sich Montag Nachmittag in Wies-
baden ereignete und dessen unfreiwillige Heldin eine Teilnehmerin
an der fünften Generalversammlung des Bundes deutscher Frauen-
vereine war, hat diesem Frauenkongresse mehr, als es vielleicht
sonst der Fall gewesen wäre, das Interesse zugewandt. Was
zunächst die gestern gemeldete Verhaftung einer Berliner Dame
betrifft, so* stellt sich die Sache erfreulicherweise harmloser und
humoristischer dar, als sie nach der Darstellung der Frankfurter
Zeitung geschienen hatte. Der in Wiesbaden erscheinende Rhein.
Cour, erzählt, wie uns telegraphisch übermittelt wird, über die
Szene und ihre Veranlassung folgendes: „Gestern Nachmittag
wurde uns von dem Vorstande des Frauentages mitgeteilt, eine
Delegierte des Frauenbundes sei auf der Friedrichstraße verhaftet,
nach dem Revier verbracht und nach Feststellung ihrer Personalien,
ohne ein Wort der Entschuldigung, entlassen worden. Da uns
dieser Vorgang sehr unwahrscheinlich vorkam, erkundigten wir
uns und konnten folgendes feststellen: Gestern Nachmittag be-
merkte ein Schutzmann in der Friedrichstraße einen Mann, der,
von etwa 300 Personen umgeben, langsam die Straße entlang
schritt. Der Schutzmann hegte die Befürchtung, es sei etwas
Ungebührliches vorgefallen, eilte hinzu und ersuchte den Herrn,
ihm auf die Polizeidirektion zu folgen. Hier bat der Vertreter
der heiligen Hermandad um den Namen des Betreffenden und
— 1227 —
erfuhr zu seinem größten Erstaunen, daß er es mit einer Dame
zu tun habe, die sich ihm als eine Berliner Delegierte zum Frauen-
tage legitimierte. Der Schutzmann sorgte zuer5t dafür, daß die
schaulustige Menge von dannen zog, und entließ dann die sehr
entrüstete Dame, indem er ihr, immer noch zweifelnd, bis nach
dem Civilkasino folgte. Wie uns die Erkennungsszene geschildert
wurde, verlief dieselbe für die Unbeteiligten sehr humoristisch.
Der Fernstehende nimmt die Lehre daraus, daß die Wiesbadener
für die Kleiderreformen der Frauenrechtlerinnen noch nicht ge-
nügend vorbereitet sind; man hat hier die allerdings noch vor-
sintflutliche Ansicht, eine Frau müsse wie eine Frau aussehen
und man könne nichts Verkehrteres tun, als Frauenrechte in
Männerkleidern verfechten zu wollen." Danach scheint also Frau
Hilda v. D .... r es mit der Reformtracht ein wenig zu weit
zu treiben. Wie des näheren berichtet wird, trug Frau Hilda zu
ihrer Reformkleidung auch einen Herrenhut und unter diesem kurz-
geschnittene Haare, und dieses ganze Ensemble hat, wie erwähnt,
in dem Schutzmanne die seltsame Meinung entstehen lassen, er
habe es nicht mit einer Frau zu tun, die ähnlich wie ein Mann,
sondern mit einem Mann, der ähnlich wie eine Frau gekleidet sei.
Darnach fällt die Lächerlichkeit des Vorfalles zum Teil auf seine
Heldin zurück. Immerhin aber hätte der ehrenwerte Wiesbadener
Schutzmann ein wenig vorsichtiger sein können, und hoffentlich
hat er es am Ende auch nicht an der genügenden Entschuldigung
fehlen lassen. (Berliner Morgenpost,)
Der Fall A g. Die wunderliche Geschichte von dem
verhafteten und wieder freigelassenen Fräulein Dr. jur. A g,
so sich jüngst in dem in deutschen Landen nicht unbekannten
Städtchen Weimar zugetragen hat, wird, wie alle schönen Ge-
schichten, auf zweierlei Art erzählt. Die Schilderung, die die
Heldin selber von dem Vorfalle entworfen hat, haben wir vor-
gestern wiedergegeben, jetzt ist ihr die amtliche Darstellung an
die Seite getreten. Da es eine Darstellung von anderer Seite ist,
zeigt sie den Fall, natürlich auch in anderer Beleuchtung, und
weil die nicht weniger humoristisch ist als die frühere, so sei
das Schriftstück hier wörtlich wiedergegeben. Der Weimarer
Oberbürgermeister als Vorstand der Weimarer Polizei veröffent-
lichte folgende „Bekanntmachung. Die Berichte in den Zeitungen
über das Vorkommnis mit Fräulein Dr. jur. A g ver-
anlassen mich, den Vorgang, wie er amtlich festgestellt worden
— 1228 —
ist, bekannt zu geben: Dem Schutzmann Haldrich — und nach
dessen Angaben auch den beiden Bahnsteigschaffnern — war die
betr. Dame nach Stimme, Gesicht, Haartracht, Hut und Gesten
(wie sie den Hut abnahm und "tiurch die Haare strich) aufgefallen.
Der Schutzmann schöpfte den Verdacht, daß ein Mann sich ver-
kleidet und die Verkleidung gewählt habe, um sich einer etwaigen
Erkennung und Entdeckung aus gewichtigen Gründen zu ent-
ziehen. Deshalb sprach er, da die Schutzleute wegen der jetzt
so häufigen Schwindeleien, Betrügereien und Diebstähle zur strengen
Vigilanz, insbesondere während der Abend- und Nachtzeit, ange-
wiesen sind, die betreffende Person auf der Straße an und fragte,
wann sie zugereist sei, welche die Frage beantwortete und, bevor
Haldrich imstande war, weitere Fragen zu stellen, hinzufügte:
„Sie wollen mich doch mit auf die Wache nehmen, da nehmen
Sie mich nur gleich mit, ich will Ihre Behörde sprechen und ein
Protokoll aufnehmen lassen, die Frechheit geht noch über Wies-
baden.0 Des Schutzmanns Einwand, die Befugnis um Auskunft
über ihre Person zu bitten, stehe ihm doch zu, fertigte die Dame
mit der Erklärung ab: „Dieses Recht wollen wir Ihnen eben
nehmen", und wiederholte auf das bestimmteste das Verlangen,
der Polizeibehörde vorgeführt zu werden, ohne daß sie ihren
Namen und Stand dem Schutzmann nannte. Diesem Verlangen
entsprach der Schutzmann Haldrich, ohne daß die Aufmerksamkeit
anderer erregt wurde. Schutzmann Schulz, der Dienst auf der
Polizeiwache hatte, bezeugt, daß pp. Haldrich nach Ankunft mit
der Dame im Rathause letztere nochmals frug. „Wollen Sie mir
nun Ihren Namen nennen?" worauf dieselbe antwortete: „Nein,
Ihnen sage ich meinen Namen nicht, ich verlange einen höheren
Beamten." Dem anwesenden Kriminalschutzmann Quehl, dem die
Dame dann ihren Namen nannte und der mit ihr über den Vorfall
verhandelte, erklärte Fräulein Dr. A g unter anderem: „Eigent-
lich habe sie den Schutzmann mit hergebracht und nicht der
Schutzmann sie, der Vorfall komme ihr gerade recht, sie brauche
solches Material, damit der Paragraph (sie nannte einen Para-
graphen des Strafgesetzbuches) falle, sie gehe an den Reichstag,
ihr Name sei kein unbekannter, ihr stünden fast alle Zeitungen
zur Verfügung; wir hätten einen Fall Berlin, Köln, München, Wies-
baden gehabt und nun hätten wir noch einen Fall Weimar."
Weimar, den 30. Oktober 1902. Der Gemeindevorstand Großh.
Residenzstadt. Der Oberbürgermeister. Pabst, Geheimer Re-
gierungsrat." Fräulein A g ist eine sehr streitbare
— 1229 —
Dame, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie die Gelegenheit,
die sich ihr zu einer Demonstration gegen § 361, 6 St G. B. bot,
wirklich mit einer gewissen Freude ergriff. Fräulein A g,
so schrieben wir am Donnerstag, „die, fast möchte man sagen,
das Glück gehabt hat, am eigenen Leibe die widersinnigen Folgen
des § 361 zu verspüren, wird daraus für ihre Bewegung gewiß
genügend Kapital zu schlagen wissen." Aber wir glauben, auch
die Darstellung der Weimarer Polizei wird Fräulein A g
nicht ganz daran verhindern können. Selbst wenn der amtliche
' Bericht, der auf den Aussagen der beteiligten Beamten beruht,
der subjektiven Färbung ganz entbehren sollte, würde doch so
viel bestehen bleiben: Der Anlaß, sich in polizeilicher Experi-
mental-Psychologie zu üben, ist Fräulein A g von der Polizei
selbst geliefert worden. Ist etwa ungewöhnliche Kleidung schon
ein Grund, daß eine Dame, die im übrigen nicht den geringsten
Wunsch zu erkennen gegeben hat, von irgend jemand ange-
sprochen zu werden, plötzlich just von einem Schutzmanne ange-
sprochen und nach ihren Personalien gefragt wird? Auch die
Befugnis, irgend einer Dame den Tituskopf zurechtzusetzen, kommt
der Polizei nicht zu. Die Kritik der Art und Weise, wie sich das
Fräulein durchs Haar gestrichen habe, zeugt zwar von einer
sehr feinen Beobachfungsgabe, aber im Interesse der männlichen
und weiblichen Mitwelt möchten wir doch diese ästhetische Be-
trachtungsweise nicht gerne zum polizeilichen Usus werden sehen.
Ebensowenig können wir, offen gestanden, uns vorstellen, in
welcher Weise sich die Hutabnahme des Fräulein A g als
eine staatsgefährliche Handlung hätte charakterisieren können. Die
Weimarer Polizei hat auch selber anerkannt, daß von Seiten des
Schutzmannes ein Mißgriff begangen worden, denn sie hat sich
dafür in loyaler Weise entschuldigt, und es ergibt sich aus dem
Vorfalle für alle Kollegen des berühmt gewordenen Schutzmannes
von Weimar die schöne Lehre, immer, wenn sie sich anschicken,
eine Dame anzusprechen, es sich vorher recht genau zu über-
zeugen. Es könnte sonst einer wieder an das so energische
Fräulein Dr. jur. A g geraten, was wir keinem wünschen
möchten. (Berliner Morgenpost.)
Chicago, III., Sept. 25.— Officers in command at Fort Sheri-
dan are discussing the propriety of seeking to arrest Mrs. Rufus
M. White as a deserter from the U. S. Army. Disguised in the
uniform pf a U. S. soldier they say that she enlisted and for
— 1230 —
the past three months has masquereded as a trooper. She lived
with her husband, who is a tailor at the fort, posing as his brot-
her. It was only through an accident to her 3-year-old daughter
that her sex was revealed. The child was hurt, and between its
sobs called the woman „mother". Mrs. White was excused by
the officers, and went to don garb becoming her sex. Instead
of returning she disappeared and is now technically a deserter
from the army. Mystery is added to the case by the fact that
she was allowed to enlist without her sex becoming known. 1t
is said that while the woman was at the fort she entered into "
the sports of the soldiers with all the zest possible to a man.
Eine Hochstaplerin in Männerkleidung wurde gestern von
einigen Privatdetektivs entlarvt. In der Familie des Medizinal-
rats E. in Ch. verkehrte seit einigen Monaten ein junger Student
der Medizin, der sich von Kaminski nannte und angab, ge-
bürtiger Pole zu sein. Vor etlichen Wochen machte nun der
Medizinalrat die unangenehme Entdeckung, daß ihm mehrere
teure chirurgische Instrumente sowie einige Schmuckgegenstände
von Wert abhanden gekommen waren, und sein Verdacht lenkte
sich auf den jungen Polen. Um sich darüber Gewißheit zu ver-
schaffen, betraute er ein Privatdetektivbureau mit der Beob-
achtung des jungen Studenten, dessen Wohnung der Familie des
Medizinalrats nicht einmal bekannt war. Schon nach wenigen
Tagen teilte ein Detektiv dem erstaunten Medizinalrat mit, daß
der angebliche Pole eine — Polin sei und bei einer Frau in der
Knesebeckstraße möbliert wohne. In Begleitung des Medizinalrats
begaben sich zwei Detektivs gestern vormittag zu dem Pseudo-
Studenten und entlarvten ihn als — Betrügerin. Von den gestoh-
lenen Schmucksachen fand man nichts mehr vor, wohl aber
sämtliche Instrumente. Die Hochstaplerin, welche sich unter
falschem Namen in Ch. aufhielt, verkehrte in Männerkleidung in
der besten Gesellschaft. (Die Weit am Montag.)
Eine drollige Verkleidungsgeschichte, die sich fast wie ein
gut erfundener Schwank erzählt, aber buchstäblich wahr ist, ist
dieser Tage in Lübeck passiert. In der vom Bahnhof in die
Stadt führenden Holstenstraße fiel einem Schutzmann ein sonder-
bares Pärchen auf, ein Landmann und ein als Künstler sich ge-
berdender Jüngling, der sich sehr aufgeräumt zeigte. Der Schutz-
mann vermutete in dem Jüngling eine Dame in Männerkleidung,
— 1231 —
folgte den beiden ungleichen Gesellen und lud sie, als sie in der
Nähe der Polizeihauptwache angelangt waren, zu einem Besuche
derselben ein. Hier wurde der Jüngling ersucht, seine Kopf-
bedeckung und eine Perrücke, sowie einen blauen Kneifer abzu-
nehmen. Zeigte sich der Landmann während der Einleitung zu
dieser Entkleidung sehr ungehalten, daß man seinen „Freund",
der auf einer benachbarten Station auf der Reise nach Lübeck
zu ihm ins Coupe gestiegen war, etwas energisch anfaßte, so
war es jetzt an ihm, den Dummen zu spielen. Aus der Entklei-
dung erstand niemand anders als — seine eigene Frau, die ihrem
Herrn Gemahl, der die Freuden des Weihnachtstrubels in Lübeck
allein genießen wollte unerkannt gefolgt war. Die geistigen
Gaben scheinen in dieser ländlichen Ehe — die Leutchen stammen
aus dem mecklenburgischen Orte Grevesmühlen — verschieden
verteilt. (Chan. n. z.)
Amerikanerinnen in Männerrollen. Vielleicht erinnert man
sich noch jener New- Yorkerin Namens Hall, die stets als Mann
gekleidet und nur als solcher bekannt, ja verheiratet, in der
städtischen Politik und in Kneipen eine Rolle spielte. Damals
handelte es sich um ein Kind des Volkes. Heute nun, — so
schreibt uns unser New-Yorker v. G.-Korrespondent — brachte
ein Dampfer aus Europa die Leiche der wohlhabenden Tochter
eines Offiziers in den Hafen, bei deren Tode im Bade erst kon-
statiert war, daß der angebliche Winslow Hall» (derselbe Name),
der in Männerkleidern als Gatte einer hübschen Italienerin reiste,
in Wirklichkeit Caroline Hall, eine alte Jungfer aus Boston war.
Die Italienerin gibt zu, seit Jahren als dessen „Gattin" gelebt zu
haben. „Er" habe sie, die arme Gouvernante, in Neapel kennen
und lieben gelernt und ihr die Welt gezeigt. In Europa seien
sie meist als Graf und Gräfin Cassini gereist, da „er" behauptet
habe, daß bei den Leuten der alten Welt ein „Graf* vor dem
Namen viel ausmache. Es scheint beinahe mehr bei denen
der neuen. (Beri. l.-a.) •
Über einen Raubanfall, den ein neunzehnjähriges Mädchen
in der Woche vor Ostern verübt hat, berichtet die „Augsb. Abend-
ztg." Der Bahnhofwirt in Otterfing, Emmeran Portenlänger, wurde
Morgens, als er noch im Bette lag, von einem Räuber angegriffen,
der mit einem schweren Maschinenhammer nach ihm schlug, ihn
aber nur auf Schulter und Arm traf. Auf das Geschrei des
— 1232 —
Wirtes sprang der Eindringling von der Altane und flüchtete in
den Frauenabort. Dort entpuppte sich der Räuber als die Tochter
des Stationsdieners , Marie Ecker aus Murnau. Sie war früher
Aushilfskellnerin bei Portenlänger und kannte das Haus. Nachdem
sie den Raubplan gefaßt hatte, verschaffte sie sich in München
Männerkleider, verbarg sich Nachts im Dachboden und schritt
dann in der Frühe zur Tat.
Marie-Louise et Louis-Marius. — La presse fran^aise s'est
dejä occupSe du cas curieux de cette jeune repasseuse d'Albi,
qui, vers Tage de dix-huit ans, s'est brusquement transformge en
un beau ganjon et a troqu£ ses jupes de jeune fille pour des
culottes viriles convenant desormais ä son sexe nouveau. Un
confrfcre parisien a interrogä ce jeune homme qui hier encore
etait une vierge timide et lui a demand£ les impressions qu 'avait
produites en son esprit sa subite m£tamorphose. Marie-Louise,
devenue aujourd'hui Louis-Marius, est un joli gar^on bien d^couple,
d'une taille de I m. 68 environ, ä figure douce, £clair6e par deux
grands yeux marron clair, les cheveux chätain, sans poitrine et
sans hanches, et qui ne semble pas le raoins du monde embarrass6
de son costume masculin. II a la voix claire d'un enfant, bien
qu'il aille sur ses dix neuf ans et qu'un soup^on de moustache
blonde orne sa tevre supärieure. II a fui Albi oü il 6tait l'objet
de la curiositG publique, pour se r£fugier chez un de ses oncles
ä Carcassonne; mais il lui tarde de recevoir ses parents: son
p&re, qui a ete 16g6rement estomaqu6 de se voir un fils quand
il s'6tait accoutum£ ä ch£rir une fille; sa mere, pour qui il a une
grande affection, et sa soeur ain6e, qui est une habile couturtere
d'Albi. Aussi quitte-t-il Carcassonne aujourd'hui pour rentrer dans
sa famille. „ — Je resterais bien ici, dit-il; mon oncle m'ap-
prendrait son mutier de plätrier, car je ne peux plus d£cemment
continuer ma profession de repasseuse; mais je languirais trop,
loin des miens. Je pense que les gar^ons d'Albi ne m'emböteront
pas; du reste, je suis d6cid£ ä leur rgpondre comme il faut. Et
Louis-Marius a un geste energique qui affirme manifestement sa
Virilit^; il serre le poing, un poing d'homme robuste qui n'a rien
de la dGlicatesse d'une main de femme. Y a-t-il longtemps qull
s'est senti un homme? Par bribes. Marius conte son histoire qui
a 6te jusqu'ä present celle d'une fillette sage: il a fr£quente l'ecole
des filles, a fait sa premi^re communion vetu de la robe de
mousseline blanche, a entrepris le metier de repasseuse qu'il
— 1233 —
exer£ait honnetement ä cöt£ de sa mere, allait ä la promenade
avec ses compagnes et vivait tranquille sans penser ä mal
„ — Cependant, vous Stiez une fille, vous deviez avoir des
amoureux. „ — Oh! r6pond Marius, je ne les 6coutais pas.
Marie-Louise ne fut jamais serr6e de pr£s par un galant. Et puis,
quelque chose troublait son äme: „ — II y avait bien deux ans,
ajoute le jeune homme, que je me sentais pousser des . . . ailes,
mais je n'osais le dire ä personne. Enfin tout recemment je m'en
suis ouvert ä ma m£re, mon pere a 6t6 mis au courant, on m'a
coup6 les cheveux, mis un pantalon, et voilä, je suis un homme
et j'en suis content. „ — Plus content que fille? „ — C'est que
je n'etais plus une fille depuis quelques mois, et j'avais peine ä
supporter mes jupes. „Et vos compagnes connaissaient-elles votre
6tat? Vous pouviez librement leur conter fleurette. „Oh! je n'en
ai jamais abuse. Louis-Marius est demeurS chaste. Nous avions
d'autres questions ä poser, mais il ne fallait pas effaroucher
davantage la pudeur de Marius qui pouvait se rebiffer et montrer
son poing, ce poing promis aux jeunes gens d'Albi trop curieux.
Puis le jeune homme n'aime pas les journaux, la presse a d£jä
trop parle de lui. Pour l'instant, il va se faire raser; la barbe lui
pousse et il ne veut garder que la moustache. Et il s'en va
gaillardement comme un homme qu'ü est, qu'ü est definitivement:
du moins il Pespere. (Beige.)
L'Homme-Femme. Dans ses „Echos", le Journal a signal6,
hier, le cas v6ritablement extraordinaire et quasiment unique d'une
femme hospitalis6e en ce moment ä Lariboistere, et qui cache
son identit6 sous des vßtements masculins, Or, cette femme, et
ce n'est pas lä la particularit£ la moins curieuse de son cas, exerce
le dur mutier de charretier. J'aurais voulu parier ä cette femme,
lui demander les raisons qui lui ont fait £changer ses habits
föminins contre la cotte et la vareuse du roulier; mais M. Faure,
directeur de Lariboisiere, n'a rien negligG pour sauvegarder
Tincognito de sa malade, et il a gtabli ä l'entour de son lit un
minutieux Service de surveillance. J'ai essay6 d'interroger M.
Faure; Taimable fonctionnaire s'est retranchS derri^re le secret
professionnel. Sa femme-roulier Va supplie de ne donner aucun
detail sur sa personnalitS; le directeur a promis et il tient parole . . .
Cependant, j'ai r6ussi ä me renseigner, j'ai vu la malade et, si
je ne Tai pas questionnee, c'est que je n'ai pas voulu troubler
son sommeil . . . L'homme-femme, „Monsieur Paul", c'est le nom
r- 1234 —
qui la däsigne sur les registres d'inscription, est soignee dans le
service du docteur Peyrot, dans la salle Denonvilliers. Monsieur
Paul n'est pas un inconnu ä Lariboistere : if y a quatre ans, le
docteur Peyrot l'a op6r6 pour un accident du genou. Aussi, mardi
dernier, lorsque Monsieur Paul, qui souffrait £norm£ment de son
ancienne blessure, se präsenta ä Lariboistere, il fit prävenir le
directeur, qui lui 6vita les formalitäs de la visite. Aujourd'hui,
^interessant sujet va beaucoup mieux et, dans le courant de la
semaine prochaine, Monsieur Paul aura repris son fouet, et,
certes, lorsque nous le rencontrerons dirigeant de lourds fardiers
ä travers les rues de la capitale, aucun de nous ne songera ä
suspecter son sexe. Cette femme est, en effet, une gaillarde,
taillee comme un väritable hercule, et eile se plait ä raconter
certaines de ses prouesses, certaines des altercations qu'elle eut
avec des hommes — de vrais hommes, ceux lä — et qu'elle vous
retourna comme un gant. Toute sa personne dänote la force
physique: ses mains sont larges et puissantes, les biceps Enormes .
et la töte, malgr£ l'absence de barbe ou de moustache, ressemble
plutöt, avec ses cheveux noirs et drus, tailles ä la Bressan, ä un
visage d'homme adulte. Et Monsieur Paul, qui vient d'entrer dans
sa vingt-cinquteme annee, s'offre chaque semaine le luxe d'une
söance chez le coiffeur, qui, malgr£ que l'utilit£ ne s'en fasse pas
sentir, promene son rasoir sur la face glabre de son client.
L'histoire de cette femme, de cette jeune fille? Elle est simple.
Tout enfant, eile fut trouvee par des rouliers et, comme on ne
put d6couvrir ses parents, les charretiers — de braves gens —
l'adopt&rent — ä plusieurs. Elle grandit tant bien que mal dans
les jambes des chevaux et, lorsqu'elle eut atteint sa cinqui&me
ann6e, eile Stait dejä grandelette. Ses p^res adoptifs, ä tour de
röle, remmen£rent, pour la distraire, faire avec eux leurs livraisons.
Et Tenfant s'eprit d'une veritable affection pour les chevaux. De
la vie, eile ne connaissait que les charretiers, qui la comblaient
de soins et de prGvenances, et leurs robustes percherons. On ne
songea jamais ä Tenvoyer ä l'Gcole, et eile — et pour cause —
ne le demanda pas. Elle ne sait, par cons£quent, ni lire ni ecrire,
mais eile n'en est pas moins tr&s intelligente, encore qu'un peu
libre d'allure et de langage. Un jour, Tenfant voulut conduire un
attelage. L'idee amusa ses parents adoptifs, hommes simples, et,
pour lui permettre cette expSrience, ils lui confectionnferent des
v£tements de jeune gar9on. La filierte recommen9a le lendemain
et les jours suivants et, depuis, eile n'a jamais plus quitt£ les
— 1235 —
habits masculins. Actuellement, Monsieur Paul est employe chez
un des plus importants camionneurs de Paris, et ses patrons,
ä tous les points de vue, sont satisfaits de ses Services. L'homme-
femme craint que ceux qui remploient, s'ils apprennent sa veri-
table identitS, ne le remercient. C'est justement pour cette raison
que la malade de Lariboisiere a supplie M. Faure de ne pas
d6voiler son incognito. Et puis Monsieur Paul a peur, si son
sexe est connu, d'etre en butte aux tracasseries et, aussi, aux
galanteries de ses camarades. Or, Monsieur Paul est sag£ et
veut rester sage ... Paul Erio.
(Le Journal, Paris.)
Un homme-femms ä Lariboisiere. 11 y a quelques jours, on
apportait ä l'höpital Lariboisiere un charrettier qui venait d'£tre
victime d'un accident assez grave. C'£tait un individu paraissant
äg6 d'une trentaine d'annSes, au masque glabre, aux traits accen-
tu£s, avec des cheveux tr6s noirs coupes drus, et pourvu de
muscles d'athl&te. Quelle ne fut pas la stup£faction des m£de-
cins chargSs d'examiner Pinconnu, en dexouvrant que ce fort
gaillard 6tait .... une femme! Et une femme possedant tous
les attributs de son sexe. Cet etrange personnage, qui a d'aüleurs
— tout comme Mme Dieulafoy — une permission en r£gle de
porter le costume masculin, repond au nom de Paul et feint de
ne pas entendre ceux des internes qui l'appellent Madame. II
serait interessant de savoir pour quel motif, et ä la suite de
quelles circonstances, cette femme a ete amen6e ä choisir le rüde
metier de charretier. (Le Journal. Paris.)
Ein Mann in Frauenkleidung wurde in der Nacht zum Donnerstag
um 3 Uhr vor dem Hause Luisenstraße 14 sinnlos betrunken auf-
gefunden. Die vermeintliche Frauensperson, die schönes langes
blondes Haar hatte und einen großen Federhut trug, wurde von
einem Schutzmann und einem Wächter in die benachbarte Charite
gebracht. Als man sie hier betten wollte, stellte sich heraus,
daß man es mit einem Manne zu tun hatte. Der Betrunkene
wurde nun nach dem Gewahrsam des Polizeipräsidiums gebracht.
(Berl. Morgenzeitung.)
Männer in Frauenkleidern. Vor kurzem starb in Freienwalde
ein 82jähriger Greis, der fast sein ganzes Leben lang Frauen-
kleider getragen hat. Der Mann, Namens Klemens Jung, hatte
Jahrbuch V. 78
— 1236 —
sich als junger Bursche bei einem unglücklichen Sturze eine
schwere Verletzung am rechten Oberschenkel zugezogen, so daß
ihm das Bein abgenommen werden mußte. Als er geheilt war,
schämte er sich, mit dem hölzernen Stelzbein vor den Leuten
herumzugehen und zog deshalb Frauenkleider an, durch die sein
Gebrechen mehr verhüllt wurde. Beinahe siebzig Jahre lang
ging der Mann, der von seinen Ortsgenossen „die alte Klementine"
genannt wurde, in Frauenkleidern einher. Es ist dies wohl die
seltsamste Ursache, wegen welcher ein Mann in seiner äußeren
Erscheinung sein starkes Geschlecht verleugnete. Indessen gab
es und gibt es wohl heute noch zahlreiche Männer, die — sei es
in einzelnen Fällen, sei es dauernd — Frauenkleider anlegten,
was für den gesunden und normal veranlagten Mann immer
etwas Verächtliches, Herabwürdigendes hat. Es hat Männer ge-
gegeben, die zu bestimmten Zwecken, so um ihre Verfolger auf
der Flucht zu täuschen, Frauenkleider für kurze Zeit anlegten.
So floh z. B. der bekannte holländische Gelehrte und Staatsmann
Hugo Grotius im Jahre 1621 in den Kleidern seiner hochherzigen
Frau aus dem Gefängnis und rettete sich nach Frankreich. Und
es hat andere Männer gegeben, welche zu anderen Zwecken der
Täuschung die Maske der Frau annahmen, sei es als Spione im
Kriege, sei es um Betrügereien auszuführen. So erregte bei-
spielsweise im Jahre 1807 in England ein Gauner großes Auf-
sehen, der sich in Damenkleidung bewegte und insbesondere
in Postwagen bei vornehmen Herren Diebstähle ausführte, nach-
dem er die betreffenden Opfer zu allerlei Liebenswürdigkeiten
und zärtlichen Annäherungen veranlaßt hatte. Und derartige
Gauner sind wohl oftmals vor- und nachher in großer Zahl bis
auf unsere Zeit aufgetreten. Weit interessanter aber ist das
Gebiet der Männer in Frauenrollen auf der Bühne. In unserer
heutigen Zeit wirkt die Darstellung einer Frauenrolle durch
einen Mann, wenn nicht gar unästhetisch so doch höchst komisch,
und nur zu komischen Zwecken legt der männliche Darsteller
auf der Bühne Frauenkleider an. Besondere Sensation erregte
in dieser Beziehung der Schwank „Charleys Tante", der vor
zehn Jahren etwa von England nach Deutschland importiert
wurde und noch heute manchmal gegeben wird, weil die männ-
liche Hauptrolle, eine Verkleidungsrolle, ungemein komisch wirkte.
Auch in den Vari6t6bühnen treten oftmals Komiker in Damen-
kleidung auf, doch wirken diese sogenannten Damenimitatoren
zumeist unästhetisch und widerlich. Der Unterschied zwischen
— 1237 —
diesen und den Darstellern der Hauptrolle von „Charleys Tante"
liegt freilich auf der Hand. Die letzteren wollen keine Frau in
Wirklichkeit darstellen, das Publikum, das die Intrigue des
Stückes kennt, ergötzt sich daran, wie im Stücke eine Person
gefoppt wird dadurch, daß ein Mann,, der jedem Zuschauer als
Mann bekannt und erkennbar ist, sich für eine Frau ausgibt.
Je weniger dieser Komiker wirklich als Frau erscheint, je mehr
seine linkischen Bewegungen in den Frauenkleidern das Publikum
immer wieder an den Mann erinnern, je komischer ist die
Wirkung der Rolle. Anders bei den Damenkomikern und
Damenimitatoren, bei deren Auftreten der Witz darin liegen soll,
daß sie durch Stimme, äußere Erscheinung und Allüren voll-
kommen den Mann zu verleugnen suchen und als Frau auftreten,
um plötzlich dann am Schlüsse ihrer Vorführung durch Rückfall
ins männliche Organ sich als Männer zu decouvrieren. Alles das
wirkt auf das feinere ästhetische Empfinden des modernen Ge-
schmacks widerlich. Das ist nun freilich nicht immer der Fall
gewesen; die Anschauungen haben in dieser Beziehung voll-
kommen gewechselt. Es hat eine Zeit gegeben, wo die Bühne
überhaupt von Frauen nicht betreten wurde und Männer in weib-
lichen Rollen auftraten, Das englische Theater z. B. wurde erst
ungefähr im Jahre 1670, unter Karl IL, von Damen betreten, deren
Rollen bis dahin von Knaben und dem Alter dieser nahe-
stehenden Jünglingen gespielt worden waren. Der letzte Schau-
spieler, welcher sich in weiblichen Rollen als Knabe berühmt
gemacht hatte, so daß er der Liebling aller Damen war, lebte
noch weit ins 18. Jahrhundert hinein und hieß Kynaston. Häufig
fuhren die vornehmsten Ladys, wenn er die Rolle der Julia oder
Cordelia gespielt hatte, mit ihm im Hydepark umher und weideten
sich an seiner Grazie, Zurückhaltung und dem schönen Anstände,
sowie an der Täuschung, von welcher das große Publikum be-
fangen war, wenn es den Knaben für eine junge reizende Miß
hielt. Als endlich in England auch die Frauen die Bühne be-
traten, erregte es zuerst sittliche Entrüstung, und ein Epigramm
aus jener Zeit lautet:
Da jetzt die Tugend farblos geht
Und's weibliche Geschlecht selbst ohne Scham dasteht,
So hat es sich den Männern zugesellt,
Und tritt nun im Theater auf fürs Geld.
In Italien hatte sich die Sitte noch am längsten erhalten;
noch im 19. Jahrhundert, und in der Oper bis unsere Zeit hinein
78*
— 1238 —
wurden Frauenrollen von Männern gegeben. Goethe widmete bei
seinem zweiten Aufenthalt in Italien im Jahre 1790 dieser selt-
samen Erscheinung eine längere Betrachtung. „Es ist kein Ort
in der Welt," so meint er, „wo die vergangene Zeit so unmittel-
bar und mit so mancherlei Stimmen zu dem Beobachter spräche,
als Rom. So hat sich auch dort unter mehreren Sitten zufälliger
Weise eine erhalten, die sich an allen Orten nach und nach fast
gänzlich verloren hat. Die Alten ließen, wenigstens in den besten
Zeiten, keine Frau das Theater betreten. Ihre Stücke waren ent-
weder so eingerichtet, daß Frauen mehr und weniger entbehrlich
waren, oder die Weiberrollen wurden durch einen Akteur vor-
gestellt, welcher sich besonders darauf geübt hatte. Derselbe
Fall ist noch in dem neueren Rom und dem übrigen Kirchen-
staat, außer Bologna, welches unter anderen Privilegien auch die
Freiheit genießt, Frauenzimmer auf seinen Theatern bewundern
zu dürfen." Goethe findet die Ursache der Erscheinung, daß sich
in Rom die Sitte am längsten erhalten habe, darin, daß „die
neueren Römer überhaupt eine besondere Neigung haben, bei
Maskeraden die Kleidung beider Geschlechter zu verwechseln".
„Im Karneval", so erzählt er, „ziehen viele junge Burschen im
Putz der Frauen aus der geringsten Klasse umher, und scheinen
sich gar sehr darin zu gefallen. Kutscher und Bediente sind als
Frauen oft sehr anständig und, wenn es junge, wohlgebildete
Leute sind, zierlich und reizend gekleidet. Dagegen finden sich
Frauenzimmer des mittleren Standes als Pulcinelle, die vorneh-
meren in Offizierstracht gar schön und glücklich. Jedermann
scheint sich dieses Scherzes, an dem wir uns alle einmal
in der Kindheit vergnügt haben, in fortgesetzter jugendlicher Tor-
heit erfreuen zu wollen. Es ist sehr auffallend, wie beide Ge-
schlechter sich in dem Scheine dieser Umschaffung vergnügen,
und das Privilegium des Tiresias so viel als möglich zu usur-
pieren suchen." „Ebenso haben", so sagt Goethe dann weiter,
„die jungen Männer, die sich den Weiberrollen widmen, eine
besondere Leidenschaft, sich in ihrer Kunst vollkommen zu zeigen.
Sie beobachten die Mienen, die Bewegungen, das Betragen der
Frauenzimmer auf das Genaueste: sie suchen solche nachzu-
ahmen, und ihrer Stimme, wenn sie auch den tiefen Ton nicht
verändern können, Geschmeidigkeit und Lieblichkeit zu geben;
genug, sie suchen sich ihres eigenen Geschlechts so viel als
möglich zu entäußern. Sie sind auf neue Moden so erpicht, wie
Frauen selbst; sie lassen sich von geschickten Putzmacherinnen
— 1239 —
herausstaffieren, und die erste Aktrice eines Theaters ist meist
glücklich genug, ihren Zweck zu erreichen. Was die Nebenrollen
betrifft, so sind sie meist nicht zum besten besetzt; und es ist
nicht zu leugnen, daß Colombine manchmal ihren blauen Bart
nicht völlig verbergen kann. Allein es bleibe auf den meisten
Theatern mit den Nebenrollen überhaupt so eine Sache ; und aus
den Hauptstädten anderer Reiche, wo man weit mehr Sorgfalt
auf das Schauspiel wendet, muß man oft bittere Klagen über
die Ungeschicklichkeiten der dritten und vierten Schauspieler, und
über die dadurch gänzlich gestörte Illusion vernehmen. Ich be-
suchte die römischen Komödien nicht ohne Vorurteil; allein icli
fand mich bald, ohne daran zu denken, versöhnt; ich fühlte ein
mir noch unbekanntes Vergnügen, und bemerkte, daß es viele
andere mit mir teilten. Ich dachte der Ursache nach, und glaubte
sie darin gefunden zu haben, daß bei einer solchen Vorstellung
der Begriff der Nachahmung, der Gedanke an Kunst, immer leb-
haft blieb, und doch das geschickte Spiel nur durch eine Art
von selbstbewußter Illusion hervorgebracht wurde. Wir Deutschen
erinnern uns, durch einen fähigen jungen Mann alte Rollen bis
zur größten Täuschung vorgestellt gesehen zu haben, und er-
innern uns auch des doppelten Vergnügens, das uns jener
Schauspieler gewährte. Ebenso entsteht ein doppelter Reiz da-
her, daß diese Personen keine Frauenzimmer sind, sondern
Frauenzimmer vorstellen. Der Jüngling hat die Eigenheiten des
weiblichen Geschlechts in ihrem Wesen und Betragen studiert;
er bringt sie als Künstler wieder hervor; er spielt nicht selbst,
sondern eine dritte und eigentlich fremde Natur. Wir lernen
diese dadurch nur desto besser kennen, weil sie jemand beob-
achtet, jemand überdacht hat; und uns nicht die Sache, sondern
das Resultat der Sache vorgestellt wird." Goethe schildert dann
im weiteren noch, wie er die Locandiera von Goldoni von einem
Jüngling dargestellt gesehen habe; die Rolle ist durch die Düse
in Deutschland vielfach bekannt geworden — und Goethe meint,
daß gerade in dieser Rolle, in der die unmittelbare Wahrheit
durch eine Darstellerin vielfach empören müsse, ein männlicher
Darsteller mit. seiner Nachahmung mehr befriedige, und kommt
zu dem Schluß, daß, „wenn nicht jeder sich daran ergötzen sollte,
so findet der Denkende doch Gelegenheit, sich jene Zeiten ge-
wissermaßen zu vergegenwärtigen, und ist geneigter, den Zeug-
nissen der alten Schriftsteller zu glauben, welche uns an mehreren
Stellen versichern: es sei männlichen Schauspielern oft im
— 1240 —
höchsten Grade gelungen, in weiblicher Tracht eine geschmack-
volle Nation zu entzücken." Indessen hat man sich in Deutsch-
land zu Goethes Zeiten schon lange von solchen Anschauungen
entwöhnt, wie bekanntlich überhaupt die wenig naturwahre Bühnen-
kunst Weimars stets angefochten wurde. Schon zu Goethes
Zeiten benutzte man die Darstellung von Frauenrollen durch
Männer, ebenso wie die sogen. Beinkleiderrollen der Frauen, um
Heiterkeit zu erregen, und einige Jahre nach Goethes Tode war
es einer der tollsten Bühnenschwänke, der auf allen deutschen
Bühnen die größte Heiterkeit erregte, Das Fest der Handwerker,
dieses noch heute zuweilen gegebene Possenstück „mit ver-
kehrter Besetzung0 darzustellen, d. h. die Männerrollen durch
Frauen, die Frauenrollen durch Männer geben zu lassen, und bis
in unsre Tage tauchte von Zeit zu Zeit solche Harlekinade auf,
in denen der Komiker sich Frauenkleider anlegte. Kurz vor
Charleys Tante wurde ein deutscher Schwank, betitelt Ameri-
kanisch, gegeben, in dem mit demselben Mittel der gleiche
komische Effekt erzielt wurde. Im Cirkus und auf der Speziali-
tätenbühne soll es übrigens heute noch nicht selten vor-
kommen, daß Männer in weiblicher Verkleidung in allen mög-
lichen Künsten sich zeigen. Bei einem Cirkus wirkte auch der
bekannte Cirkusschriftsteller Emil Mario Vacano einst als „Signora
Sanguetta«. Der seltsamste Mann, der je in Frauenkleidern
lebte, war der bekannte Chevalier d'Eon, von dem es freilich
nicht ganz feststeht, ob er eine Frau oder ein Mann gewesen,
Die neuesten Forschungen neigen der zweiten Annahme zu.
zu. Er wurde im Jahre 1723 zu Tonnerre in Bourgogne geboren
und wurde, nachdem er die Rechte studiert hatte, vom Prinzen
Conti dem König Ludwig XV. für den diplomatischen Dienst em-
pfohlen. Bei verschiedenen Gelegenheiten trat er schon in diesen
diplomatischen Missionen, die ihm nun übertragen wurden, in
Frauenkleidung auf. Später muß er auf ausdrücklichen Befehl
Ludwigs XVI. weibliche Kleidung dauernd tragen. Seit dem
Jahre 1784 lebte er wieder in London und ernährte sich durch
Fechtunterricht, doch ging er stets in Damenkleidern, glich auch
in seinem völlig bartlosen Gesicht und mit seiner zarten Gestalt
einem Weibe. Er starb in London im Jahre 1810. Völlig auf-
gelöst ist das Rätsel seines Lebens nie, und wenn auch festzu-
stehen scheint, daß er zu den Männern gehörte, die in Weiber-
kleidern einhergingen, so bleibt es umsomehr rätselhaft, warum
dies geschehen. (Kölnische Volkszeitung.)
— 1241 —
Ein Betrüger in Frauenkleidern. Gestern nachmittag betrat
eine feingekleidete Dame den „Alsterpark" und ließ sich zwei-
mal Rühreier mit Schinken und Spargel vorsetzen. Hierauf ver-
langte und erhielt sie Kaffee. Nachdem sie einen Brief geschrieben,
bat sie den Hauskellner, er möge ihrem draußen wartenden
Kutscher auch Kaffee und Kuchen bringen. Während der Kellner
diesen Auftrag ausführte, lief die Person aus dem Garten. Als
ein Kassierer sie anhielt, bat sie, er möge sie doch laufen lassen,
sie komme gleich wieder und dann erhalte er ein feines Trink-
geld. Als der Kassierer sie genauer betrachtete, entdeckte er,
daß ein Mann in den Kleidern steckte. Bald danach kamen der
Hauskellner und der Droschkenkutscher gelaufen und fragten nach
der Dame. Als man ihnen sagte, diese sei schnell weggelaufen,
erzählten die beiden, es sei ein Mann, der in den Frauenkleidern
stecke. Der Gauner habe den Kellner um 10 Mk. und den
Droschkenkutscher um 18 Mk. Fahrgeld betrogen. Auf dem
Tische, an dem der Schwindler gegessen hatte, hatte er einen
Brief liegen lassen, der an einen Offizier in einem hiesigen
Hotel gerichtet war. Der Brief enthielt die Worte, daß die
Schreiberin nicht mehr länger mit ihm leben könne und sich
töten wolle. (Hamburger Echo.)
Spremberg i. L., 12. Juni. Unter der Stichmarke: „Ein
Mann in Frauenkleidern" schreibt man uns: Verschiedene Per-
sonen unsrer Stadt ist in letzter Zeit eine weibliche Person auf-
gefallen, Witwe Hedwig Fischer, geb. Adler aus Königsbrück mit
Namen, von der man annehmen mußte, daß sie keine Frau sei.
Auch unserer Polizei war die Sache verdächtig vorgekommen.
Man ging demnach der Sache auf die Spur. Es wurden Erkun-
digungen eingezogen, und nach der heute vorgenommenen Ver-
handlung wurde durch einen Zeugen festgestellt, daß die Hedwig
Fischer, die am 27. Mai 1850 in Königsbrück geboren sein will,
der am 28. September 1845 in Großenhain geborene Weber
Julius Wilhelm Paul Fischer ist. Er war, wie weiter ermittelt
wurde, in Großenhain verheiratet, lebte seit einigen Jahren aber
von der Frau wegen Ehezwistigkeiten getrennt und ist, wie er
angibt, zu dem Schritte der Verkleidung gekommen, um dadurch
ein besseres Fortkommen zu haben. Der Weber Fischer ist, wie
ferner festgestellt wurde, in Posen bereits seit ein paar Jahren
als Kinderfrau in Stellung gewesen. Im großen Ganzen macht
— 1242 .—
er äußerlich nicht den Eindruck eines Mannes, da er eine Perrücke
und stets einen Korb bei sich trug. (Frankf. Oder-ztg.)
Wien: In einem Vorstadtspital lebt noch heute ein altes
Mütterchen, die einst bessere Tage gesehen und auf den Brettern
der Vari6t6s reichen Beifall geerntet hat. Sie verdankt ihre Er-
folge ihrem eigenartig männlichen Wesen, das sie befähigte, als
Volkssänger aufzutreten. Hinter dem schnurrbärtigen Manne mit
der sonoren Tenorstimme und den vollkommen natürlichen
energischen Bewegungen hatte wohl niemand das Weib ver-
mutet, und mancher ihrer Bewunderer war lange Zeit hindurch
der Meinung, daß „die" Pepi wirklich „der" Pepi wäre. Das
fortschreitende Alter hinderte Josephine Schmeer, so ist Pepis
eigentlicher Name, ihre natürliche Veranlagung im Dienste einer
Kunst zu verwerten, die so recht bezeichnend war für das lustige
Treiben der alten Kaiserstadt.
Josephine oder Pepi Schmeer, der weibliche Fürst, ist
ins Versorgungshaus gegangen und beim „Blauen Herrgott41,
dem freundlichen Greisenasyl der Mutter Vindobona, wird
sie ruhig ihre Tage beschließen. Sie hat schöne Tage ge-
sehen, die Pepi Schmeer, denn sie war eine ganz originelle
Erscheinung auf dem Brettl. Viele von denen, deren Beruf
es war, in der schönen Stadt am blauen Donaustrande zu singen
und zu sagen, haben unter dem schützenden Obdach des „Blauen
Herrgott" ihren letzten Seufzer ausgehaucht, denn dem Volks-
barden flicht schon die Mitwelt keine Kränze. Die Schmeer hieß
der „weibliche Fürst11. Als sie vor 40 Jahren in kleinen Rollen
im Pratertheater spielte, imitierte sie den Direktor so täuschend,
daß man, wenn sie ungesehen blieb, den Fürst zu hören glaubte.
Und sie blieb der „weibliche Fürst" auf allen Plakaten, in denen
sie das Publikum zu ihren Soireen einlud. Sie trat immer in
Männerkleidern auf. Man sagte, sie hätte eine spezielle Be-
willigung der Polizei hierbei gehabt. So lange sie jung, ge-
schmeidig und fesch war, bildete das Mädchen in Männerkleidern
eine Anziehungskraft. Sie soll auch zu Hause lieber in Männer-
kleidern gegangen sein, als in weiblicher Toilette. Ursprünglich
Tänzerin, brachte sie es bis zur Balletmeisterin und wurde später
Volkssängerin. Zuerst trat sie in Budapest auf und kam dann
nach Wien. Die Grazie und die Anmut ihrer Bewegungen ließen
sofort die einstige Tänzerin erraten. Mit einem Liede machte sie
Furore in Wien und die ganze Wienerstadt sang es ihr nach, bis
— 1243 —
heute ist es ein geflügeltes Wort im Wiener Dialekt geblieben:
„Außi möcht' i geh'n«. Das sang sie unnachahmlich. Das waren
ihre besten und schönsten Tage, als Alle dieses Lied von ihr
Volkssänger Josefine Schmeer.
hören wollte. Vor etwa zehn Jahren wurde sie vom Schlage ge-
rührt und die braven Kollegen und Kolleginnen mußten der Vete-
ranin des Brettls zu Hilfe eilen. Sie trat dann einige Male wieder
— 1244 —
auf, aber ihre Kraft war gebrochen und so sah sie sich endlich
genötigt, ins Versorgungshaus zu gehen. In der Geschichte des
Wiener Volkssängertunis wird man Josephine Schmeer, den weib-
lichen „Fürst", nicht vergessen dürfen, und diejenigen, die sie in
ihrer Blütezeit gekannt, werden nicht ohne Teilnahme von ihrem
Geschicke erfahren. (Der Artist, Düsseldorf.)
Hid his sex f or thirty Years. Rockland. The person supposed
to be Lillian G. Carver of North Haven is in reality Arthur L.
Carver. „Lillian G. Carvera for thirty years has lived in North
Haven with „her" parents, and for some years past has conducted
a candy störe and barber shop. „Miß Carver" is dired of mas-
querading under the female guise, evidently judging from this
affidavit: „Having been known in North Haven, Me. (my birth-
place and home for thirty years) as a female by the name of
Lillian G. Carver, I do hereby publicly declare thad I have been
masquerading, and for more than ten years against my wishes.
Force of habit, filial regard and dread of the necessary Sensation
attendänt upon such a step have prevented me from doing my
duty, which now, as a Christian, I undertake to do. My real name
is Arthur Leslie Carver and I am a man. „Arthur L. Carver."
„Wittness: Lyman R. Swett, Boston, Nov. 16, 1901. „Mrs. Martha
E. Carver, George E. Carver, Rockland, Dec. 10, 1901."
„Evaa Humbert ein — Mann? Die geniale Frau Humbert,
welche durch ihre Schlauheit so viele, viele Millionen von ver-
trauensseligen Landsleuten einzuheimsen wußte, wird jetzt eines
neuen originellen Schwindelmanövers bezichtigt. Man vermutet
nämlich, sie habe ihr Eva genanntes Kind fälschlich als Mädchen
ausgegeben, um gewisse Zwecke bei der Ausbeutung des Mär-
chens von der Millionenerbschaft zu erreichen. Ein Privattele-
gramm berichtet uns: Paris, 29. Mai, 2 Uhr 5 Min. Nachmittags.
(Von unserem u.-Correspondenten.) Von Personen, welche mit
der Familie Humbert eng befreundet waren, liegt eine Erklärung
vor, daß „Fräulein Eva Humbert", deren auffallend hohe Gestalt
und ganz unweiblich klingende Stimme jedermann befremdeten,
männlichen Geschlechtes sei. Als Motiv dieses Betruges wird
angegeben, daß schon vor Geburt dieses Kindes der Crawford-
Schwindel eingeleitet war. Nach dem ursprünglichen Plane hatte
der alte Crawford die Tochter des angebeteten, aber leider einem
Anderen vermählten Weibes (der Frau Humbert) zur Erbin der
— 1245 —
Hundert Millionen unter der Bedingung eingesetzt, daß das junge
Mädchen als Achtzehnjährige den Neffen des Erblassers heirate.
Und zur Durchführung dieser romantischen und rührenden Kom-
bination hatte, - vermutet man, Frau Humbert das Taufregister
fälschen lassen. (Beri. L.-Anz.)
L'habit ne fait pas le moine Dimanche dernier un
gar$on de cafe, imberbe, proprement v£tu, s'etait presente au
commissariat du quartier du Palais-Royal, rue des Bons-Enfants.
Apres avoir d6clar6 s'appeler Ernest Palier, äg& de vingt-huit ans,
demeurant rue du Cloltre- Saint- Honore, il s'etait plaint d'avoir
et6 victime d'un vol assez important de la part d'une femme,.
Euge'nie Chevalier. Je ne demande qu'une chose, avait ajoute
Palier, c'est qu'elle me rende mon argent. Si eile consent ä
cette restitution, je retirerei ma plainte. Fort bien, r6pondit M.
Egartheler, mais vous oubliez d'indiquer l'adresse de cette femme?
Elle habitait le meme hötei que moi, dit le gar$on de cafe, et
hier eile a demenage ä la cloche de bois. J'ignore oü eile se
trouve actuellement. Je vais la faire rechercher. De votre cöt6,
si vous apprenez du nouveau, vous voudrez bien, je vous prie,
m'en avertir. Hier matin, Ernest Palier retournait rue des Bons-
Enfants et disait au commissaire: Je viens de retrouver ma
voleuse. Elle est en place rue Vivienne. M. Egartheler se fit
aussitöt amener Eugänie Chevalier par un de ses inspecteurs.
Celle-ci entra dans un acces de colere folle en apercevant le
gar$on de cafe: Comment, s'ecria-t-elle, tu as os£ deposer une
plainte contre moi? Eh! bien, tu vas me le payer. Je vais tout
dire. Et, se tournant vers le magistrat: Ernest Palier n'est pas
un homme, mais une femme, dit-elle. Ernest Palier s'appelle
Marie Duval. Comme eile se trouvait sans travail, il y a trois
mois, eile a eu l'idäe de se faire couper les cheveux et d'endosser
le costume masculin. Depuis lors, eile sert d'extra dans les
cafes. On juge de P&onnement de M. Egartheler ä cette
r£v£lation inattendue. Le ganzem de cafe avait bl£mi. II dut
finir par avouer, ä sa grande confusion, qu'Eugenie Chevalier
avait dit la v6rit£: C'est vrai, balbutia-t-il, je suis une femme.
Quel mal y a-t-il ä cela, d'ailleurs? Aucun, rgpondit M. Egartheler;
seulement, je me vois neanmoins contraint de vous dresser
contravention. C'est le sourire aux levres — Fäpre sourire de la
vengeance — qu'Eugenie Chevalier est mont6e dans le panier ä
salade pour se rendre au Depot.
— 1246 —
Who is „Mr." Harry Hight? Special to the Post-Dispatch.
Springfield, HL, Sept. 25.— Mystery surrounds the identity of a>
joung woman, attired in male clothing, arrested in this city by
the police. The woman gives her name as „Harry Hight", and
says she is from St. Louis. The St. Louis police assert that no
person of her description is known to them. The arrest here
was made upon Information received from Litchfield notifying
the police of this city to look out for the masquerader. The
woman was turned over to Chief of Police Herring. Questions
were immediately plied concerning her name, her home and her
purpose in going about in male attire. A smile stole over her
•face as she replied, „My name is Harry Hight. I have been
stopping for seven weeks in St. Louis. I am now in Springfield
and expect to remain here a short time. As to my home or who
my relatives are you will have to guess.a „Well, are you a man
or a woman?" asked Officer Jones. „I am a man, and I wish
you would address me as Mr., if you please," responded the
prisoner. Effort after effort was tried to make her disclose her
identity, but the woman only laughed at the officers. She was
good-natured about everything. The officers examined her
clothes and found that what she wore was new. She was
attired in a blue serge suit, wore a black stiff hat, a high turned-
down collar with a polka dot tie. Her shoes were light in
weight, but patterned after a man's shoe. In the crown of her
hat was the inscription: „Bulwer & Co." and „W. B. & Mc Hat Co.",
St. Louis, Mo. Two envelopes addressed to Col. A. H. Wheat
of Litchfield, and to J. W. Dean of Tower Hill were found in
her possession. After this examination was made and another
effort was tried to get the prisoner to talk, she was locked up
in the woman's departement of the city prison. An examination
of a fine alligator skin travelling bag, which the woman carried,
was then made. In it was a lady's tailormade black suit, two
silk skirts, a jacket and underskirt, a spectacle case, some powder,
a curling iron and a bottle of paregoric. The label on the bottle
bore the name Rüssel Riley, 1400 Olivestreet, St. Louis. On
the sqectacle case was the name, „C. W. Beardsley", jeweler and
optician, Litchfield, III. The prisoner was photographed and took
her place before the camera without any protest. When it was
over she laughed and said she hoped every one was now satisfied.
The self-styled Mr. Hight is about 5 feet 7 inches tall and weighs
about 125 pounds. She is a blonde ande fairly good looking.
— 1247 —
Her hair has been blondined and is parted on one side. Her
teeth are pretty. Four have gold crowns on them and some of
the Oders are filled witth gold. The prisoner will be kept in the
city prison for a few days on suspicion. At the end of this time
if nothing can be found out conceraing her career she will be
prosecuted on a Charge of masquerading in male attire. The
officers hope to plan a mode of procedure that will assist in
getting her to throw off the mask. — The Mystery at Litchfield.
Special to the Post-Dispatch. Litchfield, 111., Sept. 25.— Saturday
evening about 7 o'clock two persons registered at the Blacburn
Hotel of this city, under de names of J. Howard, St. Louis, and
Harry Hight, St. Louis. The elderly gentleman was about 6 feet
tall, about 50 years of age and wore very nice and well kept
Van Dyke whiskers. They occupied the same room in the hotel
Saturday night, and the old gentleman left on Sunday morning,
stating that Higbt would leave on Tuesday morning. Before the
departure of Hight for Springfield it was suspected that she was
a woman, and, alter he had gone, the Springfield police were
notifid.
In Lemberg wurde ein in einem Hotel bediensteter Kellner,
der auf den Namen Michael hörte, wegen Führung eines falschen
Dienstbuches mit drei Tagen Arrest bestraft. Es stellte sich
nämlich heraus, daß Michael ein verkleidetes Mädchen war. Als
zehnjähriges Kind war Michaeline aus dem Elternhaus entflohen
und hatte als Bursche verkleidet eine Stellung angenommen.
Am Silvesterabend gegen 7 Uhr erregte in Altenburg unterm
Schloß ein Frauenzimmer in Männerkleidern berechtigtes Auf-
sehen und Ärgernis, zumal es betrunken war. Ein hinzugerufener
Schutzmann brachte das Frauenzimmer in sicheren Gewahrsam.
(Geraer Zeitung, Gera-Reuß.)
Über die Eheschließung zwischen zwei Mädchen, die, wie
bereits telegraphisch gemeldet wurde, in Spanien das größte Auf-
sehen erregte, liegen jetzt ausführliche Mitteilungen vor. Aus
Madrid wird nämlich geschrieben: Unter der. Bevölkerung von
La Corunna herrscht gegenwärtig große Aufregung über ein Er-
eignis, das einem phantastischen Romane zu entstammen scheint;
handelt es sich doch um die bürgerliche und kirchliche Ehe
zwischen zwei Mädchen, die erst vor wenigen Tagen vollzogen
— 1248 —
wurde und plötzlich, man weiß nicht wie, ans Tageslicht gekommen
ist. Die Geschichte des Verhältnisses der beiden Frauen ist
folgende: Anfangs der achtziger Jahre des verflossenen Jahr-
s hunderts besuchten die beiden jungen Mädchen Marcela Gracia
Ibaas und Elisa Sanchez das Lehrerinnen - Seminar in La
Corunna. Zwischen beiden Mädchen entspann sich eine intime
Freundschaft, welche wegen ihres seltsamen Charakters den Eltern
i der jungen Marcela ein Gräuel war. Alle Warnungen, die an
| Marcela gerichtet wurden, waren vergeblich; sie wollte den Ver-
kehr mit der gefährlichen Freundin nicht abbrechen. Selbst ein
ausdrückliches Verbot blieb fruchtlos. Marcela ließ sich voll-
j ständig von ihrer Sappho beherrschen und vernachlässigte ihre
! Eltern. Um dem Treiben seiner Tochter ein Ende zu machen,
i ließ sich ihr Vater, ein Hauptmann, nach Madrid versetzen. Nach
Jahren trafen die beiden Mädchen — Marcelas Vater war ge-
storben — wieder in La Corunna zusammen, um jsich nicht wieder
| zu trennen. Elisa Sanchez gab ihre Lehrerinnenstelle auf und zog
zu ihrer Freundin Marcela, die in der Nähe von La Corunna als
Lehrerin angestellt war. Vor einigen Monaten kam Elisa auf den
tollen Gedanken, mit ihrer Freundin eine Ehe in aller Form ein-
zugehen. Sie stellte sich in Männerkleidern bei einem Geist-
lichen in La Corunna vor und bat ihn, sie zu taufen; dies sei
nämlich früher aus Rücksicht auf die religiösen Anschauungen des
Vaters unterlassen worden; sie sei in London erzogen worden,
aber sie wünsche dem katholischen Glauben Treue zu schwören,
um sich mit der Marcela Gracia, die dem Geistlichen sehr gut
bekannt war, zu verheiraten. Das Benehmen des angeblichen
Mannes war ein derartiges, daß der Geistliche nichts Böses ahnte
und nach einer sehr erfolgreichen Unterweisung in der katholischen
Lehre am 26. Mai den 38jährigen „Mann" auf den Namen Mario
Jos£ Sanchez taufte. Mittlerweile hatte der falsche Mario Sanchez
die Eheschließung mit Marcela Gracia vorbereitet. Da alle Doku-
mente in bester Ordnung und das Aufgebot in formeller Weise
erledigt war, stand der Ehe nichts mehr im Wege. Am 8. Juni
fand die Eheschließung in aller Form statt; ein Verwandter des
„Bräutigams" war einer der Trauzeugen. In diesen Tagen nun
lief bei dem Geistlichen, der den angeblichen Mario getauft und
getraut hatte, eine regelrechte Anzeige ein, nach welcher er und
alle an den religiösen Handlungen beteiligten Personen das Opfer
eines frechen Betruges geworden waren. Der Geistliche übergab
die Anzeige dem Staatsanwalt, der jetzt das weitere veranlaßte.
— 1249 —
Das junge Ehepaar, das sich den Freuden des Honigmondes
hingab, wurde verhaftet. Einer leiblichen Untersuchung durch
den Gerichtsarzt widersetzte sich Mario Sanchez, so daß „er"
mit Gewalt dazu gezwungen werden mußte. Das Ergebnis der
Untersuchung war derart, daß das Ehepaar ins Untersuchungs-
gefängnis geschickt wurde. Eigenartig ist es, daß der Verwandte
des falschen Mario sich von dieser Person hatte täuschen lassen,
obwohl er sie bisher stets als Frau gekannt hatte. Er entschuldigt
sich jetzt damit, daß seine Verwandte ihm eine hochromantische
Geschichte erzählt habe, wodurch allerdings das Andenken ihres
Vaters entehrt wurde. Die Mutter wußte von dem Treiben ihrer
Tochter nichts, sie wohnt in Santiago und erfreut sich dort all-
gemeiner Achtung.
Hartnäckiger Erpresser. Mit dem Schmiedgesellen Sebastian
Lieb dahier hatte sich ein zeitweise hier wohnender, in der Pro-
vinz begüterter Adeliger in unsaubere Geschichten eingelassen.
Diesen Umstand benützte Lieb seit einigen Jahren, an dem Herrn
Baron ergiebige Erpressungen vorzunehmen. Im Jahre 1900 erbat
er sich ein Darlehen von 150 Mk., zuerst höflich, dann unter der
versteckten Drohung, die vorgekommenen Geschichten der Frau
Gemahlin des Herrn Baron, ja der Polizei mitzuteilen. Durch
Vermittlung eines hiesigen Rechtsanwalts erhielt Lieb die nach-
gesuchten 150 Mk. Eine Zeit lang hatte der Herr Baron Ruhe,
dann fing Lieb wieder zu bohren an und ging in seinen Briefen
in äußerst raffinierter Weise zu Werke. Er erhielt öfters Geld-
beträge und verlangte schließlich 5—600 Mk. zur Auswanderung
nach Amerika. Es wurde ihm auch eine nicht unbeträchtliche
Summe zugesichert, die er jedoch erst in Hamburg in Empfang
nehmen konnte. Lieb fuhr zwar nach Hamburg, nicht aber nach
Amerika; er wurde wasserscheu, kehrte wieder um und setzte
seine Erpressungen fort, die den Herrn Baron um einen Tausender
erleichterten. Als Lieb gar nicht aufhörte, wurde er schließlich
angezeigt und heute wegen Erpressung, wozu noch Diebstahl
und Urkundenfälschung kamen, zu 3 Jahren 6 Monaten Gefängnis
und öjährigem Ehrverlust verurteilt.
Basel. Strafgericht. (Sitzung vom 1. und 3. November 1902.)
Das Strafgericht wurde am letzten Samstag und Montag durch
die Erledigung eines vielbesprochenen Skandalprozesses in An-
spruch genommen. Es handelte sich dabei um höchst bedenk-
— 1250 —
liehe Erscheinungen und Vorgänge, die indessen in Bezug auf
einzelne Persönlichkeiten auch Anlaß zu ganz falschen Gerüchten
gegeben haben; es ist eben auch in dieser Sache, wie oft bei
sensationellen Prozessen, ganz gewaltig übertrieben und phan-
tasiert worden. Die Samstagssitzung dauerte von morgens 8 Uhr
mit der üblichen ca. zweieinhalbstündigen Unterbrechung um die
Mittagszeit bis gegen 7 Uhr abends, die Montagssitzung von
nachmittags 4 Uhr bis abends gegen 9 Uhr. Den Vorsitz führte
Herr Präsident Dr. Hübscher. Die sämtlichen 14 Angeklagten
waren der Erpressung, einzelne überdies der Unterschlagung
angeschuldigt. Es handelte sich um eine Bande jugendlicher
Taugenichtse, die seit längerer Zeit in schamloser Art Erpressungen
verübten, indem sie mehrere hiesige Einwohner mit der Enthüllung
gewisser unsittlicher Handlungen bedrohten, die jedoch nach dem
Gesetz nicht strafbar sind. Die Verhandlungen fanden unter
Ausschluß der Öffentlichkeit statt und es hatten nach der in
unserer Stadt üblichen Praxis auch die Vertreter der Presse
keinen Zutritt zu denselben. Es kann deshalb nicht in der
üblichen eingehenden Weise darüber Bericht erstattet werden.
Nach dem, was wir über die Sache in Erfahrung bringen konnten,
stehen die Angeklagten im Alter von 18 bis 28 Jahren; der
Nationalität nach sind es drei Basler, sodann Angehörige anderer
Kantone und Ausländer. Die meisten Angeklagten sind schlecht
beleumdet. Sie trieben sich zum Teil beschäftigungslos hier
herum und das mag wohl der Hauptgrund gewesen sein, wes-
wegen sie auf solche Abwege gerieten. Die Erpressuug wurde
systematisch und in raffinierter Weise betrieben und hatte in
einzelnen Fällen zur Folge, daß ganz bedeutende Beträge zur
Auszahlung gelangten. Die Angeklagten wurden am Samstag
Morgen getrennt in Droschken und in Begleitung einer größeren
Zahl von Polizisten nach dem Gerichtshaus am Bäumlein ver-
bracht, damit unterwegs keine Zwiegespäche stattfinden konnten.
Sie benahmen sich schon auf dem Transport und dann namentlich
während der Gerichtsverhandlung so frech und ausgelassen, daß
am Samstag Morgen vom Gericht die Verfügung getroffen wurde,
es sei ihnen in der Mittagspause, während welcher sie im Ge-
richtshaus zu verbleiben hatten, nur Wasser und Brot zu ver-
abreichen. Das Verhör der Angeklagten nahm sehr viel Zeit in
Anspruch. Als Zeugen waren nur wenige Personen geladen
worden. Der Staatsanwalt und die drei Verteidiger gelangten
erst in der Sitzung vom Montag Nachmittag zum Worte. Von
— 1251 —
der Staatsanwaltschaft wurden Strafen bis zu zwei Jahren Zucht-
haus beantragt. Die geheime Beratung des Gerichts dauerte
etwa 3 Stunden, so daß die Urteilsverkündigung erst gegen 9 Uhr
nachts erfolgen konnte. 13 Angeklagte wurden der Erpressung,
3 überdies der Unterschlagung (in Bezug auf Velos) schuldig
befunden. Der 14. Angeklagte wurde freigesprochen. Gegen die
Hauptschuldigen wurden Zuchthausstrafen von je 3, 2l/t und
1 Jahren ausgesprochen. Ferner wurden verurteilt: ein Ange-
klagter zu 2 Jahren Gefängnis, einer zu ll/2 Jahren, zwei Ange-
klagte zu je 9 Monaten, ein Angeklagter zu 8 Monaten, zwei
Angeklagte zu je 6 Monaten, ein Angeklagter zu 3 Monaten und
zwei Angeklagte zu je 2 Monaten Gefängnis. (Basier z.)
Mannheim, 30. Dez. In geheimer Sitzung verhandelte heute
die Strafkammer gegen den Photographengehilfen Otto Schwörer
aus Worms, den Bäckergesellen Heinrich Schenkenberger aus
Neckarhausen und den Schlossergesellen Ludwig Hentel von hier
wegen Erpressung. Die Angeklagten hatten im Oktober d. J.
nach einem vorbedachten Plane einen angesehenen hiesigen Ge-
schäftsmann, der zur Perversität neigte, zu einem Ver-
gehen gegen § 175 R.-St.-G. B. verleitet und ihm dann,
nachdem sie ihn erbarmungslos bis an die Grenze des Selbst-
mords gehetzt hatten, die Summe von 2000 Mk. abgepreßt. 1000
Mark von diesem Gelde hat der Rädelsführer Schwörer in einer
Nacht in Frankfurt durchgebracht. Das Gericht, welches den
Fall als den krassesten, der je vorgekommen sei, charakterisierte,
verurteilte Schwörer zu 3 Jahren 9 Monaten, Schenkenberger zu
2 Jahren 6 Monaten und Hertel zu 1 Jahr 9 Monaten Gefängnis
und erkannte auf Verlust der Ehrenrechte für die Dauer von drei
Jahren.
Fortgesetzte Erpressungen schamlosester Art hatte der
Schneider Karl Rothe gegen einen höheren pensionierten Beamten
ausgeübt und diesen dadurch in Furcht und Unruhe versetzt.
Die siebente Strafkammer des Landgerichts I verurteilte den An-
geklagten, der bereits wegen gleicher Straftaten mehrmals, zuletzt
mit drei Jahren Gefängnis, vorbestraft ist, zu 5 Jafiren Gefängnis
und Ehrverlust auf gleiche Dauer, wobei dem Bedauern Ausdruck
gegeben wurde, daß das Gesetz eine höhere Bestrafung nicht
zulasse.
Jahrbuch V. 79
— 1252 —
Als ein äußerst gefährlicher Mensch zeigte sich der so-
genannte „ Arbeiter" Karl Hauck, welcher gestern der ersten
Ferienstrafkammer des Landgerichts I aus der Untersuchungshaft
vorgeführt wurde. Der Angeklagte gehört zu denjenigen Burschen,
welche ihre Opfer unter älteren Herren suchen, die gewissen
Neigungen fröhnen. Trotz seiner Jugend — er ist erst 21 Jahre
alt — ist er bereits zweimal wegen Erpressung und Diebstahls
insgesamt zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nach
Verbüßung dieser Strafe ließ er sich die Handlung zu Schulden
kommen, die wiederum seine Verhaftung veranlaßte. Am Abend
des 8. Juni unternahm der Angeklagte einen seiner gewöhnlichen
Raubzüge in der Friedrichstraße. Ein Dr. X. ging ihm ins Garn
und folgte dem Angeklagten nach dessen in der Marienstraße
gelegenen Wohnung. Als der Besucher sich wieder entfernen
wollte, spannte der Angeklagte andere Saiten auf. Mit dem
Gelde, das Dr. X. auf den Tisch gelegt hatte, nicht zufrieden,
verlangte der Angeklagte einen Betrag von 500 Mk. Dr. X. er-
klärte angsterfüllt, daß er eine so große Summe nicht bei sich
führe. Der Angeklagte ergriff zunächst die Wasserflasche und
drohte, sie an dem Kopfe seines Opfers zu zerschlagen, falls
dieses den geringsten Widerstand wage. Der eingeschüchterte
alte Herr, der besonders den Skandal fürchtete, ließ es ruhig ge-
schehen, daß der Angeklagte seine sämtlichen Taschen durch-
suchte und denselben das ganze Geld — etwa 60 Mk. — ent-
nahm. Der Vampyr war aber noch nicht zufrieden, er zwang
den Dr. X., einen Schuldschein über 500 Mk. auszustellen und
ihm eine seiner Visitenkarten zu überlassen. Dann konnte der
Ausgeplünderte sich entfernen, der Angeklagte entließ ihn mit
der Drohung, daß er, ihn bei seiner Behörde und bei seiner
Familie anzeigen werde, wenn er den Schuldschein nicht einlöse.
Staatsanwalt Beier beantragte gegen den Angeklagten, der sich
während der Verhandlung höchst frech benahm, eine Zuchthaus-
strafe von vier Jahren und fünfjährigen Ehrverlust, der Gerichts-
hof unter dem Vorsitzenden Landgerichtsrat Dietz ging aber mit
der Begründung, daß der Angeklagte einer der gefährlichsten
Menschen sei, die es gebe, weit über den Antrag hinaus. Das
Urteil lautete auf sechs Jahre Zuchthaus und die Nebenstrafen.
Eine nächtliche Attacke. Der Sekretär einer vornehmen
Persönlichkeit wurde am 15. Mai um Mitternacht im Rathausparke,
als er dort zu einem bestimmten Zwecke einbog, das Opfer
— 1253 —
einer Erpressung besonderer Art, zu deren Ausführung sich an
dieser Stelle in den Nachtstunden systematisch Gauner der
schmutzigsten Sorte einfinden. Erst vor wenigen Wochen war ein
Anfall, welcher auf einen Auskultanten hier versucht wurde,
Gegenstand einer Gerichtsverhandlung. Der Auskultant war
allerdings kaltblütig gewesen und hatte den Erpresser, der ihm
folgte, einem Wachmanne zugeführt. Die Gefährlichkeit der
Leute, die sich des Nachts, auf Beute lauernd, hier einfinden, ist
der Sicherheitsbehörde und den Gerichten wohlbekannt, und es
sollte dem mehr Aufmerksamkeit zugewendet werden. An dem
erwähnten Abende hatte sich der Privatsekretär, ein Mann in der
Mitte der Dreißiger, durch einige Zeit beim Spatenbräu be-
funden und mehrere Gläser Bier konsumiert; dann hatte er sich
in das Caf£ Scheidl begeben. Hierauf empfand er das Ver-
langen, auf angenehme Weise Luft zu schöpfen; nahm einen
Fiaker, fuhr mit ihm über den Ring bis zur Aspernbrücke und
dann den Weg zurück bis zum Burgtheater. Dort ließ er den
Wagen halten und begab sich in den Rathauspark, wo er einen
dort befindlichen Anstandsort betrat. Drinnen befanden sich zwei
Burschen, zu dem lichtscheuen Gesindel gehörend, das sich hier
seine Zusammenkünfte gibt. Der Sekretär erzählt nun das
weitere folgendermaßen: „Als ich heraustreten wollte, kam einer
der Burschen auf mich zu und ersuchte mich um etwas Geld.
Ich wollte ihm keins geben. Darauf erhob er eine Beschuldigung
gegen mich. Ich sagte, „das ist nicht wahr." Er wiederholte
sein Verlangen um Geld mit dem Bemerken, daß er mich sonst
nicht freilasse. Ich wollte mich aus der Situation retten, griff in
die Tasche und gab ihm ein paar Kronen. „Sie müssen mehr
geben," erklärte der Mensch, „sonst lassen wir Sie nicht heraus.
Geben Sie einen Zehner, dann lassen wir Sie frei!" Mir war
darum zu tun, mich aus der Situation zu retten, und ich nahm
die Brieftasche, um seinen Wunsch zu erfüllen. Er riß mir die
Brieftasche, in der sich dreißig Gulden befanden, aus der Hand
und eilte davon. Ich wollte ihm nach, da kam ein zweiter
Bursche und verlangte meine Uhr. Um los zu kommen, gab ich
ihm auch diese. Ich mußte mir dann im Caf6 vom Marqueur
drei Gulden ausborgen, um den Fiaker zu bezahlen. Wie aus
dem weiteren Berichte des Sekretärs hervorgeht, war damit die
Sache noch nicht zu Ende. In der Brieftasche hatten die'
Burschen seine Visitenkarte gefunden, welche sie belehrte, wer
er sei. Sie fanden darin auch das Wappen seines Chefs, bei
79*
— 1254 —
dem er eine Vertrauensstellung besitzt, und zwei Photographien
der Kinder jener Persönlichkeit. Als der Sekretär am nächsten
Tage in sein Bureau ging, sagte ihm am Tore des Hauses der
Portier, zwei junge Leute seien dagewesen und hätten ihn zu
sprechen gewünscht. Am zweitnächsten Tage kamen die beiden
in seine Kanzlei. Es waren in der Tat seine Bekannten vom
Rathauspark. Sie sagten ihm, daß sie ihm die Brieftasche und
die — nicht sehr wertvolle — Uhr zurückbrächten und 200 fl.
dafür begehrten. Er brauche, fügten sie bei, nicht zu fürchten,
daß sie dann noch mit neuen Forderungen kommen würden. Sie
seien im Begriffe, Wien zu verlassen und brauchten hierzu das
Geld. Überdies würden sie, nachdem sie ihm seine Sachen
zurückgegeben hätten, keine Beweise mehr gegen ihn haben.
Der Bedrohte war bereits geneigt, ihnen auch dieses Lösegeld
zu geben, entschied sich aber dafür, zuerst mit seinem Advokaten
zu sprechen. Dieser riet ihm, die Anzeige zu machen, was er
auch tat. Er gab den Erpressern ein Rendezvous in einem
Restaurant der Margaretenstraße und ließ sie dort verhaften.
Ein den besseren Gesellschaftskreisen angehörender hier
lebender Herr ist in die Hände einer ebenso schamlosen wie
frechen Erpresserbande geraten. Auch diese Affäre hängt, wie
die meisten derartigen Vorkommnisse, mit einem gerade in der
letzten Zeit vielfach bekämpften Paragraphen des Strafgesetz-
buches zusammen. Wie in allen diesen Fällen, so scheute sich
auch hier das Opfer dieser Gauner aus einer ja begreiflichen
Furcht vor der Öffentlichkeit lange Zeit, die Burschen der
Polizei anzuzeigen. Bereits in der vergangenen Woche erlangten
die schon mehrfach vorbestraften und polizeilich bekannten
Individuen von dem in Schwabing wohnenden Herrn einen
größeren Geldbetrag. Da ihnen Dinge, wie oben angedeutet, zu
Gehör gekommen waren und sie dem Manne damit drohten, er-
hielten sie die Summe von mehrereren hundert Mark. In einem
weiteren Schreiben wurde die Summe von 2000 Mk. verlangt.
Auch dieser Versuch glückte. Der eine dieser Burschen wird be-
reits wegen verschiedener anderer Reate steckbrieflich verfolgt.
Beide haben nunmehr in Begleitung eines Frauenzimmers München
verlassen und sollen sich nach Frankfurt a. M. gewendet haben.
(Frankfurter Zeitung.)
— 1255 -
Ein hervorragendes Mitglied eines hiesigen Theaters war
vorgestern nicht wenig überrascht, als es sich zur Vorstellung
begeben wollte und ihm der Theaterportier einen Brief ein-
händigte, der in der Theater-Portierloge abgegeben war und ge-
heimnisvolle Andeutungen über eine peinliche Angelegenheit
enthielt. In dem Schreiben hieß es, der Absender müsse dem
Schauspieler Vorwürfe machen, denn er habe ihn vor Wochen
zu einer Handlung verleitet, die das Strafgesetz verfolge, und-
nun sei er — Schreiber — erkrankt. Er verlangt, daß ihm der
Schauspieler 400 Kronen in seine Wohnung senden möge. Der
Brief war mit „Konrad Ludwig Böhmke" unterfertigt. Nun war
sich der Schauspieler weder der ihm vorgeworfenen Handlungs-
weise bewußt, noch war ihm der Herr Böhmke irgendwie be-
kannt. Er trug deshalb den Brief zur Polizeibehörde. Diese
stellte fest, daß der unterfertigte Konrad Ludwig Böhmke wirklich:
in der angegebenen Adresse wohnte. Ein Polizeiagent überstellte
ihn der Behörde, und bei der Einvernahme gestand der Häftling
ohne weiteres zu, den Brief geschrieben zu haben. Er behauptete
aber, daß die in dem Briefe enthaltenen Tatsachen der Wahrheit
entsprechen. Da der Künstler aber bei seiner Behauptung blieb,
wurde Böhmke dem von ihm Angeschuldigten vorgeführt, und
jetzt erst erklärte er, den fälschlich Verdächtigten gar nicht zu
kennen. Der Mann, der ihn zu der strafbaren Handlung verleitet
habe, sei ihm später irrig als der Künstler dieses Namens be-
zeichnet worden. Böhmke, ein Kellner von 22 Jahren, wurde
nun in Haft behalten und dem Landesgerichte eingeliefert. Die
Ausforschung des Mannes, den Böhmke als seinen Verführer be-
bezeichnet, ist eingeleitet worden.
Un chantage de plusieurs centaines de mille francs. — Un
maitre-chanteur peu ordinaire est Auguste Boileau que M.Jolliot,
juge d'instruction, a confronte hier avec sa victime, M. Otto de
S . . . , gros industriel de Zürich. Boileau avait lie. tr£s intimement
connaissance avec 1'industriel, en 1879, lors de son passage ä
Paris; il en profita pour le faire „chanter". 11 s'entendit avec le
nomme Viou qui, un beau jour, entra dans la chambre d'hötel oü
etaient Boileau et M. Otto, et se disant le brigadier, Robert exhiba
un mandat d'arret lanc6 contre Boileau par le parquet de Mar-
seille pour excitation de mineures ä la d£bauche. Le pseudo-
brigadier examina les deux amis et trouva Strange leur presence
dans la meme chambre. 11 r£digea un proc&s-verbal; Boileau se
— 1256 —
jeta ä ses genoux, pleura, le supplia de ne point le perdre, lui
offrant 25000 francs. Viou se laissa attendrir par cette somme,
mais comme Boileau n'avait pas le moindre liard, ce fut M. Otto
qui versa l'argent. L'industriel croyait tout termin£, quand il
re£ut des lettres menagant de le dgnoncer. Boileau lui däclara
qu'il avait besoin d'argent pour acheter la police, et M. Otto versa
tantöt trente mille francs, tantöt cinquante mille francs. Mais
enfin, voyant que le pr&endu brigadier Robert ne serait jamais
satisfait, il se dgcida ä porter plainte. Boileau fut arr£t6, mais
son complice Viou demeurait introuvable. On vient de s'apercevoir
qu'il est au bagne depuis un an. Viou, ancien for^at gvadg, avait
6te arr£t& sur la d£nonciation de sa maltresse. Cette fille, ä qui
il avait confi£ les vingt-cinq mille francs extorqu£s ä M. Otto de
S . . ., s'&ait enfuie avec les billets de mille francs et, pour ne
pas avoir ä redouter Viou, l'avait dönonce ä la police lyonnaise.
Hier, Boileau, jouant ä nouveau la com6die, s'est jete aux genoux
de sa victime, jurant sur la tete de sa m&re qu'il ne recommen-
cerait plus. — Je n'ai pas une grande confiance en vos serments,
a r£pliqu6 M. Otto de S . . . Vous m'avez jurö autrefois sur la töte
de votre pfcre et vous n'avez pas tenu parole. Je ne crois pas
davantage ä la töte de votre m£re. Sur cette räponse, Boileau,
s£chant subitement ses larmes, s'est lev£ et a injuria l'industriel
de Zürich. II a fallu mettre fin ä la confrontation. M« Leon
Bayl6 assistait l'inculpö. Quant ä M. Otto de S . . ., partie civile,
il a pour avocat Me Fr^miet. (Le Matin.)
Un maitre-chanteur. — M. Lamblard, bijoutier, 54, rue des.
Archives, se promenait, vers six heurs du soirs, sur le boulevard
des Capucines, lorsqu'il fut accostö par un jeune homme assez
bien mis, qui lui declara n'avoir pas mangö depuis trois jours;
Le bijoutier, apitoyö, l'emmena alors dans un restaurant qu'il
connaissait sur les quais. En traversant la place Carrousel, l'in-
dividu lui sauta' au cou, cherchant ä l'embrasser. Au m€me mo
ment surgit un autre individu. — Ah! ah! cria-t-il, miserable, je
suis agent de la Süretö, je vois bien quelles sont vos intentions :
vous en avez pour cinq ans de travaux forcis. Suivez-moi au
poste de la rue Richelieu. Et, ce disant, il mit la main au collet
de M. Lamblard En route, l'agent proposa au bijoutier de le
relächer s'il lui donnait 5 francs. Le bijoutier refusa, et, devant
le poste de la rue Richelieu, insista pour le faire entrer. La, le
soi-disant agent la fit ä „l'öpate"; mais arriv£ devant M. Peschard,
— 1257 —
commissaire de police, il fut fouill£ et trouv6 porteur d'une fausse
carte de la pr&ecture et d'un revolver charg6. II a declar6 se
nommer Ren6 Denoyers, äge de trente-cinq ans, demeurant im-
passe Quelma. II a 6t6 envoyfe au D£pöt.
Erpressungsversuch. Ein Tagelöhner aus Köln suchte, wie
man uns berichtet, von einem Kaufmann 40 Mk. zu erpressen,
indem er ihm schrieb, wenn er das Geld nicht hergebe, werde
er ihn wegen unnatürlicher Unzucht anzeigen. Als der Kaufmann
auf den Brief nicht reagierte, machte der Tagelöhner tatsächlich
die Anzeige, und die Folge war, daß der Kaufmann, der sich auf
einer Reise befand, in Düsseldorf verhaftet wurde. Der Kaufmann
wurde 14 Tage in Untersuchungshaft gehalten, worauf sich seine
Unschuld herausstellte. Hierauf wurde der Tagelöhner unter An-
klage des Erpressungsversuches gestellt. Der Staatsanwalt be-
antragte für den gefährlichen Menschen 5 Jahre Gefängnis. Das
Gericht bestrafte ihn mit drei Jahren Gefängnis und 5 Jahren
Ehrverlust. (Deutsche Warte.)
Die an die Angelegenheit Krupp sich anschließenden Er-
örterungen scheinen die Phantasie des Klempners Adolf Levy in
unglaublicher Weise angeregt zu haben. Er hatte sich gestern
wegen versuchter Erpressung vor der dritten Strafkammer des
Landgerichts I zu verantworten. Er befand sich in Not und
richtete an einen Großkaufmann, den er nur dem Namen nach
kannte und von dessen Lebensführung er nicht die geringste
Ahnung hatte, einen frechen Erpresserbrief. Er stellte darin die
völlig aus der Luft gegriffene Behauptung auf, daß der Adressat
als ein Mann bekannt sei, der sich fortgesetzt gegen § 175
St.-G.-B. versündige. Er, der Schreiber, habe die feste Absicht,
das lichtscheue Treiben des Adressaten zur Kenntnis der Staats-
anwaltschaft zu bringen, falls ihm nicht bis zu einem bestimmten
Tage ein Schweigegeld von 20 000 Mk. an einem genau bezeich-
neten Orte eingehändigt werden würde. Der Empfänger des
Briefes, auf den die dreiste Beschuldigung ganz und gar nicht
paßte, setzte die Kriminalpolizei in Kenntnis und begab sich in
Begleitung eines Polizeibeamten zur festgesetzten Stunde an den
bezeichneten Ort. Der Angeklagte war aber nicht sichtbar. Bald
darauf traf ein zweiter Brief ein, worin dem Adressaten dringend
nahe gelegt wurde, zur Vermeidung von Schmach und Schande
den nunmehr auf 25 000 Mk. erhöhten Betrag zu zahlen, aber
— 1258 —
allein zu kommen, da die Anwesenheit eines Dritten bei derartigen
Angelegenheiten überflüssig sei. Diesmal gelang es, den Erpresser
einzufangen. Er vermochte sich im Termin nur damit zu ent-
schuldigen, daß ihm die Not jenen Plan eingegeben habe. Das
Gericht verurteilte den nur unwesentlich vorbestraften Angeklagten
zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis. (Voss. Zeitung.)
Wien, 25. März. Orig.-Ber. Erpressungsprozeß. Der Uhren-
händler Franz Laszko gehört zu einer schlimmen und gefährlichen
Sorte von Erpressern. Sein Opfer in dem heutigen Falle, ein
Herr T., ehemaliger Geschäftsführer eines großen Hauses, hat
durch ihn nicht nur die Wertsachen und Geldbeträge, welche er
ihm gegeben, sondern auch seine Stellung und seine Braut ver-
loren. Herr T. befand sich in einer Nacht in einer einsamen
Gegend hinter dem Stadtparke auf dem Heimwege. Da traf ihn
ein anständig gekleideter Mann und fragte ihn, welches der Weg
in die Fasangasse sei. T. gab ihm die Auskunft und fügte bei,
daß er in derselben Richtung gehe. Der Fremde ersuchte, sich
ihm anschließen zu dürfen, und knüpfte ein Gespräch mit ihm an.
Auf dem Wege beschuldigte der Begleiter ihn plötzlich, er habe
sich in gröblicher Weise unstatthaft gegen ihn benommen, und
erklärte, daß er einen Wachmann rufen werde. Obwohl T., wie
er sagt, sich völlig schuldlos fühlte — auch das Gericht nimmt
dies an — war er doch, da er von Natur aus ängstlich ist, durch
diese Drohung sehr verwirrt, und als der Unbekannte sich bereit
erklärte, gegen einen größeren Geldbetrag von seinem Vorhaben
abzustehen, gab er ihm seine Uhr und einen Ring. Er vervoll-
ständigte seine Unbesonnenheit, indem er ihm seinen Namen
sagte und ihn aufforderte, in sein Geschäftslokal zu kommen, wo
er Uhr und Ring gegen einen Geldbetrag auslösen wolle. In der
Tat erschien der Erpresser, der nach seiner 'Angabe Ludwig
hieß — sein Name ist Franz Laszko — mit einem Begleiter,
welchen er als seinen Bruder bezeichnete, aber im Widerspruche
hierzu Mesarosch nannte, in T.'s Kontor und erhielt von ihm für
die Wertsachen Geld. Von da an war der Geschäftsführer in
den Händen Laszko's. Dieser konnte sich jetzt auf die Will-*
fährigkeit T.'s als auf ein Zugeständnis berufen, kam immer wieder
von neuem und erhielt stets — angeblich immer bloß für dieses
Einemal noch — Geld. Der Chef des Geschäftsführers, welcher
von diesen Besuchen Kenntnis erlangte, erklärte, daß er keinen
Angestellten haben wolle, dar Besuche von Erpressern erhalte,
— 1259 —
und entließ ihn. Nunmehr erfuhr auch seine Braut von diesen
Vorgängen und richtete an ihn einen Absagebrief. Bevor T.
jedoch aus dem Geschäfte schied, ersuchte er, daß der angeb-
liche Ludwig, wenn er sich wieder einfinde, verhaftet werden
möge. Dies geschah auch. In der Untersuchung bezeichnete
Laszko die Erzählung T.'s als vollkommen unwahr und gab über
seine Beziehungen zu diesem Auskünfte, nach welchen der Ge-
schäftsführer aus anderen Ursachen sein Schuldner wäre. Es
war nun anfangs schwer festzustellen, auf welcher Seite di&
Wahrheit sei. Da entdeckte nun der Untersuchungsrichter
(Dr. Joseph Wagner) unter den Effekten Laszko's, die er durch-
suchte, ein abgerissenes Stück einer bezirksgerichtlichen Vor-
ladung. Dies zeigte ihm den Weg zu weiteren Nachforschungen,
und hierbei ergab es sich, daß Laszko wegen einer häßlichen
Affäre, die gleichfalls an Erpressung grenzte, zum Bezirksgerichte
vorgeladen war. Noch andere Umstände ergänzten sodann das
Netz des Beweises, und Laszko wurde infolgedessen von einem
Senate unter Vorsitz des Landesgerichtsrates Dr. Gemperle, wo-
bei Staatsanwalts-Substitut Dr. Schnabel die Anklage vertrat, zu
fünfzehn Monaten schweren Kerkers verurteilt.
Freche Erpresser. (Landgericht München I.) Der 22 jährige
Lithograph Alois Ruhland hier hatte sich im Einverständnis mit
dem 19jährigen Schlosser Karl Zapf von Bayreuth am 26. April
in der öffentlichen Bedüfnisanstalt am Karlsplatze an einen aus-
wärts wohnhaften Privatier in so auffallender Weise herangemacht,
daß dieser sofort den Raum verließ. Zapf folgte dem Herrn bis
zum Bahnhofe, wo er in der Bedürfnisanstalt des Nordbaues dieses
Manöver wiederholte. Eine abwehrende Handbewegung des
Privatiers wurde durch freche Mißdeutung später von Zapf zu
einer ganzen Reihe von Erpressungen und Erpressungsversuchen
ausgebeutet. Schon tags darauf suchten Zapf und Ruhland den
Privatier an seinem Aufenthaltsorte auf und Zapf erzählte dem
Privatier, daß ihm nach dem Vorgang in der Bedürfnisanstalt bei
dem hastigen Verlassen derselben seine Brieftasche mit 100 Mk.
Inhalt zu Verlust gegangen sei; dabei ließ er durchblicken, daß er
diesen Vorfall in die Öffentlichkeit bringen werde, wenn er für
den angeblichen Verlust nicht entsprechend Entschädigung erhalte.
Eine solche lehnte der Bedrängte anfänglich mit dem Bemerken
entrüstet ab, daß nichts Unrechtes vorgekommen sei, worauf Zapf
den verabredungsgemäß in der Nähe wartenden Ruhland herbei-
— 1260 —
rief, der mit zynischem Lächeln bestätigte, daß er Zeuge einer
angeblichen anstößigen Handlung in der Bedürfnisanstalt gewesen
sei. Um die Dränger los zu bekommen, händigte der Privatier
dem Zapf den Inhalt seines Portemonnaies mit 3 Mk. 50 Pfg. aus.
Schon Tags darauf wärmte Ruhland in einem an den Herrn ge-
richteten Brief das Märchen von dem angeblichen Verlust der
Brieftasche auf, bat für Zapf um ein Darlehen von 100 Mk., drohte
mit Bloßstellung des Adressaten in der Öffentlichkeit und wurde
schließlich deutlicher durch das Postskriptum: „Bevor man so
etwas tut, muß man zuerst das Strafgesetz lesen". Der Bedrängte
ließ sich durch diesen Brief bestimmen, an die Adresse des Zapf
durch einen Dienstmann 20 Mk. zu schicken. Schon einige Tage
darauf schrieb Zapf auf Ruhlands Veranlassung wieder und erhielt
infolge seiner versteckten Drohungen die erbetenen 80 Mk., die
er persönlich in der Wohnung des Adressaten in Empfang nahm.
Der Privatmann ließ Zapf eine Bestätigung unterzeichnen, daß er
mit Zapf gar nichts zu tun gehabt habe und glaubte dadurch
endlich Ruhe zu bekommen. Zapf setzte aber in vielfachen
Briefen mit neuen versteckten Drohungen seinem Opfer derart zu,
daß der ohnehin nervöse Mann erkrankte. Nach der Zurückkunft
von einer Badereise suchte Zapf mit Ruhland und mehreren
anderen Burschen gleichen Schlages, die in den ganzen Plan ein-
geweiht waren, den Privatier in seiner Wohnung auf und be-
lästigten ihn während des ganzen Nachmittages durch fortwähren-
des Läuten an seiner Hausglocke und auffallendes Patrouillieren vor
dem Hause. Als die Tochter des Geängstigten nach München fuhr,
um den Rechtsbeistand ihres Vaters von den Erpressungen zu ver-
ständigen, wurde sie von den Burschen in frechster Weise be-
schimpft. Der Anwalt, der dem Zapf mit Anzeige beim Staats-
anwalt gedroht hatte, wurde von Ruhland telephonisch unter dem
Namen Zapfs mit einer Flut von persönlichen Beleidigungen und
Verdächtigungen überschüttet. Die weiteren Versuche des Zapf,
„Unterstützung" und „Darlehen" herauszupressen, blieben erfolg-
los. Anfangs Juli vor. Js. stellte sich Ruhland einem hiesigen, ihm
als sehr vermögend bekannten Universitätsstudenten unter einem
falschen Namen als „Detektiv" vor, der angeblich mit Ermittelungen
über eine mit dem Taglöhner Ettenberger begangene strafbare
Handlung betraut sei. Der anfangs verblüffte Student erkannte
gar bald, daß Ruhland kein Detektiv sei. Dieser bezeichnete sich
nun selbst als armen Schlucker, der trotz seiner Dürftigkeit Anstand
nehme, sein Wissen in dieser Sache in der Öffentlichkeit breit zu
— 1261 —
schlagen, und bewog den Studenten zur Hergabe von zweimal
50 Mk. Am 2. August erbrachen Zapf und Ruhlahd das leer-
stehende Atelier eines Malers in der Landwehrstraße und stahlen
dort einen Reisekoffer und einen vollständigen Anzug. Zapf
schwindelte außerdem durch ein gefälschtes Telegramm dem
Vater eines seiner Bekannten 15 Mk. heraus. Die von dem
Privatier erpreßten Summen teilte Zapf mit Ruhland und mehreren
anderen in die Pläne beider eingeweihten Burschen. Zapf ist
größtenteils geständig und bezeichnet Ruhland als den Anstifter.
Dieser leugnet und sucht Zapf möglichst zu belasten. In der
Verhandlung ergab sich, daß außer den Angeklagten noch ein
ganzer Rudel gleichgesinnter Burschen dieses schmutzige Erpresser-
gewerbe nach wohlüberlegtem Plane seit einiger Zeit schon be-
treiben und besonders in der öffentlichen Bedürfnisanstalt am
Karlsplatze ihr Unwesen treiben. Ruhland wurde zur Gesamt-
gefängnisstrafe von 7 Jahren 6 Monaten, Zapf von 5 Jahren
6 Monaten und jeder zu 5 Jahren Ehrverlust verurteilt.
(Münch. N. N.)
Falsche Anschuldigung und Erpressung — ein Prozeß aus
§ 175 Str.-G.-B. (Landgericht München I.) Der 21jährige, schon
vorbestrafte, von seinen eigenen Eltern wegen seiner Rohheit ge-
fürchtete Schlossergeselle Karl Kronschnabl von hier machte am
6. September v. J., Nachts 11 Uhr, einem Schutzmann die An-
zeige, daß ein vor ihm gehender Herr in den Anlagen am Karls-
platze unsittliche Handlungen mit ihm vorzunehmen versucht habe.
Der Bezichtigte, ein Buchhalter aus Augsburg, wurde festgenommen
und nach einem Verhör auf der Polizeiwache, in welchem er die
Beschuldigung entschieden in Abrede stellte, wieder entlassen.
Am 9. September beschuldigte Kronschnabl einen Privatier aus
Schleißheim, daß dieser an einem allgemein zugänglichen Orte
des „Cafö Royal" sich mit ihm vergangen habe. Der Privatier
sprang, um den lästigen Menschen abzuschütteln, rasch in einen
vorüberfahrenden Trambahnwagen. Kronschnabl verfolgte ihn
bis nach Sendung, erneuerte im Trambahnwagen seine Behauptung
und machte auf die Weigerung des Privatiers, das geforderte
Schweigegeld zu zahlen, einem Schutzmann die unwahre Anzeige,
daß der Privatier sich gegen ihn vergangen habe. Der Herr
wurde mit Droschke zur Polizeiwache in der Daiserstraße ver-
bracht, dort verhört . und nach Feststellung seiner Personalien
wieder entlassen. Am 12. September machte Kronschnabl eine
— 1262 —
dritte Anzeige: Ein anderer Privatier, von hier habe sich gegen
ihn in der Flur eines Hauses an der Herzog Wilhelmstraße einen
unsittlichen Angriff erlaubt. Auch dieser Verdächtigte stellte vor
der Polizei nicht nur diese Beschuldigung entrüstet in Abrede,
sondern behauptete auch, daß Kronschnabl ihm gedroht habe,
wenn er nicht 3 Mk. von. ihm erhalte, werde er ihm „den Herrn
schon zeigen" und Anzeige gegen ihn wegen Verfehlung nach
§ 175 des Str.-Q.-B. erstatten. Fiel der Polizei die rasche Auf-
einanderfolge der von Kronschnabl erstatteten Anzeigen schon
auf, so wurde bei den gepflogenen Erhebungen der Verdacht
gegen Kronschnabl, daß dieser wissentlich falsche Anzeigen ge-
macht habe, immer mehr bestärkt. Die von ihm Bezichtigten sind
ältere, hochachtbare Männer, er selbst ein arbeitsscheuer Mensch,
der sich auffallend häufig in der Nähe der Bedürfnisanstalt am
Karlsplatz herumtrieb, um sich dort Opfer seiner Erpressungs-
versuche auszuersehen. Durch die eidlichen Aussagen der so
schmählich Bezichteten wurde festgestellt, daß Kronschnabl sich
in aufdringlicher Weise an die drei Herren herangemacht hat,
ihnen seine Begleitung aufgedrungen und bei zweien der Zeugen
selbst versucht habe, sie zu Unsittlichkeiten anzuregen. Auf
Zurückweisung dieser Zudringlichkeiten beschuldigte dann plötzlich
Kronschnabl die Herren solcher Handlungen und forderte Schweige-
geld. In allen drei Fällen der von Kronschnabl erstatteten An-
zeigen wurde das Verfahren eingestellt. Kronschnabl wird wegen
dreier Vergehen der falschen Anschuldigung und zweier Vergehen
des Erpressungs Versuchs zur Gefängnisstrafe von acht Jahren und
fünfjährigem Ehrenrechtsverlust verurteilt, wobei als besonders
straferschwerend die außerordentliche Niedrigkeit und Gemein-
gefährlichkeit der Handlungsweise hervorgehoben wurde.
(M. N. E.)
Erpressung. Auf der Anklagebank sitzen fünf junge Leute
und zwar der Schlosser Karl Darmstadt, der Auslaufer Thomas
Höhne, der Auslaufer Heinrich Friedr. Heiler, der Arbeiter Karl
Schön und der Kellner Edmund Wiedeck aus Wien. Der Haupt-
angeklagte, der Ausläufer Hans Haas fehlt. Laut Anklage sind
die Genannten der Erpressung, begangen an einem Journalisten
v. M., schuldig. Die Angeklagten sind durchweg schon mehr
oder minder vorbestraft. Haas ist überdies noch unsittlicher
Handlungen angeklagt. Die Verhandlung findet bei Ausschluß
der Öffentlichkeit statt. Darmstadt erhält sechs Monate Ge-
— 1263 —
fängnis, Höhne neun Monate. Die übrigen Angeklagten werden
freigesprochen.
Festgenommen wurde gestern Abend der ehemalige Schau-
spieler Carl Behrens, einer jener unheimlichen Gesellen, die sich
in Frauenkleidern umherzutreiben pflegen, um Opfer anzulocken
und dann zu bestehlen oder sonst wie zu prellen. Behrens ist
schon wiederholt bestraft. (Berliner Morgenpost.)
Ein unverschämter Bursche. Wegen versuchter Erpressung
hatte sich der Kellner Paul Schellmann vor der dritten Strafkammer
am Landgericht II zu verantworten. Der Angeklagte gehört einer
Zunft von jungen Leuten an, die ein dunkles Gewerbe betreibt
und ihre Opfer sowohl unter denen sucht, die mit ihr in unlautere
Beziehungen treten, wie auch unter jenen, welche auf solche Be-
ziehungen hinauslaufende Zumutungen abweisen. In diesen Falle
war das Opfer der bekannte Herrenreiter von T.-L. Der
Angeklagte hatte Herrn von T. in Restaurants wiederholt bedient,
hatte ihm seine Not geklagt und dann wohl ab und zu ein Fünf-
oder Zehnmarkstück erhalten. Schließlich aber erbat er solche
Unterstützungen mit dem kategorischen Imperativ und drohte mit
„Enthüllungen", was Herrn von T.-L. veranlaßte, sich an die
Kriminalpolizei zu wenden, die dem Angeklagten sehr bald
das Handwerk legte. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit wurde
derselbe zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. (Berliner Morgenpost.)
Gelderpressung. Es ist gestern der Polizei gelungen ein
paar junge Burschen zu verhaften, die unter verschiedenem Vor-
wande Leute in Fallen gelockt haben und später unter Drohungen
von Skandalisierung diesen Geld abpreßten. Die zwei Verhafteten,
wovon der eine ein alter Freund von der Polizei, eine früher
bestrafte Person J. Chr. Jensen, der andere ein schwedischer
Damenkomiker ist, haben mit ein paar Kameraden zusammen in
Nörreboulevara Nr. 110 zugehalten, und hier ist es gestern der
Polizei gelungen die zwei Verbrechern zu verhaften. Die Ver-
haftung wurde von einem Herrn veranlaßt, der seine Uhr dem
Verbrecherkomplott für 25 Kr. verpfändet hatte. Als er die Uhr ein-
lösen wollte verlangten die Schurken 50 Kr. dafür, und als er
das Geld geholt hatte, forderten sie sogar noch Zinsen. Er
ging jetzt zur Polizei, und man hofft die zwei anderen ebenfalls
zu ergreifen.
- 1264 —
Wien. (Erpressung.) Der Fleischergehilfe Maximilian Strauß,
ein junger Mensch, war heute der Erpressung angeklagt, weil er
den Hofopernsänger Herrn Reichmann in einem Briefe einer
strafbaren Handlung beschuldigte und ihm mit einer Anzeige drohte,
wenn dieser ihn nicht für die Unterlassung entschädige. In seiner
Anforderung war er bescheiden, er begehrte fünf Gulden. Den
Brief unterschrieb er nicht, doch fügte er seine richtige Adresse
bei. Dadurch war es, nachdem Herr R. die Sicherheitsbehörde
verständigt hatte, leicht möglich, Maximilian Strauß zu verhaften.
Der Angeklagte, von Dr. v. Thersch verteidigt, wurde zu vier
Monaten schweren Kerkers verurteilt.
Ein Berliner Kellner in Frauenkleider, der von der hiesigen
Staatsanwaltschaft seit längerer Zeit wegen mehrfacher raffinierter
Erpressungen steckbrieflich verfolgt wird, wurde gestern durch
die Kriminalpolizei in Dresden festgenommen. Der Verhaftete
pflegte stets in Frauenkleidern, bald mit blonder, bald mit
schwarzer Perrücke, sich an die Männerwelt heranzumachen und
hinterher schwere Erpressungen in gewisser Beziehung zu verüben.
(Berliner Morgen Zeitung.)
Über eine skandalöse Affaire schreibt man aus Basel dem
Mühlhauser „Expreß": Es ist hier viel die Rede von einer
skandalösen Affaire, welche bereits zu wiederholten Malen die
Strafkammer in nicht öffentlicher Sitzung beschäftigt hat. Im
Monat Januar d. Js. verschwand plötzlich der Geschäftsleiter
eines großen Handelshauses hiesiger Stadt. Seine Leiche wurde
einige Tage später aus dem Rhein gezogen. Aus der bei dem
Selbstmörder gefundenen Korrespondenz ging hervor, daß er mit
jungen Leuten von 18—20 Jahren widernatürliche Unzucht ge-
trieben hatte. Es war eine ganze Bande, die sich zu dem
unsauberen Gewerbe zusammengefunden hatte. Man wagte nicht
gegen sie vorzugehen, da sie den Schutz einflußreicher Personen
genossen. Eines ihrer Opfer war auch jener Musiker, der sich
vor etwa vier Wochen unweit St. Privat eine Kugel vor den
Kopf schoß. Endlich kam die Geschichte aber doch zu* den
Ohren des Gerichts, eine Untersuchung wurde eingeleitet und 17
Verhaftungen vorgenommen. 13 dieser jungen Leute erhielten
Strafen von zwei Monaten Gefängniß bis zu 8 Jahren Zuchthaus.
Da keine Revision eingelegt ist, wird diese Geschichte, die hier
— 1265 —
ungeheuer viel Staub aufgewirbelt hat, jetzt hoffentlich bald aus
der öffentlichen Diskussion verschwinden.
(Straßburger Bürgerzeitung.)
Karlsruhe. Ein verheirateter Kaufmann von hier, der in
letzter Zeit mit Obst handelte und der schon wegen Erpressung
und Vergehen gegen den § 175 des R.-St.-G.-B. vorbestraft ist,
suchte einen hiesigen Geschäftsmann zu ähnlichem Vergehen zu
verleiten, um hinterher von demselben 200 M. erpressen und
damit flüchtig gehen zu können.
Eine saubere Erpressungsgeschichte. Fünf Personen hatten
sich am Dienstag wegen Erpressung vor der zweiten Strafkammer
des Landgerichts I zu verantworten: Der noch jugendliche Be-
reiter Richard Karl Wilhelm Aßmann, der Reisende Wilhelm
Wolff, der Schankwirt Hermann Füllgraf, der Kaufmann Friedrich
Holzke und der Kellner Emil Reiher. Der Anklage scheinen
Vorgänge zu Grunde liegen, die einen bedenklichen Beitrag zur
Sittengeschichte bilden, denn der Staatsanwalt sah sich — schon
bevor der Eröffnungsbeschluß verlesen wurde — veranlaßt, im
Interesse der öffentlichen Sittlichkeit den Ausschluß der Öffent-
lichkeit zu beantragen. Der Gerichtshof beschloß nach diesem
Antrage. Äußeren Vernehmen nach handelt es sich um einen
Erpressungsfeldzug gegen einen außerhalb Berlins wohnenden
hocharistokratischen Herrn, der übrigens als Zeuge nicht an-
wesend war, sondern zur Zeit sich auf einer ausgedehnten See-
reise im Auslande befinden soll. Der Herr war bei einer An-
wesenheit in Berlin in etwas dunkler Weise in Beziehungen zu
dem Angeklagten Aßmann getreten, und diese wenig kavalier-
mäßige Annäherung soll den Ausgangspunkt zu wiederholten
Brandschatzungen gebildet haben, zu deren Vornahme mehrere
der Angeklagten nach dem Wohnorte ihres Opfers gereist sind.
Das Ende vom Liede war eine Strafanzeige, die die Festnahme
der beiden ersten Angeklagten durch den Kriminalkommissar von
Tresckow und die Anklage zur Folge hatte. Nach etwa fünf-
stündiger Beratung unter strengstem Ausschlüsse der Öffentlich-
keit ergab sich die Notwendigkeit einer Vertagung, weil ein nicht
anwesender Zeuge, auf den nicht verzichtet werden kann, nicht
zur Stelle geschafft werden konnte. Die Verhandlung soll am
Sonnabend um 9 Uhr fortgesetzt werden.
— 1266 —
Eine saubere Erpressungsgeschichte. Der umfangreiche
Erpressungsprozeß, welcher sich gegen fünf Angeklagte richtete,
endete gestern mit der Verurteilung sämtlicher Angeschuldigten.
Es handelte sich, wie bereits mitgeteilt, um die Ausbeutung eines
hocharistokratischen Herrn, der sich durch seine perversen Neig-
ungen den Angeklagten überliefert hatte. Die Strafen, welche,
wie in der Urteilsverkündung hervorgehoben wurde, hart aus-
fallen mußten, da die ganze Handlungsweise der Angeklagten
sich als eine höchst gemeingefährliche kennzeichne, lauteten wie
folgt: Bereiter Wilhelm Aß mann und Reisender Wilhelm Wolff
je 2 Jahre 6 Monate Gefängnis und dreijährigen Ehrverlust,
Schankwirt Hermann Füllgraf 6 Monate Gefängnis und ein Jahr
Ehrverlust, Kaufmann Friedrich Holzke 9 Monate Gefängnis und
ein Jahr Ehrverlust und Kellner Emil Reiher 1 Jahr 6 Monate Ge-
fängnis und drei Jahre Ehrverlust. Füllgraf und Holzke wurden
auf freien Fuß gesetzt, die übrigen Verurteilten erklärten, sich
bei dem Erkenntnisse nicht beruhigen zu wollen.
Gefährlicher Bursche. Der „Arbeiter" Otto Gusch aus der
Tilsiterstraße ist einer von den Menschen, die sich auf den Bahn-
höfen aufhalten, um unerfahrene Leute zu verschleppen und zu
plündern. Am Abend sah er nun den Kaufmann G. von aus-
wärts auf dem Schlesischen Bahnhof ankommen und folgte ihm
nach dem Bahnhof Friedrichstraße. Als er ihm auch hier auf
keine andere Weise beikommen konnte, stieß er die Drohung
aus: „Höre mal, wenn Du nichts gibst, so lasse ich Dich ver-
haften." G. erschrak zwar, war aber vernünftig genug, sich nicht
einschüchtern zu lassen. Nun besaß Gusch wirklich die Frechheit,
ihn zu beschuldigen, daß er auf einem Hausflur in der Kloster-
straße Unzucht mit ihm getrieben habe. Auf der Revierwache
konnte der Beschuldigte leicht nachweisen, daß er ohne Auf-
enthalt vom Schlesischen Bahnhofe gekommen war und die Kloster-
straße garnicht berührt hatte. Andererseits wurde festgestellt,
daß man in dem Angeber einen wegen ähnlicher Räubereien
schon mehrfach bestraften Menschen vor sich hatte. Die Folge
war, daß der Kaufmann wieder entlassen, Gusch dagegen ver-
haftet wurde.
— 1267 —
Erpressung an den Prinzen Franz Josef von Braganza
in London.
(Zeitungsausschnitte aus dem Berliner Tageblatt.)
Seltsame Abenteuer eines Prinzen, der Inkognitostudien machen
wollte, berichtet uns ein Privat-Telegramm, unseres Londoner
ß-Korrespondenten : Ein sensationelles Schauspiel spielte sich
gestern auf dem Southwarkgericht ab. Mehrere Individuen aus
dem verkommensten Osten Londons waren angeklagt, Erpressungs-
versuche an einem Mitgliede eines europäischen regierenden
Fürstenhauses unternommen zu haben. Die Namen des Anklägers
und des Verhafteten waren nicht, wie üblich, auf den Akten-
stücken, die die Presse einsehen darf, angegeben, und jedes
Ansuchen, sie zu nennen, wurde abgelehnt. Der Prinz soll am
Dienstag Abend seine ihm vom Hofe angewiesene Wohnung ver-
lassen und in einem fashionablen Hotel diniert haben, dann aber,
heißt es, hat er sich mit mehreren Fremden in eine Matrosen-
kneipe in Southwark begeben und ist dort unter unnennbaren
Umständen, mit seiner Umgebung verhaftet worden. Bis dahin
hatte niemand geahnt, daß die Hauptperson des Dramas ein
kaiserlicher oder königlicher Prinz sei. Die Polizei war wie zer-
schmettert, als sich dies herausstellte. Von einer einfachen Ent-
lassung konnte nicht die Rede sein, da die Polizei selbst ihre
Detektivs entsandt hatte, um das übelberüchtigte Lokal auszu-
heben. Man telephonierte an den Polizeipräsidenten, und nun
wurde die Sache so dargestellt, als ob der Prinz nach Southwark
zum Zweck der Erpressung verschleppt worden wäre. Die Namen
der Erpresser werden geheim gehalten. Die Hauptperson ist, so-
weit ich ermitteln konnte, entweder ein Prinz aus dem Südwesten
Europas oder aus einer größeren östlichen Monarchie. Die Ge-
schichte wird heute im „Morning Leader" publiziert, dessen Ge-
richtsreporter sich männlich weigerte, über die Angelegenheit
Stillschweigen zu beobachten, falls er zu der Verhandlung zu-
gelassen werden wollte. Die Verhandlung selbst scheint schließ-
lich von gestern auf heute vertagt worden zu sein.
Zu dem Londoner Prinzenabenteuer, von dem wir im
gestrigen Abendblatt Mitteilung machten, geht uns ein weiteres
Privat-Telegramm von unserem ß-Korrespondenten zu, welches
besagt, daß der Prinz nicht einem südwesteuropäischen, sondern
einem anderen Reiche angehört. Genaueres ist noch nicht bekannt
geworden.
Jahrbuch V. 80
— 1268 —
ß London, 27. Juni. (Privat -Telegramm.) Der in die von
uns gemeldete Skandalaffaire verwickelte Prinz ist gegen 80000
Mark Kaution losgelassen worden und in die Heimat zurück-
gekehrt.
Die Inkognito-Abenteuer eines Prinzen in London. Wir
erhalten zu dieser Angelegenheit, welche uns schon vor einiger
Zeit beschäftigt hat, folgendes Privat-Telegramm unseres ß-Kor-
respondenten aus London: Nachdem ein hiesiges Abendblatt
keinen Anstand genommen hat, den Namen des Prinzen zu ver-
öffentlichen, der in die schmutzige Geschichte im Eastend ver-
wickelt ist, liegt kein Grund mehr vor, damit länger zurück-
zuhalten. Es handelt sich um den 23jährigen Prinzen Franz
Joseph Braganza, der als Offizier in der österreichischen Armee
steht und sich im Gefolge des Erzherzog-Thronfolgers Franz
Ferdinand von Österreich befand. Prinz Franz Josef ist der
Sohn des Herzogs Miguel Braganza, königliche Hoheit, und
seiner verstorbenen Gemahlin, der Prinzessin Elisabeth von Thurn
und Taxis. Der junge Prinz stand heute (das heißt am gestrigen
Mittwoch) wieder vor dem Polizeigericht zu Southwark, gemein-
schaftlich mit Henry Chandler, 15 Jahre alt, eines Verbrechens
bezichtigt, ferner mit William Jerry, 24 Jahre alt, Buchmacher-
kommis, und Charles Shermann, 17 Jahre alt, Zeitungsverkäufer,
welche wegen Beihilfe und Anreizung angeklagt sind. Der Prinz,
ein blonder junger Mann, glattrasiert, mit dunklem Teint, welcher
in eleganter Morgentracht erschien, erhielt die Erlaubnis, nicht
mit den übrigen Angeklagten, schmutzig, ungewaschen und herab-
gekommen aussehenden Burschen, in dem Anklageraum Platz
nehmen zu müssen. Er stand neben diesen. Keine Namen wurden
aufgerufen, auch die Art des Verbrechens nicht näher bezeichnet.
Die Reporter erhielten keinen Einblick in die Rolle. Den Vorsitz
in der Verhandlung führte Richter Fenwick an Stelle des Richters
Chapman, der das erste Verhör geleitet hatte. Der Advokat Gill,
der die Verteidigung des Prinzen übernommen hatte, war nicht
erschienen, der Advokat Palmer vertrat Chandler und Sherman,
Gerry wurde nicht verteidigt. Der Vorsitzende Fenwick schloß
die Reporter und das Publikum von der Sitzung nicht aus, wie
letzthin Chapman. Der Sollicitor Muskett konstatierte dann, daß
t vom Polizeikommissar beauftragt worden sei, diese vier
entlemen auf Grund von Beschuldigungen zu verfolgen, die in
2m Aktenstücke, das im Einverständnis mit dem Advokaten des
— 1269 —
Prinzen der Fall um acht Tage vertagt werden solle, bis der
Richter Chapman, der schon einen' Teil des Falles untersucht
habe, darin fortfahren könne. Es sei daher vorläufig nicht nötig,
daß er irgend eine Erklärung abgebe. Nachdem auch der Advokat
Palmer in die Vertagung gewilligt, und beide Schutzleute bestätigt
hatten, daß ihre in der letzten Gerichtssitzung zu Protokoll ge-
gebenen Aussagen, die ihnen zur Einsicht vorgelegt wurden,,
richtig seien, wurde der Prinz, der bekanntlich eine hohe Bürg-
schaft gestellt hat, gegen diese entlassen. Die drei anderea
Angeklagten aber wurden ins Gefängnis abgeführt. Wir haben
bereits das Gerücht gemeldet, wonach die Verteidigung des
Prinzen sich darauf stützen werde, daß ein Erpressungsversuch
gegen ihn gemacht worden sei, dem er keine Folge gegeben .
habe; darauf sei die Anzeige bei der Polizei erstattet worden,
was nicht nur zur Verhaftung der drei anderen Angeklagten,
sondern auch zu der des Prinzen geführt habe. Das stimmt
aber nicht dazu, daß nach internationalem Recht Verhaftungen
von Personen im Gefolge eines exterritorialen Gesandten, wie es
der Erzherzog Franz Ferdinand zweifellos war, nur bei ihrer
Ergreifung in flagranti delicto zulässig sind.
London, 9. Juli. Bei der heutigen Wiederaufnahme des
Prozesses gegen den Prinzen Braganza wurde öffentlich unter
Nennung des Namens verhandelt. Der Vertreter der Polizei
modifizierte den ersten Antrag auf Verfolgung wegen schweren
sittlichen Vergehens in einen solchen wegen indezenten Ver-
haltens. Die Beweisaufnahme ergab, daß die Falle für den
Prinzen von langer Hand durch Mietung einer besonderen Wohnung
seitens des Buchmachers Gerry, der auch die Jungen gedungen
zu haben scheint, vorbereitet war. Doch ist noch unklar, ob der
Vermieter der Wohnung, der sich ein Loch in der Wand zu dem
gemieteten Zimmer zur Beobachtung gebohrt haben will und im
kritischen Moment die Polizei herbeiholte, mit im Komplott ist.
Der Prozeß wurde auf acht Tage vertagt. Die soziale Stellung
des Prinzen scheint durch den Prozeß nicht beeinträchtigt zu sein,
da er gestern mit dem Prinzen Teck, dem Fürsten Lichtenstein
und anderen hochgestellten Personen bei der Prinzessin Hatzfeldt
als Gast im Claridge-Hotel dinierte.
Der Prozeß Braganza. 18. VII. 02. Gestern wurde gegen den Her-
zog Braganza der Prozeß, der auf acht Tage vertagt war, fortgesetzt.
80*
— 1270 —
Ein Privat-Telegramm unseres Londoner ß- Korrespondenten
meldet uns: Bei der Fortsetzung der Beweisaufnahme ergab das
Verhör mit den Polizisten, daß der Herzog Braganza versucht
hatte, den ihn verhaftenden Polizisten durch Nennung seines
Namens und Standes zu bestimmen, ihn freizulassen, was
der Polizist — wie später auch der Vorstand des Polizei-
bureaus — ablehnte. Der Prinz selbst sagte aus, er sei
in das Haus, wo seine Verhaftung stattfand, von den mit-
angeklagten Burschen verschleppt worden. Der Prinz erklärte,
an dem Tage seiner Verhaftung reichlich Champagner getrunken
zu haben, wogegen die Polizisten behaupteten, er sei vollständig
nüchtern gewesen. Der Prinz versicherte schließlich auf seine
Ehre, daß die gegen ihn erhobene Anklage absolut unbegründet
sei. Die Verhandlung wurde auf acht Tage vertagt.
London, 24. Juli. Der Prinz von Braganza vor Gericht. Bei
der heutigen Wiederaufnahme des Vorverfahrens gegen den
Prinzen Franz Josef von Braganza und Genossen, von denen
die beiden jungen Burschen heute gewaschen und mit zwei
weißen Kragen versehen waren, erschienen als Zeugen des Prinzen
dessen Bruder Miguel und ein Freund Graf Sizzo, die bekundeten,
daß der Prinz Franz Josef in jener verhängnisvollen Nacht zum
Diner und Souper stark getrunken hatte und nicht nüchtern war.
Auch habe er ein Rendezvous mit einer Dame Nachts um \2l/9
Uhr am Empire verabredet. Die Rede des Verteidigers des Prinzen
stützte sich auf drei Punkte: Nach ärztlichem Zeugnis sei kein
Verbrechen verübt worden, ferner habe der Hauswirt, der dies
konstatiert haben will, nach Zeugenaussagen nicht durchs Schlüssel-
loch sehen können und sei erst später mit seiner Aussage heraus-
gerückt, daß er sich ein Spionierloch in die Wand gebohrt habe,
und schließlich liege ein offenbarer Erpressungsversuch vor. Der
Richter Chapman erklärte, es sei nicht unmöglich, daß der Prinz
in eine Falle gelockt wurde, aber er könne sich nicht überzeugen,
daß der Prinz in aller Unschuld das fragliche Haus betreten habe.
Er wolle nicht den Funktionen der Jury vorgreifen, und wenn er
den Prinzen freispreche, so beschuldige er die Zeugen Burbedge
und Street, die durchs Spionierloch gesehen haben wollen, des
Meineids. Das könne er nicht, obwohl in analogen Fällen Er-
pressung sehr wahrscheinlich, müsse er den Fall vor die Ge-
schworenen verweisen. Der Prinz und Genossen wurden dem
— 1271 —
Old Bailey-Gericht überwiesen, der Prinz aber gegen Kaution
auf freiem Fuße belassen.
Als Sir Edward Clarke plaidierte und gerade erklärte,
es liege ein Erpressungskomplott gegen den Prinzen vor, ereignete
sich eine überraschende Unterbrechung. Ein gutgekleideter Hen-
nef aus dem Publikum: „Ja wohl, es ist eine Erpressung, eine
Erpressung!" Der Richter verfügte, daß der Herr aus dem Saale
entfernt werde. Dieser aber rief, während die Polizisten ihn
hinausführten, nochmals: „Es ist eine Erpressung, sonst nichts;
ich gehe nicht, bevor ich alles gesagt habe; ich habe Derartiges
selbst erlitten". Straßburger Post, 27. VII. 02.
Prinz Franz Josef Braganza vor Gericht. 11. VII. 02. VordemCen-
tralkriminalgerichtshofe in London wurde wiederum gegen Prinz
Josef von Braganza und drei Mitangeklagte im Alter von 15, 17 und
24 Jahren wegen eines angeblichen Vergehens gegen die Sittlich-
keit verhandelt. Die Angelegenheit hat uns schon öfter be-
schäftigt. Der Sachverhalt stellte sich nach der Verhandlung wie
folgt heraus: Prinz Franz Josef von Braganza, 23 Jahre alt und
österreichischer Offizier, war zu den Krönungsfeierlichkeiten nach
London gekommen. Der älteste Mitangeklagte, ein Kommis,
mietete in der Duke Street zwei Zimmer, über deren Verwendung
er sich nicht äußerte. Es zogen sodann die beiden jugendlichen
Arbeiter, Chandler und Shermann, zu ihm. Der Hauswirt will die
jungen Leute von Anfang an in Verdacht gehabt haben, und er
beobachtete sie deshalb. Am 24. Juni legte er sich mit einem
anderen Hausbewohner auf die Lauer, und sie sahen, wie die
beiden Knaben mit einem elegant gekleideten Herrn, dem Prinzen,
gegen Mitternacht nach Hause kamen. Sie wollen sodann durch
das Schlüsselloch und ein Loch, welches sie mit einem Feder-
messer in die Tür geschnitten hatten, beobachtet haben, was der
Prinz mit dem Knaben vornahm. Es wurde Polizei dazu gerufen
und sämtliche Beteiligte verhaftet; den Kommis faßte man auf der
Treppe ab. Auffällig war es, daß bei der Voruntersuchung der
Hauswirt und sein Genosse versäumten, das mit dem Federmesser
in die Tür geschnittene Loch zu erwähnen, und daß sie davon
erst Mitteilung machten, als eine Lokaluntersuchung ergab, daß
sie durch das Schlüsselloch gar nicht hatten beobachten können,
was sie angeblich beobachtet haben wollen. Es liegt demnach
der Verdacht nahe, daß es sich um einen Erpressungsversuch
— 1272 —
gegen den Prinzen handelte, und daß der Prinz sich unbegreiflicher-
weise unter irgend einem Vorwande von den zerlumpten Knaben
in das Haus locken ließ. Der Prinz selbst leugnet die Tat, deren
er beschuldigt wird. Er behauptet, einen Sektfausch gehabt zu
haben, und in diesem den Knaben Gehör geschenkt zu haben,
die ihm gesagt hätten, sie würden ihn in lustige Gesellschaft
führen. Er will dadurch auch erklären, wie es zu verstehen ist,
daß er den Knaben Goldstücke gab, die bei diesen gefunden
wurden. Die Verhandlungen fanden gestern noch nicht ihren
Abschluß.
Der Prinz Braganza freigesprochen! 13. 9. 02. Das ist der
Schlußakt der sensationellen Abenteuer des zur Krönungsfeier König
Eduards nach London entsandten Prinzen aus dem früher in Por-
tugal regierenden Hause. Ein Privat-Telegramm unseres Londoner
Vertreters meldet uns: Die Geschworenen des Old-Baily-Gerichtes
landen keine Beweise für das dem Prinzen Franz Josef von Braganza
-zur Last gelegte Sittlichkeitsvergehen und sprachen ihn frei.
Prinz Franz Josef von Braganza unter Curatel gestellt.
Mit Genehmigung des Wiener Landgerichts wurde, wie uns ein
Telegramm unsers na.-Korrespondenten aus der österreichischen
Hauptstadt meldet, über den Prinzen Franz Josef von Braganza,
Leutnant im ungarischen Husaren-Regiment Nr. 7, Curatel ver-
hängt; zum Curator ist Prinz Karl Ludwig von Thurn und Taxis
bestellt worden. Die gerichtliche Verfügung geschah mit Zu-
stimmung des Prinzen von Braganza, doch wird im Amtsblatt
der Wiener Zeitung, wo der Gerichtsbeschluß publiziert wird,
nicht gesagt, ob die Entmündigung wegen Verschwendung oder
geminderter Zurechnungsfähigkeit des Prinzen erfolgte. Prinz
Franz Josef von Braganza hatte in der letzten Zeit oft von
sich reden gemacht, da er ja in den viel erörterten peinlichen
Prozeß in London verwickelt war, bei dem er indessen von der
Anklage, ein Sittlichkeitsverbrechen begangen zu haben, frei-
gesprochen wurde.
Einige Urteile der Presse zum Fall Braganza.
I. Zum Londoner Skandal schreibt uns ein Angehöriger der
österreichischen Aristokratie: Abermals hat sich in London
ein eigenartiger „Skandal" ereignet, der geeignet ist, seine Vor-
gänger gleichen Genres, den Cleveland-Street-Skandal vom Jahre
— 1273 —
1889 und jenen des Jahres 1895, dessen Opfer der bekannte
englische Schriftsteller Oskar Wilde wurde, an Sensation noch
zu übertreffen. Wohl war auch im Cleveland-Street-Skandal
eine fürstliche Persönlichkeit, der verstorbene Herzog von
Clarence, Englands Thronerbe, der, wenn er nicht gestorben,
heute den Titel eines Prinzen von Wales führen würde — be-
troffen, allein die Sache wurde vertuscht. Der Skandal von
1902 aber steht unübertroffen da, denn am vergangenen Mittwoch
stand vor einem englischen Richter Prinz Franz Josef von
Braganza, der Enkel Dom Miguel's — der einige Zeit hindurch
den portugiesischen Königstitel getragen, auf welchen er freilich
am 26. Mai 1854 verzichtete, aber nur, um diesen Verzicht schon
am 1. Juni desselben Jahres in Genua zu widerrufen — , der
Neffe der Erzherzogin Maria Theresia, der Stiefmutter des
österreichischen Thronfolgers, der Neffe der Erbgroßherzogin
von Luxemburg, das Patenkind des Kaisers von Österreich. Er
befand sich im Gefolge des Erzherzogs Franz Ferdinand von
Österreich-Este, seines Stiefkousins, um an der — nun auf-
geschobenen — Krönung des Königs von England als offizieller
Gast teilzunehmen. Nach den Zeitungsberichten soll er unter
eigentümlichen Umständen verhaftet worden sein; er soll eine
unsittliche Handlung mit dem jungen Burschen Henry Chandler
vorgenommen und dabei ertappt worden sein. Auch diesmal
wird es nicht an Stimmen fehlen, die da meinen, es handle sich
um einen Wüstling, der in rastloser Jagd nach neuen Genüssen
schließlich zu sexuellem Verkehr mit dem eigenen Gechlechte
gelangt ist. Auf alles wird man verfallen, nur nicht auf den
eigentlichen Grund, daß es sich bei dem Prinzen von Braganza
um eine jener zahlreichen „sexuellen Zwischenstufen" handelt,
für welche seit Jahren hervorragende Männer Deutschlands ein-
getreten sind, um für sie den § 175 bei der Revision des Straf-
gesetzbuches zu tilgen. — Das wissenschaftlich -humanitäre
Komitee veröffentlicht Jahrbücher, und im vorletzten dritten
Bande derselben vom vorigen Jahre befindet sich ein Artikel
von Dr. M. Hirschfeld „Sind sexuelle Zwischenstufen zur Ehe
geeignet?" In diesem Artikel lesen wir S. 63— 68 die Biographie
eines jungen Mannes, der seit einer Reihe von Jahren in Wien
nur in weiblicher Kleidung sein Leben verbringt. Er machte die
Bekanntschaft einer jungen Dame, die, ihrer Neigung zum weib-
lichen Geschlecht entsprechend, es wiederum liebt, in männlicher
Kleidung zu erscheinen. Auf Seite 68 des genannten Werkes
— 1274 —
liest man: „Ich lernte bei ihr auch einen Prinzen aus könig-
lichem Hause, der im gewöhnlichen Leben Leutnant in einem
Kavallerie-Regimente ist, in einem reizenden, duftigen Kleidchen
aus weißem Tautropfentüll mit Maiglöckchen usw. kennen. Er
klagte sehr über seine Stellung, wie gern würde er die Uniform
mit Mädchenkleidern, den Säbel mit dem Fächer vertauschen, der
arme Junge!" — Die königlichen Prinzen im österreichischen
Heere sind nicht so reichlich vertreten, daß man nicht sofort an
den äußerst mädchenhaft aussehenden Prinzen von Braganza
denken müßte. Wer ihn kennt und um die Tatsache der Über-
gangsstufen vom weiblichen zum männlichen Geschlechte Bescheid
weiß, für den ist es klar, daß gerade dieser Prinz einer solchen
angehört. Und ist dies so selten? Freilich dringen nur die
Fälle, welche hohe Persönlichkeiten betreffen, in die Öffentlichkeit.
Aber nicht bloß Prinzen und Aristokraten, sondern Angehörige
jedes Standes bis zu den einfachsten Arbeitern finden sich im
„dritten Geschlecht". Es ist bei dem Prinzen von Braganza
wohl ganz ausgeschlossen, daß man ihn einen „Wüstling" nennen
könnte. Man kann doch nicht annehmen, daß er, der am
7. September 1870 geboren wurde, in den paar Jahren, seitdem
er elterlicher Aufsicht und der Erziehung seiner Lehrer ent-
wachsen war, schon von normalem Verkehr tibersättigt ist. Ein
Umstand spricht allerdings gegen ihn, nämlich, daß sein Komplize
erst fünfzehn Jahre alt ist. Wahrscheinlich dürfte aber hier ein
Fall von frühreifer Körperentwickelung vorhanden sein, der
Bursche wahrscheinlich einen viel älteren Eindruck machen und
— last not least — von seinen Genossen und Helfershelfern
William Gerry, dem Buchmacherkommis und dem Zeitungs-
verkäufer Charles Sherman gründlich abgerichtet worden sein.
Vielleicht trägt gerade diese „cause cetebre" zu besserem Ver-
ständnis der so häufigen Fälle derselben Art bei; vielleicht sieht
man endlich einmal ein, daß eine Notwendigkeit für den § 175
nicht besteht. Hätte der Prinz in Italien oder Frankreich einen
solchen Anfall erleiden können? Nein; denn in diesen Ländern
existiert kein derartiger Paragraph. — Dort wäre es zu keinem
Skandal gekommen, dort wäre nicht ein junges hoffnungsreiches
Leben für immer „gesellschaftlich unmöglich" gemacht worden.
Möge der Prinz sich mit dem Märtyrer -Gedanken trösten, daß
jeder Fall, der in die Öffentlichkeit dringt, sein Scherflein dazu
beiträgt, bei gebildeten, vorurteilsfreien Leuten bessere Ansichten
über die sexuellen Zwischenstufen zu verbreiten, bis endlich
— 1275 —
allgemein eingesehen wird, daß von der Natur Gegebenes nicht
auszurotten ist. (Aus dem „Kampf", Nr. 57.)
II. Die Nachricht, daß Prinz Franz Josef von Braganza unter
Kuratel gestellt ist, hat ebenso wie dessen bekannte Londoner
Affaire einem Teile der Presse des In- und Auslandes den Anlaß
zu mehrfachen Entstellungen der Tatsachen und zu persönlichen
Verunglimpfungen des Prinzen gegeben. So heißt es u. A., der
Freispruch der englischen Jury sei lediglich wegen ungenügenden
Beweismaterials erfolgt, die wirkliche Unschuld des Prinzen sei
nicht ausgesprochen worden, die Kuratel sei dann über ihn wegen
seiner geistigen Beschränktheit verhängt und dergleichen. Dem-
gegenüber stellen wir fest, daß in der Gerichtsverhandlung die
vollständige Unschuld des Prinzen an den ihm zur Last gelegten
Dingen rückhaltlos und in der allerbestimmtesten Weise anerkannt
und ausgesprochen worden ist. Das unnachsichtig strenge Ver-
fahren in der gerichtlichen Untersuchung der Sache hat dem
schwer verdächtigten Prinzen nur zum Vorteil gereicht, indem da-
durch klar zu Tage trat, daß er das Opfer eines Komplots
schmutziger Erpresser geworden war. Deshalb sah sich der
Kronanwalt, nachdem das gesamte Anklagematerial der Jury vor-
gelegt war, zu der Erklärung veranlaßt, er stelle es der Jury an-
heim, ob sie den Fall weiter anhören oder den Prinzen ohne
Weiteres freisprechen wolle. Auf die entsprechende Anfrage des
Vorsitzenden Richters lehnte sodann die Jury es ab, die Zeugen
der Verteidigung zu hören und sprach den Prinzen frei, weil kein
der Widerlegung bedürftiges Anklagematerial vorliege. Der Ver-
teidiger des Prinzen gab noch die Erklärung ab, er würde diesem
Abbruche des Prozesses nicht zustimmen, wenn nicht alle, auch
die schlimmsten gegen seinen Klienten erhobenen Anklagen voll
und ganz der Öffentlichkeit vorlägen, und wenn nicht insbesondere
der Prinz selber Gelegenheit erhalten hätte, unter seinem Eide
und auf sein Ehrenwort als Gentleman eine vollständige Auf-
klärung des ganzen Vorfalles abzugeben. Der Vorsitzende Richter
erklärte sich mit diesen Worten vollkommen einverstanden. Der
endgültige Urteilsspruch der Jury stellt sich somit als die glän-
zendste Rehabilitierung des Prinzen dar, die nach der Gerichts-
ordnung möglich war. — Was die Kuratel betrifft, so hat sich
der Prinz durch wohlmeinenden Rat bestimmen lassen, sich frei-
willig unter Kuratel zu stellen, bis er durch ein gesetzteres Alter
und eine reifere Erfahrung weniger den Gefahren des jugend-
— 1276 —
liehen Leichtsinnes ausgesetzt und besonders auch gegen die
Unbesonnenheiten seines guten und großmütigen Herzens mehr
gesichert sein würde, welches in Verbindung mit der ihm an-
geborenen vertrauensseligen Arglosigkeit den Prinzen zwar all-
gemein beliebt machte, aber auch vielfach mißbraucht und aus-
gebeutet werden ließ. Daß endlich der Prinz veranlaßt wurde,
um seine Entlassung aus dem österreichischen Armeeverbande
einzukommen, ist in höheren militärischen Kreisen lebhaft be-
dauert worden. Die unmittelbaren militärischen Vorgesetzten
haben den jungen talentvollen Prinzen, der durch seine glänzend
bestandenen militärischen Prüfungen und durch seine Tüchtigkeit
als Offizier sich ihres besonderen Lobes erfreute, nur ungern aus
der Armee scheiden sehen. Auch von dieser Entlassungsgeschichte
sind uns die näheren Umstände bekannt; es genüge die Bemerkung,
daß der Schatten, welchen dieselbe wirft, nicht auf den Prinzen
Franz Joseph fällt. Aus der Germania. 30. 10. 02.
III. Einer der zur Krönung nach London gekommenen Fürsten,
der Prinz Franz Braganza, ist bei dem Bestreben, die durch den
Aufschub der Krönung heraufbeschworene Langeweile durch ge-
legentliche Abenteuer zu bannen, in einen Prozeß verwickelt
worden, von dem — trotz sorgfältigster Geheimhaltung des Tat-
bestandes und hermetischen Abschlusses der Verhandlungen
gegen die Öffentlichkeit — soviel sich erkennen läßt, daß ein
Vergleich mit dem Prozeß des unglücklichen Oskar Wilde sich
aufdrängt. Dieser, einer der hervorragendsten Dichter der Neu-
zeit, wurde um die Mitte des letzten Jahrzehnts des verflossenen
Jahrhunderts von einem englischen Gerichtshof zu zwei Jahren
Zuchthaus verurteilt wegen eines Delikts, gegen das sich im
deutschen Reichsstrafgesetzbuch der § 175 richtet, der von der
„widernatürlichen Unzucht", vom Umgang von Personen männlichen
Geschlechts miteinander handelt. Mit dem Thema selbst be-
schäftigt sich ein Aufsatz in einer der nächsten Nummern des
a. T. Hier soll nur auf den äußerlichen Unterschied hingewiesen
werden, der sich in der Behandlung des Prinzen gegenüber der
des Dichters zeigt, eines Dichters, der einst zu den Lieblingen
der Londoner Gesellschaft gehörte. Beide sind Opfer von Er-
pressern geworden, mit dem Unterschiede, daß Wilde als deren
Verführer, der Prinz als der von ihnen Verführte behandelt
ward. Wilde, gegen den die peinliche Gerichtsverhandlung in
breitester Öffentlichkeit und entehrendster Form geführt wurde,
— 1277 —
litt unter der brutalen Behandlung dermaßen, daß er nach Ver-
büßung seiner Strafe das Zuchthaus in völlig gebrochener Ver-
fassung verließ und kurze Zeit darauf den Leiden erlag, die ihn
das an sich barbarische, gegen ihn besonders rigoros gehand-
habte Strafrecht Englands zugefügt. — Der Prozeß gegen den
Prinzen zeigt ein anderes Bild: wie schon gesagt, wickeln sich
die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen ab, aber auch
die Art des „Verbrechens" gelangt nicht zur Erwähnung, keine
Namen werden aufgerufen, und der Prinz erhielt die Erlaubnis,
nicht mit den übrigen Angeklagten, schmutzigen, heruntergekom-
menen Burschen, auf der Anklagebank Platz nehmen zu müssen.
— Die Gegenüberstellung zeigt, daß auch die modernen Justiz-
puritaner Englands zweierlei Maß kennen und höfisch zu kratz-
fußen verstehen. Die alten Rundköpfe, die einst mit einer Art
frommer Pedanterie ihren König geköpft, mögen sich im Grabe
umdrehen. (Der arme Teufel).
IV. Das Abenteuer des Prinzen von Braganza. Darüber lesen
wir in der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung" folgende
Darstellung: Der wegen eines straf gesetzlich verpönten un-
sittlichen Aktes angeklagte Prinz Franz Josef von Braganza wurde
von den Geschworenen freigesprochen, da die Anklage zurück-
gezogen war. Es wäre gehässig, wenn wir unsererseits die
Frage, ob schuldig oder nicht, nachträglich erörtern wollten; jeden-
falls war der Prinz schwer betrunken, ortsunkundig und in die Hände
abgefeimter Halunken gefallen. Da aber kaum anzunehmen ist,
daß die Wiener Presse über die Angelegenheit objektiv berichten
wird, sollen doch einige Punkte hervorgehoben werden, die die
Sache denn doch nicht gar so einfach erscheinen lassen. Vor
allem ist zu berücksichtigen, daß, wiewohl die Anklage gegen
den Prinzen zurückgezogen wurde, die drei Burschen, seine
Mitangeklagten, schuldig befunden wurden, sich zur Vermittlung
eben jenes strafbaren Aktes verabredet zu haben. Sie selbst
gaben das nachträglich zu, mit der Begründung, daß sie den
Prinzen ausrauben oder, wie die Geschworenen und das Gericht
annahmen, eine Erpressung an ihm begehen wollten. Also, wohl-
gemerkt: die drei Burschen wurden verurteilt, nicht wegen ver-
suchter Erpressung, sondern wegen Vorschubleistung zu jenem
Vergehen, das tatsächlich verübt zu haben der Prinz unschuldig
befunden wurde. Die Anklage gegen ihn wurde auch darum zurück-
gezogen, weil der Aussage der zwei Belastungszeugen, die Augen-
— 1278 —
zeugen der unsittlichen Handlung gewesen zu sein vorgaben,
nicht Glauben geschenkt wurde. Das Kreuzverhör drehte sich
darum, ob sie, was sie gesehen zu haben vorgaben, durchs
Schlüsselloch gesehen haben konnten, und ob ein Loch in der-
Tür, durch das sie geguckt haben wollten, ihnen erst nachträglich,
zur besseren Begründung ihrer Aussage, eingefallen sei. Das
Kreuzverhör war, wie gewöhnlich in solchen Fragen, ohne jedes
positive Ergebnis nach der einen oder der anderen Richtung hin.
Jedenfalls genießt der Hauptzeuge vorzüglichen Leumund, während
gegen den anderen eine schlechte militärische Konduite vorliegt;
mit den anderen Burschen konnten sie natürlich nicht zusammen
operiert haben, und ihr Vorgehen, namentlich das Anrufen der
Polizei, läßt wohl kaum auf eine selbständige Erpressungsabsicht .
schließen. Zugegeben wurde auch, daß der Prinz in sehr ver-
dächtiger Verfassung im Bette der Jungen gefunden wurde. Die
Verantwortung des Prinzen ging, so viel sich entnehmen läßt,
dahin, daß ihn die zwei von den Burschen nach dem Empire-
Variete bringen sollten, ihn aber statt dessen zu sich nach Hause
brachten oder auch, wenigstens so hieß es in der Vorunter-
suchung, daß sie ihm ein Freudenhaus zeigen sollten. Prinz
Braganza hat alle Ursache, sich selbst Glück zu wünschen. Er
hat Anspruch darauf,, daß, soweit er in Betracht kommt, die Sache
als erledigt betrachtet wird. Und so verdächtig manche Um-
stände erscheinen mögen, so soll nicht vergessen werden, daß,
wer aus Unbedachtsamkeit oder in trunkenem Zustande in die
Hände solcher Schandbuben gerät, mit teuflischem Geschick in
eine fast hoffnungslos kompromittierende Lage gebracht werden
kann. Nichtsdestoweniger muß das Verhalten der englischen
Gerichtsbehörden als geradezu skandalös parteiisch bezeichnet
werden. Da war zunächst der Polizeirichter, der den Namen des
Prinzen geheimhalten wollte; dann der Richter, der der über die
Versetzung in den Anklagezustand entscheidenden Jury eine
negative Entscheidung geradezu in den Mund legte, allerdings
vergeblich. Endlich das Verhalten der Behörden in der Ver-
handlung selbst! Ohne dem Prinzen nahetreten zu wollen, ja
zugegeben, daß er ohne Verschulden in diese fürchterliche Lage
gebracht worden — es war offenkundig der Jury zu überlassen,
ihm die Rechtswohltat des Zweifels zu gute kommen zu lassen,
eine Rückziehung der Anklage aber unter solchen Umständen
ganz unerhört.
— 1279 —
München, 23. April. Zur Abwehr des Erpressertums. Ein
Gerichtssaalbericht jüngstvergangener Tage, der eine Darstellung
der Praktiken einer typischen Erpresserklasse brachte, gibt uns
Veranlassung, vom Standpunkt des objektiven Beobachters aus
diese Zustände zu beleuchten und die Mittel zur Abwehr ernster
Erwägung anheimzustellen. Wir denken an jene Gruppe höchst
zweifelhafter Existenzen, welche die wirklichen oder vermeintlichen
Anhänger des „dritten Geschlechts" oder, wie man auch sagt,
die homosexuell Veranlagten mit — bedauerlicherweise meist
trefflichem — Erfolg in die Enge zu treiben wissen, nachdem sie
auf scheinbar mehr oder minder harmlose Art sich rasch in das
Vertrauen ihrer späteren Opfer einzuschleichen verstanden oder
auch, der häufigste Fall, in gröberer Art eine direkte Verführung
ins Werk gesetzt haben. Es ist nicht Aufgabe dieser Zeilen, die
Bedeutung und Tragweite der sogenannten Homosexualität zu
erörtern. Die traurige Lage, worin sich die mit dieser Anlage
Behafteten versetzt sehen, verdient vielleicht mehr Mitleid als Ab-
scheu. Aber man mag über den sie betreffenden Paragraphen
des Strafgesetzbuches denken wie man will, er hat die eine offen-
kundige und vielbeklagte Folge, daß er ein Gezücht des elendsten
und nichtswürdigsten Erpressergesindels großgezogen hat, das
nicht nur eine Geißel der im Sinne jenes Paragraphen Schuldigen,
sondern auch vollkommen unschuldiger, wenn auch leider nicht
charakterfester Personen geworden ist. Denn wie auch in dem
Gerichtsfalle, der den Anlaß zu dieser Betrachtung geboten hat,
sehr häufig werden die Kunstgriffe der Erpresser auch an Personen
geübt, welche in keiner Weise homosexueller Natur sind, deren
behäbiges und vor allem einen wohlgespickten Geldbeutel ver-
ratendes Äußere aber — es handelt sich zumeist um ältere
Herren — dem hoffnungsvollen Jünger der Kunst, Daumen-
schrauben behufs Gelderpressungen anzulegen, den Eindruck
eines wohlgeeigneten Objektes macht. In allen Großstädten, be-
klagenswerterweise auch schon in unserem schönen München,
hat sich diese Art des Gaunertums, insbesondere an gewissen
Plätzen, in einer Weise breit gemacht, von der die wenigsten eine
nur entfernte Vorstellung haben. Es ist kaum glaublich, nicht
nur wie viele an sich gewiß höchst ehrenwerte Menschen durch
solche Blutsauger zu leiden haben, sondern auch, welch' scham-
lose Mittel von den letzteren zur Erreichung ihrer Zwecke
angewendet zu werden pflegen. Wenn man zur Bekämpfung
dieses abscheulichen Unwesens die polizeiliche Gewalt anzurufen
— 1280 —
geneigt sein sollte, so darf man nicht vergessen, daß ein solches
Vorgehen weit leichter geraten, als getan ist. Man mag hundertmal
beim Anblick, sogar bei einem gewissen verdächtigen Herum-
streichen eines Burschen der Überzeugung sein, daß er jener ge-
fährlichen Sorte zugehört — zu einem Einschreiten in der Form
der Verhaftung fehlt aber eben meist der äußere Anlaß. Es gibt
auch in der Tat nur ein wirklich geeignetes Mittel, jenem Treiben
wirksam Halt zu gebieten: die Selbsthilfe und darüber hinaus der
heilsame Schrecken der Angehörigen dieser sauberen Gilde, welchen
eine konsequent durchgeführte Selbsthilfe erzeugen wird. Zu-
nächst ist es ja eigentlich — ein Moment, das unseres Erachtens
viel zu wenig bisher hervorgehoben wurde — ein Gebot der
persönlichen Würde, der Selbstachtung, Menschen der niedrigsten
Art, denen kein Mittel schlecht genug ist, wenn es nur Geld
bringt, über sich nicht im geringsten Macht gewinnen zu lassen.
Es muß wohl ein wahrhaft furchtbares Gefühl sein, von einem
Gesindel schlimmster Art abzuhängen — wenn man nicht den
Mut findet, sich selbst zu befreien. Der Einwurf liegt freilich
nahe : Man scheut sich, einen sogenannten Skandal zu provozieren
und — vielfach besteht nach unseren derzeitigen Strafbestimmungen
für den Geängstigten selbst Gefahr, in eine strafrechtliche Ver-
folgung verwickelt zu werden. Darauf gibt es eine sehr einfache
Antwort: Was ist besser, sich zeitlebens von solchen Subjekten
quälen zu lassen oder aber ein entschiedenes, energisches Ende
— in praxi in einer Strafanzeige wegen Erpressung bestehend —
selbst auf die Gefahr persönlicher Verwicklungen hin zu machen?
Die Entscheidung wird nicht schwer zu fällen sein. Man braucht,
um klar zu sehen, nur in Betracht zu ziehen, daß ein gewohnheits-
und gewerbsmäßiger Erpresser, wenn er ein schlaffes und furcht-
sames Opfer vor sich sieht, in seinen Forderungen unter einer
Skala von Vorwänden (die den Kenner der Verhältnisse wohl-
bekannt sind) immer dreister und unverschämter wird, ja, daß er
den Unglücklichen in Verzweiflung und in den Tod treibt. Ein
trauriges Beispiel haben wir in diesen Tagen, seltsamerweise fast
gleichzeitig mit der Verhandlung des Falles, welcher den Anlaß
zu den gegenwärtigen Darlegungen geboten hat, an dem Schicksat
des Freiherrn v. H. erlebt. Das sind aber dieselben Erpresser,
welche sich furchtsam zu verkriechen pflegen — die dreiste Roheit
und die Feigheit treffen ja gewöhnlich zusammen — , wenn man
ihnen die Zähne zeigt. Wenn sich doch endlich alle diejenigen,
die von derartigen Menschen geplagt und verfolgt werden, zu
— 1281 —
dem festen, ruhigen Entschluß aufraffen könnten, von Anfang an
jeder unverfrorenen Zumutung dieser Art ein entschiedenes Nein
entgegenzusetzen! Demgegenüber ist der normale Verlauf der
Dinge so, daß der Gepeinigte alle Geldopfer bringt, die ihm seine
finanzielle Lage nur irgend gestattet, und endlich dann noch, zur
Verzweiflung getrieben, zu einer Anzeige schreitet oder sich an-
waltschaftlichen Schutz sichert. Wie naiv selbst hochgebildete
Männer, die in eine solche üble Lage geraten, sich oft helfen zu
können vermeinen, zeigt die Tatsache, daß sie (nach vielen An-
zapfungen) noch ein letztes Opfer bringen wollen gegen eine
unterschriftliche Bestätigung des Erpressers, daß nichts Strafbares
vorgefallen sei — denn unbegreiflicherweise lassen sich auch
solche, die sich nichts gerade Gesetzwidriges zu Schulden kommen
ließen, gewöhnlich mit Rücksicht auf familiäre Beziehungen etc.
quälen — oder daß der Blutsauger auszuwandern verspricht etc.
Als ob dies eine Waffe wäre gegen Menschen, die selbstver-
ständlich keine Spur von Ehrbegriffen haben! Einen solchen Kerl
kann man ja auch unterschreiben lassen, daß er der größte
Gauner auf Erden sei — er unterschreibt es mit Vergnügen, wenn
er nur Geld sieht. Der Erfolg bleibt derselbe — die Erpressung
wird fortgesetzt. Gibt man wenig Geld, so hat man das Ver-
gnügen, den angenehmen Besuch recht häufig bei sich zu sehen ;
entschließt man sich zu einem großen Geldopfer, so hat man eine
etwas längere Ruhepause — das ist der ganze Unterschied. So-
lange der Einzelne sich scheut, den mutigen Schritt zu tun und
jene Subjekte der verdienten Bestrafung zuzuführen, werden sich
die Zustände nicht bessern. Geschieht dies aber einmal, zeigt
sich mehr Festigkeit und Entschlossenheit — und derjenige, der
die Sache nicht selbst in die Hand nehmen will, hat es ja leicht,
Rechtsschutz durch einen Anwalt zu finden — , dann wird alsbald
eine Änderung eintreten. Die polizeilichen Organe haben An-
haltspunkte, sie werden mit größerem Erfolg ihre Maßnahmen
treffen können, und man arbeitet so auch einem wichtigen Zweig
der öffentlichen Wohlfahrt in die Hände. Natürlich ist es dem
Einzelnen lediglich darum zu tun, sich selbst zu befreien, aber
sein entschlossenes Vorgehen wird dann auf die Allgemeinheit
zurückwirken, und er wird sein Teil dazu beitragen, daß ein
Nachtgebiet des Großstadtlebens erhellt und ein unwürdiges und
schmachvolles Treiben, wo nicht aufgehoben, so doch nach
Möglichkeit eingedämmt werde.
(Leitartikel a. d. Münchener Neuesten Nachrichten v. 23. IV. 03.)
— 1282 —
Das Bockenheimer Schwesterdrama. Zwei Krankenschwestern,
in der Blüte ihrer Jahre stehend, ausgezeichnet durch eine Intelli-
genz, welche ihnen die Anerkennung aller Vorgesetzten verschaffte,
gingen gemeinsam in den Tod und wurden in „inniger Umarmung"
leblos im Bette aufgefunden. Der Fall gibt zu denken. Die eine,
Ulli Löther, ist gerettet worden, trotzdem wird die Welt nie er-
fahren, was die Beiden veranlaßte, den Tod zu suchen. Die
Überlebende wird allerhand Ausreden erfinden, welche die Tragödie
aufklären sollte, in Wirklichkeit wird diese traurige Tat höchstens
durch einen Zufall aufgeklärt werden. Einen Fingerzeig zur Be-
urteilung dieses psychopathologischen Falles gibt die innige Um-
armung der Beiden und „die auffällig intime Freundschaft", von
der die Berichte sprechen. Wer Krafft-Ebing kennt, dem wird
ein Licht aufgehen; wenigstens herrscht in ärztlichen Kreisen über
die wahrscheinliche Ursache dieses Doppelselbstmords kaum ein
Zweifel. Sollte es wirklich bloß ein Zufall sein, daß die Berichte
aller Blätter in auffälliger Übereinstimmung die innige Zuneigung
der beiden Mädchen, die Tatsache, daß sie öfters zusammen
nächtigten und die letzte Todesumarmung so sehr hervorheben..
Man fragt sich vergebens, weßhalb suchten Beide den Tod! Sie
waren nicht krank, wenigstens nicht äußerlich wahrnehmbar geistig
oder körperlich, sie lebten in ruhiger und korrekter Erfüllung
ihrer Berufspflichten, sie hatten keine von außen kommende Ur-
sache, den Tod zu suchen. Weßhalb also! Es bleibt nur das
psycho -pathologische Moment dieses Selbstmords- und Mord-
versuchs übrig. Sollten die beiden Mädchen aus übergroßer
Liebe zu einander den Tod gesucht haben? Der vor kurzem in
Wien verstorbene Psychiater Freiherr von Krafft-Ebing könnte das
Rätsel dieser Tat lösen. Der berühmte Forscher hat in seiner
Psychopathia sexualis uns in seinen zahlreichen Studien auf dem
Gebiet des Nervenwesens manches enthüllt, für das uns seither
das positive.Verständnis fehlte. Er würde auch den Bockenheimer
Fall in das Bereich seiner Studien gezogen haben. Aber man
braucht gerade keine fachwissenschaftlichen Kenntnisse auf diesem
Gebiet zu besitzen, um zu Vermutungen zu gelangen, welche die
Tat der beiden Schwestern als eine in unzurechnungsfähigem Zu-
stand geschehene erscheinen lassen. Sollten — was man natürlich
niemals behaupten kann — diese Hypothesen zutreffen, so wäre
dies keineswegs eine so seltene Erscheinung und wir können nicht
umhin bei dieser Gelegenheit, natürlich ohne jede Bezugnahme
auf den Bockenheimer Fall, des Umstandes Erwähnung zu tun,
— 1283 —
daß der vielumstrittene § 175 unseres Strafgesetzbuches, der in
der letzten Zeit zu ungewöhnlicher Bedeutung gelangte, daß dieser
Paragraph das Strafbarkeitsbewußtsein einer menschlichen Hand-
lung in die Irre zu führen geeignet ist. Was bei Homosexuellen
bestraft wird, wenn sie masculini generis sind, verwandelt sich in
eine erlaubte und straffreie Handlung beim femininum. Die Zeiten,
wo man aus falscher Scham und Prüderie einen großen Bogen
um diese Vorgänge des menschlichen Lebens machte und wo
besonders die Presse sich in naive Unwissenheit hüllen mußte,
sind vorbei. Die Presse ist heute das großartigste Aufklärungs-
instrument des 20. Jahrhunderts und auf politischem, sozialem,
hygienischem, ethischem, physiologischem und psychologischem
Gebiet hat sie wichtige Kultur- und Pionierdienste zu erfüllen.
Deshalb sei auf die Häufigkeit femininer Homosexualität hinge-
wiesen, die sich bis zur geistigen Verirrung steigern kann und die
im Interesse der Volksgesundheit und -Moral ebenso unter Strafe
gestellt werden müßte wie die diesbezüglichen männlichen Ver-
irrungen. In einer Zeit, wo die besten Geister der Nation an der
Arbeit sind, dieses seelische Dilemma zu lösen, wo der Meinungs-
streit pro und contra § 175 hin- und herschwankt, sollte die
Presse mit ihren Kundgebungen nicht zurückhalten, auch sollte
die Frage erwogen werden, ob der § 175 seine Opfer dem Ge-
fängnis oder der Nervenheilanstalt überweisen soll. Wir haben
in Jahrtausende altem Ringen manches Geheimnis der Natur
gelöst, die Geheimnisse des menschlichen Organismus und der
menschlichen Psyche sind aber noch in tiefes Dunkel gehüllt.
(Sonne.)
Homosexualität. Tout comprendre c'est tout pardonner.
(Alles verstehen, heißt alles verzeihen.) An diesen Satz muß
der Wissende stets denken, wenn von dem Strafgesetz-
paragraphen 175 die Rede ist, was in der letzten Zeit wegen
der Verdächtigung gegen Krupp ja sehr oft der Fall war; denn
leider gilt das tout comprendre hier in sehr weitem Umfange
nicht, und namentlich trifft dies leider auch bei unserer Gesetz-
gebung zu. In dem betreffenden Paragraphen wird nämlich nur
von männlichen Personen gesprochen, offenbar in der gänzlich
falschen Voraussetzung, daß so etwas bei weiblichen Personen
nicht vorkomme. Da die Leser wohl mit Recht erwarten können,
daß das Blatt auch in dieser Beziehung der Unwissenheit auf
dem Gebiete der Lebenslehre entgegenschritt, sei den öffentlichen
Jahrbuch V. ♦ 81
— 1284 —
Blättern (u. z. hier dem Schwab. Merkur vom 6. Februar, Abend-
blatt) ein besonders offensichtlicher Fall beim weiblichen Ge-
schlecht entnommen. Aus Frankfurt a. M. wird vom 5. Februar
gemeldet: „Als heute morgen die Schwester vom Roten Kreuz,
die im städtischen Krankenhause in Bockenheim tätig ist, sich
nicht sehen ließ und der Verwalter trotz wiederholten Klopfens
an der Türe ihres Zimmers keine Antwort bekam, öffnete er ge-
waltsam die Türe. In dem Bett lagen regungslos in Umarmung
die Schwester und eine Berufskollegin. Die Bockenheimer
Pflegerin, Hilma Scheibenhuber, röchelte noch, verschied aber
nach kurzer Zeit. Die andere, Lili Löther, gab noch Lebens-
zeichen. Sofort wurden alle Mittel bei ihr angewandt; ihr Zu-
stand ist sehr bedenklich, doch befand sie sich um 2 Uhr nach-
mittags noch am Leben. Zu dem traurigen Unfälle erfährt die
„Frkfrtr. Ztg." daß die Scheibenhuber die Löther, die im hiesigen
städtischen Krankenhause beschäftigt ist, gestern abend ab-
geholt und auf die Aufforderung der Oberschwester, die Löther
bald in den Dienst zurückzuschicken, geantwortet hatte, sie fühle
sich unwohl und bedürfe wahrscheinlich selbst der nächtlichen
Pflege. Die beiden haben sich mit Morphium vergiftet, das man
auf einem Tische des Zimmers vorfand. Das Morphium ent-
stammt der Apotheke des städtischen Krankenhauses. Ferner
fand man zwei Briefe, der eine war an die Oberschwester ge-
richtet, der andere an die Familie der einen der beiden Schwestern.
Die Lili Löther ist etwa 39 Jahre alt und seit drei Jahren
Pflegerin, die andere, 35 bis 36 Jahre alt, ist vor neun Jahren
Rote Kreuzschwester geworden. Es ist noch nicht bekannt, was
die beiden veranlaßt hat, gemeinsam in den Tod zu gehen; sie
waren sich sehr innig zugetan. Ihre Dienstführung war muster-
haft und ihre ganze Lebenshaltung tadellos." Was die beiden
zum Selbstmord geführt hat, ist doch nichts anderes als „un-
glückliche Liebe", wie es tausende Male bei zweigeschlechtlichen
Liebespaaren der Fall ist. Was man aber nicht begreift, ist, daß
man beim männlichen Geschlecht etwas schwer, sogar mit Ab-
erkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, bestraft, was man beim
weiblichen Geschlecht — absichtlich oder unabsichtlich — zu
übersehen beliebt. Wenn das Gesetz auf dem Gebiete des
Geschlechtslebens das öffentliche Ärgernis, die Gefährdung der
Rechte anderer Personen und insbesondere Vergewaltigung ver-
hindert, so ist das genug; alles, was darüber ist, ist vom Übel.
(Aus Prof. Jägers Monatsblatt.)
— 1285 —
In Wien haben zwei Schriftsteller, die, wie es scheint
geistig nicht ganz normal waren, — wie telegraphisch schon be-
richtet — Hand an sich gelegt. Einer ist tot, der zweite leicht
verletzt. Der 30jährige Schriftsteller Hugo Astl-Leonhard hat sich
mit einem Rasiermesser getötet, und gemeinsam mit ihm hat sich
sein Freund, der Schriftsteller Fritz Lemmermeyer zu töten ver-
sucht, sich jedoch nur leichtere Schnittwunden beigebracht.
Astl hatte sich auf den Boden gesetzt, mit der einen Hand einen
Spiegel gehalten und mit der anderen Hand die tötlichen Schnitte
durch seinen Hals geführt. Bei dem furchtbaren Selbstmorde war
Lemmermeyer anwesend. Die beiden Freunde hatten einander
gelobt, zu gleicher Zeit zu sterben. Lemmermeyer sah dem
furchtbaren Beginnen seines Freundes zu, bis dieser zusammen-
brach. Hierauf ging er in ein Nebenzimmer und wollte sich
selbst das Leben nehmen. Er öffnete die Brotklinge seines
Taschenmessers und brachte sich mit dieser oberflächliche Schnitt-
wunden am Ellbogengelenk des linken Armes bei. Als er das
Blut hervorquellen sah, scheint er den Mut verloren zu haben.
Er öffnete die Tür in das Vorzimmer, in dem sich die Gattin
Astls mit einer Dame befand. Doch plötzlich stieß er die Worte
aus: „Du darfst nicht feig sein!" und zog sich wieder in das
Zimmer zurück, die Tür hinter sich versperrend. Er eilte in das
Kabinet, wo der tote Astl lag, hob das blutige Rasiermesser auf
und brachte sich am linken Handgelenk eine tiefe Schnittwunde
bei. Frau Astl und die zweite Dame pochten nun an die Tür,
und als nicht geöffnet wurde, sprengten sie die Türe auf. Die
Damen eilten dann, laut um Hilfe rufend, auf den Gang. Die
Hausleute kamen in die Wohnung. Astl war bereits tot. Lemmer-
meyer war bei vollem Bewußtsein, gab aber keine Antwort.
Doch aus mehreren Briefen, die er zurückgelassen hat, konnte
man sich Klarheit über die Tat verschaffen. In einem offenen
Briefe schrieb er: „Unüberwindliche Schwermut treibt uns in den
Tod. Ich gehe gern und freiwillig aus dem Leben und bitte, am
Grabe keine Rede zu halten." Lemmermeyer macht den Eindruck
eines geistig nicht normalen Menschen. Die Rettungsgesellschaft
schaffte ihn in das Allgemeine Krankenhaus. Hugo Astl-Leonhard
hat bereits am 23. November v. J. abends auf dem Schottenring
einen Selbstmordversuch gemacht. Er lebte in geordneten Ver-
hältnissen, beschäftigte sich mit philosophischen Arbeiten und
war bereits bei seinem ersten Selbstmordversuch als im höchsten
Grade überspannt und anormal erkannt worden. Fritz Lemmer-
81*
— 1286 —
meyer ist 43 Jahre alt und ein geborener Wiener, Er hat mehrere
literarhistorische Arbeiter, veröffentlicht und eine biblische Tra-
gödie „Simson und Djlila" geschrieben.
Budapest, 17. Mai 1902. Wie wir bereits mitgeteilt haben,
hat sich ein Leutnant des 26. Regiments, Karl Thaly, Adoptivsohn
des Reichsabgeordneten Koloman Thaly, in Gran erschossen. Vom
Selbstmord erfahren wir folgende Details: Der Selbstmord des
Leutnant Karl Thaly erregte in Gran umsomehr großes Aufsehen,
da vor einiger Zeit ein anderer Leutnant des 26. Rgts. Robert Rosen-
berg sich ebenfalls erschossen hatte. Beide Selbstmorde wurden unter
rätselhaften Umständen begangen und daß dieselben in Zusammen-
hang stehen müssen, geht aus folgendem hervor: Leutnant Thaly
kam am 3. aus Wien, wo sich das Regiment bis jetzt befand,
nach Gran, wo er seither mit einer Freundin im Hotel „Magyar
kirGly" wohnte. Von da übersiedelte er vorigen Freitag samt
seiner Freundin in eine Privatwohnung. Die Dame ist Sonntag
verreict und der Leutnant begleitete sie zur Bahn. Karl Thaly,
der in geordneten finanziellen Verhältnissen lebte, beschäftigte
sich in letzter Zeit fortwährend mit Selbstmordgedanken. In den
letzten Tagen verdüsterte sich sein Gemüt noch mehr. Er ließ
Sich durch die Zigeunerkapelle fortwährend Beethoven's Trauer-
marsch vorspielen. Der Reichsabgeordnete, Koloman Thaly, er-
hielt Nachricht über dieses Benehmen und reiste nach Gran ab.
Er zeigte seinem Sohn seinen Besuch telegraphisch an. Bei seiner
Ankunft empfing ihn ein Soldat vor der Türe seines Sohns mit
einem Briefe und mit der Bemerkung, daß der Leutnant schläft
und er deshalb nicht hineingehen könne. Als der Vater zum
Sohn hineingehen wollte, fand er die Türe verschlossen. In diesem
Moment ertönte ein Schuß. Nachdem die Tür mit Gewalt ge-
öffnet wurde, bot sich ihm ein schrecklicher Anblick dar: sein
Sohn saß über einen Tisch gebeugt, tot. Auf dem Tische standen
4 brennende Kerzen und in der Mitte brannte eine Lampe. Rechts
befand sich die Photographie seines Vaters, links dieselbe des
vor kurzem zum Selbstmörder gewordenen Leutnants Rosenberg.
In seinem hinterlassenen Brief bat er seinen Vater um Verzeihung
und ordnete an, daß seine irdischen Überreste in der Familien-
Gruft zu Preßburg bestattet und in seinen Sarg die Photographien
von seinem Vater und vom Leutnant Rosenberg hineingelegt
rerden.a
— 1287 —
Double Suicide. Des mariniers ont retirg, hier matin, de
la Seine, ä la hauteur du quai aux Fleurs, les cadavres de deux
hommes, Ms ensemble par une forte corde. 11s paraissaient
äg£s d'une qttarantaine d'annees. L'un est blond et porte des
moustaches rousses. On a trouv6, dans ses poches, des papiers
au nom de Joseph Vonderwyn, parqueteur ä Paris, rue de La
Jonqui&re. Le second, ggalement blond, a des moustaches blondes
tres fortes. II etait porteur d'un livret au nom de Georges-
Franc, ois Grigon, n6 ä Beaumont-sur-Oise. Les corps ne presen-
taient aucune trace de blessures. II y a donc tout lieu de
supposer qu'on se trouve en pr^sence d'un double suicide.
M. Briy, commissaire de police, a fait transporter les deux
Cadavres ä la MorgUC (Jean de Paris.)
Gram über den Tod ihrer Freundin hat die fünfzehneinhalb
»Jahre alte Arbeiterin Martha Grafenstein, die bei ihrer Mutter in
der Georgenkirchstraße wohnte, zum Selbstmord veranlaßt. Das
Mädchen besaß in einer jungen Hausgenossin, mit der es zu-
sammen die Schule besucht hatte und konfirmiert worden war,
eine Freundin, an der es mit aller Zuneigung hing. Die Freundin
starb zu Anfang dieses Jahres. Martha Grafenstein war über den
Verlust untröstlich. Wiederholt klagte sie ihrer Mutter, daß sie
nun keine Freude mehr am Leben habe. Anfangs vorigen Monats
verließ sie ihre Arbeitsstelle, eine Putzfedernfabrik, und kehrte
auch nach Hause nicht mehr zurück. Alle Nachforschungen nach
ihrem Verbleib hatten keinen Erfolg. Jetzt landete man die Un-
glückliche als Leiche aus dem Urbanhafen. (Beri. L.-Anz.)
Der Doppelselbstmord in München. Wie schon berichtet,
haben sich am 22. v. M. im Gasthof zu den „drei Löwen" in
München zwei junge Männer eingemietet, die sich als „Wilhelm
Stöger, Werkmeister aus Linz" und „Karl Stöger, Kellner aus
Linz" meldeten. Am folgenden Tage fand man die Beiden in
ihren Betten vergiftet auf. Es wurde festgestellt, daß der Tod
durch Vergiftung mit Cyankali eingetreten sei. Die Photographien
der beiden Toten wurden nach Wien gesendet und dem Sicher-
heitsbureau übergeben. Dieses stellte fest, daß die beiden Photo-
graphien auch im Verbrecher-Album der Wiener Polizeidirektion
enthalten sind. Dadurch agnoszierte das Sicherheitsbureau auch
die Toten. Der eine ist der 24jährige Anton Hartenstein, zu
— 1288 —
Wien geboren, von Profession Malergehilfe, später Geschäfts-
diener; er hatte in Margarethen gewohnt und war seit dem
21. v. M. vermißt. Der zweite ist der 17 jährige Kellnerjunge
Franz Knauer, zu Zemling in Niederösterreich geboren. Er hatte
hier im ersten Bezirk gewohnt Hartenstein ist in Wien zweimal
wegen Betruges und einmal wegen Veruntreuung, ferner vom
Kreisgerichte Korneuburg wegen Verbrechens der schweren
körperlichen Beschädigung und wegen eines schweren Sittlich-
keitsdeliktes mit 5 Jahren schweren Kerkers abgestraft Knauer
ist ebenfalls wegen eines Sittlichkeitsdeliktes mit drei Monaten
schweren Kerkers abgestraft. Er stand am 28. Dezember 1900
vor dem Landesgericht. Sein Komplize war als geistesgestört in
irrenärztliche Behandlung gekommen. Hartenstein hat sich er-
wiesenermaßen immer im Besitz von Cyankali befunden.
Aus Königgrätz, 18. d., wird uns gemeldet: Gestern Nacht
um 12 Uhr hat sich in der Kaserne des 36. Infanterie-Regiments-
der Infanterist Sajcek aus dem zweiten Stock aus dem Fenster
gestürzt und blieb vor der Kasernenwache mit zerschmettertem
Kopfe tot liegen. Um dieselbe Zeit stürzte sich in der Artillerie-
kaserne der Rekrut Anton Provaznik vom ersten Stocke aufs
Pflaster hinab und ist im Spital seinen Verletzungen erlegen.
Zwischen beiden zu derselben Stunde und vor den Augen der
Kameraden, ohne daß diese es hindern konnten, begangenen
Selbstmorden soll eine Beziehung bestehen.
Von einem geheimnisvollen Doppelselbstmord meldet unser
es-Korrespondent aus Werdau in Sachsen. Zwei dortige junge
Handwerksgehilfen, der Barbiergehilfe Alfred Wolf und der
Müllergeselle Gebert, haben sich durch Erschießen entleibt. Die
Beweggründe zu der Tat stehen noch nicht fest. Durch Inserate
in den Werdauer Lokalblättern nahmen die Selbstmörder herzlich
Abschied von allen Freunden und Bekannten. Nachmittags in
der zweiten Stunde begaben sie sich in die Dachkammer Wolfs,
zogen die besten Anzüge und frische Wäsche an, legten sich
zusammen auf das Bett und bald darauf krachten zwei Schüsse.
Die Hinzueilenden, der Hauswirt und der Prinzipal des Barbier-
gehilfen, fanden die Selbstmörder bereits entseelt vor. Gebert
hatte sich mit einem Teschin, Wolf mit einem Revolver in die
linke Schläfe geschossen.
— 1289 —
Laibach, 13. Jänner. Gestern nacht erschoß sich in der
Landwehrkaserne der Zugsführer Rudolf Marbol. Er hatte vor-
her auf den Heizer im Elektrizitätswerk, Vinzenz Magister, ein
Unsittlichkeitsattentat auszuüben versucht. Magister bedrohte
dann Marbol mit dem Bajonette, das ihm mit Hilfe des Kamin-
fegergehilfen Suppanz entwunden wurde. Marbol entfloh dann
in die Kaserne, wo er sich erschoß.
Ein eingefleischter Weiberhasser. In Wien ist vor einiger
Zeit ein Hagestolz, wie er im Buche steht, als er zu dem Leichen-
begängnisse seines Bruders fuhr, gestorben. Der lange, hagere
Mann mit dem schwarzen Salonanzug, stets mit Zylinderhut und
einem Rohrstocke versehen, war eine typische Figur. Interessant
ist seine Nachlassenschaft In einem Fach seines Schreibtisches
fanden seine Verwandten ein Päckchen mit der Aufschrift :
„Versuche meiner Verwandten, mich ins Ehejoch zu zwingen.0
Das Päckchen enthielt 62 Briefe, die vom Jahre 1845 bis 1894
laufen und mit Bemerkungen des Hagestolzen versehen, regist-
riert und ad acta gelegt sind. Von dem Sammler ist ein Zettel
beigefügt mit den Worten: „62 Briefe mit ebenso vielen An-
trägen von heiratsbedürftigen Mädchen und Witwen, welche ein
Gesamtvermögen von 1 760000 Gulden ins Feld stellten, um mich
zu ködern." In seinem Stammgasthause erschien er jede zweite
Woche; er saß nur dort, wenn er genau wußte, daß kein Platz
für eine Dame vorhanden war. Ging er ins Theater, so nahm
er stets drei Sitze, links und rechts ließ er den Sitz leer. Auf
der Straßenbahn, im Omnibus, auf der Bahn war eine mit ordi-
närem Tabak gestopfte Pfeife seine Begleiterin. Dies hielt ihm
das weibliche Geschlecht meist zur Genüge vom Halse. Charak-
teristisch ist eine Stelle im Testament; er schreibt: „Ich bitte
meine Verwandten, dafür Sorge zu tragen, daß auf dem Friedhofe,
wo ich beerdigt, neben mir keine Frauenleichen beerdigt werden;
ich bitte also, für mich einen Gruftplatz für drei Leichen zu
kaufen und meine Leiche in der Mitte zu beerdigen, die Räume
rechts und links aber unbelegt zu lassen."
Ein Todfeind des schönen Geschlechts. Im neuesten Heft
des „Rußki Archiv" erzählt W. Schiemann Amüsantes vom General
Helwig, der unter Kaiser Nikolaus I. Kommandant der Festung
Dünaburg war, die unter Alexander III. in „Dwinsk" umbenannt
wurde. Einem Petersburger Briefe der „Frkf. Ztg." entnehmen
— 1290 —
wir Folgendes: Der alte Helwig war ein Todfeind des schönen
Geschlechts und suchte jede Begegnung mit einer Frau ängstlich
zu vermeiden. Einmal aber blieb ihm das Zusammensein mit
einer Frau doch nicht erspart, und diese Frau war die Kaiserin
Alexandra, die Gemahlin Nikolaus 4. Das Kaiserpaar kam zu
einem zweitägigen Besuch nach Dfinaburg. Der Kaiser schätzte
General Helwig als einen tüchtigen Offizier sehr hoch und erfreute
ihn durch einige anerkennende Worte. Am nächsten Tage sollte
eine Besichtigung der Garnison und eine Truppenparade statt-
finden. Der Zar machte dem Kommandanten den Vorschlag, bei
dieser Gelegenheit mit der Kaiserin zusammen im Wagen zu
fahren. Helwig aber suchte diese Ehre höflich von sich ab-
zuwenden. „Ich bin noch nicht so alt, Ew. Majestät," sagte er,
„daß ich Ihnen nicht zu Pferde folgen könnte." — Doch der
Kaiser blieb dabei: „Das glaube ich gern, lieber Helwig. Aber
wer könnte meiner Frau besser als Du, alles zeigen?" — Am
anderen Tage nahm der Kommandant in gelinder Verzweiflung
neben der Kaiserin im Wagen Platz. Kaiserin Alexandra, der
ihr Gatte nichts von der Idiosynkrasie Helwigs gesagt hatte,
konnte sich über das ungewöhnliche Verhalten ihres Begleiters
nicht genug wundern. Der Kommandant war äußerst wortkarg
und unliebenswürdig, beantwortete die Fragen der Kaiserin nur
widerwillig und ohne diese dabei anzusehen und drehte ihr meist
den Rücken zu. Kaiser Nikolaus ritt neben dem Wagen her,
beobachtete den unhöflichen General und hatte seinen Spaß an
den Qualen, die jener litt, sowie an der Verwunderung seiner
Gemahlin. Gut gelaunt, beschloß der Zar, den Scherz fortzusetzen.
Nach der Parade, die zu seiner vollsten Befriedigung verlief, dankte
er dem Kommandanten und dem kommandierenden General, und um
Helwig seine besondere Gunst zu beweisen, sagte er sich bei
ihm mit der Kaiserin zum Tee an. Der alte General war sichtlich
auf das Unangenehmste überrascht. „Ich habe keine Hausfrau.
Ew. Majestät!" erwiderte er. „Ich bin ein alter Hagestolz!" —
„Warum heiratest Du denn nicht? Ich wüßte eine passende Partie
für Dich". — „Ich bin zu alt, um zu heiraten, Ew. Majestät". —
„Ach was, zu alt! Zu einem Dauerritt von ein paar Meilen bist
Du noch jung genug, zum Heiraten aber behauptest Du zu alt
zu sein. Nun, ich will Dir nicht zur Ehe zureden, aber Tee werde
ich bei Dir doch trinken. Wir bitten einfach die Kaiserin, die
Rolle der Hausfrau zu übernehmen. Geh' und ersuche sie darum!"
— Schweren Herzens kam der Alte dem Befehl nach. Der ver-
— 1291 —
hängnisvolle Abend kam. Der Teetisch war geschmackvoll arran-
giert, es fehlte nicht an Backwerk, Früchten und allerhand Nasch-
werk. Die Kaiserin war sehr aufmerksam gegen ihren Wirt; sie
reichte ihm selbst den Tee und Gebäck, und Helwig, der wie auf
Nadeln saß, mußte nicht nur eine Frucht nach der anderen aus
den Händen der Kaiserin dankend entgegennehmen, sondern an-
standshalber auch etwas von den Dingen genießen, die ihm eine
Frau reichte. Aber das Schlimmste stand dem alten Degen noch
bevor. Beim Abschied reichte ihm die Kaiserin die Hand zum
Kusse. Helwig bezwang sich und tat, was die Etikette verlangte.
Kaum aber hatten seine Gäste ihn verlassen, so ging er unver-
züglich an eine gründliche Reinigung seines äußeren Menschen.
Er spülte sich nicht nur wiederholt den Mund aus, sondern nahm
sofort ein warmes Bad, wechselte seine Leibwäsche und zog
eine andere Uniform an. Dann ließ er seine Kleider sorgfältig
desinfizieren und alle Zimmer seiner Wohnung durchräuchern.
Der Stuhl aber, auf dem die Kaiserin gesessen hatte, erhielt am
nächsten Tage einen neuen Überzug.
Jahresbericht 1902/3.
Eine an Arbeiten und wichtigen Vorkommnissen
überreiche Zeit ist seit der Erstattung des letzten Jahres-
berichtes verstrichen. An erfreulichen Tatsachen, an Er-
folgen, an Zeichen wachsender Erkenntnis hat es nicht
gefehlt, aber auch tief beklagenswerte Ereignisse, schmerz-
hafte Verkennungen und Angriffe sind nicht ausgeblieben.
Der schwerste Schlag, der uns im Berichtsjahr betroffen,
ist der Tod des hervorragendsten Vorkämpfers unserer
Bewegung. Am Abend des 22. Dezember 1902 ver-
schied zu Graz in Steiermark .Richard Freiherr
von Krafft-Ebing, der erste Arzt und Naturforscher,
welcher sich der Homosexuellen mit größter Energie an-
genommen hatte. Wir geben eine kurze Übersicht seines
Lebens nach Aufzeichnungen, welche uns von einem seiner
Schüler zugegangen sind.
Am 14. August 1840 in Mannheim geboren, begann
Krafft-Ebing seine Studien in Heidelberg, setzte dieselben
in Zürich fort, und wurde 1863 in Heidelberg promoviert.
Sein Großvater mütterlicherseits war der berühmte Straf-
rechtslehrer H. J. A. Mittermaier (1787 — 1867) welchem
die deutsche Rechtspflege Reformen auf dem Gebiete des
Gefängniswesens, Einführung humaner Strafen und viel-
fachen Fortschritt verdankt. Nach Erlangung des Doktor-
diplomes verbrachte v. Krafft-Ebing einige Zeit auf
Reisen, welche ihn an verschiedene Hochschulen führten,
und widmete sich sodann, seiner Neigung folgend, dem
— 1293 —
Berufe eines Irren- und Nervenarztes. Er nahm 1864
eine Assistentenstelle an der berühmten, von Christian
Roller 1842 gegründeten Irrenanstalt in Illenau an.
Im Jahre 1868 eröffnete er seine Tätigkeit als Irrenarzt
in Baden-Baden. Das Jahr 1870 verbrachte er im
Felde. Heimgekehrt, widmete er sich der Bearbeitung
seines im Kriege erworbenen ärztlichen Materials und
bewarb sich um die Venia legendi an der Leipziger
Universität. Schon damals hatte v. Krafft-Ebings
Name als Autor verschiedener wertvoller Veröffent-
lichungen einen guten Klang; Bismarck selbst war es,
dessen Auge auf das aufstrebende junge Talent fiel:
sein Abgesandter suchte v. Krafft-Ebing auf, als
dieser in Berlin auf die Entscheidung des Leipziger
Professorenkollegiums wartete, um ihm die Lehrkanzel
in Straßburg anzutragen. Dort wirkte v. Krafft-Ebing
bis zum Jahre 1873. In diesem Jahre folgte er einem
Rufe an die Spitze der Irrenanstalt Feldhof bei Graz
in Steiermark, mit welchem Amte die Professur für
Psychiatrie in Graz verbunden war.
Die Jahre 1873—1889, in welchen v. Krafft-Ebing
zunächst in Feldhof und in Graz, später nur. als Professor
in Prag, wirkte, waren es, wo v. Krafft-Ebing sein ganzes
Wirken und Schaffen frei entfaltete und seinen Weltruf
begründete. 1889 wurde er an Stelle Leidesdorfs nach
Wien berufen und wurde 1892 der Nachfolger des
großen Meynert. Mit Abschluß des Wintersemesters
1902 trat v. Krafft-Ebing von seinem Lehramte in Wien
zurück, legte seine zahlreichen Ehrenstellen nieder und
übersiedelte nach Graz. Sein körperliches Befinden ließ
in den letzten Jahren in Wien viel zu wünschen übrig;
an Graz knüpften ihn frohe Erinnerungen, nicht zu
mindest die Erinnerung an sein schaffensfreudiges Wirken
dort; er hoffte, daß dort auch seine Gesundheit wieder-
kehren und er nochmals seine kräftige Jugend wieder-
— 1294 —
finden werde. Das Schicksal fügte es anders; als der
Sommer verging, zu dessen Beginn v. Krafft-Ebing in
Graz angekommen war, begannen seine Leiden, und vor
Weihnachten schloß er für immer seine Augen.
Mit v. Krafft-Ebing starb ein großer Gelehrter,
ein vielerfahrener großer Arzt und Meister seiner Wissen-
schaft; außerordentlich reich ist das geistige Erbe, welches
er hinterließ. Die Zahl seiner wissenschaftlichen Arbeiten
nähert sich .400; kein Gebiet der Psychiatrie und Nerven-
heilkunde gibt es, wo er nicht fördernd und befruchtend
eingewirkt hätte. Seine Lehrbücher der Psychiatrie, der
forensischen Psychopathologie sind Werke von immensem
didaktischen Werte. Mit demselben Freimute und der
gleichen niemals wankenden Charakterstärke vertrat er
wie auf dem Gebiete der sexuellen Psychopathologie
auch auf anderen Gebieten der forensischen Psychiatrie
seine ärztliche Überzeugung. Sehr mit Recht schreibt
Albert Moll in dem Nekrologe, welchen er seinem
großen Vorgänger in der deutschen medizinischen Presse
(1903. No. 2. p. 14) widmet: , Ohne Krafft-Ebing würden
heute noch weit mehr Geisteskranke und sonst Unzu-
rechnungsfähige den Strafanstalten zugeführt werden
und der Brandmarkung verfallen, als es wohl immer
noch der Fall ist. Wenn heute mancher Inkulpat von
den Gerichtsärzten als Geisteskranker erkannt und von
verständigen Richtern als solcher beurteilt wird, so ist
das nicht zum wenigsten ein Verdienst Krafft-Ebings,
der unermüdlich auf diesem Gebiete tätig war.*
Sein Lieblingsfach aber und derjenige Teil seiner
Lebensarbeit, welcher am meisten dazu beitrug, seineu
Namen über die ganze Erde zu verbreiten, war die
„Psychopathia sexualis." Vor v. Krafft-Ebing
waren nur Teilgebiete dieses Gegenstandes bearbeitet
worden. Krafft-Ebing hat die Psychopathologie
des Geschlechtslebens in diesem seinem Werke und in
— 1295 —
den zahlreichen anderen einschlägigen Arbeiten nicht
nur begründet, sondern nach jeder Richtung hin aus-
gebaut. Er sammelte mit außerordentlichem Fleiße die
einschlägigen Krankengeschichten und wurde so in den
Stand gesetzt, ein riesiges Material kritisch zu sichten und die
Probleme der Sexualpathologie auf eine wissenschaftliche
Basis zu stellen. Das Endziel seines Strebens war es,
aus der Symptomatologie eines jeden Falles die Ent-
scheidung zu treffen, ob es sich um „Perversität" oder
„Perversion" handle. Krankheit nannte er Per Ver-
sion, Laster Perversität. Mehr als alle anderen
Unglücklichen stehen die Homosexuellen in v. Krafft-
Ebings Schuld. Wenn der wohl nicht mehr ferne Zeit-
punkt kommt, wo die Rechtspflege sich den gebieterischen
Postulaten der Wissenschaft auch auf diesem Gebiete
anpassen wird, wird von Krafft-Ebings Lebenswerk von
Erfolg gekrönt sein. Die Kulturarbeit, die er auf dem
Gebiete der forensischen Psychopathologie geleistet hat,
sichert v. Krafft-Ebing ein unvergängliches Andenken
in den Annalen der Psychiatrie.
Dem gelehrten und edlen Verfasser der Psychopathia
sexualis ist die Beschuldigung nicht erspart geblieben,
daß er mit seinem Buche auf die sinnlichen Interessen
großer Leserkreise spekuliert habe. Er trug diesen un-
gerechten Vorwürfen, unter denen er schwer litt, Rech-
nung, indem er auf das Titelblatt der XI. Auflage seines
Werkes (1901 erschienen) die Worte setzen ließ: „Für
Ärzte und Juristen". In Wirklichkeit gibt es kaum ein
i weites Buch in der Weltliteratur, das so vielen Tausenden
den inneren Seelenfrieden wiedergegeben hat, durch seine
Aufklärung so unendlichen Segen gestiftet und so viele
vom Selbstmord errettet hat, als dieses Werk, aus dem eben
so viel Wissen, als Güte und Unerschrockenheit spricht.
Für das wissenschaftlich-humanitäre Komitee bekun-
dete Kraflft-Ebing von Anfang an das lebhafteste Inter-
— 1296 —
esse. Er wa^ einer der ersten Unterzeichner der Petition,
welche die Befreiung der Homosexuellen vom Strafgesetz
fordert. Seine letzten Studien auf dem Gebiete der
Homosexualität veröffentlichte er in diesen Jahrbüchern
(Band 3 Seite 1 ff), und faßte hier das Eesultat seiner
reichen Erfahrungen in drei prägnanten Leitsätzen zu-
sammen. Nach dem Erscheinen des letzten Bandes —
im Sommer 1902 — erhielten wir von ihm das als Vor-
wort dieses Jahrgangs wiedergegebene Schreiben.
Der Tod hat diesem reichen Leben ein vorzeitiges
Ende gesetzt. Es war nach allem nur eine selbst-
verständliche Pflicht, daß wir im Besitz der Trauerkunde
der Gemahlin des Verstorbenen unser Beileid zum Aus-
druck brachten, was in folgendem Schreiben geschah:
Charlottenbnrg, 23. 12. 02. Hpchverehrte gnädige Frau!
Die Kunde von dem frühzeitigen Hinscheiden Ihres teuren Herrn
Gemahls hat uns aufs tiefste erschüttert. Den unersetzlichen Verlust,
von dem Sie und Ihre Familie betroffen sind, teilt mit Ihnen die
Wissenschaft, um die der Verstorbene sich so hohe Verdienste er-
worben hat, und die Humanität, für deren Ausübung er als Ge-
lehrter und Mensch so unablässig tätig gewesen ist. Mag die Er-
innerung an das, was Sie, gnädige Frau, besessen haben, das ruhm-
volle Andenken, das Ihr Gatte hinterläßt, Sie in Ihrem großen und
gerechten Schmerze trösten. Für das wissenschaftlich-humanitäre
Komitee und die vielen Tausende, deren Schutz wir uns gewidmet
haben, wird der Name „Krafft-Ebing" in hohen Ehren stehend stets
unvergessen sein. Beifolgenden Lorbeerkranz bitte auf seine letzte
Ruhestätte gütigst niederlegen zu lassen.
Wir erhielten darauf folgendes Antwortschreiben.
Graz am 1. Januar 1903. Sehr geehrter Herr Doktor!
Für das mir von Ihnen Namens des wissenschaftlich-humanitären
Komitees ausgesprochene Beileid, sowie für die schöne Kranzspende
sage ich Ihnen im eigenen wie im Namen meiner Familie herzlich
Dank. Ganz besonders danke ich Ihnen aber für die tiefgefühlten
Worte der Anerkennung des Wirkens des Verblichenen im Sinne
des wissenschaftlich-humanitären Komitees, welches leider durch den
allzufrtihen Tod seinen Abschluß fand. Freifrau Louise von Krafft-
Ebing.
— 1297 —
Wir können den .Verstorbenen nicht besser ehren,
als indem wir uns seine Worte zu eigen machen, die
wir wohl als sein Lebensprogramm bezeichnen dürfen :
„Dasjedem Staatsbürger zustehende Eecht
der freien Meinungsäußerung wird zur
Pflicht, wenn derselbe vermöge der Kennt-
nisse und Erfahrungen, welche ihm sein Be-
ruf entwickelt, im Stande ist, zur Beseiti-
gung von Irrtümern beizutragen."
Wir würden uns einer Unterlassung schuldig machen,
wenn wir unter den weiteren Verlusten, welche unser
Komitee zu beklagen hatte, nicht an erster «Stelle des
Prinzen Georg von Preußen gedenken würden,
welcher am 4. Mai 1902 im 77. Lebensjahre verschied,
nicht nur deshalb, weil seine königliche Hoheit unseren
Kampf materiell unterstützte, sondern vor allem auch
weil der feinsinnige liebenswürdige Fürst gerade in dem
urnischen Teil der Bevölkerung Berlins ganz besondere
Verehrung und Sympathie genoß.
Viele gebildete Männer haben dem Prinzen geistig
nahe gestanden und in dem traulichen stimmungsvollen
Eckzimmer der Wilhelmstraße den guten und klugen
Worten lauschen dürfen, die von einem reichen Innen-
leben Zeugnis ablegten.
Prinz Georg war am 12. Februar 1828 in Berlin
als Sohn des Prinzen Friedrich von Preußen, der ein
rechter Vetter und Spielgenosse Kaiser Wilhelm I. war,
geboren. Seine Großmutter väterlicherseits war die schöne
geistvolle und lebensfrohe Prinzessin Friedericke von
Mecklenburg-Strelitz, die Schwester der Königin Luise.
Die Kinderjahre verlebte der Prinz in Düsseldorf, wo
sein Vater als Militärgouverneur bis 1848 residierte.
Hier, wo die Malerschule eben erblühte, das Theater
— 1298 —
unter Immermanns, die musikalischen Bestrebungen unter
Mendelssohns Leitung standen, erwuchs in ihm früh ein sehr
lebhaftes Interesse für die dramatische Kunst, — er spielte
selbst Komödie — sowie besonders für Musik — im
Klavierspiel brachte er es zu einer gewissen Virtuosität.
In Paris lernte er die Schauspielerin Rachel kennen,
Georg, Prinz von Preußen,
f 4. Mai 1902.
deren Kunst ihn anregte, selbst dramatisch zu produzieren.
Jahre lang dichtete er im stillen, bis ihn die Schriftstellerin
Frau von Treskow-Pinelli veranlaßte, seine Dramen unter
dem Pseudonym Georg Conrad der Öffentlichkeit zu
übergeben. Der amtliche Nachruf bemerkt darüber:
n Prinz Georg hat sich als dramatischer Dichter aus-
gezeichnet und eine ganze Reihe solcher Dichtungen
BBBi
— 1299 —
veröffentlicht, die mit Erfolg aufgeführt und gesammelt
in vier Bänden erschienen sind. Sie geben Zeugnis von
dem feinen Geiste des Prinzen, der, idealen Schwunges
voll, sich tief in die literarische Kunst versenkte."
Etwa 30 Jahre bestand ein freundschaftliches Ver-
hältnis zwischen dem Prinzen Georg und der Schrift-
stellerin Elise. Felicitas von Hohenhausen, in deren
literarischen Gesellschaften Heinrich Heine, Alexander
von Humboldt, Varnhagen von Ense und seine geistreiche
Gattin Rahel geb. Levin verkehrten. Der Prinz, welcher
für seine Person sehr einfach lebte, war ein leidenschaft-
licher Bücherfreund, ein großer Kunstkenner und Lieb-
haber des feineren Kunsthandwerks. Es liegen uns eine
Reihe persönlicher Erinnerungen vor von Personen,
mit welchen der Prinz in regem Verkehr stand, ich greife
einige charakteristische Mitteilungen heraus. Der Schrift-
steller Paul Lietzow berichtet:,
„Der Prinz kam mir stets bis in das große Empfangsgemach
entgegen, reichte mir die Hand bei der Ankunft und verabschiedete
mich nach Ablauf einer Stunde in der herzlichsten, freundschaft-
lichsten Art, indem er häufig meine rechte Hand zwischen seine
beiden Hände nahm.
Bei meinen Besuchen mußte ich in seinem Arbeitszimmer stets
bei ihm am Tische Platz nehmen, entweder ihm gegenüber oder
neben ihm auf dem Sofa. Stets war er von liebenswürdigstem Wesen
und huldvoller Freundlichkeit.
Nachdem er sich nach meinem Ergehen eingehend erkundigt
hatte, fragte er — da ich ihm stets historische Werke und Bilder
mitbrachte, für die er sich lebhaft interessierte — gewöhnlich humor-
voll: „Nun, was gibt's altes?"
Prinz Georg setzte voraus, daß ich den Inhalt aller Bücher
kannte, welche ich ihm vorlegte. Dies war nun allerdings auch der
Fall. Ich berichtete kurz über den Inhalt und der Prinz schaltete
geistvolle Bemerkungen ein. Es war ein wirklicher Genuß, ihn
sprechen zu hören. Prinz Georg besaß eine Stimme von ganz
eigenem Wohllaut. Alles was er sagte, zeugte von umfassender
Bildung. Sein edler Charakter drückte sich in jedem seiner Worte
aus. Aber auch sein Äußeres wirkte bestechend. Der Prinz war
Jahrbuch V. 82
— 1300 —
von hoher Figur. Er war ein schöner Mann. Ans seinen Augen
sprühten Fener und Geist. Die etwas knappe Uniform saß ihm wie
angegossen.
Als ich dem Prinzen eines Tages das Bnch des Leibarztes
Dr. Zimmermann über die letzten Lebensjahre Friedrichs des Großen
vorlegte, blätterte der hohe Herr in demselben. Plötzlich rief er
lebhaft: „Hier finde ich eine merkwürdige Kapitel-Überschrift: Über
Friedrichs griechischen Geschmack in der Liebe. Der
Prinz las weiter und fuhr dann fort: Der Verfasser verbreitet sich
darüber, ob Friedrich der Große ebenso geliebt habe, wie Sokrates
den Alcibiades. Bei einem späteren Besuch gab mir der Prinz das
Buch mit ungewöhnlich ernstem Gesicht zurück, es habe ihn sehr
verdrossen, daß der Verfasser behauptete: „Prinz Heinrich von
Preußen, der Bruder Friedrich des Großen, wäre wegen seiner gleich-
geschlechtlichen Neigungen von der ganzen Armee verachtet
worden".
Im Februar 1872 — ich war damals noch Buchhändler — war
ich eines Nachts mit meinem damaligen Chef Herrn £. Bock bei
den buchhändlerischen Ostermeß-Arbeiten. Herr Book hatte jene
Bücher vor sich, welche den Verlegern als unverkauft über
Leipzig zurückgesandt werden sollten. Ich schrieb die ellenlangen
„Remittenden-Fakturen". Da rief Herr Bock plötzlich: „hier fehlt
Schief-Levinche und seine Kalle von Isaak Bernays. Das
Buch ist nicht verkauft. Wo ist es? „Ich antwortete: „Es ist doch
verkauft! Ich habe es dem Prinzen Georg gesandt und dieser hat
es behalten". Darauf entschiedener Zweifel bei meinem Chef. Ich
bewies meine Behauptung durch Vorlage des Kontobuchs. Prinz
Georg war nämlich ein eifriger Freund der Juden und des Juden-
tums. Bei den vielerlei Gesprächen, die wir über recht verschieden-
artige Themata mit einander führten, brachte der Prinz einst selbst
das Gespräch darauf. Niemals habe ich jemand mit größerer
Sympathie, Anerkennung, ja Bewunderung über die Juden sprechen
und urteilen hören. Der Prinz urteilte stets sehr nachsichtig über
andere. Er war von großer Menschenliebe erfüllt und hat diese
während seines langen Lebens in Wort und Tat bewiesen. Er konnte
aber auch in heiligem Zorn erglühen, wo er Unduldsamkeit sah.
Daher waren ihm die Antisemiten und deren Agitationen auf das
äußerste verhaßt.. Wenn von dem Auftreten derselben die Rede
war, fand er nicht Worte genug, um seinen Abscheu und Ekel
auszudrücken.
In dieser Beziehung war er mit dem Könige Ludwig H. von
Ü1
Bayern eines Sinnes. Überhaupt hatten diese beiden fürstlichen
— 1301 —
Personen vieles gemeinsam. Beide waren von hoher edler Gestalt.
Beider Hanpt zierte dasselbe auffallende, üppige, dunkle Lockenhaar,
welches ihnen das Gepräge des Südländers verlieh. König
Ludwig und Prinz Georg kauften Unmassen von Büchern an und
lasen fast stets und ständig. Beide waren hervorragende Kunstkenner
und große Musik- und Theaterfreunde. Beide verabscheuten Krieg
und Jagd. Beide schenkten den Tafelfreuden nur sehr mäßige
Beachtung. Beide waren gutherzig und wohltätig. Nur in einer
Hinsicht waren sie grundverschieden: König Ludwig IL war
immer freigebig. Er gab leichten Herzens Millionen aus!
Prinz Georg dagegen war außerordentlich sparsam.
Ein anderer Gewährsmann M., der sich der Freund-
schaft des Prinzen erfreuen durfte, schreibt unter man-
chem anderen:
Ein vom Leben hart angepackter, einfachsten Verhältnissen
entstammender Student, durch urnische Naturanlage vereinsamt und
innerlich gebrochen, wandte ich mich, im Schauspielertum die ein-
zige Rettung erblickend, an den Prinzen Georg, indem ich eine
Schilderung meines Lebens und kleine Erzeugnisse meiner Feder
beifügte. In eingehender Teilnahme und Begründung rät der Prinz
von der ersehnten Laufbahn ab, zeigt alles Versöhnliche bei Be-
harrung auf dem bisherigen Wege und hebt in mancher Stunde in
liebenswürdiger causerie am kunstgeschmückten Kamin den ge-r
drückten Sinn des Zuhörers in höhere Sphären. Es entspann sich
ein jahrzehntelanger reger Gedankenaustausch und Briefwechsel.
Auch hier seien nur einige wenige Momente herausgegriffen, die
den wahrhaft vornehmen Mann charakterisieren. Auf ein Frühlings-
gedicht, daß Herr M. ihm übersandte, antwortete er: „Wann sind
Sie wieder in Berlin? Ich hätte Ihnen so gern für das wirklich
wunderhübsche Gedicht gedankt, das wäre eine Aufgabe für Schu-
mann gewesen. Gern hätte ich os Bekannten gezeigt, ich wußte
aber nicht, ob ich es tun durfte." Und nach wenigen Tagen mit
gleicher Feinheit und Rücksicht: „Wie freut es mich, daß ich das
reizende, außerordentlich anmutige und rührende Gedicht Bekannten
zeigen darf. Ich wagte natürlich nicht, es ohne Erlaubnis zu tun,
mit Manuskripten bin ich immer sehr vorsichtig." Als M. ihm ein-
mal den Wunsch aussprach, man möchte in Briefen und Tagebuch-
blättern des Grafen Platen das Geheimnis seines Lebens klarer als
in seinen Werken erschauen können, meinte der Prinz: „Wahr-
scheinlich hat er darüber nichts hinterlassen, oder die Familie wird
längst sorgfältig alles vernichtet haben, wovon sie glaubt, daß es
82*
— 1302 —
sie kompromittieren könne." Mehr als in seinen zahlreichen Dramen
— unter denen als die wirkungsvollsten Sappho, die er Grillparzer
widmete, Phädra, Konradin und Katharina von Medioi (als letztes
1884 erschienen) zu bezeichnen sind, — gibt er sich selbst in einer
Art Tagebuch, das er unter dem Titel: „ Vergilbte Blätter" ganz
ohne Namen erscheinen ließ. Hier schreibt der Prinz, der unver-
mählt geblieben war, die schönen Worte: „Die Liebe ist das
Höchste und insofern Unerreichbarste, als wir sie
nicht willkürlich hervorrufen können; sie muß über
uns kommen, sie ist ein Schicksal. Sie kommt und
geht, ohne uns zu fragen. Wer die volle Wucht der
Liebe leugnet, hat sie nie gekannt."
Wir fügen zum Schluß noch eine Erinnerung hinzu,
die das Berliner Tageblatt unter dem Titel: „ Prinz Georg
von Preußen und die Berliner Studenten" veröffentlichte:
„Wie uns geschrieben wird, unterhielt der vor wenigen Tagen
verstorbene Prinz Georg früher auch einen sehr freundlichen Ver-
kehr mit den literarischen Kreisen der Berliner Studentenschaft.
Er war der Protektor eines akademischen Vereins, dem Ernst von
Wildenbrucb, Otto Franz Gensichen, Richard Kahle als Ehrenmit-
glieder angehörten, und dessen zeitweiliger Vorsitzender Berthold
Litzmann war, jetzt Ordinarius für Literaturgeschichte in Bonn;
auch Ludwig Ganghofer erschien Ende der siebziger Jahre in diesem
anregenden Kreise. Wenn wir unser Stiftungsfest begingen, ver-
fehlten wir nie, den Prinzen gebührend einzuladen: Der Vorstand
fuhr dann in vollem Wichs am Palais in der Wilhelmstraße vor
und wurde hier liebenswürdig empfangen. Pochenden Herzens
warteten wir jungen Studeuten, bis die Tür sich öffnete und die
hohe Gestalt unseres fürstlichen Protektors vor uns erschien. Der
Prinz trug bei dieser Gelegenheit immer seine Ulanenuniform mit
den Abzeichen eines Generals der Kavallerie: er geleitete uns
durch eine Flucht von bildergeschmtickten Zimmern bis zu jenem
Eckzimmer mit dem traulichen Kamin, an dem es so stimmungsvoll
sich plauderte. Die weiche, fast leise, wohllautende Stimme des
Prinzen stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu seiner statt-
lichen Erscheinung und der soldatischen Uniform. Der Prinz er-
kundigte sich nach der Entwicklung und dem Leben des Vereins
und nach dem Wohlergehen, der Beschäftigung jedes Einzelnen«
Die Unterhaltung ging bald ins Allgemeine und war bei dem
meisterlichen Erzählertalent des Prinzen von ganz eigenem Beiz.
Jede Scheu war gleich nach den ersten Worten überwunden, und
— 1303 —
immer verließen wir das Palais, erfüllt von tiefen, bleibenden Ein-
drücken.
Der Prinz war einer der Ersten, die das Talent Ernst von
Wildenbruchs erkannten und förderten. In dem später abgebrann-
ten Nationaltheater wurde Ende der siebziger Jahre vom akademisch-
literarischen Verein Wildenbruchs „Menonit" zum ersten Male auf-
geführt, und es ist bekannt, daß der Dichter auch später noch in
diesem Kreise seine Stücke, denen die Bühne merkwürdig lange
verschlossen blieb, zuerst vorzulesen pflegte. Das Nationaltheater
erfreute sich damals der persönlichen Fürsorge des Prinzen Georg,
von dem auch wir Studenten nicht selten mit einer Einladung in
seine Loge erfreut wurden; in den Pausen hielt der Prinz dann
Cercle und das Gesehene wurde dann kritisch besprochen. Einige
von uns hatten das Glück, auch später noch mit dem Prinzen in
Fühlung zu bleiben und sich seiner, dauernden Teilnahme zu er-
freuen."
Von weiteren Verlusten gedenken wir des Rechts-
anwalts Dr. Max Geiger in Frankfurt a. M., unseres lang-
jährigen Fondszeichners, der sich noch kurz vor seinem
Tode um die Gründung des südwestdeutschen Subkomitees
hohe Verdienste erworben hat sowie des tüchtigen Ge-
lehrten Wilhelm Cohn-Antenorid, welcher gerade dabei
war, für das nächste Jahrbuch eine längere Arbeit über
den Uranismus in China zu schreiben, als ihn der Tod in
Italien ereilte. Wer ihn näher kannte, wird wissen, daß
mit ihm ein hochstrebender junger Schriftsteller, ein selten
guter Mensch und ein eifriger Anhänger unseres Komitees
aus dem Leben geschieden ist.
Bei weitem das bedeutsamste Ereignis für die Homo-
sexuellen war in vergangenem Jahre der Tod Friedrich
Alfred Krupps. Die Umstände, unter denen sich das
Ende dieses reichsten Deutschen, eines der mächtigsten
Industriellen der ganzen Welt vollzog, waren derartige,
daß sie die Aufmerksamkeit ausgedehntester Volkskreise
auf die homosexuelle Frage lenken mußten.
— 1304 —
Man kann den „Fall Krupp" in drei Abschnitte
teilen, den eigentlichen Fall, welcher genau einen Monat
dauerte, am 15. November 1902 mit dem Artikel des
Vorwärts: „Krupp aufCapri" begann, in dem plötzlichen
Tode Krupps am 22. November und der Essener Kaiser-
rede seinen Höhepunkt erreichte und am 15. Dezember
mit der Einstellung des Strafverfahrens gegen den Vor-
wärts schloß, ferner in die Vorgeschichte des Falls, die
F. A. Krupp,
f 22. November 1902.
sich über Monate, vielleicht sogar über Jahre erstreckte,
endlich in das Stadium der Nachwirkungen, welches auch
jetzt noch nicht als völlig beendet anzusehen ist.
Bereits seit Jahren liefen die Gerüchte um, Krupp
sei homosexuell, sie kursierten nicht nur in homosexuellen
Kreisen, wo man ihnen nicht viel Bedeutung hätte bei-
zumessen brauchen, nicht nur bei Erpressern (Fall Rhode),
— 1305 —
nicht nur bei der Berliner Kriminalpolizei, die pflicht-
gemäß von diesen Gerüchten Kenntnis nehmen mußte,
auch denen, die aus wissenschaftlichen und humanitären
Gründen eine Abänderung des § 175 anstrebten,1) wurden
diese Gerüchte wieder und wieder zugetragen, die schließlich
auch in die Kreise seiner Fraktion (Reichspartei) drangen,
die wohl infolgedessen auch keine Vertretung zu seiner
Beerdigung beorderte; ein politisch dem Verstorbenen
nahestehendes Blatt die „Hannoversche AUgem. Zeitung*
schrieb am 23. November:
„ . . . . von seinen (Krupps) Freunden mag mancher erleichtert
aufatmen, wenn er in den nächsten Tagen der Gruft, in der man
Friedrich Alfred Krupp beigesetzt hat, den Bücken gewandt hat.
— Was man sich immer schon zuflüsterte, was aber ebenso ängst-
lich geheim gehalten wurde, nämlich, daß Friedrich Alfred Krupp,
wie so viele hypersensible oder auch übersättigte Männer, all-
mählich zu einer krankhaften Degeneration des Empfindungslebens
gekommen sei und daß er infolgedessen Lebensgewohnheiten an-
genommen habe, die als unmoralisch angesehen werden müssen,
obwohl die Wissenschaft sich längst darüber einig ist, daß dabei
meist nur von einem körperlichen, nicht unbedingt aber von einem
sittlichen Defekt die Rede sein kann . . '."
Ganz besonders herrschte das Gerücht auf Capri
selbst. Der viel auf der Insel lebende Reiseschriftsteller
Karl Böttcher berichtete in einem Zeitungsfeuilleton
darüber wie folgt:
„Nicht erst setzte das Gerücht über Krupp bei seinem dies-
jährigen capresischen Aufenthalt ein. Es schlich bereits bei seinen
früheren Besuchen ziemlich aufdringlich herum, wuchs und gedieh
während der diesjährigen Saison ins Ungeheure und war bald kein
Gerücht mehr, sondern eine allgemein bekannte schwere Beschuldi-
gung, die als alte Geschichte niemand mehr beachtete.
Fragt all die Fremden, welche sich in Capri letzten Winter
aufhielten! Fragt jene Leute, die sich dort als deutsche Kirchen-
l) Die Unterzeichnung der Petition hatte Krupp seiner Zeit
mit der Begründung abgelehnt: „er könne dieselbe nicht unter-
schreiben, da er selbst Mitglied der gesetzgebenden Körperschaften
sei, an welche dieselbe gerichtet wäre."
— 1306 —
gemeinde zusammenfanden! Fragt den deutschen Pastor! Fragt die
verschiedenen deutschen, innerhalb der letzten Saison auf dem
Eiland weilenden pensionierten Militärs! Fragt die alten Excellenzen!
Fragt alle jene Tausende, die auf der internationalen Heerstraße
einige Zeit auf der Sireneninsel Bast machten — es war im brutal-
sten Umfang vorhanden, dies Gerücht.
Dann wuchs es über die Insel hinaus, setzte nach Neapel
über, wanderte nach Born, wanderte durch ganz Italien, ging über
die Alpen, wuchs und wuchs, ohne daß irgendwie durch energisches
Zurückdämmen Einhalt geboten wurde. — Die Staatsanwaltschaft
will den Urheber ausfindig machen: Wie wenn man nach einem
Wolkenbruch nach dem ersten Tropfen recherchieren könnte!
Erst nachdem dies Gerücht längst überall herumschwirrte,
wurde es von der neapolitanischen „Propaganda", die ich wahrlich ■
nicht verteidigen möchte, übernommen, die aber in den drei oder
vier Exemplaren, wie sie allwöchentlich ein zeitungshandelnder
Barbier auf der Piazza zu Capri verkauft, ignoriert wurde. Ebenso
wenig hat der „Vorwärts" die „frivolen und verleumderischen
Machenschaften" aufgebracht — der schwerste Irrtum bei der
ganzen Sache. Das Berliner Blatt hat nur das seit Jahren vor-
handene umfängliche Gerücht im Moment, als es am lautesten er-
scholl, aufgegriffen.
So manchen Millionär sah ich im Lauf der letzten Jahre auf
Capri landen. Nicht etwa dürftige Mark-Millionäre, gewissermaßen
Millionär - Proletariat — nein, hundertfache Dollar - Millionäre,
Millionär-Aristokratie, wie Morgan, Bockefeller und dergleichen.
Bei keiner dieser finanziellen Korpulenzen hat sich Veranlassung
geboten, daß die Insel so schwer verleumdet werden konnte, wie
bei der Anwesenheit des Kanonenkönigs. — Das sind in diesem
„Fall" die felsenfesten Tatsachen.
Nach der italienischen brachte im Herbst die französi-
sche, englische und amerikanische Presse Mitteilungen
über diese Gerüchte und verzeichnete die später wider-
rufene Zeitungsnotiz, es sei Krupp nahegelegt worden,
die Insel zu verlassen. Der Figaro und die Wochenschrift
T/Europ£en brachten längere von den Verfassern unter-
zeichnete Aufsätze, die auf seine angebliche Homo-
sexualität Bezug nahmen. Am 30. Oktober erschien dann
im Vorwärts folgende wenig beachtete Notiz:
' — 1307 —
Herr Krupp auf Capri. Der deutsche Kanonenkönig, dem
seine Unternehmerintelligenz jährlieh ein Einkommen von einigen
20 Millionen abwirft, hat sich auf Capri eine Villa gebaut, wo er
sich von den Anstrengungen seines Berufs ausruht. Herr Krupp
ist bei der Capreser Bevölkerung so sehr beliebt, daß sogar eine
öffentliche Straße nach ihm benannt ist
Jetzt geht nun durch die italienische Presse die sonderbare
Nachricht, die deutsche Regierung habe so heiße Sehnsucht nach
ihrem Krupp empfunden, daß sie ihn bestimmt habe, Capri für
immer zu verlassen, nach der deutschen Heimat zurückzukehren
1 und in der Villa Hügel sein Leben zu fristen.
Der Geheime Kommerzienrat Krupp ist auch Mitglied des
Herrenhauses. Die Geschichte hat wegen der rechtlichen Frage —
der merkwürdigen angeblichen Pression, Capri zu verlassen —
einiges öffentliches Interesse. Und wir machen deshalb die deutsche
Regierung auf die Behauptungen der italienischen Presse aufmerk-
sam, um ihr Gelegenheit zu geben, sie richtig zu stellen.
Die ersten deutlichsten Hinweise brachte am 8. Nov.
ein verbreitetes Zentrumsblatt, die Augsburger Postzeitung,
welches schrieb:
Rom, 6. November. Schon seit Jahren zirkulieren in Italien
Gerüchte, daß Capri, die schöne Insel im Golf von Neapel, ein
wahres Sodom für gewisse Laster geworden sei. Jetzt hat sich die
sozialdemokratische Presse der Angelegenheit angenommen. Leider
ist in die Angelegenheit der Name eines deutschen Großindustriellen
von bestem Klang, dessen enge Beziehungen zum Kaiserhof bekannt
sind, aufs engste verwickelt. Der „Avanti", der römische „Vor-
wärts", bringt unter der Spitzmarke: „Die Skandale in Capri",
einen größeren Artikel, der den deutschen Großindustriellen aufs
schwerste kompromittiert und ein Einschreiten der italienischen Re-
gierung fordert, welche zwar informiert sei, aber sich blind stelle.
Alle diese Publikationen erfolgten, ohne daß die Be-
hörden oder Krupp selbst dagegen einschritten, da er-
schien am 15. November der Aufsehen erregende Vorwärts-
artikel, mit welchem der eigentliche „Fall Krupp" einsetzte.
Derselbe hatte folgenden Wortlaut:
Krupp auf Capri. Seit Wochen ist die ausländische Presse
voll von ungeheuerlichen Einzelheiten über den „Fall Krupp". Die
deutsche Presse dagegen verharrt in Schweigen. Wir haben vor
einiger Zeit die Angelegenheit angedeutet, mochten sie aber nicht
— 1308 —
näher erörtern, ehe uns nicht ganz einwandfreie und vollständige
direkte Informationen zur Verfügung standen. Nunmehr aber muß
der Fall in der Öffentlichkeit mit der gebotenen ernsten Vorsicht
erörtert werden, da er nicht nur ein kapitalistisches Kultlirbild
krassester Färbung bietet, sondern auch vielleicht den Anstoß gibt,
endlich jenen § 175 aus dem deutschen Strafgesetzbuch zu ent-
fernen, der nicht nur das Laster trifft, sondern auch unglückselige
Veranlagung sittlich fühlender Personen zu ewiger Furcht ver-
dammt und sie zwischen Gefängnis und Erpressung in endloser
Bedrohung fest hält.
Der Geheime Kommerzienrat Krupp, Mitglied des preußischen '
Herrenhauses, der reichste Mann Deutschlands, dessen jährliches
Einkommen seit den Flottenvorlagen auf 25 und mehr Millionen
gestiegen ist, der über 50000 Arbeiter und Angestellte in seinen
Betrieben unterhält, in denen das Zentrum der völkermordenden
Kriegstechnik liegt, — Herr Krupp, den die fremden Fürsten und
Staatsmänner zu besuchen pflegen, wenn sie Deutschland durch-
reisen, gehört zu jenen Naturen, für die der § 175 eine stete Qual
und Bedrohung bedeuten würde, wenn nicht auf diesem Gebiete
die Gerechtigkeit in Anerkennung der Bedenklichkeit der gesetzlichen
Bestimmung die Binde nur selten von den Augen nimmt.
Unter dem Einfluß der kapitalistischen Macht kann eine un-
glückliche Veranlagung, die den Besitzlosen niederdrückt oder gar
zerschmettert, zu einem furchtbaren Quell der Korruption werden,
die dann aus einem persönlichen Schicksal eine öffentliche Ange-
legenheit gestaltet.
Es ist bekannt, daß Herr Krupp seit einiger Zeit auf Capri,
der Insel des Kaisers Tiberius, am Südeingang zum Golf von
Neapel, eine Villa besaß. In den illustrierten Blättern des Scheri-
schen Betriebs konnte man Bilder sehen, die bewiesen, daß der
Mann auch in seiner Capri-Muße nicht rastete, sondern als Wege-
baumeister wunderbare Straßen aufführen ließ und sonst seinen
Unternehmerfleiß rastlos betätigte. Aber Herr Krupp hatte sich
nicht Capri gewählt, um die Insel mit Straßen zu beglücken, sondern
weil das italienische Strafgesetzbuch keinen besonderen § 175 kennt.
In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa — wir geben
nur einige der notwendigsten Einzelheiten wieder, die unser italie-
nischer Korrespondent uns berichtet — huldigte er mit den jungen
Männern der Insel dem homosexuellen Verkehr.
Die Korruption war bis zu einer solchen Höhe gediehen, daß
man bei einem Photographen von Capri gewisse nach der Natur
aufgenommene Bilder sehen konnte. So war die Insel Capri, wo
- 1309 —
das Geld Krupps das hierzu nötige moralische Terrain vorbereitet
hatte, ein Centrum homosexuellen Verkehrs geworden. Die neapoli-
tanische Presse wußte darum, aber sie schwieg.
Man erzählt, daß im Vorjahre der „Matino" — das Organ der
Camorra, das gegenwärtig vor den neapolitanischen Richtern steht
— folgendes publiziert habe: „Auf der Insel Capri ist jetzt Herr
Krupp, der König der Kanonen und der „Capitoni", angekommen."
Einige Tage darauf kam der Redakteur des Blattes, Scarfoglio, mit
einer Dirne nach Capri und nach dieser Zeit hat der „Matino" den
Mund über die „Capitoni" nicht mehr aufgetan, er veröffentlichte
nur noch Lobeserhebungen über Krupp. Auch die italienischen
Behörden wußten von den Vorgängen, aber man nahm Rücksicht
auf den König der Kanonen.
Wie weit das Kriechen vor Krupp ging, dafür ein Beispiel: Als
kürzlich der Ministerpräsident Capri besuchte, riet ihm der Bürger-
meister der Insel an, dem Herrn Krupp ein Begrüßungs- und Glück-
wunschtelegramm zu senden.
Schließlich wurde der Skandal denn doch zu groß und der
Minister des Innern sandte im geheimen einen Inspektor der öffent-
lichen Sicherheit nach Capri, der eine Untersuchung anzustellen
hatte. Das geschah ohne Wissen der Lokalbehörden.
Auf die Ergebnisse dieser Untersuchung hin wurde Herr Krupp
ersucht, die Insel für immer zu verlassen.
Die „Propaganda" (das sozialistische Organ von Neapel), welche
diese Dinge an die Öffentlichkeit gezogen hat, verlangt, daß der
Bericht über die Untersuchung den Justizbehörden ausgeliefert
werde, aber das ist bisher nicht geschehen. .
Auf die Rechtslage des Falles wollen wir vorläufig nicht ein-
gehen. Das grauenhafte Bild kapitalistischer Beeinflussung wird
dadurch nicht sonderlich milder, daß man weiß, es handelt sich um
einen pervers veranlagten Mann. Denn das Mitleid, das das Opfer
eines verhängnisvollen Natur-Irrtums verdient, muß versagen, wenn
die Krankheit zu ihrer Befriedigung Millionen in ihre Dienste stellt.
Insoweit gibt es keine ausreichende Entschuldigung für den Mann.
Gleichwohl bietet der Fall für die deutsche Gesetzgebung ein
hohes Interesse. So lange Herr Krupp in Deutschland lebt, ist er
den Strafbestimmungen des § 175 verfallen. Nachdem die Perversität
zu einem öffentlichen Skandal geführt hat, wäre es die Pflicht der
Staatsanwaltschaft, sofort einzugreifen. Vielleicht erwägt man jetzt,
um diesen das Rechtsgefühl verletzenden Widerspruch zwischen
Gesetz und Anwendung des Rechtes zu beseitigen, die Beseitigung
des § 175, der das Laster nicht ausrottet, aber das Unglück zur
— 1310 —
furchtbaren Qual verschärft Von sozialdemokratischer Seite ist ja
im Reichstag mehrfach auf eine solche Beform gedrungen.
Krupp stellte auf eine von Berlin aus an ihn ge-
richtete telegraphische Anfrage noch am Tage der Ver-
öffentlichung bei der Staatsanwaltschaft des Berliner
Landgerichts I Strafantrag gegen den Vorwärts wegen
Beleidigung, die Nummer wurde polizeilich beschlagnahmt.
Während die gesamte deutsche Presse zu diesen Vor-
gängen Stellung nimmt, eine Reihe anderer Zeitungen in
Dortmund, Düsseldorf, Hannover etc. wegen Abdruck
des Artikels unter Strafverfolgung gesetzt und ver-
schiedentlich Haussuchungen in Redaktionsräumen abge-
halten werden, während überall die Frage erörtert wird,
ob die Behauptungen des Vorwärts auf Wahrheit beruhen
oder nicht, ob derselbe „aus antikapitalistischen Motiven*
gehandelt habe oder, um an Hand eines „ Schulfalls"
die Unhaltbarkeit des § 175 klar zu legen, erfolgte am
22. November die überraschende Nachricht vom Tode
Krupps. Das offiziöse Telegraphenbureau teilt dieselbe
in folgender Form mit:
Villa Hügel, 22. November. Exzellenz Krupp ist heute nach-
mittag 3 Uhr gestorben. Der Tod ist infolge eines heute früh
6 Uhr eingetretenen Gehirnschlags erfolgt.
Es wurde noch mitgeteilt, seine letzten Worte seien
gewesen, daß er ohne jeden Groll aus der Welt scheide.
Der Verstorbene, der obwohl äußerlich kräftig aussehend,
stets von schwächlicher Körperkonstitution und vielfach
kränklich war, hatte nur ein Alter von 48 Jahren erreicht.
Unmittelbar nach dem Eintreffen der plötzlichen
Todeskunde wurden auf allen Seiten Zweifel laut, ob die
amtlichen Angaben über die Art des Hinscheidens wohl der
Wahrheit entsprächen, selbst ein Krupp so nahestehendes
Organ, wie die „Kölnische Zeitung" schrieb in ihrem
Nachruf:
„Die Nachricht, daß F. A. Krupp plötzlich aus dem Leben ge-
schieden ist, wirkt erschütternd, wenn man sie in das licht der
— 1311 —
Beschuldigungen rückt, die in diesen Tagen gegen ihn in der
sozialdemokratischen Presse erhoben worden sind. Haben ihn die
Erregung und die Erbitterung über nichtswürdige Verleumdungen
gefällt, hat er sich selbst im Bewußtsein einer Schuld gerichtet?"
Diese Zweifel verstärkten sich wesentlich, als trotz
des allgemeinen Wunsches eine Sektion der Leiche nicht
vorgenommen und das Ergebnis der ärztlichen Toten-
schau nicht veröffentlicht wurde. Die Beerdigung am
26. November gestaltete sich zu einer großartigen Trauer-
kundgebung. Über 20000 Teilnehmer befanden sich im
Gefolge, darunter der Kriegs-, Eisenbahn-, Handels-
minister, der Staatssekretär der Marine, und vor allem
der deutsche Kaiser, dessen Kranz die Inschrift trug:
„ Meinem besten Freunde. Wilhelm." Vor- und nach
den Beisetzungsfeierlichkeiten suchte sich der Kaiser zu
informieren, ob an den Gerüchten etwas Wahres sei. Man
versicherte ihm das Gegenteil. Krupp sei eine unge-
wöhnlich weiche, zartfühlende Natur gewesen, die alles
sexuelle förmlich perhorresziert habe, er sei, wie man sich
ärztlicherseits ausdrückte, „asexuell" gewesen; namentlich
die Auskünfte des Superintendenten Klingemann erfüllten
den Kaiser mit Entrüstung und sichtlichem Unwillen.
Die Trauerreden, welche der Superintendent und der
Vorsitzende des Kruppschen Direktoriums dem Ver-
storbenen am Grabe widmeten, hatten den Kaiser aufs
tiefste erschüttert. Der Geistliche sagte u. a.:
„Ein vor Gott und Menschen wertvolles Leben ist es, das hier
dahingegangen ist Auf eine einzig dastehende Höhe hat das
Schicksal diesen Mann gestellt. Der Name Krupp ist ein Ehren-
denkmal deutscher Schaffenskraft. Die ihm eigene Bescheidenheit
stellte seine eigene Persönlichkeit in Schatten, aber er hat mit Um-
sicht und Kraft das Erbe verwaltet, das unter ihm zu beispielloser
Höhe gediehen ist. Es ist für uns alle ein unerträglicher Gedanke,
daß der ruhmreiche Name von Bosheit und Lüge konnte angetastet
werden. Krupp war ein Mensch von besonders zartem sittlichen
Empfinden, von Lauterkeit und Schlichtheit, von liebreichem Herzen
gegen Untergebene und Mitarbeiter, ein treuer Freund und hülf-
— 1312 —
bereiter Wohltäter vieler Tausenden, ein opferwilliger Bürger des
deutschen Vaterlandes und der Stadt. Was die städtischen und
die kirchlichen Gemeinden ihm zu danken haben, was er den Alten
und Schwachen in seiner Lieblingsstiftung, dem Altenhof, getan,
davon legen ungezählte Kundgebungen beredtes Zeugnis ab. Aber
die menschliche Dankbarkeit kommt immer zu spät, sie hat nur noch
den Abend vor seinem Hinscheiden erfreuen können, die Nachricht
von der geplanten imposanten Kundgebung seiner Arbeiterschaft.
Es widerstrebt uns, an dieser Stätte des Friedens derer zu gedenken,
die ihm so bitter weh getan. Es wird uns schwer, daß unsere
Klage nicht zur Anklage wird. Aber wir freuen uns, an dieser
Stätte der letzten Worte des Verstorbenen gedenken zu können:
„loh scheide ohne Groll und Bitterkeit gegen alle Menschen, auch
die, die mir das schlimmste angetan." Das ist der Geist Jesu, der
aus diesen Worten spricht. Mit ihm lassen wir Gott Richter sein.
Wir gedenken an ihn als den, der seinen guten Namen vor dem
deutschen Volke rein gehalten hat. Des Reiches Haupt, unser
kaiserlicher Herr, hat es sich nicht nehmen lassen, durch sein Er-
scheinen zu zeigen, daß ihm in dem Verstorbenen ein treuer Freund
dahingegangen ist."
Nach dem Prediger ergriff sogleich Herr Landrat a. D.
Köttger das Wort und widmete namens der Werks-
angehörigen dem Verblichenen einen ergreifenden Nach-
ruf, welcher mit folgenden Wort schloß:
„Es wird einem jeden von uns das Herz warm bei der Er-
innerung an die Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und die Güte
des Herrn, die jeder von uns an seinem Teile von ihm persönlich
empfangen hat. Welch furchtbares Verhängnis, daß diesem Manne
unter den Großindustriellen gerade dieses furchtbare Unrecht ge-
schehen mußte. Sr. Majestät, dem Kaiser und König, unserem
allergnädigsten, vielgeüebten Herrn schulden wir unvergeßlichen,
heißen Dank dafür, daß Allerhöchstderselbe durch die heutige hoch-
herzige Ehrung der richtigen Würdigung unseres Verstorbenen die
Wege geebnet haben. Wir dürfen hier diesem Danke ehrfurchts-
vollen Ausdruck verleihen. Wir, die wir ihn gekannt haben, wir
wissen, daß wir heute der Reinsten und Edelsten einen zur letzten
Ruhe bestatteten, geschmäht und verleumdet nur von solchen, die
ihn überhaupt nicht gekannt haben. Wir wissen, seine sittliche
Größe kann nicht getroffen werden von dem Schmutz, mit dem
niedrige Gesinnung und Parteihaß ihn bewarfen. Eine Schande für
unser Deutschland, daß Deutsche sich erniedrigen konnten, gemeine
— 1313 —
ausländische Erfindungen gegen einen Zeitgenossen von seiner Be-
deutung zu schleudern. Ein Mann von Bedeutung, ein Mann von
großen Erfolgen, ein Mann von Herz, ein Mann von vornehmer Ge-
sinnung, ein Mann von größter Pflichttreue, ein Mann von der
glühendsten Begeisterung für seinen Kaiser und das Vaterland, so
hat er unter uns gelebt, und so wird sein Andenken unter uns
allen fortleben."
Seinem eigenen Unmut und Schmerz gab der Kaiser
wenige Minuten nach diesem Trauerakt in einer Rede
Ausdruck, die sich zu einem hochpolitischen bedeut-
samen Dokument gestaltete. Das amtliche fWolffsche)
Telegramm berichtete darüber wie folgt:
Vor der Abreise von Essen hat der Kaiser die Mitglieder des
Direktoriums und die Vertreter der Arbeiterschaft der Kruppschen
Werke in einem Wartesaal des Bahnhofes um sich versammelt und
nachstehende Anrede an dieselben gehalten:
„Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen auszusprechen, wie tief ich in
meinem Herzen durch den Tod des Verewigten ergriffen worden
bin. Dieselbe Trauer läßt Ihre Majestät die Kaiserin und Königin
Ihnen Allen aussprechen und hat sie das auch bereits schriftlich der
Frau Krupp zum Ausdruck gebracht. Ich habe häufig mit meiner
Gemahlin die Gastfreundschaft im Kruppschen Hause genossen und
den Zauber der Liebenswürdigkeit des Verstorbenen auf mich wirke*
lassen. Im Laufe der letzten Jahre haben sich unsere Beziehungen
so gestaltet, daß ich mich als einen Freund des Verewigten und
seines Hauses bezeichnen darf. Aus diesem Grunde habe ich es
mir nicht versagen wollen, zu der heutigen Trauerfeier zu erscheinen,
indem ich es für meine Pflicht gehalten, der Witwe und den Töchtern
meines Freundes zur Seite zu stehen.
Die besonderen Umstände, welche das traurige Ereignis be-
gleiteten, sind mir zugleich Veranlassung gewesen, mich als Ober-
haupt des Deutschen Reiches hier einzufinden, um den Schild des
Deutschen Kaisers über dem Hause und dem Andenken des Ver-
storbenen zu halten. Wer den Heimgegangenen näher gekannt hat,
wußte, mit welcher feinfühligen und empfindsamen Natur er begabt
war, und daß diese den einzigen Angriffspunkt bieten konnte, um
ihn tötlich zu treffen. Er ist ein Opfer seiner unantastbaren Inte-
grität geworden. Eine Tat ist in deutschen Landen geschehen, so
niederträchtig und gemein, daß sie aller Herzen erbeben gemacht
und jedem deutschen Patrioten die Schamröte auf die Wange
treiben mußte über die unsrem ganzen Volke angetane Schmach.
— 1314 —
Einem kerndeutschen Manne, der stets nur für andre gelebt, der
stets nur das Wohl des Vaterlandes, vor allem aber das seiner Ar-
beiter im Auge gehabt hat, hat man an seine Ehre gegriffen, diese
Tat mit ihren Folgen ist weiter nichts als Mord; denn es besteht
kein Unterschied zwischen demjenigen, der den Gifttrank einem
andern mischt und kredenzt, und demjenigen, der aus dem sichern
Versteck seines Redaktionsbureaus mit den vergifteten Pfeilen seiner
Verleumdungen einen Mitmenschen um seinen ehrlichen Namen
bringt und ihn durch die hierdurch hervorgerufenen Seelenqualen
tötet. Wer war es, der diese Schandtat an unsrem Freunde beging?
Männer, die bisher als Deutsche gegolten haben, jetzt aber dieses
Namens unwürdig sind, hervorgegangen aus eben der Klasse der
deutschen Arbeiterbevölkerung, die Krupp so unendlich viel zu
verdanken hat, und von der Tausende in den Straßen Essens heute
mit tränenfeuchtem Blick dem Sarge ihres Wohltäters ein letztes
Lebewohl zuwinkten.
(Zu den Vertretern der Arbeiter gewendet.)
Ihr Kruppschen Arbeiter habt immer treu zu Eurem Arbeit-
geber gehalten und an ihm gehangen, Dankbarkeit ist in Eurem
Herzen nicht erloschen; mit Stolz habe ich im Auslande überall
durch Eurer Hände Werk den Namen unsres deutschen Vaterlandes
verherrlichtjgesehen. Männer, die Führer der deutschen Arbeiter
sein wollen, haben Euch Euren teuren Herrn geraubt. An Euch
ist es, die Ehre Eures Herrn zu schirmen und zu wahren und sein
Andenken vor Verunglimpfungen zu schützen. Ich vertraue darauf,
daß Ihr die rechten Wege finden werdet, der deutschen Arbeiter-
schaft fühlbar und klar zu machen, daß weiterhin eine Gemeinschaft
oder Beziehungen zu den Urhebern dieser schändlichen Tat für
brave und ehrliebende deutsche Arbeiter, deren Ehrenschild befleckt
worden ist, ausgeschlossen sind. Wer nicht das Tischtuch zwischen
sich und diesen Leuten zerschneidet, legt moralisch gewissermaßen
die Mitschuld auf sein Haupt. Ich hege das Vertrauen zu den
deutschen Arbeitern, daß sie sich der vollen Schwere des Augen-
blicks bewußt sind und als deutsche Männer die Lösung der schweren
Frage finden werden."
Der Vorwärts betonte in der Besprechung dieser
Kede vor allem, daß der Kaiser „unmöglich den der
Beschlagnahme verfallenen Artikel selbst gelesen haben
könne", die Erörterung des Falls sei nicht aus politischen
Gründen, sondern „ einer strafrechtlichen Keform zu
Liebe" begonnen. Das Centralorgan fährt dann, fort:
— 1315 —
„Wir wollten an dem Falle eines besonders bekannten Namens
die Notwendigkeit der Aufhebung jenes § 175 erweisen, der für
viele Unglückliche eine stete Geißel ist, der nicht nur das Laster
den Erpressern und den Richtern ausliefert, sondern auch das Ver-
hängnis eines Naturirrtums ewig bedroht und, wie wissenschaftlich
feststeht, eine furchtbare Zahl von Selbstmorden verursacht hat —
die Beseitigung einer gesetzlichen Bestimmung, die überdies einen
klaffenden Widerspruch des geschriebenen Gesetzes und seiner
Anwendung zur Folge hat und den Willen der Polizei zum Schicksal
über zahlreiche Existenzen macht. Darum erwähnten wir den Fall,
darum machten wir darauf aufmerksam, daß in Deutschland solche
Personen der Willkür des Paragraphen rettungslos ausgeliefert seien.
Wir haben diese Tendenz nicht etwa nur ausgesprochen, um
die Skandalsucht zu maskieren. Das ist die ekelhafte Lüge jener
Preßpiraten, deren Phantasie zwar nach unserer Veröffentlichung
sich lediglich in der Erfindung schmutziger Kalauer betätigte, die
aber dann um so wüster in den Chor der Empörten brüllend ein-
stimmten. Eis war in der Tat kein Vorwand, sondern die wirkliche
Absicht und die unmittelbare Veranlassung. Wir sind sogar in der
seltenen Lage, in der Gerichtsverhandlung, von der wir annehmen,
daß sie in der freiesten Öffentlichkeit geführt werden wird, den
zwingenden Beweis für die Reinheit unsrer Motive und die wahre
Absicht unsres Vorgehens zu erbringen.
Haben wir somit, wie selbst von bürgerlichen Blättern anerkannt
worden ist, alles vermieden, was nur entfernt wie persönliche Be-
schimpfung und skandalsüchtige Sensation wirken konnte — leider
hat die Konfiskation uns die Möglichkeit genommen, durch ein-
fachen Abdruck des Artikels die weitere Öffentlichkeit über die
Schamlosigkeit der bürgerlichen Presse aufzuklären — , so ist es
auch falsch, daß wir leichtsinnig und allzu eilfertig unkontrollierten,
von italienischen Erpressern aufgebrachten Gerüchten Glauben
geschenkt haben. Unsere Kenntnis der Angelegenheit beruht im
wesentlichen nicht auf italienischen Gewährsmännern — soweit wir
italienische Quellen benutzt haben, sind wir durchaus zuverlässigen
und ernsthaften Männern gefolgt — , sondern wir haben sie ge-
schöpft aus gänzlich anders gearteten lauteren Quellen, die abseits
jeder Parteileidenschaft, jedes persönlichen Interesses, jedes
politischen Hasses fließen.
Und auf Grund dieser Informationen stellen wir mit ruhiger,
fester Überzeugung als unumstößlich die volle Wahrheit unsrer
Andeutungen fest. Das ist und das soll keine gehässige Be-
schimpfung sein, sondern die nüchterne, wissenschaftliche, ruhige
Jahrbuch V. 83
— 1316 —
und zuverlässige Konstatierung einer für die Gesetzgebung bedeut-
samen Erscheinung. Und weil wir nicht den mindesten Anlaß
haben, an der unbedingten Zuverlässigkeit und Unbefangenheit
unsrer Gewährsmanner zu zweifeln, darum ziehen wir die notwendige
Folgerung: Wenn es wahr ist, daß das tragische Ende Krupps
mit den seit zwei Monaten bekannten Veröffentlichungen irgendwie
zusammenhängt, dann ist er nicht das Opfer einer boshaften Ver-
leumdung, sondern eines der vielen Opfer des § 175 geworden.",
Durch die Bede des Kaisers in Essen, die einer so
edlen Aufwallung entsprang, war der Fall Krupp in ein
politisches Fahrwasser geraten, wofür er von vorneherein
so wenig geeignet schien. Dieser politische Charakter
kam in äußerst heftigen Angriffen gegen die sozialdemo-
kratische Presse und Partei, in zahlreichen Kundgebungen
seitens der Arbeiter an den Kaiser, auch in Entlassungen
von Arbeitern, die sich an den Huldigungsadressen nicht
beteiligen wollten, in einer nochmaligen Rede des Kaisers
gegen die Sozialdemokratie in Breslau zum Ausdruck.
Allgemein sah man dem Prozeß gegen den Vorwärts
mit größter Spannung entgegen, man erwartete eine schwere
Bestrafung des verantwortlichen Redakteurs, als am
15. Dezember das Verfahren gegen den Vorwärts und
die übrigen Blätter eingestellt, die Beschlagnahme des
Artikels wieder aufgehoben wurde. Wie der Oberstaats-
anwalt Dr. Isenbiel mitteilte, hatte die Witwe des Ver-
storbenen, Frau Krupp, erklärt, „daß sie, durchdrungen
von der Gewißheit der Schuldlosigkeit ihres Gatten, Wert
darauf lege, daß der Streit um den Verstorbenen in der
Öffentlichkeit möglichst zur Ruhe komme. Es sei ihr
deshalb an der gerichtlichen Bestrafung der Urheber und
Verbreiter der Gerüchte nichts mehr gelegen".
Der Vorwärts bemerkte hierzu:
„Wir nehmen die Einstellung des Verfahrens mit derselben
Gelassenheit auf, mit der wir seine Eröffnung erfuhren. Wir waren
auf diesen Ausgang gefaßt. Er war die einzig mögliehe Lösung.
Ja mehr: Wir teilen auch die Empfindungen der Witwe des Ver-
— 1317 —
storbenen, und es befriedigt uns menschlich, daß wir der Notwendig-
keit enthoben sind, einen Toten vor Gericht" zu ziehen. Der Fall
Krupp im engeren Sinne ist für uns erledigt".
Weiter beißt es dann noch:
„Um des § 175 willen hatten wir den Fall Krupp erörtert.'
Wahrhaft erschütternde Bekenntnisse von Personen, die unter der
Geißel des § 175 litten und die uns aus Anlaß unserer Veröffent-
lichung zugingen, haben unsere Überzeugung von der Notwendig-
keit seiner Beseitigung oder Änderung noch bestärkt. Wir erwarten,
daß trotz der Vereitelung des Prozesses, der Fall Krupp bei der
bevorstehenden Revision des Strafgesetzbuchs nicht vergessen
sein wird."
Außerordentlich groß war die Verblüffung und die
Enttäuschung der bürgerlichen Presse über den Entschluß
des Oberstaatsanwalts und seine Begründung. Niemand
wollte so recht glauben, daß die Durchführung des Straf-
verfahrens, in einem Falle der den Charakter einer Haupt-
und Staatsaktion angenommen hatte, „nicht mehr als im
öffentlichen Interesse liegend" anzusehen sei. Wir greifen
auch hier aus vielen eine charakteristische Preßäußerung
heraus.
Die Vossische Zeitung bemerkte:
„Unter den vielen Mißgriffen, welche in dieser Affaire gemacht
sind — so insbesondere, daß die Arzte verabsäumten, ein genaues
Protokoll über die Todesursache bei Krupp aufzunehmen und zu
veröffentlichen, — ist die erfolgte Einstellung des Verfahrens gegen
den „Vorwärts" die bedauerlichste. Diese Entscheidung wird alle
Welt überrascht haben. Denn man sollte meinen, wenn irgendwo
ein öffentliches Interesse vorgelegen hätte, dem Strafantrage Folge
zu geben, nicht sowohl um eine Strafe auszuwirken, auf die es gar
nicht ankam, als vielmehr eine Beschuldigung zu widerlegen, so
wäre es hier der Fall, zumal nach den bedeutsamen Kundgebungen,
die sich an die Veröffentlichung des „Vorwärts" und den Tod
Krupps geknüpft hatten Welche Wirkungen muß nicht die
Einstellung des Verfahrens gegenwärtig haben? Die beschlagnahmten
Nummern des „Vorwärts" können fortan wieder verbreitet, der
Artikel kann mit den Kundgebungen, die ihm folgten, und der
Verfügung über die Einstellung des Verfahrens abgedruckt werden;
Diejenigen behalten Recht, die von Anfang an lächelnd voraus-
88*
— 1318 —
sagten, es werde trotz der Beschlagnahme niemals zur gerichtliehen
Verhandlung kommen. Man muß bekennen, einen unglücklicheren
Ausgang konnte der Fall Krupp für die Kreise, die ihn mit der
Politik in Verbindung brachten, nicht nehmen".
Wir kommen zum dritten Stadium des Falles Krupp,
seinen Nachwirkungen. Die politischen Folgen, die sogar
zu einer Präsidentenkrisis im Reichstage führten, können
wir hier füglich außer Acht lassen. Wie wir bereits
einleitend bemerkten, hat der traurige Fall insofern Gutes
bewirkt, als er eine große Masse derer, welche der homo-
sexuellen Frage gleichgültig oder feindlich gegenüber-
standen, aufrüttelte und zum Nachdenken veranlaßte. In
vielen tausend Zeitungsartikeln, in zahlreichen Broschüren
wurde auf den § 175 Bezug genommen und als sehr
bemerkenswert müssen wir konstatieren, daß, so nahe die
Gelegenheit lag, von ganz verschwindenden Ausnahmen
abgesehen, keine Zeitung, keine Partei — selbst nicht das
Centrum — auf die Beibehaltung des§ 175 Wert legte oder
dieselbe forderte. Sehr viele Blätter, die das Vorgehen
des Vorwärts aufs schärfste mißbilligten, traten energisch
für die Abschaffung des Strafparagraphen ein, so schrieb
u. v. a. das Hamburger Fremdenblatt vom 30. Nov.:
„Das Vorgehen des „Vorwärts" ist um so verächtlicher, als
sich ja gerade die Sozialdemokratie als Partei den Bestrebungen
angeschlossen hat, die auf eine Beseitigung des § 175 des Straf-
gesetzbuches hinauslaufen, jenes in anderen Ländern längst aufge-
hobenen Paragraphen, der die sexuellen Abnormitäten des Mannes
nicht als krankhafte, sondern als strafwürdige Mißstände betrachtet,
des Paragraphen, der in unsere moderne Kulturwelt hineinpaßt, wie
die mittelalterliche Praxis, Geisteskranke als vom Teufel Besessene
zu bestrafen".
Und das Berliner Tageblatt (29. Nov.):
„Heute ist die Wissenschaft nahezu einig darüber, daß es sich
hier um eine anormale körperliche Erscheinung handelt, welche
einen strafbaren „dolus" ausschließt. F. v. Liszt meint, daß einer
Beseitigung des § 175 Bedenken nicht entgegenstehen, da die
Erregung von Ärgernis ohnehin strafbar sei, die gewerbsmäßige
männliche Unzucht aber, die einzige, welche Gefahren biete, durch
— 1319 —
eine geänderte Fassung des § 361, 6 des Strafgesetzbuches, der
bisher nur von der gewerbsmäßigen weiblichen Unzucht spricht,
unschädlich gemacht werden könne. Es darf danach zweifellos
angenommen werden, daß das neue deutsche Straf-
gesetzbuch einen § 175 in diesem Sinne nicht mehr
kennen wird. Ohne hier die Frage näher untersuchen zu wollen,
ob die gegen Krupp erhobenen Beschuldigungen zutreffend waren
oder nicht, ist es doch sicher, daß der Eindruck dieser Be-
schuldigungen eine der Hauptursachen des Todes dieses größten
Industriellen Deutschlands gewesen ist, und insofern kann man
sagen, daß Krupp das Opfer eines veralteten Rechtsbegriffe»
geworden ist, dessen Unhaltbarkeit und Ungerechtigkeit angesichts
der Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft den Fall doppelt
tragisch erscheinen läßt."
Auf der anderen Seite zeigte es sich allerdings, daß
auch noch viele ganz falsche Vorstellungen über die
Homosexualität selbst weit verbreitet waren. Diesen
trat unser Komitee mit einer Erklärung entgegen, die
am 1. Dez. in der Welt am Montag erschien und von
zahlreichen Blättern nachgedruckt wurde. Dieselbe lautete :
„Anläßlich des Falles Krupp ist in der Presse vielfach die
Anschauung hervorgetreten, daß die Behauptung, jemand sei
homosexuell, an sich eine schwere Beleidigung und Ehrenkränkung
bedeute. Ohne die Frage hier zu erörtern, ob Alfred Krupp
homosexuell gewesen sei oder nicht, erhebt das wissenschaftlich-
humanitäre Komitee zu Berlin und Leipzig im Namen von 1500 ihm
bekannten Homosexuellen, die in ihrem Charakter und sittlichen
Verhalten genau so ehrenhaft sind, wie die normalsexuell Geborenen
gegen diese Auffassung energischen Widerspruch.
Es fordert, daß aus wissenschaftlichen Forschungsgebieten die
Konsequenzen der Humanität gezogen werden, damit die folgen-
schweren Verkennungen, denen schon so viele homosexuell Geborene
zum Opfer gefallen sind, endlich ein Ende nehmen.
Wissenschaftlich-humanitäres Komitee.
I. A.: Dr. med. E. Burchard. Dr. med. M. Hirschfeld.
Dr. med. G. Merzbach.
Im übrigen erwuchs in dieser Zeit dem Komitee
die schwierige Aufgabe, zwischen den übereifrigen und
überängstlichen Elementen, die Tag für Tag an uns
— 1320 —
herantreten, die rechte Mittellinie innezuhalten. Zahl-
reichen Fragestellern und Interviewern gegenüber be-
schränkten wir uns auf Mitteilungen über die Frage der
Homosexualität, ohne über die Persönlichkeit Krupps
uns zu äußern. Es sei hier nochmals betont, daß
Indiscretionen seitens des Komitees nicht zu befürchten
sind, der mehrfach vorgeschlagene „Weg über Leichen"1)
wird von uns unter keinen Umständen betreten wer-
den. Namentlich die homosexuellen Herren bei Hofe
mögen sich keinen Beunruhigungen hingeben. Der
langsamere Weg der wissenschaftlichen Forschung und
Aufklärung führt auch zum Ziel. Wir wollen aber
l) Moll bemerkt darüber in No. 50 der Zukunft (18/IX 1902):
„Jedem der die Bewegung zur Aufhebung des § 175 fördern
will, kann nur geraten werden, auf dem beschrittenen Wege fort-
zufahren. Den Homosexuellen wird manchmal, auch von Wohl-
meinenden, der Vorwurf gemacht, sie agitierten zu viel. Was
aber sollen sie tun? Wenn sie nicht agitieren, erreichen sie ihr
Ziel niemals. Sie hätten dann höchstens noch einen andern Weg:
sie müßten suchen, nach Art eines rücksichtslosen Feldherrn oder
Politikers über einen Berg von Leichen ans Ziel zu kommen. Sie
brauchten nur die Namen von Männern öffentlich zu nennen, deren
Homosexualität notorisch und jeden Augenblick zu beweisen ist.
Sicher würde dann Mancher, der die Homosexualität aus tiefster
Seele verabscheut, der aber Homosexuellen, ohne deren Neigung
zu kennen, nahe steht, über die Enthüllung erstaunt sein. Mancher
hohe Beamte, mancher einflußreiche Politiker würde sich schließlich
verwundert sagen: „Ich glaubte stets, die Homosexuellen seien
das elendste Pack der Welt, nun höre ich aber, das mein Neffe,
mein Sohn, mein Freund gleichgeschlechtlich verkehren. Und er
ist doch ein so braver, ausgezeichneter Mensch. Wenn er auch
so ist, dann muß man doch anders über die Sache denken."
Dieser Standpunkt wäre rücksichtslos und zahllose Existenzen
würden dabei sozial vernichtet werden. Einfußreiche Personen
aber würden dadurch unmittelbar für die Sache interessiert- und
ein schneller Erfolg wäre mehr als wahrscheinlich. Trotzdem wäre
solches Vorgehen entschieden zu tadeln. Ich erinnere an diesen
Weg nur, weil man den Homosexuellen, die ihn nicht be-
schreiten, nicht verwehren soll, sachlich zu agitieren."
— 1321 —
nicht unterlassen, diese Herren darauf aufmerksam zu
machen, ein wie hohes Verdienst sie sich erwerben
würden, wenn sie z. B. auf einer Nordlandsreise Gelegen-
heit nehmen würden, den Kaiser über Wesen und Ver-
breitung der Homosexualität zu informieren. Mögen die
Herren bedenken, in welche Unannehmlichkeiten sie nicht
nur sich selbst, sondern auch den Kaiser durch einen sie
betreffenden Skandal bringen, vor dem, wie leider die
Fälle Hohenau und Krupp gezeigt haben, selbst die dem
Thron zunächst stehenden nicht gesichert sind.
Es tut nichts zur Sache, ob Krupp homosexuell
gewesen ist oder nicht, ob die von seinen Ärzten betonte
„Asexualität" der Homosexualität negativer Teil war
oder nicht, ob der Verkehr mit den „Kruppianern44, „den
rundbäckigen Gesellen, die nachts gut schlafen44 nur die
reine, harmlose Freude des etiquettemüden Hofmannes am
Naturburschentum war, wir wollen nicht untersuchen, ob
man in seiner scheuen sensitiven Natur, seiner ungewöhn-
lichen Schamhaftigkeit, seiner Abneigung gegen Spiel,
Jagd, vielleicht auch gegen Krieg, ob man in seinen
Körperformen urnische Stigmata finden konnte, es kann
uns gleichgültig sein, ob die verhängnisvollen Gerüchte
auf Wahrheit beruhten oder nicht, ob die furchtbaren
seelischen Erregungen den armen Mann, der 300
Millionen Mark hinterließ, zu Boden warfen, oder ob er
selbst Hand an sich legte: Eins steht fest, die An-
schauungen über die Homosexualität haben auch diese,
wie so viele ähnliche Katastrophen herbeigeführt, Friedrich
Alfred Krupp ist einer der vielen Opfer mangelnder
Naturkenntnis geworden, nicht nur der Kaiser, auch die
Wissenschaft hält schützend die Hand über das Andenken
dieses Mannes, sie wird Sorge tragen, daß sein Name
einer besser unterrichteten Zukunft rein und makellos
erscheinen wird.
— 1322 —
Neben dem Fall Krupp wurde die öffentliche Auf-
merksamkeit noch durch einige andere Ereignisse in
Anspruch genommen, welche mit der homosexuellen
Frage in nahen Beziehungen standen; wir heben unter
diesen als die bemerkenswertesten hervor: Die Erpressung
des Prinzen von Braganza anläßlich der Krönungsfeier-
lichkeiten in London und den Selbstmord Hector Mac-
General Macdonald,
t 25. März 1903.
donalds, des populärsten englischen Generals. Über das
erstere Vorkommnis ist bereits oben — unter den Zeitungs-
ausschnitten — Bericht erstattet. Zum tragischen Ende
des tapferen Schotten, welcher sich vom gemeinen Soldaten
zum Höchstkommandierenden auf Ceylon emporgerungen
hatte, sei noch einiges bemerkt. Am 25. März 1903
enthielten die Zeitungen ein Telegramm aus Colombo,
— 1323 —
Ceylon, über eine am 24. d. M. gehaltene Sitzung des
„ gesetzgebenden Rates*. Ein Mitglied interpellierte den
Gouverneur über die peinliche Angelegenheit des Generals
Macdonald, worauf der Gouverneur folgende Erklärung
abgab :
„Wir wissen Alle, daß ernste, sehr ernste Anschuldigungen
gegen Sir Hektar Macdonald vorliegen. Obwohl die Vergehen,
deren er beschuldigt ist, sehr schwere sind, so sind sie nach dem
Gesetz von Ceylon doch nicht strafbar und können deshalb nicht
den Gegenstand einer Untersuchung seitens eines Gerichtshofes in
diesem Lande sein. Als die Anschuldigungen bekannt wurden,
hat sich General Macdonald auf meinen Rat und auf meine Ver-
antwortung nach England begeben, um sich dort mit seinen Freunden
und Vorgesetzten zu beraten. Er hat beschlossen, nach Ceylon
zurückzukehren, um die Anschuldigungen zu widerlegen, und ich
wurde ermächtigt, ein Kriegsgericht zu berufen, das in dieser
Sache, ein Urteil sprechen wird. Jeder Engländer, jeder loyale
Untertan hofft, daß der bevorstehende Prozeß nach einer gewissen-
haften Untersuchung mit der vollständigen ehrenhaften Freisprechung
eines Soldaten enden wird, der eine so herrliche Führung im Dienst
seines Königs und seines Vaterlandes aufzuweisen hat, wie es bei
General Macdonald der Fall ist."
Am Mittag desselben Tages fand man Sir Heetor
Macdonald im Regina Hotel zu Paris erschossen, neben
sich die Nummer des New-York Herald, welche jenes
Telegramm und sein Bildnis enthielt. Die Münchener
Allgemeine Zeitung berichtet darüber:
„Der General, der unter der offenbar nur allzu begründeten
Anklage stand, sich auf Ceylon schwerer sittlicher Verirrungen
schuldig gemacht zu haben und der deshalb vor einem Kriegsgericht
erscheinen sollte, hatte sich von Ceylon nach London begeben, um
sich mit seinen Freunden und Vorgesetzten zu besprechen und den
Versuch einer Applanierung der leidigen Affäre zu machen. Es
war ihm das, ungeachtet der vielfachen Sympathien, die er in
militärischen Kreisen besaß, nicht gelungen, er hatte vielmehr vom
War Office die Weisung erhalten, sich ohne Verzug über Marseille
nach Ceylon zu begeben und sich zur Verfügung des Gerichts zu
stellen. Er hatte die Fahrt in der Tat angetreten, nachdem er
zuvor mit Tränen im Auge einem seiner Freunde erklärt hatte,
daß er, wenn die Sache nicht niedergeschlagen werde, ein ver-
— 1324 —
lorener Mann sei. Am 20. d. M. traf er in Paris ein, aber statt
die Heise sogleich fortzusetzen, blieb er im Regina-Hotel, wohl in
der Hoffnung, daß seine Gönner in London mächtig genug sein
würden, um es durchzusetzen, daß er mit Generalsrang und der
damit verbundenen Pension seinen Abschied nehmen dürfe. Er
stammte nämlich aus kleinen Verhältnissen, hatte von der Pike
an gedient und besaß kein Vermögen. Allein seine Hoffnung ging
nicht in Erfüllung. Am Mittwoch früh erhielt er durch ein Tele-
gramm aus London den gemessenen Befehl, ohne Verzug nach
Ceylon zurückzukehren, wenn er nicht aus dem Heere ausgestoßen
werden wolle. Nach dem Mittagsmahle machte er einen Ausgang
und kam dann bald mit der Pariser Ausgabe des New- York Herald,
die sein Bildnis und eine kurze Notiz über seine Person enthielt,
ins Hotel zurück. Er zeigte sein Porträt einem der Direktoren des
Hauses und ging darauf in sein Zimmer. Man sah, wie er lange
über der Zeitung brütete und bitterlich weinte. Als der Diener
gegen 2 Uhr eintrat, um aufzuräumen, sah er den General in Hemd
und Beinkleid am Boden ausgestreckt, den Kopf an einen Sessel
gelehnt. Er rief Hilfe herbei. Ein englischer Arzt, der im Hotel
wohnte, war sogleich zur Hand und konstatierte, daß der Tod
infolge eines Revolverschusses bereits eingetreten war. Die Waffe
hielt der Tote noch in der Hand; er hatte sie an die rechte
Schläfe gesetzt gehabt, die 9-Millimeter-Kugel war in der Wunde
stecken geblieben. Die Polizeipräfektur benachrichtigte den
Minister des Äußern und dieser die englische Botschaft, welche
nach London telegraphierte. General Macdonald, bei dessen Leiche
nur ein ganz geringer Geldbetrag sich fand, soll infolge Erpressungen,
denen er bei seinen Verirrungen ausgesetzt war, riesige Summen
geopfert haben. Für seinen einzigen Sohn und seine geschiedene
Gattin dürfte die englische Regierung sorgen. In einem zurück-
gelassenen Schreiben erklärt Macdonald, daß er sterben mußte, weil
die Journale den Tatbestand publioierten. Seine Gegner in Ceylon
würden nunmehr zufrieden sein.4'
Sehr charakteristisch ist es, wie man die Nachricht
über sein Ende im Londoner Kriegsministerium aufnahm.
Wir geben wörtlich die Mitteilungen L£on Brasils wieder,
welche wir dem Pariser Figaro (Jeudi 26. mars 1903)
entnehmen :
„Les autorites du War # Office avaient presque attendu cette
1n. Un des tres hauts fonctionnaires du War Office me disait ce soir:
— 1325 —
„Noub commencions ä etre inquiets, quand la nouveUe nous
est parvenue; mais je ne la regrette pas; car, en effet, c'est pour
le mieux. U est bien triste qu'un si brave soldat ait fini sa vie
de cette fac,on. Je crois que sa faiblesse fut nne espece d'insanitä;
mais il n'y avait pas de doute sur sa oulpabilitä. n a choisi la
fin qui valait le mieux p.our lui comme pour l'arm^e/1
Ueber seine Persönlichkeit melden die englischen
Blätter:
Es hat selten eine Nachricht England und besonders Schottland
so tief erschüttert, wie die Meldung, daß sich General Sir Hector
Macdonald — der „Fighting Mac" des Volkes — gestern in einem
Pariser Hotel erschossen hat. Der erst fünfzigjährige General war
der Liebling des gemeinen Mannes in der Armee wie im Volke.
Wie Carlyle der Sohn eines kleinen Hochlandbauern, hatte er nur
durch eigene Kraft seinen Weg vom Gemeinen bis zu einer der
höchsten Stellen in der Armee gemacht. In Schottland ist man
außerordentlich stolz auf den Mann, den man trotz seiner Titel
und Chargen unbeirrt weiter Hector Macdonald nennt, und der
imter den englischen Militärs, die von der Pike auf gedient haben,
den höchsten Rang einnimmt. Seine Familie gehörte zu den be-
scheidensten, er wurde als Knecht auf eine Farm verdingt und zur
Feldarbeit angehalten. Schon früh zeigte er aber eine große
Neigung zum Soldatenstand und übte sich schon als ganz junger
Barsche täglich im Reiten. Seine Eltern fürchteten, er werde sich
anwerben lassen und gaben ihn zu einem Schnittwaarenhändler in
die Lehre. Aber auch hier brachte er den Feierabend damit zu,
die anderen Lehrlinge im Exerzieren abzurichten, und als er seine
Abenteurerlust gar nicht mehr bezähmen konnte, nahm er den
Werbeschilling und ging mit den Truppen nach Egypten. Er diente
zehn Jahre als Gemeiner, zuerst bei den 92er Hochländern, die
seitdem die „Gordon Highlander" geworden sind, imd zwar von
1870 bis 1879. Zu dieser Zeit wurde Lord Roberts auf dem Marsche
nach Kabul zuerst auf Macdonald aufmerksam, weil er als Fahnen-
sergeant eine Abteilung Hochländer in bewunderungswürdiger
Weise beherrschte. In seinem Buche über Indien erwähnte Lord
Roberts den Unteroffizier mehrfach wegen seiner außerordentlichen
persönlichen Bravour und schließlich bot er ihm an, er solle wählen,
ob er Offizier werden oder das Viktoriakreuz als Belohnung erhalten
wolle. Zum Glück für England, wahrscheinlich zum Verhängnis
für sich selbst, wählte „fighting Mac" die Ernennung zum Offizier.
Im Jahre 1881 nahm er an dem ersten Krieg gegen die Buren teil,
— 1326 —
focht unter Colley bei Majuba Hill und wurde in den Berichten als
besonders tapfer erwähnt. Nachdem Maodonald wieder nach Egypten
geschickt worden war, avancierte er rasch. Er hat an allen Feldzügen im
Sudan teilgenommen. Bei der Dongola-Expedition kommandierte er
die zweite Infanterie-Brigade und erwarb sich den Oberstenrang. Bei
Abu Hamed hatte er die egyptische Brigade unter sich. Besonders
zeichnete er sich bei der Sohlacht von Omdurman aus, wo sein
kaltes Blut und seine Überlegenheit die schwarzen Truppen zwang,
dem furchtbaren Überfalle der Derwische Stand zu halten. Dafür
belobte ihn das englische Parlament, und er wurde zum Aide de
Camp der Königin Victoria ernannt. Im Juli 1898 wurde Maodonald,
der damals Oberst war, an die Spitze einer Expedition gestellt,
welche die Aufgabe hatte, einerseits die letzten Beste des Auf-
ruhrs im Sudan zu unterdrücken, anderseits den Frieden in Unyoro
zu siebern und gute Beziehungen zu den Stämmen der Shulis
herzustellen. Oberst Macdonald teilte das Expeditionskorps in drei
Kolonnen und drang an der Spitze der Hauptkolonne durch Bukhora
vor, während die beiden anderen Kolonnen sich einerseits gegen
den Nil, andererseits gegen den Rudolf-See wendeten. Am
8. September besetzte eine der Kolonnen Wadelai. . Macdonald
drang mit seinen Truppen unter erfolgreichen Kämpfen tief in den
Sudan ein, und es gelang ihm schließlich, sich mit den beiden
anderen Kolonnen am 1. Januar 1899 in Mumias zu vereinigen,
wodurch ein vollständiger Erfolg erzielt wurde. Im Jahre 1899
kam Macdonald nach Indien, und von dort wurde er nach Südafrika
geschickt, um die Highland-Brigade nach dem Tode Wanchope's
zu kommandieren. Er führte die Brigade zum Sieg von Paardeberg
und wurde in diesem Treffen verwundet. Es wurde ihm dafür der
Bath-Orden verliehen; 1901 bekam er das Kommando von Südindien.
In Südafrika, wie überall, wo er seine hoben militärischen Fähig-
keiten beweisen konnte, war Heotor Maodonald das Ideal der
Truppen. Als die Highland-Brigade die Niederlage von Modder-
River erlitten hatte, hieß es allgemein : „Das wäre nicht geschehen,
hätten wir Hector bei uns gehabt." Wanchope war tot und
begraben, und Lord Metbuen hatte den Glauben an sich bei den
Soldaten verloren. Da kam Macdonald, und alles änderte sich.
Er stellte die Leute neu zusammen, teilte ihnen von seiner frischen
Lebenskraft mit und hatte sie in kürzester Zeit zu einer Mustertruppe
organisiert. Obwohl er selbst niemals müde wurde, wußte er genau,
wann seine Mannschaft der Ruhe bedurfte, wann er sich in kein
Gefecht einlassen konnte. Wo immer ein britischer General ein
koloniales Lager betrat, standen die Kolonialtruppen in schweigender
— 1327 —
Ehrfurcht und leisteten nur den vorgeschriebenen Salut. Macdonald
wurde aber überall mit wahrem Jubelgeschrei empfangen. Die
Kanadier, Kapkolonisten und Australier verfehlten nie, ihn auf eine
Weise zu begrüßen, daß selbst Roberts und Kitchener ihn hätten
beneiden können. Nach der Schlacht von Magersfontein wurde
Macdonald ausgesendet, um im Oranjestaat aufzuräumen, und die
Schnelligkeit, mit welcher er seine Hochländer durch das Land trieb,
wurde als eine merkwürdige Leistung betrachtet. Dabei lebte
Macdonald so wie seine Soldaten und war immer dort
zu sehen, wo die Kugeln am dichtesten fielen, denn seine
Lust am Kampfe blieb ihm stets treu — eine Eigenschaft, welche
die Soldaten am höchsten bei ihm schätzten. Man wunderte sich
allgemein, daß Macdonald, der die rechte Hand Kitohener's in
Egypten gewesen, im Burenkriege keine wichtigere Rolle anvertraut
bekam. Man vermutete, daß etwas gegen ihn vorliege — was es
sei, konnte man sich aber nicht erklären. In England erregte die
Nachricht, daß Hector Macdonald vor ein Kriegsgericht gestellt
werden sollte, das peinlichste Aufsehen und in vielen militärischen
Kreisen heftigen Unwillen. Junge Offiziere wollten gar nicht glauben,
daß es sich um eine ernste Sache handeln könne, und äußerten
die Zuversicht, daß Macdonald Alles werde aufklären können. Am
heftigsten äußerten sich die Unteroffiziere. Einer sagte: „Ich war
mit ihm in Egypten, und ich muß sehr handfesten, soliden Beweis
bekommen, ehe ich glaube, daß er sich je das Geringste zuschulden
kommen ließ". Charakteristisch für die Schätzung des durch zahllose
kühne Taten vor dem Feind berühmt gewordenen Generals war
die erste Begegnung mit dem König nach dem Siege von
Omdurman. Der damalige Prinz von Wales sprach sein Befremden
aus, daß er Macdonald noch nie zuwr persönlich getroffen habe.
Maodonald erwiderte: „Doch, Sir! 1875 habe ich vor Ihrem Zelte
einmal Wache gestanden." Der Prinz antwortete: „Macdonald,
Sie haben als Gemeiner Wache gestanden und es bis zum General
in der britischen Armee gebracht. Ich bin stolz darauf, Ihre
Hand schütteln zu dürfen." Ein Kriegskamerad Macdonald's, der
oft mit ihm im Feuer gestanden, sagte heute: „Er war absolut
der einzige Mann, von allen, die ich sah, der mit aufrichtigem Ver-
gnügen in einem Kugelregen gestanden hat."
Über die Beerdigung des armen Generals brachten die
Münch. Neuesten Nachrichten folgendes Privattelegramm :
„In ganz Schottland bat die Behandlung der Leiche Macdonalds
ungeheure Erbitterung hervorgerufen. Die schottischen Blätter ver-
— 1328 —
öffentlichen Berichte, nach denen die Leiche des Generals in Paris in der
englischen Kirche nicht zugelassen wurde, sondern von den maß-
gebenden Personen in eine Schuttkammer zwischen altem Gerumpel
und Besen verwiesen wurde. Von Paris nach London wurde die
Leiche in einer gewöhnlichen weißen Holzkiste spediert. In London
angekommen, war niemand zu deren Abnahme bereit, trotz aller
Anstrengungen seines Bruders und Vetters und die Leiche wurde
in einem gewöhnlichen Karren, auf dem sonst Paeketetticke expediert
werden und welcher mit Ankündigungen von Vergnügungslokalen
behangen ist, von London - Bridge - Bahnhof nach Kings- Groß-
Bahnhof gebracht. Auch dort war nichts zu dessen Empfang
bereit. Einige 50 schottische Gesellschaften und städtische Körper-
schaften sandten Abordnungen oder Telegramme an das Kriegs-
ministerium mit der Bitte, die Vertagung der Beerdigung zu
gestatten, damit wenigstens privatim die Schotten ihrem General
die letzte Ehre erweisen könnten. Aber alle diese Bitten blieben
unbeantwortet. Auch die Witwe des Verstorbenen, welche mit
ihm in Unfrieden gelebt und gerichtlich ihre Rechte zur Geltung
gebracht hatte, ließ sich auf nichts ein und bestand darauf, daß
die Beerdigung ganz form- und scheinlos am Montag 6 Uhr früh
stattfand".
Bemerkenswert ist noch folgende Kundgebung eines
angesehenen englischen Blattes:
„London, 29. März. — „Reynolds Newspaper" tadelt die eng-
lischen Militärbehörden wegen ihrer Strenge gegenüber dem General
Mao-Donald und schreibt diese Härte dem Umstände zu, daß der
General nicht der Aristokratie angehört. Es verwahrt sich dagegen,
die dem Selbstmörder zugeschriebenen Praktiken entschuldigen zu
wollen, erinnert aber daran, daß sie unter der vornehmen Welt
Londons sehr verbreitet sind und daß, wenn ein Skandal zu ent-
stehen droht, er gewöhnlich im Keime erstickt wird. — Das Blatt
citiert speciell den Fall eines Kanonikus, dem man eine Stelle in
den Colonien anwies, mehrerer Offiziere, denen man gestattete,
Dienste in mohamedanischen Ländern anzunehmen, und schließlich
jenen eines Mitgliedes des* Oberhauses mit einem Freunde der
königlichen Familie. Diesen Letzteren zwang man nicht, das Land
zu verlassen. — Zum Schlüsse gibt „Reynolds Newspaper" der
Hoffnung Ausdruck, daß die Affaire Macdonald dem englischen
Volke ebenso die Augen offnen wird, wie die Affaire Krupp den
Deutschen die Augen geöffnet hat."
•j^m
— 1329 —
Vielfach wurde auch das Verfahren gegen den be-
kannten deutschen Maler Allers, welcher von Neapel aus
in contumaciam zu 4^2 Jahren Zuchthaus und hohem
Schadenersatz verurteilt wurde, mit dem Fall Krupp in
Zusammenhang gebracht. Davon kann nicht im entfern-
testen die Rede sein. Von Krupp wurde nur behauptet,
daß er mit Erwachsenen homosexuell verkehrt habe, von
keiner Seite war ihm vorgeworfen worden, daß er Hand-
lungen, begangen hätte, welche in Italien strafbar seien,
während Allers nachgewiesenermaßen unter Anwendung
von Gewalt schwere Sittlichkeitsverbrechen an Minder-
jährigen begangen hat, eine Tat, die selbstverständlich
stets aufs schwerste verurteilt werden muß.
Riefen die großen Fälle Krupp, Braganza, Mac-Donald
neben einer Reihe kleinerer das Interesse der Öffentlich-
keit für das Schicksal der Homosexuellen hervor, so war
auf der anderen Seite unser Komitee unablässig bemüht,
seinerseits weitere Aufklärung zu verbreiten. Es ist uns
immer mehr zur Gewißheit geworden, daß die Beseitigung
der Volksvorurteile für die Urninge von höherem Wert
ist, wie die Aufhebung der Strafbestimmungen. Ist es
doch schon vorgekommen, daß Uranier aus Ländern, wo
keine Strafbestimmungen mehr bestehen, dagegen die un-
günstige Volksmeinung noch fortdauert, z. B. aus Holland,
nach Deutschland geflüchtet sind, wo zwar die Gesetze
noch existieren, die Unkenntnis des Publikums hingegen
im Schwinden begriffen ist.
Die Petition wurde als wichtigstes informatorisches Do-
kument wie im vergangenen Jahre an alle deutschen Richter,
so in diesem an sämtliche Rechtsanwälte — im ganzen 7300
— versandt. Es ist bemerkenswert, daß nur von zwei
Anwälten direkt abiebnende Bescheide eingingen, dagegen
eine sehr beträchtliche Anzahl von Zuschriften, die sich
lebhaft für die Abänderung des § 175 aussprechen. Ich
greife aus der Menge einige Beispiele heraus:
— 1330 —
Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz-München schrieb: Hochgeehrter
Herr! Hiermit ermächtige ich Sie gerne meine Namensunterschrift
dem mir gütigst übersandten Zirkulare beizufügen. Ich habe in
meiner umfangreichen Strafpraxis wiederholt Gelegenheit gehabt,
die unseligsten Folgen des § 175 des R.-Str.-G.-B. kennen zu
lernen. In einen der eklatantesten Fällen wurde ein herzensguter
und durchaus vornehm denkender Mann der besten Gesellschaft
durch das Treiben eines Erpressers seiner sozialen Stellung be-
raubt und dauernd ins Exil getrieben. In einem anderen Falle
verlor ein freigesprochener, gleichfalls den besten Ständen an-
gehöriger Mann durch die Veröffentlichung der Anklage in einer
auswärtigen Zeitung Ansehen und Stellung. Auch gegenwärtig
liegt mir wieder ein tiefbetrtibender Fall ähnlicher Art vor. Ich
werde gern Veranlassung nehmen, bei der seinerzeitigen Gerichts-
verhandlung auch auf die im höchsten Maße begrüßenswerte Be-
wegung, von welcher mir Ihre geschätzte Zuschrift kundtut,
hinzuweisen.
Rechtsanwalt Walter Steinbock in Fürstenberg: Soeben habe
ich Ihre Zusendung empfangeu und beeile mich, Ihnen meine
Unterschrift für die Petition zur Verfügung zu stellen. Mir ist ein
Fall bestimmt und hat mich recht nahe betroffen, indem der bloße
Verdacht^, des Verstoßes gegen den § 175 des Str.-G.-B., der sich
nachher (nach den Ermittelungen der Straf behör de) als unbegründet
erwies, einen Mann von tadelloser Gesinnung und Lebensführung
zur Aufgabe seiner Carriere, zur Flucht ins Ausland und zum
Verbleib in der Verbannung gebracht hat. Dem Andenken dieses
ehrenhaften Unglücklichen bin ich es schon schuldig, was ich tun
kann, zur Aufklärung beizutragen.
Dr. G. Haberling, Rechtsanwalt am Großherzogl. Oberlandes-
gericht zu Darmstadt: Im Besitze Ihrer gefl. Zuschrift vom Gest-
rigen gehe ich mit den Ausführungen Ihrer Eingabe an die gesetz-
gebenden Körperschaften des Deutschen Reiches zwecks Ab-
schaffung des traurigen § 175 des Str.-G.B., den ich als Ver-
teidiger wiederholt in seiner Schwere kennen zu lernen Gelegenheit
hatte, völlig einig und bitte etc.
Justizrat Dr. Lewinski, Stadtverordnetenvorsteher in Posen:
Ich füge Ihrem Aufrufe gern meinen Namen hinzu, nachdem ich
durch den Einblick in praktische Strafrechtsfälle die volle Be-
rechtigung Ihrer Bestrebungen erkannt habe.
— 1331 —
Kuhn, Rechtsanwalt und Notar in Laben: Zufolge des mir zu-
gegangenen Schriftstücks, betreffend die Aufhebung des § 175 des
Str.-G.-B., bitte ich, meinen Namen den Unterschriften derjenigen,
welche die Eingabe unterschrieben haben, beizufügen. M. E. läßt
sich für die Aufrechterhaltung des § 175 auch das Rechtsbewußtsein
des Volkes nicht mehr anführen, da das Volk oder wenigstens
der gebildete Teil desselben, in seiner weitüberwiegenden Mehrheit
die Delikte gegen § 175 des R.-G.-B. aus einem krankhaften, un-
widerstehlichen Triebe entsprangen ansieht.
Justizrat Fischer in München: Für Ihre geschätzte Zuschrift
spreche ich meinen verbindlichsten Dank aus und bitte, Ihrer Ein-
gabe an die gesetzgebenden Körperschaften des Reichs gefälligst
auch meinen Namen beizufügen, wenn dies noch möglich ist. Ihre
ebenso kurze, als erschöpfende und schlagende Begründung habe
ich mit höchstem Interesse gelesen. Die Verzögerung meiner
Antwort hat nicht etwa, wie es scheinen könnte, darin ihren Grund,
daß ich zu der Frage erst hätte Stellung nehmen müssen. Nur
durch äußere Umstände war ich abgehalten, Ihr gefälliges Schreiben
gleich zu beantworten und verlor dann die Sache aus dem Ge-
dächtnis, bis ich durch das Lesen eines, die bedenklichen Folgen
de* § 175 scharf beleuchtenden Rechtsfalles — ich lege *das betr.
Zeitungsblatt hier bei — wieder daran erinnert wurde.
Großherzogl. bad. Notar Friedrich Walz in Pforzheim: Für die
gefällige Übersendung der Eingabe, den § 175 des R.-Str.-G.-B. be-
treffend, sehr dankbar, ermächtige ich Sie, auch meinen Namen
darunter zu setzen. Beobachtungen des täglichen Lebens weisen
mit gebieterischer Notwendigkeit auf die Abänderung des Para-
graphen. Neben anderen sehr charakteristischen Fällen ist mir
folgender .bekannt, den ich Ihnen in kurzen Zügen mitteilen möchte:
N. N. ist auf dem Lande geboren und aufgewachsen, war nur ver-
hältnismäßig kurz in der Fremde. Von Beruf ist er Landwirt.
Weil sehr begabt, hat er sich viel geistige Bildung angeeignet.
Zu Hause lebt er wie ein Weib — kocht selbst, näht, wäscht usw.
In Unkenntnis seiner gesundheitlichen Beschaffenheit hat er ge-
heiratet, aber die Ehe mußte naturgemäß ein jähes Ende nehmen.
Die Frau war so vernünftig, sich ohne Skandal von ihm zu trennen,
und nun lebt er seiner anderen Liebe — einem jungen schmucken
Bauernknecht (!) — von dem er unter bitteren Tränen versicherte,
nicht lassen zu können. Dies geschah natürlich im strengsten
Vertrauen, und die Außenwelt hat von der ganzen Sache nur eine
Jahrbuch V. 84
— 1332 —
unbestimmte Ahnung, der sie allerdings des öfteren in der be- i
kannten Lieblosigkeit Ausdruck gibt loh füge bei, daß der Mann |
durchaus ehrenwert und gediegen und in hohem Maße wohltätig ',
ist Die Härte des Gesetzes und der Menschen macht einen in
einem solchen Falle, wo übermächtige Naturanlage in förmlich
diktatorischer Weise zum Widerspruch mit dem Gesetze zwingt, ',
schaudern. '
i
Dr. Julius Gottschalk, Rechtsanwalt in Aachen: Mit Freuden
will ich die Überzeugung, die ich aus* praktischen Fällen gewonnen
und stets vertreten habe, auch dadurch betätigen, daß ich der
Eingabe an die gesetzgebenden Körperschaften meinen Kamen bei-
zufügen bitte.
GrpßherzogL hess. Notar Dr. Weiffenbach in Bingen a. Rh.:
Unter höfl. Bezugnahme auf Ihre Drucksendung bitte ich Sie, den
unter der Eingabe auf Abschaffung des § 175 des R.-Str.-G.-B. be-
findlichen Unterschriften auch meinen Namen gefl. beizufügen.
Die von medizinischer und juristischer Seite geltend gemachten
Gründe erscheinen mir so durchschlagend, daß man sich ihnen
wohl kaum entziehen kann. Gleichzeitig bitte ich um gefl. Über-
sendung der Schrift: „Was muß das Volk vom dritten Geschlecht
wissen?", da ich mich über die Materie, die demnächst unsere Volks-
vertretung und jeden gebildeten Deutschen beschäftigen wird,
näher unterrichten möchte.
Oscar Jerschke, Rechtsanwalt in Straßburg i. E. : Ich erkläre
mich mit Ihrer Petition an die gesetzgebenden Körperschaften
wegen des § 175 des Str.-G.-B. durchaus einverstanden und können
Sie auch meinen Namen den übrigen beifügen. Es ist kaum zu be-
greifen, daß dieser Paragraph immer noch am Leben ist! Noch
weniger, daß es Persönlichkeiten gibt, die an sich der Petition
sympathisch gegenüberstehen, aber sich scheuen, ihren Namen da-
runter zu setzen, damit sie nicht in den Verdacht geraten, in irgend
welchen Beziehungen zu diesem Paragraphen zu stehen.
Bruno Mankiewioz, Rechtsanwalt in Frankfurt a. M.: Für die
freundliche Zusendung der Eingabe, welche an die gesetzgebende
Körperschaft dos Deutschen Reiches bezügl. Abschaffung des § 175
des Str.-G.-B. gerichtet werden soll, sage ich Ihnen meinen besten
Dank. Ich hatte in meiner Praxis wiederholt Gelegenheit, mit
Leuten, die aus diesem Paragraphen angeklagt waren, zu tun zu
haben nnd habe dabei die feste Überzeugung gewonnen, daß die
— 1333 —
Betreffenden keine verbrecherischen, sondern nur krankhafte Neig-
ungen hatten. Ich stimme den Bestrebungen auf Beseitigung dieses
Paragraphen von ganzem Herzen zu und ermächtige Sie, 'auch
meinen Namen unter die Eingabe zn setzen.
Dr. Oskar Metzger, Rechtsanwalt in Freiburg i. B.: Ich bin
mit der Eingabe völlig einverstanden und freue mich im Interesse
der beklagenswerten Opfer einer anormalen Veranlagung, daß in
entschiedener Weise vorgegangen wird.
E. Notar Hauber in Eusel: Der an die gesetzgebenden Körper-
schaften des Deutschen Reiches behufs Abschaffung des § 175 des
R.-Str.-G.-B. zu richtenden Eingabe — mit dem mitgeteilten In-
halte — schließe ich mich hiermit an und bedaure nur, daß, wenn
Sie Ihr Ziel erreichen, damit das furchtbare Unrecht, welches bis-
her auf Grund des § 175 des R.-Str.-G.-B. seitens der Staatsgewalt
an vielen der ärmsten Menschen verübt wurde, nicht wieder gut
gemacht werden kann.
Rechtsanwalt Emanuel in Berlin: Mit den Bestrebungen des
wissenschaftlich-humanitären Komitees für Beseitigung bez. Ab-
änderung des § 175 des Str.-G.-B. bin ich in jeder Weise ein-
verstanden und ermächtige Sie gern, meinen Namen den Unter-
schriften beizufügen. Es besteht für mich schon seit langem nicht
mehr der mindeste Zweifel, daß der genannte Paragraph einer der
widersinnigsten unseres Strafgesetzbuches ist.
Victor Fraenkl, Rechtsanwalt in Berlin: Mit verbindlichem
Danke für die Drucksache — betr. § 175 des R.-Str.-G.-B. — bitte
ich, auch meinen Namen den Unterschriften der Eingabe beizufügen.
Bei der Langsamkeit, mit welcher in Deutschland derartige
Reformen sich durchzusetzen pflegen, ist leider zu fürchten, daß
die schlimmer als mittelalterliche Tortur dieser sogenannten Ge-
setzesbestimmung noch recht lange ihr schädigendes Unwesen
treiben und noch gar manche Opfer heischen werde.
Rechtsanwalt beim Großh. Landgericht Karlsruhe F. Neukum
in Durlaoh: Bezugnehmend auf das an mich gerichtete Zirkular —
betreffend Anregung der Abschaffung des § 175 des R.-Str.-G.-B. —
ersuche ich Sie, meinen Namen ebenfalls den Unterschriften bei-
zufügen, welche die Beseitigung des genannten § anstreben. Ich
kann mich zwar der Auffassung nicht verschließen, daß es Einzel-
fälle gibt, in denen eine krankhafte Perversität nicht vorliegt,
84*
— 1334 —
jedoch bin loh der Überzeugung, daß solche in der weitaus er-
drückenden Mehrzahl der zur Strafverfolgung gezogenen Fälle vor-
handen ist, so daß daneben die wenigen strafrechtlich verantwort-
baren Verstöße geradezu verschwinden und keinen besonderen
Schutz-Paragraphen notwendig machen.
Rechtsanwalt Moos II in Ulm a. D.: Für die Zusendung Ihres
Zirkulars danke ich bestens und gestatte Ihnen gern, meinen Namen
demselben anzufügen. Der naturwissenschaftlichen Forschung in
dieser Frage nachzugehen, bin ich beruflich nicht in der Lage,
auch die kriminalpolitischen Erwägungen sind für meine Stellung-
nahme nicht bestimmende. Mich leitet dabei der Gedanke, daß für
das Verhalten der Homosexuellen ein innerhalb der normalen körper-
lichen und geistigen Beschaffenheit denkbares Motiv nicht gegeben
ist. Warum sollte, wenn eine krankhafte Veranlagung nicht vor-
liegt, sich ihre Sinnlichkeit anders, als normal, betätigen? Ein
Leitsatz unserer modernen Strafrechtswissenschaft ist die Rechts-
regel: nullum crimen sine culpa; damit stimmt die Tatsache überein,
daß bei allen unsere Strafgesetzgebung festgelegten Kategorien der
Straftaten ein innerhalb des normalen Empfindungslebens liegendes
Motiv denkbar ist. Das Motiv für einen Mord, um das weitgehendste
Beispiel zu wählen, kann in Geldgier, Rachsucht, Eifersucht
gegeben sein; also in an sich keineswegs abnormen Empfindungen
und Vorstellungen. Ein auf einer normalen Veranlagung beharren-
des Motiv ist aber bei der Homosexualität nicht denkbar. Bestraft
wird vielmehr bisher die Betätigung einer krankhaften Veranlagung,
einer abseits des normalen Empfindungslebens gelegenen, von inner-
halb der normalen Veranlagung denkbaren Motiven im Regelfall
nicht geleiteten Handlung. Von einem Verschulden kann hier
höchstens ausnahmsweise die Rede sein, deshalb ist die Bestrafung,
welche eigentlich die krankhafte Veranlagung als solche trifft, ein
zu beseitigender Rest der mittelalterlichen* Kriminalistik.
Rechtsanwalt John Alexander, Hamburg. Ihre Bemühungen
verdienen den aufrichtigen Dank aller Menschenfreunde ; namentlich
stimme ich aus meinen Erfahrungen als Verteidiger den Gründen
am Schluß Ihrer Eingabe (Chantage) in den No. II u. IH des Nach-
trages zu. Ich habe, obgleich ich nur ausnahmsweise
Verteidigungen übernehme, die Überzeugung, daß mit diesem Krebs-
schaden schleunigst aufgeräumt werden sollte, weil selbst der
objektive Tatbestand bei den meisten Verurteilungen auf diesem
Gebiet nicht einwandsfrei festgestellt erscheint; — trotz der richter-
— 1335 —
liehen Feststellung. — In einem Fall habe ich den Ruin einer
Familie, deren Haupt ich erfolglos verteidigt habe, erlebt; nicht
einmal Begnadigung war zu erlangen, obwohl das Urteil schließlich
nur auf Beleidigung lautete.
Rechtsanwalt Dr. Karl Siehr, Königsberg, Oberlandesgericht.
Ihrer Eingabe betreffend § 175 meine Unterschrift hinzuzufügen,
ermächtige ich Sie, da die von Ihnen angestrebte Gesetzesänderung
aus den von Ihnen angeführten Gründen wünschenswert erscheint
und die Natur der in Rede stehenden Materie es mit sich bringt,
daß weit weniger Unterschriften, als wünschenswert, deshalb zu
erreichen sein werden, weil weite Kreise die Größe der Fehler-
haftigkeit der jetzigen Bestimmung und den daraus entstehenden
Schäden für das Staats wohl zu erkennen, die medizinische und
strafrechtliche Bedeutung der Frage zu durchdringen nicht in der
Lage sein, weitere teils aus Gleichgültigkeit teils aus Scheu, ihren
Namen mit § 175 in Verbindung zu bringen, nicht antworten werden.
In der Münchener Abteilung unseres Komitees (Vor-
sitzender Rechtsanwalt Dr. Fraas) wurde nach der Affäre
Krupp eine ausführliche Eingabe an die Civilcabinette
sämtlicher deutscher Höfe, Senate der freien Städte und
den Statthalter von Elsaß-Lothringen verschickt. Dieselbe
lautete:
Sr. Hochwohlgeboren dem Herrn Vorstand des Groß-
herzoglichen Kabinettes zu Oldenburg. Ew. Hochwohlgeboren! Das
„Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, Abteilung München," welches
es sich zur Aufgabe gesetzt hat, auf Grund der Selbsterfahrung
von Tausenden und sicher gestellter Forschungsergebnisse Klarheit
darüber zu schaffen, daß es sich bei der Liebe zu Personen des
gleichen Geschlechts, der Homosexualität, um eine Naturerscheinung
handelt und dahin zu arbeiten, daß die §§ 175 D.-R.-St.-G.-B. und 129
Ö.-Str.-G., deren bloßer Bestand für jeden konträrsexuell Em-
pfindenden, auch bei völlig tadelloser Lebensführung, eine
fortgesetzte Beschimpfung und Beschuldigung bildet, in ihrer
jetzigen Fassung abgeschafft werden, gestattet sich Ew. Hoch-
wohlgeboren folgende Erwägungen mit der ganz ergebensten Bitte
zu unterbreiten, dieselben an Allerhöchster Stelle baldmögüchat in
geeigneter Weise zur Sprache zu bringen.
Anläßlich der über Geheimrat Krupp kurz vor seinem Tode
aufgestellten Behauptungen und der daraus entstandenen Interesse-
— 1336 —
nähme nicht allein für diesen einzelnen Fall, sondern im allgemeinen
für die mit der Homosexualität verbundenen Strafbestimmungen und
der daraus folgenden gesellschaftlichen Mißachtung halten wir den
Zeitpunkt für gekommen, entsprechend unserer oben dargelegten
Tendenz, wiederholt für die von uns bereits am 18. Januar 1898
durch Petition im Reichstag angeregte Abänderung der genannten
deutschen Gesetzesbestimmung aufs Energischste eintreten zu sollen.
Denn — einerlei ob die von der sozialdemokratischen Presse auf-
gestellten Behauptungen über Krupp beweisbar sind oder nicht —
der Umstand, daß die bloße Behauptung einer derartigen Ver-
anlagung die indirekte Ursache selbst zum Tode eines so hervor-
ragenden Mannes werden kann, gibt zu ernsten Betrachtungen
Anlaß und zeigt zur Genüge, daß die bestehenden gesetzlichen und
damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Anschauungen zu
unhaltbaren Consequenzen führen.
Wie wir mit aller Bestimmtheit versichern, gehören geistig
und gesellschaftlich hervorragende Männer aller Zeiten und
Länder in großer Anzahl zu den Homosexuellen, und gerade
hier zeigt sich, daß dieselben entweder durch das, infolge des
Paragraphen bekanntlich so gefährlich gewordene Erpressertum,
oder schon durch die Anhängigmachung eines Strafverfahrens
— von einer Verurteilung ganz abzusehen — unmöglich ge-
macht werden, oder daß wir, wie moderne Strafrechtslehrer
[Professor Kohler-Berlin] ernsthaft fordern, zu einer utüitarischen
Rechtssprechung gelangen, welche bedeutende Talente dem Vater-
lande unter allen Umständen zu erhalten sucht, den kleinen
Mahn aber gegen die Härte des Gesetzes nicht schützt. Hierzu
kommt, daß wohl keine Bestimmung des Strafgesetzes so häufig
ungeahndet tibertreten wird, und daß nach Professor Gross-Prag
Ausspruch dies gegen den wichtigsten Grundsatz der Strafrechts-
politik, die Erhaltung von Ernst und Wirkung des Strafrechts
durch Gleichmäßigkeit der Handhabung und durch Bestrafung
von möglichst vielen Delikten, verstößt.
Es mag im Übrigen genügen, wenn wir auf die weiteren
Gründe kurz hinweisen, welche gerade von berufenster medicinischer
und juristischer Seite zur Abänderung des Paragraphen geltend
gemacht * werden ....
Es darf wohl daran erinnert werden, daß eine von den hervor-
ragendsten Vertretern der Wissenschaft so dringend befürwortete
Gesetzesänderung im Interesse der Gerechtigkeit, des Vertrauens
unseres Volkes auf einheitliche Rechtsprechung und des Lebens-
glückes von tausenden anormal veranlagten, oft sehr bedeutenden
— 1337 —
und durchaus sittlich denkenden Menschen nicht länger zurück-
gestellt werden sollte, damit in den Jahren, welche noch bis zum
Abschluß der geplanten Strafgesetzreform vergehen werden, die
Zahl der mittelbaren und unmittelbaren Opfer dieser Strafbestimmung
sich nicht täglich mehren.
Wir verkennen nicht, daß es großer Selbstüberwindung bedarf,
sich mit dioser Frage näher zu befassen, glauben aber trotzdem im
Hinblick auf die Lauterkeit unserer Bestrebungen einer gnädigen
Gewährung unserer Bitte entgegensehen zu dürfen."
Von den Höfen München und Darmstadt trafen Ant-
worten mit dem Vermerke ein, daß die Eingabe im
Allerhöchsten Auftrage den betreffenden Staatsministerien
überwiesen worden sei, andere Höfe beschränkten sich auf
einfache Empfangsbestätigungen.
Ferner traten wir an sämtliche deutsche Justizmini-
sterien mit einem Gesuch heran, die Staatsanwälte auf-
zufordern, in jedem Falle aus § 175 einen gerichtlichen
Sachverständigen hinzuzuziehen. Die Eingabe hatte fol-
genden Wortlaut:
„Hochgebietender Herr Staatsminister! Ew. Excellenz beehren
wir uns nachstehende Angelegenheit mit der Bitte um hochgeneigte
Erwägung gehorsamst vorzutragen. Bei denjenigen Verurteilungen,
welche in neuerer Zeit wegen Verfehlung gegen § 175 R. St. G. B.
stattgefunden haben, sind, bei im wesentlichen gleichartigen Hand-
lungen, die Strafen außerordentlich verschieden bemessen worden,
da das Angeborensein konträrsexueller Neigungen eine sehr
ungleichmäßige Berücksichtigung erfahren hat, sodaß teils Frei-
sprechung oder Verhängung geringer Freiheitsstrafen, teils aber
auch Verurteilung zu langdauernden Gefängnisstrafen erfolgt ist.
Eine derartig verschiedene Praxis muß notwendigerweise zu erheb-
lichen Härten und Unbilligkeiten führen, auch lebhafte Beun-
ruhigung bei allen mit konträrsexuellen Naturtrieben Behafteten
hervorrufen. Indem wir anbei die seiner Zeit an Bundesrat und
Reichstag gerichtete Petition überreichen und auf die umfassende
Literatur bezugnehmen, welche wir zur Verfügung zu stellen gern erbötig
sind, gestatten wir uns Ew. Excellenz die ehrerbietige Bitte zu unter-
breiten, in hochgeneigte Erwägung zu ziehen ob es nicht angängig
wäre, an die Herren Staatsanwälte eine Anweisung in dem Sinne
zu erlassen, daß zur Herbeiführung einer einheitlicheren Praxis bei
Strafanträgen aus § 175 in jedem einzelnen Falle die Frage nach
— 1338 —
dem Vorhandensein eines derartigen Naturtriebes eingehend erörtert
und dabei den neuesten Ergebnissen der Wissenschaft in vollstem
Maße Rechnung getragen werden möge."
Vor allem wandten wir uns im Interesse der Homo-
sexuellen auch an die Mitglieder der Kommissionen,
welche mit Beginn des Jahres 1903 zusammengetreten
waren, um eine Revision des deutschen Strafprozesses,
Strafgesetzes und Strafvollzuges vorzubereiten, mit fol-
gendem Anschreiben:
„Hochgeehrter Herr! Durch Ihre Berufung in die Commission
zur Vorbereitung des neuen Reichs-Strafgesetzbuches ist die Zu-
kunft einer nicht unbeträchtlichen Menschenklasse, deren sorgsame
Erforschung seit Jahren die Hauptaufgabe des unterzeichneten
Komitees bildet, in Ihre Hände gelegt worden. Wir stellen
Ew. Hochwohlgeboren auf Wunsch gern die Unterlagen zur Ver-
fügung, welche uns die Überzeugung beigebracht haben, daß
der § 175. R.-Str.-G.-B. in seiner jetzigen Form nicht aufrecht
erhalten werden kann. Die Leiter des Komitees erbieten sich
Ihnen gegenüber zu jeder schriftlichen und namentlich auch münd-
lichen Auskunft Die letzte aus dem Komitee hervorgegangene
Arbeit, welche das in Frage stehende Gebiet auf Grund sehr aus-
gedehnter Objektstudien behandelt, beehren wir uns Ihnen mit
gleicher Post zu tibersenden. Von höchstem Werte erschiene es
uns, wenn Ew. Hochwohlgeboren Gelegenheit nehmen würden,
derartig veranlagte Personen durch eigenen Augenschein kennen
zu lernen. Eine größere Anzahl derselben aus verschiedenen Ge-
sellschaftsschichten hat sich zur persönlichen Vorstellung bereit
erklärt.
Indem wir diese unsere Bitte Ihrer geneigtesten Berück-
sichtigung empfehlen, zeichnen etc."
Die Kommission, welcher die so außerordentlich
wichtige Aufgabe zugefallen ist, die Reform unserer
Strafgesetze vorzubereiten, besteht aus acht Professoren
des Strafrechts, nämlich den Herren Birkmeyer-München,
van Calker-Straßburg i. E., Frank-Tübingen, v. Hippel-
Halle, Kahl-Berlin, v. Lilienthal-Heidelberg, v. Liszt-
Berlin und Wach-Leipzig. Von diesen hervorragenden
Gelehrten haben sich bisher nur zwei — v. Liszt und
v. Lilienthal — mit aller Bestimmtheit für die Streichung
— 1339 —
des § 175 erklärt, wir hoffen, daß auch die übrigen
Herren durch eine sorgfältige Prüfung der Materie, vor
allem durch die so notwendige persönliche Bekanntschaft
mit Homosexuellen zu der Überzeugung gelangen werden,
daß es sich hier — wir zitieren die Worte eines hohen
Staatsbeamten — „nicht um eine wissenschaftliche Marotte,
noch um eine sexuelle Caprice, sondern um eine sittliche
Forderung14 handelt.
Bis der Entwurf des neuen Strafgesetzbuchs fest-
gelegt ist, wird es wohl noch gute Weile haben, es
können noch Jahre vergehen, bis derselbe dem Reichs-
tage vorgelegt wird. Es ist sehr fraglich, ob der 1903
gewählte Reichstag während seiner bis 1898 dauern-
den Legislaturperiode schon die endgültige Entscheidung
fällen wird. So sehr dies im Interesse derjenigen zu
bedauern ist, die noch einer ungerechten Bestimmung
zum Opfer fallen werden, so hat es doch auch insofern sein
Gutes, als bis dahin noch in weitesten Volkskreisen
aufklärend vorgegangen werden kann, da wir es für
wichtig halten, daß der § 175 nicht aus bloßen Rechts-
gründen fällt, sondern im Einklang mit der natur-
wissenschaftlichen Erkenntnis der Fachleute sowohl
wie auch des großen Publikums. Wir konstatieren
mit Genugtuung, daß auch diejenigen Gelehrten, welche
mit unserer Ansicht vom Angeborensein der Homosexua-
lität nicht übereinstimmen, sich fast ohne Ausnahme für
die Abänderung des § 175 ausgesprochen haben, selbst
Dr. Iwan Bloch sagt in seinem letzten Werke, das er
unter dem Namen Dr. Eugen Dühren herausgegeben hat
(„Das Geschlechtsleben in England*, Bd. III, Seite 8),
„daß er in Deutschland die Gefängnisstrafe für Vergehen
gegen § 175 abgeschafft sehen möchte, da durch dieselbe
der Zweck, eine Verbreitung homosexueller Neigungen
und Betätigungen zu verhindern nicht erreicht wird."
Auch der alte Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Pelman in Bonn
r
— 1340 —
hat neuerdings unserer Petition seine Unterschrift erteilt,
da er den „besagten § für wirklich tiberflüssig und schädlich
hält.* „Ich bemerke indess* — fügt er hinzu — „daß
Sie mir und sehr vielen meiner Kollegen die Zustimmung
durch die Art der Begründung sehr schwer, wenn nicht
unmöglich gemacht haben, während ich kein Bedenken
trage, den Punkten I — IV des Anhanges beizutreten.*
Ähnlich äußerte sich auch Geh. Med. Rat Jolly in einem
Vortrage in Berlin.
Hervorragende Persönlichkeiten im öffentlichen Leben,
bedeutendere Mitglieder der gesetzgebenden Körper-
schaften, vor allem die Presse wurden — soweit die
Mittel reichten — auch in diesem Jahre wiederum mit
Schriftenmaterial, namentlich mit den Jahrbüchern ver-
sehen. Von unserer Volksschrift: Was soll das Volk vom
dritten Geschlecht wissen ? sind bis jetzt c. 18000 Exem-
plare verbreitet. Die Bedeutung der Jahrbücher wurde
von vielen Seiten — u. a. in gegen 50 Besprechungen —
voll anerkannt. Wir geben eine Bemerkung wieder,
welche sich über dieselben in dem neuesten Buche
Schrenck-Notzings1) findet:
„Diesen Zweck verfolgt das zum erstenmal 1899 erschienene
und heute in vier Jahrgängen resp. Bänden vorliegende von Dr.
Hirschfeld herausgegebene Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen.
Bd. I zählt 280, Bd. II 483, Bd. III 616 und Bd. IV 980 Seiten.
Alles, was irgendwie eine Beziehung zum sexuellen Problem bietet,
findet man hier mit Quellenangaben gesammelt. Hochinteressante
wissenschaftliche Abhandlungen aus der Feder geistreicher Ge-
lehrter, historische, anthropologische, medizinische, literarische Bei-
träge, ausführliche Besprechung der Literatur und bibliographische
Notizen haben dieses Unternehmen bereits zu einem wertvollen
*) Kriminalpsychologische und psychopathologische
Studien. Gesammelte Aufsätze aus den Gebieten der Psychopathia
sexualis, der gerichtlichen Psychiatrie und der Suggestionslehre
von Dr. Freiherrn v. Schrenck-Notzing in München, Leipzig,
Verlag von Johann Ambrosius Barth. 1902.
— 1341 —
und für den Fachmann unentbehrlichen Hilfsmittel der Forschung
gemacht. Man mag die Lehre des Angeborenseins der Homo-
sexualität (im Sinne Krafft-Ebings) verwerfen, wie sie in den Jahr-
büchern beinahe dogmatisch vertreten wird und mit immer neuen
Beweismitteln ausgestattet erscheint; man mag es als ein
Charakteristikum unserer dekadenten Zeit betrachten, daß eine
psyohopathologische Spezies von Menschen bestehend aus wirk-
lichen Degenerierten, aus Hermaphroditen und psychischen Zwittern,
eine besondere soziale Anerkennung und Daseinsberechtigung
anstrebt, sowie freie Betätigung ihres mit dem Naturzweck im
Widerspruch stehenden geschlechtlichen Trieblebens, der riesigen,
unermüdlichen Arbeitskraft, der zähen Ausdauer, der geschickten
Organisation, wie sie in diesem Unternehmen betätigt sind, wird
man die volle Anerkennung nicht versagen können, umso weniger,
als die Abänderungsbedürftigkeit des § 175 ja auch von den
Gegnern der Vererbungstheorie zugegeben wird."
Neben der litterarischen wurde im vergangenen
Jahre die Vortragspropaganda in ausgedehntem Maße
zu Hülfe genommen. Nach dem unter so eigentüm-
lichen Umständen erfolgtem THe Krupps traten
sowohl wissenschaftliche als politische, gewerkschaft-
liche und sonstige Korporationen an unser Komitee
mit der Anfrage heran, ob nicht von unserer Seite
bei ihnen Vorträge über die homosexuelle Frage
gehalten werden könnten. Nur. ungern und nach reif-
licher Überlegung entschlossen wir uns hierzu. Wir
sagten uns, daß diese Art der Agitation möglicherweise
als eine übertriebene angesehen werden und Anstoß er-
regen könne, während wir uns andererseits nicht ver-
hehlten, daß in dem lebendigen Wort ein außerordent-
lich wirksames, fast unersetzliches Mittel gegeben war,
zumal sich in der freien Diskussion Gelegenheit bieten
würde, mit dem Gegner über das Problem ins Klare zu
kommen.
Der erste Vortrag, welcher von der medizinischen
Abteilung der Berliner Wildenschaft veranstaltet werden
sollte, wurde durch ein Verbot des Rektors der Univer-
— 1342 —
sität unmöglich gemacht. Unter Berufung auf dieses
Verbot untersagte auch die Leipziger Polizeibehörde
einen Vortrag über denselben Gegenstand. Ähnlich
geschah es in Hannover. An beiden Orten waren bereits
für die Abhaltung und Bekanntmachung kostspielige
Vorbereitungen getroffen worden.
Im übrigen, namentlich auch seitens der Berliner
Polizeibehörden wurde den Veranstaltungen nichts in den
Weg gelegt. Der Erfolg der Versammlungen war ein
über alle Erwartungen großer. Die großen Säle waren
stets bis auf den letzten Platz gefüllt, wiederholt fand
wegen Überfüllung polizeiliche Absperrung statt, gegen
800, 1000, 1200 in einem Falle gegen 1600 Personen
wohnten den einzelnen Vorträgen bei. In einer Ver-
sammlung, in welcher die Ärzte Dr. von Oppel und Dr.
Burchard das Referat übernommen hatten, wurde abge-
stimmt, wieviel Personen für, wieviel gegen die Ab-
schaffung des § 175 waren. Von 1000 Anwesenden
stimmten nur 11 dagegen. In den oft lebhaften Diskus-
sionen bekannten sich wiederholt mutige Anwesende
öffentlich als homosexuell. Wiederholt sah man während
des Vortrags Homosexuelle in ihrer starken seelischen Er-
schütterung Tränen vergießen. Sehr interessant waren
manche Bemerkungen aus dem Publikum. So sagte in
einer Versammlung ein alter Mann: »Vor 50 Jahren
habe ich einmal einen solchen Menschen, der etwas von
mir wollte, angezeigt; er verlor seine Stellung, seine
Heimat und Familie. Was gäbe ich jetzt darum, wenn
ich das wieder gut machen könnte!" — Nach einem
Vortrage in Charlottenburg trat ein General a. D. auf
mich zu und bemerkte: „Heute Abend sind mir zwei
merkwürdige Erlebnisse meines Lebens klar geworden.
Als ich noch Fähnrich war, erschoß sich in meinem Re-
giment ein Leutnant, der bei weitem der beliebteste
Offizier war. In einem Briefe, den er an seine Käme-
— 1343 —
raden gerichtet hatte, teilte er mit, er sei anders wie
andere Männer gewesen, mit Aufbietung aller Kräfte sei
es ihm bisher gelungen, sich zu beherrschen, er spüre,
daß er es nicht mehr imstande sei, deshalb mache er ein
Ende. Später wäre in einer seiner Garnisonen ein ver-
heirateter Major der Kavallerie gewesen, von dem sich
die Leute zuraunten, er sei Päderast. Hier in Berlin
hätte er die beiden Töchter des schon lange verstorbenen
Offiziers wiedergesehen, sie gingen beide als Prostituierte
auf der Friedrichstraße.* Ganz besonders erfolgreich
war auch ein Vortrag in Frankfurt am Main, über den
die gesamte dortige Presse ausführlich berichtete. Wir
geben einige Besprechungen, wieder. So schrieb die
Frankfurter Zeitung:
„Das dritte Geschlecht. Der polytechnische Saarhat nicht oft
eine so große Zahl von Besuchern beherbergt wie am Dienstag
abend. Das aktuelle Thema galt der „homosexuellen Frage*' oder
dem „dritten Geschlecht". Das wissenschaftlich-humanitäre Komitee
Berlin-Frankfurt a. M. hat damit den ersten Schritt nach Süd-
deutschland getan; öffentliche Versammlungen waren bisher nur in
Berlin abgehalten worden. Diesem Komitee, das bekanntlich die
Aufhebung des § 175 des Reichsstrafgesetzbuches anstrebt, gehört
eine große Anzahl von Männern im ganzen deutschen Reiche an,
deren Namen von Bedeutung ist, und es ist bereits mit einer ein-
gehenden Begründung seiner Forderung hervorgetreten. Einer der
ersten Wortführer dieser modernen Bewegung ist Dr. med. Magnus
Hirschfeld. Er war der Sprecher des Abends. Ehe er begann,
begrüßte der Vorsitzende Rechtsanwalt Dr. Fuld-Mainz die Ver-
sammlung imd gab der Hoflhung Ausdruck, daß der. Versuch, auf-
klärend im Sinne der Bestrebungen jenes Komitees zu wirken,
Erfolg haben möge. Man habe es mit einer sittlichen Frage aller-
ersten Ranges zu tun, und es sei zu erwarten, daß die hohen Ziele
der Vereinigung volles Verständnis finden würden."
(Es folgt eine genaue Inhaltsangabe des Vortrags.)
„Zum Schluß richtete Redner einen energischen Appell an die
Homosexuellen, selbst an dem Kampf teilzunehmen. Sie müssen
aus ihrer scheuen Zurückhaltung heraustreten; Recht, Ehre und
Freiheit stehen für sie auf dem Spiel. Hoffentlich wird bald der
Tag anbrechen, da Recht über Unrecht, Wissenschaft über Aber-
— 1344 —
glaube, Menschenliebe über Menschenhaß die Oberhand gewinnt.
Tosender Beifall folgte den Schlußworten des Redners."
Die Frankfurter Neuesten Nachrichten schlössen ein
sehr eingehendes Feuilleton über den Vortrag mit
folgenden Worten:
„Von hohem sittlichen Ernste getragen, verstand es der Redner
die delikatesten Fragen mit großer Zartheit zu behandeln; er
beurteilte sie vom moralischen, ethischen, ästhetischen und natur-
wissenschaftlichen Standpunkte. Er setzte auseinander, daß § 175
des St.-G.-B. in seiner gegenwärtigen Gestalt unhaltbar ist. In der
Diskussion blieb der Vortragende Sieger, die Gegenbemerkungen
fanden im Saale nur vereinzelten Beifall. Der Zudrang zu dem
Vortrag glich einer Völkerwanderung, die Zuhörer standen bis an
der Straße, viele mußten umkehren/
Der Frankfurter General- Anzeiger bemerkte u. a.:
„Die homosexuelle Frage machte gestern abend auf Ver-
anlassung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees Berlin-Frank-
furt a. M. Dr. Hirsch fei d aus Berlin, eine Autorität auf diesem
Gebiete, im Polytechnischen Saale zum Gegenstand eines äußerst
interessanten und instruktiven Vortrages. Der Andrang des
Publikums war ein so großer, daß zahlreiche Personen keinen Platz
mehr bekommen konnten. Kopf an Kopf gedrängt lauschten die
Anwesenden, unter denen sich auch mehrere Damen befanden,
den etwa eineinhalbstündigen lehrreichen Ausführungen (folgt
Inhalt). Nachdem Redner unter stürmischen Beifall geschlossen,
trat ein hiesiger Arzt als Vertreter konträrer Anschauungen auf,
wurde aber unter dem Beifall der Anwesenden von dem Referenten
ebenso sachlich wie treffend widerlegt. Gegen halb 12 Uhr wurde
die Versammlung von dem Vorsitzenden geschlossen."
Angesichts dieser regen agitatorischen Tätigkeit mußte
es als unausbleibliche Folge angesehen werden, daß sich
alsbald eine Gegenströmung bemerkbar machte, die sich
allerdings nur in mäßigen Grenzen hielt. Von dem
Kongreß der Sittlichkeitsvereine in Leipzig wurde eine
Petition abgesandt, welche die Beibehaltung des § 175
fordert. Namentlich waren es einige kleinere Blätter
idealistischer Richtung (Volkskraft-Bremen, Lebensspuren-
Lorch, Aristokratissimus-Steglitz) die sich gegen uns
L
I
— 1345 —
wandten in der Befürchtung, es könne durch diese Propa-
ganda einer Degeneration des Volkes Vorschub geleistet
werden. Die Redakteure übersehen, daß es sich hier
lediglich darum handelt, das Verständnis eines
vorhandenen Zustandes zu vermitteln, auf dessen zu-
oder abnehmende Verbreitung einen Einfluß zu nehmen
wir naturgemäß außer Stande sind. Eine andere Gruppe
von Gegnern schimpfte ohne zu prüfen. So schrieb ein
süddeutsches Zentrumsblatt:
„Verbrecher-Versammlungen sind seit dem „Fall Krupp" in
Berlin an der Tagesordnung. Es handelt sieh um traurige Gesellen,
welche die Aufhebung des § 175 des Strafgesetzbuches, der die
Unzucht zwischen Mann und Mann und zwischen Weib und Weib
mit Zuchthaus bedroht, verlangen. Zu ihren Versammlungen sind,
wie die Plakatsäulen verkünden, auch „Damen" zugelassen. Und
die Polizei?"
Nachdem wir unter Übersendung von Material dem
Blatt mitgeteilt hatten, daß wir, im Falle keine Zurück-
nahme erfolgen würde, gerichtliche Bestrafung beantragen
würden, erfolgte folgende Berichtigung:
„Wir haben uns aus den Schriften des „Wissenschaftlich-
humanitären Komitees" und aus seiner an die gesetzgebenden
Körperschaften gerichtete Petition überzeugt, daß unsere Äußerungen
unrichtig waren. Wir nehmen daher die Ausdrücke „Verbrecher-
Versammlungen", „traurige Gesellen" zurück, und berichtigen noch
wie folgt: Die Bestrebungen des „Wissenschaftlich-humanitären
Komitees" sind nicht auf die Aufhebung des § 175 gerichtet,
sondern auf die Abänderung dieses Paragraphen; der Sinn des
§ 175 ist in dem genannten Entrefilet unrichtig wiedergegeben."
Eine Dame, Frau Marie Anderson, ging sogar so
weit, eine Gegenschrift: „Wider das dritte Geschlecht* zu
veröffentlichen, in der sie unter nicht wiederzugebenden
Schmähungen nicht davor zurückschreckte, uns Sätze unter-
zuschieben, die nirgends auch nur dem Sinne nach gesagt
worden sind. So schrieb sie: „Es ist schon weit gekommen,
wenn in der Schrift: „Was muß das Volk vom dritten
Geschlecht wissen" steht: „ Die Frauen emanzi-
— 1346 —
pieren sich von den Männern, emanzipieren wir uns von
den Frauen*.
Als wir den Verleger* auf diese und andere
Fälschungen aufmerksam machten , war er so loyal, die
Schrift aus dem Buchhandel zurückzuziehen. Er schrieb:
„Sehr geehrter Herr! In Erledigung Ihres geschätzten Briefes
teile ich Ihnen ergebenst mit, daß die Untersuchung betreffend
unrichtiger Citierung in dem Buche „Wider das dritte Geschlecht"
aus dem Schriftchen „Was soll das dritte Volk vom dritten Ge-
schlecht wissen" zu unserem größten Erstaunen leider ergeben hat,
daß verschiedene Citate falsch sind. Wir haben die Schrift sofort
der Vernichtung anheim gestellt und die wenigen Exemplare, die
in den ersten Tagen an die Buchhandlungen gingen, zurückbeordert.
Es tut uns sehr leid, daß wir so schlimm getäuscht worden sind,
aber weder unser B. noch einer unserer Revisoren ist auf den
Gedanken gekommen, daß die Citate unrichtiges enthalten könnten.
Wir sind in Wirklichkeit das Opfer unseres guten Glaubens geworden,
denn es steht uns ferne Schriften herauszugeben, die dem Inhalte
nach der Wahrheit nicht entsprechen. Wir sind natürlich gerne
bereit dem Komitee dies offiziell mitzuteilen. Unser B. steht Ihnen
zur eventl. weiteren Besprechungen stets zu Diensten."
Ein gewisses Aufsehen erregte es, daß eine andere
Dame, welcher wir auf eine uns von vertrauenserweckender
Seite zugegangene Empfehlung unseren wissenschaftlichen
Fragebogen zur Beantwortung übersandt hatten, bei der
Staatsanwaltschaft den Antrag stellte, daß auf Grund
dieser Sendung gegen uns eine öffentliche Anklage wegen
Beleidigung und Verbreitung unzüchtiger Schriften er-
hoben werden sollte. Es fanden mehrfache recht zeit-
raubende Verhöre statt, in einem eingehenden Schreiben
rieten wir der Kgl. Staatsanwaltschaft von einer Anklage
abzusehen, welche bei allen, welche die Freiheit der
Wissenschaft hoch halten, das unliebsamste Aufsehen er-
regen müßte, worauf die Nachricht einging, daß das ge-
führte Vorverfahren eingestellt worden sei.
Der besagte Fragebogen war unter Zugrundelegung
des im ersten Jahrbuche f. s. Zw. erschienenen von einer
— 1347 —
Kommission, bestehend aus den Herren Dr. Merz-
bach, Dr. v. Kömer, Dr. Meienreis, Baron v. Teschen-
berg und mir neu bearbeitet und an ca. 1000 Männer
und Frauen, zumeist solche, die uns als homosexuell
bekannt waren, versandt worden. Bisher, sind gegen
300 brauchbare Beantwortungen eingegangen, die ein
äußerst wertvolles wissenschaftliches Material enthalten,
von dessen weiterer Durcharbeitung wir uns noch
wichtige Aufschlüsse versprechen dürfen. Wir bitten im
Interesse der weiteren objektiven Erforschung und der
damit im Zusammenhang stehenden Befreiung der Homo-
sexuellen recht sehr, sich die Zeit und Mühe zu nehmen,
die Fragen möglichst genau und streng wahrheitsgemäß
zu beantworten. Die Bogen stehen gratis zur Verfügung.
Wir machen darauf aufmerksam, daß die strenge Geheim-
haltung der Namen unter das ärztliche Berufsgeheimnis
fällt Wenn irgend möglich, empfiehlt es sich zur körper-
lichen Untersuchung sich einem sachverständigen Arzte
vorzustellen. Wir raten den Homosexuellen, sich — auch
ohne daß sie in Konflikt geraten sind — mit ärztlichen
Gutachten über ihren Zustand zu versehen, um gegebenen-
falls Verwandten, Freunden, Vorgesetzten und Behörden
gegenüber ein solches an der Hand zu haben!
Leider warten noch immer eine sehr beträchtliche An-
zahl von Homosexuellen Unannehmlichkeiten ab, ehe sie sich
an das wissenschaftlich-humanitäre Komitee wenden. Die
Zahl der Erpressungsfälle, in denen wir zur Hilfe gerufen
wurden, war immer noch eine recht große. In einem
Falle handelte es sich „um die Kleinigkeit von 225,000
Mark*, welche ein anonymer Chanteur als Schweigegeld
beanspruchte. Oft genügten energische Warnungen, oft
mußten wir auch^die Kriminalpolizei hinzuziehen, mit
der wir dauernd; auf bestem Fuße stehen. Die gericht-
lichen Verfolgungen Homosexueller waren wohl etwas ge-
ringer, aber doch namentlich in der Provinz noch häufig
Jahrbuch V. 85
— 1348
genug. Es gibt wohl kein Rechtsgebiet, auf den zur Zeit
eine so außerordentliche Rechtsungleichheit, vorhanden
ist, wie auf diesem. Abgesehen von den vielen Fällen,
in denen überhaupt keine Anklage erhoben wird, erkennt
bei nahezu gleichem Tatbestand der eine Gerichtshof auf
eine Woche, ein anderer auf 3 Monate, ein dritter auf
1 Jahr Gefängnis. Ein ganz besonders betrübender Ge-
richtsfall war die schwere Verurteilung des homosexuellen
Rentiers Metzentin in Berlin, von der der Verteidiger
in der „ W. a. M." folgende Schilderung gab :
Sehr geehrte Redaktion!
Wenn ich Sie heute bitte, dieser Zuschrift freundliche Auf-
nahme zu gewähren , so geschieht es lediglich deshalb, weil die
Stimme der Menschlichkeit und das Gerechtigkeitsgefühl mich dazu
treiben. Die Öffentlichkeit hat, so bin ich überzeugt, ein unzweifel-
haftes Anrecht darauf, zu erfahren, welch schwerwiegendes Urteil
am 2ä. April 1903 über einen wegen Vergebens gegen § 175 St.G.B.
Angeklagten verhängt und wie diese so tiefeingreifende Entscheidung
begründet wurde. Es handelt sich um einen 56 Jahre alten, homo-
sexuell veranlagten Rentier M,, welcher, zweimal auf Grund des
§ 175 St, G, B. vorbestraft, sich am 23. April wegen einer neuen
solchen Anklage vor der 9, Strafkammer des hiesigen Landgerichts I
zu verantworten hatte. Er war beschuldigt, in der Nacht vom 19.
Eura 2(1 Februar d. J. einen anderen Mann auf der Straße angeredet,
mit ihm in mehreren Lokalen dem Alkohol zugesprochen, ihn dann
in seine Wohnung mitgenommen und sieh dort, nachdem der Fremde
eingeschlafen, durch „widernatürliche Unzucht" vergangen zu haben.
Nach einer Woche von diesem und einem Bruder desselben mehr-
fach behelligt, erstattete Rentier IL gegen beide Personen, deren
Photographien im Verbrecheralbum des Berliner Polizeipräsidii sich
^finden, Anzeige wegen Erpressung und Bedrohung. Sie wurde
r Staatsanwaltschaft zurückgewiesen; dagegen wurde diesen
isonen soviel Glauben geschenkt, daß die Erhebung der
£egen den Rentier M. wegen Vergehens gegen § 175 StG.B*
Hau ptv erhandlang war auf meinen Antrag Herr Dr. Hirsch-
der bewahrte Forscher auf dem Gebiete der sexuellen
sehenatüfeu und konträren Sesualempfindung, geladen. In
am ausführlichen Gutachten, dessen schriftliche Ausarbeitung:
— 1349 —
schon vorher zu den Gerichtsakten eingereicht worden, sprach sich
der Sachverständige dahin ans, daß bei dem Angeklagten zweifellos
eine die Strafbarkeit beseitigende krankhafte Störung der Geistes-
tätigkeit, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen,
vorhanden gewesen sei. Herr Dr. Hirschfeld begründete die Schluß-
folgerung eingehend durch Schilderung der körperlichen Beschaffen-
heit des Angeklagten, seines Lebensganges, seiner homosexuellen
Veranlagung, seiner Entartung durch übermäßigen Alkoholgenuß —
aus Verzweiflung — und seiner erblichen Belastung, da mehrere
seiner Angehörigen in Geisteskrankheit gestorben. Für den Fall,
daß das Gericht sein Gutachten nicht als ausreichend erachten
sollte, schlug der Sachverständige noch eine Untersuchung und Be-
obachtung des Angeklagten durch einen vom Gericht zu bestellenden
Arzt vor. Als Verteidiger stützte ich mich auf die überzeugenden
Darlegungen des Herrn Dr. Magnus Hirschfeld und wies u. A. auch
darauf hin, daß die Vorstrafen des Angeklagten ganz anders be-
urteilt werden müssen als sonst frühere Verurteilungen eines
Menschen; es sei gerade ersichtlich, daß M., dessen Leben ein fort-
gesetztes Martyrium bedeute, im Kampf gegen seine homosexuelle
Veranlagung des unwiderstehlichen Dranges doch nicht habe Herr
werden können.
Nach längerer Beratung verkündete der Vorsitzende Herr Land-
gerichtsdirektor Müller, daß der Angeklagte wegen Vergehens gegen
§ 175 St. G. B. mit einem Jahr Gefängnis bestraft und sofort in
Untersuchungshaft genommen wird. Die Strafkammer schenkte den
beiden eigenartigen Zeugen vollen Glauben; obwohl der eine selbst
zugegeben, daß auch er betrunken gewesen, erachtete ihn der Ge-
richtshof doch als fähig, zu entscheiden, daß der Angeklagte sich
im vollen- Besitz seiner Geisteskräfte befunden ; die Feststellung des
Sachverständigen, daß derartige Persönlichkeiten, wie der Ange-
klagte, infolge des Zusammenwirkens der verschiedenen Momente
gegenüber dem Alkohol besonders wenig widerstandsfähig, hielten
die Richter für völlig unerheblich! Auch alle sonstigen Darlegungen
des. Gutachtens glaubte die Strafkammer gänzlich unbeachtet lassen
zu können, so daß der Vorsitzende bei der Urteilsverkündigung
eine homosexuelle Veranlagung durchaus ablehnte und u. a. meinte,
man solle eben nicht homosexuell veranlagt sein!
Als der Angeklagte die Höhe der gegen ihn erkannten Strafe
vernommen, sank er in sich zusammen. Bei seiner Abführung duch
den Gerichtsdiener schrie er den Richtern gellend das Wort „Justiz-
mörder" entgegen«
85*
— 1350 —
Ich habe geglaubt, den Fall M. eingehender schildern zu
müssen, da er einen der grausigsten Beweise für die unseligen
Wirkungen des § 175 St. G. ß. darbietet! Der Fall M. ist ein be-
sonders greller Mahnruf, an der Aufklarung über das Wesen der
Homosexualität unablässig zu arbeiten, damit endlich die mittel-
alterliche Tortur des § 175 St. G.B. aus unseren Tagen verschwinde!
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
Victor Fraenkl, Rechtsanwalt.
Die Zeitschrift „Kampf*, die ebenso wie die „ Freie
Meinung" in Berlin sehr lebhaft für die Rechte der
Homosexuellen eingetreten ist, bemerkte zu diesem Urteil
in einem „Advocatus communis* unterzeichneten Artikel
u. a. :
„Kann man es dem Gequälten nicht nachfühlen, daß er sich
mit letzter Kraft aufraffte und dem Gerichtshof mit gellender, herz-
zerreißender Stimme: „Justizmörder!" zuschrie!?! Eine entsetzliche
Szene, die auf alle Anwesenden einen geradezu erschütternden
Eindruck machte. Und was führte der Vorsitzende des Gerichts-
hofs zur Begründung an? „Sie sollen eben nicht homosexuell sein!"
Kann der Präsident die ewigen Gesetze der Natur umstoßen?
Vermißt er sich, was Gott geschaffen hat, durch den Hauch seines
Mundes in sein Gegenteil zu verkehren?
Was hätte der Unglückliche nicht darum gegeben, anders
geartet zu sein? Sein Weib hatte sich von ihm scheiden lassen,
aus seinem bürgerlichen Beruf war er ausgestoßen worden; der
Schande und Verfehmung preisgegeben, irrte er in seinem Alter
einsam durchs Leben, sich hier und da, weil ihn niemand mehr um
seiner selbst willen liebte, ein Tröpflein Liebeslust im Schlamme
der männlichen Prostitution erkaufend. Und glaubte da der Ge-
richtspräsident wirklich, der Ärmste hätte nicht anders sein wollen,
wenn er nur gekonnt hätte? Das läßt sich leicht sagen: „Sie sollen
eben nicht homosexuell sein!" Will der Präsident sagen, wie man
das ausführen kann?
N;h'h diesem Urteil, das in der Zeit der wissenschaftlichen
ifklärung wie ein Hohngelächter über die Errungenschaften eines
j!1t KrutTt-Ebing wirkt, wird wieder das Erpressertum wie eine
>chtiut anschwellen, da jeder Homosexuelle sich lieber die ärgsten
, -elli rrirn gefallen lassen wird, als sich dem auszusetzen, auf die
— 1351 —
eidliche Aussage eines Mitschuldigen, eines notorisch bestraften
Lumpen zu langen entehrenden Freiheitsstrafen verurteilt zu werden.
Es ist zwar Berufung eingelegt worden, weil die Verteidigung
durch Ablehnung des Antrages auf Hinzuziehimg noch eines Sach-
verständigen beschränkt worden ist; doch wird es helfen?
Hoffentlich gibt es noch Richter bei uns, die nicht in alten
Vorurteilen befangen, sondern dem stetigen Vorwärtsschreiten der
Aufklärung folgend, anstatt mit dem Schwert der Gerechtigkeit
gegen den unglücklichen Homosexuellen zu rasen, selbst dazu bei-
tragen, den unheilvollen § 175 zu beseitigen, oder ihn, solange das
noch nicht geschehen ist, doch wenigstens in humaner Weise aus-
zulegen trachten so, daß er den geborenen Homosexuellen nicht
trifft, da dieser keine für ihn widernatürliche Unzucht treibt, wenn
er gleichgeschlechtlich verkehrt. Dann wird der Fall Metzentin,
ebenso wie der Fall Krupp, wenn er auch über einen Märtyrer
hinwegschreitet, der Allgemeinheit zum Segen gereichen: endlich
muß doch der § 175 einmal fallen !" — Advocatus communis.
Wie uns zuverlässig mitgeteilt wurde, betrachteten
die Berliner Chanteure diesen Ausgang des Prozesses
tatsächlich als eine Art Sieg und es war ein glücklicher
Zufall, daß zwei Wochen später in einem verwandten
Fall, der sich allerdings insofern unterschied, als beide
Beteiligte angeklagt waren, der Erpreßte freigesprochen,
der Erpresser dagegen zu 21/* Jahren Gefängnis verur-
teilt wurde.
Mit der Außentätigkeit des Komitees, von der wir
hier nur einen kurzen Überblick haben geben können,
ging die innere Ausgestaltung Hand in Hand. Es fanden
zwei Halbjahrskonferenzen — die IX. am 6. Juli 1902
im Altstädter Hof, die X. am 11. Januar 1903 im Hotel
zu den vier Jahreszeiten — statt, die hauptsächlich der
Festlegung der weiteren Agitation gewidmet waren sowie
regelmäßige Monats Versammlungen, in denen wissen-
schaftliche und künstlerische Vorträge abwechselten ;
unter den Vorträgen seien die von Herrn Dr. Max
Alberty über Platen, von Herrn Schriftsteller Lietzow
über Ludwig II. und von Herrn v. Teschenberg über
— 1352 —
die Persönlichkeit Oskar Wildes besonders hervorgehoben.
Alle Veranstaltungen erfreuten sich eines sehr regen
Besuchs sowohl von heterosexuellen als auch von homo-
sexuellen Herren und Damen, und nahmen einen äußerst
harmonischen Verlauf mit Ausnahme einer Monatssitzung,
in der es infolge der energisch verfochtenen Behauptung
eines Arztes, daß die Homosexualität auf Willensschwäche
beruhe, zu äußerst stürmischen Auseinandersetzungen kam.
Über den Stand der Bewegung wurden regelmäßige
Monatsberichte verfaßt, für welche diejenigen, welche die
Zusendung wünschen, 3 bis 5 Mark Herstellungs- und
Portokosten entrichten.
Die Zahl der Fondszeichner stieg von 94 im Jahre
1901 auf 243 pro 1902, die zur Verfügung stehenden
Mittel von 4415.80 Mk. im Jahre 1901 auf 6519.33 Mk.
im Jahre 1902.
Wir machen wiederholt darauf aufmerksam, daß der
endliche Sieg unserer Bestrebungen nicht nur eine Frage
der Zeit, sondern auch eine Geldfrage ist. Sehr viele
reiche Uranier beschränken sich immer noch darauf,
„mit großem Interesse zu verfolgen", wie eine verhältnis-
mäßig kleine um das Komitee geschaarte Anzahl von
Fondszeichnern bemüht ist, auch für sie die Kastanien
aus dem Feuer zu holen. Als erhebendes Beispiel von
Opferwilligkeit wollen wir dagegen das Anerbieten
eines urnischen Schuhmachers zu Köln a. Rh. erwähnen,
der, als er von dieser Bewegung Kenntnis erhielt, seine ge-
samten Ersparnisse in Höhe von 400 Mk. dem Komitee zur
Verfügung stellte. Selbstverständlich lehnten wir dieses
Opfer ab, möge es aber denen, die bisher noch nichts
für die gerechte Sache übrig hatten, zum Muster dienen.
Neben der Berliner Centrale entfalteten namentlich
die Komitees in München (Rechtsanwalt Dr. Fraas am
Platz 1/2) in Leipzig (Max Spohr, Sidonienstr. 19. Egon
Eickhoff, Leipzig-L.) sowie in Frankfurt a. M. (Ritterguts-
— 1353 —
besitzer Jansen-Friemen-Cassel) eineregeTätigkeit, während
die Bemühungen, welche in Hamburg von Dr. Hoefft-
Börsenbrücke, in Hannover von J.Heinrich Denker, Fabrik-
besitzer in Sulingen und Schriftsteller König-Hannover
sowie im nördlichen Teil der Rheinprovinz vom Grafen
v. d. Schulenburg, Haus Oeft bei Kettwig a. d. Ruhr
unternommen wurden, bisher nennenswerte Erfolge nicht
aufzuweisen hatten. Immer reger gestalteten sich dagegen
die Beziehungen zum Auslande; in Konstantinopel und
St. Petersburg, in Kopenhagen und Christiania, in Amster-
dam und Brüssel, in London und Paris, Italien und der
Schweiz — um nur einige Orte zu nennen — besitzen
wir tätige Mitarbeiter, die an diesem Befreiungskampf
den lebhaftesten Anteil nehmen.
Gewiß befinden sich im Strafgesetzbuch Bestimmungen,
die ebenso verbesserungsbedürftig sind, wie der § 175, aber
wenige berühren so lebenswichtige Interessen wie dieser,
gewiß ist die Homosexualität nur eine Teilerscheinung
des öffentlichen Lebens, aber sie ist ein Teil, dessen ge-
rechte Behandlung für das Verständnis und sicher auch
für das Wohl des Ganzen von hoher Bedeutung ist —
deshalb ist die Lösung dieser Frage, welche vielleicht einer
objektiveren individuelleren Beurteilung der Menschen
untereinander die Wege bahnt, so außerordentlich wichtig.
So mögen denn alle — ob objektiv oder subjektiv
interessiert — in ruhiger, unermüdlicher zuversicht-
licher Tätigkeit weiterkämpfen im Gefühl der Sicher-
heil^ wie sie der Satz der Alten verleiht: „Magna est
vis veritatis et praevalebit," der einem Gedanken Aus-
druck gibt, den Schopenhauer (»Welt als Wille und
Vorstellung ■« IV. Aufl. Bd. II. Seite 42) in folgende
Worte kleidet, mit denen ich dieses Jahrbuch schließen
möchte: „Und zum Trost derer, welche dem edlen und so
schweren Kampf gegen den Irrtum in irgend einer Art
und Angelegenheit Kraft und Leben widmen, kann ich
— 1354 —
mich nicht enthalten, hier zu sagen, daß zwar so lange,
als die Wahrheit noch nicht dasteht, der Irrtum sein Spiel
treiben kann, wie die Eulen und Fledermäuse in der
Nacht: aber eher mag man erwarten, daß Eulen und
Fledermäuse die Sonne zurück in den Osten scheuchen
werden, als daß die erkannte und deutlich und vollständig
ausgesprochene Wahrheit wieder verdrängt werde, damit
der alte Irrtum seinen breiten Platz nochmals ungestört
einnehme. Das ist die Kraft der Wahrheit, deren Sieg
schwer und mühsam, aber dafür, wenn er einmal errungen,
nicht mehr zu entreißen ist*.
Charlottenburg, Berlinerstr. 104.
1. September 1903.
Dr. M. Hirschfeld.
VI. Abrechnung.*)
a) Von den Zeichnern von Jahresbeiträgen für 1902
bei den Geschäftsstellen in Charlottenburg, Frankfurt a. M.
und Leipzig eingegangene Beträge:
P. R. & R. A. in Rußland . .
do. Extrabeitrag . .
G. St. J.
Dr. phil. A., Charlottenburg,
pro. Dezember
Dr. Aletrino, Amsterdam . . .
Max A. in Berlin N.W. . . .
Max A. in Berlin S.W. . . .
G. B. in Köln ......
Fol.
Mk.'
158
100
J»
100
188
68
178
10
202
20
111
24
137
8
193
30
360
Pf*.
*) 1. Die Fondszeichner werden freundlichst um Mitteilung
gebeten, ob bei der nächsten Abrechnung ihr voller Name oder
eine bestimmte Chiffre angeführt werden soll.
2. Von folgenden 43 Fondszeichnern gingen die Beiträge für 1902
bis zum 1. Juli 1903 nicht ein: cand. med. B. in H. Eugen B. in B.
Aug. B. in Essen. A. B. in London. Theo B. in Berlin. Wilh. B.
in H. Dr. E. B. Ingenieur C. in W. Karl Friedr. C. stud. tech. D.
F. F. in Berlin. Robert G. in B. Emil H. in W. Pianist H. in B.
J. in Berlin. Ernst K. in D. Otto K. in Berlin. M. K. in H.
A. K. in Sp. Dr. L. in B. Adolf M. in Berlin. Dr. v. M. Graf M.
William M. in B. Heinr. P. in B. Baron de P. R. de L. Albert
S. in 0. Hans Seh. in Berlin. Seelhorst. Geometer S. Apotheker R.
Richard S. in E. Carl St. in M. Otto St. in Berlin. Franz U. in M.
Otto W. in Berlin. R. W. in B. v. W. in St. Jul. W. in Ch.
A. W. in Berlin. W. in W. Max Z. in B.
— 1856 —
FoL
Mk.
Pfe-
Übertrag:
360
—
8
E. O. B. in L.
199
50
—
9
Gustav B. in Charlottenburg .
171
2
—
10
Überzeugt in Charlottenburg .
128
30
—
11
Marcus Behmer in Berlin . .
114
30
—
12
Berthold B. in A.
118
20
—
13
Georg B. in Berlin
132
i 20
—
14
Emil B. in Charlottenburg . .
208
20
—
15
E. B. in P
47
50
—
16
S. B. jr. in B
165
3
—
17
Eduard Bertz, Schriftst., Potsdam
20
20
—
18
Georg B. in K.
211
100
—
19
Carl B. in Frankfurt ....
109
20
—
20
B. in M
105
100
—
21
Josef v. B. in W.
229
1 6
—
22
C. Br. in B
50
5
—
23
Adolatus
187
45
—
24
Herrn. Br. in Berlin ....
161
20
—
25
Chemiker F. Brinkmann, Berlin
29
20
—
26
Emil Carl in B
147
8
—
27
C. C. in M
198
20
—
28
Holland 1000
215
30
—
29
Ch. in Berlin
172
3
—
30
M. Cl., New-York
197
20
—
31
L. C. in Berlin
150
5
—
32
C.-A. Schriftsteller in Berlin .
66
20
—
33
J. C. in Berlin
206
20
—
34
Fabrikbesitzer D. in S. . . .
5
55
—
35
Theodor D. in Ch
146
12
—
36
Albert D. in B
176
3
—
37
Josef Glinnowski
159
20
—
38
W. H. E. in Seh
175
20
—
39
Eg. E
71
10
1167
—
— 1357
Fol.
Mk.
Pfg.
Übertrag:
1167
—
40
Freiherr H. v. E. auf Seh. . .
210
100
—
41
Theodor E. in B. ...
226
40
86
3
10
25
42
G. E. in Berlin ....
_
43
C. E. E. do
do. Extrabeitrag . .
1
50
44
Ingenieur B. E
215
20
45
Robert E. in Berlin . .
140
9
--
46
K. F. in L
103
20
—
47
M. F. in Mecklenburg. .
89
3
—
48
Gustav F. in Charlottenburg
224
i °
—
49
„Agricola"
182
80
50
Ph. F. in Osnabrück . .
84
20
—
51
Freiherr v. F. i. H. . .
83
30
—
52
Anthonis F. in B» . . .
154
227
183
178
93
56
43
2
12
20
22
3
20
13
^_
53
F. F & Co in B. . . .
54
F. L
55
Walter F. in L
_
56
Ernst F. in Berlin . . .
57
F. in Ch
_
58
Willy F. in B
mmm^
59
Siegfried Gabriel in B. .
142
36
—
60
Dr. G. in Jena ....
17
31
5
100
61
Rechtsanw. Dr. G. in F. .
—
62
Ludw. G. in Berlin . .
28
10
—
63
Dr. Adolf G. in Berlin .
6
25
—
64
F. W. G. in Berlin . . .
200
177
40
3
_ _
65
v. G. in B
—
66
Rechtsanw. A. G. in B. .
168
20
—
67
C. G. Bayern pro 1901 .
45
20
—
do. pro 1902 . .
*
20
—
68
K. G. in Budapest .
94
20
_ _
69
Baron de G. in W. . .
189
20
—
1904
50
— 1358 —
.. — .
Fol.
Mk.
Pfg.
Übertrag:
1904
50
70
Fritz G. in R
181
, 24
14
71
Dr. M. 6. in L
185
i 8
49
72
B. H. in Berlin
162
i 1
—
73
D. v. H. in Berlin
151
9
—
74
O. H. in V. ...'... .
3
30
—
75
A. H. München
21
, 50
—
76
W. H. in Köln
221
, 25
—
77
E. W. Hellek
191
i 25
—
78
H. in Frankfurt
101
| 50
—
79
R, H. in Berlin
222
! 1
— ■
80
Paul H. in Berlin
143
20
—
do. Extrabeitrag
143
20
—
81
Waldemar Heßling, Haiensee .
155
20
—
82
W. K. H. in D
78
100
—
do. Extrabeitrag .
78
1
50
83
0. H. in Berlin
174
3
—
84
stud. tech. H. in B
194
25
—
85
Dr. phil. H. i. H.
64
20
—
86
K. R. Z. Frankfurt a. M. . .
162
30
—
do. Extrabeitrag
162
30
—
87
Dr. H. in A
190
20
—
88
Dr. L. H. in G
196
5
—
89
Th. G. H. in M
224
, 20
—
90
Adolf J. in Berlin
9
: 6
—
91
Dr. phil. J. do
14
1 10
—
92
H. J. in Freiburg
41
20
—
93
W. J. in F
82
j 50
—
do. Extrabeitrag . . .
82
! 50
—
94
Carl J. in Berlin
207
1
—
95
Valfrid J. in St
170
5
—
96
A. J. in Seh
196
5
—
97
F. J. Bez. Osnabrück ....
15
20
—
2609
63
— 1359 —
Fol. i Mk. Pfg.
Übertrag: 2609 63
98 Dr. M. Katte, Berlin .... 34 20
99 L. D. K. in G . . 90 15
100 W. K. in Leipzig 192 20
101 Prof. Dr. Fr. Karsch in Berlin 7 40
102 Carl JE. in Berlin 216 6
103 Konrad K. in Berlin .... 108 30
do. Extrabeitrag ... .108 10
104 N. K. in Berlin 212 20
105 P. S. (durch Dr. Hirschfeld) . 98 100
106 F. K., Hamburg 217 30
107 Paul K. in L. ...... 164 18
do. Extrabeitrag ... 164 20
108 Hans Kl. in Berlin 174 1
109 Musikdirektor K 171 4
110 Architekt K 173 24
111 Richard K. in Berlin .... 130 20
112 A. K. in A 195 30
113 F. K. in Berlin 173 5
114 Otto K. in Berlin . ... 165 22 50
115 Rudi K. in B 126 13
116 Otto K. in Berlin 129 20
117 Ernst L. in Berlin 153 2
118 Schriftsteller Paul R. Lehnhard 141 36
119 L. in Berlin 197 10
120 A. L. in Berlin 131 10
121 J. L. in Breslau 52 40
122 Dr. Lilienstein 156 20
123 Dr. med. L. in F. 39 20
124 A. L. in St 214 3
125 Prof. Dr. L. in B 2 20
126 J. L. aus K 203 20
127 I Willy L. in Berlin . . . . . 208 4
^263 IT
— 1360 —
Fol.
Mk.
Pfe-
Übertrag:
3263
13
128
Dr. A. L. in Berlin ....
202
4
—
129
L. in Charlottenburg ....
225
5
—
130
Arthur L. in B.
154
3
—
131
Dr. Paul Lutze in Köthen . .
44
20
—
do. Extrabeitrag . . .
44
1
50
132
Frau Reg.-Rat Dr. Martha Mar-
quardt, Berlin
159
40
—
133
Richard M. in Berlin
204
4
—
134
J. M. in Hannover .
24
50
—
135
M. O. 23 . . . .
70
65
—
136
L. M. in Berlin .
35
12
—
137
Dr. Th. in L. . .
190
48
50
138
Otto M. in L.
160
20
—
139
K. M. in Neu-R
49
10
—
do. Extrabeitrag . . .
49
4
25
140
H. Metzenthin pro 1901 . . .
116
20
—
do. pro 1902 . . .
116
20
—
141
F. M. in A
179
110
— >
142
Adolf M. in Berlin
152
6
—
143
„Friedel" ...
188
20
—
144
Dr. M. in L. . . .
18
5
—
145
8. M. in Ch. . .
97
20
—
146
E. G. H. ...
167
40
—
147
Nobody ....
72
24
—
148
Johannes N. in B.
214
10
—
149
Integer vitae . .
32
20
—
150
Schriftsteller N. in B. ...
117
40
—
151
V. A. N. in Hamburg . . .
59
50
—
152
Ludwig Noster, Berlin . . .
170
9
—
153
E. O. in B
10
130
—
154
„Ohne Namen"
53
20
—
155
P. O. in C. ....
177
20
—
4114
38
•m*m
— 1361 —
Übertrag :
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
Ph. v. P. in B. . .
Baron v. P. in St. .
Numa Praetorius
Dr. med. Pr. in F. .
do. Extrabeitrag
R. S. 123
do. Extrabeitrag
P.C.Frankfurt . .
J. R. cand. pb. in Ch.
„Imprimatur" . .
B. R. in Rom . . .
H. S. in O. ...
R. in K. . . . .
R.Ra.F
do. Extrabeitrag
Fidkbes. R. D. . .
PaulR
Dr. R. in C. . . .
Maro
Willibald v. S.-G. .
Zahnarzt S. in B. .
Otto 8. in M. . . .
Herrn. 8. in Berlin pro 1901
do. pro 1902.
W. S. in M
Franz 8. in Berlin . .
Dr. 8. in Rotterdam .
Dr. Sp. in M. ...
Rechtsanw. Dr. 8. in H.
do. Extrabeitrag
J. Seh. in B
E. S. Charlottenburg .
Fol.
38
187
11
63
12
166
54
199
79
48
22
62
68
155
77
223
189
210
176
122
37
127
180
102
23
148
134
Mk.
14114
20
20
200
40
1
200
1
20
20
15
20
100
40
25
1
100
6
20
10
30
25
20
20
20
25
8
10
40
20
1
24
20_
15238
Pfg.
38
50
50
15
50
50
53
— 1362 —
1
Fol.
Mk.
Pfff-
Übertrag:
5238
53
183
L S. 77 München
4
j 30
184
E.S. inH. . .
51
! 20
185
S. & T. in Berlin
213
! io
186
v. Seh. in B
124
i 20
187
A. S. in Sp
217
J 5
_
188
8. in D
99
; 20
• 10
-
do. Extrabeitrag . . .
—
189
C. Seh. in Leipzig
191
1 25
190
Paul Sch.-D
194
88
i 3
i 28
191
Seh. in Budapest
192
Mechaniker A. Seh. in B. . .
228
1 6
__
193
Dr. Alfred Schröder, Berlin
106
! 20
194
Emil S. in B
39
1 io
195
Graf Seh
67
30
50
60
196
E. S. in E
_ _
197
Reg. Bmstr. Seh. in B. ...
179
25
198
Otto Seh. in B
164
3
199
Wulf Seh
103
16
20
3
200
Robert Seh. in Berlin ....
201
A. St. Schweiz
121
22
202
R. St. in Z
18
40
203
I. 8. in B
204
20
204
G. St. in P
73
20
205
A. St in Seitmanns ....
213
20
206
Ludwig St
163
12
207
Freiherr v. T. M
186
10
208
Hermann Freiherr v.Tesehenberg,
Charlottenburg
33
25
209
Leoni Thiel
205
15
—
210
Dr. M. M. Rom
87
49
70
211
E. T. in Köln
218
20
212
Baron Carl v. T. in R. ...
216
20
5808
23
1363 —
Fol. 1
Mk.
Pfg-
Übertrag:
1
5880
23
213
E.T. inF
58 ■
25
—
214
U. in Berlin
144
9
—
215
C. L. A. H.
36 !
20
—
216
Paul V. in Berlin
172 '
20
—
217
V.-B. in Berlin
203 !
10
—
218
Schriftsteller V. in B. ...
211
1
—
219
Dr. V. in B
195
3
—
220
Paul V. in ß
147
4
—
221
,W r, Dresden" ....
123
50
—
222
W. O. 42
149
220 |
10
24
223
V. V. in Wien
224
Walter W
113!
22
225
Otto W. in N
219
5
226
F. W. in München
19 1
10
227
Wilh. W. in H.
158 ;
20
228
Otto W. in Ch
184
80
do Extrabeiträge . . .
29
10
229
Dr. H. W. in Berlin ....
107
20
—
230
M. W. in Berlin
160
2
—
231
W. in Berlin
167
10
—
232
C. W. in Japan
212
20
—
233
Harry W. in B
133
20
—
234
J. W. in R
225
20
—
235
Caesareon
223
20
—
236
K. W. Schaumburg-Lippe . .
139
10
—
237
v. W. in Berlin
200
10
—
238
Baron W
46
20
—
339
L. W. Berlin
91
50
35
240
Paul W. in Beilin
100
—
241
S. L. W. iu Basel
42
20
—
242
St. v. Z. in B
108
20
—
243
Maximilian Bayer, Karlsruhe
227
20
—
6519
33
Jahrbuch V.
— 1364 —
b) Außerdem erfolgten 1902 folgende einmalige
Zahlungen :
,8/.
7h
7
8
,r/<
"7.
*/.
1B/9
,8/:o
U
81/
/l
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Vit
1»
Conferenz-Sammlung
N. N. Schaumburg-Lippe . . .
aus Frankfurt durch J
E. Manen
Conferenz-Sammlung
Prinz X
M. H. in M. durch T
Sprawiditipi
Erdmannsdorf
Müll. W. E.H. München ....
H. ß. durch Spohr
Incognitus do
K. in Gütersloh
Ernst Möllers
Ungenannt No. CO
Dr. med. M. Hannover durch O. .
Ravenne durch Spohr
F. I. Florenz
A. L. durch Brand
Sänger T.
Rup. N
N. in F. für Intervention . . .
Fritz H. Leihgebühr f. Jahrbuch .
für Jahrbuch Einbände u. Portos
1,80 + 1,80 + 0,65 + 1,50 + 2 —
+ 1,50 + 1,50
für 50 Petitionen
für Volksschriften 1, \-2, —
A. St. f. 1 Jahrbuch
J. W. f. 2 Jahrbücher ....
Mk.
271
10
45
2
198
100
50
20
5
100
3
20
5
10
10
20
2
20
5
3
10
10
12
3
11
10
967
Ptg.
40
60
75
50
25
1
1365 —
Übertrag:
E. in W. f. 2 Jahrbücher ....
R. in W. f. 1 Jahrbuch
L. in Ch. f. do
v. P. f. Jahrhuch I. antiqu
für Monatsberichte
5,- + 3,- + 4 - + 3 - + 3,-
+ 5, 1- 3, \- 3, \- 3, (- 5 -
+ 3 - + 5 - 3,- + 5, h 8,- +
3 - + 3, [■ 3, h 3 - + 3, h
3, 1-8,-
Mk.
Pfg.
967
25
13
40
10
14
12
—
3
—
77
11082
79
Ausgaben laut Buch.
a) Schreibmaterialien, Einladungen u. div. 575,80 Mk.
b) Petitionen (8000 an sämtliche Rechts-
anwälte Deutschlands), Volksschriften,
Bücher zur Rezension, Zeitungen etc. 1318,65 „
c) Porto für Petitionen, Jahrbücher,
Einladungen , Volksschriften , Korre-
spondenzen etc 1143,87 „
d) Jahrbücher für die Fondszeichner . . 952, — „
e) Jahrbücher zu Propagandazwecken . . 2057, HO „
f) Inventar (Schreibmaschine, Aktenregal,
Stempel etc.) 159, — „
g) Vortrags - Konferenz - Monatsvers.- und
sonstige Spesen 104,20 „
h) Gehalt des Sekretärs 1130, — „
• zusammen 7440,82 Mk.
86*
— 1366 —
Gesamt-Einnahmen.
1) Fondszeichner 6519,33 Mk,
2) einmalige Zahlungen 1082,79 „
3) Überschuß vom Jahre 1901 .... 340,34 ,
7942,46 Mk.
Gesamt- Ausgaben wie oben 7440,82 „
mithin Überschuß am 31. Dezbr. 1902. 501,64 Mk.
Charlottenburg und Leipzig, 31. Dezember 1902.
Dr. Hirschfeld. Max Spohr.
Gegengezeichnet
Fabrikbesitzer J. Heinr. Denker, Sulingen.
Rittergutsbesitzer W. Jansen, Friemen.
Verzeichnis der Abbildungen.
Band I.
Richard Freiherr von Krafft-Ebing .... Titelbild
Th. Widdig, urnischer Arbeiter 34
Willibald von Sadler-Grün in verschiedenen Trachten . 65
Ritter D'Eon 79
König Ludwig 11. von Bayern 84
Verhältnis des Schulter- zum Beckengürtel . .129.
Urnischer Arbeiter mit weiblichem Becken . . . 130 u. 131
Allgemein verengtes weibliches Becken . . .132
35 Abbildungen von Scheinzwittern und deren Genitalien 225, 226,
238, 239, 240, 248, 249, 256, 257, 258, 272, 273, 283, 296, 297,
302, 303, 305, 323, 342, 343, 346, 347, 353, 357, 358, 372, 374,
375, 376, 377, 379, 380.
Felicita von Vestvali 426
Dieselbe in Straßentoilette 431
Dieselbe als Petruchio 435
Dieselbe als Hamlet 438
Rosa von Braunschweig 443
Heinrich Hößli 449
Heinrich Hößli's Geburtshaus 455
Der schwarze Adler im alten Glarus 458
Der Gasthof zum Löwen im alten Glarus .... 459
Heinrich Hößli als Jüngling 466
Derselbe als Greis 467
Aemil August als Erbprinz 651
August, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg 639
Herzog August von Gotha als Griechin .... 643
Szene aus dem „Kyllenion" . . 658
Schlußvignette der Novelle „Kyllenion" .... 687
— 1368 —
Band II.
87 Abbildungen zum Artikel von Drs. v. Römer siehe
Spezial-Anhang 922
Ainofrauen mit tätowiertem Schnurrbart .... 940
Annie Jones-Elliot 1158
Der 84jährige Clemens Jung 1183
Wasserseppli als Mann 1210
Wasserseppli als Frau 1211
Musketier Bertha Weiß 1216
Georg, Prinz von Preußen 1298
F. A. Krupp 1304
General Macdonald 1322
Druck von G. Reichardt, Groitzsch i. S.
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AR6ÜS STORASE
DATE DUE