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Full text of "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität"

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rbuch 

für 

vischen: 

Berücksichtigung 

exualität. 


gegeben 
lamhafter 
^n  des 
initären  Korr 

Hirschfei 

lottenburg. 
Band. 


pohr. 


Richard  Freiherr  von  Krafft-Ebinj 

geb.  14.  August  1840  in  Mannheim,  gest.  22.  Dezember  N 


ftru 


/yfUltrf+4 


%  ^Y  ^f  Jf/~s\ 

/fin     /Uli     M^y^K         V    /i 


Ursachen  und  Wese 

des 

Uranismus. 


Von 


Dr.  Magnus  Hirschfeld. 


tf 


Nietzsche:  Fröhliche  Wissenschaft.  Äph.  ' 
Alle  Arten  Passionen  müssen  einzeln 
werden,  einzeln  durch  Zeiten  und  Voll 
kleine  Einzelne  verfolgt  werden;  ihre  g 
soll  ans  Licht  hinaus! 


Thomas  Carlyle: 

Jedes  Gute,  das  irgend  möglich,  wird 
sein;  so  tief  und  traurig  wir  es  empfinde] 
in  finsterer  Nacht  stehen,  so  fest  und  i 
ist  unser  Vertrauen,  daß  der  Morgen  n 
wird.  Schon  sehen  wir,  vorausblicken« 
Streifen  der  Dämmerung.  Wenn  die  ! 
wird  der  Tag  anbrechen. 


Inhalts-Ver; 


Ursachen  und  Wesen  des  Uranisn 
Hirschfeld-Charlottenburg   (2 
Titel:  „Der  urnische  Mensch" 
I.  Das  urnische  Kind 

II.  Das  Harmonische  der 

III.  Die  Unausrottbarkeit 

IV.  Die  Naturnotwendigke 

V.  Heredität  und  Homos* 
Anhang.    Lebensgeschichte  d 

Einige  psychologisch  dunkle  Fälle  \ 

irrungen  in  der  Irrenanstalt.    ^ 

N  ä  c  k  e  -  Hubertusburg 
Chirurgische  Überraschungen  auf  c 

zwittertums.    Von  Dr.  med.  Fr 

Warschau       . 
Brief  Wolfgang  von  Goethes  über  ( 

in  Rom 

Felicitas  von  Vestvali.    Von  Rosa 
Quellenmaterial  zur  Beurteilung  an] 

Uranier.    Von  Professor  Dr.  F. 

4.  Heinrich  Hößli  (1784—1 

5.  Franz  Desgouttes  (178* 

6.  Herzog  August  der  Glt 

7.  Mademoiselle  Maupin  ( 


<*>  /LA 


Ursa« 


Dr. 


Nietzech  i 
Alle 
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kleine 
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Thomas  Cc 
Jedes 
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IBt    MUS 

wird. 
Streifei 
wird  di 


£  & 


*^-*99    . 


Fröhliche  Wissenschaft.    Äph.  7: 
Lrten  Passionen   müssen    einzeln  durchgedacht 
,  einzeln  durch  Zeiten  und  Völker,  große  und 
Einzelne  verfolgt  werden;  ihre  ganze  Vernunft 

Licht  hinaus! 


lyle: 

ate,  das  irgend  möglich,  wird  einst  wirklich 
tief  und  traurig  wir  es  empfinden,  daß  wir  noch 
er  Nacht  stehen,  so  fest  und  unerschütterlich 
Vertrauen,  daß  der  Morgen  nicht  ausbleiben 
hon  sehen  wir,  vorausblickend,  im  Aufgang 
ier  Dämmerung.  Wenn  die  Zeit  erfüllt  ist, 
Tag  anbrechen. 


•     „Beol 

Worten  b 

herr  von 

fast' jede 

diesen  "W 

in  Fleiscl 

Virchow 

zehnten 

darauf  ri 

früherer 

gungen 

Pergam 

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beobac 

die  um 

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die  sie 

ergrür 

über 

kennt 

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Autor  halten,  < 
schriebe,  ohne  ; 
haben,  der  von 
zu  kennen?  I 
mancherlei  übe: 
mit  der  Bitte 
stellen,  da  er  b; 
persönlich  kern 
Bloch,  ein  um 
Forscher,1)  bei 
sehr  großen  S 
Effertz,2)  daß 
dessen  Buch« 
niemals  einen 
Wenn  aber  irj 
nismus  nur  dt 
Beobachtung, 
tigen  Verstäi 
Man  hat 
vorgehalten, 
Organen  arbe 
seien,  hintan 
dem  Zellen] 
Demgegenül 
Geist  und 
exakte  Einz 
wer  eine  gr< 
Homosexue 
hat  und  zv 
schichten,  g 
Krankheit« 

*)  Dr. 
pathia  sexua 
*)  O.  I 


4   — 


i\>er  die  Ursachen  der  Tuberkulose 
neu  Schwindsüchtigen  untersucht  zu 
sen  des  Weibes  spräche,  ohne  eins 
.ch  wandte  sich,  ein  Gelehrter,  der 
Homosexualität  veröffentlicht  hatte, 
ich,  ihm  doch  Homosexuelle  vorzu- 
nicht  Gelegenheit  gehabt  habe,  solche 
l  lernen.  Ein  anderer  Autor,  Dr,  Iwan 
reschichte  der  Medizin  sehr  verdienter 
,  wo  er  von  der  nach  seiner  Meinung 
leit  der  Homosexualität  spricht,  von 
3r,  —  wir  zitieren  wörtlich  —  „aus 
ie  große  Erfahrung  spricht,  noch 
n  Homosexuellen  gesehen  haben  will." 
o,  so  führt  auf  dem  Gebiete  des  Ura- 
nien zum  Erkennen,  nur  die  objektive 
rsuchung  und  Vergleichung  zum  rieh* 

takten  Methode  nicht  ganz  mit  Uureeht 
sie  zu  ausschließlich  mit  den  Sinnes- 
inge, die  diesen  nicht  direkt  zugänglich 
in  der  Erforschung  des  Menschen  über 
das  Seelenleben  vernachlässigt  habe. 
zu  betonen,  daß  auch  der  Einblick  in 
des  Menschen  unr  durch  zahlreiche 
Achtungen  gewonnen  werden  kann  [  Nur 
age  —  sagen  wir,  mindestens  hundert  — 
gehend  und  sorgsam  persönlich  erforscht 
»Aie  aller  Altersstufen  und  Gesellschafts- 
leren Eindruck  nicht  durch  akzidentelle 
Konflikte  verwischt  ist,  wird  mit  voller 

an  Bloch:  Beiträge  zur  Ätiologie  der  Peycho- 
jil.  Dresden,  Vertag  von  Dotim,  3909,  Seite  218, 
IberNeurastheniaseiiialis,  New-Yorkl894.  8,192. 


Klarhe 

mit  de] 
Wie    n 

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denken,    wenn 

an     bloße      sin 

Act  Tji««V>o«,    «?r 

u.H  ist   ihnen   ei 

wir  kennen   ni 

sexuell  bekann 

mit  der  Riehtui 

des  Willens  zn 

Männer  gibt,  e 

naturgemäß    ac 

der  geschlechtli 

Personen   wirkli 

es  mit    der  Kei 

scheint    uns  für 

„das  höchste  St 

Noch   ist    der  B 

Ilrauier  in   ('er 

„spielt  hat,  hImt 

der  Jahrbflcher  « 

des  §  175,  *•   « 
„aterschiebt;  dar 

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aber  •«*  »** 
der  !»**» 4 

**»  ÜT 

i,  nv'-",J-',';' 


-   6   - 

en  Hümoseiuellen  reden,    immer  nur 

HamJioQgeo,    an    die      „Mechanik 

eieo,  daß  es  eine  reine  Liebe  gibt, 

?d;  daß  Homosexuelle  vorkommen  — 

üge  derart,  die  sich  auch  als  homo- 

die  keusch  lebeo.    Das  hängt  nicht 

iera  mit  der  Stärke  des  Triebes  und 

i.     Wie  es  frigide  Frauen,  asexuelle 

leidenschaftslose  Urninge,  die  sich 

en   beherrschen  können.     Die  Art 

itätigung  Erwachsener  sollte  dritten 

tchgültig  sein.    Etwas   anderes   ist 

les  Uranismus    überhaupt     Diese 

der  im  Menschen    nach   Goethe 

sieht,  ganz   unerläßlich    zu    sein. 

licht  erbracht,   welche  Bolle    der 

:eluDgsgeschichte   der  Menschheit 

l  erbracht  werden.     Dieser  Zweck 

s  viel  höher,  als  die  Abschaffung 

ild v)    ihnen  als    einzige  Tendenz 

hat  doch  nur  dann  einen  Zweck, 

n  Ländern  haben  es  zur  Evidenz 

entliehe  Meinung  das  Wesen  der 

tat    erfaßt   hat,   die  —  wir  be- 

md    wiederholt  —  gewiß  nicht 

iche    und    weibliche    Komplex, 

tiger. 

ann    man    auch    die  Ursachen 

ndung     nur    auf    dem   Boden 

rials    stehend  aus   direkt  Ge- 

man  beispielsweise  ein  Urteil 

Trieb     eine    Degenerations- 

der     Straf  Würdigkeit   des    homo- 
*  Arohiv  f.  Strafrecht.  1902.  S.  38. 


erscheinung  ist 
Dutzend  damit 
geistige  Degen 
bedauerlich,  da 
wie  Iwan  Blocl 
forschung  nich 
viele  sachliche 
Stelle  nur  ein 
die  große  Seit« 
rühmend  hervc 
ventiven  Einfli 
licher  Anomali 
spiel  hierfür  li 
Familienleben 
seit  ihrer  Zers 
zu  suchen  ist, 
Homosexua 
Hätte  Bloch  d 
so  wären  ihm 
typen,  wie  die 
entgangen,  wie 
Gelehrtenstand 
auch  nicht  jen 
die  Urninge  de 
namen  anzurec 
unter  ca.  150« 
letzten  7  Jahr 
11  Jüdinnen,  i 
zember  1900 
56345014Einw 
mit  Sicherheit  ] 
kein  gering» 
Die  jüdischen 
in  dem  Sinne  s 
man  Gleiches  b 


Im  Gegend 
Wachenfeld r)    di 
besonders  stark  v< 
ohne  statistische  . 
sehen  Ländern,   i 
namentlich  in  Ita 
verbreitet  ist,    wi 
Wir  haben,    um 
den   verschiedene 
gleichsweise    zu 
haltene  Anfrage 
urnisch  bekannter 
unter   den  Urning 
Lande  zu  Lande 
Worten  sprechen   i 
Sexualität  überall  i 
sämtliche  ander 
und  angelsächsisch« 
sexuelle  vorfanden, 
in  Italien  und  De 
rein  germanische  I 
auf,  als  die  lateini 
richtet:    .Ich  hab 
geschlechtliche  Li* 
der   Türkei    wenij 
Schweden  und  Da 
„In  Italien,    einem 
Aufenthalt  kennen 
keit  viel  weniger  1 
anderer  Schriftstell 
im  Norden  mehr  ^ 
England  sehr  häuf 


»)  Blochs  Beitrag 
a)  Wachenfeld  in 


2  zu  den  Jaden  soll  nach  Bloch  ')  und 
?  Homosexualität  unter  den  Romanen 
r breitet  sein.  Letzterer  schreibt :  „Aach 
(eiege  ist  es  sicher,  daß  in  den  romani- 
ie  keinen  Urningsparagraphen  kennen, 
en,  die  Homosexualität  in  einer  Weise 
man  sie  in  Deutschland  nicht  ahnt". 
e  Verbreitung  des  Uranismus    unter 

Völkern,  Bässen  und  Ständen  ver- 
nitteln,   eine  völlig  unparteiisch   ge- 

einer  beträchtlichen  Anzahl  uns  als 
jlobetrotters"  veranstaltet    Es  gibt 

viele,  die  ihr  ganzes  Leben  von 
en.     Unter  40  einwandsfreien  Ant- 

18  dahin  aus,  daß  sie  die  Homo- 
gener Ausdehnung  gefunden  hätten, 
tonen,  daß  sie  bei  den  germanischen 
tflkern  verhältnismäßig  mehr  Homo- 
bei  den  Romanen.  Ein  abwechselnd 
!and  lebender  Arzt  schreibt:  »Die 
weist  mehr  wirklich  Homosexuelle 
Ein  vielgereister  Kaufmann  be- 
Erfahrung gemacht,  daß  gleich- 
Frankreich,  Spanien,  Italien  und 
rkommt,  als  in  Deutschland, 
.*  Ein  Schriftsteller  bemerkt: 
>,  das  ich  durch  fünfjährigen 
ah  ich  die  Gleichgeschlechtlich- 
•teil,  als  in  Deutschland.  *  Ein 
rtet:  «Homosexualität  kommt 
m  Süden ;  besonders  ist  sie  in 
"alien    geben  sich  zwar  junge 

9  IT. 
rs   Archiv  S.  57  ff. 


Leute  für  Geld 
eigentliche  Urn 
Aristokratie  end 
in  etwas  ironis 
für  einen  Staat 
bedeutet,  so  w< 
Deutschland  Pw 
Sieben  Experter 
Straffreiheit  der 
sei,  wie  in  Berli 
der  Homosexual 
die  auch  wir  i 
eingänge  bestäti 
„  Ungewöhnlich 
den  Kurländern 
kennt  in  Riga 
Dolmetscher  end 
hat,  teilt  mit:  „ 
Volke  Oberbay« 
gesundes  ist."  ^ 
welchen  Trugscl 
fluß  des  warme 
können  oder  auc 
ohne  Nachprüfu 

Immerhin 
dankbar   sein,   < 
unzureichenden 
zu    kommen. 
Wissenschaft   n 
salitätsgesetze. 


*)  Bloch  stufe 
dessen  Werk  1768 
seine  Studien  verö* 
ganz  zu  schweigen 


kenntnis  der  Ursachen  i 
sondern  auch  einen  ei 
kritischer,  forensischer  i 
Kritisch  insofern,  als  die  g< 
den  Homosexuellen  ganz  a 
sie  seinen  Zustand  als  ei 
gegebenen  ansehen,  als  w 
Onanie  (Bloch  8.  135  ff.) 
entstanden.  Gelingt  es  un 
beweisen,  daß  niemand  hoi 
nicht  ist,  daß  äußere  Umstiir 
normal  noch  einen  Normalse 
daß  die  Urninge  ihrer  ih 
nicht  widernatürlich  handel 
vielfach  geschehen,  Haß  ui 
Achtung  verwandeln. 

Auch  für  den  Strafri« 
Unterschied  sein  —  wir  stii 
bei  —  ob  die  Neigung  d< 
in  die  Wiege  gelegtes  Mif 
Lebenswandels  *  zu  gelten 
zwar:  ,Für  uns  Krimina 
boren  oder  erworben,  gle 
Strafbarkeit  hiervon  nicht 
Moll3)  vertritt  in  einer  ge 
denselben  Standpunkt,  irn 
auch  mit  demselben  Rech 
angeborenem  Blödsinn  mü 
erworbenem    Blödsinn   hl 


l)  Goltdammera  Archiv,  \ 

*)  Im  Archiv  für  Krituiua 
Heft  S.  195.  Bei  Besprechung 

•)  Albert  Moll:  Sez^;. 
10.  Jahrgang  1902.    Xr.  SO.    '> 


-   10 


achen  nicht  nur  einen  theoretischen, 
aen  eminent  praktischen  Wert  in 
eher  und  therapeutischer  Hinsicht. 
5  die  gelehrten  und  ungelehrten  Stände 
ganz  anders  beurteilen  werden,  wenn 
als  einen  ihm  von  Geburt  an  mit- 
ah  wenn  sie  glauben,  er  sei  durch 
5  ff.)  oder  Vielweiberei  (Bl.  S.  170.) 
es  uns,  dem  Volke  unzweifelhaft  zu 
d  homosexuell  werden  kann,  der  es 
nstände  weder  einen  Homosexuellen 
aalsexuellen  konträr  machen  können, 
•  ihnen  eingeborenen  Natur  nach 
adeln,  so  wird  sich,  wie  es  bereits 
>  und  Hohn  in  Milde,  Mitleid  und 

richter  wird  es  ein  wesentlicher 
timmen  hier  Wachenfeld l)  völlig 
ies  Homosexuellen  „als  ein  ihm 
ßgeschick  oder  als  Folge  seines 
i  hat.  Hans  Groß2)  behauptet 
listen  ist  die  Frage,  ob  ange- 
ichgütig,  weil  die  Frage  der 
abhängig  sein  kann",  und  auch 
aer  letzten  Veröffentlichungen 
*m  er  meint,  daß  man  dann 
behaupten  könne,  Leute  mit 
en  straffrei,  Leute,  die  an 
bei     gleichen    kriminellen 

fahrgang.  1,  «n*  2.  Heft.  S.  40. 
bropologie,    10.  Band.    1.  und  2. 

Blochs   Beiträgen  zur  Ätiologie. 

rlschenstufen,    in  der    Zukunft, 


Handlungen  str: 
halten,  daß  wob 
Gedanken  gekom 
unter  Strafe  zu  s 
Motive  gemeint 
ihnen  natürlichen 
brief  I.  24  fl'.). 
des  Paragraphen 
Bestandes :  mauj 
heit  hat  aber  vo 
wie  Böswilligkeil 

Für  den  Sti 
Urnings  gleich  ra 
angeborenes,    un 
schädliche  aebun 
folgerichtig  sein, 
zum  Tode  zu  vei 
geschlossenen  A: 
der  Staat  allerdi 
Quantität    der 
aber  nur  als  Gr 
wohuheitsmäßige 
der    „modernen 
wird  man  auch  d* 
nicht   außer  Aeli 

Ähnliche  G 
handlung  der  H 
hat  dies  schon 
„Für  die  Beurt 
namentlich  in  B< 
Ätiologie    von 


l)  Dr.   A,  Ft 

thenipie  bei  krank 
Stuttgart,  1892.    S. 


y 


anderer  Stelle:  „Je  mer 
in  denen  bleibende  theraj 
sind,  um  so  geringer  ers 
Anteil,  den  die  erblich 
dieser  Anomalie  beansp 
Aussichten,  einen  Trieb 
lieren,  wesentlich  größei 
Anlässe,  wie  fehlerhafte 
S.  167  ff.),  hervorgerufen 
—  wenn  wir  von  der  . 
vidualität  reden  —  klarzul 
Heilbarkeit  noch  keinesw< 
Standes  beweist. 

Solange  das  Problen 
schaftlich  erörtert  wird, 
Grundursachen  vor  oder 
der  einen  Seite  befinden  i 
ein  sehr  großes  Beobachtur 
Krafft-Ebing,  Moll  und  ic 
eingeborene  Anlage  das  H; 
sionellen  Momenten  demge 
Wert  bei.  Wie  Gelegenhei 
malen  Trieb  auslösen,  erwec 
oft  den  schlummernden,  ab< 
homosexuellen  Trieb.  Diese . 
Natur,  das  Primäre  bleibt 
des  Individuums,  seines  ( 
Körpers.  Ein  hervorragende 
ein  Muster  gewissenhaften 
folgenden  Worten  bei:  „Ich 
ich  niemals  einen  Fall  von  H 
habe,  dem  ich  nicht  das  Prä 
legen  müssen.  In  allen  von 
sobald  die  Betreffenden  siel 
ihren  äußerlich  zur  Schau  ge 


12 


sich  die  Zahl  der  Fälle  häuft, 
utische  Resultate  erzielt  worden 
leint  nach  unserer  Meinung  der 
Disposition  in  der  Entstehung 
chen  kann/  Gewiß  sind  die 
urch  äußere  Einflüsse  zu  ver- 
wenn  derselbe  durch  äußere 
Erziehung  (Schrenck-Notzing 
?t.  Wir  werden  freilich  später 
istigkeit  der  urnischen  Indi- 
en haben,  daß  die  hypnotische 
3  das  Erworbensein  eines  Zu- 

der  Homosexualität  wissen- 
•eitet  man  darüber,  ob  ihre 
ich  der  Geburt  liegen.  Auf 
h  die  Forscher,  welche  über 
material  verfügen,  vor  allen 
selbst.  Diese  legen  auf  die 
jtgewicht  und  messen  occa- 
nüber  nur  untergeordneten 
irsachen  aller  Art  den  nor- 
i  auch  äußere  Einwirkungen 
doch  deutlich  vorhandenen 
lasse  sind  jedoch  sekundärer 
besondere  Beschaffenheit 
irns,  seines  Geistes  und 
elbst  urnischer  Psychiater, 
rbeitens,  stimmt  uns  in 
n  und  muß  erklären,  daß 
>sexualitüt  kennen  gelernt 
it  „angeboren"  hätte  bei- 
•  untersuchten  Fällen  — 
ur  natürlich  gaben  und 
eiien   „Normalmenschen" 


bei  Seite  ließen  —  waj 
dem  ganzen  Wesen  d< 
Individuum  Adaequates 
als  die  einer  angeborei 
tionellen  Anlage  gerad 
Auf  der  andern  5 
liehe  Anzahl  von  G 
Notzing,  A.  Hoche,  1 
Meinert,  Wollenberg,  E 
den  entgegengesetzten  I 
mit  Bloch1):  „Ein  vi 
in  ein  typisch  homos 
werden.*  Der  Verfass 
über  60  verschiedene 
erzeugen.  Es  ist  wo! 
Ausnahme  von  Schrencl 
theorie  zusammengenor 
aufzuweisen  haben,  wi 
Ärzte.  Auf  einem  Gebi 
der  meisten  so  fern  li 
deutung,  ob  sich  ein  c 
oder  5  Fälle  stützt.  Bl 
so  sagt  Prof.  Dr.  Euh 
dem  Blochschen  Wer! 
„  Angeborensein "  der 
Homosexualität,  muß 
heblich  eingeschränkt 
die  Letzten,  um  ihr  ei 
wir  es  mit  erworben 
äußerer  occasioneller  ^\ 
die  Verhältnisse  kün 
haben,  werden  wir  un 


*)  Dr.  J.  Bloch:  Zwi 
Psychopathia  sexualis.    Di 


fühlen  dürfen,  ihnen 
prophylaktisch  wirksaor 
Dr.  jur.  L.  Kuhlenbeck 
gegebenen  .Juristisch* 
äußerst  anerkennend 
ist,  keine  unzeitige  Na 
Bestrebungen,  die  daj 
giften  und  die  bereits  ; 
oder  sexuelle  Zwischen 
losigkeit  das  Haupt  2 
entarteten  Altertum  fr 
wohl  schon  der  Apo-tr 
als  eine  der  schlimmst 
nischen  Zivilisation  ken: 
im  Jahre  l&öi 

Es  stehen  sich  al- 
schiedenheit  gezeu^rer 
^angeborenen*  Fäule  t 
überhaupt  nicht.*  W.: 
Urning  aus  desa  ztlL* 
sexuelle  Main  m>d  ilj 
Bloch  beha^jÄ*!:  Jbi. 
zahl  d-r  Fll^e  ezzezrjL, 
aaierea  o^»^fc>«S:o*L.*ri  J 
ru  «ier5#ert«€s*  ist  ***-Lr 
seih«.*     Wir  r.trz&vi'^ 


n*i.»#es 

rSXzT 

we  •.•^v>ä 

es^pr^ 

S*SiSe*     -r-ervt;:i^ 

m'i^ii.* 

hrs-'i.  Ui^LV. 

iSe^eü. 

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w*rjb  fci^#-n 

l&JLH&u 

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wiiii«: 

2.^ 

t»*Tt   ^  ::u***l 

3    3<r    ä  hü:  Ü    i*-^ 


14    - 


;iv  und  vor  allem  präventiv, 
egenzutreten."  Ein  Jurist  aber, 
Dricht  in  der  von  ihm  heraus- 
ochenschrift" *)  Blochs  Buch 
fügt  hinzu:  „Die  Hauptsache 
itigkeit  zuzulassen  gegenüber 
en  an  seinem  Ursprung  ver- 
Namen wie  Homosexualismus 
literarisch  mit  einer  Scham- 
eben wagen,  die  selbst  dem 
gewesen  zu  sein  scheint,  ob- 
lus  ihre  Widernatürlichkeit 
Ichte  der  verfallenden  heid- 
len  mußte."     So  Kuhlenbeck 

Ansichten  mit  großer  Ent- 
h  sagt  (Bd.  I.  S.  11):  „Die 
nosexualität  existieren  wohl 
r  „Nur  aus  dem  geborenen 
[inde  kann  sich  der  homo- 
sexuelle Weib  entwickeln." 
5.):  „In  der  großen  Mehr- 
jleichgeschlechtliche  Liebe 
an,  eine  originäre  Anlage 
scheinlich,  jedenfalls  sehr 
kann  sich  weder  ein  männ- 
in ein  gleichgeschlechtlich 
3I1  ist  das  Umgekehrte 
iinde  der  Homosexualität 
r  meinen,  sie  liegen  aus- 
buchen Organisation,  sie 
nschen  heraus. 


ust  1902,     Verlag  W.  Moeser. 


Es  sollte  selbstv 
lieh  Wachenfelds  >)  E 
eigens  betont  werder 
der  homosexuell  em 
sexuell  betätigt  odei 
liehen,  wenn  auch  i 
nebensächlich.  Ein 
sexuell  betätigt,  ist  n 
sexueller,  dem  es  g< 
zu  verkehren,  trotzd 
beiden  handelt  es  siel 
trieb,  sondern  um  m 
wandte  Manipulation« 
Normalsexuellen,  die 
wird  vielfach  sehr  üb 
Jahrbüchern,  die  den 
sind,  überhaupt  nicht 
hängern  des  §  175  m 
würden.  Aus  weicht 
Natur  Widersprechenc 
unterscheiden : 

a)  solche,    die 
verkehren:  Prostitu 

b)  solche,    die 
Dankbarkeit,  Mitlei 

c)  solche,   die 
Personen    dazu    gr 
Klöstern,  Gefängnis 


*)  Vgl.  Jahrbuch,  I 
Wachenfelds. 

2)  Die  in  manchen  u 
besser  den  Kern  der  i 
„Homosexueller*4  und  „Kc 
kannten  Personen  vielfact 
mit)  und  „t.  u."  (total  un 


Alle  diese  haben  » 
:  sexuelle  Verkehr  für  sie 
darstellt,  daß  sie  völlig 
sobald  ihnen  Gelegenhe 
außerehelich  mit  dem  \\ 
die  Mitglieder  dieser  dr< 

Die  Gründe,  welche 
gewerbsmäßig  den  Hon 
sind  dieselben,  die  bei 
rächt  kommen,  wie  übei 
Unzucht  in  ihren  Ersehe 
aufweisen.  Auch  für  dei 
zu  prostituieren,  teils  in  e 
ererbten  oder  anerzogene 
zum  Müßiggang  und  M 
Verhältnissen.  Aus  let 
die  männlichen  Prostitui 
ärmeren  Kreisen.  So  ud 
die  nicht  davor  zurück« 
lieh  wenn  sie  durch  ein 
erscheinen  —  ebenso  w 
diesem  traurigen  Beruf 
einem  der  bekanntesten 
verlässig  berichtet  unc 
eigenen  Eltern  ihn  ber 
Laufbahn  brachten.  In 
jedoch  die  treibenden  M< 
Beispiel  und  Verführun 
vor  —  und  solche  Falb 
urteilt  werden  —  daß  « 
zur  Prostitution  verftih 
in  welchem  er  arbeitet, 
es  vor,  daß  ein  junger 
raten  sich  vergebens 
kommen,  die  Bekanntsc 


16 


ben  das  gemeinsam,  daß  der  homo- 
r  sie  nur  eine  vorübergehende  Episode 
ö'Jlig  normalempfindend  bleiben  und, 
mheit  geboten  ist,  ehelich  oder  auch 
1  Weibe  verkehren.     Betrachten  wir 

drei  Abteilungen  noch  etwas  näher. 
che  junge  Männer  veranlassen,  sich 
lomosexuellen  für  Geld  hinzugeben, 
n  weiblichen  Prostituierten  in  Be- 
berhaupt beide  Arten  gewerblicher 
Meinungen  sehr  viel  Gemeinsames 
len  Mann  hegen  die  Ursachen,  sich 

seiner  inneren  Veranlagung,  einer 
ien  großen  Willensschwäche,  Hang 
Wohlleben,  teils  in  den  äußeren 
tzterem  Grunde  rekrutieren  sich 
ierten  in  der  großen  Anzahl  aus 
glaublich  es  klingt,  es  gibt  Eltern, 
jhrecken,  ihre  Söhne  —  nament- 
chöneres  Aussehen  dazu  geeignet 
»  ihre  Töchter  anzuhalten,  sich 
n  die  Arme  zu  werfen.  Von 
Jerliner  Prostituierten  wird  zu- 
von  ihm  bestätigt,  daß  seine 
5  in  seinem  14.  Jahre  in  diese 
*n  weitaus  meisten  Fällen  sind 
e  die  Not,  demnächst  schlechtes 
Nur  ausnahmsweise  kommt  es 
nnen  nicht  scharf  genug  ver- 
romosexueller  einen  Burschen 
ndem  er  ihn  dem  Geschäfte, 
lehi.  Häufiger  schon  kommt 
.,  welcher  außer  Stellung  ge- 
,üht,  wieder  in  Brot  zu 
nes  Urnings  macht,  mit  dem 


er  gegen  Entgelt  intim 

und  Kleidung,   behande] 

Kreise    ein,  was    seiner 

queme  Verdienst,    der   : 

veranlagt  ist,  noch  dazu  *\ 

leben  werden  ihm  so  se 

mehr  davon  lassen  kann 

boten    würde,    in   ein    el 

rückzukehren.     Sehr  oft 

folgendermaßen  ab:    Eir 

und  frierender  Junge  ste 

Friedrichstraße.     Bald   m 

„Herrchen"    gewahr,    die 

ab  stundenlang  die  Straß 

ein  vornehmer  Herr   ans 

Hauptes  von  dannen  zieh« 

dann  kühnere  Versuche, 

eines  Tages  glückt  es  ihn 

nehmen  Herren  lieben  gei 

ihren    schmutzigen    Kraj 

scheinigen  Eöcken  und  z 

ihnen  einmal  gelungen,  d 

es  ist  ihnen  gär  zu  schlec 

tauschen  möchten.     Mit  < 

liehen    Prostitution    häng 

manche  besonders  schied 

Gewerbe  im  Nebenberuf 

bürgt  gelten,  daß  sich  in 

stellten    des  Telegraphenc 

spärliches   Einkommen   (5 

einen  solchen  Nebenverdiei 

ist  es  in  London  mit  den 

diese  und   andere  Mitteiln 

stitution  'einem  äußerst  zu 

mann,  der  sich.  Pherander 

Jahrbuch  V. 


—     28      — 

der  bei  den  Dragonern  diente.     Aufme/i      F 
weshalb    er   mit  Männern    verkehre     erw*  1 
meiner  Braut  treu  zu  bleiben."    ICJ,  b^:* 
Kadettenbäusern  eine  Reihe  von  Bericht         r 
daß,  trotzdem  leider  wechselseitige  Ona  "  '  * 
Weise  geübt  wird,  nur  ein  ganz  kleiner  Bricht  * 
sexuell  wird,  nämlich  solche,  die  nachweLsluV  ' 
männlich,  sondern  urnisch  sind.     Ich  ^m  \       l  l 

veröffentlichten  Beispielen  einen  r»*»k+  i  l     °.  Vu 
u  iL  r    v.       xir  .      rvcni  'ehrreich« 
aus   einem   katholischen   Waisenhause    hm 
verdanke  die  Mitteilung  einem   mir  h  t  ' 

verlegen  Beobachter  K.  A,  der  daseCTo  7 
unter  120  Mitschülern  erzogen  wurde 
„Ich  war  8  Jahre  alt,  als  ich  in  dien*  I 
schon  früher  gerne  mit  Knaben  zusammen  °8titut  ^ai 
ersten  Tage  etwas  Heimweh  und  fühlte  mi  iT**'  **attv  h 
den  120  Knaben  im  Alter  bis  zrj  14  Ja.Cft  ftehr  b*id  \ 
15  und  16  Jahre  alt  Der  freundschaftlich"*  v  ***  Wni} 
Knaben  war  ein  so  inniger,  daß  man  glaube  er^e^r  uni 
vom  reinsten  Wasser  vor  sich  zu  habe  mUfite'  Jauf(' 
älteren  suchten  sich  unter  den  jüngeren  R  aIie 

den  sie  alsdann  hegten  und  schützten.  Di  *  e'n,*B 
Teil  nicht  gerade  unangenehm,  denn  ante  **  *ar^r(Jen 
die  kleineren  gewöhnlich  manchen  Stoß  *  80Jlpl  Knabe 
einen  älteren  zum  Freunde,  so  durfte  kein  **  teUl  hatt 
anzufassen,  beide  überboten  sich  gegenseiH  *  ♦***  Wa^t<ni 
Zärtlichkeiten.  Als  ich  selbst  9  Jahre  alt  *  **  ^rwp,hü" 
2  ältere  auf  einmal  um  mich  warben  und*^'  *e8cnan 
weichen  wollte.  £s  wurde  dann  durch  einen  K  mer  ^'m 
entschieden,  die  anderen  stellten  eich  he  ^^ UDter  (*n 
nichts   sehen  sollten,  und  schauten  zu    w  ^  (*,(' 

wurde,  der  Sieger  hatte  alsdann  ein  öffentr  l  6Iner  *amI>f 


Dieser  war  mein  Freund  fast  ein  ganzt.8  ,  f  Anre(,ht  *, 
seinem  14.  Jahre   aus   der  Anstalt  entlag  ]ang'  '"H 

Freundschaft  erinnert  mich  noch  heute  ein  *•  WI1^^e•    Ai, 
stabe,  der  Anfangsbuchstabe  seines  Namen/1!?11^  ^roii('s 
seitig   damals   mit   chinesischer  Tusche  und     •    wir  un* 
Oberarm  tätowierten.    Da   dies  sehr  oft  v    t  ^^T  ^a<*vi 
darin  eine   ziemliche  Fertigkeit.    Ich  erin«  r  *m'  Valien 

^nere  *ich  nach 


—    29 

*>als  war,    für   d 
7en.    Dieser  Jui 
daß  er  mir    a) 
Da  er  vermö$ 
}kam  er  jede  \ 
öglichen  besch 
n  er  gewöhnli 
\ann    war  sein, 
v,ze  vor  mir  au 
,  ,datf  er  Beibdi 
i    wir   abends 
[oment  abzuw 
1.    Hatte   mai 
*s   gefiel,   so 
ld  Tritt  und 
lachte  ihm  Gm 
zu   spielen. 
m  r  g-egenübe 
jern  hatte,  d 
usgeBchloasei 
7   denn  eine 
einem  Aben 
d  wir  setztd 
le,   wobei  u 
im  sucht,   t 
ehlä^e  sehr 
riehen.    Nai 
16  und  läsai 
ir  mir,  er  K, 
l  war  glück; 
o  wir  uns  ; 
in  dann  mr 
len  ein  bei 
lie  der  Fri 
atte,   bei 
I  Laufende 
i.en   Freun 
,  daß  jed« 
i  er,  wenn 
iges  Beste 
5r  benutzi 
Besteck 


—     M)      — 

Schmutzkasten  und  kaufte  neue.     Ebenso  bmiu*    * 
Winter  seinen  bestimmten  Shawl,   man  trnat    ab » J* 
Freundes,  da  derselbe  in  so  enger  Berührung  m/7  /" 
Halse  gewesen.    Das  Tätowieren    der  Anne 
bnehstaben   des  Freunde»   war   an    der     Ta^JT^r*  '* 
mußte  man  bei  dem  allen  sehr  vorsichtig  »emV*H     *l 
nichts  merkten.    Sahen  diese  von  zweien  eineh******** 
Freundschart,  so  wurde  ihnen  strenge  verböte  ?Dti* ' 

zu  verkehren,  doch  tat  man  es  alsdann  um  s  *i*>Iter  " 
man  Strafe,  so  war  man  glücklich,    ffo.  tfen°  J,ej>er»  ' ' 
können.    Hatte  einer  einen  Streich  gespielt-     ander,*D 
daß  der  Freund  die  Tat  auf  sich  nahm   der  3^**°  **Hcl  j 
litt  und  der  Lehrer  alsdann  2 Missetäter  vor    '  T  di<H 
nicht  wußte,  wer  der  eigentliche  war.    Bekam  rf    *tl*'1« 
so  ging  das  dem   andern  so  nahe,    daß  er      6r^r<Ml1  I 
kleinen  Einzelheiten  zeigen,  wie  der  Freund  ein      t   Weior 
Innigkeit    in    dieser    Freundschaft    W      r**?  *Ue*  Wa 
__,_,e_^^_  ,r._L^_  _it.  __  _^_.  T*     «aß    dabei 

UäDl 
jünger.    Besonders  bot  der  Winter  tum  geschl  ""k*  .mÄnt' 

viel  •ßatapAnheit.  man  snntt  abend«  nn*A.  j_      __  Cn^icA 


sohlechtiiche  Verkehr  nicht  ausblieb,  ist  8eih  *         6i 
war  9  Jahre  alt,  als  ich  die  Onanie  kennen  i"^^ 


keßaen  lernte, 


viel -Gelegenheit,  man  ging  abends  unter  dem  V  CÄf*° 
zu  müssen,  hinaus,  der  Freund  folgte  einige  J^^n,  a 
draußen  war  man  dann  ungestört,  wenn  dies  a*611  *''* 
geschah,  um  sich  küssen  und  umarmen  zQ  k>.  na°pt> 
regung  blieb  dann  das  andere  nicht  aus.  Dann  ******  }°  ' 
auch  viel  nachts  in  den  Betten  statt.  NaturUch  derV 
den  übrigen  Knaben  dies  verheimlicht  werden,  d  m.1Iöte  aH 
ein  Verräter  darunter  sein  können.  Ich  gj^k  *]*  ieicln 
dabei  nur  Onanie  getrieben  wurde.  Kam  ein  ne  .  timni 
so  wurde  sofort  darauf  geachtet,  ob  er  hübsch  ' lD  ^e  ^ 
es  auch  nicht  lange  und  der  oder  jener  hatte  si  h**  ^  d 
freundet,  wobei  es  oft  nicht  ohne  heftige  j^6  ^'üm 
ging.  Es  würde  zu  weit  führen,  noch  mehr  Ein  °  ene 
geben.  Man  findet  ja  in  allen  Instituten,  ^lhei^ 
schlechtlieh  miteinander  verkehren,  aber  wohl  seit  *  ^°a^ei 
Diese  leidenschaftliche  liebe,  so  aufopfernd  ^^  \ .80  *^8(>i 
man  glaubte,  alles  sei  tot  für  einen,  wenns  dem  vÜ*^^ 
zu  schmollen,  und  man  toll  eifersüchtig  g^  u  *en&de  ei 
einen  anderen  bevorzugt  glaubte,  müßte  auf  das  •  Wenn  l 
gemüt  verhängnisvoll  wirken-,  wenn  man  von  e'  6  ^na* 
der  Homosexualität  sprechen  könnte,  so  müßte  8»  hJ-  ^Derw'Pi 
bewahrheiten,  besonders  da  die  meisten  weni^fn    ?68  ^ier  d< 

g8ten*3biB4j,Ä 


—    31 

I 
I 

a   der  Anstalt 
zt  waren.    W 
leine   Mit  so 
selbst   inter^ 
Ibo    bevor  leb 
rfitlich,   und  1 
^sonders  will 
i  einjähriges  '. 
de  haben  dai 
mit  ihm  ges'i 
üb.    Daß   gr) 
rtir  aufwies,  . 
hutzelt  und  ; 
gebetet,   ai 
waren.      Di< 
orch  vieles ', 
ig  weilten  ur. 
emitzten  die 
port  und  Ti 
tundenplan 
h:  man  für 
■l  bringen,  | 
'as  Baas  1a 
mr  Sonntag 
Bücher    w 
tchon    eine 
zu  verbiß 

ts  hat  s\ 
bypnotii 
i  seinem 
1  zwar  ii 
las  K im 
Sj    wie 
voller  I 
?h  nich 
20  Wai 
'.  erzog 
d  muti 
ger  hc 


—    32    — 

worden  ist.  Hat  nun  Schrenck-Xotzing,  der  in  <l 
Ziehung,  Schiminelbusch,  der  in  der  Onanie  die  l 
der  Homosexualität  erblickt,  Recht,  oder  diejenigen, 
in  der  angeborenen  Beschaffenheit  de«  (Jehir 
Grund  dieser  Erscheinung  suchen? 

Außer  diesen  drei  Kategorien  sind  es  l>e.M>ml 
heterosexuellen  Wüstlinge  und  Rouls,  von  den* 
annimmt,  daß  sie  „aus  Verlangen  nach  Variation* 
„Reizhunger",  Übersättigung,  Raffinement  schlic-Ü 
das  eigene  Geschlecht  verfallen.  Dieser  Glaube  i 
nur  im  Volke  weit  verbreitet,  er  findet  sieh  u 
vielen  Ärzten  und  Juristen.  So  beruft  sich  ttloi 
Wollenberg*),  der  die  Homosexualität  in  den 
Fällen  als  das  Endprodukt  eines  lasterhaften  Gcm 
lebens  betrachtet.  Und  Wachenfeld8)  sagt: „Den 
mit  dem  gleichen  Geschlecht  als  einen  spezifisch  s 
Reiz  sucht  der  Rou6,  der  nach  Durchkostung  alle 
liehen  und  unnatürlichen  Genüsse  am  Weibe  üb 
ist."  Ich  habe  mir  große  Mühe  gegeben,  diese  „Wi 
ausfindig  zu  machen,  es  ist  mir  nicht  gelungen 
der  großen  Anzahl  Homosexueller,  die  ich  beo 
war  nicht  ein  vom  Weibe  Übersättigter,  die  meist 
froh  gewesen,*  wenn  sie  überhaupt  nur  vom  Weil 
„kosten*  können,  geschweige  denn,  daß  sie  satt  , 
wären.  Zweifellos  hätten  homosexuelle  Jüngl 
eine  Vorliebe  für  ältere  Männer  haben,  solcl 
kennen  lernen  müssen.  Sie  stellen  ihr  Vorkom 
schieden  in  Abrede.  Ich  habe  es  mich  auch  n 
drießen  lassen,  männliche  Prostituierte  und  Chan 
wohl    homosexuelle  als    heterosexuelle,    zu    intei 


*)  S.  235  a.  a.  0. 
.    a)  Wollenberg.    .Über   die    Grenzen    der  strafrecht 
rechnungsfähigkeit  bei  psychischen  Krankheitszuständ« 
rologischen  Zentralblatt  1899.  No.  9. 

a)  A.  a.  0.  in  Goltdammers  Archiv  S.  48. 


—    33 


Dg,  der  in  der  Er- 

)nanie  die  Ursache 

r  diejenigen,  welche 

des  Gehirns  den 

es  besonders  die 
von  denen  man 
Variationen"  aus 
ü  schließlich  auf 
Glaube  ist  nicht 
3t  sich  auch  bei 
ich  Bloch *)  auf 
3   den  meisten 
m  Geschlechte- 
„Den  Verkehr 
Ssch  stärkeren 
g  aller  natür- 
»e  übersättigt 
„  Wüstlinge" 
gen.     Unter 
beobachtete, 
isten  wären 
eibe  Latten 
;  geworden 
•Jinge,    die 
he    Rou4a 
men   ent- 
icht  ver- 
teure, so- 
lellieren, 


,hen    Zu- 
ini  Neu- 


von  welchen  Leuten  sie  lebten.  Sie 
eine  Antwort,  die  in  die  wissenschl 
tragen  lauten  würde:  „Ausschließlich 
lieh  Veranlagten."     Es  müßte  nach] 
männer   doch   auch  einmal  ein  hoc 
—   und    es    gibt    deren    genug 
das    Weib    verfallen.      Es    wäre    dl 
ein    therapeutischer    Weg    gegeben.] 
nicht    vor.     Ich  halte   nach    meinen) 
Wüstlingspäderasten  für  ebensolche 
Hexen,   von   deren   Aussehen,   Sitten] 
man    zur  Zeit   der  Hexenprozesse    au 
Schilderungen   zu   geben  wußte.     Mal 
der  köstlichen  Hexenszenen  in  Goethl 
licher  Weise    erzählt    sich   das    Volk» 
allerlei  von  dem  stieren  Blick  der  wari 
ganz  kleinen  oder  sehr  langen  dünnen  G 
eine  Art  Ungeheuer  halten  sie  sich  mit  V< 
versteckt,  jeden   Augenblick  bereit,  üb 
herzufallen   u.   dgl.     Noch    ein    neuere 
schildert   das  Auge  der    „Anhänger  der 
liehen  Liebe"    folgendermaßen:  „Sein    fr 
erloschen;  es  blickt  verschleiert,  gläsern, 
sich  die  Lidspalte  fast  durchweg  verengt 
kleiner  Teil    des  Augapfels  sichtbar  gebl 
nehmlich  der  Urning  im  mittleren  und  re 
daran;  den  Greis  läßt  dieses  Kainszeichen 
Man  vergleiche   mit   dieser  Beschreibung 
Photographie     eines    urnischen    Arbeiter* 
überhaupt   hier   von    einem   Typus    rede 
dieses  große,  träumerische  Auge  —  der  g< 
des  geschilderten  —  in  viel  höherem  Gra 
ristisch  für  den  Urning  anzusehen. 

*)   M.  Braunschweig.     Das   dritte  Geschlec 
homosexuellen  Problem.    Halle  a.  S.,  Carl  Marhc 

Jahrbuch  V. 


34 


Ist  mithin  diese  vielgenannte  Menschenklasse  der 
vom  Weibe  übersättigten  Homosexuellen  empirisch  nicht 
nachweisbar,  so  ist  sie  auch  theoretisch  höchst  unwahr- 
scheinlich. Wessen  Naturtrieb  mit  elementarer  Gewalt 
zum  Weibe  neigt,  kann,  wenn  er  auch  noch  so  wüst  ge- 


Th.  Widdig,  urnischer  Arbeiter. 

lebt  hat,  nicht  plötzlich  den  Mann  begehren.  Groß1)  hat 
vollkommen  ßecht,  daß  ein  solcher  Umschlag  der  Ge- 
schmacksrichtung in  das  Gegenteil  außer  aller  Logik  und 

*)  Groß:  Archiv  f.  Kriminalanthropologie.     10.  Band.    1.  u  2. 
Heft.  S.  195. 


Wahrscheinlichkeit    liegt, 
wohl    auf    die  Art   der  Betätigung 
aber  auf  die  Neigung  des  Geschled 
sich.     Dieser  Trugschluß  dürfte  auf  \ 
zuführen    sein,    daß    der    Homosexü 
chismus,  Sadismus,  Fetischismus  und! 
gleichzusetzen  sei,  mit  denen  er  seitj 
gemeinsam  dargestellt  ist.     Bei   letzt! 
um  etwas  ganz  anderes,  nämlich   um! 
trophieen  normaler  Triebe,  nicht  etwa  u1^ 
stufen  (Mischung  männlicher  und  weiblij 
wie  manche  Autoren  in  völligem  Miß^ 
uns  gewählten  Titels  glauben.     Jederl 
Geliebte  erobern,  der  Sadist  will  sie  tj 
bringen;    der  Liebende   will    ihr    gefäl 
Masochist   ihr    Sklave,   ihr  „Hund"    sd 
legt  sich  die  Locken  seines  Mädchens  \ 
Fetischist    bewahrt  sich  Weiberzöpfe    \\ 
auf.     Selbstverständlich  kann  ausnahmst 
sexueller  ebenso  wie  ein  Heterosexueller  \ 
Fetischist  sein,  vielleicht  alles  zugleich,  $ 
ein  Homosexueller    ein  Heterosexueller  \ 
kehrt.     Groß1)  bemerkt:  „Der  sogenannt 
sättigte  ist  aber  nicht  übersättigt,    sonde^ 
nur,   daß  von    den    zwei  Wegen,    die    seij 
standen :  dem  heterosexuellen  und  dem  hol 
der  erstere  für  ihn  nicht  der  richtige  war! 
er  auf  den  zweiten  Weg."  I 

Der  Autor    fühlt    hier  ganz    richtig  r\ 
namentlich    die    psychischen    Hermaphrodi 
sexuellen  sind,   die  von  vielen  als  Rou6s   dj 
desten  als  Menschen    angesehen   werden,    dl 
das  Weib  verlassen.     Ich  gestehe  offen,  daß 


»)  Archiv  f.  Kr.-A.  S.  195. 


—    36    — 

meines  Beobachtungsmaterials  noch  nicht  in  der  Lage  bin, 
über  das  Vorkommen,  die  Häufigkeit  und  Bedeutung  der 
Bisexuellen  ein  abschließendes  Urteil  zu  fällen.  Früher 
hielt  ich  sie  für  eine  weit  verbreitete  Gruppe.  Aber  die 
gewissenhafte  Exploration  vieler  verheirateter  Urninge 
hat  mich  schwankend  gemacht.  Krafft-Ebing  hob,  als 
er  die  psychische  Hermaphrodisie  als  erste  Stufe  der 
angeborenen  konträren  Sexualempfindung  beschrieb f),  her- 
vor, daß  in  diesen  Fällen  die  Neigung  zum  andern  Ger 
schlecht  viel  schwächer  und  episodischer  sei,  „während 
die  homosexuale  Empfindung  als  die  primäre  und  zeitlich 
wie  intensiv  vorwiegende  in  der  vita  sexualis  zu  Tage 
tritt."  Um  hier,  wie  in  der  ganzen  Frage  klar  zu  sehen, 
muß  man  unbedingt  den  Geschlechtstrieb  von  den  ge- 
schlechtlichen Handlungen,  die  möglich  sind,  unterscheiden. 
Nur  der  natürliche  Trieb  ist  das  Ausschlaggebende.  Man 
glaube  nur  nicht,  daß  wer  mit  beiden  Geschlechtern  ver- 
kehren kann,  auch  beide  liebe.  Wer  urnische  Ehe- 
männer befragt,  wird  meist  hören,  daß  sie  entweder  in 
völliger  Unkenntnis  ihres  Zustandes  heirateten  oder  weil 
«ie  meinten,  von  ihrem  sie  quälenden  Triebe  loszukommen. 
Betrachten  wir  einmal  die  Verhältnisse,  wie  sie  wirklich 
sind.  Ein  junger  Uranier  wächst  heran.  Von  allen 
Seiten  hat  er  die  Liebe  zum  Weibe  preisen  hören,  sie 
erscheint  ihm  als  das  begehrenswerteste  Ziel.  Die  ganze 
heterosexuelle  Umgebung  wirkt  auf  ihn  wie  eine  mächtige 
Suggestion.  Die  erwachende  und  erstarkende  Sinnlichkeit 
führt  ihn,  indem  sie  ihn  dem  allgemeinen  Triebe  der 
Kameraden  folgen  läßt,  zu  einer  Art  Schwärmerei  für 
weibliche  Personen.  Vom  Uranismus  weiß  er  nichts;  die 
Päderastie  hält  er,  nach  allem,  was  er  gehört  hat,  für 
etwas  Abscheuliches.  Es  kommt  die  Zeit,  wo  ihm  „nur 
noch  die  Frau  fehlt.*     Man  macht  ihn  auf  ein  Mädchen 


»)  Psych,  sex.  S.  251. 


—     37     — 


aufmerksam,  die  für  ihn  wie  geschil 
eine  kennen,  die  ihm  „sympathisch^ 
die  ihrer  äußeren  Erscheinung  und  \ 
nach  viel  männliche  Eigenschaften  ^ 
Scheidung  von  Liebe  und  Freundschsi 
leicht;  so  geht  er  in  allen  Ehren  di^ 
zieht  „pflichtschuldigst"  vielleicht  die 
Geschlechtsverkehr,  vielfach   —  wie  \ 
lied    heißt,    —    „nicht   um   der  schnöi 
um    Gottes  Willen    zu    erfüllen".     Sei 
harmonisch,    während    es    ringsherum  \ 
Ehen    gibt,   in    denen    die   Männer   ihi 
fremden  Frauen  befriedigen.     Er  aber 
des  Nächsten  Weib.     So  stirbt  er,  oh 
tums  bewußt  geworden  zu  sein;  denn 
verbringen  ihr  Leben  in  einer  Art  Dämme| 
folgen   sie   den  andern,  individuelle  Ke^ 
für  „Schwächen,"  alles,  selbst  das  koinpl 
nur  in  ihrem  Unterbewußtsein  ab.     Ihre  8, 
reflektorisch.    Sie  kommen  aus  einem  dum 
stand     trotz    aller    scheinbaren    Aktivität 
Vielen   aber  geht  doch  schließlich  —  eiri 
Oberbewußtsein   hat  über  das  Unterbewui 
errungen.     Aber  oft  kommt  dann  die  Erk^ 
„Seit  ich  wissend  bin,  schreibt  uns  ein  hoher! 
kleide    ich  die  Freundschaft  zu  meiner  ¥r\ 
wand   der  Liebe  und  die  Liebe  zu  meinen! 
das  Gewand   der  Freundschaft,  und   so   seil 
einer  Täuschung  meiner  Umgebung  —  ursprl 
getäuscht  —  weiter  durch  das  Leben."         1 
Sehr   fein   hebt  Krafflt-Ebing *)   hervor,! 
bei    sexueller  Frigidität    in  Wirklichkeit    unj 
Hermaphrodisie   handeln    kann.     Auf  die  Da^ 


*)  A  a.  0.  S.  252. 


—    38    — 

aber  doch  nur  mit  sehr  schwachem  Geschlechtstrieb  be- 
gabte Personen  diesem  Irrtum  verfallen.  Viele  soge- 
nannte Bisexuelle  müssen  sich  zum  Coitus  stark  mecha- 
nisch erregen  lassen,  andere  bedürfen  psychischer  Kunst- 
hilfe. Ich  will  zur  Charakterisierung  dieser  Gruppe  eine 
Auswahl  von  Antworten  wiedergeben,  welche  ich  von 
Bisexuellen  über  die  Art  ihres  „normalen"  Geschlechts- 
verkehrs erhielt.  Ein  verheirateter  Universitätsprofessor 
berichtet:  „Ich  bin  zum  Coitus  mit  dem  andern  Geschlecht 
ohne  besondere  Vorstellungen  und  Kniffe  fähig,  habe 
keinen  Widerwillen  dagegen,  aber  auch  keinen  Genuß 
davon.*  Ein  Fabrikant  schreibt:  „Hätte  ich  vorher  die 
über  die  Homosexualität  aufklärende  Lektüre  gekannt, 
ich  hätte  nicht  das  Unglück  der  Ehe  über  mich  herein- 
gebracht. Es  war  gewissermaßen  ein  Verzweiflungsakt 
in  dem  törichten  Wahn,  ich  könnte  mich  doch  vielleicht 
ändern;  ich  habe  mich  aber  nur  doppelt  unglücklich  ge- 
macht und  leider  noch  dazu  eine  gute  Frau,  die  ein 
anderes  Glück  verdient  hätte,  als  einen  Urning  zum 
Manne  zu  haben.  Der  Akt  ist  möglich,  ich  bringe  es 
zur  Ejakulation,  aber  ganz  ohne  Wonnegefühl  und  bin 
nachher  sehr  angegriffen.  Mir  bei  dem  mir  widersprechenden 
Verkehr  eine  edle  Jünglingsgestalt  vorzustellen,  bringe 
ich  nicht  fertig."  Ein  Offizier  teilt  mit:  „Ich  habe  viele 
Bordells  besucht,  und  mit  Erfolg,  d.  h.  ich  blamierte  mich 
nicht.  Ich  sagte  den  Damen  immer,  daß  sie  bald  wieder 
einen  ordentlichen  Lebenswandel  führen  sollten  und  sie 
versicherten  mir  noch  nie  einen  solchen  braven  Herrn 
gesehen  zu  haben.  Vor  dem  Beginn  habe  ich  meistens 
gezittert,  aber  es  galt  meinen  guten  Ruf  zu  erhalten  und 
nachher  triumphierte  ich  wie  ein  Feldherr  nach  ge- 
wonnener Schlacht.*  Ein  Dolmetscher  gibt  an:  „Ich  habe 
auch  viel  mit  Wr eibern  verkehrt,  aber  nur  im  angetrunkenen 
Zustand/  Ein  Arbeiter,  der  Frau  und  Kinder  hat,  gibt 
folgende  Schilderung:  „Ich  führe  den  Beischlaf  aus,  aber 


mit    größtem    Widerwillen    und    fü 
Sterben  unglücklich;  am  liebsten  mc 
darauf    den  Akt   mit   einem  Manne 
Ein  Jurist   antwortet:  „Ich   gehe   se! 
zwei  bis  drei  Wochen  ins  Bordell, 
als  Dirnen  habe   ich   nie    verkehrt. 
Mädchen  gefallen  mir  wohl,  aber  da 
intensiver  anzieht  und  ich   nach   den| 
Weibe   mich  nach    männlicher  Umarrr^ 
ich    mir  nicht  die  Mühe,  mich  den  lal 
zu  unterziehen,  die  nötig  sind,  Mädchel 
sind,  zu  gewinnen.   Sentimentale  Liebe 
von    einer   Tanzstundenschwärmerei    i 
für  Frauen    nie   empfunden,  für  Männ< 
letzten   zehn   Jahren  drei  heftige   Leidj 
Kaufmann  erwidert:  „Ich  kann  mit  Fr* 
ausüben,  aber  nur  durch  den  Gedanken' 
mir  das  Weib  besessen  hat."     Ein  junger 
erzählt:  „Als   ich   siebzehn  Jahre   alt  w! 
gleichaltrigen    Kollegen    Verhältnisse 
schafften,  nahm  ich  mir  auch  mein  Mädc 
meines  eigenartigen  Wesens  nicht  bewuß 
mir  selbstverständlich,  daß  ich  mir  auch 
eine  Frau  anschaffen  mußte.     Beim  Gesch! 
der   sinnliche  Reiz   stets  durch  psychische! 
geführt  werden.     Nachher  war  ich  durch  1 
strengung  sehr  abgespannt  und  ich  schwuil 
wieder  auf  derartiges  einzulassen.    Ich  fühlt 
zu    einem    Verwandten    sehr   hingezogen.  \ 
Ältere    und   bei   den  Weibern  Einflußreiche 
ihn  immer   die  Mädchen   beschwatzen  und 
oft  nach   einander  den  Akt  vollführt.     Die 
seines  heißen  Temperamentes  reizte  mich  bis  5 
und    war    mir    dann    die  Ausführung    des  ^ 
leichtes."      Ein     anonymer   Briefschreiber  m 


Verkehr    ejakulieren   können.     Per^ 
Zeichen  der  Verliebtheit  einmal  vo^ 
Mal  vom  Manne  gefesselt  werden  -4 
Bisexuelle  —  habe  ich  nicht  ermitteln! 
scheint  mir  noch  ein  annähernd  gleid 
für  beide  Geschlechter  bei  Fetischistj 
Sadisten    vorzukommen.     So    kenne    1 
schisten,  der  fast  in  gleicher  Weise  zu  h 
neigt  und  eine  Sadistin,  die  feminine  ^ 
peinigt,  wie  normale  Mädchen.     In  so^ 
Perversion  als  solche  so  vorherrschend,! 
ein    bestimmtes  Geschlecht    hinwegzusi 
Perversion  hebt  dann  die  Inversion  auf.  \ 
man  wohl  bei  den  sexuellen  Zwischenstt 
der  Bisexualität   für  naheliegend  anseht 
Vereinigung  männlicher  und  weiblicher  1 
rücksichtigt,    die    beide    nach    einer  ge\i 
streben.      Anderseits   ist    aber   zu    bede^ 
einzelne  Geschlechtscharakter,  zu  denen  d\ 
lieh    der    Geschlechtstrieb    gehört,    sich 
männlicher  oder  weiblicher  Eichtung  ges] 
die  einfach  auftretenden,  sondern  auch  die  b- 
wie    die  Keimdrüsen.     Baraus   könnte    m\ 
das  auch  für  das  sexuelle  Triebzentrum  der! 
falls    halte    ich    einen    ausgesprochenen    u 
Trieb  zu  beiden  Geschlechtern  für  unwahrsj 
wiederhole  ich,  daß  ich  in  dieser  Frage  ein  \ 
Urteil  noch  nicht  abgeben  möchte.  \ 

Viele  H.-S.    halten   sich    fiir   bisexuell^ 
einer  „grande   passion"   befallen   werden,  a^ 
Unterschied   zwischen   „lieb  haben"  und  „lii 
werden.     Ich  erinnere  an  den  obengeschildei 
Oberlehrers.     Es  wurde   bereits   darauf  hing 
schwer  die  Selbsterkenntnis  des  urnischen  See 
ist,    von    dem   man   garnichts  oder  doch  nur 


—    42    — 

teiliges  gehört  hat.  Selbst  wenn  die  Erkenntnis  allmählich 
aufdämmert,  sträubt  sieh  bei  den  meisten  der  Verstand 
mit  aller  Kraft  gegen  das  Gefühl.  Mehr  wie  einmal  habe 
ich  aus  körperlichen  und  geistigen  Stigmen  die  Früh- 
diagnose der  Homosexualität  stellen  können,  bei  Personen, 
die  über  ihre  urnische  Natur  keine  Ahnung  hatten;  spätere 
Tatsachen  bestätigten  die  Richtigkeit  der  Diagnose.  So 
fällt  mir  ein  Herr  ein,  mit  dem  ich  vielfach  auf  Gesell- 
schaften zusammentraf.  Einmal  erzählte  er  mir  von  einem 
uns  beiden  bekannten  Selbstmörder  und  fügte  ziemlich 
wegwerfend  hinzu  „er  soll  mit  Männern  geschlechtlichen 
Umgang  gehabt  haben."  Ich  konnte  mich  nicht  enthalten, 
ihm  zu  erwidern:  „Wissen  sie  wer  ebenso  empfindet? 
Sie  selbst ;  Ihre  keusche  Kameradschaftlichkeit  dem  Weibe 
gegenüber,  Ihre  langjährige  so  starke  Schwärmerei  für 
den  Bildhauer  X.,  Ihre  weiblichen  Charaktereigenschafben 
und  Bewegungen,  Ihre  Kunstfertigkeit  die  berühmte 
Sängerin  X.  in  Stimme  und  Haltung  zu  kopieren,  sagen 
genug."  Er  wies  meine  Annahme  in  breiten  Auseinander- 
setzungen mit  großer  Entschiedenheit  zurück.  Nach 
längerer  Zeit  sah  ich  ihn  wieder,  glücklich  über  die  endlich 
erlangte  Klarheit  und  innere  Buhe,  die  im  Anschluß  an 
ineinen  berechtigten  Hinweis  bei  ihm  eingetreten  waren. 
Ist  es  schon  schwierig,  über  die  eigene  Natur  ein 
richtiges  Urteil  zu  gewinnen,  so  schwer,  daß  manche 
Unglückliche  sich  ihr  ganzes  Leben  schuldig  fühlen,  ohne 
es  zu  sein,  so  nimmt  die  Schwierigkeit  noch  zu,  wenn  es 
sich  darum  handelt,  die  Ursachen  eines  von  der  Norm 
abweichenden  Seelenzustandes  richtig  zu  bewerten.  Jeder 
Arzt  weiß,  wie  unzuverlässig  die  Angaben  eines  Patienten 
über  den  Grund  eines  körperlichen  Leidens  sind,  wie  oft 
für  ererbte  und  bazilläre  Krankheiten,  beispielsweise 
tuberkulöse,  ein  Trauma,  eine  Erkältung,  Anstrengung  oder 
Aufregung  als  Ursache  angegeben  werden,  während  wir 
doch  genau  wissen,  daß  keiner  dieser  Anlässe  eine  causa 


43     — 


sufficiens  abgeben  kann,  daß  die  Hs 
da  sein  muß.  Ist  das  schon  auf 
möglich,  wie  viel  mehr  auf  geistig^ 
nervöse  und  psychische  Störungen 
Anlage,  sondern  stets  auf  äußere 
Selbstverständlich  wird  daher  ein  gesc} 
hafter  Arzt  alle  Angaben  seiner  KU 
vergleichend  würdigen  müssen.  Eil 
gläubigkeit  vorzuwerfen,  wie  es  in  dei 
Sexualität  wiederholt  geschehen  ist,  hej 
losigkeit  zeihen,  und  das  bedeutet  ein  arge 
in  Bezug  auf  seine  fachliche  Tüchtigkei 
es  aber  auch,  die  Homosexuellen  für  ve^ 
Schrenck-Notzing  *)  meinte,  daß  „ die  Seil 
Urninge  nur  mit  großer  Eeserve  zu  berüi 
Nur  in  einem  mißt  dieser  Autor  ihren! 
Glauben  bei,  nämlich  in  dem,  was  sie  ül 
der  Hypnose  berichten,  trotzdem  es  docl 
oft  gerade  Hypnotisierte  dem  um  sie  bei 
complaisance"  die  Unwahrheit  sagen. 
Schrenck  und  Cramer2)  nur  unbewußte! 
unter  dem  Einfluß  diesbezüglicher  Leki 
geht  Bloch  8)  bedeuten^Kweiter,  er  spricht 
Täuschungen  und  Fälschungen,  die  siel 
in  ihren  Autobiographieen  zu  schulden 
„Die  kritiklosen  Theorien  eines  Ulrichs,"  sl 
„wurden  von  vielen  Urningen  für  Wahrh( 
und  auf  den  eigenen  Zustand  übertragen."  \ 
späteren  Stelle  4)  fügt  er  hinzu  „Ulrichs  Schi 


*)  A.  a.  0.  S.  195. 

2)  A.  Cramw.  Die  konträre  Sexualempfinduni 
Ziehungen  zum  §  175  des  R.-Str.-G.-B.  Berliner  klin^ 
1897.    N.  43.  Seite  964. 

3)  A.  a.  0,  S.  13. 

4)  A.  a.  0.  S.  198. 


—    45    —   I 

1 

Urning.  Mit  großer  Entschieden  hei 
Ebing  den  so  bequemen  Einwurf  \ 
worden"  zurückgewiesen *).  Neuerdin| 
auf  diese  Beschuldigung  eingegangen 
Behauptung,  diese  Leute  lögen  oder  i 
etwas  weiß,  ist  nicht  haltbar,  denn! 
und  da  zutrifft,  bleiben  so  viele  unanti 
übrig,  daß  an  der  Ursprünglichkeit, 
Dauer  der  abnormen  Gefühle  nicht  zu 
möchten  gegenüber  dem  schweren  Vor 
die  Homosexuellen  noch  hervorhebe^ 
Übereinstimmung  zahlloser  Anamnesen  ^ 
Stände,  namentlich  auch  von  urnischen  \ 
ein  Buch  über  den  Gegenstand  gelesen  1 
haftigkeit  des  Gesagten  über  allen  Zwei^ 
daß  diese  Angaben  in  einer  sehr  großen 
von  den  Angehörigen,  Vätern,  Müttern! 
bestätigt  wurden,  —  erst  vor  kurzem  k\ 
ein  protestantischer  Geistlicher  mit  einem  \ 
der  ebenfalls  Theologie  studierte  und  sagt 
Anfang  an  anders,  wie  meine  5  anderen  So! 
rühren  die  Mitteilungen  oft  genug  von  Uni 
sich  nie  in  ihrem  Leben  homosexuell  betätigt 
unantastbarer  Integrität,  für  die  auch  nicht 
Grund  besteht,  die  Unwahrheit  zu  reden.  ' 
den  vielen  uns  zur  Verfügung  stehenden  Selb, 
nur  eine  einzige  im  Anhang  wiedergegeben, 
einem  ganz  einfachen  Arbeiter  her,  ist 
orthographisch  richtig  geschrieben,  aber  für  4 
dessen,  was  dieser  schlichte  Mann  aussagt,  st 
wenn  es  überhaupt  noch  Treue  und  Glauben! 

*)  In  der  Schrift  „über  sexuelle  Perversionen* '  bi 
Schwarzenberg.    1901.    Seite  130. 

2)  Dr.  P.  J.  Möbius  in  Leipzig.  Geschlecht  mi 
bei  Marhold  in  Halle  1903.    S.  30.  ' 


—    46    — 

lese  dieses  Lebensbild,  wo  kann  da  von  einem  Variations- 
bedürfnis, von  Reizhunger,  der  leichten  Beeinflußbarkeit 
des  Geschlechtstriebes  durch  äußere  Einwirkungen,  von 
Suggestion,  Nachahmung  oder  choc  fortuit  die  Rede  sein  ? 
Enthält  nicht  allein  diese  eine  Biographie  eine  ganz 
furchtbare  Anklage  gegen  die  Wachenfeld  und  Bloch, 
welche  in  einer  so  wichtigen  Frage  vom  grünen  Tisch 
ihr  Urteil  fällen,  ohne  die,  welche  sie  richten,  gesehen, 
gehört,  beobachtet  und  untersucht  zu  haben? 

Es  genügt  natürlich  nicht,  die  Lebensgeschichte  der 
H.-S.  zu  durchforschen,  sondern  ein  jahrelanges  Beob- 
achten vieler  Urninge  aller  Altersstufen  und  Stände, 
ihrer  Lebensäußerungen  und  Lebensgewohnheiten  ist  not- 
wendig, um  sich  über  die  Gesamtpersönlichkeit  ein  Urteil 
bilden  zu  können.  Diese  Aufgabe  wird  dadurch  er- 
schwert, daß  vielen  Urningen  nach  Lage  der  Verhält- 
nisse durch  Selbsterziehung  und  Gewohnheit  manches 
zur  , zweiten  Natur"  wird,  was  ihnen  ursprünglich  nicht 
zukommt.  Man  wird  bei  der  psychologischen  Erkenntnis 
nicht  nur  auf  positive  Äußerungen  zu  achten  haben,  sondern 
auch  auf  negative  Züge,  so  ist  beispielsweise  bei  manchen 
Uraniern  die  sexuelle  Negierung  des  anderen  Geschlechts 
viel  vorherrschender,  als  die  durch  intensive  Geistes- 
tätigkeit abgelenkte  oder  zum  Schweigen  gebrachte  posi- 
tive Neigung  zum  gleichen  Geschlecht. 

Sehr  wesentlich  wird  die  Exploration  und  Beob- 
achtung unterstützt  durch  die  Körperuntersuchung  mög- 
lichst zahlreicher  Zwischenstufen  aller  Art.  Den  Sektionen 
H.-S.  können  wir  hingegen  vorderhand  noch  keine  so 
hohe  Bedeutung  beimessen,  solange  das  sexuelle  Centrum 
im  Gehirn  noch  nicht  ermittelt  und  wir  über  die  Ge- 
schlechtsunterschiede zwischen  männlichen  und  weiblichen 
Gehirnen  noch  so  wenig  unterrichtet  sind.  Der  von 
Rüdinger  gefundene  und  neuerdings  von  Waldeyer  be- 
stätigte Satz,  daß  die  Windungen  des  Stirn-  und  Schläfen- 


lappens  beim  Weibe  schwächer  entwii 
Manne  stützt  sich  auf  ein  zu  geringe! 
als    daß    er  eine  Grundlage   für   die  \ 
suchung  urnischer  Leichen  abgeben 
wie    die  Geschlechtsunterschiede    im 
wir  später  noch  eingehender,  zurückkc 

Wir  sind    mit  den    angegebenen 
der  Lage,   sofern    nur   eine    genügende 
beobachtungen  vorliegt,  ausreichende 
wir  werden  als  Endergebnis  dieser  Objel 
sicheren  Beweis    erbringen    können,    da 
und  das  gleichgeschlechtliche  Empfinder 
Sexualität  niemals  durch    äußere  Ursach^ 
anerzogen,  sondern  stets  angeboren 


I.  Das  urnische  Kinc 

Für   das  Angeborensein   einer  Eigens« 
hohem  Maße  bezeichnend,  wenn  dieselbe, 
innerung   reicht,   nachweisbar    ist.      Berei 
der  große  französische   Psychiater,   welcher! 
Sexualempfindung  noch  zu  den  Geistesstörul 
arteten  zählt,  sagt:1)  „Sie  zeigt  sich  oft  sei 
Jugend  und  gerade  das  ist  charakteristisch ;  1 
deutlicher  für  die  ererbte  Beschaffenheit  diesl 
als   ihr  frühzeitiges  Auftreten."     Und    zwei  \ 
bemerkt  derselbe  in  einer  anderen  Vorlesung:  \ 
sich    bei    dem  Zustand,    den  Westphal    kontri 
empfindung  nannte  und  Charcot  und  ich  als  \ 
des  geschlechtlichen  Empfindens  (inversion  du  sl 

*)  Psychiatrische  Vorlesungen,  IL/HL  Heft  übersetz^ 
Leipzig  bei  Thieme  1892  in  der  II.  aus  dem  Jahre  1887  \ 
Vorlesung  Seite  26  und  in  der  III.  über  geschlech^ 
weichungen  und  Verkehrungen  vom  Januar  1885, 


Ta,e,,-^chf.sexue„e 

(le,p»*-  Verla«  von  Max  Spoi 


Willibald  von  Sadler-Grüi 

in  verschiedenen  Trachten. 


—    49     — 

rnais     einzusehen,    daß   ich    anders    geartet    war/1 
nischer  Chemiker,   der    sich  noch  nie  in  seinem  j 
^tätigte,    berichtet:  „Ich    war   als  Kind    sehr  artij 
abe   im  Gegensatz  zu  meinen  Brüdern  von  meinen  ] 
ie    Prügel    bekommen.     Onanie  ist  mir  unbekannt.; 
bilden  Knabenspiele  waren  mir  zuwider,  ich  schloß 
ait  Vorliebe  an  Mädchen   an  und  hatte  deswegen! 
Meckerei    und    Spott    zu   erdulden;   das   waj 
sehr    unangenehm,    doch    konnte    ich    nicht    dagegej 
Ich  liebte  zu  nähen,  zu  stricken,  beim  Kochen  und  Bä 
zu  helfen  und  mich  mit  Bändern  wie  ein  kleines  Mä^ 
zu    schmücken.     Es    ist    mir  jetzt    immer    sehr  peic 
wenn  diese  Jugenderinnerungen  von  Angehörigen    aij 
kramt  werden."  Andere  Mitteilungen  von  Urningen  laij 
„Im  Kadettenkorps  hieß  ich  die  keusche  Jungfrau."  j 
der  Schule    nannte  man  mich  allgemein  Fräulein."    ] 
ich  13  Jahre  alt  war,  sagte  unser  Hausarzt,  ich  sei  1 
Kerl,    sondern    ein    hysterisches    Frauenzimmer."    „IVJ 
Vater  rief  mich  Wilhelmine."    „In  der  Tanzstunde  nanij 
mich  die  Damen:  Willy  mit  den  Mädchenaugen."    „Sej 
zu  Hause,  wie  später  in  der  vornehmen  Gesellschaft  fül 
ich    den  Spitznamen:  Die  Baronesse."    „Wenn    ich  eii 
Stein   in  die  Luft  warf,  sagten  die  Jugendgespielen:  | 
Widdigs    Jong    wirft   grad    wie    ein   Mädchen."    „Mel 
Mutter  sagte   oft   von  mir,  er  ist  meine  kleine  Tocht^ 
„Von   mir    und   meiner    ältesten  Schwester  hieß  es  st^ 
wir  seien  verwechselt  worden."    „Man  meinte  stets,  mei 
Schwester    hätte   der  Junge   und  ich   das  Mädel  werd 
sollen."     „Als  Kind  schon  hieß  ich  Mademoiselle."     „J 
Hause  nannte  man  mich  den  Träumer."     „Als  ich  kiel 
war  kämmte  man  mir  die  Haare  ins  Gesicht  und   freu! 
sich:  der  Junge  sieht  wie  eine  kleines  Mädchen  aus."     A 
wurde  oft  gesagt,  er  ist  kein  Junge."     „Meine  Stiefmuttj 
meinte:  er  ersetzt  mir  mehr  als  eine  Tochter."     Urniscl 
I         Damen  berichten:  „So  lange  ich  denken  kann,  wurde  ic 

Jahrbuch  V.  4 


—  so   - 


boy  genannt".  Eine  andere:  »Schon  tU  K 
mit  Vorliebe  Mütze  und  Rock  meine*  Vat 
auf  die  höchsten  Bäume  und  wurdt*  initiier  »hi 
<  >ft  nutzen  die  Angehörigen  dif  Wrunlug 
Kinder  aus.  Die  Väter  fühlen  «ich  zu  urni*c 
besonders  hingezogen  —  man  denke  an  da 
lichkeit  fein  abgelmuolita  Verhältnis  *  wisch 
Kramer  und  seiner  Tochter  Michaeli  na  in  Ger 
mann-  Michael  Krämer  —  die  Mütter  hin 
besonders  ihre  u mischen  Sohne,  welche 
allerlei  häuslichen  Beschilft  igungen,  wie  Be 
der  Geschwister,  verwenden.  Man  glaube  n 
erat  durch  die  Erziehung  diese  femininen 
Eigenschaften  hervorgerufen  werden ,  hei 
umischen  Knaben  würde  die  Mutter  übe 
solche  Verwendung  versuchen*  Auch  hie 
Beispiele,  „Meine  neue  Mama  —  schreibt 
ließ  sich  die  Vorzüge  meiner  angeborenen  1\ 
wohl  gefallen,  ich  verstand  im  Haushalt  alle; 
sie  sich  um  nichts  zu  kümmern  brauchte,  i 
lagen  vollendet  bereit  zu  jeder  Gelegen  hei 
das  Haar  wurde  frisiert,  die  Flute  auf  dt 
garniert-,  die  "Wirtschaft  besorgt,  Menüs  beste 
wacht,  eigenhändig  die  Tafel  dekoriert,  u 
dann  zu  den  Gästen  in  den  Salon,  hieß 
geringem  Erstaunen  der  Anwesenden:  „So  je 
Tochter  fertig,  uun  kann  der  Sohn  uns  etwa 
Gute  Alte,  ich  höre  sie  noch  und  habe  sie 
ich  ihr  aber  letztes  Jahr  die  Augen  offne 
Tochterschaft  ihres  vermeintlichen  Sohnes,  litt 
sie  sehr,  leider  vergeblich,"  Eiu  junger  Lern 
n  Sobald  ich  dem  Schulzimmer  entflohen  war 
meinen  Freundinnen;  ich  galt  überhaupt  h\ 
und  Lehrern  als  Musterknabe*  Meine  Mutl 
mich  zu   ihren  Geschäftsgängen  mitzunehmei 


1 
—    51     —      \ 

\ 

mich    dann    bei    Einkäufen,    wie    mir\ 
gefiele.     Bei  jedem    neuen  Hut,    den   \ 
kaufte,   wurde   ich    als  Modell    verwan\ 
wurden    die    verschiedenen    Damenhüt 
gesetzt  und    der    mich    am    besten    kl^ 
meine  Mutter  für  sich.     „Du  siehst  wie! 
chen  aus,    sagte    mir  meine  Mutter   häui 
probe,  schade,  daß  du  kein  Mädel  gewoi 
selbe  Gewährsmann  gibt  noch  folgende  s\ 
Schilderung:       „Mein    Vater    war    Offiz^ 
Willen    gemäß   sollten    seine    drei   Söhnel 
werden.      Ich    stand    im    13.    Lebensjahr! 
Kadettenkorps   einberufen   wurde.     Von   \ 
setzten   habe    ich   nur  Gutes  erfahren,    da\ 
recht  braver  Schüler  war  und  zum  Tadeln 
lassung  bot.     An  den  wilden  Jugendspiele: 
mich  wenig  und   nur  auf  höheren  Befehl, 
waren  Plauderstündchen  mit  gleichgesinnte: 
die   wilden    mied   ich,    eines  Tages    aber   h 
Erfahrung  machen,    daß  ein    solch   wilder 
besondere  Zuneigung  zu  mir  faßte,  mich  öfters! 
keiten   beschenkte    und    mir   half,    wo   er   hei 
dabei  bemerkte  er,  ich  besäße  ein  so  „ätherisc! 
das  gefiele  ihm  so,  er  behauptete,  ich  duftete 
Vanille.     Im  Singen  war  ich  die  Säule  des  S< 
der  Lehrer   sich   ausdrückte,   und   als    in   der 
stunde    Schillers    Jungfrau    von    Orleans    mit 
Rollen    gelesen  werden  sollte,    und    es    sich   u 
Setzung  der  Jeanne  d'Are  handelte,   da  war  m 
keinen  Augenblick  im  Zweifel  und  übertrug  di< 
unter  allgemeiner  Akklamation  der  Kameraden, 
ab    behielt    ich    im    Korps    den    Titel:      „Jungi 
Orleans"  oder  auch  „ Fräulein  Johanna."14     Die 
der  normalsexuellen  für  den  urnischen  Mitschüler 
weibliche  Grundnatur  sie  instinctiv  herausfühlen, 


—     52    — 

charakteristisch;  so  berichtet  ein  anderer  Offizier,  d«-r  auf 
einer  Ritterakademie  erzogen  wurde,  daß,  als  er  13  Jahr«* 
alt  war,  fast  alle  älteren  Knaben   in   ihn  verliebt    waren. 

Mit  der  Märchenhaftigkeit  hängt  es  auch  ziisumim-ii, 
daß  urnische  Knaben  oft  eine  sehr  große  Ähnlichkeit    mit 
der  Mutter  haben,  bei  manchen  wird  auch  die  auffallend«' 
Übereinstimmung    mit    der    Großmutter    hervorgehoben. 
Doch  ist  beides  durchaus  nicht  durchgängig  der  Fall,  viel- 
mehr zeigt  die  Erfahrung,  daß  ebenso  wie  die  männlichen 
und  weiblichen  auch  die  urnischen  Kinder  körperlieh   und 
geistig  unter   dem  Einfluß   der  gemischten   und   latenten 
Vererbung  stehen.     Viele  scheinen    in    der  Jugend    mehr 
der  Mutter,  später  mehr  dem  Vater  zu  gleichen. 

Von  manchen  Seiten,    besonders  von  Tarnowsky,  ist 
vorgeschlagen,  Knaben,   welche  zu  weiblichen  Beschäfti- 
gungen neigen,  recht  zu  verspotten,  um  so  der  Ent Wicke- 
lung homosexueller   Triebe   vorzubeugen.      Es   heißt   die 
Macht  der  Erziehung  weit  überschätzen,    wenn    man    an- 
nimmt, daß  eine  so  tief  in  der  Persönlichkeit  wurzelnde 
Triebkraft  dadurch  nennenswert  beeinflußt  werden  könnte. 
Wir  halten   diese    prophylaktische  Maßnahme    nicht    nur 
für  wirkungslos,  sondern  auch  für  verhängnisvoll,  weil  sie 
geeignet  ist,  das  ohnehin  schüchterne,  empfindsame,  zum 
Weinen  geneigte  urnische  Kind  noch  zaghafter  und  scheuer 
zu  machen.     Diese  Kleinen   spüren  es  instinktiv,   daß  sie 
eigentlich  weder  zu  den  Knaben,  noch   zu  den  Mädchen 
gehören,  ihr  Selbstvertrauen  leidet  unter  diesem  Zwiespalt, 
sie  nehmen  alles  tiefer  und  ernster  wie  die  gleichaltrigen 
Kameraden.     Unter  den  jugendlichen  Selbstmördern,  die 
sich  wegen  gekränkten  Ehrgeizes  ein  Leid  antun,  befinden 
sich    gewiß    relativ  viel    urnische    Knaben.     Eine   wohl- 
bedachte Erziehung  sollte  das  psychologische  Erfassen  der 
Kindesseele   zur  Grundlage  haben,   sie   sollte  individuali- 
sieren,  indem   sie   die    vorhandenen   guten  Keime  in  die 
rechten  Bahnen    leitet,   die  schlechten    Anlagen   liebevoll 


—    53     —       \ 

hemmt.     Statt    dessen    wird   in   völligel 
Kindesnatur  von  Eltern  und  Lehrern  ni 
siert.     Gerade  die  urnische  Kindesseele,  \ 
deutlich  von  der  Knabenseele  durch  eine  d 
tat,   von   der  Mädchehseele   durch  stärke 
unterscheidet,  enthält  viele  Keime,  deren! 
sich  außerordentlich  verlohnen   würde.      \ 
Die  meist  in   hohem  Maße  vorhande\ 
f  ähigung  urnischer  Kinder  wird  durch  eine  gel 
heit    und     Verträumtheit,    oft    auch    durcß 
infolge  allzureger  Phantasie  wesentlich  beeinl 
kommen    die   meisten  recht  gut  in  der  Sch\ 
besondere    Vorliebe    besteht    für    schöngei^ 
namentlich    Literatur,    für    Geschichte    und\ 
Musik  und  Zeichen,  etwas  weniger  für  Sprac\ 
zeigen  sich  von  100  urnischen  Kindern  90  ii 
schwach  für  Mathematik  veranlagt.    Merkwüri 
es  demgegenüber,    daß    von    den    übrig  bleibl 
jedoch  4  eine  weit  über  dem  Durchschnitt  stehe 
matische  Befähigung  aufweisen.    So  schreibt  eil 
Ingenieur:  „Ich  habe  auf  dem  Fragebogen  meiii, 
Fähigkeiten  als  „  hervorragend  "  bezeichnet,  deni 
ohne  Überhebung  sagen,  daß  ich  als  Knabe  d^ 
schnittsmaß  sicherlich  ganz  erheblich  überragte.  \ 
vor  allen  Dingen   als   guter  Rechner   und   Math, 
bekannt    und    von  den  Kameraden  war  meine  ß 
ihren  Arbeiten  stark  gesucht.  Vokabeln  lernte  ich  \ 
leicht.     Zu  Hause  zu  arbeiten,  hatte  ich  überhaui 
nötig,  ich  lernte  alles  bei  der  ersten  Durchnahme 
Schule.      Das    sogenannte    Präparieren    und    Rep 
kannte   ich   überhaupt   nicht,   ich  extemporierte  st\ 
es    sich    um    lateinische,    griechische,    französisch  ei 
englische  Klassiker  handelte.     In  Mathematik  übern 
ich    meine  Lehrer  häufig   durch  rasche,  elegante  L 
der  Konstruktionsaufgaben  und  fand  ein  großes  Vergn 


—    54    — 


daran,   meine  Lehrer   selbst  gelegentlich   J 
Den  Primusplatz    hatte    ich    bis    in    die    <> 
Urne.**     Wim  die  übrigen  Flfclicr  iinhrhingt. 
die  Reifezeit  herum  bei  uro  lachen  Kmthcn 
religiöse   Schwärmerei»   zum  Turnen    nmng 
Muskelkraft    und  Mut,   doch    wird   «I 
Geschicklichkeit,  üslheti&ehcs  Wohlgefallen 
liehen  Übungen    der    Mitwirkenden    und    1 
nachzutun,  ausgeglichen. 

Das  [nUrflMI  für  den  r«terricht«ge| 
bei  vielen  im  engsten  Zusammenhang  mit  i 
Lehrers,  Die  Verehrung  urniseher  Knalu 
Lehrer,  diejenige  uniischer  Mädchen  I 
Lehrerinnen  und  Erzieh erinneo  tragt  oft 
hochgradiger  Schwärmerei.  Daneben  geh 
Zurückhaltung  vor  den  Übrigen  MitsehüU 
heftige  Zuneigung  zu  eiucm  Kameraden,  ch 
typus  besonders  reizt;  vielfach  ist  derse 
anderen  Klasse  oder  Schule.  Masturbiert 
Junge,  was  häufig  der  Fall  ist,  so  gesc 
Phantasiegebilde  oder  unter  Yorstelluri 
Personen,  manche  haben  Abneigung  vor  sol 
Hang  zu  mutueller  Onanie.  Im  Traum  spi 
dem  Erwachen  des  eigentlichen  Geschlechts! 
Kameraden  eine  grotie  Rolle.  Ein  Urning 
„Es  bestanden  schon  sehr  frühe  seh  wärm  eri> 
gleichgeschlechtliche  Empfindungen,  eine  li 
liebe  hatte  ich  für  schone  Ministranten  i 
mit  8,  9  Jahren.  Ich  konnte  mich  nicht 
sehen,  im  Traume  setnvebten  sie  mir  wied 
vor/  Die  leidenschaftliche  Zuneigung  un: 
für  Personen  desselben  Geschlechts  ist  von 
schaft liehen  Verhältnissen  normaler  Knabe, 
einen  erotischen  Beigeschmack  haben ,  w 
schieden,    Indem    es  sich   bei    letzteren  oft 


—    55    — 

\ 

starken  Freundschaftsenthusiasmus,   oft 
tive  Herausfühlen   des  Ändersgeschlech 
haften  im  TJrningsknaben,  oder  auch  um 
Manipulationen   handelt.     Ich    halte  die\ 
Professor  Dessoir  vertretene  Auffassung,! 
bische  Geschlechtstrieb    undifferenziert    is 
für  richtig,  als  er  nach  der  Reife  erst  klarer 
tritt.     Wie  alle  Geschlechtszeichen  bereits! 
faltung  latent  einen  bestimmten  Charakter! 
der  Trieb.     Nur   so   sind  die  vom  heterosö, 
sichtlich    abweichenden  Ereignisse  zu  vers^ 
im  Urningskinde    abspielen,    von   denen   icl 
recht    anschauliche  Belege    geben    will;   diei 
Schilderungen  rühren  von  Edelleuten,  die  viel 
Kaufmann  her. 

1.  Als  Kind  lebte  ich  in  Märchenphantasieet 
häufig  Schelte,  weil  ich  mir  mit  den  Spielsachen  mej 
lieber  zu   schaffen  machte,   als  mit  Peitsche,  Schau1 
Zinnsoldaten.     1870  —  ich  war  8  Jahre  —  kam  ein\ 
inspektor  zu  uns,  der  mich  völlig  bezauberte.    Ich  s 
Mann  bei  Tische  so  unablässig  an,  daß  mein  Vater  ; 
was  ich  an  ihm  habe,   worauf  ich  erwiderte,   sein  rt 
gefiele  mir  über  alles.    Verabschiedete  sich  dieser  Heri 
von  meinen  Eltern,  lief  ich  ihm   auf   den  Korridor  \ 
nach  und  erbettelte  einen  Kuß  von  ihm.    Hatte  ich  eiE 
erlangt,  drückte  ich  diesen  Kuß  in  meine  Linke,  ballte 
Faust  und  nahm  den  Kuß  so  mit  zu  Bett,  um  in  der  1 
die  Hand  immer  wieder  zu  küssen,  bis  ich  einschlief.    S 
ich  es  auch,    den  Inspektor  Sonntags   in  seinem  Zimme 
suchen  und,   wenn  er  auf  dem  Sofa  lag,   mich  neben  ih 
strecken. 

2.  Ich  haßte  Knaben  und  Knabenspiele;  das  größt 
war  mir  und  meiner  um  1 1/2  Jahr  jüngeren  Schweste 
gegenseitiges,  überaus  inniges  Verhältnis.  Wir  waren  beid 
all  die  Lieblinge,  sie  brünett,  graziös  und  energisch,  ich 
sinnend,  träumerisch,  am  glücklichsten  waren  wir  ohne 
Menschen.  Meine  Schwester  war  mein  alter  ego,  wahrem 
13  Jahre  älterer  Bruder,  ein  sehr  schöner  Mann,   mein  lOjä 


—    56 


El 


reine«,  unschuldiges  Herx  furchtbar  verwirrte.    Ich  habe  ihn    tm-it 
mehr  seiner  Schönheit,  als  seiner  guten  Eigenschaften  weg«*n   an- 
gebetet.   Dabei  wurde   ich  äußerlich  immer  schroff «*r  gegt-n   ilm. 
Mit  10  Jahren  weinte  ich  eine  ganze  Nacht,  als  ich  mich  in  »••in»T 
mir  schaurig-süßen  Gegenwart   zur  Ruhe    habe  begeben   iuii«««-n. 
Ich  empfand  ein  Schamgefühl,  wie  ich  es  in  Vaters,  Mutter»  im<l 
Schwester«  Gegenwart  nicht  kannte.    Ich  erinnere  mich    irniau, 
daß  im  6.  oder  7.  Jahr  vorübergehend  meines  Bruders  Schönheit 
mir  wie  ein  geoffenbartes  Mysterium  durch  Mark  und  Bein  zitterte. 
Klar  und  bewußt,  natürlich  als  tiefstes  Geheimnis  zumal  vor  ihm, 
habe  ich  ihn  vom  10.  bis  15.  Jahr  angebetet,  am  höchsten  stand 
diese  Verehrung  vom   10.  bis  12.  Jahr,  als  er  sich  verheiratet«*. 
Ich   war   totunglttcklich,   daß  er   uns  dadurch   ferner  rückte  und 
empfand  es  als  etwas  Entsetzliches,  daß  er,  wie  ich  glaubte,  nun 
seine  Jungfräulichkeit  einbüßte. 

3.  Ich  bin  auf  dem  Lande  unter  denkbar  günstigen  Verhiilt- 
nissen  aufgewachsen  als  achtes  Kind  unter  neun  (Jeschw  intern, 
von  denen  eine  Schwester  früh  am  Scharlach  starb,  zwei  erlaben 
der  Schwindsucht  während  ihrer  Brautzeit  Erwiesenermaßen  int 
die  Krankheit  vom  Bräutigam  erst  auf  die  eine,  dann  auf  die 
andere  übertragen  worden.  Dies  sind  die  einzigen  Fülle  von 
Lungenschwindsucht,  die  überhaupt  in  unserer  Familie  vorge- 
kommen. Meine  Brüder  und  meine  übrigen  Geschwister  sind  <1.im 
Bild  der  Gesundheit,  wie  ich  selber.  Von  Kinderkrankheiten  hatte 
ich  nur  Masern  und  Keuchhusten,  neigte  aber  bei  den  geringsten 
Erkältungen  sehr  leicht  zu  Fieber,  was  sich  aber  seit  meinem 
zehnten  und  elften  Jahre  gänzlich  gegeben  hat. 

Das  Entzücken  meiner  Kindheit  war  das  Puppenspiel.  Mit 
ausschweifendster  Phantasie  begabt,  zeichnete  und  schrieb  ich,  so 
gut  als  ich  es  damals  vermochte,  Modejournale  für  meine  Lieb- 
linge. Ich  erfand  zum  Entsetzen  meiner  jüngsten  Schwester, 
meiner  Spielgefährtin,  die  abnormsten  Kostüme,  meist  Schlepp- 
gewänder  aus  zarten,  durchsichtigen  Stoffen  und  Schleiern;  insze- 
nierte Tauf-  Sterbe-  und  Heiratszenen,  ich  hielt  Reden,  bei  denen 
ich  mich  selber  zu  Tränen  rührte. 

Ich  lernte  sehr  rasch  und  leicht,  hatte  aber  ein  schlechtes 
Gedächtnis  für  Zahlen,  während  ich  frühzeitig  Liebe  und  Talent 
für  lebende  Sprachen  entwickelte,  bei  deren  Erlernung  sich  stets 
mein  Gedächtnis  als  treu  und  fest  erwies.  Mit  ziemlichem  Wider- 
willen dagegen  betrieb  ich  Griechisch  und  Lateinisch.  Mathematik 
ist   stets   meine    größte  Schwäche  gewesen,    und  bin   ich  darin, 


trotzdem  ich  seinerzeit  die  Abiturientenpri 
bestanden,  unglaublich  unwissend.  \ 

Früh  hatte  ich  ein  leidenschaftliches  Ve| 
stellerisch  tätig  zu  sein.    Mit  acht  Jahren  v\ 
spiel,  das  als  Kuriosum  noch  bis  heute  in  uns 
blieb.    Ohne  je  einen  Roman  gelesen  zu  habt 
ein  halbes  Dutzend  so  betitelter  Sachen  in  mei 
und  zwölften  Jahre.    Ich  habe  einiges  davon  a 
manchmal  noch  mit  stiller  Freude  gewisse  Ste; 
absoluter  Unkenntnis  des  sexuellen  Lebens  ge\\ 
denn  unter  anderem  ein  Paar  Zwillinge  über  1 
Vaters  zur  Welt  kommen.    Am  Morgen  beme^ 
die  Überraschung,  und  beeilt  sich,  der  ahnung^ 
Freudenbotschaft  zu  überbringen.  \ 

Da  es  mir  verboten  war,  andere  Sprachei 
Schule  gelehrten  zu  betreiben,  so  verfaßte  ich  heil 
erfundene  Sprache  mit  besonderen  Buchstaben.    . 
eigene  Grammatik,  in  der  Regeln  mit  den  ungehe 
nahmen   vorherrschend   waren;  ich   verfaßte  Üb^ 
Lexika.    Ein  Resultat  der  Stunden  der  physikalisch 
waren  eigens  gezeichnete,  gemalte  und  geschriebi 
unseren  Buchten  und  inselreichen  Seen,  zu  einer  Z\ 
das  Wasser  als  Land  und  das  Land  als  Wasser  a 
schrieb  sogar  eine  Geschichte  der  damals  dort  le^ 
und  deren  tragischen  Untergang  infolge  vulkanisch* 
welche  dann  schließlich  die  heutige  Gestalt  der  Erdt 
Folge  hatten. 

Die  ersten  noch  unbewußten  Regungen  des  h\ 
Lebens  fallen  etwa  ins  zehnte  und  elfte  Jahr.  Wir 
Kutscher,  einen  schönen  und  kräftig  gebauten  M 
dunkelm,  langem  Schnurrbart.  Es  machte  mir  stets 
um  ihn  zu  sein  und  ihn  in  seinen  hohen  Stiefeln,  Led 
Livreerook  oder  Winters  in  seinem  russischen  Sd 
betrachten.  Ich  hatte  schließlich  das  unwiderstehliche 
ihn  zu  umarmen,  da  das  aber  schwer  anging,  so  schlicl 
öfters,  wenn  ich  ihn  bei  der  Arbeit  wußte,  in  seine 
schlüpfte  in  seine  riesigen  Stiefel,  hing  seinen  Rock  odi 
mich  und  hatte  ein  Gefühl  des  seligsten  Wohlbeha| 
drückte  die  Kleidungsstücke  fest  und  krampfhaft  an  n 
der  Geruch  der  Lederstiefel  und  der  ledernen  Hosen,  w 
auf  meinem  Schoß  hielt  und  öfters  an  mich  drückte,  vt 
mit  dem  Gedanken  an  den  schönen  groß  gebauten  Kutsc 


—     58     — 


ich  mir  dachte,  indem  ich  die  Kleidungsstücke  an  meinem  K«»r|»«-r 
befühlte,  verursachten  mir  heftige  Erektionen,  über  die  ich  j«-«it-w- 
mal,  ohne  mir  bewußt  in  sein  infolge  wovon  sie  entstanden,  ent- 
setzt war,  da  ich  sie  für  eine  krankhafte  Erscheinung  hielt.  — 
Eines  Tages,  nach  reiflichem  Hin-  und  Herdenken,  wußte  ich   mit 
Hilfe  meiner  Kameraden,   Knaben,  die  mit  mir  erzogen   wur<l«*u. 
eine  Szene  ins  Werk  tu  setzen,  bei  welcher  der  Kutscher  veran- 
laßt   wurde,    mich    zu    sich    emporzuheben.     Diese    fielegmhHt 
benutzte  ich  nun,  da  meine  Kameraden  mich  ihm  entreißen  wollten, 
meine  Wange  an  sein  bärtiges  Gesicht  zu  legen,  meinen  Arm  um 
seinen  Nacken  zu  schlingen  und  meine  Beine  fest  an  seinen  Körper 
zu   pressen.     Ich   schloß   die   Augen   und   verspürte   ein   Gefühl 
schwindelnder  Wonne. 

Im  Sommer  pflegten  wir  ein  Haus  am  Strande  zu  beziehen. 
Dicht   an   der  Veranda,   zwischen  Haus   und   Meer,   führte    eine 
Straße  vorbei,  auf  welcher  zu  gewissen  Stunden  die  Strom  lan- 
darmen vorbei  patroullierten.  —  —    Ich  fühlte   mich  sofort  zu 
den  strammen  Kerlen    mit  hohen  Stiefeln,   straffer  Uniform   und 
gebräunten  Gesichtern  mit  flottem  Schnurrbart,  hingezogen.    Bald 
konzentrierte  sich  all  mein  Denken  auf  sie.    Abends  im  Bett,  vor 
dem  Einschlafen,  malte  ich  mir  die  ungeheuerlichsten  Szenen  mim: 
Es  klopft  ans  Fenster,  ich  öffne  neugierig,  da  langt  plötzlich  eine 
braune  Hand,   ein  Arm   herein,   an   dessen  Ärmel  ich    die  mili- 
tärischen   Aufschläge    und   Knöpfe    wahrnehme.     Ehe    ich    mich 
umsehe,  werde  ich  hinausgezogen.  Unter  dem  militärischen  Mantel 
geborgen,  an  der  Brust  eines  Mannes  liegend,  den  ich  fest,  fest 
umklammere,  so  daß  ich  mein  und  sein  Herz  zusammen  schlagen 
höre,  werde  ich  eilenden  Schrittes  davongetragen.   Dazu  höre  ich 
den  Säbel  klirren,  empfinde  den  festen  Tritt  der  derben   Stiefel 
und  den  Ledergeruch,  den  sie  ausströmen.    In  eine  Hütte  tief 
im  Walde  bringt  mich  der  Gendarm,  er  legt  mich  in  «ein  Bett, 
küßt  mich  und  legt  sich  dann  mir  zur  Seite,   ich  klammere  mich 

fest  an  ihn  —  und  bin  endlos  glücklich,  selig. Resultat 

dieser  Phantasien  waren  die  Träume,  in  denen  sie  fortgesponnen 
wurden,  wobei  ieh  zum  erstenmal  Pollutionen  hatte,  bei  denen  ich 
stets  erwachte  und  entsetzt  war  über  die  merkwürdige  Erschei- 
nung, die  ich  für  eine  Krankheit  hielt. 

Schließlich  verspürte  ich  ein  riesiges  Verlangen,  diese  Phan- 
tasien zu  verwirklichen.  —  Abends  wenn  es  bereits  dämmerte, 
versteckte  ich  mich  im  Walde  hinter  einen  Busch  an  der  StraUe 
auf  welcher  der  Gendarm  vorbei  kommen  mußte.  Wie  klopfte 
mein  Herz,   wenn  ich  seine  Schritte  hörte      Oft  ging  er  so  nahe 


—    59    — 

vorbei,  daß  ich  nur  meine  Hand  hätte  a 
um  seine  Füße  zu  berühren  —  aber  ich  tat 
in  einer  Art  Starrkrampf  lag  ich  da,  mit  gei 
der  Hoffnung,  er  würde  mich  entdecken,  unter! 
und  mit  mir  davon  gehen  —  wie  im  Traumj 
unendlichen  Kummer  nie  geschah,  gab  ich 
suche  schließlich  auf  und  tröstete  mich  in 
Meinen  Angehörigen  teilte  ich  nie  etwas  vi 
und  Gefühlen   mit   —    nicht  weil  ich   etw 
glaubte,  aber  doch  wohl,  weil  ich  mir  schon 
werde  bewußt  gewesen  sein,  etwas  zu  empi 

selber  verständlich  war. 

Ein   anderes  Erlebnis   steht  lebhaft  in 
Es  ist  ein  wolkenloser,  sonnig  klarer  Herbstti 
ist  geschnitten  und  liegt  in  schimmernden  Garfi 
pelfelde.    Das  Laub  der  Bäume  in  den  Alleen  A 
mert  gelblich,  rötlich,  und  in  der  Ferne,  voml 
bis  in  die  hellsten  Schattierungen  des  Blau,  dei 
sich  verlierend,  die  endlosen  Wälder  meiner  Heim 
sind  auf  der  Jagd  nach  Feldmäusen,  die  wir  unt 
häufen  hervorscheuchen.    Da  ein  heller,  schallend^ 
aufhorchen  macht  —  und  in  der  Richtung,  wo  e| 
bhtzt  und  glitzert  es.    Die  Musik  wird  lauter  — 
und  Funkeln,  das  auf  der  Landstraße  näher  um 
ist  ein  Trupp  Soldaten  mit  blinkenden  Säbeln  im 
biegen  sie  von  der  Straße   ab  und  marschieren 
die  sich  längst  dem  Felde  hinzieht,   auf  dem  wir 
Den  Soldaten   voran  marschiert  ein   Offizier,  der  i 
in  meinem  Leben  gesehen.  —  Er  ist  groß  und  kräi 
dem    Schnurrbart   und   blauen,    froh  leuchtenden 
Bewegung  an  ihm  ist  Kraft  und  Leben  und  Freude 
als  wäre  er  die  lustige  Militärmusik,  die  ich  hörte,! 
der  klare  wolkenlose  Himmel  und  die  reine,  köstlich! 
die  mich  umgab.   Es  überkommt  mich  ein  Gefühl  gro\ 
Freude,    ein    Gefühl   edler  Taten-  und  Schaffensfreul 
zugleich  eines  schrecklichen,  mich  erstickenden  Sehn| 
ich  unwillkürlich  die  Hände  emporstrecke  —  und  dani} 
beginne  —  mir  selber  nicht  bewußt  warum.  —  Die  andei 
waren  den  davonmarschierenden  Soldaten  nachgelaufen, 
unbeachtet  geblieben.  —  Zu  Hause  angekommen,  erfut 
der  Offizier  unser  Gast  war.  —  Aus  welcher  Veranlass^ 
sich   der  kleine  Trupp  Soldaten  in  unsere   weltentleg« 


—    60     — 

einsamkeit  verirrt  hatte,  vermag  ich  heute  nicht  zu  sagen.  —    -- 
Im  Vorhanae  entdeckte  ich   den  Säbel  und  Mantel  de*  ofiizi»  m. 
Ich   konnte   der  Versuchung  nicht   widerstehen,   den   Silin* l    zu 
befühlen,  und  meinen  Kopf  in  den  Mantel  zu  stecken,  wobei   mir, 
mit  den  peinlichsten  Erektionen  verbunden,  deutlich  die  Stent»  auf 
dem  Felde  vor  Augen  stand.  —  Bei  Tisch,    wo  ich  kaum  mrine 
Augen  zu  erheben  wagte,  fesselten  die  strammen  Beine  un»«'re* 
Gastes   meine  Aufmerksamkeit.    Ich   hätte   diese  Beine,   in    <l«r 
kleidsamen  Uniform  sitzend,  umarmen  und  drücken  mögen.    Beim 
Abschiede  hängte  mir  der  Offizier  ein  goldenes  Kreuzcheo,    an 
einer  braunseidenen  Schnur,  um  den  Hals.    Ich  war  daiiialn,  wie 
wenigstens  meine  älteren  Geschwister  behaupten,  ein  au*nehmen<i 
hübscher  Junge.  —  Das  Geschenk  machte  mich  selig.   Man  Melle 
sich  daher  meinen  Schmerz  und  meine  Wut  vor,  wie  meine  streng 
orthodoxe,  evangelisch-lutherische  Mutter  mir  verbot  das   Kreuz 
zu    tragen,     weil    es    ein   nach    griechisch-katholischem    Muster 
geformtes  war,  und  es  mir  einfach  fort  nahm.    Ich  heulte,   aber 
was  half  es!    Noch  Jahre  ist  der  Besitz  dieses  Kreuzes  das  höchste 
Ziel  meiner  Wünsche  gewesen,  ja  ich  ging  sogar  einmal  mit  dem 
Gedanken  um,  den  Schreibtisch  meiner  Mutter  zu  erbrechen,  um 
mich   so  in   den  Besitz   des  Heiligtums   zu  bringen.     Aber    die 
Jahre  vergingen,  und  das  Kreuz  ist  in  Vergessenheit  geraten. 

4.  Mein  Vater  las  und  studierte  viel,  zum  Landwirt  war  er 
garnicht  geeignet.  Störungen  liebte  er  garnicht.  Wenn  wir  zu 
laut  wurden,  und  dann  sein  Befehl  „Ruhe-  bis  in  die  Kinderstube 
drang,  wurden  wir  sofort  vor  Schreck  mäuschenstill.  Wir  mieden 
die  Zimmer,  in  welchen  er  sich  aufhielt,  tunlichst  und  waren  ihm 
eigentlich  stets  merkwürdig  fremd  geblieben.  Um  mein  Seelen- 
leben hat  er  sich  nie  recht  bekümmert.  Mein  weibliches  Weaen, 
meine  mädchenhaften  Eigenheiten  entgingen  selbstverständlich 
ihm  ebensowenig,  wie  Anderen.  „Der  Junge  ist  das  richtige 
Mädel",  äußerte  er  sich  zu  meinem  Ärger  oft  Fremden  gegenüber. 
Mit  Zinnsoldaten  spielte  ich  nur,  weil  ich  als  Junge  doch  eigent- 
lich mußte.  Das  war  der  Beginn  meines  Urningschicksals:  im 
Leben  stets  Komödie  spielen  zu  müssen,  beständig  etwas  Anderen 
vorstellen  zu  müssen,  als  man  in  Wirklichkeit  gern  möchte. 

Am  liebsten  stellten  meine  Schwester  und  ich  erwachsene 
Herren  und  Damen  dar.  Meiner  Schwester  imponierten  die 
schwarzen  Husarenoffiziere  der  Garnison,  die  ständige  Besucher 
unseres  gastlichen  Elternhauses  waren  und  sich  manchmal  auf 
Bällen  den  Scherz  machten,  die  kleine  Dame  zu  einer  Extratour 
zu    engagieren.    Sie    umgürtete   sich   mit    einer    Elle    als  Sähel, 


— ■    61    — 

stülpte  einen   ausrangierten,   altmodischen 
den  Kppf,  machte  sich  aus  Blumendraht  ei 
den  Herrn  Leutnant  vor.  —  loh   entlehnt« 
eine  gebrauchte  Küchenschürze,  die  ich  verkl 
Schleppe   zu   markieren,   hing   mir  Mamas 
setzte    den  Gartenhut   meiner  Schwester,    di 
Fliederzweig  oder  eine  dem  Gärtner  entwend 
zu  geben  suchte,  kokett  auf  den  Hinterkopf,  u: 
für  die  „Stirnlöckchen"  zu  haben,  und  bildet 
sehr  schöne   und  vornehme  Dame   zu   sein, 
haben  heute  wieder  ganz  wun-der-bare  Toilette^ 
dann   meine  Schwester,   die   Hacken  zusamme] 
Herr  Leutnant,  es  ist  nur  ein  ganz  einfaches 
meiner  Meinung  nach  sehr  distinguiert  die  Auj 
indem   ich   die    Kattunschleppe    meiner    imagi 
möglichst  graziös  aufraffte  und  mir  mit  einem  gr< 
welches  den  Fächer  vorzustellen  hatte,   KtihlunL 
ich  in  der  Stadt  zur  Schule  kam,  fingen  meine  1 
Ein  nicht   normal   veranlagtes  Kind  sollte  man 
Schablone   erziehen.    Für   mich  hätte  ein   einsicl 
lehrer  ein  Segen  sein  können.    Das  Gymnasium,  zri 
ich  fortan  zählen  sollte,    war  für   mich  —  in  den 
wenigstens  —  einfach   eine    Marter.     Wenn    man 
schüchternes  Mädchen  in  eine  Klasse  von  40  bis  50 
steckt,   wird  es  sich  unter  diesen   sicher  nicht  behl 
und  es  hat  doch  wenigstens  den  Vorteil  voraus,  gl 
als  andersartig  gekennzeichnet  zu  sein.    Ich  arme, 
liehe  Mädchenseele  im  Knabenkörper,  befand  mich 
inmitten  eines  halben  Hundert  derber  Großstadt)  ungei 
große  Hoffnungen   auf  die  Schule,   angenehme  Lehrei 
Mitschüler  gesetzt;  ich  sollte  gräßlich,  enttäuscht   we 
all  den  Jungen  hätte  ich  nicht  einen  zum  Freunde  hat 
ebenso   hätte  sich  wohl   ein  Jeder  von   ihnen  für  mei^ 
schaft  bedankt.  Wir  waren  gar  ^u  verschieden  geartet  \ii\ 
Mein    Lehrer    war    ein    Mensch,    der    gern    durcl. 
Scherzchen  über  meine  Zimperlichkeit  den  Hohn  meiner  a 
die  ohnedies   zu  Hänseleien   nur  zu  sehr  geneigt  waren 
forderte.    Zimperlich  war  ich,  das ,  steht  fest,  heute  muß  i 
darüber  lachen.    Als  ein  Beweis  meiner  tibergroßen  Schill 
keit,  die  vielleicht  durch  meine  Veranlagung  bedingt  wi 
erwähnt,  daß  ich  es  Jahre  lang  nicht  über  mich  gewinnen- 
den gemeinsamen  Abort  zu  benutzen. 


r>2    — 


Mit  einigen  meiner  Mitschüler  wurde  ich  genauer  Im1umi(. 
Für  einen  schönen  Polen,   ein  Bild   von   einem  Mcnnchen,    inter- 
essierte ich  mich  sehr;  er  war,  wenn  iche*  recht  bedenke.  m»-ixir 
erste  Liebe.    Küssen  durfte  ich  ihn  bei  allen  möglichen  Anlagen 
ohne  Auffälligkeit,  da  es  ja  bei  den  Polen  sehr  üblich  ist.     Ich 
machte  ihm  kleine  Geschenke,  erwies  ihm,  so  oft  es  anging.  Auf 
merksamkeiten,  nm  wieder  geküßt  zu  werden;  zu  meinem  Leid- 
wesen tat  er  es   ganz  leidenschaftslos.    Er    war  jünger   al*   ich. 
und  meine  Klassen kollegen  verdachten  e*  mir  »ehr,   daß  ich  mit 
dem  Jnngen  umging  und  sie  vernachlässigte.     Meine  Neigung  «  ar 
so  groß,   daß  ich   mir  nichts  daraus    machte    nnd  die  rnlirhen»- 
würdigkeiten,  die  das  im  Gefolge  hatte,  willig  ertrug.     Kr  l»«uii 
die  den  meisten  Polen   eigene  oberflächliche    Liebenswürdigkeit : 
sehr  tief  war  seine  Neigung  zu    mir  nicht,    es  schmeichelte  ihm, 
von    dem  Schüler  der    oberen  Klasse    bevorzugt    zu   »ein.     Ge- 
schlechtliche  Annäherungen    haben    weder    mit   ihm,    noch    mit 
anderen  Schülern  stattgefunden ;  ich  ergab  mich  stillen  Ergüssen. 
Als  ich  meinen  Adonis  nach  Jahren  wiedersah,  hatte  er  viel  \ « m 
seiner  Schönheit    eingebüßt,   war    ein   großer   Mädchenjäger    ge- 
worden und  litt  an  einer  Geschlechtskrankheit 

Bemerkenswert  ist  noch  ein  Traum,  der  ganz  homosexueller 
Natur  war,  obgleich  ich  damals  von  gleichgeschlechtlicher  Lieb«» 
nicht  die  geringste  Ahnung  hatte.  Dieser  Traum  ist  für  mich  «1er 
untrüglichste  Beweis,  daß  mein  Urningtiim  angeboren  ist:  Einer 
meiner  Lehrer,  ein  hübscher,  unverheirateter  Herr,  war  mein  Ideal. 
Bei  ihm  hatten  wir  Geographie  und  Geschichte,  meine  Lieblings- 
fächer.  Um  ihm  zu  gefallen,  bereitete  ich  mich  für  seine  Stunden 
mit  der  größten  Sorgfalt  vor  und  blieb  selten  eine  Frage  schuldig. 
Von  ihm  träumte  mir  nun,  und  zwar  so  lebhaft,  daü  ich  noch 
beim  Aufwachen  das  deutliche  Gefühl  davon  hatte,  er  läge  bei 
mir  im  Bett.  Der  Traum  war  ungeheuer  wollüstig  und  bewirkte 
eine  Ejakulation.  Ich  mußte  sehr  oft  daran  denken,  sprach  «her 
zu  Niemandem  davon,  weil  ich  mich  schämte.  Als  ich  nach  dem 
Abiturienten-Examen  bei  ihm,  der  mir  in  der  letzten  Zeit  keinen 
Unterricht  mehr  erteilt  hatte,  meine  pflichtschuldige  Visite  machte, 
küßte  er  mich  glück  wünschend  und  abschiednehmend  auf  die 
Stirn.  Dieser  Kuß  erregte  mich  so  stark,  daß  ich  an  mich  halten 
mußte,  ihm  nicht  um  den  Hals  zu  fallen.  Heute  bedaure  ich,  es 
nicht  getan  zu  haben;  ich  glaube,  er  hätte  mir  meine  Dreistigkeit 
verziehen. 

Die  letzten  Schuljahre    waren  besser   als  der  unglückselige 
Beginn.    Meine  Zeugnisse    waren    befriedigend,   und    die  Lehrer 


lobten  mein  musterhaftes  Betragen  —  ein  1 
nie    gewesen.    Während   der  letzten   drei  4 
Primus  und  meine  Mitschüler  gestanden  mir  ä 
eine   gewisse  Autorität  zu.    Ich  konnte   also! 
alles  gut!"    Diese  Vergeltung  war  mir  dasScrn^ 
der  vielen  vorherigen,  ich  kann  wohl  sagen  —  ui 
die  mir   die  Kindheit  vergifteten,   schuldig.    I 
die  Leiden  der  Knabenzeit   auf  mich  machten,! 
daß   ich  selbst  jetzt   noch,    „im 


bangen  Schulträumen  heimgesucht  werde;  ich  ei 
um  dann  aufzuatmen  mit  dem  erhebenden  Bewii 
Kümmernisse    zum  Glück    längst    nicht   mehr 
angehören.  \ 

Von  hohem  psychologischen  Interesse  ist! 
Schilderung: 

Ich  habe  mein  Leben  lang  ein  so  zartes  S 
sessen,  wie  es  nur  wenigen  Menschen  eigen  zu  sein 
Schamgefühl  äußerte  sich  spontan  und  unwillküri 
allein  dem  männlichen  Geschlecht  gegenüber.  Mi 
über  befliß  ich  mich  zwar  gleichfalls  eines  züchtig« 
haften  Benehmens,  aber  ich  befliß  mich  desselben  eb< 
einem  Gebot  der  Sitte,  es  war  nicht  ein  natürlicher 
dem  ich  mich  angetrieben  fühlte.  Noch  erinnere  ich 
daran,  wie  einst,  als  eine  Blatternepidemie  ausgebroc) 
Arzt  erschien,  um  in  der  Schule  zu  impfen.  Die  Kn 
die  Böcke  ausziehen  und  den  Hemdärmel  zurückschlage! 
war  ich  nun  völlig  empört  und  ich  wollte  heim! 
schleichen.  Ich  gab  meinen  Unwillen  und  meine  Befa] 
so  deutlicher  Weise  kund,  daß  ich  dem  Lehrer  auffiel, 
befragt,  äußerte  ich,  daß  ich  mich  vor  den  anderen  Kn 
mit  entblößten  Armen  sehen  lassen  wollte.  Es  nutz) 
nichts,  ich  mußte.  Aber  als  ich  an  die  Reihe  kam,  bri 
Gesicht  mir  heiß  vor  Scham  und  das  Herz  pochte  mir  h< 
Aufregung.  Hätte  ich  mit  den  Mädchen  zusammen  mich  e\ 
müssen,  es  wäre  mir  vollständig  gleichgiltig  gewesen, 
nicht  die  leiseste  Spur  irgend  eines  Gefühls  der  Unlust 
Scham  in  mir  wahrgenommen.  So  aber  ging  ich  nach  be 
Impfung  gekränkt  und  in  meinem  kindlichen  Gemüt  aufsl 
verletzt  von  dannen.  —  Ich  hätte  um  alles  in  der  Welt  t 
mit  anderen  Knaben  zusammen  gebadet  oder  mich  auch  n 
offenem  Hemd  vor  ihnen   gezeigt.    Ich    hatte    deshalb   vu 


fl 


—    64     — 

meinen  Kameraden  zn  leiden  and  wurde  oft  bis  aur  rn<*rträfrlirhkt-it 
geneckt    Aach   am  Gymnasium  ging  es  mir  nicht   vi«»l    t>«4»»«r. 
Als  einst  der  Religionslehrer  vom  heiligen  Aloysius  erzählt««  und 
erwähnte,   daß  dieser  es  nicht  einmal   über  sich   gebracht    ln»l»«\ 
barfuß   vor  irgend  jemand    sich   sehen    su   lassen,   da  gm*  «in 
kicherndes  Gemurmel  durch  die  ganze  Klasse,  aus  dem  drutluh 
mein  Name   herauszuhören   war,   und   von    den    verschieden» t<-n 
Seiten  richteten  sich  die  Blicke  auf  mich.    Am  Schluß  der  Stund«* 
traten  einige   besonders   übermütige  Jungen  an  mich  heran    und 
apostrophierten  mich:    „Heiliger  Aloysius,  bitt  Air  uns!44  —  AU 
einst  in  die  Wand  zwischen  dem  Abort  unserer  Klasse  und  dem 
eines  anderen  Kurses  der  Unterhaltung  wegen  ein  Loch  gebohrt 
worden  war,  wagte  ich  zwar  nicht  Anzeige  zu  erstatten,   da  ich 
dabei  verlacht  zu  werden  fürchtete,  aber  ich  nahm  nun  stet*,  wu* 
für  ein  Bedürfnis   ich    auch   zu    befriedigen   haben   mochte,    ein 
Blatt  Papier  und  eine  Stecknadel  mit  mir,  so  lange,  bis  das  Loch 
vom  Schuldiener  bemerkt  und  Abhilfe  geschaffen  worden  war.  — 
Als  ich  zum  ersten  Mal  —  ich  war  etwa  16  Jahre  alt  —  vou  den 
Sitten    und   Gebräuchen    der  Kaserne    erzählen    hörte,    war    ich 
darüber  so  entrüstet,  daß  mich  ein  völliger  Haß  gegen  den  ganzen 
Militarismus  erfaßte.     Ich  erblickte  in  ihm  eine  Negation  meiner 
Natur  und  meines  Empfindens,  einen  Hohn   auf  meine  Gefühle. 
Und  ich  bin  seither  dem  Militarismus  nie  wieder  hold  geworden. 
Der  Tag,  an  dem  ich  mich  selber  stellen  mußte  —  ich  war  nur 
einmal  dazu  genötigt  —  ist  mir  einer  der  qualvollsten  meines  Indiens 
gewesen.     Dagegen  empfinde  ich,   wie   gesagt,   dem    weiblichen 
Geschlecht  gegenüber  nichts,  was  über  ein  bloßes  Anstandsgefühl 
hinausginge.    Ein  eigentliches  Schamgefühl  dem  Weib  gegenüber 
kenne  ich  nicht    Es  ist  mir  vollkommen  fremd. 

Diese  lebenswahren  Schilderungen,  herausgegriffen 
aus  einer  größeren  Anzahl  ähnlicher,  gewähren  einen  höchst 
wertvollen  Einblick  in  die  Psychologie  der  urnischen 
Kindesseele. 

In  der  Reifezeit  zeigen  sich  bei  urnischen  Knaben 
und  Mädchen  allerlei  von  der  Norm  abweichende  Er- 
scheinungen. Der  Stimmwechsel  tritt  oft  überhaupt  nicht 
ein,  manchmal  erstreckt  er  sich  über  eine  lange  Zeit,  nicht 
selten  macht  er  sich  verhältnismäßig  spät  mit  19  oder 
20  Jahren  bemerkbar;  sehr  viele  haben  nach  der  Mutation 


noch  die  Neigung,  Sopran  oder  Fistelst 
andere,   die  nicht  mutiert   haben,   sind\ 
methodische  Übungen  ihr  Organ  wesentl 
So  berichtet  W.  v.  S.,  ein  ganz  hervorra; 
sänger  (mit  Tenorqualitäten),  dessen  Bild  il 
Damentracht  wir  beifügen1):  „Meine  Stim^ 
merklichen    Umschlag    oder   Übergang    g 
Jahren   konnte    ich    Sopran    singen,   und  \ 
heute  (30  J.),  tiefere  Sprech-  und  Singtön4 
durch  Schule  und  Übung  erlangt.*     Währ 
größerung   der   Stimmbänder  ausblieb,  veri 
während  der  Reife  um  so  mehr  die  Brüste,  <\ 
wie  ich  mich  durch  Inspektion  und  Palpatio\ 
einen    vollkommen     weiblichen    Charakter    \ 
werden  junge  Urninge  wegen  ihrer  hohen  m 
geneckt,     so    schreibt    ein    urnischer    Arbeit^ 
Stimme  ist  nicht  gebrochen,  man  nannte  mich  \ 
kreisen   mit    19    Jahren    wegen    meiner    helld 
„Gretchen."     Bei    vielen   bleibt  die  Stimme   d 
liehe  Kraft.     Urnische  Mädchen   bekommen  zil 
Pubertät    oft   eine   tiefere  Stimmlage.     Ich   M 
derartigen  Fall,    wo  ein  Spezialarzt  für  Halskr^ 
weil  er  Kehlkopfkatarrh  annahm,  mehrere  Monat* 
Eine  urnische,  jetzt  25jährige  Journalistin  bericti 
der  ßeifezeit  trat  der  AdamsapfeJ  stärker  bei  m\ 
Ich    bekam    eine    Singstimme,    die   sich    nur   bi^ 
zwischen  der  dritten  und  vierten  Linie  erstreckt, 
das  tiefe  c  des  Basses   umfaßt.     Ich   pflege  Lie^ 
anderes  stets  in  der  tieferen  Oktave  des  Soprans, 
Tenor    zu   singen.     Man   sagt  allgemein,    ich   hättl 
einen  Tenorklang."     Der  Bartwuchs   stellt  sich  bd 
sehen  Jünglingen   oft  sehr  spät,  oft  auch  recht  sj 
und   ungleich    ein.       Dagegen    ist   ein    hie    und    ä 


J)  Siehe  Tafel  1  in  Anlage. 

Jahrbuch  V. 


—  es  — 

Schmerzhaftigkeit     verknüpfte    An*chw 

zur  Reifezeit    i  in    bei   urnincbeii   KnaU» 

seltenes  Vorkommen,  während  hingegtO 

recht  häufig  sehr  mangelhafte  lirustentwi 

Bei    ti mischen  Knaben    weheint    mir   en 

ein  besonders    Üppiger    an    da»   Weib   ei 

des  Haupthaares  vorzukommen,  hingegen 

hebaarung  iirnischer  Knaben    oft  fem  in 

Mädchen   oft   virile  Anklänge  auf.     V% 

Störungen    findet    man    bei    tiroisch»  OB  B 
mäßig   häufig  Migräne    und  Chlor 

von  denen  sonst    mit   Vorliebe   das    wei 

heimgesucht  wird. 

'■• 

Sind    diese    letztgenannten    Zeichei 

1 

nicht  in  jedem  Fall  nachweisbar,  und  U 

i 

auch  nicht  mit  unbedingter  Sieh  er  hei  t  i 
Empfinden   schließen,   so   wird    die    Dia 
mit   den    vorher   geschilderten     psycho 
doch  eine  völlig  sichere. 

Ich  habe  wiederholt  her  10  bis   14 
die   Diagnose    Uranismus    gestellt.     So 
eine    Mutter    mit    einem      12jährigen 
Migräne  litt,    sehr  schreckhaft  war  un»! 
wurde  von  seinen  Mitschülern,  an  derei 
nicht  beteiligte,  viel  gehäuselt,  war  am 

Cousine    zusammen  und  hesatt    einen    F 
der  Sommerfrische  kennen  gelernt  hatte 
täglich  korrespondierte.     Er  liebte  hesoi 

Musik,  dagegen  konnte  er  Mathematik 

^^^^^■H 

Die  Untersuchung  des  bei  großer  Liebem 

ordentlich  schamhaften  Knaben    ergab 

( 

unentwickelten  Genitalapparat,  der  Pcnü 

4  jährigen  Kindes,  dagegen  zeigte  sicLi  e 

^^si 

der  Mammae  wie  bei  Mädchen  im  Beg 

y^ 

Ich  stellte    die  Diagnose  auf  Uran  Um  u 

I 


Eltern    entsprechend   auf.     In   diesem    ui 
Fällen  ist  die  Zeit  noch  zu  kurz,  sodaß  eil 
Bestätigung  ermangelt.     Dagegen  habe  ichi 
18jährigen    ausgesprochen    homosexuellen  \ 
bereits     vor    4    Jahren ,    ehe    derselbe    ei 
Uranismus   diagnosticieren    können.      Noch 
Beobachtung    gehört    hierher.      Ich    erinnd 
meiner    Gymnasialzeit    an    einen    Knaben,  \ 
Mitschülern    „ Mieze*    genannt    wurde.      N^ 
femininen  Eigenschaften  besaß  er  eine  besoi 
fertigkeit  im  Kochen  und  der  Verwendung 
die   er  Papierpuppen   sehr   geschickt  aufnäh! 
der  vorjüngste  von  sieben  Geschwistern,  meiste 
die  alle  dieselbe  strenge  Erziehung  genossen, 
wurde,  als  der  Sohn  in  Quarta  war,  versetzt 
mir  dieser  Mitschüler  völlig  entschwunden,     i 
Zwischenstufen-Studien   fiel  er  mir   ein  und  i{ 
nach    mehr    als    20     Jahren,    was    aus    ihm  \ 
sei.      Ich    erfuhr,    daß    er    Damenhutmacher  \ 
geblieben  war  und  seit  Jahren  ein  anscheinend  s^ 
Verhältnis  mit  einem  von  ihm  überaus  verehrtet 
hatte,  auch  lagen  andere  Anzeichen  vor,   die   ül 
Geschlechtszugehörigkeit  keinen  Zweifel  ließen, 
urnischen  Kinde  war  ein  homosexueller  Mann    g 
mit  derselben  Naturnotwendigkeit,  mit  der  sich  \ 
Normalkinde  ein  heterosexueller  Mensch  entwicfc 


IL  Das  Hartnonische  der  urnischt 
Persönlichkeit. 

Es  spricht  ganz  außerordentlich  für  das  Angebot 
einer  Eigenschaft,  wenn  diese  mit  der  ganzen  Persfc 
keit    aufs   innigste    verknüpft   ist,    mit   ihr    in   völj 
Übereinstimmung    steht,    sozusagen    aus    der    Tiefq 
ganzen  Individualität  emporsteigend  mit  elementare! 


—    68    — 

walt  hervorbricht.  Das  ist  bei  der  Homosexualität  in 
höchstem  Grade  der  Fall.  Wären  die  gleichgeschlechtlich 
Empfindenden  körperlich  und  seelisch  in  Nichts  vom  weib- 
liebenden Mann  unterschieden,  wären  sie  dieselben  kraft- 
voll erobernden,  selbstbewußt  berechnenden,  mutig  wollen- 
den Menschen,  wären  die  homosexuellen  Frauen  die 
gefühl-  und  stimmungsvollen,  anschmiegenden,  zurück- 
haltenden, von  Kindessehnsucht  und  Mutterliebe  erfüllten 
Wesen,  die  Gegner  hätten  Recht:  diese  Menschen,  die 
zu  einer  Wiederholung  ihrer  selbst  Neigung  verspürten, 
böten  etwas  Disharmonisches,  Monströses  dar.  Es  gereicht 
der  Menschheit  zur  Ehre,  daß  ihr  so  kraße  Inkonsequenzen 
nicht  eigen  sind,  der  Mann,  der  Männer  liebt,  die  Frau, 
welche  Frauen  begehrt,  sind  nicht  Männer  und  Frauen 
im  landläufigen  Sinn,  sondern  ein  anderes,  ein  eigenes, 
ein  drittes  Geschlecht.  Naturgesetze  werden  durch 
mangelndes  Natur  Verständnis  nicht  Naturwidrigkeiten, 
eine  Erscheinung,  deren  Sinn  wir  nicht  erfassen,  ist  darum 
noch  nicht  sinnlos,  so  wenig  etwas,  dessen  Zweck  uns  nicht 
klar,  zwecklos  ist.  Bei  der  Beurteilung  eines  Naturrätsels 
dürfen  wir  uns  freilich  nicht  an  Teile  halten,  sondern 
müssen  das  Ganze  zu  ergründen  suchen,  ein  körperlicher 
Teil  kann  irreleiten,  das  psychische,  dessen  Bedeutung  in 
unserer  materialistischen  Zeit  so  sehr  unterschätzt  wurde, 
bringt  uns  dem  Ding  aii  sich  schon  näher.  Martials 
Pentameter,  „pars  est  una  patris,  caetera  matris  habet/  nur 
ein  Teil  ist  männlich,  alles  übrige  weiblich,  paßt  auch 
noch  heute  auf  sehr  viele  Menschen.  Wenn  man  auch 
diesen  Teil  als  den  Geschlechtsteil  xar  e^o^v  bezeichnet, 
so  bleibt  er  doch  immer  nur  ein  Teil.  Die  Auffassung 
mancher  Gelehrter  über  die  Geschlechtszugehörigkeit  einer 
Person  erinnert  lebhaft  an  den  Vorschlag,  den  ich  als 
Sachverständiger  vor  Gericht  wiederholt  von  Laien  hörte, 
man  möchte  doch  den  Menschen,  die  sich  gegen  §  175 
vergingen,    den  Penis    abschneiden,    dann    würden   sie  ja 


ganz  brauchbare  Bürger  sein.     Ich  erwicl 
täte    dann   besser,   ihnen   den  Kopf    abzii 
dieser,   nicht  das  membrum,    sei   der  Teil 
sündigten.*     Tiefer  in  den  Kern  der  Saci 
eine  Antwort,  die  ich  bei  einer  andern  Geric\ 
hörte,  zu  der  ich  als  Gutachter  zugezogen  \ 
Vorsitzende  die  Zeuginnen  fragte,  was  sie  \ 
Angeklagten  gedacht  hätten,  der  beschuldig}, 
belästigt  zu  haben,  welche  mit  ihnen  im  Dui 
gartens  den  Koitus    vollzogen,    entgegnete  \ 
stituierten    unter    großer   Heiterkeit    des    Q 
„Wir  glaubten,  es  sei  ein  Weib  in  Männergestä 
falls    können    die    primären  Geschlechtschara 
nicht  den  Ausschlag   geben,  das  Zentrum  ist\ 
wie    die  Peripherie;    da    es   mehr   als  zwei  G 
gibt,    ist    die  innere  Empfindung,  nicht  allein  \ 
Erscheinung  das  Entscheidende. 

Die    Äußerungen     dieser    inneren    Empfi 
schränken  sich  allerdings  keineswegs  auf  rein 
liehe  Handlungen.     Die  Sexualpsyche    im   wer 
beherrscht  mehr  oder  weniger  unbewußt  die  ganz 
führung  und  Geschmacksrichtung  einer  Person, 
auch    nicht   im    entferntesten   geahnten  Umfangt 
die  Schicksale  und  Werke  der  Menschen  ihre  gel 
volle  Hauptaxe  in  das  Geschlechtszentrum  hinein 
wir  bei  der  Beurteilung  und  Abschätzung  eines  Mi 
seiner  Sexualpsyche  mehr  Berücksichtigung  zu  Teil  \ 
lassen,    wir    würden    die  Gestalten  und  Geschehnis 
Weltgeschichte  ganz  anders  zu  verstehen  im  Stand 
wie   es   bisher    der  Fall  ist.     Mit  Recht  sagt  Niet\ 
„Grad    und   Art   der  Geschlechtlichkeit   eines  Men 
reicht   bis    in   den   letzten  Gipfel    seines  Geistes  hii 
und   der  Dichter  Przybyszewski   hebt    seine  Totenri 
(1893)  mit  den  gewichtigen  Worten  an:  „Ani  Anfang 
das  Geschlecht,  nichts  außer  ihm,  alles  in  ihm." 


—     70    — 

Deshalb  ist  es  auch  für  das  Verständnis  hoher  und 
führender  Menschen  von  so  unschätzbarem  Wert,  ihre 
Sexualpsyche  richtig  zu  erfassen.     Man  meine  doch  nicht, 

—  ich  bemerke  das  besonders  gegenüber  Fuld  —  daß, 
wenn  wir  in  diesen  Jahrbüchern  große  Geister  sexual- 
psychologisch analysieren,  damit  zwecklose  Indiskretionen 
begangen  werden;  so  fern  es  uns  liegt,  wenn  von  Bismarcks 
männlicher  Kraft,  von  der  Weiblichkeit  der  Königin 
Louise  die  Rede  ist,  an  heterosexuelle  Handlungen  zu 
denken,  ja  so  abstoßend  der  bloße  Gedanke  daran  ist, 
genau  so  niedrig  sollte  es  sein,  homosexuelle  Akte  im 
Auge  zu  haben,  wenn  von  Michelangelos  oder  des  großen 
Friedrich  Urningtum   gesprochen   wird.     Der  Betätigung 

—  das  kann  nicht  oft  genug  wiederholt  werden  —  ist 
nur  ein  ganz  untergeordneter,  höchstens  symptomatischer 
Wert  beizumessen  gegenüber  der  Gesamtheit  der  psychi- 
schen Sexualität. 

Wenn  wir  im  folgenden  von  der  Urningspsyche  eine 
Schilderung  entwerfen  wollen,  so  sind  wir  uns  voll  be- 
wußt, nur  ein  Schema  geben  zu  können.  Denn  ist  es 
schon  schwierig,  das  Charakteristische  der  männlichen 
und  weiblichen  Seele  klar  zu  fassen,  das  individuelle  von 
dem  gemeinsamen,  das  nebensächliche  vom  wichtigen  zu 
trennen  und  zu  unterscheiden,  was  vom  Geschlecht,  was 
vom  Alter  abhängig  ist,  was  Natur,  was  Kunst  bewirkte, 
so  erhöhen  sich  diese  Schwierigkeiten  ganz  ungemein  bei 
dem  Urning,  wo  der  innere  und  äußere  Zwang  ein  un- 
gleich größerer  ist.  Die  meisten  bemühen  sich,  wesent- 
liches in  ihrer  Natur  zu  unterdrücken,  anders  zu  erschei- 
nen, als  sie  sind;  viele  sind  stolz  darauf,  wenn  sie  ihre 
männliche  oder  weibliche  Rolle  so  gut  spielen,  daß  „ihnen 
keiner  etwas  anmerkt." 

Es  kommt  hinzu,  daß  die  Typen  Mann — Urning — 
Urninde — Weib  nicht  fest  normiert  einander  gegenüber- 
stehen, sondern  daß  es  naturgemäß  zwischen  diesen  auch 


-    71     -  \ 

wiederum   Übergänge    gibt.     Die    weiblicl 
die  in  jedes  Mannes  Geist  und  Körper  nal 
finden    sich    in  geringerem  und  höheren  G 
Summe    so  stark  ist,    daß  für  den  Gesehl© 
mehr   in  dem  Weibe,    sondern  in   dem  Jü^ 
gänzung  empfunden   wird.     Das  ist  die  Gt 
ab  wir  den  Mann  als  Urning  bezeichnen,  in  \ 
männlichea    und    weiblichen    Eigenschaften^ 
stark  auftreten,   bis    sie  ganz  allmählich,   in 
loser  Linie  über  das  urnische  Weib,  die  meli 
ger  männliche  Frau  zum  Vollweibe  führen.    \ 
also  Mann — Urning — Weib   als   drei  Geschieh 
getrennt  und  umgrenzt  gegenüberstellen,  so  % 
in    den    früheren   Fehler.      Wie    von    Mann  \ 
können  wir  auch  vom  Urning  nur  einen  Durchsei 
geben.  \ 

Wenn  wir  die  Wesenheit  der  reinen  Manlj 
der  Aktivität,  die  der  Frau  in  der  Passivität  zij 
haben,   so   läßt  sich  von  der  Urningsseele  sagei 
viel  aktiver,   wie   die  weibliche,  aber  nicht  so 
die  männliche   ist,   ferner,   daß    sie  viel  passiver^ 
männliche,  aber  bei  weitem  nicht  so  passiv  wie  i 
liehe  Psyche  erscheint.  \ 

Äußere   Eindrücke   wirken  auf  den  Urning 
stärker   ein,   als  auf  den   Mann,  sein  Gemüt   ist 
widerstandsfähig,  weicher,  empfindsamer,  dieBesti; 
keit  größer,  die  Stimmung  wechselnder.    Freude,  H<^ 
Begeisterung  heben  ihn  höher,  Schmerz  und  Leid  d 
ihn  viel  tiefer  darnieder.     Oft  besteht  eine  ausgesprl 
Neigung,   sich    Stimmungen  hinzugeben;  so  bericht 
Urning,  er  schlösse  sich  mit  Vorliebe  Leichenbegäng 
an,  um  weinen  zu  können. 

Demzufolge  treten  auch  das  Mitgefühl,   das  Mi 
die  Hilfsbereitschaft  stärker  hervor.     Der  erbitterte 
kurrenzkampf,  das  energische  Eintreten   für   gewöhn 


—    72    — 

Interessen,  das  Kriegführen,  Schießen  und  .lagen  liefen 
dem  Urning  im  allgemeinen  nicht,  auch   ist  der  Hang   *" 
verbrecherischen    Handlangen    —    selbstverständlich     zu 
wirklichen  Verbrechen  —   bei  ihm  gan«  außerordent- 
lich selten.     Zum    strengen  Vorgesetzten   ist    er   nicht 
recht  geeignet    Sehr  bezeichnend  ist  folgende  Schilderung 
eines  umischen  Offiziers:  „Meine  Leute  hatten  mich  gern  ; 
ein  junger  Rekrut,  dem  infolge  Blutvergiftung  der  Arm 
amputiert  werden  mußte,  wünschte  ausdrücklich,  daß  ich 
bei   der  Operation    zugegen  sein  sollte.    Der  Arzt  will- 
fahrte seinem  Wunsche;   ich   reichte  ihm  die  Hand  vor 
der  Narkose  und  so  schlief  er  ruhig  ein.     Nach  der  <  >pe- 
ration  verließ  ich  auf  kurze  Zeit  das  Krankenzimmer     - 
da  hörte  ich  vom  Nebenzimmer  aus  meinen  jungen  Rekru- 
ten, der  soeben  wieder  erwacht  war,  die  Worte  aussprechen: 
„Wo  ist  denn  mein  Leutnant?44     Sofort  erschien  ich  wie- 
der am  Krankenlager,    reichte  meinem  armen  Patienten, 
der  mich  traurig  anblickte,  die  Hand.     Ich   nahm  mich 
meiner  Rekruten  in  jeder  Weise  an,  die  Leute  gingen  für 
mich  durchs  Feuer,  vermied  übermäßigen  Drill,  war  stets 
in  der  Kaserne,  da  ich   am  Wirtshausleben  keinen  Heiz 
fand  —  so  fiel  die  Rekruten  Vorstellung  glänzend  aus  und 
dank  auch  meiner  guten  theoretischen  Kenntnisse  gewann 
ich  das  besondere  Lob  meines  Kommandeurs.* 

Man  kann  häufig  beobachten,  daß  in  exklusiven  Ver- 
bänden, namentlich  in  militärischen  und  studentischen 
Korps,  urnische  Mitglieder  wegen  ihres  höflichen,  ge- 
fälligen, aufopferungsfähigen  Wesens  anfangs  sehr  wohl 
gelitten  sind,  im  Laufe  der  Jahre  aber  Schwierigkeiten 
haben,  weil  sie  sich  nicht  in  die  strenge  Etiquette  fügen 
können  und  mit  Außenstehenden  freundschaftliche  Be- 
ziehungen anknüpfen.  Ebenso  erwachsen  ihnen  oft  auch 
mit  ihren  Familien  Unannehmlichkeiten,  weil  sie  in  Krei- 
sen verkehren,  die  diesen  nicht  standesgemäß  erscheinen. 
Die  Unterschiede   des    Standes,    der  Religion,  der  Rasse 


-     73     -  \ 

\ 

und  Nationalität  spielen   bei   dem  Urning 
ferntesten  die  Rolle,  wie  bei  dem  normale 
Er  besitzt  nicht  den  Stolz,  das  Selbstbe^ 
häufigen  Dünkel  des  Vollmannes.     Für  den^ 
begriff  fehlt  ihm  das  Verständnis.    Wohl  ist  \ 
und  leicht  verletzt,  aber  die  Fähigkeit  zu  hass 
abzugehen.     Er  ist  eben  nicht  das,  was  man  \ 
Kerl"  nennt.  Eine  Beleidigung  durch  eine  and 
zu  erwidern  ist  ihm  nicht  gegeben.  Findet  siel 
in    der  Grettissaga   (28)   der  kriegerischen  Y 
bezeichnende  Spruch;  „Der  Sklave    rächt  sici 
(d.  i.  der  Urning)   nie."     Weniger   aus  Feigh^ 
ihm    das  Gefühl    der  Rachsucht    mangelt,    zii 
lieber  zurück,  meist    ohne  Groll.     Immer  \ 
Verzeihen  geneigt,  oft  in .  zu  hohem  Maße  vers^ 
er  im  Gegensatz  zum  Weibe  gewöhnlich  weder  na^ 
noch  kleinlich.     Die  Gutmütigkeit  vieler  Urani« 
weit,  daß  es  ihnen  unmöglich  Jst,  eine  Fliege  umz 
Selbst  seinen  ärgsten  Feinden,  den  Erpressern  \m 
gegenüber,  bewahrt  der  Homosexuelle  ein  sympl 
Gefühl.     Was  von  Leonardo  da  Vinci  berichtet 
er  den  Lieblingen,  die  ihn  bestahlen,  nie  seine  Liebt 
klingt  durchaus  glaubwürdig.     Die  Großmut,  weli 
Urning  Feinden  gegenüber   zu  zeigen  imstande  ist 
geradezu    erstaunlich.      Freier   von  Vorurteilen    a 
Durchschnittsmann,  ist  er  meist  unfähig,  ein  hartes \ 
zu  fällen.  Alle  diese  Eigenschaften  befähigen  ihn  ung 
zum  Altruisten  und    Vermittler,   zum   Friedensstift^ 
Überwinder  sozialer  Gegensätze.     Dabei  beschränkt 
sein  philantropischer  Zug  fast  nie  auf  seine  Klasse* 
gar   seine  Familie,   sondern    geht   auf    die  große  ~Ml\ 
Ein  urnischer  Arbeiter  schreibt:  „Dort  wo  es  gilt,  1^ 
zu  erkämpfen,  wo  es  sich  darum  handelt,  die  schlumm 
den    Geister    aufzurütteln,    die   starre   Masse    eine    Si 
weiterzubringen   zur  Veredelung  und  Vermenschlicht 


—    74    — 

dort  bin  ich  der  höchsten  Begeisterung  fähig  und  möchte 
Schulter  an  Schulter  vorwärts  stürmen  mit  den  edlen 
Kämpfern  für  Wahrheit  und  Recht*  Ein  anderer  streng 
katholischer  Urning  aus  Arbeiterkreisen:  „ich  möchte  alle 
Menschen  glücklich  sehen,  alle  sollten  sie  die  Allmacht 
Gottes  preisen,  ich  möchte  ein  Bild  malen,  alles  in  Nebel 
gehüllt,  darüber  eine  leuchtende  Sonne,  die  mit  Gewalt 
die  Nebel  zerteilt."  Urnische  Fabrikbesitzer  geben  wieder- 
holt an,  daß  sie  einen  förmlichen  Drang  haben,  für  die 
ihnen  unterstellten  Arbeiter  zu  sorgen,  Wohlfahrts- 
einrichtungen zu  schaffen. 

Oft  fehlt  es  jedoch  an  Mut  und  Beständigkeit,  das 
gute  Vornehmen  in  die  Tat  umzusetzen.  Der  Wille  ist 
beim  Urning  durchaus  nicht  so  schwach,  aber  es  besteht 
daneben  vielfach  ein  beträchtlicher  Hang  zur  Bequemlich- 
keit und  Scheu  vor  der  Menschen  Gerede.  Jedenfalls 
zieht  ihn  im  allgemeinen  die  geistige  Arbeit  mehr  an  als 
die  körperliche.  Es  kommt  das  instinktive  Bestreben 
hinzu,  etwas  zu  leisten,  was  auf  Personen  desselben  Ge- 
schlechts Eindruck  macht,  sie  fesselt  und  erfreut.  Von 
vielen  wird  auch  die  Arbeit  als  große  Trösterin  empfunden. 
Der  Trieb,  andere  geistig  zu  befruchten,  ist  häufig  sehr 
ausgesprochen.  Es  resultiert  daraus  eine  bei  Urningen 
weit  verbreitete  Befähigung  zum  Pädagogen,  zum  Volk.s- 
erzieher  im  engeren  und  weiteren  Sinne.  Unterstützt 
wird  dieser  Drang  durch  den  mehr  oder  weniger  unbe- 
wußten Ehrgeiz,  sich  geistig  vor  der  Umgebung  auszu- 
zeichnen. Besonders  an  urnischen  Bauern  und  Arbeitern 
fällt  es  auf,  wie  sehr  sie  ihr  Milieu  überragen.  Mit 
diesem  Ehrgeiz  verbindet  sich  oft  starke  Empfänglichkeit 
für  Beifall  und  Bewunderung,  die  aber  fast  immer  in 
eigenartiger  Weise  mit  einer  gewissen  Bescheidenheit  und 
Scheu  verknüpft  ist.  Der  Urning  schafft  fast  stets  aus 
dem  Gefühl  heraus.  Das  zielbewußte,  verstandesgemäße 
Arbeiten  des   Mannes  ist  ihm  nicht   eigen.     Das  Zahlen- 


—    75    — 

gedächtnis  ist  vielfach  sehr  schwach,  Math 
Mehrzahl   geradezu    „ein    Gräuel"     Voren 
ihm  der  Trieb  zu  empfangen,  aufzunehmen, 
der  Empfängnis    heraus   formt  und  gestalte 
starken    Gefühlsleben    entsprechend    ist    d; 
Empfinden,     der     Sinn     für    schöne    Form* 
Kunst    und    im    täglichen  Leben    boehgradi 
In    erster  Reihe    steht    das  Verständnis    für 
ebenso  groß  ist  die  Freude  an  der  Plastik, 
an    der  Malerei    und    Architektur    anschließt 
Interesse    für    Schauspielkunst,  Litteratur,  E, 
ist   ein    lebhaftes.     Für    alle    „schonen  Kunst i 
Kochkunst    und   Kunststickerei   bis    zur  Bildi 
finden   sich    starke  Talente  im  Urning  tum.     I 
die  von  der  Sexualpsyche  abhängige  Gesohniac 
meist  eine  eigentümliche  Mischung  männlicher 
lieber  Tendenzen,  die  im  großen  und  kleinen  d 
Tage    tritt;    beispielsweise    ist    das    in  der  Kle 
Fall,  viele  halten  das  antike  griechische  Gewan* 
schönste,  ein  urnischer  Künstler  bemerkt:  „Ichs 
für  lange,  wallende  Gewänder,  trotz  der  Gewöhn; 
halben  Menschenalters    schäme  ich  mich  in  der 
liehen  Männerkleidung,    ohne    langen  Mantel  he* 
nie    die  Straße,    am    meisten    geniere  ich  mich  iL 
bei  Ausübung  meines  Berufs  auf  dem  Podium,  zi 
trage    ich    nur    schleppende    Gewandung."      Ein 
h.-s.   Künstler  äußerte  sich:  „Ich  liebe  Kleidung  » 
Geschlecht     nicht     erkennen     läßt,     weil     diese    i 
eigentlichen  Wesen  entspricht ."     Und  ein  urnischer ' 
bahnarbeiter  schreibt :  „Es  tut  mir  leid,  daß  der  Pek 
mantel   altmodisch    wurde.     Ein    schöner  Jüngling 
jedoch  stets  einen  glatten  Überzieher  tragen,"     Wir  \ 
noch   einen   eingehenden  Bericht  eines  31jährigen  lj 
sexuellen  Chemikers  folgen,  der  die  urnische  Geschmj 
richtung  charakterisiert:  „ Die  Vorliebe,  die    ich  als  } 


—    76    — 

für  Nähen  und  Sticken  hatte,  ist  glück licherwei>e  j?t*- 
schwunden.  Mein  Talent  zum  Kochen,  wozu  ich  al« 
Junggeselle  manchmal  gezwungen  bin,  wird  allerdings 
von  meinen  Freunden  sehr  gerühmt  Doch  wäre  ich 
ganz  froh,  wenn  es  mir  jemand  abnähme.  Wirkliche* 
Vergnügen  macht  es  mir  dagegen,  wenn  ich  Gäste  habe, 
alles,  Tisch  u.  s.  w.,  hübsch  anzuordnen  und  zu  schmücken. 
Blumen  habe  ich  von  jeher  sehr  geliebt  und  habe  großes 
Geschick,  Blumensträuße  geschickt  zu  arrangieren.  Von 
Sport  liebe  ich  nur  das  Bergkraxeln,  doch  entspringt  die» 
mehr  der  Freude  an  der  Natur,  ich  wandere  manchmal 
während  meines  Sommerurlaubs  wochenlang  allein  in  den 
Bergen;  das  gehört  zu  meinen  höchsten  Freuden.  Ein- 
samkeit bedeutet  für  mich  nicht  Langeweile,  ich  ziehe  sie 
der  Gesellschaft  nüchterner  Alltagsmenschen  und  Stumm- 
tischphilister vor.  Ich  interessiere  mich  sehr  für  Politik, 
namentlich  innere  Politik,  für  Theater  und  vor  allem  für 
Musik.  In  Theatern  fesseln  mich  sowohl  die  Klassiker 
als  auch  die  Modernen,  dagegen  langweile  ich  mich  in 
Lustspielen  h.  la  Bhimenthal-Kadelburg.  Ich  bevorzuge 
in  der  Kunst  überhaupt  im  allgemeinen  die  düstere 
Färbung,  doch  erfüllt  mich  auch  der  Humor  der  Meister- 
singer mit  sonniger  Freude.  Außer  für  Naturwissenschaft, 
speziell  Chemie,  die  ich  erwählt  habe,  fühle  ich  Neigung 
für  Philologie." 

Sehr  häufig  tritt  bei  dem  Uranier  eine  Vorliebe  für 
„neue  .Richtungen*  hervor.  Wenn  es  ihm  seine  Mittel 
verstatten,  unterstützt  er  gern  junge  aufstrebende  Künstler. 
Während  ihn  der  übliche  gesellschaftliche  Verkehr  mit 
den  Festessen,  Tischdamen,  dem  vielen  Trinken,  Hauchen, 
Kartenspielen  vielfach  abstösst,  liebt  er  die  ungebundene 
Geselligkeit,  wie  sie  sich  beispielsweise  in  dem  Treiben 
der  Böhfeme  sowie  oft  in  Wirtschaften  niederer  Gattung 
kundgiebt.  Er  geht  gern  auf  Abenteuer  aus,  liebt  es, 
immer   neues   kennen   zu   lernen,  ist   oft  sehr  reiselustig 


und  fast  nie  einseitig.  Un verhältnismässig 
interessieren  sich  deshalb  flir  Entdeckungsr 
künde,  Tiefseeforschungen. 

Daneben    findet  sich  ein  Hang  zum  Ai 
Sammeln   von   Büchern,   Kunstwerken   uud 
aller  Art.     Viele  Urninge   eignen   sich  dadt 
Zeit   eine  tiefe,  umfassende  Bildung  an,  wol 
gutes  Gedächtnis    und    ihre    leichte  Auffassu 
Hilfe  kommt. 

Hält    man  gewöhnlich  schon  eine  einzige 
genannten  Eigenschaften,  beispielsweise   die  n 
Befähigung,    für    angeboren,    um    wie    viel    m\ 
ganzen  in  sich  durchaus  nicht  disharmonischen 
der  von  der  männlichen  und  weiblichen  Natur  t 
abweicht   und  stets  mit  einer  gewissen  Kindlici 
knüpft  ist,  nicht  solcher,  in  der  wir  ein  Zurückgeb 
zu  erblicken  haben,  sondern  jenen  ungekünstelten, 
teren,  harmlosen,  offenen  Art,  welche  leider  so  oft  ui 
durch   die  Verhältnisse  beeinträchtigt   wird,  ind* 
den  Urning  mißtrauisch,  unwahr  und  verschüchtert 
Der  geschilderte   Komplex    befähigt    die  Urningi 
Kreise  besonders  auch  für  den  Dienst  iü  der  Dip 
Ein   aristokratischer  Gewährsmann,    über    dessen 
Würdigkeit  auch  nicht  der  leiseste  Zweifel  bestehe 
teilt   uns   mit,   daß   er  Homosexuelle   besonders  za 
in  der  Diplomatie  gefunden  hat,  am  meisten  in  Er 
dann  in  Rußland  und  Deutschland.     Derselbe  gibt 
folgende  interessante  Einzelheiten  :  „Persönlich  keni 
neun    deutsche    Prinzen    aus   regierenden  Häusern, 
aus  andern  souveränen  Staaten.     Aus  reichsunmittell 
Familien    sind    mir    14   bekannt.     Vier    Botschafter 
höchste  Hofbeamte   kenne  ich,  deren  Anlage  mir  hii 
Detail   bekannt   ist.     Mir  ist  ein  preußisches  Kavallt 
regiment    bekannt,   in    dem    neun    Offiziere    homosex 
sind.     Stets    fand   ich,    daß    es    fast    durchweg   reizei 


—    78    — 

intelligente  Menschen    waren,   die    viel  Interessen  hatten 
und  der  Menschheit  zur  Zierde  gereichten." 

Man  kann  leicht  konstatieren,  daß  der  Homo.-  .uelle 
in  den  Kreisen,  in  denen  er  verkehrt,  und  über  diese 
hinaus  meist  sehr  beliebt  ist  Als  vorzüglicher  Gesell- 
schafter ist  er  überall  gern  gesehen.  Schon  als  Kinder 
sind  sie  ihres  ruhigen  und  geschickten  Wesens  Siegen 
die  Lieblinge  der  Eltern  und  Geschwister.  Erst,  wenn 
den  Angehörigen  eine  mehr  oder  weniger  klare  Er- 
kenntnis ihrer  Abweichung  aufgeht,  macht  sich  eine  g  gen- 
seitige  Entfremdung  und  Verstimmung  geltend.  Vangt 
die  weitere  Umgebung  an,  allerlei  zu  vermuten  uhd  zu 
flüstern,  wird  der  an  sich  schon  ängstliche  Uranier  ver- 
bitterter und  scheuer.  Viele  Edeluranier  zieheri f  sich 
schließlich  ganz  in  die  Einsamkeit  zurück  und  'T^Vn 
gänzlich  isoliert  mit  ihren  Büchern  und  geistigen  V. 
essen,  vielleicht  auch  „mit  .einer  trauten  Seele,  ds 
versteht.*  Kommt  es  zum  Skandal,  ist  das  Ersta1.'  - 
der  Verwandten  und  heterosexuellen  Freunde  sehr  groß. 
Man  kann  das  Unfaßbare  nicht  glauben,  man  hielt  den 
so  zartbesaiteten,  hochgeschätzten  Freund,  der  fast  nie 
das  sexuelle  Thema  berührte,  für  „asexuell".  Schließlieh 
finden  sich  doch  allerlei  Anhaltspunkte,  die  für  die  Rich- 
tigkeit des  Unglaublichen  sprechen  und  man  enfoctz'    '<) 

über  diesen  Menschen,  dem  man  etwas  so  Gräßliches  

allerwenigsten   zugetraut  hätte.     Noch  ist  die  Geschfr1  * 
der    Urningsverfolgungen    nicht     geschrieben,    wie   V 
Geschlechter  ein   drittes  in   seinem   Heiligsten   zu   m     »- 
drücken  suchten,  aber  sie  wird  geschrieben    werden  und 
sich  als  einer  der  dunkelsten  Abschnitte  der  Menschheits- 
geschichte erweisen. 


Genau    so    wie  in    geistiger  Hinsicht 
wachsen e    Homosexuelle    auch    in    körperl 
eine  Xt>aige  Mischung  männlicher  und    weit 
Schäften  dar,    von  der  es  an    und  für   sich 
schlössen  ist,  daß  sie  künstlich  erworben  sein 
somatischen  Stigmata  sind  wie  die  psychisch« 
bald    weniger    deutlich    ausgesprochen,    fehU 
sorgsamer   Beobachtung    niemals.     Allerdii 
Nachweis    nicht   immer    leicht.     Vieles  Chan 
wird^man   nur   bei    großer  Übung    herausnnri 
Wer  hunderte  von  Urningen  und  Urninden  g 
wird  nicht  zweifeln,  daß  sie  ganz  bestimmte  Gei 
aufweisen.     So   schwer    es  sich    aber   definiren 
im  C  runde    den    männlichen    oder    weiblichen 
aus '  ,rack  ausmacht,   so  wenig  kann    man  dem 
y     ..tümliche,  klar   machen,,  das  dem  Kenner 
•Anblick    der  Photographieen    in    die    Au£ 

Jen  die  Geschlechter  dieselbe  Kleidung  trag, 
m  .lx  sich  vermutlich  gewöhnt,  die  Übergangsstufec 
herauszukönnen,    so   beeinflußt    die    Verschieden; 
Anzug  und    in   der  Haartracht    das    Urteil    ganz, 
ordentlich.     Doch  kommt  es  auch  so  noch  oft  geri, 
daß  urnische  Männer  für  verkleidete  Mädchen  und  u 
Dornen  Jjir  verkleidete  Herren  gehalten  werden. 
Si^i  XJrninge,  selbst  solche,  die  recht  männlich  erscl 
d^     Bart  abnehmen  und  legen  weihliche  Kleidungsi 
ar  7  .50  ist    es  meist    geradezu  verblüftend,    wie   seh 
wa^  gliche    Typus,    namentlich   in    der  Augen  partie, , 
Vorschein  kommt.     Ich    befand  mich    einmal    mit  4 
urnischen  Gelehrten    in    dem    seiner    Volkstrachten', 
Volkssitten  wegen  hochinteressanten  Fischerdorf  Volen. 
am  Zuidersee.     Wir    betraten    des  Studiums    halber  i 
der    eigenartigen    Behausungen.     Im    Laufe    der    Un' 
haltung  setzte  sich  mein  Begleiter  eine  der    ortsiiblicl 
Frauenhauben  auf.     Der  Erfolg  war   überraschend,     1 


—    80    — 

braven  Fischerfrauen  konnten  sich  über  die  Verwandlang 
garnicht  beruhigen  and  riefen  ein  über  das  andere  Mal; 
„wie  ein  Mädchen,  wie  ein  Mädchen."  Auch  ich  selbst 
konnte  seitdem  nicht  mehr  den  weiblichen  Eindruck  los- 
werden, der  mir  in  dem  Gesichte  des  Forschers,  weil  ich 
darauf  nicht  achtete,  zuvor  nie  aufgefallen  war.  Viele 
Homosexuelle  sehen  „als  Weib  bedeutend  besser  aus,  wie 
als  Mann.*  Ich  erinnere  mich  eines  urnischen  Aristokraten, 
den  ich  Jahre  lang  nur  in  Damentoilette  gesehen  hatte, 
in  der  er  sich  höchst  elegant  ausnahm.  Als  er  mich  das 
erste  Mal  im  Herrenanzug  besuchte,  erkannte  ich  ihn 
kaum  wieder,  so  zu  seinen  Ungunsten  verändert  sah  er 
aus.  Bei  manchen  tritt  das  undefinierbar  Weibliche  erst 
im  Affekt  stärker  hervor.  Ein  Richter  schreibt,  sein 
Gesicht  sei  scharf  geschnitten,  doch  sei  ihm  von  Damen, 
die  seine  homosexuelle  Natur  nicht  kannten,  bemerkt 
worden,  wenn  er  lächle,  habe  er  die  Augen  eines  Weibes. 
Ein  urnischer  Offizier,  der  sich  durch  eine  „ martialische" 
Erscheinung  (bei  etwas  breiten  Hüften)  auszeichnet,  teilt 
mir  mit,  daß,  wenn  er  sich  in  Erregung  befände,  seine 
sehr  großen,  blauen  träumerischen  Augen  von  gänzlich 
unbefangener  Seite  als  weiblich  erkannt  worden  seien. 

Die  Körperkonturen  des  Urnings  sind  nicht  ganz  so 
abgerundet  und  weich  wie  beim  echten  Weibe  —  das 
urnische  Weib  ist  meist  hager  —  aber  äußerst  selten  so 
hervortretend,  wie  beim  Mann.  Diese  Rundung  beruht 
auf  stärkerer  Fettablagerung,  die  mit  der  größeren  Passi- 
vität des  Urnings  im  Zusammenhang  steht.  Ganz  beson- 
ders auffallend  ist  diese  Konturierung  bei  den  passiven 
Pygisten,  die  daher  ein  geübter  Beobachter  unter  den 
übrigen  Homosexuellen  leicht  herauserkennt.  Sehr  wichtig 
ist  es,  auf  das  Verhältnis  der  Schulterdurchschnittslinie 
zur  Beckendurchschnittslinie  zu  achten,  welches  am  geeig- 
netsten mit  dem  bei  gynäkologischen  Untersuchungen 
üblichen  Beckenmesser  festgestellt  wird.     Während  beim 


D'Eon  de  Beaumont 

Kopie  von  Angelika  Kauffmann, 
nach  einem  Bilde  von  Latour  aus  der  Sammlung  des  George  Keate,  Esq. 

Ritter  D'Eon  de  Beaumont,  geb.  am  5.  Oktober  1728,  als  Knabe  erzogen,  schon 
früh  Neigung  in  Frauenkleidern  zu  gehen;  1755  am  russischen  Hofe  als  Dame 

vorgestellt. 


*4 


CHARLKS-GKNEVlEVK-L<)riS-Ar(HSTK-ANim^>TlMoTHri; 

CHARLOTTE-GP:NEViEYJ:-Lori8A-ArnrsTA-AxiH:KK-TiMoTiir.j.-MAi:ii 

D'EON  DE  BEAUMONT. 

Doctor  of  Civil  and  of  Canon  Law,  and  Advooate  of  the  Parliaiiifut 

of  Paria. 

Cenfor  Royal  for  Hiftory  and  Belh's-Lettres. 

Sent  to  Ruffia,  firft  fecretly,  then  officially,  with  the  Chevalier  I>c>ii^I:ih 

for  the  Purpofe  of  re-eftablifhing  friendly  Relation»  betwem  that  Cuimtry 

and  Francs. 
Secretary  of  the  EmbtHTy  Extraordinary  at  the  Court  of  Her  Imperial 

Majefty,  the  Empreff  Elizabeth. 
Captain  of  Dragoons  and  Aide-de-Camp  to  Marfhal  the  Duke  und 

to  the  Count  de  Broglio. 

Secretary  of  the  Embaffy  Extraordinary  from  France  to  Ureat  Iirit:iin 

for  concluding  the  Peace  of  1703. 

Knight  of  the  Royal  and  Military  Order  of  Saint  Louis. 

Refidcnt,  and  afterwards  Minifter  PI eni potent iary 

r*     from  France  to  Great  B ritain, 

and,  finally, 

a  Ladyat  the  Court  of  Marie  Antoinette, 

and  an  occafional  and  honoured  Ininate 

at 

L'Abbaye  Royale  des  Danies  de  Hauteg  Brnyeres, 

La  Maifon  des  Demoifelles  de  St.  Cyr, 

and  at  the 
Monaftere  des  Fi  lies  de  Ste.  Marie. 


f 


normalen   Mann    die  Schulterlinie   um   ein 
länger  ist  als  die  Beckenlinie,  und    beim 
viel    breiter    als     die     Schulterlinie,    ist 
der     Unterschied     meist     3ehr    gering,     o\ 
nicht  vorhanden,    und  nicht  selten  umgeke 
schon  dem  Laien,  namentlich  den  Schneider! 
nehmen,   auffällt.     Urnische  Arbeiter   haben 
holt   erzählt,    daß   sie   die  Beinkleider   über 
bequem   ohne   Hosenträger   tragen  können, 
berichtet,    bei    der    militärischen    Einkleidun 
Vorgesetzte  gesagt  „er  habe  wohl  bei  der  Ve 
Gesäßes  zweimal  ,hier*  gerufen." 

Die  Hände  und  besonders  die  Füße  des  II: 
im  Verhältnis  zu  der  Figur  oft  klein,    die  Häi 
sich   zumeist   eigentümlich   weich  an.     Die  Hail 
stets  bedeutend  zarter,  glatter  und  weißer  wi*  bei! 
wenn  auch  selten  in  so  hohem  Grade   wie  bei  i 
Die  Blutgefäß-  und  Tastpapilkn  der  Haut  sind  gel 
sehr  affizierbar,  was  sich  einerseits  in  erhöhter  $ 
empfindlichkeit  zeigt,  anderseits  in  sehr  leichtem 
und  Erblassen.     Mündliche  und  schriftliche  Mittel 
wie    die    eines   Schriftstellers:     „Ich    erröte   mädd 
leicht    bei  jedem  kleinen    obszönen  Witz*  oder  d^ 
Geistlichen:     „Ich    erröte,   wenn  ich   öffentlich   au! 
muß,  ganz  außerordentlich"  sind  sehr  häufig.    Nich 
erklärlich  ist  das    entschieden  geringere  Wärmebe- 
vieler  Uranier.    Sehr  zuverlässige  Selbstbeobachter 
das  hervor,    so  gibt   einer  derselben  an,    daß    er  So 
und  Winter  stets  bei  offenem  Fenster  schlafe,  ohne 
bett,   nur  bei   tüchtiger  Kälte    mit  zwei    leichten  T>e\ 
bedeckt.     Es  gibt  allerdings  auch  Ausnahmen,  doch  \ 
sich    die    Haut    der  Urninge   meist  wärmer   an,    wie  \ 
ihrer  Umgebung.     Ich    glaube,   daß    die   im    Volke    i 
breitete   Bezeichnung   „warmer  Bruder"    (auch   das  Wl 
schwul  =  schwül  meint  ähnliches)^in  dieser  Erscheine 

Jahrbuch  V.  6  \ 


—    82     — 

seine  physiologische  Begründung  hat,  während  der  rümischt- 
Ausdruck  homo  mollis,  weicher  Mann,  auf  die  Weichheit 
der  Haut  und  Muskulatur  zurückgeführt  werden  dürfte. 
Die  Haare  des  Urnings  sind  meist  feiner  und  weicher, 
wie  die  männlichen,  am  Kopfe  oft  ungewöhnlich  üppig, 
der  Bart  ist  vielfach,  aber  keineswegs  immer,  schwach 
entwickelt  Viele  empfinden  den  Bart  als  etwas  Unange- 
nehmes, ebenso  wie  die  Urninden  das  lange  Kopfhaar. 
Lucians1;  Erzählung  von  der  Megilla,  die  von  ihren 
Freundinnen  mit  männlichem  Namen  gerufen  zu  werden 
wünschte,  Demonassa  ihre  Gattin  nannte  und  sich  die 
Haare  wie  ein  Athlet  schor,  und  dann  rief:  „Ha«t 
du  je  einen  so  schönen  Jüngling  gesehen  wie  mich/  Ut 
recht  charakteristisch. 

Die  Muskeln  der  Uranier  sind  schwächer  wie  die 
männlichen,  wenn  auch  selten  so  schwach  wie  die  weib- 
lichen. Infolgedessen  besteht  meist  ein  natürlicher  Trieb 
zu  ruhigen  Bewegungen,  wie  Fußtouren,  Wandersport, 
Bergsport,  Radfahren,  Schwimmen  und  Tanzen.  Wo  die 
Körpermuskulatur  zu  wünschen  übrig  läßt,  zeigt  gewöhn- 
lich die  Zungenmuskulatur  eine  stärkere  Aktivität,  und 
so  finden  wir  denn,  daß  bei  den  Urningen,  ähnlich  wie 
bei  den  Frauen,  die  Redseligkeit  oft  eine  recht  beträcht- 
liche ist.  Einer  bemerkt:  „Plappern  kann  ich  für  zwei, 
aber  nur  mit  Damen  oder  Gleichgesinnten,  Herren  dagegen 
genieren  mich." 

Von  jeher  haben  Kenner  den  Gang  und  die  übrigen 
Bewegungen  des  Homosexuellen  als  kennzeichnendes 
Merkmal  hervorgehoben.  Es  finden  sich  kleine,  trippelnde, 
tänzelnde,  schlürfende,  oft  geziert  erscheinende  Schritte, 
auch  ein  leicht  schwebender  Gang,  dabei  leichte  drehende 
Bewegungen    in  Schulter-  und  Beckengiirtel ;   der  Rumpf 


')  Luciani     Samosatenis     opera    ex    recensione,    G.   Dinriortii. 
Parisii»  1890.    Dialogi  meretricii  S.  671. 


ist  vielfach  ein  wenig  vornübergeneigt,  der  K\ 
unruhiger,  als  dies  beim  ausgesprochen  män^ 
viduum  der  Fall  ist.     Die  Gangart  ist  so  chai 
daß  ich  sehr  oft  von  meinem  Sprechzimmer  i 
treten  erkannte,  wenn  ein  Urning  ins  Wartezl 
Ein  urnischer  Pastor  gibt  folgende  Schilderung 
„Es  besteht  Neigung  zu  wiegenden  Bewegungen 
jedoch  diese  Neigung  so  gut  als  möglich  zu  ü\ 
da  ich  mich    äußerst  beschämt  fühle,  wenn  jen\ 
Damenhaftes    an    mir   entdeckt.      Trotzdem    ist\ 
dann    und    wann    schon    vorgekommen.     Besonci 
Gang   wurde    schon    öfters    „damenhaft*    gefund 
Schritte  sind  mehr  klein,  mitunter  schlürfend,  die  S 
wiegen   sich   beim  Gehen  etwas  hin  und  her,  wei 
wenn    ich    mir    keine   Gewalt    antue,    auch   die  \ 
Weise,   wie   ich  mich  niedersetze,   ist  schon  aufgi 
Ein  homosexueller  Polizeibeamter  erzählt,  daß  eini 
stets  von  ihm  sagte:    „Der  Kommissar  mit  dem  1\ 
Mädchenschritt. tf     Der    Gang    eines    Menschen    is, 
anatomischen   und   psychischen  Faktoren    abhängig 
meine,  daß  die  somatischen  Verhältnisse  des  Urning 
Breite  der  Hüften,  die  infolgedessen  stärker  konvergier« 
Oberschenkel,  die  schwache  Entwickelung  der  Beuge 
Streckmuskeln     auf   den   Gang  nicht   ohne   Einfluß 
können,    daß  aber  auch  seelische  Einwirkungen  in  F^ 
kommen.      Dafür  spricht,  daß  Urninge,  die  sich,  um 
nicht  zu  verraten,  ruhigere,  gravitätischere  Schritte  aii 
wohnen,   leicht  bei  Erregungen,   oft  schon   beim  Lau 
iu   ihre   natürliche  Gangart  verfallen.      Der  eben  zitie 
Polizeikommissar    bemerkt:    „Meine  Schritte  waren    s 
klein   und   hüpfend,    ich  habe  es  mir  aberzogen,  es   tr 
aber    immer    wieder    hervor,    sobald    ich    neben  jungf 
schönen    Herren    gehe."      Auch    die    urnischen    Armb 
wegungen    sind    meist    typisch    —    man    vergleiche    d 
Jugend-Bildnis  König  Ludwigs  II.    —   insbesondere  sin 


84     — 


es  auch  diejenigen  Bewegungen,  aus  denen  die  Handschrift 
resultiert,  welche  von  ähnlichen  körperlichen  und  psychischen 
Momenten  abhängig  ist     wie    der  Gang.     Dieselbe    zeigt 

bei  Urningen  oft  einen 
durchaus  weiblichen,  bei 
Urninden  einen  männ- 
lichen Charakter,  bei  bei- 
den nicht  selten  auch 
einen  solchen,  den  die 
Graphologen  als  ge- 
schlechtslos zu  bezeich- 
nen pflegen.  Daß  die 
Brust-  und  Stimmbe- 
schaffenheit häufig  Ab- 
weichungen aufweist,  habe 
ich  bereits  bei  Besprech- 
ung der  urnischen  Puber- 
tätszeit erwähnt,  hier  will 
ich  noch  bemerken,  daß 
bei  den  erwachsenen  Ho- 
mosexuellen selten  volle 
Umkehrungen  dieser  sekundären  Geschlechtszeichen  son- 
dern gewöhnlich  nur  Mittelstufen  konstatierbar  sind. 

Wie  in  seelischer,  so  zeigt  auch  in  körperlicher  Hin- 
sicht der  Urning  und  die  Urninde  eine  bemerkenswerte 
Jugendlichkeit.  Viele  haben  kleine,  zarte,  ihrem  Alter 
nicht  entsprechende  Figuren.  Ein  hervorragender,  mir 
persönlich  bekannter  Schriftsteller,  der  jetzt  Mitte  der  40 
ist,  sagt  von  sich,  daß  er  den  Körperbau  eines  etwa 
15jährigen  Jungen  habe.  Das  ist  natürlich  ein  sehr 
extremer  Fall,  aber  Tatsache  ist,  daß  die  Urninge  meist 
für  viel  jünger  gehalten  werden,  wie  sie  sind.  Ist  die 
Uranierin  unverheiratet,  so  bildet  sich  bei  ihr  viel  weniger 
der  bekannte  Typus  der  alten  Jungfer  heraus,  in  der  wir 
ein    verkümmertes  Geschlechts wesen  zu  erblicken  haben. 


König  Ludwig  II.  von  Bayern 

in  stark  femininer  Haltung. 


■n 


^  ^ 


^7 


—    85    — 

Die    Urninde    bewahrt     sich    im     Gegensatz    zui 
malen  Weibe  bis  ins  hohe  Alter  eine  erstaunliche 
und    Elastizität.      Ebenso    treten    auch    beim    ur 
Junggesellen  weniger  wie  beim  normalsexuellen  Hai 
die  Griesgrämigkeit    und  die  anderen  Eigentümlicl 
des  ledigen  Standes  hervor.     Im  allgemeinen  erfreij 
der  Urning  eines  guten  Gesundheitszustandes,  die 
Standsfähigkeit    seines   Nervensystems    ist   in   Anbei 
dessen,   was  er    durchzumachen    hat,  eher  als  günstl 
bezeichnen.     Neben  der  früher  bereits  genannten  Chli 
und  Migräne  finden  sich  nicht  selten  hysterische  Störui 
verschiedener    Art,     besonders    hervorzuheben    sind  I 
Affektionen,    welche    an    die    weiblichen   Menstruatid 
erinnern.     Ein  mir  seit  einer  Reihe  von  Jahren  bekani 
femininer  Uranier  leidet   seit   seinem  14.  Lebensjahr  1 
28  Tage   an  Migräne,    zugleich  an  heftigen  Rücken-  il 
Kreuzschmerzen.      Dieselben    waren    Veranlassung,    d 
seine  Stiefmutter,   bereits   als  er  20  Jahr  war,  bemerkt 
„das    ist  ja   bei    dir,  wie  bei  uns."     Eine  Untersuch u\ 
des    Urins    auf    Blutkörperchen    hat    leider    nicht    sta^ 
gefunden.     Neuerdings   —  Patient   ist  jetzt  36  Jahr  -\ 
haben    die  Erscheinungen   wesentlich    nachgelassen,  docl 
tritt  immer  noch  vierwöchentlich  eine  hochgradige  Mattigi 
keit  auf.  1 

Der      Urning     ist     im      allgemeinen     wohlgestaltet] 
sein    meist  sympathisches    Äußere    trägt    viel    zu   seiner 
Beliebtheit  bei,    keinesfalls   ist  er  häßlicher  —  Möbius  1)1 
sieht  in  der  Häßlichkeit  ein  Hauptzeichen  der  Entartung! 
—  wie    der  Durchschnitt   der  Normalen.     Ich  hebe  dies  | 
besonders  Wachenfeld  und  Bloch  gegenüber  hervor,  welche  1 
auf  diesen  Punkt  in  ihrer  Ätiologie    der  Homosexualität 
Wert  legten.    Wachenfeld2)  sagt:  „ Mißgestaltete  Personen, 


J)  Stachyologie  S.  186. 
2)  A.  a.  0.  S.  49. 


—    86     — 

die  einen  naturgemäßen  ehelichen  Genuß  nicht  erhotl'eii 
können,  neigen  eher  zur  Homosexualität,  als  solche,  die 
dem  Weibe  begehrenswert  erscheinen,-  und  Bloch  ')  ver- 
tritt sogar  die  kühne  Hypothese,  daß  Michelangelo  wegen 
seiner  Häßlichkeit  homosexuell  geworden  sei.  Er  sagt 
wörtlich:  „Michelangelos  Häßlichkeit  war  so  groß,  daß 
er  in  jungen  Jahren  nie  die  Liebe  kennen  lernte  und  zu 
homosexuellen  Neigungen,  die  sich  in  seinen  Sonetten  an 
Tommaso  Cavalieri,  Luigi  de  Riccio,  Cecchino  Bracci 
kundgaben,  gedrängt  wurde."  Diese  Angaben  beruhen 
auf  völliger  Unkenntnis  des  einschlägigen  Materials. 

Man  hat  eingewandt,  daß  es  Männer  gibt,  die  sehr 
feminin  erscheinen  und  gleichwohl  völlig  normal  em- 
pfinden. Das  mag  vorkommen,  ebenso  wie  es  vorkommt, 
daß  manche  homosexuelle  Männer  einen  durchaus  männ- 
lichen Eindruck  machen.  Es  ist  jedoch  zu  bemerken,  daß 
derartige  Urteile  meist  nach  dem  Äußeren  ohne  die  un- 
bedingt erforderliche  Körperuntersuchung  abgegeben 
werden  und  daß  in  solchen  Fällen  der  sorgsame  Expert 
stets  psychische  Zeichen  finden  wird,  welche  die  Ubergangs- 
stufe  charakterisieren.  Einen  Homosexuellen,  dersich  körper- 
lich und  geistig  nicht  vom  Vollmann  unterscheidet,  habe 
ich  unter  1500  nicht  gesehen  und  glaube  daher  an  sein 
Vorkommen  nicht  eher,  bis  ich  ihn  persönlich  kennen 
gelernt  habe. 


Was  neben  den  bisher  genannten  Symptomen  den 
Urning  und  die  Urninde  nun  aber  in  ganz  hervorragen- 
dem Maße  vom  Vollmann  und  Vollweib  unterscheidet, 
ist,  daß  ihnen  der  Trieb  der  Arterhaltung  gänzlich 
mangelt.  Diese  negative  Seite  der  Erscheinung,  die  zum 
mindesten    so    wichtig    ist,    wie    die    positive,  die  gleieh- 

Bd.  I. 


—    87    — 

geschlechtliche  Anziehung,  haben  die  Autor« 
Variationsbedürfnis,    in  Verführung    oder 
Ursache  der  Homosexualität  erblicken,  fast  i 
Wenn  nicht  äußere  Einflüsse  und  Rücksicht^ 
schlag  gäben,  würde   kein  Urning  überhaupt 
Gedanken  kommen,  eine  Familie  zu  gründen.! 
von  denjenigen  ab,  die  aus  Zweckmäßigkeitsgri 
eingingen,  so  haben  nur  3%  den  Wunsch,  Kin 
sitzen,   und   zwar   sind  dies  ganz  besonders  fei 
sehr  pädagogisch  Veranlagte.    Die  ersteren  wünl 
dann  selbst  zu  gebären,  so  schreibt  ein  urnischer 
„Ich   möchte   ein  Kind  bekommen,  aber  selbst! 
einer  Frau"  und  ein  anderer  bemerkt:  „Ein  Kin 
ich  haben,  doch  muß  ich  es  selbst  zur  Welt  bril 
der  Vater  müßte  schön  und  gut  sein."     Umgeki 
eine  sehr  virile  Urninde  aus:  „Ich  möchte  ein  B 
sitzen,   doch   natürlich  nur,    wenn    ich  der  Vater^ 
Die  pädagogische  Gruppe  der  Uranier  wünscht  si^ 
einen  Knaben,    den    sie    heranbilden    und  erziehei 
Die  urnischen  Ehefrauen  fühlen  sich  oft  überaus  ur\ 
lieb,    wenn    sie   gravid    werden,    es    mangelt    ihn 
mütterliche  Instinkt   meist  gänzlich  und  sie  suche 
Möglichkeit  einer  Empfängnis  vorzubeugen  oder  gl 
geschehene    zu    anullieren.      Mir    sind    drei    verhei! 
homosexuelle  Damen   bekannt,   von  denen  zwei  bek! 
Namen  tragen,  die  wegen  ihrer  Schwangerschaft  vori 
gehend    maniakalische    Erregungszustände    mit  Suicf 
ideen  bekamen.     Bei  vielen  kommt  es  überhaupt  nie 
zum  Koitus.     Nicht  selten   schreitet  man  dann  zur 
Scheidung,    die    früher,    als    man  noch  „gegenseitige  j 
neigung*    als    Scheidungsgrund    gelten    ließ,    wesentl^ 
leichter    war.     Die    urnischen   Frauen,   welche    eine  E 
eingehen,  für   die   sie  nicht  geschaffen  sind,  versündig 
sich   schwer,    wenn    auch    unwissentlich,  an  den  normi 
sexuellen  Frauen,  denen  sie  die  für  sie  bestimmten  Männ< 


"'»'»II       r~,  *»    — 

SSrsSSSSC-ssfcs 


Schuld  zur  Hölle  für  uns  werden  sollte.  —  Ich  bq 
los  getäuscht  über  die  Macht  der  mir  offenbar  an^ 
Trotz  Aufbietung  meiner  gesaraten  Willenskraft 
Horror,   den  ich  stets   gegen  geschlechtlichen 
Weibe   empfunden,   auch   der  mir  angetrauten, 
gegenüber  nicht  überwinden;  die  Hochzeitsreise  na^ 
Italien  wurde   zu  einer  seelischen  Marter   für  uns  \ 
verstimmt  und  einander  entfremdet  kehrten  wir  zi 
Heim,  das,  von  treuer  Eltern-  und  Geschwisterlich^ 
geschmückt,  unser  wartete. 

Seither  sind  lange  15  Jahre  vergangen;  meine\ 
leben  neben-,  aber  nicht  für  einander  und  führen  ii 
der  Welt  eine  musterhafte  Ehe!    Über  den  schwere 
Punkt  haben  wir  nie  mehr  gesprochen,  seitdem  ich  4 
anbot,  damit  sie  an  der  Seite   eines  ihr  würdigeren  \ 
glücklicheres  Dasein  finden  könne.    Sie,  die  von  meii 
keine  Ahnung  hat  und  meint,  es  liege  demselben  ein 
Fehler  bei  mir  zu  Grunde,  erklärte  mir,  mich  Dicht  vi 
wollen,  da  sie  mich  trotz  Allem  liebe.  —  Wie  sehr  ich\ 
Schuldbewußtsein  leide,  ein  so  edles  weibliches  Wesel 
elendes  Schicksal  gekettet  zu  haben,  kann  ich  nicht  bei 
Mein  Dasein  ist   eine  endlose  Kette   geheimer  Seelenqui 
Ängstigungen;  ich   lebe  immer  in   Furcht,    meine  Leid 
könne  offenkundig  werden,  namentlich  erst  recht  seit  dem  1 
prozeß,  der  sich  erst  vor  wenig  Monaten  in  den  hiesigem 
abgespielt  und  in  welchem  durch   eine  Bande  schrecklii 
presser  mehrere  Herren   aus   der   besten   Gesellschaft   'ö{ 
bloßgestellt  und  unmöglich  gemacht  worden  sind,  dank 
immer  noch  verfolgenden  öffentlichen  Meinung. 

Die     sexuelle    Gleichgültigkeit    des     Homosexii 
gegen  das  andere  Geschlecht  ist  fast  stets  eine  vollkomn 
bei  sehr  vielen  ist  die  Abneigung  vor  dem  Akt,  nanl 
lieh,  wenn  sie  ihn  erst  kennen  gelernt  haben,  ganz  u^ 
mein   groß;  manchen   steht  der   vorgenommene   Vers\ 
als  ein  schreckliches  Ereignis  in  der  Erinnerung,  and 
geben  an,  sie  hätten  auf  Rat  eines  Arztes   den  Verk^ 
vollziehen    wollen,    es    aber   höchst    lächerlich    gefundi 
wieder  andere  sprechen  von  dem  Gefühl  tiefster  Erniecf 
rung,  das  sie  dabei  verspürten,    während   bei  einer  niel 


\ 


—    90    — 

unbeträchtlichen  Zahl  schwere  Nervenstörungen  post 
coitum  aufgetreten  sind.  Wir  geben  einige  Mitteilungen 
wieder,  die  zeigen,  wie  sehr  die  Urninge  die  Fortpflanzung 
und  den  Geschlechtsverkehr  mit  dem  Weibe,  wohl  ge- 
merkt nur  diesen,  perhorrescieren.  Ein  31  jähriger  Land- 
wirt schreibt:  «Familiensinn  ist  bei  mir  nur  insoweit  vor- 
handen, als  ich  meine  Eltern  zärtlich  liebe,  auch  zu 
meinen  Geschwistern  fühle  ich  mich  hingezogen.  Der 
Gedanke,  selbst  eine  Familie  zu  gründen,  existiert  für 
mich  nicht,  weil  er  mir  schaudererregend  ist.  Geschlechts- 
verkehr mit  dem  Weibe  ist  mir  ganz  unmöglich,  ich  fühle 
mich  von  Ekel  erfüllt,  wenn  ich  nur  an  die  Möglichkeit 
denke.  Versuche,  den  normalen  Akt  auszuüben,  habe 
ich  nie  angestellt  und  werde  es  voraussichtlich,  weil  der 
Widerwillen  zu  groß  ist,  niemals  können.  Weil  mir  junge 
Damen  unheimlich  waren,  nahm  ich  schon  keine  Tanz- 
stunde, ich  besuche  keine  Bälle  und  meide  möglichst  Ge- 
sellschaften, zu  denen  junge  Damen  herangezogen  werden. 
Meine  Unbehülflichkeit  jüngeren  Mädchen  gegenüber 
scheint  man,  ohne  Argwohn  zu  schöpfen,  bemerkt  zu 
haben,  denn  es  ist  mir  neuerdings  angenehm  aufgefallen, 
daß  man  mich  zwischen  bejahrte  setzt,  mit  denen  ich 
mich  zwanglos,  gern  und  rege  unterhalte."  Ein  anderer 
berichtet:  „Meinem  Freunde  zu  Liebe  besuchte  ich  das 
erste  Mal  das  Bordell.  Ich  war  entsetzt,  daß  es  mir 
nicht  gelang,  den  Coitus  zu  vollführen,  jeglicher  Sinnes- 
regung baar  lag  ich  in  den  Armen  des  Weibes.  Außer 
mir  vor  Scham  sprang  ich  endlich  auf  und  markierte  den 
Betrunkenen.  Ich  habe  mich  wohl  ein  Dutzend  Mal  für 
junge  Mädchen  interessiert,  es  fielen  aber  dabei  nur  ihre 
geistigen  Eigenschaften  ins  Gewicht,  ein  Geschlechts- 
verkehr ist  mir  dabei  nie  wünschenswert  erschienen.  Diese 
meine  sogenannten  Geliebten  waren  meist  Mädchen  von 
auffallender  Häßlichkeit,  während  ich  mit  einem  häßlichen 
Kameraden   nie   gern   verkehrte.     Ein    besonderes   Ver- 


91     — 


gnügen  bereitete  es  mir  von  meiner  Gymnasi! 
Brüderschaften   zu  trinken,    da  das   dabei  v<J 
dreimalige  Küssen   mir  höchst  angenehme   G\ 
ursachte.     Dagegen  beteiligte  ich  mich  höchst! 
Pfänderspielen,  bei   denen  die  Gefahr  bestand! 
küssen   zu  müssen."     Ein   urnischer  Hotelier,  ! 
Bekannten  „die  wissenschaftliche  Köchin B  nennen! 
„Ich   begreife    den  normalen   Akt  ebensowenig^ 
normaler  Mensch  den  meinen  begreift,   ich  war! 
merkte  aber   noch  rechtzeitig,    daß   es  sinnlos   \ 
und    mein    Unglück,    da    machte    ich    uns    wiedl 
Ein  Franzose  von  38  Jahren  gibt  an:  „Ich  habe  \ 
einem  Weibe  zu  tun  gehabt  und  könnte  es  nicht  u\ 
in  der  Welt.     Hübsche   Gesichtszüge  bewundere! 
vorübergehend  bei  einem  Weibe,    wie   man   ein  hü 
Bild  betrachtet,  sollte  ich  dasselbe  Weib  aber  nacl 
mir  sehen,  oh,  mon  dieu!  ich  würde  die  Flucht  ergr^ 
Ahnlich  erzählt  ein  Schweizer:  „Vor  dem  intimeren! 
kehr  mit  weiblichen  Personen  empfinde  ich  einen  uni 
windlichen  Abscheu   und  habe   daher   nie   ein  Weib! 
rührt.     Der  Umgang   mit  Damen  ist  herzlich,   so   14 
sie  keine   wärmeren  Gefühle   für  mich   zeigen,  gescr 
dies,  so  erwacht  ein  Unlustgef ühl  und  ich  ziehe  mict 
bald  wie  möglich  zurück. tf     Ein   26 jähriger  Arbeiter 
richtet:  „Als  ich,  17  Jahre  alt,  einmal  von  einem  älter1 
Freunde  verleitet   wurde,  mit   einem  Weibe  geschlect 
liehen  Umgang  zu   pflegen    —    ich    wußte    damals    no<! 
nichts  von  meiner  urnischen  Natur  —  empfand  ich  eine! 
derartigen  Ekel,  daß  ich  Erbrechen  bekam.    Seitdem  hatti 
ich  eine  heilige  Scheu  vor  der  Berührung  mit  dem  Weibe» 
bis  ich  vor  wenigen  Wochen,  zur  Verzweiflung  getrieben,! 
mit  meiner  Natur  zu  brechen  suchte,   vergebens,  es  trat» 
weder  eine  richtige  Erektion  noch  Ejakulation  ein,  dagegen 
habe  ich  mir  infolge  der  vergeblichen  Anstrengungen  eine 
Gliedentzündung    zugezogen."      Endlich    ein    Kaufmann 


—    92    — 

aus  Bayern:  „Die  Folgen  des  wiederholten  Verkehrs  mit 
dem  Weibe  waren  schwere  Nervenstörungen,  starkes  Un- 
wohlsein mit  Erbrechen  und  tagelange  Migräne.  Der 
Geruch,  welchen  das  Weib  ausströmt,  verursacht  mir  das 
größte  Unbehagen,  ich  bin  unfähig,  ein  Weib  zu  befriedi- 
gen, wogegen  die  Umarmung  eines  Soldaten  mir  ein  un- 
aussprechliches Wonnegefühl  verschafft  und  mich  kräftigt 
und  stärkt"  Es  ist  durchaus  nicht  selten,  daß  Urninge 
die  erste  Kenntnis  ihrer  Homosexualität  von  Prostituierten 
erhalten.  Einen  bezeichnenden  Fall  berichtet  mir  ein 
herrschaftlicher  Diener,  welchem  von  einem  Arzt,  den  er 
wegen  Impotenz  konsultierte,  nach  längerer  Anwendung 
des  elektrischen  Stroms  geraten  ward,  einen  Kohabitations- 
versuch  vorzunehmen.  Als  die  Prostituierte  in  ihrer 
Wohnung  sich  vergeblich  bemüht  hatte,  ihn  sexuell  zu 
erregen,  betrachtete  sie  sich  ihn  etwas  genauer  und  sagte 
dann  in  unverfälschtem  Berliner  Dialekt:  „Weeste  denn 
nich,  daß  Du  en  Warmer  bist,  ick  werde  Dir  meenen 
Luden  (Zuhälter)  rufen,  paß  uf,  mit  dem  kannste."  Der 
Vorschlag  wurde  von  den  drei  Beteiligten  erfolgreich 
in  die  Tat  umgesetzt  und  der  Diener  wußte  seitdem  über 
sich  Bescheid. 

Schrenck-Notzing  hat  in  seinem  Werke ')  den  Homo- 
sexuellen die  Eheschließung  und  einen  geregelten  Ge- 
schlechtsverkehr mit  dem  Weibe  geraten,  wobei  er  sogar 
empfiehlt,  unter  Umständen  bei  den  ersten  Debüts  die 
Alkoholwirkung  zu  Hilfe  zu  nehmen.  Der  Vergleich  mag 
etwas  kraß  erscheinen,  aber  mir  kommt  dieser  Vorschlag 
nicht  viel  anders  vor,  als  wenn  ein  Arzt  einem  Normal- 
sexuellen, der  ein  Mädchen  unglücklich  liebt,  raten  würde, 
er  solle,  um  seinen  Trieb  loszuwerden,  sich  berauschen 
und  mit  einem  Manne  sexuell  verkehren. 


')  a.  a.  0.  S.  205  ff. 


—    93    — 

Die  Abneigung  vor  dem  zur  Erhaltung 
eigneten   Verkehr   ist    bei    fast   allen  Urninj 
tiefgehende,  ich  möchte  fast  sagen  selbstverstä] 
sich   daraufhin   unter   der  Mehrzahl   von  ihne 
nung  gebildet  hat,  die  Natur  wolle  durch  sie  \ 
völkerung   vorbeugen.     Nun   bin  ich  zwar  auc\ 
sieht  Näckes,  daß  man  die  ganze  Homosexual\ 
mit  theologischen  noch  mit  teleologischen  Augd 
dürfe,  sondern  nur  mit  nüchtern  naturwissensch 
ich  möchte  aber  doch  dieser  weitverbreiteten  An\ 
gegenüber   geltend   machen,   daß,   wenn   das   Ai 
eines  Stammes  der  Hauptzweck  der  Homosexualiti 
es  völlig   unnötig  erscheinen  würde,   der  negath 
positive  Gefühlsrichtung  entgegenzusetzen.    Ich  me\ 
letzterer  wohl  auch  ein  positiver  Zweck  entsprechen^ 
nämlich  der,  daß  der  homosexuelle  Trieb,  welcher 
heterosexuelle,   mit  dem   ganzen  Fühlen    und  Wol^ 
fest  verknüpft  ist,  auch  wie  dieser  Anstoß  und  Kri 
nutzbringender  Betätigung  der  Persönlichkeit  gebe: 
Wenn  es  für  den  Menschen  einen  Daseinszweck  gi 
ist  es  jedenfalls  die  Liebe  an  und  für  sich,  die  stets  fri 
bar   ist,    auch   wenn  sie  nicht  der  Erzeugung  wiedei 
zeugender  Wesen    dient.     Die  Liebe   ist  eine  Triebk5 
die  sich  immer  in  produktive  Arbeit  umsetzt  zur  Gei 
tung   und  Weiterbildung  von  Menschen    und  zwar  nJ 
nur  in  körperlichem  Sinn.     Tolstoi  sagt  einmal:  „Liel 
ist  Streben  nach  dem  Wohle  anderer,"  ein  Wort,  das 
der  Bibelspruch,  daß  Gleichgültigkeit  alles  tot,  Liebe  al 
lebendig    macht,    eine    unantastbare    Wahrheit    enthä] 
Würden     die    von    der    Fortpflanzung    ausgeschlossene^ 
Menschen  überhaupt  keine  Liebe  fühlen,  ihre  egozentrischi 
Interesselosigkeit  würde  eine  Gefahr  für  die  andern  bei 
deuten.     In   den    Uranfängen    der  Sprache  erhellen   sich! 
oft  durch   Gewohnheit   verdunkelte  Begriffe.     Das  Wort 
Sexus  =  Geschlecht  kommt  von  sequi  =  folgen,  der  Ge- 


—    94    — 

schlechtstrieb  ist  ursprünglich  nur  der  Trieb  zu  folgen, 
sich  andern  anzuschließen,  und  damit  ist  er  der  freilich 
oft  nur  leise  durchschimmernde  psychologische  Hintergrund 
jeder  sozialen  Regung.  Der  Monosexuelle  folgt  nur  sich 
allein;  die  wenigen  Monosexuellen,  die  ich  persönlich  ge- 
sehen habe,  es  waren  drei  zur  Einsamkeit  und  Eigen- 
bewunderung neigende  Onanisten  mit  ausgesprochener 
Antipathie  gegen  beide  Geschlechter,  zeichneten  sich  durch 
den  denkbar  größten  Indifferentismus  nicht  nur  allen 
Menschen,  sondern  auch  allen  Dingen  gegenüber  aus. 

Daß  es  sich  aber  bei  der  homosexuellen  Empfindung 
um  wirkliche  Liebe  handelt,  die  in  allen  ihren  Details  ein 
vollkommenes  Äquivalent  der  heterosexuellen  Liebe  dar- 
stellt, darüber  kann  für  den  Kenner  auch  nicht  der  ge- 
ringste Zweifel  obwalten.  Auch  Krafft-Ebing  hat  auf 
die  absolute  Analogie  hingewiesen  *),  welche  sich  in  der 
Entfaltung  der  normalen  und  conträren  Vita  sexualis 
findet;  diese  Übereinstimmung  ist,  wie  allerdings  nur  eine 
sehr  lange  und  genaue  Beobachtung  erweisen  kann,  in  der 
Tat  in  allen  physiologischen  und  pathologischen  Einzel- 
heiten eine  so  eminente,  daß  es  eigentlich  nur  zwei  Mög- 
lichkeiten gibt,  entweder  sind  beide  Triebe  als  integrierender 
Bestandteil  der  Persönlichkeit  eingeboren  oder  es  ist  auch 
die  Liebe  zwischen  Mann  und  Weib  kein  eingeborener 
Naturtrieb,  sondern  eine  durch  äußere  Ursachen  im  Ver- 
laufe des  Lebens  erworbene  Eigenschaft. 

Wie  bei  den  Heterosexuellen,  so  gibt  es  auch  bei  den 
Homosexuellen  solche,  bei  denen  der  Geschlechtstrieb  im 
engeren  Sinn  nur  eine  mehr  oder  weniger  untergeordnete 
Rolle  spielt,  und  andere,  die  von  ihrer  Leidenschaft  völlig 
beherrscht  werden.  Man  hat  den  Urningen  dann  und 
wann  vorgeworfen,  daß  ihre  sinnliche  Neigung  sie  in  viel 
höherem  Maße  erfülle  und  beschäftige  wie  die  Normalen. 


l)  Über  sexuelle  Perversionen  S.  129. 


Doch  ist  hier  zu  bedenken,  daß  letztere  in  der  \ 
Lage  sind,  ihre  Frauen  und  Mädchen  so  oft 
sehen,    wie   sie  wollen.     Sinnesregungen,   dene 
jeder  Zeit  und  ohne  Gefahr  Genüge  geleistet  wei 
sind  nicht  dazu  angetan,  die  Seele  sonderlich  in  ' 
zu  nehmen.    Anders  bei  dem  Uranier,  der  denselt 
meist  nur  mit  den  größten,  oft  seine  ganze  Exi^ 
drohenden   Schwierigkeiten,    nach    langer  Zurüct 
seiner  Gelüste   befriedigen   kann.     Immerhin    gibi 
nug  Urninge,  die  die  Kraft  völliger  Entsagung 
es    wäre    aber    verfehlt,    wollte   man   daraus  den 
ziehen,    daß    sich    alle    anderen    ebenso   gut  beher\ 
könnten,  so  wenig  man  außereheliche  Abstinenz  ver^ 
wird,    weil    ein    gewisser  Prozentsatz  *  sie    innehält.  \ 
fallen  dabei  die  Worte  ein,  welche  mir  einmal  ein  Mi 
seiner   Neigung   gemaßregelter    Offizier    in    begreifll 
Aufwallung  schrieb:  »Die  Herren  der  Schöpfung  sol 
wissen,  was  es  heißt,  wegen  irgend  einer  erotischen  Läpp* 
ewig   boykottiert  zu  sein.     Drehe  man  einmal  den  Sri 
um  und  stelle  einen  Gesetzesparagraphen  hin,  nach  d\ 
jeder    außereheliche    Beischlaf   mit   Zuchthaus    oder    n 
Gefängnis  und  mit  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehre! 
rechte  zu   bestrafen  sei.     Selbst  wenn  solcher  Paragraph 
nur  ein  Jahr  in  Kraft  wäre,  was  würde  die  Welt  für  eil 
herzzereißendes    Schauspiel    erleben;    wieviel    Existenzen 
würden  vernichtet  werden,  wieviel  junge  Leute  sich  dem^ 
freiwilligen  Tode  weihen;  aber   wir  Uraniden  würden  ge- 
rächt  sein    für   die    unendliche  Schmach,    die    man    seit 
Jahrtausenden  über  unser  Haupt  heraufbeschworen  hat." 

Hören  wir  einige  Berichte  keuscher  Homosexueller. 
Ein  urnischer  Student  von  23  Jahren  schreibt: 

„Ich  habe  keinerlei  geschlechtlichen  Verkehr  gepflegt.    Der 
Geschlechtstrieb    ist  sehr  stark,   die  Selbstbeherrschung  jedoch 
ebenfalls  stark.    Daß   ich  mich  auf  Kosten   der    Gesundheit  be-        \ 
herrsche,  ist  mir  völlig  klar.    Der  Kampf  hat  mich  schon  so  er- 


—    96    — 

mattet,  daß  ich  zusammenstürzte.  Der  Gedanke  an  die  Blöße 
eines  Weibes  ist  mir  so  verhaßt,  daß  es  mir  absolnt  unmöglich 
ist,  auch  nur  an  den  Versuch  eines  normalgeschlechtlichen  Aktes 
zu  denken.  Mich  fesseln  nur  hochgebildete,  vornehme  Naturen, 
die  ich  am  höchsten  stelle,  wenn  sie  sanftmütig  und  kraftvoll 
zugleich  sind.  Ärzten  und  Offizieren  gebe  ich  den  Vorzug.  Beide 
Typen  sind  gebildet  und  stehen  im  freien,  tätigen,  gesunden 
Leben.  Bei  beiden  ist  das  Moment  der  Bewegung,  das  mir  auch 
die  Musik  zur  liebsten  Kunst  macht.  Von  meinem  15.  bis  22.  Jahr 
war  mein  Leben  beherrscht  von  einer  nie  zu  beschreibenden 
idealen  Liebe  zu  einem  jungen  Mediziner,  einem  trotz  seiner 
Jugend  —  er  ist  jetzt  26  —  ganz  eminenten  Kopfe.  Es  ist  eine 
schlanke,  strenge  Gestalt,  mit  einem  Empirekopfe,  durchaus 
normalempfindend  und  ein  harter  Charakter.  Im  ersten  Jahr 
unserer  Bekanntschaft  war  er  mir  freundschaftlich  außerordentlich 
zugetan.  Damals  war  ich  ganz  glücklich,  ganz  wunschlos  und 
bemitleidete  alle  Könige  der  Welt  ob  ihrer  Armut.  Ich  verband 
meinen  Freund  in  mystischer  Weise  mit  meinem  Gottesbegriff; 
mein  Leben  hatte  als  Pole:  „Christus"  —  „Lothar."  Als  mir 
nach  P/g  Jahren  klar  wurde,  daß  —  um  mit  Platen  zu  sprechen 
—  der  schöne  Spröde  seine  Seele  mir  nie  offenbaren  würde,  ver- 
lor ich  damals  schon  viel,  ja  das  eigentliche  Wesen  meines 
Himmels.  Ich  kämpfte  hart,  auch  mit  ihm  und  namentlich  wegen 
seiner  irreligiösen  Lebensauffassung.  Vor  einem  Jahre  verlobte 
er  sich,  ich  war  nicht  eifersüchtig,  ich  war  nur  wie  tot;  nur  mein 
Gedanke,  ins  Kloster  zu  gehen,  hielt  mich  aufrecht.  Ich  sagte 
ihm  damals  alles  —  er  nahm  es  kalt,  wissenschaftlich,  nicht  ohne 
etwas  Roheit  auf.  Seit  einem  Jahre  sah  ich  ihn  nicht  mehr, 
korrespondiere  auch  nicht  mehr  mit  ihm.  Wachend  fühle  ich  auch 
keine  Sehnsucht  mehr  nach  dem  einstigen  Geliebten,  die  hat  sich 
in  6  Jahren  an  seinem  Egoismus  und  seiner  materialistischen 
Lebensauffassung  verblutet.  In  längeren  Abschnitten  träume  ich, 
daß  er  zu  mir  kommt  und  mich  küßt  und  dann  weine  ich  im 
Schlaf.    Im  Leben  hat  er  mich  nie  geküßt." 

Ein  sehr  intelligenter  Akademiker  von  39  Jahren, 
der  die  große  Merkwürdigkeit  aufweist,  daß  bei  ihm 
überhaupt  noch  nie  eine  Ejaeulatio  seminis  stattgefunden 
hat,  giebt  folgende  Schilderung: 

„Meine  Leidenschaft  ist  keine  gewaltig  lodernde  Flamme, 
die  über  mein  ganzes  Denken  und  Sinnen  zusammenschlägt  und, 
wenn  sie  keine  Nahrung  findet,  alles  Glück  verzehrt,  sondern  ein 


glimmendes  Feuer,  das  nur  von  Zeit  zu  Zeit  stärl^ 
Ich  kann  nicht  sagen,  daß  mit  der  Unmöglichkeit,  ] 
„all  mein  Glück  dahin"  ist.    Ich  habe  noch  so  viele  \ 
Ideale  in  der  Freude  an  der  herrlichen  Natur  und  \ 
daß  ich  bis  jetzt  ein  im  ganzen  glückliches  Leben 
jedenfalls  intensiver  genießend,   als  mancher  normi 
außer  im  Geschlechtsleben  die  Kulmination  seiner  \ 
Stammtisch    findet.     Nur    bisweilen,    wenn  meine 
stärker  erregt,  vergebens  nach  Befriedigung  ringt, 
meine    Dornenkrone  stärker.     Einst  liebte  ich  einer! 
meinem  Alter,  an  Bildung  weit  unter  mir  stehend,  del 
Beobachter  kaum  schön  genannt  haben  würde.    Meil 
wurde  erst  zur  Leidenschaft,  als  ich  ihn  persönlich  kel 
und  fand,  daß  er  einen  sehr  ehrenwerten  Charakter,  gut! 
und   einen   auffallenden   Bildungsdrang  hatte.     Ich   u{ 
seine  Lernbegierde  und  seinen  Eifer,  seine  Fortschritte 
mich   manchmal  in  Begeisterung,   dann   schien  er  mir  \ 
schön  zu  sein.    Er  sah  in  mir  seinen  Freund  und  Wohl\ 
liebte  ihn  nicht  nur  geistig,  sondern  mit  allen  meinen  Sil 
oft  kostete  es  mir  meine  ganze  Willenskraft,  mich  zu  behd 
Jede  Gelegenheit  suchte   ich,   um  seine  Hand  zu  berühr^ 
gar  neben  ihm  sitzend,  den  Arm  vertraulich  um  seine 
zu  legen.    Ob  ich  ihm  nicht  mitunter  in  meinem  Benehmel 
auffällig  vorkam,  ich   weiß  es  nicht.    Jedenfalls  blieb  er\ 
gleichmäßig   freundlich.      Alle   Qualen   der  Eifersucht  hat 
durchgemacht,   wenn   ich   einmal  zu   bemerken  glaubte, 
gegen  jemand  anders  freundlicher  war,  als  gegen  mich.    Es  ' 
strebt  mir,  näher  auf  dies  Verhältnis  einzugehen,  ich  möcht^ 
bemerken,  daß  es  durchaus  ideal  geblieben  und  nie  über  di 
wähnten  Vertraulichkeiten  hinausgegangen  ist. 

Noch    „platonischer*   ist   die  homosexuelle  Liebd 
einem  dritten  Fall:  \ 

„Kurz   bevor  ich   meine   Natur   entdeckte,   indem   mir  \ 
Kollege,  der  mich  über  sich  selbst  aufklären  wollte,  den  Moll\ 
die  Hand   gab,  hatte  ich  mein  Herz  an   einen  Unteroffizier  d 
Artillerie  verloren,  einen  Mann  von  stolzer,  herrlicher  Schönhe 
Er  wohnte  ganz   in  meiner  Nähe.    Als  ich  ihn  zum  ersten  Mai 
auf  der  Straße  sah,  blieb  ich  wie  festgewurzelt  stehen  und  blickt 
ihm  nach,  bis  er  mir  entschwand.    Von  nun  an  sah  ich  ihn  öfte 
und  wie  sehnte  ich  mich  nach  diesen  Begegnungen,  und  wenn  e\ 
kam,  wie  stockte  mir  der  Atem,  die  Kehle  war  mir  wie  zuge4 

Jahrbuch  V.  7 


—    98    — 

schnürt!  Gingen  wir  entgegengesetzt,  dann  kehrte  ich  um  und 
folgte  ihm,  mit  den  Blicken  die  wunderbare  Gestalt  verschlingend. 
Ich  fand  bald  heraus,  um  welche  Zeit  er  ungefähr  abends  aus  der 
Kaserne  nach  Hause  kam.  Ich  saß  dann  am  Fenster  und  wartete 
geduldig,  ein  moderner  Toggenburg,  um  ihn  blos  für  einige 
Sekunden  zu  sehen.  Wenn  sich  seine  Heimkehr  verzögerte,  saß 
ich  so  wohl  eine  Stunde  und  länger,  ein  Buch  oder  eine  Zeitung 
in  der  Hand,  bei  jedem  Säbelklirren  zusammenfahrend.  Oft 
fürchtete  ich,  er  könne  mein  Benehmen  bemerken,  aber  nein, 
gleichgültig  streifte  mich  sein  Blick  wie  jeden  beliebigen  anderen 
Menschen,  wenn  ich  an  ihm  vorüberging.  So  ging  es  viele  Jahre, 
ohne    daß  ich  je  gewagt  hätte,  seine  Bekanntschaft  zu  machen." 

Wie  die  Sehnsucht,  so  trägt  auch  die  mit  ihr  so 
oft  verschwisterte  Eifersucht  bei  beiden,  der  anders-  und 
gleichgeschlechtlichen  Triebrichtung  einen  vollkommen 
entsprechenden  Charakter.  Ein  urnischer  Militär— Inten- 
dantur-Beamter erzählt,  dass  er  aus  Eifersucht  einem 
normalsexuellen  Freunde,  den  er  „ wahnsinnig"  liebte,  alle 
Mädchen  „ausspannte,"  in  die  dieser  sich  , vergafft*  hatte. 

Unter  den  Homosexuellen  findet  man  genau  wie  unter 
den  Heterosexuellen  polygame  Don  Juan-Naturen,  deren 
Liebe  sich  bald  diesem,  bald  jenem  zuwendet,  und  mono- 
game, deren  beharrliche  Treue  jedem  Ehebündnisse  zur 
Ehre  gereichen  würde.  Auch  hier  zwei  Beispiele.  Ein 
homosexueller  Buchhändler  von  33  Jahren  erzählt: 

„Als  ich  20  Jahre  alt  war,  lernte  ich  einen  17  jährigen  Jüng- 
ling kennen.  Ohne  von  meiner  Veranlagung  zu  wissen,  fühlte 
ich  mich  zu  ihm  unaussprechlich  hingezogen.  Da  er  vollständig 
weibliebend  war,  konnte  er  meine  Liebe  nur  mit  Freundschaft 
erwidern.  Ich  nahm  den  Jüngling  zu  mir  und  arbeitete  und  darbte 
für  ihn.  Auch  er  hing  an  mir  mit  einer  Freundesliebe,  die  ihres 
gleichen  suchte.  Ich  verlebte  selige,  glückliche  Zeiten.  Nach  drei 
bis  v}er  Jahren  aber  kam  das  Unglück,  in  ihm  erwachte  jetzt  die 
Liebe  zum  Weibe.  Er  konnte  es  nicht  verstehen,  daß  es  mich 
schmerzte,  wenn  er  sich  in  den  Armen  eines  Mädchen  befriedigte. 
Ich  rang  und  kämpfte  mit  mir  selbst,  ich  wollte  fühlen  lernen  wie 
andere  Menschen.  Mein  Herz  sträubte  sich,  daß  mein  Liebling 
nicht  mehr  ganz  mein  eigen  sein  sollte,  wenn  er  mir  auch  sagte» 
daß  er  mich  noch  eben  so  lieb  hätte  wie  früher.    Damals  war  ich 


noch  sehr  religiös,  ich  flehte  zu  Gott,  aber  mir  w\ 
keine  Bettung.    Mein  Freund    wußte  mir  keinen  \ 
geben,  als  es  auch  mit  Weibern  zu  versuchen.    1 
und  ging  eines  abends  mit  zu  einer  Maitresse.    Ä 
bei  ihr  im  Zimmer  war,  bebte  ich  an  allen  Gliedern} 
liehe  Erregung  war  kein  Gedanke,  kurz  entschlösse; 
Hause  und   ließ  dort  meinen  Tränen  freien  Lauf, 
mir  klar,   daß  ich  nicht  wie  andere  Mensch en  war, 
die  Stunde  der  Erlösung.    Ich  kaufte  „die  Enterb tel 
glucks"   und   wie   Schuppen  fiel  es   mir  von   den 
wußte   nun,  daß   ich   mit  meinen  Gefühlen  nicht 
Welt  war;  der  Schmerz   war  stark,  wie  ich  mich  je\ 
kannte,  aber  ich  segne  die  Zeit,  wo  ich  Aufklärung  fa 
sie  lernte  ich  auch  Nachsicht  mit  den  Gefühlen  meind 
haben.  So  sind  die  Jahre  dahingegangen  und  noch  heute  i 
zehn  Jahren  wandle  ich  mit  meinem  Liebling,  den  ich  all 
jährigen   Jüngling  kennen  lernte,   Hand  in   Hand  dui 
Leben.    Mit  meinem  Schicksale   zufrieden,     die   heilige 
liebe  im  Herzen,  denke  ich  mir  oft,  der  glücklichste  Ml 
Erden  zu  sein.    Selbst  nicht  die  harten  Urteile  der  Mens<} 
unsere  Liebe  sind  mehr   im  Stande,  die  Zufriedenheit 
meines  Herzens  zu  erschüttern.    Ich  denke:  „Sie  sind  wit 
und   wissen  nicht  was  sie  tun."    Meine  grenzenlose  Liebt 
den  vielen  Jahren  nicht  vermocht,  in  meinem  Liebling  ai 
eine  Idee  von  dem  Triebe  zum  Weibe  auszulöschen,  obw\ 
stets  von  Zeit  zu  Zeit  mit  ihm  geschlechtlich  verkehrte."  \ 
Im    Gegensatz    zu    diesem   Fall    will    ich    die 
Zeichnungen  eines  polygamen  Homosexuellen  wieder] 
Es  ist  derselbe,  den  wir  schon  früher  als  urnischen  Kd 
kennen  lernten  und  den  im  weiteren  Verlaufe  des  Le 
der    Fluch    seiner    orthodoxen    Familie  durch  alle 
jagte.     Er  schreibt: 

„Ich  habe  mich,  um  meinen  geschlechtlichen  Reiz  zu  befriedig 
in  der  Folge  wohl  hunderten  von   Leuten  der   verschieden! 
Nationen  hingegeben.    Dabei  habe  ich  aber  absolut  meinen  eigei 
Geschmack  gewahrt,  denn  mit  einem  mir  physisch  unsympatisc] 
Menschen  ist  es  mir  überhaupt  nicht  möglich,  geschlechtlich 
verkehren.    Männer,   die  ich  geliebt  habe,   hatten  immer   etwi 
von  der  Idealgestalt  meiner  Jugend.    Dahin   gehören  männlicl 
aussehende,    kräftige  Gestalten  und  Gesichter,  frische,  gesundi 
Farben,  fröhliche,  wenn  möglich,  blaue  oder  graue,  treuherzige! 

7* 


—     100    — 

offene  Augen,  ein  frischer  Mund,  schöne  Zähne  und  möglichst 
großer  Schnurrbart.  Schöne  Männer,  die  sich  weibisch  benehmen, 
sind  mir  ekelhaft.  Jnnge  Leute,  oder  auch  ältere  ohne  Schnurr- 
bart kann  ich  nicht  leiden,  ebenso  ist  mir  jeder  Bart  außer  dem 
Schnurrbart  höchst  unsympathisch.  Schöne  Gestalten  sind  mir 
lieb,  aber  das  Gesicht  ist  ausschlaggebend.  In  Deutschland  sind 
es  Soldaten,  Unteroffiziere,  Offiziere,  Schaffher,  Schutzleute,  Post- 
beamte, Droschkenkutscher,  Portiers,  Maurer,  Arbeiter,  besonders 
in  hohen  Stiefeln  und  Lederhosen,  unter  denen  ich  die  mir  sym- 
pathischen Erscheinungen  meistenteils  gefunden.  Selbstverständ- 
lich kann  ein  solches  Verhältnis  nie  von  Dauer  sein,  da  nur  das 
rein  sinnliche  Element  dabei  in  Beträcht  kommt,  doch  momentan, 
noch  kürzlich,  konnte  ich  mich  für  einen  schönen  Ulanenunter- 
offizier dermaßen  interessieren,  daß  ich  ihm  stundenlang  nachge- 
laufen bin,  bis  es  mir  gelang,  eine  Gelegenheit  auszunützen,  bei 
der  ich  in  unauffälliger  Weise  mich  eng  an  ihn  schmiegen  konnte. 
Ich  entdeckte  in  ihm  einen  Gleichgesinnten  und  längere  Zeit  war 
dieses  Verhältnis  im^Stande,  mich  völlig  auszufüllen.  Unter  den 
höheren  Ständen  finde  ich  viel  seltener  mir  körperlich  sympathische 
Leute,  dagegen  unterhalte  ich  mich  oft  und  gerne  mit  ihnen  und  ver- 
kehre in  ihren  Kreisen.  —  Ich  finde  überhaupt,  daß  im  Vergleich 
mit  dem  wirklich  gebildeten  Amerikaner,  Irländer  oder  Engländer 
der  Deutsche,  was  männliche  Erscheinung  und  männliches  Wesen 
anbelangt,  oft  einen  gezierten,  fast  weibischen  Eindruck  macht. 
Im  homosexuellen  Verkehr  ist  mir  der  Franzose  am  unange- 
nehmsten. Er  hat  eine  mir  abscheuliche  Art  und  Weise  hundert 
Küsse  zu  geben,  die  nicht  einen  wert  sind.  Er  ist  in  seinen 
Liebesbezeugungen  von  einer  hastigen,  affektierten  Leidenschaft. 
Den  Italiener  ziehe  ich  bedeutend  vor,  er  ist  wirklich  leiden- 
schaftlich empfindend  und  in  seiner  Art  sich  zu  geben  liegt  etwas 
tieferes,  ernsteres.  Mit  Spaniern  ging  es  mir  ebenso.  Am  liebsten 
hatte  ich  den  Irländer,  es  ist  entschieden  die  männlichste  Nation, 
die  ich  kenne.  Wenn  er  jemand  wirklich  zugetan  ist,  so  ist  er 
treu  und  aufopferungsfähig  wie  kein  anderer.  Amerikaner  und  Eng- 
länder waren  mir  meist  angenehm  —  oft  aber  etwas  zu  kühl  und 
geschäftsmäßig.  Dänen,  Norweger  und  Schweden  fand  ich  oft 
geziert.  Rein  sinnlich  beim  Akt,  den  Reiz  oft  bis  zum  Wahnsinn 
steigernd,  sind  die  slavischen  Völker.  Mit  Negern,  außer  Misch- 
lingen mit  rein  kaukasischer  Gesichtsbildung  und  ohne  Wollhaar, 
habe  ich  nie  zu  tun  gehabt,  obwohl  sie  vielfach  ihrer  stark  aus- 
gebildeten Genitalien  wegen  beliebt  sind,  Sie  sind  feurig,  fast 
tierisch  wild,  wenn  sinnlich  erregt.     Vor  den  asiatischen  Rassen 


habe  ich  stets  Abscheu  empfunden,  mit  Ausnah 
und  Persern,  mit  denen  ich  nie  homosexuell  verk^ 
Wenn  ich  die  frischen  Lippen  eines  Mannes 
küsse,  und  seine  feste  Gestalt  umfasse,  dann  eri 
in  mir  die  Sehnsucht,  auch  Geist  und  Verständnis! 
mich  körperlich  reizt,  vereinigt  zu  finden.   Im  Grun<^ 
immer    unwillkürlich    die    mit    den   Augen   des 
Knaben  geschaute  und  wohl  in  der  Erinnerung  id\ 
stalt  jenes  Offiziers,  nach  der  ich  rastlos  jage  und; 
allen  Nationen,  in  den  verschiedensten  Klassen  der 
die  zu  finden  ich  jetzt  fast  aufgegeben  habe,  ohne^ 
danach  lassen  zu  können. 

Bei   der  Diagnostik  der  echten  Homosexua\ 
Näcke *)  mit  vollem  Recht  besonders  Wert  auf  d^ 
weis,   daß   auch,  ebenso   wie  der   Heterosexuelle 
sexuell  träumt,  das  Traumleben  der  Homosexuell 
seiner    Triebrichtung    beherrscht   wird.     Wie    eil 
große  Anzahl  von  Einzelmitteilungen   zeigt,  ist  dl 
sächlich   durchgängig   der  Fall.     Dabei   erscheint  \ 
beachtenswert,   daß  die  angenehmen  Träume  der  \J\ 
auch  schon  vor  Eintritt   der  Reife  von  gleichgescli 
liehen  Vorstellungen  erfüllt  sind,2)  sowie  daß   nich\ 
tische  Träume  qualvoller  Art  durchaus  nicht  selten  i 
normale   Gohabitationsversuche  hervorgerufene   Beän 
gungen  zum    Gegenstande   haben.     Ein  Urning  gibü 
„Ich  träume  oft,  ich  bin  verlobt  oder  verheiratet.     Dl 
habe    ich    das    Gefühl    furchtbarer    Beklommenheit   \ 
einer   undefinierbaren    Angst."     Hie    und    da    kommt\ 


*)  Näcke:  Kritisches  zum  Kapitel  der  normalen  und   patl 
logischen  Sexualität.    Archiv  f.  Psych.  Bd.  32.    Heft  1.    (1899.)\ 

Näcke:   Die   forensische   Bedeutung   der  Träume.     Archiv \ 
Kriminalanthr.    1900.    3.  Bd.  \ 

Näcke:  Probleme  auf  dem  Gebiet  der  Homosexualität  in  de 
H.  Laehrschen  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  etc.  59  Bd.  S.  812.  81^ 
und  825. 

2)  Man  vergl.  das  bei  der  Schilderung  des  urnischen  Kinde? 
Angeführte. 


—     102    — 

vor,  daß  Urninge  sich  scheuen,  mit  Angehörigen  das 
Zimmer  zu  teilen,  weil  sie  befürchten,  sie  könnten  durch 
„Sprechen  aus  dem  Schlaf*  ihre  homosexuellen  Neigungen 
verraten.  Ähnlich  wie  im  Traum  dokumentiert '  sich  auch 
in  der  Trunkenheit  deutlicher  die  geschlechtliche  Tendenz, 
indem  ja  der  Alkohol  durch  Lähmung  des  kritischen 
Oberbewußtseins  das  Gefühlsleben  mehr  hervortreten 
läßt.  Überhaupt  tritt  das  Elementare  und  Natürliche 
der  urnischen  Liebe  überall  da  besonders  deutlich  her- 
vor, wo  die  Hemmungsvorstellungen  in  stärkerem  Grade 
ausgeschaltet  sind.  Ein  älterer  urnischer  Staatsbeamter 
teilte  mir  mit,  daß  er  einem  lang  gehegten  Wunsche 
entsprechend  vor  einiger  Zeit  in  seinen  engeren  Kreisen 
einen  jungen  Konträrsexuellen  von  etwa  20  Jahren  kennen 
lernte.  Er  berichtet  darüber:  „Der  betreffende  Jüngling 
ist  bereits  in  seinem  Äußern,  vollständig  aber  in  seinem 
Fühlen  und  Denken,  feminin.  Erst  seit  kurzem  unter- 
richtet, daß  es  Konträrsexuelle  gäbe,  war  er  über  sich 
selbst  noch  nicht  klar.  Ich  hatte  ihn  eingeladen,  mich 
auf  einige  Tage  zu  besuchen  und  als  ich  ihn  des  Abends 
in  sein  Schlafzimmer  geleitet  und  ihm  gute  Nacht  ge- 
wünscht, war  er  so  ungeheuer  erregt,  daß  er  mir  wortlos 
in  die  Arme  fiel.  Wenn  man  solche  hervorbrechende 
Leidenschaft  mit  dem  Worte  Unnatur  abtun  will,  so 
haben  die  Leute,  deren  Urteil  leider  heute  noch  maß- 
gebend ist,  niemals  ein  solches  Menschenkind  in  dem 
Augenblicke  gesehen,  in  dem  mit  so  elementarer  Macht 
zum  ersten  Male  die  Liebe  gebieterisch  ihr  Recht  ver- 
langt und  zwar  in  einer  für  das  betreffende  Individuum 
normalen  Form."  — 

Durch  die  Hebung  der  ganzen  Persönlichkeit  er- 
klärt es  sich,  daß  trotz  der  beispiellosen  Widerwärtig- 
keiten, denen  die  Homosexuellen  ausgesetzt  sind,  90  von 
hundert  keine  Änderung  ihres  Zustandes  wünschen,  djr 
Rest  dieselbe  auch  fast  ohne  Ausnahme  nur  aus  sozialen, 


nicht  aus  persönlichen  Gründen  erstrebt,     i 
sich  zeitweise  höchst  unglücklich  fühlen,  ni 
vorübergehend  an  Selbstmord ideen  litten,  ni 
Selbstmordversuche  vorgenommen  haben,  fühl\ 
liehe   den  homosexuellen  Trieb    so   sehr   als\ 
ihrer  selbst,  daß  sie  sich  ohne  denselben  kauß 
können   und    meinen,  mit  demselben  eines  ^ 
Lebensguts  beraubt  zu  werden.     Ein  urniscbl 
den    ich   wegen   Schlaflosigkeit  hypnotisierte,  \ 
einmal  ein  förmliches  Versprechen  ab,  daß  ich  \ 
Hypnose  nicht  an  seiner  Homosexualität  „herumsii 
Ich  gebe  noch  einige  Bemerkungen  Homosexuell\ 
die    sich    auf    diesen    Punkt   beziehen.       Ein  V\ 
schreibt:    „ Meine   Natur  hätte  mir  von  vorn  he\ 
sein  müssen.     Nur  künstliche  Konstruktionen  aul 
anerzogener   Begriffe  konnten   über  sie  hinwegti 
sie   aber  nicht  im  Geringsten  unterdrücken.     Eiii 
änderung  meiner  Veranlagung  wünsche  ich  nicht,! 
damit  meine  ganze  Persönlichkeit  negieren  würde], 
Richter  äußert  sich :  „Ich  verspürte  schon  lange  vd, 
körperlichen  Berührung  ein  so  inniges  Glücksgefühl  \ 
meine  Neigung,  sie  war  so  sehr  ein  Teil  meines  inn\ 
Wesens,  daß  ich  nur  dann  anders  sein  möchte,  wei^ 
wüßte,  wie  ich  mich  alsdann  fühlen  und  befinden  wii 
Ein   alter  Pfarrer  bemerkt:    „Sollte   ich  noch    die  \ 
merzung  des  §  175  erleben,  so  würde  nichts  zu  me\ 
Glücke  fehlen.     Ich  bin  der  festen  Überzeugung,  daßl 
der  sogenannte  anormale  Zustand  vom  Schöpfer  geg^ 
ist  und  für  mich  gerade  so  normal  ist,  als   der  gewÖ 
liehe  Sexualzustand  für  die  übrigen  Menschen.     Ich  \ 
neide  sie  nicht  im  geringsten  um  das  Kleinod,  welches  sie  \ 
Weibe  besitzen,  sondern  danke  Gott,  daß  ich  meine  Liä 
und  Zuneigung  einem  Jüngling  schenken  kann."    So  seh 
wir,  daß  wie  der  Heterosexuelle  nicht  homosexuell,  aud 
der  Homosexuelle  nicht  heterosexuell  empfinden  möchte 


—     104    — 

Diese  absolute  Kongruenz,  die  sich  ausnahmslos  auf 
alles  erstreckt,  was  es  in  der  Liebe  und  im  Geschlechts- 
trieb Physiologisches  und  Pathologisches,  Hohen  und 
Niederes,  Gutes  und  Böses,  Schönes  und  Häßliches  gibt, 
ist  nur  begreiflich  und  erklärlich,  wenn  es  sich  um  zwei 
völlig  analoge,  nebengeordnete  und  auch  in  ihren  Ursachen 
gleichgeartete  Gefühlsrichtungen  handelt. 


III.  Die  Unausrottbarkeit  der 
Homosexualität 

Es  ist  anzunehmen,  daß  ein  Trieb  angeboren  ist,  wenn 
äußere  Einflüsse  nicht  imstande  sind,  denselben  umzu- 
wandeln; wenn  Homosexuelle  durch  Umstände  irgend 
welcher  Art  im  Verlaufe  ihres  Lebens  normal  fühlend 
werden,  so  würde  das  sehr  dafür  sprechen,  daß  es  sich 
um  eine  erworbene  Eigenschaft  handelt.  Schrenck-Xotzing, 
der  unter  denjenigen,  die  Näcke  neuerdings *)  als  wirkliche 
Sachverständige  in  dieser  Frage  bezeichnete,  der  einzige 
Vertreter  der  Erwerbstheorie  ist,  sagt  mit  einem  gewissen 
Recht8):  Je  mehr  sich  die  Zahl  der  Fälle  häuft,  in  denen 
bleibende  therapeutische  Resultate  erzielt  worden  sind,  um 
so  geringer  erscheint  nach  unserer  Meinung  der  Anteil, 
den  die  erbliche  Disposition  in  der  Entstehung  dieser 
Anomalie  beanspruchen  kann."  Die  Therapie,  von  der 
hier  die  Rede  ist,  ist  die  hypnotische  Suggestionsbehand- 
lung. Aber  gerade  die  Wirksamkeit  dieses  Heilmittels 
kann  nach  allem,  was  verbürgt  über  die  Erfolge  der  Hyp- 
nose auch  bei  angeborenen  Eigenschaften  berichtet  ist, 
hier  als  beweiskräftig  nicht  herangezogen  werden. 


*)  Näcke,  Probleme  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität,  in 
der  Allg.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  etc.  S.  809. 
2)  S.  149  a.  a.  0. 


Wenn  es  möglich  ist,  durch  Beeinflussuni 
körperliche    Veränderungen    wie   Brandblase! 
rufen,   wenn  man  Blindheit  und  Taubheit,  A\ 
Ageusie  suggerieren  konnte,  wenn  man   in  d^ 
tiefgreifende    Wirkungen    auf    die    Menstruatl 
Pollutionen   ausüben   kann,   Medien   zu  veranl^ 
mochte,  nach  dem  Erwachen  „  etwas  zu  sehen, 
da  war,  etwas  nicht  zu  sehen,   was   da  war," 
alte  Leute  davon  überzeugte,  sie  seien  wieder  K\ 
worden,  warum  soll  es  denn  etwas  Ungewöhnlic 
Homosexuellen  Genuß    am    Weibe    zu  suggerier^ 

Anmerkung.    Man  vergleiche  über  die  hypnotische! 
lung  der  Homosexualität  neben  von  Schrenck-Notzing:  \ 
gestionstherapie  bei  krankhaften  Erscheinungen  des  Geschleo 
und  Krafft-Ebing:   Psychopathia   sexualis   S.  303  ff.   bö 
Fuchs:  Therapie  der  anormalen  Vita  sexualis  1899,  S,  45;  W\ 
Strand:  Der  Hypnotismus   und   seine   Anwendung  in   der 
tischen  Medizin,  1891,  p.  52 ff.;   Bernheim:  „Hypnotisme",! 
1891.    S.  38.  \ 

Über  Beeinflussung  und  Umwandlung  angeborener  Eigenset 
durch  Hypnose  findet  man  Berichte  ausführlich  angeführt  in:  ^ 

1.  Jame-Braid:  Neurypnology  or  the  rationale  of  ner^ 
sleep  considered  in  relation  with  animal  magnetisme.  Lon\ 
Churchhill.    1843. 

2.  A.  Liebault:  Du  sommeil  et  des  etats  analogues,  considi 
surtout  au  point  de  vue  de  l'action  du  moral  sur  le  physique.  Pa 
Masson,  1866. 

3.  A.  Liöbault:  Le  sommeil  provoque  et  les  6tats  analogu^ 
Paris.    Doris,  1889. 

4.  H.  Bern  heim:  De  la  Suggestion  dans  Tetat  hypnotique 
dans  l'ßtat  de  veille.    Paris,  1884. 

5.  H.  Bernheim:  De  la  Suggestion  et  de  ses  applications 
la  the>apeutique.    Paris,  1886. 

6.  H.  Bernheim:    Hypnotisme,  Suggestion,    Psychotherapie.' 
Etudes  nouvelles.    Paris,  1891. 

7.  R.  Haidenhain:   Der  sogenannte   tierische   Magnetismus. 
Physiologische  Beobachtungen.    Leipzig.   Breitkopf  &  Härtel.  1880. 

8.  Albert  Moll:  „Der  Hypnotismus".  Berlin.  Kornfeld.  1889. 


—    106    — 

würde  sicher  in  ähnlicher  Weise  auch  gelingen  —  ob 
derartiges  bereits  versucht. wurde,  ist  uns  nicht  bekannt 
—  Heterosexuellen  homosexuelle  Libido  einzuflößen. 
Würde  man  nun  aber  aus  der  Umwandlung  heterosexueller 
Empfindungen  den  Schluß  ziehen,  daß  der  Trieb  der 
Männer  zum  Weibe  nicht  angeboren,  sondern  erworben 
sei?  Mit  nichten,  ebensowenig  kann  man  es  dann  aber 
auch  aus  den  hypnotischen  „Heilungen*  Homosexueller. 
Ich  teile  nicht  die  pessimistische  Ansicht  Binswangers  J) 

9.  A.  Forel:  Der  Hypnotismus,  seine  psychologische,  medi- 
zinische, strafrechtliche  Bedeutung  etc.  Stuttgart.  Enke.  1895. 
(III.  Aufl.) 

10.  Ewald  Hecker:  Hypnose  u.  Suggestion  im  Dienste  der 
Heilkunde.    Wiesbaden.    Bergmann.    1898. 

11.  Otto  St  oll:  Suggestion  und  Hypnotismus  in  der  Völker- 
psychologie.   Leipzig.  Koehler.  1894. 

12.  Wetterstrand:  „Der  Hypnotismus".  Wien  und  Leipzig. 
1891.    S.  31. 

13.  J.  M.  Charcot:  „La  foi  qui  guerit".  Revue  hebdomadaire. 
Tome  VH.    Dec.  1892. 

14.  Reinhold  Gerling:  Der  praktische  Hypnotiseur.  Berlin. 
Möller.    HI.  Aufl.  1902. 

15.  Zeitschrift  für  Hypnotismus.  Seit  dem  Jahre  1893 
herausgegeben  von  A.  Forel  u.  0.  Vogt.    Leipzig.    Barth. 

Wie  weit  sich  unter  bestimmten  Verhältnissen  die  ganze  Per- 
sönlichkeit unter  hypnotischem  Einfluß  umgestalten  kann,  zeigt 
die  noch  so  geheimnisvolle  Erscheinung  des  doppelten  Bewußtseins. 
Man  findet  darüber  näheres  in: 

1.  Max  Dessoir:  Das  Doppel-Ich.    Leipzig.  Günther.    1890. 

2.  Azam:  Hypnotisme  et  double  conscience.  Paris.  Alcan.  1893. 

3.  Uson  Osgood:  „Duplex  personality"  Journ.  nerv,  and 
ment.  diseases.    Spt.  1893. 

4.  Freiherr  v.  Schrenck-Notzing:  Über  Spaltung  der 
Persönlichkeit  etc.    Wien,  Holder,  1896. 

Endlich  auch  in: 

Robert  Macnish:  „The  philosophy  of  sleep",  Glasgow  und 
London. 


*)  Bins  wanger:     Verwertung  der  Hypnose   in  Irrenanstalten. 
Therap.  Monatshefte  1892.    Heft  3  u.  4,  S.  167. 


„daß  den  Aussagen   der  an    perverser  Sexua 
Leidenden   über  Erfolge    in    der  Hypnose   k^ 
beizumessen  sei,"  umsomehr  stimme  ich  aber ! 
der  —  gleich    groß    als  Kenner    der  Hypnos 
Homosexualität  —  erklärt,1)   daß  selbst  die 
Erfolge    der    Hypnose    „nicht    auf    wirkliche^ 
sondern  auf  suggestiver  Dressur  beruhen* 
bewunderungswürdige     Artefakte     hyi 
Kunst,    keineswegs    Umzüchtungen    der    psychi 
Existenz."     Krafft-Ebing    führt,    als    bezeichne! 
den  glänzendsten  Heilerfolg  Schrenck-Notzings 
Repräsentant  nach  vollendeter  „Heilung11  von  sie 
sagte:    „Ich    fühle  immer    eine  gewisse,    nicht 
windende  Schranke,   die  nicht  auf  moralischen 
basiert,  sondern,  wie  ich  glaube,  direkt  auf  die  Beha 
zurückzuführen    ist.*      Der   Verfasser    der    Psyche 
sexualis    schließt    diese    Bemerkungen    mit    dem 
„Jedenfalls    beweisen    solche    „Heilungen11    (die  hiel 
vorher  bei  diesem  Wort  angebrachten  Anführungssi 
finden  sich  im  Original)   nichts   gegen   die  Annahmi 
originären  Bedingtseins  der  konträren  Sexualempfindii 
Ich  selbst  habe  sehr  viele  Urninge  gesehen,  die  sich 
geblich  hypnotischen  Kuren   unterzogen   haben.     Mir 
ein  Jüngling  im  Gedächtnis  von  so  femininer  Beschafi 
heit,    daß    außer    dem    eigentlichen  Genital  apparat   ai 
nicht  das  geringste  männliche  an  ihm  zu  entdecken  w\ 
Derselbe    hatte  sich    über    ein  Jahr    erfolglos   bei   ein^ 
süddeutschen  Kollegen   hypnotisieren   lassen.     Ich  kenl 
persönlich    nur  einen  Homosexuellen,    der   mir    mitteilt^ 
daß  er  sich  durch  die  suggestive  Behandlung  des  Kollegel 
Fuchs  in  Wien  von  seinem  gleichgeschlechtlichen  Triebi 
befreit   fühle.      Doch,   wie    gesagt,    wenn    auch   hundert 
solcher  Heilberichte  vorliegen  würden,   sie  würden  nicht! 


l)  Psychop.  sex.    S.  311  ff. 


—    108    — 

das  Erworbensein  der  konträren  Sexualempfindung  er- 
weisen, abgesehen  davon,  daß,  die  Realsuggestionen,  die 
das  Leben  dem  homosexuell  Veranlagten  erteilt,  die  Auto- 
und  Fremdsuggestionen,  die  fortgesetzt  auf  ihn  wirken, 
viel  stärker  sind,  als  die  Verbalsuggestionen  eines  noch 
so  befähigten  Arztes.  Wären  äußere  Einflüsse  imstande, 
die  Triebrichtung  zu  ändern,  so  müßte  der  gleich- 
geschlechtliche Trieb  längst  erloschen  sein. 

Wie  sehr  ist  die  ganze  Erziehung  darauf  gerichtet, 
aus  dem  urnischen  Knaben  einen  Vollmann  zu  entwickeln; 
zu  Hause  und  in  der  Schule  wird  er  genau  so  wie  die 
anderen  normalen  Kinder  erzogen,  schon  früh  wird  ihm 
alles  förmlich  als  Schande,  zum  mindesten  als  Unschick- 
lichkeit, ausgelegt,  was  man  als  dem  anderen  Geschlechte 
zukömmlich  ansieht.  Fangen  dann  die  Kameraden  oft 
schon  mit  dreizehn,  vierzehn  Jahren  an,  für  das  Weib 
zu  schwärmen,  so  gibt  sich  der  homosexuelle  Jüngling 
die  größte  Mühe,  es  den  andern  nachzutun,  er  schämt 
sich  förmlich,  daß  er  noch  „keine  Flamme*  hat  und  ihm 
kein  Name  einfallen  will,  wenn  es  im  Rundgesange  heißt: 
„Bruder,  Deine  Liebste  heißt?"  Sehr  häufig  tritt  auch 
die  erste  sexuelle  Verführung  von  weiblicher  Seite, 
namentlich  durch  Dienstmädchen,  ein.  Aber  so  wenig 
ein  Heterosexueller  durch  die  ebenfalls  nicht  seltene  erste 
geschlechtliche  Erregung  einer  männlichen  Person  homo- 
sexuell wird,  ebenso  wenig  wird  ein  Homosexueller  dadurch 
weibliebend.  Eine  ganze  Reihe  von  Urningen  erklären 
auf  das  allerbestimmteste,  daß  sie  sich  genau  erinnern^ 
daß  die  erstmaligen  Erregungsversuche  vom  anderen  Ge- 
schlecht ausgingen.  So  schreibt  einer  unserer  bedeutenderen 
Schriftsteller:  „Ich  lege  das  Hauptgewicht  darauf,  daß, 
trotzdem  der  erste  sexuelle  Anstoß  weiblicher  Art  war 
—  eine  Kindsmagd  verführte  mich  — ,  trotzdem  mir  das 
weibliche  Geschlecht  durch  Erziehung  von  Jugend  an 
sozusagen    auf    dem  Präsentierteller  gereicht  wurde    und 


109    — 


meine  Lektüre   nur  die  Weiberliebe  verherrli 
Neigung  zum  männlichen  Geschlecht  doch  eir 
ich   des  Zwanges  ledig  war."     In   der  Tat 
Suggestionskraft    der    gesamten    Literatur,    dil 
Romanen  und  Epen,  ihren  Dramen  und  lyrischen! 
nahezu  ausschließlich  die  normale  Liebe  zum  Mi\ 
hat,  nicht  imstande,  den  Trieb  auf  das  Weib  z\ 
seine  Richtung  ist  unerbittlich  und  unveränderlich 
es  dem  jungen  Mann  allmählich  klar  wird 
um  das  zwanzigste  Jahr  herum   der  Fall  ist  — 
sein  Begehren  von  dem  seiner  Umgebung  wesentlich 
scheidet,  beginnt  gewöhnlich  ein  Kampf  gegen  siel 
der  an  Stärke  wohl  kaum  seines  gleichen  hat.     Ein 
sexueller  Künstler  berichtet:    „Ich  habe   ganz   ful 
gekämpft  mit  Aufgebot  meiner  ganzen  Willenskraft 
gebens;   ich    habe   so   gelitten,   daß   ich  eine  langil 
Nervenkrankheit   bekam.       Kaum   genesen ,    begani 
aufreibende  Kampf  von  neuem.     Als  ich  merkte,  dafl 
die   ureigenste  Natur   nicht  umwandeln  läßt,  verfiel 
in  eine  tiefe,   lange  Melancholie,   die  sich  —  obwohl 
nie    äußere    Konflikte   hatte  —  bis  zum  ärgsten  Leb\ 
Überdruß  steigerte  etc."     Ein  Schweizer  Uranier  schrei 
„Von  Jugend  an  bin  ich  hartnäckig    gegen    mich    an\ 
gangen   und  habe  mir  die  größte  Mühe   gegeben,   mel 
Neigungen   zu   beherrschen.     Es   gelang  mir  hie  und 
aber  leider  machte  ich  stets  dieselbe  Erfahrung;  je  läng 
ich  anscheinend  siegreich  den  Trieb  unterdrückte,  um 
heftiger  kehrte  er  auf  einmal  zurück.    Hauptsächlich  g^ 
schieht  dies  nachts  beim  plötzlichen  Erwachen,  wenn  dii 
Willenskraft  durch  den  Schlaf  vermindert  ist.     Was  habe 
ich  nicht  alles  angewandt:  feste  Entschlüsse  und  Gelübde,\ 
Ärzte    zu    Rate    gezogen,  (  Wasserkuren,    Hypnose    und\ 
Elektrizität,    systematische   Ablenkung    der    gefährlichen  \ 
Gedanken  durch  körperliche  Übungen,  Ackerbau,  Reisen,  \ 
Militärdienst,    Studien,  Lesen    etc.      Ich   opferte  geliebte 


—     110    — 

Gegenstände ;  weder  Religion  noch  Philosophie  waren  mir 
behtilflich.  Ich  litt  stark  an  Lebensüberdruß.  Vier  Jahre 
war  ich  leidenschaftlich  in  einen  jungen  Mann  gleichen 
Alters  verliebt,  bis  derselbe  im  24.  Jahre  starb,  ohne  daß 
ich  ihm  jemals  eine  Äußerung  machen  durfte.  Es  war 
ein  Höllenleben."  Noch  einen  urnischen  Arbeiter  wollen 
wir  hören:  „Ich  hatte  von  meinem  19. — 21.  Jahr  ein  sehr 
inniges  und  ideales  Freundschaftsverhältnis,  mein  Freund 
war  ein  Jahr  jünger  als  ich,  von  großer  Lebhaftigkeit, 
Natürlichkeit  und  Fröhlichkeit  Nichts  wäre  imstande 
gewesen,  uns  zu  trennen.  —  Da  entdeckten  seine  Eltern 
in  ihm  den  Urning  und  jagten  ihn  njit  Schimpf  und 
Schande  aus  dem  Hause.  Er  ging  nach  Paris  und  ist 
seit  4  Jahren  verschollen.  O,  diese  elterliche  Unvernunft! 
Damals  lernte  ich  erkennen,  daß  auch  ich  voll  und  ganz 
zu  jenen  von  der  ehrbaren  Welt  Ausgeschlosseuen  gehöre, 
öfter  als  einmal  war  ich  nahe  daran,  diesem  jammervollen 
Leben  ein  Ende  zu  machen.  Was  ich  infolge  meiner 
urnischen  Natur  gekämpft  und  gelitten,  vermag  ich  auch 
nicht  annähernd  zu  schildern.  Wenn  ich  nicht  los- 
knallte, so  ist  es  wahrhaftig  keine  Feigheit  gewesen, 
sondern  allein  die  Erkenntnis  hielt  mich  ab,  daß  ein 
größerer  Mut  dazu  gehört,  auszuharren,  und  daß  nicht 
die  Natur,  sondern  die  kurzsichtige  Menschheit  in  Ver- 
blendung den  Fluch  über  uns  geschleudert  hat,  welcher 
—  ich  sage  leider  —  hundertfach  auf  sie  zurückfiel,  indem 
sie  tausende  von  Menschen,  deren  geistige  Tätigkeit  für 
sie  von  größtem  Nutzen  gewesen  wäre,  zur  Verzweiflung 
und  in  den  Tod  getrieben  hat." 

Unter  den  Mitteln,  die  angewandt  wurden,  den  homo- 
sexuellen Trieb  auszurotten,  steht  die  Religion  obenan. 
Sehr  viele  Urninge  haben  jahrelang  auf  den  Knieen  ge- 
legen und  Gott  um  „Errettung"  angefleht.  Eine  nicht  un- 
beträchtliche Anzahl  hat  mitgeteilt,  daß  sie  in  diesem 
langen    vergeblichen    Ringen    schließlich    ihren   Glauben 


verloren  haben.  Ich  zitiere  zwei.   Der  eine  - 
—  schreibt:  „ Durch  meine  sehr  fromme  Mutti 
Religion   erzogen,   habe  ich  nach  Erkenntnis 
lischen  Zustandes  Gott  in   heißen  Gebeten 
solle  mir   in  meiner  Not  einen  Ausweg  zeige^ 
sah,  daß  sich  trotz  eiserner  Beherrschung  und 
Kämpfe  mein  Zustand  nicht  änderte,  habe  ich 
vertrauen   verloren/     Ein   zweiter  berichtet:    , 
zu   dem  Gott,  der   mir   in  der  Schule  gelehrt 
von  dem  gleichgeschlechtlichen  Triebe,  den  ich 
haft  hielt,  zu  befreien.     Der  Himmel  aber  blieb  ta\ 
kam    mir   oft  vor   wie   ein   Schiff,   das    mitten 
Ozean    den    Wellen    preisgegeben    ist.      Obwohl 
solchen  Stunden   dann   niederkniete   und  im  Geb^ 
Erlösung  schrie,  blieb  ich  verlassen.     Schließlich 
darüber    alle    meine  religiösen   Anschauungen  ins  ^ 
ken.    Jetzt    glaubte    ich    an    nichts    mehr.     Ich 
nicht   mehr   glauben."1)     Einige   stark  religiöse  Nd 


J)  Anmerkung:  Vor  kurzem  schrieb  mir  zu  diesem  Punl 
Ordensgeistlicher  folgendes:    Ich  zweifle  nicht  daran,  dass  zahlr! 
Urninge  um  ihrer  Geschlechtsnatur  willen  den  Glauben  verlieren.! 
kommen  allmählich  dazu,  sich  selbst  als  lebendige  Argumente  wide^ 
Bibel  und  wider   die  Lehren  der  Kirche  zu   betrachten.    Man 
sicher  nicht  fehl,  wenn  man  annimmt,  dass  der  Anteil  des  Uranisii 
an  dem  Kampf  gegen  das  kirchliche  Prinzip  von  jeher  ein  sehr 
trächtlicher   gewesen  ist.     Andere  werden   Zweifler   und   Grübl\ 
Auch    homosexuelle    Geistliche,    und  vielleicht   diese   gerade 
meisten,  gehen  oft  ihrer  Glaubensfreudigkeit  verlustig  und  kämpft 
ihr  Leben  lang  mit  schweren  Zweifeln.    Je  mehr  die  Reflexion  übd 
sich  selbst  ihr  [Innenleben   beherrscht,    um   so    schwerer   wird   el 
ihnen,   die  religiöse  Disziplin  ihrer  Gedanken  aufrecht  zu  erhalten! 
Wieder  andere,  und  dahin  dürften  wohl  ganz  vorzugsweise  Theologen! 
gehören,  regt  das  Geheimnis,  das  auf  dem  Grund  ihrer  Seele  liegt,! 
zu  positiver  Geistesarbeit  an.    Die  Argumente  aus  dem  Consensus 
communis    und  aus   der  Auctoritas   doctrinalis,    denen  der  Urning 
überhaupt  mit  einem  für  ihn  naturgemässen  Skeptizismus  gegen- 
übersteht, werden  ihnen  zum  Gegenstand  der  Kritik  und  sie  fangen 


—     112    — 

kommen  nach  langen  vergeblichen  Kämpfen  zu  der 
Überzeugung,  daß  ihr  Zustand  von  Gott  gewollt  sein 
muß.  Ein  katholischer  Graf  sagt:  «Die  Annahme,  meine 
Gleichgeschlechtlichkeit  sei  Sünde,  Laster,  Unnatur,  er- 
scheint mir  als  Beleidigung  des  allweisen  Weltenschöpfers." 
Und  ein  protestantischer  Pfarrer  meint:  «Wenn  ich  um 
meines  mir  eingepflanzten  Triebes  willen  ein  Verbrecher 
bin,  dann  ist  es  der  Schöpfer,  der  mich  als  Verbrecher 
erschaffen  hat.  Das  aber  heißt  doch,  den  Schöpfer  einer 
Untat  bezichtigen.  Gott  erschafft  niemand  als  Verbrecher. 
Wer  das  sagt,  lästert  GottB  Einige  wenige  endlich  be- 
sitzen die  Kraft,  sich  durch  die  Religion  zur  Abkehr 
durchzuringen.  Im  unklaren  über  die  Natur  ihrer 
Neigungen,  die  sie  als  niedrige  Fleischeslust  empfinden, 
gelangen  sie  schließlich  —  meist  nach  Ablegung  von 
Keuschheitsgelöbden  —  zum  Enthaltsamkeit*-  und  Sittlich- 
keitsfanatismus. Ich  behandele  ein  25  Jahre  altes  Mit- 
glied des  weißen  Kreuzes  an  hochgradiger  Neurasthenie, 
an  dessen  Uranismus  nicht  der  mindeste  Zweifel  besteht. 
Er  zeigt  die  vier  charakteristischen  Stigmata,  somatische, 
psychische  Zeichen,  große  Abneigung  gegen  das  Weib, 
das  er  noch  nie  berührte,  und  einen  Freundschafts- 
enthusiasmus,  über  dessen  geschlechtlichen  Grundcharakter 
er  nicht  unterrichtet  ist.  Nachdem  er  viele  Jahre  mastur- 
bierte,  hat  er  das  Gelübde  der  Keuschheit  abgelegt,  das 
er  seit  drei  Jahren  durchführt. 


an,  energisch  zwischen  Dogma  und  Schulmeinung,  zwischen  kulturell 
bedingter  äusserer  Form  und  wesentlichem  Inhalt,  zwischen  objek- 
tivem und  subjektivem  Christentum  zu  unterscheiden.  Sie  betonen 
das  Recht  der  Naturwissenschaft  und  der  weltlichen  Wissenschaft 
überhaupt  sowie  die  Notwendigkeit  des  Anschlusses  an  sie,  sie  ver- 
urteilen die  übertriebene  Berücksichtigung  der  Tradition  und  ihrer 
Auffassungen,  sie  bekennen  sich  zum  Grundsatz  „des  durch  das 
Naturgesetz  verbürgten  Rechtes  auf  die  ganze  Wahrheit",  sie 
werden  notwendig  dahin  gedrängt,  wo  das  Losungswort  „Reform" 
und  „Fortschritt"  ausgegeben  ist. 


—    113    — 

Noch  weniger  wie   die  Religion  ist  das 
Stande,   die  Homosexualität  nennenswert  einzJ 
Selbst  die  drohende  Todesstrafe,  die  in  einige] 
früher   auf    dieser   Art    der  Liebe  ruhte,  ver 
Urninge    trotz   ihrer  Ängstlichkeit   nicht   abzul 
Die  übereinstimmende  Erfahrung  von  Leuten,  die 
im  Stande  sind,  darüber  ein  Urteil  abzugeben, 
ganz  -außer   Zweifel,   daß    homosexuelle   Handlu\ 
gleicher    Häufigkeit    vorkommen,    ob    Gesetze 
oder    nicht;    so   sind   diese    Akte    in    Deutschlai! 
England    keinesfalls   seltener,    nach    Ansicht  viel^ 
ninge  sogar    eher   häufiger   als    in  Holland   und 
reich,    wo    die    entsprechenden    Paragraphen    gest 
sind.     Mir   teilten    Homosexuelle    mit,    daß    ihr 
gedanke  im  Gefängnis  die  Sehnsucht  nach  dem  Fr4 
war,    durch    dessen    Umgang    sie    ihre    Freiheit 
loren     hatten.       Wiederholt    habe    ich     von     urnisi 
Richtern  gehört,  wie  sehr  sie  gerade  unter  dem  Koni 
zwischen   ihren  Berufspflichten  und  den  eigenen  Triei 
zu  leiden   hatten.     Ein    noch  junger  Jurist   schrieb   m 
„Einmal   hatte  ich,   selbst  homosexuell,   als  Staatsanw. 
gegen    Homosexuelle    zu    plaidiren,   einmal    als    Rieht 
über  einen  Homosexuellen    zu  urteilen,    einmal  über  m 
bekannte  Homosexuelle,   darunter  war  ein  guter  Freun 
und   einer,   mit   dem  ich  oft  geschlechtlich  verkehrt,   aL 
Richter    mitzuurteilen    wegen    Vergehen    gegen    §    175. 
„Letztere  Zwangslage  wurde  mir  erspart,  indem  ich  mich 
durch  einen  anderen  Richter  vertreten  ließ.* 

Auch  der  Verlust  der  Lebensstellung  nützt  nichts, 
ebenso  wenig  schützen  die  Erpressungen,  von  deren 
Furchtbarkeit  und  Ausdehnung  sich  niemand  eine  Vor- 
stellung machen  kann,  da  ja  nur  ein  ganz  verschwindender 
Bruchteil  an  die  Öffentlichkeit  gelangt.  Es  ist  das  Gleiche 
wie  mit  venerischen  Ansteckungen,  unehelichen  Schwänge- 
rungen etc.  der  Heterosexuellen,  von  denen  wir  ja  auch 

Jahrbuch  V.  8 


—   in  — 

wissen,  daß  sie  trotz  der  entstehenden  Unannehmlichkeiten, 
vor  Wiederholung  normalsexueller  Akte  mit  zweifelhaften 
Personen  selten  abhalten. 

Der  Konflikt  mit  der  Familie,  unter  dem  der  ge- 
fühlvolle Urning  ganz  besonders  heftig  leidet,  vermag 
ebenfalls  nichts.  Am  ehesten  scheinen  noch  die  Mütter 
für  das  abweichende  Empfindungsleben  der  Söhne  Ver- 
ständnis zu  haben.  Ein  Urning  erzählte  mir  einmal,  daß, 
als  seine  Mutter  auf  dem  Sterbebette  lag  und  ihre  fünf 
Kinder  mit  dem  Gatten  um  sich  versammelt  hatte,  sie 
als  letzten  ihn  zu  sich  herabzog,  ihn  länger  umarmte  als 
alle  andern  und  mit  sterbender  Stimme  sagte:  «Grüße 
mir  Deinen  Freund.*  „An  dem  Blick,  mit  dem  sie  mich 
dabei  ansah,"  schloß  der  Mann,  ,  merkte  ich,  daß  meine 
Mutter,  mit  der  ich  nie  darüber  gesprochen,  alles  wußte.* 

Als  eines  der  wirksamsten  Mittel  zur  Bekämpfung 
homosexueller  Triebe  wird  von  manchem  der  Geschlechts- 
verkehr mit  dem  Weibe  und  die  Eheschließung  angesehen. 
Scbrenck-Notzing  rät1)  sogar:  „Man  bestimme  solche  In- 
dividuen (gemeint  sind  Urninge)  temperamentvolle  Frauen 
mit  lebhaftem  Geschlechtstrieb  zu  heiraten.*  Ich  kenne 
unter  vielen  Hunderten  auch  nicht  einen  einzigen,  der 
durch  den  heterosexuellen  Verkehr  seines  Triebes  Herr 
geworden  wäre,  im  Gegenteil,  der  inadäquate,  oft  er- 
zwungene Verkehr  scheint  oft  einen  Anreiz  zu  geben,  die 
subjektiv  natürliche  Befriedigung  zu  suchen.  Es  stimmt 
diese  Erfahrung  damit  überein,  daß  von  Normalsexuellen 
den  Urningen  gegenüber  oft  angegeben  wird,  ein  homo- 
sexueller Akt  reize  sie  zu  heterosexuellem  Verkehr. 

Die  Regelung  der  Lebensweise  sowie  physikalische, 
diätetische  und  pharmakologische  Medikationen  sind  wohl 
imstande,  hie  und  da  das  Beherrschungsvermögen,  die 
Willenskraft,  die  Triebstärke  günstig  zu  beeinflußen,   nie 


>)  a.  a.  0.    8.  205. 


115    — 


aber    den  Trieb    selbst  in  seiner  Richtung 
Auch   in  Spezialheilanstalten,  die  Bloch  und\ 
Homosexuelle  vorschlagen,  dürfte  schwerlich  jl 
heilt"  werden.     Mir  ist  ein  junger  Kollege  bei 
auf  Veranlassung  seines  Vaters,  der   ebenfalls 
zur  Behandlung  in   eine  geschlossene  Anstalt 
einigen  Wochen  aber  bereits  vom  Chefarzt  gefra^ 
ob  er  nicht  lieber  als  Assistenzarzt  der  Heilanst 
hören   wolle,   ein  Vorschlag,   der   acceptiert   wur 
kenne   Homosexuelle,   die   aus   therapeutischen 
eine   sehr   energische  Sportstätigkeit   entfalteten, 
die  Vegetarier,  wieder  andere,  die  alkoholabstinent ' 
ohne    daß   sie  die  Richtung   ihres  Triebes  im   ger 
beeinflußen  konnten. 

Als  ein  etwas  besseres  Mittel  Wirkt  intensiv  g^ 
Arbeit,   durch   die   viele  sich  zu   betäuben  suchen, 
zwischen  geistiger    und  geschlechtlicher  Betätigung  \ 
Art    Gegensatz     besteht,     ist   ja    seit    langem     bekl 
Besonders   scheint    die  rein    verstandesgemäße  Tätig! 
wie    sie   sich   beispielsweise  bei  den  großen   Philosopl 
vorfindet    —    man     denke     an     das     große     Dreiges 
des    XIX.    Jahrhunderts,    Kant,  Schopenhauer,  Nietzsc) 
—    die  A Sexualität    zu  begünstigen;    eine   dauern! 
Unterdrückung   oder    Ablenkung   des    Geschlechtstrieb* 
gelingt  aber  nur  verschwindend   wenigen,  ja  es  scheint 
als  ob  gewisse  Arten   geistiger  Produktion,   die  mehr  ir 
Gefühlsleben    wurzeln,    also    künstlerische,    sogar    eine^ 
Steigerung  der  Libido  eher  förderlich  sind. 

Alles  in  allem  kann  man  sagen,  daß  der  homo- 
sexuelle Trieb  durch  gewisse  Umstände  wohl  in  seiner 
Gewalt  beeinflußbar,  aber  an  und  für  sich  völlig  un- 
ausrottbar ist,  geschweige  denn,  daß  es  möglich  ist, 
ihn  in  einen  heterosexuellen  umzuwandeln. 

So  wenig  äußere  Faktoren  den  homosexuellen  in 
einen   heterosexuellen   Trieb  abändern  können,  genau  so 

8* 


—    116    — 

wenig  können  sie  aber  auch  den  Heterosexuellen  —  wie 
es  die  Anhänger  der  Erwerbstheorie  glauben  —  homo- 
sexuell machen.  Die  von  uns  angeführten  Tatsachen 
stehen  im  denkbar  größten  Widerspruch  zu  der  Meinung 
Blochs,  daß  der  Geschlechtstrieb  durch  Gelegenheitsur- 
sachen ganz  außerordentlich  bestimmbar  sei  und  daß  wir 
im  Variationsbedürfnis  das  „Ur-  und  Grundphänomen  des 
Geschlechtslebens"  zu  suchen .  haben.1)  Geben  äußere 
Einwirkungen  für  psychologische;  Zustände  fast  niemals 
einen  zureichenden  Erklärungsgrund,  beruhen,  wie  —  wenn 
ich  nicht  irre  —  Möbius  einmal  sagt,  „Erklärungen  aus 
dem  Milieu  fast  stets  auf  Oberflächlichkeit",  so  trifft  dies 
in  hervorragendem  Maße  bei  einem  Triebe  zu,  der,  wie 
wir  sahen,  aufs  innigste  mit  der  ganzen  Persönlichkeit 
verwachsen  ist,  der  vielleicht  sogar  die  Basis  aller  übrigen 
psychischen  Erscheinungen  bildet.  Die  zuerst  von  Binet 
in  der  Revue  philosophique  (Paris  1887.  Nr.  8)  aufge- 
stellte, später  in  ähnlicher  Weise  oft  wiederholte  Ver- 
mutung, daß  die  konträre  Sexualempfindung  durch  „patho- 
logische Associationen"  in  frühester  Kindheit,  durch  „einen 
„choc  fortuit'^  ein  psychisches  Trauma  bedingt  sei,  ist 
eine  bisher  durch  kein  Tatsachenmaterial  erhärtete  Hypo- 
these. Wenn  es  wirklich  lediglich  darauf  ankäme,  ob 
jemand  die  erste  Erektion  durch  ein  Weib  oder  durch 
einen  Mann  gehabt  hat,  dann  müßte  die  Zahl  der  Homo- 
sexuellen weit  größer  sein,  da  nachweislich  in  den  Schulen 
sehr  viele  zuerst  gleichgeschlechtlich  erregt  werden.  Wie 
soll  aber  ein  derartiger  choc  die  doch  meist  im  Vorder- 
grunde stehende  negative  Seite  der  Erscheinung,  die  Ab- 
neigung gegen  das  Weib,  erklären  und  wie  vor  allem  soll 
er  imstande  sein,  eine  solche  Umgestaltung  der  ganzen 
körperlichen  und  geistigen,  Beschaffenheit  hervorzurufen, 
wie  sie  doch  beim  Homosexuellen  die  Regel  bildet?    Ich 


*)  a.  a.  0.  BaDd  II.  S.  364. 


erinnere  mich   der  Bemerkung   eines  Kollege 
einmal  einen  Homosexuellen  vorstellte,  der  iii 
seines  Gesichts,  in  der  kleinsten  Bewegung,  in  \ 
und  im  ganzen   Gebaren   den  geborenen  Urnii 
Der  Kollege  rief  mit  feiner  Ironie  aus:  „Wie  \ 
bei  dem  Manne  der  choc  fortuit  gewesen  sein  H 
Würden  wir  übrigens  annehmen,  was  ich  für\ 
geschlossen  halte,  daß  eine  occasionelle  Ideenassocii 
partum  den  Geschlechtstrieb  so  fest  zu  determinil 
die  ganze  Individualität  dementsprechend  umzui 
imstande  wäre,  so  würde  das  nach  allem  früheren  \ 
fassung  nicht  beeinträchtigen  können,  daß  es  sich  \ 
eine  unveränderlich  normierte  und  unverschuldete! 
schaft  handelt.   Im  Widerspruch  mit  der  soeben  erw 
Theorie  steht  die  Ansicht  derer,  welche  glauben,  dai^ 
sowohl  der  erste  Eindruck,  sondern  mehr  die  Sucht! 
Abwechslung,  das  Bedürfnis  nach  dem  Neuen« 
dem    Einfluß     „ äußerer   Reize"     das    Entscheidend« 
(Bloch,  II.R,  S.260  u.  364).     Beide  Ätiologieen  Ü 
das  gemeinsam,  daß  sie  Gelegenheitsursachen  für  Gri 
Ursachen,  Anlässe  für  Bedingungen  halten.     Die  gesi 
derten  Beize  sind  gänzlich  wirkungslos,    wenn  nicht! 
angeborene  Anlage  als   das   wahre   ätiologische  Mom\ 
vorhanden  ist.    Bloch  hat  das  Verdienst,  in  seiner  fleißig 
Arbeit  eine  Reihe   von  Umständen   zusammengestellt  \ 
haben,  die  zur  Manifestation  des  Triebes  den  Anstoß  gebe 
von  dessen  Stärke  es  abhängig  sein  wird,  ob  er  selbstänctt 
hervorbricht  oder  Gelegenheiten  bedarf,  die  ihn  aus  deii 
Latenzstadium  erwecken.   Daß  die  zahlreichen  angeführte! 
Gründe  —   über  60  —  unmöglich  als  ausreichend  ange-\ 
sehen  werden  können,  geht  mit  Sicherheit  daraus  hervor,^ 
daß  es  wohl  überhaupt  keinen  Menschen  gibt,  der  nicht 
im  Leben   einem  oder  mehreren  der  genannten  Faktoren 
nachdrücklichst  und  wiederholt  ausgesetzt  war.    Tatsäch- 
lich wird  von  diesen  aber  nur  ein  ganz  kleiner  Teil  homo- 


—    118    — 

sexuell.  Derselbe  Reiz  läßt  den  einen  vollständig  kalt 
oder  beeinflußt  ihn  nur  ganz  vorübergehend,  für  einen 
andern  bildet  er  das  höchste  Lustgefühl,  und  er  beginnt 
sich  dauernd  homosexuell  zu  betätigen.  Der  Grund  hier- 
für kann  nur  in  der  verschiedengearteten  Psyche 
der  Beteiligten  gefunden  werden,  nur  die  unterschiedliche 
Konstitution  kann  bewirken,  daß  sich  Menschen  denselben 
Umständen  gegenüber  so  unterschiedlich  verhalten.  Deß- 
halb  ist  das  wesentliche  die  angeborene  Be- 
schaffenheit Gerade  daß  diese  äußeren  Eindrücke, 
wie  Bloch  meint,  mit  solcher  Leichtigkeit  Homosexualität 
erzeugen,  beweißt  ja,  eines  wie  geringen  Anstoßes  es  be- 
darf, den  vorhandenen  Trieb  zu  erregen. 

Es  gibt  nach  Blochs  Ätiologie  der  Psychopathia 
sexualis  fast  nichts,  was  nicht  als  Entstehungsursache 
der  Homosexualität  in  Betracht  gezogen  werden  müßte; 
es  hat  förmlich  etwas  Rührendes,  zu  beobachten,  wie  sich 
dieser  eifrige  Autor  abmüht,  alle  nur  möglichen  äußeren 
Anlässe  zusammenzutragen,  und  dabei  an  dem  ausschlag- 
gebenden inneren  Faktor  gänzlich  vorübersieht  Unter 
den  Dingen,  die  allein  durch  ihre  Einwirkung  Homo- 
sexualität erzeugen  sollen,  befinden  sich  vielfach  die  voll- 
kommensten Gegensätze.  So  führt  Bloch  als  Ursachen 
der  Homosexualität  an  zu  heißes  (Bd.  I.  S.  21  u.  174)  und 
zu  rauhes  (S.  33)  Klima,  Askese  (S.  97)  und  Über- 
sättigung (S.  67,  S.  221),  Ehelosigkeit  (S.  61)  und  Viel- 
weiberei (S.  170),  Jugend  (S.  52)  und  Greisenalter  (S.  53), 
mangelnden  (S.  38)  und  übermäßigen  (S.  68)  Geschlechts- 
trieb, Verehrung  (S.  74)  und  Verachtung  (S.  96)  der 
Körperschönheit,  Anblick  des  bekleideten  (S.  141)  und 
des  nackten  Körpers  (S.  185,  221).  Leben  in  Arbeiter- 
wohnungen (S.  179)  und  bei  Hofe  (S.  179),  in  Fabriken 
(S.  184)  und  auf  dem  Lande  (S.  51). 

Als  weitere  ätiologische  Momente,  welche  bei  normal- 
sexuellen gesunden  Menschen  zur  Homosexualität  führen 


sollen,   nennt    Bloch    Berufe,    die    mehr    de\ 
Charakter    entsprechen    wie    die    der    KöcH 
Damenschneider,    Damenkomiker  (S.  65),    s^ 
oder  irregeleitete  Phantasie  (S.  70)  besonders  b^ 
(S.  74),  religiösen  Affektzustand1)  (S.  78  ff).  AI 
der    Genitalien2)    (S.    126),     übermäßige    Kl\ 
membrum     virile,      abnorme     Weite      oder    ^ 
Vagina   (8.  127),  Gonorrhoe    (8.    127),   Kastr^ 
Eunuchentum    (S.  128),   körperlichen  Hermaph 
(S.    130),   Onanie    (S.   132),   chronischen    Alkol 


^Anmerkung:  Bloch  erwähnt  die  mohamedanische 
Sufis   und  zitiert   F.  v.  Hellwald*),   welcher  berichtet,   q 
äldyn-Kaschy   zu  beweisen   versuchte,   daß  nur  ein  Päi 
großer  Sufi  sein  könne.    Bloch  fügt  diesem  Zitat  wörtli 
„Hier  haben  wir  also  bereits  ein  typisches  Beispiel  einer  \ 
giösen  Entstehung  und  Ausübung  der  homosexuellen  Befr 
des  Geschlechtslebens."    Diese  kühne  Hypothese  erinnert  1 
die  später  (S.  117)  ebenfalls   von  Bloch  erwähnte  Vermute 
Baas**),  daß  die  Beschneidung  weniger  eine  hygienische  M 
sei  als  vielmehr  in   der  fetischistischen  Verehrung  der  Pr 
(„Fetischoperation")  ihren  Grund  habe.    Von  S.  120  ab  ve^ 
sich  der  Autor  noch  ausführlich  über  die  „religiöse  Homosexu 
und  gibt  der  Meinung  Ausdruck  —  ohne  sie  allerdings  durcl 
Sachen  zu  begründen  —  daß  man  anfangs  wohl  weibische,  1 
sexuell  empfindende  Menschen    gern  zu  Priestern  bestimmt  \ 
deren  Neigungen   dem  primitiven  Menschen   als  etwas  bescn 
Dämonisches  erschienen  seien,  später  habe  man  wohl  auch  s< 
künstlich    gezüchtet,    besonders    in   gewissen    Sekten    relig 
Fanatiker. 

*)  Hellwald:  Kulturgeschichte.    Augsburg  1875.    S.  5111 

**)  H.  Baas:  Die  geschichtliche   Entwickelung  des  ärztlicl 
Standes.    Berlin  1896.    S.  7. 

9)  S.  126  heißt  es  wörtlich:   „Auch  die  Phimose  kann  dire 
homosexuelle  Zustände  erzeugen/ 

3)  S.  137  heißt  es:  „Es  ist  sehr  bezeichnend,  daß  in  Zansib^ 
das  Suaheli- Wort  „Walevi"  =  Säufer  direkt  für  Päderast  gebrauch 
wird."  \ 


—    120    — 

(S.  137),  Opiümgenuß  (S.  138) *),  Haschischgebrauch  (S.  138), 
Effemination  in  Tracht  und  Sitte  (S.  161),  Bedürfnis  nach 
Variation  in  den  sexuellen  Beziehungen,  welches  sich 
zum  geschlechtlichen  Reizhunger  steigern  kann  (S.  166), 
Wüstlingtum,  Don-Juanismns,  Müssiggang  und  Blasiert- 
heit (S.  171),  direkte  Verführung,  besonders  durch  Auf- 
sichtspersonen (S.  174)  und  in  Bordellen  (S.  177),  sowie 
durch  andere  Urninge  (S.  238),  Zusammenwohnen  gleich- 
geschlechtlicher Personen  in  Kasernen  (S.  179),  Schulen, 
Pensionaten  (S.  180),  Kadettenhäusern,  Harems  (S.  182), 
Mönchs-  und  Nonnenklöstern,  Gefängnissen  (S.  183), 
großen  Hotels  (S.  184)  und  Theatern  (S.  185),  die  öffent- 
lichen Bedürfnisanstalten  (S.  185),  den  Anblick  tierischer 
Geschlechtsakte  sowie  das  intime  Zusammenleben  mit 
Tieren  (S.  186),  die  erotische  und  obscöne  Litteratur*) 
(S.  188),  auch  nicht  obscöne  Werke  wie  die  Bibel  und 
die  Schriften  der  Kirchenväter  (S.  189),  den  Anblick  ge- 
schlechtlich erregender  Kunstwerke  (S.  200),  die  Betrach- 
tung des  eigenen  Spiegelbildes  8)  (S.  201),  obscöne  Photo- 
graphien (S.  202 ff.  und  Bilder*)  (S.  302),  obscöne  Täto- 

')  S.  138  sagt  Bloch:  „H.  Libermann  (les  Fumeurs  d'Opium  en 
Chine.  Etüde  medicale  Paris  1862.  S.  63  ff.)  führt  daher  wohl 
nicht  mit  Unrecht  die  Verbreitung  der  Homosexualität  in  China  auf 
den  Opiumgenuß  zurück." 

*)  S.  196  heißt  es:  „Die  ätiologische  Bedeutung  derartiger 
Lektüre  für  die  Genesis  geschlechtlicher  Verirrungen  wird  vor  allem 
dadurch  erwiesen,  daß  die  meisten  geschlechtlich  abnormen  Indi- 
viduen eifrige  Leser  solcher  Werke  sind.4' 

*)  S.  201 :  „Unter  Umständen  kann  die  Darstellung  des  eigenen 
nackten  Ich  im  Spiegelbilde  die  Phantasie  in  abnormer  Richtung 
beeinflußen,  besonders  bei  noch  undifferenziertem  geschlechtlichem 
Empfinden  und  bei  Unkenntnis  des  anderen  Geschlechts." 

4)  S.  208  erklärt  Bloch  wörtlich,  „daß  die  große  Verbreitung 
der  obscönen  Bilder  mit  ihren  Darstellungen  aller  geschlechtlichen 
Verirrungen,  perversen  Akte  und  scheußlichster  Unzucht  einen  un- 
verhältnismäßig größeren  Anteil  an  der  Genesis  und  zunehmenden 
Häufigkeit  der  sexuellen  Perversionen  hat,  als  irgend  eine  ange- 
borene oder  auch  nur  durch  Krankheit  erworbene  Anlage." 


—    121 


wirungen  (S.  210),  ferner  den  Besuch  von  Mr 
tiken  und  modernen  Statuen,  noch  mehr  abe 
nannten  anatomischenMuseen  mit  plastischenNal 
männlicher  und  weiblicher  Geschlechtsteile  (& 
wie  der  öffentlichen  Kunstausstellungen  (8. 
Ballette,  Tänze,  gewisse  Darbietungen  im  Zi\ 
zialitätentheater,  lebende  Bilder,  Poses  plastiques  1 
oder  idyllischer  Natur,  sowie  den  Anblick  von\ 
in  Damen-  und  Mädchen  in  Männerkleidern 
weiterhin  die  zufällige  Beobachtung  männlicher 
z.  B.  des  väterlichen  Membrums  (S.  221),  eig 
stoßende  Häßlichkeit  (S.  222),  Furcht  vor  ven\ 
Leiden  (S.  223),  abnorme  Beschaffenheit  der  Ana 
(S.  224),  Analmasturbation  (S.  224).  *)  Flagellatil 
Analgegend  (S.  227),  Annahme  männlicher  Lebensfl 
namentlich  bei  Prostituierten  (8.  232),  umgekehrt  \ 
liehe  Angewohnheiten  bei  Männern 2)  (S.  233)\ 
Mysogynie  des  Lebemannes  (S.  235),  die  mäni 
Prostitution  (S.  241).  Als  besondere  Ursachen! 
weiblichen  Homosexualität  führt  Bloch  an  einmal! 
„mutuelle  Masturbation  der  Clitoris  cum  digito  et  ling 
(S.  244),  „den  Überdruß  am  Manne,  den  Widerwillen  g^ 
den  Verkehr  mit  dem  Manne"  (S.  244  und  245), 
Wunsch  mancher  Männer,  besonders  der  voyeurs  (S.  2\ 


*)  S.    226  beruft  sich   Bloch   auf  Leo  Taxil,   der  in  seini 
Buche  „La  corruption  fin-de-siecle  Paris  1894  S.  245  berichte,  „\ 
gäbe  Subjekte,  die  sich  in  coitu  cum  femina  von  deren  Zuhältei 
gleichzeitig  pädicieren  ließen"  und  fügt   dann  seinerseits   wörtlic 
hinzu:  Hieraus  entwickelt    sich  dann  naturgemäß  häufig  genug  eti 
gleichgeschlechtlicher  Verkehr,  der   den   ehemals   heterosexuelle^ 
Wüstling  zu  einem  typischen  Urning  stempeln  kann." 

■j  S.  233   behauptet  Bloch:    „Der  wirkliche   „Weibling"  wird\ 
meist  künstlich  gezüchtet"   und  S.  235 :   „Es  ist  kein  Zufall,   daß 
Komiker,  die  Frauenrollen  darstellen,  fast  stets  homosexuell  sind. 
Diese    scheinbar    rein    äußerliche   Effemination  vermag  eben    den 
ganzen  inneren  Menschen  umzuwandeln." 


—    122    — 

und  last  not  least  die  moderne  Frauenbewegung  (S.  248) , 
von  der  er  sagt:  „Einen  meines  Erachtens  nicht  unbe- 
denklichen ätiologischen  Faktor  in  der  Genesis  der 
Tribadie  bildet  die  moderne  Frauenbewegung,  die  das 
Weib  auf  sich  allein  stellt,  männlich  empfindende  Charaktere 
züchtet  etc.*  —  Bloch  beschließt  seine  sorgsame  Auf- 
zählung, in  der  wohl  nichts  übergangen  ist,  was  für  die 
Erwerbstheorie  in  Frage  kommen  könnte,  mit  dem  Satz 
(8.  249):  „Wir  haben  erfahren,  daß  in  der  großen  Mehrzahl 
der  Fälle  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  aus  äußeren 
occasionellen  Momenten  entspringt,  daß  eine  originäre 
Anlage  zu  derselben  sehr  unwahrscheinlich,  jedenfalls  sehr 
selten  ist*. 

Der  Beweis,  daß  diese  „äußeren  occasionellen  Mo- 
mente* unmöglich  für  die  Entstehung  der  Homosexualität 
genügen  können,  ist  sehr  leicht  zu  erbringen.  Man  kann 
die  von  Bloch  aufgeführten  Erwerbsmöglichkeiten  unschwer 
in  drei  Gruppen   teilen. 

In  der  ersten  Abteilung  sind  die  zahlreichen 
Dinge  unterzubringen,  die  viel  zu  allgemein  verbreitet 
sind,  um  überhaupt  als  einigermaßen  vollgiltiger  Grund 
in  Frage  kommen  zu  können.  Da  Millionen  und  aber 
Millionen  Menschen  tierische  Geschlechtsakte  erblicken 
oder  eine  Bedürfnisanstalt  benutzen,  unter  hundert 
Menschen  aber  nur  einer  homosexuell  ist  —  nach  Bloch 
sind  es  noch  viel  weniger  —  so  kann  nach  allen  Gesetzen 
der  Logik  hier  unmöglich  ein  Causalnexus  statuiert  werden. 
Wenn  von  den  vielen,  die  im  heißen  oder  rauhen  Klima, 
in  Arbeiterwohnungen  oder  bei  Hofe  leben,  die  eine  sehr 
lebhafte  Phantasie  oder  ein  sehr  religiöses  Gemüt  besitzen, 
die  öffentliche  Kunstausstellungen  oder  Museen  aufsuchen, 
in,  Schulen  und  Pensionaten  zusammen  wohnen  oder  sich 
nackt  im  Spiegel  erblickt  haben,  nur  ein  ganz  ver- 
schwindend kleiner  Prozentsatz  Urninge  sind,  so  müssen 
die  genannten  Umstände  einer  anderen  Causalität  gegen- 


123    — 


über  völlig  irrelevant  sein.     Dasselbe  gilt  ai 
Onanie.     Berücksichtigen   wir,  daß   sich   unt<5 
sonen   99  Onanisten  befinden,  unter  diesen 
ein  Homosexueller,  so  werden  wir  niemals  die\ 
hinreichenden  Grund  für  den  homosexuellen  Tr 
dürfen.    Es  sei  hier  übrigens  angesichts  der  imr 
kehrenden    Betonung    dieser    angeblichen     En\ 
Ursache  betont,  daß  der  wohl  größte  Sachverstäl 
diesem  Gebiet,  Rohleder,  in  seiner  trefflichen  Mon\ 
„Die  Masturbation"  die  Onanie  wohl  als  eine  Folg 
nung  der  konträren  Sexualempfindung  hervorhebt,  ^ 
Entwickelung  der  letzteren   aus  der  Onanie   abei^ 
zu  berichten  weiß1). 

Wir  sind  damit   bei   der  zweiten  Gruppe  an^ 
bei  den  nicht  weniger  zahlreichen  Momenten  Blöd 
denen  die  Verwechslung  von  Ursache  und  Wirkut 
verkennbar  ist.     Nicht  aus  der  Ehelosigkeit  oder  Imi 
eines  Menschen  entsteht  seine  gleichgeschlechtliche  Nei 
sondern  diese   hat  seine  Ehelosigkeit  zur  Folge,   el 
ist  der  Widerwillen  der  Frau  vor  dem  Manne  nich\ 
Ursache,    sondern    eine    Wirkung    ihrer    homosexul 
Natur.     Auch  bedingt  nicht  die  weibliche  Kleidung 
Umgestaltung  des  inneren  Menschen,  sondern  der  ini 
Mensch   verschafft   sich   die   Kleidung,    die    ihm    zusi 
Die  Ursache  des  Charakters  liegt  also  nicht  in  der  Trac 
sondern  die  Ursache  der  Tracht  im  Charakter  des  Menschl 
Ebenso  ist  es  mit  dem  Beruf  des  Urnings.     Er  wird  nie 
feminin,    weil    er   Frauenrollen    spielt,    sondern,    weil 
feminin  ist,  bevorzugt  er  Frauenrollen.    An  homosexuelle 
Kunst-  und  Literaturwerken  wird  nur  derjenige  Interess\ 
nehmen,  der  dafür  empfänglich  ist.     Dem  Normalsexuell e^ 


*)  Dr.  med.  Hermann  Rohleder.  Die  Masturbation,  eine  Mono-\ 
graphie  für  Ärzte  und  Pädagogen.  Berlin.  Fischers  mediz.  Buch-\ 
handlung  1899.    Seite  65  und  287. 


—     124    — 

wird  ein  urnischer  Roman  gleichgültig  oder  abstoßend 
sein.  Wer  keine  Jünglingsphotographieen  liebt,  wird  sich 
auch  keine  kaufen. 

Die  dritte  Rubrik  endlich  umfaßt  alle  jene  Behaup- 
tungen, die  gänzlich  eine  Kenntnis  des  Homosexuellen 
vermissen  lassen.  Wenn  Bloch  nur  200  Homosexuelle 
untersucht  haben  würde,  hätte  er  ganz  sicherlich  nicht 
geschrieben,  daß  Abnormitäten  der  Genitalien,  abnorme 
Beschaffenheit  der  Analgegend,  abstoßende  Häßlichkeit 
oder  gar  chronischer  Alkoholismus  zur  Homosexualität 
führen  können.  Es  entspricht  einfach  nicht  den  Tat- 
sachen, daß  der  Durchschnitt  der  Homosexuellen  häßlicher, 
trunksüchtiger  oder  im  höheren  Maße  mit  Genitalanomalien 
behaftet  ist,  wie  der  Durchschnitt  der  Normalsexuellen. 
Manche  der  angegebenen  Gründe  lassen  sich  unter  zwei 
Gruppen  rubrizieren.  So  sind  die  Anhängerinnen  der 
Frauenbewegung  viel  zu  zahlreich  im  Verhältnis  zu  der 
Menge  urnischer  Frauen,  als  daß  dieser  Emanzipations- 
kampf —  so  sehr  er  immerhin  in  der  Häufigkeit  sexueller 
Zwischenstufen  seine  Stütze  findet  —  einen  ausreichenden 
Erklärungsgrund  abgeben  könnte,  andererseits  besitzen 
allerdings  gerade  die  homosexuellen  Frauen  Eigenschaften, 
die  sie  zu  besonders  aktiven  Vorkämpferinnen  für  die 
Rechte  der  Frau  befähigen.  Diese  Qualifikation  ist  aber 
nicht  die  Ursache,  sondern  lediglich  die  Folgeerscheinung 
ihres  Uranismus.  Daß  aus  der  Verführung,  dem  Variations- 
bedürfnis und  dem  Wüstlingtum  nie  ein  homosexueller 
Geschlechtstrieb  entstehen  kann,  haben  wir  bereits  oben 
sehr  eingehend  auseinandergesetzt.  Wenn  übrigens  Bloch, 
Hoche  u.  a.  so  oft  betonen,  daß  ein  Normalsexueller  aus 
jpReizhunger"  homosexuell  werden  könne,  so  bleiben  sie 
stets  den  Beweis  schuldig,  worin  denn  die  Reizsteigerung 
hier  bestehen  soll.  Welche  Vorteile  oder  Vorzüge  bietet 
denn  dem  Homosexuellen  der  Verkehr  mit  demselben 
Geschlecht,  welcher  doch  im  Gegenteil  an  seine  psychische 


Potenz  mindestens  so  hohe  Anforderungen  si 
Umgang  mit  dem  Weibe?  \ 

So   gelangen    wir    denn   auch,    indem   wi 
Ursachen,  die  für  das  Erworbensein  der  c.  S.  \ 
kommen,  leicht  als  nicht  stichhaltig  oder  nicht i 
widerlegen  können,  per  exclusionem  zu  dem  Seil 
die  Homosexualität  nicht  erworben,  sondern 
angeborenen  Konstitution  des  Menschen  begründet' 


IV.  Die  Naturnotwendigkeit  de\ 
Homosexualität. 

Es  ist  ein  Beweis  für  das  Natürliche  und  Ur* 
liehe  einer  Erscheinung,  wenn  sich  dieselbe  in  ein\ 
laufende    Reihe   verwandter   Naturerscheinungen 
fügt,    daß    ihr   Mangel    geradezu    einen    Ausfall    n 
lückenlosen  Linie  bedeuten  würde.     Für  die  Ersch« 
der  Homosexualität  triflt   dies  im    vollsten  Umfanj 
Es    wäre    sehr   merkwürdig,    wenn    von.  den    fließ« 
Übergängen,  die  sich  an  jedem  Organ,  an  jeder  Fun] 
von  einem  zum  anderen  Geschlechte  führend  nachw< 
lassen,  der   Geschlechtstrieb   ausgenommen  wäre, 
sämtliche  männliche  Eigenschaften  gelegentlich  verein! 
oder  in  größerer  Anzahl  bei  einem  Weibe  und  umgekel 
sämtliche    weiblichen     beim    Manne    auftreten     könnt 
woran   auch   nicht  mehr   der   mindeste  Zweifel  besteh^ 
kann,  so   würde   es   etwas  ganz   Außerordentliches   sei 
wenn    der    Geschlechtstrieb   hier   die  einzige  Ausni 
bilden  sollte.  Das  Nichtvorhandensein  der  Homosexualiül 
würde  ein  viel  größeres  Wundör  gewesen  sein,  wie  ihr) 
Existenz,  die  vielen  befremdlicher  und  naturwidriger  er- 
scheint,   wie    das    gelegentliche  Vorkommen    eines    wohl! 
entwickelten    Bartes    beim    Weibe    oder    railchgebender 


—    126    — 

Brüste1)    beim  Manne.     Wie   man   nach    den    Atomge- 
wichten die  im  periodischen  System   der  Elemente  noch 
fehlenden  Stoffe  vorausberechnen  konnte,  ehe  man  sie  fand, 
wie  man  aus  den  Abständen  der  Planeten  die  Stelle  und 
die  Umlaufsbahn    des   Neptun   beschrieb,    ehe  man   ihn 
entdeckte,   wie    man   die   Zwischenstufen    zwischen   den 
Vögeln  und  Reptilien  eingehend  schilderte,   ehe  man  im 
Solenhof  er  Kalkschiefer  auf  den  Archaeopteryx  stieß,  so 
hätte  ein  gescheiter  Kopf  die  Homosexuellen  nachweisen 
können,    ehe   er   sie   von   Angesicht   zu  Angesicht   sah. 
Keine  Erscheinung  steht  in  der  Natur  isoliert  da,  jede 
zeigt  die   vielseitigsten  Verbindungen  mit   den   übrigen 
Naturkörpern,   überall  gibt    es  Übergänge;  wie  zwischen 
dem    Kinde   und   dem    Erwachsenen    der   Jüngling  und 
die  Jungfrau,    so   bildet   zwischen  Mann    und   Weib   der 
Urning  und  die  Uranierin  eine  Naturnotwendigkeit.     Man 
hätte   .vermutlich    diese   Übergangsreihen    viel    eher    er» 
kannt  und  gewürdigt,  wenn  sie  sich  nicht  auf  jeden  Ge- 
schlechtscharakter für   sich   beziehen  könnten,   ohne  daß 
entsprechend    die   anderen   miteinbezogen  sind,   dadurch 
entsteht  ja  eben  die   ungeheure  Variation  und  kaum  zu 
übersehende  Mannigfaltigkeit.     Im  Grunde  genommen  ist 
jeder  Mensch  erst  durch  das  ihm  innewohnende  Mischungs- 
verhältnis männlicher  und   weiblicher  Teile  verständlich. 
Selbst  im  gröberen  ist  die  Verschiedenartigkeit  und  Menge 
der    Abweichungen    so    groß,    daß    alle    Versuche,    die 
körperlichen    und   geistigen    Zwischenstufen   in   eine    be- 
stimmte Ordnung  zu  bringen, a)  gescheitert  sind.  Zwischen 


*)  Milchgebende  Männer  werden  bereits  von  Alexander  von 
Hnmboldt  und  Bonplandt  erwähnt  in  der  „Reise  in  die  Äquinoctial- 
gegenden  des  neuen  Kontinents  in  den  Jahren  1799—1804.  2.  Teil. 
Stuttgart  und  Tübingen  1818.    S.  40  ff. 

')  Derartige  Klassifizierungs-Versuche  wurden  unternommen  von: 

1.  Leonidas,  Chirurg  in  Alexandrien,  im  3.  Jahrhundert,  dessen 

Werke  verloren  sind;  seine  Einteilung  wird  angeführt  von  Aetius, 


—    127 


den  echten,   Pseudo-  und    psychischen   Her 
den    scheinbar    rein    somatischen    und    anschl 
geistigen  Formen  sind  keine  sicheren  Grenzer 
Mit   der    Menge   wissenschaftlicher    Beobachi 
sich    das  System   mehr    und  mehr  komplizier^ 
schließlich   dahin   zu   vereinfachen,    daß   im 
nommen  jeder  Fall  in  der  Unsumme  der  Zwis^ 
einen  Fall  für  sich,  eine  Klasse  für  sich,  ein 
für  sich  bildet  \ 

Der  Vollmann  und  das  Vollweib  sind  in  Wir 
nur  imaginäre  Gebilde,  die  wir  nur  zu  Hilfe  \ 
müssen,  um   für  die  Zwischenstufen  Ausgangspu 


der  in  der  lütte  des  6.  Jahrhunderts  in  Mesopotamien  lebte 
Angaben  finden  sich  zitiert  bei  Haller-  Bibliotheea  Chirurg 
1774.    T.L/p.  79. 

"2.  Ulisse  Aldrovandi,  Monstrorum  historia,  Bononiae  16 
Ämbrosini  veröffentlicht.    Früher  hatte  Aldrovandi,  der  160$ 
erklärt,  eine  Klassifizierung  der  Hermaphroditen  sei  wegen  d( 
den  Autoren  beschriebenen  großen  Zahl  und  Verschiedenhe 
Formen  unmöglich.   Einer  seiner  Vorgänger,  Argelata  Pietro,  Vi 
1499,  erklärte  in  seiner  Chirurgia  den  Hermaphroditismus  für, 
„unerklärliche  und  abscheuliche  Affektion  bei  den  Menschen". 

3.  Pierre  Dionis,  Gours  d'operations  de  Chirurgie.    Br 
1708,    p.   197.      Er   befürwortete    das    auch    noch    im    19. 
hundert  wieder  vorgebrachte  Gesetz,  daß   die  Hermaphroditen 
für  eins  der  beiden  Geschlechter  entscheiden,  und  es  ihnen  verbd 
sein  sollte,  das  nicht  gewählte  zu  gebrauchen. 

4.  Albrecht  v.  Haller,  Comm.  Göttiugen.    1752.    T.  I.    1? 
hatte  Haller  eine  Schrift  verfaßt:  An  dentur  hermaphroditi ? 

5.  H.  A.  Wrisberg,  Commentatio  de  singulari  genitalium  di 
formitate  in  puero  hermaphroditum  mentiente  cum  quibusdam  obsei 
vationibus  de  hermaphroditis.    Göttingen  1796.   Par.  19.   S.  541 — 542 

6.  J.  Fr.  Meckel,    Handbuch    der    pathologischen  Anatomie\ 
Zwitterbildung,  Leipzig,  1816.    Bd.  2,  Abt  1,  S.  196—221. 

7.  R.  Lippi,  Bizarre  formi  degli  organi  della  riproduzione  di 
due  individui  della  specie  umana.    Firenze  1826. 

8.  Johannes  Müller,  Bildungsgeschichte  der  Genitalien.   Düssel- 
dorf 1830. 


—    128    — 

besitzen.  Einen  hundertprozentigen  Mann  gibt  es  nicht, 
solange  noch  jeder  die  Brustwarzenrudimente  und  den 
uterus  masculinus  aufweist,  wohl  aber  einen,  der  zu  95, 
94,  93  etc.  %  männlich,  zu  5,  6,  7  etc.  %  weiblich  ist, 
die  männlichen  Qualitäten  nehmen  ab,  und  wir  erreichen 
die  Stelle,  wo  50%  männliches  und  50%  weibliches  in 
einem  Körper  verbunden  sind,  von  nun  ab  überragen  die 
weiblichen  Charaktere  die  männlichen  bis  wir  ganz  all- 
mählich dicht  an  den  Typus  des  Vollweibes  gelangen,  an 
dem  vielleicht  nur  noch  die  Paradidymis  an  den  Mann 
erinnert  Es  ist  durchaus  nicht  gesagt,  daß  ein  Indivi- 
duum, das  zu  75%  weiblich,  zu  25%  männlich  ist  „ein 
Weib"  sein  muß,  es  kann  ebenso  gut  „ein  Mann"  sein, 
an  dem  alles,  abgesehen  von  dem  Membrum  und  seinen 
Adnexen,  weiblich  ist. 

Was   von    dem  Ganzen    gilt,  [  gilt   auch    von  seinen 
Teilen.     Wenn  die  Zellen  des  weiblichen  und  männlichen 


9.  E.  F.  Gurlt  (Berlin),  Lehre  von  der  pathologischen  Anatomie. 
1832.    S.  183  (34  Tafeln). 

10.  Isidore  Geoffroy  de  St.  Hilaire,  Histoire  des  anomalies  de 
l'organisation.    Paris,  1836.    T.  II,  p.  36. 

11.  Carlo  Cotta,  Alcune  idee  sulTermafroditismo.  Milano  1844. 
(Gazz.  medico  d.  Milano.)    T.  III,  S.  205. 

12.  A.  Förster,  Die  Mißbildungen  des  Menschen.    Jena  1861. 

13.  Edwin  Klebs,  Handbuch  der  pathologischen  Anatomie. 
Berlin  1876.    Bd.  1,  Abt.  2,  S.  736. 

14.  E.  F.  Gurlt,  Über  tierische  Mißgeburten.    Berlin  1877. 

15.  F.  Ahlfeld,  Die  Mißbildungen  des  Menschen.  2.  Abschn. 
Leipzig  1880.    S.  243. 

16.  G.  Pozzi,  De  Termaphroditisme.  Gaz.  hebdom.  1890. 
Nr.  30,  p.  351. 

17.  Cesare  Taruni,  Hermaphrodismus  und  Zeugungsfähigkeit, 
deutsch  von  Dr.  R.  Teuscher.    Berlin  1903  (Barsdorf). 

18.  Die  psychischen  Hermaphroditen  klassifizierte  Krafft-Ebing. 
Psychopathia  sexualis.  Auch  seine  Klassen  gehen  unabgegrenzt  in- 
einander über,  ebenso  wie  die  von  Ulrichs  aufgestellten  Gruppen 
der  Mannlinge  und  Weiblinge. 


—    129    — 

Organismus  in  ihrer  Größe  und  Konsistenz 
aufweisen,   was    durchaus   wahrscheinlich    ist, 
wir  sicher  sein,   daß  es  zwischen  der  einen  uk 
Durchschnittsform  zahllose  Abstufungen  gibt, 
jedes    beliebige  Stück    am  Menschen  herausgrei 
wird  man  diesen  ganz  allmählichen  Übergang  leU 
nehmen  können.     Nehmen  wir  die  kräftige,    der\ 
des  Vollmann-Typus  und  die  relativ  und  absolut  \ 
zartere,  weichere  Hand  des  weiblichsten  Weibes,  z\ 
beiden  gibt  es  eine  Legion  unmerklich  in  einandi 
gehender  Formen.     Das  Durchschnittsbecken  des  \ 
und  des  Mannes  weisen  wesentliche  Differenzen  a\ 
doch  sind  auch  hier  die  Zwischenformen  so  zahlreich 
es  bei  ausgegrabenen  Becken  häufig  sehr  schwer  hl 
sagen,   ob   es   ein    männliches  oder  weibliches  war,\ 
Becken,    die   der    Gynäkologe   als    „allgemein  verei 
bezeichnet,  sind  tatsächlich  nur  virile  Becken.     Da^i 
gilt   vom  Schädel,  von    den   weiblichen   und   männli 
Brüsten,  von  der  Schrift  und  Gangart   der  Geschlecl 
von  ihrem  Fühlen,  Denken  und  Wollen,  stets  wird  \ 
zwischen  der  spezifisch  männlichen  und  typisch  weiblicl 
Form  die  Zwischenstufen,  die  Überbrückung  der  Geg\ 
sätze  ohne  Schwierigkeiten  entwickeln  können.  \ 

Auch    der    Geschlechtstrieb    besitzt   eine   männlicl 
also  auf  das  Weib  gerichtete  und  eine  weibliche,  also  de\ 
Manne  zugeneigte  Form.     Die  Reize  der  Außenwelt,  dl 
Objekte,  die  den  Geschlechtstrieb  passieren,  sind  an   sic\ 
gleich,   der  Eindruck,   den  sie  auf   die  Nervenendorgane 
von   wo  sie  hirnwärts  projiziert  werden,  machen,  ist  der-^ 
selbe;    das    von    der    hübschen    Frau   auf   der   Netzhaut! 
entstehende    Bild,    die  Klangwirkung   ihrer    Stimme    auf\ 
das  Gehör,  die   Fortleitung  ihrer   Ausdünstung   auf   das  \ 
Geruchsorgan    sind    nicht    verschieden.      Auch    die    sen-  \ 
siblea  Nerven,   die   von   diesen,   wie   von   allen  Punkten 
der    Körperoberfläche    durch    das    centrum    libidinosum 

Jahrbuch  V.  9 


—     130 


Urnischer  Arbeiter 


131 


mit  weiblichem  Becken. 


9* 


132    — 


ziehen,  sind  anatomisch  und  physiologisch  identisch,  aber 
dieses  Zentrum  selbst  muß  verschieden  bei  Mann  und 
Weib  konstruiert  sein.  Auch  der  Urning  sieht  da« 
Weib    nicht     „mit    anderen    Augen"     an,    sondern    mit 

einem  anders  gearteten 
Zentralorgan.  Die  motori- 
schen Nervenbahnen,  die 
von  diesem  Zentrum  peri- 
ph er ie warte  ziehn,  dürften 
ebenfalls  bei  beiden  Ge- 
schlechtern nicht  wesent- 
lich von  einander  ab- 
weichen. Daß  bestimmte 
Sinneseindrücke,  die  von 
dem  erregenden  Objekt 
ausgehen,  bei  manchen  mit 
besonders  starken  Lustge- 
fühlen verknüpft  sind  — 
die  besonders  vom  Ge- 
sichts-, Gehörs-  und  Ge- 
ruchssinn ausgehende  feti- 
schistische, sowie  die  vom 
Hautsinn  wahrgenommene 
masochistische  Reizung  ge- 
hören hierher  —  sind  ange- 
sichts der  spezifischen  Er- 
regung des  bestimmten 
Zentrums  durch  ein  be- 
stimmtes Geschlecht  von 
ebenso  untergeordneter  Be- 
deutung wie  die  zentri- 
fugale im  Sadismus  zum  Ausdruck  gelangende  gelegentliche 
Steigerung  und  Störung'  sexueller  Motilität.  Worin  die 
verschiedene  Beschaffenheit  des  zentralen  Organs  ana- 
tomisch   liegt,  können    wir   um  so   weniger  sagen,   als  ja 


Allgemein  verengtes  weibliches 
Becken. 


—     133    —  \ 

\ 

der  Sitz  desselben  noch  nicht  lokalisiert  ist.\ 
sind  es  auch  nur  Größenunterschiede,  wie  bei  4 
Geschlechtscharakteren,  sodaß  also  etwa  das  \ 
einer   bestimmten   Größe   nur  durch    weiblich^ 
Mitschwingungen  versetzt  wird,  während  in  an^ 
dehnung  männliche  Reize  wirksam  sind.     Dochi 
natürlich  nur  Hypothesen,   immerhin   ist   eine  \ 
achtete    Mitteilung  Galls,  *)  des   neuerdings   wii 
Möbius  und  Bunge2)  zu  Ehren  gebrachten  genialen  B 
bemerkenswert,  daß  er  „bei  Männern,  die  eine  Ab 
gegen  das  andere  Geschlecht  an  den  Tag  legten,  \ 
sonders  schwach  entwickeltes  Kleinhirn  gefunden^ 
Bekanntlich  nahm  Gall    an,  daß    das  Kleinhirn  d\ 
des  Geschlechtstriebes  sei  und  zwar  stützte  er  siel 
im  wesentlichen  auf  folgende  Argumente: 

I.  Das    Kleinhirn    ist    bei   Neugeborenen    im 

hältnis  zum  Gesamthirn  schwach  entwickelt,  wie  1 :  9< 

Es  wächst  am  stärksten  nach  der  Pubertät,  besonde^ 

18.  Lebensjahr,  und  ist  beim  Erwachsenen  dann  das  "\ 

hältnis  wie  1  :  5 — 7. 

\ 

II.  Die  individuellen  Verschiedenheiten  in  der  fi 
wickelung  des  Kleinhirns  sind  sehr  groß.     Der  Grad  i 
Entwickelung    ist    beim    lebenden    Menschen    äußerli 
kenntlich  an   dem  Abstand  der  Processus  mastoidei.     \ 
weiter  diese  von  einander  abstehen,  je  breiter  und  stärkt 
ist   die  Nackenmuskulatur.     Gall  will  nun  an  einem  seh 
umfassenden   Material   beobachtet    haben,   daß    Persone^ 


*)  Franz  Joseph  Gall.  Anatomie  et  Physiologie  du  systeme\ 
nerveux.  4  Bände.  Paris  1810—18.  Die  uns  interessierenden  Stellen 
finden  sich  Vol.  III.    P.  85—138. 

2)  P.  J.  Möbius:  Über  Franz  Joseph  Gall.  Schmidts  Jahr- 
bücher. Bd.  262.  S.  260.  1899.  G.  v.  Bunge -Basel.  Lehrbuch 
der  Physiologie  des  Menschen.  Leipzig  bei  Vogel  1901.  I.  Band 
16.  u.  17.  Vortrag  S.  222  u.  ff.  besonders  auch  S.  236. 


—     VM     — 

mit  breitem  muskulösen  Nacken  einen  besonders  starken 
Geschlechtstrieb  haben. 

III.  Das  Kleinhirn  ist  beim  Manne  durchschnittlich 
stärker  entwickelt  als  beim  Weibe.  Diesen  Unterschied 
fand  Gall  in  der  ganzen  Säugetierreihe  von  der  Spitz- 
maus bis  zum  Elephanten  bestätigt. 

IV.  Werden  Menschen  und  Tiere  vor  der  Pubertät 
kastriert,  so  bleibt  das  Kleinhirn  in  seiner  Entwicklung 
zurück. 

V.  Wird  nur  ein  Hoden  exstirpiert,  so  atrophiert 
nur  die  eine  Hälfte  des  Kleinhirns  und  zwar  an  der  ge- 
kreuzten Seite.  Gall  will  dies  nicht  nur  bei  Tieren, 
sondern  in  mehreren  Fällen  bei  zufälligen  Verletzungen 
am  Menschen  beobachtet  haben. 

VI.  Der  Mensch,  in  welchem  der  Geschlechtstrieb 
das  ganze  Jahr  über  rege  ist,  bat  ein  stärker  entwickeltes 
Kleinhirn  als  die  Tiere,  bei  denen  sich  der  Geschlechts- 
trieb nur  zur  Zeit  der  Brunst  regt. 

Galls  bestechende  Behauptungen  entbehren  vielfach 
einer  exakten  zahlengemäßen  Grundlage,  sie  sind  daher 
auch  vielfach  bestritten  und  heftig  angegriffen  —  der 
edle  Gelehrte  hatte  unter  dem  Haß  der  Kirche  und  dem 
Neid  der  Fachgenossen  namenlos  leiden  müssen  —  sie 
sind  aber  noch  keineswegs  widerlegt.  Für  seine  Annahme 
spricht  die  neuerdings  festgestellte  Tatsache,  daß  sich  die 
sensiblen  Nervenbahnen  von  der  ganzen  Körperoberfläche 
her  bis  zum  Wurm  des  Kleinhirns  verfolgen  lassen,  und 
zwar  reichen  die  ersten  Neurone  bis  zu  den  Clarkeschen 
Säulen,  von  wo  aus  sie  auf  den  Kleinhirnseitenstrangbahnen 
weiter  ziehen. 

Mag  das  Geschlechtstriebzentrum  nun  im  Klein- 
hirn oder  anderswo  seinen  Sitz  haben,  jedenfalls  ist 
nach  dem  Gesagten   mit  Sicherheit  anzunehmen,   daß  es 


einen  männlichen  oder  weiblichen  Typus  trägt  \ 
hin,  daß  auch  hier  wie  bei  allen  anderen  mäni 
weiblichen  Teilen  fortlaufende  Übergänge  vorh\ 
und    zwar    selbständig,   ohne    daß  eine  Übereii 
mit  den  übrigen  Sexualcharakteren  unbedingt  ei 
ist.    Theoretisch  ist  zuzugeben,  und  ich  selbst  t 
Meinung  früher  vertreten,1)  daß  das  Centrum  li^ 
aus   zwei  Teilen   zusammengesetzt   ist,   indem    \ 
vorhandenen     körperlichen     und     geistigen    Ru^ 
des   anderen   Geschlechts    auch  ein    Triebrudim^ 
verschiedener    Stärke    entsprechen    muß,    so    da\ 
eine    doppelseitige    Erregbarkeit    in   verschieden  \ 
Grade    möglich   wäre.     Wäre  dies  der  Fall  —  wi 
bereits    auseinandergesetzt,    bin    ich    mit  der  Fül 
Materials  schwankend  geworden  —  so  würde  das  fl 
häufigere  Vorkommen    der    ßisexualität   sprechen,  \ 
dings  nur  bei  einer  gewissen  Größe  des  Rudiments^ 
sexuelle  Erregbarkeit  durch  beide  Geschlechter  läßi 
ohne  weiteres  noch  nicht  in  diesem  Sinne  verwenden,  \ 
abgesehen   von  Suggestivwirkungen   handelt  es  sich 
oft  nur  um  mechanische  Reizungen,  rein  spinale  Refi 
im  Gegensatz  zu  den  viel  komplizierteren  und  zweck! 
sprechenderen   zentralen  Reflexen,   die   von   der   Psy\ 
ihren  Ausgang  nehmen  und  für  deren  Beschaffenheit  \ 
allein  Entscheidende   sind.    Darum  sind  auch  gerade  i 
Träume   für  die  Richtung  oder  besser  gesagt  die  man 
liehe   oder   weibliche  Qualität  des  Triebzentrums  von  1 
hohem  Wert,  weil  im  Schlaf  zahlreiche  Assoziationen  i 
Wegfall  kommen,   die  im  wachen  Zustand  modifizierend 
und  störend  eingreifen.  \ 

Zwei   Umstände    machen   die  große   Häufigkeit    dei 
sexuellen  Übergänge  und  Zwischenformen  erklärlich  und 


*)  Dr.  med.  Hirschfeld,  Sappho  und  Sokrates  etc.    IL  Aufl.  \ 
1902,  S.  8  ff. 


—    X36    — 

wahrscheinlich.  Einmal  die  Tatsache,  daß  jedes  Individuum 
mit  beiden  Geschlechtern  in  unmittelbarem  Erbschat ts- 
verhältnis  steht.  Der  männliche  Sproß  erbt  nicht  nur  vou 
seinem  Vater,  sondern  auch  von  der  Mutter  und  diese  ge- 
mischte Vererbung  wird  noch  wesentlich  erweitert  durch  die 
latente  Vererbung,  nach  deren  Gesetzen  auch  die  Mütter 
und  Großmütter  väterlicher-  und  mütterlicherseits  an  jedem 
Knaben  partizipieren.  Gewiß  wird  dieser  Einfluß  durch 
die  sexuelle  Vererbung,  nach  der  Knaben  gewisse  väter- 
liche, Mädchen  bestimmte  mütterliche  Eigenschaften  er- 
halten, durchkreuzt,  aber  doch  nicht  in  dem  Grade,  daß 
die  vorher  genannten  wichtigen  Gesetze  der  Heredität 
ausgeschaltet  werden.  Es  hat  vieles  für  sieb,  daß  bei 
der  Vereinigung  der  weiblichen  und  männlichen  Keim- 
zelle von  vornherein  ein  bestimmtes  Mischungsverhältnis  an- 
gelegt ist,  sodaß  bereits  die  befruchteten  Eier  in  männ- 
liche, weibliche  und  gemischte  zerfallen  würden.  Diese 
sehr  variable  Mischung  legt  als  Sexualbasis,  vielleicht 
sogar  als  Sexualzentrum  in  der  Hauptsache  den  Körper 
und  Geist  des  Individuums  für  die  Dauer  seines  Be- 
stehens fest 

Der  zweite  Umstand,  welcher  die  Häufigkeit  der 
Zwischenstufen  so  naheliegend  erscheinen  läßt,  ist  der, 
daß  alle  qualitativen  Unterschiede  der  Geschlechter  in 
Wirklichkeit  nur  quantitative  sind.  Alle  sexuellen 
Charaktere  verharren  eine  gewisse  Zeit  im  neutralen  Zu- 
stand, dann  findet  bei  allen  in  einem  bestimmten  Alter 
vor  oder  nach  der  Geburt  ein  gemeinsamer  Anlauf  statt, 
der  bei  manchen  Teilen  früher,  bei  anderen  später  sein 
Ende  erreicht,  indem  die  unbekannte  Zentrale  auf  das 
Wachstum  der  einzelnen  Organe  bald  hemmend,  bald 
fördernd  einwirkt.  Von  dieser  Wachstumsenergie  ist  es 
abhängig,  ob  ein  Stück  männlich  oder  weiblich  geartet 
erscheint;  gänzlich  schwindet  keins  dieser  Stücke,  selbst 
beim  Vollweibe  ist  alles  männliche  in  mehr  oder  weniger 


großen   Resten   vorhanden,    so    wenig    die 
weiblichen  bei  keinem  Manne  fehlen.     Bei  diei 
duellen  Verschiedenheit  der  Individuen  und  (^ 
kann  es   nicht  Wunder  nehmen,   daß    eine    V\ 
der  Grenzen  so  häufig  ist. 

Man  hat  wohl  behauptet,  daß  die  Trennung 
schlechter    umso   schärfer   sei,  je    höher   ein    I 
stehe,  daß  die  Natur  auf  eine  immer  größere  Differl 
der    Geschlechter    hinarbeite.     Das    entspricht  \ 
nicht  den   Tatsachen.     Die  Geschlechtsunterschi^ 
bei  den  niederen  Tieren  viel  größer,  als  bei  den  \ 
so  sind  bei  manchen  Insekten  die  Männchen  und  W 
so  verschieden  gestaltet,  daß   man   sie    lange  als 
derselben    Art  garnicht   erkannt   hat.       Selbst 
meisten    Säugetieren    unterscheidet    sich    das    Mal 
mehr  vom  Weibchen,   als  beim   Menschen.     Dabe\ 
halten    sich    die    sexuellen    Geschlechtscharaktere  \ 
stabil,   der  weibliche  Typus,   der  männliche   und  d^ 
Zwischenstufen  hat  sich  soweit  unsere  Kenntnisse  rel 
weder   bei   den  Tieren  noch    beim  Menschen  nach\ 
und  Zeit  erheblich  verändert.     Namentlich  sind  die  V\ 
gangstypen    unter   den  Menschen   zu  allen  Zeiten  uni 
allen  Zonen  nachweisbar.     Schon  aus  diesem  Grunde  \ 
scheint  es  nicht  gerechtfertigt,  im  Uranismus  einen  Atavisfi 
zu  erblicken,  wie  es  wiederholt  geschehen  ist.     Gewiß 
die  Geschlechtseinheit  im  Naturreich  das  Ursprüngliche! 
die  zwei  Geschlechter  stellen  eine  höhere  Stufe  der  Ee 
wickelung   dar.     In    den    Zwischenstufen   tritt    uns    ab^ 
kein   Rückschritt    zum    eingeschlechtlichen,   sondern    vie 
eher  ein  Fortschritt   zum  mehrgeschlechtlichen   entgeger 
Das   dritte  Geschlecht  stellt  nichts   einfacheres,  sondere 
eher   etwas  komplizierteres  dar.     Mit  ihm    gestaltet   sich! 
die   Menschheit  nicht   einförmiger,  sondern  reichhaltiger  \ 
und    vielseitiger.      Läge    wirklich    eine   immer   schärfere 
Differenzierung  der  Geschlechter  im  Plane  der  Natur,  so 


—     138    — 

müßten  die  Männer  immer  männlicher,  die  Frauen  immer 
weiblicher,  die  Kluft  zwischen  beiden  Geschlechten)  mithin 
immer  größer  und  klaffender  werden.  Wir  vermögen  darin 
weder  etwas  Zweckmäßiges,  noch  etwas  Segensreiches 
zu  erblicken. 


V.  Heredität  und  Homosexualität 

Angeboren  ist  nicht  immer  ererbt.  Wäre  beispiels- 
weise unsere  Vermutung  richtig,  daß  das  Männliche  und 
Weibliche  im  Menschen  von  dem  Mischungsverhältnis 
der  männlichen  und  weiblichen  Zeugungsstoffe  abhängig 
ist,  so  wäre  der  homosexuelle  Trieb  wohl  eingeboren, 
aber  nicht  ererbt  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes.  Genau 
genommen  kann  man  nur  etwas  erben,  was  die  Eltern 
besitzen.  Demnach  müßte  von  den  Eltern  eines  urnischen 
Kindes  zum  mindesten  eines  urnisch  sein.  Das  ist  aber 
verhältnismäßig  sehr  selten  der  Fall.  Der  wissenschaft- 
liche Sprachgebrauch  hat  allerdings  den  Begriff  der  Ver- 
erbung wesentlich  erweitert,  und  nennt  ererbt  auch 
solche  Eigenschaften,  deren  Auftreten  erfahrungsgemäß 
von  gewissen  oft  ganz  anders  gearteten  Zuständen  der 
Eltern  hereditär  beeinflußt  wird,  so  nennen  wir  die 
Skrophulose  ererbt,  wenn  das  Kind  einer  tuberkulösen 
Familie  entstammt,  die  Epilepsie  ererbt,  wenn  der  Vater 
ein  Trinker  war,  die  Taubstummheit  ererbt,  wenn  die 
Eltern  blutsverwandt  waren.  Auch  die  Definition  von 
Möbius1):  „Entartete  sind  die,  welche  vermöge  krank- 
hafter Zustände  ihrer  Erzeuger  mit  einem  krankhaften 
Geisteszustände  zur  Welt  kommen",  gehört  hierher.  Rich- 
tiger wäre  es  in  allen  diesen  Fällen  nur  im  allgemeinen 
von  ererbter  Belastung  oder  von  Belastung  allein  zu  reden. 


*)  V.  Magnan:  Psychiatrische  Vorlesungen;  in  der  Einleitung 
von  Möbius  S.  VI. 


—     139    —  \ 

\ 

Die  Forscher,  welche  die  Überzeugung  ve^ 
die    Homosexualität    angeboren   sei,   haben    u\ 
achtens  dieser  erblichen  Belastung   einen  zu  h\ 
beigelegt  und  zwar  dürfte  die  Überschätzung  des  ll 
Einflusses  mit  der  Besonderheit  des  verarbeiteten 
zusammenhängen.     Sie  berücksichtigten  zu  wenig 
alle  Konträrsexuellen,    die   zu  ihnen  als   hervor\ 
Nervenärzten  kamen;  sich  subjektiv   leidend   füll 
objektiv   oft   in  indirekter  Verbindung  mit  ihrei, 
Sexualität  meist  an  Neurasthenie  litten,  einer  ebenf^ 
fach  auf  neuropathischer   Heredität  basierenden  Ä 
Meist  handelt  es  sich   auch    um    Patienten    aus    ti, 
Ständen,  in  denen  es  wohl  kaum  noch  eine  Famili 
bei  der  nicht  unter  den  Angehörigen  Abweichungen  z\ 
statieren  sind,  etwa  Migräne  der  Mutter,  Selbstmora 
Vetters,  die  sich    im  Sinne  psychopathischer  Dispq 
verwenden  lassen.     Wer  sehr  viele  gesunde  Homosej 
exploriert   hat,   wird   erstaunt  sein,   wie   häufig    her4 
belastende    Umstände    —    auch    bei    weitester    Fas| 
des  Begriffs  der  Erblichkeit  —  fehlen.    Von  denen,  dii 
beobachtete,    stammen    mindestens    75%    von   gesuq 
Eltern    aus   glücklichen,    oft    sehr    kinderreichen    E 
Nervöse  oder    geistige  Anomalien,    Alkoholismus,  Bl 
Verwandtschaft,   Lues  sind   in  der  Aszendenz  keineswi 
häufiger,   wie  unter  den  Vorfahren  normalsexueller  P< 
sonen.     In  der  Mehrzahl  der  Fälle  heirateten  Vater  ui 
Mutter   aus  Neigung,  sehr  viele  Urninge  heben  das  b< 
sonders  glückliche   Zusammenleben   ihrer  Eltern   hervo: 
Der    Altersunterschied   der    beiden    Eltern    weist  großi 
Schwankungen  auf,  im  Durchschnitt  ist  der  Vater  5  bi^ 
10  Jahre  älter  wie  die  Mutter,  in  einem  Falle  betrug  de^ 
Altersunterschied    45    Jahre,    der    Vater    war    64,    die 
Mutter    19  Jahre,   als    das  urnische   Kind,   welches  das 
einzige  blieb,  geboren  wurde.     Unehelich  geborene  Homo- 
sexuelle kenne  ich  8.     Wiederholt  schien  es  mir,  daß  die 


—     140    — 

Mutter  eine  mehr  aktive,  der  Vater  mehr  eine  passive 
Natur  war,  ohne  daß  eins  von  beiden  direkt  urni**h 
gewesen  wäre.  Das  von  manchen  als  ätiologisch  be- 
deutsam angegebene  Moment,  daß  die  Mutter  sich  ein 
Kind  entgegengesetzten  Geschlechtes  gewünscht  habe, 
entbehrt  einer  statistischen  Unterlage.  Die  Mutter  eines 
urnischen  Leutnants  teilte  diesem  auf  seine  Anfrage  mit, 
daß  sie  sich  allerdings  vor  seiner  Geburt  —  er  ist  der 
dritte  Sohn  —  eine  Tochter  gewünscht  habe,  noch  mehr 
aber  habe  sie  dies  vor  der  Geburt  des  vierten  Knaben 
getan,  aus  dem  ein  scharf  heterosexueller  Frauenfreund 
und  Familienvater  geworden  ist.  Bei  den  20 — 25°  0  der 
Homosexuellen,  wo  erbliche  Belastung  vorlag,  fanden  sich 
fast  durchgängig  Zeichen  der  Degeneration, 
die  von  der  Homosexualität  als  solcher  unabhängig  waren. 
Sind  also  in  8/4  der  Fälle  „ krankhafte  Zustände  der 
Erzeuger"  bei  gewissenhafter  Nachforschung  nicht  zu 
eruieren,  so  gibt  es  doch  eine  Tatsache,  aus  der  sich  mit 
Sicherheit  schließen  läßt,  daß  eine  Familienanlage  zur 
Homosexualität  bestehen  muß,  wenn  auch  keine  krank- 
hafte. Dieses  Faktum  ist  das  verhältnismäßig  sehr  häufige 
Vorkommen  homosexueller  Geschwister.  Unter  100 
Urningen  finden  sich  durchschnittlich  8,  deren  Bruder 
oder  Schwester  ebenfalls  homosexuell  sind.  Diese  Zahl, 
die  mit  der  Gesamtmenge  der  Urninge  in  gar  keinem 
Verhältnis  steht,  kann  kein  Zufall  sein,  auch  ist  der  Ein- 
fluß der  gleichen  Erziehung  oder  psychischer  Ansteckung 
auszuschließen,  denn  meist  haben  diese  Personen  noch 
eine  ganze  Reihe  normalsexueller  Geschwister,  die  in  dem- 
selben Milieu  aufgewachsen  sind  und  in  nahezu  der  Hälfte 
der  Fälle  handelt  es  sich  um  Bruder  und  Schwester,  auf 
die,  wenn  sich  Homosexualität  züchten  ließe,  ganz  ent- 
gegengesetzte Faktoren  eingewirkt  haben  müßten,  denn  die 
Umstände,  die  den  Sohn  effeminierend  beeinflussen  könnten, 
müßten  die  Tochter  erst  recht  weiblich  machen  und  um- 


141 


gekehrt,  es  sei  denn,  daß  Eltern  absichtlich  i\ 
nach  weiblicher,  ihre  Töchter  nach  männlich^ 
ziehen,  was  schwerlich  vorkommen  dürfte.  Oft  i 
die  urnischen  Geschwister  getrennt  von  einandd 
wachsen.  So  berichtet  ein  höchst  femininer  Ur^ 
russischer  Abkunft,  der  in  Deutschland  erzoger 
„Meine  einzige  Schwester,  von  der  ich  seit  Kindl 
trennt  bin,  hat  fast  alle  Vorzüge  eines  Mannes,  sie 
in  Petersburg  Medizin,  raucht  und  treibt  sehr  viel\ 
sie  schwärmte  in  der  Schule  sehr  für  ihre  Lehrer\ 
lebt  mit  einer  Studiengenossin  in  enger  Freundschd 
sammen.*  Unter  58  urnischen  Geschwistern,  die  mJ 
sönlich  oder  dem  Namen  nach  bekannt  sind,  finden 
26  mal  Bruder  und  Schwester,  21  mal  homosexuelle  Br\ 
darunter  2 mal  Zwillingsbrüder,  3mal  homosexuelle  Sei 
stern,  6  mal  3,  1  mal  4,  lmal  5  urnische  Geschwil 
29  mal  sind  sämtliche  (2,  3  und  5)  Kinder  homosex^ 
in  7  Fällen  hat  sich  ein  Bruder  wegen  Homosexuall 
das  Leben  genommen.  Verhältnismäßig  häufig  finden  s\ 
auch  Homosexuelle  in  der  Vetterschaft.  In  einer  eul 
päischen  Fürstenfamilie,  welche  im  Jahre  1880  14  män\ 
liehe  Mitglieder  zählte,  fanden  sich  nachweislich  vie 
wahrscheinlich  sogar  sechs  Urninge.  In  den  Fällen, 
mehr  als  zwei  Kinder  homosexuell  sind,  scheint  mir  eini 
psychopathische  Belastung  häufiger  vorzuliegen,  soweit 
sich  dies  bei  dem  relativ  spärlichen  Material  sagen  läßt] 
Im  Falle  der  4  urnischen  Geschwister  waren  der  Vater \ 
und  der  Großvater  mütterlicherseits  Brüder,  in  dem  der 
5  Geschwister  berichtet  der  älteste  Bruder,  ein  mir  auch 
persönlich  bekannter  tüchtiger  Schriftsteller :  „Meine  vier 
jüngeren  Geschwister,  eine  Schwester  und  3  Brüder,  sind 
wie  ich  veranlagt.  Mein  2.  Bruder  nahm  sich  im  28.  Jahr 
das  Leben.  Er  verlobte  sich,  glaubte  aber  nach  kurzer 
Zeit  das  Mädchen  nicht  wirklich  lieben  und  befriedigen 
zu    können,     wurde    krankhaft    mißtrauisch  gegen   seine 


—     142    — 

Umgebung,  von  der  er  sich  in  seiner  Anomalie  durch- 
schaut glaubte  und  erhängte  sich  in  einem  Sanatorium. 
Wir  Geschwister  sind  sämtlich  von  der  Mutter  her  sehr 
musikalisch  und  schöngeistig  veranlagt,  die  Mutter  war 
eine  kluge  energische  Frau  von  vorzüglichen  Gemüts- 
eigenschaften. In  ihrem  Gesicht  lag  ein  männlicher  Zug. 
Sie  starb  im  50.  Jahr  an  Unterleibskrebs.  Der  Vater 
war  skrophulös,  schwerhörig,  willensschwach,  er  starb  im 
58.  Jahr  nach  langjährigem  Rückenmarksleiden.  Die 
Mutter  meines  Vaters  hatte  in  ihrem  Tun  etwas  ent- 
schieden Männliches  und  hatte  im  Alter  einen  Bart." 
Ich  bemerke,  daß  der  Berichterstatter  körperliche  und 
geistige  Degenerationszeichen  aufweist  (u.  a.  unregelmäßige 
Zahnstellung,  verbildete  Zehen,  allerlei  Absonderlichkeiten 
und  Exzentrizitäten  neben  hoher  geistiger  Befähigung, 
Zwangsvorstellungen,  so  ist  es  ihm  unmöglich  rechts  von 
jemandem  zu  gehen,  exhibitionistische  Anwandlungen  etc.). 
Es  handelt  sich  hier  also  um  einen  erblich  belasteten 
Homosexuellen,  der  zugleich  ein  Degenerierter  ist. 

Die  Frage  zu  entscheiden,  wie  gesunde  Eltern  zu 
homosexuellen  Kindern  kommen,  werden  wir  schwerlich 
im  Stande  sein,  bevor  wir  nicht  wissen,  wovon  es  ab- 
hängt, daß  das  eine  Mal  Knaben,  ein  anderes  Mal  Mädchen 
geboren  werden.  Vorläufig  können  wir  nur  die  uns  in 
ihren  Gründen  völlig  unklare,  aber  höchst  weise  Tatsache 
konstatieren,  daß  in  Deutschland  wie  fast  in  ganz  Europa 
auf  100  Mädchen  durchschnittlich  106  Knaben  zur  Welt 
kommen.  Wir  werden  kaum  fehlgehen,  wenn  wir  hieraus 
und  aus  der  Erfahrungstatsache,  daß  —  soweit  unsere 
Kenntnis  reicht  —  überall  Homosexuelle  in  gleicher 
Menge  vorhanden  sind,  folgern,  daß  auf  ein  bestimmtes 
Quantum  Knaben  und  Mädchen  ein  konstanter  Prozent- 
satz urnischer  Personen  geboren  wird.  Die  Größe  desselben 
auch  nur  annähernd  anzugeben,  besitzen  wir  keine  exakten, 
einwandfreien    Grundlagen;     sie     zu     beschaffen,    dürfte 


143 


eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  wissenschaftlich, 
tären  Komitees  sein.     Als  statistisch  erwiesen  dl 
dagegen  ansehen,  daß  die  Homosexuellen  in  der  1 
der  Fälle  nicht  erblich  belastet  sind,  wie  es  bisfi 
geglaubt  wurde.     Diese   Feststellung   spricht  wi 
dagegen,  daß  es  sich  in  allen  Fällen  von  Homosö 
um   eine  Degenerationserscheinung  handelt.     Bek^ 
waren   die  Psychiater,   die  sich  zuerst  mit  der  kol 
Sexualempfindung  beschäftigten,  namentlich  Magna 
Krafft-Ebing  auf  Grund  ihres  Materials  zu  dieser  \ 
zeugung    gelangt.     Magnan  *)    hatte    gesagt:    „Die  \ 
kehrung  des   geschlechtlichen  Empfindens    ist   nicht^ 
Krankheit    für    sich,    sondern    das  Zeichen    eines    a 
meinen    krankhaften   Zustandes,    ein  Syndrom    im   1 
der  ererbten  Entartung. "     Krafft-Ebing2)  gelangt  ha\ 
sächlich  unter  Berücksichtigung  der  „in  fast  allen  Fä\ 
vorhandenen  neuropathischen  Belastung*  zu  dem  Schluß 
„daß   diese  Anomalie    der  psychosexualen    Empfinduni 
weise  als  funktionelles  Degenerationszeichen  klinisch  a 
gesprochen  werden  muß."     Mit  der  Menge  der  zu  sein! 
Beobachtung   gelangenden  Homosexuellen    hat    er   allei 
dings  diesen  Standpunkt  wesentlich  eingeschränkt  und  il 
seiner  Arbeit  im  III.  Bande  dieser  Jahrbücher  (S.  6)  er\ 
klärt  er  ausdrücklich :  „Daß  die  konträre  Sexual empfindung 
an  und  für  sich    nicht  als   psychische  Entartung  oder\ 
gar  Krankheit  betrachtet  werden  darf."     Neuerdings  hat^ 
Möbius  in  der  geistvollen  Schrift:  „Geschlecht  und  Ent- 
artung"8)   die    Anschauung    vertreten,    daß    die    Homo- 
sexualität stets  eine  Form  angeborener  Entartung  sei, 
er  beruft  sich  dabei  besonders  darauf,  daß  stets  erbliche 
Belastung  nachzuweisen  sei    und  daß  stets  auch  außer- 
halb   der    Geschlechtlichkeit    liegende    körperliche    und      \ 

*)  Magnan.    Psychiatrische  Vorlesungen,  IV.  V.  Heft.    S.  38. 

2)  Psychop.  sex.  S.  209. 

3)  S.  28  ff. 


—     144    — 

geistige  Zeichen  der  Entartung  vorhanden  wären.  Wir 
sahen  bereits,  daß  die  erste  Voraussetzung  nicht  zutrifft, 
und  werden  erfahren,  daß  auch  die  zweite  Prämisse  einer 
Massenbeobachtung  gegenüber  nicht  Stich  hält.  Übrigens 
rechnet  Möbius  ')  (3.  36)  die  Homosexuellen  „nur  zu  den 
Leichtentarteten  oder  wie  man  gewöhnlich  sagt,  zu  den 
Nervösen."  Ein  anderer  sehr  erfahrener  Psychiater  — 
selbst  Urning  —  schreibt:  „Meine  Studien  haben  mir  kein 
positives  Resultat  ergeben.  Wohl  fand  ich  in  einzelnen 
Fällen  von  Homosexualismus  hereditäre  Einflüsse,  die 
aber  bei  anderen  fehlten.  Allerdings  fand  ich  unter 
Homosexuellen  Typen  mit  ausgeprägten  psychischen  und 
körperlichen  Degenerationszeichen,  andererseits  fand  ich 
aber  wieder  so  kerngesunde,  harmonische  Naturen,  daß 
sich  für  mich  trotz  eifrigsten  Bestrebens  nichts  Eindeutiges 
zur  Entscheidung  dieser  Frage  ergab.  Allerdings  ist  ein 
so  verhältnismäßig  kleines  Material,  wie  es  bisher  jedem 
auch  dem  bedeutendsten  Forscher  vorgelegen  hat,  nicht 
geeignet,  absolut  einwandfreie  Schlüsse  zu  ziehen.  Ein 
entscheidender  Beitrag  zur  Lösung  dieser  Frage  ist  wohl 
nur  von  der  Bearbeitung  des  großen  einschlägigen  Ma- 
terials, das  dem  wissenschaftlich-humanitären  Komitl  zur 
Verfügung  steht,  zu  erwarten.* 

Vor  kurzem  hat  sich  auch  Näckez)  zu  der  Frage  ge- 
äußert und  zwar  in  dem  Sinne,  daß  die  Homosexualität 
allein  für  sich  bestehend  noch  keine  Entartung  ausmacht, 

!)  Möbius  sagt  in  dieser  Broschüre  S.  40:  „Auch  ich  bin  der 
Meinung,  daß  die  Abschaffung  des  §  175,  dessen  Wirkung  haupt- 
sächlich in  Erpressungen  und  weiterhin  in  Selbstmorden  besteht, 
dringend  zu  wünschen  sei."  Wir  betonen  dies  Bloch  gegenüber, 
der  sich  gegen  die  Aufhebung  dieses  §  ausspricht  und  sich  dabei 
auch  (B.  I.  S.  252)  auf  frühere  Ausführungen  von  Möbius  stützt.  Auch 
die  zwei  anderen  Hauptgewährsmänner  von  Bloch:  Eulenburg  und 
v.  Schrenck-Notzing  haben  die  Petition  unterzeichnet,  welche  für 
die  Beseitigung  dieser  verhängnisvollen  Strafbestimmung  eintritt. 

*)  In  Laehrs  Allg.  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  1902.    S.  827. 


—     U5    — 

daß    es    geistig    und    körperlich    völlig    normal 
sexuelle  gibt,   daß   man  dagegen    die  Homosext 
ein  Stigma  neben  anderen  gelten  lassen  kann, 
nicht    als    ein  so   schweres,    wie    es    vielfach    h^ 
wurde.     Ich    habe    in   Gemeinschaft    mit    dem 
Dr.  Ernst  Burchard,   mehrjährigen  psychiatrischi 
stenten,    die    Beziehungen    zwischen    Degeneratil 
Homosexualität  einem  eingehenden  Spezialstudiuu 
zogen  und  können  wir  den  Thesen  Näckes  voll  un^ 
beipflichten. 

Wir  legten  uns  zuvörderst  die  Frage  vor,  in\ 
die  Homosexualität   als  Teilerscheinung   bei  Persöl 
keiten    auftritt,    die    ihrer    gesamten    körperlichen  \ 
geistigen  Veranlagung  nach  als  Entartete  zu  bezeicl 
sind.    Wir  gingen  dabei  von  dem  jetzt  allgemein  gült 
Grundsatze  aus,  daß  ein  vereinzeltes  Degenerationszeic 
noch    kein  Beweis    von  Entartung   ist,    daß  es  in  jec 
Fall  des  Zusammentreffens  mehrerer  solcher  Eigenschaf 
bedarf,    von    denen  Möbius   sagt:    „Wo  sie  sind,    da 
Entartung,  wo  ihrer  viel  sind,  viel,  wo  ihrer  wenig,  weniji 
Auszuschließen  waren  bei  dieser  Untersuchung  von  vor! 
herein  psychische  und- somatische  Erscheinungen,  welch 
mit  der  Homosexualität  in  unmittelbarem  Zusammenhangs 
standen.     Wenn  beispielsweise  Möbius1)   sagt:   „Kindern 
liebe   ist    ein    wesentlicher   Zug   des   weiblichen  Geistes  ;\ 
wenn  ein  Mann  seine  Kinder  abscheulich  findet,  so  erregt \ 
das  kein  Bedenken,   tut  es  ein  Weib,   so  ist  sie  mit  Be-  ' 
stimmtheit  als  entartet  zu  bezeichnen",   so  trifft   dies  für 
ein  normalsexuelles  Weib  gewiß  zu,  nicht  aber  für  eine  urni- 
sche  Individualität,  zu  deren  Gesamtbild  diese  Abneigung 
gegen  Fortpflanzung  und  Kinder  als  Teilerscheinung  ge- 
hört.    Ebensowenig  werden  wir  bei  einem  homosexuellen 
Manne  sehr  weiche  Hände  oder  starke  Brustentwickelung 


*)  Staohyologie  S.  176. 

Jahrbuch  V.  10 


—    146  ■  — 

oder  Bartlosigkeit  als  Stigma  der  Degeneration,  sondern 
vielmehr  als  urnisches  Stigma  ansehen  dürfen.  Von 
körperlichen  Degenerationszeichen  hatte  Kollege  Burchard 
folgende  für  unseren  Zweck  zusammengestellt:1) 

Abnormer  Kopfumfang 

Asymmetrie  des  Hirnschädels. 

Asymmetrie  des  Gesichtsschädels. 

Abnorme  Häßlichkeit. 

Mikro-  und  Anophthalmus. 

Fehlen,  Colobom  der  Iris. 

Farbenungleichheit  der  Iris. 

Ektopie  und  Ungleichheit  der  Pupillen. 

Retinitis  pigmentosa. 

Angeborene  Kataract. 

Cysten  der  Augenhöhle. 

Schielen,  Nystagmus. 

Die  zahlreichen  Anomalien  im  Bau  des  äußeren  Gehörorgans 
(wie  Spitzohr,  Darwinsches  Knötchen,  tibermäßig  große, 
sehr  stark  abstehende  Ohren). 

Fisteln  der  Ohrmuschel. 

Anhänge  der  regio  aiiricularis  und  regio  colli. 

Eiemengangcysten. 

Gesiohtsspalten. 


*)  Es  wurden  besonders  folgende  Werke  berücksichtigt: 

Morel:  Degenerescences  de  l'espece  humain,  Paris  1856. 

Magnan:  Psychiatrische  Vorlesungen,  Deutsch  von  Möbius, 
Leipzig  1891. 

Fere:  Nervenkrankheiten  und  ihre  Vererbung.  Deutsch  von 
Schnitzer,  Berlin  1896. 

Möbius:  Über  Entartung,  Wiesbaden  1900. 

Nordau:  Über  Entartung,  Berlin  1898. 

Arndt:  Biologische  Studien  (II.  Artung  und  Entartung, 
Greifswald  1895). 

Rhode:  Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Frage  nach  der 
Entstehung  und  Vererbung  individueller  Eigenschaften  und  Krank- 
heiten, Jena  1895.  (Mit  eingehender  Litteraturangabe  über  Ver- 
erbung bis  1895.) 

Cohn:  Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Vererbung.  —  Deut- 
sche medicinische  Presse. 

Fuhrmann:  Das  psychotische  Moment,  Leipzig  1903. 


—     147     — 

Hasenscharten. 

Cysten  des  Zwischenkieferspalts. 

Anomalien  der  Zahnstellung  und  des  Zahnbaus. 

Hoher  und  spitzer  Gaumen. 

Spaltungen  des  Gaumens. 

Auffallend  massiver  Unterkiefer. 

Mikro-  und  Makroglossie. 

Anomalien  des  Zungenbändchens. 

Stottern,  Stammeln. 

Angeborene  Abweichungen  der  Wirbelsäule. 

Fehlen  von  Extremitäten  und£einzelnen  Gliedern. 

Entwickelungshemmungen  in  der  Länge  der  Finger  und' 

Polydaktylie,  Syndaktylie. 

Schwimmhäute. 

Zu  harte  knochige,   zu  breite  tatzenartige,  zu  weiche 

knochenlose,  übermäßig  feuchte  kalte  Hand. 
Klumpfuß,  Pferdefuß  etc. 
Hammerartige  Mißbildungen  der  großen  Zehe. 
Angeborene  Luxationen,  Neigung  zu  Luxationen. 
Größenmißverhältnisse  der  Extremitäten  zum  Rumpf. 
Riesen-,  Zwergwuchs. 
Angeborene  Exostosen. 
Akromegalie. 
Spina  bifida. 

Mangelhafte  Muskelentwickelung. 
Fehlen  einzelner  Muskeln. 
Starke  Fettleibigkeit. 
Multiple  Lipome. 
Hämophilie. 
Situs  inversus. 
Neigung  zu  Krampfadern. 
Aplasie  der  Arterien. 
Pigmententartung  der  Haut  (Flecken  etc.). 
Albinismus. 

Hornartige  Gewächse  der  Haut. 
Mangelhafte  und  abnorme  Behaarung. 
Vorzeitiges  Ergrauen. 
Doppelter  Haarwirbel. 
Ungenügendes  Wachstum  der  Haare. 
Zartheit  der  Nägel. 
Brüche,  Bruchanlage. 
Atresie,  Prolapse  des  Mastdarms. 

10* 


—    148    — 

Abnorme  Länge  des  proz.  vermiformis. 
Neigung  zu  Appendicitis. 
Überzählige  Brüste. 
Pseudo-Hermaphroditismus. 
Kryptorchismns.    Ektopie  der  Teatikel. 
Hypospadie.    Epispadie. 
Phimose. 

Natürlich  sind  die  einzelnen  Stigmata  in  ihrer  Be- 
deutung sehr  verschieden  zu  bewerten,  so  werden  vor- 
zeitiges Ergrauen,  Neigung  zu  Appendicitis,  zu  Krampf- 
adern und  Bruchanlage  zusammengenommen  weniger  zu 
besagen  haben  als  eine  Verbindung  von  Hasenscharte 
und  Polydaktylie.  An  die  körperlichen  Entartungszeichen 
schließt  sich  die  Neigung  zu  bestimmten  konstitutionellen 
Erkrankungen  an,  die  man  ebenfalls  als  Entartungszeichen 
ansieht.  Im  Wesentlichen  sind  es  Rachitis,  Tuberkulose, 
Skrophulose,  Diabetes  und  die  Krankheiten  der  arthriti- 
schen Gruppe.  Die  Anlage  zu  gewissen  nervösen  Er- 
krankungen, der  man  eine  gleiche  Bedeutung  beilegt,  zur 
Chorea,  Basedowschen,  Parkinsonschen,  Thomsenschen 
Krankheit,  Muskelatrophie,  M  igräne,  Neuralgieen,  Epilepsie, 
Hysterie  und  Neurasthenie  leitet  uns  auf  das  Gebiet  der 
psychischen  Degenerationszeichen  über.  Hier  kommt  es 
für  uns  weniger  auf  die  ausgesprochen  pathologischen 
Zustände  des  sogenannten  Entartungsirreseins  an,  die 
ohnehin  von  den  übrigen  endogenen  Psychosen  schwer 
zu  trennen  sind,  als  vielmehr  auf  jene  psychischen  Stigmata, 
die  außerhalb  eigentlicher  Geistesstörungen  den  Entarteten 
charakterisieren.  Es  sind  dies  nach  F£r6:  Extreme  Reiz- 
barkeit des  Charakters,  Veränderlichkeit  der  Gefühle  und 
Neigungen,  Absonderlichkeit  des  Geschmacks  (z.  B.  im 
Alkoholismus  und  Morphinismus  hervortretend) ,  damit 
im  Zusammenhang  steht  die  für  den  Entarteten  charakte- 
ristische Tatsache,  daß  bei  ihm  der  Impuls  zum  Handeln 
stärker  ist,  als  es  nach  den  bestimmenden  Motiven  der 
Fall  sein  sollte.     Magnan  stellt  in  den  Vordergrund  die 


149    —  \ 


verringerte  Fähigkeit  sich  geistig  konzentrieren  zi\ 
nebst  der  Unfähigkeit,  lästige  Gedanken  zu  ban^ 
zu  Zwangshandlungen  führt  (Platzfurcht,  Onomai 
Arithmomanie,    Selbstmordmanie   etc.).      Möbius  \ 
sieht  das  wesentliche  in  der  psychischen  Unbestän\ 
und   Disharmonie,    die    in    Gleichgewichtsstörungen 
Ausdruck  gelangt.    Wichtig  für  die  Bewertung  psycH 
Entartungszeichen   ist  der  Satz,   daß   diejenigen,    M 
unter  gleichen  Lebensbedingungen  stehen,  wissen  we 
was   an  dem  Betreffenden  atypisch  ist.     Hier  ist  je\ 
wieder    zu    berücksichtigen,    daß    dem    Normalsexui 
vieles  atypisch  erscheinen  wird,  was  dem  spezifisch  ho\ 
sexuellen    Empfinden   entspringt  und  mit  der  urniscl 
Natur  vollkommen  harmoniert,  sodaß  von  diesem  Gesich 
punkt  aus  von  einer  Disharmonie  der  psychischen  Persq 
lichkeit  nicht  die  Rede  sein  kann.     Weiterhin  sind  aui 
die  nervösen  Stigmata  in   Abzug  zu  bringen,  welche  a, 
unmittelbare  Folgeerscheinungen  der  homosexuelle] 
Triebrichtung  aufzufassen  sind.     Wenn  wir  uns  vergegeri 
wärtigen,   welchen  gewaltigen    Faktor  die  honiosexuell^ 
Leidenschaft  im  individuellen  Leben  ausmächt,  so  werdeni 
wir  begreifen,   daß  stärkere   Alterationen    dieser  Sphäre  \ 
auf  das  ganze   mit  dem  Sexualtrieb    so   eng    verknüpfte  \ 
Nervensystem  besonders  nachteilig  wirken  werden.     Un- 
glückliches Lieben   steht   unter  den  Ursachen   der  Neu- 
rasthenie obenan  und  man  sollte  nie  versäumen,  wenn  man 
bei  Patienten  die  mit  erhöhter  Erregbarkeit  verbundenen     \ 
nervösen  Depressionen  findet,  das  Sexualleben  im  weitesten      \ 
Sinn   als    ätiologisches    Moment   in    Betracht    zu    ziehen.       \ 
Gilt  das  schon  für  Normalsexuelle,  um  wie  viel  mehr  für       \ 
Homosexuelle,    deren    innere   Angst    und    Erregungszu-        \ 
stände,  deren   so  oft  zu    Selbstmordversuchen    führende         \ 
Liebeskonflikte,  deren    qualvolle   Unterdrückungskämpfe         \ 
oft  eine  fortlaufende  Reihe  psychischer  Traumen  darstellen.  \ 

Wir  müssen  also  bei  unseren  Untersuchungen  die  auf  dem 


\ 


—    150    — 

Boden  der  Entartung  und  die  auf  dem  der  Homosexualität 
entstandene  Neurasthenie  wohl  unterscheiden. 

Wenn  wir  uns  nun  nach  Auschluß  der  mit  dem  homo- 
sexuellen Triebe  im  unmittelbaren  Zusammenhang  stehen- 
den Stigmen  die  Frage  vorlegen:  Bestehen  bei  Homo- 
sexuellen die  körperlichen  und  geistigen  Entartungszeichen 
in  höherem  Prozentsatz  als  bei  Normalsexuellen?,  so 
lautet  die  Antwort:  Nein.  Burchard  und  ich  fanden 
unter  200  beliebig  ausgewählten  Homosexuellen  32  mit 
ausgesprochenen  Degenerationszeichen  also  ca.  16%  und 
zwar  waren  diese  fast  sämtlich  erblich  belastet. 

Stände  die  Homosexualität  im  unmittelbarem  Zu- 
sammenhang mit  der  Degeneration,  so  müßten  die  Zeichen 
der  Entartung  nicht  nur  bei  Homosexuellen,  sondern  auch 
die  Homosexualität  in  größerem  Umfange  bei  schwerer 
Degenerierten  nachzuweisen  sein.  Auch  das  trifft  nicht 
zu.  Man  vergleiche  .  die  im  II.  Aufsatz  dieses  Bandes 
von  Näcke  mitgeteilten  Beobachtungen  aus  der  Irren- 
anstalt Hubertusburg,  auch  Dr.  Burchard  sah  während 
seines  mehrjährigen  Aufenthalts  in  der  Heilanstalt  Ucht- 
springe  unter  dem  dortigen  überaus  zahlreichen  Material 
von  Degenerierten  schwerster  Art  nur  einen  Fall  aus- 
gesprochen homosexueller  Veranlagung  (bei  einem  Epi- 
leptiker.) 

Tritt  also  die  Homosexualität  in  gut  4/ft  der  Fälle 
bei  völlig  Gesunden  und  nur  in  knapp  1/B  bei  Degene- 
rierten auf,  steht  sie  demnach  keineswegs  so  oft  in  Ver- 
bindung mit  sonstigen  Zeichen  der  Degeneration,  daß  sie 
notwendig  mit  ihr  verknüpft  erscheint,  so  bleibt  noch  der 
Einwand  übrig,  und  dieser  ist  erhoben  worden,  daß  die 
Homosexualität  allein  für  sich  ihren  Träger  zum  Degene- 
rierten, zu  einem  minderwertigen  Repräsentanten  der 
Gattung  Mensch  stempelt.  Auch  Möbius  scheint  dieser 
Meinung  zuzuneigen.  Er  sagt  (Stachyologie  S.  132)  einmal : 
„Mit  der  Zivilisation  wächst  die  Entartung,  d.  h.  die  Ab- 


—    151    — 

weichung    von    der    ursprünglichen    Art.    — 
wichtigsten    Arten   geistiger   Abweichung   bestet 
daß  der  Geschlechtscharakter  an  seiner  Bestimmt! 
liert,    daß    beim    Manne    weibliche    Züge,    beiml 
männliche  auftreten/  .  Man  mißt  dabei  diesen  Züget 
Symptomenkomplex  doch  zweifellos   eine  Einheit  \ 
eine  Bedeutung  bei,  die  man  keinem  anderen  Stigi 
erkennt,  und  setzt  sich  in  Widerspruch  mit  dem  v^ 
Psychiatern  allgemein  angenommenen  Satz,  daß  es  zur\ 
Stellung  der  Entartung   stets  mehrerer  Degenerat 
zeichen  bedarf.    Um  zu  entscheiden,  ob  die  Homosexu\ 
für  sich  eine  Entartu'ng  bedeutet,  muß  man  sichl 
allem    über    diesen    Begriff    Klarheit    verschaffen,   \ 
durchaus    nicht    leichte    Aufgabe,    denn   die   Erkläru 
„Entartung  ist  ein  krankhafter  Geisteszustand  auf  Grii 
krankhafter   Zustände   der   Erzeuger ",  sowie   die  andi 
Definition:  „Entartung  ist  eine  ererbte  Abweichung  vi 
Typus,  die  die  durch  die  Variabilität  gezogenen  Grenzi 
übersteigt",  rufen  sofort  die  Gegenfragen  wach:  was  i\ 
krankhaft?  was  ist  der  Typus  ?  was  ist  die  Norm?  welche 
sind  die  Grenzen  physiologischer  Varietät?   Wir  könnei 
doch  unmöglich  Lombroso  beipflichten,  der  auf  die  tele- 
graphische Anfrage  des  New  York  Herald:  Was  ist  ein, 
normaler  Mensch?  antwortete:    „Ein    Mensch,    der   über\ 
einen  gesegneten  Appetit  verfügt,  ein  tüchtiger  Arbeiter,  \ 
egoistisch,  geschäftsklug  (routin£)   geduldig,  jede  Macht-  \ 
Sphäre  achtend  .  .  ein  Haustier." 

Gewiß  stellt  der  Homosexualismus  die  Minorität  des 
geschlechtlichen  Empfindens  dar,  sodaß  man  ihn  ver- 
gleichsweise als  von  der  Norm  abweichend  und  in 
diesem  Sinne  als  abnormal  bezeichnen  kann.  Sieht 
man  aber  von  Vergleichen  ab  und  betrachtet  ihn  ganz 
objektiv,  rein  für  sich,  als  etwas  einmal  Bestehendes, 
so  bildet  er  in  sich  etwas  so  Übereinstimmendes,  die  ihm 
eigenartige    Geschlechtsempfindung    entspricht     so     sehr 


—    152    — 

seinem  ganzen  Wesen  und  zeigt  so  bis  ins  einzelne 
gehende  Analogieen  mit  der  heterosexuellen  Geschlechts- 
empfindung, daß  man  bei  ihm  wohl  von  einer  besonderen 
Art,  einem  besonderen  Geschlecht  absolut  gesprochen, 
aber  nicht  von  einer  Anomalie  im  pathologischen  Sinne 
reden  kann.  Das  Disharmonische,  die  Störung  der  nor- 
malen geistigen  Proportionen  (d£s£quilibration),  auf  welche 
die  Psychiater  mit  Recht  hohen  Wert  legen,  ist  beim 
Homosexuellen  nur  scheinbar  vorhanden.  Die  Ansicht 
Molls,  welche  er  in  einer  deiner  letzten  Arbeiten1)  mit 
den  Worten  vertritt:  „Zu  den  krankhaften  Erscheinungen 
rechne  ich  unter  allen  Umständen  die  ausgeprägte  Homo- 
sexualität. Wo  ein  solches  Mißverhältnis  zwischen  Körper- 
bildung und  seelischer  Verfassung  besteht,  haben  wir 
einen  pathologischen  Zustand  vor  uns,*  diese  Ansicht 
wäre  richtig,  wenn  der  Homosexuelle  körperlich  und 
geistig  so  konstituiert  wäre,  wie  der  Normalsexuelle.  Wir 
haben  ausführlich  dargetan,  daß  ein  derartiges  Mißver- 
hältnis in  Wirklichkeit  nicht  besteht.  Nicht  ohne 
Berechtigung  schreibt  ein  homosexueller  Gelehrter: 
„Wenn  jemand,  der  sonst  gesund  ist,  durch  die  Be- 
friedigung eines  Triebes  Glück  empfindet,  dürfte  doch 
das  Prädikat  „krankhaft"  widerlegt  sein.  Ich  verspüre 
nach  jeder  Auslösung  meines  Triebes  ein  so  erhöhtes 
Kraftgefühl,  soviel  innere  Harmonie,  eine  so  arbeitsfrohe 
Stimmung,  daß  seine  völlige  Unterdrückung  für  mich 
eine  kontradiktio  in  —  subjekto  bedeuten  würde."  Die 
Pathologen  verstehen  unter  Krankheit  eine  den  Körper 
schädigende,  meist  auch  unangenehm  empfundene  Er- 
scheinung. Die  Homosexualität  an  und  für  sich  verschafft 
ihren  Trägern  aber  weder  Schaden  noch  Unannehmlich- 
keiten, diese  erwachsen  ihnen  nur  aus  den  Verhältnissen. 
Auch   der  häufige  Mangel   hereditärer  Belastung   spricht 


*)  Zukunft:  Sexuelle  Zwischenstufen.    S.  433.    1902. 


sehr  dagegen,  daß  die  homosexuelle  Empfindung  i 
ein  Degenerationsphänomen  ist,  ebenso  der  Unist 
sich    die    Homosexuellen    sehr    oft    einer     ersta 
körperlichen  und  geistigen  Gesundheit,  Kraft  unci 
keit  erfreuen;    erst    kürzlich    besuchte  mich    ein  \ 
jähriger  Uranier,  der  mir  mitteilte,  daß  er  nie  kra 
wesen    sei    und  es  im  alpinen  Sporte,  dem   er  mi\ 
huldigte,    noch   jetzt   mit  jedermann   aufnehmen    \ 
Eulenburg1)    und  Bloch    meinen,   daß   die  Ubiquit^ 
Homosexualität,  ihre  Unabhängigkeit  »von  Zeit  und, 
von    Rassenverhältnissen   und  Kulturformenu    gegeii 
Annahme  einer   Degenerationserscheinung  spräche,   \ 
ist  dem  mit  Recht  entgegenzuhalten,  daß  es  überall  \ 
artete  geben  kann.     Richtig  ist,  daß  Kultur  und  Civilisa\ 
sowie  „  das  Zeitalter  der  Nervosität11  nicht  verantwortt 
zu   machen    sind    und    es   freut    mich,    nach    so    viel 
Meinungsverschiedenheiten     hierin     mit    Bloch    überei 
stimmen  zu  können,  wennschon  ich  gewünscht  hätte,  d^ 
der   Autor  aus   dem   Ergebnis    seiner    historischen  Fol 
schungen:  Die  Homosexualität  kann  kein  ÄKulturprodukti 
sein,  den  Schluß  gezogen  hätte:  Dann  wird  sie  wohl  ei^ 
„Naturprodukt*  sein.  \ 

Manche  erblicken  in  der  relativen  Fortpflanzungs4 
Unfähigkeit  der  Homosexuellen  einen  Beweis  ihrer  Krank-  \ 
haftigkeit.  So  sagt  Wachenfeld2):  „Die  Homosexualität 
kann  nichts  rein  Natürliches,  Physiologisches  sein;  denn 
sonst  würde  die  Natur  die  homosexuelle  Befriedigung, 
ebenso  wie  die  heterosexuelle,  in  den  Dienst  der  Fort- 
pflanzung und  Arterhaltung  gestellt  haben."  Auch  Krafft- 
Ebing  schwebte  wohl  diese  negative  Seite  des  homosexu- 
ellen Triebes  vor  Augen,  als  er  sagte8):  „Die  Verletzung 

*)  Eulenburg  in  der  Vorrede  zu  Blochs  Beiträgen  z.  Ätiol.  d. 
Psych,  sex.  S.  IX  u.  Bloch  ibidem  S.  3  u.  ff. 
*)  A.  a.  0.  S.  38. 
8)  Ps.  sex.  S.  248. 


—    154    — 

von  Naturgesetzen  ist  anthropologisch  und  klinisch  als 
eine  degenerative  Erscheinung  anzusprechen."  Wie  aber, 
wenn  hier  gar  kein  Naturgesetz  verletzt  würde,  wenn  es 
im  Plane  der  Natur  gelegen  hätte,  Wesen  hervorzubringen, 
für  die  es  nicht  normal  ist,  sich  fortzupflanzen?  Unter- 
scheiden wir  recht  genau  die  Gesetze,  welche  wir  schufen 
und  die  Gesetze,  welche  uns  schufen. 

Gewiß  ist  der  geschlechtliche  Verkehr  die  Ursache 
der  Fortpflanzung,  diese  ist  seine  Folge,  eine  —  wie  die 
Erfahrung  zeigt  —  oft  nicht  einmal  erwünschte  Begleit- 
erscheinung. Auch  ohne  daß  wir  bisher  über  den  Prozent- 
satz der  Homosexuellen  zur  Gesamtbevölkerung  genaue 
Angaben  machen  können,  dürfen  wir  behaupten,  daß  der 
im  homosexuellen  Verkehr  der  Fortpflanzung  entgehende 
Zeugungsstoff  prozentual  verschwindend  ist  gegenüber  dem 
im  normalen  Geschlechtsverkehr  bewußt  und  unbewußt 
verschwendeten.  Die  schöpferische  Natur  geht  mit  dem 
Zeugungsstoff  allüberall  in  ungemein  verschwenderischer 
Weise  um.  Es  genügt  ihr,  wenn  von  diesem  Stoff  nur 
ein  ganz  ungeheuer  geringer  Prozentsatz  der  Befruchtung 
dient.  Der  Anatom  Henle1)  berechnete  die  Zahl  der 
Eier  in  dem  Eierstock  eines  18  jährigen  Mädchens  auf 
36000,  in  beiden  Ovarien  zusammen  also  auf  72  000.  In 
den  30  Jahren  von  der  ersten  Periode  bis  zum  Klimacte- 
rium  werden  davon  nur  30  X  12  =  360  Eier  abgestoßen. 
Und  von  diesen  werden  selten  mehr  als  10  befruchtet. 
Unvergleichlich  größer  noch  ist  die  Verschwendung  des 
männlichen  Zeugungsstoffs.  500  Millionen  Samenzellen 
füllen  den   Raum  einer   einzigen   Kubiklinie   aus;3)    be- 


')  J.  Henle:  Handbuch  der  System.  Anatomie  de»  Menschen 
Bd.  2  S.  483.    Braunschweig,  Vieweg  1866. 

*)  Man  vergL  Banges  Physiologie  Band  I  1901  S.  344  u.  Bd.  11 
S.  100.  Über  die  Spermamenge  bei  einer  Ejakulation  finden  sich 
Angaben  bei: 

1.  William  Acton:  The  functions  and  desorders  of  the  repro- 


rücksichtigen  wir  nun,   daß  die  bei  einer  Entle^ 
gegebene  Spermamenge   c.    10   gr.   beträgt,  da# 
Eskalationen  im  Jahr  gewiß  nichts  seltenes  sind,\ 
man  getrost  sagen,  daß  von  vielen  Milliarden  mi 
Keimzellen  kaum  eine  den  Keim  zu  einem  neuen 
legt.     Sterben  doih  die  direkten  Nachkommen  fi 
einzigen  Menschen  —  man  vergleiche  die  genealo) 
Tafeln  —  nach  wenigen  Generationen  aus.     Der  nah 
Mensch   denkt  beim  Geschlechtsverkehr   auch  gar\ 
an  die  Fortpflanzung.     Für  ihn  ist  der  Geschlechtsv« 
nicht  Mittel  zum  Zweck,  sondern  Selbstzweck.     Voll 
er   den  Geschlechtsakt  zum   Zwecke   der   Fortpflan\ 
so  handelt   er   aus  Reflexion.     Von  den   beiden  Koi 
nenten  des  Geschlechtstriebes,  dem  Kontrektations-  und 
tumescenztriebe  Molls,  dem  Ergänzungs-  und  Geschieh 
befriedigungstrieb,  hat  der  erstere  mit  der  Fortpflanzt 
direkt  überhaupt  nichts   zu   tun.     Dabei  ist   er   für  i 
Charakter  und   die  Richtung   des   sexuellen  Triebes  i 
wesentlichere.   Es  ist  auch  sehr  wahrscheinlich,  daß,  wel 
die   Fortpflanzung    beim    Menschen,   wie    bei    so    viel' 
Lebewesen,  ungeschlechtlich  wäre,   der   Gefühlskomplel 
der  in  der  geschlechtlichen  Zuneigung  zum  Ausdruck  g 
angt,  nicht  völlig  aus  der  Welt  verschwände.     Das,  wj 
wir  im   weiteren   Sinne    Herdentrieb,    im   engeren  Sinm 
Ergänzungstrieb  (Kontrektationstrieb)  nennen,  würde  sicher 
lieh  auch  dann   noch  fortbestehen.     Denken  wir  uns  den\ 
Ergänzungstrieb-  vom   Geschlechtsbefriedigungstrieb   los-  ■ 
gelöst,  so  wird  es  uns  nicht  mehr  so  rätselhaft  erscheinen, 


duetive  organs  etc.    III.  ed.    London.   Churchhill  1862  p.  151,    (A. 
nimmt  8 — 10  gr.  an.) 

2.  Dr.  J.  Marion  Sims:  „Klinik  der  Gebärmutterchirurgie" 
deutsch  von  H.  Beigel.  Aufl.  3.  Erlangen.  Enke  1873.  S.  317. 
(o.  10  gr.) 

3.  Paolo  Mantegazza:  Sullo  sperma  umano.  Reale  istituto 
Lombardo  di  soienze  e  letere.    Rendiconti  Vol.  III  1866.  p.  184. 


—    156    — 

daß  das  Objekt  dieses  Ergänzungstriebes,  der  Gegenstand 
der  Liebe,  auch  eine  Person  sein  kann,  mit  der  ein  neues 
Wesen  zu  zeugen  nicht  möglich  ist.  Andererseits  wird 
es  uns  auch  verständlicher  werden,  daß  sich  der  Ge- 
schlechtsbefriedigungstrieb (Detumescenztrieb)  demjenigen 
Objekt  zuwendet,  auf  das  der  Kontrectafiionstrieb  gerichtet 
ist.  Der  Detumescenztrieb  ist,  so  groß  seine  praktische 
Bedeutung  sein  mag,  dabei  doch  nur  untergeordnet,  sekun- 
där, und  man  sollte  ihm  daher  bei  einer  objektiven  Beur- 
teilung der  Homosexualität  nicht  die  erste  Rolle  zuweisen, 
wie  es  vielfach  geschieht. 

Der  Geschlechtsverkehr  beansprucht  für  die  Er- 
haltung de*  Arten  keineswegs  die  Bedeutung,  welche 
ihm  mit  dem  Gegenstand  nicht  Vertraute  zuerkennen. 
Bunge  sagt  in  seinem  meisterhaften  Lehrbuch  der  Physi- 
ologie1): »Die  Konjugation,  die  geschlechtliche  Zeugung 
ist  fiir  die  Fortpflanzung  unwesentlich.  Das  Wesentliche 
ist  die  Zeugung  durch  Teilung  einer  Zelle,  die  vom 
Wachstum  nicht  verschieden  ist.  Welche  Bedeutung 
die  geschlechtliche  Zeugung  hat,  wissen  wir 
nicht." 

Das  Ausschlaggebende  bei  der  Fortpflanzung,  die 
Befruchtung,  die  Vereinigung  der  Keimstoffe,  ist  ja  über- 
dies ein  völlig  gefühlloser  Vorgang,  von  dem  wir  ebenso- 
wenig wie  vom  Wachsen  das  geringste  merken.  Bunge 
hat  vollkommen  recht:  „Wachstum  und  Fortpflanzung  sind 
im  Grunde  genommen  ein  und  dasselbe.  Wachstum  ist 
Fortpflanzung  innerhalb  der  Grenzen  des  Individuums. 
Fortpflanzung  ist  Wachstum  über  die  Schranken  des 
Individuums  hinaus";  auch  der  Mensch,  der  über 
sich  hinaus  wächst,  der  durch  neue  Gedanken 
undWindungen  seine  und  des  anderen  Gehirn- 
oberfläche vergrößert,  pflanzt  sich  fort.     Vom 


*)  1.  Aufl.  1901  erschienen. 


—    157    — 

Wachstum    zur    ungeschlechtlichen    Fortpflanzt 
dieser   zur   geschlechtlichen  Zeugung  führen  alli 
denklichen  Übergänge.     Gerade  die  imposante 
keit,   die   unendliche  Mannigfaltigkeit,  mit  der  d\ 
an  der  Erhaltung  und  Vervollkommnung  ihrer  G^ 
arbeitet,   sollte   uns  vor  der  Vermessenheit  schüt: 
Natur  ins  Handwerk  zu  pfuschen.     Wie   können  \ 
verantworten,  dem  Menschen  ein  Recht  abzuerkenn 
keinem    anderen    Lebewesen    vorenthalten    ist.     D 
schlechtlichen  Beziehungen  erwachsener  und  zurech^ 
fähiger  Wesen   gehen    wahrlich  keinen    dritten  etwl 
Wie,   wenn    der  Zweck    des  Geschlechtstriebes   nul 
Liebe  wäre,  die  Liebe,  die  stets  fruchtbar  ist,  zeugi 
gebiert,  auch  wenn  ihr  keine  neue  Lebewesen  entspri^ 
Man  kann  auch  produktiv  sein,  ohne  sich  fortzupflail 
Wenn  Möbius   die  Fortpflanzung  als   wichtigsten  Nal 
zweck1)  bezeichnet,  so  setzeich  dem  Leipziger  Psycho 
den   Leipziger  Psychologen   entgegen,   Wundt,   den   n^ 
den  größten  Philosophen  der  Jetztzeit  genannt  hat    Diel 
stellt  als  mittelbaren  und  unmittelbaren.  Zweck  des  Lebe 
die   Erzeugung    geistiger  Schöpfung  hin.2)     Haben    dei 
Michelangelo,  Beethoven   und  Friedrich  der  Große  ihre 
Naturzweck  verfehlt^  weil  sie  keine  Kinder  zeugten?     Ic\ 
meine,   sie   bedeuten  der  Menschheit  mehr,  als  100  ihreii 
Zeitgenossen,   die    1000  Kinder  hinterließen.     Nicht  um4 
sonst   hat    man    von   geistiger  Befruchtung  und  Zeugung\ 
gesprochen.     Genie    kommt    von    yevaco-zeugen    und   die 
Spenderin    der  Wissenschaften    nennt   man    alma    mater, 
nährende  Mutter.     Die  Erzeugnisse   des  Geistes,  die  Ge- 


*)  In  dem  Aufsatz  „über  die  Vererbung  künstlerischer  Talente"  \ 
sagt  Möbius  (Stachyologie  S.  123):  „Das  Talent  ist  dem  wich-  \ 
tigsten  Naturzweck,  der  Fortpflanzung,  nicht  förderlich.  \ 
Gerade  unter  den  großen  Talenten  finden  wir  viele  kinderlose  Leute."      \ 

2)  Eisler.    Wilh.  Wundts  Philosophie  und  Psychologie  in  ihren       \ 
Grundlagen  dargestellt.    Leipzig.    Barth  1902.    S.  183.  \ 


—     158    — 

danken,  sind  Taten,  treibende  Kräfte,  Entwickeier  der 
Menschheit,  Vorkämpfer  besserer  Zeiten.  Wer  neue 
Wahrheiten  entdeckt  und  verbreitet,  neue  Gestalten  bildet 
und  formt,  ist  ein  zeugender  und  säugender  Förderer. 
Tolstoi  ruft  einmal  aus:  „Möchten  doch  die  Menschen 
begreifen,  daß  die  Menschheit  nicht  durch  tierische  Er- 
fordernisse, sondern  durch  geistige  Kräfte  fortbewegt 
wird.*  Das  Leben  absolut  schön  zu  schaffen,  reich,  reif 
und  rein,  das  ist  der  Arbeit  Ziel,  des  Daseins  Zweck. 
Bis  aus  Ideen  dieses  Ideal  entsteht,  wird  noch  manche 
Generation  dahingehen,  manche  Denkerstirn  sich  furchen 
und  manche  Arbeitskraft  erlahmen.  Nur  der  Tatenlose 
ist  nutzlos,  zwecklos  nur,  wer  nicht  am  gemeinsamen 
Werke  der  Erziehung,  Weiterbildung,  Vervollkommnung 
mitarbeitet.  Der  Wert  eines  Menschen  hängt  von  den 
Werten  ab,  die  er  erzeugt.  Hand  in  Hand  mit  den 
beiden  anderen  Geschlechtern  hat  der  Uranismus  trotz 
allem  und  allem  Werte  und  Werke  geschaffen  für  den  Ein- 
zelnen und  die  Gesamtheit.  Das  war  des  Uraniers,  wie 
jedes  Menschen  Zweck  und  Pflicht. 

Und  nun  schlagen  wir  die  Brücke  vom  Erkennen 
zum  Leben.  Groß  sagt  einmal:1)  „Heute  sperren  wir  die 
Homosexuellen  ein  und  geschieht  es  ohne  Berechtigung, 
so  wurden  eben  so  und  so  viele  Menschen  ungerecht 
ihrer  Freiheit  beraubt  und  etwas  Ärgeres  können  wir 
überhaupt  nicht  tun/  Und  ich  füge  hinzu,  —  indem 
ich  vor  meinem  Geiste  noch  einmal  die  vielen  hunderte 
von  Uraniern  vorüberziehen  lasse,  vom  Prinzen  zum 
Tagelöhner,,  die  ich  in  sieben  Jahren  sah,  diese  hülf- 
losen Ärzte  und  Priester,  diese  angsterfüllten  Staats- 
anwälte und  Richter,  diese  bedeutenden  Gelehrten  und 
Künstler,  die  braven  Offiziere,  die  pflichttreuen  Be- 
amten,   die  tüchtigen  Kauf leute ,   Landwirte,  Studenten, 


*)  Archiv  für  Kriminalanthrop.    10.  Band  1  u.  2  H.  S.  195. 


Arbeiter   alle,    alle    stigmatisiert,    verstümmelt,   £ 
in    ihrem    Heiligsten,    — :     Solange    Staat    und  \ 
schalt   in  diesen   von    der  Fortpflanzung,  nicht  a\ 
der  Liebe  Ausgeschlossenen  Verbrecher  sehen,  l\ 
Mittelalter  sein  Ende  noch  nicht  erreicht     Ich  fü\ 
Teil  werde  nicht  aufhören,   für  das  Recht   dieser  \ 
drückten    zu    kämpfen,    nicht   aus   Ruhmbegier,  so 
weil  ich  es  nicht  ertragen  könnt«,  untätig  Mitwisser  \ 
so  gewaltigen  Unrechts  zu  sein. 


Anhang:  \ 

Lebensgeschichte  des  uniischen  Arbeiters  Franz  S.,\ 

von  ihm  selbst  erzählt. 

Als  Kind  armer  Eltern  —  mein  Vater  war  Schreiner  —  kai, 
ich  im  Allgemeinen  auf  meine  Jugendzeit  eigentlich  nicht  als  ai 
eine  goldene  Zeit  zurückblicken,  zumal  da  meine  Mutter  frühe  starl 
und  wir  2  Brüder,  die  wir  von  5  Geschwistern  zurückgeblieben 
waren,  bald  eine  Stiefmutter  bekamen.  Unsere  Stiefmutter,  die  noch 
heute  lebt  und  unseren  Vater  in  der  Folge  noch  mit  2  Söhnen  be-\ 
schenkte,  war  eine  äußerst  rechtschaffene  Frau  und  uns  eine  liebe-  \ 
volle  Pflegerin,  die  uns  gewiß  in  jeder  Beziehung  die  rechte  Mutter 
zu  ersetzen  bemüht  war.  Allein  die  dürftigen  Verhältnisse  unserer 
Familie  brachten  es  mit  sich,  daß  wir  schon  als  Jungen  zum  Lebens- 
unterhalt mit  beitragen  mußten.  Der  rücksichtslose  Kampf  ums 
Dasein  warf  schon  frühe  seine  grauen  Schatten  in  den  Sonnenschein 
unserer  Jugend.  Die  Stunden,  wo  ich  frei  mich  meinen  Alters- 
genossen zugesellen  durfte,  waren  mir  bedeutend  knapper  zuge- 
messen als  allen  anderen  Kindern.  Um  so  eifriger  und  in  steter 
Angst,  daß  der  Ruf  meiner  gestrengen  Mutter  mich,  ach  nur  zu 
frühe,  wieder  abrufen  würde,  gab  ich  mich  den  Kinderspielen  mit 
meinen  —  Kameradinnen  hin.  Freilich,  Kameradinnen,  denn  Mädchen 
waren  damals  meine  liebsten  und  fast  ausschließlichen  Spielgefährten. 
Ich  fand  bei  ihnen  stets  willige  Annahme  und  war  ihnen  offenbar 
ein  angenehmer  Spielgenosse.  Abhold  jenen  lärmenden,  wilden 
Knabenspielen  zog  ich  es  vor,  in  Gemeinschaft  mit  gleichaltrigen 


—    160    — 

Mädchen  der  Nachbarschaft  mich  an  Puppenwagen,  Puppenstuben, 
Kochherd  u.  s:  w.  zu  ergötzen.  Dort  war  ich  in  meinem  Element 
Keine  meiner  Gespielinnen  konnte  die  kleinen  Möbel  und  Säohelchen 
des  Puppenheims  so  schön  zurechtstellen,  die  kleinen  Betten  und 
Deokohen  so  glatt  falten,  keine  konnte  so  schöne  Chokoladen-  und 
Milchsuppen  zurechtpantsehen,  so  delikate  Mohrrüben  mit  Zucker 
einmachen,  als  ich.  Deshalb  mußte  ich  auch  meistens  bei  den 
Spielen  die  Mutter  markieren,  obwohl  mitunter  von  einer  neidischen 
Kleinen  Einspruch  dagegen  erhoben  wurde,  wobei  man  lakonisch 
auf  meine  Hosen  als  unzweifelhafte  Qualifikation  zur  „Vaterschaft" 
hinwies.  Zuweilen  mischte  sich  auch  die  Mutter  Derjenigen,  in  deren 
Behausung  wir  spielten,  dazwischen,  um  uns  auf  diese  Umkehrung 
der  Begriffe  aufmerksam  zu  machen.  Die  Majorität  der  kleinen 
Schar  entschied  meistens,  nach  einigen  Wenn  und  Aber,  doch  für 
meine  „Mutterschaft/  Und  zwar  vornehmlich  im  Hinblick  auf  die 
Chokoladensuppe  und  die  eingemachten  Rüben.  Und  um  auch 
etwaigen  Nörgeleien  wegen  der  „Hose"  zu  begegnen,  wurde  oft  ein 
altes  Umschlagtuch  nebst  dem  Häubchen  der  Mutter  herbeigeschafft. 
Angetan  damit  war  ich  glücklich,  meine  Rolle  bis  zu  Ende  des 
Spiels  durchführen  zu  können.  — 

Welch  rosiger  Hauch  bolder  Unschuld  lag  über  diesen  naiven 
Jugendspielen  ausgebreitet!  Und  doch  —  wenn  der  Forscher  den 
Schleier  jugendlicher  Naivität  durchdrang,  bot  sich  ihm  nicht  schon 
in  dem  Verhalten  des  Kindes  manch  deutliches  Merkmal  psycho- 
logischer Abnormität?  —  Woiter  aber:  Je  älter  ich  wurde,  um  so 
deutlicher  entwickelten  sich  meine  Neigungen  zu  allen  möglichen 
weiblichen  Beschäftigungen.  Meine  Stiefmutter  bemerkte  sehr  bald, 
mit  welchem  Geschick  ich  stets  die  kleinen  Hilfeleistungen  ausführte, 
welche  sich  auf  den  Haushalt  bezogen. 

Bald  wurde  ich  von  ihr  mit  Vorliebe  zu  solchen  Arbeiten 
herangezogen.  Und  ich  erinnere  mich  lebhaft  jener  freudigen  Ge- 
nugtuung, die  Ich  empfand,  als  anläßlich  der  Geburt  meines  jüngsten 
Bruders,  ich  hatte  eben  mein  zehntes  Lebensjahr  überschritten  — 
schon  ein  großer  Teil  der  häuslichen  Verrichtungen  mir  übertragen 
wurde.  Körperlich  entwickelte  ich  mich  recht  langsam,  dafür  wurde 
mir  aber  öfter  eine  gewisse,  nach  innen  gekehrte  geistige  Reg- 
samkeit nachgesagt.  Mit  dem  elften  Jahr  hörten  die  Spielereien 
mit  den  Mädchen  nach  und  nach  auf.  Die  Personen  der  kleinen 
Mädchen  hatten  ja  bei  den  vorbenannten  Spielen  wenig  oder  keine 
Anziehungskraft  ausgeübt.  Es  war  nur  immer  die  Art  des  Spieles, 
die  mich  festhielt.  Eine  auffallende,  offen  und  naiv  ausgedrückte 
Vorliebe  für  sehöne  Formen  und  Linien  wurde  schon  frühe  bei  mir 


—    161    — 

von  meiner  erwachsenen  Umgebung  bemerkt  und  als  ein 
Kuriosum  an  mir  belächelt.  Gelegentlich  eines  Wohnund 
meiner  Eltern  wurde  mein  Geschick  allgemein  bewundert,! 
ich  in  der  neuen  Wohnung  Bilder,  Spiegel  und  sonstige  Sa 
an  den  Wänden  geschmackvoll  zu  arrangieren  wußte.  Vö\ 
Jahre  an  gab  ich  mich  nun  mehr  und  mehr  mit  Knaben, 
Alters  ab,  doch  war  die  Art  des  Verkehrs  wiederum  sei 
Gegenstand  vieler  Bemerkungen,  namentlich  der  Mütter,  \ 
überhaupt  mehr  Gelegenheit  nehmen,  das  Tun  und  Treiben  \ 
ganze  Wesen  ihrer  Kinder  zu  beobachten.  Man  fand  mein\ 
mit  den  Freunden  sich  abzugeben,  komisch,  so  „eigentümlich, 
anders,"  garnicht  jungenhaft.  Wenn  ich  mit  Knaben  spiel^ 
kamen  die  sonst  üblichen  Katzbalgereien,  Gezanke  und  Feinet 
keiten,  die  ja  sonst  unter  Jungen  gang  und  gäbe  sind,  gar\ 
vor.  Ich  wußte  immer  alles  gleich  wieder  zu  arrangieren  un\ 
versöhnen,  so  daß  jeder  zu  seinem  Rechte  kam.  Nahm  auch  wohl 
den  Rest  auf  meine  Kappe,  damit  sie  nur  alle  „wieder  gut"  wuri 
paukte  mich  mit  den  Einzelnen  nie,  gab  immer,  oft  mit  tränent 
Augen  nach  und  war  froh,  wenn  sie  mich  nur  leiden  mochten,  wfij 
ich  ihnen  nur  immer  gut  sein  durfte.  Deutlich  erinnere  ich 
noch,  wie  mich  oft  meine  Mutter  schalt  wegen  meines  duckmäus\ 
rischen,  mädchenhaften  Benehmens  und  mir  einschärfte,  daß  ich  mic\ 
wenn  ich  im  Rechte  sei,  zu  wehren  hätte  und  mir  nicht  „alles  ge 
fallen  lassen  dürfte"!  Gewöhnlich  ohne  Erfolg.  Soldaten-,  Kriege 
und  Räuberspiele,  die  bei  allen  Jungen  doch  die  begehrtesten  Spiele 
sind,  mir  waren  sie  ein  wahrer  Horror.  Ich  erinnere  mich,  nur  ein\ 
einziges  Mal  das  Spiel  „Indianer  und  Pflanzer"  mitgemacht  zu\ 
haben,  aber  bloß  unter  der  Bedingung,  daß  mir  dabei  die  An- 
fertigung der  phantastischen  Lendengürtel  und  Kopfputze  über- 
tragen wurde,  bei  welcher  Beschäftigung  ich  dann  eine  geradezu 
abenteueriiehe  Phantasie  entwickelte.  An  den  Spielen  selbst  hatte 
ich  nur  insofern  ein  Interesse,  als  ich  dabei  mit  kritischem  Blick  die 
äußeren  Erscheinungen  der  verschiedenen  Knaben  in  Vergleich  bringen 
konnte.  Gewöhnlich  lief  ich  neben  und  hinter  den  einherstürmenden 
Knaben  und  weidete  meine  Augen  an  dem  schlanken  Oberkörper, 
den  tippigen  Lenden,  den  glühenden  Wangen  und  den  funkelnden 
Augen  desjenigen,  der  meinen  Schönheitsbegriffen  besonders  ent- 
sprach. Schöne,  lebhafte,  sprechende  Augen  liebte  ich  schwärmerisch, 
und  wenn  ihr  Besitzer  gar  womögüch  noch  leichtgelocktes  Haar 
hatte,  dann  wars  immer  um  meine  Ruhe  geschehen.  So  einer  durfte 
unbeschränkt  über  mich  verfügen.  Ich  suchte  auf  alle  mögliche 
Art  seine  Gunst  zu  erwerben,  war  glücklich,   wenn  ich  in  seiner 

Jahrbuch  V.  11 


—    162    — 

Nähe   weilen   oder   gar  seine  Hände  fassen   durfte.     Ein   solcher 

Knabe,  Willy  M ,  zwei  Monate  jünger  als  ich,  doch  bedeutend 

kräftiger  entwickelt,  war  es  denn  auch,  für  den  mich  bald  eine 
heftige  und  tiefe  Zuneigung  ergriff.  Er  war  es,  für  den  ich  meine 
ersten  „Liebesschmerzen"  erduldete.  Jenes  oben  genannte  Spiel, 
„Indianer  und  Pflanzer,"  hatte  uns  näher  zusammengeführt.  Ich 
hatte  bei  dem  Spiel  die  mehr  passive  Rolle  unter  den  indianischen 
Kriegern  übernommen.  Ich  mußte  die  gemachten  Gefangenen  be- 
wachen. Willy  geriet  ebenfalls,  nach  heldenmütiger  Gegenwehr 
gegen  die  Übermacht  der  Wilden,  in  ihre  Gefangenschaft  und  wurde 
mir  im  Triumph  zugeführt,  damit  ich  ihn  bewache,  bis  die  even- 
tuellen Sieger  in  den  „Wigwam"  zurückkehrten,  um  ihn  dem  qual- 
vollen Tode  am  Marterpfahl  zu  überantworten.  Schweigend  nahm 
ich  ihn  in  Empfang  und  schweigend  betrachteten  wir  uns  eine  Weile 
gegenseitig.  Er  nahm  seine  Rolle  sehr  ernsthaft  und  betrachtete 
mich  mit  ungeheurer  Verachtung.  Ich  nahm  meine  Rolle  weniger 
gewissenhaft,  sondern  musterte  seine  äußere  Erscheinung  mit  heim- 
licher Bewunderung. 

So  wie  wir  uns  später  oft  einiger  'an  sich  unbedeutender  Epi- 
soden unserer  Jugend  lebhaft  bis  ins  hohe  Alter  hinein  erinnern, 
mit  derselben  Lebendigkeit,  als  sei  es  gestern  geschehen,  erinnere 
ich  mich  noch  heute  jener  unsagbar  wonnigen,  süßen  Freude, 
die  ich  damals  empfand,  als  dieser  Knabe,  gefesselt,  in  seiner 
stolzen  Hilflosigkeit  vor  mir  stand.  Im  Stillen  dankte  ich  es 
meinem  gescheiten  Einfall,  daß  ich  mich  hatte  zum  Wächter  der 
Gefangenen  benutzen  lassen.  War  ich  doch  nun  in  die  glückliche 
Situation  gekommen,  meinen  geliebten  Freund  vollständig  in  meiner 
Gewalt  zu  sehen.  Mein  erster  Gedanke,  nachdem  wir  allein  gelassen, 
war,  ihn  in  seiner  Hilflosigkeit  in  meine  Arme  zu  schließen,  um  ihn 
nach  Herzenslust  abzuküssen  und  an  mich  zu  drücken.  Was 
wollte  er  machen;  er  war  gebunden,  konnte  sich  nicht  wehren  und 
mußte  sich  meine  Liebkosungen  gefallen  lassen.  Allein  die  Furcht 
vor  seiner  wirklichen  Verachtung  hielt  mich  davon  ab.  Wonne- 
trunken saß  ich  eine  Weile  neben  ihm  und  bewunderte  verstohlen 
den  schlanken  Körper,  den  schönen  Kopf  meines  Gefangenen, 
Willy  war  in  der  Tat  eine  außerordentlich  schöne  Jugenderscheinung. 
Tannenschlank  gewachsen,  waren  Kopf  und  Gliedmaßen  geradezu 
klassisch  zu  nennen  im  Ebenmaß  ihrer  Formen.  Den  schönen  Kopf 
schmückte  eine  Fülle  seidenweichen,  blonden  Haars,  das  in  leichten 
natürlichen  Kräuseln  die  blendend  weiße  Stirn  umrahmte  und  ein 
paar  große,  wunderbar  sprechende  Augen,  stahlgrau  und  von  langen 
dunklen  Wimperhaaren   beschattet,   strahlten  aus  diesem    schönen 


—    163    — 

Gesicht  mir  entgegen.    An  ihnen  konnte   ich  mich  nie  s* 
Möglich,  daß   sich  die  Erscheinung  Willys  in  meiner  jung 
in    übertriebenen  Reflexen    widerspiegelte.     Ich   weiß    m: 
noch  genau  zu  entsinnen,   wie  ich    damals  nicht  begreifei 
und  wie  ich  eigentlich  jedem  Menschen  böse  war,  der  ihn 
nicht  dabei  ausrief: '„Wie  unendlich  schön  ist  dieser  Knabe 
muß  betonen,  daß  ich  niemals  dabei  in  meiner  ganzen  Kna 
sexuelle  Regungen  empfand,  das  geschah  erst  in  und  nach  d 
Wicklung  meiner  Pubertät. 

Das  Ende   jenes  Spiels    aber  war  ausschlaggebend  gev 
für  unsere  nachherige  Freundschaft.    Willy  hatte  bei  jener  Ge 
heit  mein  Mitgefühl  nicht  umsonst  benutzt,  indem  er  behau 
die  Fesseln  seien  „zu  fest*'  und  täten  wehe,  und  ich  war  n 
bereit,  diese  etwas  zu  viel  zu  lockern,  und  war  auch  nachher  g( 
nicht  allzusehr  erschrocken,  als  plötzlich  mein  Gefangener  in  grc 
Sätzen  entwischte.  Das  Spiel,  hiess  es,  „gilt  nicht,"  ich  wurde  tue 
wegen  meiner  Unzuverläßigkeit   ausgescholten.    Und  als  ich  di 
noch  obendrein  meinen  Freund  Ausreisser  in  Schutz  nehmen  wo. 
geschah,   was    oft  zu  Ende    solcher  Spiele    zu  geschehen  pflt 
irgend  jemand  bekam  seine  Hiebe  und  hier  in  diesem  Falle  war 
es,  der  seine  schöne  Tracht  Prügel  von  seinen  Kriegskumpanen  e 
heimsen  musste.      Das    waren    meine     ersten    „Liebesschmerzei 
Und  Willy  machte  nicht  einmal  Miene,  mich  zu  trösten  oder  nur  i 
bedauern.    Und   doch  ist  eben   dieses  Jugendspiel   der  Grundstei 
zu  unsrer  langjährigen  innigen  Freundschaft  geworden.    Es  mocht 
Willy  doch  wohl  leidgetan  haben,  dass  ich  seinetwegen  so  jämmerlich 
gepufft  worden.    Er  liess  sich  von  da  an  öfter  vor  dem  Hause,  wc 
meine  Eltern  wohnten,  sehen.    Ach  und  ich,  mir  fuhr  jedesmal  ein 
Wonneschauer  durch  die  Brust,  wenn  ich  ihn  nur  erblickte.    Heisse 
Blutwellen  schössen  mir  ins  Gesicht  und  mehr  stürzend  rannte  ich 
auf  ihn  los,   um  seine  Hand  zum  ?,guten  Tag"   zu  fassen,  die  ich 
dann  oft  überlange  festhielt,  in  seinen  Anblick  versunken  und  ohne 
zu  hören,  wenn  er  mich  nach  diesem  und  jenem  frug.    Von  nun  an 
begann  die   schönste  Zeit  meiner  Jugend.    Ich  war  überglücklich, 
dass  Willy  anfing,  sich  mit  mir  zu  beschäftigen.  Nun  bot  ich  alles 
auf,  ihn  an  mich  zu  fesseln.    Wir  besuchten  uns  gegenseitig  und 
wenn  ich  einmal  .von  der  Mutter  einen  freien  Nachmittag  erhielt, 
dann  wusste  ich's  trefflich  einzurichten,  ihn  von  den  wilden  Spielen 
mit  den  andern  Jungen   abzuhalten  und  ihn  zu  überreden,  mit  mir 
zusammen  in  der  Umgegend  nmberzustreifen.    Er  tat  mir  auch  öfter 
den  Gefallen  und  ging  mit,  trotzdem  die  Neigung  dazu  bei  ihm  nicht 
sonderlich  gross  zu  sein  schien.  Dann  lagen  wir  oft  an  einem  kleinen 

11* 


—    164     — 

Abhang  oder  im  Gebüsch  versteckt  and  lauschten  dem  Gesänge 
der  Lerchen  über  unseren  Häuptern  und  folgten  ihren  Bewegungen, 
wenn  die  kleinen  Sänger  jubelnd  in  den  blauen  Äther  aufstiegen. 
Zuweilen  war  Willy,  den  Kopf  in  meinem  Schoas  ruhend,  sacht«* 
eingeschlafen,  während  ich  meiner  Lieblingsbeschäftigung  oblag, 
grosse  Mengen  von  Blumen  zu  allerlei  Kränzen,  Sträussen  und 
Guirlanden  zu  verarbeiten.  Dann  hielt  ich  ab  und  zu  inne  und 
lauschte  auf  seine  tiefen  Atemzüge,  betrachtete  zärtlich  sein  schönes 
Haupt  von  allen  Seiten  und  versenkte  heimlich  und  schüchtern 
meine  Lippen  in  das  üppige  Haar  des  Lieblings.  Fortan  gab  ich 
mich  dieser  berauschenden  Zuneigimg  mit  einer  Inbrunst  hin,  die 
bald  mein  ganzes  junges  Dasein  ausfüllte. 

Wo  ich  ging  und  stand,  begleiteten  mich  die  Gedanken  an  ihn. 
Ich  mischte  mich  jetzt  nur  noch  sehr  selten  unter  die  anderen 
Knaben,  wenn  „er"  nicht  unter  ihnen  war,  sondern  streifte  allein 
umher  oder  ging  zu  ihm,  und  wenn  ich  ihn  nicht  zu  Hanne  traf, 
setzte  ich  mich  in  irgend  eine  Ecke,  um  auf  ihn  zu  warten.  Schalten 
schon  früher  meine  Eltern  öfter  über  mein  „närrisches"  Wesen,  so 
war  ich  nun  völlig  ein  Träumer  geworden.  Stundenlang  sass  ich  oft 
in  der  Kammer  in  einer  Ecke  und  sann  und  sann  und  suchte  nach 
einem  Mittel,  wie  ich  meinem  schönen  Freund  noch  mehr  wie  bisher 
meine  Liebe  beweisen  könnte.  Allerlei  abenteuerliche  Pläne  wogten 
in  meiner  Seele  auf  und  nieder.  Ich  stellte  mir  vor,  wie  dos  Haus, 
in  dem  Willy  wohnte,  plötzlich  in  Brand  geriete  und  Willy  darin 
in  grosser  Lebensgefahr  sich  befinden  würde.  Ich  würde  dann,  das 
gelobte  ich  mir,  sofort  mich  in  die  Flammen  stürzen,  würde  ihn 
natürlich  „ganz  gewiss"  in  meinen  Armen  aus  dem  Feuenueer  er- 
retten u.  s.  w.  So  brachte  ich  oft  die  Zeit  bin  in  solchen  für  mich 
wundersüssen  Träumen. 

Immerwährend  hungrig  nach  irgend  einer  Gunstbezeugung 
von  seiner  Seite,  war  im  Gegensatz  dazu  WilJy  eigentlich  recht 
sparsam  damit.  Willy  war  im  Ganzen  ein  herzensguter  Junge. 
Jedoch  geschlechtlich  offenbar  normal  veranlagt,  konnte  er  mir 
gewiß  keine  anderen  Gefühle  entgegenbringen,  als  er  für  mich  eben 
hatte.  Nämlich  jenes  Gemisch  von  Anhänglichkeit  und  Dankbarkeit, 
das  er  mir  ja  auch  bereitwillig  zugestand,  wohl  mit  dem  dunklen 
Bewusstsein,  dass  er  an  mir  einen  Freund  besass,  von  dem  er  alles 
verlangen  konnte.  Was  aber  in  meinem  kaum  13jährigen  Herzen 
schon  damals  brannte  und  wühlte,  war  eben  etwas  anderes  als 
kameradschaftliche  Zuneigung.  Es  waren  die  ersten  steigenden 
Funken  jenes  gewaltigen  unterirdischen  Feuers,  jener  leidenschaft- 
lichen Glut,  die  man  Liebe  nennt.     Blieb  dem  Dreizehnjährigen,  in 


—     165    — 


keuscher  Unschuld,  auch  die  erotische  Natur  dieser  En\ 
noch  unbewusst,  so  stieg  mir  doch  bereits  die  dunkle  Ahni 
dass  diese  Liebe  ebensolche,  gleich  heisse  und  stürmisch 
schaftlichkeit  von  dem  anderen  fordern  müsse.    Ich  war  n\ 
zufrieden,   dass   er  mich   viel  aufmerksamer  und  rücksii 
sanfter  behandelte  wie  die  anderen,  mich  auch  wohl  mal\ 
sein  „Puppchen"  nannte,  meine  Hände  packte  und  mit  mir  i 
herumjagte,  mich  plötzlich  losliess  und  dann  schnell  hinzuspr 
mich  auffing,  wenn  ich,   schwindlig  geworden,   zu  stürzen  \ 
war    auch    nicht    zufrieden,    wenn    ich    seinen    Kopf   dac 
wann   an  meinen  Busen   drücken  durfte,   ihm  Haar  und  \ 
zu  streicheln.    Nein,  freiwillig  sollte  er  selbst  dergleichen  aii 
mir  tun,  sollte  meinen  schüchternen  Kuss  erwidern.   Täglich  i 
Stunden,   wo    wir  nicht  beisammen  waren,   waren  doch  meht 
danken   bei  ihm.    Dann  stellte  ich   mir  in   meiner  Phantasie! 
wie  er  mich  innig  umarmte,  an  sich  drückte  und  küsste.  Bei  sol 
Träumen  stieg  mir  immer  der  Schlag  meines  Herzens  gleichsah 
zum  Hals   herauf  und  ich  wäre  in  solchen  Augenblicken  nich^ 
stände  gewesen,  wenn  mich  Jemand  überrascht  hätte,  auch  nur\ 
Wort  hervorzubringen.    Fest  hing  ich  mich  dann  im  Geiste  an  i 
um  ihn  nie,  nie  mehr  loszulassen,   er  sollte  mich  tragen,  weit,  w^ 
fort,  irgendwohin,   wo  wir  immer,  immer  beisammen  sein  dürfti 
Wie  geistesabwesend  sass  ich  dann  oft  in  einem  Winkel  und  riihr\ 
mich  nicht.    Oft  traf  mich  meine  Mutter  so  und  riss  mich  scheitern 
unsanft  aus   meinen  süssen  Träumen.    So  viel  ich  nun   auch  vo\ 
solchen  Umarmungen  träumte,  Willy  tat  nie  etwas  dergleichen,  un<| 
ich  musste  mich  weiter  mit  den  kärglichen  Gunstbezeugungen  dieses; 
wild  umherstürmenden  Knaben  begnügen.    Und  doch  —  bald  sollte, 
ein  Teil  meiner  heimlichen  Träume  in  Erfüllung  gehen.    Wie  ichl 
schon  eingangs  meiner  Zeilen  bemerkte,  waren  meine  Eltern  arme  \ 
Leute,  die   schwer  um  die  rechtschaffene  Erhaltung  unserer  zahl-  \ 
reichen  Familie  kämpfen  mussten.    Mit  Eintritt  in  mein  13.  Lebens- 
jahr machte    sich,    hervorgerufen    durch   lange    Krankheit  meines 
Vaters,  auch  für  mich  die  Notwendigkeit  geltend,  nun  dauernd  zum 
Unterhalt  der  Familie  mit  beizutragen.    Ich  war  im  Ganzen  etwas 
zart,  aber  sonst  kerngesund  und  leidlich  wohlgebaut.    So  erhielt  ich 
denn  eine  Stelle  in  einem  grossen  Speditionsgeschäft,  als  sogenannter 
—  Rollmops,  so  wurden  jene  halbwüchsigen  Jungen  genannt,  welche 
den  Rollkutscher  auf  dem  schwerbeladenen  Speditions wagen  zu  be- 
gleiten hatten,  vom  Güterbahnhof  durch   die  Stadt,  wo  die  Kisten 
und  Ballen  bei  den  verschiedensten  Firmen  abgesetzt  wurden.    Hier 
begann  nun  eine  sehr  trübe  Periode  meiner  Jugend,  und  doch  fiel 


—    166    — 

in  sie  der  erste  Sonnenstrahl  eines  reinen  zarten  Licbe*glücke<«. 
Der  Leser  mag  mir  gestatten,  hier  die  kleinen,  an  sich  ja  recht  un- 
bedeutenden Vorkommnisse  dieses  meines  jungen  Da« ein«  etwa« 
ausführlicher  zn  erzählen.  Denn  es  bieten  sich  in  ihnen,  meiner 
allerdings  laienhaften  Auffassung  nach,  wohl  filr  den  Forscher  alle  jene 
charakteristischen  Merkmale  dar,  die  schon  den  Knaben  in  Heiner 
ganzen  psychologischen  Entwicklung  als  ausgesprochenen  Homo- 
sexuellen erscheinen  lassen. —  Heine  ganze  körperliche  und  seelische 
Verfassung  stand  eigentlich  im  Widersprach  zu  meinem  neuen  Tätig- 
keitsfelde. Die  ganze  Umgebung,  in  die  ich  nun  plötzlich  hinein- 
kam, behagte  mir  schon  von  Anfang  an  nicht.  Und  doch  war 
ich  nun  verpflichtet,  täglich  von  V«2  bis  meistens  Abend*  nach 
10  Uhr  in  dieser  neuen,  für  mich  so  ungünstigen  Atmosphäre  zu- 
zubringen, unter  der  ich  ungemein  litt  Meinen  geliebten  Willy 
sah  ich  jetzt  nur  noch  selten,  denn  ich  hatte  ja  nun  in  der  Worin« 
überhaupt  keine  freie  Zeit  mehr.  Mein  ganzes  Wesen  sträubte  sich 
gegen  die  Art  meiner  nunmehrigen  Beschäftigimg.  Der  Umgang 
mit  den  Pferden,  das  An-  und  Ausspannen,  Füttern  und  Tränken 
derselben,  sowie  das  Streumachen,  alles  dieses  gehörte  zu  den  Ob- 
liegenheiten eines  ordentlichen  „Rollmopses"  und  war  mir  ein 
Gräuel.  Dazu  kam,  daß  ich  unter  dem  ungemein  rohen  Tun  und 
Treiben  der  Kutscher  zu  leiden  hatte.  Das  beständige  wüste  Ge- 
fluche, die  brutalen  gemeinen  Spaße  flößten  mir  Abscheu  ein. 
Scheu  und  furchtsam  tat  ich,  was  mir  geheißen  wurde  und  hatte  in 
Folge  dessen  auch  noch  die  frechen  Sticheleien  meiner  neuen 
„Kollegen",  deren  es  eine  Menge  auf  dem  Speditionshofe  gab,  ein- 
zustecken. 

Mit  Wehmut  dachte  ich  an  die  schöne  Zeit,  wo  ich  mit  Willy 
zusammen  so  glücklich  war.  Ach  wie  sehnte  ich  mich  so  furchtbar 
nach  diesem  meinen  liebsten,  meinem  einzigen  Freund.  Und  fast  un- 
bewusst  lenkte  ich  meine  Schritte  nach  jener  Strasse,  in  der  er 
wohnte,  drückte  mich  in  irgend  eine  Ecke,  von  wo  aus  ich  seine 
Fenster  sehen  konnte,  und  blickte  unverwandt  hinauf.  Meistens 
war  es  schon  immer  nach  10  Uhr  und  meine  geheime  Hoffnung, 
Willy  vielleicht  noch  treffen  und  sprechen  zu  können,  war  immer 
vergeblich.  Fast  verzehrte  mich  die  Sehnsucht  nach  ihm  und  un- 
sagbare Traurigkeit  erfüllte  meine  Seele.  Ich  dachte  mir  dann 
meinen  Liebling  hinter  jenem  Fenster,  vielleicht  schon  friedlich  in 
seinem  Bette  schlummernd,  er  dachte  am  Ende  gar  nicht  mehr  an 
mich,  seinen  Freund,  ja,  hatte  vielleicht  den  ganzen  Tag,  die  ganze 
Zeit,  wo  wir  uns  nicht  gesehen,  nicht  mehr  an  mich  gedacht,  hatte 
mich  wohl  gar  schon  ganz  vergessen.    0  dann  fühlte  ich  mich  so 


furchtbar  einsam  und  verlassen  auf  der  Welt  und  fing  an  \ 
in  mich  hinein  zu  weinen.    Ich  war  tief  unglücklich  und 
schlich  ich  nach  Hause.  —  Solche  Abende  wiederholten  \ 
—  Und  doch  sollte  mir  hier  gerade  die  glücklichste  Stunde 
jungen  Dasein's  schlagen.    Was  ich  mit  meinen  glühendsten  \ 
sien  bis  dahin  mir  heimlich   ausgedacht,  nie  aber   verwirkll 
glauben  gewagt,  das  wurde  mir  an  einem  Abende  zuteil.    Ict 
mich,   wie  oft,  nachdem  die  Feierabendstunde  für  uns  gesc^ 
verstohlen  vom  Speditionshof  davon  gemacht,  um  nicht  mi 
anderen  Burschen  auf  der  Strasse  zusammen  zu  geraten.  Trau; 
trabte  ich  durch  die  Strassen  und  stand  auch  bald  wieder  vor\ 
Hause  meines  Freundes.    Ich   hatte  ihn  fast  3  Wochen  lang  i 
gesehen  und  bildete  mir  ein,  Willy  mtisste  nun  doch  unbedingt  \ 
nach  mir  ausschauen.    Meine  unendliche  Zuneigung  konnte  sich  n 
damit  abfinden,  dass  er  so  ganz  und  gar  nicht  an  mich  denken  so\ 
Lange   wartete  ich  vergeblich,   dass  er  vielleicht  zufällig  irgend 
noch  sichtbar  würde.     Schliesslich  ging  ich,  da  ich  nun  das  ri 
zufällig  diesmal  noch  offen  fand,  durch  den  Hausflur  und  lunger 
wartend   und  missmutig   auf  dem  mir  wohlbekannten  Höf  umhe 
Im  Hause   wohnte  ein  Lohnkutscher,   der  in  den  Seitengebäude! 
Remisen  und  Ställen  mit  seinen  Kaleschen,  Droschken,  Pferden  uni 
allerlei  Gerätschaften  den  ganzen  Hof   beherrschte.     Ich  kannt^ 
jeden  Winkel,  denn  ich  hatte  mich  mit  Willy  zusammen  manches^ 
liebe  Mal  hier  umher  getummelt.    Ich  setzte  mich  auf  einen  umge- 
stülpten Wassereimer,  am  Eingang  einer  offenstehenden  Wagenremise 
und  starrte  nun  eine  Weile  nach  dem  Küchenfenster  der  Wohnung 
meines  Freundes  hinauf.    Eine  Weile  hatte  ich  so  gesessen,  schwer- 
mütig seufzend,   den  Kopf  in  die  Hände  gestützt,  als  ich  plötzlich 
aus  dem  Innern  des  Schuppens,  wo  einige  Bündel  Stroh,  Futtersäoke 
u.  s.  w.  lagen,  meinen  Namen  flüstern  hörte.    Ich  bekam  einen  ge- 
waltigen Schrecken ,  sprang  auf  und  lauschte.    Hinter  dem  Bündel 
Stroh  regte  sich  etwas,  kam  vorsichtig   näher   und  mit  freudigem 
Erstaunen  erkannte  ich  nun  —  Willy,  meinen  sehnlichst  erwarteten 
Freund.    Er  liess  mir  aber  keine  Zeit  zum  langen  Fragen,  zog  mich 
am  Arm  in  den  dunklen  Winkel  zurück  und  erzählte  mir  flüsternd 
und  mit  vor  Angst  zitterndem  Athem,   wie  er  in  dieses  Versteck 
gekommen  sei  und  wie  er  sich,  aus  Furcht  vor  dem  strafenden  Arm 
seines  sehr  strengon  Vaters,  nicht  hinauf  getraue.     Es  war  eine 
lange  Geschichte.  Willy  hatte  offenbar  wieder  einmal  bei  einem  tollen 
Knabenstreich  die  Hauptrolle  gespielt.  In  Gesellschaft  mit  anderen 
Knaben  hatte  er  einer  in  der  Nahe  wohnenden  Grünkramhändlerin 
einen  Schabernack  zugedacht.  Das  Geschäftslokal  dieser  Frau  befand 


—    168    — 

sieh  unterhalb  der  Strassenfront,  die  Treppe  ging  von  der  Strasse 
aus  naeh  unten,  und  die  bösen  Buben  hatten  nun  einen  grossen  Blech- 
topf mit  Wasser  herbeigeschleppt  und  hatten  diese  Pandorabtichse 
jene  Treppe  hinunter  „fallen  lassen".  Das  Wasser  war  natürlich  in 
den  Laden  geflossen  und  hatte  die  alte,  etwas  korpulente  Frau  sehr 
in  Bewegung  gesetzt.  Nach  vollbrachter  Tat- fliehend,  waren  jedoch 
einige  der  Übeltäter  erkannt  worden.  Und  gegen  Abend  nahte  die 
rächende  Nemesis  in  Gestalt  der  sehr  rabiaten  Grünkramfrau.  Sie 
kam  in  die  Wohnung  der  Eltern,  strengste  Strafe  heischend  fUr  den 
„ungeratenen  Bengel",  widrigenfalls  sie  sich  bei  der  Polizei  be- 
schweren wolle,  da  das  schon  „öfter  vorgekommen".  Willy  beteuerte 
mir  allerdings,  dass  er  diesmal  „wirklich  und  wahrhaftig"  gänzlich 
schuldlos  sei,  indem  die  anderen  den  ganzen  Eoup  ausgeheckt  und 
vollbracht  hätten,  er  aber  nur  „zugeguckt"  hätte.  Mit  pochendem 
Herzen  hatte  ich  seinem  Bericht  gelauscht.  Mitleid  erfüllte  meine 
Seele  und  ich  tiberlegte  bereits,  wie  ich  meinem  Freunde  helfen 
könnte.  Ich  riet  ihm  zunächst,  hinauf  zu  seinen  Eltern  zu  gehen, 
denn,  da  er  „nichts  dafür"  könnte,  so  setzte  ich  ihm  auseinander, 
war  doch  keine  Strafe  zu  erwarten.  Allein  mit  der  gänzlichen  Un- 
schuld mochte  es  wohl  seinen  Haken  haben,  und  ich  konnte  ihn 
nicht  dazu  bewegen,  hinauf  zu  gehen.  Schliesslich  erklärte  er 
schluchzend,  er  wolle  „in's  Wasser"  gehen,  denn  sein  Vater  sei  „zu 
strenge".  Entsetzt  packte  ich  seinen  Arm,  als  musste  ich  ihn  fest- 
halten. So  sassen  wir  eine  Weile  stumm  nebeneinander.  Seine 
Angstlaute  schnitten  mir  in's  Herz  und  ich  zermarterte  mein  arm- 
seliges Hirn  nach  irgend  etwas,  womit  ich  ihn  retten  könnte.  Denn 
helfen  musste  ich  ihm,  so  viel  war  sicher.  Mit  einem  Male  kam 
mir  auch  ein  trefflicher  Gedanke,  ja  so  musste  es  gehen,  so  konnte 
ich  ihn  vielleicht  von  der  drohenden  Strafe  befreien.  Ich  überlegte 
garnicht  erst,  ob  auch  alles,  was  er  mir  erzählt  hatte,  wahr  sei  und 
ob  er  wirklich  nur  „zugeguckt"  hätte.  Schnell  sprang  ich  auf, 
flüsterte  ihm  hastig  ein  paar  Worte  über  meinen  Rettungsplan  zu 
und  ehe  er  ein  Wort  erwidern  konnte,  rannte  ich  über  den  Hof, 
die  Treppe  zur  Wohnung  seiner  Eltern  hinauf  und  schellte.  Beim 
schrillen  Klang  der  Schelle  aber  erschrak  ich  doch  heftig  über  meine 
Kühnheit  und  mir  war  auf  einmal  sehr  bange.  Aber  hier  blieb  mir 
keine  Zeit  mehr  zum  Überlegen,  denn  im  nächsten  Moment  stand 
ich  schon  vor  dem  gestrengen  Herrn  Vater  meines  Freundes. 
Stockend  begann  ich  nun  zuerst  und  zähneklappernd  vor  Angst 
und  Aufregung  eine  umständliche  Erzählung,  wie  ich  Willy  vorhin 
getroffen  hätte,  wie  er  auf  der  Brücke  am  Kanal  gestanden,  sich 
nicht  nach  Hause  getraue,  in's  Wasser   wolle  aus  Angst  vor  der 


—    169    — 

Strafe  und  wie  er  so  geweint  habe,  weil  er  diesmal  „gl 
macht",  sondern  bei  der  ganzen  Sache  „nur  zugeguckt 
ich  es  „ganz  genau"  gesehen,  wie  ein  andrer  Junge  den  11 
dem  Wasser  in  den  Keller  gestürzt,  Willy  aber  nur  in  d< 
gewesen  sei  und  eben  nur  zugeguckt  habe.  Das  alles  hatte  ici 
genau  gesehen"  u.  s.  w.    Ich  log  das  Blaue  vom  Himmel  un 
wohl  in  der  Hitze  in  meine  Rede  „dramatisches  Leben"  ge\ 
haben,  denn  Geschwister  und  Mutter  meines  Freundes  stand 
mich  herum  und  lauschten  athemlos.     Warum  sollte  es  auch 
so  gewesen  sein?    Es  war   schon  ziemlich  spät,  man  war  b 
unruhig  geworden,  da  sich  Willy  noch  nicht  hatte  blicken  la\ 
Also  klang  meine  Erzählung  nicht  unwahrscheinlich  und  die  M 
fing  bereits  zu  jammern  an  um  „den  armen  Jungen";  man  dran; 
mich,  ich  sollte  ihn  holen  oder  wenigstens  sagen,  wo  er  stecke! 
solle  ihm  nichts  geschehen  u.  s.  w.    Mir  aber,  angesichts  des  u 
warteten  schnellen  Erfolges,  schwoll  gewaltig  der  Kamm,  ich 
an,  mit  meinen  höheren  Zwecken  zu  wachsen  und  erklärte  achsl 
zuckend,  das  Versteck  Willy's  nicht  verraten  zu  können,  bevor  m 
nicht  Straflosigkeit  vollkommen  einwandsfrei  zusichere.     Plötzü 
fiel  mir  der  Vater,  der  mich  während  des  ganzen  Auftritts  aufm  er] 
sam  beobachtet  hatte,   gelassen  mit  der  Frage  in's  Wort,  ob  nich 
wohl  ich  der  wirkliche  Täter  sei,  denn  da  ich  alles  so  genau  wtisstel 
müsse  ich   doch   zum  mindesten  dabei    gewesen  sein.     Verdutzt^ 
senkte  ich  die  Augen  zu  Boden,  nun  hatte  mein  schönes  Lügen- 
gewebe  ein   ziemliches  Loch  bekommen,   schnell   aber  besann  ich 
mich,  schmolz  flugs  Dichtung  und  Wahrheit  zusammen  und  erklärte 
prompt,  dass  ich,  auf  dem  Rollwagen  sitzend,  zufällig  alles  mit  an- 
gesehen hätte.    Die  Sache  schien  plausibel,  Willy's  Mutter  nament- 
lich glaubte  alles  und  suchte  ihren  Gemahl  von  der  Möglichkeit  der 
Wahrheit  meiner  Angaben  zu  überzeugen.    Dieser  war  nun  freilich 
nicht  so   schnell    von   der  Unschuld    seines   Sprossen  überzeugt, 
namentlich  wollte   ihm  der  Passus   von   dem   „blossen  Zugucken" 
nicht  recht   einleuchten.     Die   ganze  Geschichte   schien  ihn   aber 
endlich  zu  amüsieren,  da  ich  nicht  aufhörte  fortwährend  die  Engel- 
reinheit seines  Sohnes   zu  beteuern.    Schliesslich   meinte   er,   man 
könnte  es  ihm  ja  diesmal  schenken,  obgleich  es  eigentlich  um  jeden 
Hieb  schade  sei,  der  vorbei  ginge  u.  s.  w.     Mein  Herz  hüpfte  vor 
Freuden  und   als   der  grosse  bärtige  Mann   wohlwollend  lächelnd 
meinte,  ich  sei  ja  ein  verteufelt  eifriger  Fürsprecher  und  wir  hielten 
wohl  „dicke  Freundschaft",   da  ward  ich  über  und  über  rot  und  \ 

konnte  kein  Wort  mehr  sagen.  Ich  erhielt  nun  beim  Fortgehen  noch-  \ 

mals   den   dringenden  Auftrag  von   der  Mutter,    den  Sohn  sofort  \ 


—    170    — 

hinauf  zu  schicken.  Nochmals  nahm  ich  ihr  die  Zusicherung  ah, 
dass  ihm  nichts  passieren  dürfe,  flog'  die  Treppe  hinunter,  über  den 
Hof  und  teilte  meinem  Freunde  triumphierend  die  Freudenbotschaft 
mit.  Willy  traute  jedoch  dem  Frieden  noch  nicht  so  recht  und 
zögerte.  Nun  versprach  ich,  bereits  mit  tränenden  Augen,  mitzu- 
gehen und  nochmals  alles  zu  bekräftigen  in  seiner  Gegenwart,  da 
ich  sah,  dass  er  meinen  Worten  nicht  glauben  wollte.  Ich  rounste 
nun  nochmals  mit  hinein  und  das  Damoklesschwert  über  dem  teuren 
Haupte  meines  Freundes  wurde  glücklich  beseitigt.  AU  mich 
Willy  nachher  hinausbegleitete,  um  mir  das  Tor  aufzuHchliessen, 
—  da  es  mittlerweile  spät  geworden  war  — ,  blieb  er  auf  dem 
Hausflur  plötzlich  vor  mir  stehen,  fasste  meine  Hand,  sah  mich 
eine  Weile  an  und  meinte  dann  in  seiner  treuherzigen  Weine:  „Du 
bist  aber  furchtbar  gut,  weisst  Du,  und  was  Du  flir  Courage  haut! 
Wärst  Du  nun  nicht  gekommen,  hätte  ich  immer  noch  die  schreck- 
liche Angst."  Ich  konnte  nichts  erwidern,  sondern  drückte  nur 
leise  seine  Hand.  Er  aber,  wohl  in  unmittelbarer  Aufwallung  seines 
dankbaren  Herzens,  schlang  nun  seine  Arme  fest  um  meinen  Hals 
und  küsste  mich  dreimal  herzhaft  auf  die  Wange,  indem  er  mich 
seinen  liebsten  Freund  nannte.  —  loh  war  wie  betäubt.  Die 
schnelle,  unerwartete,  zärtliche  Berührung  Willys  raubte  mir  fast 
die  Sinne.  Mein  Kopf  glühte  plötzlich  wie  Feuer,  und  das  Herz 
drohte  mir  zu  zerspringen,  so  stürmisch  begann  es  zu  pochen. 
Ein  unbeschreibüches  Gefühl  durchrieselte  meine  Adern  und  im 
Übermass  seligen  Entzückens  erbebte  mein  ganzer  Körper.  Nun 
konnte  ich  mich  nicht  mehr  halten.  Zitternd  hing  ich  am  Haine 
meines  Freundes  und  bedeckte  sein  Antlitz  mit  tausend  leiden- 
schaftlichen Liebkosungen.  Der  erste  Strahl  heisser  Sinnlichkeit 
durchschoss  meinen  Körper.  War  das  nicht  die  Erfüllung  meiner 
seligsten  Träume,  die  ich  so  oft  im  stillen  Winkel,  immer  und 
immer  von  neuem,  geträumt?  Nun  sagte  er  es  mir  selbst,  dass  ich 
sein  liebster  Freund  sei  —  minutenlang  war  ich  nicht  imstande, 
einen  Laut  von  mir  zu  geben. 

Dann  aber,  unter  neuem  langen  Kuss,  gab  ich  mein  süsses,  so 
lange  bewahrtes  Geheimnis  preis.  Leise  kam  es  von.  meinen  Lippen. 
Ich  bin  dir  ja  so  schrecklich  gut!  „Ich  dir  auch",  beteuerte  Willy 
überzeugungsvoll.  Und  nun  lösten  sich  die  Zungen,  innig  um- 
schlungen gaben  wir  uns  gegenseitig  das  Versprechen  unverbrüch- 
ücher  Treue.  Nichts  sollte  uns  mehr  trennen,  nie,  nie  wollten  wir 
uns  böse  werden,  wie  es  „die  andern"  so  oft  gegenseitig  täten. 
Willy  schwor  hoch  und  teuer,  er  wolle  jedem  die  „Knochen  kaput 
schlagen",   der  mich  beschimpfen   oder  mir  gar  „was  tun"  wollte. 


—     171     — 

Meinen  glühenden  Kopf  an  seine  Brust  gelehnt,   erzählte  ic\ 
von  meinem  Missgeschick  auf  dem  Speditionshof,  von  den  Bu 
die   mir    immer  nachstellten  und  von  all  den  kleinen  Sorge 
Kümmernissen  dort.    Er  versprach  mir,   mich   zu  schützen, 
nur  könnte.    So  schwatzten  wir  noch  lange  von  Diesem  und  ■ 
und   konnten    nicht    voneinander  kommen.  —   Weshalb   ich! 
alles   so   breit  und   ausführlich   schilderte?  —  Weil  ich   diesi 
mich  so  bedeutsamen  Momente  meines  ersten  Liebeslebens  nie 
nimmer  vergessen   kann  und   mag.     Weil    die   unendliche   Ge* 
der  liebe   mir  in  jenen  Tagen  zum  ersten  Male  wirklich  be? 
wurde.    Und  liegt  nicht  ein  unbeschreiblich  poetischer  Hauch 
diesem  Stückchen  Jugendidyll  ausgebreitet,   der  in  seiner  schl 
losen  Naivität  das  Herz  jedes  Menschenfreundes  bezaubern  mu 
Was  wussten  wir  von  der  Welt,   was  von  der  rauhen  Wirklich^ 
mit  ihren  Regeln  und   Gesetzen?     Was   für  Begriffe  macht  s\ 
ein  131/«  jähriges  Gemüt  von   dem  starren  Sitten-  und  Moralkocl 
der  Kulturgesellschaft?  Ach,  keine!  Aus  dem  reinen  Lebensimpul 
aus    dem    sprudelnden    Quell   lebendiger    Jugendkraft   und   Füi 
schöpfte   ich   dieses  unendlich  schöne  Empfinden,   diesen  unwidei 
stehlichen  Drang  nach  innigster  Vereinigung  des  Körpers  und  de 
Seele.    Immer  und  immer   wieder  presste  ich  den  Körper  Willy! 
fest   an   mich,   streichelte   seine   blühenden  Wangen,  liebkoste  dk 
strahlenden  Augen  dieses  Knaben,   den  ich  über  alles  liebte.    Ich^ 
ahnte   noch   nicht,   dass   in  diesem  ewigen  stürmischen  Verlangen^ 
bereits  die   schwellenden  Keime  einer  „naturwidrigen  Perversität" \ 
emporsprossten.  Dass  diese  meine  Zuneigung  zu  dem  Wesen  meines 
eigenen  Geschlechts   bereits   alle   Merkmale  einer  verbrecherischen  \ 
Leidenschaft  aufwies,    die  der  Paragraph  so  und  so  mit  Gefängnis,  \ 
Zuchthaus   und   Ehrlosigkeit  bedroht,   was  wusste  der  Knabe  von  \ 
alledem?    Mit  kindlicher   Sorglosigkeit  gab  ich  mich  dieser  Liebe 
hin,   ging   ganz  in   ihrem   Gegenstand   auf  und  konnte  überhaupt 
garnicht  anders,  weil  es  eben  meinem  natürlichen  Wesen  entsprach. 
Ein  hohes  Glück  fand  ich  in  dem  stolzen  Bewusstsein,   von  Willy, 
dem  schönsten,   dem   unbändigsten  unter  den  ganzen  Kameraden, 
geliebt  zu  werden.    Er   hatte   es  mir  ja  selbst  gestanden,  weil  ich 
„so  gut  und  so  tapfer"  war.    Ach,  mit  meiner  Tapferkeit  war  es 
sonst  nicht   weit   her.    Aber   eben,  für   „Ihn",   meinen  Geliebten, 
wäre  ich  noch  aller  möglichen  Thorheiten  fähig  gewesen.    Rastlos 
nährte  und  pflegte  ich  meine  Liebe.    Über  die  nun  folgende  trübe 
und   doch  so   glückliche   Zeit  meiner  Jugend  will  ich  schweigend 
hinweggehen.    Sie   flog   schnell  genug  hin  und   aus   den  Knaben 
wurden  Jünglinge.    Willy    und    ich,    wir    waren    und  blieben  die 


—    172    — 

zwei  Unzertrennlichen.  Beide  mussten  wir  ein  Handwerk  lernen 
und  nachdem  jwir  die  Lehrzeit  absolviert,  blieben  unsre  Verhält- 
nisse und  unser  beiderseitiger  Wohnort  vorerst  noch  so ,  dass  wir 
immer  zusammen  sein  konnten.  Willy  hatte  sich  schnell  zu  einem 
wohlgewachsenen,  blendendschönen  jungen  Mann  herausgewachsen. 
Ich  war  mit  meinen  17  Va  Jahren  immer  noch  eine  recht  knaben- 
hafte, unreife  Erscheinung,  wenigstens  musste  es  nach  dem  Urteil 
meiner  Umgebung  wohl  so  sein.  Zart  und  schwächlich  gebaut, 
mit  blassem  Gesicht,  sprach  ich  noch  hell  und  sang  einen  tadellosen 
Sopran.  Wir  waren  uns  noch  immer  in  treuer  Freundschaft  zuge- 
tan. Ich  mit  immer  wachsender  leidenschaftlicher  Glut,  Willy  mit 
immer  gleichmässiger  ruhiger  Treue  und  Anhänglichkeit. 

Mir  gentigte  natürlich  diese  ruhige,  platonische  Liebe  durch- 
aus nicht.  Ich  verlangte  gleiche,  heisse  Leidenschaftlichkeit.  Aber 
bald  sollte  ich  inne  werden,  dass  er  mir  das,  was  ich  von  ihm 
verlangte,  eben  nicht  gewähren  konnte.  Gutmütig  lächelnd,  dul- 
dete er  wohl  meistens  meine  heftigen  Liebkosungen,  wehrte  auch 
mitunter  sanft  ab  mit  der  Bemerkung,  er  sei  ja  doch  wohl  kein 
Mädchen.  Dann  ward  ich  böse,  nannte  ihn  einen  kalten  Frosch, 
eine  Fischnatur  und  schmollte.  Er  nahm  meine  Ausfälle  gelassen 
hin  und  tat  im  übrigen  nichts,  meine  Ansicht  zu  entkräften.  Wenn 
ich  ihn  dann  aber  einmal  8  Tage  nicht  gesehen,  hielt  ich  es  nicht 
mehr  aus,  ging  wieder  zu  ihm  und  alles  war  gut.  Ich  liebte  ihn 
zu  sehr  und  seine  Abwesenheit  aus  meiner  Lebenssphäre  war  für 
mich  ein  unfassbarer  Begriff.- 

In  dieser  Zeit  begann  ich  natürlich  auch,  poetische  Erzeug- 
nisse von  mir  zu  geben.  Unendlich  lange  Verse  entrangen  sich 
meiner  Feder.  Sie  alle  waren  an  „ihn"  gerichtet.  Er  hat  die 
ersten  nie  zu  Gesicht  bekommen.  Später  wurde  ich  hartnäckiger 
und  dichtete  ein  riesiges  Epos,  das  ebenfalls  auf  „ihn"  Bezug  hatte. 
Dieses  liess  ich  Willy  „zufällig  finden".  Er  las  es  im  Schweisse 
seines  Angesichts  und  staunte  mich  an  ob  meines  „Genies",  wollte 
aber,  zu  meinem  heimlichen  Verdruss,  durchaus  nicht  merken,  dass 
dieses  alles  nur  ihn  selbst  zum  Gegenstande  hatte.  Unsere  sonn- 
täglichen Vergnügungen  waren  auch  durchaus  von  denen  der 
meisten  unsrer  Kameraden,  die  ja  alle,  wie  wir,  dem  Handwerker- 
stande angehörten,  verschieden.  Während  diese  sich  in  Rudeln 
Sonntags  in  den  Strassen  herumtrieben  oder  in  Kneipen  „Schafs- 
kopp" oder  Billard  spielten,  verachteten  wir  beide  natürlich  solche 
„barbarischen"  Genüsse.  Wir  gingen  gewöhnlich  ins  Theater  oder 
in  Konzerte  und  nahmen  nachher  das  Dargebotene  häufig  gar 
superklug  unter  die  kritische  Lupe. 


—    173    — 

Allein  bald  sollte  unser  schönes  Verhältnis   einen  jähd 
bekommen.  Wir  gingen  nun  bereits  dem  19.  Jahre  entgegen 
fing  es  an,  aufzufallen,  dass  Willy  nicht  mehr  seine  freie  Zeit  ga 
gar  mit  mir  teilte.  Es  kam  erst  einige  Male,  dann  sehr  oft  vor! 
er,  wenn  ich  Sonntags  zu  ihm  kam,  um  ihn  abzuholen,  schon  fori 
oder  sich  bei  mir  entschuldigte.    Er  Hess  mich  ruhig  öfter  alleirj 
gehen  und  kam  auch  immer  seltener  zu  mir.  Die  Liebe  ist  wachsan 
bald  erkannte  ich,   dass  er  mir  auswich,   die  Gesellschaft  eine^ 
deren  Person  mir  vorzog.    Sachte   schlich   sich   ein  unbehaglil 
Gefühl  bei  mir  ein,   das  immer  stärker  und  stärker  wurde.    Es| 
meinem  Herzen  immer  weher  und  weher  und  frass  mit  züngeli 
Flammen  an  meiner  Seele.    Ich  war  eifersüchtig,  rasend  eifersticll 
geworden.    Er   kam  immer   seltener,   und   wenn   er  kam,   war! 
nicht  mehr  bei  mir,  sondern  schien  immer  etwas  anderes  vorzuhabi 
Und   wenn  ich   ihn  dann  in  alter  Liebe  zärtlich  begrüssen  wolll 
wehrte   er   ab   mit   den  Worten:    „Ach   lass  doch,  wir  sind  dot 
keine  Kinder  mehr!"    Eisig  kalt  schoss  es  mir  dann  durchs  Herl 
ich  fühlte,  ich  war  im  Begriff,   ihn  zu  verlieren.    Still  und  in  mic 
gekehrt  sass  ich   dann  neben   ihm   und  hörte  nur  halb  auf  sein! 
Erzählungen.    Bald   kam   er   dann   aber  auch   auf  die  Weiber  zi 
sprechen  und   dann   wurde   er  immer  sehr  aufgeräumt  und  begami 
begeistert  ihr  Lob  zu   singen.    Wütend  biss  ich   mir   die  Lippen 
blutig  und  machte  boshafte  Anspielungen.    Freimütig  gab  er  dann! 
zu,   sich  da  und  dort  mit  andern  Freunden  in  „Damengesellschaft  \ 
köstlich  amüsiert"  zu   haben   und    beschrieb   mir  umständlich   diel 
„feinen  Mädels".    Und  wenn  ich  höhnisch  bemerkte,   dass  er  mich  \ 
mit    so    was    garnicht  interessieren   könne    und   mich   verschonen 
möge,  dann  lachte  er  mich  aus,   nannte   mich  ein  „Bählämmeben", 
das  in  Damengesellschaft  nicht  „Zip"  sagen  könne  und  meinte,  ich 
würde   wohl   einmal  bei  Muttern   hinterm   Ofen  versauern.    Dann 
wurde  ich   furchtbar   aufgebracht  und   schalt  ihn  einen  Schürzen- 
jäger und  Pantoffelhelden.    Er.  antwortete   prompt,  ich  sei   wohl 
neidisch  und  bot  mir  an,   mit  ihm  zu  gehen,  er  wollte  michs  auch 
lehren,   wie   man  die  Mädels  „rumkriegen"  könnte.    Giftig  spuckte 
ich  dann  aus  und  vermass  mich  bei  allen  Heiligen,  „so  was"  könne 
mir   nicht  einfallen.    Zankend    schieden    wir    dann  jedesmal  von 
einander,  ohne  den  üblichen  Händedruck.    Einsam  blieb  ich  zurück. 
Das  also  war   es.    Die  Weiber   hatten   ihn   mir  entrissen.    Ihnen 
folgten  meine  schwärzesten  Flüche,  meine  ärgsten  Verwünschungen, 
die  ich  schliesslich  in  Tränen  ohnmächtiger  Wut  erstickte.    Mit  der 
ungemeinen  Lebhaftigkeit  meines  ganzen  Naturells  nahm  ich  diesen 
ersten  wirklich  grossen  Liebesschmerz  auf.   Traurig  ging  ich  umher. 


—     174    — 

Wie  grauer  Nebel  senkte  sich»  herab  auf  die  Träumt»  meiner  Lift»«», 
auf  alle  jugendfrohen  Pläne  und  Hoffnungen.    Ach,  und  wir  hatten 
so  schöne  Pläne  mit  einander  geschmiedet!    Wollten   bald   in    die 
Fremde  gehen,  wollten  auf  der  Wanderschaft  Welt  und  Menschen 
kennen  lernen!    Natürlich  gemeinschaftlich!    Hatten  wir«  uns  nicht 
damals  gelobt,  dass  wir  uns  nie,  nie  trennen  wollten?    O,  ich  hatte* 
es  noch  nicht  vergessen!    Und  da  wir  uns  die  gemeinschaftliche 
Reise     schon     in    allen   Details    ausgemalt,    trug   ich    nun     seit 
längerer  Zeit  eine  geheime  Hoffnung  mit  mir  herum,  eine  Hoffnung' 
auf  Erfüllung  des  höchsten  Wunsches  meiner  Liebe,  den  ich  bisher 
nie  gewagt  vor  Willy  auch  nur  anzudeuten,  ja  ich  hatte  in  meinen 
stillen  Gedanken  kaum  den  Mut,  mir  selbst  diesen  Wunsch  einzu- 
gestehen.   Und  doch  verfolgte   mich  dieser  Gedanke  seit  Langem, 
wenn  ich  still  und  einsam  meinen  Gedanken  nachhing,  in  lautren, 
schlaflosen  Nächten,  im  Beisammensein  mit  Willy,  überall  hin  verfolgte 
mich  dieser  Wunsch,  ich  wurde  ihn  nicht  los,  wollte  ihn  auch  gar- 
nicht  los  werden.    Alles  hatte  ich  mir  bereits  ausgemalt:  Per  pedes 
die  Welt  durcheilen,  Städte  und  Dörfer,  ja  vielleicht  fremde  Länder 
sehen  und  immer  beieinander  sein  können!    Hülsten  wir  nicht  auf 
unsern  Reisen  in  Herbergen  übernachten  V    So   würden  wir  dann 
gewiss  auch  Nachts   im  Schlummer   bei    einander  weilen    können 
auf  gemeinschaftlicher  Lagerstätte,   an  seiner  Brust  ruhend,  könnte 
ich  selig   dem  neuen  Tag   entgegenschlummern.  —  Wie  fest  und 
innig  wollte  ich  mich  an  ihn  schmiegen,  wollte  den  Geliebten  an 
mein  brennendes  Herz    pressen!    In    unmittelbarer   zärtlicher   Be- 
rührung mit  dem  blütenweissen  Körper  meines  Freundes  würde  ich 
der   höchsten  Seligkeit    einer  mächtigen  Liebe   teilhaftig  werden, 
das  süsseste  Glück  meines  Daseins  gemessen  können,  das  ich  bis 
jetzt  vergebens  erhofft  hatte!    —    War  dieses  Begehren  etwa  aus 
den    Abgründen    verbrecherischer    Phantasien   eines    übersättigten 
Lüstlings  geboren?  —  Ach  nein,   ich  war  als  18  jähriger  Jüngling 
in  der  Blüte  meiner  Jugendkraft,  weder  geschlechtlich  übersättigt, 
noch  war  meine  Begierde  auf  irgend  eine  bewusste  oder  bestimmte 
geschlechtliche  Handlung  gerichtet.    War  ich    doch    damals    noch 
ein  in  geschlechtlichen  Dingen  vollständig  unerfahrener,  unwisHender 
Bursche.    Gewiss  hatte  ich  wohl,  wie  das   bei  allen  jungen  Leuten 
der  Fall,  viel  abenteuerliches  Zeug  von  Geschlechtsakten  zwischen 
Mann  und  Weib  gehört,  und  heute  noch  lächelt  man  über  alle  die 
unmöglichen  und  ungeheuerlichen  Vorstellungen,    die   wir  uns  als 
junge  Burschen  auch  von  den  Geburtsvorgängen  machten. 

Ich  hatte  eine  Art  mystische  Scheu  vor  allen  diesen  Dingen 
und  heillose  Furcht  vor  den  Folgen  geschlechtlicher  „Verirrungen". 


—    175    — 

Inzwischen  war  jedoch   der  Knabe   zu   einem  vollkommene: 
schlechtswesen  herangereift,  in  dem  sich  bereits  der  mächtige 
nach  Ergänzung  regte.    Was  Wunder,  wenn  sich  dieser  Dran 
Gewalt  auf  jene  Wesen  richtete,  die  von  Jugend  auf  mein  gi 
Sein  beherrscht    hatten.     Die    gewaltige   Liebe    des   Geschiel 
konzentrierte  sich  ganz  von  selbst  und  ohne   sich  klar  bewußt 
sein  auf  das  eigene  Geschlecht. 

Damit  war  aber,  weil  der  unerbittliche  Sittenkodex  dieser 
darin  die  Momente  einer  verbrecherischen  Handlung  erblickt, 
Fluch  der  Gesellschaft  auf  das  Haupt  des  Liebenden  gefallen,  d^ 
nur  noch  recht  und  billig  geschah,  wenn  er  aus  der  Gemeinschg 
aller  anständigen  Menschen  verbannt  wurde.  Jener  Fluch  soll! 
auch  mir  später  im  reichsten  Maße  zu  Teil  werden.  Zu  jener  Zel 
aber,  da  sich  in  mir  die  ersten  Blüten  des  Geschlechtsbewusstseinl 
eben  erschlossen  hatten,  ahnte  ich  von  alldem  noch  nichts.  Niemanc 
hatte  mir  noch  bis  dahin  jemals  etwas  davon  gesagt.  Wie  konnte 
ich  selbst  etwa  dies  edle  Feuer  in  meiner  Brust  verdammen,  da  es\ 
doch  ein  Element  von  meinem  ureigenen  Selbst  war  und  zwar  ein 
gar  gewaltiges  ?  —  0  nein,  ich  konnte  nichts  Unmoralisches  darin 
finden,  dachte  gar  nicht  daran,  daß  wohl  irgend  Jemand  kommen 
könnte  und  sagen :  „Deine  Gefühle  sind  verbrecherisch" !  Ich  hätte 
ihn  schön  abfahren  lassen.  Denn  heilig  war  mir  meine  Isiebe  zu 
Willy,  sie,  die  mich  schon  als  Knabe  für  alles  Edle  begeistert  hatte. 
Heilig  war  mir  auch  die  Person  meines  Freundes.  Ich  hatte  ja  zu 
dieser  Zeit  nicht  die  geringste  Ahnung  von  irgend  einem  bestimmten 
Geschlechtsakt,  irgend  einer  Form  sexueller  Befriedigung  zwischen 
Männern.  Konnte  mir  gar  keinen  Begriff  davon  machen  und  dachte 
auch  niemals  an  etwas  dergleichen,  da  ich  bis  dabin  von  solchen 
Dingen  noch  nichts  gehört  Und  doch  ist  die  Tatsache  nicht  zu 
leugnen,  sie  war  vorhanden,  es  zog  mich  mit  unwiderstehlicher 
Gewalt  nach  der  körperlichen  Berührung  mit  meinem  Freund.  Was 
war  es  denn  nun,  das  mich  immer  und  immer  wieder  mit  magischer 
Gewalt  hinzog,  mich  ewig  drängte  und  trieb,  seine  Nähe  zu  suchen? 
Ach,  ich  machte  mir  keine  langen  Gedanken  erst  über  die  etwaige 
Unnatur  meiner  Empfindungen.  Unbewußt  gab  ich  mich  ihrem 
Zauber  hin.  Ja  es  war  ein  Reiz  ohne  Ende,  der  von  der  Person 
dieses  wunderschönen  Jünglings  ausstrahlte.  Alles  liebte  ich  an 
diesem  Körper,  dies  schöne  blonde  Haupt  mit  der  blendend  weißen 
Stirn,  die  herrlichen  Augen,  die  mir  so  oft  treuherzig  entgegen 
gestrahlt,  die  frischen  Wangen,  die  roten  Lippen  so  schön  ge- 
schwungen, auf  die  ich  schon  als  Knabe  so  oft  im  schüchternen 
Kuß  die  meinen  gedrückt,  die  kräftigen  Hände  und  die  hohe  breite 


—    176    — 

Brust,  an  der  ich  so  oft  geruht,  und  alles  was  diese  teure  Brust 
umschloß,  dieses  stolze  und  doch  so  gute  Herz,  das  sinnige  Gemüt, 
alles,  alles  liebte  ich  an  diesem  teuren  Wesen  und  ging  völlig  in 
ihm  auf.  Aber  auch  das  Verlangen  nach  innerer  Gemeinschaft 
brannte  in  meiner  Seele.  Die  Gleichheit  des  geistigen  Daseins,  das 
Ineinandertauohen  beider  Herzen  war  es,  was  ich  erstrebte.  —  Ich 
kehre  zum  Faden  meiner  Erzählung  zurück.  Willy  konnte  mir  nicht 
das  gewähren,  was  ich  glaubte  von  ihm  verlangen  zu  dürfen.  Ganze 
Hingabe,  so  wie  meine  Liebe  zu  ihm  mein  ganzes  Wesen  beherrschte, 
so  sollte  es  auch  bei  ihm  sein.  Die  Natur  meiner  Empfindun- 
gen duldete  nicht,  daß  ich  seine  Zuneigung  mit  andern  teilen 
sollte.  Unser  gegenseitiges  Verhältnis  wurde  deshalb  in  der  Folge 
merklich  kühler.  Willy  suchte  immer  mehr  der  Richtung  seiner 
Entwicklung  nachgehend,  Verkehr  mit  dem  weiblichen  Gesohlechte. 
Ja  er  wurde  sehr  bald  ein  von  den  Damen  viel  umworbener  Don 
Juan,  der  eben  dank  der  äußeren  Vorzüge,  die  ihm  Mutter  Natur 
verliehen,  diese  Bolle  mit  sehr  viel  Geschick  überall  durchzuführen 
verstand.  Trauernd  stand  ich  abseits  und  verfolgte  trotzdem  mit 
Beharrlichkeit  sein  Tun  und  Treiben.  Ich  war  nur  noch  das  fünfte 
Bad,  das  „liebe  alte  Haus",  das  er  noch  für  würdig  genug  hielt, 
ihm  alle  seine  neuen  Interessen  und  zarten  Geheimnisse  anzuver- 
trauen. .  All'  die  kleinen  pikanten  Sächelchen,  die  ein  rechter  Don 
Juan  vor  den  Augen  der  Welt  verbirgt,  ich  wußte  sie,  mir  vertraute 
er  sie  an,  ohne  daß  ich  danach  frug.  Und  wenn  er  mir  dann  all1 
diese  kleinen  Intimitäten  unbefangen  mitteilte,  zerriß  unsagbarer 
Schmerz  mein  Innerstes  und  blutenden  Herzens  gestand  ich  es  mir 
in  der  Stille  meiner  Einsamkeit,  daß  ich  ihn  verloren  hatte,  ihn, 
den  ich  vergötterte,  der  mein  Alles  war  auf  dieser  Welt,  dem  ich 
alles,  was  mir  heilig,  geweiht  hatte !  Ich  kannte  meinen  Willy  bald 
nicht  mehr  wieder.  Aus  dem  sinnigen,  treuherzigen  Jungen  war 
bald  ein  pomadisierter  Weiberfex  geworden,  der  aus  dem  Füllhorn 
seiner  Wohlgestalt  Kapital  schlug.  Aber  ich  konnte  und  konnte 
noch  immer  nicht  von  ihm  lassen,  obgleich  sich  alle  meine  Empfin- 
dungen gegen  sein  nunmehriges  Wesen  aufbäumten.  Ein  weiteres 
Jahr  war  dahin  und  aus  unserer  phantasieumwobenen  Wander- 
schaft war  natürlich  nichts  geworden.  Willy  hatte  dazu  die  Lust 
verloren,  ihm  schien  es  so  am  Besten  zu  gefallen  und  mir  war  durch 
den  Tod  meines  Vaters  eine  neue  Pflicht  erwachsen.  Ich  mußte  in 
Gemeinschaft  mit  meinem  ältesten  Bruder  für  die  Mutter  und  zwei 
noch  unerwachsene  Brüder  sorgen.  Obwohl  das  Verhältnis  zwischen 
Willy  und  mir  immer  mehr  verflachte,  kamen  wir  doch  noch 
sehr  häufig  zusammen.     Ich   konnte   eben   dieses  Wesen,   das  ich 


—    177    — 


mehr  wie  mich  selbst  geliebt,  nicht  so  ohne  weiteres  aus  m^ 
Herzen  reißen.   Leider  sollte  auch  dieser  Zustand  nicht  lange  da 
und  Willy  selbst  war   es  auch  hier  wieder,   der,   wohl  unbe^ 
meinem  Herzen  den  letzten  brutalen  Stoß  gab.     Eines  Tages  \ 
Willy    zu   mir,    nahm    mich  auf  die  Seite   und   vertraute   mir\ 
neues  Geheimnis  an.    Diesmal  war  es  ernster  Natur.    Er  hatte  \ 
im  sorg-  und  schrankenlosen  Geschlechtsverkehr  infiziert,  hatte  I 
Sache  vertrödelt  und  frug  mich  nun,  da  die  Geschichte  schlimmi 
werden  drohte,  um  meine  Meinung.  Er  behauptete,  daß  er  sich  l 
einer  Prostituierten  den  Schanker  geholt  und  war  nun  in  groß, 
Angst,  wie  er  „das  Ding"  los  werden  möchte.  Zum  Arzt  zu  gehdi 
wozu  ich  ihm  riet,   hatte  er  keine  rechte  Lust.    Es  sei  ihm  „z 
schenant"  und  koste  auch  gleich  zu  viel,   meinte  er.    Es  war  da 
erste  Mal  in  meinem  Leben,  daß  ich  eine  Geschlechtskrankheit  ml 
all'  ihren  widerlichen  Begleiterscheinungen  kennen  lernte.   Begreift 
licher  Abscheu  erfüllte  mich  und  da  er  die  unbedingte  Notwendig-^ 
keit  einer  ärztlichen  Behandlung  nicht  gleich  einsehen  wollte,  so! 
konnte  ich  ihm  natürlich  sonst  weiter  keinen  Rat  geben  und  begriff! 
überhaupt  nicht,  wie  er  sich  in  diesem  Fall  an  mich  wenden  konnte,  \ 
da  er  doch  in  solchen  Dingen  zum  mindesten  mehr  Erfahrungen  \ 
hatte  als  ich.     Ich  hielt  es  viel  mehr  für  angebracht,  ihm  allerlei  \ 
Vorhaltungen   zu  machen.    Er   verteidigte   sich  so   gut  er  konnte  \ 
und  da  er  trotzdem  bei  mir  kein  Verständnis  fand,  nannte  er  mich    \ 
einen  närrischen  Kauz  und  gab  mir  schließlich   den  wohlgemeinten    \ 
Rat,   mich  nicht   so  von  allem  zurückzuhalten,  sondern  mitzutun.     \ 
„Das  Leben  ist  so  schön",  rief  er  aus,   „und  man  soll  es  genießen, 
so  lange  man  jung  ist,  dazu  hat  man  ein  Recht".    Dann  bedauerte 
er  mich  mit  meinen  „ewigen  Ansichten",  wurde  sehr  heiter  und  bot 
sich  an,  mich  in  lustige  Gesellschaft  einzuführen ,   da  sollte  ^ch  das 
Leben  erst  kennen  lernen,  fühlen,  was  überhaupt  leben  heisst.   Und 
hätte  ich  erst  das  „himmlische  Manna"  der  Liebe  geschmeckt,  dann 
würde  ich  schon  ein  Anderer  werden,  darauf  schwur  er  einen  heiligen 
Eid.    Er  nannte  mich  schliesslich  seinen  lieben  alten  Freund,  mit 
dem  er  gern  „alles  teüen"  wolle,  schwatzte  noch  eine  ganze  Weile 
auf  mich   ein   und   rückte  zuletzt  in  freundschaftlichem  Eifer  mit 
folgendem  Vorschlag  heraus.     Er  wollte    mir   ja  gern,   um  es  mir 
leicht  zu  machen,  sein  neuestes  „Verhältnis",  eine  dralle  Küchen- 
jungfer, die  in  der  Nähe  bedienstet  war,  „überlassen".    Das  Mädel 
sei  „ganz  doli",  immer  zu  haben  und  nehme  es  auch  nicht  so  genau. 
Er  habe  schon  einige  Mal  daran  „genascht"  und  da  es  mit  ihm  doch 
nun  gegenwärtig  nicht  ginge,  so  wollte  er  mich  mit  ihr  bekannt 
machen.     Sprachlos  starrte  ich  meinen  ehemals  Vielgeliebten   an. 

Jahrbuch  V.  12 


—     178     — 

War  das  mein  Willy  noch,  der  einzige  geliebte  Mensch,  dem  ich  mit 
Freuden  mein  Leben  zu  Füssen  legen  wollte?  So  weit  war  es  also 
mit  ihm  gekommen,  so  jung,  so  schön  und  eine  solche  Auffassuiifr,, 
solche  Achtung  vor  den  heiligsten  Empfindungen  der  Meii*ch<»n, 
das  Gefühl,  in  dem  selbst  das  Tier  geadelt  wird?  Ein  Gefühl  end- 
loser Leere  überkam  mich.  Eine  solche  unsäglich  gemeine  Denk- 
und  Handlungsweise  musste  ich  bei  dem  erleben,  der  bin  dahin 
in  meinem  Ideenkreis  den  vornehmsten  Platz  eingenommen. 

Von  nun  an  war  ich  bemüht,  sein  Bild  gewaltsam  aus  meiner 
Seele  zu  reissen.    Ich  behandelte  ihn  kalt,  ging  nie  mehr  zu  ihm 
und  wenn  er,  was  auch  nur  noch  selten  geschah,  zu  mir  kam,  stahl 
ich  mich  leise  aus  dem  Hause  und  ttberliess  ihn  meinen  Brüdern, 
an  die  er  sich  bald  enger  anschloss.    In  meinem  zertretenen  Herzen 
hat  es  noch  lange  getobt  und  geschrieen,  ehe  dies  schönste  Bild 
meiner  Jugendträume  daraus  entwich.     Später,  nachdem  wir  auch 
örtlich  von  einander  getrennt,  hörte  ich  nur  noch  durch  meine  Brüder 
von  ihm.     Er  hat   schliesslich   die   Tochter   eines   wohlhabenden 
Kaufmanns   heimgeführt   und   ist   heute    selbst  als*  Inhaber    eines 
renommierten  Geschäftshauses  in  Leipzig  ein  wohlhabender  Mann,  der 
sich  kaum  noch   seines  einstigen  Jugendfreundes    erinnert.     Wohl 
weiss  ich,  dass   er  von  meinen  ferneren  Schicksalen  durch   meine 
Familie  unterrichtet  wurde,  ich  habe  jedoch  von  ihm  kein  Lebens- 
zeichen mehr   erhalten.     Er  ist  eben   schnell   in   den   Raten  der 
gesellschaftlichen  Behaglichkeit  eingelaufen.    Ihn  haben  die  konven- 
tionellen Lügen  dieser  Kultlirgesellschaft  weiter  nicht  behelligt.  — 

Über  die  nun  folgende  Periode  meines  Lebens  will  ich  mich 
bemühen  weniger  ausführlich  zu  sein.  Ich  begann  alsbald  ein 
höchst  unsolides  Leben  zu  führen.  Im  Taumel  aller  möglichen 
tollen  Vergnügungen  suchte  ich  Zerstreuung,  Vergessen.  Eine 
wilde  Flucht  vor  der  gähnenden  Leere,  die  in  meinem  Inneren  zu- 
rückgeblieben war,  begann  nun.  Und  von  dem  ungeheuren  Wust 
der  widerstreitendsten  Empfindungen,  die  mich  dann  wieder  plötz- 
lich durchtobten,  hin-  und  hergeschleudert,  tappte  ich  suchend,  wie 
ein  Blinder.  Die  tollste  und  ausgelassenste  Gesellschaft  ward  mir 
bald  die  üebste.  Eine  schon  ziemlich  trüh  erwachte  Vorliebe  für 
dramatische  Kunst  und  ein  bescheidenes  Talent  in  derselben,  führte 
mich  bald  in  Gesellschaften  ein.  In  Dilettantenvereinen  übte  ich 
mit  großer  Hingabe  meine  kleinen  Fähigkeiten  und  so  bekam  ich 
auch  leicht  Verkehr  mit  vielen  jungen  Leuten  beiderlei  Geschlechts. 
Ich  wurde  ziemlich  schnell  gewandt  in  allen  Eigenschaften,  die  dazu 
gehören,  in  der  Gesellschaft  etwas  zu  scheinen,  was  man  nicht  ist. 
Ich  wollte  ja  durchaus  das  „himmlische  Manna"  der  Liebe  schmecken, 


179    — 


wovon  mir  Willy  so  begeistert  erzählt  hatte.     Ich  gab  n 
auch   die   grösste   Mühe,   bei    den   Damen    den   Schwerem 
spielen.    Denn,  so  dachte  ich,  was  alle  Anderen  mit  so  a 
schick  und  Erfog  betrieben,  warum  sollte  ich  es  auch  nicht  1 
schliesslich  lag  es  am  Ende  bloss  an  meinem  Mangel  an  Tale 
Gunst  der  Damen  zu  erwerben.    So  warf  ich  mich  denn  ge 
in  die  Brust,  um  mich  endlich  zur  Mannbarkeit  aufzuraffen  un 
Hänseleien  der  Anderen  zu   entgehen,  die  mich  nur  „den  i 
Franz"  nannten.    Und  um  auch  auf  den  zahlreichen  Kränze  hei 
Bällen  der  Vereine  in  Gesellschaft  der  Damen  bestehen  zu  kö; 
ging    ich    auch  noch  in    die   Tanzstunde  und   verliebte    mic 
in  den  jungen  Kellner  des  betreffenden  Restaurants.     Er  wai 
bildhübscher  Bursche  mit   pechschwarzem   gekräuselten  Haar 
ein  Paar  kohlschwarzen  Augen,  die  wie  Diamanten  funkelten, 
hatte  nur   noch  Blicke  für  ihn  und   wenn  ich   die  Tanzerei   n 
mitmachte,  so  geschah  es  nur,  um  in  seiner  Nähe  bleiben  zu  könn 
Ich  suchte  Annäherung  und  mit  überraschend  schnellem  Erfolg. 
Neue  Seligkeit  zog  in  mein  Herz  ein.    In  kurzer  Zeit  war 
wir  vertraut  mit  einander.   Hier  war  ich  wieder  in  meinem  Elemei 
hier  durfte  ich  lieben,  das  fühlte  ich   sofort.     Welch   ein  Unte 
schied !   Während  ich  in  Gesellschaft  junger  Damen  mich  mit  mein! 
Bolle  des  Schwerenöters  mühsam  abquälte,   trat  hier  wieder  sofol 
das  echte  Feuer  natürlicher  Leidenschaft  hervor.    Hier  gab  echfl 
Liebe  das  von  selbst,  wonach  ich  dort  mühsam  den  Plan  absucht! 
um  einen  gequälten  Abklatsch   des    „himmlischen  Mannas"  zu  eil 
halten,  was  ich  garnicht  himmlisch  fand,   um  mich  künstlich  unJ 
scheinbar  daran  zu  ergötzen,  zu  dem  Zweck,  vor  den  Augen  dei 
Welt  als  das  zu  gelten,  was  ich  nicht  war.     Als  ich  die  ersten 
schüchternen  Liebkosungen  wagte,  fühlte  ich,  dass  sie  ihm   nicht] 
unempfindlich .  waren.    Er  erwiderte  sie  und  jubelnd  ahnte  ich 
meinem  Liebling  eine  verwandte  Seele,    loh  widmete  ihm  all  diel 
Hingabe,   deren  nur   die   echte  Liebe   fähig  ist.    All  die  kleinen! 
Aufmerksamkeiten,  in  der  die  Liebe  so  selbstlos,  so  erfinderisch! 
ist,  tauschten  wir  nun   gegenseitig  aus.    Doch  das  Auge  des  Ge- 1 
setzes  wacht  und  der  beleidigte  Sittenkodex   der  „Normalen"  im 
Land  schrie  nach  Sühne.    Unvorsichtig  und  tollkühn  ist  die  Liebe. 
Eines  Abends  spät  ereilte  uns  das  Verhängnis,  das  für  mein  Leben 
so  folgenschwer  werden  sollte.    Wir  wurden  beide  vom  Wirte  in 
einem  hinteren  Zimmer  bei   frischer   Tat   ertappt.    Die    Situation 
war  über  jeden  Zweifel  erhaben  und  wir  konnten  uns  auch  nicht 
mehr  retten,  da  wir  ganz  unvermutet  überrascht  wurden.    Ein  un- 
beschreiblicher Skandal  folgte.    Man  brüllte  nach   dem  Arm  des 

12* 


—     180     — 

Gesetzes.    Ich  wurde  festgehalten  und  mtisste  noch  mit  an*«»ht*ii. 
wie  der  Wirt  meinen  Liebling  brutal   mißhandelte.    WahnHtnni^rer 
Schmerz  durchtobte  mein  Innerstes  und  zitternd  bat  ich  um    Scho- 
nung für  den  Armen.    Willig  folgte   ich   dann    dem   Di«*ii«»r    <l«»r 
heiligen  Gerechtigkeit.  Ich  befand  mich  in  einer  Art  Traum  zustand, 
sah    und   hörte  kaum,    was  um   mich    herum    geschah.      Wie     in 
nebelhafter  Ferne  erschien  mir  alles.    Und  immer  weiter  und   weiter 
rückten  Welt  und  Menseben  von  mir  ab,  so  daas  ich  sie  nicht  mehr 
erkennen  konnte.    Zwei  Monate  sass  ich  in  Untersuchung,  ich  be- 
griff nicht,  weshalb,  da  ich  alles  eingestanden   hatte.    Wan  ich  in 
dieser  Zeit  einsamer  Zellenhaft   ausgestanden,    genügte,   um    mich 
vollständig  niederzuschmettern.    Mit  all  ihrer  Schärfe  hielt  die  be- 
leidigte Moral  ihr  Strafgericht  über  mich.    Nichts  blieb  mir  an  De- 
mütigungen  erspart    Schon  auf  dem  Polizeipräsidium  schallte  mir 
die  Stimme  des  diensttuenden  Beamten  entgegen:  „Ein  Päderaat! 
Ein  Päderast!    In  Einzelhaft  mit  dem!"    Ich  hatte  keine  Ahnung 
von  der  Bedeutung  dieses  Wortes.    Aber  die  Art,  wie  mir  die« 
offenbar    inhaltsschwere   Wort    entgegengeschleudert   wurde,   lies» 
mich  ahnen,  welch  ein  verabscheuungswürdiger  Verbrecher  ich  sein 
musste.    In  ohnmächtiger  Verzweiflung   wand    ich   mich    auf  dem 
Boden   meiner   einsamen  Zelle.    War  ich    denn   wirklich   eine    so 
schändliche  Kreatur  V  Wen  hatte  ich  denn  beleidigt,  wem  etwas  ge- 
nommen,  wem  hatte  ich  ein  Leid  zugefügt?    In   meiner   hilflosen 
Verwirrung   vermochte    ich    keinen    klaren    Gedanken   zu    fassen. 
Verbrecher,  Verbrecher,  Päderast !   höhnte  es  mir  nur  immer  in  die 
Ohren.    „Bedenke  doch,  was  du  nun  geworden  bist!"  so  hiess  es 
in  dem  Briefe,  den  mein  ältester  Bruder  unter  dem  Eindruck  der 
Nachricht  meiner  Verhaftung  an  mich  geschrieben  und  in  dem  er 
sich  im  Namen  der  ganzen  Familie  von  mir  lossagte.     In  meiner 
grenzenlosen  Verzweiflung  über  alles  dieses  reckte  ich  schliesslich 
die  Arme  gen  Himmel  und  erflehte  von  Gott  irgend  eine  Gewiss- 
heit, wie  weit  die  Grösse  meines  Verbrechens  reichte.    Aber  der 
Himmel  rührte  sich  nicht  und  ich  fand  nicht  einmal  Trost  in  der 
tränenvollen  Busse  und  Reue,  der  ich  mich  in  kraftloser  Zerknirschung 
nun  hingab.    Ich  wusste  ja  nicht,  was  ich  eigentlich  büssen  sollt«*, 
bei  wem  ich  um  Verzeihung  für  zugefügte  Schmach  betteln  sollte. 
Die  Stunde  meiner  Aburteilung    schlug  und   hier  sah  ich  meinen 
Liebling  wieder.    Bei  seinem   Anblick    brach   ich   in    Tränen  au». 
War  er  es  am  Ende,  dem  ich  Beleidigung  und  Schande  zugefügt? 
Aber,  o  Wunder,   als  wir  beide  vor  der  Bailustrade  neben- 
einander   standen,    um   unseren    Richtern  Rede   und   Antwort  zu 
stehen,  fühlte  ich  plötzlich  seine  Hand  in  der  meinen,  die  er  einen 


—    181    — 


Moment  zärtlich  und  verstohlen  drückte.    Da  zog  es  einen 
blick  wie  stiller  Friede  durch  meine  Seele  und  ruhig  und 
antwortete  ich  auf  die  Fragen  des  Präsidenten.  Freilich,  m 
Augenblick  bewahrte  ich  meine  Fassung,  dann  war  es  wied 
bei,  als  der  Herr  Staatsanwalt  für  mich,  als  den  Verführet 
§  175  des  St.-G.-B.   eine  empfindliche  Strafe  verlangte.     I» 
und  flehte  und  erklärte  unter  Schluchzen,  dass  ich  meinem  1 
niemals  etwas  habe  „zu  Leide  tun"  wollen.  Und  die  Herren  E 
lächelten   über   meine   naiven,    fortwährenden  Beteuerungen, 
wurde  schliesslich  unter  Annahme  von  mildernden  Umstände 
6  Monaten  Gefängnis  verurteilt.    Adolf  kam,  weil  er  nur  der 
dende  Teil  und  der  von  mir  „Verführte"  war,  mit  7  Tagen  da 
Ausserdem  wurde  auch  wohl  auf  seine  Jugend  Rücksicht  genomi 
er  war  noch  nicht  ganz  16  Jahre  alt.    Ich  hatte  mich  um  das  A 
meines  Freundes  nie  bekümmert,  hielt  ihn  aber  für  bedeutend  äl 
Er  machte    in  jeder   Beziehung    den  Eindruck    eines   mindest 
18  jährigen,  war  ebenso  gross  wie  ich  und  körperlich  viel  mehr  e 
wickelt.     Die  Täuschung  über  sein  Alter  mochte  um  so  leicht 
sein,  als  er  auch  die  Entwicklung  zur  Pubertät  bereits  hinter  si 
hatte.    Ich  konnte  deshalb  auch  mit  gutem  Gewissen  dem  Her! 
Präsidenten  auf  seine  Frage  antworten,   dass  ich  mich   im  Altl 
meines  Freundes  getäuscht  hätte.    Das  hatte  mir  denn  aber  weit! 
nichts  genützt,  am  Urteil  änderte  das  ja  nichts.    Ich  wurde  wiedd 
abgeführt  und  hatte  gerade  noch  so  viel  Zeit,  einen  letzten  Scheidd 
gruss  von  ihm   aufzufangen,   einen   stillen  Blick  liebevoller   Teil 
nähme  für  mich.    Diesen  stummen  Blick  habe  ich  als  einzigen  Trosl 
mit  in  mein  Gefängnis  genommen.    Ihn,  das  wusste  ich  nun,  hattl 
ich  nicht  beleidigt,  er  grollte  mir  nicht.    Ich  habe  ihn  nie  wieder! 
gesehen,  diesen  herzigen,  schwarzäugigen  Jungen,  meine  späteren 
Nachforschungen  nach  ihm  blieben  resultatlos.    Ich  bin  überzeugt,! 
er  hat  nur  gut  von  mir  gedacht.  —  Der  Mensch  fügt  sich  in  alles,! 
auch  in  das  anfänglich  Unfassbare.    Ich  ertrug  meine  6  monatliche] 
Einzelhaft  verhältnismässig  gut  und  wurde  zuletzt  von  dem  Auf- 
seher des  „Flügels  A,"  der  ein  halbes  Jahr  mein  Domizil  war,  mit] 
einigen  wohlwollenden  Worten  entlassen  und  mit  dem  guten  Rat, ' 
mich  fürderhin  „in  Obacht  zu  nehmen,"  damit  ich  nicht  zu  bald  wieder 
käme.    Gerührt  drückte  ich  dem  alten  Manne  die  Hand  und  trat  in 
die  goldne  Freiheit    mit  dem  festen  Vorsatz,   nun  ein   „Anderer," 
„Besserer"  zu  werden.    Hatte  ich  nicht  in  der  langen  Zeit  der  Sühne 
bewiesen,    wie  man  sich  beherrschen   kann?    Hatte  ich  nicht  die 
6  Monate    vollständig    keusch    zugebracht?    —  Ich    kannnte    die 
Onanie  sehr  wohl,  doch  nicht  ein  einziges  Mal    war  ich  ihr  in  der 


—     182     — 

ganzen  Zeit  zum  Opfer  gefallen.  Ja,  ich  wollte  and  rousntt*  wi«*<l«-r 
ein  guter  Mensch  werden.  Hütte  ich  nur  damals  schon  klar  jr«»nujr 
die  unabweisbare  Bestimmung  meiner  Geschlechtsnatur  begrittVn. 
Ich  hätte  wohl  in  jenen  oft  durchwachten  Nächten  im  (Jefnnjr- 
nisse  die  Kraft  gefunden,  ein  Ende  zu  machen  mit  einem  Dasein 
so  dunkel  und  reuevoll  bis  auf  den  heutigen  Tag. 

In  wie  weit  ich  später  ein  besserer,  anderer  Mensch  geworden, 
mag  der  Leser  aus  dem  weiteren  Fortgang  meines  Lebens  entnehmen. 

Meine  Familie  nahm  mich  in  Gnaden  wieder  auf,  man  verzieh 
mir,  wie  man  sagte,    um   meinetwillen.     Ja,  mein  ältester  Bruder 
hielt   es  von  da  ab  für  eine  Art  väterlicher  Pflicht,  mich  wieder 
auf  den   rechten  Pfad   der  Sitte   und  Tugend  sorgsam   zurückzu- 
führen.   Er  fing  an,   mich   auf  Schritt  uud  Tritt  zu  bewachen.     Kr 
hatte   das  Glück,  eine  vermögende  Frau   zu  bekommen  und   nun 
ging  seine  brüderliche  Fürsorge  so  weit,  im  Einverständnis  mit  den 
Verwandten  seiner  Frau  mir  einen  kleinen  Geschäftsbetrieb  einzu- 
richten,  der  in  mein  Fach   schlug.    Ich   nahm   alles  dankbar  an, 
geschah  doch  alles  zu  meinem  Besten.     Die   Sache   klappte  auch 
im  Anfang  ganz  gut.    Ich  fühlte  mich  bald  wieder  und  gefiel  mir 
in  meiner  Eigenschaft  als  selbständiger  Geschäftsmann,  war  fleissig 
und   suchte   mein  Geschäft  hochzubringen.    Doch  ich  hatte  meine 
Rechnung  ohne  mich  selbst  gemacht.    Abgesehen  davon,   da**  es 
ja  an  und  für  sich  schon  ein  Missgriff  war,  einem  jungen  Menschen 
von  kaum  21  Jahren  Führung  und  Verantwortung  über  ein    Ge- 
schäft  anzuvertrauen,  mit   deren   fachgemässer  Leitung   eine   be- 
reiftere Manneskraft  vollauf  zu  tun  gehabt  hätte,  so  war  ich  doch, 
meiner   ganzen   natürlichen    Veranlagung  nach,  viel  zu  sehr  Ge- 
fühlsmensch,  als   dass  ich  auf   die  Dauer  einen   brauchbaren    Ge- 
schäftsmann  abgegeben  hätte.    Wohl  hatte   ich  so  etwas  wie  eine 
dunkle   Ahnung    davon,    dass   auf  mich   noch   kein   Verlass   war. 
Wohl  meinte  ich  im  Stillen   dies  und  das,  aber  sollte  ich  meinem 
Bruder  meine  eigene  Unfähigkeit  und  Schwäche  eingestehen,  sollte 
ich   ihm   offen   sagen,    dass  mir   diese   seine   Wohltat   im    Grunde 
eigentlich  Plage  sei?    Welche  Antwort  hätte  ich  bekommen?    Sie 
konnte  nicht  zweifelhaft  sein.  Und  hatte  ich  überhaupt  eine  Meinung 
zu  haben?    Als  ein  in  Gnaden  wieder  aufgenommener  Missetäter 
musste  ich  dankbar  und  froh  sein,  dass  mir  mein  liebevoller  Bruder 
Gelegenheit  verschafft  hatte,   mich   wieder  „ins  Geleise"  hinein  zu 
bringen.    Er  meinte  es  zweifellos   gut  mit  mir,  also  hatte  ich,  das 
fühlte  ich  wohl,   die  Pflicht,  mich  zu  fügen.     Ich  musste  stillhalten 
und  mich  bescheiden,   denn  sie  alle  waren  „besser"  als   ich.    Mein 
Bruder  Hess  es  sich  angelegen  sein,  über  mein  Schicksal  zu  wachen. 


183 


Er   achtete  beständig  und  sorgtältig   darauf,   dass    ich   mein 
schäftlichen  Pflichten  nicht  versäumte  und  ich  gab  mir  die 
Mühe,   ihm   keinen  Anlass   zur  Unzufriedenheit  zu  geben, 
weiter   hinaus  ging   auch  sein   Einfluss  nicht,   weiter    reich 
Kraft  seiner  Autorität  nicht.    Er  war  wohl  in  der  Lage,  mic! 
merksam   zu  bewachen,   aber   einsperren   konnte   er  mich  füll 
nicht  und  mir,  dem  21jährigen,  das  fühlende  Herz  aus  dem 
zu  reissen,  das  vermochte  er  freilich  auch  nicht.    Und  so  kai 
denn,  wie  es  wohl  kommen  musste. 

Ich  hatte  natürlich  nicht  die  Kraft,  lange  mit  mir  allein 
umzulaufen,  mein  Herz  verlangte  nach  einem  Wesen,  das  ich  liel 
könnte.  Bald  fand  ich  es  in  der  Person  des  jungen  Angestelli 
eines  benachbarten  Geschäftes.  Es  dauerte  auch  gar  nicht  lanj 
so  hatten  wir  Freundschaft  geschlossen.  Die  fürsorglichen  Schwieg< 
eitern  meines  Bruders,  in  Gemeinschaft  mit  meiner  guten  Mutti 
hatten  zwar  bereits  für  eine  „passende"  Partie  gesorgt  und  ich  hatl 
mir's  auch  zur  Pflicht  gemacht,  dieser  jungen  Dame  recht  fleissii 
den  Hof  zu  machen.  Das  Mädchen  war  sonst  nicht  übel,  hatte  etwal 
Vermögen,  mit  diesem  sollte  sie  „ins  Geschäft  hineinheiraten",  so  hatten 
es  meine  Verwandten  beschlossen.  So  schnell,  wie  ich  hier  eine  Braut 
angewiesen  bekam,  wäre  ich  niemals  imstande  gewesen,  mir  selbst  einet 
zu  erobern  das  fühlte  ich,  darum  war  ich  auch  eifrig  dabei,  ich  hatte  es 
mir  ja  selbst  gelobt,  den  „dunklen  Fleck"  aus  meiner  Vergangenheit 
mögtichst  zu  tilgen.  Ich  war  sehr  aufmerksam  gegen  meine  Braut, 
sagte  ihr  viel  Artigkeiten  und  machte  ihr  Geschenke.  Das  hinderte 
mich  aber  durchaus  nicht,  mich  mit  meinem  neuen  Freund  viel  mehr 
abzugeben  als  mit  meiner  Braut.  Er  war  ein  ausgezeichneter  junger 
Mann  mit  guten  Manieren  und  einem  natürlichen  Wesen.  Im  trauten 
Beisammensein  mit  ihm  entschädigte  ich  mich  für  alle  Beklemmungen 
und  Unbehaglichkeiten,  die  ich  stets  in  Gesellschaft  meiner  „Ange- 
beteten" empfand.  loh  will  kurz  sein.  Die  Sache  gedieh  so  weit, 
dass  uns  eines  Tages  ein  argwöhnisch  gewordener  Nachbar,  in 
meinem  eigenen  Geschäftslokal,  durch  den  Türspalt  beobachtet  hatte. 
Der  Mann  schlug  Lärm  und  benachrichtigte  sofort  meine  Familie. 
In  kopfloser  Bestürzung  floh  ich,  so  wie  ich  ging  und  stand,  zum 
nächsten  Bahnhof  und  fuhr  zu  Verwandten  meines  Vaters  nach  M. 
Diese  telegraphierten  an  meinen  Bruder  und  verlangten  Aufklärung, 
da  ich  jede  Auskunft  verweigerte.  Bald  erschien  mein  Bruder,  setzte 
meine  Verwandten  von  allem  in  Kenntnis,  sagte  sich  abermals  und 
diesmal  für  immer  von  mir  los,  indem  er  mich  einen  Ehrlosen  und 
Undankbaren  nannte,  der  nicht  wert  sei  der  Achtung  anständiger 
Menschen.    Meine  Verwandten  taten  ein  Übriges,  man  überliess  mir 


—    184    — 

ans  Menschlichkeitsrücksichten  eine  kleine  Summe  Geldes  und  so 
musste  ich  augenblicklich  das  Hans  verlassen. 

Planlos  irrte  ich  eine  Zeit  lang  in  der  fremden  Stadt  umher. 
Die  Angst  vor  Verfolgung  trieb  mich  wieder  zum  Bahnhof  und  so 
floh  ich  mit  dem  nächsten  Zug  über  die  holländische  Grenze,  kam 
bis  Amsterdam  und  irrte,  der  Sprache  des  Landes  nicht  mächtig, 
hilflos  umher.  Von  jeder  Verbindung  mit  der  Welt  losgerissen  stand 
ich  nun  da  und  fing  an  zu  überlegen.  Die  liebe  znm  Leben  trieb 
mich  weiter.  Ich  fing  nun  an,  zu  Fuss  durch  endlose  Schnee  be- 
deckte Felder  und  Wiesen,  über  zugefrorene  Kanäle,  von  Ort  zu 
Ort  zu  wandern,   mir  durch  stummes  Betteln  weiter  helfend.    In 

Gr ,  einer  mittelgrossen,  holländischen  Stadt  geriet  ich,  halb 

verhungert,  von  Allem  entblösst,  todesmüde  in  einen  Gasthof,  wo 
viele  Deutsche  verkehrten,  hier  vernahm  ich  die  süssen  Laute  meiner 
Muttersprache  wieder.  Es  schien  ein  Labsal  von  zweifelhafter 
Qualität  zu  sein,  denn  es  stellte  sich  heraus,  dass  die  Inhaberin  und 
die  weibliche  Bedienung  meist  spät  nachts  .allerlei  Gäste  empfingen, 
mit  denen  bis  zum  hellen  Morgen  wüste  Orgien  gefeiert  wurden, 
wobei  die  Wirtin  mit  ihren  Helferinnen  anscheinend  gute  Geschäfte 
machte.  Ich  hatte  Gnade  vor  den  Augen  der  fetten  Inhaberin 
dieser  Höhle  gefunden.  Sie  schien  Mitleid  mit  meiner  Lage  zu 
haben  und  da  sie  auch  etwas  deutsch  sprach  und  ich  ihr  einen 
ganzen  Roman  von  der  Ursache  meiner  Anwesenheit  vorgelogen 
hatte,  so  konnte  ich  vor  der  Hand  dableiben  als  Hausbursche,  Gläser- 
spüler  u.  s.  w.  Mir  war  alles  egal,  nur  weiter  leben,  mochte 
kommen  was  wollte.  Das  Leben,  wie  es  sich  nun  hier  in  der  Folge 
vor  meinen  Augen  abspielte,  lieferte  mir  einen  ungefähren  Begriff, 
in  welch'  unsäglich  niedriger  Weise  sich  oft  das  normale  Geschlechts- 
leben der  Menschen  abspielt.  Beispielloser  Ekel  erfasste  mich  hier 
vor  der  Art,  mit  der  hier  die  Menschen  sich  der  „normalen"  Liebe 
hingaben.  Ich  war  der  einzige  männliche  Bedienstete  im  Hause, 
und  hatte  bald  heraus,  dass  meine  würdige  Herrin  mehr  von  mir 
verlangte  als  blosse  Dienste  für  das  Haus  und  die  Gäste.  Ein 
fürchterlicher  Schrecken  packte  mich  bei  dieser  Erkenntnis.  Mir 
schauderte  vor  dem  Gedanken,  längere  Zeit  hier  unter  diesen  Men- 
schen weilen  zu  müssen.  Aber  ich  hatte  gar  keine  Ursache,  mich 
zu  beklagen,  war  ich  doch  selbst  ein  aus  der  Gesellschaft  aller 
anständigen  Menschen  Ausgeschlossener.  Wohin  sollte  ich  auch  in 
dieser  fremden  Welt,  in  der  ich  vollständig  einsam  stand.  Ohne 
irgend  welche  Mittel  konnte  ich  doch  überhaupt  nicht  weiter  kommen. 
Und  als  Landstreicher  würde  ich  sehr  bald  in  die  Hände  der  Polizei 
geraten.    Dann  aber  war  es  doch  sicher  um  mich  geschehen,  denn 


—    185    — 

wenn  jener  menschenfreundliche  Nachbar  die  Sache  angezeil 
war  sicher  ein  Steckbrief  hinter  mir;  welche  Aussichten  eröfl 
sich  da  für  mein  Leben!  —  Und  zum  Sterben  war  ich  zu 
Sterben,  wenn  man  noch  so  jung*  ist.  War  nicht  di«  Welt  1 
alledem  schön?  Ich  fügte  mich  deshalb,  so  gut  es  ging  in 
Lage,  wich  den  zudringlichen  Freundlichkeiten  meiner  Herrin  \ 
schickt  aus  und  war  nur  still  und  zähe  darauf  bedacht,  etwas  Mi 
in  die  Hand  zu  bekommen  um  möglichst  bald  fort  zu  kommen  ' 
dieser  Höhle,  in  deren  Pesthauch  ich  zu  ersticken  fürchtete.  Nl 
14  wöchentlichem  Aufenthalt  war  ich  denn  auch  wieder  unterwel 
Ich  hatte  mir  in  dieser  traurigen  Zeit  unter  allerlei  Entbehrung 
von  meinem  geringen  Lohn,  eine  kleine  Summe  erübrigt  mit 
ich  hoffte  irgend  eine  Küstenstadt  zu  erreichen.  Dort  wollte  ü 
mich  als  Kohlenzieher  oder  sonst  als  dienstbarer  Geist  auf  irgenl 
einem  Schiff  ohne  weitere  Barmittel  nach  Amerika  hintiberarbeiteq 
Ich  hatte  diesen  Plan  in  meinen  einsamen,  oft  schlaflosen  Nächtei 
sorgsam  durchdacht.  Ich  hatte  in  Erfahrung  gebracht,  dass  in 
Küstenstädten  sogenannte  „Heuerbaasse"  ihr  Wesen  treiben,  die  ein! 
schwunghaftes  Geschäft  daraus  machten,  Aus  wanderungslustigen  | 
mit  Hat  und  Tat  an  die  Hand  zu  gehen  in  der  Erlangung  günstiger  \ 
Überfahrtgelegenheit.  Auch  solche  Leute,  die  in  ähnlicher  Lage, 
wie  ich,  sich  befanden,  „verheuerten"  diese  Leute  auf  irgend  ein 
Schiff,  damit  sie  so  ohne  grosse  Baarmittel  das  ^gelobte  Land," 
nach  der  Versicherung  dieser  Heuerbaasse,  sicher  erreichten.  Dort 
in  dem  freien  Lande,  in  der  neuen  Welt,  wollte  ich  dann  abermals 
ein  neues  Leben,  ein  „besseres"  beginnen.  Von  Neuem  hatte  ich 
mir  selber  hoch  und  teuer  zugeschworen,  nunmehr  meiner  unseligen 
Leidenschaft  zu  entsagen.  Zähneknirschend  verfluchte  ich  meine 
erbärmliche  Schwäche,  die  mich  hatte  zum  Sklaven  einer  Neigung 
werden  lassen,  die  alle  Welt  als  verbrecherisch  bezeichnete.  Ich 
glaubte  ihnen,  wenn  sie  sagten,  es  sei  ein  Verbrechen,  sich  mit 
„so  was"  zeitlebens  unglücklich  zu  machen.  Hatte  ich  nicht  den 
Frühling  meines  Lebens  damit  zerstört?  —  Sprach  doch  Jeder- 
mann mit  Verachtung  und  Hohn  von  diesem  abscheulichen  Laster 
für  das  manche  die  Prügelstrafe  empfahlen.  Wie  ungeheuer  schlecht 
und  erbärmlich  kam  ich  mir  vor.  Nun  aber  sollte,  nun  musste  das 
alles  anders  werden,  wenn  ich  erst  „drüben"  sein  würde.  Dort,  wo 
mich  Niemand  kannte,  wollte  ich  versuchen  auf  andere  Art  vielleicht 
wieder  glücklich  zu  werden  wie  tausend  Andere.  Mit  gutem  Ge- 
wissen darf  ich  sagen,  ja  ich  habe  es  redlich  versucht  ein  „Anderer" 
zu  werden.  Ich  bin  es  nicht  geworden.  Bin  bis  heute  der  Alte 
geblieben.    Gefängnis,  Flüche,  Tränen,   Gebete,  Schwüre,   Hunger 


—    186    — 

und  Entbehrungen,  ja  selbst  die  letzte,  tiefste  Erniedrigung,  die 
einem  Menschen  widerfahren  kann,  körperliche  Misshandlungen,  die 
mir  auf  jener  schrecklichen  Ozeanfahrt  nicht  erspart  geblieben  sind, 
sie  alle  hatten  nicht  vermocht,  die  liebe  zu  meinem  eigenen  Ge- 
schlecht zu  ertöten.  Und  ob  alle  diese  unsäglichen  Leiden,  Geist 
und  Seele  in  beispiellosem  Maasse  quälten  und  folterten,  der  ge- 
waltsam hin-  und  hergehetzte  Körper,  schier  bis  auf  den  Rest  aus- 
gemergelt wurde,  siegreich  ist  die  Natur  über  dies  alles  hinweg- 
geschritten und  verlangt  nach  wie  vor,  gebieterisch  die  Erfüllung 
ihrer  Rechte. 

Ich  will  den  Leser  nun  nicht  mehr  allzulange  mit  den  Einzel- 
heiten meiner  weiteren  Erlebnisse  ermüden.  Die  körperlichen  und 
seelischen  Qualen,  die  ich  auf  all'  den  Irrfahrten  zu  erdulden  ge- 
habt, alle  ausführlich  zu  schildern,  fühle  ich  mich  ausser  Stande. 
Sie  haben  bei  mir  den  Grundstein  gelegt  für  eine  stete  nervöse 
Empfindlichkeit,  unter  der  Körper  und  Seele  fortgesetzt  zu  leiden 
haben.  Namentlich  war  es  der  fürchterliche,  wenn  auch  nur  kurze 
Aufenthalt  auf  jenem  Schiffe,  auf  welchem  mich  ein  schuftiger 
Heuerbaas  als  Kohlenzieher  verdingt  hatte,  der  nach  meiner  Über- 
zeugung ein  bis  heute  regelmässig  wiederkehrendes  Leiden  (Rheuma- 
tismus) in  meinem  Körper  zurückgelassen  hat.  Mein  Vorhaben,  nach 
Amerika  auf  diesem  Schiffe  zu  kommen,  war  gescheitert.  Ich  war 
zu  dumm  und  unerfahren  für  solche  Finessen  und  musste  die  Reise 
unfreiwillig  als  Kohlenzieher  wieder  zurück  machen.  Kaum  an 
deutschen  Gestaden  angelangt,  entfloh  ich,  halb  wahnsinnig  von 
den  unmenschlichen  Strapazen  und  beispiellos  roher  Behandlung 
bei  Nacht  und  Nebel,  von  dieser  schwimmenden  Hölle.  Von  einer 
zweiten  solchen  Reise  nach  Amerika  war  ich  gründlich  geheilt. 
Ich  hätte  dem  denn  doch  den  Tod  vorgezogen.  Ruhelos  zog  ich 
nun  wieder  durchs  Land,  von  Ort  zu  Ort,  was  nun  mit  mir  ge- 
schehen würde,  war  mir  gleichgültig.  Ich  blieb  jedoch  während 
meiner  ganzen  Wanderzeit  von  der  Polizei  unbehelligt,  ein  Steck- 
brief gegen  mich  existierte  wohl  demnach  nicht.  Nachdem  ich  auf 
meinen  Irrfahrten  in  unzähligen  Städten  und  Ortschaften  mich  durch 
allerlei  Beschäftigungen  redlich  arbeitend  durchgeschlagen  und  meinen 
äusseren  Menschen  wieder  in  Ordnung  hatte,  konnte  ich  endlich 
wieder  in  meinem  jetzigen  Aufenthaltsort  festen  Fuss  fassen.  Jahre 
waren  darüber  hingegangen  und  meine  Familie  hatte  bis  dahin  kein 
Lebenszeichen  von  mir  erhalten.  Wieder  in  meinem  erlernten  Ge- 
schäft tätig,  erlangte  ich  nach  und  nach  eine  gewisse  Sicherheit. 
Ich  lebte  still  und  zurückgezogen  für  mich  hin,  ging  fast  nie  aus 
und  beschäftigte  mich   in  meinen  vielen  einsamen  Stunden    damit, 


^ k 


—    187    — 

alles  zu  lesen,  was  mir  nur  in  die  Hände  fiel.  Ich  führte  i 
meinen  Büchern  im  stillen  Stübchen  ein  beschauliches  Dasein 
Aber  nicht  lange  dauerte  dieser  Zustand.  Wohl  hatte  ici 
vorgenommen,  fürderhin  die  Geseilschaft  der  Menschen  inögl\ 
zu  meiden,  namentlich  war  ich  ängstlich  bemüht,  nicht  mit  jui\ 
Leuten  meines  Geschlechts  zusammen  zu  kommen.  Darin  lag 
nun  freilich  die  einfachste  Bestätigung  meines  noch  völlig  un^ 
änderten  Geschlechtszustandes.  Aber  statt  durch  fleißiges,  rü^ 
sichtsloses  Nachdenken  zur  endlichen  Klarheit  über  meine 
schlechtliche  Verfassung,  zu  kommen  und  in  deren  Konseque^ 
wenigstens  einigermassen  mein  Leben  einzurichten,  vermied  ich 
vielmehr  nun  ängstlich,  an  alle  diese  Dinge  auch  nur  einen  Augen 
blick  zu  denken.  Ich  glaubte  durch  die  eiserne  Standhaftigkeit! 
mit  der  ich  das  Denken  und  die  Gelegenheit  von  mir  fern  hielt,\ 
das  beste  Schutzmittel  gewonnen  zu  haben,  durch  das  ich  von\ 
fernerem  Unglück  bewahrt  blieb.  So  verbiss  ich  mich  in  einem 
fortwährenden  Abwehrkampf  gegen  meine  Leidenschaft.  Ich  hatte 
mich  noch  nicht  soweit  zur  geistigen  Freiheit  durchgerungen,  dass 
ich  mich  hätte  von  der  üblichen  Meinung  der  grossen  Masse 
emanzipieren  können.  Ich  fühlte  mich  abhängig  von  ihr  und  hielt 
in  Wahrheit  meine  Neigung  für  verbrecherisch,  so  dass  ich  glaubte, 
sie  mit  diesen  Mitteln  erfolgreich  bekämpfen  zu  können.  Die 
äusseren  Umstände  schienen  mir  günstig  in  meinem  Vorhaben.  Ich 
kam  durch  einen  Kollegen,  der  mich  einst  zur  Kirmess  in  sein 
Heimatsdorf  lud,  mit  dessen  Familie  in  nähere  Berührung.  Das 
kleine  Dörfchen  lag  in  reizender,  romantischer  Umgebung  an  der 
Weser  hingestreut,  war  von  der  Stadt,  wo  ich  wohnte,  nicht  allzu- 
weit entfernt  und  mit  der  Bahn  allsonntäglich  bequem  zu  erreichen. 
Als  schwärmerischen  Naturfreund  zog  es  mich  mächtig  hin  zu 
diesem  kleinen  idyllischen  Nestchen.  Ich  fing  an,  regelmässig 
dies  Dörfchen  aufzusuchen  und  lernte  nun  hier  in  der  Famüie 
meines  Kollegen,  dessen  Schwester  kennen.  Sie  führte,  da  die 
Mutter  unlängst  gestorben  war,  dem  Vater  den  Haushalt.  Die 
Familie  .  war  gross.  3  erwachsene  Geschwister  arbeiteten  in  der 
Umgegend  und  3  unerwachsene  hatte  sie  im  Hause  zu  überwachen. 
So  lernte  ich  dies  echte  Naturkind  kennen,  wie  es  treu  und  um- 
sichtig waltete  in  dem  kleinen  Anwesen;  es  war  ihrem  Vater  und 
den  zahlreichen  Geschwistern  eine  sorgsame  Hausfrau  und  liebe- 
volle Pflegerin.  Eine  ungemein  frische,  sympathische  Erscheinung, 
gefiel  sie  mir  mit  der  Zeit  immer  mehr.  Ich  genoss  bald  das  Ver- 
trauen der  Familie  und  ging  darin  ein  und  aus.  Es  gefiel  mir  so 
unendlich    wohl   in    diesem    kleinen  Ort,    inmitten   der   herrlichen 


—     188    — 

Natur.  Ich  streifte  in  dem  nahen  Walde  umher,  lag  stundenlang 
an  dem  Ufer  der  Weser,  oder  machte  mir  im  Garten  und  Feld  zu 
schaffen.  Und  wenn  Sonntags  nachmittags  Vater  und  Brüder  das 
Gasthaus  im  Dorfe  aufsuchten,  dann  leistete  ich  der  Schwerter 
meines  Kollegen  Gesellschaft,  wenn  sie  einsam  zu  Haus  die  jüngeren 
Geschwister  hütete.  So  lernte  ich  anch  Wesen  und  Charakter  dieses 
trefflichen  Mädchens  kennen,  an  denen  ich  schliesslich  nur  ange- 
nehmes finden  konnte.  Ich  war  nie  im  Leben  ein  fanatischer 
Weiberfeind  und  wusste  Schönheit,  Tugend  und  natürliche  Anmut 
beim  Weibe  wohl  zu  schätzen.  Hier  aber  fand  ich  alles  in  seltenein 
Masse  vereinigt.  In  der  Person  dieses  Mädchens  schien  mir 
plötzlich  ein  Fingerzeig  gegeben,  meinem  ferneren  Leben  sitt- 
lichen Halt  wiederzugeben.  Ich  hatte  zur  Zeit  keinen  männ- 
lichen Verkehr  und  war,  seit  ich  diesen  Ort  entdeckt,  ganz  stadt- 
fremd  geworden,  arbeitete  nur  noch  in  der  Stadt  und  lebte  auf 
dem  Lande.  Hier  in  der  Stille  der  Natur  unter  den  Kindern  der 
Natur  hatte  ich  den  langersehnten  Frieden  wiedergefunden.  Ich 
wurde  der  Freund  und  Berater  Mathildens,  half  Jihr  getreulieh  bei 
allen  möglichen  häuslichen  Angelegenheiten.  Bald  war  es  im  Dorfe 
ausgemachte  Sache,  dass  ich  Mathildens  Mann  werden  würde,  und 
ich  tat  nichts,  um  diese  Meinung  zu  entkräften,  im  Gegenteil,  nie 
schmeichelte  meiner  Eitelkeit  und  ich  war  fest  überzeugt,  Mathilde 
würde  meine  Hand  nicht  abweisen.  Ich  war  stets  artig  und  takt- 
voll in  meinem  Benehmen  ihr  gegenüber  und  hielt  mich  körperlieh 
in  respektvoller  Entfernung  von  ihr,  was  mir  leider  nicht  schwer 
fiel.  Ich  genoss  deshalb  ihr  unbegrenztes  Vertrauen,  wir  waren 
wie  Geschwister  und  ich  war  in  die  Angelegenheiten  der  Familie 
bald  besser  eingeweiht,  als  selbst  ihre  Geschwister.  Ach,  hätte  sie 
mir  nie  dieses  Vertrauen  geschenkt,  hätte  sie  mich  abgewiesen,  ihr  und 
mir  wäre  wohler  gewesen.  Ich  aber  bildete  mir  ein,  dieses  Mäd- 
chen zu  lieben,  redete  mir  selbst  beständig  zu  mit  allen  möglichen 
Phrasen  vom  häuslichen  Herd  und  Geldeswert  —  belog  mich  selbst, 
indem  ich  vor  meinen  eigenen  schüchternen  Bedenken  behauptete, 
dass  diese  Heirat  der  einzige  Weg  sei,  um  im  Leben  noch  einmal 
glücklich  zu  werden.  Was  habe  ich  mir  nicht  alles  vorgelogen, 
um  endlich  den  vermeintlichen  Frieden  zu  finden,  nach  dem  ich 
mich  so  sehr  sehnte.  Ich  Hess  nun  ein  erstes  Lebenszeichen  an 
meine  Familie  daheim  gelangen,  indem  ich  einen  langen  de-  und 
wehmütigen  Brief  an  mein  Mütterchen  richtete.  Sie  war  nur  meine 
Stiefmutter,  aber  ich  hatte  ihr  stets  eine  innige  Liebe  und  Anhäng- 
lichkeit bewahrt.  Ich  gab  in  dem  Brief  einen  ungefähren  Überblick 
meiner  Schicksale  von  jenem  Tage  an,  da  ich  sie  verlassen  musste,  bat 


—    189 


alle  um  Verzeihung,  und  wenn  es  ihnen  möglich  sei,  mich 
als  Mitglied  der  Familie  anerkennen  zu  wollen;  teilte 
nicht  ohne  einiges  Selbstbewusstsein  mit,  dass  ich  mir  jetzt\ 
achtbare  Existenz  begründet,  und  im  Begriff  stände,  —  mich 
verloben,  und  bat  schliesslich  um  ihren  Rat  und  um  ihren  müi 
liehen  Segen.  Nach  kurzer  Zeit  erhielt  ich  Antwort  von  mein 
Bruder.  Alles  war  hocherfreut  von  meinem  Lebenszeichen 
namentlich  von  meinem  Entschluss.  Man  gratulierte  mir,  wünscü 
mir  Glück,  alles  sollte  vergessen  und  vergeben  sein,  denn  ich  hät\ 
ja  nun  bewiesen,  dass  ich  ein  andrer  geworden.  Mein  Bruder  ga\ 
mir  den  Rat,  ja  nicht  mehr  länger  mit  der  Heirat  zu  warten 
kündigte  mir  an,  mich  baldmöglichst  aufzusuchen,  um  sich  von 
meinem  Glück  zu  überzeugen.  „Du  glaubst  nicht,  wie  ich  mich^ 
freue,"  so  hiess  es  am  Schluss  seines  Briefes,  „dass  wir  Dich  als  \ 
einen  Menschen  wiedergefunden,  der  nun  wieder  als  vollberechtigtes  \ 
und  nützliches  Glied  in  die  Gesellschaft  aufgenommen  werden  \ 
kann.  Dadurch,  dass  du  dich  der  Liebe  zu  einem  Weibe  hin- 
gegeben, hast  du  deinen  Beruf  als  Mann  und  Geschlechtswesen 
der  Gesellschaft  gegenüber  erfüllt,  und  hast  ein  Recht,  wieder 
unter  Menschen  zu  erscheinen."  (!!!)  Wenn  ich  ehrüch  sein  will, 
so  kann  ich  nicht  sagen,  dass  dieser  Brief  meines  Bruders  in 
meinem  Herzen  einen  völlig  harmonischen  Wiederhall  gefunden 
hätte.  Es  lag  in  ihm  etwas,  was  ich  nicht  recht  definieren  konnte. 
Nur  soviel  wusste  ich,  damals,  als  ich  Willy  und  nachher  Adolf 
liebte,  war  ich  doch  auch  gewissermassen  ein  Mensch  gewesen.  Aber 
immerhin,  der  Brief  freute  mich  sehr  und  beseitigte  meine  letzten 
Bedenken.  Ich  verlobte  mich.  Und  als  ich  bald  darauf  im  näheren 
Umgang  mit  meiner  Braut  ein  leidenschaftüches,  heissbegehrendes 
Weib  vorfand,  dessen  jungfräuüche  Liebesglut  mir  den  normalen 
Koitus  leicht  machte,  da  freute  ich  mich  ganz  unbändig  und  war 
nicht  wenig  stolz  auf  meine  Manneskraft.  Um  endlich  zum  Schluss 
dieser  Bekenntnisse  zu  gelangen:  Mathilde  ist  mein  Weib  ge- 
worden, und  so  lange  wir  nun  nebeneinander  durchs  Leben 
wandeln,  bin  ich  ihr  nicht  einen  Augenblick  treu  geblieben.  Das 
bischen  Reiz  war  bald  entschwunden.  Er  war  bewusst  und  plan- 
mässig  herbeigezogen  und  künstlich  genährt,  war  eine  Art  Onanie, 
war  nicht  die  Liebe,  das  grosse,  heilige  Feuer,  das  aus  den  dunklen 
Tiefen  der  Menschenseele  emporlodert,  mächtig  und  unmittelbar, 
mit  leuchtenden  Flammen  das  geliebte  Wesen  gleichsam  verklärt 
und  mit  heissem  Odem  erwärmt.  Ein  elender  Abklatsch,  ein 
Popanz  war  es,  der  sich  heuchlerisch  Liebe  nennt  und  im  Grund 
nur  Eigenliebe    ist,  die  für   ihren    feigen   Schwindel   eine  legitime 


—     190    — 

Unterlage  benötigt.  0  ja,  ich  leugne  es  nicht,  ich  war  feige,  un- 
endlich feige,  dass  ich  der  lügnerischen  Ehrenretterei  das  Glück 
meines  Lebens  zum  Opfer  brachte  und  sohlecht  dazu,  dass  ich  ein 
rechtschaffenes,  braves  Menschenkind  damit  an  mein  Dasein  kettete 
und  auch  ihm  die  Blüten  seines  Lebenslenzes  stahl. 

Allzu  langsam  ist  mir  der  Schleier  von  den  Augen  getrunken 
und  als  ich  endlich  nun  mein  eigenes  Selbst  im  Lichte  der  Er- 
kenntnis sah,  da  war  es  leider  zu  spät  Neue  Fesseln  habe  ich  mir 
durch  diesen  unseligen  Schritt  auferlegt,  ein  Zurück  gibt  es 
nun  nicht  mehr  und  vorwärts?  —  wo  wollt  ich  denn  da  hin?  Da 
müsste  ich  ja  erst  ein  „Anderer"  werden.  Wer  ratet  mir?  Soll  ich 
meinem  armen  Weibe,  das  mir  rechtschaffen  und  treu  bis  jetzt  ge- 
dient, „reinen"  Wein  einschenken?  Die  sorgsame  Hausfrau  und 
die  zärtliche  Mutter  meiner  Kinder  hinaus  stossen  in  die  Welt,  in- 
dem ich  das  Band  gewaltsam  durchschneide,  das  uns  vor  den 
Augen  der  Welt  bindet.  Solche  gigantische  Kraftleistung  mag  man 
von  mir  nicht  eher  verlangen  bis  man  mir  sagen  kann,  was  damit 
für  uns  Beide,  für  unsere  Kinder  gewonnen.  Unsere  Kinder,  jawohl, 
zwei  herzige  kleine  Wesen  sind  diesem  Scheinbunde  entprossen. 
Jeder  Homosexuelle,  der  los  und  ledig  ist,  mag  sich  wundern,  wie 
ein  Homosexueller  dazu  kommen  kann.  Aber  Jeder,  der  in  ähnlicher 
Lage  sich  befunden,  wird  nichts  Verwunderliches  darin  finden.  Ich 
liebe  meine  Kinder,  die  beide  aus  den  ersten  2  Jahren  meiner  Ehe 
stammen  und  umgebe  sie  mit  aller  Sorgfalt,  die  in  meinen  Kräften 
steht;  sorge  für  mein  Weib  nach  bestem  Können.  Und  doch  muss 
ich  sie  ständig  betrügen.  Überall  gelte  ich  als  der  beste  Gatte  und 
Vater  meiner  Familie.  Und  beständig  breche  ich  die  Ehe.  Habe 
ich  das  Glück,  einen  jungen,  starken,  edlen  Freund  zu  treffen,  dann 
kennt  meine  Freude  keine  Grenzen.  All'  mein  Leid, 'all'  die  düstren 
Tage,  die  ich  auf  dem  qualvollen  Weg  meines  Lebens,  an  der  Seite 
eines  hochgeachteten,  aber  ungeliebten  Weibes  durchwandern  muss, 
sie  sind  vergessen.  Vergessen  ist  meine  Gefangenschaft,  in  der  ich 
mein  Dasein  vertrauern  muss  im  Kreise  meiner  „Familie",  vergessen 
alle  Gesetze  der  moralischen  Gesellschaft.  Ich  schreite  unaufhaltsam 
weiter  auf  der  Bahn  des  —  „Verbrechens".  Denn  ich  kann  ja  nicht 
anders  das  Glück  wirklicher  Liebe  finden  als  im  „Verbrechen".  Wo 
ich  hinblicke  nichts  als  Sünde,  und  wollte  ich  diesem  unsäglichen 
Zustand  ein  ewiges  Ziel  setzen,  dann  erst  wird  mir  der  Fluch,  Ver- 
brecher, noch  übers  Grab  geschleudert  werden.  Was  also  kann 
ich  tun?  Ich  werde  weiter  zu  leben  versuchen,  um  weiter  zu  sündigen. 

Die  Liebe  ist  so  gross,  so  erhaben,  so  edel,  sie  vermag  alles 
und  sie   gibt    auch   mir  immer   wieder  von  neuem   die  Kraft  des 


Lebens  wieder.  Ja  der  Eindruck,  den  die  licht-  und  kraft\ 
Gestalt  eines  edlen  Jüngling  auf  mich  hervorzubringen  verj 
lockt  sogar  noch  hier  und  da  ein  paar  einfache  und  schlichte  1 
von  meiner  längst  verrosteten  Leier.  \ 

So  erst  vor  Kurzem  als  ich  auf  einem  Abendessen  einen  junj 
Handwerker   kennen  lernte:    Ein    schöner  Jüngling    mit   seltei 
Geistesgaben,   wie   er  mir   ähnlich  immer  im   Geiste   vorschweb 
Er  zeigte   sogleich  am  Abend  unserer  Bekanntschaft  tieferes  V^ 
ständnis   als   alle  Anderen  für  meine  bescheidenen  Darbietunge 
durch  die  ich  zur  Unterhaltung  der  Gesellschaft  beizutragen  sucht, 
Wir  kamen  in  ein  kleines  Gespräch  und  ich  war  überrascht  unl 
erstaunt  über   die  Tiefe  seiner  Begriffe   über  Ästhetik   und  Kuns 
sowie  über  die  Kraft  seiner  Lebensanschauung.    Ich  war  sofort  voi 
diesem  starken  Charakter  gefangen.    Selbst  Arbeiter,  war  ich  freudig 
bewegt,    auch  unter  meines  Gleichen,   einen   so  fein  empfindenden 
und  edel  denkenden  jungen  Mann  entdeckt  zu  haben.    Ich  suchte1 
näheren  Verkehr,  besuchte  ihn  in  seiner  Wohnung,  wo  ich  ihn  stets 
lesend  oder  malend,  auch  musizierend  —  er  spielte  gut  die  Klari- 
nette —  antraf.    Ich  war  entzückt  und  verliebte  mich  unsterblich 
in   dieses   herrliche  Wesen.    Eine   neue  Sonne   schien   über  mein 
düsteres  Dasein  aufgegangen.    Ich  hatte  nur  noch  Gedanken,  Sinne, 
Interesse,  Zeit,   für  ihn.    Mein  armes  Weib,    die  von  dieser  neuen 
Liebe,  mit  der  ich  sie  betrog,  natürlich  keine  Ahnung  hatte,  konnte 
garnicht  begreifen,  was  in  mich  gefahren  war.    Ich  vernachlässigte 
alle  meine   sonstigen  Obliegenheiten.    Ich  suchte  ihm  erst  zu  ver- 
heimlichen, dass  ich  verheiratet  sei,  bald  jedoch  fügten  es  die  Um- 
stände, dass  ich  ihm  die  Wahrheit  sagen  musste.    Lächelnd  meinte 
er,  es  täte  ihm  leid,  dass  er  das  nun  wüsste.    Denn  nun  könne  er 
doch  meine  Zeit,  mein  Interesse  für  ihn  nur  in  halben  Portionen  in 
Anspruch  nehmen,  die  grössere  Hälfte  gehöre  meiner  Familie.    Und 
als  ich  ihm   eifrig  erwiderte,   das  käme   garnicht  in  Betracht,   da 
schaute  er  mich  lange  an  und  warf  die  Worte  still  und  leicht  hin 
„Hättest    dich    nicht  verheiraten   sollen"  —  ich   war   fassungslos, 
durchschaute  er  mich,  hatte  er  in  meiner  Seele  zu  lesen  verstanden? 
Hier,   fühlte  ich,   war  ich  der  Schwächere,    aber  gerade   deswegen 
liebte  ich  ihn  umsomehr.    Lange  haben  wir  an  jenem  Abend  noch 
zusammen  gesessen  und  langsam  aber  sicher  bin  ich  in  seine  Seele 
eingedrungen.    Und  als  ich  bald  darauf  das  erste  Zeichen  der  Liebe, 
den  Kuss  von  ihm  begehrte,  lehnte  er  zuerst   ruhig  und  bestimmt 
ab,  und  ich  hatte  zu  viel  Achtung  und  Respedkt  vor  seiner  Person, 
als  dass  ich  hätte  weiter  in  ihn  dringen  wollen.    Später  hat  er  mir 
dies  Zeichen   gern  und  freudig  gewährt.    Fester  und  immer  fester 


—    192    — 

schlössen  wir  uns  dann  zusammen.  In  ungetrübter  Harmonie  gingen 
unsre  Seelen  in  einander  auf.  Als  Geschleehtswesen  normal,  hat 
er  mir  doch  in  hingebender  Freundschaft  das  höchste  Glück  der 
Liebe  gewährt.  Er  fühlte  sich  nicht  dadurch  mit  Schmach  und 
Schande  bedeckt.  Er  war  frei  und  unabhängig  genug  im  Geiste, 
meine  Empfindungen,  meinen  Zustand  zu  begreifen.  Und  konnte 
er  auch  meine  leidenschaftliche  Liebe  nicht  mit  derselben  Glut  er- 
widern, so  war  er  doch  sichtlich  bemüht,  durch  verdoppelte  treue 
Anhänglichkeit,  durch  wahrhaft  hochherzige  Freundschaft  und  Teil- 
nahme für  meine  traurige  Lage,  diesen  Mangel  wett  zu  machen. 
Leider  währte  mein  Glück  nicht  lange.  Durch  mein  Verhältnis  mit 
ihm  drohte  mir  ein  ernster  Konflikt  mit  meiner  Familie.  Ich  ver- 
wendete natürlich  meine  freie  Zeit  nur  für  ihn.  Seine  Person  be- 
herrschte nur  noch  allein  meinen  Ideenkreis.  Ich  überliess  Frau  und 
Kinder  sich  selbst,  sorgte  nur  materiell  für  sie,  und  war  im  übrigen 
stets  bei  meinem  Ludwig  anzutreffen.  Er  selbst  hat  mich  im  Kreise 
meiner  Familie  nur  ein  einziges  Mal  besucht.  Er  hatte,  feinfühlend 
wie  er  war,  die  Situation  bald  begriffen  und  achtete  darin  gewiss 
nur  die  Meinen.  So  war  ich  denn  stets  bei  ihm.  Wir  musizierten, 
lasen,  studierten  und  philosophierten  miteinander.  Die  Sache 
wurde  zu  auffällig  und  Ludwig  bat  mich,  meine  Besuche  einzu- 
schränken. Dazu  war  ich  natürlich  nur  in  ganz  geringem  Masse 
im  Stande.  Meine  Frau  musste  mich  öfter  aus  seiner  Wohnung 
abholen  lassen.  Kurzum,  es  gab  ernsthafte  Auseinandersetzungen 
zwischen  mir  und  meiner  Frau.  Dies  alles  merkte  Ludwig,  und 
eines  Tages  überraschte  er  mich  mit  der  Mitteilung,  dass  er  die 
Stadt  verlassen  wolle.  Seine  Eltern  hatten  geschrieben,  er  solle 
in  die  Heimat  zurückkehren.  Ich  war  wie  vom  Schlage  gerührt, 
mich  von  diesem  Menschen  trennen,  das  war  ja  rein  unmöglich. 
Mein  erster  Gedanke  war  —  ich  scheue  mich  nicht,  ihn  hier  nieder- 
zuschreiben —  ich  wollte  ihn  begleiten  und  sprach  diese  Absicht 
sofort  aus.  Kuhig  und  bestimmt  verbot  er  mirs  und  brachte  mich 
durch  sein  liebevolles  Zureden  wieder  zur  Vernunft  zurück.  Nur 
seiner  ruhigen,  festen  Besonnenheit  habe  ich  es  zu  danken,  dass 
es  keine  Katastrophe  gab.  Er  versicherte  mir  zuletzt,  dass  er  mir 
dann  seine  Freundschaft  und  Achtung  versagen  müsse,  wenn  ich 
ihm  folgen  wollte.  Das  half,  und  still  ergab  ich  mich  in  diese 
Trennung.  14  Tage  noch  war  es  mir  vergönnt,  ihn  zu  sehen.  Ich 
half  ihm  bei  seinen  Vorbereitungen  zu  der  weiten  Reise.  Ludwig 
hatte  m  Jütland  seine  Heimat.  Er  war  mit  17  Jahren  in  die  Fremde 
gegangen,  hatte  Dänemark,  Deutschland  und  die  Schweiz  schon  be- 
reist und  hatte  sich  auf  seinen  Reisen,  die  er  meistens  zu  Fuß  ge- 


—    193    — 

macht,    2  fremde  Sprachen  angeeignet  (Deutsch  und  Französin 
die  er  beide  geläufig   sprach;   für   einen  mittellosen    Handwer, 
gesellen    eine    zweifellos  ausserordentliche  Leistung.    Dabei   sta 
er  erst  im  22.  Lebensjahre.  Und  von  diesem  herrlichen  Jüngling  sol\ 
ich  mich  trennen.    Ich   konnte  mich  mit  dem  Gedanken  garnio 
vertraut  machen.    Aber  was  half  es.    Nach  5  monatlichem   sonnel 
vollen    Glücke   ist   nun   wieder  die    düstere   Öde    meines   Dasein 
über  mich    zusammengebrochen.    Niemals  im  Leben  ist  es  mir  i 
vergönnt  gewesen,  einen  edleren  Menschen  an  mein  Herz  drtickel 
zu  dürfen,  als  diesen  dänischen  Jüngling.    Nie  ist  mir  eine  Scheide! 
stunde  qualvoller   erschienen,    als   die   des   Abschiedes  von  ihm] 
Immer  und  immer  wieder  musste  ich  diesen  Kopf  an  mich  pressen,! 
immer  wieder  in  diese  dunklen,  tiefen  Augen  blicken.  \ 

Wenn  je  einem  Homosexuellen  seine  Gefühle  zum  Fluch  \ 
seines  ganzen  Lebens  geworden  sind,  so  bin  ich  es.  Und 
wenn  je  Anstrengungen  gemacht  wurden,  um  diese  Empfindungen 
loszuwerden,  ihnen  eine  andere  „normale"  Richtung  zu  geben,  so 
habe  ich  es  getan.  Und  doch  musste  ich  bei  meinem  Ver- 
hältnis zu  Ludwig  erkennen,  dass  mein  Geschlechtszustand  heute 
homosexueller  denn  je  ist.  Der  Zustand,  in  dem  ich  mich  ge- 
rade ihm  gegenüber  befand,  mag  die  Art  und  Weise  dartun, 
mit  der  ich  von  ihm  Abschied  nahm.  Wir  hatten  den  ganzen 
Abend  vor  seiner  Abreise  auf  seiner  Stube  zusammen  verbracht, 
und  ich  hatte  schliesslich  weinend  unter  unzähligen  Umarmungen 
mich  von  ihm  losgerissen.  Ruhelos  lief  ich  durch  die  Strassen  und 
konnte  es  nicht  fertig  bringen,  nach  Hause  zu  gehen.  Ich  kehrte 
schliesslich  zurück,  um  meinen  Freund  noch  einmal  zu  sehen.  Er 
war  bereits  zur  Ruhe  gegangen.  Dumpf  vor  mich  hinbrütend, 
setzte  ich  mich  auf  den  Flur  vor  seiner  Tür  hin  und  schlief,  den 
Kopf  an  die  Tür  gelehnt,  schliesslich  ein.  So  wurde  ich  mitten  in 
der  Nacht  von  ihm  aufgefunden.  Liebevoll  bereitete  er  mir  eine 
Stätte  neben  sich.  So  habo  ich  dann  die  letzten  Stunden  dieser 
letzten  Nacht  an  seiner  Brust  zugebracht.  Noch  in  der  letzten 
Minute  unseres  Beisammenseins  klagte  ich  mich  an  über  mein  un- 
vernünftiges Verhalten.  Er  tröstete  mich  und  versicherte  mich  seiner 
treuen  Freundschaft,  auch  in  der  Ferne.  So  ward  auch  dieser  mir 
entrissen.  Einsam  und  trauernd  lebe  ich  nun  wieder  ftir  mich  hin 
und  denke  daran,  welche  Leiden  mir  wohl  noch  im  Schoosse  der 
Zukunft  zugedacht  sind. 

Erlöst  uns,  nehmt  uns  die  Fesseln  ab:  der  Kultur  wird  es  nicht 
zum  Schaden,  der  Menschheit  aber  wird  es  zur  Ehre  gereichen. 


Jahrbuch  V. 


13 


Einige  psychologisch  dunkle  Fälle 

von  geschlechtlichen  Verirrungen  in  der  Irrenanstalt 

von 
Medizinalrat  Dr.  P.  Nicke 

in  Hubertusburg. 


Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  dass  sexuelle  Perversi- 
täten aller  Art  im  Irrenhause  häufiger  als  sonst  sich 
finden.  Statistische  Untersuchungen  hierüber  in  streng 
wissenschaftlicher  Weise  giebt  es  aber  leider  nur  ganz 
wenige.  Ausser  meiner  hieher  gehörigen  grossen  Arbeit1) 
kenne  ich  nur  eine  solche  von  Meilhon2)  aus  der  Irren- 
anstalt zu  Aix  und  eine  Notiz  von  Pelanda3),  die  zu 
Verona  betreffend.  Während  Meilhon  unter  83  Geistes- 
kranken 18  Sodomiter,  16  Onanisten  und  8  Exhibitio- 
nisten fand,  notierte  Pelanda  unter  240  Männern  12  mit 
„veränderter"  Sexualität  (ohne  nähere  Angabe).  Ich 
habe  dagegen  das  bisher  grösste  Material  verarbeitet, 
nämlich  1481  Geisteskranke  (darunter  509  M.)  der  Irren- 
anstalt zu  Hubertusbiirg.  Berücksichtigt  habe  ich  hierbei 
die  isolierte  und   mutuelle    Onanie,  den  Exhibitionismus, 


*)  Näcke:  Die  sexuellen  Perversitäten  ,in  der  Irrenanstalt. 
Psychiatrische  en  Neurologische  Bladen  1899,  Nr.  2,  und  in  „Wiener 
klinische  Rundschau"  1899,  No.  27—30. 

2)  Meilhon:  Nach  Referat  in:  Archives  d'anthropol.  crim,  etc. 
1898,  p.  360. 

3)  Pelanda:  Ernie  ed  anomalte  sessuali.  Archivio  delle 
psicopatie  sessuali,  1896. 


—    195    — 

die  aktive  Päderastie  und  endlich  die  Fellatores  und 
Schmierer.     Tabellarisch    wurden    die  einzelnen  Prozeß 
sätze  für  die   Gesamtheit    und  für  die  einzelnen  Kran 
heitsformen  berechnet.     Speciell  betone  ich  hierbei,    da 
je  nach  den  einzelnen  Anstalten  diese    Prozentsätze  vel 
schieden     ausfallen    werden,     da    ausser    vielen    ander 
Momenten    insbesondere   die  Anzahl  der  aufgenommene! 
Krankheitskategorien  eben  überall  sehr  schwankt  und  ei 
ferner  hierbei  sehr  wesentlich  erscheint,  ob  die  Kranker 
mehr  vom    Lande,    oder   aus    der   Stadt,    oder    gar  der\ 
Grossstadt  sich  rekrutieren.  Unsere  Ermittelungen  können  \ 
daher  nur    einige    allgemeine    Züge  .  mehr   oder    minder 
wahrscheinlich  machen. 

An  unserem  Material  stellte  ich  fest,  dass  alle 
Perversitäten  bei  Männern  häufiger  waren,  als  bei  den 
Frauen.  Leider  musste  aber  sogleich  hinzugesetzt  werden, 
dass  es  bei  Weibern  viel  schwieriger  ist  Näheres  zu 
erfahren,  als  bei  Männern,  so  dass  sämtliche  Prozentsätze 
bei  ihnen  noch  viel  mehr  Minima  darstellen,  als  bei 
Jenen.  Onanie  fand  sich  am  häufigsten  vor  —  wiederum 
scheinbar  mehr  bei  Männern  — ,  Exhibitionismus  dagegen 
nur  selten  (blos  bei  3  Männern!),  bei  den  Frauen  doppelt 
so  häufig,  während  öfter  homosexuelle  Handlungen  statt 
fanden,  die  bei  den  Paralytikern  ganz  fehlten.  Unter 
den  gleichgeschlechtlichen  Handlungen  war  die  gegen- 
seitige Onanie  am  häufigsten  (sicher  oder  sehr  wahr- 
scheinlich bei  ca.  3%  der  M.  und  bei  ca.  0,5%  der  W.) 
Fellatores  gab  es  nur  2  (M).  Wirkliche  Päderastie 
endlich  fand  sich  bei  l°/0  der  M.  vor,  viel  häufiger  als 
bei  Frauen  und  bei  beiden  Geschlechtern  wieder  in  erster 
Linie  bei  den  Imbezillen.  Letztere  und  die  Idioten 
weisen  überhaupt  die  Höchstziffer  aller  Perversitäten  auf. 
Daher  kommt  es  hauptsächlich,  dass  je  mehr  diese  Art 
von  Kranken  und  auch  Epileptiker  in  einer  Anstalt  sich 
ansammeln,    um    so    mehr   die  Zahl  aller  sexuellen  Ver- 

13* 


—   196   — 

irrungen  zunimmt.  Leider  waren  unter  niciuen  Kranken 
nur  sehr  wenige  Epileptiker  vorhanden  und  gerade  hier 
wäre  eine  diesbezügliche  Untersuchung  an  grossem 
Materiale  deshalb  sehr  erwünscht. 

Unter  unseren  509  Männern  wurden  5  Personen  bei 
eigentlicher  Pädicatio  betroffen  (==  1°0)  und  zwar  4 
Idioten  und  1  Paranoiker.  Rein  passiv  verhielten  sich 
hierbei  2  Idioten,  aktiv  und  passiv  zugleich  die  2audern.  Alle 
vier  onanierten  zugleich,  zum  Teil  auch  mutuell.  Der  Eine 
(ein  älterer  Mann)  ist  auch  Fellator.  Die  Passiven  sind  mehr 
apathische  Naturen.  Der  Päderastie  sehr  verdächtig  war 
ein  Verrückter,  —  daher  oben  mitgezählt — ,  der,  wenn  er 
erregt  war,  in  das  Bett  Anderer  kroch.  Unter  den  972 
Frauen  exhibitionierten  16  (der  einfachen  Seelenstörung 
angehörig);  der  gegenseitigen  Onanie  sehr  verdächtig  waren 
4  andere,  2  weitere  endlich  der  aktiven  Päderastie.  Cunni- 
lingae  fehlten  ganz.  Erwähnen  will  ich  schließlisch,  daß  fast 
stets  bei  allen  unsern  männlichen  und  weiblichen  Kranken 
Onanie  die  Vorstufe  zu  deu  übrigen  sexuellen  Abweich- 
ungen bildete,  ohne  daß  damit  aber  irgend  ein  Zusammen- 
hang zwischen  Beiden   statuiert  sein   soll   (siehe  später!). 

Diese  obigen  Zahlen  habe  ich  nur  mitgeteilt,  um 
zu  zeigen,  daß  alle  sexuellen  abnormen  Praktiken 
im  Irrenhause  doch  meist  viel  seltener  sind? 
als  der  Laie,  ja  sogar  viele  Aerzte  sich  dies 
vorstellen.  Wegen  aller  weiteren  Details  muß  ich  schon 
auf  meine  angeführte  Arbeit  verweisen,  die  außerdem 
auch  versucht  gewisse  Aktedem  Verständnisse  psychologisch 
näher  zu  bringen. 

Jedenfalls  ersieht  man  aus  Vorstehendem,  daß  homo- 
sexuelle Akte  nicht  häufig  waren,  am  seltensten 
die  eigentlichen  Päderasten  und  Fellatores,  dass  weiter 
die  Schwach-  und  Blödsinnigen  auch  hier  den 
höchsten  Prozentsatz  zeigten.  Es  erhebt  sich  nun 
hier  vorab  die    Frage,    ob    wir    in    diesen    Fällen   echte 


—     197    — 

Inversion  vor  uns  haben  oder  nicht.  In  allen  Fällen,  gla^ 
ich,  müssen    wir  eine  wirkliche  Homosexualität  ablehn; 
trotzdem   nähere  anamnestische  Daten  vollständig  fehl! 
Es  handelt  sich  hier  nur  um  homosexuelle  Handlungen,  faij 
de  mieux,  um  Surrogatshandlungen,  wie  ich  dies  nannte! 
Die  Verführung  meist    durch  Schwachsinnige,   spielt  dl 
Hauptrolle    dabei.     Das    Gros    der  Irren  allerdings  hl 
friedigt  den  Geschlechtstrieb  nur  durch  Onanie,  die  hie\ 
gleichfalls,    besonders   bei  Verheirateten,    meist    nur    al^ 
Surrogat  auftritt.     Immerhin  mag  sie  öfter  auch  central 
bedingt    sein,    durch    stärkeren    centralen    Reiz    auf  diej 
Genitalsphäre,  wofür  namentlich  die  bisweilen  frenetisch! 
ausgeübte  Masturbation   bei  tief  Verblödeten   oder  ganz! 
Benommenen  spricht,  was  in  anderen  Fällen  viel  weniger  i 
wahrscheinlich  ist.     Schon  daß  unsere  Päderasten   neben  \ 
der     paedicatio     noch     alle    isolierte     und    gegenseitige   \ 
Onanie  betreiben,  z.  T.  auch  gleichzeitig  Fellatores  sind,    | 
spricht  einigermassen  gegen  echte  Inversion.     Das  Haupt-    \ 
argument  liegt  aber  in  der  Tatsache,  daß  die  Betreffenden 
in  der  Zwischenzeit  den  Partnern   gegenüber  sich  völlig 
kühl   verhielten,    sie    nie   umschmeichelten    etc.,    bis  auf 
Aborten,    in    dunkeln  Ecken,    in   Gegenwart  apathischer 
Schwachsinniger     oder     sekundär    Dementer     etc.     der 
raptus  sie   überkam    und  sie    die  Andern    mißbrauchten. 
Wären    ihnen    Frauen    zur    Wahl    belassen    worden,    so 
hätten  sie  sich  wohl  sicher  auf  sie  gestürzt.     Auch  sonst 
sprach  bei  ihnen  alles    gegen    echte  Homosexualität  und 
nie  zeigte  sich  effeminierter  Typus.     Eher  könnte  schon 
bei  den  Frauen  von  Inversion  die  Rede  sein. 

Mag  dem  nun  aber  sein,  wie  ihm  wolle,  so  glaube  ich 
aus  meinen  Erfahrungen  schließen  zu  dürfen,  daß  in  den 
unteren  Volkschichten  —  aus  solchen  rekrutiert  sich 


')  Näcke:  Einige  Probleme  auf  dem  Gebiete  der  Homo- 
sexualität. Lähr's  Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie  u.  s.  s. 
1902.  59.  Bd. 


—    198    — 

vorwiegend  unser  Material  —  wahre  Homosexualität 
ganz  abnorm  selten  ist.  Aehnliches  wird  sich  im 
ganzen  wohl  auch  bei  anderen  Irrenanstalten  herausstellen. 
Sehr  beachtlich  ist  aber  weiter  die  Tatsache,  daß  unter 
einer  so  grossen  Masse  von  Entarteten  —  wenn 
man  nicht  gar,  wie  manche  wollen,  alle  Geisteskranken 
überhaupt  dazu  rechnen  will  —  wahrscheinlich  kein 
einziger  echter  Invertierter  sich  befand,  trotzdem 
die  Inversion  gerade  bei  Entarteten  so  häufig  sein  soll. 
Jedenfalls  ist  sie  bei  den  schwer  Entarteten, 
wie  man  die  meisten  unserer  Kranken  wohl  bezeichnen 
kann,  sehr  selten.  Somit  bleibt  nur  die  andere  Mög- 
lichkeit übrig,  daß  sie  nämlich  bei  leichter  Entarteten 
aller  Art  auftritt,  oder  gar  vielleicht  bei  völlig  Normalen 
(in  der  gewöhnlichen  Gesundheitsbreite  sich  bewegenden). 
Letzteres  halte  ich  sehr  wohl  für  möglich,  ja  sogar  für 
gar  nicht  so  selten,  wie  ich  dies  in  meiner  2.  zitierten 
Arbeit  des  näheren  auseinander  setzte.  Endlich  möchte 
ich  noch  hervorheben,  daß  trotz  der  häufigen  und  jahre- 
lang geübten  Onanie,  welche  besonders  bei  Imbezillen, 
Jugendlichen  oder  sekundär  Verblödeten  nicht  selten 
beobachtet  wird,  diese  doch  nicht  in  einem  einzigen  Falle 
zu  Inversion  oder  nur  zu  homosexuellen  Handlungen 
geführt  hatte,  die  sich  vielmehr  meist  als  Produkt  der 
Verführung  darstellten,  und  als  Surrogathandlungen  auf- 
traten. Schon  daraus  ersieht  man,  daß  Onanie  an  sich 
kaum  je  Homosexualität  erzeugt. 

Hier  will  ich  nun  einige  psychologisch  dunkle  und 
interessante  Fälle  sexueller  Abnormitäten  besprechen, 
die  ich  in  der  letzten  Zeit  in  hiesiger  Anstalt  zu  beob- 
achten Gelegenheit  hatte.  Es  handelt  sich  um  3  Fälle 
von  homosexuellen  Handlungen  und  5  Fällen  von  Exhi- 
bitionismus. 

1)  E.,  67  Jahre,  Händler,  ledig.  Seit  3—4  Jahren 
erkrankt,  halberregt,  verschwenderisch,  Spieler.    Senile  De- 


—    199    — 

\ 

menz  mit  Erregtheit.  Kam  hier  noch  hypomanisch  an,  \ 
ruhigte  sich  aber  relativ  bald  und  ist  jetzt  ruhig,  fleißig  al 
schwatzhaft.     In  seinem  hypomanischen  Zustande  stecl 
er  viel   mit  Idioten   und  Jugendlichen   zusammen,   w^ 
wiederholt  bei  gegenseitiger  Onanie  betroffen  und  auci 
wie  er  am  Penis  eines  jungen  Katatonikers'  saugte,  wj 
er  aber,  sogar  in  flagranti  ertappt,  leugnete.     Durch  d^ 
Pfleger  auseinander  gebracht,  ging  er  immer  wieder  wi 
besessen  auf   seinen  Kumpanen  los.     Nie   aber  ward   e 
bei  der  Päderastie  betroffen.    Seit  seiner  Beruhigung  ha^ 
er  sich  nichts  mehr  zu  schulden  kommen  lassen.  \ 

Da  in  der  Anamnese  nichts  auf  Inversion  bezügliches! 
sich  vorfindet,  Pät.  auch  jede  homosexuelle  Neigung  stricte! 
leugnet,  so  ist  er  wohl  sicher  kaum  eigentlicher  Homo-  \ 
sexueller.  Es  ist  anzunehmen,  daß  er  in  seiner  hypo-  \ 
manischen  Unruhe  von  Anderen  zu  homosexuellen  Hand- 
lungen verleitet  ward  und  Geschmack  daran  fand.  Er 
gab  der  Versuchung  um  so  eher  nach,  als  einerseits  durch 
sein  Senium  gewisse  Hemmungen  gelockert  waren,  anderer- 
seits durch  die  Erregtheit  vielleicht  die  libido  sexualis  ge- 
steigert wurde,  und  endlich  günstige  Gelegenheit  sich 
anbot.  Nach  Abklingen  der  Hypomanie  hat  er  alles  bei- 
seite gesetzt  und  damit  eben  gezeigt,  daß  er  kein  Homo- 
sexueller ist. 

2)  S.,  ca.  27 — 28  Jahre  alt,  Musiker.  Dementia 
präcox;  total  verwirrt  und  scheinbar  verblödet,  zeitweis 
gewalttätig  unter  dem  Ansturm  von  Sinnestäuschungen 
und  Wahnideen.  Im  Mai  und  Juni  dieses  Jahres  ward 
wiederholt  gesehen,  wie  er  sich  auf  den  Bauch  eines 
sekundär  verblödeten  jungen  Mannes,  der  sich  in  einer 
dunklen  Ecke  auf  die  Diele  ausgestreckt  hatte,  der 
Länge  lang  legte  und  ihn  längere  Zeit  so  fest  mit 
den  Armen  umklammert  hielt,  daß  er  einmal  nur 
mit  grosser  Gewalt  von  dem  Andern  losgerissen 
werden    konnte.      Dabei    waren    weder    seine    noch    des 


—    200    — 

Anderen   Genitalien   entblößt  und  jede   koitusartige  Be-  ! 

wegung  fehlte.    Die  beiden  glichen  Fröschen  in  der  Co-  j 

pulation.   S.  erschien  dabei  aber  durchaus  nicht  geschlecht-  , 

lieh    erregt.      Zu  anderen  Zeiten   exhibitionierte   er   vor  | 

Frauen  und  riss  Zoten.  I 

Bei  seinem  total  verwirrten  Zustande  fehlt  uns  jede 
Angabe  über  dieses  auffällige  Benehmen.  Nur  während 
zweier  Monate  zeigte  er  diese  merkwürdige  Art  der 
Beschlafung.  Sexuelle  Erregung  schien  abgängig  zu  sein. 
Er  empfand  sonst  durchaus  heterosexuell,  wie  seine 
Exhibition  vor  Frauen  bewies.  Er  ist  also  kein  Inver- 
tierter. Nie  hat  er  seinen  Partner  sonst  aufgesucht  und 
sich  ihm  freundschaftlich  genähert.  Wahnideen  und 
Sinnestäuschungen  können  nicht  wohl  mit  im  Spiele  ge- 
wesen sein,  eher  schon  Zwangsimpulse.  Vielleicht  war 
es  aber  nur  ein  rein  automatischer  Akt,  der  jedoch 
möglicherweise  nicht  ganz  eines  sexuellen  Hintergrundes, 
wenn  auch  unbewusst,  entbehrte.  Denkbar  wäre  es  end- 
lich, daß  hierbei  Erinnerungen  an  normalem  Coitus  mit 
unterliefen.  Jedenfalls  ist  gerade  dieser  Fall  psychologisch 
ganz  dunkel,  aber  interessant  und  lehrreich. 

3)  O.,  tiefster  Idiot  und  taubstumm,  Ende  der 
zwanziger  Jahre.  Stösst  nur  unartikulierte  Töne  aus. 
Ich  ertappte  ihn  kürzlich,  als  er  einen  anderen  Idioten 
beim  Kopfe  festhielt,  ihn  wiederholt  auf  den  Mund 
—  doch  ohne  sichtliche  Zeichen  geschlechtlicher  Er- 
regung —  küsste  und  ihn  am  Ohre  streichelte.  Der  Kuss 
ward  erwidert.  Nach  Aussage  des  Oberpflegers  soll 
dieser  O.  sehr  verschiedene  Kranke  in  ähnlicher  Weise 
liebkosen,  wobei  aber  nie  Onanie  bemerkt  ward. 

Ist  hier  etwa  Inversion  im  Keime  vorhanden?  Ich 
glaube  es  kaum,  da  eben  Zeichen  des  Orgasmus  fehlten 
und  die  verschiedensten  Personen  so  traktiert  wurden. 
Ich  möchte  vielmehr  glauben,  daß  es  hier  nur  eine  Be- 
tätigung von  Anhänglichkeit  und  Gutmütigkeit  war,  ohne 


201 


sexuellen  Anstrich.   In  meiner  erwähnten  2.  Arbeit  macl 
ich  darauf  aufmerksam,   daß  bisweilen  —  immerhin  se 
selten   —   bei  Irren  Freundschaftsbündnisse  sich  heran 
bilden.   Diese  sind  entweder  völlig  harmlos  oder  aber  d^ 
homosexuellen  Handlungen  sehr  verdächtig.     Letzteres 
anscheinend  das  häufigere  —  war  bei  uns  nur  bei  Idiotel 
oder   Verrückten   der  Fall,    wobei    der  eine    der    aktiv^ 
Teil  ist.     Aber  auch   bei    ganz   harmlosen  Verhältnisse! 
sieht    man,    wie  es   vorwiegend    der    eine    ist,    der    denl 
andern  liebkost,  unterstützt  etc.     Obigen  Fall  möchte  ich  \ 
nun    zu    dieser   harmlosen    Kategorie    zählen,    abgesehen 
davon,    daß  hier  kein    eigentliches   Freundschaftsbündnis 
bestand.     Es  giebt  nicht  selten  gerade  Idioten,    die  ihre 
Liebe  zu  Eltern,  Geschwistern,  Pflegern  etc.  durch  Küssen, 
Streicheln  u.  s.  f.    rudimentär    bezeugen,    und  dies   dann 
in  andern  Verhältnisse    auf  andere  Personen  übertragen, 
und    zwar    unterschiedslos    männlichen    oder    weiblichen 
gegenüber,  und  ohne  Zeichen  von  libido. 

Die  folgenden  Fälle  betreffen  Exhibitionisten. 

4)  PI.,  Paralytiker,  42  Jahre  alt,  ganz  dement  und 
meist  ruhig.  Als  er  noch  leidlich  bei  Kräften  war,  lief 
er  einmal  2  Tage  lang  —  sonst  nie  wieder!  —  auf  dem 
Korridore  mit  heraushängendem  Gliede  meist  in 
dunkeln  Ecken  stehend  und  ganz  benommen.  Niemand 
sah  ihn  dabei  onanieren,  was  er  später,  als  er  bettlägerig 
wurde,  öfter  tat. 

5)  L.,  berühmter  Pianist,  Ende  der  Vierziger,  ganz 
dementer  Paralytiker,  stand  monatelang  während  des 
Gartengangs  mit  der  ganzen  Vorderseite  des  Körpers 
fest  gegen  die  Hauswand  gedrückt,  mit  entblößtem  Gliede, 
ohne  Masturbation,  und  ging  so  auch  dann  auf  seine 
Station  zurück.     Ließ  sich  nie  davon  abbringen. 

6)  Schi.,  35  Jahr  alt.  Totale  Verwirrtheit  und  Ver- 
blödung nach  dementia  praecox;  lief  sehr  oft    mit    ent- 


_    202    — 

blößtem  Penis  auf  dem  Korridore  herum  und  ließ  sich 
gleichfalls  davon  nicht  abbringen.  Im  Garten  wurde  es 
nur  einmal  beobachtet.  Er  lebte  ganz  in  seinem  Sinnes- 
traum und  in  seiner  Wahnwelt  befangen. 

7)  Seh.,  dem.  praecox,  Mitte  der  20  er,  ganz  verwirrt 
und  schon  verblödet,  entblößte  wiederholt  sein  Glied  und 
spielte  daran  herum. 

8)  Gr.,  29  Jahre  alt,  verblödet  und  verwirrt  nach 
dem.  praecox,  trägt  wegen  steten  Zerreißens  seit  Monaten 
den  sog.  (unzerreißbaren)  Göttinger  Anzug.  Läßt  aus 
dem  Schlitz  stets  den  Penis  herabhängen  und  ist  davon 
nicht  abzubringen. 

Diese  Entblößer  haben  zunächst  das  Gemeinsame, 
daß  sie  dem  jüngeren  und  mittleren  Alter  angehören,  aus 
Paralytikern  und  jugendlich  früh  Verblödeten  bestehen  und 
bis  auf  die  sehr  mobilen  Nr.  7  und  8  ganz  in  sich  ver- 
sunken, tief  benommen  waren.  Homosexuelle  Exhibition 
ist  hier  sicher  auszuschließen,  schon  weil  die  Betreffenden 
keine  Invertierten  waren  und  nur  zeitweise  und  oft  bloß 
in  dunkeln  Ecken  exhibitionierten.  Siehe  namentlich 
Nr.  5.  Sexualerregung  schien  dabei  bei  Niemandem  zu 
bestehen  und  nur  bei  Nr.  7  ward  Spielen  an  den  Genita- 
lien beobachtet. 

Was  war  nun  der  Grund  zur  Entblößung?  Man 
könnte  zunächst  daran  denken,  daß  dies  der  Abkühlung 
halber  geschah,  sei  es  nun,  daß  gewisse  lokale  Reiz- 
vorgänge an  den  Geschlechtsteilen  bestanden,  oder 
central  bedingte  brennende  oder  sonstige  unangenehme 
Gefühle  am  Penis,  die  durch  Aussetzen  des  Gliedes  an 
der  Luft  Linderung  ergaben.  Lokale  Reizzustände  fehlten 
aber,  ebenso  wie  die  dadurch  oft  bedingte  Masturbation 
und  für  die  andere  Erklärung  liegt  auch  kein  Beweis 
vor.  Man  könnte  ferner  auch  an  Druckwirkung  des 
Göttinger  Anzuges  in  Nr.  8  denken,  doch  muß  man  diese 
Erklärung  hier  fallen  lassen,  da  bei  den  meisten  Kranken 


—    203    — 

im  „Göttinger"  Exhibition  nicht  bemerkt  wird.     1 
Falle  8  kam  mir  dagegen  eine  andere  Erklärungsmö 
keit  in  den  Sinn.     Ich  sah  den  Pat.  nämlich  einmal  h 
seitliche  Hüftbewegungen  machen,  wobei  der  lange  . 
hin-  und  herpendelte.     Vielleicht   war   ihm   gerade 
pendelnde  Gefühl  angenehm.     Bei  unserm  Kranken 
man    ferner    als    etwaigen    Grund   Wahnideen,    Zwa 
impulse     oder    Sinnestäuschungen    wohl   ziemlich    si< 
ausschließen,   ebenso  einen  central  bedingten  Reizzust 
der  Geschlechtssphäre,  da  nie  Zeichen  von  libido  sich  c 
boten,  das  Glied  stets  schlaff  herabhing  und  nie  masturbi 
wurde.     Es    bleibt    also    fast   nur   übrig  an    einen    re 
automatischen     Mechanismus     zu      denken,     a 
Grund   dunkler  organischer  Reizungen  oder  unbewußt 
Vorstellungen.  — 

Auf  alle  Fälle  ist  in  allen  unsern  mitgeteilten  Bei 
spielen  jede  beabsichtigte  Befriedigung  der  libido  ausge 
schlössen,  im  Gegensatze  zu  der  gewöhnlichen  Exhibition, 
Auch  in  der  Irrenanstalt  sieht  man  letztere  nicht  selten 
vor  dem  andern  Geschlecht  eintreten  und  besonders 
Frauen  entblößen  sich  gern  vor  Männern.  Vor  dem 
gleichen  Geschlecht  geschieht  es  aber,  abgesehen  von 
Invertierten,  höchstens  nur  dann,  wenn  tiefe  Verachtung 
dem  Andern  gegenüber  kundgegeben  werden  soll,  manch- 
mal auch  der  Abkühlung  halber,  oder  aus  Wahnideen, 
Sinnestäuschungen,  Zwangsimpulsen  bei  mehr  oder  minder 
erhaltenem  Bewußtsein.  Tief  Benommene  endlich,  ent- 
blößen sich  auch,  wie  unsere  obigen  Fälle  zeigen;  sicher 
ist  dies  aber  keine  homosexuelle  Exhibition.  Ob  diese 
überhaupt,  wie  Bräunschweig1)  behauptet,  so  häufig  bei 
Homosexuellen  stattfindet,  möchte  ich  um  So  mehr  be- 
zweifeln, als  hierüber  in  der  Literatur  wohl  nur  wenig 
bekannt  ist. 


J)  Braunschweig:  Das  3.  Geschlecht.    Halle,  Marhold.  1902. 


—     204      — 

Zum  Schlu (Je  möchte  ich  endlich  auf  eine  Erklärung 
des  gewöhnlichen  Exhibitonismus  aufmerksam  machen, 
die  ich  für  die  meisten  Fälle  für  richtig  halte  und 
es  auch  schon  klar  aussprach1).  Ich  sehe  nämlich  in  der 
Entblößung  nur  eine  Abart  des  Sadismus.  Der 
Exhibitionist  weidet  sich  am  Schreck,  Unwillen  oder  an 
der  Verlegenheit  der  Zuschauerinnen,  was  sexuell  erregend 
auf  ihn  wirkt,  zumal  wenn  jene  junge  Mädchen  sind. 
Die  andere  Erklärung  dagegen,  daß  der  Exhibitionist  sich 
geschlechtlich  aufrege,  weil  er  die  libido  im  andern  geweckt 
hätte,  dürfte  nur  in  den  seltensten  Fällen  uud  nur  bei 
depravierten  Mädchen  oder  Frauen  zu  beobachten  sein. 
Eher  könnte  dies  im  Irrenhause  stattfinden,  wo  durch  die 
Psychose  einerseits  gewisse  Hemmungen  ganz  oder  teil- 
weise beseitigt  sind,  wodurch  der  Geschlechtstrieb  freier 
sich  zeigen  kann,  anderseits  durch  die  Krankheit  immer 
oder  zu  gewissen  Zeiten  die  Geschlechtssphäre  direkt 
gereizt  wird,  was  in  concreto  freilich  schwer  zu  beweisen 
sein  dürfte.  So  beobachteten  wir  kürzlich  einen  älteren 
Paranoiker,  der  öfter  dort  exhibitionierte,  wo  die  Bretter- 
wand des  Frauengartens  an  die  Stacketwand  des  Männer- 
gartens stiess  und  hier  die  Gelegenheit  sich  bot  die 
Frauen,  welche  den  dort  in  der  Ecke  belegenen  Abort 
aufsuchten,  zu  sehen.  Wiederholt  drückte  er  hierbei 
seinen  Penis  durch  das  Stacket  [hindurch  und  forderte 
eine  ältere,  total  verwirrte  Frau  auf,  denselben  in  die 
Hand  zu  nehmen,  was  diese  dann  auch  unter  Streicheln 
und  Bewunderung  des  wohl  geformten  Organs  tat! 
So  kamen  Beide  in  sexueller  Hinsicht  mehr  oder  weniger 
auf  ihre  Kosten. 

Hubertusburg,  Nov.  1902. 


*)  Siehe  meine  2.  angezogene  Arbeit. 


Chirurgische  Überraschungen     \ 
auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertumä 


Kasuistik  von  134  Beobachtungen  mit  54  Fällen- 

\ 

irrtümlicher  Geschlechtsbestimmung  \ 

\ 
\ 

größtenteils  durch  das  Skalpell  der  Chirurgen  erwiesen.  \ 


(Mit  zahlreichen  Abbildungen  im  Text.) 


Mitgeteilt  von 

Dr.  med.  Franz  Neugebauer. 

Vorstand  der  gynäkologischen  Abteilung  des  Evangelischen 
Hospitals  in  Warschau. 


Es  sei  mir  gestattet  in  diesem  Jahrgange  des  Jal 
buches  der  Frage  des  Scheinzwittertumes  von  einer  re 
praktischen    Seite    näher    zu    treten.     Es    soll    hier    d 
Kasuistik,  derjenigen  Fälle    synoptisch   zusammengestel 
werden,  wo  der  Chirurg  in  Beziehungen  zu  dem  Pseudc 
hermaphroditismus  trat.     Der  Leser  wird  überrascht  seil 
von  der  großen  Anzahl  von  Fällen,  wo  das  Skalpell  des 
Chirurgen  eine  „Erreur  de  sexe"  feststellen  durfte! 

Doch  abgesehen  davon  gibt  es  eine  große  Reihe  von 
Beobachtungen,  wo  bei  richtiger  Geschlechtsbestimmung 
der  Chirurg  Gelegenheit  hatte  aus  der  oder  jener  Ur- 
sache einzugreifen  und  zu  höchst  überraschenden  und 
lehrreichen  Resultaten  gelangte.  Die  im  folgenden  zu- 
sammengestellten Beobachtungen  entstammen  der  bisher 
von  mir  gesammelten  Gesamtkasuistik  von  910  Fällen 
von  Scbeinzwittertum.  Im  Interesse  der  Leser  des  Jahr- 
buches werde  ich,  soweit  dies  wichtig  erscheint,  bei  den 
einzelnen  Beobachtungen  auch  dem  psychosexuellem  Em- 
pfinden der  einzelnen  Individuen  Rechnung  tragen,  so- 
weit darüber  Notizen  vorliegen.  Doch  gehen  wir  gleich 
in  medias  res  vor.  Ich  beginne  mit  einer  Reihe  von 
sogenannten  Bruchoperationen  bei  männlichen  Schein- 
zwittern, welche  irrtümlich  als  Mädchen  getauft  und  als 
solche  erzogen  worden  waren,  ja,  einige  dieser  Individuen 
waren  bereits  als  Frauen  verheiratet. 


—    208    — 

Erste  Gruppe. 

38  Bruch-Leistenschnitte  bei  als  Mädchen  erzogenen 
Individuen  mit  Feststellung  von  Hoden  als  Bruchinhalt 

Ich  muss  hier  bemerken,  daß  die  Bezeichnung  Bruch- 
operation nicht  für  alle  diese  Fälle  zutreffend  ist,  da  in 
manchen  Fällen  operirt  wurde  ohne  auch  nur  einen  Bruch 
zu  vermuten  wie  z.  B.  in  einem  Falle  um  eine  angeblich 
vereiterte  Drüse  aus  der  Leistengegend  zu  entfernen 
—  richtiger  wäre  es  von  Operationen  mit  Inguinoscrotal-, 
resp.  Inguinolabial-Schnitt  zu  sprechen,  also  einfach  ge- 
sagt mit  Leistenschnitt. 

1)  Alexander  [Deutsche  Medizinische  Wochen- 
schrift 1897  No.:  38  pg.  307J  beschrieb  folgende  inte- 
ressante Beobachtung  aus  der  chirurgischen  Abteilung  des 
Dr.  Hahn  im  städtischen  Allgemeinen  Krankenhause  am 
Friedrichshain  in  Berlin:  Am  8.  Juni  1897  trat  die 
16jährige  Klara  D.  wegen  eines  Leistenbruches  in  das 
Hospital  ein.  Der  Bruch  war  ein  linksseitiger.  Vor  drei 
Jahren  hatte  Dr.  Erasmus  bei  ihr  eine  rechtsseitige 
Bruchoperation  vollzogen,  beschrieben  von  Jordaeus. 
Vor  8  Tagen  wurde  die  Patientin  während  eines  Spazier- 
ganges plötzlich  von  starken  Schmerzen  in  der  linken 
Leiste  befallen,  kurz  darauf  bemerkte  sie  selbst  eine 
Anschwellung,  einen  Bruch,  der  sioh  als  irreponibel  erwies. 
Man  diagnosticierte  einen  linksseitigen  Leistenbruch  mit 
fraglichem  Inhalte  und  verordnete  zunächst  Ruhe.  Da 
sich  hierbei  das  Befinden  besserte,  beschloss  man,  sich 
abwartend  zu  verhalten.  Sobald  jedoch  das  Mädchen  das 
Bett  verlassen  hatte,  traten  die  heftigsten  Schmerzen  auf 
und  es  wurde  deshalb  von  Dr.  Hahn  die  Herniotomie 
vollzogen.  Ein  5  Centimeter  langer  Bruchsack  ver- 
schmälerte sich  nach-  oben  zu  gegen  den  Leistenkanal  hin. 
In  dem  jeder  Flüssigkeit  baaren  Bruchsacke  fanden   sich 


—    209     — 

in  dessen  oberer  Hälfte  ein  eiförmiges  Gebilde 
Kirschgröße  und  zwei  kleinere  rundliche  Gebilde 
drüsenartigem  Aussehen.  Alle  drei  Körperchen  hatte! 
eine  glänzende  Oberfläche,  wiesen  Verwachsungen  mi\ 
dem  Bruchsacke  auf  und  wurden  entfernt.  Die  mikros4 
kopische  Untersuchung  machte  Professor  Hansemann; 
Hoden  und  Nebenhoden  konstatiert.  Erst  nach  einem! 
so  unerwarteten  Operationsbefunde  betrachtete  man  mit ' 
grösserer  Aufmerksamkeit  die  äußere  Erscheinung  des 
Mädchens.  Die  Brüste  sowie  das  subcutane  Fettpolster 
waren  sehr  schwach  entwickelt,  das  Haupthaar  in  Zöpfen 
angeordnet.  Die  Oberlippe  wies  etwas  Bartanflug  auf,  die 
äußeren  Schamteile  waren  absolut  weiblich  gebildet. 
Mons  Veneris  schwach  behaart,  große  und  kleine 
Schamlippen  wenig  entwickelt  im  Verhältnis  zur  allgemeinen 
Körpergröße.  Clitoris  2  Cent,  lang  und  6  Mill.  dick, 
Präputium  clitoridis  verschieblich.  Der  Penis  bypo- 
spadiaeus  wies  eine  Lacuna  Morgagnii  von  drei  Milli- 
meter Sonden  tiefe  in  der  gespaltenen  Harnröhre  auf;  unter- 
halb der  weiblichen  Harnröhrenmündung  lag  der  Introitus 
vaginae  von  halbmondtörmigem  Hymen  garniert.  Fossa 
navicularis  und  Frenulum  labforum  normal  weiblich 
gebildet.  Keine  Spur  von  Uterus  oder  Tuben  per  rectum 
getastet,  ebensowenig  eine  Prostata. 

Die  Scheide  endete  in  der  Höhe  von  drei  Zentimetern 
blind.  Becken  nach  Gestalt  und  Maaßen  männlich.  Nach 
dem  unerwarteten  Ergebnis  der  mikroskopischen  Unter- 
suchung der  exstirpierten  Gebilde  wurden  nunmehr  auch 
die  früher  rechtsseitig  von  E  r  a  s  m  u  s  entfernten  Gebilde 
untersucht  und  ergaben  sich  gleichfalls  als  Hoden  und 
Nebenhoden  [siehe  Jordaeus:  Inhalt  einer  Leisten- 
hernie bei  Mißbildung  der  Genitalien — Festschrift  zur 
Feier  des  50-jährigen  Bestehens  der  Gesellschaft 
der  Ärzte  des  Regierungsbezirks  Düsseldorf  1895.] 
Damals     existierte     noch    kein    Leistenbruch    linkerseits, 

Jahrbujh  V.  14 


—     210    — 

sondern  nur  der  rechtsseitige.  Man  fand  als  Inhalt  des 
Bruchsackes  den  processus  vaginalis  peritonaei  ohne  flüssi- 
gen Inhalt.  In  dem  Bruchsacke  lag  ein  birnfürniiges 
Gebilde  von  der  Größe  einer  welschen  Nuß,  weich  von 
Konsistenz  und  nicht  mit  dem  Bruchsacke  verwachsen. 
Der  Tumor  hatte  eine  glänzende  Oberfläche  und  enthielt 
zwei  Gebilde  von  drüsigem  Aussehen,  die  nach  obenzu 
in  eine  Art  gegen  den  Leistenkanal  hin  ziehenden  Strang 
übergingen.  Da  die  Reposition  nicht  gelang,  hatte  man 
diese  Gebilde  operativ  entfernt  Linkerseits  war  neben 
Hoden  und  Nebenhoden  auch  eine  Samenblase  ent- 
fernt worden,  rechterseits  auch  ein  vas  deferens.  In 
keinem  der  Hoden  Spermatogenese  nachgewiesen,  also 
atrophischer  Zustand.  Am  27.  Juni  1895  war  Klara  D. 
aus  dem  Hospitale  entlassen  worden,  am  30.  Januar  1896 
trat  sie  wieder  ein  wegen  Scheidenausflusses  und  schmerz- 
hafter Anschwellung  in  beiden  Leistengegenden.  Die 
Schmerzen  waren  die  Folge  eines  Coitusversuches  mit 
einem  Manne.  Der  Beischlaf  kam  nicht  zu  Stande  wegen 
Sehmerzhaftigkeit,  wohl  aber  acquirierte  Klara  D.  einen 
Tripper  mit  nachgewiesenen  Diplokokken.  Am  16. 
Februar  wurde  Patientin  nach  längerer  Kur  entlassen. 
Klara  D.  hatte  weder  jemals  die  Regel  gehabt  noch 
irgendwelche  Molimina,  es  handelte  sich  einfach  um  ver- 
späteten Herabtritt  der  beiden  Hoden.  Die  angeblichen 
Leistenbrüche  veranlaßten  die  operative  Entfernung  der 
Gebilde,  die  sich  unter  dem  Mikroskope  als  Hoden  und 
Nebenhoden  etc.  erwiesen,  also  eine  erreur  de  sexe 
aufklärten.  Zur  Zeit  der  ersten  Operation  war  Klara  13 
Jahre  alt,  zur  Zeit  der  zweiten  16. 

2)  Henry  Avery  (Philadelphia  Med.  and.  Surg. 
Reporter  1868  XIX.  8.  pg.  144)  entfernte  bei  einem  24- 
jährigen  aus  Neuschottland  stammenden  Mädchen,  Anny  C. 
auf  dessen  Verlangen  hin  und  auf  Grund  einer  Konsulta- 
tion mit  noch  zwei    anderen    Aerzten    einen    Tumor  aus 


—     211     — 

einer  Leistengegend.     Der  Tumor  erwies  sich  als  Hod« 
Allgemeinaussehen,    Stimme    und    Brüste  männlich.     L 
Scheide  endete  in  der  Tiefe  blind.     Kein  Uterus  getastt 
Clitoris  zwei  und  einen  halben  Cent.  lang.     Hypospadias 
penoscrotalis  mit  einseitigem  Kryptorchismus. 

3)  Brycholow  [siehe:  Garin:  Wjestnik  Obszczest 
wennoj  Gigjeny,  Ssudebnoj  i  Prakticzeskoj  Medicin) 
[Russisch]  —  T.  XXIX.  Kniga  II.  Februar  1896  —  und 
Protokoly  Anthropologiczeskawo  Obszczestwa  1894  No.:  1 
pg.  29  No.:  207.]  Die  14jährige  Marie  X.  trat  in  das 
Petersburger  Marienspital  ein  wegen  doppelseitigen  Leisten- 
bruches. Die  operativ  aus  den  beiden  Brüchen  entfernten 
Gebilde  erwiesen  sich  als  Hoden.  Beide  hatten  in  den 
Schamlefzen  gelegen,  waren  also  voll  herabgestiegen. 
Kein  Uterus  vorhanden,  wohl  aber  neben  den  großen 
auch  kleine  Schamlippen.  Die  Vulva  sah  absolut  weib- 
lich aus  bis  auf  die  infolge  ihres  Inhaltes  strotzenden 
Schamlefzen.  Während  der  Operation  konstatirte  man 
Erektionen  des  hypospadischen  Penis;  zur  Zeit  der 
Operation  noch  keinerlei  Geschlechtstrieb  vorhanden  nach 
Aussage  des  Kindes. 

4)  Briuchanow  [Ein  Fall  von  Pseudohermaphroditis- 
mus  masculinus  externus  —  Bolnicznaja  Gazeta  BotkhV 
a  [Rußisch]  Petersburg  1899  No.:  44.J  Bei  einem  14jährigen 
Mädchen  mit  absolut  normalem  weiblichen  Aussehen  der 
Vulva  wurde  ein  doppelseitiger  Leistenbruch  operiert: 
die  hierbei  exstirpierten  Gebilde  erwiesen  sich  als  Hoden : 
„Erreur  de  sexe*.  Ich  weiß  nicht  anzugeben,  ob  diese 
Beobachtung  nicht  etwa  identisch  ist  mit  der  vorher- 
gehenden, die  Jahreszahlen  1894  und  1899  scheinen 
dagegen  zu  sprechen. 

5)  Buchanan  (in  Glasgow)  [Medical  Times,  14 
February  1885  —  siehe:  Centralblatt  für  Gynäkologie 
1885  pg.  464]  beschrieb  ein  9jähriges  Mädchen  von  knaben- 
haftem Aussehen.     In  der  rechten  Schamlefze    tastete  er 

14* 


—     212    — 

ein  härtliches,  durch  einen  Strang  mit  dem  Leistenkanale 
in  Verbindung  stehendes  Gebilde;  links  der  gleiche 
Befund,  nur  der  Leistenkanal  etwas  weiter  klaffend. 
Große  und  kleine  Schamlippen,  Clitoris  und  Hymen 
normal.  Buchanan  glaubte,  es  handle  sich  gleichwohl 
nicht  um  ektopische  Ovarien,  sondern  um  Hoden  und 
zwar  wegen  des  deutlich  ausgesprochenen  Cremasteren- 
reflexes.  Bei  der  Untersuchung  sub  narcosi  fand  der  Finger 
eine  Vagina  von  normaler  Länge,  aber  in  ihrem  Grunde 
statt  einer  Vaginal portion  eines  Uterus  ein  sagittales 
Septum,  welches  den  Scheidengrund  in  zwei  seitliche 
Taschen  teilte  von  je  Fingerhutgröße.  Jederseits  vom 
Scheideneingange  fand  Buchanan  je  eine  feine  Oeffnung. 
Er  sprach  diese  Oeffnungen  als  Mündungen  der  Ductus 
ejaculatorii  resp.  Vasa  deferentia  an.  In  der  Voraus- 
setzung, die  in  den  Schamlefzen  liegenden  Gebilde  könnten 
in  Zukunft  Ursache  von  Beschwerden  werden,  seien  sie 
nun  ektopische  Ovarien  oder  Hoden,  entfernte  er  sie 
operativ.  Die  mikroskopische  Untersuchung  [siehe  auch: 
Pull  mann]  ergab,  daß  es  die  Hoden  waren:  man  hatte 
also  das  Kind,  einen  verkannten  Jungen,  kastriert. 

6)  Chambers  [Transactions  of  the Obsterical Society 
of  London  1859  citirt  von  Mundet1]  beschrieb  ein 
24-jähriges  Mädchen  von  weiblichem  Allgemeinaussehen, 
dessen  Genitale  ebenfalls  einen  weiblichen  Aspectus  bot, 
jedoch  war  die  Scheide  in  der  Höhe  von  drei  Centimetern 
blind  geschlossen  und  keine  Spur  von  Uterus,  Tuben 
oder  Ovarien  zu  tasten.  Zwei  in  den  Schamlefzen  tast- 
bare härtliche  Gebilde  wurden  operativ  entfernt  und  er- 
gaben sich  als  Hoden.  Ob  Spermatogenese  nachgewiesen 
wurde,  ist  nicht  erwähnt. 

7)  Clark  [WA  case  of  spurious  hermaphroditisme, 
hypospadias  and    undescended  testes    in  a    subjeet,    who 

>)  Munde:  Centralbl.  f.   Gyn.  1887.  N.  42.   f.  671:    Vagina 
blind  endend. 


—    213 


had  been  brought  up  as  a  female  and  had  been  marrj 
for  sexteen".  —  Lancet  1898.    Vol.  I  pg.  616]  beschri 
eine    42-jährige  Frau,    welche    vor   16  Jahren   geheira^ 
hatte    und    zur    Zeit    als    Witwe    in    seine   Behandlur 
gekommen  war.    Die  Vulva   sah    echt  weiblich    aus,   dl 
geräumige  Vagina   war   in    der  Tiefe    blind   geschlossej 
und  nichts   von  inneren  Genitalien   zu   tasten.     In  jedel 
Leistengegend  feine    Anschwellung;    die  linksseitige    sehl 
druckempfindlich  bei  der  'leisesten  Berührung      Mammae! 
weiblich,  Areolae  .kaum  ausgesprochen,  Warzen  atrophisch.! 
Kehlkopf   vorstehend,    männlich.      Hände   groß,    Scham- 
behaarung sehr   spärlich,    im  Gesicht    keine  Spur   mann- ' 
licher  Behaarung.  Vom  12. Lebensjahre  an  sollen  Blutungen 
aus  dem  Genitale  stattgehabt  haben,  anfangs  unregelmäßig, 
aber  vom  25.  bis  38.jJahre  regelmäßig  aller  vier  Wochen 
je  24  Stunden  andauernd.     Die  Frau    hatte    vor   einigen 
Tagen  einen  schweren  Gegenstand    aufgehoben  und    war 
sofort    von    starken    Schmerzen    in    den    beiden    Leisten 
befallen  worden,    es  waren    plötzlich  Leistenbrüche    aus- 
getreten.     Clark    glaubte,    es    handle    sich    um    einen 
Descensus  retardatus  testiculorum,  wurde  jedoch  in  dieser 
Voraussetzung  wieder  schwankend  angesichts  der  von  der 
Frau  betonten  regelmäßigen  Blutausscheidungen  aus  dem 
Genitale.     Er  wollte  also  eine  solche  Genitalblutung  ab- 
warten, die  Menstruation:  das  Warten  erwies  sich  jedoch 
als  vergeblich  — ,    so    schritt    er  denn  zur  beiderseitigen 
Bruchoperation:    es    wurde   jederseits    ein    Hoden    nebst 
Samenstrang  entfernt,  keine  Spermatozoiden  nachgewiesen.. 
Da  die  Scheide  blind  endete  und  keine  Spur  eines  Uterus 
zu  tasten   war,   so  kann   man  natürlich  nicht    anders    als 
mit   Unglauben    dep   Angabe    der  Frau    bezüglich  jener 
regelmäßigen  Genitalblutungen  gegenübertreten,  wie  denn 
in  der  Kasuistik  des  Scheinzwittertums   so  mancher  Fall 
sich    findet,    wo    von    dem   Individuum    die   Unwahrheit 
ausgesagt   wurde    aus    dem    oder    anderen   Grunde.     Die 


—    214    — 

Frau  hatte  mit  ihrem  Manne  stets  im  besten  Einvernehmen 
gelebt.  Clark  sah  keine  Veranlassung,  dieser  Person 
Mitteilung  von  der  konstatierten  Erreur  de  sexe  zu 
machen,   umsomehr  als  sie  seiner  Zeit  Witwe  war. 

8)  Green  [„Hypospadias"  Quarterly  MedicalJournal 
1898  Vol.  I.  pg.  169].  Ein  24jähriges  Dienstmädchen 
meldete  sioh  mit  der  Frage,  warum  die  Periode  bei  ihm 
noch  ausstehe?  Die  Untersuchung  ergab  Hypospadiasis 
peniscrotalis  eines  männlichen  Scheinzwitters  mit  je  einem 
Hoden  in  jeder  Schamlefze.  Trotz  Konstatierung  der 
Erreur  de  sexe  wollte  das  Mädchen  absolut  nichts  von 
einer  Änderung  seines  bisherigen  sozialen  weiblichen  Standes 
wissen  und  verlangte  durchaus  die  Entfernung  der  beiden 
Hoden.  Green  folgte  dem  Wunsche  des  Mädchens,  voll- 
zog die  Operation  de  complicit£  und  schrieb:  „The 
question  now  arrose,  as  to  what  should  be  done,  as  the 
patient  in  mind  and  habit  is  more  a  woman  than  a  man. 
and  is  illegal  for  him  to  remain  as  he  is  in  female  attire, 
„he  expressed  a  desire  to  have  the  testicles  removed  and 
continue  a  woman  and  it  seems  to  me,  that  is  the  best 
Solution  of  the  difficulty".  —  Die  mikroskopische  Unter- 
suchung ergab,  daß  normal  funktionierende  Hoden  entfernt 
worden  waren.  Nach  Entlassung  aus  dem  Hospital  nahm 
diese  Person  sehr  bald  wieder  einen  Dienst  als  Dienst- 
mädchen an.  Green  hatte  dieses  Individuum  kastriert 
„at  his  own  urgent  request!" 

9)Griffith[„ Hermaphroditismus  transversus  virilis" 
Journal  of  Anatomy  and  Physiology.  January  1894]  be- 
schrieb ein  23jähriges  Individuum  mit  weiblichen  Brüsten, 
weiblichem  Mons  Veneris  und  blind  endender  Scheide. 
Man  tastete  in  der  Beckenhöhle  ein  Gebilde,  das  man 
für  einen  Uterus  ansah  mit  zwei  seitlichen  Gebilden  und 
tastete  auch  zwei  Gebilde  in  den  Schamlefzen,  die  exstir- 
piert,  sich  als  Hoden  erwiesen.  Cremasterreflex  beider- 
seits ausgesprochen,  aber  keine  Samenstränge  getastet. 


—    215    — 

10)  Groß  [MonthlyJourn.forMedicalSciences.  Dezeni 
ber  1852-Referat:  Casper's  Vierteljahrschrift  1853  ü| 
pg  268:  „Ein  Fall  von  Hermaphroditismus  mit  Castrationl 
Osterlen  gibt  im  III.  Bande  des  von  Maschka  herausi, 
gegebenen  Handbuches  der  gerichtlichen  Medicin  (pg  83jj 
folgende  Einzelheiten  dieses  Falles  an:  Ein  dreijähriges! 
Kind,  als  Mädchen  erzogen,  verriet  schon  vom  zweiten! 
Lebensjahre  an  knabenhafte  Neigungen  und  Liebhabereien. 
Statt  einer  Clitoris  fand  sich  ein  Penis,  statt  einer  Scheide 
eine  seichte  mit  Schleimhaut  ausgekleidete  Grube  ohne 
irgend  eine  Öffnung  in  der  Tiefe.  Harnröhrenöffnung 
normal  weiblich,  kleine  Schamlippen  kümmerlich  gebildet, 
jede  Schamlefze  enthielt  ein  härtliches  Gebilde,  einen  wohl- 
gestalteten Hoden.  Groß  fragte  sich,  ob  es  nicht  richtig 
sei,  diese  Gebilde  zu  entfernen,  welche  im  geschlechtsreif en 
Alter  Geschlechtstriebe  hervorrufen  könnten  und  eventuell 
eine  Verheiratung  herbeiführen,  aus  der  nur  Kummer 
und  Verdruß  resultieren  werde,  ja  sogar  der  Tod.  Dem- 
gemäß entfernte  er  im  Einverständniß  mit  den  Eltern 
diese  Gebilde,  die  Hoden  und  Samenstränge,  am  20.  Juli 
1849  unter  Assistenz  zweier  Kollegen.  Diese  Organe 
erwiesen  sich  als  normal  gebildet.  Von  dem  Moment  der 
Operation  an  soll  das  Kind  sein  Gebahren  geändert  haben 
und  fortan  nur  weibliche  Neigungen  aufgewiesen  haben, 
die  auch  nach  zwei  Jahren  noch  weibliche  geblieben 
waren.  Das  Kind  macht  mit  Vorliebe  weibliche  Hand- 
arbeiten, reitet  nicht  mehr  auf  dem  Spazierstocke  seines 
Vaters  und  spielt  nicht  mehr  mit  Knaben.  Osterlen 
unterzog  das  Vorgehen  des  amerikanischen  Kollegen  unter 
Paragraph  224  D.  S.  G.  der  österreichischen  Gerichts- 
ordnimg —  als  „Beraubung  der  Zeugungsfähigkeit"  des 
deutschen  Strafkodex  und  unter  Paragraph  169,  welcher 
Gefängnisstrafe  verlangt  „für  vorsätzliche  Veränderung 
oder  Unterdrückung  des  Personenstandes  eines  Anderen". 
—  C asper  verurteilt  ebenso  das  Vorgehen  von  Groß, 


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—    21 

>  mit  ihrem  Manne  .    ••• 

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of  Anatomy  :  ..,  -  * 

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Q  Uterus  ansal  l 
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gesprochen,    tiV.>  *  " 


—    217     —  \ 

\ 

so  wurden  sie  abgetragen.     Bei  der  Operation  hatte  ni^ 
auch    den    Samenstrang   gefunden.      Linkerseits    lag    dl 
Hoden    noch  im  Leistenkanale.     Da   die  Extraktion    ai^ 
demselben  nicht  gelang,  stieß  Heuck  den  Hoden  in  di^ 
Bauchhöhle    hinein    und    vernähte    die   gesetzte    Wunde! 
Kurz   darauf  kamen  jedoch  die  Beschwerden  linkerseits, 
wieder.     Heuck   wiederholte   linkerseits   die   Operation! 
und  entfernte  jetzt  auch  den  linken  Hoden.     Nach  Aus-1 
sage  der  Mutter  der  Patientin  sollen  beide  Brüche  bereits  ] 
im  ersten  Lebensjahre  entstanden   sein  und  zwar  infolge 
von  Hustenanfällen.     Dieses  Mädchen  hatte  bereite  mehrere 
Male   mit  Männern  kohabitiert,   aber   dabei    niemals   ein 
angenehmes   Gefühl   empfunden.      Niemals   Menstruation 
oder  Tormina  menstrualia.    Allgemeinaussehen  und  ebenso 
der  Gesichtsausdruck  weiblich.     Langes  weibliches  Haupt- 
haar,   aber    Kehlkopf   und    Stimme    männlich.     Mammae 
mäßig   entwickelt,    Hände  groß.     Fast  gar  keine  Scham- 
behaarung vorhanden.     Mons  Veneris  fettarm,  die  kärglich 
entwickelten    großen    Schamlippen    bedeckten    nicht    die 
kleinen,  Clitoris  von  normaler  Größe,  die  Harnröhre  öffnete 
sich    im    Scheiden vorhofe.       Keine    Prostata    zu    tasten, 
Hymenaireste    vorhanden,    die    Vagina   läßt  zwei  Finger 
zugleich   7  Centimeter   tief   ein    und   endet  in    der  Tiefe 
blind.    Sehr  deutlich  tastete  man  ein  Ligamentum  vesicoum- 
bilicaie  medium.  Per  rectum  tastete  man  etwas  wie    eine 
Duplikatur    des  Bauchfells  jederseits  von  der  Mittellinie. 
Der  rechte  Hoden  war  5  Cent,  lang  und  zwei  und  einen 
halben  Cent,  dick,  der  Nebenhoden  anderthalb  Cent,  breit. 
Der   linke  Hoden  makroskopisch  einem  Ovarium  ähnlich 
war  5  Cent,  lang   und  zwei  Cent,  breit,  der  Nebenhoden 
zwei  Cent.  lang.     Vasa  deferentia  wurden  nicht  gefunden. 
13)  Jablonski  [Un caso  di  ermafroditismo n Bolletino 
delle  levatrice"  23  Maggio  1893  Anno.  I  Fascicolo  5  pg. 
228]:  Die  28jährige  AnnaLuiseG.  hatte  eine  weibliche 
Erziehung   erhalten.     Im    Alter  von  16  Jahren    erschien 


—    218    — 

bei  ihr  männlicher  Bartwuchs,  die  Periode  aber  wurde 
vergeblich  erwartet  und  kam  überhaupt  nicht.  Die  drei 
Centimeter  lange  Clitoris  wurde  sub  erectione  10  Cent, 
lang  (!)  Die  rechte  Schamlefze  enthielt  ein  hoden  artiges 
Gebilde.  Vor  8  Jahren  hatte  man  linkerseits  eine  Hernio- 
tomie  vollzogen  und  nach  Angabe  der  Patientin  damals 
eine  Ovarialektopie  konstatiert.  Nach  Ansicht  von 
Jablonski  hatte  man  den  Hoden  für  ein  ektopisches 
Ovarium  angesehen,  trotzdem  bei  der  Operation  die  Ge- 
schlechtsdrüse bloßgelegt  worden  war.  Ob  eine  mikrosko- 
pische Untersuchung  der  vor  8  Jahren  in  Brüssel  ent- 
fernten Geschlechtsdrüse  seiner  Zeit  vorgenommen  wurde, 
ist  nicht  bekannt.  Falls  Jablonski  wirklich  einen  Hoden 
tastete,  so  dürfte  wohl  auch  jenes  ektopische  Ovarium 
einfach  ein  Hoden  gewesen  sein. 

14.  Dixon -Jones  [„Double  inguinal  Hernia  in  a 
hermaphrodite"  —  Medical  Record  XXXVIII  —  27. 
XII.  1890  pg.  724]:  Die  27jährige  Emma  M.  meldete 
sich  am  2.  December  1888  wegen  bisheriger  Amenorrhoe 
und  beiderseitigen  Leistenbruches,  beiderseits  sehr  stark 
empfindlich.  Weder  jemals  Tormina  menstrualia  noch 
vicariirende  Blutungen.  Von  7  Schwestern  der  Patientin 
sollen  zwei  ebenso  wie  sie  mißgestaltet  sein,  bei  einer  der 
Schwestern  hatte  Dr.  Webber  Mangel  des  Uterus  und 
Amenorrhoe  konstatiert.  Allgemeinaussehen,  Stimme  und 
Brüste  weiblich.  Die  Schamteile  weiblich  gebildet,  aber 
wie  in  der  Entwickelung  zurückgeblieben.  Clitoris 
kleiner  als  normal  —  !!!!!!!  —  Scheidenöffnung  sehr 
eng,  Hymen  vorhanden.  Die  Scheide  endet  in  der  Höhe 
von  zwei  Zoll  blind.  Weder  Uterus  noch  Tuben  oder 
Ovarien  getastet  per  vaginam  oder  per  rectum.  Kleine 
härtliche  Gebilde  in  den  beiden  Schamlefzen  wurden  für 
die  ektopischen  Ovarien  angesehen;  sie  waren  äußerst 
druckempfindlich  und  ließen  sich  nicht  in  die  Bauchhöhle 
zurückdrängen.     Schmerzen   in    beiden    Leistengegenden. 


Nach    Einschnitt    in    die  Schamlefzen    fand    man    keiii 
Kommunikation    der    Bruchsäcke    mit    der    Bauch  höhl* 
Man  fand  nur  jederseits  je  einen  bindegewebigen  Strang 
von  dem  in  der  Schamlefze  enthaltenen  Gebilde  nach  deni 
Leistenkanale  zu  verlaufend.     Dixon  fügte  den  Bauch4 
schnitt  hinzu,  indem  er  in  der  Linea  alba  einschnitt,  um\ 
sich   zp  überzeugen,    ob    er    bei  Entfernung   der    in  den! 
Schamlefzen  enthaltenen    Gebilde    nicht   Organe,   welche  \ 
in  der  Bauchhöhle  liegen,  beschädigen  würde,   fand  aber  \ 
in  der  Bauchhöhle  auch  nicht  die  Spur  von  inneren  weib-  \ 
liehen  Genitalorganen,  sondern  nur  jederseits  einen  Binde- 
gewebsstrang     vom     Leistenkanal     in      die     Beckentiefe 
verlaufend.    Er  schloß  also  die  Bauch  wunde  und  exstirpierte 
die  in  den  Schamlefzen  enthaltenen  Gebilde,  welche  sich 
als  Hoden  erwiesen.     Das  Becken  war  weiblich.     Dixon- 
Jones    vermutet    gleich    mir,    daß  in  vielen  Fällen   von 
Ovariocele  wahrscheinlich  Erreurdesexe  bestehe,  also 
ein  Hoden  des  männlichen  Scheinzwitters,  der  irrtümlich 
als  Mädchen  erzogen  wurde,  irrtümlich  für  ein  ektopisches 
Ovarium    angesehen     wurde.      Ich    habe     die    bisherige 
Kasuistik    angeblicher  Ovarialektopie    bereits  gesammelt, 
jedoch  noch  nicht  die  Zeit  gefunden,  dieselbe  einer  Kritik 
zu  unterwerfen,    jedoch,    was    noch   nicht  geschehen    ist, 
wird  geschehen,  sobald  es  meine  Zeit  erlaubt.  — 

DixonJones  vollzog  in  seinem  Falle  die  Kastration, 
nachdem  er  zuvor  einen  diagnostischen  Leibschnitt  dem 
beiderseitigen  Leistenschnitte  hinzugefügt  hatte,  ähnlich 
wie  auch  Snegirjow  und  P£an  in  je  einem  Falle. 

15.  Kociatkiewicz-Neugebauer:  Dr.  Kociat- 
kiewiez  bat  mich  für  den  13.  VII.  1897  zu  einem 
Konsilium  betreffend  ein  junges  Mädchen  von  21  Jahren, 
Josephine  K.  Das  Mädchen  hatte  sich  in  Begleitung 
seines  Vaters  und  Bräutigams  im  Hospital  gemeldet  und 
verlangte  eine  operative  Entfernung  der  Gebilde,  welche 
in    den    Leisten    vorhanden    seien    und    ihm  Schmerzen 


—    220    — 

bereiten.  Allgemeinaussehen  weiblich,  große,  weibliche 
Brüste,  dabei  hängend,  weibliche  Stimme,  weibliche 
allgemeine  und  Schambehaarung,  weiblicher  Charakter 
und  weibliches  geschlechtliches  Empfinden. 

Diese  Beobachtung  kommt  auf  Konstatierung  einer 
erreur  desexe  heraus,  bei  einem  als  Mädchen  erzogenen 
und  mit  einem  Manne  verlobten  männlichen  Scheinzwitter 
von  21  Jahren  —  die  Kastration  durch  Dr.  Kociatkiewicz 
vollzogen  ergab  normale  Hoden  mit  normalem  Sperma.  — 
Die  Einzelheiten  habe  ich  in  meinem  Aufsatze  im  vorigen 
Jahrgang  dieses  Jahrbuches  bereits  veröffentlicht. 

16.  Lannelongue:  [Siehe  Fieux:  „Anomalie  du 
däveloppement  des  Organes  g^nitaux"  —  Journal  de 
M&lecine  de  Bordeaux  — 1871  — Jpg. 502],  Lannelongue 
vollzog  eine  Operation  bei  einem  jungen  Mädchen  wegen 
Schamlefzentumors,  welchen  er  zunächst  wegen  vorhandener 
Fluktuation  für  eine  Cyste  angesehen  hatte:  es  lag  auf 
derselben  Seite  ein  Leistenbruch  vor.  Zwischen  der  Cyste 
und  dem  Bruchsacke  fand  sich  sub  operatione  eine  Gebilde, 
das  sich  unter  dem  Mikroskop  als  Hoden  erwies,  also 
„erreur  de  sexe"!  Keine  Spur  eines  Uterus  getastet. 
In  dem  Bruche  fand  sich  auch  ein  Teil  des  Omentum 
majus.  —  Die  Operierte  genas.  Vulva  normal,  weiblich, 
ebenso  Brüste  und  Gesichtsausdruck.  Niemals  Regel, 
Scheide  in  der  Tiefe  blindsackartig  geschlossen.  Bei  Druck 
auf  die  Gegenden,  wo  normal  die  Ovarien  liegen,  große 
Empfindlichkeit. 

17.  Levy  [„Ueber  ein  Mädchen  mit  Hoden  und 
über  Pseudohermaphroditismus*  Hegaus  Beiträge  zur 
Geburtshülfe  und  Gynäkologie.  Leipzig  1901  Bd.  IV. 
Heft  III  pg.  347 — 360]  beschreibt  zwei  Beobachtungen 
von  Scheinzwittertum  aus  der  Tübinger  Klinik,  eine  davon 
betrifft  eine  von  Döderlein  an  einem  Mädchen  aus- 
geführte Castration  —  es  wurden  die  Hoden  entfernt 
durch    Leistenschnitt.     Die    19jährige    Näherin    Ch.    L. 


—     221     — 

trat  in  die  Klinik  ein  wegen  Beschwerden,  welche  hei 
vorgerufen  wurden  durch  von  ihr  bemerkte  Tumorei 
Bis  jetzt  hatte  Patientin  weder  jemals  die  Regel  noci 
auch  Tormina  menstrualia  gehabt.  Als  sie  15  und  cii 
halbes  Jahr  alt  war,  bemerkte  sie  zum  ersten  Male  in  dei 
rechten  Leistenbeuge  ein  Knötchen  von  Kirschengrössei 
welches  damals  noch  keine  Schmerzen  veranlasste.  In  den! 
letzten  zwei  Jahren  jedoch  wurde  dieser  Knoten  immer  1 
mehr  schmerzhaft,  gleichzeitig  bemerkte  Patientin  ein 
ebensolches  Gebilde  in  der  anderen  Leiste.  Endlich  wurde 
Patientin  infolge  dieser  steten  Schmerzen  arbeitsunfähig, 
sie  hatte  früher  in  einer  Druckerei  gearbeitet,  später  als 
Näherin.  Ein  von  ihr  konsultierter  Arzt  hatte  ihr  eine 
Salbe  zum  Einreiben  verschrieben,  zugleich  aber  ihr  die 
Weisung  gegeben,  sie  solle  niemanden  etwas  davon  sagen, 
„daß  sie  solche  Dinger  im  Leibe  habe!"  Der  All- 
gemeinzustand der  Patientin  wurde  in  der  Folge  immer 
schlimmer,  Erbrechen  trat  hinzu,  sehr  hartnäckige  Ver- 
stopfung etc.,  endlich  gestand  die  Tochter  der  Mutter 
ihr  Leiden  ein  und  die  letztere  veranlasste  die  Auf- 
nahme in  die  Tübinger  Klinik  behufs  Entfernung  jener 
schmerzhaften  Gebilde  in  den  Leisten.  Das  Mädchen  ist 
von  großem  Wuchs,  168  Centimeter,  aber  so  abgemagert, 
daß  es  nur  84  Pfund  wiegt.  Knochen  und  Muskelsystem 
schwach  entwickelt,  zart,  Haupthaar  lang,  keine  Spur  von 
männlicher  Gesichtsbehaarung ,  Kehlkopf  vorspringend, 
männlich,  Brüste  gut  entwickelt,  Becken  weiblich  wie 
das  Röntgenskiagramm  erwies.  Jederseits  in  der  Leisten- 
gegend ein  walzenförmige» elastisches  Gebilde,  verschieblich 
vom  Leistenkanal  zur  grossen  Schamlefze  herabreichend. 
Diese  Gebilde  machen  den  Eindruck  von  Hoden  und 
Nebenhoden;  die  linksseitigen  Gebilde  sind  grösser  als 
die  rechtsseitigen.  Schambehaarung  weiblich,  grosse  und 
kleine  Schamlippen  existieren.  Die  linke  grosse  Scham- 
lippe ist  11  Centimeter  lang,  die  rechte  nur  6.   Das  linke 


—    222     — 

labium  pudendi  majus,  pigmentirt,  macht  wegen  seiner 
runzeligen  Oberfläche  mehr  den  Eindruck  einer  Scrotal- 
hälfte.  Die  Gebilde  in  den  Leistengegenden  lassen  sich 
aber  nicht  in  die  Bauchhöhle  hineindrängen.  Frenulum 
labiorum  vorhanden.  Die  kirschengrosse  Clitoris  erinnert 
an  einen  penis  fissus  rudimentarius.  Harnröhrenöffnung 
weiblich,  unterhalb  die  Öffnung  der  Vagina  von  einem 
Hymenal8aume  umgeben.  Die  rudimentäre  Vagina 
läßt  eine  Sonde  vier  Zentimeter  tief  eindringen.  Per  rectum 
tastete  man  selbst  unter  Narkose  weder  einen  Uterus 
noch  dessen  Anhänge.  Döderlein  vermutete  männliches 
Scheinzwittertum  und  entfernte  wegen  deren  S^hmerzhaf- 
tigkeit  die  in  den  Leistengegenden  liegenden  Gebilde  am 
13.  Januar  1901  mit  dem  Ligamentum  Poupartii  parallel 
verlaufenden  Hautschnitten  von  je  5  Centime ter  Länge. 
Nach  Durchschneid ung  der  Hautdecken  und  der  Fascie, 
der  Mm.  obliqui  externi  abdominis,  eröffnete  das  Messer 
jederseits  eine  Höhle,  die  nicht  mit  der  Bauchhöhle 
kommunicierte,  die  Höhle  der  Tunica  vaginalis.  Man 
fand  jederseits  Hoden  und  Nebenhoden  und  Vas  deferens. 
Der  Samenstrang  wurde  unterhalb  der  Oeffhung  des 
Leistenkanals  jederseits  durchtrennt  und  der  Stumpf  in 
den  Leistenkanal  in  der  Wunde  versenkt  unter  Vernähung 
mit  dem  Muskelrande,  die  Hautdecken  wurden  darüber 
geschlossen.  Prima  reunio  vulnerum.  Die  Kranke,  ein 
kastrierter  männlicher  Scheinzwitter,  irrtümlich  als  Mädchen 
erzogen,  verließ  nach  einem  Monate,  von  ihren  Beschwer- 
den befreit,  die  Klinik,  um  nunmehr  als  Mädchen  weiter  zu 
gelten.  Der  linke  Hoden  war  6  Centimeter  lang  und  2 
breit,  anderthalb  dick,  der  rechtsseitige  Hoden  etwas 
kleiner.  Auf  dem  Durchschnitte  typischer  Hodenbau 
sichtbar;  man  fand  aber  in  der  ausgepressten  Flüssig- 
keit keine  Spermazoiden  aber  Wucherung  des  interstitiellen 
Gewebes  an  einen  rudimentären  Hoden  erinnernd.  Man 
fand  ferner  Spermatogonien,  Spermatocyten,  cylindrisches 


223 


Epithel  des  Sainenausführungsganges  etc.     Nirgends  einl 
Spur   von  Ovarialgewebe   in  den    exstirpierten  Gebilden 
deren  Schnitte  von  Professor  Hei  den hain  geprüft  wurden^ 
Die  Maße    der  einzelnen  Knochen    mit   der  Tabelle  vor 
Rauber  verglichen,  ergaben  männliche  Knochenmaße.  Diel 
Geschlechtsdrüsen  und  die  Maße  der  Knochen  waren  inj 
diesem    Falle    männlich,    alle    sekundären    Geschlechts- 
charaktere aber  weiblich   mit  Ausnahme    des  Kehlkopfes 
und  der  Stimme.   Der  Charakter  war  weiblich,  sympatisch. 
Die   Beschwerden   waren   offenbar  die  Folgen  eines  ver- 
späteten Descensus  testiculorum.    Soweit  eine  Ejakulation 
möglich  war,  hätte  dieses  Individuum  eventuell  ein  weib- 
liches Individuum  befruchten  können. 

18)  August  Martin  [siehe:  Kochenburger: 
„Ein  Fall  von  Hermaphroditismus  transversus 
virilis"  Zeitschrift  für  Geburtshülfe  und  Gynäkologie. 
Vol.  XXVI.  pg.  73  und  Zentralblatt  für  Gynäkologie 
1892  pg  983]  operierte  eine  33jährige,  seit  10  Jahren 
verheiratete  Frau,  welche  ihn  wegen  Schmerzen  in  den 
Leistengegenden  konsultiert  hatte.  Die  Schmerzen  waren 
zunächst  linkerseits  aufgetreten  und  zwar  im  Anschluß 
an  einen  Fall  im  12.  Lebensjahre.  Niemals  ßegel,  nur 
ein  einziges  Mal  im  25.  Lebensjahre  eine  kleine  Blutung. 
Coitus  stets  schmerzhaft  und  ohne  die  geringste  Annehm- 
lichkeit für  die  Patientin.  Allgemein  aussehen  ganz  weib- 
lich. Clitoris  normal,  Vagina  5  Cent,  lang,  blindsack- 
förmig endend.  Per  rectum  tastete  man  ein  elastisches 
Gebilde  von  Haselnußgröße,  welches  aber  in  keiner  Ver- 
bindung mit  der  Vagina  zu  stehen  schien.  In  jeder 
Schamlefze  lag  ein  sehr  druckempfindliches  Gebilde. 
Martin  sah  diese  Gebilde  für  ektopische  Ovarien  an 
und  entfernte  sie  operativ  mit  jederseitigem  Leistenschnitte 
am  24.  September  1892.  Das  Mikroskop  erst  erwies, 
daß  er  unbewußt  Hoden  entfernt  hatte,  daß  also  diese 
verheiratete  Frau  ein  männlicher  Scheinzwitter  war.    Keine 


■—     224     — 

Spermatogenese  konstatiert  in  den  herausgeschnittenen 
Hoden. 

Martin  glaubte  auch  nach  der  Operation  zunächst 
ektopische  Ovarien  exstirpiert  zu  haben  und  zwar 
follikelhaltige,  ja,  er  glaubte  sogar  an  einer  Stelle  ein 
corpus  luteum  gesehen  zu  haben;  erst  das  Mikroskop 
wies  nach,  daß  sowohl  die  klinische  Prasumptivdiagno.se 
falsch  war  als  auch  die  makroskopische  Beurteilung  des 
anatomischen  Charakters  der  exstirpicrten  Geschlechts- 
drüsen. 

19)  A.  Martin  [siehe:  Anton  Hengge:  „Pseudo- 
hermaphroditismus  und  secundäre  Geschlechtscharaktere, 
ferner  drei  neue  Beobachtungen  von  Pseudoherraaphro- 
ditismus  beim  Menschen"]  operirte  die  19jährige  Martha 
W.,  Hausmädchen  dem  Berufe  nach.  Die  Eltern  hatten 
6  Kinder,  von  denen  die  vier  mittleren  normal  gebildet 
waren,  zwei  Töchter  aber,  die  älteste  jetzt  32  Jahre  alt, 
und  die  jüngste  jetzt  19  Jahre  alt,  mißgestaltet.  Der  Vater 
starb  an  Starrkrampf.  In  der  Familie  bisher  keinerlei 
Mißbildungen  verzeichnet.  Von  den  drei  Schwestern 
sind  drei  verheiratet  und  haben  Kinder,  ein  Bruder, 
verheiratet  hat  ebenfalls  Nachkommenschaft.  Martha  W. 
ist  von  sehr  hohem  Wüchse  (178  Centimeter)  und  wurde 
von  der  Krankenkasse  am  28.  I.  1902  in  die  Greifswalder 
Klinik  gesandt.  Seit  dem  14.  Lebensjahre  hatte  sie  alle 
4  Wochen  1  Tag  Kopfschmerzen,  Schwindel,  Brechreiz 
und  bis  Oktober  1901  bei  diesen  Anfällen  regelmäßig 
etwas  Nasenbluten.  Seit  vier  Monaten  treten  diese  Anfälle 
alle  8  Tage  auf  und  sind  so  sehr  quälend,  daß  Martha 
nicht  mehr  arbeitsfähig  war.  Das  Nasenbluten  hat  sich 
seit  vier  Monaten  verloren.  Niemals  menstruelle  Blutung. 
Patientin  hat  keine  andere  Krankheit  bisher  durchgemacht 
als  Bleichsucht  im  15.  Jahre. 

Das  Gesicht  rötet  sich  auffallend  leicht.  Mammae 
gut  entwickelt,  aber  hängend.     Wenig  Fettgewebe,  aber 


viel  Drüsengewebe  darin.  Auffallend  ist,  daß  die  Be- 
haarung des  Mons  Veneris  und  in  den  Achselhöhlen  nur 
aus  wenigen  blonden  Haaren  besteht.  Die  Besichtigung 
der  äußeren  Genitalien  erinnert 
an  das  Bild  einer  doppelseitigen 
Leistenhernie,  wobei  die  rechts- 
seitige etwas  größer  ist  als  die 
linksseitige,  sonst  ist  die  Bildung 
der  Scham  eine  echt  weibliche. 
Mons  Veneris  fettarm,  Clitoris 
absolut  nicht  vergrößert,  ihre 
Glans  kaum  etwas  entblößt.  Die 
Vulv  aerscheint  geschlossen,  die 
kleinen  Schamlippen  enden  nach 
unten  zu  an  dem  auffallend 
kurzen  Damm.  Das  rechte 
Labium  majusj  erscheint  als 
hühnereigroßer  Wulst,  in  dem 
man  einen  pflaumengroßen 
elastischen  ovalen  Körper  tastet, 
dem  von  untenher  ein  zweites 
festeres  Gebilde  von  Kastanien- 
größe anhaftet:  von  diesen  Ge- 
bilden, die  gleich  gut  nach  oben 
und  nach  unten  zu  verschieblich 
sind,  zieht  ein  etwa  zwei  Milli- 
meter dicker  Strang  in  den 
Leistenkanal  hinauf.     Das  linke 

Labium  majus  kleiner,  nicht  so  „.     -     -.n-u  •       m..jä.a 
J  /  Fig.  1.    19jahnges  Madchen, 

vorgewölbt,  linkerseits  findet  sub  herniotomia  ais  männ- 
sich  dicht  unterhalb  der  Mün-  licher  Scheinzwitter  erkannt, 
düng     des     Leistenkanales    ein 

wenig  unter  der  Haut  verschiebliches,  unebenes  Gebilde 
von  der  Größe  einer  welschen  Nuß.  Auch  hier  läßt  sich 
ein  gegen  den  Leistenkanal  hin  verlaufender  Strang  tasten, 

Jahrbuch  V.  15 


—     226    — 

wenn  mau  diese  Gebilde  etwas  nach  unten  herabdrängt. 
Die  beiden  Gebilde  rechts  und  links  sind  mäßig  druck- 
empfindlich. Vestibulum  vaginae  normal,  sowie  auch  die 
Urethralmündung,  Hymen  und  die  Vaginalöffnung; 
Hymen  nicht  eingerissen,  aber  deflorirt;  die  Scheide  läßt 
zwei  Finger  zugleich  ein  und  ist  in  der  Höhe  von  einigen 


Fig.  2.    Äußere  Genitalien  eines  19  jähr,  als  Mädchen  erzogenen 
männlichen  Scheinzwitters.    Beobachtung  von  A.  Martin. 

Centimetern  blind  geschlossen ;  man  fühlt  im  Scheidengrunde 
etwas  wie  eine  Art  querverlaufender  Raphe.  Mündungen 
von  Vasa  deferentia  nicht  aufzufinden.  Per  rectum  tastet 
man  sub  narcosi  nur  einen  Strang  von  der  Dicke  eines 
dünnen  Bleistiftes,  etwa  zwei  Centimeter  über  dem 
Scheidengrunde.      [Siehe  Fig.  1  u.  2.] 


—     227     — 

Nach    diesem    merkwürdigen    Befunde    wurde 
die   allere    Schwester   untersucht:    32  Jahre  alt  und 
9  Jahren  kinderlos   verheiratet   und    niemals    menstr 
Allgemeinaussehen    und    Entwickelung    der  Geschlec. 
organe    fast   genau    so    wie    bei  der  jüngeren  Schwes 
Kräftiger     Knochenbau;    Körperhöhe     169     Zentimet 
schlechter  Ernährungszustand.     Im  rechten  Labium  ma 
Gebilde  getastet,    die  sich   genau  wie  Hode  und  Nebe 
hode  präsentieren,   links  liegt  ein  Gebilde  vor  der  Oei 
nung  desLeistenkanales,  ist  aber  kleiner  als  das  entsprechenc 
bei  der  jüngeren  Schwester  und  läßt  sich  in  den  Leister 
kanal  hineinschieben.  Scheide  in  der  Höhe  blind  geschlossen 
im  Scheidengrunde  etwas  wie  eine  schräg  verlaufene  Rapht 
zu  tasten;  keine  inneren  Geschlechtsorgane  tastbar.     Du 
ältere  Schwester  klagt  nur  ab  und  zu  über  Kopfschmerzen 
und    Schwindel,    ist   sonst    ganz    gesund.      Sie    übt    den 
Beischlaf   nicht    gerade    oft,    aber    regelmäßig     aus    und 
eigentlich  mehr  dem  Manne  zu  Gefallen  als  um  des  eigenen 
Vergnügens    willen,    doch  empfindet  auch   sie   manchmal 
dabei  Befriedigung  und  sexuelle  Wollust.     Irgend  welche 
Sekretausscheidungen  niemals    bemerkt.     Wegen   andau- 
ernder Allgemeinbeschwerden  und  großer  lokaler  Schmerz- 
empfindlichkeit   der    in    den     LaBien    enthaltenen    Ge- 
bilde    entfernte     A.    Martin     dieselben    operativ     bei 
der  jüngeren  Schwester.    Nach  Längsspaltung  des  rechten 
Labium     entfernte    er     dessen    Inhalt     nach— Unterbin- 
dung  und   Durchschneidung    jenes    Stranges     unterhalb 
desLeistenkanales:  Etagennaht  der  Wunde :  prima  reunio; 
ähnlich    war    die    Operation    linkerseits.     Die    entfernten 
Gebilde    erwiesen    sich  unter  dem  Mikroskop  als  Hoden 
und    Nebenhoden,   es  wurde    aber    keine  Spermatogenese 
konstatiert.    Diese  Organe  waren  atrophisch.    Linkerseits 
fand  sich    eine    Cyste    im   Kopfe    des  Nebenhodens,  sein 
Schwanz  war  fibrös  entartet.  Am  21.  IL  wurde  Martha  W. 
geheilt    entlassen.      Während    des    Aufenthaltes    in    der 

15* 


—     228    — 

Klinik  traten  die  Wallungen  nach  dem  Kopfe  noch 
wiederholt  auf,  dagegen  stellten  sich  die  sonstigen 
Allgemeinbeschwerden  nicht  mehr  ein.  Rechterseits  fand 
man  am  Präparate  auch  ein  Stück  eines  Vas  deferens. 
Es  ergab  sich  also,  daß  Martha  W.  ein  männlicher 
Scheinzwitter  war;  per  analogiam  wurde  auch  die  ältere 
verheiratete  Schwester  jetzt  für  einen  männlichen  Schein- 
zwitter angesehen;  sie  wurde  nicht  operiert,  da  keine 
Beschwerden  entsprechender  Art  vorlagen.  Trotz  Gegen- 
wart von  Hoden  waren  alle  secundären  Geschlechts- 
charaktere bei  beiden  Schwestern  rein  weibliche,  auch 
die  Stimme  war  weiblich,  es  fehlte  jede  Spur  männlicher 
Gesichtsbehaarung.  Beide  hielten  sich  für  Frauen  und 
hatten  keinen  ausgesprochenen  Begattungstrieb  und  wohl 
auch  kein  normales  Wollustgefühl,  doch  ließ  sich  bei  der 
älteren  Schwester  durch  Reibung  der  Clitoris  Wollust- 
gefühl wecken;  die  jüngere  Schwester  machte  dabei 
unregelmäßige  Angaben,  zeigte  aber  ein  gut  ausgeprägtes 
Schamgefühl.  Eigentümlich  sind  bei  der  jüngeren  Schwester 
die  allmonatlich  auftretenden  specifisch  weiblichen  Be- 
schwerden: Kopfschmerz,  Schwindel,  Wallungen.  Hengge 
erklärt  sich  diese  Beschwerden  als  auf  suggestivem  Wege 
entstanden.  Martha 'lebte  mit  einer  vier  Jahre  älteren 
noch  unverheirateten  Schwester  längere  Zeit  ständig 
zusammen.  Jene  Schwester  litt  an  Dysmenorrhoe  und 
klagte  dabei  alle  vier  Wochen  über  starke  Molimina, 
Unterleibsschmerzen  etc.  Die  jüngere  Schwester  erwartete, 
sie  werde  auch  die  Regel  bekommen  und  fing  an  ähnliche 
Tormina  zu  empfinden,  indem  ihre  Gedanken  ständig 
darauf  gerichtet  waren,  daß  die  Periode  endlich  kommen 
werde.  Mir  erscheint  diese  suggestive  Deutung  etwas 
gewagt:  weil  die  ältere  SchwTester  dysmenorrhoische 
Beschwerden  angab,  die  jüngere  Schwester  stets  Zeugin 
dieser  Leiden  war,  soll  sie  selbst  ähnliche  Beschwerden 
empfunden  haben !   Hengge  macht  unter  anderen  folgende 


z\ 


—    229     — 

Schlußfolgerung:      »Die    operative    Entfernung    der 
schlechtsdrüsen  bei  Scheinzwittern  ist  nur  dann  statt 
wenn    durch    dieselben     starke    Beschwerden    verurs 
werden  und  zugleich  eine   volle  geschlechtliche  Funk 
dieser    Drüsen    durch    den    Mangel    der    entsprechen 
Begattungsorgane  unmöglich  gemacht  wird."  —  In  d 
Aufsatze    von    Hengge    fehlt    eine    Angabe,    die    m 
interessieren  würde.     Ich  wünschte  zu  wissen,  ob  Profes* 
Martin  zur  Operation  schritt  mit    der  Überzeugung,  di 
jene  Körperchen  Hoden  seien  oder  ob  man  an  ektopiscl 
Ovarien    gedacht  hatte,    ob    die    Diagnose    der    erreu 
de  sexe  schon  vor  der  Operation  gestellt  war,  oder  ers 
nach  der  Operation,  bez.  nach  der  mikroskopischen  Unter 
suchung  der  entfernten  Gebilde? 

20)  CristopherMartin [The British Gynaecological 
Journal.  Part.  37.  May  1894.  pg  35]  trug  am  8.  III.  1894 
in  der  Britischen  Gynäkologischen  Gesellschaft  einen  Fall 
vor,  welcher  beweist,  wie  ungemein  schwierig  unter  Um- 
ständen eine  richtige  Geschlechtsbestimmung  sein  kann. 
Ein  20  jähriges  Kindermädchen,  niemals  menstruiert,  hatte 
sich  vor  12  Monaten  wegen  rechtsseitigen  Leistenbruches 
einer  Radikaloperation  unterzogen.  Die  Operation  war 
mit  bestem  Erfolge  von  einem  anderen  Arzte  gemacht 
worden.  Jener  Arzt  fand  in  dem  Bruche  ein  Gebilde, 
welches  er  für  ein  ektopisches  Ovarium  ansah  und  in 
die  Bauchhöhle  zurückstieß.  Im  Januar  1894  war  nun 
auch  linkerseits  ein  Leistenbruch  entstanden.  Diesmal  kam 
die  Patientin  nicht  zu  dem  früheren  Arzte,  sondern  zu 
Christopher  Martin  und  zwar  sowohl  wegen  Schmerzen 
in  der  Leiste  als  auch  beunruhigt  durch  die  bisherige 
Amenorrhoe.  Gesichtsausdruck,  Stimme  und  Brüste  weib- 
lich, auch  das  Allgemeinaussehen  weiblich,  keine  Spur 
männlicher  Behaarung  im  Gesichte.  Mons  Veneris  aus- 
gesprochen, aber  ohne  Spur  von  Behaarung,  ebenso  die 
ganze  Schamgegend  unbehaart.     In  der  rechten  Leisten- 


—    230    — 

gegend  sieht  man  eine  postoperative  Narbe  ohne  Spur 
Recidiv  eines  Bruches.  Linkerseits  in  der  Leistengegend 
ein  ovaler  nicht  sehr  harter  sehr  druckempfindlicher 
Tumor.  Dieser  Tumor  lag  direkt  vor  der  äußeren  Öffnung 
des  Leistenkanales,  war  irreponibel  und  schien  ein  solider 
Tumor  zu  sein.  Das  äußere  Genitale  dieser  Person  sah 
genau  aus  wie  dasjenige  einer  Nullipara.  Große  und 
kleine  Schamlippen  regelrecht  gebildet,  Clitoris  von  natür- 
licher Größe,  keineswegs  einem  Penis  ähnlich!  Harnröhren- 
öffnung weiblich.  Die  Scheide  ließ  nur  eine  Fingerkuppe 
ein,  indem  sie  in  der  Höhe  von  dreiviertel  Zoll  blind 
abschloß.  Keine  Spur  von  Uterus  zu  tasten.  Harnröhre 
anderthalb  Zoll  lang,  ohne  Spur  einer  Prostata.  Zwischen 
Finger  und  Katheter  in  Vesica  tastete  man  keinerlei  Ge- 
bilde, die  als  Uterus  oder  Prostata  gedeutet  werden 
konnten.  Martin  entschloß  sich  zur  Exstirpation  des 
Leistentumors  wegen  der  großen  durch  seine  Gegenwart 
verursachten  Schmerzen.  Der  Leistenschnitt  wurde  ge- 
macht; man  fand  einen  serösen  Sack,  der  ein  solides  Ge- 
bilde enthielt,  einen  ovalen  Körper,  man  fand  den  Hoden 
mit  seiner  Tunica  vaginalis  testis.  Ein  deutlich  sichtbares 
Gubernaculum  Hunteri  verlor  sich  unterhalb  in  den 
Geweben  der  Schamlefze.  Nach  Isolierung  entfernte 
Martin  den  Hoden.  Der  durch  den  Leistenkanal  in 
die  Bauchhöhle  eingeführte  Finger  tastete  in  derselben 
keine  Spur  eines  Uterus,  konnte  aber  den  Verlauf  eines 
Vas  deferens  bis  an  die  Seitenwand  der  Harnblase  ver- 
folgen. Dieser  Verlauf  ließ  sich  leicht  kontrollieren,  wenn 
man  den  Samenstrang  etwas  nach  außen  zu  anzog.  Die 
Operation  wurde  radikal  vollzogen,  die  äußere  Wunde 
vernäht.  Genesung.  Professor  Allan  fand  bei  mikro- 
skopischer Untersuchung  in  den  entfernten  Gebilden  den 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang,  die  Tunica  vaginalis 
testis  und  Tunica  albuginea,  Samenkanälchen  von  ver- 
schiedenen  Entwickelungsgraden    und   in   einigen  Tubuli 


—    231    — 

vollständig  ausgebildete  Spermatozoiden.  Interessant  wa: 
besonders,  daß  eine  ältere  Schwester  dieses  Mädchen! 
sich  gleichfalls  als  männlicher  Hypospade  erwies  mit  Hypo- 
spadiasis  penoscrotalis,  descensus  retardatus  testiculorum 
rudimentärer  Scheide  bei  allgemeinem  weiblichem  Körper- 
aussehen, kindlich  gebildeten  Brüsten  und  absoluter 
Amenorrhoe,  völlig  unbehaarten  Genitalien  und  blind 
endender  Scheide.  Diese  Schwester  war  zwei  Jahre  älter. 
Der  Vater  dieser  beiden  Mädchen  war  zur  Zeit  der 
Schwängerungen  seiner  Frau  geisteskrank  .  .  Die  von 
Christopher  Martin  vollzogene  Operation  wies  also 
eine  „erreur  de  sexe"  nach  und  ist  diese  Beobachtung 
besonders  dadurch  interessant,  daß  der  Arzt,  welcher  die 
erste  Bruchoperation  hier  vollzogen  hatte,  sogar  nach 
Bloßlegung  des  Hodens  ihn  doch  noch  für  ein  ektopisches 
Ovarium  gehalten  hatte,  welches  er  in  die  Bauchhöhle 
zurückstieß.  —  Ein  Fall,  der  wie  aus  meinem  heutigen 
Beitrage  ersichtlich  ist,  durchaus  nicht  einzig  dasteht 
und  zur  größten  Zurückhaltung  in  der  sofortigen  Be- 
urteilung des  anatomischen  Charakters  der  exstirpierten 
Gebilde  sub  operatione  auffordert! 

[Paul  Mund 6  hatte  in  einem  eigenen  Falle  der 
Köchin  Marie  O'  Neill  eine  diagnostische  Incision 
der  Schamlefzen  vorgeschlagen  um  festzustellen,  ob  die 
in  ihnen  getasteten  fremden  Gebilde  Ovarien  oder  Hoden 
seien,  indem  er  Hoden  vermutete.  Patientin  ging  jedoch 
auf  diese  Operation  nicht  ein.  Sie  war  niemals  menstruiert 
gewesen,  und  hatte  einen  beiderseitigen  Leistenbruch. 
Nach  Reduction  eines  jeden  Bruches  tastete  man  jederseits 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang;  Hymen  intakt. 
Scheide  in  der  Höhe  von  8  Zentimeter  blind  geschlossen, 
keine  Spur  von  Uterus  getastet.  —  Vulva  normal,  Clitoris 
nicht  vergrößert.] 

21)  Pech  („Auswahl  einiger  seltener  und  lehrreicher 
Fälle,  beobachtet  in  der  chirurgischen  Klinik  der  chirurg.- 


—     232    — 

med.  Akademie  zu  Dresden*  —  Dresden  1858)  Maria 
Rosina  Göttlich,  der  spätere  Gottlieb  Göttlich, 
machte  seiner  Zeit  in  ganz  Europa  viel  Aufsehen  und 
wurde  deshalb  vielfach  beschrieben.  Da  ich  im  vorigen 
Jahrgange  dieses  Jahrbuches  die  bezügliche  Kranken- 
geschichte in  extenso  berichtet  habe,  führe  ich  hier  nur 
die  heute  in  Frage  kommenden  Einzelheiten  an.  Maria 
Rosina  wurde  am  6.  März  1798  in  Görlitz  geboren  und 
als  Mädchen  getauft.  Bereits  im  6.  Lebensjahre  fand  man 
einen  Leistenbruch  von  der  Größe  einer  Nuß  rechterseits. 
Das  Kind  vertrug  ein  ihm  verordnetes  Bruchband  absolut 
nicht  und  riß  es  stets  wieder  herab,  sodaß  die  Mutter 
statt  desselben  eine  Leinen  binde  anfertigte.  Im  lti.  Jahre 
war  der  Bruch  hühnereigroß  geworden,  gleichzeitig  hatte 
sich  schon  damals  ein  stark  ausgesprochener  Geschlechts- 
trieb eingestellt  und  zwar  als  Neigung  zum  Geschlechts- 
verkehr mit  Männern.  Vom  16. — 18.  Jahre  nahmen  die 
Brüste  ganz  bedeutend  an  Umfang  zu,  später  trat  wieder 
Schwund  ein.  Eosina  kohabitierte  schon  im  16.  Jahre 
lebhaft  mit  Männern,  wobei  die  allmälig  bedeutend 
erweiterte  Harnröhre  die  Stelle  der  fehlenden  Scheide 
vertrat.  Gleichzeitig  rühmte  sich  das  Mädchen,  daß  es 
sowohl  mit  Männern  als  auch  mit  Frauen  kohabitieren 
könne,  ziehe  es  jedoch  vor  mit  Männern  zu  tun  zu  haben, 
weil  es  Frauen  gegenüber  für  sie  beschämend  sei,  ein  so 
kleines  „Organ*  zu  haben.  Im  20.  Lebensjahre  entstand 
ein  Leistenbruch  links.  Für  den  rechtsseitigen  Bruch 
empfahl  abermals  ein  Arzt  ein  Bruchband.  Vom  16. — 24. 
Jahre  hatte  Rosine  alle  Monate  etwa  drei  Tage  lange 
diverse  Beschwerden  nach  Art  der  Tormina  menstrualia, 
allgemeines  Mißbehagen,  empfand  jedoch  während  dieser 
Zeit  keinerlei  Schmerzen  in  den  Leistenbrüchen,  ebenso- 
wenig schwollen  in  jenen  Tage  die  Brüche  an,  woraus 
man  vielleicht  auf  ektopische  Ovarien  hätte  schließen 
können.     Niemals     war     die     Periode    eingetreten,    wohl 


—     283     — 

aber  öfters  Nasenbluten.     Rosine    huldigte    viele   Jan 
lang    der   freien    Liebe    und    erkrankte  im  28.   Jahre  i 
einem  Ulcus  molle;    eine   große    Narbe   hinterblieb  nac 
einem  eröffneten  Bubo  inguinalis.     Damals  will  Rosin 
zum  ersten  Male  Blutspuren  auf  ihrer  Wäsche  nach  einei 
Beischlafe  mit  einem  Manne  bemerkt  haben.     Der  links 
seitige  Bruch  begann  vom   28.  Jahre   an  sich  so  zu  ver 
größern,  daß  er  im  32.  Jahre  beinahe  zweifaustgroß  war 
Rosine  diente    damals    als   Dienstmädchen,    hatte    abei 
jetzt  so   starke    Bruchbeschwerden,    daß    sie    den   Dienst 
aufgeben    und    in    das    Hospital    eintreten    mußte.     Man 
vollzog  in  Dresden   linkerseits  die  Bruchoperation,    fand 
jedoch  weder  Netz  noch  Darm  im  Bruche    vor,    sondern 
nur  eine  Hydrpcele  und  konstatierte  dabei  das  Vorhanden- 
sein eines  Hodens    in    dem    vermeintlichen  Bruche,    also 
„erreur  de  sexe".     Rosine    verlangte    nun    durchaus 
die  Ausführung   der  Operation    recht erseits:    die   Aerzte 
verweigerten  jedoch  diese  Operation,  weil  keine  Indikation 
dazu  vorliege.     Rosine  nahm  nun  ihren    Dienst  wieder 
auf  und  ergab  sich  auch  von  Neuem  wieder  der  Prosti- 
tution.    Im  33.  Jahre  trat  sie  wegen  Verstauchung  eines 
Beines    abermals    in    das    Dresdener   Hospital    ein    und 
machte  jetzt  hier  eine  antisyphilitische  Kur  durch,  später 
ging  sie  in  ein  Hospital  nach  Leipzig,  endlich  nach  Halle 
mit  der  Bitte,  man  solle  den  rechtsseitigen  Bruch  operieren, 
wurde  aber  überall  abgewiesen.     Von  1832  bis  1848  reiste 
nun  Rosine   in   Frankreich,    Deutschland   und   England 
umher    und   zeigte    sich    für  Geld   als  Hermaphrodit  bis 
sie    schließlich    im  59.  Jahre    infolge    Einklemmung  des 
nicht  operierten  rechtsseitigen  Bruches  starb.     Das  Allge- 
meinaussehen dieses  männlichen  Hypospaden  war  ein  rein 
männliches,    auch    die    Gesichtsbehaarung,    nur  war  das 
Haupthaar  weiblich  gekämmt.    Andromastie  mit  behaarten 
Brustwarzen,    der    hypospadische    Penis    war   anderthalb 
Zoll  lang,  mit  faltiger,  gerunzelter  Vorhaut.    In  der  linken 


—    234     — 

Hälfte  des  gespaltenen  Scrotum  fand  man  bei  der  Sektion 
Hoden,  Nebenhoden  and  Samenstrang,  rechterseits  die 
gleichen  Gebilde,  ferner  einerseits  einen  Leistenbruch 
mit  Darminhalt.  Hodensack  sehr  spärlich  behaart  Die 
Scheide,  an  der  Mündung  von  einem  harten  Ringe  umgeben, 
endete  in  der  Höhe  von  sechs  und  einem  halben  Centi- 
meter  blind.  Nur  auf  der  hinteren  Scheidenwand  fand 
man  Querfaltung  ihrer  Schleimhaut,  auf  der  vorderen 
aber  nicht.  Pubes  weiblich  behaart;  es  scheint,  daß  für 
den  Beischlaf  ausschließlich  die  Harnröhre  gedient  hat, 
vielleicht  war  das  als  Vagina  angesprochene  Gebilde  eine 
durch  langjährigen  Beischlaf  künstlich  geschaffene  kanal- 
artige Depression,  Einstülpung  der  Gewebe,  wie  dies  in 
analogen  Fällen  schon  öfters  beobachtet  wurde.  In  den 
verschiedenen  Beschreibungen  der  Rosine,  des  späteren 
Gottlieb  Göttlich,  finden  sich  so  viele  Widersprüche, 
daß  es  schwer  ist  zu  sagen,  was  der  Wahrheit  am  nächsten 
kam.  Der  rechte  Hoden  war  bei  dem  kr vptorch istisch 
geborenen  Individuum  im  6.  Jahre  herabgetreten,  der 
linke  im  20.  erst.  Nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  fand 
man  nichts  von  Uterus,  inneren  weiblichen  Genitalien, 
sondern  nur  eine  leere  Excavatio  rectovesicalis.  Man  fand 
auch  keine  Samen  blasen;  die  ektatischen  Vasa  deferentia 
öffneten  sich  in  die  klaffenden  Ductus  ejaculatorii  (?—  N.). 
Marie  Rosine  hatte  wie  gesagt  einen  sehr  früh  schon 
aufgetretenen  und  sehr  stark  ausgesprochenen  Geschlechts- 
drang. Trotzdem  sie  Erektionen  und  Ejakulationen  hatte, 
verkehrte  sie  viel  lieber  geschlechtlich  mit  Männern  als 
mit  Frauen.  Das  geschlechtliche  Empfinden  war  also 
homosexuell.  [Bezüglich  Einzelheiten  und  Abbildung 
siehe  meinen  Aufsatz  in  vorigem  Jahrgange  dieses 
Jahrbuches:  Gruppe  VI  Fall  21  und  Figur  40  daselbst.] 
■  22)  Philippi  [Note  sur  un  cas  d'Hermaphrodisme 
apparent,  ectopie  testiculaire,  castration  double  —  Union 
Medicale  du  Canada.     Montreal  1893  No.  46  —  Referat: 


—    235    — 

Zentralblatt  für  Gynäkologie  1894  No.  47  pg.  1212].  Eir 
28-jähriges  nie  menstruiertes  Mädchen  wandte  sich  ar 
Philippi  wegen  Schmerzen  im  Leibe  und  den  Leisten 
Schon  vor  10  Jahren  hatte  Patientin  einen  Tumor  in  dei 
rechten  Leiste  bemerkt,  welcher  ihr  zeitweilig  Beschwerden 
gemacht  hatte  und  an  Grösse  und  Konsistenz  sehr  wech- 
selte. Gewöhnlich  war  der  Tumor  weich,  stellten  sich 
aber  Schmerzen  ein,  so  fühlte  er  sich  hart  an.  Gleich- 
zeitig wurde  dann  ein  Gefühl  von  schmerzhaftem  Zuge 
in  der  Leiste  empfunden.  Vor  einigen  Monaten  war  nun  ein 
ähnlicher  aber  kleinerer  Tumor  auch  linkerseits  erschienen. 
Diesen  Tumor  konnte  Patientin  eigenhändig  nach  oben  zu 
reponieren,  beim  Gehen  fiel  er  aber  sofort  vor  in  die  linke 
Schamlefze.  Seit  drei  Jahren  hatten  die  Schamlefzen  sich 
stark  vergrössert  und  strahlten  die  Schmerzen  auch  in 
den  Schenkel  und  die  Hüfte  aus.  Selbst  im  Bett  hatte 
die  Kranke  keine  Linderung  und  konnte  nicht  schlafen.  Es 
kamen  allgemeine  nervöse  Reizbarkeit,  Erbrechen  etc.  hinzu. 
Allgemeinaussehen,  Brüste  und  Stimme  weiblich, 
aber  Körperbau  sehr  kräftig.  Die  grossen  Schamlefzen, 
gut  entwickelt,  sind  in  ihrer  unteren  Hälfte  in  der  Aus- 
dehnung von  8  Centimern  miteinander  verwachsen,  sodaß 
der  Damm  ganz  auffallend  lang  erscheint^  dabei  5  Centi- 
meter  breit.  Die  kleinen  Schamlippen  sind  nur  in  ihrer 
unteren  Hälfte  entwickelt,  die  Clitoris  ausnehmend  groß. 
Die  Schamöffnung  ist  so  eng,  daß  sie  knapp  den  kleinen 
Finger  eintreten  läßt  und  .zwar  nicht  tiefer  als  3  Centi- 
meter  weit.  Die  Harnröhrenöffnung  erscheint  verborgen 
unterhalb  einer  Schleimhautfalte  in  dem  Vestibulum 
vaginae.  Von  einem  Uterus  war  nichts  zu  tasten,  die 
in  der  Höhe  blindsackartig  abgeschlossene  Scheide  weist 
keine  Faltung  ihrer  Schleimhautwände  auf.  Der  in  der 
linken  Schamlefze  enthaltene  Tumor  läßt  sich  in  den 
Leistenkanal  hinein  und  in  die  Bauchhöhle  reponieren, 
er  bestand  aus  einer  oberen  elastischen  und  einer  unteren 


—     236    — 

weichen  Partie.  Dämpfung  bei  Perkussion.  Der  rechts- 
seitige gänseeigroße  Tumor  läßt  sich  bis  auf  den  Boden 
der  Schamlefze  herunterdrücken,  er  erscheiut  elastisch 
und  wie  durch  eine  Einschnürungsfalte  in  zwei  Teile 
zerlegt,  sehr  druckempfindlich  bei  Berührung  und  nicht 
reponibel.  Philipp!  entfernte  zunächst  den  rechtsseitigen 
Tumor :  der  dicke  Bruchsack  wurde  reseciert.  Der  kleine 
Tumor  war  von  einer  hufeisenförmigen  durchsichtigen 
Cyste  bedeckt  von  oben  her,  sein  Stiel  war  dick.  Schon  nach 
einem  Monate  kehrte  die  Patientin  zu  Philippi  zurück 
und  verlangte  nunmehr  auch  die  Entfernung  der  links- 
seitigen Geschwulst,  welche  ihr  jetzt  auch  lästig  falle. 
P.  fand  bei  der  Operation  einen  Tumor  von  der  gleichen 
Größe  wie  rechterseits  durch  eine  Art  Einschnürung  wie 
zweigeteilt;  die  obere  Hälfte  entsprach  dem  Nebenhoden, 
die  untere  dem  Hoden  mit  dessen  Tunica  albuginea. 
Auf  dem  Querschnitt  des  Präparates  sieht  man  den  Bau 
des  Hodens.  Das  Mikroskop  bestätigte  diese  Erkenntnis, 
wenn  auch  keine  Spermatozoiden  gefunden  wurden.  Es 
handelte  sich  also  hier  um  Hypospadie  des  Penis,  teil- 
weise Spaltung  der  Scrotum,  Vorhandensein  einer  rudi- 
mentär gebildeten  Vagina,  und  [Descensus  retardatus 
testiculorum,  bei  allgemeinem  weiblichen  Aussehen  und 
weiblichen  secundären  Geschlechtscharakteren,  wo  das 
Individuum  an  und  für  sich  auch  nicht  den  leisesten 
Verdacht  einer  „Erreur  de  se  xe"  weckte.  Erst  das  Er- 
gebnis der  Operation  stellte  die  „ Erreur  de  sexe"  fest. 
23)  Charles  T.  Poore  [siehe:  F.  S.  Mathews: 
„A  male  Pseudo- Hermaphrodite* -The  Medical  Record 
27.  Mai  1899  pg.  764]  operierte  im  Januar  1902  ein 
zwölfjähriges  Mädchen  und  entfernte  eine  angeblich  ent- 
zündete Leistendrüse.  Dieselbe  lag  linkerseits  dicht  vor 
der  äußeren  Öffnung  des  Leistenkanales.  Im  Jahre  1899, 
also  nach  sieben  Jahren,  wurde  diese  damals  exstirpierte 
Drüse  von  Mathews  mikroskopisch  untersucht  und  jetzt 


—     237     — 

in  der  Ärztlichen  Gesellschaft  demonstriert.     Die  t 
suchung   ergab,  daß  diese  Drüse  ein  Hoden  war.     1 
ohne  große  Schwierigkeiten  gelang  es  Mathews,  d 
Mädchen  jetzt  aufzusuchen  und  die  Genehmigung  zu  i 
Untersuchung  zu  erlangen. 

Die  äußeren  Genitalien    sahen  absolut   wie    die  1 
malen    Geschlechtsteile    eines    19jährigen  Mädchens   s 
es  fand  sich  aber  keine  Spur  von  Behaarung  der  Geschlech 
teile,  eben  so  wenig  fand  sich  im  Gesicht  männliche  I 
haarung.    Scheide  einen  und  ein  Viertel  Zoll  lang.     Kei 
Spur  von  Uterus  oder  Prostata  zu  tasten ;  der  rechtsseitig 
Hoden    wurde   nicht  gefunden,    dürfte  also  wohl   in    dt 
Bauchhöhle  liegen.     Hypospadiasis  penoscrotalis  mit  eir 
seitigem  Kryptorchismus. 

24)  Porro  [siehe  Debierre:  „L'Hermaphrodisnie.6 
Paris  1891  pg.  94]  vollzog  in  einem  Falle  zweifelhaften 
Geschlechtes  bei  einem  jungen  Mädchen  von  22  Jahren 
eine  diagnostische  Operation.  Allgemeinaussehen  absolut 
weiblich,  ebenso  das  Aussehen  der  Scham  bis  auf  zwei 
in  den  Schamlefzen  enthaltene  Gebilde,  welche  hart  waren 
und  dicht  unterhalb  der  äußeren  Öffnungen  der  Leisten- 
kanäle lagen.  Porro  schnitt  jede  Schamlefze  auf  und 
legte  Hoden  und  Nebenhoden  bloß.  Nach  zwei  Wochen 
verließ  das  bisherige  Fräulein  hochbeglückt  von  dem 
Ergebnis  dieser  Operation  in  männlichen  Kleidern  dieKlinik. 

25)  Pozzi  [„Sur  un  Pseudo-hermaphrodite  androgy- 
noide:  Pr^tendue  femme  ayant  de  chaque  cöte  un  testi- 
cle,  un  ^pididyme  (ou  trompe?)  kystique  et  une  corne 
ut^rine  rudimentaire ,  ä  gauche  formant  hernie  dans  le 
canal  inguinal.  Cure  radicale,  examen  microscopique", 
—  Acade'mie  de  M6decine ,  28.  Juillet  1896,  —  Annales 
des  maladies  des  organes  g^nito-urinaires.  Jan  vier  1897 
No.  1.  pg.  62 — 74.]  Das  Eigentümliche  dieser  Beobach- 
tung liegt  darin,  daß  das  Allgemeinaussehen   der  Person, 


—    238    — 

die  secundären  Geschlechtscharaktere  durchweg  weiblich 
waren,  aber  ebenso  das  Aussehen  der  Vulva  und^zwar 
ohne  die  sonst  bei  männlichen  Scheinzwittern  mit  peno- 
scrotaler  Hypospadie  so  auffallende  Disproportion  zwischen 
der  tibergrossen  Clitoris  bei  sonst  in  Miniatur  angelegter 


Fig.  3.    Vulva  des  von  S.  Pozzi  operierten  33jährigen  männlichen 

Scheinzwitters  Marie  C.  ohne  Spur  von  Clitorishypertrophie  [Nymphen 

vorhanden]. 


Vulva.  In  diesem  Falle  konnte  niemand  männliches 
Geschlecht  auch  nur  vermuten,  erst  das  Mikroskop  brachte 
Klarheit  in  die  Frage.  Die  33-jährige  Stubenmagd 
Marie  C.  war  als  drittes  Kind  ihrer  Eltern  geboren 
worden.  Als  die  Mutter  sich  im  dritten  Monate  der 
Schwangerschaft   befand,    erschrak   sie    einmal    sehr,    als 


sie  zufällig  davon  Zeuge  war,  „qu*  un  nomine  füt  6cras£".  \ 
Von  jenem  Schreck  an  war  sie  ständig  krank.     Ein  Bruder   \ 
von  Marie  C.  leidet  an  infantiler  Paralysis,  sonst  ergab    \ 
die  Anamnese  bezüglich  der  Familie  nichts  von  Belang. 
Marie  C.  war  bisher   niemals  ernstlich  krank  gewesen, 
im  zweiten  Lebensjahre  mußte  sie  ein  linksseitiges  Leisten- 
bruchband tragen.     Vom   12.  Jahre   an  oft  Nasenbluten, 
zuweilen  mehrmals  an  einem  Tage,  einmal  sogar  12-malig 
innerhalb   24  Stun-  :y 

den;  diese  Blutun- 
gen wiederholten 
sich  niemals  länger 
als  zwei  Tage  'nach 
der  ßeihe,  sie  wie- 
derholten sich  aber 
allmonatlich  in  ge- 
wissen Zeitabstän- 
den. Diese  Blutun- 
gen wurden  begleitet 
von  Schmerzen  in 
der  Lendengegend, 
dem  Unterleibe  und 
den  Beinen,  dem  Ge- 
fühl von  Hitze, 
Atemnot  und  Kopf- 
schmerz. In  dem- 
selben Jahre  traten 

die  Erscheinungen  der  erreichten  Geschlechtsreife  auf, 
die  Behaarung  des  Mons  Veneris  und  Stimmbruch. 
Im  14.  Jahre  trat  einmal  während  jener  praemen- 
strualen  Beschwerden  ein  dreimaliger  Anfall  von  Som- 
nambulismus ein  mit  nächtlichem  Herumspazieren  im 
Hause.  Die  Nasenblutungen  samt  dem  gesamten  Komplex 
der  Geleiterscheinungen  dauerten  bis  zum  22.  Jahre. 
In  diesem  Jahre    erkrankte    Marie  C.  an  fieberhaftem 


Fig.  4.  Linkes  Uterushorn  und  Hoden  (sub 

herniotomia  entfernt)  der  33  jähr.  Marie  C. 

T  =  Testikel,  U = Uterushorn,  C  =  Stumpf, 

V,  V  =  Tunica  vaginalis. 

Ansicht  von  hinten. 


—    240     — 

polyarticulärem  Gelenkrheumatismus  aber  ohne  Komplika- 
tionen von  Seiten  des  Herzens.  Im  30.  Jahre  stellte  sich 
ein  Rückfall  dieses  Leidens  ein  mit  Schmerzen  in  Bauch 
und  Lenden. 

Vom  Januar  1895  bis  Juni  wiederholten  sich  3 — 1  mal 
Blutungen  aus  dem  Mastdarme  bei  Verstopfung.  Obwohl 
die  Nasenblutungen  seit  dem  22.  Jahre  sich  ganz  verloren 
hatten,  so  litt  Marie  C.  doch  alle  Monate  an  Lenden- 
schmerzen, Gefühl  von  Hitze  im  Unterleibe.  Im  22.  Jahre 
wurde  sie  zum  ersten  Male  untersucht  und  zwar  wegen 
der  Amenorrhoe  und  jenen  periodisch  sich  wiederholenden 


v,- 


Fig.  5.    Linke»  Uterushorn  und  Hoden  (Fall  S.  Pozzi). 
Ansicht  von  vorn. 

Kongestionserscheinungen.  Damals  erklärte  ein  Arzt, 
Marie  sei  ein  geschlechtsloses  Wesen !  Marie  C.  ging 
infolge  dessen  zu  Dr.  Siredey,  welcher  den  Mangel 
eines  Uterus  konstatierte.  Schon  im  15.  Jahre  hatte 
Marie  bemerkt,  daß  sich  in  ihrer  linken  Leiste  eine 
Geschwulst  von  Hühnereigröße  befinde,  es  war  dies  ein 
mobiler  Leistenbruch,  reponibel.  Im  23.  Jahre  trat  ein 
ebensolcher  Tumor  rechterseits  in  der  Leiste  auf.  Von 
Zeit  zu  Zeit  wurden  beide  Brüche  schmerzhaft  und  zwar 
nur  für  2 — 3  Tage  und  zwar  nur  während  der  obenge- 
nannten Kongestionserscheinungen.      Die  Brüche   setzten 


—    241    — 

Marie    so    zu,  daß   sie   dieselben    durchaus    loswerd 
wollte»     Sie   ging  im  Januar  1895  zu  Dr.  Landriei 
um    sich    untersuchen    zu   lassen    zwar,  weil   ein  jung 
Mann  um  sie  angehalten  hatte.    Sie  wollte  wissen,  ob  s 
heiraten  könne,    da    ihr    jemand  gesagt  habe,   sie  müss 
ihren    Freier    von    ihrem    Zustande   in    Kenntnis    setzei 
Landrieux  riet   ihr   in  'das  Hospital   einzutreten:    Ar 
6.  Juni  1895  wurde  sie  hier  untersucht  von  Beaussenat 
B  o  n  c  o  u  r  und  später  von  P  o  zz  i.   Körperhöhe  mittelgroß 
Körperbau  kräftig,  langes  weibliches  Haupthaar,  leichter 
Anflug  männlicher  Gesichtsbehaarung,  Kinn  behaart,  Hals 
kurz,    Kehlkopf    nicht  hervortretend,   Brustumfang  über 
die  Mammae   gemessen   94  Centimeter,    ober  und  unter- 
halb 69  Centimeter.     Mammae  groß,   gut  entwickelt  mit 
Drüsensubstanz,  Becken  breit,  weiblich,  Linea  alba  unbe- 
haart, Atmungstypus  männlich,  abdominal.     Stimme  und 
Konturen    der  Extremitäten    weiblich.      Scham behaarung 
äußerst  dürftig,  kaum  hier  und  da  einige  blonde  Härchen 
auf  dem  Mons  Veneris  und  den  Schamlefzen.     Perineal- 
gegend  gänzlich  unbehaart.  Die  sehr  große  linke  Scham- 
lefze   bedeckt   teilweise   die  kleinere   rechte  und  enthält 
ein  frei  verschiebliches  taubeneigroßes  Gebilde,   elastisch 
und  einem  Hoden  ähnlich  anzufühlen,  von  diesem  Gebilde 
zieht  eine  Art  Strang  nach  unten  herab   zu  dem  Boden 
der  Schamlefze.     Ein  Strang   zieht  auch   nach   oben  hin 
gegen   den  Leistenkanal    und   weist   an  einer  Stelle   eine 
druckschmerzhafte    Verbreiterung     auf;     der    erweiterte 
Leistenkanal  läßt  zwei  Finger  zugleich  ein,  das  elastische 
Gebilde  läßt  sich  leicht  in  den  Leistenkanal  hineindrängen, 
der    Strang  jedoch    nicht.      Diese    Hernie    verschwindet 
spontan  niemals,  wohl  aber  tritt   sie   beim  Husten   tiefer 
herab  und  enthält  keinen  Darm.     Rechterseits  tritt  beim 
Husten  ein  Bruch  hervor,  reponibel,  aber  niemals  spontan 
verschwindend.   Der  rechtsseitige  Bruch  ist  ein  beginnen- 
der und  leicht  zu  reponieren. 

Jahrbach  V.  16 


—    242    — 

Die  Schamteile  sehen  aus,  wie  bei  einem  Müdchen 
vor  erreichter  Geschlechtsreife.  Von  der  Clitoris  maß 
man2Centimeterbiszur  Urethralmündung,  von  daanderthalb 
bis  zum  Frenulum  labiorum,  von  da  bis  zum  After  3  Centi- 
meter.  Große  Schamlefzen  wenig  prominent,  die  rechte  bildet 
einen  kaum  erhabenen  Hautwulst,  die  Bedeckungen  der 
linken  Schamlefze  gerunzelt,  erinnern  an  ein  Scrotum 
eines  Knaben.  Kleine  Schamlippen  atrophisch,  anderthalb 
Centimeter  hoch,  nur  in  der  oberen  Hälfte  der  Schamspalte 
sichtbar,  sehen  aus  wie  am  unteren  Ende  abgeschnitten. 
Hymen  annularis  mit  Spuren  von  Einrissen  nach  einem 
Stuprationsversuch  (im  8.  Lebensjahre),  Harnröhrenöffnuug 
normal  weiblich,  oberhalb  die  „bandelette  masculine* 
von  Pozzi,  welche  aber  kaum  im  unteren  Drittel  des 
Vestibulum  ausgesprochen  ist  und  nicht  die  Clitoris 
erreicht.  Die  Clitoris  äußerst  klein,  ragt  nicht  aus  ihrem 
Präputium  hervor.  In  Lumen  des  Hymens  sieht  man 
die  Falten  der  Columnae  rugarum  der  Scheidenwand. 
Die  Scheidenuntersuchung  sehr  erschwert  durch  Enge 
und  Empfindlichkeit;  ein  Speculum  konnte  nicht  ange- 
wendet werden.  Die  Scheide  dürfte  in  der  Tiefe  blind 
abgeschloßen  sein,  nichts  von  einem  Uterus  getastet. 
Die  Patientin  hat  normale  Verstandesentwickelung  und 
hat  eine  gute  elementare  Erziehung  erhalten.  Bis  jetzt 
hatte  sich  noch  niemals  Geschlechtsgefühl  bei  ihr  gemeldet 
und  mit  Ausnahme  jenes  Stuprations Versuches  im  8. 
Lebensjahre  war  sie  nie  mit  männlichen  Genitalien  in 
Berührung  gekommen.  Peyrot  diagnosticierte  eine  beider- 
seitige Hernie  der  Uterusadnexa  bei  mangelndem  Uterus 
und  vollzog  am  19.  VI.  die  Radikaloperation.  Linker- 
seits fand  er  am  Niveau  des  Leistenkanales  eine  hühnerei- 
große Cyste  mit  Flüssigkeit  gefüllt,  welche  durch  eine 
Art  Stiel  mit  einem  drüsigen  Gebilde  zusammenhing,  das 
er  für  ein  Ovarium  ansah.  Dieses  drüsige  Gebilde 
wiederum  lag  einem  Körperchen  von  Haselnußgröße  an, 


243 


welches  er  für  einen  rudimentären  Uterus  ansehen 
wollte:  die  Cyste  faßte  er  als  Hydrosalpinx  auf.  Nach 
Resektion  dieser  Cyste  schob  er  die  anderen  Gebilde, 
welche  er  für  Uterus  und  Ovarium  angesehen  hatte,  in 
die  Bauchhöhle  zurück!  Den  Leistenkanal  vernähte  er. 
Rechterseits  fand  er  ebenfalls  eine  cystische  Bildung, 
welche  einer  graugefärbten  Masse  anlag,  die  er  für  den 
anderen  Eierstock  hielt.  Da  keine  Kommunikation  mit 
der  Bauchhöhle  vorlag  und  jene  beiden  Gebilde  in  einem 
extraperitonealen  Sacke  zu  liegen  schienen,  so  trug  er 
sie  mit  dem  Messer  ab  nach  Unterbindung  einer  Art 
Stieles.  Leistenkanal  geschlossen.  Die  Schmerzen  ver- 
schwanden nach  der  Operation  und  Patientin  schien 
geheilt. 

Im  Februar  1896  kam  es  jedoch  linkerseits  zu  einem 
Recidiv  und  trat  abermals  ein  linksseitiger  Leistenbruch 
hervor  unter  der  Narbe.  Der  Tumor  senkte  sich  nach  unten 
herab  und  wurde  beim  Gehen  hinderlich.  In  horizontaler 
Rückenlage  läßt  sich  der  Tumor  in  die  Bauchhöhle 
reponieren,  jedoch  auch  weiter  nach  unten  herabdrängen 
bis  in  die  Schamlefze.  Seit  der  Operation  begann 
Patientin  eine  vorher  nie  bemerkteLibido  sexualis 
zu  empfinden  und  hatte  oft  psychische  Emotionen,  welche 
mit  Tränen  und  Traurigkeitsgefühl  endeten,  und  zwar 
traten  solche  Stimmungen  auf  ohne  die  geringste  äußere 
Veranlaßung.  Der  Geschlechtstrieb  war  auf  Männer 
gerichtet,  nicht  auf  Frauen!  Pozzi  glaubte,  es  handle 
sich  um  ein  Recidiv  der  Hernie  von  Uterus  und  Ovarium 
und  machte  am  6.  V.  1896  die  Radikaloperation.  Er 
fand  einen  aus  zwei  Anteilen  bestehenden  Tumor:  Ein 
längliches  weißliches  Gebilde  von  drüsigem  Aussehen 
[Hoden  oder  Eierstock?]  und  dicht  an  der  inneren  und 
hinteren  Fläche  dieses  Gebildes  eine  harte  dreieckige 
Masse.  Eine  Art  Vaginalis  umhüllte  das  Ganze  und  man 
konnte  leicht  mit  dem  Finger  eine  Art  Stiel  unterscheiden. 

16* 


—    244    — 

Nach  dieser  Operation  nahm  die  Melancholie  der  Patientin 
noch  bedeutend  zu,  sodaß  die  Patientin  jetzt  fast  ständig 
weinte.  Die  mikroskopische  Untersuchung  sowohl  der 
jetzt  durch  Pozzi  als  auch  der  früher  durch  Peyrot  ent- 
fernten Gebilde  wies  eine  erreur  de  sexe  nach:  männ- 
liches Geschlecht  der  Marie  C:  sie  war  ein  Androgynoid 
mit  Uterus  bicornis;  ein  Hörn  desselben  lag  neben  dem 
Hoden  in  der  Hernie  (siehe  Abbildungen  Fig.  3,  4,  5.) 
Pozzi  machte  folgende  Schlußfolgerungen:  1.  Die 
Entwickelungsanomalie  sollte  eine  Folge  der  durch  den 
Schreck  veranlaß ten  psychischen  Erregung  der  schwangeren 
Mutter  sein.  2.  Das  Eintreten  der  Geschlechtsreife  soll 
sich  bei  Marie  C.  durch  10  Jahre  lang  sich  periodisch 
wiederholendes  Nasenbluten  verraten  haben,  heute  nach 
Aufhören  der  Epistaxis  treten  doch  noch  die  früher  jenes 
Nasenbluten  begleitenden  anderen  Symptomenkomplexe 
auf.  Diese  Symptome  sollen  abhängig  sein  von  der 
anomalen  Entwicklung  der  Müller'schen  Gänge  [rudi- 
mentärer Uterus,  Vagina],  3.  Marie  C.  empfindet  trotz 
Gegenwart    von    Hoden     weiblichen     Geschlechtsdrang. 

4.  Dieser  Geschlechtsdrang  ist  erst  erwacht  nach  operativer 
Entfernung  des  rechten  Hodens,  eine  schwer  zu  erklärende 
Erscheinung.  Leichter  ist  die  Veränderung  des  Charakters 
zu  verstehen,  die  nach  der  vollständigen  Kastration 
eintrat,  welche  dieses  Individuum  noch  mehr  einem  weib- 
lichen ähnlich  machte.  Es  ist  dies  ein  Phänomen,  wie 
man  es  öfters  bei  Männern  und  Tieren  beobachtete  nach 
Entfernung  der  Hoden.  Die  Kastration  dieses  Individuum 
schuf  solche  Verhältnisse,  daß  es  heute  nicht  gerecht- 
fertigt wäre,  eine  Rectifikation  der  Metrik  im  Standesamte 
zu  verlangen:  dieses  Individuum  gleicht  heute  mehr  einer 
Frau,  an  welcher  man  einer  Castratio  uteroovarialis  vor- 
genommen    hat,     als     einem    männlichen    Scheinzwitter. 

5.  Die  männlichen  Scheinzwitter-Hypospadiäen  —  Andro- 
gynoides  —  besitzen  keine  Spermatozoiden,  sind  also  nicht 


—    245    — 

zur  Befruchtung  einer  Frau  fähig.  —  Ein  Trugschluß, 
da  die  Fähigkeit  zur  Schwängerung  in  erster  Linie  von 
dem  Entwickelungsgrade  der  Hoden  abhängt,  zweitens 
von  dem  Vorhandensein  oder  Nichtvorhandensein  der 
zugehörigen  Emissionswege  für  das  Sperma.  Gibt  es 
doch  zahlreiche  Fälle  von  Schwängerung  gerade  durch 
einen  solchen  männlichen  Scheinzwitter  und  auch  einen 
Fall  wo  diese  Zwitterbildung  sich  vom  Vater  auf  den 
Sohn  vererbte,  welchen  ich  im  vorigen  Jahrgange  dieses 
Jahrbuches  wiedergegeben  habe.    [Fall  von  Traxler.] 

Irrtümlich  ist  ferner  auch  die  Angabe  Pozzi's,  es 
seien  hier  zum  ersten  Male  die  bei  einem  Scheinzwitter 
operativ  entfernten  Geschlechtsdrüsen  zur  mikroskopischen 
Untersuchung  gelangt.  Die  mikroskopischen  Untersu- 
chungen wurden  von  Dr.  L  a  1 1  e  u  x  gemacht.  Marie  C. 
war  also  ein  männlicher  Scheinzwitter  par  erreur  de 
s  exe  als  Mädchen  auferzogen  mit  weiblichen  Brüsten 
weiblichem  Allgemeinaussehen,  einer  weiblichem  Scham, 
Molimina  menstrualia,  einem  Uterus  bicornis  und  weib- 
lichem geschlechtlichem  Empfinden.  Die  beigefügten  drei 
Abbildungen  entstammen  der  OriginalbeschreibungPozzi's. 
Zwei  von  diesen  Abbildungen  stellen  den  Uterus  rudi- 
mentarius  nebst  Hoden  und  Tunica  vaginalis  vor  und 
zwar  die  Ansicht  des  postoperativen  Präparates  von 
vorn  und  von  hinten.  Es  lag  ein  Uterus  bicornis  vor 
mit  inguinolabialer  Ektopie  der  beiden  Uterushörner  und 
descensus  retardatus  testiculorum.  Der  anatomische 
Charakter  der  seinerzeit  von  Peyrot  entfernten  Cyste 
blieb  zweifelhaft,  ich  möchte  am  ersten  vermuten,  daß  es 
sich  um  eine  Cyste  des  Parovarium  handelte  oder  um 
eine  Cyste  des  Nebenhodens.  Die  Testikel  waren  atro- 
phisch, ohne  nachweisbare  Spermatogenese.  In  dem  von 
Pozzi  amputierten  Uterushorne  fand  man  keine  uterine 
Schleimhaut. 

26)  Sa  eng  er   [siehe  Kutz:    „Über   einen  Fall  von 


—    246    — 

Pseudohermaphroditismus  masculinus  mit  Feststellung 
des  Geschlechtes  durch  Exstirpation  eines  Leistenhodens •- 
Zentralblatt  für  Gynaekologie  1898  No.  165  pg.  889]: 
Ein  23jähriges  Dienstmädchen  wurde  S aenger  aus  der 
Poliklinik  überwiesen:  erstens  wegen  absoluter  Amenorrhoe, 
zweitens  weil  alle  vier  Wochen  einige  Tage  lang  an- 
dauernde Schmerzen  im  Unterleibe,  den  Leisten  und  den 
Brüsten  sich  regelmäßig  wiederholten.  Diese  Schmerzen 
sind  in  letzter  Zeit  so  stark  geworden,  daß  Patientin  ihre 
Arbeitsfähigkeit  einbüßte.  Allgemeiner  Typus  weiblich, 
Gesichtsfarbe  gesund,  Wangen  gerötet,  das  Haupthaar 
in  Zöpfe  geflochten.  Die  Brüste  wenig  entwickelt,  aber 
weiblich.  Achselhöhlen  reich  behaart.  Schanigegend  und 
Perianalgegend  spärlich  behaart.  Hymen  intakt,  mit  enger 
Öffnung,  Scheide  geräumig,  in  der  Höhe  blind  geschlossen. 
Kein  Uterus  per  rectum  getastet.  In  der  rechten  Leisten- 
gegend ein  ovaler,  glatter,  harter  Körper,  verschieblich, 
hühnereigroß,  sehr  druckempfindlich  und  nicht  nach  der 
Bauchhöhle  zu  reponibel.  Es  wurde  eine  rechtsseitige 
inguinolabiale  Hernie  des  rechten  Ovarium  diagnosticiert. 
In  der  linken  Leiste  fand  Sänger  ebenfalls  eine  Hernie, 
welche  ein  weiches  reponibles  Gebilde  enthielt,  in  der 
Tiefe  eine  härtere  Masse.  Der  rechtsseitige  Leistenbruch 
soll  in  frühem  Kindesalter  aufgetreten  sein,  der  links- 
seitige aber  erst  nach  Beendigung  der  Schule.  Angesichts 
der  Schmerzhaftigkeit  der  rechtsseitigen  Hernie  führte 
Sänger  die  Herniotomie  aus,  indem  er  darauf  rechnete 
es  werde  vielleicht  gelingen  das  ektopische  Ovarium 
zu  reponieren  und  dann  den  Bruchsack  ganz  zu  schließen. 
Bei  der  Operation  zeigte  sich,  daß  der  Bruchsack  nichts 
Anderes  war,  als  der  Processus  vaginalis  peritonaei,  die 
tunica  vaginalis  testis  communis;  das  für  ein  Ovarium 
angesehene  Gebilde  war  ein  Hoden.  Sänger  entfernte 
den  Hoden  samt  dem  rudimentären  Nebenhoden  und  Vas 
deferens  und  schloß  die  Operationswunde  in  toto.     Dann 


—    247     — 


schritt  er  zu  der  linksseitigen  Herniotomie  und  fand  dort 
in  dem  Bruche  nur  ein  Harnblasendivertikel ,  wie  der 
Katheter  nachwies.  Hernia  extraperitonealis  vesicae  uri- 
nariae.  Man  fand  weder  eine  Öffnung,  welche  nach  der 
Bauchhöhle  zu  kommunizierte,  noch  eine  Geschlechtsdrüse 
in  dieser  Hernie.  Der  entfernte  rechte  Hoden  enthielt  ein 
kleines  Fibroadenom,  hart  und  von  der  Größe  einerrHasel- 
nuß.  Wahrscheinlich  liegt  der  linke  Hoden  noch  in  der 
Bauchhöhle.  Über  das  geschlechtliche  Empfinden  dieses 
Individuums  ist  leider  in  dem  Bericht  ebensowenig  etwas 
gesagt,  wie  in  den'meisten  anderen,  es  heißt  nur  von  der 
Hymenalöffnung,  sie  sei  dehnbar  gewesen  aber  ohne  Einrisse. 
27)  Sänger  [siehe  Schultze  -  Vellinghausen: 
„Ein  eigentümlicher  Fall  von  Pseudohermaphroditismus 
masculinus"  Zentralblatt  für  Gynäkologie  1898  No.  51, 
pg.  1377 — 2385].  Eine  32-jährige  Lehrerin,  welche  nie 
menstruiert  war,  aber  alle  3 — 4  Wochen  regelmäßig*  an 
Unterleibsschmerzen  litt,  meldete  sich  bei  meinem  leider 
zu  früh  verstorbenen  Freunde  unvergeßlichen  Andenkens, 
Professor  Sänger.  Im  18.  Lebensjahre  hatte  sie  zum 
ersten  Male  einen  Tumor  in  der  linken  Leistengegend 
bemerkt,  der  in  der  Folge  allmählich  sich  vergrößerte. 
Ein  damals  konsultierter  Arzt  sagte  ihr,  der  Tumor  sei 
angeboren  und  enthalte  die  Gebärmutter.  Die  Kranke 
konstatierte  selbst,  daß  der  Tumor  im  Laufe  der  letzten 
5  Jahre  um  einige  Zentimeter  an  Umfang  zugenommen 
hatte  und  verlangte  jetzt  dessen  Entfernung,  weil  der 
Tumor  ihr  beim  Gehen  hinderlich  sei.  Allgemeinaussehen 
und  Becken  weiblich,  keine  Spur  von  männlicher 
Behaarung,  Brüste  klein  aber  weiblich.  Der  linksseitige 
Leistenbruch  ist  irreponibel  und  reicht  nach  unten  zu  bis 
in  die  linke  Schamlefze  herab,  der  Bruchinhalt  ist  elastisch, 
aber  wenig  verschieblich.  Gesichtsausdruck  weiblich  ohne 
irgend  ein  männliches  Charakteristikum.  Die  äußeren  Scham- 
teile sind  normal  weiblich,  aber  die  Schambehaarung  sehr 


—     248    — 


spärlich.  Die  Scheide  nur  7 — 8  Zentimeter  tief,  schließt 
in  der  Höhe  blind.  Es  wurde  weder  ein  Uterus  noch 
eine  Spur  von  Adnexa getastet.  Sänger  glaubte  zunächst 
auf  Grund  seiner  Untersuchung,  der  in  hernia  liegende 
Körper  sei  ein  Hoden,  es  liege  also  eine  erreur  de  sexe 
1  2 


7  6       5 

Fig.  6.  Operativ  sub  herniotomia  Ton  Sänger  gewonnenes  Präparat. 

Ansicht  von  vorn. 

1  =  Uterus,    2  =  Hoden,    3  =  Tube,    4  =  Cyste,    5  =  Lig.  latnm, 

6  —  Amputationsstumpfnache  des  Uterus,  7  =  Bruchsack. 

vor,  er  glaubte,  jenes  Gebildein  der  Hernie  sei  ein  Hoden 
von  einer  Hydrocele  umgeben.  Am  13.  VII.  1898  voll- 
zog er  die  Herniotomie,  in  dem  Bruchsacke  fand  er  einen 
ovalen  Körper  von  Gänseeigröße,  von  glänzender  gelblicher 


—    249    — 


Oberfläche,  cystisch  entartet.  Das  untere  Ende  dieses 
Körpers  war  von  einem  Gebilde  umgeben,  welches  als 
eine  Tube  erkannt  wurde  mit  sichtbarem  peripheren  Ende 
2  1  7 


5  6 

Fig.  7.    Dasselbe  Präparat  von  hinten  gesehen. 
1  =  Uterus,    2  =  Hoden,   3  =  Peripheres  Tubenende,    4  =  Cyste, 
5  =  Lig.  latum,  6  =  Amputationsstumpffläche  des  Uterus, 
~     7  =  Bruohsaok. 

und  Fimbrien.  Der  Bruchinhalt  bestand  aus  jener  cysti- 
schen Bildung  und  einem  härtlichen  Gebilde  einem  klein- 
fingerlangem Uterus  in  Verbindung  mit  einer  Tube. 
Zwischen  dem  Fundus  uteri  und  jener  cystischen  Bildung 


—     250    — 

lag  noch  eine  härtliche  Masse  von  unbestimmter  Natur 
vielleicht  eine  Geschlechtsdrüse?]  Das  Lumen  des  Leisten- 
kanales  erwies  sich  durch  einen  secundären  EntzUndungs- 
prozeß  obliteriert,  sodaß  es  nicht  gelang  einen  Finger  in 
die  Bauchhöhle  einzufuhren.  Der  Bruchinhalt  wurde  mit 
Resection  des  ßruchsackes  entfernt,  die  Wunde  in  toto 
geschlossen.  Der  Stiel  der  entfernten  Gebilde  retrahierte 
sich  etwas  in  den  Leistenkanal,  wurde  aber  wieder^ heraus- 
geholt und  in  der  Leistenkanalmündung  eingenäht.  Nach 
zwei  Wochen  verließ  Patientin  geheilt  von  ihren  Be- 
schwerden das  Hospital.     [Siehe  Fig.  6  u.  7]. 

An  dem  Präparate  fand  man  das  amputierte  obere 
Uterusende  5,5  Centimeter  lang,  2  Centimeter  breit.  Die 
rechte  Tube  hatte  6  und  einen  halben  Centimeter  Länge 
und  wies  kein  Lumen  auf  am  peripheren  Ende.  In 
Mesosalpinge  lag  die  vorerwähnte  Cyste,  linkerseits  vom 
Uterus  fand  man  keine  Tube;  das  ligamentum  latum  si- 
nistrum  war  rudimentär.  Der  amputierte  Uterus  besaß 
kein  Lumen.  In  der  Struktur  des  Uterus  konnten  glatte 
Muskelfasern,  Bindegewebe  und  Blutgefäße  nachgewiesen 
werden.  In  den  äußeren  Schichten  der  Uteruswand 
fanden  sich  Längsfasern  muskulöser  Natur,  in  den  inneren 
Schichten  schräg  verlaufende  Muskeln.  Das  Ligamentum 
latum  enthielt  glatte,  muskulöse  Längsfasern  und  lockeres 
Bindegewebe.  Die  Tube  erschien  wie  ein  flachgedrückter 
Strang,  aber  von  normalem  Bau  ihrer  Wände.  Die  Tube 
besaß  ein  Lumen  und  war  ausgekleidet  mit  dicht  ge- 
drängtem cylindrischem  Epithel.  Die  Cyste  erwies  sich 
als  subserös,  das  Peritoneum  konnte  man  in  Falten  ab- 
heben. Die  innere  Cystenauskleidung  bestand  aus  fibril- 
lärem  Bindegewebe  mit  zahlreichen  Gefäßen  und  ein- 
schichtigem Epithel  ohne  Spur  von  Flimmerepithel. 
Trotzdem  es  nicht  gelang,  auch  nur  eine  Spur  von  einem 
^Epoophoron  oder  Paroophoron  zu  konstatieren,  so  han- 
delte es  sich  doch  sicher  um  eine  Cyste,   entstanden  aus 


—    251     — 

Resten  der  Urniere,  angesichts  des  analogen  Baues  dei 
Parovarialcysten.  Nirgends  fand  man  eine  Spur  vor 
Struktur,  welche  an  den  Eierstock  erinnerte.  Der  Körper 
welcher  zwischen  Uterus  und  jener  Cyste  lag,  wies  auj 
dem  Durchschnitte  überall  den  mikroskopischen  Bai 
eines  Hodens  auf,  trotzdem  man  nirgends  eine  Sperma- 
togenese nachweisen  konnte. 

Man   fand  keine  Spur  von  einem  Vas  deferens,  vor 
einer  Saraenblase,  einer  Prostata    etc.     Es   handelt   sicr 
also  um  einen  männlichen  Scheinzwitter  par  erreur  de 
s  e  x  e  als  Mädchen  erzogen,  mit  hoher  Entwickelung  de,i 
Weber'schen  Organes,  der  Müll  ergehen  Gänge,  Uterus 
Tuben  und  Vagina  und  weiblicher  Bildung  der  äußerer 
Geschlechtsorgane.    Trotz   Gegenwart  des  Hodens   resj 
der  Hoden   vollzog    sich   die  Entwickelung  der   äußere 
Geschlechtsteile  nach  weiblichem  Typus.     In  der  rechl 
seitigen  Leistengegend  wurden  keinerlei  Gebilde  getaste 
es  scheint^ also,  daß  rechterseits  bisher  Krytorchismus  voj 
liegt.     Sänger    fügt    der  Beschreibung  die   Bemerkun ; 
hinzu :  Als  er  dieses  Individuum   zum   ersten  Mal  ansal 
so  hielt   er   es  für   einen  Mann  trotz  weiblicher  Stimrr  ; 
und  langen  Haupthaares   und  Mangels   männlicher   G< 
sichtsbehaarung,   als  er  während  der  Operation  in  hern 
einen  Uterus  fand  samt  Tube  und  jener  Cyste,  so  glaub  : 
er,  er  habe  sich  geirrt  und  die  Person  sei  doch  weibliche 
Geschlechtes,  erst  die  mikroskopische  Untersuchung  wi  ; 
nach,   daß  Sängers   erste    Vermutung  richtig  war,   dj  ; 
tatsächlich  eine  Erreur  de  sexe  vorlag.     Wenn  irgei 
ein  Fall   aus   unserer  Kusuistik,    so  ist   besonders  dies  i 
zweite   Fall  von   Sänger  lehrreich    und  muß   zu   ga   i 
besonderer  Vorsicht   in  der  Diagnose  auffordern,  sowc 
vor   einer   eventuellen  Operation  als  auch  während  eir   i 
solchen   und  auch  nachher.     Das  Mikroskop   allein  ka 
in  zweifelhaften  Fällen  Aufklärung  geben  und  leider  au 
dieses  nicht  immer,  denn  bei  rudimentärer  Entwickelu    ; 


—    252    — 

der  Geschlechtsdrüsen  wird  uns  hin  und  wieder  auch 
das  Mikroskop  die  Antwort  auf  die  Frage  nach  dem  Ge- 
schlechte schuldig  bleiben,  ebenso  bei  maligner  Entartung 
oder  Teratom  der  Geschlechtsdrüse,  das  mehrmals  kon- 
statiert wurde. 

28)  Shattock:  [Histological  characters  of  testicle 
removed  in  the  Radical  eure  of  hernia  „British  Medical 
Journal  1897"  Vol.  I.  pg.  460]:  Einem  42  jährigen 
Scheinzwitter  mit  Hypospadiasis  penoscrotalis  behaftet, 
wurde  wegen  doppelseitigen  Leistenbruches  die  beider- 
seitige Herniotomie  gemacht.  Man  entfernte  beide  noch 
in  den  Leistenkanälen  liegenden  Hoden  [Descensus  in- 
completus]. Man  fand  in  den  exstirpiertem  Hoden  weder 
Spermatozoiden  noch  Spermatoblasten,  aber  eine  sehr 
starke  Hypertrophie  des  Bindegewebes  in  dem  Hoden- 
stroma. Nach  der  Kastration  dieses  Individuum  ent- 
wickelte sich  sehr  starke  Obesitaet.  Ich  weiß  nicht,  ob 
in  diesem  Falle  eine  Erreur  de  sexe  vorlag,  ob  dieser  Fall 
bestimmt  hierher  gehört. 

29)  Snegirjow  [siehe  Blagowolin:  Wracz  1893 
[Eussisch]  Fall  von  Hermaphroditismus  transversus.  Pro- 
tokolle der  Geb.  Gyn.  Gesellschaft  in  Moskau.  Januar 
1893  Nr.  I.  pg.  2—5].  Eine  25  jährige  Köchin  trat  am 
21.  März  in  die  Klinik  ein.  Niemals  Periode  oder  Mo- 
limina menstrualia.  Im  13.  Jahre  einmal  während  eines 
Kopfschmerzanfalles  etwas  Nasenbluten,  ein  ander  Mal 
im  Jahre  1892  eine  stärkere  Nasenblutung.  Im  17.  Jahre 
heiratete  das  Mädchen,  vollzog  schon  ein  halbes  Jahr 
nach  der  Hochzeit  den  Beischlaf  cum  libidine,  später 
wurde  ihr  der  Beischlaf  gleichgültig,  endlich  zuwider, 
weil  sie  sich  nach  jedem  Beischlaf  matt,  krank  und  arbeits- 
unfähig fühlte,  geplagt  von  den  rheumatischen  ähnlichen 
Schmerzen  in  Kopf  und  Gliedern.  Schon  seit  Jahren 
perhorresciert  sie  den  Akt  des  Beischlafes,  der  zweimal 
jeden  Monat  stattfindet.     Obgleich   sie  ihren  Mann  liebt, 


253    — 


so  erscheint  er  ihr  verhaßt  zur  Zeit  des  Beischlafes, 
welcher  für  sie  eine  Qual  ist. 

Sie  beschreibt  diese  Qualen  so:  „Eine  ganze  Menge 
verschiedenartiger  Schmerzempfindungen  entströmt  einer 
Welle  gleich  aus  dem  Unterleibe  und  richtet  sich  nach 
dem  Herzen  zu,  wobei  ihr  vor  den  Augen  dunkel  wird 
und  sie  glaubt  das  Bewußtsein  zu  verlieren.*  —  Seit  einigen 
Monaten  klagt  diese  Frau  über  Kopfschmerz,  Schlaf- 
losigkeit und  klonische  Krämpfe  in  den  Extremitäten; 
diese  Krämpfe  treten  auf  ohne  irgend  eine  erklärliche  Ur- 
sache. Brüste  und  Mons  Veneris  gut  entwickelt,  Pubes 
weiblich  veranlagt.  In  jeder  Schamlefze  tastete  man  ein 
Gebilde,  welches  2/8  der  Schamlefze  einnahm,  das  links- 
seitige Körperchen  erschien  tiefer  herabgesenkt  als  das 
rechte.  Diese  Körperchen,  taubeneigroß,  mit  glatter 
Oberfläche,  waren  elastisch  und  ausnehmend  druckem- 
pfindlich. An  der  Rückseite  eines  jeden  tastete  man  ein 
weicheres,  nicht  druckempfindliches  Gebilde.  Das  rechts- 
seitige Körperchen  ließ  sich  leicht  nach  oben  dislocieren, 
das  linksseitige  ließ  sich  nicht  in  den  Leistenkanal  hin- 
einschieben. 

Kleine  Schamlippen  normal,  Clitoris  nicht  vergrößert; 
bei  Zurückschiebung  der  Vorhaut  wird  die  Clitoris 
strotzend,  indem  sie  anschwillt  Ein  Hymen  fimbriatus 
liegt  vor,  der  sich  dehnbar  erweist.  Vestibulum  vaginae 
normal.  Die  Scheide  erweist  sich  als  ein  glattwandiger 
Kanal,  in  der  Höhe  von  drei  Zoll  blind  endigend.  Weder 
Uterus  noch  Adnexa  per  rectum  getastet.  In  der  Mittel- 
linie des  Beckens  tastete  man  einen  gänsefederkieldicken 
Strang.  Nach  Angabe  der  Marie  X.  sollen  jene 
Körperchen  in  den  Schamlefzen  schon  von  Kind  auf  sich 
dort  befinden.  Allgemeinaussehen  weiblich.  Man  stellte 
hierauf  die  Diagnose :  Def ectus  uteri,  hernia  inguinolabialis 
utriusque  ovarii.  Am  23.  März  1893  vollzog  Snegirjow 
die  beiderseitige  Hernlotomie  und  fand  in  jeder  Hernie 


—    254    — 

einen  Hoden.  Das  Mikroskop  bestätigte  die  Richtigkeit 
dieser  Angabe.  Am  7.  Tage  nach  der  Operation  befand 
sich  die  Person  wohl.    Erreur  de  sexe. 

30)  Snegirjow  [siehe:  Blagowolin  1.  c.J  vollsog 
in  einem  anderen  Falle,  beschrieben  von  Galaktjonow, 
die  beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  Mädchen: 
Erreur  de  sexe.  Hypospadiasis  peniscrotalis.  Sne- 
girjow eröffnete  die  Bauchhöhle,  fand  dort  weder  Uterus 
noch  Ovarien,  exstirpierte  hierauf  die  in  den  Schamlefzen 
enthaltenen  Gebilde,  die  sich  unter  dem  Mikroskop  als 
Hoden  erwiesen. 

31)  Solowij  («Ein  Beitrag  zum  Hermaphroditismus" 
—  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gynäkologie.  Februar  1899 
pg.  210"]  R.  Ch.  21.  Jahre  alt,  ledig,  niemals  menstruiert, 
erinnert  sich,  daß  bei  ihr  von  Kind  auf  in  der  Gegend 
der  Schamfuge  zwei  Höcker  existierten,  welche  nicht 
schmerzhaft  waren.  Vor  vier  Wochen  traten  plötzlich 
ohne  wahrnehmbare  Ursache  heftige  Schmerzen  in  dem 
rechtsseitigen  Höcker  auf.  Seit  dieser  Zeit  nahm  derselbe 
bedeutend  an  Größe  zu  und  blieb  anhaltend  schmerzhaft. 
Schlecht  genährtes  Individuum;  Kopfhaare  lang,  kein 
männlicher  Haarwuchs  im  Gesiebt,  Brustdrüsen  gut 
entwickelt,  Habitus  ganz  weiblich,  Mons  Veneris  schwach 
behaart;  jederseits  der  Schamfuge  liegt  in  jeder  Scham- 
lefze je  ein  Gebilde,  links  taubeneigroß,  länglich,  glatt, 
verschieblich,  von  ovaler  Gestalt,  am  unteren  Ende  etwas 
zugespitzt,  von  innen  eine  seichte  Vertiefung  aufweisend. 
Die  Schamlefzen  verlieren  sich  auffallend  flach  nach 
unten.  Clitoris  zwei  Centimeter  lang,  hat  eine  undurch- 
bohrte  Eichel,  von  der  zwei  Falten  zu  den  großen 
Schamlippen  ziehen.  Kleine  Schamlippen  fehlen,  nur 
linkerseits  eine  Andeutung  vorhanden.  Damm  4  Centi- 
meter hoch,  gegen  den  Scheideneingang  etwas  vertieft. 
Scheide  endet  in  der  Tiefe  von  5  Centimeter  blind.  In 
der  vorderen  Scheidenwand,   etwas  mehr  rechts,  verläuft 


—     255    — 

nach    oben    ein    dünner    Strang.     Unterhalb    der   H 
röhren mündung  befinden  sich  zwei  kleine  Schleimhautfa^ 
Durch  den  Mastdarm  fühlt  man    einen  querverlaufen 
mit  unerheblichen  Verdickungen  versehenen  Strang,  welc 
links  etwas  breiter  endet.     Solowij  deutete   die  in  ( 
Schamlefzen  enthaltenen  Gebilde  als  ektopische  Ovari 
wenn  er  auch    die  Möglichkeit   ins  Auge   faßte,    daß 
etwa  Hoden   sein    könnten.     Wegen    der   schmerzhaft* 
Entzündung  der  rechten  Keimdrüse,    welche    trotz   vie 
wöchentlicher  Ruhe  und  entsprechender  Behandlung  nicl 
weichen    wollte,    vollzog    er    die    Exstirpation.       Nad 
Spaltung  der  Haut   ließen    sich    die   beiden  Keimdrüsei 
mit  Leichtigkeit  exstirpieren,  da  die  Leistenringe  bereits 
verschlossen   waren.     Schon  makroskopisch  konnte    man 
feststellen,  daß  es  sich  jederseits  um  Hoden  und  Neben- 
hoden  handelte.     Das   Mikroskop    bestätigte    diese    Er- 
kenntnis:  in  den  Hodenschnitten   fand  man  Samenfäden 
in  verschiedenen  Graden  der  Ausbildung.    Ebenso  typisch 
fielen  die  Nebenhodenschnitte  aus.  An  mehreren  Präparaten 
war  auch  ein  Vas  deferens  zu  sehen.  Das  Uebrige  bildeten 
vielfache    Schichten   glatter   Muskelfasern,    eingescheidet 
und  durchzogen  von  reichlichem  und  zum  Teil  kleinzellig 
infiltriertem  Bindegewebe.     Abgesehen    von  dem  wissen- 
schaftlichen Interesse  zögerte  S.  nicht,  diese  Gebilde   zu 
entfernen,  seien  es  nun  Hoden  oder  Ovarien,  weil  sie  für 
die  Fortpflanzung  des  Individuums  keinen    Wert  hatten, 
andererseits    die    schmerzhafte    Entzündung,    namentlich 
des    rechtsseitigen   Gebildes    die    Entfernung    indicierte. 
Erreur    de    sexe    festgestellt    auf  operativem    Wege. 
Solowij  erwähnt  nichts  über  das  geschlechtliche  Empfinden 
der  von  ihm  operierten  Person. 

32)  Stonham  [Complex  or  vertical  Hermaphrodisme. 
Transactions  of  the  Patholog.  Society  of  London.  British 
MedicalJournal  1888.  I.  pg.  416]  beschrieb  die  Genitalien 
eines  nach  Herniotomie  verstorbenen  Kindes.   Die  äußeren 


—    266    — 


Geschlechtsteile  männlich  bis  auf  Kryptorchismus,  eine 
Prostata  war  vorhanden,  teilweise  Hypospadie.  Man 
fand  zugleich  eine  Vagina,  einen  Uterus  bicornis,  zwei 
Tuben,  zwei  Hoden  und  zwei  Nebenhoden  in  der  Bauch- 
höhle; letztere  Organe  lagen  an  den  Stellen,  wo  bei 
Frauen  die  Ovarien  liegen.  Keine  Samenbläschen  kon- 
statiert. Die  Mutter  dieses  Kindes  war  14  mal  schwanger, 
hat  aber  darunter  8  mal  abortiert.   Zwei  Kinder  erschienen 


Fig.  8.  Genitalien  desNambrok  Sadinah,  eines  Straf lings  im  Ge- 
fangnisse zu  Soerabaja,   der   von  S  t  r  a  t  z   für  einen  männlichen 
Scheinzwitter  gehalten  wurde. 

als  Knaben,  aber  mit  Kryptorchismus  behaftet,  —  falls  es 
Knaben  waren.  Eine  Schwester  der  Mutter  galt  als 
Hermaphrodit,  hat  aber  in  der  Folge  ein  Kind  geboren. 
[Siehe  auch  Referat  in  Frommel's  Jahresbericht  für 
1888  pg.  306.]  — 

Stratz  proponierte  einem  im  Gefängnis  zuSörabaja 
internierten  Sträfling  NambrokSadinah  eine  diagnostische 


—    257    — 

Incision  der  Schamlefzen  behufs  Feststellung  des  Ge- 
schlechtes, indem  er  eine  erreur  de  sexe  vermutete. 
Der  Sträfling  ging  jedoch  ebenso  wenig  wie  die  von 
M  u  n  d  6  beschriebene  Köchin  auf  den  Vorschlag  ein.  Das 
Allgemeinaussehen  war  eher  männlich  als  weiblich,  die 
Clitori8  2 — 4  Centimeter  lang,  die  Harnröhrenöffnung 
weiblich,    eine  Vagina  war  nicht    nachzuweisen,    aber  es 


Fig.  9. 


existierten  große  und  kleine  Schamlippen.  Weder  Uterus 
noch  Ovarien  per  rectum  getastet,  in  jeder  Schamlefze 
lag  ein  sehr  druckempfindliches  Gebilde  von  Haselnuß- 
größe, welches  beim  Gehen  schmerzhaft  war.  (Siehe 
Fig.  8,  9,  10  Stratz.) 

33)  Swiencicki  (Nowiny  Lekarskie  1896  No.  4.  pg. 
176 — 178).     Die  23jährige  B,  J.  wurde  zu  Swiencicki 

17 


Jahrbuch  V. 


Kg.  10. 
Äußere  Genitalien  des  Sträflinges  Nambrok  Sadinah, 


—    259    — 

gebracht  behufs  Ausführung    einer  Operation.     D 
Centimeter  hohe  Mädchen  machte  einen  männliche 
druck  ihrer  Allgemeinerscheinung  nach   trotz  ihres 
rigen  Wuchses.     Gesichtsausdruck  männlich,   Hau]: 
kurz  geschnitten,    Bartanflug    im  Gesichte.     Amasti 
ganz     kurzen     Brustwarzen,     abdominaler,      männl 
Athmungstypus,  männliches  Becken,  Mons  Veneris  l 
angedeutet.     Linkerseits  vom  Schamhügel  eine  eifön 
nach  unten  sich  erstreckende  Anschwellung  von  24  C* 
metern  Umfang.     Median wärts  von  dieser  Anschwell 
die    Clitoris   von    vier   Centimeter    Länge,    einem    Pt 
gleichend,     aber     hakenförmig     nach     unten    gekrüm 
Man  entdeckt    leicht   eine   drei   Centimeter  lauge   hyj 
spadische  männliche  Harnröhre  an  der  Unterfläche  dies 
scheinbaren  Clitoris.    S.  tastete  in  der .  stark  vergrößert 
rechten  Schamlefze    in    deren  oberem  Teile   Hoden   ut 
Nebenhoden    von    normaler   Gestalt.      Auch  den  Samei 
sträng  konnte  er  leicht  tasten.     Keine  Prostata  entdeck 
Erektionen  vorhanden.    Linkerseits  fand  sich  eine  Hydro 
cele.    S.  entleerte  durch  Paracentese  aus  dieser  Hydroöeh 
etwa    zwei    Tassen     voll     einer    durchsichtigen    serösen 
Flüssigkeit    und    gelang    es    ihm    nach    Entleerung    der 
Hydrocele    auch    linkerseits  Hoden   und  Nebenhoden  zu 
tasten,  sowie  auch  den  Samenstrang.     Die  Mutter  brach 
in  Tränen  aus  bei  Mitteilung  des  Sachverhaltes  der  statt- 
gehabten „erreur  de  sexe",    die  Tochter  jedoch  nahm 
jedes  Wort    von  S.   mit  Begeisterung  auf   und  jauchzte 
vor  Freude  darüber,  daß  sie  fortan  ein  Mann  sein  werde, 
denn    sie    habe    schon    seit  jeher    einen    feurigen  Drang 
zu  Frauen  empfunden!    Sie  liebte  Zigaretten  zu  rauchen, 
hatte  einen  Widerwillen  gegen  alles  Weibliche,  Kleider- 
nähen, Stopfen  und  Strümpfestricken,  rasierte  sich  heim- 
lich und  hatte  sogar,  wie  sie  unter  vier.  Augen  eingestand, 
schon  im  16.  Jahre    einen  Beischlaf  mit  einem  Mädchen 
versucht,  dessen  Bett  sie  zufällig  teilte.    Die  peniscrotale 

17* 


—    260    — 

Hypospadie  hatte  die  erreur  de  sexe  veranlaßt.  Hätte 
nicht  die  einseitige  Hydrocele  existiert,  so  wäre  wohl 
auch  jetzt  noch  nicht  die  erreur  de  8 exe  verraten 
worden.  Descensus  testiculorum  retardatus.  Die  Person 
sagte  aus,  sie  habe  sich  oft  so  unglücklich  gefühlt  dadurch, 
daß  sie  als  Frau  gelten  müsse  und  daß  sie  sich  deshalb 
mit  Selbstmordgedanken  getragen  habe. 

34)  Tillaux:  [siehe  Voelker:  Article:  Plnis.  —  du 
Nouveau  Dictionnaire  de  Mldecine :  Enfant  male  pris  pour 
une  fille]"  —  ZuTillaux  wurde  ein  12 jähriges  Mädchen 
gebracht  mit  der  Bitte  der  Mutter,  dem  Kinde  ein  Bruch- 
band zuzupassen.  Till  au  x  konstatierte  das  Vorhanden- 
sein eines  einseitigen  Leistenbruches,  gleichzeitig  entdeckte 
er  in  der  Hernie  ein  Gebilde,  welches  zunächt  den  Eindruck 
einer  Cyste  machte.  Instinktiv  untersuchte  er  nun  auch 
die  andere  Schamlefze  und  tastete  in  derselben  ein  ana- 
loges Körperchen.  Die  Sache  erweckte  in  dem  Chi- 
rurgen Bedenken :  er  machte  in  jeder  Schamlefze  einen 
diagnostischen  Einschnitt  und  fand  Hoden  vor,  konstatierte 
jetzt  auch,  daß  ein  rudimentärer  hypospadischer  Penis 
existierte   und  konstatierte   also  die  „erreur  de  sexe." 

35)  G.  K.  Turner  [,A  case  of  hermaphroditisme" 
Lancet  30,  VI,  1900  pg.  1884-1885]:  Ujähriges  Mädchen 
mit  einem  linksseitigen  Leistenbruche  geboren.  Der  Bruch 
erwies  sich  als  irreponibel  und  das  Kind  trug  auf  Ver- 
langen der  Ärzte  hin  ein  Bruchband  bis  zum  12.  Jahre, 
obgleich  das  Bruchband  gar  keine  Linderung  brachte. 
Niemals  die  Regel  bisher,  die  Ärzte  diagnostizierten  eine 
Labialektopie  des  linken  Ovarium;  endlich  wurde  eine 
Herniotomie  beschlossen.  Das  aus  der  Hernie  entfernte 
Gebilde  erwies  sich  als  Hoden  und  Nebenhoden. 
In  letzterem  fand  man  einige  kleine  Cysten.  Das  Mi- 
kroskop (Dr. Rolleston)  erwies  hier  die  erreur  de  sexe. 
Turner  vollzog  dann  gemeinsam  mit  Dr.  W.  R.  Dakin 
eine  Narkosenuntersuchung  des  Kindes:  Brustdrüsen  gut 


—    261    — 

entwickelt  im  Vergleich   zum  Alter  des  Kindes, 
normal,    weiblich,    ohne    auch    nur   im   geringsten 
Verdacht  auf  erreur  de  sexe  zu  wecken.    Die  S 
schon    behaart,    die    Harnröhrenmündung,    unregelE 
umrandet,  wies  Karunkelbildungen  auf.     Die  Scheide 
einen  Finger  ein   und  erwies  sich  in  der  Tiefe  blind 
schlössen;  keine  Vaginalportion    eines  Uterus    gefun 
wohl  aber  tastete  man  ein  dünneres  strangförmiges  Geb 
(Tube  oder  Vas  deferens?).     Die    Scharalefzen  er  wie 
sich  leer.     Man  fand  weder  eine  Spur  von  Uterus  ni 
von   einer  Prostata.     Das  anatomische  Präparat  des  ( 
stirpierten  Hodens    wurde    aufbewahrt   im   Museum    o 
St.  Georges  Hospital.    Das  von  Turner  operier 
Kind  hatte  bisher  keinerlei  Hang  verraten  zu  dem  eine 
oder    zu  dem  anderen  Geschlechte  zu  gehören    und  hal 
der    Mutter    bei    der    Beaufsichtigung    seiner   jüngerei 
Geschwister. 

36)  Wegradt  [Demonstration  stereoskopischer  Ab- 
bildungen der  Präparate,  gewonnen  sub  herniotomia  bei 
einem  als  Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitter  — 
in  der  Ärztlichen  Gesellschaft  in  Magdeburg;  —  siehe 
Münchener  Medizinische  Wochenschrift  28.  V.  1901]: 
Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  Individuum,  dessen 
äußere  Geschlechtsteile  weiblich  veranlagt  waren.  Die 
rechtsseitige  Hernie  enthielt  einen  Hoden,  die  linkseitige 
ein  Fibroadenom.     [Einzelheiten  fehlen  in  dem  Referate]. 

Auf  Grund  der  Ergebnisse  dieser  Operation  wurde 
das  Geschlecht  als  männlich  erkannt. 

37)  B.  Will  („Ein  Fall  von  Hermaphroditismus 
masculinus."  —  D.  I.  Greifswald  1896)  beschrieb  die 
erreur  de  sexe  bezüglich  der  54jährigen  unverehe- 
lichten Kristine  W.  aus  der  Umgegend  von  Greifs- 
wald, welche  in  die  Klinik  eingetreten  war  mit  der  Bitte; 
sie  von  einem  beiderseitigen  Leistenbruche  zu  befreien. 
Niemals  hatte  Kristine  die  Regeln  gehabt,  wohl  aber 


—    262    — 

von    dem    17.   big   zum  40.  Jahre  allmonatlich    ziehende 
Schmerzen    im    Unterleibe.    Körperhöhe   groß,   Knochen 
und   Muskelsystem   stark   entwickelt     Stimme  männlich, 
Brüste    schlecht   entwickelt,    Warzen    prominent,   unbe- 
deutender   Bartanflug    im    Gesicht.      Schamgegend    sehr 
spärlich  behaart,  große  und  kleine  Schamlippen  von  nor- 
maler Gestalt,   Scheidenöffnung  eng,   die  Scheide  in   der 
Höhe  von  anderthalb  Zentimetern  blind  geschlossen,  die 
Harnröhre  ist  aber  so  stark  erweitert,  daß  sie  ohne  Weiteres 
die  Spitze  des  großen  Fingers  einläßt.    Per  rectum  tas- 
tete man  weder  Uterus  noch  Geschlechtsdrüsen,  sondern 
nur  einen  bleistiftdicken  Strang  von  der  Mittellinie  nach 
links  zu  verlaufend.    Jederseite  in  der  Leistengegend  ein 
Tumor,   linkerseits  deutlicher  als  rechterseits ;   ein  jeder 
Tumor  schien  aus  zwei  Anteilen  zu  bestehen;  der  link- 
seitige    Tumor  bestand  aus  einem   hühnereigroßen    fluk- 
tuierenden   Anteile    und    einem    kleineren    härteren    von 
Taubeneigröße,   der  bis  in    die    Schamlefze  herabreichte. 
Der  obere  flüssigkeitserfüllte  Tumor  hing  strikt  mit  dem 
unteren   weicheren   zusammen.     Der  rechtsseitige  Tumor 
war  kleiner,  ließ  sich  teilweise   reponieren   und  bestand 
ebenfalls   aus  einem  fluktuierenden   und  einem  weicheren 
Anteil.     Außer    dem   Tumor   existierte  auch  ein  Leisten- 
bruch.    Nach  Reposition   des  Bruches   drang  der  Finger 
in   den  Leistenkanal   ein.     Man   machte  linkerseits  einen 
Einschnitt  parallel  dem  Poupart'schen  Bande,   unterband 
die  blutenden  Gefäße   und  legte  den  Tumor  bloß,   wobei 
einige   Unzen  einer  klaren,  serösen  Flüssigkeit  abflössen 
Auf  der  äußeren  Kuppe  des  glattwandigen,  harten  Tu- 
mors   von    rosenroter    Farbe    hing    eine     taubeneigröße 
Cyste  mit  durchsichtigen  Wänden.     Man  zog  den  Tumor, 
soweit  es   anging   aus  dem  Leisterikanale   heraus,   unter- 
band den  Stiel,  durchschnitt  ihn  dann,  fixierte  ihn  durch 
einige    Seidennähte   unter    gleichzeitiger    Vernähung   des 
Leistenkanales    und    schloß    dann    die    Hautwunde    mit 


—    263    — 

8   Nähten.      Rechterseits    könnte    nach    Entfernung 
Tumors  der  Finger  bequem  in  die  Bauchhöhle  eindrii 
linkerseits  gelang    das    nicht.     Prima   reunio    vulne: 
Kristine  W.    wurde    am    7.   I.    1896  geheilt   entlas 
Erst  die  mikroskopische  Untersuchung  der  entfernten 
bilde  wies  hier  eine  erreur  de  sexe  nach.     Der  lic 
seitige  Tumor  hatte   vier   und    einen  halben    Zentinu 
Länge    und    zwei  und    einen    halben   Breite,  der   rech 
seitige  fünf  und  einen  halben  und  zwei  und  einen  halb 
Zentimeter  Länge  und  Breite.     Die  Tumoren  waren  jed 
von    einer    mehrschichtigen    Bindegewebskapsel    umhül 
die  Schnittfläche  sehr  uneben,   für  den  Hoden  charakt 
ristisch.     Die  Farbe  des   Durchschnittes    war  bronzero 
Auf  dem  linken  Hoden  saß  eine  kleine  Cyste  gestielt  au 
auf    dem    rechten    eine    ebensolche    ungestielt.     Wo    de 
Nebenhoden  am  linken  Hoden  liegen  sollte,  sieht  man  eil 
härtliches,   bohnengroßes  Gebilde,   auf  dem  Durchschnitt 
den    drüsigen  Bau   verratend.     Sonst  fand  man  keinerlei 
Spuren  von  Nebenhoden  oder  Vasa  deferentia.     W.  gibt 
eine  sehr  detaillierte  Beschreibung  der  mikroskopischen 
Präparate,  die  ich  hier  nicht  wiederholen  will;  es  genüge 
zu  wissen,  daß  die  Untersuchung  eine  erreur  de  sexe 
konstatierte.     Der  rechte  Hoden   war  fibrös   degeneriert. 
Kristine   besaß    also   Hoden,    hatte    aber   keine    Aus- 
führungsgänge für  deren  Produkt  wegen  Obliteration  der 
Wolff sehen  Gänge.     Das  geschlechtliche  Empfinden  der 
Kristine  W.   war  ein  rein  männliches,   doch  folgte  sie 
dem    Beispiele     anderer    Frauen    und    kohabitierte    mit 
Männern,  aber  ohne  jede  Libido.   Obgleich  sie  eine  rudi- 
mentäre Scheide    besaß,    so    benützte   sie    doch    für   den 
Beischlaf  die   Harnröhre,  welche   mit   der  Zeit  dadurch 
sehr    erweitert    wurde.     Kristine    empfand    nur    einen 
auf    Frauen    gerichteten,    also    männlichen    Geschlechts- 
drang,   hat   es  jedoch    nie   gewagt,    einen   Beischlaf  mit 
einem  Weibe  zu  versuchen. 


—    264     — 

38)  v.  Winckel  soll  ein  Mädchen  von  männlichem 
Aussehen  beschrieben  haben,  weiblicher  Kopfbehaarung, 
gut  entwickelten  Schamlefzen  und  Clitoris  peniformis 
Eine  spätere  Herniotomie  soll  erreur  de  sexe,  also 
männliches  Geschlecht,  erwiesen  haben,  indem  die  aus 
den  Schamlefzen  entfernten  Gebilde  sich  als  Hoden  er- 
wiesen. Persönlich  habe  ich  die  Beschreibung  eines 
solchen  Falles  aus  v.  Winkels  Feder  stammend  nirgends 
finden  können,  erwähne  aber  diesen  Fall,  weil  er  von 
anderen  Autoren  erwähnt  wird. 
<.  [Sollte  der  Fall  vonShattock  sich  nicht  auf  eine 
erreur  de  sexe  beziehen,  resp.  auf  einen  irrtümlich  als 
Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitter,  so  wäre 
.  dieser  Fall  aus  vorstehenden  38  Fällen  zu  eliminieren.  N.j 

Zweite  Gruppe. 

Vier  Herniotomien  bei  weiblichen  Scheinzwittern  mit 
2   Fällen   von   irrtümlicher   Geschlechtsbestimmung. 

1)  Brohl  („Hernia  uteri  bei Pseudohermaphroditimus 
femininus"  —  Deutsche  Medicinische  Wochenschrift 
1894  No.:  15.)  Eine  36  jährige  Person,  seit  dem  18. 
Jahre  normal  menstruiert,  die  sich  stets  für  eine  Frau 
gehalten  hatte,  wünschte  sich  zu  verheiraten.  Gesicht 
und  Behaarung,  Stimme  und  Kehlkopf  männlich,  Bart- 
wuchs ausgesprochen,   Brüste  aber  weiblich.     Clitoris  65 


Anmerkung:  Beiläufig  erwähne  ich  folgenden  Fall  von 
Pozzi  u.  Grattäry  (Progres  mädical  16.  IV.  1887.  — ^Referat: 
Repertoire  Universel  d'Obst.  1887  p.  467):  Eine  69  jährige  Frau 
wurde  wegen  Einklemmung  eines  Leistenbruches  in  das  Hospital 
gebracht  und  starb  trotz  Reduktion  des  Bruches,  welche  Marchand 
vollzog,  infolge  Peritonitis.  Die  Nekropsie  erwies  eine  „Erreur  de 
sexe."  Hypospadiasis  peniserotalis,  in  den  Hoden  Spermatozoiden 
gefunden.  Kein  Uterus  vorhanden,  Behaarung  spärlich,  Allgemein- 
aussehen männlich. 


—    265    — 

Millimeter  lang,  wird  sub  erectione  11  Centimeter  lang! 
Große  Schamlippen  gut  entwickelt,  die  kleinen  mangel- 
haft. Scheideneingang  von  einem  Hymen  garniert.  Die 
linke  Schamlefze  enthält  einen  Tumor,  welcher  seit  1881, 
also  seit  13  Jahren  schon,  der  Dame  viele  Schmerzen 
verursacht.  Dieser  Tumor  soll  plötzlich  erschienen  sein 
nach  Aufheben  einer  schweren  Last.  Da  der  Tumor 
während  der  Regel  an  Größe  zunahm,  also  offenbar 
anschwoll,  vermutete  man,  es  handle  sich  um  eine  Hernia 
uteri  und  ovarii.  Von  diesem  Tumor  zog  eine  Art 
Strang  nach  dem  Leistenkanale  zu.  Da  eine  Reduction 
der  Hernie  nicht  gelang,  so  machte  Brohl  die  Hernio- 
tomie:  er  fand  in  dem  Bruchsacke  den  Uterus  und  beide 
Ovarien.  Er  amputierte  den  ektopischen  Uterus  au  niveau 
des  Collum  uteri  und  fixierte  den  Stumpf  in  der  Inguinal- 
wunde  mit  einigen  Nähten.  Nach  5  Wochen  verließ  das 
Mädchen  das  Hospital  kastriert  und  von  den  Beschwerden 
befreit.  Der  linke  Eierstock  war  atrophisch,  der  rechte 
lag  in  ligamento  lato.  Beide  Tuben  waren  bedeutend 
erweitert.  Der  Uterus  war  bicornis  und  die  Höhle  durch 
ein  Septum  im  oberen  Teile  zweigeteilt.  Collum  uteri 
stark  verlängert  —  (wohl  infolge  der  Ektopie  des  Fundus 
?  —  N)  —  Weder  Hoden  noch  Nebenhoden  noch  Prostata 
gefunden.  Es  handelte  sich  also  um  eine  im  extrauterinen 
Leben  erworbene  Hernia  inguinolabialis  uteri  bicornis  et 
utriusque  ovarii  bei  ganz  ungewöhnlicher  Hypertrophie 
und  Erektilität  der  Clitoris  und  einigen  männlichen 
secundären  Geschlechtscharakteren.  —  [Wäre  es  nicht 
rationeller  gewesen,  den  Leistenkanal  soweit  als  nötig  zu 
spalten  und  die  ektopischen  Gebilde  in  die  Bauchhöhle 
zu  reponieren?  —  N.]  — 

2)  P<*an  (Bulletin  M^dical,  3.  April  1895  —  und  — 
Gazette  des  Höpitaux  1896  No.:  41)  Ein  15  jähriges 
Mädchen  wurde  schon  seit  drei  Jahren  in  ihrem  Aussehen 
immer  mehr  und  mehr  männlich,  es  trat  Stimmbruch  ein, 


—    266    — 

die  Stimme  wurde  männlich,  es  trat  männliche  Gesichte- 
behaarung auf,  es  traten  Erektionen  der  Clitoris  ein! 
Ein  Arzt  schickte  das  15jährige  Mädchen  nach  Paris, 
wo  eine  erreur  de  sexe  konstatiert  wurde,  das  Ge- 
schlecht für  männlich  erklärt.  Das  bisherige  Mädchen 
erhielt  männliche  Kleider  und  sollte  nun  einen  männlichen 
Beruf  erlernen.  Der  Junge  fand  aber  an  männlicher  Be- 
schäftigung keinen  Gefallen,  er  wurde  von  einem  Meister 
zum  anderen  gebracht  in  verschiedenen  Handwerken, 
wollte  aber  nicht  lernen.  Endlich  klagte  er  über  allmonatlich 
sich  wiederholende  Schmerzen  im  Unterleibe.  Einer 
seiner  Lehrmeister  schöpfte  Verdacht,  ob  der  Junge  nicht 
doch  ein  Mädel  sei  und  nun  wurde  das  Kind  zum  zweiten 
Male  nach  Paris  gebracht  behufs  erneuter  Untersuchung 
und  zwar  zu  Pe"an.  Pe"an  konstatierte  eine  Hypos- 
padiasis  peniscrotalis  und  Kryptorchismus  und  vollzog 
einen  Einschnitt  in  den  Leistengegenden  wie  bei  Herniotomie, 
um  die  Hoden  aufzusuchen,  fand  aber  nicht  einmal  die 
Oeffnungen  der  Leistenkanäle  da,  wo  sie  sein  sollten. 
Er  eröffnete  jetzt  die  Bauchhöhle,  holte  ein  Organ  hervor, 
das  er  anfänglich  für  einen  Hoden  gehalten  hatte,  es  war 
der  Uterus;  daneben  lag  die  rechtsseitige  Tube,  regelmäßig 
geformt,  er  fand  endlich  auch  die  linksseitigen  Adnexa, 
aber  weder  Prostata  noch  Samenblasen.  Er  beschloß 
nunmehr,  da  eine  erreur  de  sexe  sich  ergeben  hatte, 
auf  plastischenrWege  eine  Vagina  zn  bilden,  um  einen 
Kanal  zu  schaffen,  durch  den  im  Falle  von  Entstehung 
einer  Hämatom etra  das  Blut  nach  außen  abgeleitet  werden 
konnte,  er  mußte  jedoch  auf  diesen  Plan  verzichten,  da 
die  Harnröhrenwand  zu  nah  der  vordem  Mastdarmwand 
anlag.  Er  fürchtete  auch  die  Corpora  cavernosa  penis 
resp.  clitoridis  dabei  zu  verletzen.  Er  diktierte  also  nur 
die  einmal  gesetzte  Wunde  zwischen  Urethral mündung 
und  Analmündung,  indem  er  darauf  rechnete,  wenn  das 
Mädchen  einmal  heirate,   so   werde  der   Gatte  allmählich 


—    267    — 

den  heute  geschaffenen  Recessus  erweitern  per  cohabita- 
tiones.  Endlich  fügte  er  noch  den  Bauchschnitt  hinzu 
und  entfernte  beiderseits  die  Uterusadnexa,  um  der 
Bildung  einer  Hämatometra,  Hämatosalpinx,  Hämatocele 
vorzubeugen.  Cornil  und  Briault  konstatierten  mikros- 
kopisch am  Präparat,  daß  die  Geschlechtsdrüsen  wirklich 
die  Ovarien  waren.  Es  handelt  sich  also  um  einen  weib- 
lichen Scheinzwitter  mit  Def  ectus  vaginae,  hypertrophischer 
erectiler  Clitoris,  allgemeinem  männlichen  Aussehen, 
Behaarung,  Andromastie  etc.  In  diesem  Falle  würde 
wohl  ein  jeder  Gynäkologe  denselben  diagnostischen 
Fehler  gemacht  haben  wie  P£an.  Interessant  ist,  daß 
das  Kind  gleich  nach  seiner  Geburt  richtig  als  Mädchen 
erkannt  und  auch  als  Mädchen  getauft  wurde,  die 
Aenderung  der  Metrik  in  späteren  Jahren  in  eine  männliche 
falsch  war.  —  Dieser  Fall  steht,  was  mehrfache  Änderung 
der  Metrik  anbetrifft,  nicht  einzig  da! 

3)  Sujetinow  [Medicinskoje  Obozrenje  [Russisch] 
1897  pg.]  beschrieb  eine  45  jährige  Frau,  welche  in 
jüngeren  Jahren  zwei  Jahre  lang  unregelmäßig  ihre 
Menstruation  gehabt  haben  soll,  später  aber  gar  keine. 
Männliche  Gesichtsbehaarung  mit  Schnurrbart  und  Backen- 
bart; Andromastie,  männliches  Becken,  männlicher  Typus 
der  Extremitäten.  Rechterseits  ein  reponibler  Leisten- 
bruch. Die  rechte  Schamlefze  enthält  ein  Gebilde  von 
der  Gestalt  eines  Hodens,  von  letzterem  zieht  eine  Art 
Strang  nach  dem  Leistenkanale  hin.  Clitoris  5  Zentimeter 
lang  und  zwei  Zentimeter  dick,  macht  eher  den  Eindruck 
eines  hypospadischen  Penis.  Kleine  Schamlippen  fehlen 
ganz.  Die  Scheide  eng,  in  der  Tiefe  blindsackartig  ge- 
schlossen, läßt  den  Finger  nicht  ein.  Per  rectum  keinerlei 
charakteristischen  Gebilde  getastet,  bezüglich  Ent- 
scheidung fraglichen  Geschlechtes.  Es  wurde  später  bei 
Incarceration  die  Herniotomie  gemacht.  Das  in  der  einen 
Schamlefze    enthaltene  Gebilde  war  der    Eierstock    und 


—    268    — 

der  Strang  die  Tube.  Es  handelte  sich  also  um  einen 
weiblichen  Scheinzwitter  mit  Hernia  uteri,  salpingis  et 
ovarii  lateris  dextri,  hypertrophischer  erectiler  Clitoris 
und  zahlreichen  männlichen  secundären  Geschlechts- 
charakteren bei  mangelhafter  Ausbildung  der  Müll  erWien 
Gänge,  sowie  Mangel  der  kleinen  Schamlippen.  (In  dem 
Referate  [Journal  für  Geburtshülf e  und  Frauenkrankheiten. 
Petersburg  1898  pg.  248]  ist  leider  nicht  gesagt,  ob  eine 
mikroskopische  Untersuchung  der  Geschlechtsdrüse  vor- 
genommen wurde  oder  nicht,  welche  für  die  endgültige 
Entscheidung  des  Geschlechtes  ein  wichtiges  Desiderat 
sein  muß,  da  makroskopisch  man  sich  mehr  als  leicht  in 
solchen  Fragen  irren  kann.    N.). 

4)  Walther  [Bulletins  et  M&noires  de  la  Soctete 
de  Chirurgie  der  Paris  1902,  Tome  XXVIH.  No.  31  pg. 
938  und  N:  32  pg.  972]:  „  Anomalie  genitale"  —  Höchst 
interessante  Beobachtung  von  erreur  de  sexe.  Ein 
24j ähriger  Sattler  trat  in  das  Hospital  de  la  Piti£  ein 
am  3.  IX.  1902  und  verlangte  operative  Abhilfe  wegen 
Mißgestaltung  seiner  Geschlechtsorgane.  Gleich  nach  der 
Geburt  war  sein  Geschlecht  als  weiblich  bestimmt  worden, 
später  wurde  jedoch  auf  den  Rat  eines  Arztes  hin  die 
Metrik  in  eine  männliche  geändert.  Am  4.  März  1902 
stellte  Petit  dieses  Individuum  in  der  Soci£t£  M^dicale 
des  Höpitaux  vor.  Die  äußeren  Geschlechtsteile  sehen 
aus  wie  bei  Hypospadiasis  peniscrotalis  oder  wie  eine 
Vulva  mit  bedeutender  Clitorishypertrophie.  Das  Scrotum 
fissum  resp.  die  Schamlefzen  leer,  aber  dicht  unterhalb 
der  äußeren  Öffnung  des  rechtsseitigen  Leistenkanals 
fühlte  man  ein  kleines  eiförmiges  Körperchen,  eine  weiche 
Inguinalhernie,  in  der  man  ein  härteres  Gebilde  tastete, 
das  den  Eindruck  einer  Geschlechtsdrüse  machte  und 
sehr  druckempfindlich  war.  Eine  ähnliche  Hernie  mit 
einem  analogen  Körperchen  wurde  nun  auch  links  getastet. 
Per  rectum    waren  keine    für  das  eine  oder  andere  Ge- 


—    269    — 

schlecht  charakteristischen  Gebilde  zu  tasten.  Das  Aus- 
sehen dieses  Individuum  war  weder  männlich  noch  weib- 
lich, sondern  gemischt.  Man  bemerkte  eine  gewisse  Infan- 
tilität der  Entwickelung,  keine  Spur  von  Gesichtsbehaarung 
trotz  des  Alters  von  24  Jahren.  Becken  und  Brüste 
weiblich,  Taille  eher  männlich,  Stimme  indifferent,  weder 
männlich  noch  weiblich.  Den  Harn  gibt  der  Sattler  nach 
Frauenart  ab;  seit  dem  16.  Jahre  sollen  alle  Monate 
etwa  160  Gramm  Blut  aus  der  Harnröhre  entleert  werden, 
die  Blutung  dauert  jedesmal  2 — 3  Tage,  die  Blutaus- 
scheidung ist  jedesmal  begleitet  von  Anschwellen  der  in 
den  Leisten  getasteten  Gebilde  (der  Ovarien?)  —  Trotz 
dieser  anscheinenden  Menstruation  ist  der  Geschlechtstrieb 
rein  männlich,  sowie  auch  der  Sattler  von  seinem  männ- 
lichen Geschlechte  überzeugt  ist. 

Der  Penis  fissus  hypospadiaeus  verrät  sofort  Erektio- 
nen, wenn  der  Sattler  sich  in  weiblicher  Gesellschaft 
befindet  und  nur  die  Krümmung  nach  abwärts  zu  ist 
die  Ursache,  weshalb  der  Sattler  bis  jetzt  noch  keinen 
Beischlaf  mit  einer  Frau  versucht  hat.  Während  der 
Erektionen  kommt  es  zur  Ejakulation  einer  klebrigen 
Flüssigkeit,  in  der  jedoch  Laignel-Lavastine  keine 
Spermatozoiden  fand.  Einige  Tage  nach  dieser  Demon- 
stration vollzog  Walther  die  beiderseitige  Herniotomie 
und  fand  rechterseits  einen  atrophischen  Eierstock  und 
die  rechte  Tube,  die  er  in  die  Bauchhöhle  zurückschob, 
den  Inhalt  des  linksseitigen  Bruches  trug  er  ab;  es  war 
das  zusammengeknickte  Mittelstück  der  linken  Tube, 
deren  Abdominalende  sowie  das  uterine  in  der  Bauch- 
höhle lagen  —  eine  Sactosalpinx  verbacken  mit  dem 
sklerotischen  Ovarium,  das  cystisch  entartet  war,  und 
mit  dem  Netz.  Der  linke  Eierstock  enthielt  ein  Corpus 
luteum.  Die  operative  Entfernung  dieser  Gebilde  war 
sehr  schwierig.  Walther  fügte  einen  kleinen  diagno- 
stischen Leibschnitt  hinzu  um  den  Zustand  des  Netzes  zu 


—    270    — 

kontrollieren,  das  er  in  vier  einzelnen  Bündeln  unterbunden, 
teilweise  hatte  abtragen  müssen,  sowie  die  swei  Stümpfe 
der  linksseitigen  Adnexa,  und  fand  bei  dieser  Gelegenheit 
einen  kleinen  Uterus  vor.  Die  Herniotomie  konstatierte 
hier  also  weibliches  Scheinzwittertum  bei  einem  Indivi- 
duum, das  absolut  den  Eindruck  eines  Mannes  machte. 
In  der  Diskussion  hatten  vor  Ausführung  dieser  Operation 
sowohl  Lucas-Championni£re  als  auch  F£lizet  dieses 
Individuum  mit  aller  Bestimmtheit  für  einen  Mann  erklärt. 
Bruno  T.  Carreiro:  „Pseudohermaphrodismo 
androgynoide  on  un  caso  de  supposto  hernia  inguinal 
d'ovario."  O  Correio  med.  de  Liaboa.  Octob.  1896  p. 
149.  [Da  mir  der  Aufsatz  nicht  zugänglich,  vermag  ich 
keinerlei  Einzelheiten  anzugeben.] 

Dritte  Gruppe. 

13  Leistenschnitte  bei  Männern  resp.  männlichen 
Scheinzwittern   mit  Konstatierung   eines  mehr  oder 
weniger  entwickelten  Uterus  oder  einer  oder  der  bei- 
den Tuben  in  hernia  resp.  in  der  Bauchhöhle. 

1)  Billroth  (siehe  Klotz:  „Extraabdominelle 
Hystero-Ovariotomie  bei  einem  wahren  Zwitter"  Archiv 
für  klinische  Chirurgie  Vol.  XXIV  pg.  454  —  1880  — 
siehe  Referat:  Zentralblatt  für  Gynäkologie,  1880  No.  1. 
pg.  15)  (siehe  Fig.  19  u.  20).  Ein  24 jähriger  jüdischer 
Kaufmann,  Israel  Jaroszewski  aus  Rußland,  kam  zu  Bill- 
roth wegen  einer  Leistenhernie.  Billroth  konstatierte 
eine  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit  einer  Pseudovulva 
mit  großen  und  kleinen  Schamlippen  und  weiblicher 
Urethralmündung.  In  der  linken  Schamlefze  lag  ein 
Hode,  Nebenhode  und  Samenstrang,  rechterseits  jedoch 
enthielt  die  Schamlefze  einen  Tumor  und  wies  eine  Fistel- 
öffnung in  ihren  Hautdecken  auf,  welche  eine  Sonde 
einige    Millimeter    tief    einließ.     Der   Tumor   soll   nach 


—    271    — 

Aussage ^deö^Patienten  schon  viele,  viele  Jahre  existieren, 
fing  jedoch  erst  im  16.  Jahre  an,  sich  zu  vergrößern  und 
von  eben  diesem  16.  Jahre  an. bekam  Israel  J.  alle  vier 
Wochen  periodisch  starke  Schmerzen  im  Kreuz  und  diverse 
Molimina,  welche  jedesmal  4 — 10  Tage  anhielten.  Während 
dieser  Schmerzperiode  entleerte  sich  stets  Blut  sowohl 
aus  der  Harnröhre  als  auch  aus  der  vorgenannten 
Fistel  des  rechten  Labium  pudendi  majus.  Diese  Blutung 
wiederholte  sich  alle  Monate  und  dauerte  gewöhnlich 
vier  Tage.  Israel  verfiel  sowohl  infolge  seiner  Leiden, 
sowie  auch  infolgedessen,  daß  er  sich  angesichts  seiner 
genitalen  Mißbildung  nicht  verheiraten  konnte,  in  einen 
Zustand  von  Melancholie,  welche  sich  mit  der  Zeit  so 
steigerte,  daß  er  sich  sogar  mit  Selbstmordsgedanken 
getragen  hatte.  Er  gestand  ein,  geschlechtlich  sowohl 
mit  Knaben  als  auch  mit  Mädchen  verkehrt  zu  haben, 
wobeier  Erektionen  und  Ejakulationen  hatte.  Billroth 
konstatierte  zunächst  einen  rechtzeitigen  Leistenbruch, 
der  aber  keinen  Darm  zum  Inhalte  hatte,  wie  ihm  schien, 
und  setzte  ein  Neoplasma  des  rechten  Hodens  voraus. 
Am  25.  Juli  1878  schritt  er  zur  Herniotomie.  Er  fand 
in  dem  Bruchsacke  eine  cystische  Bildung,  deren  Stiel 
in  den  Leistenkanal  hineinreichte.  Er  unterband  diesen 
Stiel,  wobei  er  teilweise  die  Bauchhöhle  öffnen  mußte, 
unter  sehr  starker  Blutung.  Er  durchschnitt  dann  den 
Stiel  und  unterband  die  Gefäße  einzeln  und  vernähte 
dann  die  Hautdecken  wunde.  Nach  zwei  Tagen  erfolgte 
unter  Kollapserscheinungen  der  Tod.  Als  Ursache  ergab 
sich  eine  Blutung  in  die  Bauchhöhle  hinein  infolge  von 
Abgleitens  einer  arteriellen  Ligatur.  Die  Sektion  des 
Leichnames  wurde  von  Chiari  gemacht.  Die  Brüste 
waren  groß,  weiblich,  in  der  linken  Schamlef ze  fand  man 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang  von  normaler 
Anlage,  der  exstirpierte  Tumor  bestand  aus  mehreren 
Teilen :  es  hatte  eine  hernia  inguinolabialis  uteri  unicornis 


—    274    — 

der  Samenblasen  und  der  Prostata.  Eine  Erklärung  der 
allmonatlichen  Blutungen  ex  Urethra  und  aus  der  Fistel 
im  rechten  Labium  majus  steht  aus.  Geschlechtsdrang 
männlich.     (Siehe  Fig.  11  u.  12). 

2)  Bö  ekel  [„Exstirpation  d'un  uterus  et  d'une  trompe 
herntee  chez  un  homme".  Acad&nie  de  M&iecine  de 
Paris.  19.  Avril  1892.  —  Semaine  M^dicale  1892  Vol.  XIL 
pg.  146]:  Bö  ekel  fand  in  einer  Inguinolabialhernie  bei 
einem  männlichen  Individuum  .  einen  Uterus  bicornis, 
welcher  eine  Höhle  enthielt,  eine  Tube  und  einen  Hoden 
samt  Nebenhoden  und  Vas  deferens,  welche  letzteren  Ge- 
bilde im  Ligamentum  latum  gelagert  waren.  [Da  mir  die 
Arbeit  von  Böc.kel  nicht  vorliegt,  so  muß  ich  mich  auf 
das  kurze  Referat  von  Prof.  Stumpf  beschränken]. 

3)  Carle  [siehe  Grüner:  „Utero  e.  trombe  di  Fal- 
loppio  in  un  uomo*  —  Giornale  della  Reale  Academia 
di  Torino.  —  1897  Anno  LX.  pg.  229  und  pg.  257—286]. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  wurde  im  Laboratorium 
des  Professors  Giacomini  gemacht.  Am  9.  November 
1894  trat  ein  36-jähriger  Telegraphist  in  die  chirurgische 
Klinik  von  Carle  in  Turin  ein  wegen  eines  links- 
seitigen Leistenbruches,  der  vor  einem  Monate  erst  unter 
heftigen  Schmerzen  entstanden  war.  Der  Kranke  selbst 
glaubte,  der  linke  Hoden  habe  sich  vergrößert  und  sei 
härter  geworden.  Carle  machte  die  Herniotomie  und 
fand  in  hernia  einen  nicht  schmerzhaften,  beweglichen 
Körper  von  Hühnereigröße,  welcher  sich  leicht  reponieren 
ließ  auf  dem  Wege  der  Taxis.  Der  Patient  vertrug  ab- 
solut ein  Bruchband  nicht  und  kam  deshalb  in  das  Hospital, 
Der  Hodensack  enthielt  nur  den  linken  Hoden  und  ober- 
halb dieses  linken  Hodens  jene  reponible  Hernie,  einen 
Tumor.  Nach  zwei  Monaten  kehrte  der  Patient  am 
26.  IV.  1894  wieder  in  die  Klinik  zurück  und  wurde 
jetzt  die  Hernitomie  gemacht  mit  gleichzeitiger  Eröffnung 
der  Bauchhöhle.    Man  überzeugte  sich  hierbei,  daß  dieser 


—    273    — 

Hypothese  aus!  Nach  unseren  [heutigen  Kenntnissen  ist 
ein  derartiges  Vorkommnis  beim  Menschen  bisher  über- 
haupt nicht  zweifellos  erwiesen  worden.  Es  scheint  viel- 
mehr, daß  es  sich  um  einen  cystisch  degenerierten  rechten 
Hoden  handelte.  Scham behaarung  weiblich,  die  allgemeine 
Behaarung   jedoch    sowie    die    des   Gesichtes    männlich, 


Ftg.  .£. 


Fig.  12.    Äußere  Genitalien  desselben  Individuum  bei  Spreizung  der 

Pseudovulva. 

a,  b  =  Geschlechtssäcke  (Scrotalhälften),  c  =  Geschlechtsglied, 

d  =  Frenulum,  f=Orificiimi  sinus  urogenitaiis,  g  =  Präputium, 

h  =  Nymphen,  i  =  fistulöser  menstruierender  Ausfuhrungsgang 

der  in  hernia  inguinoscrotali  liegenden  Uterushälfte. 


Hypospadiasis  peniscrotalis;  Penis  8  Centimeter  lang. 
Keine  Prostata  gefunden,  linker  Hoden  normal.  Das 
Ergebnis  der  Sektion  lautete:  Uterus  unicornis  hohen 
Entwickelungsgrades  samt  Vagina  und  Hymen  —  der 
Uterus  teilweise  in  hernia  inguinali  liegend  —  bei  einem 
männlichen  Hypospaden  mit  Mangel  eines  Vas  deferens, 

Jahrbuch  V.  18 


—    274    — 

der  Samenblasen  und  der  Prostata.  Eine  Erklärung  der 
allmonatlichen  Blutungen  ex  Urethra  und  aus  der  Fistel 
im  rechten  Labium  tnajns  steht  aus.  Geschlechtsdrang 
männlich.    (Siehe  Fig.  11  u.  12 j. 

2)  Bö  ekel  [„Exstirpation  d'un  utärus  et  d'une  trompe 
herni£e  chez  un  homme".  Acad£mie  de  Mldecine  de 
Paris.  19.  Avril  1892.  —  Semaine  Mädicale  1892  Vol.  XII, 
pg.  146]:  Bö  ekel  fand  in  einer  Inguinolabialhernie  bei 
einem  männlichen  Individuum  .  einen  Uterus  bicornis, 
welcher  eine  Höhle  enthielt,  eine  Tube  und  einen  Hoden 
samt  Nebenhoden  und  Vas  deferens,  welche  letzteren  Ge- 
bilde im  Ligamentum  latum  gelagert  waren.  [Da  mir  die 
Arbeit  von  Böc,kel  nicht  vorliegt^  so  muß  ich  mich  auf 
das  kurze  Referat  von  Prof.  Stumpf  beschränken]. 

3)  Carle  [siehe  Grüner:  „Utero  etrombe  di  Fal- 
loppio  in  un  uomo*  —  Giornale  della  Reale  Academia 
di  Torino.  —  1897  Anno  LX.  pg.  229  und  pg.  257—286]. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  wurde  im  Laboratorium 
des  Professors  Giacomini  gemacht.  Am  9.  November 
1804  trat  ein  36-jähriger  Telegraphist  in  die  chirurgische 
Klinik  von  Carle  in  Turin  ein  wegen  eines  links- 
seitigen Leistenbruches,  der  vor  einem  Monate  erst  unter 
heftigen  Schmerzen  entstanden  war.  Der  Kranke  selbst 
glaubte,  der  linke  Hoden  habe  sich  vergrößert  und  sei 
härter  geworden.  Carle  machte  die  Herniotomie  und 
fand  in  hernia  einen  nicht  schmerzhaften,  beweglichen 
Körper  von  Hühnereigröße,  welcher  sich  leicht  reponieren 
ließ  auf  dem  Wege  der  Taxis.  Der  Patient  vertrug  ab- 
solut ein  Bruchband  nicht  und  kam  deshalb  in  das  Hospital, 
Der  Hodensack  enthielt  nur  den  linken  Hoden  und  ober- 
halb dieses  linken  Hodens  jene  reponible  Hernie,  einen 
Tumor.  Nach  zwei  Monaten  kehrte  der  Patient  am 
26.  IV.  1894  wieder  in  die  Klinik  zurück  und  wurde 
jetzt  die  Hernitomie  gemacht  mit  gleichzeitiger  Eröffnung 
der  Bauchhöhle.    Man  überzeugte  sich  hierbei,  daß  dieser 


-    275    — 

Mann  einen  Uterus  samt  zwei  Tuben  besaß,  deren  linke 
in  jener  Hernie  lag.  Beim  Leistenschnitte  erwies  sich 
der  linke  Hoden  pathologisch  entartet  und  wurde  deshalb 
abgetragen.  Oberhalb  des  Hodens  fand  sich  ein  läng- 
liches Gebilde,  welches  durch  den  Leistenkaual  hindurch 
sich  in  die  Bauchhöhle  fortsetzte.  Es  war  dies  eine  Tube, 
welche  mit  dem  Hoden  durch  einen  fibrösen  Strang  in 
Verbindung  stand.  Bei  Eröffnung  der  Bauchhöhle  vom 
Leistenschnitte  aus  fand  sich  ein  Uterus  auf  der  rechten 
Fossa  iliaca  gelagert  und  die  zweite  Tube.  —  Neben  der 
linken  Tube  fand  sich  das  linke  Vas  deferens.  Der 
Uterushals  stand  nach  unten  zu  im  Cavum  rectovesicale 
mit  der  Prostata  in  Verbindung.  Es  wurde  der  Hoden 
linkerseits  abgetragen  samt  dem  Uterus,  die  Wunde  ge- 
schlossen. Wegen  postoperativen  Fiebers  wurde  die 
Wunde  wieder  geöffnet,  es  fand  sich  aber  kein  Eiter; 
die  Wunde  heilte  per  secundam  intentionem.  Später 
erfuhr  Giacomini,  daß  dieser  Mann  gestorben  sei 
infolge  eines  intraabdominellen  Tumors  (?)  und  zwar 
nach  Heimkehr  in  sein  Haus.  Von  der  Frau  dieses 
Telegraphisten  erfuhr  er,  daß  ihr  Mann  normalen  Verstand 
hatte  und  gutmütigen  Charakters  war,  daß  er  seinen 
ehelichen  Pflichten  regelmäßig  nachkam,  aber  die  Ehe 
war  eine  kinderlose;  weiter  erfuhr  er,  daß,  soweit  der 
Frau  bekannt,  ihr  Mann  niemals  genitale  Blutungen  ir- 
gend welcher  Art  gehabt  hatte.  Bei  der  Operation  war 
die  linke  Tube,  ein  Uterus  bicornis  und  das  zentrale 
Ende  der  rechten  Tube  entfernt  worden.  Grüner,  welcher 
das  postoperative  Präparat  untersuchte,  gibt  die  Ab- 
bildung von  vorn  und  von  hinten  gesehen,  und  Bilder 
der  mikroskopischen  Schnitte  von  Uterus,  Tube  und  Vas 
deferens  und  eine  sehr  detaillierte  Beschreibung.  Uterus 
und  Tuben  viabel,  linke  Tube  8  Centimeter  lang,  7  Milli- 
meter im  Umfange.  Bezüglich  des  Tumors  der  ent- 
arteten linksseitigen  Geschlechtsdrüse  konnte  das  Mikros- 

18* 


—    276    — 

kop  einen  sicheren  Entscheid  nicht  geben,  O.  rechnete 
diesen  Tumor  zu  den  Teratomen.  Per  i  preparati  fatti 
dal  tumore  PA.  lo  ascrive  alla  categoria  dei  tumori  da 
resti  fetali  in  prolif erazione :  Questi  appartenavo  con  tutta 
probilita  ad  una  ghiandola  sessuale  gia,  differenziate  in 
testicolo,*  6.  gibt  an,  er  sei  absolut  nicht  im  Stande, 
auf  Grund  der  sorgfältigsten  mikroskopischen  Unter- 
suchung in  diesem  Falle  zu  entscheiden,  ob  der  Tumor 
aus  einem  Hoden  oder  einem  Ovarium  entstanden  war. 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  dürfte  es  sich  doch  um 
einen  degenerierten  Hoden  gehandelt  haben. 

4)  D e r v e au, Uterus, trompe et testicule contenus dans 
une  hernie  inguinale  cong£nitale  chez  un  homme"  — 
Cercle  M&iical  de  Bruxelles  5.  IV.  1902  —  siehe:  Re- 
ferat: Zentralblatt  für  Chirurgie  Vol.  XXVUI.  pg.  952J. 
Bei  einem  69  jährigen  Manne,  der  Ejakulationen  hatte 
und  aus  dessen  Ehe  6  Kinder  hervorgegangen  waren, 
fand  Derveau  bei  der  Operation  eines  angeborenen 
Leistenbruches  im  Bruchsacke  einen  Uterus,  Tuben  und  ein 
scheidenähnliches  Gebilde,  welches  wahrscheinlich  in  die 
Harnröhre  mündete.  Der  Hodensack  enthielt  außer  der 
Hernie  keinen  Inhalt,  in  jedem  der  ligamenta  lata  fand 
sich  ein  normaler  Hode.  Die  Blase  kam  während  der 
Operation  nicht  zu  Gesicht.  Über  den  Zustand  der  äußeren 
Genitalien  wird  nichts  berichtet,  schreibt  Mohr  in  dem 
Referate;  ich  schliesse  daraus,  daß  wahrscheinlich  der 
Penis  normal  gebildet  war.  Kryptorchismus  bilateralis 
bei  hochgradiger  Entwickelung  der  Müller'schen  Gänge. 

5)  Fantino  (Giuseppe):  Der  Prof essor  der  Gynäko- 
logie Fantino  in  Bergamo  teilte  mir  am  10.  III.  1902 
brieflich  mit,  er  habe  am  5.  III.  bei  einem  Manne  in 
hernia  inguinali  im  Bruchsacke  einen  Uterus  gefunden 
mit  beiden  Tuben  und  zwei  Hoden.  Der  linksseitige 
Leistenkanal  war  leer.  (Der  Fall  scheint  bis  jetzt  noch 
nicht  publiziert  zu  sein.) 


277    — 


6)  Filippini  [H  Morgagni.  Dicembre  1900  — 
siehe  Referat:  Münchener  Medizinische  Wochenschrift 
1901  No.  10  pg.  403]  beschrieb  einen  Fall  von  angeblich 
wahrem  Zwittertume:  Er  fand  bei  einem  23  jährigen 
Manne  bei  Operation  eines  rechtsseitigen  Leistenbruches 
in  hernia  einen  Uterus  und  eine  Tube  und  angeblich 
eir^Ovarium,  während  linkerseits  im  Scrotum  ein  Hode 
lag.  Die  Allgemeinerscheinung  dieses  Mannes  war  rein 
männlich.  Offenbar  liegt  hier  ein  Irrtum  in  der  mikros- 
kopischen Deutung  der  rechtsseitigen  Geschlechtsdrüse 
vor.  [Leider  bin  ich  nicht  im  Besitz  der  Original  arbeit, 
das  Referat  ist  aber  so  kur«,  daß  damit  nicht  viel  anzu- 
fangen ist,  obwohl  ein  so  seltener  Fall  gewiß  ein  ein- 
gehenderes Referat  verdiente.] 

7)  Griffith  [siehe  Gruppe  I  Fall  9:  Uterus  bei 
einem  männlichen  Scheinzwitter  sub  Castratione  entdeckt], 

8)  Guldenarm  [siehe:  Siegenbeck  van  Heu- 
k  e  1  o  m :  Ueber  den  tubulären  und  glandulären  Hermaphro- 
ditismus beim  Menschen.  „Ziegl  er's  Beiträge  zur  patho- 
logischen Anatomie  und  allgemeinen  Pathologie."  1898  Vol. 
XXIII.  Heft  I.  pg.  144 — 160].  S.  beschreibt  einen  Mann  mit 
rechtsseitigem  Kryptorchismus  und  Leistenbruch.  Penis 
und  Scrotum  normal.  In  dem  offen  gebliebenen  Pro- 
cessus vaginalis  peritonaei  fand  sich  ein  Uterus,  sehr 
wohl  ausgebildet.  Am  7.  XII.  1896  sandte  Guldenarm 
aus  Rotterdam  das  postoperative  Präparat  an  Siegenbeck 
van  Heukelom  zur  Untersuchung.  Guldenarm  hattedie 
Herniotomie  gemacht,  weil  der  Mann  absolut  kein  Bruch- 
band vertragen  konnte.  Ein  Arzt  hatte  ein  Bruchband 
wegen  von  ihm  vorausgesetzter  Hernia  omenti  verordnet. 
Guldenarm  entfernte  sub  operatione  die  in  dem  Bruche 
enthaltenen  Gebilde  sowie  den  linken  Hoden  und  Neben- 
hoden. Rechterseits  lag  Kryptorchismus  vor.  Statt  des 
Omentum  fand  sich  in  hernia  ein  vom  Peritoneum  um- 
hülltes  Körperchen  von  13  Mill.  Länge  und  zylindrischer 


—    278    — 

Gestalt;  das  rechtsseitige  Ende  dieses  Gebildes  endete 
frei,  das  linksseitige  war  in  strikter  Verbindung  mit  dem 
linken  Hoden.  Das  Gebilde  hatte  eine  dreieckige  Ge- 
stalt und  saß  an  einem  Stiele,  der  dnrch  den  Leisten- 
kanal in  das  kleine  Becken  ging.  In  diesem  Stiel  konnte 
man  eine  Art  Strang  tasten,  welcher  in  der  Richtung 
nach  dem  kleinen  Becken  zu  immer  dünner  wurde,  Dach 
außen  zu  aber  immer  dicker.  Dieser  Stiel  inserierte 
in  der  Mitte  jenes  dreieckigen  Gebildes.  Der  Stiel  wurde 
bei  der  Operation  durchschnitten  und  es  zeigte  sich, 
daß  er  einen  Kanal  enthielt,  in  welchen  eine  Sonde  tief 
eindringen  konnte  bis  zur  Pars  prostatica  urethrae. 
Dieses  zylindrische  Gebilde  war  abgetragen  worden  dicht 
bei  der  Epididymis.  Schon  während  der  Operation  ver- 
mutete Guldenarm,  dieses  zylindrische  Körperohen  sei 
ein  Uterus  und  jener  sondendurchgängige  Kanal  ein  ductus 
genitalis  femininus,  der  sich  in  die  Urethra  in  capite  gal- 
•Hnaginis  eröffnet.  Keine  Prostata  getastet.  Das  Präpa- 
rat enthielt  den  amputierten  Uterus  bicornis,  Hoden  und 
Nebenhoden.  Letztere  Gebilde  standen  in  inniger  Ver- 
bindung mit  dem  peripheren  Ende  der  linken  Tube.  Es 
gelang  sub  operatione  auch  den  rechten  Hoden  und 
Nebenhoden  aus  der  Bauchhöhle  herauszuziehen,  wenn  man 
an  jenem  Stiele  zog. 

Die  Hernie  hatte  also  das  rechte  Hörn  eines  Uterus 
bicornis  enthalten.  An  dem  Präparate  fand  man  den 
Ductus  genitalis  femininus  10  Mill.  lang,  eine  cervix  uteri 
mit  Plicae  palmatae  ausgestattet,  —  die  rechte  Tube  war 
56  Mill.  lang  und  ohne  Morsus  diaboli,  sie  verlor  sich  im 
rechten  Nebenhoden.  Man  fand  am  Präparate  sowohl 
eine  Hydatis  pedunculata  als  auch  eine  Hydatis  sessilis; 
rechterseits  von  dem  ductus  genitalis  femininus  verlief 
das  rechtsseitige  Vas  deferens,  verbunden  mit  dem  rechts- 
seitigen Nebenhoden.  Man  fand  Spuren  eines  ligamen- 
tum  rotundum,   konnte  aber   eine  Arteria  uterina  nicht 


■ 


—    279    — 

mit  Sicherheit  am  Präparate  nachweisen.  Siegenbeck 
gibt  eine  genaue  mikroskopische  Beschreibung.  Man 
hatte  sub  operatione  den  Uterus  bicornis  samt  beiden 
Tuben  entfernt  und  auch  den  rechtsseitigen  Hoden  und 
Nebenhoden,  welche  aus  der  Bauchhöhle  durch  den  links- 
seitigen Leistenkanal  herausgezogen  worden  waren.  Die 
Gegenwart  so  hochgradig  entwickelter  Müll  e  r  'scher  Gänge 
bei  diesem  Manne  erinnert  an  das  normale  Verhalten 
beim  Biber,  wo  normal  die  Müller'schen  Gänge  auch 
beim  Männchen  zur  Entwickelung  gelangen.  Siegen- 
beck  van  Heukelom  fügt  hier  eine  sehr  interessante 
Bemerkung  hinzu:  Die  strikte  Vereinigung  der  beiden 
Hoden  miteinander  durch  den  Uterus  bicornis,  ein  mus- 
kulöses, nicht  dehnbares  Organ,  war  die  Ursache,  wes- 
halb der  rechte  Hoden  nicht  seinen  descensus  vollziehen 
konnte  angesichts  der'Kürze  des  Uterus  und  seiner  Tuben. 
Der  tubuläre  Hermaphroditismus  war  in  diesem  Falle 
die^Ursache,  weshalb  rechtsseitig  Kryptorchismus  vor- 
liegen mußte.  Die  rechte  Tube  durchbohrte  in  schräger 
Richtung  den  rechten  Nebenhoden  und  reichte  bis  an 
jene,  zwischen  Hoden  und  Nebenhoden  belegene  Hydatis 
pedunculata,  wo  sie  "mit  epithelbedeckten  Fimbrien  en- 
dete. Das  soll  die  Richtigkeit  der  1871  von  Fl  ei  sc  hl 
ausgesprochenen  und  von  Waldeyer  acceptierten  Ver- 
mutung beweisen,  daß  die  Hydatis  Morgagnii  nichts 
Anderes  sei  als  das  persistierende  periphere  Ende  des 
Müller'schen  Ganges. 

Siegenbecks  Ansicht,  daß  bei  einem  so  stark  aus- 
gebildeten tubulären  männlichen  Hermaphroditismus,  wie 
er  hier  vorliegt,  entweder  ein  Kryptorchismus  bilateralis 
oder  Kryptorchismus  unilateralis  mit  einer  hernia  conge- 
nita da  sein  muß,  erscheint  mir  durchaus  gerechtfertigt. 
Er  motiviert  dieselbe  folgendermaßen:  Die  Müll  er'schen 
Gänge  haben  sich,  statt  zu  schwinden,  zu  einem  überall 
dickwandigen  Gange  umgestaltet.     Während   die  oberen 


—    280    — 

Teile  sioh  jeder  für  sich  entwickelt  haben,  sind  die 
unteren  von  einer  Cervix  uteri  zusammengeschmolzen  und 
so  sind  die  Hoden  und  Nebenhoden  mittelst  eines  un- 
unterbrochenen, dicken  und  verhältnismäßig  kurzen  Stranges 
fest  mit  einander  verbunden.  Dadurch  wird  bei  inten- 
diertem Descensus  testiculorum  das  Eintreten  der  Hoden 
in  je  eine  Scrotalhälfte  unmöglich.  Es  können  sich  da- 
raus nach  Siegenbeck  2,  nach  meiner  Ansicht  3  ab- 
norme Lagerungen  der  Hoden  entwickeln.  Entweder 
bleiben  beide  Hoden  in  der  Bauchhöle  zurück,  oder  einer 
kann  in  die  Scrotalhöhle  eintreten,  der  andere  muß  in 
der  Bauchhöhle  bleiben  nach  Siegenbeck,  in  welchem 
Falle  der  Uterus  und  die  Tuben  fest  verbunden  mit  dem 
descendierten  Hoden  notwendig  den  Descensus  des  anderen 
Hodens  verhindern;  ich  betone  als  dritte  Möglichkeit  den 
Austritt  von  Uterus  und  beiden  Hoden  in  eine  und  dieselbe 
Scrotalhälfte  wie  im  Falle  Fantin  o's  (s.  i.  Vorhergehenden). 

9)  Pozzi  (siehe  im  Vorgehenden  Fall  No.  25].  Bei 
einem  als  Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitter  in 
einer  Inguinalhernie  neben  dem  Hoden  ein  Hörn  eines 
Uterus  bicornis. 

10)  Sänger  [siehe im  Vorgehenden  Fall 27].  In  einer 
Inguinalhernie  ein  Uterus  samt  Tube  und  Parovarialcyste 
neben  dem  Hoden  liegend. 

11)  Stonham  [siehe  im  Vorgehenden  Fall  32].  Die 
Sektion  eines  nach  Herniotomie  verstorbenen  Mädchens 
ergab  männliches  Geschlecht,  Hypospadiasis  peniscrotalis 
mit  Kryptorchismus.  Neben  inneren  männlichen  Genita- 
lien fand  sich  ein  Uterus  bicornis  nebst  Tuben  und  Vagina. 
Hoden  lagen  da,  wo  die  Ovarien  bei  Frauen  liegen,  keine 
Samenblasengefunden.  Hier  istSiegenbeck's  theoreti- 
sches Postulat  des  Kryptorchismus  bilateralis  erfüllt.  2 

12)  Thiersch  [siehe  Schmorl:  „Ein  »Fall  von 
Hermaphroditismus*  Virchow's  Archiv.  Bd.  CXI.  1888. 
pg.  229 — 244].    Schmorl  beschrieb  eine  interessante  Be- 


—    281    — 

obachtung  von  Thiersch.  Ein  22-jähriger  Schüler  der 
Leipziger  Kunstakademie  trat  in  die  chirurgische  Klinik 
1887  ein  mit  der  Bitte,  auf  operativem  Wege  ihm  die 
Möglichkeit  zu  schaffen  nach  Art  der  Männer  harnen  zu 
können  und  daß  er  auch  als  Mann  den  Beischlaf  ausüben 
könne.  Thiersch  sagte  ihm  nach  der  Untersuchung,  er 
halte  nicht  viel  von  derartiger  Plastik,  was  das  Endresultat 
anbetreffe.  1882  war  ein  rechtsseitiger  Leistenbruch 
ausgetreten,  welcher  bis  in  die  Tiefe  des  gespaltenen 
Scrotum  herabreichte,  in  derselben  Hälfte  des  Scrotum 
tastete  man  Hoden  und  Nebenhoden,  die  linke  Hälfte  des 
Scrotum  erwies  sich  geschrumpft  und  leer.  Thiersch 
vollzog  eine  ganze  Reihe  plastischer  Eingriffe,  um  den 
hypospadischen  nach  unten  gekrümmten  Penis  gerade  zu 
machen !  Nachdem  er  Wasser  in  die  Harnblase  eingespritzt 
hatte,  bemerkte  er  ein  Anschwellen  der  linken  Leisten- 
gegend, in  der  Folge  aber  erwies  sich  sowohl  die  normale 
Entleerung  der  Harnblase  erschwert  als  auch  diejenige 
durch  einen  Katheter.  Um  die  Ursache  dieser  eigentüm- 
lichen Erscheinung  festzustellen,  machte  Thiersch  jetzt 
eine  andere  Operation,  er  machte  einen  Einschnitt  wie 
bei  Herniotomie  und  fand  im  Leistenkanale  ein  Gebilde 
von  5  Centimeter  Länge  und  2  Centimeter  Dicke,  welches 
er  zunächst  für  den  linken  Hoden  ansah.  Nach  Unter- 
bindung des  Stieles  trug  er  diesen  scheinbaren  Hoden  ab, 
den  Samenstrang  kauterisierte  er  mit  Paqueli  n's  Brenner. 
Gleich  nach  dieser  Operation  stellte  sich  eine  Peritonitis 
ein  mit  Singultus,  Coma  und  Tod  am  nächsten  Tage.  Bei 
der  Sektion  fand  man  einen  Uterus  bicornis  und  eine 
Scheide,  welche  in  capite  gallinaginis  der  Urethra  mündete. 
Der  Uterovaginalkanal  hatte  15  Centimeter  Länge.  Das 
von  Thiersch  als  Hoden  abgetragene  Gebilde  erwies  sich 
als  das  periphere  Ende  der  linken  Tube  mit  zwei  kleinen 
Cysten.  Das  Abdominalende  der  rechten  Tube  lag  im 
rechten  Leistenkanale,  die  rechtsseitige  Inguinalhernie  ent- 


—    282    — 

hielt  das  große  T^etz.  Neben  der  rechten  Tube  fand  ich 
ein  Parovarium,  die  rechte  Hälfte  des  gespaltenen 
Scrotum  enthielt  einen  atrophischen  Hoden  ohne  Neben- 
hoden und  ohne  Vas  deferens.~  Schmorl  betrachtete  ein 
atrophisches  kleines  Gebilde,  halbkirschengroß  rechterseits 
im  Bindegewebe  unterhalb  des  abdominalen  Endes  der 
Tube  belegen,  als  einen  rudimentären  Eierstock,  freilich 
ohne  den  geringsten  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser 
Annahme  bringen  zu  können.  In  diesem  Falle  wies  nicht 
die  Herniotomie,  sondern  die  postmortale  Leichenschau 
das  Existieren  eines  Uterus  bicornis  und  einer  Scheide 
nach.  Kryptorchismus  unilateralis  bei  hochgradiger  Ent- 
wicklung der  Müll  ergehen  Gänge. 

13)  Winkler  [„Über  einen  Fall  von  Pseudoherma- 
phroditismus  masculinus  externus*.  I.  D.  Zürich  1898]. 
52-jähriger  Mann  behaftet  mit  einem  angeborenen  Leisten- 
bruche. Während  einer  Herniotomie  im  Jahre  1878  hatte 
man  Kryptorchismus  konstatiert  1892  kam  es  zu  einem 
Recidiv  des  Bruches.  Man  machte  den  Bauchschnitt  und 
durchschnitt  einen  Adhaesionsstrang,  welcher  die  Darm- 
nnwegsamkeit  veranlaßt  hatte.  Der  Kranke  starb  trotz- 
dem am  nächsten  Morgen  infolge  von  Peritonitis  acutissima. 
Die  Nekropsie  wies  einen  Hoden,  den  rechtsseitigen,  in 
der  Bauchhöhle  nach,  linkerseits  fand  man  in  der  Mün- 
dung des  Leistenkanales  das  periphere  Ende  der  linken 
Tube.  Man  fand  in  der  Bauchhöhle  einen  Uterus  bicornis 
mit  Scheide,  —  der  Uterovaginalkanal  hatte  eine  Länge  von 
17  Centimetern.  Der  Uteruskanal  war  9  Centimeter  lang, 
die  Vagina  8.  Das  untere  Scheidenende  war  von  der 
Prostata  umschlossen.  Penis  klein  aber  normal,  Scrotum 
leer.  Oberhalb  der  Prostata  fand  man  die  Mündung  des 
linken  Vas  deferens  in  die  Vagina,  die  linke  Samenblase 
lag  seitlich  von  der  Vagina.  Fundus  uteri  2  Centimeter 
breit.  Man  fand  natürlich  eine  Excavatio  rectouterina 
und  vesicouterina.    Die  linke  Tube  verlief  in  Ligamento 


—    283 


Fun. 
;.TNe.Ho.     Uu.  lyas  def , 


Lig  la, 


-  vag. 

---r.Saf. 
—  LSa. 

--•  du.ej 

.—  Prost 
- 'Et. 


RiTOert  (Tel 

Fig.  13. 

Anatomisches  Präparat  der  inneren'Geni tauen  eines  52jähr.*!Kryptorchisten  fmit 
hochgradiger  Entwickeluog  der  Müller  'schen]Gänge.  Beobachtung  von  W  i  n  c  k  l e  r, 
Nekropsie  von  Ribber t  vollzogen.  Der  weibliche  Genitalschlauch  ist~von]|hinten 
der  Läpge  nach  eröffnet.  Ei  =  Einmündungsstelle*des|Uterus  in  die. Urethra,  ent- 
sprechend dem  Sitz  einer  normalen  Vesicula  prostatica ;  Prost.  =  Prostata ;  du.  ej.  = 
Ductus  ejaculatorius ;  1.  Sa.  =  linker  Samenleiter;  r.  Sa.  =  rechter  Samenleiter; 
Vag.  =  Vagina;  Ut.  =  Uterus;  1.  vas  Tdef.  =  linkes  Vas  deferens;  r.  Tu.  =  rechte 
Tube ;  Cy.  =  Cysten ;  r.  Ho.  =  rechte  Hode  ;"Lig.  la.  =  Ligamentum  latum  ;'l.  Tu.  = 
linke  Tube ;   Ne.  Ho.  =  Nebenhodenkanälchen ;  j.l."Ho.  —  linker  Hode;    Firn.  = 

Fimbrien  der.linkenVTube. 
SSektionspräjparat  vom^Uterus  masculinus  eines'Kryptorchiaten. 


—    274    — 

der  Samenblasen  und  der  Prostata.  Eine  Erklärung  der 
allmonatlichen  Blutungen  ex  Urethra  und  aus  der  Fistel 
im  rechten  Labium  majus  steht  aus.  Geschlechtsdrang 
männlich.     (Siehe  Fig.  11  u.  12). 

2)  Bö  ekel  [„Exstirpation  (Tun  utärus  et  d'une  trompe 
herni£e  chez  un  homme".  Acad£mie  de  Mldecine  de 
Paris.  19.  Avril  1892.  —  Semaine  M^dicale  1892  Vol.  XII, 
pg.  146]:  Bö  ekel  fand  in  einer  Inguinolabialhernie  bei 
einem  männlichen  Individuum  .  einen  Uterus  bicornis, 
welcher  eine  Höhle  enthielt,  eine  Tube  und  einen  Hoden 
samt  Nebenhoden  und  Vas  deferens,  welche  letzteren  Ge- 
bilde im  Ligamentum  latum  gelagert  waren.  [Da  mir  die 
Arbeit  von  Böc.kel  nicht  vorliegt,  so  muß  ich  mich  auf 
das  kurze  Referat  von  Prof.  Stumpf  beschränken]. 

8)  Carle  [siehe  Grüner:  „Utero  e. trombe  di  Fal- 
loppio  in  un  uomo"  —  Giornale  della  Reale  Academia 
di  Torino.  —  1897  Anno  LX.  pg.  229  und  pg.  257—286]. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  wurde  im  Laboratorium 
des  Professors  Giacomini  gemacht.  Am  9.  November 
1894  trat  ein  36-jähriger  Telegraphist  in  die  chirurgische 
Klinik  von  Carle  in  Turin  ein  wegen  eines  links- 
seitigen Leistenbruches,  der  vor  einem  Monate  erst  unter 
heftigen  Schmerzen  entstanden  war.  Der  Kranke  selbst 
glaubte,  der  linke  Hoden  habe  sich  vergrößert  und  sei 
härter  geworden.  Carle  machte  die  Herniotomie  und 
fand  in  hernia  einen  nicht  schmerzhaften,  beweglichen 
Körper  von  Hühnereigröße,  welcher  sich  leicht  reponieren 
ließ  auf  dem  Wege  der  Taxis.  Der  Patient  vertrug  ab- 
solut ein  Bruchband  nicht  und  kam  deshalb  in  das  Hospital, 
Der  Hodensack  enthielt  nur  den  linken  Hoden  und  ober- 
halb dieses  linken  Hodens  jene  reponible  Hernie,  einen 
Tumor.  Nach  zwei  Monaten  kehrte  der  Patient  am 
26.  IV.  1894  wieder  in  die  Klinik  zurück  und  wurde 
jetzt  die  Hernitomie  gemacht  mit  gleichzeitiger  Eröffnung 
der  Bauchhöhle.    Man  überzeugte  sich  hierbei,  daß  dieser 


-    275    — 

Mann  einen  Uterus  samt  zwei  Tuben  besaß,  deren  linke 
in  jener  Hernie  lag.  Beim  Leistenschnitte  erwies  sich 
der  linke  Hoden  pathologisch  entartet  und  wurde  deshalb 
abgetragen.  Oberhalb  des  Hodens  fand  sich  ein  läng- 
liches Gebilde,  welches  durch  den  Leistenkanal  hindurch 
sich  in  die  Bauchhöhle  fortsetzte.  Es  war  dies  eine  Tube, 
welche  mit  dem  Hoden  durch  einen  fibrösen  Strang  in 
Verbindung  stand.  Bei  Eröffnung  der  Bauchhöhle  vom 
Leistenschnitte  aus  fand  sich  ein  Uterus  auf  der  rechten 
Fossa  iliaca  gelagert  und  die  zweite  Tube.  —  Neben  der 
linken  Tube  fand  sich  das  linke  Vas  deferens.  Der 
Uterushals  stand  nach  unten  zu  im  Cavum  rectovesicale 
mit  der  Prostata  in  Verbindung.  Es  wurde  der  Hoden 
linkerseits  abgetragen  samt  dem  Uterus,  die  Wunde  ge- 
schlossen. Wegen  postoperativen  Fiebers  wurde  die 
Wunde  wieder  geöffnet,  es  fand  sich  aber  kein  Eiter; 
die  Wunde  heilte  per  secundam  intentionem.  Später 
erfuhr  Giacomini,  daß  dieser  Mann  gestorben  sei 
infolge  eines  intraabdominellen  Tumors  (?)  und  zwar 
nach  Heimkehr  in  sein  Haus.  Von  der  Frau  dieses 
Telegraphisten  erfuhr  er,  daß  ihr  Mann  normalen  Verstand 
hatte  und  gutmütigen  Charakters  war,  daß  er  seinen 
ehelichen  Pflichten  regelmäßig  nachkam,  aber  die  Ehe 
war  eine  kinderlose;  weiter  erfuhr  er,  daß,  soweit  der 
Frau  bekannt,  ihr  Mann  niemals  genitale  Blutungen  ir- 
gend welcher  Art  gehabt  hatte.  Bei  der  Operation  war 
die  linke  Tube,  ein  Uterus  bicornis  und  das  zentrale 
Ende  der  rechten  Tube  entfernt  worden.  Grüner,  welcher 
das  postoperative  Präparat  untersuchte,  gibt  die  Ab- 
bildung von  vorn  und  von  hinten  gesehen,  und  Bilder 
der  mikroskopischen  Schnitte  von  Uterus,  Tube  und  Vas 
deferens  und  eine  sehr  detaillierte  Beschreibung.  Uterus 
und  Tuben  viabel,  linke  Tube  8  Centimeter  lang,  7  Milli- 
meter im  Umfange.  Bezüglich  des  Tumors  der  ent- 
arteten linksseitigen  Geschlechtsdrüse  konnte  das  Mikros- 

18* 


—    286    — 

Vorschlag  ein.  Die  Operation  ergab  folgenden  merk- 
würdigen Befund:  Nach  Durchtrepnung  des  als  Bruch- 
sack vorgewölbten  Peritonäalblattes  ließ  sich  an  einer 
Peritonaealfalte  ein  sicher  als  Tube  anzusprechendes 
Gebilde  hervorziehen,  das  sich  in  seinem  uterinen  Ende 
in  der  Peritonäalplatte  verlor;  unter  ihr  subperitonaeal 
lag  ein  höckriger,  anscheinend  aus  einem  Schlauchgeflecht 
zusammengesetzter  Körper,  der  als  Parovarium  bezw. 
Ovarium  aufgefaßt  wurde;  aus  dessen  in  die  Bauchhöhle 
ziehenden  Peritonäalblatt  trat  sodann  ein  etwa  taubenei- 
großer  gelblicher  Körper  hervor,  dem  kappenartig  ein 
halbbohnengroßer,  mehr  weißlicher  Knoten,  ursprünglich 
als  Epididymis  angesprochen,  aufsaß;  es  zeigte  sich  jedoch, 
daß  in  dem  von  diesem  als  Keimdrüse  imponierenden 
Gebilde  abgehenden  Peritonäalblatt  ein  festerer  Strang 
verlief,  der  nur  als  Vas  deferens  aufgefaßt  werden  konnte, 
und  neben  diesem  subperitonäal  ein  erbsengroßer,  höck- 
riger Körper,  mutmaßlich  der  Nebenhoden. 

Da  somit  der  männliche  Geschlechtsapparat  vorhanden 
zu  sein  schien,  wurden  als  unbrauchbar  die  Tube  und  der 
unter  ihr  gelegene  Körper  abgetragen,  aus  den  übrigen  Teilen 
der  Keimdrüse  kleine  Keile  excidiert,  desgleichen  ein  Teil 
des  neben  dem  Vas  deferens  gelegenen  Körpers  exstirpiert. 

Die  Präparate  wurden  von  Dr.  Simon,  Volontärarzt 
der  Klinik,  mikroskopisch  untersucht.  Der  größere  untere 
Teil  der  Keimdrüse  soll  darnach  einen  Hoden  mit  den 
Charakteren  des  Leistenhodens  ohne  Zeichen  von  Sper- 
matogenese darstellen,  der  kleinere  dem  unteren  kappen- 
artig aufsitzende  weißliche  Knoten  ein  Ovarium,  der  unter 
der  Tube  gelegene  Körper  ein  Parovarium  und  das  neben 
dem  Vas  deferens  gelegene  Gebilde  eine  Epididymis. 
Ovarium  und  Hoden  sollen  beide  histologisch  gut  ausge- 
bildet sein.  Garr£  vermutet,  daß  die  beiden  bei  Unter- 
suchung per  rectum  linkerseits  getasteten  Körperchen, 
von    denen   der  eine   flacher,   der   andere   rundlicher  er- 


—    287    — 

schien,  Ovarium  und  Hoden  seien,  es  würde  dann  bila- 
teraler glandulärer  Hermaphroditismus  vorliegen.  Es  sollen 
in  diesem  Falle  zum  ersten  Male  am  lebenden  Individuum 
sowohl  grob  anatomisch  als  auch  histologisch  an  frischen 
Präparaten  Testis  und  Ovarium  nebeneinander  konstatiert 
worden  sein. 

Wie  bekannt  hat  von  sämtlichen  Fällen,  wo  bisher 
glandulärer,  also  echter  Hermaphroditismus  beim  Menschen 
beschrieben  wurde,  keiner  der  älteren  einer  mikros- 
kopischen Kontroiuntersuchung  Stand  gehalten,  nicht  ein- 
.  mal  die  von  Blacker  und  Lawrence  beschriebene 
Ovotestis  —  eine  Geschlechtsdrüse  mit  gemischtem  Bau. 
Bisher  ist  nur  der  einzige  Fall  von  v.  Sal£n  noch  nicht 
angefochten  worden.  Gleichwohl  wäre  es  dringend  zu 
wünschen,  daß  sowohl  die  Präparate  dieses  Falles  als 
auch  diejenigen  des  von  Keller  (Bloomfontein)  ver- 
öffentlichten, eines  neuerdings  im  Anatomischen  Anzeiger 
angezeigten  Falles  und  diejenigen  von  Garr£  und  Simon 
einer  strengen  mikroskopischen  Kontrole  unterworfen 
würden.  Theoretisch  muß  die  Möglichkeit  des  Vorkommens 
von  glandulärem  Hermaphroditismus  beim  Menschen  laut 
Analogie  mit  der  Tierwelt  zugegeben  werden,  es  wäre 
unendlich  wichtig,  wenn  die  Behauptungen  Simonis 
bezüglich  der  Königsberger  Präparate  sich  als  tat- 
sächlich begründet  erweisen  würden. 


Vierte  Gruppe. 

45  Fälle  von  Coincidenz  von  gut-  oder  bösartigen 
Neubildungen    mit   Scheinzwittertum    einschliesslich 
der    an     Scheinzwittern    vollzogenen   Bauchhöhlen- 
operationen. 

1)  Abel  [„Ein  Fall  von  Hermaphroditismus  mas- 
culinus  mit  sarkomatöser  Cryptorchis  sinistra*  —  Vir- 
chow's  Archiv  Bd.  CXXVL  Berlin  1891]. 


—    288    — 

Am  21.  Oktober  1890  kam  die  33jährige  AI  bertine 
R.  aus  Schlawe  in  die  Greifswalder  Frauenklinik.  Das 
Mädchen  war  verlobt,  wurde  von  ihren  Freundinnen 
vielfach  gehänselt  wegen  ihres  immer  stärker  werdenden 
Leibes  und  suchte  nun  die  Klinik  auf,  um  von  der  im 
Bauche  sich  entwickelnden  Geschwulst  befreit  zu  werden. 

Patientin  soll  früher  stets  gesund  gewesen  sein,  vom 
20.  Jahre  an  soll  sie  die  Regel  allmonatlich  drei  Tage 
lang  ohne  Beschwerden  gehabt  haben.  Im  Frühling  1890 
fühlte  Patientin  einmal  unabhängig  von  der  Regel  heftige 
Schmerzen  im  Leibe,  bald  darauf  begann  der  Leib  stärker 
zu  werden  und  nahm  bis  jetzt  unausgesetzt  an  Größe  zu. 
Auch  während  dieser  ganzen  Zeit  blieb  die  Regel  schmerz- 
los. Die  letzte  Regel  vor  14  Tagen  etwas  schwächer 
als  sonst     Miktion  und  Defäkation  normal. 

Patientin  war  klein,  zart  gebaut,  von  gesunder  Gesichts* 
färbe  ohne  Ödeme.  Der  Körper  scheint  normal  gebaut. 
An  den  Genitalien  und  in  den  Achselhöhlen  fehlt  jede 
Spur  von  Behaarung.  Patientin  fühlt  sich  wohl,  verlangt 
aber  trotzdem  eine  Operation.  Leib  aufgetrieben,  besonders 
unterhalb  des  Nabels,  namentlich  links.  Ein  elastischer 
cystischer  Tumor  liegt  größtenteils  links  im  Leibe.  Der 
Tumor  reicht  nach  unten  zu  bis  an  den  Beckeneingang, 
wo  er  etwas  spitz  zuläuft.  Der  Tumor  hat  die  Gestalt 
einer  Birne,  deren  spitzes  Ende  nach  unten  rechts  zu, 
das  obere  breite  nach  oben  links  zu  gerichtet  ist,  sodaß 
auch  die  Kuppe  des  Tumors  links  von  der  Mittellinie 
liegt,  6  Centimeter  oberhalb  des  Nabels,  während  der 
Tumor  in  der  Mittellinie  den  Nabel  nur  um  4  Centimeter 
überschreitet  Oberfläche  glatt,  Konsistenz  gleichmäßig 
prall,  elastisch.  Scheideneingang  eng,  Hymen  vorhanden, 
der  Finger  findet  die  Scheide  als  einen  kurzen  Blindsack; 
drängt  man  den  Tumor  herab,  so  kann  man  ihn  durch 
das  Scheidengewölbe  fühlen. 


—    289    — 


Eine  Portio  vaginalis  uteri  tastet  der  Finger  nicht; 
im  Speculum  sieht  man  im  linken  Scheidengewölbe  eine 
Andeutung  der  Portio  vaginalis  uteri,  welche  aber  eine  Sonde 
nirgends  einläßt.  In  der  rechten  Leistengegend  fühlt  man 
einen  Körper  von  der  Größe  und  Gestalt  eines  Eierstockes, 
welcher  sich  leicht  nach  der  Bauchhöhle  zu  verschieben, 
aber  nicht  in  dieselbe  hinein  schieben  läßt.  Vom  unteren 
Rande  der  Urethralmündung  hing  ein  etwa  bohnengroßer 
Polyp  herab.  Die  Diagnose  wurde  auf  congenitalen 
Verschluß  der  Vagina  und  Haematometra  gestellt.  Man 
versuchte  sub  narcosi  mit  einer  Sonde  durch  die  Portio 
vaginalis  uteri  sich  einen  Weg  zu  bahnen,  nachdem  die 
Kuppe  der  Vagina  im  Speculum  eingestellt  war.  Da 
es  nicht  gelang,  das  Gewebe  bis  zu  dem  Tumor  stumpf 
zu  trennen,  so  spitze  Lanze.  Man  schafft  einen  Kanal, 
der  Finger  dringt  ein  und  fühlt  jetzt  den  Tumor  deut- 
licher. Man  führt  einen  Katheter  in  die  Stichkanalwunde 
ein  und  daneben  eine  Kornzange,  welche  jetzt  geöffnet 
wird,  um  den  Kanal  zu  erweitern.  Endlich  wird  ein 
Troicart  eingeführt  und  in  den  Tumor  eingestoßen:  dann 
seine  Canüle  weiter  eingedrängt.  Es  entleeren  sich  bei 
Druck  auf  den  Tumor  nur  einige  Klümpchen  geronnenen 
Blutes  und  einige  Bröckel  einer  glasigen,  grauen, 
weichen  Masse.  Man  spricht  jetzt  den  Tumor  als  bös- 
artig an.  Tamponade  der  Scheide.  In  derselben  Sitzung 
entfernte  man  mit  einem  Scherenschlage  den  Urethral- 
polypen.  Abends  Fieber  +  39°  C,  am  nächsten  Tage  bis 
+  41°  und  nach  36  Stunden  Tod  an  Peritonitis. 

Sektion :  Aussehen  der  Leiche  weiblich,  Brüste  klein 
mit  kaum  erkennbaren  Warzen,  in  der  Beckenhöhle  ein 
Tumor,  welcher  einem  8  Monate  schwangeren  Uterus 
ungemein  ähnlich  sieht.  Im  rechten  Leistenkanale  ein 
nach  der  Bauchhöhle  zu  verschiebliches  Gebilde,  welches 
aus  zwei  Anteilen  besteht,  die  wie  Hoden  und  Neben- 
hoden aussehen,  durch  einen  breiten  Strang  an  den  Boden 

Jahrbuch  V.  19 


—    290    — 

der  rechten  Schamlefze  fixiert.  .  Der  Leistenkanal  ist  für 
einen  Finger  durchgängig,  aber  sein  Abdominalende  ver- 
schlossen. Die  Scham  sieht  aus  wie  die  eines  12jährigen 
Mädchens.  Mons  Veneris  fettarm  und  nicht  behaart. 
Die  Lefzen  liegen  einander  an  und  vereinigen  sich  unten 
unter  einem  spitzen  Winkel.  Damm  drei  Centimeter  lang. 
Kleine  Schamlippen  ganz  normal  gebaut,  vom  Charak- 
ter einer  Schleimhaut  (?),  umfassen  nach  oben  zu  die 
kleine  etwa  drei  Mill.  weit  vortretende  Clitoris.  Urethra 
4  Cent.  lang.  Vagina  mündet  in  vestibulo,  ihr  Eingang 
von  Hymenairesten  umgeben  (Einrisse  sub  operatione 
entstanden  oder  nach  Beischlaf s versuch  ?-N.)  —  Columnae 
rugarum  an  den  Scheidenwänden  deutlich.  4,8  Centimeter 
oberhalb  des  Scheideneinganges  sieht  man  keine  Schleim- 
haut mehr,  sondern  den  neugeschaffenen  Wundkanal. 
Nach  links  von  dessen  Öffnung  sieht  man  einen  kleinen 
Wulst  als  Rest  der  Portio  vaginalis  uteri.  Von  der 
Öffnung  aus  verläuft  der  Stichkanal  4,7  Centimeter  weit 
durch  straffes  oberhalb  der  Vagina  liegendes  Gewebe, 
durchbohrt  zweimal  die  Harnblasenwand  und  dringt  ein 
wenig  in  den  Tumor  ein.  Der  mannskopfgroße  Tumor 
erwies  sich  als  ein  Sarkom  des  linken,  in  der.  Bauchhöhle 
retinierten  Hodens.  Cryptorchis  sinistra  sarcomatosa 
rechts  mit  dem  Omentum  inajus  verwachsen.  Das  Bauch- 
fell überzog  den  Tumor  und  bildete  an  seiner  Vorder- 
seite eine  Duplikatur,  einer  Wagentasche  ähnlich,  deren 
freier  Rand  12  Centimeter  in  der  Länge  maß,  deren  Tiefe 
bis  zu  drei  und  einen  halben  Centimeter  reichte.  1  Centi- 
meter nach  unten  und  rechts  vom  Grunde  dieser  Tasche 
entsprang  retroperitoneal  ein  fester  Strang  von  Bleistift- 
dicke, völlig  solid  und  an  der  einen  Seite  in  der  Ge- 
schwulst endend,  an  der  anderen  Seite  verlor  er  sich  im 
Bindegewebe  der  linken  Leistengegend.  Die  Gebilde 
im  rechten  Leistenkanale  erwiesen  sich  als  der  rechte 
Hoden  und  ein  ihm  aufsitzendes  Leiomyom,  wohl  aus  dem 


—    291    — 


Nebenhoden  entstanden. .  Samenleiter  und  Sanienbläschen 
fehlten.  Der  Strang,  welcher  von  dem  Tumor  nach  der 
linken  Leistengegend  verlief,  wird  von  Abel  als  Guber- 
naculum  Hunteri  aufgefaßt.  Was  nun  die  angebliche 
regelmäßige  Periode  anbetrifft,  schon  vom  20.  Jahre  an, 
so  glaubt  Abel,  es  seien  Blutungen,  veranlaßt  durch  den 
Harnröhrenpolypen,  irrtümlich  als  menstruelle  Blutung 
von  der  Patientin  aufgefaßt  worden.  Was  das  geschlecht- 
liche Empfinden  anbetrifft,  so  fühlte  sich  Albert  ine 
als  Mädchen  und  liebte  innig  ijiren  Bräutigam.  [Per- 
sönlich möchte  ich  vermuten,  die  Entstehung  des  Harn- 
röhrenpolypen stehe  in  Zusammenhang  mit  Beischlafs- 
versuchen als  Produkt  eine&  künstlich  geschaffenen 
Ektropium  urethrae  deficiente  vagina  oder  vagina  pro 
immissione  membri  virilis  nimis  arcta.     N.] 

Dieser  von  Abel  beschriebene  Fall  zeigt  zur  Evidenz, 
welchen  groben  diagnostischen  Irrtümern  der  Chirurg 
hier  unterworfen  sein  kann  und  wie  unendlich  vorsichtig 
man  in  der  klinischen  und  anatomischen  Beurteilung 
solcher  Fälle  vorgehen  muß!  —  Welcher  Gynäekologe 
würde  wohl  hier  die  richtige  Diagnose  gestellt  haben? 
Es  erscheint  ja  rationell,  in  einem  solchen  Falle  zunächst 
einen  diagnostischen  Leisteneinschnitt,  in  diesem  Falle 
rechterseits  zu  machen,  um  den  Charakter  der  dort 
getasteten  Geschlechtsdrüse  festzustellen,  selbst  mit  Exstir- 
pation  derselben.  Hätte  man  dies  ausgeführt  und  kon- 
statiert, daß  dieselbe  ein  Hoden  ist,  so  wäre  selbstver- 
ständlich die  Operation  per  vaginam,  welche  den  Tod 
herbeiführte,  nicht  ausgeführt  worden,  sondern  man  hätte 
sofort  den  Bauchschnitt  gemacht  um  den  jetzt  von  vorn- 
herein diagnosticierten  Hodentumor  zu  entfernen.  [Die 
Kasuistik  solcher  Fälle  ist  reicher  als  der  Chirurg  ahnt, 
aber  sie  ist  noch  zu  wenig  berücksichtigt  —  wer  dieselbe 
kennt,  der  wird  natürlich  leichter  solche  grobe  diagnostische 
Mißgriffe  vermeiden.  —  Gerade  auf   diese    Kasuistik  in 

19* 


—    292    — 

weiteren  Kreisen  aufmerksam  zu  machen,  ist  der  Zweck 
meiner  heutigen  Zusammenstellung.     N.J 

2)  Audain  [„Hermaphrodisme  double,  kyste  der- 
moide  des  ovaires"  Annales  de  Gyn^cologie  et  d'  Obst<?- 
trique  Vol.  XL  1893  pg.  362],  Es  handelt  sich  um  eine 
beiderseitige  Ovariotomie  bei  Dermoidcystomen  bei  einem 
Individuum  mit  männlicher  Behaarung  und  bedeutender 
Clitorishypertrophie.  Die  Clitoris  der  29  jährigen  Kranken 
war  fingerlang  und  3  Centimeter  dick.  Schnurrbart.  Neben 
dem  größeren  der  beiden  Dermoide  fand  sich  auch  eine 
Parovarialcyste.  Die  Person  genas.  [Da  ich  die  Original- 
arbeit nicht  gelesen  habe,  sondern  nur  ein  Referat  von 
Stumpff,  so  kann  ich  nicht  sagen,  ob  der  ovarielle 
Charakter  der  Tumoren  mikroskopisch  festgestellt  worden 
ist;  wo  nicht,  so  bleibt  immer  noch  ein  Zweifel  erlaubt, 
ob  es  sich  nicht  um  Tumoren  der  in  der  Bauchhöhle 
retinierten  Hoden  eines  verkannten  männlichen  Schein- 
zwitters gehandelt  hat.  Die  vorstehende  Kasuistik  würde 
uns  zu  so  einem  Zweifel  vollauf  berechtigen,  da  makros- 
kopisch eine  Bestimmung,  ob  ovarieller  oder  testiculärer 
Tumor,  lange  nicht  in  allen  Fällen  möglich,  geschweige 
denn  leicht  ist.     N.J 

3)  Bacaloglu  und  Fossard  [„Deux  cas  de  Pseudo- 
hermaphrodisme  (Gynandroides)  La  Presse  M^dicale  6. 
XII.  —  1899  pg.  331  —  333]:  Die  31jährige 
A.  Lefranijois  trat  am  15.  August  1899  wegen  starker 
Leibschmerzen,  welche  schon  vier  Tage  dauerten,  in  das 
Hospital  ein  und  wurde  auf  dem  Krankensaale  des  Dr. 
Troisier  untergebracht.  Die  bisher  absolut  gesunde  Person 
giebt  an,  sie  habe  ganz  plötzlich  nach  dem  Abendessen 
am  12.  August  sehr  starke  Schmerzen  rechterseits  im 
Unterleibe  bekommen.  Sie  wandte  zunächst  keinerlei 
Mittel  an,  in  der  Hoffnung,  die  Schmerzen  werden  über 
Nacht  vergehen  —  es  kam  jedoch  anders!  Am  nächsten 
Tage  wurden    die  Schmerzen  [noch    stärker   trotz   Kata- 


plasmen  mit  Opiumzusatz.  Wegen  habitueller  Verstopfung 
verordnete  man  Clysmata  mit  Zusatz  von  Glycerin.  Am 
14.  August  Status  idem.  Am  15.  Meteorismus  des  Leibes, 
stark  galliges  Erbrechen,  ständige  Uebelkeiten.  Darum 
entschloß  sich  die  Kranke  in  das  Hospital  zu  gehen.  Es 
fiel  den  Aerzten  sofort  auf,  daß  diese  Person  trotz  an- 
scheinend normalen  weiblichen  Körperbaues  einen  männ- 
lichen Gesichtsausdruck  hatte.  Behaarung  weiblich , 
außer  Anflug  von  Bart  an  Oberlippen  und  Kinn.  Extre- 
mitäten klein,  weiblich.  Becken  weiblich,  Brüste  minimal. 
Leib  sehr  aufgetrieben,  besonders  schmerzhaft  in  der 
Gegend  der  fossa  iliaca  dextra.  Erbrechen  von  kopiösen 
grünlichen  Massen.  Facies  peritonitica,  trockne  Zunge, 
Puls  130  pro  Minute.  Man  vermutete  zunächst  eine 
Appendicitis  oder  eine  Erkrankung  der  rechtseitigen 
Uterusadnexa  und  untersuchte  per  vaginam.  —  Zu  ihrem 
größten  Erstaunen  bemerkten  nun  die  Aerzte,  daß  gar 
keine  Väginalöffnung  vorlag,  sondern  daß  der  Finger  in  der 
ganz  bedeutend  erweiterten  Analöffnung  sich  befand.  Der 
Finger  tastete  per  rectum  ausgezeichnet  sowohl  den  Uterus 
als  auch  die  beiderseitigen  nicht  druckschmerzhaften 
Adnexa.  Man  schloß  jetzt  eine  Genitalerkrankung  aus, 
vermutete  eine  Appendicitis  und  holte  einen  Chirurgen 
Dr.  Bougle.  Derselbe  vollzog  nachts  um  1  Uhr  den 
Bauchschnitt  in  der  Mittellinie.  Aus  der  Wunde  ergoß 
sich  sehr  viel  Eiter;  man  fand  den  Wurmfortsatz  stark 
geschwellt  und  hyperämisch.  Man  fügte  einen  Einschnitt 
der  Bauchdecken  in  der  rechten  regio  iliaca  hinzu, 
öffnete  den  Wurmfortsatz,  der  fäkale  Massen  enthielt, 
und  resecierte  ihn;  hierauf  wurde  die  Bauchhöhle  aus- 
gespült und  die  Wunden  vernäht.  Trotz  Kochsalz- 
infusion etc.  erfolgte  der  Tod  nach  zwei  und  einer  halben 
Stunde.  Am  17.  August  Sektion:  Penis  8  Centimeter 
lang  und  5  Centimeter  im  Umfange  statt  einer  Clitoris 
gefunden,    Scham  üppig   behaart.     Unterhalb    der    weib- 


—    294    — 

liehen  Harnröhrenöffnung  keine  Spur  von  Vaginalostium 
gefunden,  zwischen  den  Schanilefzen  zog  sich  eine  glatte 
Haut  von  der  Urethralöffnung  bis  zur  Analöffnung  hin; 
ein  Damm  von  10  Centimetern  fand  sich.  Bei  der  Er- 
öffnung der  Bauchhöhle  fand  man  einen  rudimentär  ent- 
wickelten Uterus  mit  Tuben,  Ovarien  und  Ligamenta 
rotunda.  Uterushöhle  5  Centimeter  lang,  Cervix  andert- 
halb Centimeter  lang.  Arbor  vitae  deutlich.  Die  Scheide 
8  und  einen  halben  Centimeter  lang,  schließt  unten  blind, 
infolge  von  Verwachsung  der  großen  Schamlippen  mit 
einander.  Die  cystisch  entarteten  Ovarien  haben,  das 
rechte  6  Centimeter  Breite  und  5  Höhe,  das  linke  6 
und  4.  Man  fand  mikroskopisch  in  den  Ovarien  keine 
Graafschen  Follikel,  sondern  nur  ein  sklerotisches 
Gewebe,  wenig  Blutgefäße,  sehr  viel  Bindegewebe  mit 
kleinen  proliferierenden  Embryonalzellen.  De  facto 
sahen  mikroskopisch  die  Ovariengewebe  aus  wie  Narben- 
gewebe. ,Od  y  peut  distinguer  des  vaisseaux  ä  parois 
hypertrophtees  et  scleros^es  et  des  bandes  de  tissu  fibreux 
adulte."  Auch  in  dem  Uterusgewebe  fanden  sich  die 
Anzeichen  einer  ausgesprochenen  Sclerose.  Co  rnil  kon- 
statierte, daß  es  sich  um  Ovarien  und  nicht  um  Hoden 
handelte.  Die  Periode  hatte  diese  Person  niemals  gehabt, 
sonst  wäre  es  zur  Bildung  einer  Hämatokolpometra  ge- 
kommen. Dieser  Fall  würde  also  in  das  Gebiet  der 
weiblichen  Genitalatresien  gehören  mit  Hypertrophie  der 
Clitoris  und  einigen  männlich  entwickelten  seeundären 
Geschlechtscharakteren. 

4)  Bazy  [Bulletins  et  M£moires  de  la  Soci£t£  de 
Chirurgie  de  Paris,  Tome  XXVIII1  —  1902.  N:  31 
pg.  943];  Eine  Weibsperson  trat  in  das  Hospital  ein 
wegen  Appendicitis  und  wurde  von  Chevallier  operiert. 
Nach  der  Operation  wurde  diese  Person  Herrn  Bazy 
als  Mann  vorgestellt.  Es  war  ein  männliches  Individuum 
mit  Hypospadiasis  peniscrotalis   und  Anwesenheit  beider 


295    — 


Hoden  in  dem  gespaltenen  Scrotum.  Trotz  seiner  26 
Jahre  hatte  dieser  Scheinzwitter  dennoch  keine  Spur  von 
Bartanflug  im  Gesicht.  Mangel  der  Brüste.  Bis  jetzt 
keinerlei  Geschlechtstrieb  ausgesprochen.  In  diesem  Falle 
führte  die  Appendicitis  zu  einem  Kontakt  mit  dem 
Chirurgen  und  führte  so  die  Aufklärung  einer  Erreur 
de  sexe  herbei. 

5)  Carl  Beck  [,,A  case  of  Hermaphrodism"  — 
Medical  Record.  25th  July.  1896  Vol.  I.  N:  1342  pg  135, 
und  pg.  694  und  14.  XI.  1896.  N:  1358  pg.  724  und 
Medical  Eecord  20.  IL  1897  pg.  260:  „Description  of 
specimen  taken  from  a  hermaphrodite"] :  L.  M.,  21  Jahre 
alt,  als  Mädchen  getauft,  hatte  bis  zum  19.  Jahre  als 
Mädchen  gegolten,  war  aber  zu  dieser  Zeit  als  Mann  er- 
klärt worden  und  wechselte  demnach  seinen  Civilstand. 
Allgemeinaussehen,  Gesichtsausdruck,  Stimme  und  Be- 
haarung weiblich;  gleichwohl  hatte  dieses  Individuum 
schon  im  15.  Jahre  den  Beischlaf  als  Mann  praktiziert, 
Penis  hypospadiaeus  zwei  und  einen  halben  Zoll  lang. 
Scrotum  gespalten.  An  der  Unterfläche  des  Penis  sieht 
man  die  Narbe  nach  einer  plastischen  Operation,  um  die 
Abwärtskrümmung  des  Penis  zu  beseitigen.  Die  Scheide, 
vier  Zoll  lang,  weist  einen  eingerissenen  Hymen  auf,  läßt 
den  Finger  ein.  Im  Scheidengrunde  tastet  man  das 
Collum  uteri.  Niemals  Menstruation.  Während  des  Bei- 
schlafes entleeren  sich  aus  zwei  Öffnungen  jederseits  des 
„Infundibulum",  wie  der  Mann  sich  ausdrückte,  mit 
Ejakulation  einige  Tropfen  einer  klebrigen  Flüssigkeit. 
Der  Penis  wird  sub  coitu  strotzend  und  zweimal  größer 
als  sonst.  Man  fand  einen  schmerzhaften,  fluktuierenden 
Tumor  rechterseits  im  Unterbauche  und  einen  kleineren 
linkerseits.  Am  25.  Juli  1896  entfernte  Beck  mit 
Bauchschnitt  beide  Tumoren,  die  er  für  sarcomatös  ent- 
artete Hoden  ansah.  Die  Operation  war  sehr  schwierig 
wegen  zahlreicher  Verwachsungen  der  Tumoren  mit  der 


—    296    — 

vorderen  Bauchwand  und  den  Därmen.  Während  der 
Operation  gelang  es  nicht,  eine  genauere  Inspektion  der 
Bauchhöhle  vorzunehmen.  Der  Patient  starb  am  18.  Tage 
nach  der  Operation  infolge  einer  Pneumonie.  Bei  der 
Sektion  fand  man  einen  Uterus  von  zwei  und  einem 
Viertel  Zoll  Länge,  dessen  Höhle  im  oberen  Teile  von 
Flimmerepithel,   im   unteren  von   plattem  Epithel  ausge- 


Fig.  14.    Vulva  eines  als  Mädchen  erzogenen  männlichen 
Scheinzwitters.    Beobachtung  von  Beck. 

kleidet  war.  Die  Tuben  enthielten  kein  Lumen,  besaßen 
aber  Ampullae.  Unterhalb  der  Tuben  soll  man  angeblich 
Ovarien  gefunden  haben  (?  —  N. — )  —  Brooks  unter- 
suchte mikroskopisch  die  Tumoren  und  erklärte  sie  für 
Teratome  oder  Blastoderme;  einige  Anteile  der  Tumoren 
boten    das    Aussehen    und    den    Bau    eines    alveolaeren 


297 


Sarcomes.  Man  fand  weder  Bartholini'sche  noch 
Cowper'sche  Drüsen,  welche  ja  Produkte  der  gleichen 
Anlage  sind,  also  einander  entsprechen.  Becken  und 
Schambehaarung  männlich.  Der  Patient  war  untersucht 
worden  von  Garrigues,  Bangs,  Wallach,  Irwin, 
Sprague,  Dowling,  Johnston,  Little,  Schoene- 
berg,     Cavanagh.      Da    eine    mikroskopische    Unter- 


Fig.  15.    Vulva  eines  als  Mädchen  erzogenen  männlichen 
Scheinzwitters.    Beobachtung  von  Beck. 

suchung  der  angeblichen  Ovarien  nicht  ausgeführt  wurde, 
so  muß  man  Mund£  [Med.  Record  1896  pg.  214]  und 
Keller  [ibidem]  Recht  geben,  wenn  sie  das  Individuum 
einfach  für  einen  männlichen  Hypospaden  ansahen  mit 
Bildung  von  Uterus  und  Vagina.  (Siehe  Fig.  14  u.  15.) 
6)  Carle  [siehe  im  Vorhergehenden:  Dritte  Gruppe 
No.  3]  fügte  in  seinem  Falle  von  Herniotomie  den  Bauch- 


—    298    — 

schnitt  hinzu,  um  sich  über  diesen  Fall  Klarheit  zu  ver- 
schaffen. 

7)  Chevreuil  [siehe Georgus  Steglehner:  „De 
Hermaphroditorum  Natura  tractatus  anatomo — physiologico 
— pathologicus."     Bambergae  et  Lipsiae  1817  —  pg.  91]: 
Anna  Bergaul t,   Andegariensis,  habitu  masculino  et 
barba  nigra  instructa  virorum  moribus ,  amictu  feminarum 
ex  tumore  magno   in   inguine    sinistro    gravibus   sympto- 
matibus  afflictatur;   petit   auxilium  chirurgi  Pelletier, 
qui    examine   de   tumore  instituto,   insuetam    genitalium 
fabricam  advertit,  de  quo   certiorem  reddit  celeb.    Bon- 
denarium    Parisiensem    et   Dr.    Chevreuil    Andegariae 
medicinam  exercentem.    Hie  quae  vidit  et  in  viva  et  in 
cadavere,     sequentibus    refert.       Instructa     erat     pene 
clitorideo,    Septem    ad    octo  linearum  diametri,    pollices 
unum    et   dimidium    longo,    glande    terminato   praeputio 
cineta;    sub    glande    sulcus    aderat,    qui   pro   reeipienda 
Urethra  destinatus  videbatur.     Canalis  urethrae  tenuis  sed 
dilatatus    sub    virgae    medium    orificio    desiit,    et   sulco 
glandis  ad  urethram  usque  frenulum  apparuit  cutaneum. 
Ab    orificio    urethrae    in   dextro    latere    descendit   plica 
cutanea  major,  quae  pudendi  labium  simulabat;  in  sinistro 
latere    haec   cutis    plica  a  tumore  qui  cutim   distenderat, 
deleta  erat.     Vaginae    ostium    null  um    sed    annus    infra 
patuit.    Ex  annulo   prodiit   tumor,   qui    capitis   infantilis 
magnitudine    ab    ilei    ossis   spina    superiori  versus  pubis 
arcum    oblique    duetu    procedens   in    immi   ventris  cava 
versus  hypochondrium  sinistrum  et  epigastrium   ascendit. 
Post  mortem  aegrotae  Chevreuil  cadaver  apperiebat,  qui 
sub    tumore    vesicam    deorsum    urgente    uterum    cavum 
pollicem  longum  et  uteri  cervicem  detexit,  qui  in  urethram 
ovali    ostio  hiabat,    superius    labio    rubente    obtecto.     In 
latere    uteri    dextro    ligamentum    rotnndum    adhaesit    et 
inter    ligamenti    lati    laminas    ovarium  et  tubae  reperie- 
bantur,  in  sinistro  latere  observatus  fuit  tumor  hydropicus 


—    299    — 

ovarii,  cui  tuba  sinistra  imponebatur;  pars  hujus  tumoris 
in  abdomine  erat^  pars  ejus  autem  per  annulum  transiit? 
et  tumorem  exterius  visendum  constituit,  in  abdomine 
mesenterium  in  massam  scirrhosam  ab  ilei  regione  ad 
processum  sterni  xyphoideum  coaluerunt." 

In  diesem  Falle  scheint  es  sich  also  um  einen  Tumor 
einer  Geschlechtsdrüse  zu  handeln,  der  sanduhrförmig 
teilweise  in  der  Bauchhöhle  lag,  teilweise  durch  den 
Leistenring  nach  außen  getreten  war.  Steglehner  gibt 
Chevreuils  Angabe  wieder,  es  habe  sich  um  einen  Ovarial- 
tumor gehandelt.  Möglich  ist  ja  dieses,  aber  es  erscheint 
auch  nicht  ausgeschlossen,  daß  es  ein  Hodentumor  war 
bei  Zurückhaltung  des  anderen  Hodens  in  toto  in  der 
Bauchhöhle  und  Vorhandensein  eines  hochgradig  ent- 
wickelten Uterovaginalkanales,  der  in  die  männliche 
Urethra  mündete.  Heute  ist  natürlich  von  einer  Ent- 
scheidung solcher  zweifelhaften  Fälle  nicht  zu  reden,  da 
nur  das  Mikroskop,  aber  nicht  das  makroskopische  Aus- 
sehen einer  Geschlechtsdrüse  entscheiden  kann.  Zum 
Beweise  führe  ich  den  oben  erwähnten  Fall  an,  wo 
Martin  in  dem  Glauben,  ektopische  inguinolabiale 
Ovarien  exstirpiert  zu  haben,  noch  bei  makroskopischer 
Betrachtung  der  exstirpierten  Gebilde  fest  überzeugt 
war,  es  seien  Eierstöcke  —  ja  er  glaubte  sogar  Follikel 
zu  sehen  — ,  wo  doch  das  Mikroskop  auf  Hoden  mit  aller 
Bestimmtheit  verwies. 

8)  Clark  [„Nephrolithotomie  chez  unhermaphrodite* 
—  M^decine Moderne  1896  No. 43  —  Referat:  FrommePs 
Jahresbericht  für  1897  pg.  927  No.  18] :  Eine  Frau  starb 
nach  einer  von  Clark  vollzogenen  Nephrolithotomie.  Die 
Sektion  erwies,  daß  diese  Person,  die  zeitlebens  als  Frau  ge- 
golten hatte,  ein  männlicher  Scheinzwitter  war.  Penis  hypo- 
spadiaeus  rudimentarius,  rudimentaere  Prostata,  kein  Uterus, 
Brüste  männlich  angelegt,  Scrotum  gespalten,  der  rechte 
Hoden  lag  in  der  Schamlefze,  der  linke  im  Leistenkanale. 


—    300    — 

9)  Delagenifere  aus  Tours  berichtete  der  Pariser 
Soctetö  de  Chirurgie  [siehe  Progrfes  Mqflical  1899  No.  2] 
folgende  interessante  Beobachtung:  Er  fand  bei  einer 
27  jährigen  Frau  eine  absolut  normal  gestaltete  Vulva 
mit  ganz  kleiner  Clitoris,  regelrechten  Schamlippen, 
sodaß  absolut  nichts  und  nichts  vorlag,  das  einen  Zweifel 
an  dem  Geschlechte  hätte  hervorrufen  können.  Die 
Scheide  erwies  sich  aber  in  der  Höhe  von  5  Centimetern 
blind  geschlossen.  Von  Zeit  zu  Zeit  sollen  menstruale 
Phaenomene  aufgetreten  sein.  Er  konstatierte  jederseits 
einen  „petit  point  d'hernie  inguinale".  —  Ein  Bruchband 
vertrug  die  Person  absolut  nicht:  Taxisversuche  waren 
äußerst  schmerzhaft.  Delagenifere  machte  also  den 
Bauchschnitt,  fand  dabei  weder  einen  Uterus  noch 
Spuren  von  breiten  Mutterbändern.  Die  von  ihm  ent- 
fernten Geschlechtsdrüsen  erwiesen  sich  unter  dem 
Mikroskop  als  Hoden.  [Siehe  auch:  Semaine  M&licale 
1899,  No.  2  pg.  13]:  Delagenifere  hatte  dieser  Frau 
den  Bauchschnitt  vorgeschlagen,  um  den  Uterus  aufzu- 
suchen und  mit  dem  oberen  Ende  der  blind  endenden 
Scheide  zu  vereinigen  und  vollzog  die  Operation  am 
5.  VIII.  1897  unter  Assistenz  von  Dr.  Parisot.  Er 
operierte  in  Trendelenburg's  Hängelage  und  fand 
zunächst  nichts  von  inneren  Genitalien  als  zwei  anfäng- 
lich von  ihm  für  Ovarien  angesehene  Gebilde,  deren  je 
eines  an  der  inneren  Öffnung  je  eines  Leistenkanales  lag. 
Später  glaubte  er  den  Eindruck  zu  gewinnen,  als  seien 
es  atrophische  Hoden.  Um  diese  Gebilde  entfernen  zu 
können,  mußte  er  die  innere  Öffnung  eines  jeden  Leisten- 
kanales etwas  spalten.  Bauchwunde  geschlossen.  Heilung. 
Das  Mikroskop  erwies  atrophische  Hoden.  [Siehe  auch: 
Annales  de  Gynecologie  et  d'Obst&rique.  1896.  pg. 
57 — 63,  mit  zwei  Abbildungen.] 

10)  v.  Engelhardt  [„Ueber  einen  Fall  von  Pseudo- 
hermaphroditismus  femininus    mit  Carcinom  des  Uterus" 


—    301     — 

—  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gyn.  December  1900  pg. 
729—744  mit  drei  Abbildungen]: 

Als  Todesursache  eines  lange  Jahre  hindurch  ver- 
heirateten Mannes  von  59  Jahren,  Karl  Menniken, 
wurde  ein  Carcinoma  uteri  erhärtet.  Die  Sektion  stellte 
fest,  daß  Karl  Menniken  keine  Hoden  sondern  Ovarien 
hatte  und  ein  Weib  war,  obwohl  er  jahrelang  cum  uxore 
den  Beischlaf  ausgeführt.  Bezüglich  Einzelheiten  — 
siehe  meinen  Auf satz  im  vorigen  Jahrgange  diese  Jahr- 
buches sub  I  No.  18.  — 

11)  Fehling  („Ein  Fall  von  Pseudohermaphro- 
ditismus  femininus  externus*  Archiv  für  Gynaekologie. 
Bd.  42.  pg.  361.  1892]:  Im  Januar  1891  trat  die  (s.  Fig. 
16  u.  17)  21  jährige  P.  .  in  die  Klinik  ein.  Die  Periode 
trat  im  15.  Jahre  ein  und  wiederholte  sich  regelmäßig; 
anfangs  im  16.  Jahre  war  sie  postponierend  und  blieb 
im  17.  ganz  aus.  Schon  damals  bemerkte  das  Mädchen 
einen  apfelgroßen  Tumor  im  Bauche.  Die  ständig  zu- 
nehmenden Leibschmerzen  zwangen  sie  endlich  unter 
Aufgabe  ihres  Dienstes  in  das  Hospital  einzutreten.  Man 
konstatierte  Scheinzwittertum.  Becken  weiblich,  Brüste 
rudimentär  entwickelt,  Stimme  eher  männlich,  schnurr- 
bartartige Gesichtsbehaarung.  Schambogen  weit,  Clitoris 
5  Centimeter  lang,  von  Daumendicke,  erectil,  mit  aus- 
gesprochener Eichel  und  Vorhaut.  Die  Erektionen  traten 
sogar  auf  während  einer  libidinösen  Unterhaltung. 
Vagina  von  Hymen  am  Eingange  umgeben.  Die  linke 
Schamlefze  ist  schwach  entwickelt,  aber  behaart,  das  rechte 
Labium  majus  stellt  im  oberen  Teil  einen  rundlichen 
Sack  dar,  wie  eine  Sero tal half te.  Man  fühlt  darin  einen 
kleinen  druckempfindlichen  Körper  nebst  dünnem  Strange. 
Der  Finger  läßt  sich  hier  in  den  Leistenkanal,  in  die 
Bauchhöhle  einstülpen.  Darmschlingen  sind  im  Bruchsacke 
nicht  nachweisbar.  Unter  Narkose  stellte  man  eine  retro- 
versio  uteri  fest  mit  nicht  durchgängigem  Cervikalkanal. 


—    302    — 


Fig.  16.    Äußere   Genitalien  eines    weiblichen   Scheinzwitters   mit 

Hypertrophie  der  Clitoris,  Inguinolabialektopie  des  rechten  Ovarium 

u.  der  rechten  Tube.    Ansicht  bei  hängender  Clitoris. 

Beobachtung  von  Fehling. 


303 


Im    vorderen    Scheidengewölbe    fühlte    man    einen  fluk- 
tuierenden   Tumor,     der    nach    einigen    Schwanken    als 


Fig.  17.     Äußere    Genitalien  eines   weiblichen  Scheinzwitters,    bei 

dem  wegen  Neoplasma  des  linken  Ovarium  der  Leibschnitt  gemacht 

wurde.    Beobachtung  von  Fehling. 

Haematometra  angesehen  wurde.  Fieber.  Eine  zweimalige 
Punktion  des    Tumors    durch    die    vordere    Bauchwand 


—    304     — 

ergab  keinen  positiven  Bescheid.  Da  es  endlich  gelang, 
die  Uteruskontouren  zu  tasten,  so  wurde  ein  uteriner 
Sitz  des  Tumors  ausgeschlossen  und  angenommen,  er 
entstamme  dem  linken  Ovarium,  während  wahrscheinlich 
der  rechte  Eierstock  in  hernia  labiali  liege.  Der  Bauch- 
schnitt am  21.  Januar  bestätigte  vollkommen  diese 
Voraussetzung:  Es  fand  sich  ein  Myxosarcoma  ovarii 
sinistri:  der  Tumor  wurde  abgetragen,  das  rechte  Ovarium, 
welches  mit  der  Tube  in  die  rechte  Schamlefze  ausgetreten 
war,  wurde  in  die  Bauchhöhle  hineingezogen,  wo  diese 
Organe  auch  in  der  Folge  verblieben.  R.  P.  war  also 
ein  weiblicher  Scheinzwitter  mit  ganz  bedeutender  Hyper- 
trophie der  erectilen  Clitoris  peniformis,  und  nicht  ein 
männlicher  Scheinzwitter  wie  man  wohl  von  vornherein 
hätte  vermuten  können.  Die  ektopische  Tube  konnte 
leicht  einen  Samenstrang,  der  ektopische  Eierstock  einen 
Hoden  vortäuschen,  die  Vulva  eine  peniscrotale  Hypospadie. 
Der  Uterus  war  infantil  entwickelt.  Fehling  unterließ 
die  beabsichtigte  Vernähung  der  inneren  Oeffnung  des 
Leistenkanales,  weil  er  die  Operation  angesichts  schlechter 
Atmung  schneller  beenden  wollte.  Neben  dem  Myxo- 
sarcoma ovarii  sinistri  globocellulare  fand  sich  ein  kleines 
Fibrom  mit  starker  Verkalkung.  Der  Tumor  wog  5  Pfund. 
12)  Grub  er  [M&noires  de  TAcad&nie  Imperiale 
des  Sciences  de  St.  P&ersbourg  1859  Tome  41.  No.  13] 
beschrieb  mit  einer  Abbildung  ein  22  jähriges  Individuum 
infolge  von  Carcinom  einer  Geschlechtsdrüse  verstorben. 
Es  war  ein  männlicher  Scheinzwitter  mit  Hypospadiasis 
peniscrotalis;  im  sinus  urogenitalis  lagen  die  Öffnungen 
der  Urethra  und  der  Vagina.  Es  fand  sich  ein  Uterus 
und  eine  Vagina  von  je  8  Centimeter  Länge.  Linkerseits 
fand  man  neben  der  Tube  eine  carcinomatös  entartete 
Geschlechtsdrüse,  seiner  Zeit  von  G  r  u  b  e  r  für  ein  Ovarium 
angesehen,  in  der  rechtsseitigen  Geschlechtsdrüse  fand  man 
canaliculi    seminiferi    und    konstatierte,    daß    letztere    ein 


—    305    — 


Hoden  war.  Man  fand  auch  den  dazugehörigen  Neben- 
hoden und  das  Vas  deferens,  konnte  aber  dessen  peri- 
pheres Ende  nicht  entdecken.  Offenbar  liegt  hier  in  der 
Deutung  der  ovariellen  Natur  der  carcinomatösen  links- 
seitigen Geschlechtsdrüse  ein  Irrtum  vor  und  handelt 
es  sich  um  männliches  Scheinzwittertum  und  Kryptorchismus 
mit  bösartiger  Entartung  des  einen  Hodens  (siehe  Fig.  18). 


i-dtf. 


*jiiii 


Fig.  18. 
Innere  Genitalien  eines  männlichen  Scheinzwitters  mit  hochgradiger 
Entwickelnng  der  Müll  er 'sehen  Gange  und  Carcinom  einer  Ge- 
schlechtsdrüse. Zeichnung  kopiert  nach  Ahlfeld's  Atlas.  Beob- 
achtung von  Grub  er.  ves.  =  Harnblase,  prost.  =  Prostata,  ter.  = 
ligamentum  teres  uteri  sinistrum,  proc.  v.  per  =  processus  vaginalis 

peritonaei. 

13)  Gunkel  [„Über  einen  Fall  von  Pseudoherm- 
aphroditismus."  I.  D.  Marburg  1887.]  erwähnt  einen  inter- 
essanten Fall  folgender  Art:  Ein  Mädchen  verriet  im 
geschlechtsreifen  Alter  geschlechtlichen  Hang  zu  Frauen, 
also  männlichen  Geschlechtsdrang.  Infolge  einer  De- 
nunciation  wegen  Incest  wurde  das  Mädchen  1863  einer 
gerichtlich-medizinischen  Untersuchung  unterworfen  und 
für  einen  männlichen  Scheinzwitter  erklärt,  einen  Hypo- 
spadiaeus  mit  Kryptorchismus  bilateralis  behaftet  [männ- 
licher Bart,  Penis  hypospadiaeus  etc.]  aber  ein  Decret 
der  Regenz  gestattete  dem  Scheinzwitter,  auch  weiterhin 


Jahrbuch  V. 


20 


—    306    — 

weibliche  Kleidung  zu  tragen.  Im  50.  Lebensjahre  starb 
diese  Person.  Die  Sektion  konstatierte  zur  Überraschung 
der  Experten,  daß  sie  sich  geirrt  hatten:  Obgleich  das 
Aussehen  der  äußeren  Scham  tatsächlich  mehr  einer 
männlichen  als  einer  weiblichen  ähnlich  sah,  fand  man 
einen  Uterus  und  zwei  Ovarien,  Tuben  und  die  zum 
Uterus  gehörigen  Ligamente.  Die  Vagina,  nach  unten 
zu  sehr  verengt,  öffnete  sich  in  capite  gallinaginis  in  die 
männlich  veranlagte  Harnröhre.  Die  äußere  Öffnung  der 
Harnröhre  lag  aber  nicht  in  der  Glans,  wie  es  beim 
Manne  sein  sollte,  sondern  zwei  und  einen  halben  Centi- 
meter  nach  hinten  unten  von  dieser  Stelle  —  der 
vorderste  Teil  der  männlichen  Harnröhre  war  also 
hypospadisch.  Auch  eine  Prostata  wurde  gefunden.  Der 
Uterus  war  myoniatös  entartet.  Dieser  Fall  gehört  zu 
den  selten  vorkommenden  Fällen  von  clitoris  peniformis. 
[Sind  die  Ovarien  mikroskopisch  als  solche  bestätigt?  N.) 

14)  W.  Hall  [„Carcinoma  of  the  ovary  in  a  herm- 
aphrodite".  Transactions  of  the  St.  Louis  Obstetric.  and 
Gyn.  Society.  17.  VIII  1898,  siehe:  American  Gyn.  and 
Obstetric  Journal.  Vol.  XIII.  1898  pg.  181,  siehe: 
Referat  Fromme Ps  Jahresbericht  für  1898  pg.  901] 
Scham  weiblich,  aber  hypoplastisch  und  miniaturell, 
dagegen  Clitoris  anderthalb  Zoll  lang.  Becken  schmal, 
Brüste  sind  nicht  da,  Stimme  männlich,  Extremitäten  und 
Oberlippe  des  17jährigen  Individuum  behaart.  Im  14. 
Lebensjahre  soll  einmal  eine  Blutausscheidung  aus  dem 
Genitale  stattgehabt  haben;  in  der  rechten  Beckenhälfte 
lag  ein  Tumor,  in  dem  nach  Exstirpation  ein  Carcinoma 
ovarii  erkannt  wurde.  Der  andere  Eierstock  erschien 
klein,  atrophisch.  Das  Original  der  Arbeit  war  mir 
nicht  zugänglich. 

15)  Hansemann  [Drei  Fälle  von  Hermaphroditis- 
mus. ■  —  Berliner  Klinische  Wochenschrift  1898.  No.  25. 
pg.  149  u.  ff.]:    Eine  82jährige  Frau  Kristine  Bock- 


—     307     — 

fleisch,  durch  lange  Jahre  in  Amerika  verheiratet,  starb 
im  Berliner  Krankenhause  am  Friedrichshain.  Der  Leichnam 
wurde  von  Professor  Fiirbringer  seziert.  Ein  Sektions- 
protokoll fand  sich  nicht  vor,  dagegen  vier  Photo- 
gramme und  die  Krankengeschichte.  In  der  pathologisch- 
anatomischen Sammlung  des  Hospitals  finden  sich  die 
Beckenorgane  mit  den  äußeren  Genitalien  sowie  der 
Kehlkopf.  [Präparat  I,  268].  Die  Sektion  fand  am 
27.  V.  1887  statt.  Der  Tod  war  eingetreten  infolge  von 
Sepsis  und  Nierenabscessen  bei  Blasenkrebs.  Es  bestand 
niemals  Zweifel  über  den  männlichen  Charakter  dieser 
Person,  obwohl  sie  als  Frau  verheiratet  gewesen  war. 
—  Auch  die  Photogramme  zeigen  ein  starkknochiges 
männliches  Individuum  und  machen  trotz  Bartlosigkeit 
und  dem  lang  ausgewachsenen  Haupthaar  den  Eindruck 
eines  verkleideten  Mannes.  Das  Scrotum  ist  gespalten, 
an  jeder  Seite  befindet  sich  ein  normal  gebildeter  Hoden. 
Penis  hypospadiaeus  an  der  oberen  Fläche  gemessen  8 
Centimeter,  an  [der  unteren  3  Centimeter  lang,  haken- 
förmig nach  unten  gekrümmt.  An  der  gespaltenen 
männlichen  Harnröhre  sieht  man  eine  Anzahl  von  Lacunae 
Morgagnii  in  der  Mittellinie  belegen.  Vorhaut  kurz. 
Die  Urethra  ist  weit  und  mag  im  Leben  für  den  kleinen 
Finger  durchgängig  gewesen  sein,  jetzt  in  dem  ge- 
schrumpften Zustande  kann  man  noch  leicht  einen  Blei- 
stift einführen.  In  der  Umgebung  der  Urethra  ist  die 
Epidermis  etwa  in  Centimeterbreite  glatt,  ähnlich  einer 
Vaginalschleimhaut.  Nach  außen  wird  sie  runzlig  und 
geht  in  die  Bedeckung  der  beiden  Scrotalhälften  über. 
Diese  glatte  Stelle  erweckt  den  Eindruck  eines  Introitus 
vaginae,  da  die  beiden  Scrotalhälften  dicht  bei  einander 
liegen.  Nach  hinten  biegt  diese  Partie  zum  Damm  in 
einer  scharfen  Kante  um  und  von  hier  bis  zum  After 
sind  noch  5,5  Centimeter.  Die  Urethra  ist  bis  zum 
Eintritt  in  die  Blase  10,5  Centimeter  lang,   eine  Prostata 

20* 


—    308    — 

nicht  vorhanden,  dagegen  Corpus  gallinaginis  gut  ent- 
wickelt. Die  Mündungen  beider  Vasa  deferentia  sicht- 
bar. Samenblasen  atrophisch,  aber  an  normaler  Stelle 
gelegen.  In  der  Harnblase  sieht  man  den  flachen 
ulcerierten  Krebs.  Ureteren  und  Nierenbecken  erweitert, 
in  beiden  Nieren  zahlreiche  Abscesse.  Kehlkopf  etwas 
klein,  aber  nicht  unverhältnismäßig. 

16)  Howitz  [siehe:  Blom:  Gynaekolog.  obstetr. 
Middelelser.  T.  X.  Heft  HI  pg.  194—216].  Eine  49jährige 
Frau  trat  in  die  gynaekologische  Klinik  in  Kopenhagen 
ein  wegen  eines  Bauchtumors.  Howitz  exstirpierte 
einen  myomatösen  Uterus,  die  Frau  starb  am  5.  Tage 
nach  der  Operation  infolge  von  Embolie.  Obwohl  das 
Aussehen  der  äußeren  Genitalien  für  männliches  Geschlecht 
sprach,  fand  man  doch  bei  der  Nekropsie  weibliches 
Geschlecht,  aber  die  Ovarien  enthielten  keine  G  raaf sehen 
Follikel!  Diese  Person  war  unverheiratet  und  hatte 
kaum  einige  Mal  eine  Blutung  aus  dem  Genitale  gehabt 
zwischen  dem  30.  und  40.  Lebensjahre  und  zwar  in 
Abständen  von  einem  oder  mehreren  Jahren.  Diese 
Blutungen  waren  stets  minimal,  dauerten  kaum  wenige 
Tage  und  waren  stets  ohne  irgend  welche  Molimina 
menstrualia  gewesen.  Vor  6  Monaten  bemerkte  die 
Person  zum  ersten  Male  einen  Bauchtumor,  welcher  aber 
schnell  wuchs  und  immer  größere  Beschwerden  hervorrief. 
Die  Frau  war  klein  von  Wuchs,  spärlich  behaart  bis  auf 
das  lange  Haupthaar,  mager,  mit  scharfen  Gesichtszügen, 
mußte  sich  oft  rasieren  wegen  Bartwuchses;  Stimme  und 
Brustkorb  männlich,  Kehlkopf  vorspringend,  Brüste 
fehlten.  Schambehaarung  und  Becken  männlich;  die 
Schamlefzen  waren  leer,  kleine  Schamlippen  mäßig  ent- 
wickelt, Clitoris  6  Centimeter  lang  und  zwei  Centimeter 
dick;  die  glans  Clitoridis  zwei  Centimeter  lang,  an  ihrer 
unteren  Fläche  sieht  man  sowie  an  der  unteren  Fläche 
des   Corpus   clitoridis    eine  Rinne    wie   bei   einem    hypo- 


309     — 


spadischen  Penis  und  in  dieser  Rinne  einige  Krypten. 
Sinus  i  urogenitalis  eine  flache  einen  Centimeter  lange 
Vertief  ung?  eine  Fingerspitze  nicht  aufnehmend.  Keine 
Spur  von  einem  Hymen  zu  entdecken,  Durch  eine  feine 
Oeffnung  am  Boden  des  Sinus  urogenitalis  dringt  eine 
dünne  Sonde  auf  7  Centirueter  in  eine  Vagina  ein. 
Damm  8  Centimeter  breit,  weist  eine  deutliche  Raphe 
auf.  Am  29.  VI.  vollzog  Howitz  den  Bauchschnitt 
in  der  Meinung,  es  handle  sich  um  einen  myomatösen 
Uterus,  er  entfernte  einen  Tumor  von  der  Größe  einer 
Kokosnuß,  bildete  eine  Art  Stumpf  und  nähte  den- 
selben in  die  Bauch  wunde  ein.  Am  vierten  Juli  starb 
die  Frau  plötzlich  infolge  von  Embolia  arteriae  pulmonalis. 
Der  Tumor  erwies  sich  als  ein  Fibromyom  und  enthielt 
einen  mit  Schleimhaut  ausgekleideten  Kanal;  nach  unten 
zu  erweiterte  sich  dieser  Kanal  bedeutend  und  konnte 
man  in  seinem  unteren  Abschnitte  deutlich  die  Zeichnung 
des  Arbor  vitae  erkennen  an  Vorder-  und  Hinterwand. 
Die  Cervikalhöhle  kommunicierte  durch  eine  nur  steck- 
nadelkopfgroße Öffnung  mit  einer  Vagina.  Portio  vagi- 
nalis uteri  nur  einen  Mill.  lang,  die  Cervix  dagegen 
war  sieben  und  einen  halben  Zentimeter  lang.  Ligamenta 
rotunda  uteri  normal,  ligamenta  lata  sehr  niedrig,  linker- 
seits eine  normale  Tube  aber  ohne  Fimbriae  um  die  sehr 
enge  abdominale  Öffnung,  Rechterseits  fehlte  die  Tube, 
an  Stelle  der  Ovarien  lag  jederseits  eine  Gebilde  von 
Gestalt  und  Größe  einer  Mandel:  linkerseits  außerdem 
ein  gänseeigroßes  Fibromyom.  Keine  Spur  von  einer 
Prostata,  Die  Scheide  war  7  Centimeter  lang  und  einen 
halben  Centimeter  breit.  An  der  hinteren  Wand  der 
Urethra  einen  Centimeter  unterhalb  der  Blasenmündung 
sah  man  jederseits  eine  feine  Öffnung,  kaum  nadelspitzen- 
weit, welche  jederseits  in  einen  feinen  Kanal  führte, 
welcher  in  der  Höhe  von  1,35  Centimetern  blind  schloß. 
Diese  Gärtnerischen  Kanäle  verliefen  nach  außen  und 


—    310    — 

nach  hinten  zu  unter  der  Schleimhaut  der  Harnröhre. 
Chiewitz  untersuchte  die  Geschlechtsdrüsen  und  kam 
zu  dem  Schlüsse,  es  seien  Ovarien  aber  ohne  Follikel- 
bildung.  Das  Stroma  war  härter  als  das  Stroma  eines 
normalen  Eierstockes  einer  erwachsenen  Frau,  erinnert 
aber  in  nichts  an  das  Stroma  eines  Hodens.  Keine  Spur 
von  Vasa  deferentia  gefunden. 

[Meines  Erachtens  muß  das  Geschlecht  in  diesem  Falle 
unentschieden  bleiben,  denn  Chiewitz  lieferte  keinen  Be- 
weis, daß  die  Geschlechtsdrüsen  wirklich  Ovarien  waren, 
er  fand  Geschlechtsdrüsen  in  rudimentärem  Entwickelungs- 
zustande,  die  meiner  Ansicht  nach  ebensowohl  rudimen- 
täre Hoden   sein  konnten   als  rudimentäre  Ovarien.     N.] 

17)  Dixon-Jones  [siehe  im  Vorhergehenden:  Erste 
Gruppe:  Fall  14]  fügte  in  seinem  Falle  von  doppel- 
seitiger Herniotomie  den  Bauchschnitt  hinzu,  um  sich 
von  dem  Aussehen  der  intraabdominalen  Geschlechts- 
organe zu  überzeugen. 

18)  Kapsammer  [Zentralblatt  für  die  Krankheiten 
der  Harn-  und  Sexualorgane.  1900.  No.  1]  hat  eine  in 
ihrer  Art  einzig  dastehende  Beobachtung  beschrieben: 
Nitze  in  Berlin  entfernte  bei  einem  30  jährigen  Manne 
operativ  einen  Kalkphosphatstein  von  165  Gramm  Ge- 
wicht, welcher  in  der  Höhle  eines  Utriculus  masculinus 
lag,  der  mit  enger  Oefihung  in  die  Pars  prostatica 
urethrae  sich  öffnete.  „Gänseeigroßer  Kalkphosphatstein 
in  einem  Vaginalsack  beim  Manne"  [siehe  Referat: 
Deutsche  Medicinische  Wochenschrift  1900,  No.  4, 
Litteraturbeilage  No.  3  vom  25.  I.  1900,  pg.  20.] 

19)  Kr  ab  bei  [Vortrag  in  der  Vereinigung  nieder- 
rheinisch -westphälischer  Chirurgen  in  Düsseldorf,  am 
20.  Juli  1901  —  siehe:  Monatsschrift  für  Geb.  und 
Gynaekologie,  Oktober  1901,  pg.  597]  beschrieb  eine 
Ovariotomie  bei  einem  32  jährigen  Manne.  Dieses  Indi- 
viduum war  als  Knabe    getauft   und    als   Mann  erzogen 


—    311    — 

worden,  indem  man  eine  Hypospadiasis  peniscrotalis 
diagnosticierte  mit  Existenz  von  Schamlefzen  und  einer 
engen  Vagina.  Nachdem  der  junge  Mann  das  Gymnasium 
und  die  Universität  beendigt  hatte,  erhielt  er  eine  staat- 
liche Anstellung  als  Lehrer  in  einer  höheren  Schule. 
Niemals  Periode.  Es  wurde  ein  Bauchhöhlentumor 
diagnosticiert  [wie  alt  war  das  Individuum  zu  dieser 
Zeit?  —  N.]  und  ein  multilokulares  Cystom  des  linken 
Eierstockes  entfernt.  Sub  operatione  fand  man  in  der 
Bauchhöhle  einen  kleinen  Uterus  und  ein  Organ,  welches 
man  für  den  rechten  Eierstock  ansah.  Der  Uterushals 
ließ  eine  Sonde  eindringen,  wie  man  sich  vor  der 
Operation  überzeugt  hatte.  Anderthalb  Jahre  nach 
dieser  Operation  wurde  wegen  Recidivs  abermals  der 
Leib  geöffnet;  der  jetzt  entfernte  Tumor  wurde  von 
Professor  Marchand  als  Teratom  charakterisiert  mit 
sarkomatösem  Bau.  Seit  dieser  Operation  soll  der  Mann 
sich  gesund  fühlen.  Erst  im  Februarheft  1902  der 
Monatsschrift  für  Geb.  und  Gyn.  (pg.  227)  fand  ich  einen 
etwas  eingehenderen  Bericht  über  diese  seltene  Beob- 
achtung: Der  Mann  war  klein  von  "Wuchs  und  von 
zartem  Körperbau,  mit  Schnurrbart  versehen  und 
knappem  Backenbart,  weiblicher  Stimme,  nicht  promi- 
nierendem  Kehlkopf  und  flachen  Brüsten.  Hypospadiasis 
penis;  die  Glans  schien  ohne  Vorhaut.  Statt  eines 
Scrotum  und  der  Hoden  fanden  sich  zwei  Schamlefzen. 
Sub  narcosi  tastete  man  per  vaginam  eine  portio 
vaginalis  uteri.  Nach  Entfernung  eines  Bauchhöhlen- 
tumors von  23  Pfund  Gewicht  fand  man  einen  kleinen 
Uterus  und  rechterseits  ein  Ligamentum  latum.  Der 
Tumor  war  aus  den  linkseitigen  Adnexa  uteri  hervor- 
gegangen, auf  dem  Tumor  lag  das  linke  Ovarium  auf, 
das  gleichzeitig  mit  entfernt  wurde.  Bei  der  mikro- 
skopischen Untersuchung  jedoch  erwies  sich  das  als 
Ovarium   aufgefaßte    Gebilde   als   ein  Parovarium.     Der 


—    312    — 

postoperative  Verlauf  war  gut,  aber  nach  anderthalb  Jahren 
mußte,  wie  gesagt,  wegen  Reoidivs  der  Leibschnitt  wieder- 
holt werden.  Der  jetzt  entfernte  Tumor  war  so  groß  wie  der 
früher  entfernte  und  erwies  sich  als  Teratom  von  ge- 
mischtem Bau  mit  sarkomatösem  Bau.  Inhalt  teilweise 
myxomatös ;  hier  und  da  fanden  sich  auch  Epithelnester. 
Krabbel  sah  in  dem  Tumor  ein  Embryom  (Wilms). 
Dieser  Mann  hatte  weder  Menstruation  noch  Ejakula- 
tionen und  soll  seit  der  letzten  Operation  gesund  sein. 
20)  Krug  [„Ovariotomy  in  a  herraaphrodite*  — 
Eeferat:  The  British  Gynaecological  Journal,  August  1891 
VoL  VII.  No.  26.  pg.  254]  in  Newyork  machte  den 
Bauchschnitt  bei  einer  jungen  Polin  von  19  Jahren. 
„When  ten  years  old,  a  copious  growth  of  hair  appeared 
all  over  the  body,  especially  the  face.  At  sixteen  ab- 
dominal pains  with  epistaxis  occured  monthly,  but  there 
was  never  any  show.  A  s  well  in  g  appeared  a  few  months 
before  she  entered  hospital.  It  was  diagnosed  as  haema- 
tometra  and  haematokolpos.  Krug  noted  the  masculine 
appearence  of  the  patient.  Nothing  womanly  exists  save 
here  long  tresses.  The  wiskers  and  moustache  were  well 
developed  and  she  shaved  daily.  The  skeleton,  espe- 
cially the  pelvis,  was  massive.  The  external  genitals  at 
first  sight  were  like  those  of  a  male;  the  clitoris  was  two 
inches  long.  Two  folds,  resembling  a  scrotum,  when  they 
lay  together,  concealed  a  narrow  vaginal  orifice.  The  Ure- 
thra opened,  immediately  under  and  behind  the  penis  like 
clitoris.  The  vagina  contained  no  rugae.  The  Portio 
vaginalis  of  the  cervix  was  minute.  Itf  as  a  pinhole 
orifice,  admitted  a  fine  sound  for  about  two  inches.  The 
tumor  descended  into  the  pelvis  and  appeared  as  though 
connected  with  the  Uterus.  It  caused  extreme  distension 
of  the  Abdomen.  Bronchitis  and  kidney  disease  compli- 
cated  the  case.  A  large  sarcoma  of  the  right  ovary  was 
removed.      Its  base  had  „to  be  shelled    out  of  the  right 


—    313    — 

broad  ligament  The  left  ovary  formed  ä  smaller  sarco- 
matous  tumour  also  sensible;  it  was  removed.  The  stumps 
on  either  side  of  the  small  Uterus,  where  two  ligatures 
had  been  employed,  were  normal.  —  Krug  hatte  die 
irrtümliche  Diagnose  einer  Haematometrokolpos  gestellt 
vor  dem  Bauchschnitte.  Die  Operation  erwies  weibliches 
Scheinzwittertum  mit  gewissen  arrhenoidalen  Erscheinungen, 
Pseudohermaphroditismus  femininus  —  der  Fall  ähnelt 
demjenigen  von  Fe  hl  in  g  in  mancher  Beziehung. 

21)  Lesser  (Deutsche  Zeitschrift  für  praktische 
Medizin  17—1878  No.  10  —  Referat:  Schmidt's  Jahr- 
bücher Jahrgang  1878,  Band  178.  pg,  42]. 

Die  25jährige  L.,  als  Mädchen  erzogen,  hielt  sich 
ganz  abseits  von  jeglichem  Verkehr,  sei  es  mit  Männern, 
sei  es  mit  Frauen.  Ihre  reine  Stimme  sowohl  als  ihr  allge- 
meines männliches  Aussehen,  erweckten  schon  seit  langer 
Zeit  in  ihrer  Umgebung  den  Verdacht)  sie  sei  ein  verkleideter 
Mann.  Um  endlich  einmal  diesen  Gerüchten  die  Spitze 
abzubrechen,  nahm  die  L.  zu  einer  Lüge  Zuflucht,  sie 
erzählte  nämlich,  sie  habe  vor  einigen  Jahren  unehelich 
ein  Kind  geboren,  welches  aber  kurz  nach  der  Geburt 
verstorben  sei.  Die  L.  selbst  starb  eines  plötzlichen  Todes. 
Sektion:  Körperlänge  146  Centimeter,  männliche  Gesichts- 
behaarung, Schnurrbart  und  Backenbart,  Gesichtsausdruck 
gleichwohl  weiblich.  Pomum  A  dam  i  hervortretend,  Brüste 
sehr  schwach  entwickelt;  in  der  Bauchhöhle  ein  Tumor. 
Im  linken  Leistenkanale  ein  weiches  verschiebliches 
ovales  Körperchen  von  Pflaumengröße.  Scham  stark 
behaart.  Man  fand  ein  penisartiges  Glied  von  5,5  Cent. 
Länge  ohne  Frenulum  praeputii  und  ohne  Praeputium, 
Penis  hypospadiaeus.  Die  Rinne  an  der  unteren  Fläche 
des  Penis  reicht  nach  unten  herab  bis  zwei  Centimeter 
vor  dem  Anus  und  schließt  mit  einer  Art  Delle,  welche 
die  Kuppe  des  kleinen  Fingers  aufnimmt.  Jederseits 
von  dem  Penis   ein  Hautdecken wulst  von  10  Centimeter 


—    314    — 

Länge  und  drei  Centimeter  Breite.  Auf  der  runzligen 
Oberfläche  dieser  Hautwülste  hier  und  da  einige  rötliche 
stecknadelgroße  Erhabenheiten.  Hände  und  Füße  weib- 
lich aussehend.  In  der  Bauchhöhle  fand  man  ungefähr 
3000  Kubikcentimeter  dunklen  flüssigen  Blutes,  das  kleine 
Becken  war  von  einem  fluktuierenden  Tumor  ausgefüllt, 
der  Tumor  hatte  die  Größe  des  Kopfes  eines  erwachsenen 
Mannes.  Die  Därme,  ja  sogar  das  Coecum  erwiesen  sich 
durch  den  Tumor  stark  nach  oben  dislociert.  Der  Tumor 
war  mit  der  vorderen  Bauchwand  verwachsen  in  der 
Ausdehnung  eines  Fünfmarkstückes  in  der  Gegend  der 
inneren  Öffnung  des  linken  Leistenkanales.  Bings  um 
diese  Stelle  war  das  Bauchfell  besät  mit  kleinen  blut- 
infiltrierten Knötchen  von  verschiedener  Größe  und  ver- 
schiedenem Aussehen.  Die  Lymphdrüsen  und  die  linke 
Niere  entartet.  Von  dem  Tumor  zieht  ein  5  Millimeter 
dicker  Strang  zu  dem  im  linken  Leistenkanale  liegenden 
ovalen  Gebilde.  Der  Tumor  war  ein  Alveolarsarcom. 
Der  in  die  vorgenannte  Delle  am  Damme  eingeführte 
Finger  gelangt  in  einen  zylindrischen  Kanal,  in  dessen 
Tiefe  sich  zwei  Öffnungen  befanden.  Der  Kanal  war 
der  Sinus  urogenitalis,  2  Centimeter  lang  und  anderthalb 
im  Umfange  messend.  Wand  sehr  dick.  Die  obere  der 
beiden  Öffnungen  im  Sinus  urogenitalis  war  die  Harn- 
röhrenöffnung, die  untere  führte  in  eine  1  und  einen 
halben  Centimeter  lange  Vagina,  die  unten  drei  und  einen 
halben  Centimeter  breit,  weiter  oben  oberhalb  einer  Striktur 
5,5  Centimeter  breit  war.  Der  Tumor  entstammte  dem 
Uterus  und  umgab  teilweise  sogar  die  Scheide  in  deren 
oberem  Abschnitte.  Der  Tumor  war  an  einer  Stelle 
geplatzt  und  hatte  so  eine  tötliche  Verblutung  herbei- 
geführt. Man  fand  keine  Spur  von  Ovarien  oder  Pro- 
stata oder  Samenbläschen  —  wofür  wurde  denn  jenes 
im  linken  Leistenkanale  liegende  Gebilde  angesehen?  — 
Der  Penis  besaß  deutlich  drei  Corpora  cavernosa.    [Wenn 


—    315    — 

der  Penis  hypospadiaeisch  war,  so  ist  mir  die  Möglichkeit 
der  Existenz  von  drei  Corpora  caversa  mindestens  zweifel- 
haft, jedenfalls  ganz  unverständlich.  — N].  —  Lesser  er- 
klärte die  Verstorbene  für  ein  Weib  mit  gewissen  Mängeln, 
da  sie  niemals  menstruiert  hatte.  Einen  Beweis  bringt 
er  jedoch  für  die  Richtigkeit  seiner  Vermutung  nicht  — 
meines  Erachtens  erscheint  es  viel  wahrscheinlicher,  daß 
L.  ein  männlicher  Scheinzwitter  war  und  daß  wahrschein- 
lich der  Tumor  ein  Sarkom  eines  in  der  Bauchhöhle  reti- 
nierten  Hodens  war,  während  der  andere  Hoden  im  linken 
Leistenkanale  lag.  Selbstverständlich  sind  das  nur  ver- 
mutete Möglichkeiten.  Da  ich  die  Originalarbeit  Lesser's 
nicht  besitze,  so  möchte  ich  einen  Kollegen,  welchem  die 
Deutsche  Zeitschrift  für  praktische  Medizin  für  das  Jahr 
1878  zugänglich  ist,  ersuchen,  die  Arbeit  Lesser's  auf 
diesen  Punkt  hin  kritisch  durchzusehen. 

22)  Levy  [Berliner  klinische  Wochenschrift  XX. 
Jahrgang  1882  pg.  620]  stellte  in  der  Berliner  geburts- 
hülflich  gynaekologischen  Gesellschaft  am  8.  XH.  1882 
[Zeitschrift  für  Geburtshülfe  und  Gynaekologie  IX.  Bd. 
1883  pg.  235:  ^  Hermaphroditismus  spurius  femininus  mit 
Tumor  in  Abdomine"]  ein  16 jähriges  Mädchen  Anna 
Schulze  vor.  Da  ich  in  der  Sitzung  zugegen  war,  damals 
noch  Volontair  in  der  Klinik  des  verstorbenen  Professor 
Karl  Schroeder,  so  benützte  ich  die  Gelegenheit,  um  ein 
Modell  der  äußeren  Genitalien  dieses  Mädchens  anzu- 
fertigen. Das  Mädchen  hatte  seit  einem  halben  Jahre 
die  Regel,  wie  es  aussagte;  die  Regel  soll  stets  schmerz- 
haft sein.  Körperhöhe  145  Centimeter,  Haupthaar  lang, 
Mammae  wenig  entwickelt,  Allgemeinaussehen  weiblich, 
Clitoris  peniformis  ähnelt  einem  hypospadischen  Penis, 
ist  drei  Centimeter  lang,  sub  erectione  5  Centimeter;  die 
Erektion  ist  sehr  energisch,  sub  narcosi.  In  jeder  Scham- 
lefze tastet  man  ein  härtliches  verschiebliches  Gebilde 
von   10-Pfennigstückgröße.     Unterhalb    der   Harnröhren- 


—    316    — 

mündung  liegt  die  von  einem  Hymen  garnierte  Vaginal- 
öffnung. Die  Vagina  ist  5  Centimeter  lang.  Die  Scham- 
lefzen sind  schwach  behaart  und  runzlig,  über  dem  rechten 
horizontalen  Schambeinaste  sieht  man  eine  Hervorwölbung, 
fühlt  aber  dort  keine  vergrößerte  Resistenz;  niemals 
Menstruation,  wohl  aber  Molimina  vorhanden.  Ob  der 
Tumor  eine  Haematometra  oder  ein  Neoplasma  des  rechten 
Eierstockes  ist,  schreibt  L  e  v  y,  wird  die  weitere  Be- 
obachtung zeigen.  Per  rectum  fühlte  man  einen  Strang, 
nach  oben  etwas  dicker  werdend,  und  darüber  mehr  nach 
rechts  gelagert,  einen  Tumor  von  der  Größe  einer  großen 
Orange,  festweich,  nicht  fluktuierend,  mit  glatter  Ober- 
fläche; diesem  liegt  links  oben  ein  mandelförmiges  Gebilde 
an,  das  aber  auch  von  dem  Tumor  abhebbar  ist.  Unter- 
halb des  Tumors  findet  sich  noch  ein  erbsengroßes  Gebilde, 
aber  außer  Zusammenhang  mit  ihm.  „Das  Aussehen  der 
Clitoris  sowie  die  in  den  Schamlefzen  getasteten  Gebilde 
müssen  den  Verdacht  einer  erreur  de  sexe"  wecken,  für 
mich  muß  das  Geschlecht  in  diesem  Falle  vorläufig 
unentschieden  bleiben,  da  ja  die  Angabe  der  stattgehabten 
Menstruation  eine  fragliche  ist. 

23)  Ernst  Levy  [„Über  ein  Mädchen  mit  Hoden 
und  über  Pseudohermaphroditismus" —  Hegar's  Beiträge 
zur  Geburtshülfe  und  Gynäkologie.  Leipzig  1901.  Bd.  IV. 
Heft  III.  pg.  347 — 360.]  beschreibt  einen  von  Do e der- 
lei n  operierten  Fall,  der  nach  Kastration  eines  Mädchens 
feststellte,  daß  die  exstirpierten  Geschlechtsdrüsen  Hoden 
waren  und  giebt  im  Anschlüsse  hieran  die  Kranken- 
geschichte einer  von  v.  Saexinger  mit  letalem  Aus- 
gange operierten  Person.  Die  20jährige  M.  Str.  bot  ein 
weibliches  Allgemeinaussehen,  sowie  auch  manche  sekun- 
dären Geschlechtscharaktere  weiblich  waren.  Als  sie 
geboren  wurde,  sagte  die  Hebeamme,  das  Kind  sei  ein 
männliches  mißbildetes  Kind,  es  wäre  aber  besser,  das- 
selbe als  Mädchen  zu  erziehen,  weil  der  Harn  nicht  vorn 


—    317    — 

am  Gliede  abgegeben  werde.  Nieraals  Regel  bisher, 
wohl  aber  schon  seit  zwei  Jahren  alle  drei  Wochen  je 
4 — 5  Tage  andauernde  Leibschmerzen  mit  ärztlicherseits 
dabei  konstatierten  Temperatursteigungen.  Seit  drei 
Monaten  schon  bemerkte  Patientin,  daß  ihr  in  der  rechten 
Hälfte  des  Unterleibes  ein  Tumor  wachse.  Seit  dieser 
Zeit  ist  sie  sehr  abgemagert  und  arbeitsunfähig  geworden. 
Patientin  ist  168  Centimeter  hoch,  anaemisch,  ohne  Spur 
von  männlicher  Gesichtsbehaarung.  Stimme  und  Kehlkopf 
männlich,  Andromastie.  Im  rechten  Hypogastrium  ein 
schmerzhafter  glatt  wandiger,  harter  ovaler  Tumor  von 
Kindskopf  große:  der  Tumor  entspringt  aus  dem  kleinen 
Becken  und  läßt  sich  nicht  in  das  große  Becken  hervor- 
heben. Linkerseits  ein  ähnlicher  kleinerer  Tumor,  da- 
hinter ein  sehr  druckempfindliches  Gebilde,  welches  den 
Eindruck  eines  etwas  vergrößerten  Ovarium  macht.  Der 
bei  Druck  auf  diese  Gebilde  empfundene  Schmerz 
gleicht  absolut  dem  sonst  periodisch  allmonatlich  em- 
pfundenen Schmerze.  Schambehaarung  weiblich.  Statt 
einer  Clitoris  fand  man  einen  hypospadischen  Penis  von 
5,7  Centimeter  Länge,  hakenförmig  nach  unten  gekrümmt, 
an  der  Unterfläche  drei  Centimeter  lang.  Die  Glans 
kastaniengroß.  Der  Penis  erwies  sich  erectil.  An 
seiner  unteren  Fläche  eine  Rinne,  die  bis  zwei  Centimeter 
oberhalb  der  Analöffnung  reicht.  Nach  hinten  unten  zu 
wird  diese  Rinne  ständig  breiter  und  wird  zuletzt  einen 
Centimeter  breit.  Hier  liegt  eine  Oeffnung,  welche  den 
Katheter  in  die  Blase  einläßt.  Das  Präputium,  nach 
hinten  gestreift,  läßt  sich  soweit  vorziehen,  daß  es  die 
ganze  Glans  Penis  bedeckt. 

Keine  Spur  einer  Vagina  zu  finden,  wohl  aber 
existieren  große  Schamlefzen,  mit  einer  Spur  von  kleinen 
Schamlippen,  welche  die  Harnröhrenöffnung  seitlich  um- 
geben. In  jeder  Leistengegend  tastet  man  ein  festweiches 
kleines  Gebilde  von  Haselnuß-  resp.  Bohnengröße.     Diese 


—    318    — 

Gebilde  lassen  sich  leicht  in  die  Bauchhöhle  hineinstoßen. 
Beide  waren  sehr  druckschmerzhaft.  Per  rectum  fühlte 
man  zwischen  per  urethram  eingeführtem  Katheter  und 
Finger  kein  Gebilde  in  der  Art  einer  Vagina.  Per 
rectum  tastete  man  den  rechtsseitigen  sehr  schmerzhaften 
Tumor,  welcher  hier  Fluktuation  aufwies.  Während  des 
Aufenthaltes  in  der  Klinik  hatte  das  Mädchen  'seine 
Monatsschmerzen  und  die  Tumoren  erschienen  dabei  ver- 
größert. Am  14.  März  vollzog  Professor  v.  Saexinger 
den  Bauchschnitt,  konnte  aber  die  Tumoren  nicht  ent- 
fernen. Die  Operation  blieb  unvollendet,  zudem  mußte, 
da  es  an  einer  Stelle  kontinuierlich  blutete,  ein  Gaze- 
tampon eingelegt  werden,  also  die  Bauchwunde  nicht 
ganz  geschloßen.  Die  Kranke  starb  am  nächsten  Morgen. 
Die  beiden  Tumoren  erwiesen  sich  sub  nekropsia  als 
Rundzellensarcome,  und  zwar  entsprangen  sie  an  den 
Stellen  des  Beckens,  wo  normal  die  Ovarien  liegen.  Man 
fand  aber  nirgends  auch  nur  die  geringste  Spur  von 
O  variaige  webe;  man  fand  aber  zwischen  den  Tumoren 
hinten  und  rechterseits  gelagert  ein  Gebilde  von  dreieckiger 
Gestalt,  welches  als  Uterus  angesprochen  wurde.  Uterus- 
wände sehr  dünn,  die  Uterinhöhle  kommunicierte  nach 
unten  zu  mit  einem  Kanäle  von  18 — 19  Centimeter  Länge, 
einer  Vagina,  welche  sich  dicht  hinter  der  Urethral- 
mündung  in  jene  vorgenannte  Rinne  am  Damme  öffnete. 
[Man  hatte  in  vivo  diese  Oeffnung  übersehen  ?  —  N.]  — 
Das  Lumen  der  Scheide  war  im  oberen  Teile  so  groß, 
daß  der  Zeigefinger  einging,  im  Scheidenausgange  aber 
nur  kleinfingerweit.  Die  Cervix  uteri  war  mit  den  Tumoren 
eng  verwachsen  und  so  verlängert,  daß  man  eine  deutliche 
Grenze  zwischen  Cervix  und  Corpus  uteri  nicht  feststellen 
konnte,  ebensowenig  fand  man  eine  ausgesprochene  Grenze 
zwischen  Uterus  und  Vagina.  Die  Eileiter  waren  da, 
ebenso  die  Ligamenta  rotunda,  welche  außerhalb  der 
Leistenkanäle  abschlössen  mit  einer  Art  cystischen  Bildung 


—    319     — 

von  zwei  Centimeter  Länge.  [Hydrocele?  —  N.]  — 
Hinter  der  Vagina  fand  man  zwischen  ihr  und  Rectum 
in  der  Höhe  des  äußeren  Muttermundes  einen  fluk- 
tuierenden Sack  mit  gespannten  Wandungen.  Dieser 
faustgroße  Sack  war  eine  mit  seröser  Flüssigkeit  gefüllte 
Cyste  mit  glatter  blasser  Innenwand.  Harnröhre  vier 
Centimeter  lang,  von  weiblichem  Bau,  ohne  Spur  einer 
Prostata,  eines  Caput  gallinaginis  oder  Öffnungen  der 
Ductus  ejaculatorii.  Die  Cyste  war  mit  Flimmerepithel 
ausgekleidet.  Die  härtlichen  Gebilde,  in  der  Gegend  der 
Leistenkanäle  unter  den  Hautdecken  getastet,  erwiesen 
sich  als  Metastasen  der  Tumoren.  Man  fand  keine 
Spur  von  Hodengewebe.  Doederlein,  welcher  den 
v.  Saexinger  operierten  Fall  beschreiben  ließ,  vermutete, 
die  Person  sei  ein  weiblicher  Scheinzwitter  gewesen  mit 
maligner  Degeneration  der  Geschlechtsdrüsen,  penisartiger, 
hypertrophischer  und  erektiler  Clitoris,  bei  großer  Enge 
der  äußeren  Scheidenmündung  und  Existenz  einer  Cyste 
aus  einem  Wolff  sehen  Körper  entstammend  —  wohl 
Parovarialcyste.  [Da  keine  Spur  von  Ovarialgewebe  ge- 
funden wurde,  ebensowenig  wie  eine  Spur  von  Hoden- 
gewebe, so  kann  hier  von  einer  Entscheidung  •  des  Ge- 
schlechtes gar  nicht  die  ßede  sein  —  ich  persönlich 
würde  eher  männliches  Scheinzwittertum  in  diesem  Falle 
vermuten,  gestützt  auf  analoge  Fälle  von  Hodensarkom  bei 
Vorliegen  eines  hochgradig  entwickelten  Uterovaginal- 
kanales.     N.] 

24)  Lieb  mann  [Budapesti  Kir.  Orvooseg.  1890. 
10.  V.  siehe:  Referat:  Centralblatt  für  Gynaekologie. 
1890  pg.  928]:  Bei  einer  45jährigen  Frau  war  vor  einem 
Jahre  ein  elastischer  Tumor  in  der  linken  Leiste  ent- 
standen, schnell  bis  Faustgröße  anwachsend.  Man  fand 
keine  Spur  von  Uterus  oder  Ovarien.  Die  äußeren 
Schamteile  dürftig  angelegt;  Brüste  gut  entwickelt. 
Weder  jemals  Periode  noch    auch  Molimina  menstrualia. 


—    320    — 

Die  Person  heiratete  im  27.  Jahre  einen  Mann  von  66 
Jahren  und  hatte  auch  nicht  die  geringste  Ahnung  von 
ihrer  Mißbildung.  Der  Tumor  sollte  ein  Lipom  sein. 
[Leider  ist  das  Referat  zu  kurz,  um  alle  die  Fragen  zu 
beantworten,  die  sich  in  diesem  zweifelhaften  Falle  von 
selbst  aufwerfen.     N.] 

25)  Litten  [Ein  Fall  von  Androgynie  mit  malignem 
teratoidem  Kystom  des  rechten  Eierstockes  mit  doppel- 
seitiger Hydrocele  cystica  processus  vaginalis  peritonaei 
—  Virchows  Archiv  1879  —  Bd:  75].  — 

Am  31.  Mai  trat  in  die  Klinik  von  Professor  Frerichs 
die  16jährige  Klara  Hacker  ein,  angeblich  wegen 
Ascites.  Gleich  bei  der  ersten  Inspektion  fiel  das  eigen- 
tümliche Aussehen  der  Genitalien  auf  und  schwankte 
man,  ob  die  Patientin  in  einem  Frauensaal  oder  in  einem 
Männersaal  unterzubringen  sei.  „  Der  allgemeine  Körperbau 
weiblich,  aber  das  Aussehen  des  Genitale  rein  männlich, 
nur  fiel  ein  klaffender  Spalt  auf,  welcher  sich  in  der 
Raphe  der  als  Scrotum  imponierenden  stark  gerunzelten 
Hautfalten  bis  gegen  das  hintere  Ende  derselben  hin 
erstreckte"  —  Penis  am  Dorsum  5  und  einen  halben 
Centimeter  lang,  zwei  und  einen  halben  an  der  unteren 
Fläche.  Sub  erectione  wird  das  Glied  10  Centimeter 
lang,  man  tastet  die  Schwellkörper*  Man  gewinnt  das 
Bild  einer  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit  einer  Rinne, 
welche  bis  4,5  Centimeter  vor  der  Analöffnimg  reicht.  Zu 
beiden  Seiten  dieser  Rinne  fanden  sich  derbe,  gerunzelte 
und  mit  kurzen  Härchen  besetzte  Hautfalten,  welche  in 
ihrer  Beschaffenheit  aufs  Lebhafteste  an  die  Scrotalhaut 
erinnerten.  Beim  Auseinanderziehen  dieser  fettreichen 
Falten  erkannte  man  in  dem  nunmehr  geöffneten  Kanal 
deutlich  die  oben  liegende  Urethralmündung  und  darunter 
den  außerordentlich  engen,  eben  noch  für  die  Sonde 
passierbaren  Scheiden eingang.  Klara  war  als  Mädchen 
erzogen,  hatte  aber  die  Stimme  eines  20jährigen  Mannes. 


321    — 


Sie  war  das  älteste  von  8  Kindern  ihrer  Eltern,  die 
Geschwister  waren  alle  normal  gebaut.  Es  fiel  jedermann 
auf,  wie  ungemein  rasch  sich  der  Verstand  Klara's  ent- 
wickelt hatte  sowie  ein  ausgesprochener  Trieb  zu  Selbst- 
ständigkeit und  Unabhängigkeit.  Sobald  Klara  bemerkt 
hatte,  daß  sie  anders  körperlich  gebaut  war,  als  ihre 
Freundinnen,  zog  sie  sich  von  jedem  Verkehr  mit  ihnen 
zurück.  Die  Regel  trat  im  15.  Jahre  ein,  war  stets 
spärlich  und  schmerzhaft  und  mit  Anschwellen  der  Brüste 
verbunden.  Im  zweiten  Jahre  nach  Eintreten  blieb  die 
Periode  einige  Monate  lang  aus,  in  dieser  Zeit  fing  der 
Leib  an,  an  Umfang  zuzunehmen.  Die  Harnsecretion 
nahm  sehr  zu  und  das  Harnen  wurde  schmerzhaft.  Der 
Tumor,  die  Bauchhöhle  ausfüllend,  reichte  bis  11  Centi- 
meter  oberhalb  des  Nabels,  erschien  nicht  einheitlich, 
sondern  gelappt^  mit  ungleicher  Konsistenz,  asymmetrischen 
Kontouren  etc.  Im  ersten  Augenblicke  dachte  man  an 
Schwangerschaft  um  so  mehr  als  die  Regel  ausgeblieben 
war,  aber  die  Gestalt  des  Tumors  sprach  gegen  Schwanger- 
schaft, ebenso  das  Aussehen  der  äußeren  Genitalien, 
ganz  besonders  aber  die  Enge  der  Scheidenmündung, 
welche  kaum  eine  dünne  Sonde  einließ.  Da  man  also 
eine  Schwangerschaft  ausschloß,  so  wurde  der  Uterus 
sondiert.  Die  per  vaginam  eingeführte  Sonde  drang  19 
Centimeter  tief  ein  in  der  Richtung  nach  rechts  oben. 
Die  Kuppe  der  Sonde  konnte  man  in  dem  kleineren  rechts- 
seitigen Tumor  tasten,  der  dem  größeren  gleichsam  aufsaß. 
Dieser  kleine  Tumor  wurde  also  für  den  Uterus  an- 
gesprochen, nach  rechts  dislociert  durch  einen  von  links 
ausgehenden  Tumor.  Scheide,  Uterus  und  Blase  wiesen 
sämtlich  eine  bedeutende  Verlängerung  auf,  der  Katheter 
drang  auf  15  Centimeter  Tiefe  in  die  Blase  ein!  In  der 
linken  Scrotalhälfte  tastete  man  ein  Gebilde  von  Mandel- 
größe; rechterseits  lag  ein  ebensolches  Gebilde  vor  der 
äußeren  Öffnung  des  Leistenkanales ;    von   jedem    dieser 

Jahrbuch  V.  21 


—    322    — 

Gebilde  schien  ein  Strang  nach  dem  Leistenkanale  zu 
zu  verlaufen.  Nach  einer  am  nächsten  Tage  vollzogenen 
Punktion  stellte  man  die  Diagnose  auf  einen  Ovarialtumor, 
ein  vielkämmeriges  Cystom.  Die  mandelförmigen  Ge- 
bilde in  scroto  fisso  sah  man  für  Hoden  an,  jene 
Stränge  für  Samenstränge.  Die  Kranke  starb  unoperiert 
nach  siebenwöchentlichem  Aufenthalte  im  Hospital  an 
Erschöpfung.  Die  Sektion  wurde  von  Professor  V  i  r c  h  o  w 
gemacht. 

Er  hatte  die  Klara  Hacker  noch  vor  ihrem  Tode 
gesehen  und  damals  das  Geschlecht  für  weiblich  erklärt, 
obgleich  die  Hypertrophie  der  Clitoris  sowie  jene  in  den 
Schamlefzen  tastbaren  Gebilde  auf  männliches  Geschlecht 
hinweisen.  Virchow  schloß  männliches  Geschlecht  aus, 
weil  er  neben  den  als  Hoden  gedeuteten  Gebilden  keine 
Nebenhoden  tasten  konnte,  und  glaubte,  es  handle  sich 
um  inguinolabiale  Ektopie  der  Ovarien.  Dafür  sprach 
auch  das  Anschwellen  dieser  Gebilde  intra  Menses. 
Trotzdem  hatte  Virchow  sich  geirrt;  die  von  ihm  für 
ektopische  Ovarien  angesprochenen  Gebilde  waren  aller- 
dings nicht  Hoden,  wie  man  in  der  Klinik  von  Frerichs 
vorausgesetzt  hatte,  aber  auch  nicht  Ovarien,  sondern 
abgeschnürte  praeinguinale  Teile  der  Processus  vaginales 
peritonaei.  Linkerseits  war  daraus  eine  kleine  Hydro- 
cele,  rechterseits  eine  Haematocele  entstanden.  Der 
Bauchtumor  erwies  sich  als  ein  Myxosarcom  des  rechten 
Ovarium,  das  linke  erwies  sich  als  normal.  Da  der 
rechte  Eierstock  degeneriert  war,  der  linke  aber  eine 
glatte  Oberfläche  hatte,  ohne  Spuren  geplatzter  Follikel, 
so  bezweifelte  Virchow  den  menstruellen  Charakter  der 
von  Klara  Hacker  angegebenen  Blutungen,  eine  An- 
sicht, die  sich  wohl  heute  nicht  mehr  halten  lässt,  da, 
wie  wir  wissen,  manche  Frauen  auch  nach  operativer 
Entfernung  beider  Ovarien  trotzdem  noch  eine  Zeit  lang 
ihre    katamenialen    Blutungen    behalten    können.       Man 


—    228    — 


fand    auch    Metastasen    des   Myxosarcoms  in  der  Leber 
und  eine  Nephrolithiasis  ulcerosa. 

•  26)  Merkel  [Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie 
und  allgemeinen  Pathologie.  Bd.  XXXII.  I.  Heft,  pg. 
157 — 1902].  Bei  der  Sektion  eines  52jährigen  Mannes 
fand  Merkel  in  einer  Leiste  eine  Hernie.     Der  Mann 


Fg.  19:  Uterus  eines  männlichen  Scheinzwitters  von  52  Jahren. 

Sektionspräparat.    Beobachtung  von  Merkel, 

Ut=  Uterus,   T  =  Tube,  N  =  Nebenhoden,  H  =  Hoden,   V  =  Vas 

deferens,  Ur  =  Ureter,  B  =  Blase,  A  =  Ampulle,  S  =  Samenblasen, 

D  =  Duct.  ejaculatorii,  P  =  Prostata. 

war  infolge  von  Carcinoma  recti  gestorben.  In  hernia 
fand  er  einen  gut  gestalteten  Uterus  und  jederseits  von 
demselben  je  eine  Geschlechtsdrüse,  die  wie  ein  Ovarium 
jede  aussahen:  sie  waren  oval  und  tauben eigroß.  Pseudo- 
hermaphoditismus  masculinus  internus  mit  gleichem  Ent- 

21* 


—    324    — 

wickelungsgrade  der  Müll  ergehen  und  der  Wolf  fachen 
Gänge,  da  die  Geschlechtsdrüsen  sich  mikroskopisch  als 
Hoden  erwiesen.  Der  Uterovaginalkanal  war  20  Centi- 
meter  lang.  Die  Vagina  mündete  in  capite  gallinaginis 
ü  parte  prostatica  urethrae.  Prostata  normal.  Merkel 
fand  vier  Samenblasen.  Das  linke  Vas  deferens  war  in 
ganzer  Länge  viabel,  das  rechte  nur  im  oberen  Abschnitte. 
Die  Samenblasen  enthielten  normales  Sperma.  Allgemein- 
aussehen, Stimme  und  Behaarung  männlich;  der  Mann 
hatte  normal  mit  seiner  Frau  kohabitiert  und,  wenn  die 
Ehe  kinderlos  blieb,  so  muß  die  Sterilität  von  den  Or- 
ganen der  Frau  und  nicht  von  dem  Manne  abgehangen 
haben.  Der  Uterus  enthielt  weder  Blut  noch  Schleim 
und  ging  ohne  eine  Spur  einer  sichtbaren  Portio  vaginalis 
nach  unten  zu  sehr  dünnwandig  in  die  Vagina  über. 
Das  Lumen  der  Vagina  war  bleistiftweit,  die  Hoden 
lagen  da,  wo  bei  Frauen  die  Ovarien  liegen;  man  fand 
jederseits  ein  Ligament,  dem  Ligamentum  ovarii  proprium 
entsprechend.  (Siehe  Fg.  19).  Merkel  gibt  an,  er  habe  in 
der  Literatur  16  Fälle  von  Uterus  masculinus  von  hoher 
Entwickelung  gefunden,  die  Fälle  sind  aber,  wie  ich  ge- 
legentlich nachweisen  werde,  ganz  bedeutend  häufiger. 
Ich  werde  die  gesamte  Kasuistik  der  Entwickelung  der 
Müll  ergehen  Gänge  bei  Männern,  resp.  männlichen 
Scheinzwittern,  Foeten  an  anderer  Stelle  veröffentlichen. 
27)  Mies  [„Pseudohermaphroditismus  masculinus1*  — 
Münchener  Medizinische  Wochenschrift  1899.  Bd.  XLVL 
pg.  998].  Man  vermutete  eine  „Erreur  de  sexe"  bezüglich 
der  66jährigen  Else  G.,  in  das  Hospital  aufgenommen 
wegen  Krebs  der  Unterlippe — angesichts  dessen,  daß  diese 
Lokalisation  des  Krebses  bei  Frauen  eine  äußerst  seltene 
ist,  angesichts  der  männlichen  Stimme  der  Kranken,  ihrer 
männlichen  Behaarung,  des  Mangels  von  Brustdrüsen, 
des  absoluten  Mangels  der  Regel  zeitlebens.  Bei  der 
näheren   Untersuchung  konstatierte   man    eine  Hypospa- 


—    325    — 

diasis  peniscrotalis  mit  Hoden  und  Nebenhoden  in  jeder 
Schamlefze,  man  tastete  auch  eine  Prostata.  Dieser  Fall 
beweist  eklatant,  wie  wichtig  es  ist,  bei  der  Kranken- 
aufnahme auch  den  Zustand  der  Geschlechtsorgane  zu 
untersuchen. 

28)  F.  Neugebaue  r.  Persönlich  behandelte  ich  einen 
weiblichen  Scheinzwitter,  die  56  j.  Anastasie  K.,  behaftet 
mit  sehr  bedeutender  Hypertrophie  der  Clitoris,  die  drei 
und  einen  halben  Centimeter  lang  und  erectil  war.  Die 
Kranke  hatte  ein  weit  vorgeschrittenes  Uteruscarcinom 
und  Carcinoma  ovarii  sinistri. 

29)  F.  Neugebauer:,  „ Sarkom  einer  Geschlechts- 
drüse durch  Bauchschnitt  entfernt  bei  einem  als  Frau 
verheirateten  Scheinzwitter  auch  jetzt  noch  zweifelhaften 
Geschlechts."  Am  2.  III.  1903  vollzog  ich  den  Bauchschnitt 
an  einer  35jähr.  seit  drei  Jahren  steril  verheirateten  Frau 
von  hohem  männlichen  Körperwuchs,  großem,  vorspringen- 
den Kehlkopf  und  allgemeinem  männlichen  Aussehen,  ab- 
dominalem Athmungstypus.  Niemals  Menstruation,  niemals 
irgend  welche  sog.  Tormina  menstrualia,  niemals  irgend 
welcher  Geschlechtsdrang.  Äußere  Scham  weiblich,  aber 
hypoplastisch,  Mons  Veneris  fettarm,  Behaarung  sehr 
spärlich.  Hymenalspuren  vorhanden,  Vagina  in  der 
Höhe  von  einigen  Centimetern  blind  geschlossen.  Ascites, 
kachektisches  Aussehen.  Seit  einem  Jahre  ständig  zu- 
nehmende heftige  Leibsehmerzen.  Diagnose:  Tumor 
malignus  der  inneren  Genitalien.  Tumor  größer  als  eine 
Kokosnuß,  das  Cavum  Douglasii  mit  einem  weicheren 
Anteile  ausfüllend,  mit  härteren  Anteilen  im  linken 
Hypogastrium  tastbar.  Beim  Bauchschnitt  gelang  es, 
den  gesamten  Tumor  aus  dem  Becken  stumpf  herauszu- 
holen nach  Resektion  eines  Anteiles  des  mit  ihm  ver- 
wachsenen Netzes.  Der  Tumor  von  Herrn  Dr.  Stein- 
haus mikroskopisch  untersucht,  erwies  sich  als  Sarkom 
einer  Geschlechtsdrüse    ohne    Spur   von   ovariellem  oder 


—    326    — 

testiculärem  Gewebe;  die  größte  Wahrscheinlichkeit  sprach 
dafür,  daß  es  sich  um  eine  Cryptorcbis  sinistra  sarcomatosa 
handelt,  umsomehr  als  ein  in  einer  Duplikatur  des  Bauch- 
fells über  den  Tumor  verlaufender  Strang  sich  als  Yas  defe- 
rens  erwies.  Das  centripetale  Ende  dieses  Stranges  senkte 
sich  in  einem  schmalen  Spalt  ein  zwischen  2  scheinbare 
Gyn  an  der  Tumoroberfläche,  das  periphere  Ende  verlor 
sich  spurlos  in  der  lateralen  Oberfläche  des  Tumors.  Ich 
fand  nirgends  eine  Spur  der  rechtsseitigen  Geschlechtsdrüse, 
weder  in  der  Gegend  vor  dem  Leistenkanale  noch  im 
Becken,  fand  dagegen  einen  Strang,  der  an  der  hinteren 
Beckenwand  nach  oben  zu  verlief,  wahrscheinlich  liegt  die 
zweite  Geschlechtsdrüse  höher  oben  lateral  von  der  Lenden- 
wirbelsäule, in  welchem  Falle  der  rechtsseitige  Strang  des 
Vas  deferens  dextrum  sein  dürfte.  Der  Tumor  hatte  eine 
Art  Mesenterium,  eine  Art  Gekröse,  das  behufs  Entfernung 
des  Tumors  durchschnitten  wurde  mit  nachfolgender 
fortlaufender  Naht  und  Unterbindung  eines  arteriellen 
Gefäßes  am  lateralen  Ende  des  Gekröses.  Ich  vermutete, 
es  liege  vielleicht  ein  höchst  rudimentärer  uterus  unicornis 
sinister  vor  —  wobei  der  linksseitige  Strang  als  Tube 
sich  deuten  ließ,  fand  jedoch  keinen  Anhaltspunkt  für  diese 
Annahme.  Eine  Prostata  fand  ich  nicht.  Das  Geschlecht  dieser 
Person  bleibt  zweifelhaft,  trotz  Exstirpation  einer  malign 
entarteten  Geschlechtsdrüse.  Aus  der  Bauchhöhle  er- 
gossen sich  einige  hundert  Gramm  Ascites.  Die  Frau 
verlor  ihre  Schmerzen  sofort  und  verließ  meine  Klinik 
nach  glatter  Wundheilung  am  20.  Tage  nach  dem  Bauch- 
schnitte. Werde  diesen  Fall  gesondert  mit  Abbildungen 
veröffentlichen.  Es  ist  dies  in  der  Kasuistik  von  ca.  400 
von  mir  vollzogenen  Bauchhöhlenoperationen  der  erste 
Fall  zweifelhaften  Geschlechtes. 

30)  Obolonski  [„Beiträge  zur  pathologischen  Ana- 
tomie des  Hermaphroditismus."  Zeitschrift  für  Heilkunde. 
Bd.  9.  pg.  211].     In  der  Klinik  von  Chiari   starb  eine 


—    327     — 

50jährige  Arbeiterin,  welche  zeitlebens  als  Weib  gegolten 
hatte.  Sie  soll  vom  17.  bis  zum  49.  Jahre  stets  ihre 
Regel  gehabt  haben.  Gleichwohl  erwies  die  Sektion  männ- 
liches Scheinzwittertum  mit  Hypospadiasis  peniscrotalis; 
der  gespaltene  Penis  war  6  Centimeter  lang;  unterhalb 
der  Harnröhrenmündung  fand  man  die  Öffnung  der  6 
Centimeter  langen  Vagina,  von  einem  Hymen  garniert: 
die  Scheide  war  unten  1  Centimeter  breit.  Man  fand 
einen  rudimentär  entwickelten  Uterus  bicornis,  linkerseits 
vom  Uterus  einen  Hoden  und  Nebenhoden  und  Samen- 
strang, rechterseits  fand  man  keine  Geschlechtsdrüse, 
wahrscheinlich  war  aus  derselben  ein  maligner  Tumor 
hervorgegangen,  das  bei  der  Sektion  gefundene  Sarkom, 
welches  den  Tod  herbeigeführt  hatte.  Zu  Lebzeiten  hatte, 
man  an  ein  Carcinoma  uteri  gedacht.  Dieses  Neoplasma 
hatte  auf  dem  Wege  der  Kompression  eine  beiderseitige 
Hydronephrose hervorgerufen.  Da Obolonski  rechterseits' 
ein  Vas  deferens  fand,  welches  ganz  dem  linksseitigen 
entsprach,  so  vermutete  er  ganz  mit  Recht,  daß  auch  die 
rechtsseitige  Geschlechtsdrüse  ein  Hodenge  wesen  sein  mag, 
daß  also  die  Verstorbene  ein  Mann  war,  wie  schon  Wrany 
vor  ihr  behauptet  hatte.  Eigentümlich  berührt  die  An- 
gabe von  der  angeblichen  periodischen  Genitalblutung, 
Regel,  so  viele  Jahre  hindurch,  der  wir  natürlich  vor- 
läufig skeptisch  gegenübertreten  müssen.  *  Allgemein- 
aussehen ganz  weiblich,  auch  das  bis  heute  in  Prag 
konservierte  Skelett  weist  absolut  einen  ganz  weiblichen 
Bau  auf. 

[Ich  werde  in  einer  anderen  Arbeit  die  sämtlichen 
Fälle  von  angeblicher  Menstruation  bei  männlichen 
Scheinzwittern  kritisch  zusammenstellen.     N.]. 

31)  Paton,  (der  Assistent  der  Chirurgischen  Ab- 
teilung des  Londoner  Westminster-Hospital)  beschrieb 
eine  bisher  einzig  dastehende  Beobachtung  [,,A  case  of 
vertical  or  complexe  hermaphroditism  with  pyometra  and 


—    328    — 

pyosalpinx;  removal  of  the  pyosalpinx".  Lancet  1902. 
10.  VII.  No.  4116.  Vol.  CLXIIL  pg.  148—149]:  Am 
17.  V.  1902  kam  zu  ihm  ein  20  jähriger  Mann  wegen 
Schmerzen  in  der  Harnblase  und  erschwerten  Hamens. 
Er  konstatierte  eine  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit 
beiderseitigem  Kryptorchismus.  Der  Penis  hatte  kaum 
2 — 3  Zoll  Länge.  Auf  den  Bauchdecken  des  recht- 
seitigen  Hypogastrium  sah  man  eine  ausgedehnte 
Operationsnarbe  nach  Discision  eines  Abscesses  vor 
einem  Jahre.  Nach  letzterer  Operation  war  eine  eiternde 
Fistel  hinterblieben,  welche  sich  erst  nach  Ablauf  eines 
halben  Jahres  geschlossen  hatte.  Man  fühlt  in  der 
Gegend  der  Narbe  eine  ausgesprochene  Resistenz,  ohne 
jedoch  weiteren  Bescheid  über  deren  Charakter  erlangen 
zu  können.  Der  Harn  enthält  zeitweilig  Eiter,  zeitweilig 
Blut  Der  Katheter  entleert  dicken  Eiter.  Stimme  und 
Gesichtsausdruck  weiblich,  keine  männliche  Gesichts- 
behaarung; Schamgegend  spärlich  behaart.  Der  Mann 
ist  klein  von  Wuchs  und  hager.  Brüste  wie  bei  einem 
Mädchen  von  15  Jahren.  Der  Mann  war  nach  dem 
Tode  seines  Vaters  in  einem  Waisenhause  erzogen 
worden  und  hatte  immer  für  schwächlich  gegolten;  ob  er 
jemals  die  Periode  hatte,  ist  nicht  bekannt.  Ein  Bruder 
und  eine  Schwester  sollen  normal  gebaut  sein.  Das 
Individuum  -  wurde  bisher  stets  als  Mann  angesehen  und 
scheint  bis  jetzt  keinerlei  Geschlechtstrieb  em- 
pfunden zu  haben.  Eine  Ausspülung  der  eiternden 
Harnblase  —  wenigstens  glaubte  man,  es  handle  sich 
um  eine  solche  —  brachte  dem  Kranken  Linderung 
seiner  Beschwerden.  Am  7.  April  tastete  man  sub 
narcosi  im  Unterleibe  einen  fluktuirenden  Tumor  von 
bedeutender  Grösse,  den  man  für  die  Harnblase  hielt, 
aber  der  Katheter  entleerte  kaum  einige  Tropfen  Harn 
und  Eiter.  Per  rectum  tastete  man  ein  Gebilde  wie  eine 
sehr   bedeutend    nach    oben    verlängerte  Prostata,  deren 


—    829    — 

oberes  Ende  der  Finger,  als  zu  kurz,  nicht  zu  erreichen 
vermochte.  Man  tastete  auch  einen  zweiten  Tumor 
unter  der  Bauchdeckennarbe  gelegen  rechterseits !  Drei 
Tage  später  wurde  sub  narcosi  der  Bauchschnitt  ge- 
macht. Dabei  fiel  zunächst  auf,  dass  der  früher  getastete 
grosse  Tumor  verschwunden  war;  man  tastete  jetzt  nur 
den  kleinen  linksseitigen  Tumor.  Man  machte  einen 
medianen  Einschnitt  unterhalb  des  Nabels  und  fand  in- 
mitten zahlreicher  Verwachsungen  einen  Uterus  mit  zwei 
Eileitern,  deren  rechtsseitiger  mit  der  Bauchwand  ver- 
wachsen war  und  im  Zusammenhang  mit  jener  post- 
operativen Bauchdeckennarbe  stand.  Dieser  rechtsseitige 
Eileiter  war  mit  Eiter  gefüllt,  heißt  es  in  der  Beschrei- 
bung. Der  linksseitige  sah  normal  aus.  (?)  Man  fand 
jederseits  vom  Uterus  ein  Ligamentum  rotundum  und 
an  der  Rückfläche  des  linken  Ligamentum  latum  ein 
Gebilde,  das  wie  ein  Ovarium  aussah.  Der  frühere 
Tumor  war  offenbar  die  momentan  leere  Harnblase,  die 
sich  als  sehr  erweitert  erwies.  Man  resecierte  den  links- 
seitigen Eileiter  sowie  die  linksseitige  Geschlechtsdrüse, 
rechterseits  fand  man  keine  Geschlechtsdrüse  —  aller- 
dings konnte  man  angesichts  der  schlechten  Narkose  und 
drohender  Asphyxie  nicht  allzusehr  gewissenhaft  darnach 
suchen.  Man  mußte  wegen  schlechten  Zustandes  des 
narkotisierten  Patienten  die  Operation  möglichst  bald 
beendigen.  Fortwährend  floß  Eiter  mit  Harn  gemischt 
aus  der  Harnröhrenmündung  ab.  Am  8.  Mai,  als  dieser 
Abfluß  fortbestand,  beschloß  man,  die  Harnröhrenöffnung 
durch  einen  Einschnitt  zu  erweitern,  aber  wegen 
schlechten  Allgemeinbefindens  des  Kranken  wurde  dieser 
Eingriff  auf  später  verschoben.  Eine  durch  die  Harn- 
röhre vier  Zoll  tief  eingeführte  Sonde  drang  nicht  in  die 
Harnblase  ein,  sondern  in  eine  andere  Höhle.  Nach 
einiger  Zeit  verließ  der  Kranke  das  Hospital  in  relativ 
gutem  Zustande:    es    wurde    beschlossen,    falls  sich  das 


—    330    — 

notwendig  erweisen  werde,  auch  die  rechtsseitigen  Adnexa 
uteri  zu  entfernen.  Die  mikroskopische  Untersuchung  des 
linken  Eileiters  wies  eine  Pyosalpinx  nach;  die  Ge- 
schlechtsdrüse, welche  dem  Ligamentum  latum  hinten 
auflag,  war  ein  Hoden  von  rudimentärer  Entwicklung. 
Die  Öffnung  im  gespaltenen  Scrotum,  welche  man  für 
die  Urethralmündung  angesehen  hatte,  war  keineswegs 
eine  solche,  sondern  das  Ostium  vaginae,  die  Harnröhre 
Öffnete  sich  in  die  Vagina,  in  welche  also  sowohl  die 
Harnröhre  als  auch  die  Cervix  uteri  mündeten. 

Man  hatte  sub  operatione,  sowie  sich  aus  der  Be- 
schreibung zu  ergeben  scheint,  den  Uterus  samt  links- 
seitigen Adnexa,  welche  statt  eines  Ovarium  einen  Hoden 
enthielten,  entfernt;  ob  rechterseits  eine  Geschlechtsdrüse 
existierte  und  welcher  Art,  diese  Frage  blieb  offen.  Ob 
eine  Prostata  existierte  und  Samenleiter  blieb  ebenso 
fraglich.  Das  Allgemeinaussehen  dieses  Mannes  war 
eher  weiblich  als  männlich. 

32)  Pfannenstiel  [sieheEmilv.Swinarski: »Beitrag 
zur  Kenntnis  der  Geschwulstbildungen  der  Genitalien  bei 
Pseudohermaphroditen."  D.  I.  Breslau  1900].  —  Die 
55jährige  unverehelichte  Chr.  Seh m.,  niemals  menstruiert 
imd  aller  Geschlechtstriebe  bar,  hatte  schon  vor  drei 
Jahren  einen  Tumor  im  Leibe  bemerkt.  Da  der  Leib 
stetig  wuchs,  mußte  sie  ihre  Beschäftigung  aufgeben  und 
trat  in  das  Hospital  ein:  Gesichtsausdruck  männlich, 
ebenso  die  Gesichtsbehaarung,  Patientin  mußte  sich  jede 
Woche  rasieren  wegen  starken  Bartwuchses.  Stimme 
männlich,  Brustbeingegend  und  Brüste  behaart  um  die 
Warzen  herum.  Brüste  schwach  entwickelt,  Bauch-  und 
Schamgegend  stark  männlich  behaart,  ebenso  die  Perianal- 
gegend  und  die  Extremitäten.  In  der  Bauchhöhle  ein 
harter,  wenig  beweglicher  Tumor,  bis  an  den  Rippenbogen 
reichend.  Clitoris  stark  hypertrophisch,  drei  Centimeter, 
sub  erectione  5  Centimeter  lang.      Langes  mobiles  Prae- 


—    331    — 

putium  clitoridis  an  der  großen  Glans.  Unterhalb  der 
Clitoris  liegt  eine  1  Centimeter  lange  Öffnung,  unterhalb 
sind  die  Schamlefzen  durch  eine  Raphe  miteinander  ver- 
einigt. Durch  jene  Öflhung  dringt  der  Finger  zwei 
Centimeter  weit  in  einen  Sinus  urogenitalis  ein  und  ent- 
deckt in  dessen  Tiefe  sowohl  die  Harnröhrenmündung 
als  auch  die  Öffnung  der  Scheide,  welche  einen  kleinen 
Finger  einläßt.  Im  Grunde  der  Scheide  tastet  der  Finger 
eine  bohnengroße  portio  vaginalis  uteri,  die  in  enger 
Verbindung  mit  dem  Tumor  zu  stehen  scheint.  Am  19. 
VI.  1897  diagnostizierte  Pf  an  nen  stiel  ein  Uterusmyom 
und  machte  den  Bauchschnitt  mit  uteroovarieller  Ampu- 
tation. Der  Tumor,  acht  und  ein  halbes  Kilo  wiegend, 
erwies  sich  als  ein  Kugelfibromyom  des  Uterus,  die  ver- 
längerten Eileiter  waren  14  und  17  Centimeter  lang: 
beide  Ovarien  vergrößert,  verlängert  mit  glatter  Ober- 
fläche, ohne  Spur  irgend  welcher  Einschnürungsfurchen, 
und  ohne  Spur  von  Ovarial-Parenöhym  auf  dem  Durch- 
schnitte. Der  Bau  der  Ovarien  wies  nur  ein  binde- 
gewebiges Stroma  auf  mit  einigen  Blutgefäßen:  Keine 
Spur  von  Graafschen  Follikeln  oder  corpora  albicantia. 
Es  fehlte  bei  allgemeinem  weiblichen  Baue  der  inneren 
Genitalien  absolut  .  das  essentionelle  Charakteristicum 
der  Weiblichkeit  der  Geschlechtsdrüsen.  Diese  Person 
von  allgemeinem  männlichen  Aussehen,  mit  Persistenz 
des  Sinus  urogenitalis,  besaß  ein  Uterusfibromyom  und 
Ovarien  ohne  Spur  von  ovariellem  Parenchym.  Es  war 
in  dem  hypoplastischen  Uterus  ein  hyperplastisches  Ge- 
bilde, jene  Neubildung,  entstanden.  Das  Individuum 
verriet  eine  hochgradige  psychische  Depression,  mied 
jede  menschliche  Gesellschaft  und  saß  stets  einsam 
schweigend  in  der  Klinik.  [Da  kein  typisches  Ovarial- 
gewebe  nachgewiesen  werden  konnte,  so  möchte  ich 
vorsichtigerweise  auch  hier  das  Geschlecht  für  zweifel- 
haft erklären.     Die,  wie  sich  herausstellt,  verhältnismäßig 


—    332    — 

zahlreichen  Fälle,  wo  man  einen  hochgradig  entwickelten 
Uterus  beim  Manne  fand  zugleich  mit  Hoden  an  der 
Stelle  der  Ovarien  liegend  (Kryptorchismus  bei  fehlendem 
Descensus  beider  Hoden)  geben  viel  zu  denken.    N.] 

33)  P£an  [siehe  im  Vorhergehenden  Gruppe  II  No.  2] 
fügte  in  seinem  Falle  von  vergeblichem  Suchen  nach 
den  Testikeln  mit  beiderseitigem  Leistenschnitt  den  Bauch- 
schnitt hinzu,  um  sich  von  dem  Zustande  der  inneren 
Genitalien  zu  überzeugen  und  vollzog  schließlich  noch 
die  Abtragung  der  beiderseitigen  Uterusadnexa  um  der 
späteren   Entstehung    einer    Haematometra  vorzubeugen. 

34)  Primrose  [,,A  case  of  Uterus  masculinus" 
British  Medical  Journal  1897.  Vol.  II  pg.  881].  Man 
diagnosticierte  bei  einem  25jährigen  mit  beiderseitigem 
Kryptorchismus  behafteten  Manne  einen  Tumor  eines 
Hodens  und  machte  den  Bauchschnitt  mit  Entfernung  eines 
Hodensarkomes.  Der  Mann  starb,  die  Sektion  wies  nach, 
daß  ein  Uterus  sammt  Tuben  und  Vagina  existierte;  die 
Vagina  öffnete  sich  in  parte  prostatica  urethrae  in  capite 
gallinaginis.  [Referat :  Fr  o  m  m  e  1  s  Jahresbericht  für 
1897  pg.  933]. 

35)  Quisling  [Pseudohermaphroditismus  femininus 
externus"  —  Kristiania.  Sep.  Afdr.  af  Norsk  Magazin 
for  Laegevidenskab.  No.  5.  1902]:  Am  26.  VI.  1893 
kam  zu  Quisling  ein  18jähriges  Fräulein  wegen  Bleich- 
sucht und  bisherigem  Ausbleiben  der  Periode.  Das 
Mädchen  glaubte  bemerkt  zu  haben,  es  sei  körperlich 
anders  veranlagt,  als  andere  Frauen  und  verlangte  des- 
halb eine  Untersuchung.  Körperwuchs  niedrig,  schwäch- 
liche Konstitution,  männliche  Stimme.  Dolichocephalische 
Kopfform  mit  hoher  Stirn.  Gesichtsausdruck  männlich. 
Starke  männliche  Gesichtsbehaarung,  so  daß  das  Mädchen 
sich  diesen  Bartwuchs  durch  Scheere  oder  Ausreißen  der 
Haare  beseitigt.  Der  Haarwuchs  nimmt  trotzdem  ständig 
zu.     Schmaler  flacher  Brustkorb  ohne  Brustdrüsen.     Der 


—    333    — 

gesamte  Unterleib  ist  stark  behaart,  ganz  besonders 
der  Mons  Veneris  und  die  Innenflächen  der  Oberschenkel, 
sowie  die  Perianalgegend;  Schambehaarung  männlich. 
Betrachtet  man  das  Mädchen,  nachdem  es  die  Kleidung 
ganz  abgelegt,  so  fällt  die  Gegenwart  eines  Membrum 
virile  auf,  wenn  das  Mädchen  steht.  Das  Becken  er- 
scheint schmal,  ein  Scrotum  ist  bei  geschlossenen  Schenkeln 
nicht  zu  sehen.  Die  Vorhaut  bedeckt  nicht  die  Glans 
penis,  läßt  sich  aber  soweit  vorziehen,  um  die  Glans  zu 
bedecken.  Harnröhrenöffnung  weiblich.  Die  Schamlefzen 
erscheinen  als  zwei  stark  behaarte  Hautdecken wülste, 
aber  sie  sind  wenig  entwickelt,  viel  mehr  dagegen  die 
kleinen  Schamlippen,  die  nach  oben  zu  in  die  Crura 
clitoridis  und  die  Vorhaut  des  Präputium  übergehen. 
Man  findet  eine  untere  Kommissur  der  Schamlefzen,  ein 
Frenulum  labiorum!  Die  Hymenalöffnung  ist  sehr  eng, 
unterhalb  der  Harnröhrenöffhung  belegen.  Per  rectum 
tastet  man  einen  viereckigen  in  der  Mittellinie  gelegenen 
Körper  und  linkerseits  daneben  ein  rundliches  Gebilde. 
Eine  Art  Strang  verbindet  diese  beiden  Gebilde,  welche 
wahrscheinlich  Uterus  und  Adnexa  sind,  ßechterseits 
tastete  Quisling  ein  härteres  Gebilde  dicht  an  der 
seitlichen  Beckenwand  liegend;  es  war  von  ovaler  Gestalt. 
Der  Vater  des  Mädchen  ist  vor  drei  Jahren  gestorben, 
die  Mutter,  drei  Schwestern  und  drei  Brüder  leben  und 
sind  normal  gebaut. 

Am  31.  Juli  klagte  das  Mädchen  über  Schmerzen 
in  der  Art  von  Molimina  menstrualia.  Zum  zweiten 
Male  sah  Quisling  dieses  Mädchen  am  18.  I.  1895  und 
konstatierte  damals  eine  leicht  verlaufende  Appendicitis. 
Am  29.  Juli  fand  ein  Nasenbluten  statt,  welches  sich  in 
letzter  Zeit  periodisch  wiederholt  laut  Angabe  des  Mädchens 
und  jedesmal  drei  bis  vier  Tage  dauern  soll  (Menstruatio 
vicaria?)  Das  Mädchen  ist  fest  überzeugt  von  seiner 
Weiblichkeit  und  empfindet  weiblichen  Geschlechtsdrang. 


—    334    — 

Als  Quisling  dem  Mädchen  riet,  sich  fürderhin  männ- 
lich zu  kleiden  angesichts  des  Bartes,  so  rief  es  aus 
„Aber,  Herr  Doktor!"  —  Am  24.  XL  1897  sah  Quis- 
ling das  Mädchen  zum  dritten  Male:  er  fand  abermals 
Symptome  der  Appendicitis  und  zugleich  Schmerzen  im 
linken  Hypogastrium  sowie  hartnäckige  Stuhlverstopfung ; 
während  der  Untersuchung  konstatierte  er  Erektionen  des 
Penis.  Der  Scheideneingang  ließ  kaum  die  Kuppe  des 
kleinen  Fingers  ein,  eine  Sonde  drang  aber  10  Centi- 
meter  tief  in  eine  Vagina  ein.  Per  rectum  tastete  man 
dasselbe  wie  vor  4  Jahren.  Am  8.  III.  1899  gestand  das 
Mädchen  Masturbation  zu,  seit  lange  prakticiert  Zur 
Zeit  war  das  Mädchen  23  Jahre  alt. 

Seit  dem  letzten  Besuche  starke  Abmagerung.  Die 
heute  von  Patientin  angegebenen  Schmerzen  hingen  aus- 
schließlich von  der  Appendicitis  ab,  waren  also  ganz 
unabhängig  von  der  genitalen  Mißstaltung.  Quisling 
erstaunte,  als  es  ihm  jetzt  gelang,  ohne  Schwierigkeiten 
seinen  ganzen  Finger  in  die  Vagina  einzuführen  —  das 
Mädchen  erzählte  zu  seiner  Rechtfertigung,  es  habe  sich 
wegen  seines  Bartwuchses  von  einem  Dermatologen  be- 
handeln lassen.  Letzterer  habe  um  die  Erlaubnis  einer 
vaginalen  Untersuchung  gebeten  und  dabei  sei  wahr- 
scheinlich die  Jungfrauenhaut  eingerissen.  An  der  Ge- 
sichtshaut sah  man  zahlreiche  von  dem  Gebrauche  des 
Thermokauters  herrührende  Narben,  aber  die  männliche 
üppige  Gesichtsbehaarung  war  dieselbe  geblieben.  Der 
Uterus  erschien  jetzt  als  ein  Körperchen  von  drei  Centi- 
meter  Länge  und  zwei  Zentimeter  Breite,  Uterus  foetalis. 
Von  ihm  geht  jederseits  eine  Art  Strang  aus  zur  vorderen 
Beckenwand  hin  verlaufend.  Man  konnte  jetzt  bequem 
in  die  Vagina  ein  Milchglasspeculum  10  Centimeter  tief 
einführen  und  fand  in  speculo  eine  Vaginalportion  eines 
Uterus  einen  Centimeter  weit  in  das  Lumen  der  Vagina 
vorragend.     Linkerseits  vom  Uterus  tastete  man  ein  läng- 


—    335    — 

liches  Gebilde,  wahrscheinlich  ein  Ovariura;  ein  ähnliches 
Gebilde  rechterseits  lag  nach  der  seitlichen  Beckenwand. 
Aus  dem  Muttermunde  trat  etwas  Schleim  hervor.  Die 
Sonde  drang  in  den  Uterus  drei  Centimeter  tief  ein.  Der 
Penis  resp.  die  hypertrophische  Clitoris  maß  jetzt  4  Centi- 
meter Länge,  2  Centimeter  Dicke.  Man  sah  deutlich  eine 
ßaphe  perinaei.  Im  Oktober  1901  erfolgte  wieder  ein 
schmerzhafter  Anfall  von  Appendicitis  in  regione 
ileocoecali:  darnach  will  Patientin  etwas  Blutabgang  aus 
den  Genitalien  bemerkt  haben,  vielleicht  infolge  einer 
zufälligen  Verletzung  sub  masturbatione.  Die  Mutter 
dieses  Mädchens  erzählte  Quisling,  sie  habe  nach  der 
Geburt  dieses  Kindes  selbst  eine  Zeit  lang  Zweifel  ge- 
hegt, ob  denn  das  Kind  auch  ein  Mädchen  sei,  desto 
mehr  sei  sie  später  beunruhigt  worden  durch  den  Bart- 
wuchs bei  der  Tochter.  Als  Quisling  der  Mutter 
mitteilte,  ihre  Tochter  sei  wirklich  eine  solche  und  kein 
verkannter  Junge,  äußerte  die  Mutter  alle  Anzeichen 
großer  Befriedigung.  Augenblicklich  lebt  die  Mutter  nicht 
mehr,  sie  wurde  von  einem  Leberkrebs  dahingerafft  Im 
gegebenen  Falle  hat  sich  Quisling  für  das  weibliche 
Scheinzwittertum  geäußert;  es  bleibt  abzuwarten,  ob  eine 
eventuelle  Nekropsie  seine  Vermutung  bestätigt  oder  nicht. 
36)  E.  v.  Sal£n  (Stockholm)  [„Ein  Fall  von  Herm- 
aphroditismus verus  unilateralis  beim  Menschen."  —  Ver- 
handlungen der  deutschen  pathologischen  Gesellschaft, 
herausgegeben  von  Professor  Ponfick.  Zweiter  Jahr- 
gang. Berlin  1900.  pg.  241  —  siehe  Referat:  Zentral- 
blatt für  Gynaekologie.  1900.  No.  32.  pg.  862.]:  Au- 
gustePersdotter,  43 jährig,  unverehelicht, menstruiert 
seit  ihrem  17.  Jahre.  Coitus  mit  einem  Manne  schmerz- 
haft, Coitus  mit  Mädchen  oder  Frauen  bisher  nicht  ver- 
sucht. Allgeraeinaussehen  weiblich,  Clitoris  5  Centimeter 
lang  mit  Glans  von  Haselnußgröße.  Schamlippen  normal 
gebildet,  sowohl  die  großen  als  auch  die  kleinen.     Unter- 


—    336    — 

halb  der  Harnröhrenöflhung  liegt  die  enge  Öffnung  der 
Vagina,  welche  kaum  eine  dünne  Sonde  einläßt  Die 
Sonde  dringt  8  Centimeter  tief  ein.  v.  Sal£n  entfernte 
mit  Bauchschnitt  ein  cystisches  Fibroid  von  der  Größe 
des  Kopfes  eines  erwachsenen  Mannes,  an  einem  Stiele 
sitzend,  sowie  die  Geschlechtsdrüsen,  welche  da  lagen, 
wo  bei  Frauen  die  Ovarien  liegen.  Tuben  und  Ligamente 
des  Uterus  normal.  Die  Patientin  verließ  am  8.  1.  1899 
geheilt  das  Hospital  Die  mikroskopische  Untersuchung 
der  einen  Geschlechtsdrüse  sollte  einen  gemischten  testi- 
culoovariellen  Bau  aufweisen,  die  Drüse  sollte  eine  Art 
Ovotestis  sein;  eine  Hälfte  der  rechten  Geschlechtsdrüse 
soll  Hodenstruktur  aufgewiesen  haben,  die  andere 
Ovarialstruktur.  In  dem  ovariellen  Stroma  wurden,  wie 
es  in  dem  Referate  heißt,  Graafsche  Folikel  entdeckt  und 
typische  Eier;  inmitten  reichen  Spindelzellengewebes  fand 
man  in  dem  Hodenstroma  nirgends  Spermatogonien  oder 
andere  Samenzellen.  Die  linke  Geschlechtsdrüse  erwies 
sich  als  Ovarium.  Die  wörtliche  Beschreibung  lautet  so: 
„Die  Untersuchung  der  Geschlechtsdrüsen  ergab  linker- 
seits ein  ziemlich  kleines  höckriges  Ovarium  mit 
Graafschen  Follikeln  und  Eiern,  rechterseits  eine  Zwitter- 
drüse, deren  eine  Hälfte  Eierstockgewebe,  deren  andere 
Hodengewebe  zeigte.  Der  Ovarialteil  ist  grobhöckrig, 
von  gelber  Farbe  und  derber  Konsistenz  und  zeigt  bei 
der  mikroskopischen  Untersuchung  Graafsche  Follikel 
und  ganz  typische  Eizellen  in  einem  spindelzellenreichen 
Stroma  eingebettet.  Der  Hodenteil  ist  oben  von  ziem- 
lich weicher  Konsistenz,  mit  weißglänzender  Tunica 
albuginea.  Das  Parenchym  ist  locker,  von  braungrauer 
Farbe  und  von  weißen  Bindegewebssepta  durchzogen; 
mikroskopisch  zeigt  es  tubuli  seminiferi,.  die  in  einem 
lockeren,  von  größeren  und  kleineren  Anhäufungen  fett- 
und  pigmentreicher-  Zwischenzellen  durchsetzten  Binde- 
gewebsstroma  liegen.     Die  Tubuli  sind  stark  geschlängelt 


—    337     — 

von  beinahe  gleicher  Weite.  Ihre  Membranae  propriae 
sind  größtenteils  verdickt,  sehr  reich  an  concentrisch  an- 
geordneten Fasern.  Das  Epithel  besteht  aus  Follikel- 
zellen  und  S er tolini* sehen  Zellen.  Nirgends  Sperma- 
togonien  oder  andere  Samenzellen.  Die  Struktur  zeigt 
im  Ganzen  eine  auffallende  Ähnlichkeit  mit  derjenigen 
des  ektopischen  Hodens  nach  der  Pubertät."  — 

[Ich  weiß  nicht,  ob  die  mikroskopischen  Präparate 
auch  von  anderen  Forschern  die  gleiche  Deutung  er- 
fahren haben.  Blacker  und  Lawrence  waren  die 
Ersten,  die  in  ihrem  Falle  eine  solche  Zwitterdrüse  ent- 
deckt zu  haben  glaubten.  Ihre  Deutung  des  mikro- 
skopischen Präparates  hat  jedoch  einer  Kontrollunter- 
suchung und  Kritik  des  Herrn  Professor  Nagel  nicht 
Stand  gehalten.]  Neuerdings  hat  Prof.  Landau  diese 
mikroskopischen  Präparate  in  Berlin  demonstriert. 

37)  Snegirjow  [siehe  im  Vorhergehenden:  Gruppe I, 
Fall  30]  fügte  in  seinem  Falle  von  Herniotomia  bilateralis 
bei  einem  irrtümlich  als  Mädchen  erzogenen  männlichen 
Scheinzwitter  die  Koeliotoraie  hinzu,  um  sich  von  dem 
Zustande  der  inneren  Genitalien  zu  überzeugen,  also  eine 
diagnostische  Koeliotomie. 

38 J  E.  Sorel  und  Ch^rot  [,,Un  cas  de  pseudo- 
hermaphrodisme"  —  Archives  Provinciales  de  Chirurgie. 
T.  VII.  1.  Juni  1898.  pg.  367.]:  Die  36jährige  Ali ne 
C,  als  Mädchen  erzogen  und  niemals  menstruiert,  hatte 
ein  allgemeines  männliches  Aussehen.  Der  männliche 
Bartwuchs  zwang  das  Mädchen  vom  21.  Jahre  an  sich 
täglich  zu  rasieren.  Andromastie.  Brust  nicht  behaart, 
aber  die  unteren  Extremitäten  bedeutend  behaart. 
Stimme  männlich.  Statt  der  Clitoris  sah  man  zwischen 
den  Schamlefzen  einen  Penis  hypospadiaeus  von  fünf 
und  einem  halben  Centimeter  Länge,  in  der  Höhe 
der  Corona  glandis  von  6  Centimeter  Umfang.  Die 
volle    Erection    dieses    Gebildes    wurde    sehr   erschwert 

Jahrbuch  V.  22 


—    338    - 

durch  die  Äbride",  welche  das  Glied  nach  unten  zu 
hakenförmig  gekrümmt  erhält.  Labia  majora  reich  be- 
haart, aber  gut  gestaltet.  Die  Harnröhre  erweist  sich 
gespalten  an  der  unteren  Wand;  keine  Spur  von  Hoden 
zu  entdecken,  keine  Spur  von  Vulva  oder  Vagina.  Der 
Charakter  von  AI  ine  erscheint  ernst,  ohne  eine  ausge- 
sprochene Leidenschaft;  sie  hat  Erektionen  ihres  Gliedes 
und  fühlt  einen  männlichen  Geschlechtsdrang,  auf  Frauen 
gerichtet,  und  hat  sogar  den  Beischlaf  mit  Frauen  ver- 
sucht, aber  „sans  pouvoir  y  aboutir*.  —  Früher  war 
AI  ine  stets  gesund,  aber  seit  einiger  Zeit  empfindet  sie 
starke  Schmerzen  rechterseits  im  Unterbauche.  Augen- 
blicklich, am  15.  III.  1898,  fühlt  sie  sich  schon  seit  6 
Wochen  krank:  die  früheren  Schmerzen  haben  sich 
wieder  gemeldet  zugleich  mit  Erbrechen  und  Durchfall. 
Am  12.  III.  1898  trat  sie  wegen  eines  Bauchtumors  in 
das  Hospital  ein.  Fieber  und  Meteorismus.  Der  harte, 
schmerzhafte,  druckempfindliche  Tumor  nahm  die  ganze 
rechte  Hälfte  der  Bauchhöhle  ein,  reichte  bis  zur  Linea 
alba  und  bis  drei  Querfingerbreit  unterhalb  der  Leber. 
Perkussion  oberhalb  des  Tumors  ergab  tympanitischen 
Schall.  Am  15.  März  wurde  der  Bauchschnitt  vollzogen 
—  und  zwar  rechterseits  seitlich ;  es  ergoß  sich  etwa  ein 
halber  Liter  Eiter  aus  der  Wunde,  welcher  dunkel  ge- 
färbt war  und  faekaloid  aussah.  Der  Finger  tastete  in 
der  Wundhöhle  höckrige  Gebilde,  welche  den  Eindruck 
von  epitheliomatösen  Wucherungen  machten,  so  daß 
man  an  Carcinom  des  Blinddarmes  dachte!  Man  legte 
in  die  Wunde  einen  Gazedrain  ein  und  verschloß  den 
Rest  der  Wunde,  -f-  38,0  °  C.  Am  nächsten  Morgen 
war  der  Verband  von  Faeces  durchtränkt,  16.  III; 
am  17.  IH.  Tod. 

Bei  der  Nekropsie  fand  man  eine  allgemeine 
Peritonitis:  die  gesamte  rechte  Hälfte  des  Unterbauches 
war   von    einem  Tumor  eingenommen,  der    carcinomatös 


—     339    — 

war,  mit  zahlreichen  cystischen  Bildungen.  Auf  der 
Höhe  des  fünften  Lendenwirbels  fand  man  keine  Hoden, 
in  der  Beckenhöhle  fand  man  keine  Spur  von  inneren 
weiblichen  Genitalien.  Harnblase  normal.  Zwischen 
Harnblase  und  Mastdarm  fand  man  einen  Sack,  gefüllt 
von  Flüssigkeit,  8  Centimeter  lang  und  6  Centimeter 
breit.  Die  Wände  dieses  Sackes,  ebenso  dick  wie  die 
Blasenwände,  waren  innen  von  einer  Schleimhaut  ausge- 
kleidet, nach  unten  zu  kommunizierte  dieser  Sack  durch 
eine  feine  Öffnung  mit  der  Harnblase.  „A  la  partie 
inferieure  et  sur  la  face  peritoneale  de  cette  poche 
aboutit  de  chaque  eöt£  un  canal  gros  comme  une  plume 
h  parois  ^paisses,  dans  lequel  on  peut  enfoncer  un  stylet 
fin ;  chacun  de  ces  canaux  a  une  longueur  de  6 — 8  Mill.] 
—  Cette  v^sicule  contient  un  liquide  jaune  £pais, 
visqueux  et  est  accol£  sur  les  cötes  de  la  poche."  —  Man 
fand  weder  in  den  Schamlefzen  noch  in  den  Leisten- 
kanälen noch  in  der  Bauchhöhle  Hoden.  Verlauf  der 
Harnröhre  wie  bei  Frauen.  Keine  Prostata  gefunden. 
Der  Sack  zwischen  Vesica  und  Rectum  entsprach  einem 
hypertrophischen  Utriculus  masculinus,  die  beiden  seit- 
lich gelegenen  Blasen  sollten  die  Samenblasen  sein. 
Mangel  der  Vulva,  Vagina,  der  Hoden;  Gegenwart  eines 
Utriculus  masculinus  und  Spuren  von  Müller'schen 
Gängen. 

Kommentare  lassen  sich  zu  diesem  Falle  nicht 
geben,  da  sie  allzu  willkürlich  ausfallen  würden.  Das 
Geschlecht  bleibt  hier  zweifelhaft  resp.  unentschieden 
für  immer. 

39)  L.  Stimson  [„A  case  of  rare  form  of  pseudo- 
hermaphrodism".  Med.  Record.  24.  IV.  1879.  —  Siehe 
Referat:  Zentralblatt  für  Gynaekologie  1897.  No.  43 
pg.  1306]:  Nach  dem  Autor  handelt  es  sich  um  interne 
Zwitterbildung  (Klebs),  bisexuelle  Entwickelung  des 
Hermann' sehen   mittleren   Segmentes.     Ein  48 jähriger 

22* 


—    340    — 

Neger  von  männlichem  Aussehen  konsultierte  Stimson 
wegen  eines  Bauchhöhlentumors.  Penis  normal  gestaltet, 
von  mittlerer  Länge;  der  kleine  Hodensack  enthält  nur 
den  rechten  Hoden.  Rechterseits  eine  leicht  reductible 
Leistenhernie.  Damm  normal.  Dieser  Mann  ist  zum 
zweiten  Male  verheiratet  und  hat  einen  25  jährigen  Sohn. 
Man  tastet  in  der  Bauchhöhle  linkerseits  oberhalb  der 
Schamfuge  einen  faustgroßen  Tumor,  der  auch  bei  der 
Untersuchung  per  rectum  tastbar  ist.  Man  vermutete 
ein  Neoplasma  des  einen  in  der  Bauchhöhle  retinierten 
Hodens.  Beim  Bauchschnitte  fand  man  einen  unregel- 
mäßig gestalteten  Tumor  von  einer  weißen  Hülle  um- 
geben, beweglich  und  durch  eine  Art  Strang  in  Verbin- 
dung stehend  mit  einem  Uterus  bicornis  mittlerer  Größe 
—  beide  Tuben  vorhanden.  Man  fand  keine  runden 
Mutterbänder.  Rechterseits  gelang  es,  den  Finger  durch 
den  Leistenkanal  von  der  Bauchhöhle  aus  in  den  Hoden- 
sack einzuführen.  Es  gelang  nicht,  das  untere  Ende  des 
Uterus  ■  zu  tasten  und  sein  Verhältnis  zur  hinteren 
Blasenwand  sowie  zur  Harnröhre  festzustellen.  Der 
entfernte  Tumor  erwies  sich  als  ein  Sarcom  des  linken 
Hodens.  Stimson  vergleicht  seine  Beobachtung  mit  6 
ähnlichen  von  Hermann  zusammengestellten  Beob- 
achtungen. 

40)  H.  Stroebe  [„Ein Fall  von  Pseudohermaphroditis- 
mus  masculinus  internus,  zugleich  ein  Beitrag  zur  patho- 
logischen Entwickelungsmechanik".  Beiträge  zur  patho- 
logischen Anatomie  und  zur  Allgemeinen  Pathologie. 
Her.  v.  Professor  Dr.  E.  Ziegler.  Bd.  XXII.  (Siehe 
Fig.  20  u.  21.)]  beschrieb  in  ganz  ausgezeichnet  genauer 
Weise  ein  Sektionspräparat,  abstammend  von  einem  im 
Alter  von  63  Jahren  in  Hannover  infolge  von  Carcinoma 
oesophagi  verstorbenen  männlichen  Scheinzwitters  Ernst 
L.  Da  diese  Beobachtung  ungemein  interessant  ist,  sei 
sie  hier  wiedergegeben.     Ernst  L.  verstarb    bereits    am 


—    341     — 

13.  Tage  nach  seiner  Aufnahme  in  das  Hospital. 
Allgemeinaussehen  männlich,  Gesichtsbehaarung  spärlich. 
Äußere  Genitalien  männlich.  Penis  10,5  Centimeter  lang. 
Harnröhrenöffnung  an  normaler  Stelle.  Scrotum  ein 
leerer  Sack.  Schambehaarung  männlich.  In  der  Bauch- 
höhle fand  sich  ein  hochgradig  entwickelter  Uterus 
mit  Ligamenta  lata  und  Tuben.  Die  Tuben  waren 
dünner  und  länger  als  normal.  Der  Uteruskörper,  in 
fundo  6  Centimeter  breit,  verschmälerte  sich  bedeutend 
nach  unten  zu.  Schon  5  Centimeter  unterhalb  des 
Fundus  stellt  der  Uterus  nur  einen  cylindrischen  Strang 
vor  von  der  Dicke  des  Mittelfingers,  von  vorn  nach 
hinten  zu  etwas  abgeplattet.  Der  Uterus  reicht  nach 
unten  zu  bis  in  das  Cavum  Douglasii.  Die  größte  Länge 
des  Uterus,  an  der  Hinterfläche  gemessen,  beträgt  20 
Centimeter,  auf  der  Vorderfläche  hingegen  nur  10  Centi- 
meter, hier  geht  das  Bauchfell,  ohne  'irgend  ein  Falte 
zu  bilden  auf  die  hintere  Blasenwand  über.  Anus  nor- 
mal. Die  rechte  Tube  reicht  bis  auf  die  rechte  Fossa 
iliaca.  Das  Ligamentum  latum  dextrum  teilt  sich  am 
•peripheren  Ende  in  zwei  Blätter,  deren  vorderes  auf  das 
Coecum  und  den  Wurmfortsatz  übergeht  In  der  Ecke 
zwischen  Wurmfortsatz  und  Tube  lag  ein  ovales,  plattes, 
bohnengroßes  Gebilde,  eine  Geschlechtsdrüse,  darunter 
ein  kleineres,  nicht  ganz  vom  Bauchfell  überzogenes 
Gebilde.  Das  rechte  Ligamentum  latum  ist  26  Centi- 
meter lang.  Das  rechte  Ligamentum  rotundum  verliert 
sich  in  der  rechten  Scrotalhälfte  im  Bindegewebe.  Der 
rechte  Leistenkanal  ist  verschlossen.  Vom  Uterus  ver- 
läuft nach  der  erwähnten  rechtsseitigen  Geschlechts- 
drüse zu  eine  Art  Ligamentum  ovarii.  Die  linke  Tube, 
nur  14  Centimeter  lang,  ist  bleistiftdick,  an  ihrem 
peripheren  Ende  liegt  die  linke  Geschlechtsdrüse,  daneben 
ein  kleineres  Gebilde  wie  rechts.  Der  Uterus  macht  den 
Eindruck  eines  Uterus  bicornis   mit  stärkerer  Entwicke- 


Fig.  20.  Beobachtung  von  Stroebe  (Sektionspräparat). 
Geschlechtsorgane  des  63 jähr,  männlichen  Scheinzwitters  E.  L.  von  vorn  gesehen  (^  der 
natürlichen  Grösse)  U  =  Fundus  uteri ;  SH  =  linkes  Uterushorn,  U  =  Uterus,  T.  =  Tuben  an 
der  Kante  der  Ligg.  lata  (Das  rechts  Lig.  latum  ist  künstlich  etwas  torquiert,  so  dass  nahe 
beim  Uterus  seine  vordere  Fläche,  gegen  die  seitliche  Beckenwand  dagegen  seine  Hinter- 
fläche zur  Ansicht  kommt,  dadurch  tritt  die  rechte  Geschlechtsdrüse  hervor.)  H  =  Hoden, 
E  =  Nebenhoden,  Hy  =  Hydatiden  des  Hodens  und  Nebenhodens  rechts).  R  =  Ligg.  rotunda, 
endigend  in  der  rechts  geschlossenen,  links  mit  (vorn  aufgeschnittener)  Peritonaealaus- 
stülpung  versehenen  Scrotalhälfte.  S  L  =  Gegend  des  Leistenringes,  Sp  =  Strang  mit  Vasa 
spermatica  interna  (links),  Nx  N2  N3  =  Verbindungsbriicken  zum  unteren  Rande  des  grossen 
Netzes  vom  linken  Nebenhoden  (Nx)  und  dem  linken  stielförmig  ausgezogenen  Ligamentum 
latum  (N2  N8),  N  =  grosses  Netz,  C  =  Coecum,  I  =  Ileum,  Pr,  =  Processus  vermiformis, 
B  =  Harnblase  vorn  aufgeschnitten  durch  Nadeln  auseinandergehalten,  Ur  =  Ureteren,  der 
rechte  nach  oben,  der  linke  nach  unten  gezogen,  Pr==  Prostata  mit  vorn  aufgeschnittener 
Harnröhre,  P  =  Penis,  dicht  hinter  der  Glans  subcutan  aufgeschnitten  mit  unten  seitlich 
aufgeschnittener  Harnröhre  Ut,  M  =  seitlich  aufgeschnittener  Mastdarm,  O  =  Anus. 


Fig.  21.  Beobachtung  von  Stroebe  (Sektionspräparat). 
Halbschematische  Zeichnung  des  Genitalapparates  (von  vorn  gesehen). 
U  =  Uterns  masculinus  mit  Uterushorn  links.  Aus  den  beiden  Ecken  des 
Uteruslumens  zweigen  die  Tubenlumina  ab;  nach  unten  tritt  eine  allmähliche 
Verengerung  des  Uteruslumens,  dann  wieder  eine  Erweiterung  ein  (Scheiden- 
teil); Mündung  des  schließlich  wieder  sehr  eng  werdenden  Kanales  auf  dem 
Colliculus  seminalis  (C)  in  die  Pars  porstatica  der  Harnröhre  mit  längsovalem 
Schlitz.  An  beide  Seiten  des  Uterus  schließt  sich  je  ein  Ligamentum  latum 
an.  B  =  Harnblase,  deren  oberer  Teil  abgeschnitten  ist  mitUreteren;  Pr= 
Prostata.  P  =  Penis,  hinter  der  Glans  durchschnitten.  Harnblase  und  Pars 
prostatica  der  Harnröhre  sind  vorn  in  der  Mittellinie  aufgeschnitten  und 
auseinandergeklappt,  ferner  sind  in  der  Zeichnung  diese  beiden  Teile  durch- 
sichtig gemacht,  so  daß  man  die  hinter  ihnen  verlaufenden  Geschlechts- 
stränge bis  zu  ihrer  Mündung  auf  dem  Colliculus  seminalis  C  hindurch 
sehen  kann.  H  =  Hoden,  E  =  Nebenhoden,  Hy  =  Hydatiden,  V  =  Vasa 
deferentia  (geschlängelt),  A= Ampullen  derselben,  D  =  Ductus  ejaculatorii 
auf  dem  Colliculus  seminalis  C  =  mündend,  T  =  Tuben,  G  =  Ligamenta 
testis,  R  =  Ligamenta  rotunda,  rechts  in  der  geschlossenen,  links  in  der 
mit  einer  (vorn  aufgeschnittenen)  Peritonaealausstülpung  versehenen  Scrotal- 
hälfte  (S)  endigend,  L  =  Gegend  der  Lei9tenkanäle,  Sp  =  Strang,  enthaltend 
die  Vasa  spermatica  interna  (links),  N1  N2  N3  =  Verbindungsbrücken  vom 
linken  Nebenhoden  (E)  und  dem  stielartig  ausgezogenen  linken  Lig.  latum 
zum  unteren  Rand  des  großen  Netzes.  Die  punktierten  Linien  markieren  den 
Verlauf  der  Arterien :  an  beiden  Seiten  des  Uterus  je  einer  Arteria  uterina,  von 
welcher  ein  mit  dem  Lig.  testis  zum  Hoden  verlaufender  Ast  abgeht;  bei 
Sp  die  linken  Vasa  spermatica  intorna  im  unteren  Strang  der  freien  recht- 
eckigen Platte  des  Lig.  latum,  sie  anastomosieren  durch  eine  schräge  ge- 
schlängelte Getäßverbindung  mit  dem  im  linken  Lig.  testis  verlaufenden 
Getäße.  Von  letzterem  geht  ein  Ast  in  das  linke  Lig.  rotundum  über. 
Sp  =  Arteria  spermatica  interna  dextra. 


—    344     — 

lung  des  linken  Hornes.  Von  ihm  zieht  ein  Strang  in  . 
den  linken  Leistenkanal,  der  offen  ist  und  einen  Finger 
in  die  leere  Scrotalhälfte  einläßt,  deren  Höhlung  von 
dem  Bauchfell  ausgekleidet  ist.  Man  fand  in  diesem 
Strange  das  linke  Ligamentum  rotundum  sowie  parallel 
der  Tube  belegen  ein  Ligamentum  ovarii.  Auf  einem 
Durchschnitte  des  Uterus,  10  Centimeter  unterhalb  des 
Fundus,  sieht  man  drei  Lumina:  das  Lumen  der  Uterus- 
höhle und  die  Lumina  der  beiden  Wo lff 'sehen  Gänge, 
welche  in  der  Uteruswand  nach  unten  zu  verlaufen.  Das 
Lumen  der  Uterushöhle  ist  mit  einer  gelblichen,  teigigen 
Masse  erfüllt.  Man  kann  die  Kuppe  einer  von  obenher 
in  die  Uterushöhle  eingeführten  Sonde  am  Blasengrunde 
tasten.  Penis  klein,  die  Prostata  hat  sehr  kleine  Lappen. 
Am  Caput  gallinaginis  sieht  man  ausgezeichnet  den 
Sinus  prostaticus  in  Gestalt  einer  Rinne  von  5  Milli- 
meter Länge  und  2  Millimeter  Breite.  Trigonum 
Lieutaudii  und  UrethraJmündungen  normal,  Nieren 
normal.  Der  Uteruskanal  mündet  in  capite  gallinaginis. 
Das  Mikroskop  ergab,  daß  die  rechtsseitig  und  linksseitig 
peripher  gelagerten  Gebilde  die  Hoden  und  Nebenhoden 
waren.  Es  handelt  sich  also  um  hochgradige  Entwickelung 
der  Mülll ergehen  Gänge  bei  einem  Manne,  der  mit 
Kryptorchismus  behaftet  war.  Der  Kryptorchismus  ist 
für  mich  auch  ein  für  die  Hypothese  von  Siegenbeck 
van  Heukelom  bestätigendes  Moment.  Die  Wolff  sehen 
Gänge  sind  vollständig  normal  entwickelt,  sie  treten  in 
die  Uteruswand  ein  unterhalb  des  Angulus  tubouterinus, 
nachdem  sie  bisher  in  ligamentis  latis  verlaufen  wareD. 
Die  Tuben  besaßen  keine  Fimbrien  und  keine  Ampullen, 
die  rechte  dünne  Tube  endete  dicht  beim  Nebenhoden, 
die  linke  schwand  in  Fettgewebe  in  der  Nähe  des  linken 
Hodens.  Was  die  Geschlechtsfunktionen  des  Ernst  L. 
intra  vitam  anbetrifft,  erfuhr  Stroebe  nichts  weiter,  als 
daß  Ernst  L.  kinderlos  verheiratet  gewesen  war,  ob  er  aber 


—    345    — 

Erektionen  hatte,  den  Beischlaf  ausführen  konnte  etc.  ist 
nicht  bekannt,  ebensowenig,  ob  Pollutionen  oder  menstru- 
elle   Entleerungen  vorgelegen   haben   mögen.      Stroebe 
vermutet,  die  gelbe,  teigige  Masse  im  Uteruslumen  könnte 
von     Blut    abstammen,     da    sie     durch    Salzsäure    und 
Ferrocyankalium  blaugefärbt  wurde.    Stroebe  liefert  eine 
ganz  ausgezeichnete  detaillierte  mikroskopische  Beschrei- 
bung seiner  Präparate.     Im  Interesse  des  Lesers  will  ich 
hier     2    mikroskopische     Abbildungen     des     Präparates 
wiedergeben,  welche  sehr  instruktiv  sind.  (S.Fig.  20  u.  21). 
41)  Unter  berger     [„Ein  Fall    von    Pseudoherm- 
aphroditimus   femininus    externus    mit    Coincidenz    eines 
Ovarialsarkoms.     Laparotomie"  —  Monatsschrift  für  Geb. 
u.  Gyn.  April  1901  pg.  436]:     Am  17.  XII.  1900  stellte 
Unterberger    in    dem    Verein    für    wissenschaftliche 
Medicin    in   Königsberg  ein  Mädchen  von  vierzehn  und 
einem  halben  Jahre  vor,    welches    man   an  ihn  gewiesen 
hatte  behufs    Exstirpation    eines   Unterleibstumors.     Das 
Geschlecht  des  Kindes  erschien  zweifelhaft;  sein  Allgemein- 
aussehen sowie  sein  Glied,  aussehend  wie  ein  hypospadischer 
Penis,    sprachen  für   männliches    Geschlecht,    ebenso  die 
Hypospadie  des  Scrotum;    auf  Grund  der  Untersuchung 
der  inneren  Geschlechtsorgane  jedoch    glaubte    Unter- 
berger, das  Kind  sei  ein  Mädchen.     Drei    Brüder  und 
vier    Schwestern    sind    normal    gebaut,    desgleichen   die 
Eltern.     Das    Kind    war    als  Mädchen  erzogen   worden, 
weil  die  Hebamme  sofort    nach    der   Geburt    es    für  ein 
solches  erklärt  hatte.     Das  Kind  spielte  lieber  mit  Mädchen 
als  mit  Knaben,  half  jedoch   angesichts    seines    kräftigen 
Körperbaues  am  liebsten  dem  Vater  bei  dessen  Arbeiten. 
Im    April    1900    trat    einmal    eine    8  Tage    andauernde 
Blutung  aus  der  Scham  auf,  von  der  Mutter  für  die  erste 
Periode  angesehen;  diese  Blutung  wiederholte  sich  jedoch 
in  der  Folge  nicht  mehr.    Seit  jener  Zeit  fing  das  Mädchen 
über  Unterleibsschmerzen  zu  klagen  an,  endlich  bemerkte 


—    346     — 

man  vor  einem  halben  Jahre  den  Tumor  im  Leibe,  welcher 
rasch  wuchs.  In  den  letzten  Monaten  wurde  dieser  Tumor 
recht  druckschmerzhaft  bei  Berührungen.  Das  Mädchen 
ist  übermäßig  hoch  gewachsen  —  164  Centimeter  hoch, 
die  Extremitäten  sind  lang,  männlicher  Knochenbau 
sehr  kräftig,  männliche  Stimme,  männliche  Gesichts- 
behaarung fehlt  dagegen.  Becken  sehr  schmal  im  Ver- 
gleiche zu  der  Größe  des  Körpers.     Behaarung  von  Scham 


Fig.  22.   Vulva  eines  14  jähr,  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters. 
Beobachtung  von  Unterb erger.    1  =  Urethralmündung. 


und  Damm  spärlich,  weiblich.  Der  Tumor  überragt  den 
Nabel.  Die  Scham  sieht  durchaus  männlich  aus.  Penis 
hypospadiaeus  von  der  Größe  und  Dicke  des  großen 
Fingers.  Vorhaut  nach  hinten  retrahiert.  Zwischen  den 
getrennten  Scrotalhälften  sieht  man  eine  Art  Schamspalte, 
in  deren  Grunde  die  Öffnung  der  Harnröhre,  seitlich 
von  ihr  je  eine  kleine  Schamlippe.  Wenn  man  das  Kind 
drängen    heißt,    so    stülpt    sich   in  jeder  Leiste   eine  An- 


—     347     — 

Schwellung  vor  wie  eine  Hernie;  rechterseits  kann  man 
sich  leicht  vom  Darminhalt  dieser  Hernie  überzeugen, 
außer  Darm  liegt  aber  in  diesem  rechtsseitigen  Leisten- 
bruche noch  ein  kleines,  rundliches  Gebilde,  welches  weder 
ein  Hoden  noch  ein  Ovarium  zu  sein  scheint.  Per  rectum 
tastet  man  in  der  Mittellinie  ein  Gebilde,  welches  in 
Zusammenhang  mit    dem    Tumor    steht;    nach    unten  zu 


Fig.  23   Vulva  eines  14 jähr,  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters. 

Beobachtung  von  Unterberge r. 

1  =  Vaginalhernie  im  Scrotalsack.    2  =  Urethralmündung. 

3  =  Dellenförmige  Einziehung,  vielleicht  entsprechend  der  Vagjna. 


verjüngt  sich  dieses  Gebilde  und  scheint  am  unteren 
Ende  eine  Art  Delle  zu  besitzen.  (?)  Die  äußere  Scham 
sprach  für  männliches  Geschlecht,  besonders,  wenn  man 
annehmen  wollte,  daß  das  Gebilde  in  der  rechtsseitigen 
Hernie  ein  Hoden  sei.  Unterberger  jedoch  glaubte, 
daß  der  per  rectum  getastete  Körper  ein  Uterus  sei,  der 
rasch  wachsende  Tumor  ein  Ovarialsarkom   und   daß  die 


—    348     — 

Vagina  sich  wahrscheinlich  in  die  Urethra  offene,  daß 
jene  Blutung  aus  dem  Genitale  eine  katameniale  gewesen 
sei  Am  19.  XII.  entfernte  er  durch  Bauchschnitt  den 
Tumor,  der  sich  als  mannskopfgroßes  Sarkom  des  linken 
Ovarium  erwies.  Man  fand  einen  kleinen  Uterus,  die 
linke  Tube  auf  dem  Tumor  liegend,  in  dessen  Substanz 
die  Ovarialsubstanz  gänzlich  aufgegangen  war.  Man 
fand  auch  die  rechte  Tube  und  den  rechten  sehr  kleinen 
Eierstock,  kaum  haselnußgroß.  Man  fand  ferner  die 
runden  Mutterbänder  und  glaubte  ein  unterhalb  des 
Uterus  getastetes  Gebilde  wie  einen  aus  zwei  Wänden 
bestehenden  Schlauch  für  eine  Vagina  ansehen  zu  dürfen, 
welche  sich  wahrscheinlich  in  die  Urethra  eröffnete  oder 
mit  ihr  zusammen  in  den  Sinus  urogenitalis  in  der  oben 
angegebenen  Öffnung  in  der  Schamspalte.  Nirgends 
Hoden  gefunden,  die  Öffnungen  der  Leistenkanäle  waren 
von  Darmschlingen  bedeckt.  Das  Mikroskop  erwies  ein 
typisches  Endotheliom  oder  Sarkom  der  Geschlechtsdrüse. 
Unterberger  gibt  jedoch  nichts  darüber  an,  ob  dieses 
Sarkom  wirklich  aus  einem  Ovarium  entstanden  war  und 
nicht  etwa  aus  einem  in  der  Bauchhöhle  retinierten  Hoden. 
Da  die  andere  Geschlechtsdrüse  nicht  herausgeschnitten 
wurde,  also  nicht  zur  mikroskopischen  Untersuchung 
gelangte,  so  dürfte  man  wohl  sagen,  die  Entscheidung 
von  Unterberger  beruhe  auf  seiner  Vermutung,  aber 
nicht  anatomischen  Beweisen.  Das  Kind  konnte  demnach 
ebensowohl  ein  männlicher  Scheinzwitter  sein,  wie  ein 
weiblicher;  freilich  wurde  die  Blutung  aus  dem  Genitale 
eher  zu  Gunsten  der  Annahme  Unt  er  berge  r's  sprechen. 
Jedenfalls  hatte  Unterberger  wohl  angesichts  der 
sarkomatösen  Entartung  der  linken  Geschlechtsdrüse  das 
Recht,  auch  die  rechtsseitige  Geschlechtsdrüse  mit  heraus- 
zuschneiden, deren  mikroskopische  Untersuchung  vielleicht 
das  fragliche  Geschlecht  entschieden  hätte  —  wenngleich 
ihr  Entwickelungszustand  auch  so  rudimentär  sein  konnte, 


—    349    — 

daß  auch  das  Mikroskop  nicht  im  Stande  wäre  auf  die 
uns  vorliegende  Frage  zu  antworten.  Meines  Erachtens 
erscheint  auch  in  diesem  Falle  das  Geschlecht  fraglich  trotz 
der  Exstirpation  einer  Geschlechtsdrüse  (s.  Fig.  22  u.  23). 
42)  Westermann  [„Over  een  geval  van  Herm- 
aphroditism"  Nederl.  Tijdschr.  v.  Geneesk.  1901.  No.  11 
—  siehe  Referat:  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gyn.  Juni 
1902.  pg.  955]:  Ein  30  jähriges  Mädchen  starb  infolge 
von  ulceröser  Appendicitis.  Schon  die  Mutter  war  im 
Zweifel  über  das  Geschlecht  dieser  Tochter  gewesen  und 
zwar  wegen  deren  absoluter  Amenorrhoe.  Bei  der 
Sektion  konstatierte  man  Mangel  der  Brustdrüsen,  einen 
Penis  hypospadiaeus  von  6  Centimeter  Länge  mit  nicht 
von  der  Vorhaut  bedeckter  Glans.  Auch  das  Scrotum 
war  gespalten.  Unterhalb  der  Urethralmündung  lag  die 
von  einem  Hymen  garnierte  Öffnung  der  Vagina 
Männliche  Schambehaarung;  die  auf  der  Innenseite  be- 
haarten Schamlefzen  enthielten  keine  Hoden.  Von  der 
Rückwand  der  Harnblase  geht  linkerseits  eine  7  Centi- 
meter lange  Tube  aus  mit  ausgesprochenen  Fimbriae, 
mesosalpinx  und  Ligamentum  rotundum.  Wo  das  Ovarium 
sinistrum  liegen  sollte,  fand  man  fest  zusammengeballtes 
sklerotisches  Bindegewebe.  In  den  äußeren  Schichten 
dieses  Gebildes  fand  das  Mikroskop  ein  aus  zahlreichen 
Zellen  bestehendes,  von  einer  Schicht  weniger  zahlreicher 
Zellen  umgebenes  Gewebe,  in  der  inneren  Schicht  Binde- 
gewebe, Fett,  einige  blutgefüllte  Bläschen  und  einige 
Blutgefäße,  aber  keine  Spur  von  Graafschen  Follikeln, 
Pflüger'schen  Schläuchen.  Erst  nach  Abpräparieren 
des  Bauchfelles  von  der  hinteren  Blasenwand  •  fand  man 
einen  Uterus  von  5  und  eine  Vagina  von  8  Centimeter 
Länge.  Der  gesamte  Uterovaginalkanal  war  für  eine 
Sonde  viabel.  Mit  Mühe  entdeckte  man  den  rechten 
Müller'sehen  Gang,  22  Centimeter  lang,  mit  seiner 
Tube,    welche    jedoch    nur    im    peripheren  Anteile    eine 


—    350    — 

kurze  Strecke  weit  viabel  war.  Rechterseits  fand  man 
im  Leistenkanale  den  Processus  vaginalis  peritonaei  offen 
und  in  ihm  ein  Gebilde  von  Bohnengröße:  einen  Hoden 
mit  seiner  Tunica  albuginea  und  zahlreichen  Tubuli 
contorti.  Man  fand  keine  Spermatozoiden.  In  Mesosal- 
pinge  lag  der  cystisch  entartete  Nebenhoden.  Erst  die 
Nekropsie  wies  in  diesem  äußerst  lehrreichen  Falle  die 
erreur  de  sexe  nach  und  den  hohen  Entwicklungs- 
grad der  Müller'schen  Gänge. 

43)  Winckler  [siehe  im  Vorhergehenden:  Dritte 
Gruppe,  No.  12].  14  Jahre  nach  einer  erfolgreichen 
Herniotomie  wurde  wegen  Occlusio  intestinorum  der 
Bauöhschnitt  gemacht  und  zwar  mit  letalem  Ausgang 
bei  einem  männlichen  Scheinzwitter  von  56  Jahren,  der 
einen  hochgradig  entwickelten  Uterus  besaß. 

44)  Zahorski  [in  Wilno]  (Gazeta  Lekarska  1900. 
No.  26.  —  Polnisch)  beschrieb  folgende  eigene  Be- 
obachtung von  Pseudohermaphroditismus  femininus 
externus.  Er  wurde  von  Dr.  Waszkiewicz  behufs 
Konsultation  zu  einem  25  jährigen  Dienstmädchen  geholt 
wegen  eines  fluktuierenden  Bauchtumors  und  beginnender 
Peritonitis.  Allgemeinaussehen,  Stimme,  Brüste,  Be- 
haarung ganz  weiblich,  aber  Clitoris  drei  und  einen 
halben  Zentimeter  lang,  einem  hypospadischen  Penis  sehr 
ähnlich.  Wegen  großer  Schmerzhaftigkeit  konnte  eine 
genaue  Tastuntersuchung  weder  per  vaginam  noch  per 
rectum  durchgeführt  werden.  Im  Sawicz -Hospital 
wurde  eine  Parancetese  durch  die  Bauchdecken  vorge- 
nommen und  ungefähr  ein  Liter  einer  sanguinolenten 
Flüssigkeit  entleert;  rechterseits  eine  große  Inguinolabial- 
hernie.  Momentan  folgte  auf  die  Paracentese  eine  subjective 
Erleichterung,  aber  der  Tumor  wuchs  in  der  Folge  so 
rasch,  daß  er  schon  nach  drei  Wochen  die  gesamte 
Bauchhöhle  auszufüllen  schien.  Angesichts  dessen,  daß 
offenbar  ein  maligner  Tumor  vorlag,  verzichtete  man  auf 


—    351     — 

eine  Operation,  entgegen  dem  Verlangen  der  Patientin, 
die  in  der  vierten  Woche  nach  der  Aufnahme .  starb.  Bei 
der  Nekropsie  fand  man  in  der  Bauchhöhle  viel 
sanguinolente  Flüssigkeit,  einen  bis  an  die  Leber 
reichenden  Tumor,  mit  dem  großen  Netze,  mit  dem 
Bauchfell  und  den  Darmschlingen  verwachsen,  ein 
riesiges,  weiches  Sarkom,  ausgehend  aus  dem  rechten 
Ovarium.  Der  linke  Eierstock  klein,  flachgedrückt,  der 
rudimenätre  Uterus  kaum  2  Centimeter  lang.  Niemals 
Periode  oder  Molimina  menstrualia.  Da  der  Autor  mit 
keiner  Silbe  einer  mikroskopischen  Untersuchung  des 
linken,  für  ein  flachgedrücktes  Ovarium  von  ihm  an- 
gesehenen Geschlechtsdrüse  erwähnt,  so  hat  wahrschein- 
lich eine  solche  mikroskopische  Untersuchung  nicht  statt- 
gefunden. Es  ist  also  auch  in  diesem  Falle  ein  gerechter 
Zweifel  an  der  ovariellen  Natur  dieser  Geschlechtsdrüse 
gestattet,  die  ebensogut  ein  Hoden  sein  konnte.  Für  mich 
bleibt  also  auch  hier  das  Geschlecht  trotz  der  stattgehabten 
Nekropsie  zweifelhaft. 

45)  S.  Pozzi  vollzog  an  einen  von  ihm  undMagnan 
in  Paris  behandelten  verheirateten  Manne  den  Bauchschnitt 
wegen  eines  Tumors,  der  sich  hinterher  als  Ovarialtumor 
erwies.  Der  Mann,  ein  weiblicher  Scheinzwitter,  über- 
stand die  Operation  gut  und  ist  jetzt  Witwer.  [Laut 
mündlicher  Mitteilung  durch  Herrn  Poz  z  i  im  Februar  1903]. 

Fünfte   Gruppe. 

23  Fälle  von  teils  ausgeführten,  teils  von  Ärzten  vor- 
geschlagenen oder  von  einem  Scheinzwitter  verlangten 
chirurgischen  Eingriffen  an  den  Genitalien  mit  An- 
schluss  einiger  Hypospadieoperationen  bei  männlichen 
Scheinzwittern. 

1)  Aetius  und  Paulus  Aegine'.ta  erwähnen,  daß 
in  Agyten  bei  den  Stämmen  der  Ibbos  undMandingos 


—    352    — 

häufig    vor    der    Hochzeit    die    hypertrophische  Clitoris 
amputiert  wurde. 

2)  Arn  au  d  [„Dissertation  sur  les  Hermaphrodites" 
Paris  1766],  dessen  Sammelwerk  dreißig  Jahre  lag,  ehe 
es  im  Druck  erschien  und  eine  Fundgrube  für  die  ältere 
Kasuistik  des  Scbeinzwittertumes  ist,  erzählt  folgende 
interessante  eigene  Beobachtung  [siehe  Fig.  24.] 

Im  Jahre  1725  untersuchte  er  eine  unverehelichte 
Näherin  aus  M£nilmontant  bei  Paris,  welche  all- 
monatlich schreckliche  Leiden  ausstand  infolge  von 
heftigen  Molimina  menstrualia:  Leibschmerzen,  Schwindel- 
anfälle, Erbrechen  etc.  plagten  jedesmal  die  Kranke. 
Allgemeinaussehen,  Gesichtsbehaarung,  Brüste,  Stimme 
männlich,  in  jeder  Schamlefze  tastete  man  Hoden,  Neben- 
hoden und  Samenstrang.  Hypospadiasis  totius  penis 
neben  Hypospadiasis  partialis  scroti.  Die  Schamlefzen 
erschienen  in  ihrem  untersten  Teile  mit  einander  ver- 
wachsen, indem  sie  eine  Art  Frenulum  labiorum  bildeten. 
Der  Damm  erschien  infolgedessen  ausnehmend  hoch. 
Keine  Spur  einer  Raphe  zu  sehen.  Man  konnte  die 
Hautdecken  zwischen  der  Analöffnung  und  der  Öffnung 
in  der  Schamspalte  mit  dem  Finger  ziemlich  tief  ein- 
stülpen in  eine  nach  außen  hin  durch  die  Hautdecken 
verschloßenen  Höhle,  wenigstens  ergab  der  tastende 
Finger  so  |eine  Vorstellung  für  Arn  au  d.  Während 
jener  katamenialen  Beschwerden  stülpte  sich  diese  Partie 
der  Hautdecken  am  Damme  etwas  konvex  nach  außen 
vor,  aber  „ohne  gleichzeitige  auffallende  Verfärbung  der 
Hautdecken  an  dieser  Stelle.*  Die  Anschwellung  wurde 
stets  sehr  schmerzhaft  zu  jener  Zeit;  nach  einigen  Tagen 
ließen  die  Schmerzen  nach  und  es  erfolgte  eine  mehr- 
tägige Blutung  ex  ano,  obgleich  keine  Haemorrhoiden 
vorhanden  waren.  Arn  au  d  hielt  diese  Näherin  für 
einen  regelmäßig  menstruierenden  Mann.  Die  Bluten- 
leerung  werde  aber   aufgehalten,    weil    die  Scheide  keine 


—    353    — 

AusführuDgsöffnung  nach  außen  zu  besaß  —  er  hielt 
jenen  geschlossenen,  oben  erwähnten  Hohlraum  für  eine 
nach  außen  zu  verschlossene  Scheide,  in  welche  man  von 
außen  her  die  Hautdecken  am  Damme  einstülpen  konnte. 
Dieses  retinierte  Menstrualblut  sollte  sich  alsdann  durch 
eine  Fistel  e  vagina  in  den  Mastdarm  ausscheiden  und 
dann  aus  diesem  abfließen.    Arnaud  hatte  sich  persönlich 


Fig.  24.    Vulva  eines  erwachsenen  als  Mädchen  erzogenen  Schem- 
zwitters  von  fraglichem  Geschlecht.    Beobachtung  von  Arnaud. 


mehrmals  überzeugt  von  der  Wahrheit  aller  der  kata- 
menial auftretenden  Beschwerden  und  der  darauf  folgenden 
Blutung  ex  ano,  wie  er  sagt.  Er  machte  unter  Assistenz 
zweier  Kollegen  einen  Einschnitt  in  die  Hautdecken  an 
der  schon  erwähnten  Stelle  am  Damme  und  drang  mit 
dem  Finger  in  eine  zwei  Zoll  tiefe  Höhle   ein,  in    deren 

Jahrbuch  V.  23 


—    354    — 

Grande  er  eine  Portio  vaginalis  uteri  zu  tasten  glaubte. 
Die  folgenden  Menstrualblutungen  entleerten  sich  be- 
schwerdefrei durch  die  von  Arnaud  geschaffene  Öffnung. 
Leider  aber  wurde  trotz  Drainage  die  künstlich  ge- 
schaffene Fistel  immer  enger,  schloß  sich  nach  6  Monaten 
ganz  und  die  alten  Beschwerden  waren  wieder  da.  Die 
Patientin  ging  auf  die  Wiederholung  der  Operation  nicht 
ein,  verlangte  aber  statt  dessen  durchaus,  Arnaud  solle 
ihr  das  Geschlechtsglied  abschneiden,  den  hypospadischen 
Penis,  resp.  die  hypertrophische  Clitoris,  welches  Organ 
ihr  sub  erectione  sehr  lästig  falle.  Da  Arnaud  das 
Individuum  für  einen  Mann  hielt,  so  schlug  er  diese 
Operation  rundweg  ab.  Die  Patientin  wurde  auch  von 
Malaval,  Puzos,  Gu6rin,  Morand,  Garengeot 
und  anderen  Ärzten  untersucht,  welche  sämtlich  Ar- 
naud's  Diagnose  billigten,  wie  er  schreibt.  Als  die  un- 
glückliche Näherin  im  Jahre  1740  starb,  15  Jahre  nach 
der  von  Arnaud  vollzogenen  Operation,  bestimmte  die 
Pariser  Akademie  zwei  Delegaten  für  die  Ausführung 
der  Nekropsie:  die  Herren  Verdier  und  Foubert. 
Verdier  vollzog  die  Sektion  des  Leichnams  und  nahm 
die  herausgeschnittenen  Geschlechtsorgane  mit  sich  nach 
Haus.  So  oft  auch  Arnaud  und  Foubert  auf  eine 
Aufforderung  Verdiers  hin  zu  ihm  gingen,  um  gemein- 
sam das  Präparat  zu  untersuchen,  so  wußte  es  Verdi  er 
so  einzurichten,  daß  sie  ihn  niemals  zu  Hause  antrafen, 
bis  schließlich  das  Präparat  so  verfault  war,  daß  es  nicht 
mehr  zu  untersuchen  war.  Arnaud  sah  in  diesem  Vor- 
gehen Verdi er's  eine  Intrigue,  um  vorzubeugen,  daß 
ein  Bericht  an  die  Akademie  abgesandt  wurde.  Nach 
Arnaud  sollte  es  sich  hier  um  einen  menstruierenden 
männlichen  Scheinzwitter  mit  mangelnder  Vaginalöffnung 
handeln,  also  mit  Haematokolpometra  per  rectum  pro- 
fluens.  Wenn  man  auch  diesen  älteren  Mitteilungen  mit 
Recht  skeptisch  gegenübertritt,  so  ist  andererseits  ihnen 


—    355    — 

doch  nicht  von  vornherein  jeder  Wert  abzusprechen. 
Wollen  wir  heute  diesen  Fall  beurteilen,  so  werden  wir 
eher  annehmen,  die  Näherin  war  vielleicht  ein  weiblicher 
Scheinzwitter  mit  Hypertrophie  und  Erektionen  der 
Clitoris  und  teilweiser  Verwachsung  der  Vulva  mit 
Atresie  der  Scheidenöfihung.  Arnaud  glaubte  wohl, 
daß  die  in  den  Lefzen  vorhandenen  Gebilde  Hoden, 
Nebenhoden  und  Samenstränge  waren,  das  schließt  jedoch 
keineswegs  aus,  daß  es  sich  um  ektopische  Ovarien  und 
Tuben  z.  B.  gehandelt  hat.  Die  Geschichte  mit  dem 
Verhalten  Verdi er's  hat  sich  auch  wohl  später  schon 
in  Arztekreisen  wiederholt,  so  etwas  kommt  leider  vor, 
da  nicht  immer  das  gegenseitige  Handeln  der  Arzte  von 
wissenschaftlichem  Interesse  und  Kollegialität  geleitet 
wird. 

3)  Mc  Arthur  [Gynaecological  Society  of  Chicago. 
7.  I.  1902  —  Referat:  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gyn. 
1902.  pg.  993]:  „ Hermaphroditismus  und  Atresia  ani." 
Es  wurde  ein  neugeborenes  Kind  wegen  Atresia  ani  12 
Stunden  post  partum  operiert,  aber  es  starb  trotzdem. 
Bei  der  Sektion  konstatierte  man  weibliches  Schein- 
zwittertum  mit  Persistenz  der  Kloake. 

4)  Aveling  erwähnt  ein  Individuum  zweifelhaften 
Geschlechtes,  welches  im  Londoner  Saint  Georges  Ho- 
spital untersucht  wurde.  Es  war  eine  Frau  mit  ganz 
fcesonderer  Hypertrophie  der  Clitoris,  welche  Aveling 
amputierte,  weil  sie  infolge  der  Reibung  an  den  Kleidern 
der  Frau  lästig  fiel.  Aveling  hatte  bei  dieser  Person 
die  Menstruation  konstatiert. 

5)  Benoit  [Journal  de  la  Soci£t£  de  M£decine  pra- 
tique  de  Montpellier.  Novembre  1840]  beschrieb  folgende 
interessante  Beobachtung:  „Consultation  sur  un  cas 
d'hermaphrodisme" :  Ein  27jähriges  verlobtes  Mädchen 
wandte  sich  behufs  Untersuchung  an  einen  Arzt,  welcher 
eine  Atresia  hymenis  konstatierte.    Er  machte  einen  Ein- 

23* 


—    356    — 

schnitt,  um  die  Scheide  zu  eröffnen,  traf  jedoch  auf  kein 
Lumen  und  die  Operation  blieb  resultatlos.  Trotzdem 
blieb  das  Fräulein  in  dem  Glauben,  dem  weiblichen  Ge- 
schlechte anzugehören.  Es  schob  den  Termin  der  Hochzeit 
unter  stetig  neuem  Vorwande  immer  wieder  hinaus,  bis 
der  Bräutigam  endlich  die  Geduld  verlor  —  da  gestand 
es  ihm  die  Ursache  des  Zögerns  ein,  es  wisse,  daß  es 
mißgestaltet  sei  inbezug  auf  die  Geschlechtsorgane.  Der 
Bräutigam  bestand  dennoch  auf  der  ehelichen  Verbindung 
sobald  wie  möglich.  Marie  erbat  sich  noch  einige 
wenige  Tage  Bedenkzeit  und  ging  jetzt  zu  Benoit. 
Sie  hatte  jetzt  begonnen  an  ihrem  weiblichen  Geschlechte 
zu  zweifeln.  Sie  fragte  Dr.  Benoit  direkt,  zu  welchem 
Geschlechte  sie  gehöre,  ob  sie  einen  Mann  heiraten  könne 
und  ob  bezüglich  der  Eheschließung  eine  Operation  nötig  sei 
oder  nicht?  —  Nach  genauer  Untersuchung  konstatierte 
Benoit  männliches  Scheinzwittertum,  erklärte  dem  jungen 
Mädchen  direkt,  es  sei  ein  Mann,  keine  Operation  könne 
etwas  daran  ändern  und  die  Hochzeit  dürfte  demnach 
nicht  stattfinden. 

6)  Berendes  [siehe  Koesters:  „Ein  neuer  Fall 
von  Hermaphroditismus  spurius  masculinus"  I.  D.  Berlin 
1898,  siehe  auch  Jahrgang  für  1902  dieses  Jahrbuches 
in  meiner  Arbeit:  Gruppe  IV.  Fall  IV.  von  Landau] 
amputierte  einem  Mädchen  von  vier  Jahren  auf  Wunsch 
der  Eltern  die  hypertrophische  Clitoris.  Das  Mädchen 
erwies  sich  in  der  Folge  als  männlicher  Scheinzwitter 
[siehe  auch  die  farbige  Abbildung  in  meiner  vorerwähnten 
Arbeit]. 

7)  W.  Bittner  [„Hermaphroditismus  spurius  mas- 
culinus  completus",  Prager  Medizinische  Wochenschrift 
1895  N:  43  pg.  491  mit  zwei  Abbildungen] :  Interessante 
Beobachtung  von  erreur  de  sexe  aus  der  Klinik  von 
Bayer  in  Prag.  Emilie  P.,  13j ährig,  macht  den  Ein- 
druck eines  Weibes,  aber  ihr  Charakter  und  ihre  Gewohn- 


357    — 


heiten  kontrastieren  damit  ganz  auffällig.  Die  Körper- 
kontouren weisen  nirgends  die  weibliche  Rundung  auf, 
die  Schulterbreite  übertrifft  die  Beckenbreite,  das  Haupt- 
haar ist  in  zwei  lange  Zöpfe  zusammengeflochten.  Man 
suchte  an  den  oberen  Extremitäten  vergeblich  den  Puls- 
schlag der  arteria  bracchialis,  cubitalis,  radialis,  ulnaris, 
was  auf  einen  abnormen  Verlauf  dieser  Gefäße  hinwies. 
Die  Genitalien   sahen  aus  wie  die  eines  Weibes   mit  be- 


Fig.  25.    Äußeres  Genitale  des  von  Bittner  beschriebenen 
Scheinzwitters. 

deutender  Clitorishypertrophie :  die  Clitoris  ist  5  und 
einen  halben  Centimeter  lang,  hat  eine  deutlich  sichtbare 
Glans  mit  langer  Vorhaut.  An  der  Spitze  der  Glans 
sieht  man  die  Mündung  eines  Kanales,  welcher  eine 
dünne  Sonde  5  Centimeter  tief  einläßt  (!).  Aus  diesem 
Kanal  kann  man  etwas  Schleim  ausdrücken,  der  ganz 
ähnlich  dem  Prostataschleim  aussieht.  Bei  Betastung 
entdeckte  man  in  dieser  Clitoris  einen  zentral  verlaufenden 


—    358    — 


Strang,  der  erst  unterhalb  der  Schamfuge  verschwand. 
Dieser  Penis  ist  an  seiner  unteren  Fläche  gespalten  und 
weist  hier  eine  3  bis  4  Millimeter  breite  Rinne  auf,  die 
nach  unten  zu  immer  schmäler  werdend,  im  Abstände 
von  drei  Centimetern  von  der  Spitze  des  Penis  endet. 
Harnröhrenöffnung  weiblich,  der  Katheter  weist  eine  be- 
deutende Dilatation  der  Harnblase  auf,  indem  er  beinahe 
bis    in    Nabelhöhe   eindringt.       Dr.    Busch    in    Teplitz 


Fig.  27. 
Schematischer  Sagittalscbnitt  der 
Beckengegend. 
Fig.  26. 
Fig.  26^  u.  27:    Genitale   eines   männlichen  Scheinzwitters   von   13 
Jahren,  irrtümlich  als  Mädchen  erzogen.   Beobachtung  von  Bittner. 

wegen  Dysurie  gerufen,  hatte  die  Harnröhre  mittels 
Bougies  erweitert.  Diese  Erweiterung  der  Blase  nach 
oben  zu  würde  für  eine  Persistenz  des  Urachus  sprechen. 
Die  untere  Harnröhren  wand  stülpt  sich  etwas  nach  unten 
vor,  so  als  ob  eine  portio  vaginalis  uteri  existierte.  Unter- 
halb der  Harnröhrenöffnung  liegt  die  Mündung  der  Vagina. 
Beide  Öffnungen  liegen  in  dem  8  Millimeter  langen  Sinus 


—    359    — 

urogenitalis,  der  ganz  glattwandig  ist  und  ohne  Spur  von 
kleinen  Schamlippen.  Anus  normal,  Damm  breit.  In 
jeder  Schamlefze  tastete  man  ein  Gebilde,  von  dem  eine 
Art  Strang  bis  in  die  Bauchhöhle  verläuft.  Diese  Ge- 
bilde machen  den  Eindruck  rudimentärer  Hoden.  Per 
rectum  tastend,  gewahrt  man  ein  bohnengroßes  Gebilde  in 
der  Mittellinie  querliegend  und  leicht  verschieblich,  dicht 
hinter  der  Blase  liegend  und  bei  Anfüllung  der  Blase 
dem  Finger  entweichend  Tuben  oder  Ovarien  nicht  getastet. 

Man  betrachtete  die  in  den  Schamlefzen  liegenden 
Gebilde  als  Hoden.  (Siehe  Fig.  25,  26,  27).  Das  per 
rectum  getastete  Gebilde  war  anscheinlich  ein  rudimen- 
tärer Uterus.  Die  Mutter  verlangte  durchaus  die  Ampu- 
tation der  hypertrophischen  Clitoris,  man  willfahrte  diesem 
Verlangen  jedoch  nicht,  weil  man  das  Kind  für  einen 
männlichen  Scheinzwitter  hielt. 

8)  M.  R  Blondel  [„Observation  de  Pseudoherma- 
phroditisme"  —  Soci£t£  Obst^tricale  et  Gyn^cologique 
de  Paris,  S£ance  du  12.  Janvier  1899  —  Bulletins  et 
M^moires  de  la  Soci£t£  Obst&ricale  et  Gyn£cologique 
de  Paris.  Paris  1899]  beschrieb  eine  äußerst  interessante 
Beobachtung  folgender  Art:  Frau  X.  aus  Angers,  45 
Jahre  alt,  seit  18  Monaten  verheiratet,  kam  am  14.  X. 
1998  in  seine  Klinik  mit  Klagen  über  Unterleibschmerzen 
Schwindelanfälle,  Mattigkeit  und  Abgeschlagenheit  und 
in  letzter  Zeit  häufiges  Nasenbluten;  außerdem  bemerkte 
sie  seit  zwei  Jahren  krampfhafte  Zuckungen  der  Augen- 
lieder, welche  von  Herrn  Landolt  behandelt  worden 
waren.  Frau  X.  glaubt,  alle  diese  Beschwerden  stehen 
mit  ihrem  Alter,  einer  beginnenden  Climax,  im  Zu- 
sammenhange. So  hatte  sich  auch  der  Okulist  ausge- 
drückt, so  äußerten  sich  auch  ihre  Bekannten.  Sie  hat 
aber  von  all*  diesen  Beschwerden  ihrem  Hausarzte  nichts 
gesagt,  sondern  zog  es  vor,  einen  Spezialisten  in  Paris 
zu  konsultieren,  da  in  ihrer  Organisation  etwas  Absonder- 


—    360    — 

liches  vorliege,  was  weder  sie  noch  ihr  Mann  sich  zu 
deuten  im  Stande  seien.  Sie  verlangte  jetzt  eine  genaue 
Untersuchung.  Sie  hatte  niemals  die  Periode  und  konnte 
mit  ihrem  Gatten  niemals  den  Beischlaf  normal  ausführen, 
weil  sie  dabei  jedesmal  vehemente  Schmerzen  empfinde; 
sie  glaubt  bemerkt  zu  haben,  es  müsse  ein  mechanisches 
Hindernis  für  die  Vollziehung  des  Beischlafes  vorliegen. 
Eltern  normal  gebaut  und  gesund,  drei  Schwestern  haben 
normal  die  Periode,  zwei  haben  Kinder.  Frau  X.  hatte 
im  Alter  von  12 — 13  Jahren  alle  die  Symptome  an  sich 
beobachtet,  welche  dem  Eintritt  der  Regel  vorauszugehen 
pflegen.  Schmerzen  in  der  Lendengegend,  Schweregefühl 
im  Unterleibe,  Schwindelanfälle.  Der  Hausarzt  verord- 
nete verschiedene  Emmenagoga:  Apiol,Senf,  ließ  Blutegel 
setzen,  natürlich  ohne  jeden  Erfolg.  Ihre  Leiden  ver- 
loren sich  später  nach  etwa  zweijähriger  Dauer!  Als 
sie  19  Jahre  alt  war,  bewarb  sich  ein  junger  Mann  um 
ihre  Hand.  Obgleich  der  junge  Mann  ihr  wohlgefiel, 
so  zerschlug  sich  doch  das  Heiratsprojekt  nach  einem 
Jahre  infolgedessen,  daß  sowohl  die  Eltern  als  auch  das 
junge  Mädchen  voraussahen,  die  Ehe  werde  nicht  glück- 
lich ausfallen  angesichts  zu  erwartender  Kinderlosigkeit, 
denn  wie  sollte  sie  eine  Mutterschaft  erwarten  können, 
da  sie  noch  nie  die  Periode  gehabt  hatte?  Aus  dem 
gleichen  Grunde  wurden  auch  mehrere  andere  Freier 
abgewiesen.  Jetzt,  wo  Fräulein  X.  bereits  44  Jahre  alt 
war,  meldete  sich  abermals  ein  Freier,  ein  GOjähriger 
Wittwer,  welcher  von  vornherein  erklärte,  er  habe 
Kinder  aus  erster  Ehe  und  verzichte  auf  weiteren 
Kindersegen  freiwillig.  Die  Heirat  kam  zu  Stande,  aber 
der  Beischlaf  erwies  sich  als  ganz  unmöglich.  Vor  6 
Monaten  stürzte  Frau  X.  aus  einer  Höhe  von  vier 
Metern  herab  und  wurde  mit  einem  Armbruch  und  der 
Verstauchung  einer  Hand  aufgehoben:  sie  empfand 
gleichzeitig    starke  Schmerzen  im  Leibe,  in  den  Leisten- 


—    361    — 

gegenden  und  Schweregefühl  in  den  Schamlefzen.  Der 
Arzt  legte  auf  den  Arm  einen  Gipsverband,  bezüglich 
der  Leistenschmerzen  erkannte  er  einen  doppelseitigen 
Leistenbruch  als  Ursache  und  verordnete  ein  Bruchband. 
Frau  X.  erklärt  jetzt,  sie  könne  dieses  Bruchband  auch 
nicht  einen  Augenblick  missen,  da  sie  sonst  sofort  von 
heftigen  Schmerzen  befallen  werde  in  den  Leistenringen. 
Sie  hat  auch  bemerkt,  daß  seit  jenem  Falle  in  jeder 
Schamlefze  ein  Tumor  existiere,  den  sie  früher  niemals 
bemerkt  hatte.  Blonde  1  vollzog  nun  die  Untersuchung 
und  fand  zunächst  absolut  nichts,  was  eine  erreur  de 
sexe  hätte  voraussetzen  lassen.  Körperhöhe  170  Centi- 
meter.  Das  Gesicht  ist  vielleicht  nicht  ausgesprochen 
weiblich  zu  nennen,  entbehrt  aber  jeder  Spur  männlicher 
Behaarung.     Haupthaar  lang,  fein,  wellig  geringelt. 

Stimme  etwas  scharf,  aber  nicht  gerade  unweiblich, 
eher  eine  Art  Mezzo-Sopran  als  Contraalt.  Hände  und 
Füße  groß,  Taille  breit,  Hüften  stark,  Muskelsystem 
üppig  entwickelt.  Bei  Betrachtung  der  Vulva  wird  man 
zunächst  frappiert  von  der  Größe  der  Clitoris  sowie  auch 
der  Schamlefzen.  Die  Hautdecke  der  Schamlefzen  sieht 
gerunzelt  aus  wie  das  Scrotum;  hier  und  da  auf  den 
Schamlefzen  Haare.  Clitoris  kleinfingerdick,  im  flacciden 
Zustande  4,  sub  erectione  6  bis  7  Centimeter  lang. 
Das  Praeputium  reich,  umfaltet  die  Corona  glandis  und 
geht  nach  unten  zu  in  die  kleinen  Schamlippen  über. 
Zieht  man  die  kleinen  Schamlefzen  auseinander,  so  ge- 
wahrt man  eine  schmale,  enge,  infantile  Schamspalte. 
Es  fallen  hier  mehrere  Eigentümlichkeiten  auf,  welche 
Blondel  wörtlich  so  beschreibt: 

„A  la  partie  inf^rieure  de  Porifice  vulvaire  existent 
une  fourchette  et  un  vestibule  indentiques  k  ce  qu'on 
trouve  ä  l'£tät  normal.  Au  milieu  on  trouve  un  orifice 
£troit,  borde*  d'un  bourrelet  frang6,  tout-k-fait  semblable 
&  certains  hymens.     Au-dessus  de  celui-ci   se    montre   la 


—    362    — 

vofite  formte  par  la  face  inf£rieure  du  clitoris. :  le  raph£ 
parti  du  sillon  median  de  celui-ci  et  qui  correspond  bien 
ä  la  bride  dlcrite  dans  un  cas  semblable  par  Buisson 
la  divise  suivant  son  milieu  en  deux  parties  Egales  et 
vient  se  perdre  un  peu  au-dessus  de  la  partie  sup^ricure 
de  l'hymen;  k  ce  niveau  existent  deux  orifices  k  la  direc- 
tionlongitudinale;  situ£  de  part  et  d'autre  du  raph£  ils  sont 
r£lativement  volumineux  et  admettent  chacun  sur  un 
trajet  d'  un  demi  k  un  centimfetre  Pextr£mit£  d'un  fin 
stylet :  un  liquide  filant,  trfes  transparent,  tout  ä  fait  sem- 
blable k  la  s£cr£tion  prostatique  de  Fhomme,  s^cbappe 
devant  nous  de  ce  deux  orifices."  Man  sah  zunächst 
nirgends  eine  Harnröhrenöffnung:  dieselbe  lag  scheinbar 
in  einer  pseudovaginalen  Höhle,  etwas  nach  hinten  und 
nach  innen  zu  von  der  Hymenalöffnung.  Einen  Katheter 
kann  man  längs  des  Fingers  in  die  Blase  einführen: 
Urethra  etwa  vier  Zentimeter  lang.  Die  Einführung  des 
Fingers  in  die  Hymenalöffnung  bereitet  der  Frau  viele 
Schmerzen,  die  Sander  des  Hymen  sieht  man  auf  dem 
Fingergliede  gelagert.  Die  Hymenalränder  sind  dünn 
und  sehr  gespannt.  In  der  Tiefe  von  drei  Zentimetern 
erscheint  die  Vagina  blindsackartig  geschlossen.  Per 
rectum  tastet  man  sowie  auch  per  vaginam  an  der  Hinter- 
fläche der  Harnblase  zwei  längliche  Gebilde  von  vagen 
Kontouren,  welche  vielleicht  einer  Prostata  oder  den 
Samenblasen  entsprechen.  Beim  Harnen  mag  ein  Teil 
des  Harnes  in  die  Vagina  fließen  infolge  der  versteckten 
Lage  der  Urethralöffnung.  In  jeder  der  auffallend  großen 
Schamlefzen  tastet  man  je  einen  Hoden:  der  linke  ist 
atrophisch,  weich,  abgeplattet,  mit  kleinem  Nebenhoden 
und  Samenstrange,  die  rechtsseitigen  Geschlechtsdrüsen- 
gebilde sind  normal.  Man  kann  Kopf  und  Schwanz  des 
Nebenhodens  und  den  Samenstrang  unterscheiden.  Die 
Hoden  gleiten  unter  Fingerdruck  in  ihrer  Tunica  vaginalis 
hin    und    her,    die  eine    offenbar    mit   Lumen    versehene 


—    363    — 

Tasche  bildet.  Die  Hoden  lassen  sich  erheben  bis  zur 
Leistenkanalmündung;  der  Versuch  einen  Hoden  in  den 
Leistenkanal  einzuschieben  ist  zu  schmerzhaft,  obwohl 
die  Hoden,  wie  oben  gesagt,  erst  vor  6  Monaten  infolge 
eines  Trauma  in  das  Scrotum  fissum  herabgestiegen  waren. 
Bei  dieser  Frau  wurde  also  eine  erreur  de  sexe  kon- 
statiert. Hypospadiasis  peniscrotalis  mit  Persistenz  eines 
Utriculus  masculinus  [resp.  Vagina],  welcher  von  Vesti- 
bulum  pseudovulvare  durch  eine  Art  Hymen  geschieden 
ist.  Der  Sinus  urogenitalis,  der  Pseudovaginalkanal,  das 
hinter  dem  Hymen  belegene  Stück  eingerechnet,  ist 
immerhin  5 — 6  Centimeter  lang,  läßt  den  Finger  ein,  aber 
nicht  das  Membrum  conjugis.  Der  Gatte  war  bisher 
nicht  im  Stande  den  Widerstand  jenes  Hymen  zu  brechen. 
Der  Mann  hat  gleichwohl  mehrmals  eine  Immissio  in  jene 
Vulvargrube  versucht  mit  Ejakulation  in  dieselbe  hinein, 
aber  jeder  Angriff  auf  den  Hymen  ist  von  einem 
Schmerzenschrei  der  Frau  gefolgt.  Die  Frau  sagt,  daß 
sie  gleichwohl  bei  diesen  Versuchen  ihres  Gatten  Wollust 
empfinde,  deren  Kulminationspunkt  der  Moment  sei,  wo 
bei  dem  Gatten  die  Ejakulation  erfolgte*  In  diesem 
Moment  empfindet  sie  eine  Art  krampfartiger  Erschütterung 
des  ganzen  Körpers  rhytmischer  Natur,  und  sie  fühlt,  daß 
bei  ihr  selbst  eine  Flüßigkeit  sich  in  die  Vulva  ergießt. 
Nach  diesen  Spasmen  erfolgt  eine  tiefe  Prostration  und 
hochgradige  nervöse  Depression.  Die  Frau  unterscheidet 
sehr  wohl  diese  Gefühle,  welche  sie  erst  seit  der  Hochzeit 
kennen  gelernt  hat,  von  anderen  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochenen aber  vagen  Wollustempfindungen  mit 
Erektion  der  Clitoris  und  von  Ejakulation  gefolgt  — 
aber  nicht  ruckweise  sondern  kontinuirlich  diese  Ejaku- 
lation — ,  welche  sie  schon  früher  vom  20.  Jahre  an  manch- 
mal empfunden,  wenn  sie  einen  Roman  las  oder  tränmte. 
Ob  die  Hoden  während  jener  Spasmen  nach  oben 
wandern,  vermag  sie  nicht  anzugeben,  sie  sind  aber  äußerst 


—    364    — 

druckempfindlich  und,  wenn  zufällig  einmal  ein  Hoden 
einer  Quetschung  unterliegt,  so  empfindet  die  Frau  starken 
Schmerz,  den  sie  selbst  als  nauseös  bezeichnet. 

Blondel  war  Zeuge  einer  Erektion  und  Ejakulation 
einer  durchsichtigen,  fadenziehenden,  stark  riechenden 
Flüßigkeit,  welche  vollständig  dem  Prostatasecret  ent- 
sprach: er  sammelte  sogar  etwas  davon  auf  ein  Schälchen 
zur  Untersuchung.  Die  beiden  Öffnungen,  aus  welchen 
diese  Flüßigkeit  ausgeschieden  wurde,  lagen  unter- 
halb der  Clitoris  aber  oberhalb  der  Harnröhrenöffnung. 
Es  war  leicht,  diese  beiden  Öffnungen  mit  bloßem  Auge 
zu  sehen;  man  sah  die  Flüßigkeit  aus  ihnen  hervorquellen. 
Die  Flüßigkeit  enthielt  nur  einige  platte  Zellen,  aber 
keine  Spermatozoiden.  Keine  Brustdrüsen  vorhanden, 
nicht  einmal  merkliches  Fettgewebe.  Die  Sternalregion 
war  leicht  behaart.  Die  scheinbar  vaginale  Mündung 
der  Urethra  in  seinem  Falle  bezeichnet  Blondel  als 
einzig  dastehend.  Blondel  wagt  nicht  zu  sagen,  ob 
jene  beiden  Öffnungen  oberhalb  der  Urethra  den  Öffnungen 
von  Cowper'schen  Drüsen  entsprachen  oder  Prostata- 
ausführungsgängen; jedenfalls  funktionierten  die  drüsigen 
Gebilde,  deren  Secret  sie  ausschieden,  energisch.  Ob  das 
per  rectum  getastete  Gebilde  eine  Prostata  war  oder 
Samenblasen  oder  ein  Uterus  bicornis,  kann  Blondel 
nicht  entscheiden.  Keine  männliche  Gesichtsbehaarung. 
Neigungen  und  Geschmack  dieser  Person  waren  ganz 
weiblich  und  hat  sie  niemals  männlichen,  auf  Frauen 
gerichteten  Geschlechtsdrang  empfunden.  Was  die  kon- 
gestiven Erscheinungen  der  Pubertätsperiode  anbetrifft 
sowie  mensuelle  Nasenblutungen  im  Alter  der  Menopause, 
so  hat  man  solche  Erscheinungen  auch  bei  anderen 
männlichen  Scheinzwittern  ausgesprochen  gefunden,  die 
noch  weit  mehr  männlich  veranlagt  waren  als  diese  Frau. 
Was  die  sociale  Stellung  dieser  Frau  anbetrifft,  so  ist 
es  klar,    daß    die    Ehe    eine    nichtige  sein  muß.     Durfte 


—    365    — 

man,  fragt  sich  Blondel,  in  diesem  Falle  sowie  die 
Frau  es  verlangte,  einen  operativen  Eingriff  unternehmen, 
um  den  Beischlaf  in  der  Rolle  einer  Frau  zu  erleichtern? 
—  Er  beriet  sich  mit  Maigrier  und  die  Herren  kamen 
dahin  überein,  daß  das  Verlangen  der  Frau  ein  berech- 
tigtes sei,  er  beschloß  also  den  Hymen  mit  dem  Messer 
zu  spalten  und  dann  die  Pseudovagina  zu  verlängern 
durch  einen  Schnitt  im  Scheidengewölbe  mit  d^doublement 
des  Septum  recto vaginale  und  eventueller  plastischer 
Bedeckung  der  geschaffenen  Wunde.  Die  Frau  gab  an, 
sie  werde  sich  am  20.  November  behufs  Ausführung  der 
Operation  melden,  kam  aber  nicht  wieder. 

Beiläufig  erwähne  ich,  daß  Herr  Kociatkiewicz 
in  dem  von  mir  früher  beschriebenen  Falle  nach  Exstir- 
pation  der  Hoden  eines  als  Mädchen  erzogenen  männ- 
lichen Scheinzwitters,  behaftet  mit  Hypospadiasis  peni- 
scrotalis,  um  den  Beischlaf  in  der  Rolle  einer  Frau  zu 
ermöglichen,  eine  Erweiterung  des  Aditus  ad  vaginam 
versuchte  ohne  jedoch  eine  wesentliche  Veränderung  zu 
erzielen. 

Bezüglich  desBlondePschenFalles  ist  hervorzuheben, 
daß  diese  Frau,  ein  verkannter  Mann,  absolut  weiblichen 
Geschlechtsdrang  empfand. 

8)  Realdo  Colombo  [siehe  Debierre]  „I/Ethio- 
pienne  de  Realdo  Colombo  de  Cremone":  Clitoris  zu  groß, 
Scheidenöffnung  zu  klein;  Beischlaf  weder  mit  Männern 
noch  mit  Frauen  möglich.  »Elle  ne  pouvait  agir  ni  patir 
commod^ment."  Diese  Person  verlangte  die  Amputation 
des  männlichen  Gliedes:  Colombo  schlug  aber  die  Aus- 
führung dieser  Operation  ab,  indem  er  die  Verantwortung 
für  diese  Operation  vor  den  Behörden  scheute. 

Steg  lehn  er  [1.  c.  pg.  89]  schreibt  bezüglich  dieses 
Falles:  „Realdus  Columbius  observavit  mulierem, 
cni  erat  genitale  membrum  ambiguum  crassum  digiti 
minimi  longitudinem  aequans  sed  perforatum,  sub  eodem 


—    366    — 

ostium  canalis  sie  angustum  ut  non  nisi  digiti  minimi 
apicem  admitteret.  Viros  haec  ita  coneupivit  ut  penis 
clitoridei  resectionem  et  ostii  vaginalis  dilatationem  a 
chirurgo  expeteret.  Qua  strueturae  vicissitudine  manifesto 
patet,  clitoride  increscente  muliebris  genitalis  canalem 
eadem  proportione  contrahi  et  coaretari."  —  Nach  dieser 
Beschreibung  scheint  es  sich  hier  um  einen  männlichen 
Scheinzwitter  zu  handeln  mit  Hypospadie  des  Scrotum 
und  mehr  oder  weniger  hochgradiger  Entwickelung  der 
Mü Herrschen  Gange  —  jedenfalls  scheint  eine  Scheide 
existiert  zu  haben.  Der  Fall  ähnelt  am  meisten  dem- 
jenigen von  Maude  aus  der  neueren  Kasuistik. 

9)  W.  A.  H.  Coop  [,,A  curious  anomaly  of  the 
female  genitalia  with  striking  resemblance  to  some  of 
the  external  male  elements  changed  by  plastic  surgery 
into  a  woman  of  normal  appearance."  American  Gyn. 
and  Obstetric.  Journal-New  York.  May  1895.  pg.  594]: 
24jährige  Frau,  verheiratet  bei  vollständig  männlichem 
Aussehen  der  äußeren  Genitalien  infolge  von  Verwachsung 
der  Schamlefzen  untereinander.  Plastische  Operation  mit 
gutem  Ausgange.  Coop  ermöglichte  durch  eine  Discision 
der  Verwachsung  die  Ausführung  des  Beischlafes  sowie 
auch  Hu  guier  in  einem  später  zu  erwähnenden  Falle 
—  so  wie  auch  eine  solche  einfache  Operation  den  Bei- 
schlaf in  der  Rolle  einer  Frau  Marie  Magdalene 
Lefort  ermöglicht  hätte,  wenn  die  Person  sich  der  An- 
sicht von  B£clard  angeschlossen  hätte,  der  ihr  Geschlecht 
als  weiblich  richtig  erkannt  hatte  entgegen  der  Meinung 
der  sämtlichen  anderen  Ärzte,  welche  sie  untersucht 
hatten. 

10)  Coste  [Marseille]  [Journal  des  connaissances 
m^dico-chirurgicales  par  les  Docteurs  A.  Trousseau, 
J.  Lebaudy,  H.  Gouraud:  3-eme  annee,  1835,  pg.  276 
„Conformation  vicieuse  des  organes  g£nitaux  chez  une 
femme.  Operation."]    ermöglichte    den   Beischlaf    in    der 


—    367     — 

Rolle    einer    Frau    einer    Person    von  zweifelhaftem  Ge- 
schlechte.   Im  September  1834  kam  zu  ihm  Frau  X.  mit 
ihrer  21jährigen  Tochter,  weche  eine  genitale  Mißstaltung 
hatte.     An  Stelle  der  zu  erwartenden  Clitoris  fand  Coste 
ein  männliches,  unten  gespaltenes  Glied,  so  groß  wie  bei 
einem  etwa  12jährigen  Knaben.     Die  Glans  dieses  Gliedes 
war   infolge   von  Retraction   des  Praeputium  vollständig 
entblößt.     Aus  der  weiblichen  Harnröhrenöffnung  entleert 
sich  nicht  nur  der  Harn,  sondern  vom  13.  Jahre  an  auch 
regelmäßig    alle    vier    Wochen     das     menstruelle     Blut; 
Unterhalb    der    Harnröhrenöffnung    keinerlei  Vertiefung 
zu  sehen,  man  sah  dort  zwischen  den  kleinen  Schamlippen 
nur  eine  behaarte  Haut  mit  Anzeichen  einer  Raphe.    Die 
großen  Schamlippen  waren  rudimentär  entwickelt,  reprä- 
sentierten   einfach   zwei   Hautfalten.     Allgemeinaussehen 
dieses  Mädchens,   sowie   die   Brüste    und   allgemeine  Be- 
haarung ganz  weiblich,  ebenso  die  Schambehaarung,  aber 
das  Becken    und   die   Extremitäten  waren  männlich  ver- 
anlagt.    Charakter  und  Neigungen  vollkommen  weiblich, 
das  Mädchen    liebte    zärtlich    seinen   Bräutigam,    kannte 
keine    Masturbation    und    hatte    niemals    eine    Erektion 
seines   Geschlechtsgliedes  bemerkt.     Die  Mutter  kam  zu 
Coste   mit  der  Frage,  ob   ihre  Tochter   heiraten  könne 
oder  nicht?     Coste  antwortete,    daß  ein  Beischlaf  nicht 
möglich  sein  werde,    es  sei  denn  nach  Ausführung  einer 
Operation.     Da  allmonatliche  Blutungen  vorlagen,  so  war 
Coste  überzeugt   von   der  Existenz    eines    Uterus:    die 
Ausscheidung    des    Blutes     durch    die    Harnröhre    wies 
darauf   hin,    daß    eine   Kommunikation  zwischen  Uterus 
und  Harnröhre  existiere.     Es  ging  nun  um  zwei  Sachen : 
erstens  um  Schaffung  einer  Vagina  zwischen  Urethra  und 
Rectum,   zweitens    um  Amputation  der  hypertrophischen 
Clitoris.     Das  Fräulein  ging  im  Prinzip  auf  die  Operation 
ein,    die   auch    von   Coste   am   20.  IX.  1834   vollzogen 
wurde.      Aus    Rücksicht    auf    die    Schamhaftigkeit    der 


—    368    — 

Patientin,  sowie  darauf,  daß  es  darauf  ankam,  das  größte 
Geheimnis  zu  wahren,  begnügte  er  sich  mit  einem  einzigen 
Assistenten,  Dr.  Dun£s.  Er  begann  die  Operation  mit 
einem  Längsschnitte  in  der  Raphe  dartos  zwischen 
Urethral-  und  Analmündung,  wobei  die  Kranke  so  ge- 
lagert war  wie  bei  einem  Steinschnitt  Da  Coste  selbst 
in  der  Tiefe  von  einem  Zoll  keine  Scheide  antraf  und  er 
befürchtete,  die  naheliegende  Urethra  oder  das  Rectum 
zu  verletzen,  so  führte  er  jetzt  einen  Katheter  in  die 
Blase  ein,  indem  er  aber  dem  Katheter  eine  Richtung 
gab  nicht  nach  der  Harnblase  sondern  nach  der  Gebär- 
mutter zu.  Die  Sonde  drang  spontan  in  einen  Kanal  ein, 
welcher  die  Vagina  zu  sein  schien.  Jetzt  entschloß  sich 
Coste  unter  dem  Risiko,  eine  Urethrovaginalfistel  zu 
schaffen,  dazu,  das  Septum  zwischen  dem  in  Urethra 
liegenden  Katheter  und  der  vermuteten  Vagina  von  der 
Urethralmündung  aus  mit  einem  Messerschnitte  zu  spalten 
bis  zu  dem  vermuteten  Scheideneingange.  Der  in  die 
Tiefe  der  Wunde  eingeführte  Finger  gelangte  in  eine 
Höhle,  die  mit  Schleimhaut  ausgekleidet  war;  er  tastete 
aber  auch  in  dieser  Höhle  eine  Portio  vaginalis  uteri. 
Coste  tamponierte  nun  diesen  ganzen  Kanal  mit  Charpie, 
die  er  mit  Wachs  durchtränkt  hatte.  Dann  zog  er  die 
Vorhaut  der  hypertrophischen  Clitoris  soweit  er  konnte 
nach  hinten  zurück  und  amputierte  die  Glans  clitoridis 
mit  einem  Messerzuge  so  nah  als  es  möglich  war  an  der 
Symphysis  ossium  pubis.  Er  legte  einen  Heftpflaster- 
verband an  und  brachte  die  Operierte  zu  Bett.  Das 
postoperative  Fieber  wurde  durch  strikte  Diät  bekämpft. 
Am  dritten  Tage  nach  der  Operation  erfolgte  eine  starke 
Blutung  aus  den  durchschnittenen  Corpora  cavernosa 
clitoridis,  welche  Coste  nicht  fürchtete,  weil  diese  Blutung 
eine  vorteilhafte  Depletion  setzte!!!!  Druckverband. 
Am  7.  Tage  nach  Amputation  der  Clitoris  war  deren 
Wunde  vernarbt.     Nach    zwei  Monaten   war   die  chirur- 


—    369    — 

gische  Pflege  der  neugeschaffenen  resp.  eröffneten  Vagina 
mittels  Tamponade  und  Lapisgebrauch  vollendet.  Die 
Ränder  der  Harnröhrenwunde  sollen  spontan  mit  einander 
verwachsen  sein,  sodaß  schließlich  der  Harnweg  ganz 
separiert  erschien  von  dem  Genitalwege  der  Vagina.  Die 
Periode  erschien  zur  erwarteten  Zeit  und  wurde  per 
vaginam  entleert.  8  Monate  nach  der  Hochzeit  hieß  es : 
Matrimonium  est  consummatum.  Die  junge  Frau  sagte 
ihrem  Operateur,  der  Beischlaf  finde  statt  ohne  Schwierig- 
keiten und  sie  sei  zufrieden  und  habe  auch  Annehmlich- 
keit dabei,  aber  schwanger  sei  sie  noch  nicht  seit  dem 
letzten  Besuche  des  Arztes.  Es  scheint,  daß  es  sich  in 
diesem  Falle  um  einen  weiblichen  Scheinzwitter  handelt 
mit  inguinolabialer  Ektopie  eines  Ovarium,  welches  Coste 
fälschlich  für  einen  Hoden  angesehen  hatte,  um  eine 
Verwachsung  der  Schamlefzen  unter  einander  und  Mün- 
dung der  Vagina  in  die  Urethra  oder  in  den  Sinus 
urogenitalis.  Interessant  ist  für  den  modernen  Chirurgen 
die  Art  und  Weise,  wie  damals  solche  Wunden  behandelt 
wurden,  wie  z.  B.  die  nach  Amputation  der  Clitoris  und 
ihrer  Schwellkörper  entstandenen. 

12)  Duval  [siehe:  Debierre  1.  c.  pg.  46]:  De- 
moiselle  d'Anjou  —  „Nach  Angaben  von  Duval  ver- 
langte der  Gatte  die  Scheidung" :  „La  cause  du  di- 
vorce  pr^tendu  £tait  que  cette  demoiselle  avait  un  membre 
viril,  long  de  deux  travers  de  doigts  en  la  partie  sup£- 
rieure  de  Povale  muli&bre,  lieu  auquel  devoit  6tre  le 
clitoris,  qui  se  dressait  alors  que  son  mari  voulait  avoir 
sa  compagnie,  et  le  blessait,  de  sorte  qu'il  n'avait  encore 
eu  d^cente  habitation  et  copulation  avec  eile."  Das 
Gericht  entschied,  daß  die  Ehe  aufrecht  erhalten  werden 
wird,  insofern  die  Gattin  sich  einverstanden  erklärt  zur 
Abschneidung  „de  la  dicte  partie  superflue  et  inutile  k 
une  femme."  Da  jedoch  die  junge  Frau  auf  eine  Ope- 
ration nicht  eingehen  und  nicht  das  verlieren  wollte,  was 

Jahrbuch  V.  24 


—    370    — 

die  Natur  selbst  ihr  verliehen,  „le  mariage  füt  de  con- 
sentement  des  deux  parties  d£clar£  solu  et  cass£*  — 
Diesen  Fall  habe  ich  früher  schon  erwähnt  in  meiner 
Kasuistik  der  Mißehen  „par  erreur  de  sexeu,  deren  ich 
bis  jetzt  63  gesammelt  habe. 

13)  Hartmann  [Bulletins  et  M^moires  de  la  Soci£t£ 
de  Chirurgie  de  Paris.  Tome  XXVIII.  1902.  Nr.  31.  pg. 
931  und  No.  34].  Im  Jahre  1892  schnitt  Hart  mann  bei 
einem  7  jährigen  Mädchen,  welches  hartnäckig  masturbierte, 
auf  Wunsch  der  Mutter  hin  die  hypertrophische  Clitoris 
ab.  Nach  10  Jahren  sah  Hartmann  das  Mädchen 
wieder.  Angesichts  einer  Diskussion  über  das  von 
Walther  in  der  Pariser  Soci£t6  de  Chirurgie  vorgestellte 
Individuum  erinnerte  er  sich  an  dieses  Kind  und  be- 
richtete einige  Details:  das  7jährige  Kind  verriet  vor- 
zeitige geschlechtliche  Entwicklung:  der  fette  Mons 
Veneris  und  die  Schamlefzen  waren  schon  behaart. 
Während  normal  bei  einem  7  jährigen  Mädchen  die  Clitoris 
nicht  länger  am  Dorsum  ist  als  47  (?)  Millimeter  lang,  so 
hatte  in  seinem  Falle  die  Clitoris  die  Größe  des  kleinen 
Fingers,  sub  erectione  erschien  sie  noch  größer.  Das 
Organ  sah  aus  wie  ein  hypospadischer  Penis,  die  Crura 
clitoridis  gingen  über  in  die  kleinen  Schamlippen.  An 
der  unteren  Fläche  der  scheinbar  gespaltenen  männ- 
lichen Penisharnröhre  sah  man  eine  weißliche  glänzende 
Membran  und  darin  hintereinander  liegend  mehrere 
Öffnungen:  Lacunae  Morgagni i.  Hymen  falciformis 
läßt  den  Finger  in  Yaginam  eindringen  bis  an  den 
Mutterhals.  Die  Schamlefzen  vereinigen  sich  nicht  mit 
einander  oberhalb  der  Clitoris,  sondern  haben  dort  einen 
Abstand  von  einander  von  anderthalb  Zentimetern.  Per 
rectum  tastete  man  das  Corpus  uteri,  aber  der  Uterus 
lag  nicht  antevertiert,  wie  es  sein  sollte,  sondern  in 
retroversione.  Jederseits  tastete  man  im  Becken  in  der 
Region   der   Articulatio    sacroiliaca    einen    bohnengroßen. 


—    371    — 

druckempfindlichen  Körper  — .  Die  Oberlippe  wies  eine 
männliche  Behaarung  auf.  Die  Clitoris  glich  an  Größe 
dem  Membrum  eines  7jährigen  Knaben,  wurde  bei 
Digitalberührung  steifer  und  näherte  sich  dabei  der 
Schamfuge.  Da  Hartmann  überzeugt  war  von  dem 
weiblichen  Geschlechte  des  Kindes  und  um  der  Onanie 
ein  Ende  zu  machen,  entschloß  er  sich  zu  der  Amputation 
des  inkriminierten  Gliedes.  Jetzt  nach  10  Jahren  bot 
das  Mädchen  ein  absolut  männliches  Aussehen.  Das 
Gesicht  war  üppig  behaart,  Brustkorb  und  Becken 
männlich.  Das  Individuum  erwirbt  sich  den  Unterhalt 
als  Näherin  und  soll  bis  jetzt  keinerlei  Geschlechtstrieb 
empfunden  haben.  Schambehaarung  weiblich.  Der  Stumpf 
der  einstens  amputierten  Clitoris  strotzt  fingerdick  unter- 
halb der  Schamfuge,  ist  von  rosaroter  Färbung.  Die 
10  Centimeter  lange  Scheide  läßt  ein  Speculum  bis  an 
den  Mutterhals  vordringen,  eine  dünne  Sonde  dringt  in 
den  Uterus  vier  und  einen  halben  Centimeter  tief  ein. 
Kegel  bis  jetzt  noch  nicht  aufgetreten,  aber  alle  Monate 
2 — 3  Tage  lang  Leibschmerzen,  mehr  linkerseits  als 
rechterseits  ausgesprochen  und  bis  auf  die  Fossae  iliacae 
ausstrahlend.  Hartmann  hält  das  Individuum  für  ein 
Mädchen,  ich  möchte  dieses  Urteil  doch  nicht  ohne 
Weiteres  unterschreiben  und  halte  das  Geschlecht  bisher 
für  zweifelhaft  und  die  ausgeführte  Operation  für  un- 
berechtigt, solange  nicht  das  weibliche  Geschlecht  sicher- 
gestellt war  —  erinnere  dabei  an  einen  bekannten  Fall, 
wo  ein  berühmter  französischer  Chirurg  von  einem  seiner 
männlichen  Patienten  ermordet  wurde  aus  Eache  dafür, 
daß  er  ihm  während  einer  Varicocelenoperation  einen 
Hoden  abgeschnitten  hatte! 

14)  HectorleNu  wurde  zu  der  6  jährigen  Tochter 
des  Wilhelm  Fr£rot  gerufen,  um  deren  hypertrophische 
Clitoris  zu  amputieren,  schlug  aber  die  Operation  ab, 
weil  er  in  jeder  Schamlefze  je  einen  Hoden  und  Neben- 

24* 


372    — 


hoden  getastet,  somit  eine   erreur  de  sexe   konstatiert 
hatte.    Hypospadiasis  peniscrotalis. 

15)  Huguier:  Es  handelte  sich  um  die  1839  in 
Saint-Quentin  geborene  Louise  D.  [siehe  Le*on  leFort: 
„Les  vices  de  conformation  de  Putärus  et  du  vagin* 
Paris  1862.  pg.  200—207.]  (s.  Fig.  28  u.  29.)  Es  waren 
die  kleinen  Schamlippen  mit  einander  verwachsen,  indem 
sie  so  die  untere  Wand  eines  Kanales   bildeten,  welcher 


Art 


Fig.  28  u.  29.  Vulva  eines  20  jährigen  weiblichen  Seheinzwitters 
Louise  D.  mit  Verwachsung   der  Schamlefzen.     Abbildung   vor 

und  nach  Discision  durch  Huguier. 
A  =  Clitoris,  B  =  Sonde  in  die  Vulvaöffnung  eingeführt,  C  *=  Linkes 
Ovarium  in  hernia  labiali,   D=Urethralmtindung,   I=Vaginalostium. 

unterhalb  der  Clitoris  nach  außen  mündete.  Louise  D. 
hatte  sich  sonst  regelrecht  entwickelt  und  hatte  vom 
18.  Jahre  an  ihre  Perioden,  die  allerdings  jedesmal  sehr 
schmerzhaft  waren.  Das  Menstrualblut  entleerte  sich 
stets  mit  Harn  gemischt  durch  jene  unterhalb  der 
Clitoris  belegene  Öffnung.  Im  20.  Jahre  sollte  Louise 
heiraten.  Der  Hausarzt  erklärte  eine  Heirat  für  unmög- 
lich.    Am  14.  IX.  1859  stellte  Debout   in    der  Pariser 


—    373    — 

Soci£t£  de  Chirurgie  ein  Gipsmodell  der  Geschlechtsteile 
der  Louise  D.  vor,  welche  für  einen  Hermaphroditen 
angesehen  wurde.  Clitoris  1 — 5  Centimeter  lang  mit 
starken  Erektionen.  In  einer  Schamlefze  lag  ein  Ovarium, 
welches  eventuell  für  einen  Hoden  angesprochen  werden 
konnte.  So  oft  eine  Erektion  der  Clitoris  eintrat,  sah 
man  „un  mouvement  ascensionel  se  produire  dans  les 
grandes  lfcvres  comme  si  elles  £taient  doubl£es  d'un  muscle 
Cr^master".  —  Oberhalb  jenes  ektopischen  Ovarium 
tastete  man  einen  nach  dem  Leistenkanale  zu  verlaufenden 
Strang!  Die  Sonde,  in  die  Öffnung  unterhalb  der  Clitoris 
eingeführt,  drang  nicht  in  die  Harnblase  ein,  sondern  11 
Centimeter  tief  in  die  Vagina  und  konnte  per  rectum 
nicht  getastet  werden.  Debout  war  daraufhin  fest  über- 
zeugt, daß  Louise  ein  Mädchen  sei,  und  brachte  sie  in 
das  Hospital  Beaujon  zu  Huguier,  welcher  die  ver- 
langte Discision  der  mit  einander  verwachsenen  kleinen 
Schamlippen  vollzog  bis  auf  den  Abstand  von  zwei 
Centimetern  von  der  Analöffnung.  Sofort  erblickte  man 
das  Orificium  vaginae  von  einem  Hymen  garniert,  sowie 
die  Harnröhrenmündung.  Uterus  sehr  klein.  In  der 
Folge  fügte  Huguier  noch  einen  zweiten  kleinen  Ein- 
griff hinzu,  da  die  Öffnung  der  Schamspalte  sich  als  sehr 
eng  erwies. 

16)  Als  Seitenstück  zu  diesem  Falle  füge  ich  hier  den 
berühmten  Pariser  Fall  betreffend  Maria  Magdalena 
Lefort  hinzu  samt  einigen  Abbildungen  sehr  instruktiver 
Art.  Dieser  Fall  ist  vielfach  diskutiert  und  mehrfach 
von  französischen  Autoren  beschrieben  worden,  weil  er 
in  der  Tat  lehrreich  ist.  Die  beiden  Abbildungen  stellen 
die  Person  vor  im  Alter  von  16  und  von  65  Jahren. 
[Siehe  Debierre:  L'Hermaphrodisme.  Paris  1881.  pg. 
70—83]  (s.  Fg.  30,  31,  32,  33).  Am  16.  Februar  1815 
wurde  die  damals  16  Jahre  alte  Maria  Magdalena 
in      der     Pariser     Ärztlichen     Gesellschaft     vorgestellt. 


—     374    — 

Chaussier,  Petit-Radel  und  Beclard  sollten  sie 
untersuchen.  Das  Mädchen  war  von  mittlerem  Wuchs, 
hatte  viele  paradoxe  Erscheinungen  an  sich;  einen  auf- 
fallenden Kontrast  bildete  die  üppige  männliche  Gesichts- 


Fig.  30.    Maria  Magdalena  Lefort,  weiblicher  Scheinzwitter 
im  Alter  von  16  Jahren. 

behaarung  mit  gleichfalls  üppig  entwickelten  weiblichen 
Brüsten.  Üppige  Schambehaarung.  Die  Clitoris,  mög- 
licherweise ein  hypospadischer  Penis,  war  im  flacciden 
Zustande  7  Centimeter  lang,  sub  erectione  länger.    Prae- 


—    375    — 

putium  mobil.  In  der  Mittellinie  sieht  man  an  der  unteren 
Fläche  dieses  Gliedes  eine  seichte  Rinne  und  darin  fünf 
hintereinander  liegende  feine  Offnungen,  Lacunae  Mor- 
gagni i.      Zwei  kurze   schmale   Schamlefzen    sind   stark 


Fig.r31.    Maria  Magdalena  Lefort  im  Alter  von  65  Jahren. 
Beobachtung  von  Bßclard. 

behaart  an  ihrer  Außenseite  und  reichen  von  der  Clitoris 
bis  etwa  10  Linien  vor  dem  After.  Zwischen  den  Scham- 
lefzen liegt  eine  Haut,  durch  die  hindurch  man  eine  da- 
rüber liegende  Höhle  zu  tasten  meint.     Die  Schamlefzen 


—    376    — 


sind  leer,  enthalten  also  keinerlei  Geschlechtsdrüsen. 
Unterhalb  der  Clitorisbasis  liegt  eine  Öffnung,  durch 
welche  der  Harn  abfließt  und  in  die  man  eine  dünne 
Sonde  einführen  kann.  In  den  Leistengegenden  tastet 
man  nichts  von  Geschlechtsdrüsen.  Magdalena  gibt  an, 
der  Harn   fließe  ab   aus  der  besagten  Öffnung  unterhalb 


Fig.  32.    Scheinatischer  extramedianer  Sagittaldurchschnitt  durch 

das  Becken  von  Maria  Magdalena  Lefort 

J  =  Sonde  unterhalb  der  Clitoris  in  das  Orificium  vulvae 

eingeführt,    M  =  Vagina,    0  =  Ovarium,    T  =  Tube,    U  =  Uterus, 

1  =  lig.  rotundum,  V  =  Blase,  U  =  Ureter,   d  =  Orificium  urethrae 

R  =  Rectum,  g  =  große  Schamlippen. 

der  Clitoris  sowie  aus  den  vorher  als  Lacunae  Mor- 
gagnii  erwähnten  feinen  Öffnungen,  was  wohl  auf  einem 
Irrtum  beruhen  mag.  Das  Mädchen  gibt  an,  schon  vom 
8.  Jahre  an  menstruiert  zu  sein  —  Menstruatio  praecox. 
Sie  ist    absolut   außer  Stande,    vor  Zeugen  zu   urinieren. 


—    377     — 

Ein  durch  jene  Öffnung  eingeführter  Katheter  entleert 
keinen  Harn,  gerät  nicht  in  die  Blase,  sondern  nimmt 
eine  Eichtung  nach  hinten  zu.  Am  nächsten  Tage  trat 
die  Menstruation  ein,  wovon  die  Ärzte  sich  persönlich 
überzeugten.  Der  Katheter,  jetzt  eingeführt,  wurde  blut- 
gefüllt extrahiert  aus  einer  Höhle,  welche  offenbar  nicht 
die  Harnblase  war  und  vor  dem  Rectum  lag.  Zwischen 
dem  Katheter  und  der  Haut,  welche  die  Schamlefzen 
miteinander  verband,  tastete  man  eine  Scheidewand, 
welche  etwa  zweimal  so  dick  erschien  als  die  Haut  selbst. 
In  der  Tiefe  von  8 — 10  Centimetern  stieß  der  Katheter 


Fig.  33.    Vulva  der  Maria  Magdalena  Lefort. 


in  dieser  Höhle  auf  einen  Widerstand.  B^clard  gelang 
es  sogar,  per  rectum  ein  Gebilde  wie  eine  Portio  vaginalis 
uteri  zu  tasten.  B^clard  allein  erklärte  das  Kind  für 
ein  Mädchen  und  proponierte  die  Durchschneidung  der 
Labialverwachsung,  welche  von  der  Clitoris  an  bis  zur 
Commissura  labiorum  posterior  reichte.  Auf  diese  Operation 
ging  jedoch  das  Mädchen  unvernünftigerweise  nicht  ein. 
Die  Harnröhre  erschien  länger  als  sonst  bei  Frauen, 
sie  reichte  bis  „au  de  la  Symphyse  pubienne  se  pro- 
longeant  sous  le  clitoris  —  disposition    qui  le  rapproche 


—    378    — 

du  p£nis  et  est  fort  rare"  —  Maria  Magdalena  hatte 
die  Regel  vom  8.  bis  zum  49.  Jahre,  empfand  stets  rein 
weiblichen  Geschlechtsdrang  auf  Männer  gerichtet  und 
soll  auch  einen  Beischlafsversuch  gemacht  haben,  der 
aber  natürlich  nur  ein  Beischlafsversuch  blieb.  Trotz  der 
so  eingehenden  und  genauen  Untersuchung  durch  B  4  c  1  a  r  d 
und  der  richtigen  Deutung  des  Untersuchungsbefundes 
durch  Be'clard  blieb  die  Mehrzahl  der  Parsier  Chirurgen 
der  Ansicht,  daß  hier  Hypospadiasis  mascula  mit  Kiypt- 
orchismus  vorliege.  Man  stritt  sich  so  lange  hin  und  her, 
bis  Maria  Magdalena  Lefort  am  20.  XIII.  1864 
infolge  einer  Pleuritis  im  Hospital  in  Paris  starb.  B^clard 
machte  die  Sektion,  welche  40  Jahre  nach  seiner  ersten 
Untersuchung  glänzend  seine  früher  geäußerte  Meinung 
bestätigte.  Die  Person  hätte,  wenn  die  von  B^clard 
geforderte  Operation  vollzogen  worden  wäre,  selbst  conci- 
pieren  können,  wie  die  Sektion  zeigte.  Die  Sektion  erwies, 
daß  die  vorgenannten  5  Offnungen  in  der  Rinne  an  der 
unteren  Fläche  der  Clitoris  nicht  mit  der  Harnröhre 
kommunizierten,  sondern  einfach  den  Lacunae  Mor- 
gagni i  entsprachen.  Die  Öffnung  unterhalb  der  Clitoris 
führte  zunächst  in  ein  durch  Verwachsung  der  Scham- 
lefzen miteinander  in  eine  Höhle  umgewandeltes  Vesti- 
bulum  vaginae  von  6  Zentimeter  Höhe  und  2  Zentimeter 
Umfang.  Man  fand,  wieB6clard  vermutet  hatte,  einen 
Uterus,  normal  gebaut,  und  eine  normale  Vagina  von 
6  Centimeter  Länge  und  74  Millimeter  Umfang.  Columnae 
rugarum  vorhanden.  In  Utero  fand  man  drei  kleine 
Fibrome.  Uterus  von  normaler  Größe.  Der  rundliche 
Muttermund  ließ  eine  Sonde  nur  51  Millimeter  tief 
ein.  Tuben  je  7  Centimeter  lang,  Ovarien  normal  mit 
rupturierten  und  vernarbten  Graafschen  Follikeln. 
Legros  untersuchte  mikroskopisch  die  Ovarien,  fand  aber 
keine  Ovula  mehr,  was  ja  nicht  zu  verwundern  steht,  da 
M  ar i  a  Magdalena  im  Alter  von  65  Jahren  gestorben  war. 


—    379    — 

17)  Beiläufig  füge  ich  hier  ein  Bemerkung  ein  be- 
treffend die  ihrer  Zeit  berühmte  Katharina  Ho  hm  an 
aus  (Mellrichstadt,  den  späteren  Karl  Hohmann. 
KatharinaHohmann  war  als  Mädchen  getauft  worden, 
obgleich  das  Aussehen    der    Genitalien  nichts  Mädchen- 


Fig.  34.    Katharina  Hohmann,  männlicher  Scheinzwitter. 

haftes  bot.  Die  Hebamme  schämte  sich  in  der  Folge 
ihrer  Bestimmung  so,  daß  sie  von  Mellrichsstadt  fortzog. 
Katharina  erreichte  im  15.  Jahre  die  Geschlechtsreife  und 
es  stellten  sich  Pollutionen  ein.  Damals  begann  sie  mit 
Frauen  ;zu  kohabitieren,  aber  die  Ejakulation  erfolgte  da- 
bei stets  sehr  schnell  und  die  Immissio  penis  wurde  wegen 


—    380    — 

seiner  Abwärtskrümmung  niemals  eine  vollständige.  Bis 
zum  20  Jahre  verriet  sich  bei  ihr  nur  das  männliche 
Geschlecht,  später  aber  traten  die  angeblich  menstruellen 
Blutungen  ein  und  zwischen  dem  20.  und  30.  Jahre  sah 
sie  Colostrum  in  den  Brüsten.  Damals  begann  Katharina 
weiblichen  Geschlechtsdrang  zu  empfinden  und  kohabitierte 
jetzt  mit  Männern.  Während  des  Beischlafes  mit  Männern 
erfolgte  keine  Erektion,  Katharina  hatte  aber  dabei 
Samenergüsse,  auch  hatte  sie  mehr  Geschlechtsgenuß,  wenn 


Fig.  35.     Äußere  Genitalien  der  Katharina  Hohmann. 


sie  mit  Frauen  kohabitierte.  Der  männliche  Geschlechts- 
drang war  bei  ihr  stets  am  stärksten  in  den  ersten  2 — 3 
Tagen  nach  der  angeblichen  Periode.  Diese  Periode  soll 
vom  20. — 30.  Jahre  regelmäßig,  dann  seltener  geworden 
sein,   aber  bis  zum  42.  Jahre  gedauert  haben. 

Diese  Person,  welche  von  Virchow,  Rokitansky, 
Schultze,  Friedreich  und  vielen  anderen  hervorragen- 
den Ärzten  untersucht  und  vielfach  beschrieben  wurde, 
hatte  durch  die  Zweifelhaftigkeit  ihres  Geschlechts  lebhafte 


—    381     — 

Kontroversen  hervorgerufen,  indem  sie  bald  für  einen 
Mann,  bald  für  ein  Weib,  bald  für  einen  echten  Zwitter 
erklärt  worden  war.  Tatsache  ist,  daß  Virchow  nor- 
males Sperma  bei  ihr  konstatierte,  es  kann  also  keinem 
Zweifel  unterliegen,  daß  Katharina  Hohman  ein 
männlicher  Scheinzwitter  war,  —  damit  stimmt  auch  die 
Angabe,  daß  Katharina,  welche  mehr  als  40  Jahre  als 
Frau  gelebt  hatte,  später  als  Mann  in  New- York  heiratete 
und  einen  Sohn  erzeugte.  Eigentümlich  und  bisher  nicht 
aufgeklärt  erscheint  nur  der  Umstand,  daß  Katharina 
bis  zum  38.  Jahre  die  Periode  gehabt  haben  soll.  Unter- 
halb des  hypospadischen  Penis  lag  die  Scheidenöffimng. 
Als  Katharina,  40  Jahre  alt,  untersucht  wurde,  konnte 
man  per  vaginam  die  Portio  vaginalis  uteri  tasten.  In 
der  scheinbaren  rechten  Schamlefze  tastete  man  den 
rechten  Hoden,  der  linke  lag  unterhalb  der  äußeren 
Öffnung  des  linken  Leistenkanales.  Die  Schamlefzen 
waren  im  unteren  Teile  in  großer  Ausdehnung  mit  ein- 
ander verwachsen,  also  das  Scrotum  nur  im  oberen  Teile 
gespalten.  Billroth  proponierte  Klara  Hohman  die 
Durchschneidung  dieser  Verwachsung:  sie  ging  jedoch 
auf  die  Operation  nicht  ein.  —  Dieser  Vorschlag  Bi  11- 
roth's  ist  es,  weshalb  ich  diese  Beobachtung  hier  er- 
wähne. Katharina  hat  sowohl  mit  Männern  als  auch 
mit  Frauen  kohabitiert,  was  ja  auch  verständlich  ist, 
insofern  die  physische  Möglichkeit  dazu  vorlag.  Katha- 
rina resp.  Karl  Hohmann  starb  1881  in  New- York 
zur  Zeit  als  Mann  verheiratet.  Sie  war  ein  männlicher 
Scheinzwitter  mit  stark  entwickelten  Brüsten,  Hypospadie 
des  ganzen  Penis  und  teilweiser  Hypospadie  des  Scrotum 
und  angeblicher  Menstruation.  —  Siehe  Abbildungen: 
Fig.  34  u.  35.  — 

R.  Virchow  [„Vorstellung  eines  Hermaphroditen" 
Berliner  klinische  Wochenschrift  1872,  No.  49,  pg.  585] 
stellte  die  Katharina  Hohmann  in  der  Berliner  ärzt- 


—    382    — 

liehen  Gesellschaft  vor,  nachdem  sie  bereits  1867  in 
Berlin  untersucht  worden  war.  Der  Erste,  welcher 
Katharina  für  einen  Zwitter  erklärt  hatte,  war  Dr. 
Reder  in  Mellrichstadt,  dem  Geburtsorte  Katharina's: 
sie  hatte  ihn  wegen  eines  Leistenbruches  konsultiert. 
Friedreich  beobachtete  Katharina  lange  Zeit  hindurch 
in  seiner  Heidelberger  Klinik,  dann  Bernhardt 
Schultze  in  Jena,  dann  v.  Koelliker  und  v.  Reck- 
linghausen in  Würzburg,  Krause  in  Budapest,  Hoff- 
mann in  Basel  und  Andere.  Friedreich  konstatierte 
zuerst  normales  Sperma  der  Katharina,  konnte  aber 
weder  eine  Prostata  noch  Samen  blasen  als  reeeptaculum 
seminis  tasten,  v.  Franqu6,  v.  Scanzoni,  v.  Reck- 
linghausen garantieren  dafür,  daß  die  von  Katha- 
rina angegebene  regelmäßige  Blutausleerung  aus  den 
Genitalien,  die  angebliche  Menstruation,  auf  voller  Wahr- 
heit beruhe.  Die  Blutungen  dauerten  je  zwei  Tage,  das 
ausgeschiedene  Blut  war  mit  Schleim  gemischt.  Alle 
diese  Autoren  behaupten,  das  TJlut  sei  aus  der  Harn- 
röhrenöffnung ausgeschieden.  Friedreich  untersuchte 
das  Blut  mikroskopisch  und  schlug  jede  Vermutung 
nieder,  daß  das  Blut  kein  menschliches  sondern  tierisches 
sei.  Virchow  sagt,  die  Blutungen  seien  zwar  nicht 
absolut  periodische,  regelmäßige  gewesen,  sollen  sich  aber 
von  Zeit  zu  Zeit  wiederholt  haben.  Wenn  eine  menstruelle 
Blutung  einer  Eireifung  entspricht,  wo  soll  man  also  hier 
den  Eierstock  suchen?  fragt  Virchow. 

Rokitansky  gab  an,  er  halte  das  vor  dem  linken 
Leistenkanale  liegende  Gebilde  nicht  für  eine  Geschlechts- 
drüse, sondern  für  einen  obliterierten  Bruchsack.  Vir- 
chow möchte  diese  Behauptung  nicht  ohne  Weiteres 
aeeeptieren,  er  verzichtete  darauf,  eine  bestimmte  Ansicht 
über  die  Natur  dieses  linksseitigen  Gebildes  auszusprechen. 

Virchow  schreibt  bezüglich  der  von  den  Forschern 
bei  Katharina   gesuchten  Ovarien   wörtlich  folgendes: 


—    383    — 

„Man  ist  daher,  weil  das  Ovarium  bisher  nirgends  in  den 
äußeren  Genitalien  getastet  wurde,  nach  Innen  gewiesen 
und  hier  stehen  sich  die  Angaben  der  verschiedenen 
Untersucher  stark  entgegen.  Zuerst  hat  Bernhard 
Schultze  die  positive  Angabe  gemacht,  daß  er  innerlich 
auf  der  linken  Seite  und  zwar  ziemlich  weit  nach  außen 
einen  mehrere  Zentimeter  großen  gegen  Druck  stark 
empfindlichen  Körper  gefunden  habe,  der  durch  einen 
Verbindungsstrang  mit  einem  noch  zu  erwähnenden 
Uterus  im  Zusammenhange  stehe.  Er  spricht  diesen 
Körper  als  Ovarium  an,  welches  demnach  relativ  an  der 
richtigen  Stelle  liegen  würde.  Friedreich  erklärte 
jedoch  ebenso  positiv,  daß  es  ihm  unmöglich  sei,  irgend 
etwas  von  diesem  Körper  zu  finden.  Die  Höh  mann 
sagte  mir  nach  langjähriger  Erfahrung,  daß  ein  längerer 
Finger  dazu  gehöre,  als  der  meinige  ist.  In  Breslau  sei 
nur  ein  einziger  Professor  gewesen,  der  soweit  habe 
hinaufreichen  können.  Ich  muß  also  in  diesem  Punkte 
mein  Urteil  salvieren.  Jedenfalls  habe  ich  diesen  Körper 
nicht  gefühlt.  [Nach  dem  Buche,  welches  die  Höh  mann 
mit  sich  führt,  haben  die  Erlanger  Professoren  Ziemsse n, 
Zenker,  Roßhirt,  C.  E.  E.  Hoffmann,  Hegar, 
Breisky  und  Spiegelberg  diesen  Körper  gefühlt,  in- 
dessen differierten  ihre  Angaben  erheblich  in  bezug  auf 
seine  Größe.]  Anders  verhält  es  sich  in  Beziehung  auf 
den  mittleren  Teil  des  Geschlechtsapparates.  In  dieser 
Beziehung  darf  ich  wohl  hervorheben,  daß  alle  Herma- 
phroditen hierin  die  größte  Übereinstimmung  bieten. 
Alle  Zwitter,  auch  die  unvollständigen,  kommen  darin 
überein,  daß  der  mittlere  Teil  des  Geschlechtsapparates 
für  einen  Mann  zu  stark,  für  eine  Frau  zu  schwach 
entwickelt  ist.  Auch  bei  männlichen  Hermaphroditen 
findet  sieh  statt  der  Vesicula  prostatica,  die,  wie  man 
gewöhnlich  sagt,  Repräsentantin  des  Uterus  ist,  während 
man    eigentlich    sagen     sollte,    der    Vagina,    ein    wirk- 


—    384    — 

licher  Uterus.  Wenn  mau  in  die  Urethra  eingeht,  so 
kann  man,  wie  es  auch  bei  der  Hohmann  der  Fall 
ist,  den  Katheter  ohne  Schwierigkeit  bis  in  die  Blase 
bringen:  die  Urethra  ist  länger  als  beim  gewöhnlichen 
Frauenzimmer.  Geht  man  mit  dem  Katheter  aber  an 
der  hinteren  Fläche  fort,  so  stößt  man  in  gewisser  Ent- 
fernung auf  einen  klappenartigen  Widerstand,  und  wenn 
man  hier  sehr  vorsichtig,  etwa  mit  einer  Sonde  eindringt, 
so  gelangt  man  in  einen  Kanal,  die  Vagina.  Dieselbe 
ist  durch  ein  langes  Stück  Urethra  [Canalis  urogenitalis], 
welches  in  diesem  Falle  also  gleichzuachten  ist  einem 
verlängerten  Vestibulum  vaginae,  von  der  äußeren  Ober- 
fläche getrennt  Die  Vagina  ist  allerdings  klein  und 
kurz,  aber  unverkennbar.  Dagegen  ist  der  Uterus  höchst 
rudimentär.  Das  Verhältnis  ist  so,  daß  an  der  verhältnis- 
mäßig langen  Vagina  ein  ganz  kurzes  Endstück  sitzt  und 
von  diesem  aus  ein  Strang  nach  links  hinabgeht,  an  dessen 
Ende  man,  nach  Schultzeu.  A.  auf  ein  wirkliches  Ovarium 
stößt.  Wenn  man  durch  das  Rectum  eingeht,  so  kann 
man  den  nach  links  gehenden  Strang  deutlich  fühlen. 
Ob  am  Ende  dieses  Stranges  ein  besonderer  Körper  liegt, 
kann  ich  nicht  angeben,  nur  kann  ich  bestätigen,  daß  die 
Person  an  dieser  Stelle  sehr  empfindlich  ist.  Das  ist 
Dasjenige,  was  ich  über  den  Befund  an  den  Genitalien 
mitteilen  kann:  ein  sehr  kurzer,  stark  nach  rückwärts 
gebogener,  unter  den  Hautdecken  größtenteils  verborgener 
hypospadischer  Penis,  über  dessen  Oberfläche  zwei 
nymphenartige  Krausen  sich  hinziehen,  ein  entwickeltes 
rechtes  Scrotum  mit  einem  Hoden,  ein  stark  verkümmertes 
linkes  ohne  einen  solchen,  eine  für  ein  Weib  unverhältnis- 
mäßig lange  Urethra,  welcher  nach  rückwärts  ein  feiner, 
enger  Vaginalkanal  ansitzt,  der  in  ein  kleines,  ver- 
kümmertes Ende  [Uterus]  ausläuft,  von  welchem  noch 
ein  kleiner,  vielleicht  dem  Ligamentum  ovarii  oder  der 
Tuba    entsprechender    Teil    entspringt,    auf    der    linken 


—    385    — 

Seite  eine  Tuba,  endlich  keine  Samenbläschen  und  keine 
Prostata,  sondern  nur  ein  Vas  deferens,  von  welchem 
man  allerdings  vermuten  kann,  daß  es  in  den  eigentlich 
urethralen  Teil  münden  wird.  Die.  Mammae  der  48- 
jährigen  Katharina  sind  sehr  stark  entwickelt,  obwohl 
sie  schon  im  Rückgänge  begriffen  sind  seit  Aufhören  der 
Menstruation.  Katharina  behauptet,  daß  zuweilen  auf 
Druck  sich  aus  den  Mammae  weißliche  Flüssigkeit  ent- 
leerte. Haarwuchs  im  Allgemeinen  mehr  dem  weiblichen 
Typus  entsprechend.  Kopfhaare  mäßig  lang,  glatt, 
schwarz.  Katharina  behauptete,  die  Haare  seien 
früher  länger  gewesen,  sie  seien  sehr  ausgegangen  und 
haben  nicht  mehr  die  frühere  Länge  angenommen,  nach- 
dem ein  Lehrer  der  Anatomie  ihren  Testikel  so  sehr 
gedrückt  hätte,  daß  sie  nicht  blos  vor  Schmerz  umge- 
fallen, sondern  auch  eine  Zeit  lang  darnach  infolge  einer 
Entzündung  krank  gelegen  habe.  Virchow  bestätigt, 
daß  das  Haupthaar  früher  länger  gewesen  ist.  Umge- 
kehrt ist  der  Bartwuchs  nicht  so  sehr  entwickelt,  es 
existiert  kein  Bart  in  der  Art  eines  männlichen,  sondern 
nur  hier  und  da  einige  längere  Haare,  welche  sich  die 
Katharina  herunterschneidet." 

Virchow  hat  Katharina  Ho  hm  an  n  als  Mann 
und  als  Weib  gekleidet  gesehen  und  behauptet  entgegen 
früheren  Beobachtern,  der  Gesammteindruck,  den  er 
empfangen,  sei  eher  weiblich  als  männlich,  die  weibliche 
Erscheinung  sei  viel  mehr  harmonisch.  Auch  die  Form 
des  Rumpfes  und  der  Extremitäten  sei  mehr  weiblich, 
nur  das  Becken  sei  männlich.  Katharina  hat  den 
Beischlaf  mit  Mann  und  Frau  versucht  und  gibt  an,  in 
ihrer  Jugend  habe  sie  mehr  die  Neigung  empfunden,  sich 
als  Weib  zu  gerieren,  in  späteren  Jahren  aber  die  um- 
gekehrte, als  Mann.  In  ihrer  Heimat  trat  sie  in  den 
letzten  Jahren  nur  als  Frau  gekleidet  auf;  die  männliche 
Kleidung,    die   sie   auf   ihren   Schaustellungsreisen  trägt, 

Jahrbuch  V.  25 


—     386    — 

legt  sie  auf  der  letzten  Station  vor  ihrer  Vaterstadt  ab. 
Sie  war  auf  den  Namen  Katharina  getauft  und  galt 
bei  sich  zu  Hause  rechtlich  und  gesellschaftlich  als  Frau, 
als  Kind  dürfte  sie  also  wohl  einen  weiblichen  Eindruck 
gemacht  haben.  Schwerlich  würde  sie  die  Schulzeit  als 
Mädchen  durchgemacht  haben,  schreibt  Virchow,  wenn 
man  sie  für  einen  verkleideten  Jungen  angesehen  hätte. 
Von  besonderer  Bedeutung  ist,  daß  die  linke  Seite,  auf 
welcher  sich  an  den  Genitalien  die  wesentliche  Anomalie 
concentriertj  auch  am  übrigen  Körper  weniger  entwickelt 
ist.  Es  gilt  dies  nicht  bloß  von  den  Extremitäten,  an 
denen  ein  solches  Zurückbleiben  weniger  auffällig  wäre, 
sondern  auch  vom  Rumpfe  und  Gesicht.  An  letzterem 
ist  die  mangelhafte  Entwickelung  schon  von  weitem  recht 
auffällig.  Daraus  scheint  hervorzugehen,  daß  es  sich 
nicht  bloß  um  eine  lokale  Bildungshemmung  handelt,  daß 
vielmehr  der  Hermaphroditismus  nur  eine  Teilerscheinung 
einer  allgemeiuen  Störung  ist."  —  Soweit  Virchow. 

Ich  habe  absichtlich  an  dieser  Stelle  dieses  ausführ- 
liche Citat  nach  Virchow  eingefügt,  weil  in  demselben 
Gedanken  angeregt  sind,  denen  sonst  in  der  Betrachtung 
von  Scheinzwittern  und  in  der  Beschreibung  nur  selten 
einmal  Rechnung  getragen  wurde  so  z.  B.  in  der  Be- 
merkung bezüglich  eines  Falles,  die  rechte  Gesichtshälfte 
habe  einen  männlichen  Ausdruck  gehabt,  die  linke  einen 
weiblichen,  die  obere  Körperhälfte  habe  einen  männlichen 
Eindruck  gemacht,  die  untere  einen  weiblichen  etc.  An 
anderer  Stelle  werde  ich  auf  diese  Punkte  näher  ein- 
gehen. 

18)  K  ei  ff  er  [Un  cas  de  virilisine  „Socidte*  Beige 
de  Gyn^cologie  et  d'Obst&rique  1896  No.  10  pg.  214.] 
(Referat;  Centralblatt  für  Gynäkologie  1897  No.  17  pg.  479) 
stellte  ein  Individuum  vor,  eine  Frau,  bei  der  er  infolge 
von  intermittierender  Amenorrhoe  und  Dysmenorrhoe  den 
Uteruskanal  erweitert  und  eine  Auskratzung  vorgenommen 


—    387    — 

hatte.  Trotz  rudimentärer  Entwicklung  der  Genitalien 
war  die  Periode  schon  im  10.  Lebensjahre  eingetreten, 
wiederholte  sich  aber  nur  in  Abständen  von  je  7 — 8 
Monaten.  Die  äußeren  Genitalien  sehen  kindlich  aus,  die 
inneren  Genitalien  machen  einen  weiblichen  Eindruck, 
die  äußeren  dagegen  einen  männlichen  bei  Hypospadiasis, 
also  die  Scham  sieht  männlich  aus.  Die  25jährige 
Josephine  X.  mit  langem  Haupthaar  trägt  weib- 
liche Kleidung,  rasiert  sich  oft  ihren  Schnurrbart  und 
Backenbart.  Wegen  mangelnden  Unterhautfettpolsters 
kontourieren  sich  die  Muskeln  sichtbar.  Unterleib  und 
untere  Extremitäten  sehr  reich  behaart.  Mammae  rudimen- 
tär entwickelt,  Mamillae  behaart,  Skelett  und  Becken 
ganz  männlich.  Josephine  macht  sowohl  in  sitzender 
Position  sowie  auch  in  stehender  ganz  den  Eindruck 
eines  Mannes.  Die  sehr  gering  angelegten  kleinen 
Schamlippen  liegen  zur  Seite  einer  sehr  engen  Scham- 
spalte; oberhalb  der  Schamspalte  eine  erectile  Clitoris- 
Pseudopenis  —  so  groß  wie  bei  einem  10jährigen  Knaben. 
Harnröhrenöffnung  weiblich,  aber  an  der  unteren  Fläche 
der  hypertrophischen  Clitoriseine  deutlich  sichtbare  Rinne. 
Scheide  eng  und  tief,  Uterus  sehr  klein,  6  cm  lang,  mit 
engem  Kanal.  Auch  sub  narcosi  gelang  es  nicht,  Ge- 
schlechtsdrüsen irgendwo  zu  tasten.  Aus  der  Beschrei- 
bung ist  es  nicht  ersichtlich,  ob  Keiffer  seine  Opera- 
tion bei  einem  männlichen  oder  bei  einem  weiblichen 
Scheinzwitter  gemacht  hat.  Das  Einzige,  was  für  weib- 
liches Geschlecht  zu  sprechen  scheint,  ist  die  Angabe 
der  stattgehabten  menstrualen  Blutungen,  wenn  es  sich 
tatsächlich  um  solche  gehandelt  hat. 

19)  P£an  [siehe  im  Vorhergehenden,  Gruppe  IL 
No.  2)  versuchte  auf  plastischem  Wege  durch  einen  Ein- 
schnitt zwischen  Orificium  urethrae  und  Orificium  ani 
eine  Scheide  zu  schaffen  bei  einem  ursprünglich  als  Mäd- 
chen erzogenen,  später  irrtümlich  als  Knaben  bestimmten 

25* 


—    388    — 

Individuum,    bei    dem  er  schliesslich  auf  dem  Wege  des 
Bauchschnittes  weibliches  Geschlecht  konstatierte. 

20)  Roux  [Annales  de  Gyn^cologie  et  d'Obst^trique 
1891  Vol.  XXXV  pg.  324]  beschreibt  eine  36jährige 
verheiratete  Frau  mit  Atresia  vaginae  und  labialer  Ektopie 
beider  Ovarien.  Niemals  Periode.  Nach  Vollziehung 
einer  plastischen  Operation  wurde  diese  Frau  beischlafs- 
fähig. Leider  stand  mir  die  Originalbeschreibung  nicht 
zu  Gebote,  sodaß  ich  nicht  sagen  kann,  ob  man  nur  ver- 
mutete, daß  die  in  den  Schamlefzen  liegenden  Gebilde 
Ovarien  waren  oder  ob  ein  Beweis  dafür  geliefert  wurde. 

21)  Sonnenburg  [siehe  Jacoby.  „Zwei  Fälle  von 
Hermaphroditenbildung"  D.  I.  Berlin  1885]  operierte  in 
einem  Falle  von  weiblichem  Scheinzwittertum  im  Berliner 
Israelitischen  Krankenhause.  Er  durchschnitt  eine  Ver- 
wachsung der  großen  Labia  pudendi  bei  einem  Mädchen 
mit  Clitorishypertrophie  behaftet.  Das  Original  von 
Jacoby  war  mir  nicht  zugänglich,  auch  konnte  Herr 
Professor  Sonnenburg  mir  nicht  mehr  mit  einem 
Exemplare  der  Dissertation  aushelfen. 

22)  Tauber  [Warschau]  amputierte  den  hypospadi- 
schen  Penis  in  einem  schon  im  vorigen  Jahrgange  dieses 
Jahrbuches  von  mir  ausführlich  beschriebenen  Falle  von 
Erreur  de  sexe  [Gruppe IV.,  Fall  7]  Bei  dem  21jähri- 
gen  verlobten  Mädchen  wurde  nach  Abtragung  der 
Hoden  aus  den  Schamlefzen  durch  Dr.  Kociatkiewicz 
zweifellos  männliches  Scheinzwittertum  konstatiert,  gleich- 
wohl amputierte  Professor  Tauber  zwei  Jahre  später 
das  hypospadische  Membrum  virile.  Die  Person  wurde 
nach  dieser  zweiten  Operation  noch  korpulenter  als  nach 
der  Kastration  und  sehr  melancholisch,  soviel  ich  gehört 
habe.  Eine  Berechtigung  zu  dieser  Operation  sehe  ich 
in  diesem  Falle  nicht  ein. 

23)  Vincent  [„Sexe  incertain"  LyonM^dical  1897] 
wurde   zu  einem  sechswöchentlichen  unehelich  geborenen 


—    389    — 

Kinde  geholt.  Defectus  ani  et  urethrae.  In  der  Gegend 
der  Scham  zwei  „bourgeons  cutan^s":  es  blieb 
fraglich,  ob  dies  rudimentäre  Schamlefzen  waren  oder 
Hälften  eines  Scrotum  fissum?  Zwischen  diesen  „bour- 
geons"  lag  eine  dellenf orange  Vertiefung,  von  einer 
glatten  Membran  ausgekleidet.  Vincent  durchschnitt 
diese  Membran,  eine  Sonde  drang  jetzt  5  Centimeter 
tief  in  einen  Kanal  ein,  aus  dem  der  Harn  floss:  es  sollte 
dies  die  Vagina  sein,  eine  Urethra  fehlte.  Er  machte 
künstlich  eine  zweite  Öffnung,  legte  einen  Anus  coccygeus 
an.  Das  Kind  lebt,  wurde  also  durch  diesen  Eingriff 
gerettet,  das  Geschlecht  blieb  fraglich. 

Anhang : 
Sechste  Gruppe: 

Auf  die  Beseitigung  der  penlscrotalen  Hypospadie 
gerichtete  Operationen. 

Anhangsweise  füge  ich  hier  die  Kasuistik  der  Fälle 
hinzu,  wo  bei  männlichen  Scheinzwittern  resp.  bei  Hypo- 
spadiasis  peniscrotalis  ausgedehntere  plastische  Operationen 
zur  Anwendung  kamen,  um  dem  Manne  das  Harnen 
nach  Männerart  zu  ermöglichen,  resp.  einen  Beischlaf  und 
Schwängerung  zu  erleichtern. 

1)  C.  Beck  [A  case  of  Hermaphrodism  (?)  — 
Medical  Record  25.  Juli  1899]  beabsichtigte  in  seinem 
im  Vorhergehenden  erwähnten  Falle  auf  dem  plastischen 
Wege  nach  Thiersch  eine  penile  Urethra  herzustellen, 
jedoch  kam  es  dazu  nicht,  da  das  Individuum  nach 
dem  Bauchschnitte  verstarb  [siehe  im  Vorhergehenden, 
Gruppe  IV,  Fall  5.)  Nachdem  Hoden-Sarkome  aus  der 
Bauchhöhle  herausgeschnitten  worden  waren,  erkrankte 
die  Person  am  18.  Tage  nach  dem  Bauchschnitte  an 
Lungenentzündung  und  starb  drei  Tage  darauf.     [Medical 


—    390    — 

Record  25.  Juli  1896  pg.  2  und  3  des  Separatabdruckes 
finden  sich  die  Abbildungen  der  äusseren  Genitalien. 
Carl  Beck:  „Die  Operation  der  Hypospadie."  Münch. 
Med.  Woch.  1901,  Nr.  45,  pg.  777. 

2)  Thomas  Brand  vollzog  in  Gegenwart  von 
Hunter  an  einem  bis  zum  7.  Jahre  als  Mädchen  geltenden 
männlichen  Scheinzwitter  eine  Operation  wegen  schmerz- 
haften Hamens.  Der  Penis  war  nach  abwärts  gekrümmt 
aber  von  der  Urethra  durchbohrt.  Die  äußeren  Ge- 
schlechtsteile sollen  wie  bei  einem  Mädchen  ausgesehen 
haben.  (Scrotalhypospadie?)  [„The  case  of  a  boy  had 
been  mistaken  for  a  girl."]     London  1787. 

3)  Castellana  vollzog  eine  ausgedehnte  Plastik  bei 
einem  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitter  mit  so  glän- 
zendem Resultate,  dass  die  neugeschaffene  Harnröhren- 
mündung kaum  einige  Centimeter  rückwärts  einer  nor- 
malen männlichen  Harnröhrenöffnung  zu  liegen  kam  und 
das  Individuum  den  Harn  abgeben  konnte  nach  Männer- 
art „senza  bagniarsi  i  Calzoni."  (Uretroplastia  e  chiusura 
dell  orificio  vaginale  in  uno  caso  d'ipospadie  perineale  con 
Cryptorchismo  e  vagina  rudimentale  bifida,"  Riforma 
Medica.  Aug.  XV.  N.  213—215  pg.  769).  Siehe  meinen 
Aufsatz  im  vorigen  Jahrgange  dieses  Jahrbuchs,  Fig.  5 
daselbst. 

4)  Fe*lizet  [Bulletins  et  M&noires  de  la  Soctete' 
de  Chirurgie.  Paris  1902.  Tome  XXVIII.  Nr.  32  pg. 
973].  Im  Jahre  1899  wurde  in  das  Pariser  Hospital 
Tenon  ein  lOjähriges  Mädchen  gebracht,  ein  Zwitter 
mit  sehr  hypertrophischer  Clitoris.  Grosse  Scham- 
lefzen gut  entwickelt,  die  kleinen  rudimentär.  Die 
grossen  Schamlefzen  waren  trotz  des  jugendlichen  Alters 
schon  behaart,  eine  Vagina  fand  man  nicht.  In  jeder 
Schamlefze  tastete  man  Hoden,  Nebenhoden  und  Samen- 
strang.    Keine    Hernie    vorhanden.     Per  rectum    tastete 


—    391     — 

man  eine  5  Millimeter  dicke  Membran,  welche  das  kleine 
Becken  in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte  zu  teilen  schien. 
Kein  Uterus  getastet.  Man  konstatierte  also  eine 
Erreur  de  sexe  und  brachte  zunächst  das  Mädchen 
aus  der  Frauenabteilung  in  einen  Männersaal  herüber. 
F^lizet  frischte  die  Ränder  der  Schamlefzen,  also  der 
beiden  Scrotalhälften,  an  und  vernähte  sie  miteinander. 
Die  Plastik  an  dem  Penis  hypospadiäus  ergab  momentan 
nicht  den  gewünschten  Erfolg,  weil  das  Kind  sich  nicht 
vernünftig  genug  betrug  für  eine  aussichtsvolle  Nach- 
behandlung. Jetzt  nach  drei  Jahren  kam  der  Knabe 
wieder  in  das  Hospital,  um  die  Hypospadie  von  Penis 
und  Glans  zu  beseitigen.  Der  Knabe  masturbierte  be- 
reits und  hatte  Erektionen  und  Ejakulationen.  F^lizet 
beabsichtigt  jetzt  die  noch  nötigen  Eingriffe  zur  Voll- 
endung der  Plastik  vorzunehmen. 

5)  Garrä  [siehe Doerf ler:  „Hypospadiaperinaealis" 
Rostocker  Aerzteverein  II.  VI.  1898.  Referat: 
Münchener  Medicinische  Wochenschrift  1898  Bd.  XLV. 
pg.  356 — 361].  Ein  löjähriges  Mädchen  wurde  von  den 
Eltern  in  das  Hospital  gebracht,  weil  dieselben  dessen 
weibliches  Geschlecht  bezweifelten.  Man  konstatierte  eine 
erreur  de  sexe.  Hypospadiasis  peniscrotalis,  Hoden 
und  Zubehör  lagen  in  den  Scrotalhälften;  der  hypo- 
spadische  rudimentäre  Penis  lag  zwischen  den  Scrotal- 
hälften verborgen  nach  unten  gekrümmt.  Eine  Vaginal- 
öffnung fand  man  nicht;  orificium  urethrae  drei  Centimeter 
oberhalb  der  Analöffnung  belegen.  Garr£  vollzog  eine 
Reihe  plastischer  Eingriffe  mit  dreifachem  Ziel:  erstens 
um  das  Glied  gerade  zu  richten  und  zu  verlängern, 
zweitens,  um  nach  der  Methode  von  Duplay  eine  Penis- 
harnröhre  zu  schaffen,  drittens,  um  die  so  neu  geschaffene 
Penisharnröhre  zu  vereinigen  mit  der  scheinbar  weiblichen 
Harnröhrenöffnung.  Das  Resultat  war  so  vorzüglich,  daß 
heute    auch    der    Laie    nicht    mehr   an  dem  männlichen 


—    392    — 

Geschlechte  zweifeln  dürfte.    Das  Kind  verließ  die  Klinik 
in  männlichen  Kleidern. 

6)  Krajewski  begann  eine  Plastik  bei  peniscrotaler 
Hypospadie  in  einem  von  mir  beschriebenen  Falle  von 
erreur  de  sexe,  ein  18 jähriges  Mädchen  betreffend, 
jedoch  wurde  nur  die  quere  Durchschneidung  des  den 
Penis  hypospadiaeus  nach  unten  biegenden  Stranges  ge- 
macht mit  Längsvernähung  der  gesetzten  Wunde,  dann 
entzog  sich  diese  Person  der  weiteren  Behandlung. 

7)  Malt  he  [Magazin  for  Laegevidenskab  4 -de 
raekke,  10- de  Bind,  pg.  58:  Forhandlinger  Med. 
Selskab  Moede  20 -de  Marts  1895].  Man  konstatierte 
bei  einem  28jährigen  Mädchen  eine  erreur  de  sexe 
und  fand  Hypospadiasis  peniscrotalis:  die  Hoden  lagen 
in  scroto  fisso.  Anna  Marie  diente  als  Milchmädchen 
in  einer  Milchwirtschaft.  Man  machte  8  Operationen 
nach  der  Reihe  behufs  Plastik  —  und  —  h'/ute  öffnet 
sich  die  neugeschaffene  Harnröhre  in  glande  penis.  Die 
Ejakulationen  finden  so  statt,  daß  der  Mann  jetzt  ohne 
Weiteres  befruchtungsfähig  erscheint. 

8)  Marwedel:  „ Erfahrungen  über  die  Beck'sche 
Methode  der  Hypospadieoperation."  Beiträge  zur  klinischen 
Chirurgie  XXIX.  —  I  pg.  25  —  1901. 

9)  Thiersch  vollzog  eine  Reihe  plastischer  Opera- 
tionen bei  einem  männlichen  Scheinzwitter,  der  jedoch 
infolge  einer  Peritonitis  zu  Grunde  ging  —  siehe  im 
Vorhergehenden  Gruppe  III  Fall  11. 

10)  Tuffier  Traitement  de  Phypospadiasis  par  la 
tunellisation  du  p6nis  et  Papplication  des  greffes  Olli  er 
—  Thiersch  (Annales  des  maladies  des  organes  genito- 
urinaires.     Paris  Avril  1899.) 

11)  Vi  11  e min  [Soctete*  de  Pädiatrie.  S^ance  du 
14.  Mars  1899.  U  Inde'pendance  m^dicale  1899  No.  12 
pg.  94]  stellte  einen  15jährigen  Knaben  vor  nach  von 
ihm  vollzogener  Plastik    bei  Hypospadiasis   peniscrotalis. 


—    393    — 

Der  verkannte  Junge  war  bisher  als  Mädchen  erzogen 
worden  und  hatte  man  dem  Mädchen  ein  Bruchband 
angelegt,  in  der  Meinung,  es  liege  ein  Bruch  vor,  während 
dieser  durch  den  Hoden  vorgetäuscht  worden  war. 

12)  Waitz:  „PerinaealeHypospadie  bei  einem  Knaben 
durch  plastische  Operation  behoben."  Münchener  Medicin. 
Wochenschrift  1899  pg.  300. 


Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  eine  Analyse  der  vor- 
liegenden Kasuistik  nach  sämtlichen  Richtungen  hin  eine 
Arbeit  liefern  würde,  welche  den  Rahmen  eines  Beitrages 
für  dieses  Jahrbuch  weit  überschreiten  würde,  würde  doch 
z.  B.  die  Betrachtung  jeder  einzelnen  zu  berücksichtigenden 
Frage  ein  umfangreiches  Kapitel  bilden,  z.  B.  die  Zusammen- 
stellung des  Verhältnisses  der  secundären  Geschlechts- 
charaktere zum  anatomischen  Charakter  der  Geschlechts- 
drüsen, die  kritische  Sichtung  des  überaus  reichen  Materials 
von  katamenial  wiederkehrenden  Molimina  bei  männlichen 
Scheinzwittern,  welche  den  Molimina  menstrualia  gleich- 
kommen, das  Verhältnis  des  Geschlechtstriebes  zu  den 
Geschlechtsdrüsen,  die  mangelnde  oder  excessive  Energie 
des  Geschlechtstriebes  etc.,  die  kritische  Beleuchtung  der 
als  menstruell  bezeichneten  periodischen  Genitalblutungen 
bei  männlichen  Scheinzwittern  und  viele  andere  Fragen. 
Ich  werde,  soweit  meine  Zeit  es  gestattet,  jede  dieser 
Fragen  gesondert  erörtern  und  muß  mich  heute  gemäß 
dem  Plane  dieses  Aufsatzes  auf  die  Erörterungen  der  für 
den  Chirurgen  in  Frage  kommenden  Tatsachen  beschränken. 
Die  Kasuistik  liefert  uns  ein  überreiches  Material. 

Da  in  der  dritten  Gruppe  drei  Fälle  von  Konstatierung 
der  Gegenwart  eines  Uterus  mit  aufgezählt  wurden, 
welche  schon  in  der  ersten  Gruppe  aufgezählt  waren 
[Fälle   von  Pozzi,  Sänger  und  Stonham],  so  reduziert 


—    394    — 

sich  die  Zahl  der  in  Frage  kommenden  Individuen  auf  54. 
Auf  54  Individuen  kommen  nicht  weniger  als  42  Fälle 
von  Erreur  de  sexe  vor,  ein  für  die  Diagnose  des 
Geschlechtes  schwerwiegendes  Moment,  umsomehr  als  in 
den  meisten  Fällen  das  angebliche  Geschlecht  der  einer 
Operation  unterworfenen  Person  gar  nicht  angezweifelt 
worden  war  —  in  den  weitaus  meisten  Fällen  war  das 
Resultat  der  Operation  quoad  sexum  ein  für  den  Operateur 
überraschendes,  unerwartetes!  Nur  Buchanan 
(Gruppe  I,  Fall  5),  Green  (Gruppe  I,  Fall  8),  Doederlein 
(Gruppe  I,  Fall  17),  Porro  (Gruppe  I,  Fall  24),  Sänger 
(Gruppe  I,  Fall  27),  Swiencicki  (Gruppe  I,  Fall  33), 
Tillaux  (Gruppe  I,  Fall  34)  vermuteten  vor  der 
Operation  eine  Erreur  de  sexe,  also  nur  6  mal  auf 
die  38  Operationen  der  ersten  Gruppe  wurde  eine 
Erreur  de  sexe  vermutet.  Bei  35  Mädchen,  2  ver- 
heirateten Frauen  und  1  Witwe  wurden  Hoden  entdeckt. 
In  der  zweiten  Gruppe  wurde  zweimal  weibliches  Geschlecht 
eines  Knaben  resp.  eines  erwachsenen  Mannes  konstatiert 
(Fälle  von  P6an  und  Walt  her).  In  der  dritten  Gruppe 
wurde  13  mal  tubulärer  Hermaphroditismus,  also  mehr 
weniger  hochgradige  Entwicklung  der  Müller' sehen 
Gänge  bei  Männern  resp.  bei  3  als  Mädchen  erzogenen 
männlichen  Scheinzwittern  entdeckt. 

Die  Veranlassung  zu  dem  Leistenschnitt  ergaben 
meist  Bruchbeschwerden,  und  in  den  Fällen  von  Pean, 
Porro,  Tillaux  und  Thiersch  wurde  der  Leisten- 
schnitt resp.  Labial-  resp.  Scrotalschnitt  ausschließlich  zu 
diagnostischen  Zwecken  vorgenommen.  Bei  dea  38  als 
Mädchen  erzogenen  Scheinzwittern  lag  in  den  wenigsten 
Fällen  ein  Bruch  mit  Darm-,  Netz-  oder  Harnblasen- 
anteil als  Inhalt  vor,  meist  handelte  es  sich  um  einseitigen 
oder  beiderseitigen  Descensus  testiculi  retardatus. 


395    — 


Erste  Gruppe. 

38  Operationen  an  männlichen  Scheinzwittern,  als 

Mädchen  erzogen.     In   welchem  Alter  wurde  die 

Erreur  de  sexe  konstatiert? 

Fall  1:  Nach  rechtsseitiger  Herniotomie  bei  der  6  jähr. 
Klara  Hacker.  Der  Bruch  war  vor  8  Tagen  plötzlich 
aufgetreten.  Im  13.  Jahre  war  ein  linksseitiger  Bruch 
operiert  worden:  Hoden,  Nebenhoden  und  Samenblase 
entfernt. 

Fall  2:  Einseitige  Herniotomie  im  24.  Jahre  bei  ander- 
sartigem Kryptorchismus. 

Fall  3 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  14jähr.  Mädchen. 

Fall  4 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  14jähr.  Mädchen. 

Fall  5 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  9jähr.  Mädchen. 

Fall  6 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  24jähr.  Mädchen. 

Fall  7 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einer  42jähr.  Witwe. 
Der  Descensus  testiculorum  war  erst  vor  einigen 
Tagen,  also  im  42.  Lebensjahre,  nach  Aufheben  einer 
Last  plötzlich  entstanden. 

Fall  8:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  24 jähr. 
Mädchen.  Erreur  de  sexe  vor  der  Operation  erkannt. 
Castration  auf  ausdrückliches  Verlangen  des  Mädchens 
hin. 

Fall  9:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  23jähr. 
Mädchen. 

Fall  10:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  3jähr. 
Mädchen.  Castration,  angeblich  um  späteren  sozialen 
Unannehmlichkeiten  vorzubeugen. 

Fall  1 1 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  erwachsenen 
Mädchen:  erst  einerseits  der  Hoden  entfernt,  dann  auf 
ausdrückliches  Verlangen  des  Mädchens  hin  auch  der 
andere. 

Fall  12:  Bei  einem  28jähr.  Mädchen  trat  ein  rechtsseitiger 
Leistenbruch    auf,    Hoden    entfernt,    der    linke    durch 


—    396    — 

Leistenschnitt,  im  Leistenkanal,  liegend  in  die  Bauch- 
höhle hineingestoßen.  Nach  kurzer  Zeit  trat  der  linke 
Hoden  heraus,  jetzt  wiederholter  Leistenschnitt  links, 
Abtragung. 

Fall  13:  Im  20.  Jahre  bei  linksseitiger  Herniotomie 
angeblich  labiale  Ovarialektopie  konstatiert,  nach  8 
Jahren  war  rechterseits  ein  Hoden  herabgetreten  [keine 
Operation], 

Fall  14:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  21  jähr. 
Mädchen  bei  Diagnose  einer  Ovarialektopie.  Kastration : 
Hoden. 

Fall  15 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  21jährigen 
Mädchen. 

Fall  16:  Einseitige  Herniotomie  bei  einem  jungen  Mädchen 
bei  Diagnose  einer  Labialcyste:  als  Bruchinhalt  Netz, 
eine  Cyste  und  ein  Hoden,  die  entfernt  wurden.  Ander- 
seits Kryptorchismus. 

Fall  17:  Im  16.  Jahre  war  der  rechte  Hoden,  im  18. 
der  linke  herabgetreten.  Im  19.  Jahre  „erreur  de  sexe" 
vermutet,  Kastration. 

Fall  18:  Im  12.  Jahre  nach  einem  Fall  linkerseits  Hoden 
herabgetreten,  später  der  rechte.  Im  33.  Jahre  beider- 
seitige Herniotomie  bei  der  verheirateten  Frau.  Diagnose : 
Ovarialektopie,  auch  nach  der  Kastration  die  Gebilde 
für  Ovarien  angesehen:  Mikroskop.:  Hoden. 

Fall  19:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  19  jährigen 
Mädchen.    Kastration:  Hoden. 

Fall  20:  Im  19.  Jahre  rechtsseitige  Herniotomie,  im  20. 
linksseitige.     Hoden  entfernt. 

Fall  21:  Im  6.  Lebensjahre  Leistenbruch  rechts,  im  20. 
Jahre  links.  Im  32.  Jahre  linkerseits  Herniotomie. 
Nur  Hoden  und  Hydrocele  gefunden.  Die  dringend 
verlangte  rechtsseitige  Herniotomie  in  Dresden,  Halle, 
Leipzig  verweigert.  Im  59.  Jahre  Tod  infolge  Ein- 
klemmung des  rechtsseitigen  Bruches  (Inhalt  ?) 


—    397    — 

Fall  22 :  Im  18.  Jahre  Leistenbruch  rechts,  im  28.  Jahre 
links  Herniotomie  erst  einerseits,  später  auch  anderseits. 
Kastration.     Mikroskop:  Hoden. 

Fall  23:  Im  12.  Jahre  eine  angebliche  entzündete  Leisten- 
drüse linkerseits  entfernt,  nach  7  Jahren  mikroskopisch 
als  Hoden  erkannt.     Rechterseits  Kryptorchismus. 

Fall  24:  Bei  einem  22jährigen  Mädchen  bei  vermuteter 
„Erreur  de  sexe"  beiderseits  diagnostischer  Labialein- 
schnitt konservativ:  Hoden,  keine  Kastration. 

Fall  25:  Im  12.  Jahre  linkerseits  Leistenbruch,  im  23. 
Jahre  beiderseitige  Herniotomie  bei  Diagnose:  Ektopie 
der  Uterusadnexa  beiderseits.  Nach  einem  Jahre 
Bruchrecidiv  linkerseits:  Jetzt  nur  linkes  Hörn  eines 
Uterus  bicornis  und  linker  Hoden  entfernt,  auch  das 
früher  rechterseits  entfernteGebilde  erwies  sich  als  Hoden. 

Fall  26:  Rechterseits  Leistenbruch  im  frühen  Kindes- 
alter, linkerseits  in  der  Pubertät.  Im  23.  Jahre  beider- 
seitige Herniotomie:  Rechterseits  Hoden  und  Neben- 
hoden entfernt,  linkerseits  Bruchinhalt:  Ein  Harn- 
blasendivertikel.     Linkerseits  Kryptorchismus. 

Fall  27:  Im  18.  Jahre  linkerseits  Leistenbruch,  im  32. 
Jahre  Herniotomie  bei  vermuteter  „ Erreur  de  sexe* : 
Uterus  samt  linker  Tube,  Parovarialcyste  und  einer 
jetzt  für  ein  Ovarium  angesehenen  Geschlechtsdrüse 
entfernt:  Mikroskop.:  Hoden. 

Fall  28:  Beiderseitige  Herniotomie  im  42.  Jahre,  Hoden 
entfernt. 

Fall  29:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einer  25jährigen 
Frau:  Kastration  bei  Diagnose:  Ovarialektopie.  Mikros- 
kop: Hoden. 

Fall  30:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  jungen 
Mädchen:  Kastration.     Mikroskop:  Hoden. 

Fall  31 :  Beiderseitige  Herniotomie  im  21.  Jahre  bei  an- 
geborenen Leistenbrüchen.  Diagnose:  Ovarialektopie. 
Kastration.     Mikroskop:  Hoden. 


—    398    — 

Fall  32:  Tod  eines  Kindes  nach  einseitiger  Herniotomie 
[Bruchinhalt: Darm],  Sub  nekropsia  beiderseitiger  Krypt- 
orchismus  gefunden. 

Fall  33 :  Im  23.  Jahre  nach  Entleerung  einer  linksseitigen 
Hydrocele  Hoden  und  Nebenhoden  getastet.  Der  andere 
Hoden  gleichfalls  in  scroto  fisso.  Konservative 
Operation. 

Fall  34 :  Beiderseitiger  diagnostischer  Labialeinschnitt  bei 
vermuteter  „Erreur  de  sexe".  Hoden.  Konservative 
Operation. 

Fall  35:  Angeborener  linksseitiger  Leistenbruch,  im  14. 
Jahre  Herniotomie:  Hoden  entfernt. 

Fall  36:  Beiderseitige  Herniotomie  (in  welchem  Lebens- 
jahre ?)  rechts  Hoden,  links  ein  Fibroadenom  entfernt. 

Fall  37:  Beiderseitige  Herniotomie  im  54  Jahre.  Kastra- 
tion: Hoden. 

Fall  38:    Beiderseitige   Herniotomie:  Kastration:  Hoden. 

Inhalt  des  echten  oder  vermeintlichen  Bruches. 

Auf  die  vorstehenden  38  Leistenschnitte  kam  also 
ein  echter  Bruch  nur  wenige  Male  vor: 

Fall  Pech  (Darminhalt),  Fall  Pozzi  (Uterushorn) 
Fall  Sänger  (Uterus),  Fall  Sänger  (Ein  Blasen- 
divertikel),  Fall  Stonham  (Darminhalt),  Fall  Lanne- 
longue  (Netz),  sonst  handelte  es  sich  bei  den  vermeint- 
lichen Brüchen  stets  um  Descensus  retardatus  oder  in 
einigen  Fällen  congenitus  eines  oder  beider  Hoden. 
Zweimal  führte  eine  Hydrocele  zur  Operation.  Fall 
Pech,  Fall  Swiencicki.  Was  das  Alter,  wann  der  an- 
gebliche Leistenbruch  entstand,  anbetrifft,  ist  leider  nur 
in  wenigen  Fällen  eine  Angabe  gemacht. 

4  mal  wurde  konservativ  operiert  in  den  Fällen  von 
Pozzi,  Swiencicki,  Tillaux,  Stonham. 


—    399    — 


7mal  wurde  nur  ein  Hoden  entfernt:  Fälle: 
Jablonski,  Lannelongue,  Pech,  Pozzi,  Sänger, 
Sänger,  Turner, 

27mal  wurden  beide  Hoden  entfernt:  Fälle: 
Alexander  Av£ry,  Brycholow,  Brjuchanow, 
ßuchanan,  Chambers,  Clark,  Green,  Griffith, 
Groß,  Halloppeau,  Heuck,  Dixon-Jones,  Kociat- 
kiewicz,  Levy,  A.  Martin,  A.  Martin,  Ch.  Mar- 
tin, Philippi,  Pozzi,  Shattock,  Snegirjow, 
Snegirjow,  Solowij,  Wegradt,  Will,  v.  Winckel. 

2  Operationen  betrafen  verheiratete  Frauen :  Fälle  : 
A.  Martin,  Snegirjow,  1  eine  Witwe:  Fall  Clark, 
35  Operationen  an  Mädchen  im  Alter  von  3  bis  zu  54 
Jahren. 

Nur  in  sehr  wenigen  Fällen  war  eine  „Erreur  de 
sexe8  vor  der  Operation  erkannt  resp.  vermutet  worden, 
in  einem  Falle  vermutete  man  männliches  Geschlecht 
der  in  den  Schamlefzen  enthaltenen  Geschlechtsdrüsen 
wegen  ausgesprochenen  Cremasterreflexs. 

Zweite  Gruppe. 

Tier  Leistenbrüche  bei  Frauen  resp.  2   als  Männer 
erzogenen  weiblichen  Scheinzwittern. 

Im  Falle  Brohl  ein  linksseitiger  Leistenbruch  bei 
einem  36 jähr.  Fräulein,  seit  mehr  als  13  Jahren  be- 
stehend. Diagnose:  Ektopie  des  Uterus  und  linken 
Ovarium,  der  Bruch  enthielt  Uterus  bicornis,  beide  Tu- 
ben und  beide  Ovarien.     Kastration. 

Im  Falle  Sujetinow:  Incarceration  eines  rechts- 
seitigen Leistenbruches,  Operation,  Uterus,  Tuben  und 
Ovarium  in  hernia.  Dreimal  auf  diese  4  Fälle  „Erreur 
de  sexe"  konstatiert. 

Im  Falle  P6an  wurde  ein  12 jähriges  Mädchen 
für  einen  Knaben  erklärt,  mehrfache  operative  Eingriffe 
im  15.  Jahre  erwiesen  weibliches  Geschlecht 


—    4C0    — 

Im  Fall  Walther  wurde  ein  Mädchen  noch  im 
Kindesalter  für  einen  Jungen  erklärt  Beiderseitige  Her- 
niotomie  im  24.  Jahre  bei  dem  Manne.  Rechts  Ovarium 
und  Tube  in  hernia,  die  in  die  Bauchhöhle  geschoben 
wurden,  linkerseits  Mittelstück  einer  Sactosalpinx,  Ovar 
und  ein  Stück    Netz  abgetragen. 

Auf  diese  4  Fälle  kam  also  dreimal  ein  echter 
Bruch  und  zwar  zweimal  ein  einseitiger,  einmal  ein  beider- 
seitiger Bruch. 

Dritte  Gruppe. 

Dreizehn  Leistenbrüche  bei  Männern  resp.  männlichen 

Scheinzwittern  mit  Konstatierung  eines  Uterus. 

IndenFällen  Billroth,  Bö  ekel,  Carle,  Derveau, 
Fantino,  Filippini,  Gulden  arm,  Sänger,  Pozzi, 
Thiersch  fand  man  einen  Uterus,  resp.  ein  Uterushorn 
resp.  eine  Tube  in  hernia  neben  dem  Hoden,  in  den 
Fällen  Winckler  und  Stonham  sub  nekropsia  früher 
oder  später  nach  Bauchoperationen  einen  Uterus  in  der 
Bauchhöhle,  im  Falle  Griff  ith  tastete  man  nach  Ent- 
fernung beider  Hoden  einen  Uterus.  Vier  von  diesen 
Männern  waren  als  Mädchen  erzogen  worden  (Fälle  von 
Griffith,  Pozzi,  Saenger  und  Stonham). 

Vierte  Gruppe. 
Betrachten    wir    nun    die    45    Einzelbeobachtungen 
dieser  Gruppe  von  einzelnen  Gesichtspunkten  aus: 

Es  kommen  auf  diese  45  Fälle  nicht  weniger  als 
17  Fälle* von  „Erreur  de  sexe". 

11  Mädchen  als  männliche  Scheinzwitter  er- 
kannt: Fall  Abel,  Audain,  Bazy,  Delage- 
ni£re,  Gruber,  (sub  nekropsia),  Hansemann 
(Nekropsie  einer  82jährigen  Witwe),  Dixon-Jons, 
Mies,  Obolonsky,  Snegirjow,  Westermann 
Nekropsie:  Hoden). 


—    401     — 


6  Mädchen  als  weibliche  Scheinzwitter  er- 
kannt: Fall  Bacaloglu  u.  Frossard,  Fehling, 
Hall,  Krug,  Litten,  Neugebauer. 

9  Männer  als  Scheinzwitter  erkannt:  Fall  Beck 
(2  lj  ähriger  Mann  bis  zum  19.  Jahre  als  Mädchen  er- 
zogen) Carle,  Kapsammer,  Merkel,  Paton 
(Pyosalpinxoperation]  bei  einem  Mann),  Primrose, 
Stimson,  Stroebe,  Winckler. 

5  Männer  als  weibliche  Scheinzwitter  er- 
kannt: Fall  v.  Engelhardt  (sub  nekropsia  eines 
verheirateten  Mannes  Ovarien  und  Uteruscarcinom 
gefunden.)  Gunckel  (Geschlecht  eines  Mädchens  irr- 
tümlich für  männlich  erklärt,  sub  nekropsiaim  50.  Jahre : 
Ovarien),  Krabbel  (Ovariotonie  bei  einem  Manne), 
P£an,  Pozzi  (Ovariotomie  bei  einem  verheirateten 
Manne. 
11  mal  blieb  das  Geschlecht  fraglich: 

a)  Trotz  operativer  Eröffnung  der  Bauchhöhle: 
Howitz,  Neugebauer,  v.  Saexinger  und  E. 
Levy,  Pfannenstiel,  Sorel  u.  Ch£rot,  Unter- 
berger:  6  mal, 

b)  Trotz  Nekropsie:  Chevreuil,  Howitz,  Lesser, 
v.  Saexinger  u.  E.  Levy,  Sorel  und  Ch£rot, 
Zahorski:  6 mal, 

c)  bei  klinischer  Untersuchung:  Levy,  Lieb- 
mann, Quisling:  3mal. 

lmal  angeblich  wahres  Zwittertum  einer  Geschlechts- 
drüse erkannt:  Fall  von  v.  Salän. 
Da  von  diesen  45  Beobachtungen  2  bereits  in  der 
I.  Gruppe  (No.  14  Dixon-Jones  und  No.  30 
Snegirjow)  und  1  in  der  II.  Gruppe  (No.  2  P£an), 
mitgezählt  sind,  so  kommen  nur  42  Beobachtungen  hier 
zur  statistischen  Verwertung :  auf  diese  42  Fälle  wurden 
9  mal  männliches  Scheinzwittertum  bei  Mädchen  und 
5  mal  weibliches  Scheinzwittertum   bei    Männern   konsta- 

Jahrbuch  T.  26 


—    402    — 

tiert,  also  im  ganzen  14  mal  eine  erreur  de  sexe,  11  mal 
blieb  das  Geschlecht  fraglich. 

8  mal  konstatierte  man  einen  mehr  oder  weniger  ent- 
wickelten Uterus  samt  Tuben  event.  Ligamenten  bei 
männlichen  Scheinzwittern.  lmal  einen  Harnstein  in 
utriculo  masculino  (Fall  Kapsammer). 

32 mal  fand  sich  Coincidenz  des  Scheinzwitter- 
tums    mit    gut-  oder  bösartigen  Neubildungen: 
Fall  1  (Abel):  Sarkomatoese  Cryptorchis  sinistra  [rechter- 

seits  Hoden  und  Nebenhoden  im  LeistenkanalJ  bei  einem 

33jähr.  Mädchen. 
Fall  2  (Audain):   2   Ovarialdermoide    bei   einem   weib- 
lichen Scheinzwitter. 
Fall  5  (Beck):  2  Teratome  der  Hoden  bei  einem  bis  zum  19. 

Jahre  als  Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitter. 
Fall  7  (Chevreuil):  Multilokularer  Ovarialtumor  (?)  bei 

einem  Scheinzwitter. 
Fall  10  (v.  Engelhardt):  Carcinoma  uteri  eines  59jähr. 

als  Mann  verheirateten  weiblichen  Scheinzwitters. 
Fall  11  (Fehling):     Myxosarcoma   eines   Ovarium   bei 

einem  26jähr.  Scheinzwitter. 
Fall  12  (Grub er):   Carcinom    eines  Hodens  bei   beider- 
seitigem  Kryptorchismus    eines    22jähr.    als    Mädchen 

erzogenen  männlichen  Scheinzwitters. 
Fall  13  (Gunckel):  Myomatosis  uteri  bei  einem  50 jähr. 

weiblichen    Scheinzwitter,    der    irrtümlich    früher    für 

einen  Mann  erklärt  worden  war. 
Fall    14  (Hall):    Carcinoma  ovarii    unius    eines    17jähr. 

weiblichen  Scheinzwitters. 
Fall  15  (Hansemann):  Carcinom   der  Harnblase    eines 

82jähr.  männlichen  Scheinzwitter,  der  als  Frau  verheiratet 

gewesen  war. 
Fall   16    (Howitz):    Myomatosis    uteri    bei    fraglichem 

Geschlecht. 
Fall  19  (Krabbe  1):  Cystosarcom  eines  Ovarium,   später 


—    403    — 

ein    neues  Gewächs:    Teratom  —  bei  einem  als  Mann 

erzogenen  weiblichen  Scheinzwitter. 
Fall  20    (Krug):    2    Ovarialsarkome    bei    einem  19jähr. 

weiblichen  Scheinzwitter. 
Fall    21  (Less!er):    Alveolarsarkom    (des  Uterus?)    eines 

25jähr.  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters.  Geschlecht 

fraglich. 
Fall  22  (Levy):   Unterleibstumor    fraglicher    Natur    bei 

einem    16jähr.    als    Mädchen    erzogenen    Scheinzwitter 

fraglichen  Geschlechts. 
Fall  23  (E.  L  e  v  y  —  v.  S  ä  x  i  n  g  e  r) :  Maligne  Degeneration 

der   in    der    Bauchhöhle    liegenden    Geschlechtsdrüsen 

eines  20jähr.  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters  von 

fraglichem  Geschlecht. 
Fall    24    (L  i  e  b  m  a  n  n) :      Inguinolabialtumor     fraglicher 

Natur  [cystisch  ?]  bei  einem  45jähr.  als  Frau  verheirateten 

Scheinzwitter  fraglichen  Geschlechts. 
Fall  25  (Litten):    Myxosarkom    des    rechten    Ovarium 

eines  16jähr.  weiblichen  Scheinzwitters. 
Fall  26  (Merkel):   Carcinoma  recti  eines  63jähr.  männ- 
lichen Scheinzwitters. 
Fall    27    (Mies):    Unterlippenkrebs     eines     66jähr.    als 

Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitters. 
Fall  28  (Neugebauer) :  Carcinoma  ovarii  unius  et  uteri 

eines  56jähr.  weiblichen  Scheinzwitters. 
Fall  29  (Neugebauer):  Sarkom  einer  Geschlechtsdrüse 

bei  einer   verheirateten  Frau,    wahrscheinlich  Sarkoma 

cryptorchidis. 
Fall  30  (Obolonsky):  Sarkom  des  rechten  Hodens  eines 

56jähr.  als  Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitters. 

Kryptorchismus  bilateralis. 
Fall  32  (Pfannenstiel):  Fibromyoma uteri  eines  55-jäh- 
rigen als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters  von  frag- 
lichem Geschlecht. 
Fall  34  (Pr  im  rose):    Sarkom  eines  Hodens  eines  25-jäh- 

26* 


—    404    — 

rigen   männlichen    Scheinzwitters    bei   Kryptorchisinus 

bilateralis. 
Fall  36  v.  (Sal£n):  Fibromyoma  uteri  eines  43-jähr.  als 

Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters,  angeblich  ein  Ova- 

riam  links  gefunden,  rechts  eine  Ovotestis. 
Fall  38  (Sorel  u.  Chärot):    Carcinom  des  Blinddarms 

eines  36-jährigen  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters, 

von  fraglichem  Geschlecht. 
Fall  39  (Stirn so n):    Sarkom   des   linken   Hodens    eines 

46jährigen  männlichenScheinzwitters.  Cryptorchissinistra. 
Fall  40  (Stroebe):    Carcinoma  oesophagi  eines  63-jähr 

männlichen  Scheinzwitters.,  beiderseits  Cryptorchismus. 
Fall  41  (Unterberge r):    Sarkom   eines   Ovarium    eines 

14-jährigen  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters  von 

fraglichem  Geschlecht. 
Fall  44  (Zahorski):   Sarkom  einer  Geschlechtsdrüse  in 

der  Bauchhöhle  belegen  bei  einem  25jähr.  als  Mädchen 

erzogenen  Scheinzwitter  fraglichen  Geschlechts. 
Fall  45  (Pozzi):  Ovarialtumor  bei  einem  als  Mann  ver- 
heirateten weiblichen  Scheinzwitter. 


Auf  diese  32  Fälle  kommen: 
Carcinom         des  Ovarium:  Fall  14,  28 
des  Hodens:  Fall  12, 
des  Uterus :  Fall  10,  Fall  28, 
des  Rectum :  Fall  26, 
der  Harnblase:  Fall  15, 
des  Blinddarms:  Fall  38, 
des  Oesophagus :  Fall  40, 
der  Unterlippe:  Fall  27, 
Sarkom    eines  Ovarium:  Fall  11,  19,  20,  25, 

einer  Cryptorchis:  Fall  1,  30,  34,  39, 
des  Uterus:  Fall  21. 
Maligne  Degeneration    fraglicher  Geschlechts- 
drüsen: Fall  23,  29,  41,  42. 


—    405     — 

Dermoide  der  Ovarien:  Fall  2. 

Teratome        der  Hoden:  Fall  5. 
Multilokulare     Cysten    einer    fraglichen    Ge- 
schlechtsdrüse: Fall  7. 
Myomatosis  uteri:     Fall  13,  16,  31,  36. 
Tumoren  fraglicher  Natur:     Fall  22,  Fall  24. 
Welcher     Art     Operationen     wurden    in     diesen 
45    Fällen   vollzogen? 

Nephrolithotomie:  Fall  8. 

Pyosalpinxoperation  mit  Bauchschnitt  bei  einem  Manne: 

Fall  31. 
Harnsteinoperation:  Fall  18. 
Bauchschnitt  wegen  Darmocclusion :  Fall  43. 
Bauchschnitt  wegen  Appendicitis:  Fall  3,  4  —   in  einem 

dritten  und  4.  Falle  von  Appendicitis    (Fall  35  u.  42) 

wurde  nicht  operiert. 
Diagnostischer  Bauchschnitt  bei  zweifelhaftem  Geschlecht: 

im   Falle  9    mit  Entfernung   des  Hoden,   im  Falle  33 

der  Ovarien,  Konservativ:  Fall  37,  Fall  6,  17. 
Amputation  des  myomatösen   Uterus:    Fall  16,  32,  36. 
Bauchschnitt  bei  Carcinom  des  Blinddarmes:  Fall   38. 
Bauchschnitt  mit  Exstirpation  von  Ovarialtumoren:    Fall 

2,  11,  14,  19,  20,  45. 
Bauchschnitt   mit   Exstirpation    von    Hodentumoren   bei 

Kryptorchismus:  Fall  5,  29,  34,  39. 
Bauchschnitt   mit   Exstirpation  von    Tumoren    fraglicher 

Geschlechtsdrüsen:     Fall  23,  29,  4L 
Paracentese  von   Bauchhöhlentumoren  durch   die  Bauch- 
wand:    Fall  11,  44. 
Paracentese    einer    als     Haematometra     angesprochenen 

Cryptorchis  sinistra  per  vaginam:     Fall  1. 
Entleerung  einer  Hydrocele  durch  Paracentese:    Fall  34. 
Auf  diese  45  Beobachtungen  kommen  26  Fälle,   wo 
nicht  operiert  wurde,  sondern   das  Scheinzwittertum  nur 


—    406    — 

a)  klinisch  oder  b)  sub  nekropsia  konstatiert  wurde, 
a:    Fall  22,  24,  27,  28,  35,  =  5  mal. 
b:    Fall  7,  10,  12,  13, 15,  21,  25,  26,  30,  40,  42,  = 

11  mal. 
Scheinzwitter  wurde  sub  nekropsia  nach   tötlich  ver- 
laufener Operation  konstatiert: 

Fall  1,  3,  5,  8,  16,  23,  34,  38,  43,  44  =  10  mal. 

Fünfte  Gruppe: 
Auf  die  hierher  gehörigen   23   Einzelbeobachtungen 

kommen : 

Verlangte  aber  abgeschlagene  Amputation  der  angeblichen 
hypertrophischen  Clitoris:     Fall  2,  7,  9,  12,  14. 

Ausgeführte  Amputation  der  hypertrophischen  Clitoris: 
Fall  4  und  11. 

Ausgeführte  Amputation  des  irrtümlich  für  eine  hypertro- 
phische Clitoris  angesehenen  hypospadischen  Penis : 
Fall  6,  17  (?)  22. 

Es  kommen  auf  diese  Gruppe  8  Fälle  von  konstatierter 
„erreur   de  sexe"    Fall  5,  6,  7,  8,  9  (?),  12,  14,  17, 

Fraglich  blieb  das  Geschlecht:    Fall  2,  13,  18,  23. 

Männliches  Scheinzwittertum  im  Fall:  5,  6,  7,  8,  9,  12, 
14,  17,  22. 

Weibliches  Scheinzwittertum  im  Fall:  3,  4,  10,  11,  15, 
16,  19,  20,  21. 

Eine  Discision  einer  Schamlefzenverwachsung  bei  weib- 
lichen Scheinzwittern  wurde  vorgeschlagen  Fall  16,  aus- 
geführt in  Fall  10,  11,  15,  20,  21.  Dieselbe  Operation 
wurde  einem  männlichen  Scheinzwitter  vorgeschlagen: 
Fall  17. 

Im  Falle  2  wurde  angeblich  ein  Hämatokolpometradurch 
Einschnitt  vom  Damme  aus  entleert. 

Einmal  wurde  wegen  Atresia  ani  bei  einem  Neonaten 
operiert  mit  tötlichem  Ausgange:  Fall  3,  einmal  mit 
gutem  Ausgange,  Fall  23. 


—    407    — 

Einmal  wurde  ein  Hysteroekpetasis  gemacht  bei  frag- 
lichem Geschlecht:   Fall  18. 

Einmal  vergeblicher  Versuch  zwischen  Urethral-  und  Anal- 
mündung eine  Vagina  zu  schaffen:  Fall  19. 

Sechste   Gruppe. 

Bezüglich  der  in  der  VI.  Gruppe  erwähnten  plasti- 
schen Hypospadieoperationen  an  männlichen  Schein- 
zwittern ist  zu  bemerken,  daß  eine  „erreurde  sexe"  vorlag 
in  den  Fällen  von  Beck,  Brand,  Castellana,  F^lizet, 
Garr6,  Krajewski,  Malthe,  Villemin. 

Zum  Schluß  bleibt  nochj  Folgendes  zu  bemerken: 

1.  Die  gesamte  Kasuistik  dieser  Arbeit  von 
137  Beobachtungen  erstreckt  sich,  da  einzelne 
Beobachtungen  in  mehreren  Gruppen  figurieren, 
auf  118  Scheinzwitter,  wovon 

männlichen  Geschlechts:  79, 
weiblichen  Geschlechts:  23, 
fraglichen  Geschlechts:      16. 

Auf  diese  118  Scheinzwitter  kommen  53  irrtümliche 
Geschlechtsbestimmungen,  darunter  merkwürdigerweise 
2  Fälle,  wo  das  Geschlecht  bei  der  Taufe  des  Kindes 
richtig  als  weiblich  angegeben  war,  später  aber  irrtümlich 
für  männlich  erklärt  worden  war  (Fälle  von  P£an 
und  von  Gunckel). 

2.  Sind  die  zur  Nekropsie  gelangten  Fälle  zu 
vermerken: 

a)  Todesfälle  nach  vorausgegangener  Operation:  aus 
Gruppe  III;  Fall  1  (Billroth)  Verblutungstod  nach 
Herniotomie,  Fall  12  (Thiersch)  Tod  nach 
Herniotomie  an  Peritonitis,  Fall  13  (Win ekler)  Tod 
nach  Bauchschnitt  an  Peritonitis.  Aus  Gruppe  IV: 
Fall  1  (Abel)  Tod  an  Peritonitis  nach  vaginaler 
Paracentese  einer  Kryptorchis  sinistra  sarcomatosa» 
Fall  3  (Bacaloglu  und  Fossard)  Tod  an  Peritonitis 


—    408    — 

nach  Appendicitis-Bauchschnitt,  Fall  5  (Beck)  Tod" 
infolge  von  Pneumonie  3  Wochen  nach  Bauchschnitt 
Fall  8  (Clark)  Tod  nach  Nephrolithotomie,  Fall  16 
(Howitz)  Tod  an  Peritonitis  nach  Bauchschnitt 
Fall  23  (Levy  —  v.  Saexinger)Tod  an  Peritonitis 
nach  Bauchschnitt  ohne  Entfernung  des  Tumors, 
Fall  34  (Primrose)  Tod  an  Peritonitis  nach  Bauch- 
schnitt bei  Hodensarkom,  Fall  36  (E.  v.Sal<*n)  Tod 
an  Peritonitis  nach  Amputation  eines  myomatösen 
Uterus,  Fall  38  (E.  Sorel  und  Ch<*rot)  Tod  nach 
explorativem  Bauchschnitt  bei  Blinddarmcarcinom. 
Aus  Gruppe  V:  Fall  3  (Mc.  Arthur)  Tod  nach 
Operation  wegen  Atresia  ani. 

b)  14  Todesfälle  ohne  vorausgegangene  chirurgische 
Eingriffe : 

Gruppe  I  Fall  21.  (Pech)  Tod  infolge  Einklemmung 
des  rechtsseitigen  Leistenbruchs,  dessen  operative 
Beseitigung  verweigert  worden  war. 

Gruppe  IV  Fall  7  (Chevreuil)  Tod  infolge  eines 
Ovarial- resp.  Hodentumors.  Fall  10 (v.Engelhar dt) 
Tod  infolge  von  Uteruscarcinom.  Fall  12  (Grub er) 
Tod  infolge  eines  Hodencarcinoms.  Fall  13  (Gun- 
ckel)  Tod  ans  unbekannter  Ursache.  Fall  15 
(Hansemann)  Tod  infolge  von  Blasenkrebs.  Fall 
21  (Lesser)  Tod  infolge  von  Blutung  in  der  Bauch- 
höhle nach  spontaner  Ruptur  eines  Tumors.  Fall  25 
(Litten)  Tod  infolge  Myxosarcoma  ovarii  unius.  Fall 
26  (Merkel)  Tod  infolge  Carcinoma  recti.  Fall  30 
(Obolonski)  Tod  infolge  eines  Hodensarkoms. 
Fall  39  (Ströbe)  Tod  infolge  eines  Carcinoma 
oesophago  Fall  41  (West  er  mann)  Tod  infolge 
von  Appendicitis  ulcerosa.  Fall  44  (Zahorski)  Tod 
infolge  von  Kachexie  bei  Sarkom  einer  Geschlechts- 
drüse. 


—    409    — 

Gruppe  V.  Fall  2  (Arnaud)  Tod  aus  unbekannter 
Ursache. 
Indem  ich  mir  vorbehalte,  in  nächster  Zukunft  das  hier 
zusammengestellte  kasuistische  Material  auch  in  Beziehung 
auf  andere  als  chirurgische  Beziehungen  zu  sichten,  schließe 
ich  diese  heutige  Arbeit,  die  hoffentlich  dazu  beitragen 
wird,  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums  auch  in  weiteren 
Arztekreisen  ein  regeres  Interesse  zu  widmen.  Wenn 
wir  auch  in  den  wenigsten  Fällen  dem  physischen  Ge- 
brechen Abhilfe  schaffen  können,  so  können  'wir  doch  viel 
dazu  beitragen,  diese  unglücklichen  Existenzen,  die  Schein- 
zwitter vor  den  psychischen  Leiden  und  Qualen  zu  be- 
wahren, die  aus  einer  irrtümlichen  Geschlechtsbestimmung 
erwachsen ! 

An  sämtliche  Fachgenossen  richte  ich  die  Bitte,  jede 
neuere  zu  ihrer  Kenntnis  gelangende  Beobachtung  von 
Scheinzwittertum  möglichst  eingehend  beschrieben,  mir 
übermitteln  zu  wollen,  womöglich  mit  Photogrammen 
und  Berücksichtigung  aller  in  Frage  kommenden  Einzel- 
heiten. 

Dr.  med.  Franz  Neugebauer. 

Warschau,  Leszno  33,  am  3.  Februar  1903. 


Inhaltsübersicht 


Erste  Gruppe. 

38  Leistenschnitte  bei  Mädchen,  bez.  Frauen  mit  Konstatierung 

männlichen  Geschlechtes. 

1.  Fall  von  Alexander:  Klara  D.,  16 jährig,  im  13.  Jahre  links- 
seitige Herniotomie  durch  Er  asm  us,  im  16.  Jahre  rechtsseitige 
durch  Hahn:  Beiderseits  Hoden  und  Nebenhoden  abgetragen. 
Vagina  vorhanden  ohne  Uterus,  Gonorrhoe,  Beischlaf  mit 
Männern. 


—    410    — 

2.  Fall  von  Avery:  Einseitige  Herniotomie  der  24jährigen  Ann y 
C:  Hoden  entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

3.  Fall  von  Bryeholow:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  der  14- 
jährigen  Marie  X. 

4.  Fall  von  Brjuohanow:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
14jährigen  Mädchen:  beide  Hoden  entfernt. 

5.  Fall  von  Buchanan:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
9jährigen  Mädchen:  beide  Hoden  entfernt  Vagina  von  nor- 
maler Länge  vorhanden  ohne  Uterus.  B.  vermutete  richtig  eine 
erreur  de  sexe  wegen  vorhandenen  Cremasterreflexes  an  den 
Schamlefzen. 

6.  Fall  von  Chambers:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einer  24- 
jährigen  Frau:  beide  Hoden  entfernt  Vagina  vorhanden,  ohne 
Uterus. 

7.  Fall  von  Clark:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einer  42jährigen 
Witwe:  beide  Hoden  entfernt.  Beischlaf  mit  dem  Gatten. 
Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

8.  Fall  von  Green:  Konstatierung  der  erreur  de  sexe  bei 
einem  24jährigen  Dienstmädchen.  Kastration  auf  das  aus- 
drückliche Verlangen  des  Scheinzwitters  hin. 

9.  Fall  von  Griffith;  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  23- 
jährigen  Mädchen:  beide  Hoden  entfernt.  Uterus  und  Vagina 
vorhanden. 

10.  Fall  von  Groß:  Doppelseitige  Herniotomie  bei  einem  3jährigen 
Mädchen:  beide  Hoden  entfernt 

11.  Fall  von  Hallopeau:  Konstatierung  der  erreur  de  sexe  bei 
einem  Mädchen  nach  Exstirpation  eines  Hodens.  Auf  das 
ausdrückliche  Verlangen  der  Person  hin  wurde  auch  der  an- 
dere Hoden  entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

12.  Fall  von  Heuck:  Bei  einem  28jährigen  Dienstmädchen  rechts- 
seitiger Leistenbruch:  Netz  als  Inhalt  vermutet  —  Hoden  und 
Nebenhoden  entfernt.  Später  auch  der  linke  Hoden  entfernt. 
Vagina  vorhanden  ohne  Uterus.  Beischlaf  mit  Männern  ohne 
Libido. 

13.  Fall  von  Jablonski:  Bei  der  28 jähr.  Anna  Luise  E.  kon- 
statierte J.  die  Gegenwart  eines  Hodens  und  schließt  daraus, 
daß  auch  die  sub  herniotomia  8  Jahre  zuvor  in  hernia  vorge- 
fundene Geschlechtsdrüse,  für  ein  ektopisches  Ovarium  damals 
angesehen,  ein  Hoden  gewesen  sei. 

14.  Fall  von  Dixon  Jones:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  der 
21jähr.  Emma  E.  und  diagnostischer  Bauchschnitt:  beide  Ho- 
den entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 


—    411     — 

15.  Fall  von  Kociatkiewicz-Neugebauer:  Beiderseitige  Her- 
niotomie  bei  der  21jährigen  verlobten  Josephine  K.,  beide 
Hoden  durch  Eociatkiewicz  entfernt.  Vagina  vorhanden 
ohne  Uterus.  Nach  der  Kastration  starke  Obesität  und  Me- 
lancholie. 

16.  Fall  von   Lannelongue:  Einseitige  Herniotomie   bei   einem 

jungen  Mädchen:  (Netzinhalt)  Unterhalb  des  Bruches  eine 
Cyste  in  der  Schamlefze  und  darüber  ein  Hoden,  der  entfernt 
wurde.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

17.  Fall  von  Levy:  Bei  der  19jährigen  Näherin  Chr.  L.  vermutete 
Doederlein  Hoden  als  Bruchinhalt.  Beiderseitige  Herniotomie : 
beide  Hoden  entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

18.  Fall , von  A.  Martin:  Bei  einer  33jährigen,  seit  10  Jahren  ver- 
heirateten Frau  entfernte  Martin  sub  diagnosi  einer  beider- 
seitigen Ovarialektopie  beide  Hoden.  Erst  das  Mikroskop 
klärte  den  Irrtum  auf.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

19.  Fall  von  A.  Martin:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  19- 
jährigen  Hausmädchen  Martha  W.:  beide  Hoden  entfernt. 
Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

20.  Fall  von  Chr.  Martin:  Bei  einem  20 jähr.  Kindermädchen 
hatte  man  vor  einem  Jahre  sub  herniotomia  rechterseits  ein  für 
ein  ektopisches  Ovarium  gehaltenes  Gebilde  in  die  Bauchhöhle 
geschoben.  Jetzt  Herniotomie  links,  ein  Hoden  entfernt.  Scheide 
vorhanden  ohne  Uterus. 

—  Fall  von  Mund 6:  In  der  Vermutung  einer  erreur  de  sexe 
schlug  M.  der  46 jähr.  Köchin  Marie  O'Neill  den  beiderseitigen 
Leistenschnitt  vor,  es  kam  jedoch  nicht  zur  Operation.  Vagina 
vorhanden,  ohne  Uterus. 

21.  Fall  von  Pech:  Linksseitige  Herniotomie  bei  der  32jährigen 
Marie  Rosine,  dem  späteren  Gottlieb  Goettlich:  der 
Bruch  enthielt  weder  Darm  noch  Netz  sondern  eine  Hydrocele 
und  einen  Hoden.  Im  59.  Jahre  Tod  infolge  Einklemmung 
eines  rechtsseitigen  Leistenbruches.  Rosine  huldigte  der  freien 
Liebe,  erkrankte  zuerst  an  einem  Ulcus  molle,  später  an 
Syphilis.  Sie  kohabitierte  mit  Frauen  und  mit  Männern,  mit 
letzteren  lieber.  Die  dilatierte.  Urethra  vertrat  die  angeblich 
mangelnde  Vagina. 

22.  Fall  von  Phil ippi:  Bei  einem  28jährigen  Mädchen  erst  rechts- 
seitige, nach  einigen  Monaten  linksseitige  Herniotomie:  beide 
Hoden  entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

28.  Fall  von  Poore:  P.  entfernte  bei  einem  12 jähr.  Mädchen  eine 
angebliche    entzündete   Drüse   durch    Leistenschnitt.    7   Jahre 


—    412    — 

später  erhärtete  das  Mikroskop,  daß  diese  Drüsen  ein  Hode  war. 
Vagina  vorhanden,  ohne  Uterus. 

24.  Fall  von  Porro:  bei  einem  22  jähr.  Mädchen  vermutete  P.  eine 
erreur  de  sexe,  legte  durch  diagnostischen  Einschnitt  beide 
Drüsen  bloß,  konstatierte  Hoden,  die  er  nicht  exstierpierte. 

25.  Fall  von  Pozzi:  Bei  einem 32 jährigen  Stubenmädchen  Marie 
C.  diagnosticierte  Peyrot  einen  beiderseitigen  Leistenbruch 
mit  Diagnose  einer  Ektopie  der  beiderseitigen  Uterusadnexa 
bei  fehlendem  Uterus.  Beiderseitige  Herniotomie:  Linkerseits 
eine  Cyste,  für  Hydrosalpinx  angesehen,  ein  Gebilde  für  ein 
ektopisches  Ovarium  angesehen  und  ein  Körperohen  für  einen 
rudimentären  Uterus  angesehen.  Cyste  reseciert,  Uterus  und 
Ovarium  in  die  Bauchhöhle  gestoßen.  Rechterseits  2  nicht 
reponible  Gebilde  abgeschnitten,  eine  Cyste  und  eine  Drüse, 
für  das  rechte  Ovarium  angesehen.  Nach  1  Jahr  Bruohrecidiv 
linkerseits.  Jetzt  operierte  Pozzi  und  entfernte  den  Bruch- 
inhalt: 2  Gebilde:  den  linksseitigen  Hoden  und  das  linke  Hörn 
eines  Uterus  bicornis.  Das  Mikroskop  wies  nach,  daß  auch  die 
rechtsseitige  von  Peyrot  entfernte  Geschlechtsdrüse  ein  Hoden 
war.  Vagina  und  Uterus  vorhanden.  Nach  der  ersten  Operation 
erwachte  der  Geschlechtstrieb  und  zwar  ein  weiblicher,  gleich- 
zeitig stellte  sich  Melancholie  ein,  die  nach  der  zweiten  Operation 
noch  zunahm.  Hymen  eingerissen  bei  einer  Stupration  im  8. 
Lebensjahre. 

26.  Fall  von  M.  Saenger:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
23  jähr.  Dienstmädchen  sub  diagnosi:  Ovarialhernie.  Rechter- 
seits Hoden  und  Nebenhoden  entfernt,  im  linksseitigen  Bruchsack 
ein  Blasendivertikel.    Scheide  vorhanden  ohne  Uterus. 

27.  Fall  von  M.  Saenger:  Bei  einer  82  jähr.  Lehrerin  vermutete 
S.  bei  linksseitigem  Leistenbruch  eine  „erreur  de  sexeu,  Hoden 
mit  Hydrocele,  fand  aber  bei  der  Herniotomie  einen  Uterus 
samt  Tube,  eine  Parovarialcyste  und  eine  Geschlechtsdrüse, 
die  er  jetzt  makroskopisch  für  ein  Ovarium  ansprach.  Das 
Mikroskop  erwies  einen  Hoden.  Bruchinhalt  entfernt  mit 
Uterusamputation.    Uterus  und  Vagina  vorhanden. 

28.  Fall  von  Shattock:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
42jährigen  Scheinzwitter:  Beide  atrophischen  Hoden  entfernt. 
Nach  der  Kastration  starke  Obesität. 

29.  Fall  von  Snegirjow:  Bei  einer  25 jähr,  verheirateten  Köchin 
beiderseitige  Herniotomie :  beide  Hoden  entfernt.  Vagina  vor- 
handen ohne  Uterus.  Beischlaf  mit  dem  Gatten  anfangs  cum 
libidine,  später  perhorresciert. 


—    413    — 

30.  Fall  von  Snegirjow:  Beiderseitige  Herniotoinie  bei  einem 
Mädchen:  beide  Hoden  entfernt.  Diagnostischer  Bauchschnitt 
hinzugefügt. 

31.  Fall  von  Solowij:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  21- 
jährigen  Mädchen  bei  Diagnose:  Ovarialhernien.  Beide  Hoden 
entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

32.  Fall  von  Stonham:  Tod  eines  Mädchens  nach  Herniotomie. 
In  der  Bauchhöhle  neben  Hoden  ein  Uterus  bicornis  mit  2 
Tuben  gefunden,  Vagina  existierte. 

—  Fall  von  Stratz:  S.  vermutete  eine  erreur  de  sexe  bei 
Nambrok  Sadinah  und  schlug  einen  diagnostischen  Leisten- 
(resp.  Labial-)  einschnitt  vor,  Operation  verweigert. 

33.  Fall  von  Swiencicki:  Labialtumor  linkerseits  bei  einem  23- 
jährigen  Bauernmädchen:  Hydrocele,  Punktion,  Entleerung, 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang  getastet,  gleiche  Gebilde 
in  der  rechten  Schamlefze.  Geschlechtsdrang  männlich,  schon 
im  16.  Jahre.    Beischlaf  mit  einem  Mädchen  versucht.   Vagina  V 

34.  Fall  von  Till  au  x:  Bei  einem  12jährigen  Mädchen  beider- 
seitiger Leistenbruch:  T.  sollte  ein  Bruchband  anlegen,  ver- 
mutete erreur  de  sexe.    Diagnostischer  Labialschnitt.  Hoden 

3ö.  Fall  von  Turner:  Bei  einem  14jährigen  Mädchen  linksseitige 
Ovarialhernie  diognosticiert,  Bruchband  nicht  vertragen,  Her- 
niotomie mit  Entfernung  eines  Hodens.  Vagina  vorhanden 
ohne  Uterus,  noch  keinerlei  Geschlechtstrieb. 

36.  Fall  von  Wegradt:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
Mädchen:  rechterseits  ein  Hoden  entfernt,  linkerseits  ein  Fi- 
broadenom. 

37.  Fall  von  Will:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  54jährigen 
Mädchen  Kristine  W.:  beide  fibrös  entarteten  Hoden  ent- 
fernt. Vagina  vorhanden  ohne  Uterus.  Geschlechtsdrang 
männlich,  aber  E.  S.  hatte  niemals  einen  Beischlaf  mit  einem 
Weibe  versucht,  sondern  stets  nur  mit  Männern  unter  Benutzung 
der  dadurch  stark  dilatierten  Urethra,  obgleich  eine  Vagina  vor- 
handen war. 

38.  Fall  von  v.  Win  ekel:  (?)  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
Mädchen.    Entfernung  beider  Hoden. 

Zweite  Gruppe: 

Vier  Leistenschnitte  bei  weiblichen  Scheinzwittern,  von 

denen  2  als  Männer  erzogen  waren. 

1.  Fall  von  Brohl:  Bei  einer  36jährigen  Dame  linksseitige  Her- 
niotomie: Uterus  und  beide  Ovarien   im  Bruchsacke.    Uterus- 


—    414    — 

amputation  und  Kastration.  Uterus  bicornis.  Clitoris  6,5  cm, 
sub  erectione  11  cm  lang.  Seit  dem  18.  Jahre  normale  Men- 
struation. 

2.  Fall  von  P6an:    Ein  löjähr.  Mädchen  wurde  für  einen  Knaben 

erklärt  mit  Kryptorohismus.  Beiderseits  Leistenschnitt,  um  die 
Hoden  aufzusuchen.  Bei  späterem  diagnostischen  Bauchschnitt 
Uterus  und  Ovarien  konstatiert.  Kastration.  Mangel  der  Vagina. 
Clitoris  erectil.    Männlicher  Stimmbruch.     Keine  Menstruation. 

3.  Fall  von  Sujetinow:    Herniotomie  rechterseits    wegen   einge- 

klemmten Leistenbruches  bei  einer  4öjähr.  Frau.  Vagina  blind- 
sackförmig  geschlossen,  in  hernia  Uterus,  eine  Tube  und 
Ovarium.  Clitoris  5  cm  lang.  Nur  2  Jahre  lang  Menstruation 
und  sehr  unregelmäßig.  (???) 

4.  Fall  von  Walther:    Beiderseitige  Herniotomie    bei  einem  24- 

jährigen  Sattler:  rechtsseits  Tube  und  atrophisches  Ovarium  in 
die  Bauchhöhle  reponiert,  linkerseits  Sactosalpinx,  sclerotisohes 
Ovarium  und  ein  Stück  Netz  abgetragen.  Clitoris  stark  hyper- 
trophisch, erectil,  starker  rein  männlicher  Gesohlechtsdrang  mit 
angeblicher  Ejakulation  sub  erectione.  Bis  jetzt  hat  der 
Sattler,  der  sich  für  einen  Mann  hält,  noch  keinen  Beischlaf 
als  Mann  versucht,  weil  sein  Glied,  das  wie  ein  hypospadischer 
Penis  aussieht,  hakenförmig  nach  abwärts  gekrümmt  ist.  W. 
fügte  einen  Bauohschnitt  hinzu,  um  die  Netzstümpfe  zu  kon- 
trollieren und  fand  einen  kleinen  Uterus.  Vagina  mündet 
wahrscheinlich  in  die  Urethra.  Seit  dem  16.  Jahre  alle  Monate 
2 — 3  Tage  lang  Blutungen  aus  der  Harnröhre. 

Dritte  Gruppe: 

13  Leistenschnitte  bei  Männern,  bez.  männlichen  Schein- 
zwittern mit  Konstatierung  eines  mehr  oder  weniger  ent- 
wickelten  Uterus  uni-  oder  bicornis,  einer  oder  beider 
Tuben  in  hernia  bez.  in  der  Bauchhöhle. 

1.  Fall  von  Billroth:  Rechtsseitige  Herniotomie  bei  einem  24- 
jährigen  Hypospaden.  Tod  infolge  von  Verblutung  nach  Ab- 
gleiten einer  Ligatur.  Das  sub  herniotomia  resezierte  Ge- 
bilde erwies  sich  als  ein  amputierter  Uterus  mit  Tube. 
Vagina  mündete  in  die  Urethra.  In  der  linken  Schamlefze 
Hoden  und  Nebenhoden.  Vom  16.  Jahre  an  periodische  Blu- 
tungen ex  Urethra  und  aus  einer  Fistel  der  rechten  Schamlefze 
ex  utero  eotopioo.  Obwohl  der  Geschlechtsdrang  männlich,  hatte 
dieser  Mann  mit  Knaben  und  Mädchen  kobabitiert. 


—    415    — 

2.  Fall  von  Boeckel:  In  einer  Leistenhernie  bei  einem  Manne 
sub  operatione  ein  Uterus  bicornis  mit  einer  Tube,  ein  Hoden 
und  ein  Nebenhoden  gefunden. 

3.  Fall  von  Carle:  Linksseitige  Herniotomie  bei  einem  36jährigen 
Telegraphisten.  In  hernia  ein  Uterus  bicornis  mit  Tuben  neben 
Hoden  (Teratom  ?)  und  Nebenhoden,  die  Organe  wurden  abgetragen. 
Der  Mann  übte  den  Beischlaf  mit  seiner  Gattin  aus,  aber  die 
Ehe  war  kinderlos.  Bei  der  Operation  wurde  vom  Leistenkanal 
aus  die  Bauchhöhle  eröffnet. 

4.  Fall  von  Derveau:  Herniotomie  bei  einem  69jähr.  Manne, 
Vater  von  6  Kindern  trotz  Kryptorchismus.  In  hernia  Uterus 
mit  Tuben  und  oberer  Anteil  der  Vagina,  ^die  wahrscheinlich 
in  urethram  mündete. 

5.  Fall  von  Fantino:  Rechtsseitige  Herniotomie  bei  einem  Manne 
mit  Entfernung  eines  Uterus  mit  2  Tuben  und  beider  Hoden. 
Linke  Hodensackhälfte  leer. 

6.  Fall^Fillippini:  Rechtsseitige  Herniotomie  bei  einem  23 jähr. 
Manne:  Uterus,  Tube  und  angeblich  ein  Ovarium  ex  hernia 
entfernt,  in  der  linken  Scrotalhälfte  ein  Hoden. 

7.  Fall  von  Griffith:  siehe  Gruppe  I  No.  9:  Uterus  entdeckt 
nach  beiderseitiger  Herniotomie  mit  Entfernung  beider  Hoden 
bei  einem  23 jähr.  Mädchen. 

8.  Fall  von  Guldenarm:  Linksseitige  Herniotomie  bei  einem 
Manne  mit  rechtsseitigem  Kryptorchismus.  Ex  hernia  ein  Uterus 
bicornis,  Hoden  und  Nebenhoden  entfernt.  Vagina  mündete 
im  urethram. 

9.  Fall  von  Pozzi:  siehe  Gruppe  I  Fall  25:  Uterushorn  in  hernia 
neben  Hoden. 

10.  Fall  von  Sa  eng  er:  siehe  Gruppe  I  Fall  27:  Uterus  mit  einer 
Tube  und  Parovarialcyste  in  hernia  neben  dem  Hoden. 

11.  Fall  von  Stonham:  siehe  Gruppe  I  Fall  32:  Uterus  neben 
Hoden. 

12.  Fall  von  Thiersch.  Bei  einem  22jährigen  Hypospaden  links- 
seitiger Leistenschnitt  mit  unbewußter  Amputation  der  linken 
Tube.  Tod  an  Peritonitis:  Uterus  bicornis,  Vagina  mündet  in 
urethram.    Kryptorchismus  unilateralis. 

13.  Fall  von  Winkler:  Herniotomie  rechterseits.  Später  Bruch- 
recidiv,  Bauchschnitt,  im  25.  Jahre  Tod  an  Peritonitis.  Uterus 
bicornis  mit  Tuben  und  Vagina,  linke  Tube  im  Leistenkanal, 
beide  Hoden  in  der  Bauchhöhle,  Vagina  mündet  in  urethram. 


—    416    — 

Anhang:  Fall  von  Garr6:  angeblieh  Hoden  und  Ovarium  in 
einer  Leistenhernie  gefanden  bei  einem  als  Mann  erzogenen 
Individuum. 

Vierte  Gruppe: 
45  Einzelbeobachtungen  betreffend  32  Fälle  von  Coincidenz 
gut  oder  bösartiger  Neubildungen  vorherrschend  der  Ge- 
schlechtsorgane mit  Scheinzwittertum,  29  an  Scheinzwittern 
vollzogene  Bauchschnitte,  1  Nephrolithotomie,  1  Stein- 
operation bei  Sitz  des  Steines  in  utriculo  masculino.  Auf 
diese  45  Beobachtungen  kommen  nicht  weniger  als 20  Fälle 
von  erreur  de  sexe,  9  mal  blieb  das  Geschlecht  fraglich, 
darunter  5  mal  trotz  vollzogenen  Bauchschnittes,  ein  einziges 
mal  sollen  Hoden-  und  Ovarialgewebe  gleichzeitig 
vorgelegen  haben  in  einer  Geschlechtsdrüse  (?)  (Fall 
von  v.  Sal6n). 

1.  Fall  von  Abel:  Tod  der  33jährigen  Albertine  R.  an 
Peritonitis  nach  vaginaler  Paraoentese  einer  vermeintlichen 
Haemtometra,  die  sich  sub  necropsia  als  sarkomatöse  Cryptorchis 
sinistra  erwies.  Vagina  vorhanden,  man  glaubte  eine  rudi- 
mentäre Portio  vaginalis  uteri  im  Scheidengrunde  zu  tasten. 
Erreur  de  sexe. 

2.  Fall  von  Audain:  2  ovarielle  Dermoide  bei  einem  weib- 
lichen Scheinzwitter  entfernt.    Bedeutende  Clitorishypertrophie. 

3.  Fall  von  Bacaloglu  und  Fossard:  Bauchschnitt  bei  der 
31  jähr.  A.  Lefrangois  mit  tötlichem  Ausgange.  Clitoris  8 
Centimeter  lang,  5  Centimeter  dick,  Vaginalostium  fehlte  infolge 
Verwachsung  der  Schamlefzen  miteinander.  Weibliches  Schein- 
zwittertum. 

.  4.  Fall  von  Bazy:  Gelegentlich  einer  Operation  wegen  Appen- 
dicitis  bei  einem  26 jähr.  Fräulein  männliches  Geschlecht  mit 
Hypospadiasis  peniscrotalis  konstatiert.  Keinerlei  Geschlechts- 
trieb bisher  ausgesprochen.    Erreur  de  sexe. 

5.  Fall  von  Bock:  Bauchsohnitt  bei  einem  21  jähr.  Manne  der 
bis  zum  19.  Jahre  als  Mädchen  gegolten  hatte.  (Syphilis 
acquiriert).  Vagina  vorhanden,  collum  uteri  getastet.  2  Teratome 
der  Geschlechtsdrüsen,  angeblich  Ovarien,  wahrscheinlich  Hoden 
entfernt.  Tod  am  18.  Tage  an  Pneumonie.  Sub  coitu  Ejaku- 
lation aus  2  seitlich  vom  „Infundibulum"  belegenen  Oeffnungen. 
Hypospadiasis  peniscrotalis,  Hymen  eingerissen. 

6.  Fall  von  Carle:  sub  herniotomia  Bauchhöhle  zu  diagnostischen 
Zwecken  eröffnet  (siehe:  Gruppe  III>  Fall  No.  3). 


—    417     — 


7.  Fall  von  Chevreuil.  Sanduhrförmiger  angeblicher  Ovarial- 
tumor sub  necropsia  der  Anna  Bergault  entdeckt,  teils  in 
der  Bauchhöhle  belegen,  teils  durch  einen  Leistenring  in  eine 
Schamlefze  hineingetrieben.  Clitorishypertrophie.  (Geschlecht 
fraglich). 

8.  Fall  von  Clark:  Die  Nekropsie  einer  Frau  nach  Nephrolitho- 
tomie wies  eine  Erreur  de  sexe  nach,  ein  Hoden  in  scroto 
fisso,  der  andere  im  Leistenkanal. 

9.  Fall  von  Delageniere:  Bauchschnitt  bei  einem  Mädchen  um 
die  blind  endende  Vagina  mit  dem  Uterus  zu  vernähen.  Kein 
Uterus  gefunden,  aber  2  atrophische  Hoden  in  der  Bauchhöhle. 
Erreur  de  sexe. 

10.  Fall  von  Engelhardt:  Als  Todesursache  des  59jährigen 
Witwers  Karl  Menniken  wurde  Carcinoma  uteri  sub  necropsia 
gefunden.  Ovarium  vorhanden.  Vagina  mündete  in  Urethra. 
Clitoris  hypertrophisch,  von  der  Harnröhre  durchbohrt.  Erreur 
de  sexe.  Der  Mann  hatte  in  seiner  Ehe  mit  der  Gattin  zu 
deren  Zufriedenheit  kohabitiert,  obgleich  er  selbst  ein  verkanntes 
Weib  war. 

11.  Fall  von  Fehling.  Bei  einem  21  jähr.  Mädchen  erst  Fehl- 
diagnose einer  Haematometra,  nach  vergeblicher  Paracentese 
Diagnose  richtig  auf  Tumor  eines  Ovarium  gestellt  bei  inguino- 
labialer  Ektopie  des  anderen.  Myxosarcom  des  linken  Ovariums 
durch  Bauchschnitt  entfernt,  rechtes  Ovarium  und  Tube  in  die 
Bauchhöhle  hineingezogen.      Clitoris  hypertrophisch  und  erectil. 

12.  Fall  von  Gruber:  22 jähr.  Mädchen  an  Carcinom  einer  Ge- 
schlechtsdrüse verstorben.  Vagina  und  Uterus  vorhanden,  die 
andere  Geschlechtsdrüse  ein  Hoden.  Erreur  de  sexe, 
Ery  ptor  chismus . 

13.  Fall  von  Gunkel.  Ein  Mädchen  mit  männlichem  Geschlechts- 
trieb wegen  Incest  angeklagt  wird  nach  Untersuchung  für  einen 
männlichen  Scheinzwitter  erklärt,  erhält  aber  die  Erlaubnis  auch 
ferner  weibliche  Kleider  zu  tragen.  Im  50.  Jahre  Tod.  Sektion 
erweist  Erreur  de  sexe.  Ovarien,  myomatöser  Uterus 
mit  Tuben,  Vagina  mündet  in  capite  gallinaginis  urethrae. 
Prostata  vorhanden,  Clitoris  hypertrophisch,  penisartig  von  der 
Urethra  durchbohrt  bis  an  eine  Stelle  21/»  Centimeter  nach 
rückwärts  von  der  normalen  männlichen  Harnröhrenöffnung 
belegen. 

14.  Fall  von  Hall:  Carcinoma  ovarii  unius  durch  Bauchschnitt 
entfernt  bei  einem  17  jähr,  weiblichen  Scheinzwitter.  Clitoris 
hypertrophisch. 


Jahrbuch  V. 


27 


—    418    — 

15.  Fall  von  Hansemann:  Die  Sektion  der  32 jähr.,  lange  Jahre 
hindurch  verhreiatet  gewesenen  Kristine  Book  fleisch, 
verstorben  an  Blasenkrebs,  ergibt  eineErrenr  de  sexe.  Hypo- 
spadiasis  peniscrotalis  mit  Hoden  und  Nebenhoden  jederseits  in 
scroto.  Keine  Vagina  vorhanden,  Urethra  10,5  Centimeter  lang, 
ließ  den  kleinen  Finger  in  die  Blase  ein.    Beischlaf  als  Frau. 

16.  Fall  von  Howitz:  Sektion  eines  49jährig«n  Mädchens  nach 
letal  verlaufenem  Bauchschnitte  mit  Amputation  eines  fibroma- 
tösen  Uterus.  Vagina  vorhanden.  Clitoris  6  Centimeter  lang. 
Die  mandelgroßen  Geschlechtsdrüsen  von  Chiowitz  für  rudi- 
mentäre Ovarien  gehalten.  Beweis  fehlt.  Gesohlecht  fraglich 
trotz  Mikroskop. 

17.  Fall  von  Dixon-Jones:  Diagnostischer  Bauchsohnitt  einer 
beiderseitigen  Herniotomie  hinzugefügt  bei  Erreur  de  sexe 
(siehe  Gruppe  I,  Fall  14). 

18.  Fall  von  Kapsammer:  Unicum!  Nitze  entfernte  operativ 
bei  einem  30jährigen  Manne  einen  Harnstein  von  165  Gramm 
aus  dem  Utriculus  masculinus.   Pseudoherm.  masculinus  internus. 

19.  Fall  von  Kr  ab  bei:  Bauchsohnitt  bei  einem  32  jähr.  Manne  er- 
gab einen  Ovarialtumor,  also  Erreur  de  sexe.  Clitoris 
hypertrophisch,  Vagina  vorhanden,  Uterus  klein,  das  rechte 
Ovarium  normal.  linksseitiger  Ovarialtumor  ein  multilokulaeres 
Cystom.  Nach  Vj2  Jahren  zweiter  Bauchschnitt  mit  Entfernung 
eines  Teratoms  von  sarkomatösem  Bau. 

20.  Fall  von  Krug:  Ovariotomie  bei  einem  19jährigen  Mädchen. 
Clitoris  2  Zoll  lang,  2  Ovarialsarkome.  Uterus  und  Vagina 
rudimentär.    Weibliches  Scheinzwittertum. 

21.  Fall  von  Lesser:  Tod  eines  25jährigen  Mädchens  durch  Ver- 
blutung infolge  von  Platzen  eines  Alveolarsarkoms,  von  Lesser 
auf  den  Uterus  bezogen.  Sektion:  Keine  Ovarien  gefunden, 
Vagina  vorhanden,  Clitoris  5,5  cm  lang.    Geschlecht  fraglich. 

22.  Fall  von  Levy:  16jähriges  Mädchen,  Anna  Schulze,  mit 
hypertrophischer  erectiler  Clitoris  und  Tumoren  der  Geschlechts- 
drüsen.   Geschlecht  fraglich. 

23.  Fall  von  E.  Levy:  Bauchschnitt  bei  einem  20jährigen  Mädchen 
durch  v.  S  a  e  x  i  n  g  e  r.  Tod  nach  unvollendeter,  wegen  Blutung 
abgebrochener  Operation.  Clitoris  5,8  cm  lang,  erectil.  Uterus 
und  Vagina  vorhanden.  Sektion  ergab  2  Sarkome  der  Ge- 
schlechtsdrüsen. Es  war  weder  Hoden-  noch  Ovarialgewebe 
gefunden  worden.    Geschlecht  fraglich. 

24.  Fall  von  Lieb  mann:  Elastischer  Tumor  in  der  linken  Leiste 
einer  45jährigen  Frau,  die  mit  25  Jahren  einen  66jährigen  Mann 


—    419    — 


heiratete.    Keine   Spur  von  Uterus,   Vagina,  Ovarien  zu  ent- 
decken.   Geschlecht  fraglich. 

25.  Fall  von  Litten:  Die  16jährige  Klara  Hackerwegen  Bauch- 
tumor aufgenommen,  man  schwankte  ob  Mädchen  oder  Knabe. 
Clitoris  5,5,  sub  erectione  10  cm  lang.  Uterus  und  Vagina 
vorhanden.  Nach  Paracentese  Tumor  für  ovariell  erklärt,  die 
Gebilde  in  den  Schamlefzen  für  Hoden  entgegen  Virchow, 
der  sie  für  ektopische  Ovarien  hielt.  Nekropsie:  Myxosarcom 
des  rechten  Ovariums,  linkes  glattwandig  klein.  Die  Gebilde 
in  den  Schamlefzen  ein  Haemato-  resp.  Hydrocele  processus 
vaginalis  peritonaei.    Weibliches  Scheinzwittertum. 

26.  Fall  von  Merkel:  Sektion  eines  63jährigen  an  Carcinoma  rect. 
verstorbenen  Mannes  ergab  die  Gegenwart  eines  Uterus  und 
einer  Vagina.  Normales  Sperma,  normaler  Beischlaf  mit  der 
Gattin. 

27.  Fall  von  Mies:  Die  66jährige  Else  G.  wegen  Unterlippen- 
krebs aufgenommen.  Die  Seltenheit  dieser  Krebslokalisation 
bei  Frauen  sowie  diverse  männliche  Erscheinungen  erweckten 
den  Verdacht  einer  Erreur  de  sexe.  Männlicher  Schein- 
zwitter mit  Hypospadiasis  peniscrotalis,  Hoden  und  Nebenhoden 
in  scroto  fisso,  Prostata. 

28.  Fall  von  F.  Neugebauer:  Carcinoma  uteri  et  ovarii  sinistri 
bei  der  56jährigen  Anastasia  K.  Clitoris  3l/a  cm  lang. 
Weibliches  Scheinzwittertum. 

29.  Fall  von  Neugebauer:  Bauchschnitt  bei  einer  35 jähr,  als 
Frau  verheirateten  Person  von  männlichem  Aussehen.  Niemals 
Periode,  Scheide  rudimentär,  Sarkom  einer  Geschlechtsdrüse, 
die  andere  Geschlechtsdrüse  nicht  zu  finden.  Geschlecht  fraglich. 

30.  Fall  von  Obolonsky:  Sektion  einer  50jährigen  Arbeiterin  er- 
wies Erreur  de  sexe.  Vagina,  Uterus  bicornis,  Kryptorchis- 
mus  bilateralis,  Sarcoma  testiouli  dextri.  Hypospadiasis  peni- 
scrotalis. 

31.  Fall  von  Paton:  Bei  einem  Bauchschnitte  fand  man  bei  einem 
20jährigen  jungen  Manne  einen, Uterus,  pyosalpinx  duplex  pro- 
fluens,  eine  in  scroto  fisso  mündende  Vagina;  die  Urethra  mün- 
dete in  die  Vagina.  Uterus  und  linksseitige  Tube  samt  an 
Stelle  des  Ovarium  liegendem  Hoden  entfernt.  Hypospodiasis 
peniscrotalis  mit  Kryptorchismus.  Noch  kein  Geschlechtstrieb. 
Unioum. 

32.  Fall  von  Pfannenstiel:  Bauchschnitt  bei  einem  55jährigen 
Mädchen  Chr.  Schm.:  Clitoris  3,  sub  erectione  5  cm  lang. 
Vagina  und  Uterus  vorhanden.    Uterus  wegen  Fibromen   am- 

27* 


—    420    — 

putiert.  Tuben  stark  verlängert.  Die  exstirpierten  Geschlechts- 
drüsen als  Ovarien  angesprochen  aber  ohne  Nachweis  ovariellen 
Baues.    Geschlecht  fraglich  trotz  Mikroskop.    Melancholie. 

33.  Fall  von  P6an:  Diagnostischer  Bauohschnitt  nach  beiderseiti- 
gem Leistenschnitt  bei  einem  Knaben:  Erreur  de  sexe.  Ab- 
tragung der  Uterusadnexa.    (siehe  Gruppe  II.  No.  2). 

34.  Fall  von  Primrose:  Tod  eines  25jährigen  Kryptorchisten 
nach  Entfernung  eines  Hodensarkomes  durch  Bauchschnitt. 
Nekropsie:  Uterus  entdeckt.  Vagina  mündet  in  capite  gallina- 
ginis  urethrae. 

35.  Fall  von  Quisling:  Appendicitisanfälle  bei  einem  angeblich 
weiblichen  27jährigen  Scheinzwitter  mit  Uterus  und  Vagina, 
Clitoris  4  Centimeter  lang,  Masturbation,  weiblicher  Geschlechts- 
drang.   (Geschlecht  fraglich?) 

36.  Fall  von  E.  v.  Sal6n:  Bauchschnitt  bei  der  43 jähr,  unverehe- 
lichten Auguste  Persdotter  mit  Entfernung  eines  grossen 
Cystofibrom  (des  Uterus?)  und  der  Geschlechtsdrüsen:  linke 
Geschlechtsdrüse  ein  Ovarium,  die  rechte  soll  (Ovotestis)  ova- 
rielle  und  testiculaere  Struktur  aufgewiesen  haben.  Uterus 
und  Vagina  vorhanden,  Clitoris  5  Centimeter,  Beischlaf  mit 
Männern  schmerzhaft,  mit  Frauen  nicht  versucht. 

37.  Fall  von  Snegirjow:  Diagnostischer  Bauchschnitt  einer 
beiderseitigen  Herniotomie  mit  Kastration  hinzugefügt.  Erreur 
de  sexe..  (Siehe  Gruppe  I  Fall  30). 

38.  Fall  von  Sorel  u.  Chßrot.  Bauchschnitt  bei  der  36jährigen 
Aline  C.  Carcinom  des  Blinddarmes.  Clitoris  6  Centimeter 
lang,  erectil,  Geschlechtsdrang  männlich,  aber  Beischlafver- 
suche   mißglückten.     Tod.     Nekropsie:     Mangel    der    Vulva, 

Vagina,  der  Hoden  und  Ovarien,  Utriculus  masculinus  gefunden.  l 

Geschlecht  fraglich. 

39.  Fall  von  Stimson:  Bauchschnitt  bei  einem  46jährigen  Neger, 
der  Vater  war.  Sarkom  des  linken  Bauchhodens,  der  rechte  in 
scroto  non  fisso  unterhalb  eines  Leistenbruches.  Uterus  bicornis 
mit  beiden  Tuben. 

40.  Fall  von  Stroebe:  Sektion  eines  63jährigen  an  Carcinoma 
oesophagi  verstorbenen  Mannes.  Kryptorchismus  beiderseits. 
Ausgebildeter*  Uterus    mit  beiden  Tuben   und   Vagina,  in    die 

capite   gallinaginis   urethrae   mündet.    Penis   normal,    Sero  tum  i 

leer.    Der  Mann  war  kinderlos  verheiratet  gewesen.  ; 

41.  Fall  von  Unterberger:  Bauchschnitt  bei  einem  14jährigen 
Mädchen:  Diagnose  Ovarialsarkom  trotzdem  die  Scham  das 
Aussehen   einer  Hypospadiasis    peniscrotalis   bot.    Mannskopf- 


421 


großes  Sarkom  der  linken  Geschlechtsdrüse,  Uterus  vorhanden 
Vagina  öffnet  sich  wahrscheinlich  in  urethram,  rechtsseitige 
atrophische  Geschlechtsdrüse  für  Ovariuin  gehalten,  aber  ohne 
mikroskopischen  Beweis.    Geschlecht  zweifelhaft. 

42.  Fall  von  Westermann:  Sektion  eines  30jährigen  an  Appen- 
dicitis  ulcerosa  verstorbenen  Mädchens:  Erreur  de  sexe. 
Hypospadiasis  peniscrotalis,  Kryptorchismus  beiderseits,  Uterus 
mit  Tuben  und  Vagina  vorhanden. 

43.  Fall  von  Win  ekler:  Bauchschnitt  wegen  Darmocclusion  bei 
einem  56jähr,  männlichen  Scheinzwitter:  Uterus  sub  nekropsia 
entdeckt.    (Siehe  Gruppe  III  No.  12). 

44.  Fall  von  Zahorski:  Bauchparacentese  wegen  Bauchtumor 
bei  einem  25jährigen  Dienstmädchen.  Tod  an  Erschöpfung. 
Sarkom  der  linken  Geschlechtsdrüse,  rechte  klein,  flachgedrückt, 
Uterus  und  Vagina  vorhanden.  Clitoris  Sxl2  Centimeter  lang. 
Geschlechtsdrüsen  für  Ovarien  angesehen  ohne  mikroskopische 
Untersuchung.    Geschlecht  zweifelhaft. 

45.  Fall  von  Pozzi  u.  Magnan:  Bei  einem  verheirateten  Manne 
ein  Bauchtumor  entfernt,  der  sich  als  Ovarialtumor  erwies. 
Erreur  de  sexe. 


Fünfte  Gruppe: 

23   Fälle  von  teils  ausgeführten,  teils  nur  von  dem  Arzte, 
dem   Scheinzwitter  oder  seinen  Eltern  verlangten  chirur- 
gischen Eingriffen  an  den  Genitalien  mit  Anschluss  einiger 
Hypospadieoperationen  bei  männlichen  Scheinzwittern. 

1.  Amputation  der  hypertrophischen  Clitoris  bei  den  Stämmen 
der  Ibbos  und  Mandingos  im  antiken  Aegypten. 

2.  Fall  von  Arn  and:  Verlangte  aber  vom  Arzte  abgeschlagene 
Amputation  der  hypertrophischen  erectilen  Clitoris  bei  einer 
35 jähr.  Nähterin:  angebliche  Hämatokolpometra  per  rectum 
profluens  bei  unterem  Scheidenversohluß,  Eröffnung,  Wieder- 
verschluß. Angeblich  Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstränge 
in  scroto  fisso  getastet.  Nach  15  Jahren  Tod,  Nekropsie. 
Geschlecht  fraglich.    Fall  aus  dem  18.  Jahrhundert. 

3.  Fall  von  Mo.  Arthur:  Operation  wegen  Atresia  ani  bei  einem 
neugeborenen  Scheinzwitter  fraglichen  Geschlechts.  Nekropsie: 
weibliches  Scheinzwittertum  mit  Persistenz  der  Kloake. 

4.  Fall  von  Aveling:  Amputation  der  hypertrophischen  Clitoris 
bei  einer  Frau  nach  Eonstatierung  der  Menstruation. 


—     422     

5.  Fall  von  B6noit:  Vergeblicher  operativer  Versuch  bei  einem 
27jährigen  verlobten  Mädchen,  die  angeblich  verwachsene 
Scheidemttndung  zu  eröffnen.  Erreur  de  sexe,  Hypospadiasis 
peniscrotalis.    Verlobung  gelöst. 

6.  Fall  von  Berendes:  Amputation  der  angeblichen  hypertrophi- 
schen Clitoris  bei  einem  4jährigen  Mädchen  auf  Verlangen  der 
Eltern,  später  von  Landau  Erreur  de  sexe,  männliches 
Scheinzwittertum  konstatiert  Verlobung  gelöst  (siehe  Neu- 
gebauer:  dieses  Jahrbuch  für  1902:  Gruppe  IV.  Fall  4). 

7.  Fall  von  Bittner:  Die  Mutter  eines  14jährigen  Mädchens  ver- 
langte durchaus,  Bittner  solle  die  5l/2  Centimeter  lange  Clitoris 
amputieren,  wurde  aber  abschlägig  beschieden  wegen  Erreur 
de  sexe.  Hypospadiasis  peniscrotalis.  Vagina  vorhanden, 
vielleicht  auch  Uterus.  Harnröhrenöffhung  weiblich,  früher 
von  Dr.  Busch  künstlich  erweitert.  An  der  Spitze  derGlans 
penis  öffnet  sich  ein  Kanal,  welcher  eine  Sonde  5  Centimeter 
tief  einlässt,  schleimgefüllt.  Es  scheint  aber  nur  die  basale 
Partie  des  Penis,  resp.  nur  das  Scrotum  gespalten  zu  sein,  eine 
seltene  Form  der  Hypospadie. 

8.  Fall  von  Blond el:  45jährige  Frau  seit  18 Monaten  verheiratet. 
Beischlaf  stets  schmerzhaft  aber  libidinös,  früher  mehrere  Be- 
werber abgewiesen  wegen  befürchteter  Kinderlosigkeit  einer 
Ehe  wegen  genitaler  Mißstaltung.  Ein  Sturz  vor  6  Monaten 
führte  zur  Entstehung  eines  beiderseitigen  Leistenbruches.  Der 
jetzt  erst  im  45.  Jahre  erfolgte  Deoensus  testiculorum  retar- 
datus  führte  zur  Erkenntnis  einer  Erreur  de  sexe.  Hypospa- 
diasis peniscrotalis  mit  Vagina,  noch  unzerrissenem  rigiden  Hymen, 
der  incidiert  werden  sollte  mit  nachfolgender  plastischer  Er- 
weiterung der  Vagina.  Penis  fissus  sub  erectione  6—7  Centi- 
meter lang.  Hoden  und  Nebenhoden  in  den  Schamlefzen  getastet. 
Vagina  eng,  ohne  Uterus  (?).  Geschlechtsdrang  absolut  weiblich. 

9.  Fall  von  Realdo  Colombo:  Amputation  der  Clitoris  ab- 
geschlagen bei  einer  Aethiopierin,  die  weder  mit  Männern  noch 
mit  Frauen  bequem  sexuell  verkehren  konnte.  Wahrscheinlich 
männlicher  Hypospade  mit  rudimentärer  Vagina,  deren  künst- 
liche Erweiterung  verlangt  wurde.  Geschlechtsdrang  wohl 
weibüch. 

10.  Fall  von  Coop:  Discision  einer  Schamlefzenverwachsung  bei 
einer  24jährigen  verheirateten  Frau,  einem  Scheinzwitter,  er- 
möglichte den  Beischlaf. 

11.  Fall  von  Coste:  Bei  einem  weiblichen  Scheinzwitter,  einem 
21jährigen  Mädchen,  welches  heiraten  wollte,  Beischlaf  ermöglicht 


—    423    — 

durch  Durschneidung  einer  Atresie  mit  teilweiser  Spaltung  der 
Urethra.  In  der  so  eröflheten  Vagina  ein  collum  uteri  ge- 
tastet. Amputation  der  hypertrophischen  Clitoris.  Die  Vagina 
mündete  in  urethram.  Hochzeit,  Beischlaf  gelingt  Periode 
tritt  ein. 

12.  Fall  von  Duval:  Behufs  verlangter  Ehescheidung  vom  Forum 
ecclesiasticum  verfügt:  falls  Amputation  der  angeblichen  hyper- 
trophischen Clitoris  gestattet  wird  von  der  Frau,  soll  die  Ehe 
fortbestehen.  Die  Frau  geht  darauf  nicht  ein,  Ehe  geschieden, 
Erreur  de  sexe.  Männlicher  Scheinzwitter,  ein  Hypospade, 
war  als  Frau  verheiratet  gewesen. 

13.  Fall  von  Hartmann:  Auf  Verlangen  der  Mutter  Amputation 
der  angeblichen  hypertrophischen  Clitoris  wegen  Masturbation 
bei  einem  7jährigen  Mädchen.  Clitoris  kleinfingergroß,  sub 
erectione  noch  größer.  Vagina  und  Uterus  vorhanden.  Geschlecht 
fraglich,  möglicherweise  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit 
KryptorcMsmus,  Vagina  und  Uterus. 

14.  Fall  von  Hector  le  Nu:  Vom  Vater  Amputation  der  angeb- 
lichen hypertrophischen  Clitoris  bei  der  6  jähr.  Tochter  verlangt, 
aber  abgeschlagen,  weil  männlicher  Scheinzwitter.  Erreur 
de  sexe. 

15.  Fall  von  Huguies:  Die  20 jähr.  Louise  D.  sollte  heiraten, 
Menstruation  vorhanden,  Clitoris  5  Centimeter  lang,  erectil, 
Schamlefzen,  verwachsen  mit  einander,  täuschen  ein  leeres 
Scrotum  vor.  Discision  bei  zutreffender  Diagnose.  Beischlaf 
ermöglicht.    Erfolg  genügend. 

16.  Fall  von  B  6  c  1  a  r  d  u.  Anderen :  Weiblicher  Scheinzwitter  Maria 
Magdalena  Le  fort  mit  erectiler  hypertrophischer  Clitoris  und 
partieller  Verwachsung  der  Schamlefzen  mit  einander.  Discision  , 
verweigert. 

17.  Fall  von  Virchow:  Katarina,  der  spätere  Karl  Hohmann, 
ein  männlicher  Scheinzwitter,  angeblich  menstmierend.  Penis 
hypospadiaeus,  Scrotum  teilweise  gespalten.  Billroth  schlug 
die  Durchschneidung  der  Schamlefzenverwachsung  vor,  um  den 
Aditus  ad  vaginam  bloßzulegen.  Operation  verweigert.  Bei- 
schlaf mit  Männern  und  mit  Frauen.  Vom  16. — 20.  Jahre  nur 
männlicher  Geschlechtsdrang,  nach  dem  20.  Jahre  weiblicher, 
nach  dem  40.  Jahre  heiratete  Karl,  früher  Katarina  Hoh- 
mann, ein  Mädchen. 

18.  Fall  von  Keiffer.  Hysteroekpetasis  wegen  intermittierender 
Amenorrhoe   und   Dysmenorrhoe   bei  einem  25  jähr.   Mädchen 


—    424    — 

Josephine  X.  —  Hypertrophische,  erectile  Clitoris,  Geschlecht 
fraglich,  eher  weiblich  als  männlich. 

19.  Fall  von  P6an:  Vergeblicher  Einschnitt  zwischen  Urethral- 
nnd  Analmündung  im  Bestreben  eine  Vagina  zu  schaffen  bei 
einem  irrtümlich  als  Knabe  erzogenen  Mädchen.  (Siehe  Gruppe 
H  No.  2.) 

20.  Fall  Roux:  Verheiratete  Frau  mit  beiderseitiger  labialer 
Ovarialektopie  und  teilweiser  Schamlefzenverwachsung  wurde 
durch  Discision  der  Verwachsung  beischlafsfähig.  Das  weib- 
liche Geschlecht  nur  vermutet. 

21.* Fall  von  Sonnenburg:  Durchschneidung  einer  Schamlefzen- 
verwachsung bei  einem  Mädchen  mit  hypertrophischer  Clitoris. 

22.  Fall  von  Tauber:  Amputation  des  Penis  hypospodiaeus  bei 
einem  23jährigen  männlichen  Schemzwitter,  der  bis  zur  Kastra- 
tion (Hoden)  vor  2  Jahren  als  Mädchen  galt  und  mit  einem 
Manne  verlobt  war,  jetzt  einem  männlichen  Kastraten  (siehe 
Gruppe  IV.  Fall  7). 

23.  Fall  von  Vincent:  Bei  einem  mit  Defectus  ani  eturethrae  ge- 
borenem Kinde  zweifelhaften  Geschlechtes  ein  Anus  coccygeus 
angelegt.    Lebensrettender  Eingriff.    Geschlecht  fraglich. 

Anhang. 

Sechste   Gruppe. 

Auf  die  Beseitigung  der  peniscrotalen  Hypospadie  ge- 
richtete Operationen. 

1.  Beck,  2.  Brand,  3.  Castellana,  4.  Fälizet,  5.  Garre, 
6.  Krajenoski,  7.  Malthe,  8.  Marwedel,  9.  Thiersch, 
10.  Tuffier,  11.  Villemin,  12.  Waitz. 


425 


Brief  Wolfgang  von  Goethes 
über  die  mannmännliche  Liebe  in  Rom. 

Dr.  P.  I.  Möbius  übersandte  uns  zur  Veröffentlichung 
im  Jahrbuch  folgenden  bisher  wenig  bekannten  Brief 
Goethes,  welcher  für  den  vorurteilsfreien  Blick  des  großen 
Mannes  auch  in  dieser  Hinsicht  Zeugnis  ablegt. 

Am  29.  December  1787  schreibt  Goethe  aus  Rom 
an  den  Herzog  von  Weimar: 

„Mich  hat  der  süße  kleine  Gott  in  einen  bösen  Weltwinkel 
relegiert.  Die  öffentlichen  Mädchen  der  Lust  sind  unsicher 
wie  überall.  Die  Zibellen  (unverheurathete  Mädchen)  sind 
keuscher  als  irgendwo,  sie  laßen  sich  nicht  anrühren  und 
fragen  gleich,  wenn  man  artig  mit  ihnen  thut:  e  che  con- 
cluderemo?  Denn  entweder  soll  man  sie  heurathen  oder 
verheurathen  und  wenn  sie  einen  Mann  haben,  dann  ist  die 
Messe  gesungen.  Ja  man  kann  fast  sagen,  daß  alle  ver- 
heuratheten  Weiber  dem  zu  Gebote  stehn,  der  die  Familie 
erhalten  will.  Das  sind  denn  alles  böse  Bedingungen  und 
zu  naschen  ist  nur  bey  denen,  die  so  unsicher  sind  als 
öffentliche  Kreaturen.  Was  das  Herz  betrifft,  so  gehört 
es  garnicht  in  die  Terminologie  der  hiesigen  Liebeskanzley. 
Nach  diesem  Beytrag  zur  statistischen  Kenntniß  des  Landes 
werden  Sie  urtheilen,  wie  knapp  unsere  Zustände  sein  müssen 
und  werden  ein  sonderbar  Phänomen  begreifen,  das  ich 
nirgends  so  stark  als  hier  gesehen  habe,  es  ist  die  Liebe 
der  Männer  untereinander.  Vorausgesetzt,  daß  sie  selten 
biß  zum  höchsten  Grade  der  Sinnlichkeit  getrieben  wird, 
sondern  sich  in  den  mittleren  Regionen  der  Neigung  und 
Leidenschaft  verweilt:  so  kann  ich  sagen,  daß  ich  die 
schönsten  Erscheinungen  davon,  welche  wir  nur  aus  grie- 
chischen Überlieferungen  haben  (S.  Herders  Ideen  III.  Band 
pg.  171)  hier  mit  eigenen  Augen  sehen  und  als  ein  aufmerk- 
samer Naturforscher  das  psichische  und  moralische  davon 
beobachten  konnte.  Es  ist  eine  Materie,  von  der  sich  kaum 
reden,  geschweige  schreiben  läßt,  sie  sei  also  zu  künftigen 
Unterhaltungen  aufgespart." 

(Goethes  Briefe.     S.  Band  p.  314.     Weimar  1890.) 


Felicita  von  Vestvali. 


Felicita  von  Vestvali. 

Von 
Rosa  von  Braunschweig. 


Das  Quellenmaterial,  welches  uns  zuverlässige  Mit- 
teilungen aus  dem  Leben  urnisch  veranlagter  Frauen 
bietet,  ist  bei  weitem  nicht  so  vielfältig  als  über  ihre 
männlichen  Genossen.  Nicht  etwa,  weil  diese  eigenartige 
Veranlagung  bei  Frauen  weniger  verbreitet  wäre  —  es 
kommt  weit  öfter  vor  als  man  ahnen  kann  —  sondern 
weil  sich  die  Frauen  eine  größere  Zurückhaltung  auf- 
erlegen. Es  ist  dies  eine  Folge  ihrer  Erziehung,  denn 
schon  als  Kinder  werden  die  Mädchen  zu  größerer  Scham- 
haftigkeit  erzogen  als  die  Knaben,  und  dieses  sensible 
Empfinden  hindert  sie  später,  wenn  der  sexuelle  Trieb  in 
seine  Rechte  tritt,  sich  zu  decouvrieren. 

Zwar  bedroht  in  Deutschland  die  homosexuelle  Liebe 
zwischen  Frauen  kein  Gesetzparagraph,  doch  gesellschaft- 
lich leiden  sie  vielleicht  noch  mehr  unter  dem  Vorurteil 
als  die  Männer,  da  ihre  Neigung  von  der  unwissenden 
Menge  meist  als  niedere  Sinnlichkeit  gebrandmarkt  wird. 
Wie  anders  wäre  es,  wenn  die  Eltern  sich  über  das  Wesen 
der  Homosexualität  aufklären  ließen  und  erkennen  lernten, 
daß  dieselbe  etwas  von  der  Natur  Gegebenes  ist.  Leicht 
würden  sie  dann  schon  im  Kinde  die  eigenartige  Ver- 
anlagung erkennen ;  wenn  z.  B.  die  Mädchen  mehr  Inter- 
esse für  knabenhafte  Spiele  haben,   als  für  ihre  Puppen, 


—     428     —  v 

und  sich  bei  der  späteren  Entwickelung  des  Charakters 
deutliche  Spuren  einer  männlichen  Richtung  zeigen.  Bricht 
dann  schließlich  —  durch  irgend  einen  nebensächlichen 
Umstand  veranlaßt  —  die  homosexuelle  Neigung  deut- 
licher durch,  so  könnten  die  Eltern  manche  Unbesonnen- 
heit der  Tochter  zum  Guten  lenken.  Wie  oft  treibt  man 
Mädchen  gegen  ihren  Willen  in  eine  Ehe,  durch  die  sie 
nicht  allein  sich,  sondern  noch  einen  zweiten  unglücklich 
machen.  Lernten  es  die  Eltern,  aus  den  ihrem  Geschlecht 
widersprechenden  Charaktereigentümlichkeiten  ihrer  Kin- 
der auf  deren  sexuelle  Veranlagung  richtig  zu  schließen 
und  diese  mit  mildem  Sinn  gerecht  beurteilen,  so  würde 
viel  Unheil  in  der  Welt  verhütet  werden. 

Daß  die  urnische  Veranlagung  keineswegs  den 
Charakter  verdirbt  oder  minderwertig  macht,  m  beweisen 
unzählige  Beispiele.  Vereinigt  der  weibliche  Urning  doch 
meist  mit  spezifisch  weiblichen  Eigenschaften,  wie  Zart- 
heit der  Empfindung  und  Gefühlstiefe,  zugleich  männliche 
Energie,  Tatkraft,  zielbewußtes  Wollen  und  ist  frei  von 
der  Kleinlichkeit,  Eitelkeit  und  Unselbständigkeit  der 
Frauen,  während  anderseits  ihm  allerdings  auch  oft  Sinn- 
lichkeit und  Leichtsinn  des  Mannes  bescheert  sind  —  doch 
vollkommene  Geschöpfe  sind  schließlich  die  hetero- 
sexuellen Menschenkinder  auch  nicht.  Jedenfalls  bildet 
der  Verein  männlicher  und  weiblicher  Eigenschaften  — 
unter  günstigen  Bedingungen  entwickelt  —  sehr  oft 
Wesen,  deren  Begabung  die  der  Mutterweiber  weit  über- 
flügelt, und  sie  leisten  in  Kunst  und  Wissenschaft  der 
Menschheit  oft  ebenso  wertvolle  Dienste,  als  die  der 
Fortpflanzung  des  Menschengeschlechtes  dienenden  Frauen. 

Zu  diesen  außergewöhnlichen  Geschöpfen  gehörte 
Felicita  von  Vestvali.  Sie  hat  die  alte  und  neue  Welt 
mit  ihrem  Ruhm  erfüllt  und  nicht  zum  geringsten  Teil 
dankte  sie  es  ihrer  urnischen  Natur,  daß  sie  mit  männ- 
licher Energie  alle  Hindernisse  zu  überwinden  wußte  und 


—    429    — 

ihr  unbegrenztes  Streben  siegreich  das  hohe  Ziel  erreichte, 
zu  dem  ihr  Genie  sie  prädestinierte. 

Vielfach  ist  behauptet  worden,  sie  sei  ein  weiblicher 
Zwitter  gewesen.  Die  Anfeindungen,  die  sie  von  den 
Herren  der  Schöpfung  erfuhr,  waren  zahllos,  und  man 
scheute  keine  Verdächtigung,  um  sie  herabzusetzen.  Diesem 
gegenüber  wollen  wir  mit  aller  Bestimmtheit  erklären, 
daß  alles,  was  über  diesen  Punkt  gefabelt  worden  ist, 
in's  Reich  der  Märchen  gehört.  Sie  ist  sogar  Mutter 
einer  Tochter,  welche  heute  noch  in  Amerika  lebt. 

Es  gehört  eben  nicht  zu  den  Seltenheiten,  daß  ganz 
homosexuelle  Frauen  ihr  Wesen  erst  erkennen,  nachdem 
sie  durch  einen  Mann  in  die  Mysterien  der  Liebe  einge- 
weiht sind.  So  erging  es  Felicita  von  Vestvali.  Als 
sie  aber  näher  aufgeklärt  war,  hätte  sie  —  wie  viele 
urnische  Frauen  —  einen  ferneren  intimen  Verkehr  mit 
einem  Mann  als  eine  Unmoralität  betrachtet,  da  er  ihrem 
innersten  Empfinden  auf  das  Entschiedenste  widersprach. 
Allerdings  fühlte  sie  oft  mit  tiefem  Schmerz  den  Konflikt, 
in  den  sie  dadurch  mit  den  bestehenden  Gesetzen  der 
Sitte  geriet,  aber  die  Wahrheit  gegen  sich  selbst  stand 
ihr  höher,  als  ein  Sittenkodex,  der  ohne  Rücksicht  auf 
das  dritte  Geschlecht  gemacht  ist,  dessen  Dasein  nun 
einmal  nicht  weggeleugnet  werden  kann  und  über  welches 
die  Menge  aufzuklären  sich  jetzt  hervorragende  Männer 
der  Wissenschaft  bestreben. 

Felicita  von  Vestvali's  wirklicher  Name  war  Anna 
Marie  Stägemann.  Sie  war  die  jüngste  Tochter  eines 
höheren  Beamten  in  Stettin  und  dort  am  25.  Februar 
1829  geboren.  Die  Eigenartigkeit  ihres  Wesens  trat 
schon  früh  hervor.  So  wünschte  sie  als  Kind  —  Missions- 
prediger zu  werden.  Wenn  das  Schulzimmer  im  elter- 
lichen Hause  leer  war,  schlich  sie  sich  hinein,  stellte  sich 
aufs  Katheder  und  predigte  mit  einer  über  ihr  Alter 
hinausgehenden     Begeisterung,     wie     sie    die    Menschen 


—    430    — 

bessern  wolle.  Ihr  Vater  hörte  ihr  einst  vom  Garten 
aus  zu  und  umarmte  dann  tränenden  Auges  sein  Kind.  — 
Zu  anderen  Zeiten  tollte  sie  wieder  mit  ihren  Brüdern 
um  die  Wette,  wie  der  wildeste  Junge. 

Furchtlosigkeit  und  Edelmut  war  ein  Grundzug  ihres 
Wesens  bis  zu  ihrem  Tode,  und  diese  Eigenschaften  zeigten 
sich  schon  in  ihrer  Kindheit  Sollte  eines  der  Geschwister 
von  dem  sehr  strengen  Vater  bestraft  werden^  dann  trat 
sie  nicht  selten  vor  und  nahm  die  Schuld  auf  sich.  Als 
sie  das  Theater  kennen  lernte,  erwachte  in  ihr  der  glühende 
Wunsch  Schauspielerin  zu  werden,  doch  wie  so  oft 
wollten  auch  ihre  Eltern  absolut  nichts  davon  wissen  und 
kurz  entschlossen  enfloh  sie  in  Knabenkleidern.  Bei 
einer  herumziehenden  Schauspielgesellschaft  Brökelmann 
fand  sie  ein  Engagement.  Der  Direktor,  ein  alter  Theater- 
praktikus, erkannte  sehr  bald  das  hervorragende  Talent 
des  jungen  Mädchens  und  wollte  dasselbe  für  längere 
Zeit  an  seine  Bühne  fesseln.  Felicita  oder  Marie,  wie 
sie  damals  noch  hieß,  zog  es  jedoch  bald  aus  den  klein- 
lichen Verhältnissen  fort,  sie  fand  in  Leipzig  ein  Engage- 
ment und  hier  wurde  sie  Proteg^e  der  berühmten 
Wilhelmine  Schröder  -Devrient.  Unter  deren  Leitung 
sang  sie  dort  recht  erfolgreich  Partien  wie  Agathe, 
Regimentstochter  und  schließlich  sogar  Norma.  Ihr  dem 
Höchsten  zustrebender  Geist  fühlte  aber  den  Mangel 
wirklichen  Könnens;  was  das  Publikum  entzückte,  war  ihre 
jugendfrische  Stimme.  Um  gründliche  Gesangsstudien  zu 
machen,  begab  sie  sich  nach  Paris  an  das  dortige  Konser- 
vatorium. Sie  studierte  mit  unermüdlichem  Eifer,  aber 
daneben  genoß  sie  auch  das  Leben  mit  vollen  Zügen. 
Hier  war  es  auch,  wo  sie  durch  eine  Freundin  über  ihre 
urnische  Veranlagung  aufgeklärt  wurde.  So  sehr  nun 
auch  ihre  nach  Lebensfreude  dürstende  Natur  Liebes- 
glück verlangte,  so  war  ihr  dasselbe  doch  stets  nur  eine 
Blume,    welche    ihren  Lebenspfad   schmückte,   der  Kern 


In  Straßentoilette. 


—    432     — 

ihres    Strebens    galt    ihrem  Beruf.      So    ergriff   sie    ein  ^ 

Anerbieten  zu  einer  größern   Konzerttournee,  ehe  sie  ihre  I 

Studien  vollendet  hatte.     Diese  Tournee,  die  sie  auch  auf 
die  Insel  Jersey  führte,  wurde  dort  jäh  unterbrochen,    da 
der  Impresario  mit    der  Kasse  das  Weite   suchte.     Kurz 
entschlossen  ließ  sich  unsere   junge  Künstlerin    dort    als 
Gesangslehrerin  nieder  und  spielte  Sonntags  in  der  Kirche 
Orgel.     Ihr  Unternehmungsgeist,  vereint  mit  ihrer  jugend- 
schönen Erscheinung,  verhalfen  ihr  zu  einem  glänzenden  i 
Erfolge,    und    schon  nach  einem  Winter    war   sie  in  der 
Lage,    ihre   Gesangsstudien    bei    Mercadante    in   Neapel 
wieder  aufzunehmen.     Unter    seiner  Leitung    entwickelte 
sich  ihre  Stimme  zu  einem  Kontra- Alt  von  so  phänomenaler 
Tiefe,   daß    spekulative   Impresarien   ihr    rieten,    Tenor- 
partien zu  studieren,  aber  die  Ärzte  erklärten,  ihre  Stimme 
würde    dies   Experiment   höchstens    10  Jahre    aushalten. 
Das  war    zu   wenig    für    ihren  Ehrgeiz.     Um    nun    ihre 
schwere  Stimme   auch    für  den    leichten  Gesang  gefügig 
zu  machen,  ging  sie  noch   zu    dem   in  Florenz    lebenden 
berühmten  Gesangsmeister  Romani  und  trat  bald  darauf 
zum  ersten  Mal  öffentlich    auf  in  der  Scala   zu  Mailand,                      ^ 
gelegentlich    der    ersten    Aufführung    von  Verdi's    „Tro-                        ! 
vatore"    als    „Azucena".       Sie    nahm    nun    den    Namen 
Felicita  von  Vestvali  an.     Ihre    nächsten  Rollen    waren                       i 
„ Romeo*4  in  Bellini's  „Romeo  und  Julia"  und  „Tancred*.                       j 
Ihr  Erfolg  war  ein  grandioser.     Dann    sang    sie    in  ver-                       j 
schiedenen    Konzerten   in    London   und    wurde   von    der                       \ 
dortigen  Aristokratie  so  ausgezeichnet,  wie  wenig  Sänger- 
innen  vor    und    nach    ihr.     Im   Hause    von  Lord    und 
Lady  Palmerston  verkehrte  sie  wie  eine  Freundin. 

Das  Land  ihrer  Sehnsucht  war  jedoch  Amerika  und  im 
Jahre  1854  schiffte  sie  sich  dorthin  ein.  Die  Yankees  trieben 
gleich    nach    ihrem    ersten  ^Auftreten    einen    förmlichen  \ 

Kultus  mit  ihr,   man  verglich    ihre  Erscheinung  mit   der 
amerikanischen  Freiheitsgöttin  und  nannte  sie:   Vestvali, 


—    433    —    . 


the  Magnificent!  In  New-York  erhielt  sie  eine  Monats- 
gage von  10,000  Franks.  Nun  folgte  eine  Tournee  durch 
sämtliche  große  Städte  der  Union. 

In  Mexiko  war  die  berühmte  Sängerin  Henriette 
Sonntag,  welche  die  Direktion  des  dortigen  National- 
theaters leitete,  gestorben  und  man  bot  der  Vestvali  das 
Theater  mit  einer  jährlichen  Subvention  von  45000  Dollars 
an.  Sie  reiste  nach  Europa,  um  sich  eine  auserlesene 
Gesellschaft  zusammen  zu  stellen.  Als  sie  mit  derselben 
in  Mexiko  eintraf,  war  die  ganze  Stadt  wie  zu  einem 
Nationalfest  geschmückt,  der  damalige  Präsident  Caminfort 
empfing  sie  mit  den  Spitzen  der  Behörden,  man  machte 
ihr  6  herrliche  Pferde  zum  Geschenk,  gab  ihr  im  Palast 
Iturbid  ein  großes  Fest,  und  brachte  ihr  einen  Fackel- 
zug. Wahrlich  Ehrungen,  wie  sie  wohl  selten  einer  Frau, 
einer  Künstlerin  zuteil  geworden. 

Auf  ihre  große  Beliebtheit  pochend,  machte  sie  in 
Mexiko  das  Experiment,  den  „Figaro"  im  „Barbier  von 
Sevilla"  in  spanischer  Sprache  zu  singen. 

Als  später  die  Revolution  ausbrach,  konnte  man  ihr 
die  ganze  Subvention  nicht  auszahlen  und  gab  ihr  ein 
Stück  Landes,  welches  noch  heute  nach  ihr  den  Namen 
führt. 

Des  aufreibenden  Lebens  müde,  kehrte  sie  nach 
Italien  zurück,  um  sich  zu  erholen.  Allein  ihr  blieb  nur 
kurze  Ruhezeit.  Das  neue  Theater  in  Piacenza  wurde 
eingeweiht  und  man  ersuchte  sie,  in  der  Vorstellung  mit- 
zuwirken. Dann  bot  sich  ihr  ein  Engagement  an  der 
großen  Oper  in  Paris,  wo  sie  mit  mehreren  hervor- 
ragenden Sängerinnen,  so  auch  der  bekannten  Tietjens, 
in  Konkurrenz  trat  und  alle  besiegte.  Kaiser  Napoleon 
schenkte  ihr  sogar  für  ihren  „Romeo"  eine  Rüstung  aus 
gediegenem  Silber.  Zwei  Jahre  blieb  sie  in  Paris,  und 
in  ihrem  Salon  vereinigte  sich  alles,  was  Anspruch  machte 
in  der  literarischen  Welt  einen  Namen    zu  haben,  sowie 

Jahrbuch  V.  28 


.   —    484    — 

die  Geburts-  und  Geldaristokratie.  Viel  schöne  Frauen 
wetteiferten  um  die  Gunst  der  Vestvali  und  mancher 
Ehemann  hatte  Grund,  auf  den  schönen,  ritterlichen 
Romeo  eifersüchtig  zu  sein. 

Wieder  zog  es  sie  jedoch  nach  Amerika.  Sie  wollte 
dort  Glucks  „Orpheus"  auffuhren.  Felicita  hätte  aber 
den  Geschmack  der  Amerikaner  besser  kennen  sollen, 
die  stilvolle,  klassische  Musikweise  des  Altmeisters  Gluck 
war  nichts  für  den  Geschmack  der  Yankees.  Das  Unter- 
nehmen scheiterte.  Zeit,  Mühe,  Geld  waren  verschwendet 
und  erbittert  zog  sich  die  Vestvali  auf  eine  Villa  in  der 
herrlichen  Umgebung  von  St.  Franzisko  zurück. 

Zu  ihrer  Erholung  studierte  sie  hier  den  „Hamlet", 
für  den  sie  seit  Jahren  schwärmte.  Sie  führte  das  Buch 
auf  allen  Reisen  mit  sich  und  ebenfalls  den  „Romeo" 
des  großen  Briten,  denn  schon  in  der  Oper  hatte  sie 
dem  Bellinischen  „Romeo"  stets  etwas  Shakespeareschen 
Geist  eingehaucht. 

Da  erkrankte  am  Theater  in  St.  Franzisko  der  erste 
Liebhaber,  und  man  bestürmte  die  Vestvali,  als  „Romeo* 
aufzutreten.  Der  Mißerfolg  vom  „Orpheus"  hatte  ihr 
den  Geschmack  an  der  Oper  genommen,  und  mit  Be- 
geisterung ergriff  sie  die  Gelegenheit  zum  Schauspiel 
überzugehen  und  diese  ideale  Jünglingsgestalt  im  Drama 
und  in  englischer  Sprache  zu  verkörpern.  Das  Publikum 
bereitete  ihr  eine  enthusiastische  Aufnahme,  wieder  be- 
reiste sie  die  Städte  der  Union  und  abermals  folgte  ein 
Triumphzug  ohne  gleichen,  zu  den  Rollen  des  „Romeo" 
und  „Hamlet"  hatte  sie  noch  einige  Männer-  und  Frauen- 
rollen genommen. 

Von  dieser  Zeit  datierte  auch  eine  Freundschaft  mit 
einem  Fräulein  E.  L.,  einer  deutschen  Schauspielerin,  die 
bis  zu  ihrem  Tod  währte,  und  der  sie  den  größten  Teil 
ihres  Vermögens  vermachte,  obwohl  diese  Verbindung 
ihr  kein  ungetrübtes  Glück  gewährte. 


—     435 


Im  Jahre  1868  gastierte  die  Vestvali  am  Königl. 
Lyceum-Theater  zu  London.  Sie  spielte  dort  20mal  den 
„Hamlet"  und  22mal  den  „Romeo",  sowie  den  Petruchio 
(Bezähmte  Widerspenstige).  Auch  hier  wurden  ihr  her- 
vorragende Ehrungen  zu  teil.     Die  Königin  Viktoria  em- 


Felicita  von  Vestvali 

als  Petruchio  in: 
„Die  bezähmte  Widerspenstige." 


pfing  die  Vestvali  in  Privataudienz.  Lord  Bulver  ver- 
sicherte, nie  eine  geistvollere  Wiedergabe  des  „Hamlet" 
gesehen  zu  haben  und  die  englischen  Zeitungen  nannten 
sie   den    „weiblichen    Kean".     Die    „Union    of    Art"    in 

28* 


—    430     — 

London  ernannte  die  Vestvali  zum  Ehrenmitglied,  eine 
Auszeichnung,  die  sie  von  der  „Santa  Cecilie"  in  Rom 
schon  lange  besaß. 

Bisher  hatte  sie,  die  Deutsche,  alle  ihre  Erfolge  nur 
in  fremden  Sprachen  erzielt.  Sie  hatte  in  italienischer, 
französischer  und  spanischer  Sprache  gesungen  und  in 
englischer  Sprache  im  Drama  gewirkt.  Plötzlich  regte 
sich  aber  der  deutsche  Geist  in  ihr  und  sie,  die  beide 
Hemisphären  mit  ihrem  Ruhm  erfüllt  hatte,  wollte  auch 
in  ihrem  Vaterlande  zeigen,  was  Genie  mit  unbezähm- 
barem Schaffensdrang  und  außergewöhnlicher  Energie 
zu  erreichen  vermochte. 

Vielfach  hatte  man  ihr  abgeraten.  Leider  ist  Deutsch- 
land ja  das  Land,  wo  man  dem  Außergewöhnlichen  am 
wenigsten  Berechtigung  zugesteht,  selbst  wenn  geistige 
und  körperliche  Vorzüge  dasselbe  rechtfertigen.  Aber 
Vestvali  ließ  sich  nicht  abschrecken.  In  Hamburg  trat 
sie  zuerst  als  „ Romeo"  in  deutscher  Sprache  auf.  Das 
große  Publikum  nahm  sie  sofort  enthusiastisch  auf,  aber 
die  Presse  hatte  viel  zu  nörgeln,  so  auch,  daß  ihre 
Aussprache  etwas  englischen  Accent  verriet.  Sie  arbeitete 
mit  Eifer,  sich  die  langentwöhnte  Muttersprache  wieder 
mundgerecht  zu  machen  und  schon  als  Hamlet  war  der 
Fehler  beseitigt.  In  Leipzig  schrieb  der  bekannte  Kritiker 
Gottschall : 

„Der  weibliche  Hamlet.  Gastspiel  von 
Felicita  von  Vestvali.  Bei  ihrem  gestrigen  Debüt 
konnte  man  annehmen,  daß  wohl  der  größte  Teil  des 
Publikums  nur  der  Absonderlichkeit  willen  und  teilweise 
sogar  mit  dem  Vorsatz  gekommen  waren,  eine  Dame, 
die  so  kühn  war,  den  Hamlet  zu  spielen,  mindestens 
—  „abfallen"  zu  lassen.  Als  die  Vestvali  zuerst  als 
Hamlet  erschien,  empfing  man  sie  lautlos.  Die  edle 
Gestalt  —  die  den  König  und  viele  andere  mitspielen- 
den   „Helden"    an  Größe    der  Gestalt,    alle    aber    an 


437     — 


Noblesse  der  Haltung  überragte,  das  ausdrucksvolle 
Gesicht  zu  Boden  geheftet  —  entwaffnete  schon  das 
Vorurteil.  Der  zweite  Zweifel  fiel  als  sie  zu  sprechen 
begann  —  dieses  sonore  Altorgan,  diese  verständliche 
und  dialektlose  Deklamation  zeigten  die  ihrer  Aufgabe 
auch  in  dieser  Beziehung  gewachsene  Künstlerin  und 
der  erste  Akt  war  noch  lange  nicht  zu  Ende,  als  man 
ihr  schon  reiche  Beifallsspenderi  zuteil  werden  ließ, 
die  sich  bald  in  dem  Maße  steigerten,  daß  die  Gastin 
am  Schluß  etliche  18  mal  gerufen  worden  war.  Ver- 
gessen war  vor  der  Macht  des  Genies  alles,  was  man 
vorher  von  den  verschiedenartigsten  Standpunkten  aus 
gegen  das  Männerrollenspielen  einer  Frau  hatte  geltend 
machen  wollen;  der  Eindruck,  den  dieser  Hamlet  her- 
vorbrachte, war  ein  gewaltiger.  Frl.  v.  Vestvali  gab 
ihn  nicht  bloß  als  sentimentalen  Träumer,  sondern  sie 
brachte  auch  das  energische  Wollen,  den  drängenden  und 
bohrenden  Entschluß  zur  Tat  und  seine  Schwankungen 
bis  zum  Augenblicke  der  Ausführung  zu  lebendiger 
Anschauung.  Die  bedeutendste  Szene  war  vielleicht 
der  Kampf  am  Grabe  Ophelia's  und  das  Hervorbrechen 
der  Liebe  zu  ihr  —  und  um  neben  der  geistigen  Auf- 
fassung auch  das  Technische  nicht  zu  vergessen :  fechten 
sahen  wir  auf  der  Bühne  noch  niemals  besser." 

Frl.  von  Vestvali  setzte  ihr  erfolgreiches  Gastspiel 
in  Leipzig  als  „Romeo*,  „Elisabeth"  in  Laube's  „Essex* 
und  „Isabella*  in  „Braut  von  Messina"  fort.  Laube 
selbst  erklärt  sie  als  seine  beste  Elisabeth-Darstellerin. 

Von  Leipzig  aus  eroberte  sich  die  Vestvali  durch 
ihr  Gastspiel  am  National-Theater  in  Berlin  —  dasselbe, 
schon  vor  Jahren  ein  Raub  der  Flammen  geworden,  wird 
nur  noch  älteren  Theaterbesuchern  erinnerlich  sein  — 
die  Gunst  der  Metropole  und  somit  gewissermaßen  erst 
volle  künstlerische  Anerkennung  ihres  Wertes  für 
Deutschland. 


n 


in 
k 


—    438     — 

Ein    gefürchteter  Kritiker    des  Berliner  Tageblattes 
schrieb  damals: 

„National-Theater.  Am  20.  Januar: 
Hamlet,  Prinz  von  Dänemark.  Hamlet,  Fräul. 
von  Vestvali  als  Gast. 


Felicita  von  Vestvali 

als  Hamlet. 


„Ein  blonder  Nordlandssohn,  mit  hellem  Haar  und 
frischer,  gesunder  Farbe",  behäbig,  schon  ein  wenig 
„embonpointiert"  und  darum  von  Haus  aus  hypochon- 
drischer Neigung  —  so  der  Hamlet  Felicita  von 
Vestvali's.     Er  ist    mit  Recht    eine  der    berühmtesten 


—    439    — 


und  ohne  Zweifel  eine  der  originellsten  und  genialsten 
Leistungen  der  gesamten  Schauspielkunst — ja  er  steht 
einzig  in  seiner  Art  und  Bedeutung  da. 

Zur  äußeren  Verlebendigung  eines  weiblichen 
Hamlet  hat  Mutter  Natur  wohl  Keine,  Keine  so  glänzend 
begabt  und  specifisch  „männlich"  bemittelt,  wie  eben 
Felicita  von  Vestvali.  Schon  der  ganze  Gliederbau 
dieser  Gestalt  gemahnt  an  den  —  sogenannten  — 
Herrn  der  Schöpfung.  Dazu  ein  machtvolles  Organ, 
das  oft  tiefer  gestimmt  scheint  als  ein  Tenor. 

Was  die  geistige  Auffassung  der  Rolle  anlangt, 
so  deuteten  wir  unsere  Meinung  schon  an:  von  den 
zirka  zwei  Dutzend  Hamlete,  welche  wir  im  Laufe 
der  Jahre  sahen,  ist  der  unserer  Gastin  jedenfalls  der 
originellste  gewesen  —  auch  hier  nicht  vom  Äußer- 
lichen gesprochen,  sondern  lediglich  vom  Intellektuellen, 
nicht  von  der  Schale,  sondern  vom  Kern  der  Leistung." 

Auch  aus  Wien  liegt  uns  noch  der  Ausspruch  einer 
der  beliebtesten  Dichter  Österreichs  vor,  derselbe  sagte: 
„Eine  hervorragende  Existenz  wie  die  Vestvali 
hat  die  Berechtigung;  ihrem  vulkanischen  Genie  die 
Zügel  schießen  zu  lassen.  Weder  die  Sitte,  noch  der 
ästhetische  Regelzwang  kann  für  das  geistige  Bedürfnis 
eines  solchen  schrankenlosen  Kunstnaturells  maßgebend 
sein.  Daß  dem  so  ist,  ist  keineswegs  ein  Kunstverderbnis, 
es  ist  nicht  darüber  „Wehe"  zu  rufen,  wie  einige 
Kritiker  es  tun.  Die  bewundernswerte  Intelligenz  der 
Vestvali  macht  alle  Angriffe  zu  Schanden." 

Wir  haben  hier  Stimmen  der  Presse  aus  den  maß- 
gebendsten Städten  angeführt,  die  beweisen,  wie  siegreich 
die  Vestvali  aus  den  vielen  ihr  entgegentretenden  An- 
feindungen hervorging.  Sie  bereiste  denn  auch  Deutsch- 
land mehrere  Jahre  und  gastierte  stets  überall  mit  größ- 
tem Erfolg. 


—    440    — 

Aber  die  großen  Anstrengungen,  die  sie  Zeit  ihres 
Lebens  durchgemacht,  blieben  nicht  ohne  Einfluß  auf 
ihre  Gesundheit.  Immer  öfter  wurde  sie  genötigt,  ihrem 
rastlosen  Streben  Kühe  zu  gönnen.  Sie  zog  sich  denn 
auf  ihre  Villa  in  Warmbrunn  zurück.  Ein  ganz  tatenloses 
Leben  war  ihr  jedoch  unmöglich  ;  war  sie  also  nicht  durch 
die  Ausübung  ihrer  Kunst  in  Anspruch  genommen,  so 
warf  sie  sich  auf  Bauspekulationen.  Sie  baute  in  Warm- 
brunn die  ganze  russische  Kolonie.  Ein  Besuch  bei  ihrer 
in  Warschau  lebenden,  verheirateten  Schwester  ließ  sie 
auch  dort  Terrain  ankaufen  und  Bauten  ausführen,  die 
sie  selbst  leitete  und  beaufsichtigte.  All  diesen  Strapazen 
war  ihre  Gesundheit  nicht  mehr  gewachsen.  Eine  un- 
heilvolle Krankheit  warf  sie  nieder  und  machte  diesem 
reichen,  tatenvollen  Leben  ein  zu  frühes  Ende.  Sie  starb 
in  Warmbrunn  am  3.  April  1880,  im  52.  Lebensjahr. 

Wir  lassen  noch  einige  kurze  Auszüge  aus  Briefen 
an  eine  junge  Schauspielerin  folgen,  mit  der  aufrichtige 
Freundschaft  sie  bis  zu  ihrem  Tode  verband.  Treue 
Freundschaft  war  ein  Grundzug  ihres  edlen  und  idealen 
Wesens,  und  diejenigen,  die  sie  derselben  würdigte, 
hängen  noch  heute  mit  rührender  Verehrung  an  dieser 
hervorragenden  Natur,  die  sich  oft  selbst  „Hamlet* 
nannte,  wie  sie  jene  junge  Schauspielerin  —  ich  bin  es 
selbst  —  in  ihren  Briefen  „Horatio"  anredete.  Die  Briefe 
beleuchten  in  kurzen  Blitzen  sowohl  ihre  künstlerische 
Anschauung,  als  auch  ihre  urnische  Natur.  In  einem 
derselben  heißt  es  u.  a.: 

„Ach,  es  ist  schrecklich  langweilig,  so  von  Stadt 
zu  Stadt  zu  gastieren.  Ich  komme  mir  schon  wie  ein 
Dorfküster  vor,  der  mit  dem  Klingelbeutel  herumgeht. 
Amen!  —  Wenn  man  nur  immer  tüchtig  darin  vor- 
findet,   meinte   E.1),   dann   geht    es    schon.     Auch    ein 


*)  Ihre  langjährige  Freundin  und  Begleiterin.    Anm.  d.  Verf. 


—    441     — 

Standpunkt  für  einen  idealen  Schöngeist,  nicht  wahr, 
Horatio?  Nein,  ein  ordentliches  Theater  möchte  ich 
in  Berlin  haben  und  nirgends  anders,  ausgenommen 
Amerika.  Ach,  wenn  die  verdammte  Reise  nicht 
wäre  —  so  wäre  ich  gewiß  schon  längst  drüben,  mir 
sagen  nun  mal  abenteuerliche  Sachen  zu  —  ich  bin 
nun  wie  ich  biri.Ä 

Der  letzte  Brief,  den  sie  von  ihrem  Krankenbett  aus 
in  Warschau  an  mich  schrieb,  lautete  wie  folgt : 

„Wie  ist  alles  anders  gekommen,  wie  ichs  mir 
gedacht,  mein  nervöses  Leiden,  das  furchtbar  ist,  ist 
mir  durch  G/s1)  Gegenwart  versüßt.  Sie  ist  himmlisch 
gut.  Sie  können  mir  glauben,  Horatio,  ich  fühle  meine 
Leiden  nicht  die  Hälfte,  wenn  sie  bei  mir  ist.  Ich 
bin  ihr  rasend  gut  und  möchte  ihr  Tag  und  Nacht  was 
Liebes  tun.  Jetzt  ist's  auch  gleich,  ob's  unterm  Pfirsich- 
baum oder  Apfelbaum  war,  ob  sie  mich  oder  ich  sie 
verführt,  wir  haben  uns  rasend  lieb.  Ich  möchte  bloß, 
daß  Sie  bei  uns  wären,  lieber  Horatio.  Sie  hätten  Ihre 
Freude  an  uns.  Gedenken  Sie  noch  unseres  Gesprächs 
nachts  in  der  Charlottenstraße  h,  propos  von  G.  ? 
Das  Resultat  ist,  ich  "liebe  sie  rasend.  G.  wird  Ihnen 
bald  selbst  schreiben,  sie  muß  jetzt  auf  die  Bahn  und 
E.  abholen  und  hat  die  ganze  Nacht  nicht  geschlafen, 
sie  wohnt  nämlich  jetzt  Bett  an  Bett  neben  mir.  Wir 
beide  grüßen  Sie  herzlich  und  ich  drücke  Sie  an  mein 
Herz  in  alter  Freundschaft 

Ihr        Hamel-fett.Ä 

Die  Vestvali,  welche  bei  ihrer  Schwester  in  Warschau 
erkrankte,  wurde  dort  von  einem  Frl.  G.  mit  rührender 
Sorgfalt   gepflegt,    erst   in    der   letzten   Zeit   kam    auch 

x)  „G."  war  die  letzte  Liebe  der  Vestvali,  doch  konnte  sie  von 
ihrer  langjährigen  Freundin  E.  sich  nicht  trennen,  es  spielten  da 
pekuniäre  Verhältnisse  mit,  die  zu  lösen,  Vestvali  zu  ehrenhaft  dachte. 


—    442    — 

Frl.  E.  gleichfalls  zu  ihrer  Pflege,  da  die  Beziehungen 
zwischen  der  Vestvali  und  der  E.  längst  nicht  mehr  be- 
glückende waren,  so  vermochte  sie  dieselben  doch  nicht 
zu  lösen,  während  ihr  ganzes  Herz  der  „G."  gehörte. 
Dieser  Zwiespalt  drückte  die  Vestvali  sehr,  obwohl  sie 
die  ganze  Sache,  wie  vorstehender  Brief  zeigt,  immer  noch 
mit  einem  gewissen  Humor  behandelte.  Mit  welcher 
Liebe  dies  Frl.  G.  an  der  Vestvali  ihrerseits  hing,  zeigt 
folgender  Brief: 

„Lieber  Horatio,  mit  Feli  geht  es  immer  schlechter; 
gestern  den  ganzen  Abend  hatte  sie  so  rasende  Schmerzen 
im  Kücken  und  im  rechten  Arm,  daß  sie  laut  stöhnte, 
dann  leise  wimmerte  und  Gott  um  Hülfe  anflehte,  daß 
Einem    das   Herz    hätte    brechen    mögen.     Die    Ärzte 
sagen    nun  auch,    daß    es    die   alte  Krankheit  sei   und 
große  Blutarmut.     Und   nicht  helfen    zu  können,    sein 
Liebstes  auf  so  schaudervolle  Weise  zu  Grunde  gehen 
zu  sehen.    Sie  will  die  E.  kommen  lassen  und  ich  kann 
ihr  nicht  widerraten,  denn  es  regt  sie  alles  so  sehr  auf. 
Vielleicht    also   sehen    wir  uns  bald   in  Berlin,   lieber 
Horatio.  Erschrecken  Sie  nicht,  wenn  ich  frühmorgens 
bei  Ihnen  auftauche.    Tausencf  Grüße  von  Ihrer     G.* 
So  wollen  wir  depn   das  Bild  der  Vestvali,  welches 
wir  hier  in  diesen  Blättern  entrollt  haben,  schließen.    Sie 
war  ein  an  Geist,  Gemüt  und  Talent  gleich  hervorragender 
Mensch,  und  niemand,  der  je  mit  ihr  in  nähere  Berührung 
gekommen,   wird    den   Zauber   ihrer  Persönlichkeit   ver- 
gessen.    Die  bestrickende  Liebenswürdigkeit  ihres  Wesens 
lag  wohl  in  der  Natürlichkeit,  mit  der  sie  sich  gab,  denn 
trotz  ihrer  großen  Erfolge,  war  sie  frei  von  jedem  Hoch- 
mut, förderte  bereitwillig  jedes  aufstrebende  Talent,  doch 
trat  sie  unnachsichtig  jedem  Nichtskönnen  entgegen.   Sie 
betonte  nie  ihre  urnische  Natur  und  darum  fühlten  sich 
auch  Männer,    die   dieser  Veranlagung    durchaus   abhold 
waren,    durch  ihre  geistige  Begabung   zu  ihr  hingezogen 


—    443    — 

und  es  bestand  manch  kameradschaftliches  Band  zwischen 
ihr  und  hervorragenden  Vertretern  des  männlichen  Ge- 
schlechts. Auf  Frauen  wirkte  sie  in  geradezu  fascinieren- 
derJWeise  und  es  würde  weit  über  den  Rahmen  dieser 
kleinen  Skizze  führen,  wollte  man  anführen,  wie  vielfach 
sie  angebetet  worden  war.  Jedenfalls  gehörte  Felicita 
von  Vestvali  zu  den  Ausnahme-Erscheinungen  sowohl  in 
der  JKunst,  wie  im  Leben,  deren  Eigenartigkeit  nur  von 
einem  Kenner  der  Homosexualität  verstanden  werden  kann. 


Rosa  Braunschweig, 

die  Verfasserin  vorstehender  Arbeit, 
in  einer  Offiziersrolle. 


Quellenmaterial  zur  Beurteilung 
angeblicher  und  wirklicher 


Uranier. 


Zusammengestellt 


von 


F.  Karsch 


Dr.  phil.,  Privatdozent  in  Berlin. 


Zweite  Reihe.*) 

„Es  ist  besser,  in  jeden  andern,   als  in  sich 
selbst  verliebt  zu  sein."        Jean  Paul. 

Auf  die  erste,  drei  der  Geschichte  angehörende 
Männer:  Theodor  Beza,  Johann  von  Müller  und 
Alexander  von  Ungern-Sternberg  enthaltende 
Reihe  angeblicher  und  wirklicher  Uranier  folgt  hier  die 
zweite  Reihe,  welche  wiederum  drei  Männer,  den  Ver- 
fasser des  „Eros":  Heinrich  Hößli  von  Glarus,  den 
Mörder  sein  es  Geliebten :  Franz  Desgouttes  von  Bern 
und  den  Herzog  von  Sachsen-Gotha  und  Altenburg: 
Emil  Leopold  August,  außerdem  aber  noch  eine  der 
interessantesten  tribadischen  Gestalten  der  Neuzeit,  die 
Opernsängerin  Madame  (genannt  Mademoiselle)  Maupin, 
darzustellen  unternimmt. 

Zwischen  den  drei  männlichen  Gestalten  dieser  Reihe 
besteht  ein  gewisser  Zusammenhang.  Als  der  einfache 
Mann  aus  dem  Volke,  der  Putzmacher  Heinrich  Hößli 
von  Glarus  (1784 — 1864),  als  erster  Kämpe  unsrer  Zeit- 
rechnung im  Jahre  1836  für  die  absolute  natürliche  und 
sittliche  Berechtigung  des  gleichgeschlechtlichen  Liebes- 
triebes mit  allen  Waffen  des  Geistes  und  mit  mutiger 
Preisgabe  seines  Namens  in  seinem  tiefgründigen  wissen- 
schaftlichen Werke  „Eros",  52  Jahre  alt,  in  die  Schranken 


*)  Erste  Reihe  in  diesem  Jahrbuche  für  sexuelle  Zwischenstufen, 
IV.  Jahrgang,  1902,  Seite  289—571 :  1.  Theodor  Beza  (1519—1605) 
S.  291-349,  2.  Johann  von  Müller  (1752—1809)  S.  349—457  und  3 
A.  von  Sternberg  (1806—1868)  S.  458—571. 


i 


—    448    — 

trat,  hatte  bereits  dreißig  Jahre  vorher  (1805)  der  deutsche 
Herzog  August  (1772—1822),  33  Jahre  alt,  die  Leidenschaft 
desselben  Liebestriebs  an  einem  anschaulichen,  konkreten 
Beispiel  als  erster  Novellist  in  seiner  Novelle  „Kyllenion* 
mit  dichterischer  Naivetät  geschildert  und  darin  die 
gleichgeschlechtliche  Liebe  als  mit  der  gegengeschlecht- 
lichen Liebe  vollkommen  auf  der  gleichen  Stufe  stehend 
dargestellt.  Den  Rechtsanwalt  Dr.  Franz  Desgouttes 
(1785 — 1817)  aber,  der  nicht  das  Geringste  von  Bedeu- 
tung, weder  für  seine  Zeit  noch  für  die  Nachwelt,  leistete 
und  dessen  Persönlichkeit  man  kaum  irgend  etwas 
Rühmenswertes  wird  nachsagen  können,  unter  den  beiden 
obengenannten  Männern  einen  Platz  anzuweisen,  erscheint 
absurd;  insofern  lag  jedoch  dazu  ein  Zwang  vor,  als  seine 
Leidensgeschichte  zum  „Eros"  Heinrich  Hößli's  den 
Anstoß  gab. 

Nur  die  Maupin  (1673 — 1707)  steht  ohne  Beziehung 
da.  Sie  gibt  sich  bei  äußerlicher  Weiblichkeit  als  einen 
Uebermann,  als  eine  überaus  seltene  Erscheinung,  wie 
solche  in  mehreren  Jahrhunderten  wohl  nur  einmal  vor- 
kommt; diejenigen  Gelehrten  und  Ungelehrten,  welche 
es  für  ihre  Pflicht  halten,  in  den  Erscheinungen  gleich- 
geschlechtlichen Liebestriebs  nicht  etwas  Urwüchsiges, 
nicht  etwas  von  der  Natur  durch  die  Allmacht  der  Vari- 
ation Gegebenes,  sondern  überall  nur  Degeneriertes,  Ent- 
artetes zu  sehen,  werden  diese  Kraftgestalt  für  ihre 
Schwächenhypothese  zu  verwerten  schwerlich  im  Stande 
sein. 


1  I 


MF 


*Tt  *2 


v>» 'nr  &  i^K  VC*fö  vis' 


4.  Heinrich  Höfsli  (1784—1864) 

(mit  5  Textbildern  und  1  Kupfertafel) 

„Findet  da  eine  Wahrheit  an  deinem  Wege, 
Hülflos  und  nackt  und  sonder  Pflege, 
Viel  Schriftgelehrte  gehn  vorbei, 
Du  aber  ihr  Samariter  sei." 

Paul  Heyse. 

Die  seit  einigen  Jahren  in  Deutschland  erwachte 
und  von  Jahr  zu  Jahr  gewachsene  Bewegung  zu  Gunsten 
der  Beseitigung  des  §  175  des  geltenden  Strafgesetzbuches 
befindet  sich  in  der  Lage,  auf  ein  Vor  mehr  als  60  Jahren 
in  der  Schweiz  erschienenes  deutsches  Buch  sich  zu 
berufen,  welches  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  nicht 
als  „widernatürliche  Unzucht",  sondern  als  eine  in  den 
ewigen  Gesetzen  der  Natur  begründete,  zu  Recht  bestehende 
Erscheinung  auffaßt  und  darstellt,  den  Glauben  an  deren 
Unnatürlichkeit  mit  dem  Hexenglauben  und  die  Ver- 
folgung der  dieser  Liebe  Unterworfenen  mit  den  Hexen- 
prozessen auf  eine  Stufe  stellt.  Das  Buch  fuhrt  den 
Titel:  „Eros.  Die  Männerliebe  der  Griechen: 
ihre  Beziehungen  zur  Geschichte,  Erziehung,  Literatur 
und  Gesetzgebung  aller  Zeiten*  und  den  Untertitel: 
„Die  Unzuverlässigkeit  der  äußern  Kennzeichen  im  Ge- 
schlechtsleben des  Leibes  und  der  Seele.  Oder:  Forschungen 
über  platonische  Liebe,  ihre  Würdigung  und  Entwürdigung 
für  Sitten-,  Natur-    und  Völkerkunde"  *);   gewidmet   ist 

*)  Erster  Band,  Glarus,  1836,  bei  dem  Verfasser,  XXXIII  und 
304  Seiten.  —  Zweiter  Band,  St.  Gallen,  1838,  in  Kommission  bei 
C.  P.  Scheitlin.  XXXII  und  352  Seiten  in  Oktav. 

Jahrbuch  V.  29 


—    450    — 

es  „ dem  Schutzgeist  des  menschlichen  Geschlechts.*  Das 
Buch  hatte  seine  eigenen  Schicksale:  von  der  Behörde 
des  Schweizerkantons,  in  dem  es  zum  größten  Teile 
gedruckt  wurde,  verboten,  ward  der  Restbestand  der  Auf- 
lage bei  einer  Feuersbrunst  vollständig  vernichtet 

Was  vom  Leben  und  Streben,  Wesen  und  Charakter  des 
Verfassers  dieses  zweibändigen  „Eros",  Heinrich  Hößli, 
bisher  bekannt  geworden  ist,  beschränkt  sich  auf  die  im 
„Eros*  selbst  enthaltenen  gelegentlichen  Angaben;  wir 
erfahren  aber  nur  bitter  wenig:  Im  Jahre  1817  fiel  ihm 
die  Binde  von  den  Augen  und  1819  reiste  er  mit  Büchern 
bepackt  von  Glarus  nach  Aarau  zu  dem  damals  populärsten 
Schweizer  Volks-Schriftsteller  Heinrich  Zschokke1), 
um  diesen  durch  Zurede  und  Unterweisung  zur  Abfassung 
und  Herausgabe  einer  aufklärenden  Schrift  über  seine 
Idee  des  Eros  oder  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  als 
Natur-  und  Sittengesetz  zu  veranlassen,  weil  er 
selbst  „ der  Regeln  der  Schulen  seines  Landes*  sich  nicht 
kundig  fühlte  und  daher  sich  nicht  für  geeignet  hielt, 
als  Schriftsteller  aufzutreten  und  erfolgreich  zu  wirken. 
Wirklich  erschien  im  Jahre  1821  aus  Heinrich  Zschokke's 
Feder  eine  Novelle  im  Druck  „Der  Eros  oder  über  die 
Liebe"  2);  hier  läßt  Zschokke  den  edlen  Vater  Holmar, 
Mitglied    des    Obergerichtshofes,    die   Erosidee  Heinrich 

1)  Joh.  Heinr.  Dan.  Zschokke,  geb.  22.  März  1771  zu  Magdeburg, 
gest.  27.  Juni  1848  zu  Aarau;  anfangs  Schauspieldichter,  seit  1792  Privat- 
dozent in  Frankfurt,  dann  1795  Leiter  einer  Erziehungsanstalt  in 
Reichenau  (Graubtindten),  kam  er  1798  als  Deputierter  nach  Aarau, 
dem  damaligen  politischen  Mittelpunkte  der  Schweiz,  wurde  Mitglied 
des  großen  Rats  und  ein  fruchtbarer  Volksschriftsteller.  Als  solcher 
zeigte  er  weniger  kühne  Genialität  und  theoretische  Tiefe  als  Gesund- 
heit und  praktischen  Verstand. 

2)  Nach  Hößli's  Eros  I  S.  277  bildet  der  Eros  von  Zschokke  das 
achte  Heft  von  Zschokke's  Erheiterungen,  Jahrgang  1821,  und  erschien 
in  seinen  Ausgewählten  Schriften  als  X.  Teil,  in  den  1836  erschie- 
nenen Ausgewählten  Novellen  und  Dichtungen  als  14.  Stück.    Mir 


liegt  nur  eine  spätere  Ausgabe  vor  in:  „Ausgewählte  Novellen  und 
Dichtungen  von  Heinrich  Zschokke.  Erster  Teil.  Mit  der  Abbildung 
von  H.  Zschokke's  Landhaus:  die  Blumenhalde.  Taschen- Ausgabe 
in  zehn  Teilen.  Sechste  vermehrte  Original- Auflage.*4  Aarau,  Sauer- 
länder. 1843.    Seite  231—292. 

29* 


—    451    — 

Hößli's  vertreten;  allein  die  Bedeutung  seiner  Anschauung 
und  seiner  Beweisführung  läßt  Zschokke  am  Schlüsse  des  Ge- 
sprächs durch  Holmar's  Zugeständnis  wieder  abschwächen, 
daß  er  sich  so  gut  irren  könne,  wie  seine  Gegner:  „Die 
Natur  u,  läßt  er  ihn  sagen,  „hat  in  ihrem  Buche  viele 
dunkle  Stellen;  kein  Wunder,  daß  die  Ausleger  von  ein-  /i 

ander  abweichen."     Solches  war    nun  durchaus    nicht   in  j 

Heinrich  Hößli's  Sinne;  und  im  Innersten    empört    über  I 

die    Halbheiten    der    Zschokke'schen    Schrift,    fand    sein  t 

Geist  keine  Ruhe  mehr  und  zwang  ihm  die  Feder  in 
die  Hand.  So  kamen  die  beiden  gedruckten  Bände  seines 
in  drei  Bänden  geplanten  philosophischen  Werkes  „Eros* 
zuStando,  die  er  „unter  Drangsalen  und  Rutenstreichen u, 
jedoch  mit  unentwegter  Begeisterung  nach  einem  Zeit- 
räume von  17  Jahren  vollendete;  erst  dann  haben  ihn 
Vertrauen  und  Hoffnung  auf  den  Sieg  seiner  Idee,  die 
als  ewige  Wahrheit  ihn  bis  in  seinen  Tod  begleitete, 
verlassen. 

In  Heinrich  Hößli's  „Eros"  pulsiert  eine  gewaltige 
Kraft,  die  nie  versagt  und  sich  nirgends  erschöpft;  er 
überzeugt,  er  reißt  fort;  er  ermüdet  nie;  er  scheut  nicht 
Wiederholungen,  wenn  er  wuchtig  und  eindringlich    wir-  ' 

ken  will;  und  wirken  will  er;  eigene  Gedanken  belegt 
er  womöglich  mit  zahlreichen  Stellen  aus  den  Werken 
der  hervorragendsten  Schriftsteller  aller  Völker  und  Zeiten. 
Seine  Idee  vom  Eros  als  Natur-  und  Sittengesetz  beleuchtet 
er  von  allen  Seiten  und  immer  wieder   neu    mit   anders-  ; 

farbigem  Licht.     Aus  den  Schätzen  aller  Wissenschaften,  ■ 

aller    Künste    sucht    er    mit    kundiger   Hand    geschickt  / 

hervor,  was  immer  geeignet  ist,  erklärend  und  verklärend 


—    452    — 

für  seine  verachtete  und  verlassene  Wahrheit  zu  wirken. 
Ein  hohes  Pathos  beherrscht  ihn  und  sein  Satzbau  flutet 
in  oft  gedehnten  Perioden  dahin;  vom  höchsten  sittlichen 
Ernste  getragen  arbeitet  er  seine  Ideen  rastlos  heraus 
und  schreckt  nie  vor  vielfältigem  Ausdruck  eines  und 
desselben  ihm  fruchtbar  erscheinenden  Gedankens  zurück. 
Heinrich  Hößli's  „Eros"  ist  nicht  mit  dem  Kopfe  allein 
geschrieben  und  darf  nicht  allein  mit  diesem  beurteilt 
werden;  er  ist  mit  dem  Herzen  verfaßt  und  solche  Bücher 
sind  selten;  selten  müssen  wohl  auch  Menschen  sein,  die 
solches  zu  Wege  zu  bringen  fähig  sind,  und  man  ist 
beständig  versucht,  man  glaubt  ein  Recht  zu  haben,  Miß- 
trauen in  Hößli's  wiederholte  Versicherung  zu  setzen, 
daß  er  die  Regeln  der  Schulen  seines  Landes  nicht  gekannt, 
ja  nicht  einmal  eigentlich  lesen  und  schreiben  gelernt 
habe.  Seit  des  großen  griechischen  Philosophen  Plato 
„Gastmahl"1)  und  „Phädrus*  ist  Heinrich  Hößli's 
„Eros*  das  bedeutendste  Werk  über  Männerliebe;  was 
jene  unsterblichen  Schriften  für  das  Altertum  gewesen 
sein  mögen,  eben  das  bedeutet  Hößli's  „Eros*  für  die  Neu- 
zeit oder  wird  es  ihr  noch  bedeuten;  mit  vollster,  bewußter 
Klarheit  erkennt  er  die  Liebe  von  Mann  zu  Mann  als 
ein  unzerstörbares  Natur-  und  Sittengesetz  und  stellt 
dieses  lichtvoll  und  allseitig  mit  höchstem  sittlichen 
Ernste  dar. 

So  war  denn  wohl  der  Wunsch  selbstverständlich, 
über  diesen  einzigen,  merkwürdigen  Menschen,  so  lange 
die  Möglichkeit  noch  vorlag,  mehr  in  Erfahrung  zu  bringen, 
als  das  bescheidene  Maß  dessen  betrug,  was  er  selbst  in 
seinem  „Eros"  über  seine  Person  mitzuteilen  für  gut 
befunden  hatte,  und  das  Gefundene  der  drohenden  Ver- 
gessenheit zu  entreißen.     Von  diesem  Verlangen  beseelt, 


*)    Deutsch    von    Schleiermacher    in    Ph.  Reclam's    Universal- 
Bibliothek,  Nummer  927  (20  Pfennig). 


—    453    — 

unternahm  Verfasser  dieses  im  Herbste  1902  eine  For- 
schungsreise in  die  Schweiz;  das  Glück  war  ihm  hold; 
es  ließ  gar  Manches  sich  noch  feststellen  und  das  Wich- 
tigste des  Ermittelten  findet  sich  hier  gewissenhaft  zu- 
sammengetragen. 

Angenehmste  Pflicht  wäre  mir  Nennung  aller  meiner 
Quellen,  meiner  Gewährsmänner  und  Gewährsfrauen. 
In  Glarus  und  in  Zürich  gelang  es  mir,  bejahrte  Leute 
aufzufinden,  welche  mit  Heinrich  Hößli  in  persönlichen 
Beziehungen  gestanden  hatten  und  mancherlei  über  ihn 
und  von  ihm  zu  berichten  wußten;  auch  jüngere,  ihm 
näher  oder  entfernter  Verwandte  wußten  Wichtiges,  bald 
vom  Hörensagen,  bald  durch  Augenschein ;  —  ihre  Namen  ■ 

alle  hier  mitzuteilen,  wird  mir  leider  durch  die  Verhält- 
nisse verwehrt.  ; 

Die  absolut  genauen  und  zuverlässigen  Angaben  über  l 

Heinrich    Hößli's    und    seiner    nächsten    Anverwandten  ; 

in  aufsteigender  und  in  absteigender  Linie,  sowie  seiner 
sämtlichen  Geschwister  Geburts-  und  Todestag,  welche 
im  allgemeinen  Interesse  mir  geboten  erschienen,  verdankt 
man  einzig  dem  überaus  freundlichen  Entgegenkommen 
des  Herrn  Polizeiinspektors  J.  J.  Kubly-Cham  in 
Glarus,  welcher  mit  unermüdlicher,  fast  übermenschlicher 
Arbeitskraft  eine  ihrer  Vollendung  entgegenreifende,  viele 
Foliobände  füllende,  kalligraphische,  vollständige  und 
übersichtliche  Genealogie  aller  Glarner  Leute  ausarbeitet  i 

Allen  genannten   und    ungenannten    liebenswürdigen  t 

Landsleuten  des  unvergeßlichen  Heinrich  Hößli,  welche 
Anteil  an  diesem  Biogramme  haben,  des  Verfassers  herz-  , 

lichster  Dank! 


I.  Heinrich  Hößli's  äußeres  Leben. 

Heinrich  Hößli  wurde  zu  Glarus  in  der  Schweiz  im 
Hause  525  der  Straße  Innere  Abläsen,  im  fünften  Hause 
der  Abläsch  vom  Landsgemeindeplatze  aus,  am  G.  August 


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—    454    — 

1784  geboren;  in  diesem  Hause  hatte  Heinrichs  Vater, 
der  Hutmachermeister  Hans  Jakob  Hößli,  sein  Geschäft. 
Vorher  war  dasselbe  Haus  Eigentum  des  Besitzers  Stein- 
müller gewesen,  bei  welchem  die  am  21.  Juli  1782,  also 
nur  zwei  Jahre  vor  Heinrich  Hößli's  Geburt,  als  Hexe 
hingerichtete  Anna  Göldin  gewohnt  hatte,  deren  Hößli 
in  seinem  „Eros*  gedenkt.1)  Heinrich  war  seiner  Eltern, 
die  es  auf  nicht  weniger  als  14  Kinder  —  8  Mädchen 
und  6  Knaben  —  gebracht  haben,  viertes  Kind  und 
erster  Sohn;  seine  Mutter  Margreth  war  eine  geborene 
Vogel  aus  Glarus. 

Sein  ganzes  Kindesalter  scheint  Heinrich  in  seiner 
Geburtsstadt  verlebt  zu  haben;  erst  als  im  Jahre  1799 
die  Russen  unter  dem  General  Suwarow2)  die  Schweiz 
und  speziell  Glarus  heimsuchten  und  daselbst  Hungersnot 
herrschte,  gaben  Heinrichs  Eltern  einige  ihrer  Kinder 
an  andre  Leute  in  der  Schweiz;  und  so  kam  Heinrich 
nach  Bern,  wo  er  seine  Handelschaft  erlernt  haben 
dürfte,  später  aber  wieder  nach  Glarus  zurück. 

Am  5.  Mai  1811  verheiratete  sich  der  noch  nicht 
siebenundzwanzigjährige  Mann  mit  der  Elisabeth  Grebel 
von  Zürich,  des  Adjutanten  Rudolf  Grebel  Tochter;  das  junge 
Paar  blieb  aber  nicht  beisammen;  Elisabeth  lebte  in 
Zürich  weiter  und  Heinrich  in  Glarus;  doch  besuchte  er 
öfter  sein  Weib  und  zeugte  mit  ihm  zwei  Söhne:  den 
am  19.  April  1812  geborenen  Jakob  Rudolf  und  den 
am  9.  Januar  1814  geborenen  Johann  Ulrich,  auf 
welche  wir  später  noch  zurückkommen  werden. 

In  seinem  bürgerlichen  Berufe  war  Heinrich  Hößli 
Putzmacher;  er  besaß  einen  ausgebildeten  weiblichen 
Geschmack,    den  sogenannten    Schick;    in  den  zwanziger 

*)  Eros  von  Hößli  I.  S.  62*) 

2)  Eine  Gedenktafel  kennzeichnet  jetzt  zu  Riedern  bei  Glarus 
das  Haus,  in  welchem  der  russische  General  Suwarow  am  1.  Ok- 
tober 1799  Aufenthalt  genommen  hatte. 


Heinrich  Hößli's  Geburtshaus  in  Glarus  auf  der  Abläsch, 

vom  großen  Brande  in  der  Nacht  des  10.  auf  den  11.  Mai  1861 

verschont;  nach  einer  photographischen  Aufnahme  im  Januar  1903; 

links  erblickt  man  den  Gipfel  des  Glärnisch. 


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—    456    — 

Jahren  des  19.  Jahrhunderts  war  er  „die  erste  Putz- 
macherin* von  Glarus;  er  war  auch  zeitlich  der  erste, 
welcher  dort  Damenhüte  herstellte;  diese  lieferte  er  geleimt, 
nicht  genäht,  und  er  war  so  ganz  bei  seiner  Arbeit,  daß  man 
im  schwarzen  Adler  sein  Mittagessen  um  7  Uhr  Abends 
noch  unberührt  neben  ihm  stehen  fand.  Er  hat  auch 
das  erste  „Trüböri",  einen  dreieckigen  Hut,  Napoleons- 
hut oder  Dreimaster,  verfertigt  und  eingeführt,  die  Kopf- 
bedeckung des  Landammanns,  des  Souverains  des  Kan- 
tons Glarus,  dessen  Landgemeinde,  was  auch  heute  noch 
der  Fall  ist,  am  ersten  Sonntage  im  Mai  jeden  Jahres 
zusammentrat.  Auch  dekorierte  er  mit  einem  Faltenwurfe 
aus  grünem  Stoffe  die  Kanzel  der  Kirche  zu  Glarus. 
Am  württembergischen  Hofe  zu  Stuttgart,  woselbst  sein 
Eheweib,  die  Elisabeth  Grebel,  als  „ höhere  Hülfe"  an- 
gestellt war,  hat  Heinrich  Gardinen  aufgesteckt,  war  er 
doch  auch  geschickter  Dekorateur. 

Weil  Heinrich  Hößli  die  Mode  angab  und  Mode- 
waren verkaufte,  so  erhielt  er  den  Spitznamen  „Modenhößli." 

Aber  Heinrich  war  nicht  allein  Putzmacher  und 
Dekorateur,  er  war  auch  Handelsmann  und  lebte  als 
solcher  stets  gut  situiert  und  in  durchaus  geordneten 
Verhältnissen,  sodaß  er  in  Hinsicht  seines  Auskommens 
nicht  Ursache  zu  klagen  fand.  Ein  offenes  Geschäft 
betrieb  er  zuerst  in  der  „Meerenge*  zu  Glarus  im  Gast- 
hofe zum  seh warzen  Adler  (1827 — 1832);  alsdann  hat  er 
eine  Zeit  lang  dieses  Geschäft  aufgegeben  und  „im  Sand* 
gewohnt,  später  aber  wieder  einen  gut  frequentierten 
kleinen  Laden  auf  dem  Kirch  weg  (Glarnerisch  Kilchweg),1) 


l)  „Im  Kilchweg  auf  den  Wurzeln  der  alten  Birn-  und  Apfel- 
bäume an  einer  Reihe  von  20  neuen  Häusern  bewohne  ich  jetzt  ein 
eigenes  recht  artiges  Haus,  das  ich  letzten  Winter  kaufte,  schnurgrad 
Seckelmeister  Dinners  gegenüber  mit  freier  fröhlicher  Aussicht." 
(Brief  vom  9.  July  1842  an  seine  Schwester  Regula  Rehlinger  in 
Kaufbeuern.) 


—    457     — 


Ecke  der  äußeren  Zaunstraße  am  jetzigen  Volksgarten,  auf- 
getan. Hier  handelte  er  mit  Damenkleiderstoffen  aller 
Art,  besonders  englischen  Ursprungs  (bedruckte  Indienne 
u.  dergl.),  aber  auch  mit  Futter-,  Bettzeug-,  Vorhang- 
stoffen u.  s.  w.,  alles  solider,  praktischer  Ware.  Drei 
Häuser  von  seinem  Geschäft  wohnte  ein  ihm  Zeit  seines 
Lebens  befreundet  gebliebenes  Fräulein  Margaretha 
Brunner,  die  spätere  Frau  Präsident  Vögeli-Brunner. 
Heinrichs  Eigentum  war  auch  das  nahe  seinem  Ge- 
schäft gelegene  Haus  Ecke  der  Bärengasse,  welches  er 
seinem  langjährigen  Ladendiener  und  Neffen  Jakob  Kubli 
für  2500  Franken  billig  abtrat.  Im  Kirch  weg  liquidierte 
Heinrich  1848,  verkaufte  sein  Geschäft,  wohnte  zuerst 
auf  der  Almei  als  Privatier  und  führte  alsdann  bis  April 
1851  ein  neues  Geschäft  auf  dem  Spielhofe  im  Löwen 
(Leuen).  Zur  Hülfeleistung  im  Geschäfte  bediente  sich 
Heinrich  seines  Neffen  Jakob  oder  Jogg  Kubli,  der 
Margaretha  Hößli  Sohn,  welcher  von  seinem  zwölften 
Jahre  an  fast  bis  zum  30.  Lebensjahre  als  Ladendiener 
bei  dem  Onkel  aushielt  und  dessen  bevorzugter  Lieb- 
ling blieb. 

Bald  jedoch  begann  für  Heinrich  Hölili  ein  unruhiges 
Wanderleben ;  er  verließ  Glarus  als  dauernden  Aufenthalt 
für  immer  und  ließ  sich  zuerst  in  Stäfa  am  Nordufer  des 
Zürichsees  nieder,  woselbst  er  im  Mai  und  Juni  im  Stern 
und  dann  bis  Oktober  1852  in  der  Mühle  im  Kehlhof 
wohnte.  Von  Stäfa  zog  es  ihn  nach  Schmerikon  am 
obern  Ende  des  Zürichsees  unweit  der  Einmündung  der 
Linth;  hier  stieg  er  in  der  Krone  ab  und  mietete  gleich 
am  1.  Oktober  1852  drei  neben  einander  liegende  Kammern 
beim  Kronenwirt  Franz  Wenk;  im  November  1854  hatte 
er  Wohnung  beim  Landammann  Kriech,  im  Oktober  1855 
machte  er  einen  Abstecher  nach  Zürich  und  besorgte  sich 
1856  einen  auf  12  Monate  lautenden  Paß  nach  Deutsch- 
land.    1857    siedelte    er   nach  Lachen    am    Südufer    des 


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Ztirichsees  über,  woselbst  er  im  Gasthaus  zum  Ochsen  ver- 
kehrte; aber  schon  im  November  1858  finden  wir  ihn 
wieder  im  Kanton  Glarus,  in  Mollis,  am  rechten  Ufer 
des  Escher  Kanals;  bis  September  1860  hielt  er  sich  in 
Vogelsang  bei  Winterthur  auf,  zog  Ende  Oktober  1860 
nach  Wtilflingen  nahe  Winterthur,  wo  er  seinen  „fort- 
währenden Aufenthalt*  bis  April  1861  im  Pfarrhause  beim 
Pfarrer  Freuler  nahm,  und  zog  von  da  nach  Winterthur 
selbst,  wo  er  zur  Zeit  des  großen  Brandes  im  Mai  1861, 
welcher  halb  Glarus  einäscherte,  weilte;  bis  Ende  Juni 
wohnte  er  hier  im  gelben  Ring  an  der  Metzgasse,  mietete 
am  29.  Juni  1861  in  S.  Grüblers  Haus  den  zweiten  Stock  und 
Platz  für  Holz,  wofür  er  diesem  vierteljährlich  60  Franken 
bei  8  Wochen  vorheriger  Kündigung  zu  zahlen  hatte;  den 
Monat  November  1861  hat  er  in  Haltli  bei  Mollis  zuge- 
bracht; April  1862  hatte  er  Wohnung  im  Seidenhof,  im  Mai 
in  der  Steinhütte  zu  Winterthur  und  hier  ist  er  im  einund- 
achtzigsten Lebensjahre  am  24.  Dezember  1864  Morgens 
9Va  Uhr  nach  kurzer  Krankheit  im  Spital  verstorben. 

Seine  beiden  Knaben  hat  Heinrich  Hößli  nicht 
selbst  erzogen,  vielmehr  tat  dieses  deren  Mutter  Elisa- 
beth Hößli-Grebel.  Was  über  diese  einzigen  Nachkommen 
Heinrichs  zu  erfahren  war,  dürfte,  so  weit  es  für  ihre 
Individualität  charakteristisch  ist,  nicht  ohne  Interesse  sein. 

Heinrichs  älterer  Sohn  Jakob  Rudolf,  kurz  Jogg  oder 
Jöggi  genannt,  wurde  Ingenieur  und  wanderte  nach 
Amerika  aus;  er  hat  sich  daselbst  verheiratet,  blieb  dann 
aber  vollständig  verschollen;  sein  Totenschein  lautet 
auf  den  1.  Januar  1871;  er  war  Erbe  der  gesamten 
Hinterlassenschaft  seines  Vaters ;  diese  belief  sich  zwanzig 
Jahre  nach  Heinrichs  Tode  mitsamt  den  Zinsen  auf 
etwa  28000  Franken;  lange  Jahre,  bis  zur  Teilung, 
verblieb  das  Vermögen  im  Waisenamte  in  Glarus.  Vor 
seiner  Auswanderung  nach  Amerika,  wo  er  zuletzt  in 
Otisco  Önondago  County,  State  of  New- York,  gelebt  haben 


—    461    — 


soll,  war  Jakob  Hößli  am  Hofe  des  russischen  Kaisers 
in  St.  Petersburg  beschäftigt  gewesen  und  hatte  für  seine 
dortigen  Verdienste  vom  Zaren  ein  Diplom  erhalten.  Er 
dürfte  demnach  durchaus  nicht  ohne  Talente  gewesen  sein. 
Heinrich  Hößli's  jüngerer  Sohn  Johann  Ulrich  oder 
kurz  John,  Heinrichs  „lieber  Hansi",  „hatte  des  Vaters 
im  „Eros"  niedergelegte  Anschauungen  geerbt" ;  er  war  als 
„Weiberfeind"  bekannt,  was  ihn  jedoch  nicht  hinderte,  an 
seiner  Mutter  mit  der  innigsten  Liebe  zu  hängen,  seine 
Jugendfreundin  Ammann  als  Universalerbin  einzusetzen 
und  mit  vielen  Damen  sowohl  in  Amerika  als  in  Europa 
in  regem  freundschaftlichen  Verkehr  zu  stehen.  Er  wird 
als  ein  großer,  schöner  und  intelligenter  Mann  von  nobel- 
ster Gesinnung  geschildert.  Während  des  amerikanischen 
Krieges  zwischen  Nord  und  Süd  hatte  er  in  seine 
Schweizer  Heimat  aus  New- York  geschrieben,  er  habe 
Besitz  genug  im  Norden,  wenn  dieser  siegen  sollte,  und 
Besitz  genug  im  Süden,  falls  jener  unterliegen  sollte. 
Sein  erstes  Vermögen  erwarb  sich  John  durch  seine  Ge- 
schäfte in  „Dry  Goods"  in  Galveston,dann  spekulierte  er 
in  großartiger  Weise  in  Bauterrains  und  zwar  besonders 
in  New- York.  Sobald  er  jenseits  des  Meeres  festen  Fuß 
gefaßt  hatte,  ließ  er  seine  Mutter  nachkommen;  Ende 
Mai  1842  trat  er,  fast  zehn  Jahre  nach  seiner  Aus- 
wanderung, in  Begleitung  der  geliebten  Mutter  von  Texas 
aus  „mit  aller  möglichen  Bequemlichkeit"  die  erste  Heim- 
reise an ;  später  aber  kam  er,  da  er  die  Mutter  in  Europa 
zurückgelassen  hatte,  alle  zwei  oder  drei  Jahre  in  sein 
Heimatland  und  besuchte  Mutter  und  Vater,  mit  welchem 
er  in  regelmäßigem  Briefwechsel  stand.  Niemals  unter- 
ließ er  dann,  bei  der  Familie  Jakob  Kubli's  einzukehren, 
dessen  jüngere  Tochter  Rosina  Magdalena  (Rosalina)  sein 
Patenkind  war.  In  Glarus  traf  er  anfangs  der  vierziger 
Jahre  auf  der  Straße  vor  dem  Rathause  einen  weinen- 
den Knaben  und  fragte  ihn  voll  Mitleid,  warum  er  weine. 


—    462    — 

Die  Antwort  des  Bürschchens  lautete,  seine  Mutter  habe 
sich  als  Salzverkäuferin  gemeldet,  sei  aber  nicht  gewählt 
worden  und  nun  fehle  es  ihr  und  ihren  Kindern  am 
täglichen  Brode.  „Ich  nehme  dich  mit  nach  Amerika, 
wenn  du  mit  mir  kommen  willst",  bot  nun  John  dem 
weinenden  Knaben  an;  hatte  er  doch  schon  vergeblich 
ein  gleiches  Angebot  dem  Jakob  Kubli  früher  gemacht; 
dieser  war  aber  zu  ängstlicher  Natur  und  überdies  bereits 
Vater  eines  Sohnes  geworden ;  bei  dem  fremden  Knaben 
Heinrich  Bosenberger  aber  stieß  John  Hößli  nicht  auf 
Widerstand.  Er  schickte  den  Knaben  in  eine  Fabrik  bei 
Glarus  und  bevor  er  ihn  nach  Amerika  mitnahm,  beließ 
er  ihn  noch  einige  Zeit  im  Geschäfte  seines  Vaters  in 
Glarus,  damit  er  hier  einige  Warenkenntnisse  sich  an- 
eigne. In  Amerika  stand  John  mit  dem  jungen  Bosen- 
berger in  freundschaftlichem  Verhältnisse;  sie  führten 
anfangs  ein  gemeinsames  Geschäft,  blieben  aber  nicht 
dauernd  beisammen;  Bosenberger  wurde  Schweizer  Konsul 
in  Galveston,  blieb  jedoch  an  Johns  Geschäft  beteiligt. 
Als  John  im  Juni  1854  wieder  in  seiner  Heimat  weilte, 
entschloß  sich  die  Mutter  zum  zweiten  Male,  dem  ge- 
liebten Sohn  nach  Amerika  zu  folgen,  wo  sie  1858  starb. 
Der  Sohn  sollte  die  Mutter  nicht  lange  tiberleben;  am 
11.  Mai  1861  geriet  das  Schiff,  welches  ihn  von  Halifax 
(Canada)  aus  in  die  Heimat  zum  geliebten  Vater  tragen 
sollte,  zwischen  zwei  gewaltige  Eisblöcke,  welche  es  mit 
allem  auf  ihm  Befindlichen  erdrückten.  Die  merkwürdige 
Geschichte  zweier  Testamente  Johns,  in  welcher  Hein- 
rich Bosenberger  eine  nicht  wenig  zweideutige  Bolle 
spielte,  muß  hier  übergangen  werden.  Als  Haupterbin 
war  im  ersten  Testamente  von  1851  mit  einem  Vermögen 
von  20  000  Franken  das  Fräulein  Ammann,  eine  Gold- 
schmiedstochter in  Zürich,  von  John  Hößli  eingesetzt 
worden,  weil  dieselbe  den  beiden  bedürftigen  Knaben  Hein- 
rich Hößli's    und    der    Elisabeth   Grebel,   denen    es    mit 


—    463    — 

ihrer  Mutter  oft  recht  traurig  erging,  viel  Unterstützung 
hatte  zu  Teil  werden  lassen.  Auch  der  Knabenanstalt 
Linthkolonie  und  Bitten  im  Kanton  Glarus  hatte  John 
in  diesem  Testamente  20  000  Franken  mit  dem  Bemerken 
vermacht,  daß  ein  Teil  der  Zinsen  zur  Unterstützung 
für  junge  intelligente,  nach  Amerika  auswandernde  Söhne 
verwendet  werden  sollte. 


Genealogie  des  Heinrich  Hößli  von  Glarus. 

1.  Heinrich  Hößli's  Eltern: 

Hans  Jakob  Hößli,  Hutmachermeister,  auf  der  Abläsen,  Sohn 
des  Tuchhandelsmanns  und  Löwenwirts  Heinrich  Hößli  und  der 
Elisabeth  Eimer,  geb.  25.  November  1758,  gest.  18.  September 
1846. 

Margret  h  Vogel  von  Glarus,  Tochter  des  Meisters  Johannes  Vogel 
und  der  Margreth  Ltitschg,  geb.  11.  August  1757,  gest.  2.  März. 
1831,  kopuliert  mit  dem  Vorigen  21.  Juli  1780. 

2.  Heinrich  Hößli's  Geschwister: 

1781.    6.  Januar:  Anna   Magdalene,   ehelichte   den  Uhrmacher 

Bernhard  Milt. 
1781.    19.  Dezember:  Margaretha;  ehelichte  den  Melchior Kubli 

von  Glarus. 

1783.  26.  März:  Elisabeth  ... 

1784.  6.  August:  Heinrich,  siehe  unter  3. 

1785.  14.  September:  Barbara,  ehelichte  den  Feldwebel  Heinrich 
Tschudi  von  Glarus. 

1786.  23.  September:  Johannes,  gest.  an  der  Schwindsucht 
12.  Juli  1793. 

1787.  26.  Oktober:  Kegula,  gest.  27.  März  1789. 
1789.    4.  Februar:  Johann  Jakob,  wohnhaft  in  Chur. 
179Ö.    12.  Mai:  Johann  Ulrich,  Hutmacher  in  Glarus. 

1792.  30.  Januar:  Cosmus,  gest.  an  den  Blattern  28.  März  1797. 

1793.  4.  März:  Kegula,  ehelichte  den  Jonas  Daniel  Kehlinger 
von  Kaufbeuern. 

1796.    3.  August:  Verena,    ehelichte    den  HansJHeinrich  Gamper 

von  Stettfurt,  Kanton  Thurgau. 
1800.  23.  Februar:  EUbeth,  gest.  an  den  Blattern  1.  August  1801. 
1802.    6.  September:  Johannes,  gest.  2.  Dezember  1802. 


t 


—    464    — 

3.  Heinrich  Hößli  jünger  nebst  Eheweib: 

Heinrich  Hößli  von  Glarus,  Patzmaoher  und  Tuchhandelsmann, 
Verfasser  des  „Eros"  1836/38,  Sohn  des  Hutmachers  Johann 
Jakob  Hößli  und  der  Margaretha  Vogel,  geb.  6.  August  1784, 
gest.  24.  Dezember  1864  in  Winterthur. 

Elisabeth  Grebel  von  Zürich,  des  Adjutanten  Rudolf  Grebel 
Tochter,  kopuliert  mit  Heinrich  Hößli  jünger  am  5.  Mai  1811. 

4.  Heinrich  Hößll's  Nachkommenschaft: 

1812.  19.  April:  Jakob  Rudolf,  zuletzt  in  Otisco-Onondago 
County,  State  ot  New -York,  dann  verschollen;  sein  Toten- 
schein lautet  auf  den  1.  Januar  1871. 

1814.  9.  Januar:  Johann  Ulrich  (John),  nach  Amerika  aus- 
gewandert, ertrank  während  einer  Heimreise  auf  dem  Ozean 
am  11.  Mai  1861. 


II.  Heinrich  HöBli's  Wesen  und  Charakter. 

Heinrich  Hößli  war  von  mittelgroßem  Wüchse  und 
erschien  in  Folge  kurzer  Beine  von  fast  kleiner  Gestalt; 
er  war  nicht  schön,  aber  von  gesunder  Stärke;  er  hatte 
einen  breiten  Mund  und  trug  das  Gesicht  glatt  rasiert, 
das  braune  Kopfhaar  struppig,  ungepflegt,  wild  genial, 
indem  er  sich  selten  eines  Kammes  bediente.  In  seiner 
Erscheinung  durchaus  männlich  ohne  das  geringste  Weibi- 
sche, zeigte  er  ein  Benehmen  wie  eine  höfliche  Frau  und 
besaß  ganz  das  Temperament  seiner  um  ein  Jahr  jüngeren 
Schwester  Barbara,  der  Ehefrau  des  Feldwebels  Heinrich 
Tschudi,  als  Witwe  unter  dem  Namen  „Hebamme  Hößli" 
in  Glarus  bekannt,  von  Heinrich  zärtlich  „Baby*  genannt.1) 


*)  Von  Heinrich  Hößli  als  Mann  in  den  mittleren  Jahren  habe 
ich  ein  Portrait  nicht  aufgetrieben.  Die  hier  als  Titelbild  beigegebene 
Kupferradierung  mit  Autogramm  beruht  auf  einer  nach  der  Erinne- 
rung und  unter  Benutzung  der  Autotypieen  des  Jünglings  und  des 
Greises  vom  Zeichner  Caspar  Müller  in  Glarus  mit  Bleistift  ausge- 
führten Zeichnung.  Caspar  Müller  bemerkt  dazu :  „Eine  Charakte- 
ristik eines  Bildes  von  Hößli  liegt  in  dessen  schwarzseidenem  Hals- 
tuche, ebenso  auch  in  diesem  Hauskäppchen,  das  er  sich  immer 
.selbst  anfertigte." 


—    465 


Auf  der  Straße  vor  dem  Hause,  am  Brunnen,  selbst 
in  der  Wirtsstube  erschien  Heinrieh  oft  im  Schlafrock; 
er  zeigte  sich  stets  freundlich  und  zuvorkommend  gegen 
jedermann,  besonders  liebenswürdig  gegen  seine  ausschließ- 
lich weiblichen  Kunden,  und  pflegte  wohlgefällig  zu 
lächeln.  Nie  ist  er  Soldat  gewesen.  In  Glarus  war  er 
Mitglied  der  Kasinogesellschaft  und,  gern  gesehen  über- 
all, galt  er  als  Mann  von  Lebensart,  Sein  Geist  war 
von  außerordentlicher  Lebhaftigkeit,  unruhig,  rastlos,  sein 
Temperament  nicht  jedoch  eigentlich  sanguinisch.  Daheim 
schlief  er  selten  in  einem  Bett,  sondern  auf  Matrazen 
mit  einem  Dutzend  zusammengehüufter  Leinentücher  am 
Boden  oder  auf  einer  Kiste;  diese  Schlaf  weise  fand  er 
sauber.  Er  fegte  seine  Zimmer  selber  aus,  kochte  seinen 
Kaffee  selbst  und  säuberte  auch  eigenhändig  sein  Tafel- 
geschirr; zu  seiner  Freundin,  Fräulein  Brunner,  die  ein- 
mal bei  ihm  Kaffee  trank  und  ihr  Mißbehagen  nicht 
überwinden  konnte,  äußerte  er?  sie  solle  sich  nicht  ekeln, 
er  sei  sehr  säuberlich.  In  Heinrichs  Geschäftsräumen 
sah  es  wohl  recht  unordentlich  aus;  die  Ellenwaren 
hingen  da  oft  wüst  über  den  Ladentischen;  selbst  die 
Kasse  für  die  Kupfermünzen  stand  offen  da,  so  daß  jeder 
hatte  hineingreifen  können.  In  Glarus  gab  es  ein  Sprich- 
wort: „Das  ist  eine  Ordnung  wie  beim  Hueter-Hößli." 
Auf  diesem  Mangel  an  Ordnung  beruhte  wohl  auch  vor 
allem  ein  gewisser  Grad  von  Miß  trauen  ?  der  Heinrieh 
stets  fürchten  ließ,  bestohlen  zu  werden;  man  sagte  ihm 
nicht  nur  nach,  daß  er  überall  Spiegel  anbringe,  um  zu 
wissen,  ob,  wann  und  von  wem  er  bestohlen  würde, 
sondern  er  tat  dieses )  wirklich.  Wurde  er  nun  bestohlen, 
so  gewahrte  er  es  leicht  und  wußte  sich  dann  ohne  viel 
Aufhebens  wieder  in  Besitz  seines  Eigentums  zu  setzen. 
Brillen  hatte  Heinrich  wohl  ein  halbes  Hundert  und 
kaufte  solche  auch  dutzendweise,  jedoch  faud  er  sie  nicht 
am  rechten  Ort  und  zur   rechten  Zeit    und  während    er 

Jahrbuch  v.  oO 


Heinrich  Hößli 

als  Jüngling  von  neunzehn  Jahren  nach  einer  anscheinend  am 
11.  Februar  1804  vollendeten  Aquarellzeichnung. 


Heinrich  Hößll 

als  Greis  nach  einer  Daguerrotypie, 
Von  sechs  Personen,  welche  HÖßli  gekannt  haben,  ist  mir  bestä- 
tigt worden,  daß  dieses  Bild  den  Verfasser  des  „Eros"  „leibhaftig" 
darstelle,  wenn  auch  gealtert   und  verbittert. 


—    468    — 

zwei  bis  drei  Stück  auf  der  Nase  hatte,  suchte  er  solche 
gleichwohl  in  allen  seinen  Taschen.  Auf  Reisen  verbarg 
er  sein  Geld  in  einem  Strumpfe  und  versteckte  es,  wenn 
er  irgendwo  zu  Besuch  weilte,  hinter  einem  Spiegel. 

Auch  in  seiner  Kleidung  war  Heinrich  nachlässig 
und  zerstreut;  an  einem  Leichenbegängnisse  nahm  er 
einmal  mit  einem  Stiefel  und  einem  Pantoffel  bekleidet 
teil  und  bemerkte  das  erst,  als  er  sich  schon  im  Zuge 
befand;  ein  andermal  wollte  er  seinen  Hut  abnehmen, 
trug  aber  keinen  auf  dem  Kopfe.  Er  gab  nicht  viel  auf 
.  eigenen  Kleiderputz  und  eigene  Eleganz,  wo  es  aber 
Andern  daran  fehlte,  bemerkte  er  es  sofort.  Demunge- 
achtet  zeigte  er  sich  nicht  ganz  ohne  Eitelkeit;  stets  trug 
er  einen  schweren  goldenen  Ring  und  eine  goldene 
Uhrkette. 

Der  Gewohnheit  des  Rauchens  hat  Heinrich  nicht 
gehuldigt,  doch  soll  er  einer  Prise  nicht  abgeneigt  ge- 
wesen sein. 

Heinrich  war  ein  wenig  rechthaberisch,  besaß  eine 
nicht  geringe  satirische  Anlage  und  konnte  von  göttlicher 
Grobheit  sein;  diesbezüglich  weiß  man  in  Glarus  mancher- 
lei zu  erzählen.  Jedoch  auch  rührende  Züge  großer  Gut- 
mütigkeit und  reichen  Gemütslebens  werden,  von  ihm 
berichtet.  In  Glarus  pflegte  Heinrich  im  Löwen  auf  dem 
Spielhofe  zu  speisen,  da  er  in  jenem  Gasthofe,  wie  frü- 
her bei  der  gleichen  Familie  im  schwarzen  Adler,  seinen 
Verkaufsladen  und  sein  Logis  im  Erdgeschoß  inne  hatte. 
Zeitlebens  stand  er  mit  dieser  Familie  in  aufrichtiger 
Freundschaft,  welche  sich  auf  deren  Kinder  übertrug; 
dieses  Freundschaftsverhältnis  war  so  bekannt,  daß  der 
jüngste  Sohn  des  Löwenwirts,  mit  dem  und  mit  dessen 
Frau  Heinrich  stets  freundschaftlich  verkehrte  und  in 
regelmäßigem  Briefwechsel  stand,  anläßlich  seiner  zum 
Tode  führenden  Krankheit  in  Winterthur  von  den 
Glarner  Behörden  kurz  vor  Hößli's  Tode  zum  Vormunde 


—    469    — 


und  Liquidator  seiues  Vermögens  ernannt  wurde.  Für 
Heinriche  fast  zarte  Liebe  zum  hülf  losen  Tiere  erlebte 
ein  jetzt  achtzigiähriger  Greis  in  Glarus  einen  äußerst 
charakteristischen  Fall,  Einst  kam  dieser  mit  einem 
Freunde  nach  Lachen  und  traf  im  dortigen  Gasthause 
zum  Ochsen  auch  Heinrich  Hößli  an.  Nach  Tische  lad 
dieser  seine  Ortsgenossen  zur  Besichtigung  seines  schön 
gelegenen  originellen  Heimwesens  ein;  in  der  Wohnstube 
befand  sich  hier  ein  großer  runder  Tisch  mit  Büchern 
aller  Art  überlegt  und  mitten  darin  ein  Vogelkäfig  mit 
einem  Kanarienvögelchen,  Auf  des  Ortsgenossen  Bemer- 
kung: „Sie  halten  also  auch  ein  Vögel chen?"  erwiderte 
Heinrich:  „Ja,  leider!  Ich  kann  Ihnen  damit  den  Beweis 
liefern,  daß  einer  kein  freier  Mann  ist,  wenn  er  nur  ein 
Vögel  chen  besitzt.  Ich  begab  mich  auf  eine  Reise,  als 
mir  unter wegs?  da  eben  mein  SchitF  in  Stäfa  landete, 
plötzlich  in  den  Sinn  kam,  daß  ich  mein  Vögelchen  zu 
füttern  vergessen  hatte.  Was  tun  ?  Um  das  Tierchen 
am  Leben  zu  erhalten,  mußte  ich  mit  dem  nächsten  Schiffe 
wieder  umkehren  und  die  geplante  Heise  aufschieben/ 

Heinrich  war  ungeachtet  mancher  Fehler  und 
Schwachen,  wie  solche  wohl  jedermann  eigen  sind,  ein 
edler,  ideal  gesinnter  Mensch,  Gauz  besonders  stark  war 
sein  Gerechtigkeitsgefühl  entwickelt.  Hörte  er,  daß  man  mit 
einem  Steine  oder  dergl,  nach  einer  Katze  geworfen  hatte, 
so  brummte  er:  „Teufel  auch!  Wenn  man  die  Menschen 
so  hetzte  wie  eine  Katze,  so  würden  auch  sie  falsch  und 
diebisch!"  Eine  seltene  Willenskraft,  welche  weder  durch 
die  Ueberzeugung  von  der  eigenen  Unzulänglichkeit 
zurücksehreckte,  noch  durch  äußere  Widerwärtigkeiten 
schlimmster  Art  lahm  gelegt  wurde,  hat  Heinrich  durch 
die  Herausgabe  des  zweiten  Bandes  seines  „Eros"  hin- 
länglich dargetan ;  auch  daß  er  seinem  einmal  ergriffenen 
Berufe  treu  geblieben,  ohne  je  höher  hinaus  zu  wollen, 
ungeachtet  des  Vorherrschens  seiner  Hinneigung  zu   an- 


—    470     — 

gestrengter  geistiger  Tätigkeit,  zeugt  für  seine  intensive 
Willensstärke  nicht  weniger  als  verschiedene  kleine,  mehr 
Augenfällige  positive  Züge  seines  Wesens,  so  z.  B.,  daß  er, 
wenn  er  am  1.  eines  Monats  Zahnschmerzen  hatte,  mit 
Kreide  an  die  Wand  schrieb:  Am  4.  habe  ich  sie  nicht 
mehr.  Ueberhaupt  schrieb  er  alle  Wände  voll  mit  allerlei 
Notizen,  selbst  über  der  Türe,  so  daß  manche  einfältige 
Leute  glaubten,  daß  er  ein  halber  Zauberer  oder  Hexen- 
meister sei,  was  ihn  oft  recht  belustigte,  und  in  seinem 
Nachlasse  fanden  sich  hunderte  beschriebener  Papier- 
schnitzel vor,  zumeist  geschäftlichen  Inhalts.  In  seiner 
Einsamkeit  gewöhnte  er  sich  an,  laut  mit  sich  selbst 
zu  sprechen. 

Heinrich  gehörte  der  evangelischen  Kirche  an,  war 
aber  vollkommen  freidenkerisch  und  spottete  freisinnig 
über  Religionsbekenntnisse  und  „Pfaffen",  ohne  aber  dabei 
im  Geringsten  Atheist  zu  sein;  auf  die  Geistlichkeit  hatte 
er  einen  gewissen  scheinbar  unversöhnlichen  Haß  geworfen, 
welcher  jedoch  sicherlich  nur  der  von  derselben  vertretenen 
Sache,  keineswegs  der  Person  galt,  wie  seine  Freundschaft 
mit  mehreren  geistlichen  Herren,  dem  Pfarrer  Freuler 
in  Wülflingen,  dem  Pfarrer  Speich  in  Glarus,  genugsam 
beweist;  diesem  Hasse  gab  er  auch  durch  Spott  gelegentlich 
deutlichen  Ausdruck;  seine  vertraute  Freundin  Fräulein 
Brunner,  die  er  aus  der  Kirche  kommen  sah,  fragte  er 
höhnisch:  „Nun,  was  hat  der  Herr  Pfarrer  gepregelt?",  wo- 
rauf sie  ihm  erwiderte:  „Wenn  Sie  so  fragen,  werde  ich  es 
Ihnen  niet  sagen".  Heinrich  spottete  aber  nur  über  die 
bigotte  Geistlichkeit  und  „Pfaffenwelt"  und  deren  oft  eng 
begrenzten  Horizont;  und  wenn  er  die  Geistlichkeit  zum 
Teil  haßte,  so  war  dazu  wohl  auch  ein  Grund  der,  daß 
manche  Geistliche  s.  Z.  sich  hervortaten,  damit  der 
weitere  Druck  seines  Buches  „Eros"  verboten  werde. 
Wenn  er  vom  Sterben  und  vom  Tode  sprach,  so  betonte 
er  oft:     Er  werde  dereinst   ruhig   vor    den   Richterstuhl 


—    471    — 


Gottes  treten,  denn  er  habe  stets  nur  das  Gute  gewollt 
und  er  hoffe,  Gott  werde  ihm  seine  Irrtümer  und  Fehler 
wie  allen  s  und  igen  und  reuigen  Menschen  verzeihen* 

Für  alles  Gute,  Edle  und  Schöne  war  Heinrich  stets 
begeistert;  er  schwärrate  für  Gesang,  besonders  für  die 
Lieder  des  Sängervaters  Hans  Georg  Naegeli  von  Zürich; 
auch  war  er  ein  aufrichtiger  Freund  der  Natur  und  ein 
scharfsinniger  Beobachter  derselben« 

Vermöge  seiner  hochentwickelten  Intelligenz  zeigte 
er  sich  auf  keinem  geistigen  Gebiete  verlegen;  er  konnte 
sich  mit  Künstlern  und  Gelehrten3  unter  denen  er  ver- 
traute Freunde  besaß,  unterhalten,  obwohl  er  Schule  nicht 
genossen  hatte;  und  dieses  war  nicht  nur  die  Meinung 
derer,  die  ihn  dieses  Vorzuges  wegen  zu  beneiden  Ursache 
hatten,  sondern  ebenso  auch  die  Auffassung  der  gebildeten 
Kreise.  Als  Zeugnis  dessen  diene  das  nachfolgende  in  der 
Orthographie  des  Originals  wiedergegebene  Schreiben 
des  Dr.  Müglich  an  die  Gräfin  v.  Bentzel-Sternau: 

„  Ihrer  Hochgeboren  der 

Frau  Gräfin  v.  Bentzel-Stemau 
gebornen  Baronin  v,  Seckendorf 

Mariahalden, 

Gnädige  Frau  Gräfin, 

Wenn  ich  auch  sonst  auser  Berührung  mit  Ihrem  edeln 
Hause  bleiben  eolte>  so  nehme  ich  mir  doch  die  Freiheit, 
mich  zuweilen  durch  die  Feder  mit  demselben  noch  in 
Verbindung  zu  sezen.  So  jezt.  Herr  Heinrich  Hößli 
von  Glarus  wünschte  auf  einer  Reise  nach  Zürich  Ihre 
Gemälde  zu  sehen.  Ich  sagte  ihm,  Sie  seyen  so  ge- 
fällig, ihm  dieselben  auch  ohne  mein  Billet  sehen  zu 
lassen:  er  drang  aber  in  mich  und  ich  wilfahre  ihm, 
Diser  Mann  ist  mir  Üuserst  merkwürdig  erschiuen. 
Er  ist  ein  Autodidakt  und  ich  mögte  wohl  sagen,  ein 
Filosof,    ob    er    gleich    bürgerlich    nur  ein  Fuzmacher 


—    472    — 

ist.  Ich  furcht  also  nicht,  daß  Ihre  Excellenz  ihn  so 
sarkastisch  aufnehmen  werde,  wi  Napoleon  diStael,  indem 
er  si  fragte,  wivil  kostet  eine  Elle  der  Spizen  hir  an 
Ihrer  Hälskrause? 

Hochachtungsvol 

Ihrer  Excellenz 
ergebenster  Diner 
Mollis,  1827.  Dr.  J.  K.  A.  Müglich". 

Und  diese  Auffassung  von  Heinrich  Hößli's  Geistes- 
art galt  nicht  nur  zu  der  Zeit,  als  er  noch  am  „Eros" 
arbeitete,  sondern  auch  noch,  als  dieser  längst  er- 
schienen und  verboten  war,  blieb  sein  Verfasser  überall 
äußerst  beliebt  und  jedermann  hielt  ihn  für  einen  ge- 
scheidten  Kopf.  Er  interessierte  sich  lebhaft  für  jeg- 
lichen Fortschritt;  in  den  vierziger  Jahren  "pflegte  er  be- 
züglich der  Erfindungen  seines  Jahrhunderts  zu  äußern: 
„Es  kommt  noch  so  weit,  daß  man  in  den  Hafenkübel 
hineinhockt  und  —  zum  Fenster  hinausfliegt."  Eine  be- 
sonders große  Liebe  war  Heinrich  zum  gestirnten  Him- 
mel eigen  und  kundig  war  er  der  Sterne  und  ihrer 
Bahnen,  ihres  Standes  und  ihres  Erscheinens.  Er  war 
ein  leidenschaftlicher  Freund  guter  Bücher  und  hielt 
streng  auf  deren  sorgfältige  Behandlung;  „Eselsohren" 
waren  ihm  ein  Greuel;  seiner  vertrautesten  Freundin, 
Fräulein  Brunner,  lieh  er  Werther's  Leiden,  weil  er  wisse, 
daß  sie  das  Buch  angemessen  behandeln  würde,  er  gäbe 
es  aber  nicht  einem  jeden.  Aus  dem  Hause  des 
Pfarrers  Freuler  zu  Wülflingen  ersuchte  er  noch  am 
22.  November  1860,  bereits  über  76  Jahre  alt,  J.  J. 
Siegfriede  Buchhandlung  und  Antiquariat  in  Zürich  um 
Zusendung  von  37  wissenschaftlichen  und  dichterischen 
Werken  aus  dessen  127.  Verzeichnisse;  a/8  davon  wolle 
er  jedenfalls  behalten,  wahrscheinlich  alle ;  und  er  sendete 
20  Franken  Vorschuß  ein.     Seine  erstaunliche  Kenntnis 


473     — 


der  Literatur  war  seinen  Freunden  wohl  bekannt;  sie 
ließ  nicht  tiach,  als  Heinrieh  die  Fortsetzung  seines 
„Eros"  definitiv  aufgegeben  hatte;  ein  Brief  des  W.  E. 
von  Gonzenbach  am  Berg  aus  St,  Gallen  vom  24.  No- 
vember 1854  hebt  diese  Kenntnis  Hößli's  und  seine 
Liebe  zur  Literatur  hervor.  *)  Bei  seinem  Tode  hinter- 
ließ er  8  Kisten  mit  Büchern.  Heinrichs  um  sechs  Jahre 
jüngerer  Bruder  Johann  Ulrich,  mit  dessen  weder  lieb- 
reichem noch  aufrichtigem  Charakter  sich  Heinrich  nicht 
zu  befreunden  vermochte,  nannte  ihn  nur  den  „gefehlten 
Gelehrten". 

Ein  langjähriger  Bekannter  Heinrich  HöJMi's  zeich- 
nete diesen  mit  den  sechs  Worten:  „Er  war  Idealist  — 
Eros  sein  Steckenpferd." 

Mit  dem  eingetretenen  Greisenalter  scheint  nicht 
zum  mindesten  das  trostlose  Schicksal  seiner  Idee  vom 
Eros  an  Heinrichs  Herzen  genagt  zu  haben;  er  galt 
mehr  und  mehr  als  Sonderling,  wurde  im  Verkehr  mit 
seinen  Mitmenschen  eher  wortkarg  als  mitteilsam  und 
äußerst  vorsichtig  und  zurückhaltend  in  Rede  und 
Urteil.       Auch    verfiel  er  auf  Sonderbarkeiten,    die    bei 


I 


')  Von  der  Tiefe  seines  Interesses  tttr  Philosophie  und  Dicht- 
kunst zeugt  auch  die  Tatsache,  daß  er  aus  den  Vorlesungen  an 
der  Universität  Zürich  im  Wintersemester  1853/54  nach  der  „Neuen 
Zürcher  Zeitung- %  Nummer  238,  Beilage,  in  seinem  Notizbuch 
notierte  i 

„Philosophische  Fakultät  —  Prot;  ord.  Dr,  H,  A.  Th.  Kochly 
1.   Geschichte  der  griechischen  Weltliteratur    (der   allge- 
meinen griechischen  Literaturgeschichte  zweite  Hälfte) 
4  Stunden. 
2*   Vergleichende  Erklärung    der  Elektra   des  Sophokles 
und  der  Elektra  des  Euripides;  3  Stunden, 

3.  Ausgewählte  Gedichte  der  römischen  Elegiker;  3,  St 

4,  Uebung-en  der  philologischen  Gesellschaft  (Erklärungen 
von  Piatons  Fhädrus),  unentgeltlich;  2  Stunden. 

Anfang  31.  Oktober." 


—    474    — 

seinem  sonst  so  ausgesprochen  edlen  Wesen  nicht  recht 
verständlich  sind. 

Ein  glücklicher  Mensch  ist  Heinrich  Hößli  nie 
gewesen.  In  einem  Briefe  an  seine  sehr  unglücklich  ver- 
heiratete Schwester  Frau  Regula  Rehlinger  geb.  Hößli 
in  Kaufbeuern,  aus  Glarus  vom  9.  Juli  1842  datiert,  in 
welchem  der  58jährige  Mann  schildert!  der  Vater  sei 
noch  so  gesund  wie  ein  junger  Hirsch  und  die  Brüder 
befänden  sich  in  Wohlstand  und  ziemlichem  häuslichen 
Frieden,  findet  sich  der  nachfolgende  erschütternde  Satz : 

„Bei  diesen1)  Dingen  aber  kenne  ich,  liebe  Schwester, 
das  Leben  und  Schicksal  der  Menschen,  ich  darf  wohl 
sagen,  von  allen  seinen  fürchterlichen  Seiten.  Meine 
Vergangenheit  ist  eine  Reihe  beinahe  unaufhörlichen  Un- 
glücks und  Leidens;  ich  sehe  mit  Schaudern  zurück;  und 
wenn  Du  einmal  hörst,  daß  ich  auch  den  letzten  Streit 
vorüber  habe,  so  falle  vor  Dank  und  Freude  nieder  vor 
Deinem  Gott** 

Allein  trotz  dieser  durch  manches  Bittere,  das  er 
erleben  mußte,  notwendig  hervorgerufenen  düsteren 
Stimmungen,  die  Heinrich  nicht  Herr  über  sich  werden 
ließ,  sah  man  ihn  oft  heiter  und  froh,  besonders  dann, 
wenn  freudige  Ereignisse  in  den  ihm  befreundeten  Fa- 
milien eintraten  oder  wenn  in  den  Zeitungen  von  einem 
weltbewegenden  Fortschritte  zu  lesen  war. 

Als  Rekapitulation  und  zugleich  als  Dokument  aus 
der  damaligen  Zeit    folgt    hier    der  Nekrolog  Hößlis   im 

„Republikaner." 

„ —  Winterthur.  (Einges.)  Ende  letzter  Woche 
verschied  hier  im  83.2)  Lebensjahre  ein  auch  in  weitern 
Kreisen  bekannter  origineller  Glarner,  Namens  Heinrich 
Hößli.    Derselbe  wurde  im  Jahre  17828)  von  unbemittelten 


*)  (d.  h.  Heinrichs  Wohlstand  betreffenden) 

2)  Im  81.  Lebensjahre  nach  Seite  460  und  464. 

3)  1784  nach  Seite  454  und  464. 


—    475    — 

Eltern  geboren,  kam  dann  in  den  auch  fürs  Giamerland 
so  verhängn iß  vollen  neunziger  Jahren  mit  einem  Trausporte 
armer  Kinder  nach  Zürich  und  später  in  ein  Handlungs- 
geschäft in  Bern. 

„Im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  eröffnete  er  in 
Glarus  ein  sogenanntes  Putzgesehäftj  das  er  mit  Erfolg 
bis  Ende  der  vierziger  Jahre  betrieb?  nnd  gab  es  damals 
wohl  wenige  Familien  landauf  und  ab?  die  nicht  mit  dem 
Putzmacher  Hößli  verkehrten,  Neben  seinem  Geschäfte 
hatte  derselbe  einen  unermüdlichen  Drang  nach  Wissen 
und  Bildung  und  verausgabte  auch  einen  großen  Tb  eil 
seiner  Ersparnisse  für  Bücher  und  Schriften  aller  Art. 
In  Folge  dessen  eignete  er  sich  eine  tiefe  Denkungsart 
an  und  erhielt  sein  Geist  einen  philosophisch  gelehrten 
Zug.  Hößli  stand  s.  Z.  auch  in  Verbindung  mit  Zschokke 
und  Troxler  und  erzählte  stets  mit  Freuden,  daß  auf 
seine  Eingebung  hin  jener  den  „Bros"  in  seine  Novellen 
schrieb, 

„Mit  seinem  selbstgeschriebenen  Werke  „Eros"  hatte 
der  Verfasser  jedoch  wenig  Glück,  indem  der  damalige 
Rath  von  Glarus  dasselbe  weiter  zu  schreiben1)  verbot; 
immerhin  wird  dieses  Buch,  wie  wir  schon  Gelegenheit 
hatten  211  hören,  von  sehr  gelehrten  Personen  weit  milder 
beurtheilt  und  sagten  einst  die  Verleger  selbst,  daß  frag- 
liches Buch  von  Laien  meist  nicht  verstanden,  dagegen 
oft  von  Literaten  gekauft  werde,  um  daraus  zu  schöpfen, 
und  es  bewuudernswerth  sei,  wie  es  einem  uugeschidtcn 
Manne  möglich  geworden,  einen  solchen  Schatz  von  Ge- 
lehrsamkeit und  eigenen  neuen  Ideen  darin  niederzulegen. 

„Nach  Aufgebung  seines  Geschäfts  in  Glarus  arbei- 
tete der  Alte  mit  regem  Interesse  an  einem  dritten  Bande 
seines  Werkes2),  um  Unterlassenes  nachzuholen  und  über- 


*)  Zu  drucken,  nicht  zu  schreiben,  nach  S.  450  u,  S.  500 
")  Dieser  war  von  vornherein  geplant  nach  S.  451  u.  S,  477. 


—    476    — 

baupt  seine  Idee  verständlicher  und  klarer  zu  machen, 
konnte  denselben  jedoch  nicht  mehr  beenden,  indem  er 
von  seinem  unruhigen  Geiste  stets  hin  und  her  getrieben 
wurde  und  ein  wahres  Wanderleben  führte. 

„Von  Jugend  auf  ein  Freund  der  Natur,  fesselten 
ihn  besonders  die  Gestade  des  schönen  Zürichsees  und 
so  wohnte  er  oft  in  Glarus,  dann  in  Stäfa,  Richterswyl, 
Lachen,  Mollis,  wieder  Glarus  und  endlich  zog  er  nach 
Winterthur. 

„Bis  zu  der  Zeit,  wo  jenes  in  den  Blättern  veröffent- 
lichte eigenthümliche  Testament  seines  Sohnes  „JohnHößli 
aus  New-York"  ihm  zu  Ohren  drang,  blieb  der  Alte, 
seine  angebornen  Eigenheiten  abgerechnet,  immer  heiter 
und  froh  und  als  guter  Gesellschafter  stets  gerne  gelitten; 
seither  war  aber  eine  Veränderung  an  ihm  wahrzunehmen, 
die  ihn  nach  und  nach  körperlich  und  geistig  zerstörte. 
Hößli  behauptete  nämlich  immer  und  vielleicht  nicht  mit 
Unrecht,  daß  fragliches  Testament  nicht  das  richtige  sei 
und  noch  ein  anderes  späteres  Dokument  existiren  müsse. 

„In  der  That  klingt  es  etwas  sonderbar,  wie  ein  unver- 
heiratheter  Sohn,  der  ein  Vermögen  von  beiläufig  einer 
halben  Million  besaß,  seinen  alten,  nicht  sehr  bemittelten 
Vater  in  seinem  letzten  Willen  nur  mit  Fr.  5000  beden- 
ken und  seinen  einzigen  Bruder  ganz  übergehen  konnte, 
währenddem  die  Hauptsumme  seiner  damals  schon  seit 
vielen  Jahren  abgeschiedenen  Mutter  zukommen  soll  oder 
nach  deren  Tod  einer  ehemaligen  Jugendfreundin  des 
Erblassers,  die  außer  der  Familie  steht.  Um  so  mehr, 
da  der  Sohn  seinen  Vater  einige  Monate  vor  seiner  Ver- 
unglückung auf  dem  Meere  noch  von  seiner  Ankunft 
unterrichtete  mit  der  freudigen  Mittheilung,  daß  er  nun 
in  der  Schweiz  zu  bleiben  und  irgendwo  einen  hübsch 
gelegenen  Landsitz  zu  kaufen  gedenke,  auf  welchen  er  ihn 
dann  zu  sich  nehmen  wolle,  um  ihm  den  Rest  seines  un- 
ruhigen Lebens  noch  zu  verschönern. 


—    477     — 

„Hbßli  bemühte  und  härmte  sich  vergebens,  dieses 
Dunkel  zu  lösen,  es  sollte  ihm  nicht  mehr  beschieden 
sein,  diese  Sache  in  klarem  Lichte  zu  sehen. 

„Er  hat  nun  ausgekämpft  mit  der  Welt,  die  ihn  so 
oft  mißverstanden,     Rühe  seiner  Asche!" 

Aus:  Der  Republikaner,  Zürcher  Intel  ligenzblatt, 
Elfter  Jahrgang.    Nr.l.    Sonntag,  1.  Januar  1865,    Seite  2* 


III.  Heinrich  Hoßli's  zweibändiger  „Eros14. 

Den  Entschluß  zur  Abfassung  seines  Lebenswerkes 
,Erosu  hat  Heinrich  Hößli  erst  einige  Jahre  nach  dem 
Erscheinen  der  durch  ihn  angeregten  Novelle  „Der  Eros 
oder  über  die  Liebe  *  von  Heinrich  Zschokke  (1821)  ge- 
faßt; seine  Erosidee  aber,  nachdem  sie  IB17  in  Hößli' s 
03.  Lebensjahre  geboren  war,  hat  ihn  bis  in  sein  Todes- 
jahr unablässig  begleitet  und  ihn  nicht  früher  Ruhe  finden 
la&seil,  als  bis  er  1836  den  ersten  und  1838  auch  den 
zweiten  Band  gedruckt  vor  sich  sah.  Dann  erst  gab  er 
den  Plan,  einen  dritten  Band  folgen  zu  lassen,  auf  und 
es  blieben  die  zu  demselben  fertigen  Kapitel  un gedruckt, 
die  auf  ihn  bezüglichen  Notizen  unfertig  liegen. 

Es  dürfte  nunmehr  eine  dreifache  Aufgabe  mir  zu- 
fallen: erstlich  den  wesentlichen  Inhalt  der  beiden  ge- 
druckten, 721  Oktavseiten  füllenden  Bände  und,  soweit 
es  sich  feststellen  läßt,  auch  den  geplanten  Inhalt  des 
dritten,  ungedruckt  gebliebenen  Bandes  in  möglichster 
Gedrängtheit  wiederzugeben;  —  alsdann  den  Werde- 
gang und  das  Schicksal  des  „Eros"  zu  verfolgeu ;  — 
und  drittens  dem  Leser  einige  der  bedeutendsten  Stellen 
des  Eroswerkes  unverkürzt  vorzuführen,  Stellen,  welche 
die  geistige  Bedeutung  Hoßli's  hervortreten  lassen  und 
entweder  durch  die  Eigenartigkeit  oder  durch  den  Reich- 
tum   der   Gedanken    oder   aber    durch   ihre    Kraft    oder 


—    478    — 

ihren  individuellen  Ausdruck  für  die  Denkweise  und  die 
Schreibart  Höfili's  charakteristisch  sind. 

1.  Der  wesentliche  Inhalt  von  Heinrich  Höfili's  „Eros". 

Versuchen  wir,  den  Erosinhalt  unter  Vermeidung 
aller  subjektiven  Phraseologie  aus  dem  an  allgemeinen 
Gedanken  und  eigenen  Gesichtspunkten,  besonders  in  den 
Vorreden  zu  beiden  Bänden,  überreichen  Buche  rein 
herauszuschälen,  ohne  uns  streng  an  den  Gedankengang 
des  Werkes  zu  halten. 

Eine  außergewöhnlich  fürchterliche  Hinrichtung,  die 
des  Doktors  der  Rechte  und  Bürgers  von  Bern  Franz 
Desgouttes,1)  der  1817  seinen  Schreiber  und  Liebling 
Daniel  Hemmeier  ermordete  und  dafür  gerädert 
wurde,2)  hatte  bei  ihrem  Bekanntwerden  in  Hößli  die 
noch  schlummernde  Empfindung  der  Notwendigkeit 
einer  aufklärenden  Schrift  über  die  den  alten  Griechen 
als  Natur  bewußt  gewesene,  der  Neuzeit  jedoch  als 
Unnatur  dunkle  und  mit  schweren  Strafen  bedrohte 
Knaben-  oder  Männerliebe  geweckt.  Hößli  schmerzte 
es  als  das  unerträglichste  aller  Leiden,  zahlreiche  seiner 
Mitmenschen  ohne  jede  Schuld  unaufhörlich  von  den 
Gesetzen  bedrängt  zu  sehen.8)  Die  Liebe  zu  den  Lieb- 
lingen hatte  er  aus  seinem  durch  vieljährige  Prüfung4) 
erlangten  Wissen  und  durch  seine  von  der  Literatur  be- 
stätigte und  bestärkte  Ueberzeugung0)  als  eine    von   der 


1)  Ueber  ihn  handelt  das  folgende  (5.)  Biogramm  dieser  Quellen- 
materialien. Hößü's  Eros  handelt  über  ihn  I  S.  IX,  S.  XVI,  S.  61 
u.  S.  278;  femer  II  S.  53,  S.  212—213,  S.  225,  S.  239,  S.  263—264, 
S.  279,  S.  327*)  und  S.  351. 

2)  Darüber  in  Hößli's  Eros  I  S.  IX;  S.  XVI;  S.  61;  S.  278; 
—  Eros  II  S.  53;  S.  212— 213;  S.  .225;  S.  263—264;  S.  279; 
S.  327*);  S.  351. 

3)  Eros  I  S.  XXIII— XXIV.       4)  Eros  I  S.  XXIX. 
6)  Eros  I  S.  XXV- XXVI. 


—    479    — 


Natur  geforderte,  reine,  einfache,  ewige,  unwandelbare, 
sittlich  berechtigte  Naturerscheinung  längst  erkannt. l) 

Diese  Natur,  die  gleichgeschlechtliche  Liebe,  kann 
als  Naturerscheinung  zum  Laster,  zum  Verbrechen  führen/2) 
braucht  es  aber  nicht  notwendig.  Solche  Eigenschaft 
hat  sie  mit  der  zweigesehlechtlichen  Liebe  gemeinsam 
und  ebenso  wie  diese  beruht  sie  auf  geschlecht- 
licher Anziehung.0)  Sie  ist  aber,  obschon  sie  ihre  Wur- 
zeln im  Erdreiche  hat,  auch  zugleich  gottlichen  Ursprungs 
und  sie  ist  vom  Schöpfer  für  höhere  Zwecke,  gleich  der 
zweigeschlechtlichen  Liebe,  bestimmt.4)  Dieserhalb  ist  sie 
auch,  wie  diese,  der  Veredlung,  der  Vergöttlichung,  der 
Idealisierung  nicht  nur  fähig,  sondern  bedürftig.6)  Die 
der  Männerliebe  zu  Grunde  liegende  Natur  zeigt  über- 
all sowohl  die  weiblichen  als  die  männlichen 
Hauptzüge  und  Eigenschaften  der  Seele  und 
des  Gemüts  mit  allen  ihren  mannigfachen 
Kräften  und  Stimmungen  in  sich  vereinigt,6) 
derart,  daß  die  bloß  äußerlichen  Kennzeichen 
des  Geschlechtes,  welche  für  die  Bezeich- 
nungen „Mann"  und  „Weib"  maßgebend  sind, 
für  das  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der 
Seele  nicht  den  Ausschlag  geben.7)  Genau  so 
wurde  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  von  Plato  und 
den  alten  Griechen  überhaupt  aufgefaßt  und  von  ihnen 
nach  Möglichkeit  veredelt,  vergöttlicht  und  idealisiert*) 
In  der  griechischen  Kunst  ist  auch  der  Gegenstand  der 
Männerliebe  durch  jungfräuliche  Männlichkeit,  die  nicht 
weibische  Mannheit  ist,  zur  Darstellung  gebracht9) 

Ganz  anders  in  der  Neuzeit  Alle  jene  Wahrheiten 
hat  man   völlig    vergessen    und  daher    müssen    sie    von 

»)  Eros  I  S.  35.  *)  Emu  I  S.  148;  II  S.  XV— XVL;  8.  240. 
•)  Eros  II  S.  XVI;  S.  35-86;  S.  295—296.  4)  Eros  U  S.  29—33. 
*)  Eros  II  S.  24—25.  •)  Eros  II  &  299-801.  *)  Eros  I  S,  44; 
II S.  16—53.  *)  Eros  I  S.  120;  II S.  194—195  u.  öfter,  ■)  Eros  H  S.  325. 


—    480    — 

neuem  bewiesen  werden.1)  Zwar  haben  in  neuerer  Zeit 
drei  deutsche  Schriftsteller,  von  Ramdohr,  Meiners 
und  Zschokke,  die  der  Neuzeit  dunkle  Sache  aufzu- 
klären versucht,9)  allein  ihre  Auffassungen  sind  nur  halb 
wahr  und  daher  auch  halb  unwahr.8)  Diese  unsere  Neu- 
zeit übersah  ganz  den  göttlichen  Ursprung  der  gleich- 
geschlechtlichen Liebe;  sie  vereitelte  den  Plan  des 
Schöpfers,  verhinderte  ihre  mögliche  Veredlung,  drückte 
sie  in  den  Sumpf  hinab  und  führte  sie  so  naturnotwendig 
zum  Laster  und  zum  Verbrechen  [bei  Desgouttes],  ent- 
göttlichte  sie,  anstatt,  gleich  den  Griechen,  sie  zu  ver- 
göttlichen.4) Individuen,  deren  äußere  Kennzeichen  als 
unzuverlässig  für  das  Geschlechtsleben  ihres  Leibes  und 
ihrer  Seele  sich  erwiesen,  gab  es  stets,  bei  allen  Völkern  und 
zu  allen  Zeiten, 6)  solche  gibt  es  auch  in  der  Gegenwart; 
von  ihrer  Gefährlichkeit  spricht  jedermann 
so  halblaut,  gerade  so  wie  unsere  in  Gott 
ruhenden  Väter  von  den  Hexen  geredet 
haben.6)  Man  kann  sie  nicht  nennen,  ohne  sie  zugleich 
dem  Verderben  durch  unsere  Henkersanstalt  preiszu- 
geben, und  man  ist  genötigt,  auf  Stimmen  und 
Zeugen,  die  derMenschheitsgeschichte  angehören, 
sich  zu  beschränken.7)  Als  solche  Stimmen  und  Zeugen 
führt  Hößli  in  42  Nummern,  fast  100  Seiten  füllend, 
Dichtungen  und  Aussprüche,  die  gleichgeschlechtliche 
Liebe  betreffend,  aus  allen  Zeiten  und  von  allen  Völkern 
stammend,  auf.8)  Indem  das  Christentum  die  Tatsache 
der  Unzuverlässigkeit  der  äußeren  Geschlechtskennzeichen 
übersieht,9)  bemüht  man  sich,  andere  Erklärungen  für 
die  Erscheinung,  die  man  weder  leugnen,  noch  aus  der 
Welt  schaffen  kann,  aufzufinden;  so  soll  die  Ursache  der 
gleichgeschlechtlichen    Liebe    bald    Schönheitssinn,   bald 

»)  Eros  I  S.  44.  2)  Eros  I  S.  275—280.  3)  Eros  I  S.  66. 
4)  Eros  I  S.  116—119;  S.  272.  B)  Eros  II  S.  43—44.  6)  Eros  II  S.  189. 
7)  Eros  II  S.  44;  S.  172.     8)  Eros  II  S.  53—150.    e)Eros  II  S.  161. 


—    481     — 


Ausartung,  bald  Willkür  oder  Selbstbestimmung,  bald 
bloß  griechische  Liebe  sein,  bei  uns  aber  weniger  oder 
gar  nicht  mehr  vorkomm  en,  bald  soll  sie  ein  Laster  wie 
andere,  bald  bloß  ein  Heldenlaster,  ja  selbst  Knaben- 
schändung sein :  allein  alle  diese  Erklärungsversuche  sind 
nur  untergeschoben1),  und  gegenüber  der  auf  geschlecht- 
licher Anziehung  beruhenden,  gegenüber  der  reinen, 
naturnot  wendigen,  der  Veredlung  fähigen  gleichgeschlecht- 
lichen Liebe  sind  sie  hinfällig. 

Au  und  für  sich  wäre  die  Liebe  zu  den  Lieblingen 
nicht  ein  so  bedeutender  Gegenstand,  daß  ein  dreibän- 
diges aufklärendes  Werk  über  sie  brauchte  geschrieben 
zu  werden;  allein  bei  deu  irrigen  Vorstellungen,  welche 
das  falsche  Christentum  der  Neuzeit  von  ihr  hat,  wird 
sie  dazu  gestempelt.2)  Der  Naturforscher,  der  Erforscher 
der  Wahrheit,  hat  nicht  danach  zu  fragen,  ob  durch  die 
erkannte  Wahrheit  und  ein  dieser  entsprechendes  Aufgeben 
falscher  Vorstellungen  geltende  Sitten-,  Natur-  und 
Hechts -Lehren  und  -Begriffe  in  Trümmer  fallen,  da  er 
nur  einen  Richter^  die  Natur,  über  sich  anerkennt j 
was  durch  Naturwahrheit  gestürzt  wird,  war  nicht  selbst 
Natur  und  kann  nur  durch  Vernichtung  der  unschuldigen 
Natur  mit  Gewalt  aufrecht  erhalten  werden. s)  Das  über 
die  Ausübung  der  gleich  geschlechtlichen  Liebe  gesetzte  Ge- 
richt unserer  Zeit  ist  die  größte  Unrechtsanstalt  auf  der 
ganzen  Erde;4)  Auch  ist  es  eine  unmenschliche  Scham,  zu 
glauben,  daß  ein  diesen  so  dunklen  Gegenstand  aufklärendes 
Buch  dem  Christentum  irgend  welchen  Schaden  stiften 
könne. &)  Wer  sich  Erzieher,  wer  sich  Lehrer  nennt  und  den 
nicht  kennt,  nicht  kennen  will,  den  er  erziehen,  den  er 
lehren  soll,  führt  einen  Spottnamen  und  ist  in  Wirk- 
lichkeit nur  Barbar  oder  HalbnieDschJ1) 


*)  Eros  II  S.  214—269.    *}  Eros  I  S.  96.     *)  Eros  I  S.  172—173. 
*)  Eros  I  S.  XXV.      fi)  Eros  I  S.  XXXII.    B)  Eros   II  S,  274—575, 
Jahrbocb  V,  31 


—    482    — 

Hößli  gibt  im  2.  Bande  des  „Eros"  1838  seiner  be- 
sondern Befriedigung  darüber  Ausdruck,  daß  er  in  dem 
1837  erschienenen  Drama  „Die  Freunde*  von  Wiese 
schon  so  bald  nach  Ausgabe  seines  1.  Bandes  (1836)  eine 
Unterstützung  seiner  Bestrebungen  fand.1) 

Ich  lasse  nun  eine  einfache  Inhaltsübersicht 
des  Eroswerkes  folgen,  welche  den  Besitzern  desselben 
gewiß  nicht  unwillkommen  sein  wird,  da  eine  solche  dem 
Werke  fehlt  und  Gesuchtes  ohne  solche  nicht  leicht  auf- 
findbar ist. 

Inhalt  des  ersten  Bandes: 

Dem  Schutzgeist  des  menschlichen  Geschlechts  S.  V  —  X. 

Einleitende  Worte  als  Vorrede  S.  XI  —  XXXIX. 

Erster  Abschnitt:  Hexenprozeß  und  -glaube,  Pfaffen  und 
Teufel  als  würdiges  Seitenstück  zu  dem  Wesen  unserer  Meinungen 
und  Begriffe  vom  Eros  der  Griechen,  wie  er  in  seinen  Folgen  und 
Einflüssen  mitten  in  unserm  Leben  waltet  S.  1 —  (274  statt)  30. 

Zweiter  Abschnitt:  Wahn  und  Wahrheit,  Aberglaube  und 
Unwissenheit,  unsere  Meinungen  und  Begriffe  vom  Eros  der  Grie- 
chen, unser  Irrglaube  an  eine  Zuverlässigkeit  der  äußeren  Kenn- 
zeichen im  Geschlechtsleben  des  Leibes   und  der  Seele    S.  31 — 72» 

Dritter  Ab  schnitt:  Deutungen  des  Charakters  der  Mensch- 
heit zu  allen  Teilen  und  Bestimmungen  ihrer  geistigen  und  leib- 
lichen Natur  S.  73—92. 

Vierter  Abschnitt:  Nähere  Bezeichnungen  und  Bestimmun- 
gen der  Aufgabe  dieses  Buchs  und  des  Unterschieds  zwischen  uns 
und  den  Griechen  in  Betreff  des  Eros,  oder  der  Natur,  der  An- 
sichten und  der  Behandlung  der  Liebe  zu  den  Lieblingen,  wie 
unseres  Glaubens  an  eine  (nicht  vorhandene)  Zuverlässigkeit  der 
äußern  Kennzeichen  im  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der  Seele, 
in  sittlicher,  moralischer  und  anthropologischer  Hinsicht  und. Be- 
ziehung S.  93—112. 

Fünfter  Abschnitt:  Das  Wesen  der  menschlichen  Ge- 
schlechtsliebe  (Erfahrungen  und  Glaubensbekenntnis)   S.  113 — 154. 

Sechster  Abschnitt:  Natur  S.  155—174. 

Siebenter  Abschnitt:  Plato  S.  175—192. 


*)  Eros  II  S.  327**). 


—     483     — 


Achter  Abschnitt;  Leb  od  und  Wissenschaft  der  Griechen 
in  der  Idee  der  Manne rliebe  und  die  spateren  Zeiten  außer  derselben 
S.  193—238. 

Neunter  Abschnitt:  Unsere  Schriften  und  Schriftsteller 
über  die  Liebe  des  Plato,  welche  Keeultate  geben  sie  uns,  was 
leisten  sie  uns  ftlr  das  Studium  der  Griechen,  des  Geschlechtslebens 
und  des  Eres  und  was  die  Schriften  der  Alten  für  Wissenschaft  und 
Leben?  S.  239—304. 

Verbesserungen  (Druckfehler)  2  Seiten. 

Inhalt  des  zweiten  Bandes: 

Verb  ess  er  un  gen  ( D  ruc  kie  hl  er) . 

Einleitende  Worte  als  Vorrede  und  Fortsetzung  derjenigen  im 
ersten  Band  S.  I— XXXIL 

Erster  Abschnitt:  ')  Die  Zuverlässigkeit  der  äußern  Kenn- 
zeichen im  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der  Seele  ist  Wahn; 
platonische  liebe  nach  unsern  Begriffen:  ein  Hirngespinst;  die 
Männerliebe  der  Griechen ;  reine  und  unwandelbare  Natur  S,  1—352, 

Stimmen  und  Zeugen:  1.  Bejli  Hassan  S.  53—65;  — 
2.  Flavins  Philostratus  S.  55—56;  —  3,  Des  persischen  Dichters 
Sadi  5  Blumen  S,  56 — ö7;  —  4,  Bora«  S.  58;  —  5.  Hiero,  Simonides  u, 
Xenophon  S.  59—61;  —  (J,  Griechische  Antholog-ie  S,  61—64;  — 
7.  Agesilmis  und  Xenophon  S.  64—66 ;  —  8.  Zeugnis  der  männlichen 
Liebe  aus  Persien.  Sechs  Dichtungen,  verdeutscht  von  v.  Hammer 
g,  &J—71 ;  _  9.  Xenophon  iindSokrates  S.  71—73;  —  10.  Apollodor 
S.  74;  —  11.  Vakrius  Maximus  und  Ephialtes  S.  74—75;  —  12. 
Mo  ha  med  Ferdi  (aus  dem  Türkischen  übersetzt  von  Thomas  Seh  aber  t) 
S.  75—78;  —  13.  ÄJistotele*  S.  78;  —  14.  Sokrates  und  Plato 
S«  79;  —  15.  Monla  Abdul  Latifi  mit  Schejch  Elwan  SchJrasi 
SP  79—80,  Ssubhi  (Brussa)  8.  80—81  und  Bassiri  (Herat)  S.  81—82: 
16.  Anakreons  Grab  S,  82 — 88;  —  17.  Schejch  Husch eni,  3ftad| 
Tachelebi  und  Äsaji  S.  88—93;  —  18.  Der  Di  van  des  Mahomed 
Scherased-Din  Hafis  (nach  v.  Hammer)  S.  93—95;  —  19.  Tibidla  4. 
und  9+ Elegie  S. 95— 99;  —  20,  Erasistratua  undPlutaroh.S.  99—101; 
—  21,  Perikles,  Sophokles  und  Valerius  Muxiinus  S.  105;  —  22. 
v.  H  aminer' s  Zueignung  des  persischem  Divans  an  den  Grafen 
V,  Harrach  und  drei  von  ihm  Übersetzte  Oden  aus  demselben 
S.  105—109;  —  2B,  Plato  und  sein  Zeitalter  5.  109—110;  —  24, 
Arian,  Alexander  und  Aelian  S.  110—112;  —  25,  Xenophon  (Ana- 


l)  4Dpr   *  weile   Band    ersehe  lju   durch  Zufall   nicht  in  bCMOd/BBS  Abschnitt« 
St?ürdjiLa.u     HöflK:  Erua  IL   S.  44, 

31* 


—    484     — 

basis  2.  VI)  S.  112—114;  —  26.  Sadi  (Rosengarten,  nach  v.  Ram- 
dohrs  Venus  Urania  IV.  S.  25)  S.  114—115;  —  27.  Virgil  (zweite 
Ekloge)  S.  116—118;  —  28.  Lucian  im  Eingang  seines  Gespräches : 
Das  Schiff  oder  die  Wünsche  S.  118—121;  —  29.  Ishak  Tschelebi 
S.  121—122,  Ussuli  S.  123  nnd  Affitabi  S.  123—124;  —  30.  Ahmed 
Pascha  S.  125—126;  —  31.  Theokrits  siebente  Idylle  S.  126—129; 
—  32.  Antinous  und  Hadrian  S.  129;  —  88.  Morgenländischc 
Stimmen  und  Zeugen  der  platonischen  liebe  S.  129—131 ;  —  34.  Die 
Insel  der  Liebe  (von  Herder  aus  dem  griechischen)  S.  132;  —  35. 
Griechische  und  römische  Geschichte  (Aelianus  und  Athenäus)  S.  132 
bis  133;  —  36.  F.  W.  B.  von  Ramdohr,  über  die  Natur  der  Liebe, 
über  ihre  Veredlung  und  Verschönerung.  3.  Bandes  1.  Abteilung, 
12.  Kap.  S.  134—135;  —  37.  Persische  Stimmen  und  Zeugen  S.  135 
bis  136;  —  38.  Theokrits  Idyllen  S.  136—141;  —  39.  Ahmed 
Daji,  Dichter  aus  dem  Lande  Kermjan  in  Kleinasien  S.  141;  —  40. 
Xenophon  im  Symposion  S.  141 — 143;  —  41.  Durch  v.  Hammer 
tibersetzte  kleine  orientalische  Dichtungen  S.  143 — 148;  — 
42.  Plutarch  S.  148—150. 

Die  Männerliebe  der  Griechen  war  weder  A:  Schön- 
heitssinn S.  215—219,  noch  B:  Seelenliebe  S.  219—224,  noch  C: 
Ausartung  S.  224—226,  noch  D:  Willkür,  Selbstbestimmung  S.  226. 
bis  234,  noch  E :  bloß  griechische  Liebe  S.  234—287,  auch  ist  sie 
F:  nicht  bei  uns  weniger  oder  gar  nicht  vorhanden  S.  237—239, 
noch  G:  ein  Laster  und  Verbrechen  wie  andere  S.  239 — 264,  noch 
H:  bloß  ein  Heidenlaster  S.  264,  noch  I:  Knabenschändung 
S.  264—269. 

Für  den  dritten  Band   des  „Eros"   waren  außer  der 

Leidensgeschichte  Desgouttes'  von  Hößli  die  folgenden 

fünf  Kapitel  geplant: 

1.  Die  Bedeutung  und  Heiligkeit  der  Geschlechtsnatur,  physisch, 
psychisch  und  intellektuell,  die  innerhalb  ihrer  Schranken  möglichen 
Gefahren  und  Entwürdigungen  und  was  an  ihr  zu  bilden  oder  zu 
zerstören  ist  (nach  Eros  II.  S.  XH  und  S.  XV). 

2.  Die  besondere  gleichgeschlechtliche  Geschlechtsnatur,  jetzt 
unterdrückt  und  verwahrlost,  bleibt  trotzdem  vorhanden  und  ab- 
solut wirksam  (nach  Eros  IL  S.  343—344). 

3.  Der  große  und  unabwendbare  Einfluß  des  jetzt  verworfe- 
nen Teils  der  Geschlechtsliebe  (der  gleichgeschlechtlichen)  auf  alle 
Gebiete  des  Lebens  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  körperlichen 
Punkt  (nach  Eros  II  S.  VII  UDd  S.  346—347). 


,    !  ' 


—     485    — 


4.  Verfiittlichiing  der  Mann  erliebe ;  der  Lichtkreis,  in  welchem 
□hb  künftig1  alles  Rätselhafte,  Rechtliche  und  Unrechtliche,  Sittliche 
und  Unsittliche,  kurz,  der  ganze  Geist,  die  Moral  und  Idee  des  Eros 
und  der  Lehren  des  Flato  aufgehen  wird  (nach  Eros  II  S.  XXHI 
und  S.  342—343), 

5.  Was  hat  die  Religion  aus  dem  Eros  zti  machen  und  die 
diesem  Versuche  zu  widersprechen  scheinenden  Bibelstellen  (nach 
Eros  U  S.  351*). 

2.  Entstehung,  Werdegang  und  Schicksal  des  „Eros". 
Als  Heinrich  Hüßli  1817  bei  Bekanntwerden  der 
Ermordung  des  unglücklichen  Bure  au  Schreibers  Daniel 
Hemmeier  durch  die  Hand  des  nicht  minder  un  glück  liehen 
Rechtsagenten  Dr.  jur.  Franz  Desgouttes  in  Langenthai 
die  „Fesseln  dieser  Zeit  um  seinen  Geist*  sich  lösen  fühlte, 
war  er  33  Jahre  alt,  schon  6  Jahre  Ehemann  und  bereits 
Vater  seiner  beiden  begabten  und  später  so  unternehmungs- 
lustigen Sohne  geworden.  In  seinem  überaus  empfäng- 
lichen, allem  Unrecht  abholden  Gemüt e  verschmolz  mit 
dem  lodernden  Zorne,  in  welchen  er  durch  den  ihm 
überall  entgegentretenden  Mangel  an  Erkenntnis  der 
Natürlichkeit  und  Naturnotwendigkeit  der  gleich- 
geschlechtlichen Liebe  geriet,  der  Unmut  über  den 
von  der  Geistlichkeit  seines  Landes  geduldeten,  wenn 
nicht  gar  genährten  Aberglauben  an  Hexen,  deren  letzte, 
Anna  Göldin,  in  Heinrichs  Geburtsbause  zu  Glarus  ge- 
lebt hatte  und  kurz  vor  seiner  Geburt  durch  Menschen- 
hand vom  Leben  zum  Tode  gebracht  worden  war,  zu 
einer  in  seiner  Seele  gewaltig  kochenden  Empörung.  Die 
völlige  Verstandnislosigkeit  seiner  Zeitgenossen  für  das 
nach  seiner  Ueberzeugung  auf  der  gleichen  Stufe  mit 
der  zweigescblechtlichen  Liebe  stehende  Problem  der  Liebe 
zu  den  Lieblingen  war  im  Falle  Desgouttes  wieder  einmal 
grauenvoll  an  das  Tageslicht  getreten.  Hößli  zermarterte 
sein  Gehirn  mit  dem  Versuche,  io  unwiderleglicher  Dar- 
stellung der  Welt  zu  zeigen,  wie  sie  in  Hinsicht  ihrer 
Verfolgung      der     Erscheinungen     gleich  geschlechtlicher 


—    4«6    — 

Liebe  noch  völlig  demselben  finstern  Aberglauben  ver- 
fallen, in  einer  analogen  Wahnidee  befangen  sei,  wie  die 
Welt  des  früheren  Jahrhunderts  bezüglich  der  Hexen. 
Aber  noch  fühlte  Hößli  sich  nicht  reif  für  ein  wirksames 
eigenes  Unternehmen,  noch  fehlte  ihm  die  Kraft,  ein 
Werk  zu  schaffen,  das  um  ein  Jahrhundert  den  Zeit- 
genossen vorauseilen  sollte,  noch  vermochte  er  nicht, 
seine  Gedanken  so  zu  sammeln  und  zu  sichten.  Es  kam 
ihm  der  Einfall,  einen  seiner  Meinung  nach  würdigeren 
Mann,  als  er  selber  war,  zum  Mundstück  seiner  Ideen 
zu  gewinnen.  Er  schrieb  nun  einen  Aufsatz  „über  Ge- 
schlechtsverhältnisse* nieder  und  suchte  1819  Heinrich 
Zschokke  in  Aarau  auf,  um  ihn  außer  durch  Uebergabe 
seines  Aufsatzes  auch  mündlich  zum  Schreiben  über  seine 
Idee  für  den  Druck  anzuregen.  Der  damals  als  Lehrer 
der  Philosophie  in  Luzern  tätige,  Hößli  befreundete 
Trox ler1)  übernahm  es,  Hößli  bei  seinem  Duzfreunde 
Zschokke  einzuführen;  Abends  spät  traf  er  mit  Hößli  in 
Aarau  ein  und  beide  suchten  noch  am  selben  Abend 
Zschokke  in  dessen  Landhause,  der  Blumenhalde,  auf. 
Schon  im  Gange  rief  Troxler  seinem  Freunde  Zschokke 
seinen  Gruß  entgegen  und  fügte  hinzu:  „Ich  bringe  Dir 
hier  einen  halben  Gelehrten,"  worauf  dann  Zschokke 
schlagfertig  erwiderte:  „Entweder  ist's  ein  ganzer  Ge- 
lehrter oder  ein  Narr!"  Von  dem  Empfange  bei  Zschokke 
teilt  Hößli  in  seinem  „Eros*2)  mit,  daß  jener  ihn  als  Fremd- 
ling mit  großer  Güte  und  Gastfreundschaft  aufgenommen 
und  behandelt,  auf  seine  Ansicht  hingegen,  seiner  eigenen 


2)  Ignaz  Paul  Vital  Troxler,  geb.  11.  Aug.  1780  zu  Münster 
im  Kanton  Luzern,  wurde  von  Jesuiten  erzogen,  widmete  sich  kurze 
Zeit  der  praktischen  Medizin,  ergab  sich  dann  ganz  seiner  Lieblings- 
wissenschaft, der  Philosophie,  und  war  nacheinander  Lehrer  der- 
selben in  Luzern  und  Basel  und  Professor  der  Philosophie  in  Bern. 
Seine  „Metaphysik"   hat  Heinrich  Hößli  in  seinem  „Eros"  benutzt. 

2)  Hößli:    Eros  I  S.  278. 


487 


vielen  allbekannten  Arbeiten,  Amtsgesehäfte  und  Lieb- 
lingsforsehungen  wegen,  äußerst  wenig  Zeit  verwendet 
habe.  Als  Zschokke's  sehnliehst  erwarteter  „Eros"  1821 
erschien,  sah  Hößli  eich  um  so  bitterer  getäuscht,  je  mehr 
er  sich  von  ihm  versprochen  hatte;  er  erkannte  voll- 
kommen die  Vergeh liehkeit  seines  Schrittes.  „Ihm  be- 
wies ich"  —  heißt  es  in  Hoßli's  handschriftlichem  Nach- 
lasse —  „mit  meiner  Reise  und  Mittheilung  die  größte 
Achtung,  das  größte  Zutrauen,  eigentliche  Verehrung  .  *  . 
In  meinem  Aufsatz  hat  es  ganz  offenherzig  Desgouttes 
geheißen,  was  Herr  Zschokke  in  Lucasson  verwandelte  ♦  .  . 
Ich  erstarrte  gleichsam  über  diese  Schrift  (Eros),  in  der 
Holmar  meistens  meine  eigenen  Worte  ausspricht  —  da- 
mit die  Anderen  ihn  widerlegen  können,  verlor  meinen 
Glauben  an  Mensch  und  Wahrheit  —  und  nahm  mir  vor, 
zu  schweigen  und  zu  sterben.  —  Jahre  vergingen  und 
nun  rufen  Stimmen  von  außen  und  innen  .  .  ,  Die  männ- 
liche Natur  und  Liebe  —  nicht  entmannte  —  in  solcher 
Gestalt  tb eilte  ich  meine  Idee  Herrn  Zschokke  mit  und 
vorn  in  seinem  Gespräch  scheint^  als  wolle  er  nichts 
Castriertes  zum  Besten  geben  —  aber  auf  einmal  muß 
das  Geschlechtliche  weg  und  das  Verstümmelte  an  dessen 
Stelle,  aber  da  erkenne  ich  meine  Wahrheit  in  Herrn 
ZschokkeJs  Gewand  nicht.'* 

Um  den  ganzen  In  grimm  Hoßli's  gegen  Zschokke's 
Schändung  seiner  Eros-Idee  zu  verstehen,  müssen  wir 
Zschokke  selbst  zu  Worte  kommen  lassen. 

Heinrich  Zschokke's  Novelle  „Der  Eros  oder  über 
die  Liebe*  kennt  von  uraischen  Liebespaaren  Dämon  uud 
Pythias,  Achilles  und  Patroklus,  Orestes  und  Pylades, 
Theseus  und  Pirithous,  Harmodius  und  Aristogiton, 
Epaminondas  und  Kaphisodor,  Sokrates  und  Alcibiades, 
Jonathan  und  David,  Jakob  I,  von  England  und  Bucking- 
hanij  Lucasson  und  Walter  (erdichtete  Namen  für  Franz 
Desgouttes  und   Daniel  Henimeler);  von  Urningen  macht 


I 


—    488    — 

die  Schrift  namhaft:  Heinrich  III.  und  Ludwig  XIII. 
von  Frankreich,  Pabst  Julius  IL  und  Lord  Byron. 
Bei  vielen  schiefen  Auflassungen  erscheint  als  wichtigste 
Stelle  der  Passus  »Menschenkenner"1),  welcher  als  eine 
Art  Selbstbekenntnis  Zschokke's,  zum  mindesten  aber  als 
ein  Bekenntnis  Zschokke'scher  Auffassung  des  Uranismus 
anzusehen  ist.  Hier  erklärt  er  die  Liebe  zwischen  Per- 
sonen einerlei  Geschlechts  für  eine  Zauberei,  mit  welcher 
der  vermummte  Amor  ein  Herz  schlagen  macht,  das  sich 
selbst  noch  nicht  versteht;  es  gebe  wohl  wenige  Männer 
von  gefühlvoller  Gemütsart-,  welche  nicht  auch  als 
Knaben  von  irgend  einem  andern  hübschen  Knaben 
stärker  denn  von  allen  andern  sich  angezogen  fühlten 
und  diesem  mit  einer  fast  leidenschaftlichen  Zuneigung 
anhingen,  welche  sie  nachher  nie  wieder  in  dieser  Art 
gegen  Personen  ihres  eigenen  Geschlechts  em- 
pfänden. Er  erinnere  sich  eines  solchen  Zuges  aus 
seinem  eigenen  Kindesalter.  Daher  stamme  die  lange 
bleibende  Sehnsucht  nach  einem  Freunde,  wie  man  ihn 
sich  gern  träumt  und  nie  findet,  besonders  im  Ungestüm 
der  Jünglingsjahre,  wo  mancherlei  Verhältnisse  noch  vom 
nähern  Umgang  mit  Frauenzimmern  entfernt  halten  oder 
noch  keine  weibliche  Schönheit  den  Sieg  über  uns  errang. 
Daher  die  überspannten  Begriffe  sowohl  bei  jungen 
Männern  als  bei  Jungfrauen,  welche  sie  von  der  wahren 
Freundschaft  zwischen  Personen  einerlei  Ge- 
schlechts hegten.  Die  mancherlei  Verhältnisse  aber, 
welche  vom  nähern  Umgang  mit  Frauen  entfernt  halten, 
sind  nach  ihm  diese:  Der  wildere  Knabe  spiele  am  liebsten 
mit  seines  Gleichen  und  plage  das  kleine  Mädchen,  weil 
es  immer  etwas  voraus  haben  wolle  oder  weine.  So 
bleibe  er  immer  von  diesem  entfernt;  als  werdender  Jüng- 


J)  Zschokke: 
451  Fußnote. 


Der  Eros,   Ausgabe    1843,  S.  281—284,   siehe  S. 


489     — 


ling  nicht  minder,  denn  teilweise  reife  er  viel  später  ab 
die  Jungfrau,  teils  zerstreuten  ihn  Anstrengungen  und 
Arbeiten  auf  dem  Felde,  in  den  Werkstätten,  in  den 
Schulstuben.  Und  wann  im  Jüngling  die  dunkle  Sehnsucht 
des  Herzens  heller  werde,  trete  er  scheu  vor  dem  andern 
Geschlecht  zurück,  sei  es,  weil  ihm  der  Zwang  lästig  sei, 
welchen  er  seiner  ungebundenen,  noch  knabenhaft-rohen 
Art  in  Gegenwart  fein  gesitteter  Frauenzimmer  auflegen 
müsse;  oder  weil  er  im  Gefühl  einer  gewissen  Unbeholfen- 
heit, die  dem  Alter  eigen  sei,  welches  Jean  Paul  das  der 
Flegeljahre  heiße,  blöde  und  scheu  dastehe;  oder  weil  er 
stark  und  besonnen  genug  sei,  zu  begreifen,  daß  er  auf 
seiner  erwählten  Lebensbahn  noch  mit  keinem  Ernste  an 
irgend  eine  Liebe  denken  dürfe;  oder  weil  ihm  bei  seiner 
eigentümlichen  Sinnesart  der  Umgang  mit  Weibern, 
wie  sie  ihm  bisher  erschienen,  nicht  zusage.  Während 
so  vom  andern  Geschlecht  mehr  oder  minder  willkürlich 
sein  Herz  entfernt  bleibe,  verstumme  die  Stimme  der 
Natur  in  diesem  Herzen  nicht  Sie  rede  der  Freund- 
schaft das  Wort  für  irgend  einen  Liebling  und  erhöhe 
diese  mit  Leidenschaft  zu  irgend  einer  Schwärmerei,  von 
deren  Ursprung  es  sich  selbst  nicht  Rechenschaft  zu 
geben  wisse.  Je  entschiedener  und  standhafter  die 
Denkart  des  Mannes  sei,  um  so  dauerhafter  werde 
seine  Neigung;  je  weniger  befriedigend  diese  neben  seiner 
ewigen  Sehnsucht  stehe,  um  so  stürmischer,  alles  über- 
wältigend werde  die  Zuneigung,  welche  zuletzt  sein  ganzes 
Wesen  so  verzehre,  wie  die  unglückliche  Liebe  eines 
W  e  r  t  h  e  r  oder  S  i  e  g  w  ar  t  oder  eines  Mädchens  ver- 
zehrend werde,  das  hoffnungslos  um  den  Geliebten  seufzt. 
Wenn  es  bei  uns  in  Europa  möglich  sei,  daß  junge 
Männer  von  der  Sehnsucht  ihrer  von  ihnen  selbst  ver- 
gessenen Natur  sich  irre  führen  lassen:  um  wie  viel 
leichter  sei  es  im  alten  Griechenland  gewesen,  wro  die 
Scheidung    beider    Geschlechter    schärfer    als     bei    uns 


—    490    — 


gezogen  gewesen  wäre;  dort  hätten  mehr  und  längere 
Zeit  als  bei  uns  Männer  ausschließlich  mit  Männern 
gelebt;  in  Werkstätten,  Schauspielen,  Bädern,  auf  Märkten 
und  Feldzügen  hätten  sie  meistens  nur  sich  gesehen, 
während  die  Weiber  in  den  Gynäceen  verschlossen  mit 
Vätern,  Brüdern,  Verlobten  und  Ehemännern  umgingen. 
Alle  Wissenschaft,  alle  Kunst,  alle  geistige  Bildung  sei 
das  Gut  des  Mannes  gewesen,  während  das  Weib  auf 
das  Treiben  im  engen,  häuslichen,  ruhmlosen  Leben  und 
auf  die  Kunst  des  Putzes  beschränkt  geblieben  sei.  Daher 
hätte  sich  früh  die  Achtung  des  Mannes  dem  Mann  zu- 
gelenkt, während  das  durch  die  bürgerlichen  Ordnungen 
stiefmütterlich  versäumte  Weib  selten  oder  nie  durch 
Hoheit  des  Gemütes  und  durch  Reichtum  geistiger 
Bildung  bleibendes  Wohlgefallen  hätte  erregen  können. 
Die  vergängliche  Schönheit  der  Jungfrau,  ihr  schwäch- 
liches Wesen  seien  des  helden sinnigen  Griechen  und 
seiner  Leidenschaft  für  Ruhm  und  Vaterland  unwert 
gewesen.  Seine  Neigung  hätte  sie  daher  nur  auf  kurze 
Zeit  und  nur,  weil  sie  Weib  war,  fesseln  können.  Dauer- 
hafter und  genußreicher  hätten  die  Freundschaften  der 
Männer  unter  einander  sein  müssen,  oft  durch  gegenseitige 
Hülfe,  oft  durch  gleiche  staatstümliche  Ansichten,  bürger- 
liche Bestrebungen  und  andere  Interessen  gestärkt.  Denke 
man  sich  noch  hinzu:  die  Schwärmerei  der  Jugend,  das 
Fernstehen  vom  weiblichen  Geschlecht,  den  Zauber  des 
Schönen  für  den  allem  Schönen  aufgeschlossenen  Sinn 
des  Griechen.  Es  sei  nicht  zu  leugnen,  daß  im  Antlitze 
eines  schönen  Jünglings  wreit  seelenreichere  Züge  sprächen 
und  mehr  Heldenmut,  Hochgefühl,  Zärtlichkeit  und 
Schwärmerei  uns  darin  anrede,  als  im  Gesicht  des  schönsten 
Mädchens,  weil  jener  schon  früh  seine  Leidenschaft  offen 
spielen  lasse,  die  dann  seinen  zarten  Mienen  die  ersten 
Spuren  eingrabe,  während  das  Mädchen  mit  sittiger 
Klugheit  ihr  Innerstes  verhehle  und  gerade  das  Gesicht, 


—    491     — 


statt  zum  Spiegel,  nur  zum  Schleier  ihres  Gemütes 
mache*  Die  erste  Liebe  des  Jünglings  und  der  Jung- 
frau sei  in  ihrem  Streben  heilig,  alles  vergütt  behend 
und  voll  Grauen  vor  roher  Tierheit,  Anschauung 
und  schweigende  Anhetung  und  ein  beseligendes  Er- 
widern des  liebebekennenden  Blickes  seien  ihnen  höch- 
ster Genuß ;  der  bloße  Gedanke  an  einen  Kuß  sei 
schon  Entweihung  und  frevelvolles  Vergehen  am  Heilig* 
tum.  Diese  gegenseitigen  Vergötterungen  zweier  Lie- 
bender hätte n  ihren  Ursprung  im  allgewaltigen  Gebot  der 
Natur,  deren  Zepter  alle  beseelten  Geschöpfe  wissend 
oder  unwissend  gehorchten.  Plato,  Xenophon  und  Plutarch, 
die  Gesetzgeber  und  die  Dichter  Griechenlands  erwiesen 
die  angebliche  Heiligkeit  ihres  Eros  unverkennbar  als 
Selbsttäuschung.  Er  entspringe  bei  Einzelnen  wie  bei 
Völkern  zwar  aus  der  Verirrung  des  Naturtriebes;  doch 
sei  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  rein  und  erhaben,  wie 
immer  die  erste  und  wahrhafte  Liebe;  aber  zuletzt  gehe 
bei  Einzelnen  und  Völkern  diese  Liebe  ekelhaft  aus. 
Alle  Weisen  hätten  die  herrsehenden,  selbst  üblen  Sitten 
ihrer  Nation  nur  mit  sorgsamer  Umsicht  berührt  und, 
wenn  sie  nicht  hoffen  konnten,  dieselben  auszurotten,  nur 
getrachtet,  dieselben  vom  Unflat  zu  reinigen  und  zu 
adeln,  oder  sie  zu  Stützen  und  Unterlagen  des  Edlern 
zu  machen.  Je  länger  er  über  diesen  Gegenstand  denke, 
je  schauderhafter  sei  ihm  der  Gedanke,  Griechenlands 
Gesetzgebung  in  dieser  Hinsicht  zum  Muster  zu  nehmen. 
Über  solchen  „Verrath*  konnte  Hößli  sich  nicht  be- 
ruhigen; sein  handschriftlicher  Nachlaß  enthalt  darüber 
blind  ige  Belege:  „Hätte  Herr  Zschokke  damals  nur  seinen 

Hol  mar  und  nicht  alles  reden  lassen es  gilt  hier  nicht 

einen  Menschen;  es  gilt  hier  tausend  und  tausend  Men- 
PC  1  le n dasein  und  eine  unumwundene,  schlichte,  einfache, 
nicht  gekräuselte  Wahrheit,  unabänderliche,  feste,  ewige 
Naturerscheinung  und    nicht    eine    in    allen  Fahnen    und 


—    492    — 

Fähnchen  gezierte  Meinung,  es  gilt  tausend  und  aber- 
mal tausend  Menschendasein  .  .  .  Ich  wage  nicht  zu  sagen, 
daß  die  Liebe  eine  Krankheit  sei,  wage  auch  nicht  zu 
behaupten,  daß  sie  keine  sei  —  doch  ist  sie  eine  gebä- 
rende Gährung  der  menschlichen  Wesen  —  sie  ist  eine 
gewaltsame,  in  unsrer  Natur  wirkende  Kraft  und  es  wird 
wohl  kein  Moment  im  Kreislauf  des  Menschenlebens 
geben,  in  dem  alles  Innere  der  Menschennatur  sich  le- 
bendiger offenbarte,  als  in  der  Liebe  —  mögen  wir  sie 
für  Krankheit  oder  für  Gesundheit  halten,  und  darum  ist 
die  Liebe  zu  kennen  auch  von  dieser  Seite  wichtig  .  .  . 
Ich  theilte  früher  meine  Ansicht  dem  Verfasser  mit,  und, 
wie  es  scheint,  hat  er  solche  seinem  Holmar  in  der  Ab- 
sicht, mich  zu  widerlegen,  in  den  Mund  gelegt;  und  doch 
sind  Holmar's  Reden  die  Wahrheit  und  diese  zu  suchen 
und  retten  zu  wollen  ist  Menschenpflicht  und  Menschen- 
beruf, da  allervörderst,  wo  es  unmittelbar  um  die  Rettung 
oder  die  Schändung   von    tausend  Mitmenschen    zu  thun 

ist.  — Meine  Idee sie  ist   mein  Kind,   von 

den  innersten  Falten  des  Lebens  habe  ich  sie  geboren, 
ohne  ihr  damals  Obdach  und  Kleidung,  Heimath  und 
Pflege  zu  wissen;  das  arme  Kind  trug  ich  mit  Vertrauen 
und  Thränen  zu  ihm  —  aber  er  entließ  es  zur  unglück- 
lichen Schaar  der  Heimatlosen  —  nackend  und  kalt  .  .  . 
wäre  Holmar  je  einer  gewesen,  so  wäre  er's  noch  und 
wäre  er's  jetzt,  so  wäre  er's  Immer  gewesen  .  .  .  daß 
er  es  noch  bis  zu  diesem  Verrath  fortsetze,  das  habe  ich 
nicht  gedacht  —  aber  Z.  gewiß  auch  nie,  wie  gleichgül- 
tig er  mir  ist  dieser  Verrath  —  und  wie  zwecklos  von 
ihm  —  denn  gesetzt,  ich  sei  selbst  —  oder  ich  sei  es 
nicht  —  so  gleich  als  zwei  Wassertropfen  —  so  gleich 
wie  blondes  oder  schwarzes  Haar  u.  s.  w." 

Indem  Hößli  sich  diese  Gleichgültigkeit  einredete, 
brachte  er  es  fertig,  an  Zschokke  nachfolgendes  Schreiben 
zu  entwerfen: 


—    493    — 


„Glarus  im  Juny  1826, 

„Verehruugs würdiger  Herr! 

„Ich  habe  vor  etlichen  Jahren  meine  Freude,  Sie 
kennen  gelernt  zu  haben,  meinem  Freunde,  dem  Herrn 
Pfarrer  Speich,  nicht  verborgen.  Er  kommt  jetzt,  im 
Begriff,  nach  Aarau  abzureisen,  zu  mir,  daß  ich  ihn 
Ihnen  empfehlen  möchte,  wenn  Sie  ihm  ßath  geben 
könnten,  eine  Pfründe  in  Ihrem  Canton  zu  erhalten, 
seine  hiesige  beträgt  nur  f.  350,  was  zu  wenig  ist  Wenn 
er  nicht  so  still  und  recht  und  fromm  sein  ganzes  bis- 
heriges Leben  seiner  jetzigen  Gemeinde  gewidmet  hätte 
ohne  Tadel,  so  würde  ich  gewiü  nicht  wünschen,  daß 
Sie  ihm  Rath  ertheilen  möchten.  Er  hat  mich  über- 
rascht, ich  weiß  ihm  jetzt  nicht  zo  entgehen,  kein 
schicklicher  Vor  wand  stellt  sich  mir  dar,  so  verwegen 
es  ist,  Ibnen  nach  Ihrem  letzten  Schreiben  wieder  mit 
einem  Briefe  beschwerlich  zu  sein.  Vergeben  Sie  mir! 
Es  soll  Jahre  lang  nicht  wieder  geschehen  .  .  .  .  und 
hier  noch  das  allerletzte  Wort  des  Eros  halber  »  .  .  . 
Vor  etlichen  Monaten  erst  habe  ich  zu  meinem  Er- 
staunen eingesehen,  daß  ich  geradezu  eine  Sache  ver- 
theidigtc,  deren  Dasein  in  der  Natur  ich  mir  be- 
weisen wollte,  ich  bin  mit  sammt  der  Thür  ins  Haus 
gerannt,  dunkel  ahnend,  daß  Gutes  lieber  gehört  werde 
als  Böses,  und  schöner  sei,  dem  Guten  das  Wort  zu 
reden  als  dem  Bösen  u,  s.  w,  —  so  ist,  was  ich  schrieb, 
eine  Art  Apologie  geworden,  mit  der  ich  mir  Ihr 
Schreiben  zugezogen  habe.  Piaton  beschreibt  genau 
die  Natur  der  Männerliebe,  er  schildert  und  glaubt 
sie,  wie  ich  sie  geschildert  habe  und  ewig  glauben 
muß?  aber  der  göttliche  Plato  lehrt,  wie  das  Thierische 
dieser  Natur  überwunden  werden  soll  —  er  will  for- 
schen, er  will  reinigen,  bilden,  gerecht  sein,  erziehen, 
erheben,   nicht    ersticken,    nicht  wegwerten,    nicht   un- 


—    494    — 

gehört  verdammen,  nicht  verwahrlosen;  wirkliche  Na- 
turen, die  unter  seinen  Augen  stehen,  nicht  leugnen, 
ihnen  sagen:  «Ihr  seid  nicht,"  aber  wie  durch  des 
Geistes  Macht  sie  sich  vom  Staub  erlösen  sollen, 
lehrt  sie  sein  himmlischer  Geist,  der  es  nicht  könnte 
und  sich  auch  nicht  dazu  gedrungen  fühlen  würde, 
wenn  er  an  ihrem  Dasein  gezweifelt  hätte.  Das,  was  Ihr 
Schreiben  meine  Hauptidee  nennt,  verachtet  Piaton,  wie 
Sie  es  verachten,  und  schreibt  ebendeßhalb  seine  Er- 
lösungslehre von  derselben.  In  Ihrem  Eros  aber  sehe 
ich  jene  Naturen  bezweifelt  —  nicht  angenommen  — 
und  ich,  indem  ich  das  Dasein  einer  Sache  erweisen 
wollte,  schrieb  eine  erbärmliche  Apologie  derselben, 
was  ich,  gegeißelt  durch  Ihr  Schreiben,  mit  Scham  und 
Reue  einsehen  gelernt  habe.  Dagegen  habe  ich  aber 
dennoch  eine  der  jetzigen  Welt,  selbst  Ihnen  und  Herrn 
Doktor  Troxler  unbekannte  Wahrheit  laut  und  rein  und 
ohne  Scheu  und  ohne  Furcht  ausgesprochen  und  ver- 
diene von  dieser  Seite  her  keine  Verachtung.  Zwar  bis 
auf  weiteres  schweige  ich  und  keinem  Freund  und  keinem 
Bruder  wird  darüber  sich  mein  Herz  aufthun;  ich 
habe  das  meinige  gethan  —  das  ist  süß!  und  sehe,  was 
die  Menschheit  ist,  das  ist  bitter!  ! 

„Ueber  die  im  Xenophon  (der  die  Frauen  liebte) 
angestrichenen  Stellen  darf  ich  der  Weitläufigkeit 
wegen,  die  Sie  mir  nicht  vergeben  würden,  nicht  ein- 
treten, was  mich  Ueberwindung  kostet.  Aber  beweist 
nicht  die  kürzeste  derselben  streng  das,  was  ich  eigent- 
lich will,  nämlich,  Liebe  sei  ihrer  Natur  nach  nicht 
Freundschaft  beim  Homer  und  Freundschaft  nicht 
Liebe  —  sie  lautet  also:  Achilles  rächt  den  Tod 
des  Patroklus  nicht  als  den  Tod  eines  Lieblings, 
sondern  eines  Freundes.  Und  was  sind  die  Lob- 
reden auf  des  Sokrates  Keuschheit  ohne  das  Dasein 
dieser  Liebe,    welcher    auch   der  Liebhaber    des  herr- 


—     495     — 


liehen  Dichters  Agathon  sogar  in  ihrer  ungereinigten 
Sinnlichkeit  eine  Lobrede  gehalten  hat,  welche  Xeno- 
phon  zwischen  von  mir  angestrichenen  Stellen  aus- 
schwatzt.1' 

„Ich  schließe  mit  dem  innigsten  Wunsch,  daß 
Sie  und  Ihr  theures  Haus  gesegnet  sei  und  stets  ge- 
segnet bleibe,  und  mit  der  Bitte,  daß  Sie  mir  groß- 
müthigst  alles  vergeben,  und  mit  der  Versicherung 
meiner  unveränderlichsten  Hochachtung 

Herr  Cantons  Kath 

Dero  ergebenster  Diener* 

Mit  Sicherheit  geht  aus  dem  obigen  an  Zschokke 
gerichteten  Schreiben  Hößli'ä  hervor,  daß  dieser  im  Juni 
1826  die  begreifliche  Scheu,  mit  seiner  Idee  selbst  schrift- 
stellerisch hervorzutreten,  noch  nicht  überwunden  hatte 
und  der  mutige  Entschluß  zu  seinem  „Eros*  damals  noch 
nicht  von  ihm  gefaßt  warj  und  doch  war  er  bereits  42  Jahre 
alt.  Den  Zeitpunkt,  in  welchem  diese  Wandlung  in 
seiner  Seele  vorging,  habe  ich  nicht  ermittelt. 

Als  Heinrich  Hößli  zu  Anfang  der  dreißiger  Jahre 
am  „Eros*  arbeitete,  wohnte  er  auf  dem  Spiel hofe  im 
„süßen  Winkel"  beim  Schlossermeister  Andreas  StüssL 
Die  Gedanken  an  seinen  Gegenstand  beschäftigten  ihn 
derart,  daß  er  Schiefertafeln  und  Kreide  mit  in's  Bett 
nahm,  um  deren  über  Nacht  entstandenen  Inhalt  am 
nächsten  Morgen  zu  ordnen  und  abzuschreiben;  auch 
schrieb  er  im  dunkeln  Hinterzi romer  des  schwarzen 
Adler  seine  Ideen,  so  wie  sie  ihm  kamen,  um  sie  nicht 
aus  dem  Gedächtnisse  zu  verlieren,  mit  Kreide  au  die 
getäfelte  Wand  j  er  spannte  eine  Schnur  an  der  Wand 
aus,  um  beim  Schreiben  in  der  dunkeln  Stube  die  Linie 
innehalten  zu  küuneu;  Lieht  anzuzünden  verschmähte  er, 
vielleicht,  weil  im  Dunkeln  die  Gedanken  reichlicher  und 
ungestört  ihm  zuflössen. 


—    496    — 

Vom  11.  Dezember  1834  bis  über  den  13.  Juli  1835 
hinaus  stand  Heinrich  Hößli,  damals  im  schwarzen  Adler 
zu  Glarus  wohnhaft,  in  Unterhandlung  mit  dem  Buch- 
händler Fr.  Schultheß  in  Zürich  bezüglich  des  Druckes 
seines  „Eros".  Er  hatte  sich  erboten,  200  Franken  zu 
zahlen  oder  die  Hälfte  der  Druckkosten  für  die  beiden 
ersten  fertigen  Bände  tragen  zu  wollen  gegen  Ueber- 
lassung  der  Hälfte  der  zu  druckenden  Exemplare.  Die 
Verhandlungen  liefen  aber  zunächst  ohne  positives  Er- 
gebnis aus,  indem  die  Schultheß'sche  Buchhandlung  an 
Heinrich  Hößli  schon  unter  dem  31.  Dezember  1834 
schrieb:  „Wir  bedauern  wirklich  sehr,  Ihnen  hinsichtlich 
der  Verlagsübernahme  eine  ablehnende  Antwort  ertheilen 
zu  müssen,  denn  obgleich  wir  den  Werth  der  Schrift 
vollkommen  anerkennen  und  den  Fleiß  des  Verfassers 
bewundern,  so  können  wir  uns  doch  nicht  überzeugen, 
daß  der  Absatz  der  Schrift  mit  den  Kosten  des  Druckes 
im  Verhältniß  sein  werde/  Auf  der  Rückseite  des 
Schreibens  der  Firma  steht  von  Hößli's  Hand  vermerkt: 
„20  Bogen  würden  höchstens  30,  vielleicht  nur  25  Ldors. 
kosten".  Später  jedoch  betraute  dieselbe  Firma  einen 
Freund,  „einen  Geist-,  nicht  Buchstaben-Philologen",  mit 
der  Durchsicht  des  Hößli'schen  Manuskriptes  zu  den  bei- 
den ersten  Bänden;  und  da  der  vorsichtige  Freund,  be- 
vor er  ein  Urteil  fällte,  auch  noch  das  Manuskript  zum 
dritten  Bande  zu  sehen  wünschte,  so  erbat  sich  die 
Firma  unter  dem  13.  Juli  1835  auch  dieses,  erhielt  es 
aber  nicht,  da  es  noch  nicht  fertig  war.  Endlich  schrieb 
die  Schultheß'sche  Buchhandlung  auch  noch  an  den 
Buchdrucker  Cosmus  Freuler  in  Glarus,  nachdem  dieser 
von  Heinrich  Hößli  mit  dem  Druck  des  „Eros*  beauftragt 
worden  war:  „Hinsichtlich  des  Werkes  des  Herrn  Hößli 
möchte  ich  Ihnen  rathen,  vorsichtig  zu  sein,  indem  ich 
nicht  glaube,  daß  der  Debit  die  Druckkosten  decken 
könne;    ich    habe    dies  dem  H.  Verfasser  mehrmals  ge- 


497 


sagt  und  ihn  von  der  Herausgabe  abzunehmen  gesucht. 
—  Aus  dem  gleichen  und  noch  einem  andern  Grande 
müßte  ich  es  ablehnen,  daß  meine  Firma  auf  den  Titel 
gedruckt  werde  und  ich  mich  des  Absatzes  im  Auslande 
annehme,  der  ganz  gewiß  auch  mehr  Kosten  als  Ein- 
nahme nach  sich  zöge/ 

Bevor  Hößli  sein  Manuskript  der  Buchdruckerei 
Freuler  übergab,  wünschte  er  dessen  Durchsicht  von 
Seiten  eines  Gebildeten;  er  wählte  zu  diesem  Behuf e  den 
Lehrer  an  der  Elementarschule  zu  Glarus  Burghard 
Marti;  dieser  jedoch  wies  HöJJli's  Ansinnen  zurück;  Da- 
gegen übernahm  diese  Revision  bereitwillig  der  Lehrer 
an  der  Sekundärschule  zu  Glarus  Gottlieb  Strässer  *). 

Noch  während  des  Druckes  des  ersten  Bandes  seines 
„Eros*  erhielt  Hößli  durch  den  Studenten  der  Philosophie 
Job.  Christ  Tschudi  aus  Zürich  Anfangs  Juli  1836  von 
diesem  erbetene  Bücher  zugesendet  mit  dem  brieflichen 
Vermerk:  „Es  wird  überflüssig  sein,  zu  bemerke n3  daß 
Sie  in  Platon's  Symposion,  das  ich  gerade  in  der  Ur- 
sprache   durchlese,     bedeutende    Materialien     zu     Ihrer 


J)  Gottlieb  Strässer  wurde  1801  au  Keraecheid  geboren, 
war  bis  1852  Lehrer  an  der  Sekundärschule  zu  Glarus,  einer  vier- 
klangen  Realschule,  welche  von  den  jungen  Leuten,  nachdem  sie 
diel  Elementarschule  im  12.  Lebensjahre  absolviert,  im  18.  besucht 
wurde,  und  kam  von  da  nach  Abö  haften  bürg-,  woselbst  er  erkrankte, 
von  seinen  ehemaligen  Glarner  Schülern  durch  eine  freiwillige 
Kollekte  unterstützt  wurde  und  am  23,  Juli  1862  arm  verstarb;  er 
war  eine  Zeit  lang  auch  Vorsteher  der  ehemaligen  ^Evaugel.  Lan- 
desbibliothek0 in  Glarus,  welche  jetzt  im  Geriehtshause  unter- 
gebracht ist;  hier  wird  ein  Manuskript  aufbewahrt  des  Titels: 
„Quellen  zur  Glarnergesehlehte.  Mit  Vorrede  von  G.  St  184^,  Mit 
Nachträgen  von  Peter  Leuzinger*  Fol*"  In  diesem  Manuskripte  fin- 
det sich  die  Notiz:  „H,  Hößli  f  1864.  Verf.  d,  Eros,  die  Männer- 
liebe der  Griechen.  Der  grüßte  Theil  wnrde  seiner  Zeit  confiscirt," 
—  Diese  Notiz  brachte  mich  erst  auf  den  richtigen  Weg,  um  wel- 
chen von  den  zahlreichen  Heinrich  Hößli  von  Glarus  es  hier  sich 
handelt. 

Jahrbuch  Y.  32 


—    498    — 


\ 


Schrift  finden"  —  ein  Beweis,  daß  Hößli  für  ihn  frucht- 
bare Hülfe  zu  finden  verstand,  daß  man  seinen  Wert 
zu  schätzen  wußte  und  daß  es  ihm  an  entgegenkommen- 
dem Verständnis  nicht  fehlte.  Erst  im  Dezember  1836 
hatte  des  „Eros"  erster  Band  die  Presse  verlassen  und 
konnte  versendet  werden;  hierüber  Aufschluß  gibt  ein 
Schreiben  des  H.  Dietrich  Schindler  aus  Mollis  vom 
20.  Dezember  1836,  welcher  das  ihm  zum  Kaufe  ange- 
botene Exemplar  mit  dem  Bemerken  zurücksandte:  „Ich 
las  mir  einige  Abschnitte  und  halte  es  nach  diesem  für 
einen  interessanten  Versuch,  über  einen  in  mannigfacher 
Hinsicht  wichtigen  Punkt  mehreres  Licht  zu  verbreiten 
oder  zur  weiteren  Untersuchung  Veranlassung  zu  geben." 
Hößli's  reine  Freude  über  das  gelungene  Werk  bezeugt 
folgendes  Fragment  seines  Schreibens  an  einen  Unge- 
nannten (wahrscheinlich  Troxler): 

„Aber  ob  wir  dies  Denkmal  unter  eines  Galgens 
schauderhaftem  Schutt  zu  errichten  Pflicht  hatten  oder 
nicht  —  das  entscheide  der  Genius  der  Menschheit  — 
der  Geist  wahrer  Religion. 

„Was  Sie,  Freund  der  leidenden  Menschheit,  hier 
empfangen,  hatte  bei  den  Griechen  nicht  gefunden  werden 
können;  es  sind  Resultate  jener  und  späterer  Zeiten  — 
und  ich  schreibe  über  ein  Verkennen  und  dessen  Folgen 
und  über  eine  Unwissenheit,  die  Griechenland  nicht  um- 
nachtet haben.  Die  Humanität  der  Griechen  und  das 
spätere  Versinken  unsers  Geschlechts  haben  nur  vereint 
mir  diesen  Blick  in's  innere  Menschenthum  geben  können. 

„Ich  zweifle  nicht,  daß,  wenn  ich  hier  die  Erzeugungs- 
und Fortbildungs-Geschichte  meiner  Idee  beschrieben  hätte, 
auch  sich  mein  Endzweck  sicherer  gefunden  haben  würde. 
Aber  das  wäre  der  Arbeit  für  Jahre  genug  und  in  einer 
Lage  wie  die  meine  nie  möglich. 

„Wenn  das,  was  ich  hier  Gott  weiß  wie  hingeschrie- 
ben habe,  zu  überzeugen  hinreicht  —  so  ist  mein  Triumph 


r 


—    499    — 


der  größte  eines  Sterblichen,  man  hat  nur  alsdann  einen 
Maßstab  für  ihn,  wenn  man  glaubt,  daß  ich  mit  meinem 
Leben  der  Menschheit  diese  Wahrheit  kaufen  wollte.  Sic 
steht  in  ihrer  Himmelshoheit  vor  mir,  aber  ich  vermochte 
keinen  Zug  in  seiner  Majestät  von  ihr  zu  geben  und  Winke 
sind  es  nur  und  Wünsche,  —  Ob  sie  verstanden  und  erfüllt 
werden  können  oder  nicht?  —  Im  letzt ern  (Fall  bab'  ich 
die  schwere  Pflicht  erfüllt  —  meinen  Schlaf  und  Schweiß 
und  vieles  noch  zum  Opfer  dargebracht  und  mich  ver- 
senkt in  alle  Dunkel  einer  Menschen  seele  —  wegen 
der  ewigen  Wahrheit  und  der  namenlosen  Dulderin,  der 
Mutter  und  ihres  Sohns  am  Rad,  Jetzt  thun  Sie  das 
Beste  —  ich  weiß  es  —  die  Seele  eines  edlen  Mannes 
umarmt  eine  Welt.  Im  erstem  Fall  —  ertrüg  ich  ihn  1 
vermag  ich  ihn  zu  denken?  empfing  noch  vor  dem  Tode 
der  Dulderin  des  Sohnes  gebrochenes  Bein  ein  Friedhof? 
Und  meine  Lehre  schrieb  ich  besser  hin  —  ein  anderes 
Denkmal  der  erlösenden  Wahrheit  und  der  Völkertugend 
Griechenlands* 

„Zu  unsrem  Gebäude  ist  die  Naturlehre  das  Funda- 
ment, hier  sind  zwar  noch  roh  durch  einander  geworfen, 
die  Materialien  dazu,  weihen  Sie!  den  Eckstein  ein  — 
so  bau'  ich  fort  —  der  Entwurf  zu  einer  Sitten-  und 
Bildungslehre  ist  da.  Diese  zwei  letzteren  Theile 
werden  erst,  was  jetzt  noch  roh  und  frucht-  und  planlos 
scheint,  erklären. 

„Wäre  es  vielleicht  ein  Scherflein  auf  dem  Altar 
Griechischer  Weisheit,  wenn  Herr  Professor  Dannecker, 
den  ich  zwar  nie  gesehen  habe,  aber  wegen  seines  Eros1) 
um  ein  Urtheil  über  meine  Idee  gebeten  würde? 

„  So  viel  ich  noch  zu  sagen  hätte,  muß  ich  schließen, 
Gott  segne  Ihr  Thun,  Wohlthäter  der  Menschheit !  Ich  bin 
mit  tiefster  Hochachtung  Ihr  Verehrer," 


Heinrich  HöMi:  Eros  I  S.  296. 


82* 


—    500    — 


i  i 


Allein  sein  Glück  sollte  dem  Verfasser  des  „Eros" 
bald  vergällt  werden.  Denn  kurz  nach  dem  Er- 
scheinen des  ersten  Bandes,  am  13.  Januar  1837,  wurde 
Heinrich  Hößli  auf  Veranlassung  des  Evangelischen  Rates 
von  der  Kanzlei  der  Regierung  von  Glarus  eingeladen 
und  aufgefordert,  von  seiner  Schrift  »Eros*,  dessen  1.  Band 
nebst  den  bereits  gedruckten  Bogen  des  2.  Bandes  ein- 
zureichen der  Buchdrucker  Freuler  als  Verleger  schon 
beauftragt  wäre,  den  ganzen  Rest  des  Manuskriptes  zum 
2.  Bande  umgehend  „zu  geeignetem  Gebrauche"  zu 
übermitteln.1)  Hößli  scheint  der  Aufforderung  auch 
nachgekommen  zu  sein,  aber  zugleich  eine  Rechtfertigung 
seines  Buches  versucht  zu  haben,  indem  er  dem  Evange- 
lischen Rate  seine  Meinung  nicht  vorenthielt.  Zeugnis 
dessen  sind  in  seinem  handschriftlichen  Nachlasse  be- 
findliche Papiere  mit  Bemerkungen,    welche    nicht  wohl 

*)  Das  Schreiben  lautete: 

Herrn  Heinrich  Hößli,  Handelsmann,  Dahier. 
Glarus  den  13ten  Jänner  1837. 
Im  letzten  Evangelischen  Rathe  wurde  die  von  Ihnen  dem 
Druck  übergebene  Schrift,  betitelt  „Eros  oder  Männerliebe" 
besprochen  und  uns  von  demselben  der  Auftrag  ertheilt,  sich  den 
gedruckton  ersten  Band  sowie  die  gedruckten  Bogen  zum  2ten 
Band  und  zugleich  das  Manuscript  zu  verschaffen. 

Wir  wandten  uns  sofort  an  Herrn  Buchdrucker  Freuler  als 
Verleger  dieser  Schrift,  der  uns  auch  den  ersten  Band  sowie  die 
gedruckten  Bogen  des  2.  Bandes  übermittelte,  dabei  aber  bemerkte, 
daß  das  Manuscript  in  Ihren  Händen  sich  befinde. 

In  Folge  dieser  erhaltenen  Rückäußerung  wenden  wir  uns  an 
Sie  mit  der  Einladung  und  Aufforderung,  uns  umgehend  das 
Manuscript  dieses  besagten  Werkes  zu  geeignetem  Gebrauche  zu 
übermitteln. 

In  dieser  bestimmten  Erwartung  besteht  achtungsvoll 

Die  Kanzlei. 
Für  dieselbe 

Schmid 
Landschreiber. 


—     501 


anders  denn  als  Entwürfe  zu  einer   solchen  Antwort  ge- 
deutet werden  können: 

BE  Pfr.     *     *     * 

„Richter  —  Anatomen  —  Gesetzgeber  —  Natur- 
forscher —  sind  alle  ihre  Angelegenheiten  und  Stoffe 
Gegenstände  geselliger  Unterhaltung?!! 

„Habe  ich  eine  Schrift  für  Ihren  Wirkungskreis  ge- 
schrieben? oder  wird  ein  vernünftiger  Mensch  sie  in 
solchen  hineinreLßen  ? ! ! 

„Man  kann  nicht  bezweifeln,  daß  gerade  diejenigen 
Dinge,  Über  die  man  sich  in  einer  öffentlichen  Gesell* 
schaft  zu  reden  billigermaßen  schämte,  dennoch  zuweilen 
zu  den  wichtigsten  Angelegenheiten  unseres  Lebens  ge- 
hören können;  es  ist  also  ©ine  tiefe  Bosheit  oder  Dumm- 
heit, die  diese  Schrift  gewaltsam  in  einen  Kreis  hinüber- 
reißt, für  den  sie  nicht  bestimmt  ist,  in  den  sie  nicht 
gehört,  also  bloß,  uro  sie  dann  da  zu  verdammen;  in 
der  Bibel  sind  mehr  Stellen,  die  sich  ohne  Erröthen  in 
keiner  Gesellschaft  verhandeln  ließen,  als  in  meinem  Buch. 

„Dem  Buch,  das  durch  den  Stillstand  von  Glarus  jetzt 
zum  Gegenstand  Ihrer  Verhandlung  geworden,  hat  sein 
Verfasser  absichtlich  den  nicht  anziehenden  Titel  gegebe n, 
den  es  nun  hat,  damit  es  sowohl  hier  als  anderwärts  nur 
von  wenigen  wissenschaftlichen  Männern  gekauft  und 
verstanden  werden  möchte.  Daher  kann  es  ihm  nur 
höchst  erwünscht  sein,  Hoehdemselben  hiermit  die 
schriftliche  Erklärung  ehrerbietigst  zu  überreichen,  nämlich 
daß  er  dieses  Buch  im  hiesigen  Canton  (außer  an  seine 
wenigen  Herren  Subscribenten  als  nunmehrige  Besitzer 
des  1,  Bandes)  an  niemand  weiter  mehr  verkaufen,  noch 
sonst  abgeben,  ankündigen  oder  fortdrucken  lassen  werde. 
Er  bittet  aber  dagegen  Hochdenselben  um  seine  Schrift, 
sein  Eigenthum,  damit  er  gelegentlich  den  ehrenden  Still- 
stand der  Gemeinde    sowohl    als    den    Hohen   Rath  des 


—    502    — 

j  Cantons  Glarus  über  die  vollständige  Idee   und  Gefahr- 

j  losigkeit  seines  Baches  beruhigen  könne.    Inzwischen  er 

;  sich  in  dieser  Angelegenheit   mit   ehrfurchtsvollster   Er- 

gebung dem  Schutze  seiner  hohen  Obrigkeit  empfiehlt. 
„Meine  Schrift  führe  zu  einem  Verbrechen  — Knaben- 

1  schänderei  —  also  ich   schrieb   über  dieses  Verbrechen, 

i  ' 

|  ich  will  es  prüfen  und  damit  jedem  Richter  einen  Dienst 

leisten,  dafür  ich  allen  Dank  erwarte:  man  ist  über  einen 
■  Kriminalgegenstand  hoffentlich  doch  gern  im  Reinen. 

!  »Will  man  eine  Schrift,  Idee  oder  Lehre  verurtheilen, 

ohne  sie  zu  kennen   —   und   kennt   man  ein   nicht  halb 
;  geborenes  Werk?    weiß    man  jetzt  schon  ganz,    was    ich 

will?  Man  muß  mich  ganz  abhören,  das  heißt,  mir  gnädig 
erlauben,  mein  Buch  mit  meinem  Geld  zu  drucken  und 
ihm  alsdann  —  sein  Recht  widerfahren  lassen. 

„Man  will  hier  die  Obrigkeit  vorführen,  man  will 
sie  hier  zum  Werkzeug  der  Unwissenheit  und  Bosheit 
mißbrauchen. 

„Ich  sage  immer  und  zwar  mit  allem  Recht:  dieses 
Buch  ist  ein  rein  wissenschaftliches  —  und  man  will  da 
diese  hohe  Behörde  gegen  mein  Buch  und  mich  zu  einer 
rein  wissenschaftlichen  machen  —  man  spielt  mit  ihr  gegen 
einen  Bürger,  der  nicht  weniger  werth  als  meine  Gegner. 

„Die  zwei  Titelblätter,  genau,  buchstäblich,  wie  sie 
jetzt  vor  beiden  Bänden  stehen,  gab  ich,  gedruckt  bei 
C.  F.,  herum  —  auf  diese  hin  machte  man  sich  für.  den 
Ankauf  eines  Exemplars  verbindlich.  Nim  fragen  wir: 
sprachen  diese  zwei  Titelblätter  mit  ihren  Motto's  eine 
bestimmte,  begreifliche,  menschliche,  vernünftige  Aufgabe 
aus  oder  keine? 

„Herr  Straßer  hat  gesagt,  das  Buch  ist  wahr,  aber 
—  Ich  Monarch  verbiete  es  —  Griechenland  ist  durch 
die  Ausschweifungen  der  Mäunerliebe  untergegangen  — 
Stehlen  ist  ein  Verbrechen  und  man  kann  mit  dieser 
Natur  geboren  sein  —  Man  kann  doch  gleich  heirathen, 


iL 


j03     — 


es  gibt  ja  nur  Unglück  liehe  Ehen  —  Abnormitäten,  Aus- 
artungen, Auswüchse,  Unkraut!  Poesien  sind  Phantasie, 
gelten  und  bedeuten  nichts. 

„Ich  erinnere  mich  eben,  daß  einst  ein  Mann  anläß- 
lich zu  mir  sagte:  Alle  diese  (oder  solche)  Menschen 
machen    nie    ein  Glück,    sie    kommen    immer    in  Zerfall 

—  und  erst  nach  Jahren  ward  es  mir  sonnenklar, 

daß  dieses  eine  höchst  wichtige  Beobachtung  und  Wahr- 
heit sei  ■ —  die  wohl  wenig  eingesehen  wird;  so  sind 
sie  ganz  richtig  durch  uns  zum  Fluch  geboren,  ja 
durch  uns  zum  Fluch  geboren,  und  das  ist  die  ganze 
Wahrheit,  der  ganze  Triumph  unsers  diesfühlig  herrlich- 
sittlichen  Standpunkts. 

„Preßfreiheit  ist  nicht  Lasterfreiheit,  Durch  die  Presse 
tritt  der  Urheber  des  Guten  und  Schlechten,  eben  in 
diesen  Eigenschaften,  ans  Licht;  und  es  tritt  der  Mensch, 
die  Wahrheit,  die  O Öffentlichkeit,  die  allgemeine  Vernunft 
in  ihrer  vom  Schöpfer  beabsichtigten  Thätigkeit  auf  — 
darin  liegt  eben  der  Werth  der  Presse.  Ein  schlechtes 
Buch  wird  durch  sein  Erscheinen  nicht  sicher,  es  über- 
liefert sich  selbst  wie  rasend  dem  Gericht  der  "Welt,  der 
Verachtung,  dem  Spott,  und  es  muß,  was  in  seiner  Absicht 
nicht  liegt,  gerade  dem  Guten  und  Wahrhaften  Thür  und 
Thor  öffnen, 

„  Wollten  Hochderselbe  mir  mein  nun  einziges  Ehre- 
Rettungsmittel  untersagen?  (das  heißt^  den  Druck  meines 
Buchs)  —  —  —  Wenn  Sie  mich  das  Buch  drucken 
lassen,  alsdann  geschieht  gewiß,  was  in  der  Pflicht  liegt, 
ich  werde  gerichtet  durch  das  Buch  oder  geschützt  und 
gerettet  durch  das  Buch  und  das  liegt  beides  in  der 
Obliegenheit 

„Geben  Hochderselbe  auch  zu,  daß  sich  verlarvte 
Menschen,  das  heißt  solche,  die  sich  mir  nicht  nennen 
(ich  habe  mich  genannt),  geheim  gegen  die    h.  Wahrheit 


—    Ö04    — 

meines  Buchs  und  auch  gegen  mich,  meine  bürgerlichen 
Rechte  stellen?  Ich  heiße  hier  und  vorn  auf  meinem 
Buch 

Heinrich  Hößli." 

Das  Endergebnis  der  Verhandlungen  Heinrich 
Hößli's  mit  der  Behörde  war  dieses,  daß  er  die  Auflage 
seines  Werkes  zwar  behielt,  auch  sein  Manuskript  zurück- 
bekam, daß  er  aber  innerhalb  des  Kantons  Glarus  weder 
ein  weiteres  Exemplar  des  bereits  Gedruckten  verkaufen, 
noch  sein  Manuskript  weiter  drucken  lassen  durfte.  Ge- 
mäß einer  Bekundung  soll  er  eine  schwere  Buße  (angeb- 
lich 2000  Franken  oder  mehr)  haben  zahlen  müssen,  nach 
einer  andern  Quelle  kam  er  dagegen  ohne  Buße  davon. 
Seinem  bisherigen  Buchdrucker  Freuler  war  damit  die 
Möglichkeit  des  Weiterdruckes  abgeschnitten. 

Man  wird  sich  schwer  des  Argwohns  entschlagen 
können,  daß  das  Vorgehen  des  Evangelischen  Rates 
gegen  Hößli  nicht  lediglich  Heinrich  Hößli's  wenn  auch 
entschiedener  so  doch  von  jeglicher  Lüsternheit  freier  Ver- 
teidigung der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  gelten  sollte, 
sondern  mehr  und  vielleicht  besonders  seine  religiös-freie 
Denkungsweise,  der  er  durch  Einbeziehung  von  Hexen- 
prozeß und  -glauben,  Pfaffen  und  Teufeln  in  sein  Werk 
von  der  Männerliebe  der  Griechen  unverhohlenen  Aus- 
druck gab,  zu  treffen  bestimmt  gewesen  ist.  War  schon 
die  Darstellung  der  geschlechtlichen  Natur  der  Männer- 
liebe zu  damaliger  Zeit  eine  sehr  bedenkliche  Kühnheit, 
welche  höchste  Vorsicht  erforderte,  so  muß  gar  ihre 
Verquickung  mit  Angelegenheiten  des  Glaubens  als 
äußerst  unvorsichtig  bezeichnet  werden.  Der  Gedanke 
eines  Parallelismus  zwischen  Verfolgung  gleichgeschlecht- 
licher Liebe  und  den  Prozessen  gegen  Hexen,  welche 
wie  ein  roter  Faden  durch  beide  Bände  des  „Eros"  sich 
hindurchzieht,  mag  dazu  mitgewirkt  haben,  daß  auch 
Solche  Hößli  nicht  verstehen  wollten,  die  ihn  hätten  ver- 


.    i 


—     505    — 

stehen  nnd  der  Verbreitung  seiner  Erosidee  hätten  förder- 
lich werden  können,  daß  er  zur  Zeit  seines  Auftretens, 
im  zweiten  Viertel  des  19.  Jahrhunderts,  unbeachtet  blieb 
oder  totgeschwiegen  wurde,  daß  er  tauben  Ohren  predigte 
und  nach  dem  Erscheinen  seines  ersten  „  Eros  "-Bandes  be- 
reits einem  geschlossenen  Widerstand  sich  gegenüber  sab? 
an  dem  selbst  seine  im  höchsten  Maße  opferwillige  und 
trotzige  Energie  und  seine  von  un  unterdrück  barer  Ueber- 
zeugung  getragene  Willenskraft  nach  kurzem  Kampfe 
zerschellte;  diese  unglückselige  Verquickung  von  Liebe 
mit  Glauben,  welche  freilich  in  seinem  Gerechtigkeits- 
gefühle wurzelte,  mag  vorzugsweise  die  Schuld  tragen, 
daß  Hößli  am  Siege  seiner  Wahrheit  für  absehbare  Zeit 
endgültig  verzweifeln  mußte  und  ein  Prediger  in  der 
Wüste  nicht  nur  seinen  Zeitgenossen,  sondern  bis  auf  die 
heutige  Stunde  geblieben  ist  Sein  großes  unsterbliches 
Lebenswerk,  sein  zweibändiger  „Eros",  hat  denn  auch  tat- 
sächlich das  Schicksal  erlebt,  daß  es  an  der  Wende  des 
19.  Jahrhunderts,  fast  60  Jahre  nach  seinem  Erscheinen 
und  fast  30  Jahre  nach  Hößli's  Hinscheiden,  von  einer 
Seite,  welche  HößIiJs  Wiesen  und  Bedeutung  mit  Ver- 
ständnis zu  erfassen  vermochte,  in  zwei  völlig  getrennte 
Bücher  zerlegt  worden  ist  —  in  „Hexenprozeß  und 
-glauben,  Pfaffen  und  Teufel"  einerseits  und  in 
„Mann  er  liebe    der   Griechen*   andererseits.1) 


J)  1,  Hexenproceß  —  und  Glauben,  Pfaffen  und  Teufel.  Als 
Beitrag  zur  Cultur-  und  Sittengeschichte  der  Jahrhunderte.  Von 
Heinrich  Hüßii,  Leipzig,  H,  Barsdorf.  1892.  80  Seiten  in  Oktav. 
—  Diese  Schrift  enthält  manches  ausgeführt,  was  in  Hößli1  s  „Erosu 
nur  angedeutet  ist,  außerdem  vieles  von  Hößli  gar  nicht  berührte, 
eodaß  über  die  Hälfte  ihres  Inhalts  gar  nicht  von  unserem  Heinrich 
Hößli  stammt. 

2.  Eros.  Die  Männerliebe  der  Griechen,  ihre  Beziehungen 
zur  Geschichte,  Literatur  und  Gesetzgebung  aller  Zeiten,  Oder 
Forschungen  über  Platonische  liebe,  ihre  Würdigung  und  Ent- 
würdigung für  Sitten-,  Natur-  und  Völkerkunde.  Von  H*  Ho"ßli.  Zweite 


—    506    — 


Dieses  Mißgeschick  jedoch,  das  Verbot  des  Vertriebes 
und  des  Weiterdruckes  seines  Eros  innerhalb  der  Gren- 
zen des  Kantons  Glarus,  brach  Hößli's  Wagemut  noch 
nicht;  —  er  sah  sich  nur  genötigt,  nach  einem  Ersätze 
für  den  Drucker  Freuler  in  einem  anderen  Kanton  sich 
umzusehen,  und  einen  solchen  fand  er  alsbald  in  der 
Person  des  J.  Fr.  Wartmann  in  St  Gallen.  Mit  Hülfe 
dieses  ausgezeichneten  Mannes  gelangte  Heinrich  Hößli 
sicher  und  schnell  zu  seinem  ersehnten  Ziele.  Vom 
zweiten  Erosbande  waren  bereits  8  Bogen  gedruckt,  nur 
die  Seiten  43  und  44  mußten  als  unbrauchbar  verworfen 
werden;  der  schriftliche,  den  Druck  des  Eros  betreffende 
Verkehr  zwischen  beiden  Männern  währte  vom  17.  März 
1837  bis  zum  31.  Oktober  1838;  alsdann  war  der  Druck 
auch  des  2.  Erosbandes  vollendet.  Der  Austausch  der 
Gedanken  zwischen  Wartmann  und  Hößli  hatte  in- 
zwischen vertraulich,  fast  herzlich,  ja  freundschaftlich  sich 
gestaltet ;  öfter  war  die  Rede  von  geplanten  persönlichen 
Zusammenkünften,  bei  denen  dann  auch  der  „liebe  Kubli" 
immer  eine  Rolle  spielte.  Wartmann  führte  Klage  bei 
Hößli  über  unleserliches  Manuskript:  „Bei  diesem  Anlaß" 
—  schreibt  er  am  10.  Juni  1837  —  „nehme  ich  mir  die 
Freiheit,  eine  Bitte  an  Sie  zu  richten,  die  Sie  mir  gewiß 
nicht  übel  deuten  werden.  Es  kommen  nämlich  in  dieser 
Manuskriptsendung  einige  Blätter  vor,  wovon  ein  paar 
nur  mit  der  größten  Mühe  und  eines  (wie  Sie  in  der 
Korrektur  finden  werden)  an  einigen  Stellen  gar  nicht 
entziffert  werden  konnten.  Ich  muß  Sie  deßwegen  im 
Interesse  der  Sache  wirklich  dringend  bitten,  etwas  mehr 


Auflage.  Münster  i.  d.  Schweiz.  IL  und  125  Seiten  in  Oktav.  Von 
H.  Barsdorf,  Leipzig,  übernommen.  —  Diese  Schrift  ist  ein  etwas 
dürftiger,  stark  vernüchterter  Auszug  aus  dem  Originalwerke  mit 
Auslassung  aller  auf  Hexenprozeß  und  -glauben,  Pfaffen  und  Teufel 
bezüglichen  Stellen;  die  Wortstellung  Hößli's  ist  z.  T.  modernisiert, 
die  Reihenfolge  der  Sätze  willkürlich  gewechselt. 


—    507     — 

Sorgfalt  auf  dasselbe  zu  verwenden;  denn  äußerst  unan- 
genehm ist  es  für  den  Verfasser  eines  Werkes  wie  für 
den  ebrliebenden  Buchdrucker,  wenn  auf  diese  Weise 
sinn-  und  gei  st  störende  Fehler  einschleichen."  Ein  an- 
deres Schreiben  Wartmann's  vom  10.  Oktober  1837 
nimmt  Bezug  auf  den  Evangelischen  Rat:  „Die  Glarner 
Sperren  scheinen  Retraite  schlagen  lassen  zu  wollen  und 
zu  dem  lieben  Juste-milieu  zurückzukehren.  War  es  dann 
wohl  der  Mühe  werth,  einen  so  gewaltigen  Lärm  in  der 
Welt  zu  machen,  wenn  man  am  Ende  doch  den  Muth 
nicht  hat,  einigen  intriganten  Pfaffen  den  Hals  zu  brechen?" 
Wartmann  gelang  es?  auch  die  Verlagsbuchhandlung  C. 
P,  Scheitliu  in  St  Gallen  zur  Uebernahme  der  Kommis- 
sion für  beide  Erosbände  mit  50  %  Provision  zu  ge- 
winnen: „Dem  mit  dem  Bucbhäudlergeschäft  nicht  Ver- 
trauten" —  schreibt  er  unter  dem  28.  Januar  1838  an 
Hößli  —  »mag  allerdings  diese  Forderung  etwas  hoch 
erscheinen ;  allein  es  ist  zu  bemerken,  daß  Hr.  Scheitlin 
allen  andern  Buchhandlungen  25  %  geben  muß,  daß  ferner 
alle  Spesen  für  Fracht,  Ankündigungen  des  Werkes  und 
dergl.  auf  seine  Rechnung1  fallen.  Den  Preis  der  zwei 
Bände  dürfte  man  auf  3  h\  oder  mindestens  auf  2  fl.  42 
stellen/ 

Ueber  Heinrich  Hößli's  Gemütsverfassung  während 
des  Druckes  des  2,  Bandes  seines  „Eros*  in  St.  Gallen 
giebt  ein  Schreiben  Auskunft,  welches  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  für  den  von  Hößli  im  „ErosÄ  zitierten  Ver- 
fasser einer  Metaphysik,  den  Professor  Troxler,  bestimmt 
war  und  dessen  Konzept  in  HößÜ/s  Nachlasse  vorliegt; 

„Glarus,  ira  May  1838. 

„Hochzu  verehr  ender  Herr  Professor! 

„Obscbon  mich  die  so  vollständige  Uuverhältnili- 
mäßigkeit  meines  geistigen  Standpunktes  zu  dem  Ihrigen 
abschrecken  will  von   dem  Schritt,  den  ich  hier  wage: 


—    508    — 

so  ermuthigt  und  treibt  mich  dagegen  wieder  der  Geist, 
den  ich  bald  am  Himmel,  bald  über  der  Erde,  bald  außer 
mir,  bald  in  mir  wandeln  und  wirken  sehe,  der  mich 
genöthigt  hat,  diese  Schrift,  die  ich  Ihnen,  ehrwürdiger 
Herr!  hier  in  Demuth  und  Ehrfurcht  lasse  zuschicken, 
und  die  auch  in  Ihrem  Geist  in  viel  weiterem  Sinn  und 
Kaum  als  in  mir  wirksam  ist. 

„In  den  zwei  platonischen  Gesprächen  Phädrus  und 
Symposion  sind,  obwohl  von  unsrer  Zeit  noch  nicht 
erkannt,  Religion,  Natur  und  Kunst  —  von  deren  Ein- 
heit oder  ewigen  Unzertrennlichkeit  Ihre  Seele  so  tief 
erleuchtet  ist  —  dennoch  gleich  gewiß  vorhanden,  als 
diese  zwei  Schriften  selbst  vorhanden  sind.  Da  indessen 
aber  das  ihnen  zu  Grunde  liegende  Prinzip  oder  ihr  eigent- 
liches und  ausschließliches  Natur-Element  uns  darum  im 
Dunkeln  liegt,  weil  wir  es  bisher  immer  nur  umgangen, 
statt  erforscht,  aufgesucht  oder  festgehalten  haben —  und 
uns  dadurch  dann  auch  zugleich  ihre  Religion  und  Kunst, 
wie  sie  mit  der  Natur  unzertrennlich  Hand  in  Hand 
gehen  —  eben  gerade  weil  sie  in  ihrem  eigentlichen 
Leben  untrennbar  sind,  in  die  größte  Verwirrung,  Un- 
bestimmtheit und  Nutzlosigkeit  gestellt,  verloren  oder, 
da  wir  ihre  Natur  im  Begriff,  in  der  Idee  nicht  haben, 
so  haben  wir  auch  ihre  Kunst  nicht  und  ihre  Religion 
nicht.  Aber  die  in  menschlicher  Natur  tief  und  unzer- 
störbar begründete,  ewige  Idee  derselben  umfaßt  und 
bedingt,  ganz  angemessen  Platon's  geweihter  Seele, 
wahrlich  weit  andere,  bestimmtere,  unaufhörlichere, 
wichtigere  und  heiligere  Beziehungen  zur  Menschen- 
gesellschaft, als  wir  bisher  eingesehen,  geahnt  oder 
unsere  schwankenden  Begriffe  enthalten  und  angedeutet 
haben. 

„Der  Wink  ernster  Menschenliebe,  über  die  Folgen 
und  Bedeutungen  unsres  da  so  irrigen,  so  unbestimmten 
Standpunktes  —  und  des  griechischen,  nicht  irrigen  zu 


—    509    — 


Plato  und  der  Menschheit  in  Betreff"  des  so  wichtigen, 
positiven  und  unverborgenen  Naturgegenstandes  der 
beiden  benannten  Kunstwerke  —  den  ich  Ihnen  liier 
zur  Beurtheilung  durch  gefällige  Vermittlung  des  Herrn 
J.  F.  Wartmann  zu  überreichen  wage,  ist  freilich  nur 
das  überaus  mangelhafte  und  rohe  Werk  eines  eben 
so  wohl  Schule  und  Erziehung,  als  Hüfsmittel  und 
Muße  ermangelnden,  in  aller  Verlassenheit  leidenden 
und  zum  Theil  auch  verfolgten  Menschen.  Ich  will 
Ihnen,  ehrwürdiger  Herr,  hier  keine  von  den  Gedanken 
der  Vorworte  beider  Bände  wiederholen,  sondern  nur 
auch  für  diese  Sie  um  einen  Ihrer  Tief  blicke  in  das  Wesen 
der  Religion,  Natur  und  Kunst  oder  des  Mensehen 
eben  so  dringend  bitten,  als  um  ein  kurzes  Resultat 
Ihrer  mir  so  hochwichtigen  Ansicht  und  zugleich  dann 
endlieh  auch  um  groß inüth ige  Vergebung  der  Freiheit, 
die  ich  anmit  zu  nehmen  mich  gedrungen  fühlte,  und 
diesen  Anlaß  nur  noch  dazu  benutze,  der  besondern, 
individuellen  Verehrung  zu  gedenken,  mit  der  ich  zeit- 
lebens sein  werde3    hochzu verehrender  Herr   Professor, 

Ihr  ergebener 

H.  Hößli  jünger," 

Bis  zur  Fertigstellung  des  2.  Bandes  des  „Eros*  reichte 
Hößli?s  Kraft  und  Energie;  dann  hat  er  jede  Absicht 
öffentlichen  Wirkens  jäh  aufgegeben.  Die  zahlreichen  Vor- 
arbeiten zum  3.  Bande  ließ  er  unverändert  liegen,  aber 
ohne  sie  zu  vernichten.  Er  redete  sich  fortan  ein,  daß 
sein  Werk  nichts  tauge^  daß  der  wirksamen  Darstellung 
seiner  Eroaidee  er  selber  nicht  gewachsen  sei»  In  einem 
Briefe  wegen  der  j  iiugsten  Schrift  über  den  Hexen-Prozeß 
und  eine  ältere  von  J,  F,  Rubel  schreibt  er:  „Bios  um 
Wort  zu  halten,  kommt  der  Eros  hier  auch  mit.  Sie 
werden  ihn  nicht  lesen  — ■  wegwerfen,  denn  schlechter  ist 
kein  Buch  geschrieben;  und  es  ist  auch  zum  Theil  dieses 


—    510    — 

Gefühl,  diese  Ueberzeugung,  daß  ich  den  3.  Thl.  liegen 
ließ;  je  tiefer  ich  von  der  großen  Bedeutung  der  Idee 
ergriffen  bin,  um  so  sicherer  ist  auch  meine  traurige  Ueber- 
zeugung, daß  sie  nur  durch  einen  großen,  gebildeten, 
gelehrten  Mann  unsrer  Zeit  gemäß  darstellbar  ist;  wie 
einst  den  Griechen  durch  Plato,  der  noch  so  prächtig 
dasteht.  Der  Stoff,  wie  jedes  Element  der  ganzen  Schöpfung 
ist  immerwährend  vorhanden:  zum  Heil  oder  zum  Ver- 
derben ...  da  aber  sitzt  der  Verfasser  des  ersten  oben 
berührten  Schriftleins  Pag.  157  Zeile  4,  5  u.  6  wahrlich 
noch  im  dicken  Nebel." 

Allein  wie  sehr  seine  Erosidee  bis  in  sein  Greisen- 
alter Hößli  beschäftigte  und  ihm  am  Herzen  lag,  davon 
zeugt  die  verlorene  rührende  Klage  im  Konzepte  eines 
Briefes  von  ihm  aus  dem  Jahre  1855:  »Wie  froh  wäre 
ich,  alle  meine  die  Idee  des  Eros  betreffenden  zahlreichen 
Bücher  einem  fähigen  Manne  im  Interesse  einer  ver- 
lassenen Wahrheit  überlassen  zu  können:  und  der  hätte 
bei  mir  den  Rechtstitel  darauf  —  weil  ich  heute  oder 
morgen  sterbe,  denn  ich  bin  schon  71  Jahre  alt."  Und 
hatte  Hößli  auch  mit  dem  Jahre  1838  alle  Hoffnung  auf 
öffentlichen  Erfolg  vollends  aufgegeben,  so  verlor  er  da- 
mit gleichwohl  nicht  die  Lust,  seine  Erosidee  weiter  zu 
begründen,  zu  erforschen  und  zu  vertiefen.  Zeugnis 
dessen  sind  zahlreiche  Auszüge  und  Bemerkungen  seines 
handschriftlichen  Nachlasses,  Notizen,  welche  bis  in  das 
Jahr  des  Todes  des  achtzigjährigen  Greises  reichen,  von 
denen  eine  beschränkte  Auslese  hier  Aufnahme  finden  möge: 

Nov.  1854 :  Es  war  der  Fluch  unserer  Irridee,  die 
auch  am  Leben  dieses  Göttlichen  (J.  v.  Müller)  nagte. 

24.  December  1858:  Glarnerzeitung.  Bern.  Die 
Fleischvergehen  scheinen  sich  auch  in  diesem  Canton, 
wie  in  Zürich,  zu  vermehren.  So  werden  nächstens  vor 
den  Geschwornen  des  Mittellandes  wieder  3  Anklagen 
auf  widernatürliche  Unzucht  verhandelt. 


J 


—    511    — 

*7'  4.  Juni  1859:  Neue  Glarnerzeitung,  3,  Jahrgang, 
kriminal  statistische  Notizen  vom  May  1858  bis  59. 
.  .  .  .  jene  Prozeduren  moderner  Raffiniertheit,  die  ander- 
wärts im  Vordergrund  der  Schwurgericht! ich en  Dramen 
stehen,  kennen  wir  bei  uns  noch  nicht  und  auch  das 
wüste  Feld  der  unnatürlichen  Fleischverbrechen,  die 
anderwärts  in  der  ganzen  Abscheu!  ich k ei t  ihrer  Formen 
immer  wieder  auf  den  Traktanden  stehen,  ist  unter  uns 
Gottlob  unbekannt! 

1859:  Die  Liebe  von  J,  Michelet.  Uebersetzt  von 
F.  Spielhagen,  Leipzig,  J.  J.  Weben  1859.  —  Dir  habe 
ich  Michelet's  ewig  bewunderungswürdiges  Buch  „von 
der  Liebe"  oder  vielmehr  von  der  göttlichen  Tiefe  des 
Weibes  zu  danken  und  durch  solches  die  Ueberzeugung 
gewonnen,  daß  es  wirklich  Mensch  en,  Männer,  Geister 
gibt  wie  dieser  Michelet;  das  sind  Seher,  Lehrer,  Ge- 
miither,  Seelen,  Engelszungen,  Priester  und  Diener  an 
den  Altären  der  Menschheit,  der  Tugend,  der  Religion, 
der  Natur.  Von  diesem  Buch  mochte  ich  viel  reden  — 
das  ist  ein  Sinn,  ein  Griffel,  eine  Sprache,  ein  Geist 
Daß  du  den  Sinn  hattest,  mir  dieses  Buch  mitzutheilen, 
freut  mich  sehr,  —  Ü  daß  wir  auch  über  andre  Sphären 
der  Wunder  dieser  Weltschöpf  ung  solche  Bücher  hatten. ]) 

18.  Nov.  1860:  —  ja!  ja!  aber  um  der  Tugend  und 
der  Vergöttlichung  der  männlichen  Liebe  willen  —  wie 
bei  der  zweigeschlechtlichen  die  Venus  Urania  —  war 
für  die  Männer  liebe  der  Eros  in  Tempeln  und  Gym- 
nasien ,  .  ,  . 

9.  April  1861 :  Landbote  No.  84,  Winterthur.  Ver- 
mischtes. —  Unter  den  Miszellen  eines  deutsehen  Blattes 


*)  Das  Werk  J,  Michelet's,  Die  Liebe,  Übersetzt  von  Fried r. 
Spielhagen,  bildet  3  Bündchen  (2523—2525)  der  Philipp  Reclanf  sehen 
Univers  al-Bibliothek  (Preis  fiO  Pfennige). 


—    512    — 

lesen  wir  folgendes :  In  Vevey  am  Genfersee  genießt  das 
Hotel  des  Trois  Couronnes,  auch  Hotel  Monnet  genannt, 
eines  altbewährten  Rufes.  Aber  Herr  Monnet,  der  dieses 
Etablissement  gründete  und  so  glücklich  emporbrachte, 
genießt  nunmehr  einer  behaglichen  Kühe.  Und  die 
Sache  ist  folgender  Maßen  gekommen.  Vor  etwa  zwei 
Jahren  logierte  in  dem  Hotel  ein  reicher  Russe  und  fand 
an  dem  ihn  empfangenden  Oberkellner,  einem  Frankfurter- 
kinde, ein  besonderes  Wohlgefallen;  ja  seine  Zuneigung 
stieg  so  weit,  daß  er  den  jungen  Mann  um  seine  An- 
sichten und  Pläne  für  die  Zukunft  befragte.  Diese 
waren  so  bescheidener  Natur,  daß  er  die  Frage  seines 
Gönners,  „ob  er  nicht  gern  dieses  Hotel  übernehmen 
würde?1*,  für  einen  Scherz  nahm.  Aber  der  Russe  meinte 
es  anders;  nach  Jahresfrist  kehrte  er  nach  Vevey  zurück, 
hat  das  große  Etablissement  für  1250000  Franken  ge- 
kauft und  unter  bestimmten,  sehr  mäßigen  Bedingungen 
dem  glücklichen  Oberkellner  überlassen,  der  es  hoffentlich 
eben  so  gut  verwalten  wird,  als   der  Gründer  desselben. 

3.  December  1862 :  Landblatt  No.  288.  —  Lucern. 
Jener  Heini,  Bedienter  des  Nuntius,  der  wegen  unnatür- 
licher Vergehen  verhaftet  wurde,  ist  vom  Kriminalgericht 
zu  6  Jahren  Zuchthaus  verurtheilt  worden. 

4.  Juni  1863:  Neue  Glarner  Zeitung  No.  67.  Unter 
Verschiedene*.  Turin.  In  dem  ökandalprozeß  der 
Priesterkongregation  der  unwissenden   Brüder   „Ignoran- 

j  telli*  kommen  ttlglieh  neue  Fakta  zur  Kenntniß,  welche 

es  unbegreiflich  erscheinen  lausen,  wie  diese  Gesellschaft 
ihr  (lewerbe  so  lange  ungestraft  treiben  konnte.  Von 
den  260  ZOgllngen,  welche  das  Institut  von  San  Primi- 
tive umfaßt,  soll  mehr  als  ein  Drittheil  der  viehischen 
Gemeinheit  der  Brüder  zum  Opfer  gefallen  sein.  Der 
Prozeß  gegen  die  Ignomntelli  soll  auch  zu  Untersuchun- 
gen bei    einem    ihnen    verbündeten  Frauenorden  geführt 


—    513 


haben,  wobei  sehr  ärgerliche  Dinge  an  das  Tageslicht 
gekommen  seien. 

6.  Juli  1863 :  Landblatt  No.  159.  Turin.  Bekannt- 
lich ist  vor  längerer  Zeit  ein  Prozeß  gegen  die  Brüder 
„  Ignorant! "  (eine  klerikale  Genossenschaft)  wegen  Ver- 
brechen gegen  die  Sittlichkeit  anhängig  gemacht  worden. 
Das  nun  gefällte  Urtheil  lautet  auf  5  Jahre  Gefängniß- 
strafe  gegen  Bruder  Arcadius  wegen  Unzucht;  zwei  an- 
dere Brüder  worden  auch  der  Unzucht  schuldig  erkannt, 
mußten  aber,  da  kein  Privatkläger  aufgetreten,  frei  ge- 
sprochen werden. 

Der  schwerste  Schlag,  der  Heinrich  Hoßli  überhaupt 
treffen  konnte,  war  ihm  für  sein  Greisenalter  vorbehalten. 
Als  er  1857  oder  1858  nach  Lachen,  Bichterswyl 
(oder  Wadenschwyl)  zog,  übergab  er  den  ganzen  ihm 
noch  verbliebenen  Rest  seiner  „Eros "-Auflage  dem  Besitzer 
der  Eisenhandlung  im  Löwen  zu  Glarus,  Herrn  Josua 
Durst,  der  ihn  oben  im  Ritters  aale  unterbrachte  —  und 
hier  ist,  was  vom  „Eros"  den  Weg  in  die  Welt  noch  nicht 
gefunden  hatte,  vom  10.  bis  11.  Mai  1861  bei  dem  großen 
Brande  von  Glarus  *),  der  die  halbe  Stadt  einäscherte, 
noch  3  Jahre  vor  Heinrich  Hößli's  Ableben,  durch  Feuer 
vollständig  vernichtet  worden. 


*)  Die  Literatur  über  den  großen  Brand  von  Glarus  1861; 
1.  Der  Brand  von  Glarus  am  10/11.  Mai  18(51.  Berichterstattung 
des  Htilfskomite  in  Glarus,  Glarus,  Friedr,  Schund  jun,,  1862.  80 
Seiten  nebst  Beilagen  von  44  und  60  Seiten  in  Quart.  —  2.  Der 
Brand  in  Glarus  in  der  Nacht  vom  10.  auf  den  11.  Mai  1861.  Ab- 
druck aus  der  Neuen  Zürcher  Zeitung  vom  20.  Mai  1861.  Zürich, 
Grell,  Ftißli  und  Comp.  1861.  16  Seiten  nebst  Karte  von  Glarus, 
aufgenommen  am  12.  Mai  1861.  In  Oktav.  —  3.  Das  alte  Glarus, 
Album  mit  Plan  und  20  Ansichten  aus  Glarus  vor  dem  Brande  von 
1861  nach  Aufnahmen  von  H.  Brunner  Haffter  in  Glarus,  in  Licht- 
druck vervielfältigt  von  Rom  ml  er  &  Jonas  in  Dresden.  Mit  er- 
läuterndem Text  herausgegeben  von  der  Gasin nges  ellschaft  in  Glarus. 
Glarus  1901,    10  Seiten  und  18  Tafeln. 

Jalubiich  v.  33 


1 1 


—    514    — 

Zum  Schicksal  eines  Buches  gehört  auch  die  Er- 
örterung, wie  es  vom  Publikum  verlangt  und  wie  es  be- 
urteilt wird. 

Durch  den  großen  Brand  von  Glarus  zu  einer  Rari- 
tät geworden,  ist  der  „Eros*  Hößli's  im  Buchhandel  äußerst 
selten ;  da  aber  Hößli  mit  geschenkten  Exemplaren  nicht 
kargte,  so  kann  man  am  ehesten  noch  darauf  rechnen, 
ein  Exemplar  aufzutreiben,  wenn  man  sich  an  die  noch 
lebenden  Freunde  oder  Verwandten  Hößli's  oder  deren 
Nachkommen  wendet;  allein  auch  dann  wird  man  oft 
eine  Enttäuschung  erleben. 

Gedruckte  literarhistorische  Urteile  über  Heinrich 
Hößli's  „Eros"  sind  mir  keine  bekannten  dem  Riesenwerke 
„Allgemeine  deutsche  Biographie*  (Leipzig,  Duncker  und 
Humblodt)  ist  Hößli  nicht  aufgenommen.  Von  einem 
guten  Freunde  Heinrich  Hößli's  wurde  mir  gesagt,  daß 
der  schweizerische  Schriftsteller  Iwan  von  Tschudi  mündlich 
den  „Eros"  als  ein  gutes  Buch  bezeichnet  habe.  Ein- 
zig Karl  Heinrich  Ulrichs,  Heinrich  Hößli's  Nach- 
folger !)  im  Kampfe  für  Anerkennung  der  Natürlichkeit 
und  sittlichen  Berechtigung  der  gleichgeschlechtlichen 
Liebe,  hat  Hößli  wiederholt  zitiert2)  und  auch  ein  kriti- 
sches Urteil  über  seinen  „Eros"  geäußert.  8)  Er  tadelt  am 
„Eros",  daß  er  ermüdend  weitschweifig  sei,  2  starke  Bände 


*)  Ulrichs  trat  mit  seiner  ersten  Schrift  über  mannmännliche 
Liebe  „Inclusa"  als  Numa  Numantius  1864  —  also  im  Todesjahre 
Heinrich  Hößli's  —  hervor;  erst  am  12.  Februar  1866  erfuhr  er 
vom  „Eros"  seines  Vorgängers,  nachdem  er  bereits  den  letzten 
Federstrich  an  seiner  fünften  Schrift  „Ära  speia  (1865)  getan 
(nach  Ulrichs'  siebenter  Schrift  „Memnon"  1868,   Abt. II  S.  128). 

a)  Ulrichs,  sechste  Schrift  „Gladius  furens"  1868  S.  1—2; 
S.  4,  Fußn.  3;  S.  11,  Fußn.  10;  S.  18,  Fußn.  16;  S.  21,  Fußn.  16  u. 
.20;  —  siebente  Schrift  „Memnon"  1868  I  S.  XIV;  II  S.  X,  6,  7; 
.8.  94,  §  109  u.  110;  S.  128—130,  §  134,8;  —  neunte  Schrift 
„Argonauticus"  1869,  S.  157,  12. 

8)  Ulrichs  siebente  Schrift   „Memnon"  1868  II  S.  119—130. 


—    515    — 

umfasse,  daß  er  etwas  zu  viel  mit  Phrasen  und  etwas  zu 
wenig  mit  Gründen  die  Verfolger  angreife  und  daß  alle 
und  jede  Gliederung  des  Stoffes  fehle.     Jedoch  sei  auch 
dem  9  Eros  \  wie  ihm .  das  An  g  ebo  rensei  n  der  Männer- 
liebe   das    Fundament,    auf    das    er    ihre    Berechtigung 
gründe.     Freilich   werde   dies   Fundament   von   ihm   nur 
behauptet,  nicht  bewiesen.     Wenigstens  sei  das  kein  Be- 
weis,   was    er    dafür    anführt;    urnische  Lieb esge dichte, 
griechisch  e^  römische,  persische  u.  a.     Diese   bewiesen  ja 
nur  die  gar  nicht  bestrittene  Tatsache,  daß   Männerliebe 
existiert      Die  ganze  naturwissenschaftliche   Seite  des 
Gegenstandes,  so  namentlich  die  Muliebrität.  werde  nicht 
berührt.     Einmal    nur    (Eros  I    S,  296)    könne    er  nicht 
umhin,    diesen  Punkt    wenigstens    zu   streifen.     Aber  er 
fürchte,    von    ihm    in    ein  Labyrinth  geführt  zu  werden 
ohne  Ausweg.  Dennoch  sei  Hößli's^Eros"  reich  an  glän- 
zenden Partien,     Erschütternd  sei  neben  allem  edlen  Zorn 
das    unendlich    tiefe  Gedrücktsein,    das    fast    aus  jedem 
Satz  hervorleuchte    und  das  noch  gar  fern  sei  von  jener 
inneren  Sicherheit,    welche  allein    durch    die  Vorahnung 
der  Freiheit  verliehen  werde.     Gegen  Ulrichs1  Kritik  ist 
einzuwenden,  daß  Hößli  die  Muliebrität  des  Urnings  sehr 
wohl    erkannt    hat    und    nicht   nur    im   Band  1    S.    296 
streift,    sondern  im     Band  II  S.  325  eingehender  behan- 
delt;   alle  anderen  Vorwürfe    aber    treffen  auch   Ulrichs 
selbst;    sein    angeblicher    Beweis    ist    nicht    ein    solcher, 
sondern  eine  Hypothese,  welche    viel  Wahrscheinlichkeit 
für   sich    hat;  auch    seine    Schriften  lassen   in  Folge  der 
Art  ihres  Erscheinens  in   12  Heften  innerhalb  eines  Zeit- 
raumes von  15  Jahren   die    gewünschte  Gliederung    und 
Uebersicht   des  Stoffes  vermissen.     Und    schließlich   war 
Hößli  noch  nicht  fertig  mit  seinem  zweibändigen  „Eros", 
sondern  hatte  noch  einen  dritten  Band  geplant* 


33* 


—    516    — 

8.  Stellen  aus  Heinrich  Höfili's  „Eros" 

a.  Allgemeine  Sentenzen. 
Wir  stehen  uns  beim  Suchen  immer  selbst  im  Wege! 

(II  263).  

Es  gibt    einen    religiösen,    einen    politischen,    einen 


I  sittlichen  Fanatismus  (I  52). 


Wir    liegen     erst    in    den    Wehen    für    wahrhaft 
menschliche  Sitten   und  Gesetze  (II,  X). 

Zeit  ist  es,  aus  diesem  Sündenschlaf   zur   Wahrheit, 
zur  Vernunft  und  zum  Recht  zu  erwachen  ....  (1 118). 


Gesetze  ohne  Wissenschaft  sind  Henker  ohne  Obrig- 
keit (I  118).  

Religion  ohne  Liebe,  Staaten  ohne  Gerechtigkeit, 
Kirchen  ohne  Wissenschaft  —  das  sind  vollkommen  teuf- 
lische Dinge  (II  175).     

Wir  sind  vielleicht  zu  unheidnisch,  um  einzusehen, 
daß  wir  kein  einziges  Laster  weniger  als  die  Heiden 
haben  (II  264). 

Aller  Forschung  voran  geht  die  Naturforschung . . . 
Die  Gesohlechtsnatur  des  Menschen  ist  nicht  Wille 
des  Menschen,  nicht  Wahl  des  Menschen;  so  darf  sie 
nicht  stehen  in  unsern  Menschen-Natur-Lehren,  denn  sie 
ist  es  nicht;  die  dießseitige  Auffassung,  Darstellung  und 
Behandlung  des  Menschen  ist  darum  von  der  höchsten 
Wichtigkeit,  weil  eben  hier  alle  Radien  seines  Lebens, 
entweder  verbindend  oder  auflösend,  verwirrend  oder 
erklärend,  verherrlichend  oder  entwürdigend,  glücklich 
oder  unglücklich  machend,  ausgehen  und  zusammen 
treffen  (II  4). 


—    517    — 

Keine  Natur  Wahrheit  hat  eine  andere  Behörde  über 
sich  anzuerkennen,  als  wieder  eine  Naturwahrheit,  also  gar 
keine  —  weil  es  in  der  Wahrheit  keinen  Widerspruch 
und  keine  Rangordnung,  nur  eine  ewige  Harmonie  giebt, 
und  Wahrheiten  nicht  über-  und  untereinander,  sondern 
nebeneinander  stehen,  wie  die  Blumen  des  Feldes,  der 
Flur  oder  des  reichen  und  wohlbestellten  Gartens 
(H,  XI). 


Im  Samen,  im  Keim,  im  Embryo  ist  der  ganze 
Mensch;  wir  können  nichts  in  solchen  hineinbringen, 
nur  sich  entwickeln  lassen  das  in  ihm  Verschlossene,  und 
wenn  schon  viel,  das  in  ihm  ist,  zur  Verkriipplungnöthigen, 
ersticken  und  nicht  aufleben  lassen,  es  doch  nicht  tilgen 
(XI  201—202),  

Der  Hexenglaube  und  HexenprozeU,  der  schreck- 
lichste Abgrund,  in  den  unser  Geschlecht  je  versank,  be- 
stand im  Mangel  der  Naturlehre;  durch  deren  erste 
Schritte  war  er  weg:  weil  man  Gespenster  nur  sieht  — 
wenn's  Nacht  ist  (II,  XXVII). 


Es  ist  in  unserer  und  jeder  Zeit  nicht  genug,  das, 
war  wahr,  was  recht,  was  schön  ist,  zu  studieren,  man 
muß  auch,  es  ist  noch  wichtiger,  das,  was  unrecht,  was 
Unwahrheit,  was  befleckt  und  entstellt  ist,  erforschen, 
enthüllen,  retten,  um  —  eine  bessere  Menschheit  zu 
werden  (II,  IX). 

Wir  sollten  freudig  Alles,  was  uns  auf  irgend  eine 
Weise  an  der  Ausübung  eines  Unrechte  auch  gegen  den 
geringsten  unsrer  Mitmenschen  verhindert.,  was  das  Be- 
gehen eines  solch en  erspart  oder  erwehrt,  segnen.  Aber 
das  einzusehen,  mangelt  es  nns  vielleicht  an  der  dazu 
nöthigen  Demuth,  und  wir  zanken  lieber  darüber  (II,  XV). 


—    518    — 

Weder  übersehen,  noch  verachten,  weder  entstellen, 
noch  verdammen  soll  der  Mensch  etwas  an  seiner 
Schöpfung  —  nur  kennen,  leiten,  erziehen  und  dahin 
stellen,  wo  seine  Endzwecke  sichtbar  werden  können 
(II  243). 


Nur  der  Wahnmensch  sagt  zum  Bruder:  „Das  ist 
nicht  deine  Natur,  weil  sie  die  meine  nicht  ist  —  Sünde 
ist  die  deinige,  weil  sie  wie  meine  nicht  ist  —  verderblich 
ist  deine,  weil  es  außer  der  meinigen  keine  andere  giebt, 
du  bist  nicht  da,  Staat  und  Kirche  wissen  dich  nicht 
und  darum  will  ich  mitwirken,  dich  zu  verderben,  zu 
verdammen;  denn  außer  unsrer  Wissenschaft  und  meinen 
Begriffen  kann  es  nichts  geben"  (I  116 — 117). 


Wie  durch  die  Liebe,  so  ist  der  Mensch  auch  zur 
Liebe  erschaffen,  und  zwar  zu  der,  die  sich  von  selbst, 
ohne  Hinzuthun  eines  Menschen,  in  ihm  kundgiebt,  reget; 
wie  es  auch  noch  in  keines  Menschen  Gehirn,  nicht  ein- 
mal in  dem  eines  Verrückten,  zur  Frage  gekommen  sein 
kann:  was  will  ich  lieben?  Dazu  brauchts  eine  National- 
verrücktheit, für  Individualitäten  ist  sie  unmöglich  .  .  . 
(II  240—241). 


Bei  uns  kennt  man  rechtlich,  sittlich  und  wissen- 
schaftlich nur  die  allgemeine  Liebe  der  zwei  Geschlechter; 
was  nicht  zu  ihr  gehört,  ist  uns  Willkühr,  Selbstbestim- 
mung und  Verbrechen;  das  ist  unser  Standpunkt;  den 
Griechen  aber  wäre  ein  solcher  in  aller  auf  Geschlechts- 
liebe bezüglichen  Menschenbehandlung  und  Menschendar- 
stellung Frevel  an  der  allgemeinen  wie  an  der  besondern 
Menschennatur  gewesen     (I  100). 


—    519    — 


Wo  ein  Mensch  mit  gutem.  Willen  und  klarer  Ein- 
sicht gegen  irgend  ein  Anliegen  der  Menschheit  eine  Er- 
gänzung, einen  Einklang,  .Erklärung  und  Genugthuung 
für  und  gegen  einen  geachteten  oder  verachteten  Gegen- 
stand aufzufinden  bemüht  und  dazu  von  der  Natur 
gleichsam  bestimmt  und  gestimmt  ist,  da  kann  nur  ein 
entartetes  Geschlecht  ungeprüft  verfolgen;  die  SchäcUich- 
Erklärung  eines  Unschädlichen  ist  nichts  anderes  als 
Schuldige  machen,  um  sie  bestrafen  zu  können  (II,  IX). 


So  grundfalsche  Ansichten  haben  wir  gräßlicher 
Weise  bei  der  Leitung,  Erziehung  und  aller  Behandlung 
von  Millionen  eben  so  menschlicher  als  schuldloser  Einzel- 
wesen fiir  ihre  leibliche  und  geistige  Zerstörung  gesetzt 
und  festgehalten  und,  erblindet  für  Wahrheit  und  Natur, 
das  Vorhandene  nicht  gesehen  und  das  Nichtvorhandene 
am  Platz  des  Vorhandenen  behandelt  und  verkündiget. 
Aber  die  Lügen,  die  sind  wahrlich  schlechte  Grundlagen 
der  Menschenerziehung,  der  Sitten  und  Gesetze.  Wahrheit 
mangelt  unserm  Leben  und  Wahrheit  seinen  Richtungen. 
Auf  Lügen  gebaute  Sitten  verwandeln  endlich  das  Leben 
selbst  in  eine  Lüge  (II  197). 


Der  Gesetzgeber  muß  jede  vorhandene,  wirkliche 
Natur,  die  der  Gesellschaft  gefährliche  Handlungen  be- 
gehen könnte,  wissen,  beachten,  durchschauen,  unter  das 
Gesetz  stellen;  aber  das  Gesetz  darf  nicht  den  Menschen 
aufheben,  darf  nicht  lügen,  und  darf  keine  Naturerschei- 
nung als  Nichtnatur  erklären,  um  sie  verfolgen  zu  können. 
Der  Mensch  soll  im  Gesetz  groß,  nicht  klein  werden. 
Der  Gesetzgeber  muß  überall  Wahrheit  suchen  und  über- 
all Wahrheit  reden,  denn  wichtiger  als  bei  ihm  ist  sie 
nirgends.  Das  Gesetz  ist  in  der  Natur  von  Gott  und  im 
Gesetz  ist  das  Wesen  Gottes.  Im  Gesetz  ist  der  Mensch 
von  Gott   und  sich  selbst  am   höchsten    gestellt.     Laster 


—    520    — 

und  Verbrechen  verhüten,  oder  sie  im  Geheimen  und 
Oeffentlichen  gleichsam  künstlich  erzeugen,  hervorbringen, 
noth wendig  machen,  das  sind  verschiedene  Dinge.  Am 
gewissesten  wird  die  unterdrückte  Natur  lasterhaft  und 
begeht  Verbrechen,  denn  sie  sind  alle  auf  eine  Natur, 
die  wir  ehren  und  leiten  .sollen  und  die  kein  Verbrechen 
ist,  zurückzuführen  und  sind  darum  aber,  wegen  ihrer 
Folgen  und  Einflüsse,  wieder  nichts  desto  weniger  Ver- 
brechen (II  250). 


b.  Bemerkungen   über   Zweck   und   Bedeutung 

des  Eroswerkes. 

Wer   ein    mit   Blut   gefärbtes    Samenkorn    auf    den 

Brachfeldern  des  Guten  auferweckt,  der  arbeitet  im  Garten 

und  Vertrauen  Gottes  an  der    Menschheit  (I  189 — 190). 

Das  Schicksal  dieser  zwar  äußerst  mangelbaren  Schrift 
wird  dennoch  ein  Meilenzeiger  und  Gericht  dieser  Zeit 
sein  für  den  Geist  der  Geschichte  der  Menschheit 
(II,  XXIII). 

Habe  ich  meine  Wahrheit  und  Erfahrungen  unge- 
lehrt geschrieben,  so  schreibe  sie  gelegentlich  ein  anderer 
gelehrt;  habe  ich  sie  nicht  christlich  geschrieben,  so  schreibe 
sie  ein  anderer  christlicher.  Wahrheit  aber  ist  sie  und 
wenigstens  doch  rein  menschlich  geschrieben  —  eben  so 
gewiß,  als  sie  aller  Christenheit  neu  ist  —  und  wenn  es 
unchristliche  Wahrheiten  geben  könnte,  es  läge  die  Schuld 
nicht  an  der  Wahrheit  —  weil  es  weder  im  Himmel  noch 
auf  Erden  eine  einzige  gibt,  die  eine  andere  zu  widerlegen 
vermöchte  (I,  XXV— XXVI). 


Ja,  es  sind  da  nun  große  Menschennamen  (die 
Stimmen  und  Zeugen)  entweder  wissenschaftlich  zu  reinigen 
oder  —  mit  neuem  Unflat    und    alter  Blindheit  zu  ver- 


—     521     — 


unstalten;    die    Wissenschaft    dieser    Zeit   aber  wird  nun 
von  diesen  beiden  das  thun,  was  — -  sie  kann  (II  52). 


Wer  eich  über  das  bisher  Aufgeführte,  über  diesen 
Theil  der  alten  klassischen  Litteratur,  über  diese  Stimmen 
des  Erdkreises  jener  und  aller  Zeiten  nicht  nach  Licht 
und  Erklärung  umsehen  mag,  der  sitzt  wahrlich  unwürdig 
auf  jedem  Lehrstuhl,  er  sei  der  Alterthuniskunde,  dem 
Recht,  der  Philosophie,  kurz,  dem  Genius  des  Menschen- 
geschlechts, in  welcher  Richtung  es  immer  sei,  geheiliget, 
er  befleckt  ihn!  (II  161). 


„Ueber  nichts  Göttlicheres  kann  wohl  ein  Mensch 
einen  Beschluß  zu  fassen  haben,  als  über  seine  eigene 
und  seiner  Angehörigen  Ausbildung"1)  und  „Manches,  was 
im  Allgemeinen  als  unbedeutend  erscheint,  kann  dennoch 
auch  aus  besonderen  Gründen,  für  viele  oder  einige,  von 
Werth  sein,  —  wenn  das  Kenn  eräuge  solches  entdeckt 
und  an's  Licht  zieht"  -).  So  wäre  und  ist  der  Gegenstand 
dieser  Schrift,  über  welchen  wir  noch  ganz  im  Finster» 
sitzen,  an  und  für  sich  unbedeutend,  aber  unsere  Mei- 
nungen, unsere  Urthe.il  e,  Vorstellungen  von  ihm,  das,  was 
wir  aus  ihm  gemacht  haben,  was  wir  auf  ihn  gründen, 
das  ist  jetzt  über  den  halben  Erdkreis  noch  eine  weit 
gefährlichere  Pest,  als  die  blos  vorübergehende  Cholera- 
Epidemie*  Wenn  einer  an  und  für  sich  allenfalls  unbedeu- 
tenden Sache  eine  solche  Richtung  gegeben  wird,  daß 
dadurch  Millionen  Menschen  vernichtet  werden,  auf 
tausendfache  Weise,  alsdann  ist  sie  nicht  mehr  klein 
und  unbedeutend,  vielmehr  aller  Untersuchung  reif  und 
werth  (I  95—96). 


l)  Plato, 

3)  v.  Rotteck. 


—    522    — 

.  .  .  wir  haben  in  diesem  Gebiete  nur  Schriften,  die 
uns.  nichts  erklären,  und  andere,  die  uns  nicht  erklärt 
sind.  Die  gegenwärtige,  unter  völlig  ertödtenden  Um- 
ständen und  Drangsalen,  unter  unaufhörlichen  Ruthen- 
streichen, aber  auch  unter  unaufhörlicher  Begeisterung 
für  alle  Wahrheit  geschrieben,  ist  nur  bloße  Hindeutung 
auf  die  hier  ja  nicht  kunstgerecht  entwickelte  oder  be- 
leuchtete Idee,  und  noch  viel  weniger  ist  sie  die  Spezial- 
Charte zum  entdeckten  neuen  Land  —  aber  sie  ist  gleich- 
sam das  Gefühl,  die  Ueberzeugung  von  dessen  Dasein, 
von  seiner  nöthwendigen  Nähe  und  von  der  Lücke  auf 
unserm  Globus  der  Anthropologie.  Aufmerksame  Reisende 
hören  und  sehen  ohnehin  in  dieser  Gegend  immer  so 
wunderlich  und  bedeutsam  brausen  und  tönen  und  leuchten, 
die  einen  Gespenster  und  die  andern  Geister  durch  dicke 
Nebel  auf-  und  abhuschen,  und  es  sollen  da  die  Alten 
laut  Bericht  und  —  Versteinerungen  sogar  eine  ihrer 
kostbaren  und  wichtigen  Pflanzungen  besessen  haben  — 
und  Metallgruben,  aus  denen  jetzt  immer  noch  Kobolde 
aufhüpfen  und  hie  und  da  eine  Apotheke  noch  Gift  — 
aber  nur  granweise  und  gegen  die  polizeilichen  Be- 
stimmungen, mithin  nicht  ohne  Gefahr  für  ihre  eigene 
Existenz,  verkauft  (II,  II). 


Für  Menschen,  die  noch  nie  eingesehen,  nie  empfun- 
deq  haben,  welchen  Raum  die  Liebe  in  ihrem  irdischen, 
individuellen  Dasein  einnimmt,  habe  ich  nicht  geschrieben, 
auch  nicht  zum  Zeitvertreib,  denn  Menschen  haben  doch 
keine  zu  vertreiben.  Ich  weiß,  es  ist  dieses  ein  trau- 
riges Buch,  aber  ich  weiß  auch,  daß  es  ein  Samenkorn 
reiner  Menschlichkeit  ist;  ich  werfe  es  trauernd  und 
hoffend  unter  Disteln  und  Dornen  —  dazu  fiel  mir  das 
ernste  Loos;  und  der  Mensch  mag  ja  solchem  Schicksal 
nicht  entgehen.  Mit  ertödtenden  Lebensverhältnissen 
ringend,  bin  ich  wohl  auch  schon  im  Begriff  und  in  Ver- 


—    523    — 


suchung  gestanden,  diese  Schrift  aufzugeben;  aber  es  war 
der  Satan ;  und  dann  standen  wieder  vor  mir  das  Gericht 
und  die  ewigen  Griechen  und  von  seinen  Weisen  und 
Helden,  seinen  Sängern  und  fiednern,  seinen  Künstlern 
und  Gesetzgebern  diejenigen,  die  der  Natur  des  Eros, 
von  der  Plato  immer  redet,  selbst  angehörten,  und  die  iu 
ihr  und  durch  sie  geworden  sind,  was  sie  in  ihr  und  ihrem 
Griechenland  der  Menschheit  werden  konnten;  und  ich 
fragte  und  sah  wieder  vor  mir,  was  wir  aus  ihnen  gemacht 
hätten  —  unsere  Erwürgten  —  die  todten  Hingerichteten 
und  die  lebendigen  Hingerichteten  und  die  noch  nicht 
gebornen  Hingerichteten  und  die  unseligen  Mütter  an 
den  Wiegen  der  schuldlos  Verdammten,  die  Richter  und 
Erzieher  mit  verbundenen  Augen  —  und  der  Todten- 
gräber  zuletzt  den  Sargdeckel  über  meine  Nase  schiebend  . . . 
dann  faßte  mich  wieder  siegend  die  Macht  der  Menschen- 
liebe und  der  Wahrheit  mit  ihrer  ganzen  Gewalt  an 
und  ich  suchte,  dachte  und  schrieb  wieder  fort  und 
wendete  sorglos,  selbstvergesscnd  meine  Augen  vorsätz- 
lich ab  von  allen  denen,  die  dafür,  wie  ich  wohl  weiß, 
an  meinem  Verderben  arbeiten.  Zu  schon  begangenen 
Verbrechen  schweigen,  das  lasse  ich  hier  liegen;  wenn 
aber  Greuelthaten  begangen,  wenn  Feuer  eingelegt,  ver- 
giftet und  das  Vaterland  verratlien  und  der  Unschuldige 
geschlachtet  werden  will  —  alsdann  habe  ich  menschlicher 
Weise  durchaus  keine  Wahl  mehr  zwischen  reden  und 
schweigen  —  zwischen  Schuldlosigkeit  und  Theilhaftig- 
keit  —  an  dem,  so  geschieht!  -*-  Das,  Mitmenschen,  ist 
wieder  der  individuelle  Ursprung  dieses  Buchs,  Wer 
aber  mit  über  Tod  und  Leben  entscheidendem  Wahn 
und  der  solchen  aufhellenden  Wahrheit  blos  geistreich 
uud  gewissenlos  um  Geld  spielt,  mit  beiden  seinen  Spott 
treibt,  Wahrheiten  nach  Gewinn  und  Ruhm  wiegt  und 
mißt  und  feil  bietet,  an  geheiligte  Lügen  sich  festklammert, 
in    allerlei  Narrentrachten  verschachert,    um  seiner    ver- 


—    526    — 

geht  und  sich  verschließt,  wo  sie  sucht  und  wo  sie  fin* 
det,  wo  es  ihr  Tag  ist  und  Nacht  ist  und  Reichthum  ist 
und  Armuth  ist  und  ihr  Himmel  ist  und  ihre  Hölle  ist? 
Muß  die  Wissenschaft  am  Menschen  das  Vorhandene 
aufsuchen  oder  das  Nichtvorhandene?  Muß  die  hier  zu 
erledigende  Frage  von  der  Natur  beantwortet  werden 
oder  nicht?  An  wen  kann  und  wird  da  eine  wahre 
Menschenforschung  ihre  Fragen  stellen?  Oder  soll  oder 
darf  oder  muß  sie  da  gar  nicht  fragen,  nur  verurtheilen, 
verfluchen,  verzerren,  verwirren,  tödten,  läugnen,  hin-» 
richten?  (H  163). 


Wenn  diese  Neigung  in  der  wirklichen  Natur,  wenn 
sie  Natur  und  Wirklichkeit  selbst  ist  und  als  ihr  Gesetz 
in  tausend  unabänderlich  niu*  für  sie  bestimmten  Wesen 
besteht;  kann  es  in  diesem  Fall  noch  schwer  zu  ent- 
scheiden sein,  wer  da  als  Unmenschen  und  Barbaren  ge- 
handelt habe  und  wer  menschlich,  wir  oder  die  Griechen ! ! 
Und  welche  Folgen  uns  und  ihnen  da  zu  Theil  werden  mußten 
und  konnten.  Und  wenn  sie  ist,  diese  Liebe,  ist  es  gut, 
recht,  rathsam,  daß  sie  als  solche  außer  unsern  Gesichts- 
kreisen sei  und  durch  die,  so  fälschlich  an  ihr  nichts  zu 
verlieren  glauben,  in  den  Verbrechertafeln  klebe  ?  — 
(II  282). 


Der  Griechen  Behandlung  der  Männerliebe  eröffnete 
den  männerliebenden  Naturen  eben  so  ein  sittliches 
Heiligthum  —  wie  sie  und  wie  wir,  in  der  Ehe,  für  die 
Liebe  der  beiden  Geschlechter  eines  eröffnet  haben.  Die 
Griechen  waren  durch  ihr  Wissen  und  Festhalten  der 
Unzuverläßigkeit  der  äußern  Kennzeichen  im  Geschlechts- 
leben des  Leibes  und  der  Seele  auf  ein  weit  geistigeres, 
sinnigeres  und  mannigfaltigeres  Beachten  alles  mensch- 
lichen Innenlebens  und  eben  dadurch  auch  auf  einen 
vielseitigeren  Kreislauf  von    Kräften    und   Formen    und 


—    527    — 

Eichtungen  des  allgemeinen  Mens chth ums  geleitet  als  wir 
(I  297—298). 

Naturwurzeln  haben  alle  Verbrechen;  Gut  und 
Habe  besitzen  wollen  ist  Natur,  Zorn  und  Rache  sind 
Natur,  in  der  zweigeschlechtlichen  Liebe  sind  die  Wur- 
zeln zahlloser  Verbrechen  und  zahlloser  Tugenden  und 
großer  Handlungen.  Die  wahrste  Menschenkunst  und 
Wissenschaft  hat  aber  keinen  wesentlicheren  Beruf,  als 
der  ist,  die  Wurzelfasern  der  menschlichen  Verbrechen 
und  Tugenden  aufzusuchen  und  darzulegen  und  ihnen 
in  ihre  untersten  Tiefen  nachzuspüren;  beide  sollten 
gerade  da,  wo  ihre  Blicke  die  natürlichen  Wurzeln  eines 
Verbrechens  nicht  erreichen,  nachdenkend  stille  stehen 
und  eben  so  ernst  als  demüthig  eine  neue  Aufgabe  der 
Seelenforschung  glauben  lernen.  Griechen  haben  keine 
Tugenden  zu  begründen  und  eben  so  keine  Laster  zu  be- 
strafen gesucht,  deren  innerer  Zusammenhang  mit  der 
Menschennatur  ihnen  nicht  klar  gewesen  wäre;  aber  unsere 
hohe  Menschenkunst  —  die  ist  über  solche  Kleinigkeiten 
weit  erhaben  (II  152—153). 


Sitten  und  Gesetze  für  Erschaffung  oder  Zernichtung 
einer  Liebe  sind  lächerlicher,  oft  aber  verbrecherischer 
Unsinn  gegen  die  Schöpfung,  gegen  die  Natur  des  Menschen ! 
Die  Griechen  sind  frei  von  ihm  —  wir  aber,  indem  wir  die 
eigenthümliche  Daseins-Sphäre  der  Natur  des  Eros  der 
der  andern,  allgemeinen,  zweigeschlechtlichen  auferlegen, 
begehen  ihn  in  beiden  Richtungen  zugleich  und  im 
Sitten-  und  Criminalwesen  wird  das  Lächerliche  zum 
bittern  Ernst.  Wir  glauben  eine  Proklamir-  und  Trans- 
portirbarkeit  der  Geschlechtsliebe;  wir  bilden  uns  ein, 
es  sei  durch  uns,  durch  unsere  sittliche  Erhabenheit  das- 
jenige nicht  mehr  vorhanden,  was  den  Griechen  durch 
ihre  Sittenlosigkeit,    durch    die  Art  und  Weise  ihres  un- 


—    528    — 

gebundenen  Lebens  in  das  Leben  gekommen  sei.  —  Diese 
schamlose  Verkündigung  steht  wieder  ganz  neu,  als  ein 
Götze  dieser  verrosteten  Zeit,  breit  und  frech  in  einer 
bei  uns  vielgelesenen  Zeitschrift  (II,  XXIX). 


Eben  weil  wir  jene  Liebe  als  Natur  nicht  kennen 
und  als  Unnatur  weglästern  aus  allem  Leben,  aus  dem 
unsrigen  wie  aus  dem  der  Griechen,  seine  ganze  Entfaltung, 
alle  seine  geistigen  Einflüsse,  alle  im  Wesen  des  Menschen 
wurzelnden  und  vorbereiteten  Natur-  und  Kunstgestal- 
tungen, was  alles,  theils  durch  den  Natursinn  der 
Griechen,  wie  durch  die  Hände  ihrer  Weisen  als 
die  zarteste  und  reinste  Lebensentwickelung  aufblühte, 
noch  nie  mit  Ehrfurcht  und  Bewunderung,  nicht 
einmal  mit  Schonung  oder  frommem  Nachdenken 
angeschaut  haben,  so  halten  wir  nur  ein  Teufli- 
sches, ein  vom  Göttlichen  Abgetrenntes  oder  ihm  in 
und  an  sich  entgegenstehendes  Scheusal  in  allen  unsern 
Forschungen  und  Lehren  und  Auslegungen  und  An- 
wendungen der  Griechen  fest.  Aber  nur  verworfenen 
Menschen,  ohne  allen  Kunst-  und  Natursinn,  kann  dieses 
ohne  Bedeutung  sein.  Es  mangelt  uns  da  an  allem  Licht 
und  vorzüglich  an  dem  heiligen  Element  der  Menschen- 
liebe Jesu  (II  203). 

Der  Lasterhafteste  kann  die  Frauen  und  der  Tugend- 
hafteste die  Männer  lieben.  Die  Erde,  die  Geschichte  ist 
dieser  Erweise  voll;  keine  Liebe  ist  an  sich  Tugend  oder 
Laster,  so  wenig  als  Wille  und  Selbstbestimmung.  In 
diesen  wenigen  und  einfachen  Wahrheiten  liegt  wahrlich 
ebensowohl  der  Erweis  unseres  Irrglaubens  als  unsers 
Irrwissens,  ebensowohl  unseres  Unrechts  als  unserer 
Schmach  —  und  die  volle  Gewißheit,  daß  wir  bis  auf 
diese  Stunde,  schon  durch  unsere  finstern  Lästerungen 
allein,  noch  in  jener  entmenschenden  Stockfinsterniß    der 


—    529    — 

Hexen-  und  Ketzerzeit  sitzen  und  einem  gräßlichen  Wahn- 
götzen einen  bedeutenden  Theil  unsers  gesunkenen  Ge- 
schlechts hinmorden.  Der  Wahn  würgt  mit  verhüllten 
Augen,  er  kennt  seine  Schlachtopfer  nicht;  er  ist  der 
Abgott  wähnender,  unwissender,  blinder  Völker  und  Zeiten. 
Die  Priester  seiner  Tempel  sind  nicht  blos  Pfaffen;  auch 
unsere  Geld-  und  Mode-Schriftsteller,  die  ihre  Produkte 
nach  Thalern  und  Zeitumständen  modeln  und  schwelgen, 
sind  es;  —  ihre  Gegner  darben  jederzeit  gefährdet,  ver- 
folgt und  verdächtigt  (II  233). 


Hat  die  Liebe  der  beiden  Geschlechter  Zwecke  und 
Rechte  und  Pflichten?     Giebt  der  Mensch  sie  sich  selbst 
oder  ist  sie  ihm  gegeben?    Kann  er  sie    ablegen,    wenn 
er  sie  hat?     Kann  er  sie  annehmen,    wenn    er   sie  nicht 
hat?     Giebt  es  keine  Menschen  ohne  sie    oder   sind  die, 
so  sie  nicht  haben,  keine  Menschen?     Was  sind  sie  dann? 
Was  können,    was    sollen,    was    müssen   sie  sein?     Was 
waren  sie  den  Griechen  ?     Was  haben  wir  ein  Recht  aus 
ihnen  zu  machen?     Und    was    sie   aus  sich  selbst?     Ge- 
hören sie  keinem  Plan,    keinem  Zweck,    keiner  Idee  der 
Schöpfung  an?     Sind    sie    wirklich    außer    diesem    allem 
und  doch  da?     Soll  man  ihnen  zu  dem,  was  sie  werden 
können,  verhelfen,  wie   die  Griechen?     Und  warum  sich 
ihnen  entgegenstellen?     Sind    sie   von    Gott. selbst  außer 
seine  Haushaltung  gestellt,  kann  er  sie  erschaffen  haben, 
wenn    es    ein    Recht   zu  ihrer  Verfolgung  giebt?     Kann 
er  sie  erschaffen  haben,   wenn   es  ein  wahres  Naturrecht 
für  die  Zernichtung  dieses  ihres  Daseins  giebt?  Gehören  sie, 
in  diesem  Fall,    nicht  in  den  Plan  eines  weltregierenden 
Satans  und  keinem  Gott  an ! !      Und  wenn  sie  sind,  diese 
Wesen,  und  in  diesem  Augenblick  ihrer  wieder    eben  so 
viele,    als  in  jeder  Vergangenheit,  sich  der  Stunde  ihrer 
Geburt  für  diese  Erde  nähern,    hat    die  Menschheit  und 
die  Wissenschaft  ihnen    kein    Menschenschicksal    zu   be- 

Jahrbueh  V.  34 


—    530    — 

reiten  ?     Und  endlich,  wer,  welche  Kunst>  welche  Wissen- 
schaft löset  alle  diese  Fragen?  (II  165—166). 


Unsere  Antipathie  gegen  eine  vorhandene,  an  ihrem 
Dasein  und  dessen  Wirkungen  völlig  schuldlose  Menschen- 
natur hatten  die  Griechen  (was  eben  mit  und  bei  ihrem 
vollendeten  Schönheits-  und  Zartsinn  uns  als  ein  höchst 
wichtiger  Umstand  auffallen  sollte)  nicht,  sondern  vielmehr 
das  unbedingteste  Mitgefühl,  das  absolut  auf  nichts  An- 
derem, als  da  diese  Liebe  Natur  ist,  auf  Menschensinn, 
Gefühl,  Güte  und  Liebe  beruhen  konnte.  Sie  hatten 
eine  geläuterte  Abneigung  gegen  Unnatur,  wir  dagegen 
haben  eine  solche  gegen  die  Natur.  Wenn  wir  von  da 
aus  den  merkwürdigen  Bedingungskräften,  die  unser  Ge- 
fühlsvermögen beherrschen,  nachsinnen,  so  werden  wir 
gar  mannigfaltige  Aufschlüsse  über  die  Macht  des  Wahns, 
der  Vorstellung,  der  Irrideen,  des  Hexenglaubens  und 
Hexenprozesses  aufzufinden  und  festzustellen  Anlaß  und 
Gelegenheit  finden.  Der  Irrthum  unserer  Ansicht,  nach 
welchem  es  sich  hier  um  gar  keine  Natur  handelt,  ist  all- 
zugroß, als  daß  seine  Folgen  und  Wirkungen  nicht  noth- 
wendig  schrecklich  sein  müßten.  Diese  Sphäre  ist  uns 
völlig  leer  an  Licht,  an  Werth,  an  Wahrheit,  an  Gott, 
also  im  engsten  und  eigentlichsten  Sinne  —  gottlos 
(II,  XVII). 

Man  kann  nichts  Armseligeres  sagen,  als  man  dürfe 
irgend  einem  rein  psychischen  Leben,  seiner  leiblichen 
und  sinnlichen  Offenbarungen  wegen,  nicht  in  die  Augen 
sehen,  oder,  da  wo  das  Leibliche  eines  Psychischen  her- 
vortrete, oder,  da  wo  unsere  Augen  nur  das  Physische 
wahrzunehmen  vermögen  —  sei  kein  Seel-  und  Geistleben 
im  Innern  und  Plato  habe,  wie  dieser  Versuch,  da  blos 
zur  Beschönigung  eines  Lasters  geschwärmt !  —  Laster  und 
Plato!     Laster  und  Liebe!!     Griechen  und  Unnatur !! !  — 


— -^ 


—    531     — 

Da  sind  die  Stempel  unsers  sittlichen  Verfalls,  unsers 
geistigen  Elends;  ja  wir  würden,  wenn  man  uns  die  Aus- 
fertigung eines  Verzeichnisses  abscheulicher  Gesetze,  die 
die  Menschen  zu  allen  Zeiten  gemacht  haben,  auftrüge, 
solches  mit  denen  der  Griechen,  bezüglich  auf  den  Eros,  nicht 
blos  erweitern,  nein,  anfangen  und  ein  Verzeichniß  unsrer 
sittlichen  und  moralischen  Vorzüge  vor  den  Griechen  auch 
von  dieser  Seite  her  beginnen  und  krönen  —  nicht 
wahr  ?  Wer  aber  einen  Plato  begreift,  der  begreift  auch 
leicht,  daß  es  mit  unsrer  Ansicht  ja  nicht  so  ganz  richtig 
sein  könnte,  wie  wir  glauben.  Wir  sind  eine  Nation, 
welche  ihr  Geschlechtsleben  noch  nicht  zu  der  ihm  ein- 
wohnenden geistigen  Erhabenheit  und  Bedeutung  in  die 
freie  Idee  empor  zu  heben  gelernt  hat  (II,  XVI). 


Wir  haben  diese  Keim-  und  Wurzelgewalt,  Neigung, 
Sympathie,  Instinkt,  Fleisch,  Gemüth  nur  verdammen, 
nicht  ertödten  und  nicht  erziehen  mögen  !  Und  wahrlich, 
wahrlich,  kein  Barbar  und  Unmensch  aller  Zukunft  wird 
sie  ausrotten,  denn  sie  sind  Wahrheit  und  andere  Natur 
bedingende  Natur  von  Gott  —  sie  werden  immerdar 
sein,  wie  sie  immerdar  waren;  sie  müssen,  als  gegebenes, 
erschaffenes  Fleisch-  und  Sinuengesetz,  erzeugen  ent- 
weder was  sie  den  Griechen  erzeugten  oder  was  sie  uns 
erzeugen!  !  Was  sie  aber  seien  als  Gesetz  der  Natur, 
unabhängig  und  völlig  geschieden  von  dem,  was  wir 
von  ihnen  lehren,  wie  von  dem,  was  die  Griechen  von 
ihnen  gelehrt  haben,  und  wo  und  warum  —  darüber, 
kalter  Sünder,  willst  du  rechten  mit  dem  Ewigen  und 
anspeien  und  verurtheilen  einen  Plato,  und  dich  aber 
baden  in  den  Lüsten  deiner,  andern  Zwecken  dienenden, 
sonst  gleichen  Natur  .  .  .  und  eine  andere  anders  machen, 
als  sie  ist  —  und  zur  brennenden  Sonne  aufwärts  kehren 
und  dörren  die  frevelhaft  vom  Erdreich  entblößten 
Wurzeln  und  gewaltsam  reißen    abwärts    aus    dem  ener- 

34* 


—    532    — 

gischen  Licht  und  dem  luftigen  Aether  und  Glanz  und 
Duft  des  Ewigen,  Geistigen,  in  den  Erdenkoth  die  Kronen 
und  Wipfel  der  Seelen,  des  Lebens,  der  Liebe,  und  wenn 
sie  zerstampft  sind  und  erwürgt  sind  und  entheiliget  sind 
und  gebrandmarkt  von  deinem  Wahne,  alsdann  predigen 
deine  Rechte  und  deinen  Triumph  der  Hölle  über  deine 
Schande,  über  dem  Zerstörten,  und  verkündigen  die  Herr- 
lichkeit und  das  Heil  deiner  Völker  und  Zeiten  den 
Völkern  und  Zeiten  und  das  Ermordete  abnagen,  wie  ein 
Hund,  und  tausend  Lügen,  frech  und  entmenscht,  hinauf- 
heulen zum  verspotteten  Gott  und  hinab  zur  betrogenen, 
verführten,  entstellten  und  nicht  verstandenen  Mensch- 
heit!!! (II  24—25). 

Daß  diese  Liebe,  die  kein  Wesen  des  andern  Ge- 
schlechts anfachet,  wohl  aber  das  eigene,  diese  griechische 
Liebe,  nicht  oder  wenig  mehr  sei,  gegen  diese  größte 
aller  gedruckten  Lügen  auf  Erden  rufe  ich,  so  laut  ich 
vermag,  Jedem  das  Gegentheil  zu;  sie  ist  noch  und  zwar 
aus  dem  ganz  einfachen  Grunde,  weil  sie  Natur  ist,  weil 
sie  es  einmal  war  und  deßhalb  auch  nie  als  mit  dem 
Menschengeschlecht  selbst  aufhören  kann  ....  Und  ihr 
fraget  nun,  wo  und  was  sie  denn  jetzt  sei,  diese  Liebe 
der  Griechen,  und  ich  will  euch  antworten :  O,  es  ist  sehr 
leicht.  Sie  schleicht  als  Laster  unter  den  Lasten  einer 
allgemeinen  Verdammung,  zerstöret  und  zerstörend,  segen- 
und  kraft-  und  thatenlos,  voll  Schuld  und  Qualen,  außer 
aller  Menschenwürde  und  Idee,  meist  in  abstoßenden, 
nicht  Griechengestalten,  einen  ganz  eigenen  Kreis  der 
Verdorbenheit,  der  Laster,  der  Sünden,  der  Verderben, 
deren  Ursprung  wir  nicht  suchen,  bildend,  in  unserer 
Mitte  umher,  sie  durchrinnet  als  eine  eigne  vergiftete, 
reiche  Quelle  der  Entwürdigung  und  des  Elends,  als 
Irridee  ein  ganzes  Reich  des  Guten  und  Menschlichen 
verschlingend,  alle  Kreise  unsers   häuslichen  und    öffent- 


—    533    — 

liehen  Lebens,  nachtet  als  schreckliches  Räthsel,  verwahr- 
loset, in  sich  selbst  zerrüttet  und  versunken,  über  tausend 
schuldlosen  Familien,  heulet  ausgestoßen  in  tausend  Ge- 
fängnissen unseres  Welttheils,  sich  selbst  und  der  Stunde 
ihrer  Geburt  fluchend,  in  Nacht  und  Finsterniß  gehüllet, 
ein  täglich  sich  erneuendes,  selbstverzehrendes  und  un- 
aufhörlich widersprechendes  Ungeheuer,  und  liefert,  so 
gestaltet,  Kerkermeistern  und  Henkern  Arbeit  und  Brod 
oder  löset  auch  zuweilen  hie  und  da  die  Schmachfesseln 
eines  also  verdämmten  Erdenlebens,  das  Räthsel  solchen 
Daseins,  durch  uns  unerklärliche  Selbstmorde  ....  Und 
es  spricht  in  ihnen  die  heilige  Nemesis  und  redet  der 
Engel  der  Menschheit  fürchterlich  warnend  und  weinend 
für  meine  Idee!  (II  237—239). 


Unsere  ganze  Behandlung  dieser  Erscheinung,  wie 
wir  alle  gar  wohl  wissen,  beruht  lediglich  auf  dem  Aus- 
spruch: „Sie  ist  nicht  Natur."  Das  menschlichste  und 
in  sich  klarste  Volk,  das  je  gelebt  hat>  vor  dem  wir 
nichts  voraus  haben,  als  etliche  mechanische  und 
physikalische  Erfindungen  und  Maschinen  (von  denen 
die  jetzige  Menschheit  selbst  die  größte  und  merkwürdigste 
ist),  dieses  Volk  aber  sagte:  „Sie  ist  Natur."  Wir  aber 
und  die  Schand-  und  Schmachzeiten  alles  Menschlichen 
sagen  das  Gegentheil;  aus  diesen  ganz  entgegengesetzten 
Ansichten,  Aussprüchen  und  Behandlungsweisen  sind  dann 
auch  die  sich  so  vollständig  entgegengesetzten  Wirkungen 
und  Einflüsse  entstanden;  —  ob  darin  denn  nun  für  uns 
auch  weiters  keine  Bedeutung  und  keine  fernere  Lösung 
für  Menschenrecht  und  Wissenschaft  mehr  liege,  das  ist 
wieder  eine  andere  und  ebenfalls  noch  nie  beantwortete 
Frage.  Der  Griechen  Menschensinn  und  Menschenbe- 
handlung war  auf  Menschennatur-Wissenschaft  gegründet; 
unsere  aber  wurzeln  in  Zeiten,  wo  das  Wort  und  der 
Begriff  Natur  auf  den  Scheiterhaufen  führte.     Sollte    es 


—    534    — 

in  der  That  noch  nicht  möglich  und  noch  nicht  an  der 
Zeit  sein,  sowohl  der  Griechen  Ja  als  unser  Nein  auf 
die  Wage  ächter  Menschen-  und  Naturforschung  zu  legen? 
Schaudert  uns  etwa  vor  den  Verbrechen,  die  durch 
solchen  Entscheid  auf  uns  erweislich  würden?  Wollen  wir 
sie  lieber  noch  anhäufen  und  auf  den  Nacken  unserer 
Kinder  richten,  als  einsehen  ?  Im  Namen  der  wissenschaft- 
lichen Dreifaltigkeit:  der  Wahrheit,  der  Menschlichkeit 
und  des  Rechts,  lege  ich  diese  Frage,  an  Gottes  schönem 
Sonnenschein,  ich  weiß  zwar  nicht  eigentlich,  wem,  vor; 
nehme  sie  auf,  wer  ihrer  werth  ist,  gewiß  ist  sie  ein 
Samenkorn  des  Bessern  (II  182 — 183). 


Hr.  Goldhagen  läßt  in  seiner  Uebeisetzung  des 
Gesprächs  zwischen  Simonides  und  Hiero  das  ganze, 
sich  ausschließlich  auf  die  Liebe  zu  den  Lieblingen  be- 
ziehende Blatt,  ohne  Umstände  zu  machen,  weg!  — Ach, 
wenn  man  so  einen  Hrn.  Goldhagen  neben  Xenophon 
sieht —  wie  er  ihn  corrigirt  und  amputirtü  —  Wir  begehen 
aus  lauter  Zucht  und  Ehrbarkeit  solche  literarische  Unzucht! 
Unsre  Schriftsteller  sind,  durch  unsern  Gesichtspunkt, 
mit  dem  wissenschaftlich  vielsagenden  Wörtlein  „unnatür- 
lich" immer  so  unvorsichtig  als  freigebig,  obschon  es 
das  Menschengeschlecht  zu  unaussprechlichen  Unthaten 
gestimmt  und  bestimmt  hat  .  .  .  Man  sollte  nie  un- 
natürlich sagen,  bis  man  recht  wüßte,  was  Natur  ist  .  .  . 
Es  braucht  schon  Natur,  um  Natur  zu  beurtheilen  (I  260). 


Das  ist  wahrlich  in  der  Literatur  ein  Frevel,  wie 
wir  uns  unter  Sodomiterei  in  der  Liebe  einen  zu  denken 
gewohnt  sind,  und  wie  der  auch  ist,  wenn  unsre  Geist- 
lichen im  Tempel  des  Herrn,  im  Namen  Gottes,  des  Vaters, 
des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes,  Wesen  zu  unaus- 
weichlichem "Verderben  zusammenschmieden,  die  sich  ihrer, 
ihnen  völlig  dunklen  Natur   gemäß    ewig    abstoßen   und 


"I 


—    535    — 

sich  selbst  eben  so  fremd  sind,  wie  ihrem  Priester.  Hätten 
unsere  Gelehrten  schon  längst  über  diesen  Theil  der 
Menschennatur  Licht  gesucht  und  zu  verbreiten  verstan- 
den, so  läge  über  diesem  fürchterlichen,  das  Glück  und 
Heil,  die  Tugenden  und  Laster,  den  Tod  und  das  Leben 
vieler  Tausenden  entscheidenden  und  bedingenden  Gegen- 
stand nicht  noch  solche  Mordnacht  —  solcher  Fluch 
der  Ketzer-  und  der  Hexenzeit,  der  tiefsten  Unwissenheit! 
Ihr,  die  ihr  durch  Unwissenheit  die  Schätze  des  mensch- 
lichen Gemüths  veruntreuet  und  mit  ihnen  Spiel  und  Spott 
und  Wucher  treibet,  wisset,  die  Folgen  eurer  Verhunzungen 
der  Klassiker,  eurer  literarischen  Schinderstreiche  und  Dieb- 
stähle sind  die  hauptsächlichsten  Stützen  der  kalten,  alten, 
eisernen  Mörderanstalten  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
(I  268—269). 


Bei  uns  und  unserm  Wahn  nimmt  hier  jeder  Narr 
und  Sündenknecht  und  Sinnensclav  voll  eitlen  Wahns 
noch  immerfort  mit  aller  Gravität  seinen  hohen  Ehrensitz 
im  Tempel  der  Sittlichkeit  und  Keuschheit  ein  und 
dunkelt  sich  rein  von  —  einer  Sünde,  die  mit  seiner  innern 
Geschlechtsorganisation  und  Stimmung  in  gar  keiner  Be- 
rührung steht,  und  weiß  nicht,  daß  da  seine  Tugend 
etwa  die  eines  Schweines,  das  nicht  davon  fliegt,  ist;  er 
meint,  seine  Natur  sei  die  jenes  Frevlers  und  die  jenes 
Frevlers  sei  ursprünglich  wie  die  seinige;  er  aber  habe 
sie  bewahret  und  heilig  gehalten,  er  ehre  sie,  er  habe 
sich  selbst  bestimmt  und  an  sie  angeschlossen,  er  sei  in 
ihr,  nicht  sie  in  ihm,  der  andere  aber  habe  sich  von  seiner 
Natur  entfernt  u.  dgl.  m.  So  schaut  er  richtend  und  ver- 
achtend und  behaglich,  oft  vom  Unflat  seiner  Unenthalt- 
samkeit,  auf  andere  Menschen  —  auf  Griechenland  und 
Plato  hoch  herab  und  schämt  sich  ihrer  und  mißt  und 
demonstrirt  sich  selbst  und  andern  diese  Höhe  seiner 
Kraft  und  seines  Werths  und    sein   Verdienst    vor  Gott 


—    536    — 

und  seiner  Zeit  und  zeigt  durch  die  Verdammung  anderer 
die  Herrschaft  seiner  Seele  über  solche  Sünden  an.  Ja 
es  ist,  als  wie  wenn  wir  an  diesem  stummen,  aber  viel 
entscheidenden  Ungeheuer  gerade  noch  darum  festhielten, 
damit  der  Auswurf  unserer  Gesellschaft,  damit  der  Greuel 
und  Abscheu  unsers  Geschlechts,  alle  die  tausend  non 
plus  ultra  der  Charakterlosigkeit,  der  Bosheit  und  Ent- 
würdigung, der  physischen  und  moralischen  Verworfenheit, 
damit  alle  diese  Schmachwesen,  alle  diese  Muster  der 
eigentlichsten  und  vollständigsten  Scham-  und  Sitten- 
und  Gottlosigkeit,  in  jeder  Gemeinde  zerstreut,  für  ihre 
innere  Verruchtheit  noch  —  Etwas  unter  sich  selbst 
aufzuweisen  und  zu  verurtheilen  wissen,  statt  —  sich 
selbst  ....  Auch  das,  diese  Schutzwehr  der  Ver- 
worfensten im  Schooße  der  menschlichen  Gesellschaft,  war 
den  Griechen  nicht  vorhanden  und  bewirkte  ihnen  nicht 
in  tausend  Fällen  die  Vergeblichkeit  unsers  Erziehens 
und  unserer  sittlichen  Bestrebungen  und  gab  den 
Schlechtesten  ihrer  Menschheit  nicht  ein  scheinbar  noch 
Schlechteres  zu  ihrer  Rechtfertigung  und  Beruhigung  an 
die  Hand.  Wahrhaft  wissenschaftliche,  stille  und  ge- 
wissenhafte Menschen  werden  da  prüfen,  der  ihnen  gegen- 
überstehende Troß  aber  urtheilen  und  verurtheilen,  ohne 
untersucht  —  ohne  gelesen  zu  haben  (II  13 — 15). 


Ich  frage  euch  Menschen  alle:  Könnte  jetzt  einer 
von  uns  aufhören,  das,  was  er  ist,  zu  sein  ?  Könnte  jetzt 
einer  von  uns  unberührt  bleiben  von  Allem,  was  ihn  bis- 
her berührte,  oder  ergriffen  von  dem,  was  bisher  seinem 
innersten  Menschen  fremd  war,  seine  Natur  aufgeben,  sie 
nicht  mehr  haben,  nicht  mehr  fühlen  und  ein  leidenschaft- 
licher Knabenliebhaber  werden?  Jeder,  der  da  Ja  sagt, 
lügt,  und  Jeder,  der  da  Nein  sagt,  widerspricht  und 
Verläugnet  sich  also  selbst.  Hexen  und  Gespenster^ 
Wunder  und  Teufel  sind  aus  unsern  Listen  der  Wirklich- 


—    537    — 

keit  gestrichen;  aber  die  Sünder  und  Sünde  wider  die 
Natur  —  deren  es  in  der  Natur  nie  gegeben  hat,  so  we- 
nig als  Hexen  —  die  sind  uns  noch  mit  allen  Einflüssen 
des  Hexen-  und  Zauberglaubens  geblieben.  Hier  ist  der 
erste  ernstliche  Versuch  dagegen.  Ich  kann  mich  vor 
dem,  was  man  einem  Menschen  in  solchen  Fällen  anlügt 
und  andichtet,  wissenschaftlich  noch  lange  nicht  so  ent- 
setzen, als  wie  über  das,  was  man  ihm  abspricht,  weg- 
disputirt,  wegdichtet,  weglügt  oder  an  ihm  nicht  einsieht. 
Wir  verfolgen  und  verdammen  in  wirklichen,  rein  und 
deutlich  gegebenen  Menschennatureu,  die  wir  aber  weder 
wissen  noch  sehen,  ganz  andere,  die  gar  nicht  sind,  deren 
es,  solange  die  Welt  steht,  keine  gegeben  hat,  so  wenig 
als  Hexen.  Wir  richten  tausend  Wesen  moralisch  hin,  als 
solche,1  die  ihre  Natur  verlassen  haben,  als  solche,  die  in 
sich  die  Liebe  zum  andern  Geschlecht  zwar  tragen,  aber,  um 
sie  in  sich  zu  ersticken,  mit  frevelndem  Willen  widernatür- 
liche Neigungen  und  Begierden,  das  heißt,  unsere  Sünde 
wider  die  Natur,  in  sich  aufgenommen  haben.  Wir  setzen 
in  ihnen  eine  Natur  voraus,  die  sie  nie  gehabt  haben,  die 
ihnen  ewig  fremd  bleiben  muß,  und  die  sie  nie  haben 
können,  nie  haben  sollen  und  nie  haben  werden;  und 
ihre  eigentliche,  einzige,  wahrhafte,  ihre  wirkliche,  wahre, 
unwandelbare  aber,  die  sprechen  wir  ihnen  ab  und  erklären 
sie  blos  für  die  Handlung  einer  freien  Willkühr  und 
Selbstbestimmung  und  verabscheuen  in  und  an  ihnen 
eine  Handlung,  die  nie  ein  Mensch  begehen  kann  .... 
So  trug  die  Allmacht  eines  blutigen  Wahns,  in  die  Nebel 
geweihter,  geheimnißvoller  Unwissenheit,  in  die  Prunk- 
gemächer der  Gelahrtheit,  des  Herrscher-  und  Kirchen- 
thums  gehüllet,  als  Mordprivilegium,  als  Saat  und 
Zeichen  des  Todes,  den  Eros  über  anderthalbtausend 
Jahre  durch  alle  Abgründe  einer  versunkenen  Menschheit 
triumphirend  in  alle  Winkel  unsers  Erdtheils  .  .  .  Und 
dadurch  nun  ist  es  jedem  Haus  eine  schwarze,   verhäng- 


—    538    — 

nißvolle  Stunde  des  Verderbens,  unter  dessen  Dach  eine 
unglückselige  Mutter  ein  neues  Opfer  unsers  Irrwahns 
und  unserer  Unwissenheit  mit  Schmerzen  gebiert,  und,  o 
es  wäre  besser,  daß  der  Tod  beider  Leben  in  dieser  un- 
heilvollen   Stunde    zernichtete Oder    wenn    ihr 

ihnen,  ihrem  Dasein  hienieden  eine  andere  Erklärung,  andern 
Spielraum  des  Lebens  außer  in  eurer  Henkeransicht 
oder  meiner  Idee  wisset,  so  thut  das  Eure,  wie  ich  hier  das 
meine  .  .  .  damit  fürderhin  keine  Eltern  mehr  die  Stunde 
jener  Zeugung  zu  verwünschen  haben  und  nicht  mehr 
ein  über  alles  Dasein,  über  Zeit  und  Grab  hinausrei- 
chendes Unglück,  ohne  alle  Selbstverschuldung,  auf  ihr 
ruhen  könne! !  (II  280—288). 


Wo  aber  freche  Wuth  statt  frommem  Menschensinn 
und  blinder  Stolz  statt  reiner  Wissenschaft  ein  Volk  er- 
greift, da  mordet  es.  Keinem  Wahne  ward  je  so  viel 
geopfert,  als  dem:  Der  Mensch  kann  seine  Natur  aus- 
ziehen, wie  ein  Kleid,  oder  es  giebt  eine  Zuverläßigkeit 
der  äußern  Kennzeichen  im  Geschlechtsleben  des  Leibes 
und  der  Seele,  was  man  auf  diesen  Tag  noch  wähnt, 
noch  träumt,  noch  glaubt  —  nämlich,  daß  jeder,  der  in 
einen  Jüngling  sich  verliebe,  zuerst  seine  Urnatur,  die 
wir  nach  den  äußern  Kennzeichen  bestimmen,  ausgezogen, 
mit  Füßen  getreten  und  weggeworfen  habe  ....  Das 
kann  nur  Unwissenheit  wähnen,  die  weiters  wähnet,  es 
sei  jedes  Geschlecht  nur  das  andere  zu  lieben  von  der 
Natur  angewiesen,  von  innen  aus  bestimmt  und  gestimmt, 
und  jedes  Wesen  anderer  Art  und  anderer  Neigung  sei 
nur  Willkühr,  Selbstbestimmung  und  frecher  Sünden 
willen  und  liege  in  keinem  Plan  und  Gang  der  Natur 
und  sei  darum  reif  zu  aller  Verfolgung,  Schmach  und 
Entwürdigung,  es  sei  entweder  der  Gesellschaft  unschäd- 
lich zu  machen  oder  aber  im  menschlichsten  Fall  wieder 
durch    die  Kraft    der  Ueberzeugung    und    der  Moral  zu 


—    539    — 

seiner  angebornen  und  wahren  Natur  zurückzuführen. . . 
Das  Schandmal  solchen  Glaubens  trägt  unsere  stolze 
Zeit  (für  die  Zukunft  als  Stempel  ihrer  Unwissenheit  und 
ihres  Barbarenthums)  noch  an  ihrer  Stirne,  sie  sieht  eine 
Blumenwiese  (Plato's  Garten  des  Menschlichen)  noch 
immerfort  für  einen  Abgrund  an  und  baut  noch  immer- 
fort ein  Feld  mit  Henkern,  das  Griechenland  durch  seine 
Koryphäen  der  ewigen  Kunst  gepflegt,  und  brütet  noch 
Schmach  und  Verderben  und  Entehrung  und  schmiedet  noch 
Ketten  für  Wesen  ohne  irgend  eine  Schuld,  mit  denen  und 
für  die  Plato  einst  so  geredet,  wie  ich  zeigen  werde  und 
es  geschrieben  steht  in  der  heiligen  Schrift  der  Klassiker  und 
der  noch  heiligern  der  ewigen  Natur,  mit  ganz  wahr- 
haften und  natürlichen  Menschen,  die  immerhin  im  Plan 
der  Schöpfung  und  unablöslich  in  der  Wesen  wandel- 
losen, lebendigen  Reihen  sind  und  bleiben!!  —  „Nein 
ihr  seid  nicht !  Ihr  macht  euch  selbst  und  wir  zernichten 
euch,  nach  Recht  und  Gesetz,"  so  spricht  unsere  Zeit  der 
Weisheit  und  der  Wissenschaft,  gewöhnt,  Mitmenschen, 
die  Griechenland  als  solche  erkannt,  begriffen  und  be- 
sessen hat,  durch  die  es  seine  Unsterblichkeit  mitbe- 
gründete —  für  naturabtrünnige  Scheusale,  physisch  und 
moralisch,  tausendweis  zu  erwürgen  und  immerhin  be- 
müht, sie  mit  Mord  und  Tod  durch  Gewalt  und  Nacht 
von  ihrer  einzigen  und  wahren,  von  ihrer  einen  und 
reinen,  von  ihrer  unabänderlichen,  innern,  unwandelbaren 
Wesenheit  mit  Schmach  und  Schwert  abzuschrecken,  in 
sich  selbst  zu  ersticken,  zu  verwirren,  umzubringen  — 
und  postulirt,  entblöst  von  allem  Menschensinn  und 
Wissenschaft,  die  da  einzig  retten  können,  auf  Priester 
und  Barbaren  vergangener  Zeit  verweisend,  so  gräuel- 
haftes  Handeln,  auf  heiligen  blutgefärbten  Mordwahn  — 
und  mordet  tändelnd  noch  immerhin  ihr  eigenes  Ge- 
schlecht und  verdammt  im  Arm  der  fürchterlich  ge- 
täuschten Mutter  noch  den  Säugling,   denn   ich  sage,  sie 


—    540    — 

ist  ewig  Natur  und  schlummert  im  Kind  so  gewiß  und 
so  wahr  vorbereitet^  als  sie  im  Leben  des  vollendeten 
männerliebenden  Mannes  ist  und  so  gewiß  der  Keim 
der  allgemeinen  Geschlechtsliebe  in  jedem  für  sie  ge- 
bornen  Kind  auch  vorhanden  ist.  Die  Nachwelt  wird 
über  die  Verhältnisse,  die  wir  den  Geschlechtern  an- 
gewiesen, wie  wir  dießfalls  den  Menschen  erfasset,  er- 
zogen, behandelt,  was  wir  an  ihm  zertrümmert,  benutzet, 
entwürdiget  und  gepflegt  haben,  Rechenschaft  fordern, 
wir  fordern  sie  auch  von  den  Griechen  —  aber  wir 
verstehen  sie  nicht,  wir  lästern  sie  lieber,  es  ist  leichter, 
als  wissenschaftlich  prüfen.  —  Natur  heißen  wir  Frevel 
und  Sünde  wider  sie;  wir  haben  Criminalgesetze  gegen 
sie,  wir  haben  einen  Irrwahn,  eine  Einbildung,  ein  Phan- 
tom, einen  Machtspruch,  eine  stumpfsinnige  Lüge,  mit 
Menschenblut  eingeweiht,  auf  den  Richterstuhl  gesetzt 
und  diesem  Gespenst  schon  Millionen  Menschen  ohne  alle 
Schuld  geschlachtet,  ihm  die  Würde  und  Kraft  unsres 
Geschlechts  hingeopfert,  wie  seiner  Zeit  dem  Phantom 
der  Hexen  und  Ketzer;  wir  wähnten  der  Menschheit 
Würde  zu  retten  und  entwürdigten  sie  —  logen  ihr 
Verbrechen  an,  die  sie  nie  beging  und  verübte;  und  ver- 
herrlichten solche,  die  ihr  ewiges  Schandmal  bleiben 
werden;  man  wähnte  ein  Uebel,  das  nicht  war,  auszu- 
rotten, und  zog  eine  Pest  über  die  halbe  Welt;  man 
brüstete  sich,  Laster  auszutilgen,  die  nie  gewesen  sind, 
und  beging  die  grausenvollsten  Verbrechen  an  der 
Gesellschaft,  an  Mensch  und  Natur,  man  gab  Menschen- 
rettung vor  und  versenkte  Millionen  in  den  Ab- 
grund innern  Widerspruchs  und  äußerlicher  Schmach 
und  rettete  keinen!  —  Die  Menschheit  hat  nie 
einen  Frevel  an  Größe  diesem  ähnlich  begangen  und 
ahnet  ihn  auf  diesen  Tag  noch  nicht!  Im  Reiche  mensch- 
licher und  unmenschlicher  Verirrungen  hat  kein  Wahn 
so  lange  als  dieser    gewüthet;    bis   auf  diese    Stunde  ist 


—    541     — 

uns  unser  Geschlecht  im  Allgemeinen  mit  dieser  Liebe, 
mit  der  Wahrheit,  die  ich  nun  zu  bewähren  habe,  eben 
so  wenig  gedenkbar,  als  solches  den  Griechen  ohne  sie 
gedenkbar  war.  Ihnen  war  sie  Garten  und  Treibhaus 
herrlicher  Menschen  und  göttlicher  Thaten,  so  wie  sie, 
die  uns  nun  durch  Irrwahn  und  Unwissenheit  und  Bar- 
barenthum  geschändete  und  verworfene  Natur,  noth- 
wendig  oder  ununterdrückbar  nur  Verbrechen,  Unrecht 
und  Verwirrung  und  aus  diesen  Un-  und  Halbmenschen 
für  Familien  Jammer  und  Elend,  für  Rad  und  Galgen, 
für  Kerker  und  Galeere  liefert;  diese  Notwendigkeit, 
diese  völlig  naturgemäße  Folge,  wird  sich  im  Fortgang 
unserer  Prüfung  von  selbst  ergeben.  Die  Entdeckung 
alles  dessen,  so  uns  in  der  Menschennatur  noch  verborgen 
und  räthselhaft,  aber  der  Zukunft  zu  beleuchten  aufbe- 
halten ist,  wird  uns,  wenn's  denn  einmal  tagt,  dieses 
alles  ebenso  bejammern  lehren,  wie  wir  jetzt  die  Millio- 
nen dem  Hexen-  und  Ketzerglauben  Erwürgten  bejam- 
mern; denn  alles,  was  Barbarenmacht  und  Nacht  Zer- 
störendes an  der  Menschheit  je  verübt,  ist  für  den  Gang 
und  das  Leben,  für  die  Formen  und  Schicksale  der 
Menschen  und  der  Menschheit,  weit  weniger  als  diese 
Saat  des  Todes,  ist  wenig  gegen  den  Glauben  an  eine 
Zuverläßigkeit  der  äußern  Kennzeichen  im  Geschlechts- 
leben des  Leibes  und  der  Seele,  sobald  er  einer  Menschen- 
behandlung unterlegt  wird,  und  wenig  gegen  den  Glau- 
ben, ein  Theil  der  Gesammtnatur  unsers  Geschlechts  sei 
entweder  gar  nicht  vorhanden  oder  nicht  Natur  oder 
freier  Menschenwille,  Selbstbestimmung,  Verbrechen  oder 
Spiel  der  Natur,  das  Menschen  an  Menschen  zu  rächen 
oder  zu  strafen  hätten;  kein  Wahnglaube,  dem  die  Men- 
schen je  für  ihre  Verkrüppelung  gehuldigt  und  irrig  zum 
Richtmaß  ihrer  Sittlichkeit  und  Erziehung  erhoben  haben, 
ist  so  entsetzlich  als  der,  Menschen  können  die  Grund- 
richtung der  Triebe  und  Sinne,  also  ihres  Wesens  tiefste 


—    542    — 

Urneigungen,  ihr  wahrhaftigstes  und  eigentlichstes  Selbst, 
ihren  Geschlechtssinn ,  ihr  Geschlechtsleben ,  mithin 
immerfort  währende  und  in  tausend  Richtungen  wirkende 
Theile  und  Gesetze  der  ewig  unabänderlichen  Natur, 
ihre  Liebe  mit  ihren  unzählbaren  Fasern  des  Lebens 
könnten  Menschen  willkührlich,  wie  ein  Kleid,  ausziehen 
und  mit  einer  andern  verbotenen,  mit  einer  Nichtnatur 
vertauschen  —  man  könnte  eine  Natur  behalten  oder 
nicht  behalten  oder  unter  zweien  wählen,  annehmen  oder 
wegwerfen,  man   könne    in    einer  leben  oder  nicht  leben 

—  wie  nian's  nach  den  Aussprüchen  Anderer  gut  und 
nöthig,  erlaubt  und  nicht  erlaubt  finde,  und  die  Oeffent- 
lichkeit,  das  Gesetz,  die  Sitten,  die  Theorien  und  Lebens- 
lehren, die  dürfen  und  sollen  und  können  dann  nach 
Gutdünken  verfügen,  anerkennen,  gutheißen  oder  ver- 
dammen, sehen  oder  nicht  sehen  .  .  .  Nicht  die  Forschung 
und  die  Wissenschaft  und  das  Vorhandene  in  der  Natur, 

—  Staat  und  Kirche,  die  haben  da  zu  wählen,  zu 
befehlen,  zu  taxiren,  zu  erschaffen ;  es  gebe  da  ganz  un- 
bedingt und  durchaus  ein  willkührliches  Abirren,  ein 
Um-  und  Austauschen,  ein  An-  und  Ausziehen  seines 
Innenlebens,  seines  Seins  und  derjenigen  Grund- 
eigenschaften der  Menschennatur,  von  denen  aus  und 
unbedingt  und  einzig  sich  der  Faden  ihres  Daseins  und 
ihrer  tiefsten  Naturbestimmung  auch  naturgemäß  und 
ohne  Störung  spinnt  und  abwindet;  da  seien  keine  als 
ihre,  der  Barbaren,  Gesetze  und  Aussprüche  nöthig  und 
gültig  und  heilig  und  unabänderlich  und  gut  und  gerecht, 

—  da,  wo  Gottes  Finger  gedeutet,  geordnet,  festgestellt, 
gewogen  und  erschaffen  hat,  könne  der  Mensch  für  sich 
und  Andere  gebieten,  verfügen,  unterdrücken,  wählen, 
verbessern,  ändern,  ausrotten,  richten,  verdammen,  gut 
oder  schlecht  heißen ;  damit  sei  alles  Nöthige  gethan  und 
des  Menschen  Innenleben  und  Innennatur  nicht  weiters 
zu  fragen,  die  äußern  Kennzeichen  seien  da  Richter  und 


—    543    — 

Gesetz,  und  der,  einst  auch  aus  Wahn  entstandene  Ab- 
scheu vor  Hexen,  der  jene  Millionen  Morde  ruhig  und 
pflichtgemäß  beging,  könne  jetzt  in  anderer  Richtung,  im 
Wahn,  der  Mensch  solle  oder  könne  über  die  Grundan- 
lagen seines  Geschlechtslebens  verfügen,  wieder  eben  so 
ruhig  und  pflichtgemäß  wie  ehemals  im  ähnlichen  Irr- 
glauben fortwirken  und  walten  und  morden!  —  Nicht 
Strick  und  Schwert  allein,  auch  Meinung  und  Gesetz  mor- 
den oft  eines  und  dasselbe  Menschenleben  tausendmal. 
Aus  frevelhaftem,  licht-  und  liebeleerem,  blindem  und 
wissenschaftlosem  Unsinn,  der  keine  Griechenmenschheit 
schändete,  aus  dem  sind  unsere  Barbarenansichten  und 
unsere  Mördergesetze  hervorgegangen.  Durch  ein  sol- 
ches Gesetz  wider  alle  Natur,  nicht  nur  gegen  eine, 
mußte  auch  im  Allgemeinen  der  Glaube  an  den  heiligen 
Ernst  und  die  Einfalt,  an  die  Kraft  und  das  Wesen  aller 
Natur  selbst  gleichsam  untergehen.  Kirchen,  die  in 
ihrem  Schooße  Hexen  brüteten  und  Ketzer  gebratet 
haben  —  die  konnten  auch  Pia to's  Liebe,  diese  zu 
allen  Zeiten  und  überall  vorhandene,  unwandelbare  und 
fest  bestimmte  Menschennatur,  die  ich  erweisen  werde, 
statt  erfassen  und  erziehen,  mit  ihrem  Geifer  also  be- 
flecken und  ihr  denn  von  Sodom,  von  Athen  nicht  Na- 
men suchen  und  geben  —  daher  sind  wir  nun  schon  seit 
Jahrhunderten  gewöhnt,  sie,  diese  bestimmten  Natur- 
wesen, diese  Menschen,  als  der  Natur  abtrünnige  Ver- 
brecher und  Nichtmenschen  zu  behandeln  und  sie  zu- 
folge unserm  Glauben  an  eine  Zuverläßigkeit  der  äußern 
Kennzeichen  im  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der 
Seele  als  in  der  Natur  nicht  gegebene  zu  erklären,  von 
ihnen  anderes  Leben  als  ihr  Leben  fordernd,  ihnen  das 
größte  Verbrechen  gegen  die  Natur  als  Pflicht  auferle- 
gend und  sie  dadurch  in  einen  eigenen  und  besondern 
Kreis  von  Nacht  und  Widerspruch,  von  Sünden  und 
Vergehen  drängend,    und  dieses  alles  gegen  eine  Natur- 


—    544    — 

erscheinung      und      eine    Naturwissenschaft,    die    einst 
Griechenland,    beide,    in    sein  ganzes  Leben  —  in  seine 
ewige  Kunst  der  Menschheit  verflochten  .  .  .  Ihr  Leben 
aber  und   unser  Leben  und   aller  Menschheit  Leben  ist 
eines  und  dasselbe  Leben,  ein  Bleibendes,  ein  Unwandel- 
bares, ein  Ewiges,  aus  diesem  haben  wir  im  Wahn-  und 
Irrglauben  an  die  nie  vorhandene  und  von  aller  Mensch- 
heit und  aller  Zeit  widerlegte  Zuverläßigkeit  der  äußernKenn- 
z eichen  imGeschleehtsleben  des  Leibes  und  der  Seele  einen  zu 
großen  Zwecken  (wie  der  Griechen  allgemeines  Leben  dem 
Nichtblinden    zeigt)   bestimmten  Theil   verdammend  ab- 
gelöset   (zernichten    können    wir    ihn    nicht),  dieser  nun 
dergestalt  entwürdigte   und   verfolgte   Theil  brütet   und 
trieft  Verderben    und  Elend,    als  Saat    des   Todes    und 
Sold  der  Völkermissethat   und   Blindheit,  als  physischer 
und  moralischer  Pesthauch,  voll   schrecklicher  Verhäng- 
nisse und  Schicksale  über  Einzelne,  über  Familien,  über 
Völker  und  Staaten,  wie  ich  zeigen  werde.     Und  da  diese 
so  hingerichtete  Liebe  als  Natur  unvertilglich  wie  unaus- 
löschlich nie  aufhören   kann,   nie   aufhören  konnte,    aber 
das,  was  sie  ist,  nicht  mehr  heißen  im  Leben,  und  in  der 
Idee  nicht  mehr  sein  durfte,  dagegen  aber  von  der  Eisen- 
hand des  Wahns    am    schwarzen    Höllenzug    der    Laster 
angeschmiedet,    als  Verbrechen    nun  denn   einen  Namen 
haben  mußte;  da  gaben  ihr  versunkene,  Wissenschaft-  und 
würdelose  Völker,    entgegen   den  Griechen,    Namen,    die 
keine  andere  gebildete  Menschheit,    worunter  wir  Israels 
auch  nicht  zählen  mögen,  je  kannte  —  also  zur  Unnatur 
und  zum  Verbrechen  und  zur  willkührlichen  Abirrung  ge- 
stempelt und  verkündigt  —  entwürdigt    sie    nun    in   der 
That  und  Wahrheit,    in    solcher   Form  und  Gestalt,  wie 
jede  andere  Zeit,  die  so  verfügte,  auch  diese  unsere  noch! 
Als  unvertilgbare  Natur  aber,  entblößt  vom  Menschlichen 
und  abgelöst  von  allem  Menschensinn  und  allem  Menschen- 
wissen, entstellet  und  mit  Fluch  bedeckt,   muß    sie   auch 


—    545    — 

diese  unsere  Zeit  und  Menschheit  mitten  im  Schooße  ihres 
innern  und  äußern  Lebens  an  ihren  Wunden  darbend 
tragen,  mit  allen  Sohreöken  und  aller  Nacht  und  allen 
Lebenszerrüttungen  und  allem  leiblichen  und  geistigen 
Verderben  und  allem  physischen  und  moralischen  Elend 
und  allem  blutigen  Unrecht  und  allen  Menschenmorden, 
deren  wirkliches  Dasein  und  Quelle  ich  in  unseren  Wahn- 
wort und  aller  Nacht,  in  der  es  waltet,  aufdecken  will 
.  .  .  Von  Gnade  rede  ich  nicht,  es  ist  da  um  Recht  und 
Wahrheit,  um  Licht  und  Wissenschaft,  und  nicht  und 
nie  um  Gnade  zu  thun.  „Es  ist  schändlich,  o  Kaiser,  eine 
Ueberzeugung  zu  hegen  von  etwas,  das  du  nicht  unter- 
sucht hast"  (Apollonius  bei  Flav-Philost.).  Wer  eine 
Wahrheit  verwirft,  verschmäht,  verdreht,  verachtet,  von 
der  Hand  weist,  um  durch  den  ihr  gegenüberstehenden 
Wahn  und  Aberglauben  Brüder,  Menschen  ohne  Schuld, 
zu  verderben,  wäre  der  kein  Mörder?  Bedarf  die  Obrig- 
keit keiner  Wissenschaft,  —  nur  Gesetze  und  Henker? 
Ist  es  nicht  jedem,  der  durch  Ansicht  und  Gesetz,  durch 
Stand  und  Amt,  in  enger  oder  weiter  Umgebung  einen 
Einfluß  ausübt,  Amts-,  Berufs-  und  Menschenpflicht,  mit 
Ernst  ohne  Wahn  und  Vorurtheil  zu  untersuchen  und 
untersuchen  zu  lassen,  —  als  bestimmte  Natur  für  un- 
natürlich mit  Füßen  zu  treten,  mit  Nacht  und  Geifer  zu 
bedecken,  zum  Weltverderben  zu  gestalten.  Solche  Prüfung 
wird,  was  ich  wohl  hoffen  darf,  hier  leicht  gemacht  — 
Zeit  ist  es,    aus    diesem  Sündenschlaf  zur  Wahrheit,  zur 

Vernunft  und  zum  Recht  zu  erwachen Wehe  dem, 

der  keine  Thränen  hat  über  seiner  Brüder  Elend  und 
seiner  Väter  und  seines  Vaterlandes  Unrecht  und  Misse- 
thaten  —  der  nicht  einsehen,  der  nicht  bereuen,  und 
nicht  bejammern  kann,  was  er  selbst,  und  andre  mit  und 
vor  ihm,  aus  Unwissenheit  und  Stumpfsinn,  an  seinen 
Mitmenschen,  in  blindem  Wahn  verbrochen.  Solcher  ist 
der  eigentliche  Sünder  wider  die  Natur  und  der  Frevler 

Jahrbuch  V.  35 


—    546    — 

wide  rallen  Beruf  des  Menschen  für  die  Menschheit!! 
Gesetze  ohne  Wissenschaft  sind  Henker  ohne  Obrigkeit; 
und  selbst  ihr  alle,  die  ihr  mit  Ernst  am  Heil  der  Mensch- 
heit arbeitet,  mit  Kraft,  mit  Willen  und  Würde  nach 
dem  Licht  und  den  Polen,  um  die  wandellos  sich  alles 
wahre  Heil  der  Sterblichen  beweget,  hinweiset  —  selbst 
ihr  seid  in  dieser  Beziehung  noch  Inquisitoren,  wie  jene, 
die  auch  sonst  in  allem  Uebrigen  empören  —  Diener 
des  Unrechts  und  der  Unwissenheit  und  der  Nacht,  wie 
jene  schwarzen  Spaniolen,  blinde  Werkzeuge  barbarischer 
Macht  und  frevelnder  Gewalt  —  und  jeder  aus  euch 
bildet  da  in  dieser  Angelegenheit  noch  mit  Plato  die 
Gruppe  des  Erzengels  und  des  Satans  (I  102 — 113). 

Im  achtzehnhundert  und  siebenunddreißig- 
sten Jahr  unserer  Zeitrechnung  glauben  wir,  daß  Un- 
menschengesetze, etliche  Mährchen,  das  Geschwätz  alter 
Weiber,  die  Erklärungen  der  Universitäten,  wie  im  Ketzer- 
und  Hexenproceß,  und  Bibelstellen,  die  man  noch  nie  zur 
Ehre  der  Bibel  ausgelegt  hat,  was  leicht  ist,  .  .  .  hin- 
reichen, eine  Menschennatur  aufzuheben,  anders  zu  machen 
oder  zu  ersticken,  eine  nicht  vorhandene  hervor  zu  bringen* 
Das  ist  der  pure,  leibhaftige  Hexenglaube,  die  voll- 
ständigste Teufels- Wirthschaft,  eine  auf  gleiche  Funda- 
mente gegründete  Finsterniß,  in  der  man  noch  alle  Gräuel 
jener  Mörderzeiten  an  Schuldlosen,  denen  man  die  Natur 
eines  Andern  und  Verbrechen  aufbürdet,  die  nie  ein 
Mensch  verüben  kann,  begeht  (II  293 — 294). 


Die  Geschlechtsnatur  Heinrich  Hößli's. 

Es  darf  die  Frage  nicht  unerörtert  bleiben :  war  der 
Mann,  welcher  mit  einer  Entschiedenheit  ohne  Vorbild 
und  mit  edler  •  Unerschrockenheit  für  die  Natur-  und 
Sittengesetzlichkeit    der    gleichgeschlechtlichen   Liebe  zu 


—    547    — 

einer  Zeit  und  bei  einem  Volke  in  die  Schranken  trat, 
wo  die  Ausübung  derselben  mit  schweren  Strafen  ge- 
ahndet wurde  —  war  Heinrich  Hößli  selbst  Uranier? 

Er  hat  sich  im  Alter  von  26  Jahren  vermählt  und 
zwei  Söhne  als  seine  leiblichen  Kinder  anerkannt;  allein 
er  führte  nicht,  wie  sonst  Eheleute  pflegen,  mit  seinem 
Weibe  gemeinsamen  Haushalt,  sondern  lebte  von  Anfang 
andauernd  und  sogar  örtlich  von  seinem  Weibe  getrennt. 
Es  scheint  dieser  Umstand  für  die  Auffassung  seiner 
wahren  Geschlechtsnatur  um  so  bedeutsamer,  als  er  selbst 
bekennt,  erst  1817,  also  6  Jahre  nach  seiner  Verheiratung  und 
3  Jahre  nach  der  Geburt  seines  zweiten  und  letzten  Sohnes, 
sei  ihm  durch  einen  äußern  Anlaß  (Desgouttes'  Hinrichtung) 
die  Binde  von  den  Augen  gefallen.  Es  bleibt  demnach  zum 
mindesten  zweifelhaft,  ob  ihn  nicht  doch  mehr  Unklarheit 
über  sich  selbst^  vielleicht  gar  bloßer  Nachahmungstrieb, 
geachteten  Vorbildern  es  gleich  zu  machen,  als  persön- 
liche Zuneigung  in  die  Ehe  getrieben  habe. 

In  den  zahlreichen  Briefen  der  Frau  Elisabeth  Hößli 
geb.  Grebel  an  Heinrich  Hößli1)  redet  sie  diesen  ihren 
Ehemann  niemals  als  das  an,  was  er  für  sie  doch  war; 
vielmehr  nennt  sie  ihn  durchweg  „ Meinen  Freund*  und 
sich  selbst  bezeichnet  sie  als  seine  „  Freundin",  seine 
„ wahre  Freundin";  nach  einem  dieser  Briefe  vom  21. 
September  1846  aus  Zürich  fühlt  sie  für  ihn  eine  „alte 
unauslöschliche  Freundschaft,  wie  es  in  unserm  Ver- 
hältniß  nicht  anders  sein  kann*.     Sie   macht  ihm  sanfte, 

*)  Die  Reihe  dieser  Briefe,  etwa  100,  beginnend  mit  dem  28. 
Januar  1825  und  endend  mit  dem  30.  Oktober  1854,  weist  nur  für 
die  Jahre  des  ersten  Aufenthalts  der  Frau  Hößli  in  Amerika  1834 
bis  1843  eine  erhebliche  Lücke  auf;  allermeist  sind  sie  aus  Zürich 
datiert,  einige  wenige  aus  Meilen,  Cannstatt,  München  und  Rheinek; 
die  Schreiberin  zeigt  sich  darin  als  eine  liebevolle  und  resignierte, 
in  der  Sorge  für  ihre  beiden  Söhne  aufgehende  und  um  das  Wohl 
und  die  Gesundheit  ihres  von  ihr  getrennt  lebenden  Ehemannes 
bekümmerte  echte  Frau. 

35* 


—    548    — 

aber  entschiedene  Vorwürfe  wegen  seines  unmännlichen 
vielen  und  langen  Besinnens,  seines  Eigenwillens  und 
seiner  Schwerfälligkeit  im  Entschluß  und  im  Handeln. 

Mit  seinem  Sohne  Hansi  stand  Heinrich  Hößli  in 
regem  Brief  verkehr;  leider  sind  von  dieser  Korrespondenz 
nur  die  Briefe  des  Sohnes  erhalten;  aus  ihnen  geht  aber 
bestimmt  hervor,  daß  Vater  und  Sohn  nicht  nur  über 
den  „Eros"  ihre  Gedanken  austauschten,  sondern  auch, 
daß  der  Sohn  dem  Vater  gegenüber  aus  seiner  Geschlechts- 
natur duchaus  kein  Hehl  machte.  Unterm  27.  Dezember 
1848  schrieb  Hansi  aus  Galveston  (Texas)  seinem  Vater: 
„Ich  würde  recht  gut  und  angenehm  in  der  Schweiz  leben 
und  wegen  Dir  wäre  es  mir  über  Alles  .  .  .  aber  siehe, 
die  mehreren  Gründe  dagegen  rühren  von  Einer  Quelle 
her  oder  doch  meist  von  einer  Quelle.  Ich  will  sagen 
E[ros].  Besonders  die  verflossenen  Sachen  von  der  Zeit 
des  rothen  Löwen  in  *  M.  herrührend,  das  war  eine  un- 
angenehme Geschichte,  es  wirkten  dort  viele  Umstände  zu- 
sammen. Ich  war  wohl  unvorsichtig  und  ich  wäre  auch 
eher  verschwatzt  worden  als  andere,  es  war  mein  Fehler, 
aber  wie  kannst  Du  böse  darüber  sein,  ich  that  doch 
nichts  mit  bösem  Herzen  ....  Hier  bin  ich  verhältniß- 
mäßig  glücklich  und  frei  .  .  .  Etwas  ganz  Anderes  auch, 
wovon  ich  Dir  sagen  will.  Einen  Jungen  in  N.  York, 
den  ich  gleich  einem  nahen  Verwandten  liebe,  ohne  Eltern, 
irländischer  Abstammung,  habe  ich  im  Sinn,  als  Sohn 
anzunehmen;  er  ist  16  bis  17  Jahre  alt,  heißt  Henry 
Wilson,  er  könnte  daher  einmal  Deinen  Namen  bekommen. 
Er  ist  arm,  sehr  arbeitsam,  ohne  Fehler,  nicht  besonders 
hübsch  oder  groß.  Ich  konnte  noch  nie  irgend  etwas  für 
ihn  thun,  da  er  alles  da  hat,  wo  er  arbeitet.  Wie  ich 
das  letzte  Mal  in  N.  York  war,  sah  ich  ihn  blos  ein 
Mal  und  stehe  auf  sehr  ceremoniellem  Fuße  mit  ihm, 
da  er  so  jung  ist;  ich  bin  nie  in  seiner  Gesellschaft  wie 
mit  den  zwei  jungen  Männern,    die,    obschon  jung,  doch 


—    549    — 

erwachsen  sind.  Henry  ist  noch  Bube.  Er  kann  ziem- 
lich deutsch  sprechen,  auch  deutsch  lesen.  Nun,  ehe  ich 
in  die  Schweiz  gehe  auf  einen  allfälligen  Besuch,  treibt 
es  mich,  eine  Art  Geschäft  oder  Heimath,  wenn 
auch  eine  Farm,  zu  haben  und  daß  er  bei  mir 
zuerst  angestellt  sei.  Er  scheint  sehr  anhänglich  gegen 
mich  und  würde  mit  mir  auf  Land  oder  Stadt  in  irgend 
etwas  gehen,  ich  versprach  ihm  das  schon  lange.  Solches 
und  Aehnliches  halten  mich  immer  ab."  —  Noch  deut- 
licher redet  die  Einlage  eines  nicht  vorgefundenen  Briefes 
Hansis  an  den  Vater  vom  Februar  1853:  „Zerstöre  den 
Zettel!  Ich  muß  Dir  auch  sagen,  wie  es  mit  der  Sache 
vom  letzten  Sommer.  Jener  junge  H.  ging  von  Hause 
weg  d.  h.  er  war  in  Deutschland  und  kam  hieher.  Sein 
Vater  schrieb  zuerst,  ich  soll  doch  machen,  daß  er  zurück 
gehe,  er  wolle  ihn  nicht  strafen  und  in  Deutschland 
lernen  lassen  was  er  wolle.  Ich  sprach  zum  Sohn  und 
er  ging  zurück.  Aber  es  kamen  andere  Briefe,  welche 
Monate  lang  unterwegs  geblieben,  ich  solle  ihn  doch 
nicht  zurückgehen  machen,  wenn  er  in  der  Buchdruckerei 
gut  sei,  das  Wechseln  sei  nicht  gut,  ich  solle  mich  seiner 
annehmen  und  zu  ihm  sehen,  und  er  wolle  mir  für  seinen 
Sohn  eine  artige  Summe  Geldes  geben,  für  ihn  zu  ver- 
wenden. Er  war  aber  schon  weg,  was  mir  auch  recht 
war,  indem  ich  nicht  weiß,  wie  er  ausfallen  wird.  Seinem 
Sohn  schrieb  der  Vater,  mir  zu  folgen  —  aber  nicht 
andern  in  der  Schweiz  zu  sagen,  daß  er  mit  mir  in  einem 
Verhältnisse  sei,  er,  der  Vater,  sage  es  nicht.  Er  bat 
mich  sehr,  ihn  nicht  aus  den  Augen  zu  lassen  und  „rüstete 
mich  mit  väterlicher  Gewalt  aus.*  Es  war  zu  spät,  da 
der  Brief  mehrere  Monate  unterwegs  war.  Ich  schrieb 
dem  Sohn  durch  den  Vater  in  Zfürich],  mir  nicht  mehr 
zu  schreiben  und  ganz  den  Wünschen  des  Vaters  zu 
leben.  Er  schrieb  mir  aber  doch  seine  Ankunft  von 
Hamburg   und  er  will    wieder  aufs  Meer,  was  nicht  gut 


—    550    — 

ist;  ich  schreibe  ihm  aber  nicht  mehr.  Er  war  hier  in 
einer  Buchdruckerei,  wo  er  sich  gut  hielt.  Es  war  eine 
Verläumdung.  In  der  Schweiz  möchte  ich  natürlich  jetzt 
nicht  mehr  leben,  denke  aber  etwa  für  2  Monate  im 
Sommer  zu  kommen.  Nach  der  Schweiz  geht  der  junge 
H.  jedenfalls  nicht.*  —  Zerstöre  den  Zettel!  Der  Vater 
hat  den  Zettel  nicht  nur  nicht  zerstört,  sondern  ihn  noch 
einmal  abgeschrieben,  so  daß  er  nun  doppelt  in  seinem 
Nachlasse  erhalten  ist! 

Als  dann  später  Heinrich  seinem  Hansi  schrieb,  ihm 
möge  das  Heil,  einen  wahren  Freund  für  das  Leben  zu 
finden,  zuteil  werden,  diese  Aussicht  für  ihn  erschüttere 
sein  Herz  vor  Freude  und  Hoffnung,  schrieb  Hansi  zurück, 
daß  das  wohl  oft  sehr  schwer  sei,  wenigstens  für  seine 
Person  finde  er  das.  Und  in  demselben  Schreiben  aus 
N.  York  vom  21.  April  1857  äußerte  er  sich  in  Beant- 
wortung vom  Vater  gestellter,  auf  den  „Eros"  bezüg- 
licher Fragen:  „Ich  glaube  gar  nicht,  daß  in  mir  Kraft 
liegt  oder  Mittel  mir  zu  Gebote  stehen.  Ich  glaube  eben 
nicht  so  sehr  an  menschliche  Unwissenheit,  sondern  an 
der  Menschen  Bosheit  und  Gefühllosigkeit  gegen  Andere 
und  Lust,  Andere  zu  erniedrigen,  und  eine  Art  Neid, 
besser  Mißgunst.  Von  Allem,  was  aus  dem  Alterthum 
und  auch  für  Natur- Anlage  —  ich  spreche  immer  spe- 
ziell von  diesem  Falle  —  bewiesen  werden  kann,  wird 
gesagt:  BDas  ist  eine  alte  Sache,  das  ist  allbekannt"  und 
„das  macht  die  Sache  nicht  besser".  Die  Meinung  Ein- 
zelner gilt  nicht  viel.  Allerdings  wenn  die  Unwissenheit 
des  Volkes  im  Ganzen  nicht  wäre,  so  würde  Alles  anders 
sein;  Unwissenheit  aber  ist  hier,  in  diesem  Falle,  mehr 
Vorurtheil,  und  es  ist  (in  der  Politik)  bekannt,  daß  all- 
gemeine Vorurtheile,  selbst  von  starken  Regierungen, 
innerhalb  einiger  successiven  Generationen  nicht  gehoben 
werden  können,  daher  alle  Regierungen,  die  bestehen 
wollen,  die  Vorurtheile   sich   zu  Nutzen    ziehen   müssen. 


—    551    — 

Meine  Ansichten  sind  in  diesem  Fälle  unangenehm. 
Es  ist  gegen  meine  Natur,  die  Menschen  so  anzusehen; 
aber  wie  helfen,  wenn  die  Sache  so  liegt?  Eine  gewisse 
negative  oder  doch  zweiseitige  Anschauung  in  einem 
Werk  wie  das  Buch  in  vier  Bänden  V(enus)  U(rania) 
oder  wohl  auch  Zschokke's  mögen  eher  angehen,  aber 
wie  wenige  lesen  Alles  und  Solches,  und  wenige,  die 
Solches  lesen,  sind  eigentlich  unwissend,  haben  aber  doch 
Vorurtheil  oder  kein  Gefühl  für  Andere  und  die  Besten 
scheuen  sich  wenigstens  so,  daß  sie  eigentlich  neutral 
sind,  aber  nicht  ein  Mal  so  viel  Bekenntniß  ablegen. 
Die  Hebung  des  Vorurtheils  würde  wohl  Tugend  för- 
dern und  Laster  vermindern,  in  großen  Städten  wie  hier 
muß  das  sehr  bemerkt  werden.  Es  hat  zwar  auch  eine 
andere  Seite  füVs  Allgemeine:  Würden  Gesetze  weggethan, 
ohne  andere  Gesetze  zu  machen,  so  gäbe  es  viel  Böses, 
und  wie  könnten  andere  gemacht  werden?  An  eine 
solche  Möglichkeit  ist  unter  bestehenden  Umständen  und 
Ansichten  ja  nicht  zu  denken.  —  Das  Liebste  ist  mir, 
wenn  ich  mit  meinen  Vettern  (von  denen  Du  redest) 
unter  obwaltenden  Umständen  in  keine  Berührung 
komme.* 

Meine  Aufgabe  kann  es  hier  nicht  sein,  den  Nach- 
weis zu  führen,  Heinrich  Hößli  sei  nicht  weibliebend 
gewesen;  diese  Aufgabe  könnte  selbst  dann  mir  nicht 
zufallen,  wenn  es  überhaupt  logisch  zu  den  Möglichkeiten 
gehörte,  überzeugend  nachzuweisen,  daß  etwas  nicht  sei. 
Aber  auch  für  mehr  als  bloß  hohe  Wahrscheinlichkeit, 
daß  Heinrich  Hößli  rein  mannliebend  gewesen  ist, 
kann  aus  dem  von  mir  Ermittelten  irgend  ein  zwingender 
Beweis  nicht '  herjgeleitet  werden ,  weit  weniger  noch 
der  Nachweis  irgend  einer  Art  gleichgeschlechtlichen 
Verkehrs.  Wir  erfahren  aus  dem  Leben  des  Ver- 
fassers     des       „Eros*      nichts      von      einer     großen 


—    552    — 

Liebe,  die  ihn  fortgerissen  habe.  Eine  lange  Reihe  von 
Jahren  hat  er  treue  Freundschaft  oder  Kameradschaft 
mit  seinem  Neffen  Jakob  Kubli  gehalten;  es  war  das  um  eben 
die  schwere  Zeit,  als  sein  „Eros"  entstand;  die  geschäftige 
Fama  brachte  den  „Eros"  mit  Kubli  in  Verbindung;  sie 
machte  aber  ein  enttäuschtes  Gesicht,  als  bei  darauf  aus- 
gehenden Prüfungen  Jakob  Kubli  sich  als  völlig  unschuldig 
erwies  und  es  sich  zeigte,  daß  dem  Harmlosen  der  Gegen- 
stand des  „Eros*  —  spanische  Dörfer  waren.  Damit  war  es 
also  nichts !  Es  wird  bestimmt  versichert,  Heinrich  Hößli 
sei  ein  alter  lieber  Freund  der  Familie  des  Löwenwirts 
gewesen,  ein  edler,  sittenreiner  und  makelloser  Charakter, 
dem  Eltern  und  Kinder  stets  die  höchste  Achtung  zollten; 
den  Kindern  gab  Heinrich  nie  den  leisesten  Anlaß  zu 
einer  Klage,  weder  in  Tat,  noch  Wort,  noch  Blick; 
wäre  ein  solcher  Anlaß  vorgekommen,  so  hätte  deren  sehr 
guter,  aber  leicht  heftiger  Vater  den  Freund,  trotz  bisherge- 
pflogener echter  Freundschaft,  erwürgen  können;  um 
Hößli's  im  „Eros*  niedergelegte  Anschauungen  habe 
man  sich  nicht  in  der  Familie  gekümmert,  da  man  der 
Sache  gänzlich  fern  stand  und  diese  Frage  im  Familien- 
kreise überhaupt  nie  wäre  besprochen  worden.  Dem 
jüngsten  der  drei  Söhne  des  Löwenwirts  hatte  Heinrich 
auf  seinen  Wunsch  hin  im  späteren  Alter  den  „Eros* 
gegeben,  in  der  Erwartung,  daß  er  ihn  sorgfältig  studieren 
werde;  aufrichtig  gestand  ihm  der  jüngere  Freund,  daß 
et  zwar  im  „Eros"  geblättert,  die  Sache  aber  nicht  be- 
griffen habe,  die  vielen  Zitate  langweilig  fände  und  das 
Bu<3h  wieder  bei  Seite  gelegt  habe;  der  alte  Freund 
lächelte  und  sprach:  „Recht  so!  Du  hast  Besseres  zu 
tun  in  Deiner  Familie  und  in  Deinem  Geschäfte!" 

Ein  ausgesprochen  urnischer  Zug  in  Heinrich  Hößli's 
Wesen  war  lediglich  seine  Geschicklichkeit  in  weiblichen 
Arbeiten.  Um  sein  selbstloses  mannhaftes  und  furchtloses 
Eintreten  für  seine  heiligsten  Ueberzeugungen  aber  hätte 


—    553    — 

unser  sich  selbst  hochpreisendes  Männervolk  alle  Ursache, 
ihn  ehrlich  zu  beneiden! 

Was  Heinrich  Hößli  in  seinem  zweibändigen  „Eros* 
von  Selbstbekenntnissen  offenbart,  das  bezieht  sich 
auf  seine  Anschauungen,  nicht  notwendig  auf  seinen 
Geschmack,  nicht  notwendig  auf  seine  Lebensfüh- 
rung; da  er  bestimmt  erklärte,  daß  die  Männerliebe  der 
Griechen  zwar  auch  dem  Leben  und  der  Wirklichkeit 
seiner  Zeit  noch  angehöre,  jedoch  ohne  schwarzen,  „ver- 
dammlichen  Brüderverrath"  an  ringsum  lebenden  Menschen 
und  Lebensverhältnissen  sich  nicht  zeigen  lasse  —  »und 
ich  bin  kein  Judas",  fügt  er  (Eros  II  S.  44)  in  Klammern 
bei  —  so  lag  ihm  auch  die  Pflicht  nicht  ob,  sich  selber 
bloß  zu  stellen. 

In  dem  hinterlassenen  ungedruckten  Manuskripte 
zum  dritten  Bande  seines  „Eros"  findet  sich  der  nach- 
folgende Passus  wortgetreu: 

„(Aus    den    Selbstbekenntnissen    eines    Unglücklichen 
ohne  Liebe  zum  andern  Geschlecht) 

„Ich  sitze  im  Reise  wagen,  mir  gegenüber  eine  männ- 
liche Schönheit  —  tausend  andre  hätten  sie  nicht  für 
eine  solche  genommen  —  oder  vielmehr  —  es  hätte  sich 
in  den  tausend  andren  für  diesen  Menschen  nichts  be- 
wegt und  dieser  Mensch  nichts  in  diesen  tausend  andren. 
—  Die  Stadt  ist  zurück;  Berge  und  Thäler  und  Bilder 
am  Himmel  und  auf  Erden  wogen  und  rollen  dahin;  ich 
hatte  schon  große  Reisen  gemacht;  aber  so  gerollt  und 
so  gewogt  —  solchen  Himmel,  solche  Erde,  solche  Selig- 
keit —  und  ich  wußte  eigentlich  nicht,  ob  sie  in  mir 
oder  im  Postwagen  oder  rings  um  denselben  her  sei  — 
ich  war  trunken  und,  o  du  guter  Gott,  hätte  ich's  ewig 
bleiben  können 

—  ea  war  der  Eros!  — 

„Ich  bin  in  der  Kirche,  mir  zur  Rechten  eine  ver- 
klärte Menschengestalt,  die  auch  meine  ganze  Seele  ver- 


—    554    — 

klärt  und  mit  glühender  Andacht,  mit  dem  Himmel 
selbst  erfüllt.  Der  Tempel  erbebt,  er  verschwindet  .  .  . 
und  warum  dachte  ich:  zu  den  Füßen  dieses  göttlichen 
Jünglings  wäre  es  selig  zu  sterben?  — 

—  es  war  der  Eros!  — 

„Ich  sehe  die  Lichter  brennen  unter  dem  Thron 
Gottes  —  die  Glanzmeere  unendlich  ausgesäet  am  wolken- 
losen Himmel  ...  er  feiert  einen  Sabat  der  Welten  und 
seine  Flammen  funkeln  Ewigkeit  und  Liebe;  ich  sinke 
nieder,  ich  liege  im  Staub  .  .  .  und  .  .  .  ich  weiß  nicht 
o    Gott    woher  .  .  .  die  Gestalt    eines    holden  Jünglings 

steht  neben  mir 

—  Stimme  des  Eros!  — 

„Ich  stehe  im  Winter  allein  am  einsamen  Fenster; 
es  schneit;  der  Fink  für  sein  Weibchen  sucht  Körnlein 
vor  der  Scheuer  .  .  .  und  ich  bin  voll  Liebe  und  voll 
Wehmuth  —  und  denke,  wie  selig  so  ein  paar  vereinte 
Menschen  auf  dieser  Welt  voll  Sehnen  und  Trübsal 
leben  .  .  .  und  wie  viel  Herrlichkeit  im  Hintergrund 
einer  Menschenseele  sei  .  .  .  und  wenn  Gott  mir  noch 
so  ein  Menschenwesen  gäbe  und  ich  mein  ganzes  Leben 
mit  ihm  meinen  Bissen  Brod  theilen    könnte.  —  Es   saß 

ein  freundlicher  Jüngling  am  Ofen es  war  eine 

Erscheinung 

—  es    war    der   ewige  Eros,    der   in  den 

Zeugen  und  Stimmen  redet  und  im  Plato 

und  in   der  ewigen  Natur    und   bei    den 

Griechen! 

„Ich  sitze  am  Bach  und  denke  und  fühle  und  sinne 
so  hin  und  her  und  auf  und  ab  .  .  .  und  bin  voll  Heim- 
weh —  und  weiß  nicht  wohin  ich  vor  allem  diesem 
soll  .  .  .  denn    es   ist    Frühling  .  .  .   und    sagen   möchte 

ioh's,  wie  es  in  mir  wogt  und  Wellen  schlägt und 

so  einsam  ist  und  mir  all'  die  Herrlichkeit  so   zu  keinem 


—    555    — 

Frieden  hilft  .  .  .  und  meine  Sehnsucht  nach  dem  Engel 
in  Jünglingsgestalt  mich  in  namenlose  Traurigkeit  ver- 
senkt, wo  soll  ich  hin?  .  .  . 

„Ich  wandle  allein  in  einer  schönen,  einsamen  Ge- 
gend, ich  sitze  in  dem  Schatten  des  kleinen  Gartens  vor 
einer  unbewohnten  Hütte,  wie  ich  in  selig  hoffenden 
Träumen  schon  manche  erbaut  habe.  Daß  du  da  dein 
Leben  zubringen  und  diesen  Acker  pflügen  könntest  und 
säen  und  erndten  und  im  Sommer  und  Winter  die  Abend- 
röthe  sehen  und  diese  Bäume  blühen,  und  leben  und 
sterben  könntest  mit  —  dem  Einzigen  unterm  Himmel 
und  auf  Erden.  —  Ihr  tiefsten  stillen  Bilder  des  Lebens, 
ihr  goldnen  unvergeßlichen  Träume .  .  .  ich  saß  noch  da, 
als  die  ersten  Sterne  durch  die  Zweige  redeten  ...  ich 
mußte  fort,  denn  es  wohnten  keine  Menschen  in  dieser 
Gegend  und  ich  kannte  nicht 

den   Eros    in   des   jungfräulichen   Virgil's  und 
Theokrit's  Hirtengedichten. 

„Eine  Mutter  traf  ich  auf  einem  Dorfkirchhof  an; 
ihre  Tochter  war  gestorben  und  ihr  Sohn;  und  was  sie 
da  that,  fragt  wohl  kein  Mensch.  Ich  erfuhr,  daß  die 
Tochter  Braut  gewesen,  und  daß  sie  Anna  geheißen,  sah 
ich  am  Kreuz  und  daß  ihr  Heinrich  nun  in  die  weite 
Welt  geflüchtet  —  und  Johann  der  beste  und  schönste 
Mensch  weit  und  breit  gewesen  sei.  Nachdem  die  Mutter 
fort  gegangen  war  —  und  ich  so  froh,  allein  zu  sein, 
und  ringsum  alles  so  still  und  kein  Menschenwesen  weit 
und  breit  —  und  die  Auferweckten  wieder  wie  Nebel 
verschwanden  und  meine  Seele  überfloss  von  unsäglicher 
Wehmuth,  —  hätte  ich  zu  dem  schönen  gestorbenen  Jo- 
hann in  das  Grab  hinab  und  mich  zu  ihm  in  sein  Leichen- 
tuch wickeln  und  dort  bei  ihm  sein  mögen  —  ewig  — 
wegen  all'  der  Trübsal  und  dem  Heimweh  und  der  Liebe 


—    556    — 

auf  dieser  Welt  ....  und  ich  wußte  nicht,  warum  das 
alles  so  wundersam  in  mir  war  —  und  nichts 

von   der   Anthologie   der  Griechen  —  den 
Sängern   der  Vorwelt!" 


Wer  war  der  Schöpfer  dieser  Bilder,  die  uns  zeigen, 
daß  der  Eros  der  Griechen  auch  heute  noch  unter  uns 
weilt?  Daß  er  Menschenherzen  erfüllt  und  Menschen- 
verhältnisse beeinflußt?  Wer  schrieb  so?  Schrieb  so 
noch  ein  anderer?  Hößli  verrät  es  uns  nicht;  er  läßt 
es    uns    erraten   —  aber   er    fügt  an    dieser    Stelle    bei: 

„ in  diesen    Bildern,  in    diesen  Begriffen,- —  in 

diesen  Wahrheiten,  an  die  ich  noch  so  manche 
eigene  tiefere  Erfahrung  knüpfen  könnte  .  .  . 
in  ihnen  ist  der  Eros  der  Griechen  —  sie,  ihre  Stimmen 
und  Zeugen  sind  da  gültig  .  .  .  nicht  Greuellehren  der 
Hexen-  und  Ketzer-Prediger*  .  .  . 

Nach  allem  halte  ich  für  wahrscheinlich,  daß  Hein- 
rich Hößli  zeitlebens  mannliebend  war  und  daß  sein  „Eros" 
nicht  bloß  ein  Produkt  seines  Nachdenkens  und  Studiums 
und  seines  ausgesprochenen  Rechtsempfindens  war,  son- 
dern vorwiegend  als  der  Ausfluß  seines  innersten  Seelen- 
lebens auf  zufassen  ist.  War  der  Verfasser  des  „Eros"  aber 
nicht  mannliebend,  so  wiegt  sein  Zeugnis  für  die  Männer- 
liebe nur  noch  um  so  schwerer. 


Franz  Desgouttes  (1785—1817) 

„Alles  kommt  mir  wie  im  Traume  vor." 
Franz  Desgouttes. 

Da  der  „Eros"  Heinrich  Hößli's  nach  dessen 
eigenem  Geständnisse  ein  Ausfluß  seines  unendlichen  Mit- 
leidens mit  den  Qualen  und  seines  zornigen  Ingrimms 
über  die  ungewöhnlich  fürchterliche  Hinrichtung  des 
reumütigen  Mörders,  des  Berner  Bürgers  Franz 
Desgouttes  gewesen  ist,  Hößli  selbst  aber  die  Schilde- 
rung der  Leiden  und  der  Verworfenheit  dieses  Unglück- 
lichen in  den  beiden  erschienenen  Bänden  seines  -Eros" 

* 
unterlassen  und  sich  wahrscheinlich  für  den  dritten  Band 

aufgespart  hat,  so  wird  durch  Nachholung  des  von  Hößli  Ver- 
säumten an  dieser  Stelle  lediglich  eine  Pflicht  schuldiger 
Pietät  gegenüber  dem  so  verdienstvollen  Verfasser 
des  „Eros*  erfüllt.  „An  meiner  Idee,"  sagte  Hößli,  „ist 
Desgouttes'  innere  Zerstörung,  sein  Elend  und  sein  schauer- 
volles Ende  zu  prüfen  und  Fluch  dem  Menschen,  der 
diese  Prüfung  verschmähte,  wenn  sie  ihm  für  noch  nicht 
verlorene  Mitmenschen  Licht  und  Rettung  an  die  Hand 
geben  könnte"  (Eros  II,  213). 

Als  seine  Quelle  gibt  Hößli  (Eros  I,  277—278)  die 
Schrift  an: 

„Leben  und  Lebensgeschichte,  Verbrechen 
und  Hinrichtung  des  Herrn  Joh.  Franz  Nikiaus 
Desgouttes,  Doktors  der  Rechte  und  Bürgers 
der  Stadt  Bern",  Bern,  1817  in  4°.  Da  die  damalige 
Regierung    das  Erscheinen    dieser    Geschichte    in   ihrem 


—    558    — 

Gebiete  unterdrückte,  so  erschien  nach  H  ößli  diese  Schrift 
darauihin  französisch  in  Lausanne  und  1827  wieder 
deutsch  in  Berlin.  Desgouttes'  Schicksal  hat  bei  seiner 
Bekanntwerdung  H  ößli  's  Gemüt  mit  Grausen  erfüllt,  er 
konnte  nicht  schweigen  und  Mensch  bleiben.  Die  Schrift 
„hat  keinen  andern  als  den  Werth  eines  Beitrags  zur 
Geschichte  des  namenlosen  Elends  der  Opfer  unserer 
Unwissenheit  und  Unkenntniß  der  Menschennatur  in 
allen  Zweigen.  Nach  meiner  Ansicht  gehört  sie  zu  unserer 
Literatur  des  Eros  —  das  ist  fürchterlich,  aber  natür- 
lich; wie  wir  dieses  Feld  bestellt^  so  trägt  es  uns  Früchte" 
(Eros  I,  278). 

Diese  einzige  von  Hößli  angeführte  Quelle  für 
Desgouttes  ist  aller  Mühe  ungeachtet  mir  völlig  unzu- 
gänglich geblieben;  sie  fehlt  auch  den  drei  öffentlichen 
Bibliotheken  in  Bern,  woselbst  man  sie  am  ehesten  noch 
erwarten  könnte. 

Die  übrigen  das  Schicksal  Desgouttes'  behandelnden, 
mir  bekannt  gewordenen  Druckschriften  bieten  für  den 
Zweck  dieses  Biogramms  wenig  Belangreiches  und  deuten 
eigentlich  nur  an.     So 

Heinrich  Zschokke,  Der  Eros  oder  über  die 
Liebe,  in:  „Ausgewählte  Novellen  und  Dichtungen  von 
Heinrich  Zschokke.  Erster  Theil,  Aarau,  1843%  S.  231 
bis  292.  Desgouttes  heißt  hier  Lukasson,  sein 
Geliebter  •Hemmeier  wird  Walter  genannt.  Seite 
232—233,  244,  252—254,  256,  270—271,  289, 
291—292. 

Heinrich  Hößli,  Eros.  Die  Männerliebe  der 
Griechen  u.  s.  w.  I.  Band,  Glarus  1836;  IL  Band, 
St.  Gallen  1838.  Ueber  Desgouttes  handeln  Band  I 
S.  IX,  XVI,  61  und  278,  Band  H  S.  53,  212—213,  225, 
239,  263—264,  279,  327*)  und  351. 

Anonym,  Dr.  Franz  Desgouttes,  Dieb  und  Mörder. 
In:  -Die  interessantesten  Kriminal-Geschichten  aus  alter 


—    559    — 

und  neuer  Zeit  Ein  Buch  zur  Unterhaltung,  Warnung 
und  Belehrung  für  Jung  und  Alt,  nach  den  vorgelegenen 
Akten  bearbeitet  und  herausgegeben  von  einem  viel- 
jährigen höhern  Gerichtsbeamten.  St.  Gallen.  Altwegg- 
Weber."  IV  und  706  Seiten  in  8°,  Seite  633—650.  Das 
Erscheinungsjahr  fehlt;  das  Datum  des  Vorworts  ist 
November  1866. 

Während  Zschokke  und  Hößli  nur  zusammen- 
fassende Urteile  geben,  bringt  der  anonyme  Verfasser 
der  Kriminal-Geschichten  viel  interessantes  Detail,  aber 
gerade  bezüglich  der  hier  in  Frage  stehenden  Materie 
schweigt  er  sich  aus  und  begründet  seine  Zurückhaltung 
S.  644  mit  den  Worten :  „Es  ekelt  uns  nachgerade  an,  von 
dieser  „ Freundschaft*  mehr  zu  schreiben,  leider  aber  hängt 
sie  mit  der  ganzen  Geschichte  unzertrennlich  zusammen.* 

Ich  würde  nun  ratlos  dastehen  und  Hößli's  Zusage 
nicht  einlösen  können,  wenn  ich  nicht  durch  das  freund- 
liche Entgegenkommen  des  Staatsarchivars  des  Kantons 
Bern,  des  Herrn  Dr.  Heinrich  Türler,  in  die  dankens- 
werte Lage  versetzt  worden  wäre,  die  im  Staatsarchiv  in 
Bern  befindlichen  schriftlichen  Prozeßakten  nebst 
dem  Tagebuche  Desgouttes'  auf  das  Eingehendste 
studieren  zu  können,  derart,  daß  alles,  was  im  Nach- 
folgenden über  Desgouttes  mitgeteilt  wird,  einzig  dem 
genannten  Akten-Material  entnommen  ist 


I.  Ein  Mord  und  seine  Folgen« 

Am  29.  Juli  1817  Morgens  nach  9  Uhr  erstattete 
der  Bärenwirt  Gustav  Wiedmer  in  Langenthai  im  Kan- 
ton Bern  dem  Gerichtstatthalter  daselbst  die  Anzeige, 
der  Schreiber  des  Eechtsagenten  Dr.  Franz  Desgouttes, 
Daniel  Hemmeier  von  Aarau,  liege  tot  in  seinem 
Bette  und  scheine  ermordet  zu  sein.  Der  Gerichtstatt- 
halter ließ  die  Anzeige  an  den  Amtsstatthalter  in  Aar- 
wangen weiter  befördern  und  dessen  Gegenwart  erbitten. 


—    560    — 

Dieser  erschien  mit  dem  Amtsschreiber  alsbald  in  Langen- 
thal  behufs  Besichtigung  von  Oertlichkeit  und  Leiche. 
Im  Hause  des  Bärenwirts  befand  sich  zu  ebener  Erde 
gleich  links  von  der  Eingangstür  die  Schreibstube  des 
Rechtsagenten  Dr.  Desgouttes;  ihre  Besichtigung  er- 
gab nichts  Absonderliches;  eine  Treppe  hoch  bildeten  eine 
Flucht  von  drei  Vorderzimmern  und  diesen  gegenüber  zwei 
Zimmer  und  die  Küche  die  Privatwohnung  des  Dr.  Des- 
gouttes und  hier  wurde  folgendes  festgestellt:  Im  ersten 
Zimmer  stand  links  neben  der  Tür  ein  völlig  in  Un- 
ordnung gebrachtes  Bett,  auf  dem  unter  anderm  ein  blut- 
bespritztes, „F.  D.*  gezeichnetes  Hemd  und  ein  Offiziers- 
säbel mit  eiserner  Scheide  lag,  während  am  Fußboden 
um  das  Bett  herum  viele  unvollkommene  blutige  Fuß- 
spuren sichtbar  waren;  eine  halboffene  Tür  führte  in 
das  Mittelzimmer,  dessen  Boden  zahlreiche  blutige  Fuß- 
spuren von  solcher  Deutlichkeit  aufwies,  daß  die  fünf 
Zehen  unterschieden  werden  konnten,  ein  Beweis  dafür, 
daß  unbekleidete  Füße  sie  hervorgerufen  haben  mußten; 
auf  einem  kleinen  Tischchen  lag  ein  großes  ledernes 
halboffenes  Säckchen  mit  drei  verschiedenen  Behältern, 
welche  Bleikugeln,  Patronen  und  ein  kleines  Ladestöckchen 
zu  einer  Pistole  enthielten;  im  letzten  Zimmer  endlich, 
dem  Schlafgemache  des  Schreibers  Hemmeier,  lag  ein 
junger  Mann  im  Bette  auf  dem  Rücken,  kalt,  bleich  und 
starr,  den  Kopf  hoch  auf  dem  Hauptkissen  mit  halb- 
geschlossenen Augen  und  offenem  Munde,  die  Arme  dem 
Leibe  nach  gekrümmt  haltend,  die  Hände  auf  dem  Unter- 
leibe gefaltet  und  den  linken  Fuß  aus  dem  Bette  hervor- 
streckend; eine  wollene  Decke  reichte  dem  Jüngling  bis 
fast  an  den  Hals,  das  eigentliche  Deckbett  bildete  einen 
Knäuel  am  Fußende  des  Bettes;  der  mit  dem  Hemde  be- 
kleidete entseelte  Körper  zeigte  wie  das  Bett  überall 
Blutspuren;  dicht  am  Leibe  zwischen  dem  Ellenbogen 
und  der    Achsel    des    rechten  Armes  fand   sich   ein  fast 


—    561    — 

offenes  blutbedecktes  großes  Sackmesser  mit  zwei  frisch- 
geschlfffenen  Schneiden;  auch  hier  wies  der  Fußboden 
ungezählte  Spuren  blutiger  nackter  Füße  auf. 

Der  Tote  war  Daniel  Hemmeier  von  Aarau,  ein 
junger  Mann  von  22  Jahren.  Geboren  am  2.  März  1794 
hatte  er  sich  von  früher  Jugend  auf  durch  Ordnungsliebe, 
Lernbegierde  und  gute  Aufführung  ausgezeichnet  und 
wurde  auf  Verwendung  seiner  Tante  Salome  Anderes,  der 
Dienstmagd  des  Herrn  Fürsprech  Franz  Jakob  Desgouttes, 
vom  1.  November  1810  an  in  dessen  Schreibstube  beschäf- 
tigt, um  den  Advokatendienst  zu  erlernen.  Bei  der  voll- 
ständigen Mittellosigkeit  seiner  mit  sieben  Kindern  ge- 
segneten Eltern  war  die  Dauer  seiner  Lehrzeit  auf  fünf 
Jahre  festgesetzt  worden;  vom  1.  November  1815  an 
war  alsdann  Hemraeler  in  derselben  Kanzlei  als  Gehülfe 
tätig  geblieben  und  nach  dem  am  6.  Juli  1816  erfolgten 
Ableben  des  alten  Desgouttes  zugleich  mit  der  Kanzlei 
von  dessen  Sohne  Dr.  Franz  Desgouttes  übernommen 
worden.  Hatte  Hemmeier  schon  als  Lehrling  viel  für 
seinen  leidenden  Vater  und  seine  kränkliche  Mutter  ge- 
tan, so  war  er  als  Gehülfe  die  Stütze,  der  Trost  und 
die  Freude  seiner  bis  dahin  in  drückender  Armut  leben- 
den Eltern  geworden  —  ein  stiller  und  strebsamer,  wohl- 
geratener und  hoffnungsvoller  Sohn. 

Gleich  nach  dem  Bekanntwerden  der  Auffindung 
des  Hemmeier  als  Leiche  lief  vom  Markte  zu  Langenthai 
aus,  wo  Wochenmarkt  tagte,  durch  das  ganze  Amt  mit 
Blitzesschnelle  das  Gerücht  von  Mund  zu  Mund,  daß 
kein  anderer,  als  der  Dr.  jur.  Franz  Desgouttes,  der 
des  guten  Jünglings  Berater  und  Wohltäter  hätte  sein 
sollen,  der  Urheber  des  grausigen  Mordes  wäre.  Dieser 
hatte  am  29.  Juli  sein  nur  durch  ein  Zwischenzimmer 
vom  Schlafzimmer  des  Ermordeten  getrenntes  Schlaf- 
gemach nicht  vor  8  Uhr  Morgens  verlassen,  war  dann 
mit  einem  Portefeuille  unterm  Arm  auf  der  Straße  nach 

Jahrbuch  V.  36 


—    562    — 

Aarwangen  von  verschiedenen  Personen  angetroffen  wor- 
den, hatte  sich  im  Dorfe  Aarwangen  aufgehalten  und 
sich  nach  dem  Dorfe  Muhmenthal  begeben  wollen,  wurde 
jedoch  auf  dem  Wege  dahin  mit  Hülfe  von  zwei  Bauern 
durch  einen  Polizeiwächter,  der  ihm  mit  einer  eisernen 
Schnur  die  Hände  fesselte,  angehalten;  er  schien  zer- 
schlagen, müde  und  traurig  und  mußte  starke  Getränke 
zu  sich  genommen  haben ;  auch  seufzte  er  viel,  faßte  sich 
an  die  Stirn  und  klagte  über.  Zahnschmerzen.  Zu  den 
sich  einfindenden  Neugierigen  sagte  er :  „Ihr  lieben  Leute, 
ich  will  Euch  gewarnt  haben,  ergebt  Euch  nicht  dem 
Trünke"  und  „Im  Rausche  und  im  Zorn  soll  man  nicht 
sündigen".  So  wurde  er  drei  ihn  suchenden  Landjägern 
übergeben,  welche  ihm  anfangs  Handschellen  anlegten, 
als  sie  aber  gewahrten,  daß  er  sehr  schwach  und  Wider- 
stand zu  leisten  unfähig  war,  vielmehr  sagte,  sie  könnten 
mit  ihm  machen,  was  sie  wollten,  ihm  auch  einen  Schuß 
geben,  ihn  wieder  davon  befreiten  und  gegen  1  Uhr 
Mittags  als  Untersuchungsgefangenen  in  das  Schloß  Aar- 
wangen abführten.  Im  Wartezimmer  daselbst  gab  er 
dem  Schloßknecht  eine  silberne  Uhr  mit  dem  Ersuchen, 
sie  zu  verkaufen ;  der  Erlös  solle  zur  Erleichterung  seiner 
Gefangenschaft  dienen.  Als  der  Knecht  später  hörte, 
daß  des  Hemmeier  Uhr  vermißt  werde  und  die  in  seinen 
Händen  befindliche  die  gesuchte  sei,  gab  er  sie  zurück; 
Desgouttes  hatte  sie  nach  dem  Morde  von  der  Wand 
genommen  und  zu  sich  gesteckt;  ebenso  Taschentücher 
des  Hemmeier;  beides  hatte  er  selbst  dem  Hemmeier 
geschenkt  und  dachte  nun  bei  sich:  Ich  habe  sie  ihm  ge- 
schenkt und  er  braucht  sie  nicht  mehr. 

Schon  am  Tage  nach  dem  Morde  nahm  der  Amts- 
statthalter im  Beisein  von  drei  Amtsrichtern  und  dem 
Aktuar  das  Präliminarverhör  mit  dem  des  Mordes 
Verdächtigen  vor,  in  welchem  dieser  die  Tat  unumwun- 
den eingestand;  zu  seiner  Tat,  die  Vorsatz  und   Absicht 


—    563    — 

gewesen  sei,  habe  er  sich  den  nötigen  Mut  durch  starke 
Getränke  getrunken;  seine  Tat  sei  eine  prämeditierte 
Handlung;  in  einem  an  Wahnsinn  grenzenden  Zustande 
habe  er  den  Hemmeier  so  zugerichtet,  daß  er  hätte  ver- 
bluten müssen;  hätte  er  nur  ein  wenig  Besinnung  ge- 
habt, so  würde  er  Aerzte  oder  anderweite  Hülfe  herbei- 
geholt haben;  in  seinem  Zustande  aber  sei  das  ausge- 
schlossen gewesen.  Im  zweiten  Verhöre  am  5.  August 
fährte  der  Geständige  aus,  wie  ihn  die  Absicht  des 
Mordes  gepackt  habe;  auch  Handlungen  im  betäubten 
Zustande,  in  welchem  alles  zu  tun  möglich  sei,  seien 
mehr  oder  weniger  mit  Absicht  verbunden.  Nebenher 
legte  er  das  Geständnis  ab,  mit  seinem  Lehrling  Hans 
Ulrich  Leib  und  Gut  „Unzucht*  getrieben  zu  haben. 

Bereits  am  2.  August  hatte  die  Kriminal-Kommission 
zu  IJern  wegen  Behinderung  des  Oberamtmanns  in  Aar- 
wangen durch  Krankheit  die  Transportierung  des  Des- 
gouttes  nach  Bern  und  Uebertragung  der  Untersuchung 
an  das  Verhörrichteramt  in  Bern  vom  Präsidenten  des 
Justizrats  der  Stadt  und  Republik  Bern  erbeten  und 
der  Auftrag  dazu  war  am  4.  August  erfolgt.  So  wurde 
der  geständige  Mörder  am  5.  August  nach  Bern  ge- 
schafft und  ihm  die  Zelle  12  der  „ oberen  Gefangenschaft" 
angewiesen;  nach  Aussage  des  Gefangenen  in  der  Nach- 
barzelle 11  ging  Desgouttes  bis  über  Mitternacht  vom 
7.  auf  den  8.  August  in  seiner  Zelle  umher,  klopfte  an 
Tür  und  Wände,  warf  sein  Lager  hin  und  her  und 
schrie  immer:  „Hemmeier,  ich  hab's  nicht  gern  getan! 
Ihr  Herren,  laßt  mich  doch  heraus!  Man  bringe  mir 
doch  Schnupftabak!"  Mit  dem  gefangenen  Nachbarn  hat 
er  endlich  durch  die  Wand  gesprochen  und  gesagt,  wie 
er  heiße  und  warum  er  gefangen  sitze;  hernach  ward  er 
wieder  ruhig  und  still  wie  bei  Tage  und  verlangte  nur 
immer  nach  Schnupftabak.  Seitens  des  Berner  Verhör- 
richteramtes   wurden  durch    den    Verhörrichter    v.  Wat- 

36* 


—    564    — 

tenwyl  vom  9.  bis  zum  19.  August  noch  sieben  Ver- 
höre mit  Desgouttes  vorgenommen,  in  denen  dieser  viele 
seiner  Antworten  dem  Schreiber  in  die  Feder  diktierte ;  er 
verblieb  bei  dem  Bekenntnisse  seiner  Tat,  erklärte,  sie 
sei  mit  Vorbedacht  begangen  und  er  hätte,  obwohl  er 
betrunken  gewesen  sei,  Besonnenheit  genug  bewahrt,  um 
vor  •  und  bei  der  Ausführung  des  Mordes  genau  zu 
wissen,  daß  er  dem  Hemmeier  das  Leben  nehme;  er 
machte  nur  die  eine  Einschränkung,  der  Mord  sei  un- 
streitig mehr  seiner  unglücklichen  Imagination  beizu- 
messen als  seinem  Verstände.  Um  sein  Gewissen  zu 
entlasten,  bekannte  er,  mit  dem  Hemmeier  Jahre  hin- 
durch „unzüchtigen  Umgang*  gehabt  und  auch  mit  an- 
deren männlichen  Personen  „  Unzuchthandlungen  *  verübt 
zu  haben.  Außerdem  gestand  er  zahlreiche  auf  anderen 
Gebieten  liegende  Straftaten  und  Verbrechen  ein: 
Diebstahl  an  Geld  und  sonstigem  Gut,  zweimalige  De- 
sertion vom  Militär  und  eine  ungerechtfertigte  Quartier- 
bestellung, mehrmalige  Fälschung  seines  Namens,  Ur- 
kundenfälschung, Betrug  und  Uebervorteilung  in  seiner 
juridischen  Amtstätigkeit,  Mißbrauch  von  Canthariden 
bei  seinen  nächsten  Angehörigen,  bei  den  Dienstmädchen 
seiner  Eltern  und  beim  Hemmeier,  Mordversuche,  end- 
lich Raub-  und  Mordpläne,  die  er  nur  deshalb  nicht 
ausgeführt  habe,  weil  es  ihm  an  dem  dazu  nötigen  Mute 
gefehlt  hätte.  Noch  nach  Abschluß  der  Vernehmungen 
schrieb  er  an  den  Verhörrichter  eigenbändig  sechs  frei- 
willige ausführliche  Bekenntnisse  zwischen  dem  27. 
August  und  22.  September  nieder;  in  diesen  fügte  er  den 
früheren  immer  wieder  neue  Geständnisse  hinzu;  durch 
seine  Geständnisse  hat  er  sich  allmählich  in  eine  solche 
Scham,  in  einen  so  tiefen  Abscheu  vor  sich  selbst  hineingelebt, 
daß  er  in  all'  seinem  Tun  und  Lassen  nur  noch  Aus- 
fluß seiner  Eigenliebe,  Unzucht,  Völlerei,  Verschwen- 
dung, Genußsucht  und  Bosheit  zu  erkennen  vermag  und 


—    565    — 

in  Absicht  und  Tat  für  das  verworfenste  Scheusal  der 
Erde,  für  das  größte  Ungeheuer,  das  die  Erde  getragen, 
angesehen  sein  will.  Tief  hat  ihn  die  Leichenrede  auf 
Hemmeier  gerührt;  der  bloße  Anblick  seines  Opfers 
senkt  ihn  in  des  Jammers  Tiefen.  Er  erklärt,  auf  einen 
Verteidiger  zu  verzichten  und  seiner  eigenen  „Ver- 
teidigung* eine  schriftliche  „demütige  Supplikation" 
an  seine  Richter  vorzuziehen.  Er  hält  sich  des  Todes  für 
schuldig  und  wünscht  den  Tod  auf  dem  gesetzlichen  Wege. 
Am  20.  August  legte  der  Verhörrichter  die  Unter- 
suchungsakten Desgouttes  der  Kriminal-Kommission  des 
Obersten  Appellations-Gerichts  der  Stadt  und  Republik 
Bern  vor  und  am  23.  August  konnte  der  Präsident  der 
Kriminal-Kommission  zu  Bern  an  das  Oberamt  Aarwangen 
berichten,  daß  die  Prozeß  Verhandlung  zu  Ende,  die 
wichtigsten  Zeugen  vernommen  und  die  nötigen  Infor- 
mationen eingeholt  seien;  er  übermittelte  die  Akten  dem 
Amtsgericht  Aarwangen  als  erstinstanzlichem  peinlichen 
Richter  zur  Beurteilung,  wobei  er  der  Meinung  Ausdruck 
gab,  die  Eingeständnisse  des  Delinquenten  eigneten  sich 
so  wenig  zur  Bekanntmachung  wie  zu  einer  längeren 
Behandlung.  Das  Oberamt  zu  Aarwangen,  bestehend  aus 
drei  Amtsrichtern  und  zwei  Suppleanten  unter  dem  Vor- 
sitze des  Amtsstatthalters,  erkannte  am  2.  September 
einmütig  auf  schuldig  des  Meuchelmordes  und  der  Ver- 
urteilung zur  Hinrichtung  durch  das  Schwert.  Woraufhin 
das  Oberste  Appellationsgericht  zu  Bern  revisionsweise  zu 
Recht  sprach  und  am  27.  September  erkannte:  Der  Delin- 
quent solle,  nachdem  er  in  Sachen  seines  Heils  unter- 
richtet sein  würde,  auf  der  Richtstätte  vom  Leben  zum 
Tod  hingerichtet,  zuerst  erwürgt  und  dann  gerädert,  sein 
Leichnam  hernach  auf  das  Rad  geflochten,  erst  am  Abend 
davon  abgenommen  und  zuletzt  an  dem  verschmäheten 
Orte  verscharrt  werden.  Aus  seinem  allfälligen  Ver- 
mögens-Nachlaß  sollen   sowohl  Schaden-Ersatz   als  auch 


—    566    — 

die  Kosten  der  Prozedur,  Gefangenschaft  und  Hinrichtung 
bestritten  werden. 

Diese  Exekution  wurde  an  dem  Verurteilten  zu 
Aarwangen  am  30.  September  vollzogen;  der  Delinquent 
zeigte  bis  zum  Lebensende  eine  außerordentliche  Geistes- 
gegenwart und  Standhaftigkeit  und  ging  seinem  Tode 
mit  Reue  und  Ruhe  entgegen. 

Die  letzte  Stunde  des  Mörders  behandelt  eine  kleine 
Druckschrift,  deren  wortgetreuer  Abdruck  hier  folgt: 

*  Rührende  Standrede  des  hingerichteten 
Johann  Franz  Nikiaus  Desgouttes  von  Bern, 
ehemaligen  Doktors  der  Rechte  in  Langen- 
thal,  mit  Christlicher  Unerschrockenheit  vor- 
getragen auf  dem  Hinrichtungsplatze  zu  Aar- 
wangen den  30.  Herbstmonat  1817.  —  (Sein  Vortrag 
war  feurig  und  schnell.)  —  Bern,  gedruckt  bey  Ulr.  Niki. 
Schönauer,  No.  218  am  Stalden.  *) 

Zahlreich  versammelte  Zuschauer  meiner  wohlver- 
dienten Todesstrafe,  die  Mehrern  ohne  Zweifel  auch 
Zeugen  meines  ungläubigen  sündenvollen  Lebens! 

Höret!  ach  höret  nun  die  letzten  Worte  eines  reuig 
sterbenden  Uebelthäters !  Ja!  ich  bin  es  der  Allerheiligsten 
Ehre  meines  tief  beleidigten  himmlischen  Vaters  und 
Heilandes,  ich  bin  es  Seiner  mit  Füßen  getretenen 
göttlich  wahren  Religion  schuldig,  ich  bin  es  allen  durch 
mich  Geärgerten,  im  Glauben  Irregemachten  und  Ver- 
führten und  auch  dem  Heil  meiner  eigenen  armen  Seele 
schuldig,  noch  vor  meinem  Ende  ein  lautes  öffentliches 
Bekenntniß  vor  Euch  abzulegen  und  Euch  zu  sagen, 
wohin  die  verblenderische  Zaubergewalt  der  von  mir  so 
vergötterten  sogenannten  Welt- Weisheit,  die  vor  Gott 
wahre  Thorheit  ist,  mich  in  meinem  Leben  gebracht  und 
durch  was  für  erbarmungs volle   Führungen   und  ehemals 


1)  4  Seiten  ohne  Paginierung  in  Quart,  mit  Trauerrand. 


—    567    — 

von  mir  verachtete  Kräfte  mein  ganz  verarmter  Geist 
aus  dem  tiefen  Abgrunde,  worinnen  ich  mit  Leib  und 
Seele  ewig  verloren  gewesen  wäre,  zu  dem  gegenwärtigen 
glückseligen  Zustand  wieder  erhoben  worden  sey. 

Glaubt  mir,  theure  Freunde!  daß,  wenn  an  irgend 
einen  Menschen  alle  Aufopferungen,  Mühe  und  Unterricht 
zur  höchstmöglichen  Bildung  seines  Verstandes  verwendet 
worden,  welche  heutzutage  meist  für  hinreichend  gehalten 
wird,  um  den  Menschen  wahrhaft  gut  und  glückselig 
machen  zu  können,  so  ist  es  gewiß  an  mir  geschehen.  Auch 
habe  ich  bey  der  Welt  aller  daraus  fließenden  schönen 
Vorzüge  genossen.  — 

Aber  ach!  was  ist  bey  aller  hohen  Erziehung  des 
Verstandes  eine  von  angeborner  Ehrsucht,  Hochmuth, 
Fleischeslust  und  Liebe  zur  Eitelkeit  irregeführte  und 
überdieß  noch  von  Unglaubens-  und  Romanbücher-Gift 
verfinsterte  menschliche  Vernunft,  die  sich  selbst  über- 
lassen und  vom  allmächtig  verbessernden  Lichte  des 
Geistes  und  Wortes  Gottes  leer  bleibet?  Ein  unge- 
staltes  Ungeheuer,  ein  gefährliches  Irrlicht,  eine  Seelen- 
mörderin und  höchste  Feindin  zeitlichen  und  ewigen 
wahren  Glücks!  —  bey  welchem  allem  sie  doch  auf 
eingebildete  Weisheit  und  Kräfte  so  stolz  ist. 

Ja!  vor  den  Ohren  meines  Obersten  Richters,  vor 
dem  keine  Heucheley  mehr  möglich  ist,  bekenne  ich 
hier  mit  bald  sterbendem  Munde,  aus  aller  Kraft  meines 
Herzens:  ,Einzig  und  allein  diese  thörichte  Vernunft 
und  die  Verführerin  so  vieler  Tausenden,  die  falsche 
Weltweisheit  war  es,  welche  zuerst  zum  verborgenen 
Fall  den  Grund  legte,  dann  von  einem  Laster  zum 
andern  mich  verstrickte,  mein  Herz  zu  einer  unreinen 
Wohnung  aller  bösen  Anschläge  machte  und  mich,  da 
ich  nach  völliger  Sünden-Freyheit  und  Ruhe  vor  dem 
Nagen  meines  Gewissens  dürstete,  auch  noch  in  die 
schrecklichsten  Finsternisse  der  Verachtung  und  Verspott- 


—    568    — 

ung  alles  Glaubens  an  einen  Gott  und  Heiland,  an 
Unsterblichkeit  und  ewige  Vergeltung  hineinsenkte, 
worinnen  ich  dann  der  vollkommensten  Herrschaft  aller 
wilden  Geister  und  Leidenschaften  und  endlich  auch  dem 
Mord-Geiste  so  preisgegeben  war,  daß  ich  keine  Ruhe 
mehr  hatte,  bis  ich  hier  anlangen  mußte/ 

Aber  wer  hat  mich  dagegen  aus  diesem  Elend  heraus- 
gezogen? O,  wer  anders  als  alleine  die  göttliche 
Barmherzigkeit,  die  auch  mir,  ihrem  Verächter, 
immer  noch  mitleidsvoll  nachgieng!  Ja,  durch  sie  allein 
bin  ich  in  die  heilsame  Stille  der  Gefängnisse  geführt, 
über  meinen  schrecklichen  Seelenzustand  erleuchtet  und 
zum  Nachdenken  gebracht,  durch  sie  allein  bin  ich  vor 
völliger  Verzweiflung  bewahret  und  endlich  als  ein  tief 
gedemüthigter  armer  Sünder  mit  allen  meinen  unnenn- 
baren Sündengräueln,  zu  meiner  allertiefsten  Beschämung, 
zu  unbegreiflicher  Gnade  wieder  angenommen  worden; 
wofür  ich  sie  ewig  nie  würdig  genug  werde  preisen 
können. 

Und  nun  bekenne  ich  aus  innigst  dankbarem 
Herzen  ebenfalls  öffentlich:  Daß  allein  Jesus  Christus, 
der  wahre  Gott-Mensch,  mein  Heiland  und  Retter 
geworden  sey;  daß  Er  auch  für  mich  hier  gelebt,  Sein 
unschuldiges  Blut  vergossen  und  den  Kreuzestod  zur 
Versöhnung  für  meine  Sünden  ausgestanden  habe,  daß 
Er  alleine  mich  ewig  fluchwürdigen  Sünder  aus  dem 
Sumpfe  von  Elend,  worin  jene  verkehrte  Weltweisheit 
mich  bereits  versenkt  hatte,  errettet;  ja  daß  ich  auch 
nur  durch  Seine  Kraft  alleine  (indem  ich  aus  mir  selber 
nichts  bin  noch  vermag)  bis  auf  diesen  Augenblick  noch 
von  der  Furcht  des  Todes  frey  und  ruhig  geblieben  und 
nun  vertraue,  daß  Er  mich  auch  zur  letzten  Arbeit  bey 
der  Zerstörung  meines  schwachen  Fleisches  allmächtig 
stärken  und  in  Sein  herrliches  Reich  hinüber  führen 
werde ! 


—    569    — 

O  Ihr  alle,  lieben  Freunde!  höret  doch  diese  Stimmen 
eines  sterbenden  Sünders  an  Eure  Herzen !  Glaubet  doch 
an  Euern  Gott  und  Heiland!  Haltet  Euch  ganz  und 
ewig  an  Ihn!  Ohne  Ihn  seid  Ihr  fast  ohne  Rettung 
verloren,  Ihr  möget  thun,  was  Ihr  wollet!  Der  Herr  er- 
barme sich  über  Euch  alle!  Betet  nun  für  mich,  daß  Er 
sich  auch  über  mich  erbarme!  — 

Und  nun  will  ich  eilen!  [Hier  erhob  er  mit  in  die 
Höhe  gerichteten,  gefalteten  Händen  einen  unaussprech- 
lichen Blick  in  den  heitern  Himmel]  Denn  meine  Seele 
sehnet  sich  nach  dem  Himmlischen  Vater  und 
seinem  liebenswürdigsten  Sohne  Jesu  Christo, 
vor  welchem  ich  nun  bald  erscheinen  zu  können  mich 
freue!  Ihm  übergebe  ich  zum  letztenmale  meinen  Leib 
und  meine  Seele  zum  ewigen  Eigenthum!     Amen. 

(Hierauf  entkleidete  er  sich  selbst  mit  aller  Ruhe 
und  legte  sich  sanft  auf  das  Todeswerkzeug  nieder,  bis 
er  mit  ernstem  Blicke,  aber  standhaft  ruhig  bis  an's 
Ende,  die  Augen  schloß.) 


IL  Franz  Desgouttes'  Leben  und  Charakteranlagen. 

Das  zu  Bern  1785  ehelich  geborene  Kind  des  Proku- 
rators Franz  Jakob  Desgouttes  und  seiner  Ehefrau  Jo- 
hanna Margaretha  geb.  Holzer  erhielt  am  8.  März  bei 
seiner  im  großen  Münster  zu  Bern  nach  katholischem 
Ritus  erfolgten  Taufe  die  Namen  Johann  Franz  Nikiaus. 
Franz  hatte  drei  Geschwister:  einen  Bruder  Emanuel  und 
zwei  Schwestern,  die  späteren  Ehefrauen  Steinhäusli  und 
Debary.  Sein  Großvater  väterlicher  Seits  hatte  nach 
Angabe  des  Pfarrers  Friedrich  Rütimeyer  nicht  wenig 
Ueberspanntes  in  seinem  ganzen  Wesen  gehabt  und  sein 
Großonkel   war    ein    „blödsinniger    Verrückter/      Franz 


—    570    — 

blieb  nur  bis  in  sein  7.  Jahr  im  Vaterhause  zu  Langen- 
thal  unter  der  Aufsicht  seiner  Mutter  und  wurde  als- 
dann in  verschiedene  Pensionsanstalten  gegeben.  Erst 
den  14  Jahre  alten  und  ziemlich  verwahrlosten  Knaben 
nahm  der  Vater  wieder  auf  und  übergab  ihn  dem  Reli- 
gionsunterrichte eines  Pfarrers,  bei  welchem  sich  der  junge 
Mensch  mit  großem  Eifer  zum  hl.  Abendmahle  vor- 
bereitete; nicht  leicht  habe,  gesteht  er  selbst,  jemand 
diese  Handlung  so  feierlich  begangen  und  sein  Leben  sei 
dazumal  fleckenlos  und  un tadelhaft  gewesen.  Bis  Juli 
1800  blieb  er  im  Vaterhause  mit  den  Vorbereitungen  zu 
einem  Lebensberufe  bes.  durch  Kopieren  von  Rechtsschriften 
beschäftigt  und  kam,  nachdem  er  in  Lützelflüh  beim 
Pfarrer  Moser  sich  schöne  Kenntnisse  in  Philosophie  und 
Sprachen  angeeignet  hatte,  1802  nach  Lausanne,  wo  er 
leichtsinnig  Schulden  machte,  in  seiner  Not  einen  Ge- 
nossen bestahl,  ertappt  entfloh,  aber  nach  erfolgter  Fest- 
nahme nach  Langenthai  geschafft  wurde.  Der  ratlose 
Vater  gab  den  ungeratenen  Sohn  1803  einer  Frau  de 
Feiice  zu  Yverdon  in  Kost,  nahm  ihn  aber  1804  wieder 
zu  sich,  da  der  junge  Mensch  nichts  lernte,  allerhand 
Unfug  trieb  und  „nur  eine  Tugend,  die  der  Mäßigkeit  im 
Trinken,  zeigte,"  woher  er  den  Namen  boi  Peau  (Wasser- 
trinker) erhielt.  Im  Herbst  1804  bezog  er  die  Univer- 
sität Tübingen,  welche  er  1806  mit  dem  Diplom  eines 
Doctor  juris  wieder  verließ.  Im  Elternhause  wurde  er  nun 
vom  Vater,  der  viele  Schulden  für  ihn  zu  bezahlen 
hatte,  streng  gehalten,  was  ihü  mißmutig  machte  und 
ihn  nicht  nur  zu  tollen  Streichen  trieb,  sondern  auch  zum 
unmäßigen  Trinken,  dem  er  sich  in  Tübingen  schon  er- 
geben hatte,  veranlaßte,  um  seinen  Unmut  zu  betäuben; 
er  trat  in  ein  sinnliches  Verhältnis  zur  Dienstmagd  seines 
Schwagers  und  zog  mit  ihr  Monate  hindurch  im  Lande 
umher,  bis  er  1807  bei  einem  Einbruchs  versuche  fest- 
genommen   und    zu    seinem  Oheim    nach  Bern   geschafft 


—     571     — 

wurde ;  als  er  auch  hier  sich  schlecht  führte,  ward  er  ge- 
zwungen, im  3.  Schweizer  Regiment  zu  Beifort  franzö- 
sische Dienste  zu  nehmen ;  nach  zweimaliger  Desertion, 
einem  tollen  Leben  und  einer  Gefangenschaft  von  135 
Tagen  wurde  er  im  Mai  1809  nach  Hause  entlassen,  ob- 
wohl er  erst  1812  seinen  eigentlichen  Militärabschied 
erhielt.  Im  Elternhause  geriet  er  1813  in  schwere  Ver- 
schuldung, die  ihn  außerordentlich  drückte;  ein  Lotterie- 
gewinn im  Jahre  1814  deckte  zwar  einen  Teil  derselben, 
machte  jedoch  den  glücklichen  Gewinner  um  so  kühner 
im  Einsetzen.  Alles  in  allem  war  dieser  Zeitraum  der 
glücklichste  in  seinem  unruhigen  Leben,  indem  Franz  ganze 
7  bis  8  Monate  hindurch  des  Genusses  geistiger  Getränke 
sich  enthielt.  Aber  nach  einem  Mägdewechsel  im  Eltern- 
hause ergab  er  sich  sinnlichen  Ausschweifungen  mit  der  neu 
eingetretenen  Dienstmagd;  diese  erklärte,  um  ihn  auszu- 
nutzen, sich  als  von  ihm  geschwängert  und  da  er  nun 
beträchtliche  Summen  bezahlen  mußte,  verlor  er  bis  in 
den  Herbst  1815  alle  Besinnung,  machte  zu  seiner  Zer- 
streuung kostspielige  und  unsinnige  Reisen  und  ergab 
sich  dem  Trünke,  so  daß  ihn  bald  wieder  eine  große 
Schuldenlast  drückte.  Eine  Prokuratorstelle,  auf  welche 
er  rechnete,  erhielt  er  nicht,  ein  Unglück,  welches  seinem 
starblinden  Vater  den  physischen,  ihm  den  moralischen 
Todesstoß  versetzte.  Sein  Verkehr  mit  Hemmeier  be- 
darf einer  gesonderten  Behandlung. 

Franz  Desgouttes  war  ein  Mann  von  schlankem, 
hohem  Wüchse  mit  kastanienbraunem  Haar  und  eben- 
solchen Augenbrauen,  grauen  Augen,  mittelgroßem  Munde 
und  lauger  Habichtsnase.  Er  war  Gemütsmensch  und 
nichts  weniger  als  kalter  Verstandesmensch.  Seine  Seele 
war  voller  Einbildungskraft  und  seine  Phantasie  von 
außerordentlicher  Lebhaftigkeit;  nachdem  er  ein  medi- 
zinisches Buch  studiert,  glaubte  er  alle  Krankheiten  zu 
besitzen,  von  denen  er  gelesen  hatte;  die  Schilderungen  ge- 


—    572    — 

schichtlicher  und  dichterischer  Werke  vergegenwärtigte  er 
sich  mit  solcher  Unmittelbarkeit,  daß  er  bei  ihrer  Wiedergabe, 
mit  der  er  einsame  Stunden  ausfüllte,  in  starke  Er- 
regung geriet  und  dann  bisweilen  ganz  unkenntlich 
wurde;  besonderes  Wohlgefallen  fand  er  am  Ueber- 
triebenen;  die  Musik  besaß  eine  große  Macht  über  sein 
Gemüt;  obwohl  ein  Verächter  des  „  Pf  äffen  wesens"  und 
der  Klosterbrüder  zeigte  er  sich  besonders  als  werdender 
Jüngling  und  als  Delinquent  von  tiefgehender  Religiosität. 
Bei  solch'  eigenartiger  Veranlagung  fanden  sich  in  seinem 
Wesen  die  widersprechendsten  Charaktereigenschaften 
nebeneinander;  bald  war  er  lange  Zeit  völlig  nüchtern, 
bald  ergab  er  sich  dem  Trünke  bis  zur  Besinnungs- 
losigkeit; in  der  Trunkenheit  faßte  er  Entschlüsse  zu 
Diebstahl,  Einbruch  und  Mord,  vor  deren  Ausführung  er 
nach  erfolgter  Ernüchterung  mutlos  zurückbebte:  „Alle 
Ausführungen  unterblieben,  nicht  aus  Tugend,  sondern 
aus  Mangel  an  Muth";  ja  die  Furcht  vor  Gespenstern 
und  Mördern  in  seiner  Knabenzeit  ward  er  auch  später 
nicht  ganz  los;  einmal  voll  Offenheit,  Lebensart  und  Witz, 
ja  selbst  kindischen  Scherzen  nicht  abgeneigt,  war  er  das 
anderemal  launisch,  verdrießlich  und  abstoßend ;  bisweilen 
von  einem  solchen  Jähzorn  besessen,  daß  er  alles  zer- 
schlug, was  ihm  erreichbar  wurde,  schämte  er  sich  im 
nächsten  Augenblicke  seiner  selbst  und  verfiel  dann  in 
eine  an  Schwäche  grenzende  Gutmütigkeit;  er  brachte 
es  fertig,  zu  stehlen,  wo  es  etwas  zu  nehmen  gab,  und  zeigte 
doch  überall  eine  auffallende  Geringschätzung  des  Geldes, 
indem  er  mit  demselben  mitleidsvoll  Bedürftige  beschenkte; 
fleißig  und  belesen,  schlug  seine  anhaltende  Arbeitskraft 
urplötzlich  in  Unfähigkeit  und  Widerwillen  um;  dann 
raste  er  fort,  durchjagte  Flur  und  Wald  und  nahte  nur 
nachts  den  Dörfern;  ohne  jede  Spur  von  Eltern-  und 
Geschwisterliebe  erwies  er  sich  fremden  einfachen  Leuten 
als    einen     „ herrlichen   Ratgeber".      Den    Verdacht    der 


—    573     — 

Blutgier  wollte  er  nicht  auf  sich  sitzen  lassen :  Wenn  er  mit 
Pistolen  knallte,  so  sei  es  nicht  geschehen,  um  Vögel  und 
andere  Tiere  zu  töten,  sondern  lediglich,  um  ein  Echo 
hervorzubringen,  an  dem  er  seit  seinem  13.  Jahre  ein 
lebhaftes  Wohlgefallen  gehabt;  einem  jungen  Fuchs,  den 
er  eine  Zeitlang  gehalten  und  sehr  geliebt  hatte,  habe  er 
in  plötzlicher  Eingebung  den  Kopf  vom  Rumpfe  getrennt, 
weil  der  Unhold  ihn  und  andere  gebissen  habe.  Sein 
Geschlechtstrieb  erwachte  bereits  in  seinem  14.  Jahre  und 
sofort  gebieterisch;  zeitlebens  war  er  von  gänzlich  unge- 
bändigter  und  unbefriedigter  Sinnenlust  ^  wenn  schon  das 
Lesen  von  Wielaud's  „Agathon"  ihn  zu  sinnlichen  Aus- 
schweifungen verleitete,  wie  müssen  erst  Beispiele,  die  er 
erlebte,  auf  ihn  eingewirkt  haben! 


III.  Franz  Desgouttes'  Liebesleben. 

Für  die  Kenntnis  des  Liebeslebens  Franz  Desgouttes' 
liefert  neben  den  Prozeßakten  sein  Tagebuch  ein  bedeut- 
sames Quellenmaterial.  Wie  aber  einerseits  die  Prozeß- 
akten Angaben  Desgouttes'  über  seine  Pläne  und  Absichten 
enthalten,  welche  von  ihm  selbst  als  zweifelhaft  hinge- 
stellt werden  oder  einander  zu  widersprechen  scheinen, 
auch  den  Eindruck  erwecken,  als  ob  sie  durch  an  ihn 
gerichtete  Fragen  beeinflußt  oder  unter  dem  Drucke 
seines  Abscheus  vor  seiner  eigenen  übertriebenen  Schlechtig- 
keit ihm  in  die  Feder  geflossen  seien,  so  erstreckt  anderer- 
seits das  Tagebuch  sich  nur  über  den  Zeitraum  eines 
einzigen,  des  letzten  Jahres  seines  Lebens.  Scheint  so 
viel  gewiß  zu  sein,  daß  Desgouttes  sich  nicht  allein  in 
maßloser  Weise  der  einsamen  Onanie  ergab,  sondern  auch 
seinen  Mitmenschen  gegenüber  von  fast  schrankenloser 
Sinnlichkeit  war,  indem  ihn  das  Verlangen  trieb,  alle 
hübschen  Mädchen  zu  verführen  und  mit  allen  hübschen 


—    574    — 

Knaben  und  Jünglingen  sich  zu  vereinigen  *),  so  ist  nicht 
minder  gewiß,  daß  er  einzig  den  Hemmeier  mit  Leib  und 
Seele  geliebt  hat,  den  Hemmeier,  der  das  Glück  und  das 
Unglück  seines  Lebens  war. 

Desgouttes'  Geschlechtstrieb  war  bereits  erwacht,  als 
der  Knabe  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1800,  15 
Jahre  alt,  beim  Pfarrer  Moser  in  Lützelflüh  als  einziger 
Schüler  und  Tischgenosse  lebte;  er  war  hier  „leider  zu 
oft  einsam  *  und  diese  Einsamkeit  entwickelte  immer 
mehr  die  „unglücklichen"  Anlagen  seiner  lebhaften  Ein- 
bildungskraft; er  hatte  bereits  „Visionen"  aller  Art,  die 
„ verzerrtesten  Bilder  der  Imagination"  umlagerten  ihn 
unaufhörlich;  das  war  auch  der  Grund,  warum  er  in 
dieser  Zeit  öfters  „Unzucbtsünden"  trieb,  die  seine  Nerven 
schwächten  und  ihn  noch  reizbarer  machten.  Ueberhaupt 
fing  nach  erwachter  Phantasie  seine  Unzucht  mit  Onanie 
an,  besonders  geweckt  durch  die  Lektüre  von  Wieland's 
„Agathon".  „Dieses  schreckliche  Laster11  verließ  ihn  nie 
und  er  hat  es  „in  einem  unglaublichen  Maße"  getrieben; 
zum  letzten  Male  geschah  das  am  28.  Juli  1817  Morgens 
nach  einem  Attentat  auf  Hemmeier,  nur  einen  Tag  vor 
der  Ermordung  dessen,  den  er  von  allen  Menschen  am 
meisten  und  innigsten  liebte.  Die  Onanie  und  die  Trunk- 
sucht redete  er  sich  selbst  als  „Produkte"  seiner  Phantasie 
und  als  die  Grundlagen  aller  seiner  Verbrechen  ein.     In 

l)  Ob  es  richtig  wäre,  den  Desgouttes  wegen  dieser  Vielseitig- 
keit (mit  dem  Verfasser  der  Schriften  „§  143  des  Preußischen  Straf- 
gesetzbuchs" und  „Das  Gemeinschädliche  des  §  143  des  Preußischen 
Strafgesetzbuchs  vom  14.  April  1851",  Leipzig,  Serbe  1869)  als 
Mono-,  Homo-  und  Normal-Sexualisten  zu  rubrizieren,  ist  eine 
andere  Frage.  Gibt  es  doch  Kenner  des  Sexuallebens,  welche  das 
Vorkommen  von  Bisexualität  entschieden  in  Abrede  stellen;  ein 
Physiognom  dos  Urningtums  schrieb  mir  in  Bezug  auf  Goethe 
.  .  .  „in  modo  ejaculationis,  ja,  da  kenne  ich  Menschen,  denen  ist 
es  gleich,  ob  sie  rechts  oder  links  gehen;  in  modo  amoris,  nein, 
ganz  entschieden  nein,  da  kenne  ich  niemanden". 


—    575    — 

einem  seiner  freiwilligen  schriftlichen  Bekenntnisse  an 
den  Verhörrichter  von  Bern  sagt  er:  „Ich  bitte  den 
Hohen  Richter  um  Gottes  willen,  ich  beschwöre  Hochden- 
selben  um  des  höchsten  letzten  Gerichts  willen,  alle  Haus- 
und Familienväter  furchtbar  und  ernstlich  zu  warnen, 
auf  ihre  Kinder  ein  unendlich  wachsames  Auge  zu  haben, 
denn  diese  Seuche  herrscht  allgemeiner,  als  Jemand 
glaubt.  —  In  meinem  Pulte  in  der  mittlem  Stube  liegt 
ein  von  Hamburg  gekommenes  Mittel,  welches  dazu  dient, 
den  geschwächten  Körper  herzustellen;  aber  man 
sollte  darüber  einen  nicht  selbstsüchtigen  Arzt  fragen, 
ehe  man  es  bekannt  macht.  Doch  wenn  nur  die  Jugend 
streng  beobachtet  wird,  so  bedarf  man  solcher  Mittel 
nicht.  —  Solche  schreckliche  unnatürliche  Verbrechen 
entquillen  aus  der  Onanie,  wie  ich  begangen  habe. 
Möchte  ich  der  letzte  Onanit  gewesen  sein!" 

Von  fast  unbegrenzter  Eindrucksfähigkeit  gegenüber 
seiner  Gattung  fand  seine  Phantasie  in  Finsternis  und  Ein- 
samkeit Erlösung  allein  in  der  Onanie;  im  Bette  wirkte 
die  Imagination  so  ausgedehnt,  daß  sie  ihm  Bilder  bestimmter 
männlicher  oder  weiblicher  Personen  vorspiegelte,  ihm 
Gemälde  von  Wollust  vorzauberte  und  Begierde  nach 
Genuß  in  ihm  erweckte,  welche  nach  seinen  Eingeständ- 
nissen hin  und  wieder  nicht  an  der  Sinnenlust  der  Liebe  Ge- 
nüge fand,  sondern  mit  Mordgedanken  in  Verbindung  trat; 
nach  erfolgter  Erlösung  durch  Onanie  unterblieb  alsdann 
die  Ausführung  sowohl  des  Mordplanes  als  des  erträumten 
Sinnengenusses;  in  diesen  Zuständen  kommt  bei  Des- 
gouttes  das  Pathologische  unverkennbar  zum  Durchbruch. 

Die  dominierende  Triebrichtung  in  Desgouttes'  Ge- 
schlechtsleben vom  Erwachen  der  Phantasie  und  der  ersten 
Regungen  an  bis  zur  Mordkatastrophe  war  und  blieb  die 
auf  jugendliche  männliche  Personen;  hier  fühlte  sich  seine 
Geschlechtsnatur  in  ihrem  wahren,  eigentlichen  Elemente 
und  wurde  von  einer  Person  auf  Jahre  hinaus  gefesselt. 


—    576    — 

In  Zofingen  schlief  der  junge  Desgouttes  1799,  14 
Jahre  alt,  gewöhnlich  bei  dem  siebenjährigen  Sohne  des 
Schulmeisters  Sutermeister;  schon  hier  begann  er  Wollust- 
trieb zu  fühlen  und  „ vereinigte •  sich  mit  dem  Knaben; 
„allein  aus  Mangel  an  Kraft  erfolgte  nichts/  In  Lützel- 
flüh  hat  er  1801  „einen  kleinen  Knaben  mißbraucht"; 
derselbe,  gibt  er  an,  sei  „  längst,  aber  nicht  dadurch, 
verstorben."  1802  trieb  Desgouttes  in  Lausanne  mit 
seinem  Schlafkameraden  Jakob  Mettler  „öfters  Unzucht"; 
wie  zu  seiner  Entschuldigung  fügt  er  bei:  „Dieselbe  hatte 
aber  keine  Folgen  für  ihn".  In  seiner  Soldatenzeit  er- 
lebte Franz  mannigfache  Szenen  von  Ausgelassenheit  der 
Soldaten  mit  dem  anderen  Geschlecht;  doch  scheinen 
solche  ihn  nicht  sonderlich  angefochten,  seine  Sinne  zur 
Nachahmung  gar  nicht  gereizt  zu  haben.  Dahingegen  er- 
innerte er  sich  lebhaft,  wie  zu  Lille  im  Bette  neben  ihm 
„ein  Freiburgischer  Bedienter  mit  einem  jungen  Trommel- 
schläger beinahe  alle  Nächte  sein  Wesen  trieb",  was 
seine  Phantasie  dazumal  (1808)  außerordentlich  in  Be- 
wegung setzte.  Er  selbst  schlief  zu  Beifort  gegen 
Ende  seines  Dortseins  (1809)  mit  einem  jungen  Re- 
kruten in  einem  Bette,  „woselbst  leider  das  Laster 
der  Unzucht  öfter  getrieben  ward,  und  zwar  von  beiden 
Seiten."  Im  Januar  1811  befand  sich  beim  Amtsweibel 
Johann  Dennler  in  Langenthai  ein  Pensionär  von  16 
Jahren,  Louis  Vuillemier;  schon  bei  seiner  ersten  Bekannt- 
schaft mit  diesem  Jünglinge,  der  vom  Zeugen  Dennler 
als  „ganz  verdorben"  gekennzeichnet  wird,  faßte  Des- 
gouttes den  Entschluß,  ihn  sich  anhänglich  und  dann 
willfährig  zu  machen.  Er  entführte  ihn  in  der  Nacht 
vom  Donnerstag  auf  den  Freitag  und  trieb  während  der 
Flucht  im  Bette  mit  ihm  „Unzucht",  wurde  aber  schon 
am  Samstag  mit  dem  jungen  Menschen  vom  Knecht 
seines  Vaters  wieder  eingeholt  und  kehrte  willig  zum 
Vater  zurück;  er  hatte  geplant,  auf  einen  von  ihm  selbst 


—    577    — 


gefälschten  Paß  als  Karl  Meyer  mit  dem  Vuilleinier 
als  seinem  Bedienten  Ludwig  Ernst  nach  Zug  zu  seiner 
Schwester  und  von  da  nach  Deutschland  zu  wandern. 
Kaum  zu  Hause  wieder  eingebracht,  beschloß  er  einen 
zweiten  Entführungsversuch  des  Vuillemier;  er  wollte  in 
das  Haus  des  Amtsweibels  dringen,  durch  des  Kostherrn 
Stube  schleichen,  bei  Widerstand  Gewalt  gebrauchen,  den 
Vuillemier  zur  „Unzucht"  und  Flucht  bewegen  und  im 
Falle  seines  Widerstrebens  oder  selbst  nach  erreichtem 
Genüsse  den  jungen  Menschen  umbringen;  zunächst 
aber  berief  er  den  Vuillemier  in  seine  Wohnung  und 
redete  auf  ihn  zu  einem  nochmaligen  Fluchtversuche  ein; 
als  aber  der  Gegenstand  seiner  Wollust  ihm  trotzig  be- 
gegnete und  nicht  einwilligen  wollte,  so  kam  ihm  in  der 
Angetrunken heit  der  teuflische  Gedanke,  schon  jetzt  den 
Widerstrebenden  zu  töten  und  in  den  Abort  zu  werfen; 
nur  die  Stimme  eines  Freundes  des  Vuillemier,  der  diesen 
auch  mit  Desgouttes  zusammengebracht  hatte  und  vor 
dem  Desgouttes  sich  scheute,  hielt  letzteren  von  der  Aus- 
führung seines  Vorhabens  ab.  Auch  den  eigenen  Sohn 
des  Amtsweibels  Dennler,  ein  Bürschchen  von  11  Jahren, 
schonte  er  nicht;  ihn  hat  er  um  eben  diese  Zeit  „ein 
paar  mal  in  sein  Zimmer  gelockt  und  mit  ihm,  jedoch 
nicht  nackt,  dieses  Laster  ausgeübt."  Er  fügt  hinzu,  der 
Knabe  habe  nichts  davon  gewußt  und  befände  sich  jetzt  im 
Waadtland.  Späterhin  hatte  er  noch  geschlechtlichen 
Umgang  mit  einem  Jakob  Kummer,  mit  einem  Nach- 
barssohne Jobannes  Madliger  und  mit  dem  zur  Zeit  des 
Mordes  an  Hemmeier  22  Jahre  alten  Analphabeten 
Jakob  Herzig. 

In  allen  diesen  und  überhaupt  allen  Fällen  der  Aus- 
übung seines  Geschlechtstriebes  an  männlichen  Personen 
bekennt  sich  Desgouttes  als  den  „Selbstverführer*  und 
gesteht:  „Die  Phantasie  half  mir  leider  nur  allzu  ge- 
treulich nach." 

Jahrbuch  V.  37 


—    578    — 

Da  trat  1810  Daniel  Hemmeier,  16  Jahre  alt, 
als  Kopist  in  den  Dienst  des  alten  Desgouttes,  in  dessen 
Hause  er  wie  ein  Familienmitglied  gehalten  wurde.  Der 
junge  Desgouttes,  oberflächlicher  Geselligkeit  abhold 
und  doch  durch  seine  starke  Liebesnatur  genötigt,  eng- 
sten Anschluß  zu  suchen,  wo  er  irgend  ihn  finden  konnte, 
gewann  den  um  zehn  Jahre  jüngeren  ordentlichen  und 
fleißigen,  guten  und  tugendhaften  Hausgenossen  lieb  und 
immer  lieber  und  bemühte  sich,  das  Vertrauen  und  die 
Zuneigung  desselben  für  sich  zu  erobern.  Außer  den 
Arbeitsstunden  verlebte  er  die  meiste  Zeit  mit  dem 
Hemmeier;  da  er  von  seinen  akademischen  Freunden 
nur  selten  jemand  bei  sich  sah  und  doch  gelehrte  Ge- 
spräche liebte,  so  war  es  seine  größte  und  reinste 
Freude,  seinen  jungen  Freund,  die  griechischen  Philo- 
sophen nachahmend,  spazierend  zu  unterrichten.  Er 
machte  ihm  oft  kleinere  und  größere  Geschenke  an 
Büchern,  Waffen  und  dergleichen;  auch  sorgte  er  teil- 
nehmend für  dessen  körperliches  Wohlergehen;  er  ba- 
dete mit  ihm  in  einer  Badeanstalt  und  teilte  mit  ihm 
die  Genüsse  des  Weines  und  der  Tafel.  Er  scheint  es 
zuwege  gebracht  zu  haben,  daß  der  junge  Mensch 
Reiz  an  seinem  Umgang  fand  und  ihm  gern  und  allein 
angehörte.  So  wuchs  durch  die  Gewohnheit  und  durch 
die  Möglichkeit,  den  Freund  immer  zu  haben,  wenn  er 
seiner  bedurfte,  Desgouttes'  Zuneigung  zum  Hemmeier 
zu  einer  leidenschaftlichen  Neigung  heran  und  der 
Jüngling  flößte  durch  sein  unschuldvolles  Wesen  dem 
älteren  Manne  überdies  eine  unwillkürliche  hohe  Achtung 
ein,  so  daß  Aussicht  war,  der  leidenschaftliche  Mann  habe 
an  dem  ruhigen,  besonnenen  Jünglinge  den  ihm  so 
nötigen  Halt  für  sein  Leben  gefunden. 

Im  Jahre  1812  begann  Desgouttes  mit  dem  Hem- 
meier in  geschlechtlichen  Verkehr  zu  treten,  während 
bei    dem  Jüngling    der  Geschlechtstrieb    erst    1814    er- 


—    579    — 


wachte;  alsobald  gab  Desgouttes  dem  Unschuldigen 
wollüstige  Bücher  zu  lesen,  um  dessen  Begierde  nach 
geschlechtlichen  Genüssen  in  seinem  eigensten  Interesse 
anzufachen.  Denn  seine  Liebe  zum  Hemmeier  war  doppel- 
ter Art,  war  „edler"  und  „phantastischer",  aber  auch 
„niedriger"  und  „grobsinnlicher"  Natur.  Aber  diese  bei- 
den Seiten  seines  Wesens  flößen  Hemmeier  gegenüber 
völlig  in  einander.  So  oft  er  bei  dem  Geliebten  schlief, 
gewann  er  es  nicht  über  sich,  den  Jüngling  in  Ruhe  zu 
lassen;  wenn  er  dann  bei  diesem  ein  Entgegenkommen 
für  sein  Triebleben  nicht  fand  und  auch  mit  Gewalt  und 
List  nichts  zu  erreichen  vermochte,  so  tat  er,  als  ob  er 
eigentlich  immerdar  „dieses  Laster"  verabscheue  und 
seine  Ausübung  jedesmal  besonders  bereue;  er  unterlieft 
dann  oft  Monate  lang,  den  geliebten  Jüngling  mit  seinen 
Zudringlichkeiten  zu  belästigen,  und  fing  nur  wiederum 
an,  wenn  er  angetrunken  war;  gelegentlich  tat  £r  dem 
Widerstrebenden  den  feierlichen  Schwur,  alles  Geschlecht- 
liche ganz  und  gar  zu  unterlassen,  insofern  der  Geliebte 
seine  ganze  Freundschaft  ihm  ungeteilt  schenken  und 
dafür  ihm  auch  Sicherheit  gewähren  wolle.  Aber  der 
«bessere  Mensch"  in  ihm  vermochte  nur  so  lange  sich 
zu  behaupten,  bis  Hemmeier  eine  Probe  seines  Undanks 
für  Desgouttes'  Sorge  und  Aufwendungen  dadurch  ab- 
legte, daß  er  gleichsam  zum  Trotze  den  Liebhaber  hint- 
ansetzte, was  er  dann  freilich  schon  im  nächsten  Augen- 
blicke, seiner  gutmütigen  Naturanlage  entsprechend, 
wieder  zu  bereuen  schien;  aber  auch  dann  noch  fügte 
sich  Hemmeier  dem  leidenschaftlichen  Liebhaber  immer 
nur  mit  Widerwillen.  Diese  Art  der  Führung  eines 
halb  zurückgewiesenen  Liebeslebens  kränkte  den  Lie- 
benden tief  und  er  machte  darüber  dem  Geliebten  die 
bittersten  Vorwürfe;  nahm  er  doch  wahr,  daß  durch 
ihren  gemeinsamen  Geschlechtsverkehr  weder  das  physi- 
sche Wesen,  noch  die  moralische  Natur  des  innigst  Ge- 

37* 


—    580    — 

liebten  Schaden  litt.  Im  höchsten  Grade  unglücklich, 
fiel  Desgouttes  wiederum  der  Onanie  anheim  und  fühlte 
sich  bald  geschwächt;  dann  schämte  er  sich  gegenüber 
der  größeren  Mannbarkeit  des  Hemmeler,  der  selbst  sei- 
nen Körper  nie  befleckte,  und  in  seinem  Widerstände 
gegen  die  wechselseitige  Selbstbefleckung  ward  dann  Hem- 
meier wieder  durch  seinen  unglücklichen  Liebhaber  da- 
durch bestärkt,  daß  dieser  in  ruhigen  Stunden  ihm  über 
das  Abscheuliche  „ dieses  Lasters"  allerlei  Gedanken  dar- 
legte, als  ob  es  seine  eigenen  seien.  Dieses  ewige 
Widerspiel  brachte  den  noch  immer  nicht  verzagenden 
Liebhaber  auf  die  sonderbarsten  Versuche.  Da  Hemmeler 
seinen  geschlechtlichen  Umgang  nicht  suchte,  so  erregte 
Desgouttes,  sobald  seine  Geschlechtslust  wieder  rege 
ward,  oft  künstlichen  Streit  oder  führte  den  Anlaß  zu 
einem  solchen  herbei,  einzig,  damit  Hemmeler  wieder  mit 
ihm  Frieden  schließe  und  dann  in  guter  Laune  seine 
Wollustausbrüche  gestatte;  weigerte  sich  aber  Hemmeler 
auch  dann,  so  ließ  Desgouttes  ihn  bei  sich  schlafen  und 
erzwang  die  „Unzucht";  kein  Mittel  ließ  er  unversucht, 
seine  unbefriedigte,  zu  einer  wahren  Satyriasis  ausartende 
Wollust  an  dem  einzig  Geliebten  auszuüben.  Um  den- 
selben geschlechtlich  anzuregen,  ließ  er  den  Hemmeler 
viel  Wein  trinken,  nach  dessen  Genuß  seiner  Erfahrung 
gemäß  auch  regelmäßig  die  erwartete  Wirkung  sich  ein- 
stellte; der  Genuß  von  Canthariden  aber,  die  Desgouttes 
dem  Hemmeler  heimlich  beibrachte,  um  dessen  Ge- 
schlechtsdrang zu  steigern,  hatte  nur  eine  krankmachende 
Wirkung.  Auch  ließ  er  den  Hemmeler  starke  Chocolade 
mit  unsäglich  viel  Zimmet,  den  er  hinzufügte,  des  Abends 
trinken,  dann  vielen  Wein,  alles  in  der  gleichen  Absicht, 
deren  Erreichung  fast  immer  mißlang  oder  ohne  Hemme- 
ler's  Willen  gelang.  Wenn,  was  öfters  vorkam,  der  an 
hektischer  Anlage  leidende  Hemmeler  erkrankte,  an 
Magenschwäche,  Durchfall    oder    Halsweh    litt,    so  wich 


581     — 


Desgouttes  ganze  Tage  und  Nächte  kaum  von  dessen 
Lager  und  verrichtete  für  den,  den  er  über  alles  liebte, 
öfters  die  Geschäfte  der  niedrigsten  Dienstmagd.  Allein 
alles  dieses  konnte  Hemmeler's  Gegenliebe  nicht  er- 
wecken. Obwohl  beide  öffentlich  in  guter  Zufriedenheit 
mit  einander  auszukommen  schienen,  brach  Desgouttes' 
verhaltener  Unmut  mit  der  Zeit  öfter  und  stärker  her- 
vor. Dann  klagte  er  wohl  auch  Personen  seiner  Um- 
gebung, daß  Hemmeier  von  ihm  angebotene  Geschenke 
ganz  ohne  Danksagung  annehme.  Schlug  aber  Hemmeier 
solche  Geschenke,  die  er  für  Bestechungsgeschenke  an- 
sehen mußte,  gänzlich  aus,  so  konnte  das  den  Desgouttes 
bis  zur  Raserei  empören  und  verleitete  ihn  zu  den  hef- 
tigsten Vorwürfen;  doch  augenblicklich  bereute  er  sein 
übereiltes  Verfahren,  bat  seinen  Liebling  um  Vergebung 
und  bot  ihm,  um  dessen  gänzliche  Zufriedenheit  zu  er- 
wirken, wieder  neue  Geschenke  an.  Geschenke  und 
Vorwürfe  hatten  immer  wieder  den  Hauptzweck, 
den  ungefügigen  Hemmeier  willfährig  zu  machen. 
Dieser  ewige  Wechsel  von  Verdruß  und  halber  Seligkeit 
wirkte  auch  auf  Desgouttes'  sonstige  Launen,  so  daß  sein 
Zustand  bisweilen  schrecklich  war;  alsdann  schonte  er 
niemanden,  mißhandelte  die  Mägde,  schlug  sie  blutwund, 
mißhandelte  den  unschuldigen  Hemmeier  und  zerschlug, 
was  ihm  unter  die  Finger  kam.  Und  doch  fühlte  er 
sich  so  eins  mit  dem  Geliebten,  daß  er  einen  Tadel  über 
ihn  aus  fremdem  Munde  nicht  ertragen  konnte;  die 
Dienstmagd  Salome  Anderes,  Hemmeler's  Tante,  welche 
ihrem  Herrn  zu  bemerken  wagte,  daß  der  Hemmeler  des 
Morgens  zu  lange  im  Bette  liege,  zog  sich  augenblicklich 
des  Gestrengen  grimmigsten  Haß  zu,  da  dieses  eine  An- 
gelegenheit beträfe,  in  die  sie  nach  seiner  Ansicht  sich 
nicht  zu  mischen  habe.  So  ganz  war  der  Hemmeler 
Desgouttes'  zweites  Ich  geworden. 

Desgouttes  wollte  seinen  Liebling  allein  für  sich  be- 


—    582    — 

sitzen  und  ihn  ausschließlich  wollüstig  genießen;  er  duldete 
daher  nicht,  daß  irgend  ein  Nebenbuhler  daran  Anteil 
habe;  er  hielt  den  Jüngling  so  lange  wie  möglich  ganz 
davon  ab,  Bekanntschaften  zu  machen,  und  hoffte  so  zu 
verhindern,  daß  derselbe  einen  noch  größern  Abscheu 
gegen  den  geschlechtlichen  Umgang  mit  ihm  empfinden, 
Verachtung  gegen  ihn  fühlen  und  zum  Bewußtsein  des 
Druckes  seiner  tyrannischen  Freundschaft  gelangen  würde. 
Als  aber  der  überall  beliebte  junge  Mann  endlich  doch 
Bekanntschaften  anknüpfte,  entwickelte  sich  bei  Desgouttes 
zu  der  unbefriedigten  Liebe  noch  eine  quälende  Eifersucht. 
Desgouttes'  Anhänglichkeit  an  den  Hemmeier  war  un- 
begrenzt; er  machte  für  denselben  große  Aufwendungen; 
von  dem  Geliebten  fern  zu  sein,  schien  ihm  unerträglich; 
er  dachte  daher  sein  Zusammensein  mit  dem  ihm  Unent- 
behrlichen so  weit  möglich  zu  verewigen  und  ihm  ein 
Glück  zu  bereiten,  das  denselben  über  alle  irdische  Sorge 
hinausheben  sollte;  er  wollte  es  Aufopferungen  aller  Art 
sich  kosten  lassen,  um  dem  Hemmeier  dieses  Glück 
zu  bereiten,  selbst  mit  dem  Opfer  seines  eigenen  irdischen 
Glücks;  so  gedachte  er  durch  vorteilhafte  Verheiratung 
mit  einer  Person,  welche,  weil  sie  weit  älter  war  als 
er  und  unangenehme  Eigenschaften  besaß,  ihn  gewiß 
unglücklich  gemacht  hätte,  in  den  Besitz  eines  stattlichen 
Vermögens  zu  gelangen  und  vermittelst  dessen  dem 
Hemmeier  sich  zu  assoziieren,  um  ihn  so  bis  an  sein 
Lebensende  bei  sich  zu  behalten.  Wirklich  fand  sich  bei 
seiner  Festnahme  am  29.  Juli  1817  in  seinem  Besitze 
eine  vom  25.  Januar  1816  datierte  Eheversprechung 
zwischen  Franz  Desgouttes  und  der  Jungfer  Susanne  von 
Wagner  vor.  Er  plante  sogar,  seinen  anders  gearteten 
Hemmeier  dann  ebenfalls  zu  verheiraten,  unter  dem 
Beding  des  immerwährenden  Bleibens  an  des  Liebhabers 
Seite.  Für  die  Opfer,  die  er  dem  Geliebten  brachte, 
wollte  er  schlechterdings  keinen  Rivalen  neben  sich  dulden, 


—    583    — 


der  des  Jünglings  Freundschaft  mit  ihm  teilte;  auch 
war  er  überzeugt,  daß  es  niemand  so  gut  mit  dem  Jüng- 
ling meinen  könne  wie  er  und  niemand  daher  dessen 
Freundschaft  so  wie  er  verdiene.  Bloße  Bekanntschaften 
wollte  er  dem  Hemmeier  wohl  erlauben;  dennoch  war 
er  immer  eifersüchtig,  wenn  jemand  sich  vertraulich 
dem  Hemmeier  näherte,  und  er  machte  dem  Freunde  als- 
dann die  bittersten  Vorwürfe  über  seinen  Undank,  der, 
wie  er  selbst  später  seinem  Richter  zugestand,  oft  wirk- 
lich nur  eingebildet  war.  Wenn  Hemmeier  dann  sich 
beleidigt  fühlte  und  aus  purem  Trotze  oft  Stunden  oder 
halbe  Tage  lang  fortblieb,  den  verlassenen  Liebhaber  in 
seiner  ungewollten  Einsamkeit  dann  aber  die  fürchterlichste 
Sehnsucht  peinigte,  so  führte  seine  glühende  Phantasie 
dem  Unglücklichen  die  quälendsten  Bilder  der  Untreue, 
des  Undanks  des  Geliebten  vor  Augen;  und  besonders 
dann,  wenn  der  so  Gemarterte  der  großen  künftigen  Auf- 
opferungen gedachte,  die  bei  seiner  traurigen  Vermögens- 
lage ihm  nichts  weniger  als  leicht  wurden,  gab  es  bei 
des  Heißersehnten  Rückkunft  in  Folge  der  Empfindlich- 
keit und  des  Jähzorns  des  unglücklich  Liebenden  die 
ärgerlichsten  Auftritte.  Und  als  dann  Hemmeier  nach 
und  nach  öfters  und  länger  sich  entfernte,  so  glaubte  der 
Verlassene  daraus  schließen  zu  müssen,  daß  er  dem 
Hemmeier  nicht  mehr  so  wert  sei,  wie  ehedem;  und 
Hemmeier  ging,  um  mit  jungen  Leuten,  besonders  dem 
Koramis  Kaspar  Vogel  und  dem  Johannes  Trösch,  beide 
jünger  als  er  selbst,  sich  zu  zerstreuen;  diese  führten 
ihn  zu  verschiedenen  Mädchen;  Desgouttes  aber  hatte 
dem  Hemmeier  nur  gestattet,  die  gute  Jungfer  Viktoria 
Dennler  zu  besuchen,  weil  er  glaubte,  es  sei  für  den 
jungen  Menschen  besser,  an  eine  Person  sich  zu  halten, 
als  allenthalben  herumzuflattern ;  auch  fürchtete  er, 
Hemmeier  dürfte,  wenn  er  jedem  Mädchen  nachgehe, 
gleich  seinem  Kameraden  Trösch,    alles  Gedächtnis  ver- 


—    584    — 

lieren,  seine  Aufträge  vergessen  und  zu  einer  ernsthaften 
Arbeit  nicht  mehr  aufgelegt  sein;  und  schließlich  besorgte 
er  auch,  Herameier  möchte  durch  ein  solches  Schraetter- 
lingswesen  ihn  gänzlich  vergessen  und  sich  allen  Leuten 
mitteilen,  mit  denen  er  täglichen  Umgang  pflegte.  Bald 
aber  wurden  Einsamkeit  und  Eifersucht  dem  Aermsten 
unerträglich  und  sofort  änderte  er  seinen  Plan;  er  be- 
günstigte den  Umgang,  teils  um  bei  dem  Liebsten 
berechtigte  Vorwürfe  anbringen  und  bei  einer  Häu- 
fung des  Unrechts  seitens  des  Hemmeier  gegen  ihn 
dessen  Handlungen  mit  seinen  eigenen  Wollust-Forder- 
ungen in's  Gleichgewicht  bringen  zu  können  und  auf 
diese  Art  zum  Rechte  der  Ausübung  des  ersehnten 
Liebesaktes  mit  dem  Geliebten  zu  gelangen;  teils,  um 
Reize  in  ihm  anzufachen  und  aufzusammeln,  welche  seinem 
Wollustdrange  gelegentlich  zu  Statten  kämen.  So  ver- 
anlaßte  er  den  harmlosen  Jüngling  zu  nächtlichem  Aus- 
bleiben, gab  seinen  Freunden  und  der  Viktoria  Dennler 
Geld,  damit  diese  die  Mittel  hätten,  den  Hemmeier  betrunken 
zu  machen,  ohne  die  eigentliche  Absicht  zu  verraten, 
und  wenn  dann,  was  mehrmals  geschah,  Hemmeier  be- 
trunken nach  Hause  kam,  so  gebrauchte  er  ihn  zu  seinen 
„schändlichen  Lüsten*;  aber  meistens  scheiterte  sein 
Plan.  Je  mehr  aber  während  dessen  seine  Satyriasis  ge- 
wachsen war,  um  so  dringender  und  ungestümer  wurden 
seine  Forderungen.  Er  versuchte  dann  auf  tausenderlei 
Weise  zum  Ziele  zu  kommen  und  verfiel  dabei  auf  alle 
nur  erdenklichen  Mittel. 

Um  den  so  viel  abwesenden  Freund  einmal  wieder 
ganz  für  sich  zu  haben,  faßte  er  den  Entschluß,  ihn  krank 
zu  machen;  er  gab  ihm  Brechstein  ein  und  redete  ihm 
vor,  es  handle  sich  um  eine  Krankheit,  die  allein  er  heilen 
könne;  er  war  dann  so  lange  glücklich,  als  er  bei  dem 
Leidenden  wachen  und  seiner  Bangigkeit  beiwohnen 
konnte.     Aber    als    einen    traurigen    Erfolg    aller    seiner 


—     585    — 

Mühen  mußte  er  erleben,  daß  Hemmeier  den  Verkehr 
mit  anderen  Personen  immer  .weiter  ausdehnte  und  bald 
ungebührlich  übertrieb;  schließlich  blieb  dieser  nicht  nur 
des  Abends  bis  in  die  Nacht  hinein  von  Hause  fort, 
sondern  er  vernachlässigte  auch  seine  dienstlichen  Pflichten, 
so  daß  sein  Liebhaber  als  sein  Brodherr  im  Geschäfts- 
interesse es  nicht  unterlassen  durfte,  ihm  ernstliche  Vor- 
stellungen zu  machen,  deren  Vergeblichkeit  den  doppelt 
Unglücklichen  dann  vollends  zur  Verzweiflung  brachte. 
Immer  unerträglicher  wurde  ihm  die  Vorstellung:  „Wenn 
du  tot  bist,  so  genießt  dann  Hemmeier  die  Welt  und 
genießt  selbsttätig  die  Wollust;  dann  gedenkt  er  deiner 
nicht  allein  mit  Abscheu,  sondern  dann  hast  du  nichts 
davon".  Je  mehr  er  nachdachte,  desto  schrecklicher  kam 
ihm  dieses  vor,  insonderheit,  wenn  er  erwog,  daß  Hemmeier 
nicht  mit  Knaben,  sondern  mit  Mädchen  Umgang  haben 
würde.  Selbst  nüchtern  wogten  solche  mit  Mord-Gedanken 
verknüpfte  Bilder  in  seiner  wollustatmenden  Seele;  je 
mehr  seine  Sinnlichkeit  und  seine  ungezügelte  Phantasie 
durch  Getränke  noch  gesteigert  wurden,  desto  fester 
wurzelte  bei  ihm  der  Entschluß,  all'  dem  Jammer  einmal 
ein  Ende  zu  bereiten;  schon  weidete  er  sich  an  der  Vor- 
stellung, den  Hemmeier  vor  und  nach  der  gewaltsamen 
Ermordung  seiner  unzüchtigen  Begierde  zu  unterwerfen, 
und  der  Entschluß,  ihn  zu  ermorden,  eroberte  sich  immer 
mehr  Raum  in  des  unglücklichen  Mannes  Seele.  Es 
wechselten  bei  ihm  unaufhörlich  Satyriasis  und  unbefrie- 
digtes Liebesverlangen  mit  durch  Onanie  hervorgerufenen 
Schwächezuständen  ab ;  in  diesen  kam  ihm  der  Einfall,  bei 
Hemmeier  Uebelkeiten  deshalb  hervorzubringen,  um  die 
Mannbarkeit  desselben  seiner  Schwäche  gleich  zu  stellen, 
damit  Hemmeier  nicht  wegen  überwiegender  Mannbar- 
keit ihn  verlassen  möchte;  so  hoffte  er  des  Jünglings  aus- 
schließlichen Umgang  und  seine  Häuslichkeit  zu  erzielen;  er 
wünschte  in  solcher  Verfassung,  die  Natur  oder  ein  Zufall 


—    586    — 

hätte  den  Hemmeier  zum  Kastraten  gemacht,  nur  damit 
derselbe  sich  an  Niemanden  hänge;  er  verfiel  auf  den 
unseligen  Gedanken,  des  Jünglings  Pudenda  zu  schwächen; 
er  wurde  der  Urheber,  daß  Hemmeier  verschiedene 
„Kiltgänge* *)  machte;  dann  wollte  er  seinem  Opfer 
Mittel  geben,  um  sein  Beischlafsvermögen  derart  zu 
schwächen,  daß  er  mehrere  Jahre  hindurch  gar  nicht 
an  sinnliche  Lust  denken,  sie  gar  nicht  ausüben  könnte, 
hingegen  seine  Freundschaft  ausschließlich  für  ihn  be- 
wahren solle.  Diesen  Plan  gedachte  Desgouttes  auf  einer 
Reise  im  August  1817  auszuführen;  als  er  dann  den  Ruin 
seines  Vermögens  vor  Augen  sah,  verwandelte  sich  dieses 
Bild  in  einen  Mordplan  für  seine  Reise,  auf  welcher  er 
entweder  mit  Hemmeier  sterben  oder  als  Einsiedler  bei 
dem  teuern  Leichnam  leben  und  sterben  wollte;  nur  die 
Verzweiflung,  den  innigst  Geliebten  ganz  zu  verlieren 
oder  für  andere  zu  behalten,  erfüllte  seinen  Geist  mit 
Mordplänen. 

Bei  alledem  versicherte  Desgouttes,  daß  seine  Wollust 
nicht  das  Ueberwiegende  in  seiner  Neigung  zum  Hem- 
meier gewesen  sei;  er  habe  ihn  geliebt,  weil  ihre  Charaktere 
in  vielen  Stücken  zusammentrafen,  ausgenommen,  daß 
Hemmeier  keines  der  Laster  seines  Liebhabers  an  sich 
hatte;  er  liebte  den  Hemmeier,  weil  inneres  Gefühl,  Ge- 
wohnheit und  langer  Umgang  ihn  an  den  jüngeren  Ge- 
fährten ketteten;  er  liebte  ihn  aus  „übersinnlichen"  Gründen, 
von  denen  er  Rechenschaft  sich  nicht  zu  geben  wisse 
und  wenn  er  nach  dem  ausschließlichen  und  ewigen  Be- 
sitze seiner  Freundschaft  strebte,  so  sei  es  nicht  aus  sinn- 
lichen Motiven  geschehen,  denn  diese  paßten  nicht  für 
die  Ewigkeit. 


x)  Dem  Verhörrichter  gestand  Desgouttes,  daß  es  beim  Hem- 
meier zu  einem  „unmoralischen  Lebenswandel  mit  Mädchen"  nie  ge- 
kommen sei  und  daß  er  „nur  einmal  sich  vergangen"  habe. 


—    587    — 


Um  Neujahr  1817  sah  Desgouttes  rückwärts  und 
vorwärts  schauend  den  Zerfall  seines  Vermögens  und 
seiner  Liebe  unrettbar  vor  Augen.  Sylvester  mit  dem 
Hemmeier  zu  feiern,  dünkte  ihn  in  dieser  trostlosen  Aus- 
sichtslosigkeit ein  unendliches  Glück;  aber  Hemmeier 
kam  äußerst  spät  nach  Hause  und  da  betrank  sich  Des- 
gouttes entsetzlich  und  seine  Besinnung  war  wieder  dahin. 
Fortan  quälte  er  den  jüngeren  Genossen,  um  diesen  seine 
Abhängigkeit  von  dem  älteren  Freunde  recht  herb  fühlen 
zu  lassen,  noch  mehr  und  raffinierter  als  vordem.  Im 
Januar  kassierte  Desgouttes  eine  Barsumme  von  1700 
Franken  für  die  Erbschaft  Neukom  ein,  von  welcher 
aber  die  Hälfte  schon  seit  bald  zwei  Jahren  verbraucht 
war;  mit  der  anderen  Hälfte  entwich  er  planlos,  er  wußte 
nicht  wohin;  allein  freiwillig  kehrte  er  zurück,  haupt- 
sächlich, weil  er  die  Gesellschaft  seines  Substituten  Hem- 
meier nicht  entbehren  konnte  und  ohne  ihn  ganz  außer 
aller  geselligen  Verbindung  war.  Bei  seiner  Rückkehr 
machte  ihm  Hemmeier  die  schwersten  Vorwürfe  und 
brachte  ihn  nahe  an  den  Rand  der  Verzweiflung;  indessen 
überlegte  er  sich,  daß  aus  diesem  Verhalten  Hemmeler's 
dessen  wahre  Freundschaft  für  ihn  zu  ersehen  sei,  und 
nun  gelobte  er  sich  und  ihm,  alles  zu  bessern,  insofern 
die  Umstände  einmal  nicht  ungünstig  wären;  aber  als  bald 
darauf  wieder  ein  Ruf  von  der  IrmePschen  Schuld  erschien 
und  andere  Schuldenrufe  einliefen,  wußte  er  durchaus 
nicht  mehr,  wie  er  sich  helfen  sollte.  Da  verhalf  ihm 
starkes  Trinken  zum  Vergessen  für  den  Augenblick;  aber 
dann  erfüllte  ihn  wieder  mit  Schaudern  die  Vorstellung, 
die  Welt  zu  verlassen  und  den  Hemmeier  mitzunehmen 
oder  diesen  vorauszuschicken  und  dann  nachzufolgen. 
Die  ganze  Zeit  vom  Palmsonntag  (30.  März)  bis  zum 
Umzug  in  die  neue  Wohnung  (17.  Juli)  blieb  ernüchtern, 
ohne  daß  die  unglückliche  Idee,  ausschließlich  im  Besitze 
Hemmeler's  sein  zu  wollen,  und  die  Furcht,  traurige  Um- 


—    588    — 

stände  könnten  denselben  von  ihm  trennen,  ihn  jemals 
losgelassen  hätten;  das  alles,  die  Irmel'sche  Schuld  und 
das  Benehmen  Hemmeler's  zu  Beginn  des  Lebens  im 
neuen  gemeinsamen  Heim  leiteten  in  Verbindung  mit 
Desgouttes'  periodischem  Hang  zum  Trünke  und  mit  seiner 
ausgesprochenen  Anlage  zum  Uebertriebenen  das,  was  nun 
folgte,  ein.  Am  17.  Juli,  dem  Tage  seines  Umzuges  in  die  neue 
Wohnung  und  des  Anfangs  eines  eigenen  Haushalts  mit 
dem  Busenfreunde  erwartete  Desgouttes,  daß  Hemmeier 
nun  für  alle  seine  Vernachlässigungen  und  seinen  viel- 
fachen Undank  den  Liebhaber  um  Verzeihung  bitten 
und  zur  Versöhnung  und  zu  dauerndem  Frieden  die 
Hand  zuerst  bieten  würde;  Hemmeier  hätte  dazu  um  so 
stärker  sich  gedrungen  fühlen  müssen,  als  er  wohl  wußte, 
wie  unendlich  Desgouttes  litt,  wenn  es  unterblieb,  und  in 
welch*  ratlose  Verzweiflung  er  den  unglücklichen  Liebhaber 
stürzen  würde ;  —  aber  als  er  im  neuen  Heimwesen  dem 
Hausherrn  ganz  allein  gegenüberstand,  sprach  er  kein 
Wort;  er  stand  da  wie  ein  Klotz  und  tat,  als  wäre 
gar  nichts  geschehen.  Dieses  empörte  den  ohnehin 
Gereizten  aufs  äußerste;  er  verlor  alle  Selbstbeherr- 
schung und  geriet  in  fürchterlichen  Zorn  und  dann  in 
Wehmut;  er  wußte  sich  weder  zu  raten,  noch  zu  helfen;  alle 
seine  Vorstellungen  blieben  fruchtlos  und  so  nahm  er  wie 
früher  seine  Zuflucht  zum  Trinken;  dieses  besänftigte 
ihn  in  etwas  und  außerdem  führten  ihn  auch  notwen- 
dige geschäftliche  Ueberlegungen  dazu,  einen  halben 
Scheinfrieden  mit  dem  Hemmeier  zu  schließen;  da  er 
das  Unzulängliche  dieses  Friedens  schmerzlich  empfand, 
so  trank  er  mehr  und  weiter;  in  diesem  Scheinfrieden 
gelang  es  ihm,  in  der  Nacht  vom  17.  auf  den  18. 
Juli,  mit  dem  Hemmeier  —  zum  letzten  Male  —  geschlecht- 
lich zu  verkehren.  Von  diesem  Tage  an  befand  sich 
Desgouttes  ununterbrochen  in  einem  an  Besinnungslosig- 
keit grenzenden  Zustande,  in  einer  durch  starken  Genuß 


—    589    — 


von  Absinthextrakt,  Wein  und  Liqueuren  hervorgebrachten 
ausnehmend  hohen  Trunkenheit,  welche  seine  Sinne  im 
höchsten  Grade  aufregte,  was  dann  wieder  seine  glühende 
Phantasie  in  Tätigkeit  setzte,  während  sein  Verstand 
und  seine  Ueberlegung  gänzlich  ausgeschaltet  wurden,  so 
daß  ihm,  was  er  tat,  nicht  zum  klaren  Bewußtsein  kam. 
Hatte  er  sich  in  Tübingen  schon  dem  Trünke  ergeben, 
um  die  lebhaften  Bilder  seiner  Phantasie  noch  zu  erwei- 
tern und  höher  zu  spannen,  so  geschah  es  in  dieser 
Periode,  um  im  Gaukelspiel  seiner  durch  den  Trunk  her- 
beigeführten Phantasieen  die  erbärmliche  Wirklichkeit 
vergessen  und  sich  auf  Augenblicke  an  diesem  Gaukel- 
spiele ergötzen  zu  können.  In  der  Nacht  vom  18.  auf 
den  19.  Juli  ließ  er  seinen,  seit  Neujahr  1817  bei  ihm 
beschäftigten  15jährigen  Lehrling  Hans  Ulrich  Leib  und 
Gut,  der  sonst  allabendlich  nach  dem  Dienste  in  das 
benachbarte  Schoren  zu  seinen  Eltern  zu  gehen  pflegte, 
angetrunken  bei  sich  im  Bett  schlafen,  um  sich  an  dem 
unschuldigen  Knaben  zu  vergreifen,  da  er  in  dieser  Nacht 
zu  Hemmeier,  dem  er  Opium  zu  trinken  gegeben,  nicht 
gehen  mochte ;  zweimal  mißlang  sein  Plan,  da  der  Knabe 
erwachte;  Desgouttes  näherte  sich  ihm  unter  dem  Vor- 
wande,  ihm  die  Vorhaut  zu  erweitern,  weil  sich  sonst 
dort  Unreinigkeit  sammle;  er  gab  ihm  den  Rat,  sie  öfter 
zu  erweitern,  und  brachte  durch  Reiben  einen  „fast 
inflammablen  Reiz"  in  des  Knaben  Rute  hervor;  er 
wollte  ihn  so  zum  Verluste  der  Unschuld  und  zum-  Mit- 
genusse  bringen,  was  aber  nicht  erfolgte;  erst  der  dritte 
Versuch  gelang:  der  Knabe  schlief  fest  und  schlief  weiter. 
Am  nächsten  Morgen  fühlte  Desgouttes  sich  allzu  nüchtern, 
als  daß  er  seinen  Tags  vorher  gefaßten  Plan,  den  Hemmeier 
zu  betäuben  und  dann  aus  dem  Fenster  zu  stürzen,  hätte 
ausführen  können.  Aber  einige  Tage  später,  als  in  der 
Frühe  des  Morgens  bereits  der  „Weingeist"  ihn  benebelt 
hatte,   entstand   wieder   der  Entschluß   in   seinem  Kopfe, 


—    590    — 

den  Hemmeier  umzubringen.  Er  ergriff  eine  Pfanne  mit 
nassem  Stroh,  um  es  in  Hemmeler's  Zimmer  anzuzünden, 
den  Schlafenden  zu  betäuben  und  dann  zum  Fenster 
hinaus  zu  werfen.  Nur  das  Mitleid,  das  Bedauern  mit 
dem  unglücklichen,  ihm  so  werten  Jüngling  und  der 
Gedanke,  er  könnte  Schmerzen  fühlen,  brachte  ihn  wieder 
gänzlich  von  dem  Mordplane  ab  und  nun  wollte  er  eine 
Zeitlang  keinen  Gedanken  mehr  daran  in  sich  aufkommen 
lassen,  den  Hemmeier  zu  töten. 

Ein  mit  dem  Todestage  seines  Vaters,  zugleich  dem 
Geburtstage  seiner  eigenen  wirtschaftlichen  Selbständig- 
keit, dem  6.  Juli  1816  begonnenes  Tagebuch  führte  der 
Unglückliche  noch  bis  zum  25.  Juli  1817  fort  —  alsdann 
brach  er  es  jäh  ab.  In  diesem  Tagebuche  ist  niederge- 
legt, wie  der  unglücklich  Liebende  in  dem  langen  Zeit- 
raum vom  26.  Juli  1816  bis  dahin  1817  um  den  innigst 
Geliebten  gebangt  und  was  er  um  ihn  gelitten  hat.  Lassen 
wir  ihn  selbst  zu  Worte  kommen., 

Aus  dem  Tagebuche  des  Dr.  Franz  Desgouttes: 

1816:  26.  Juli:   Dem  Daniel  Hemmeier   eine    Badfreude 
gemacht. 

28.  Juli:  Der  Daniel  geht  in's  Bad    und  läßt  den 
Freund  allein,  der  düster   und    traurig    zu  Hause 
bleibt. 
.  31.  Juli :  Reise  nach  Bern   mit  Freund  Hemmeier. 

15.  August:  Vorwürfe  an  Daniel  H.  wegen  seinem 
Undank.  .  .   Mit  Daniel  H.  ins  Bad. 

16.  August:  Besichtigung  des  Perpetui  mobil is 
bezahlt  für  den  Daniel. 

17.  August:  Besuch  bei  Daniels  Eltern. 

5.,  6.,  7.  September:  Dem  Daniel  Hemmeier  ge- 
geben Wein,  Chokolade  u.  dergl.  Aber  Er  ist 
immer  gleichgültig. 


591     — 


1816:  11.  September:  Dem  Daniel  Hemmeier  gegeben 
Wein,  Weggeld.  Immer  gleichgültig. 
2.  November:  Ich  hatte  mich  von  jeher  des  Da- 
niel Hemmeier  innigst  angenommen;  ich  achtete 
Nichts  für  unmöglich,  wenn  es  nur  zu  seinem 
physischen  oder  moralischen  Wohl  diente.  Oft  ent- 
zweite ich  mich  mit  meiner  Familie,  weil  ich  mich 
des  H.  eifrigst  angenommen  und  seine  wehrlose  Ju- 
gend geschützt  hatte.  Seine  physische  Constitution 
wäre  ohne  mein  Zuthun  zu  Grunde  gegangen. 
Er  nähert  sich  jetzt  der  Festigkeit,  die  jedem 
Jüngling  wünschenswerth  ist.  Er  blühet  gleich  einer 
Rose,  Er,  der  sonst  Anlage  zur  Hektik  hatte. 
Seine  Garderobe  ist  wohl  versehn.  Seine  Kennt- 
nisse hat  Er  einzig  meinem  immerwährenden 
Unterrichte  zu  danken.  Nichts  habe  ich  versäumt, 
ihn  zu  bilden,  Nichts  unterlassen,  ihm  das  Leben 
von  allen  Seiten  anschaulich  zu  machen.  Geld, 
Reisen  .  .  .  Nichts  sparte  ich,  ihm  meine  Pflicht- 
erfüllung zu  beweisen.  Zu  hunderten  habe  ich  an 
ihm  verwendet,  vergeudet. 

Des  Tags  dachte  ich  für  ihn  und  sein  Wohl  und 
oft  wachte  ich  des  Nachts  an  seiner  Seite.  Ich 
empfahl  ihn  allenthalben,  sprach,  handelte  für  ihn, 
verwandte  mich  für  ihn  —  Kurz!  ich  lebte  bloß 
für  ihn  und  in  ihm.  Meine  Freundschaft  genoß 
er  in  vollstem  Maaße  und  meine  Zuneigung  in 
vollsten  Zügen.  Bei  Gott:  ich  hätte  mein  Leben 
für  ihn  gelassen,  wenn  Er  es  hätte  nützen  können. 
Ach!  und  was  für  Dank  ernte  ich  jetzt  von  ihm? 
Jetzt,  da  ich  gleichsam  verlassen  bin,  da  ich  in 
ziemlichen  Schulden  stecke,  da  ich  durch  zweijäh- 
rigen Kummer  mich  krank,  ja  fast  aufgerieben 
fühle,  da  ich  ohne  Aussicht  bin,  —  jetzt  zeigt  er 
seinen    Undank!     O    kaltes,    fühlloses    Wesen,    o 


—    592    — 


starrer  junger  Mensch!  Wie  höchst  unglücklich 
machst  Du  mich!  —  Die  Gefühle  überwältigen 
mich  so  entsetzlich,  daß  Worte  mir  fehlen  und  die 
Hand  mir  ihren  Dienst  versagt! 
1816:  4.  November:  Muß  denn  alles  zusammenschlagen. 
Noch  kein  Patent,  Mortifikationen  aus  dem  Aargau, 
Mißverständnisse  mit  Herrn  Gerber,  daher  sein 
Brief  vom  3.  h.,  wo  ich  ganz  mißkannt  werde. 
Muß  ich  denn  ewig  der  Spielball  der  Menschen 
sein,  während  ich  möglichst  meine  Leidenschaften 
bändige  und  der  Phantasie  Spiel  verdränge  ?  Und 
Daniel,  Daniel,  den  ich  liebe,  kehrt  mir  den 
Rücken?!! 

10.  November:  Traurige,  melancholische  Stunde! 
Beinahe  von  Allen,  ach!  verlassen,  in  allen  Hin- 
sichten!    Daniel  auch. 

22.  November:  Dem  Daniel  wieder  gegeben  eine 
Flasche  Wein.  Anderer  Dinge  nicht  zu  gedenken. 
Wenn  ich  die  Menschen  um  mich  betrachte,  so 
überfällt  mich  alternatim  Wuth  und  Wehmuth, 
wenn  ich  bedenke,  wie  vielen  Hunderten  ich  schon 
geholfen  und  wie  mir  alternatim  Niemand  hilft. 
Verdammter  Eigennutz!  Alles  will  an  mir  saugen ! 
Allen  soll  ich  helfen  und  wenn  ich,  ich  Etwas 
will  —  so  ist  Niemand  zu  Hause.  Selbst  meine 
Nächsten  machen  mir's  so.  Wer  mich  nicht  betrügen 
will  oder  nicht  kann,  der  versagt  mir  sonst  Alles, 
ja  selbst  die  edelsten  Gefühle,  welche  Natur  einflößt. 
4.  Dezember:  Weinfrüchte  des  Daniel  Hemmeier, 
da  er  erst  um  1I21  Uhr  Morgens  heimkam. 
15.  Dezember :  Den  Daniel  Hemmeier  von  3/4  auf 
4  Uhr  an  mit  Herrn  Bachmann  ins  Wirthshaus 
gehen  lassen.  Er  blieb  aber  bis  fast  8  Uhr  aus 
und  ich  mußte  annehmen,  daß  er  von  einem  Haus 
in's  andere  schwärmte,  worüber  ich    ihm    nachher 


f, 


—    593    — 

deutliche,  doch  sanfte  Vorwürfe  machte.  Ach! 
er  mißkennt  mich.  Wüßte  er  doch,  wie  unendlich 
ich  ihm  anhänge  und  was  ich  für  ihn  entweder 
bereits  aufgeopfert  habe  oder  noch  ferner  auf- 
opfern werde  —  o,  Er  würde  keinen  Augenblick 
mich  verlassen  oder  selten. 
1816:  16.  Dezember:  Daniel  Hemmeler's  Benehmen  gegen 
mich.  Wiederholte  Rüge.  Befragung  vom  letzten 
Band  an  mich. 

So  weicht  Alles  von  mir!  Auch  er,  an  den  ich 
Alles  wende.  Kalte  Seele!  Diese  Pein  möge  dir 
nicht  vergolten  werden! 

18.  Dezember:  .  .  .  Und  heute  war  auch  der  Tag, 
an  dem  ich  dem  Daniel  Hemmeier  bittere  Vorwürfe 
wegen  seinem  Betragen  gegen  mich  machen  mußte. 
Ach!  daß  ich  ihm  so  anhänge,  um  ihm,  gewiß  aus 
Liebe,  derlei  Vorwürfe  machen  zu  müssen;  aber 
Er  treibt  es  zu  arg.  Alles,  Alles,  was  ich  ihm  an 
den  Augen  ansehe,  Alles  thue  ich  ihm  zu  Gefallen 
und  überhäufe  ihn  mit  Liebkosungen  aller  Art. 
Wenn  ich  ihn  betrachte,  seitdem  der  unselige 
Geschlechtstrieb  in  ihm  erwacht  ist,  so  muß  ich 
diesen  verwünschen;  denn  mich  vergißt  Er  und 
denkt  nur  an  das  Vergnügen,  Ball,  Mädchen  und 
Wein,  ohne  doch  ein  Säufer  oder  Wüstling  zu  sein. 
Bedenke  ich  meine  traurigen  Umstände,  meine 
entsetzliche  Lage  und  den  Undank  des  Daniel, 
so  nimmt's  mich  Wunder,  daß  nicht  die  vollste 
Verzweiflung  mich  ergreift.  Doch  Glauben  an 
Gott,  Philosophie,  Hoffnung  —  das  hält  mich  empor! 
21.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  Vorwürfe 
machen  müssen:  a.  daß  Er  den  20.  Dez.  Abends 
den  ganzen  Abend  bis  8  Uhr  ausgeblieben;  b.  daß 
Er  bis  1/2IO  Uhr  den  21.  Vormittags  3/4  Stunden 
lang  bei  Vogel  geblieben. 


Jahrbuch  V. 


38 


—    594    — 

1816:  22.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  einige  sehr 
herbe  Vorwürfe  machen  müssen,  weil  Er  ohne  alle 
Aufmerksamkeit  für  mich  sich  nur  mit  Andern 
beschäftigt  und  ungeachtet  aller  liebreichen  und 
ernsten  Ermahnungen  mich  stehen  läßt.  Dann 
ihm  Geld  gegeben,  um  einen  Schoppen  zu  trinken. 
Dann  ihm  erlaubt,  bis  um  10  Uhr  Abends  die  Berg- 
knappenmusik anzuhören.  Sechs  ganze  Stunden  lang. 

25.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  erlaubt, 
mit  seinen  Bekannten  spazieren  zu  gehen.  Er 
ging  um  */j3  Uhr  fort  und  returnirte  um  5  Uhr. 
Ging  um  6  Uhr  wieder  fort  und  returnirte  erst 
um  i/,9  Uhr. 

26.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier,  dem  ich 
spaß  weise  Etwas  vorbrachte,  ohne  ihn  zu  be- 
leidigen, und  welcher  sich  plötzlich  in  seiner 
Eigenliebe  höchlichst  ergriffen  fühlte  [:Gnug  nii, 
gnug  mi:],  derbe  Vorwürfe  gemacht  und  ihn  aus 
der  Stube  gewiesen. 

27.  Dezember :  Dem  Daniel  H.  allerhand  gegeben. 
Frieden! 

29.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  erlaubt,  aus- 
zugehen. Er  ging  um  4  und  kehrte  erst  um  8  Uhr 
zurück. 

30.  Dezember:  Dem  Daniel  H.  gegeben: 

1.  Einen  derben  Verweis  wegen  seiner  Saum- 
seligkeit. 

2.  Eine  Brochüre. 

3.  Geld  für  Neujahrsbelustigung. 

30.  Dezember:  Dem  Daniel  H.  gegeben  zum  Neu- 
jahrsgeschenk ein  Jagdgewehr. 

31.  Dezember:  Heute  war  Daniel  H.  fast  immer 
abwesend  und  dennoch  erlaubte  ich  ihm  noch,  zu 
Sylvestern.  Er  blieb  auch  aus  von  5  Uhr  bis  11 
Uhr  Abends:    Mädchengesellschaft. 


—    595    — 


So  schließt  sich  dieses  Jahr,  schrecklich  in  seinem 
Anfange,  traurig  in  seinem  Verfolge  und  entsetzlich 
in  seiner  Mitte;  endlich  in  den  Merkmalen  des 
Schrecklichen,  Entsetzlichen  und  Ungeheuren  am 
Ende,  ohne  Aussicht,  mit  einer  unendlichen  Schulden- 
last, Verzweiflung  im.  Herzen  —  ach!  wer  hilft 
mir?  Da  mich  Alles  verläßt,  so  muß  ich  selbst 
für  mich  sorgen!!! 

Jacta  est  alea! 

Mit  Dir,  o  Daniel,  bin  ich  sehr  unzufrieden;  es 
ist,  als  wenn  der  Dämon  der  Zerstreuung  oder 
aber  der  Gleichgültigkeit  gegen  mich  in  deine 
sonst  gute  Seele  gefahren  wäre.  Ach!  ich  ver- 
diene das  nicht;  denn  innigst  liebe  ich  dich  und 
wünsche  dir  allen  erdenklichen  Segen,  alles  mög- 
liche Glück  und  Heil.  Ach!  daß  du  mich  mißkennst! 

So  rollt  das  Jahr  ab  und  läßt  mich  einsamlich! 
1817:  Anfangs  Januar:  Schön  begann  das  Jahr  1817 
—  war  aber  nicht  gut  im  Verfolge.  Ach!  guter 
Daniel,  hab*  ich  auch  gegen  dich  gefehlt,  so  ver- 
zeihe; denn  dein  kalt  verwerfendes  Wesen  könnte 
mich  verzweifeln  machen. 

Man  könnte  mich  fragen  —  warum  den  Daniel 
so  in  den  Strudel  der  Vergnügen  werfen,  während 
du  es  ihm  selbst  verboten  hast?  —  Am  Neujahr 
feierte  ich  meine  seligsten  Stunden  im  Kreise 
meiner  Geliebten.  Warum  fehlte  da  Daniel?  Warum 
betrug  Er  sich  schon  am  Morgen  kalt?  Warum 
blieb  Er  aus,  da  Er  doch  wußte,  wie  sehr  ich 
daran  hing,  ihn  auch  bei  mir  am  Abendessen  zu 
sehen?  Warum  mußte  ich  selbst  ihn  holen?  O,  das 
war  für  mich  ein  Todesstich!  Ich  sah  nun,  daß 
Er  mich  gar  nicht,  Andre  aber  über  Alles  liebt!  O 
Gott,  welche  marternde,  verzweifelnde  Empfindung ! 
Dies  betäubte  mich  fürchterlich,  brachte  mich  halb 

38* 


—    596    — 

zur  Wuth.  Ach !  die  grimmige  Empfindung  folgte 
mir  nach.  Ich  trank  immer  und  immer  mehr, 
bis  ich  von  Tumult  zu  Tumult  stürzte.  Da,  da  ver- 
gißt sich  der  Mensch  mit  der  glühenden  Phantasie. 
Deswegen  geschah,  was  leider  geschehen  ist.  Hätte 
Daniel,  eingedenk,  daß  ich  ihn  so  manchen  Abend 
vermißte,  den  Neujahrsabend  mit  mir  gefeiert  — 
o,  ich  würde  nie  so  derbe  tumultuirt  haben. 
1817:  8.  Januar:  Gott  gebe,  daß  an  mir  geholfen  werde. 
13.  Januar:  Dem  Daniel  H.  gegeben  Müller's 
Schweizergeschichte  in  4  Bänden. 
Ende  Januar:  Seit  dem  15.  dem  Daniel  allerhand 
geschenkt  und  Er  bringt  mich  dafür  in  Verzweiflung. 
Ende  März:  Während  dem  März  dem  Daniel 
und  seinen  Kameraden  sehr  viel  an  Wein  und 
Objekten  zum  Vergnügen  geschenkt,  damit  sie 
sehen,  daß  ich  ihnen  dergleichen  in  Maaße  sehr 
wohl  und  gern  gönnen  möge. 
6.  April:  Dem  Daniel  Hemmeier,  meinem  Sub- 
stituten, vorgestellt:  1.  für  seinen  Körper  Sorge 
zu  tragen;  2.  dfte  Zerstreuungen  einzustellen;  3.  die 
beiden  Mädchen  aufzugeben  und  4.  mit  Vogel 
und  Trösch  weniger  Umgang  zu  haben;  überdies 
mir  mehr  Freundschaft  und    Liebe    zu    schenken. 

Insonders  soll  Er  aufrichtig  und  aufmerksam 
sein.  —  Welch'  Alles  Er  auch  mit  Mund  und 
Hand  versprochen. 

Dazu  erlaubte  ich  ihm,  Montag  den  7.  hujus 
auf  Aarburg  zu  gehen,  seine  Schwester  und  seinen 
Schwager  zu  sehen. 

Daniel  Hemmeier  geht,  wegen  Langeweile,  mit 
Vogel  und  Trösch  spazieren  ins  Bad  seit  1/25  Uhr 
bis  8  Uhr. 

Den  7.  April    befand   sich    Daniel  Hemmeier   den 
ganzen  Tag  abwesend  in  Aarburg   und    returnirte 


597    — 


erst  um  1/29  Uhr  mit  zwei  Schwestern  und  seinem 

Schwager. 

Den  8.  April  blieb  Er  bis   10  Uhr  Morgens   weg 

und  ich  versah  indessen  seine  vices. 

Mit  dem  Daniel  Hemmeier  einen  Lohnvertrag 
errichtet  bis  1.  Juli  1817. 

Heute  spürte  Daniel  Hemmeier  erst  die  Folgen 
seiner  Reise  auf  Aarburg  durch  Faulheit,  Mattig- 
keit und  Schmerzen  in  den  Waden  und  am  Fuß, 
Erhitzung  und  Abgespanntsein.  Fast  den  ganzen 
Nachmittag  lag  Er  faul  da  oder  befand  sich  bei 
Vogel.     Daselbst  zweimal. 

9.  April:  Daniel  Hemmeier  spürt  noch  immer  die 
Folgen  der  Anstrengung  nach  Aarburg  durch 
Schmerzen  auf  der  Fußballe  und  in  den  Beinen, 
dann  Engbrüstigkeit,  Schweiß  des  Nachts. 

Daniel  Hemmeier  überläßt  sich  schon  wieder 
der  Zerstreuung  bei  Vogel  und  Viktoria  Dennler, 
vernachlässigt  mich  und  seine  Studien. 

10.  April:  Er  läuft  zu  Vogel;  gibt  sich  selten 
mit  mir  ab;  sagt  mir  offen,  daß  Er  Andre,  z.  B. 
Viktoria  D.,  mir  vorziehe  und  malt  für  selbige 
(Oster-)  Eier  aus,  statt  zu  studiren,  verbraucht 
mehrere  Stunden  dafür  und  arbeitet  für  Andre 
öfter. 

Abends  verwfeilt  Er  von  7  bis  8  Uhr  bei  Vik- 
toria Dennler. 

Was  soll  ich,  Verlassener,  bei  solchen  Connexionen 
denken?  O  daß  ich  diesen  Menschen  je  so  selbst- 
ständig machte!  —  Besser  wäre  es  für  mich,  den 
Tod  zu  erhalten,  ohne  ihn  selbstmörderisch  zu 
suchen.  Aber  Gott  wird  helfen! 
Den  11.  April  mit  Daniel  Hemmeier  gesprochen  und 
ihm  ernstliche  Vorstellung  gemacht: 


—    598    — 

a.  seine  Distraktionen  zu  meiden, 

b.  dann    seinen    Studien    mehr    Fleiß   und    mir 
mehr  Liebe  zu  schenken. 

Welches  Er  auch  versprochen. 
1817:    13.  April:    Daniel  Hemmeier  geht  um  1  Uhr  aus 
und  bleibt  bis  2  Uhr  bei  Lise  Muhmenthaler. 

Daniel  Hemmeier  geht  aus  zu  Vogel  von  l/a7 
bis  1jA  ab  8  Uhr.  So  bin  ich  oft  einsam! 
Den  16.  April  befand  sich  Daniel  1/i  Stunde  bei 
Vogel  und  Trösch,  welche  Messieurs  auch  unseren 
Unterricht  um  6  Uhr  unterbrachen. 
17.  April:  Verdruß  mit  Daniel  Hemmeier,  weil 
Er  oft  weggeht  und  niemals  mich  für  den  Unter- 
richt begrüßen  mag.  Doch  am  gleichen  Abend 
Frieden. 

Den  19.  April  geht  Daniel  Hemmeier  bis  1  Stunde 
zu  Vogel. 

Der  Daniel  Hemmeier  bleibt  von  lj2l  bis  9  Uhr 
bei  seinen  Freunden  Vogel  und  Trösch  und  im 
Wirthshause. 

20.  April:  Daniel  Hemmeier  geht  um  8/4  auf  4 
Uhr  weg  zu  Viktoria  Dennler  und  bleibt  bis  3/4 
auf  5  Uhr  weg. 

Dann  geht  Gleicher  um  y26  Uhr  wieder  weg 
und  zwar  mit  dem  fast  betrunkenen  Vogel  — 
kömmt  erst  um  y29  Uhr  wieder. 

21.  April:  Daniel  Hemmeier  geht  mit  Viktoria 
Dennler  spazieren  während  1.  Stunde. 

Idem  thut    nicht    viel   und    geht  von  8/4  auf  5 
bis  y26  Uhr  zu  Viktoria  Dennler. 
26.  April:   Mstr.  Daniel  Hemmeier  geht  spazieren 
mit  Vogel  l/2  Stunde  lang,  mich  verlassend. 

Daniel  Hemmeier  geht  zu  Viktoria  Dennler  lJ2 
Stunde. 


—    599 


Idem  geht  zur  Gleichen  und  bleibt  weg  5 
Viertelstunden  lang,  ohne  den  Effekt  hervorzu- 
bringen. Der  Esel!  .... 
1817:  27.  April:  Daniel  Hemmeier  geht  um  5  Uhr  weg 
zu  Viktoria  Dennler  und  bleibt  weg  bis  8  Uhr. 
28.  April:  Daniel  Hemmeier  steht  alle  Morgen 
spät  auf:  circa  lj2  8  oder  8  Uhr.  Ich  mag  ihm 
das  gönnen;  doch  wünschte  ich  dann  auch,  en  retour 
egard  für  mich,  Aufmerksamkeit  und  was  ich  gar 
nicht  erhalte. 

Ende  April :  Auf  den  ganzen  Monat  bleibt  Daniel 
weg  =  Tage  6,  Std.  28/4. 

2.  Mai:  Daniel  H.  geht  zur  Viktoria  Dennler 
und  bleibt  vor  dem  Eßen  2l/3  Stunden  lang  weg. 
Nachts  11  Uhr  geht  Er  zu  Viktoria  D.  und  returnirt 
um  4  Uhr  Morgens. 

4.  Mai:  Wie  drängt  man  mich  von  allen  Seiten! 
Eltern,  Gerber,  Daniel,  Pf.  Wagner,  Geschwister! 
Ich  soll  heirathen!  —  Was?  Geld!  .  .  .  eigene 
Wahl!  aber  durch  Vaters  Seufzen  hervorgebracht. 
Oft  bereut,  ach,  ohne  Hoffnung  zur  Wiederkehr. 
Elendes,  schreckliches  Leben!  Damit  meine  Um- 
gebungen fröhlich  sein  und  lustig  oder  bequem 
leben  können,  soll  ich  elend  sein. 

Heirathen  soll  ich  bei  schrecklichem  Mangel, 
beim  Dasein  meiner  vielen  Schulden,  bei  schreck- 
licher Theuerung,  bei  halber  Dienstlosigkeit,  ohne 
Stand,  ohne  Patent,  ohne  Aussichten,  ohne  Hoff- 
nung, kränklich Gott,  welche  Dunkelheit ! 

Wenn  ich  mein  ganzes  Leben,  wenn  ich  mein 
Sein,  Thun  etc.  betrachte,  so  nimmt  mich  Wunder, 
daß  ich  noch  bin.  Wie  viel  Undank  muß  ich 
ansehen!  Genüsse .  habe  ich  keine  und  für  die 
Zukunft  keine  Erwartung,  als,  wenn  ich  heirathe, 
die  Anwartschaft    auf    ein    elendes    kurzes  Leben. 


—    600    — 

Nein,  ich  heirathe  nicht,  bis  —  körperlich,  öko- 
nomisch und  ab  Seite  meines  Patentes  bessere 
Zeiten  da  sind.  Ich  bin  es  der  ersten  Pflicht, 
meiner  Selbsterhaltung,  schuldig.  Wer  will  mir 
dies  wegraisonnieren  ?  —  Gewiß  Niemand. 

Mit  dem  Daniel  H.  ernstliche  Rücksprache  ge- 
nommen, mehr  Aufmerksamkeit    mir  zu  schenken. 

Ihm  geschenkt  Schlenbach's  Welthistorie  mit 
Kupfern. 

Daniel  H.  geht  um  1  Uhr  zu  seinen  Freunden 
und  returnirt  nach  Va2  Uhr.     Mich  läßt  er  allein. 

Dan.  H.  geht  an  3/4  auf  2  Uhr  wieder  zu  seinem 
Vogel  und  Trösch  —  um  zu  spazieren  auf  St. 
Urban  und  kehrt  erst  um  8/4  auf  8  Uhr  wieder. 
So  bin  ich  immer  einsam!  Soll  das  Aufmerk- 
samkeit sein? 
1817:  7.  Mai:  Ich  muß  mein  Leid  bemerken,  daß  Daniel 
H.  tagtäglich  negligenter  wird.  Wenig  Aufmerk- 
samkeit zeigt  er  mir,  denn  von  den  ehemaligen 
gemeinern  Verrichtungen  will  der  junge  Herr  nichts 
mehr  thun.  Ich,  der  ich  eine  unbegrenzte  Auf- 
merksamkeit habe,  kann  auf  seine  Dienste  nicht 
mehr  rechnen ;  von  seiner  Aufopferung  ist  längst 
keine  Rede  mehr.  Ach !  ich  fürchtete  nicht  vergeblieh 
den  Moment  seines  Ausflugs  zu  Freunden  außer- 
halb dem  Hause! 

Daniel  H.  kehrt  sich  an  meine  freundschaftlichen 
Winke  wegen  seiner  nicht  ganz  seltenen  Unord- 
nung nicht.  Gebe  ich  Erinnerungen,  Ermah- 
nungen, so  werden  sie  entweder  bald  vergessen 
oder  übel  aufgenommen,  weil  Er  in  großen  Un- 
willen geräth,  wenn  man  seine  geglaubte  Infalli- 
bilität  antastet.  Wenn  ich  endlich  barsch  rede, 
so  hilft's  ein  paar  Tage,  und  dann  ist's  bald  wieder 
im    Alten.    —    —    —   Ordnung,    Produkt    der 


—    601 


Regelmäßigkeit  muß  sein,  muß  vom  1.  Juli 
an  streng  eingeführt  und  beobachtet  werden;  oder 
lieber  will  ich  sterben,  ungeachtet  ich  an  Daniel 
H.  unendlich  und  so  hänge,  daß  ich  ihn  über 
Alles  liebe,  aber  nicht  über  Alles  schätzen  kann! 
1817:  8.  Mai:  Daniel  H.  geht  auf  eine  Stunde  nach  dem 
Musterplatz,  kömmt  dann  um  2  Uhr  wieder  mit 
Vogel,  macht  sich  mit  ihm  bis  3  Uhr  in  meinem 
Zimmer  lustig;  ich  gab  Beiden  3  Schoppen  Wein 
und  Haselnüsse;  dann  geht  er  damit  weg  um 
3  Uhr  und  returnirt  um  4  Uhr. 

Daniel  H.  geht  wieder  auf  i/2  Stunde  weg. 

Idem  geht  um  8/4  auf  6  Uhr  weg  mit  Vogel 
und  kehrt  wieder  um  ^7  Uhr.  Dann  kommt 
Vogel  und  geht  erst  um  7  und  1ll  Uhr.  Daniel 
H.  entfernt  sich  zum  Balle  um  8  Uhr. 

Zum  erstenmal e,  mein  Daniel !  für  dich  Ball ! 
ach!  folgenreicher  Schritt!  ich  —  warnte  brüderlich, 
aber  ach!!! 

Ja!  dieser  Ball-  war  folgenreich  für  mich! 
Denn  er  öffnete  mir  die  Augen  über  Daniel  und 
zeigte  mir  ihn  in  seiner  ganzen  Blöße!  O  ich  Thor, 
der  ich  ihm  zu  Liebe  meine  Harfe  verbrannte!  — 
Nicht  zu  rechnen,  daß  Er  mich  nicht  einmal  um 
meine  Einwilligung  befragte,  kömmt  der  Herr 
erst  um  3  und  lj%  Uhr  Morgens  heim  und  belohnt 
mich  dann  noch  sonst  mit  Undank.     Der  Elende! 

9.  Mai:  Daniel  H.  geht  erst  um  9  Uhr  aus  dem 
Bette  und  ging  bis  11  Uhr  weg.  Den  ganzen 
Nachmittag  schob  Er  sich  von  einem  Sessel  zum 
andern.  Dann  geht  Er  um  1j2l  Uhr  und  returnirt 
erst  um  8V4  Uhr  heim,  etwas  beübelt.  Dann  geht 
er  um  11  Uhr  zum  Tanze  und  returnirt  um 
7,6  Uhr. 

10.  Mai:    Mit   Daniel    H.   lange  Rücksprache  ge- 


I 

Hl 


—    602    — 

halten  wegen   seinem   Verhalten.     Ich   gönne  ihm 

Freunde,    ich   bin    glücklich    dabei!    aber  Er  soll 
j  Vernunft  dareinsetzen    und  mich   nicht  nur  nicht 

so  vernachlässigen,  sondern  seine  Liebe  mit  meinen 

Aufmerksamkeiten  in   das  völligste   Gleichgewicht 
]  setzen,  da  ich  der  Schöpfer  seiner   vielen,    vielen 

I  Freuden    bin!     Ach!    er  verspricht  wohl,   ob  Ert 

auch  halten  wird? Hoffe. 

Daniel  H.  geht  von  9  bis  IOV4  Uhr  wieder  zum 

Tanze  und  kommt   halb    krank    heim.     Ich   laufe 
!  für  ihn  in  die  Apotheke. 

1817:   11.  Mai:     Daniel  ist  den  ganzen  Tag  theils  krank, 

theils  zu  Allem  untüchtig. 

Dem    Daniel    in    seiner  Krankheit   treulich  ab- 
I    '  gewartet. 

!  Dem  Daniel  H.  habe  ich  zwei  Clystiere  gegeben 

'.  und  ihm  bis  10  Uhr  Abends  abgewartet  und  geholfen. 

j  Den  20.  und  21.  Mai  bleibt  Daniel  H.  von  9  Uhr 

I  bis  um  1  Uhr  des  Morgens  fort.     Ich  muß  wachen 

j  und  für  ihn  im  Schweiß  erkalten. 

I  21.  Mai:     Daniel  H.  thut  den    ganzen    Tag   nicht 

viel,  einige  Briefe  ausgenommen.  Nachts  von  9  Uhr 

bleibt  Er  bis  7*1  Uhr. 

22.  Mai:  Der  arme,  von  Viktoria  Dennler  ge- 
plagte Daniel  H.  verzweifelt  fast,  ist  bis  um  5  Uhr 
Abends  zu  Allem  untüchtig,  wo  Er  dann  bis  7 
Uhr  arbeitet. 

23.  Mai:  Daniel  H.  kommt  mit  Viktoria  D.  wieder 
zum  Frieden;  ich  begebe  mich  deswegen  und  um 
zu  traktiren  zu  derselben  und  verwende  mich 
mit  Worten  und  Geschenken  bei  ihr  eine  Stunde 
lang. 

25.  Mai:  Daniel  H.  bleibt  von  1  Uhr  bis  8  Uhr 
weg  und  ist  bei  Viktoria  D.  Er  behandelt  mich 
sonderbar,  nachlässig  und  auf  alte  Art. 


—    603 


1817 :   29.  Mai :  Daniel  H.  bleibt  des  Abends  von  10  bis 
1  Uhr  Morgens  bei  Elisabeth  Bracher. 
Ende  Mai:  Auf  den  ganzen  Monat  bleibt  Hemmeier 
weg:  9  Tage. 

I.  Juni:  War  Daniel  H.  den  ganzen  Tag  un- 
tüchtig und  krank;  ich  wartete  ihm  ab  und  pflegte 
sein. 

Den  10.  Juni  —  ist  Daniel  Hemmeier  10  Stunden 
zu  Allem  unfähig,  weil  er  Abends  vorher  ribotierte 
bis  um  12  Uhr,  wo  ich  wachen  mußte. 

II.  Juni:  Daniel  H.  absentirt  sich  seit  11  Uhr 
des  Morgens  bis  Abends  um  acht  Uhr. 

Den  12.  Juni  —  befand  sich  Daniel  H.  den  gan- 
zen Tag  krank.  Ich  wartete  ihm  ab  und  gab  ihm 
Arzneien. 

Den  13.  Juni  befand  sich  Daniel  H.  den  ganzen 
Tag  krank.  Ich  wartete  ihm  ab  und  gab  ihm 
viele  Arzneien. 

Er  ist    entsetzlich    ungeduldig,    eigensinnig    und 
bös,  daß  man  kaum  bei  ihm  aushalten  kann. 

14.  Juni:  Derselbe  geht  2  Stunden  zu  Viktoria  D. 

15.  Juni:  Daniel  H.  bleibt  3  Stunden  weg  bei 
Viktoria  D.  Nicht  zu  rechnen,  wie  oft  Er  seine 
Arbeit  vernachlässigt,  Sachen  verschiebt,  Nichts 
thut.     O  tempora,  o  mores! 

Den  21.  Juni  —  ist  Daniel  H.  den  ganzen  Tag 
nicht  tauglich  und  schwärmt  doch  herum. 

23.  Juni:  Ankunft  von  Vogel  und  Trösch  — 
derbe,  nachdrückliche  Rücksprache  mit  Daniel  H. 
wegen  dem  künftigen  Umgang  mit  ihnen. 

Öftere  Abwesenheit  des  Daniel  H.,  die  ich  nicht 
einmal  notire,  weil  sie  zu  häufig  kömmt. 

24.  Juni:  Daniel  H.  geht  auf  ll/Ä  Stunde  zu 
Vogel  und  versäumt  allerhand. 


—     604    — 

1817:  30.  Juni:  Dem  Daniel  H.  Vorstellung  gemacht  et 
alia. 

Wann,  o  Schicksal,  wann  wirst  du  mich  be- 
günstigen? Elendes  Leben,  wo  meiner  Jugend 
Rest  planlos  und  ungenützt  hingeht!  Und  dennoch 
arbeite  ich  rastlos!  O,  daß  doch  Niemand  einen 
Augenblick  leichtsinnig  wäre!  —  O  unseliges 
Schuldenmachen ! 

Bald,    bald,    wenn     Gott    nicht    hilft 

ist's  aus,  dann  vermag  Niemand  m^hr  mich  zu 
retten!  O,  daß  ich  noch  einmal  ganz  schulden- 
frei sein  könnte!  Noch  einmal nie,    nie 

würde  ich  mehr  so  handeln  —  wie  vorher!  Wie 
kann  der  Körper  gedeihen,  wenn  immerwährende 
Unruhe  die  Seele  hinwirft?  —  Wie  kann  ich 
einen  Gedanken  mit  Festigkeit  verfolgen,  wie  seine 
Ausführung  mit  Energie  bethätigen,  wie  auf  freiem 
Spielraum  mich  bewegen,  wenn  alle,  alle  Be- 
rührungspunkte sklavisch  mich  fesseln  —  Alles 
mich  kettet?!? 

30.  Juni:  Disput  mit  Daniel  Hemmeier  wegen 
Undank. 

Ende  Juni:  Auf  den  ganzen  Monat  bleibt  Daniel 
Hemmeier  weg :  9  Tage,  nicht  zu  rechnen  kleinere 
Abwesenheiten,  Arbeiten  für  sich  und  zahlloses 
Andre ! 

5.  Juli:  Daniel  Hemmeier  nokturnirt  bei  Viktoria 
Dennler  wie  auch  schon  am  3.  Juli. 

6.  Juli:  Einsam  sitz'  ich  hier,  kein  Daniel,  der  mich 
tröstet,  mich  aufrecht  hält  und  mir  beisteht,  wenn 
schwache,  melancholische  Stunden  mich  umdüstern. 

■  Welch'  ein  Mensch!  Wo  ist,  wo  bleibt  die 
Freundschaft,  die  er  so  hoch  preist?  Wo  sein 
hohes,  inniges  Gefühl  für  mich?  Ach,  es  lebt 
nur    in    seinem  Innern  und  sein  Aeußeres  wendet 


605-  — 


ll 


sich  zu  Andern,  die  keinen  Anspruch  auf  ihn 
haben,  als  die  Macht  der  Gewohnheit  und  den 
Titel  des  bloßen  Umgangs.  Wo  sind  die  seligen 
Zeiten,  da  Er  nur  in  mir  und  durch  mich  lebte? 
Wo  die  Verhältnisse,  die  ihn  allein  an  mich  ban- 
den? Wo  die  Reize,  die  er  einzig  in  meinem 
Umgang  fand  ?  —  Ach !  von  allem  dem  ist  nichts 
mehr  vorhanden,  als  das  traurige  Andenken,  das  mir 
nur  schmerzhafte  Erinnerungen  gibt!  Und  nun,  was 
ist  zu  thun  —  bei  solcher  Sachlage,  wo  ich  mit  großem 
Aufwände  von  Kräften,  mit  Zeitverlust,  mit  star- 
kem Geldauslegen,  selbst  auf  Kosten  meiner  Ehre 
und  mit  enormen  Schulden,  ohne  Kredit,  ohne 
Gesundheit  —  keine  Zwecke  erreicht  habe,  als 
die,  welche  der  Zufall  mir  in  die  Hände 
schickte  oder  in  meine  Lebensbahn  warf???  — 
Aenderung,  Besserung,  Hemmung  der  Leiden- 
schaften, Herrschaft  der  Vernunft!  Aber  dann 
auch  Kälte  gegen  Daniel,  Zurückziehung  von  ihm, 
Ernst  gegen  ihn  und  öftere  Objurgation  mit  Ver- 
nunft. —  —  Ha!  herrliche  Räthe,  wenn  man 
noch  im  Labyrinth  der  schrecklichsten  Verhält- 
nisse ist  und  ohne  ein  Wunder  sich  nicht  heraus- 
winden kann !  O,  wenn  ich  noch  einmal  wieder  auf 
den  alten  Standpunkt  käme,  wie  wollte  ich  mich 
ändern,  wie  meinen  ehedem  festgesetzten  Lebens- 
plan konsequent  ausführen!  O  Deus  adjuvet! 
Möge  es  noch  heute  geschehen!  Dann  würde, 
dann  müßte  eine  neue,  herrliche  Morgenröthe  auf- 
gehen in  Erkennung  wie  im  Handeln! 
1817:  Den  6.  Juli  —  geht  Daniel  H.  wieder  am  Abend 
1  Stunde  fort  und  richtet  Verdruß  im  Hause  an. 
7.  Juli:  Derselbe  ist  den  ganzen  Tag  krank;  ihm 
eine  Arznei  gegeben.  Des  Abends  ein  schreck- 
liches Wetter;  Einschlag  in  Bleybach. 


—    606    — 

1817:  8.  Juli:  Von  J.  J.  Christen  Avis  vom  Leeraus- 
gehen meiner  Lotteriezedeln.  Soll  ich  denn  Alles 
verlieren  und  will  Niemand  und  nichts  mir  helfen  ? 

10.  Juli:  Daniel  H.    geht    am    9.  Juli  den  ganzen 
Tag  fischen. 

11.  Juli:    Von  Bruder  Emanuel  Desgouttes  einen 
impertinenten  Brief  empfangen  .  .  . 

14  Juli:  Von  nun  an  bemerke  ich  Daniels  Ab- 
wesenheiten ,  Entfernungen  und  Regellosigkeiten 
nicht  mehr.  Es  gibt  mir  zu  viel  zu  thun.  Das 
bemerke  ich  noch,  daß  Er  in  diesem  Monat  bei  6 
Stunden  sich  hin  und  her  absentirte  und  mich 
unendlich  reizte.  Dennoch  will  ich  hoffen,  es 
werde  Alles  noch  zum  Besten  kehren  und  in 
dieser  Voraussetzung  und  weil  mir  solche  Noten  zu 
viel  zu  thun  geben,  unterlasse  ich  es.  Ebenso 
mit  dem  Geben  und  Schenken. 
16.  Juli:  Mit  Sack  und  Pack  gezügelt,  d.  i.  d£lo- 
girt  und  in's  neue  Haus,  den  Bärenstock,  trans- 
portirt. 

25.  Juli:  —  Daniel    —    ich    rufe   wie  einst  Gott 
unser  Herr: 

Saul,  Saul,  was  verfolgest  du  mich  ?  —  denk*  an 
Donnerstag!!! 


Damit  bricht  Franz  Desgouttes'  Tagebuch  plötzlich 
ab  —  es  schließt  mit  einer  Drohung,  welche  besagen 
will,  der  Schreiber  werde  es  dem  Hemmeier  nie  vergessen, 
daß  dieser  am  Donnerstag,  beim  Einzug  in  das  neue  ge- 
meinsame Heim,  den  ersehnten  Frieden  hVs  Haus  nicht 
habe  bringen  wollen! 

In  diesem  Tagebuche  vielfach  rührenden  Inhalts  hat 
der  Liebhaber  Hemmeler's  mit  großer  Peinlichkeit  selbst 
über  die  unbedeutendsten  Geringfügigkeiten,  die  er  seinem 


—    607     — 


Liebsten  zuwendete,  genau  Buch  geführt  und  alles  mit  dem 
Kostenpreise    versehen;    da    finden    sich    immer    wieder 
Speisen,  wie  Brödchen,    Brezeln,    Kuchen,   Eier,    Zucker, 
Chocolade,     Thee,     Milch,     Bonbons,     Nüsse,     Kirschen, 
Trauben,  Wein,  Liqueur,  Medizin  und  ihr  Geldwert  und 
zwischendurch    Ausstattungsgegenstände,     wie    Strümpfe, 
eine  seidene  Weste,  ein  Spazierstock,  ein  Jagdgewehr  und 
deren  Kosten  —    alles    für   den  Hemmeier   bestimmt  — 
aufgezeichnet.     Und  diese  seine  Eigenart  erklärt  er,  indem 
er  —  das  einzige  Mal  an  seinen  Leser  sich  wendend  — 
in  seinem  Tagebuche  niederschreibt: 
1816:  21.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  allerhand  zu 
Gefallen  gethan,  mit  Aufmerksamkeiten  aller  Art. 
Du,    der  du  einst  etwa  dies  lesen  mögest,    glaube 
nicht,    daß  Prahlsucht    die  Feder    führte,    als   ich 
das,  was  ich  dem  Daniel  H.  that,  fleißig  aufzeichnete. 
—  Nein!  gewiß  nicht.     Sondern  einzig   die  Sucht, 
um    mich    von  Zeit    zu  Zeit  zu  erinnern,   daß  ich 
meine  Liebe  zu  ihm  in  allerhand  kleinen  Aufmerk- 
samkeiten zeigte  und  zugleich  damit  Er  mir  nicht 

vorwerfen  könne,  ich  besolde  ihn  zu  wenig. 

*  * 

So  nahte  denn  wohl  vorbereitet  die  Katastrophe. 
Desgouttes  versuchte  noch  einmal,  den  Hemmeier  zu  er- 
weichen; er  gab  diesem,  während  er  krank  lag,  seine  Ent- 
lassung; es  geschah  das  in  keiner  andern  Absicht,  als  den 
Jüngling  „in  sich  selbst  zu  nöthigen",  um  längeres  Ver- 
bleiben in  des  altern  Freundes  Hause  anzuhalten,  womit 
ja  dann  freilich  Desgouttes'  Zweck,  den  Hemmeier  von 
sich  völlig  abhängig  zu  machen,  beinahe  erzielt  gewesen 
wäre;  doch  war  die  Kündigung  dem  Liebhaber  im  ge- 
ringsten nicht  Ernst,  denn  schon  bei  dem  ersten  Ausbruche 
des  Bedauerns  seitens  des  Hemmeier  blutete  sein  Herz. 
Hemmeier  aber  war  zu  kalt  und  zu  verschlossen,  als  daß 
er    sich  offenherzig    gegen  Desgouttes   hätte  aussprechen 


M    v    .4 

l! 

—    608    — 

mögen.  Die  Dienstmagd  Salome  Anderes  war  sehr  ver- 
wundert, als  sie  durch  ihren  Herrn  vier  Tage  vor  dem 
Morde,  am  25.  Juli,  erfuhr,  ihr  Neffe  Hemmeier  komme 
fort;  denn  Hemmeier  hatte  es  der  Tante  verschwiegen 
und  nun  wollte  diese  ihn  nicht  fragen,  weil  er  krank  war. 
Am  26.  Juli  müssen  die  Spuren  geistiger  Verwirrung  bei 
Desgouttes  schon  recht  deutlich  hervorgetreten  sein;  denn 
der  Pfarrer  Friedrich  Bütimeyer,  der  ihn,  mit  dessen 
Vater  er  befreundet  gewesen  war,  an  diesem  Tage  in 
seiner  neuen  Wohnung  zum  ersten  und  letzten  Male  be- 
suchte, eilte  bald  weg,  weil  er  aus  Desgouttes'  tiefliegen- 
den Augen  und  entflammtem  Gesicht  schloß,  daß  es  mit 
ihm  nicht  ganz  richtig  sei;  seine  Blicke  blieben,  so  sehr 
er  bemüht  war,  sich  Zwang  anzutun,  wild  und  verstört. 
In  diesen  Tagen  des  eigentlichen  Mordentschlusses  be- 
lebte den  Verzweifelten  einzig  der  grobsinnliche  Trieb 
des  Genusses  oder  der  unausweichliche  Drang  des  Mordens 
mit  der  Absicht,  zum  Genüsse  zu  gelangen,  der  den 
Unglücklichen  zu  der  grausigen  Tat  bestimmt  haben 
mag.  Am  27.  Juli,  einem  Sonntag,  besuchte  er  noch  des 
Abends  um  10  Uhr  die  Familie  des  Schreiners  Jakob 
Herzig  .Vater  und  traf  die  Eltern  und  das  achtjährige 
Töchterchen  bereits  im  Bette  an;  er  veranstaltete  mit 
Hülfe  des  zweiundzwanzigjährigen  Sohnes  Jakob,  den  er 
fortschickte,  um  Wein,  Bier  und  Essen  zu  holen,  ein 
Gelage,  bei  welchem  er  viel  mit  dem  Säbel  spielte  und 
den  einfachen  Leuten,  deren  Umgang  er  vor  anderen  den 
Vorzug  gab,  zeigte,  wie  schön  sein  Säbel  sich  biegen 
ließe.  Am  Montag,  den  28.  Juli,  morgens,  begab  sich 
Desgouttes  in  das  Bett  des  Hemmeier  und  machte  gegen 
den  Erwachenden  allerhand  unzüchtige  Geberden,  infolge 
deren  der  Ueberraschte  mechanisch  aus  dem  Bette  heraus- 
und  wieder  hineinsprang  und  bestimmt  erklärte,  daß  er 
lieber  sterben,  als  dem  Willen  Desgouttes'  sich  fügen 
wolle ;  nun  stellte  sich  der  Peiniger,  als  ob  der  erwartete 


—    609    — 


Widerstand  des  Jünglings  ihn  mit  Bedauern  und  Herze- 
leid erfülle,  er  bat  ihn  knieend  um  Verzeihung,  die  er 
auch  erhielt,  und  versprach  ihm,  dergleichen  ihm  nicht 
mehr  zuzumuten;  dieses  ganze  Spiel  aber  führte  Des- 
gouttes  in  der  einzigen  Absicht  auf,  den  Hemmeier  mit 
einem  Federmesser,  das  er  bei  sich  führte,  zu  verletzen 
oder  zu  töten  und  ihn  dann  zu  vergewaltigen;  war  er 
doch  mit  Mordplänen  des  Nachts  eingeschlafen,  mit 
solchen  in  der  Nacht  aufgewacht  und  mit  ihnen  des 
Morgens  aufgestanden;  aber  als  er  nun  glaubte,  sein 
Opfer  beruhigt  zu  haben,  und  seinen  Mordplan  ausfuhren 
wollte,  da  setzte  der  Bedrohte  mit  jammernden  Worten 
sich  zur  Wehr,  und  mit  dem  Ausruf  des  Mitleids: 
„Lebe!"  ließ  Desgouttes  noch  einmal  von  seinem  Vor- 
haben ab;  er  ging  in  sein  Schlafzimmer  und  onanierte. 
Um  9  Uhr  begab  er  sich  zu  seiner  Zerstreuung  in  die 
Wohnungen  Herzig's  und  Bracher's.  Während  des  Nacht- 
essens kam  die  Frau  Rosina  Dennler  zu  Desgouttes;  dieser 
verließ  den  Tisch,  zeigte  ihr  sein  neues  Heim  und  be- 
merkte dabei,  daß  der  Hemmeier  das  schönste  aller 
Zimmer  habe;  so  könnte  doch,  meinte  er,  nichts  mehr 
fehlen  an  seiner  Zufriedenheit,  da  Hemmeier  beinahe 
Meister  wäre  und  hätte,  was  er  wollte.  Noch  nach  dem 
Abendessen  rieb  er,  als  er  sich  mit  Hemmeier  allein  be- 
fand, nüchtern  dessen  Pudenda  mit  einer  Komposition  von 
Cantharidenessenz,  Salmiakgeist  und  Oel  ein,  „bloß  um  zu 
beschauen";  dieses  hat  den  Hemmeier  „mannbarer"  ge- 
macht, aber  eine  Ejakulation  nicht  hervorgerufen.  Als- 
dann, gegen  10  Uhr,  ist  Desgouttes  wieder  zu  Bracher's 
gegangen,  hat  dort  eine  halbe  Stunde  verweilt  und  in 
einem  kleinen  Rausche  von  allerhand  Sachen,  besonders 
aber  von  dem  Hemmeier  gesprochen,  wie  er  das  schon 
vorher  gegen  6  Uhr  getan  hatte.  Nachdem  er  die  ein- 
fachen Leute  verlassen,  lief  er  über  das  Kirchenfeld  zu 
•einem  Mädchen,    das  er  beschlief,    und  traf  um  11  Uhr 

39 


Jahrbuch  V. 


—    610    — 

wieder  in  seinem  Hause  ein;  als  er  hier  sein  Zimmer  be- 
trat, rief  ihm  Hemmeier  zu,  er  sei  eben  noch  rechtzeitig 
eingetroffen ;  Desgouttes  aber  scheute  sich,  zum  Hemmeier 
hinüber  zu  gehen,  weil  er  nicht  wollte,  daß  dieser  seine 
Trunkenheit  bemerke.  Um  halb  12  Uhr  trat  er  an  die 
Tür  des  Schlafzimmers  der  Dienstmagd  Salome  Anderes, 
pochte  an,  gab  auf  die  Anfrage  der  Magd,  was  er  wolle 
und  ob  sie  aufstehen  solle,  die  Antwort  „nein!*  und  ging 
wieder  fort.  Nach  festem  Schlafe  wachte  er  in  der 
Morgendämmerung  gegen  3  Uhr  mit  wehmütigen  Em- 
pfindungen auf,  erhob  sich,  ergriff  eine  kleine  Flasche 
Liqueur,  die  auf  dem  Ofen  stand,  und  trank  in  Hast  da- 
von; da  fuhr  ihm  der  Gedanke  durch  den  Kopf:  „Wie, 
wenn  du  ihn  jetzt  tötetest?"  Und  dann  wieder:  „Wenn 
du  seiner  noch  vorher  genießen  würdest?"  So  stand  er 
im  bloßen  Hemde  in  seinem  Schlafzimmer  am  Ofen. 
Schnell  trank  er,  wie  um  sich  Mut  zu  holen,  die  Flasche 
bis  fast  auf  den  Grund  leer  und  geriet,  ein  zum  Morde 
geeignetes  Instrument  suchend  und  ein  Taschentuch  er- 
greifend, in  entsetzliche  Wildheit,  in  „Kannibalen wut" ;  in 
der  Mittelstube  fand  er  einen  Pfriem,  warf  ihn  aber 
wieder  hin,  indem  er  dachte,  durch  ihn  würden  Hemmeler^ 
Leiden  zu  lange  währen  und  die  lange  Leidenszeit  könnte 
den  Mörder  verraten;  dann  stieß  er  auf  ein  frisch  ge- 
schliffenes Messer,  das  er  schnell  ergriff  und  öffnete  p 
dieses  in  der  rechten  Hand  haltend,  stürzte  er  in 
Henimeler's  Schlafzimmer.  Hier  lag  der  Schutzlose  mit 
unbedeckter  Brust  auf  dem  Rücken  im  Bette,  seine 
linke  Seite  dem  Trunkenen  zugewendet.  Dieser  suchte 
mit  der  linken  Hand  die  Herzgegend  und  versetzte  ihm 
mit  dem  Messer  einen  Stich  dahin.  Mit  der  Frage:  „Wa& 
soll  das?"  schlug  Hemmeier  die  Augen  auf,  schrie  zwei- 
mal laut  und  warf  sterbend  einen  wehmütigen  Blick  auf 
seinen  unglücklichen  Mörder;  da  hörte  dieser  die  Magd 
vor    der    verschlossenen    Türe  fragen,    was   dem  Daniel 


—    611    — 

fehle,  weshalb  er  schreie,  und  er  gab  zur  Antwort: 
„ Hemmeier' träumt  nur;  es  ist  nichts!*  Die  große  Menge 
des  aus  der  Wunde  des  Verblutenden  hervorsprudelnden 
warmen  Blutes  versetzte  den  verstörten  Mörder  in 
Schrecken  und  Grausen  und  er  rannte  in  sein  Zimmer,  von 
wirren  Gefühlen  bestürmt ;  so  war  ihm  noch  nie  gewesen. 
Auf  einmal  wachte,  als  wenn  dem  Drama  der  Schlußakt 
fehlte,  seine  Wollust  auf  und  ging  schnell  in  Satyriasisr 
über;  er  eilte  in  das  Zimmer  des  Hemmeier  zurück  und 
deckte  den  verblutenden  Körper  bloß;  allein  der  Anblick 
des  Erstarrenden  erfüllte  ihn  mit  physischem  Abscheu 
gegen  Befriedigung  seiner  Sinnenlust.  „Boshaft  wütend" 
über  die  Unmöglichkeit,  unter  solchen  Umständen  Wollust 
ausüben  zu  können,  goß  er  ein  Fläschchen  Scheidewasser 
auf  die  Geschlechtsteile  seines  Opfers  hin  und  fühlte 
jetzt  auch  moralischen  Abscheu  gegen  die  Luststillung; 
so  ergriff  er,  wie  zum  Abschied,  des  Geliebten  Hand  und 
zog  die  Decke  über  den  Leib  des  Sterbenden  bis  an  den 
Hals;  sein  Entsetzen  ging  in  Wehmut  und  völlige  Ab- 
spannung über  und  so  drückte  er  dem,  den  er  über  alles 
geliebt  hatte,  die  Augen  zu.  Dann  packte  ihn  die  Angst 
vor  Entdeckung,  die  Furcht  vor  der  Schande,  welche  er 
seiner  Familie  bereitet,  und  er  kroch  auf  allen  Vieren 
durch  das  Mittelzimmer,  dessen  Fenster  nicht  verschleiert 
waren,  in  sein  Schlafgemach,  kleidete  sich  an  und  verließ 
das  Haus  —  ohne  Plan  und  ohne  klare  Besinnung.  Er 
fühlte  noch  große  Liebe  zum  Leben,  war  sich  noch  nicht 
klar  über  den  unersetzlichen  Verlust,  den  er  sich  selbst 
bereitet  hatte,  und  wähnte  noch,  der  Welt  durch  ein 
nützliches  Leben,  dem  er  fortan  sich  widmen  wollte,  mehr 
bieten  zu  können  als  durch  einen  schimpflichen  Selbst- 
mord. So  wurde  er  gefangen,  verhört,  verurteilt  und  ge- 
richtet, wie  im  I.  Abschnitt  dargestellt  ist. 


39* 


—    612    — 

IV.  Die  Beurteilung  des  Falles  Desgouttes 
durch  Zschokke  und  Hößli. 

In  Heinrich  Zschokke's  „Gespräch  über  die  Liebe"  lenkt 
sich  die  Unterhaltung  »gleich  anfangs,  wie  dies  immer  zu  ge- 
schehen pflegt,  auf  die  widerlichste  Merkwürdigkeit  des 
Tages" :  die  Ermordung  des  Hemmeier  (Walter)  durch 
Desgouttes  (Lukasson).  Den  Wortführern  des  Gesprächs 
erscheint  die  verbrecherische  Tat  um  so  rätselhafter,  als 
Desgouttes  den  hingemordeten  Freund  noch  bis  zum 
letzten  Augenblicke  geliebt  und  denselben  im  Schlafe 
erstochen  hat;  so  konnte  sie,  nach  jedermanns  Urteil, 
doch  nur  in  einem  Anfall  von  Wahnsinn  geschehen  sein. 
War  es  doch  bekannt,  daß  Desgouttes,  von  jeher  unge- 
stümen und  mit  sich  selbst  entzweiten  Wesens,  zwischen 
leichtsinnigen  Ausschweifungen  und  schwermütigen  Bereu- 
ungen schwankend,  zuletzt  immer  das  unselige  Mittel 
der  Selbstbetäubung  durch  starke  Getränke  ergriff.  Die 
Frage,  wie  der  tugendhafte  Jüngling  Hemmeier  eines 
solchen  Ungeheuers  Freund  sein  konnte,  wird  dahin 
beantwortet,  daß  auch  sein  Mörder,  ungeachtet  seiner 
Leidenschaften  und  Verirr ungen,  doch  im  Besitze  von 
Tugenden,  die  ihn  liebenswürdig  machen  konnten,  gewesen 
sein  mußte.  Man  kommt  darin  überein,  den  Verbrecher 
nicht  zu  verdammen:  weil  böse  Taten  überhaupt  nur  aus 
Irrtum  oder  Krankheit  des  Gemüts  geschähen;  Desgouttes 
aber  wurde  durch  eine  unharmonische  Entfaltung  seiner 
Natur  zum  Verbrechen  hingejagt;  er  ward  durch  eine 
wütende,  alle  Vernunft,  alle  Tugend  zerstörende  Leiden- 
schaft, welche  er  nicht  zur  rechten  Zeit  meisterte  und 
welche  ihn  zum  Wüstling  machte,  unglücklich  und  endlich 
zum  rasenden  Mörder.  Desgouttes  „mußte  nicht  nur  nach 
dem  Gesetz  sterben,  sondern  er  war  auch  strafbar.* 
Holmar,  der  in  Zschokke's  Gespräch  Hößli's  Idee  vertritt 
und  (S.  270)  von   sich  selber  gesteht,    er    wäre   vielleicht 


—    G13    — 

auch  unglücklich  geworden,  wenn  er  als  Jüngling  den 
mit  unbestimmter  Sehnsucht  gesuchten  Freund  gefunden 
hätte,  steht  mit  seiner  Auffassung  allein:  „In  Griechen- 
land wäre  er  vielleicht  der  großen  Künstler,  der  Weisen 
oder  Vaterlandshelden  einer  geworden,  durch  die  Freund- 
schaft der  Seelen,  bei  uns  ward  er  dadurch  Mörder  und 
die  Gesetze  führten  ihn  zum  Rabenstein.  Sein  ganze* 
Leben  voller  Widerspruch  und  Verirrung;  sein  Alles- 
opfern  für  den  Geliebten;  sein  ewiges  Bemühen,  diesen 
zum  vollkommensten,  tugendhaftesten  und  edelsten  Mann 
zu  bilden;  sein  Kampf  mit  sich  und  einer  Leidenschaft^ 
die  ihn  irre  an  sich  selbst  machte;  seine  Anstrengungen, 
Zerstreuung  zu  finden;  sein  geflissentliches  Streben,  sich 
selbst  mit  geistigen  Getränken  zu  betäuben;  seine  wieder- 
holten Entschlüsse  zum  Selbstmord ;  endlich  die  Ermord- 
ung des  Freundes  —  Alles  erklärt  sich  aus  seiner  nicht 
anerkannten  Seelenberechtigung. tt 


Und  hören  wir  nun  Hößli  selbst,  so  sieht  er  in 
Desgouttes  „eine  Natur,  die  in  sich,  in  ihren  Tiefen, 
verborgnen  Lebens  wurzeln,  uns  unsichtbar,  doch  ewig 
gewiß,  alle  jene  Blumen  und  Kunstgestalten  der  griechi- 
schen Muse  des  Eros,  wie  die  Qualen  und  die  Verworfen- 
heit eines  Desg.  verbindet."  (Eros  II  Seite  351)  „er,  der 
Ermordete,  war  zwar  ein  Mörder,  aber  unsere  Irridee  hat 
ihn  zuerst  zum  verlornen  und  lasterhaften  Menschen  und 
endlich  dadurch  zum  Mörder  gemacht;  er  hatte  weder 
eigentliches  Dasein  noch  Leben  mehr  zu  verlieren,  darum 
spielte  er  mit  beiden  fürchterlich  .  .  .*  (Eros  II  213). 
Die  ganze  Fürchterlichkeit  solcher  Wesen  wie  Desgouttes 
erklärt  Hößli  für  begründet  durch  moralische  Zernichtung 
in  Folge  ihrer  völligen  Verkennung  und  daher    für  not- 


—    614    — 

wendig  und  natürlich.  Eine  Bestätigung  für  die  Richtig- 
keit seiner  Auffassung  des  Wesens  Desgouttes'  sieht  er 
in  dessen  Verhalten  nach  der  Gefangennahme  unter  dem 
suggestiven  Einflüsse  seiner  Richter,  besonders  in  der 
rührenden  Standrede.  „Wenn  ich,"  sagt  Hößli  (Eros  I  S. 
61),  „in  Dr.  J.  F.  Eisenhart's  Rechtshändeln  des  achtzehn- 
jährigen, am  10.  Juni  1651  verbrannten  Mädchens  letzte 
Worte  im  Briefe  an  ihre  Mutter  (sie  war  zu  ihrer  Zeit 
ein  sehr  gebildetes  Mädchen,  gebildeter  als  Desgouttes 
in  der  seinigen  war)  lese:  „Aber  ich  habe  nun  Gnade 
gefunden,  dem  Teufel  abgesagt,  mich  zu  meinem  Jesu 
begeben,  bei  dem  will  ich  nun  leben  und  sterben!  Amen. 
Amen**,  so  habe  ich  auch  den  armen  unglückseligen 
Desgouttes  leibhaftig  vor  mir." 


6,  Herzog  August  der  Glückliche 

(1772—1822) 

(mit  5  Textbildern). 

KaXoV    V7T€Q    TO?    Xfl.koV    ÜVTfiXElV 

(Im  Genüsse  des  Schönen  sterben  ist  schon) 
Epigraph  August  des  Glücklichen. 

„  *  .  .  er  Trar  eine  so  bimtschülerade 
Erscheinung,  dalt  man  mit  wenig  Worten 
über  ihn  nicht  aus  kommt u 

H.  A.  0.  Keichard  1877,  505. 

Aemil  Leopold  August,  der  z weitgeborene  Sohn 
des  Herzogs  Ernst  IL  von  Sachsen-Gotha  und  Alten  bürg 
mit  der  Herzogin  Charlotte,  der  Tochter  des  Herzogs 
Anton  Ulrich  von  Sachsen  -  Meiningen ,  erblickte  am 
23.  November  1772  in  Gotha  das  Licht  der  Welt.  Von 
seinen  drei  Brüdern  —  Schwestern  hatte  er  nicht  — 
—  wurde  der  jüngst e,  Ludwig,  1777  geboren,  nur  6  Tage 
alt  und  der  älteste,  der  am  27.  Februar  1770  geborene 
Erbprinz  Ernst,  starb  bereits  im  Alter  von  9  Jahren 
(November  1779).  Die  Erziehung  der  beiden  übrig 
gebliebenen  jungen  Prinzen,  Augusts,  der  nun  Erbprinz 
war,  und  seines  um  2  Jahre  jüngeren  Bruders  Friedrich, 
leitete  anfangs  der  aus  Stuttgart  berufene  Freiherr  Joachim 
Ernst  von  der  Luhe  und  späterhin  der  waadtländische 
Naturforscher  Legationsrat  Samuel  Elisa  von  Bridel- 
BriderL  Da  beide  Knaben  von  zarter  Gesundheit  zu 
sein  schienen,  so  wurden  sie  von  den  besorgten  Eltern  zu 
ihrer  Kräftigung   im   Jahre  1788   nach    Genf   geschickt ; 


—    616    — 

hier  erlernte  der  Erbprinz  die  Beherrschung  der  franzö- 
sischen Sprache.  Erst  1791  kehrten  beide  Prinzen  nach 
Gotha  zurück.  Daheim  waren  Vorlesungen  des  jenaischen 
Professors  Ulrich  über  Philosophie,  des  Geheimrats  von 
der  Becke  über  Geschichte  und  über  Staatsrecht  des 
deutschen  Keicbs,  des  Archivars  Welker  über  die  vater- 
ländische Geschichte  bestimmt,  der  allgemeinen  Bildung 
der  beiden  Jünglinge  den  Abschluß  zu  geben.  Alsdann 
nahm  der  Erbprinz  August  an  den  Sitzungen  des 
Ministeriums  teil,  um  mit  den  Regierungsgeschäften  ver- 
traut zu  werden. 

Noch  nicht  25  Jahre  alt,  vermählte  sich  der  Erb- 
prinz August  auf  den  Wunsch  seines  Vaters  am  21. 
Oktober  1797  mit  der  am  19.  November  1779  geborenen 
achtzehnjährigen  Prinzessin  Louise  Charlotte  von 
Mecklenburg-Schwerin  J),  welche  aber,  nachdem  sie  dem 
Gatten  am  21.  Dezember  1800  ein  Töchterchen  Louise 
geschenkt  hatte,  schon  am  4.  Januar  1802  im  Wochen- 
bette verstarb.  Schon  ein  und  ein  drittel  Jahr  später, 
am  24.  April  1801,  ging  der  Erbprinz  eine  zweite  Ehe 
ein  mit  der  ihm  ziemlich  gleich  alterigen  Karoline  Amalie, 
der  jüngsten,  am  11.  Juli  1771  geborenen  Tochter  des 
Landgrafen  und  späteren  Churfürsten  Wilhelm  von 
Hessen- Cassel,   eine  Ehe,   welche  kinderlos  geblieben  ist. 

Nach  dem  Ableben  seines  Vaters  Ernst  II.  am 
20.  April  1804  trat  der  Erbprinz,  31  Jahre  alt,  als 
Herzog  August  die  Regierung  des  Herzogtums  Sachsen - 
Gotha  und  Altenburg  an;  er  hat  sie  in  einer  für  ganz 
Deutschland  äußerst  kritischen,  durch  die  Schlacht  bei 
Jena    genügend    gekennzeichneten   Zeit    achtzehn    Jahre 


')  Ueber  die  erste  Gemahlin  des  Erbprinzen  August,  Louise 
Charlotte,  eine  Tochter  des  nachmaligen  Großherzogs  Fr.  Franz 
von  Mecklenburg-Schwerin  mit  der  Prinzessin  Auguste,  Tochter 
des  Prinzen  Johann  August  von  Kode,  äußert  sich  1902  Katharina 
von  Bechtolsheim  Seite  111—112. 


—     617 


hindurch  glücklich  geführt;  „er  hatte  ein  unerschütter- 
liches Vertrauen  auf  sein  Glück,  wie  er  denn  auch  zu 
sagen  pflegte,  daß,  wenn  er  einen  Beinamen  führen 
sollte,  es  der  des  Glücklichen  sein  müßte."1)  „Klug  be- 
sorgt und  umsichtig  lavirte  er,  ohne  seiner  Würde  etwa» 
zu  vergeben,  durch  die  schwierigen  politischen  Ver- 
hältnisse, die  Deutschland  einen  andern  Charakter  gaben, 
so  daß  Napoleon  selbst  ihn  einen  der  geistvollem  deutschen 
Fürsten  nannte." 2)  Schnell  und  unerwartet  starb  der 
Herzog,  der  niemals  ernstlich  krank  gewesen  war,  noch 
nicht  volle  50  Jahre  alt,  am  17.  Mai  1822  in  Folge  „einer 
in  den  Körper  geschlagenen  Flechte"3)  nach  kurzem 
Krankenlager  und  wurde  auf  der  „Insel"  im  Park  zu 
Gotha  neben  seinem  Vater  und  seinen  im  Tode  ihm 
vorausgegangenen  beiden  Brüdern  beigesetzt. 

Herzog  Augusts  zweite  Gemahlin 4)  überlebte  den 
Gatten  sechsundzwanzig  Jahre;  sie  starb  am  22.  Februar 
1848  und  wurde  zu  ihrem  Gemahl  auf  der  Parkinsel  be- 
stattet. Mit  Augusts  jüngerem  Bruder  Friedrich ö), 
seinem  Nachfolger  in  der  Regierung  des  gothaischen 
Landes  als  Friedrich  IV.,  der  unter  der  Wirkung  eines 
Gehirnpolypen  nach  kaum  dreijähriger  Regierung  schon 
am  11.  Februar  1825  verstarb,  erlosch  sein  Stamm. 

Durch   seine    einzige  Tochter  Louise6),    die    spätere 


*)  Jacobs  1822,  Seite  499—500;  Beck  I  1868,  Seite  431. 

2)  v.  Weber  1  1864,  Seite  322.  —  3)  Beck  1875  Seite  683. 

4)  Ueber  Augusts  zweite  Gemahlin,  Karoline  Amalie,  äußert 
sich  Louise  Seidler  1874  Seite  86  und  Katharina  von  Bechtolsheim 
1902  Seite  112. 

6)  Sein  liebenswürdiges  Wesen  hebt  v.  Weber  I  1864  S.  374 
hervor  und  sein  schreckliches  Leiden  schildert  H.  A.  0.  Reichard 
1877  Seite  510—514. 

6)  Nach  Galletti  V  1824  S.  26  hieß  sie  Dorothee  Louise,  nach 
Beck  I  1868  S.  430  Louise  Pauline  Friederike  Charlotte  Auguste; 
über  sie  handelt  Louise  Seidler  1874  S.  86—88,  welche  mit  ihr  be- 
kannt wurde  zur  Zeit,  als  sie  noch  Herzogin  von  Coburg  war. 


—    618    — 

Gemahlin  des  Herzogs  Ernst  von  Sachsen  -  Coburg- 
Saalfeld,  deren  zweiter  Sohn,  Albert,  Prinzgemahl  der 
britannischen  Königin  Viktoria  wurde,  ist  Aemil  Leopold 
August  Urgroßvater  des  gegenwärtig  regierenden  Königs 
von  England,  Eduard  VII. 


Aemil  Leopold  August  machte  als  Herzog  einen 
Unterschied  zwischen  seinen  Taufnamen  Aemil  und  August; 
seines  Rufnamens  August  bediente  er  sich  als  Regent  und 
in  Geschaftssaehen,  den  Namen  Aemil,  den  er  seinem 
Paten  Friedrich  dem  Großen  folgend  und  diesem  zum 
Andenken  Emile  schrieb,  gebrauchte  er  als  Mensch  im 
freundschaftlichen  Verkehre  und  in  seinen  Briefen.1) 
Diese  Doppelnamigkeit  war  nicht  eine  leere  Spielerei, 
sondern  von  tieferer  Bedeutung  und  dem  Herzoge, 
dem  das  rein  Menschliche  hoch  galt,  ein  inneres 
Bedürfnis;  er  selbst  versicherte,  als  er  das  Gesuch 
einer  sehr  geliebten  Person  nicht  erfüllen  konnte,  auf 
den  durch  seine  Unterschrift  bezeichneten  Unterschied 
des  Fürsten  und  Freundes  verweisend,  als  August  nicht 
erfüllen  zu  können,  was  er  als  Aemil  gern  gewünscht 
hätte.2)  Es  läge  daher  nahe  und  ist  auch  vorgeschlagen 
worden,  in  einer  Lebensbeschreibung  des  Herzogs  seine 
Namen  Aemil  und  August  zur  Inhaltsbezeichnung  ihrer 
zwei  Hauptabteilungen  zu  verwenden.8)  Es  kann  indessen 
hier  der  Ort  nicht  sein,  den  Regenten  August  zu  schildern; 
vortreffliche  Charakteristiken  desselben  haben  von 
Wüstemann,  Eichstädt  und  diesen  folgend  von  Lupin  auf 
Illerfeld,  ferner  Galletti,  Beck  und  der  geheime  Kriegsrat 
H.  A.  O.  Reichard  entworfen.  Die  Behauptung,  um  die 
Regierung  seines  Landes  habe  sich  Herzog  August  wenig 


')  von  Wtistemann  1823  Seite  7. 
2)  von  Wüstemann  1823  Seite  7—8. 
*)  von  Wüsteinann  1823  Seite  8. 


J 


—    619    — 

gekümmert,  er  habe  sie  lediglich  seinen  trefflichen 
Ministern  überlassen1),  deckt  sich  weder  mit  dem  Hinweise 
auf  „oft  sehr  bedenkliche  Regierungs-Geschäfte"  des 
Herzogs2),  noch  mit  der  bestimmten  Angabe,  daß  viele 
Aenderungen  seiner  Regierung  aus  seinem  Geist  hervor- 
gegangen sind8),  noch  mit  der  Versicherung,  daß  er  die 
Regierungsgeschäfte,  die  er  mild  und  gerecht  führte,  bis 
zu  seinem  Ende  ohne  Aufschub  erledigte.4)  Als  Regenten- 
Tugenden  des  Herzogs  August  werden  hervorgehoben 
sein  ausgesprochener  und  unbeugsamer  Sinn  für  Recht 
und  Billigkeit5),  welcher  ihn  nicht  nur  hinderte,  jemals 
den  Lauf  eines  gerichtlichen  Verfahrens  zu  hemmen6), 
sondern  auch  dahin  führte,  daß  aus  seiner  Regierungs- 
zeit nicht  ein  einziger  Gewaltstreich,  nicht  eine  einzige 
vorsätzliche  Ungerechtigkeit  zu  berichten  ist.7)  Der 
Herzog  ehrte  Anhänglichkeit8),  aber  er  besaß  auch 
selbst  diese  Tugend  und  harrte  in  schwerer  Zeit  bei 
seinem  Volke  aus  ohne  Furcht  um  seine  Person.9)  Er 
war  ein  eifriger  Wohltäter  seines  Landes10)  und  trug 
Sorge  für  die  Verschönerung  seiner  Residenzstadt.11) 
Jedermann  aus  seinem  Volke  stand  der  Zutritt  zu  ihm 
offen.12)  Auch  liebte  er  das  Volk  und  ganz  besonders 
seine  Altenburger  Bauern,  die  er  seine  „Renibrandts"  zu 
nennen  pflegte.13)  Als  er  im  Februar  1819  zum  Landtage 
in  Altenburg  weilte,  erschien  er  auf  einem  am  2.  Februar 
von  der  vereinten  Kasino-  und  Ballgesellschaft  im  Gast- 
hofe zum  Hirschen  veranstalteten  Maskenballe  in  der  Tracht 
eines  Altenburger  Bauern,  begleitet  von  der  Frau  Hofrat 


*)  Louise  Seidler  1874  Seite  94.  —  *)  GaUetti  V  1824  Seite  42. 

—  3)  von    Wüstemann   [Geh.   Kanzleisekretär]    1823   Seite   20.    — 
4)  Jacobs   VII  1840  Seite  177—178.  —  6)  Reichard  1877  Seite  483. 

—  6)  Derselbe  Seite  490.  —  7)  Derselbe  Seite  482—483.  —  8)  Der- 
selbe Seite  482.  —  9)  Derselbe  Seite  484 ;  Jakobs  VII 1840  Seite  178. 

—  10)   Reichard   1877   Seite   484.   —   ")   Derselbe   Seite   484.   — 
12)  Derselbe  Seite  479  — 13)  G.  bei  Hennings  1832  Seite  27. 


—    620    — 

Pierer  als  seiner  Bäuerin;  er  hatte,  anstatt  einen  Hof- 
schneider mit  der  Anfertigung  eines  solchen  Bauern- 
anzuges für  sich  zu  betrauen,  das  Festkleid,  welches  er 
trug,  von  dem  Bauern  Michael  Pohle  entliehen  und  stiftete 
diesem  dann  für  seine  Gefälligkeit  einen  silbernen  Becher 
mit  der  Inschrift:  „Ehret  der  Väter  Sitte  und  ihre 
Tracht*  Erst  nach  11  Uhr  hat  er  den  Ball,  auf  dem  er 
sich  zwanglos  bewegte,  verlassen.  Aus  Dankbarkeit 
brachten  die  Altenburger  Bauern  dem  Herzoglichen  Paare 
durch  acht  Deputierte,  je  vier  Männer  und  Frauen,  im 
März  1819  als  Geschenk  die  vollständige  Tracht  eines 
Bauern  und  einer  Bäuerin,  welche  der  Herzog  und  die 
Herzogin  mit  Hülfe  der  Deputierten  anlegten;  bei  diesem 
Anlasse  äußerte  launig  der  Herzog,  er  werde  nun  endlich 
so  glücklich  sein,  die  Waden  seiner  Frau  zu  sehen,  die 
er  noch  nie  zu  sehen  gekriegt  habe.1) 

Bei  so  großen  Tugenden  bestanden  die  Regenten- 
Schwächen  des  Herzogs  hauptsächlich  darin,  daß  er 
Geldeswert  nicht  kannte2)  und  eine  allzugroße  Liebe  zu 
äußerm  Prunke  besaß8),  welche  ihn  zu  unnötigem  Auf- 
wand trieb.4)  Auch  herrschte  am  Hofe  eine  Günstlings- 
wirtschaft5); diese  ging  aber  nie  so  weit,  daß  es  möglich 
gewesen  wäre,  den  Herzog  lange  zu  täuschen.6)  „Nie- 
mand besaß  außer  dem  ihm  angewiesenen  Wirkungskreise 
eine  fremdartige  Einwirkung;  jeder  Versuch,  sie  zu  er- 
langen, hätte  sofortige  Abfertigung  oder  (ging  eine  Er- 
örterung vorher)  nachher  eine  desto  beschämendere  zu 
erwarten  gehabt.  Anmaßung  und  Unrechtlichkeit  fanden 
an  ihm  einen  entschiedenen  und  offenen  Feind."7) 


J)  Hempel  1819  besonders  Seite  23—24;  35—36;  53—54;  65; 
67;  79  und  83.  —  8)  Reichard  1877  Seite  486.  —  8)  Derselbe  Seite 
491.  —  4)  Derselbe  Seite  484—485.  —  5)  Derselbe  Seite  486—487. 
—  6)  von  Wtistemann  1823  Seite  9.  —  7)  von  Wüstemann  1823 
Seite  14. 


—    621    — 


Die  Persönlichkeit  des  Herzogs  als  Mensch  mit 
wenigen  Strichen  zu  zeichnen,  ist  eine  Unmöglichkeit;  nur 
allzu  leicht  wird  er  dem,  der  ihn  nicht  begreift,  zur 
Karikatur1)  .  .  „er  war  eine  so  buntschillernde  Er- 
scheinung, daß  man  mit  wenig  Worten  über  ihn  nicht 
auskommt/2) 

„Einer  der  geistvollsten  Fürsten,  die  ich  kenne**3) 
—  „ein  Fürst,  der  zu  den  merkwürdigsten  Erscheinungen 
unserer  Zeit  gehört*4)  —  »von  unbezweifelbarer 
Genialität,  mit  Excentricität  gemischt**5)  —  alles  dieses 
sagt  zwar  mit  wenigen  Worten  viel,  erschöpft  aber  die 
Eigenart  des  Mannes  bei  weitem  nicht;  mehr  enthalten 
schon  die  Epitheta:  „geistreich  und  edel**6)  oder  „Große 
Klugheit,  kein  bösartiges  Herz,  aber  beißender  Witz, 
dabei  Gefühl  für  Edelmuth  —  das  waren  allerdings  die 
Grundzüge  seines  Charakters.**7) 

Im  Wesen  des  Herzogs  August  flößen  zwei  an- 
scheinende Gegensätze  zu  einem  nicht  unharmonischen 
Ganzen  zusammen;  das  waren  gewinnende  Liebenswürdig- 
keit und  beißender  Witz.  Seine  Liebenswürdigkeit  konnte 
bezaubern8);  aber  seine  Satire  schonte  niemanden;  bald 
wirkte  sie  verblüffend,  bald  verletzend ;  aber  den,  welchen 
er  beleidigte,  versöhnte  er  durch  Huldbeweise.9)  Seine 
beißenden  Epigramme,  Rätsel,  Wortspiele  und  Witzworte, 
die  fast  alle  den  Stempel  plötzlicher  Eingebung  tragen, 
so  daß  Jean  Paul  Friedrich  Richter  ihn  ohne  Schmeichelei 
den  „witzigsten  Fürsten*1  nennen  konnte10),  wurden  meist 


l)  So  nennt  ihn  Louise  Seidler  1874  Seite  88  einfach  „dieses 
größte  Original  seiner  Zeit.**  —  2)  H.  A.  0.  Reichard  1877  Seite  505. 
—  *)  Napoleon  I.  bei  von  Weber  1864  Seite  321;  322;  G.  bei 
Hennings  1832  Seite  27.  —  4)  Jacobs  VI  1837  (1828)  Seite  456.  — 
*)  von  Weber  I  1864  Seite  373.  —  6)  H.  A.  0.  Reichard  1877  Seite 
505.  —  7)  Derselbe  Seite  482.  —  8)  wie  sie  den  Komponisten  Carl 
Maria  von  Weber  bezauberte;  von  Weber  I  1864  Seite  325.  — 
*)  von  Weber  I  1864  Seite  323.  —  10)  Richter  1805  Seite  14. 


—     G22     — 

bei  Tische  laut  vorgebracht,  durch  die  umstehenden 
Diener  weiter  verbreitet  und  bisweilen  zum  Stadtgespräche. 
„Die  Vornehmen  fürchteten  daher  diese  «Satyre  des 
Herzogs,  weil  sie  oft  wunde  Flecke  traf,  und  so  wurde 
manche  Schlechtigkeit  verhütet.  Man  scheute  sich  mehr 
vor  dem  Herzog  August  und  seinem  Spott,  als  vor  dem 
würdigen  Ernste  seines  trefflichen  Vaters,  der  es  höchstens 
bei  einem  stummen  Achselzucken  bewenden  ließ,  wenn 
es  ihm  zu  arg  wurde/1) 

Leider  sind  die  Scherze  des  Herzogs  August  nicht 
gesammelt  worden;  immerhin  wurde  genug  zur  Charakter- 
istik ihres  Schöpfers  durch  den  Druck  bekannt2);  nur 
einige  wenige  für  die  Eigenart  des  Herzogs  besonders 
typische,  aus  Werken  entnommen,  in  denen  man  sie  kaum 
vermutet,  mögen  hier  Platz  finden.  Dem  Kammerherrn 
Ernst  Ludwig  Karl  von  Seebach,  einem  höchst  achtungs- 
werten Herrn  von  wenig  gesellschaftlichen  Talenten,  der 
neben  ihm  bei  Tische  saß,  gab  der  Herzog  das  leicht  zu 
erratende  Rätsel  auf:  „Was  ist  das?  Die  erste  Silbe  ist 
ein  großes  Wasser,  die  zweite  ist  ein  kleines  Wasser  — 
das  Ganze  aber  ist  doch  unbeschreiblich  trocken.*8)  — 
Auf  einem  Masken  balle  bemerkte  der  Herzog,  wie  ein 
junger  Kaufmann  namens  Tröbsdorf,  den  er  unter  der 
Verkleidung  erkannt  hatte,  einer  weiblichen  Maske  stark 
den  Hof  machte;  der  Herzog  trat  auf  ihn  zu,  klopfte 
ihm  vertraulich  auf  die  Schulter  und  sagte  laut:  „Tröbs- 
dorf   mit  der  Elle  —  verliebt    sich  schnelle!"     Der  An- 


x)  Reichard  1877  Seite  483—484.  Derselbe  sagt  Seite  501 : 
„Diese  Spiele  des  Witzes  zu  sammeln,  wäre  ein  verdienstliches 
Werk"  .  .  . 

*)  In  der  am  Schluß  aufgeführten  Literatur  sind  deren  etwa  30 
enthalten;  sie  finden  sich  bei  Appun,  Beck  (I  1868  Seite  449—451), 
Förster  (III  1847  Seite  787 ;  IV  1854  Seite  334),  G..  bei  Hennings 
(1832  Seite  25—27),  Reichard  (1877  Seite  483;  495;  500—505), 
Louise  Seidler  (1874  Seite  90—91)  und  von  Weber  (I  1864  Seite  323). 

8)  „Anekdote"  1805;  Louise  Seidler  1874  Seite  91. 


—     623     — 

geredete,  welcher  sein  Gegenüber  sofort  erkannte,  ant- 
wortete mit  großer  Geistesgegenwart :  „Ich  führe  meine 
Elle  mit  Verstand  —  das  Scepter  ruht  in  August'* 
Hand!"  Weit  entfernt,  „dergleichen  gegen  ihn  gerichtete 
Sarkasmen"  übel  aufzunehmen,  ergötzte  sich  der  Herzog 
darüber  im  Gegenteil  außerordentlich;  eine  passende  Ent- 
gegnung imponierte  ihm;  auch  konnte  er  über  eine  solche 
aus  vollem  Halse  lachen1);  Freimut  und  geistreiche 
Lebendigkeit  sprachen  ihn  an.2)  —  Eines  Tages  erschien 
er  bei  einer  festlichen  Gelegenheit  im  Kreise  des  ver- 
sammelten großen  Hofstaates  und  sprach  mit  jedem  der 
Anwesenden  außerordentlich  freundlich  einige  Worte,  die 
indes  auch  jeden  ein  sehr  verdutztes  Gesicht  machen 
ließen.  Als  man  sich  nach  der  Feier  eifrig  fragte:  „ Was 
hat  der  Herzog  zu  Ihnen  gesagt?",  äußerte  der  Erster 
„ Wunderbar!  mir  sagte  er  höchst  liebenswürdig:  „Eins! 
zwei!  drei!*.  «Und  mir",  sagte  der  Nächste,  „rief  er 
höchst  herablassend  in's  Ohr:  „Vier!  fünf!  sechs  !"j  und 
so  hatte  der  Herzog,  statt  des  ebenso  wenig  sagenden 
Courgesprächs,  zählend  seinen  fürstlichen Cercle  gemacht.8} 
Goethe  teilt  1 808 4)  von  ihm  mit:  „Ich  habe  mich  nicht 
über  ihn  zu  beklagen;  aber  es  war  immer  ängstlich,  eine 
Einladung  zu  seiner  Tafel  anzunehmen,  weil  man  nicht 
voraussehen  konnte,  welchen  der  Ehrengäste  er  schonungs- 
los zu  behandeln  zufällig  geneigt  sein  möchte*.  Und  der 
Herzog  fragte  eines  Tages  die  aus  Weimar  gebürtige 
Malerin  Louise  Seidler:  „Was  macht  Euer  Kunstpapst?" 
Damit  meinte  er  Goethe5).  Auch  nannte  er  Goethe  einen 
„Pedanten  "6). 

*)  Louise  Seidler  1874  Seite  91.  —  Sonderbar  klingt  gegenüber 
diesem  „Lachen  ans  vollem  Halse"  Jacobs'  Versicherung  (VII  1840 
Seite  177):  „Sein  Geist  schien  immer  in  Bewegung.  Ich  habe  ihn 
nie  gähnen,  aber  auch  nie  von  Herzen  lachen  gesehnu.  —  a)  Reichard 
1877  Seite  382.  —  8)  von  Weber  I  1864  Seite  323.  —  4)  J.  W. 
von  Goethe  (1808)  27.  Teil  Seite  181  n.  695.  —  B)  Louise  Seidler 
1874  Seite  90.  —  6)  Beck  I  1868  Seite  448. 


—    624     — 

Des  Herzogs  weiches,  gefühlvolles  Herz  erfreute  gern 
andere;  er  war  von  so  wohltätiger  Sinnesart,  daß  ihm 
nichts  größere  Freude  bereiten  konnte,  als  Geschenke  zu 
geben,  worin  seine  Freigebigkeit  keine  Grenzen  kannte1); 
daß  die  Wahl  seiner  Geschenke  bisweilen  recht  un- 
zweckmäßig ausfiel,  so  wenn  er  einem  Küchenjungen  eine 
astronomische  Uhr  schenkte,  den  Frauen  kleiner  Beamten 
mit  Blumenguirlanden  gezierte  seidene  Schleppkleider  an- 
fertigen ließ9)  oder  aus  Dankbarkeit  kleine  Gegenstände, 
«inen  Fächer8),  Ringelchen  und  dergl.  fortgab,  die  für 
jeden  anderen,  als  einen  Liebhaber  wie  er  selbst, 
wertlose  Dinge  waren4),  kann  seiner  wohlwollenden  Ge- 
sinnung keinen  Abbruch  tun,  da  diese  Geschenke  für  ihn 
großen  Wert  besaßen  und  er  sich  dennoch  ihrer  ent- 
äußerte, und  konnte  auch  überdies  in  jedem  Falle  seinen 
ganz  besonderen  Grund  haben.  Diese  Freigebigkeit  war 
weit  entfernt,  eine  Schwäche  zu  sein,  da  der  Herzog  An- 
maßungen auch  seiner  Begünstigten  scharf  zurückzuweisen 
pflegte5).  Eine  ganz  besondere  Leidenschaft,  welche  viel- 
leicht seiner  Liebe  zu  Kindern  entsprang,  hatte  er  für 
das  Gevatterstehen :  er  bot  sich  selbst  als  Paten  an,  gleich- 
viel, ob  es  sich  um  das  Kind  einer  vornehmen  Familie 
oder  um  das  eines  Lakaien  handelte0).  Er  anerkannte  Ver- 
dienste jeder  Art,  ermunterte  Talente,  unterstützte  die  Armut 
aus  seinen  Handgeldern  und  begünstigte  überall  nicht  die 
Aristokratie  der  Geburt,  vielmehr  mit  sichtlicher  Vor- 
liebe die   des  Wissens,    des  Könnens  und  der  Bildung.7) 

Des  Herzogs  Schwächen  als  Mensch  bestanden  gegen- 
über   allen    diesen  Vorzügen  namentlich  in  grenzenloser 

*)  Beck  I  1868  Seite  446;  Louise  Seidler  1874  Seite  89.  — 
•)  Louise  Seidler  1874  Seite  89.  —  3)  Dem  Oberbibliothekar  Rat 
Viüpius-Weimar  nach  G.  bei  Hennings  1832  Seite  27 ;  von  Weber  I 
1864  Seite  323.  —  4)  von  Weber  I  1864  Seite  374.  —  •)  G.  bei 
Hennings  1832  Seite  27;  Beck  11868  Seite  446.  —  6)  Reichard  1877 
JSeitc  500.  —  7)  Hempel  1819  Seite  83. 


—     625 


Eitelkeit1),  Geneigtheit  zum  Zorn2),  Neigung  zur  Reizbar- 
keit8), Mangel  an  Geduld4),  völligem  Mangel  an  Ver- 
ständnis für  Geldsachen5)  und  daraus  hervorgehender 
Verschwendungssucht6).  Es  fehlte  ihm,  der  viele  seiner 
Günstlinge  verachtete,  an  einem  von  ihm  geprüften,  an- 
erkannten und  aufrichtigen  Freunde,  dessen  ernste  Vor- 
stellungen seinem  hellen  Verstände  eine  würdigere  Rich- 
tung gegeben  haben  würden;  Beweis  dafür  ist,  daß  er  in 
seinem  reiferen  Alter  manche  Auswüchse  aus  eigener 
Ueberlegung  beseitigte7). 

Lässiger  Bequemlichkeit  ergab  der  Herzog  sich  allzu- 
gern. Gegen  Abhärtungen  des  Leibes  besaß  er  starke 
Abneigung.  Ritterliche  und  militärische  Uebungen,  Reiten, 
Jagen,  Schießen  waren  ihm  zuwider8).  Die  einzige  Be- 
wegung, welche  ihm  behagte,  war  der  Tanz,  dem  er  sich 
mit  Anmut  und  Grazie  hingab;  um  die  Tanzlust  zu  för- 
dern, besuchte  er  auch  Tanzvereine  der  höhern  Stände 
seiner  Residenzstadt  Gotha9).  In  den  späteren  Jahren 
Jag  er  viel  zu  Bett  und  erhob  sich  erst  zur  Zeit  der 
Mittagstafel;  im  Bette  liegend,  mit  Ringen  geschmückt, 
empfing  er  Besuche,  auch  seinen  Ministerrat  und  die 
Gesandten,  hier  diktierte  er  seine 
Worte  gebrachten  Phantasieen10). 
Lebensweise  sich  zu  binden, 
Jtfatur11). 

Den  Herzog  beherrschte  eine  Prachtliebe,  die  er  nur 
schwer    zu   zügeln    vermochte.      Die   Einrichtung    seiner 


Briefe    und   seine    in 

An    eine    geregelte 

widerstrebte      seiner 


*)  Reichard  1877  Seite  485;  486;  491—492.  —  2)  G.  bei  Hennings 
1832  Seite  4.  —  3)  Beck  1  1868  Seite  447.  —  4)  G.  bei  Hennings 
1832  Seite  4.  —  5)  G.  bei  Hennings  1832  Seite  26;  Beck  I  1868 
Seite  447.—  6)  Louise  Seidler  1874  Seite  89—90.  —  7)  Reichard  1877 
Seite  485.  -  8)  Beck  I  1868  Seite  446—447.  —  9)  Eichstädt  1823 
Seite  21—22;  1849  Seite  54;  Galletti  V  1824  Seite  41—42;  Beck  I 
1868  Seite  447.  —  10)  Beck  I  1868  Seite  447;  Reichard  1877  Seite 
494.  —  ii)  Jacobs    VII   1840  Seite    177. 

Jahrbuch  V.  40 


—    626    — 

Gemächer1),  der  Glanz  des  Hofes8),  die  zahlreichen 
Stellen  seines  Hausstaais,  welche  er  neu  geschaffen  hat8), 
legen  dafür  Zeugnis  ab;  doch  wird  anerkannt,  daß  er 
begründeten  Vorstellungen,  wie  der  des  alten  Obergärtners 
Wehmeyer,  der  an  der  Ueberzahl  der  kostspielig  zu 
unterhaltenden  Kieswege  Anstoß  nahm,  obwohl  er  sich 
anfangs  solchen  gegenüber  ablehnend  verhielt,  in  der  Folge 
doch  sich  zugänglich  zeigte4);  dagegen  versagte  sich  der 
Herzog  ohne  Schwierigkeit  den  Aufwand  für  Reisen  in 
entfernte  Länder,  für  Jagden,  für  Theater,  für  Spiel  und 
für  kostspielige  Liebschaften  mit  Frauen0). 

Herzog  August  gehörte  der  lutherischen  Kirche  anr 
doch  zeigte  er  eine  ausgesprochene  Vorliebe  für  [den 
römisch-katholischen  Kultus,  „vielleicht  nur,  weil  ihm 
dieser  die  Farben  darbot,  deren  er  zu  seinen  Gemälden 
bedurfte"6);  er  trat  aber  nicht,  wie  sein  unglücklicher 
Bruder  und  Nachfolger  Friedrich,  zur  katholischen  Kirche 
über,  nahm  vielmehr  wie  sonst  alljährlich  auch  auf  seinem 
Sterbebette  das  Abendmahl  nach  lutherischem  ^Ritus7), 
Lebhaftes  Interesse  gab  er  auch  für  die  (indischen 
Religionslehren  kund8). 

Seine  politische  Auffassung  war  der  der  Mehrzahl 
seiner  deutschen  Zeitgenossen  entgegengesetzt;  er  verehrte 
schwärmerisch  Napoleon;    der  Umschwung    der  Verhält- 

')  Beck  I  1868  Seite  442— 444;  Louise  Seidler  1874  Seite  98 
bis  94.  Beschreibung  des  Fliederzimmers  bei  Appun  X 1900.  — 
2)  Reichard  1877  Seite  492.  —  8)  Galletti  V  1824  Seite  42.  — 
4)  Reichard  1877  Seite  484.  —  *)  Galletti  V  1824  Seite  46— 47/J— - 
6)  Jacobs  VII 1840  Seite  177.  —  7)  Beck  1 1868  Seite  447—448.  Nach: 
Reichard  1877  Seite  505  verlangte  er  das  Abendmahl  von  dem. 
greisen  Oberbofprediger  Schäffer,  der  als  Kanzelredner  den  auf  iha 
gesetzten  Hoffnungen  nicht  entsprochen  hatte,  nur  um  ihn  nicht  zu 
kränken,  mit  der  Begründung:  „Ich  schätze  den  Mann,  denn  er 
glaubt,  was  er  lehrt."  —  8)  Louise  Seidler  1874  Seite  160;. 
186-187. 


627 


nisse  im  Jahre  1813,  dem  er  sich  klug  unterwarf,  berührte 
ihn  nicht  angenehm1). 

Dem  Herzog  August  war  ein  so  hochgradiger 
Sammeltrieb  eigen?  daß  er  sein  eigenes  und  ein  geerbtes 
enormes  Vermögen  durch  Ankauf  von  Raritäten  aller  Art 
verschwendete3);  der  Sammelgeist  d  er  säch  s  i  sc  h  en  F  ürs  t e  n 
war  auf  ihn  Übergegangen;  seine  Wohnräume  und  sein 
Schlafzimmer  bargen  reiche  Galerieen  von  Seltenheiten 
und  Merkwürdigkeiten  aus  allen  Gebieten  der  Natur,  der 
Kunst  und  der  Literatur  bunt  durcheinander;  so  kam 
unter  anderem  die  Seetzen*sche  (asiatische)  Sammlung  und 
das  auch  jetzt  noch  bedeutende  chinesische  Kabinett  des 
Herzogs  zu  Stande3).  Wenn  Alex,  von  Stern berg  sagt: 
Herzog  August  war  in  China  mehr  zu  Hause  als  auf  dem 
Friedensteine 4\  so  ist  das  indes  wohl  nur  eine  von  den 
vielen  in  Bezug  auf  diesen  Herzog  beliebten  Übertreib- 
ungen. 

Die  Beschäftigung  mit  Kunst  und  Wissenschaft,  die 
Unterhaltung  mit  durch  Kenntnisse,  Genie  oder  Bildung 
ausgezeichneten  Männern  und  literarisch  gebildeten  geist- 
reichen Frauen  zog  Herzog  August  den  gewöhnlichen 
Hof  Versammlungen  vor5).  Er  selbst  war  mannigfach  be- 
gabt. Er  hatte  nicht  griechisch  gelernt,  wahrend  sein 
Vater  den  Homer  in  der  Ursprache  lesen  konnte,  und 
auch  von  den  neueren  Sprachen  beherrschte  er  nur  die 
französische  gut  und  sprach  sie  gern ;  erst  nach  und 
nach  wurden  auch  seine  wissenschaftlichen  Neigungen 
ernster6);  der  Grundzug  seines  Wesens  war  eben  ein 
künstlerischer.  Der  Witter'schen  S  ch  au  spiel  er  ges  ellschaft 
räumte   er  mehrere  Jahre  hindurch    sein  Hoftheater   ein, 


')  Beck  11868  S.  447.  —  *)  Louise  Seidler  1874  Seite  89,  — 
■)  Reichard  1877  Seite  496—499.  —  *}  nach  Beck  1  1868  Seite  445;  wo 
v.  Steraberg-  dieaen  Anspruch  getan,  ist  mir  verborgen  geblieben; 
Beck  gibt  es  nicht  an.  —  "*)  Galletti  V  1824  Seite  41.  — a)  Jacobs 
VI  1837  (1828)  Seite  484;  Reichard  1877  Seite  493—494. 

40* 


—    628    — 

erteilte  aber  hernach  der  Feuersgefahr  wegen  die  Er- 
laubnis nicht  mehr1).  Viel  beschäftigte  ihn  das  Zeichnen; 
er  war  Meister  im  Entwerfen  und  Ausführen  besonders 
landschaftlicher  Gegenstände  durch  flüchtige  Federzeich- 
nung2). Kunstwerke  der  Architektur  auszusinnen,  war 
eine  seiner  liebsten  Beschäftigungen;  nach  seinen  Angaben 
entwarf  ein  talentvoller  gothaischer  Architekt  viele  Risse 
von  Bauwerken,  in  denen  sich  die  reiche  Phantasie  oder 
der  richtige  Geschmack  ihres  Erfinders  zeigt.  Während 
er  diktierte,  zeichnete  er  oft  mit  der  Feder  oder  dem  Bleistift, 
um  durch  reiche,  sinnvoll  angelegte  Landschaften,  meist 
Inseln,  seine  Besitzungen,  wie  er  scherzte,  zu  vermehren ; 
auch  gelangen  ihm  Karikaturzeichnungen  gut9);  in  den 
Federzeichnungen  kleiner  Landschaften  gelang  ihm  be- 
sonders der  Baumschlag4).  Der  Kandelaber  auf  der 
Höhe  von  Altenbergen  wurde  1811  nach  dem  Entwürfe 
des  Herzogs  August  errichtet5);  mit  der  Ausführung 
seiner  Ideen  konnte  er  den  Maler  Joseph  Grassi6)  vollauf 
beschäftigen.  Nicht  minder  lebhaftes  Interesse  wandte 
er  der  Tonkunst  zu,  wenn  auch  zu  tieferem  Eindringen 
und  beharrlichem  Fleiße  seine  Natur  nicht  neigte.  Mit 
Hülfe  seines  Kapellmeisters  Louis  Spohr  und  nach  dessen 
Fortgang  Andreas  Romberg's  setzte  der  Herzog  selbst 
Lieder  und  Sonaten  auf7).  Einige  seiner  Gedichte  wurden 
durch  Kompositionen    von  Himmel   und  Carl  Maria  von 


»)  Galetti  V  1824  Seite  41.  —  a)  G.  bei  Hennings  1832 
Seite  15  nota*).  —  8)  Jacobs  1822  Seite  502;  nach  diesem  von 
Lupin  auf  IUerfeld  1826  Seite  74;  Beck  I  1868  Seite  443.  — 
4)  Reichard  1877  Seite  493  und  494.  —  6)  Appun  1900.  — 
e)  Ueber  den  Maler  Professor  Joseph  Grassi  1756—1838,  gebürtig 
aus  üdine,  handeln  Galletti  V  1824  Seite  40;  v.  Sternberg  1857 
Seite  94;  Beck  I  1868  Seite  445;  Louise  Seidler  1874  Seite  249. 
—  i)  Jacobs  1822  Seite  502;  VI  1837(1823)  Seite  465—466;  Galletti 
V  1824;  von  Lupin  1826  Seite  74;  von  Weber  I  1864  Seite  321; 
326;  373— 374;  381;  Beck  1 1868  Seite  440;  442;  Reichard  1877  Seite 
494-495. 


—    629    — 

Weber  dem  weiteren  Publikum  bekannt7).  Den  größten 
Teil  seinerzeit  aber  nahmen  sein  ausgedehnter  Briefwechsel 
und  seine  phautasiereiche  schriftstellerische  Tätigkeit  in 
Anspruch;  lebte  er  doch  in  seiner  Phantasie  wie  in  der 
Wirklichkeit;  besaß  er  doch  eine  di  vi  notorische  Kraft  oder 
glaubte  wenigstens  an  eine  solche  in  sich  und  überredete 
sieb  gern,  daß  auch  seine  Träume  der  Abdruck  des 
Wirklichen  wären-).  Bei  seiner  Schriftstellerei  kam  ihm 
sein  phänomenales  Gedächtnis  zu  Statten3),  Seine  Schrift^ 
stellerei  selbst  aber,  ebenso  des  Herzogs  ausgesprochene 
Weiblichkeit  erheischen  an  dieser  Stelle  je  ein  besonderes 
Kapitel, 

Diese  allgemeine  Schilderung  des  Wesens  des  Herzogs 
August  beschließt  wohl  am  besten  eine  auf  manchen  seiner 
Porträts  in  Kupferstichen  befindliche  recht  passende  Unter- 
schrift : 

„Beschützer  des  Rechts,  von  den  Musen  geliebt  und 
der  Grazien  Zögling*'*). 


Des  Herzogs  Weiblichkeit 

Alle  Nachrichten  über  den  Herzog  August  stimmen  in 
einem  Punkte,  der  für  die  Beurteilung  seiner  Geschleehts- 
natur  von  wesentlicher  Bedeutung  ist,  überein:  „Daß 
ungeachtet  des  hohen  Wuchses  und  der  regelmäßigen 
schönen  Formen  seines  Körpers  eine  fast  weibliche  Weich- 
heit bemerkt  werden  konnte"5)  .  .  ,  .  „Schlank  und  von 
hohem  Wüchse,  hätte  er  ini  Bau  der  Brust,  der  Hüften 
und  Arme  ein  schönes  Modell  des  Bacchus  gegeben,  die 
Umrisse  seiner  Glieder  waren  leicht  und  fließend;  Hände 
und    Füße  vorzüglich    schön;    die  Haltung    des    Körpers 


*)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  4Ö5;  Beck  1  1868  Seite  440. 
—  a)  Jacobe  1822  Seite  502.  —  5)  Derselbe  1822  Seite  502.  — 
*)  Appun  IdOO,  —  a)  Beck  J  2868  Seite  m 


—    630    — 

zum  weiblichen  hingeneigt*3)  ....  „Obgleich  sich  sein 
Teint  und  die  Bildung  seines  Körpers  zur  weiblichen 
Natur  neigte,  konnte  er,  bei  seinem  hohen  Wuchs  im 
richtigsten  Ebenmaaße,  für  einen  schönen  Mann  gelten  **). 
Lassen  wir  von  den  Personen,  welche  auf  Grund 
engerer  persönlicher  Berührung  mit  Aemil  August  wirklich 
Beobachtetes  über  ihn  berichten  konnten,  zuerst  die 
Frauen  zu  Worte  kommen,  so  haben  die  Malerin  Louise 
Seidler  und  die  Hofdame  Katharina  Bueil  (spätere  von 
Bechtolsheim)  ihn  schon  kennen  gelernt,  als  er  noch  Erb- 
prinz war.  Die  Seidler,  eine  Weimarerin,  teilt  mit,  daß 
der  „phantastische  Erbprinz"  im  Hause  ihrer  Tante  Et- 
tinger  in  Gotha  verkehrte  und  auch  nicht  fortblieb,  als 
er  den  Thron  bestiegen8),  daß  er  nach  einem  Hofballe  seine 
sämtlichen  Tänzerinnen  mit  Pariser  Blumen  fürstlich  be- 
schenkte4); seine  zweite  Gemahlin  habe  ihn,  dessen  Geist 
sie  anstaunte,  schwärmerisch  geliebt5);  und  sie  schildert 
den  Herzog  mit  folgenden  Worten:  „Dieses  größte  Ori- 
ginal seinerZeit  war  schön  von  Gestalt;  seine  Erscheinung 
hatte  etwas  Damenhaftes,  besonders  wohlgeformt  waren 
seine  sorgfältig  gepflegten  Hände  und  seine  Füße.  Auch 
der  Kopf  wäre  schön  gewesen,  hätte  ihn  nicht  ein  schie- 
lendes Auge  verunstaltet.  Barock  in  Allem,  was  er  that, 
liebte  er  es,  bisweilen  mit  einem  türkischen  Shawl  drapirt 
oder  in  noch  phantastischeren  Costümen  zu  erscheinen. 
Gewöhnlich  trug  er  eine  ä  la  Titus  gelockte  Perücke 
vom  zartesten  Blond,  die  in  Paris  verfertigt  war.  Der 
Herzogliche  Bibliothekar  und  Sekretär,  mein  guter  Onkel 
Jacobs,  berühmt  als  gelehrter  Philolog,  mußte  zu  seinem 
größten  Kummer  sehr  oft  wegen  dieser  Perücke  mit 
pariser  Friseuren    correspondiren.     Des   Herzogs   Finger 

—  die  Daumen  ungerechnet  —   strotzten    von  kostbaren 

*)  Jacobs  1822  Seite  497;   wörtlich   aufgenommen   von  Lnpin 
auf  IUerfeld  1826   Seite  70.  —  a)  G.   bei  Hennings   1832   Seite  8. 

—  8)  Louise   Seidler   1874   Seite    32.  —  *)  Dieselbe   Seite   33.  — 
*)  Dieselbe  Seite  86. 


=j 


Aemil  August  als  Erbprinz 

(nach  einem  Oelgemälde  von  Jos.  Grassi). 


—    632    — 

Bingen,  die  Arme  von  Spangen  und  Armbändern.  Oft, 
wenn  er  sich  einbildete,  krank  zu  sein,  blieb  er  Wochen 
lang  im  Bette  liegen.  Dort  ertheilte  er  Audienzen  und 
empfing  seine  Damen.  Als  ich  mit  meiner  Tante  mich 
einst  nach  seinem  Befinden  erkundigte,  nahm  er  auch 
unsern  Besuch  in  seinem  Bette  liegend  an.  Während  des 
Gespräches  streifte  er  den  Aermel  seines  weiten  weißen 
Nachtgewandes  kokett  bis  an  die  Schulter  zurück  und 
zeigte  uns  den  mit  einer  ganzen  Reihe  der  prachtvollsten 
Armbänder  geschmückten  Arm.  Den  Kopf  bedeckte  eine 
Art  Haube,  mit  kostbaren  Spitzen  garnirt.  Großen  Werth 
legte  er  auf  die  Toilette  der  Frauen,  welche  er  mit 
Kennerblick  musterte;  mit  seinen  Bemerkungen  darüber 
hielt  er  nicht  zurück;  „das  ist  ja  ein  wahres  Pfauenkleid", 
sagte  er,  als  ich  einst  in  einem  Gewände  von  buntem 
Seidenstoff  erschien;  bei  einer  anderen  Gelegenheit  rief 
er  aus:  „ Welch  ein  schöner,  feiner  Sammt!"  und  strich 
mit  der  Hand  über  meinen  Rock.  Parfüms  aus  Paris 
verbrauchte  er  in  Menge;  ein  besonderes  Vergnügen  fand 
er  darin,  Eintretenden  ganze  Gläser  davon  entgegen  zu 
schütten/1)  „Uebertrieben  eitel,  wie  Herzog  August  war, 
hatte  er  die  Eigenheit,  sich  von  allen  Malern,  die  nach 
Gotha  kamen,  portraitiren  zu  lassen,  um  zu  sehen,  wie 
jeder  ihn  auffasse.  Ich  hatte  ihn  zu  malen  in  einem 
violetten  Sammetrock  und  einer  Weste  von  Goldstoff. 
Von  dieser  Weste  erbat  ich  mir  eine  kleine  Probe,  um 
den  Stoff  richtig  nachzuahmen.  „Nein!*,  sagte  er,  „keine 
Probe,  sondern  ein  ganzes  Stück  von  der  Goldtresse 
sollen  Sie  haben."  Wollte  Jemand  seine  Freigebigkeit 
abwehren,  so  verdoppelte  er  sie;  ich  weiß  dies  aus  eigener 
Erfahrung.  Bisweilen  genoß  ich  den  Vorzug,  mit  ihm 
und  seinem  Kammerherrn  allein  zu  speisen;  nach  der 
Tafel  ging  der  Herzog  auf  und  nieder  und  ließ  sich  von 


')  Louise  Seidler  1874  Seite  88—89. 


—    633    — 

mir  erzählen  oder  er  that  in  seiner  originellen  Art  allerlei 
Fragen."1)  Das  von  der  Seidler  entworfene  Bild  des 
Herzogs  vervollständigt  der  folgende  Zug:  „Excellenz 
von  Thtimmel,  der  vormalige  Minister,  war  ein  schöner, 
origineller,  geistreicher  Mann,  von  dem  die  geheime  Ge- 
schichte berichtet,  daß  er  sich  die  Gunst  der  damaligen 
Erbprinzessin  von  Gotha,  gebornen  Prinzeß  von  Mecklen- 
burg, erworben,  deren  weibischer  Gemahl  —  der  wunder- 
liche Herzog  August  —  dem  Lande  keinen  Erben  ver- 
hieß.u2)  .  .  Katharina  Freifrau  von  Bechtolsheim,  geborene 
Gräfin  Bueil,  etwa  15  Jahre  jünger  als  der  Herzog 
August  und  Hofdame  seiner  zweiten  Gemahlin,  äußert 
sich  über  diesen  also:  „An  einem  der  Tage,  die  Frau 
von  Stael  bei  uns  zubrachte,  wobei  sie  von  Benjamin 
Consta nt  begleitet  wurde,  kam  auch  Herzog  August 
von  Gotha,  um  ihre  Bekanntschaft  zu  machen,  noch  ehe 
sie  an  seinem  Hofe  erschien.  Was  soll  ich  von  diesem 
seltsamen  Manne  sagen,  der,  von  Phantasie,  Witz  und 
Geistesfülle  strotzend,  der  verkehrteste  Kopf  war,  den 
ich  je  gesehen?  —  Von  meinen  Kinderjahren  an  von 
ihm  mit  zuvorkommender  Güte  überhäuft  und  bald  nach 
jener  Zeit,  hauptsächlich  durch  ihn,  zur  Hofdame  seiner 
Frau  erwählt,  begegnete  er  mir  von  Neuem  auf  das 
Freundlichste.  Gern  las  er  mir  und  noch  einigen  Damen 
seine  Gedichte  und  Romanzen  vor.  Trotz  aller  Güte  und 
Zuvorkommenheit,  die  er  mir  beständig  und  bei  jeder 
Gelegenheit    bewies,    konnte    ich    ihm  jedoch  nicht  nur 


l)  Louise  Seidler  1874  S.  90.  —  2)  Dieselbe  S.  161.  Und  S.  86—87 
sagt  die  Seidler  mit  Bezug  auf  die  einzige  Tochter  des  Herzogs, 
Louise:  „Auch  die  sarkastische  Art  des  Herzogs  hatte  sicherlich 
keine  gute  Wirkung  auf  das  junge,  leicht  empfängliche  Gemüth: 
einmal  hörte  ich  selber  bei  einem  Souper  im  engeren  Kreise  des 
Hofes,  zu  welchem  ich  mit  meinen  Tanten  eingeladen  war  (die 
Herzogin  war  nicht  anwesend),  was  für  unpassende  Neckereien  der 
Vater  sich  gegen  seine  Tochter  erlaubte."  Leider  verschweigt  die 
Seidler,  welcher  Art  diese  Neckereien  waren. 


—    634     — 

keinen  Geschmack  abgewinnen,  sondern  fühlte  mich  sogar 
im  grellsten  Gegensatz  zu  seinem  ganzen  Wesen  und 
seinen  phantastischen  Anschauungen.  Wie  auf  glühenden 
Kohlen  befand  ich  mich,  wenn  er  mir  dieselben  im  Feuer 
der  Bede  auseinandersetzte,  fast  noch  mehr  als  da  er  sie 
vorlas.  Ich  konnte  in  meinem  damaligen  Alter  viel 
weniger  als  späterhin  verbergen,  was  ich  dachte  und 
fühlte,  begreife  daher  nicht,  daß  ich  ihm  nicht  bald 
ebenso  unerträglich  wurde,  als  er  es  mir  gewesen.  Ob 
ihn  davon  bisweilen  etwas  anwandelte,  weiß  ich  nioht, 
jedenfalls  konnte  ich  es  nicht  bemerken;  sehr  wunderte 
ich  mich,  als  er  sich  einstmals  mit  einer  geistvollen 
jungen  Person,  der  Tochter  des  Dichters  Gott  er  und 
Schwester  der  Frau  von  Schelling,  verabredete,  mich 
in  einem  Sonett  zu  besingen,  das  sie  mir,  zugleich  mit 
dem  ihrigen,  zeigte.  —  Herzog  August  traf  mit  Frau  von 
Stael  bei  uns  gerade  an  einem  Tage  zusammen,  an  dem 
sein  phantastischer  Kopf  übersprudelte;  die  beiden  konnten 
über  keinen  Gegenstand  einig  werden.  Ohne  eigentlich 
interessant  zu  sein,  war  das  Gespräch  in  seiner  Art 
merkwürdig,  ich  fand  es  sogar  ermüdend  und  wünschte 
ihn  in  meinem  Herzen  weit  hinweg,  worin  mir  aber  nicht 
gewillfahrt  wurde,  und  es  dauerte  übermäßig  lange,  bis 
er  uns  verließ."1) 

Während  das  Ueberweibliche  im  Herzog  August 
auf  beide  Frauen  unsympathisch  wirkte,  fällt  das  Urteil 
der  Männer  mehr  ungleich  aus. 

Goethe  schrieb  von  ihm  im  Jahre  1808:  „Des  re- 
gierenden Herzogs  August  von  Gotha  darf  ich  nicht 
vergessen,    der    sich    als    problematisch  darzustellen  und 

*)  von  Becbtolsheim  1902  Seite  103—105.  Katharina  von 
Bechtolsheim,  damals  noch  Gräfin  Bueil,  lebte  bei  ihrem  Pflegevater, 
dem  französischen  Enzyklopädisten  und  Literaten  Friedrich  Melchior 
Baron  von  Grimm;  der  oben  geschilderte  Besuch  der  Madame  de 
Stael  fällt  in   das  Jahr  1804. 


—    635    — 

unter  einer  gewissen  weichlichen  Form  angenehm  und 
widerwärtig  zu  sein  beliebte"  .  .  .*) 

Der  Philologe  Friedrich  Jacobs,  dem  der  Herzog 
August  von  1810  ab  viel  in  die  Feder  zu  diktieren  pflegte, 
legt  die  weibliche  Natur  desselben  in  folgender  Schilderung 
fest:  „Der  Bau  seines  Körpers  war  ausgezeichnet  zu 
nennen,  sowohl  wegen  seiner  Größe,  als  wegen  seiner 
Regelmäßigkeit.  Die  starke  Rundung  seiner  Hüften  gab 
ihm  einen  weiblichen  Character,  dem  auch  die  Weichheit 
seiner  Muskeln  und  die  Weiße  seiner  Farbe  entsprach. 
Diesen  äußerlichen  Eigenschaften  waren  auch  seine  Nei- 
gungen analog,  die  mehr  den  Stempel  des  Weiblichen  als 
des  Männlichen  trugen,  seine  Liebe  zum  Putze  und,  in 
Jüngern  Jahren,  zu  phantastischer  Bekleidung  und  zum 
Gebrauche  kosmetischer  Mittel.  Auch  Anderes  hing  durch 
geistige  Fäden  mit  dieser  Anomalie  zusammen;  vorzüglich 
eine  gewisse  divinatorische  Kraft,  die  ihn  auch  das  wahr- 
nehmen ließ,  was  in  einer  Ferne  geschah,  zu  der  seine 
sehr  kurze  Sehkraft  nicht  reichte.  Das  Innere  Anderer 
errieth  er  leicht."2) 

Der  Komponist  Carl  Maria  von  Weber  hat  eine 
Schilderung  des  ihm  befreundet  gewesenen  Herzogs  ge- 
geben, welche  die  Haupteigenschaften  desselben,  seine 
Weiblichkeit  und  sein  weiches  Empfinden  mit  seiner 
Spottlust  in  sinnlich-harmonischer  Verschmelzung  veran- 
schaulicht:    „Seine    Erscheinung     hat    Etwas    ungemein 

')  Johann  Wolfgang  von  Goethe  1808  Seite  181  n.  695.  —  Der 
Herausgeber  der  angezogenen  Ausgabe  setzt  Seite  454  zu  n.  695 
hinzu:  „Herzog  August  von  Gotha  war  problematisch  bis 
zum  entschiedenen  Sonderling,  und  in  seiner  weichlichen  Form 
ging  er  so  weit,  daß  er  bei  öffentlichen  Veranlassungen  in  Frauen- 
kleidern erschien.  Ueber  das  Zusammentreffen  mit  ihm  1808  in 
Karlsbad  spricht  G.  ähnlich  wie  hier  sich  im  Brief  an  Frau  v.  Eyben- 
berg  vom  12.  August  aus,  desgleichen  in  ungedruckten  Briefen  an 
Silvie  v.  Ziegesar   vom  3.  und  5.  desselben  Monats." 

2)  Jacobs  VII  1840  Seite  177. 


—    636    — 

Edles  und,  trotz  seiner  hohen  Statur,  Weiches,  fast  Weib- 
liches, woher  auch  seine  Liebhaberei  für  weibliche  Putz- 
stücke rührte.  Das  Obergesicht  mit  der  runden,  fast 
Schiller'schen  Stirn,  der  feingeschnittenen,  krummen  Nase, 
den  schönen,  tiefen  Augen  bewohnte  der  Ausdruck  fast 
lieblich  zu  nennender  geistvoller  Freundlichkeit,  während 
das  Ganze  durch  die  faunisch  emporgezogenen  Winkel 
des  sinnlich  geformten  Mundes  mit  etwas  vorgeschobener 
Unterlippe  einen  Beigeschmack  von  Satyrhaftem  erhielt, 
der  indeß  der  Interessantheit  der  Erscheinung  keinen 
Abbruch  that."  .  .  .  -1)  Ueber  des  Herzogs  Gefallen  an 
weiblichem  Putz  heißt  es  bei  von  Weber:  .  .  .  „Ein 
andermal  erschien  er  mit  einem  Frauenrocke  zum  Galla- 
ahzuge  oder  in  römischem  Costüm  mit  Toga,  rothen 
Corduan-Schnürstiefeln  und  einem  Kranz  im  Haar  oder 
mit  einem  Frauenschleier  auf  dem  Hute,  ein  drittes  Mal 
überreichte  er  Vulpius  für  eine  Hofdienstleistung  zur 
Belohnung  einen  —  Fächer,  den  die  Gräfin  Cosel  getragen 
hatte  u.  s.  w.,  ohne  daß  er  sich  indeß  solche  Scherze  je- 
mals in  Staatsgeschäften  erlaubt  hätte.  Fast  täglich  er- 
schien er  mit  anders  gefärbtem  Haar,  sodaß  ihn  sehr  oft 
seine  eigenen  Diener  nicht  kannten/2)  „Ein  Freund  des 
heitern  Glanzes,  der  vornehmen  Form  und  feinen  Sitte, 
wachte  er  streng  darüber,  daß  in  den  Ton  des  Hofes 
kein  Anklang  von  der  militärischen  und  jagdmäßigen 
Derbheit  kam,  die  damals  an  vielen  kleinen  Höfen,  in 
Nachahmung  des  Napoleonischen  Soldatenhofes  zu  Paris, 
an  die  Stelle  der  gedrechselten  Haarbeutelformen  trat, 
mit  denen  man  sich  fünfzig  Jahre  lang  gegenseitig  ge- 
quält hatte/3) 

Die  Eigentümlichkeiten,  welche  den  Herzog  August 
als  Sonderling  erscheinen  ließen,  glaubte  der  gothaische 
Geheime  Kriegsrat  H.  A.  O.  Reichard  unparteiischer  als 

l)  von  Weber  I  1864  Seite  323—324.  —  2)   von  Weber  I  1864 
Seite  323.  —  3)  von  Weber  I  1864  Seite  324. 


■"1 


—    637    — 

irgend  ein  anderer  würdigen  zu  können;  da  er  weder 
über  des  Herzogs  Ungnade  zu  klagen,  noch  ausgezeichneter 
Gnadenbezeugungen  von  ihm  sich  zu  rühmen  hatte,  so 
konnte  er  sich  mitten  zwischen  Lob  und  Tadel  stellen. 
Er  macht  sich  daher  nicht  ganz  die  schiefe  Auffassung 
L.  A.  Böttiger's  zu  eigen,  der  in  einem  Briefe  an  Reichard 
vom  25.  Mai  1822  den  ihm  persönlich  bekannten  Herzog 
„aus  Eitelkeit  Weichling,  aus  Witzsucht  Sonderling, 
übrigens  den  edelsten  Menschen,  und  dabei  sehr  klug" 
genannt  hatte.1)  Freilich  führt  auch  er  den  weibischen 
Zug  in  des  Herzogs  Wesen,  seinen  Anschluß  an  einige 
Damen  in  den  ersten  Jahren  seiner  Regierung  und  seinen 
Umgang  mit  „schönen  Mannspersonen"  auf  seine 
„grenzenlose  Eitelkeit"  zurück;  diese  wiederum  erklärt 
er  als  durch  falsche  Erziehung  ursprünglich  geweckt  und 
durch  Schmeicheleien  mancher  Speichellecker  in  seiner 
Umgebung  genährt.2)  Als  eine  Kundgebung  seiner 
Eitelkeit  faßt  er  auch  des  Herzogs  Vergnügen  auf,  sich 
derart  oft  malen  zu  lassen,  daß  überhaupt  nur  wenige 
Maler  nach  Gotha  gekommen  wären,  die  ihn  nicht  gemalt 
hätten;  bald  ließ  er  sich  als  Apollo,  bald  als  Raphael, 
bald  in  einer  andern  Maske  malen;  als  das  dem  Herzoge 
ähnlichste  Bild  erklärt  er  das  Bild  von  Grassi,  welches 
den  Herzog  im  Momente  des  Diktierens  darstellt  und, 
durch  Steinla  in  Kupfer  gestochen,  dem  12.  Bande  von 
Hennings7  Deutschem  Ehrentempel, Gotha  1832,  beigegeben 
ist8) ;  mit  der  Eitelkeit  bringt  Reichard  die  üppige  Pracht- 
entfaltung des  Hofes,  welche  in  Gotha  seit  den  Tagen 
der  geistreichen  Louise  Dorothea  nie  so  glänzend  ge- 
wesen, wie  unter  dem  Herzog  August,  in  Zusammenhang, 
nach  dessen  Tode  wich  das  Gewühl  schöner  gestickter 
Uniformen,  das  Rauschen  prächtiger   seidener  Gewänder, 

*)  Reichard  1877  Seite  482.  —  a)  Derselbe  1877  Seite  485.  — 
8)  Derselbe  1877  Seite  485.  Eine  verkleinerte,  aber  getreue  Wiedergabe 
dieses  Bildes  findet  der  Leser  auf  Seite  639  dieser  Arbeit. 


—    638    — 

das  Gedränge  von  Lakaien  und  der  strahlende  Schimmer 
der  Kerzen  plötzlich  einer  unheimlich-gespensterhaften 
Oede  in  dem  leeren,  unermeßlichen  Gebäude  des  Frieden- 
steins1); die  Eitelkeit  veranlaßte  auch  den  Herzog,  sich 
mit  Orden  zu  schmücken,  deren  er  elf  bei  seinem  Tode 
besaß;  gewöhnlich  trug  er  eine  große  Schnalle  eigener 
Erfindung,  einen  ovalen  Goldreif  mit  acht  verkleinerten 
Ordenskreuzen2).  In  seiner  Prachtliebe  nicht  weniger 
als  in  der  freigebigen  Fordernis  aller  Künste  und  Wissen- 
schaften findet  ihn  Reichard  Lorenzo  von  Medici,  dem 
Prächtigen,  vergleichbar8);  allein  an  Ringen  fand  man 
bei  seinem  Tode  hunderte;  sie  waren  oft  von  einer  sehr 
geistreich  ersonn  enen  Fassung  und  Form,  welche  der 
Herzog  selbst  angegeben.  „Er  hatte  dazu  einen  jungen 
Künstler  namens  Rosenberg  angeleitet,  der,  ohne  im 
Auslande  einen  langen  Aufepthalt  genommen  zu  haben, 
doch  mit  den  Künstlern  von  London  und  Paris  wett- 
eifern konnte;  er  starb  kurze  Zeit  vor  seinem  fürstlichen 
Herrn.*4)  Als  einen  besondern  Zug  des  Herzogs  führt 
Reichard  an,  daß  er  in  Gegenwart  von  Damen  es 
manchmal  liebte,  „schmutziger,  unanständiger  Ausdrücke* 
sich  zu  bedienen;  als  einmal  eine  nicht  gerade  vornehme 
Dame  durch  solche  Ausdrücke  veranlaßt  mit  den  Worten 
aufstand:  „Ich  merke,  Ew.  Durchlaucht  wünschen,  daß 
wir  uns  entfernen  sollen*,  brachte  ihn  dieser  Freimut 
sogleich  zum  Schweigen  —  ein  Beleg,  wie  er  feine 
Zurechtweisungen  nicht  übel  nahm6).  Was  Reichard  über 
den  Verbrauch  des  Herzogs  an  Pomaden  u.  dergl.  und 
von  seiner  Günstlingswirtschaft  mitteilt,  sei  hier  wörtlich 
wiedergegeben:  „Leider  hatte  man  dem  Herzog  August 
weder  in  seiner  Jugend,  noch  selbst  später  Geld  in  die 
Hände   gegeben  oder  ihn  auch  nur  mit  dem  Geldwerthe 

*)  Reichard  1877  Seite  492—493.  —  9)  Derselbe  1877  Seite  493. 
—  8)  Derselbe  1877  Seite  485;  491;  493.  —  *)  Derselbe  1877  Seite 
491.  —  6)  Derselbe  1877  Seite  503. 


Aus 


August, 

Herzog  zu  Sächsen-Gotha  und  Altenburg. 
„Deutscher  Ehren-Tempel",  Zwölfter  Band,  Gotha  1832. 
J.  v.  Grassi  gem.    M.  Steinla  gest. 


—    640    — 

vertraut  gemacht;  der  Fürst,  der  Tausende  wegschenkte, 
wäre  nicht  im  Stande  gewesen,  einen  Thaler  nach  Groseben 
und  Pfennigen  zu  zählen.  Es  ging  ihm,  wie  dem  Spieler, 
der  mit  Marken  spielt  und  diese  zu  ganzen  Händen  voll 
auf  die  Karte  setzt,  während  er  mit  wirklichem  Golde 
oder  Silber  sich  weit  anders  bedenken  würde.  Weil  es 
ihm  immerfort  an  baarem  Gelde  gebrach,  so  war  er  in 
Waaren  über  Gebühr  freigebig,  denn  diese  konnte  er  zu 
hohen  Preisen  und  Procenten  stets  auf  Wechsel  erhalten; 
da  jedoch  zuletzt  deren  Zahlung  nach  zwanzig-  und 
mehrjährigen  Fristen  angesetzt  war,  so  kosteten  dem 
Fürsten  die  Artikel,  welche  er  verschenkte,  das  Zehn- 
*ind  Zwanzigfache  ihres  wahren  Werthes.  Beispielsweise 
fand  man  gelegentlich  der  Inventur  in  einem  Zimmer 
Oele,  gebrannte  Wasser,  Eaux  de  senteur,  Pomaden, 
Schminken,  Obstweine  und  ähnliche  Dinge  immer  zu 
zwölf  Dutzenden;  nach  den  Rechnungen  hatte  das  alles 
nicht  weniger  als  vierzigtausend  Thaler  gekostet,  war  aber 
nun  keine  viertausend  werth,  denn  der  Fürst  hatte  das 
Depot  vergessen  und  vieles  war  verdorben.  Die  Bestände 
wurden  nachher  verkauft  und  mehrere  tausend  Thaler 
-daraus  gelöst. 

„Der  Herzog  äußerte  in  meiner  Gegenwart  einmal 
bitter:  mit  allen  seinen  Wohlthaten  schaffe  er  sich  doch 
nur  Undankbare.  In  der  That  wurden  seine  Geschenke 
häufig  ganz  ungescheut  von  den  Beschenkten  mit  25 
x)der  30  Procent  ihres  Werthes  an  den  Dritten  wieder 
versilbert,  worin  namentlich  Palmer1)  Starkes  leistete. 
Daß  die  geschenkten  Waaren  von  den  Empfängern  um- 
getauscht wurden,  war  das  Gewöhnliche;  so  z.  B.  hatte 
^er  in  Leipzig  für  einige  hundert  Dukaten  echtes  Rosenöl 
gekauft    und    unter    verschiedene    Personen    aus    seiner 

*)  Ueber  Palmer,  den  „Regierungs-Palmer",  und  seinen  Einfluß 
auf  den  Herzog  handelt  Reichard  1877  S.  483;  486;  487—491.  Er 
soll  Jude  gewesen  sein,  seine  Frau  eine  Köchin  aus  Wien. 


—    641     — 

Umgebung  vertheilt;  die  alte  Generalin  von  Zastrow  ver- 
tauschte das,  was  sie  empfangen,  sogleich  wieder  gegen 
andere,  ihr  nützlichere  Dinge  um  hundert  Thaler.  Erfuhr 
er  dergleichen,  so  nahm  er  es  bisweilen  übel;  ungehalten 
war  er  z.  B.,  als  der  Gratulationsgesandte  eines  Hofes, 
dem  er  bei  seinem  Regierungsantritte  eine  Dose  mit 
einem  Brillanten  im  Werthe  von  5000  Thalern  gab,  letzte- 
ren an  einen  Juwelier  verkaufte.  Als  ein  Günstling  von 
ihm  die  Patentpistolen  aus  dem  Nachlasse  des  Herzogs 
Ernst  erhalten  und  zu  Gelde  gemacht  hatte  (ich  gedachte 
oben  dieser  Pistolen  als  eines  Gegenstandes  meiner  stillen 
Wünsche)  mußte  der  Käufer  sie  zurückgeben  und  sich 
ein  paar  andere  in  Suhl  bestellen.  Dann  wiederum  — 
je  nachdem  er  bei  Laune  war  —  litt  der  Herzog,  daß 
die  von  ihm  an  seine  Günstlinge  geschenkten  Häuser, 
Mühlen,  Landgüter  u.  s.  w.  von  den  Empfängern  wieder 
verkauft  werden  durften.  Ein  heimgefallenes,  ansehn- 
liches Lehen,  Liebenstein,  schenkte  er  noch  ein  Jahr  vor 
seinem  Tode  einem  Lieblinge,  dem  er  es  versprochen 
hatte;  denn  strenge  Gewissenhaftigkeit  im  Halten  einer 
einmal  gegebenen  Zusage  war  eine  seiner  Tugenden. 
Jener  verkaufte  Liebenstein  schon  einige  Wochen  darauf. 
Wenn  es  wahr  ist,  daß  die  Schuldenmasse  des  Herzogs 
bei  dessen  Tode  541 000  Thaler .  betrug,  so  ist  ihre  Größe 
nicht  nur  kein  Wunder,  sondern  es  erscheint  bei  dem 
vorhin  von  mir  geschilderten  Geschäftsgange  eher 
wunderbar,  daß  sie  nicht  weit  riesiger  ist,  denn  wenn 
man  mit  den  18  Regierungsjahren  in  jene  Summe  hinein- 
dividirt,  so  fällt  noch  immer  wenig  genug  aufs  Jahr; 
es  giebt  Regenten  seiner  Zeit,  gegen  deren  Schuldenhöhe 
die  Verschuldung  des  Herzogs  August  als  eine  wahre 
Kleinigkeit  gelten  kann.*  *) 

Alles  in  allem  war  der  Herzog  von  einer  eigenen, 
höchst  bezeichnenden,  buntscheckigen  Vielseitigkeit  seines 

*)  Reichard  1877  Seite  486—487. 

Jahrbuch  V.  41 


__    642    — 

Wesens.  „Er  war  — .  besonders  wenn  er  es  sich  vor- 
genommen hatte  —  im  Umgange  der  liebenswürdigste, 
aufheiterndste,  geistreichste,  glänzendste,  hochsinnigste, 
dezenteste,  würdevollste  Sterbliche;  allein  er  konnte 
in  ganz  demselben  Grade  auch  das  grelle 
Gegentheil  von  dem  allen  sein."1)  Seine  Be- 
trachtungen über  den  Herzog  August  schließt  Reichard 
mit  den  Worten:  „Und  wenn  auch  kein  Ernst  IL,  so 
war  Herzog  August  doch  sicher  nicht  die  groteske 
Caricatur,  zu  der  man  ihn,  ohne  auch  nur  das  aller- 
geringste Gute  an  ihm  zu  lassen,  hat  machen  wollen,  und 
zwar  leider  vielfach  gerade  von  solcher  Seite,  die  dem 
Verewigten  für  manche  Wohlthat  dankbar  verpflichtet 
gewesen  wäre.**2) 

Eine  solche  Karikatur  hat  von  den  Schriftstellern, 
welche  dem  Herzoge  persönlich  begegnet  waren,  Friedrich 
Förster  aus  ihm  zu  machen  versucht,  indem  er  denselben 
bei  Gelegenheit  der  Schilderung  einer  dem  Herzöge  zu 
Ehren  veranstalteten  Festlichkeit  zu  Altenburg  folgender- 
maßen beschreibt:  »Eine  komischere  Erscheinung  wie 
diese  Durchlaucht  ist  mir  in  meinem  ganzen  Leben  nie 
wieder  zu  Gesicht  gekommen.  Er  war  damals  wrohl 
schon  ein  Mann  von  reifen  Jahren,  verwandte  aber  die 
Toilettenkünste  des  Boudoirs  einör  Pariser  Modistin 
darauf,  für  eine  weibliche  Schönheit  zu  gelten.  Es  war 
von  ihm  bekannt,  daß  er  einst,  als  Fanchon  verkleidet, 
mit  dem  Leierspiel  der  Savoyardin  die  Leipziger  Messe 
besucht  und  auf  Classig's  Kaffeehause,  in  Auerbachs 
Keller,  in  der  „ blauen  Mütze"  und  anderen  Kneipen  gute 
Geschäfte  gemacht  hatte.  Er  trug  eine  blonde  Locken- 
perrücke,  schielte  ganz  verzweifelt^  war  roth  und  weiß  ge- 
schminkt, unter  einem  rosaseidenen  Gilet  schimmerten 
Blonden  am  feinen  Battistchemisett,  dessen  Brillantknöpfe 


*)  Reichard  1877  Seite  508.  —  a)  Derselbe  1877  Seite  505. 


—     643     — 

absichtlich  gelöst  waren,  um  die  Wellenlinien  des 
Schwanenhalses  und  des  Busens  sehen  zu  lassen;  an  den 
schön  gepflegten  Fingern  seiner  alabasterweißen  Hände 
rosige  Nägel,  so  lang,  daß  man  hätte  Kämme  daraus 
schnitzen  können.     Insonderheit  erschien  Se.  Durchlaucht 


Herzog  August  von  Gotha  als  Griechin 

(nach  einem  Bilde  der  „Gartenlaube"  1857,  Nummer  7,  Seite  93) 

am  Frühstückstische  in  vollständiger  Damentoilette,  mit 
einem  Morgenhäubchen  von  den  feinsten  Brüsseler 
Kanten,  Mantille,  Spitzenkragen  und  dergleichen  Aermeln, 
die  jedoch  sehr  kurz  waren,  da  er  seine  Oberarme  für 
die  schönsten  Gliedmaßen  seines  Körpers  hielt.  Als  eine 
der  anwesenden  Damen    einen  Blick    nach    den  unteren 

41* 


—     644    — 

Partien  richtete,  warnte  er  scherzend,  da  es  Gefahr 
bringe,  wenn  man  sich  nicht  an  den,  den  höheren 
Regionen  angehörenden  Schönheiten  Melusinens  begnüge. 
—  Uebrigens  mußte  man  dem  Herzoge  Witz  und  selbst 
einen  Anflug  von  dem  Humor  Jean  Pauls  zugestehen, 
mit  dem  er  eine  Zeit  lang  in  sehr  freundschaftlichem  Ver- 
kehr stand,  den  er  aber  mit  einem  allerhöchst  unhöflichen 
Briefe  abbrach. — Einige  seiner  Witze,  welche  er  bei  Tische 
losließ,  sind  mir  im  Gedächtniß  geblieben."  J)  In  Försters 
Geschichte  werk  ist  der  Herzog  ihm  „der  Durchlauchte 
Kakerlak  von  Gotha."  2) 

Daß  Schriftsteller,  die  den  Herzog  August  nicht 
persönlich  kannten,  eine  Karikatur  aus  seinem  Bilde 
machten,  ist  weniger  verwunderlich.  So  Perthes8),  der 
nur  erzählt,  was  er  vom  Hörensagen  weiß,  so  Alexander 
v.  Sternberg  4). 

Bezüglich  der  Frauen,  deren  Umgang  der  Herzog 
suchte,  bemerkt  von  Wüstemann:  „Sein  Sinn  fiir  das 
Innerlich-Schöne  und  Feinheit  im  Umgang  zog  ihn  zur 
Gesellschaft  der  Frauen  hin,  in  denen  er  jedoch  nur  eben 
diese  Eigenschaften  suchte  und  ehrte:  äußere  Schönheit 
war  dazu  nicht  nöthig,  wohl  aber  Anspruchslosigkeit  und 
Tugend/  ö) 

Wie  sehr  aber  der  Herzog  selbst  sich  als  Weib 
fühlte    und    wie    wenig    hoch   er  seine  Männlichkeit  be- 


2)  Friedrich  Förster  1873  Seite  12—13.  —  2)  Derselbe  IV  1854 
Seite  334.  —  8)  Friedrich  Perthes  III  Seite  16—17. 

4)  A.  von  Sternberg,  Jena  und  Leipzig  1844 II  Seite  3 — 5  und 
8 — 11.  Ich  muß  hier  zu  S.  489  meines  Quellenmaterials  im  4.  Jahr- 
gang dieses  Jahrbuchs  berichtigen,  daß  t.  Sternberg  mit  seinem 
weibischen  Herzoge  von  Gotha  nicht  den  Herzog  Friedrich,  sondern 
Aemil  August  im  Sinn  hatte. 

6)  v.  Wtistemann  1823  S.  14.  —  Seite  5  heißt  es  daselbst: 
„Kein  Name  eines  Favoriten  männlichen  oder  weiblichen  Geschlechts 
ist  seit  mehreren  Menschenaltern  verflucht  worden." 


—    645    — 

wertete,  hat  er  in  einem  Briefe  an  seine  Freundin 
Fräulein  Sidonie  von  Dieskau  unter  dem  19.  November 
1815  markant  zum  Ausdruck  gebracht,  in  dem  er  seinen 
Zustand  also  schildert:  „Hell  flackerten  Selbstliebe  und 
Selbstachtung  in  mir  auf,  und  mich  stärker  und  besser 
fühlend  als  vorhin  fielen  bald  von  meinem  Ich  die  müh- 
sam mir  angeklebten  erbärmlichen  Schlacken  der  mir  an- 
gezwängten Männerey."1)  .  .  . 

Bringt  man  die  von  allen  Augenzeugen  bestätigte 
zum  Weiblichen  neigende  Körperbildung  des 
Herzogs  August  in  Verbindung  mit  dem  weibischen 
Zug  in  seinem  Wesen  und  seinem  von  Reichard 
betonten  „Umgang  mit  schönen  Mannspersonen", 
so  kann  kaum  ein  Zweifel  obwalten,  daß  der  Herzog 
Urning  war;  wofür  seine  Zeitgenossen  ihn  hielten,  sprach 
die  Seidler  aus,  indem  sie  mitteilte,  daß  man  Leibeserben 
von  ihm  nicht  erwartet  habe.  Die  Berechtigung  dieser 
Annahme  findet  noch  eine  weitere  Stütze  in  dem  Um- 
stände, daß  Aemil  Leopold  August  im  zweiten  Jahre 
seiner  Regierung  eine  Novelle  verfaßte  und  drucken  ließ, 
welche  die  Genuß  suchende  leidenschaftliche  Liebe  zweier 
schönen  Jünglinge  zu  einander  als  eine  Glückseligkeit 
und  als  eine  Naturnotwendigkeit  ohne  sittliche  Bedenken 
dem  Leser  vor  Augen  führt.  In  welcher  Weise  und  in 
welchem  Maße  der  Dichter  des  „Kyllenion"  seine  eigene 
urnische  Natur  auslebte  oder  unterdrückte  und  vor  der 
Welt  verbarg,  erfahren  wir  nicht;  mau  wird  aber  kaum 
umhin  können,  eine  bezeichnende  Schilderung  A.  v. 
Sternbergfs,  falls  sie  Wahrheit  ist,  auf  August  des 
Glücklichen  unbefriedigtes  urnisches  Empfinden  zu  be- 
ziehen: t  August  konnte  auch  sehr  traurig  sein,  ja  es 
gab  besonders  in    seinem    letzten   Lebensjahre    bei    ihm 


*)  Eichstädt  1823  Seite  50;  1849  Seite  80;  G.  bei  Hennings  1832 
Seite  22;  Reichard  1877  Seite  495. 


—     644    — 

Partien  richtete,  warnte  er  scherzend,  da  es  Gefahr 
bringe,  wenn  man  sich  nicht  an  den,  den  höheren 
Regionen  angehörenden  Schönheiten  Melusinens  begnüge. 
—  Uebrigen8  mußte  man  dem  Herzoge  Witz  und  selbst 
einen  Anflug  von  dem  Humor  Jean  Pauls  zugestehen, 
mit  dem  er  eine  Zeit  lang  in  sehr  freundschaftlichem  Ver- 
kehr stand,  den  er  aber  mit  einem  allerhöchst  unhöflichen 
Briefe  abbrach. — Einige  seiner  Witze,  welche  6r  bei  Tisch* 
losließ,  sind  mir  im  Gedächtniß  geblieben."  J)  In  Förster'- 
Geschichtswerk  ist  der  Herzog  ihm  „der  Durchlaiu ! 
Kakerlak  von  Gotha."  2) 

Daß  Schriftsteller,    die    den    Herzog    August 
persönlich    kannten,    eine    Karikatur    aus    seinem 
machten,   ist  weniger  verwunderlich.      So  Pertl.. 
nur  erzählt,  was  er  vom  Hörensagen  weiß,  so  / 
v.  Sternberg4). 

Bezüglich  der  Frauen,    deren   Umgang 
suchte,    bemerkt    von  Wüstemann:    „Sein 
Innerlich-Schöne  und  Feinheit  im    Umir 
Gesellschaft  der  Frauen  hin,  in  denen  er 
diese  Eigenschaften  suchte  und  ehrte: 
war  dazu  nicht  nöthig,  wohl  aber  An* 
Tugend/  ö) 

Wie    sehr   aber    der  Herzog 
fühlte    und    wie    wenig    hoch 

2)  Friedrich  Förster  ifc 
Seite  334.  -  ij  Friedrich 

4)  A.  von  Stembei 
8—11.  Ich  umtf  hiflr  z\ 
gang  diese*  Jührbuel 
weibischen  Hera 
Aemil  Ao^uut 

ß)  v,  w  I 
„Kein  N  au - 
ist  seit  mel 


t  reiche  Wendungen 
^  zeigten  auch  seine 
Wendungen  und  Ge- 
„opalisirenden"  Geist; 
tägliche  Begebenheiten 
ltner  in  ungewöhnlicher 
die  Aufbewahrung.2) 
Aemil     Augusts     diene 
11  Knaben  Eduard  Manso; 
von    dem    Knaben    an  ihn 
eschenke    eines  Ringes  be- 
u     zum    Geburtstage    des 


i  tl,  war  mir  der  gestrige  Tag 
Tag.     Ja    freylich    war  es 

von  Lupin  1826  Seite  72;    Jacobs 

:   (Jt,  bei  Hennings  1832  Seite  4;  von 

23;    Becfe  I  1868  Seite  448;    Reichard 

f3  Seite  l'i  '.   Gedruckt  sind  von  des  Herzogs 

sok-he  rin  Uie  Frau  von  Stael  (bei  Eich- 

:  18W,  Sritr  89-91;  G.  bei  Hennings  1832 

'  jiin^e    «iriiin    Sidonfie     von    Dieskau 

i  im  Seite  I*— 53;   1849  Seite  79— 83 ;  G.  bei 

.-  W^\;  Reinhard  1877  Seite  495);   an    Papst 

VII    im    Seite   :>22— 526;    Louise  Seidler   1874 

i    1*77  Seite  406  und  495  nota  1);  an  die  Malerin 

\\v     Henriette    aus    dem    Winckel,     1806 

von     Mctzsät-h-Scliilhuch     1893);     an     Jean    Paul 

Kichter     (Richter     1805    Seite     16—21,    23—25, 

32^  Xt — :\i\)i  iin  den  k renken  Dichter  Ernst  Wagner 

\1    1320   Seite    17- — Tr. ;     Seite  91;      G.  bei    Hennings 

1— _'(K    voq  Weber  I     [864  Seite  323);   die  Briefe  an 

t    and    Ernst   Wagner   sind   nach  v.  Weber  „Muster  des 

£  einer  edlen,  greüen,  oft  fast  tiberreichen,  für  Freundschaft 

ianglielien  Seele",    Leidet  haben  Jean  Paul  und  Mosengeil 

jti#  befunden,  die  Briefe  <l<x  Herzogs  zu  kastrieren  (Richter 

kutc  37:  MosengeU  II  1826  Seite  17). 


—    646    — 

Stunden,  in  denen  eine  wahrhaft  dämonische,  mit  den 
schwärzesten  Gebilden  gefüllte  Hypochondrie  bei  ihm  die 
Oberhand  gewann1).  Alsdann  war  der  französische  Stutzer 
und  Spötter  gar  nicht  mehr  wieder  zu  erkennen.  Er 
trieb  sich  dann  Nachts  herum,  durchirrte  mit  fliegendem 
Nachtgewande,  eine  Kerze  in  der  Hand,  die  Säle  seines 
Palastes  und  schien  irgend  etwas  Geheimnißvolles  zu 
suchen,  das  rer  nicht  fand.  Er  stieß  namenlos  rührende 
und  erschütternde  Klagen  aus,  die  in  der  Stille  und  Ein- 
samkeit der  Nacht  die  Seele  jedes  lebenden  Wesens,  das 
sich  in  seiner  Nähe  befand,  tief  bewegten.  Hatte  er 
seinen  nächtlichen  Lauf  vollendet,  so  warf  er  sich  auf  die 
Teppiche  seines  Schlaf  gemaches  und  wimmerte,  indem  er 
sich  unter  Schmerzen  wand.  In  der  Seele  dieses  Mannes 
mußte  in  diesen  Augenblicken  etwas  vorgehen,  was  nicht 
Schein  und  nicht  Lüge  war.  Diese  Stunden  söhnten  mit 
seinen  Bizarrerien  und  Lächerlichkeiten  aus,  denn  un- 
willkürlich empfand  der  Beobachter  der  menschlichen 
Natur,  daß  ein  Wesen,  das  so  zu  leiden  im  Stande  war, 
die  Tiefen  und  Geheimnisse  der  Sterblichen  zu  ahnen 
verstand  und  daß  sein  irregehender  Geist  nach  einer 
Größe  suchte,  die  er  nicht  zu  erfassen  und  ^festzuhalten 
verstand.  Seine  Widersacher  erfuhren  von  diesen  Stunden 
nichts,  sonst  hätten  sie  ihn  milder  beurtheilt."2) 


Herzog  Augusts  Schriftstellern. 

Jahre  hindurch  führte  Herzog  August  mit  wenigen 
auserwählten  befreundeten  Personen  unter  Beobachtung 
gewissenhaftester  Regelmäßigkeit  einen  Briefwechsel, 
blieb  aber  auch  sonst  schwerlich  irgend  Einem,  der  an 
ihn  schrieb,  die  Antwort  schuldig.  Alle  seine  Briefe 
zeichnen  sich  durch   einen    von   ihm   selbst  geschaffenen 

J)  Nach  dem  Tode  ßosenberg's,  vergl.  Seite  638. 
2)  A.  v.  Sternberg  1857  Seite  94. 


—    647    — 

Stil,  ungewöhnliche  Ideen,  zarte  und  geistreiche  Wendungen 
aus;  wie  seine  mündliche  Unterhaltung  zeigten  auch  seine 
Briefe  eine  unerschöpfliche  Fülle  der  Wendungen  und  Ge- 
danken und  verrieten  überall  seinen  „opalisirenden"  Geist; 
auch  wenn,  was  selten  vorkam,  ihn  alltägliche  Begebenheiten 
darin  beschäftigten,  so  geschah  es  immer  in  ungewöhnlicher 
Form1).     Seine  Briefe  verdienten  die  Aufbewahrung.2) 

Als  Probe  des  Briefstils  Aemil  Augusts  diene 
sein  Brief  an  den  siebenjährigen  Knaben  Eduard  Manso; 
er  ist  die  Antwort  auf  ein  von  dem  Knaben  an  ihn 
gerichtetes  und  mit  dem  Geschenke  eines  Ringes  be- 
gleitetes Glückwunschschreiben  zum  Geburtstage  des 
Herzogs : 

„  Ja  freylich,  mein  Eduard,  war  mir  der  gestrige  Tag 
ein  wichtiger,  ein  mild-herber  Tag.     Ja    freylich    war  es 


*)  Jacobs  1822  Seite  500;  von  Lupin  1826  Seite  72;  Jacobs 
VI  1837  (1823)  Seite  456—463;  G.  bei  Hennings  1832  Seite  4;  von 
Weber  I  1864  Seite  321;  323;  Beck  I  1868  Seite  448;  Reichard 
1877  Seite  494—495. 

a)  v.  Wüstemann  1823  Seite  20.  Gedruckt  sind  von  des  Herzogs 
Briefen  meines  Wissens  solche  an  die  Frau  von  Stael  (bei  Eich- 
städt  1823  Seite  53—56;  1849,  Seite  89-91;  G,  bei  Hennings  1832 
Seite  24—25);  an  die  junge  Gräfin  Sidonpe  von  Dieskau 
1815—1822  (Eichstädt  1823  Seite  48—53;  1849  Seite  79— 83 ;  G.  bei 
Hennings  1832  Seite  20—24;  Reichard  1877  Seite  495);  an  Papst 
Pius  VII  (Jacobs  VII  1840  Seite  522—526;  Louise  Seidler  1874 
Seite  93;  Reichard  1877  Seite  466  und  495  nota  1);  an  die  Malerin 
Therese  Erailie  Henriette  aus  dem  Winckel,  1806 
bis  1811  (von  Metzsch - Schilbach  1893);  an  Jean  Paul 
Friedrich  Richter  (Richter  1805  Seite  16—21,  23—25, 
26—27,  30—32,  35—36);  an  den  kranken  Dichter  Ernst  Wagner 
(Mosengeü  H  1826  Seite  17—76;  Seite  91;  G.  bei  Hennings 
1832  Seite  4—20;  von  Weber  I  1864  Seite  323);  die  Briefe  an 
Jean  Paul  und  Ernst  Wagner  sind  nach  v.  Weber  „Muster  des 
Ausdrucks  einer  edlen,  großen,  oft  fast  überreichen,  für  Freundschaft 
tief  empfänglichen  Seele".  Leider  haben  Jean  Paul  und  Mosengeil 
es  für  nötig  befunden,  die  Briefe  des  Herzogs  zu  kastrieren  (Richter 
1805  Seite  37;  Mosengeil  H  1826  Seite  17). 


—    648    — 

mir  gestern  recht  schön,  recht  wunderbar  zu  Muthe, 
mein  lieblich  liebes  Kind !  Aber  erst  als  ich  Deine  Worte 
gelesen,  als  Dein  Ring,  Dein  schöner,  lieber  Bing  meine 
Rechte  schmückte,  da  verschwand  alles  Herbe,  alles 
Trübe.  Hättest  Du  ihn  nicht  selbst  bringen  können, 
mein  zarter  Liebling?  Freylich,  die  Wege  sind  sehr 
böse;  aber  Du  kömmst  mir  immer  wie  ein  gewisser 
Junge  vor,  den  ich  nur  aus  den  Bildern  kenne  und 
den  Du  hoffentlich  recht  spät  wirst  kennen  lernen  und 
von  dem  Dir  Deine  Emilie  viel  Gutes  und  Auguste  viel 
Böses  zu  erzählen  hat.  Nimms  nicht  übel:  aber  bey 
Dir  fällt  mir  immer  der  Junge  ein;  und  da  bild'  ich 
mir  immer  ein,  Du  hättest  zu  mir  fliegen  können;  da 
wäre  freylich  der  gestrige  Tag  noch  weit,  weit  schöner 
gewesen.  Weißt  Du  wohl,  Eduard,  Deine  Schwestern, 
die  immer  in  der  Stadt  sind  und  immer  in  der  Stadt 
viel  zu  thun  und  zu  schaffen  haben,  hätten  mir  Deinen 
schönen  Ring  bringen  können.  —  Doch  nein,  die  kommen 
nicht  zu  mir;  die  haben  mich  lange  vergessen.  Emilie  hat 
viel  zu  viel  zu  hoffen,  Auguste  hat  viel  zu  viel  zu  wünschen, 
als  daß  die  an  mich  denken  könnten.  Grüße  sie,  doch 
ohne  mich  zu  nennen.  Umarme  sie  und  die  lieben  Eltern. 
Bleibe  gut  und  mir  gut.  Emile.*1) 

Mit  besonderer  Vorliebe  betrieb  der  Herzog  in  seinem 
einförmigen  Leben  poetische  Arbeiten,  welche  sich  wie 
seine  Briefe  durch  Zartheit  und  großen  Reichtum    unge- 

2)  Eichstädt  1823  Seite  57;  1849  Seite  85—86;  G.  bei  Hennings 
1832  Seite  25.  —  Reichard  1877  Seite  494—495  findet  in  der  Ver- 
öffentlichung dieser  für  die  Oeffentlichkeit  ursprünglich  nicht  bestimmt 
gewesenen  Ergießungen  und  in  der  der  Briefe  des  Herzogs  an  die 
Gräfin  Sidonie  von  Dieskau  (eine  Probe  aus  diesen  siehe  vorher 
Seite  645)  eine  Taktlosigkeit  und  eine  Beschimpfung  seiner 
eigenen  in  Ciceronianischem  Latein  verfaßten  Schrift  „Memoria 
Augußti"  seitens  des  gelehrten  Philologen  Eichstädt.  Man  kann 
'darüber  verschiedener  Ansicht  sein,  wie  dieses  auch  die  unbeanstandete 
Aufnahme  derselben  Briefe  durch  G.  bei  Hennings  1832  beweist. 


—    649    — 

wohnlicher  Wendungen  und  Ideen  auszeichnen.1)  Er  war 
nicht  nur  Schöpfer  musikalischer  Liederkompositionen 
in  denen  Kenner  seine  Eigenartigkeit  wieder  finden 
wollen2),  sondern  auch  Dichter  und  Verfasser  einer  An- 
zahl poetischer  Prosawerke;  von  diesen  wurde  nur  ein 
einziges,  sicher  und  allein  von  ihm  herrührendes,  durch 
den  Druck  bekannt,  nämlich  die  1805  erschienene  Novelle 
„Ein  Jahr  in  Arkadien.*8)  Nach  einigen  Angaben4) 
hätte  der  Herzog  noch  eine  Uebersetzung  der  „Lettres 
d'un  Chartreux  par  Charles  Pougens"  (Briefe  eines  Kar- 
thäusers)  verfaßt  und  in  wenigen  Exemplaren  für  seine 
vertrautesten  Freunde  drucken  lassen;  allein  nach  Eich- 
städt5)  erscheint  die  Autorschaft  des  Herzogs  ungewiß  und 
nach  Jacobs6)  hat  er  zwar  diese  Uebersetzung  begonnen, 
sie  jedoch  wieder  aufgegeben  und  den  Geheim-Sekretär 
Wüstemann,  späteren  Geheimen  Rat  von  Wüstemann  zu 
Altenburg  mit  der  Uebersetzung  der  „Lettres"  betraut, 
sich  dann  die  fertige  Uebertragung  vorlesen  lassen,  Einiges 
geändert,  einiges  Eigene  hinzugefügt  und  das  Werkchen 
so  in  Druck  gegeben.7) 

*)  Ueber  den  Herzog  Aemil  August  als  Schriftsteller  haben  sich 
mehr  oder  weniger  ausführlich  verbreitet:  Jacobs  1822  Seite  500 
bis  504;  von  Lupin  1826  Seite  72—75;  von  Wüstemann  1823  Seite 
19;  Galletti  V  1824  Seite  41;  G.  bei  Hennings  1832  Seite  28—41; 
Jacebs  VI  1837  (1823)  Seite  456—458;  464— 492;  von  Weber  1 1864 
Seite  322—823;  373,  570;  Beck  I  1868  Seite  440—441;  1875  Seite 
683;  Louise  Seidler  1874  Seite  91—92;  Reichard  1877  Seite  494  bis 
496;  v.  Bechtolsheim  1902  Seite  104—105;  112.  —  «)  Jacobs  1822 
Seite  501.  —  s)  Jacobs  1822  Seite  500  und  öfter;  von  Wtistemann 
1823  Seite  19.  —  4)  G.  bei  Hennings  1832  Seite  33—35  (woselbst 
die  Briefe  2,  7  und  11  abgedruckt  sind);  Beck  I  1868  Seite  441; 
1875  Seite  683;  Reichard  1877  Seite  496.  —  6)  Eichstädt  1823  Seite 
32;  Seite  70  nota  32;  1849  Seite  95  nota  30.  —  6)  Jacobs  VI  1837 
(1823)  Seite  471—473;  491—492  nota  8.  —  *)  Das  Werkchen  muß 
sehr  selten  sein;  es  führt  den  Titel:  „Vierzehn  Briefe  eines  Kar- 
thäusers.  Geschrieben  im  Jahre  1755  zu  Paris.  Herausgegeben  von 
Karl  Pougens.  Paris  1820."  Darunter  stehen  die  verschlungenen 
Initialen  E  und  A.    Es  ist  nur  45  Seiten  stark.    In  kl.  8°. 


—    650    — 

Den  Herzog  haben  wenigstensdrei  große  poetische 
Prosawerke  beschäftigt,  welche  nicht  zum  Drucke  gelangten. 
Noch  vor  seinem  Regierungsantritt  nahm  seine  Aufmerk- 
samkeit der  weitläufige  Plan  zu  einem  Märchen  in  An- 
spruch: das  Polyneonoder  Panedonej  nach  seinem 
Begierungsantritt  ein  Werk,  das  ohne  Titel  blieb  und  ein 
Roman  Aemilia(Emilia)oder  Emilianische  Briefe.1) 

1.  Polyneon  (Viel-Neu)  oder  Panedone  (All- 
Lust2)  nach  der  Hauptfigur  des  Romans,  einem  auf  eine 
entfernte  Insel  verbannten  Götter wesen  Panedonia, 
neben  welcher  als  zweite  Hauptperson  ein  lykaonischer 
Jäger  Barys  steht;  in  die  Geschicke  der  aus  ihrem 
Himmel  Verwiesenen  sind  noch  verflochten:  ein  blühender 
Jüngling  Cyparissus,  ein  anmutiger  Flötner  und  ein  blasser 
König.  Nach  des  Dichters  Angaben  stellte  Grassi  die 
vornehmsten  „in  diesem  Labyrinth"  sich  bewegenden  Per- 
sonen in  sieben  großen  Bildern  dar8);  eins  derselben  zeigt 
uns  Panedonia 4),  zum  Himmel  aufschauend,  eine  Leier  in 

*)  Wenn  ich  Jacobs  recht  verstanden  habe,  so  muß  aber 
der  Herzog  noch  an  einem  vierten  Werke  gearbeitet  haben;  der 
Kaltsinn,  meint  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  465,  mit  welchem 
„Ein  Jahr  in  Arkadien"  aufgenommen  wurde,  dürfte  verursacht 
haben,  daß  der  Herzog  ein  ähnliches  Werk,  das  er  um  jene  Zeit 
unternahm  und  von  dem  sich  Antänge  in  seinem  Nachlasse  fanden, 
unvollendet  ließ ;  leider  wird  weder  ein  Titel  genannt,  noch  der  Inhalt 
angedeutet.  Vielleicht  „Schwarz  und  weiß"  (v.  Metzsch-Schilbach 
1893  Seite  7).  —  a)  Reichard  nennt  1877  Seite  495  den  Roman  „Pane- 
donia" und  fügt  bei:  „(in Grassi's  lebensgroßem,  idealisirten Portrait: 
Bildniß  des  Herzogs  in  schwarzer  spanischer  Tracht.  Es  wird  noch 
jetzt  im  Schlosse  zu  Gotha  gezeigt  legt  er  die  Hand  darauf)."  — 
3)  Nach  Reichard  1877  Seite  496  (Fußnote)  wären  es  im  Ganzen  nur 
6  Bilder,  welche  in  der  Herzoglichen  Gemäldegalerie  zu  Gotha  in 
der  Abteilung  VI  als  Nummer  5,  6,  7,  9,  10  und  11  aulbewahrt 
werden;  nach  Louise  Seidler  1874  Seite  75  wurden  die  Bilder  laut 
Katalog  der  Gemäldegalerie  1809  gemalt. 

4)  Dieses  Gemälde  Grassi's  veranlaßte  Jacobs  zu  einem  Sonett 
an  den  Maler  (veröffentlicht  bei  Jacobs  VI  1837  Seite  477—478 
nota  3)  und  als  Grassi  es  dem  Herzog  gab,  dichtete  dieser  mit  Be- 


—    651    — 

der  Hand;  diese  sieben  Bilder  waren  ursprünglich  be- 
stimmt, ein  Schlafzimmer  zu  schmücken,  in  dem  der 
Herzog  alle  Herrlichkeiten  eines  Feentempels  vereinigen 
wollte;  das  Zimmer  ist  aber  nicht  gebaut,  das  Märchen 
nicht  zu  Ende  geführt  worden  und  ßo  fehlt  diesen  schönen 
Gemälden  der  erläuternde  Kommentar.1) 

2.  Nach  dem  Antritt  seiner  Regierung  begann  Aemil 
August  ein  neues  poetisches  Werk,  dem  er  einen  Titel 
nicht  gegeben  hat.  Der  Roman  sollte  ganz  aus  Briefen 
zweier  Freundinnen  hohen  Ranges  bestehen;  die  eine 
dieser  Freundinnen  war  die  geistreiche  Baronin  Cäcilie 
von  Werthern,  die  andere  —  der  Herzog  Aemil  August 
im  Charakter  einer  jungfräulichen  Witwe  unter  dem 
Namen  einer  Großherzogin  Anna.  Da  die  Baronin  von 
Werthern  bald  das  Interesse  an  dem  Briefwechsel  verlor, 
so  führte  der  Herzog  den  Roman  allein,  teils  in  Form 
eines  Tagebuchs,  teils  in  Briefform,  fort;  manches  in 
diesem  Roman  beruhte  für  den  Eingeweihten  auf  persön- 
lichen   Verhältnissen    des    Verfassers    und    der    Roman 


zug  auf  zwei  andere  Gestalten  seines  Märchens  Panedone  mit  Bei- 
behaltung der  Reime  des  Jacobs'schen  Sonetts  als  Fortsetzung  noch 
zwei  Sonette  hinzu:  „Der  Sybarit"  und  „Der  Lykaonier"  (ver- 
öffentlicht bei  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  478  und  479). 

*)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  466-467.  „Das  Polyneon  ...  ein 
großes  episches  Mährchen  über  die  Liebe  . .  .,  welches  alles,  was  große 
Kenntniße  und  große  Kräfte  von  Frucht-  und  Blumen-Gewinden,  Perlen- 
schnüren und  Venus-Gürteln  in  einander  flechten  können,  zu  seinem 
Zauber-Kreis  der  Liebe  rundet.  Doch  das  was  schildert,  kann  nicht 
selber  geschildert  werden;  der  Kreis  wird  zuletzt  ein  Trauring  —  der 
Ring  ein  Juwel  —  der  Juwel  ein  Lichtblick  —  der  Blick  ein 
Geist.  Der  Tadel,  womit  man  das  Polyneon  so  gut  belegen  kann 
als  mit  Lob,  ist  bloß  schwerer  zu  verdienen  als  zu  vermeiden. 
Eine  geniale  Phantasie  ist,  gleich  dem  Luftballon,  leicht  in  die 
Höhe  und  in  die  Tiefe  zu  lenken;  aber  das  wagrechte  Richten  wird 
bei  beiden  etwas  schwer ;  indessen  hielt  man  es  bisher  doch  für  das 
größere  Wunder,  sich  in  den  Himmel  zu  erheben,  als  sich  darin  zu 
steuern."    Jean  Paul  (Richter  1805  Seite  15). 


—    652    — 

wurde  unabgeschlossen  bei  Seite  gelegt,  als  diese  Ver- 
hältnisse sich  änderten.1) 

3.  Emilianische  Briefe.8)  In  diesen  Briefen  und 
Tagebuchblättern  erscheint  der  Herzog  in  doppelter  Ge- 
stalt, als  eine  Jungfrau  Erailie  und  als  ein  Fürst,  an 
dessen  Hof  ein  junger  von  Emilie  heftig  geliebter  Jüng- 
ling Xaver  lebt;  beide  Hauptpersonen,  die  der  Idee  nach 
nur  eine  sind,  werden  ganz  verschieden,  Emilie  mit  zärt- 
licher Vorliebe,  der  Fürst  mit  oft  an  Bitterkeit  streifen- 
der Ironie  behandelt.  Dieses  Werk,  das  den  Herzog  bis 
an  seinen  Tod  beschäftigte,  war  ihm  selbst  von  allen  das 
liebste;  „es  ist  geschlossen,  aber  nicht  vollendet  .  .  . 
Das  Mangelnde  zu  ergänzen,  wäre  Niemand  im  Stande, 
sollte  er  auch  vollkommen  in  die  Gedanken  des  Herzogs 
eingeweiht  sein  ...  In  der  Ausführung  aber  seine 
Manier  nachzubilden,  würde  ein  eitles  Bemühen   sein."8) 

Friedrich  Jacobs,  „unter  dessen  Fingern  der  Armida- 
Garten  entstanden  ist"4),  veröffentlichte  sieben  von  ihm 
verfaßte  und  dem  Herzoge  gewidmete  Gedichte,  welche 
in  Beziehung  auf  die  Emilianischen  Briefe  „die  Stelle 
eines  convexen  Spiegels  vertreten  können,  der  die  Gegen- 
stände einer  weiten  Gegend  in  einem  engen  Räume  ver- 
kleinert zeigt",  und  er  faßt  sein  Urteil  über  die  schrift- 
stellerischen Fähigkeiten  des  Herzogs  also  zusammen: 
„Das  Einzelne  ist  reich,  neu,  glänzend,  oft  wunderbar  und 
außerordentlich;  aber  das  Ganze  leidet  an  dem  Mangel 
fortschreitender  Bewegung,  der  sich  aus  der  Art  seiner 
Entstehung  und   Fortbildung,  vielleicht   auch  überhaupt 


*)  Jacobs  VI  1887  (1828)  Seite  467-468.  —  *)  Reichard  1877 
Seite  495  nennt  den  Roman  „Emilia"  und  sagt  S.  496,  der  Herzog 
habe  das  bändereiche  Werk  besonders  gern  in  engvertrau ten 
Kreisen  vorgelesen  und  viele  Lebende  hätten  zu  den  darin  auftreten- 
den Personen  gesessen.  —  8)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  468—470; 
482—491  nota  5,  6,  7.  —  4)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  484—491 
nota  7. 


—    653    — 

aus  der  Eigentümlichkeit  des  Verfassers  erklärt.  Für 
ihn  war  die  Abfassung  eines  Romans  nicht  ein  Geschäft, 
sondern  eine  Ergötzung,  wobei  er  sich  gern  mit  Bequem- 
lichkeit auf  breiten  Bahnen  bewegte,  ohne  durch  die  vor- 
aus bestimmte  Richtung  eines  festen  Plans  gebunden  zu 
sein.  Fast  immer  dictirte  er.  Wenn  nun  der  dazu  Be- 
rufene an  den  bestimmten  Tagen  zur  bestimmten  Stunde 
erschien,  fuhr  der  Herzog  an  der  Stelle  fort,  wo  er  in 
der  vorhergehenden  Sitzung  abgebrochen  hatte,  und  di- 
ctirte oft  drei  und  vier  Stunden  nach  einander,  ohne 
Unterbrechung,  die  geistreichsten  Dinge  in  der  gewähl- 
testen Sprache  und  in  gut  geordneten,  wohlklingenden 
und  richtig  gebildeten  Sätzen.  Nie  verwirrte,  nie  ver- 
besserte er  sich.  Der  erste  Wurf  hätte  für  den  Druck 
genügt.141) 

Ein  zwar  wenig  umfangreiches  Werk  des  Herzogs, 
das  aber  den  großen  Vorzug  besitzt,  abgeschlossen  zu 
sein  und  gedruckt  vorzuliegen,  ist  das  Kyllenion. 
„KYAAHNION"  (Kyllenion)  ist  nur  der  Untertitel  der 
Novelle : 

„Ein  Jahr  in  Arkadien.  1805." 

Diese  124  Seiten  starke  Novelle  erschien  zu  Gotha 
bei  Ettinger  in  Oktav  und  enthält  ein  Titelbild  und  eine 
Schlußvignette.  Ziemlich  die  Hälfte  der  Novelle  schildert 
die  anfangs  hoffnungslos  erscheinende,  später  aber  doch 
Entgegenkommen  findende  glühende  Liebe  des  jugendlich 
schönen  arkadischen  Hirten  Iulanthiskos  zu  dem  männlich 
schönen  reichen  Arkadier  Alexis  und  es  kann  daher  das 
Werkchen  als  die  erste  deutsche  urnische  Novelle 
in  Anspruch  genommen  werden.  Sie  verdankt  ihre  Ent- 
stehung den  Lobpreisungen  der  Geßner'schen  Idyllen, 
durch   die    eine    sechszehnjährige    Französin,    die    Gräfin 


')  Jacobs  1822  Seite  501—502;  VI  1837  (1823)  Seite  482-483 
nota  6. 


—    654    — 

Adfele  de  Bueil,  den  Widerspruch  des  Herzogs  so  reizte, 
daß  er  sich  anheischig  machte,  da  die  Gräfin  voi> 
nehmlich  den  griechischen  Geist  der  Geßner'schen  Idyllen 
hervorgehoben  hatte,  selbst  Idyllen  zu  schreiben,  welche  auf 
eine  ganz  andre  Art  durch  und  durch  griechisch  sein 
sollten;  durch  dieses  Versprechen  kann  nach  Jacobs 
manches  im  Kyllenion  Getadelte  erklärt  werden.  Die 
Novelle  besteht  aus  14  Kapiteln,  deren  12  die  Namen 
der  atheniensischen  Monate  tragen;  der  Inhalt  ist  nach 
Jacobs  „an  persönliche,  aber  nur  leise  angedeutete  Ver- 
hältnisse geknüpft.1*  Das  Manuskript  ging  vor  dem 
Drucke  durch  Jacobs'  Hände  und  kehrte  „mit  einigen  un- 
bedeutenden Veränderungen  und  einem  Sonett  „Arkadien" 
an  den  Herzog  zurück,  der  an  demselben  Tage  in  einem 
Sonett  „Ruf"  darauf  mit  den  nämlichen  Reimen  er- 
widerte1). Gewidmet  hat  Herzog  August  seine  Novelle 
der  Tochter  seines  Verlegers,  des  Kommissionsrats  Karl 
Wilhelm  Ettinger,  Karoline  Ettinger,  der  späteren  Frau 
Arnold  in  Bromberg,  deren  Mädchennamen  das  dem 
Werkchen  Seite  3  vorgedruckte  Akrostichon  verrät2). 

Die  Zeit,  in  welcher  die  Novelle  erschien,  war  ihrer 
Verbreitung  nicht  günstig;  ihr  Verfasser  war  nur  wenigen 
bekannt;  „die  kritischen  Tribunale  schwiegen;  auch  in 
leichtern  Tagblättern  geschah  ihrer  nicht  oft  Erwähnung"; 


*)  Abgedruckt  bei  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  475-477. 

•)  Jakobs  VI  1837  (1823)  Seite  465  und  S.  474— 475*nota  1. 
Nach  Reichard  1877  Seite  496  war  Karoline  Ettinger,  Reichard's 
Nichte,  ein  „damals  in  ihrer  Bliitbe  stehendes  sehr  gebildetes 
Frauenzimmer,  welches  mit  anmuthiger  Jugendfrische  und  ein  paar 
schönen  Augen  Begabung  und  Liebenswürdigkeit  vereinigte".  Ihr 
ist  auch  noch  ein  anderes  Werk  gewidmet  worden,  nämlich  „Die 
Einsamen  im  Chiusato.  Eine  piemontesische  Novelle"  mit  demUntertitel 
„Das  geraubte  Landmädchen".  Arnstadt  und  Rudolstadt,  Langbein 
und  Kläger.  2  Teile.  1802  (278  und  272  Seiten).  „Seiner  ver- 
ehrungswürdigen Freundin  Karoline  Ettinger  hochachtungsvoll 
gewidmet    vom    Verfasser".      Der    „Prolog    des    Autors"    dieser 


._    655    — 

die  kleinen,  der  Novelle  eingewebten  Gedichte  setzte  der 
Herzog  selbst  in  Musik1). 

In  der  Nummer  115  vom  24.  September  1805  der 
„ Zeitung  für  die  elegante  Welt"  (Leipzig)  erschien  ein 
mit  »Aug.  Klingemann"  unterzeichneter  Bericht  über  diie 
ohne  den  Namen  ihres  Verfassers  erschienene  Novelle 
folgenden  Wortlauts: 

„Zwölf  arkadische  Monate  mit  ihren  Blumen  und 
Früchten  lieblich  dahin  gezaubert.  Die  darin  verflochtenen 
Idyllen  sind  größten theils  nur  Staffage  und  von  den 
Blumengewinden  so  überhüllt,  daß  oft  die  Gestalten  nur 
zum  Theil  erscheinen  und  die  ganze  Handlung  sich  in 
einen  Kuß  auflöst.  Uebrigens  ist  es  eine  romantische 
Natur,  die  diesen  Blumengarten  in  das  Alterthum  hinein 
versetzt,  und  antik  ist  eben  an  dem  Werke  nichts  als 
der  Theil,  der  das  angehängte  Lexikon  nothwendig  macht, 
bei  dem  man  entweder  bedauern  muß,  daß  die  Unwissenheit 
so  vieler  Leser  es  nothwendig  machte,  oder  daß  die  Muse 
des  Dichters  nicht  ohne  einige  Koketterie  ihn  begeisterte." 

Diese  Kritik  gab  dem  Herzog  Anlaß,  sich  in  seiner 
ganzen  Eigenartigkeit  zu  zeigen;  er  lud  den  Redakteur 
der  Zeitung,  den  Dichter  Siegfried  August  Mahlmann, 
nach  Gotha  an  seinen  Hof.  Mahlmann  kam  und  wurde 
in  einer  Staatskarosse  mit  Hoffourier  und  Haiducken 
abgeholt.  Der  Herzog  bewillkommnete  ihn  als  eine  der 
größten  Kapazitäten,  bat  um  seine  Freundschaft  und 
wünschte  eine  Vorlesung  von  ihm  zu  hören,    zu   welcher 

Novelle  I  Seite  4  ist  „Kajetan  ******"  unterzeichnet.  Man 
könnte  auf  Grund  dieser  Widmung,  der  liebevollen  Schüderung 
der  Natur  und  des  einfachen  Landlebens,  des  Doppeltitels  und  der 
Anonymität  des  Verfassers  im  Herzog  August  den  Schöpfer  auch 
dieser  Novelle  vermuten  und  sogar  in  den  sechs  Sternen  (?  August) 
die  Bestätigung  dieser  Vermutung  erblicken;  da  aber  diese  Novelle 
Urnisches  nicht  enthält,  so  kann  die  angeregte  Frage  hier  unerörtert 
bleiben. 

*)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  465—466. 


—    656     — 

der  nächste  Abend  bestimmt  wurde ;  der  Herzog  erklärte^ 
zu  dieser  Vorlesung  sei  der  gesamte  Hof  bereits  ein- 
geladen und  er  habe  schon  eine  geeignete  Schrift  für 
den  Vortrag  gewählt.  Da  erfuhr  die  stolze  Herzogin  zu 
ihrem  Entsetzen  von  der  Oberhofmeisterin,  daß  Mahl- 
mann bürgerlicher  Herkunft,  nur  ein  Zeitungsredakteur 
und  ohne  Titel  sei;  unter  solchen  Umständen,  erklärte 
6ie,  könne  Mahlmann  bei  Hofe  nicht  erscheinen  und  der 
Herzog  ordnete  daher  an,  daß  der  Minister  von  Francken- 
berg in  aller  Eile  ein  Hofratsdiplom  für  den  Vorleser 
Ausfertige1).  Zur  Vorlesung  aber  hatte  der  Herzog  — ■ 
sein  Kyllenion  bestimmt  und  Mahlmann  kam  in  ziemliche 
Verlegenheit,  da  er  die  spöttischen  Neckereien  des  Herzogs 
-ertragen  mußte*). 

Ein  von  Friedrich  Jacobs8)  unterschriebenes  Urteil 
über  das  Kyllenion  hat  Eichstädt4)  gefällt;  er  rühmt  an 
ihm  besonders  die  Lebendigkeit  und  Glut  der  Phantasie^ 
•eine  gewisse  Kühnheit  der  Gestaltung,  einen  bewunderns- 
würdigen Reiz  der  Neuheit  und  durch  Belesenheit 
•erworbene  Kenntnis  griechischer  Eigenart  Demgegenüber 
klingt  es  herb,  wenn  ein  anderer  Kritiker5)  die  Novelle 
bloß  deshalb  »völlig  geschmacklos  und  unlesbar*  findet, 
.„weil  jedes  Ding,  das  im  gewöhnlichen  Leben  vorkommt, 
hier  mit  einem  griechischen  Namen  genannt  wird". 
Auch  den  urnischen  »Liebeshandel",  der  den  Kern 
-der   Novelle    bildet,    findet   dieser    Kritiker    „vor  lauter 


*)  Der  Verfasser  der  Lebensgeschichte  Siegfried  August 
Mahlmann's,  K.  L.,  in  „Mahlmann's  sämmtliche  Werke"  (8  Bändchen 
Leipzig,  Volkmar  1839—40)  teüt  I  1839  Seite  20  nur  mit:  „Der 
Herzog  von  Saohsen-Gotha  ehrte  sein  Verdienst  durch  Ertheilung 
-des  Hofrathstitels."] 

2)  Beck  I  1868  Seite  448—449. 

8)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  475  nota  2. 

4)  Eichstädt  1823  Seite  30—32;  1849  Seite  62—64;  S.  91  nota  29. 

B)  A.  v.  Sternberg  1857  Seite  94. 


—    657    — 

Ziererei  und  Schwulst  bitter  langweilig."  Wolfgang 
Menzel  tut  die  Novelle  kurz  als  „vorzugsweise  senti- 
mentaltt  ab1).  Ein  lebender  Schriftsteller  bezeichnete 
mir  die  Arbeit  als  bei  manchen  Mängeln  und  Flüchtig- 
keiten schön  und  eigenartig;  selbst  in  Neu  Wortbildungen 
sei  der  herzogliche  Dichter  glücklich,  so  z.  B.  mit  dem 
Neu  wort  „  Einton g  für  das  eintönige  Picken  des  Spechtes. 

Das  Nachfolgende  ist  der  urnische  Auszug  aus  dem 
„Kyllenion"  (der  Name  wurde  dem  arkadischen  Gebirge 
Kyllene  entnommen).  Ein  passender  Titel  für  diesen 
Auszug  als  solchen  würde 

„Julanthiskos 2)  und  Alexis 
oder 
Verbotener  Himmel44 
sein,    da    es    sich    bei    der   Freundschaft    zwischen    den 
genannten  schönen  Jünglingen  um  leidenschaftliche  Liebe 
oder,  wie  die   allwissende  Alethophone   sich    ausdrückt3), 
um  „Verbotenen  Himmel*  handelt. 


*)  Wolfgang  Menzel  III  1859  Seite  74:  „Die  Natürlichkeits- 
periode; die  Gräkomanie". 

Ueber  das  Kyllenion  handeln  besonders:  Jacobs  1822  Seite 
500;  1823  Seite  86;  VI  1837  (1823)  Seite  464^-467 ;  von  Wüstemann 
1823  Seite  18;  Eichstädt  1823  Seite  30—32;  69;  1849  Seite  62—64 
91;  Galletti  V  1824  Seite  41;  G.  bei  Hennings  1832  Seite  28—30 
von  Weber  I  1864  Seite  322;  373;  Beck  I  1868  Seite  440;  448—449 
Louise  Seidler  1874  Seite  92;  Reiohard  1877  Seite  496.  Ferner 
„Todesfälle"  1822. 

2)  Der  grichische  Name  Julanthiskos  bedeutet  „männliche 
Blüte"  und  müßte  demnach  mit  I  geschrieben  werden,  während  er 
in  der  Novelle  stets  mit  J  gedruckt  steht. 

8)  Seite  17  des  Kyllenion,  Seite  664  dieses  Jahrbuchs. 

Jahrbuch  V.  42 


Szene  aus  dem  „Kyllenio 
Das  Dankopfer  vor  der  wundertätigen  scr 
(zu  Seite  680  dieses  Jahrl 


—    659    — 


Kannst  Du  den  Flug  mit  mir,  o  Freundinn,  wagen, 
Auf  leichten  Schwingen  zu  der  Dichtung  Aun? 
Rasch  sollen  Dich  die  Purpurschwäne  tragen; 
Orangenduft  soll  süß  herniederthaun. 
Leicht  trenn*  Aurorens  Saum  der  goldne  Wagen;     * 
Ihn  wird  der  Hören  Schaar  bewundernd  schaün. 
Nichts  soll  der  Reise  Götterlust  Dir  trüben; 
Eil  unverzagt!     Dir  will  ich  Zauber  üben! 

Entfleuch  des  schwülen  Tages  bangen  Sorgen, 
Trägt  Dich  der  treuen  Freundschaft  Schwanenpaar! 
Tränk*  Deinen  Blick  im  Purpur  schöner  Morgen; 
Jasmin,  Granaten  flechte  Dir  ins  Haar. 
Nimm!  Dir  will  ich  Euterpens  Chelys  borgen; 
Gestimmt  und  rein  ist  ihrer  Saiten  Paar. 
Ergreifen  muß  ich  meiner  Schwäne  Zügel; 
Reich'  mir  die  Hand!  Wir   sind  auf  meinem  Hügel. 


42* 


—    660    — 


Eros. 


In  des  Orasis  friedlich  stillen  Auen 
Erreicht  mein  Götterflug  sein  holdes  Ziel. 
Bald  werd'  ich  Wunder  über  Wunder  schauen, 
Die  ich  geschaffen,  mir  zu  leichtem  Spiel. 

Soll  ich  der  Mutter  trüben  Winken  trauen? 
Wozu  der  Zwang,  der  niemals  mir  gefiel? 
Soll  ich  nicht  mehr  auf  meine  Allmacht  bauen?  - 
Für  schwache  Menschen  wäre  das  zu  viel! 

Ich  mag  nicht  lösen  meine  Zauberbinde; 
Ich  kann  nicht  missen  meine  leichte  Schwingen, 
Die  Fackel  nicht  und  auch  die  Waffen  nicht; 

Und  wenn  ich  hier  den  Widersacher  finde, 
Wie  mag  mir  dann  der  schwere  Kampf  gelingen, 
Wenn  mir's  an  Zauber  und  an  Reiz  gebricht? 


—    661    — 

Die  Verheißungen. 

Nie  hatte  man  bey  einem  Feste  so.  kunstreiche  Tänzer 
und  Tänzerinnen  gesehn;  doch  der  Koryphant1)  Alexis  mit  seiner 
göttlichen  Eburgestalt,  in  welcher  männliches  Ebenmaas  und 
jungfräulicher  Mildreiz  mit  erhabener  Einfalt  und  ruhiger  stolzer 
Kälte  unbegreiflich  schön  zusammen  schmolz,  übertraf  an  Kunst- 
Geschmeidigkeit  und  zephyrinischer  Leichtigkeit  alles;  auch  den 
schönen  braunlockigen,  f eueräugigen ,  lieblichen  Julanthiskos 
schier.  Schon  längst  hatte  man  beide  Beherrscher  der  Herzen 
einstimmig  als  Anführer  jeder  Freude,  jedes  Spiels,  jedes  Tanzes 
in  Arkadien  erkohren.  Sie  beneideten  sich  aber  nicht.  Phoibos- 
Alexis  war  der  Liebling  der  Männer  und  der  Frauen;  hingegen 
Hermes-Julanthiskos  der  Apfel  des  Neides  für  die  Mädchen. 

Julanthiskos  saß  mit  mühsam  verhaltenen  Zähren  und 
stützte  das  welke  schmollende  Haupt  mit  der  glühenden  Rechten; 
neben  ihm  die  niedliche  Freundin  und  Base  Nikrion,  mit  den 
Fingerspitzen  seiner  Linken  nachlässig  in  ihrem  Schoose  tändelnd. 
Aber,  lieber  Bruder,  so  fasse  dich!  Ist  denn  ein  versagter  Kuß, 
ein  unterbrochenes  Spiel,  ein  schnelles  Schweigen  bey  deinem 
Nähern  und  ein  fortgesetztes  Gespräch  mit  den  eleusinischen 
Jungfrauen,  sind  denn  das  alles,  guter  Julanthiskos,  so  grausame 
Beleidigungen?  Ach!  und  giebt  es  keine  unter  uns,  die  dich 
zerstreuen  kann?  —  Liebe  Base,  holdblickende  Nikrion,  wählte 
mich  nicht  die  gastfreundliche  Wirthinn,  die  Spiele  zu  ordnen, 
und  sollte  nicht  bey  dem  Tone  meiner  Stimme,  bey  dem  Winken 
meiner  Blicke  das  schwer  zu  fesselnde  Vergnügen  und  die  leicht 
zu  verscheuchende  Freude  ihren  Rosenthron  zwischen  uns  auf- 
stellen; ist  es  nicht  so?  Und  der  Stolze  da  ....  und 
Julanthiskos  wies  auf  Alexis,  der,  sorglos  zwischen  Mitylenis 
und  Eunome  auf  das  Ruhebett  hingegossen,  freundlich  ihm 
gegenüber  mit  der  holden  Wirthinn  und  ihrer  Freundinn  plauderte. 
Dabey  wurde  seine  Stimme  kindlich  schmollend,  und  er  warf 
trutzig  die  zarten  Rosenlippen  schwellend  auf,  das  lockige 
Maiaporhaupt2)  mürrisch  schüttelnd.  Nein;  der  Böse  da,  dem 
ich  freylich  nicht  den  Rang  in  Liebreiz  und  königlicher  Hoheit 
und  städtischer  Bildung  und  mystischer  Weisheit  streitig  machen 
kann,  könnte  doch  fühlen,  wenn  man  ihn  liebt.  —  Und  könntest 
du  dich,  unterbrach  ihn  ungeduldig  seine  Freundinn,  ihm  mit  leiser 
Drohung  einen  kleinen  Schlag  auf  die  Wangen  gebend,  und  mit 
ihrem  schalkhaften  Auge  die  doppelte  Röthe  der  Schaam  auf 
seine  Wangen  verbreitend;   ach!    könntest  du  doch  die  Männer 


1)  Anführer  des  Tanzes. 

2)  Sohn  der  Maja,  Hermes. 


—    662    — 

kennen  lernen,  die  am  liebsten,  wie  die  Parther,  fliehend  ver- 
wunden, —  und  dabey  stand  sie  auf,  um  sich  unter  die  Schaar 
der  Mädchen  zu  mischen,  die  mit  neidischen  Blicken  die  ver- 
traulich Plaudernden  bewacht  hatten.  Auch  Julanthiskos  erhob 
sich  langsam,  ordnete  das  leichte  Gewand  in  zierliche  Falten, 
und  reichte  seiner  Freundinn  die  Hand  zum  Tanze;  denn  eben 
spielte  das  Chor  eine  leichte,  wirbelnde  Weise,  und  im  schnellen 
Strome  der  raschen  Freude  wollte  er  seine  Laune  verrauschen. 
Aber  Alexis  plauderte  noch  mit  den  vier  reizenden  Jung- 
frauen. Ja,  das  —  das  wollen  wir;  und  dabey  funkelten  doppelt 
schön  in  dem  Glanz  einer  heiligen,  göttlichen  Freude  seine 
langgewimperten  Onyx-Augen,  und  der  gewöhnliche  Stolz  milderte 
sich  zum  Ausdruck  der  fröhlichsten  Schwärmerey.  Auch 
Eunome  und  ihre  Tochter  Agathyllis  haben  viel  durch  des  Orasis 
Verheerungen  gelitten;  —  und  er  legte  drey  kleine  Goldmünzen 
in  den  verschleyerten  Kalathiskos,  den  Alcine,  die  Barmherzige, 
unter  ihren  Gästen  sammelnd  herumgetragen  hatte.  Auch  die 
Oberreste  der  Speisen,  sagte  sie,  bekommen  meine  armen 
Arkadischen  Landsleute.  Alexis  flüsterte,  das  Gähnen  mit  dem 
Saum  seiner  Chlamys1)  bergend:  Beim  Anteros!  Julanthiskos 
ist  schön!  der  Myris  ins  Ohr.  Ihr  schwört  bey  dem  rechten 
Eide,  flüsterte  schalkhaft  seine  Nachbarinn  Mitylenis,  denn  du 
bist  jetzt  sein  Priester;  und  —  sein  Opfer?  —  entgegnete,  sich 
unwissend  stellend,  der  verführerischte  der  Männer.  Sprechet 
leise,  lispelte  die  schlaue  erröthende  Eunome  ihrem 
Nachbar  ins  Ohr  raunend:  den  du  lobest  und  doch  so  streng 
mishandelst!  Misbilligend  und  kalt  lächelnd  hüpfte  Alexis  von 
dem  aufschwellenden  Polster,  mit  leichter  Verbeugung  die  vier 
Jungfrauen  grüßend.  Eben  schwiegen  die  Töne  und  die  ermüdeten 
Paare  warfen  sich  hastig  athmend  auf  den  bunten  Teppich  der 
niedern  Periklima2).  Er  ergriff  den  verlegenen  Julanthiskos  bey 
der  weigernden  Hand  und  schwebte  schnell  mit  ihm  den 
weiten  Raum  des  Tanzsaals  auf  und  nieder.  Man  kann  nicht 
immer  tanzen,  nicht  immer  plaudern,  nicht  immer  spielen.  Die 
Lampe  will  Oel  und  die  Freude  Abwechselung,  sagte  er,  nach  einem 
langen  Schweigen,  und  Julanthiskos  nach  einem  langen  Seufzer  — 
„die  Liebe  —  Gegenliebe."  —  Was!  Du  minnest  so?  armer 
Knabe,  unterbrach  ihn  achselzuckend  der  Undankbare,  und  maß 
ihn  mit  zweifelnden  Blicken.  Eine  Taube  wird  es  wohl  seyn, 
Kleiner?  —  Nein,  ein  Pfau!  — und  die  Jünglinge  trennten  sich 
flugs  mit  Groll  im  Herzen.  Julanthiskos  hat  recht  gesprochen. 
Liebe   stirbt   ohne   Gegenliebe.     Aber   Alexis    sagte    auch    die 


*)  ein  kurzer  Mantel. 

2)  ein  Sofa,  das  an  der  Wand  hinlaufend  das  Zimmer  einfaßt. 


—    663    — 

Wahrheit:  Man  kann  nicht  immer  tanzen,  und  immer  plaudern,  und 
immer  spielen;  denn  die  Langeweile  fing  schon  an  ihre  Giftnebel 
über  die  ermüdeten  Gäste  auszugähnen,  zumal  da  die  entzweyten 
Könige  des  Festes,  jeder  verstimmt  in  seiner  Ecke  schmollte. 
Alles  seufzte,  sich  die  Augen  reibend,  ach!  wo  bleibst  du,  holde 
Veränderung?  Aber  sie  blieb  nicht  aus.  Plötzlich  öffneten 
sich  die  cedernen  Pforten  des  Saals.  Das  Katapetasma1),  mit 
Fimbrien8)  und  Scharlach-Säumen  geziert,  rauschte  auf,  und 
athemlos  kam  hereingestürzt  eine  der  Dienerinnen  Alcinens, 
freudig  rufend:  Heute  ist  unserm  Hause  Heil  widerfahren,  und 
das  bey  so  später  Nachtzeit!  Die  göttliche  Alethophone  verlangt 
ein  festliches  Kleid  und  einen  Becher  Wein.  Nachdem  sie  sich 
gewärmt,  ihre  Lyra  gestimmt,  die  Haare  gesalbet  und  mit  Raute 
gekrönt,  entbietet  sie  ihren  Gruß  durch  mich  der  edlen  Wirthinn, 
und  wünscht  ihr  und  den  Gästen  auf  verlangte  Weise  die  Zukunft 
zu  enthüllen.  —  Sie  sey  mir  willkommen!  rief,  der  Räthselhaften 
entgegeneilend,  Alcine.  Alles  schlug  mit  freudiger  Ungeduld  in 
die  Hände,  alles  drängte  sich  jauchzend  und  neubegierig  nach 
der  Pforte;  und  Alexis,  Mitylenis  und  Eunome  raunten  sich 
verstohlen  zu:  Eleusis!  —  Plötzlich  theilten  sich  die  gedrängten 
Haufen.  Freymüthig  und  edel  trat  die  hehre  Demeterissa  in 
den  hell  erleuchteten  Saal  und  grüßte  alle  mit  den  Worten: 

ATAUAN  KAI  &IAQI1AN  &1A012.*) 

Wie  eine  längst  Bekannte  grüßte  sie  alles,  Jung  und  Alt, 
Weib  und  Mann,  Jungfrau  und  Jüngling,  Mädchen  und  Knabe, 
freundlich  nahend,  aber  jedes  Herz  mit  Ehrfurcht  und  traulicher 
Rührung  füllend.  Man  wagte  nicht  zu  fragen,  man  unterstand 
sich  nicht  zu  bitten,  und  alles  schwieg  zagend  und  hoffend;  nur 
die,  welche  Eleusis  geflüstert  hatten,  verbargen  ihre  heftige 
Freude  unter  dem  vielsagenden  Lächeln  der  milden  Geheimniß 
ahndenden  Zuvorkommniß.  .Aber  Alethophone  errieth  aller 
Wunsch,  und  setzte  sich,  ihre  Lyra  stimmend,  auf  den  vergoldeten 
Hippogriphen-Sessel  der  freundlichen  Wirthinn.  Ich  kam,  sagte 
die  Vielwissende,  zu  trösten,  zu  warnen;  und  dabey  drückte  sie 
lieblich  mit  ihrer  Wange  Alcinens  Fingerspitzen,  welche  die  hinter 
ihr  stehende  ihr  auf  die  runde  Eburschulter  gelegt  hatte,  und  ihr 
schöner  Mund  umgrübte  sich  wie  zum  Kusse.  Nun  verlangte 
sie  von  jedem  die  Reihe  herum  seine  Lieblingsweise  zu  hören, 
und  sagte  jedem  in  dem  bekannten  Rhythmus  eine  Lehre,  oder 
eine  Weissagung.     Jeder  fühlte  die  Wahrheit;  jede  Wange  färbte 


')  der  die  Thtiren  bedeckende  Vorhang. 

*)  Fransen. 

3)  Eine  freundschaftliche,  glückverheißende  Begrüßungsformel. 


—     664    — 

sich  vor  Hoffnung  oder  Scham;  aber  alle  schrieben  sich  tief  ins 
Herz,  was  sie  gesungen,  denn  selbst  der  Tadel  der  Holden  war 
schonend  und  schmeichelnd.  Zu  Julanthiskos  wandte  sie  sich, 
die  Allwissende,  ihm  einen  Kuß  auf  die  bescheidenen  Wimpern 
drückend: 

Lieblicher,  wohin,  wohin?  — 
Über  Gluthen,  über  Sehnen, 
Über  Küsse,  über  Reize 
Treibet  dich  dein  kühner  Sinn, 
Nach  verbotnem  Himmel  hin. 
Julanthiskos  verbarg  sich  erröthend,   und   ein    Strahl   der 
Hoffnung  erheiterte  sein  trübes  Gemüth;  denn  als  sie  ihn  küßte, 
sagte  sie  ihm  leise:   Treue  siegt.     Aber  als  er  sich  unter  die 
Menge  der  jungen  Arkadierinnen  zurückzog,  warf  ihm  der  stolze 
Alexis  einen  spöttischen  Blick  zu,  der  diesem  aber  einen  strengen 
von  der  alles  bemerkenden  Sängerinn  zuzog. 
Treue  siegt; 
Treu*  erringt  den  schönsten  Preis. 
Laß  dich  nicht  erschrecken 
Durch  des  Stolzen  Kälte; 
Strahlen  folgen  Strahlen 
Bis  die  Wolken  schwinden. 
Und  die  Herzen    der   trauernden  Ungeliebten   füllten   sich 
mit  Hoffnung,  und  ihre  bleichen  Wangen  glänzten  im  Rosenlicht 
der  Ahndung;  aber  Julanthiskos  mußte  seitwärts  treten,  um  seine 
Zähren  zu  verbergen,   und   Alexis  sein   schadenfrohes   Lächeln; 
aber  Cypariß  und  Minoe  drückten  sich  freudig  die  Hände,  sicher 
vor   Älternzwang    durch   Alethophone's    schützende    Gegenwart. 
Noch  manches  sang  die  Demeterissa1),  was  nur  einige  verstanden ; 
dann  hüllte  sie  sich  in  ihre  tausendfaltigen  Schleyer,   und  nach- 
dem sie  jedes  gegrüßt,    und  im  Weggehen  der  Wirthinn  lieb- 
kosend den  schönen  Arm  gereicht  hatte,  und   als  Jung  und  Alt 
sie  lobend  und  dankend  und  preisend,   bis  an  die  Cedernpforte 
des  Saales  geleitete,  wandte  sie  sich  noch  einmal  um,  und  ent- 
hüllte   noch    einmal   ihr  hehres  Angesicht.     Dreyfacher  Huldreiz 
verbreitete   sich   über  Alethophone's   göttliche  Züge,  und  indem 
sie  die  glückdeutende  Linke  Julanthisken  und  die  strafende  Rechte 
Alexis  reichte,  sprach  sie  weissagend  also: 

Wenn  des  Stiers  und  des  Adlers  Geblüt  dich,  König 

der  Berge, 
Netzt,  und  zierliches  Gold  des  Gottes  Wangen  umglänzet, 
Welcher  die  Fluren  beglückt,  die  Wiege  sich  findender 

Geister: 
Dann,  o  Eros,  umarmt  dich  Anteros,  ewig  versöhnet. 

l)  Priesterin  der  Demeter  oder  Ceres. 


—    665     — 

Und  als  die  Kraft  des  heiligen  Ausspruchs  zwey  sich  grol- 
lende Herzen  erweicht  hatte,  verhüllte  sie  sich  wieder,  von  neuem 
ihrer  Wirthinn  Arm  umschlingend.  Plötzlich  verstummte  das 
Chor,  es  erloschen  die  Lampen,  und  jeder  schlich  ermattet  und 
betäubt  zur  Lagerstätte;  aber  nicht  um  zu  schlafen,  nein,  um 
nur  von  Alethophonen  wachend  zu  träumen.  —  Was  Julanthiskos 
geträumt,  ließen  seine  Korallenlippen  und  seine  blassen  Wangen 
ahnden;  auch  Minoens  und  Cyparissens  hoffendes  Nähern  bey 
Pans  Bomos1)  schien  ihrer  Träume  Folge  zu  seyn.  Was  aber 
manchem  andern  erschienen,  wissen  nur  Alethophone  und  die 
alles  ergründenden  Götter;  denn  nicht  alle  waren  zum  Opfer 
geblieben. 


Die  Jagd. 


Zephyros  heulte  durch  die  entblätterten  Wälder,  und 
schwarze  tiefe  Wolken  wälzten  sich  über  die  kalten,  öden,  über- 
schwemmten Auen.  Hier  und  da  fielen  einzelne  schwache  Sonnen- 
strahlen durch  schräge  Regengüsse  und  wirbelnde  Schnee- 
gestöber. Dort  umkreisten  Flüge  von  magern  Raben  hungrig- 
krächzend den  fetten  dampfenden  Rauch  der  sorgfältig  über- 
moosten  Wohnungen,  und  nur  schwach  blockten  die  eng  zusammen 
gedrängten  Schaafe,  die  trockene  Fütterung  wiederkäuend;  und 
schwächer  möckerten  die  gesonderten  Ziegen,  behaglich  das  ihnen 
dargebotene  Salz  leckend;  und  um  Stall  und  Hütte  schlichen 
in  frühem  Dämmern  des  langen  Abends  ausgehungerte  Wölfe, 
mit  ekelhafter  Gier  den  Auswurf  der  Hütten  erharrend,  und 
hämisch  heulend  und  zähnknirschend  um  die  häßliche  Kost 
streitend.  Von  innen  lagen  die  Hunde  mit  steifen  Ohren,  längs 
den  Schwellen  das  stumme  kampfgierige  Haupt  platt  auf  die 
Erde  gelegt.  Zornig  funkelten  die  treuen  Augen,  und  langsam 
und  rund  bewegte  sich  der  langhaarige  Schweif.  Bey  dem  hell- 
lodernden Feuer  saß  Julanthiskos  stumm  und  sehnend,  das  krause 
Haupt  in  eine  phrygische  Mütze  gehüllt,  und  die  betenden  Blicke 
wehmütig  und  fromm  auf  das  schwarz  berauchte  Hermesbild 
geheftet,  bedacht*  er  das  Lied  der  weissagenden  Thrazierinn. 
Sein  Bruder  Barys,  der  rohe  Hipparchos2)  aus  Larissa,  der  ihn 
besucht  hatte,  um  mit  ihm  die  Wölfe  zu  bejagen,  saß,  die  halb- 
garen Rüben  mit  seinem  breiten  geraden  Xiphos8)  in  der  Asche 


l)  Altar. 

8)  Anführer  der  Reiterei. 

8)  Degen. 


—    666    — 

wendend.  An  der  Wand  hingen  sein  Schild,  seine  Speere  und 
sein  Helm,  neben  den  Warfen,  dem  Hirtenstab  und  der  Flöte 
seines  reizenden  Wirthes.  In  einer  Ecke  glänzten  an  hohen, 
dünnen  Lampadophoren1)  die  doppeltdochtigen  Lampen,  und 
verbreiteten  ihr  ungewisses  Licht  über  die  glatt  getäfelte  Zelle, 
und  in  der  andern  Ecke  saßen  auf  der  niedern  Bank  der  alte 
treue  Myrion  und  der  muntre  Phryx,  der  eine  Kalathisken,  der 
andere  Diktyeri  *)  flechtend.  Barys  hatte  genug  von  Schlachten 
und  Gelagen,  Spielen  und  Festen,  Orgien  und  Lampsakalien8) 
gelogen,  worauf  Julanthiskos,  der  minnezerstreute,  nicht  hörte, 
als  er,  das  schwarze,  dick-  und  nahgebraunte  Auge  nach 
idem  Innern  der  Zelle  wendend,  mit  rauher  gebieterischer  Stimme 
rief:  Sklaven,  flugs!  des  besten  Weins  einen  Becher;  einen 
weiten,  tiefen  Becher,  denn  das  Reden  und  der  Rauch  haben  mir, 
beym  Priap!  die  Gurgel  ganz  zugeschnürt;  und  du  Julanthiskos 
bist  so  zerstreut  und  so  wunderlich,  wie  eine  Braut  beym  Gesänge 
der  Paranymphen.4)  Kannst  Du  noch  immer  nicht  den  stolzen 
Alexis  vergessen,  und  seine  Sprödigkeit?  Ein  Seufzer  war  die 
traurige  Antwort  des  Hoffnungslosen.  —  Beim  Pan!  so  biete  ihm 
einen  Becher,  oder  einen  schön  geschnittenen  Krug.  —  Ach! 
was  ich  ihm  biete,  verschmäht  ja  der  Böse.  —  Ey,  so  vergiß 
ihn,  bei  dem  freudebringenden  Gott!  Barys  wollte  noch  etwas 
härteres  sagen,  als  der  dienende  Knabe  mit  den  tiefen,  blinken- 
den Kratern  herein  trat,  und  sie  ihm  lächelnd  darbot.  Der 
durstige  Krieger  trank  hastig,  und  reichte  Phryx  das  leere  Gefäß 
wieder  zurück,  ihm  so  dankbar  die  Wangen  streichelnd,  daß  der 
Knabe  darüber  erröthete.  Dann  sprach  er  mit  ungewischten 
Lippen,  daß  er  dem  Sklaven  mit  dem  getrunkenen  Naß  die  Stirne 
besprützte:  Sing'  mir  ein  Lied,  Bube,  aber  ein  kurzes;  denn  es 
scheint,  als  wittere  der  Hund  einen  Wolf  in  der  Nähe.  Phryx 
spähte  Erlaubniß  in  den  Augen  seines  Herrn,  und  als  Julanthiskos 
traurig  ein  gefälliges,  brüderliches  Ja  nickte,  begann  Phryx  die 
muntere  Weise: 

Wer  sich  wund  gekämpft,  der  trinke; 
Wer  sich  matt  gejagt,  der  trinke; 
Wer  sich  müd'  geküßt,  der  trinke; 
Wer  sich  arm  gespielt,  der  trinke; 
Wer  sich  stumm  gegrämt,  der  trinke! 


*)  Gestell  zur  Befestigung  der  Leuchter. 
2)  Netze. 

8)  Geheime  und  ausschweifende  Feste   des  Bacchus  und   des 
Gottes  der  Gärten. 

4)  BrautfUhrerinnen. 


—    667     — 

Und  dabey  reichte  er  einen  kleinern  Becher  seinem  durch 
Zähren  lächelnden  Herrn.  —  Auf  einmal  unterbrach  Melag  und 
Okypos  lauteres  Bellen  Gesang  und  Gespräch.  Hastig  raffte 
der  jagdliebende  Barys  seines  Bruders  Waffen  von  der  Wand, 
und  ungeduldig  schnaubend  durch  die  Kammern,  die  Flur  und 
die  Vorhalle  rennend,  kam  er  an  die  verriegelte  Hausthür,  wo 
die  ungeduldig  kratzenden  Hunde  ihr  Gebell  hören  ließen.  Mit 
einem:  Beym  Priap!  dem  muß  ich  den  Hals  brechen!  riß  er  die 
Thür  auf  und  stürzte  mit  den  wüthigen  Bestien  in  den  beschneieten 
Hof  hinaus,  schwang  sich  über  die  blätterlosen,  bereiften  Hecken 
hinweg,  sah  in  der  Ferne  noch  die  fliehenden  Unthiere,  wollte 
immer  den  Feinden  nach,  und  fiel  —  o  weh!  über  eine  im 
Schnee  versteckte  Pinienwurzek  Übelgelaunt  und  mit  blutiger 
Nase  hinkte  er  wieder  in  die  warme  Hütte  zurück.  Dem  habe 
ich,  beym  lampsakalischen  Kolosse,  einen  Stich  beygebracht,  an 
den  er  lange  denken  wird,  sagte  er,  die  ungebrauchten  Waffen 
an  die  Wand  hängend.  —  Hat  Dich  der  Wolf  gebissen?  fragte 
spöttisch  Julanthiskos,  als  er  sah,  dass  sich  Barys  das  Blut  mit 
der  Chlamys  abwischte.  Mismuthig  setzte  sich  der  Thessalische 
Held,  und  zog  seine  Machära1),  nicht  um  den  erlegten  Wolf  zu 
zerstücken,  nein,  um  die  angespießten  Rüben  aus  der  Asche  zu  holen. 
Aber  ach!  sie  waren  verbrannt.  Hoch  lachte  Julanthiskos;  mürrisch 
sprang  darob  Barys  auf,  um  in  Morpheus  Armen  zwischen  den 
weichen  Bärenhäuten  des  nächtlichen  Lagers  von  Beute,  Wollust, 
Gewinnst  und  Rausch  zu  träumen;  und  Phryx,  der  schadenfroh 
von  ferne  die  unglückliche  Jagd  belächelt  hatte,  sang  ganz  leise, 
als  er  Barys  den  Schlaftrunk  und  das  rauchende  Melikrama 2) 
reichte: 

Wer  sich  blutig  fiel,  der  trinke. 


Der  Traum. 

Blaue  Sommernebel  überzogen  von  der  Morgengluth 
niedergedrückt  die  tiefen  Kühlen  der  Waldthäler,  die  in  dem 
Schatten  der  hohen  Gebirge  lagen,  welche  ihre  runden  Arme 
um  die  bethaueten  Wiesen  lagerten.  Blockend  weideten  in  den 
feuchten  Tiefen  Nikrions  dürstende  Heerden;  aber  ihre  bräun- 
lichen Ziegen  hüpften  in  wilden  Schaaren  die  schroffen  Felsen 
am  See  auf  und  nieder,  das  Kaperngesträuch  und  die  wilden 
Weinranken     benagend.       Lykanor,    der    treueste    Diener    der 


*)  Schwert. 

2)  Ein  aus  Wein  und  Honig  gemischtes  Getränk. 


—    668    — 

schönen  Hirtinn,  lag  im  Schilfe  und  neben  ihm  sein  Hund. 
Lykanor  saß  stumm,  den  braunen  Finger  auf  die  Lippen  geheftet, 
in  der  andern  Hand  die  eben  geschälten  Rohrstängel  haltend, 
die  er  zur  Flöte  für  seine  Gebieterinn  bestimmt  hatte,  deren 
streng  wiederholtes  Pst!  seinen  frohen  Liedern  ein  schnelles 
Ende  gesetzt  hatte;  denn  Nikrion  saß  träumend  im  Schatten 
der  Haselbüsche  am  murmelnden  Bach,  und  stützte  das  matte 
Köpfchen,  die  großen  Feueraugen  halb  schließend  halb  öffnend, 
auf  ihre  Rechte,  mit  der  Linken  den  krummen  Hirtenstab  nachlässig 
haltend.  Zu  ihren  Füßen  im  hohen  Farrenkraut  lag  ihr  mit 
rosenrothem  Rittersporn  und  feuerfarbigem  Mohn  gefülltes  Hüt- 
chen und  auf  der  andern  Seite  stand  ihr  zierliches  Galakterion  *). 
Die  reizende  Schwärmerinn  hätte'  noch  länger  geträumt  in  dem 
dunkeln  Schatten  der  Haselbüsche,  ihr  lykaonischer  Diener  noch 
länger  stumm  und  müssig  gelegen  im  hohen  flüsternden  Schilfe  des 
Sees,  wären  nicht  die  Freundinnen  Mitylenis  und  Eunome  mit 
ihren  Heerden  durch  die  nämlichen  Fluren  daher  gezogen,  und 
hätten  nicht  die  Weitsehenden  ihre  Vielgeliebte  in  der  Tiefe  der 
düstern  Gesträuche  erspäht.  Wachst  du,  oder  träumst  du, 
kleiner  Liebling  unsrer  Gemüther,  frug  auf  einmal  das  plötzlich 
sich  nahende  Schwesternpaar?  Du  reibst  dir  noch  die  schwarz- 
beschirmten Wimpern;  schnelle  Röthe  bedeckt  deine  Stirn,  und 
du  seufzest  gar  verlegen,  zierliche  Nikrion.  Neckend  ergriff  sie 
Eunome  bey  dem  lieblich  gegrubten  Kinn  und  Mitylenis  bey  den 
rosigen  Fingerspitzen  und  flüsterte  ihr  ein  bedenkliches,  Bist  du 
verliebt?  oder  was  fehlt  dir?  ins  kleine  Ohr.  Also  antwortend 
erhob  sich  die  Schönste  aus  Arkadien,  freudig  die  weit  ge- 
öffneten Augen  gen  Himmel  kehrend,  und  dabey  entschlüpfte 
ihren  Korallenlippen  ein  hoffender  Seufzer:  — 

Langersehnte  Götterbotinnen  seyd  ihr  mir,  ihr  holden  Ge- 
fährtinnen. Ja,  du  traumdeutende  Mitylenis,  du  räthsellösende 
Eunome.  Laßt  euch  umarmen,  ihr  theuern,  holden  Schwestern, 
denn  ihr  kommt  mir  in  einer  herrlichen  Stunde.  Dank  euch, 
Erebos  und  Morpheus;  und  dabei  ergriff  die  Fromme  das  hoch- 
gefüllte Galakterion,  und  besprengte  siebenmal  den  Boden  und 
streute  feuerfarbigen  Mohn  und  Ajax  rosige  Blumen  zu  den 
Füßen  der  Deutung  bringenden  Schwestern;  dann  winkte  sie 
dem  schwarzen  Hirten,  sich  zu  entfernen.  Du  träumtest  also, 
liebes  Mädchen,  fragte  freundlich  nach  kurzem  Nachdenken  die 
edle  Mitylenis;  und  das  nach  der  hohen  Mitte  der  Nacht,  als 
schon  Phosphoros,  der  Liebe -weckende,  dem  argolischen  Meere 
entstiegen  war?  Sage,  wenn  opfertest  du  zum  letztenmal 
Hygiäen  und  den  Nymphen?     Vor  vier  Tagen,  erwiederte  Nikrion, 


l)  Milchgefäß. 


—    669    — 

sittsam  erröthend.     Was  aßest  du,  ehe  du  einschliefest?    Einige 
Feigen  und  etwas  Melimala1).     Nun  erzähle  und  laß  die  Grillen 
weichen,  denn  die  Allmächtigen  meynen    es  gut  mit  dir,    da  sie 
uns  so  früh   zu   dir  senden.     Wir    kamen,    setzte    die    jüngere 
Eunome  hinzu,   dich   zu   bitten,    uns   das   neue  Lied   zu  lehren, 
welches   jüngst   der   reiche   Alexis    aus   Megalopolis   euch   bey 
Myris  Feste  sang,  und  welches   du   auf  deiner  Flöte  so  zierlich 
begleitetest.     Gern,    holde    Freundinnen,    will    ich    mich    damit 
lösen.     Setzt  euch;  hier   ist   es  kühl,   weich  und  trocken.     Ge- 
fällig griff  sie  in  ihren  Kalathiskos,  um  die  beschriebenen  Rinden 
zu  suchen,  worauf  sie  Alexis  Lied  gegraben,  ihre  Ungeduld  und 
ihre  Wißbegierde  unterdrückend.     Nein,  bey  den  Nymphen,  sagte 
noch   Eunome,   sich   liebend    an    sie   schmiegend:    erst   erzähle 
deinen  Traum,    denn   darum    sind   wir   doch   hier;   dann    ist  es 
noch  immer  Zeit,  uns  dein  Lied  zu  lehren.     Auch   kommen  wir 
eben  von  jenen  Hügeln,   wo   wir  Julanthiskos   weinend   fanden; 
auch  ihm  brachten  wir  Frieden.  —  Und   mit  welcher  Botschaft, 
fragte   lächelnd   Nikrion,   oder   welchem    weissagenden  Spruch? 
Ei,   beym  Panl    rief    schalkhaft   Eunome,    was    geht    dich    der 
schöne  Jüngling   an?     Was    er   mich   angeht?   —   Alexis    Lied, 
Julanthiskos  Thränen,  Myris  Feste  ....  Erlaube,  daß  ich  einmal 
errathen  darf.     Vermuthlich  frug  er   euch,   ob    man    ihn    immer 
mishandeln  würde,  und  ob  stets   minnearm  und  schmerzenreich 
seine  Tage  über  ihn  wegschleichen  würden?  —  Errathen!  kleine 
Pythia,  riefen  lachend  die  Freundinnen.     Ja,  der  trostlose  Jüng- 
ling wollte  wissen,  ob    stets   der   spröde  Alexis  ihn   verhöhnen 
würde,  wie  jüngst   an  Myris  Fest.      Wir   sagten:    Wenn   Alexis 
bespritzt    von    dem  feindlichen  Blute  liegt,   hingestreckt  an  des 
Kyllene  gähnendem  Abgrund,  findest  du,  Heblicher  Jüngling,  nach 
dreyßig  Tagen    und  Nächten  Minne   in  Klüften   und   Minne   am 
heiligen  Male;    doch   mußt   du    opfern   das   herrlich   glänzende 
Strephon  2)  dem  schützenden  Sohne  der  Maja.  —  Doch  auch  du 
träumtest  von  Julanthiskos?  —  Damit  endigten  die  allwissenden 
Jungfrauen  ihre  vielbedeutende  Rede.     Warum   soll  ich  läugnen, 
sagte  Nikrion,   und    schlug   beherzter   die  Augen   auf.     Ja,   eine 
Art  von  Julanthiskos  war's,  der  mich  führte;  aber  große  Riesen- 
schwingen bogen  sich  noch  über  den  Scheitel  und  die  mächtigen 
Pinnen  3)    berührten    die  Erde.     Eburn  und  blendend  die  unver- 
gleichliche Göttergestalt,  phönix4)    die  serischen6)    Haarschleifen 
auf   der    ehrfurchtgebietenden    Stirn.      Majestätisch    und    voller 
Siegreiz   schwebte  er  daher,   tadellos   und   gewandlos.      Wo  er 
sich    hinwandte    glänzte    Morgenroth;    und  Hyacinthendüfte   um- 


')  Honigäpfel.  —  2)    Halsband.  —   s)  Schwingen.  —  4)  dunkel 
purpurrot.  —  5)  seidenen. 


—    670    — 

flössen  ihn  tiberall,—  gemischt  mit  des  Euphons  süßem  Getön. 
Mit  der  Flöte,  die  er  hielt,  berührte  er  mir  die  Augen,  und  vor 
mir  lag  eine  Rose,  größer  wie  dieses  Thal  und  schillernd  und 
funkelnd  in  tausend  Farben,  und  aus  der  Rose  sprudelte  ein 
ambrosischer  Lichtstrom,  warm  und  höher  als  der  Olymp  und 
der  Sitz  der  Unsterblichen.  Rechts,  sagte  er  mir,  unter  diesem 
Rosenblatte  ist  Hyacinthos  Grab;  links,  der  Dioskuren  Wiege; 
hier  Orions  Lager,  und  zu  deinen  Füßen  Narcissens  Quelle. 
Plötzlich  entflog  aus  jedem  Lichttropfen  der  Quelle  eine  bunte 
phantastische  Ephemere,  aber  jede  trug  ein  schönes  Kinderhaupt, 
und  küsste  den  nackten  geflügelten  Gott  im  Vorbeyfliegen,  so 
dass  zuletzt  keine  Stelle  seiner  herrlichen  Gestalt  ungeküßt  blieb. 
Ich  erkannte  unter  der  Menge  Julanthiskos  Züge,  menschlicher 
und  arkadischer,  aber  doch  meinem  himmlischen  Führer  ähnlich. 
Die  Julanthiskjsche  Grille  verschmolz  sich  mit  ihr.  Ihre  Locken 
wurden  brauner  und  ihre  Färbung  menschlicher;  ihre  Schwingen 
und  die  Rose  verschwanden.  Beschämt  und  getäuscht  zog  ich 
die  Hand  zurück.  Eros  wollte  ich  folgen,  aber  nicht  einem 
arkadischen  Flöter.  Und  mit  einem  Schrey  des  Zorns  erwachte 
ich,  und  noch  immer  schwebt  die  entgötterte  Liebe  um  mich 
her,  und  erfüllt  mein  Herz  mit  Scham  und  Groll.  —  Nähre  dieses 
Gefühl,  riefen  begeistert  die  weissagenden  Jungfrauen;  nimm 
diesen  Ring.  Hier  erblicke  den  Käfer  und  drunter  gegraben  die 
Schlange  und  den  Hahn  und  das  Wiesel.  In  Eleusis  wirst  du 
finden,  wonach  du  so  lange  schon  schmachtest.  —  Weiter 
wollten  sie  reden ;  aber  Julanthiskos  kam  mit  seiner  Heerde,  und 
die  Schwestern  flüsterten  schalkhaft  der  schönen  Träumerinn  ins 
Ohr:  „Nimm  dich  in  Acht;  da  kommt  der  entgötterte  Eros." 
Aber  Unwillen  und  Zorn  entschwanden  schnell  aus  Nikrions 
trefflichem  Herzen,  denn  Thränen  des  Unmuths  bedeckten  des 
Jünglings  glühende  Wangen.  „Lieber  Nachbar",  rief  sie,  ihm  mit 
sanfter  Holdseligkeit  die  Flöte  reichend,  „Mitylenis  und  Eunome 
wünschen,  daß  ich  das  Lied  singe,  das  ich  jüngst  bei  Myris 
bließ.  Bitte,  komm!"  und  er  kam  und  begleitete  sanft  und 
schön  Nikrions  Silberstimme,  daß  die  Vögel  des  Waldes 
schwiegen  und  die  Hirten  und   Hirtinnen  der  Nähe   herzueilten: 


Kennst  du  das  Thal,  der  Vorzeit  Zauberspiegel, 
Wo  ewig  Unschulds-Lilien  bltih'n? 
Es  ist  des  Traumes  Geisterland. 

Kennst  du  das  Thal  —  es  glänzt  in  Phöbos  Strahlen  ■ 
Wo  üppig  Cypris  Rosen  glüh'n? 
Es  ist  des  Traumes  Geisterland. 


—    671    — 

Kennst  du  das  Thal,  umstrahlt  vom  Zukunftsterne, 
Wo  singend  jede  Welle  rollt? 
Es  ist  des  Traumes  Räthselland. 

Julanthiskos  Thränen  rollten  in  der  Flöte  sanft  hüpfendem 
Tacte,  und  er  dachte  an  der  Schwestern  tröstende  Weissagung. 
Auch  die  singende  Hirtinn  dachte  an  Eleusis  und  der  heiligen 
Alethophone  Umarmung,  und  ihre  Blicke  verließen  nicht  den 
räthselhaften  Ring,  den  sie  eben  von  den  Freundinnen  erhalten. 
Lange  standen  Julanthiskos  und  Nikrion  in  Gedanken  verlohren, 
und  hatten  nicht  gemerkt,  daß  die  Jungfrauen  der  Wahrheit 
durch  das  Gebüsche  verschwunden  waren.  —  Ich  werde  doch 
endlich  glücklich  lieben,  seufzte  der  hoffende  Jüngling!  In 
Eleusis  werde  ich  Frieden  und  Vollkommenheit  finden!  flüsterte 
Nikrion,  ihren  Ring  küssend;  und  sie  trieben  ihre  Heerden 
weiter  in  den  Wald  hinein,  denn  die  Sonne  glühte  am  hohen 
Mittage. 


Die  Früherndte. 

Bei  Pans  [von  fünf  riesenmäßigen  Feigenbäumen  malerisch 
umstrickten  und  vom  brausenden,  sich  nördlich  in  den  heiligen 
Nymphensee  am  Fuße  des  entfernten  Kyllene  ergießenden  Orasis 
bespülten]  Altare  saßen  die  Schwestern  Myris  und  Alcine  im 
Schatten  mächtiger  Buchen,  um  welche  sich  rothbeeriges  Geisblatt 
und  zierlich  gefächerte  Waldreben,  Kränze  windend,  hinauf 
klammerten,  und  schieden  die  rothwangigen  Gaben  des  Herbstes 
in  hohen  Kalathisken1)  und  auf  breiten  Diskoiden2)  und  in  tiefe 
kleinere  Kraterinen8),  alle  zierlich  und  eng  und  haltbar  aus 
Weiden,  Rohr  oder  Binsen  geflochten.  Neben  ihnen  saßen  die  treuen 
Mägde,  lasen  und  halfen,  säuberten  und  wählten.  Lang  war  die 
Arbeit,  denn  überschwenglich  waren  dieses  Jahr  Pans  frühe 
Wohlthaten.  Zu  ihnen  gesellte  sich  die  muntere  Phylis  und 
Teukrion,  ihr  älterer  Bruder.  Auch  die  Muhme  Lesbia  mit 
ihrem  Bräutigam,  dem  Megalopolischen  Barys,  und  Barys  der 
Jäger,  des  reizenden  Julanthiskos  älterer  Bruder,  und  Kleanth 
mit  Leucinoe,  Melissa  und  Psyche,  alle  Freunde,  oder  nahe  mit 
Myris  und  Alcine  verwandt.  Singend,  plaudernd  und  lachend 
vergingen  die  geschäftigen  Stunden.  .  .  .  Die  Sonne  schien  heiß 
und  feurig  durch  die  welkenden  Blätter,  und  die  jauchzenden, 
naschenden  und  küssenden  Freunde  setzten   sich   eng   und   ver- 


*)  Körbehen.  —  2)  Schüsseln.  —  3)  Schalen. 


—    672    — 

traulich  in  die  kühlen  Schatten  der  Stämme  zusammen.  Die 
Mädchen  hatten  gesungen,  und  die  Jünglinge  jeder  sein  Mährchen 
erzählt.  Jetzt  kam  die  Reihe  an  Barys  und  seinen  Bruder 
Julanthiskos.  Barys  ergriff  die  gelbe  Flöte,  nachdem  er  sich  die 
mit  dem  Blute  der  Kirschen  gefärbten  Lippen  abgewischt. 
Julanthiskos  stimmte  die  hohle,  braungefleckte  Zistra  in  den 
weichen  Lydischen  Modus.  Eben  will  er  das  Lied  der  Schwalben 
beginnen,  als  sie  alle  fröhlich  und  begeistert  ausrufen:  „Sieht 
er  nicht  aus,  der  Liebliche,  wie  Hermes-Zistrophoros!" 
Bescheiden  erröthend  verbeuget  er  sich  hold  und  demüthig, 
während  der  ältere  spöttisch  unter  den  tiefgedrückten  Braunen 
zu  ihm  hinaufschielte.  Doch  Julanthiskos  lächelt  dankend  und 
beginnt  das  liebliche  Lied: 

Chelidon,  wohin,  wohin?  — 
Über  Berge,  über  Flüsse, 
Über  Länder,  über  Meere 
Treibet  mich  mein  innrer  Sinn 
Nach  entferntem  Frühling  hin. 

Chelidon,  woher,  woher? 
Über  Meere,  über  Länder, 
Über  Flüsse,  über  Berge, 
Fand  ich's  fremd  und  freudenleer; 
Darum  komm*  ich  reuig  her. 

Chelidon,  so  bleibe  hier; 
In  dem  Schatten  unsrer  Hütte 
Findest  Ruhe  du  und  Minne.  — 
Ewig  rasten  räthst  du  mir? 
Nein;  nur  Wechsel  lieben  wir. 

Nachdem  der  reizende  Sänger  geendet  und  sich  wieder 
zu  den  Füssen  der  holden  Hirtinnen  gesetzt,  begann  von  neuem 
das  muntere  Gespräch.  Nur  ein  Mann  konnte  das  Lied  des 
Wankelmuths  singen,  sagte  seufzend  Lesbia  —  und  des  Undanks 
dazu,  seufzte  Philis,  —  und  der  Eitelkeit,  lächelte  bitter  Leucinoe. 
—  Aber  Julanthiskos  ist  ja  nicht  alles  dieses?  flüsterte  erröthend 
Meine.  Auch  wollte  ich  alles  dieses  nicht  rühmen,  antwortete 
der  fein  Hörende;  auch  ich  kenne  mein  Geschlecht,  und  Thränen 
traten  ihm  ins  dunkle  blaue  Auge.  —  Ihr  sehet,  Schwestern, 
daß  euer  Urtheil  den  Holden  betrübt,  und  dabey  hielt  sie  den 
traurigen  Jüngling  zurück.  Er  geht  ja  nicht  mit  seinem  Bruder 
und  den  andern  Männern  zu  den  berauschten  schreyenden 
Winzern,  oder  zu  den  frechsten  Dirnen,  wie  er;  nein,  er  bleibt 
bey   uns,    ob    wir   gleich   ihn  miskannten.      Alle   die   Mädchen 


—    673    — 

baten  ihn  um  Verzeihung  und  küßten  ihn  zärtlich.  Acine  setzte 
ihm  einen  Kranz  von  Myrthen  und  Spätveilchen  auf  das 
gebückte  Haupt;  und  Myris  und  Melissa  kränzten  mit  Wintergrün 
seine  Chelys,  und  Psyche  salbte  die  Fingerspitzen  mit  köstlicher 
Myrrha;  aber  alle  ernannten  ihn  zum  Könige  des  herbstlichen 
Festes;  und  sie  plauderten  und  sangen  noch  lange,  obgleich  die 
neidischen  Jünglinge  sie  schmollend  verließen,  um  ihren  Groll 
in  dem  berauschenden  Saft  der  Reben  zu  ersäufen.  Julanthiskos 
blieb  bescheiden,  denn  unter  den  Gehenden  war  sein  Bruder.  Jetzt 
tönte  das  ferne  Evoe!  Mein  Bruder  opfert,  und  wir  vergessen 
undankbar,  daß  diese  Schätze  Pans  Gaben  sind.  Sein  Altar 
stehet  leer,  und  wir  sammeln  und  genießen.  Ein  heiliges  Feuer 
begeisterte  alle.  Dankbarkeit  und  Götterfurcht  erfüllten  jedes 
Herz.  Die  Wirthinnen  ergriffen  mit  jungem  Most  gefüllte  Becher 
und  begossen  damit  zur  Weihe  das  unter  den  Feigenbäumen 
errichtete  Mal.  Julanthiskos  bekränzte  die  Zweige  mit  späten 
Blüthen,  und  die  Abendsonne  beschien  lächelnd  das  schönste 
Fest  der  Dankbarkeit.  Aber  der  Mond  beleuchtete  bey  seinem 
Untergehn  die  blassen  Gesichter  der  Männer,  wo  die  Farbe  des 
Ekels  und  des  Nachrausches  schon  lange  die  der  Reue  und  der 
Schaam  verscheucht  hatte.  — 


Die  Hoffnung. 

Der  Herbst  schüttelte  mit  seinen  lohfarbenen  Sperber- 
schwingen feuchte  röthliche  Abendwolken  und  rasselnde  gekrümmte 
Blätter  und  schwärzliche  Schiefersplitter  in  das  trockne  Moos 
und  die  welkenden  Geniststräuche,  über  die  runden  Abfälle  des 
heiligen  Kyllene,  in  die  tiefen  wärmern  Thäler,  die  der  hoch- 
uferige  Orasis  schäumend  laut  durchmurmelt.  Nur  die  immer- 
grünen Eichen,  die  stolzen  kernreichen  Pinien,  die  harzigen 
Mastixbäume,  die  glänzenden  Tinos,  die  korallentragenden  Stech- 
palmen, und  die  Felsen  umklimmenden  Smilaxbüsche  trotzten 
dem  alles  Verheerenden.  Phoibos  streckte  segnend  seine  goldenen 
Arme  über  Arkadien  aus,  und  ruhte  sein  pürpurlockiges  Götter- 
haupt an  die  Lazurpfosten  seiner  nächtlichen  Kammer,  eh'  er 
Messenien  und  Elis  sein  Abschiedslied  hören  ließ,  und  bange, 
süße  Ahndung  zirpte  wie  Grillenklang  durch  die  müden  Herzen. 
Julanthiskos  stand  freudenlos  unter  den  hervorragenden  Felsen, 
schlaff  hing  sein  schönes  Haupt  auf  die  matt  wallende  Brust 
herab,  naß  und  ungekräuselt  die  weichen  bräunlichen  Locken  um 
Nacken  und  Schultern.  In  der  unthätigen  Rechten  hielt  er  einen 
Kranz    von    späten   Veilchen    und   Wintergrün,    in    der   Linken 

Jahrbuch  V.  43 


—    674    — 

schwebte  in  der  unbekümmerten  Fingerspitze  der  schlaffe  Bogen. 
Von  den  weißen  Hüften  war  das  kurze  ätolische  Jagdgewand 
zu  den  Knien  herab  geglitten,  und  zu  seinen  gekreuzten  Füßen 
lag  im  hohen  Moose  der  Vorhöhle  sein  leichter,  pfeilreicher 
Köcher.  Des  schönen  Knaben  treue  Jagdgefährten,  Melos,  Kyanos, 
Okypos,  die  spitznasigen  Verfolger  der  Rehe,  durch  eine  Kuppel 
gefesselt,  schlichen  wähnend,  als  hielte  sie  noch  ihr  träumender 
Herr,  längs  dem  schwärzlichen  Schieferfelsen  mit  tiefstreifenden 
Schnauzen  die  weit  duftenden  Pilze  des  Herbstes  auswitternd. 
—  Aber  der  Unzufriedene  fühlte  nicht  die  kalte  Feuchte  des 
Heiligthums  der  Hamadryaden;  er  hörte  nicht  das  ängstliche 
Mökkern  eines  zarten  verirrten  Lammes,  das  längs  dem  steilen 
Abhang  der  Untiefen  athemlos  durch  das  welke  Moos  kletterte, 
daß  die  rollenden  Kiesel  und  die  gebröckelte  Erde  raschelnd 
in  die  Felsenklüfte  herabfielen;  und  von  ihm  ungehört  ahmte 
Echo  seine  Seufzer,  und  das  Angstgestön  des  zitternden  Lammes, 
und  das  Rauschen  der  Blätter  und  Steine  nach.  Auch  hörte  er 
nicht  das  entfernte  Rufen  Onikleiens;  er  sah  auch  nicht  in  seiner 
traurigen  Zerstreuung  einen  riesenmäßigen  Lämmergeyer,  der  in 
weiten,  dann  in  engern  und  immer  engern  Kreisen  die  niedere 
Luft  vor  Julanthiskos  düsterm  Schmollwinkel  pfeifend  durch- 
schnitt. Ach!  er  hörte  und  sähe  nichts;  denn  er  träumte  von 
unbelohnter  Freundschaft  und  mordendem  Undank.  —  Auf  ein- 
mal schlugen  dreymal  seine  drey  Gefährten  an.  Durch  den 
wohlbekannten  Ton  schallte  das  ängstliche  Rufen  einer  athem- 
losen  Mädchenstimme.  Sich  selbst  unbewußt,  blickte  er  durch 
die  Zähren  des  Unmuths,  rasch  Bogen  und  Pfeile  ergreifend. 
Er  hörte  noch  einen  krachenden  Fittigschlag  des  gierigen 
Mörders,  und  blutend  rollte  Onikleiens  unschuldiger  Liebling  von 
Felsen  zu  Felsen  in  die  unendliche  Tiefe.  Umsonst  sandt  er 
den  unsichern  Pfeil  von  der  kaum  gespannten  Sehne,  und  eben 
so  umsonst  schallte  das  zürnende  Gebell  seiner  Hunde  in  das 
Thal  hinab.  Der  König  der  Klüfte  hatte  glücklich  gejagt.  Mis- 
muthig  und  ärgerlich  wollte  Julanthiskos  in  seine  Lieblingshöhle 
zurückkehren;  da  lag  hinter  ihm  höher  am  Abhänge  des  Berges 
blaß  und  erstarrt  im  blutigen  Farrenkraut  Onikleia,  die  schönste 
der  Hirtinnen,  das  Gewand,  zerrissen,  und  die  schwarzen  üppigen 
Locken  hingen  herab  über  Stirn,  Wangen  und  Busen,  und  die 
grüngelben  Blätter  des  Farrenkrauts  schlugen  hoch,  wie  eine  Laube, 
über  der  lang  hingegossenen  Mädchengestalt  zusammen,  als 
freuten  sie  sich  des  schönen  Fangs.  Julanthiskos  schöpfte 
erweckendes  Kalt  «aus  der  nahen  Quelle,  und  bestrich  damit  die 
zarten  Schläfen  der  langsam  Erwachenden.  Ein  sprödes  Ach  l 
entfuhr  den  sich  wieder  röthenden  Lippen,  und  spröder  stieß  sie 
den   verlegenen  Knaben   zurück.    Mit   einem  Ach!   richtete   sie 


—    675    — 

sich  auf,  in  die  verwirrten  Gewänder  sich  hüllend.  Glücklich 
für  beyde  kam  die  jüngere  Molyssa  herzugestürzt.  Die  undank- 
bare Spröde  befahl  im  kalten  Ton  dem  reizenden  Jäger,  den 
Ort  zu  verlassen.  Er  nahm  bitter  lächelnd  seine  Pfeile,  seinen 
Köcher,  seinen  Bogen,  und  verhüllte  seine  zu  entblößte  Gestalt 
in  das  ätolische  Jagdgewand.  Er  ergriff  schmollend  die  Leitseile 
seiner  schnellfüßigen  Hunde,  und  stieg  den  heiligen  Berg  mit  Groll 
gegen  die  undankbaren  Menschen  im  Herzen  herab ;  und  im 
Herabsteigen  hörte  er  noch  lange  das  fruchtlose  Jammergeschrey 
der  trostarmen  Schäferinnen.  —  An  der  Flamme  seines  heimi- 
schen Heerdes  schwur  er  bey  dem  Heiligthum  der  Hamadryaden, 
sobald  nicht  wieder  auf  Männerliebe  und  Mädchendank  zu 
rechnen;  aber  ein  Etwas  stahl  sich  in  ihn  mit  der  leuchtenden 
Wärme,  die  seinen  Körper  durchdrang,  und  lächelnd  grub  sich 
die  Hoffnung  einen  werthen  Namen  in  sein  treues,  zärtliches 
Herz.  Hermes  —  lispelte  er  —  und  ihr  heiligen  Nymphen,  die 
ihr  meines  Unmuths  und  meiner  Wünsche  Zeuginnen  wart!  — 
und  indem  er  so  dachte,  hüpften  seine  Pulse  freudiger;  und 
lächelnd  setzte  er  den  Veilchenkranz  dem  rusigen  Hermeshaupte 
auf,  und  das  Lied  der  Hoffnung: 

Nenne  mir  bey  drohenden  Gefahren 
Jenen  Stern,  der  niemals  sich  verbirgt, 
Dessen  Glanz  das  tödtende  Entsetzen 
Mächtig  in  der  Zukunft  Raum  verbannt. 
Nennen  will  ich  meines  Führers  Namen, 
Hoffnung,  dich,  des  Glückes  Morgenstern  — 
entquoll   seinen  Rosenlippen.    Wie   beschämt  gedachte   er   des 
Eides  bey  der  Hamadryadischen  Höhle,  und  schlug   noch  immer 
die  Cyanen-Augen   von  langen  'schwarzen   Wimpern   beschattet, 
in  die  hochrothe  Gluth;  aber  eine  mächtige  Stimme,  wohllautend, 
übermenschlich,  erscholl  durch  die  gemächliche  Hütte,  ihn  nennend. 
Zitternd  sank  er  zu  dem  heiligen  Wunderbilde  der  Vorzeit,  und 
um  den  schlanken  Hals  des  herabblickenden  Gottes   wand   sich 
ein  leuchtendes  Strephon.     Da  gedachte   er  plötzlich    der  tröst- 
lichen  Verheißungen,    welche   ihm    die   Jungfrauen    der   Weihe 
gegeben  hatten,    und  die   herrliche  Ahndung,   die    des  Jünglings 
hochklopfendes  Herz  bey  diesem  Gedanken  durchbebte,   täuschte 
ihn  nicht.     Julanthiskos  ward  überzeugt,  daß  kein  Freundschafts- 
bund gedeiht  ohne  Beständigkeit  und   ohne  Majapors   segnende 
Macht;   und  dieses  Bewußtseyn    war   eben   die  Stimme  Hermes 
Philozügetes1),  der  an   jenem  glücklichen  Abend   über  Arkadien 
wegflog. 


*)  des  Freunde  verbindenden. 

43* 


676    — 


Die  Erfüllung. 

Du,  Mynion,  bleibst  in  der  Hütte,  und  du,  Limeus,  weidest 
die  leicht  sich  zerstreuenden  Ziegen  längs  der  hohen  Ufer  des 
Orasis;  und  du  endlich,  erfahrner  Phryx,  führst  die  Lämmer 
seitlang  der  lotusreichen  Tiefen  der  warmen  Quellen.  Nimm 
diesen  Kalathiskos  und  pflücke  mit  schonenden  Fingerspitzen 
auf  den  sammtigen  Blättern  mir  die  schwarzen  leicht  zerschmelzen- 
den Beeren  des  Herbsts;  denn  durchnässende  Nebel  umhüllen 
schon  des  Kyllene  Steilen.  Du  aber,  Mynion,  erhalte  das  kleine 
Feuer  und  öffne  klüglich  die  Züge  des  Heerdes,  damit  der  Rauch 
die  Kammern  nicht  verderbe.  Also  sprach  Julanthiskos,  der 
schönste  der  arkadischen  Jünglinge,  die  schwankenden  Speere  von 
der  glattgetäfelten  Wand  herablangend,  und  den  braunen  flachen 
Hut  sich  unter  das  weiche  Kinn  festriemend.  Du,  Phryx,  hefte 
mir  auf  der  linken  Schulter  den  runden  Mantel  deines  Mutter- 
landes. Recht!  Noch  einmal  wandte  er  grüßend  das  bräunlich 
gelockte  Haupt  zu  dem  schützenden  Bilde  des  Gottes,  selbst 
nicht  ahndend,  daß  er  so  bemäntelt  und  behütet  wie  ein  unbe- 
flügelter Hermes  aussah,  und  verließ,  nachdem  er  alles  besorgt, 
schnell  die  älterliche  Wohnung.  Zuerst  eilte  er  durch  den 
schattigen  Gang  der  Reben,  dann  durch  den  Garten  der  obst- 
tragenden Bäume,  dann  über  die  Wiesen  am  Orasis,  dann  bey 
Menalkas  Hütte  und  bey  Grynions  und  Myrtills  Wohnungen 
vorbey,  itzt  bey  dem  Kedrischen  Born,  der  bey  den  Cypressen 
rauscht,  dann  schnellen  Trittes  den  Hügel  hinauf;  jetzt  unter  den 
immergrünenden  Eichen,  dann  bey  dem  Ulmenwalde  vorbey  und 
den  Tinosgebüschen,  dann  bey  den  hohlen  Felsen  der  S.chiefer- 
brüche.  Jetzt  grüßt  er  Minoe,  die  Neuvermählte;  schäkernd 
hält  sie  ihn  beym  flatternden  Mantel.  Wo  so  schnell  hin, 
Julanthiskos?  Zwar  sind  wir  gewohnt,  daß  du  den  scharfen 
Wurfspieß  dem  krummen  Schäferstab  vorziehst,  doch  nie  sah 
ich  dich  so  schnell  die  Räume  durchschneiden.  Höre,  was  zieht 
dich  den  mit  Herbstnebel  bedeckten  Kyllene  so  unwiderstehlich 
hinauf?  Ich  lasse  dich  nicht  eher  los,  du  sagst  mir  den  Zweck 
deines  Eilens,  oder  du  singst  mir  ein  Lied.  Sagen  kann  ich 
dir  nicht  den  Zweck  meines  Strebens,  denn  ich  weiß  noch  nicht 
die  Beute  der  Jagd,  die  mir  zu  Theil  wird;  aber  singen  will  ich 
dir  wohl  ein  Lied,  und  was  noch  mehr  ist,  das  Lieblingslied 
deines  Cyparissos.  Doch  zuerst  gieb  mir  einen  Kuß.  —  Wenn  du 
gesungen,  so  will  ich  sehen,  ob  es  der  Mühe  lohnt. .  Und 
Julanthiskos  stimmte  das  Lied  des  Jägers  Arkas  in  dem  Phrygi- 
schen  Modus  an: 


—     677    — 

Beym  kindlichen  Strahl  des  erwachenden  Phoibos 

Ergreifen  wir  Speere, 

Pfeil,  Bogen  und  Hörner, 

Und  folgen  dem  Drange 

Zum  Hayne,  zum  Walde; 

Und  folgen  dem  Streben 

Nach  Beute,  nach  Ruhm. 
Beym  göttlichen  Glühn  des  alltreffenden  Phoibos 

Verlassen  wir  Speere, 

Pfeil,  Bogen  und  Hörner, 

Und  schleichen  ermüdet 

Zu  kühligen  Grotten, 

Und  folgen  dem  Durste 

Zum  murmelnden  Bach. 
Beym  scheidenden  Purpur  des  segnenden  Phoibos 

Heimkehren  wir  singend. 

Es  klirren  die  Waffen; 

Es  tönen  die  Hörner. 

Wir  folgen  belastet 

Dem  plaudernden  Zuge, 

Mit  Beute,  mit  Ruhm. 

Ehe  er  das  Lied  geendet,  kam  Cypariß  selbst,  und  mit 
dem  letzten  Klange  der  phrygischen  Weise  hielt  Minoe  und  ihr 
Gatte  liebkosend  und  lobend  den  unwiderstehlichen  Jüngling  in 
ihren  Armen;  aber  hochglühend  entwand  sich  der  Reizende,  und 
entfloh  wie  der  unaufhaltbare  Pfeil  den  Hügel  hinauf,  und  durch- 
schnitt den  Raum  und  die  Herbstnebel.  Noch  lange  sprachen 
die  Gatten  von  Julanthiskos,  dem  schönsten  der  Jünglinge,  dem 
vorzüglichsten  der  Sänger,  und  dem  raschesten,  muthigsten  der 
Jäger  aus  dem  kyllenischen  Gau,  ehe  sie  heimkehrend  die 
blockenden  Lämmer  und  die  hüpfenden  Ziegen  in  ihre 
geräumigen  Hurten  gesammelt  hatten.  Julanthiskos,  von  Kälte 
und  Nebel  durchnäßt,  hatte  umsonst  Wälder  und  Büsche  durch- 
späht, war  umsonst  von  Felsen  zu  Felsen  gehüpft,  denn  heute  war 
der  heilige  Berg  wie  ausgestorben.  Hier  und  dort  hackte  ein 
einsamer  Specht  die  glatte  Rinde  des  Lorbeerbaums,  oder  die 
dicke  Borke  der  Korkeiche,  und  die  nachäffende  Echo  wieder- 
holte den  Einton,  oder  sie  schrie  dem  heisern  Pfeifen  des  gierigen 
Weihe  oder  des  fernhorstenden  Aar  nach,  oder  brüllte  schwach 
und  traurig  wie  der  Büffel  in  moosigen  Klüften.  Alles  war  öde  und 
schauerlich.  Selbst  die  zaghaften  Eidechsen  schlüpften  langsam 
über  die  rothen  Nadeln  der  Pinien  durch  das  welkende  Farrenkraut, 
und  durch  die  dürren  Akanthen  zurück  in  ihre  heimische  Ritzen. 
Keine  Grille  wagte  zu  zirpen,  und  Julanthiskos  ahndender  Seufzer 


—    678    — 

und  ungeduldiger  Fußtritt  war  der  einzige  Klang,  der  mühsam  die 
dichten,  grauen,  kalten  Nebel  durchdrang.  Doch  wer  hemmt  den 
rastlosen  Schritt  des  spähenden  Jägers?  Wer  vermag  der  suchen- 
den Hoffnung  der  Liebe  einen  neuen  Weg  zu  lehren?  Julanthiskos 
seufzte  sehnend  dreymal:  Alexis.  —  Da  hörte  er  plötzlich  fernes 
ängstliches  Rufen,  und  sein  Alexis  wurde  Gegenruf.  Er  stürzte  von 
Felsen  zu  Felsen,  nur  der  Stimme  der  Ahndung  folgend;  denn 
undurchdringliche  Nebel  und  herbstliche  kalte  Schatten  bedeckten 
die  schlüpfrigen  Schiefer,  und  die  glatten  niedergedrückten  Geniste 
und  Haiden  der  kyllenischen  Einöden.  Itzt  klang  es  wieder  wie 
Hülfe,  Hülfe!  und  Julanthikos  mußte  sich  wenden,  denn  die  Klage- 
stimme kam  von  der  entgegengesetzten  Seite;  aber  näher  und  ver- 
nehmlicher, bekannter  und  theurer  klang  das  flehende  Hier,  Hier! 
Krampfhaft  schlug  ihm  das  ungeduldige  Herz;  itzt  drängte  er  sich 
durch  die  eng  gepflanzten  Stämme  hoher  Pinien,  dann  wieder  durch 
die  verwirrten  Dornen  der  Kapern  und  Hippophaen,  und  die  wilden 
Gestrüppe  der  Felsen;  zuletzt  schurrte  sein  müder  Fuß  bis  an  den 
jähen  Abhang  einer  schwarzen  Untiefe,  und  durch  den  graublauen 
Schleyer  am  entgegengesetzten  Rande  erkannte  er  die  geliebte 
Gestalt  seines  Alexis.  Die  Freude,  ihn  endlich  zu  treffen,  ver- 
scheuchte schnell  den  innerlichen  Schauder  des  Schwindels.  Bist 
Du  es,  Julanthiskos?  tönte  es  schwach  jenseits  der  Kluft;  bist  Du 
es,  Alexis?  erschallte  es  entzückt,  doch  athemlos  diesseits.  Komm, 
ach!  komm;  —  und  ein  mächtiger  Sprung  über  den  fürchterlichen 
Felsensturz  vereinigte,  die  sich  vielleicht  sonst  nie  gefunden  hätten. 
Der  reiche  Bewohner  des  Kyllene,  Besitzer  der  schönsten  Palläste 
und  Gärten  in  Arkadien,  ja  selbst  im  ganzen  Hellas,  der  stolze 
Jüngling,  um  den  so  lang  der  treueste  der  Hirten  gedient  hatte,  lag 
verwundet  und  matt,  durchnäßt  und  waffenlos  auf  dem  blutigen 
Felsen.  Gejagt  hatte  er  die  brüllenden  Bewohner  dieser  nebelichten 
Höhen.  Der  Wege  unkundig,  von  seinen  Dienern  verlassen,  war 
er  in  die  Irrgänge  der  übereinander  gestürzten  Basaltklippen 
gerathen.  Den  letzten  Wurfspieß  hatte  er  seinem  grimmigen 
Gegner  in  den  feisten  Wanst  gerennt,  und  rollend  und  sinkend 
stürzte  das  gehörnte  Ungeheuer  auf  seinen  Sieger,  ihn  zu 
zerquetschen  drohend;  und  so  fand  ihn  Julanthiskos  verwundet 
und  mit  Blut  bespritzt  neben  dem  noch  röchelnden  Büffel. 
Die  Jünglinge  wurden  endlich  von  Alexis  Sklaven  gefunden,  wie 
sie  Mund  an  Mund  auf  dem  weichen  Moose  einer  der  Kylieni- 
schen Höhlen  schlummerten.  Alexis,  der  Gerettete,  war  nicht 
mehr  undankbar,  und  Julanthiskos,  der  Findende,  nicht  mehr 
unglücklich;  mit  Alexis  Strephon  geschmückt  Julanthiskos,  und 
in  Julanthiskos  Mantel  eingewickelt  Alexis. 


—    679    — 

Das  Dankopfer. 

Der  nasse  Spätherbst  hätte  sein  schäckiges  Gewand  über 
die  Thäler  gebreitet  und  schier  die  Bäume  entblättert.  Gesammlet 
waren  die  Früchte  in  die  trocknen  Speicher.  Die  blockenden 
Heerden  begnügten  sich  mit  der  dunkeln  Kost  des  Spätjahrs. 
Die  Jungfrauen  bekränzten  sich  die  Stirn  mit  der  blassen  Mutter 
des  Krokus.  Der  buntgefleckte  Sperber  wußte  schon  längst 
nicht  mehr,  was  es  gewesen,  verfolgte  schreyerid  durch  das 
rauschende  Laub  die  Pfleger  seiner  nackten  Kindheit,  und  die 
goldgefiederten  Ammern  umkreisten  zwitschernd  die  platten 
Dächer  der  Schäfereyen.  Alles  verfolgte  sich,  aber  nicht  wie 
im  Frühling  zur  Liebe,  sondern  zum  Krieg  und  zum  Mord;  und 
der  arkadische  Jüngling  vertauschte  das  ländliche  Pedum  *) 
mit  den  scharfgespitzten  Melieri2);  und  die  leichte  Hirtentracht 
gegen  den  wärmeren  phrygischen  Mantel,  und  anstatt  des  glatten, 
beschattenden  Basthuts  hüllte  er  die  krausen  Haare  in  die  sackige 
Mütze  der  Lakonier,  die  doppelten  Riemen  sich  unter  das  Kinn 
schlingend;  denn  frischer  wurden  die  feuchten  nebelichten  Tage, 
traurig  die  langen  düstern  Abende.  Der  hämische  Winter  verließ 
schon  seine  unterirdischen  Schlupfwinkel,  und  Zephyros,  der 
Wolkensammelnde,  verbarg  mit  Eis  und  Schwarz  die  blassen 
Sterne.  Ach,  nur  selten  blickte  Phoibos  über  die  traurige  Flur, 
wenn  er  die  Safran-Rosse  in  dem  Ionischen  Meer  badete,  und  die 
kupfernen  Gewölbe  seiner  westlichen  Halle  von  seiner  Nähe 
erglühten.  —  Seht  ihr,  Brüder,  den  glänzenden  Anblick  des 
sinkenden  Tages,  sagte  Menalkas,  sich  zu  seinen  Brüdern  Mikon 
und  Myrtillos  wendend,  die  mit  Reißig  beladen  ihm  folgten 
schneH  hinab  den  steinichten  Hohlweg  des  steilen  Kyllen's;  seht 
die  goldenen  Streifen,  die  sich  in  das  dunkelblaue  Thal  wie 
Lichtströme  hinabgießen,  wie  sie  kämpfend  mit  dem  kalten 
Nachtnebel  die  runden  Schirme  der  Pinien,  die  Nadeln  der 
Kypressen  und  die  lohfarbige  Krone  der  Nußbäume  vergolden? 
Laßt  uns,  Brüder,  hier  ausruhen  bey  dem  schwarzbeerigen  Kassis, 
den  stachlichten  Kapergöbüschen  und  den  braunroth  gefärbten 
Akanthen,  die  üppig  ihre  mächtigen  Ranken  so  frech  um  den 
dunkeln  Hermes  winden.  Als  ich  den  centnerschweren  Aenogyps») 
mit  den  Pfeilen  erzielte,  schwur  ich's  beym  Maiapor,  dem  Be- 
schützer dieser  Klüfte,  ihm  den  gemordeten  Wütherich  der  Heerden 
zu  opfern;  billig  ist,  daß  ich  das  Gelübde  halte.  Seht,  ihr 
Brüder,  gerade  traf  ich  sein  Herz,  und  der  wiederhakende  Pfeil 
hängt  noch  blutig  in  der  zähen  Haut.     Du,  Myrtillos,    nimm  die 

*)  Hirtenstab.  —  2)  Spießen.  —  3)  ein  Geier  der  größten  Art, 
der  Lämmergeier. 


—    680    — 

eine  der  Schwingen,  und  du,  Mykon,  die  andere,  und  entfernt 
euch  jeder  in  entgegengesetzter  Richtung.  Beym  lampsakalischen 
Gotte!  mehr  als  vier  Orgyen  mißt  seine  Spannung.  Sieh*  die 
fürchterlichen  Krallen.  Gewiß  war  es  dieser,  der  noch  jüngst 
mit  dem  Schlag  seiner  kupferfarbigen  Schwingen  Onikleiens 
geliebtes  Lamm  von  jenem  Felsen  herabstürzte.  Ach!  noch 
weint  sie,  die  Thörinn,  um  den  zerschmetterten  Liebling;  dabey 
gab  er  einen  zürnenden  Schlag  dem  erstarrten  Mörder,  daß  sein 
schlaffes  Riesenhaupt  zurückfiel.  Laut  lachend  legten  die  rüstigen 
Brüder  den  König  der  Vögel  zu  dem  Fuß  des  hundertjährigen 
Bildes.  Zu  groß  für  deinen  Petasus1)  wären  die  schweren 
Flügel  gewiß,  sprach  unverschämt  der  jüngste  der  Brüder;  und 
die  rohen  Gesellen  rannten  mit  frechem  Gelächter  den  Berg 
herab,  daß  die  runden  Steine  ihnen  lärmend  nachrollten.  Von 
weitem  in  den  Myrthengebüschen  versteckt,  hatte  Julanthiskos, 
der  blauäugige,  der  reizendste  unter  den  Kylienischen  Knaben, 
das  ländliche  Opfer  bemerkt.  Leicht  und  schlank  und  braun- 
gelockt, wie  der  göttliche  Beherrscher  von  Paphos,  hüpfte  er 
aus  den  schwarzgrünen  Gebüschen,  daß  die  bräunliche  Chiana 
um  den  runden  Nacken  flog,  und  die  krausen  Locken  um  die 
schalkhaften  Augen  und  die  durch  den  kalten  Abendwihd  hoch- 
gefärbten Wangen.  Nimm  auch,  schönster  der  Götter,  das  Opfer 
eines  dankenden  Gemüths  an;  auch  du,  Leiter  der  Verirrten, 
Beherrscher  der  Schatten,  Wohlthäter  der  Lebenden  wie  der 
Todten,  auch  du  hast  mir  ein  Herz  zugewandt,  was  mich  lange 
mit  grausamer  Härte  peinigte;  und  dabey  hing  der  Glückliche 
ein  goldenes  Strephon  dem  Gotte  um  den  gesenkten  Hals.  — 
Du  hast  mich  gelehrt  den  Weg  bey  Nacht  und  Graus.  Ach! 
und  in  meines  Alexis  prächtiger  Wohnung  fand  ich  mehr  Glück 
und  Wonne,  als  ich  je  geträumt  hatte.  Vor  Freundschaft  glühend 
und  vor  Ehrfurcht  sank  der  liebliche  Beter  zu  dem  Fuße  der 
schlanken  Hermessäule  nieder.  Freundes-Arm  schlang  sich  um 
den  freudebebenden  Julanthiskos.  Alexis,  der  reiche  Bewohner 
des  Kyllene,  war  seinem  neuen  Liebling  nachgefolgt.  Komm, 
sagte  er,  mit  ihm  die  Fingerspitzen  zärtlich  verschränkend  und 
die  Lippen  ihm  auf  die  weißen  Schultern  drückend,  komm,  treues, 
frommes  Gemüth.  Einmal  führtest  du  mich  durch  Irrwege  und 
Dunkel;  itzt  stütze  dich  auf  meinen  Arm,  ich  will  dich  führen. 
Stumm  folgte  der  Überselige  seinem  Beschützer  nach.  Ich  will 
dich  ein  Lied  lehren,  sagte  endlich  Alexis  nach  langem  Schweigen, 
ein  Lied,  das  unsern  düstern  Weg  kürzet.  Kommen  wir  zu  Hause, 
so  schenke  ich  dir  eine  Lyra;  du  rührst  sie  ja.  Julanthiskos,  höre 
mich,  da  wir  uns  kaum  sehen: 


*)  der  beschwingte  Hut  des  Hermes. 


—    681     — 

Treue  siegt; 

Treu'  erringt  den  schönsten  Preis. 

Laß  dich  nicht  erschrecken 

Durch  des  Stolzes  Kälte; 

Strahlen  folgen  Strahlen, 

Bis  die  Wolken  schwinden. 

Treue  siegt; 

Treu'  erringt  den  schönsten  Preis. 

Laß  dich  nicht  verdrießen, 

Lang  umsonst  zu  dienen. 

Tropfen  folgen  Tropfen, 

Bis  die  Felsen  weichen. 

Treue  siegt; 

Treu*  erringt  den  schönsten  Preis. 

Auch  du  hast  durch  Treue  mein  Herz  erweicht;  ach!  wie 
vermag  ich  dir  zu  lohnen?  —  Ach,  erwiederte  Julanthiskos,  mit 
dieser  Hoffnung  senkte  an  Myris  Feste  Alethophone  einen 
erheiternden  Strahl  in  mein  gekränktes  Herz,  und  mit  eben  diesen 
Tönen,  von  dir  damals  unbeachtet,  begrüßte  mich  die  göttliche 
Seherinn,  welcher  die  Räthsel  der  Zukunft  klar  und  offenbar  sind. 
—  So  sprach  er  dankbar  gerührt,  und  zog  den  Freund  fester  an 
sich,  in  seinen  Arm  sich  schlingend.  Und  so  verschlungen  gingen 
sie  neben  einander,  und  es  wurde  immer  kälter  und  finsterer,  und 
sie  mußten  ihre  Schritte  verdoppeln.  Aber  endlich  wurden  die 
Wege  ebener  und  bequemer  die  Rasenstiege.  Unter  entblätterten 
Granatbäumen  und  durch  Ulmengäoge,  die  welker  Wein  umschlang, 
gingen  sie  itzt;  dann  durch  die  niedrige  Befriedigung  aus  glatten 
Quadern,  an  deren  Eingang  zwey  eherne  Karyatiden  standen,  hohe 
Körbe  auf  den  zierlichen  Häuptern  tragend.  Ach,  nun  sind  wir 
in  Hesperiens  Gärten!  rief  der  entzückte  Jüngling,  zog  seinen 
Führer  durch  die  Thymian-  und  Lavendelbüsche  und  durch  die 
starkriechenden  Chirandus-  Gesträuche,  vor  dem  rauschenden 
Wasserbecken  vorbey,  die  fünf  Marmorstufen  hinauf;  denn  finstre 
Nacht  bedeckte  den  zierlichen  Wintergarten  und  die  herrliche 
Wohnung  des  reichen  Alexis,  und  die  Freunde  umarmten  sich  nicht 
eher  als  in  der  räumigen  Stoa;  dann  eilten  sie  zusammen  in  das 
wärmende  Bad,  wo  hochgeschürzte  Korinthierinnen  ihre  erstarrten 
Glieder  mit  köstlichen  Salben  rieben;  dann  zu  der  gewürzten 
Tafel,  und  dann  sanken  sie  schlaf-  und  wonnetrunken  auf  das 
schwellende  Lager,  nachdem  Julanthiskos  seinem  Alexis  für  ein 
anderes  prächtigeres  Strephon  und  eine  zierlich  geschmückte  Leyer 
zärtlich  gedankt,  und  den  Kylleniscnen  Hermes  noch  einmal  ge- 


—    682    — 

priesen;  und  sie  entschliefen  Hand  in  Hand,  um  sich  nie  zu  ver- 
lassen. Und  noch  hängt  Julanthiskos  Strephon  an  dem  Halse  des 
wundertätigen  Bildes,  aber  Menalkas,  Mykons  und  Myrtillos 
blutiges  Opfer  ward  bald  die  Speise  der  unreinsten  der  Vögel.  — 


Das  Thal  der  Orakel. 

Phoibos,  der  mächtige  Schützer  der  Eleusinischen  Waller, 
bannte  den  flockigen  Schnee  und  den  schneidenden  Frost,  den 
durchdringenden  Nebel  und  alle  die  erstarrenden  Begleiter  des  Win- 
ters hinauf  zu  den  Eisspitzen  des  Erymanthos,  in  die  Pinienthäler 
des  kältern  Achaiens,  und  der  thauende  Athem  seiner  laut 
wiehernden  Rosse  erfüllte,  warmem  Nebel  gleich,  das  glückliche 
Arkadien;  denn  der  goldgelockte  Herrscher  des  Tages  lächelte 
segnend  den  ungeduldigen  Jungfrauen,  die  enggedrängt  auf  dem 
dicht  verschleyerten  ,Wagen  von  nichts  als  von  Mysterien  und  von 
Wundern  träumend  plauderten,  und  von  seinen  wärmenden 
Strahlen  getäuscht  die  Byssus-Kalyptrien  von  den  hoffnungglühen- 
den Stirnen  entfalteten.  Itzt  verläßt  der  Zug  der  Eleusinischen 
Neophyten J)  den  schwarzen,  lautröpfelnden  Wald,  wo  die  grauen 
Vögel  Aphroditens  buhlend  und  zwitschernd  sich  wiegen.  Itzt 
sprengen  die  Reiter  heran,  unter  ihnen  Alexis  der  herrliche,  und 
Julanthiskos,  der  nicht  minder  liebliche,  und  ihre  gleichen 
Scharlach-Chlänen2)  flattern  durch  die  milden  Lüfte  dahin.  Ähnlich 
den  Dioskuren  fliegen  sie  über  das  weiche  Moos.  —  Itzt  halten 
sie,  und  demüthig  trennt  sich  bey  Alethophonens  Namen  die 
harrende  Menge.  „Schweigt,  ihr  Männer,  schweiget,  ihr  Jünglinge," 
so  sprachen  sie  im  festen  Tone,  „daß  kein  beleidigendes  Lied  mit 
dem  Grimm  der  Scham  den  erstummenden  Jungfrauen  die  Brust 
engt.  Alle  sind  Alethophonens  Freundinnen.  Schweigt,  ihr  spotten- 
den Sänger,  wenn  ihr  eure  Rinder  und  eure  Heerden  und  eure  Hütten 
liebt."  Also  sprachen  die  vorüber  jagenden  Jünglinge,  und  ruhig 
und  ungestört  rollt  der  Wagen  der  zagenden  Jungfrauen  über  die 
dumpftönende  Brücke  des  Orasis;  und  noch  lange  stehen  mit 
offenem  Munde  die  sonst  so  unverschämten  Spötter  und  wissen 
nicht,  sind  es  Menschen  oder  Heroen,  die  ihren  Mund  also  banneten. 
Ungestört  und  ungehöhnt  blieb  also  das  herrlich  bespannte  Fuhr- 
werk der  werdenden  Demeterissen,  Dank  der  allmächtigsten  der 
Sängerinnen  und  ihren  Gesandten.  Jetzt  zieht  sich  langsam  der 
Zug  längs  den  nassen  Ufern  des  heiligen  Sees,    wo  vor  wenig 


')  Neu-Eingeweihte. 
2)  warme  Mäntel. 


—     6S3    — 

Monden  Eros  bey  nächtlicherweile  zwey  lang  getrennte  Minnende  auf 
ewig  vereint,  dann  an  dem  Fuße  des  Ulmenwaldes,  wo  einst  die 
spröde  Onikleiä  das  Lied  der  Bienen  gesungen  und  ihre  Sprödigkeit 
abgelegt,  dann  die  südlichen  immergrünen  Hayne  des  göttlichen 
Kyllene  hinauf.  Itzt  halten  sie  bey  dem  wunderthätigen  Bilde  des 
dort  erzeugten  Gottes,  sein  goldenes  Strephon  bewundernd;  itzt 
steigen  die  holden  Jungfrauen  aus  ■—  Charikleia,  Mäotis,  Alkmena, 
Charis,  Julanthiskos  Base  Nikrion  und  die  Schwestern,  Alexis  Freun- 
dinnen, die  reichen  Töchter  aus  Mantinäa.  Hier  umarmten  sich  die 
sich  einst  fliehenden  Freunde,  Hermes  und  Anteros  opfernd.  An 
dieser  heiligen  Stätte  fand  jede  Kommende  eine  Gastfreundinn  oder 
eine  Verwandte  unter  dem  versammelten  Hirtengeschlechte,  und 
Küsse  wechselten  mit  Küssen,  und  Gaben  mit  Gaben,  und  herzliches 
Kosen  mit  herzlichem  Kosen.  Nachdem  Minoe  und  Nikrion  sich 
geküßt  und  sich  hundert  Fragen  gemacht  und  beantwortet,  flüsterte 
die  jüngst  vermählte  Hirtinn  ihrer  städtischen  Freundinn  ins  Ohr: 
„Du  weißt  also,  wer  uns  die  schwere  Leyer  brachte?"  Ja,  bey  der 
Weisheit  verwahrenden  Göttinn,  dein  Herz  hat  sich  nicht  geirrt: 
Der  falsche  Jüngling  war  die  Allwissende.  —  Doch  es  flüsterte  durch 
die  Gipfel  der  immergrünen  Eichen  wie  Dämonen-Lied: 

Schweigen  ziemt  der  Wallerinn, 
Schweigen  ziemt  den  Liebenden, 
Schweigen  ziemt  den  Wissenden, 
Schweigen  ziemt  den  Hoffenden, 
Drum  so  schweigt  und  schweigt  und  schweigt. 

Erschrocken  kehrten  die  Freundinnen  zu  den  übrigen  Jung- 
frauen; erblaßt  und  Thränen  in  den  Augen  trennten  sie  sich, 
denn  Ahndung  sagte  ihnen,  daß  sie  sich  nie  wieder  sehen  wurden. 

Über  Korinth  ging  der  Zug;  denn  Julanthiskos  Hodoiporos  *) 
und  Alexis  wollten  bey  dem  Bruder  Barys  übernachten;  auch  waren 
mehrere  der  Jungfrauen  von  der  Reise  ermattet.  Segnend  blickten 
ihnen,  so  lange  sie  konnten,  Minoe  und  Cyparissos  nach ;  und  als  sie 
wieder  in  ihre  Hütte  heimgekehrt,  setzte  sich  die  treue  Hausfrau  an 
dem  Heerde  nieder,  wo  sie  einst  Liparos  Ring  vergraben  hatte, 
stimmte  zur  traurigsten  Weise  ihre  Chelys,  und  sang  zum  bebenden 
Saitenklang  das  Lied  der  Trennung: 

Sterne  trennen  sich  von  Sternen, 
Und  der  Thau  benetzt  die  Flur; 

Geister  trennen  sich  von  Geistern, 
Und  es  löschen  Opferpflammen, 


der  Wanderer. 


—    684    — 

Herzen  trennen  sich  von  Herzen, 
Und  es  löschen  beyder  Leben. 

Sterne  rollen  nah1  an  Sternen, 
Und  es  werden  neue  Sonnen; 

Geister  schmelzen  sich  mit  Geistern, 
Und  es  rauschen  Hekatomben; 

Doch  wo  Herz  von  Herzen  scheidet, 
Giebt  es  weder  Schlaf  noch  Lethe!1) 

Cypariß,  der  liebende  Hirte,  nahm  die  eburne  Chelys  und 
hing  sie  stumm  an  die  glatt  getäfelte  Wand  des  wirthbaren  Zimmers; 
aber  Minoe,  die  trostlose  Freundinn,  weinte  lang,  ob  es  ihr  gleich 
an  Thränen  gebrach,  denn  sie  wußte,  daß  die  Base  Nikrion  und 
Julanthiskos  Hodoiporos  nicht  wiederkehren  und  daß  sie  in  dem  Thal 
der  Orakel  bald  die  Hirten  und  Arkadien  vergessen  würden;  ach! 
und  Vergessen  ist  Trennung  auf  Ewigkeit,  denn  es  trennt  auf 
Ewigkeit.  — 

Schlaf  und  Hoffen  flohen  die  Arme,  und  nur  ein  trauriges 
Gefühl  erfüllte  ihr  bangendes  Herz,  das,  ihre  Freundinn  nie  wieder 
zu  sehen,  und  eine  Angst,  die,  den  wundersamen  Pilger  oder  Aletho- 
phonen,  die  Allmächtige,  beleidigt  zu  haben.  —  Immer  hörte  sie 
noch  das  Lied,  das  in  dem  Eichenwald  erklang,  als  sie  von  ihrer 
Freundinn  und  von  Alexis  und  von  Julanthiskos  Abschied  genommen. 
Schweigend  saß  sie,  hoffnungslos  und  ahndungslos,  die  Zukunft 
stumm  erwartend. 

[Ein  Pilger  von  Eleusis  mit  Gruß  von  Nikrion,  Minoe's  und 
Julanthiskos*  Base,  nebst  einem  Briefe  von  Minoe  fordert  sie  auf, 
mit  Cypariß  nach  Alsotheonien  zu  wandern,  dem  Lieblingsthale 
Alethophonens,  der  Beschützerinn  Arkadiens]. 

Itzt  umfaßten  Alethophonen  Julanthiskos  und  seine  Base 
Nikrion  und  Chrysotrichiens  kleiner  Bruder  Eranthos,  benetzend 
ihr  leichtes  Gewand  mit  Thränen  des  Dankes,  der  Hoffnung  und 
der  Ahndung.  Aber  Julanthiskos,  lieblicher  Jüngling,  thatst  du 
unrecht,  mein  Lied  nicht  zu  vergessen?  Und  warum  ist  Alexis 
nicht  mit  seinem  Freunde  hier?  Ach!  entgegnete  Alethophonen 
der  überglückliche  Hirt:  Spotte  nicht  länger  über  meine  kindische 
Kleinmuth.  Alexis  blieb  daheim  schamhaft  erstaunend  und  über 
Eros  und  Anteros  Frieden  erröthend.  Die  Thessalische  Jungfrau 
küßte  ihn  auf  die  Korallenlippen.     Ein  herrliches  Gewand  faltete 


l)  Dieses  vom  Herzog   auch   komponierte  Lied   wurde   bei 
seinem  Begräbnisse  gesungen  [Beck  I  1868  Seite  445 ;  Appun  1900]. 


—    685     — 

sich  um  seine  majaporische  Gestalt,  und  er  lag  doppelt  reizend  in 
seines  Beschützers  Armen,  der  nicht  gewagt  hatte,  seinen  Wankel- 
sinn der  Allmächtigen  zu  gestehen.  Sie  behielt  aber  die  reizende 
Base  und  den  kleinen  Eranthos  bey  sich.  Julanthiskos  Bruder, 
der  rohe  Jäger,  der  ungebildete  Hipparche,  Barys,  kannte  nicht  den 
Weg  nach  Alsotheonien;  drum  blieb  er  in  Korinth,  um  sich  in  den 
Warfen  Ares  und  Cyprias  zu  üben,  und  wie  sonst  zu  schwelgen, 
zu  buhlen  und  spielen. 

Es  kamen  noch  andere  Arkadier  und  Arkadierinnen  gebessert, 
geheilt,  getröstet  und  beglückt;  aber  alle  kamen,  um  zu  danken,  aus 
ihrer  niedern  Alltäglichkeit  zu  Alethophonen  herauf  getragen.  Ja, 
so  erhebt  Gebet  und  Dank  den  niedern  Bewohner  des  Staubes 
zur  fernen  Gottheit.  Aber  die  bescheidene  Zauberinn  bewunderte 
nur  der  Hirten  Dankgefühl,  wie  die  geringste,  aber  die  seltenste 
der  Tugenden.  Gerührt  wandte  sie  sich  zu  den  neunmal  neun 
verschleyerten  Königinnen:  „Anfangs  des  Jahrs  sang  ich,  und  mein 
weissagendes  Lied  erkaufte  mir  alle  diese  Herzen.  Seyd  so  gütig, 
ihr  Verehrten,  und  singet  mir  ein  Lied  am  Ende  des  Jahrs,  daß  ich 
meine  Erdenbannung  und  meine  Unvollkommenheit  vergesse,  ehe 
mich  Eros  und  Anteros,  die  Versöhnten,  abholen."  Die  neunmal 
neun  Königinnen  sangen  —  doch  die  Welten  und  die  Sonnen 
schwammen  in  unnennbarer  Lust,  und  ihre  Unvollkommenheit 
kleidete  sich  in  Himmelsträume  ein,  und  die  Unermeßlichen,  wie 
das  kleine  enge  Arkadien,  wußten  nicht,  was  die  neunmal  neun 
Königinnen  der  Allmacht  sangen.  Nikrion  vergaß  bald  die  Welt 
und  ihre  unbelohnte  Liebe,  und  der  kleine  Eranthos  lernte  nie 
Männer  hinter  den  purpurnen  Vorhängen  der  krystallenen  Propyläen 
kennen. 


—    686    — 


A  n  t  e  r  o  s. 


In  düstern  Wäldern,  unschuldsvollen  Auen, 
Erfinden  wir  des  Daseyns  hohes  Ziel.  — 
Bald  werden  wir  vereint  die  Himmel  schauen, 
Vergessen  bald  der  Kindheit  thöricht  Spiel. 

Mir  magst  Du,  Eros,  künftig  immer  trauen; 
Ich  raube  nicht,  was  einmal  Dir  gefiel. 
Du  kannst  getrost  auf  meine  Allmacht  bauen;    • 
Ich  täusche  nicht,  verspreche  nicht  zu  viel! 

Wozu  des  kurzen  Truges  mürbe  Binde? 
Wozu  des  Wahnes  matte  Mückenschwingen?  — 
Wir  blenden  nicht  und  wir  verwunden  nicht! 

Und  wenn  ich  hier  auch  Männerherzen  finde, 
So  soll  durch  Dich  das  Bessern  mir  gelingen, 
Wenn  mir's  an  Zauber  und  an  List  gebricht. 


Schlußvignette  der  Novelle  „Kyllenion". 


—    688    — 


Nachwort 

Es  wäre  zu  wünschen,  daß  die  Akten  über  den 
Herzog  August  noch  nicht  geschlossen  sein  möchten,  in 
einer  Zeit  besonders,  welche  erst  beginnt,  den  Regungen 
auch  der  Menschenseele  mit  Vorurteilslosigkeit  nachzu- 
forschen. Solcher  Zeit  wird  die  Aufgabe  zufallen,  den 
Widerspruch  zu  lösen,  welcher  in  der  Beurteilung  dieser 
buntschillernden  Menschen-Erscheinung  durch  zwei  ihr 
nahe  gestandene  Männer  zu  liegen  scheint,  von  denen 
der  eine  sagen  konnte:  „Hätf  er  ein  Herz,  sein  Dichter- 
kopf, wäre  der  größte"  *)  und  der  andere  ein  goldenes 
Herz  entdeckte  mit  den  Worten:  „Wem  vergönnt  war, 
das  innere  Heiligthum  zu  beobachten,  der  schätzte  diesen 
Vorzug;  ein  Blick  in  dasselbe  zeigte  eines  der  edelsten 
Gemüther,  das  je  gewesen.*2) 


Literatur  über  Emil  August. 

„Anekdote".  In:  Zeitung  für  die  elegante  Welt.  Leipzig,  Georg 
Voß.    1805.    Nummer  177  vom  28.  September.    Spalte  936. 

Anonym,  Ulrich  Jaspar  Seetzen.  In:  Zeitgenossen.  Biographieen 
und  Charakteristiken.  Leipzig  und  Altenburg,  F.  A.  Brockhaus. 
Zweiten  Bandes  dritte  Abtheüung.  1817  (1818).  Seite  83—106 
[Des  Herzogs  August  wird  Seite  86  und  105  gedacht]. 

A[ppun]  (G.),  Ein  Erinnerungsblatt  an  Herzog  August  von  Sachsen- 
Gotha  und  Altenburg  1804—1822.  In:  Gothaisches  Tageblatt, 
52.  Jahrg.  1900.    Nr.  253,  27.  Oktober.    Zweites  Blatt. 

von  Bechtolnheim  (Katharina),  Erinnerungen  einer  Urgroßmutter 
(Katharina  Freifrau  von  Bechtolsheim  geb.  Gräfin  Bueil)  1787 
—1825.  Mit  Originalbriefen  von  Goethe,  Wieland,  Herder, 
Kai  Herin  Katharina  IL,  Kaiser  Alexander  I.  und  Kaiserin  Maria 
von  Rußland,  Herzog  Carl  August  von  Weimar,  Ernst  IL  von 
Hachson-Gotha,   Frau  von  Stael,  Fürst  von  Ligne,  Graf  Segur, 

l)  Jean  Paul  Friedrich    Richter  an  Villiers   1810  bei   Beck  I 
1868  Seite  448. 

9)  von  Wüstemann  1823  Seite  12. 


—    689    — 

Fürst-Primas  von  Dalberg  und  von  anderen.  Herausgegeben 
von  Carl  Graf  Oberndorff.  Mit  12  Illustrationen  und  6  Facsimile- 
Beilagen.  Berlin,  F.  Fontane  &  Co.  1902.  XIV  und  474  Seiten 
in  8°. 

Beck  (August),  Geschiebte  des  gothaischen  Landes.  Gotha,  £.  F. 
Thienemann.  1868.  Band  I.  Geschichte  der  Kegenten.  VIII 
und  536  Seiten  in  8°.    Seite  428—451. 

August:  Emil  Leopold,  Herzog  von  Sachsen-Gotha  und  Alten- 
burg. In:  Allgemeine  Deutsche  Biographie.  Erster  Band. 
Leipzig,  Duncker  &  Humblot.     1875.    Seite  681—683. 

Döring  (Friedrich  Wilhelm),  Ad  memoriam  tristissima  morte  populo 
suo  nuper  erepti  serenissimi  Saxoniae  ducis  Aemilii  Leopoldi 
Augusti  a.  d.  IV.  Iul.  hora  deeima  summa  pietate  inGymnasio 
nostro  celebrandam  omni,  qua  decet,  vereeundia  invitat  Fridericus 
Guilielmus  Doering  Gymnasii  Gothani  director.  Gothae  literis 
Reyherianis.    MDCCCXXII.    12  Seiten  in  4°. 

Frid.  Guil.  Doeringi  Commentationes  Orationes  Carmina  latino 

sermone  conscripta.  Accednnt  Friderici  Jacob  si  Epistola  ad 
Doeringium  senem  felicissimum  et  E.  F.  Wuestemanni  Oratio  in 
Doeringi  memoriam  habita.  Norimbergae.  Sumtibus  Friderici 
Campe.  1839.  XL  und  308  Seiten  in  8°.  Enthält:  1.  Oratio 
in  memoriam  serenissimi  ducis  Aemilii  Leopoldi  Augusti  habita 
4  Jul.  1822.  Seite  147—155,  IL  —  2.  Pompam  solemnem  qua 
prineeps  juventutis  Serenissimus  Aemilius  Augustus  Leopol dus 
cum  nova  conjuge  serenissima  Luisa  Charlotta  ducis  serenissimi 
Suerino-Megapolit.  filia  urbem  ingressus  est  celebrat  Gymnasium 
illustre  Gothanum.  Elegia.1)  Seite  197—200,  I.  —  3.  Principi 
juventutis  serenissimo  Aemilio  Leopoldo  Augusto  cum  nova 
conjuge  serenissima  Carolina  Amalia  serenissimi  terrarum 
Cattiacarum  prineipis  filia  faustissimis  auspieiis  urbem  ingre- 
dienti  pietatem  suam  reverenter  declarat  Gymnasium  illustre 
Gothanum.2)    Seite  201—202,  IL 

Döring  und  Kries,  Reden bey  der  zum  Andenken  des  Hochsei.  Her- 
zogs Herrn  Herrn  Aemil  Leopold  August  im  Gymnasium  zu  Gotha 
den  4.  Jul.  1822  angestellten  Todtenfey  er  gehalten  von  Friedrich 
Wilhelm  Döring,  Director  des  Gymnasiums  und  Friedrich  Kries 
Professor.  Auf  Allerhöchsten  Befehl  dem  Druck  tibergeben. 
Gotha,  Reyher.     38  Seiten  in.  8°. 


J)  Editio  prima  mense  Novembri  1797.  8  pg.  in  4°. 
*)  Editio  prima  mense  Maj.  1802.    8  pg.  in  4°. 

Jahrbuch  V.  44 


—    690    — 

Eichstädt  (Heinrich  Carl),  Memoria  Augusti  Duois  Saxoniae 
Prinoipis  Gothanorutn  atqne  Altenburgensium.  Scripsit  Henr. 
Carolus  Abr.  Eichstadius.  Editio  altera  auctior  et  emendatior. 
Gothae  in  libraria  Henningsiana.  1828.  VIII  und  74  Seiten 
in  4°. 

Henr.    Car.    Abr.   Eiohstadii    Opuscula    Oratoria.    Orationes 

Memoriae  Elogia  quorum  duo  inedita  Schulen  et  Ludenii 
memoriae  dicata.  Colleotionem  ab  auctore  inohoatam  post  eius 
mortem  absolvit  indices  adiecit  Herrn.  Jo.  Chr.  Weissenborn. 
Jenae  in  libraria  Maukiana.  MDCCCXLIX.  XXXII  und  804 
Seiten  in  8°.  Enthält:  1.  Parentalia  serenissimo  nuper  prineipi 
ac  domino  Augusto  duci  Saxoniae  prineipi  Gothanorum  atqne 
Altenburgensium  sacra  in  templo  Paulino  academico  rite  concele- 
branda  indieuntur.  Seite  14 — 15.  —  2.  Oratio  de  felieitate 
Aoademiarum  ex  virtutibus  prineipum  oriunda  in  parentalibus 
academicis  Augusto  duci  Saxoniae  die  XXX  Jun.  a.  MDCCCXX1I 
celebratis  in  templo  Paulino  dieta.  Seite  16 — 30.  —  3.  Memoria 
Augusti  dneis  Saxoniae  prineipis  Gothanorum  atqne  Alten- 
burgensium.   Seite  31 — 95. 

Förster  (Friedrieh),  Preußens  Helden  in  Krieg  und  Frieden.    Eine 
Geschichte  Preußens  seit  dem  großen  Kurfürsten  bis  zum  Ende 
der   Freiheitskriege.     In  Biographien    seiner   großen    Männer. 
Berlin,  Gustav  Hempel. 
Dritter  Band,  1847,  Seite  684;  Seite  787. 
Vierter  Band,  1854,  Seite  334. 

Kunst  und  Leben.  Aus  Friedrich  Försters  Nachlaß.  Heraus- 
gegeben von  Hermann  Kletke.  Berlin,  Gebr.  Paetel.  1873. 
VHI  und  240  Seiten  in  8°. 

G.  (D.),  Emil  Leopold  August,  Herzog  zu  Sachsen-Gotha  und 
Altenburg.  In :  Deutscher  Ehren-Tempel.  Bearbeitet  von  einer 
Gesellschaft  Gelehrter  und  herausgegeben  von  W.  Hennings, 
Herzoglich  Sächsischem  Geheimen  Legations-Rath.  Gotha, 
Hennings.  Zwölfter  Band.  1832.  41  Seiten  in  4°  mit  dem 
Kupferstich  „August,  Herzog  zu  Sachsen-Gotha  u.  Altenburg". 

Galletti  (Johann  Georg  August),  Geschichte  Thüringens.  Gotha 
beym  Verfasser  und  Ettinger.  6  Bände  in  8°.  Sechster  und 
letzter  Band.  1785.  XVI  und  392  Seiten  nebst  4  Geschlechts- 
tafeln.   Seite  237;  246;  257  und  336. 

In  SächsischeProvinzialblätter,  Mai  1822  (nach  Beck  1868  IS.  428). 

Geschichte  und  Beschreibung  des  Herzogthums  Gotha,  Gotha, 

C.  W.  Ettinger.  4  ältere  Theile:  1779—1781.  —  Theil  V  1824. 
116  Seiten  in  8°.    S.  25—47. 


—    691    — 

von  Goethe  (Johann  Wolfgang),  Tag-  und  Jahres-Hefte  als  Er- 
gänzung meiner  sonstigen  Bekenntnisse  (1749 — 1822).  In  : 
Goethe's  Werke.  Nach  den  vorzüglichsten  Quellen  revidirte 
Ausgabe.  27.  Theil.  1.  Abtheilung.  Berlin,  Gustav  Hempel 
(Ohne  Jahr).  Seite  1—291;  Anmerkungen  von  W.  Frh.  v.. 
Biedermann  Seite  359—548.    Register  Seite  638. 

Heidler  (Carl),  Bltithen  der  Phantasie.    Zeitz  1819. 

Hempel  (Friedrich  Ferdinand),  Herzog  August  von  Sachsen- Alten- 
burg und  Seine  Bauern,  eine  erfreuliche  Geschichte  unsrer 
Tage.  Altenburg,  Verlag  der  Redaction  der  Osterländischen 
Blätter.    1819.    92  Seiten  in  4°. 

Hennings,  siehe  D.  G. 

von  Hoff  (Karl  Ernst  Adolph),  Aufsätze  in  „Jenaische  allgem. 
Litter.-Zeitung,  Mai  1822,  oder  Gothaische  privilegirte  Zeitung 
1822,  Nr.  100"  (nach  Beck  1868  I  Seite  428  Fußnote  236).  In 
der  vier  Bänden  „Jenaische  allgemeine  Literatur -Zeitung" 
19.  Jahrgang,  1822,  fand  ich  nichts  über  den  Herzog  August; 
•  in  dem  Exemplar  „Privilegirte  Gothaische  Zeitung.  Auf  das 
Jahr  1822."  der  Berliner  Königlichen  Bibliothek  fehlt  die  auf 
der  4.  (unpaginierten)  Seite  der  Nr.  100,  25ste  Woche,  Frey  tag» 
den  21.  Junius,  angekündigte,  den  Nekrolog  des  Herzogs  August 
Durchl.  betreffende  „Extra-Beylage." 

Jacobs   (Friedrich),  Nekrolog.    Emil  Leopold  August,  Herzog  von 
Sachsen-Gotha    und    Altenburg.     In:     Allgemeine    Literatur- 
Zeitung.    Vom  Jahr  1822.    Halle  und  Leipzig.    Zweyter  Band.. 
May  bis  August.  —  Julius  1822,  Nummer  172.    Spalte  4197—504., 

Vermischte  Schriften  von  Friedrich  Jacobs.  —  Erster  Theil,. 

Gotha,  Ettinger,  1823.  XXVIU  und  546  Seiten.  —  Sechsler 
Theil,  Leipzig,  Dyk,  1837.  XXXII  und  592  Seiten.  —  Siebenter 
Theü,  Leipzig,  Dyk.  1840.  XXVIII  und  620  Seiten  in  12°.  — 
Inhalt:  Theil  I:  Rede  zum  Andenken  Herzog  Ernst  des  Zweyten 
im  Gymnasium  zu  Gotha  in  Gegenwart  des  regierenden  Herzogs 
August  gehalten  den  9ten  Junius  1804.  Seite  1  —  86,  I  (über 
Emil  August  Seite  81—86). 

Theil  VI :  Zerstreute  Blätter :  3.  A 1 1  o  tri  a.  1828.  Seite  451—463  : 
Romantische  Studien  des  Herzogs  August  Emil  Seite  456.  — 
Erklärung  einer  Inschrift  S.  458—463.  —  4.  August  Emil  als 
Schriftsteller.  1823. S. 464— 473 :  Das Kyllenion Seite 464.  — 
Polyneon  Seite  466.  —  Roman  ohne  Titel  Seite  467.  —  Emilia- 
nische Briefe  Seite  468 — 470.  —  Briefe  eines  Kartheusers  Seite 
471—473.  —  Anmerkungen.  Seite  474—492.  —  Sonnette 
durch  das  Kyllenion  veranlaßt  Seite  475—479.  —  Terminen  auf 

44* 


—    692     — 

ein  Gemähide  von  Grassi  Seite  480.  —  Sonnette  und  Elegie». 
Seite  485—491.  —  Verbesserungen    S.  592. 

Theil  VII:  Personalien  gesammelt  von  Friedrieh  Jacobs.  Mit 
dem  in  Stahl  gestochenen  Bildnisse  des  Verfassers.  —  August 
Emil,  Herzog  von  Gotha.  Seite  176—179.  —  50.  Herzog 
August  Emil.  Seite  517—521.  —  51.  August  Emils  Brief  an 
Pius  VII.    Seite  522—526. 

Kletke,  siehe  Förster. 

Klingemann  (August),  Ein  Jahr  in  Arkadien.  In:  Zeitung  für 
die  elegante  Welt.  Leipzig,  Georg  Voß.  1805.  Nummer  115 
vom  24.  September.  Spalte  918. 

Jean  Paul,  siehe  Richter. 

von  Lupin  auf  Illerfeld  (Fr.),  Biographie  jetzt  lebender,  oder 
erst  im  Laufe  des  gegenwärtigen  Jahrhunderts  verstorbener 
Personen,  welche  sich  durch  Thaten  oder  Schriften  denkwürdig 
gemacht  haben.  Stuttgart  &  Tübingen,  J.  G.  Cotta.  Erster 
Band.  1826.  VIII  und  748  Seiten  in  8°.  August  (Emil  Leopoldj 
Seite  70—75. 

Menzel  (Wolfgang),  Deutsche  Dichtung  von  der  ältesten  bis  auf 
die  neueste  Zeit.  In  drei  Bänden.  Stuttgart,  Ad.  Krabbe. 
1858—1859.    8°.    3.  Band  1859  Seite  74. 

von  Metzsch-Schilbach  (Wolf),  Briefwechsel  eines  deutschen 
Fürsten  mit  einer  jungen  Künstlerin  (Herzog  August  von  Sachsen- 
Gotha  und  Altenburg  und  Fräulein  aus  dem  Winckel).  Mit  zwei 
Porträts.    Berlin,  Karl  Siegismund.  1893.    308  Seiten  in  8°. 

Mos  engeil  (Friedrich),  Briefe  über  den  Dichter  Ernst  Wagner; 
enthaltend:  Lebensgeschichtliche  Nachrichten;  Mittheilungen  aus 
dem  handschriftlichen  Nachlasse  des  Dichters;  Auszüge  aus 
Briefen  von  ihm  selbst;  vom  Herzoge  August  von  S.  Gotha; 
Jean  Paul  Friedrich  Richter;  Fichte  u.  A.  herausgegeben 
von  Friedrich  Mosengeil.  Schmalkalden,  Varnhagen.  1826. 
228  und  164  Seiten  in  kl.  8°.  [Zweites  Bändchen  Seite  17—76; 
Seite  91]. 

Graf  Oborndorff  (Carl),  siehe  von Bechtolsheim. 

Perthes  (Clemens  Theodor),  Friedrich  Perthes  Leben.  Nach  dessen 
schriftlichen  und  mündlichen  Mittheilungen  aufgezeichnet.  Gotha, 
Perthes.  3  Bände  1848—1852—1855  in  80.1)  —  Ueber  Herzog 
August:  III  Seite  16—17. 


*)    Aohte   (Jubiläums-)Ausgabe.    3  Bände.    Gotha    1896.    8°.    —    Band   3   Seite 
14—16. 


—    693    — 

Reichard  (Heinrich  August  Ottokar),  Gotha.  Aus  dem  Briefe 
eines  Reisenden  im  Junius  dieses  Jahres.  In :  Beilage  zur  All- 
gemeinen Zeitung.  Donnerstag  4.  Jul.  1822.  Nr.  109.  Seite 
433—434  (nach  Reichard:  H.  A.  0.  Reichard  1877,  Seite  503> 
von  ihm  verfaßt,  ebenso  ein  mir  unbekannt  gebliebener  Aufsatz, 
über  den  Herzog  August  in  der  „Staatszeitung"). 

H.  A.   0.   Reichard     (1751—1828).      Seine   Selbstbiographie 

überarbeitet  und  herausgegeben  von  Hermann  Uhde.  Stuttgart, 
J.  G.  Cotta.    1877.    VI  und  554  Seiten  in  8°. 

Richter  (Jean  Paul  Friedrich),  Jean  PauTs  Freiheits-Büchlein ;  oder 
dessen  verbotene  Zueignung  an  den  regierenden  Herzog  August 
von  Sachsen-Gotha ;  dessen  Briefwechsel  mit  ihm;  —  und  die 
Abhandlung  über  die  Preßfreiheit.  Tübingen,  J.  G.  Cotta. 
1805.     128  (nicht  138)  Seiten  in  8°. 

Seid! er  (Louise),  Erinnerungen  und  Leben  der  Malerin  Louise 
Seidler  (geboren  zu  Jena  1786,  gestorben  zu  Weimar  1866). 
Aus  handschriftlichem  Nachlaß  zusammengestellt  und  bearbeitet 
von  Hermann  Uhde.  Berlin,  W.  Hertz.  1874.  X  und  480  Seiten 
in  8°.  —  Zweite,  umgearbeitete  Auflage.  1875.  X  und 
396  Seiten. 

von  Sternberg  (Alexander),  Jena  und  Leipzig.  Novelle  in  zwei 
Theilen.  Berlin,  Lesecabinet.  1844.  282  und  274  Seiten.  — 
Ueber  den  Herzog  ohne  Namennennung  II  Seite  3 — 5  und  8—11. 

v.  S  t  g.  ( A.  v.  Sternberg),  Aus  der  guten  alten  Zeit.  Nr.  2.  Fürst- 
liche Sonderlinge.  In :  Die  Gartenlaube.  Leipzig,  Ernst  Keil. 
1857,  Nr.  7.  Seite  93—95.  Mit  einem  Textbilde  „Herzog 
August  von  Gotha  als  Griechin"  Seite  93. 

„Todesfälle".  In:  Allgemeine  Literatur-Zeitung.  Vom  Jahre 
1822.  Halle  und  Leipzig.  Zweyter  Band.  May  bis  August. 
Nummer  165.    Julius  1822.    Spalte  447. 

Uhde  (Hermann),  siehe  Reichard  und  Seidler. 

von  Weber  (Max  Maria),  Carl  Maria  von  Weber.  Ein  Lebensbild. 
Leipzig,  Ernst  Keil.    3  Bände.    1864—1866  in  8°. 

von  Wüstemann  (Ernst  Friedrich),  Gothaischer  genealogischer 
Kalender  auf  das  Jahr  1823.  Sechzigster  Jahrgang.  Gotha, 
Justus  Perthes.  —  Ueber  Herzog  August  Seite  7 — 22;  Seite  34. 


7.Mademoiselle  Maupin  ( 1 673—  1 707) 

„ —  je  suis  d'un  troisieme  sexe  ä  part  qui 

n'a  pas  encore  de  nom:  au  dessus  ou  au 

dessous,  plus  deieotueux  ou  superieur"  .  .  . 

Thßophile  Gautier: 

„Mademoiselle  de  Maupin"  (1835). 

„  Maderaoiselle  Maupin*  war  die  Tochter  des 
Herrn  d'  Aubigny,  eines  Sekretärs  des  Grafen 
d'Armagnac.  Geboren  im  Jahre  1673  wurde  sie  in 
sehr  früher  Jugend  und  wohl  gegen  ihre  Neigung  mit 
einem  Herrn  Maupin  aus  Saint-Germain-en  Laye  ver- 
heiratet, lebte  aber  nicht  mit  ihrem  Manne  zusammen, 
sondern  erlangte  für  ihn  eine  Anstellung  in  den  Filialen 
der  Provinz.  Sie  besaß  eine  natürliche  leidenschaftliche 
männliche  Vorliebe  für  den  Gebrauch  der  Waffen  und 
als  sie  während  der  Abwesenheit  ihres  Gatten  die  Be- 
kanntschaft des  Fechtmeisters  S Granne  machte,  ent- 
sprach es  ihrem  natürlichen  Triebe,  sich  an  diesen,  der 
an  ihren  weiblichen  Reizen  Gefallen  fand,  eng 
anzuschließen  und  bei  ihm  Unterricht  in  der 
Fechtkunst  zu  nehmen;  dabei  zeigte  sie  eine  solche 
Geschicklichkeit  und  machte  so  schnelle  Fortschritte, 
daß  sie  bald  ihren  Lehrmeister  überholte  und  imstande 
war,  es  mit  dem  geschicktesten  Fechter  aufzunehmen. 
Ihrem  Lehrer  und  Liebhaber  folgte  sie  nach  Marseille. 
Hier  zwang    die  Not    des  Lebens    das   Paar,    noch    von 


—    695    — 

anderen  ihrer  natürlichen  Anlagen  als  dem  Fechttalent 
Gebrauch  zu  machen,  und  da  beide  eine  gute  Stimme 
besaßen,  so  wurde  es  ihnen  nicht  allzuschwer,  an  der 
Marseiller  Oper  Beschäftigung  zu  finden.  Als  Sängerin 
wollte  Frau  Maupin  nicht  Madame  Maupin  sein,  sondern 
nannte  sich  Mademoiselle  Maupin  und  sie  wurde  wegen 
ihrer  hervorragend  schönen  Stimme,  einem  Konteralt, 
der  ausgesprochene  Liebling  des  Publikums.  Indes 
nicht  lange  sollte  diese  Oper  des  Besitzes  der  Maupin 
sich  erfreuen  und  die  Schuld  daran  trug  ein  Liebes- 
abenteuer. 

Der  Maupin,  die  es  liebte,  Männerkleidung  zu  tragen, 
hatte  sich  als  einer  neuen  Sappho  eine  so  zärtliche  Zu- 
neigung zu  einer  jugendlichen  Marseillerin  (aus  guter 
Familie)  bemächtigt,  daß  die  Eltern  des  jungen  Mädchens 
es  für  nötig  hielten,  ihr  Kind  vor  den  gefährlichen  Ein- 
flüssen der  Sängerin  zu  schützen  und  in  einem  Kloster 
von  Avignon  zu  verbergen.  Allein  die  Leidenschaft 
macht  verwegen.  Der  Maupin  gelang  es,  den  Zufluchts- 
ort ihrer  Angebeteten  zu  ermitteln  und  schnell  ent- 
schlossen meldete  sie  sich  im  Kloster  zu  Avignon  als 
Novizin  an  und  ward  unter  ihrem  Mädchennamen  als 
Demoiselle  d'Aubigny  aufgenommen.  Ungeachtet  sie  hier 
völlig  ungestört  ihrer  Liebe  leben  konnte,  scheint  der 
dauernde  Aufenthalt  im  Kloster  ihr  doch  wenig  behagt 
zu  haben;  denn  als  gelegentlich  eine  Nonne  gestorben 
und  eben  begraben  war,  verfiel  die  Maupin  auf  einen 
höchst  abenteuerlichen  Gedanken,  den  sie  auch  zur  Aus- 
führung brachte.  Sie  grub  in  der  Stille  den  Leichnam 
der  Nonne  aus,  schleppte  ihn  in  das  Bett  ihrer  Geliebten, 
steckte  Bett  und  Zimmer  in  Brand  und  benutzte  den 
durch  die  Feuersbrunst  (welche  das  Kloster  in  Asche 
legte)  entstandenen  Wirrwarr,  mit  ihrem  Herzblatt  un- 
bemerkt zu  entfliehen.  Als  dann'  später  nicht  nur  die 
Flucht  entdeckt,    sondern    auch    die    näheren  Umstände 


—    696    — 

derselben  durchschaut  wurden,  machte  man  der  Demoi- 
selle  d'Aubigny  den  Prozeß;  es  ward  zunächst  versucht, 
das  jugendliche  Opfer  ihren  Händen  zu  entreißen  (ein 
Versach,  welcher  zwei  Gerichtsdienern  das  Leben 
kostete);  nachdem  aber  alle  Schritte  als  vergeblich  sich 
erwiesen  hatten,  wurde  sie  zum  Scheiterhaufen  verurteilt, 
ohne  daß  sie  vor  Gericht  erschienen  wäre  [par  contumace]; 
doch  dieser  Gerichtsspruch  ward  wieder  aufgehoben,  als 
eines  Tages  die  junge  Marseillerin  bei  ihren  beglückten 
Eltern  wieder  auftauchte. 

Inzwischen  hatte  unsere  Heldin  in  der  Provinz  ein 
unstätes  Leben  voller  Abenteuer  geführt;  sie  war  aus 
der  Männertracht,  die  sie  vorzüglich  kleidete,  nicht  her- 
ausgekommen. Auf  ihren  Irrfahrten  gelangte  sie  endlich 
auch  nach  Paris.  Hier  debütiert^  sie  unter  dem  Namen 
ihres  Mannes  als  Mademoiselle  Maupin  im  Dezember 
1690  in  der  Oper  des  Palais  Royal.  In  Lully's  Oper 
„  Cadmus  et  Hermione*  sang  und  spielte  sie  die  Rolle 
der  „Pallas*.  Mit  ihrem  seltenen  Konteralt  bei  hervor- 
ragender schauspielerischer  Begabung  erntete  sie  bei 
ihrem  ersten  Auftreten  allgemeinen  Beifall;  um  ihre  Er- 
kenntlichkeit den  Beifall  klatschenden  Zuschauern  kund 
zu  tun,  erhob  sie  sich  in  ihrem  Wagen  und  begrüßte 
das  Publikum,  indem  sie  ihren  Helm  vom  Kopfe  nahm: 
neues  Beifallklatschen!  Wirklich  war  sie  sehr  hübsch, 
besaß  prachtvolles  Haar  und  eine  Adlernase,  und  voll- 
kommen schön  waren  auch  ihr  Mund,  ihre  Zähne  und 
ihr  Busen.  Ob  sie  gleich  nicht  eine  Note  kannte, 
wußte  sie  durch  ein  erstaunliches  Gedächtnis  sich  zu 
helfen.  So  konnte  sie  ein  und  ein  halbes  Jahrzehnt  hin- 
durch —  freilich  nicht  ohne  freiwillige  Unterbrechung 
ihrerseits  —  auf  der  Pariser  Oper  in  den  ersten  Rollen 
verwendet  werden. 

Wenn  die  Maupin  in  Paris   Lust  verspürte,    für  ihr 
angetane    Beleidigungen    sich    zu  rächen,  oder  wenn  sie 


—    697    — 

verliebten  Abenteuern  nachgehen    wollte,    so  vertauschte 
sie  ihr  Frauenkleid  mit  Mannestracht. 

So  war  sie  von  einem  männlichen  Kollegen  an  der 
Oper,  dem  Sänger  Dum&ii  *),  beleidigt  worden  und 
wartete  seiner  eines  Abends  auf  der  Place  des  Victoires; 
in  ihrer  Männerkleidung  unerkannt  geblieben,  wollte  sie 
dem  Ankömmling  den  Degen  in  die  Hand  zwingen,  um 
sich  mit  ihm  zu  schlagen;  da  er  aber  sich  weigerte,  so 
gab  sie  ihm  eine  Tracht  Prügel  und  entriß  ihm  Tabaks- 
dose und  Uhr.  Am  nächsten  Morgen  gab  Dum£ni  bei 
der  Probe  sein  Abenteuer,  das  viel  Aufsehen  erregt  hatte, 
zum  besten;  allein  er  erzählte  es  nicht  dem  wahren  Vor- 
gange gemäß,  sondern  mit  andern  Umständen,  indem  er 
sich  rühmte,  am  Abend  vorher  von  drei  Straßenräubern 
überfallen  worden  zu  sein  und  sich  tapfer  zur  Wehre 
gesetzt  zu  haben;  die  Uebermacht  aber  habe  ihn  über- 
wältigt und  ihm  Uhr  und  Tabaksdose  entrissen.  Nach- 
dem Dum^ni  die  Erzählung  seiner  Großtaten  beendigt, 
trat  die  Maupin,  welche  unter  seinen  Zuhörern  sich  be- 
funden hatte,  vor  und  rief  ihm  zu:  „Da  hast  du  mal 
schön  gelogen!  Du  bist  nichts  weiter  als  ein  feiger 
Maulheld,  denn  ich,  ich  ganz  allein,  habe  dich  verhauen; 
hier  hast  du  Uhr  und  Tabaksdose  wieder;  sie  sollen  als 
Beweis  für  meine  Behauptung  dienen."  Ein  anderer 
Kollege  der  Maupin,  der  Sänger  Gabriel  TheVenard2), 
der  sie  ebenfalls  beleidigt  hatte, fürchtete  nach  dem  Bekannt- 
werden dieses  Streiches  der  Sängerin,  daß  ihm  Aehnliches 
bevorstehe;  er  fand  es  für  gut,  drei  Wochen  hindurch  dem 
Palais  Royal  fern  zu  bleiben,  und  um  sich  ganz  aus  der 


')  Dumeni,  oder  Dumesnil,  starb  1715;  seine  Glanzrollen 
waren:  Atys,  M6dor,  Phaeton,  Renaud,  Amadis. 

*)  Thevenard  starb  1741,  72  Jahre  alt,  ein  schöner  Baryton- 
Tenor;  er  sang  zehn  Jahre  hindurch  mit  der  Rochois,  im  ganzen 
vierzig  Jahre  (bis  1730),  und  trank  so  gut  wie  er  sang  („il  buvoit 
aussi  bien  qu'il  chantoit."  Aneodotes  dramat.  III  1775  S.  472). 


—    698    — 

Klemme  zu  ziehen,    wählte    er    schließlich  den  Ausweg, 
die  Maupin  um  Verzeihung  zu  bitten. 

Unter  den  Besuchern  des  Wintergartens  befand  sich 
auch  ein  gewisser  Baron  de  Servan,  ein  Geck  und  Prahl- 
hans von  grenzenloser  Eitelkeit.  Dieser  Mann  besaß  einen 
wahrhaft  herkulischen  Körperbau  und  eine  schallende 
Stimme,  zeigte  ein  anmaßendes  Benehmen  und  prahlte 
gern  mit  den  vielen  Duellen,  die  er  hervorgerufen 
haben  wollte.  Eines  Abends  ging  er  wieder  sein  Ver- 
zeichnis all  der  Schönen  durch,  welche  der  Leidenschaft 
für  ihn  zum  Opfer  gefallen  sein  sollten,  und  redete  bei 
diesem  Anlaß  abfällig  von  einer  jungen  Balletttänzerin, 
einem  Fräulein  PeYignon,  deren  untadelhafte  Aufführung 
jeglicher  Verleumdung  trotzte.  Ein  allgemeines  GemurmeL 
der  Mißbilligung  einer  so  unedlen  Leistung,  welches  durch 
den  Garten  lief,  hinderte  den  Baron  nicht  an  der  Fort- 
setzung seines  albernen  Geschwätzes.  Da  erhob  sich  die 
Maupin,  welche  in  einer  Ecke  des  Saales  auf  einem 
Polster  geruht,  schweigend  gelauscht  und  den 
Baron  hatte  ausreden  lassen,  trat  plötzlich  hervor  und 
wandte  sich  stolz  dem  Schwätzer  zu ;  in  ihrem  männlichen 
Lieblingsgewande  sah  sie  aus  wie  ein  stattlicher  junger 
Kavalier.  „  Wahrhaftig",  rief  sie,  „ich  wundere  mich  über 
die  Geduld  der  Anwesenden !  Ihre  dreisten  und  dummen 
Fälschungen  fordern  nicht  allein  Zurückweisung,  sondern 
sofortige  und  ganz  exemplarische  Züchtigung.  Sie  sind  ein 
ehrloser  Lügner,  und  ich  bin  es,  der  Ihnen  dieses  ins 
Gesicht  sagt.14  „Aber  bitte,  wer  sind  Sie,  mein  Herr?" 
fragte  vor  Wut  bebend  der  Baron.  „Der  Chevalier  de 
Kaincy  —  ein  weit  besserer  Edelmann  als  Sie  und  bereit, 
Ihnen  eine  nützliche  Lehre  zu  erteilen,"  antwortete  die 
Maupin  mit  verächtlicher  Gebärde.  Ihre  Lehre  aber  war 
von  durchschlagender  Wirkung.  Der  Baron  erhielt  einen 
Pistolenschuß  in  den  Arm,  welcher  eine  Amputation 
unumgänglich    nötig    machte.      Und    als    er  erfuhr,   daß 


—    699    — 

die  Hand  eines  Weibes  ihn  so  zugerichtet,  verfiel  der 
Herkules  in  eine  unbeschreibliche,  unbändige  Wut; — er 
verließ  Paris  und  zog  sich  auf  seine  Güter  zurück. l) 

Der  eigenartige  Liebestrieb  dieses  Weibes  zu  Personen 
des  eigenen  Geschlechts  war  so  stark,  daß  die  Maupin 
von  dieser  Seite  häufig  Unannehmlichkeiten  sich  aussetzte, 
zumal  sie  es  an  aller  Vorsicht  fehlen  ließ.  So  belästigte 
sie  durch  die  zärtlichsten  Zudringlichkeiten  die  jugend- 
liche Opernsängerin  Mademoiselle  Moreau,  wurde  von 
dieser  aber  abgefertigt.  Auf  einem  von  dem  einzigen 
Bruder  des  Königs  Ludwig  des  Großen  in  dem  Palais 
Royal  gegebenen  Ballfest  hatte  sie,  nach  ihrer  Gewohn- 
heit als  Mann  gekleidet,  sich  dazu  hinreißen  lassen,  einer 
Dame  Anträge  zu  stellen,  welche  seitens  des  männlichen 
Begleiters  der  Dame  als  die  größte  Beleidigung  aufgefaßt 
wurden.  Drei  von  den  Freunden  dieser  beleidigten  Dame, 
über  die  Handlungsweise  der  Maupin  entrüstet,  beschlossen, 
sie  auf  der  Stelle  dafür  abzustrafen,  und  lockten  sie  auf 
den  Hof;  mutig  trat  sie  heraus,  griff  zum  Degen,  schlug 
alle  drei  Gegner  zu  Boden  und  kehrte,  als  sei  nichts 
geschehen,  in  den  Ballsaal  zurück.  Bei  dem  hohen  Ball- 
geber, dem  dieser  Vorfall  zu  Ohren  kam,  brachte  die 
Maupin  es  fertig,  daß  er  Gnade  walten  ließ. 

Mitten  in  ihrem  glänzendsten  Erfolge  als  Opern- 
sängerin kam  die  Maupin  auf  den  Einfall,  Paris  zu  ver- 
lassen und  nach  Brüssel  überzusiedeln.  Hier  wurde  sie 
die  Maitresse  des  Kurfürsten  von  Baiern,  der,  nachdem 
er  ihrer  überdrüssig  geworden,  sie  im  Stiche  ließ,  um 
seine  Gunst  der  Gräfin  d'Arcos  zuzuwenden.  Behufs  Ab- 
findung sandte  er  der  Maupin  eine  Börse  mit  40  tausend 

*)  Ellen  Clayton  I  1863  Seite  56—57.  Für  diese  Geschichte 
mit  dem  Baron  de  Servan,  deren  Quelle  die  Clayton  nicht  angibt, 
habe  ich  eine  französische  Urquelle  nicht  aufgefunden  und  schließe 
daraus,  daß  mir  doch  noch  eine  auf  die  Maupin  bezügliche  Urquelle 
muß  entgangen  sein. 


—     700    — 

Franken  und  den  Auftrag,  Brüssel  sofort  zu  ver- 
lassen. Als  Ueberbringer  dieses  Auftrages  und  der  Geld- 
summe war  kein  andrer  als  der  Graf  d'  Arcos  selbst 
bestimmt  worden.  Die  Maupin  empfing  den  Abgesandten, 
wie  man  einen  Diener  empfängt;  sie  nahm  die  Börse  und 
warf  sie  ihm  an  den  Kopf  mit  den  Worten,  das  sei  der 
Lohn  für  einen  Geschäftsmann  wie  er.  So  verließ  sie 
Brüssel  mit  einer  vom  Kurfürsten  von  Baiern  ihr  zuge- 
standenen Pension  von  jährlich  2  tausend  Franken. 

Die  Erzählungen  von  dem  wunderbaren  Spanien, 
welche  ihr  zu  Ohren  gekommen  waren,  erregten  ihre 
Einbildungskraft  und  sie  redete  sich  ein,  daß  in  diesem 
angenehmen  und  glücklichen  Lande  ein  Erfolg  ihrer 
Kunst  ihr  sicher  sei.  Allein  schon  bald  sah  sie  sich 
grausam  enttäuscht  und  ging  in  ihren  Vermögensverhält- 
nissen schnell  so  zurück,  daß  sie  gezwungen  wurde,  eine 
Stelle  als  Kammerzofe  bei  der  Gräfin  Marino,  der  Gattin 
des  Ministers,  anzunehmen.  Diese  Dame  war  äußerst 
verdreht  und  eigensinnig;  die  arme  Soubrette  hielt  dennoch 
lange  ohne  Murren  bei  ihr  aus,  da  sie,  bei  allen  ihren 
Fehlern,  eine  sehr  gute  Natur  besaß  und  eines  sorglosen 
Temperaments  sich  erfreute;  zuletzt  aber  war  dennoch 
auch  ihre  Geduld  erschöpft  und  sie  entschloß  sich,  das 
ihr  lästige  Amt  aufzugeben,  jedoch  nicht,  ohne  vor  ihrem 
Weggang  für  alles,  was  sie  hier  erduldet  hatte,  sich  zu 
rächen.  Als  sie  eines  Tages  die  Gräfin  für  einen  Hofball 
zu  putzen  hatte,  brachte  die  mutwillige  Exsängerin  beim 
Ordnen  der  Coiffüre  ihrer  Dame  eine  Anzahl  kleiner 
roter  Radischen,  von  ihren  Blättchen  umrahmt  und  mit 
großen  schwarzen  Nadeln  befestigt,  im  Nackenhaare  ihrer 
Gebieterin  an;  Stirn  und  Schläfen  bedeckte  sie  zur  Her- 
vorbringung einer  bezaubernden  Wirkung  mit  Federn  der 
Unterschwanzdecken  des  Marabut  (einer  äthiopischen 
Storchart,  Leptoptilus  crumenifer  Lesson).  Die  so  ge- 
schmückte Gräfin  warf  einen  wohlgefälligen  Blick  in  den 


—    701     — 

Spiegel  und  begab  sich  in  gehobener  Stimmung  auf  den 
Ball,  woselbst  der  entscheidende  Eindruck,  den  sie  dort 
hervorrief,  sie  in  eine  Aufregung  wonniger  Eitelkeit  ver- 
setzte, bis  ein  vorsichtiger  Freund  ihr  die  Wahrheit  ge- 
stand. Schleunigst  verließ  sie  rot  vor  Scham  und  vor 
Wut  fast  erstickend  in  ungestümer  Hast  den  Ballsaal. 
In  fliegendem  Zorn  erreichte  sie  ihre  Wohnung,  um  ihn 
an  der  verräterischen  Kammerzofe  auszulassen;  aber  es 
war  zu  spät  —  diese  hatte  klugerweise  ihre  Rück- 
reise nach  Paris  bereits  angetreten.1) 

In  Paris  trat  sie  wiederum  bei  der  Oper  ein,  ohne 
jedoch  ihre  großen  Erfolge  der  früheren  Zeit  wieder 
erringen  zu  können.  Sie  schloß  sich  nun  dem  Grafen 
d'Albert  an,  einem  ehrlichen  Liebhaber,  der  sie  schon 
einmal  umworben  hatte,  anscheinend  der  einzige  Mann, 
dem  die  Maupin  eine  gewisse  Anhänglichkeit  bewahrte. 
Auf  einmal  aber  gab  ihre  Laune  ihr  ein,  sich  von  allen 
ihren  Liebhabern  loszusagen,  mit  den  außer  ihrer  Gage 
allein  ihr  verbleibenden  Mitteln  des  Kurfürsten  von  Baiern 
ein  regelmäßiges  Leben  .zu  führen,  ihren  bis  dahin  ver- 
nachlässigten Ehemann  nach  Paris  kommen  zu  lassen  und 
mit  diesem  in  vollständigster  Einigkeit  bis  zu  seinem  im 
Jahr  1701  erfolgenden  Tode  zu  leben. 

Endlich  um  die  Mitte  des  Jahres  1705  —  die  Maupin 
war  jetzt  32  Jahre  alt —  entstand  bei  ihr  der  Plan,  auch 
dem  Theater  zu  entsagen.  Da  sie  nichts  Folgenschweres 
zu  unternehmen  pflegte,  ohne  ihres  redlichsten  Liebhabers, 
des  Grafen  d'Albert,  Bat  einzuholen,  für  den  sie  so  viel 
Achtung  wie  aufrichtige  Freundschaft  empfand,  so  schrieb 
sie  diesem,  teilte  ihm  ihren  Entschluß,  sich  von  der  Welt 
zurückzuziehen,  mit  und  bat  ihn  um  seine  Ansicht  darüber; 
sie  erwarte,    daß  er    diesen    ihren  Entschluß    billige,    um 

*)  Ellen  Clayton  1  Seite  59—60.  Auch  von  diesem  Passus,  dem 
Aufenthalt  der  Maupin  in  Spanien,  gilt  das  in  der  Fußnote  Seite 
699  dieser  Arbeit  Gesagte. 


—    702    — 

ihn  mit  desto  größerem  Vertrauen  unternehmen  zu  können. 
Das  Schreiben  der  Maupin  war  der  Anlaß  zu  einer  Ant- 
wort des  Grafen,  welche  von  dem  starken  und  nachhaltigen 
Eindruck  Zeugnis  gibt,  den  die  Maupin  auf  den  Grafen 
gemacht;  der  erhaltene  Teil  dieser  Antwort  lautet: 

„ Bedenken  Sie  auch,  an  wen  Sie  sich  wenden?  Ist 
es  meine  Religion,  die  Sie  auf  die  Probe  stellen  wollen, 
mein  Herz,  meine  Gefälligkeit?  Und  rechnen  Sie  etwa 
darauf,  indem  Sie  mich  um  Rat  befragen,  daß  ich  Herr 
genug  meiner  eigenen  Empfindungen  sei,  um  Sie  in  den 
Ihrigen  bestärken  zu  können?  Haben  Sie  die  Vorstellung 
von  dem  gänzlich  verloren,  was  ich  Ihnen  gegenüber  bin  ? 
Man  will  mich  zwingen,  mein  eigenes  Unglück  gut  zu 
heißen  —  heißt  das  nicht,  mich  zu  alP  meinem  Unglück 
noch  beschimpfen?  Und  verdienten  nicht  Sie,  für  Ihre 
Ungerechtigkeit  dadurch  gestraft  zu  werden,  daß  ich 
gegen  Sie  Partei  für  die  Welt  nähme?  Dessen  bin  ich 
gewiß,  daß  bei  Ihnen  kein  Zweifel  besteht  über  den  An- 
teil, den  ich  an  allem  nehme,  was  Ihr  Glück  bewirken 
kann;  allein  übersehen  Sie  dabei  nicht,  daß  Sie  das,  was 
Sie  erstreben,  nur  auf  Kosten  meiner  Wünsche  erreichen 
können  und  nicht  ohne  daß  es  mir  meine  Ruhe  raubt? 
Müssen  Sie  nicht  furchten,  indem  Sie  mich  nötigen,  für 
das,  was  Sie  treiben,  mich  zu  interessieren,  daß  ich  mir 
alle  Mühe  gebe,  Ihnen  den  geplanten  Schritt  zu  wider- 
raten? Und  können  Sie  sich  verständigerweise  einem 
Manne  anvertrauen,  dem  es  unmöglich  ist,  ohne  Verrat 
an  seinen  eigenen  Interessen,  ehrlich  und  aufrichtig  zu 
raten?  Das  alles  wissen  Sie;  in  dem  Augenblick,  in 
welchem  Sie  der  Welt  entsagen,  gehen  unsere  Wege  aus- 
einander. Welch  einen  Koloß  von  Güte  machen  Sie  aus 
mir,  damit  ich  der  guten  Meinung,  welche  Sie  von  mir 
hegen,  entsprechen  könne!  Und  wie  schwer  kommt  es 
mir  zu  stehen,  daß  ich  Sie  von  meiner  Aufrichtigkeit 
überzeugt    habe!     Es  fehlt  nur  noch,    daß  ich  mich  von 


—    703    — 

mir  selbst  loslöse,  um  mich  ganz  Ihnen  anzupassen;  daß 
ich  alle  Gefühle  von  Empfindlichkeit  und  Zärtlichkeit 
ersticke;  daß  ich  endlich  Ihnen  gegenüber  eine  Sprache 
führe,  welche  den  wahren  Regungen  meines  Herzens 
schnurstracks  zuwider  läuft,  und  daß  ich  mich  opfere,  um 
Ihnen  zu  gefallen.  Niemals  wirkt  die  Vernunft  so  mächtig 
auf  die  Natur.  So  setzen  Sie  denn  auf  dieses  Opfer  den 
vollen  Lohn,  den  es  wert  ist;  es  ist  das  größte,  welches 
ich  gebracht  habe  und  je  in  meinem  Leben  bringen 
kann."  Im  Verlaufe  des  Schreibens  entwickelte  der  Graf 
d' Albert  der  Maupin  alle  Gründe,  welche  sie  veranlassen 
könnten,  der  Welt  weiter  anzugehören,  ohne  ihr  zu  ver- 
schweigen, daß  noch  triftigere  Gründe  ihr  die  Weltent- 
sagung nahelegten,  und  konnte  so  nicht  umhin,  die  Mau- 
pin in  ihrem  Beschlüsse  zu  bestärken.  Und  die  Maupin 
führte  ihren  Entschluß  auch  aus;  sie  zog  sich  in  ein 
Kloster  zurück,    in  welchem   sie  (im  Gerüche  besonderer 

Heiligkeit)  schon  im  Jahre  1707  verstarb. 
*  * 

* 

Karl  Heinrich  Ulrichs  hat  die  Absicht  gehabt, 
in  seiner  geplanten  Zeitschrift  „Uranus"  unter  den  „histo- 
rischen Urninginnen u  zuerst  der  „Fechtmeisterin  Maupin Ä 
ein  Biogramm  zu  widmen1);  diese  Absicht  hat  er  leider 
nicht  ausgeführt;  es  ist  hier  der  Versuch  gemacht  worden, 
das  Versäumte  nachzuholen. 

Aus  den  im  Li teratur-An hange  aufgeführten^  die 
Maupin  betreffenden  wenigen  Schriften  sind  hier  die 
französischen  Quellen  zu  Grunde  gelegt;  das  der 
englischen  Quelle  Entnommene  ist  besonders  ange- 
geben. Zusätze  der  deutschen  Darstellung,  deren 
Quellennachweis  ich  nicht  führen  kann,  sind  durch  eine 
runde  Klammer  (        )  kenntlich  gemacht. 


•)  K.  H.  Ulrichs:    „Prometheus",  Leipzig,  Serbe,  1870,  Seite   80 
unter  9). 


—    704     — 

Es  wäre  im  höchsten  Grade  verwunderlich,  wenn  der 
reiche  Romanstoff  dieses  kurzen  Menschenlebens  nicht 
einen  Nachdichter  gefunden  hätte.  Er  ist  ihm  auch  ge- 
worden: in  der  Person  des  französischen  Schriftstellers 
Th^ophile  Gautier(1811 — 1872),  welcher  in  seinem 
kecken  Roman  „Mademoiselle  de  Maupin*1)  die  Natur 
unserer  Heldin  in  durchaus  selbständiger  Erfindung  durch 
Umgestaltung  in  eine  Art  Zwitterwesen  mit  Beibehaltung 
ihres  Namens  verwendet  hat.  Er  läßt  sie  in  der  Gesell- 
schaft unter  dem  Namen  Madelaine  de  Maupin  als  Weib 
und  unter  dem  Namen  Theodore  de  S&rannes  als  Mann 
auftreten  und  legt  ihr  selbst  ein  unzweideutiges  Bekennt- 
nis ihrer  Zwitternatur  in  den  Mund:  „In  Wirklichkeit, 
weder  das  eine  noch  das  andere  der  beiden  Geschlechter 
Mann  und  Weib  ist  mein  Geschlecht,  ich  besitze  weder 
die  schmähliche  Unterwürfigkeit,  noch  die  Aengstlichkeit, 
noch  die  Kleingeistigkeit  des  Weibes;  ich  habe  auch  nicht 
die  Fehler  der  Männer,  ihre  widerliche  Schlemmerei  und 
ihre  rohen  Triebe:  —  ich  gehöre  einem  dritten  Sonder- 
Geschlecht  an,  das  einen  Namen  noch  nicht  erhielt :  höher 
oder  tiefer  stehend,   mangelhafter    oder    vollkommener2); 

*)  Thöophile  Gautier,  Modemoiselle  de  Maupin,  Paris, 
E.  Renduel,  1835.  8°.  —  Nouvelle  Edition,  Paris,  G.  Charpentier  Co., 
1885,  1  vol.,  421  Seiten. 

A.  B.,  La  preface  de  Mademoiselle  de  Maupin  dans  l'edition 
originale  et  dans  les  editions  actuelles.  in:  La  Curiosite'  littßraire 
et  bibliographique,  premiere  serie,  Paris,  I.  Liseux,  1880.  Seite  159 
bis  164. 

Ein  Porträt  der  Maupin  habe  ich  leider  nicht  aufgetrieben. 
Der  Eoman  Gautier's  aber  scheint  auf  die  Phantasie  darstellender 
Künstler  mehrfach  befruchtend  eingewirkt  zu  haben;  so  bringt 
Aubrey  Beardsley  in  seinem  „The  later  work.  With  upwards 
of  170  designs,  including  11  in  photogravure  and  3  in  colour.<k 
London  1901  in  4°,  als  Frontspice  ein  Phantasiebild  der  „Mademoi- 
selle de  Maupin"  in  Männertracht. 

2)  Dieses  ist  die  Uebersetzung  des  Motto  Seite  694  dieser 
Arbeit. 


—    705    — 

mir  ward  der  Leib  und  die  Seele  eines  Weibes,  der  Geist 
und  die  Kraft  eines  Mannes  und  ich  habe  zu  viel  oder 
nicht  genug  vom  einen  und  vom  andern,  um  mit  einem 
von  beiden  mich  paaren  zu  können."1) 


Literatur  über  die  Maupin. 

a.  Die  französischen  Quellen: 
Aneodotes  Dramatiques.    Tome  troisieme.     Paris,  Daohesne. 

1775.    Article  „Maupro".    Seite  328—334. 
Biographie  universelle  ancienne  et  moderne.   Nouvelle  Edition. 

Paris,    C.  Deplaces.    Tome   XI.    1852.    Article   „Dumeni    ou 

Dumesnil"  par  Z.    Seite  515.  —  Tome  XXVII.    1860.    Article 

„Maupin"  par  A.  B-t.    Seite  331—332. 
Biographie    universelle    des    Musioiens    et   Bibliographie 

generale   de  la  Musique.    Deuxieme   Edition.    Par  F.  J.  Fetis, 

Paris  (8  Bände    und   2  Supplementbände).     Tome   VI.     1870. 

Seite  36—37. 
Bibliotheque   historique    illustre^    L'ancienne  France.    Le 

Theatre:   Mysteres  —  Tragödie  —  Comedie   et  la  musique: 

instruments  —  Ballet  —  Opera  jusqu'en  1789.    Ouvrage  illustrß 

de  228  gravures   et  d'une  Chromolithographie.    Paris,  Firmin- 

Didot  &  Cie.     1887.    Auch:    Le  Theatre   et   la  Musique.    304  1 

Seiten  in  8°.  | 

Dictionnaire   des   Optras  par  Felix  Clement  et  Pierre  La-  | 

rousse.    Paris,  Administration  du  grand  Dictionnaire  universal.  B 

Ohne  Jahr.    Article :  „Cadmus  et  Hermione".    Seite  128. 

b.  Die  englische  Literatur: 
Clayton  (Ellen  Creathone):  Queens  of  Song:  being  memoire  of 
some  of  the  most  celebrated  female  Vocalists  who  have  appe- 
ared  on  the  lyric  stage,  from  the  earliest  days  of  Opera  to  the 
present  time.  To  which  is  added  a  chronological  list  of  all 
the  operas  that  have  been  performed  in  Euröpe.  By  Ellen 
Creathone  Clayton.  In  two  Volumes.  London,  Smith,  Eider 
&  Co.  1863  in  8°.  With  six  portraits.  Vol.  I.  With  2  portraits. 
XVI  und  382  pg.  —  Vol.  IL  With  4  portraits.  462  pg.  — 
Ueber  die  Maupin  handelt  Band  I  Seite  52 — 61. 


^Thßopbile   Gautier,  Mademoiselle  de  Maupin,  nouvelle 
edition,  Paris,  1885,  Seite  398. 


—    706    — 

o.  Die  deutsche  Literatur: 

Schilling  (Gustav):  Encyclopädie  der  gesammten  musikalischen 
Wissenschaften  oder  Universal-Lexikon  der  Tonkunst  Neue 
Ausgabe.  Stuttgart,  Franz  Heinrich  Köhler.  IV.  Hand.  1840. 
Seite  606—607. 

Allgemeines  Theater-Lexikon  oder  Encyklopädie  alles 
Wissenswerten  für  Bühnenkünstler,  Dilettanten  und  Theater- 
freunde. Herausgegeben  von  R.  Blum,  K.  Herloßsohn,  H. 
Marggraff.  Altenburg  und  Leipzig,  Expedition  des  Theater- 
Lexikons  (H.  A.  Pierer,  C.  Heymann).  Band  V.  1841.  Ar- 
tikel „Maupin":  Seite  258—259. 

Paul  (Oscar):  Handlexikon  der  Tonkunst  2  Bände.  Leipzig, 
Heinrich  Schmidt.  1873.  Zweiter  Band.  Artikel  „Maupin": 
Seite  86. 


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Seite  508  Zeile    4  von  oben  ist  zu  lesen:  zu  dieser  Schrift — statt: 

diese  Schrift 
„     545     „     13    „        „      „    „        „      Flav.  Philost. 
„     548     „     10    „        „      „    „        „      durchaus — statt:  duchaus 
„     557     „       1    „       „      „    „    ergänzen:  5. 
„     616     „     18    „       „      „    „    lesen:  1801  statt:  1802 
„     628  ist  in  Fußnote  6)  vor  Appun  zu  ergänzen:  Reiohard  1877 

Seite  502; 
„     649  muß  es  in  Zeile  5  der  Fußnote  ')  heißen:  Jacobs  VI  1837 

(1828)  Seite  456—458;  (1823)  Seite  464—492. 
„     657  Zeile  1  der  Fußnote  2)  ist  zu  lesen:  griechische  —  statt: 

grichische 
„     704  Zeile  1  der  Fußnote  l)  ist  zu  lesen:  Mademoiselle  —  statt: 

Modemoiselle 


Druck  von  G.  Reichardt,  Groitzsch. 


Jahrbuch 

für 

sexuelle  Zwischenstufen 

mit  besonderer  Berücksichtigung-  der 

Homosexualität. 


Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  namhafter  Autoren 

im  Namen  des 

wissenschaftlich-humanitären  Komitees 

von 
Dr.  med.  Magnus  Hirschfeld, 

prakt.  Arzt  in  Charlottenburg. 


V.  Jahrgang  II.  Band. 


Leipzig. 

Verlag  von  Max  Spohr. 
1903. 


j 


Inhalts-Verzeichnis. 


Über  die  androgynische  Idee  des  Lebens.  Von  Drs.  L.  S.  A.  M. 

v.  Römer-Amsterdam 707 

Die  Ainoweiber  von  W.  Cohn-Antenorid         .               .  941 
Bibliographie   der  Homosexualität.     Von   Dr.   jur.   Numa 

Praetorius 943 

Annie  Jones  f  1902        .  .        .1157 

Die  Homosexualität  im  Russischen  Strafgesetzbuch.     Von 

Vladimir  v.  Nabokoff,  Prof.  d.  Straf  rechts,  Petersburg  1159 
Aus   den  Aufzeichnungen  eines   Geistlichen                       .1172 

Zeitungsausschnitte 1179 

Jahresbericht 1292 

R.  v.  Krafft-Ebing  f  1902 1293 

Georg,  Prinz  von  Preußen  f  1902               .        .  1298 

F.  A.  Krupp  f  1902 1304 

General  Macdonald  f  1903 1322 

VI.  Abrechnung 1355 


t 


Abb.  1.    Hermaphrodit  im  Berliner  Alten  Museum. 
Naoh  Original-Photographie. 


Über 

die  androgynische  Idee 
des  Lebens. 


Von 

L.  8.  A.  M.  v.  Römer 

Arzt,  med.  doct|  zu  Amsterdam. 


M 


i 


Das  Leben  des  Menschen  können  wir  unter  zwei 
absolut  verschiedenen  Gesichtspunkten  betrachten: 

Einmal,  wie  der  Mensch  sich  zu  der  Gottheit,  der  ge- 
dachten Ursache  als  reinen  Abstraktion,  und  der  Essentia 
von  Allem,  was  ist,  verhält,  —  dann  aber  hinsichtlich 
der  Verhältnisse  der  Menschen  unter  einander. 

In  jeder  von  diesen  Sphären  können  wir  verschiedene 
Teile  unterscheiden,  wovon  wir  aber  nur  einen  Teil  ge- 
nauer untersuchen  wollen. 

In  der  ersten  Sphäre  wollen  wir  den  Teil  unter- 
suchen, den  man  Religion  nennen  kann,  d.  h.  das  Sich- 
verbunden-fühlen  mit  etwas,  was  wir  Gott  nennen, 
und  das  Streben  nach  völligem  Einswerden,  nach  einem 
Sich-durchdrungen-wissen  vom  göttlichen  Princip,  nach 
der  höchsten  Harmonie  mit  Gott.  In  der  zweiten  Sphäre 
aber  den  damit  analogen  Teil,  den  man  Liebe  nennen 
kann,  d.  h.  das  Erkennen  einer  Harmonie  zwischen  uns 
und  einem  anderen  Menschen,  oder  das  Erkennen  einer 
mehr  oder  weniger  großen  Harmonie  in  dem  anderen;  das 
Erkennen  der  Gottheit  im  Anderen  und  das  Streben  eins 
mit  diesem  zu  werden.  —  Bis  dorthin  spielt  sich  dies 
alles  nur  im  Seelenleben  ab;  wenn  aber  diese  rein 
psychische  Empfindung  ihren  höchsten  Grad  erreicht  hat, 
so  reflectiert  sich  diese  Emotion,  diese  Extase  auf  den 
Körper;  man  will  also,  daß  auch  die  Körper  eins 
werden,  und  in  der  Umarmung,  dem  ersten  Ausdruck 
dieses  Strebens,  geschieht  der  Akt,  den  wir  gewöhnlich 
„sexuell"  zu  nennen  pflegeu. 


—    712    — 

Diese  Liebe  möchte  ich  „absolute  Liebe*  nennen 
und  ich  glaube,  daß  sie  in  dieser  Form  vielleicht  nur 
beim  ersten  Liebesempfinden  absolut  rein  sein  kann. 
Sowie  einmal  sexueller  Orgasmus  empfunden  wurde, 
kann  einer  folgenden  Strebensäußerung  ein  Wieder- 
empfindenwollen  des  bereits  gekannten  Genusses  beige- 
mischt sein.    Allerdings  ist  dies  nicht  absolut  notwendig. 

Dringt  das  oben  erwähnte  Psychische  nicht  über 
die  Schwelle  des  Bewußtseins,  d.  h.  wird  solch  ein  Akt 
nur  als  direkte  Folge  einer  Plethora  seminalis  oder 
anderer  rein-körperlicher  Zustände  verübt,  so  kann  man 
nicht  von  Liebe  sondern  nur  von  Sexualität  sprechen. 

Diese  letztere  wollen  wir  hier  nicht  weiter  untersuchen, 
sondern  uns  nur  an  die  erste  Form  halten. 

Wir  haben  also  zwei  analoge  Fälle.  Im  ersten  Falle 
ein  Sich-vereinigen-wollen  mit  der  Gottheit,  im  zweiten 
mit  einem  Menschen.  —  Selbstverständlich  ist  in  dem 
ersten  nur  von  einer  psychischen  Vereinigung  die  Rede, 
obwohl  wir  viele  Fälle  kennen,  in  denen  religiöse  Extase 
die  höchste  Reflectierung  auf  den  Körper,  bis  zu  sexueller 
Erregung  hervorbrachte.  Vielleicht  erklären  sich  daraus 
am  besten  die  Tentationen  der  Heiligen,  wenn  sie  in 
ihrer  extatischen  Anbetung  statt  des  Crucifixes  einen 
weiblichen  Körper  vor  sich  sahen. 

Anmerkung:  Als  interessantes  Beispiel  für  unserer  Auffassung 
reproducieren  wir  eine  Abbildung  aus  C.  S.  79  —  als  unsere  Abbüdung  2. 
Die  Heilige  Theresia  ist  hier  sicherlich  in  höchster  erotischer,  d.  h. 
körperlicher  Extase  dargestellt,  zu  der  sie  durch  eine 
ursprünglich  geistige  Extase  gelangte.  —  Daß  unsere  Auffassung 
hierdurch  wirklich  illustriert  wird,  beweisen  die  beiden  folgenden 
Citate  aus  Taine  und  aus  den  Memoiren  der  H.  Theresia,  welche 
wir  aus  Lemesle's  Arbeit  übernommen  haben: 

(Taine  Voyage  en  Italie  t  I,  p.  298.) 

Elle  est  adorable,  couchee  evanouie  d'amour  les  mains, 
les  pieds  nus  pendants,  les  yeux  demi-clos,  olle  s'est  laissee 
tomber  de  bonheur  et  d'extase.  Son  visage  est  maigri  mais 
combien  noble!    C'est  la  vraie  grande  dame   qui  a  seche  dans  les 


—    713    — 

feux,  dans  les  larmes  en  attendant  celui  qu'  eile  aime.  Jusqxi'aux 
draperies  tortillees,  jusqu'ä  l'alanguissement  des  mains  däfaillantes 
il  n'y  a  rien  en  eile  ni  autour  d'elle  qui  n'  exprhne  l'angoisse  volup- 
tueuse  et  le  divin  elancement  de  son  transport.  On  ne  peut 
rendre  avec  des  raots  üne  attitude  si  enivrße  et  si  touchante. 
Renversße  sur  le  dos,  eile  päme,  tont  son  §tre  se  dissout:  le 
raoment  poignant  arrive,  eile  gßmist :  c'est  son  dernier  gemissement 
la  Sensation  est  trop  forte.  L'ange  cependant,  im  jeune  page  de 
14  ans  en  lagere  tunique,  la  poitrine  dßcouverte,  jnsqu'au-dessous 
du  sein,  arrive  gracieux  aiinable,  c'est  le  plus  joli  page  de  grand 


Abb.  2.    Transverberatio  Sa e  Theresia e  (Kirche  Sancta  Maria  della 
Vittoria,  Marmor-Gruppe  v.  Bernini.)  —  Aus  Lemesle. 

seigneur,  qui  vient  faire  le  bonheur  d'une  vassale  trop  tendre. 
Un  sourire  demi-complaisant ,  demi-malin  creuse  des  fossettes 
dans  ses  fraiches  joues  luisantes :  Sa  fleche  d'or  ä  la  main  indique 
le  tressaillement  dßlicieux  et  terrible  dont  il  va  secouer  tous  les 
nerfs  de  ce  corps  charmant,  ardent,  qui  s'etale  devant  sa  main. 
On  n'a  jamais  fait  de  roman  si  sßduisant  et  si  tendre. 

Memoires  de  Sainte  Th6rese  d'Avila,  (edition  Arnault  Andry 
—  la  Transverberation). 

„A  mon  cote  gauche,  j'ai  vu  un  ange,  dans  une  forme 
corporelle.    II   etait  petit  d'tine  merveilleuse  beaut6  et  son  visage 


—    714    — 

Itincelait  de  tant  de  lnmiere,  qu'il  me  paraissait  nn  de  ceux  de 
premier  ordre,  qni  sait  tont  embrases  de  l'amour  de  Dien,  et  qne 
Ton  nomme  seraphins.  Cet  ange,  avait  a  la  main  nn  dard,  qni 
6tait  d'or,  dont  la  pointe  6tait  fort  large  et  qni  me  paraissait 
d'avoir  a  l'oxtremitä  nn  pen  de  fen;  il  me  semble,  qn'il  l'enfonca 
diverses  fois  dans  mon  coenr  et  qne  toutes  les  fois,  qu'il  Ten 
retirait,  il  m'arrachait  les  entrailles  et  me  laissait  tonte  brülante 
d'un  si  grand  amonr  de  Dien,  que  la  violence  de  ce  fen  me 
faisait  jeter  des  cris,  mais  des  cris  meles  d'nne  si  extreme  joie 
qne  je  ne  ponvais  desirer  d'etre  delivree  d'une  donlenr  si  agreablo 
ni  tronver  de  repos  et  de  contentement  qu'en  Dieu  senl.  Cette 
donlenr  dont  je  parle  n'est  pas  corporelle  mais  tonte  spirituelle 
qnoiqne  le  corps  ne  laisse  pas  d'y  avoir  beanconp  de  part.u 

Es  kann  nichts  Befremdendes  an  sich  haben,  daß 
die  höchste  psychische  Extase  sich  sozusagen  in  eine 
körperliche  verwandelt,  da  ja  im  Menschen,  welcher 
Seele  und  Körper  ist,  notwendig  der  Körper  das  teilen 
muß,  was  im  Seelenleben  sich  abspielt,  wie  andererseits 
die  Seele  durch  körperliche  Zustände  beeinflußt  wird. 

So  kann  man  sich  also  sehr  wohl  denken,  daß  die 
obenerwähnte  Plethora  seminalis  als  körperlicher  Zustand 
an  sich  zwar  unbewußt  bleibt,  den  betreffenden  Menschen 
aber  für  Liebesreize  empfindlicher  macht.  — 

Als  sich  nun  der  Mensch  der  göttlichen  Idee  bewußt 
wurde,  wollte  er  sich  diese  Idee  auch  vorstellen  und,  da 
er  sich  eine  handelnde  Idee  am  leichtesten,  anthropomor- 
phisch  denkt,  bildete  er  sich  Götterbilder.  —  Die  große 
Gefahr,  die  darin  liegt,  daß  der  Mensch  die  Bilder  mit 
der  Idee  verwechseln  könne,  veranlaßte  wahrscheinlich 
Moses  zu  seinem  Verbot,  Bilder  von  der  Gottheit  zu 
machen. 

Aber  wie  kann  man  die  Gottheit  in  höchster  Form 
sich  anders  denken  wie  als  vollkommene  Harmonie  von 
Allem,  was  ist?  Umfassend  das  Seiende,  sich  äussernd 
in  allem,  und  im  Vollbesitze  jeder  Eigenschaft  der  Natur? 

Wir  erkennen  nun  in  der  Natur  zwei  große  Gruppen 
von  Eigenschaften:  nämlich  die  aktive  d.h.  die  schöpfende, 


—     715     — 

erzeugende,  generative,  die  reizende,  die  handelnde  und 
die  passive,  die  empfindende,  vegetative. 

Da  aber  die  Gottheit  sich  durch  beide  Gruppen 
äußert,  so  muß  die  Gottheit  die  aktiven  und  passiven 
Kräfte  umfassen,  die  reizende  und  die  empfindende, 
die  generative  und  die  vegetative  —  das  heißt  also  nach 
Analogie  die  männlichen  sowohl  wie  die  weiblichen  Kräfte. 

Kann  es  uns  nun  wundern,  wenn  man  sich  die  Gott- 
heit als  Einheit  dachte,  sich  materiell  als  Mannweib, 
als  Androgyne  vorstellte? 

Die  Gottheit,  die  Harmonie  von  Allem,  von  den 
beiden  Prinzipen:  Mann  und  Weib,  ward  dann  auch 
immer  als  Androgyne  gedacht  und  dementsprechend  ab- 
gebildet (XXII.  —  T  1.  p.  461.  —  XL VIII  p.  56  c.  5).  j 

Wir  wollen    zuerst    beweisen,    daß  wirklich  in    fast  i 

jeder  ßeligion  der    höchste  Gott,    oder  der    einzige  Gott  i 

bestimmt    androgynisch    gedacht   und    abgebildet    wurde.  > 

Anfangend  mit  der  ältesten  von  mir  studierten  Religion,  1 

der  Indischen,  finden  wir  zuerst,  daß  Gott  von  den  indischen 
Weisen  die  aktive  Kraft  und  der  in  der  Schöpfung 
als  passiv  betrachtete  Stoff  genannt  wird,  und  man 
kann  die  Ausdrücke:  „männlich"  (pooroosha) und  „ weiblich* 
(prakritee)  sehr  oft  in  ihren  Schriften  finden:  „Gott  besitzt 
Form,  wenn  die  aktiven  und  die  passiven  Kräfte  vereinigt 
sind/  (ügustyu  p.  33.  —  CLXXXIX  T.  IV.  p.XXII.)1) 

Als  älteste  Götterprinzipen  erkennen  wir  in  der 
Indischen  Religion :  das  Wasser  (Wischnu)  und  das  Feuer 
(Qiva).  »Der  Vischnu  aber  mußte  seinem  Bruder  Qiva 
einst  die  Dienste    eines  Weibes    leisten,    damit    die  Welt  > 

geschaffen  werde"  (CXXVI  v.  Schiba).  Das  Zeichen  Qiva's 


*)  God  is  spoken  of  by  the  Hindoo  sages  as  the  active  power 
and  mother  as  passive  in  the  work  of  creation,  and  hence  the  terms 
male  (pooroosha)  and  female  (prakritee)  are  frequently  found  in 
their  writings:  „God,  when  the  active  and  passive  powers  are 
united,  possesses  form."    [Ugustyu  p.  33.] 


—    716    — 


war  ein  Triangel  mit  Spitze  nach  oben  (^),  das  auf- 
wärtsstrebende Feuer  versinnlichend,  wie  das  umgekehrte 
(\J),  des  feuchten  Wischnu  Symbol,  das  abwärtsfließende 
Wasser  versinnbildlichte  (Ebenda)2).  —  Schon  hier  wollen 
wir  darauf  hinweisen,  daß  also  dem  Akt  der  Schöpfung 
das  Zeichen  jfa  gegeben  worden  ist,  welches  bei  den 
Juden  zum  Symbole  Jehovah's  wurde. 

Aus   Vischnu    entstand    die  Welt.     Aus    dem  Nabel 
Vishnus    sehen    wir    in  Abbild.    3    einen    Lotus    empor 


Abb.  2*.    Aus  Soldi. 


wachsen.  Der  Lotus  ist  aber  der  zweifache  Typus  des 
göttlichen  und  menschlichen  Hermaphroditen,  da  er 
sozusagen  beide  Geschlechter  in  sich  vereint 3)  (XXII 
T.  I.  p.  409).     Diese    Pflanze,    welche   im  Wasser   lebt, 


2)  Eine  interessante  Abbildung  ist  unsere  2*,  welche  die  Eins- 
werdung  von  Wasser  und  Feuer  nach  indischer  Auffassung  wieder- 
gibt.   Reproduziert  aus  CLXXII  IL  S.  125. 

8)  The  Lotus  is  the  two-fold  type  of  the  Divine  and  human 
Hennaphrodite  being  so  to  say,  of  dual  sex. 


—    717     — 

bringt  zwischen  ihren  breiten  Blättern  eine  Blume  hervor, 
deren  Kelch  die  Form  einer  Glocke  hat.  In  dieser  Blume 
entwickeln  sich  dann  die  befruchteten  Samen  für  junge 
Pflanzen,  welche  sich  von  der  gemeinsamen  Mutterblume 
ablösen,  auf  dem  Wasser  schwimmend  Wurzel  fassen, 
wohin  sie  eben  getrieben  werden.  Diese  gewissermaßen 
aus  sich  selbst  sich  erzeugende,  aus  sich  selbst  sich 
entwickelnde,  nicht  direkt  von  der  Erde  genährte  Pflanze 
ist  das  Symbol  der  produktiven  Kräfte  des  Wassers, 
über  welche  der  aktive  Geist  des  Schöpfers,  der  Odem 
Gottes,  sich  verbreitete,  um  das  Leben  zu  erwecken 
(XCIV  p.  47:  XCIII  §  146,  XLIV,  I  tf.  412).  Dieser 
Lotus  trägt  nun  den  Brahma,  den    neuen    Schöpfer    der 


Abb.  3.    Aus  Creuzer. 


Welt.  —  (XXII,  Bd.  II  S.  344)  —  XLIV  Bd.  I  S.  572 
No.  8).  In  unserni  Bilde  ist  m.  E.  gerade'  der  Umstand 
sehr  -interessant,  daß  Vishnus  Gattin,  Lakschmi,     nur  zu 

4)  Vishnu  is  represented  with  a  Lotus  growing  out  of  his 
navel  —  or  the  Universe  of  Brahma  evolving  out  of  the  Central 
point,  Nara  — . 


—    718    — 

Vishnus  Füßen  sitzt,  aber  an  der  Schöpfung  nicht  Teil 
nimmt.  Aber  auch  Brahma  ist  wieder  androgynisch 
gedacht.  (XXII  Bd.  I  p.  38)  b)  Brahma  teilt  sich,  die 
eine  Hälfte  war  männlich,  die  andere  aber  weiblich. 
Diese  wurde  Väch  genannt.  Brahma  vereinigte  sich  mit 
Väch  und  erzeugte  Virädj  (CXXXVI.  S.  79  6)  —  Bd.  I  S. 
117  7).  Und  dann  geht  Manu  (CXXXVI  S.  80)  8)  weiter: 


Abb.  4.    Aus  Cfruzer. 


6)  Brahman  (neuter)  the  unmanifested  is  the  Universe  in 
abscondite,  and  Brahma  the  raanifested  is  the  Logos,  made 
male-female  in  the  symbolical  orthodox  dograas. 

6)  Ayant  divise  son  corps  en  deux  parties,  le  souverain  maitre 
devint  moitie  male  et  moitie  femelle,  et  s'unissant  ä  cette  partie 
femelle,  il  engen dra  Virädj. 

7)  According  to  Manu,  Hiranyagarbhe  is  Brahma,  the  first 
male  formed  by  the  undiscernable  causeless  Cause  in  a  Golden 
Egg  resplendent  as  the  Sun.  —  That  Being  is  surely  androgynous 
and  the  allegory  of  Brahma  seperating  into  two,  and  creating  in  one 
of  his  naives  (the  female  Väch)  himself  as  Viräj  is  a  proot  of  it. 

R)  Apprenez,  noble  Brahmanes,  que  celui,  que  le  divin  male 
(Pouroucha)  appelß  Virädj,  a  produit  de  lui  meme  en  se  livrantäuno 
devotion  austere  c'est  moi,  Manou,  le  createur  de  tout  cet  univers. 


—    719    — 

„Hört,  edle  Brahmannen,  der,  welchen  der  göttliche 
Männliche  (Pouroucha),  genannt  Virädj,  aus  sich  selbst 
erzeugt  hat,  in    strengster  Devotion    versunken,   bin    ich  j 

Manu  der  Schöpfer  des  Alles*. 

Die  Auffassung  aber,  daß  Brahma  androgynisch  ist, 
war  schon  dem  Porphyrius  bekannt,  wie  Creuzer  uns 
mitteilt  (XLIV,  Bd.  I,  S,  451). 

Sehr  oft  ward  der  Qiva  mit  seiner  Gattin  so  sehr 
verbunden  vorgestellt,  daß  die  Gottheit  nur  einen  Körper 
bildet,  der  Qiva  ardhanaricvara.  Man  sehe  die  Abbil- 
dung 5  nach  dem  Original  im  Leidener  Museum  für 
Altertümer,  und  die  Abbildung  4  [nach  einer  Abbildung 
in  Creuzer  (XLII).] 

Wir  werden  später  sehen,  um  wie  viel  höher  ent- 
wickelt die  materielle  Vorstellung  der  Gottheit  in  Egypten 
und  dem  klassischen  Altertum  war.  \. 

Mit    Bezug     auf    das    Leidener    Bild    ist    die    Mit-  [ 

theilung  von  Knight  (XCIII   §  50)    interessant,    der  ein  g 

analoges  Bild  beschreibt,    und    meint,    daß  vielleicht    die  f 

Kenntnis    der  Griechen    von    solchen    Bildern  als  letzte  f 

Ursache    für    die     Sage    von    der    Verstümmelung    der  j 

rechten  Brust  der  Amazonen    angesehen    werden    könne.  \\ 

Blavatsky     schreibt,     daß     in     einem     der    ältesten  < 

Katechismen  von  Süd-Indien,  Madras,  die  androgynische  {! 

Göttin     Ardhanari,     in    der    Mitte    ihres    Körpers    das  <l 

„Svastika",  Crux  ansata,  das  Henkelkreuz  (XXII.  Bd,IL 
S.  34)  „das  männliche  und  weibliche  Zeichen"  hält.  Diese 
Mitteilung  wird  vervollständigt  durch  das,  was  dieser 
Autor  aufS.  33  schreibt:  Ein  Kreis  mit  einem  Durchmesser 
0  symbolisiert  die  weibliche  Natur.  Theosophisch  stimmt 
dieses  dann  überein  mit  der  primitiven  Stammrasse  (the 
primitive  ßoot-llace).  Als  die  weibliche  Natur  aber  an- 
drogynisch ward,  da  entwickelte  sich,  wie  die  Rassen, 
(man  sehe  später)  auch  dieses  Symbol  zu  einem  Zirkel 
mit  Diameter,  wovon  aber  eine  vertikale  Linie  entspringt 


AbK  \    0N^  *v^!UN*rio\ÄV*  hu*  tWro  \  eUe^Nr  Museum* 


9)  I  an  the  father  of  this  Universe,   the  mother,    the   creator, 
the  grandsire  ....  the  syllable  Om". 

10)  I  alone  am  your  mother,    father,    and    I  too  am  the  Son. 
")  „The  hermaphrodite  [Urjoonu]  who  taught  the  children  to 

dance,  was  skilful  in  driving  the  chariot  in  time  of  war"  und: 
„Urjoonu  [resolve]  in  conformity  to  a  curse  that  had  been  pronoun- 
ced  upon  him  by  Rumbda,  to  become  an  hermaphrodit,  and  teach 
the  kings  children  to  sing  and  dance." 


f 


—     721     — 

0,  d.  h.  männlich  und  weiblich,  aber  noch    nicht  völlig 

geschieden,  und  somit  androgynisch.     Dies  letzte  Symbol 

aber    ist  dasselbe  wie   -^   das   Henkelkreuz  der  Egypter 

und  Jndier,    aber  auch    dasselbe  wie  Q,  das  Zeichen  für 

Venus,    was    höchst    interessant    ist    für    das,    was  man  jj 

weiter  unten  lesen  wird. 

Weitere  Belege  dafür,  daß  die  Indier  sich  die  Gott- 
heit als  androgynisch  dachten,  finden  wir  in  Bhagavadgitä 
(XVII  S.  83  eh.  IX).  Die  Gottheit  sagte  dem  Arguna: 
„Ich  bin  der  Vater  dieses  Alls,  die  Mutter,  der  Schöpfer, 
der  Urvater  ....  der  Laut  Om9)  und  Sanatsugatiya 
(CLXVIS.193Ch.  VI,  24):  Ich  allein  bin  deine  Mutter, 
dein  Vater,  und  ich  bin  auch  der  Sohn.14  10) 

Arguna  ist  aber  selber  androgynisch,  wie  uns  Ward 
CL(XXXIX  Bd  IV  S,  437  u.  439)  mitteilt. 

In  der  Mahabharata,  einem  epischen  Gedichte,  kommt 
eine  Stelle  vor,  wo  Arguna  der  Helden-Krieger,  den 
Kindern  des  Königs  tanzen  und  singen  lehrt,  als  er  sich, 
als  Hermaphrodit,  im  Palaste  befand. ]  J)  Wenn  wir  oben 
sahen,  wie  die  alten  Indier  sich  ihre  androgynischen 
Götter  abbildeten,  so  lehren  uns  die  Abbildungen  5  und 
6,  wie  die  tibetanischen  Buddhisten  ihre  Schutzgötter 
darstellten,  der  männliche  Gott  steht  und  an  ihm  hängt, 
ihn  mit  ihren  Beinen  umschlingend,  das  weibliche  Prinzip, 
seine  Qakti. 

Die  erste  Abbildung  soll  der  Yi-dam  bDe-mccog 
d.  h.  der  Schutzgott,  der  das  höchste  Glück  symbolisiert, 


Abb.  6.    Aus  Grün w edel. 


—    723    — 

die  andere  aber  Yi-dam  Hevajra  darstellen.  Ausführlich 
beschreibt  Grünwedel  (LXXI  S.  105—106)  diese  Bilder; 
ich  will  seine  Beschreibung  hierhersetzen. 

„Der  Name  des  ersten  Samvara  (tibetisch  bDe-mccog) 
weist  deutlich    darauf    hin,    daß    wir    es    mit  einer  rein 


Abb.  7.    (Aus  Griinwedel). 

9ivaistischen  Bildung  zu  thun  haben.  Der  letztere  hat 
eine  gewisse  historische  Merkwürdigkeit  dadurch,  daß 
als  Kh ubilai  Kh agan  und  seine  Gemahlin  von  aPcags- 
pa,    die  Weihen  erhielten  und  sich  damit  zum   Buddhis- 

Jahrbuch  V.  46 


—    724    — 

mos   bekannten,   dies    durch    die  Hevajra-vsujitä  (Weihe 
des  Hevajra)  geschah 

„Der  Kultus  des  bDe-mccog  soll  in  der  Provinz 
Tsa-ri  seinen  Haupteitz  haben.  Dort  soll  der  wahrhaftige 
Mahädeva  (£iva)  hausen.  Der  zwölfarmige  vierköpfige 
Gott  schreitet  von  seiner  Qakti  umarmt,  nach  links.  Er 
trägt  über  seinem  vierfachen  Kopf  eine  Schädelkrone 
und  einen  hohen  Haarwirbel,  auf  dessen  Vorderseite  ein 
vierfacher  Donnerkeil,  und  auf  dessen  linker  Seite  ein 
weißer  Halbmond  erscheint.  Die  Hände  halten  die 
folgenden  Attribute:  rechts  den  Zipfel  eines  weißen 
Elefantenfells,  das  über  den  Rücken  herabhängt^  die 
Trommel,  ein  Beil,  einen  Dreizack  mit  Fahne,  das  Messer 
Gri-gug,  und  mit  der  sechsten  Hand  im  Rücken  der 
Qakti  einen  Donnerkeil;  links  mit  der  obersten  Hand 
den  andern  Zipfel  des  Elefantenfells,  dann  ein  Katvanga 
(Stuhlbein) 12)  eine  Schädelschale,  eine  Fangschlinge,  den 
abgehauenen  viergesichtigen  Kopf  des  Hindu  -  Gottes 
Brahma  und  mit  der  letzten  Hand  hinter  dem  Rücken 
der  Qakti  einen  Donnerkeil ;  der  Gott  ist  blau,  die  Qakti 
kirschrot,  der  Schmuck  weiß.  Unter  dem  linken  Fuß 
liegt  eine  nackte  vierhändige  weibliche  Leiche  mit  weißem 
Schmuck  und  dem  Katvanga  in  einer  Hand,  unter  dem 
rechten  Fuß  eine  blaue,  gekrönte  vierhändige  männliche 
mit  Schurzfell  aus  Tigerfell.  —  Die  Qakti  umschlingt 
mit  der  Linken  den  Hals  des  Gottes,  mit  der  Rechten 
hält  sie  das  Messer  Gri-gug  hoch.  — tf 

Die  Beschreibung  des  zweiten  Bildes  lassen  wir  fort, 
um  nicht  zu  ausführlich  zu  werden.  Man  kann  die- 
selbe finden  Op.  cit.  S.  105.  — 


12)  Op.  cit.  100 :  Ein  weißer  Stab  mit  einem  aufrechten  Donner- 
keil als  Spitze,  darunter  ein  weißer  Schädel,  ein  roter  alter  Kopf, 
ein  blauer  junger  Kopf,  darunter  der  vierfache  Donnerkeil  und  ein 
Gefäß  mit  Unsterblichkeitstrank. 


—    725    — 

Wenn  man  auch  die  letzte  Abbildung  nicht  bestimmt 
androgynisch  nennen  darf,  so  ist  es  doch  ihre  Idee 
bestimmt. 

Nachdem  wir  kurz  erwähnt  haben,  daß  in  der 
japanischen  Kosmogonie  auch  wieder  aus  dem  Welt-ei 
der  Geist  der  Erde  entsteht,  und  auch  dieser  ein  Wesen 
ist  mit  zwei  Charakteren,  von  denen  der  eine  das  männ- 
liche Element,  der  andere  das  weibliche  repräsentiert  und 
ersterer  Isu  no  goi  no  Kami,  letzterer  Eku  goi  no  Kami 
(XXII.  Bd.  I.  S,  237)  genannt  wird,  wollen  wir  noch 
einen  flüchtigen  Blick  auf  verschiedene  Religionssysteme 
werfen,  um  dann  das  Egyptische  näher  zu  untersuchen. 

Zuerst  erwähnen  wir  die  persische  Religion  des 
Mithras-Mitra  (XLIV  Bd.  LS.  228—230).  Mithras  ist 
das  geschaffene  alles  durchdringende,  alles  belebende 
Licht  (Windischmann  cit  CI  v.  Mithras).  Nun  erzählt 
uns  Firmicus  (LX  S.  251)  „[Die  Perser]  teilen  den 
Jupiter  in  zwei  Mächte,  seine  Natur  als  zweigeschlecht- 
lich auffassend,  und  das  Bild  eines  Mannes  und  eines 
Weibes  begreifend  als  das  Wesen  des  Feuers.  Und  sie 
bildeten  das  Weib  ab  mit  drei  Köpfen  und  umgaben  sie 
mit  fürchterlichen  Schlangen.  .  .  .  [Den  Mann]  nennen 
sie  Mithras  18)tf  Wenn  also  wirklich  die  oben  erwähnte 
Mitra  die  weibliche  Hälfte  des  Feuergottes  ist,  so 
würde,  wenn  die  Nachricht  des  Firmicus  wahr  ist,  diese 
Mitra  dreiköpfig  sein  und  der  Hekate  gleichgestellt 
werden  müssen.  Cumont,  in  CI.  v.  Mithras,  meint  aber, 
daß  Hekate  nicht  so  aufgefaßt  werden  darf,  und  gibt 
dafür  den  Grund  an,  daß  das  Feuer  eine  männliche 
Gottheit  war. 


13)  Iovem  in  duas  dividunt  (Persae)  potestates,  naturam  eius 
ad  ntriusque  sexus  transferentes  et  viri  et  foeminae  simulachra  ignis 
substantiam  deputantes :    et   niulierem    quidem  triformi  vulta  con- 

stituant  monstrosis  serpentibus  illigantes [Virum]  Mithram 

dicunt. 

46* 


—    726    — 

Sie  wird  nach  seiner  Auffassung  nur  als  Drujas  in 
Mazdäismus  aufgefaßt  werden  müssen. 

Herodot  lehrt  uns,  daß  die  Mitra  der  Perser  die 
Aphrodite  Mylitta  der  Assyrier  und  der  Alilat  der 
Araber  gleich  ist. 

Meyer  (CI  v.  Anaitis)  meint,  dass  Herodot  hier 
Mithra  mit  Anahita  verwechselt  hat,  dem  Clemont  bei- 
stimmt. — 

Die  Anaitis  (Anahita)  aber  wird  von  den  Griechen 
der  Artemis  gleich  gestellt,  d.  h.  der  Artemis  als  Mond- 
göttin, als  Göttin  des  Naturlebens  und  der  Fruchtbarkeit. 
Es  gibt  aber  eine  Artemis  Iphigeneia  und  diese  Iphige- 
neia  (CXXXV.  Lib.  II.  c.  35  §  19414)  wurde  schon  von 
Hesiod  (CXXXV.  Lib.I.  c.  43  §  103 l6)  mit  der  Hecate 
identifiziert.  Und  Schreiber  (CI  v.  Artemis)  citiert  Aeschylos 
und  Euripides,  bei  denen  Artemis  und  Hecate  völlig 
gleich  sind,  eine  Identifizierung,  die  inschriftlich  in 
Athen  (C.  I.  A.  1,  208)  und  in  Delos  beglaubigt  ist16) 
Auch  trägt  die  Hecate  wie  die  Artemis  den  Beinamen 
Lichtträger  ((QaxHpoQog) 

Röscher  gibt  (CI  v.  Hecate)  eine  Abbildung  der 
Hekate  triformis,  welche  s.  E.  wahrscheinlich  der  Zeit  des 
Synkretismus  d.  h.  des  sinkenden  Heidentums  angehört. 
—  Wenn  dieses  letzte  auch  richtig  sein  dürfte,  so  beweist 
dieses  Bild  doch,  daß  in  dieser  Zeit  die  Hecate  mit  dem 
Mithras  etwas  zu  schaffen  hat.  „Die  eine  der  drei  Ge- 
stalten,  welche    eine    mit  Strahlen    versehene  phrygische 


u)  ^ÄQTBiiiSog  emxXri<uv  *I(piy8veiag  atixiv  Ibq&v. 

15)  Olda  Sa  cHöiodov  noirßavxa  ev  xaraXoyo^  yvvai- 
xwv,  'fyiyeveiav  ovx  ärro&aveiv,  yvcofi^  Se  Ugrefiidog 
'Exdrrjv  elvat. 

16)  Man  sehe  auch  (CXXIX  S.  234,  fragm.  201) 

'Htfäga  dl  'Exdrrj  naidbq,  fxeXe  av&t  Xtnovaa 
Avpovs  evnXoxdfioio  xoqyj  nqofSBßr^ai    "OXvfinov 


—    727     — 

Mütze  trägt,  scheint  die  Sonne  zu  repräsentieren;  denn 
die  Strahlen  können  nur  vom  Helios  entlehnt  sein,  und 
die  phrygische  Mütze  wird  wohl  mit  Eecht  von  Mithras 
abgeleitet;  die  zweite  Figur,  welche  Fackeln  hält  und  mit 
der  Mondsichel  geschmückt  ist,  stellte  den  Mond  dar." 
Diese  Figur  ist  also  die  wirkliche  Mondgöttin,  und  die 
erste  eine  weibliche  Mithrasfigur.  Auch  die  anderen 
Embleme,  welche  Röscher  1.  c.  nennt,  stimmen  mit  dem 
Mithrasdienste  überein;  so:  das  Messer  und  die  Schlange  der 
ersten  Figur,  die  Fackeln  der  zweiten  und  der  Schlüssel 
der  dritten,  so  daß  ich  in  dieser  Statue  das  Bild  eines 
weiblichen  Princips  erkennen  zu  dürfen  glaube,  das  die 
Perser  von  ihrer  höchsten  Gottheit,  als  androgyn  gedacht, 
trennten  und  Mitra  nannten,  wie  sie  den  männlichen  Teil 
als  Mithras  bezeichneten. 

Daß  aber  Herodot  Mitra  mit  Aphrodite  identificiert> 
ist  nicht  befremdend.  —  Artemis  war  doch  auch  die 
Göttin  der  vegetativen  Fruchtbarkeit,  Geburtsgöttin  und 
Ehestifterin,  (Schreiber  1.  c.)  Und  Strabo  (  lib.  XI  p. 
532),  erzählt  uns,  daß  der  Anaitis  Sklaven  und  Sklavinnen 
geweiht  wurden,  und  daß  auch  die  Töchter  des  Landes 
bis  zu  den  höchsten  Ständen  hinauf  sich  ihr  zu  Ehren 
prostituierten. 1 7) 

Mit  dem  oben  über  Hecate-Mitra  Gesagten  steht 
ebenfalls  im  Einklang,  daß  Mithras  ganz  bestimmt  ge- 
nannt wird:  niqarig  (XLIV  Bd.  I,  S.  232)  die  Hecate 
aber  TteqaeCri  (CXXIX  Hym  I). 

Ueber  die  Anaitis,  welche  als  Göttin  in  Armenien, 
Kappadocien  und  Pontus  verehrt  ward,  wollen  wir  nur 
kurz  erwähnen,  daß  Creuzer  diese  Göttin  ganz  bestimmt 
als  androgynisch  auffaßt  (XLIV  Bd.  II  S.  469).    Später 


17)  ciXXa  xai  ^vyariqag  oi  inixpaveatatoi  rov  e&voog 
ävL8Qov<si  ncLQ&evovg,  alg  vouog  fioti,  xaTanoQvov^elaatg 
noXvv  %q6vov  naqa  x\    üew  ^Avafaidi.]. 


—    728    — 

werden  wir  sehen,  daß  auch  die  religiösen  Gebräuche 
damit  in  Uebereinstimmung  stehen.  „In  allen  Religionen 
des  vorderen  und  mittleren  Asiens  tritt  sehr  deutlich 
ein  Dualismus  der  Geschlechter  in  den  verehrten 
Wesen  hervor.  Es  ist  ein  Sonnengott  als  actives  Prin- 
cipium,  als  himmlischer  Herrscher,  als  mächtiger  starker 
Befruchter.  Ihm  zur  Seite  die  Mondgöttin  als  weibliches 
Princip,  als  Empfängerin.«     (XLIV  Bd.  II  S.  330  sqq). 

Hiervon  haben  wir  bereits  einige  Beispiele  gezeigt 
und  wir  werden  dann  bei  der  Beschreibung  der  griechi- 
schen Götter  noch  sehr  oft  auf  Asien  zurück  greifen 
müssen. 

Creuzer  fährt  dann  fort:  „Jener  Geschlechtsdualis- 
mus in  diesen  Culten  wird  nicht  selten  in  eine  Person 
gelegt,  die  dadurch  Mannweib  (agae v6&r\h)q)  wird  oder 
ein  Weibmann,  je  nachdem  dieses  oder  jenes  Geschlecht 
vorwaltet.  —  Wie  nun  jenes  Doppelgeschlecht  oft  in  einer 
Person  vereinigt  erscheint,  so  verschwindet  hinwieder 
auch  bei  der  Zweiheit  die  eine  derselben,  manchmal  im 
Volksdienste.  Sie  tritt  in  den  Hintergrund  zurück  und 
es  wird  oft  bloß  das  weibliche  Principium  gefeiert,  doch 
oft  mit  helleren  oder  dunkleren  Beziehungen  auf  ein 
männliches.* 

Wir  wollen  uns  nun  mit  der  aegyptischen  Religion 
beschäftigen. 

Da  lernen  wir  zuerst  aus  Hermes  Trismegistes,  daß 
in  der  ägyptischen  Priesterweisheit,  der  höchste  und  erste 
Gott  die  Vernunft,  der  Geist,  Mens,  Phtha  war.18) 

Das  Licht  (man.  denke  an  Mithras,  und  Qiva)  und 
das  Wort,  entstammend  dem  Geiste,  sind  Söhne  Gottes.19) 
(Man   denke  an  den  Logos  des  Johannes  Evangeliums). 


18)  LXXVHI   S.  367  Sum  Pimander,  mens    divinae   potentiae 
Idem  S.  368  Lumen  illud  ego  sum,  mens,  deus  tuus. 

19)  LXXIX.  S.  49,  Het  woord,  uijt  het  gemoet  luohtende  den 
Sone  Gods.' 


—    729    — 

Hermes  sagt  uns  dann  weiter:  Die  Vernunft,  welche 
Mann  und  Weib  ist,  .  .  .  Leben  und  Licht  hat  durch 
das  Wort  eine  schaffende  Vernunft  erweckt,  welche  ist 
der  Gott  des  Feuers  und  die  Göttlichkeit  des  Geistes  20). 

Hieraus  folgt,  daß  man  vielleicht  besser  thut  in  dieser 
Philosophie,  den  erstgenannten  Mens  durch  „Bewußtsein*, 
oder  Träger  des  Bewußtseins,  das  primäre  Ich  zu  über- 
setzen. Denn  der  Träger  des  Bewußtseins  erkennt  in 
sich  die  Persönlichkeit,  den  zweiten  Mens,  das  secundäre 
Ich.  —  Ferner  erkennt  der  Träger  des  Bewußtseins  im 
Bewußtsein  das  active  Prinzip  das  Denkende,  das 
Schaffende,  das  Herrschende  und  das  Passive,  das 
Empfindende,  daö  Sichhingebende,  d.  h.  Er  erkennt  das 
Mannweibliche  des  Bewußtseins  und  also  das  Mann- 
weibliche der  Persönlichkeit. 

Somit:  —  Ich  bin  mir  bewußt,  daß  v.  Kömer  sich 
bewußt  ist:  d.  h.  das  Primäre  Ich  erkennt,  daß  das 
Sekundäre  Ich,  die  Persönlichkeit  v.  R's  sich  bewußt  ist. 

Phtha  ist  aber  das  Feuer  und  wird  von  den  Griechen 
wie  uns  Jambliphus  belehrt,  dem  Hephaistos  gleichgestellt. 
XL.  SectVIII,  C.  HI  S.  159  al)-  Dasselbe  sagt  das  Chat  aus 
Cicero,  welches  Jablonski  mitteilt:  de  natura  Deorum 
lib.  IH  c  22  Secundus  Vulcanus  Nilo  natus,  Phthas  ut 
Aegyptii  vocant. 

Im  Museum  zu  Leiden  befindet  sich  ein  Bild  des 
Gottes  Phtha,  das  aus  der  Spätzeit  stammt  und  sehr 
deutliche  weibliche  Brüste  besitzt.  (Siehe  Abbildung  7.) 
Wir  werden  sehen,  daß  die  Ägypter   sehr  oft  nur  durch 


20)  LXXVIII  S.  369.  Mens  antem  deus  utriusque  sexus  foe- 
cunditate  plenissimus,  vita  et^lux  cum  verbo  suo  mentem  alteram 
opificem  peperit,  qui  quidem  deus  ignis  atque  Spiritus  numen. 

LXX1X  S.  52.  Maar  het  ghemoet  (God)  't  gheen  Man  en 
Wijf,  leven  en  licht  is,  heeft  door  't  woord  een  ander  werckende 
ghemoet  gebooren,  Zijnde  des  vijers  en  des  Gheestes  God. 

21)  'EXhifveg  dk9  eig  cH<pou<sxov  ixBraXafxßdvovdv  tov  4>&d. 


Abb.  8. 


—    731    — 

weibliche  Brüste  und  Bart  die  androgynischen  Götter  ab- 
bildeten. 

Aus  Horapollon  erfahren  wir,  daß  Phtha  andro- 
gynisch  aufgefaßt  wurde.  (LXXXVI.  lib.  I.  c.  XII.) 
„Hephaestos"  schreiben  sie  mit  den  Hieroglyphen 
„Scarabaeus"  und  „Geier*,  „Athena"  aber  mit  „Geier" 
und  „Scarabaeus".  Die  Welt  schien  ihnen  doch  aus 
Männlichem  und  Weiblichem  zu  bestehen.  Athena  aber 
zeichneten  sie  als  Geier.  Denn  diese  Götter  allein  halten 
sie  für  mannweiblich22). 

Wie  aber  der  Hephaestos  =  Phtha  ist,  so  ist  Athene 
=  Neith  (CXLII  Timaeus  S.  1043.  A) 23). 

'  Neith  wird  im  Tempel  von  Latopolis,  dem  Sais  des 
Südens,  folgendermaßen  genannt  (CIX  S.  175,  cit.  Brugsch): 
Neith  die  Große,  die  Mutter  des  Gottes,  (oder  die  gött- 
liche Mutter),  der  Vater  der  Väter,  die  Mutter  der 
Mutter,  er  ist  „Scarabaeus-Geier"  (oder  umgekehrt?  v.R.) 

Der  Scarabaeus  ist  das  Symbol  für  den  Einzig- 
geborenen, oder  für  die  Schöpfung,  oder  für  den  Vater, 
für  das  Weltall,  für  den  Mann.  Denn  die  Alten  meinten, 
daß  es  nur  männliche  Scarabaeen  gab.  (LXXXVI,  lib.  I. 
c.   X  —  CL  lib.  IV  c.  9,    54,  xdv&aqog  ydq  nag  äqQ7\v. 

—  I,  lib.  X,  c.  XV41 — 48.  —  o  xdvdaqog  a#r\Xv  £ai6v  e&rt. 

—  XXXIX  Strom  lib.  X  S.  658.  [Alyvmioi  (paar. 
&7\Xvv  xdv&aQoi  fxri  ylveö&at,.  —  Aristoteles  kennt  aller- 
dings   auch    weibliche),    die  Geier    aber    waren    für  die 


22)  'H<pat,(toov  de  yqdyovreg  xdv&aqov  xai  yvna  ^(oyqa- 
(povaiv,  *A&Tjväv  de  yvna  xai  xdv&aqov.  doxal  ydq  avroig 
o  xoöfjiog  avveötdvai  ex  re  äqtievixov  xai  &rjXvxov.  eni  de 
xffi  'A&rjväg  %ifv  yvna  yqatpovtiiv'  ovtoc  ydq  npvou  &ecov 
naq*  avTolg  äqqevo&rjXeig  vndq%ov<u. 

23)  Aiyvnxi(Sxl  fiev  to  ovvofxa  Nr\l&9  'EXXrjvitirl  de 
*A§v\va. 


—    732    — 

Alten  nur  weiblich  (I  —  Hb.  II,  c.  46,  21  Tvna  de 
aQQeva  ov  <pa<st,ylvea&ai  noTB9  aXXa  fhjXeiag  andtiaq.)  — 
aScarabaeus-Geier  will  also  sagen  „Mann- weiblich", 
gerade  so  wie  „Geier-Scarabaeus",  aber  im  ersten  Falle 
tritt  das  Männliche,  im  letzteren  das  Weibliche  in  den 
Vordergrund.  Als  zweite  Gottheit,  die  wir  androgynisch 
finden,  nennen  wir  Isis.  Die  Abbildung  9,  welche  wir 
aus  Creuzer  reproduziert  haben,  stellt  die  Göttin  mit 
Horus    auf    ihrem    Schöße    dar.  —  Creuzer   zitiert   von 


Abb.  9. 

Minutoli:  Es  stellt  dieses  Eelief  meines  unmaßgeblichen 
Dafürhaltens  Isis  dar,  und  da  sie  einen  Bart  oder  viel- 
mehr Bartscheide  hat,  in  welcher  der  Bart  bei  strengem 
Kostüme  eingewickelt  war,  und  mit  der  Kalantica  ver- 
sehen ist,  so  dürfte  sie,  nach  Creuzer,  die  mannweibliche 
Natur  bezeichnen,  denn  die  produzierende  Erde  ist,  als 
männlich  gedacht,  almus  Venus  der  Syrischen  Religionen 
{A(fQodiTog).u 

Wenn  dieses  Eelief  auch  einer  sehr  späten  Zeit 
entstammt,  so  haben  wir  doch  eine  Mitteilung  Plutarchs, 
die  uns  die  androgynische  Natur  der  Isis  beweist,   wenn 


—    733    — 

nämlich  Isis  dem  Mond  gleich  gestellt  werden  darf. 
Drexler  CI.  sagt  von  Isis  Sp  363 — 364:  „Es  ist  ein  arger, 
wenn  auch  weit  verbreiteter  Irrtum,  wenn  man  meint, 
die  ägyptischen  Göttinnen  oder  ihre  Hörner  hätten  mit 
dem  Monde  irgend  etwas  zu  thun  —  der  Mond 
ist  bei  den  Ägyptern  immer  ein  männliches  Wesen."  — 

Daß  der  Mond  nicht  ein  männliches,  sondern  ein 
mann-weibliches  Wesen  ist,  zeigen  uns  sowohl  gerade 
die  Stelle  bei  Plutarch  und  mehrere  andere.  Plutarch 
schreibt:  Am  Neumond,  Phamenoth,  feiert  man  ein  Fest, 
welches  das  Hinabsteigen  des  Osiris  in  den  Mond  heißt. 
Auf  diese  Weise  setzen  sie  die  Kraft  des  Osiris  in  den 
Mond  und  behaupten,  er  habe  der  Isis,  welche  die  Geburt 
ist,  beigewohnt;  sie  nennen  daher  auch  den  Mond  die 
Mutter  der  Welt  und  schreiben  ihm  eine  Zwitternatur 
zu,  weil  er  von  der  Sonne  erfüllt  und  geschwängert  wird, 
und  dann  wiederum  selbst  zeugende  Stoffe  in  die  Luft 
sendet  und  herumstreut24)".  (Übersetz,  des  J.  Ch.  F. 
Bähr^s  in  Osiander's  Ausgabe.) 

Die  Gleichstellung  der  späteren  Griechen  von  Isis 
mit  dem  Mund  ist  sehr  begreiflich,  da  wirklich  die  Charak- 
tere beider  sehr  übereinstimmen. 

Die  folgenden  vier  Abbildungen  (10 — 13)  stellen  nach 
Lanzoni,  die  Göttin  Muth  dar.  —  Muth  aber  ist:  „die 
Mutter."  (CL  Drexler  v.  Muth  oder  wie  Lanzoni  schreibt: 
Muth  era  la  madre  per  eccellenza.)  Auch  Isis  ist  die  Mutter 
der  Götter,  wie  Lanzoni  ebenfalls  Muth  nennt.  Plutarch 
schreibt:  Isis  wird  aber  bisweilen  auch  Muth  oder  auch 
Athyri  und  Methyer   genannt.26)     Wie   wir   sagen,    gibt 

24)  öco  xai  \vt\xiqa  ttjv  öeXifvriv  tov  xoöfiov  xaXovai, 
xqi  <pvöt,v  e%eiv  aQGevoSr\Xvv  olovrai,  nXt\qoviiivT\v  vnb 
cHXiov  xai  xvMfxofievriv,  avTrp>  de  ndXw  elg  tov  aiqa 
nQoiBfXBvriv  yevvt\Tvxag  aq%ag  xai  xaTaöneLQovaav.  (CXLV 
c.  43.) 


—    735    — 

Horapollon  an,  daß  ein  Geyer  als  Hiroglyph  ein  Weib 
und  eine  Mutter  bezeichnete,  und  Muth  wird  dann  auch 
als  Geier  dargestellt  (Drexler  1.  c),  und  auch  Isis  trüge 
sehr  oft  den  Geierbalg  als  Kopfputz  (CI.  Drexler  El  Isis). 

Die  interessantesten  Bilder  der  Muth  aber  sind  die 
Abb.  10  und  11. 

Abb.  10  ist  nach  einem  Papyrus  in  Leiden  (Leemans 
T.  1  [Pap.  C.  No.  11  b.]  PI.)  und  ich  gebe  hier  die  Be- 
schreibung aus  Pleyte  (CXLIV  S.  23— 24)  wieder: 

„Eine  Göttin  Muth  mit  drei  Köpfen. 

„Der  erste  ist  wie  der  Kopf  der  Göttin  Pechet  mit 
zwei  Federn  (mit  der  roten  Krone). 

„Der  zweite  wie  der  Kopf  eines  Menschen,  tragend 
die  weiße  und  die  rote  Krone. 

„Der  dritte  wie  der  Kopf  eines  Geiers  mit  zwei 
Federn. 

„Man  sieht  hier  also  die  Vereinigung  dreier  Gott- 
heiten Pechet,  Neith  und  Muth, 

„Mit  einem  Phallus,  dem  Symbol  der  erzeugenden 
Natur,  stehend  auf  Löwenfüßen,  als  Symbol  der  ver- 
nichtenden Natur  des  Ewigen  Wesens.- 

„Mit  zwei  Flügeln,  dem  Symbol  der  Allgegenwärtigkeit. 

Die  zwei  anderen  (Abb.  12  u.  13)  sind  copiert  aus  Lan- 
zoni,  der  dieselbe  so  beschreibt:  „Von  einem  Papyrus  in 
Turin :  Die  Göttin  ist  abgebildet  flügeltragend  und  mit  einem 
Phallus  und  mit  Löwenfüßen.  Sie  hat  drei  Köpfe,  die  beiden 
seitlichen  sind  Geierköpfe  tragend,  den  Modius  mit 
zwei  Federn  (und  einer  roten  Krone?  v.  R.),  derjenige 
in  der  Mitten  aber  ist  menschlich,  und  hat  die  doppelte 
Krone,«  (Abb.  12—13.)  (XCVII  tav  CXXXVIII.  Fig.  I.) 

Und:  „Flügeltragend  und  mit  einem  Phallus,  und 
mit  Löwenfüße;    sie    hat  drei  Köpfe;    einen   Löwenkopf 


25)  ij  de  lais,  eöriv  ore  xal  Movd'  xal  ndkiv  "A&vql 
xal  MsSvbq  nqoaayoqsvBTai.     (CXLV  c.  56.) 


—    736    — 

mit  dem  Modius,  worauf  zwei  Federn,  ein  Menschenkopf 
mit  der  doppelten  Krone  und  ein  Geierkopf  mit  der 
roten  Krone."  (XCVH  tavCXXXVH.  Fig.  5.)  (Abb.  11.) 
Drexler  nennt  die  Bilder  nur  interessant^  aber  weißt 
nicht    auf   ihre     androgynische    Bedeutung    hin.        Wir 


Abb.  11.    Muth  (oder  Neith)  aus  Lanzoni 


sind  geneigt,  uns  diese  Muth  auf  Abb.  10 — 11  als  Muth-Isis 
vorzustellen  oder  besser  noch  als  Pechet-Muth-Isis-Neith. 
Denn  auch  Pechet  ward  in  späterer  Zeit  mit  Isis  zu- 
sammengebracht. 


—    738    — 

Und  die  Neit  von  Sais  nennt  Plutarch  Isis;20)  das- 
selbe geschieht   auch   in   den  Totenbüchern  (CL  Drexler 


Abb.  13.    Muth  (aus  Lanzor»). 


27)  S.  35.  Ainsi  en  6tait-il  d'Isis,  appeläe  dans  Finscription  du 
sarcophage  de  Petisis,  aujourd'hui  auMusee  de  Berlin:  Isis  la  grande 
du  temple  de  Sa'is.  S.  123.  Parmi  les  sculptures  peintes  copiees 
par  Champollion  dans  le  tombeau  de  Meneptah  I  Hotep  hi  Ma,  se 
trouvent .  . .  Neit ...  et  Isis.  Neit .  .  .  est  ainsi  qualifiee :  Neit  la 
grande,  la  mere  divine,  maitresse  de  tous  les  dieux  dominant  sur  les 
pays  6trangers.  Isis  porte  des  titres  analogues,  ce  qui  prouve 
qu'alors  Tidentifieation  est  eomplete  entre  les  d^esses. 


—    739    — 

v.  Nit  sp.  440)  und  auf  Sarkophagen  (CIX.  j$.  35  und 
S.  123.27) 

Und  so  kommen  wir  zu  der  selben  Auffassung  wie 
L.  Georgii  (in  CXXXIV.  v.  Neith  p.  518),  wo  er  mitteilt, 
daß  Champollion  in  seinem  Pantheon  Egyptien  PI.  6.  2 
eine  Neith-Abbilduug  gibt,  welche  identisch  ist  mit  der 
oben  aus  Lanzoni  zitierten: 

„Eine  mannweibliche  Göttin,  die  Arme  gestreckt,  auf 
ausgebreiteten  Geierfliigeln,  auf  denen  links  ein  Geier- 
kopf, rechts  ein  Löwenkopf,  zwischen  beiden  der  der 
Göttin  mit  Löwenfüssen,  mannweiblich  im  Zustande  der 
Erection. Nach  einem  hieroglyphischen  Manu- 
skript von  Belzoni."  — 

Wenn  wir  also  annehmen  dürfen,  daß  die  Abbildung 
des  Papyrus  aus  Leiden  ebenso  die  Neith-Isis  darstellt, 
dann  sind  wir  geneigt,  die  beiden  anderen  Figuren 
als  Osiris  und  Phtha  aufzufassen.  Pleyte  nennt  den 
ersteren  einen  Zwerg,  der  Süden  oder  Norden  vorstelle 
(CXLIV)28),  Lanzoni  aber  glaubt,  daß  diese  Figur  ein 
Form  des  Osiris  sei  (XCVII  v.  Nemma)  29). 

Die  Abbildung  zeigte  ein  doppelköpfiges  Bild,  einen 


26)  CXLV.  c.  IX,  to  <f  ev  2del  x^g  34&r)väg  (rjv  xal 
*Iaiv  vofxC^ovaLv)  edog. 

28)  „Et  un  nain  devant  eile  et  deriere  eile  et  son  visage  est 
dirigß  vers  eile,  il  porte  deux  plumes  et  il  ä  le  bras  lev6,  il  a  un 
phallus,  il  a  deux  visages,  Tun  comme  celui  d'un  epervier,  l'autre 
qui  est  devant  eile  a  le  visage  d'un  honwne,  il  a  un  fleau  et  il  a 
un  Phallus."  II  n'y  a  rien  ä  ajouter  ä  cette  description.  On  peut 
supposer  que  le  sud  et  le  nord  sont  figureY  par  les  deux  nains, 
mais  les  attributs  sont  si  peu  caracteiistiques,  que  je  n'ose  pas 
raffirmer. 

20)  sono  descritta  con  due  penne  sul  capo  ed  braeeio  alzato, 
che  sosteine  il  flagellum,  falloforie  con  due  volti,  l'uno  desparviero 
e  l'altro  umano  .  .  .  Credo  che  sotto  queste  figure  si  nasconda  una 
delle  forme  di  Osiride. 

Jahrbuch  V.  •  47 


—    740    — 


Menschen  und  einen  Sperberkopf,  ithyphallisch,  mit  einer 
Geißel  in  der  Hand. 

Die  dritte  Figur  nennen  wir  Phtha,  l£  da  seine 
Brust  ein  Scarabaeus  ist,  woran  ein  Vogelleib,  den  wir 
als  Geierkörper  auffassen  (also  wie  Horapollon  will: 
androgynisch),  22.  da  er  seinen  erigierten  Phallus  mit  seiner 


Abb.  14.    Neilos  (aus  Lanzoni). 

Hand  festhält,  und  dieses  will  sagen :  Weisheit, :J0)  3^.  da 
er  grün  gefärbt  ist  (CXXXIV  L.  Georgi  v.  Phthas). 

30)  LXXXVI.  Cit  II,  C.  VII.  Aldolov  xscqI  xQarovpevov, 
aa)(fQoavvrjv  drjXol  äv&Qa'7iov.  —  Penis  manu  compre- 
hensus  temperantiam  indicat  hominis.  — 


—    741     — 

Die  letzte  Gottheit  der  Egypter,  welche  wir  näher 
betrachten  wollen,  ist  der  Nil. 

Drexler  (CI  v.  Neilos  sp.  95)  sagt  nach  Brugsch, 
daß     er    dargestellt    wird     „als    fettleibiger    Mann     mit 


Abb.  15.    Neilos  (aus  Lanzoni). 

herabhängenden  Brüsten",  und  er  gibt  dann  als  Bei- 
spiel dieselbe  Abbildung  wie  wir  (siehe  Abb.  14),  die  aus 
Lanzoni  entlehnt  ist. 

Obwohl  wir    nun  sehr    gut    wissen,    daß    gerade    in 
Egypten  sehr  oft  Männer  mit  sehr  entwickelten   Brüsten 

47* 


\  l 


—     742     — 

gefunden  werden,81)  so  glauben  wir  doch,  daß  die  weiteren 
Bilder  genugsam  beweisen,  daß  auch  diese  Vorstellung 
androgynisch  ist,  wie  dies  auch  Lanzoni  (XCVJI  v.Hapi) 
sagt82)  (CLXXII,  S.).  Denn  dieselben  stellen  den  Neilus 
dar,  wie  er  Milch  aus  seinen  Brüsten  drückt.  Und  ein 
zweiter  Strom  von  Wasser  entspringt  aus  einem  Frosch, 
welcher  aus  dem  Nilschlamme  entstand,  und  das  Symbol 
des  noch  ungeformten  Menschen  ist  (Abb.  15 — 16). 

Auch  das  späte  Altertum  wußte  von  dem  Neilos 
audrogynos,  wie  wir  dies  bei  Gregor  von  Nazianz  lesen, 
der  von  den  Ehrenbezeugungen  spricht,  die  bei  den 
Egyptern  die  Androgynen  dem  Neilos  bringen.88) 


Abb.  16.    Neilos  (aus  Lanzoni). 


31)  III  S.  32.  m  Ex  viris  phiriinos  usque  adeo  pingues  inspexi,  ut 
mammas  haberent  longe  mulier  um  maximis  inammis  maiores,  cras- 
siores   ac  pinguiores. 

32)  Tav.  CLXXXXVIII  Fig.  1  [unsre  Abbildung  17]  Rappresenta 
i  due  Nili  Hapi  Kenia  e  Hapi  Mehit  androgyni  col  capo  sur- 
montato  delle  rispettive  pianti  caratteristiche .  e  in  atto  di  iegare  il 
segna  sam  con  corde  ricavata  et  formate  da  piante  di  toto  che 
stanno  ai  loro  piedi. 

33)  LXIX.  xarä  Iovfoav  2THA1T.  B.  S.  300:  ai 
nag lalyv7trloig  Sc    ävSqoyvvwv  rifial  tov  Nellov. 


—    743    — 


Sehr  oft  will  man  den  Mitteilungen  der  Kirchenväter 
nicht  trauen,    aber    wir    glauben,    daß,    wenn    auch   die 


Kirchenväter  den  tieferen  Sinn  der  gottesdienstlichen  Ge- 
bräuche nicht  mehr  begreifen  konnten  oder  wollten,  ihre 


—    744    — 

Mitteilung  über  die  Gebräuche  an  sich  dennoch  nicht 
unwahr  sein  können,  da  der  Widerstand  der  Heiden 
gegen  Lügen  über  Tatsachen  doch  zu  groß  gewesen 
wäre,  mit  der  Interpretation  ist  es  freilich  etwas  ganz 
anderes. 

So  viel  über  die  ägyptische  Religion.  —  Einige 
wenige  Mitteilungen  wollen  wir  noch  über  die  nordischen 
Religionen  machen,  um  dann  die  jüdische  mit  der  kaba^ 
listischen,  die  christliche  mit  der  gnostischen  Religion  und 
die  neuere-  mystische  Schule  zu  betrachten.  Zuletzt 
wollen  wir  dann  die  griechische  und  römische  Religion 
behandeln,  da  in  derselben  eine  Religion  der  Androgyne, 
als  Gottheit  für  sich,  des  Hermophroditos,  bestanden  hat. 

Wie  wir  weiter  unten  sehen  werden,  hatten  die 
Griechen  neben  der  Aphrodite  den  Aphroditos,  und  so 
hatten    die  Skandinavier    neben  ihrer  Freya  den  Friggo. 

—  Auch  diese  Gottheit  war  androgynisch.  (CXCIV  S. 
16).  Friga,  welcher  der  sechste  Tag  geweiht  war,  wurde 
hermaphroditisch  gedacht.  Sie  wurde  abgebildet  mit  den 
Teilen  beider  Geschlechter,  an  einer  Säule  stehend,  in 
der  rechten  Hand  ein  Schwert,  in  der  linken  einen  Bogen 
haltend.  Nach  ihr  heißt  der  sechste  Tag  Frigedag34). 
Auch  citirt  Worm  Albertus  Grantzuis,  welcher  in  der 
Vorrede  des  ersten  Buches  von  seinem:  „Sweden"  schreibt: 

—  In  diesem  Tempel  [in  der  Nähe  von  Upsala]  waren 
die  Bilder  von  drei  Göttern  verehrt,  bevor  sie  an  Christus 
glaubten  ....  Die  dritte  Gottheit  Fricco  regierte  den 
Frieden    und   die  Wollust,    und  ihr    Bild  zeigte  deutlich 


M)  Friga e  sextum  erat,  quod  Hermaphroditicum  pentabatur, 
sexus  utriusque  membris  delineatum,  columnae  insistens,  dextra 
gladium,   sinistra   arcum  tenebat,    ab  hoc  veneris   dies  Frigedag. 

S.  10,  fügt  Worm  hinzu:  ab  hoc  dies  veneris  Fr e dag  vel 
Frei  dag  nostratibus  indigitatur,  Frejar  item  quas  Fruer  iam 
dicimus,  nuncupantur. 


—    745    — 

die  Schändlichkeit  (Olaus  magnus  fügte  hinzu  des  Ge- 
schlechtes 85).   — 

Und  aus  Olaus  lib.  3.  Cap.  3.  citirt  Worm: 

Frigga  ist  mit  Schwert  und  Bogen  abgebildet,  da  in 
diesen  Ländern  beide  Geschlechter  gut  die  Waffen  zu 
führen  verstehen86). 

Und  S.  10  sagt  Worm :  Ich  finde,  daß  sie  von  einigen 
Fricco  oder  Frigo,  von  Anderen  aber  Frigga,  Frea  oder 
Frega  genannt  werden. 

In  CXCI V  S.  55  schreibt  er  über  Frigga  und  Friggo : 
Einige  halten  Friggo  für  die  Wollust  —  und  Genuss- 
repräsentanten unter  den  Göttern,  dem  zu  Ehren  dieser 
Tag  (welchen  die  Römer  Venus,  die  Nordischen  aber 
Frigge  weihten)  zubenannt  ist.  Sie  berichten  ferner, 
daß  diese  Gottheit  an  einigen  Orten  in  männlicher  Ge- 
stalt, an  anderen  aber  in  weiblicher  verehrt  worden  ist87). 
(Man  sehe  auch  CXXI  Bd.  I  S.  253,  251.)  Sodann 
schreibt  Worm  über  den  Mond.  (Maan  heißt  das  dänische 
Wort,  welches  auch  das  holländische  und  hier  weiblichen 
Geschlechtes  ist),  S.  15. 

Den  zweiten  Tag  widmen  sie  (die  Saxen,  nach 
Richardus  Verstegan)  dem  „Maantf;  das  Bild  dieser 
Gottheit  ist  von  menschlicher  Gestalt,  mit  einem  Kapp- 
mantel,   Eselsohren,    den    Mond  in   seinen  Händen,   und 


3ö)  S.  13  In  hoc  templo  (apud  Upsalienses  in  Suecia)  statuas, 
trium  venerabantur  Deorum,  antequam  Christo  crederent.  .  .  .  Ter- 
tius  Fricco  pacem  et  voluptatem  moderatur,  cuius  etiam  simulachrum 
turpitudinem  (Olaus  magnus  addit  sexus)  prae  se  ferebat. 

36)  Addit  vero  Olaus  lib.  3  cap.  3.  Friggam  depictam  etiam 
fuisse  cum  gladio  et  arcu:  cum  armis,  quod  in  illis  terris  uterque 
sexus  semper  ad  arma  promptissimus  esset. 

87)  Sunt  qui  Trigonem  quendam  inter  Deos  relatum  referant  ut 
voluptatibus  aliis  que  illecebris  praesideret;  cui  hunc  diem  ascrip- 
serunt  (quem  Romani  veteres  Veneri,  Septentrionales  Friggae  dica- 
runt).  Eundem  vero  quibusdam  in  locis  virili  quibusdam  vero  muliebri 
habitu  cultum  fuisse  quidam  memorant. 


—    746    — 

mit  einem  kurzen  bis  an  die  Kniee  reichenden  Gewand, 
so  daß  es  eher  einen  Mann  als  ein  Weib  darstellt38).  Ich 
meine  also,  daß  auch  hier  wiederum  das  Androgyne  sich 
feststellen  läßt,  wie  es  sich  auch  noch  im  genus  der  ger- 
manischen Wörter  für  „Luna*,  wie  schon  oben  angeführt, 
ausdrückt. 

Mone  nennt  (CXXI  Bd.  I  S.  93)  ferner  unter  den 
großen  Göttern  zu  Romowe  den  Stammgottheiten  der 
Lithauer  und  Preußen  Potrimpos.  „Potrimpos  aber* 
fährt  er  fort,  „ist  mit  Garbe,  Topf,  Schlange  und  Milch 
der  Fruchtgott  und  kein  anderer  als  der  priapische  Friggo 
in  Upsala.  Er  ist  die  Erde  und  wie  Friggo  mann  weiblich." 
Wir  sahen  schon  früher,  daß  die  Indier  als  Schöpfer  der 
Welt  den  androgynischcn  Brahma  annahmen,  hier  bei  den 
Skandinaviern  hören  wir,  wie  aus  dem  Tropfen,  welcher 
aus  dem  Eis  von  Ginnimga-Gap  durch  den  heißen  Wind 
aus  Muspell zheim er  entstanden,  wie  aus  diesen  Lebens- 
tropfen ein  Wesen  in  Mannes-Gestalt,  Ymir  genannt,  und 
mit  ihm  zugleich  die  Kuh  Andhumla  erweckt  ward. 
Diese  leckte  die  salzig  bereiften  Steine  und  dadurch  ent- 
stand aus  dem  Felsen  am  ersten  Abend  das  Haar,  am 
zweiten  Tag  der  Kopf,  am  dritten  der  ganze  übrige  Mann 
—  Buri,  der  schön  von  Gliedern,  groß  und  stark  war. 

Ymir  aber  fiel  in  Schlaf  und  Schweiß;  da  entstanden 
unter  seiner  linken  Hand  ein  Mann  und  ein  Weib,  und 
seine  Füße  zeugten  mit  einander  einen  Sohn.  Dies  war 
das  Geschlecht  der  Eisriesen.  — 

Ymir  ist  also  ebenfalls  mann  weiblich  gedacht.  Er 
wird  von  den  Söhnen  Pörs,  des  Sohnes  des  Buri,  getötet, 


*8)  Diem  secundum  Lunaa  eos  [vicinos  Saxones]  consecrasse  vult 
[Richarduß  Verstegan]  cuius  effigiem  (ridicule  sie  expresserunt : 
comlumnari  basi)  statuam  hominis  integram  (im)  posuerunt  cuculla- 
tam,  asininis  auribus  assutis,  manibus  lunam  gestantis,  chlamide 
brevi  genua  lanibente,  ut  habitu  virum  potius  quam  foeninam  ex- 
primeret.  — 


—     747 


und  aus  seinem  Körper  wird  die  ganze  Welt  gebildet, 
nämlich  aus  seinem  Blute  das  Meer  und  die  Wasser,  aus 
seinem  Fleisch  das  feste  Land  etc.  etc.  —  (CXXI  S.  314 
S.  99.) 

In  der  jüdischen  Religion,  welche  verbot,  sich  Bilder 
der  Gottheit  zu  machen,  ist  es  natürlich  unmöglich  an 
Statuen  zu  beweisen,  daß  die  materielle  Darstellung  des 
Gottes  androgynischer  Natur  war,  aber  wir  können  doch 
mit  logischer  Sicherheit  beweisen,  daß  in  abstracto 
Jehovah  so  aufgefaßt  wurde. 

Gott  schuf  den  ersten  Mensch  nach  Seinem  Bilde, 
d.  h.  wie  Rashie  (C XXX  VII)  erklärt:  so  wie  der  Gott 
gewöhnt  ist  sich  zu  zeigen.  —  Wie  aber  ward  nach 
jüdischer  Auffassung  der  erste  Mensch,  Adam,  geschaffen  ? — 

Wir  lesen  im  Bereschit  Rabba  (CXX.  Parascha  VIII 
Cap.  I.  26).  „Nach  R.  Jeremja  benEleasar  bildete  Gott 
in  der  Stunde,  wo  er  den  ersten  Mensch  erschuf,  ihn 
als  Androgynos,  wie  es  heißt:  „Mann  und  Weib  erschuf 
er  sie."  Nach  R.  Samuel  bar  Nachman  hatte  der  Mensch 
bei  seiner  Erschaffung  zwei  Gesichter,  Gott  durchsägte 
ihn  aber  in  zwei  Hälften  und  bildete  zwei  Rücken  aus 
ihm,  den  einen  nach  dieser,  und  den  andern  nach  jener 
Seite  hin  (d.  h.  einen  für  den  Mann  und  einen  für  die 
Frau).  Es  heißt  doch  aber:  er  nahm  eine  von  seinen 
Rippen?  Nein,  (entgegnete  Samuel,  es  Jbeißt:)  von  den 
zwei  Seiten  s.  Ex.  26,  20  Rashie  in  seinen  Commentarien 
(CXXXVII  S.  18,  31—32)  nimmt  die  Auffassung  des 
R.  Samuels  an.89) 

39)  S.  18.  —  Mannelijk  en  vrouwelijk  schiep  hij  hen  en  ginds 
zegt  men:  „en  hij  nam  6en  zijner  ribben  enz".  (Gen.  2,  21)  dus 
werden  man  en  vrouw  niet  tegelijk  geschapen?  Een  agadische 
verklaring  is,  dat  Hij  bij  de  eerste  schepping  hem  [den  mensch] 
heeft  geschapen  met  twee  gezichten  [6en  mannelijk  en  6en 
vrouwelijk  gelaat]  en  hem  later  gesplitst  heeft  [tot  twee  personen], 

S.  31 — 32  „En  hij  nam  van  zijne  zijde,  etc.  dit  is  [komt  overeen 
met]  wat  men  zegt,"  met  twee  gezichten  werden  zij  geschapen. 


—    748    — 

Im  Midrasch  Schemot  Rabba,  (CXX  L  Parascha 
XIV  Cap  XII,  2)  lesen  wir  etwas  ähnliches  wie  oben 
im  Bereschit  Rabba,  nur  mit  dem  Unterschiede;  daß  hier 
R.  Samuel  bar  Nachman  sagte:  „Als  Gott  Adam 
erschaffen  hatte,  war  dieser  ein  Mannweib  (avdQoyvvogy . 
Resch  Lakisch  gibt  an  dieser  Stelle  genau  dieselbe 
Auffassung  wie  oben  der  R.  Samuel. 

Der  große  Gelehrte  Maimonides  (Moses  ben  Maimoun) 
schreibt  (CVII  Part,  II;  eh.  XXX,  S.  247):  „So  ist  es, 
daß  man  sagt :  Adam  und  Eva  sind  zusammen  geschaffen 
worden,  vereinigt  mit  ihren  Rücken;  (diesen  doppelten 
Menschen  teilte  Gott  und  nahm  die  Hälfte,  welche 
Eva  war,  und  dieselbe  ward  der  anderen  Hälfte  (Adam) 

gegeben,    als   Gefährtin Begreife    wohl,  daß    man 

deutlich  gesagt  hat,  in  gewisser  Beziehung  waren  sie  zwei, 
aber  doch  bildeten  sie  ein  Wesen,  nach  den  Wörtern: 
ein  Teil  von  meinen  Körperteilen  und  Fleisch 
von  meinem  Fleisch.  (Gen.  II,  23)  und  diese  Auf- 
fassung hat  man  noch  bestätigt,  dadurch,  daß  man  sagt, 
daß  diese  Beiden  zusammen  mit  einem  Namen  genannt 
waren:  sie  wird  Ischa  genannt  werden,  da  sie  vom 
Isch  genommen  ist,  und  um  noch  besser  ihre  Ver- 
einigung hervorzuheben  hat  man  gesagt:  „Er  wird 
sich  mit  seinem  Weibe  verbinden,  und  sie 
werden  ein  Fleisch  sein,  (ibid  v.  25.)  Wie  groß  ist 
doch  die  Unwissenheit  derer,  welche  nicht  begreifen, 
daß  in  diesem  Allen  notwendig  ein  bestimmter  Gedanke 
verborgen  liegt."40) 


40)  C'est  ainsi  qu'ils  disent,  qu'Adam  et  Eve  furent  cr£6s 
ensemble,  unis  dos  contre  dos;  (cet  homme  double)  ayant  6t6 
divis6,   il  (Dien)  en  prit  la  moittä,  qui  fnt  Eve,   et  eile  fut  donnee 

ä  l'autre  (a  Adam)  pour  compagne Comprends  bien  comment 

on  a  dit  clairement,  qu'ils  etaient  en  quelque  sorte  deux,  et  que 
cependant  ils  ne  formaient  qu'  un,  selon  ces  mots:  un  membre 
de  mes  membres  et  une  ehair  de  ma  chair  (Gen.  II,  23)  ce 


—     749    — 


Rabbi  Manasseh  ben  Israel  gibt  noch  mehrere 
Mitteilungen:  Er  sagt  in  CX  S.  87—88:  „R.  Samuel 
meint,  Adam  sei  mit  einer  Rippe  mehr  geschaffen,  woraus 
,Eva  gemacht  ward ;  Maimonides,  Arama,  Abarbanel,  Ben 
Soeb,  Shemtob  Alschech  und  andere  sagten  dasselbe. 
R.  Samuel  bar  Nachman  meint,  daß  das  Weib  mit  dem 
Manne  geschaffen  ward,  von  hinten  mit  ihm  vereinigt, 
so  daß  die  Gestalt  Adam's  doppelt  war,  der  eine  Teil 
vorn  männlich,  und  der  andere  hinten  weiblich.  Diese 
Auffassung  teilen  Jarchi,  Aben  Ezra,  R.  Bechayai,  Eliezer 
Askenasi  und  Isaac  Caro,  in  ihren  Commentarien,  welche 
alle  sagen,  daß  das  „männlich  und  weiblich  hat  er  sie 
geschaffen"  buchstäblich  verstanden  werden  muß,  d.  h. 
Adam  und  Eva  waren  zusammen  in  einem  Körper 
geschaffen,  und  diesen  Körper  nannte  er  „Adam",  welches 

sowohl  männlich    als    weiblich    bezeichnet Es  soll 

nicht  übersetzt  werden,  „Gott  nahm  eine  seiner  Rippen", 
sondern  eine  „seiner  Seiten"  also,  „nehmend  eine  seiner 
Seiten"  heißt:  er  schnitt,  schied,  oder  teilte  diese  beiden 
Körper  von  einander;  und  von  den  Teilen,  welche  da 
schmerzhaft  und  wie  eine  offene  Wunde  waren,  wird 
gesagt:  „Er  schloß  sein  Fleisch,  das  da  geöflhet  war, 
und,  da  dies  keine  neue  Schöpfung  war,  sondern  schon 
in  und  mit  Adam  geschaffen,  wird  weder  das  Wort: 
„erschuf"  noch:  „er bildete"  gebraucht."  Aus  dem  Text: 
„Es  ist  nicht  gut  für  den  Mensch  allein  zu  sein,  ich  will 
einen  Gefährten  für  ihn  machen",  geht  offenbar  hervor, 
daß  Adam  einige  Zeit  ohne   Weib   war;    derselbe    Vers, 


qu'on  a  encore  confirme'  davantage  en  disant  que  les  deux  ensemble 
ätaient  designäs  par  an  seul  nom:  Elle  sera  appelee  Ischa, 
parce  qu'elle  a  6t6  prise  du  Tsoh,  et  pour  faire  mieux  encore 
ressortir  leur  union  on  a  dit:  II  s'attaehera  ä  sa  femme,  et 
ils  seront  une  seule  chair  (ibid  v.  25).  Combien  est  forte 
l'ignorance  de  eeux,  qui  ne  comprennent  pas,  qu'il  y  a  neces- 
sairement  au  fond  de  tout  cela  une  certaine  idee. 


—    750     — 

erklärt  die  Absicht  und  bedeutet  dasselbe,  als  wie  wenn 
es  noch  deutlicher  hieße:  ÄEs  ist  nicht  gut  für  den 
Menschen,  allein  zu  sein/  d.  h.  einsam  und  allein  in  der 
Welt,  verschieden  von  jedem  Tier;  darum  mußte  sein 
Gefährte  oder  Gegenstück  ihm  gegenüber  gestellt  werden, 
d.  h.  in  front,  so  daß  der  Körper,  der  mit  seinem  Rücken 
verbunden  war,  vor  ihn  gebracht  wurde. 

„Mein  armes  Urteil  nimmt  diese  letzte  Auffassung 
als  wahrscheinlich  an,  denn  der  königliche  Psalmist 
singt  von  der  Schöpfung  des  Menschen  und  sagt  in 
Beziehung  auf  diese  doppelte  Figur:  Du  hast  mich  von 
hinten  und  von  vorn  umschlungen.  Die  Vernunft  scheint 
dasselbe  ebenfalls  zu  fordern,  denn  Adam  war  geschaffen 
entweder  mit  einer  überflüssigen  Kippe,  woraus  Eva  ge- 
macht ward,  oder  mit  der  erforderten  Anzahl  von  Rippen. 
Wenn  dieselbe  überflüssig  war,  so  wurde  Adam  unvoll- 
kommen erschaffen,  was  der  Lehre  unserer  Weisen  wider- 
streitet. Alle  Werke  waren  im  Anfange  vollkommen, 
wurde  er  aber  nur  mit  der  erforderten  Anzahl  erschaffen, 
dann  würde  er,  als  ihm  eine  Rippe  fortgenommen  wurde, 
unvollständig  und  gebrechlich  geworden  sein,  da  ersieh 
natürlich  nach  der  Seite,  aus  der  die  Rippe  genommen 
worden  war,  gebogen  haben  würde.  Daraus  wird  also 
folgen,  daß  seine  Nachkommen  dem  Vater,  der  sie  er- 
zeugte, ähnlich  ohne  diese  Rippe  geboren  worden  wären 
und  somit  unvollständig;  die  Erfahrung  beweist  das 
Gegenteil.  Ferner:  die  Schrift  sagt  nichts  darüber,  daß 
Gott  Eva  die  Seele  eingeblasen  hat:  dieses  alles  drängt 
zu  dem  Schlüsse,  daß  Eva  mit  Adam  verbunden  erschaffen 
ward,  und  Gott,  die  Seele  in  Adam  bringend,  bedeutet 
in  diese    männliche    und    weibliche  Figur,    da  der  Name 

„Adam*  für  beide  gilt. Die  Septuaginta  übersetzt 

statt :  männlich  und  weiblich  schuf  er  sie,  denn  auch 
männlich  und  weiblich  schuf  er  ihn.41) 

41 )  Die  Ausgabe  der  Septuaginta,  welche  wir  gebraucht  haben, 
gibt:  sie. 


—     751     — 

„Andere,  die  buchstäbliche42)  Auffassung  verwerfend, 
legen  diese  Stelle  metaphorisch  aus,  so  Maimonides,  Ben 
Soeb  und  Arema,  welche  sagen  männlich  und  weiblich 
stehen  für  Form  und  Stoff  oder  die  intellectuelle  und  die 
sensitive  Seele,  worüber  aber  kein  Zweifel  stattfinden 
kann." 

Aus  allen  diesen  Stellen  ist  absolut  bewiesen,  daß 
die  jüdischen  Gelehrten  darüber  eins  waren,  daß  Adam 
geschaffen  worden  war  als  Mann-weib.  Beigefügt  sind 
zwei  phönicische  Münzen  aus  Judea-Gaza,  aus  dem  königL 
Münzkabinet  in  Haag,  welche,  wie  wir  glauben,  sehr  schön 
diesen  androgynischen  Adam  darstellen.     (Abb.  18.) 


Abb.  18.    Phönic.  —  Jüdische  Münze   Judea-Gaza  (aus  Koninklijk 
Penning-Kabinet  in  's  Gravenhage). 

Über  die  christliche  Auffassung  dieser  Stellen  werden 
wir  unten  handeln. 

Aber  wenn  wir  uns  nach  jüdischer  Auffassung  den 
ersten  Mensch  androgyn  denken  müssen,  so  können 
wir,  wenn  wir  uns  den  Jehovah  als  Bild  vorstellen  wollen, 
nur  zu  einer  androgynischen  Darstellung  kommen. 

42)  In  der  englischen  Übersetzung  steht  „liberal".  Wir  glauben 
daß  hier  ein  Druckfehler  stehen  muß,  und  lesen  „literal". 


—    752    — 

Man  wird  mir  nun  einwenden:  aber  die  Genesis  ist 
doch  nicht  eine  einheitliche  Erzählung,  sondern  besteht 
aus  verschiedenen  Büchern,  welche  zusammen  gezogen 
wurden,  wie  uns  die  neuere  Bibelkritik  gelehrt  hat.  Da- 
her sind  in  der  Genesis  sehr  verschiedene  Quellen  zu 
einer  einzigen  vereinigt:  die  Geschichte  des  Jahvisten 
und  des  Elohisten,  welche  dann  durch  die  Jehovisten 
vereinigt  und  redigiert  wurde;  dazu  kommt  noch  der 
Priesterkodex,  und  diese  alle  wurden  zuletzt  noch 
durch  einen  Redaktor  zu  einem  Buche  zusammengesetzt. 
(LXIII  S.  LXXI— LXXXVIL) 

Was  beweisen  aber  diese  philologischen  Entdeck- 
ungen anders,  als  daß  die  Genesis,  wie  wir  dieselbe  jetzt 
besitzen,  genau  die  jüdische  Auffassung  der  Schöpfung 
zur  Zeit  dieser  Endredaktion  wiedergibt  (nach  444). 
Und  dieses  führt  notwendig  wieder  dazu,  daß  in  derselben 
Zeit  Adam  schon  androgynisch  gedacht  worden  war. 

Ehe  wir  kurz  die  kabbalistische  Auffassung  geben, 
wollen  wir  auch  nach  einer  anderen  Seite  hin  den  Andro- 
gynismus  Jahvehs  sehr  wahrscheinlich  machen. 

Diodor  (XL VIII.  üb.  I.  c.  94)  schreibt,  daß:  bei 
den  Juden  Moses  den  Gott,  welcher  Jao  genannt  wird, 
[seine  Gesetzgebung  zugeschrieben  hat.42)  ] 

Dann  sagt  uns  Clemens:  Der  mystische  Name  Tetra- 
grammaton,  welcher  nur  denjenigen  zukam,  die  ins 
Heiligste  des  Tempels  eintreten  dürfen,  ward  aber  ge- 
lesen Jaou,  d.  h.  Wer  ist  und  sein  wird.48)  (XXXIX 
Strom,  lib.  V,  S.  666.) 


42)  naqavoig ' Iovdatotg Mwvarjv  tov  'law  euLxaXövfjievov 
üiov. 

43)  to  TeTQayQafifiov  ovofjta  to  [ivanxov,  6  nsQiixevTo 
aig  fiovoig  to  SSvtov  ßa<U[iov  tjv,  XeyGTCU  de  '  Iaov  o 
fjL6#E()firivov€Tat,  6  cov  xal  o  eaofievog. 


—    753    — 

In  der  Ausgabe  des  Clemens,  welche  wir  ge- 
brauchen, stehen  weiter  die  folgenden  Citate,  in  der 
Note  2,  S.  666. 

Der  Heilige  Hieronymus  an  Fabiola  über  das 
priesterliche  Gewand:  „Der  Name  Gottes  ist  mit  vier 
hebräischen  Buchstaben  geschrieben  Jod  He  Vau  He, 
welche  bei  [den  Hebräern]  nicht  ausgesprochen  werden 
darf44)  und  Theodoret  p.  15  in  Exodum:  Dieser  aber,  so 
heißt  es,  ist  bei  den  Hebräern  unaussprechbar:  derselbe 
wird  mit  vier  Buchstaben  geschrieben,  und  darum  tetra- 
grammon  genannt.  Die  Samaritaner  nennen  aber  diese 
Namen  Jabe,  die  Juden  Jao.45)  Tacitus  schreibt  dann 
in  seinen  Historiae,  lib.  V  c.  5:  Weil  ihre  [4  h,  die 
Jüdischen]  Priester  mit  Flöten  und  Paukenspiel,  Epheu- 
kränze  tragen,  auch  eine  goldene  Weinrebe  sich  im  Tempel 
fand,  glaubten  Einige  Vater  Liber,  des  Morgenlands 
Bändiger,  werde  verehrt,  was  keineswegs  zu  ihren 
Satzungen  paßt.  Denn  des  Bacchus  Gebräuche  sind 
festlich  und  froh,  die  Judäischen  aber  widersinnig  und 
finster.«4  46) 

Aber  wir  wissen  aus  Johannes  Lydus  (OIV  de 
mensibus  libr.  IV  c.  38):  die  Chaldäer  nennen  den  Gott 
[Dionysos]  Jao    (für    das  Licht,    das    nur    der  Geist  be- 


44)  Nomen  Dei  est  scriptum  Hebraicis  quattuor  letteria  Jod 
He  Vau  He,  quod  apud  [Hebraeos]  ineffabile  nuneupatur, 

4Ö)  Tövto  de  naq  cEßQaiotg  dygaaiov  ovo^dCsrat 
än€i()r)T(u  yd'  nag  avroTg  öia  Trjg  yXuTTrß  7iQog<fiqeivt 
YQCt(p€TCU  de  6td  x&v  TeacaQvov  GxoLyfiitoV  die*  -vBigay^dfifiov 
amo  Xsyovöi.  xahovat,  de  avro  2afiaQeTzat  ft&?  Iaߣy 
'iovdatoi,  de  law. 

46)  Quia  sacerdotes  eorum  [Judaeorum]  tibia  tympanisque  eonoi- 
nebant,  hedera  vinciebantur,  vitisque  aurea  temploreperta:  Liberum 
patrem  coli  ,  domitorem  Orientis  quidam  arbitrari  sunt, 
nequaquam  congruentibus  institutis,  quippe  Liber  festoa  laetosque 
ritus  posuit:  Judaeorum  mos  absurdus  sordidusqu  . 


i 


m 


—    754    — 

greifen  kann)  mit  einem  phönizischen  Worte,  und  er  wird 
oft  Sabaoth  genannt,  d.  h.  welcher  über  sieben  Himmel 
herrscht,  d.  h.  also  der  Schöpfer.47) 

Hiermit  stimmt  wiederum  der  Orakelspruch  bei 
Macrobius  lib.  I  c.  XVIII  (CV  S.  206)  überein: 

Sage,  der  höchste  aller  Götter  ist  Jao,  im  Winter 
Hades,  im  kommenden  Lenz  Zeus,  im  Sommer  Helios, 
im  Herbst  aber  der  weibliche  Jao. 48)  Warum  Höfer 
(CI  v.  Jao)  hier  sagt,  Jao  sei  ein  Name  des  Helios,  ist 
uns  nicht  deutlich :  ebenso  gut  war  zu  sagen,  daß  Jao 
eine  Name  des  Hades  oder  des  Zeus  war.  Selbstredend 
ist  für  uns,  daß  Jao  auch  hier  Dionysos  bezeichnet, 
oder  lieber  das  erste  Jao  bedeutet  der  Erzeuger  des 
Lebens.  Im  Winter  hat  der  Erzeuger  keine  Kraft,  ist 
wie  ein  Unterweltsgott ;  im  Lenz  aber  wird  er  wie  Zeus, 
denn  als  Zeus  und  Hera  auf  dem  Ida  schliefen,  ent- 
spross  die  neue  Blume  und  kam  der  Lenz: 

[Zeus  dann]  umfing  mit  den  Armen  die  Gattin 
Unter    der    heiligen    Erde    entsprosseten    blühende 

Kräuter 
Thauige  Lotosblum,  auch  Krokos  samt  Hyakinthos, 
Dicht  und  lockergeschwellt,  sie  empor   vom  Boden 

zu  heben. 
Darauf   ruhten    sie    nun,    und   umher  rings  gössen 

sie  schönes 
Goldnes  Gewölk,    und    oben  entthaueten   funkelnde 

Tropfen. 
(Homer,  Ilias  XIV,  346 — 349,  Übersetzung  von  Wiedasch.) 

47)  ol  XaXdaZot,  xbv  &eov  [Jiovvaov]  'law  Xeyovatv. 
£avri  tov  (pwg  votjtov)  rrj  (poivtxcov  yhw<f<fß  xal  2aßdv& 
de  noXXa%ov  Xeyercu,  olov  6  ineq  rovg  enxa  noXovg, 
rovreaviv  6  drjfiiovQyog. 

48)  <D(>d£eo    tov    ndvToov  vuarov    &e6v    efi^iev    *Idw. 
Xetfixart,  fxev  t    'Atdrjv,  Jia  6'  etagog  aQ%o(A£voio, 
lHefoov  de  üegeog,  (xbtotkoqov  S9  aßqbv  'idco. 


—    755    - 

Aber  im  Sommer  erscheint  der  Erzeuger  in  voller 
Pracht  und  Kraft,  dann  iat  er  Helios,  und  im  Herbst 
Obst  und  Früchte  wie  ein  Weib  gebend,  ist  er  Dionysos* 
der  weibliche,  wie  wir  aßgog  übersetzt  haben  40),  denn 
wir  werden  später  sehen,  daß  Dionysos  der  androgyni- 
sche  Gott  xaTJe%oxi]v  ist.  So  ist  die  Gleichstellung  des 
Jahve  d.  h.  Jao  mit  Dionysos  von  Lydus?  sehr  wahr- 
scheinlich der  Wahrheit  entsprechend. 

Ferner  spricht  noch  dafür,  daß,  wie  wir  auch  bei 
Tacitus  (s.  o.)  gelesen  haben,  dem  Jahve  der  Weinstock 
geweiht  war  (XV.  Bd.  IL  S,  432)  und  was  Tiele 
(CLXXXIV  Bd.  I,  8.  282)  schreibt:  „Als  der  Gott  des 
Lichts  und  des  Lebens  aber  ist  (Jahve)  ein  gnädiger 
und  wohltätiger  Gott,  der  den  Landbauer  segnet,  das 
Korn  und  den  Weinstock  gedeihen  laßt",  und  dann 
noch:  daß  die  jüdische  Münze  sehr  oft  die  Traube  und 
das  Blatt  des  Weinstocks  zeigt. 

Diese  Auffassung  teilte  schon  Knight  (XCIV  S.  106) 
und  auch  Blavatsky  gibt  derselben  Meinung  Ausdruck. 
(XXII  Bd.  II,  S.  487  cit.  aus  Isis  unveiled;  Bd.  II, 
S.  137.) 

Aber  was  noch  mehr  sagen  will,  diese  Auffassungen 
welche  wir  nur  aus  den  Schriften  der  Rabbiner  und  aus 
klassischen  Zeugnissen  geschöpft  haben,  stimmen  völlig 
mit  der    mystischen  Interpretation   der   Kabala   üherein. 


49)  Der  Grund  für  unsere  Übersetzung  ist  der  folgende ; 

aßQöe  ist  mollis,  delicatus,  eft'eminatus  sagt  Stephanos;  und  er 
gibt  als  Beweis  die  Stelle  bei  Lucirmt  DiaL  Dt-» omni  18. 

Diese  Stelle  bezieht  sieh  gerade  auf  Dionysos.  Hera  sagt 
dem  Zeus:  „Ich  würde  mich  schlimen  Zeus,  wenn  ich  einen  so 
weibischen  (^Xvg)  und  durch  Trunk  entnervten  Sohn  hätte,  der 
sein  Haar  mit  einer  Mitra  aufbindet,  meistenteils  mit  rasenden 
Weibern  lebt  und  noch  weichlicher  (aßg^Ts^os)  als  jene  ist" 

So  glauben  wir,  daß  wir  gerade  am  genauesten  übersetzt 
haben,  um  das  weiblich- weichliche  wiederzugeben, 

Jahrbuch  V.  48 


f 


—    756    — 

In  der  Broschüre:  »Der  kabbalistisch  -  biblische 
Occident*,  finden  wir  S.  1 — 7  eine  kurze  Auseinander- 
setzung dieser  jüdischen  Geheimlehre*  (XCV).  Am  An- 
fang war  das  unendliche  Nicht-Sein — En-soph,  der  an 
sich  unteilbare,  scharfe  Punkt-Chad  —  der  reine  Geist. 

Und  der  Geist  waltete  im  Urzustände  der  Ruhe  als 
reine  Substanz  —  Je  so  d  —  bewußt  nur  des  ihm  Äußern 

—  Thehom  — ,  über  dem  er  schwebte. 

„Ohne  zu  erkennen  (empirische  Betätigung)  wußte 
(unmittelbarer  Zustand)  durch  das  eigene  innere  Wesen 
bedingt  der  Geist,  daß  er  nimmer  auf  das  neben  ihm 
ruhende  Thehom  wirken  könne,  der  regungslos,  er- 
wartend aufzunehmen  die  Kraft  der  Gestaltung,  neben 
ihm  in  paralleler  Richtung  —  gleich  nah,  gleich  fern, 
unerreichbar  weilte,  denn  das  Dritte  war  noch  nicht  vor- 
handen, in  dem  sie  sich  treffen  sollten.  —  Und  er  tritt 
aus  dem  Stadium,  dem  ersten  der  contemplativen  Ruhe, 
setzt  seine  Subjectivität  —  Jod=  i  —  durch 
innere  Betätigung  sich  gegenüber,  sich  trennend,  teilend 
als  Objectivität  —  He  =  ;-|  =  Chochmah.  Diese 
wiederum  erfassend  im  geheimnisvollen  dritten  Vav  =  *| 

—  tritt  er  versöhnt  wiederum  in  sich  selbst  zurück,  in 
das  Stadium  des  Selbstbewußtseins  —  Binah. 
Und  hat  sich  wiederum  in  geschlossener  Einheit  durch 
die  Dreiheit  als  Ihu  (iao).  Jetzt  erst  aus  dem 
Centralpunkt  seines  Wesens  sendet  er  Strahlen 
aus  —  Tiphereth,  die,  außer  sich  Objekte  suchend, 
die  Ewigkeit  erfassend  und  die  Unendlichkeit  —  die 
zwei  Hauptformen  aller  Objectivität  erzeugen;  die  Zeit 
und  den  Raum. 

„Durch  diese  empirische  Betätigung  gewinnt  die 
Ausstrahlung  selbst  concrete  Form,  wird  Krone- 
Chether  (Einigung  des  Idealen  und  Empirischen), 

—  wird  die  sich  selbst  bestimmende,  und  das,  was  außer 
ihr, —  Pracht —  Hod;  aus  der  die  stille  selbstbewußte 


—     757 


Fülle  der  Macht  —  Gebirr  ah  wird.  Diese  sich  selbst 
setzend,  in  der  Betätigung   des   Momentes,    wird   Kraft 

—  Nezach.  Die  Kraft,  deren  Leben  nur  der  kurze 
Moment  der  Geburt,    setzt   sich    schaffend  —  Materie 

—  vonihraus —  trennend  —  richtend  —  Adonai 
und  endlich  einigend  versöhnend  —  Gnade  —  Chesed. 
Im  Kosmischen  Prozesse  der  reinen  Idealität  in 
ihrer  Betätigung  ward  das  All  —  subjectiv:  Alam 
objektiv:     Olam. 

„In  den  Zehen  Sephiroth  haben  wir  die  reine 
Subjectivität,  sich  selbst  durcharbeitend;  in  den  drei 
ersten:  schaffend,  empfangend,  erzeugt  aber  im 
Kreise  noch  die  innersten  der  reinen  Subjectivität  — 
tibergehend  auf  die  Materie,  sie  erfassend  als  das 
Aeußere,  Obj  ecti  vi  tat,  in  den  sechs  folgenden, 
und  zwar: 

1)  Thipherett  (Strahlenpracht)  =  Jehi  or  (Licht) 

2)  Chether  (Krone)  =  Rakiah  (Himmelsgewölbe) 

3)  Hod  (stille  Majestät)  =  Maim  (tiefe  Ruhe  des 
Wassers) 

4)  Geburah  (Macht)  =  Schemesch  (Wärmemacht) 

5)  Nezach  (produzierende  Kraft)  =  Nephesch, 
Chajah,  Oph  (Belebung,  Tat  setzend) 

6)  Adonai  (der  Höchste,  Richtende)  =  Adam;  — 
Zelem  Elohim,  durch  diese  endlich 

7)  Chesed  (Gnade,  Liebe)  =  Sabbath  aus  der 
Objectivität  in  seine,  durch  Entäußerung  erfaßte 
Subjectivität  wiederum  zurückkehrend  —  Einheit 
durch  Trennung  —  Versöhnung. 

„Wir  haben  hier  eine  dreifache  Gliederung  in  der 
großen  kosmischen  Erscheinung: 
I)  Subjectivität,  sich  setzend  die  Objectivität  (II) 
und  daraus  zurückkehrend  —  Subjectivität  (III). 
„Doch  in  jeder  besonderen  Erscheinung  finden  wir 
wieder  dreifaches  Bestehen: 

48* 


im 

(Jehovah) 

(Alam) 
der    Ver- 
borgene. 


—    758    — 

a.  Dachar    das    Zeugende,     der    Aus- 
strahlende Punkt  =  •) 
h.  Nukbah    das   Empfangende,    schon 
der  Form  nach  =  n 
c.  Bar-buchrah,  der  Erstgeborene,  die 
Erscheinung  beider  ^ 
„Diese   in  Dreiheit    einig    geschlossene  Sub- 
jektivität geht  über  auf 

II)  Objektivität,  in  welche  sie,  als  Ganzes  als  in  die 
Empfangens  Gewärtigte,  ihre  schaffende  Kraft  über- 
strahlt. In  ihr  selbst  aber,  als  in  reiner  O  b j  e  c  t  i  vi t  ät, 
finden  wir,  correspondierend  der  reinen  Subjec- 
tivität,  dieselbe  dreifache  innere  Tätigkeit  —  in 
gedoppelter'  Erscheinung : 

a.  Schemesch-Maim50)  schaffend  | 

b.  Or-Rakiah  empfangend  l  °lam 

c.  Chaj  ah- Adam  erzeugt.  |    Kosmos,  All. 

„Das  die  Rückkehr  aus  der  Objectivität  ver- 
mittelnde in  die  Subjectivität,  der  Schlußakt  der  großen 
Erscheinung  in  der  neunten  Sephirah  das  als  drittes, 
—   tertium    comparationis,    —    Merkabah.  —  Adam. 

III)  Adam,  der  gezeugte  Beider,  Zeuger  Beider, 
involviert  Beide,  (eso-exoterische  Erscheinung :  mikro- 
kosmos),  hat  als  solcher  in  sich  den  dreifachen  Akt, 
der  den  allmählichen  Durchgang  des  Ideals  zur 
Materie  (die  sich  sonst  als  Parallelen  niemals  treffen 
können,  s.  oben)  vermittelt. 

Er  weist  die  ihrem  Quellpunkt  Chad,  unmittelbar 
ausgestrahlt  befreundete 

a.  Jechidah,  sich    erfassend    als  Neschama,    idealste 
Seite  zum 

b.  Euach  übergehend  —  auf 


B0)  Man  denke    an  £iva  und  Vishnu    in    der    Indischen   Kos- 
mogonie  (s.  o.) 


—     759    — 


c.  Nephesch, 

erreicht  in  dieser  schon  materialisierten  Seite   die  reine 

Materie  —  Adamah. 

Haben  wir  hier  die  drei  ersten  Sephiroth, 
correspondierend  nach  oben,  des  Adam  Kadmon,  so 
zieht  er,  nachdem  er  sich  selbst  in  den  Kreis  seiner 
Dreiheit  als  einheitliche  Individualität  gesetzt, 
hinab  in  die  Materie  —  Adamah,  durch  das  Dritte 
vermittelt,  die  Form  —  Zelem  E  loh  im  —  dann 
durch  die  siebenfache  von  Ruach  ausstrahlende  in  die 
Materie,  Sinnenbetätigung  (fünf  subjektiv  —  und 
der  die  Tat  [objectiv]  vermittelnde  "Wille  und  jene 
selbst  in  die  sieben  folgenden  Sephiroth,  widergebend 
den  bedingenden  Proceß,  in  der  Erfassung  seiner 
selbst,  als  der  Inbegriff  der  Schechintah  elaah  und 
der  Schechintah  thathaah  Vollendung  somit  des 
Geistes,  Vaters;  Materie  —  Mutter  als  der  von 
der  Erde  zum  Himmel  reichende  Sohn,  (darum 
die  lange  Form)  diese  und  jene  in  sich  tragend," 6J) 

Wir  haben  vollständig  citiert,  erstens  da  wir  meinten, 
es  würde  sein  Interesse  haben  diese  mystische  Philosophie 
in  großen  Zügen  vorzuführen,  und  dann  da  wahrscheinlich 
eine  kurze  •  Mitteilung  unverständlich  sein  würde.  — 
Deutlich  ist,  daß  der  Adam  Kadmont  der  Vater  und  die 
Mutter,  androgynisch  gedacht  ist,  d.  h.  in  ihm  waren  die 
Activität  und*  die  Passivität  vereinigt. 

Aber  auch  für  den  Jehovah  finden  wir  in  dieser 
Broschüre  Mitteilungen,  die  höchst  interessant  sind. 

S.  8  wird  gesagt,  daß  Jehovah  nach  den  Engelehen 
(Genesis  Cap.  VI  v.  1 — 2)  sich  aus    der  Unmittelbarkeit 


4t)  Der  Autor  fügt  hinzu:  Diese  Zusammensetzung-  des 
Menschen  ist  von  späteren  Kabbalisten  falsch  gefaßt  worden,  als 
concret  —  urtypisch  Androgynisch.  Wir  glauben,  daß  dieses  ver- 
fehlt ist,  denn  wie  wir  oben  sahen,  war  es  auch  die  rabbimische 
Ansicht,  daß  Adam  androgynisch  war.  — 


1 


—     760    — 

zurück  zog,  das  Princip  verhüllend,  erscheinend  den  ihm 
sich  Entfremdenden  nur  in  seinen  Consequenzen  —  aber 
wieder  in  dreifacher  Form  und  (empirisch)  Tätigkeit: 
I)  als  El-roi1)  =  Gott -Sehen;  Aug,  Punkt  =  ^ 
II)  als     El-schaddaia)    =     Gott-Fülle;     Brust, 

Körper  =  j-| 
III)  als  El- k an  ah8)  =  Gott-Strafe;  Stab,  lang  =  i 

Die  Anmerkungen  aber  geben: 
*)  Auge,  Quelle,  ausstrahlender  Punkt 

2)  Brüste;  Fülle,  deren  lebenspendende    Tätigkeit    erst 
nach  der  Empfängnis  (Wir  cursi vieren  v.  Römer.) 

3)  Erscheinung  von    Beiden:    Strafe,    Stab,    Eifer.  —  ^  Sohn. 

Spricht  sich  nun  hierin  nicht  die  androgynische 
Natur  des  Jehovah  aus? 

Und  weiter  unten  (S.  16)  finden  wir: 

„Die  ideelle  Subjektivität  ging  verloren  — 
Jah-patar  (Jupiter)  indem  sie  in  die  Form  Zelem 
(per  metathesin  Semel,  Semele)  untertauchend  einging; 
dort  suchend,  um  verborgen  dereinst  wieder  zu  kommen 
—  ba-chos  (Bacchus62)."  Ist  dieses  Citat  nicht  der 
absolute  Beweis,  daß  für  die  Kabbalisten  Jehovah  und 
Bacchus  derselbe  Gott  war?  Denn  wie  wir  früher  sagen, 
als  der  Geist  seiner  Subjektivität  gegenüber  sich  als 
Objektivität  gesetzt  hatte,  erfaßte  der  diese  wieder,  und 
kommt  versöhnt  wieder  zurück  in  das  Stadium  des 
Selbstbewußtseins,  und  hier  findet  er  sich  als  Ihu  53)  (iao). 

Diese  Auffassung  teilte  auch  Blavatsky,  welche 
andere  kabbalistische  Autoren  citiert.  Diese  moderne 
Mystica  und  von  den  Theosophen  sehr  hochgeschätzte 
Schriftstellerin   schreibt   z.  B.  XXII  Bd.  II  S.  137: 

Die  aspirierte  Form  des  Wortes  eua  (Eva)  „sein", 
ist  nin  Heve  (Eva),  und  dies  ist  die  weibliche  Form  von 

62)  Die  Wörter  in  Klammern  sind  keine  Beifügungen  von 
uns,  sondern  stehen  im  Original,    v.  R. 

5S)  Man  liest  bei  Sanchuniatho :  der  Gott  der  Juden  genannt 
rem,  Ieuo  [CLXVII]. 


* 


—     761     — 

HIPP  un(l  derselbe  Name  wie  Hebe  die  griechische  Göttin 
der  Jagend  und  die  olympische  Braut  des  Herakles. 
So  wird  der  Name  Jehovah  noch  deutlicher  in  seiner 
primitiven  doppeltgeschlechtlichen  Bedeutung.64) 

Und  Bd.  II,  S.  132 : 

Jehovah,  oder  Jah-Hovah,  bezeichnend  männliches 
Leben  und  weibliches  Leben,  —  erst  androgynisch,  dann 
in  Geschlechter  geteilt  —  ist  in  dieser  Auffassung  ge- 
braucht in  der  Genesis.  Der  Autor  von  „  Source  of 
Measures"  (Ralston  Skinner)  sagt  (S.  159):  Die  zwei 
Wörter  wodurch  Jehovah  geformt  wird,  zeigt  deutlich 
die  originelle  Idee  des  mann-weiblicheh  des  Geburts- 
ursprunges. [Der  hebräische  Buchstabe  Jod  war  das 
membrum  virile  und  Hovah  war  Eve,  die  Mutter 
von  Allem,  was  ist,  oder  dieProcreatrix,  Erde  undNatur."55) 

Aber  sie  geht  noch  weiter.  Sie  schreibt  (1.  c.)  ferner, 
daß  „das  bi-sexuelle  Element  sich  zeigt  in  jeder 
Schöpfungs-Gottheit,  sowohl  in  Brahma- Yiraj-Vach,  als 
in  Adam- Jehovah-Eve  und  in  Cain-Jehovah-Abel.  Denn 
in  dem  „Buche  des  Stammbaums  Adams"  wird  keine 
Meldung  getan  von  Kain  und  Abel,  sondern  da  wird 
gesagt: 

„Männlich  und  weiblich  schuf  er  sie,  und  nennt  ihren 
Namen  Adam." 


ßl)  The  aspirate  of  the  word  eua  [Eva]  „to  beu  being  niH 
Heve  [Eve]  which  is  the  feminine  pf  HIPP  an<*  the  same  of  Hebe, 
the  Grecian  Goddess  of  youth,  and  the  Olympic  bride  of  Herakles, 
makes  the  name  Jehovah  appear  still  more  clearly  in  its  primitive 
double-sexed  form. 

6Ö)  Jehovah  or  Jah  [Hovah]  maening  male  life  and  female 
life  first  androgynotts,  then  separated  into  s'exes,  is  used  in  this 
sense  in  Genesis.  As  the  author  of  the  Source  of  Measures  says 
[p.  159]  „The  two  words  of  which  Jehovah  is  composed  make  up 
the  original  idea  of  male-female  of  the  birth  originator.  For  the 
Hebrew  letter  Jod  was  the  membrum  virile  and  Hovah  was 
Eve,  the  mother  of  all  living,  or  the  procreatrix  Earth  and  Nature. 


\ 


—    762    — 

Und  dann  wird  fortgefahren: 

„  Und  'Adam  erzeugte  einen  Sohn,  nach  seinem  Bilde 
und  Gleichnis,  und  nannte  seinen  Namen  Seth." 

Nachher  erzeugte  er  andere  Söhne  und  Töchter^ 
was  beweist,  daß  Cain  und  Abel  nur  die  allegorische 
Permutation  von  ihm  selber  waren."  &6) 

Und  dann  Bd.  II  S.  406:  „  Jehovah-Cain,  der  männ- 
liche Teil  von  Adam,  der  zweifache  Mensch,  sich  selber 
abgeschieden  habend  von  Eva,  erzeugt  in  ihr  Abel  das 
erste  natürliche  Weib  und  vergoß  das  jungfräuliche 
Blut."  57)  Und  auch  S.  143,  citiert  sie  aus  Professor 
Wilder:  „Der  Name  Hebel  ist  derselbe  wie  Eva,  und 
seine  Kennzeichen  geben  das  weibliche.  „Nach  dir  soll 
seine  Sehnsucht  sein,"  sagt  der  Herr  Gott  zu  Cain,  „du aber 
sollst  über  ihn  herrschen.*  Dasselbe  wurde  zu  Eva  gesagt: 
„Nach  deinem  Manne  geht  deine  Sehnsucht  und  er  soll 
herrschen  über  dich."68) 


ö8)  The  bi-sexuell  element  [is]  founded  in  every  creative  Deity, 
in  Brahma- Viraj-Vach,  as  in  Adam-Jehovah-Eve,  also  in  Cain- 
Jehovah-Abel.  For  the  „Book  ot  the  Generation  of  Adama  does 
not  even  mention  Cain  und  Abel,  but  says  only :  „Male  and  female 
created  he  them  ....  and  called  their  name  Adam."  Then  it 
proceeds  to  say:  „And  Adambegata  sonin  his  own  likeness,  after 
his  image  and  called  his  name  Seth."  After  which  he  begets 
other  sons  and  daughters  thus  proving  that  Cain  and  Abel  are 
his  own  allegorical  permutations. 

57)  Jehovah-Cain  the  male  part  of  Adam  the  dual  man,  having 
separated  himself  fromEve,  creates  in  her  Abel,  the  first  natural 
Woman,  and  sheds  the  virgin  Blood  [Cit.  of  Source  of  Measures]. 

58)  The  nameHebel  is  the  same  asEve,  andits  characteristic 
seems  to  the  feminine.  „Unto  thee  shall  be  his  desire,"  said  the 
Lord  God  to  Cain,  and  thou  shalt  rule  over  him.'*  The  same 
language  had  been  uttered  to  Eve:  „Thy  desire  shall  be  to  thy 
hüsband,  and  he  shall  rule  over  thee.*'  Diese  hier  gebrauchten 
Verse  sind  Genesis  IV,  7  und  III,  16.  Der  erste  Vers  soll  wie 
LXIV  S.  38,  Note  7  angegeben  wird,  absolut  verdorben  sein.  Wie 
wir  schon  oben  schrieben :  Wenn  es  auch  wahr  sein  darf,   daß  die 


—     763 


Wir  wollen  nun  nachweisen,  daß  auch  im  Christentum 
Spuren  des  Androgynismus,  wenn  auch  nur  solche  vor- 
handen sind. 

Die  Stelle  aus  der  Apokalypsis  des  Johannes,  worauf 
Frau  Blavatsky  sich  bezieht,  ist  m.  E.  nicht  an  und  für 
sich  beweisend. 

Apokalypsis  I,  13    steht    nl:    Und   mitten  zwischen 
den    sieben  Leuchtern    [sah    ich]    einen    dem    Sohn    des 
Menschen  ähnlich,  in  einem  Gewand,    das    bis  zu  seinen 
Füßen  herab  hing,  und  um  seine  Brüste    einen  goldenen  4 
Gürtel  tragend.60) 

Wie  der  Leser  aus  dem  Citate  ersieht,  ist  im 
Griechischen  das  Wort  fxaazog  gebraucht.  Es  ist  wahr, 
daß  ixaGTog  meistens  für  weibliche  Brust  gebraucht  wird, 
doch  sehr  oft  wird  es  auch  auf  männliche  Brüste  an- 
gewendet, wie  das  Etymologicum  Magnum  lehrt60). 


Genesis  aus  verschiedenen  Quellen  zusammengestellt  ist,  so  können 
wir  aber  doch  nur  denken,  daß  zur  Zeit  der  Zusammenstellung  die 
Auffassung  die  war,  wie  diese  sei  es  auch  noch  so  heterogenen 
Fragmente,  es  als  eine  ununterbrochene  Darstellung  geben;  dieses 
gilt  natürlich  auch  für  die  durch  die  neuere  Wissenschaft  als  ver- 
dorben erkannten  Verse.  Dann  aber  stimmt  die  Auffassung  der 
Blavatsky  auch  absolut,  denn  es  steht  nicht,  wie  auch  Gunkel  sagt, 
im  Hebräischen  ein  weibliches  Pronomen  possessivum,  was  doch  das 
weibliche  Wort  „Gier"  oder  „Sehnsucht"  notwendig  machen  soll, 
sondern  das  männliche,  wie  es  denn  auch  z.  B.  die  alte  holländische 
Synodale  Bibelübersetzung  wiedergibt. 

59)  xai  ev  fieatp  t£v  enxa  h)%v(üv^  ofioiov  vly  avüqwjiov 
\eidov\  edsdvjjtevov  nodr^qv  xai  nsQie'gwGfievov  nqog  %olg 
[MXGTolg  ^(jivr\v  %QvaT]v. 

60)  LIV  v.  Maarog.  Maarog  xai  [xa£og  diacpeget,.  Maarog 
fxsv  yaq  eanv  6  yvvacxelog  xvQtwg,  dia  rb  elvat,  pearbg 
ydkaxrog.  [ia£og  de  o  avdqeZog. 

Tiveg  de  diacpo'gcog  xgcovrat,  ralg  Xe^eav. 


—     764     — 

M.  E.  kann  man  wegen  dieser  Stelle  allein  nicht  so 
apodiktisch  wie  Frau  Blavatsky  schreiben:  „In  St.  Jo- 
hannes Vision,  in  der  Offenbarung,  ist  der  Logos,  welcher 
nun  mit  Jesus  verbunden  ist,  ein  Hermaphrodit,  denn 
er  ist  beschrieben  mit  weiblichen  Brüsten.  61)  (XXII, 
Bd.  I,  8.  101). 

Wenn  aber  steht  Bd.  II,  S.  143:  „Mystisch  war 
Jesus  ein  Mann-weib."  62),  so  ist  dies,  wie  wir  später 
sehen  werden,  genauer. 

In  den  verschiedenen  christlichen  Sekten  aber, 
.welche  in  den  ersten  Jahrhunderten  des  Christentums 
bestanden  haben  und  seither  untergegangen  sind,  war 
diese  Auffassung  sehr  verbreitet. 

So  lehrt  uns  Origenes  (CXXVII  1.  V.  6,  42  sqq.) 
daß  die  Naassenier  unter  allen  Gnostikern  den  Menschen 
und  den  Sohn  des  Menschen  am  meisten  verehren. 
Dieser  Mensch  aber  ist  mann-weiblich  und  wird  von 
ihnen  Adamas  genannt.     Sie  haben  viele  und  verschiedene 


61)  In  St.  John's  Vision,  in  Revelation,  the  Logos,  who  is 
now  connected  with  Jesus,  is  Hermaphrodite,  for  he  is  described 
as  having  female  breasts. 

69)  Mystically  Jesus  was  held  to  be  man-woman."  Höchst 
interressant  ist  aber  die  folgende  Mitteilung  der  Blavatsky  (Bd.  I, 
S.  101  — ) 

In  Southern  India  the  writer  has  seen  a  converted  native 
making  püjä  with  offerings  before  a  statue  of  Jesus,  clad  in 
woman's  clothes  and  with  a  ring  in  its  nose.  On  asking  the  raea- 
ning  of  this  masquerade,  we  were  answered,  that  it  was  Jesu- 
Maria  blended  in  one,  and  that  it  was  done  by  the  permission  of 
the  Padre,  as  the  zealous  convert  had  no  money  to  purchase  two 
Statues  or  „idols"  as  they,  very  properly,  were  called  by  a  witness, 
another  but  a  non-converted  Hindu.  Blasphemous  this  will  appear 
to  a  dogmatic  Christian,  but  the  Theosophist  and  the  Occultist 
niust  award  the  palm  of  logic  to  the  converted  Hindu.  The 
esoteric  Christ os  in  the  Gnösis  is,  of  course,  sexless,  but  in 
exoterio  Theology  he  is  male  and  female. 


705     — 


Hymnen  an  ihn 63).  Dann  gibt  Origenes  ein  Beispiel 
einer  solchen  Hymne :  „Von  dir,  Vater,  und  durch  dich, 
Mutter,  die  beiden  unsterblichen  Worte  Erzeugers  der 
Aeonen,  Himmelsbewohner,  ruhmreicher  Mensch."64)  Und 
weiter  V.  7,  43 — 55,  spricht  Origenes  wie  folgt:  „Daß 
die  Mutter  der  Götter  Attis  entmannte  und  sie  ihn  als 
Liebling  hat,  will  sagen,  daß  die  glückselige  Natur  der 
Hyperkosmischen  und  A  eonischen  in  der  Höhe  die  männ- 
liche Kraft  der  Seele  zu  sich  gerufen  hat.     Denn,  sagen 

die  Naassenier,  mannweiblich  ist  der  Mensch 

Denn  die  Entmannung  des  Attis  bedeutet,  daß  von  den 
irdischen  Teilen  der  Schöpfung  hier  unten  einige  nach 
den  aeonischen  oben  steigen,  wo  weder  Weib  noch  Mann 
ist,  sondern  eine  neue  Schöpfung,  ein  neuer  Mensch,  der 
mannweiblich  ist  65). 

Das  Evangelium,  worauf  die  Naassenier  ihren 
Glauben  gründeten,  das  Evangelium  secundum  Aegyptios 
sagt  denn  auch  sehr  deutlich: 

63)  Ovtoi  tmv  äXXcov  dndvTwv  nctQa  tov  avrwv 
Xoyov  TifjiüoGiv  äv&Qionov  xal  vlbv  äv&QtoTiov.  *E<Svi  de 
™Av#Q(onog  ovrog  aqaevo^riXvg,  xaXelxai  de  'Addfiag  na( 
amolg. 

64)  ^Ano  aov  naT^Q  xal  dla  ae  jUifnj^  ia  dvo  d&avara 
6vofiara9  ämvcov  yovelg  noXlxa  ovqavov,  fxeyaXcovvfie 
av#Q(07ie.a 

65)  'Eav  de  (pqalv,  ij  ixvxr\Q  rwv  #eoh>  anoxoipn  xov 
*  Axxiv  xal  avTT[  tovtov  e%ovaa  egwfievov,  rj  xwv  vneQxoafilwv, 
cprjol,  xal  äicovtcov  ävco  f.iaxaqia  <pvGig  xrp>  dqqevixi\v 
dvvafiiv  xfjg  ijjvyftig   dvaxaXelxai    jiqbg   avxr]v.     "Eaxi  yäg 

q>v\Glv>    aQaevo&rjXvg    6    äv&Q<onog *Anex6nri    yäg 

<pi}Giv,  o  "Axxig  xovxeaxcv  oltto  xwv  xolxwv,  iyg  xzcaecog 
xcxco&ev  iieq&v  xal  enl  xx\v  amviav  avco  fiexeXrjXv^ev 
ovaiav,  onov,  <priaw,  ovx  eaxtv  ovde  ÖrjXv  ovde  äqaev, 
äXXc.  xaivr  xxiaig,  xatvog  avtiqixmog,  o  eaxtv  aqGevo&riXvg. 


i: 


—    766    — 

[„Mein  Königreich  wird  kommen]  wenn  ....  Zwei 
Eins  wird,  und  das  Äußere  wie  das  Innere,  und  das 
Männliche  mit  dem  Weiblichen,  weder  männlich  noch 
weiblich.*4  66) 

Eine  andere  Secte,  die  der  Valentinianer,  gab  ein 
System,  welches  mit  dem  der  Kabbala  in  verschiedenen 
Punkten  übereinstimmt.  Wir  glauben,  daß  dieses  System 
aber  von  der  andern  Seite  nur  darum  von  der  Orthodoxie 
so  stark  abweicht,  weil  es  jede  Äußerung  der  Gottheit 
des  Einzigen  Vaters,  sich  darstellt  als  Symbol  für  sich, 
und  zwar  in  menschlicher  Figur.  Dem  Inhalt  der  Lehre 
nach  aber  sind  sie  beide  u.  E.  nicht  so  verschieden. 

Im  Anfang  war  Bythos  ein  Aeon  von  höchster  Voll- 
kommenheit, der  vor  Allem  gewesen  war,  in  unsichtbaren 
und  unnennbaren  Höhen :  diesen  Aeon  nennen  [die  Valen- 
tinianer] Proarches  (Vor-dem-Anfang)  und  Propator  (Vor- 
dem-Vater)  und  Bythos  (Tiefe)  und  dieser,  unbegreiflich  und 
unsichtbar,  ewig  und  ohne  Anfang,  war  in  unendlicher 
Ewigkeit  gewesen  in  Ruhe  und  Stille.  Mit  ihm  bestand 
von  Ewigkeit  her  Ennoea  (Gedanke),  welche  sie  auch 
Charis  und  Sige  (Stille)  nennen.  Und  Bythos  wollte 
von  sich  aussetzen  den  Beginn  von  Allem  und  er  brachte 
diesen  Theil,  als  seinen  Samen  in  die  Gebärmutter,  in 
die  mit  ihm  ewig  seiende  Sige.  Und  diese  nahm  den 
Samen  auf  und  ward  schwanger,  und  gebar  den  Nus 
(Geist),  den  ihm  aus  sich  setzenden  ähnlichen  und 
gleichen,  der  allein  die  Größe  des  Vaters  begreift. 
Diesen  Nus  nennen  sie  auch  Monogenes  (Ein-geboren), 
Vater  und  Beginn  von  Allem.  Mit  ihm  ward  die  Wahr- 
heit.  —    Und    Monogenes    selber    erzeugte    Logos    und 


66)  [CH   ßaaiXela  fxov   yj&i]    oxav yevtjxat  xa 

Svo  ev,  xai  xo  e£w  cog  xo  eaco  xal  xo  &qqsv  fiexa  xf(g 
drikeiag,  ovxe  äggev,  ovxe  #ijAt/. 

(CLXXXI,  Evang.  sec  Äg.) 


—    767     — 


Zoe  (Wort -und -Leben)  und  er  war  der  Vater  von 
Allen,  die  nach  ihm  kamen. 

Und  aus  Logos  und  Zoe  ward  nach  der  Begattung 
der  Mensch  und  Ecclesia  [die  Kirche]  geboren. 

Diese  sind  aber  alle,  jeder  für  sich,  mannweiblich, 
denn  der  Propator  war  eins  mit  Ennoea  durch  die  Be- 
gattung, und  Monogenes,  welche  Nus  ist,  mit  der  Wahr- 
heit; der  Logos  mit  Zoe,  und  der  Mensch  mit  Ecclesia. 
Logos  und  Zoe  erzeugten,  nachdem  sie  den  Menschen 
und  die  Ecclesia  erweckt  hatten,  noch  zehn  an- 
dere Aeonen,  Bythius  und  Nixis,  Ageratos  und  He- 
nosis,  Autophyes  und  Hedone,  Acinetos  und  Syncrasis, 
Monogenes  und  Macaria.  —  Aber  auch  der  Mensch  und 
die  Ecclesia  erweckten  zehn  Aeonen:  Heracletos  und 
Pistis,  Patricos  und  Elpis,  Matricos  und  Agape,  Aeinous 
und  Synesis,  Ecclesiasticos  und  Macariotes,  Theletos  und 
Sophia "  67) 

Wie  wir  oben  sahen,  konnte  Nus  allein  den  Bythos 
erkennen,  aber  jeder  der  Aeonen  strebte  nach  Erkenntnis 
des  Vaters.  Sophia  aber,  die  jüngste  und  letzte  von  allen, 
verzehrte  sich  in  leidenschaftlichem  Verlangen  nach  dem 
Vater.  „Sie  brannte  von  der  heftigsten  Begierde,  und 
jede  Vereinigung  mit  Theletos,  ihrem  Gatten  verschmähend, 
wollte  sie  sich,  gleich  dem  Monogenes,  mit  Bythos  ver- 
einigen. Da  sie  ihi^r  Natur  nach  nicht  für  solchen  Grad 
von  Vollkommenheit  gemacht  war,  so  unternahm  sie  ent- 
schlossen, das  Unmögliche  zu  versuchen,  einen  so  heftigen 
und  für  sie  so  gefährlichen  Kampf,  daß  sie  sich  selbst 
vernichtet  haben  würde,  wenn  Gott  ihr  nicht  den  Aeon 
Horus  zu  Hilfe  geschickt  hätte.  Dieser  Horus,  der  Genius 
der  Begrenzung,  wies  nun  auch  die  Sophia  wieder  in  die 
Schranken  ihres  Wesens  zurück  und  hielt  sie  darin  fest" 
[CXII  Bd.  II,  S.  85]. 


1; 


Man  sehe  über  die  Bedeutung  dieser  Namen  weiter  unten. 


—    768    — 

Dieser  Horos  ward  vom  Vater,  durch  den  Monogenes 
erzeugt,  ohne  Gatten  und  mannweiblich  [LXXXVIII 
libr.  I.  c.  2,  4  S.  231  68) 

„Er  [der  Horos]  wirkte  auf  sie  vornehmlich  durch 
den  geheimnisvollen  Namen  Jao  und  die  Wiederherstellung 
der  ursprünglichen  Harmonie  war,  wenigstens  für  die 
Person  [der  Sophia],  bewerkstelligt "  [CXII  Bd.  II,  S.  85. 
—  LXXXVIII  üb.  I  c.  4,  1  S.  40]. 

Aber  auch  die  anderen  Aeonen  waren  in  Disharmonie. 
Nus  erzeugte,  um  auch  da  die  Harmonie  herzustellen, 
Christos  und  den  heiligen  Geist  [LXXXVIII  Hb.  I, 
c  2,  5  S.  26]. 

Deutlich  kommt  hier  heraus,  daß  wie  schon  gesagt 
wurde,  jeder  mannweiblich  gedacht  ist.  Denn  den  Geist 
als  männlich  zu  betrachten,  wie  Billius  in  seinen 
Annotationes  (LXXXVIII  Bd.  IS.542)  will,«9)  ist  ziemlich 
albern. 

Gerade  verschiedene  Gründe,  welche  Matter  bei- 
bringt, um  den  Geist  als  weiblich  hinzustellen,  beweisen, 
daß  er  mann-weiblich  sein  muß.  Er  sagt  CXII  Bd.  I, 
S.  187,  worauf  er  Bd.  II.  S.  86  not.  2  hinweist,  daß  der 


68)  O  de  ncLTrq  xlv  nQoecQrjfxtvov  *'Oqov  btzi  tovtolq 
dtä  rov.  Movoyevovg  nyoßdXlexcu  ev  %xovi  Idiq,  ä<fv£vyov9 
aQQevoSrjXvv. 

Der  Herausgeber  meint,  daß  'aPfowTov  stehen  bleiben  muß. 
Die  alte  lateinische  Übersetzung  hat  aber  in  imagine  sua,  sine 
coniuge  masculo-femina.  Wenn  man  hinter  coniuge  ein  Komma 
setzt,  dann  entsteht  der  Sinn :  nach  seinem  Bilde,  aber  ohne  Gattin, 
also  mann-weiblich.  Bythos  war  doch  der  mit  Eunoia  Vereinigte 
und  mann-weiblich ;  nach  seinem  Bilde  schaffen  war  also  den  Horos 
mit  einer  Gattin  schaffen.  Aber  Horos  wurde  ohne  Gattin  erzeugt, 
muß  also  notwendig  mann-weiblich  sein. 

60)  Merito  hanc  conjungationem  ridet  Tertullianus,  ut  turpissimam 
nempe  duorüm  marium. 


—    769    — 


H.  Geist  ein  Weib  sein  soll,  daß  im  Systema  des 
Bardesanes,  (eine  andere  gnostische  Sekte)  auf  den 
Christus,  den  Sohn,  als  Emanation  folgte  die  Schwester 
und  Gattin  desselben  „der  heilige  Geist". 

Häufig  sei  das  Pneuma  als  Weib  betrachtet,  so  in 
der  Kosmogenie  der  Genesis: 

„Das  Pneuma  ist  dort  dargestellt  als  schwebend 
über  den  Wassern,  als  Schöpferkraft/  d.  h.  aber  so  weit 
wir  sehen  können,  daß  das  Pneuma  hier  als  männliche, 
erweckende  Kraft  gedacht  ist.  —  Und  S.  121,  wo  er  das 
System  des  Symon  untersucht,  sagt  er: 

„Sie  (die  Schüler  Simons)  nannten  die  Ennoia  merk- 
würdig genug  „heiliger  Geist  und  Prunikos" 
andererseits  gaben  sie  ihm  den  Namen  „Minerva", 
indem  sie  auf  Allmutter  Sophia  Alles  anwendeten, 
was  die  Griechen  von  ihrer  Artemis-Selene  sagten,  d.  h. 
von  dem  Mond  als  der  Mutter  alles  irdischen  Seins." 

Wir  sahen  schon  früher,  daß  die  Minerva  der  Aegypter, 
Neith,  mannweiblich  war  und  später  werden  wir  sehen, 
daß  auch  die  Athena  und  die  Minerva  der  Römer 
androgynisch  sind,  und  über  den  Mond  als  Androgyn 
haben  wir  oben  schon  viel  gesagt. 

Matter  sagt  dann  weiter:  „Die  Bezeichnung  des 
h.  Geistes  als  Frau  darf  bei  einem  Manne,  der  sich 
vertraut  gemacht  hatte  mit  den  Vorstellungen  der 
Chochmah,  der  Binah,  der  Sephiroth  im  Allgemeinen,  und 
der  Sophia  der  jüdisch-alexandrinischen  Schule  insbesondere 
nicht  befremden"  (1.  c). 

Man  braucht  sich  nur  an  die  weiter  oben  gebrachte 
Auseinandersetzung  der  Kabbala  zu  ^erinnern,  um  zu 
begreifen,  daß  all  diese  Begriffe  wirklich  androgynisch  sind. 

Die  Stelle  des  Epiphanius  über  die  Ossenier,  welche 
Matter  citiert,  beweist  aber  etwas  anderes. 

„Der  H.  Geist  ist  eine  Frau,  und  gleicht  dem  Christ." 


—    770    — 

Also  entweder  Christ  war  auch  eine  Frau,  oder  beide 
waren  androgynisch.70) 

Auch  der  letzte  Grund,  den  Matter  beibringt,  muß 
als  verfehlt  angemerkt  werden,  denn  das  Gebet  aus  den 
Reisen  des  Thomas: 

Komm,  heiliger  Name  von  Christos,  Name  über  allen 
Namen;  komm  Kraft  von  oben,  komm  vollkommene 
Gnade,  komm,  höchste  Gabe! 

Komm,  Mutter  des  Erbarmens;  komm,  Gattin  des 
Mannes;  komm  Da,  die  die  verborgenen  Mysterien  offen- 
bart; komm,  Du  Mutter  von  den  sieben  Häusern,  damit 
Du  in  dem  achtesten  deine  Ruhe  fändest. 

Komm,  der  Du  bist  älter  als  die  fünf  heiligen  Glieder, 
—  Geist,  Gedanke,  Betrachtung,  Überlegung,  Beratung,  — 
teile  dich  diesen  jüngeren  mit;  komm,  Heiliger  Geist? 
Du  reinigst  ihre  Nieren  und  Herz,  und  verriegelst  sie  im 
Namen  des  Vaters,  und  des  Sohnes,  und  des  heiligen 
Geistes!71) 


70)  LIII  S.  25.  elvai  de  xal  xo  äytov  nvevfjia,  xal 
atxo  ^rjXeiav,  oguoiov  xw  %qigto>  dvdgidvxog  8ixv\v  vtisq 
vecpeXrjv,  xal  dvafisaov  ovo  oqswv  eGxwg.  —  Oder  will  dieser 
Satz  sagen,  daß  der  H.  Geist  weiblich  war,  und  daß  er  ebenso 
wie  Christ,  wie  eine  Statue  auf  den  Wolken  stand  etc.? 

71)  EX&e  xo  aywv  ovofxa  xov  %qlgxov9  xo  vttbq  nav 
ovofxa'  iX#e  tj  dvvafxig  xov  vxptGxov  xal  r)  evGnXayyyia  yj 
xeXeta*  eX&e  xo  %aQiGfia  xo  vxpiaxov  eX&e  r)  (urjxriQ  i) 
evGnXayyyog*  eX&e  i)  olxovofxia  xov  äogevog*  eX&e  r)  xd 
jLivaxrjQta  änoxaXvTtxovaa  xd  anoxQvtpa*  iX&e  r]  [irjxrjg 
xwv  STtxd  oixcov,  Iva  q  dvdnavGig  goi  eig  xov  oydoov 
oixov  yevrjxar  eXüe  o  nqeGßvxeqog  xwv  nevie  fxeXwv, 
voog  evvoiag  (fQovr\G£(og  ev&vfxriGewg  XoyiGfjiöv,  xoiviovr\Gov 
jLisxa  xovxcov  xcov  veioxegtov  iX$e  xo  ayeiov  nvevfia  xal 
xa&dqLGov  xovg  vetpgovg,  avxtov  xal  xtjv  xagdtav,  xal 
entGxqdyiGov  avxovg  eig  ovo[,ia  naxqtg  xal  vlov  xal  dyfav 
nvsvpaxog.     (Ia  Acta  Thomae  c.  27.) 


-  m  - 

Mead  sagt  (CXIV  S.  423:  „Der  Name  ist  nicht  der 
Name  „  Christos",  sondern  der  Name  oder  die  Macht  des 
Christs,  Seine  Shakti  (um  einen  Ausdruck  der  Indischen 
Theosophie  zu  gebrauchen)  oder  Sein  Syzygia." 

Aber  es  heißt  dann  weiter:  „„Der,  welcher  älter  ist  als 
die  fünf  Glieder/  ist  der  Mensch,  der  Gatte  von  Sophia 
oder  des  Heiligen  Geistes,  Christos.*  Wir  glauben,  daß 
aus  dieser  Invokation  des  Heiligen  Geistes  nur  zu  deut- 
lich herauskommt,  daß  die  Gnostische  Secte,  welcher  diese 
Hymne  angehört,  den  Heiligen  Geist  nur  als  mann- 
weiblich betrachtet  haben  kann.  Denn  der  heilige  Geist 
wird  in  einigen  Teilen  als  Frau,  als  Mutter  aufgefaßt,  in 
anderen  aber  als  Christos  selber:  älter  als  die  fünf 
Glieder!  Er  ist  also  ein  and rogyni scher  Begriff,  viel- 
leicht mit  einem  Vorherrschen  des  weiblichen  Prinzips. 
Für  Christos  ist  er  Gattin,  für  die  Menschen  aber 
männlich,  denn  er  durchdringt  ihre  Seelen  und 
reinigt  sie. 

Wenden  wir  uns  nun  wieder  dem  System  des  Va- 
lentinus  zu. 

Christos  und  Pneuma  brachten  das  Pleroma  wieder 
in  Harmonie;  alle  Aeonen  liebten  und  glichen  einander, 
so  daß  die  einen  zu  Nus,  Logos,  Anthropos  und 
Christos,  die  anderen  zu  Aletheia,  Zoe,  Pneuma  und 
Ecclesia  wurden  (CXII  Bd.  II,  S.  86  —  LXXXVHI  lib. 
I,  c.  2,  6). 

Die  Aeonen  wollten  Bythos  ehren,  und  indem  sie  alles 
zusammenbrachten,  was  jeder  von  dem  Schönsten  das  er  in 
sich  hat,  dies  alles  dann  in  höchster  Harmonie  vereinigten, 
gebaren  sie  zur  Ehre  und  Ruhm  des  Bythos,  die  voll- 
kommenste Schönheit  und  den  Stern  des  Pleroma's,  die 
vollkommene    Frucht    Jesus,    der    Erlöser   und  Christos 

Jahrbuch  V.  49 


—    772    — 

und  nach  seinem  Vater  Logos  und  Pan  [(All)  da  er  aus 
Allen  stammte]  genannt  wird  72). 

Sophia  aber  hatte  in  ihrer  feurigen  Leidenschaft  aus 
sich  selber,  ohne  Begattung,  eine  Frucht  geboren,  welche 
wie  ein  unausgetragenes  Kind  formlos  und  ohne  Ge- 
stalt blieb. 

Christos,  der  höhere,  hatte  Mitleid  mit  dieser  Frucht 
und  als  sie  durch  Stauros  getötet  wurde,  bildete  er  aus 
eigener  Kraft  ihre  Gestalt,  aber  nur  nach  ihrer  Natur, 
nicht  nach  der  Erkenntnis.  —  Sie  hat  in  sich  etwas 
Unsterbliches,  das  von  Christos  und  dem  Heiligen  Geiste 
in  ihr  zurückgelassen  wurde.  Deshalb  wird  sie  mit  zwei 
Namen  benannt.  Sophia  nach  ihrem  Vater  (denn  ihr 
Vater  wird  Sophia  genannt)  und  Heiliger  Geist  nach 
dem  Geiste,  der  um  Christos  ist.73) 

™)  LXXXVlll  lib  1,  c.  2,  6.  Kai  vtvbq  xrfi  eijcouag 
rdvrrjg  ßovlfi  iiiq,  xal  yviifi-Q  ro  nav  nkwQtofia  tiov 
Altuvtov,  ävvBvdoxovvTog  tov  Xqlgiov  xal  tov  lIvevfiaTog, 
tov  de  üaxQog  dir  tov  tivvBTCiatpQayi^ouBvov,  eva  exaötov 
tcov  Altovtüv  07t€Q  bl%bv  ev  eavTw  xdlfotiTov  xal  uviyrjQOTa- 
tov  (fvveveyxdfievovg  xal  eqavitidiiBvovg,  xal  xavxa  ag^io- 
dmg  nXsgavTag  xal  ififielwg  BvtSaavTagy  ngoßakeaüai  tvqo- 
ßkrjfia  elg  Tt[iir)v  xal  dogav  tov  Bv&ov,  TeXevoTaTov  xdXXog 
TS  xal  aüTQov  tov  IlXrjQoifiaTog,  tUbiov  xaQnbv  tov 
*Irioovv,  bv  xal  SwTrjga  nqotiayoQBvÜBvai  xal  Xqiastov  xal 
Aoyov  rtaTQwvvfiixtoc  xal  JIdvTa,  die  to  dno  ndvToov  slvat. 

73)  OlxTeiQavTa  tb  avTrjV  tov  Xgiötov  ävco  xal  6iä 
3tov  2tüvqov  enexTaÜivra  tt\  XSia  Svvd\iBi  (lOQtpwöai, 
fxoQcpwGiv  Trjv  xaT*  ovölav  fiovov,  all'  ov  tyjv  xaxa  yvcoövv. 

e%ovad  Tiva  oöfirjv  ätp&aQtiiag  eyxaTaXeup&eloav 

*v  amy  vnb  tov  Xqio*tov  xai  tov  ayiov  JIvsvixaTog.  Jio 
xal  avrrjv  Tolg  dfxcpQozeQotg  ovo/nacn  xaXela&ai  2o<piav  tb 
TtaTQoovvfivxcjg,  o  ydq  naTjjQ  avTrjg  2oq?la  xXrji&Tai)  xai 
Ttvsvfia  ayiov  aito  tov  ^t^^qC  tov  Xqlöt&v  7tv£v(xaTog. 


—  in  - 


Hieraus  sehen  wir  wieder,  daß  die  höhere  Sophia 
mann  weiblich  gedacht  war,  denn  der  Vater  wird 
Sophia  genannt,  ebenso  aber  auch  die  niedrige  Sophia, 
da  sie  in  sich  hat,  was  Christos  Heiliger  Geist  in  ihr 
zurückließ. 

Die  niedere  Sophia  wird  auch  Achamoth  genannt 
(LXXXVHI  Hb.  I,  c.  3,  6)74)  und  lib.  I,  c.  5,  3,  sagt 
Irenaeus:  Diese  Mutter  (Achamoth)  wird  auch  Ogdoas, 
oder  Sophia,  oder  Gea,  oder  Jerusalem,  oder  Heiliger 
Geist  oder  (männlich)  Kyrios  genannt75).  Damit  ist  doch 
der  absolute  Beweis  erbracht,  daß  die  Sophia  und  der 
Heilige  Geist  wirklich  mann-weiblich  waren. 

Diese  niedrigere  Sophia  hat  noch  größere  Leiden- 
schaft nach  dem  Vater,  und  sie  konnte,  sich  nicht  mit 
ihrem  Mutter-und- Vater  aufschwingen  zu  dem  Pleroma, 
wohin  dieser  durch  Horos,  Christos  und  Pneuma  zurück- 
geführt wurde;  sie  stürzte  sich  in  das  Chaos  und  ver- 
mischte sich  mit  demselben. 

In  dem  Stande  ihrer  Erniedrigung  wechselten  in  ihr 
Traurigkeit  und  Angst  mit  Lust  und  Freude.  Bald 
hatte  sie  ein  Vorgefühl  ihrer  Vernichtung,  bald  ent- 
zückte alle  Kräfte  ihres  Wesens  das  Bild  des  Lichtes, 
von  dem  sie  abgefallen  war.  Ihre  heißen  Begierden 
schenkten  mehreren  Wesen  das  Dasein,  der  Seele  der 
Welt,  und  der  Seele  des  Demiurgen  (Schöpfers). 

Endlich  flehte  sie  zum  Christos  des  Pieromas,  daß 
er  ihr  zu  Hilfe  komme"  (CXII  Bd.  U,  S.  88.  — 
LXXXVHI  lib.  I  o  4,  4—5)  und  dieser  schickte  ihr 
Paracletos,  den  Erlöser.     Er  ward  ihr  geschickt  mit  den 


74)  CH  * Ev&vfiqtfig  rrjg  ävw  2o(piag>  rjv  xal  'AxctfitoÜ 
xaXovtiiv. 

75)  Tavrrjv  da  trjv  firjreQa  ^A%aiuoÖ\  xal  *Oydodda 
xaXovtii  xal  2o<piav  xal  Trp  xal  IeQovtfaXrjfi,  xal  ayiov 
JlvBv[ia  xal  Kvqlov  agdevcxtlg. 

49* 


—    774    — 

Engeln,  die  so  alt  wie  er  waren.  Und  Achamoth  deckte 
sieb  zuerst  vor  Scham  mit  einem  Schleier,  dann  aber, 
als  sie  ihn  sah,  wie  er  mit  allen  reinen  Früchten  kam, 
eilte  sie  ihm  entgegen,  da  sie  Kraft  schöpfte  aus  seinem 
Anblick.  Nun  bildete  er  sie  nach  der  Erkenntnis  und  heilte 
ihre  Leidenschaften.  Er  trennte  diese  so  von  ihr,  daß 
sie  nicht  sorglos  sein  würde,  es  war  unmöglich,  sie  zu 
vernichten,  wie  es  bei  der  ersten  Sophia  geschah,  denn 
hier  hatten  sie  schon  Form  angenommen  und  waren 
kräftig.  Er  mischte  die  Einzelnen;  erstarrte  sie  und 
brachte  sie  von  den  unkörperlichen  Leidenschaften  zur 
Vnkörperlichen  Materie.  Er  gab  ihr  eine  solche  Eigen- 
schaft und  Natur,  daß  sie  zu  einfachen  und  zusammen- 
gestellten Körpern  wurden.  Dadurch  entstanden  zwei 
Substanzen,  die  erste  böse  aus  den  Leidenschaften,  die 
zweite  aber  leidenschaftlich  aus  der  Sehnsucht.  Und 
darum  nennt  man  den  Erlöser  den  Schöpfer.  Achamoth 
aber  von  ihren  Leiden  befreit,  und  in  Freude  vor  dem 
Anblick  der  Lichte,  die  mit  ihm  waren,  vor  den  Engeln 
versunken  und  sich  sehnsuchtsvoll  nach  ihnen  sehnend 
gebar  Früchte  nach  deren  Bilde  —  eine  geistige  Ent- 
bindung nach  dem  Bilde  der  Leibwache  des  Erlösers.76) 

So  ward  aus  der  Leidenschaft  die  Substanz  der 
Materie,  aus  der  Sehnsucht  die  Substanz  der  Psyche  und 
Achamoth  gebar  selber  die  Substanz  der  Geister,  die  sie 
nach  ihrem  Bilde  geformt  hatte. 

Aus  der  Psychischen  Substanz  bildete  sie  den  Vater 
und  den  König  von  Allen,  die  ihm  gleich  sind  d.  h. 
die  Psychischen,  welche  man  die  Rechtsseitigen  nennt 
und  jene,  welche  aus  der  Materie  oder  aus  der 
Leidenschaft  erzeugt  wurden,  welche  man  die  Linksseitigen 
nennt.  Und  dieser  hat  Alles,  was  nach  ihm  kam,  von 
seiner  Mutter  bewogen  (was  ihm  unbewußt  blieb),  gemacht. 

™)  LXXXIH. 


—    775    — 


Darum  nennt  man  ihm  Metropator  77)  und  Apator  uad 
Demiurg  (Schöpfer)  und  Vater. 

Seine  Mutter  wollte  aber  alles  zur  Ehre  der  Aeonen 
machen,  oder  besser:  der  Erlöser  wollte  durch  die  Mutter 
des  Demiurgen  Alles  schöpfen,  und  somit  war  durch  den 
Erlöser  in  ihr  etwas  von  dem  Bilde  des  unsichtbaren 
Vaters  zurückgeblieben,  das  dem  Demiurgen  unbekannt 
war.  Dieser  wurde  im  Bilde  des  Sohnes  des  Monogenes 
geschaffen,  die  Erzengel  und  die  Engel  aber,  die  durch 
ihn  gemacht  werden,  wurden  nach  dem  Bilde  der  anderen 
Aeonen  geschaffen.  Dieser  Demiurg  tritt  dann  im  System 
weiter  auf  als  der  jüdische  Jehovah  des  alten  Testaments. 
Dieser  aber  kennt  nicht  die  göttliche  Geistesnatur  des 
Menschen,  welche  durch  seine  Mutter  heimlich  hinein 
gebracht  worden  war,  und  als  er  dann  sah,  daß  der 
Mensch  —  Adam  —  ihm  gleich  geworden  sei,  stieß  er 
ihn  aus  dem  Paradies.  — 

Aber  einst  wird  die  Erlösung  kommen,  und  diese  malen 
die  Valentinianer  folgenderniasen  aus: 

Die  Valentinianer  lehrten,  daß  man  sich  auf  das 
Mysterium  der  Syzygia  (göttliche,  hier  Aeonische,  Be- 
gattung) legen  muß.  —  Nicht  daß  die  Tat  ins  Pleroma 
führen  werde,  aber  der  Samen,  der  nur  schwach  aus- 
gestoßen wird,  wird  dort  vollkommen  werden.78)  „Wenn 
aber  all  der  Samen  vollkommen  geworden  ist,  dann  wird 


77)  Was  soll  dieses  heißen?  Der  Großvater  von  Mutterseite? 
Dies  würde  aber  ein  Unsinn  sein;  wir  glauben  daher  mit  dem  alten 
Übersetzer  [LIII S.  60c]  daß  gemeint  ist :  Vater-Mutter.  [Metropator  id 
est:  mater  et  pater.]  Auch  Stephanos  stellt  diese  Übersetzung  als 
möglich  hin. 

78)  Lib.  1.,  c.  6,  4.)  ex  TtavTog  tqotiov  delv  avrovg 
ael  to  rrjg  dvtvyiag  iieXexäv  fivtfrrjQtov. 

Ov  yäq  Ttqä^tg  lg  IlXtjQWfia  eladyei,  älla  to 

GTteQiia  to  exel&ev  vrjTtiov^fiev  €X7tefi7t6fA6vov,jev&a  de  reXet- 

OVfJLBVOV. 


—    776    — 

Achamotb,  unsere  Mutter,  aus  dem  Orte  der  Mitten79) 
herauskommen  und  eintreten  ins  Pleroma,  und  empfangen 
ihren  Bräutigam,  den  Soter  (Erlöser),  welcher  aus  Allen 
geworden  ist,  damit  die  göttliche  Begabung  des  Erlösers 
und  der  Sophia,  Achamoth  geschehe.  Diese  sind  dann 
Bräutigam  und  Braut,  und  das  ganze  Pleroma  ist  die 
Brautkammer.*80)     (Man  sehe  Tabelle  I.) 

Wir  glauben,  daß  in  der  Angabe  des  Irenaeus  die 
folgende  Änderung  aus  Epiphanius  anzubringen  sind: 
aus  der  Zusammenfügung  der  Aeonen  aus  Logos  und 
Zoe  entstehen:  der  Antophyes  soll  vereinigt  werden  mit 
Synkrasis,  und  der  Akinetos  mit  der  Hedone ;  statt 
Makaria  soll  geschrieben  werden  Henotes.  —  Dann  aber 
wollen  wir  noch  eine  Conjectur  machen,  nl.  daß  man 
statt  evcoäig  (Henosis)  lesen  soll  evoaig.  —  Der  ursprüng- 
liche Name  ist  nicht  zu  übersetzen,  machen  wir  aber 
diese  Änderung,  so  ist  dieses  Paar  ganz  in  Überein- 
stimmung mit  den  Andern,  von  denselben  Aeoneneltern 
erzeugt.  Denn  in  diesen  Zehn  sind  immer  paarweise 
zwei  Antithesen  ausgedrückt,  welche  zusammengefügt, 
eine  Harmonie  bilden  oder  besser  gesagt,  sich  aufheben. 

—  Diese  Zehn  sind  erzeugt  von  Logos  und  Zoe,  durch 
das  Wort  und  das  Leben    —    zusammen    das   Abstrakte 

—  gegenüber,    wie    wir     weiter    unten    sehen     werden, 


70)  Denn  sie  war  zwischen  der  Erde  und  dem  höheren  Aeoni- 
schen  Himmel  aber  dennoch  höher  als  der  Demiurg  [LXXXVIII  lib. 
I  c.  5.  3]. 

80)  "Orav  de  nav  xo  cneqiia  TeXetto&fj,  tyjV  fiev 
yA%aixwÜ  rrjv  firjTSQa  avTtov  [ißTaßrjvcu  ex  tov  T07tov 
leyovöi,  xal  evvog  nlrjQcofiaTog  elael&elv,  xal  aTtokaßelv 
tov  vvfiifcov  avTrjg  tov  2wTfjga9  tov  ex  itdvTiov  yeyovoTa, 
Xva  övtvyta  yevrjTai  tov  ItoTrjQog  xal  Trfi  loopiag  Trfi 
'AxaiiLoü.  Kai  tovto  elvai  vv/xoptov  xal  vvfioprjv  vvfi(ftova 
de  to  Ttäv  nXrgwfia. 


Die  Übersetzung  der  Aeonen-Namen  geben  wir  hier.     Wir  fü 
Übersetzungen  (L  III.)  bei  und  weiters  noch  die  Conjecturen,  welch 


Irenaeas. 

Epiphanias. 

Ursprünglicher  Name  bei 
Epiphanius. 

/Bythos 
\Sige,  Ennoia 

II  /N°US 
1Lm  \Aletheia 

„  '/Sagos 

/Bythius 

Ampsiu 

Aurana 

Butua 

Obukua 

Thargum 

Thardadaie 

Bnkiatha 

(Mixis 

/Ageratos 

\Henosis 

Saddaria 
Damadan 
Oren 

fAuthophyes 

fAutophyes 

Lanaphechudaplech 

(.Hedone 

/Akinetos 

\Synkrasis 

/Monogenes 

(Makaria 

[Synkrasis 

/Akinetos 

(Hedone 

/Monogenes 

\Henotes 

Emphibokebua 

Laxariche 

Masemon 

Amuache 

Belimah 

jAnthropos 
1V  |Ekklesia 

Merexa 
Atarbaba 

/Parakletos 
\Pistis 
/Patikros 
\Elpis 

Uruah 
Resten 
üdud 
Eua 

jMetrikos 
lAgape 

Esslen 
Amphe 

LAeinous 
JSynesis 

Essumed 
Uananim 

/Ekklesiastious 
\Makariotes 
/Theletos 
\Sophia 

/Ekklesiasticus 
^Sophia 

fTheletos  (Phoos) 
jMakariotes 

'Athames 

Ubinah 

Lamer  oder  Allora 

Thardes 

Namen  wie  dieselbe  bei  Epiphanius  vorkommen,   mit  seinen 
•  (CXII,  B.  II  S.  83  Not.  2)  darüber  anstellt: 


tation  aus  Matter  zitiert,  nach 
Anordnung  bei  Epiphanius. 


iu  =  substantia 

it  =  socia,  sige 

atohu  =  vacuum  et  inane 

3ach  =  et  est  in  ea  vis 

i  =  interpretatio 

chajjah  =  occupatio  vitae. 

atthah  =  tu  es  aperiens  te 


jah  =  Ordo  Dei 
Adon  =  similis  est  Deo 


a-udahhak  =  sibi  ipsi  prodiit 
impellente 

h  =  non  eversus 

aechah  =  voluptate  afficiens 

jhad  =  f actus  unicus 

h  =  causa  primaria  (Monas) 

)z  =  de  terra  sumptus 

bah    =    Art     des    Augapfels 

>s,  Kirche 

5h  =  hie  est  Spiritus 

laetchen  —  arcus  gratiae= Glaube 

=  hie  est  dilectus 

=  expeetare 

)en  =  pertinet  ad  matrem 

m  =  mater  oris  oder  was  das 

eingibt  =  Liebe 
i  meaed  =  hie  est  ab  aeterno 
anin  =  et  qui  oecupat  (intelle- 
im) 

isch  =  perfectus  vir 
=  et  sapientia 

=  Dens  luminis 
oi  =  quod  offert  unde  quis  ipse 
lufficiat 


Kurze    Übersetzung    der    Namen    bei 
Irenaeus  und  (einige)  Epiphanius. 


Tiefe,  das  Unbekannte. 

Stille,  Gedanke,  Begriff,  Bekannte. 

Geist. 

Wahrheit. 

Wort,  Auffassung. 

Leben. 

Was-in-der-Tiefe  (Bythos)  ist.  —  Das 
Ungemischte,  Reine,  das  Einzelne  — 
auch  ungeordnete,  chaos.  — 

Mischung  —  die  Ordnung  Gottes. 

Unvergänglich. 

evcüotg  =  Vereinigung;  evoaig  =  Er- 
schütterung (?) 

Aus-sich-selber-entstehend. 

Was-Genuß-gibt.  —  Wollüstig. 

Unbeweglich. 

Das  sich-mit-einander  vereinigen. 

Der  Eingeborene. 

Glückseligkeit  —  Epiphanius  =  Einheit 

(Monas). 
Mensch. 
Kirche. 

Tröster.  —  Geist.    Heil.    Geist. 

Glaube.  —  Treue. 

dem-Vater-ähnlich. 

Hoffnung.  —  das    Erwarten,  —   aber 

auch:  voller  Sorgen  sein, 
der  Mutter  ähnlich. 
Liebe. 


das  Ewige-fließende. 
das  Bewustsein. 

der  zu  der  Kirehe  gehört. 
Glückseligkeit.  —  Der  selbstgenl 
der  Wollende  —  das  Licht. 
Weisheit. 


Tabelle  I  zu  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen  V  Seite  776. 


Die  Übersetzung 
Übersetzungen  (L  III. 

Irenaeus. 


IL 


III 


fBythos 

)Sige,  Ennoia 

JNous 

(Aletheia 

?Sogos 

\Zoe 

/Bythius 


(Mixis 

{Agerato^ 
Henosis 

fAuthoi 

[Hedoi 

jAkin 
\Synl. 
/Mor 

)Ma;- 


IV 


{Antbn 
Ekklt- 

r 


—     777 


mcreten;  Mensch-und-Kirche  — ,  denn  das  Wort, 

ffassung,    Interpretation    ist   die    Speeulation,  das 

aber  die  Realität  in  abstracto.     Und  diese  Beiden 

lann    wieder    erweckt    durch    den    Geist-und-die- 

leit.     Aber    auch    wie    diese    der    Mensch- und-die 

:  das  Concrete.     In  den  Namen  der  Aeonenj  welche 

I  is  entstehen,  glauben  wir  die  Ordnung  des  Irenaeus 

halten    zn  müssen,    nur    für  Theletes    möchten    wir 

sagen :  Phoos,  das  Licht     In  diesen  Zwölfen  finden 

dann    immer:    —   Ein  Aeon    mit  seiner  Haupteigen- 

ft  als  Genosse  oder  das  Symbol  verbunden  mit  dem 

riffe.     Wir    setzen    hier    nochmals    die  Aeunen,    wie 

sie  begreifen,  zusammen,    damit  jedem    die    Einheit- 

ikeit  unsrer  Auffassung  deutlich  werden  kann. 

Das  Unbekannte   und  das  Bekannte. 


Geist  und   Wahrheit 


Yo  rt    { A  uff aa  aitng)-  und -Le  b  en 

i  nz  ein-  Miischuug";llnvergäii^lic  b  - 
Irsohüttert  (also  Vergänglich) ; 
Yua-si  eh-solb  er-onta  tobend  (un  d- 
n-sieh-äelber-besteheDd)  —  sich 
mit  einander  vereinigen;  Un- 
beweglich (Starr)  —  Sehr  be- 
weglich ( Wo  Ulla t ig) ;  das  Ein  als 
Gefolge,  —  das  Ein  als  Ursache; 


Mensc  h-  und-K  i  rc  h  e . 

IL  G e ist  (Symbol  der)  Glaube; 
der  Vate  rliche  (Symbol  der) 
Sorgsamkeit,  die  Mitttor 
(Symbol  der)  Liebe;  —  das 
Ewig-flieJiende  (Symbol  des) 
Bewußtseins;  der  zu  der 
Kirche  gehört  (Priester) 
(Symbol  der)  Glückseligkeit; 
das  Licht  (Symbol  der) 
Weisheit 

Auch  mit  den  weiteren  Ausführungen    stimmt    diese 
Auffassung:  denn  die  Weisheit    wollte    das    Unbekannte; 
Uukcnnbare,  kennen;    da    ward    ihr    der  Horus,  die 
enzuug,  geschickt:    und    dieser   brachte    die  niedere 
Bit,  d.  h,  die  Weisheit  von    dem  Erkennbaren,    die 
le     Weisheit     dar.     —     Aber    d&q    Universum 
rar   in   Disharmonie    und    so    emanierten    aus 
-Ennoia,    durch     den     Geist,    Christos-und- 


—    778    — 

Pneuma,  die  beiden  Mittler,  der  concrete  und  der  ab- 
stracte  Mittler,81)  wodurch  die  Harmonie  zu  Stande  kam. 
Jesus  war  ihr  Symbol,  das  aus  dem  Abstracten  und  dem 
Concreten,  der  Verbindung  zwischen  Beiden  entstanden 
war.  Die  niedere  (menschliche)  Weisheit  machte  sich 
dann  zum  Schöpfer  der  Erde  (Demiourgos,  Jaldabaoth, 
Jehovah)  —  aber  wie  die  menschliche  Weisheit  unvoll- 
kommen ist,  so  ist  es  auch  ihre  Schöpfung:  der  Schöpfer, 
obwohl  dieser,  wie  die  menschliche  Weisheit  selber,  ver- 
meint allwissend  zu  sein.  Aber  wie  allwissend  sich  auch 
jemand  dünke,  so  kommt  doch  immer  und  immer  wieder 
zum  Bewußtsein,  daß  es  eine  höhere  Weisheit  geben 
muß,  und  dieser  Gedanke,  als  Zusammenfassung  der  ab- 
soluten Realität,  d.  h.  des  Abstrakten  und  des  Concreten, 
ist  symbolisch  durch  Jesus,  der  warnt,  daß  die  Mensch- 
heit nicht  allwissend  sein  kann,  und  darum  durch  den 
sich  Allwissend-wähnenden  hingerichtet  wird.  —  Aber 
am  Ende  der  Zeiten  wird  die  menschliche  Weisheit  be- 
greifen, daß  sie  nur  durch  Jesus,  d.  h.  durch  den  das 
Abstrakte  und  das  Concrete  in  sich  vereinigt  habenden 
zur  Vollkommenheit  kommen  kann:  dann  vollzieht  sich 
die  Hochzeit  des  Jesus  mit  der  Sophia. 

Was  uns  gerade  in  diesem  System,  das  an  und  für 
sich  schon  sehr  interessant  ist,  aufgefallen  ist,  das  ist  das 
Verständnis  für  die  hohe  Bedeutung  der  Sexualität,  wenn 
auch  die  vielleicht  zu  drastische  Ausübung  im  materiellen 
Leben  für  heutzutage  lebende  Menschen  zu  weit  geht. 

Wir  wollen  noch  kurz  aus  einigen  anderen  Systemen 
die  mannweiblichen  Symbole  anführen. 


81)  Man  merke  sich  wohl:  erst  ist  emaniert:  das  Abstrakte,  dann 
das  Concrete;  diese  sind  in  Disharmonie,  dann  emanieren  sich 
zwei  Aeonen,  von  denen  der  erste  das  Concrete  ist,  und  der  zweite 
das  Abstrakte,  womit  das  Concrete  das  Abstrakte  ,  das  Abstrakte 
das  Concrete  ordnete. 


—    779 


Li 


Unter  den  Valentinianern  gab  es  wieder  Sekten,  so 
z.  B.  jene,  welche  den  Bythos  weder  männlich  noch  weiblich 
auffaßten,  andere  sagten,  daß  er  männlich  und  weiblich 
war,  und  gaben  ihm  das  Geschlecht  des  Hermaphroditen,82) 
wie  dies  auch  die  wahren  Valentinianer  taten. 

In  Systemen  anderer  gnostischer  Sekten  haben  wir 
folgende  Ansichten: 

Als  erstes  Prinzipium  der  Bythos,  das  glückselige 
reine;  unendliche  Licht;  ihn  nennen  sie  Vater  von 
Allen,  und  ersten  Mensch.  Und  aus  ihm  kam  hervor 
Ennoia,  die  wieder  einen  Sohn  gebar,  den  Sohn  des 
Menschen,  den  Zweiten  Mensch.  Und  unter  diesen  aber 
war  der  heilige  Geist,  und  unter  diesen  höheren  Geist, 
die  geteilten  Elemente,  das  Wasser,  die  Finsternis,  die 
unermeßliche  Tiefe,  Chaos,  und  über  diesem  schwebte 
der  Geist,  welchen  sie  die  erste  Frau  nannten.  Dann 
aber  jauchzte  der  erste  Mensch  mit  seinem  Sohn  über 
die  Schönheit  des  Geistes,  d.  h.  der  Frau,  und  sie 
erleuchtend,  erzeugte  er  aus  ihr  das  unantastbare  Licht 
des  Dritten  Menschen,  den  man  Christus  nennt  den  Sohn 
des  Ersten  und  Zweiten  Menschen  und  des  Heiligen 
Geistes,  der  Ersten  Frau.  Als  aber  der  Vater  und  der 
Sohn  die  Frau  schwängerten,  die  man  die  Mutter  der 
Lebenden  nennt,  konnte  sie  die  Größe  dieses  Lichtes  weder 
ertragen  noch  umfassen,  sie  war  überfüllt  und  aus  ihrer 
linken  Seite  quoll  es  mächtig  hervor:  aus  ihrer  rechten 
aber  kam  der  Sohn  von  Beiden,  Christus,  hervor,  der, 
in  die  Höhe  geführt,  mit  seiner  Mutter  unmittelbar  in 
dem  unantastbaren  Aeon  gezogen  ward.  Dieser  aber  ist 
die  wahre  und  heilige  Kirche,  welche  war  die  Benennung 


82)  Ol  fxev  ydq  alrov  äKvyov  leyovtii,  ^tjt6  aqqeva, 
lir\re  frrjXeiav,  fxijre  oXcug  tu  "AXXoi  de  aQQevofrrjXvv  av~ 
rov  Xeyovöiv  elvai,  eQfiatpQodirov  (pvtov  amm  TtegtaTtrovreg 
(LXXXVIII  lib.  I  c.  11,  5.) 


—    780    — 

und  die  Zusammenkunft  und  die  Einswerdung  des  Allvaters, 
des  Ersten  Menschen,  und  des  Sohns,  des  Zweiten  Menschen, 
und  des  Christus,  der  Sohn  von  Beiden  und  dieser  Frau. 
Die  Kraft  aber,  welche  aus  der  Frau  emporquoll,  und 
welche  die  Befeuchtung  des  Lichtes  ist,  ward  durch  die  Väter 
mit  ihrem  Willen  abgeschnitten.  Diese  nennen  sie  Sinistra 
(Linke)  oder  Prunikus  oder  Sophia,  oder  Mannweib.83) 

Diese  Sophia  erweckt  dann  wieder  einen  Sohn,  den 
Jaldabaoth.  Dieser  ist  der  Jehovah  des  Alten  Testaments, 
der  aber  in  diesem  System  den  irdischen  Mensch  aus 
Übermut  schuf.  Seine  Mutter,  die  Sophia  schickte,  um 
diesen  Menschen  zu  retten,  die  Schlange  ins  Paradies. 
Später,  als  sie  das  Elend  der  Welt  sah,  bat  ihre 
Mutter  ihren  Bruder,  Christos,  zu  schicken,  und  die 
Menschheit  zu  erlösen.  Er  kam  und  vereinigte  sich  mit 
ihr,  und  ließ  sich  in  einen  irdischen  Körper,  den  Jesus, 
nieder  —  und  so  wurde  es  im  System  begreiflich,  wie 
Jesus  gekreuzigt  werden  konnte,  denn  er  wollte  die 
Menschen    aus  der    Macht  Jaldabaoth's  erretten.  — 

Wir  glauben  aber,  daß  die  aus  sich  selber  erzeugende 
Figur  in  diesem  System^  wenn  es  durch  den  Irenaeus 
vollständig  beschrieben  wurde,  auch  androgynisch  dar- 
gestellt worden  ist. 

Als  letztes  Beispiel  dieser  Gnostischen  Androgyne 
wollen  wir   das  System  Simons,    des  Magiers,   schildern: 

Origenes  (CXXVIII,  VI,  18,  58—90)  schreibt: 
„Euch  sage  ich  also,  was  ich  sage,  und  schreibe  was  ich 
schreibe.  Meine  Schrift  aber  lautet:  Zwei  Auswüchse 
gibt  es  von  allen  Aeonen,  ohne  Anfang  und  ohne  Ende, 
aus  einer  Wurzel,  welche  ist  die  Macht:  Still,  unsichtbar, 
unkennbar.  Von  diesen  aber  erscheint  der  Eine  von 
oben,  und  dieser  ist  eine  große  Kraft,  der  Geist  von 
Allem,  Alles  lenkend,  männlich;  der  Andere  aber,  von 
unten,    der    große   Gedanke,    weiblich,    Alles    gebärend. 

88)  LXXXVni  1.  I  c.  30,  1—2-3. 


—    781    — 


l; 


Und  sich  begegnend  begatteten  sie  sich,  und  brachten 
hervor  den  Mitte-Raum,  die  unkennbare  Luft,  ohne  Anfang 
und  ohne  Ende.  In  dieser  ist  der  Vater,  der  Alles 
unterstützt  und  nährt,  was  Anfang  und  Ende  hat.  Und, 
dieser  ist  Wer  war,  ist  und  sein  wird,  eine  mann-weibliche 
Kraft,  wie  die  von  Anfang  an  bestehende  Kraft,  welche 
unendlich  ist,  ohne  Anfang  und  ohne  Ende,  seiend  Eines. 
Von  dieser  aber  hinaustretend  wird  der  Gedanke,  welcher 
in  der  Einheit  war,  zwei.  Er  war  aber  Eines;  in  sich 
ihn  habend  war  er  allein,  aber  nicht  der  Erste,  obwohl 
Er  vom  Anfang  an  bestand,  erst  als  Er  sich  an  sich 
selber  zeigte,  ward  er  der  Zweite.  Und  nicht  ward 
Er  Vater  genannt,  bevor  der  Gedanke  ihn  Vater  nannte. 

Als  Er  sich  selber  durch  sich  selber  erzeugte,  zeigte 
Er  sich  seinen  eignen  Gedanken,  so  auch  machte  der 
erschienene  Gedanke  Ihn  nicht,  aber  Ihn  sehend,  hüllte 
der  Gedanke  den  Vater  in  sich,  die  Kraft,  und  er  ist 
mann  weiblich,  Kraft  und  Gedanke;  darum  begegneten 
sie  sich,  denn  Kraft  und  Gedanke  sind  in  nichts  ver- 
schieden, da  sie  eines  sind.  Aus  dem  Höheren  wird  die 
Kraft,  aus  dem  Unteren  der  Gedanke  gefunden.  Und  so 
kommt  es,  daß  Was,  von  ihnen  gezeigt  wird,  Eines  seiend 
für  Zwei  gehalten  wird,  denn  es  ist  mann  weiblich,  das 
weibliche  in  sich  habend. 

So  ist  auch  der  Geist  in  dem  Gedanken  nicht  von 
einander  getrennt,  sie  sind  Eins,  aber  Sie  werden  für 
Zwei  gehalten. 

So  soll  Simon  der  Magier  selber  geschrieben  haben 
in  seiner  Apophasis  (Verkündigung). 

Wir  haben  die  ganze  Stelle  wieder  aus  dem 
Griechischen  übersetzt,  weil  wir  meinen,  daß  hier  deutlich 
gesagt  wird,  was  man  in  abstracto  bei  diesen  Worten 
männlich,  weiblich  und  mann-weiblich  denken  soll,  und  wir 
bitten  dringlichst  bei  der  Lesung  unserer  weiteren  Aus- 
führungen immer  zu  denken,    daß    man    nur,    wenn  man 


—    782    — 

die  absolut  abstrakten  Begriffe  in  körperliche  Symbole 
übersetzt,  von  Androgynischem  reden  darf,  d.  h.  daß 
die  Symbole  so  genannt  werden  können,  nicht  aber  der 
Mensch,  welcher  der  Träger  dieser  Symbole  war,  also 
körperlich  androgynisch  war. 

Wir  schließen  hiermit  die  Auseinandersetzung  der 
Gnostischen  Systeme  ab. 

Aber  war  denn  in  der  Schrift  d.  h.  in  der  kanoni- 
schen Bibel  etwas,  das  den  Grund  für  diese  Philosophie 
in  sich  trug? 

Auch  in  der  Bibel,  im  N.  Testament,  sind  sehr  viele 
Stellen,  welche  man  wirklich,  wenn  uns  einmal  die  Über- 
setzung der  abstrakten  Begriffe  durch  körperliche  Symbole 
geläufig  geworden  ist,  in  diesem  selben  Lichte  erblicken 
kann.  — 

Erst  wollen  wir  aber  einige  Citate  von  Synesius, 
dem  Bischof  von  Cyrene,  anführen,  der  kein  Haeretiker 
war,  sondern  der  orthodoxen  Kirche  angehörte. 

In  seiner  zweiten  Hymne,  die  er  an  Gott  singt,  lesen 

wir  (CLXXVII): 

v.  59 — 67.  Alles  hängt  an  deinem  Ratschluß:  Du 
bist  Wurzel  von  Allen,  die  sind,  und  denen,  die  sein 
werden,  und  denen  die  sind!  Du  bist  Vater,  bist  Mutter 
du  Mann,  du  Frau !  Du  Stimme,  du  Stille !  Fruchtbare 
Natur  der  Natur,    du,  König,   Ewigkeit    der  Ewigkeit.84) 

8*)   Td  de  Ttdvxa  aelo  ßovXäg 
"E%£rac  av  ö'hal  gltß 
naqsovTioVy  tvqot    eovrwv, 
MereovrcoVy  eveovrtov. 
Ev  jtarfjQ,  av  d'elöl  fiar^Q' 
Ev  <T  aQQrjv,  <sv  de  &rjlvg* 
Ev  de  <p<x)vä  <fv  de  tsiyd" 
(bvtieiog  (pvtfig  yovtooa. 
Ev  ä'  aval;,  aiwvog  alwv. 


—    783    — 


In  seiner  dritten  Hymne  finden  wir  noch  mehrere 
sehr  deutliche  Stellen,  auch  in  Beziehung  zu  der  gnosti- 
schen  Auffassung,  aber  sagt  Marruettus  (LXXXVIII 
Bd.  I,  S.  92):  sensu  quidem  catholico,  et  ab  haereticorum 
somniis  procul  dissito. 

V.  145 — 150.  Aller  Vater  Vater,  Vater  von  dir 
selber,  Vor-den- Vater,  Ohne- Vater,  Sohn  von  dir  selber, 
Einheit  eher  als  die  Einheit,  Samen  von  dem  was  ist.85) 

V.  161 — 162.  Vater  der  Ewigkeiten,  Leben  der 
Ewigkeiten.86) 

V.  180—189.  Ein  und  All,  Ein  von  Allen,  und  Ein 
vor  Allen,  Samen  von  Allen,  Wurzel  und  Zweig,  Natur, 
in  den  Vernünftigen,  weiblich  und  männlich.  Mystischer 
Geist  der  dies   und   das  sagt,    unaussprechbare  Tiefe.87) 

Und  aus  Hymnus  Quartus: 


8ö)  IlaTEQcov  navTcov 
ndreQy  amondxwq 
nQondrwQ,  ändTWQ, 
€Yie  öeavTov. 
*Ev  svog  nqüTSQov* 

86)  AlwvoToxe 
Alwvoßie. 

87)  "Ev  xal  ndvxa, 
cEv  <T  (XTtavroov 
27teQfia  tcov  7idvr(ov, 
P££a  xal  oqjta^ 
(Dvöig  ev  vo-eqoZg 
OrjXv  xal  äggev. 
Mfaiag  de  voog 

Ta  TB  xal  xa  Xeyet, 
Bv&ov  aqqriTov. 


—    784    —  ' 

V.  142 — 144.  Samen  von  Allen,  Samen  von  Allen 
hat  dich  gesät.88) 

Es  wird  wohl  nicht  nötig  sein,  mit  Nachdruck  auf 
die  Übereinstimmung  hinzuweisen,  welche  die  griechischen 
Wörter  mit  den  in  den  verschiedenen  gnostischen  Syste- 
men gebräuchlichen  zeigen;  die  Begriffe  stimmen  ebenso 
überein. 

In  den  Briefen  des  Apostels  Paulus  an  die  Epheser 
lesen  wir  (CLXXX  c.  5,  V.  22—33): 

„Ihr  Weiber,  seid  euren  Männern  untertänig,  wie 
dem  Herrn,  denn  der  Mann  ist  das  Haupt  des  Weibes, 
wie  Christos  das  Haupt  der  Kirche,  und  Er  ist  der  Retter 
des  Körpers  ....  Ihr  Männer,  liebt  eure  Weiber,  wie 
auch  Christos  die  Kirche  geliebt  hat,  und  sich  selber 
für  sie  hingegeben  hat  .... 

So  müssen  auch  die  Männer  ihre  Weiber  lieben,  wie 
ihre  eignen  Körper.  Wer  sein  Weib  liebt,  liebt  sich 
selber.  Niemand  noch  haßte  sein  eigen  Fleisch,  sondern  er 
nährt  und  pflegt  es,  wie  Christos  die  Kirche.  Denn  wir 
sind  Teile  Seines  Körpers  von  Seinem  Fleisch,  von  Seinem 
Bein.  Darum  wird  der  Mensch  seinen  Vater  und  seine 
Mutter  verlassen  und  seinemWeibe  anhängen,  und  diese  beide 
sollen  im  Fleische  Eins  sein.  Dieses  Mysterium  ist  groß; 
aber  ich  sage  es  in  Beziehung  auf  Christos  und  die  Kirche/ 

Und  in  dem  1.  Briefe  an  die  Corinther  C.  3,  V.  16 
heißt  es :  Wißt  ihr  nicht,  daß  ihr  die  Tempel  Gottes  seid? 
und  V.  17:  Die  Tempel  Gottes,  die  ihr  seid,  sind  heilig. 
Und  im  selben  Briefe  C.  12,  V.  27:  Ihr  seid  der  Körper 
Christi  und  jeder  für  sich  ist  ein  Glied. 

Finden  wir  hier  nicht  die  selbe  Bildersprache.  Von 
den  alten  Kirchenvätern  der  Orthodoxie,  wie  auch  später 

88)  UniQfxa  twv  novxuav 
ZjieQfid  ae  Ttdvvmv 
*E(mä()[iijV£. 


785    — 


noch  vou  Anderen  wurden  die  selben  Symbole  gebraucht 
und  angenommen,  und  die  Kirche  erhielt  diese  Tradition. 

Christos  war  der  Bräutigam,  die  Kirche  die  Braut, 
und  sie  war  wirklich  als  Weib  gedacht. 

Wie  Eva  aus  der  Seite  Adams  gemacht  war,  so  ent- 
stand die  Kirche  aus  Christos  Geiste,  als  er  am  Kreuze  hing. 

Wir  citieren  aus  der  Einleitung  der  Biblia  Pauperum 
(XXa)  bei  der  Beschreibung  des  XXIVten  Bildes. 

„Die  Eröffnung  der  Seite  Christi  vor  der  Kreuz- 
abnahme ist  den  Vätern  der  Augenblick  des  Werdens 
der  Kirche,  der  Braut  Christi  und  der  Sacramente,  wie 
Eva  die  Mutter  der  Lebendigen,  aus  Adam  hervorging. 
So  sagte  Augustinus  (Tract.  120  in  Joann):  Propter  hoc 
prima  mulier  facta  est  de  latere  viri  dormentis  et  apellata 
est  vita  materque  vivorum.  Magnum  quippe  significavit 
bonum  ante  magnum  praevaricationis  malum.  Hie  seeun- 
dus  Adam  inclinato  capite  in  cruce  dormivit  ut  inde  for- 
maretur  ei  conjux  quae  de  latere  dormientis  efflux.89) 

„Wie  das  Officium  des  Festum  Corporis  Christi  uns 
schon  so  oft  geführt  hat,  so  auch  hier.  Innocenz  VI. 
(1352 — 62)  sagt  (in  Officio  de  Lancea  et  Clavis):  Illud 
celebriter  memorandum  est,  quod  ipse  Salvator  emisso 
in  cruce  jam  spiritu  sustinüit  perforari  lancea  latus  suum  ut 
inde  sanguinis  et  aquae  profluentibus  undis  formaretur  unica 
et  immaculata  ac  virgo  saneta  mater  Ecclesia  sponsa  sua.90) 


89)  Darum  war  das  erste  Weib  aus  der  Seite  des  schlafenden 
Mannes  gemacht,  und  ward  genannt  das  Leben  und  die  Mutter  der 
Lebenden,  was  bedeutet  das  große  Gut  vor  dem  großen  Übel  des 
Sündenfalles.  Dieser  zweite  Adam  schlief  mit  gebeugtem  Kopfe  am 
Kreuze,  damit  dort  seine  Gattin  hervorgebracht  würde,  welche  aus 
der  Seite  des  Schlafenden  ausströmte. 

90)  Daran  soll  feierlich  erinnert  werden,  daß  der  Erlöser  selber, 
als  Er  schon  am  Kreuze  den  Geist  aufgegeben  hat,  duldete,  daß 
seine  Seite  mit  einer  Lanze  durchbohrt  werde,  damit  aus  dem  heraus- 
strömenden Blute  und  Wasser  gebildet  würde  die  Einzige,  Unbefleckte, 
die  Magd,  die  heilige  Mutter  Kirche,  seine  Braut. 


i 


an,|lr\ffow*fl*r>  g>fr  y^yyxäytv 


Mu*eteiiev,T\öfrtt*  fcduan^m  ■- 


craog,  tut  äez.^ttg'/ylct'blugAja,  tmfc. 


Abb.  19. 


—    787    — 


„In  Bezug  auf  das  Hervorgehen  der  Kirche  aus  der 
Seitenwunde  Christi  belehrt  uns  der  Hymnus  ad  Matut. 
des  Offic.    de    corde   Jesus. 

Ex    corde  scisso  Ecclesia' 

Christo  jugata  nascitur 

Hoc  ostium  arcae  in  latere  est 

Genti  ad  salutem  positum. 

Ex  hoc  perennis  gratia 

Ceu  septiformis  fluvius 

Stolas  ut  ille  sordidas 

Lavemus  Agni  in  sanguine.91) 
„Wir  brauchen  kaum  die  Bemerkung  hinzuzufügen, 
daß  die  Kirche   bei  diesem  Officium    aufs  Strengste    der 
Tradition  folgte.14 

Wir  haben  hier  zwei  Bilder  aus  der  Biblia  Pauperum 
beigefügt,  in  welchen  aufs  deutlichste  sich  dokumentiert,  daß ' 
wirklich  die  aus  der  Seite  Adams  gebildete  Eva  mit  dem 
Gefolge  der  Seitenwunde  Christi  gleichgestellt  wird. 

Die  Abbildung  19  entstammt  der  Biblia  Pauperum, 
welche  in  der  Lyceumsbibliothek  zu  Constanz  sich  befindet 
(XXa,  Bild  XXIV}     Der  Text  lautet: 

„Femina  pma  viri  de  costa  cepit  oriri  (Das  erste 
Weib  nahmen  ihren  Ursprung  aus  der  Rippe  des  Mannes). 
Man  liese  in  dem  ersten  buche  Moysi:  du  Adam 
slif  du  nam  got  uz  ym  eyn  rip  un  machte  doruz  eyn 
wibiznam,  Adam  der  slofende  bedutet  Christum  der  do 
slummete  den  slof  dez  totiz  an  dem  Cruice  uz  dez  zite 
vloz  blut  un  wazzer  zu  eyme  zeichen  daz  wir  bekentn 
daz  alle  sacramenten  weren  gevlozzen  un  craft  entpangen 
betten  uz  der  ziten  Christi  an  dem  cruicze." 


ol)  Aus  dem  durchbohrten  Herzen  wird  die  Kirche,  die  Braut 
Christi,  geboren.  Diese  Öffnung  des  Leichnams  an  seiner  Seite  ist 
dem  Menschengeschlecht  zum  Heil  geworden.  Daraus  drang  hervor 
die  Ewige  Vergebung,  wie  ein  siebenfaltiger  Strom,  auf  daß  wir 
unsere  beschmutzten  Kleider  wüschen  in  des  Lammes  Blut. 

Jahrbuch  V.  50 


—    788    — 

Die  Abbildung  20  ist  auch  aus  XXa  reproduziert 
und  gibt  eine  Vorstellung  wieder,  welche  in  der  Biblia 
Pauperum  des  Stiftes  St.  Florian  vorkommt. 

In  der  Mitte  Christus  am  Kreuze,  dessen  Seite  durch- 
bohrt wird;  rechts  die  Erschaffung  Evas,  wobei  gerade 
interessant  ist,  daß  auf  diesem  Bilde  es  scheint,  als  sei 
die  Eva.  schon  vollständig  bestehend  und  werde  nur  von 
Adam  getrennt,  wie  es  mit  der  oben  gegebenen  Auffassung 
der  Juden  übereinstimmt.     Auf  dem  andern  Bilde  ist  es, 


Abb.  20. 

als  wenn  Eva  aus  dem  Bauche  des  Adams  heraustrete, 
was  übereinstimmen  würde  mit  einer  unten  folgenden 
Erzählung.  —  Links  ist  Moses  abgebildet,  wie  er  Wasser 
aus  dem  Felsen  schlägt,  denn  man  sagt,  daß  auch  dieses 
ein  Vorbild  für  das  Mysterium  der  Seitenwunde  Christi 
wäre,  und  dadurch  wird  gerade  das  Symbolische  dieser 
Auffassung  bewiesen. 

Daß  die  oben  citierte  Stelle  aus  dem  Briefe  Paulus 
an  die  Epheser  wirklich  aufgefaßt  war,  wie  wir  es  taten, 
wollen  wir  durch   einige  Citate   aus  XXXIIa   beweisen: 


—    789    — 


de  Dominica  XX  postFestum  SS.  Trinitatis.  S.  637. 
„[Gott  der  Vater]  machte  diese  Hochzeit  [seinem  Sohne], 
als  Er  Ihm  die  Braut  ohne  Runzeln,  die  Kirche,  verlobt 
hat.  Ihr  aber  sagt  die  Göttliche  Weisheit:  Ich  habe 
gesucht  mir  eine  Braut  zu  nehmen,  und  ich  bin  ein  Lieb- 
haber ihrer  Gestalt  geworden.  —  Diese  Hochzeit  wird 
gefeiert  in  der  Passion  Christi,  da  ihm,  am  Kreuze 
hängend,  seine  Seite  durch  die  Lanze  der  Soldaten  ge- 
öffnet wurde,  denn  wie  aus  der  Seite  des  schlafenden 
Adams  Eva  gebildet  war,  so  ist  aus  der  Seite  Christi, 
der  am  Kreuze  schlief,  die  Kirche  gebildet  worden.  Des- 
halb auch  sagt  der  Apostel:  Dieses  Sakrament  ist  groß, 
ich  aber  sage  es,  in  Beziehung  auf  Christus  und  die 
Kirche.92) a  Und  weiter  spricht  der  Orator  dann  über  die 
Hoheit  des  Bräutigams,  die  Schönheit  der  Braut  und  die 
Feierlichkeit  der  Hochzeit. 

In  einer  anderen  Oration  ebenfalls  de  Dominica 
XX  post  Festum  SS.  Trinitatis,  sagt  er  (S.  613):  Über 
Hochzeiten  ist  zu  bemerken,  daß  es  deren  drei  gibt: 
Fleischliche,  welche  sind  zwischen  Mann  und  Frau;  geist- 
liche, welche  sind  zwischen  Seele  und  Christus  und  "von 
welchen  die  evangelischen  Gleichnisse  reden;  himmlische, 
welche  in  dem  Himmel  geschlossen  werden.93) 


9a)  [l>eus  Pater]  fecit  nuptias  [filio  suo]  quando  sponsam  sine  ruga, 
Eoclesiam,  desponsavit.  De  qua  Divina  Sapientia  [8]  ait:  Quaesivi 
mihi  sponsam  assumere,  et  f actus  sum  amator  tormae  illius.  Hae 
quidem  nuptiae  faotae  sunt  in  passione  Christi  in  cruce  pendentis, 
quando  latus  suum  apertum  fuit  lancea  militis,  nam  sicut  de  latere 
Adae  dormientis  formata  est  Eva:  ito  de  latere  Christi  dormientis 
in  cruee  formata  est  Eeelesia,  et  Christo  coniuneta.  Unde  et 
Apostolus  [Ephes.  5].  Sacramentum  hoe  magnum  est,  ego  autem 
dico  In  Christo  et  in  Eeelesia.  — 

93)  De  nuptiis  hie  notandum,  quod  sint  triplices:  Carnales 
videlicet,  quae  fiunt  inter  virum  et  uxorem:  Spirituales,  quae 
fiunt  inter  animam  et  Christum,  de  quibus  et  Evangelica 
parabola  agit:  Coelestes,  quae  fiunt  in  Coelo. 

50* 


übersetzen : 


—    79Ö    — 

Verwandte  Auffassungen  finden  wir  auch  noch  bei 
Ambrosius  und  Origines.  — 

Bei  diesen  Kirchenvätern  wird  Jesus  allegorisch 
angerufen,  als  Scarabaeus,  und  Vermis.  Wir  geben  die 
ganze  Stelle  als  Note  unten  wieder,  wollen  aber  hier  was 
in    unmittelbarer     Beziehung     zu      dieser    Frage    steht 


„Er  hat  gerufen,  wie  der  Scarabaeus:  Gott,  mein 
Gott,  gedenke  meiner,  warum  hast  Du  mich  verlassen? 
Der  gute  Scarabaeus,  welcher  den  Schmutz  unseres 
Körpers ,  früher  mißgestaltet  und  kraftlos  durch  die  Kenn- 
zeichen seiner  Tugend  geändert  hat.  Der  gute  Scarabaeus, 
welcher  aus  dem  Kothe  den  Armen  aufrichtet.  Er  hat 
Paulus,  der  Christi  halber  geliebt  wird,  wie  Koth,  auf- 
gerichtet. Er  hat  Job,  der  im  Kothe  saß,  aufgerichtet94)" 
und  dann  Origines  in  Lucam  Homilia  XV  S.  948  b.  F.: 
„Ich  bin  ein  Wurm  und  kein  Mensch.  Aus  dem  Manne 
und  Weibe  jedoch  wird  der  Mensch  geboren,  ich  aber 
bin  weder  aus  einem  Manne  noch  aus  einem  Weibe  nach 
dem  menschlichen  Brauche  und  der  Natur  geboren, 
sondern  wie  der    Wurm,    welcher   aus    dem    Samen,    der 


94)  Ambrosius  IV  a  Comment.  Lib.  X.  Euang.  Luc.  Cap.  XXTIT 
S.  220  M.  &  S.  221  A.-B. 

Denique  licet  in  cruce  erat  Dominus  Jesus,  supra  cruceni  tarnen 
regis  maiestate  radiabat.  Vermis' in  cruce,  scarabaeus  in  cruce. 
Et  bonus  vermis,  qui  haesit  in  ligno,  Bonus  scarabaeus,  qui 
clamavit  e  ligno.  Quid  clamavit?  Sequitur:  Jesus  autem  dicebat, 
Pater  dimitte  Ulis:  non  enim  sciunt,  quid  faciimt. 

Pater,  dimitte  illis:  hoc  est,  ne  statuas  illis  peccatum.  Clamavit 
latroni,  Hodie  mecum  eris  in  paradiso.  Clamavit  quasi  scarabaeus, 
Dens,  Deus  meus  respice  in  me,  quare  me  dereJiquisti?  Et 
bonus  scarabaeus,  qui  latum  corporis  nostri  ante  informe  atque 
pigrum,  virtutum  versabat  vestigiis.  Bonus  scarabaeus,  qui  de 
stercore  eriget  pauperem.  Erexit  Paulum,  qui  propter  Christum 
aestimatus  est  ut  stercora.  Erexit  Job,  qui  sedebat  in  stercore. 
(Man  sehe  auch  de  Obit.  Theodosii  S.  123  L.) 


791 


nicht  von  einem  andern  Tiere,  sondern  in  und  aus  ihnen 
selber,  in  ihren  eigenen  Körpern,  entsteht.96) 

Diese  Auffassungen  beruhen  wohl  auf  einer  falschen 
Übersetzung  des  Habakuks  II,  11  durch  die  Septuaginta, 
oder  vielleicht  besser  durch  deren  lateinischen  Übersetzer, 
aber  dieselbe  gaben  doch  die  Überzeugung  dieser  Väter 
wieder.96) 

Wir  glauben,  daß  dieses  Alles  genügend  beweisend 
ist,  um,  wenn  wir  in  Körper-Symbolen  uns  plastisch  diese 
Allegorien  darstellen   wollen,   annehmen  zu   müssen,    daß 


0Ö)  Salvator  loquitur:  Ego  sum  veniiis  et  non  homo,  oppro- 
brium  hominum  et  objectio  plebis.  Videbat  in  matris  utero 
immunditiam  corporum,  visceribus  eius  hinc  inde  vallatus  terrenae 
aecis  patiebatur  angustias :  unde  assimilat  se  vermi,  et  dicit :  Ego 
sum  Vermis  et  non  homo.  Ex  mare  quippo  ao  foemina  homo 
nasci  solet :  ego  veri  non  ex  mascula  et  foemina  eecundum  ritum 
humanum  atque  naturam  sed  in  exemplis  vermis  natus  sinn,  cuius 
non  aliunde  semen,  sed  in  ipsis,  et  ex  ipsis  in  quibus  coalescit 
corporibus,  origo  est.  (CXXV1II.) 

oö)  Die  Stelle  in  Habakuk  lautet  (CLXXXII1). 

Jiozt  Xtäog  ex  %oiypv  ßotfaeTCU,  xai  xdvüaqoq  e£  %vXov 
(p&ey&Tai,  avrd. 

Kdv&aQog  ward  dann  übersetzt  durch  Scarabaaus  oder  vermis 
—  denn  man  soll  auch  tixooXrfe  in  einigen  Mannscripten  der  Septua- 
ginta gefunden  haben.  — 

Bei  Vitruvins  (CLXXXVI  libr.  IV  c.  2)  wird  aber  gefunden, 
daß  cantherius  Querbalken  bedeutete  und  scheint  es  uns  nicht 
unmöglich,  daß  es  ein  griechisches  Wort  xdv&ctQog  gegeben  hat, 
daß  auch  Querbalken  bezeichnet  hat.    Die  Stelle  des  Vitruv's  lautet: 

Ita  uti  ante  in  Doricis  triglyphoruin  et  rautulorum  est  inventa 
ratio,  item  in  Jonicis  denticulorum  constitutio  propriam  in  operibus 
habet  rationem:  et  quemadmodum  mutuli  cantheriorum  projecturae 
ferunt  imaginem,  sie  in  Jonicis  denticuli  ex  projecturae  ferunt 
inmaginem.  ltaque  in  graecis  operibus  nemo  sub  mutulo  denticulos 
constituit:  non  enim  possunt  subtus  cantherios  asseres  esse.  Quod 
ergo,  supera  cantherios  et  templa  in  veritate  debet  esse  collocatuin 
id  in  imaginibus  si  infra  constitutum  fuerit  mendosam  habebit 
operis  rationem. 


—    792    — 

auch  im  Christentum  die  Androgynische  Idee  deutlich 
ausgesprochen  wird,  und  hiermit  beweist  gerade  nach 
unserer  wahren  Überzeugung  die  katholische  Kirche  ihre 
tiefe  Erkenntnis  des  Lebens07).  Da,  wie  wir  schon  sahen, 
die  Idee  des  Christus  am  innigsten  mit  der  Vorstellung 
des  Adams  verknüpft  war,  wollen  wir  hier  die  christliche 
Auffassung  über  Adam  anführen. 

Wenn  wir  gesehen  haben,  daß  die  Juden  be- 
stimmt den  Adam  als  Androgyn  betrachteten,  so  haben 
dies  die  Christen  meistens  verworfen. 

So  sagt  S.  Augustinus:  Er  sagt,  männlich  und 
weiblich  schuf  Er  sie,  damit  man  nicht  meine,  daß  in 
einem  Menschen  die  beiden  Geschlechter  ausgedrückt 
wären,  wie  manchmal  Menschen  geboren  werden,  welche 
man  Androgynen  nennt.98) 

Franciscus  Georgius  aber  schreibt  in  dem  ersten 
Teil  seiner  Problemata,  (Cit.  CLXIX.  Bd.  II  S.  35)  daß 
der  Mensch  im  Anfange  Androgynisch  erschaffen  war, 
d.  h.  als  ein  Mensch,  in  dem  zwei  Körper;  nl.  männlich 
und  weiblich  am  ßücken  verbunden  waren.99) 

Strabus  verwirft  aber  diese  Auffassung.  (CLXIX 
1.  c):  Männlich  und  weiblich  schuf  Er  sie,  nicht  so,  daß 
Er  Adam  zuerst  mit  beiden  Geschlechtern  geschaffen 
und  gebildet  hätte,  wie  dumme  Juden  phantasieren, 
sondern    auf   daß    Er    das    Menschengeschlecht    in    zwei 

97)  Ausdrücklich  erklären  wir,  daß  der  Autor  nicht  der  katho- 
lischen Kirche  angehört,  sondern  einer  orthodox-prostestantischen 
Familie  entstammt. 

98)  Ne  quisquam  arbitraretur  ita  factum,  ut  in  nomine  singulari 
uterque  sexus  exprimeretur,  sicut  interdum  nascuntur,  quos  androgynos 
vooant.  (XII) 

")  Homo  ä  principio  geminus,  id  est  masculus  simul  et  foemina 
creatus  fuit;  fueruntque,  ut  Plato  docet,  in  eo  coniuncti  masculus 
et  foemina  per  dorsum  et  postea  secti,  ut  e  regione  coniungerentur 
ad  prolem  procreandem  et  in  hoc  Plato  edoctus  fuit  integerrimo 
philosophi  Mose. 


—    793    — 


Geschlechter    geschieden    hat,   und,   aus   zwei    Personen 
bestehend  wollte.100) 

Cornelius  a  Lapide  sagt  (XCVIII  Commentar  in 
Genes.  Kap.  I,  S  58  b.  C.  &  D.):  Neulich  hat  ein 
Neuerer  in  Frankreich  versichert,  daß  Adam  hermaphro- 
ditisch geschaffen  wurde  und  sowohl  männlich  als  weib- 
lich gewesen  ist.  So  meinte  auch  Piaton,  im  Symposium, 
daß  die  ersten  Menschen  androgynisch  gewesen  wären. 
Aber  diese  Auffassung  ist  sehr  blödsinnig,  denn  die 
Schrift  sagt:  er  schuf  nicht  ihn,  sondern  sie,  d.  h. 
Adam  und  Eva:  Adam  schuf  er  männlich,  Eva  aber 
weiblich.  Hieraus  zeigt  sich  deutlich,  daß  dieses  (d.  h. 
männlich  und  weiblich  schuf  er  sie)  nur  als  kurze  vor- 
läufige Mitteilung  gesagt  wird. 101)  Auch  verwirft  a  Lapide 
die  Auffassung  der  Juden  und  des  Franc.  Gcorgius, 
welche  wir  oben  mitgeteilt  haben. 

Und  weiter  unten  dann  ad  Cap.  II,  v.  18,  ver- 
suchte er  zu  beweisen,  daß  Eva  buchstäblich  aus  der 
Rippe  des  Adam  gebildet  worden  war  (XCVIII  S.  74 
b.  D.  —  S.  75  b.  C.) 

Auch  Heidegger  drückt  sich  wie  a  Lapide  aus 
(LXXV  Exercit.  IV,  c.  XIX) 


10°)  Masculum  et  foeminam  creavit  eos,  non  quod  in  utroque 
sexu  ipsum  Adam  primum  creaverit  et  formaverit,  ut  stolidi  Judaei 
fabulantur,  sed  quia  sexu  utroque  humanuni  genus  discrevit,  et 
consistere  voluit  duplici  persona. 

t01)  Masculum  et  Feminam  creavit  eos.  Hinc  novator  quidam  in 
Francia  (welcher  wird  gemeint  sein?)  unper  asseruit:  Adamum 
creatum  esse  hermaphroditum  fuisseque  eum  tarn  feminam  quam 
masculum.  Sic  et  Plato  in  Symposio  censuit  primos  homines  fuisse 
androgynos.  Verum  insulte  hoc  dicitur  non  enira  dicit  Scriptura 
creavit  eum  sed  eos,  seil.  Adamum  et  Evam:  putä  Adamum  creavit 
masculum,  Evam  vero  feminam.  Unde  patet  haec  per  antieipationem 
dici  ....  Aeque  insulsum  este,  quod  tradunt  aliqui  Hebraei  et 
Franc.  Georgius  t.  1  probl.  29  .  .  . 


—    794    — 

Er  wie  auch  Bayle  (XVI  v.  Adam)  citieren  den 
christlichen  Autor  Eugubinus,  welcher  eine  entgegen- 
gesetzte Meinung  ausgesprochen  haben  soll.  Bayle  sagt 
in  Not.  F.:  Eugubinus  meinte,  daß  sie  mit  den  Seiten 
an  einander  geklebt  waren,  und  daß  sie  sich  in  Allem 
gleich  waren,  mit  Ausnahme  des  Geschlechts.  Der 
männliche  Körper  war  rechts,  er  umarmte  den  anderen 
Körper  mit  seiner  Linken,  wie  dieser  ihn  mit  seiner 
Rechten.  Beide  waren  beseelt,  und  über  beide  kam  tiefer 
Schlaf,  als  Gott  Eva  bilden,  d.  h.  sie  vom  männlichen 
Körper  trennen  wollte. 

Die  Kirche  verdammte  solche  Auffassungen  völlig 
und  nannte  dieselbe  Ketzerei.  So  ward  z.  B.  1208  in 
Paris  ein  Doktor  der  Theologie  Almaricus  verbrannt, 
welcher  u.  A.  auch  erklärt  hat,  daß  Adam  und  Eva  nie 
fleischliche  Gemeinschaft  gehabt  haben  würden,  wenn  sie 
in  der  Gestalt,  in  der  Gott  sie  geschaffen  hatte,  ge- 
blieben wären,  daß  sie  auch  nicht  verschiedenen  Ge- 
schlechtes gewesen  seien,  und  daß  die  Fortpflanzung  der 
Menschen  wie  die  der  Engel  gewesen  sein  würde.108) 

Im  Anschluß  an  das  Christentum  wollen  wir  noch 
den  großen  Mystiker  Jakob  Böhme,  den  „teutonischen 
Philosophen14  (1575—1624)  behandeln. 

Seine  Ansicht  über  die  Natur  Adams  und  Christus, 
und  somit  auch  Gottes,  wollen  wir  durch  Citate  aus 
seinen  verschiedenen  Werken  wiedergeben : 

„Adam  war  ein  Mann  und  auch  ein  Weib,  und  doch 
der  Keines,  sondern  eine  Jungfrau  voller  Keuschheit, 
Zucht  und  ßeinigkeit,  als  das  Bilde  Gottes.  Er  hatte 
beyde    Tincturen    vom    Feuer    und  Liechte    in  sich,    in 

103)  Adam  et  Evam  nunquam  carnali  copula  iugendos,  si  in 
statu  illo  in  quo  Deus  Mos  condidit  permansissent,  verum  etiam 
sexuum  differentiam  nullam,  sed  hominum  multiplicationem  aeque 
atque  angelorum  futuram  asserebat  [Almaricus,  Parisiensis  Dector] 
(CLL  v.  Almaricus). 


—    795    — 


welcher  Conjunction  die  eigene  Liebe  als  das  Jung- 
fräuliche Centrura  stund,  als  der  schöne  Paradisische 
Rosen-  und  Luft-Garten,  darinnen  er  sich  selber  liebte: 
Als  wir  denn  in  der  Aufferstehung  dergleichen  seyn 
werden,  wie  uns  Christus  Matth.  13  und  22  saget:  Daß 
wir  uns  weder  freihen  noch  freihen  werden  lassen,  sondern 
gleich  sind  den  Engeln  Gottes  (XXIX.  Cap.  18,  2). 

„Adam  war  nackend,  und  doch  mit  der  größten 
Herrlichkeit  bekleidet,  als  mit  dem  Paradis  ein  gantz 
schön  hell  crystallinisch  Bilde,  klein  Mann,  kein  Weib, 
sondern  beydes,  als  eine  männliche  Jungfraw,  mit  beyden 
Tincturen  in  der  Temperatur,  als  nehmlich  die 
himmlische  Matrix,  im  ge  bahr  enden  Liebe-Feuer, 
und  denn  auch  der  Limbus,  aus  der  Natur  der  essen- 
tiali sehen  Feuers,  darinnen  in  diesen  beyden  das 
erste  und  andere  Principium  der  heiligen  göttlichen 
Natur  verstanden  wird,  da  Veneris  Tinctur,  (als  das 
Gebähren  und  Geben  aus  des  Sohnes  Eigenschafft),  das 
Weib,  als  die  Mutter  der  Gebährerin  ist  und  verstanden 
wird,  und  die  feurische  Eigenschafft,  aus  des  Vatters 
Eigenschafft  als  die  Scientz  der  Mann  verstanden 
wird,  welche  zwey  Eigenschaften  sich  hernach  in  Mann 
und  Weib  geschieden  haben,  (XXVII,  Cap.  5.  35.) 

„Nun  hatte  der  Mensch  auch  den  Geist  der  Welt, 
denn  er  war  aus  der  Welt,  und  er  lebete  in  der  Welt, 
so  war  nun  Adam  die  züchtige  Jungfrau,  verstehe,  der 
Geist,  so  ihm  von  Gott  wurde  eingeblasen,  und  der  Geist, 
den  er  aus  Natur  von  der  Welt  ererbet  hatte,  der 
Jüngling,  die  waren  nun  beyde  beyeinander  und  ruheten 
in  einem  Arm  (XXX,  Cap.  12,  40). 

„Nun  war  Adam  doch  nur  einer  und  in  solcher 
großen  Herzlichkeit  innestehend,  als  ein  gantz  Gl eichnüss 
nach  Gott  in  Würcken,  Leben  und  Gebähren:  Gleich 
wie  Gott  alle  Dinge  aus  seiner  Einigkeit  gebohren  hatte, 
und  im  Fiat,    welches    in    allen   Dingen    war,    in    sein 


—    796    — 

Bilde  nach  der  Eigenschafft  geschaffen  (XXVI,  V.  356), 
so  hätte  Adam  mögen  magisch  nach  göttlicher  Art 
gebähren,  wie  Gott  die  Creatur  gebahr,  und  ins  Sicht- 
bahre darstellete:  denn  die  Matrix  der  Vermögenheit 
war  in  ihm  (XXVI,  357). 

„So  wäre  die  Magische  Gebührt  also  geschehen,  nicht 
durch  einen  sonderlichen  Ausgang  von  Adams  Leibe, 
wie  jetzunder,  sondern  wie  die  Sonne  das  Wasser  durch- 
scheinet, und  nicht  zureißet,  also  wäre  der  geistliche 
Leib  als  die  Gebührt  ausgegangen,  und  im  Ausgehen 
substantualisch  worden  ohne  Mühe  und  Noht,  in 
einer  großen  Freudenreich  und  Wohlthun  wäre  das  Ge- 
schehene, auff  Art,  wie  die  beyde  Saamen  Mannes  und 
Weibes  in  ihrer  Conjunction  einen  freudenreichen 
Anblick  empfahen:  Also  wäre  auch  die  Magische 
Schwängerung  und  Gebührt  gewesen  ein  Jungfräuliches 
Bild,  nach  dem  ersten  ganz  vollkommen  (XXIX, 
Cap.  18,  10.) 

„Denn  Adam  ward  vierzig  Tage  versucht  im  Paradies, 
im  Garten  Eden,  vorm  Versuch-Baum,  ob  er  könte 
bestehen,  daß  er  seine  Anneiglichkeit  setzete  ins  Hertze 
Gottes,  und  ässe  alleine  vom  Verbo  Domini,  so  wolte 
Gott  ihme  (seinem  Leibe)  geben  von  himmlischen  Limbo 
zu  essen,  daß  er  ässe  im  Maule,  und  nicht  in  Leib.  Er 
sollt  aus  ihm  geboren  der  Jungfrawen  Kind,  denn  er 
war  kein  Mann  und  auch  kein  Weib:  Er  hatte  die 
Matrix,  und  auch  den  Mann  in  sich,  und  sollte  gebähren 
auss  der  Matrix  die  Jungfraw  voller  Zucht  und  Keusch- 
heit Zerreissung  seines  Leibes  (XXX,  Cap.  12,  10). 

„Als  aber  Gott  erkannt,  daß  der  Mensch  nicht  be- 
stehen würde,  daß  er  je  nach  Bösem  und  Gutem 
imaginiret  und  lttsterte,  sprach  Gott:  Es  ist  nicht 
Gut,  daß  der  Mensch  alleine  sey,  wir  wollen  ihm  eine 
Gehülffin  machen,  die  um  ihn  sey.     Dann   er   sähe  wohl 


—    797    — 


daß  Adam  nicht  konnte  magisch  Gebähren,  weil  seine 
Lust  in  die  Eitelkeit  einging. 

„So  sagt  nun  Moses:  Und  er  ließ  einen  tieffen 
Schlaff  auf  ihn  fallen,  und  er  entschlief!  Das  ist:  Weil 
er  nicht  wolte  im  Gehorsam  der  Göttlichen  Harmony 
bleiben,  in  den  Eigenschaften,  daß  er  hätte  als  ein 
Werckzeug  dem  Geiste  Gottes  stille  gehalten:  So  lief 
er  ihm  von  der  Göttlichen  Harmony  in  eine  eigene 
Harmony  fallen  als  in  die  auffge wachten  Eigenschafften, 
in  böse  und  gut:     Da  hinein  ging  der  seelische  Geist. 

„  Allda  starb  er  in  diesem  Schlaf  der  Englischen  Welt 
abe  und  fiel  dem  äußeren  Fiat  heim:  Und  war  jetzt 
geschehen  um  das  ewige  Bild  nach  Gottes  Gebährung. 
Allhie  lag  seine  Engels-Gestalt  und  Macht  zu  boden, 
und  fiel  in  Ohnmacht:  So  machte  Gott  durch  Fiat  das 
Weib,  auß  Veneris  Matrice,  das  ist  aus  der  Eigen- 
schafft darinnen  Adam  die  Gebährerin  in  sich  hatte  aus 
ihm  auss  einem  Leibe  zween  und  teilte  die  Eigenschafften 
der  Tincturen,  als  im  Element  das  wässerische  und 
feuerische  Gestirn,  nicht  ganz  im  Wesen,  sondern  im 
Geist;  als  die  Eigenschafften  der  wässerischen  und 
feurischen  Seele,  und  da  es  doch  nur  eine  ist;  aber  die 
Eigenschafft  der  Tinctur  war  getrennet.  Die  eigene 
Liebe-Begierde  ward  Adam  genommen,  und  in  ein  Weib 
formiret  nach  seines  gleichen.  Und  darum  begehret 
nun  der  Mann  so  hefftig  des  Weibes  Matricem;  und 
des  Weib  begehret  des  Mannes  Limb  um,  als  das  Feuer- 
Element,  den  Urständ  der  wahren  Seele,  darinnen  des 
Feuers  Tinctur  verstanden  wird.  Dann  die  zwey  waren 
in  Adam  eines,  und  darinn  stund  die  magische  Gebührt. 
(XXX  a  lib.  V,  Cap.  2,  16—18). 

„Adam  hat  sich  in  seiner  Vollkommenheit  an  den 
Thieren  vergafft.  Dieweil  er  Mann  und  Weib  war,  und 
die  Magische  Schwängerung  in  sich  hatte,  und  sich  in 
Thierische     Lust     eingeführet,    beydes    nach    thierischen 


—    798    — 

Essen  und  Gebähren.  Also  hat  im  auch  das  Fiat  in 
derselben  Lust  gefangen,  und  also  in  seinem*  Schlaffe 
geformet  wie  die  Lust  war;  und  jedes  Glied  an  seinem 
Orte  zur  Conjunction  der  viehischen  Vermischung 
geformet,  denn  eine  jede  Begierde  hat  ihren  Mund  zur 
Offenbahrung  bekommen.     (XXIX  Cap.  19,  25.) 

„Bey  der  Formirung  der  Evae  ist  die  gröste  Ge- 
heimnüß  zu  verstehen,  denn  man  muß  die  Gebührt  der 
Natur  und  Menschlichen  Urständ  gantz  inneglich  ver- 
stehen und  ergreiffen,  wil  man  den  Grund  sehen:  denn 
sie  ist  der  halbe  Adam  nicht  von  Adams  Fleisch  gantz 
genommen,  sondern  aus  seiner  Essentz,  aus  dem  weiblichen 
Theile:     Sie  ist  Adams  Matrix. 

15.  Von  Adams  Fleische  und  Beinen  ist  nicht  mehr 
zum  Weibe  kommen,  als  die  Rippe  in  seiner  Seiten,  und 
das  halbe  Creutz  am  Kopffe  welches  des  Lebens  Geburt- 
creutz  war,  daran  Christus  den  Tod  zerbrach.  Die 
Matrix  des  himmlischen  Theils  war  in  Adam  Magisch 
das  ist  schwebende  in  der  Essentz  aber  das  äußere  Teil 
der  äußeren  Welt  war  eingefleischet  und  waren  beyde 
miteinander  verbunden,  gleichwie  die  Zeit  mit  der 
Ewigkeit. 

16.  Also  ward  Adam  aus  seiner  Essentz  die  weib- 
liche Eigenschafft  im  Fiat  ausgezogen  als  sein  liebster 
Rosengarten,  und  er  behielt  den  Limbum  himmlich  und 
irdisch  noch  des  ewigen  Vatters  geoffenbahrten  Eigen- 
schafft, als  der  Feuer-Seelen  Matricis  Eigenschafft. 

17.  Des  Mannes  Limbus,  den  er  behielt,  als  das 
Weib  aus  ihm  gemacht  ward,  war  des  Vatters  Eigen- 
schafft nach  allem  Wesen,  und  das  Weib  ward  aus  dem 
Manne  nach  des  Sohnes  Eigenschaffifc,  nach  allen  Wesen, 
verstehet  das  himmlische  Theil:  Darum  war  Christus  in 
des  Weibes  Theil  ein  Mensch  und  führte  des  Mannes 
Theil  wieder  in  die  heilige  Matricem  ein,  daß  der 
Limbus    und    die    weibliche  Matrix    wieder  ein  Bild 


799 


war,  als  eine  männliche  Jungfrau  über  und  in  allen  drei 
Principien  als  ein  creatiirlich  geformeter  Gott,  in  dem 
der  ewige  ungeformte  Gott  mit  gantzer  Fülle  innen 
wohnete,  zu  gleiche  in  dem  Geformten  und  außer  dem 
Geformten.  Denn  also  war  auch  Adam  vor  seiner  Heva, 
und  also  müssen  wir  in  Christo  auch  werden,  wollen  wir 
das  Bild  und  Tempel  Gottes  seyn. 

18.  Allhie,  als  die  Matrix  der  Gebährerin  von 
Adam  genommen  war,  ward  das  Weib  in  aller  Gestalt 
mit  solchen  Gliedern  zur  Fortpflanzung  geformiret,  als 
sie  noch  heute  ist,  so  wohl  auf  Adam.  Denn  zuvorhin, 
als  Adam  Mann  und  Weib  war,  dörffte  er  der  Glieder 
kleines,  denn  seine  Geburt  war  magisch,  seine  Schwän- 
gerung wäre  in  der  Matrice  schwebende,  durch  Imagi- 
nation geschehen,  denn  das  Verbum  Fiat  war  in  dem 
offenbahrt. 

19.  Und  anstatt  der  weiblichen  Matrix  ward  Adam 
der  thierische  Madensack  der  Därmen  angehänget  .... 
so  wohl  auch  dem  Weibe  anstatt  des  himmlischen  L im bi. 
(XXIX,  Cap.  19,  14—19.) 

83.  Als  nun  Adam  und  sein  Weib  hatten  von  der 
irdischen  Frucht  gegessen,  schämeten  sie  sich  vor  ein- 
ander, denn  sie  wurden  gewahr  der  thierischen  Glieder 
ihres  Leibes  Fortpflanzung,  und  sie  brachen  Stauden  ab, 
und  hielten  sie  vor  die  Scham:  Und  die  Stimme  Gottes 
gieng  im  Garten  hoch  in  ihrem  Gemüthe,  und  sie  ver- 
steckten sich  unter  die  Bäume  im  Garten. 

84.  Alhier  sehen  wir  klar  und  greifen  es  ja,  daß 
Gott  im  Anfang  nicht  eine  solche  Bildniß  mit  thierischen 
Gliedern  zur  Fortpflanzung  hatte  geschaffen.  Denn  was 
Gott  schaffet  zur  Ewigkeit,  davor  ist  keine  Schäme.  Auch 
so  wurden  sie  erst  gewahr,  daß  sie  nacket  waren. 

„85.  Und  ist  an  diesem  Orthe  nichts  greiflichers  als 
daß  man  siehet  und  erkennet,  daß  Adam  vorm  Schlaffe 
vor  seinem  Weibe    keine    thierische  Gestalt   gehabt  hat. 


—    800    — 

Denn  er  war  weder  Weib  noch  Mann,  sondern  eine 
Jungfraw  ohne  thierische  Gestalt.  Er  hatte  keine  Scham 
und  Brüste,  er  durffte  sie  auch  nicht.  Er  hatte  gebohren  in 
Liebe  der  Zucht,  ohne  Wehe  oder  Eröffnung  seines 
Leibes,  eine  Jungfraw,  wie  er  war,  und  wäre  müglich  ge- 
wesen, daß  das  ganze  Heer  der  englischen  Menschen, 
wäre  aus  einem  Brunnen  aus  einem  ausgegangen,  wie 
bey  den  Engeln,  so  er  in  der  Versuchung  wäre  be- 
standen.    (XXX.  Cap.  17,  83—86.) 

„Die  Menschwerdung  Christi  ist  ein  solch  Myste- 
rium, davon  die  äußere  Vernunfft  nichts  weiß,  denn 
sie  ist  in  allen  dreyen  Principien  geschehen  und  mag 
nicht  ergründet  werden,  man  kenne  dan  den  ersten 
Menschen  in  seiner  Schöpffung  vorm  Falle  gründlich,  denn 
Adam  solte  den  andern  Menschen  aus  sich  selber  dem  Charak- 
ter der  H.  Dreifaltigkeit,  aus  sich  gebähren,  in  dem  der 
Name  Jesus  eingeleibet  stund,  aber  es  konnte  nicht  seyn. 
Darumb  muste  ein  anderer  Adam  kommen,  deme  es  mög- 
lich war,  denn  Christus  ist  das  jungfrawliche  Bild  mit 
dem  Charakter  der  H.  Drey faltigkeit:  Er  ist  empfangen 
in  Gottes  Liebe  und  gebohren  in  diese  Welt;  Adam 
hatte  Göttliche  Wesenheit,  und  seine  Seele  war  aus  dem 
ersten  Principio  aus  des  Vatters  Eigenschafft,  die  solte 
sich  mit  der  Imagination  richten  in  des  Vatters 
Hertze,  als  ins  Wort  und  Geist  der  Liebe  und  Reinig- 
keit,  und  essen  von  der  Liebe  Wesenheit,  so  hätte  sie 
Gottes  Wesen  im  Wort  des  Lebens  an  sich  behalten, 
und  wäre  mit  der  Krafft  auss  dem  Hertzen  Gottes  ge- 
schwängert worden,  davon  sie  denn  auss  sich  sellber  in 
ihrer  Wesenheit  imaginieret  und  ihre  Wesenheit 
selber  geschwängert  hätte,  daß  also  wäre  ein  gantzes 
Gleichniß  nach  dem  ersten  Bilde  durch  Imagination 
und  der  Seele  Willen  Einergeben  entstanden,  und  in  der 
Krafft  der  Wesenheit  empfangen  worden  (XXVIII, 
Buch  I,  Cap.  10,  2.) 


—    801    — 


„Und  ist  uds  erkänntlieh,  daß  weil  der  erste  Adam 
seine  Imagination  hat  in  die  Irrdigkeit  gesetzt,  und 
irrdisch  worden,  auch  solches  wider  Gottes  Vorsatz  ge- 
than,  dennoch  Gottes  Vorsatz  bestehen  muste.  Denn 
allhier  setzte  Gott  seinen  Vorsatz  in  Adams  Kind  und 
fuhrete  seine  Imagination  in  die  verderbte  Bildnüß 
und  schwängerte  dieselbe  mit  seiner  göttlichen  Krafft 
und  Wesenheit,  und  wendete  umb  der  Seelen  willen  aus 
der  Irrdigkeit  in  Gott,  daß  Maria  eines  solchen  Kindes 
schwanger  ward,  als  Adam  solte  schwanger  werden, 
welches  die  eigene  Vermögenheit  nicht  thun  konte, 
sondern  sanck  nieder  in  den  Schlaff,  als  in  die  Magiam, 
da  denn  das  Weib  aus  Adam  gemacht  ward,  welches 
nicht  solte  gemacht  werden,  sondern  Adam  solte  sich 
in  Veneris  Matrice  selber  schwängern  und  Magisch 
gebähren  (XXVIII,  Buch  I,  Cap.  10,  4). 

„Die  Zerbrechung  Adams  seiner  Essentz,  als  das  Weib 
ward  aus  ihme  genommen,  ist  die  Zerbrechung  des  Leibes 
Christi  an  Creutze 

„7.  Und  als  Christus  am  Creutz,  unser  jungfräulich 
Bild  wieder  erlösete  vom  Manne  und  Weibe,  und  mit 
seinem  himmlischen  Blute  in  Göttlicher  Liebe  tingirte; 
als  er  diß  vollbracht  hatte,  so  sprach  er:  Es  ist  voll- 
bracht.   (XXIX  Cap.  19,  6—7.) 

„Christus  und  die  Jungfrau  Sophia  (sind)  nur  eine 
Person,  als  die  wahre  männliche  Jungfrau  Gottes,  welche 
Adam  vor  seiner  Heva  war,  da  er  Mann  und  Weib,  und 
doch  der  Keines  war,  sondern  Jungfrau  Gottes.  (XXIX 
Cap.  50,  48.) 

„Wenn  wir  Christum  sehen,  so  sehen  wir  die  H. 
Dreyfaltigkeit  in  einem  Bilde:  seine  Creatur  ist  ein  Bilde 
gleich  und  auß  uns  Menschen,  unser  Höh  erpriester  und  König, 
unser  Bruder,  unser  Immanuel.  Seine  Krafft  ist  unsere 
Krafft,  sind  wir  aber  auß  Gott  im  Glauben  an  ihn  wieder- 
gebohren :  Er  ist  uns  nicht  frembde  oder  schrecklich,  sondern 


^H 


—    802    — ' 

ist  unser  Liebe-Tinctur:  Er  ist  mit  seiner  Krafft  unserer 
Seele  Erquikkung,  uuser  Leben,  und  unserer  Seelen-Wonne. 
Wenn  wir  ihn  finden,  so  finden  wir  unseren  Gehülffen, 
gleich  wie  ihn  Adam  finden  solte,  und  er  ließ  sich  be- 
triegen  und  fand  endlich  eine  Fraw,  da  sprach  er:  Das 
ist  Fleisch  von  meinem  Fleisch,  und  Beine  von  meinem 
Gebeine,  und  er  nahm  sie  zu  sich  zu  einer  Gesellin. 

„24.  Also  wenn  ihn  unsere  Seele  findet,  so  saget  sie: 
Das  ist  meine  Jungfraw,  die  sich  in  Adam  hatte  verloren, 
da  ein  irdisches  Weib  aus  ihr  ward,  jetzt  habe  ich,  meine 
liebe  Jungfraw  aus  meinem  Leibe  wieder  funden,  nun 
wil  ich  die  nimmermehr  von  mir  lassen,  sie  ist  meine, 
mein  Fleisch  und  Blut,  meine  Stärcke  und  Krafft, 
die  ich  inAdam  verlohr,  O  ein  freundlich  halten !  freundlich 
inqualiren!  Schönheit,  Frucht,  Kraft  und  Tugend. 
(XX  VIII,  Buch  I  Capitel  9,  23—24.) 

„Aber  den  ledigen  Jungfrawen  und  Mannen  ohne 
Frawen  ward  gesagt,  so  wohl  den  Wittiben,  daß  sie  den 
Bund  Christi  zum  Gemahl  haben,  vor  deme  sollen  sie 
züchtig  und  demühtig  seyn,  denn  Christus  ist  des  Mannes 
Braut,  seine  züchtige  Jungfraw,  die  Adam  verlohr,  und 
ist  auch  der  ledigen  Jungfrawen  und  Wittiben  der 
Bräutigamb,  denn  seine  Mannheit  ist  ihre  Mannheit,  daß 
sie  also  vor  Gott  als  eine  männliche  Jungfraw  erscheinen. 
(XXVIII  Buch  I,  Cap.  7,  16.) 

„Von  Adam  haben  wir  alle  den  Tod  geerbet,  von 
Christo  erben  wir  das  ewige  Leben:  Christus  ist  das 
jungfräwliche  Bild,  das  Adam  auß  sich  solte  gebähren 
mit  beyden  Tincturen.  Weil  er  aber  nicht  konte  ward 
er  zertheilet,  und  muste  durch  zweene  Leiber  gebähren, 
biss  der  Siloh  kam,  das  ist,  der  Jungfrawen  Sohn, 
welcher  auss  Gott  und  Menschen  gebohren  ward.  (XXVIII 
Buch  I,  Cap.  11,  6.)" 

Wir  haben  Böhme  selber  reden  lassen,  und  glauben, 
daß  er  ohne  Commentar  verstanden    werden  kann.     Wir 


-    803    - 

wollen  nur  darauf  hinweisen,  wie  viel  verwandte  Begriffe, 
wir  schon  in  allen  bisher  behandelten  Systemen  gefunden 
haben. 

Wir  teilen  ferner  noch  eine  Vision  aus  späterer  Zeit 
mit,  um  zu  zeigen,  wie  sich  eine  Seherin  Adam  und 
Christus  gedacht  hatte.  Antoinette  Bourignon,  geboren 
1616,  gestorben  1680,  eine  höchst  interessante  Frau,  die, 
wie  es  scheint,  sehr  religiös  und  sehr  woltätig  war,  von 
der  verschiedene  Priester  sagten,  daß  sie  wirklich  den 
H.  Geist  in  sich  hat  (XXXIII,  Bd.  I,"  aus  beigefügtem 
Briefe),  schrieb,  als  sie  in  Amsterdam  (1667)  war,  ein 
Buch:  Le  nouveau  Ciel  et  la  noveau  Terre.  Hierin 
beschreibt  sie  Adam  folgendermaßen: 

XXXIII,  Bd.  II,  eh.  XXI,  S,  315,  316.  Adam, 
der  erste  Mensch,  [hatte]  einen  Körper,  reiner  und 
durchscheinender  als  Kristal,  ganz  Licht  und  so  zu 
sagen  schwebend.  Man  sah  wie  durch  und  in  diesem 
Körper  Ströme  und  Bäche  von  Licht,  aus  allen 
seinen  Öffnungen  heraus  strömten.  Die  Ströme, 
Flüssigkeiten  von  aller  Art,  von  allen  Farben,  sehr  leb- 
haft und  ganz  klar,  waren  nicht  nur  von  Wasser  oder 
Milch,  sondern  auch  von  Feuer,  Luft  und  anderen  Stoffen. 
Seine  Bewegungen  ließen  wunderschöne  Harmonien  hören, 
Alles  gehorchte  ihm,  Nichts  widerstrebte  ihm  oder  konnte 
ihm  schaden.  Er  war  größer  als  die  heutigen  Menschen 
mit  kurzlockigen  Haaren,  die  einen  Stich  ins  Schwarze 
hatten,  die  Oberlippe  mit  etwas  Flaum  bedeckt,  und  statt 
mit  thierischen  Theilen,  die  man  nicht  nennt,  war  er  so 
gebildet,  wie  unsere  Körper  im  ewigen  Leben  sein  werden, 
und  wovon  ich  nicht  weiß,  ob  ich  es  sagen  darf:  Er 
hatte  in  dieser  Region  etwas,  das  wie  die  Nase  des  Ge- 
sichtes gebildet  war,  und  dasselbe  war  eine  Quelle  von 
wunderherrlichen  Düften  und  Gerüchen  und  aus  dem- 
selben sollten  auch  die  Menschen  herauskommen,  deren 
Principien  er  alle  in  sich  trug.     Denn  er  hatte  in  seinem 

Jahrbuch  V.  51 


—    804    — 

Bauche  einen  Strom,  worin  kleine  Eier  entstanden  und 
einen  andern  Strom  voll  von  Flüssigkeit,  welche  diese 
Eier  befruchtete.  Als  dann  der  Mensch  sich  erhitzte  in 
der  Liebe  für  seinen  Gott>  machte  sein  Verlangen,  daß 
es  auch  andere  Wesen  wie  er  geben  würde,  um  jene 
große  Majestät  zu  loben,  lieben  und  anzubeten,  durch 
das  Feuer  seiner  Liebe  für  Gott,  daß  diese  Flüssigkeit 
sich  verbreitete  über  ein  oder  mehrere  dieser  Eier,  mit 
unbegreiflicher  Wollust;  und  dieses  befruchtet  gewordene 
Ei  ging  kurze  Zeit  später  durch  die.  Öffnung  hinaus, 
ein  Ei,  woraus  später  ein  vollkommener  Mensch  entstand. 
So  wird  im  ewigen  Leben  eine  heilige  unendliche  Fort- 
pflanzung sein,  ganz  anders  wie  jene,  welche  die  Sünde 
durch  das  Weib  gebracht  hat,  welches  Gott  gebildet  hat 
aus  dem  Menschen,  dadurch,  daß  er  aus  den  Seiten 
Adams  das  Eingeweide,  welches  die  Eier  enthält  und 
das  Weib  besitzt,  herausnahm,  woraus  auch  heute  noch 
in  ihr  die  Menschen  geboren  worden,  wie  die  neueren 
Untersuchungen  der  Anatomie  lehren.  Der  erste  Mensch, 
den  Adam  allein  aus  sich  selber  in  seinem  glorreichen 
Staate  erzeugte,  ward  durch  Gott  ausgewählt,  der  Thron 
der  Gottheit  zu  sein,  das  Organ  und  das  Instrument, 
wodurch  Gott  sich  mit  dem  Menschen  ewig  verbinden 
wollte,  und  dieser  war  Jesus  Christus. 108) 


103)  Adam,  le  premier  homme,  [avoit]  le  corps  plus  pur  et  plus 
transparent  que  le  cristal,  tout  leger  et  volant  pour  ainsi  dire ;  dans 
lequel  et  au  travers  duquel  on  voyoit  des  vaisseaux  et  des  ruisseaux 
de  lumiere  qui  penetroit  du  dedans  en  dehors  par  tous  ses  pores, 
des  vaisseaux,  qui  rouloient  dans  eux  des  Hqueurs  de  toutes  sortes 
et  de  toutes  couleurs,  tres-vives  et  toutes  diafanes,  non  senlement 
d'eau,  de  lait,  mais  de  feu,  d'air,  et  d'autres.  Ses  mouvements 
rendoient  des  hannonies  admirables  tout  luy  obeissoit,  rien  ne  luy 
resistoit  et  ne  pouvoit  luy  nuire.  II  etoit  de  stature  plus  grande 
que  les  hommes  d'ä  present:  les  cheveux  courts,  anneles,  tirant  sur 
le  noir,  la  levre  de  dessus  couverte  d'  un  petit  poil:  et  au  lieu 
des  parties  bestiales  que  Ton  ne  nomme  pas,  il  estoit  fait  comme 


805    — 


Es  wird  nun  Kritiker  geben,  die  fragen  werden, 
weshalb  der  Autor  solche  Hallucinationen  citiere.  Wir 
gaben  dieselbe  nur  zum  Beweise  dafür  wieder,  daß  immer 
und  immer  wieder  dieser  Gedanke  des  Androgynismus 
den  Menschen  bewußt  wird,  und  auch,  um  anzuzeigen, 
wie  es  ja  auch  schon  dieser  Clair-voyante  bekannt  war, 
daß  die  religiöse  Ekstase  sich  in  das  höchste  körper- 
liche Entzücken  übersetzt,  das  wir  sexuell  nennen. — 

In  der  griechischen  Religion  finden  wir  die  andro- 
gynische  Idee  am  schönsten  ausgeprägt.  Auch  hier  ist 
wieder  die  höchste  Gottheit  der  Zeus,  in  der  Geheim- 
lehre wenigstens,  als  Mann- weib  gedacht. 

Man  denke  nur  an  die  Orphischen  Verse: 


seront  retablis  nos  corps  dans  la  vie  eternelle,  et  que  je  ne  scay, 
si  je  dois  dire :  II  avoit  dans  cette  region,  la  structure  d'un  nes, 
de  meme  forme  que  celuy  du  visage,  et  c'estoit-lä  une  souree 
d'odeurs  et  de  parfums  admirables  de  la  devoient  aussi  sortir  les 
hommes,  dont  il  avoit  tous  les  principes  dans  soy,  ear  il  y  avoit 
dans  son  ventre  un  vaisseau  oü  naissoient  de  petits  oeufs,  et  un 
autre  vaisseau,  plein  de  liqueur  qui  rendoit  ces  oeufs  feconds.  Et 
lorsque  l'homme  sr  echauffoit,  dans  l'amour  de  son  Dieu,  le  desir 
oü  il  eloit  qu'il  y  eust  d'autres  creatures  que  luy  pour  louer,  pour 
aimer  et  pour  adorer  cette  Grande  Majestß  faisoit  repondre  par  le 
feu  de  l'amour  de  Dieu,  cette  liqueur  sur  un  ou  plusieurs  de  ces 
oeufs  avec  des  delices  inconcevables;  et  cet  oeuf  rendu  fecond 
sortoit  quelque  temps  apres  de  ce  Canal  hors  de  rhomme  en  forme 
d'  oeuf,  et  venoit  peu  apres  ä  eclore  un  homme  parfait.  C'est  ainsi 
que  dans  la  vie  eternelle  il  y  aura  une  generation  sainte  et  sans 
fin,  bien  autre  que  celle  que  le  peche  a  introduite  par  le  moyen 
de  la  femme,  laquelle*  Dieu  forma,  de  rhomme  en  tirant  hors  des 
flancs  d'  Adam  ce  viscere,  qui  contenoit  les  oeufs,  que  la  femme 
possede,  et  des  quels  les  hommes  naissent,  encore  ä  present  dans 
eile,  conformenents  aux  nouvelles  dßcouvertes  de  l'Anatomie.  Le 
premier  homme  qu'  Adam  produisit  par  luy  seul  en  son  etat 
glorieux,  fut  choisi  de  Dieu  pour  etre  le  Tröne  de  la  Divinite 
l'organe  et  l'instrument,  par  lequel  Dieu  vouloit  se  communiquer 
eternellement  avec  les  hommes,  c'est  lä  Jesus  Christ. 

51* 


Zeus  war  der  Erste,  Zeus    der    letzte  Herrscher 

des  Blitzes, 
Zeus   das    Haupt,    Zeus   die  Mitte,    aus  Zeus  ist 

Alles  bereitet, 
Zeus    ward    Manu,    und  Zeus   ward  unsterbliche 

Jungfrau  104) 
Und  aus  Zeus  selber  entstehen  andere  Götter,  welche 
selber  wieder  androgynisch  sind.  Aus  seinem  Kopfe  ent- 
steht die  Athene,  die  Androgynische,  wie  wir  später 
unten  sehen  werden,  aus  seinem  Samen,  der  im  Schlafe 
ihm  entfloß,  entstand  Agdistis,  wieder  ein  Mann-weib,  und 
Dionysos  entstand  eigentlich  erst  aus  seinem  Schenkel.106) 
Der  Agdistis  wird  durch  die  Götter  entmannt,  und 
so  wird  er  ein  Weib,  die  Große  Mutter,  Kybele,  und 
aus  dem  Gliede  entsteht  ein  Mandelbaum.  Als 
dessen  Früchte  gereift  waren,  steckte  eine  Tochter  des 
Flußgottes  Sangarios  eine  derselben  in  ihren  Busen, 
ward  schwanger  und  gebar  den  Attis:  Und  der  Attis 
war  der  Liebling  der  Grossen  Mutter106). 

,04)  Die  Übersetzung  stammt  aus  Creuzer,  Th.  I,  S.  24. 
Zeig  itqGytog  yevero,  Zevg  rtiTarog,  aQyixeQavvog' 
Zeig  x£(paXtf,  Zeig  /neaoa,  dCug  d'ex  ndvra  tetvxtcli' 
Zeig  aqöriv  yevero,  Zsvg  äfißqoTog  htXexo  vvficptj. 
10ft)  Oder  aus  seinem  Gliede?  so  meint  A.Maury  Not  5.  S.646, 
er   weist  auf  verschiedene   Analogien    hin,    worin   Sehenkel  oder 
Hüfte  für  Genitalien  gebraucht  werden:  unter  mehreren  Gen.  24.  2, 
wo  Abraham  dem  ältesten  Knechte  seines  Hauses,  als  er  ihm  einen 
Eid  abnahm,    sagte:    „lege   deine    Hand  unter  meine  Hüfte,"  was 
auch  Gunkel  (LXIV)  als  einen  Schwur  beim  Zeugungsglied  auffaßt. 
—  Maury   sagt:     Aujourd'hui   encore  lorsque  les  Arabes  veulent 
donner  la  plus  grande  solennite'  a  leurs  serments,  ils  prennent  leurs 
parties  naturelles."     Er   meint,    daß   vielleicht   mit  der  Seite  des 
Adams,  woraus  die  Eva  gebildet  ward,  dasselbe  gemeint  wird. 

108)  Jfa  VTtvcofxivov  atpiivai  Giteqiia  ig  yr(v>  %v\v  de  dva 
Xgovov  dvelvai  dalfiova  diTtXa  e%ovra  aldola,  tcl  fiev  avdqog, 
ra  de  avzo)  yvvcuxog.    ovojtia  de  *Aydi<fTtv  avTcp  tiSevrai) 


—    807     — 

Denn  Attis,  sagt  Kaiser  Julian,  ist  ein  Generations 
Gott.  (XCI  S.  113.)  Er  ist  der  Generator .  xa#'l£oxip. 
Aber  auch  seiner  göttlichen  Erzeugungskraft  ist  ein  Ende 
gesetzt:  das  ist  die  Entmannung  Attis.  Nachher  nimmt 
Attis  dann  weibliche  Formen  an,  und  weibliche  Kleider 
(Lucianus,  dea  Syric.  15),  nachdem  er  durch  die  Ent- 
mannung, gestorben  oder  durch  einen  Löwen  getötet,  und 
vom  Tode  wieder  erweckt  ist. 

Entsprechend  ist  auch  der  Mythus  des  Adonis,  nur 
mit  Ausnahme  der  Entmannung:  aber  der  Adonis  ist  eine 
Androgyne. 

Schon  der  Orphische  Hymnus  singt:  Hör  mich, 
den  flehenden,    o  Viel-namiger,    guter   Demon,    Du,    mit 

deinen    lockigen    Haaren ,    Du,    Jungfrau    und 

Jüngling, O,  Adonis.107)  Der  Adonis,  der  Liebling 

der  Aphrodite,  aber  auch  die  Aphrodite  ist  androgynisch. 
Wir  stimmen  Raoul  ßochette  völlig  in  seiner  Auf- 
fassung bei,  daß  die  beigefügte  Abbildung  den  andro- 
gynischen  Adonis  darstellt.   (Abb.  21.) 

Erstens  wird  dafür  sprechen,  daß  dieses  pompejanische 
Gemälde  ein  Pendant  zu  einem  anderen  ist,  welches  den 
Tod  des  Adonis  darstellt.  Aber  mehr  noch  spricht  dafür 
die  Anwesenheit  der  zweiten  Androgyne,  welche  den 
Spiegel  in  der  Hand  hält,  mit  weiblichen  Brüsten,  gehüllt 
in    weibliche   Kleider    und  mit  einem  Bart,    ganz    über- 


&eol  d£  "Aydt&viv  detoavTSQ,  ra  aldola  ol  ra  avdqog  awco- 
xoTtTovöiv  oog  de  arfairw  ävacpvöa  dfxvydaXfj  el%ev  mqalov 
rbv  xaQ7cbv,  SvyaTSQa  rov  Eayyaqiov  Ttovaiiov  Xqßelv  <paöi 
xovg  xaQTtovg.  ets^e^ievrig  de  ig  rbv  xoXtcov,  xaqTtog  fiev 
exelvog  iqv  äcpavrig  avrtxa,  airi]  de  exvet.  (CXXXV,  libr.  VII, 
17.  S.  566.) 

l07)  KXvüi  [A£v  ev%ofievovy  7tokvoovvfie,  öaTfxov  aQLtfte 

äßgoxo/nrj,   —   —   —   —   —  —  —  —   —  —  — . 

xovqb  xal  xoqb. "Aötovi.    (CXX1X  H.  LV1.) 


Abb.  21.    Androgynischer  Adonis. 


—    809    — 


einstimmend  mit  der  Darstellung  der  mannweiblichen 
Aphrodite,  wie  wir  sie  unten  sehen  werden.  Und  üben 
haben  wir  gesehen,  daß  sehr  oft  der  Androgynianms  der 
Götter  durch  die  Vereinigung  der  weiblichen  Brüste  mit 
dem  Barte  demonstriert  ward. 

Den  Androgynismus  des  Adonis  finden  wir  noch 
begründet  durch  die  folgende  Stellet 

Ptolemaeus  Hephaestius  schreibt  nach  Photius 
(CXLa  S,  151,  5  b):  Man  sagt,  daß  der  androgynische 
Adonis  ein  Mann  gewesen  war  für  die  Aphrodite,  ein 
Weib  aber  für  den  Apollon.loe) 

Und  der  Komiker  Piaton  gibt,  nach  (XI  B.  X.  c. 
83.  S.  101)  den  folgenden  Orakelspruch  an  Kinyras: 

„O,  Kinyras,  Konig  der  Cyprier  mit  behaarten 
Hinterbacken,  dir  ward  geboren  ein  Sohn,  der  schönste 
und  bewundernswerteste  von  allen  Menschen.  Zwei  Götter 
werden  ihn  verlieren:  die  Erste  gerudert  werdend  mit 
geheimnisvollen  Rudern,  der  andere  aber  selber  rudernd* 
—  Und  er  meinet  damit  Aphrodite  und  Dionysos,  die 
beide  den  Adonis  liebten." im) 


'  /;/  üXXwva. 

10U)  IImuwv  6Jiv  ifj)  \/3wvtüt  jj^c/t^  dntt-f[vat  Xiyw 

Ktvv(ja  i\if-it  \fSwvi3QQ  rov  tnor  tfijGtv: 

Sl  KtvvQttt  ßamlBv  Kvsit*iuiv  avSjf&fo  daavjiQtaxTwv 
Ihug  am  xdhlttiioc  ftdv  ttfv  üavfiaatOTaros  re 
IhiriMv  &y&Qw7t(*w,  Uro  tfaviov  datfwv*  o?.eTtov 

A&fU  dh  ^Atp&oäfayjv  xat  Jtovvüov  afitp&tEgog  yag  r$wv 

Stepbanua  aagt  EQBTfiftv  tet  Im  ob  stauen  Siane  ib  avßgstov 
aidotoV)   und  el&vvw  agitare,  (aber  hier  im  obsctmea  Simie)* 


—    810    — 

In  Zusammenhang  mit  der  Agdistis  wollen  wir  hier 
die  Mise  kurz  erwähnen,  —  „eine  unzüchtige  mann- 
weibliche Gottheit  aus  dem  Kreise  der  phrygischen 
Großen  Mutter",  wie  Tümpel  sagt. 

Die  Orphische  Hymne  XLII,  stellt  diese  Mise, 
zusammen  mit  Dionysos,  (v.  1)  mit  der  phrygischen 
großen  Mutter  (v.  6),  mit  Aphrodite  auf  Cyprus,  (v.  7), 
und  mit  Isis  in  Aegypten  (v.  9),  und  nennt  sie:  „männlich 
und  weiblich,  mit  beiden  Geschlechtern  *  (v.  4).110) 

Später  kommen  wir  auf  diese  Göttin,  welche  zu 
Zeiten  noch  einen  Misos,  oder  Mismos,  als  männliche 
Form  fand,  bei  den  religiösen  Gebräuchen  zurück. 

Zum  Kreise  des  Zeus  gehört  der  Ganymedes.  Wir 
sind  der  Ansicht,  daß  auch  dieser  androgynisch  aufgefaßt 
worden  ist,  und  meinen  also,  daß  die  Stelle  bei  Tatianus 
(CLXXIX,  S.  170  A  9)  buchstäblich  aufgefaßt  werden 
muß,  wo  gesprochen  wird  von:  Ganymedes,  dem  ALndro- 
gynischen.  —  Wir  sind  nl.  der  Ansicht,  daß  Gany- 
medes abgeleitet  werden  muß,  (wie  auch  das  Etymo- 
logicon  Magnum  in  V.  gibt)  von  ydvva&ai  und  za  inqdea. 
Aber  wir  meinen,  daß  dieses  letzte  Wort  nicht  übersetzt 
werden  muß  mit :  „Rath*  sondern  mit:  „männliche  Scham- 
teile *  —  wie    das    Epitheton    (ptXofirjdrjg    bei   Aphrodite; 

110)  XLII,  Mvar\g  &v(iia/jia  arvqaxa. 

V.  1.  Kakkto  vaq&TjxoipoQov  Jtovvtiov, 
V.  3.  cAyvi\v  t'  bvvsqov  %e  MLm\v>  aQQrjTov  avaaaav, 
V.  4.  "AQtiBva  xd  &rjXvv,  dtcpvfj. 
V.  6.  Eive   xal   ev    Q>Qvyur\  tfbv  firjTEQi   (iv&ciTto- 
Xeveig, 

*H  KV7tQ(Q    T€Q7tJj    ÖVV    SV&tBipdvq    KvSeQSljl, 

™H  xal  TtvqoffOQotg  Ttedloig  £7taydXk€a9  dyvolg 

Aiyvitrov  Ttaqd  xevjia  tfvv  dii<pi7tcXotöi  %i- 
^vaig. 


—    811    — 

wenn  auch  der  Vers  bei  Hesiod,  worin  dieses  Wort 
vorkommt,  unecht  sein  mag:  denn  was  würde  beim 
Ganymedes  das  Epitheton:  „verständig*  bedeuten?  Dieser 
unserer  Auffassung  stimmt  mit  der  Nork's  (CXXVI) 
überein.  Wir  geben  seine  Beschreibung  hier  vollständig, 
da  dieselbe  wirklich  wunderschön  die  Figur  des  Ganymedes 
beleuchtet: 

„  Ganymedes  (v.  yavvvcu  und  fxrjdea  wie  Aphrodite 
(ptXo/xrj&rjg)  dieser  durch  seine  Schönheit  sprichwörtlich 
gewordene  Knabe,  welcher  auf  mehreren  Bildwerken  mit 
dem  Liebesgott  spielend  oder  beide  gegenseitig  im  Ringen 
ihre  Kräfte  messend,  dargestellt  ward,  ist  die  personifizierte 
Regenerationskraf t ;  daher  die  Becher  des  Heils,  die 
Schaale  Hygieens  das  weibl.  Geburtsorgan  in  der  Hand; 
daher  der  Adler  des  Zeus,  welcher  mit  dem  sich 
regenerierenden  Phönix  verwechselt  wird,  (Pf.  103,  5)  .  .  . 
oderZeus  verwandelte  sich  selbst  in  den  Adler,  als  er  ihn  ent- 
führen wollte.  Zeus  führte  das  Präd.  devdqiTrig  als  starker 
Eichengott,  also  war  er  selbst  jener  Hos  (ilex  v.  olesco)  dessen 
Bruder  Ganymed,  und  auf  dem  '/Ja,  dem  Berge  der 
Zeugung,  wo  Zeus  mit  Here,  Anchises  mit  Venus  sich 
begattet,  die  drei  Göttinnen  um  den  Preis  der  Schönheit 
streiten;  auf  dem  Ida  hatte  Zeus  den  Ganymed  zum 
erstenmal  erblickt,  und  war  sogleich  in  Liebe  zu  ihm 
entbrannt.  — 

„Im  Homer  rauben  die  Götter  überhaupt  den  Ganymed, 
eben  weil  sie  Unsterbliche  sind,  denn  wer  im  Besitze  des 
(Leben  erzeugenden,  stets  recreirenden)  Ganymed  ist, 
dem  kann  der  Tod  als  der  Gegenpol  desselben  nichts 
anhaben. 

„  Darum  wird  Ganymedes  in  blühender  Jugend  von 
der  Erde  entrückt,  denn  der  Begriff,  den  er  bezeichnet, 
ist  dem  Altern  der  Erde  entgegengesetzt,  wo  die  Macht 
des  Todes  sich  ununterbrochen  kund  gibt,  und  findet 
seine  künftige  Stätte  im   Himmel,  aus  welchem  mittelst 


—    812    — 

des     Sonnenstrahls    und    des    Regens     die     Mittel    der 
vegetativen  Wiedererzeugung  herabkommt. 

„Vor  dem  Ganymed  hatte  schon  Hermes  olvoxoog,  den 
man  als  l&vtpdX'kixog  in  der  Urzeit  phallo  erecto  abbildete, 
das  Mundschenkenamt  im  Olymp  gehabt.  (Schweighäuser 
zu  Athen  III  p.  64.)  Winckelmann  erwähnt  des  Reliefs 
des  Barberinischen  Candelabers,  auf  welchem  Mercur 
mit  einer  Schale  abgebildet  ist,  mithin  Mundschenk  der 
Götter,  über  welches  Amt  als  ein  lästiges  der  scherzende 
Lucian  den  Gott  bei  seiner  Mutter  sich  beklagen  läßt  (in  den 
Göttergesprächen  XXIV :  ngiv  rbv  veoovrjTov  tovtov 
olvo%6ov  rpisiv  xal  to  vsktclq  syco  £ve%eov.)  Hier  bedenke 
man  auch,  daß  der  Knabe,  welcher  bei  Hochzeiten  der 
Braut  den  Krug  vortrug,  an  den  xddfxcXog  der  Mysterien, 
also  an  Hermes  als  naQdvvficpcog  erinnern  sollte.  In 
diesem  Kruge  befindet  sich,  wie  in  Hygieens  Schaale  — 
aus  welcher  der  (phallische)  Heildrache  geführt  wird,  — 
das  Wasser  des  Lebens,   d.  h,  das  neue  Leben    erzeugt. 

„Also  war  Ganymed  der  Herden  Weidende  ein  Wesen 
mit  Hermes  sifirjlog  evavdgog,  welcher  als  personifizirter 
Regenerationstrieb  allerdings  der  »gute  Hirte"  ist; 
Hermes,  welcher  auch  geistige  Wiedergeburt  verleiht, 
wenn  er  als  vsxQ07cofi7iog  die  Seele  gereinigt  wieder  in 
den  Himmel  zurückführt,  oder  sie  als  Dionysus  aus  jener 
Vase  trinken  läßt,  welche  die  Erinnerung  an  ihren 
himmlischen  Ursprung  in  ihnen  wieder  auffrischt.  Das 
war  Bacchus  puer,  wie  der  jugendliche  Gott  der  Lust 
zum  Unterschiede  von  dem  graubärtigen  Silen  genannt 
wird.  Als  dieser  wird  Ganymed  durch  die  phrygische 
Mütze  erkannt,  welche  er  fast  auf  allen  Abbildungen  hat, 
und  Phrygien  besaß  bacchischen  Cult,  in  welchem  die  Eigen- 
schaft des  Dionysus  als  Spenders  des  wohlthätigen  Naßes, 
welcher  selbst  aus  einem  Felsen  mit  seinem  Thyrsus  Ge- 
tränk hervorlockt,  besonders  hervorgehoben  ist.  Nicht  müßig 


—    813    — 

hat  dann  die  Sage  hinzugefügt :  Zeus  habe  für  den  geraubten 
Ganymed  seinen  Vater  Laomedon  (Tzetz  ad  Lycophr.  v.  34) 
mit  Rossen  entschädigt  (Apld.  III  4,9),  jenen  Thieren, 
welche  wegen  ihrer  Schnelligkeit  Sinnbilder  des  schnell 
dahinfließenden  Stromes  wurden  {Innog  v.  snoa  fließen, 
equus-aequor).  Aber  tnnog  bedeutete  ursprünglich: 
Priap,  folglich  konnte  der  oben  mit  Priapus  und  Eros 
indentificierte  Ganymedes  auch  gegen  Rosse,  als  Symbole 
seines  Wesens  ausgetauscht  werden.  — * 

Noch  spricht  für  diese  Auffassung,  daß  vor  dem 
Ganymed  die  Hebe  Schenkin  der  Götter  war:  Hebe, 
die  Jugendblüte,  die  Jugendreife,  früher  Ganymeda 
genannt,  (nach  Pausanias  libr.  II  c.  13).  Aber  Hebe 
will  auch  sagen  die  Schamteile,  und  dadurch  wird  doch 
der  Zusammenhang  der  anderen  Namen  mit  den  Genitalien 
begründet 

Die  Art,  auf  die  der  Androgynismus  des  Ganymedes 
dargestellt  wird,  beruht  auf  der  Verbindung  des  durchaus 
männlichen  Körpers  mit  überaus  weiblicher  Zartheit. 
Ebenso  zeigen  die  Monumente  das  Androgynische 
Apollons:  „Denn  die  Alten  gaben  einigen  [von  ihren 
Gottheiten]    in  mystischer  Bedeutung  beide  Geschlechter 

in    einem    vermischt, und  diese    Vermischung 

ist  vorzüglich  dem  Apollo  ....  eigen,"  schreibt  Winckel- 
mann  (CXCIII  Buch  4.  Kap.  2,  §  38)  und  Payne  Knight 
meint,  daß  der  Apollo  Didymaeus  dieser  androgynische 
Gott  ist,  welchen  er  auf  macedonischen  Münzen  gefunden 
hat,  immer  in  androgynischer  Gestalt  mit  den  Gliedern, 
Locken,  und  dem  Gesichte  eines  Weibes,  mit  dem  Bogen 
oder  dem  Pfeile,  oder  beiden  in  seinen  Händen111),  Der 
Apollon,    der   Gott    des    Lichtes,    und    der   Musik    und 


ln)  CXIII  §  133  but  always  in  an  androgyneous  form,  with  the 
limbs,  tresses,  and  features  of  a  wo  man,  and  holdes  the  bow  of  an 
arrow,  or  bolt  in  his  hand. 


—    814    — 


Weissagung,  (das  Licht  des  Geistes),  war  auch  der  Gott 
der  Knabenliebe,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden. 
Gegenüber  dem  Apollon  steht  die  Arterais,  als  das 
weibliche  Licht,  als  die  Mondgöttin,  —  aber  auch  diese 
ist  androgynisch,  gerade  so  wie  wir  es  oben  in  der  Analyse 
des  Mithras-Mitra,  und  der  aegyptischen  Religion  sahen. 
Als  Abbildung  geben  wir  ein  aus  Tischbein 
(CLXXXV  Vol.  II  planch.  21.)  reproduciertes  Vasenbild. 


'S5ü  i 


Abb.  22. 


Tischbein  beschreibt  dieses  Bild: 

„Der  Hermaphrodit,  gezogen  in  einem  Wagen  durch 
einen  Gryph  und  einen  Luchs,  muß  die  Diana  sein. 
Macrobius  (Buch  LIII,  c.  XIII)  und  Orpheus  gaben  ihr 
die  beiden  Geschlechter.  Der  Luchs  war  eins  der  Tiere, 
welche  sie  am  liebsten  jagte.  Der  Gryph  wurde  von  ihr 
geliebt,  denn  unter    den  verschiedenen,  auf  den  symboli- 


—    815    — 

.sehen  Statuen  der  ephesischen  Diana  abgebildeten  Figuren 
waren  Gryphe112), 

Die  Orphiker  singen  von  der  Selene,  der  wahren 
Mondgöttin  der  Griechen,  (Hymnus  IX) 

„Höre    mich,   königliche   Göttin,    Lichttragende,   gött- 
liche Selene, 
Stierhornige  Mene,  Nachtlaufende,  Tagflüchtende 

—  —  —  —  —  weiblich  und  männlich118). 
Und  wenn  dann  auch  Mene,  der  weibliche  Name  ist,  so 
steht  der  männliche  Men,  Deus  Lunus,  dieser  gegenüber. 

Wir  werden  weiter  unten  sehen,  daß  auch  in  dem 
Gottesdienste  des  Hercules  Gebräuche  vorkamen,  welche 
mit  absoluter  Gewißheit  anzeigen,  daß  in  ihm  eine  an- 
drogynische  Idee  ausgesprochen  war.  Auch  er  wird  oft 
dargestellt  mit  einem  Becher  oder  Schale,  oder  mit  dem 
Hörne  des  Ueberflusses  in  seinen  Händen,  wie  dieses 
auch  beim  Ganymed  der  Fall  war.  — 

Auch  die  Dioscüren,  Castor  und  Pollux,  die  Zeus- 
söhne, waren  androgynisch,  und  wurden  schon  in  sehr 
früher  Zeit  so  aufgefaßt.  Denn  Epimenides  lehrte,  daß 
sie  männlich  und  weiblich  waren,  den  Ewigen  als 
Monas,    die    Natur  als  Dyas  bezeichnend,  denn  aus  dem 

n2)  The  Hermaphrodite,  drawn  in  the  car  by  a  griffin  and  a 
lynx  must  be  Diana.  Macrobius  (LI1I,  c.  XIII)  and  Orpheus*)  give 
her  the  two  sexes.  The  lynx  was  one  of  the  animals  that  she 
was  fond  of  hunting.  The  Griffin  was  agreeable  to  her  as  among 
the  different  figures  represented  on  the  Symbolik  Statue  of  the 
Diana  of  Ephesus,  there  were  griffins. 

*)  Hymne    XXXVI.     Aorefiidos,   &vtuiafxa  yiavvav.     KXvdi   {ä£v, 
(6  ßaaileia, 

(tQGEVO[jLOQq)£ 

ll3)  Klv&t,.  Uta  ßaöiXeia,  ipaeöipoqe,  dla  2eXrfVY\. 
TavQox€Q(og  Mrp>r)9  wx^löqüiios,  ijspoyom,  —  —  — 

—   —   —    —   —    —   —  —  —  —  &rkvg  T€  xal  aQü^v, 


—    816    — 

Monas  und  dem  Dyas  entsteht  alles  körperliche  und 
geistige  Leben114) 

Wie  wir  früher  gesehen  haben,  war  die  Neith  der 
Ägypter  mann-weiblich,  auch  die  Athene  der  Griechen 
ward  so  gedacht,  wenigstens  in  der  orphischen  Geheim- 
lehre, denn  sie  wird  in  der  XXXII  Hymne  genannt: 
Du  bist  männlich  und  weiblich  entstanden115). 

Wir  sind  geneigt  anzunehmen,  daß  die  Auf- 
fassung Creuzers  (XU V.  Bd.  II,  S.  332  sqq.),  —  obwohl 
diese  offenbar  von  den  neueren  Mythologen  ganz  verlassen 
ist  —  daß  nämlich  die  Pallas  in  Verbindung  steht  mit  einem 
höheren  Phallus-begriffe,  zutrifft.  Dadurch  wird  die  mann- 
weibliche Idee  der  Athene  im  Ursprung  deutlicher. 
(Man  sehe  auch  S.  213)  XLIV,  Bd.  II,  S.  334:  ...  . 
[Pallas]  wachet  [für  die  Erhaltung  der  Substanz  der 
Welt],  Pallas,  die  gerüstete,  im  Olympus,  bekämpft  die 
finsteren  Kräfte,  die  Giganten,  und  als  es  den  Titanen 
gelungen  ist,  den  Zagreus-Dionysos  zu  zerfleischen,  so 
rettet  sie  in  seinem  noch  schlagenden  Herzen  die  Sub- 
stanz der  Natur." ll6)    Etwas     weiter    schreibt   derselbe 

iH)  libr.  IV,  13.  Ol  de  Tteql  *  Ertifievtdrjv  aqqeva  xal 
Srikeiav  efiv&evtiav  rovg  Jioüxoqovg,  tov  fiev  alwva  Stfjteq 
povdda,  rfjv  de  <pvGiv  cog  dväda  xaXeaavreg*  ex  yaq  povadog 
xal  dvädog  o  jtäg  ttooyovixog  xal  ipv%ovixhg  e%eßXaGTr\(Sev 
agißfiog. 

116)  o(f<ft)v  fiev  xal  ^Ivg  e<pvg. 

116)  Dieses  erzählen  Firmicus,  de  errore  prof.  relig.  (LX  S.  253) 
und  auch  Clemens  (XXXIX  Protrept.  S.  15).  Preller  gibt  in 
CXXXIV,  v.  Liber  diese  kurze  Zusammenfassung:  Mit  der  Rhea- 
Demeter  zeugt  Zeus  die  Persephone-Artemis-Hecate,  denn  diese 
drei  Göttinnen  sind  nach  Orphischer  Lehre  Eine  Person,  ein  kos- 
misches Wesen,  dessen  Wirkungen  durch  die  ganze  Welt  reichen, 
so  wie  auch  Zeus  Alles  in  Allem  ist.  Von  diesen  Eltern  wird 
Zagreus  geboren,  noch  ehe  Persephone  durch  Raub  des  Pluton 
Gattin  wird. 


—    817    — 

Gelehrte  (XLIV,  Bd  II.  S.  336):  „Die  Phallen,  und 
[auch]  die  edelsten  derselben,  die  Palladien,  nachdem 
sie  vom  Himmel  auf  Erden  geworfen  waren,  [stehen]  als 
große  Buchstaben  für  die  Nachwelt  aufgerichtet,  als 
bleibende  Zeichen  des  Lebens  und  des  Bestehens."  Auch 
fast  jede  Statue  der  Pallas  Athene  gibt  das  sehr  Männ- 
liche in  dem  Körper  deutlich  an,  wie  schon  Schorn 
(CLXVin  S.  206)  bemerkt  hat. 

Nach  Schol.  Luc.  dial.  deor.  23,  1,  wird,  wie  Herr- 
mann in  CI  v.  Hermaphroditos  schreibt,  auch  dem  Pria- 
pos  androgyne  Natur  zugeschrieben.  Der  Priapos  ist 
der  Erzeuger  xatf  s^ox^v  und  in  dieser  Beziehung  kann 
der  Androgynismus  uns  nicht  wundern. 

Der  Priapos  wird  dargestellt,  entweder  als  Herme,  welche 
erst  unter  dem  Phallus,  der  gewöhnlich  ungemein  groß  ist 
(Man  sehe  die  Abb.  weiter  unten),  anfängt,  der  Oberleib 
hat  die  Stellung  der  XoQdwaig  (CXXXIV  v.  Priapos) 
oder  wie  man  in  Clarac  (XXXVIII)  oder  in  Eeinach 
(CLVH)  nachsehen  kann,  als  bärtige  Figur,  mit  langem 
Gewände  bekleidet,  das  er  aber  mit  beiden  Händen  auf- 
hebt und  so  sein  erigiertes  Glied  zeigt.    Das  aufgehobene 

Zagreus  ist  der  Liebling  des  Vaters,  zum  Weltregimente  be- 
stimmt, der  mit  kindischer  Hand  schon  mit  dem  Blitze  spielte.  Er 
und  der  Vater  sind  eine  eng  verbundene  Dyas.  Zagreus  ist  haupt- 
sächlich x&ovios,  und  mehr  die  Allegorie  des  Natur-  und  Welt- 
lebens in  seinem  Wirken  und  Vergehen,  während  Zeus  selbst  die 
dauernde  Substanz  der  Welt  ist.  Zeus  aber,  heißt  es,  machte  ihn 
zum  König  über  alle  Götter,  obgleich  er  noch  jung  und  unmündig 
war.  Er  wird  nun  erzogen  wie  das  Zeuskind  aus  Furcht  vor  der 
Hera  umgeben  von  Kureten.  Da  schickt  Hera  die  Titanen,  die 
Zagreus  beim  Spiel  überraschen.  Es  wird  ein  langer  Kampf;  das 
verfolgte  Kind  nahm  alle  möglichen  Gestalten  an,  ehe  es  erlag. 
Die  Mörder  zerstückelten  es,  das  Herz  wird  herausgenommen,  der 
Körper  zerteilt,  gekocht  und  von  den  Titanen  aufgegessen.  Das 
Herz  trägt  Athene  davon  und  bringt  es  dem  Zeus.  Dieser  gibt  es 
der  Semele  oder  verschlingt  es  selbst,  und  so  wird  hernach  ein 
anderer  Zagreus,  der  jüngere  Dionysos  geboren. 


—    818    — 


Gewand  ist  oft  mit  Obst  und   Blumen   gefüllt    oder  der 
Gott  hält  darin  Eroten. 

Wir  geben  hierbei  vier  Abbildungen  von  Herma- 
phroditen, welche  sehr  deutlich  diese  Caracteristica 
zeigen,  obwohl  wir  nicht  behaupten  können,  daß  dies  be- 


Abb.  23. 


Abb.  24. 


stimmt  hermaphroditische  Priape  sind,  da  das  Um- 
gekehrte nämlich  priapische  Hermaphrodite  natürlich  auch 
möglich  wäre.  Gerade  Abb.  23  und  24  (Clarac  667, 
1549  A.  Rome  Coli.  Giustia,  resp.  670,  1549  Paris,  Mus. 
Royal)  die  beiden  anderen  Abb.  25  und  26,  (Clarac  668, 


—    819    — 


1554  A,  Stockholm,  resp.  670,  1548  Eome  Coli.  Chablais) 
sind  sehr  demonstrativ  gehalten  in  priapischer  Gebärde. 
Abb.  26  *  u.  **  nach  zwei  Bronzen  im  Louvre,  geben 
auch  ähnliche  Haltungen :  wir  meinen  aber,  daß  die  ganze 
Auffassung  hier  ein  Nicht-Begreifen  der  ursprünglichen 
Idee  verrät,  und  so  diese  Bildchen  eher  zu  den  obscönen 


Abb.  25. 


Abb.  26. 


gezählt  werden  müssen.  Wir  verstehen  unter  obscönen 
Bildern  diejenigen,  welche  nur  in  der  Absicht  sexuell 
erregend  zu  wirken,  verfertigt  sind,  nicht  aber  diejenigen, 
welche  tiefen  Sinn  verraten,  obwohl  lascive  Geister  aus 
diesen  Darstellungen  sinnliche  Erregung  schöpfen  können. 
Wir  bitten  sehr,  diese  Definition  in  unserer  Arbeit  zu 
berücksichtigen. 


Jahrbuch  V. 


52 


—    820    — 

Gegenüber  dem  Priapos,  der  mehr  die  absolut  ma- 
terielle Äußerung  der  Liebe  durch  die  Sexualität  dar- 
stellt, wollen  wir  den  Eros  setzen. 


Abb.  26*. 


26** 


Der  Begriff  des  Eros  setzt  u.  E.   eine  androgynisohe 
Idee   voraus:    das  Streben    nach    harmonischer  Zusamm- 


s 


51  < 


—     822    — 

ftigung  kann   anthropomorphisch    doch  nicht    besser  dar- 
gestellt werden    als    durch    die  Zusammenfassung   beider 


Abb.  28. 


Begriffe,  welche  die  Harmonie  formen  werden.    Meistens 
wird  denn    auch   der  Eros    dargestellt    mit    männlichem 


—    823    — 

Körper,  aber  verbunden  mit  der  höchsten,  fast  weiblichen 
Zartheit.  Aber  in  späterer  Zeit  gab  es  doch  auch  bestimm- 
tere androgynische  Darstellungen,  wie  durch  den  (LVIII) 


Abb.  29. 


orphischen  Hymnus  Eros  auch  als  digtvrj  angerufen  wird, 
also:  beide  Geschlechter  habend.  —  Deutlicher  tritt  dieses 
hervor  an  den  Abbildungen  nach  Terracotta-Figuren. 
Die  Abbildung  27  gibt  drei  unedierte  Eroten,    zwei 


—     824    — 

beflügelte  und  einen  ohne  Fügel,  aus  dem  Museum  von 
Altertümern  in  Leiden. 

27*  (No.  S.  707)  ist  gefunden  zwischen  Cyme  und 
Grunium,  die  beiden  Anderen  (No.  L.  K.  A.  1024  und 
L.  K.  A.  1139)  stammen  aus  Metropolis.  Die  Körper- 
formen sind  sehr  weiblich  mit  Ausnahme  des  27***  der 
bestimmt  männlicher  gehalten  ist.  Die  beiden  anderen 
Abbildungen  sind  reproduziert  aus  Bullet,  de  correspond. 
hellen.,  G  pl.  15  (Abb.  28)  und  7  pl.  17  (No.  29).  Im 
Gegensatz  zu  den  vollständig  nackten  Leidener  Figuren 
ist  Abb.  28  bekleidet  mit  einem  kurzen  Chiton,  welchen 
der  Eros  mit  seiner  rechten  aufhebt,  so  daß  seine  Ge- 
schlechtsteile sichtbar  werden.  Die  Faltenformung  in 
dem  Chiton  auf  der  Brust  verrät  deutlich  weibliche  Brüste 
und  auch  die  Bildung  der  Oberschenkel  ist  weiblich. 
In  Abbildung  29  ist  nur  ein  wulstartiges  Gewandstück 
um  den  Bauch  gewunden,  ein  Motiv,  das  wir  auch  bei 
einem  Hermaphroditen  begegenen. 

Ehe  wir  den  Hermaphroditen  in  engerem  Sinne 
behandeln,  wollen  wir  die  beiden  Gottheiten,  zu  deren 
Kreise  er  gehört,  und  in  deren  Umgebung  verschiedene 
Dämone  als  Hermaphroditen  auftreten,  behandeln. 

Die  erste  ist  der  Dionysos. 

Wir  gaben  schon  oben  einen  Teil  der  Geburtsage 
des  Dionysos.  Den  andern  Teil  wollen  wir  hier  bringen. 
Semele  verlangte  von  Zeus,  daß  er  sich  ihr  in  seiner 
vollen  göttlichen  Herrlichkeit  zeigen  möchte.  Als  aber 
der  Zeus  mit  Blitzen  und  Donner  auf  die  Erde  hinab- 
stieg, verbrannte  der  Palast  des  Kadmos  und  den  unge- 
borenen Dionysos  nahm  der  Vater  Zeus  und  barg  ihn 
in  seiner  Hüfte,  aus  der  er  später  geboren  ward,  darum 
nennen  ihn  die  Griechen  nvqlroxog,  d.  h.  aus  dem  Feuer 
geboren,  und  firjQOTQacprjg,  d.  h.  in  der  Hüfte  genährt. 
Doch  wird  er  auch  'aQQevoihfjXvg  d.  h.  Mann-weib  genannt. 
Und  Johannes  Lydus  (CIVlibr.IV,  95)  fährt  dann  fort:   So 


—    825     — 

war  er  von  den  Griechen  genannt,  die  aber  die  philosophi- 
sche Auffassung  von  ihm  nicht  kannten.  Dieselbe  ist  aber :  Er 
ist  der  warme  Geist,  der  aus  allem  Erzeugten,  von  jedem 
geistig  Lebenden  zusammenbringt  zum  Lebendig -werden 
und  Wachsen,  von  Allem  was  in  der  Welt  ist.  Mr\QOTqa<prfi 
aber  wird  er  genannt,  weil  in  der  Haut  und  in  der  Gegend 
der  samenbereitenden  Teile  und  in  den  Schenkeladern 
diejenige  Substanz  von  jedem  Lebenden  gefunden 
wird,  woraus  alles  geworden  ist.  Und  mann-weiblich 
wird  er  genannt,  weil,  nachdem  die  mann-weiblich  Erzeugten 
sich  nach  zwei  Richtungen  differentierten  d.  h.  männlich 
oder  weiblich  wurden,  jeder  von  Beiden  aus  sich  selbst 
nichts  fortbringen  kann,  sondern  sie  zusammen  kommen 
müssen  und  so  das  Lebendige,  das  dadurch  entsteht, 
erzeugen.  Und  sie  sagen,  daß  er  vernichtet  und  wieder 
geborenward,  weil  auch  Alles,  was  aus  ihm  erzeugt  ist,  fort- 
während vernichtet  wird  und  zum  Leben  wieder  erweckt.118) 


118)  Jiovvöcg  eöTi  to  ev  voj  TtvQt  yevofnevov  Ttvevfia, 
TOVzeöTi,  to  Üiqixov,  a&ev  Ttvqvtoxog  ixXtf&r]  xai  [tv)qo~ 
TQacprjg  xai  äqaevoÜrjXvg  vno  'EXXrjvwv,  äyvorjadvTwv 
exeivwv  (ffjv  neql  avTov  <piXoöo(piav  xal  rtg  TeTV%v\xev  cov 
ovrog  ydq  eoTi  to  Seqiibv  nvevfia  to  ex  nd^rjg  anoqäg 
Tcavxog  £(*)ov  nvevjuaTixov  avyxaTOTiSeiievov  elg  tqoyoviav 
xai  av£rj(fiv  ndvTcov  tcov  ev  tcw  xoV/xco. 

JlrjQOTQacprjg  de  exXförj,  enei  ev  Talg  firjviy'gi  xai  Tolg 
oyxolg  xoCg  yovijuoig  xai  Talg  (pkeipl  Talg  ev  Tolg  firjqoig 
eyxaTüfxHfTa  rj  ToiavTtj  ovaia  navTog  £($ov,  ej  ov  tivveöriq 
to  Ttdvza. 

'AqqevoürjXvg  de  eqqe&rj  dcä  to  Tag  äqqevo&rjXeig 
GTtoqdg  yivetöai  &uo9  äqaevixrjv  T8  xal  frrjXvxrjV  (pvöiv,  xai 
ovx  £Gtiv  ereqov  äy?  foäqov  to  dvva^ievov  yewrjaai,  ei  f.ir 
cfiiov  eXSoiev  xai  Ccpoyovrjtfwtfi  t<x  £<pa  to  vno  tovtov 
deqrjpiovqyr]  flava.  avaXveö&ai  t£  amov  vneiXr^aai  xai 
rcdXiv  yewäö&ai,  enei  xal  tol  e%  ovtov  yevvto^ieva  o^ioiiog 
avexXeiTtTcog  SanavoTai  xal  näXiv  ZwoyoveiTai. 


—    826    — 

Wir  haben  diese  ganze  Stelle  des  Lydus  übersetzt, 
da  wir  glaubten,  so  am  kürzesten  den  Begriff  des  Dionysos 
wiedergeben  zu  können. 

Noch  einmal  wird  der  Dionysos  getötet  und  noch  ein- 
mal steht  er  vom  Tode  auf  und  steigt  nach  dem  Himmel 
empor  mit  seiner  Mutter,  Semele,  der  Erdenmutter.  So 
glauben  wir,  wie  schon  Zoega  schrieb,  das  Spätere  aus 
dem  Dionysosleben  interpretieren  zu  dürfen. 

Als  der  Dionysos  auf  seinen  Umzügen  auch  nach 
Argos  kam,  wollte  Perseus  den  bakchischen  Thiasos  nicht 
annehmen  und  bekriegte  denselben,  und  Dionysos  mit  seinen 
Bakchen  soll  von  Perseus  getötet  und  in  den  Alcyonischen 
See  von  Lerna  geworfen  worden  sein. 

Wir  bringen  dieses  nach  (CI  v.  Dionysos  sp.  1057). 
Die  Stellen,  welche  er  angibt,  erzählen  uns: 

Cyrillus  sagt  adv.:  Jul.  libr.  X,  p.  341:  daß  Perseus 
Dionysos  tötete  und  daß  dieser  in  Delphi  bestattet  sei. 

Augustinus  de  Civitate  dei  lib.  XVIII,  Kap.  13 
Corpus  Script  eccles.  latinor.  Vol.  XXXX):  Nonnulli 
[scribunt  istum  Liberum]  occisum  in  pugna  a  Perseo,  nee 
ubi  fuerit  sepultus. 

Seh.  in  Iliad.  B  319.  (zitiert  in  Lobeck  Aglaoph)  sagt 
uns,  daß  man  versuchte  dem  Perseus  die  höchste  Ehre 
zu  erweisen  und  ihn  selbst  über  Herakles  zu  erheben, 
denn  man  erzählte,  daß  er  den  Gott  Dionysos  getötet  und 
in  den  Lernaischen  See  geworfen  hat. 

Wir  finden  auch  bei  Pausanias  viele  Beweise 
für  einen  stattgehabten  Kampf  zwischen  Perseus  und 
Dionysos,  «welcher  offenbar  mit  einer  großen  Niederlage 
des  Dionysos  endete. 

Buch  II,  C.  20.  Das  Grabmal  in  der  Nähe  heißt 
das  der  Bacchantin  Chorea,  und  man  erzählt,  daß  diese 
den  Heereszug  der  Weiber  mit  Dionysos  nach  Argos 
begleitete,  Perseus  aber,  da  er  im  Kampfe  siegte,  den 
größten    Teil    der    Weiber    tötete.       Die    Übrigen    nun 


—    827    — 

erhielten  ein  gemeinschaftliches  Grab.  Dieser  aber,  da 
sie  durch  ihre  Würde  ausgezeichnet  war,  errichtete  man 
besonders  dieses  Grabmal. 

Und  auch  in  Cap.  22  spricht  er  von  einem  Grabe 
der  Weiber,  welche  von  den  Inseln  des  Ägäischen 
Meeres  dem  Dionysos  auf  seinen  Heereszügen  folgten 
und  in  dem  Treffen  gegen  die  Argiver  und  den  Perseus 
gefallen  waren  und  deswegen  heißen  sie  Weiber  des  Meeres. 

Cap.  23  aber  schreibt  er:  [Sehenswert  ist]  ein  Tempel 
des  Dionysos  Kresius.  Man  erzählt  nämlich,  daß  ihm 
nach  seinem  Kampfe  mit  Perseus  und  nach  erfolgter 
Aussöhnung  mit  demselben  sowohl  sonst  große  Ehre  von 
den  Argivern  erwiesen,  als  auch  dieser  abgesonderte  Platz 
geheiligt  wurde.  Des  Kresius  Tempel  wurde  er  in  der 
Folge  genannt,  weil  er  Ariadne,  als  sie  gestorben  war, 
hier  begrub. 

Diesen  großen  Kampf  erzählt  uns  sehr  dramatisch 
Nonnus  (CXXV  Buch.  XLVII,  S.  1234).  Dort  wird 
die  Ariadne  durch  Perseus  getötet:  auch  da  kommt  eine 
Versöhnung  zwischen  Dionysos  und  Perseus  zu  Stande. 
Uns  scheint  aber,  daß  Nonnus  der  Reihenfolge  der 
Sache  dichterisch  etwas  Gewalt  angetan  hat.  Und  auch 
in  dem  Bericht  des  Pausanias  sollte  etwas  geändert  werden. 
Wie  wir  oben  schon  anführten  sagt  S.  Cyrillus  nach 
dem  Dichter  Dinarchus,  daß  Perseus  den  Dionysos 
tötete.  Und  diese  Stelle  wird  auch  von  Joh.  Malala 
citirt  (CVIII  lib.  II  S.  45,  1  —  10.),  der  aber  Dionysos 
vor  Lykurgus  flüchtend,  in  Delphi  sterben  läßt;  und  er 
sagt  dann,  „daß  Dionysos  nächst  dem  goldenen  Apollon 
da  begraben  war.  Das  Grab  war  in  Form  einer 
Stufe,  worauf  geschrieben  stand:  Hier  ist  begraben 
Dionysos  der  Sohn  der  Semele.  So  hat  der  Gelehrte 
Philochoros  geschrieben." 

Eusebius  führt  auch  an,  daß  er  durch  Perseus 
getötet    war,    wie   Dinarchos,  der   Dichter   geschrieben 


—    828    — 

hat,  welcher  auch  das  Grab  in  Delphi  gesehen  haben 
soll  (Xqovix.  xav.  p.  122  in  Seal.  thes.  tempor.  citirt 
bei  Philochorus  ed.  Siebeiis). 

Wir  können  wohl  behaupten,  daß  in  dem  Mythos  der 
Dionysos  in  Archos  mit  seinem  ganzen  Heere  getötet 
worden  ist.  Die  spätere  Versöhnung  mit  dem  Dionysus 
soll  nicht  aufgefaßt  werden  als  eine  mit  einem  unter  den 
Menschen  lebenden  Heros,  sondern  mit  dem  Gotte,  also 
durch  seine  Priester. 

Wenigstens  für  einen  Teil  wollen  wir  zeigen,  wie 
dieses  verstanden  werden  kann. 

Apollodoros  erzählt  uns  in  seiner  Mythologischen 
Bibliothek.  Buch  II,  c.  4,  4,  wie  Perseus  mit  Danae 
und  Andromeda  nach  Argos  geht  und  wie  Akrisius,  der 
Vater  der  Danae,  diese  in  ein  unterirdisches,  ehernes 
Gemach  geschlossen  hat,  aus  Furcht,  daß  sie  geschwächt 
werden  könnte.  Denn  durch  einen  Sohn  würde  er  sterben, 
hat  das  Orakel  gesagt.  Zeus  kam  als  Goldregen,  und 
erzeugte  mit  ihr  den  Perseus. 

Sie  trafen  den  Akrisius,  der  aus  Furcht  Argos  ver- 
lassen hat,  und  Perseus  tötete  den  Akrisius  beim  Discus- 
werfen.  Da  Perseus  aber  lieber  nicht  in  Argos,  dem 
eigentlichen  Gebiet  des  Akrisius  herrschen  wollte, 
tauschte  er  mit  dem  Sohne  des  Proitos,  Megapenthes, 
und  dieser  herrschte  über  die  Argiver,  Perseus  über  die 
Stadt  Tiryns.  Wir  sahen  oben  den  Kampf  zwischen 
Perseus  und  Dionysos,  und  Hesiod  (cit.  bei  Apollodorus) 
erzählt,  daß  die  Schwestern  des  Megapenthes,  und  die 
Weiber  von  Argos,  weil  sie  die  Religionsgebräuche  des 
Dionysos   mißbilligten,   wahnsinnig  wurden. 

Der  einzige,  der  hier  retten  konnte,  war  Melampos, 
der  große  Seher,  und  der  erste  Erfinder  der  Heilkunde 
durch  Arzneikräuter  und  Reinigungsmittel.  —  Herodot 
sagt  von  ihm :  (LXXX  Buch  II  c.  49)  daß  er  den  Phallus  in 
Griechenland  eingeführt  hat,  sowie  den  Namen  Dionysos 


—    829    — 

und  sein  Opferfest.  Nur  hat  er  nicht  genau  die  ganze  Sache 
erfaßt  und  dargestellt,  sondern  die  Weisheitslehrer  nach 
ihm  haben  es  noch  weiter  herausgestellt  sagt  Herodot 
weiter,  und  dann:  „[er  hat]  unter  den  Hellenen  das 
Dionysische  mit  einigen  Abweichungen  eingeführt",  und 
Herodot  hält  am  meisten  dafür,  daß  Melampus  das 
Dionysische  kennen  gelernt  hat  durch  Kadmos  den 
Tyrier,  und  diejenigen,  welche  mit  diesem  aus  Phönicien 
in  das  Land  gekommen  sind,  das  jetzt  Boeotien  heißt. 

Wir  geben  hier  einige  Genealogien,   insoweit  sie    zu 
unserer  Sache  Beziehung  haben. 
Abas 


Proitos  Akrisios 

i 


Agenor 


Megapenthes  Iphianassa  Danae  Europa    Kadmos 

|  verheiratm.      |  |  | 

Iphianira     Melampos  Perseas  Pelops  Minos      Semele 

verheirat  mit      (nach  |  *— *- *       ^— ^^-^        | 

Melampos  Apollo-  Sthenelos-  Nicippe  Atreus  Katreus  Ariadne  Dionysos 
(nach  Diodor)    doros)  |  | 

Plisthenes-Aerope 

Agamemnon 
Nach  Apollodor  nun  waren  die  argivischen  Weiber 
unter  Proitos  von  der  Raserei  besessen,  und  dieser  König  ließ 
Melampos  kommen.  Diodor  Buch  IV,  c.  68,  aber  schreibt: 
„Melampos  als  Wahrsager  heilte  in  Argos  die  Weiber, 
die  durch  den  Zorn  des  Dionysos  in  Baserei  geraten 
waren.  Zum  Dank  für  dieses  Verdienst  trat  ihm  der 
König  von  Argos,  Anaxagoras,  der  Sohn  des  Megapenthes, 
zwei  Dritteile  des  Reiches  ab.  Er  ließ  sich  nun  in 
Argos  nieder  und  regierte  [daj.  Er  nahm  Iphianira,  die 
Tochter  des  Megapenthes  zur  Ehe." 

Diese  letzte  Lesung  stimmt  absolut  mit  der  oben 
gegeben  Argivischen  Mythe  überein:  Dionysos,  der  jugend- 
liche Heros  in.  B.  zu  Perseus,  wird  durch  den  Argiver  ver- 
schlagen.    Zur  Rache  schickt   er  dann  die  Raserei  über 


—    830     — 

die  Weiber.  Und  dann  ruft  Megapenthes,  der  mit 
Perseus  die  Länder  getauscht  hat,  Melampus,  den 
Dionysos-Priester,  und  dieser  versöhnt  die  Gottheit.  Me- 
lampus stammt  aus  Thessalien,  und  in  Thrakien  bestand 
der  Dionysos-dienst  schon,  also  aus  dem  Norden  wird 
der  Sühner  geholt.  Dann  gibt  Pausanias  noch  eine  Er- 
zählung wie  der  Dionysos  später  die  Argiver  schützte, 
und  sie  ein  bestimmtes  Bild  verehrten,  daß  sie,  als  sie  von 
Troja  zurückkamen,  aus  Euboea  mitgenommen  hatten: 
(Buch  II,  c.  23)  wo  sie  beim  Vorgebirge  Kaphereus 
Schiffbruch  litten.  „Da  beteten  sie  zu  einem  der  Götter, 
er  möchte  in  der  gegenwärtigen  Not,  ihr  Retter  sein  und 
es  zeigte  sich  ihnen  sogleich,  wie  sie  vorwärts  gingen, 
eine  Grotte  des  Dionysos,  und  eine  Bildsäule  des  Gottes 
war  in  der  Grotte,  und  wilde  Ziegen,  welche  vor  dem 
Sturme  flöhen,  hatten  sich  dort  gesammelt.  Diese 
schlachteten  die  Agiver,  speisten  das  Fleisch  und  ge- 
brauchten die  Häute  zur  Bekleidung." 

Der  Tod  des  Dionysos  durch  Perseus  wird  aber 
offenbar  von  den  Agivern  als  Tatsache  angenommen. 

Und  dieses,  so  sagt  Zoega,  (S.  215,  Not.  21)  würde 
es  sein,  was  die  Griechen,  welche  fürchten,  die  Nieder- 
lage des  Gottes  außerhalb  der  Mysterien  zu  besprechen, 
in  die  folgende  Erzählung  umänderten: 

Der  Dionysos  wollte  seine  Mutter  aus  der  Unterwelt 
empor  bringen  und  im  Olympus  einführen,  und  er  sollte 
durch  den  Alcyonischen  See  hineingestiegen  sein;  den 
Weg  aber,  der  hier  hinabführt,  soll  ihm  Polymnus  ge- 
zeigt haben.  Die  Feierlichkeiten  jedoch,  welche  all- 
jährlich bei  Nacht  dem  Dionysos  zu  Ehren  auf  diesem 
See  angestellt  werden,  durften  nicht  Allen  bekannt  werden. 
So  weit  Pausanias. 

Zoega  sagt,  daß  Polymnus  abgeleitet  ist  von  €id(o, 
somit  einen  Todesgenius  bezeichnen  soll. 


—    831    — 

Mehr  über  diesen  Mythus,  welchen  Pausanias  nicht 
erzählen  darf,  geben  uns,  mit  Hyginus  in  seinem  Poeti- 
con  Astronomicon,  auch  einige  Kirchenväter,  natürlich 
gemischt  mit  grausamen  Anzüglichkeiten,  welche  oft  ein 
„Nichtbegreifen wollen*  zeigen. 

Der  Name  des  Genius  wird  sehr  verschieden  ge- 
geben :  Polymnos  gibt  Pausanias,  wie  wir  oben  sahen, 
Prosymnus  nennen  ihn  Clemens  Alexandrinus  (Protrept. 
Bd.  I,  S.  29)  und  Arnobius  (Adv.  Gentes  libr.  V,  S.  176.  X.) 
Hyginus  nennt  ihn  Hypolipnus,  was  wahrscheinlich  nach 
Wouwern  und  Muncker  (CXXIV  S.  29,  Not,  12)  als 
Polyhypnos  gelesen  werden  muß,  was  dann  wieder  zu 
Zoegas  Ableitung  zurückbringt. 

Prosymnus  will  dem  Dionysos  den  Weg  zeigen,  aber 
nur  unter  einer  Bedingung,  daß  er  sich  nämlich  ihm  hingibt. 
Und  Dionysos  schwur  dem  Prosymnos,  daß  er,  wenn  er 
seine  Mutter  herausgeführt  hätte,  dieses  bestimmt  tun 
würde.  Als  der  Dionysos  oben  wieder  heraufgestiegen 
war,  fand  er  den  Prosymnus  tot.  Und  um  seinen  Schwur 
zu  halten,  soll  er  dann  einen  Phallus  aus  Feigenholz  ge- 
schnitten haben  und  diese  da  gepflanzt  haben,  und  damit 
den  Akt,  welchen  er  dem  Prosymnus  versprach,  vorge- 
nommen haben110). 


ii9)  yy\r  geben  hier  den  lateinischen  Text  des  Arnobius  wieder. 
(Clemens  hat  dieselbe  Erzählung,  welche  dann  auch  Arnobius  abschrieb, 
da  Clemens  griechisch  schrieb,  Arnobius  aber  lateinisch,  so  geben  wir 
seine  Version.  Hyginus  gibt  diese  Mythe  nur  bis  zu  dem  Schwur). 
Arnobius'  Version  ist  auch  darum  interessant,  da  dieselbe  den 
kirchenväterlichen  Haß  gegen  die  griechische  Religion  in  seiner 
vollen  Grausamkeit  zeigt. 

Cum  inter  homines  (inquiunt)  esset  adhuc  Nysius  et  Semeleius 
Liber  nosse  inferos  expetivit,  et  sub  tartari  sedibus  quidnam  rerum 
ageretur,  inquirere  sed  oupiditas  haec  eins  nonnuüis  difficultatibus 
impediebatur:  quod  qua  iret  ac  pergeret  inscitia  itineris  nesciebat. 
Prosumnus  quidam  exoritur,  ignominiosus  amator  dei  atque  in 
nefarias  libidines  satis  pronus,  qui  se  ianuam  Ditis  atque  acherusios 


—    832    — 

Wenn  auch  der  Phallus  viel  früher  in  Griechenland 
verehrt  worden  ist,  als  es  übereinstimmen  würde  mit  der 
Stiftung  der  Lernäischen  Mysterien,  welche  Pausanias 
„nicht  alt14  nennt,  so  ist  doch  dieser  Mythos  in  Griechen- 
land geglaubt  worden. 

Wenn  man  sich  wirklich  hineindenkt  in  die  grie- 
chische Auffassung  des  gedachten  Zeitalters,  kann  doch 
die  Mythe  nicht  schöner  mystisch  erzählt  werden. 

Denn  als  der  Erzeuger  und  der  Regenerator  in  die 
Unterwelt  hinabsteigen  wollte,  mußte  er  durch  den  Tod 
hindurch,  d.  h.  er  sollte  sich  dem  Prosyranus  hingeben. 
Aber  der  Regenerator  ist  ewig  und  stirbt  nicht,  darum 
wird  er  die  Hingabe  erst  nach  dem  Hinabsteigen  voll- 
bringen. Wenn  nun  die  Kirchenväter  aber  das  Ge- 
storbensein des  Prosymnos  erzählen,  so  liegen  zwei  Möglich- 
keiten vor,  entweder  sie  haben  eine  Erzählung  wieder- 
gegeben,   worin    schon    der  Genius    in  einen  Heros  ver- 


Aditus  pollicetur  indicaturum,  se  sibi  gereret  morem  atque  uxorias 
voluptates  pateretur  deus,  ex  se  earpi.  Deus  faeilis  iurat  potestatis 
futurum  ae  voluntatis  se  eius,  sed  cum  primum  ab  inferis  compos 
voti  atque  expeditionis  redisset.  Viam  comiter  Prosymnus  edisserit 
atque  in  limine  ipso  prostituit  inferorum.  Interea  dum  über  Stygem, 
Cerbernm  Furias,  atque  alias  res  omneis  curiosa  inquisitione  col- 
lustrat,  ex  viventium  numero  iudex  ille  decidit,  atque  ex  more 
sepelitur  humano:  emergit  ab  inferis  Evius  et  recognoseit  extinc- 
tum  ducem.  Qui  ut  fidem  compleret  pacti  et  iurandi  solveret  re- 
ligione  se  iuris,  locum  pergit  ad  funeris  et  ficorum  ex  arbore 
ramum  validissimum  proesecans  dolat,  runcinat,  levigat  et  humani 
speoiem  fabrioatur  in  penis  figit  super  aggerem  tumuli  et  postioa 
ex  parte  nudatus,  accedit:  subdit,  insidit.  Lasoivia  deinde  luxuriantis 
assumpta,  huc  atque  illuc  elunes  torquet  et  medidatur  ab  lignopati, 
quod  iamdudum  in  veritate  promiserat.  Ao  ne  quis  forte  a  nobis 
tarn  impias  arbitretur  confietas  res  esse,  HeracHto  ut  testi  non 
postulamus  ut  credat,  nee  mysteriis  volumus  quid  super  talibus 
senserit  ex  ipsins  aeoipiat  lectione  totam  interrogat  Graeiam,  quid 
sibi  veluit  Ithyphalli,  quos  per  rura,  per  oppida  mos  subrigit  et 
veneratur  antiquus? 


—    833    — 

wandelt  ist,  denn  ein  Todesgenius  kann  doch  nicht 
sterben,  oder  sie  fügen  etwas  hinzu,  um  die  griechische 
Religion  erst  recht  abscheulich  darzustellen.  Hyginus 
hat  diesen  Teil  nicht,  was  mehr  für  die  letzte  Möglich- 
keit spricht.  Wohl  ist  denkbar,  daß  die  Argiver  an 
diesem  Mythos  die  Verehrung  des  Phallus  anknüpften, 
denn  wenn  Dionysos  zurückkam,  der  Regenerator  aus 
dem  Totenreiche  heraufstieg,  was  würde  dann  mehr 
passen  als  die  Pflanzung  des  plastischen  Symbols  der  Erzeu- 
gung, der  Regeneration  ?  Aber  auch  als  Symbol  der  Hingabe 
der  Mann-weiblichen  Gottheit  dem  männlichen  Tode: 
einer  kurzen  Vereinigung  mit  dem  Tode,  um  dann  er- 
klärt und  erstarkt  wieder  aufzuerstehen.  Denn  auch  aus 
dem  See  von  Lerna  riefen  die  Argiver  den  Dionysos 
ßovyevifi  unter  Trompetenschall  empor:  er  ist  die  leben- 
zeugende Naturkraft,  als  deren  Symbol  in  diesem  Kultus 
auch  der  Phallos  gebraucht  wurde",  schreibt  Voigt  (in 
CI  v.  Dionysos  Sp.  1057.)      (Plutarch,   Is.   u.  Os.  c.  35). 

Wir  haben  als  Abbildung  30,  den  göttlichen 
Dionysos-Kopf  aus  dem  Museum  in  Leiden  beigefügt, 
denn  besser  als  Worte  und  schöner  als  andere  Statuen 
gibt  dieser  Kopf,  wie  verstümmelt  er  auch  ist,  die  heilige 
extatische  Entzückung  wieder,  welche  in  der  herrlichen 
Regeneration  der  Natur  jauchzt  und  jubelt. 

Die  Mannweiblichkeit  des  Gottes  wird  weiter  noch 
erwähnt  von  vielen  Schriftstellern  des  Altertums.  Euripides 
nennt  ihn  in  seinen  Bacchi:  weibgestaltet  ($r]Xv[io()<pog), 
die  orphysche  Hymne :  Mit  zwei  Geschlechtern  (CXXIX 
XX,  v.  2  di<pvij),  und  dann  Aristides  (VIII)  in  seiner 
Rede  über  Dionysos: 

So  ist  der  Gott  männlich  und  weiblich.  —  Er  hat  eine 
Gestalt  seiner  Natur  gemäß,  so  wie  er  überall  für  sich 
selber  wie  ein  Zwilling  ist;  denn  er  ist  zwischen  Jüng- 
lingen ein    Mädchen,    zwischen    Mädchen    ein    Jüngling, 


Abb.  30. 


—    835    — 

und  zwischen  Männern  ein  Bartloser  und  ein  von 
brausender  Lebenskraft  überfließender120). 

Eusebins  schreibt  in  der  oben  angeführten  Stelle: 
Dionysos  wird  weibgestaltet  genannt,  verschiedener 
unsittlicher  Ursachen  wegen,  und  weil  er  mit  einem  mit 
Weibern  gemischten  Heer  kämpfte;  und  in  seiner  Praep. 
Evag.  3,  p.  66  (cit.  Philoch  ed.  Siebeiis)  sagt  er:  „ Dionysos 
ist  weibgestaltet  so  bezeichnend  die  mannweibliche  Kraft 
der  Fruchtbäume,    soweit  es   cfie  Zeugung  anbelangt." 

Siebeiis  nennt  dieses:  ridiculam  rationem.  Uns 
scheint  es  aber  sehr  richtig  zu  sein,  wenn  wir  nl.  Frucht- 

120)  "Aqqtjv  t€  xal  &rjhvg  6  ösog e<fri  de  t[\ 

(fvast  xal  ttjv  fAOQgyrv  nQotjeocxwg'  waneq  yaq  dldvfiog 
ndvirj  avrcg  TiQog  eavrov  ktfrr  xal  yäg  iv  r^&eoig  etfrl 
xoQrj,  xal  ev  xoqaig  rjt&eog,  xai'  av  cog  ev  äqqs(Stv  ayeveidg 
T€  ßQMtevg. 

Wie  man  sieht,  haben  wir  ßQtaevg  übersetzt,  wie  wir  oben 
taten:  wir  taten  es  nach  Creuzer,  Th.  IV  S.  104.  der  Name  von 
ß(>i;<o,  ßgifrco  ß^voo,  welches  eine  Fülle  des  Lebenstriebes  in  seinen 
mannigfaltigen  Aeusserungen  bedeutet.  Welcker:  CXC,  Th.  II, 
S.  607,  und  Not.  102,  und  S.  608.  Brisens  fließend,  segentriefend. 
(Not.  102,  noch  jetzt  heißen  die  Brunnen  ßQvaia.  —  Ausdrucksvoll 
Persius  1,76  Brysaei  .  .  .  venosus  über  AttiJ  S.  608.  Anschaulich 
wird  das  Wort  durch  die  überschwengliche  Fruchtbarkeit  und 
Saftigkeit  der  Trauben  etc.,  die  man  auf  griechischen  Inseln,  die 
Bergabhänge  und  mit  der  Fülle  der  Früchte  zum  Teil  den  Boden 
bedecken,  sieht.  Teufel  schreibt  über  diese  Stelle  bei  Persius : 
„Persius  nennt  [Attius]  den  Briseischen  und  seine  Stücke  „adrig" 
um  damit  die  Überschwenglichkeit,  Überladenheit,  die  überspru-. 
delnde  Kraftfülle,  wohl  auch  die  Derbheit  des  Dichters  und 
seiner  Produkte  zu  bezeichnen."  Stoll  (CXXXIV  v.  ßqioalog 
schreibt:  „Das  Wort  bezeichnet  den  Dionysos  als  Gott  des  Früh- 
lings, wo  alles  treibt  und  schwillt",  und  v.  Brisae :  Ihre  Bedeutung 
geht  wohl  weiter  und  bezeichnet  die  schwellende  Fülle  des  Natur- 
lebens." Wir  übersetzten  das  Wort,  da  hier  dasselbe  unmöglich 
den  Gottesnamen  meinen  kann,  sondern  nur  einen  aus  der  Götteridee 
abgeleiteten  Begriff.  Ob  dies  Alles  in  einem  heutzutage  obscön  ge- 
nannten Sinne  gemeint  ist,  lassen  wir  dahingestellt. 

Jahrbuch  V.  53 


—    836    — 

bäume  in  dem  ausgebreitetsten  Sinne   nehmen,   d.  b.  als 
Symbol  der  Vegetation,  ja  selbst  der  Zeugung  überhaupt. 

Wir  haben  überdies  noch  den  Dionysos  Dentrites, 
(Platarch  Symp.  V.  1). 

Snidas  v.  AvdQoywog  sagt:  Dionysos  dem  männ- 
lichen Thun  und  dem  weiblichen  Leiden  nach,  der  Un- 
männliche und  der  Hermaphroditos. 

Knight  faßt  diese  Mannweiblichkeit  auf  wie  die 
Vereinigung  des  Dionysos  mit  Ariadne.    (XCIII  §  100). 

Es  gibt  verschiedene  Tatsachen,  welche  diese 
Auffassung  nicht  zu  unwahrscheinlich  machen. 

Wie  Stoll  (CI  v.  Ariadne)  sagt:  „scheint  es  eine  in 
der  Sage  zur  Heroine  herabgesunkene,  besonders  auf 
Naxos  und  Creta  verehrte  Naturgöttin  zu  sein,  die  der 
Aphrodite  sehr  nahe  stand  und  den  fruchtbaren  Erd- 
boden bezeichnet  Die  Etymologie  des  Namens,  wie  sie 
Nork  (CXXV1  v.  Ariadne)  gibt,  stimmt  damit  sehr 
auffallend  überein :  'Agi-ddvrj,  s.  v.  a.  'Advrj  i.  q.  fSovr(,  vgl. 
Ev-d&vr]  sc.  nyiy.  Stw.  n^iy  Skr.  ad  Zeugen  —  daher: 
die  sehr  Wollüstige. 

Kann  dieser  Göttin-Name  auch  zusammenhängen 
mit:  n^ty  was  entblößen  bezeichnet,  und  HJiy  was  Scham, 
Blöße  ist? 

Diese  Etymologie  würde  eine  Stütze  in  der  Tat- 
sache finden,  daß  auf  den  Gemälden  und  Sculpturen, 
wo  Dionysos  die  Ariadne  findend  dargestellt  wird,  immer 
die  Entblößung  der  Ariadne  stattfindet.  Oder  wird  vielleicht 
mit  dem  letzten  Worte  Ariadne,  das  Welcker  von 
äväavco  mit  dem  Sinne:  Evcdvr],  die  Gefällige  ableitet 
(CXCBd.  II S.  590),  zusammenhängen?  Dann  würde  also  die 
Ariadne  die  weibliche  Repräsentation  des  Zeugungsgliedes, 
d.h.  der  Zeugung,  und  dann  kann  sie  nur  die  vom  allgemeinen 
Zeugungsgotte  abgelöste  weibliche  Potenz  sein. 


—    837    — 

Und  die  Begattung  des  Dionysos  und  der  Ariadne 
wird  dann  wieder  darstellen  die  Harmonie  des  Alls. 

Als  Abbildung  31  fügen  wir  einen  androgynischen 
Dionysus  bei,  ebenfalls  ein  Gipsabdruck  einer  Camee 
in  Leiden.  Wenn  auch  auf  der  Ab- 
bildung die  androgynische  Natur  nicht  so 
deutlich  ausgesprochen  ist,  als  wünschens- 
wert war,  so  kann  man  aus  der  Beschreibung, 
welche  Lippert  I,  367  davon  giebt,  sich  doch 
von  der  Mann  Weiblichkeit  des  Originals 
überzeugen. 

„ Bacchus  sitzet  auf  einem  Leoparden,  der  um  den 
Hals  mit  Weinreben,  an  denen  Trauben  hangen,  ge- 
schmückt ist.  Er  selbst  ist  mit  Epheu  und  Trauben 
gekrönet;  seine  Haarlocken  hängen  auf  die  Schultern, 
und  mit  dem  Becher  tränket  er  den  Leoparden  und 
hält  in  der  linken  den  Thyrsus,  welcher  mit  Bändern 
aber  ohne  Epheu,  nur  mit  dem  Fichtenapfel  gezieret  ist. 

„Dieses  Werk  kann  man  wegen  der  Zeichnung,  der 
Stellung  und  des  schönen  Fleisches,  nicht  genug  betrachten 
und  bewundern.  Der  Reiz,  den  es  hat,  ist  mehr  der 
Reiz  einer  schönen  Weibsperson,  als  daß  es  einer  jungen 
Mannsperson  gleich  sehen  sollte.  Wie  denn  auch  Euripides 
(in  Bacchis)  ihn  &rjXvfioQg>ov,  der  eine  weibliche  Gestalt 
hat,  nennet." 

Ein  zweites  Beispiel  gibt  uns,  die  in  CI  zum  ersten 
Male  veröffentlichte  Abbildung,  welche  wir  verkleinert 
beifügen  (Abb.  32). 

Der  androgynische  Dionysos,  denn  so  meinen  wir 
den  Hermaphrodit  nennen  zu  dürfen,  da  er  die  Symbole 
des  Dionysos  führt,  den  Kantharos,  und  die  brennende 
Fackel,  und  der  Silenos,  der  treue  Gesell  des  Dionysos, 
neben  ihm  ist,  steht  vor  einen  Altare  mit  Früchten,  die 
vor  einer  ithyphallischen  Panherme  liegen. 

53* 


—    838    — 

Hermann  (C)  v.  Hermaphroditos  erwähnt  dann  noch 
ein  pompejanisches  Gemälde  —  wie  auch  das  oben  gegebene 
Bild  — ,  worauf  der  Hermaphrodit  sich  stützt  auf  den 
Nacken  des  Silen,  neben  dem  ein  die  Doppelflöte 
blasender  Erot  einherschreitet.  Links  vom  Hermaphroditos 
steht  ein  bärtiger  Panisk  mit  gesenkter  Fackel.  Er  blickt 
zur  Scham  des  Hermaphroditen  empor  und  erhebt  erstaunt 
die  Rechte.  Dahinter  wieder  eine  ßachchantin.  (Heibig 
Nr.  1372). 


■  -\ 


Abb.  32. 

In  dem  ersten  oben  reproducierten  Bilde  „ist  offenbar 
ein  dionysisches  Opfer  dargestellt.  Hauptfigur  der  darge- 
stellten Scene  ist  Hermaphroditos.  Man  muß  annehmen, 
daß  ihm  das  Opfer  gilt,  daß  er  also  gewissermaßen  identisch 
mit  Dionysos,  dieselben  Opfer  wie  dieser  empfängt." 

In  der  Umgebung  des  Dionysos  kommen  nächst 
dem  Priap,  den  wir  schon  oben  kurz  angeführt  haben, 
die  Satyren,  Pan,  und  die  Nymphen. 


—    839    — 

Die  Ersteren,  deren  Name  nach  Preller  (CLIi  Bd.  I} 
S.  600  Anm.  1)  eines  Stammes  mit  tfd&rj  (männliches 
Glied)  additiv  (Jungen)  sein  soll,  und  die  Letzteren,  deren 
allgemeine  Benennung,  nach  Bachmann  (bei  Bloch  CI  v. 
Nymphen)  zusammenhängen  soll  —  so  wie  auch  lat.  nubere, 
mit  einer  Wurzel,  von  der  auch  nhd.  Knüpfen,  Knospe 
abgeleitet  wird,  und  deren  Grundbedeutung  die  rundliche 
Erhebung,  Anschwellung  ist  also  „die  Schwellende"  oder 
das  fruchttragende  Weib,  —  offenbar  sind  also  die  Beiden 
vom  allgemeinen  Erzeugungsgotte,  dem  Androgynen,  ab- 
gelöste verschiedene  Potenzen. 

Wir  bitten,  hieran  sich  weiter  unten  zu  erinnern, 
wenn  wir  den  Hermaphroditos  im  engeren  Sinne  behan- 
deln. — 

Als  Abbildung  33  reproduzieren  wir  die  tav.  d'agg. 
L.  aus  Ann.  delP  Inst.  1884,  darstellend  einen  jugend- 
lichen Hermaphroditen  mit  lachenden  satyrischen  Zügen,  in 
der  Sammlung  Barracco,  publiziert  von  Robert,  woraus 
hervorgeht,  wie  der  Satyr  auch  in  späterer  Zeit  als  Zeu- 
gungsgott wieder  aufgefaßt  in  der  aprioristischen  andro- 
gynischen  Gestalt  dargestellt  worden  ist.  Der  Pan,  der 
alte  Hirtengott  (Röscher,  CI  v.  Pan)  „das  Prototyp  eines 
arkadischen  Ziegen-  und  Schafhirten,  gewissermaßen  die 
Verkörperung  des  gesamten  arkadischen  Hirtenlebens." 
Es  ist  dann  auch  höchst  interessant,  wie  Röscher  aus  dem 
Leben  des  Hirten  alle  Eigenschaften  dieses  Gottes  erklärt. 
Aber  wir  glauben,  daß  in  dem  Kultus  ihm  wahrscheinlich 
am  meisten  geopfert  worden  ist  als  Schutzherrn  der  Schafe 
und  Ziegen,  und  dann  in  B.  auf  Zucht,  d.  h.  als  Erzeugungs- 
gott. Hierfür  spricht  noch,  daß  die  Griechen  Pan 
mit  dem  ägypt.  Chem  oder  Min  identifizierten  der,  nach 
Drexler  (CI  v.  Min)  besonders  ein  Gott  des  Feldbaues, 
der  Fruchtbarkeit  und  der  Zeugung  war,  und  mit  Mendes. 
(Strabon,  lib.  17,  S.  1154,  Mevdrjg,  o  rov  rov  Jläva  Tifiwöt 


—    840 


xai  t(ov  Zwwv  TQ(iyovy  und  Herod.  2.  46.  xaXserai  öh  o  ts 
rqdyog  xai  6  hav  AiyvitxiGTl  Mev&qg),    der  offenbar  wie 

Eduard  Meyer  CI  v.  Mendes 
sagt  als  ein  Gott  der  Zeugung, 
der  speziell  den  Frauen  Frucht- 
barkeit gewährt,  aufgefaßt 
worden  ist. 

Dem  Pan  waren  Schild- 
kröten geheiligt  (CXXXV  lib. 
8.  am  Ende),  und  wir  können 
nicht  glauben,  allein  darum, 
weil  er  als  musikalischer  Gott 
auf  der  Leier  spielte,  welche 
Apollo  aus  einer  Schildkröte 
gebildet  haben  soll;  ja,  die 
Stelle  bei  Pausanias  wird  ge- 
rade das  Entgegengesetzte 
lehren,  nämlich  daß  man  keine 
Leier  verfertigen  darf  von 
Schildkrötenpanzer;  denn  die 
Gebirgsbewohner  des  Parthe- 
niums,  wo  die  zur  Fertigung 
von  Lyren  brauchbarsten 
Schildkröten  gefunden  werden, 
scheuen  sich  dieselben  zu 
fangen  und  gestatten  dieses 
auch  den  Fremden  nicht,  weil 
sie  dem  Pan  für  geheiligt 
gelten.*4 

Die  Schildkröten  sind  aber 
auch  der  Aphrodite  geheiligt 
—  daß  sie  dieses  als  Symbol 
der  Häuslichkeit  und  der  Schweigsamkeit  sind,  wie  Plu- 
tarch  Conjugalia  praecepta  S.  421  meint,  wird  wohl  nicht 
wahr  sein.    Dagegen  wird  dieses  wohl  die  Ursache  sein, 


Abb.  33. 


—    841    — 

daß  die  Schildkröten  den  Alten,  wie  Aelian.  I  lib.  XIV,  c. 
XIX,  erzählt,  für  sehr  wohllüstig,  aber  auch  sehr  lebens- 
kräftig gelten  (idem  lib.  IV,  c.  28).  So  noch  mehr  die 
Eidechse  (idem  lib.  II,  a  XXIII).  Diese  Eigenschaften 
werden  auch  diese  Tiere  zu  dem  Pan  Geheiligten  gemacht 
haben. 

Knight  (XCIII  §  51)  will  in  den  Schildkröten  auch 
die  androgynische  Idee  erkennen,  so  auch  in  den  Meer- 
schnecken (buccinum),  „deren  Gehäuse  oft  in  einem 
Strahlenkranze  in  den  Händen  verschiedener  Hindoo- 
Idole  vorkommen,,  um  Wasser  und  Feuer  anzudeuten, 
die  Prinzipien,  aus  denen  diese  doppelte  Kraft  der  Natur 
entsprang.  Die  Schildkröte  ist  nun  das  Symbol  dieser 
Eigenschaften,  obwohl  sie  auch  etwas  anderes  bedeutet 
haben  wird,  denn,  wie  die  Schlange,  ist  auch  sie  sehr  lebens- 
kräftig: denn  jedes  Glied  und  jede  Muskel  behält  seine 
Beweglichkeit  lang  nachdem  sie  es  vom  Körper  geschieden 
worden  ist.  So  wird  sie  die  Unsterblichkeit,  aber  auch 
das  Doppelgeschlecht  symbolisiert  haben  und  wir  finden 
sie  denn  auch  unter  den  Füßen  vieler  Gottheiten,  wie 
Apollon,  Hermes,  Aphrodite." 

Und  ferner  sind  als  immer  wiederkehrende  Symbole 
des  Pans  zu  betrachten,  das  Pedum,  der  Hirtenstab,  „das 
Symbol  des  An-sich-ziehen"  (Attraction)  und  der  Syrinx, 
„das  Symbol  der  Harmonie,  Mittel  und  Erfolg  seiner  Wirk- 
samkeit".    (Knight  XCIII  c.  190.) 

In  den  Thiasos  des  Dionysos  gehört  aber  auch 
eine  bestimmte  androgynische  Figur,  wie  diese  abgebildet 
ist  auf  Abbildung  34 — 36,  resp.  reproduc.  aus  den  Einzel- 
aufnahmen, und  aus  Annali  delT  Instituto  1882.  Wenn 
wir  in  Abb.  36  sehen,  daß  der  Tänzer  oder  vielmehr  der  in 
ekstatischer  Bewegung  fortschreitende  Hermaphrodit,  mit 
dem  Thyrsus  auch  einen  weiblichen  Haarputz  hat,  so 
erkennen  wir  auf  den  beiden  anderen  Bildern  deutlich  die 


Abb.  34. 


—     843     — 

Phrygische  Mütze.  Wie  in  Abb.  34  werden  auch  die 
Hermaphroditen  der  beiden  folgenden  wohl  dasselbe 
Objekt  in  der  rechten  Hand  halten.  Wir  glauben,  daß 
gerade  dieses  Bild  beweist,  daß  dieses  Objekt,  wie  Blanchet 


Abb.  35. 


will,  ein  Klappspiegel  ist.  Dasselbe  Objekt  kehrt  wieder 
in  Abbildung  37,  und  wenn  man  dort  noch  an  einen  eigen- 
tümlich geformten  Krotal  denken  könnte,  so  beweist  die 
hier  gegebene  Abbildung,  daß  hiervon  absolut  keine  Rede 


—     844    — 

ist,  denn  man  wird  doch  annehmen  müssen,  daß  ein  in 
ekstatischer  Bewegung  fortschreitender  Dionysosfolger 
seinen  Krotal  so  halten  wird,  daß  er  damit  klappern  könne. 
Auf  diesem  Bilde  aber,  wo  die  Hand  sich  zwischen  den 
beiden  Teilen  befindet,  ist  dieses  absolut  unmöglich. 


Abb.  36. 


Blanchet  weist  auf  die  analoge  Stellung  seiner  Statuette 

der  Aphrodite  Callipygos   (XXI  S.  161)   (Abb.  37)   hin. 

Eine    ähnliche  Stellung   wird   man    sich  in  Abb.  38 


—    845    — 

denken    können,    obwohl    der   rechte  Arm,   welcher    den 
Spiegel  halten  sollte,  nicht  mehr  da  ist.     Diese  Haltung 


Abb.  37. 


Abb.  38. 


kehrt,  wenn  auch   etwas   modifiziert,  in  Abb.  38*  u.  38** 
wieder.     Der  Androgyne  steht  hier  aber  ruhig.     Der  erste 


—    846 


Beschreiber  sah  in  diesem  Bilde  einen  Kybelepriester,  der 
ein  Cymbal  in  seiner  Hand  hält121). 


Abb.  38*. 


Abb.  38**. 


121)  CLIX,  The  first  of  the  Figure,  is  five  inches  high,  and  in 
perfect  preservation,  except  the  head.  The  figure  is  naked  and  de- 
cidely  of  the  hermaphrodite  character.  In  the  right  hand  on  partly 
resting  on  the  arm,  are,  as  I  presume  cymbals  (by  some  antiquaries 
a  doubt  has  been  suggested,  wether  the  object  may  be  not  a 
speculum)  evidently  placed  in  that  peculiar  and  temporary  position 
to  admit  of  the  left  hand  being  at  liberty  to  adjust  the  sacred 
bandage  or  veil,  which  it  is  to  be  inferred,  has  during  the  celebration 
of  the  rites  of  the  goddess  been  loosened  by  dancing. 


—     847     — 

Wie  die  Nymphe,  der  abgelöste  weibliche  Teil  der 
Natur  und  der  Satyr,  der  männliche,  in  den  Thiasos  des 
Dionysos  gehörte,  so  gehört  auch  der  Androgene,  die  Zu- 
sammenfassung von  Beiden,  dahin. 

Knight,  der  oft  die  —  freilich  erst  spätere  —  tiefe 
Bedeutung  der  classischen  Darstellung  gibt,  sagt  XCIV 
S.  38:  „  Ausser  den  Faunen,  Satyren,  und  den  Nymphen, 
die  fleischgewordenen  Emanationen  der  aktiven  und 
passiven  Kräfte  des  Schöpfers,  finden  wir  in  den  classischen 
Skulpturen  verschiedene  androgynische  Figuren.  Ich 
glaube,  daß  dieselben  die  organisierte  Materie  darstellen, 


Abb.  39. 


in  der  primordialen  Zeit,  wo  diese,  losgelöst  vom  Chaos, 
noch  nicht  durchdrungen  war  von  der  ätherischen  Essenz 
des  Schöpfers.  Auf  einem  prächtig  geschnittenen  Stein 
[wir  geben  die  Abbildung  39,  reproduziert  aus  XCIV, 
wenn  auch  das  Bildchen  gerade  das  Gegenteil  von 
„  Prächtig1*  genannt  werden  muß.  v.  ß.],  welchen 
R.  Wilbraham  Esq.  besitzt,  ist  solch  ein  Androgyne  dar- 
gestellt, schlafend,  mit  entblößtem  Geschlechtsorgane  [auf 
der  Abbildung  nicht  deutlich  dargestellt,  v.  ß.],  und  das 
Ei    des    Chaos    liegt    zerbrochen    unter    ihm.      Auf    der 


—    848    — 

anderen  Seite  steht  Dionysos  der  Schöpfer,  eine  Fackel 
tragend,  das  Emblem  des  ätherischen  Feuers,  welche  er 
nach  dem  Schlafenden  hinneigt,  während  einer  von  seinen 
Dienern  den  Befehl  abzuwarten  scheint,  um  eine  Verrichtung 
anzufangen,  welche  er,  nach  den  äußerlichen,  sehr  deutlichen 
Kennzeichen  mit  Kraft  und  gutem  Erfolge  tun  wird.  Der 
Schöpfer  stützt  sich  auf  eiqe  dieser  Gestalten,  die  man 
Silenen  nennt,  und  welche  nach  ihren  plumpen,  schweren 
Formen  zu  urteilen,  das  Symbol  der  rauhen  und  harten 
Natur,  aus  der  alles  geschöpft  ist,  die  aber  aus  sich  selber 
nichts  zu  erzeugen  vermag,  sehr  richtig  dargestellt  ist  als 
Stütze  des  Schöpfers. 

„Die  Kahlköpfigkeit  dieser  Figur  drückt  den 
nichts  hervorbringenden  Zustand  der  Materie  aus,  wenn 
die  erzeugenden  Kräfte  nicht  darin  sind,  denn  es  war 
die  Auffassung  der  Alten,  und  ich  erinnere  mich,  es  in 
Aristoteles  gelesen  zu  haben122),  daß  jeder  Stoß  beim  Coitus 
eine  leichte  Vibration  im  Gehirn  erweckt,  welche  die 
Wurzel  der  Haare  ändert,  und  daß  also  die  Kahlköpfig- 
keit ein  Zeichen  der  Unfruchtbarkeit  ist,  entstanden 
durch  wiederholte  Exzesse.  Die  Figuren  des  Pan  wären 
ungefähr   denen   ähnlich,   die,   wie  ich   meine,   die   inerte 


122)  Wir  fanden  in  den  Problemata  Sect.  IV.  (IX.  s.  860  Frage 
19.    (Wir  geben  die  lateinische  Übersetzung  des  Gaza). 

Quicumque  autem  ex  pilis  congenitis  aetate  iam  provecta  non 
crescunt,  hi  omnes  decidunt  libidinis  usu  immoderato.  [Capillus  et 
eilium]  eadem  illa  de  causa  deficiunt,  quod  partes  superiores  san- 
guinis parum  obtinentes,  libido  sefrigerat.  Ita  enim  efficitur  ut 
locus  hie  alimentum  concoquere  non  possit:  cum  autem  pili  ali- 
mento  xsaruerint,  defluant  necesse  est. 

Und  Hippokrates,  die  Entstehung  des  Kindes,  Cap.  IX  (Über- 
setzung v.  Fuchs):  Diejenigen  aber,  welche  einen  kahlen  Kopf 
bekommen,  haben  zuviel  Schleim;  bei  ihnen  wird  während  des 
Beischlafes  der  im  Kopfe  befindliche  Schleim  aufgerüttelt  und  er- 
hitzt, er  wendet  sich  gegen  die  Epidermis  und  verbrennt  die  Haar- 
wurzeln, und  die  Haare  fallen  aus. 


—    849    — 


Materie  darstellen,  wenn  nicht  ihre  Körper  vereinigt  wären 
mit  denen  des  Bocks,  dem  Symbole  der  schöpferischen 
Potenz,  welche  die  Materie  befruchtet  und  organisiert 
hat  Dieselben  haben  oft  ein  Geschlechtsorgan  von 
enormen  Dimensionen,  um  die  Anwendung  der  schöpferi- 
schen Kraft  zum  edelsten  Zwecke  anzudeuten:  die  Er- 
zeugung von  fühlenden  und  vernünftigen  Wesen." 


Abb.  40. 

Wir  finden  mehrere  Bilder,  welche  etwas  ähnliches 
in  den  verschiedensten  Posen  darstellen. 

So  Abbildung  40  reprod.  nach  Clarac,  610,  1550 
(Florenz.  Reale  Gall),  wo  Pan  sich  dem  Androgynen 
nähert.  Die  Syrinx  hängt  am  Baum,  und  eine  Eidechse 
läuft  am  Boden.  Der  Androgyne  widerstrebt,  aber  nicht 
sehr  energisch. 


Abb.  41. 


—    851     — 

In  der  großen  Gruppe  in  Berlin  (Abb.  41  nach  einer 
für  uns  verfertigten  Photographie)  ist  deutlich  die 
gegenseitige  Zunäherung  ausgesprochen.  Auf  dem  Boden 
ist  die  Schildkröte,  das  Pedum  und  die  Syrinx  hängen 
am  Baum,  worauf  der  Androgyne  sitzt,  sich  stützend  auf 
die  Linke,  in  der  er  den  Cymbal  hält.  Auf  dem  Baume 
hängt  eine  Löwenhaut.  Wenn  auch  der  Kopf  des 
Androgynen  nicht  schön  ist,  und  selbst  etwas  imbeciles 
zeigt ,  so  ist  doch  in  beiden  Köpfen  das  wollüstige 
Necken  sehr  ausgeprägt 

Auch  in  Abb.  42  (S.  852)  nach  dem  wunderschönen  Stich 
in  CXLI,  ist  das  Widerstreben  des  Androgynen  gegen 
das  Liebherzen  des  Satyrs  nicht  sehr  energisch,  und  das 
Gesicht  des  Androgynen  in  träumerische  Ferne  blickend, 
drückt  das  „sich  hingeben  werden1*  schon  aus.128) 

Noch  deutlicher  wird  dieses  in  den  folgenden 
Bildern. 

Abbildung  43  (nach  einem  Gips- 
abdruck in  Leiden)  gibt  den  phalli- 
schen androgynischen  Dämon  mit 
großer  Energie  den  jugendlichen  Satyr 
zu  sich  auf  ein  Ruhebett  nieder 
ziehend,  bedeckt  mit  einer  Löwenhaut.  Abb~43 

War  in  den  vorigen  Bildern  der 
Pan  und  der   Satyr    die   angreifende    Partei,    so    ist    es 

l23)  Interessant  und  etwas  komisch  ist  die  folgende  Beschrei- 
bung. Der  Autor  meinte,  daß  die  jugendliche  Figur  eine  Nymphe 
sein  soll,  und  fährt  dann  so  fort,  wir  lassen  den  originellen  Text  folgen. 

CXLI.  La  parte,  onde  costei  dovrebbe  esser  donna,  e  rico- 
perta  da  tale  che  mostra  sesso  diverso.  Credeano  gli  antichi,  e  vi 
e  chi  anche  oggi  lo  creda,  potere  nell'  umana  specie  trovarsi  quelia 
mescolanza,  di  sessi,  che  in  molti  bruti  si  osserva.  Ma  i  piü 
accorti  ci  avvertom,  che  se  cio  nelle  donne  tal  volta  comparisca, 
mai  sia  veramente  altro  che.un  allungamento  di  parte  femminile. 
Avvisano  i  medici,  che  sia  cio  nelle  donne  un  argomente  di  natura 
focosa  e  lasciva. 

Jahrbuch  V.  54 


—    852 


Abb.  42. 


—    853    — 


Abb.  44. 


I     %■ 


Abb.  45. 


54* 


—    854    — 

liier  gerade  umgekehrt,  der  Satyr  strebt  energisch  sich 
den  Umarmungen  des  androgynischen  Dämons  zu  ent- 
ziehen. 


Abb.  46. 


Wenn  unsere  Auffassung  des  Androgynen,  wie  wir  sie 
oben  gegeben,  richtig  ist,  so  kann  dieses  nur  das  Werben 
der  harmonisch  zusammengefaßten  schöpferischen  Potenz 


— .    855    — 

um  die  nur  aktiv-wirksame  Emanation  des  Schöpfers,  den 
Satyr,  darstellen,  um  durch  Vereinigung  mit  ihm  es  zur 
höheren  Tätigkeit  zu  bringen. 


Abb.  47. 


Es  wird  auch  begreiflich,  wie  auf  den  Bildern  (44 
und  45)  der  Pan  mit  fast  „panischen  Schrecken*  zu  flüchten 
sucht,  als  der  Androgyne  sich  entblößt,  und  die  schon 
absolut  abgetrennte,  selbstbewußte  Aktivität  des  Pan,  den 


—    856    — 


alles  umfassenden,  gleichzeitig  passiven  und  aktiven 
Dämon  erschaut. 

Aber  auch  die  Abbildungen  46,  und  48  sind  so  zu 
verstehen,  daß  der  absolut  harmonisch  Gebildete  der 
rauheren  aktiven  Potenz  widerstrebt.  So  finden  wir  in 
dieser  ganzen  Bilderserie  deutlich  ausgesprochen  den 
wechselseitigen  Kampf  zwischen  der  harmonischen  Natur 
und  den  einseitigen  abgelösten  aktiven  Kräften/ 

Auch  Abb.  47  gehört  hierher,  aber  hier  wie  in  Abb.  41 
wünscht  auch  der  Androgyne  offenbar,  den  Akt  zu 
verüben. 


Abb.  48. 

Die  schöne  androgynische  Figur  in  Venedig  (Abb. 
49  a  und  b  nach  einer  speziell  für  uns  angefertigten  Original- 
Photographie)  ist  offenbar  falsch  aufgestellt,  denn  sie 
wird  wohl  einen  Teil  ausgemacht  haben  von  einem 
Symplegma,  vielleicht  wie  in  Abb.  46.  Eine  Vergleich- 
ung  dieser  beiden  Abbildungen  wird  unsere  Auffassung 
beweisen.  Die  ganze  Haltung  der  Figur  ist  dem  Androgynen 
in  Abb.  46.  analog.  Der  linke  Arm  geht  nach  unten, 
der  rechte  Arm  nach  hinten  abwehrend,  und  der  Rücken 


—    857    — 

ist  nach  rechts  rotiert;  durch  das  rechte  sehr  stark  addu- 
cierte  Bein  werden  die  Genitalien  nach  oben  gedrückt, 
alles  wie  in  Abb.  46. 


Abb.  49a. 

Zu     dem    Dionysos -Aufzug    (Abb.    50)    auf    einem 
Sarkophag  (nach  Zoega  CXCV  Bd.  2,  77)  ist  der  Andro- 


—    858    — 

gyne  dargestellt  in  einer  Haltung,  welche  wir  weiter 
unten  als  sehr  charakteristisch  erkennen  werden.  Ein 
junger  Genius  gießt  aus  einer  Flasche  auf  den  Kopf  des 


Abb.  49b. 


sich  Niederlegenden    den  Schlaf,    wie    es    sehr    plastisch 
dargestellt  ist,    durch  die  Haltungen  der  nächstfolgenden 


—    859    — 


Figuren :  niederfallend, 
sich  beugend,  mit  trau- 
rigen Gebärden,  weiter 
nach  unten  aber  jauch- 
zend. Dann  folgt  der 
Dionysos  mit  der  Pal- 
las. (Man  sehe  früher!) 

Hier  nimmt  der 
Androgyne  den  Platz 
der  Ariadne  ein,  also 
der  Ariadne,  die  wie 
wir  oben  sahen,  die 
Göttin  der  Weiblich- 
keit, der  passiven 
Fruchtbarkeit  durch 
die  vollständige  Natur 
ist. 

Dieselbe  Bedeu- 
tung hat  auch  wieder 
Abb.  51,  wie  schon 
Zoega  selber  meinte. 
(Naxm  CXCV  Bd.  II, 
tav.  LXXII).  Oben 
rechts  die  beiden 
höheren  Potenzen  des 
Schöpfers  von  einander 
gelöst,  Dionysos  und 
Ariadne  von  Bacchan- 
ten jauchzend  begrüßt. 
Rechts  unten  aber  der 
Androgyne  durch  den 
Satyr  entblößt,  und  das 
Mysterium  der  All- 
Natur  den  beiden  an- 
deren Satyr  en  zeigend 


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860 


während    wieder    andere    Satyren    mit    Trompeten    eine 
Hymne  blasen  (oder  den  Gott  herbeirufen?). 


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Als  letzte  Abbildung  in  diesem  Teil   über  Dionysos 
geben  wir  (Abb.  52)  das  bekannte  Relief  Colonna.     Wie 


—    861    — 

viel  Male  ist  dieselbe  schon  beschrieben,  und  immer 
wieder  anders.  Wir  geben  das  Relief  nach  dem  Stich 
bei  Montfaucon. 

Der  Androgyne  stützt  sich  mit  seinem  rechten  Arm 
auf  eine  Säule,  welche  ein  Bildchen  einer  weiblich  be- 
kleideten Figur  trägt,  die  ein  Hirschkalb  und  eine  Ziege 
trägt.  Was  wird  diese  Figur  bedeuten?  Gerhard  LXV sah 
darin  die  Libera,  Th.  Schreiber  eine  Mise,  denn  wir  glauben, 
daß  das  Relief,  welches  er,  nach  Drexler  CI  v.  Mismos, 
beschreibt,  in  „den  Hellenistischen  Reliefbildern*,  wenn 
nicht  identisch  so  doch  unserm  Relief  sehr  analog  sein  wird. 

Die  Herme  ist  für  einen  bärtigen  Philosophen 
angesehen  worden,  für  Pan  (CXLII  Toilette  des  Herma- 
phroditen), für  Dionysos  (Herrmann  CI  v.  Hermaphro- 
ditos;)  Montfaucon  meinte  in  den  Objekten,  welche  im 
Hintergrund  stehen,  u.  A.  sehen  zu  dürfen:  un  bassin 
rond,  soutenu  par  des  colonnes  d'ordre  dorique.  Du 
milieu  du  bassin  s'eleve  un  vase  £troit  et  long:  c'est 
peut-etre  une  fontaine."  Raoul-Rochette  sah  in  diesem 
Gegenstande,  ein  Mausoleum,  und  auch  in  dem  Anderen 
„une  colonne  ionique,   que  surmonte  une  vase  cineraire." 

Wir  sympathisieren  sehr  mit  dieser  letzten  Auffassung, 
doch  die  Herme  werden  wir  eher  dem  Dionysos  zu- 
schreiben, obwohl  in  den  Gesichtszügen  etwas  Panisches 
nicht  zu  verkennen  ist. 

Die  kleine  Statue  an  der  andern  Seite  wissen  wir 
nicht  genau  zu  benennen,  aber,  ob  sie  Artemis,  oder 
Libera,  oder  Juno  Sospita  (Raoul  Rochette)  darstellt, 
wir  können  jedenfalls  annehmen,  daß  sie  die  abgelöste 
weibliche  Potenz  darstellen  wird,  wie  die  Herme  die 
männliche  Potenz. 

Und  so  wird  die  tiefe  Bedeutung  dieses  Reliefs 
klar:  die  harmonisch-zusammengefaßte  Natur  ist  durch 
den  Eros,  d.  h.  das  Streben  nach  Eins-werden,  nach 
Harmonie,  aus  der  weiblichen  und  männlichen  Schöpfers- 


Abb.  52. 


—    863    — 

kraft  die  hoch-heilige  Einheit,  das  Zwischenglied  zwischen 
den  beiden  äußersten  Differentiationen.  Der  Hintergrund, 
die  Verehrung  des  Todes  durch  Symbole  darstellend, 
gibt  den  Contrast  wieder,  und  dadurch  bringt  derselbe 
die  Bedeutung  des  Vordergrundes  noch  deutlicher  hervor. 

Dann  noch  als  Abb.  53  (S.  864):  Eine  Bronze  imLouvre, 
welche  Reinach  als  Hermaphrodit,  Satyr  und  Priap 
bezeichnet,  daß  wird  also  heißen:  Die  Allnatur  sich 
stützend  auf  den  tierischen  Fortpflanzungstrieb  (Priap), 
und  den  höheren  Liebestrieb;  denn  der  Satyr  ist  doch 
hier  überaus  zart  gebildet,  und  ist  einem  die  Syrinx 
spielenden  Eros  ähnlicher. 

Die  Aphrodite  war  auch  eine  androgynische  Gottheit, 
von  der  sich  einerseits  die  weibliche  Göttin,  andererseits 
der  Aphroditos  ablöste. 

Das  Bild  der  Gottheit  soll  einen  Bart,  aber  weib- 
lichen Körper  und  weibliche  Kleider  gezeigt,  ein  Scepter  ge- 
führt haben,  und  von  hoher  männlicher  Gestalt  gewesen  sein ; 
denn  man  meinte,  daß  dieselbe  männlich  und  weiblich 
war.  Aristophanes  nennt  sie  Aphroditos.  Auch  Laevinus 
sagt:  Anbetend  die  spendende  Venus,  die  Weib  und 
Mann  ist,  so  wie  die  spendende  Leuchte  der  Nacht  (der 
Mond).  Philochorus  versichert,  in  seinem  Athis,  daß 
dieselbe  der  Mond  ist,  und  daß  ihm  Männer  in  Weiber- 
kleidern, Weiber  aber  in  Männerkleidern  das  Opfer  bringen, 
da  sie  sowohl  männlich  und  weiblich  aufgefaßt    wird.124) 

124)  C.  V.  lib.  III,  c.  8.  Signum  etiam  [Veneris]  est  Cypri 
barbatum  corpore  sed  veste  muliebri  cum  sceptro  et  statura  virili. 
Et  putant,  eandem  marem  ac  feminam  esse.  Aristophanes  eam 
: *A(pQoätrov  appellat.  Laevinus  etiam  sie  ait:  Venerem  igitur  al- 
mum  adorans.  sive  femina  sive  mas  est,  ito  uti  alma  noctiluca  est. 
Philochorus  quoque  in  Athide  eandem  affirmat  esse  lunam; 
nam  et  ei  sacrificium  facere  viros  cum  veste  muliebri,  mulieres  cum 
virili,  quod  eadem  et  mas  existimatur  et  femina. 

Wir  meinen,  daß  man  doch  lesen  muß:  statura  statt  natura, 
wie  andere  wollen. 


Abb.  53. 


—    865    — 

Wie  wir  früher  gesehen  haben,  kommt  auf  dem 
Bild  des  androgynischen  Adonis  (Abb.  21)  eine  Figur 
vor,  welche  mit  der  von  Macrobius  gegebenen  Beschreibung 
völlig  übereinstimmt: 

So  lehrt  Hermes  in  seinem  Buche  über  die  Welt- 
schöpfung, daß  die  Teile  der  Aphrodite,  welche  über  den 
Hüften  sind,  männlich,  die  darunter  aber  —  weiblich  sind. 
Darum  verehrten  die  Pamphylier  früher  eine  Aphrodite  mit 
einem  Bart.  Diese,  sagen  sie,  ist  aus  den  Geschlechts- 
teilen des  Kronos  geboren,  d.  h.  also  aus  der  Ewigkeit.126) 
Der  Aphrodite  war  der  sechste  Tag  gewidmet,  da  sechs 
die  Zahl  war,  welche  aus  der  Vereinigung  beider  Ge- 
schlechter entstanden  ist,  d.  h.  aus  der  Dreizahl  (Tryas), 
welche  männlich,  d.  h.  ungerade,  und  der  Zweizahl 
(Dyas),  welche  weiblich,  d.  h.  gerade  ist,  denn  zwei  mal 
drei  macht  sechs.  So  befahl  auch  Pythagoras,  daß  der 
sechste  Tag  Aphrodite  gewidmet  werden  soll:  da  diese 
Zahl  die  erste  aller  Zahlen  ist,  welche  an  der  ganzen 
Natur  der  Zahlen  teil  hat.  fJamblichus  de  Vita  Pytha- 
gorae  lib.  I,  Cap.  XXVIII,  citiert  in  CXVI.) 

Weiter  unten  werden,  wir  die  mystische  Auffassung 
der  Zahlen  betrachten,  um  unsere  Darstellung  der  andro- 
gynischen Idee  zu  controlieren. 

Von  dieser  älteren  Form  des  Aphroditos  haben  wir 
fast  keine'  Monumente  mehr,  nur  die  oben  schon  ge- 
dachte Figur  auf  dem  pompeianischen  Gemälde  und 
dann  die  als  Abb.    54    gegebene  spät   kaiserliche   Münze 


126)  CIV.  ,  IV,  9—13.  "Ev&ev  cEqiir\<;  ev  xf\  xoCfio- 
rcoua  xa  (xsv  V716Q  ba<pvv  aQQeva  Ti\q  'AyQodfarjQ,  tol  de 
fX€T9  avTtjV  TtaQadldwviv  o&ev  Jld/xtpvXot,  xal  Tttoyoova 
s%ovöav  ezcfirjöav  *Aq)Qo8vcif>  tcotb  .  .  Te%&rvaL  6f  clvttv 
ä&ovtiiv  &7ZO  twv  xqovov  fxrjdewv,  Tovtecriv  ano  iov 
alavog. 


—    866    — 

aus   Halikarnassus,    glauben    wir    mit    Ratgeber  (CLVI) 
auf  den  Aphroditos  beziehen  zu  müssen. 

Denn  Karien  war  doch  das  Land,  wo  nach  Ovid  die 
Entstehung  des  Herrn  aphroditos  erfolgt  war,  und  Ovid 
wird  doch  wohl  aus  einer  alten  Sage  geschöpft  haben; 
und  wir  glauben,  wenn  auch  die  neueren  Mythologen 
diese  Auffassung  nach  dem  Beispiel  von  Welcker  (CXCI) 
verwerfen,  (Vergl.  CI.  Hermann,  v.  Hermaphroditos) 
annehmen  zu  müssen,  daß  in  Halikarnassos  ein  Tempel 
des  Aphroditos  gewesen  ist,  und  wir  glauben  ferner, 
daß  dieses  Bild  auf  der  betreffenden  Münze  diesen  Gott 
altertümlicherweise  darstellt.  Auf  den  Bäumen,  welche 
an  beiden  Seiten  der  bärtigen  in  Weiberkleider  gehüllten 


Abb.  54. 

Figur,     mit    männlicher     Gestalt    und    doch    weiblichen 
Brüsten  stehen,  sitzen  zwei  Vögel. 

Der  rechte  Vogel  ist  deutlich  anders  gebildet,  als 
der  linke,  denn  er  hat  eine  Haube,  auch  der  Hals  ist 
länger,  und  der  Körper  ist  anders  geformt:  in  allem 
gleicht  dieser  Vogel  dem  anderen,  welchen  der  Herma- 
phrodit (Abb.  57)  in  seiner  Hand  hält,  Hermann  (CI 
v.  Hermaphroditos)  sagt  von  diesem  Vogel  nur:  „ einen 
langgeschnabelten  Vogel,  dem  er  eine  Traube  vorhält, 
ein  Genremotiv,  das  mit  der  Natur  des  Hermaphroditen 
nichts  zu  thun  hat."  Auf  dem  Clarac'schen  Bildchen 
aber  können  wir  einen  langen  Schnabel  nicht  erkennen.  Wir 


—    867     — 

glaubeu,  daß  dieser  Vogel  eine  Art  Haubentaube  darstellen 
wird,  und  daß  auf  der  Münze  gerade  diese  Haubentaube 
dargestellt  war,  um  ihn  von  dem  anderen  Vogel  zu 
unterscheiden:  vielleicht  ist  dieser  letztere  ein  Rebhuhn, 
ebenfalls  ein  der  Aphrodite  heiliger  Vogel.  —  Das 
Rebhuhn  aber  war  der  Hieroglyph  für  mann-raännliche 
Liebe,  die  Taube126)  aber  kann  als  weib-weibliche  Liebe 
betrachtet  werden.  Diese  Hypothese  würde  mit  der 
androgynischen  Mittelfigur  am  besten  stimmen.  Wir 
wissen  wohl,  daß  im  Alterturae  angenommen  wurde, 
daß,  wenn  etwas  wichtiges  bevorstand,  die  Priesterin 
der  Athene  im  Binnenlande  oberhalb  Halikarnassos  einen 
großen  Bart  bekam  (Herodot  (LXXX)  I,  175;  VIII, 
104;   Aristoteles,   III,    7);    allein  wir  meinen,    daß   doch 


12«)  Horapollon  (LXXXYL  üb.  II.  CXCV.) 

llwg  7taideQaarlav.  IIaideQa<STiav  ßovkofievot  cnjjUQvat, 
ovo  rcegdixag  £<oyea(pov<siv'  -  exelvoi  yaQ  eicäv  %eqevG(*)(Uv, 
iavToig  a7toxe%Qr\vTai. 

„Wenn  sie  Knabenliebe  schreiben  wollen,  zeichnen  sie  zwei 
Rebhühner:  denn  wenn  diese  kein  Weibchen  haben,  gebrauchen 
die  Männchen  einander."  Man  sehe  auch  Aelianus  de  natura  ani- 
malium,  lib.  III,  XVI,  42—50:  Das  Geschlecht  der  Rebhühner  ist 
aber  so  zügellos  in  seinem  Triebe,  daß,  wenn  die  Weibchen  sie 
verlassen,  um  zu  brüten,  sie  sich  geflissentlich  gegeneinander  in 
Zorn  setzen  und  einer  den  andern  auf  das  Grimmigste  packt,  und 
der  Besiegte  wird  wie  ein  Huhn  getreten,  und  der  Sieger  tut  dies 
ohne  Scheu,  bis  er  seinerseits  von  einem  andern  besiegt  wird  und 
in  dieselbe  Not  gerät. 

Ungefähr  Dasselbe,  bei  Arist.  Buch  IX,  c.  8. 

Über  die  Taube  schreibt  Aristoteles,  de  Hist.  Animalium 
lib.  VI.  c.  III.: 

Auch  haben  sie  noch  das  Eigentümliche,  daß  auch  die  Weib- 
chen einander  /besteigen,  wenn  kein  Männchen  vorhanden  ist,  und 
wie  die  Männchen  schnäbeln,  und  obschon  sie  einander  nicht  be- 
fruchten, so  legen  sie  doch  mehr  Eier,  als  wenn  diese  durch 
Samen  erzeugt  worden  wären;  daraus  entsteht  aber  kein  Küchlein, 
sondern  alle  solche  Eier  sind  Windeier. 

Jahrbuch  V.  55 


—    868    — 

eher  an  den  Aphroditos,  als  an  die  Athenische  Priesterin 
zu  denken  sein  wird. 

Nach  Heinrich  soll  in  Halikarnassos  ein  Tempel  des 
Hermaphroditos  bestanden  haben,  da  er  aber4selber  diesen 
Namen  ableitet  von  Herme  des  Aphroditos,  so  wird  es 
wahrscheinlicher  sein,  anzunehmen/daß  dort  ein  Heiligtum 
des  Aphroditos  war.  Diese  Auffassung  stimmt  auch  mehr 
mit  der  Stelle  bei  Vitruvius  überein;  dort  heißt  es:  daß 
auf  dem  höchsten  rechten  Bergrücken  ein  Tempel  „Ve- 
neris  et  Mercurii*  in  der  Nähe  der  Quelle  der  Salmacis  sich 
befinde.  Aus  dieser  letzten  Erwähnung  schließt  Heinrich 
(LXXVI,S.  11),  daß  ein  Tempel  des  Hermaphroditos  gemeint 
ist  und  in  der  Übersetzung  der  griechischen  Quelle,  welche 
Vitruv  gebraucht  haben  soll,  durch'unwissende  Übersetzer 
dieser  Name  in  die  zwei  Teile  zerlegt  war.  Dem  Einwand 
Welckers  (CXCI  S.  195  sqq,  u.  Anm.^38)  stimmen  wir 
ganz  bei,  und  außerdem  würde  es  doch  sehr  eigentümlich 
sein,  daß  die  Götternamen  in  umgekehrter  Ordnung  auf 
einander  folgen. 

Denn  „Venus1*  kann  sowohl  männlich  als  weiblich 
sein ;  wir  glauben  aber  mit  Heinrich,  daß  die  Erwähnung 
der  Salmacis  durch  Vitruvj  mit  der  Bemerkung,  daß  diese 
Quelle  verweichlicht,  doch  zu  viel  Übereinstimmungrmit 
der  Erzählung  des  Ovid  hat,  um  nicht  an  Identität  zu 
denken.  Es  ist  doch  sehr  begreiflich,  daß  in  dem 
Tempel  des  Hermes  und  der  Aphrodite  die  Gottheit  als 
Zusammenfassung  dieser  beiden  Begriffe,  d.  h.  des  ithvpha- 
lischen  Hermes,  also  des  männlichen  Erzeugers,  und  der 
weiblichen  Erzeugungskraft  verehrt  worden  ist.  Eine 
dreifache  Herme,  wie  Abb.  55,  könnte  sehr  gut  diese  Idee 
darstellen. 

Clarac  nennt  diese  Herme:     Venus,   Hermaphrodite 

et  Priape,  Creuzer  und  Andere  wollen  die  drei  Götter  der 

Samothrakischen    Mysterien    sehen,    aber    nichts    spricht 

•  gegen  unsere  Auffassung :    der    alte  Hermes  wurde  ithy- 


—    869    — 

phallisch  und  mit  Bart  dargestellt,  und  der  Hermes  war 
auch  der  Erfinder  der  Lyra,  sodaß  die  Beifügung  des 
lyra-spielenden  Gottes,  den  Creuzer  als  Apollon  deutet, 
doch  sehr  gut  auf  Hermes  Bezug  haben  kann.  Ursprüng- 
lich war  die  Aphrodite  immer  ganz  bekleidet  dargestellt, 
und  die  Hinzufügung  der  nackten  Aphrodite  in  der  sehr 


Abb.  55. 


bekannten  Haltung  deutet  u.  E.  deutlich  die  Bedeutung 
der  größeren  Figur  an;  die  sehr  weiblich  gehaltene  Bil- 
dung der  dritten  Figur  mit  den  männlichen  Genitalien 
streitet  nicht  mit  dem  Androgynismus  dieser  Gottheit  und 
auchfder  beigefügte  Gott,  der  Eros,  stimmt  damit  überein. 

55* 


—    870    — 

Der  Eros  war  u.  A,  auch  der  Sohn  des  Hermes  und 
der  Aphrodite,  welche  aus  dem  Meeresschaum  entstanden 
war.  (Cicero,  de  nature  deorum,  III,  C.  59  u.  60)  wie 
auch  der  Hermaphroditos  selber,  welcher  wie  Hyginus 
(CXXIV)  will,  Atlantius  genannt  war. 

Zu  erwähnen  ist  noch  im  Zusammenhang  mit  dieser 
Auffassung,  die  Etymologie,  welche  Nork  (CXXVI  v. 
Salz)  von  Salmacis  gibt: 

„Salz  (das),  nach  dem  Meere  cahg  (sal)  benannt,  aus 
welchem  Aphrodite,  die  Schaumgeborene,  hervorstieg,  war 
darum  dieser  Göttin  —  mit  welcher  die  in  den  Herm- 
aphroditus  verliebte  Quellnymphe  Salmacis  (Venus  al- 
ma  mater  rerum)  identisch  ist  —  geheiligt  und  das  erste 
Erfordernis  bei  ihren  Opfern.  Wie  Aphrodite,  ist  ja  auch 
Salz  das  Erzeugnis  des  Meeres.  .  .  ." 

„Die  [aegyptischen]  Priester  enthielten  sich  .  .  .  des- 
selben in  der  Reinigungszeit  auch  darum,  weil  es  die 
Keuschheit  gefährde.  (Plat.  Symp.  V,  10).  Dadurch 
wird  die  Bezeichnung:  homines  salaces  (geile  Menschen) 
erklärt,  sowie,  warum  Loth's  Frau,  welche  der  Tradition 
zufolge  Aditt  (PPTiy  voluptuosa)  hieß,  „sich  umblickend 
nach  der  Stadt  der  Sünder*  in  eine  Salzsäule  verwandelt 
wurde/ 

So  wird  auch  verständlich,  wie  der  Sohn  des  Hermes 
und  der  Aphrodite,  Atlantius  genannt  sein  kann,  denn 
Hermes  war  der  Enkel  des  Atlas,  und  auch  Salmacis 
durch  Ovid  (CXXXI)  Atlantiades:  denn  in  Ovid's  Zeit 
wurde  der  Okeanos  auch  wohl  mare  Atlanticum  genannt, 
(man  sehe  Strabon  CLXXIV,  libr.  I,  p.  5)  und  also  der 
Okeanos  mit  Atlas  identifiziert,  und  die  aus  dem  Meere 
geborene  Aphrodite  kann  sehr  wohl,  etwas  dichterisch 
frei,  so  genannt  sein. 

Wir  möchten  Abb.  56  (nach  Einzelverk.  185)  als  eine 
Herme  auffassen,  welche  gerade  an  die  ithvphallische 
Hermenform  des  alten  Hermes  erinnert. 


Abb.  66. 


—    872    — 


Eine  andere  Herme  ist  die  Abb.  57,  welche  wir  oben 
zum  Vergleich  mit  dem  Vogel  auf  der  Karischen  Münze 
schon  erwähnten.  Die  ganze  Form  ist  hier  mehr  weiblich 
gehalten  und  auch  der  Vogel  weist  mehr  auf  die  Aphro- 
dite   hin.     Zwei    andere   Hermen    haben    wir    schon  be- 


Abb.  57. 


Abb.  58. 


sprochen,  ul.  Abb.  n,  welche  wir  in  den  bakchischeu  Kreis 
setzen  zu  dürfen  glauben.  — 

Wenn  diese  Hermen  den  Aphroditos  als  Hermen  des 
Aphroditos  aus  späterer  Zeit  darstellen,  so  finden  wir  in 
Abb.  58  und  59  den  Aphroditos  als  ganzes  Gottesbild  vor  uns. 


—    873    — 

Abb.  58  gibt  eine  Reproduktion  nach  Clarac  677, 
1548?..  Durch  die  Schwäne,  welche  sich  am  Fuße  dieser 
Statue  finden,  wird  dieselbe    bestimmt  als  Aphrodite  be- 


zeichnet. Auch  der  Manual:  die  Brüste  deckend,  ist 
der  Aphrodite  entlehnt:  die  Entblößung,  welche  der 
linke  vornimmt,  begegnet  uns  z.  B.  auf  Abb.  69. 


—    874    — 

Wir  lassen  die  Beschreibung  von  Abbildung  59 
folgen : 

Eine  palermitaner  Figur.  Es  ist  ein  Hermaphrodit. 
In  der  übermäßigen  Schlankheit  der  Haltung  und  Ge- 
wandung ist  eine  Verwandtschaft  mit  Taf.  XXVIII.  3 
nicht  zu  verkennen  (eine  Aphrodite). 

Der  Kopftypus  ist  edler,  die  Modellierung  scheint 
feiner.  Über  die  Bemalung  teilt  Otto  folgendes  mit:  „Die 
Figur  war  gewiss  vergoldet,  denn  am  Gesicht,  Haar  und 
ganzen  Körper  sind  noch  starke  Überreste  von  rotbraun, 
am  Gewand  dagegen  ist  die  erste  Deckfarbe  weiß,  doch 
sehen  wir  auch  an  einzelnen  Stellen  rosa,  die  wirkliche 
Farbe  des  Gewandes." 

Selbst  eine  oberflächliche  Betrachtung  beider  Bilder 
wird  beweisen,  daß  sie  zu  einer  Gruppe  von  Dar- 
stellungen gehören.  Aus  diesem  Aphroditos  aber  hat 
sich  der  Hermaphroditos  als  Gottheit  an  und  für  sich 
gebildet. 

Als  androgynischer  Dämon  erscheint  dieser  im 
bakchischen  Kreise ,  aber  auch  als  selbständiger  Gott  ist 
er  verehrt  worden,  worauf  sich  die  bekannten  Stellen 
des  Theophrastus  m)  und  des  Alciphron  12S)  beziehen. 

Wohl  die  schönste  und  erhabenste  Darstellung  der 
androgyuischen  Idee,  gibt  die  Statue  in  Berlin  (Abb. 
am  Anfang  unseres  Artikels    nach   einer  Original-Photo- 


127)  CLXXXIV,  XVI,  Tteql  detaidaiiioviag.  Kai  eiael^tov 
eiato  areyxxvtov  tovg  'EQixcKpQodvvovg  oXrjv  rrjv  f^iegav. 

(Er  selbst  geht  auf  den  Markt,  um  Myrten  und  Weihrauch 
und  Opferkuchon  zu  kaufen,  und  wenn  er  nach  Hause  kommt,  so 
bringt  er  den  ganzen  Tag  damit  zu,  die  Hermaphroditen-Bilder  zu 
bekränzen.) 

i2s)  H  Hb.  III,  cp.  XXXVII.  Eiqecuoixriv  i$  av9iov 
nhtgaaa,  rjeiv  ig  'EQfxatfQodfaov,  tw  'AhcoTtexrfttv  raiTiqv 
ava&tjoovaa. 


Abb.  60. 


Abb.  61. 


877     — 


graphie  u.  Abb.  60  aus  Caylus  (XXX  V,)  vergl.  noch  Abb.  61, 
(im  Einzelverkauf)  und  Abb.  62  (nach  Clarac  666, 
1546D.)  Die  sublime  Nobilität  und  die  erhabene  gött- 
liche Gestalt  beweist  m.  E.  das  Furtwänglers  Ansicht, 
diese  Berliner  Statue  sei  eine  Kopie  nach  dem  Herma- 
phroditos  nobilis  des  Polykles,  welchen  Plinius  erwähnt, 
und  zwar  des  altern  Künstlers,  die  einzig  richtige  ist. 
(LXI1.     S. 


582  ff.) 


Abb.  62. 


Der  prachtvolle  fast  männliche  Körper,  d.  h.  die 
aktive,  erzeugende  Kraft,  nur  mit  eben  angedeuteten  weib- 
lichen Brüsten,  d.  h.  die  passive,  nährende  Kraft,  und  der 
wunderschöne  tiefsinnige  Kopf,  welcher  die  mysterische 
Bedeutung  des  Dämons  ahnen  läßt,  können  nur  durch 
einen  sehr  ernsten  Künstler   verfertigt   sein,    der  tief  in 


—    878    — 

die  Bedeutung  eingedrungen  ist:  Und  wenn  dieses  auch 
(m.  E.  wenigstens)  bei  den  unten  folgenden  Bildern  der 
Fall  sein  muß,  so  ist  die  Tatsache,  daß  diese  Statue 
eher  eine  Kopie  nach  einem  Erzbilde  sein  wird,  als  es 
die  anderen  sein  können,  schon  ausreichend,  um  Fürt- 
wanglers  Auffassung  zu  teilen. 

Alle  Autoren  sehen  in  diesen  Bildern  nur  Lascivität 
und  Raffinement  eines  wollüstigen  Zeitalters,  und  wir 
wollen  nicht  leugnen,  daß  sehr  viele  Kopien  darin  viel- 
leicht ihre  Begründung  haben  können,  aber  man  darf 
doch  nicht  vergessen,  daß  es  in  der  griechischen  Mytho- 
logie auch  eine  Mythe  gab,  welche  wir  schon  oben  er- 
wähnten, wie  Zeus  Same  im  Schlafe  auf  die  Erde  ge- 
flossen und  daraus  Agdistis  entstanden  ist.  Diese  Mythe 
ist  doch  keine  Lascivität  und  ihre  Bedeutung  ist  deut- 
lich. Aus  dem  All-Gott  Zeus,  dem  Schöpfer,  entsteht 
die  Göttermutter,  und  aus  dieser  wieder  die  ganze  Welt. 
(Man  sehe  oben.) 

Aber  auch  der  Androgyne,  der  Hermaphroditos,  ist 
der  Schöpfer,  wie  Dionysos  es  war,  und  Hermes  als 
aktive,  männliche  und  Aphrodite  als  weibliche  Kraft; 
er  aber  umfaßte  beide  Kräfte  und  kann  man  nun  nicht 
eher  als  darin  eine  Lascivität  zu  erblicken,  annehmen,  daß 
der  Künstler,  der  das  Original  verfertigte,  denn  uns  liegen 
nur  Kopien  vor,  diesen  Akt  des  Zeus  auf  den  Herma- 
phroditos übertragen  hat,  um  so  eher,  als  Zeus  doch 
auch  androgynisch  aufgefaßt  ward?  Daß  Kopien  aus 
Sinnlickkeit  gemacht  sein  können,  wollen  wir  selbstver- 
ständlich nicht  in  Abrede  stellen,  aber  wir  halten  unsern 
Fall  für  analog  mit  dem  Priapus-Bilde  und  anderen 
ithyphallischen  Bildern.  Erst  wurden  die  Bilder  in 
tiefer  Religiosität  gemacht,  später  vielleicht  aus  Obscönitüt. 
Abb.  63  a  und  b  gibt  den  schlafenden  Hermaphroditos 
aus  dem  Museo  Nazionale  in  Rom. 

Der  ganze  Körper  ist  gleichsam  durchzuckt  von  der 


Abb.  63  a. 


Abb.  63  b. 


—    880    — 

höchsten     körperlichen     Extase.       Der     halb     geöffnete 
Mund,  die  aufgezogenen  Nasenflügel,  welche  die  keuchende 


> 

er 
er 


er 
er 


Atmung  des  Schlafenden  meisterhaft  demonstrieren,  die 
starke  Kontraktion  der  musculi  glutaei  dextri,  mit  dem 
kräftig  gegen  das  Tuch,  auf  dem    der  Dämon  ruht,    an- 


—  ,881    — 

gestemmten  Beine,   und   das    fast  krampfartige  Ergreifen 
der  Unterlage  mit  den  Händen,    der  eingezogene  Bauch 


Abb.  66.  Abb.  67a. 

und  das  kräftig  erigierte  Membrum,    geben    den  Augen- 
blick des  Orgasmus  meisterhaft  wieder. 


—    882  -  — 

Ähnliche    Statuen    zeigen    Abb.    64  (Galleria    della 
Villa  Borghese);  65  (Museum  des  Louvre);  66  (Museum 


Abb.  67  b. 


Abb.  67  c. 


von    Athen).      Gerade    im    Pariser    Monument    ist    der 
Spasmus  der  Glutaei  sehr  ausgesprochen.      Nicht  genug 


—    883    — 

kann  man  die  Wiederhersteller  dieser  Bilder  tadeln,  die 
offenbar  nur  obscön  denken  konnten,  denn  durch  das 
untergestellte  neumodische  Bett  ist  der  göttliche  Dämon 
zu  einem  gynäekomastischen  Jüngling  in  pollutione  nocturna 
gemacht  worden. 

Etwas  anderes  ist  das  Bild  aus  Florenz  (Galleria 
Uffizii).  Der. Künstler  hat  hier  den  Dämon  dargestellt, 
nachdem  der  Orgasmus  vorüber  ist  und  der  Schläfer  sich 
bald  umwenden  wird.  Im  Gesichte  ist  der  Ausdruck 
der  Anstrengung  verschwunden,  der  Spasmus  der  Glutaei 
hat  nachgelassen,  das  Membrum  fängt  wieder  an  schlaff 
zu  werden  und  das  unterliegende  Tuch,  wogegen  sich 
das  Bein  in  dem  Orgasmus  angestemmt  hat,  ist  in 
großer  Unordnung  niedergefallen  (Abb.  674  a,  b  und  c). 
Dieser  letzteren  Gattung  der  „schlafenden  Hermaphroditen-* 
ist  vielleicht  eine  triviale  Bedeutung  nicht  abzusprechen: 
das  höchste  körperlich-extatische  Moment  der  All-natur 
darzustellen,  verrät  tiefen  religiösen  Sinn;  das  Moment 
der  Erschlaffung  zu  reproduzieren  aber  eher  eine  oberfläch- 
liche Auffassung  jener  originellen  Darstellung,  als  gebe 
sie  eben  nur  die  sexuelle  Erregung  wieder. 

Wenn  also  diese  beiden  Gattungen  yon  Hermaphro- 
diten-Bildern (repräsentiert  durch  die  Abbildungen'  am 
Anfange  unseres  Artikels  und  Abb.  63)  die  Gottheit  in 
ihrer  höchsten  hehren  Majestät,  und  in  ihrer  tiefen 
mystischen  Bedeutung,  als  aktive  Kraft,  darstellten,  so 
war  der  Androgyne  als  passive  —  nährende  Kraft  dar- 
gestellt auf  einer  Statue,  welche  in  Clarac  als  „Venus  en 
Nymphe  endormie*  abgebildet  ist,  unter.  628,  No.  1425  B. 
Michaelis  (CXVIII,  343,  Ince  25) .  schreibt,  daß  ur- 
sprünglich die  Statue  von  drei  Genien  umgeben  war,  von 
denen  einer  durch  die  Brüste  des  Hermaphroditos  ge- 
nährt wurde;  da  man  diese  Darstellung  zu  raffiniert- 
obscön  fand,  wurden  die  Genitalien  abgemeißelt  und  die 
Genien  verschwanden  auch.  —  Wir  reproduzierten  diese 

Jahrbuch  V.  56 


884    — 


Abbildung  nicht,  da  durch  übel  angewandte  Prüderie 
gerade  da*  ('liarfiktertatiKche  verschwunden  war.  —  Wohl 
tiifit'litpti  wir  aber  fragen,  wer  obsctfner  war,  der  heidnische 
K  1111*11*%  der  die  All-natur  in  ihrer  passiv-nährenden 
Aellltenmg  darstellen  wollte,  oder  der  christliche  Besitzer, 
der  nur  ne*uelle«  Raffinement  darin  erblicken  konnte? 
Mdtflleh  l*t,  dal)  Abb.  25  etwas  ähnliches  darzustellen 
beabsichtigte,  (auw  der  Zeichnung  bei  Clarac  aber  war 
tlltw»*  «loht  Ml  entnehmen):  so  finden  wir  eine  andere 
AH  I torntelhuigen,  welche  «wischen  den  serenen  und 
\\v\\  U\Y  Viele  Mt  drastischen  Vorstellungen  stehen. 


AfcK   <**. 


AbK  6& 


^V :  ^t,WV  4^4   —  A  hh.  (^ ;  4  Ol       Abh.  cV1 :  *m«ä  Abh  7"  *st 

fW  }^^<v}?vui<~vn  wich  Oompi.  tot>^ö  1SS0  Tal  4  Xo.  IC». 

TVr   Aiv>rA^ynt    ><iw'3   muiTu:  OiW   mn    tiefen  Xacln 

faA\p4x7  <v^tiK-.  ^mon  5vopf  *mf  die  JJeehw-  ^rin7to)l 
^V<»  V>A«*»r.  ^iiwr.  Wi  ihm.  TVr  ein*  spielt  i.ui  äer 
v -— in\.  &*:  nnflrr  *ut  der  1  ym  \m(\  rter  dritte  weh:  ihm 
^^t  ^i»v»n.  Rtottc  trisciw  1  »utfi  vn.  V  n  verkenirhar  i?c  he: 
»Vr.  a  Vnv<»r.  rioT  ttot*  ^inn.  welehon  /irr  IvÜTfcCieT  m 
.ii>af    s^v»it^i    hiiuMnpelo£rt    U»i 

7>v     ^|«JV«tuv    in    ttofrv  ><»lh*ih^frH4^tfunp    mit    ften 


—    885     — 

Prinzips,  spielend  auf  dem  Instrumente,  welches  Hermes, 
das  Prinzip  der  männlichen  Potenz,  erfunden  hat  und 
welche  die  Harmonie  bedeutet,    und  der  dritte  Eros  mit 


Abb.  70. 


dem  Blatte  eines  Lotus,  der  heiligen  Pflanze,  dem  Symbol 
des  Androgynismus.     (Man  sehe  oben.) 

56* 


—    886    — 


Abb.  71: 


Ein  ähnlicher  Gedanke  liegt  m.  E.  in  Abb.  71.  Der 
Dämon  entblößt  sich  selber,  indem  er  das  Tuch  mit  dem 
er  bekleidet  war,  zwischen  den  Beinen 
durchzieht  und  betrachtet  seinen  Kör- 
per mit  großer  Andacht.  Neben  ihm 
auf  dem  Boden  sitzt  ein  in  tiefes  Nach- 
denken versunkener  Eros.  Abb.  70,  den 
bronzenen  Beschlag  der  Lehne  einer 
Kline,  welche  in  Südrußland  gefunden 
ist,  darstellend,  worauf  der  Dämon 
und  auch  ein  Erot,  welcher  Syrinx 
spielt,  genau  in  derselben  Haltung  vorkommen,  geben 
wir  als  Beweis  dafür,  daß  wahrscheinlich  auch  eine  Statue 
existiert  hat,  nach  der  sowohl  die  Cameen  als  auch  diese 
Lehne  nachgebildet  worden  sind  (CI,  v.  Hermaphroditos). 
Das  Motiv  der  Entblößung,  dem  wir  schon  oben 
begegneten,  also  die  Enthüllung  der  Mysterien  der  All- 
Natur,  wird  am  schönsten  wiedergegeben  durch  den 
Karneol  des  Berliner  Museums,  welchen  wir 
nach  einem  Schwefel- Abdruck  in  Leiden  in 
Abbildung  72  wiedergeben.  Von  dem  als 
Hintergrund  hochgehaltenen  Tuche  hebt  sich 
der  wunderschön  gebildete  Körper  des  ithy- 
phallischen  Dämon  prachtvoll  ab  (CI,  v.  Herm- 
aphroditos). Es  wird  wohl  nicht  nötig  sein,' 
wieder  zu  erklären,  daß  wir  in  der  ithyphalli- 
schen  Bildung  des  Dämon,  absolut  kein  „schlüpfriges 
Element"  erkennen  können  —  gegenüber  Hermann  (CI). 
„Ithyphallisch  und  ganz  nackt  ist  der 
Dämon  dargestellt  auf  Abb.  73  (Lippert  I, 
299).  Carneol.  Wieder  der  Hermaphroditus, 
sitzend  und  vorwärts  gekehret.  Da  er  beyde 
Hände  über  das  linke  Knie,  und  auf  die- 
selben  sein  Haupt  traurig  gelegt  hat,  so  scheint 
er  hier  sein  Schicksal  zu  beklagen.     Es  ist  ein  altes  und 


Abb.  72. 


Abb.  73.1» 


—    887    — 

besonderes  Werk,  so  die  ersten  Züge  der  Steinschneider- 
kunst zu  erkennen  gibt*. 

Interessant  ist  die  Än- 
derung, welche  die  Umgebung 
des  Dämon  auf  der  Kamee 
(Lippert  Suppl.,  182)  zeigt 
(Abb.  74).  Zu  Füßen  des 
liegenden  Hermaphroditen 
steht  eine  Urne,  ein  Symbol 
des  Todes;  und  an  einem 
toten  Baume  hängt  eine  Leier, 

ein  Attribut  des  Hermes  und  des  Apollon,  die  beide  aber 
lebenerzeugende  Götter  sind. 

Die  Abbildung  75  gibt  eine  Reproduktion  nach  einem 
herkulanischen  Gemälde.  Hier  steht  der  androgynische 
Dämon,  wieder  mit  dem  großen  Tuche,  das  vom  Kopfe 
herabhängt,  den  wir  schon  so  oft  begegneten,  in  der 
Linken  hält  er  ein  Blatt,  das  wir  als  Lotusblatt  auffassen 
zu  können  meinen.  Dasselbe  haben  wir  oben  auf  der 
Kamee,  in  der  Hand  eines  Eroten  gefunden,  und  die 
Symbolik  wird  wohl  deutlich  sein. 

Sehr  monumental  gedacht  ist  ferner  die  Statue 
(Abb.  76),  welche  Clarac  als  677  No.  1548a  publiziert, 
Matz-Duhn  aber  als  Appollon  deutet. 

In  Abb.  77  (Clarac  669,  1551),  finden  wir  wieder 
das  Tuch,  wulstartig  um  den  Bauch  gewunden,  welches 
wir  oben  bei  den  Eroten  fanden.  Auch  hierin  ist  das 
ernsthafte  der  Auffassung  deutlich. 

In  Abb.  78  und  79  (S.  890,  Clarac  resp.  668,  1554 
und  666a,  1554c)  geben  noch  zwei  Statuen. 

?"In  Abb.  80  (S.  891)  ist  der  Dämon  mit  einer  Kette 
versehen,  welche  wir  auf  Vasenbildern  so  oft  sehen.  Als 
Beispiel  hiervon  geben  wir  Abb.  81  (S.  892).  und  zwar 
nicht  nur  als  Beispiel,  sondern  auch  aus  Pietät  für  Blumen- 


Abb.  75. 


—    889    — 

bach,  den    großen  deutschen  Physiologen    aus   dem  An- 
fange des  19.  Jahrhunderts  (XXIII  tab.  II). 

Etwas  religiöses  vermissen   wir   aber    vollständig    in 
den  folgenden  Abbildungen. 


Abb.  76. 


Abb.  77. 


Abb.  82  a  und  b  sind  aus  Caylus  reproduciert, 
ebenso  Abb.  83  (S.  893 — 894).  —  Die  ersten  sind  interessant 
durch  die  typische  Haltung  und  die  sehr  eigentümliche 
Bekleidung  (XXXV,  tom.  5,  S.  220). 


890    — 


In  Abb.  83  (tom.  V.  S.  108)  glaubte  Caylus  eine 
etruskische  Arbeit  sehen  zu  dürfen,  der  viel  ägyptischen 
Motiven  Entlehntes  beigefügt  war.  Welcker  sprach  diesem 
Bildchen  die  hermaphroditische  Natur  ab.  (CXCI  S.  181); 
wir  können  aber  nicht  umhin,  aus  der  Abbildung  dem 
Caylus  beizustimmen. 


Abb.  78. 


Abb.  79. 


Wie  tief  die  androgynische  Idee  in  den  Geist 
der  Menschen  gedrungen  war,  beweisen  die  folgenden 
Abbildungen. 

Zunächst  als  Ornament  in  Gewerbekunstarbeiten  ver- 
wendet (Abb.  84,  85.  S.  895,  896)  finden  wir  in  Abb.  86 
ein   kleines  irdenes  Krüglein    aus    dem  Leidner  Museum, 


891 


welches  in  Form  eines  sitzenden  Hermaphroditen  ver- 
fertigt ist.  Früher  hat  man  hierin  ein  gebärendes  Weib 
gesehen!  (VII.)  (S.  897.) 


Abb.  80. 


Wenn  wir  nun  kurz  zusehen,  wie  es  sich  mit  der 
mystischen  Bedeutung  der  Zahlen  verhält,  so  finden  wir 
die  schönste  Übereinstimmung  zwischen  der  oben  ge- 
gebenen Bedeutung  der  androgynischen  Idee  und  der 
Mystik  der  sogenannten  androgynischen  Zahlen. 

Wir  führen    hier    ohne  Commentar  aus   der  Ausein- 


—    892    — 

andersetzung  des  Meursius  (CXVI  unter  den  verschiedenen 
Zahlen)  die  Namen  der  androgynischen  Zahlen  an. 
Eins:  die  Mannweibliche;  —  Geist;   Gott;  Materie; 

Chaos;  Zusammen-mischung;  Finsternis;  Schatten-weit; 

Gähnende  Kluft;  Tartaros;  Styx;  Schauer;    die  Oede; 


Abb.  81. 


Unterirdischer  Abgrund;  Lethe  (Vergessenheit);  die 
harte  Magd  (d.  h.  Artemis  oder  Athene);  Atlas;  Achse; 
Sonne;  Morpho  (d.  h.  Aphrodite);  Burg  des  Zeus;  Be- 
deutung der  Saamen;  Apollon;  Prometheus;  —  das 
Erzeugte;  das  Seiende;  die  Ursache  der  Wahrheit;  das 
Zusammenklingen  (Symphonia);  das  Gleiche;  das 
Mitten;  das  Maß-haltende;  das  Gegenwärtige;  Schiff; 
Wagen;  Freund;  Leben;  Glückseligkeit;   Form;    Zeus; 


—    893    — 

Eros;  Eintracht;  Gottesfurcht;  Freundschaft;    Proteus; 
Mnemosyne  (Gedächtnis). 
Vier:   Weibgestaltet,    das  Männliche    aber   be- 
sitzend.    ($rjlv[ioQq)6c    rs    xal    B7tavdQog);   Herakles; 


Abb.  82a. 


Abb.  82b. 


Erhebung;  der  sehr  Starke;  der  Männliche;  der  Nicht- 
effeminirte;   Hermes;   Hephaestos;  Dionysos;  Maiades; 


—    894    — 

der  Segenreiche;  der  Kräftige;  Dioskoros;  Bassareus 
(d.  h.  Dionysos);  Zwei-Mütter-habend  (Dionysos);  das 
Männliche-vor-sich-austragender;  das  Zur-Bakchischen- 
extase-bringende  ;  Harmonie;  Urania;  Kosmos;  Körper; 
Gerechtigkeit. 


Abb.  83, 


Fünf:  Androgyne;  Frei- von-Z  wiespalt;  Aenderung; 
Licht;  das  Aeußerste  der  tierischen  Natur;  Nemesis 
(da  dieselbe  in  guten  Verhältnissen  das  Himmlische, 
Göttliche  und  Körperlichein  jedem  Geschöpf  zusammen- 
fügt); Bubastis  (Göttin  der  Fruchtbarkeit);  Aphro- 
dite; Cytherea,  Zonaea  (Epithetader  Aphrodite);  Mittel- 
linie;   Halbgott;    Zwilling;    feste  Achse;   Unsterbliche; 


895 


Pallas;  die,  welche  wie  das  Herz  in  Mitten  von  allem  steht; 
die  Führerin;  die  Gleichgewicht-habende;  Nicht-mit- 
einem-anderen-verbundene  (d.  h.  in  und  aus  sich  selber 
vollkommen);  Orthiatis  (abgeleitet  vom  Epitheton  der 
Artemis  Orthia);  Melpomene;  Nährer;  Vorsehung; 
Natur;  Gott;  Geist;  Seele  der  Welt;  Begattung. 


Abb.  84. 


Sechs:  der  Androgyne,  Mannweibliche;  Form 
der  Form  (Prototyp) ;  Gelenk  von  allem,  was  die 
Seele  macht;  Harmonie;  Unverletztsein;  Aphrodite; 
Gespann;    Heirat;    Begattung;    Liebesgenuß;     Friede; 


—    896    — 

Freundschaft;  Gesundheit  (Hygiea);  Hecate-beletis ; 
(doch  wohl-  in  Verband  stehend  mit,  hecatebolos,  ein 
Epitheton  der  Artemis-Hecate);  der  Drei-wege-habende 
(man  denke  an   die  dreifache  Herme  oben) ;    der  Zwei- 


Abb.  85. 


seitige  (ober  und  unter  der  Erde  lebend,  man 
denke  an  Persephone,  Dionysos;  Adonis  u.  s.  w.);  Per- 
seia;  Dreiformige;  Amphitrite  (die  Meergöttin) ;  Thalia; 
Panacea. 


—     897     — 

Jeder,      der     diese    Liste    nachsieht     und     sie     mit 
unsren  Ausführungen  oben  vergleicht,    wird  jeden  Zug 


Abb.  86. 


der  Androgyne  wieder  finden:  1^  der  Schöpfer;  2.1  die 
All-natur;  3JL  das  Chaos,  woraus  alles  entstehen  wird; 
4_^    der  Schöpfungs-akt,    anthropomorphisch  aufgefaßt. 


—    898    — 

Ja,  selbst  Details  der  monumentalen  Darstellungen, 
finden  in  dieser  mystischen  Nomenclatur  ihre  tiefe  Be- 
deutung. Wir  wollen  nur  auf  den  finstern,  fast  traurigen 
Gesichtsausdruck  auf  den  Gemmen  und  der  Berliner  Statue 
hinweisen,  welcher  den  Gedanken  wunderschön  wiedergibt^ 
der  in  Styx,  Lethe,  Chaos,  Tartaros  etc.  liegt.  Und 
ebenso  erhellt  am  deutlichsten  aus  dieser  langen  Liste, 
wie  so  absolut  verschiedene  Darstellungen  des  Herma- 
phroditos  aus  dem  Altertum  zu  uns  gekommen  sind. 

Bevor  wir  den  Gottesdienst  näher  betrachten,  d.  h. 
die  Ceremonien,  wodurch  die  Menschen  ihrer  be- 
wußten Verbindung  mit  der  Gottheit  Ausdruck  verleihen, 
wollen  wir  eine  Frage  untersuchen,  welche  noch  immer 
auf  der  Tagesordnung  steht.  Wie  kamen  die  Künstler 
zu  Modellen  für  ihre  Schöpfungen  des  Hermaphroditen? 
Hermann  schreibt  (CI.  v.  Hermaphroditos  Sp.  2320}: 

„Die  Idee  des  doppelgeschlechtlichen  Wesens,  die 
durch  eine  einfache  Zusammenstellung  der  charakterist- 
ischen Kennzeichen  beider  Geschlechter  an  einem  Indi- 
viduum einen  unbeholfen  kindlichen  Ausdruck  fand, 
wurde  von  einer  fortgeschritteneren  Kunstepoche  mit  Be- 
gierde aufgenommen  und  weiter  ausgebildet.  Diese  suchte 
und  fand  ihre  Aufgabe  darin,  aus  der  Idee  eines  doppel- 
geschlechtigen Wesens  heraus  ein  wirklich  neues  Gebilde 
zu  schaffen,  das  die  männliche  und  weibliche  Natur  voll- 
kommen in  sich  vereinigt  und  in  dieser  Vereinigung  ein 
wirklich  neues  ganzes  und  vollkommenes  Geschöpf  dar- 
stellt, einen  in  sich  fertigen  neuen  Organismus,  der  zwar 
mit  aller  natürlichen  Erfahrung  in  direktem  Widerspruch 
steht,  aber  durch  die  größere  oder  geringere  Meister- 
schaft des  ausführenden  Künstlers  einen  Schein  von  Exi- 
stenzmöglichkeit erhält,  ohne  von  einem  in  der  Natur 
vorhandenen  Vorbilde  abstrahiert  zu  sein.  Denn  wenn 
es  auch  wissenschaftlich  feststeht,  daß  Zwittergeschöpfe 
in    der  Natur  vorkommen    und    auch  im  Altertum  nicht 


—    899    — 

unbekannt  waren,  so  wird  doch  niemand  im  Ernst  glauben, 
daß  ein  derartiges,  noch  dazu  selten  vorkommendes  ab- 
normes Naturgebilde  einen  wirksamen  Stoff  für  die  bil- 
dende Kunst  geboten  habe." 

Es  ist  gerade  interessant  zu  sehen,  wie  ein  Begriff, 
aus  dem  medicinisch-lateinischen  Jargon  entlehnt,  immer 
wieder  im  Kopfe  der  Menschen  spukt:  Hermaphroditen 
nannte  man  doch  im  früheren  medicinisohen  Küchenlatein, 
welches  bei  den  Laien  noch  immer  fortlebt,  nur  Individuen, 
welche  die  beiden  Geschlechter  in  sich  vereinigten 
und  man  sah  als  einzig  bestimmendes  Abzeichen  die 
Genitalien  an. 

So  weit  uns  bekannt,  gibt  es  keine  Denkmäler 
der  androgynischen  Idee  in  anthropomorphischer  Dar- 
stellung, welche  die  Genitalien  der  beiden  Geschlechter 
zeigen.  So  weit  uns  Quellen  zugänglich  waren,  fanden 
wir  keine  solchen  Denkmäler,  wohl  aber  eine  Vereinigung  der 
beiden  Geschlechtsteile  an  sich,  aber  nie  in  anthropomor- 
phischer Gestalt  Die  vereinigte  Darstellung  der  Ge- 
schlechtsteile, der  wir  oft  auf  den  altindischen  Monumenten 
begegnen,  können  aber  nie  Androgyne  oder  Hermaphroditen 
genannt  werden,  wenn  auch  die  Darstellung  einer  analogen 
Idee  beabsichtigt  war. 

Schon  vor  langer  Zeit  sind  durch  den  Physiologen 
Blumenbach  ganz  andere  Ansichten  verkündet  worden,  An- 
sichten, welche  die  neuen  Mythologen  aber  auch  die  neueren 
Mediziner  wohl  einmal  lesen  sollten.  Es  ist  wirklich 
staunenerweckend,  wie  schon  durch  diesen  Gelehrten 
Auffassungen  niedergeschrieben  wurden,  welche  der  neueren 
Theorie  über  Uranier  vollständig  entsprechen. 

In  dem  Vorbericht  der  Amalthea  II,  S.  XVII  (XXXI) 
gibt  Böttiger  den  folgenden  Auszug  aus  einem  Schreiben 
des  großen  Physiologen. 

Böttiger  hatte  in  XXXI  Bd.  I  S.  354  sqq.  nament- 
lich ganz  ähnlich  wie  Hermann  geschrieben: 

Jahrbuch  V.  57 


—    900    — 

„Aus  der.  Art,  wie  sie  meine  Specimina  anführen, 
könnte  der  Verdacht  entstehen,  als  ob  ich  eifriger 
Physiolog,  der  aber  auch  an  archäologischen  Studien 
seine  Freude  hat,  die  wunderschönen  antiquarischen 
Hermaphroditen  mit  den  unglücklichen  Menschenkindern 
mit  den  mißgestalteten  Genitalien  verwechselte,  die  man 
überhaupt  ganz  unrichtig  mit  jenem  Namen  belegt,  da 
mir  wenigstens  bis  jetzt  auch  nicht  ein  einziges  unbe- 
zweifeltes  Beispiel  der  Verbindung  der  beiderlei  Sexual- 
organen in  einem  menschlichen  Individuum  bekannt 
ist.  Was  man  am  häufigsten  damit  verwechselt,  sind  die 
armen  Hypospadiaei  mit  mangelhafter  Harnröhre,  wohin 
auch  das  ex  Voto  aus  Tonnleys  Sammlung  gehört,  das 
in  meinem  Specimen  abgebildet  ist,129)  und  davon  ich 
zwei  lebende  Erwachsene  zwar  mit  großen  wissenschaft- 
lichem Interesse,  aber  —  im  Vertrauen  gesagt  —  nicht 
ohne  Ekel  untersucht  habe,  ohne  freilich,  wie  der  humane 
Verfasser  jenes  Zusatzes  die  armen  Creaturen  gleich  zur 
Säckung  zu  verurtheilen.  Uebrigens  hoffe  ich  in  meinem 
Handbuche  der  Naturgeschichte  S.  22  ff.  den  dreifachen 
verschiedenartigen  Begriff  der  Hermaphroditen  (worunter 
aber  die  monströsen  Hypospadiaei  überhaupt  nicht  ge- 
hören) deutlich  bestimmt  zu  haben.  Von  den  ersten  der 
daselbst     unterschiedenen     zwitterartigen     Gebilden     in 

129)  (XXIII  S.  15)  Argenteum  est 
sigillum  quod  primo  intuitu  utriusque 
Sexus  genitalia  invicem  connata  exhibere 
videtur,  adeoque  ab  ipso  desideratissimo 
possessore  itidem  pro  symbolo  Bacchi 
biformis  ut  in  Orphicis  carmiDibus  audit, 
habebatur.  Mihi  vero  nisi  omnia  me 
fallunt,  potius  votivum  Signum  viri  esse 
Abb.  87.  videtur,  eo  obscoenarum  partium  male 

conformatarum  spurco  vitio  laborantis  quod  vago  quidem  nee  satis 
definitio  hypospadias  nomine  venit  et  urethrae  hiatu  sive  sub 
cole,  sive  ut  in  hoc  roriore  exemplo  in  ipso  perinaeo  contra  naturam 
fissae  constat. 


—     901     — 

physiologischem  Sinne  (nicht  im  gemeinem  Sprachgebrauche) 
ist  mir,  wie  schon  gedacht,  nie  ein  zu  verläßiges  Beispiel 
im  Menschengeschlecht  je  vorgekommen.  Desto  mehr 
aber  von  den  übrigen  beiden  Hauptarten,  z.  B.  der  der 
zweiten  Klasse  von  Jünglingen  und  Männern  mit  weib- 
licher Brust,  deren  ich  drei  selbst  gesehn.  Es  läßt  sich 
denken,  wie  solche  Hermaphroditen  zuweilen  in  prodigiis 
und  hinwiederum  i n  deliciis  habiti  seyn  konnten. 
Namentlich  ist  dieser  Fall  der  männlichen  Brust  in 
Aegypten  nicht  selten  (Pr.  Alpinus)  und  an  plastischen 
Kunstwerken  des  aegyptischen  Altertums  bemerkbar 
(Zoega  de  Obelisc.  p.  478),  so  daß  auch  Fea  einen 
Pastophoros  für  eine  weibliche  Figur  ansah.  Auch  ließen 
sich  wohl  Männer,  die  sich  solcher  Weiblichkeit  schämten, 
durch  eine  chirurgische  Operation  davon  befreien  (Paul. 
Aegineta  VI,  46).  Und  von  dieser  gefälligen  Abweichung 
des  Bildungstriebes  könnten  doch  wohl  die  alten  Künstler 
die  veredelten  Formen  ihrer  Hermaphroditen  entlehnt 
haben,  wie  auch  Osann  in  Ihrer  Amalthea  S.  349  nicht 
in  Abrede  zu  seyn  scheint.  '  Was  aber  im  angeführten 
Handbuch  am  Schluß  gesagt  worden,  weibliche  Weichlich- 
keit in  der  Totalform  des  Männlichen,  dafür  finden  sich 
Belege,  so  wie  in  der  schönen  Natur  unter  den  herrlichsten 
Climaten,  so  in  der  hellenischen  Plastik,  wie  z.  B.  aus 
anthropometischer  Rücksicht  im  Verhältniß  der  Hüften 
und  deren  Zubehör* zu  den  Schultern  bei  der  grandiosen 
Pallas  in  der  Dresdener  Gallerie." 

Die  Stelle  seines  Handbuchs,  auf  die  ßlumenbach 
sich  oben  bezieht,  lassen  wir  hier  vollständig  folgen: 

XXIV,  IL  Absch.  §  10.  „Durch  die  bestimmte 
zweckmäßige  Wirksamkeit  des  Bildungstriebes  (d.  h.  sehe 
Anm.  2  §  9.  Hoffentlich  ist  für  die  mehrsten  Leser 
die  Erinnerung  überflüssig,  daß  das  Wort  Bildungstrieb 
selbst,  so  gut  wie  die  Benennungen  aller  anderen  Arten 
von  Lebenskräften  an  sich  weiter  nichts  erklärt,  sondern 

57* 


—    902    — 

bloß  eine  besondere  .  (das  mechanische  mit  dem  zweck- 
mäßig modificirbaren  in  sich  vereinende)  Kraft  unter- 
scheidend bezeichnen  soll,  deren  constante  Wirkung  aus 
der  Erfahrung  anerkannt  werden,  deren  Ursache  aber  so 
gut  wie  die  Ursache  aller  andern  noch  so  allgemein 
anerkannten  Naturkräfte  für  uns  hier  nieden  im  eigent- 
lichen Wortverstande  qualitas  occulta  bleibt).  —  in  den 
bestimmten,  dafür  empfänglichen  organisirbaren  Stoffen, 
wird  nun  die  oben  so  bestimmte  Form  und  der  Habitus 
aller  einzelnen  Gattungen  (Species)  von  organisierten 
Körpern  erhalten;  und  bei  denen,  wo  es  statt  findet,  auch 
ihre  Sexual  Verschiedenheit,  durch  welche  sich  nämlich 
die  männlichen  Geschöpfe  von  den  weiblichen  in  derselben 
Gattung  auszeichnen.  — 

㤠 11.  Aber  freilich  kann  der  Bildungstrieb  auch 
eben  sowohl  als  jede  andere  in  ihrer  Thätigkeit  gestörte 
oder  fremdartig  modificirte  Lebenskraft  auf  mancherlei 
Weise  von  seiner  eigentlichen  bestimmten  Richtung  ab- 
weichen. So  entstehen  dann  ( —  der  bloss  krankhaften 
nicht  ins  Gebiet  der  Naturgeschichte  gehörigen  Abweich- 
ungen zu  geschweigen  — )  durch  ganz  gewaltsame 
Störungen  desselben  ganz  widernatürliche  Formen  der 
organisirten  Körper  nähmlich  die  Mißgeburten. 

,2)  Dadurch,  daß  der  zweifache  Sexual-Charakter, 
der  sonst  in  den  beiden  Geschlechtern  getrennt  seyn 
sollte,  mehr  oder  weniger  in  einem  und  eben  demselben 
Individuum  verbunden  ist,  die  Zwitter. 

„3)  Dadurch  daß  zwey  Geschöpfe  ganz  verschiedener 
Gattung  (zweyerlei  Species)  einander  befruchtung,  die 
Bastarde. 

„Endlich  4)  durch  den  Einfluß  der  mancherlei 
Ursachen  der  allmählichen  Ausartung  die  Rassen  und 
Spielarten. 

㤠 13  s.  19.  Zwitter  nennt  man  zwar  im  engern 
Sinne    bloß    solche  einzelne    Individua    von    organisirten 


—    903    — 

Körpern  bei  welchen  widernatürlicher  Weise  die  Spuren 
der  zweyfachen  eigentlichen  Sexualorgane  mehr  oder 
weniger  verbunden  sind,  die  sonst  in  den  männlichen 
und  weiblichen  Geschöpfen  derselben  Art  getrennt  seyn 
sollten.  Dergleichen  finden  sich  selbst  zuweilen  unter 
warmblütigen  Thieren,  zumahl  unter  dem  Rindvieh, 
Schafen  und  Ziegen,  aber  im  Menschengeschlechte  sind 
sie  noch  unerwiesen. 

„Nächstdem  aber  verdient  auch  derjenige  Abweichung 
des  Bildungstriebes  hier  einer  Erwähnung  wenn  andere 
körperliche  Funktionen  oder  Charaktere,  die  dem  einen 
Geschlechte  eigen  seyn  sollten,  sich  bei  Individuis  des 
andern  äußern.  Wenn  z.  B.  Hirschkühe,  und  Reh- 
Geißen  Geweihe  aufsetzen,  oder  Fasan  und  Pfau-Hennen 
mit  zunehmenden  Jahren  männliches  Gefieder  kriegen; 
oder  Mannspersonen  oder  andere  männliche  Säugethiere 
Milch  geben,  u.  s.  w.  Endlich  aber  zeigt  sich  auch 
zuweilen  im  ganzen  Verhältniß  des  Körperbaues  einzelner 
übrigens  noch  so  regelmäßig  und  schön  gebildeter  Ge- 
schöpfe des  einen  Geschlechts  doch  mehr  oder  weniger 
vom  Totalhabitus  des  Andern ;  z.  B.  weiblicher  Weichlich- 
keit in  der  Totalform  des  Männlichen  *. 

Dieses  wurde  geschrieben  in  der  zwölften  recht- 
mäßigen Ausgabe  des  Handbuchs,  welches  seiner  Zeit 
ins  Englische,  Französische,  Italiänische,  Holländische, 
Dänische  und  Russische  übersetzt  worden  ist,  im  Jahre  1830. 

Ist  es  nicht  unbegreiflich,  daß  diese  Ideen  in  der 
wissenschaftlichen  Welt  fast  absolut  vergessen  zu  sein 
scheinen  ? 

Die  Stelle  des  Specimen,  welche  Böttiger  unbegreif- 
licher Weise  mißbraucht  hat,  verrät  eine  so  tiefe  Er- 
kenntnis der  Natur  wie  des  Altertums,  daß  wir  nicht  umhin 
können,  dieselbe  auch  vollständig  in  der  Ursprache  zu 
citieren  XXIII  S.  14—15. 


—    904    — 

„Aliter  vero  se  res  habet  cum  alius  generis  conunbio 
a  graecis  antiquae  artis  auctoribus  in  Hermaphroditis 
fingendis  adhibito  quod  quidem,  ut  Heyni,  viri  sumnri 
mihique  coniunctissimi,  verbis  utor,  non  eo  modo  factum 
arbitror,  ut  utriusque  sexus  genitalia  efficta  essent;  verum 
ut  in  signis  quae  adhuc  extant,  praestantissimae  artis, 
expresso  corpore  pueri  pulcherrimo  sed  ad  omnes  puellac 
veneres  in  pectore  femoribus  aliisque  partibus  accomodato, 
ia  ut  summa  pulchritudo  pueri  ad  summam  puellac 
pulchritudinem  attemperata  artificis  ingenio  incedisse  dicen- 
da  sit.  Imo  vero  non  ex  ingenio  tantum  sed  ad  ipsam 
naturae  veritatem  ea  signa  ficta  esse  dixerim;  siquidem, 
quod  alias  iam  tetigi,  ut  in  viraginibus  barbigeris  raasculus 
habitus,  ita  in  iuvenili  quoque  corpore  sui  sexus  organis 
genitalibus  rite  instructo,  quoad  reliqua  possim  perfercte 
feminea  mollities  et  muliebris  conformatio  ac  partium 
proportio  locum  habet.  Aliis  antiquae  artis  monumentis 
quae  puellares  eiusmodi  iuvenes  exhibent  qui  vulgo  herma- 
phroditorum  nomine  veniunt  addere  liceat.  Similem 
in  vasculo  etrusco  quod  in  propria  supellectile  servo 
iuvenem  alatum  bacchicorum  mysteriorum  symbola  prae 
se  ferentem  et  cui  itidem  partibus  quibus  mares  sumue, 
femineum  pectus  et  coma  iuncta  sunt".   (Siehe  Abb.  81.) 

Man  nennt  diesen  Autor  wie  soviel  Andere  „veraltet1*. 
Ach,  wenn  man  sich  nur  aus  Pietät  wieder  diesen  weisen 
Alten  zuwenden  möchte! 

Es  gab  eine  Zeit,  in  der  man  wenigstens  die 
Auffassung  Blumenbachs  in  archaeologischen  Kreisen  teilte, 
wenn  auch  ohne  Erwähnung  seines  Namens.  Raoul 
Rochette  meint  (CLXII  S.  140  Anm.  10.): 

„Ce  qui  n'est  pas  moins  certain,  c'est  que  par  une 
conformation  propre  k  la  race  grecque  et  qu'on  observe 
encore  m£me  chez  les  Grecs  modernes,  il  arriva  souvent 
que  les  adolescents  offrissent  les  formes  feminines  qui 
contribufcrent    beaucoup    ä   produire    ces  habitudes   h  la 


—    905    — 

soci&e*  greoque  si  connues  qui  faisaient  dire  k  la  cour- 
tisane  Glycere  apud  Athen  XIII  c.  84  p.  1347.  Tore 
yaq  xal  ol  naldig  eltii  xaXol,  taov  eolxatai  yvvaixi 
XQovov.  — " 

Wenn  auch  Rochette's  Meinung  nicht  ganz  zutrifft, 
und  unter  den  Griechen  auch  wohl  Uranier  gewesen  sein 
werden,  die  gerade  weibliche  Jünglinge  nicht  liebten,  so 
ist  seine  Auffassung,  daß  solche  „puellares  iuvenes*  wohl 
den  Künstlern  der  androgynischen  Bilder  Modell  gestanden 
hatten  äußerst  wahrscheinlich,  wenn  nicht  als  bestimmt 
sicher  anzunehmen. 

Wir  wollen  aber  auch  Stellen  aus  klassischen  Autoren 
beibringen,  welche  als  Grundlage  für  Blumenbachs  Auf- 
fassung dienen  können. 

Diodor  (XL VIII  lib.  IV,  c.  6,  5)  schreibt: 

„Der  Sage  von  Priapus  ist  die  von  Hermaphroditus 
ähnlich,  der,  als  Sohn  des  Hermes  und  der  Aphrodite  von 
beiden  Eltern  zusammen  seinen  Namen  erhalten  haben  soll. 
Einige  glauben  nämlich,  es  sei  dieses  ein  göttliches 
Wesen,  das  zu  gewissen  Zeiten  unter  den  Menschen  er- 
scheine und  einen  Körper  habe,  in  dem  männliche  und 
weibliche  Elemente  gemischt  wären;  die  Schönheit  und 
Zartheit  seines  Körpers  sei  einem  Weibe  fast  ähnlich, 
andererseits  habe  er  die  Mannhaftigkeit  und  die  Tatkraft 
eines  Mannes.  Andere  dagegen  behaupten,  solche  Wesen 
seien  Mißbildungen  der  Natur,  welche  selten  vorkommen 
und  immer  eine  gute  oder  schlimme  Vorbedeutung 
haben130)." 


13°)  (XLVIII).  naqa7thf\(Si(ja(;  de  %($  ügidTto)  nveg 
[iv$okoyov(SL  y6y6vrj(f9cu  rov  cEQ[ia<pQ6dtTov9  cv  ej  cEq[iov 
xal  ^(pQodtTtjg  yevvtj&evTcu  tvxsIv  rrjs  e£  afKforiqmv  rcov 
yovscov  Gvvre&eiarjg  7ZQo<fj]yoQtag.  Tovtov  <T  ol  fiev  <pao*iv 
el'vat,  &£bv  xal  xaxa  xivag  XQovovg  <paivea&ai  Ttag'  dvd-Qco- 
Ttoig  xal  yevväaüai  zrv  %ov   acofiarog  <pvaiv  %%ovxa  pe- 


—    906    — 

Wir  wissen  aus  verschiedenen  Epigrammen,  daß  man 
im  Altertum  die  Darstellung  des  Hermaphroditen  so 
auffaßte,  wie  wir  sie  noch  in  Monumenten  vor  uns  haben. 
So  schreibt  Martialis  (CXI.  Epigr.  XIV,  174)  für  einen 
marmornen   Hermaphroditus : 

„Masculus  intravit  fönte,  emersit  utrumque, 
Pars  est  una  patris  caetera  matris  habet", 
und  Christodorus  beschreibt   (LH.  V.  102   bis   107)   ein 
Bild  des  Dämon: 

„Dort  stand  ein  lieblicher  Hermaphroditus,  weder  ein 
ganzer  Mann  noch  ein  ganzes  Weib.  Gemischt  war  das 
Bild.  Leicht  wird  man  ihn  nennen,  den  Sohn  der  Cypris, 
mit  schönen  Brüsten,  und  des  Hermes.  Er  zeigte  seine 
schwellenden  Brüste,  wie  ein  Mädchen;  allein  auch  die 
erzeugende  Form  der  männlichen  Scham,  aufweisend  die 
gemischten  Zeichen  von  beider  Pracht  18I).<* 

Und  als  Beispiel  eines  Epigramms  an  „einen  schönen 
Jungen"  gerichtet,  geben  wir  das  CVII.  Ep.  des  Ausonius 
(XIII),  welches  sehr  viel  Ähnlichkeit  hat  mit  der  oben 
gegebenen  Stelle  in  Athenaeus.  „Während  die  Natur 
zweifelte,  ob  sie  einen  Knaben  oder  ein  Mädchen  schöpfen 


[uyiiivYjv  e £  dvögog  xal  yvvcuxog*  xal  ttjv  h&v  ev7TQ£7zeiav 
xal  iiakaxlnvpa  rot»  Gcofiarog  e%ew  yvvavxl  7taQ£iA<pe(>f[,  t% 
Je    aQQBVbOTtov    xal    dqatSTixbv   e%eiv    avÖQog*  evioi   de  rd 
Toiavra  yivrj  xalg  (piaeatv  a7to(paCvovTai  zeqaia  v7taQ%eiv, 
xal  yevrtJfieva  anavlwg  7tQoarjfiavTixä  ytvetr&ai,  Ttoxk  fxev 
xaxtov  7Tore  d'dyaSwv, 
1ZI)  V.  102-107. 
'imaro  <F  € EQiiatpQoditog  i7ti[qa%og  oi>&'  oXog  avijq, 
Ovöe  yvvtf'  iilxtIv  yäg  ecrjv  ßQixac;  r\  TayjOL  xovqov 
KvTtQtSog  evxoXjcoto  xal  'Egfidcovog  evitpeig* 
Matovg  fxh  (f(pQcy6a>VTag  eäelxvvsv  oid  re  xovqt[ 
2%rjtJia  de  näoiv  e<paivs  (pvroaxogov  äqüevog  adovg 
&vvrjg  dylaCrjg  xexeqaafiiva  arniaaa  tpalvoav. 


—    907    — 

möchte,  bist  da  erzeugt,  o  schöner  Knabe,  fast  ein 
Mädchen!« 182) 

Als  Modelle  der  Hermaphroditen  wurden  unzweifel- 
haft diese  mädchenhaften  Jünglinge  verwendet,  die  doch 
die  mann-weibliche  Natur  für  die  tiefdenkenden  und 
mystisch-erkennenden  Alten  am  schönsten  demonstrierten : 
sie  gaben  die  Harmonie  der  Natur  wieder  als  lebende 
Personen,  sie  waren  die  Abbilder  der  Gottheit. 

In  den  Mysterien  und  in  dem  Gottesdienste,  wo 
immer  drastisch  der  Inhalt  der  Mythen  der  Theologie 
dargestellt  wurde,  sind  ebenso  unzweifelhaft  diese  Jüng- 
linge aufgetreten  als  Symbolisierung  der  Gotteskraft  188). 

Und  wie  wir  oben  gesehen  haben,  gibt,  es  sehr  viele 
Beispiele  in  der  Geheimlehre  von  Verbindungen  der  ver- 
schiedenen Emanationen  der  Gotteskraft,  welche  anthro- 
promorphisch  aufgefaßt  —  und  wie  könnten  Menschen 
in  der  plastischen  Darstellung  dieser  Theorien,  anders  als 
anthropromorphisch  verfahren  —  nur  als  sexuelle  Akte 
dargestellt  werden  können.  Denn  in  dieser  körperlichen 
Vereinigung,  welche  mit  psychischer  Extase  verbunden 
ist,  wird  doch  am  schönsten  die  göttliche  Harmonie  de- 
monstriert, und  wie  in  Knossos  und  Samos  der  Hieros- 
gamos,  die  Hochzeit  des  Zeus  und  der  Hera,  wie  sie  nach 
der  Ueberlieferung  einst  geschehen  ist,  nachgebildet 
wurde  bei  einem  großen  Feste  zur  Ehre  des  Zeus 
(Diodor,  XLVIII,  b.  V.  c.  72),  so  darf  man  wohl  be- 
stimmt annehmen,  daß  auch  die  Verbindung  der  aktiv- 
erzeugenden Kraft  mit  dem  Androgynen  durch  Nach- 
bildung gefeiert  worden  ist:  so  auch  andere  Episoden 
aus  den  Götter-mythen ,  wie  das  sich  Hingeben  des 
Dionysos  an  Prosymnos  und  die  Verbindung   der  Sonne 

132)  In  puerum  formosum.    CVII. 

Dum  dubitat  natura,  marem  faceretne  puellam 
Factus  es,  o  pulcher,  paene  puella,  puer. 

133)  Vergit  Lobeck,  Aglaophamus  S.  197,  sqq. 


—    908    — 

mit  dem  Mond,  und  die  des  letzteren  mit  dem  All. 
(Siehe  oben,  wo  wir  diese  Mythe  besprachen.) 

Bei  so  vielen  religiösen  Festen  der  Griechen  traten 
als  Weiber  gekleidete  Jünglinge  auf.  Die  tieferen 
Mysterien  werden  uns  selbstverständlich  durch  die 
griechischen  Schriftsteller  nicht  mitgeteilt,  aber  gerade 
bei  den  öffentlichen  Festen  wurde  so  vieles  getan,  was 
den  Inhalt  der  Mysterien  erraten  läßt. 

Wenn  wir  einige  Feste  in  alphabetischer  Ordnung 
folgen  lassen  (nach  CXVII.),  so  finden  wir: 

Ariadneia;  dieses  Fest  soll  durch  Theseus  ein- 
gesetzt sein  zur  Ehre  der  Ariadne  (man  denke  an  die 
oben  geschilderte  Bedeutung  ;der  Ariadne),  Plutarchus 
schreibt  in  Theseus  c.  20;  „Bei  dem  Opfer,  welches  am 
zweiten  des  Monats  Gorpiäus  dargebracht  wird,  legt  sich 
ein  Jüngling  nieder  und  ahmt  das  Geschrei  und  die  Be- 
wegungen einer  Frau  in  Kindesnöten  nach." 

Anthesterien,  dem  Dionysos  gewidmet.  Philo- 
stratus,  Leben  des  Apollonius  v.  Tyane  Buch  IV,  c.  21. 
„Als  (Apollonius)  aber  hörte,  daß  [die  Athener]  nach  der 
Musik  der  Flöte  üppige  Stellungen  aufrührten  und  neben 
der  Theologie  und  der  Poesie  des  Orpheus,  bald  wie  die 
Hören,  bald  wie  Nymphen,  und  wie  Bacchanten  thaten, 
so  setzte  ihn  Dies  in  Erstaunen.*  In  seiner  Ansprache 
sagte  er  weiter :  „Ihr  aber  kleidet  Euch  noch  weiblicher 
als  die  Frauen  des  Xerxes;  die  Greise  wie  die  Jünglinge 
und  die  Epheben." 

Heraklea,  Plutarchus  Quaest.  graec.  58.  Beiden 
Coern  beginnt  der  Priester  des  Herakles  in  Antimachia 
das  Opfer,  in  weiblicher  Kleidung,  den  Kopf  mit  der 
Mitra  bedeckt. 

Lydus  (CIV.  Buch  IV,  46.)  Darum  kleiden  sich  bei 
den  Mysterien  des  Herakles  die  Männer  in  Weiber- 
kleider, da  der  Samen-Keim  nach  der  Rauheit  und  Un- 
fruchtbarkeit des  Winters  zu  erweichen  anfängt. 


—    909    — 

Thärgelia,  ein  Fest  der  Artemis  und  des  Apollon, 
ein  Reinigungs-  und  Sühnefest.  Hierbei  wurden  zwei 
Männer  hinausgeführt,  um  symbolisch  das  Opfer  der 
Sühnung  zu  bezeichnen,  der  eine  personifizierte  die  Männer, 
der  andere  aber  die  Weiber  (Harpocrat  v.  cpaQjuaxog.) 

Oschophorien,  dem  Dionysos  und  der  Ariadne 
gewidmet.  Hierbei  führten  zwei  Jünglinge  in  Weiber- 
Kleidern  den  Chorus  an,  mit  Weinranken  voll  reifer 
Trauben. 

Hybristika,  ein  Fest  der  Aphrodite.  Hierbei 
waren  die  Weiber  in  männliche  Gewänder  g<ekleidet,  die 
Männer  aber  in  Weiberkleider  gehüllt,  und  brachten  so 
das  Opfer. 

Eusebius  (LXXXIV,  de  laud.  Const.  p.  516.  C.)  er- 
zählt  uns,  daß  auf  den  Gipfel  des  Libanon  ein  Tempel 
der  Aphrodite  war,  welchen  er  „eine  Schule  für  Lieder- 
lichkeit" nennt,  „für  alle  obscönen  Männer,  die  ihren 
Körper  durch  Zuchtlosigkeit  beschmutzen,  geöffnet. 
Einige  Effeminirte  (d.  h.  Androgyni  im  Griechischen),  die 
eher  Weiber  als  Männer  genannt  werden  können,  da  sie 
die  Würde  ihres  Geschlechtes  ablegten  und  litten,  was 
Weibern  zusteht,  verehrten  so  die  Gottheit."  Wir  geben 
die  eigenen  Worte  des  Kirchenvaters.  Er  konnte  die 
tiefe  Mystik  dieser  Gebräuche  nicht  mehr  begreifen,  oder 
wollte  es  nicht.  Jeder,  der  den  Alten  gerecht  sein  will, 
wird  aber  hierin  nichts  anders,  als  die  Consequenz  der 
Theorie  sehen,  die  plastische,  concrete  Darstellung  des 
Abstrakten.  Aus  diesen  Ceremonien  konnte  nur  folgen,  daß 
die  Götter,  in  deren  Tempel  als  Demonstration  der  Theo- 
logie Geschlechtsakte  zwischen  Priestern  und  weiblich- 
gearteten Jünglingen,  oder  zwischen  weibmännlichen 
Priestern  und  Männern  verübt  wurden,  um  die  Ver- 
bindung des  Gottes  mit  der  organisierten  Materie,  resp. 
des  männlich-erzeugenden  Prinzips  mit  dem  All-Schöpfer 
zu  versinnbildlichen,  zu  Göttern  der  Knabenliebe  wurden. 


—    910    — 

So  wurden  Apollon,  Dionysos,  Pan,  Aphrodite,  Eros, 
Zeus  selbst  und  Gauymedes  die  Götter  der  Knabenliebe. 

Wir  wollen  aus  Welcker  (CXC)  verschiedene  Stellen 
anführen,  um  dieses  zu  beweisen. 

Wir  bitten  aber,  den  subjektiven  Tadel  Welckers 
nicht  zu  beachten,  sondern  nur  den  gegebenen  Tatsachen 
des  Altertums  Aufmerksamkeit  zu  schenken  und  dieselben 
im  Lichte  der  oben  gegebenen  Ausführungen  zu  be- 
trachten. Wir  werden  in  einigen  Noten  die  nötigen  Er- 
klärungen beibringen. 

„Endlich  ist  dem  Apollon  auch  ein  böses  Patronat, 
doch  nur  in  einigen  Sitzen  asiatischer  Weichlichkeit  und, 
so  viel  wir  wenigstens  sehen,  nicht  in  früher  Zeit,  auf- 
gedrungen worden.  Der  Didymaeus  in  Branchidä  wird 
von  Konon  Qifoog  genannt.  Dies  kann  Gott  der  Freund- 
schaft heißen,  wie  Zeus  Qifaog  oder  cEicuQeiog.  Der  milc- 
sische  Qifaog,  <bikffiiog  aber  bedeutet  der  Gott  der  Küsse, 
sodaß  Varro's  Worte:  Philesii  Apollinis  nequitia  den 
rechten  Aufschluß  geben  (bei  Schol:  Stat:  Thebi  8.  198 
cf.  Mythogr.  Vatic.  I  81.  II  85).  Macrobius184), 
immer  nur  die  Sonne  im  Kopf,  denkt  an  die  Küsse, 
womit  diese  im  Aufgang  begrüßt  wurde  (Sat.  I  17). 
Strabon  aber  berichtet  von  der  Liebe  des  Apollon  zum 
Branchos,  von  der  in  Branchidä  die  Sage  sey  (14.  p.  634). 
Und  Konon  erzählt,  daß  Apollon,  wo  der  Altar  des 
Apollon  Philios  stand,  den  schönen  Branchos  verliebt 
küßte  (egaa&eig  etpiXriGev)  und  dadurch  begeistert  weis- 
sagte (33).  Dem  liegt  ein  Knabenwettkampf,  Philesia, 
zu  Grunde,  die  saubere  Legende  von  dem  Ursprung  der 
Branchiden  von  zwei  Jünglingen,  Zwillingen  gleich  ihren 
Göttern,    die   mit  Küssen    um    den  Preis    eines  Schwans 

134)  wjp  glauben,  daß  die  Auffassung  des  Macrobius  nicht  so  sehr 
zu  verwerfen  ist  d.  h.  philosophisch  werden  diese  Geschichten  und 
Ceremonien  sehr  gut  hiermit  stimmen  und  anthropomorphisch  konnte 
es  wieder  nicht  anders  versinnbildlicht  werden. 


—    911    — 

streiten,  eines  apollinischen  Tiers,  das  aber  hier  auch  auf 
den  schönsten  weißen  Körper  "ÄQyvwoq  anspielen  möchte. 
Ebenso  setzte  die  Knabenkämpfe  in  Milet  Leukothea 
ein,  die  Weißgöttin,  mit  Bezug  auf  die  Weißlinge,  was 
die  Legende  gleichfalls  versteckt,  um  es  erraten  zu  lassen. 
(Conon  33).  Liebhaber  solcher  Schönen  gaben  sogar  dem 
Agamemnon  eine  "Agyvvvos  zu,  nach  welchem  Aphrodite 
Argynnus  benannt  worden  sey  (Athen.  13  p.  603  d.  Plut. 
Gryll.  7.) 

„  Wettstreit  im  schönen  Küssen  war  im  Gebrauch  auch 
in  Megara  (Theoer.  12).  Mit  dem  Branchus  aber  wur- 
den dem  Apollon  nach  Varro  Tempel  errichtet,  Philesia 
genannt,  Philostratus  nennt  ihn  und  den  Klaros  (auch 
von  Theopomp  erwähnt)  „die  Schönen  des  Apollon". 
(Epist.  41.  p.  931). 

„Für  die  Bedeutung  des  Philesios  ist  auch  wichtig,  daß 
unter  dem  in  Trapezunt  nach  Arrians  Zuschrift  des  Periplus 
an  Hadrian  unter  diesem  Namen  verehrte  Gott  Antinous 
zu  verstehen  ist.  (Peripl.  Pont.  Eux  p.  2.  —  Gesner  de 
Deo  bono  puero  Phosph.  Comm.  Gotting.  T.  4.  p.  104 
äs.),  ebenso,  daß  die  Fabel  des  Tiresias,  als  der  die  weib- 
liche Wollust  kannte,  in  das  überprächtige  und  über- 
schwelgerische Heiligtum  des  Apollon  Daphnäos  zu  An- 
tiochien  verbannte,  wovon  bei  Joh.  Malala  eine  überphilo- 
sophische, gar  erbauliche  Deutung  zu  lesen  ist. 
(F.  2.  p.  4b.)." 

Dionysos  haben  wir  oben  schon  genügend  behandelt, 
nur  wollen  wir  aus  Welcker  noch  folgendes  citieren: 

„Ich  möchte  vermuthen,  daß  auch  die  geflügelten  an-  . 
drogynen  Figuren  der  unteritalischen  Vasen,  welche 
Miliin  u.  A.  Genius  der  Mysterien  zu  nennen  beliebt 
haben,  als  Diener  des  androgynen  Dionysos  und  des 
Kinädismus  zu  betrachten  sind.  An  den  Festen  nahm 
die  weibliche    Kleidung,   welche    die   männliche   Jugend 


—    912    — 

häufig  anlegte,  in  Festzügen  wie  an  den  Oschophorien 
und,  wie  es  scheint,  auch  sonst  sehr  häufig,  die  Bedeutung 
an,  die  in  dem  Götterbilde,  die  weiblichen  mit  den 
männlichen  harmonisch  und  reizend  verbundenen  körper- 
lichen Formen  unter  dem  Schein  Göttlichen  Geheimnisses 
in  sich  enthielt. 

„Auch  die  Päderastie  hat  man  nicht  er- 
mangelt, auf  Pan  zurückzuführen,  so  wie  eine  Reihe 
liederlicher  und  frecher  Epigrammendichter  in  Zeus  als 
Liebhaber  des  Ganymedes  ihren  Schutzpatron  findet. 
Eine  anständige  Benennung  für  diese  war  vßqig  (Theogn. 
39,  in  Argos  waren  die  Knaben  avvßqimai  und  rein, 
Zenob  2,  3) ;  und  Pan  heißt  unter  andern  auch  Sohn  der 
Hybris  und  des  Hermes.  (Schol.  Lyc.  772.  Schol.  Eur. 
Rhes,  36,  Apollod.  1,  4,  1.  Heyne  schreibt  mit  Aegnis 
und  der  Comrael.  Ovfißgecog  für  "Yßqecog  weil  nach 
Schol.  Theoer.  1,  118  auf  Syrakusisch  der  Flußname 
Gvfxßqig  dno  rrjg  vßQecog  komme,  worin  nur  liegen  könnte, 
daß  in  Syrakus  für  vßqig  zweideutig  auch  gesagt  wurde 
üvfißQig,  von  dvw,  Was  der  Erklärer  umdreht.  Auch  das 
Argum.  Pind.  E.,  P.  1  hat  rov  Jibg  xai  OvfxßQewg). 

„Dieser  Pan  wird  bei  Theokrit  angerufen  (7,  103)  und 
in  der  plumpen  Legende  der  Paträer  bei  Pausanias  ver- 
folgen die  Pane  in  Mesatis  den  Dionysos  (7,  18.  3)  Pan 
liebt  den  Daphnis  bei  Stesichoros,  Theokrit,  und  vielen 
Epigrammendichtern. 

„Ein  anderer  Witz  liegt  in  'Oqüivotj  als  Mutter  des 
Pan:  daß  Jambe  seine  und  der  Echo185)  Tochter  genannt 


l8ß)  Hierauf  bezieht  sich,  daß  Pan  der  Erfinder  der  Selbstbefrie- 
digung des  Geschlechtstriebes  genannt  wird,  obschon  dieser  wahr- 
scheinlich nach  Beobachtung  der  menschlichen  Natur  in  dem  Gottes- 
dienste eingeführt  war.  Wie  der  Mensch,  der  keine  Geschlechtsbe- 
friedigung bekommen  kann,  zur  Masturbation  kommt,  so  auch  die 
männlich-erzeugende  Kraft,  den  Wiederhall  ihrer  Äußerung  liebend, 
—  anthropomorphisch  also  ihre  Stimme,  —  da  sie  aber  das  Objekt 


—    913    — 

wird  (Etym.  M.  p.  463)  geht  auf  die  Toten  der  JamheD, 
so  wie  JJdveg  (Hesych.  näveg.  robg  eajtövSaxAvag  acpoSqwg 
tcbqI  rag  avvövaiag  eXsyov  7tävag.)  und  7tavevew  von  der 
Begierde  gebraucht  wurde.  Da  auch  Titan  die  gedachte 
Bedeutung  von  Pan  hat  (Hesych)  so  ist  der  Sinn  des  Chors 
indenTitanopanen,  einer  Komödie  des  Myrhillos,  klar.  Auch 
von  dieser  Seite  gleichen  einander  demnach  Pan  und  die 


ihrer  Liebe  nicht  umfassen  kann,  da  dasselbe  unkörperlich  ist,  findet 
sie  in  sich  selber  die  Auslösung  ihres  Triebes. 

Wir  lassen  die  Stelle  aus  Dion  Chrysostomos,  welche  hierauf 
Beziehung  hat,  vollständig  folgen.  Dio  Übersetzung  ist  von  Karl 
Kraut  (in  der  Oslander  Schwabschen  Übersetzungs-BibliothekOrat.  6, 
90.  (16—21): 

„Das  aber,  womit  die  Menschen  am  meisten  Mühe  und  Kosten 
haben,  um  dessen  Willen  viele  Städte  verödeten  und  viele  Völker 
elend  zu  Grunde  gingen,  verursachte  ihm  (dem  Philosophen  Diogenes) 
am  allerwenigsten  Mühe  und  Aufwand;  denn  er  brauchte  zur  Be- 
friedigung seiner  Lust  nirgends  hinzugehen.  Scherzend  sagte  er, 
Überall  sei  Aphrodite  umsonst  bei  ihm,  und  die  Dichter  lügen  ihrer 
eigenen  Schwäche  wegen  über  diese  Göttin,  wenn  sie  sie  die  „ Gold- 
geschmückteu  nennen.  Da  aber  viele  dies  nicht  glaubten,  that  er  es 
offen  und  vor  aller  Augen  und  sagte,  wären  die  Menschen  wie  er, 
so  wäre  Troja  nie  eingenommen  und  Priamos,  der  Zeusentsproßte 
König  der  Phrygier,  nicht  am  Altar  des  Zeus  geschlachtet  worden. 
Die  Achäer  aber  seien  so  unverständig,  daß  sie  meinen,  auch  die 
Toten  bedürfen  der  Weiber,  und  am  Grabe  des  Achilleus  die  Poly- 
zena  schlachten.  Zugleich  bemerkte  er,  „die  Fische  zeigen  sich 
etwas  klüger  als  die  Menschen;  wenn  sie  sich  ihres  Samens  entle- 
digen wollen,  gehen  sie  heraus  und  reiben  sich  an  etwas  Rauhem. 
Er  wundere  sich  aber,  daß  die  Menschen  nicht  daran  denken,  sich 
den  Fuß  oder  die  Hand  oder  einen  anderen  Körperteil  um  Geld 
reiben  zu  lassen,  und  daß  die  reichsten  Leute  dafür  nicht  eine 
Drachme  ausgeben,  für  jenes  eine  Glied  aber  oft  viele  Talente,  ja 
sogar  das  Leben  aufs  Spiel  setzen.  Er  nannte  diesen  Umgang 
scherzend  eine  Erfindung  des  Pans,  der  in  die  Echo  verliebt,  ihrer 
nicht  habhaft  werden  konnte,  sondern  Tag  und  Nacht  auf  den 
Bergen  herumirrte.  Da  habe  Hermes,  der  Not  seines  Sohnes  sich 
erbarmend,  es  ihn  gelehrt.  Darauf  sei  er  von  seiner  Not  befreit 
worden". 


—    914    — 

Satyrn,  die  von  Sophocles  in  einem  Satyrspiel  als  Lieb- 
haber des  Achilleus  aufgeführt  werden  ". 

Man  erinnere  sich,  wie  PanunddieSatyre  so  oft  in  Ver- 
bindung mit  dem  Hermaphroditos  angetroffen  werden, 
als  die  aktive  Kraft. 

„Die  Aphrodite  der  Knabenliebe  (sonst  auch  die 
Sache  des  Pan,  bei  den  Römern  des  Priapus,  kommt 
aber  als  ^Aqyvwig^  (Thril.  356,  Leopard  Emend.  11,  4 
^Aqyvvvlg)  Göttin  der  Weißlinge  (sum  candidus  Pers.  4,  20 
et  O.  Jahn.  Phanokles  in  den  Eroten  bei  Clemens  ^Aqyvwov 
vewv  ^(pQoSkrjg)  von  Kratinos  und  Aristophanes  an 
nicht  häufiger  bei  gewissen  Dichtern  vor  als  der  änaXog 
xal  Xevxbg  nalg.  Dieselbe  ist  wohl  auch  die  Venus  Murcia 
(Mvgxla)  [Livius  1,  33.  Orelli  ad  Arnob.  4,  16,  T.  2, 
p.  199  poXxog  (fxvhtog  wie  fxoXyog  und  fxvXyog)  eines  mit 
jxaXaxog  u.  Denkm.  3,  323.]  In  diese  Klasse  gehört  auch 
die  JfCQaTeta  in  zwei  karischen  Inschriften  (C.  I.  Gr. 
No.  2693;  Venus  militaris  bei  Arnobius  4,  7)." 

Bei  dem  Gottesdienst  des  Attis  und  der  Großen 
Mutter  kleideten  sich  der  Priester  in  Frauenkleider.  Die 
Griechen  leiteten  hiervon  die  Benennung  ab:  Kureten  würde 
Kovqcu  Mädchen  bezeichnen. 

Firmicus  (LX  S.  249)  schreibt  über  die  Assyrier 
daß  diese  die  Luft  unter  den  Namen  der  Juno  oder 
der  Venus  verehrten.  Sie  stellten  sich  dieses  Element 
mann-weiblich  vor.  Denn  da  die  Luft  zwischen  Himmel 
und  Meer  gelegen  ist,  verehren  sie  sie  mit  effeminierter 
Stimme: 

„Die  Priesterschaft  dient  ihr  mit  verweiblichten 
Gesichtern,  mit  glatt  gemachter  Haut,  das  männliche 
Geschlecht  durch  weiblichen  Schmuck  verunzierend.  Man 
sieht  in  ihren  Tempeln  die  fürchterlichste  Unzucht  in  der 
Öffentlichkeit:  Männer  litten,  was  nur  Weiber  leiden 
dürfen   und   sie  zeigten   gleichsam    mit   stolzer  Verherr- 


—    915    — 

lichiiDg  diese  Schande  ihrer  unreinen  und  schamlosen 
Körper.  Sie  zieren  ihre  gut  gepflegten  Haare  wie 
Weiber,  gehen  in  üppigen  Kleidern  und  können  mit 
ihren   ermüdeten  Hälsen  kaum  ihre  Köpfe  emporhalten." 

Wir  glauben  mit  Creuzer  (XLIV,  Bd.  II  S.  574  ff. 
und  II  S.  672  ff.),  daß  die  Amazonen  aufgefaßt  werden 
müssen,  als  sich  männlich  benehmende  Mondpriesterinnen. 
Er  sagt  z.  B.  S.  575  Note  2:  „Die  Amazone  war  eine 
virago  in  einem  kriegerischen  Gestirndienste  —  so  wie  der 
Eunuch  (Gallus  und  dergleichen  [wir  glauben  auch  die 
femininen  Jünglinge  v.R.])  in  demselben  siderischenOrgias- 
mus  das  Weibliche  im  Manne  darstellen  sollte.  Die  Amazonen 
waren  eben  martialische  Hierodulen,  und  wenn  die 
Hierodulen  durch  Hinopferung  ihrer  Jugendblüthe  Sonnen- 
und  Mondgötter  als  die  großen  Besamer  der  Erde  ver- 
herrlichen wollten,  so  war  diese  kriegerische  Jungfrauen- 
schaar  dazu  da,  durch  Verzicht  auf  die  Mütterlichkeit 
und  durch  Streitfertigkeit  darzuthun,  sowohl  daß  [die 
ephesische  Artemis]  periodisch  unfruchtbar  ist,  als  daß 
sie  die  finsteren  Mächte  der  Nacht  und  des  Winters 
bekämpft* 

Bei  dem  Dienste  der  Mise  wurden  zwischen  Weibern 
(ebenso  auch  im  Dienste  der  Bona  Dea  und  der  Cybele) 
sexuelle  Akte  verübt.  Tümpel  citiert  (CI  v.  Mise,  sp. 
3024)  den  Vers  des  Kratinos:  fiKrtjrai  dk  yvvalxsg  oXCaßocai 

„Die  Frau  fungierte  mittels  des  oXtaßog  (aus  Leder 
nachgebildeten  männlichen  Gliedern)  als  Mann." 
(Tümpel  1.  c.) 

Daß  aber  in  dem  Gottesdienste  des  eigentlichen 
Hermaphroditos,  diese  Sexualgebräuche  sehr  bestimmt 
vorkamen,  beweist  gerade  fast  jede  klassische  Beschreib- 
ung des  Hermaphroditos  und  die  Epigramme. 

Wir  geben  hier  einige  Beispiele: 

Jahrbuch  V.  58 


—    918    — 

ist,  und  wie  durch  heilige  Ceremonien  diese  Idee  plastisch 
dargestellt  worden  ist. 

Wenn  Blumenbach  schon  annahm,  daß  als  Vorbilder 
für  die  Hermaphroditen-Bilder  die  weibgestalteten  oder 
weibgearteten  Jünglinge,  als  die  die  Androgynische  Idee 
am  besten  darstellenden  anzusehen  sind,  so  meinen 
wir,  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  zu  können  und 
behaupten,  daß  diese  Androgynen  (in  unserer  Sprache 
durch  Uranier  zu  übersetzen)  es  auch  gewesen  sind, 
welche  in  den  Mysterien  die  Rolle  der  Androgynischen  — 
Idee-Personifikation  erfüllt  haben. 

Man  darf  nicht  vergessen,  daß  das  Altertum 
wenigstens  in  späteren  Zeiten  über  die  Personen,  welche 
wir  Uranier  nennen,  ganz  andere  Anschauungen  hatte, 
als  unser  Zeitalter  überhaupt. 

Die  Astrologen  z.  B.  hatten  über  die  Entstehung 
von  Menschen,  welche  Personen  desselben  Geschlechts 
liebten,  sehr  bestimmte  Anschauungen,  welche  wir  wenigstens 
zum  Teil  beifügen  wollen.  Cl.  Ptolemaeus  schreibt  z.  B. 
(CLIII)  II.  Buch,  Kap.  3: 

„  Darum  verachten  die  Völker  dieser  Länder 
(Britannia,  Galatia,  Germania,186)  Apulia,  Sicilia,  Tyrrenia 
Celtica,  Hispania)  die  Geschlechtsakte  mit  Weibern, 
und  streben  demselben  nicht  nach,  aber  solchen  mit 
Männern  verlangen  dieselben  sehr,  und  sie  nennen  diese 
letzteren  weder  schändlich,  noch  unmännlich.  Und  man 
hört  nicht,  daß  sie  etwa  Schaden  dadurch  haben;  sondern 
sie  bewahren  ihre  Seele  echt  männlich,  und  schützen 
ihre  Gemeinschaft,  und  sind  treu,  und  sie  lieben  ihre 
Hausgenossen,  und  sind  sehr  mildtätig."  Und  derselbe 
Gelehrte   schreibt    in    dem    dritten   Buche,    Kap.   XIX, 

l86)  Vide  Sextus  Empiricus,  Pyrrh.  hypot,  üb.  III  S.  151,  E. 
[Der  Geschlechtsakt  zwischen  Männern]  (aggevo^ia)  ist  für  die 
Germanen,  wie  man  sagt,  nicht  schändlich,  sondern  etwas  sehr 
gewöhnliches. 


—    919    — 

7tS(>l  na&cov  ipv%tom>  sehr  viel  über  die  Entstehung  von 
Männern ,  welche  Männer  lieben  und  von  Weibern, 
welche  Weiber  lieben. 

Firmicus  (LVT)  gibt  noch  mehr. 

Er  gibt  genau  an  wie  die  Sterne  stehen  sollen,  damit 
Weiber  geboren  werden,  welche  mit  männlicher  Seele, 
nur  wünschen,  so  wie  es  Männer  tun,  mit  Weibern  zu 
verkehren  (nascent  foeminae,  quae  virili  animo  succinctae, 
in  modo  virorum,  cum  mulieribus  coire  desiderent.  Liber 
VII.  Kap.  VIT.)  und  wie  die  Sterne  stehen  müssen,  damit 
weibliche  Männer,  oder  Hermaphroditen  geboren  werden 
(biformes  viri,  vel  hermaphroditi  ex  hoc  genitura  nascent, 
(1.  eod.)  Ja,  er  geht  noch  weiter,  und  gibt  den  Stand 
der  Sterne,  für  die  Geburt  eines  aktiven  Homosexuellen 
an.  (Paedicorum  natalia,  lib.  VII.  c.  15),  und  diejenigen 
für  die  Entstehung  eines  passiven  Homosexuellen  (Cinae- 
dorum  geniturae  lib.  VII  c.  16). 

Wir  lassen  dahin  gestellt,  welchen  praktischen  Wert 
diese  astrologische  Bestimmungen  haben  dürften,  aber  es 
folgt  hieraus  bestimmt,  daß  in  jenem  Zeitalter  solche 
Menschen,  als  schon  durch  ihre  Geburt  zu  Uraniern  be- 
stimmt angesehen  wurden. 

Auch  bei  Paracelsus  (CXXXH.,  libri  meteororum 
caput  VII,  S.  309  b.)  meinen  wir  etwas  ähnliches  zu 
finden: 

„So  entstehen  zwei  Gegensätze  in  einem  Körper, 
was  nicht  anders  geschehen  kann  als  unter  herma- 
phroditischen Sternen.  Jeder  Hermaphrodit  ist  vollkommen 
und  hat  beide  Teile. • 

Offenbar  nimmt  er  doch  an,  daß  ein  Hermaphrodit 
so  gedacht  werden  soll,  daß  derselbe  fast  unerkennbar 
vermischt  beide  Naturen,  beide  Charaktere  als  ein  ganzes 
aufgefaßt,  besitzt:  und  solche  nennt  er:  vollkommen 
(perfectus). 


—    920    — 

Selbst  die  alten  Juden  kannten  Zwischenstufen 
zwischen  den  Geschlechtern:  das  sind  die  Eunuchen, 
welche  so  geboren  sind,  welche  ja  auch  Jesus  erwähnt,  die 
Saris  der  Talmudisten.  Man  sehe  CLV.  Bd.  I :  Jebamoth, 
S.  94  u.  95. 

Als  Kennzeichen  werden  dort  genannt: 

„Er  ist  ein  Mensch,  der  mit  seinem  zwanzigsten  Jahre 
noch  keine  zwei  Haare  auf  seinem  Körper  hat,  und . 
bekommt  er  diese  später,  so  ist  er  doch  ein  Saris.  Er 
hat  keinen  Bart,  seine  Haare  sind  fein  und  sanft,  seine 
Haut  ist  glatt:  Sein  Wasser  bekommt  keinen  Schaum: 
Er  uriniert  nicht  mit  einem  andern.  Sein  Saamen  ist 
nicht  gebunden,  er  ist  klar  wie  Wasser,  sein  Wein  ist 
nicht  sauer.     Seine  Stimme  ist  wie  die  einer  Frau." 

Und  S.  96  werden  die  Kennzeichen  einer  weiblichen 
Zwischenstufe  (Ailonith)  gegeben:  Ein  Weib,  welches, 
wenn  sie  zwanzig  Jahre  alt  ist,  noch  nicht  zwei  Haare 
auf  ihrem  Körper  hat.  Sie  hat  keine  Brüste,  und  die 
Cohabitation  ist  ihr  widrig.  Sie  hat  keinen  weiblichen 
Mons  Yeneris.     Sie  hat  eine  männliche  Stimme. 

Dr.  Joseph  Bergel  übersetzt  diese  Wörter  mit  Weib- 
männer, und  Mannweiber.  (Die  Medizin  der  Talmudisten, 
Leipzig  und  Berlin  1885). 

Wir  haben  angefangen,  den  innigen  Zusammenhang 
zu  schildern,  welcher  zwischen  der  Religion  und  der 
Sexualität  besteht.  Und  wie  in  fast  jeder  Religion, 
wenn  auch  in  den  neueren  nur  versteckt,  als  mystische 
Auffassung  der  Gottheit  sowohl  wie  der  Allnatur  die 
höchste  Harmonie  des  Männlichen-und-weiblichen,  im 
Androgynen  besteht,  d.  h.,  daß  also  offenbar  im  Tiefsten 
der  Menschen-Seele,  eine  oft  unbewußte,  heilige  Devotion 
besteht  für  die  Einheit,  die  Harmonie. 

Das  wirklich  die  androgynische  Idee,  die  Voll- 
Harmonie,  noch  immer,  sei  es  auch   größtenteils  nur  un- 


—    921     — 

bewußt,  im  Seelenleben  des  Menschen  herrscht,,  können 
wir  am  deutlichsten  bei  den  Künstlern  erkennen.  Es  ist* 
doch  nur  so  zu  erklären,  daß  gerade  unter  Künstlern 
prozentualisch  so  viele  Uranier  vorkommen.  Denn  die 
Künstler  sind  gerade  die  Menschen,  welche  am  stärksten 
von  Harmonie  erfüllt  sind  und  die  Harmonie  wird  für 
Menschen,  da  Menschen  nun  einmal  immer  anthropomor- 
phisch  denken,  am  schönsten  dargestellt  durch  Jünglinge. 
Schöner  als  durch  Mädchen  gerade  körperlich,  denn  der 
Jüngling  zeigt  den  zarten,  fast  mädchenhaften  Körper, 
das  passive-nährende  Kraft-Symbol,  und  die  männlichen 
Genitalien,  das  active-erzeugende  Kraft-Symbol;  der 
Mädchenkörper  ist  auch  zart,  mädchenhaft,  zeigt  aber 
nicht  so  deutlich  das  passiv-nährende  Kraft-Symbol,  denn 
es  fehlen  die  Brüste,  was  gerade  das  Knabenhafte  beim 
jungen  Mädchen  zum  Ausdruck  bringt,  und  die  Genitalien, 
welche  mehr  versteckt  sind,  geben  auch  noch  kein 
Symbol  von  etwas  activ-erzeugendem. 

Dieser  quantitativ  sehr  große  Unterschied  bedingt, 
wie  wir  glauben,  auch  die  Tatsache,  daß  in  klassischen 
Religionen,  so  bald  sich  diese  mehr  entwickelt  und  ver- 
tieft haben,  die  Darstellungon  der  androgynischen  Idee 
mit  weiblich-zarten  Körpern,  mit  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochenen weiblichen  Brüsten  und  mit  männlichen 
Genitalien  ausgestattet  wurden,  und  nur  in  den  altern 
Formen  als  weiblicher  Körper,  mit  männlichem  Bart, 
oder  als  Körper  mit  einer  männlichen  und  einer  weib- 
lichen Brust. 

Wir  hoffen,  daß  durch  diese  Untersuchung  wenig- 
stens eine  Seite  des  Lebens,  klar  beleuchtet  ist>  und  sie 
zum  besseren  Verständnis  der  Lebensmysterien  etwas 
beigetragen  hat. 


—    922    — 

Anhang. 


Liste  der  Abbildungen. l) 

Abb.    1.  Berliner  Statue,  nach  Original-Photographie. 

„       2.  La    transverberation    de    Sainte   Therese,    in    der 

Kirche  Saneta  Maria  della  Vittoria  in  Rom.  Nach 
einer  Beproduotion  in  Kevue  de  V  Hypnotisme, 
1901,  No.  8. 

„       2*  Darstellung  der  Schöpfung,  nach  Soldi,  T.  II,  S.  125. 

„       3.  Vishnu  und  Laksmi,  betrachtend  die  Schöpfung  und 

Brahma  aus  des  ersteren  Nabel  auf  einer  Lotos- 
blume emporwachsend,  um  die  Schöpfung  zu  voll- 
enden, nach  einer  Reproduction,  im  XLII.  Tay. 
XXIV,  No.  1. 

„       4.  Qiva  ardhanaridvara.  Nach  einer  Statue  im  Museum 

zu  Leiden. 

*)  Unseren  herzlichsten  Dank  sagen  wir  den  Herren  DDr.  Boeser  und  Jesse, 
den  Konservatoren  des  Museums  der  Altertümer  in  Leiden,  die  mit  der  höchsten 
Liebenswürdigkeit  die  verschiedenen  Leidner  Monumente  photographieren  Hessen, 
und  Dr.  Jesse  insbesonderen  noch  für  die  Mühe,  welche  er  sich  gegeben  hat,  um 
von  den  Berliner  und  Venedischen  Bilder  für  uns  Original- Aufnahmen  zu  bekommen. 
Dem  Photographen  des  Leidner  Museums  Herrn  Beitel  sind  wir  für  die  wunder- 
schöne Aufnahme  sehr  verbunden.  —  Dem  Herrn  Professor  Dr.  Holwerda,  der  seine 
Bibliothek  und  die  des  Archaeologischen  Instituts  in  Leiden,  für  uns  offen  stellte,  und 
Herrn  Jhr.  Professor  Dr.  Six  in  Amsterdam,  der  auch  seine  Bibliothek  zur  Verfügung 
stellte,  und  uns  sehr  wichtige  Anweisungen  gab,  dem  Herrn  Direktor  des  „Konink- 
lijke  Penning-Kabinet"  im  Haag,  Dr.  Dompierre  de  Chaufepte,  der  so  liebens- 
würdig war,  die  Abgüsse  der  jüdischen  Münze  für  uns  verfertigen  zu  lassen,  den 
Herren  Direktoren  der  Amsterdamer  und  Leidner  Uni versitäts- Bibliotheken,  Herrn 
Dr.  Mr.  Burger,  und  Herrn  Dr.  de  Vries,  die  unsern  oft  fast  zu  indiskreten  Bitten 
Folge  leisteten,  und  Herrn  van  Hillesum,  Conservator  der  Bibliotheca  Rosenthaliana 
zu  Amsterdam,  und  Herrn  Dr.  Mehler,  Adj.  Bibliothekar  der  Amsterdamer  Univer- 
sitätsbibliothek, und  last  not  least  Seiner  Excellenz  dem  General-Direktor  der 
Königlichen  Bibliothek  zu  Berlin,  der  Bücher,  welche  wir  in  den  niederländischen 
Bibliotheken  nicht  finden  konnten,  uns  nach  Amsterdam  freundlichst  überschicken 
Hess,  bringen  wir  die  Aeusserung  unserer  höchsten  Dankbarkeit.  —  Auch  dem  Herrn 
Verleger  8.  L.  van  Looy  zu  Amsterdam,  der  die  Freundlichkeit  gehabt  hat,  durch 
seine  Vermittelung  alle  Cliches  in  der  Anstalt  der  Firma  van  Leer  zu  Amsterdam 
anfertigen  zu  lassen,  so  wie  auch  dieser  Firma  selbst  für  die  prachtvolle,  Ausführung 
der  Cliches  nach  oft  sehr  schlechten  photographischen  Aufnahmen  von  uns,  fühlen 
wir  uns  verpflichtet,  öffentlich  zu  danken.  —  Endlich  auch  Dank  dem  Herrn  Her- 
ausgeber und  Verleger  des  Jahrbuches,  die  uns  dieses  fast  vollständige  Bildermaterial 
beizubringen  erlaubten. 


—    923    — 

Abb.    5.  £iva  ardhanaridvara,  nach  XLH.  Tav.  XXIV,  No.  2. 

„       6.  Yi-dam  bDe-mcc'og,  nach  Abbildung  84  in  LXXI. 

4,       7.  Yi-dam  Hevajra,  nach  Abbildung  85  in  LXXI. 

„       8.  Phtha,  nach  einer  Statue  aus  der  Spätzeit  im  Mu- 

seum zu  Leiden. 

„       9.  Isis,  nach  einer  Reproduction   in  XLIV.     Bd.  n, 

1.  Heft.    Taf.  IV. 

„     10.  Mut,  nach  der  Reproduction  eines  Papyrus  im  Mu- 

seum zu  Leiden;  Leemans. 

„     11.  Mut    | 

„     12.  Mut     >    nach    verschiedenen    Tafeln    in    Lanzoni 

„    13.         Mut  j   xcvn. 

„     14.  Nilus  \ 

„     15.  Nilus  (nach  Tafeln  in  Lanzoni  XCVH. 

„     16.  Nüus  ( 

„     17.  Zwei  Neil-Götter    j 

„     18.  Münze   aus  Juda-Gaza,  in  koninkl.  Penningkabinet 

im  Haag,  nach  Gipsabgüssen. 
„     19.  Reproduktion  aus  XX  a. 

„     20.  „  „    XX  a. 

„     21.  Androgynisoher  Adonis,  nach  einer  Reproduction 

in  CLXH. 
„     22.  Androgynisohe  Artemis,  nach  einem  Vasengemälde 

bei  CLXXXV. 
„     23.  \  Androgynisoher  Priapus.     Clarac,  670,1549. 

„     24.  I  Androgynisoher  Priapus.      .    „       670,1549a. 

„     25.  |  Androgynisoher  Priapus.  „       670,1548. 

„     26.  )  Androgynisoher  Priapus.         „       668,1554a. 

„    26*.  Bronze  im  Louvre,  nach  Phot.  Giraudin. 

„    26**.  Bronze  im  Louvre,  nach  Phot.  Giraudin. 

1  Androgynische  Eroten  im  Museum  zu  Leiden, 
i  nach  Original-Photog. 

28.  Androgynisoher  Eros    Bulletin  de   oorresp.  hellen. 
6.  pl.  15.) 

29.  Androgynisoher  Eros  (Bull,  de  corr.  hellen.  6.  pl.  17.) 

30.  Dionysos-Kopf  im  Museum  zu  Leiden,  (nach  Orig.- 
Photographie). 

31.  Androgynisoher  Dionysos,  nach  einem  geschnittenem 
Stein  (Iippert,  DactyL) 

32.  Androgynisoher  Dionysos,  (Pompejanisches  Gemälde, 
nach  Reproduction  in  CI.  v.  Hermapbroditos). 


27*. 

27**. 

27***. 


—    924    — 

Abb.  33.  Herme  eines  androgyn.  Satyrs.  —  Samml.  Barucco, 

nach  Robert,  ann.  dell.  lnstit.  1884,  Tay.  d'gg.  L. 
„     34.  Bakohisoher  Androgyne,  nach  „Einzelverkauf*. 

„     35.  Bakohisoher    Androgyne    (nach    Tay.   d'agg.  W., 

Ann.  dell.  Irstit.  1882.) 
„     36.  Bakohisoher    Androgyne     (nach   Tay.     d'agg.  V., 

Ann,  dell.  lnstit.  1882.) 
„     37.  Androgynisoher  Dämon  mit  Klappspiegel,  (Blanchet 

nach  pl.  IV,  Revue  archeol,  III.  Serie,  XXVIII.) 
„     38.  Androgynisoher  Dämon,  in  Haltung  der  Aphrodite 

Kallipygos.    (im  Louvre  nach  Phot.  Giraudon). 
„     38*.  Androgynisoher  Dämon,   mit  Klappspiegel,   (nach 

Archaeologia,  voL  28,  pl.  4). 
„     39.  Geschnittener  Stein,  nach  XCIV.  plate  V,  No.  3. 

„     40.  Pan    und  Androgyne    (Clarac.   610,   1550,  Florenz 

Reale  Gallerie.) 
„     41.  Satyr  und  Androgyne,  Berlin,   nach  Original-Auf- 

nahme. 
„     42;  Satyr  mit  Androgyne,  Fresco,  in  Pomp,  nach  Pitt. 

d'  Erc. 
„     43.  Satyr  und  Androgyne,  Glasoameo  in  Braunschweig, 

nach  Schwevel-Abdruck  in  Leiden. 
„     44.  Panisk  mit  Androgyne  (Pompejan.-Gemälde,  nach 

Famin,  pl.  23.) 
„     45.  Panisk  mit  Androgyne  (Pompejan.-Gemälde,  nach 

Heibig,  nr.  1370.) 
„     46.  Symplegma    eines    Satyrs    und     der     Androgyne 

(Dresden,  nach  Becker,  PI.  95.) 
„     47.  Symplegma,  Dresden,  nach  Becker,  PI.  96. 

„     48.  Symplegma,   Clarac,  672,   1735  A.   Coli.  Blundell, 

Ince.) 
„     49  a  u.  b.  Fragment    eines  Symplegma   in  Venedig  nach  Ori- 

ginal-Photographie. 
„     50.  Relief  eines  Sarkophags,  Zoega,  .2  pl.  77. 

„     51.  Relief  einer  Marmorschale.  Zoega.  2  pl.  72. 

„     52.  Relief  Colonna,  nach  CXXII. 

„     53.  Androgyne,  Satyr  und  Priapus,   Bronze  in  Louvre 

(Phot  Giraudon). 
„     54.  Münze  von  Halicarnassus,  nach  Head.  LXXIV. 

„     55.  Dreifache  Herme,    Rom.  Mus.  Vatic,  nach  Clarac 

613,  1367. 


—    925    — 

Abb.  56.  Herme  des  Aphroditos    (spät.  Auff.)   nach  Einzel- 

verk.  No.  18ö.  —  Kunsth.  Korn.) 

57.  Hermaphroditisohe  Herme,  Clarao  666,1545b. 

58.  Aphroditos,    (spät.     Auff.)    Clarac,    677,    1548   B. 
Coli.  Pamphili). 

59.  Aphroditos,  [spät.  Auff.)  CLXII,  S.  20,  tig.  13. 

60.  Der  Berliner    Hermaphroditos    von    hinten,    nach 
Caylus  t.  HI,  pl.  29. 

61.  Torso    eines    Hermaphroditos     nach     Einzelverk. 
Kunstakademie  München. 

62.  Hermaphroditos,     Florenz,      nach     Clarao     666, 
1546  D. 

63a  u.  b.  Träumender  Hermaphroditos,   Museo  nation.   Rom. 
(Phot.  Anderson). 

64.  Träumender  Hermaphroditos,   Gallerie   della   Villa 
Borghese.  (Phot.) 

65.  Träumender  Hermaphro  ditos  (Louvre,  Phot.Girandon). 

66.  Träumender  Hermaphroditos,  (Athene,  Phot.) 
67  a,  b,  c.  Schlafender    Hermaphroditos,    (Florenz ,     Galleria 

Uffizii,  Phot.  Alinari  und  Borgi). 

68.  Ruhender  Hermaphroditos  (Lippert,  I,  296). 

69.  Ruhender  Hermaphroditos  (Lippert  I,  401). 

70.  Ruhender    Hermaphroditos,    Compte    rendu    1880, 
Taf.  4,  No.  10. 

71.  Sich  betrachtender  Hermaphroditos,  nach  Schwefel- 
abdruck in  Leiden. 

72.  Karneol    des    Berliner    Museums,    nach    Schwefel- 
abdruck in  Leiden. 

73.  Hermaphroditos,  (Lippert  1,  299). 

74.  Ruhender  Hermaphroditos  (Lippert,  Supplem.  182). 

75.  Stehender  Hermaphroditos  (Hercul.  Gemälde,  nach 
CXLl). 

76.  Hermaphroditos,    (Clarac.  677,    1548  A,  Rom.  Coli. 
Pamphili). 

77.  Hermaphroditos  (Clarac.  669,  1551,  Cavaceppi). 
*78.             Hermaphroditos  (Clarac.    668,    1554,  London,  Coli. 

Hope.) 

79.  Hermaphroditos  (Clarac,  666 A,  1554  C,  Rom.  Villa 
Albani). 

80.  Hermaphroditos    (Clarao,    666 F.,    1554D.    London, 
Coli.  Northampton). 

81.  Hermaphroditos,  als  Vasenbild  nach  XX1H,  pl.  H. 


—    926    — 

Abb,  82.  Hermaphroditische  Figur  nach  Caylus,  t.  V.pl.LXXX, 

1  u.  2. 

„     83.  Hermaphroditische  Figur  nach  Caylus,  t.  V.  pL  XL, 

2  u.  3. 

„     84.  Hermaphroditischer  Genius  als  Verzierung.  CXXVIH, 

F.  VIH. 
„     85.  Item. 

86.  Irdenes     Krüglein     im    Leidener    Museum    nach 
Origin.-Photogr. 

87.  Hypospadie  nach  XXIII.  pl.  I.  No.  3. 


n 


B. 

Liste  der  zu  Rate  gezogenen  Arbeiten.  *) 

I.    Aeliani  de  Natura  Animalium  etc.  rec.  Rud.  Hercher 

Parisiis  1858. 
Ia.    AotaApostolorum  apocrypha ed.  C.  Tisohendorf. 

Lipsiae  1851. 
IL    Aloiphronis  Rhet.  epistolae,  graeoe  et  latine  ed. 

Bergleri,  Projecti  ad  Rhenum  1791. 
III.    Prosperi,  Alpini,    marostic.  philosophi  et  medioi 
in   Gymnasio   Patavino   medicamentorum  simplicium 
Professoris  ordinarii  Medioina  Aegyptorum. 
Lugd.  Batay.,  editio  nova.  apud  G.  Polvliet  1745. 
IVa.    St.   Ambrosii    mediolanensis    Episoopi    Opera    ex 
editione  Romana  Parisiis  1603. 
V.    Amelung.  W.    DelTarte  Alessandria  a  proposito  di 
due  teste  renvenuto  in  Roma. 
Bulletino  della  commissione  archael.  comm.  di  Roma. 
1897. 
VI.    Anthologlagraeca  siv  e  poetarum  graecorum  lusus. 
Ind.  et  Comment.  adiecit  Tr.  Jacobs  Lipsiae  1794, 
VH.    Archaeologischer   Anzeiger    No.  8,   9    1849, 

pag.  85. 
VIII.    A.  Aristidis  Adrianensis  opera  omnia.  Gr.  et  latine 
in  duo  voL  distrib.  c.  Not  et  emend.  Gul.  Canteri  etc. 
Oxonü  1722. 


1)  Wir  bitten  zu  entschuldigen,  dass  einige  Nummern  ausgefallen  sind.  Die- 
selben betreffen  einen  Unterabschnitt  unserer  Arbeit,  der  ausgefallen  ist,  da  wir 
hoffen,  denselben  als  selbständige  Arbeit  im  folgenden  Jahre  zu  bringen. 


—    927    — 

IX.    Aristotelis,     (Opera)     stagiritae     philosophorum 
ommiun  longe  prinoipis  etc.    Genevae  1597. 
X.    Amobius  Afer.    Adversus  Gentes  libri  VII,  edit 
Novissima.  Lugd.  Bat.  1651. 
XI.    Athenäen»,  Deipnosophistae.   ex   reeensione  Din- 
dorfio  Iipsiae  1827. 

Athenee  Banqnet  des  Savans  traduit,  etc.  par  M. 
Lefebure  de  Villebrune 
Paris  1789. 
XII.  S.  Aureli  August  in  i  de  Genesi  ad  litteram  libri 
duodecim  reo.  Jos.  Zycha  (oorp.  Script.  Eccl.  latin. 
Vol.  XXVIH.  sect.  III.  p.  II.)  Pragae  —  Vindobonae 
—  Iipsiae  1894. 

XIII.  Ausone,  traduction  par  E.  F.  Corpet. 

Colleetion  des  auteurs    latins,   avec  la  traduction 
en  franc.ais  publice   sous  la   direction  de  M.  Nisard. 
Paris  Firmin-Didot  1887. 

XIV.  Babelon.    Catalogue  des  Camees  antiques  et  moder- 
nes 1897. 

XV.    Bahr.  (K.  Ch.  W.  F.)  Symbolik  des  Mosaischen  Cultus. 

Heidelberg  1837. 
XVI.    Bayle   (Pierre)    Diotionaire   historique  et  oritique 
Ed.  IV. 

Amsterdam.    Leide  1730. 
XVII.    Bhagavadgitä,  translated   by  Käshinäth  Trimbak 
Telang,  M.  A. 
(The   Saored  Books   of  the  East   edited  by  Max 
Müller). 
Oxford  1882. 
XVIII.    Becker,  Augusteum. 
XIX.    B  er  gel  (Dr.  J.)    Die  Medizin  der  Talmudisten,  nebst 
einem  Anhange:  die  Anthropologie  der  alten  Hebräer. 
Leipzig,  Berlin,  1885. 
XX.    Berosi  Babylonii  Antiquitatum  (Mythogr.  Latini.) 
XXa.    Biblia    Pauperum,   nach    dem    Original    in    der 
Lyceumsbibliothek  zu  Konstanz  herausgegeben  und 
mit  einer  Einleitung  begleitet  von  Pfarrer  Laib  und 
Deoan  Dr.  Schwarz,  2.  Auflage. 
Wtirzburg  1892. 
XXI.    Blauchet  (J.  A.)  Statuette  d'Hermaphrodite  (Revue 
archeol.  IIIc.  Serie  T.  XXVIII). 


928    — 


XXII.    Blavatsky  (H.  P.)  The  sekret  dootrine  HL  Edition 
London,  New- York,  Madras,  1893. 

XXIII.  Jo.  Frid.  Blnmenbachii  Speoimen  historiae  natu- 
ralis antiquae  artis  operibus  illustratae  eaqne  vicissim 
illustrantis. 

Goettingae  1808. 

XXIV.  Joh.  Fried.  Blumenbach,  Handbuch  der  Natur- 
geschichte 12.  Ausgabe. 

Göttingen  1830. 
XXV.    Jo.   Frid.   Blumenbachii   de  anomalis  et  vitiosis 
quibusdam  nisus  formativi  aberrationibus  oommentatio. 
Goettingae  1813. 
XXVI.    Böhme,    Jacob.     Apologia    betreffend    die   Voll- 
kommenheit des   Menschen,    das  ist  eine  mündliche 
Antwort  auff  Esaiae  Stiefels  etc. 
Amsterdam  1682. 
XXVII.    Böhme,  Jakob.    Von  der  Gnaden-Wahl  oder  dem 
Willen  Gottes  über  die  Menschen  etc. 
Amsterdam  1682. 
XXVm.    Böhme,  Jakob.     Von   der    Menschwerdung    Jesu 
Christi,   wie   das  Ewige  Wort  sey  Mensch  worden, 
und  von  Maria  der  Jungfrawen,  etc. 
Amsterdam  1682. 
XXIX.    Böhme,  Jakob.   Mysterium  Magnum  oder  Erklärung 
über  das  Erste  Buch  Mosis,  etc. 
Amsterdam  1682. 
XXX.    Böhme,  Jacob.    Beschreibung  der  drey  Principien 
Göttliches  Wesens,  etc. 
Amsterdam  1682. 
XXXa.    Böhme,  Jacob.    Der  Weg  zu  Christo  verfasset  in 
neun  Büchlein. 
Amsterdam  1682. 
XXXI.    Böttiger,  Amalthea  oder  Museum  der  Kunstmytho- 
logie und  bildlichen  Altertumskunde.  — 
Leipzig  1822. 
XXXII.    Böttiger.    Über  die  Hermaphroditen  —  Fabel  und 

Bildung  (Böttiger's  Amalthea  Bd.  I). 
XXXIIa.    Bottbachius    (R.  P.  F.  Paulus)  Conciones   sacrae 
ex  vetustioribus  orthodoxis  approbatisque  authoribus 
in  Dominicas  totius  anni. 
Coloniae  Agrippinae  1634. 


—    929    — 


XXXIH.    Bourignon,  La  vie  de  Demli    Antoinette  .  .  .  , 
ecrite  partie  par  elle-meme,  partie  par  une  personne 
de  sa  oonnoissance,  etc. 
Amsterdam  1683. 
XXXIV.    Bulletin  de  oorrespondance  hellenique.  t.  VI,  et  VII. 
XXXV.    Caylus  (C*|  de)   Recueil  d'antiquit6s  egyptiennes, 
etrusqnes,  greoques,  romaines  et  gauloises. 
Paris  1759. 
XXXVI.    Des  Herrn  Grafen  Caylus  Sammlung  von  Aegyptischen, 
Hetrurischen,    Griechischen   und   Römischen    Alter- 
thümern,   aus  dem  Französischen  übersetzt.    Heraus- 
gegeben von  Adam  W.  Wintersohmidt. 
Nürnberg  1766. 
XXXXVÜI.    Clarac  (CJ«  F.  de).    Musöe  de  sculpture  antique  et 
moderne. 
Paris  1836—1837. 
XXXIX.    Clementis  Alexandrini   Opera  quae  extant,   ed. 
Potterus.    Oxonii  1715. 
XL.    Colebrooke    (H.  T).     On    the   Veda's,   or   sacred 
Writings    of   the    Hindus    (Asiatic  Researches  Vol. 
VHI).    London  1808. 
XLI.    Compte-rendu  de  la  commission  imperiale  arche- 
ologique  pour  1' Armee  1880. 
St.  Petersburg. 
XLII.    Creuzer  (Fr).    Abbildungen     zur     Symbolik     und 
Mythologie. 
Leipzig-Dannstadt  1819. 
XLIII.    Creuzer  (Frid).    Dionysus  sive  Comment.  academ. 
de    rerum   Baochicarum    orphicarumque     originibus 
et  oausis. 
Heidelbergae  1809. 
XLIV.    Creuzer   Friedr.     Symbolik   und    Mythologie    der 
alten  Völker  besonders  der  Griechen. 

(Deutsche  Schriften,  neue  und  verbesserte,  I  Abteilung. 
4  Bände)  IH.  Ausgabe. 
Leipzig  undDarmstadt.  Carl.  Wüh.  Leske.  1836—1842. 
XL  VI.    Davenport,  John.    Curiositates  eroticae   physio- 
logiae,  or  tabooed  subjects  freely  treated. 
London,  privateiy  printed,  1875. 
XL VII.    Denkmäler    des    klassischen    Altertums    zur   Er- 
läuterung des  Lebens  der  Griechen  und  Römer. 
Herausgegeb.  v.  Baumeister,  München-Leipzig  1889. 


—    930    — 


XL VIII.    Diodori  Siculi,  Bibliotheoae  historioae  quae  super- 
sunt  ex  nova  recensione  L-Dindorfü.    Parisiis.  Finnin 
Didot  1843. 
XLIX.    J.  J.  I.  Dö  Hing  er,  Heidenthum  und  Jndenthnm. 
Regensburg  1857. 
L.    Duval  (Jocy).  Traite  des  Hermap  hrodits. 

Paris  (Liseux)  1880. 
LI.    Encyolopedia   (The  Jewish).    Isid.  Singer  Ph.  d. 
Projeotor  and  managing  Editor. 
New- York  and  London  1901  —  ete. 
LH.    Epigrammatum     Anthologia    palatina    cum 
Pianudeis  et  appendice  nova  epigraminatum  veterum 
ex  libris  et  marmoribns  ductorum. 
Parisiis  Amb :    Firmin  Didot  1872.  — 
LUI.    D.  Epiphanii    episeopi  constantiäe  Cypri,   contra 
octogintae   haereses    Opus   interprete    Jan-Cornario. 
Basileäe  1578. 
LTV.    Etymologicon  Magnum,  rec.  et  notis  varior.  in- 
truxit  Thomas  Gaisford. 
Oxonii  1840. 
LV.    C.  Farn  in   Peintures,  bronzes   et  statues  erotiques, 
formant  la  collection  dn  cabinet  secret  du  musee 
Royal  de  Naples. 
Paris,  chez  Abel  Ledoux  1832. 
LVI.    Firmici  Materni   (Junii)  iunioris  Siculi  v.  c.  ad 
mavortium  Lollianum.    Astronomicon  libri  VIII  per 
Nicol.  Prucknerum  Astrologum  imper.   ad  innumeris 
mendis  vindicati.    His  acceserunt: 
LVII.    Cl.  Ptolomaei  Phel.  Alex  Quadripartitum. 
LVIU.    Hermetis.  Vetus-imi  astrol.  centum  aphoris.  etc.  etc. 
LVIX.    Omar  de  nativitatibus  lib.  III. 
Baseleae  1551. 
LX.    Julii  Firmici  Materni  v.  c.  de  Errore  Profanarum 
religionum  ad  Constantium   et  Constantem  Augustos 
über. 
(Mythogr.  Latini). 
LXI.    Carl  Friedrichs-Paul  Wolters,  Die  Gipsabgüsse 

antiker  Bildwerke  zu  Berlin  1885. 
LXII.    Furtwängler,    Ad.    üeber   Statuen  Kopieen   im 
Altertum. 
München  1896. 


—    931    — 


LXIV. 


LXV. 
LXVJ. 

LXVIL 


LXVIII. 


LXIX. 


LXX. 


LXII1.    Galleria  (Keale)  di  Firenze  illustrata.    Ser.  IV. 
Vol.  n. 

Firenze  1819. 
Genesis,  tibersetzt  and  erklärt  v.  Hermann  Gunkel 
2.  verb.  Auflage.    Handkommentar  zum  Alten  Testa- 
ment, herausgegeben  von  D.  W.  Nowack. 
Göttingen  1902. 
Gerhard.    Antike  Bildwerke. 
Ed.  Gerhard.    Etrusk.  Spiegel. 

Berlin  1S43. 
Hyperboreisch-römisohe  Studien  für  Archäologie,  her- 
ausgegeben von  Ed.  Gerhard  I.  T. 

Berlin  1833.  — 
W.  Gesenius.  Hebräischer  und  Chaldäisches  Hand- 
wörterbuch über  das  Alte  Testament. 

Leipzig  1823. 
Divi  Gregorii,Theologi  Episcopi Nazi azeni Opera. 

Basileae  1550. 
Grünwedel  (Alb.)  Mythologie   des  Buddhismus  in 
Tibet  und  der  Mongolei. 
Leipzig  1900. 
LXXI.    He  ad  (B.  V.)  Historia  Nummorum  graeca. 
LXXV.    H  e  i  d  e  g  g  e  r  i  ( J.  H.)  de  Historia  sacra  patriarcharum. 

Amstelodami  1667. 
LXXVJ.    Caroli  Frid.  Heinrichii  Com  inen  tatio  academica 
qua  Hermaphroditorum   artis   antiquae  operibus  illu- 
strium  origines  et  causae  explicantur. 
Hamburgi,  in  libraria  Perthes  1805.  — 
LXXVH.    Heibig,   W.    Wandgemälde   der  vom  Vesuv    ver- 
schütteten Städte  Campaniens. 
Leipzig  1868. 
LXXVUI.    Hermes  Trismegisti  Über  de  potestate  et  sapientia 
Dei,  cui  titulus  Pim ander,  Marsilio  Ficino  Florentino 
interprete. 
Lugduni  1549. 
LXX1X.    Hermes  Trismegistus,  sesthien  boecken  van  den 
voortreffelyken  Philosooph,  etc. 
Amsterdam  1652. 
LXXX.    Herodotus.    Historiarum  libri  IX  ed.  Dietsch  (ed  II) 

Lipsiae  1889. 
LXXXI.    Hesiodi  Theogonia  rec.  Orellio. 
Turici  1836. 

Jahrbuch  V.  59 


—    932    — 


LXXXIL    Hesychii  Diotionarium  Florentiae  per  haeredes  Phi- 
lippi  Juntae,  Anno  domini  MDXX  quinto  idusAugusti 
Leone  X  Pont.  Max. 
LXXXUL    Hirne  rii  Sophistae  Eclogae.  ed.  6.  Wernsdorfius. 

Gottingae  1790. 
LXXXIY.    Historiae    eoolesiastioae    soriptores   Graeci 
Eusebius  Pamphilus,  Socrates  Scholastious,  etc. 
graeoe  et  latine   ex  interpretatione  Henrici  Valesii 
Amstelodami  Apud  Henricum  Wetstenium.    COIO 
o.  XCV,    (t.  I  &  III). 
LXXXV.    Hitzig,  Dr.  Ferd.     Die    zwölt  kleinen   Propheten 
4.  Aufl.  von  Dr.  H.  Steiner  (Kurzgefaßtes  exeg.  Hand- 
buch z.  Altem  Test.)  Leipzig  1881. 
LXXXVI.    Horapollinis,  Niloi  Hieroglyphica  edidit  Conradus 

Leemans  Amstelodami  1835. 
LXXXVH.    Hyginis,  Poeticon  Astronomieon  ed  Lugd.  1741. 
LXXXVIU.    St.  Irenaei  Episoopi  Lugdunensis,   quae   supersunt 
Omnia  ed.  A.  Stieren,  Lipsiae  1858. 
LXXXIX.    Jablonski,   P.  E.  Pantheon  Aegyptiorum,   Franoo- 
furti  ad  Viadrum  1750. 
XC.    Jambliohi,  Chaloidensis  ex  Coele-Syria,  de  Myste- 

riis  über,  ed.  Thomas  Gale  Oxonii  1678. 
XCI.    Julien,     Oeuvres    oompletes    de    Traduotion    par 

Eugene  Talbot.    Paris  1863. 
XCII.    Kieseritzky,    Gangolf,    L'ermafrodita    costanzi, 

(Annali  dell'  Instituto  1882.) 
XCW.    R.  PayneKnight,  an  inquiry  into  the  symbolical 
language  of  aneient  art  and  mythology,  London  1818. 
XCIV.    R.  Payne  Knigt,  Le   culte  de  Priape  et  ses  rap- 
ports.avec  ia  th^ologie  mystique  des  anciens,    suivi 
d'un    essai    sur  le    oulte    des  pouvoirs  g^nörateurs, 
durant  le  moyen   age,    traduits    de  l'anglais  par  E. 
W.    Luxembourg,  Imprimerie  particuliere  1866. 
XCV.    Kabbalistische-biblisehe  Occident  (der) 
XCVI.    L.  Coeli  Firmiani    Lactanti,    Opera    Omnia.  — 
Pars    I.     Divinae    institutiones    reoensunt    Samuel 
Brandt.    Pragae,  Vindobonae  lipsiae   (corpus  Script 
eccles:  latinorum  Vol.  XIX.  1890. 
XCVII.    L  anz  on  e,  Dizionario  di  Mitologia  egizia.  Torino  1882. 
XCVIII.    R.  P.  Cornelio  Cornelii  ä  Lapide,  Cominentaria 

in  Pentateuchum  Mosis  auctore 

Antverpiae  1681. 


—    933    — 

XG1X.    Lenormant,  Collier  ötrusque  —  Hermaphrodite  de 
Bernay.    (Annali  dell1  lnstituto  1834). 
C.    Lerne  sie  (Dr.  Henry)  La  transverbenttion  de  Sainte 
Therese   d'Avila  (Revue  de  rhypnotisme  sept.  1901. 
p.  78—87). 
CL    Lexikon  (Ausführliches)  der  griechischen  und  römi- 
schen Mythologie,  herausgegeben  von  W.  H.  Koscher 
Leipzig  1884—1902. 
CIL    Lippe rt,  Dactyliothek. 

Olli.    Lycophronis  Challidensis Alexandra  sive  Cassandra 
etc<    Isacii    Tzetzis    Commentariis    explioatum    etc. 
Basilae  1542. 
CIV.    Joannes    L  y  d  us ,  ex  recognitione  Imm  Bekkeri.  — 
Bonnae  1837.  (Corpus  scriptorum  historiae  byzantinae.) 
CV.    Macrobe,  Oeuvres  completes  avec  la  traduetion  en 
fran^aise.    (Colleetion  des  auteurs  latins  avec  la  tra- 
duetion en  fran^ais  publice   sous   la  direction  de  M. 
Nisard.    Paris,  Firmin  Didot,  1875). 
CVII.    MaYmonide   (MoYse    ben  Maimoun).    Le    Guide 
des  EgarSs  traite   de   Theologie    et   de  Philosophie 
publik  p.  1.  premiere  fois   dans  1'  original   arabe  et 
aecompagne"  d'une  traduetion  francaise  par  S.  Munk. 
Paris,  1861. 
CV1II.    Joh.  Malalae:   Chronographia  ex  reoens.    Dindorfii 
Bonnae  1831. 
C1X.    Mallet.    D.  Le  eulte  de  Neit  ä  Saft. 
(Ecole  du  Louvre.  These.) 
Paris  1888. 
CX.    Manasseh    ben    Israel,    (Rabbi).      The    Bible 
oonciliator,   a  reconcilement  of  the  apparent  oontra- 
dictions  in  Holy  Scripture.  by  E.  H.  Liado. 
Glasgow  1902. 
CXI.    Martiale   (Staoe  etc.).     Oeuvres  completes  (Collect, 
des  auteur  latins  publ.  s.  la  direction  de  M.  Nisard). 
Paris  1878. 
CX1L    Matter  (Dr.  J.).  Kritische  Geschichte  des  Gnosticismus 
etc.,  tibersetzt  von  Ch.  H.  Dörner. 
Heilbronn  1833. 
CXIII.    Maury  (Alfr.).    Etudes    sur   les  documents  mytho- 
logiques  contenues  dans  les  philosophumena  d'Origene 
publies  p.  M.  Miller. 
Revue  archeol.  1851. 

59* 


—    934    — 


CXIV.    Mead  (G.  K.  8.).    Fragments   of  a  faith  forgotten, 
some  short  sketohes  among  tbe  gnostics  etc. 
London-Benares  1900. 
CXVI.    Meursi  (Joannis).    Denarius  pythagoricus. 

Lugd.  Batav.  1631. 
CXVII.    Meursi,    (Joannis)   Graecia  feriata,   sive   de  Festis 
Graecorum,  libri  VI. 
Lugd.  Bat.  1619. 
CXVIII.    Michaelis.    Ancient  marbles  in  Great-Britain. 
Cambridge  1882. 
CXX.    Midrasch  BereschitRabbadasistdieHaggadische 
Auslegung  der  Genesis,  zum  ersten  Male  ins  Deutsche 
übertragen  von  Lic.  Dr.  Aug.  Wünsche. 
Leipzig  1881. 
CXXI.    Mone   [Dr.  Fr.  J.].    Geschichte  des  Heidentums  im 
nördlichen  Europa. 

Leipzig-Darmstadt  1823. 
CXX1I.    Montfaucon    (Bern.  de).    Supplement  au  livre  de 
l'Antiquite  expliqnee  et  representee  en  figures  Tome  J. 
Paris  1724. 
CXXIII.    Museo  Borbonico  T.  VIII. 
CXXIV.    Mythologici  latini  (e.a.Hyginus,  Fulgentius  etc.) 

Bibliopol.  Commeliniano  1599. 
CXX  VI.    Nork  F.     Etymologisch    symbolisch-mythologisches 
Real- Wörterbuch  zum  Handgebrauch  für  Bibelforscher, 
Archaeoiogen,  und  bildende  Künstler. 
Stuttgart  1843. 
CXX VII.    Origenes  Phüosophumena  sive  omnium  haeresium 
refutatio    e    codice    parisino    nunc    primum     edidit 
Emm-Miller. 
Oxonii  1851. 
CXXVI1I.    Origenes,  Opera  Omnia,  quae  Graece  vel  latine  tan- 
tum  exstant    et    eius    nomine  circumferuntur  Parisiis 
1740. 
CXXIX.    Orphica,   recensuit  Eugenius  Abel  accedunt  Prodi 
hymni,    hymni  magici,   hymnus  in  Isim  aliaque  eius 
modi  carmina.     Lipsiae   sumptus  fecit   G.    Frey  tag, 
Pragae  sumptus  fecit  F.  Tempsky.  MDCCCLXXXV. 
CXXX.    Osann,  F.,    Über    eine  vor  kurzem  in  Pompei  aus- 
gegrabene Hermaphroditenstatue  (Böttigers  Amalthea 
Band  I.) 


935    — 


CXXXI.    Ovi  de.  Oeuvres  completes  avee  la  traduction  en  fran- 
cais.    (Colleetion  des  auteurs  latins  publ.  s.  la  direc- 
tion  de  Nisard)  Paris  1876. 
CXXXII.    Paracelsus  (Aur.  Philip  Theoph.    Bombast  ab 

Hohenheiin),  Opera  Omnia.    Genevae  1658. 
CXXX1II.    Paterson  J.  D.,  Of  the  Origin  of  the  ffindu  religion. 

(Asiat,  research.  Vol.  VIII.) 
CXXXI V.    Pauly,  Real-Eneyclopädie  der  klassischen  Altertums- 
wissenschaft, Stuttgart  1848  etc. 
CXXXV.    Pausaniae,    Graeciae    descriptio    accurata    tc    c. 
Latina  ßom.  Amasali  interpretatione  ed  Sylpurgius  & 
Vuchnilis,  Lipsiae  1696. 
CXXXVI.    Pell  etan  et  Maury,  R^ligions  de  l'Inde.  (Histoire 

universelle  des  Keligions.  Paris  1845. 
CXXXVII.    Nederlandsche  vertaling  van  den  Pentateuch   be- 
nevens   eene   nederlandsche    verklärende  vertaling 
van  ßashie's    Pentateuch  Commentaar  door  A.  S. 
Onderwyzer  1895. 
CXXXV11I.    Philonis  ludaei,  Opera  Omnia  Ed.  stereot. 
Lipsiae  1851—1880. 
CXXXIX.    Philostratorum  quae  supersunt omnia  ed. G.Olearius.. 
Lipsiae  1709. 
CXLa.    Photii,    Bibliotheca    ex   recensione    Imm.  Bekkeri. 

Berolini  1824. 
CXLb.    Photii,   Bibliotheca  e  Graeco  Latin  e   reddita  Scho- 
liisqne  illustrata,    opera    Andr.   Schotti   antverpiani. 
Angustae  Vindelicorum  1606. 
CXLI.    Pitture  (le)  Antiche  d'  Ercolano   e  contorni  in- 

cise  con  qualche  spiegazione,  Napoli  1757. 
CXLII.    Piatonis    (Divini)    Opera   Omnia    quae    exstant. 

Marsilio  Ficino  interprete.    Francofurti  1602. 
CXLIII.    Pleyte,    Chapitres    supplementairs    au    Li  vre    des 

Morts  164—174.    Leide  1881. 
CXLIV.    Histoire   naturelle   de   Pline   avec  la  traduction  en 

francais  par  M.  E.  Littre.  Paris  Firmin  Didot.  1860. 

CXLV.    Plutarchus,    de  Iside   et  Oseride,  (PL  Chaer  quae 

supers.  omnia  ed.  Jo.  G.  Hütten,  Tubingae.  1797.  T.  XI). 

CXLVI.    Plutarchus,    de   Mulierum   virtutibus,  (Plut-Chaer. 

quae  supers.  omnia,  opera  J.  G.  Hütten.  Tubingae  1796. 

CXLVII.    Plutarchus,   Quaestiones  graecae  (Plutarchi  Chaer 

quae    supers.    omnia    ed    J.   G.  Hütten,    T.    VIH.) 

Tubingae  1796. 


—    936    — 


CXLVIII. 

CXLIX. 

CL. 

CLL 

CLIII. 
CLII. 

CLIV. 

CLV. 

CLVL 

CLVIL 

CLVIU. 

CLIX. 

CLX. 
CLXL 

CLXU. 


Plutarchus,   Theseua  (PL  Chaer  quae  supers.  om- 
nia  ed.  Jo.  G.  Hütten,  Tubingae  1791.  T.  I.) 
Polyaeni    Strategematum  libri    octo  Lugd.  Batav. 
1691. 

Porphyr ii  de  Abstinentia.  rec.  Rud.  Herchei. 
Parisiis  1868. 

Prateolum  Marcossium  (Gabr.)  de  vitis,  sectia,  et 
dogmatibus  omnium  haereticorum,  etc  elenchus  alpha- 
be ticus  ete.  per  .  .  . 

Coloniae  1569. 
Preller,    (L.)    Griechische   Mythologie,   III.   Aufl. 
Berlin  1872-1875. 

Prodi  Diadochi    Paraphrasis  in  Ptolemaei  Libros 
IV,  de  siderum  effectionibus  a  Leone  Allatio  e  Graeco 
in  Latinum  conversa.    Lugd.  Bat.  1654. 
Prodi    Lycii,    Carminum   graecorum  reliquae  rec. 
Arth.  Lud  wich  Lipsiae  1897. 

Rabbinowicz    (Dr.   Isr.-M.)   Legislation  civile   du 
Thalmud.    Tome  I.     Paris  1880. 
Ratgeber.     Supra  alcune    moneti  di   Alicarnasso. 
(BuUettino  1839). 

R.  Reinach  Repertoire  de  la  Statuaire  grecque  et 
romaine. 

Paris  1897—1893. 
Reinach  (S.)  Repertoire  des  vases  peints  grecs  et 
romains. 

Paris  1899—1900. 
Roach  Smith  (Ch.)    On  some  roman  bronzes  dis- 
covered  in  the  bed  of  the  Thames. 

(Archaeologia  or  miscall.  traots  relating  to  antiquity 
Vol.  28. 

Robert  C.  Der  Bildhauer  Polykles  und  seine  Sippe. 
Hermes  Zeitschrift  für  classische  Philologie  19.  Band. 
Robert  C.  Ermaphrodito,  collezione  del  barone 
Giovanni  Baracco.  — 

(Annali  dell'  Instituto  1884.) 
Raoul  Rochette.    Choix  de  peintures  de  Pompöi,  la 
plupart  de  sujet  historique  et  publikes  avec  Texplication 
archeologique  de  chaque  peinture  et  une  introduction 
par.  .  .  . 
Paris     1846.  — Livr:  3. 


-    937    — 


CLXHI.    Roh  den  (Herrn,  von).    Die  Terracotten  von  Pompeji 

Stuttgart  1880. 
CLXIV.    Roug6  (Emm.  de)  Memoire  sur  la  Statuette  Naophore 
du  Musäe  Gregorien  au  Vatican.  (Revue  archeologique 
1861). 
CLXV.    de  Sainte-Croix  Recherches  historiques  et  critiques 
sur   les    mysteres    du    paganisme.     Seconde  Edition 
revue  et  oorrigäe  par  M.  le  baron  Silvestre  de  Sacy. 
Paris  1817. 
CLXVI.    Sanatsugätiya  translated  by  Käshinäth  Trimbak 
Telang  M.  A. 

(The  sacred    Books  of  the  East,   edited    by   Max 
Müller) 
Oxford  1882. 
CLXVII.     Sanohoniathonis  Berytii Fragmenta de  cosmogonia 
et  Theologia  Phoenicum  ed.  J.  C.  Orellius. 
Lipsiae  1826. 
CLXVIII.    Schorn,  D.    üeber  die  Pallas-Statuen  im  Dresdener 
Antikenmuseum.    (Amalthea  II.  S.  206). 
CLXIX.    F.  Sixtus  Senensis,  ordinis  Praedioatorum,  Biblio- 
theca  sancta. 
Venetiis  1566. 
CLXX.    Sexti  Empirie i.    Opera  quae  exstant  graece  nunc 
primum      edit     interpr.    H.     Stephanus     et     Gent. 
Hervetus  Aurelius. 
Colon-Allogrog.  1621. 
CLXXII.    Soldi  (Emile).    La  langue  Sacr6e 
I  le  Mystere  de  la  Ovation 
II  le  Temple  et  la  Fleur. 
CLXXTTI.    Joan  Stobaei.    Eclogarum   libri    duo  interpr.    G. 

Cantero  Antverpiae  1575. 
CLXXIV.    Strabonis  Geographia  c.  notes  Casauboni  et  al. 

Amstelodaroi  1707. 
CLXXV.    Suidae  Lexieon  ex  recognitione  Immanuelis  Bek- 
keri  Berolini  typis  et  impensis  Georgii  Reimeri. 
A.  1854. 
CLXXVII.    Synesii  Episoopi  Cyrenes  Opera,  quae  extant  omnia 
graeee  ae  latine  nunc  primum  coniunetim  edita  inter- 
prete  Dionysio   Petavio,   aurelianensi  societatis  Jesu 
Presb. 
Lutetiae  1612. 


—    938    — 


CLXXVIII.    Taruffi  (Prof.  Cesare)   Hermaphrodismus   und  Zeu- 
gungsunfahigkeit. 
Berlin  1903. 
CLXXIX.    Justini  Philosophi  et  Martyris  Opera,  item  etc. 
etc.  Tatiani  Assyrii  etc. 
Parisiis  1636. 
CLXXX.    Testamentum  Novum,    Graece   ed.   Tittmannus. 

Lipsiae  1828. 
CLXXXI.    Testamentum  (Novum)   extra  canonem  recep- 
tum  ed.  A.  Hilgenfeld.  ed.  altera. 
Lipsiae  1884. 
CLXXXII.    Testament  (Het  oude)  Opnieuw  uit  den  grondtekst 
overgezet  etc.  door  Dr.  A.  Kuenen,  Dr.  J.  Hooykaas, 
Dr.  W.  H.  Kostera,  en  Dr.  H.  Oort. 
Leiden  1899-1901. 
CLXXXIIL    Testamentum  Vetus  graece,  iuxta  LXX  interpre- 
tes  ed.  de  Tischendorf.    6a.  Ed. 
Lipsiae  1880. 
CLXXXIV.    Theophrasti Characteres ad optimorum librorum lidem 
recensuit,  etc.  D.  Fridericus  Astius  Saxo-Gothanus 
Lipsiae  in  libr.  Weidmannia  1816. 
CLXXXIVa.    Tiele  (C.  P.)  Geschiedenis  van  den  Godsdienst  in  de 
Oudheid  tot  op  Alexander  den  Groote. 
Amsterdam  1893—1902. 
CLXXX V.    T  i  s  c  h  b  e  i  n ,  W.  Collection  of  engravings  from  ancient 
vases  of  Greek  workmanship  etc.  now  in  the  posses- 
sion  of  Sir.  W.  Hamilton. 
Napleo  1795. 
CLXXXVI.    Vitruve  (Celse  etc.)  Oeuvres  completes  (Collect,  des 
auteurs  latins,  publ.  s.  la  direction  de  Nisard.) 
Paris  1877. 
CXXX VII.    Vollmer.    Vollständiges  Wörterbuch  der  Mythologie 
aller  Völker.    IL  Auflage. 
Stuttgart  1859.. 
CXXXVIII.    Voss.  (Joh.  Heinr.)  Antisymbolik. 

Stuttgart  1826. 
CXXXIX.    Ward.  (William).    A  view  of  the  history,  literature 
aud  mythology   of  the   Hindoos  including  a  minute 
description  of  their  manners  and  customs  and  trans- 
lation  from  their  principal  works. 
London  1820. 


—    939     — 


CXC.    Welcker  (F.  G.).    Griechische  Götterlehre. 

Göttingen  1857—1862. 
CXCI.    Studien,  herausgegeben  von  Carl  Daub  und  Friedrich 
Creuzer.  Jahrgang  1808  Bd.  IV.   Welcker,  über  die 
Hermaphroditen  der  alten  Kunst. 
CXCII.    Hodder  M.  Westropp  and  C.  Staniland  Wake 
Ancient  .symbol   worship.     Influence   of  the  phallic 
idea  in  theReligions  ofantiquity,  with  an  introduction 
additional   notes,  and   an   appendix,    by    Alexander 
Wilder  M.  D.  Second  edition. 
New-York.  J.  W.  Bonton  1875. 
CXCHI.    Winckelmann(s)  (Joh.)    Werke. 

Stuttgart  1847. 
CXCIV.    Worm  (Olao)   Danicorum  Monumentorum  libri  sex. 
Hafniae  1643. 
CXCV.    Worm  (Olao)Fasti  Danici  libris  tribus  exhibentes. 

Hafniae  1643.  — 
CXCV.    Li  Bassirilievi   antichi   di  Roma  incisi   da  Tommaso 
Piroli  colle  illustrazione  di  Giorgio  Zoega. 
Roma  1808. 
CXC  VI.    Zoega  (Georgius)Danus,  de  Origine  et  usu  obelis- 
corum  ad  Pium  sextum,  pont.  maxim. 
Romae  1797. 


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3 

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"1 
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—    941     — 
Der  Bart  der  Ainofrauen. 

Mitteilung  von  Wilhelm  Cohn-Antenorid. 


Der  Schnurrbart  der  Frauen  aus  dem  Stamme  der  Ureinwohner 
Japans  ist  antätowiert  und  zwar  fast  immer  in  blauer  Farbe.  Aus- 
nahmsweise geht  die  Tätowierung  auch  um  den  ganzen  Mund 
herum.  Der  Missionar  Bachelor,  ein  hervorragender  Kenner  der 
Ainosprache,  kann  den  Ursprung  dieser  Sitte  überhaupt  nicht  er- 
klären. Die  Ainos  selbst  weisen  nur  auf  das  hohe  Alter  derselben 
hin,  wie  denn  auch  schon  Hinweise  darauf  in  altchinesischen  Be- 
richten vorkommen.  Dieser  Brauch  bilde  einen  Teil  der  Religion 
und  ohne  Befolgung  desselben  kann  kein  Mädchen  heiraten.  Daher 
sträuben  sich  die  Ainos  trotz  ihrer  sonstigen  durch  Alkoholismus 
herbeigeführten  Apathie  gegen  die  dagegen  gerichteten  neuerlichen 
Verbote  der  japanischen  Regierung.  Wenn  man  eine  Hypothese 
über  den  Grund  dieser  lediglich  bei  Frauen  vorgenommenen  Mou- 
stache-Tätowierung,  die  Vries  schon  im  Jahre  1643  mit  eigenen 
Augen  sah,  aufstellen  darf,  so  könnte  dieselbe  entweder  vielleicht 
auf  eins  jener  nur  zeitweise  den  Männern  zugänglichen  Mannweiber 
zurückzuführen  sein,  die  auf  der  sagenhaften  Weiberinsel  hausen. 
Die  Nachahmung  von  deren  göttlich  verehrten  Königin  hätte  dann 
die  heutigen  recht  scheuen  Ainoweiber  zu  feminae  barbatae  gemacht. 
Oder  aber  es  hat  vielleicht  ein  urnisch  veranlagter  Fürst  diese  Bart- 
tracht vorgeschrieben,  um  beim  Verkehr  mit  seinem  Weibe  im 
Interesse  der  Fortpflanzung  leichter  die  Vorstellung  hervorrufen  zu 
können,  es  handele  sich  um  einen  Mann. 

Literatur:   Macritchie,  The  Ainos  au  Supplem. 

du  tome  IV  des  Arch.  Internat.  d'Ethnogr. 

pl.  III  No.  2;  p.  13,  15,  21  et  23 

Basil  Hall  Chamberlain,  Aino 

Folk-tales  p.  VIII,  3,  5  sq.  9  and  38  sq. 

[priv.  print.  1888]. 

Anmerkung:  Dr.  v.  Römer  meint,  daß  möglicherweise  die  eigen- 
artige Sitte  mit  der  androgynischen  Gottheitsidee 
der  Ainos  zusammenhängt. 


Bibliographie 
der  Homosexualität. 


Von 


Dr.  jur.  Numa  Praetorius. 


Inhaltsangabe. 


Kapitel  I. 

Homosexuelle  Schriften  aus  dem  Jahre  1902 
mit  Ausnahme  der  Belletristik, 

Anonym:  Eine  praktische  Enquete  über  die  Häuf ig- 
keit  der  Homosexualität  in  der  Zeitschrift  „Früh- 
rot44 (1901) *)  No.  8—13. 

Bloch:  Beiträge  zur  Ätiologie  der  Psychopathia 
sexualis,  I.  Teil  (Dresden  1902),  II.  Teil  (Dresden 
1903). 

Braunschweig:  DasdritteGeschlecht.  Beiträge  zum 
homosexuellen  Problem  (Halle). 

Chouven:  Ueber  sexuelle  Perversionenim  Orient, 
(nach  einem  Bericht  von  K^raval  in  den  „Archives 
de  Neurologie"  März-Nummer). 

Couvöe  en  Wertheim  Satomonson:  Eengeval  van 
Homosex  ualiteit  Psychi.  en  Netlrol  Bladen  1901/02 
(nach  Näcke:  Die  Hauptergebnisse  der  kriminal- 
anthroprologischen  Forschung  im  Jahre  1901  im 
Archiv  für  Kriminalanthroprologie  und  Kriminal- 
statistik Bd.  9  Heft  2  u.  3.) 

Dubois-Desaulle:  Les  Infames:  Pr&tres  et  Moines  non 
conformistes  en  amour. 


*)  Diesen  Aufsatz  aus  dem  Jahre  1901  habe  ich  voriges  Jahr 
nicht  gebracht,  weil  ich  eine  Fortsetzung  erwartete,  die  jedoch  nicht 
erschienen  ist. 


—    946    — 

DuboiS-Desaulle :  Les  Mignons  du  Marquis  deLiem- 
brune  in  dem   „Mercure  de  France"  Mai-Nummer. 

Fleischmann:  a)  Die  Bevorzugten  des  Liebes- 
glückes, b)  Der  Freund  ling  oder  die  neuesten 
Enthüllungen  über  das  dritte  Geschlecht. 
c)  Der  §  175  und  die  männliche  Prostitution 
in  München  und  Berlin,  d)  Seelenzwitter  oder 
zwei  Seelen  in  einem  Körper,  e)  Die  Über- 
völkerungsfrage  und  das  dritte  Geschlecht. 
f)  Das  Opfer:  Ein  Freundlingsdrama  in 
einem  Akt. 

Fuchs,  Hanns:  Die  Homosexualität  im  Drama  der 
Gegenwart  und  der  Zukunft  in  der  „Kritik1*, 
Nummer  vom  1.  August. 

Gerling:  Im  Ringe  der  Venus  (Oranienburg,  Orania- 
Verlag). 

Groß:  Besprechung  von  Blochs  „Beiträge  zur 
Ätiologie  der  Psychopathia  sexualis"  im 
Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kriminal- 
statistik.    Bd.  10,  Heft  1  u.  2. 

Hirschfeld,  Magnus:  Sappho  und  Sokrates:  Wie 
erklärt  sich  die  Liebe  der  Männer  und  Frauen  zu 
Personen  des  eigenen  Geschlechts?  2.  Auflage. 
(Leipzig,  Spohr). 

La  Cara;  Un  ermaphrodita  psicosessuale  in  der 
Bivista  di  psichiatria  forense  No.  9. 

Lombroso:  Die  Ursachen  und  Bekämpfung  des 
Verbrechens  (Deutsch  von  Kurella  und  Jentsch 
Berlin). 

Moll:  Sexuelle  Zwischenstufen  in  der  „Zukunft*1, 
Nummer  vom  13.  September. 

Moll:  Wann  dürfen  Homosexuelle  heiraten?  in 
der  Deutschen  Medizinischen  Presse,  Nummer  vom 
21.  März. 


—    947    — 

Moll:  Wie  erkennen  und  verständigen  sich  die 
Homosexuellen  untereinander?  in  dem  Archiv 
für  Kriminalanthropologie  und  Krimiualstatistik  9  Bd. 
2.  und  3.  Heft 

Müller,  Joseph:  Das  sexuelle  Leben  der  alten 
Kulturvölker  (Leipzig). 

Näcke:  1)  Angebot  und  Nachfrage  von  Homosexu- 
ellen in  Zeitungen. 

Näcke;  2).  Homosexuelle  Annoncen. 

Näcke:  3)  Zeitungsannoncen  von  weiblichen  Ho- 
mosexuellen. 

Näcke:  4)  a.  Besprechung  von  N arkissos'  Erzählung: 

Der  neue  Werther,  b.Zur  homosexuellen  Lyrik. 

In    dem   Archiv    für   Kriminalanthropologie    und 

Kriminalstatistik,  1)  Bd.  8  Heft  3  u.  4;  2)  Bd.  9  Heft 

2  u.  3;  3)  Bd.  10  Heft  3;  4)  Bd.  10  Heft  3). 

Näcke:  Probleme  auf  dem  Gebiet  der  Homo- 
sexualität in  der  Allgemeinen  Zeitschrift  für 
Psychiatrie  und  psychisch  -  gerichtliche  Medizin, 
59  Bd.  6  Heft. 

C.  Bernaldo  de  Quiros  y.  J.  M'Glanas  Aquilaniedo: 
La  mala  vida  en  Madrid  (Madrid  1901). 

Reiffegg:  Die  Bedeutung  der  Jünglingsliebe  für 
unsere  Zeit  (Leipzig,  Spohr). 

Schrickert:  Zur  Anthropologie  der  gleich- 
geschlechtlichen Liebe  in  der  „Politisch- Anthro- 
pologischen Revue"  No.  5  August-Nummer. 

Wachenfeld:  Zur  Frage  der  Strafwürdigkeit  des 
homosexuellen  Verkehrsim  Archivfür  Straf- 
recht 49  Jahrg.  1  u.  2  Heft. 


Jahrbuch  V.  60 


—    «948    — 

Kapitel  IL 
Belletristik  der  Jahre  1901  und  1902. 

I.  Männliche  Homosexualität. 

Anonym:  Der  Abfall  vom  Weib  (Dresden  und  Leipzig: 

Piersons  Verlag  1901). 
Bob:    Die    Gesohlechter    der    Menschen    (Leipzig, 

Lotus- Verlag  1901). 
Delacour:  Le  pape   rouge    (Paris,   Verlag  Soci£t£  du 

Mercure  de  France  1901). 
Essebac:  D<*d<*  (Paris  Ambert  1901). 
Essebac:  Luc  (Paris:  Ambert  1902). 
Essebac:  L'Elu  (Paris  Ambert  1902). 
GeiSSler:  Ganymedes  (Leipzig,  Spohr  1902). 
Gide:  L'Immoraliste   (Paris,   Soci&6   du  Mercure    de 

France  1902). 
Gossez:     Six    attitudes     d'adolescent    (Le    Beffroi 

Hille  1902). 
Hamecher:   Zwischen   den    Geschlechtern   (Zürich, 

Cäsar  Schmidt  1901). 
Kupffer:  Auferstehung  (2.  Auflage  bei  Spohr  in  Leipzig). 
Kupffer:    Sein  Räthsel   der  Liebe  in   der  Sammlung 

Doppelliebe  (Zürich,  Cäsar  Schmidt  1901). 
Lecomte:  Les  cartons  verts  (Paris,  Charpentier  1901). 
LyS:  La  Vierge  de  Sedon  (Paris,  Offenbach  1901). 
Martino  und  Abdel  Khalek  Bey  Saroit:   Anthologie 

de    Pamour    arabe    (Paris,    Soci£t£    du    Mercure 

de  France  1902). 
Merejkowsky:  Le  Roman  de  Leonard  de  Vinci  (ins 

französische    tibersetzt   von  Sorrfeze)  (Paris,  Calman- 

Levy  1901). 
Narkissos:  Der  neue  Werther  (Leipzig,  Spohr  1902). 
Pugnator:  Triumph  der  Liebe  (Leipzig,  Spohr  1902). 
Walloth:  Ein  Sonderling  (Leipzig,  Lotus  Verlag  1901). 


—    949    — 

Heienreis:    Übersetzung   von   Eekhoud's    Escal- 

Vigor  (Leipzig,  Spohr  1902). 
Taflhade:  Übersetzung  von  Petronisis  Satyricon 

(Paris,  Charpentier  1902). 
Hoffmann  V:  Das  vierte  Geschlecht  (Barmen,  Wie- 

mann  1902). 

IL  Weibliche  Homosexualität. 
Due:  Sind  es  Frauen?  (Berlin,  Ecksteins  Nachf.) 
Faure:     La    dernifere    journ^e    de    Sappho    (Paris, 

Soci£t6  de  Mercure  de  France  1901). 
Janitschek:  Neue  Erziehung   und    alte  Moral    aus 

der  Novellensammlung:    Die    neue   Eva  (Leipzig, 

Hermann  Seemann  Nachf.  1902). 
Keben:  Unmögliche  Liebe  aus  der  Novellensammlung: 

Unter  Frauen  (Jenas,  Verlag  Herrn.  Costenoble  1901). 
Marie  Madeleine:  Sappho    und    Crucifixa,   Gedichte 

aus  der  Sammlung:  Auf  Kypros  (Berlin,  Vita). 
Montfort:  Le  Journal  d'une  Saphiste  (Paris,  Offenstadt 

1902). 
Möller,  O  H:    Wer   kann  dafür?   (aus  dem  Dänischen 

übersetzt  von  Meienreis,  Leipzig,  Max  Spohr). 
Pougy:  (Liane  de)  Idylle  Saphique  (Paris,  librairie  de 

la  Plume  1901). 
Rögnier:    L'Amour   et   le   plaisir,  Novelle    (in  dem 

Mercure  de  France  December-Nummet  1901). 
Rigal:  Sur  le  mode  sapphique  (FEffort). 
Willy:  Claudine  ä  l^cole  (Paris,  Ollendorf). 
Willy:  Claudine  ä  Paris  (Paris,  Ollendorf). 
Willy:  Claudine  en  manage  (Paris,  Ollendorf  1901). 


Kapitel  III. 
Besprechungen  des  Jahrbuchs  aus  dem  Jahre  1902. 

60* 


Kapitel  I. 

Homosexuelle  Schriften  aus  dem  Jahre  1902 
mit  Ausnahme  der  Belletristik. 

Anonym:  (Dr.  B.):  Eine  praktische  Enquete  über 
die  Häufigkeit  der  Homosexualität  in 
Früh  rot,    freiradikale    Zeitschrift,    herausgegeben 

von  Robert  Heymann,  No.  8,  9,  10,  11,  12  und  13. 
.     (1901). 

Verfasser  habe  zur  Frage  der  Häufigkeit  der  Homosexuali- 
tät, eines  der  bisher  unerforschesten  Punkte,  einen  Beitrag  liefern 
wollen  und  zwar  aus  der  Praxis  heraus. 

Er  habe  folgendes  Inserat  einer  Anzahl  von  Berliner  Zei- 
tungen aufgegeben:  „17— 21  jährigen  .Freund  sucht  25 jähriger 
Doktor.     „Zu  Morgenpost,  Schiffbauerdamm  2.u 

Von  36  Zeitungen  hätten  nur  1 1  angenommen.  Auf  das  Inserat 
hätten  insgesamt  1 40  Personen  reagiert,  darunter  111,  bei  denen 
ein  Zweifel  nicht  bestehe,  daß  sie  von  Homosexuellen  herrührten. 
Die  Mehrzahl  der  Letzteren  halte  sich  äußert  vorsichtig  in  ihrem 
Schreiben;  65  hätte  doch  schließlich  der  Mut  gefehlt,  ihre 
Adresse  anzugeben.  Das  angegebene  Alter  differiere  zwischen 
16l/2  und  30  Jahren,  vereinzelt  finde  sich  auch  ein  Herr  von 
35,  39,  40,  46,  ja  in  noch  höherem  Alter. 

Lese  man  die  Briefe,  so  verstehe  man  sehr  wohl,  wie  der 
Uranier  in  der  ihn  umgebenden,  für  sein  seelisches  Empfinden 
verständnislosen  Außenwelt  leide. 

Im  allgemeinen  fehle  der  höhere  Stand,  soweit  er  das 
Alter  der  Studenten  überschritten  habe,  ebenso  die  Kadetten  und 
Offiziere,  was  sich  bei  der  großen  Vorsicht  dieser  Gesellschafts- 
schichten gegenüber  dem  bestehenden  Gesetze  und  der  öffent- 
lichen Meinung  erkläre. 

Verfasser  meint  dann:  die  Zahl  von  111  Eingänge  auf  13 
Zeitungen  Berlins .  erscheine  zwar  gering,   dabei  sei  aber  zu  be- 


—    951     — 

rücksichtigen,  daß  ein  nur  ein  einziges  Mal  gebrachtes  Inserat 
von  sehr  wenigen  Lesern  gelesen  werde,  sowie  daß  die  wenigsten 
Homosexuellen  es  wagten,  auf  Inserate  hin  zu  reagieren. 

Verfasser  teilt  dann  33  der  Briefe  wörtlich  mit.  Die 
meisten  Briefschreiber  bieten  sich  zu  inniger  Freundschaft  an. 
Viele  haben  sich  schon  lange  nach  einem  intimen  Freund  gesehnt. 
Ein  großer  Teil  giebt  ganz  offen  das  homosexuelle  Gefühl,  das 
nach  Erwiderung  verlangt,  kund. 

Das  vom  Verfasser  gewählte  Mittel,  um  nähere  An- 
haltspunkte über  die  Häufigkeit  der  Homosexualität  zu 
gewinnen,  ist  eigenartig,  zu  einer  irgendwie  bestimmteren 
Feststellung  der  Zahl  der  Homosexuellen  dürfte  jedoch  der 
Weg  des  Inserats  nie  genügen,  wenn  auch  durch  diese  Me- 
thode der  allgemeine  Beweis  geliefert  werden  kann,  wie  zahl- 
reich die  Homosexualität  Vorkommt.  Die  Anzahl  der  auf  das 
Inserat  des  Verfassers  eingegangenen  Schreiben  ist  nicht 
als  eine  geringe  zu  betrachten,  wie  Verfasser  meint,  son- 
dern meiner  Ansicht  nach  als  eine  relativ  große,  wenn 
man  bedenkt,  wie  viele  Bedingungen  erfüllt  sein  müssen, 
bis  ein  Homosexueller  antwortet.  (Leser  der  betreffenden 
Zeitung,  Leser  des  Inseratenteiles,  Leser  des  betreffenden 
Inserates,  Lust  zu  antworten,  Mut  zu  einem  solchen 
Schritt  u.  s.  w.)  Von  den  111  Schreiben  rühren  zweifel- 
los fast  alle  der  33  vom  Verfasser  mitgeteilten  von 
Homosexuellen  her,  einige  können  allerdings  lediglich 
freundschaftliche  Beziehungen  im  Auge  haben  und  daher 
nicht  von  Homosexuellen  abgefaßt  sein. 

Fast  alle  Antworten  zeigen,  daß  es  dem  Schreiber 
nicht  um  Befriedigung  eines  grobsinnlichen  Triebes  zu 
tun  ist,  sondern  daß  er  ein  edleres  Verhältnis  anzu- 
knüpfen sucht,  fast  alle  Schreiber  athmen  einen  ernsten, 
sympathischen,  keineswegs  frivolen  oder  obscönen  Geist. 

Bloch,  Iwan,  Dr.  med.,  Arzt  für  Haut-  und  Sexual- 
leiden in  Berlin:  Beiträge  zur  Ätiologie  der 
Psychopathia  sexualis.  Mit  einer  Vorrede 
von  Prof.  Dr.  Eulenburg.     I.  Teil  (Dresden,  Verlag 


—    952    — 

von  H.  B.  Dorn,  1902.    254  S.).    II.  Teil  (Derselbe 

Verlag,  1903.    400  S.). 

Dr.  Hirschfeld  hat  in  seiner  obigen  Arbeit:  »Der 
urnische  Mensch"  die  Kernpunkte  und  Hauptgedanken 
aus  dem  Buch  von  Bloch  mitgeteilt,  er  hat  sich  an  so 
zahlreichen  Stellen  eingehend  mit  Bloch  beschäftigt  und 
wie  mir  dünkt,  durch  seinen  sachverständigen  Aufsatz 
die  auf  keiner  eigenen  Kenntnis  der  Homosexuellen 
fußenden  Anschauungen  von  Bloch  so  gründlich  widerlegt, 
daß  sich  eine  Inhaltsangabe  und  Kritik  meinerseits 
erübrigt. 

Braunschweig:    M.   Das  dritte  Geschlecht  (Gleich- 
geschlechtliche Liebe)   Beiträge   zum   homosexuellen 
Problem  (Verlag  von  Carl  Marhold:  Halle  a.S.  1902). 
Braunschweig  giebt  zunächst  eine  Darstellung  des  Wesens 
der  Homosexualität,  das  er  auf  bisexuelle   Uranlage  zurückführt. 
Nicht  immer  treffe  der  Begriff  der  Degeneration  zu.    Doch 
könne  man  aus  dem   Vorkommen    der   Homosexualität   bei  den 
Naturvölkern    nicht    den   Schluß   ziehen,    sie   sei  eine  gesunde 
natürliche  Erscheinung.    Auch  die  Tuberkulose  beruhe  auf  natür- 
licher Anlage. 

B.  behandelt  dann  die  Homosexualität  im  Zusammenhang 
mit  sexuellen  Perversitäten  (Fetischismus  etc.)  und  führt  ihre  Ent- 
stehung in  vielen  Fällen  auf  äußere  Einflüße  (Klima,  Onanie  etc.) 
zurück.  Beruhe  in  vielen  Fällen  die  Homosexualität  auch  auf 
Naturanlage,  so  sei  sie  doch  keine  Naturnotwendigkeit.  Große 
Homosexuelle  seien  nicht  durch  ihre  geschlechtliche  Veranlagung, 
sondern  durch  andere  Eigenschaften  groß  gewesen.  B.  will  in 
der  Homosexualität  nur  Krankhaftes  und  Ungesundes  sehen;  er 
erblickt  in  ihr  eine  Gefahr  für  die  Gesellschaft,  weil  sie  den 
männlichen  Geist  töte.  Das  Vorkommen  des  Angeborenseins  der 
Homosexualität  erkennt  er  an,  hält  sie  aber  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  durch  Gewohnheit  erworben. 

•  B.  bespricht  des  Weiteren  Prophylaxe  und  Heilung  der 
Homosexualität,  ohne  zu  einem  bestimmten  Resultat  zu  kommen. 
Erziehung  des  Kindes,  Anbahnung  eines  gesunden  Kultus  der 
Frau,  Pflege  der  Eltern  und  Kindesliebe  seien  die  Hauptmittel 
gegen  das  Umsichgreifen  der  Homosexualität;  die  unheilbaren 
Homosexuellen  seien  in  Irrenanstalten  und  Pflegehäusern  unter- 
zubringen.   Die  Homosexuellen  würden  schließlich  die  von  ihnen 


—    953    — 

begehrte  Anerkennung  vielleicht  erringen,  wenn  Klarheit  über  sie 
gewonnen  und  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  in  das  Publikum 
gedrungen  sein  werde.  Bis  jetzt  sei  die  Kenntnis  der  Homo- 
sexualität zu  gering,  im  Läufe  der  Zeit  werde  man  den  Homo- 
sexuellen bedingtes  Gastrecht,  nie  aber  Bürgerrecht  zugestehen 
müssen. 

Ein  Hauptfehler  der  Schrift  von  Braunschweig  ist 
der  Fehler,  den  er  selbst  den  Homosexuellen  zum  Vor- 
wurf macht,  nämlich  Sprunghaftigkeit  im  Denken. 

Die  eigentliche  Auffassung  Braunschweigs  über  die 
Behandlung  und  Beurteilung  der  Homosexualität  ist  mir 
nicht  klar  geworden.  Er  scheint  selbst  keine  bestimmte 
präcise  Anschauung  zu  haben.  Die  bisherigen  Vorurteile 
billigt  er  nicht  und  rät  zu  richtiger  Erkenntnis,  trotzdem 
spricht  er  von  Gefährlichkeit  der  Homosexualität  und 
Ausschaltung  der  Homosexuellen.  Aber  einige  Seiten 
später  hält  er  für  möglich,  daß  die  Homosexualität  sich 
die  verlangte  Anerkennung  erringen  und  sicherlich  be- 
dingtes Gastrecht  finden  werden. 

Wegen  der  Widerlegung  der  Einzelheiten  der  sehr 
feuilletonistisch  geschriebenen  Broschüre  kann  ich  mich 
begnügen,  auf  Hirschfelds  Arbeit  in  diesem  Jahrbuch  und 
meine  vorjährige  Entgegnung  auf  Wachenfeld  zu  verweisen. 

Nur  ein  Beispiel  von  der  Logik  und  der  Schärfe  des 
Denkens,  die  Verfasser  an  den  Tag  legt 

Als  ein  Argument  gegen  die  Annahme,  die  Homo- 
sexualität sei  nicht  notwendigerweise  eine  krankhafte  Er- 
scheinung, führt  Braunschweig  die  Tatsache  an,  daß  „an 
dem  Baum  der  natürlichen  Homosexualität  unnatürliche 
Zweige  trieben*  wie  z.  B.  der  Fetischismus. 

Da   sich   nun,    wie  Braunschweig  selbst  hervorhebt, 
ähnliche    krankhafte  Anomalien    auch   bei   den  Hetero- 
sexuellen finden,  so  müßte  Braunschweig  auch  die  Hetero- 
sexualität  als  eine  Krankheit  betrachten. 
Choven,  von  der:   Über  sexuelle  Perversionen    im 

Orient   (Obozr£ni6  psichiatrii  V  1900)   nach  einem 


—    954    — 

Bericht  von  P.  K^raval  in  den  Archives  de  Neu- 
rologie, 24.  ann£e  Märznummer  1902,  S.  236  u.  f. 
In  allen  Städten  Asiens  von  den  Ufern  des  Marmarameeres 
bis  zum  Yang-tze-kiang  seien  die  Tänze  und  Gesänge  den  jungen 
Burschen,  genannt  batcha,  übertragen,  die  ganz  und  gar  die 
Rolle  unserer  Schönheiten  aus  den  Varietes  erfüllten.  Die  Päderastie 
sei  im  direkten  Verhältnis  zur  Grösse  der  Stadt  und  der  Ein- 
sperrung der  Frau  organisiert.  In  den  Städten  Mittelasiens  und 
bei  den  Nomaden,  wo  die  Frauen  frei  seien,  gäbe  es  wenig 
batcha.  Der  batcha,  Tänzer,  Sänger,  Schauspieler,  ein  halbes 
Weib  nach  dem  Kostüm  und  den  Manieren,  habe  in  den  Khanats 
Mittelasiens  eine  offizielle  Stellung,  er  gehe  aus  den  Kindern 
armer  Eltern  hervor.  Er  werde  von  herumziehenden  Musikern 
oder  von  reichen  Leuten  gekauft,  die  ihn  seinen  Beruf  lehrten 
sowie  die  Funktion,  zu  welcher  er  dienen  solle.  Eine  eigen- 
artige Massage  der  Hinterbacken,  eine  durch  Instrumente  hervor- 
gebrachte Erweiterung  des  Afters  werde  mit  ihm  vorgenommen. 
Schläge  und  Rauschzustände  mittels  Alkohol  und  Haschisch  spielten 
dabei  eine  große  Rolle.  Dann  verkehre  mit  dem  batcha  sexuell 
als  Erster  der  Dirigent  der  Musiker,  es  sei  denn,  daß  er  ihn 
einem  reichen  Liebhaber  abtrete. 

Von  12  bis  16  Jahren  sei  der  batcha  in  der  Glanzperiode 
seiner  Erfolge.  Aber  seine  Verdienste  flössen  den  Kupplern  zu, 
so  lange  er  keinem  Herrn  gehöre,  der  ihn  unterhalte.  Wenn  der 
Bart  wachse,  verlöre  er  seinen  Wert.  Dann  könne  es  geschehen, 
daß  er  ein  ehrbarer  Bürger  werde,  eine  Familie  gründe,  seinen 
Harem  und  seine  batcha  besitze.  Es  könne  auch  sein,  daß,  falls 
er  die  Leidenschaft  der  passiven  Päderastie  behalten  habe,  er 
Diener  nehme  zur  Erregung  seiner  Begierden  in  praepostera,  die 
er  mit  seinen  Frauen  normaliter  befriedige. 

Dagegen  gäbe  es  batcha,  die  gegen  die  Natur  kämpften 
und  die  Attribute  des  Femininismus  durch  Kastration  erhalten 
wollten.  Wenn  letzteres  geschehen,  verließen  sie  ihr  Gewerbe  oder 
wenn  sie  mit  der  Prostitution  fortführen,  würden  sie  doch  nur 
wegen  ihrer  künstlichen  Jugend  verachtet.  In  beiden  Fällen  sänken 
sie  noch  tiefer.  Manche  züchteten  Frauen  zum  coitus  per  anum 
oder  zu  sonstigen  Verirrungen  heran,  seien  ihre  Louis  oder  die 
Ehemänner  der  Prostituierten. 

Keraval  sagt  zu  den  Ausführungen  Chovens:  „Die 
Päderastie,  sowie  die  sexuellen  Praktiken  mit  Tieren  bilde 
eine  moralische  physische  und  degenerative  Wunde.  Die  Ent- 
wikelung  der  Zivilisation,  die  Freiheit  der  Frau  und  ihre 
soziale  Gleichstellung,  das  seien  die  Heilmittel.  Den  Beweis 
dafür  liefere  der  von  Choven   erwähnte   reiche   persische  Kauf- 


—    955    — 

mann,  der  an  den  transcaspischen  Ufern  keine  Frau  habe  finden 
können  und  daher  Knaben  sexuell  gebraucht  habe.  Daraus  habe 
sich  eine  Gewohnheit  und  eine  Leidenschaft  entwickelt.  Später 
habe  er  eine  geistreiche  Sängerin  getroffen,  die  in  Männerkostüm 
getanzt  habe.  Er  habe  zuerst  wie  mit  einem  batcha  sexuell 
mit  ihr  verkehrt,  aber  nach  und  nach  habe  ernormaliter  mit  ihr 
coitiert  und  sie  dann  geheiratet." 

Die  batcha  und  die,  welche  mit  ihnen  geschlechtlich 
verkehren,  sind  selbstverständlich  nicht  alle  Homosexuelle, 
doch  zweifellos  ein  Teil. 

Die  Mitteilungen  Chovens  über  das  spätere  Schicksal 
der  batcha  beweisen  einmal,  daß  ein  großer  Teil  derselben 
homosexuell  ist,  nämlich  jedenfalls  diejenigen,  deren  Effe- 
mination so  deutlich  zu  Tage  tritt,  daß  sie  selbst  zur 
Castration  schreiten,  um  die  äußeren  Merkmale  der  Weib- 
lichkeit zu  behalten;  zweitens  geht  aus  diesem  Bericht 
hervo^  daß  die  heterosexuellen  batcha  trotz  jahrelanger 
Prostitution  im  mannmännlichen  Geschlechtsverkehr  durch 
letztere  nicht  zu  Homosexuellen  umgewandelt  werden 
können,  da  sie  eine  Familie  gründen  und  einen  Harem 
sich  anschaffen.  Die  Bemerkung  K^ravals,  daß  die  Ent- 
wicklung der  Civilisation  und  eine  größere  Freiheit  der 
Frau  ein  Heilmittel  gegen  die  päderastischen  Zustände 
im  Orient  bilden  würden,  ist  insofern  richtig,  als  nament- 
lich die  Hebung  der  socialen  Verhältnisse  der  Frau  den 
gleichgeschlechtlichen  Verkehr  mehr  zurückdrängen, 
Heterosexuelle  davon  abbringen,  insbesondere  aber  den 
Mißbrauch  unmündiger  Knaben  einschränken  würde.  Da- 
gegen wird  die  Aenderung  in  den  socialen  Zuständen  auf 
die  Homosexuellen  keinen  Einfluß  ausüben  und  den 
gleichgeschlechtlichen  Verkehr  ebenso  wenig  beseitigen, 
als  dies  durch  die  Entwicklung  der  Civilisation  bei  uns 
der  Fall  gewesen  ist. 
Couvöe  en  Wertheim   Satomonson:    Een  geval  van 

Homosexualiteit  Psychi.  en  Neurot  Bladen  1901/02 

(nach  Näcke:     Die    Hauptergebnisse  der  kriminal- 


—    956    — 

anthroprologischen  Forschung  im  Jahre  1901  im 
Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kriminalstatistik 
Bd.  9  Heft  2  u.  3  S.  152.) 

Homosexualität  sei  in  Holland  selten.  Der  Fall  eines 
Lehrers  wird  beschrieben,  der  erblich  belastet  und  mit  somati- 
schen und  psychischen  Stigmata  behaftet  gewesen  sei. 

Von  Jugend  auf  habe  er  konträr  geliebt,  meist  nur  pla- 
tonisch und  nur  Knaben.  Im  Charakter  habe  er  Widersprüche 
gezeigt.  Verfasser  habe  sich  bezüglich  der  Frage  nach  der  Un- 
zurechnungsfähigkeit für  incompetent  erklärt.  (Näcke  bemerkt: 
„ich  hätte  ihn  für  vermindert  zurechnungsfähig  erklärt.) a 

Verfasser  hat  vergessen,  mitzuteilen,  woher  er  denn 
wisse,  daß  die  Homosexualität  in  Holland  selten  sei.  In 
Amsterdam  habe  ich  eine  gleich  große  Verbreitung  der 
Homosexualität  wie  in  anderen  Städten  der  gleichen  Be- 
völkerungszahl gefunden. 

Vor  einigen  Jahren  wenigstens  existierte  in  Amster- 
dam eine  lediglich  von  Homosexuellen  aus  den  Volks- 
und Mittelkreisen,  sowie  von  Fremden  besuchte  Wirtschaft, 
in  der  jeden  Abend  20 — 40  Homosexuelle  zu  treffen 
waren. 

Auch  die  Striche,  z.  B.  der  Vondelpark,  waren 
ebenso  besucht,  wie  die  Striche  anderer  Länder. 

Dubois-Desaulle:  Les  Infames:  Pretres  etMoines  non 
conformistes  en  amour.  (Memoires  secrets  de  la 
Lieutenance  G£n£rale  de  Police).  (Paris:  Editions 
de  la  Raison  1902). 

Das  Buch  enthält  die  Wiedergabe  einer  großen  Anzahl  von 
Auszügen,  die  Dubois-Desaulle  den  in  der  „Biblioth^que  de 
r  Arsenal"  unter  dem  Namen  „Archives  de  Bastille"  aufbewahr- 
ten Geheimen  Akten  der  „Lieutenance  Generale  de  Police« 
(d.  h.  des  Polizeipräsidiums)  aus  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts entnommen  hat. 

In  einer  Einleitung  macht  Verfasser  darauf  aufmerksam, 
daß  die  gleichgeschlechtliche  Liebe,  der  Non-conformisme  en 
amour  (d.  h.  die  Nichtübereinstimmung  im  Punkte  der  Liebe 
—  zu  subintelligieren  mit  der  Natur  — )  zu  allen  Zeiten  und 
Orten  verbreitet  gewesen  sei. 


—    957    — 

Besonders  im  18.  Jahrhundert,  am  Ende  der  Herrschaft 
von  Ludwig  XIV.  und  zur  Zeit  der  Regentschaft  habe  die  Homo- 
sexualität in  Blüte  gestanden.  Die  „Infamen","  wie  die  Polizei 
die  Homosexuellen  genannt,  die  „Ritter  der  Manchette«  (Cheva- 
lier de  la  Manchette)  wie  sie  sich  unter  einander  bezeichnet, 
seien  am  zahlreichsten  unter  den  Geistlichen  zu  finden  gewesen, 
dann  unter  der  Aristokratie  und  dem  höheren  Bürgerthum,  so- 
wie unter  den  Bediensteten. 

Das  Buch  zerfällt  in  zwei  Hauptteile;  im  ersteren  sind  nur 
Geistliche,  im  zweiten  neben  Geistlichen  auch  Adlige  und  Bürger 
behandelt. 

Dubois-Desaulle  gibt  keinerlei  Kritik  der  mitgeteilten  Aus- 
züge, er  läßt  die  Akten  selbst  Zeugnis  der  damaligen  Zustände 
ablegen.  Er  bringt  die  Berichte  über  108  „Sodomiter«  (wie  er 
sie  oft  nennt);  ferner  sind  in  den  einzelnen  Berichten  noch 
zahlreiche  andere  „Päderasten«  erwähnt. 

Unter  den  108  befinden  sich  nicht  weniger  als  74  Geist- 
liche. : 

Viele  Berichte  enthalten  zahlreiche  Einzelheiten. 

Auffallend  viele  der  Invertierten  werden  verhaftet,  weil  sie 
mit  einer  „mouche"  (Mücke  d.  h.  Polizeispitzel)  der  Polizeibeamten 
Haymier  und  Symonnet  anbändelten.  Haymier  und  Symonnet 
waren  die  mit   der  Beobachtung   der  „Infamen"    in   den  Gärten  j 

des  Luxembourg  und  der  Tuilerien   besonders  betrauten  Polizei-  I 

kommissare.  Nicht  weniger  als  30  Homosexuelle  kommen  in  den  j 

Berichten  vor,  die  unvorsichtigerweise  mit  Polizeispitzeln  sich 
einließen. 

Immer  ist  es  derselbe  Vorgang,  mit  wenigen  Änderungen 
stets  das  gleiche  Bild. 

Ein  Homosexueller,  meist  ein  Abb£,  der  auf  den  Strichen 
des  Luxembourg  oder  der  Tuilerien  Männerbekanntschaften  auf-  \ 

sucht,  trifft  einen  Polizeispitzel,  den  er  für  einen  Gleichgesinnten 
oder  für  einen  der  Verführung   zugänglichen    Jüngling   hält.     Er  j 

spricht  mit  ihm  über  gleichgeschlechtliche  Liebe,  erzählt  ihm 
manchmal  von  seinen  Liebesabenteuern,  die  Art  und  Weise  seiner 
Befriedigung  und  dergleichen.  Dann  nimmt  er  Betastungen  vor, 
küßt  die  „Mücke«  oder  entblößt  sich  selber. 

Die  Verhaftung  erfolgt  meistens  nicht  sofort,  sondern  der 
Spitzel  sucht  die  Wohnung  des  Homosexuellen  zu  erfahren  oder 
beide  werden  von  weitem  durch  Symonnet  oder  Haymier  oder 
ihren  Leuten  beobachtet.  Sehr  oft  läßt  sich  der  Spitzel  ein 
Rendez-vous  für  den  nächsten  Tag  geben  und  benachrichtigt 
die  Polizeibeamten,  die  am  verabredeten  Orte  die  Verhaftung  des 
Homosexuellen  vornehmen.  Oft  geht  der  Spitzel  dem  Homo- 
sexuellen  in  seinen  Wünschen  sehr  weit  entgegen,   er   gestattet 


—    958    — 

sogar  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr,  um  nachher  alle  Ein- 
zelheiten in  den  Polizeibericht  aufnehmen  zu  lassen. 

Wenn  die  "Spitzel  nicht  angeredet  werden,  so  beobachten 
sie  das  Verhalten  der  Homosexuellen,  die  mit  andern  jungen 
Leuten  anbändeln.  Haymier  belauscht  z.  B.  die  unsittlichen  An- 
träge, die  Abb£  Dewinot  einem  Passanten  in  den  Tuilerien  stellt. 
SS.  199.)  Ebenso  hört  ein  Spitzel,  wie  Abbe  Delasalle  einen 
üngling  zum  Schlafen  mit  nach  Hause  nehmen  will  und  ver- 
haftet dann  den  Jüngling,  der  gezwungen  wird,  die  Adresse  des 
Abb6  anzugeben  (S.  235). 

Es  kommt  vor,  daß  ein  Spitzel  im  Luxembourg  zur  besseren 
Beobachtung  der  „Sodomiter"  sich  ins  Gras  legt  oder  unter 
eine  Bank  versteckt  (S.  292,  296). 

Viele  Homosexuelle  werden  denunziert  durch  die  Jüng- 
linge, mit  denen  sie  verkehrt  oder  zu  verkehren  versucht  haben. 
Ober  die  Art  und  Weise,  wie  Manche  ihre  Verftihrungsversuche 
anstellen,  wird  genau  berichtet. 

Viele  Berichte  enthalten  ein  vollständiges  Bild  von  dem 
damaligen  Leben  und  Treiben  gewisser  Homosexuellen. 

Zu  einer  bestimmten  Clique  gehörten  der  Jesuitenpater 
De  la  Fert£,  Abb£  Dumoutier  und  Abb6  Bouchard.  Bouchard,  ob- 
gleich 84  Jahre  alt,  schlief  noch  täglich  mit  zwei  Jünglingen  zu- 
sammen. „Da  er  nicht  mehr  eifersüchtig  war,  empfing  er  gern 
die  jungen  Freunde  seiner  zwei  Diener  und  ergötzte  sich,  wenn 
er  selbst  nicht  mehr  handeln  konnte,   an    ihren  Vergnügungen." 

Die  Freunde  dieser  Geistlichen  waren  besonders  Gery, 
Cauv£  und  Saint-Remy.  „Alle  drei  prostituieren  sich  mit  jedem 
Beliebigen.  Sie  leben  von  ihrer  Wollust  und  nehmen  die 
Schmucksachen  denen  weg,  mit  denen  sie  sich  vergnügen.  Sie 
verschaffen  Junge  denen,  die  die  Neuheit  lieben."  (S.  76). 

Der  Hauptgeliebte  von  Pater  de  la  Ferte  war  Saint-Remy, 
er  unterhielt  ihn  förmlich  und  wollte  ihm  sogar  eine  höhere 
Stelle  am  Hofe  von  Lothringen  verschaffen.  Saint-Remy  hatte 
auch  lange  ein  festes  Verhältnis  mit  dem  Marquis  de  Bouthilier, 
er  hatte  es  verstanden  den  Marquis  zu  fesseln,  obgleich  dieser 
so  sehr  die  Abwechselung  liebte,  daß  er  sonst  niemals  zweimal 
mit  demselben  Manne  verkehren  konnte  (S.  75.) 

Verschiedene  Geistliche  verkehren  auch  geschlechtlich 
untereinander.  So  z.  B.  Abbe  de  Saint-Etienne  mit  Abb6  Con- 
golain  (s.  101);  Abbe  Dumoutier  mit  Abb£  Leconte  (S.  169). 
Abb6  cWret  verliebte  sich  leidenschaftlich  in  den  Abbe  Castag- 
net,  „einen  eingewurzelten  Sodomiter",  der  einen  großen  Ruf 
unter  den  „Infamen"  genoß.  Beide  lebten  wie  Mann  und  Frau. 
Obgleich  Chöret  zahlte,  war  Castagnet  Herr  im  Hause.  „Castag- 
net,    der   Liebkosungen   von    Gieret    überdrüssig    und   die  Ab- 


—    959    — 

wechselung  und  Abenteuer  liebend,  verläßt  Castagnet,  der  dann 
ein  Verhältnis  mit  Abbe  Lemaire  eingeht.  „Um  völlig  glücklich 
zu  sein,  sagte  eines  Tages  Cheret,  müßte  er  zwischen  seinen 
beiden  Freunden  schlafen«.  (S.  139.) 

Die  meisten  Homosexuellen  der  Berichte  verkehren  mit 
Jünglingen  oder  Männern,  einige  allerdings  auch  mit  Knaben. 
„So  lockt  der  Abbe  Longis  Knaben  von  10—11  Jahren  in  sein 
Zimmer,  um  sie  unzüchtig  zu  berühren"  (S.  311). 

Auch  der  Abbe  Patu  wird  unzüchtiger  Handlungen  mit 
einem  Zögling  von  9  Jahren  beschuldigt.  (S.  314). 

Bezeichnend  für  die  Heftigkeit  des  homosexuellen  Triebes 
ist  die  Tatsache,  daß  gewisse  Conträre  nach  den  Polizeiberichten 
immer  und  immer  wieder  sich  öffentlich  ertappen  lassen,  trotz 
aller  Warnungen  und  traurigen  Erfahrungen,  dabei  ist  besonders 
merkwürdig,  daß  der  Homosexuelle  oft  mehrere  Male  in  die 
Falle  von  Polizeispitzeln  gerät. 

Ein  charakteristisches  Beispiel  bildet  der  Marquis  de  Bresse 
(S.  213  flgd.),  der  im  Laufe  der  Jahre  nicht  weniger  als  5  Mal 
sei  es  in  flagranti  wegen  Versuchs  unzüchtiger  Handlungen,  die 
er  mit  Gewalt  an  Passanten  (jungen  Leuten)  vornehmen  wollte, 
ertappt,  sei  es  wegen  unsittlicher  Anträge  von  Jünglingen  de- 
nunziert wurde. 

Aus  dem  Verhalten  der  Polizei  gegenüber  dem  Marquis 
de  Bresse,  der  als  Marquis  immer  wieder  freigelassen  wurde, 
geht  hervor,  welche  Nachsicht  geübt  wurde,  wenn  es  sich  um 
Adelige  handelte.  Ähnlich  wurde  bei  der  Verhaftung  von  Geist- 
lichen verfahren.  Die  meisten  Geistlichen,  selbst  die  in  flagranti 
ertappten,  wurden  sofort  oder  nach  wenigen  Tagen  wieder  ent- 
lassen, nur  wenige  wurden,  und  dies  auch  nicht  lange,  ein- 
gesperrt. Bei  einigen  begnügte  man  sich,  sie  in  die  Provinz  zu 
versetzen  mit  dem  Verbot  Paris  zu  besuchen. 

Einigen  gelingt  es  dank  hoher  Einflüsse  alle  Maßnahmen 
der  Polizei  gegen  sie  illusorisch  zu  machen.  Gewisse  sehr  hoch 
Gestellte,  wie  z.  B.  der  Bischof  von  Fr£jus  wurden  überhaupt 
nicht  behelligt,  lediglich  ihre  Geliebten  wurden  verhaftet.  (S. 
154  flgd.) 

Homosexuelle,  die  nicht  zum  Adel  oder  der  Geistlichkeit 
gehören,  können  oft  dadurch  dem  Gefängnis  entgehen,  daß  sie 
sich  zum  Dienst  im  Heere  anwerben  lassen. 

Eifriger  fast  als  die  Polizei  verfolgte  ein  heterosexueller 
Geistlicher,  der  Abbe  Theru  die  „Infamen"  mit  unermüd- 
lichem Eifer.  In  zahlreichen  Polizeiakten  finden  sich  seine  An- 
zeigen und  Berichte  über  die  Homosexuellen  vor. 

Nach   Dubois-Desaulle    hat  Theru   nahezu   40  Jahre   in  der 
Sittenpolizei  eine  regere  Rolle  gespielt  als  die  Polizeibeamten  selber. 


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—    960    — 

Theru  ist  auch  durchaus  nicht  milder  gegen  die  homo- 
sexuellen Geistlichen  als  gegen  die  Laien,  im  Gegenteil:  Er 
dringt  bei  der  Polizei  auf  größere  Strenge  gegen  die  Kleriker. 

„Ihre  Eigenschaft  als  Abb£  dürfe  nicht  hindern  sie  zu  be- 
strafen.« (S.  13). 

„Man  solle  die  Geistlichen  noch  weniger  schonen,  als  die 
Lebemänner.«  (S.  15.) 

Aber  trotzdem  gelingt  es  meist  dem  Abbe  Theru  nicht,  die 
Freilassung  von  Geistlichen  zu  verhindern,  für  die  hohe  Ein- 
flüsse sich  ins  Mittel  legen.  Bei  Geistlichen,  die  ihre  hohe 
Herkunft  vor  Verfolgung  schützte,  wie  z.  B.  beim  Pere  de  la 
Ferte,  Sohn  eines  Herzogs  und  Marschall,  der  überdies  Prediger 
des  Königs  und  Mitglied  des  gefürchteten  Jesuitenordens  ist, 
wagte  nicht  einmal  Theru  eine  Bestrafung  zu  verlangen,  er  be- 
gnügte sich,  gegen  dessen  Geliebten  Saint-Remy  loszuziehen,  den 
er  gern  lebenslänglich  in  Bicetre  eingesperrt  sehen  möchte. 

Das  Buch  von  Dubois-Desaulle  ist  eine  höchst  ver- 
dienstvolle Veröffentlichung,  wertvoll  für  die  Sitten- 
geschichte im  Allgemeinen  und  die  Geschichte  der 
Homosexualität  insbesondere. 

Ich  kenne  kaum  ein  anderes  Werk,  welches  einen 
so  unmittelbaren  Einblick  in  die  homosexuellen  Zustände 
einer  vergangenen  Epoche  gewährt,  insofern  die  grob- 
sinnliche Seite  der  Homosexualität  in  Betracht  kommt, 
mit  der  ja  allein  die  Polizei  sich  zu  beschäftigen  Gelegen- 
heit hat. 

Die  trockenen  geheimen  Polizeiakten,  die  durch 
keinerlei  Rücksichten  zum  Beschönigen  und  Vertuschen 
gezwungen  waren  und  vor  der  Wiedergabe  auch  der  ein- 
gehendsten Details  nicht  zurückschreckten,  stellen  ein 
Material  dar,  das  man  zuverlässiger  sich  kaum  wünschen 
kann. 

Ueber  die  große  Anzahl  der  homosexuellen  Geist- 
lichen, die  die  Polizeiakten  offenbaren,  war  ich  wirklich 
erstaunt. 

Wenn  man  bedenkt,  daß  in  diesem  ersten  Band  über 
80  homosexuelle  Geistliche  erwähnt  werden,  obgleich 
Dubois-Desaulle  nur  Dokumente  aus  einem  Zeitraum  von» 


—    961     — 

50  Jahren  (1700 — 1750)  benutzt  und  noch  weitere  Bände 
über  homosexuelle  Geistliche  dieser  Zeit  ankündigt,  wenn 
man  des  Weiteren  erwägt,  daß  meist  nur  die  unvorsichtig- 
sten, zahlreiche  Abenteuer  aufsuchende  Priester  mit  der 
Polizei  in  Konflikt  gerieten  und  daß,  abgesehen  von  den- 
jenigen, die  gar  nicht  erwischt  wurden,  es  zweifellos  eine 
größere  Anzahl  zurückgezogener  homosexueller  Geist- 
licher gab,  die  niemals  das  Auge  der  nur  in  krassen 
Fällen  einschreitenden  Polizei  auf  sich  zogen,  so  muß  man 
annehmen,  daß  die  Zahl  der  homosexuellen  Priester  eine 
enorme  war,  jedenfalls  eine  viel  größere  als  heute.  Dies 
dürfte  vielleicht  darauf  zurückzuführen  sein,  daß  es  im 
18.  Jahrhundert  überhaupt  viel  mehr  Geistliche  aller  Art 
gab  wie  heutzutage  und  sodann,  daß  wohl  gerade  viele 
Homosexuelle  bei  dem  hohen  Ansehen  und  den  zahl- 
reichen Vorteilen,  die  mit  dem  geistlichen  Stand  ver- 
bunden waren,  damals  weit  lieber  einen  Beruf  ergriffen,, 
dessen  Gebot  der  Ehelosigkeit  für  sie  keine  schwere 
Pflicht  bedeutete.  Heute  jedenfalls  sind  die  homosexuellen 
Priester  zurückgezogener  und  sittsamer. 

Man  wird  auf  den  Strichen  von  Berlin  oder  Paris  oder 
sonst  einer  Großstadt  nur  selten  Geistlichen  begegnen. 
Ich  selbst  kenne  keine  und  habe  auch  nur  von  einigen 
Wenigen  sprechen  hören. 

In  einem  Punkt  dürften  wohl  die  Polizeidokumente 
den  wahren  Sachverhalt  verschwiegen  haben,  nämlich  im 
Punkt  der  Polizeispitzel.  Die  zahlreichen  Fälle,  in  denen 
Homosexuelle  auf  den  Strichen  mit  Polizeispitzeln  sich  ein- 
lassen, sind  nur  begreiflich,  wenn  man  annimmt,  daß  die  Spitzel 
die  Homosexuellen  durch  zuvorkommende  Reden,  Gebärden 
und  wahrscheinlich  auch  durch  auffallendes  Entblößen  an- 
gelockt haben,  wovon  natürlichin  den  Polizeiberichten  nichts 
enthalten  ist.  Es  heißt  immer  blos,  der  Spitzel  sei  von 
Homosexuellen  angeredet  und  unzüchtig  berührt  worden. 
Die  Polizei  kannte  auf  das  Genaueste  die  Gewohnheiten 


—    962    — 

und  Gebräuche  der  Homosexuellen ;  sie  bediente  sich  so- 
gar als  Spion  und  Spitzel  zum  Teil  solcher  Leute,  die 
selbst  homosexuell  waren  oder  wenigstens  mit  den  Homo- 
sexuellen früher  verkehrt  hatten  Dies  wird  ausdrücklich 
von  einem  gewissen  Prunier  berichtet. 

Höchst  interessant  ist  es  zu  sehen,  wie  schon  damals 
die  Sittenzustände  (Verbreitung  der  Homosexualität,  Pro- 
stitution, Zusammentreffen  der  Homosexuellen  auf  be- 
stimmten Plätzen  u.  s.  w.)  kaum  von  den  heutigen  ver- 
schieden waren.  Nur  möchte  ich  annehmen,  daß  die 
Striche  damals  belebter  waren,  als  heute  und  die  Homo- 
sexuellen unvorsichtiger  und  dreister.  Besondere  Her- 
vorhebung verdient  auch  die  Tatsache,  daß  sogar  die 
damals  auf  der  Betätigung  der  Homosexualität  stehende 
Todesstrafe  die  Verbreitung  dieser  Leidenschaft  nicht  zu 
verhindern  vermochte,  die  damals  schon  einen  derartigen 
Umfang  angenommen  hatte,  daß  wie  jetzt  in  Berlin  be- 
sondere Polizeibeamte  mit  einer  Menge  von  Unterbeamten 
mit  der  Ueberwachung  der  Homosexuellen  betraut  waren. 

Schon  damals  sah  die  Polizeiverwaltung  ein  —  wie 
jetzt  in  Berlin  —  daß  eine  Verfolgung  aller  Homosexuellen 
unmöglich  sei  und  trotz  der  damals  überaus  strengen 
Anschauungen  schritt  sie  nur  ein,  wenn  Klagen  laut 
wurden,  öffentliches  Aergernis  entstand  oder  wenn  es 
sich  um  Prostituirte  —  die  keinen  allzu  mächtigen  Be- 
schützer hatten  —  handelte. 

Dazu  kam  noch,  daß  infolge  der  damaligen  herr- 
schenden gesellschaftlichen  und  politischen  Verhältnisse, 
der  Protektionswirtschaft,  der  Parteilichkeit  der  Ver- 
waltung und  der  mangelhaften  Ausbildung  der  Justiz, 
Geistliche,  Adlige  und  Reiche  keinen  großen  Zwang  sich 
aufzuerlegen  brauchten  und  Maßnahmen  der  Verwaltung 
oder  gar  der  Gerichte  wohl  wenig  zu  befürchten  hatten, 
wenn    sie    nicht,   wie    die  in  den  Polizeiakten  erwähnten 


—    963    — 

Geistlichen  und  Adligen    allzu    offen,   auffällig   und    oft 
gewalttätig  ihrer  Leidenschaft  sich  hingaben. 
Dubois-Desaulle :     G.     Les    Mignons    du    Marquis 
de  Liembrune   (Die  Lieblinge  des  Marquis 
von  Liembrune)  in  dem  Mercure  de  France, Mai- 
nummer 1902.  (S.  382—412). 

In  diesem  Aufsatz  hat  Dubois-Desaulle  auf  Grund  der 
Polizeiakten  (Nummer  10623—10562  —  10759—10769  des  in 
der  vorhergehenden  Recension  schon  erwähnten  Archivs  der 
„Lieutenance  le  Police«)  den  Lebenswandel  und  die  homosexuellen 
Neigungen  des  in  der  2.  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  geborenen 
Marquis  de  Liembrune  ganz  ausführlich  dargestellt. 

Der  Marquis  hatte  ein  Fräulein  aus  vornehmer  Familie 
geheiratet,  aber  lediglich  ihres  bedeutenden  Vermögens  wegen, 
denn  eine  andere  Anziehung  besaß  seine  Frau  für  ihn  nicht, 
erklärte  er  doch,  daß  niemals  eine  Frau  ihm  etwas  bedeuten 
würde  und  daß  er  lieber  gehängt  sein  möge,  als  die  seinige  zu 
berühren.  Die  Hauptrolle  in  seinem  Leben  spielte  ein  gewisser 
Jacques  Bouclan,  den  er  als  Diener  bei  sich  angestellt  hatte. 

Zweimal  verläßt  Bouclan  den  Dienst  des  Marquis,  einmal 
weil  er  sich  nicht  dem  Marquis  willfährig  zeigen  will,  das  andere  Mal 
weil  die  Umgebung  des  Marquis  seine  Entfernung  durchsetzt. 
Die  Leidenschaft  des  Marquis  für  seinen  Diener  ist  aber  so 
heftig,  daß  er  ihn  immer  wieder  zurückberuft.  Im  December 
1716  wird  aber  der  Skandal  derart,  daß  der  Intendant  der  Stadt 
(Soissons)  dem  Marquis  befiehlt,  sich  endgiltig  von  Bouclan  zu 
trennen.  Dieser  geht  mit  seiner  Familie  nach  Paris  und  will 
jeden  Verkehr  mit  seinen  Herrn,  auch  den  brieflichen,  abbrechen. 
Der  Marquis  überschüttet  ihn  mit  zärtlichen  Briefen  und  mit 
Geschenken.  Bouclan  nimmt  die  Geschenke  an,  aber  antwortet 
nicht.  Der  durch  die  Entfernung  Bouclans  erregte  Schmerz  des  Mar- 
quis und  sein  Mißmut  über  dessen  Gleichgiltigkeit  verwandeln  sich 
in  Zorn,  der  sich  auf  die  unglückliche  Marquise  entlädt.  Sie  muß  die 
denkbar  schlechteste  Behandlung  seitens  ihres  Mannes  erdulden. 
Auf  die  Beschwerde  eines  Onkels  der  Marquise  an  den  Polizei- 
präsidenten von  Paris,  Herrn  von  D'Argenson,  wird  dann  durch 
Befehl  des  Regenten  Bouclan  in  Bic§tre  eingesperrt. 

Nach  der  Verhaftung  Bouclans  wird  die  Lage  der  Marquise 
noch  schlimmer;  mit  noch  mehr  Grausamkeit  läßt  ihr  Mann 
seine  Wut  an  ihr  aus. 

Er  eilt  nach  Paris  um  zu  versuchen  die  Freilassung  seines 
Geliebten  zu  erwirken.  Der  Marquis  will  dem  Bouclan  die 
Stelle  eines  Steuerbeamten   in   der  Provinz  verschaffen,  um  auf 

Jahrbuch  V.  61 


—    964    — 

diese  Weise  seine  Freilassung  zu  erlangen.  Bouclan  scheint  die 
Stelle  doch  nicht  erhalten  zu  haben,  seit  dem  Bittgesuch  des 
Marquis  an  den  Polizeipräsidenten  verschwindet  aber  Bouclan 
aus  dem  Leben  des  Marquis. 

Doch  bald  wählt  er  sich  einen  neuen  Geliebten,  den 
25— 26  jährigen  ,  Diener  Beaulieu.  Dieser  Beaulieu  war  ein 
praktischer  Kopf  und  arbeitete  „weder  des  Vergnügens 
noch  des  Gefühls  wegen«.  Er  ließ  sich  als  vornehme 
Dame  behandeln.  Die  Edelleute  anstatt  ihn  wie  ein  gewöhn- 
liches Freudenmädchen  in  Geld  zu  bezahlen,  remunerirten  ihn 
mit  Geschenken.  Mit  allen  den  „Kleidern,  Schmucksachen  und 
Meubeln"  die  er  so  auf  diese  Weise  erwarb,  hielt  er  einen 
gut  ausgestatteten  Laden  in  Paris.  Neben  seinen  Verkaufsladen 
nutzte  Beaulieu  noch  einen  „Serail"  junger  Burschen  aus,  den 
er  diskret  im  gleichen  Hause  hielt. 

Herr  von  Liembrune,  der  ein  guter  Client  des  Serails  war, 
war  auch  ein  großmütiger  Lieferant  des  Ladens.  Trotzdem 
zeigte  ihm  Beaulieu  eine  große  Undankbarkeit;  er  erklärte:  er 
suche  nur  möglichst  viel  vom  Marquis  zu  erhalten,  um  ihn  später 
zum  Teufel  zu  schicken,  wie  dies  eine  gewisse  Frau  von 
Vienne  berichtet.  Diese  Frau  von  Vienne  gab  stets  nützliche 
Auskünfte  dem  Polizeibeamten  Symonnet.  Sie  erfuhr  durch  eine 
Wirtin,  bei  der  der  Marquis  ein  Zimmer  gemietet  hatte,  daß 
er  ein  zweites  Bett  für  Beaulieu  verlangt  habe  und  darauf  von 
der  Wirtin  vor  die  Türe  gesetzt  worden  sei.  Der  Marquis 
ging  dann  denselben  Abend  mit  Beaulieu  in  ein  anderes  Hotel, 
wurde  aber  dort  durch  den  unermüdlichen  Anzeiger  der  „In- 
famen", Abbe  Theru  entdeckt. 

Beaulieu  wird  in  Bicetre  eingesperrt,  aber  schon  nach 
drei  Monaten  setzten  es  seine  Beschützer  durch,  daß  er  sich  als 
Soldat  „zum  Dienste  des  Königs"  anwerben  lassen  durfte.  Nachdem 
Beaulieu  eine  Zeitlang  gedient  und  die  nötige  Summe  Geldes 
erworben,  kaufte  er  sich  los  und  nahm  sein  früheres  Gewerbe 
wieder  auf. 

Am  23.  Januar  1721  berichtet  Symonnet  wieder  über 
Beaulieu  an  den  Polizeipräsidenten;  „Beaulieu  hat  die  Kühnheit 
gehabt  in  den  Dienst  des  Marquis  von  Liembrune  zurückzukehren. 
Er  treibt  sein  schlechtes  Gewerbe  weiter.  Er  war  gestern 
Abend  in  den  Tuilerien  in  dem  Gebüsch,  wo  man  ihn  hat 
Schändlichkeiten  verüben  sehen  mit  einem  Unbekannten.  Er  soll 
von  einem  vermögenden  Manne  ausgehalten  werden.  Ich  glaube, 
daß  er  verdient,  nach  Bicetre  zurückzukehren." 

Am  28.  Juli  1721  erließ  der  Regent  einen  Haftbefehl 
gegen  ihn. 


—    965    — 

Der  Marquis  zog  sich  auf  sein  Gut  in  Disves  zurück  und 
zwei  Jahre  vergingen,  ohne  daß  man  von  ihm  reden  hörte.  Im 
November  1721  richtet  ein  höherer  Beamter  der  Wasserbau- 
und  Forstverwaltung  aus  Noyon,  Herr  von  Richourt,  ein  Schreiben 
an  den  neuen  Polizeipräsidenten  in  Paris,  in  welchem  er  ihn 
bittet,  gegen  den  Marquis  einzuschreiten,  und  so  eine  Gelegen- 
heit öffentlichen  Skandals  zu  beseitigen. 

Der  Polizeibeamte  Symonnet  unterstützt  bald  darauf  selbst 
dieses  Begehren. 

Er  kenne  seit  über  15  Jahre  den  Marquis  als  einen  Ver- 
führer junger  Burschen.  Er  sei  eine  Pest  in  Paris  oder  in  allen 
anderen  Orten,  wo  man  ihn  lassen  würde.  Das  einzig  Richtige 
sei,  ihn  längere  Zeit  in  ein  Schloß  oder  in  eine  Citadelle  einzu- 
sperren, damit  er  keine  jungen  Leute  mehr  verführen  könne. 

Dem  Marquis  gelang  es,  die  Entrüstung,  die  er  bei  Herrn 
von  Richourt  erregt  hatte,  zu  beschwichtigen.  Denn  im  Jahre 
1722  schreibt  dieser  abermals  an  den  Polizeipräsidenten,  aber  nun- 
mehr in  dem  Sinne,  daß  der  Marquis  sich  gebessert  habe.  Er  habe  sich 
mit  Gott  ausgesöhnt,  mit  seiner  gesamten  Dienerschaft  sich  dem 
heiligen  Tische  genähert. 

Die  homosexuelle  Leidenschaft  scheint  jedoch  nicht  ge- 
schwunden zu  sein,  denn  im  August  1724  wurde  er  von  den 
Sittenpolizisten  in  den  Tuilerien  betroffen,  wie  er  einen  jungen 
Mann  küßte  und  im  Begriff  war  noch  andere  Liebkosungen 
mit  ihm  vorzunehmen.  In  seiner  Eigenschaft  als  Marquis  wurde 
er  sofort  freigelassen. 

Auch  über  einen  Freund  des  Marquis,  den  reichen 
Kaufmann  Martin  Cardot  aus  der  Picardie  berichten  die 
Polizeiakten.  Cardot  wird  zweimal  verhaftet,  weil  er  Abends 
in  den  Tuilerien  jungen  Leuten  unzüchtige  Anträge  stellt,  sie  an 
den  Geschlechtsteilen  anfaßt  und  sie  mit  in  sein  Hotel  nehmen  will. 
Verhaftet,  stellte  Cardot  die  Sache  so  dar,  als  sei  er,  ein  Neuling 
und  Fremder  in  Paris,  den  Sittenpolizisten  aufgefallen  und  das 
Opfer  eines  Irrtums  geworden.  Da  Cardot  nicht  nur  ein  reicher 
und  angesehener  Mann  aus  der  Provinz,  sondern  überdies  auch 
der  Schwiegervater  eines  Staatsanwaltes  war,  wurde  er  bald  wieder 
freigelassen. 

Im  Mai  1725  erhielt  der  Polizeipräsident  abermals  eine 
—  und  zwar  anonyme  —  Beschwerdeschrift  über  den  Marquis 
von  Liembrune.  Darin  wird  das  „scheußliche  Leben",  das  Herr 
von  Liembrune  führe,  dem  Polizeipräsidenten  angezeigt  und  dann 
gesagt:  „Zwar  begleitet  er  und  seine  Bedienten  Kerzen  in  der 
Hand  den  Priester,  der  das  heilige  Sacrament  den  Kranken 
bringt,  um  so  das  Publikum  irre  zu  führen,  aber  wenn  er  mit 
zwei  seiner  Diener  allein  ist,  welche  Schmähungen  stößt  er  nicht 

61* 


aus  gegen  das,  was  er  eben  gethan.  Die  Mönche  aus  Nayon 
beschäftigen  ihn  und  haben  ihm  eine  Würde  in  ihrem  Hause 
verliehen,  die  er  verlangt  hat,  um  besser  sein  Betragen  zu  ver- 
decken; die  guten  Väter  sagen  dem  Publikum,  daß  sie  nicht  glauben 
können,  daß  er  dessen  fähig  sei,  was  man  von  ihm  sagt." 

Das  sei  die  letzte  Urkunde,  schließt  Dubois-Desaulle  seinen 
Aufsatz,  die  er  in  den  Polizeiakten  über  den  unverbesserlichen 
Marquis  von  Liembrune  gefunden  habe. 

Der  Fall  des  Marquis  de  Liembrune  gewährt  ein 
typisches  Beispiel  für  die  ganz  in  der  Sinnlichkeit  auf- 
gehende Kategorie  von  Homosexuellen.  Beim  Marquis 
kommen  noch  besonders  häßliche  Fehler  hinzu:  Seine 
Brutalität  gegenüber  seiner  Ehefrau  und  seine  er- 
heuchelte Frömmigkeit.  In  diesem  Aufsatz  von  Dubois- 
Desaulle  finden  sich  die  meisten  Merkmale  der  homo- 
sexuellen sowie  homosexuell-sittenpolizeilichen  Zustände 
des  18.  Jahrhunderts,  welche  ich  schon  bei  der  vorher- 
gehenden Besprechung  („Les  Infames*  von  demselben 
Verfasser)  hervorgehoben  habe,  in  charakteristischer  Weise 
vereinigt. 

Fleischmann,  August:  1)  Die  Bevorzugten  des 
Liebesglücks.  Volkstümliche  Enthülllungen  über 
die  Griechische  Liebe  (Männerliebe).  Mit  einem  An- 
hang „Bunte  Gesänge",  Lieder  vom  Dritten  Ge- 
schlecht.    (30  Pf.) 

Die  Verfolgung  der  Homosexuellen  Ursache  ihres  allgemeinen 
Zusammenschlusses.  Rückblick  auf  die  Homosexualität  in  Griechen- 
land und  ihre  damalige  Ausbildung,  welche  beweise,  daß  der 
Homosexuelle  kein  Enterbter,  sondern  ein  Bevorzugter  des  Liebes- 
glückes sei. 

—  2)  Der  Freundling  oder  die  Neuesten  Ent- 
hüllungen überdas  Dritte  Geschlecht.  (30  Pf.) 
Das  „Dritte  Geschlecht"  eine  von  der  Natur  gewollte 
und  vollständig  berechtigte  Notwendigkeit.  Aufforderung  an  alle 
Freundlinge  sich  offen  als  solche  zu  bekennen.  Die  zahlreichen 
gesunden  Freundlinge  seien  den  Ärzten  unbekannt.  Lächerlich 
sei  es,  Freundlinge  durch  Dirnenverkehr  heilen  zu  wollen.  Aus- 
führungen über  den  §  175,  das  Erpressertum,  über  berühmte 
Homosexuelle. 


—    967    — 

—  3)   Der   §   175   und    die   männliche    Prostitu- 

tion   in    München    und   Berlin.      Beleuchtung 

eines     dunkeln     Punktes     großstädtischen     Lebens. 

(30  Pf.) 

Ausfälle  gegen  jede  Prostitution,  insbesondere  auch  gegen 
die  männliche.  Diese  würde  nur  mit  Aufhebung  des  §  175 
verschwinden,  wenn  der  Homosexuelle  nicht  mehr  mit  Unbekannten 
im  Freien  seine  Befriedigung  suchen  müsse.  Die  vielen  Homo- 
sexuellen täten  besser  ihr  Geld  zu  Aufklärungszwecken  zu  ver- 
wenden, als  ihre  Geliebten  zu  bezahlen. 

—  4)  Seelenzwillinge  oder  zwei  Seelen  in 
einem  Körper.  Neueste  Enthüllungen  über  zwei- 
geschlechtliche Wesen.     (50  Pf.) 

In  den  Homosexuellen  wohnten  zwei  Seelen,  die  männliche 
und  die  weibliche,  daher  das  dritte  Geschlecht  das  vollkomme- 
nere, daher  so  viele  Größen  der  Weltgeschichte  dazu  gehörig. 
In  der  Sucht  als  Weib  sich  zu  kleiden,  zeige  sich  bei  vielen 
Homosexuellen  die  weibliche  Seele. 

—  5)  Die   Übervölkerungsfrage  und   das   dritte 

Geschlecht.     Neueste   Moral-psychologische   Ent- 
hüllungen.    (50  Pf.) 

Die  Übervölkerung  die  Schuld  an  dem  sozialen  Elend.  Das 
Zweikindersystem  das  richtige  Verfahren,  daher  Glück  und  Wohl- 
stand in  Frankreich.  Das  dritte  Geschlecht  auch  dazu  bestimmt, 
die  Übervölkerung  zu  verhindern. 

—  6)    Das    Opfer:    Ein    Freundlingsdrama    in    einem 

Akte  nach  einem  Entwurf  von  Wilhelm  Fleischmann. 

(30  Pf.) 

Der  homosexuelle  Sohn  eines  Präsidenten  wird  von  einem 
Erpresser  angezeigt.  Er  soll  verhaftet  werden  und  erschießt  sich. 
Der  bisher  den  Homosexuellen  feindliche  Vater  wird  zur  rich- 
tigen Erkenntnis  gebracht. 

Sämtliche  6  Broschüren  in  den  Jahren  1901  u.  1902 
in  München  erschienen.  Druck  und  Verlag  A.  Fleisch- 
mann, Zweibrückenstraße  10. 

Fleischmanns  Broschüren  sind  Volksschriften  popu- 
lärster Art  und  bezwecken  auch  solche  zu  sein.  Sie 
wollen   die    wissenschaftlichen    Feststellungen    über    das 


—    968    — 

Wesen  der  Homosexualität  vulgarisieren.  Da  der  Funda- 
mentalcharakter der  homosexuellen  Liebe  als  eines  tief- 
innerlichen, constitutionellen  Triebes  richtig  dargestellt 
ist  und  die  Schriften  eine  auf  persönlicher  Erfahrung 
gegründete  warme  Überzeugung  atmen,  so  sind  die 
Werkchen  auch  geeignet,  im  Volke  die  Vorurteile  von 
dem  „durch  Übersättigung  entstandenen  Laster*  zu  zer- 
stören. Insofern  ist  das  Bestreben  Fleischmanns  löblich 
und  nutzbringend.  Der  gebildete  Leser  wird  allerdings 
Anstoß  nehmen  an  der  Art  und  Weise,  in  der  Fleischmann 
schwierige  Probleme,  wie  z.  B.  die  Übervölkerungsfrage 
oder  die  Theorien  der  Seelenzwillinge  behandelt,  und  an 
manchen  Stellen  mit  ihren  Vergröberungen,  Übertreib- 
ungen sowie  ihrer  komischen  Drastik  sich  eines  Lächelns, 
ja  Lachens  nicht  erwehren  können. 

Der  Unterschied  zwischen  Fleischmanns  Broschüren 
und  der  Volksschrift  Hirschfelds  „Was  muß  das  Volk 
vom  dritten  Geschlecht  wissen",  die  auch  der  Gebildete 
mit  Genuß  und  Interesse  lesen  kann,  ist  ein  gewaltiger. 
Da  Fleischmanns  Broschüren  weder  wissenschaftlichen 
Charakter  haben,  noch  den  Anspruch  auf  Wissenschaft- 
lichkeit erheben,  erscheint  es  recht  auffallend,  daß  die 
eine  Schrift  „Der  Freundling*  in  Groß'  Archiv  für 
Kriminalanthropologie  in  der  Bibliographie  erwähnt  und 
kurz  besprochen  wurde. 

Hier  in  dem  Jahrbuch,  welches  eine  Übersicht  über 
die  gesamte  homosexuelle  Produktion  bringt,  mußte  über 
die  Broschüren  referiert  werden;  in  Groß'  Archiv  dagegen* 
war  eine  Recension  nicht  am  Platz.  Der  Recensent  des 
Archivs  geht  davon  aus,  daß  Fleischmanns  Schrift  durch 
das  Komitee  veranlaßt  ist.  Dies  ist  unrichtig,  das  Komitee 
hat  mit  den  Broschüren  von  Fleischmann  nichts  zu  tun. 

Wenn  in  der  gleichen  Recension  gefragt  wird,  was 
denn  mit  derartigen  Schriften  beabsichtigt  werde,  so  ist 
darauf  zu  antworten: 


—    969    — 

Erstens:  daß  derartige  Schriften  nicht  wissenschaftlich 
sein  wollen  und  nicht  an  den  Kundigen  oder  gar  Sach- 
verständigen sich  wenden. 

Zweitens:  daß  das  Volk  noch  nicht  aufgeklärt  ist  und 
Aufklärung  über  die  Homosexualität  bedarf,  damit  man 
nicht,  wie  es  Manche  immer  noch  tun,  (auch  z.  B.  Ab- 
geordneter Himburg  in  der  Kommission  bei  Besprechung 
der  Petition  vgl.  Jahrbuch  I  S.  79.  „Das  Volk  würde 
die  Aufhebung  des  §  175  nicht  verstehen",)  sich  auf  das 
irrtümliche  Volksbewußtsein  des  Volkes  weiter  berufen 
können. 

Drittens :    daß    man    nicht   das  Volk    mit  gelehrten 
medizinischen,  juristischen,   oder  philosophischen  Werken 
aufklärt,  sondern  durch  populäre  Schriften. 
Fuchs,    Hanns:   Die   Homosexualität   im    Drama 

der    Gegenwart    und    der    Zukunft;    in     der 

Kritik    von   Wrede  XVII.    133.    N.    215    No.    1 

August  1902. 

Das  Altertum,  welches  die  Lieblingminne  höher  geschätzt 
als  die  Frauenliebe,  habe  sich  nicht  gescheut,  in  seiner  schönen 
Literatur  homosexuelle  Liebesempfindungen  darzustellen. 

In  dem  antiken  Theater  habe  man  Liebesszenen  zwischen 
Mann  und  Weib  nicht  gekannt.  Aischylos  habe  die  Minne  des 
Achilles  und  Patroklos,  Sophokles  in  der  „Niobe"  das  homo- 
sexuelle Liebesleben  ihrer  Söhne  dargestellt. 

Nur  wenige  Dramen  der  Neuzeit  verwendeten  die  homo- 
sexuellen Empfindungen  und  zwar  täten  sie  dies  nur  andeutungs- 
weise. Die  homosexuellen  Vorgänge  lägen  entweder  in  der 
Vorgeschichte  oder  seien  so  geartet,  daß  sie  auf  den  Konflikt, 
auf  den  Fortgang  der  Handlung  keinen  nennenswerten  Einfluß 
gewännen.  Im  Gegensatz  zu  den  Alten  habe  es  noch  kein 
Schriftsteller  unsrer  Tage  gewagt,  homosexuelle  Liebeshändel  in 
derselben  Weise  dramatisch  zu  behandeln,  wie  die  heterosexuellen 
Liebeskonflikte. 

Fuchs  erwähnt  dann  das  Homosexuelle  in  Heyse's  „Hadrian", 
und  Wilbrandt's  „Reise  nach  Riva".  Ferner  weist  er  auf  eine  Szene 
in  Hauptmanns  „Schluck  und  Jau"  im  vorletzten ,  Bilde  hin,  des 
weiteren  auf  Wedekinds  „Frühlingserwachen"  und  „Kammersänger", 
sowie  auf  Kupffers  „Narkissos",  auf  Levetzow's  Pantomime  „die 
beiden  Pierrots"  und  auf  Bahrs  Drama,  „Die  Mutter". 


—    970    — 

Das  einzige  Drama  der  Neuzeit,  weiches  das  homosexuelle 
Problem  direkt  und  unverblümt  behandele,  sei  Dilsners  Tragödie  : 
„Jasminblüte.« 

Das  ideale  homosexuelle  Drama,  daß  die  Konflikte  in  der 
eigenen  Seele  und  ihren  Einfluß  auf  das  Tun,  auf  die  Lebens- 
auffassung der  Homosexuellen  schildere,  sei  noch  nicht  ge- 
schrieben. 

Fuchs  führt  dann  Beispiele  von  Stoffen  und  Konflikten  an, 
die  sich  verwenden  ließen. 

Man  hätte  genug  Tragödien  vom  leidenden  Weibe.  Ein 
Jubellied  vom  triumphierenden  Manne  täte  Not,  daß  wir  an 
Manneskraft  und  Heldentum  erinnert  würden.  Walloth  müßte 
ein  solches  Lied  singen  können. 

Der  Realismus  werde  auch  den  Homosexuellen  auf  das  Theater 
bringen.  Und  wie  man  sich  zuerst  über  die  Schilderungen  der 
Realisten  entsetzt,  sich  aber  schnell  an  sie  gewöhnt,  so  werde 
man  auch  einmal,  wenn  eine  gute,  schöngeistige  Literatur  die 
Homosexuellen  der  großen  Menge  menschlich  nähergebracht  habe, 
die  dramatische  Behandlung  des  homosexuellen  Problems 
nicht  mehr  als  seltsam  empfinden. 

Ein  Musikdrama  homosexuellen  Inhalts  könne  treffliche 
Pionierdienste  tun.  Die  Musik  würde,  dank  ihrer  kupplerischen 
Eigenschaften  dem  Stoffe  das  Seltsame,  das  Außergewöhnliche 
nehmen  und  eher  auf  allgemeines  Verständnis  rechnen  können 
als  das  Wortdrama. 

Die  Sehnsucht  nach  dem  reinen  Menschentum  der  Griechen 
sei  in  uns  lebendiger  denn  je.  Aus  ihr  würden  Kunstwerke 
geboren  werden,  die  das  Recht  der  Sinnenfreuden,  das  Recht 
der  Persönlichkeit  verkündeten.  Er  (Fuchs)  hoffe  noch  zu  er- 
leben, daß  unsre  Tragödien  und  Komödien  auch  wieder  Händel 
der  Lieblingminne  darstellten,  und  daß  unsere  Literarhistoriker 
von  unserem  Publikum  berichteten,  was  Athenais  von  den  Griechen 
geschrieben:  „Und  die  Zuschauer  nahmen  diese  Lieder  günstig  auf." 

Bei  dem  Interesse,  welches  die  Gegenwart  der  homo- 
sexuellen Frage  entgegenbringt,  ist  die  Schaffung  und 
Veröffentlichung  homosexueller  Dramen,  in  den  nächsten 
Jahren  bestimmt  zu  erwarten,  die  Zeit  ihrer  Aufführungs- 
möglichkeit dürfte  aber  noch  lange  nicht  gekommen  sein. 

Gerling,  Reinhold:  Im  Ringe  der  Venus,  a.  Die 
verkehrte  Geschlechtsempfindung,  b.  Untiefen  im 
Geschlechtsleben.  [Preis  60  Pfg.  Oranienburg, 
Orania-Verlag.] 


—    971    — 

Die,  welche  Verfasser  dem  allgemeinen  Verständnis  näher 
bringen  wolle,  „Verirrte  und  Stiefkinder  der  Liebe"  dürfe  man 
sie  nennen,  nicht  „Ausgestoßene". 

Die  „verkehrte  Geschlechtsempfindung",  von  der  der  erste 
Teil  handele,  sei  keineswegs  krankhaft. 

Teil  I.  Zunächst  Erklärung  der  Worte  „Urningtum"  und 
„Uranismus",  „Urning":  Dem  Worte  Urning  sei  der  bis  auf  Plato 
zurückreichende  Ausdruck  „Uranier"  vorzuziehen. 

Die  große  Verbreitung  und  das  Ansehen  der  homosexuellen 
Liebe  in  Griechenland  und  Rom  seien  zum  Teil  auf  die  Stellung 
der  Frau  zurückzuführen,  die  man  als  die  Sklavin  des  Mannes 
betrachtet  und  nur  als  Werkzeug  zur  Kindererzeugung  gebraucht 
habe. 

Gewisse  religiöse  Gebräuche  und  Feste  hätten  zur  Ver- 
breitung der  Unmoralität  beigetragen.  Die  antiken  Religionen 
hätten  die  Geschlechtsorgane  —  speziell  die  männlichen  —  als 
heilig  betrachtet. 

Die  schwärmerische  Liebe,  der  an  Anbetung  grenzende 
Kultus,  den  die  Philosophen  und  Heroen  jenes  Zeitalters  ihren 
geliebten  Freunden,  Schülern  oder  Kriegsgefährten  gezollt,  sei 
frei  von  Sinnlichkeit  gewesen. 

Ganz  ungeheuerlich  aber  sei  es,  die  heroische  Liebe,  die 
stets  in  engumgrenzten  ethischenSchranken  geblieben,  als  „Knaben- 
schändung" darzustellen.  In  der  Antike  habe  man  von  der  mann- 
männlichen Liebe  die  allerhöchste  Auffassung  gehabt,  sie  habe 
als  ein  eminenter  Vorzug  gegen  die  Barbaren  des  Nordens,  als 
Mittel  zur  Förderung  der  höchsten  Kulturzwecke,  als  ein  herr- 
liches Vorrecht  der  Edelsten  gegolten.  Die  allgemeine  Liebe  sei 
aber  trotzdem  nicht  geschmälert  worden,  der  Fortpflanzung  habe 
man  im  Gegenteil  eine  Sorgfalt  zugewendet,  wie  nie  zuvor. 
Auch  die  heutige  mannmännliche  Liebe  sei  tatsächlich  kein 
Frevel  wider  Gott  und  die  Menschen,  wie  sie  manche  Moralisten 
und  Doktrinäre  darstellten.  Die  Natur  habe  die  Homosexuellen 
geschaffen,  um  eine  Überproduktion  an  Zeugungen  zu  verhüten. 

Die  Übermenschen,  die  großen  historischen  Uranier,  wie 
Socrates,  Michel-Angelo,  Shakespeare,  Friedrich  der  Große, 
schienen  ihre  Erschaffung  einem  Überschuß  an  Vitalität,  an 
geistiger  Kraft,  an  Zeugungskraft  beider  Eltern  zu  verdanken. 
Der  großgeartete  Uranier  sei  nicht  Seelenzwitter,  sondern  Voll- 
mann, besitze  aber  nebenbei  einen  Überreichtum  an  seelischen 
Schätzen,  die  zum  Teil  der  edlen  Weiblichkeit  entlehnt  seien. 
Er  sei  das  vollkommenste  Wesen,  welches  die  Natur  an  ihren 
Festtagen  hervorbrächte. 

Der  kleingeistige,  ganz  feminin-empfindende  Uranier,  das 
Weib  mit  den  äußeren  Geschlechtsabzeichen  des  Mannes  dagegen 


—    972    — 

verdanke  sein  Leben  augenscheinlich  einer  schwächeren  Individu- 
alität, einer  gewissen  geistigen  Inferiorität  seines  Erzeugers.  Bei 
ihm  bestehe  sozusagen  eine  gewisse  Unterentwickelung.  Zwischen 
diesen  beiden  äußersten  Endpolen  bewegten  sich  hundert- 
tausende von  höchst  verschieden  gearteten  urnischen  Psychen. 

Es  wäre  zu  wünschen,  daß  sich  die  höchsten  Intelligenzen 
unserer  Zeit  vereinigten,  den  heute  noch  so  ziemlich  auf  allen 
Gesellschaftsschichten  in  Bezug  auf  die  Homosexualität  lastenden 
Bann  zu  brechen. 

Die  auf  Irrtum  beruhende,  unwissende  Volksstimme  könne 
nicht  länger  maßgebend  sein. 

Der  gesunde,  gereifte  Mann  sei  klug  und  stark  genug,  sich 
vor  den  Verirrungen  der  Perversität,  vor  der  begehrlichen  Um- 
armung eines  anderen  Mannes  aufs  nachdrücklichste  selbst  zu 
schützen.  Er  bedürfe  vor  der  Schamlosigkeit  und  den  Kämpfen  der 
Wollust  nicht  mehr  Schutz  als  das  schwäche,  hilflose  Weib. 
Daher  sei  Beseitigung  des  §  175  notwendig. 

Teil  II.  Außer  den  geschlechtlichen  Wesen  Mann  — 
Weib  —  Mannweib,  Weibmann  —  Hermaphrodit  —  Homosexueller 
fänden  sich  zahlreiche  Zwischenstufen,  die  als  Übergangsformen 
zu  betrachten  seien. 

Einen  Normaltypus  gäbe  es  nicht.  Schon  beim  Heterosexuellen 
seien  die  verschiedenartigsten  Geschmacksrichtungen  bezüglich  des 
Alters  der  geliebten  Person  vorhanden. 

Verfasser  bespricht  sodann  die  verschiedenen  sexuellen 
Perversionen.  Dazu  zählt  er  auch  die  Päderastie  oder  den 
Pygismus.  Die  Päderasten  seien  nicht  übersättigte  Normale, 
sondern  Homosexuelle,  die  sich  nur  von  den  übrigen  Homosexuellen 
dadurch  unterschieden,  daß  sie  nicht  wie  diese  den  Geschlechts- 
apparat der  Geschlechtsreifen  suchten. 

Auch  heute  gehöre  Mut  dazu,  für  die  Perversen  eine  Lanze 
zu  brechen.  Er,  Gerling,  wolle  keineswegs,  daß  die  in  dem 
2.  Teile  der  Schrift  erörterten  Perversitäten  geduldet  oder  gar 
erlaubt  würden.  Aber  das  Gefängnis  sei  nicht  der  richtige 
Ort  für  die  „Ausgestoßenen".  Nicht  den  Straf richter,  sondern 
den  Arzt  und  den  Erzieher  gingen  sie  an. 

§  175  sei  völlig  unhaltbar,  seine  Revision  dringend  nötig; 
eine  Revision  der  Volksanschauung  müsse  aber  vorausgehen. 

Die  scharfe  Trennung  zwischen  Homosexualität  und 
sonstigen  sexuellen  Anomalien,  die  Gerling  hervorhebt, 
wonach  nur  letztere,  nicht  aber  die  erstere  als  krank- 
haft zu  betrachten  seien,  kann  ich  nur  billigen.  Dagegen 
ist   es    nicht   richtig,  die  verschiedensten  sexuellen  Ano- 


—    973    — 

malien,  abgesehen  von  der  Homosexualität,  als  sexuelle 
Zwischenstufen  zu  bezeichnen;  von  solchen  kann  man 
nur  reden,  wenn  Geschlechtscharaktere  vorhanden  sind, 
welche  den  äußeren  Geschlechtsteilen  nicht  entsprechen, 
also  hauptsächlich  bei  der  Homosexualität  in  ihren  ver- 
schiedenen Gradstufen  und  Arten.  Besonders  unzutref- 
fend erscheint  es,  Homosexuelle,  welche  den  coitus  per 
anum  ausführen,  oder  solche,  die  unreife  Knaben  lieben 
(welche  von  Beiden  Gerling  als  Päderasten  oder  Pygisten 
bezeichnet,  ist  nicht  völlig  klar)  als  eine  besondere 
Zwischenstufe  aufzufassen. 

Die  bloße  Art  der  geschlechtlichen  Befriedigung  oder  die 
Vorliebe  für  das  Unreife  allein  kann  niemals  für  die  Annahme 
einer  besonderen  Geschlechtsvarietät  entscheidend  sein. 

Das  Wort  „Uranier"  möchte  auch  ich  dem  Wort 
„Urning"  vorziehen.  Die  sprachliche  Bildung  des  ersteren 
erscheint  mir  besser  als  die  des  letzteren.  „Uranier" 
klingt  auch  weit  ästhetischer  und  ruft  den  Gedanken  an 
etwas  Kraftvolleres,  Gesunderes  hervor,  als  der  Ausdruck 
„Urning44,  dem  etwas  Süßliches,  Bizarres  anhaftet.  Ebenso 
wäre  das  noch  häßlichere  Femininum,  das  geschmacklose 
Wort  „Urningin"  (auch  Urninde  ist  nicht  schön)  durch 
Uranierin  oder  Uranide  zu  ersetzen  und  Urningtum  durch 
Uranismus. 

Die  meisten  Gedanken  Gerlings,   namentlich  in  dem 
ersten  Teil  wird  man  gutheißen  können,  doch  beeinträch- 
tigt der  etwas   zu   überschwengliche,    allzu    sentimentale 
Ton  die  Wirkung  bei  wissenschaftlich  gebildeten   Lesern, 
anderseits  läßt  sich  vielleicht  diese  Ausdrucksweise  durch 
den  Zweck  der  Schrift  als  einer  Volksschrift  rechtfertigen 
und  mag  bei  Manchen  sogar  als  Vorzug  gelten. 
Groß,    Hans:    Besprechung    von    Blochs     „Bei- 
träge    zur     Aetiologie    der   Psychopathia 
sexualis44  in  Groß'  Archiv  für  Kriminalanthropologie 
und  Kriminalstatistik.     Bd.  10  Heft  1  und  2. 


—    974    — 

Groß  lobt  Bloch,  daß  er  reiches  Material  beigebracht 
habe,  seine  Endresultate  billigt  er  aber  nicht.  Wenn  Bloch  sage, 
die  Aufhebung  des  §  1 75  würde  eine  Sanktionierung,  eine  Gleich- 
stellung des  homosexuellen  Verkehrs  mit  dem  heterosexuellen 
zur  Folge  haben,  so  sei  dagegen  zu  bemerken,  daß  die  Straf- 
losigkeit einer  Handlung  nicht  mit  der  Erklärung  ihrer  Moraliät 
gleichbedeutend  sei. 

Sodann  aber  sei  besonders  der  Schluß  von  Bloch,  die 
Homosexualität  sei  erworben  und  deshalb  die  Strafe  gerecht- 
fertigt, nicht  richtig. 

Für  den  Kriminalisten  komme  es  für  die  Frage  der  Straf- 
barkeit der  Homosexualität  nicht  darauf  an,  ob  sie  angeboren 
oder  erworben  sei,  höchstens  bei  der  Strafzumessung  könne 
darauf  Rücksicht  genommen  werden.  In  sexueller  Richtung  seien 
wohl  drei  Klassen  von  Menschen  zu  unterscheiden. 

1)  solche  schon  von  der  Geburt  heterosexuell  Veranlagte, 
die  nur  Geschmack  für  das  andere  Geschlecht  empfänden.  Solchen 
Personen  gegenüber  sei  wohl  zu  jeder  Zeit  ein  Verführungs- 
versuch zu  homosexuellen  Dingen  ebenso  vergeblich  als  unschäd- 
lich. Den  Heterosexuellen  erscheine  der  homosexuelle  Akt 
völlig  unbegreiflich  und  widersinnig. 

2)  Solche  von  Anfang  an  homosexuell  Veranlagte;  bei 
diesen  sei  jede  Besserung  oder  Abschreckung  ausgeschlossen. 
Diese  Leute  seien  eben  anders  organisiert  wie  die  Homosexuellen. 

3)  Solche,  die  auf  einer  Zwischenstufe  zwischen  den  reinen 
Hetero-  und  Homosexuellen  ständen.  Überall  in  der  Natur 
fänden  sich  Zwischenstufen,  deshalb  müsse  auch  hier  ein  Mittel- 
ding angenommen  werden.  Auch  hier  sei  die  unausgesprochene 
Anlage  angeboren  und  es  hänge  von  Zufälligkeiten  und  dem  Ent- 
wickelungsgang  des  Einzelnen  ab,  in  welcher  Richtung  er  später 
seinen  Geschlechtstrieb  befriedige. 

Eine  Möglichkeit  sei  die,  daß  er  in  der  Jugend  durch  einen 
Homosexuellen  oder  durch  Lektüre  verführt  werde.  Eine  andere 
Möglichkeit  sei  die,  daß  ein  solcher  unausgesprochen  Veranlagter 
früher  oder  später  vom  heterosexuellen  Verkehr  übersättigt  werde. 
Leute  der  letzteren  Sorte  hätten  wohl  nie  einen  heterosexuellen 
Trieb  von  elementarer  Gewalt  empfunden,  daher  sei  es  begreif- 
lich, daß  sie  durch  unglückliche  Heirat,  durch  Zusammensein  mit 
unsympathischen  Frauen  zu  einer  sogenannten  Übersättigung  ge- 
langten. Eigentliche  Übersättigung  sei  dies  aber  nicht,  ein  Über- 
sättigter greife  nicht  zum  Gegenteil.  Der  ärgste  Prasser  werde 
nie  ekelhafte  Dinge  essen.  Der  sogenannte  Übersättigte  sei  eben 
nicht  übersättigt,  er  empfinde  nur,  daß  von  den  zwei  Wegen, 
die   seiner   Natur   offen  gestanden,   der  heterosexuelle  und   der 


—     975     — 

homosexuelle,  der  erste  für  ihn  nicht  der  richtige  gewesen  und 
so  gelange  er  auf  den  zweiten  Weg. 

Der  echte  Heterosexuelle  werde  niemals  übersättigt,  er  könne 
die  Sünde  verlassen  oder  die  Sünde  ihn,  dann  sei  es  eben  aus ; 
wenn  ihm  der  heterosexuelle  Verkehr  keine  Freude  mehr  biete, 
so  sei  sein  sexueller  Verkehr  eben  zu  Ende  angelangt. 

Zu  diesen  unentschieden  Veranlagten  mögen  auch  die  sog. 
Bisexuellen  gehören. 

Die  Scheidung  der  Menschen  in  drei  Klassen  führe  zu  der 
Annahme,  daß  es  sich  bei  Allen  um  angeborene  Anlage  handele, 
auch  bei  denen  der  dritten,  deren  unentschiedene  Anlage  eben 
auch  angeboren  sei. 

Aber  für  den  Kriminalisten  sei  die  Frage  gleichgültig;  ob 
der  Betreffende  seine  Homosexualität  mit  auf  die  Welt  gebracht 
oder  erworben  habe,  könne  auch  nie  sicher  festgestellt  werden. 

Dagegen  sei  die  Frage,  ob  die  Homosexuellen  einzusperren 
seien  oder  nicht  von  höchster  Bedeutung. 

Es  sei  nicht  zu  zweifeln,  daß  die  Meinung  im  Zunehmen 
begriffen  sei,  man  habe  den  §  175  zu  streichen.  Bei  der  Ent- 
scheidung der  Frage,  sei  aber  nach  den  Gründen  zu  sehen,  die 
für  eine  Streichung  des  Paragraphen  zu  sprechen  schienen. 

1)  Vor  Allem  müsse  nach  dem  verletzten  Rechtsgut  gefragt 
werden.  Die  Moral  an  sich  sei  nicht  durch  das  Strafgesetz  zu 
schützen,  für  die  Vermehrung  der  Menschen  zu  sorgen,  sei  auch 
nicht  Sache  des  Strafrechts,  sie  werde  auch  durch  das  Ein- 
sperren einiger  Homosexueller  nicht  gefördert  und  schließlich 
sei  es  auch  fraglich,  ob  die  Vermehrung  der  Menschen  ins  End- 
lose wünschenswert  sei,  einmal  müsse  sie  doch  ihr  Ende  errei- 
chen. Wegen  der  Ekelhaftigkeit  der  Handlung  allein  könne  nicht 
gestraft  werden,  auch  im  heterosexuellen  Verkehr  würde  vieles 
Ekelhafte  nicht  bestraft. 

2)  Eine  allerdings  nur  technische,  aber  doch  schier  unüber- 
windliche Schwierigkeit  liege  in  der  Textirung  des  Gesetzes. 

Die  Ausdrücke  „widernatürliche  Unzucht«  des  §  175  R.  St.  B. 
und  „Unzucht  wider  die  Natur"  des  §  129b  Östr.  St.-G.-B.  seien 
so  unklar  als  möglich. 

Niemand  wisse,  wo  die  strafbare  Handlung  beginnen  solle. 
Entweder  müsse  der  Gesetzgeber  eine  aufs  Äußerste  ekelhafte 
und  widerliche  Beschreibung  des  Strafbaren  geben  oder  er 
verstoße  gegen  den  Grundsatz,  nulla  poena  sine  lege.  Mit  dem 
vagen  Begriff  „Unzucht",  wisse  kein  Gericht  etwas  anzufangen, 
jedes  verstehe  ihn  anders.  Der  östreichische  oberste  Gerichtshof 
verstehe  z.  B.  jetzt  etwas  ganz  anderes  unter  „Unzucht"  des 
§  129  als  er  vor  mehreren  Jahren  getan. 


—    976    — 

Bei  anderen  Delicten  handele  es  sich  bei  Begriffsbestimm- 
ungen nur  um  Schwierigkeiten,  hier  aber  um  die  Unmöglichkeit 
und  um  das  Versagen  der  Hilfe  durch  die  Wissenschaft.  Un- 
sicherheit in  der  Rechtsprechung,  und  sei  es  auch  nur  in  einer 
einzigen  Richtung,  sei  eben  das  Gefährlichste,  sie  erzeuge  Wider- 
spruch gegen  das  Gesetz,  Unzufriedenheit,  oft  auch  wirkliche 
Ungerechtigkeit. 

3)  Einer  der  wichtigsten  Momente  in  der  Strafrechtspolitik: 
Die  Bestrafung  eines  möglichst  hohen  Prozentsatzes  der  begangenen 
Delicte,  falle  bei  den  homosexuellen  Vergehen  weg. 

Die  von  den  Homosexuellen  in  Ostreich  und  Deutschland 
begangenen  Akte  im  Laufe  eines  Jahres  ließen  sich  wohl  nur  in 
Millionen  von  Delicten  ausdrücken.  Dagegen  sei  die  Zahl  der 
Verurteilungen  so  gering,  daß  sie  dem  Fluch  der  Lächerlichkeit 
verfalle,  und  so  ergäbe  sich  der  Schluß:  Wenn  man  nur  einen 
kaum  nenneswerten  Bruchteil  der  wirklich  begangenen  Delicte 
zur  Strafe  bringen  könne,  dann  sei  es  besser  die  Strafe  ganz 
fallen  zu  lassen,  zumal  es  sich  um  Vorgänge  handele,  deren  Straf- 
barkeit auch  aus  anderen  Gründen  zweifelhaft  sei. 

4)  Ein  Strafzweck  werde  nicht  erreicht.  Der  einzige 
consequente  Vorgang  wäre  die  lebenslängliche  Beibehaltung  der 
Homosexuellen  in  Einzelhaft;  aber  auch  der  entschlossenste  An- 
hänger des  §  175  wolle  die  Sache  nicht  energisch  anpacken. 

Durch  §  175  sei  noch  Niemand  abgeschreckt  worden,  der 
Paragraph  veranlasse  höchstens  zu  größerer  Vorsicht  und  Heimlich- 
keit. Die  Meinung,  ein  Homosexueller  werde  durch  eine  Anzahl 
von  Monaten  Gefängnis  in  einen  Heterosexuellen  umgewandelt, 
sei  kindisch.  Bei  Vergehen  gegen  §  175  sei  es  anders  als  bei 
anderen  Delikten;  betrügen,  stehlen,  rauben  u.  s.  w.  könne  man 
nur  selten  im  Geheimen,  dagegen  bei  einiger  Vorsicht  könne 
gleichgeschlechtlicher  Verkehr  unentdeckt  im  Geheimen  betrieben 
werden,  dann  pralle  jeder  Strafzweck  an  dem  Homosexuellen 
ab  und  wenn  einmal  ein  ganz  ungeschickter  erwischt  und  bestraft 
werde,  so  habe  man  lediglich  dem  Abscheu  vor  der  Schweinerei 
Ausdruck  gegeben.     Dies  sei  aber  kein  berechtigter  Strafzweck. 

5)  Eine  nicht  zu  übersehende  praktische  Folge  läge  in 
dem  Heiraten  der  Homosexuellen.  Ein  Teil  heirate,  um  sich  das 
Heterosexuelle  „anzugewöhnen".  Diese  Annahme  sei  regelmäßig 
falsch.  Unglückliche  Ehen  seien  die  Folgen;  geisteskranke,  schwer 
belastete  oder  perverse  Kinder  seien  aus  einer  solchen  Ehe  zu 
befürchten.  Wenn,  was  Fachmänner  wohl  mit  Recht  behaup- 
teten, ohne  den  §  1 75  viele  Homosexuelle  nicht  heiraten  würden, 
so  sei  ein  kleineres  Übel  in  dem  homosexuellen  Verkehr  der 
ledigen  Homosexuellen    zu    erblicken,   als    in  der  Ehe    des  Un- 


—    977    — 

glücklichen,  der  an  eine  ebenfalls  unglückliche  Frau  gebunden  sei 
und  vielleicht  kranke  Kinder  zeuge. 

6)  Vielleicht  verschwände  nach  Streichung  des  §  175  die 
—  nach  Groß  —  verpestende,  perverse  homosexuelle  Literatur 
ganz  oder  zum  Teil.  Die  Homosexuellen  fühlten  sich  veranlaßt, 
ihren  Kummer  über  den  verfolgenden  Staatsanwalt  in  einer 
erschreckenden  Menge  der  schädlichsten  und  ekelhaftesten 
Romane,  Gedichte  und  Schilderungen  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Diese  Dinge  seien  so  geschrieben,  daß  sie  häufig  auch  der 
Konfiskation  auswichen.  Der  größte  Teil  der  zur  Klasse  der 
Unentschiedenen  Gehörigen  werde  durch  diese  Literatur  zur 
Homosexualität  gedrängt. 

Es  sei  nicht  unmöglich,  daß  ein  großer  Teil  dieser  Dinge 
ungeschrieben  bleiben  werde,  wenn  man  die  Leute  in  ihrem 
widrigen  Getriebe  ungestört  lasse.  Wolle  man  auch  annehmen, 
daß  heute  zu  nachsichtig  von  den  Normalen  über  die  Strafbar- 
keit des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  zwischen  Erwachsenen 
gedacht  werde,  so  könne  man  doch  sagen,  dann,  wenn  man  den 
erwischten  Perversen  nicht  mehr  einstecke: 

„Treibt,  was  Ihr  wollt  —  aber  jeder  Skandal,  jede  Ver- 
führung, jede  nur  entfernt  pornographisch-perverse  Enunciation  in 
Druck  und  Bild  wird  mit  äußerster  Strenge,  bis  zur  äußersten 
gesetzlich  zulässigen  Grenze  und  mit  brutaler  Gewalt  verfolgt  — u 

Wenn  das  so  gehandhabt  würde,  so  habe  man  in  der 
Sache  mehr  Nutzen  als  heute  mit  den  ohnehin  nicht  haltbaren 
§§  175  und  129b. 

Die  Bemerkungen  von  Groß  zeichnen  sich  durch  die 
gewohnte  juristische  Schärfe  und  Eigenart  des  bekannten 
Verfassers  aus. 

Der  Entwicklungsgang  in  Groß'  Anschauungen  über 
die  homosexuelle  Frage  hat  sich  nunmehr  soweit  voll- 
zogen, daß  er  in  den  Hauptpunkten  mit  den  Ansichten 
Hirschfelds  und  den  meinigen  übereinstimmt.  Auch  nach 
Groß  stellt  die  Homosexualität  keine  Krankheit  dar  und 
entspringt  stets  einer  angeborenen  Anlage,  auch  nach  ihm 
erscheint  das  Strafgesetz  unhaltbar.  Die  Einteilung  der 
Menschen  in  die  von  Groß  aufgestellten  drei  Klassen 
halte  ich  für  durchaus  richtig,  nur  möchte  ich  noch  eine 
vierte  hinzufügen,  diejenige  der  sog.  psychischen  Herma- 
phroditen, die  nicht  mit  den  „Unbestimmten"  zusammen- 


—    978    — 

fallen,  bei  denen  vielmehr  das  ganze  Leben  hindurch  der 
Trieb  zum  Weib  und  zum  Mann  unverändert  fortbestehen 
kann,  allerdings  meist  mit  vorwiegendem  Trieb  zum  Mann. 

Groß'  Ausführungen  über  die  Gründe  für  die  Straf- 
losigkeit stimme  ich  völlig  bei  und  verweise  in  diese^ 
Beziehung  auf  meine  vorjährige  Widerlegung  von  Wadien- 
felds  Schrift, 

Mit  Groß  will  ich  nur  hervorheben,  daß,  wenn  man 
tatsächlich  die  Aufrechterhaltung  des  §  175  noch  ver- 
teidigen zu  können  glaubt,  man  trotzdem  nicht  daran 
denken  kann,  consequent  dem  Gesetze  den  begangenen 
homosexuellen  Handlungen  nachzuforschen  und  die  Ver- 
folgung der  Homosexuellen  planmäßig  in  Angriff  zu 
nehmen. 

Immer  werden  nur  einige  —  aber  immer  noch  zuviel 
—  Unglückliche  dem  Paragraphen  zum  Opfer  fallen  und 
gerade  durch  diesen  Paragraphen  wird  die  Meinung  er- 
weckt werden,  daß  man  die  Kleinen  hängt  und  die 
Großen  laufen  läßt. 

Würde  man  aber  eine  planmäßige  Verfolgung  der 
Homosexuellen  in  Angriff  nehmen,  so  würden  dadurch 
so  viele  Existenzen  ehrbarer  Männer  vernichtet,  so  viele 
angesehene  Namen  in  Mitleidenschaft  gezogen  und  so 
viele  Skandale  erzeugt,  daß  die  öffentliche  Meinung  selbst 
bald  die  Aufhebung  des  §  175  verlangen  würde. 

Welche  Skandale,  welche  allgemeine  Erregung  durch 
diese  Strafprozesse  dann  entstehen  würden,  kann  man 
ermessen,  wenn  man  der  Folgen  und  Wirkungen  gedenkt, 
die  die  Behauptung,  Krupp  sei  homosexuell  und  habe 
homosexuell  verkehrt,  hervorgerufen  hat. 

In  einem  Punkt  muß  ich  Groß  ganz  entschieden 
entgegentreten,  nämlich  in  seiner  Verurteilung  und  Ver- 
dammung der  homosexuellen  Literatur. 

Der  Ekel  und  Abscheu,  den  Groß  bei  der  Erörterung 
einer     wissenschaftlichen     Frage     zum    Ausdruck 


1 


—    979    — 

bringt,  fällt  unangenehm  auf.  Ich  habe  mich  schon  im 
vorjährigen  Jahrbuch  ausführlich  über  die  Berechtigung 
des  Dichters,  die  Homosexualität  als  künstlerischen  Stoff 
zu  benutzen,  ausgesprochen,  und  verweise  auf  meine  da- 
maligen Ausführungen. 

Daß  Unentschiedene  durch  Lektüre  homosexueller 
Literatur  zur  Homosexualität  gedrängt  würden,  glaube 
ich  nicht.  Unter  den  Homosexuellen  der  Mittel-  und 
Volksklassen  habe  ich  so  gut  wie  nie  solche  gefunden, 
welche  irgend  etwas  über  Homosexualität  gelesen  hatten. 

Und  sollten  aus  den  besseren  Ständen  einige  Unent- 
schiedene über  ihre  homosexuelle  Natur  aufgeklärt  wer- 
den, so  ist  das  kein  Unglück.  Groß  nimmt  ja  selbst  an, 
daß  auch  bei  diesen  Unentschiedenen  eine  homosexuelle 
Anlage  angeboren  ist. 

Besser  eine  Aufklärung  über  ihre  Natur  durch  Lek- 
türen, als  durch  sonstige  Erfahrungen,  vielleicht  erst  nach 
der  Heirat,  wenn  eine  Ehefrau  in  Mitleidenschaft  gezogen 
wird. 

Wer  homosexuellen  Einflüssen  in  dem  Maße  zugäng- 
lich ist,  daß  er  durch  Lektüre  „nach  links  gedrängt  wird", 
bei  dem  steht  die  heterosexuelle  Anlage  auf-  schwachen 
Füßen,  in  dem  verliert  die  Heterosexualität  einen  Anhänger, 
den  sie  mit  Freuden  los  werden  sollte,  denn  er  hat  be- 
wiesen, daß  seine  homosexuelle  Anlage  überwog,  und  daß 
er  reif  zum  Abfall  war;  auch  von  ihm,  wenn  er  auf 
heterosexueller  Bahn  verblieben  wäre,  würde  die  Zeugung 
homosexueller  oder  in  ihrem  Sexualtrieb  schwankender 
Kinder  zu  befürchten  gewesen  sein. 

Daß  manchen'  Hetorosexuellen  die  homosexuelle 
Literatur  unsympathisch  ist,  begreife  ich,  obgleich  eine 
objektive  Würdigung  literarischer  Produkte  sich  von 
persönlichen  Sympathien  oder  Antipathien  für  den  be- 
handelten Stoff  freihalten  muß. 

Jahrbuch  V.  62 


—    980    — 

Jedenfalls  darf  man  nicht  den  Teil  der  Literatur,  der 
homosexuelle  Gefühle  und  Probleme  zum  Gegenstand  hat, 
wegen  der  Wahl  dieses  Gegenstandes  an  sich  als  ekel« 
haft  bezeichnen.  Dadurch  trifft  man  einen  großen  Teil 
schöner  literarischer  Produkte  der  Weltliteratur  —  wie 
Groß  aus  der  Sammlung  Kupffers:  „  Freundesliebe  und 
Lieblingminne  in  der  Weltliteratur*  ersehen  mag  —  damit 
nennt  man  dann  auch  ekelhaft  insbesondere  einen  großen 
Teil  der  antiken  Literatur,  namentlich  auch  einige  Dia- 
loge Piatos,  hauptsächlich  Piatos  Symposion.  Ebenso  wie 
nur  die  wenigsten  Menschen  Gefühle  zwischen  Bruder  und 
Schwester,  wie  sie  die  Walküre  oder  D'Anunzios  herrliches 
Drama  „Lacittamorte*  schildern,  begreifen,  geschweige 
denn  empfinden  können ,  ebenso  wie  die  Meisten 
ein  Grauen  bei  dem  Gedanken  einer  sinnlichen  Liebe 
zwischen  Geschwistern  verspüren,  und  trotzdem  Niemand 
es  wagen  wird,  die  künstlerische  Darstellung  dieser  Gefühle 
als  ekelhaft  zu  bezeichnen,  ebenso  muß  eine  solche  Be- 
zeichnung für  die  homosexuelle  Literatur  als  völlig  un- 
berechtigt zurückgewiesen  werden. 

Noch  weniger  gerechtfertigt  ist  der  Versuch,  die 
homosexuelle  Literatur  zur  unzüchtigen  zu  stempeln. 

Ein  unzüchtiges  Produkt  liegt  nur  vor,  wenn  die 
Erregung  der  Sinnlichkeit,  der  Geilheit  bezweckt  wird 
und  diese  Absicht  in  entsprechenden  Darstellungen  sich 
dokumentiert.  Die  Art  und  Weise,  wie  ein  geschlechtliches 
Problem  behandelt  wird,  nicht  die  Wahl  des  Problems 
als  Darstellungsstoff  an  und  für  sich,  entscheidet,  ob  eine 
unzüchtige  Schrift  vorhanden  ist  oder  nicht.  In  der 
heterosexuellen  Literatur  finden  sich  weit  mehr  Erzeug- 
nisse, die  map  als  unzüchtige  bezeichnen  könnte;  Schil- 
derungen der  intimsten  geschlechtlichen  Vorgänge  in 
mehr  oder  weniger  verhüllter  Form  sind  nicht  selten  und 
doch  wird  man  auch  hier  nicht  einmal  ohne  Weiteres  an 
strafrechtliche  Verfolgung    denken    und    denkt  auch  mit 


—    981    — 

Recht  nicht  daran.  In  der  homosexuellen  Literatur  ist 
dagegen  bisher  meist  ein  Eingehen  auf  direkt  grobsinn- 
liche Situationen  vermieden  worden,  überall  hat  man  nur 
Gefühle  und  Empfindungen,  meist  in  sehr  idealistischem 
Gewand  gebracht.  Eeckhoud's  Escal-Vigor1)  undEssebac's 
homosexuelle  Romane2)  enthalten  nicht  eine  einzige  die 
grobsinnliche  Seite  der  Homosexualität  betonende  Stelle. 
Ueber  die  Berührung  durch  den  Kuß  wird  in  keinem  der 
Romane  hinausgegangen,  während  man  z.  B.  in  Walloths 
Sonderling2)  nicht  einmal  dieser  Berührung  begegnet. 

Auch  hier  hat  zu  gelten :  Gleichheit  für  Hetero-  und 
Homosexualität.  VerfolgungundBestrafungobscöner,porno- 
graphischer  Li  teratur,Beschfltramgoderwenigstens  Duldung 
aller  Produkte,  die  diesen  Charakter  nicht  aufweisen. 

Hirschfeld,  Magnus  Dr.:  Sappho  und  Sokrates:  Wie 
erklärt  sich  die  Liebe  der  Männer  und  Frauen  zu 
Personen  des  eigenen  Geschlechts?  2.  Auflage. 
(Leipzig,  Spohr  1902),  (36  S.  Pr.  1  Mark). 

Die  erste  Auflage  der  Broschüre  war  im  Jahre  1896  unter 
dem  Pseudonym  Th.  Ramien  erschienen,  jetzt  tritt  Verfasser  mit 
seinem  Namen  auf.  Und  in  der  That  würde  jeder  Grund  zur 
Beibehaltung  der  Anonymität  fehlen,  nachdem  Hirschfeld  als 
Forscher  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität  und  als  Heraus- 
geber der  Jahrbücher  sich  einen  anerkannten  Namen  erworben  hat. 

In  seiner  Broschüre  führt  Hirschfeld  die  Entstehung  der 
Homosexualität  auf  die  bisexuelle  Fötalanlage  zurück,  auf  die 
Divergenz  zwischen  der  Entwicklung  der  Sexualorgane  und  der 
entsprechenden  Gehirnzentren.  Einer  der  Ersten  hat  Hirschfeld 
diese  Theorie  aufgestellt  mit  Kafft-Ebing  und  Ellis,  die  Beide 
auch  erst  in  den  Jahren  1895  und  1896  mit  ähnlichen  Auf- 
fassungen aufgetreten  sind.  Als  Erster  unter  den  Ärzten  hat 
Hirschfeld  in  dieser  Schrift  die  Homosexualität  als  eine  zwar  anor- 
male, aber  keineswegs  stets  krankhafte  Erscheinung  bezeichnet. 

Hirschfelds  Broschüre  enthält  eine  klare,  richtige  und 

trotz    des   geringen  Umfangs  der  Schrift  in  den  Haupt- 

l)  Besprochen  von  mir  im  Jahrbuch  II. 
*)  siehe  weiter  unten  in  der  Bibliographie  der  Belletristik. 

62* 


—    982    — 

punkten  erschöpfende  Darstellung  des  Wesens  der  Homo- 
sexualität und  der  sich  hieraus  für  die  allgemeine  An- 
schauung und  den  Gesetzgeber  ergebenden  Konsequenzen. 

Das  objektive,  vorurteilslos  und  mit  tiefer  Sach- 
kunde geschriebene  Werkchen  muß  jedem  unbefangenen 
Leser  die  Überzeugung  aufdrängen,  daß  hier  nicht  ein 
Theoretiker  auf  Grund  abstrakter  Deduktionen,  sondern 
ein  mitten  im  Leben  stehender  Arzt  dank  eigener  Be- 
obachtung der  Wirklichkeit  zu  seinen  Schlüssen  gelangt 
ist  und  daß  hier  tatsächlich  das  wahre  Wesen  einer  heute 
immer  noch  sogar  von  manchem  „Gelehrten"  verkannten 
Erscheinung  enthüllt  wird. 
La  Cara:1]  Un    ermafrodita   psicosessuale    Rivista   men- 

sile  di  psichiatria  forense,  etc.  1902.  No.  9. 
N.  N.,  sehr  gebildet,  vortrefflicher  Charakter,  höchst  intelli- 
gent, erblich  schwer  belastet,  lymphatisch,  ward  mit  7  Jahren 
von  einer  Dienstmagd  zum  Coitus  gezwungen,  was  ihm  gefiel. 
Mit  8  Jahren  verliebte  er  sich  in  seinen  Lehrer  und  hatte  Lie- 
besverhältnisse mit  verschiedenen  Mitschülern ;  Begreifen  der 
Genitalien  und  passive  Päderastie.  Onanierte  auch.  Versuchte 
normalen  Coitus,  kehrte  aber  vorher  wieder  zeitweise  zur  Männer- 
liebe zurück,  wobei  er  den  passiven  Päderasten  abgab,  selten  den 
aktiven.  Heiratete  mit  15  Jahren,  hatte  mehrere  Söhne.  Einer 
davon  war  hysterisch.  N.  N.  starb  mit  40  Jahren.  Zeigte 
hysterische  Stigmata.  Seine  Liebe  war  nur  auf  Knaben,  nie  auf 
Erwachsene  gerichtet.  —  Verfasser  glaubt,  daß  keine  Theorie 
seinen  obigen  Fall  erkläre.  Er  hält  ihn  für  einen  psychischen 
Hermaphroditen,  während  er  zweifelsohne  ein  reiner  Homo- 
sexueller ab  origine  war,  der  nur  mit  Widerstreben  den  nor- 
malen Coitus  ausübte.  Er  ist  ein  Hysteriker  und  der  Eingang 
zum  anus  bildete  eine  erotogene  Zone  und  Verf.  glaubt  deshalb, 
daß  hier  ein  Fall  von  Aberration  der  Nerven  zum  Anus  (Mante- 
gazza)  stattfindet,  der  dann  das  organische  Substrat  der  physi- 
schen Unordnung  und  der  Homosexualität  geworden  wäre  f  —  Ver- 
fasser glaubt  endlich,  daß  hier  der  abusus  im  heterosexuellen 
Coitus  (der  kaum  existiert  hatte)  und  die  Abstinenz  zurln- 
version  geführt  hatten  und  deshalb  wäre  auch  die  hypnotische 
Suggestion  unnütz  gewesen! 

Man  sieht,  wie  unklar  Verf.  über  die  Sache  denkt. 

')  Diese   Besprechung    hat   Medizinalrat    Dr.    P.   Näcke   ge- 
liefert, wofür  ich  ihm  hiermit  meinen  Dank  ausspreche. 


—    983    — 

Lombroso:      Die     Ursachen     und      Bekämpfung 
des  Verbrechens  (übersetzt  von  Dr.  Kurella  und 
Dr.  Jentsch)  Berlin,   Hugo  Bermühler  Verlag,   1902. 
In    dem    dritten   Teil:     „ Zusammenfassung   und 
Anwendung  auf  den  Strafvollzug".     Drittes  Kapitel: 
„Die  Strafen   im  Sinne  der  Kriminal-Anthroprologie 
nach  Geschlecht,  Alter  und  nach  andern  Verhältnissen 
des  Verbrechens    und    der  Verbrecher,"  findet  sich 
folgende  auf  die  Homosexuellen   bezügliche  Stelle. 
Homosexuelle:    Die  Homosexuellen,  deren  Verbrechen 
bei  Gelegenheit  des  Aufenthalts  in  Kasernen,  Kollegien,  unter  er- 
zwungenem Cölibat  auftrat,  welche  Neigung  dazu  nicht  seit  der 
Kindheit  hatten,  werden  hoffentlich  nicht  mehr  rückfällig  werden, 
wenn  man   die  Ursache  eliminiert;  es  wird  genügen,   ihnen   be- 
dingungsweise  eine   Strafe   aufzuerlegen,    denn    man   kann   sie 
nicht  den  geborenen  Homosexuellen  gleichstellen,   welche  ihren 
schlimmen  Hang  schon  seit  der  Kindheit  betätigen,   ohne  durch 
besondere  Ursachen  dazu  bestimmt  worden  zu  sein  und  welche 
man  von  Jugend  auf  isoliert  halten  muß;  sind  sie  doch  eine  an- 
steckende  Pest   und   schuld   an    sehr    vielen    Gelegenheitsver- 
brechen. 

Hier  zum  ersten  Male  —  im  Gegensatz  zu  den  in 
Deutschland  herrschenden  Anschauungen  —  wird  eine 
mildere  Bestrafung  der  Heterosexuellen,  welche  gleich- 
geschlechtliche Handlungen  begehen,  dagegen  eine 
dauernde  Einsperrung  der  Homosexuellen  verlangt. 

Dieser  Standpunkt  ist  nur  die  logische  Folgerung 
aus  dem  von  Lombroso  vertretenen  Sicherungszweck  der 
Strafen,  vorausgesetzt,  daß  die  Homosexuellen  wirklich 
eine  derart  drohende  Gefahr  für  die  Gesellschaft  darstellen, 
daß  ihre  Eliminirung  erforderlich  ist. 

Trotzdem  der  Führer  der  neuen  kriminalistischen 
Richtung  in  Deutschland,  Liszt,  den  Schutz  der  Gesellschaft 
als  Zweck  der  Strafe  betrachtet,  will  er  doch  nicht  die  Be- 
strafung der  Homosexuellen.  Ebenso  spricht  sich  auch 
Groß  für  Straflosigkeit  aus. 

Die  Homosexuellen  bedeuten  eben  keine  ihre  Elimi- 
nirung rechtfertigende  Gefahr   für    die  Gesellschaft;    ao- 


—    984     — 

scheinend  von  instinktiven,  alt  eingewurzelten  Vorurteilen 
beeinflußt,  die  sich  in  seinem  Ausdruck  „ansteckende 
Pest*  kundgeben,  versucht  Lombroso  gar  nicht  den  Be- 
weis der  Gefährlichkeit  der  Homosexualität  zu  erbringen. 
Er  behauptet  nur,  sie  sei  schuld  an  sehr  vielen  Gelegen- 
heitsverbrechen, womit  er  ein  schwer  zu  lösendes  Rätsel 
aufgibt.  Denn  welche  Verbrechen  sind  Folgen  der 
Homosexualität !  Oder  sollte  Lombroso  damit  die  Erpres- 
sung meinen  und  um  dieser  zu  steuern,  das  Radikalmittel 
der  Beseitigung  der  Homosexuellen  durch  Einsperrung 
anpreisen,  also  um  wirkliche  Verbrechen  zu  verhüten, 
das  Opfer  des  Verbrechers  treffen  wollen?  Dann  wäre 
die  Argumentation  ähnlich  der  desjenigen,  welcher,  um  den 
Diebstahl  zu  verhüten,  die  Beseitigung  des  Eigentums  und 
die  Anerkennung  des  Anarchismus  fordern  würde. 

Moll,  Albert:  Sexuelle  Zwischenstufen  in  der 
Zukunft  von  Maximilian  Harden  N.  50  N.  v.  13. 
September  1902. 

Die  Beurteilung  vieler  die  Homosexualität  betreffenden 
Fragen  sei  noch  streitig.  So  die  Frage,  ob  sie  erworben  oder 
angeboren  sei.  Die  Erörterungen  hierüber  seien  nicht  frei  von 
Mißverständnissen,  zum  Teil  durch  ungenaue  Begriffsbestimmungen 
hervorgerufen,  so  z.  B.  hinsichtlich  des  Wortes  „angeboren." 
Angeboren  könne  nur  die  Anlage  zum  Geschlechtstrieb  sein. 

Es  bestehe  eine  Strömung,  welche  im  Gegensatz  zu  Krafft- 
Ebing  die  angeborene  Anlage  leugne  und  für  alle  Fälle  eine 
erworbene  Gleichgeschlechtlichkeit  annähme.  Das  hänge  offen- 
bar mit  den  Bestrebungen  der  modernen  Psychologie  zusammen, 
die  sich  von  den  frühern  Anschauungen  der  angeborenen  Vor- 
stellungen möglichst  frei  zu  machen  strebe.  Ihr  sei  es  sympa- 
thischer, möglichst  viel  als  erworben  aufzufassen.  Unnötig  sei 
es  heute  über  die  Frage  der  angeborenen  oder  erworbenen 
Homosexualität  zu  streiten,  wenn  nicht  vorher  feststehe,  was 
beim  normalen  Geschlechtstrieb  angeboren  sei.  Wer  das  Ein- 
geborensein des  homosexuellen  Triebes  leugne,  müsse  das 
Gleiche  bezüglich  des  heterosexuellen  tun  und  annehmen,  daß 
letzterer  ein  Produkt  der  Erziehung  und  Nachahmung  sei.  Die 
Unannehmbarkeit  dieser  Auffassung  glaube  er  aber  in  seiner 
libido   sexualis   nachgewiesen   zu   haben;   dieselbe   ergäbe   sich 


—    985    — 

insbesondere  aus  den  Beobachtungen  in  der  Tierwelt.  Sei  aber 
normaliter  der  heterosexuelle  Trieb  eingeboren,  so  stehe  vom 
Standpunkt  der  Psychologie  aus  nichts  im  Wege,  auch  die  Mög- 
lichkeit anzunehmen,  daß  bei  Einzelnen  der  homosexuelle  Trieb 
eingeboren  sei. 

Die  Annahme  von  dem  Erworbensein  des  homosexuellen 
Triebes  werde,  abgesehen  von  dem  Einfluß  einer  modernen  all- 
gemeinen, aber  nicht  notwendiger  Weise  richtigen  Strömung  der 
Psychologie  noch  durch  allerlei  soziale,  legislatorische  und  foren- 
sische Gründe  gefördert,  die  diese  Ansicht  Vielen  sympathischer 
erscheinen  ließen. 

Die  Bestrafung  aus  §  175  suche  man  oft  aus  dem  Er- 
worbensein der  Homosexualität  mitzubegründen.  Damit  wolle 
man  die  Homosexualität  als  eine  selbstverschuldete  charakterie- 
sieren  und  die  Strafbarkeit  annehmbarer  machen.  Dieser  Stand- 
punkt sei  in  mehrfacher  Hinsicht  verkehrt.  Erwerbung  der  Ho- 
mosexualität schließe  nicht  stets  Verschuldung  ein,  z.  B.  wäre 
dies  nicht  der  Fall,  wenn  Knaben  durch .  Abhaltung  vom  weib- 
lichen Verkehr  —  wie  dies  Manche  glaubten  —  homosexuell 
würden. 

Aber  überhaupt  würde  die  Annahme,  daß  die  Homosexu- 
alität selbstverschuldet  sei,  für  die  Strafbarkeit  belanglos  bleiben. 
Sonst  könnte  man  ebenso  Leute  mit  erworbenem  Blödsinn,  die 
kriminelle  Handlungen  begingen,  bestrafen. 

§  1 75,  der  ganz  willkürlich  bestimmte  sexuelle  Handlungen 
unter  Strafe  stelle,  sei  unberechtigt. 

Moll  bespricht  hierauf  die  Bestrebungen  des  Komitees 
und  das  Jahrbuch.  Er  berichtet  insbesondere  über  den  Aufsatz 
von  Neugebauer  im  4.  Jahrbuch  sowie  über  Karsch's  Arbeiten. 
Des  weiteren  hebt  er  hervor,  daß  die  Ausführungen  über  das 
geschlechtliche  Empfinden  historischer  oder  anderer  hervor- 
ragender Persönlichkeiten  im  Jahrbuch  ganz  objektiv  und  kritisch 
gehalten  seien.  Dies  sei  um  so  notwendiger,  als  einzelne  Homo- 
sexuelle die  Homosexualität  als  einen  notwendigen  Wesenszug 
eines  großen  Mannes  zu  betrachten  schienen  und  in  Übertrei- 
bungen hinsichtlich  der  Anzahl  der  angeblichen  homosexuellen 
bedeutenden  Männer  verfielen. 

In  dem  Aufsatz  über  die  Stellung  der  Bibel  zur  Homo- 
sexualität wirke  die  Feststellung  überzeugend,  daß  der  homo- 
sexuelle Verkehr  in  der  Bibel  nicht  in  höherem  Grade  geächtet 
worden  sei  als  viele  andere  heute  straflos  gelassenen  Handlungen. 

Moll  erwähnt  dann  mit  Genugtuung,  daß  in  den  Jahrbüchern 
die  sachliche  Art,  womit  Einwände  der  Gegner  bekämpft  wür- 
den, besonders  angenehm  berühre.  Kein  Schimpfen  sei  da  zu 
finden,  wie  manchmal  selbst  in  den   sogenannten   Wissenschaft- 


—    986    — 

liehen  Zeitschriften.  Ob  die  Gegner  durch  Entrüstungskomödie, 
aufrichtige  Meinungsäußerung  oder  mangelhafte  Kenntniß  der 
Frage  zum  Widerspruch  reizten:  stets,  selbst  wenn  ein  scharfer 
Ton  angeschlagen  werde,  bleibe  die  Entgegnung  sachlich.  Jedem, 
der  die  Bewegung  zur  Aufhebung  des  §  175  fördern  wolle, 
könne*  nur  geraten  werden,  auf  dem  beschrittenen  Wege  fortzu- 
fahren. Den  Homosexuellen  werde  manchmal  auch  von  Wohl- 
meinenden der  Vorwurf  gemacht,  sie  agitierten  zu  viel.  Was 
aber  sollten  sie  tun?  Wenn  sie  nicht  agitierten,  erreichten  sie 
ihr  Ziel  niemals.  Sie  hätten  dann  höchstens  noch  einen 
andern  Weg:  sie  müßten  suchen,  nach  Art  eines  rück- 
sichtslosen Feldherrn  oder  Politikers  über  einen  Berg 
von  Leichen  ans  Ziel  zu  kommen.  Sie  brauchten  nur 
die  Namen  von  Männern  öffentlich  zu  nennen,  deren 
Homosexualität  notorisch  und  jeden  Augenblick  zu 
beweisen  sei.  Sicher  würde  dann  mancher,  der  die  Homo- 
sexualität aus  tiefster  Seele  verabscheue,  der  aber  Homosexuellen 
ohne  deren  geschlechtliche  Neigung  zu  kennen,  nahe  stehe,  über 
die  Enthüllung  erstaunt  sein.  Mancher  hohe  Beamte,  mancher 
einflußreiche  Politiker  würde  sich  schließlich  verwundert  sagen: 
„Ich  glaubte  stets,  die  Homosexuellen  seien  das  elendeste  Pack 
der  Welt,  nun  höre  ich  aber,  daß  mein  Neffe,  mein  Sohn,  mein 
Freund  gleichgeschlechtlich  verkehren.  Und  er  ist  doch  ein 
so  braver,  ausgezeichneter  Mensch.  Wenn  er  auch  so  ist,  dann 
muß  man  doch  anders  über  die  Sache  denken."  Dieser  Stand- 
punkt wäre  rücksichtslos  und  zahllose  Existenzen  würden  dabei 
sozial  vernichtet  werden.  Einflußreiche  Personen  aber  würden 
dadurch  unmittelbar  für  die  Sache  interessiert  und  ein  schneller 
Erfolg  wäre  mehr  als  wahrscheinlich.  Trotzdem  wäre  solches 
Vorgehen  entschieden  zu  tadeln.  Er  erinnere  an  diesen  Weg 
nur,  weil  man  den  Homosexuellen,  die  ihn  nicht  beschritten, 
nicht  verwehren  solle,  sachlich  zu  agitieren. 

Ihre  Agitation  habe  ja  auch  schon  zu  wesentlichen  Er- 
folgen geführt.  Selbst  Männer,  für  die  früher  die  ganze  Frage 
ein  noli  me  tangere  gewesen,  hätten  für  nötig  befunden,  sich 
Material  zu  verschaffen  und  sich  über  die  Homosexualität  zu  orien- 
tieren. Auch  aus  den  Gegenschriften  gehe  hervor,  daß  jetzt 
dort  wenigstens  darüber  gestritten  werde,  wie  es  mit  der  Not- 
wendigkeit des  §  175  und  mit  der  sozialen  Stellung  der  Homo- 
sexualität beschaffen  sei. 

Mit  Recht  könne  allerdings  gegen  manche  Schriften,  die 
für  die  Aufhebung  des  §  175  einträten,  der  Vorwurf  erhoben 
werden,  daß  sie  nicht  wissenschaftlich  seien  und  wissenschaft- 
lich nicht  fundierte  Behauptungen  aufstellten.  Aber  auch  Man- 
ches, was  Vertreter  der  Wissenschaft  zu  Gunsten  der  Aufrecht- 


—    987    — 

erhaltung  des  §  175,  zu  Gunsten  der  Annahme,  daß  die  Homo- 
sexualität erworben  und  selbstverschuldet  sei,  anführte«,  stehe 
weit  unter  dem  Durchschnitt  feuilletonistischer  Leistungen.  Eine 
der  wenigen  Gegenschriften,  der  er,  Moll,  wissenschaftlichen 
Charakter  zuerkenne,  wenn  er  auch  ihre  Behauptungen  und  die 
Schlußfolgerungen  zum  Teil  für  falsch  halte,  sei  die  von 
Wachenfeld. 

Der  Versuch  von  Wachenfeld,  die  von  ihm  (Moll)  zu 
Gunsten  der  Straffreiheit  angeführten  Gründe  zu  widerlegen,  sei 
ihm  nicht  gelungen.  Immerhin  sei  bemerkenswert,  daß  auch 
Wachenfeld  nicht  bedingungslos  für  Bestrafung  des  homosexuellen 
Verkehrs  einträte.  Er  wolle  aber  §  51  zu  Gunsten  der  Straf- 
freiheit der  Homosexuellen  benutzen. 

Dies  könne  aber  nicht  gebilligt  werden,  denn  ein  Aus- 
schluß der  freien  Willensbestimmung,  wie  ihn  §  51  erfordere, 
sei  bei  der  Homosexualität  nur  in  den  seltensten  Fällen  gegeben. 

Moll  warnt  dann,  daß  gewisse  Homosexuelle  nicht  über- 
triebene Ansprüche  erheben  sollten. 

Man  könne  die  Aufhebung  des  §  175  verlangen,  ohne 
deshalb  die  Homosexualität  als  einen  begehrenswerten  Zustand 
zu  bezeichnen.  Sie  sei  ein  pathologischer  und  krankhafter  Zu- 
stand, wenn  auch  das  Individuum  nicht  krank  im  gewöhnlichen 
Sinne  des  Wortes  sei.  Damit  stehe  auch  nicht  im  Widerspruch, 
daß  die  Homosexualität  ihren  Zweck  haben  könne,  da  sie 
die  Fortpflanzung  degenerierter  Personen  verhindere.  Weil 
die  Homosexualität  an  sich  eine  krankhafte  Erscheinung  sei, 
müsse  man  auch  das  Individuum  als  berechtigt  zur  Herstellung 
normaler  Gefühle  ansehen.  Wenn  einzelne  Homosexuelle  die 
Umwandlung  der  Homosexualität  grundsätzlich  bekämpften,  so 
sollten  diese  Herrn  einen  einseitigen  Standpunkt,  den  sie  oft 
ihren  Gegnern  vorwürfen,  doch  nicht  selbst  einnehmen.  Auch 
der  Umstand,  daß  bei  Vielen  die  Homosexualität  nicht  geändert 
werden  könne,  spräche  nicht  dagegen,  daß  man  im  konkreten 
Falle  den  Versuch  mache.  Wenn  Homosexuelle  diesen 
oder  jenen  Fall  anführten,  wo  die  Umwandlung  nicht  geglückt 
sei,  so  bewiesen  sie  damit  nichts  gegen  die  Möglichkeit  in  andern 
Fällen.  Es  gäbe  viele  Fälle,  wo  die  Umwandlung  der  Homo- 
sexualität in  Heterosexualität  gelungen  sei.  Wenn  sonst  er- 
fahrene Homosexuelle  davon  nichts  wüßten,  so  sollten  sie  nicht 
vergessen,  daß  sie  von  der  Existenz  vieler  Homosexueller  keine 
Ahnung  hätten,  daß  es  eine  große  Zahl  Homosexueller  gäbe, 
die  nur  dem  Arzt  ihre  wahre  geschlechtliche   Natur  offenbarten. 

Es  sei  erfreulich,  daß  auch  in  diesen  Fragen  das  Jahrbuch 
verschiedene  Meinungen  aussprechen  lasse.  Nur  so  könne  das 
dunkle  Gebiet  aufgehellt  werden. 


—    988    — 

Jedenfalls  sei  das  Jahrbuch  zu  einem  Werke  geworden, 
das  Jeder,  der  sich  mit  den  Fragen  der  Homosexualität  be- 
schäftige, nicht  nur  kennen,  sondern  auch  eingehend  studieren  müsse. 

Ein  recht  günstiges  Zeichen,  daß  in  der  bekannten 
Zeitschrift  von  Harden  ein  aufklärender  Aufsatz  über  die 
Homosexualität  erschienen  ist  und  dies  aus  der  Feder 
des  Sachverständigen  und  Erforschers  der  Homosexualität 
XCLT*  e^oxijv.  Auch  in  diesem  Aufsatz  sind  wieder  Molls 
ausgezeichnete  Eigenschaften  zu  rühmen,  seine  Klarheit, 
Schärfe,  Sachkunde  und  Objektivität.  Besonders  wichtig 
erscheint  mir,  die  auch  von  mir  (Jahrbuch  II  S. 
363)  vertretene  und  von  Wachenfeld  (Homosexualität 
und  Strafgesetz  S.  68)  bespöttelte  Ansicht,  daß  Homo- 
und  Heterosexualität  bezüglich  ihrer  Entstehungsart  gleich 
zu  beurteilen  seien. 

Sehr  erfreulich  ist  auch  die  Anerkennung,  welche 
Moll  dem  im  Jahrbuch  herrschenden  wissenschaftlichen, 
ruhigen  Ton  der  Objektivität  in  der  Forschung  über 
homosexuelle  Berühmtheiten  zollt.  Namentlich  mögen  aber 
die  verschiedenen  feindseligen  Stimmen,  die  schon  gegen  die 
Berechtigung  des  Jahrbuchs  und  der  Bestrebungen  des 
Komitees  sich  erhoben  haben,  auf  Molls  treffliche  Aus- 
führungen in  diesem  Punkt  hingewiesen  werden. 

Was  den  von  Moll  berührten  »Weg  über  Leichen 
hinweg"  zwecks  Aufhebung  des  §  175  anbelangt,,  so  darf 
derselbe  nicht  betreten  werden,  denn  mit  unlauteren 
Mitteln  sollen  und  wollen  die  Homosexuellen  nicht  ihr 
Ziel  erreichen. 

Allerdings  wenn  der  Paragraph  bei  der  Revision  des 
Strafgesetzbuchs  trotz  allem  wieder  in  das  Gesetz  aufge- 
nommen werden  sollte,  würde  es  sich  fragen,  ob  es  nicht 
Pflicht  der  Homosexuellen  wäre,  als  ultimum  refugium 
ihrer  Kampfesweise  den  Weg  „über  Leichen"  zu  be- 
schreiten, namentlich  wenn  eine  Anzahl  Homosexueller 
bereit  wäre,  selbst  das  Opfer  ihrer  Existenz  im  allge- 
meinen Interesse  zu  bringen. 


—    989    — 

Moll,  Albert,  Dr.:  Wann  dürfen  Homosexuelle 
heirathen?  in  der  Deutschen  Medizinischen 
Presse  No.  6.    21.  März  1902. 

Zwei  Punkte  seien  bei  der  Frage  der  Ehe  Homosexueller 
zu  berücksichtigen;  erstens  das  Verhältnis  von  Mann  und  Frau, 
zweitens  die  Nachkommenschaft. 

1)  Verhältnis  von  Mann  und  Frau.  Eine  Vorbedingung  für 
die  Ehe  im  Allgemeinen  sei  die  Potenz.  Manche  ausgesprochen 
homosexuelle  Männer  seien  potent.  Erection  erfolge  in 
Folge  Frictionen  oder  Vorstellungen  sympathischer  Männer 
u.  dgl.,  ferner  bei  psychosexueller  Hermaphrodisie.  Viele  Fälle 
gäbe  es  aber  auch,  wo  vollkommene  Impotenz  bestehe,  nament- 
lich da  wo  horror  feminae  vorhanden. 

In  letzteren  Fällen  sei  die  Ehe  ohne  weiters  ausgeschlossen, 
während  bei  Fällen  möglicher  Potenz,  deren  Stärke  zunächst  zu 
berücksichtigen  sei. 

Bei  Manchen  erfordere  der  Coitus  eine  enorme  Anstrengung 
und  führe  wohl  auch  eine  starke  Abspannung  des  ganzen  Nerven- 
systems herbei  und  könne  daher  aus  diesen  oder  ähnlichen 
Gründen  nur  selten  ausgeführt  werden.  Hier  bestände  keine  zur 
Ehe  hinreichende  Potenz. 

Für  das  Weib  liege  die  Sache  etwas  anders.  Zur  Ausübung 
der  Coitus  sei  bei  ihr  der  heterosexuelle  Trieb  nicht  erforderlich, 
auch  ohne  Wollustgefühl  des  Weibes  ausgeführter  Coitus  könne 
zur  Befruchtung  führen.  Wichtig  seien  die  Fälle  allerdings,  wo 
horror  viri  vorliege  und  die  Frau  deshalb  den  Coitus  zurückweise. 

Bei  der  Heirat  sei  sodann  aber  besonders  das  psychische 
Verhältnis  beider  Teile  zu  einander  zu  beachten.  Man  würde 
beim  Homosexuellen  die  Möglichkeit  zur  Ausübung  des  Coitus 
nicht  für  genügend  halten  dürfen,  vielmehr  auch  eine  seelische 
Neigung  zur  andern  Person  verlangen  müssen.  Dieser  Punkt 
sei  vielleicht  noch  wichtiger  als  die  Potenz,  weil  ein  psychisches 
Mißverhältnis,  wie  es  bei  sexueller  Antipathie  stattfinde,  die 
,  allerbedenklichsten  Folgen  haben  könne.  Besonders  sei  hier 
an  den  homosexuellen  Geschlechtsverkehr  zu  denken,  der  bei 
Homosexuellen,  die  ohne  Neigung  geheiratet,  oft  nach  der  Ehe 
fortgesetzt  werde;  das  gleiche  geschähe  oft  bei  homosexuellen 
Frauen.  Beim  Mann  und  der  Frau  werde  der  Arzt,  der  ihre  homo- 
sexuelle Anlage  kenne  und  auf  Ununterdrücklichkeit  des  Triebes 
schließen  könne,  von  der  Eingehung  einer  Ehe  abraten  müssen. 

Aber  auch  abgesehen  von  dem  geschlechtlichen  Verkehr, 
komme  bei  Homosexuellen  das  psychische  Moment  des  Ge- 
schlechtstriebes und  der  aus  letzterem  entspringenden*  Liebe 
hinzu.    Die  Ehen  würden  nicht  nur  durch    den     außerehelichen 


—    990    — 

perversen  Verkehr  gestört;  geschlechtliche  Gleichgültigkeit  in  der 
Ehe,  Eifersuchtsscenen  mit  all  ihren  Folgen,  Gewaltakte  und 
Ehescheidung  seien  zu  befürchten.  Störungen  der  Ehe  ohne 
Ausübung  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  kämen  insbesondere 
bei  homosexuellen  Frauen  vor,  indem  sie  Alles,  Mann  und 
häusliche  Interessen,  einer  Geliebten  wegen  hintansetzten,  auch 
ohne  geschlechtlich  mit  dieser  zu  verkehren. 

In  manchen  Fällen  würden  nun  allerdings  Ehen  geschlossen, 
bei  welchen  beide  Teile  von  vornherein  auf  sexuellen  Verkehr 
und  psychosexuelle  Beziehungen  verzichteten,  z.  B.  bei  Vernunft- 
und  Versorgungsehen  alter  Leute.  Auch  Homosexuelle  heirateten 
manchmal,  die  vorher  mit  dem  andern  Teil  sich  geeinigt,  daß 
ein  sexueller  Verkehr  nicht  stattfinden  solle.  Es  seien  ihm  (Moll) 
sogar  Fälle  von  Eheschließungen  zwischen  einem  homosexuellen 
Mann  und  einer  homosexuellen  Frau  bekannt,  die  beide  mit  einander 
übereingekommen,  keiner  dem  Anderen  in  Beziehung  auf  den 
homosexuellen  Verkehr  Beschränkungen  aufzuerlegen.  Die  Frage 
der  Eheschließung  in  allen  diesen  Fällen  sei  nicht  ärztlicher 
sondern  ethischer  und  sozialer  Natur. 

Mehr  in  das  Gebiet  des  Arztes  gehörte  die  Frage,  ob  die 
Ehe  als  ein  Heilmittel  gegen  die  Homosexualität  zu  betrachten 
sei:  In  Fällen  psychosexueller  Hermaphrodisie,  und  zwar  in 
solchen,  wo  homosexuelle  Neigung  nur  dann  vorhanden,  wenn 
ein  heterosexueller  Verkehr  längere  Zeit  nicht  stattgefunden,  könne 
in  der  Ehe  ein  Heilmittel  gesehen  werden.  Es  frage  sich  aber, 
ob  dieselbe  nicht  aus  anderen  Gründen  contraindiciert  sei,  z.  B. 
mit  Rücksicht  auf  die  Nachkommenschaft. 

Die  Heirat  des  Homosexuellen  sei  contraindiciert,  wenn 
eine  degenerierte  Nachkommenschaft  zu  erwarten  sei.  Beliebige 
nervöse  Sypmtome  könne  man  allerdings  nicht  als  hinreichend 
ansehen,  um  von  der  Ehe  abzuraten. 

Gefährdung  der  Nachkommen  sei  jedoch  wahrscheinlich, 
wenn  der  Homosexuelle  —  Potenz  bei  ihm  vorausgesetzt  —  aus. 
einer  Familie  stamme,  wo  schwere  erblich  belastende  Nerven- 
oder Geisteskrankheiten  in  größerer  Zahl  aufgetreten  seien. 
Besonders  sei  die  Ehe  zu  verbieten,  wenn  der  Homosexuelle  ein 
nicht  aus  absolut  gesunder  Familie  stammendes  Mädchen  oder 
gar  eine  Blutsverwandte  heiraten  wolle.  Der  Arzt  müsse  in 
jedem  Einzelfall  die  einschlägigen  Verhältnisse  aufs  genaueste 
prüfen  und  der  eingehenden  Würdigung  der  Potenzfrage,  der 
Berücksichtigung  des  gesamten  sexuellen  Empfindens  sowie  der 
Frage  erblicher  Belastung  nach  jeder  Richtung  seine  Aufmerk- 
samkeit zuwenden.- 


—    991    — 

Die  Frage  des  Eheabschlusses  Homosexueller  ist  eine 
sehr  wichtige  und  mit  Recht  beginnen  jetzt  sachverstän- 
dige Aerzte  ihr  nahe  zu  treten:  Im  Jahrbuch  III  tat 
es  schon  Hirschfeld,  jetzt  folgt  ihm  Moll  mit  dem  obigen 
kurzen,  aber  gediegenen  und  inhaltsreichen  Artikel. 

Die  Frage  beansprucht  große  Bedeutung,  einmal,  weil, 
tatsächlich  viele  Homosexuelle  verheiratet  sind  und  dann, 
weil  bisher  die  meisten  Aerzte  bei  der  Prüfung  der  Vor- 
bedingungen der  Ehen  die  Homosexualität  gewöhnlich 
völlig  außer  Acht  ließen  oder  wenn  sie  die  homosexuelle 
Natur  des  Patienten  kannten,  allzu  oft  ihm  die  Ehe  als 
Heilmittel  „  gegen  seine  •  schlechten  Gewohnheiten  und 
seltsamen  Gedanken"  anempfahlen. 

So  kenne  ich  einen  Arzt,  der  Krafft-Ebings  Psycho- 
pathia  sexualis  gelesen  hat,  aber  trotzdem  einem  Homo- 
sexuellen die  Heirat  angeraten  hat  im  Glauben,  der 
gleichgeschlechtliche  Trieb  würde  schon  nach  Eingehung 
einer  Ehe  verschwinden! 

Die  Ehen  Homosexueller  sind  allerdings  nicht  immer 
unglücklich;  zwar  wird  nur  selten  ein  glückliches  weiteres 
Zusammenleben  möglich  sein,  wenn  die  Frau  die  Homo- 
sexualität des  Mannes  erfährt. 

Dagegen  kann  ein  ganz  leidliches,  ja  glückliches 
Verhältnis  zwischen  den  Eheleuten  Jahre  lang  bestehen, 
.wenn  die  Frau  von  der  Anomalie  des  Ehemanns  nichts 
ahnt  und  dieser  potent  sowie  die  Frau  wenig  bedürftig 
ist.  Auch  solche  Ehen  sind  mir  eine  ganze  Reihe  be- 
kannt, wo  der  Mann  außer  dem  Haus  geschlechtlichen 
Verkehr  mit  Männern  — ,  aber  stets  nur  in  vorüber- 
gehenden Abenteuern  —  sucht  und  ein  ruhiges  und  be- 
friedigendes Eheleben  mit  der  nichts  ahnenden  Frau  führt. 

Mag  auch  bei  Abschluß  der  Ehe  noch  so  große  Aus- 
sicht vorhanden  sein,  daß  ein  etwa  nach  der  Ehe  fort- 
gesetzter homosexueller  Verkehr  dem  andern  Teil  ver- 
borgen bleiben  wird  —  eine  Aussicht,  die  übrigens  stets 


—    992    — 

nur  recht  ungewiß  sein  kann  — ,  so  wird  doch  der  Arzt 
immer  von  der  Eingehung  der  Ehe  abraten  müssen,  wenn 
überhaupt  homosexueller  Verkehr  nach  der  Ehe  zu  er- 
warten ist  und  der  homosexuelle  Teil  dem  andern  seine 
Natur  verschweigt. 

Moll,  Albert:  Wie  erkennen  und  verständigen 
sich  die  Homosexuellen  untereinander! 
(Im  Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kriminal- 
statistik von  Groß,  9.  Bd.  2.  u.  3.  Heft  —  3.  Juli 
1902  ausgegeben  —  S.  157—159. 

Das  gegenseitige  Erkennen  der  Homosexuellen  beruhe 
wohl  nicht  auf  irgend  welchen  mysteriösen  Fähigkeiten.  Der 
Blick  spiele  eine  Rolle,  aber  nicht  in  anderer  Weise,  als  auch 
sonst  im  Leben.  Bestimmte  äußere  Merkmale  habe  er,  Moll,  nicht 
ermitteln  können,  trotz  Befragen  der  verschiedensten  Homosexuellen 
des  In-  und  Auslandes.  Von  zuverlässigen  Seiten  wurde  ihm 
erwidert,  daß  die  Kleidung  keine  wesentliche  Rolle  spiele.  Auch 
in  dem  Tragen  eines  Ringes  sei  ein  specifisches  Erkennungs- 
zeichen nicht  zu  finden.  Von  glaubwürdiger  Seite  werde  ihm 
berichtet,  daß  eine  Zeitlang  das  Tragen  einer  Nelke  eine  Rolle 
gespielt.  Eine  rote  Nelke  habe  danach  bedeutet:  ich  bin  frei, 
d.  h.  ich  suche  ein  Verhältnis,  eine  weiße:  ich  bin  vergeben. 

Als  äußeres  Erkennungszeichen,  solle  angeblich  gelten  eine 
gewisse  Bewegung  mit  der  Zunge,  bald  ein  langsameres  Hin- 
und  Herziehen  der  flachen  Zunge,  bald  ein  schnelleres  Bewegen 
der  spitzen  Zunge  von  einen  Mundwinkel  zum  anderen.  Es  wäre 
interessant,  festzustellen,  ob  sonst  noch  solche  äußere  Mittel 
zur  Verständigung  beständen,  ähnlich  wie  es  Andeutungen  eines 
Argot  •  bei  den  Homosexuellen  gäbe.  In  letzterer  Beziehung  nennt 
Moll  die  Ausdrücke  „Tante",  „Onkel",  „er  ist  so",  „er  ist  vernünftig". 
Als  weniger  bekannt  erwähnt  dann  Moll  das  Wort:  „er 
wohnt  in  der  Gabelsberger  Gasse",  was  so  viel  bedeute  wie  der 
Betreffende  habe  ein  kleines  Membrum. 

Moll  trifft  vollkommen  das  Richtige,  wenn  er  an- 
nimmt, daß  es  überhaupt  keine  speziellen  Erkennungs- 
zeichen der  Homosexuellen  untereinander  gibt. 

Wohl  wird  manchmal  von  Homosexuellen  als  Er- 
kennungszeichen angeführt:  Winken  mit  dem  Taschen- 
tuch,   Tragen    einer    Blume    im    Knopfloch    oder    eines 


—    993    — 

Ketteilrings  am  kleinen  Finger.  Ferner:  Bewegen  der 
Zungenspitzen  von  einem  Mundwinkel  zum  andern,  endlich 
besonders  das  Berühren  der  Handfläche  des  Partners  mit 
dem  Zeigefinger  beim  Händedruck.  Letzteres  Merkmal 
steht  aber  gerade  auch  bei  Heterosexuellen  als  angeb- 
liches Zeichen  der  Homosexuellen  so  sehr  in  Ruf,  daß 
manche  Heterosexuelle  aus  Ulk  oft  eine  derartige  Be- 
rührung beim  Händedruck  anwenden. 

Alle  diese  Zeichen  haben  so  gut  wie  keine  Be- 
deutung und  durch  sie  allein  werden  wohl  kaum 
homosexuelle  Bekanntschaften  geschlossen.  Dieselben 
kommen  vielmehr  auf  ganz  natürliche  Weise  zu  Stande: 

Zwei  Homosexuelle  begegnen  sich,  finden  Ge- 
fallen an  einander,  drehen  sich  um  und  bleiben 
stehen,  nähern  sich  langsam,  knüpfen  ein  gleichgültiges 
Gespräch  an  und  wissen  nach  wenigen  Minuten  über  ihre 
Natur  Bescheid.  Die  gegenseitige  Sympathie  und  das 
aus  ihr  entspringende  beiderseitige  Entgegenkommen 
haben  ohne  mystische  Zutaten  zur  raschen  Verständigung 
und  Bekanntschaft  geführt.  Am  leichtesten  wird  die 
Bekanntschaft  auf  den  Strichen  geschlossen,  wo  die  Homo- 
sexuellen von  vornherein  die  Begegnung  Gleichgesinnter 
zu  gewärtigen  haben. 
Hüller,    Joseph,    Dr.:    Das    sexuelle    Leben    der 

alten  Kulturvölker. 

Müller  erwähnt  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  abgesehen 
von  einer  kurzen  Bemerkung  betreffend  die  Perser  nur  in  einigen 
wenigen  Seiten  (72—76)  bei  Besprechung  der  Griechen  und 
später  bei  Behandlung  der  Römer,  wo  er  nur  Altbekanntes  be- 
richtet. Er  steht  ganz  auf  dem  veralteten  Standpunkte  und 
scheint  die  neueren  Forschungen  über  die  Homosexualität  nicht 
zu  kennen  oder  nicht  kennen  zu  wollen. 

Die  gleichgeschlechtliche  Liebe  der  Griechen  deutet  er  in 
der  Hauptsache  nur  als  Freundschaft;  Socrates  nimmt  er  lebhaft 
gegen  die  Behauptung,  Päderast  gewesen  zu  sein,  in  Schutz. 
Aus  den  letzten  Werken  Piatos  will  er  ein  Verdammungsurteil 
des  Philosophen  gegen  homosexuellen  Verkehr  herleiten. 


—    994     — 

Die  Verbreitung  der  lesbischen  Liebe  in  Griechenland  be- 
schreibt Müller  gestützt  lediglich  auf  die  bekannte  Schrift  von 
Walcher,  die  aus  dem  Jahre  1816!  stammt. 

Die  mehr  wie  spärliche  Behandlung  der  Homo- 
sexualität bei  Müller  wird  begreiflich,  wenn  man 
bedenkt,  daß  Müller  gleichzeitig  ein  Buch  über  das  sexu- 
elle Leben  der  Naturvölker  geschrieben  hat  (Leipzig, 
Griebens  Verlag,  2.  stark  vermehrte  Auflage  1902),  in 
dem  er  es  fertig  bringt,  trotz  Karsch's  Forschungen  auch 
nicht  mit  einer  Silbe  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr 
der  Naturvölker  zu  erwähnen.  Daher  nimmt  auch  die 
oberflächliche  Darstellung  der  Homosexualität  bei  den 
Griechen  nicht  Wunder,  welche  sich  einfach  auf  den  ver- 
alteten, vor  den  Forschungen  über  Homosexualität  üb- 
lichen Philologenstandpunkt  stellt.  Eine  ausführliche 
Widerlegung  lohnt  sich  nicht;  ich  verweise  auf  MolPs 
Ausführungen  in  seiner  conträren  Sexualempfindung  (2. 
Auflage  S.  42 — 55)  und  besonders  auf  die  eingehendste 
Erörterung  des  Thema's  bei  Ellis  und  Symonds.  (Das  con- 
träre  Geschlechtsgefühl,  deutsch  von  Kurella,  Bibliothek 
der  Sozial  Wissenschaften,  jetzt  Verlag  Spohr  Kapitel  3: 
Die  Homosexualität  in  Griechenland  S.  37 — 126.) 

Ich  will  nur  bemerken:  Ob  Socrates  selbst  homo- 
sexuell verkehrt  hat  oder  nicht,  erscheint  gleichgiltig, 
Tatsache  ist,  daß  Socrates  an  der  Schönheit  der  Jünglinge 
höchstes  Entzücken  fand  und  sogar  Knabenbordelle  be- 
suchte. Denn  in  einem  dieser  Häuser  sah  er  zum  ersten 
MalePhaedon,  denselben,  dessen  Namen  ein  Dialog  Piatons 
trägt>  denselben,  der  noch  am  Abend  vor  Socrates  Tod 
bei  ihm  weilte  (Ellis  S.  90—91).  Wenn  Plato  auch  in 
seinem  Alterswerk,  den  „Gesetzen",  seinen  Standpunkt 
geändert  hat,  so  beabsichtigt  er  damit  nicht  absolute 
Mißbilligung  der  Knabenliebe,  vielmehr  nur  Mißbilligung 
jeglicher  Wollust  zum  Ausdruck  zu  bringen,  indem  er, 
alt  geworden,    den    erotischen  Trieb   nur    als  Mittel  der 


—    995    — 

Zeugung  noch  gelten  laäsen  will,  „ während  er  als  junger 
Mann  Sympathie  für  Liebe  gefühlt  hatte,  soweit  sie 
päd  erastisch  war  und  sich  nicht  Frauen  zuwen- 
dete" (Ellis  S.  102).  Aus  diesen  „ Gesetzen"  kann  man 
aber  überhaupt  ebensowenig  auf  die  allgemeine  An- 
schauung über  Homosexualität  in  Griechenland  schließen, 
als  man  aus  Tolstois  Kreuzersonate  die  Verdammung  der 
Wollust  sogar  innerhalb  der  Ehe  als  allgemeine  An- 
schauung betrachten  darf.  Piatos  frühere  Dialoge,  ins- 
besondere sein  Symposion  beweisen,  wie  die  homosexuelle 
Liebe  in  Griechenland  gleichsam  eine  staatliche  Institution 
bildete  und  wie  der  homosexuelle  Verkehr  nicht  nur 
nicht  als  verabscheuungswürdiges  Laster  galt,  sondern 
eine  den  damaligen  Sitten  tief  eingewurzelte  und  ihnen 
entsprechende  Erscheinung  bedeutete. 

Dies  geht  namentlich  hervor  aus  dem  Benehmen  des 
Alcibiades  gegenüber  Socrates  am  Schlüsse  des  Symposion 
und  aus  der  Selbstverständlichkeit  und  Offenheit,  mit  der 
Alcibiades  Verführungsversuch  dort  geschildert  wird,  des 
Weiteren  erhellt  dies  aus  dem  Lob,  welches  Plato  dem 
Socrates  für  seine  Standhaftigkeit  und  seine  als  Herois- 
mus gepriesene  Enthaltsamkeit  spendete,  ein  Lob,  das 
heute  gegenüber  einem  heterosexuellen  Mann  gar  seltsam 
erscheinen  würde.  Welchen  Heterosexuellen  würde  man 
heute  als  Tugendhelden  feiern,  weil  er  den  Reizen  eines 
Jünglings  nicht  unterlag! 

Näcke,  P.:  Angebot  und  Nachfrage  von  Homo- 
sexuellen in  Zeitungen  im  Archiv  für  Kriminal- 
anthropologie und  Kriminalstatistik  von  Groß  8.  Bd. 
3.  und  4.  Heft,  Nummer  vom  20.  März  1902 
(S.  319—350). 

Näcke  gibt  29   fast  ausschließlich  aus  Berliner  Zeitungen 
entnommene  Annoncen  wieder. 

Näcke  teilt  diese  Annoncen  in  drei  Kategorien  ein. 
1)  verdächtige  (12),  2)  so  gut  wie  ganz  sicher  homosexuelle 
Anzeigen  (7),    3)  solche,    die   gleichzeitig  durch  masochistische 

Jahrbuch  V.  63 


—    996    — 

oder  sadistische  Neigungen  auf  homosexueller  Basis  complicirt 
seien  (10). 

Oberall  suchten  fast  durchweg  Herrn,  selten  Damen.  Alle 
schienen  den  besseren  Ständen  anzugehören.  Bisweilen  werde 
der  Sport  vorgeschoben,  so  das  Radeln.  Sonst  seien  viele 
Annoncen  so  allgemein  gehalten,  daß  möglicher  Weise  nichts 
Homosexuelles  zu  Grunde  liege,   so  namentlich   in  Kategorie   1. 

In  den  Anzeigen  der  Kategorie  II  sei  von  Verdacht  kaum 
mehr  die  Rede.  Hier  seien  Überschriften  und  Chiffre  oft  schon 
so  charakteristisch,  daß  die  Homosexualität  hier  wohl  außer 
allem  Zweifel  stehe;  so  z.  B.  No.  13:  „Ohne  Vergütung  sucht 
junger  Mann  von  angenehmen  Äußeren  und  mit  vielen  Sprach- 
kenntnissen Stellung  als  Reisebegleiter.  Offerten  an  Uranus." 
14.  (Aus  dem  Journal  de. Paris  1895)  „Jeune  Scandinave 
cherche  äme  Ibs&iienne«. 

Die  Kategorie  III  sei  vielleicht  die  interessanteste,  weil  hier 
die  Homosexualität  ganz  verhüllt  erscheine  und  die  damit 
verbundene  Complication  wohl  auch  nicht  für  jeden  offen  zu 
Tage  liege.  In  der  Kategorie  III  spiele  die  Energie  oder  Strenge 
der  betreffenden  Person  eine  große  Rolle;  dieselbe  scheine  für 
sadistische  Praktiken  zu  sprechen;  namentlich  inNo.  21.  „Strenge, 
energische  Masseurin,  in  Allem  erfahren,  wünscht  noch  vornehme 
Dame  zu  massieren."  No.  26  „Ergebenen  Freund  wünscht  sehr 
energischer  jüngerer  Herr."  Es  sei  wohl  ein  bloßer  Tric,  daß 
es  sich  so  oft  um  bloße  Erziehung  von  Knaben  oder  Mädchen 
handeln  solle  wie  z.  B.  in  No.  25:  „Energischer  Herr  erteilt 
ohne  Vergütung  Nachhilfeunterricht." 

Allerdings  sei  es  nicht  über  allen  Zweifeln  erhaben,  ob  in 
Kategorie  III  echte  Homosexualität  vorliege;  wenn  aber,  dann 
könne  es  sich  nur  um  eine  Komplication  von  Masochismus 
oder  Sadismus  handeln. 

Wenn  man  das  Ganze  überschaue,  so  scheine  namentlich 
in  Kategorie  I  mehr  das  platonische  Verhältniß  in  der  Homo- 
sexualität hervorgehoben  zu  werden,  doch  trete  das  Carnale  in 
Chiffren  wie  Sappho,  Antinous  und  zum  Teil  gewiß  auch  in 
Kategorie  III  zu  Tage. 

Sogar  echte,  d.  h.  angeborene  Homosexuelle  pflegten  nur 
ganz  ausnahmsweise  rein  platonische  Liebe,  sie  seien  gewöhnlich 
der  ein-  oder  doppelseitigen  Onanie  ergeben,  selten  dem  coitus 
per  os,  dagegen  betrachteten  sie  —  und  dies  sei  wohl  ein  Haupt- 
unterschied zwischen  dem  echten  und  falschen  Homosexuellen  — 
nur  mit  Abscheu  die  eigentliche  Päderastie  und  betrieben  sie  nicht. 

Es  sei  schwer  zu  sagen,  ob  die  Annoncen  mehr  von  echten 
Urningen  oder  ganz  alten  Roues  ausgingen,  und  welche  von 
beiden  Gruppen   vornehmlich    auf   das  Zeitungsblatt  reflectiere. 


—    997    — 

Der  echte  Invertierte  sei  wohl  von  Charakter  zu  mißtrauisch 
und  scheu  um  eine  Annonce  zu  wagen. 

Eine  interessante  Frage  hier  wäre  noch  die,  woran  sich 
echte  und  falsche  Homosexuelle  gegenseitig  erkennten.  Man 
wisse  darüber  nur  sehr  wenig  Sicheres.  Die  auffallenden  Chiffren 
erkenne  wohl  auch  der  Laie  als  Lockvögel,  ebenso  gewisse 
Adjective,  wie  „einsam",  „energisch",  „modern".  Daneben 
hätten  die  Homosexuellen  aber  vielleicht  noch  eigene  Umdeutungen 
harmloser  Worte  in  Schrift  und  Wort,  oder  Zahlen,  noch  wahrschein- 
licher aber  gewisse  äußere  Zeichen  in  Miene,  Haltung,  Kleidung, 
Schmuck  u.  s.  w.  Der  Blick  solle  oft  schon  das  Übrige  tun.  Immerhin 
ahne  man  hier  nur  ein  Rotwälsch  in  Wort,  Schrift  und  im 
Äußeren  der  Homosexuellen.  Eher  dürfe  man  etwas  Näheres 
hierüber  von  den  männlichen  Prostituierten  und  den  alten  Roues, 
als  von  den  verschwiegenen  und  scheuen,  echten  Invertierten 
erfahren. 

Näcke  berichtet  dann  eingehend  über  den  in  dem  „Frtihrot" 
veröffentlichten  Artikel:  „Eine  praktische  Enquete  über  die 
Häufigkeit  der  Homosexualität". 

In  vielen  Fällen  der  Antworten  gewinne  man  den  Eindruck, 
als  wenn  es  sich  nicht  um  echte,  sondern  um  später  gewordene 
Homosexuelle  handele,  weil  mehr  oder  minder  unverfroren 
die  sinnliche  Seite,  sogar  mit  Ueberlassen  der  speciellen  Form 
des  substituierten  geschlechtlichen    Aktes   herausgekehrt    werde. 

Im  Großen  und  Ganzen  machten  aber  die  meisten  Eingaben 
einen  durchaus  günstigen,  würdigen  Eindruck  und  man  gewinne 
Erbarmen  mit  diesen  Verkannten. 

Näcke  bespricht  dann  ziemlich  weitläufig  eine  von  Panizza 
in  der  „Gesellschaft"  Januarheft  1895  mitgeteilte  Annonce  und 
Panizzas  daran  anknüpfende  Betrachtung  über  Bayreuth  und 
die  Homosexualität. 

Näcke  sagt  unter  Anderem  im  Anschluß  an  Panizzas 
Ausführungen:  Man  dürfe  die  ganze  Homosexualität  weder  mit 
theo-  noch  teleologischen  Augen  ansehen,  sondern  nur  mit 
nüchternen,  naturwissenschaftlichen.  Unzählige  Heterosexuelle 
seien  heutzutage  gezwungen,  den  „Naturzweck"  nicht  zu  erfüllen, 
besonders  unter  den  Weibern,  aber  auch  unter  Verheirateten. 
Unter  den  letzteren  fänden  sich  alle  Uebergänge  im  intimen 
Verkehr  zwischen  allen  Arten  der  hetero-  ja  sogar  homosexuellen 
Praktiken.  Man  habe  sehr  richtig  vom  sexuellen  Standpunkt 
die  Menschen  in  „Denk-  und  Geschlechtsmenschen"  eingeteilt. 
Bei  ersteren  prävalire  das  stete  Denken  so,  daß  die  sexuelle 
Sphäre  wie  ausgetrocknet  erscheine;  sie  seien  geschlechtlich 
kühl,  brauchten  deshalb  aber  noch  lange  nicht  homosexuell  oder 
entartet  zu  sein.    Das  andere  Extrem  bildeten  die  „Geschlechts- 

63* 


—    998    — 

menschen"  die  Sinnlichen,  die  am  allerwenigsten  beim  Akte  an 
den  „Naturzweck"  dächten.  Die  Meisten  bewegten  sich  zwischen 
beiden  Polen.  Was  sie  also  unterscheide,  sei  nur  der  Grad  des 
heterosexuellen  Geschlechtstriebes.  Hieraus  könne  Niemandem 
ein  Vorwurf  gemacht  oder  ein  Verdienst  zudiktiert  werden.  Es 
solle  sich  aber  deshalb  Niemand  für  besser  Halten,  als  die  den 
Kühlem  hinsichtlich  des  heterosexuellen  Gefühls  nahestehenden  Homo- 
sexuellen, die  gleichfalls  wieder  bezüglich  ihres  invertierten  Ge- 
schlechtstriebes in  Denk-  und  Geschlechtsmenschen  mit  allen 
Nuancen  einzuteilen  seien.  Auch  hier  werde  man  schließlich  den 
sinnlichen,  den  eigentlichen  Päderasten  keinen  Vorwurf  machen 
können  und  nur  deshalb  erschienen  die  Meisten  darunter  ver- 
ächtlich, weil  sie  alte  Wollüstlinge  seien,  die  schließlich  in  der 
Inversion  ihre  letzte  Zufluchtsstätte  suchten.  Er,  Näcke,  halte 
die  Inversion  nur  für  eine  Varietät,  meinetwegen  Abnormität, 
aber  nicht  für  eine  pathologische  Anomalie,  obgleich  sie  auch  unter 
letzterer  Form  auftreten  könne.  Die  „Symbiose"  mit  den 
wahren  Invertierten  die  zum  großen  Teile  gewiß  edle,  aufopfernde 
Menschen  seien,  könne  den  Heterosexuellen  nur  nützlich  sein. 
Man  solle  erstere  also  nicht  abstoßend  behandeln  in  pharisäischer 
Selbstgerechtigkeit.  Mit  Recht  betone  Panizza,  daß  bei  den 
wahren  Invertierten,  der  carnale  Verkehr  die  „große  Seltenheit" 
bilde,  dagegen  habe  Panizza  Unrecht  zu  behaupten,  daß  die 
ganze  Richtung  der  Homosexulität  etwas  Kraftloses,  Ver- 
schwommenes, Weichliches,  dem  Grobsinnlichen  Widerstrebendes, 
Scheues  und  Feiges  habe.  Diese  Züge,  sagt  Näcke,  kämen 
höchstens  nur  den  passiven,  weiblich  gearteten  Homosexuellen, 
nicht  den  männlichen,  activen  zu. 

Gerade  der  Laie  stelle  sich  unter  den  Invertierten  leider 
immer  den  ersteren  vor,  der  unter  den  Echten  vielleicht  gerade 
den  seltenen  Typus  bilde.  Daß  aber  auch  der  männlich 
Geartete  die  Oeffentlichkeit  scheue,  sei  heutzutage  ganz  natürlich. 

Zum  Schluß  wendet  sich  Näcke  noch  gegen  die  weiteren 
Ausführungen  Panizzas,  wonach  im  Parsifal  von  Wagner  die 
homosexuellen  Eigenschaften  symbolisiert  wären  und  Parsifal 
sowie  der  Gralsritterverband  völlig  homosexuell  gedacht  seien. 

Gewiß  würden  im  Parsifal  alle  die  betreffenden  Eigen- 
schaften, die  der  wahre  Homosexuelle  hoch  halte,  apotheosiert, 
aber  dies  seien  nur  oberflächliche  Analogien,  die  noch  lange 
keine  Gleichheit  darstellten.  Die  von  den  Gralsrittern  bezweckte 
Ertötung  des  Fleisches  könne  wohl  sexuelle  Indifferenz  hervor- 
bringen, was  aber  noch  lange  nicht  gleichbedeutend  mit  Homo- 
sexualität sei.  Der  Homosexuelle  sei  durchaus  nicht  sexuell 
indifferent. 


—    999    — 

Die  interessanten  und  wie  stets  bei  Näcke  von  selb- 
ständigem Denken  zeugenden  Ausführungen  verdienten 
eine  eingehende  Wiedergabe. 

Die  Annoncen  der  zweiten  Kategorie  sind,  wie  Näcke 
mit  Recht  annimmt,  wohl  sämtlich  von  Homosexuellen. 
Bemerkenswert  ist  der  Umstand,  daß  von  diesen  7  homo- 
sexuellen Annoncen  4  von  Frauen  und  nur  3  von 
Männern  herrühren.  Näckes  Auffassung,  als  sei  es  mög- 
lich, aus  den  Annoncen  zu  entscheiden,  ob  es  sich  um 
wahre  Homosexuelle  oder  heterosexuelle  Rouäs  handelt, 
kann  ich  nicht  beitreten,  da  ich  überhaupt  heterosexuelle 
Rou&s,  die  auf  den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  als 
ein  letztes  Reizmittel  verfielen,  noch  nicht  kennen  gelernt 
habe.  Näcke  hat  übrigens  jetzt  selbst  die  Meinung,  als  ob 
öfters  der  gleichgeschlechtliche  Verkehr  letztes  Stadium 
eines  Lasterlebens  alter  heterosexueller  Rou£s  bilde,  auf- 
gegeben (z.  vgl.  weiter  unten :  Zeitungsannoncen  von 
weiblichen  Homosexuellen.  S.  959.)  Des  Weiteren  sind  auch 
nicht  die  meisten  Homosexuellen  scheu  [und  schüchtern. 
Es  gibt  sogar  recht  Freche  unter  ihnen. 

Die  Vermutung  von  Näcke,  als  ob  zwischen  den 
Homosexuellen  eine  Art  Geheimsprache  bestände,  mittels 
deren  sie  sich  verständigten,  muß  ich  als  unzutreffend  be- 
zeichnen. Die  Bekanntschaften  zweier  einander  fremden 
Homosexuellen  kommen  auf  ganz  natürliche  Weise  zu  Stande 
(vergl.oben  den  Aufsatz  von  Moll  und  meine  Ausführungen 
dazu  S.  951.) 

In  einer  abgekürzten  Annonce  vermutet  Näcke 
geheimnißvolle  Verständigungen.  Dieselbe  lautet  jedoch 
zweifellos:  Je  femmedumonde  d£sire  collaboratrice  £gale- 
ment  femme  du  mondepour  travaux  d'agr^nients.  Dabei 
erscheint  die  Annonce  auf  den  ersten  Blick  vielleicht  un- 
verständlich, weil  Druckfehler  vorhanden  sind,  es  muß 
heißen:     collaboratrice  nicht  collobarotrices.     Ferner   fe 


—    1000    — 

ohne  Accent  statt  f6,  vielleicht  heißt  es  auch  irrtümlich 
femme  du  monde  anstatt  une  femme  du  monde. 

Der  von  Näcke  besprochene  Aufsatz  von  Panizza 
ist  mir  seit  seinem  Erscheinen  bekannt.  Die  Ausführungen 
Panizzas,  denen  auch  Näcke  in  der  Hauptsache  widerspricht, 
geben  ein  völlliges Phantasiegebilde  über  die  Homosexualität 
und  beweisen,  daß  Panizza  keine  Ahnung  von  der  Homo- 
sexualität hat.  Sie  bilden  das  Gegenstück  zu  der  irrigen 
Anschauung  über  die  Homosexualität  als  einer  einfachen 
lasterhaften  Gewohnheit  Heterosexueller,  entsprechen  aber 
ebensowenig  wie  diese  Anschauung  der  Wirklichkeit. 

Es  ist  völlig  unzutreffend,  die  homosexuelle  Liebe  als 
eine  rein  platonische,    des  Verlangens  nach  fleischlichem 
Verkehr  entbehrende,  kraftlose  Leidenschaft  aufzufassen. 
Die  Akte   der  Homosexuellen    sind    nicht   bloß  von 
symbolischer   Bedeutung,   es   sind  Aequivalente    der  Be- 
friedigungsart zwischen  Mann  und  Frau. 
Näcke,  Homosexuelle  Annonce  (unter Kleinen  Mit- 
teilungen im  Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kri- 
minalstatistik von  Groß  Bd.  9,  Heft  2  und  3,  S.  217 
u.  218). 

Näcke  teilt  folgende  ihm  von  einem  Kollegen  aus  Hamburg 
aus   einem   großen  Hamburger  Blatte  stammende  Annonce  mit: 

„Frauen-Freundschaft." 
„Gebildete,   geistreiche,   freidenkende  Dame   sucht  die  Bekannt- 
schaft einer   reichen  Dame   zwecks  freundschaftlichen  Verkehrs. 
Offerten  erb.  an  „Sappho"  hauptpostlagernd  Hamburg.« 

Näcke  meint,  unverschämte  Annoncen,  wie  diese,  seien 
von  Seiten  der  Frauen  viel  seltener,  als  seitens  der  Männer. 
Daß  hier  eine  reiche  Dame,  gesucht  werde,  deute  viel- 
leicht auf  gewerbsmäßige  Homosexualität,  mindestens  aber  auf 
Parasitentum  hin,  da  ihr  sonst  das  Vermögen  der  „Freundin* 
gleichgiltig  sein  müßte.  Sie  wolle  offenbar  mit  ihr  und  auf  ihre 
Kosten  in  dulci  jubilo  leben.  Daß  Masseure  und  Masseusen 
gern  sich  zu  unzüchtigen  Handlungen  hergäben,  habe  er  schon 
in  einem  früheren  Aufsatz  erwähnt,  ebenso  das  schändliche 
Erpressertum,  dagegen  habe  er  nicht  an  die  Möglichkeit  gedacht, 
daß  auch  sonstige  Verbrechen  geschehen  könnten.  De  Blasio  1901 


—    1001     — 

habe  mitgeteilt,  daß  von  den  meisten  jungen  Langfingern  Neapels 
nicht  weniger  als  35°/o  passive  Päderasten  seien  und  zwar  um 
die  Aktiven  zu  bestehlen. 

Näcke,  Zeitungsannoncen  von  weiblichen 
Homosexuellen  in\  Archiv  für  Kriminalanthro- 
pologie und  Kriminalstatistik  von  Groß.  Bd.  10, 
Heft  3.    (S.  225—229.) 

Mitteilung  von  Zeitungsannoncen  (25  von  Weibern,  6  von 
Männern),  in  denen  Freundschaft  mit  einer  Person  des  gleichen 
Geschlechts  gesucht  wird. 

Dieselben  stammen  aus  Münchener  Zeitungen,  aus  denen 
sie  innerhalb  circa  5  Wochen  von  einem  Studenten  gesammelt 
worden  . 

Die  meisten  sind  verdächtig  und  lassen  Schlüsse  auf 
Homosexualität  zu.  Näcke  erörtert  einen  Teil  der  Annoncen  und 
knüpft  einige  allgemeine  Bemerkungen  daran.  Er  hält  seine  frühere 
Ansicht,  daß  homosexuelle  Annoncen  wohl  meist  von  Wüstlingen 
herrührten,  nicht  mehr  aufrecht. 

Homosexuelle  Handlungen  zwischen  Männern  in  Internaten 
seien  wohl  häufiger  als  zwischen  Weibern. 

Näcke  bezweifelt  nunmehr  (entgegen  seiner  früheren  Ansicht) 
stark,  daß  vorangegangenes  Wüstlingsleben  Normaler  Homo- 
sexualität erzeugen  könne. 

Näcke,  Zur  homosexuellen  Lyrik  (unter  kleinen 
Mitteilungen  Nr.  3)  im  Archiv  für  Kriminalanthro- 
pologie und  Kriminalstatistik  von  Groß.  Bd.  14, 
Heft   3,  S.  283—285. 

Näcke  teilt  das  von  Eickhoff  in  einem  Flugblatte  abge- 
druckte Gedicht  eines  jungen  homosexuellen  Arbeiters  mit  und 
sagt  daran  anschließend: 

Die  homosexuelle  Liebe  enthalte  fast  alle  die  gleichen, 
der  dichterischen  Behandlung  werte  Momente  wie  die  hetero- 
sexuelle, sie  habe  sogar  wegen  der  sozialen  Lage  der  Invertirten 
vielleicht  noch  tragischere  aufzuweisen.  Das  Gedicht  des  homo- 
sexuellen Arbeiters  sei  so  poetisch  und  fein  empfunden,  daß  seine 
Veröffentlichung  gerechtfertigt  sei.  Die  homosexuelle  Novellistik 
und  Lyrik  halte  er,  Näcke,  auch  deshalb  für  beachtenswert,  weil 
sie  ein  Eindringen  in  die  innerste  Psyche  der  Invertierten  ermögliche. 
Am  wertvollsten  sei  allerdings  stets  die  Kenntnis  lebender 
Homosexueller.  Erst  wenn  die  Normalen  die  Homosexuellen 
persönlich  kennen  lernen  würden,  würden  sie  viele  ihrer  Vor- 
urteile fallen  lassen. 


—    1002    — 

Näcke.   Besprechung  von  Narkissos  Erzählung:  Der  neue 

Werther  im  Archiv  für  Kriminalanthropologie  und 

Kriminalstatistik  vonGroß.  Band  19,Heft  3,  S.295— 296. 

Die  Geschichte  des  „armen  Werther"  zeige  deutlich  das 
frühzeitig  erwachende  Fühlen.  Sie  spräche  für  die  anatomische 
Theorie  des  Eingeborenseins,  sie  illustriere  deutlich  die  Nützlich- 
keit aufklärender  Lektüre.  Aufklärende  Volksschriften  wie  z.  B. 
die  des  Comitees  seien  geboten.  Ein  Unsinn  sei  der  Glaube, 
Jemand  könne  durch  Lektüre  erst  homosexuell  werden.  Unbillig 
sei  es  auch  Abstinenz  vom  Homosexuellen  zu  verlangen,  nur 
möge  er  die  häßliche  Päderastie  im  eigentlichen  Sinne  meiden. 
Da  die  homosexuelle  Liebe  in  Allem  fast  der  normalen  psyschisch 
—  nur  anders  geartet  —  parallel  laufe,  sei  auch  gegen  eine 
homosexuelle  Novellistik  nichts  Triftiges  einzuwenden,  so  lange 
sie  nicht  pornographisch  gefärbt  sei. 

Es  ist  sehr  erfreulich,  daß   in  demselben  Archiv,  in 

welchem  Groß  sehr  entschieden  sich  gegen  die  homosexuelle 

Belletristik     ausgesprochen    hat,    der    bedeutendste    und 

eifrigste  medicinische  Mitarbeiter  ihre  Berechtigung  und 

ihren  Wert  anerkennt. 

Näcke  P.  Dr.:  Probleme  auf  dem  Gebiete  der 
Homosexualität  in  der  Allgemeinen  Zeitschrift 
für  Psychiatrie  und  psychiatrisch-gerichtlichen  Me- 
dizin.    59.  Bd.  6  Heft  (ausgegeben  am  15.  Dezember) 

S.  805—829.) 

Zu  unterscheiden  sei  Perversion  d.  h. :  eine  anormale  sexu- 
elle Reizerregbarkeit,  die  dementsprechend  abnorme  Akte  aus- 
löse und  Perversität,  d.  h.  Laster  und  als  Spezialfall  deren  Surrogat- 
handlung für  heterosexuellen  Verkehr. 

Näcke  erörtert  dann  die  Entwickelung  in  den  Anschauungen 
über  Homosexualität:  Er,  Näcke,  zweifle  jetzt  daran,  ob  es  eine 
wirklich  erworbene  Homosexualität  gäbe.  Theorie  des  An- 
geboren- und  des  Erworbenseins  sei  vielfach  ein  bloßer 
Wortstreit,  da  der  Hauptvertreter  der  Erwerbungstheorie, 
Schrenck-Notzing,  eine  Erwerbung  nur  auf  geeignetem  Boden  für 
möglich  halte.  Es  frage  sich  nun,  ob  es  wirklich  Fälle  geben 
könne,  wo  auch  eine  geringe  angeborene  Anlage  völlig  abgehe. 
Ein  begründetes  Urteil  könnten  nur  wirkliche  Sachverständige 
abgeben,  d.  h.  solche,  die  Hunderte  von  Homosexuellen  nicht 
nur  flüchtig  gesehen,  sondern  genau  ihr  Tun  und  Treiben  beob- 


==L\ 


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—    1003    — 

achtet  und  so  einen  möglichst  vollständigen  Einblick  in  ihre 
eigentümliche  Psyche  gewonnen.  Dergleichen  Sachverständige 
deutscher  Zunge  unter  den  Schriftstellern  über  Homosexualität 
seien  kaum  ein  Dutzend  vorhanden.  Als  solche  kenne  er  zur 
Zeit  nur  Krafft-Ebing,  Moll,  Hirschfeld,  Fuchs,  Schrenck-Notzing, 
und  Numa  Praetorius. 

Alle  die  übrigen,  so  überaus  zahlreichen  Autoren  seien 
keine  genügenden  Sachverständigen.  Sie  hätten  alle  nur  wenig 
Fälle  gesehen  und  diese  meist  in  der  forensen  Praxis.  Ihr 
Material  sei  ein  viel  zu  geringes  und  gewöhnlich  unter  ab- 
normen Verhältnissen  beobachtet.  Ihr  Urteil  könne  daher  nur 
sehr  bedingt  maßgebend  sein.  Auch  Krafft-Ebing  habe  nach 
und  nach  die  sogenannten  erworbenen  Fälle  für  tardive  erklärt,  in 
denen  die  latente  angeborene  Homosexualität  durchgedrungen  sei. 

Man  müsse  nun  die  Fälle  untersuchen,  wo  Wüstlinge 
zuletzt  auf  die  Homosexualität  verfallen  seien.  Bei  der  De- 
finition des  Wüstlings  werde  vorausgesetzt: 

Ein  starker  Geschlechtstrieb,  ein  rücksichtsloses,  oft  gewalt- 
tätiges Vorgehen  in  sexuellen  Dingen  und  drittens  (aber 
nicht  absolut  nötig)  das  Aufsuchen  besonderer  Pikanterien 
vor  und  während  des  coitus  teils  bezüglich  der  Personen  des 
andern  Geschlechts  (sehr  junge,  alte  u.  s.  w.)  teils  bezüglich 
des  Drum  und  Dran  beim  sexuellen  Akte  selbst,  der  vielfach 
variirt  werde. 

Während  perverse  Handlungen  der  Wüstlinge,  die  gegen 
das  andere  Geschlecht  gerichtet  seien,  immerhin  mit  dem  Nor- 
malen zusammenhingen,  sei  ein  eigentliches  homosexuelles  Vor- 
gehen des  Roues  zunächst  ganz  unerklärlich,  und  eine  Brücke  zum 
Verständnis  homosexuellen  Fühlens  erscheine  zunächst  kaum 
möglich.  Trotzdem  halte  er,  Näcke,  homosexuelles  Fühlen  des 
heterosexuellen  Wüstlings  nicht  für  ganz  ausgeschlossen.  Zu  be- 
tonen sei  aber  immer,  daß  nicht  jeder  homosexuelle  Akt  mit 
echter  Homosexualität  verwechselt  werden  dürfe. 

Die  homosexuelle  Handlung  könne  bloßer  Ausfluß  des 
Detumescenztriebes  sein,  ohne  daß  dabei  die  Psyche  selbst 
irgendwie  homosexuell  denke  und  fühle. 

Bei  der  sogenannten  tardiven  Homosexualität  sei  genau 
zu  untersuchen,  ob  es  sich  um  Durchbrechen  der  Inversion 
handele  oder  nicht. 

Als  das  wichtigste  diagnostische  Mittel  zur  Feststellung 
der  echten  Homosexualität  betrachte  er,  Näcke,  zur  Zeit  noch 
allein  den  Traum,  in  dem  sich  die  wahre  Natur  unverfälscht 
widerspiegele. 


—    1004    — 

Auch  bei  den  gleichgeschlechtlichen  Surrogathandlungen 
in  Pensionaten  u.  s.  w.  entwickele  sich  vielleicht  hier  und  da 
doch  ein  gewisser  Contrectationstrieb,  der  durch  Anwachsen 
wohl  in  einen  dauernden  Zustand  übergehen  könne,  ohne  daß 
eine  eigentliche  Veranlagung  vorhanden  zu  sein  brauche. 

Dasselbe  wäre  wohl  auch  beim  heterosexuellen  Wüstling 
denkbar,  der  zu  homosexuellen  Akten  übergehe. 

Sei  dem  aber  so,  dann  handle  es  sich  nur  um  Gradunter- 
schiede zwischen  einem  solchen  rudimentären  Contrectationstrieb 
und  dem  ausgebildeten  der  Homosexuellen. 

Alle  diese  Fragen  seien  noch  nicht  geklärt.  Die  Frage 
einer  wirklich  erworbenen  Perversion,  d.  h.  ohne  alle  jede 
Veranlagung  dazu,  sei  bis  jetzt  noch  nicht  als  endgiltig  entschieden 
zu  betrachten. 

Selbst  aber,  wenn  stets  eine  angeborene  Anlage  vorhanden 
sein  müsse,  so  spiele  jedenfalls  ihr  Grad  eine  bedeutende  Rolle. 
Bei  geringer  Anlage  sei  das  Milieu  bedeutsam;  ob  und  inwiefern 
die  Onanie  ein  begünstigendes  Moment  sei,  stehe  auch  noch  nicht 
völlig  fest.  Gewisse  Anomalien  der  äußeren  Geschlechsteile 
könnten  gleichfalls  Inversionen  zur  Folge  haben,  aber  auch  hier 
sei  sicher  eine  angeborene  Anlage  nötig.  Daß  je  Lektüre 
über  Geschlechts-Perversionen  allein  Inversion  erzeugen  könnte, 
erscheine  mehr  als  problematisch.  Auch  die  Stärke  und  die  Zeit 
des  Auftretens  der  Libido  bei  Invertirten  unterliege  noch  vielfach 
der  Diskussion.  Wohl  mit  Recht  nähmen  Viele  an,  daß  der 
Geschlechtstrieb  bei  Homosexuellen  kaum  stärker  als  der 
normale  und  nicht  öfters  als  der  heterosexuelle  unbezwinglich 
erscheine. 

Wenn  nun  jede  Homosexualität,  auch  die  tardive,  stets  an- 
geboren sei,  so  folge  daraus,  daß  sie  kein  Laster  sei,  sondern 
nur  eine  andere  Betätigung  des  Geschlechtstriebes,  die  aber 
wegen  ihres  seltenen  Vorkommens  noch  keine  pathologische  zu 
sein  brauche. 

Näcke  billigt  dann  im  Allgemeinen  die  Auffassung  von 
Römer  (vergl.  Jahrbuch  IV)  über  die  Rechtfertigung  und  den 
Zweck  der  Homosexualität.  Mit  Recht  werde  gefragt,  ob  denn 
der  Geschlechtstrieb  allein  Fortpflanzung  bezwecke;  ohne  Ge- 
schlechtstrieb würden  eine  Menge  der  nützlichsten  männlichen 
und  weiblichen  Eigenschaften  verloren  gehen:  Gerade  unter  den 
Homosexuellen  hätten  sich  führende  Geister  befunden,  die  un- 
endlich mehr  für  die  Welt  getan,  als  wenn  sie  bloß  leibliche 
Kinder  erzeugt  hätten. 

Halte  man  aber  die  Homosexuellen  wirklich  alle  für  Ent- 
artete, so  wäre  Schopenhauers  Auffassung,  daß  die  Inversion 
ein  geeignetes   Ausmerzungsmittel   von  Degenerierten  sei,   noch 


1005 


gar  nicht  so  übel  und  man  könnte  dann  im  Interesse  der 
Gattung  nur  wünschen,  daß  recht  viele  der  Entarteten  homo- 
sexuell und  somit  meist  zeugungsunfähig  wären. 

Rein  naturwissenschaftlich  betrachtet,  könne  man  selbst 
die  Päderastie  an  sich  kaum  unnatürlicher  finden,  darum  auch 
nicht  unmoralischer  als  den  heterosexuellen  Geschlechtsverkehr. 
In  beiden  Fällen  handele  es  sich,  wie  Römer  sage,  um  Abstoßung 
eines  dem  Körper  unnützen,  ja  gefährlichen  Stoffes,  des  Spermas, 
unmoralischer  höchstens  nur  dadurch,  daß  die  Gattung  even- 
tuell Einbuße  an  Menschenzahl  erfahre,  was  sicher  nicht  immer 
ein  Schaden  sei. 

Es  frage  sich  nun  weiter,  ob  die  Invertirten  trotz  ihres 
homosexuellen  Denkens  und  Fühlens  an  Körper  und  Geist  in 
der  üblichen  normalen  Variationsbreite  sich  bewegen  könnten. 

Näcke  führt  dann  die  verschiedenen  Meinungen  hierüber 
an.  Die  große  Meinungsverschiedenheit  über  diesen  Punkt 
liege  wohl  einesteils  an  der  oft  ungenügenden  Erfahrung  der  einr 
zelnen  Schriftsteller,  andererseits  an  Unklarheiten  über  verschiedene 
Begriffe.  Es  handle  sich  da  besonders  um  die  Begriffe: 
Stigma,  Degeneration,  Erblichkeit,  neuropathologische  Anlage,  die 
vielfach  sehr  subjektiv  aufgefaßt  würden. 

Schwere,  d.  h.  meist  eine  mehrfache  erbliche  Belastung, 
die  noch  nicht  ohne  weiteres  den  Betreffenden  zum  Entarteten 
stempele,  scheine  bei  den  Invertirten  relativ  selten  zu  sein, 
einfache  erbliche  Belastung  dagegen  öfters,  jedoch  auch  bei  den 
Normalen  sei  sie  häufig.  Gleichzeitiges  Vorkommen  der  Homo- 
sexualität in  der  Ascendenz  und  den  Collaterallen  sei  merkwürdiger- 
weise selten. 

Das  Vorhandensein  einer  leichten  neuropathologischen  An- 
lage habe  noch  nicht  Entartung*  zur  Folge,  worunter  zu  verstehen 
sei,  ein  Zustand  schlechter  oder  erschwerter  Anpassung  an  ein 
gegebenes  Milieu,  meist  auf  Grund  einer  angeborenen,  bisweilen 
aber  auch  erworbenen,  abnormen  Gehirnconstitution,  die  sich  nach 
außen  hin  durch  somatische  oder  (noch  wichtiger!)  funktionelle 
Zeichen,  Stigmata,  kundgäbe.  Eine  neuropathologische  Anlage 
des  Konträren  könne  auch  sekundär  entstehen,  bedingt  durch 
die  schiefe  Stellung  der  Homosexuellen  und  der  damit  ver- 
bundenen Schädlichkeiten  auf  Geist  und  Körper.  Man  müsse  auch 
beim  Homosexuellen  eine  gewisse  Variationsbreite  bezüglich  der 
geistigen  Gesundheit  annehmen  und  nur  von  einer  bestimmten,  erst 
festzusetzenden  Grenze  ab  von  neuropathologischer  Anlage  reden. 
Unter  Berücksichtigung  dieser  Gesichtspunkte  und  obgleich  ein- 
gehende umfassende,  systematische  und  besonders  statistische 
Untersuchungen   an  großem  Material  zur  Zeit   noch   ausständen, 


—    1006    — 

könne  man  doch  folgern,  daß  es  auch  körperlich  und  geistig 
völlig  normale  Homosexuelle  gäbe. 

Sollte  sich  deren  Zahl  als  eine  nicht  unbeträchtliche  der- 
einst herausstellen,  so  dürfte  die  Inversion  dann  einigermaßen 
mit  Recht  als  normale  Varietät  des  Geschlechtstriebes  hingestellt 
werden.  Hierfür  spräche  auch  die  ubiquitäre  und  zu  allen 
Zeiten  vorkommende  Verbreitung  der  Homosexualiät. 

Immerhin  könne  man  die  Homosexualität,  da  bei  den 
meisten  Homosexuellen  ein  leichter  degenerativer  Zustand  bestehe, 
als  ein  —  wenn  auch  nicht  schweres  —  Stigma  bezeichnen. 

Auch  bei  sonst  gesunden  Homosexuellen  würde  man  die 
konträre  Sexualempfindung  deshalb  als  Entartungszeichen  ansehen 
können,  weil  unter  Annahme  der  Entstehung  der  Homosexualität 
auf  Grund  der  bisexuellen  Uranlage  des  Menschen  sie  entschieden 
eine  gewisse  Inferiorität  in  der  Entwickelung  des  Geschlechts- 
triebes darstelle. 

Der  körperlich  und  geistig  gesunde  Uranier  sei  auch  völlig 
zurechnungsfähig;  die  Ansicht  von  Moll,  der  jede  Inversion 
schon  als  krankhafte  Störung  der  Geistestätigkeit  angesehen  und 
behandelt  wissen  wolle,  teile  er,  Näcke,  nicht.  Nur  bei  —  wohl 
sehr  selten  vorkommender  und  schwer  zu  beweisender  Libido  — 
ferner  beim  Vorhandensein  einer  sehr  deutlich  neuropathischen 
Anlage  könne  vort  verminderter,  (bezw.  partieller)  unter  Um- 
ständen aufgehobener  Zurechnungsfähigkeit  die  Rede  sein. 

Bei  der  Untersuchung  des  „dritten  Geschlechts"  dürfe  man 
nicht  die  beliebte  moralische  Brille  aufsetzen,  sondern  vorurteils- 
los wie  jede  andere  Naturerscheinung  dasselbe  betrachten. 

Bisher  sei  es  nur  wenigen  Forschern  möglich  gewesen, 
viele  Invertirte  in  ihrer  Häuslichkeit,  in  ihrem  intimen  Treiben 
zu  studieren.  Näcke  weist  dann  auf  das  Komitee  und  Dr.  Hirsch- 
feld hin,  die  bereit  seien,  wirkliche  Interessenten  in  Kreise  von 
Homosexuellen  aller  Art  und  Stände  einzuführen,  um  ihnen  ein 
selbständiges  und  ungetrübtes  Urteil  über  die  Homosexuellen 
zu  ermöglichen.  Es  sei  damit  quasi  eine  „Homosexuellen-Klinik" 
geschaffen,  die  zu  benutzen  vor  allem  dringend  denjenigen  zu 
empfehlen  sei,  die  so  leicht  über  die  Invertirten  den  Stab  zu 
brechen  geneigt  seien,  ohne  sie  wirklich  zn  kennen.  Denn  auch 
die  Kenntnis  einiger  forensischer  Fälle  oder  einiger  Invertirter 
in  der  Privatpraxis  sei  ungenügend,  da  sie  nicht  in  die  wahre 
Psyche  derselben  eindringe.  Die  ganze  Frage  der  Homosexualität 
sei  keine  bloße  „Modesache,"  sondern  eine  ernste,  psychologische, 
forense  und  soziale.  Die  Uranier  seien  für  den  Staat  und 
die  Gesellschaft  mindestens  ebenso  nützlich  wie  die  Hetero- 
sexuellen, nach  gewissen  Richtungen  hin  vielleicht  sogar  noch 
brauchbarer. 


_    1007    — 

Auf  alle  Fälle  sei  §  175   aufzuheben,   der   mehr  Schaden 
als  Nutzen  gestiftet  habe.     Man   lasse  die   Homosexuellen  nach 
ihrer  Weise  selig  werden  und  behandle  sie  gesetzlich  nicht  anders 
als  die  Heterosexuellen.     Näcke  faßt  dann  die  Ergebnisse  seiner 
Studien   in    12   Leitsätze   zusammen,   unter   denen   No.    2  u.  3 
und  ein  Teil  von  4,   die  in  obigem  Referat  nicht  deutlich   zum 
Ausdruck  gekommen  sind,  erwähnt  sein  mögen: 
„Nr.  2:  Die  anatomische  Theorie    der  Bisexualität   gewinnt   zur 
Erklärung  der  Inversion  immer  mehr  an  Boden  und  hat 
zweifellos  die  Zukunft  für  sich. 
Nr.  3:  Alle  frühzeitig  auftretenden  Fälle  von  Homosexualität  und 
von  andern  geschlechtlichen  Perversionen  sind  mehr  als 
wahrscheinlich  originäre,  d.  h.  angeboren. 
Nr.  4:  Das  scheint  aber  auch  bei  der  Mehrzahl  der  sogenannten 
„Tardivena-Fälle  stattzufinden,    obgleich  vor   allem  hier 
noch  weitere  Untersuchungen  nötig  sind  —." 
In  einem   Nachtrag   teilt   dann   Näcke  mit,   es   hätten   sich 
ihm   zwei   Konträre   freiwillig   vorgestellt.     Den   einen   habe  er 
schon  lange  als  einen  tüchtigen,  körperlich  und   geistig   absolut 
normalen  Landwirt  gekannt,  ohne  seine  Homosexualität  zu  ahnen. 
Auch  der  andere,  ein  hochgebildeter   junger   Ingenieur,   scheine 
ihm  in  der  normalen  Variationsbreite   sich   zu  bewegen.     Beide 
seien  durch  Schriften  aufgeklärt  worden,  der  Landwirt  sei   vor- 
her nahe  am  Selbstmord  gewesen.  Man  sehe  daran,  wie  wichtig  es 
sei,  anständige  aufklärende  Schriften  über  Inversion,  von  denen 
er  die  von  Dr.  Hirschfeld  verfaßte  nennt,  zu   verbreiten.    Viele 
würden  dadurch  geradezu  vor  Verzweiflung  und  Selbstmord  oder 
der  schädlichen  Ehe  bewahrt. 

Für  ihn,  Näcke,  sei  es  jetzt  sicher,  daß  es  ganz 
normale  Homosexuelle  gäbe,  deren  Zahl  nicht  gering 
zu  sein  scheine. 

Dem  von  echt  wissenschaftlichem,  kritisch  und  ob- 
jektiv wägendem  Geist  durchdrungenen  Aufsatz  von  Näcke 
ist  die  Palme  unter  den  wissenschaftlichen  Arbeiten  aus 
dem  letzten  Jahr  zuzuerkennen. 

Besonders  rühmenswert  erscheint  es,  daß  Näcke 
nicht  zögert,  eine  frühere  Ansicht  aufzugeben,  wenn  er 
glaubt,  auf  Grund  besserer  Einsicht  nicht  mehr  an  ihr 
festhalten  zu  können. 

In  seinem  Endergebnisse  gelangt  nunmehr  Näcke  im 
allgemeinen  so  ziemlich  auf  den  von  Dr.  Hirschfeld  und 
mir  eingenommenen  Standpunkt. 


—     1008    — 

Ich  wüßte  kaum  einen  Punkt,  in  dem  ich  Näcke  zu 
widersprechen  hätte.  Mit  Genugtuung  bin  ich  in  dem 
Aufsatz  von  Näcke  auch  der  Forderung  begegnet,  die 
ich  in  meiner  vorjährigen  Erwiderung  auf  Wachenfelds 
Buch  erhoben  hatte,  indem  ich  betonte,  daß  nur  Sach- 
verständige übet  Homosexualität  schreiben  sollten  und  • 
daß  als  solche  nur  die  gelten  könnten,  die  Homosexuelle 
kennen  gelernt  hätten.  In  der  Tat,  was  würde  man  auch 
auf  andern  Gebieten  von  Forschern  sagen,  die  über  Ob- 
jekte gelehrte  Bücher  schreiben,  die  sie  nie  gesehen  und 
untersucht  haben? 

Das  Hauptinteresse  der  Erörterungen  von  Näcke 
beanspruchen  die  Fragen  über  das  Verhältnis  der  Homo- 
sexualität zu  der  aus  Perversität  vorgenommenen  gleich- 
geschlechtlichen Handlung,  sowie  über  das  Verhältnis 
der  angeborenen  und  tardiven  Homosexualität  zur  sog. 
erworbenen.  Gerade  diese  Fragen  haben  mich  schon 
öfters  beschäftigt  und  bei  der  Bekanntschaft  von  Homo- 
sexuellen bin  ich  stets  bestrebt,  sie  an  den  konkreten 
Einzelfällen  zu  prüfen.  Wirklich  zweifellos  erworbene 
Fälle  habe  ich  noch  nicht  kennen  gelernt.  Auf  den 
theoretischen  Beweis,  daß  eine  Erwerbung  der  Homosexu- 
alität nicht  möglich  sei,  will  ich  überhaupt  kein  Gewicht 
legen  und  will  auch  den  in  meiner  vorjährigen  Polemik 
gegen  Wachenfeld  —  übrigens  von  Groß  aufgestellten 
und  von  mir  nur  gutgeheißenen  — Satz:  „daß  es  nirgends 
in  der  Natur  einen  Umschlag  von  Gefühlen  gäbe"  nicht 
als  unumstößliche  Wahrheit  behaupten,  denn  vielleicht 
fände  er  in  der  Wirklichkeit  in  dem  einen  oder  andern 
Fall  doch  eine  Widerlegung. 

Theoretisch  läßt  sich  die  Unmöglichkeit  des  Erwerbs 
der  Homosexualität  eher  darauf  stützen,  daß  in  jedem 
Menschen  die  Uranlage  bisexuell  sei  und  somit  jedes 
homosexuelle  Fühlen  im  Zusammenhang  mit  dem  ange- 
borenen homosexuellen  Trieb  stehen  müsse,  der  vielleicht 


—     1009    — 

zunächst  verkümmert  und  fast  völlig  auf  den  O-Punkt 
gesunken,  durch  besondere  Umstände  aber  zur  Entwicklung 
gebracht  worden  sei. 

Würde  man  in  diesem  Sinne  auch  stets  eine  ein- 
geborene Homosexualität  annehmen,  so  ließe  sich  doch 
unterscheiden,  zwischen  Fällen,  die  in  früher  Kindheit 
oder,  in  der  Pubertätszeit  oder  gleich  nachher  aus- 
geprägtes homosexuelles  Fühlen  aufweisen,  und  solchen, 
die  erst  später  und  nach  vorherigem  heterosexuellen 
Empfinden  homosexuelle  Neigungen  zeigen. 

Mag  man  letztere  Fälle,  welche  vielleicht  äußerlich 
das  Bild  einer  Erwerbung  bieten,  als  erworbene  oder 
tardive  bezeichnen,  so  wäre  die  wichtigere  Frage  für 
solche  Fälle  die,  welche  Ursachen  die  Homosexualität 
erzeugt  bezw.  geweckt  haben. 

Mit  diesen  Fällen  haben  diejenigen  der  psychischen 
Hermaphrodisie,  bei  denen  von  vornherein  doppeltes 
Fühlen  besteht,  nichts  zu  tun.  Beide  Arten  dürfen  nicht 
verwechselt  werden.  Von  Fällen  tardiver  Homosexualität 
kenne  ich  eigentlich  nur  einen  einzigen,  es  handelt  sich 
um  einen  50jährige.n  reichen  Herrn  aus  angesehener 
Familie,  der  seit  etwa  20  Jahren,  wie  er  behauptet,  nur 
homosexuell  fühlt  und  verkehrt,  während  er  früher  hetero- 
sexuell verkehrte,  heterosexuell  fühlte,  sich  verheiratete 
und  Kinder  zeugte.  Erst  nach  Überstehung  einer 
monatelangen  Krankheit  soll  sich  das  homosexuelle  Gefühl 
eingestellt  haben. 

Hier  würde  die  Erweckung  bezw.  Erwerbung  der 
Homosexualität  wohl  einer  inneren  Entwicklung  oder 
Änderung  einer   endogenen  Ursache   zuzuschreiben    sein. 

Fälle,  wo  Heterosexuelle  durch  übermäßigen  Verkehr 
mit  dem  Weib,  durch  Übersättigung  homosexuell  fühlend 
geworden  sind,  kenne  ich  nicht.  Wohl  mag  es  vor- 
kommen, daß  mitunter  Heterosexuelle  den  homosexuellen 
Verkehr  „probiren"    wollen,   um    zu  sehen,    ob  er  einen 


—    1010    — 

speziellen  Genoß  verschaff^  oder  um  zu  versuchen,  dadurch 
das  homosexuelle  Fühlen  begreifen  zu  können. 

Ein  solcher  Fall  ist  mir  bekannt  Ein  Heterosexueller 
gab  sich  zu  gegenseitiger  Manustupration  mit  einem 
Homosexuellen  hin,  er  erklärte  sich  aber  nachher  von 
seiner  Neugierde  dauernd  geheilt. 

Die  Fälle,  bei  denen  man  manchmal  am  ehesten 
zweifeln  kann,  welches  Gefühl  eigentlich  maßgebend  ist, 
liegen  bei  den  Prostituierten  vor.  Manche,  die  heterosexuell 
sind,  verkehren  doch  homosexuell  ohne  Ekel,  ja  an- 
scheinend mit  Genuß.  Allerdings  ist  es  schwer,  hier 
Simulation,  Lüge  und  Wahrheit  zu  unterscheiden. 

Bei  gewissen  Heterosexuellen  spielt  der  grobsinnliche 
Detumescenztrieb  eine  solche  Rolle,  daß  er  seine  Befrie- 
digung auch  im  homosexuellen  Verkehr  findet.  Ferner 
gibt  es  Naturen,  die  Handlungen,  welche  andere  abstoßen 
und  anekeln,  mit  Gleichgiltigkeit  vornehmen. 

Aber  in  allen  diesen  Fällen  bleibt  das  eigentliche 
heterosexuelle  Fühlen  unberührt,  ebenso  wie  viele  Homo- 
sexuelle, trotzdem  sie  ohne  Ekel  und  mit  Leichtigkeit 
mit  ihrer  Ehefrau  coitieren  können,  dadurch  ihre  homo- 
sexuelle Empfindung  nicht  verlieren  und  der  Betätiguug 
ihrer  Homosexualität    sich    nicht  zu  enthalten  vermögen. 

Mit  Näcke  will  ich  die  Möglichkeit  nicht  bestreiten, 
daß  fortgesetzte  Befriedigung  des  Detumescenztriebes 
seitens  eines  Heterosexuellen  im  homosexuellen  Verkehr 
Ansätze  zu  homosexuellem  Fühlen  hervorbringen  möge, 
ebenso  wie  sich  Ansätze  heterosexuellen  Fühlens  bei  den 
verheirateten  Homosexuellen  vielleicht  herausbilden. 

Man  kann  schließlich  sogar  in  jeder  Befriedigung 
des  Detumescenztriebs  an  einer  Person  einen  Ansatz 
zum  Kontrektationstrieb  gegenüber  dem  Geschlecht,  dem 
die  Person  angehört,  finden. 

Von  Bedeutung  wären  aber  diese  Ansätze  des  homo- 
sexuellen Fühlens  beim  Heterosexuellen  nicht. 


—     1011     — 


Denn  erstens  ist  bis  jetzt  nicht  bewiesen,  daß  sie  sich 
zur  völligen  Homosexualität  entwickeln  können,  und 
zweitens,  wenn  dies  möglich  sein  sollte,  so  geschähe  dies 
nur  in  seltenen  Fällen. 

Denn  —  und  darauf  kommt  es  an  —  die 
Hauptmasse  der  Homosexuellen,  wie  man  ihr 
in  der  Wirklichkeit  begegnet,  wird  gebildet 
durch  diejenigen,  welche  schon  in  der  Kind- 
heit oder  zur  Zeit  der  Pubertät  oder  gleich 
nachher  homosexuell  fühlten. 

Die  Sachlage  ist  gerade  umgekehrt  derjenigen,  die 
viele  Laien  und  im  Punkte  der  homosexuellen  Erfahrung 
laienhafte  Arzte  annehmen.  Regel  ist  das  ausgeprägte, 
in  der  ureigensten  Natur  des  Homosexuellen  tief  einge- 
wurzelte homosexuelle  Gefühl;  dagegen  unbewiesen  eine 
Erzeugung  der  Homosexualität  durch  Übersättigung, 
Wüstlingtum  u.  dgl. 

Sollten  solche  Fälle  noch  erwiesen  werden,  so  wären 
sie    nur    verschwindende  Ausnahmefälle;    für    die  Beur- 
teilung   der  Hauptmasse   der   Homosexuellen    wären    sie 
daher  ohne  große  Bedeutung. 
Bernaldo  de  Qulrös  y  Ha.  cha  Llanas  Agiiilaniedo.   La 

mala  vida  en  Madrid.     Madrid,  Serra,  19011). 

Aus  dem  hochinteressanten  Buche  des  Verf.  sei 
Folgendes,  die  Homosexualität  Betreffendes,  erwähnt. 
Verf.  unterscheiden  vorab  1.  solche,  die  sich  als  anderes 
Geschlecht  fühlen,  reine  Invertirte,  2.  Pseudo-Invertirte,  die 
nur  die  ihrem  eigenen  Geschlechte  entsprechenden  Gefühle 
haben  und  Akte  auslösen,  3.  die  Dimorphen,  die  aktiv 
oder  passiv  auftreten,  4.  die  Polytsexuellen=sexuellen 
Hermaphroditen  Krafft-Ebings.  Dann  werden  näher  19 
Uranier  beschrieben,  mit  Kopf-  und  Körpermaßen,    alles 


*)  Aach  diese  Besprechung  rührt  in  dankenswerter  Weise  von 
Medizinalrat  Dr.  Näcke  her. 

Jahrbuch  V. 


64 


—    1012    — 

Prostituierte.  Verf.  nehmen  „ geborene"  Invertierte  an,  viel 
seltener  solche  „aus  Laster ".  Aus  beiden  Klassen  gehen 
die  homosexuellen  Prostituierten  hervor.  Solche  gibt  es 
auch  in  Spanien,  den  untersten  Klassen  angehörig. 
Weiter  wird  vermerkt,  daß  das  Geschlechtsgefühl  nicht 
immer  dem  äußeren  Habitus  entspricht,  daß  also  männlichem 
Typus  weibliche  Psyche  innewohnt  etc.  Es  sei  falsch, 
die  Uranier  als  Abortiv-Männer  hinzustellen,  dier anatomisch 
(bez.  der  Genitalien)  den  Normalen  gegenüber  minder- 
wertig wären.  In  Spanien  und  speziell  in  Madrid  ist  das 
Volk  sehr  homosexuell-feindlich  gesinnt,  wenn  gleich  jetzt 
weniger  als  früher.  Verf.  beschreiben  dann  die  Feier  von 
Hochzeiten,  Entbindungen  und  Taufen  bei  Homosexuellen. 
Die  Invertirten  huldigen  durchaus  nicht  alle  der  Päderastie. 
Auf  den  belebtesten  Straßen  Madrids  gibt  es  »Striche*. 
Manche  bedienen  sich  der  Inversion  zum  Zwecke  des 
ßaubes,  Diebstahls,  ja  des  Mordes.  Auch  die  Tribadie 
ist  angeboren  oder  erworben.  Häufig  ist  sie  bei  Huren 
und  Verbrecherinnen.  Auch  hier  gibt  es  eine  homosexu- 
elle weibliche  Prostitution. 

Reiffegg,  Dp.:  Die  Bedeutung  der  Jünglings- 
liebe für  unsere  Zeit  (Leipzig,  Verlag  Spohr, 
1902.     60  Pfg.). 

Einleitung.  Die  Jünglingsliebe,  das  ideale  Liebesbündnis 
eines  gereiften  Mannes  mit  einem  erwachsenen  Jüngling,  könne 
sozial  von  größtem  Nutzen  werden,  wenn  man  nur,  wie  einst  in 
den  besten  Zeiten  des  alten  Hellas,  dieser  Erscheinung  das  nötige 
Licht  und  die  nötige  Luft  zu  ihrer  freien  Entwicklung  geben  wolle. 

I.  Die  Bedeutung  der  Jünglingsliebe  für  die  Erziehung. 

Ein  guter  Lehrer  könne  nur  der  sein,  der  seine  Schüler 
liebe.  Wer  aus  Begeisterung  und  Liebe  für  den  Jüngling  als 
solchen  das  schwere  Amt  übernommen  habe,  könne  die  segens- 
reichste Wirkung  auf  die  Bildung  des  Geistes  und  des  Charak- 
ters der  geliebten  Zöglinge  ausüben. 

Aber  auch  das  Verhältnis  der  Zöglinge  untereinander  könne 
die  in  die  richtigen  Bahnen  geleitete  Jtinglingsliebe  aufs  gün- 
stigste beeinflussen  und  so  erzieherisch  wirken. 


—    1013    — 

Würde  man  wie  in  Hellas  in  den  Bündnissen  der  Knaben 
und  Jünglinge  etwas  Schönes,  Herrliches  sehen  und  ihnen  durch 
Anspornen  der  gegenseitigen  Opferfreudigkeit  und  Hingabe  einen 
festen,  immer  klarer  werdenden  Inhalt  geben,  der  das  Sinnliche 
ganz  von  selbst  in  den  Hintergrund  drängte,  so  würden  die  im 
Dunkeln  vorhandenen  Giftgewächse,  in  die  heute  ein  solches 
Verhältnis  nicht  selten  ausarte,  überhaupt  gar  keinen  Raum  zur 
Entwicklung  haben. 

II.  Die  Bedeutung  der  Jünglingsliebe  in  sozialer  Hinsicht. 

Würde  die  Liebe  der  Homosexuellen  nicht  verachtet,  son- 
dern anerkannt,  so  könnten  die  homosexuell  Veranlagten,  anstatt 
ihr  Leben  in  qualvoller,  oft  jeder  Arbeitsfreudigkeit  sie  be- 
raubenden Kämpfen  hinzubringen,  in  edler,  offener  Liebes- 
werbung um  den  Geliebten  ihr  Bestes  entfalten  und  den  Ge- 
liebten geistig  und  moralisch  erziehen.  Die  Sinnlichkeit  würde 
in  solchen  Verhältnissen  ganz  von  selbst  sehr  in  den  Hinter- 
grund gedrängt. 

Der  wirklich  von  wahrer  Liebe  beseelte  Homosexuelle 
würde  sich  gegenüber  einem  heterosexuellen  Geliebten  mit 
geistiger  Gemeinschaft  edelster  Art  begnügen  und  aus  seiner  Liebe 
die  Kraft  schöpfen,  sinnlichen  Forderungen  zu  entsagen. 

Die  Allgemeinheit  könnte  durch  solche  Bündnisse  nur  ge- 
winnen. Durch  die  Anerkennung  der  homosexuellen  Liebe  werde 
die  Stellung  der  Frauen  nicht  herabgedrückt,  wie  man  manch- 
mal befürchte. 

Da  die  Homosexualität  nicht  übertragbar  sei,  würden  keine 
Heterosexuellen  vom  Weibe  abspenstig  gemacht.  Wenn  aber 
insofern  eine  Änderung  einträte,  als  das  Weib  nicht  mehr  wie 
heute  so  oft  das  beinahe  krankhaft  angebetete  Ideal  auch  der 
besten  Männer  und  infolgedessen  nicht  selten  die  grausame 
übermütige  Spielerin  mit  Männerglück  wäre,  wenn  dagegen 
wieder  ein  wenig  die  echte  Weiblichkeit  mehr  zur  Geltung 
käme,  so  wäre  dies  kein  Schaden. 

Wüßte  das  Weib,  daß  es  eventuell  mit  den  jungen  Männern, 
wie  im  alten  Hellas,  den  Mann  zu  teilen  habe,  so  würde  diese 
Einsicht  nicht  selten  auf  den  Hochmut  manches  hohlköpfigen, 
aber  hübschen  Weibes  heilsam  wirken. 

Das  Weib  hätte  sogar  einen  direkten  Gewinn,  wenn  es 
den  zukünftigen  Ehemann  aus  den  liebenden  Armen  des  auf- 
opferungsfähigen erzieherischen  Freundes  anstatt  aus  den  ent- 
nervenden der  Dirne,  wie  heute  fast  immer,  empfinge. 

64* 


—     1014    — 

III.  Die  Bedeutung  der  Jtinglingsliebe  in  der  Kunst. 

In  zahlreichen  mustergiltigen  Werken  der  alten  Griechen 
finde  sich  eine  herrliche  Verewigung  der  Jünglingsliebe,  ebenso 
in  den  Darstellungen  der  Jünglingskörper  zur  Renaissancezeit,  so- 
wie seitens  Künstler  der  spätem  Zeit  (Michel  Angelo,  Sodoma, 
Dürer,  Peter  Fischer,  Duquesnoy,  Canova,  Thorwaldsen.) 

Heute  überwiege  in  den  bildenden  Künsten  die  Darstellung 
des  Weibes  in  allen  nur  erdenklichen,  bald  rein  künstlerischen, 
bald  auch  mehr  die  Erweckung  der  Sinnlichkeit  bezweckenden 
Posen;  man  scheine  zu  vergessen,  daß  der  jugendliche  Mannes- 
leib zum  mindesten  ebenbürtig  an  Schönheit  dem  des  Weibes 
sei!  Mit  Freuden  seien  darum  auch  von  Seite  der  Homosexuellen 
die  mehr  und  mehr  sich  ausbreitenden  Licht-,  Luft-  und  Sport- 
bäder zu  begrüßen;  es  sei  zu  hoffen,  daß  in  ihnen  gerade  auch 
bei  den  „Normalen"  wieder  mehr  Verständnis  für  die  Schönheit 
des  Jünglingskörpers  geweckt  werde. 

Auch  in  der  Dichtung  beschäftigten  sich  die  „Führer"  aus- 
schließlich mit  dem  Weib.  Doch  sei  schon  eine  Anzahl  von 
Ausnahmen  zu  verzeichnen. 

Verfasser  führt  dann  die  hauptsächlichsten  Vertreter  der 
homosexuellen  Belletristik  und  ihre  Werke  an.  Zum  Schluß 
verficht  er  die  Berechtigung  der  homosexuellen  Belletristik.  Auf 
dem  Gebiete  der  Homosexualität  seien  noch  so  viele  ungelöste 
Probleme,  daß  eine  reiche  Ausbeute  für  echte  Künstler  darin  zu 
finden  sei. 

Auch  die  Kunst  würde  den  schönsten  Gewinn  aus  einer 
allgemeinen  Änderung  der  Anschauungen  über  die  Jünglings- 
liebe ziehen. 

Das  von  warmem  Idealismus  erfüllte  Schriftchen  er- 
wartet mit  Recht  von  der  Änderung  in  der  Beurteilung 
der  Homosexualität  günstige  Folgen  für  das  allgemeine 
Wohl.  Verfasser  hegt  wohl  etwas  allzu  optimistische 
Hoffnungen,  aber  hohe  Ideale  und  weit  gesteckte  Ziele 
sind  im  Grunde  kein  Schaden. 

Gute  Früchte  könnten  allerdings  entsprießen  aus 
offenen  Bündnissen  zwischen  Homosexuellen  und  normalen 
Jünglingen,  bei  denen  der  Homosexuelle  unter  Über- 
windung seiner  Sinnlichkeit  die  Förderung  des  Geliebten 
in  geistiger  und  moralischer  Beziehung  erstreben  würde. 


—    1015    — 

Natürlich  wird  nur  ein  Teil  unter  den  Homosexu- 
ellen zu  einer  aufopferungsfähigen  Liebe  edelster  Art 
sich  aufschwingen  können,  ebenso  wie  bei  den  Hetero- 
sexuellen eine  derartige  Liebe  zu  den  Ausnahmen  gehört. 
Ich  kann  immer  nur  wiederholen,  daß  man 
die  Homosexualität  nicht  als  höhere,  bessere 
Liebe  in  Gegensatz  zur  Heterosexuajität 
bringen  darf  —  was  übrigens  Verfasser  des  Schriftchens 
wohl  auch  nicht  beabsichtigt.  Beide  haben  ihre  Licht- 
und  ihre  Schattenseiten.  Letztere  werden  selbstverständ- 
lich auch  bei  der  Anerkennung  der  homosexuellen  Liebe 
nicht  verschwinden. 

Die  Ausführungen  des  Verfassers  in  Abschnitt  I 
scheinen  mir  teilweise  etwas  gesucht  und  nicht  recht  be- 
weiskräftig. Unter  dem  an  und  für  sich  schon  nicht  be- 
sonders zahlreichen  Stand  der  Lehrer  und  Erzieher  wer- 
den doch  stets  nur  wenige  Homosexuelle  sich  befinden, 
so  daß  nur  bei  einer  verschwindend  kleinen  Anzahl  die 
Homosexualität  die  Erziehungsmethode  beeinflussen  wird, 
sodann  sehe  ich  nicht  ein,  warum  nicht  jetzt  schon  die 
homosexuellen  Lehrer  ihre  Empfindung  für  die  männliche 
Jugend  in  einer  auf  selbstloser,  edler  Liebe  beruhenden 
Behandlung  ihrer  Schüler  betätigen  können,  ferner  glaube 
ich,  daß  überhaupt  zur  Anbahnung  eines  edlen,  vertrauens- 
vollen Verhältnisses  zwischen  Lehrer  und  Schüler,  sowie 
zu  einer  die  Individualität  des  Schülers  berücksichtigenden 
Erziehung  nicht  unbedingt  homosexuelle  Lehrer  nötig 
sind,  manche  Heterosexuellen  besitzen  dazu  die  erforder- 
liche Fähigkeit  und  den  guten  Willen. 
Schrickept,  Wilhelm,  Dr.:  Zur  Anthropologie  der 
gleichgeschlechtlichen  Liebe.  In  der  Politisch- 
Anthropologischen  Revue.  1.  Jahrg.  No.  5.  August  1902 

Ausführungen  anknüpfend  an  Bloch's  „Beiträge  zur  Ätiologie 
der  Psychopathia  sexualis."  Das  wichtigste  Ergebnis  Blochs  sei 
wohl  der  Nachweis,   daß   die  physiologischen   wie  auch   patho- 


—    1016    — 

ogischen  Erscheinungen  des  Sexuallebens  so  alt  wie  der  Mensch 
seien.  Zu  allen  Zeiten  fände  man  abnorme  sexuelle  Befriedigungs- 
arten, auch  bei  den  Naturvölkern  begegne  man  ihnen  überall. 

Schrickert  bezweifelt  dann  die  Richtigkeit  der  Annahme 
Bloch's,  als  sei  die  Homosexualität  nicht  angeboren.  Die  beiden 
Argumente  Blochs:  „Die  Homosexualität  sei  in  fast  allen  Fällen 
auf  Verführung  zurückzuführen  und  dieselbe  sei  durch  Suggestions- 
therapie heilbar"  seien  nicht  durchschlagend.  Wie  komme  es 
denn,  fragt  Schrickert,  daß  unter  denselben  Bedingungen  der 
Verführung  die  einen  so  schnell  und  leicht  in  homosexueller 
Richtung  reagierten  und  andere  wieder  absolut  ablehnend  sich 
verhielten?  Wenn  hier  keine  Anlage  vorhanden  wäre,  so  könnte 
diese  Reaktion  nicht  so  schnell  eintreten.  „Von  selbst"  äusserten 
sich  diese  Instinkte  allerdings  nicht.  Die  angeborenen  Disposi- 
tionen bedürften  der  äußeren  psychologischen  Reizauslösung,  der 
Nachahmung  und  Verführung,  wenn  man  so  sagen  wolle. 

Natürlich  beträfe  dies  nur  das  Auftreten  der  Homosexualität 
in  den  jüngeren  Jahren.  Die  Heilbarkeit  der  Homosexualität  sei 
kein  Beweis  gegen  die  Annahme  des  Angeborenseins.  Warum 
sollten  nicht  auch'  angeborene  und  ererbte  Dispositionen  im 
Gehirn  durch  Suggestion  umgeändert  werden  können.  Gerade 
die  von  Bloch  nachgewiesene  Tatsache,  daß  die  Homosexualität 
eine  allgemeine  anthropologische  Erscheinung  darstelle,  sei  ein 
Argument  dafür,  daß  sie  nicht  blos  durch  Verführung  und  Nach- 
ahmung entstehe,  sondern  eine  natürliche  Varietät  in  der 
Entwicklungsgeschichte  des  Geschlechtstriebes  bilde.  Wie  die- 
selbe körperliche  Krankheit  oft  durch  verschiedene  Ursachen 
hervorgerufen  werden  könne,  so  seien  wohl  auch  die  Geschlechts- 
verirrungen zum  Teil  sexuelle  Zwischenstufen,  zum  Teil  nach- 
träglich erworbene  und  zum  Teil  erbliche  Entartungserscheinungen. 
Welche  Form  zahlenmäßig  tiberwiege  —  nach  Ort,  Zeit  und 
Verhältnissen  verschieden  —  das  werde  erst  festgestellt  werden 
können,  wenn  man  einmal  gelernt  habe,  die  einzelnen  Fälle 
mehr  in  Bezug  auf  ihre  anthropologische  Genealogie  zu  analysieren. 

Schrickert  mißbilligt  sodann  die  Anschauung  von  Bloch, 
wonach  die  Homosexuellen  in  Spezialanstalten  zu  internieren 
seien  und  eine  gänzliche  Aufhebung  des  Strafgesetzes  von  den 
unheilvollsten  Folgen  begleitet  sein  würde.  Das  sei  zu  schwarz 
gesehen.  Heute  sei  dieser  Paragraph  eine  Quelle  des*  schänd- 
lichsten Erpressertums  und  aus  diesem  Grunde  triebenfjsich  in 
in  Berlin  mehr  männliche  Prostituirte  herum  als  z.  B.  \in  Paris 
und  Rom,  ja  selbst  in  Neapel.  Was  verlangt  werden  müsse, 
sei  energischer,  strafgesetzlicher  Schutz  der  Kinder  und  Jugend- 
lichen. Sonst  widerspräche  jener  Paragraph  dem  modernen 
Rechtsbewußtsein  in  jeder  Hinsicht.    Er  beschütze  weder  Eigen- 


—    1017    — 

tum  noch  Leben,  noch  die  öffentliche  Ordnung,  und  man  habe 
nicht  mit  Unrecht  darauf  hingewiesen,  daß  z,  B.  ein  Syphilitischer 
straflos  schweres  Unheil  anrichten  dürfe,  demgegenüber  die  Übel 
der  homosexuellen  Vergehungen  kaum  in  Betracht  kämen.  Im 
Übrigen  möge  man  die  Homosexuellen  nach  ihrer  Faeon  selig 
werden  lassen.  Eine  direkte  physiologische  und  psychologische 
Gefahr  böten  sie  unter  sonst  gesunden  Verhältnissen  nicht.  Über- 
haupt sollte  man  sich  darüber  klar  werden,  daß  jede  Kulturhöhe 
zugleich  eine  Decadenz  in  sich  schließe,  die  durch  die  große 
Differenzierung  und  Variation  der  Triebe  und  Bedürfnisse  einer 
solchen  Zeit  notwendig  verursacht  werde,  man  solle  auch  nicht 
vergessen,  daß  die  Homosexualität  oft  genug  mit  hoher  geistiger 
Begabung  und  großer  Güte  des  Herzens  verbunden  sei  und  in 
künstlerischer  Hinsicht  eine  psychologische  Quelle  bedeutender 
ästhetischer  Leistungen   sein  könne  und  auch  gewesen  sei. 

In  diesen  wenigen  Zeilen  hat  Schrickert  treffend  die 
Schwächen  der  Blochschen  Argumentation  und  insbe- 
sondere mit  Recht  den  Widerspruch  hervorgehoben,  der 
darin  besteht,  einerseits  ausdrücklich  die  Ubiquität  der 
Homosexualität  nach  Zeit  und  Ort  festzustellen  und 
andererseits  sie  als  Laster  Heterosexueller  zu  betrachten. 

Der  Aufsatz  von  Schrickert  beweist,  daß  Bloches 
Ausführungen  und  das  von  ihm  vorgebrachte  Material 
keineswegs  zu  der  Ueberzeugung  von  der  Notwendigkeit 
der  Aufrechterhaltung  des  §  175  drängen  und  keineswegs 
die  für  das  Bedürfnis  einer  Aufhebung  bestehenden 
Gründe  entkräften. 

Eine  Bemerkung  von  Schrickert  möchte  ich  be- 
richtigen. 

Wenn  er  sagt:  „Diese  Instinkte  (die  homosexuellen) 
äußerten  sich  nicht  von  selbst.  Die  angeborenen  Dispo- 
sitionen bedürften  der  äußeren  psychologischen  Reizaus- 
lösung der  Nachahmung  und  Verführung",  so  ist  dies 
grundsätzlich  nicht  richtig. 

Bei  vielen  Homosexuellen  sind  die  ersten  gleichge- 
schlechtlichen Gefühle  und  Triebe  durch  den  bloßen  An- 
blick gewisser  Jünglinge  oder  Männer  geweckt  worden, 
ohne   daß   irgend    eine  Verführung  oder  körperliche  Be- 


—    1018    — 

rühruog  oder  irgend  ein  zur  Nachahmung  verlockender 
Vorgang  erfolgt  ist.  Viele  Homosexuelle  haben  schon 
in  frühester  Kindheit  bei  dem  Anblick  und  der  Gegenwart 
gewisser  männlicher  Personen  Gefühle  der  Wonne  und 
der  Anziehung  empfunden,  über  deren  Natur  sie  sich  erst 
später  bewußt  wurden.  Wenn  sie  dann  später  homo- 
sexuelle Akte  vornehmen,  so  werden  bei  Vielen  hierdurch 
nicht  erst  homosexuelle  Gefühle  hervorgerufen,  sondern 
diese  Akte  sind  Ausfluß  des  längst  bestehenden  Triebes, 
der  zu  diesen  Handlungen  endlich  mit  Gewalt  hindrängt. 
Daß  bei  manchen  Homosexuellen  erst  durch  die  Vor- 
nahme gleichgeschlechtlicher  Akte  stärkere  homosexuelle 
Gefühle,  die  schlummerten,  geweckt  werden,  ist  nicht  zu 
leugnen,  aber  auch  hier  wird  der  homosexuelle  Trieb 
nicht  erst  erzeugt,  sondern  nur  deutlicher  zum  Bewußt- 
sein gebracht,  ebenso  wie  bei  vielen  Heterosexuellen  erst 
durch  den  ersten  Verkehr  mit  dem  Weib  eine  lebhaftere 
Sehnsucht  zu  ihm  erwacht,  während  vorher  vielleicht 
nur  schwache  Dränge  bestanden. 

Wachenfeld:  Zur  Frage  der  Strafwürdigkeit 
des  homosexuellen  Verkehrs  im  Archiv  für 
Strafrecht  von  Goltdammer.     49.  Jahrg.  1.  u.  2.  Heft. 

Der  Aufsatz  ist  eine  verkürzte  Wiedergabe  des  zweiten 
und  besonders  des  dritten  Abschnittes  des  von  mir  im  vor- 
jährigen Jahrbuch  eingehend  besprochenen  Buches  von  Wachenfeld: 
„Homosexualität  und  Strafgesetz." 

Das  einzig  Neue  in  der  Abhandlung  ist  eine  Polemik  gegen 
Groß  und  dessen  Ansicht,  „ein  Umschlag  in  der  Triebrichtung 
finde  in  der  Natur  nicht  statt  und  die  Homosexualität  sei  wohl 
stets  mehr  oder  weniger  als  angeboren  zu  betrachten.« 

Eine  Inhaltsangabe  und  eine  Kritik  des  Aufsatzes  halte  ich 
angesichts  der  vorjährigen  Besprechung  und  Widerlegung  des 
Wache  nfeldschen  Buches  für  überflüssig  und  unangebracht. 


—    1019    — 


Kapitel  IL 


Belletristik  der  Jahre  1901  und  1902. 

I.   Männliche  Homosexualität. 

Anonym:  Der  Abfall  vom  Weibe:   Studie    (Dresden 

und  Leipzig,   L.    Pierson^   Verlag,   1901,  Pr.  2  M.) 

161  Seiten. 

Graf  Alfred  von  Wildenegg  war  mit  seiner  Cousine  Elsa, 
die  er  innig  liebte,  verlobt;  sie  hat  sich  von  ihm  losgesagt, 
weil  beide  nicht  zu  einander  paßten.  Dieser  Bruch  hat  Alfred 
aufs  Tiefste  erschüttert  und  den  Keim  des  Hasses  gegen  das 
ganze  weibliche  Geschlecht  in  ihn  gesät. 

Sein  Freund,  Hermann  von  Trimmerstorff,  hat  sich  in  die 
Zirkusreiterin  Ciaire  verliebt,  Alfred  speist  mit  Hermann  und 
Ciaire  nach  der  Zirkusvorstellung  im  Nachtrestaurant. 

Als  Alfred  am  andern  Morgen  auf  sein  einige  Stunden 
von  der  Stadt  in  wildromantischer  Gegend  gelegenes  Schloß 
zurückgekehrt  ist,  kommt  ihm  die  ganze  Hohlheit  der  nächt- 
lichen Unterredung  mit  Ciaire  zum  Bewußtsein. 

Das  harmlose  Gespräch,   das  Alfred   am  Tage   zuvor  mit 
dem    15jährigen   Bruder  Hermann's   hatte,   erscheint   ihm   ange- 
nehmer.    Auch    der    Vergleich    der  Reiterin    mit    dem    kleinen 
Kammerdiener,  der  nur  mit  dem  Rock  auf  dem  nackten  Leib  be- 
kleidet, schnell  dem  in  aller  Frühe  zurückkehrenden  Grafen  den 
Thee  und  die  Cigaretten  bereitet,  fällt  zu  gunsten  des  Jungen  aus. 
„Als   so   der  Knabe  die  erste  Cigarette,  um  sie  zu 
schließen,   zum   Munde  führte,  fi^J  Alfred  Miß  Ciaire 
wieder  ein.    Dieselbe  Bewegung  —  und  auch  sie  hatte 
ihm  die  Haut  an  Brust  und  Schultern  sehen  lassen  — 
aber  natürlich  verhüllt.    Auf  diese  Art  verhüllt,  dachte 
er,  das  heißt  nichts  anderes  als:  Nur  einen  Schein  von 
diesem  Wunder  darfst   du  schauen,  damit  du  sehnend 
dann   darnach   verlangst!     Als   ob   es  wirklich  jeden 
Mann  reizen  müßte,   wenn  er  dieses  sülzartig  beweg- 
liche Klumpenwunder  zu  Gesicht  bekommt.«  .  .  . 

„Der  Mann  macht  sich  zur  Arbeit  den  Unterarm  frei 
und  den  Hals  —  das  ist  logisch.  Zwecklos  ist  nichts. 
Das  Weib  geht  also  —  indem  sie  Brust  und  Schultern 
bloßlegt  —  auch  zur  —  Arbeit.    Pfui!«    (S.  30). 


-»    1020    — 

Ein  junger  Bauernbursche,  Flori,  wird  im  Streit  mit 
Kameraden  in  der  Wirtschaft  durch  einen  Messerstich  verletzt. 
Alfred,  der  gerade  vorüberfährt,  nimmt  sich  des  Verwundeten 
an  und  läßt  ihn  auf  das  Schloß  tragen. 

Alfred  lebt  mehrere  Wochen  völlig  zurückgezogen  auf 
seinem  Schloß. 

Mit  Hermann  hat  er  sich  wegen  Ciaire  entzweit,  da  dieser 
seine  Familie  verlassen  hat  und  in  seiner  blinden  Leidenschaft 
mit  der  Reiterin  zusammenwohnt. 

„Alfred  lebte  still  zurückgezogen  fern  vom  Getümmel 
der  Welt.     Seitdem  das  Band  mit  Elsa  gelöst,  hatte  sich 
seine    ganze    Lebensauffassung,     seine    ganze    Welt- 
anschauung  in  sonderbarer  Weise  geändert.    Auch  das 
Zerwürfnis   mit  Hermann  war  ihm  nahe  gegangen,  um 
so    mehr    als    wieder    nur    ein    Weib    daran    Schuld 
gewesen.«    (S.  68). 
Alfred  widmet   sich   ganz   der   Pflege   des   kranken  Flori. 
Als  Flori  völlig  genesen   das  Schloß   verläßt,   empfindet  Alfred 
wieder  die  Öde  seines  Daseins. 

„Sein  Leben  ist  nur  ein  freudloses  Abwarten  der 

Sekunde,  ein  Gaffen  in  das  unendliche  Grau.     Die  That- 

kraft   der  Liebe,   die   das  Unmögliche   möglich  macht, 

fehlte,  und  so  sah  er  sein   junges  Leben   dahingehen 

—  nüchtern  und  öde«  (S.  70). 

Alfred  will  noch  einmal  seine  frühere  Liebe,    Elsa,  sehen. 

Im  Versteck  und  von  ihr  unbemerkt,  belauscht  er  sie  mit  ihrem 

Bräutigam  auf  dem  Spaziergang  in  verliebter  Unterhaltung.    Aber 

auch  Elsa  läßt  ihn  jetzt  kalt. 

„War  ja  doch  Elsa  auch  nur  ein  Weib!  Wie  hatte 
ihm  denn  je  diese  Weiblichkeit  gefallen  können?    Und 
heute,  wo  er  gekommen  war,   sich  ihr  Bild  als  Jung- 
frau  noch „  einmal    einzuprägen,  heute  konnte   sie  ihm 
nicht    mehr    gefallen.     War    er   denn   verdammt,   nie 
mehr   die  Wonne   zu  empfinden,   die   die  Natur   dem 
Liebenden     gewährt.      Langsam    schlich    er    davon." 
(Seite  74). 
Hermann,  dessen  Leidenschaft  für  Ciaire   fortdauert,   wird 
durch  Alfred  über  den  niederträchtigen  Charakter  seiner  Maitresse 
dank  einer  Falle,  die  ihr  Alfred  stellt,  aufgeklärt   und   von  dem 
verderblichen  Weib  befreit. 

Hermann's  Mutter  und  dessen  Schwester,  die  hübsche 
Maya,  bezeugen  Alfred  ihre  Erkenntlichkeit.  In  den  Augen 
von  Maya  liest  Alfred  eine  wahre  Liebe  zu  ihm,  aber  er  kann 
sie  nicht  erwidern,  er  wird  das  Gefühl,  das  er  nicht  empfindet, 


—    1021    — 

auch    nicht    erheucheln,    er    würde    Maya    einstens    doch    nur 
schmerzlicher  aus  ihrem  Traum  reißen  müssen. 

Der  alte  Peter,  den  Flori  bisher  für  seinen  Vater  gehalten, 
wird  bei  dem  Wildern  betroffen  und  im  Kampf  mit  den  Jagd- 
hütern erschossen.  Vor  seinem  Tode  erzählt  er  Flori,  daß  er 
nicht  sein  Vater  ist  und  daß  Flori  dem  ehebrecherischen  Ver- 
hältnis des  Vaters  des  Grafen  Alfred  mit  Peter's  Frau  entsprossen. 
Auch  Alfred  erfährt  die  Abkunft  Flori 's,  dieser  ist  aber 
nicht  sein  Bruder,  denn  aus  alten  Briefen  hat  Alfred  die  Gewiß- 
heit erlangt,  daß  er  selbst  die  Frucht  des  Ehebruchs  seiner 
Mutter  ist. 

Aus  den  alten  Papieren  ersieht  er  auch,  daß  die  bisher 
von  ihm  hochgeehrte  Frau  Trimmerstorff  eine  der  Geliebten 
seines  Vaters  war. 

Alle  diese  Enthüllungen  verdüstern  noch  mehr  das  Gemüt 
Alfred's;  er  gibt  sich  langen  Grübeleien  hin  über  Sinn  und  Zweck 
des  Lebens,  über  die  ungerechtfertigte  Unterdrückung  der  ge- 
sunden Sinnlichkeit,  durch  welche  nur  Unnatur  gezüchtet  werde, 
über  die  Verkümmerung  des  Körpers,  die  Beeinträchtigung  der 
körperlichen  Schönheit  um  des  Geistes  willen,  wodurch  nur  die 
Sucht  nach  Wollust  ohne  Gefallen  erzeugt  werde. 

„Und  giebt  es  denn  auf  Erden  keine  Liebe,  die 
auch  beglückend  wirken  könnte,  ohne  ein  so  niedriges, 
häßliches  Spiel  zu  sein,  ohne  ein  zeitliches  Ziel  — 
die    Vereinigung    —    zu    haben,   wo   nur    der  Kuß   als 

einziges,  nichtentwürdigendes  Zeichen 

Doch  wilde  Leidenschaft,  die  unerfüllbar,  unerreichbar, 
weil  sie  nur  geistige  Liebe   zu    körperlicher   Schönheit 
ist,  muß  selbst  den  Kuß  mit  Strenge  sich  versagen,  um 
nicht    zu    sinken   in   den  Abgrund,  in  jenen  Pfuhl  ent- 
würdigender Unnatürlichkeit,  wo  doch  auch  solche  Liebe 
hfenieden  schon   Befriedigung  sucht     Dann   schwindet 
schnell  der  Trieb  der  Phantasie,  der  über  menschliche 
Natur  sich    wollt'    erheben;    man    hat   den    Geist   be- 
trogen, und  seinen  Leib,  dessen   Natur  man  stolz  ver- 
leugnet; zur  Unnatur  mißbraucht«  (S.   142). 
Alfred  verschafft  Flori  die  Stelle  eines  Försters   in  seinen 
Wäldern;  so  wird  er  seine  Braut  heiraten  können.     Alfred  selbst 
empfindet   Zufriedenheit,    daß    Flori    ihm    sein    Glück    verdankt. 
Sein  Gemüth  wird  wieder  ruhig.     Die  Hoffnung  auf  ein  besseres 
Sein,    auf    ein    ewiges  Fortleben    und    einen   gütigen  Gott  giebt 
ihm  den  Frieden» 

Den  Grundgedanken    seiner    Novelle    hat    Verfasser 
in  einem  Vorwort  ausgesprochen ; 


—    1022    — 

Bei  der  gänzlichen  Verschiedenheit  von  Mann  und  Weib 
an  Körper,  wie  an  Characteranlage  sei  ein  bindendes  Etwas  — 
die  geschlechtliche  Liebe  —  nötig,  damit  ein  gegenseitiges  Ge- 
fallen zwischen  den  Geschlechtern  möglich  sei. 

Wirkten  nun  —  meist  seelische  —  Einflüsse  dahin,  daß  ein 
Mensch  die  Liebe  von  sich  weise,  so  könne  er  auch  dem  Gegen- 
geschlecht keinen  Reiz  mehr  abgewinnen. 

Die  tibertrieben  gehässigen  Stellen,  wie  über  Frauenwürde, 
körperliche  Schönheit  u.  s.  w.  seien  dahin  auszulegen,  daß,  wer 
die  Bahn  der  Unnatürlichkeit  betreten,  sich  darin  gefalle,  wenn 
gleich  er  vollkommen  einsehe,  daß  diese  nie  zum  Glücke  führen 
könne.  Er  gefalle  sich  darin,  weil  diese  Veranlagung  —  bevor 
sie  in  widernatürliche  Leidenschaft  ausarte  —  einen  eigenen  Reiz 
berge:  den  Nimbus,  daß  man  durch  die  Liebe  an  nichts  Irdisches 
gebunden,  höheren  Idealen  zustrebe,  seine  volle  Kraft  für  höhere 
Leistungen  verwenden  wolle,  daß  man  mit  der  Lebensleistung 
eines  Durchschnittsmenschen  sich  nie  zufrieden  geben  könne. 

In  diesem  gemäßigten  Falle,  wo  der  Held  die  Unglück- 
seligkeit  seiner  Veranlagung  erkenne  und  bekenne,  da  er  die 
Unerreichbarkeit  seiner  Ideale  einsehe,  wolle  er  (Verfasser)  die 
Beweggründe  anführen,  durch  welche  ein  Jüngling  —  besonders, 
wenn  er  hierzu  neige  —  zu  solchen  Ansichten  angeleitet  werden 
könne,  um  zu  zeigen,  daß,  wenn  auch  nicht  die  meisten,  so  doch 
die  wichtigsten  dieser  Beweggründe  von  den  Eltern  ferngehalten 
werden  könnten  zum  moralischen  und  physischen  Wohl  der 
jungen  Generation". 

Von  unklaren  Gedanken  erfüllt  und  mehr  von  theo- 
retischen Abstraktionen,  als  von  der  Wirklichkeit  aus- 
gehend verrät  das  Vorwort  Unkenntnis  von  dem  Wesen 
der  Homosexualität.  Kein  Wunder,  daß  dieselben  Fehler 
in  dem  Roman  selbst  wiederkehren.  In  unklarer  Weise 
hat  Verfasser  den  »Abfall  vom  Weibe*  seines  Helden 
auf  das  Ueberhandnehmen  von  gewissen  weiberfeindlichen 
Ansichten  und  Anschauungen  sowie  auf  Frauenhaß  und  be- 
wußte Zurückweisung  der  Weiberliebe  zurückgeführt  ohne 
die  Veranlagung  des  Helden,  von  der  er  allerdings  im 
Vorwort  spricht,  irgendwie  zu  betonen. 

Alfred  wird  durch  Enttäuschung  und  verschmähte 
Liebe  zu  Weiberhaß  gebracht  und  durch  das  Verhalten 
des   falschen,    buhlerischen   Weibes,    das  seinen   Freund 


—     1023    — 

umstrickt,  noch  mehr  in  seiner  Abneigung  gegen  die  Frau 
bestärkt.  Wie  diese  bösen  Erfahrungen  eines  Hetero- 
sexuellen —  und  als  solcher  wird  Alfred  geschildert  — 
den  Geschlechtstrieb  zum  Weib  ertöten  und  homosexuelle 
Gefühle  erwecken  können,  diese  Wandlung  der  Empfin- 
dungen hat  Verfasser  nicht  glaubhaft  zu  machen  ver- 
mocht. Allerdings  sehr  schwer  und  fast  unlösbar 
erscheint  dieses  Problem,  weil  Verfasser  von  falschen 
Voraussetzungen  ausging,  weil  er  die  tardive  Homo- 
sexualität nur  psychologisch  begründet,  weil  er  den 
physiologischen  Wiederhall  und  die  Wechselwirkung 
zwischen  Geist  und  Körper  vernachlässigt.  Aber  wenn 
dieses  Problem  unternommen  wurde,  dann  mußte  Ver- 
fasser auch  tiefer  in  die  Psychologie  seines  Helden  ein- 
dringen, seinen  Charakter  plastischer  gestalten,  seine 
frühere  Leidenschaft  zum  Weib  näher  darlegen. 

Deutlicher  mußte  auch  das  sich  entwickelnde  homo- 
sexuelle Gefühl  hervorgehoben  werden  und  eine  unzwei- 
deutigere Stellung  gegenüber  dem  aus  dem  „ Abfall"  vom 
Weib  hervorgehenden  „Aufstieg"  zum  Manne  einge- 
nommen werden.  Statt  dessen  bleiben  die  Empfindungen 
des  Helden  zum  Manne  völlig  unbestimmt  und  nebelhaft, 
in  geziemender  Schwäche  und  Blässe  des  Gefühls,  damit 
.der  brave  Philister  nicht  Ärgernis  an  dem  Helden  nehme. 

Am  klarsten  tritt  die  Unwahrheit  des  Helden  am 
Schlüsse  hervor:  er  gewinnt  Ruhe  und  Frieden  und 
entschließt  sich  zur  Entsagung  im  Vertrauen  auf  Gott  und 
die  Ewigkeit,  bei  dem  Gedaifken,  Andere  glücklich  ge- 
macht zu  haben,  obgleich  nichts  eine  solche  fromme,  ent- 
sagungsbereite Ader  in  dem  Helden  verraten  hatte. 

Aus  der  Verschwommenheit  der  Natur  des  Helden 
und  der  schiefen  Stellung  des  Verfassers  zur  Homo- 
sexualität erklärt  es  sich  auch,  warum  die  heftigen  Aus- 
fälle des  Helden  gegen  Frauenschönheit  und  Weiberliebe 
nicht  als   aus   dem  Charakter   des  Helden   entspringend, 


—    1024    — 

sondern  als  Tiraden  des  Verfassers  selber  vom  Leser 
empfunden  werden,  als  Tiraden,  durch  deren  übertriebene 
Ausdrücke  Verfasser  die  Unnatur  und  Lächerlichkeit 
des  „ Abfalls  vom  Weibe"  und  indirekt  das  homosexuelle 
Empfinden,  das  für  ihn  nur  zum  Laster  führen  kann, 
stempeln  will. 

Wenn  man  den  „Abfall  vom  Weibe*  mit  einem 
andern  Roman,  der  gleichfalls,  aber  so  ganz  anders,  das 
allmähliche  Erwachen  der  tardiven  Homosexualität  dar- 
stellt, mit  Gide's  Immoraliste1)  vergleicht,  wird  man  so 
recht  den  gewaltigen  Unterschied  gewahr,  der  zwischen 
beiden  besteht 

Trotz  aller  dieser  Aussetzungen  ist  andererseits  nicht 
zu  leugnen,  daß  sich  interessante,  angenehm  geschriebene 
Stellen  in  dem  Buche  finden.  Ein  Kritiker,  Otto  Flake, 
spendet  in  der  (inzwischen  leider  eingegangenen)  „Ge- 
sellschaft" vom  1.  November  1902  dem  Roman  direkt 
Lob.  Er  sagt:  „Überhaupt  ist  das  Künstlerische  das 
Beste  am  Buche.  Durch  einen  leichten  Schleier  hindurch 
scharf  gezeichnete  Personen."  Auch  er  rügt  dann  aller- 
dings die  blos  ideale  Konstruktion  und  vermißt  eine 
glaubliche  Entwicklung  von  Extrem  zu  Extrem  in  zu- 
reichender Plastik. 
Bob,  A.:     Die  Geschlechter  der  Menschen.  Roman. 

(Leipzig,  Lotus- Verlag  1901.) 

Der  Roman  beginnt  mit  einer  Unterredung  am  Biertisch 
über  die  Homosexualität.  Auseinandersetzungen  eines  Arztes 
über  das  Wesen  des  Uranismus,  Widerlegung  der  bisherigen 
Vorurteile,  Darlegung  des  Bestehens  sexueller  Zwischenstufen 
und  so  weiter.  Dagegen  Vertretung  des  veralteten  Standpunktes 
seitens  des  Rechtsanwaltes  Andreas  Asmus.  Der  Homosexuelle 
sei  ein  lasterhafter  Mensch,  ein  Verbrecher,  er  gehöre  ins  Ge- 
fängnis u.  dgl. 

Der  Bruder  dieses  Rechtsanwalts,  der  junge  Schriftsteller 
Martin  Asmus,  ist  selbst  homosexuell,  ebenso  wie  der  Vater, 
der  mit  Selbstmord  endete,  homosexuell  war. 

*)  Siehe  weiter  unten. 


—    1025    — 

Martin  hat  vor  der  Stadt  am  einsamen  Flußufer  Stelldichein 
mit  seinem  Geliebten,  Hans,  einem  früheren  Unteroffizier.  In  ihrem 
trauten  Gespräch  werden  sie  durch  einen  dramatischen  Zwischenfall 
gestört.  Ein  junges  Mädchen  stürzt  sich  in  den  Fluß,  um  den  Tod 
in  den  Fluten  zu  suchen,  es  wird  noch  rechtzeitig  von  Martin 
gerettet.  Das  Mädchen,  Cäcilia  Reuter,  die  Tochter  eines  Hof- 
predigers, ist  homosexuell;  sie  hat  ein  Verhältnis  mit  der  be- 
rühmten Schauspielerin  Meta  Schwarz.  Sie  wollte  aus  dem 
Leben  scheiden,  des  Kampfes  mit  ihrer  Familie  wegen  ihres 
Verhältnisses  mit  der  Schauspielerin  müde  und  den  auf  den 
Homosexuellen  lastenden  gesellschaftlichen  Fluch  als  unerträgliche 
Last  empfindend.  Martin  bringt  sie  zu  ihrer  Freundin.  Seither 
aufrichtige  Freundschaft  zwischen  Martin  und  Meta.  Martin 
gewährt  der  Schauspielerin  die  Einsicht  in  die  Tagebücher 
seines  Vaters,  in  welchen  dieser  sein  ganzes  Seelenleben  und 
Schicksal  geschildert  hat. 

Von  Jugend  auf  war  der  Vater  vom  Triebe  zum  Mann 
beseelt,  er  verheiratete  sich  aber  trotzdem,  um  sich  zu  „heilen"; 
seinem  Triebe  konnte  er  aber  nach  wie  vor  nicht  widerstehen, 
er  fiel  in  die  Hände  eines  Erpressers,  der  schließlich  seinem 
Sohne  Andreas  Alles  offenbarte.  Dieser  wies  den  eigenen  Vater 
auf  die  Pistole  als  den  einzigen  Ausweg  und  zwang  ihn  förmlich 
zum  Selbstmord.  Der  Haß  Andreas'  gegen  die  Homosexuellen 
zeigt  sich  bald  auch  gegenüber  dem  Bruder. 

Andreas  hat  einen  Brief  von  Hans  an  Martin  geöffnet  und 
das  Verhältnis  zwischen  Beiden  erraten.  Er  überrascht  früh 
Morgens  Martin  in  seiner  Wohnung  und  findet  Hans,  der  bei 
Martin  übernachtet,  mit  letzterem  zusammen. 

Heftiger  Auftritt  zwischen  den  beiden  Brüdern.  Andreas 
beschimpft  Martin,  nennt  ihn  Verbrecher  und  droht  mit  Anzeige. 
Martin  gesteht  offen  seine  Liebe  im  Bewußtsein  der  Be- 
rechtigung seiner  Empfindung  und  der  Innigkeit  seiner  Gefühle. 
Als  Martin  später  eine  nochmalige  Aufforderung  seines  Bruders, 
jeden  Verkehr  mit  Homosexuellen  aufzugeben  und  mit  Hans  zu 
brechen,  zurückweist,  zeigt  ihn  tatsächlich  Andreas  der  Polizei 
an.  Martin  läßt  Hans  in  das  Ausland  entfliehen,  er  selbst 
bleibt  und  wird  auch  zu  6  Monaten  Gefängnis  verurteilt. 
Meta  wird  seine  Rächerin. 

Andreas  ist  in  sie  verliebt  und  wirbt  schon  lange  um  ihren 
feesitz.  Meta  bringt  ihn  dazu,  daß  er  Unsummen  für  sie  ver- 
schwendet und  daß  er  schließlich  eine  Urkunde  unterzeichnet, 
wonach  er  für  100,000  Mk.  Aktien  kauft.  Diese  Aktien  sind 
fast  wertlos  und  gehören  einer  vor  dem  Konkurs  stehenden 
Gesellschaft  an.  Andreas  kennt  die  Sachlage  und  weiß,  daß  er 
sich  ins  Unglück  stürzt,  aber  nur  um  den  Preis  der  Unterschrift 


—    1026    — 

wird  Meta  die  seine  werden.  Liebestoll  und  halb  wahnsinjug 
vor  Begierde  unterschreibt  er.  Meta  hält  ihr  Versprechen;  er 
darf  sie  hinnehmen. 

Andreas  hat  das  Geld  zum  Ankauf   der  Aktien   nicht  be- 
sessen, er  vergreift  sich  an  fremdem  Geld. 

Meta  hat  ihren  Zweck  erreicht,  sie  gesteht  nunmehr  Andreas, 
daß  sie  ihn  nie  geliebt,  daß  sie  sich  nur  mit  Ekel  ihm  hingegeben. 
„Ich   bin   von  der    gleichen    Art,    wie    Ihr    Bruder 
und  Ihr  Vater,    auch   ich   liebe   nur  mein  eigenes  Ge- 
schlecht und   verabscheue   die  Berührung  des  Mannes. 
Jawohl,  ich  verabscheue  Siel 

Sie  haben  Ihren  Vater  in  den  Tod,  Ihren  Bruder  ins 

Gefängnis   getrieben,   weil   sie  der  angeborenen  Liebe 

zum  eigenen  Geschlecht  gefolgt  waren.    Ich  aber  habe 

Sie   dahin    gebracht,  daß  Sie  dasselbe  taten,   wie   die 

Beiden,    die   Sie    verdammten.     Mein    Geschlecht    ist 

männlich,  wie  das  Ihre,  und  Sie  haben    mich  geliebt." 

(S.  240.) 

Andreas  versucht  noch  von   seinem  Bruder,  der  inzwischen 

seine    Strafe    verbüßt    und    dessen    erstes    Theaterstück   einen 

glänzenden  Erfolg  davongetragen  hat,  das  nötige  Geld  zu  leihen. 

Martin  weigert  sich,  ihn  zu  retten.  . 

Auf  die  Bitten  und  Fragen  Andreas',   warum   er  ihm  nicht 
helfen  wolle,  schleudert  ihm  Martin  entgegen: 

„Weil  hier  in  uns  Beiden  sich  heute  viel  mehr  gegen- 
übersteht, als  nur  Bruder  und  Bruder.  Viel  mehr  als 
das,  zwei  Geschlechter  der  Menschen,  die  einander 
feindlich  gewesen  sind  die  Jahrhunderte  hindurch. 
Ich  gehöre  zu  denen,  die  Ihr  geknechtet  habt,  Ihr 
Dioninge,  Ihr  Herren  der  Welt!  Ihr  habt  uns  verhöhnt 
und  verachtet.  Ihr  habt  uns  aufs  Rad  geflochten,  Ihr 
habt  uns  ins  Feuer  gestoßen,  Ihr  habt  uns  lebendig 
eingescharrt  in  die  Erde.  Ihr  habt  Mitleid  und  Ver- 
ständnis zum  Märchen  werden  lassen,  und  wenn  Einer 
von  uns  Euch  in  den  Weg  gekommen  ist,  so  habt 
Ihr  ihm  ins  Gesicht  gespieen  und  ihn  mit  Füßen  ge- 
treten. Heute  aber  hat  mich  das  Schicksal  zum  Herrn 
gemacht  über  Einen  von  Euch,  Einen  der  Geknechteten, 
über  Einen  vom  Herrengeschlecht.  Soll  ich  Mitleid 
üben  mit  dir?  Daß  du  mein  Bruder  bist,  habe  ich  lange 
vergessen.  Ich  bin  dir  gegenüber  nur  ein  Angehöriger 
des  getretenen  Geschlechts,  das  sich  aufbäumt  aus 
Jahrhunderte  langer  Schmach  und  Erniedrigung.  Soll 
ich  Mißhandlung  durch  Güte  lohnen?  O  nein,  wir 
sind  im  Kriege  miteinander  —  Ihr  habt  ihn  proklamiert 


1027 


* 


—  und  wir  geben  keinen  Pardon,  wenn  einmal  Einer 
von  Euch  uns  zu  Füßen  liegt  und  um  sein  stolzes, 
elendes  Leben  fleht.  Eine  Bestie  verschont  man  nicht, 
und  wie  die  wilden  Bestien  habt  Ihr  unter  uns  ge- 
haust, habt  Euch  an  unserem  Blute  berauscht  und 
über  unser  Todesstöhnen  gelacht."  (S.  255.) 
Andreas  verübt  Selbstmord,  indem  er  sich  unter  einen 
Eisenbahnzug  wirft. 

Cäcilia  siecht  dahin  und  stirbt.  Sie  hätte  doch  nie  mehr 
Meta  liebend  in  die  Arme  schließen  können,  seitdem  diese  einem 
Manne  angehört.  Noch  vor  ihrem  Tod  gesteht  sie  der  Freundin, 
daß  Andreas  zwischen  ihnen  gestanden  hätte,  Alles,  was  mit 
einem  Manne  in  körperliche  Berührung  gekommen,  stoße  sie 
zurück. 

Martin  geht  zu  Hans  nach  Amerika,  durch  sein  Theater- 
stück berühmt  geworden  und  bereichert,  einer  glücklichen 
Zukunft  im  Zusammenleben  mit  dem  Geliebten   entgegensehend. 

Von  dem  üblichen,  des  Kunstwertes  entbehrenden 
Dutzendroman  unterscheiden  sich  „Die  Geschlechter  der 
Menschen a  nur  durch  die  Wahl  eines  etwas  ungewöhnlichen 
Gegenstandes  —  der  Homosexualität.  Die  Personen  sind 
schablonenhafte  Romanfiguren  ohne  Individualität  und  Tiefe. 
In  den  beiden  Brüdern  werden  in  grellen  Farben  der  gute, 
edle,  mit  besten  Eigenschaften  ausgestattete  Homosexuelle 
und  der  böse,  verabscheuungswürdige  Heterosexuelle  ein- 
ander gegenüber  gestellt,  der  eine  weiß,  der  andere 
schwarz  gemalt,  hie  Engel,  hie  Teufel. 

Die  Figur  des  Rechtsanwaltes  ist  nicht  nur  ober- 
flächlich und  dick  aufgetragen,  sondern  seine  Handlungs- 
weise kennzeichnet  sich  als  die  denkbar  unwahrschein- 
lichste. Auch  der  naiveste  Leser  wird  das  Benehmen 
Andreas'  gegenüber  Martin  als  völlig  unmotiviert,  ja  ge- 
radezu widersinnig  empfinden.  Wohl  wäre  es  begreiflich, 
daß  sich  Andreas  von  seinem  Bruder  lossagt,  aber  daß 
er  ihn  ohne  jeden  zwingenden  Grund  anzeigt  und  auf 
diese  Weise  die  Familienehre  und  sich  selbst  einem  ge- 
richtlichen Skandal  aussetzt,  bedeutet  die  Tat  eines  Un- 
zurechnungsfähigen   und    ist  nur  aus  dem  Bestreben  des 

Jahrbuch  V.  65 


—    1028    — 

Verfassers  erklärlich,  um  jeden  Preis  die  den  Homo- 
sexuellen in  ungerechter  Weise  drohende  Strafbestimmung 
und  die  Grausamkeit  der  Heterosexuellen  zu  geißeln. 

Die  Verurteilung  selber  erscheint  unverständli.ch. 
Wo  waren  denn  die  Beweise  eines  strafbaren  Ver- 
kehrs ? 

Künstlerische  Wahrheit  und  psychologische  Wahr- 
scheinlichkeit sind  äußeren  Effekten  und  einer  an  plumpen 
Gegensätzen  sich  genügenden  Behandlung  der  Homosexua- 
lität geopfert.  Zwar  ist  anzunehmen,  daß  der  Verfasser 
es  nicht  auf  Sensation  abgesehen  hat  und  daß  er 
wirklich  die  unglückliche,  durch  Gesetz  und  Vorurteil 
geschaffene  Lage  der  Urninge  und  die  sich  daraus  er- 
gebenden Konflikte  schildern  wollte ;  es  ist  auch  nicht  zu 
verkennen,  daß  Ernst  und  Überzeugung  aus  dem  Roman 
spricht,  ja  sittliche  Entrüstung,  die  sich  z.  B.  in  der  oben 
mitgeteilten,  aus  dieser  Empfindung  quellenden  wirkungs- 
vollen Entgegnung  Martins  gegenüber  seinem  bittenden 
Bruder  zeigt.  Trotzdem  vermochte  Bob  nur  eine  melo- 
dramatische, tendenziöse  Erzählung  und  eine  zwar  gut 
gemeinte,  aber  pathetisch  aufgebauschte  Verteidigung  des 
geächteten  Homosexuellen  zu  geben,  während  die  künst- 
lerische Gestaltung  seiner  Absichten  nicht  gelungen  ist. 

Der  Roman  wird  trotz  seiner  künstlerischen  Mängel 
und  vielleicht   gerade   wegen  derselben   in  den  breiteren 
Schichten  des  lesenden  Publikums  sicherlich  gefallen  und 
dort  seinen  Eindruck  nicht  verfehlen. 
Delacourt,  Albert:    Lepaperouge.    (Paris,  Verlag 

Mercure  de  France,  1901.) 

Der  Roman  behandelt  einen  berühmten  Abschnitt  aus  der 
Florentiner  Geschichte:  Die  Verschwörung  des  Florentiner 
Patriziergeschlechts  der  Pazzi  im  Einverständnis  mit  Papst  Sixtus  IV. 
und  dem  Erzbischof  Salviati  gegen  Lorenzo  und  Juliano  di  Medici, 
welche  mit  der  Ermordung  Julianos  im  Dom  (1478),  zugleich 
aber  mit  der  Niederwerfung  der  Verschwörer  und  ihrer  Hin- 
richtung endete. 


1029    — 


Eine  Reihe   homosexueller  Szenen   und  Verhältnisse   findet 
sich  in  dem  Roman  vor: 

1)  Juliano  di  Medici  ist  in  den  schönen  Francesco  di  Pazzi 
verliebt,  er  schreibt  ihm  nach  Rom,  wo  Francesco  sich  befindet, 
einen  liebeglühenden  Brief  und  bewirkt  die  Zurückrufung  PazzPs 
nach  Florenz  angeblich  aus  politischen  Motiven,  in  Wirklichkeit 
aber  weil  Juliano  nicht  länger  von  Francesco  getrennt  sein  will.  In 
Florenz,  überhäuft  Juliano  seinen  Freund  mit  Zärtlichkeit,  er  hat 
zwar  eine  Maitresse,  aber 

„die  Frauen   könnten   nur   mit   dem  Körper  lieben, 
sie  hätten   keine  Seele.     Die  Harmonie  zwischen  zwei 
Wesen,   deren   Eindrücke  die  gleichen  seien,  sei  allein 
ästhetisch,  die   Seele  seiner  Maitresse  könne    er  nicht 
nach  ästhetischem  Gesetz   in  Schwingungen  versetzen, 
er  brauche  andere  Liebe." 
Um    Francesco    ganz   zu    besitzen,   wendet    Juliano   eine 
List  an,  er  führt  ihn  eines  'Abends  in  die  geheime  Versammlung 
weit   vor  dem  Tor   von  Florenz,   wo  an  verborgenem  Orte  die 
wildesten   Mysterien   des  Satanismus   und   die   schwarze  Messe 
auf  nackten  Frauenleibern  gefeiert  werden.     Francesco  muß  dem 
wahnsinnigen  Treiben,  dem  wollüstigen  rasenden  Gebahren   der 
Teilnehmer  beiwohnen.     Dank    der  wüsten    Orgie,  die    sich   an 
die  schwarze  Messe  anschließt,   ist  Francesco,   vom  Weine   be- 
rauscht,  im   Strudel   der   entfesselten  Wollust   mit  fortgerissen, 
widerstandslos  der  Verführung  Juliano's  preisgegeben.     Aber  am 
nächsten  Tage   ernüchtert,   empfindet   er  den  Sieg  Julianos   als 
tiefste  Scham   und  Erniedrigung.    Nur   der  Tod   des  Medicäers 
kann  das  Geschehene  sühnen.     Von  nun  an  ist  Francesco  einer 
der  Eifrigsten,  der  die  Verschwörung  schürt.     Er  behält  sich  vor, 
mit  eigener  Hand  Juliano  zu  töten,   und  führt    seinen  Entschluß 
auch  durch. 

2)  In  dem  Freudenhaus  zu  Florenz,  dem  Tempel  der 
Wollust,  wo  die  Sinnlichkeit  in  jeder  Form  sich  befriedigt  — 
Pazzi  wohnt  sogar  einer  Art  Vergewaltigung  einer  Jungfrau  durch 
eine  Frau  bei,  die  aus  einem  halbgeöffneten  Zimmer  sichtbar 
wird  —  verkehrt  auch  der  Erzbischof  Salviati.  Nachdem  er 
sich  der  Wollust  hingegeben,  erfüllt  er  das  Haus  mit  seinen 
Wehklagen  über  seine  und  die  allgemeine  Sittenverderbnis  und 
martert  sich  mit  Selbstpeinigungen  und  Selbstpeitschungen. 
Salviati,  welcher  täglich  das  Fleisch  und  die  Sünde  verflucht 
und  in  Selbstanklagen  und  -geißelungen  sich  versenkt,  ist  von 
dem  Dämon  der  Wollust  gefoltert  und  unterliegt  ihm  fort- 
gesetzt. Sogar  während  seiner  Geißelung  vermag  er  die  Sinn- 
lichkeit nicht  zu  bannen  und  weidet  sich  an  den  körperlichen 
Reizen   des   gedungenen  Folterknechts,   eines  schönen  Metzger- 

65* 


n 


—    1030    — 

burschen.  Salviati  gesteht  selbst  zu,  daß  ihm,  aucn  wenn  die 
Kirche  den  Verkehr  mit  der  Frau  gestatten  würde,  trotzdem  nicht 
geholfen  wäre,  denn  er  müßte  doch  den  Mann  lieben. 

3)  Die  Geliebte  von  Lorenzo  di  Medici,  Camilla,  hat  die 
Tochter  Salviati's,  Alessandra,  aus  dem  Kloster  entführt,  diese 
will  nicht  mehr  von  Camilla  lassen.  Camilla  offenbart  dem  Bischof 
das  Geschehene  und  fleht  um  Verzeihung.  Trotz  seines  Schmerzes 
über  die  Verführung  seiner  Tochter,  die  er  im  Kloster  vor  der 
Welt  geborgen  wähnte,  gewährt  Salviati  Verzeihung,  denn  er 
kennt  die.  furchtbare  Macht  der  Liebesleidenschaft,  die  Alle 
bändigt. 

4)  Verschiedene  kleinere  homosexuelle  Episoden:  So  eine 
Orgie  zwischen  Weibern,  ferner  nächtliche  Straßenszenen  und 
Sittenbilder, 

„alte  Reiche,  die  mit  jungen  zerlumpten  Handwerkern 
Geschäfte  abschließen,  die  sie  in  der  nächsten  Sackgasse 
abwickeln." 

Die  Menschen  der  Renaissancezeit  mit  ihren  ge- 
waltigen Trieben  und  unbändigen  Leidenschaften,  die 
kraftstrotzenden  Herrschernaturen  jener  Zeit  mit  der 
alle  Schranken  durchbrechenden,  jedem  Impuls  nach- 
gebenden Sinnlichkeit  leben  und  wirken  in  dem  Roman 
in  plastischer  Schönheit. 

Die  Homosexualität  wird  als  häufige  Erscheinung, 
als  notwendiger,  charakteristischer  Bestandteil  der 
Epoche  gezeichnet,  mit  einem  Gemisch  von  Christentum 
einer-,  von  Ursprünglichkeit,  Heiden-  und  Griechentum 
andererseits.  Der  Firnis  des  Christentums  führt  auch 
dem  Homosexuellen  selbst  die  Worte  von  Sünde  und 
Laster  in  den  Mund,  aber  die  Urwüchsigkeit  und  Gewalt 
der  Leidenschaft  läßt  ihn  seinen  Trieb  als  eine  natürliche 
und  eingepflanzte  Neigung  empfinden.  Selbst  bei  dem 
Normalfühlenden  wird  der  homosexuelle  Verkehr  nicht 
so  sehr  aus  den  christlichen  Anschauungen,  aus  moralischen 
Skrupeln  heraus  verpönt,  als  vielmehr  nur  insofern,  als 
er  die  damals  am  meisten  geschätzten  Tugenden,  Stolz, 
Selbstbewußtsein,  Männlichkeit  beleidigt  und  Herrennatur 
und  Herrscherinstinkt  verletzt.     Deshalb  gilt  auch  haupt- 


—    1031    — 


sächlich  nur  die  passive  Hingabe  als  schimpflich,  weil 
sie  Demütigung,  Besiegung  durch  einen  Andern,  Unter- 
werfung unter  fremde  Leidenschaft  bedeutet.  Aus  diesem 
Gefühl  entspringt  der  Haß  von  Francesco  gegen  Juliano. 
Der  Medicäer  muß  sterben,  weil  er  den  stolzen  Patrizier- 
sobn  erniedrigt  hat,  weil  er  seinen  Willen  durchsetzte;  der 
Gedanke  an  Verleitung  zu  unmoralischer  Handlung,  zur 
Übertretung  göttlichen  Gebots   spielt  dabei  keine  Rolle. 

Aus  derselben  Empfindung  tötet  sich  sogar  die 
Geliebte  Pazzi's,  die  maurische  Sklavin  Sephora,  als  sie 
die  Demütigung  ihres  Herrn  errät.  Sie  will  nicht  länger 
Sklavin  eines  „Sklaven*  sein,  eines  Mannes,  der  einem 
andern  Mann  als  Weib  diente. 

In  dem  Roman,  der  sich  in  dramatisch-spannender 
Handlung,  in  charakteristischen,  typischen  Gesprächen,  in 
farbenprächtigen  Gemälden  entwickelt,  pulsiert  eine  Wild- 
heit der  Leidenschaft,  die  sich  stellenweise  —  so  namentlich 
in  den  nächtlichen  Mysterien  des  Satanismus  —  zum 
Grandios-Gräßlichen  steigert,  aber  trotz  allem  sind  die 
Konturen  eines  Kunstwerkes  gewahrt  und  die  ästhetischen 
Grenzen  nicht  überschritten. 

Essebac,  Achille1):  D£cU.    (Paris, Ambert  1901.)  Auch 
*  in    deutscher    Übersetzung   von    Georg   Herbert 

erschienen.     (Verlag  Spohr  1903). 


*)  Außer  den  drei  im  Folgenden  besprochenen  Romanen  hat 
Essebac  in  dem  schon  im  Jahre  1898  erschienenen  Buch  „Partenza, 
Vers  la  beaute"  an  zahlreichen  Stellen  die  männliche  Schönheit  ver- 
herrlicht. Das  Buch  enthält  Reiseeindrücke  und  Beschreibungen 
von  der  Riviera  und  den  Großstädten  Italiens.  Das  Homosexuelle 
tritt  nicht  direkt  hervor,  sondern  nur  verschleiert  und  dichterisch 
verhüllt,  nichts  destoweniger  liegt  schon  in  „Partenza"  unverkenn- 
bares homosexuelles  Empfinden  vor,  das  sich  in  enthusiastischen 
Schilderungen  der  schönen  jungen  Italiener  sowie  der  männlichen 
Darstellungen  der  klassischen  Kunst  äußert.  Die  homosexuellen 
Stellen  befinden  sich  S.  50,  100,  103,  113,  144—152,  181,  215,  230 
und  261. 


—    1032    — 

Das  Stoffliche,  die  äußeren  Begebenheiten  des  Romans, 
lassen  sich  in  wenige  Sätze  zusammenfassen.  Die  Hauptsache 
ist  der  Stimmungsgehalt,  deshalb  können  nur  wörtliche  Citate 
einen  Begriff  von  dem  Inhalt  geben.  Ich  citiere  aus  der  deut- 
schen Übersetzung,  die  dem  Geist  des  Originals  ziemlich  nahe 
kommt. 

Der  15  jährige  Marcel  und  der  gleichaltrige  Andre  Dalio 
(Dede),  beide  Interne  in  einem  Pariser  Gymnasium,  werden  enge 
Freunde.  Dede  erweckt  gleich  bei  seinem  Eintritt  in  die  Schule 
die  lebhafte  Sympathie  von  Marcel: 

„Im  ganzen  Hof  war  wie  ein  Leuchten:  der  Eintritt 

des  kleinen  „Neuen"  ....   Das  Leid  war  minder  groß, 

mit  solch  entzückendem  Geschöpf  eingeschlossen  zu  sein, 

wie  ich  es  an  der  Hand  führte."  (S.  13.) 

Marcel  nimmt  Dede   unter   seinen  Schutz   und  ist  ihm   in 

allem  behülflich.    Dede  ist  bald  bei  allen  Mitschülern  beliebt. 

Marcel's  Sinn  für  die  Schönheit,  für  die  vollendete  Form 
entwickelt  sich  dank  dem  Einfluß  von  Dede.  Aber  immer  mehr 
ist  es  Dede  selbst,  der  Marcel  entzückt: 

„Dede  war  die  weiche,  liebliche  Geschmeidigkeit  und 
Haltung  selbst  .  .  . 
Aber  ich  liebte  ihn! 

Ich  konnte  keinen  andern  lieben  als  ihn"  (S.  51). 
„Wir  waren  nicht  im  Banne  niederer  Genüsse,  auf 
der  Suche  nach  dem  Geschlecht.     Wir  dachten  nicht 
daran,  die  erlaubte  Freude  des  Sehens   unterzuordnen 
den  ganz  anders  gearteten  Freuden,  in  unserem  Fleisch 
zu  fühlen«  (S.  58). 
Die    Schüler    organisieren    eine  Theatervorstellung.     Dede 
spielt    die    Hauptrolle    in   dem    Drama.       Beschreibung    seiner 
strahlenden  Schönheit  und  Grazie. 

Marcel  und  Dede  finden  sich  im  ersten  Kusse. 
Beim  gemeinsamen  Baden  hat  Marcel  Gelegenheit,  Vergleiche 
zwischen  der  Schönheit  seiner  verschiedenen  Kameraden   anzu- 
stellen. 

„Dede  vereinigte  in  vollkommenem  Ebenmaß  Alles, 
was  an  Auserlesenem  und  Fertigem  in  lves  und  Georges 
sich  fand,  die  Kühnheit  der  Formen  des  Einen  in  schönem 
Wechsel  mit  der  fein  vollendeten  Anmut  des  Anderen" 
(S.  93). 

„Bei  seinem  Anblick  träumte  man  unwillkürlich  von 
süßer,  zagender  Liebkosung,  die,  ohne  allzu  deutliche 
Wallungen  zu  wecken,  lauschen  möchte,  um  all  dem 
bezaubernden  Reiz,  die  vollendeten  Formen  seiner  lichten 
Ephebengestalt«  (S.  94). 


—     1033    — 


Dede  erkrankt,  er  muß  die  Schule  verlassen,  eine  Zeitlang 
verbringt  er  mit   seiner  Mutter   in  Bonn.    Zärtlicher,   liebevoller 
Briefwechsel  zwischen  Dede  und  Marcel.     Jeder  Brief  von  Dede 
ist  für  Marcel  ein  Ereignis  und  eine  Wonne. 
Aber  Dede's  Zustand  verschlimmert  sich. 
Dede  kehrt  mit  seiner  Mutter  nach  Paris  zurück. 
Die   Knaben   sehen    sich    nach    langer   Trennung    wieder! 
Marcel  besucht  oft  den  kranken  Freund. 

Er  weiß,  daß  Dede's  Tage  gezählt  sind,  und  mehr  und  mehr 
wird  er  sich  des  Gefühls  klar,  das  ihn  ganz  erfüllt,  der  Liebe 
zu  Dede. 

Dede  empfängt  die  letzte  Ölung.  Marcel  wohnt  im  Neben- 
zimmer der  heiligen  Handlung  bei  und  ein  Hymnus  auf  Dede's 
Schönheit,  auf  die  Vollkommenheit  seiner  irdischen  Hülle  entsteigt 
der  Seele  Marcel's,  während  der  Priester  an  diesem  schönen 
Körper  die  kirchliche  Handlung  vornimmt.     Dede  stirbt. 

Fünfzehn  Jahre  vergehen.  Marcel  sucht  Verona  auf,  die  Stätte, 
wo  Dede  seine  erste  Jugend  verlebte  und  wo  sein  Grabmal  sich 
befindet.  Aber  weder  in  den  Jünglingen  Veronas,  noch  in  der 
Atmosphäre  der  Stadt,  auch  nicht  am  Grab  Dede's  findet  er  etwas 
von  seinem  Geist;  nirgends  fühlt  er  den 

„lieben  Schatten,  dessen  Bild  immer  seine  Augen  bereit 
fand,  es  zu  begrüßen!     Nichts  rührt  sich,  nichts  gibt 
Antwort  .  .  .  Nichts  erinnert  sich"  (S.  21 V). 
In  Venedig  erst   zaubert    ein   junger  Gondoliere   das  Bild 
Dede's  vor  seine  Seele. 

„O!  Wiederzufinden  etwas  von  Dede!  Wiederaufleben 
zu  sehen  seine  blühenden  Lippen,  das  Sternenpaar 
seiner  sanften  Augen  in  dem  anbetungswürdigen  Aquarell 
seines  Angesichts;  oder  doch  wenigstens  den  Klang 
seiner  Stimme,  die  unvergleichlich  schöne  Linie  seines 
Hauptes,  stolz  sich  hebend  über  dem  Beben  seines 
ambraschimmernden  Nackens;  oder  gar  das  vollkommene 
Abbild  seines  Wuchses,  die  feine  Silhouette  der  seinigen 
gleichend  von  ferne«  (S.  224). 
Und  die  Gesänge  des  Jungen  erscheinen  Marcel: 

„Dede's  Seele,    die  von  anderen  Lippen,    denen  sie 
kaum  verschieden,  zu  mir  sprach  ....  Ich  hätte  glauben 
können,  er  sei  nur  größer  geworden"  (S.  229). 
Abends   läßt  Marcel  auf   den  Lagunen    durch  den   jungen 
Gondolier  und  seine  Freunde  die  Totenhymnen  singen. 

Phantome  und  Visionen  von  Liebe,  Sehnsucht  und  Tod 
erweckt  die  Totenklage  in  Marcel. 


i 


—    1034    — 

Essebac,  Achille:  Luc.  (Paris:  Ambert  &  Cie,  1902.) 
Der  14jährige  hübsche  Luc  Aubry,  Sohn  kleinbürgerlicher 
Eltern,  der  schon  als  Chorknabe  in  der  Trinite  in  Paris  die  Auf- 
merksamkeit der  vornehmen  gleichaltrigen  Jeannine  (Nine)  Marcelot 
und  deren  Mutter  durch  seine  Grazie  und  Feinheit  auf  sich  ge- 
zogen hat,  macht  deren  nähere  Bekanntschaft  aus  Anlaß  eines 
Wohltätigkeitskonzertes,  in  welchem  Luc  als  Sänger  mitwirkte. 
Er  entzückt  alle  Zuhörer.  Die  berühmte  Schauspielerin  Diah 
Swindor  interessiert  sich  für  den  jungen  Sänger.  Bei  ihr  lernt 
Luc  den  22  jährigen,  schon  bekannten  Maler  Julian  Breard  kennen. 
Julian  hat  bisher  nur  wenig  mit  Frauen  verkehrt,  er  hatte 
bei  ihnen  nur  Unverschämtheit  oder  elende  Unterwürfigkeit  ge- 
funden. „Er  brauchte  etwas  anderes  als  Dirnen."  Vergeblich 
hatte  er  auch  nach  einem  wahren  Freund  gesucht. 

„Zarte  und  liebe  Jünglingsgestalten  um  ihn  herum,  an 
welchen  er,  der  Jüngling,  sich  glaubte  anschließen  zu 
können,  hatten  bald  sich  in  die  gewöhnlichen  mit  den 
törichten  Rennen,  dem  gemeinen  Tingeltangel  und  den 
stinkenden  Wirtshausdirnen  beschäftigten  Schlingel  ver- 
wandelt." 

„Julian  hatte  nicht  das  Glück  gehabt,  auf  seinem  Weg 
einen  solchen  Freund  zu  kreuzen,  wie  ihn  seine  von 
Einsamkeit  wunde  Einbildungskraft  erstrebte,  den,  der 
dahinschreitet  in  allen  unseren  Stapfen,  jung  mit  unser 
Jugend   und   noch  jung  an  der  Wendung  des  langen 
Weges,   wo   die   unerbittlichen   Zahlen   der  Jahre   die 
letzten  Strecken  anzeigen«  (S.  49). 
Julian   war   schon   in   der  Trinite  durch  den  wunderbaren 
Klang   der   Stimme  des   jugendlichen   unsichtbaren   Sängers  er- 
griffen worden. 

„Der  unvergleichliche  Zauber  dieser  jugendlichen, 
noch  in  seinem  Innern  lebendigen  Stimme  war  durch 
die  Erscheinung  des  herrlichen  und  überraschenden 
Wesens   ihres  kleinen  Besitzers  übertroffen.     Begierig 

nach   einer   Freundschaft   ohne   Grenzen 

wollte  er  seine  Augen  auf  diesem  Jüngling  ruhen  lassen. 
Wie  er  in  Jeannine  eine  Liebe  auszubilden  träumte,  in 
welcher  die  Sinne  vor  der  Herrschaft  des  Geistes  zurück- 
weichen würden,  so  träumte  er  in  Luc  eine  immer  junge 
Freundschaft  zu  schaffen,  Schwester  der  Liebe,  die  altert, 
um  von  dieser  Freundschaft  und  dieser  Liebe,  seinem 
Ideal  entsprechend,  die  Eindrücke,  die  Freuden,  ja  die 
Schmerzen  zu  empfangen,  die  er  von  ihnen  erwartete" 
(S.  52). 


—    1035    — 


Zum  ersten  Mal  tritt  ein 
Die  Schönheit  und  Grazie 
seiner  Stimme  haben  alle 


Luc  Aubry  wurde  sofort  der  Freund  von  Julien.   Er  erduldete 

im  Voraus  das  unmögliche  Joch  der  Zuneigung,  die  sich  ihm  anbot. 

„Luc  wächst  heran,  seine  Schönheit  wird  männlicher, 

entschiedener." 

Luc  besucht  in  seinem   16.  Jahre  das  Conservatorium,  er 

will  Schauspieler  werden.   Seine  Freundschaft  mit  Julian  dauert  fort. 

Diah  Swindor   läßt   ihn   in   ihrem  Theater  neben  sich  in 

einer  Ephebenrolle  auftreten. 

Der  schöne  Luc  erregt  die  Bewunderung  und  Begierde 
mancher  Schauspieler.  Seine  Freundschaft  mit  Julian  setzt  sie 
in  Staunen. 

„Sie  waren  erstaunt,  daß  Julian  und  Luc,  kräftig  und 

gesund,  sich  zur  Hingabe  an  die  gewöhnlichen  hockenden 

Anbetungen  der  Männer,  der  abgelebten  Verehrer  ihrer 

Laster,  weigerten.     Und  die  gegenseitige  Freundschaft 

dieser  zwei  sehr  schönen  Wesen  war  ein  Uebermaaß 

von  Beleidigung  dem  törichten  Stolz  ihres  Geschlechts" 

(S.  109). 

Der  Erfolg   von  Luc  ist  groß. 

Jüngling  in  einer  Ephebenrolle  auf. 

von  Luc,   sein  Talent,   der  Wohllaut 

Bedenken  zum  Schweigen  gebracht. 

Frau  Marcelot  geht  im  Sommer  auf  ihre  Villa.  Dort  läßt 
sie  Figaros  Hochzeit  aufführen.  Luc  wird  die  Rolle  des  Cherubin 
spielen.  Wochenlang  weilt  er  dort,  ebenso  wie  Julian  und  zahl- 
reiche andere  Gäste. 

„Julian  betrachtet  Luc  und  erstaunt  über  seine  Schön- 
heit, die  noch  mehr  hervortritt  in  der  zarten  Nachbar- 
schaft des  zierlichen  und  schmachtenden  Edouard.   Nie- 
mals noch  sind  die  Herrlichkeiten  dieser  jugendlichen 
Formen  so  hervorgetreten  wie  an  diesem  Abend  in  den 
reizenden  Gewändern  des  Chenibin«  (S.209). 
Zwischen  Nine  und  Luc  ist  eine  lebhafte  Zuneigung  ent- 
standen.    Sie  sind  einander  liebend  in  die  Arme  gesunken.     Nine 
verspricht  Luc,  ihn  nachts  in  dem  einsamen  Gartenhäuschen,  wo 
er  schläft,  zu  besuchen.  Sie  hält  ihr  Versprechen,  beide  widerstehen 
nicht  ihrer  gegenseitigen  Anziehung.     Nine  giebt  sich  Luc  hin. 

Auch  Julian  ist  nicht  zur  Ruhe  gegangen,  eine  ungestillte 
Sehnsucht  treibt  ihn  in  den  Park: 

„Julian  bemüht  sich,  das  giftige  und  reizende  Bild 
von  Luc  von  sich  zu  weisen.  Er  kämpft  vergeblich 
gegen  das  schleichende  Gift,  das  in  ihn  seit  Wochen, 
Monaten  —  er  gesteht  es  sich  endlich  —  seit  Jahren, 
ja  seit  Jahren  sich  Tropfen  für  Tropfen  eingeschlichen 
hat  und  endlich  in  den  Sturm  seines  Herzens  überfließt. 


—    1036    — 

Die  seltene  Freundschaft,    die  seine  Adern  durch- 
glüht, entfacht  in  ihm  plötzlich  den  Neid,  .  .  .  den  Neid? 
schlimmeres  als  das  ...  die  Eifersucht!    Die  Eifersucht, 
vor  der  er  sich  fürchtet"  (S.  211). 
Julian  sieht  Nine  in  das  Häuschen  eintreten  und  nach  langem 
Verweilen  wieder  sich  herausschleichen.     Sein  erster  Gedanke  ist 
Haß  und  Rachsucht;  er  will  Luc,  der  ihm  seine  Braut  geraubt,  — 
es  war  seit  langem  bestimmt,  daß  er  Jeannine  als  Frau  heimführen 
soll,  —  niederschmettern.     Aber  Luc's  Anblick  entwaffnet  ihn. 

„Luc  sieht  zwischen  den  Thränen  seines  Freundes 

die   Vergebung   leuchten Julian's   Augen,  in 

stummer  Extase,  suchen  die  Seele  des  Knaben  im 
Grunde  seiner  seltsamen  Augen  und  des  Freundes  müde 
Lippen  drücken  auf  die  brennende  junge  Stirn  die 
schmerzhafte  Verzeihung.  .  .  .  Luc  giebt  ihm  die  er- 
drückende Süße  seines  Kusses  zurück,  und  Julian  ge- 
brochen und  schluchzend  nimmt  in  Mitte  des  unsäg- 
lichen Schweigens  der  Nacht  die  Freuden  und  den 
Schmerz  der  Verzeihung  und  des  Kusses  mit"  (S.  234). 
Die  Umarmung  Nine's  durch  Luc  ist  nicht  ohne  Folge  ge- 
blieben.    Nine  ist  schwanger. 

Julian  heiratet  sie,  um  sie  vor  Schande  zu  retten.  Auch 
ihr  verzeiht  er  die  Hingabe  an  diesen  wunderbaren  Luc. 

„O,  wie  die  Lippen  von  Jeannine  und  ihre  Thränen 
nach  den  Lippen  und  den  Thränen  von  Luc  schmecken! 
Wie  ist  er  voll  von  ihnen,  dieser  Kuß,  wo  Julian  — 
der  alles  weiß  —  sich  erbietet,  ihr  anzugehören,  in  den 
Augen  der  Welt  ihre  Ruhe,  ihren  Frieden  zu  retten"  (S.  254). 
Julian  und  Nine  verweilen  Monate   lang  in  Italien;    Beide 
sind  anfangs  glücklich.     Im   gegenseitigen  Einverständnis    bleibt 
ihre  Ehe  unvollzogen,   völlig   rein,   um    das  Werk   von  Luc  un- 
berührt zu  lassen.    Nine   hat   eine   tiefe  Liebe  zu  Julian  gefaßt 
und  dieser  gedenkt  in  Ruhe  des   geliebten  Jungen,   dessen  Bild 
ihn  nicht  verläßt.     Aber  als  sie  Beide  nach  Paris  zurückkehren, 
da  gewinnen  die  uralten,  eingewurzelten  Vorurteile   Macht  über 
Julian;    er   kann    in    dem   geliebten  Knaben    nur   den  Geliebten 
seiner  Frau  erblicken. 

„Die  Heftigkeit  seiner  Neigung  für  ihn  kämpfte  mit 
einer  gewissen  Antipathie,  beide  unvereinbar,  beide  un- 
erklärlich." 
Luc   bemerkt   sofort   die  Aenderung   in  Julian,   der  seine 
Kälte  nicht  zu  verbergen  vermag. 

Luc  errät  die  Gefühle  von  Julian.  Er  ist  verzweifelt. 
Er  fühlt  sich  vereinsamt,  Nine  hat  er  verloren,  seine  erste  Liebe, 
seine  herrliche  Freundschaft  mit  Julian   ist   im  Grunde  zerstört, 


—    1037    — 

das  Leben  ist  ihm  zur  Last.  Er  vergiftet  sich  an  dem  Tag,  wo 
Nine  einen  Knaben  —  sein  Kind  —  gebärt.  In  Julian's  Armen, 
den  man  kaum  Zeit  gehabt  herbeizurufen,  stirbt  Luc. 

Essebac,    Achille:     L'Elu    (Paris:    Edition    moderne, 
Ambert,  1902). 

Der  junge  Pariser  Pierre  Pelissier  ist  auf  Reisen  ge- 
gangen um  das  Mädchen,  das  er  mehr  begehrt  als  geliebt 
hatte  und  das  sich  mit  einem  Andern,  Du  Hei,  verlobt  hat,  zu 
vergessen. 

An  der  spanischen  Treppe  in  Rom  bewundert  Pierre  die 
zahlreichen  Modelle,  die  hübschen  Mädchen  und  die  Jungen. 
Ein  16jähriger  Blumenverkäufer,  Luigi  da  Simone,  macht  einen 
gewaltigen  Eindruck  auf  Pierre.  Sein  bescheidenes,  artiges 
Wesen  und  seine  blendende  Schönheit  fesseln  ihn. 

„Pierre  schien  es,  als  ob  die  Welt  mit  Liebkosungen 
sich  erfüllte,  während  er  seine  Blicke   auf  die  Blicke 
des   kleinen  Bettlers  heftend,  unter  der  Gewalt  seiner 
Schönheit  festgenagelt  war.«  (S.  25). 
Pierres   Freund,   Jean   Berille,   kennt  den  Jungen,   er   hat 
sein  Antlitz  gezeichnet.    Jean  erzählt  Pierre,  daß  Luigi  so  stolz 
und  ehrenhaft  sei,   daß    er   sich   geweigert   habe,  von  dem  be- 
rühmten Peterson,  dem  Photographen  der  bekannten  Aktstudien, 
sich   nackt   photographieren   zu  lassen.     Pierre  verläßt  der  Ge- 
danke an  Luigi  nicht  mehr. 

Jean  führt  Pierre  zu  Peterson.  Dort  treffen  sie  eine  An- 
zahl Modelle.  Zuerst  sehen  die  sie  die  schöne  Carolina,  dann  führt 
ihnen  Peterson  fünf  Jünglinge  vor,  alle  von  vollendeter  Schön- 
heit. Den  1 7jährigen  Volturno,  il  typographo,  den  gleichalterigen 
Lucio  il  barbiere,  Giovanni  il  orologiaio,  dieser  noch  herrlicher 
als  die  beiden  andern,  dessen  Antlitz  der  berühmte  Professor 
Paul  H für  die  Darstellung  der  Jungfrau  Maria  in  dem  Ge- 
mälde in  der  Neuen  Pinakothek  zu  München  benutzte;  dann 
Giovani  -  Batista,  Modell  von  Beruf,  der  die  kunstvollen  Stel- 
lungen und  Gebärden  kennt;  endlich  Manlio,  ein  junger  Student, 
wunderbar  schön.  Pierre  glaubt  sich  bei  dem  Anblick  aller 
dieser  herrlichen  Jünglinge,  die  so  natürlich  in  Schönheit  sich 
bewegen,  in  das  alte  Griechenland   zurückversetzt. 

„Das  freie  und  leuchtende  Griechenland  war  allein 
fähig  einstmals  in  seinen  Gymnasien,  wo  Sokrates  in 
der  Nähe  von  Alcibiades  über  Charmides  und  Lysis 
Reden  hielt,  dieses  Schauspiel  zu  bieten,  dessen  er- 
greifende Reinheit  nur  durch  die  intensive  Schönheit 
erreicht  wurde."     (S.  63). 


—     1038    — 

Der  Diener  von  Peterson  hat  Luigi  gefunden.  Luigi 
willigt  ein,  sich  nackt  photographieren  zu  lassen,  doch  nur 
vor  Pierre. 

Enthusiastische  Schilderung  des  Jünglings,  dessen  strahlende 
Nacktheit  sich  den  bewundernden  Blicken  Pierre's  darbietet. 
Die  Photographien  von  Luigi  in  den  verschiedenen  Stellungen 
werden  nur  für  Pierre  hergestellt  werden  und  die  Original- 
platten für  Niemand  anders  gebraucht,  damit  die  nackte  Schön- 
heit des  Jünglings  durch  kein  anderes  Auge  entweiht  werde. 

Pierre  ist  von  dem  Liebreiz  und  dem  gesamten  Wesen 
von  Luigi  so  entzückt,  daß  er  beabsichtigt,  ihn  mit  nach  Paris  zu 
nehmen.  Luigi  hat  früh  seine  Eltern  verloren,  mangels  der 
nötigen  Mittel  mußte  er  die  Studien  aufgeben  und  unter  den 
größten  Entbehrungen  seinen  Lebensunterhalt  verdienen. 

„Luigi  gehört  also  Niemand  —  Luigino,  Gino  wird 
der  Erwählte  von  Pierre  sein.  Und  das  ist  die  Morgen- 
röte des  Glückes,  die  in  der  Seele  von  Pierre  auf- 
steigt, in  einer  bisher  von  Finsternis  umhüllten  Seele,* 
in  welche  nur  seltene  Sterne  bisher  hineingeleuchtet. u 
(S.  84). 
Luigi  hat  ein  wenig  Chemie  studiert  und  wird  Pierre,  der 
sich  mit  Keramikarbeiten  beschäftigt,  behülflich  sein. 

Pierre  begleitet  den  Jungen  in  seine  bisherige  Wohnung, 
eine  schreckliche  Behausung,  wo  der  elternlose  Luigi  von  einer 
Dirne,  Sanguisuga,  deren  Leidenschaft  er  entfacht,  gezwungen 
war,  ihren  Lüsten  sich  hinzugeben.  Luigi  versichert  Pierre,  daß 
niemals  sein  Herz  beteiligt  war. 

Sodann    erfährt  Pierre    näheres    über   Luigi    bei   Kloster- 
brüdern,   die   den   kranken  Luigi    einst    gepflegt.    Fra  Serafino 
teilt  Pierre   mit,  welche  schwere  Vergangenheit  Luigi  hinter  sich 
hat;  das  größte  Elend  mußte  er  durchmachen,   in   den   schlech- 
testen,   kaum    bezahlten    Stellungen   versuchte   er   auszuharren; 
schließlich  nahm  ihn  eine  Dirne,  Stefanina,   durch   seine  Schön- 
heit gefesselt,  zu  sich,  aber  der  Stolz  des  Jungen  duldete  nicht 
lange  das  entehrende  Zusammenleben.    Als  er  aber  das  Mädchen 
verlassen  und  trotz  seiner  Bitten  nicht  zurückkehren  wollte,  ver- 
setzte ihm  die  Dirne  einen  Messerstich.    Lange  war  Luigi  krank 
gelegen,  noch  jetzt  sind  die  Folgen  nicht  völlig   beseitigt.    Alle 
großen  Erregungen  müssen  ihm  erspart  und  namentlich  sexuelle 
Excesse  von  ihm  ferngehalten  werden.     Pierre's  Liebe  zu  Luigi 
steigert  sich  noch,'  nachdem  er  alles  erfährt,  was  der  Junge  gelitten. 
„Ihre   Freundschaft    beruhte   ganz   auf   der  Freude 
sich   zu   sehen  und  sich  gegenseitig  anzuvertrauen   — 
sie   hielt   sich   genügend   fern  von   allem   krankhaften 
oder  zügellosen  Trieb,   so   daß  Pierre  weder  für  sich 


—    1039    — 


noch  für  die,  die   ihn  kannten,   eine  Entschuldigung  zu 
suchen    brauchte    für    diese    einfache    und    natürliche 
Zuneigung  zweier  Herzen,  die  entschlossen  waren,  ganz 
sich  zu  kennen,  ganz  in  geistigen  Freuden  in  einander  zu 
verschmelzen  und  sogar  in  einer  weniger  aetherischen 
Sympathie  das  discrete,  vernünftige  und  jedenfalls  vor- 
urteilsfreie Element  einer  Zuneigung  zu  finden,  dessen 
Charakter  zu  verdächtigen  Pierre  Niemand  das  Recht 
zuerkannte."  (S.  136.) 
Die  Sanguisuga    hat    die  Wohnung   von  Pierre   und  Luigi 
ausgekundschaftet;  als  sie  merkt,  daß  Luigi  nicht  mehr  in  seine 
frühere  Behausung  zurückkehrt,   lauert   sie  Pierre   und  Luigi  auf 
Schritt   und  Tritt   auf.     Pierre   beschließt,   Rom   sofort   zu  ver- 
lassen,  damit  Luigi   vor   der  Rache   der  Sanguisuga   sicher  sei. 
Im  Augenblick,  wo  der  Zug,  mit  dem  Pierre  und  Luigi  abreisen, 
abfährt,  stürzt  eine  Frau,  die  Sanguisuga,  auf  den  Perron.    Als  sie 
den  Zug,  der  ihr  den  Geliebten  entführt,  nicht  mehr  erreichen  kann, 
stößt  sie  sich  den  Dolch,  den  sie  für  Luigi  bestimmt,  in  die  Brust. 
Pierre  und  Luigi   bringen   zunächst   einige   Zeit   auf   dem 
Familienschloß  in  Savoyen  zu.     Dann  gehen  sie  nach  Paris,  wo 
Pierre  in  der  Nähe   seiner  Keramik-Werkstätte   seinem  Liebling 
eine  hübsche  Wohnung   einrichtet.     Das   Glück  beider  ist  eine 
Zeitlang  ungetrübt. 

Aber  eine  Kokotte,  die  Maitresse  des  brutalen  egoistischen 
Du  Hei,  hat  ihr  Auge  auf  den  schönen  Luigi  geworfen.  Er  ver- 
mag nicht  ihrem  Werben  zu  widerstehen,  seine  lang  verhaltene 
Sinnlichkeit  zieht  ihn  zu  der  wollüstigen  Frau.  Trotz  der  Bitten 
von  Pierre  verläßt  er  ihn.  Einige  Wochen  bleibt  er  fern,  dann 
kehrt  er  ermattet,  bleich,  erschöpft  und  reumütig  zu  Pierre 
zurück,  der  ihm  verzeiht.  Die  Excesse  haben  Luigi  so  erschöpft, 
daß  er  erkrankt.  Als  er  wieder  genesen,  begleitet  er  Pierre  und 
dessen  zukünftigen  Schwager,  Marc,  in  eine  große  Gesellschaft. 
Dort  hört  Luigi  wie  Du  Hei  über  die  Schwester  von 
Pierre  in  beleidigenden  Ausdrücken  spricht,  er  straft  ihn  Lüge, 
aber  spöttisch  schleudert  ihm  Du  Hei  eine  Beschimpfung  ent- 
gegen, nennt  ihn  Weib,  auf  sein  Verhältnis  mit  Pierre  anspielend. 
Schon  will  Luigi  die  Hand  gegen  Du  Hei  erheben,  als  Marc,  der 
hinzukommt,  dem  frechen  Du  Hei  alle  seine  Verachtung  in  zün- 
denden Worten  entgegenschleudert. 

Luigi  ist  durch  diese  Scene  so  ergriffen,  daß  seine  schwache 
Gesundheit  den  Todesstoß  erleidet. 
Er  stirbt  in  Pierre's  Umarmung. 

In    allen    drei  Werken    besingt  Essebac    die    homo- 
sexuelle Liebe    in    ihrer    edelen,    verklärten  Form.     Der 


I- 


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—     1040    — 

sinnlichen  Grundlage  entbehrt  diese  Liebe  nicht,  aber  das 
tiefe  Gefühl,  die  Herz  und  Gemüt  ergreifende  Leiden- 
schaft, sind  ihr  Alles,  lassen  den  grobsinnlichen  Trieb 
nicht  aufkommen,  erkennen  der  Sinnlichkeit  ohne  echte 
aufrichtige  Liebe  kein  Recht  zu. 

An  der  körperlichen  und  geistigen  Schönheit,  an 
der  Grazie,  Jugendfrische  und  Plastik  des  Geliebten  ent- 
flammt sich  diese  Liebe  in  D£d6,  Luc  und  l'Elu. 

Indem  Essebac  teilweise  aus  dem  Schönheitsgefühl 
und  dem  ästhetischen  Empfinden  die  Neigung  seiner 
Helden  entstehen  läßt  und  eine  -  enge  Verknüpfung 
zwischen  Schönheitsdrang  und  Homosexualität  versucht, 
leitet  er  die  urnische  Leidenschaft  gleichsam  zu  ihrer 
Rechtfertigung  und  Entschuldigung  aus  diesem  Zu- 
sammenhang her. 

Tatsächlich  erscheint  aber  auch  diese  Quelle  unzu- 
reichend zur  Erklärung,  warum  die  Schönheit  eines  Jüng- 
lings die  Leidenschaft  von  Marcel,  Julian  und  Pierre  ent- 
facht und  die  Frau  ein  ähnliches  Gefühl  nicht  auf- 
kommen läßt. 

Bei  allen  dreien  liegt  der  Grund  in  ihrer  angebore- 
nen homosexuellen  Anlage,  welche  Essebac  nicht  aus- 
drücklich betont,  aber  in  der  Psyche  der  Dreien  deutlich 
zur  künstlerischen  Darstellung  bringt. 

Bei  D£d£  tritt  die  Homosexualität  in  frühester 
Jugend  hervor  mit  einer  Intensität  des  Gefühls  und  des 
Innenlebens,  mit  einer  frühzeitigen  Entwicklung  starken 
Empfindungslebens,  wie  sie  gerade  zu  der  Charakteristik 
mancher  Homosexuellen  zählen. 

Später  als  bei  Marcel  tritt  bei  Julian  die  homo- 
sexuelle Neigung  hervor,  die  sich  seit  der  Pubertät  unter 
der  Sehnsucht  nach  edler  Freundschaft  und  idealem 
Geistesbund  verbarg. 

Julian's  Geschlechtsnatur  entbehrt  des  grobsinn- 
lichen   Dranges,    sein    jedes    niederen  Trachtens,    jeder 


—     1041     — 


Gemeinheit  abholder  Geist  strebt  nach  höheren  Genüsse» 
Und  weil  das  direkt  Geschlechtliche  ihn  nicht  lockt,, 
stößt  ihn  andererseits  auch  das  Weib  an  und  für  sich 
nicht  ab,  ebensowenig  wie  ihn  der  Mann  an  sich  oder 
eine  Kategorie  von  Jünglingen  geschlechtlich  reizt. 

Sein  ungestilltes  Sehnen  konzentriert  sich  auf  den. 
Einzigen,  in  dem  er  sein  Ideal  von  vollendeter  Schönheit 
des  Körpers  und  Anmut  des  Geistes  vereint  findet. 

Beim  ersten  Anblick  dieses  Epheben  wird  sein- 
schlummerndes Liebessehnen  geweckt,  in  der  Freund- 
schaft und  dem  täglichen  Verkehr  mit  Luc  entwickelt 
sich  seine  ursprünglich  unter  Freundschaftsenthusiasmus 
und  Schönheitskult  verschleierte  homosexuelle  Natur  bis 
zu  sinnlichem  Begehren.  Seine  ideale  Anlage,  seine  ver- 
edelte Sentimentalität  hindern  ihn  aber,  die  Grenzen  des 
bloßen  Begehrens  zu  überschreiten  und  die  Verwirklichung 
seiner  aufkeimenden  Wünsche  durchzusetzen. 

Diese  sublimierte  Sinnlichkeit  läßt  es  auch  begreiflich, 
erscheinen,  daß  sich  Julian  mit  dem  symbolischen  Besitz, 
des  Geliebten  begnügt,  indem  er  diejenige  heiratet,  die 
Luc  in  Liebe  umschlang  und  das  Kind  des  Geliebten^ 
„das  Fleisch  seines  Fleisches"  als  das  seinige  anerkennt. 

In  dem  Charakter  von  Julian  liegt  diese  etwas 
eigenartige  und  sentimentale  Befriedigung  begründet  und 
in  interessanter  Weise  ist  es  Essebac  gelungen,  diese  Ge- 
fühlsablenkung, in  die  Julian's  überschwengliche  Leiden- 
schaft mündet,  psychologisch  zu  motivieren. 

Dagegen  halte  ich  den  Umschlag  in  Julian's  Ver- 
halten zu  Luc  am  Schlüsse  des  Romans  für  verfehlt.. 
Die  plötzliche  Antipathie  gegen  Luc  als  den  früheren 
Geliebten  Nine's,  der  Kampf  der  beiden  Gefühle,  der  ge- 
steigerten Liebesleidenschaft  zu  Luc  und  der  instinktiv 
sich  aufdrängenden  Abneigung,  welche  über  das  zwischen. 
Luc  und  Nine's  Vorgefallene  sich  nicht  hinweg  zu 
setzen   vermag,    würden    eine   wirkliche   Geschlechtslieber 


—     1042    — 

Julians  zu  seiner  Frau  voraussetzen,  während  seine  Homo- 
sexualität und  seine  fortdauernde  Leidenschaft  zu  Luc 
eine  solche  ausschließen. 

Bei  einer  geistig  überlegenen  und  unabhängigen 
Natur  wie  Julian  können  die  herrschenden  Vorurteile 
nicht  Wurzel  schlagen  und  nicht  das  Leben  vergiften, 
wenn  sie  nicht  in  dem  Gefühlsleben  der  Persönlichkeit 
einem  Widerhall  begegnen. 

Auch  der  Held  des  dritten  Romans  trägt  den  Typus 
des  Edelpäderasten,  aber  jede  Unklarheit  über  die  Natur 
des  Gefühls,  das  ihn  erfüllt,  jeder  Kampf  gegen  seine 
Empfindung  hat  aufgehört. 

Pierre  hat  das  volle  Bewußtsein  seiner  homosexuellen 
Natur  erlangt,  und  in  ihr  Glück  und  Zufriedenheit  ge- 
funden. Er  zieht  alle  Consequenzen  aus  seiner  Leiden- 
schaft und  zögert  nicht  sein  Lebensschicksal  mit  dem- 
jenigen des  Geliebten  zu  verbinden. 

Luigi  wird  durch  Pierre's  Liebe  geadelt  und  sittlich 
erhöht,  während  er  das  Laster  beim  Weibe  kennen  lernte 
und  auch  als  Opfer  dieses  Lasters  zu  Grunde  geht. 

Alle  drei  Romane  haben  mehr  lyrischen  und  poetisch 
sentimentalen  Gehalt  als  psychologischen.  An  dem  Maßstab 
der  Wirklichkeit  darf  man  die  Romane  und  ihre  drei 
Helden,  welche  die  schönsten  geistigen  und  körperlichen 
Eigenschaften  vereinigen,  nicht  allzugenau  messen.  L'Elu 
ist  vielleicht  am  meisten  romantisch  mit  zum  Teil  etwas 
grell  romanhaften  Ingredienzien. 

Die  Ueberschwenglichkeit  des  Gefühls  und  der  oft- 
mals an  allzu  pathetischem  Lyrismus  sich  berauschende 
Enthusiasmus  fuhren  Essebac  an  manchen  Stellen  zu  ge- 
suchten Wendungen  und  verschlungenen  Sätzen,  in  denen 
die  Klarheit  des  Gedankens  leidet,  zu  Ausdrucksweisen 
und  schwärmerischen  Perioden,  die  zwar  musikalisch 
klingen,  aber  eine  gewisse  Affektiertheit  verraten  und 
die  Verständlichkeit  manchmal  vermissen  lassen. 


; 


—    1043    — 

Aus  allen  drei  Büchern  spricht  jedoch  eine  echte 
Künstlernatur:  Das  bedeutende,  hauptsächlich  lyrische 
Talent  Essebac's  hat  ihn  befähigt,  drei  an  Zartheit  und 
Feinheit  der  Empfindung  und  poetischem  Schwung  reiche 
Werke  zu  schaffen. 

GeiSSler,Karl  Wilhelm:  Ganymedes.  Ein  Künstler- 
traum   in     neun    Gesängen.      (Leipzig,    Verlag 
„  Kreisende  Ringe  *  (Max  Spohr  1902.  282  S.) 
Der   Dichter   verkündet   die  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt. 
Er  wolle  ein  Denkmal  eigener  Art  setzen. 

„Klassisch  der  Stamm,  romantisch  die  Verzweigung 
Ein  hohes  Lied  perverser  Götterneigung." 
Tros,  der  Stammherr  der  Trojanischen  Könige,  hat  auf 
Geheiß  des  Hohepriesters  versprochen,  seinen  Erstgeborenen  dem 
Gotte  Zeus  zu  weihen.  Zeus  hat  die  Absicht,  den  Königssohn 
Ganymed  später  zu  seinem  Geliebten  zu  erheben.  Schon  dem 
Kind  schickt  er  Zeichen  seiner  Huld. 

Gutklau,  der  Adler  Zeus',  bringt  dem  kleinen  Ganymed 
ein  Frauenkleid,  herrlichen  Schmuck  und  Tand.  Ganymed 
legt  freudig  alles  an.  Von  den  Nymphen,  denen  er  be- 
gegnet, und  den  Dienerinnen  ob  seiner  Tracht  ausgelacht, 
flüchtet  er  errötend  und  weinend  zur  Mutter.  Eine  eigenartige 
Empfindung  hat  sich  seiner  bemächtigt,  seitdem  er  die  Frauen- 
kleider angelegt.  Er  fühlt  sich  wohl  in  ihnen,  als  ob  „sein 
Körper  zu  ihnen  gestrebt"  und  begreift  selbst  nicht,  wie  „buntes 
Zeug  und  Bänder"  ihn  so  im  Innersten  mit  einem  Mal  verändert 
Kallirrhoe  (seine  Mutter)  findet  die  Erklärung  seiner  Gefühle  in 
der  alten  Sage  von  den  Doppelseelen  in  deren  Körper  un- 
zertrennlich „was  weiblich  und  was  männlich"  gewohnt  und  die 
durch  die  Gottheit  getrennt,  in  falsche  Körper  sich  verloren. 

Der  Schmuck,  den  Gutklau  dem  Knaben  gebracht,  war 
Hera's  Eigentum.  Als  die  Göttin  der  Entwendung  gewahr  wird 
und  die  Verwendung  des  Schmucks  erfährt,  bricht  sie  mit 
Anklagen  gegen  Zeus  hervor. 

Sie  kann  sein  Interesse  für  den  Knaben  nicht  begreifen, 
dessen  Äußeres  keinen  Helden  verspräche,  an  dem  Zeus  später 
seine  Freude  haben  könnte. 

Auf  Ihre  Vorwürfe  antwortet  Zeus  weiter: 

„Weßhalb  soll  ich  nicht  diesen  Knaben  lieben, 
Da  ich  doch  alle  Menschen  lieben  muß? 
Soll  meine  Huld  auf  Weiber  sich  beschränken, 
Und,  wenn  ich  liebe,  nur  ans  Zeugen  denken." 

(S.  126). 

Jahrbuch  V.  66 


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—    1044    — 

Noch  sieht  Hera  einen  Ausweg,  um  den  Knaben  Zeus  zu 
entfremden,  sie  will  den  Mann  in  ihm  wecken.  Zeus  gestattet 
ihr  den  Versuch  zu  machen. 

Hera  läßt  ein  schönes  Hirtenmädchen  Anthia,  dem  das 
Aussehen  und  die  Kleider  einer  wundervollen  Prinzessin  ver- 
liehen werden,  zu  Ganymed  bringen.  Durch  die  Anmut  und  die 
Schönheit  des  Mädchen  wird  Ganymed  anfangs  entzückt  und 
in  Liebesworten  giebt  er  seinen  Gefühlen  Lauf.  Aber  als  der 
reiche  königliche  Glanz  von  Anthia  abfällt  und  er  das  arme 
Hirtenmädchen  vor  sich  sieht,  erkaltet  bald  Ganymed's  ober- 
flächlicher Enthusiasmus. 

Gern  läßt  er  das  Mädchen  auf  seine  Bitten  hin  zu  ihrem 
Geliebten  ziehen. 

Zeus  beschließt  sich  Ganymed  zu  nähern.  Als  Erastes, 
der  Fürst  der  Phryger,  kommt  er  an  den  Hof  von  Tros  unter 
dem  Vorwand  sich  auf  der  Jagd  verirrt  zu  haben.  Er  wird 
gastfreundlich  aufgenommen. 

Mit  innigem  Behagen  ruht  Zeus'  Blick  während  des  Mahles 
auf  Ganymed,  der  sich  an  seine  Mutter  schmiegt. 

Er  erzählt  wie  in   seinem   Lande   der   Jüngling   früh   einen 
Freund  wählen  müsse. 

Tros  selbst  bittet  Zeus   sich   seines  Sohnes  anzunehmen: 
„Daß  einzig  du,  dein  Beispiel  deine  Nähe 
Dem  Jungen  giebt,  woran's  ihm  noch  gebricht. 
Betracht*  ihn  doch,  sieh  seine  Sehnsucht  brennen. 
Dich  Vorbild,  Führer,  Schützer.  Freund  zu  nennen!" 

(S.  188.) 
Auf  Geheiß  von  Tros  leistet  Ganymed  dem  Gast  Schenker- 
dienste: 

„Fast  möchte  man  den  guten  Tros  d'rob  hassen, 
Daß  er  den  Sohn  zum  Schenkerdienst  gedrillt: 
Hier  ist  der  Grund,  weßhalb  in  allen  Gassen, 
Wo  immer  man  in  Kneipen  Humpen  füllt, 
Wo  Bierphilister  um  ihr  Hirn  sich  prassen, 
Der  Kellner  als  ein  Ganymedes  gilt, 
Im  Jammerfrack,  mit  schmutziger  Serviette  — 
Der  Name  stinkt  nach  Trinkgeld,  Küchenfette". 

(S.  190) 
Abends  lustwandelt  Zeus  mit  Ganymed  im  Schloßpark. 
Ganymed  öffnet  dem  Freund  sein  Herz,  erzählt  ihm,  wie  ein 
ungestilltes  Sehnen  ihn  erfülle,  wie  er,  der  Gottgeweihte,  große 
Dinge  erwarte,  wie  stets  sein  Blick  aufs  Hohe,  Oberirdische 
gerichtet  sei. 

Ganymed  findet  bei  Zeus-Erast,  dem  Geistesverwandten, 
volles  Verständnis. 


—    1045    — 

Nachdem  Zeus  längere  Zeit  am  trojanischen  Hof  verweilt, 
kündet  er  seinem  Liebling  an,  daß  er  bald  in  sein  Reich 
zurückkehren  müsse.  Er  fordert  Ganymed  auf,  ihn  zu  begleiten, 
ein  Leben  voll  Pracht  und  Glanz  wolle  er  ihm  bereiten. 
Ganymedes  versichert  ihn  seiner  treuen  Liebe,  aber  so  lange 
die  Mutter  lebt  wird  er  sie  nicht  verlassen. 

Zeus  veranlaßt  die  Parzen  den  Lebensfaden  von  Kallirrhoe 
abzukürzen.  Sie  stirbt  plötzlich  eines  Nachts.  Bald  verläßt  der 
Gott  Troja.  Vor  seinem  Weggang  erinnert  er  Ganymed  an 
sein  Versprechen,  im  Fall  des  Todes  der  Mutter  dem  Freund  zu 
folgen.  Doch  zuerst  solle  er  beim  Vater  bleiben  als  Stütze  und 
Trost  nach  dem  schweren  Verlust.  Wenn  aber  Ganymed  dem- 
nächst den  Freund  ersehne,  brauche  er  nur  den  benachbarten 
Berg  zu  besteigen,  und  nach  dem  Freund  zu  rufen. 

Auf  Geheiß  seines  Vaters  muß  Ganymed  als  königlicher 
Hirte  die  Heerden  zur  Weide  führen.  Die  ersten  Tage  verbringt 
Ganymed  glücklich  und  frei  in  der  herrlichen  Natur  des  Waldes 
und  der  Berge  zu.  Aber  bald  kommt  ihm  die  Oede  und  Arm- 
seligkeit seiner  Beschäftigung  und  seines  Daseins  zum  Bewußt- 
sein. Von  dem  Vater  trennt  ihn  eine  unüberbrückbare  Kluft 
in  Denken  und  Empfinden;  er  fühlt  sich  verwaist  und  einsam. 
Im  Traum  erscheint  ihm  Zeus,  er  ruft  ihn  zu  sich,  nicht 
länger  möge  Ganymed  zögern:  „Ein  Wort  von  dir,  und  dich 
umfängt  die  Liebe«.  Ganymed  gedenkt  der  letzten  Worte  von 
Erast,  er  eilt  auf  den  Berg,  der  Adler  Gutklau  bringt  ihm  den 
Lorbeerkranz.  Ganymed  weiß  jetzt,  daß  Zeus  —  Erast  ihn  auf- 
nehmen wird. 

Inbrünstig  betet  er  zum  Gott. 

„Da,  plötzlich,  fühlt  vom  Sturm  er  sich  getragen, 
Auf  weichen  Fittichen  hebt  er  ihn  sanft  empor, 
Bis  sich  zwei  Götterarme  hilfreich  um  ihn  schlagen, 
Ein  Göttermund  ihm  zärtlich  raunt  ins  Ohr: 
Willkommen,  Seliger!     Das  Alte  ist  vergangen, 
Und  neue  Liebe  blüht,  dich  ewig  zu  umfangen!" 

(S.  281) 
Das  Gedicht  endigt  mit  folgenden  Versen: 

wO  würd'  auch  uns  nach  rasch  verträumtem  Leben 
Solch  einer  Heimkehr  grenzenloses  Heil 
Von  einem  Gotte,  der  uns  Freund,  gegeben  — 
Kein  Pfad  dahin  erschien*  uns  übersteil! 
Der  Wunsch  schon  wirkt,  daß,  wir  uns  höher  heben, 
Wird  ihm  Erfüllung  oder  nicht  zu  teil: 
Wenn  freudig  wir  dem  Irdischen  entfliehen, 
Sind  würdig  wir,  zum  Frieden  einzuziehen!" 

(S.  282) 
66* 


i< 


—     1046    — 

Das  Poem  von  Geißler  ist  ein  Geroisch  von  erhaben 
gedachten  Stellen  einer-  und  von  Parodie  und  Travestie 
andererseits. 

Die  Liebe  von  Zeus  zu  Ganymed  wird  zwar  als  eine 
von  Sinnlichkeit  nicht  freie,  aber  edle  Leidenschaft  be- 
sungen und  die  Scenen  zwischen  den  Beiden  tragen  auch 
den  Stempel  aufrichtiger  Empfindung  und  teilweise  schöner 
Lyrik. 

In  der  Schlußstrophe  des  neunten  Gesanges  wird 
sogar  die  Sehnsucht  und  Liebe  Ganymed's  zu  dem  Gott 
symbolistisch  gedeutet  und  damit  versucht,  dem  ganzen 
Gedichte  eine  symbolistische  Bedeutung  zu  geben,  auf  die 
man  schwerlich  ohne  diesen  unvermittelten  Hinweis .  ge- 
kommen wäre.  Auch  einige  gut  beobachtete  psychologische 
Züge  in  der  Entwicklung  der  homosexuellen  Natur  Gany- 
med's  sind  zu  loben  wie  z.  B.  seine  Freude  an  Weiber- 
kleidung, seine  Abneigung  gegen  männlichen  Sport.  In 
der  Hauptsache  jedoch  entbehrt  das  Buch  eines  tieferen 
Gehalts. 

In  allzu  ermüdender  Breite  wirken  Begebenheiten 
und  Episoden,  entrollt  mit  einem  Stich  ins  Burleske,  das 
oft  verblüffend  wirkt  und  zur  Frage  berechtigt,  ob  die 
Wiedergabe  der  schönen  Bildnisse  des  Zeus  von  Otricoli 
und  des  vatikanischen  Ganymed's  in  dem  an  Offenbach's 
.Operettenlibretti  erinnernden  Gedicht  am  Platze  war. 

Denn  in  Offenbachsche  Verkleidung  sind  Geißler's 
Götter  und  Menschen  gehüllt,  bei  der  das  Erhabene  und 
Lächerliche  fortgesetzt  sich  kreuzt  und  in  einander  über- 
geht. 

Wenn  Geißler  ohne  höhere  Absichten  lediglich  ein 
amüsantes  Gedicht  hätte  geben  wollen,  dann  würde  man 
an  den  anachronistisch-parodistischen  Streiflichtern,  die 
er  auf  heutige  Zustände  in  Heine'scher  Atta  Troll-Manier 
wirft  und  an  seiner  teilweisen  Damenkomikerlyrik  ehr- 
licheren Gefallen  finden  können. 


—    1047 


Jedenfalls  würde  es  gewagt  seiu,  wollte  man  den 
„Künstlertraum"  Geißler's  einen  künstlerischen  Traum 
nennen,  aber  als  eine  vergnügliche  Lektüre  kann  man 
das  Buch  immerhin  empfehlen. 

Gide,  Andrer  L'Immoraliste  (Verlag,    Mercure  de 
France  1902.    257  S.) 

Michel,  der  Sohn  eines  früh  verwitweten  Gelehrten,  hat 
sich  in  seinem  24.  Lebensjahr  seinem  Vater  zu  Liebe  an  dessen 
Sterbebette  verlobt.  Er  heiratet  seine  Frau,  Marceline,  ohne 
Liebe,  aber  da  er  noch  kein  anderes  Weib  geliebt  hat,  „genügt 
ihm  dies  als  Gewähr  des  Eheglücks  und  da  er  sich  selbst 
nicht  kennt,  glaubt  er  ganz  sich  seiner  Frau  hinzugeben",  er  bringt 
ihr  Zärtlichkeit  und  Achtung  entgegen. 

Michel  hat  sich  frühzeitig  einen  geachteten  Namen  in  der 
Gelehrten  weit  verschafft.  Seine  Natur  war  ganz  in  dem  Studium 
aufgegangen.  So  hatte  er  das  25.  Lebensjahr  erreicht,  ohne 
etwas  anderes  als  Ruinen  und  Bücher  geschaut  zu  haben,  des 
wirklichen  Lebens  unkundig.  Auf  seiner  Hochzeitsreise 
nach  Algerien  erkrankt  Michel  schwer  an  Blutsturz.  In  Biskra 
nehmen  die  Eheleute  Aufenthalt. 

Dort  beginnt  MichePs  Interesse  für  die  jungen  Araber 
zu  erwachen.  Zuerst  zieht  der  kleine  Bachir,  den  Marceline  in 
das  Krankenzimmer  mitgebracht,  seine  Aufmerksamkeit  auf  sich. 
Die  kindliche  Grazie  des  Jünglings  entzückt  ihn.  Als  Bachir  am 
andern  Tage*  nicht  wiederkehrt,  empfindet  Michel  zum  ersten 
Male  Langeweile;  er  läßt  den  Jungen  holen  und  schaut  seinen 
Holzschnitzereien  zu.  Bachir  schneidet  sich  in  den  Finger  und 
lachend  leckt  er  die  Wunde  ab. 

„Seine  Zunge  war  rosig  wie  die  einer  Katze.  Ach! 
welche  Gesundheit  der  Junge  hatte !  Das  also  war  es, 
was  mich  in  ihm  entzückte."  x).     (S.  39). 

Tags  darauf  nimmt  Michel  an  dem  Kegelspiel  des  Jungen 
Teil.  In  Folge  der  Anstrengung  speit  Michel  in  der  Nacht  wieder 
Blut.  Michel  sieht  jetzt  die  Gefährlichkeit  seiner  Lage  ein,  sein 
erster  Blutsturz  hatte  ihn  nicht  so  geängstigt,  ihn  ziemlich 
gleichgültig  gelassen.  Aber  er  beginnt  das  Leben  zu  lieben  und 
faßt  den  Vorsatz,  nunmehr  um  jeden  Preis  zu  gesunden.  Seine 
einzige  Pflicht,  sein  einziges  Ziel  soll  seine  Genesung,  seine 
Gesundheit  werden. 

„Für  gut  war  zu  halten,  gut  war  zu  nennen,  alles  was 
mir  heilsam  war,  dagegen  mußte  alles  vergessen, 
zurückgewiesen  werden,  was  nicht  heilte"  (S.  43) 

J)  Der  Roman  ist  in  der  Ichform  geschrieben. 


—    1048    — 

Dank  der  strengen  Hygiene  und  Diäthik,  dank  der  sorg- 
fältigen Pflege  bessert  sich  Michel's  Zustand.  Er  kann  wieder 
mit  seiner  Frau  ausgehen.  Wieder  interessieren  ihn  die  jungen 
Araber,  denen  er  begegnet,  aber  in  Gegenwart  seiner  Frau 
empfindet  er  eine  gewisse  Scham  sie  anzureden. 

Die  Genesung  Michel's  nimmt  zu.  Bald  besucht  er  die 
schönen  Gärten  der  Umgebung  mit  Marceline,  dann  allein.  Alle 
seine  Sinne  leben  auf  in  dem  herrlichen  Klima  und  der  blühenden 
Vegetation.  Den  schönen  Lassif,  den  Ziegenhirten,  der  wunderbar 
die  Flöte  spielt,  lernt  Michel  kennen  und  zahlreiche  andere 
junge  Araber.  Sie  begleiten  ihn  oft,  er  gibt  ihnen  Geldstücke, 
schaut  ihren  Spielen  zu  und  läßt  sie  in  seine  Wohnung  kommen. 
Als  die  schlechte  Witterung  ihn  an  das  Zimmer  bannt,  sind 
es  die  Spiele  der  Jungen,  die  allein  ihn  zerstreuen. 

Beim  Beginn  der  heißen  Jahreszeit  reisen  Michel  und  Marceline 
nach  Sizilien.   MichePs  Nerven  sind  gekräftigt,  seine  kranke  Lunge 
geheilt.    Er  fühlt  sich  körperlich  und  geistig  ein  anderer  Mensch. 
„Es  war  mehr  als  eine  Genesung,  es  war  eine  Ver- 
mehrung, ein  Zunehmen   des   Lebens,  der  Zuzug  eines 
reicheren,   wärmeren  Blutes  in  den  Adern"  (S.  80). 
Er    entdeckt    in    sich    den    ursprünglichen,    urwüchsigen 
Menschen,  den  Erziehung  und  Studium  verdeckt  hatten.     Seine 
Gelehrsamkeit  stört  ihn  in  dem  Genuß  der  schönen  Natur,  seine  bis 
jetzt  geliebten  historischen  Studien  scheinen  ihm  ohne  Beziehung 
zu  seinem  Ich. 

In  Sorrent  hat  er  Gelegenheit,  seine  neue  Kraft  zu  erproben, 
indem  er  seine  Frau  aus  einer  Lebensgefahr  durch  energische 
Züchtigung  eines  trunkenen  Kutschers  rettet. 

Zum  ersten  Male  in  Italien,  besitzt  er  wieder  seine  Frau 
und  zum  ersten  Male  mit  sinnlichem  Genuß.  Es  war  eine  eigentliche 
Hochzeitsnacht. 

Michel  denkt  allmählich  wieder  an   geschichtliche  Studien. 
Aber   die   abstrakte   und   kühle   Betrachtung   der  Vorgänge   hat 
keinen  Reiz  mehr  für  ihn,  die  Philologie  und  Geschichte  ist  ihm 
nur   noch   ein  Mittel,   um   Leidenschaften,   um   das   pulsierende. 
Leben  kennen  zu  lernen. 

Er  will  die  letzten  Jahre  des  Gothenreichs  studieren.  Aber 
am  meisten  zog  ihn  die  Gestalt  des  jungen  Königs  Athalarich  an. 
„Ich  stellte  mir  diesen  15  jährigen  Knaben  vor,  der 
heimlich  von  den  Gothen  angestiftet,  sich  gegen  seine 
Mutter  Amalasuntha  empört,  seine  lateinische  Kultur 
verschmäht,  die  Kultur,  wie  ein  Pferd  sein  störendes 
Geschirr  abwirft  und  die  Gesellschaft  der  unge- 
schlachteten  Gothen  derjenigen  des  alten  und  allzu 
weisen  Cassiodorus   vorziehend   einige  Jahre   mit   den 


—    1049    — 


rauhen  Günstlingen  seines  Alters  ein  kraftvolles,  wollust- 
reiches und  schrankenloses  Leben  führt,  um  1 8  Jahre 
alt  ganz  verdorben,  ganz  trunken  von  Ausschweifungen 
zu  sterben." 

„In    diesem    tragischen  Streben  nach  einem  wilden 
und   urwüchsigen  Zustand   fand   ich    etwas  von   dem, 
was  Marceline  lächelnd  meine  „Krisis"  nannte.0  (S.  101 ). 
Michel   wird   eine   Professur   im    College   de   France  an- 
geboten.    Er  nimmt  sie  an  und  lebt  noch  zuvor  einige  Monate 
auf    seinem    großen   Landgut   in    der   Normandie.     Die    ersten 
Wochen    fühlt  sich  Michel  dort  völlig  glücklich.     Seine   innere 
Unruhe  hat  sich  gelegt,  er  arbeitet  in  völliger  Ruhe  und  Zufrieden- 
heit.    Marceline   ist   schwanger,   er   umgiebt   sie  mit  doppelter 
Liebe  und  Zärtlichkeit. 

Karl,  der  Sohn  des  Gutsverwalters  Bocage,  ein  schöner 
17jähriger  Bursche,  erweckt  das  Interesse  von  Michel,  der  sich 
mit  ihm  befreundet  und  täglich  lange  Spazierritte  mit  dem  sympa- 
thischen Jungen  unternimmt. 

Im  Winter  beginnt  Michel  seine  Vorlesung  in  Paris.  Er 
verteidigt  darin  seine  Anschauung,  daß  die  Kultur,  die  durch  das 
Leben  erzeugt  sei,  schließlich  die  Ursprünglichkeit  und  das 
Leben  töte. 

Ein  Bekannter,  Menalque,  der  Individualist,  der  jeden  Zwang, 
jedes  Prinzip  haßt  und  nur  seiner  Natur  folgt,  jede  Handlung 
die  er  mit  Freuden  ausführt,  als  berechtigt  betrachtet,  bekräftigt 
Michel  in  seinen  neuen  Anschauungen  und  hilft  ihn  sich  über 
sich  klar  zu  werden. 

Marceline  erkrankt  schwer  in  Folge  einer  gefährlichen 
Frühgeburt. 

Als  sich  ihr  Zustand  gebessert,  ziehen  Michel  und  Marceline 
wieder  auf  das  Landgut.  Michel  meidet  möglichst  die  Gäste, 
die  zum  Besuch  bei  ihm  weilen.  Die  Gesellschaft  der  länd- 
lichen Arbeiter  und  der  Naturburschen  bereitet  ihm  mehr  Ver- 
gnügen. 

Einer  besonders  zog  ihn  an: 

„Er  war  ziemlich  schön,  groß,  kein  Tölpel,  aber 
nur  durch  den  Instinkt  geleitet,  er  handelte  stets 
plötzlich  und  gab  jedem  vorübergehenden  Impuls 
nach.  Vorzüglicher  Arbeiter  während  zweier  Tage,  be- 
trank er  sich  am  dritten  zu  Tode. 

Eine  Nacht  schlich  ich  mich  in  die  Scheune  um 
ihn  zu  sehen:  er  hatte  sich  in  das  Heu  gestreckt; 
er  schlief  seinen  Rausch  aus.  Wie  lange  habe  ich 
ihn  betrachtet. 


—    1050    — 

Eines  Tages  ging   er   weg,  wie  er  gekommen  war. 
Ich  hätte  gern  gewußt  auf  welche  Wege  — "  (S.  184). 
Karl,  der  Sohn  von  dem  Verwalter,  hat  sich  verändert. 

„Ich  sah  an  Stelle  von  Karl  einen  törichten  Herrn 
herein  kommen,  bedeckt  mit  einem  steifen  Hute. 
Gott!  wie  war  er  verändert  ...  Als  man  die  Lampe 
brachte,  sah  ich  mit  Ekel,  daß  er  seinen  Backenbart 
hatte  wachsen  lassen."  (S.  187). 
Die  zwei  Söhne  des  Holzhändlers  Heurtevent  erwecken 
Michel's  Interesse. 

„Sie  sahen  wie  Spanier  aus  und  hatten  wildes  Blut 
in  den  Adern.    Sie  schienen  stolz  und  ich  konnte  kein 
Wort  aus  ihnen  herausbringen." 
Dagegen  spricht  Michel  öfters  mit  Bute,  einem  Hilfsarbeiter, 
„der  vom  Regiment  ganz   verdorben   —   was  den 
Geist  anbelangt,  denn  mit   seinen  Körper  verhielt  es 
sich  vorzüglich  —  zurückgekehrt  war."     (S.  190). 
Mit  Vergnügen    lauscht    Michel    den    Skandalgeschichten, 
die  er  ihm  über   die  Einwohner   des  Dorfes   erzählt,   besonders 
über    die    Verhältnisse    der    in    schlechtestem    Rufe    stehenden 
Familie  Heurtevent. 

Durch  Bute  erfährt  auch  Michel,  daß  Bocage  noch  einen 
Schlingel  von  Sohn  hat,  den  junge  Aleide,  der  strickelt. 

Michel  gelingt  es  mit  Hilfe  von  Bute  Aleide  beim  Wildern 

zu  fassen.    Aber  statt  zu  grollen,   vergnügt   sich  Michel   damit, 

gemeinsam  mit  Aleide  die  Stricke  zu  stellen  und  Wild  zu  fangen. 

Als    Bocage    erfährt,    daß    Michel    mit    den    Wilddieben 

gemeinsame  Sache  macht,  droht  er  das  Gut  zu  verlassen. 

Michel,  seiner  eigenen  Handlungsweise  sich  schämend, 
beschließt  das  Gut  überhaupt  zu  verkaufen.  Mit  seiner  Frau 
geht  er  nach  der  Schweiz.  Noch  einmal  sucht  er  eine  Stütze 
in  der  Liebe  zu  seiner  Frau. 

Zwei  Wochen  lang  bleiben  sie  in  St.  Moritz.  Michel  zeigt 
sich  immer  als  der  liebevollste,  zärtlichste  Gatte. 

Die  Änderung  in  seinem  Charakter  schreitet  aber  fort. 

„Jeder  Tag  weckt  in  mir  das  dunkle  Gefühl  unbe- 
rührter Reichtümer,  welche  die  Kulturen,  die  Sitten,  die 
Moral  bedeckten,  versteckten,  unterdrückten".  (S.  221) 
Die  Atmosphäre  der  ruhigen  spießbürgerlichen  Schweiz  wird 
ihm  zuwider.     Im  Frühjahr  geht  er  mit  seiner  Frau  nach  Italien, 
wo  er  neu  aufatmet. 

Sie  besuchen  Florenz,  Rom,  Neapel.  Marceline  wird  durch 
die  fortwährenden  Aufenthaltswechsel  ermüdet,  am  meisten  ermüdet 
sie  aber  die  Angst,  Michers  Gedanken  zu  erraten. 


—    1051    — 


„Ich  verstehe  wohl,  sagt  sie  eines  Tages,  Ihre  Lehre 

—  Sie    ist    vielleicht    schön,    aber    sie    beseitigt    die 

Schwachen.«  (S.  217.) 

Michel   liebt   trotz   allem  Marceline.     Niemals   schien   sie 

ihm  so  schön  wie  jetzt,   wo  die  Krankheit   ihre  Züge  verfeinert 

und    wie    verzückt    hatte.      Er    umgibt    sie    mit    der    größten 

Fürsorge. 

Aber  sein  unbestimmtes  Sehnen,  sein  innerer  Drang  nach 
Lust  und  Leben  dauern  fort.  In  Palermo  hat  er  Gelegenheit, 
mit  einem  jungen  Kutscher,  der  ihn  an  die  Bahn  fährt,  zu 
sprechen. 

„Es  war  ein  kleiner  Sizilianer  aus  Catana,  schön 
wie  ein  Vers  von  Theocrit,  herrlich  .  .  .  schmackhaft 
wie  eine  Frucht. 

„Come  bella  la  Signora!"  sagte  er  mit  seiner  reizenden 
Stimme,  indem  er  Marceline,  die  sich  entfernte,  nach- 
schaute. —  „Anche  tu  sei  bello  ragazzo,"  antwortete  ich, 
und  da  ich  gegen  ihn  hingelehnt  war,  konnte  ich  mich 
nicht  enthalten,  und  ihn  an  mich  ziehend,  küßte  ich  ihn. 
Er  ließ  es  lächelnd  geschehen. 

„I  Francesi  sono  tutti  amanti,"  sagte  er. 
„Ma  non  tutti  Italiani  amati,"  entgegnete  ich,  gleichfalls 
lachend.    Ich  suchte  ihn  alle  die  folgenden  Tage,  aber 
konnte  ihn  nicht  wieder  finden"  (S.  233). 
In  Syracus  weilten  sie  acht  Tage. 

„Alle  Augenblicke,  die  ich  nicht  bei  Marceline  ver- 
brachte, verbrachte  ich  in  dem  alten  Hafen. 

O  der  kleine  Hafen  von  Syracus!  Geruch  des  sauern 
Weines,  schmutzige  Gäßchen,  stinkende  Kneipen,  wo  die 
Ablader,  Vagabunden,  trunkene  Matrosen  sich  herum- 
trieben. Die  Gesellschaft  der  schlimmsten  Leute  war 
mir  erfreuliche  Gemeinschaft.  Und  was  hatte  ich  nötig 
ihre  Sprache  gut  zu  verstehen,  wenn  mein  gesamtes 
Wesen  sie  genoß.  Die  Brutalität  der  Leidenschaften 
nahm  in  meinen  Augen  einen  heuchlerischen  Schein 
von  Gesundheit  und  Kraft  an. 

Ach!  ich  hätte  mit  ihnen  unter  den  Tisch  rollen 
wollen  und  dann  morgens  erwachen  .  .  . 

Ich  hätte  ihnen  nachfolgen  wollen  und  in  ihren 
Rausch  eindringen  .  .  .  Dann  plötzlich  tauchte  Marceline's 
Bild  auf.  Was  machte  sie  in  diesem  Augenblick.  Sie 
litt,  weinte  vielleicht  ....  Ich  stand  schnell  auf,  lief 
nach  Hause«.  (S.  235.) 
Marceline  wird  kränker.  Michel  redet  sich  ein,  sie  brauche 
mehr  Licht  und  Wärme,  sie  gehen  nach  Tunis. 


—     1052    — 

Nach  langer  Reise  kommen  sie  nach  Biskra. 
Die  Jungen,  die  Michel  früher  gekannt,  sind  völlig  geändert 
und  in  alle  Richtungen  zerstreut. 

Der  Eine,  Moktir,  kommt  eben   aus  dem  Gefängnis,  wo 
er  wegen  Diebstahl  eine  Strafe  verbüßt. 

Michel  nimmt  ihn  mit  nach  Toggourt,  wohin  er  und  Marceline 
Weiterreisen. 

Michel  fühlt,  daß  die  Änderung  in  seinem  Innern  immer 
mehr  fortschreitet. 

Seine  Liebe  zur  Kunst  und  Schönheit  schwindet,  um 

„etwas  Neuem  Platz  zu  machen."     „Es  ist  nicht  mehr 

wie  früher  die  lächelnde  Harmonie  ...    Ich  weiß  nicht 

mehr,  welchem  finstern  Gott  ich  diene.    O  neuer  Gott! 

giebt    mir  die  Möglichkeit,   neue  Rassen,   unverhoffte 

Arten  der  Schönheit  kennen  zu  lernen"  (S.  245). 

In  Toggourt  bringen  Michel  und  Moktir  den  Abend  in  einem 

maurischen  Cafg  zu,   Michel  giebt   sich   einer  Maurin  hin.    Als 

er  in  das  Hotel  zurückkehrt,  findet  er  Marceline  am   Äußersten, 

sie  stirbt  in  seinen  Armen. 

Michel  läßt  sich  in  El  Kantara  nieder. 
Ein  junger  Araber  hält  ihm  Gesellschaft.  Seine  Schwester, 
welche  im  Winter  in  Constantine  ihren  Leib  verkauft,  war  die 
ersten  Wochen  seine  Beischläferin.  Aber  als  der  Junge  sich 
darüber  ärgerlich  zeigte,  wohl  aus  Eifersucht,  hat  Michel  zum 
Teil  aus  Angst  Ali  zu  verlieren,  das  Mädchen  fortgeschickt. 

„Sie  ist  nicht  darüber  bös  geworden;  aber  jedesmal 
wenn  ich  sie  antreffe,  lacht  sie  und  scherzt,  daß  ich  ihr 
den  Jungen  vorziehe.  Sie  behauptet,  daß  er  es  haupt- 
sächlich ist,  der  mich  in  El  Kantara  zurückhält.  Vielleicht 
hat  sie  ein  wenig  recht".  (S.  257.) 

Der  Roman  bietet  großes  Interesse.  Er  stellt  den 
Fall  einer  tardiven  Homosexualität  in  geradezu  meister- 
hafter Weise  dar.  Das  homosexuelle  Empfinden  MichePs, 
welches  vor  seiner  Heirat  nicht  hervortrat,  ist  eigentlich 
nicht  erworben,  sondern  nur  geweckt  worden.  Michel 
hat  niemals  das  Weib  geliebt  und  auch  ohne  Liebe  seine 
Frau  geheiratet.  Sein  homosexueller  Trieb  hat  eine  bei 
vielen  Homosexuellen  charakteristische  Färbung,  die 
Richtung  auf  das  Naturwüchsige,  Kraftvolle,  auf  die 
Typen,  welche  die  größte  Gegensätzlichkeit  zu  bieten 
vermögen. 


—    1053    — 


Die  homosexuellen  Momente  sind  in  dem  Roman 
nicht  in  dem  Maße  in  den  Vordergrund  gerückt,  wie  ich 
dies  in  meiner  Inhaltsangabe  getan  habe,  vielmehr  in  der 
Darstellung  des  gesamten  psychischen  Werdegangs  Michel's, 
als  Teilerscheinungen  der  in  seinem  Wesen  vorgehenden 
Änderung  eingeflochten. 

Gide  will  seinem  Roman  einen  tieferen  Untergrund 
geben  und  kleidet  philosophische  Gedanken,  bei  welchen 
deutliche  Anklänge  an  Nietzsche  nicht  zu  verkennen  sind, 
in    die  Schilderung    des  Lebensschicksals   seines  Helden. 

Michel  kann  stellenweise  als  Vertreter  des  Individu- 
alismus, als  Typus  charakteristischer  Eigenart  gelten,  der 
das  Recht  des  Auslebens  jeder  Persönlichkeit,  die  Ent- 
faltung jedes  nach  Schönheit,  Kraft  und  Glück  lech- 
zenden Gefühls  verkündet,  ohne  Rücksicht  auf  die  herr- 
schenden Sitten,  auch  wenn  sie  dem  Landläufigen  und 
Üblichen  ins  Gesicht  schlagen.1) 

Aber  diese  ganze  philosophische  Betrachtung  ist  doch 
nur  Beiwerk,  gleichsam  um  der  Empfindungsweise  MichePs 
die  Berechtigung  zu  erwerben,  das  Odiöse  von  ihr  zu 
nehmen. 

Die  Homosexualität  von  Michel  ergibt  sich  keines- 
wegs als  notwendiger  Ausfluß  des  schrankenlosen  Individua- 
lismus und  hat  auch  nicht  als  solcher  geschildert 
werden  sollen. 

Tatsächlich  ist  es  umgekehrt  die  neue  Gefühlsweise 
MichePs,  welche  eine  andere  Weltanschauung  in  ihm 
erzeugt. 

Die  furchtbare  Umwälzung,  die  in  einem  in  den  her- 
gebrachten Anschauungen  und  den  Geleisen  der  Durch- 


*)  Hauptsächlich  nur  diese  Bedeutung:  „Das  Streben  nach  Frei- 
heit und  Wahrheit  der  ihre  Fesseln  abwerfenden,  ihrer  ureigenen 
Individualität  gehorchenden  Seele  —  hebt  Lucie  Delarue-Mardrus 
in  einer  Besprechung  des  Romans  in  der  Revue  blanche  vom  15. 
Juli  1902  hervor.") 


1 


—     1054    — 

schnittsmoral  aufgewachsenen  Menschen  das  Erwachen 
and  die  Entwicklung  des  ihm  bisher  anbewußten  homo- 
sexuellen Triebes  hervorbringen  muß,  ist  es,  welche 
MichePs  gesamte  Betrachtung  der  Welt,  seinen  Gesichts- 
kreis, seine  Begriffe  von  Gut  und  Böse,  von  Erlaubtem  und 
Verbotenem,  ins  Wanken  bringt  und  ummodelt 

Die  Metamorphose,  die  sich  in  MichePs  Natur  voll- 
zieht, ist  trefflich  gezeichnet:  Die  Andersgestaltung  seines 
ganzen  Denkens,  Fohlens  und  Wollens,  die  sich  in  den 
verschiedensten  Begehrungen  und  Handlungen  kundgibt, 
das  langsame  Abbröckeln  des  früheren  Menschen,  der 
Kampf  des  gahrenden  Triebes  mit  der  Anhänglichkeit 
zu  der  Gattin  und  der  schließliche  Sieg  des  gleichge- 
schlechtlichen Gefühls,  nachdem  sich  MichePs  Unruhe 
gelegt,  sein  unbestimmtes  Sehnen  endlich  den  fixen  Pol 
gefunden  und  ein  junger  Araber  ihn  dauernd  und  reuelos 
fesselt 

Der  homosexuelle  Trieb  hat  sich  bei  Michel  aus 
Anlaß  seiner  Brustkrankheit  durchgerungen. 

Diese  Entwicklungsursache  scheint  tatsächlich  in  der 
Wirklichkeit  manchmal  vorzukommen. 

So  schildert  Krafflb-Ebing  Fälle  von  tardiver  Homo- 
sexualität als  Folge  von  Krankheiten.  Mir  selbst  ist  ein 
solcher  Fall  bekannt.  Der  Mediziner  wird  überhaupt 
gern  dazu  neigen,  Homosexualität  für  eine  Krankheit, 
eine  krankhafte  infolge  einer  Nervenschwäche  zum  Durch- 
bruch gelangende  Erscheinung  zu  erklären  und  von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  wäre  auch  Michel  ein  Kranker, 

Seine  Unruhe,  Unbeständigkeit,  seine  wechselnde 
Stimmung,  seine  plötzlichen,  seiner  früheren  Natur  wider- 
sprechenden Impulse  würde  ein  Mediziner  vielleicht  ge- 
rade als  Zeichen  von  Neurasthenie  deuten. 

Im  Sinne  von  Gide  sollen  die  Symptome  nur  die 
Äußerungen  neuer  Kraftfülle,  neuen  gahrenden  Leben.«, 
keimender  Sinnlichkeit  sein,    aus  denen  die  homosexuelle 


—     1055    — 

Liebe  als    eine    aus   der  tiefsten  Natur  von  Michel  ent- 
springende Empfindung  hervorgeht. 

In  einer  Besprechung  des  Romans  im  Mercure  de 
France  rügt  es  Rachilde,  daß  Gide  die  Homosexualität 
seines  Helden  infolge  einer  Krankheit  sich  entwickeln 
lasse  und  daher  nur  ein  pathologischer  Fall  vorliege. 

Dabei  übersieht  jedoch  Rachilde,  daß  Gide  gerade 
die  Krisis  des  tardiven  Homosexuellen  darstellen  wollte 
und  deshalb  die  Homosexualität  aus  einem  bestimmten 
Anlaß  zur  Entwicklung  gelangen  lassen  mußte,  wollte  er 
nicht  entweder  einen  gewöhnlichen  geborenen  Homosexu- 
ellen schildern,  bei  welchem  dann  die  interessante  Studie 
der  sich  ändernden  Natur  wegfallen  mußte,  oder  einen 
Heterosexuellen  darstellen,  der  homosexuelle  Experimente 
vornehmen  will;  in  letzterem  Falle  wäre  dann  eine  ganz 
andere  psychologische  Studie  in  Betracht  gekommen. 

Die  Sprache  von  Gide  ist  von  klassischer  Schönheit: 
einfach,  concis,  präcis,  ohne  unnütze  Ausführungen,  da- 
bei flüssig,  wohllautend,  harmonisch.  Vieles  begnügt  sich 
Gide  nur  anzudeuten,  Pathos,  hohle  Phrasen  vermeidend, 
Takt,  Maß,  Geschmack  sind  bei  seinem  Stil  zu  loben. 

Der    Roman    gehört    stilistisch    und  inhaltlich    zum 
Besten  der  homosexuellen  Literatur  überhaupt. 
G0SS6Z,  Ä.  M.:  Six  attitudes  d'adolescent  (Verlag 

„Le  Beffroi"  Lille)  1902.   Gedichte. 

Das  Buch  von  Gossez  konnte  ich  mir  leider  nicht  ver- 
schaffen, da  dasselbe  vergriffen  ist. 

Ich  bringe  daher  lediglich  die  im  Mercure  de  France  Januar- 
nummer 1902  enthaltene  Besprechung  des  Werkes  aus  der  Feder 
von  Pierre  Quillard  (S.  180).  Quillard  berichtet  wie  folgt  etwa: 
Gossez  habe  geglaubt,  die  antiken  Epheben  wieder  aufleben  lassen 
zu  dürfen,  jene  herrlichen  Epheben,  so  schön,  daß  ihre  Liebhaber 
den  harmonischen  Abdruck  ihrer  Körper  auslöschten,  wenn  sie  sich 
auf  den  goldigen  Sand  hingestreckt,  damit  keine  Begierde  in  den 
Seelen  derer  erwache,  die  später  den  Strand  beträten.  Gossez 
habe  jedoch  den  schönen  Jüngling  in  einem  andern  Land  und  einem 
anderen  Milieu  besungen. 


I  ; 


—    1056    — 

Die  Welt  habe  sich  aber  seit  Achilles  und  Patroklos  geändert 
und  manche  damals  heroische  Leidenschaft  würde  heute  nur  noch 
in  krankhaften  Gehirnen  überleben. 

Gossez  wisse  dies  und  verstehe  es:  Das  Schlußsonett 
bringe  am  besten  seinen  wahren  Gedanken." 

Ob  Gossez  wirklich  die  homosexuelle  Liebe  als  ein 
Produkt  kranker  Gehirne  darstelle,  kann  ich  nicht  be- 
urteilen, möchte  es  aber  aus  dem  Bericht  von  Quillard 
über  die  Absicht  des  Buches  „die  antiken  Epheben  wieder 
in  moderner  Gestalt  aufleben  zu  lassen*  bezweifeln.  Es 
scheint  mir,  daß  Quillard  eher  seine  eigene  Auffassung 
zum  Ausdruck  bringt,  die  den  Beweis  schuldig  bleibt, 
warum  in  Folge  der  Änderung  der  Zeiten  und  Verhält- 
nisse ein  früher  gesundes  Gefühl  als  ein  krankhaftes  zu 
gelten  habe. 
Hamacher,  Peter:  Zwischen  den  Geschlechtern1) 

(Zürich:    Verlag  von  Cäsar  Schmidt  1901). 

Zunächst  Bekenntnis  Hamecher's  von  seiner  eigenen  an- 
geborenen Homosexualität,  dann  Ausfälle  gegen  die  hergebrachte 
Heuchelei,  welche  homosexuelle  Liebesgefühle  in  Dichtungen  als 
Freundschaften  auslege  und  besonders  auch  die  Natur  der 
Freundesliebe  der  alten  Griechen  verkenne. 

Aus  der  nun  folgenden  Besprechung  homosexueller  Werke 
hebe  ich  hervor: 

Beim  Wiener  Kitir  betont  Hamecher  sein  hellenisches 
Empfinden  und  seine  lyrische  Eigenart;  Kitir  gäbe  nicht 
die  reine  Empfindung  wieder,  sondern  lasse  aus  den  äußeren 
Umständen,  die  er  schildere,  die  Stimmung  entstehen.  In  seinen 
Anschauungen  über  griechische  Liebe  reiche  Kitir  Kupff er  die  Hand. 
Beiden  sei  sie  die  Offenbarung  höchster  Macht  und  Schönheit. 
Kitir  gehe  sogar  noch  weiter.  Ihm  seien  die  Neuen  Hellenen  die 
„Boten  einer  neuen  Zeit,  die  lenzgewaltig  naht  voll  Kraft  und 
Jugend".  Aber  er  leugne  nicht,  wie  Kupffer,  das  weiblich-weiche 
träumerische  Empfinden  in  der  Seele  des  Uraniers. 


*)  Der  erste  Teil  des  Buches,  eine  kritische  Besprechung 
einer  Anzahl  homosexueller  oder  homosexuellartiger  Werke,  gehört 
nicht  in  die  reine  Belletristik,  da  es  sich  jedoch  um  ein  ausführ- 
liches Eingehen  auf  belletristische  Erzeugnisse  handelt  und  da  der 
2.  Teil  eine  Anzahl  von  Gedichten  enthält,  habe  ich  das  Buch 
an  dieser  Stelle  aufgenommen. 


—    1057 


Die  homosexuelle  Gef ühls-Nüance ,  nicht  im  Sinne  von 
ausgesprochener,  Männerliebe,  sondern  das  passive,  weiche, 
träumerische,  leise  müde  Dahingleitende,  finde  sich  bei  einem 
überwiegenden  Teiljung-Wiener  Poeten  und  auch  bei  verschiedenen 
anderen  Lyrikern  jüngerer  Dichtung.  Bei  Dauthendey  springe  das 
weiblich  Passive  ganz  sinnfällig  ins  Auge. 

Die  unter  „Jung-Wien"  gekennzeichnete  Poesie  sei  der 
Widerspruch  der  von  Kupffer  verherrlichten  kraftvollen  Männ- 
lichkeit; der  Gegensatz  der  griechischen  Knabenliebe  und  der 
Liebe  eines  Michel-Angelo,  Shakespeare,  Friedrich  II.  Das 
richtige  Gegenteil  dieser  Männer  sei  auch  der  verbummelte 
Fontana,  den  der  junge  Wiener  Hagenauer  in  seinem  Roman 
„Muspilli"  einführe.  Aber  diese  Gegensätze  würden  wenig  für 
die  Homosexualität  im  Allgemeinen  sagen,  Homosexualität  sowie 
•Heterosexualität  seien  verallgemeinerte  Collektiv-Begriffe,  deren 
jeder  eine  Reihe  von  Typen  nach  oberflächlichen,  in  die  Augen 
springenden  Merkmalen  zusammenfasse.  Daß  sich  gerade  heute 
die  Entartungserscheinungen  unter  den  Homosexuellen  häuften, 
läge  einerseits  an  dem  nervösen  Charakter  unserer  suchenden, 
hastenden  und  tastenden  Zwischenzeit,  und  zum  andern,  wohl 
nicht  geringsten  Teil  an  der  höchst  verächtlichen  Stellung  der 
Homosexuellen  in  der  heutigen  Kulturwelt. 

Ein  bedeutungsvolles  Wort  zum  Punkte  „Kindererziehung" 
spräche  Wedekind's  „Frühlingserwachen".  Die  ganze  Brutalität, 
mit  welcher  die  Kinder  sich  gegenseitig  über  die  intimsten  und 
heiligsten  Angelegenheiten  des  Menschendaseins  unterrichteten, 
und  der  Unverstand,  mit  welchem  die  Jugendbildner  solchen 
Vorkommnissen  begegneten,  sei  nie  eindringlicher,  überzeugender 
und  lebensmächtiger  dargestellt  worden. 

In  der  Weinberg-Scene  des  3.  Aktes  habe  der  Dichter 
eine  homosexuelle  Knabenfreundschaft  in  herzinnigem,  ergreifendem 
Bilde  festgehalten. 

Töne  zärtlichster  Freundesliebe  finde  Oscar  Wilde  in 
seiner  Salome.1) 

Ausführungen  über  die  weibliche  Homosexualität  in  den 
Werken  von  Pierre  Louys,  bei  Marie  Madeleine,  Dauthendey  usw. 

Die  Auffassung  der  Lieblingminne  bei  Paul  Scheerbart 
sei  originell.  Fast  in  jedem  seiner  Bücher  erwähne  er  sie. 
Im  „Tod  des  Barmekiden",  dem  köstlichen  arabischen  Harems- 
roman,  trete  sie   schlechthin   als   das   orientalische   Laster  auf, 


l)  Wilde's  Salome  ist  jetzt  in  deutscher  Übersetzung  im  Verlag 
von  Spohr  erschienen,  ebenso  wie  die  meisten  der  Lustspiele  des 
englischen  Dichters  (tibersetzt  von  Pavia  und  Freiherrn  von 
Teschenberg.) 


—     1058    — . 

während  sie  in  den  andern  Büchern  eine  tiefere  Bedeutung  ge- 
winne. Scheerbart  sei  vor  allen  Dingen  Anti-Erotiker  und 
Weltgeistanbeter.  Er  sei  überhaupt  ein  Einsamer  unter  den 
andern  Menschen. 

Rückblickend  auf  die  verschiedenen  Schriftsteller  der  Homo- 
sexualität bemerkt  Hamecher:  Jeder  scheine  andere  Abarten  der 
Konträrsexualen  vorzüglich  beobachtet  zu  haben.  Mit  dem 
bloßen   Sammelbegriff   Homosexualität   komme   man   nicht   aus. 

Bei  vielen  sei  Homosexualität  eine  Krankheit,  seelische  und 
physische  Ohnmacht,  bei  anderen  außerordentliche  Verfeinerung 
des  Gesamtorganismus  oder  auch  schon  Suchen  nach  „parfums 
nouveaux;"  bei  anderen  wiederum  höchste  Gesundheit  und  kraft- 
vollstes Menschentum.  Die  Neurasthenischen  und  Krankhaften 
seien  diejenigen,  welche  die  Öffentlichkeit  und  die  Ärzte  am 
meisten  beschäftigten. 

An  den  literarischen  Essay  schließen  sich  20  Gedichte 
Hamecher's  an,  in  denen  er  Lebens-  und  Jugenderinnerungen, 
hauptsächlich  aber  Liebesgefühle  zum  Ausdruck  bringt,  Schmerz 
bei  der  Trennung  vom  Geliebten,  Sehnsucht  nach  verlorenem 
Liebesglück  u.  s.  w. 

Wenn  auch  manches  Gedicht  durch  besondere  Ori- 
ginalität und  Vollendung  sich  nicht  auszeichnet,  so  ge- 
währen doch  viele  den  Eindruck  des  Selbsterlebten,  Selbst- 
empfundenen und  haben  Schwung  und  poetischen  Rhythmus 
und  erfüllen  insofern  die  Grundbedingung  der  poetischen 
Darstellung.  Am  höchsten  schätze  ich  das  Gedicht  „In 
großer  Bängniß",  in  welchem  Hamecher  die  seelische  Ver- 
fassung des  gerichtlich  verfolgten  Homosexuellen  in  er- 
greifender Einfachheit  schildert.  Das  Gedicht  erinnert 
im  Tone  etwas  —  und  es  bedeutet  das  nur  hohes  Lob 
—  an  Wilde's  „Bailad  of  Reading  Goal". 

Ich  führe  einige  Stellen  aus  dem  Gedicht  an: 

Nun  kommt  auch  mir  die  Stunde  voll  Leid, 
sie  werden  mich  führen  wie  Gottes  Sohn 
gebunden,  gefesselt,  den  Menschen  ein  Hohn, 
ein  Mensch,  dem  sein  Feind  nur  noch  treu. 

Ich  werde  unsäglich  einsam  sein. 

Es  gab  wohl  einmal  eine  Zeit, 

da  sehnt'  ich  mich  manchmal  nach  Einsamkeit, 


—    1059    — 


nach  einem  Erdwinkel  keusch  und  rein, 
wo  ich  ungestört  vom  Gafferschwarm 
die  Tage  verträum*  in  des  Liebsten  Arm. 

Bleib  fest!  halt  hoch  den  heiligen  Hort! 
Sie  schlagen  nur  den  Leib  in  Banden  — 
Doch  weithin,  wie  ein  Donnerwort, 
wirkt  deine  Liebe  mächtig  fort 
in  Herzen,  die  treulich  sich  fanden. 

(S.  100—102.) 

Schalkhaft,  lustig,  im  Tone  gut  getroffen  ist  „  Groß- 
stadt-Liebe" die  Trennung  des  Dichters  von  einem  effe- 
minierten  städtischen  Homosexuellen  und  seine  Sehnsucht 
nach  einem  kräftigen  Naturburschen  besingend. 

Wieder  andere  Klänge  enthalten  z.  B.  „An  mein  Herz" 

voll    frischer   Natürlichkeit   oder  „Neue  Kreise*,   dessen 

zweiter  Teil  glühende  Leidenschaft  atmet. 

Keine  Lieder  mag  ich  mehr  hören 
und  nie  ein  Gedicht  wieder  lesen 
Alles  ist  schaal 

von  deines  Mundes  bebenden  Reimen 
von  deiner  Stimme  süßer  Musik. 

Wiegend  und  leicht  wie  schmeichelnde  Verse 

ist  deines  Leibes  wogender  Rhythmus, 

und  das  Lächeln  um  deinen  Mund 

jagt  mein  Blut 

knisternd  empor  zu  tollstem  Entzücken. 

(S.  104.) 

Nach  einer  Übersetzung  in  Prosa  von  Verlaine's  homo- 
sexuellem Gedicht:  „Laeti  et  Erabundi"  aus  „Parallelement"  schließt 
Hamecher  mit  allgemeinen  Erörterungen  über  Homosexualität 
(S.  121—133). 

Man  habe  das  Angeborene  der  homosexuellen  Neigung  be- 
stritten und  Bekannte  von  Hamecher  hätten  z.  B.  ihm  eingewandt, 
er  habe  sich  die  Sache  allmählich  angelesen  und  durch  Auto- 
suggestion erworben. 

Ein  unbefangener  Blick  in  die  Natur  zeige,  wie  viele 
Abweichungen  von  der  Norm  und  Zwischenstufen  vorhanden 
seien.  Die  relativ  große  Anzahl  der  Homosexuellen  beweise, 
daß  es  sich  nicht  um  ein  unnatürliches  Laster  übersättigter 
Lebemänner  handele.     Kein    Gesetz   und   keine  Predigt  habe  je 

Jahrbuch  V.  67 


I 

L 


—    1060    — 

vermocht  die  homosexuelle  Liebe  auszurotten.  Er,  Hamecher, 
habe  erst,  als  sein  Liebesempfinden  längst  ausgeprägt  gewesen, 
Kenntnis  vom  Uranismus  erhalten.  Er  habe,  als  er  zu  dichten 
angefangen,  sich  mancher  Genüsse  beim  Weibe  gerühmt,  nie  aber 
ein  solches  berührt. 

Die  Heterosexuellen,  soweit  sie  die  Homosexuellen  nicht 
direkt  bekämpften,  blickten  halb  mitleidig,  halb  verächtlich  auf 
die  Homosexuellen  herab. 

Sie  seien  die  Vielen;  deshalb  aber  nicht  die  Höheren.  Ihre 
Anbetung  des  Weibes  schwände,  wenn  Schönheit  und  Jugend 
der  Frau  vorüber. 

In  homosexuellen  Verhältnissen  käme  vielfach  ein  inniges 
zärtliches  Zusammenhalten  vor,  wie  es  bei  vielen  Heterosexuellen 
nicht  das  Gewöhnliche  sei. 

Hamecher  wendet  sich  zum  Schluß  an  die  Homosexuellen: 
Mit  Unrecht  hätten  sie  sich  die  Enterbten  des  Liebesglücks  genannt. 
Wenn  sie  unter  Liebe  die  Hinneigung,  das  Zusammenstehen 
und  immer  innigeres  Ineinanderwachsen-Wollen  gleichgestimmter 
Seelen  verständen,  dann  seien  viele  Menschen,  ob  homo-  oder 
heterosexuell,  vom  Liebesglück  ausgeschlossen. 

„Bemüht  Euch,  ein  Ideal  der  Lieblingminne  in  Euch  aus- 
zubilden," ruft  Hamecher  den  Homosexuellen  zu.  „Bemüht  Euch, 
durch  ernstes  Wirken  die  Achtung  der  Gegner  zu  erzwingen. 
Legt  Eure  Feigheit  ab  und  bekennt  Euch  offen  und  frei  zur  großen 
Liebe  des  Plato.  Aber  haltet  auch  Eure  Liebe  hoch.  Dann 
werden  die  Gefahren,  die  Euch  umdrohen,  von  selbst  ver- 
schwinden«. 

Diese  Schlußbemerkimgen  Hamecher's  sind  kluge 
und  beherzigenswerte  Worte,  die  manche  Homosexuelle 
beachten  mögen;  im  allgemeinen  tragen  aber  die  Schluß- 
seiten von  Hamecher's  Buch  einen  etwas  feuilletonistischen 
Charakter,  namentlich  mißfällt  mir  der  etwas  vulgäre  Ton 
einiger  Stellen. 

Den  bedeutendsten  Teil  des  etwas  buntscheckig  zu- 
sammengesetzten Buches  bildet  die  Besprechung  der 
homosexuellen  Literatur.  Zwar  ist  der  Gedankengang 
oft  sprunghaft,  so  daß  der  Eindruck  des  Unzusammen- 
hängenden  hervorgerufen  wird.  Auch  tritt  das  rein 
Persönliche  in  dilettantischer  Weise  hervor,  ferner  stören 
längere  Excurse  über  Gesichtspunkte,  welche  für  weitere 


—     1061     — 


Kreise    wenig  Interesse    haben,    wie    z.  B.    die  Ausfälle 
gegen  Brand. 

Doch  hindert  dies  nicht,  daß  der  Essay  eine  verdienst- 
volle Studie  bildet.  Zum  ersten  Mal  —  abgesehen  von 
der  Bibliographie  des  Jahrbuches  —  ist  das  Homosexuelle 
in  der  modernen  Literatur  erforscht:  Hierbei  entwickelt 
Hamecher  ein  kritisches  Verständnis,  das  nicht  an  der 
Oberfläche  haften  bleibt,  sondern  in  die  Dichtung  tiefer 
eindringt.,  und  nicht  nur  das  Homosexuelle,  sondern  das 
homosexuell  Verwandte  aufdeckt,  nicht  nur  das  grob  in 
die  Augen  Springende,  sondern  die  Nuancen  und  Schattier- 
ungen zu  begreifen  versteht. 

Ein  lebendiger  und  geistreicher  Stil  und  eine 
kolorierte  Darstellungsweise  sind  Hamecher  eigen.  Nur 
berührt  manchmal  unangenehm  eine  gewisse  Nachlässig- 
keit im  Stil  sowie  eine  öfters  saloppe  Ausdrucksweise. 

Hamecher  hat  sich  als  feinfühliger  Kritiker  homo- 
sexueller Literatur  erwiesen. 

Wenn  er  Selbstzucht  übt,  auf  sorgfältigeren  Ausdruck, 
straffere  Komposition  und  logische  Durcharbeitung  achtet, 
wird  man  noch  interessante  literarisch-kritische  Produk- 
tionenauf homosexuellem  Gebiete  von  ihm  erwarten  dürfen. 

Eine  günstige  Besprechung  des  Buches  von  Robert 
Jansen  (Köln)  findet  sich  in  der  Zeitschrift:  „ Stimmen  der 
Gegenwart"  (Herausgegeben  von  Beyer  und  Boelitz. 
Eberswalde,  Verlag  Dyck)  No.  9.  1901. 

Jansen  sagt  gegen  Ende  seines  Aufsatzes  mit  Recht: 
„Mögen  wir  einen  Standpunkt  (bezüglich  der  Homosexualität 
nämlich)  annehmen  wie  wir  wollen,  Hamecher  zwingt  uns, 
an  seine  Persönlichkeit  zu  glauben." 
Kupffer,  Elisar  v.,  Auferstehung:  irdische  Gedichte. 

2.  Auflage.  (Leipzig,  Verlag  von  Max  Spohr,  1903). 

In  dieser  Sammlung  von  119  Gedichten  tragen  etwa  25 
homosexuelles  Gepräge.  Dieselben  lassen  sich  in  verschiedene 
Kategorien  einteilen: 

•     67* 


i 


i 


—    1062    — 

1.  Drei  knüpfen  an  historische  Begebenheiten  an.  Die 
Gedichte: 

a)  Antinous  S.  21:  Die  Klagen  Hadrian's  um  den 
toten  Antinous. 

b)  Der  einsame  König  (Ein  Lied  des  Hofnarren) 
S.  62,  anspielend  auf  das  Schicksal  Ludwigs  II.  von 
Bayern. 

c)  Der  Lieblingsjünger  (Schon  in  Brand's,  „Eigenem," 
sowie  in  der  Sammlung  Kupffer's,  „Lieblingminne 
und  Freundesliebe"  veröffentlicht)  S.  69,  Betonung 
des  Gegensatzes  zwischen  der  Liebe  von  Jesus  zu  Jo- 
hannes und  der  Freundschaft  zu  den  übrigen  Jün- 
gern, den  im  letzten  Vers  Simon  formuliert: 

„Uns  ist  er  Freund,  doch  jenen  liebt  er" 

2.  In  zwei  Gedichten  werden  die  homosexuellen  Gefühle  durch 
den  Anblick  eines  Bildnisses  geweckt,  nämlich  in  Wiedersehen 
S.  83  (Das  Bildnis  eines  Syrinxspielers  in  Pompei)  und  in  dem 
Gedichte  Lebendiges  Bild  S.  109. 

3.  Häufiger  gibt  die  Begegnung  mit  schönen  Jünglingen 
Anlaß  zu  homosexuellen  Ergüssen: 

So  in  „Pompejanische  Idylle",  wo  auch  schon  die  Er- 
innerung an  die  Antike  homosexuell  wirkt. 

Bajanisches  Idyll:  In  dem  Krater  bei  Baja  begegnet 
dem  Dichter  eine  Anzahl  schöner  Jünglinge;  einer  besonders 
weckt  seine  Aufmerksamkeit. 

Im  Peristylion  (Träumerei)  S.  45. 

Siciliano  (Eine  lyrische  Skizze)  S.  75.  In  Pompei  macht 
der  Dichter  die  Bekanntschaft  mit  einem  jungen  Sicilianer. 

Im  Kurpark  S.  90. 

Kreuzt  die  Schönheit  deine  Pfade  S.  110.  Abermals 
ein  schöner  Jüngling,   dessen  Begegnung   den  Dichter   entzückt. 

4.  Den  Geliebten  preisen 

Hochzeitslied  S.  69 

Vor  der  Trennung  S.  71. 

Im  Walde  S.  84. 

Zwiegespräch  mit  meinem  Herzen  S.  85. 

Dem  Liebenden  S.  87. 

Im  Heim  der  Liebe  S.  89. 

Ein  Oktobertraum  S.  92. 

Der  Genesende  spricht   S.  103. 

Liebling,  wenn  du  betest 

horchet  Stern  bei  Stern 

Liebling,  wenn  du  betest, 

horcht  auch  Gott  dir  gern. 


1063    — 


Darum  mußt  auch  danken 
du,  bin  ich  gesund 
mußt  ja  sonst  erkranken, 
schweigt  dein  süßer  Mund. 

Was  ich  auch  gelitten, 
Wiegt  es  noch  so  schwer, 
deine  Heben  Bitten 
wiegen  ja  noch  mehr. 

Im  Eifer  der  Liebe  S.  107. 
Ein  Liebesbrief  S.  115. 
In  der  Märchenstunde  S.  128. 
5.  Zwei  Gedichte  endlich  lassen  eine  Deutung  auf  die  ver- 
fehmte  Stellung  der  Homosexualität  in  der  heutigen  Zeit  zu: 

Ungeweihte  Liebe  S.  48. 

Die  andern  gedeihen  ohne  Sorgen, 
gehütet,  bewacht  — 
ich  aber  liebe  verborgen 
in  schirmender  Nacht. 

Die  andern  prunken  wie  Rosen 
an  ihrem  Spalier  — 
ich  aber  muß  heimlich  kosen 
im  Felde  mit  dir. 

Mit  ihrer  Liebe  sie  immer 

sich  brüsten  so  laut, 

die  andern  —  denn  ich  bin  nimmer, 

bin  nimmer  getraut. 

Kommende  Zeiten   S.  66. 

Der  Tag  bricht  an  —  der  Tag  der  Liebe, 
Da  sich  das  Herz  zum  Herzen  findet, 
Die  Macht  der  Finsternis  entschwindet  — - 
Und  kommt  er,  daß  er  ewig  bliebe! 
Der  Winter  unsrer  Welt  zerstiebe! 

Fluch  aller  stillen  Lüsternheit! 
Sie  kommt,  die  neue  Zeit! 

(erste  Strophe.) 

Und  sinkt  die  schamerlogene  Hülle, 
daß  wir  mit  nackten  Armen  fassen, 
wovon  wir  nicht  in  Träumen  lassen, 
dann  waltet  frei  in  bunter  Fülle 
der  menscherlöste  tiefe  Wille. 


—    1064    — 

Es  kommt  der  Tag,  der  uns  befreit  — 
sie  kommt,  die  neue  Zeit! 

(letzte  Strophe) 

In  seinen  Gedichten  besingt  Kupffer  offen  und 
unverhohlen  die  Homosexualität. 

Kein  noch  so  findiger  Kritiker  wird  bei  ihnen  den 
homosexuellen  Charakter  wegdeuten  können. 

Kupffer's  Weltanschauung,  wie  sie  aus  seinem  Buch 
hervorgeht,  hat  mit  den  alten  Idealen  und  den  alten 
Göttern  gebrochen  und  in  dem  Streben  nach  irdischem 
Glück  und  irdischer  Schönheit  das  Ziel  des  Menschen 
gefunden.  Er  kann  daher  auch  nicht  die  Liebe  als 
sündhaft  fühlen,  die  ihm  die  Sonne  und  das  Licht  seines 
Daseins  bedeutet. 

Seine  Poesie  wie  diejenige  von  Hamecher  hat 
hauptsächlich  symptomatischen  Wert,  sie  beweist,  daß 
nunmehr  Dichter  erstehn,  die  von  der  Natürlichkeit  ihrer 
homosexuellen  Liebe  durchdrungen  und  das  Urteil  der 
Menge  verachtend,  ihre  Gefühle  mit  derselben  Freude 
und  Selbstverständlichkeit  poetisch  darstellen  wie  die 
heterosexuellen  Dichter  die  Liebe  zum  Weib. 

Das  Gefühl   des  Außergewöhnlichen   und  Verpönten 

—  nur  in  einem  Gedicht,  dem  herben  und  bitterschönen 
„ungeweihte  Liebe*   kommt  letzteres  zum  Ausdruck 

—  hat    der    Empfindung    der    Natürlichkeit    der    homo- 
sexuellen Liebe  Platz  gemacht. 

Kupffer^s  Gedichte  atmen  weniger  Kraft  als  Hamecher's 
Verse. 

Die  Poesie  des  letzteren  wirkt  unmittelbarer,  besticht 
mehr  auf  den  ersten  Eindruck  hin.  Kupffer's  Lyrik  hat 
aber  eine  intimere  Anmut,  sie  besitzt  mehr  Halbdunkel, 
mehr  Feinheit,  leisere,  gedämpftere  Töne.  Bei  wiederholter 
Lektüre  erst  erschließt  sich  ihr  Reiz,  und  doch  sind  die 
Gedichte  weit  entfernt  von  komplicierter  oder  raffinierter 
Ausarbeitung,  sogar  den  Vorwurf  des   Gegenteils  möchte 


-     1065    — 

man  ihnen  machen..  Andererseits  gelingt  manchmal 
Kupffer  ein  einfacher,  fast  volkstümlicher  Sang  vor- 
trefflich, wie  in  dem  Gedicht:  „Der  Genesende  spricht*. 
Jedenfalls  wird  man  bei  Kupffer  ebenso  wie  bei 
Hamecher  eine  Hauptbedingung  für  den  Dichter  vor- 
finden :  das  Poetisieren  von  Selbsterlebtem.  Ihre  Gedichte 
sind  keine  poetische  Uebungen,  kein  Spielen  mit  fremden 
Gefühlen,  sondern  Wiedergabe  ureigensten  homosexuellen 
Empfindens,  welches  bei  Kupffer  in  so  zahlreichen 
Variationen  wie  noch  bisher  bei  keinem  Dichter  nach 
poetischer  Gestaltung  ringt. 

Kupffer,  Elisar  v.:  Sein  Rätsel  der  Liebe.  Novelle 
aus  der  Sammlung  Doppelliebe.  (Zürich,   Caesar 
[.       Schmidt,  1901). 

Der  junge  Alfred,  der  auf  dem  Lande  bei  seinen  Eltern  ein- 
sam und  zurückgezogen  lebt,  glaubt  die  schöne  Schloßnachbarin 
Hedwig  zu  lieben.  Hedwig  hat  Wohlgefallen  an  dem  zarten 
Jüngling,  sie  scherzt  und  plaudert  zwar  mit  ihm,  aber  Liebe 
empfindet  sie  für  ihn  nicht. 

Die  Ungewißheit,  ob  Hedwig  ihn  liebt,  die  Qual  des  ver- 
geblichen Hofmachens,  die  Angst  der  Zurückweisung  nach  dem 
Geständnis  der  Liebe  und  die  Scheu  vor  der  befürchteten  Demüti- 
gung peinigen  Alfred. 

Baron  Roman  von  Ribberg,  der  ehemalige  Gesandtschafts- 
sekretär, der  frühzeitig  seinen  Beruf  aufgegeben,  um  meistens  in 
Italien  zu  leben,  kommt  zu  Besuch  auf  das  Schloß.  Hedwig 
empfängt  ihn  zuvorkommend  und  mit  weiblicher  Koketterie. 
Alfred  empfindet  Eifersucht  und  Neid  gegen  den  gewandten 
weltmännischen  Kavalier,  und  doch  macht  Roman,  der  Hedwig 
ihm  entfremdet,  einen  nicht  geringen  Eindruck  auf  ihn. 

„Roman  hatte  beinahe  etwas  Geheimnisvolles  in 
seinem  Wesen  und  so  gar  nicht  das  gewöhnliche  Äußere 
der  galanten  Herren  von  der  Gesellschaft,  weder  war 
er  herausfordernd  schneidig,  noch  burschikos  nachlässig, 
noch  geziert."    (S.  100). 

Und  dazu  umgab  ihn  in  Alfreds  Augen  der  Nimbus  des  Viel- 
gereisten, der  Italien  und  den  Orient  besucht.  Alfred,  der  ver- 
legen bei  Seite  steht,  vermag  nur  naiv-neugierige  Fragen  über 
Rom  an  Roman  zu  stellen.  Aber  Roman  schien  Alfred  und 
seine  frische  eigene  Art  zu  fesseln,  er  wollte  ihn  näher  kennen 


iL 


! 


—     1066    — 

lernen.  Abends  als  Alfred  traurig  dem  Tanz  zuschaut,  fragt 
ihn  Roman,  warum  er  entgegen  der  Gewohnheit  junger  Leute 
seines  Alters  nicht  tanze.  Alfred  kann  selbst  keine  richtige  Ant- 
wort finden. 

Am  Geburtstag  von  Hedwig  sind  Roman  und  Alfred 
wieder  auf  das  Schloß  eingeladen.  Roman  führt  Hedwig  zu 
Tisch,  Alfred  hat  den  Mut  nicht  gefunden,  ihm  zuvorzukommen, 
er  fühlt  sich  von  Hedwig  verlassen  und  gekränkt. 

Abends,  als  Alfred  wieder  traurig  und  verstimmt  nicht 
tanzt,  wundert  sich  Roman,  dessen  Blicke  Alfred  schon  während 
des  Tisches  oft  auf  sich  gelenkt  sah,  abermals  über  Alfreds 
Zurückgezogenheit.  Er  bittet  ihn  im  Quadrille  sein  vis-a-vis  zu  sein. 
Nach  dem  Tanz  veranlaßt  Roman  Alfred  zu  einem  Spaziergang 
in  den  Garten.  Roman  bietet  Alfred  seine  Freundschaft  an, 
zartfühlend  weiß  er  sein  Inneres  zu  entziffern. 

„Alfred  erwarte,  daß  Hedwig  ihm  entgegenkomme;  er 
hasse  das  Kokettieren  des  Weibes,  er  möge  nicht  den  Tanz, 
das  Werben,  Fliehen  und  Aufsuchen.  Weil  die  Frauen  fühlten, 
daß  er  sich  ihrem  Bann  zu  entziehen  suche,  spendeten  sie  ihm 
keine  Gunst  und  straften  ihn  mit  Gleichgültigkeit." 

Roman  klärt  Alfred  über  seine  eigne  Natur  auf: 
„Gar  manche  Übergänge  gäbe  es  in  der  Natur,   es  heiße 
nicht  bloß  hie  Mann  —  hie  Weib.     Was  oft  Mann  scheine,  sei 
doch  in  seinem  Empfinden  nicht  nur  das,  was  man  insgemein 
männlich  nenne,  sondern  auch  weiblich. 

„Sie  verlangen  nach  Hedwig,  und  doch  bleibt  sie 
Ihnen  gleich  fern,"  sagte  Roman,  „oder  ist  es  nicht  so? 
„Ich  weiß  nicht  ...  Ich  glaube  ..." 
„Lieber  Alfred,  was  Sie  eben  befremdet,  das  kenn* 
ich,  ich  rede  nicht  von  ungefähr  so  zu  Ihnen.  Es  gab 
eine  Welt  und  es  gibt  auch  heute  noch  eine,  in  der 
das  nicht  so  unverständlich  seltsam  ist.  Sie  wollen 
selbst  begehrt  sein,  Sie  schätzen  und  pflegen  Ihr 
Äußeres,  und  Sie  sind  noch  jung  .  .  .  Aber  das  ist 
mehr  als  ein  weibliches  Verlangen,  das  ist  es,  was 
Ihrem  Glück  fehlt.« 

„Ich  weiß  nicht,  was  ich  von  mir  denken  soll!" 
„Daß  Sie  ein  liebenswerter  junger  Mann  sind,  der  um 
seiner  Vorzüge  willen  begehrt  sein  möchte,  weil  er  nun 
so  empfindet,  fühlt,  weil  die  Natur  ihn  so  geschaffen  hat." 
Was  Alfred  so  lange  gequält  hatte,  ward  ihm  nun 
verständlich,  obgleich  ihn  die  Erkenntnis  selbst  be- 
fremdete. 

„Aber  was  soll  ich  .  .  .!" 


1067    — 


„Es  ist  wahr,  Alfred,  Sie  wären  nicht  der  Erste  und 
Letzte,  der  an  dieser  seiner  Natur  zu  Grunde  ginge, 
weil  der  stumpfe  Wahn  der  Unwissenheit  sie  hier 
verfolgt.  Wäre  Ihnen  die  Erkenntnis  verschlossen 
geblieben,  das  Glück  wäre  Ihnen  deshalb  doch  nicht 
gekommen,  denn  die  Natur  waltet  auch  blind;  und 
wie  Ihr  Empfinden  Sie  bis  jetzt  meisterte,  so  würde 
sie  es  auch  ferner  tun.  Sie  hätten  sich  eines  Tages 
doch  erkannt  und  dann  —  dann  wäre  vielleicht  kein 
Ausweg  mehr  gewesen.  Wie  viel  Ehen  wurden  nicht 
so  ein  gebrochenes  Glück!" 
Alfred  verzweifelt  zuerst  an  sich  und  glaubt  sich  nun  für 
immer  unglücklich. 

Aber  Roman  weiß  ihn  aufzurichten.  Er  solle  mit  ihm  hinaus 
in  die  Welt.    Auch  er  habe  gelernt,  zu  spielen. 

„Ich  weiß,   viele   würden   sagen:    du  solltest  lieber 

sterben,   aber  ich  lache   ihrer   und  lebe  und  liebe  das 

Leben.«     (S.  115.) 

Roman  wird  Alfred  mit  nach  Italien  nehmen,    er  ist   reich 

genug  für  zwei.     Getröstet  und  dem  Leben  und   der  Liebe   des 

Freundes  gewonnen,  fällt  ihm  Alfred  in  die  Arme. 

Roman,  der  mehr  als  einmal  seine  Neigung  Unwürdigen 
geschenkt,  ist  glücklich,  den  lang  ersehnten,  jungen,  schönen  und 
ihm    ebenbürtigen  Freund  gefunden  zu  haben. 

Wie  in  anderen  seiner  Werke  erhebt  sich  auch  hier 
Kupffer  bei  der  Darstellung  eines  homosexuellen  Problems 
über  die  Sphäre  des  Geschlechtlichen  hinaus  zu  dem 
seelisch  Interessanten  und   dem   allgemein  Gedanklichen. 

Die  Ursache  der  Homosexualität  wird  in  allgemeinen 
psychologischen  Erklärungen  gesucht. 

Alfreds  Homosexualität,  die  zwar  auf  seiner  weibi- 
schen Artung  fußt,  kommt  doch  nur  zum  Durchbruch, 
weil  seiner  Natur  der  männliche  Werbungseifer  und  die 
energische  Kampfeslust  zur  Eroberung  der  Geliebten 
widerstrebt  und  weil  umgekehrt  seine  passive  Natur  in 
dem  Entgegenkommen  und  der  Werbung  des  Mannes 
Befriedigung  und  Ergänzung  findet.  Zugleich  spielt  ein 
anderer  Gedanke  mit:  die  Kränkung  Alfreds  in  seinem 
männlichen  Stolz    durch    das    herzlose  Kokettieren    des 


—    1068    - 

Weibes,  die  Furcht  vor  Demütigung,  die  Angst  sich  vor 
dem  Weibe  zu  erniedrigen,  die  Scheu,  ihr  Sklave  zu  sein. 

Ahnliche  Gedanken  und  zwar  viel  deutlicher  als 
hier  kommen  in  Kupffer's  Drama  „Narkissos"  zum  Aus- 
druck. Hier  liegen  sie  mehr  zwischen  den  Zeilen  als 
auf  der  Oberfläche. 

Wennman  von  dem  allgemein  psychologischen  Gesichts- 
punkte absieht  und  mehr  den  Maßstab  des  individuell 
Psychologischen  und  Physiologischen  anlegt,  so  erscheint 
die  Homosexualität  von  Alfred  und  die  Umwandlung 
seiner  Gefühle  nicht  streng  motiviert.  Allerdings  wird 
man  davon  ausgehen,  daß  Alfred  eben  zu  den  unbestimm- 
ten, auf  der  Grenze  stehenden  Naturen  gehört.  Alfreds 
Liebe  zu  Hedwig  macht  zwar  den  Eindruck  einer  mehr 
auf  Selbstbetrug  und  Einbildung  beruhenden  Neigung 
als  einer  wirklichen  Leidenschaft,  aber  trotzdem  liegt 
das  homosexuelle  Empfinden,  die  Anziehung  durch  den 
Mann  bis  zur  Aufklärung  durch  Eoman  völlig  verborgen. 
Wenn  dann  Alfred  dem  heterosexuellen  Gefühl  den 
Rücken  kehrt  und  den  homosexuellen  Bund  mit  dem 
Freund  schließt,  so  überrascht  die  plötzliche  Wandlung. 
Hedwig  und  Roman  sind  mit  feinen  und  sicheren  Strichen 
gezeichnet,  namentlich  Roman,  der  selbstbewußte,  klar- 
blickende Konträre,  der  sich  mit  seiner  Natur  abgefunden 
hat  und  dem  es  gelungen  ist,  zu  innerer  harmonischer 
Lebensgestaltung  und  Lebensfreuden  sich  durchzuringen. 

Lecomte,  Georges:  Les  cartons  verts  (Paris:  Char- 
pentier  1901.) 

Der  Roman  spielt  in  einer  Abteilung  des  französischen 
Ministeriums  und  beschreibt  in  sehr  ergötzlicher,  talentvoller  Weise 
den  Bureaukratismus  mit  seinen  Lächerlichkeiten  und  Schatten- 
seiten und  seinem  unheilvollen  Einfluß  auf  die  Beamten,  sowie 
das  traurige  Los,  das  den  Subalternbeamten  das  Geist  und  Körper 
abstumpfende  bureaukratische  Leben  bereitet. 

Unter  den  verschiedenen  Beamtentypen,  die  Lecomte  vor- 
führt, befindet  sich  auch  ein  Homosexueller,  Chargnieu,  ein  blonder 


—    1069    — 


Vierziger.    (Die  Stellen,   die   von  ihm  handeln,   sind  auf  S.  297, 
299—301,  341,  356—361,  386,  458,  497—500.) 

„Fast  immer  träge  und  schläfrig,  als  ob  er  seine 
Kräfte  wiederherstellen  wollte,  die  sein  Laster  ihm  nahm, 
saß  er  in  seinem  Bureau,  einer  Schlange  ähnlich,  die 
verdaut. 

Während  der  Hundstage  fächelte  er  sich  mit  der 
affektierten  Grazie  einer  Coquette  an,  im  Winter  wickelte 
er  seine  Hände  in  seine  Ärmel,  wie  eine  verfrorene  Frau 
sanft  ihre  Finger  in  das  laue  Obdach  ihres  Muffes  steckt. 
Auf  dem  Ministerium  brachte  er  seine  Zeit  damit  zu, 
wenn  er  seine  Sachen  hingeschmiert  hatte  und  nicht 
schlummerte,  seinen  blonden  zarten  Bart  zu  kämmen, 
seine  Haare  zu  frisieren,  seine  Nägel  zu  glätten,  oder 
sich  an  niederer  obscöner  Literatur  zu  ergötzen. 

Seine  Stimme   und  sein  weibliches  Lachen  ertönten 

schrill  in  dem  Bureau 

Seine  weiche  Hand  verweilte  gern  in  zärtlichen  Be- 
rührungen, seine  Augen  lächelten  wie  die  einer  begehr- 
lichen Frau,  die  sich  anbietet,  und  sein  nachlässiger, 
eckiger,  zu  Berührungen  prompter  Körper  schien  immer, 
wie  der  einer  Dirne,   Kniee  und  Arme  zu  suchen,   um 

schmachtend  sich  niederzulassen " 

Chargnieu  nähert  sich  besonders  gern  den  ganz  Jungen  der 
Abteilung,  den  Vereinsamten,  der  Liebe  Baren. 

„Er  setzte  sich  neben  sie  auf  ihren  Tisch  oder  zog 
sie  in  verlassene  Winkel. 

Diese  Neulinge,  fast  alle  Provinzler  und  traurig  ob 
ihrer  Einsamkeit,  fanden  die  schmeichelnde  Freundschaft 
dieses  ziemlich  eleganten  Kollegen,  der  ihnen  Paris 
kennen  lehrte,  angenehm. 

Ohne   Mißtrauen    ließen    sie   die   wollüstigen,  mut- 
willigen Spielereien  Chargnieu's  über  sich  ergehen." 
Seit  einigen  Monaten  stellt  Chargnieu  besonders  einem  dieser 
Neulinge  nach,  einem  jungen,  jugendkräftigen,   nach  Liebe  lech- 
zenden, vereinsamten  Bretagner,  Caradec. 

„Chargnieu   errät  sein  Schmachten    und   seine  Be- 
gierden.  Er  schleicht  wie  eine  Schmeichelkatze  um  den 
Alleinstehenden.      Aber   dieser   scheint   Mißtrauen    zu 
schöpfen.    Sein  gerader  Instinkt  weist  die  liebkosenden 
Gesten  zurück." 
Zur  Karnevalszeit  findet  Chargnieu  die  gesuchte  Gelegenheit. 
Er  bringt  einen  Abend  mit  Caradec  zu,  den  er  nach  Zerstreuung 
und  Vergnügen  dürstend  auf  der  Straße  getroffen,  führt  ihn  ins 
Variete  und  dann  zu  sich  nach  Hause. 


—    1070    — 

Aufgeregt  und  halbtrunken  hat  Caradec  nicht  die  Kraft, 
Chargnieu's  Liebkosungen  zurückzuweisen,  nachher  empfindet  er 
aber  Ekel  und  entfernt  sich  voll  Scham. 

Aber  eines  Tages  gibt  es  eine  große  Neuigkeit  auf  dem 
Ministerium.  Chargnieu,  der  seit  einigen  Tagen  fehlte,  wurde 
abends  auf  einer  Bank  in  den  Champs-Elysees  in  Mitte  der  Be- 
gehung unzüchtiger  Handlungen  mit  einem  Manne  von  der  Sitten- 
polizei ertappt  und  verhaftet.  Um  den  Skandal  zu  verhüten,  wird 
ihm  die  Strafkammer  erspart  bleiben,  aber  seine  sofortige  Ent- 
lassung vom  Ministerium  ist  erfolgt. 

Die  gesamten  Kollegen  besprechen  in  sarkastischer  Weise 
das  Geschehene  und  fallen  über  Chargnieu  her. 

„Stille  waren  nur  die  Jüngelchen,  welche  Chargnieu 
mit  seiner  zärtlichen  Freundschaft  verfolgt  hatte. 

Mit  gerötetem,  von  einem  erzwungenen  Lachen  ver- 
zerrten Gesicht  hörten  sie  zu,  und  von  Zeit  zu  Zeit 
entschlüpfte  ihrer  zugedrückten  Kehle  ein  dumpfes 
Schimpfwort.  Sie  fürchteten,  daß  man  in  diesem  Augen- 
blick strenger  Moral  sich  ihrer  Gespräche  mit  dem  Ge- 
brandmarkten erinnern  könnte/ 
Als  einer  der  Beamten  ein  Wort  der  Verzeihung  für  Chargnieu 
einlegen  will,  wird  sein  Satz 

„durch  die  bitteren  Worte  eines  Jüngelchens  unterbrochen, 
der  wie  üblich,  sich  unerbittlich  zeigte,  um  über  die 
Schwächen  hinwegzutäuschen,  deren  er  sich  vielleicht 
schämte.    ,Schwein  .  .  .  eklicher  Bock*  stieß  er  aus." 

In  Chargnieu,  wie  ihn  Lecomte  zeichnet,  erkennt 
man  den  geborenen  effeminierten  Homosexuellen.  Lecomte 
deutet  aber  in  Wirklichkeit  die  Homosexualität  anders: 
als  den  durch  notgedrungene  Enthaltsamkeit  vom  Weib 
auf  Abwege  geratenen  heterosexuellen  Trieb. 

Lecomte  beschäftigt  sich  an  verschiedenen  Stellen 
mit  der  Gestaltung  des  Geschlechtslebens  der  ßureau- 
kratie.  Er  hebt  die  mißliche  Lage  der  kleinen  Beamten 
hervor,  die  arm  und  von  dem  sozialen  Verkehr  mit  der 
Frau  abgeschlossen,  überdies  zu  einer  gewissen  Rücksicht- 
nahme auf  ihre  Stellung  gezwungen,  nicht  nur  meistens 
auf  Befriedigung  ihrer  Liebes-  und  Herzensbedürfnisse 
verzichten  müssen,  sondern  meist  auch  mangels  der 
nötigen  Mittel  ihre  Sinneslust    nicht  befriedigen    können. 


—    1071     — 

Die  fortgesetzte  Unterdrückung  des  natürlichen 
Triebes  schläfere  ihn  allmählich  bei  vielen  ein,  bei  anderen 
aber  werde  er  auf  perverse  Bahnen  gedrängt.  Als  Bei- 
spiel hierfür  bringt  Lecomte  dann  hauptsächlich  drei  Typen : 
einen,  der  nur  an  dem  Ankauf  und  Anblick  obscöner  Bilder 
und  Photographien  seine  Freude  fände,  einen,  der  die 
Leidenschaft  habe,  Liebespärchen  in  intimer  Umarmung 
auf  den  öffentlichen  Promenaden  zu  erspähen,  und  den 
dritten:  Chargnieu. 

Die  Entstehung  seiner  Homosexualität  denkt  sich 
Lecomte  wie  folgt:  Chargnieu  sei  als  ein  junger,  kräftiger 
und  demnach  von  Begierden  gestachelter  Mann,  aber  arm 
und  daher  ohne  Maitresse,  einst  von  irgend  einem  Laster- 
haften verführt  worden  und  selbst  dann  zum  Auflaurer 
fremder  sinnlicher  Triebe,  die  sich  nicht  befriedigen 
konnten,  herabgesunken. 

Für  den  Zweck  des  Romans  paßt  die  Schilderung 
recht  gut,  indem  sie  durch  ein  drastisches  Beispiel  die 
Gefahr  der  Unterdrückung  natürlicher  Triebe  veranschau- 
lichen will.  An  dem  Maßstabe  der  Wirklichkeit  gemessen, 
dürfte  sie  aber  für  den  Kenner  der  Homosexualität  wenig 
glücklich  sein. 

Mit  Recht  hat  daher  schon  ein  Kritiker  des  Romans1) 
scherzend  hervorgehoben,  daß  doch  nicht  alle  Homosexuellen 
Bureaukraten  seien! 
Lys,  Georges  de:  La  Vierge  deSedom   (Offenstadt 

frferes.  Paris,  1901). 

Sedom  (Sodom)  ist  von  dem  Joch  der  Elamiter,  der  fremden 
Eroberer  durch  Abram  (Abraham)  aus  dem  Thale  Mamre,  dem 
Onkel  von  Lott,  der  als  einziger  Fremder  in  Sedom  wohnt,  be- 
freit worden. 

Bara,  der  König  von  Sedom,  bietet  Abram  zum  Dank  für 
den  errungenen  Sieg  die  unberührte  schöne  Tochter  von  Abimaäl, 
des  Hohepriesters  des  Gottes  Nabou,  die  jungfräuliche  Maheleth, 
zur  Frau  an. 


/  M 


*)  Rachilde  in  Mercure  de  France. 


—    1072    — 

Aber  Abram  schlägt  die  ihm  erwiesene  Ehre  aus;  obgleich 
seine  Ehe  mit  Sarah,  seinem  Weibe,  unfruchtbar  geblieben,  wird 
er  mit  keiner  andern  Frau  das  Ehebett  teilen.  Naphis,  der 
schöne  Adoptivsohn  Abrams,  verliebt  sich  in  Maheleth,  die  seine 
Leidenschaft  erwidert.  Aber  Abimaäl  will  seine  Tochter  nicht 
dem  Adoptivsohn  des  Mannes  geben,  der  ihn  durch  die  Weige- 
rung Maheleth  als  Frau  zu  nehmen  aufs  tiefste  gekränkt  hat. 
Maheleth  soll  Noäph,  den  Wüstling,  heiraten,  den  eigenen  Ge- 
liebten des  Hohenpriesters. 

„Noöph's  verweichlichter,  von  Wohlgerüchen  durch- 
setzter Körper  hatte  die  Wollust  von  Abimael  erregt. 
Der  ehrgeizige  Wüstling  hatte  gewußt  die  Leidenschaft 
des  Greises  auszunützen  und  als  Preis  für  seine  Gefällig- 
keiten sich  die  Ehe  mit  Maheleth  auszubedingen".  (S.  122.) 
Abimael    freute    sich    schon,    im    Ehebette    der    eigenen 
Tochter  den  Geliebten  zu  besitzen.     Naphis  hat  im  Einverständnis 
mit    Maheleth    beschlossen,    sie    zu    entführen.     Während    des 
Festes  zu  Ehren  des  Gottes  Nabou  und  der  Feier  der  Mysterien, 
denen  Maheleth  beiwohnen  muß,  wird  es  Naphis  am  besten  ge- 
lingen, im  Gedränge  der  Menge  seinen  Plan  auszuführen. 

Er  schleicht  sich  in  den  Tempel  während  der  Feier  der 
Jieiligen  Orgie. 

„Im  Tempel  wohnten  die  Priester  von  Nabou  .  .  . 
Sie  brachten  die  Stunden  in  der  nervenerregenden 
Atmosphäre  des  Tempels  zu  und  scheuten  sich  nicht, 
den  häßlichsten  Ausschweifungen  sich  hinzugeben.  Ein 
junger  Sklave,  zu  ihren  Füßen  hingebettet,  war  stets 
bereit,  ihrer  Begierde  zuvorzukommen  und  sie  zu  be- 
friedigen. In  dem  Allerheiligen,  wo  sie  ohne  Frevel 
eindringen  durften,  ließen  sie  Jungfrauen  und  Jünglinge 
der  Stadt  einführen,  ....  und  die  Lampen  der 
göttlichen  Gebräuche  erleuchteten  ihre  Unzüchtigkeiten. 
„Schwankend  mit  gerötetem  Antlitz  schreiten  die 
Priester  heran,  ein  jeder  gestützt  durch  einen  Epheben, 
dessen  Nacktheit  mit  Schmuck  geziert  ist,  wie  die  einer 
Prostituierten. 

Die  Neger  von  Khousk,  seit  der  Wiege  entführt,  für 
den  Gebrauch  der  Priester  in  den  Tiefen  des  Tempels 
erzogen,  haben  eine  bronzefarbige,  glänzende,  ölige  Haut. 
Ihre  weißen  Zähne  lachen  unter  den  fleischigen  Lippen, 
die  den  Rändern  einer  bluttriefenden  Wunde  gleichen. 
Einige  zeigen  nur  rosiges  Zahnfleisch  und  haben  zahnlose 
Kiefer,  eine  absichtliche  Grausamkeit,  um  ihre  Lieb- 
kosungen sanfter  zu  gestalten  .... 


—    1073    - 


.'./ 


Die  Kinder  der  weißen  Race  sind  dicker,  die  sitzende 
Lebensweise,  der  Luftmangel,  die  Nahrung,  mit  der 
man  sie  vollpfropft,  dunsen  ihren  Unterleib  auf  und  lassen 
an  ihren  Schenkeln  fette  Falten  aufgehen.  Einige  sind 
kastriert  und  verdanken  ihrer  Verstümmelung  eine  noch 
mißgestaltere  Wohlbeleibtheit. 

Sie  helfen  ihren  Herren  sich  auf  ihrem  Ruhelager  nieder- 
zulegen, häufen  Kissen  hinter  ihre  Häupter  und  lagern 

sich  zu  ihnen 

Die  Hand  von  Abimael  spielt  nachlässig  in  dem  blonden, 
über  die  schmächtigen  Schultern  eines  schönen  Androgynen 
herunterwallenden  Lockenhaar,  dessen  doppeltes  Ge- 
schlecht, das  seine  abgestumpfte  Begierde  reizt,  ab- 
wechselnd seine  Liebkosungen  empfängt  und  wieder- 
gibt .  .  .«    (S.  201—203.) 

Zuerst   führen   Tänzerinnen    unzüchtige   Tänze   auf. 
Darin  erscheinen  Epheben.     „Es  sind  nicht  mehr  die 
der   Person    des   Priesters   beigegebenen   armen   Ver- 
stümmelten,   aber  schlanke,  fein  muskulierte  Jünglinge 
*       mit  geschmeidigen  Gliedern  und  elegantem  Gang.  Nichts 
sticht   von   ihrer   herrlichen  Nacktheit  ab  auf  dem  ge- 
glätteten Elfenbein  ihrer  glänzenden,   durch  ölige  Ein- 
reibungen geschmeidigen  Haut.     Das  Auge  des  Priesters 
entzündet  sich,   ein   tierisches    Lächeln   schleicht   über 
ihre  herabhängenden  Lippen.     Diese  Tänzer  sind  wirk- 
lich schön."     (S.  204.) 
Die  Tänzer    sind    blind    —  seit    ihrer  Aufnahme    in    den 
Tempel  geblendet  durch  glühendes  Eisen.     Sie  führen  plastische 
Stellungen  und  Tänze  vor,   die    in  erotischen  Umarmungen  und 
Gruppen  enden. 

Zum  Schluß  der  Feier  will  Abimael  noch  eine  besondere 
Monstrosität  zum  Besten  geben.  Die  eigene  Tochter  soll  nackt 
vor  aller  Augen  tanzen.  Als  er  selbst  der  Widerstrebenden  die 
Hülle  vom  Körper  reißt,  stürzt  Naphis  aus  seinem  Versteck 
hervor,  die  Geliebte  zu  schützen.  Abimael  will  den  Frechen 
zuerst  dem  Tode  weihen,  aber  als  er  den  Halbnackten  in  seiner 
strahlenden  Herrlichkeit  erblickt,  „sehen  seine  gierigen  Augen 
nur  noch  seine  Schönheit."  Er  kennt  eine  bessere  Rache  als 
den  Tod,  er  wird  Naphis  dem  Dienst  des  Gottes  Nabou  widmen. 
Inzwischen  hat  Abram  vom  Gott  Israels  die  Offenbarung 
erhalten,  daß  seine  Frau  Sarah  noch  fruchtbar  werden  würde. 
Gott  hat  ihm  zugleich  befohlen,  sich  und  seinen  ganzen  männ- 
lichen Stamm  beschneiden  zu  lassen.  Er  sendet  ihm  zwei 
Engel  in  Gestalt  zweier  wunderbar  schöner  Jünglinge,  die  Abram 
zu  Lott  schicken  soll,  ihm  die  Botschaft  Gottes  zu  überbringen. 


—    1074    — 

Die  Schönheit  der  beiden  Botschafter  erregt  die  Begierde 
der  Einwohner  Sedoms.  Sie  stürzen  vor  Lott's  Haus  und 
begehren  die  Fremden.  Männer  und  Weiber  gleich  stürmisch 
in  ihrem  Verlangen,  Noe'ph  der  Wüstling  an  der  Spitze.  Auch 
der  Hohepriester  Abimagl  gebietet,  die  Fremden  der  entfesselten 
Fleischeslust  des  Volkes  preiszugeben.  Als  die  Menge  schließ- 
lich das  Haus  stürmt,  entfliehen  die  Engel  mit  Lott  und  seiner 
Familie  durch  eine  verborgene  Türe.  Gott  aber  läßt  den  Feuer- 
regen über  die  unzüchtige  Stadt  hereinfallen. 

In  den  Gewölben  des  Tempels,  wo  Naphis  als  Gefangener 
schmachtet,  gelingt  es  Maheleth,  zu  ihm  zu  gelangen.  In  enger 
Umarmung  sterben  sie  in  dem  Feuerbrand. 

Die .  Homosexualität  erscheint  in  dem  Roman  als 
Culminationspunkt  eines  Lasterlebens  Heterosexueller  (bei 
Abimael  und  Noeph)  und  als  tierische  Begierde  eines 
ganzen  unzüchtigen  Volkes,  sodann  überhaupt  als  unsitt- 
licher Ritus  einer  heidnischen  Religion,  die  ihren  Priestern 
den  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  gebietet  und  die 
Tempelprostitution  verlangt.  In  dieser  Auffassung  bot 
die  Homosexualität  dem  Verfasser  ein  willkommenes 
Mittel  für  seine  auch  aus  den  beigegebenen  Illustrationen 
ersichtliche  Tendenz  zu  grellen  Effekten.  Denn  im 
Grunde  verrät  der  Roman  das  Streben  nach  Sensation, 
und  ein  ziemlich  hohler  Inhalt  verbirgt  sich  unter  dem 
pompös  gesuchten  und  sensationell  dekorativen  Stil,  der 
allerdings  in  den  Tempelscenen  den  passenden  Stoff  zur 
geeigneten  wirksamen  Entfaltung  findet.  Diese  profane 
wollüstige  Tempelscene,  welche  zum  Besten  des  Romans 
gehört,  entrollt  die  kulturhistorisch  hochinteressante 
religiöse  Priesterhomosexualität  in  einem  sinnlichen  und 
raffinierten  Gemälde  voll  Virtuosität  und  künstlerischem 
Glanz. 
Martino,  Ferdinand  de  und  Abdel  Khalek  Bey  Saroit 

Anthologie  de  l'amour  arabe  mit  Vorwort  von 

Pierre  Louys  (Paris:  Mercure  de  France  1902). 

Das  Buch  enthält  eine  Sammlung  morgenländischer  Liebes- 
gedichte (84  Nummern)  von  Dichtern  der  frühesten  Jahrhunderte 
bis  zu  solchen  der  Jetztzeit  in  französischer  Übersetzung. 


—    1075    — 

Sämtliche  besingen  die  Frau,  nur  zwei  sind  homosexuelle. 

No.  29  und  No.  61. 

'  Über  den  Verfasser  des  Gedichtes  No.  29  Moudrik  El  Chaibani 
wird  in  der  Sammlung  wie  folgt  berichtet  S.  166: 

„Er  wurde  in  Bagdad  erzogen  und  blieb  dann  in  dieser 
Stadt  als  Lehrer.  Seinem  Unterricht  wohnten  nur  junge  Leute 
bei,  unter  ihnen  befand  sich  der  junge  Amr.  Der  Dichter  ver- 
liebte sich  in  den  Jungen,  so  daß  man  gezwungen  war,  ihn  von 
dem  Unterricht  fernzuhalten. 

Aus  Gram  wurde  Moudrik  schwer  krank,  und  da  sein  Zu- 
stand sich  verschlimmerte,  baten  die  Freunde  des  Kranken  die 
Eltern  von  Amr,  einen  Besuch  des  Jungen  bei  seinem  Lehrer  zu 
gestatten.  Von  Mitleid  ergriffen,  gaben  sie  die  Erlaubnis  dazu. 
Als  Amr  am  Bette  des  Sterbenden  stand,  ergriff  dieser  die  Hand, 
sagte  einige  improvisierte  Verse  her  und  gab  seinen  Geist  auf." 

Bei  dem  Ruf  der  orientalischen  Poesie,  als  der 
Dichtung,  welche  besonders  häufig  den  Jüngling  besingt, 
wundert  man  sich,  daß  in  der  Sammlung  die  homosexuelle 
Liebe  so  spärlich  vertreten  ist.  Es  scheint,  daß  die 
Herausgeber  absichtlich  die  homosexuellen  Gedichte  mög- 
lichst beiseite  gelassen  haben.  Daß  sie  aber  in  der  morgen- 
ländischen Poesie  tatsächlich  sehr  zahlreich  zu  finden  sind, 
dürfte  auch  aus  der  Notiz  über  den  Dichter  Omar  Ebn 
Abdullah  Ebn  Abi  ßabia  El  Mahzuni  S.  83  hervor- 
gehen, in  welcher  bemerkt  ist,  daß  Omar  sich  stets 
weigerte,  solche  Dithyramben  zu  verfassen,  wie  sie  so  sehr 
zu  seiner  Zeit  in  Ehren  standen.  „Ich  besinge  die  Frauen 
und  nicht  die  Männer"  pflegte  er  zu  wiederholen.1) 


*)  In  der  französischen  Übersetzung  der  „Tausend  und  eine 
Nacht"  von  Dr.  Mardrus  (Fasquelle,  Paris)  sind  zahlreiche  homo- 
sexuelle hochpoetische  Stellen. 

Ein  unbekannter  zur  Zeit  in  Arabien  weilender  Herr  hat  mich 
auf  die  Übersetzung  aufmerksam  gemacht  und  mir  zugleich  eine 
Anzahl  von  Stellen  mitgeteilt,  wofür  ich  ihm  hiermit  danke. 

Zur  Zeit  sind  12  Bände  von  Mardrus  herausgegeben  und  noch 
4  zu  erwarten.  Nach  Beendigung  der  Veröffentlichung  wird 
es  wohl  angezeigt  sein,  das  Homosexuelle  in  den  verschiedenen 
Bänden   in  dem  Jahrbuch  zu  besprechen.    Vorläufig  sei  angegeben, 

Jahrbuch  V.  68 


:! 


—    1076    — 

MÖPejkowsky,  Dmitry  de:  Le  Roman  de  Leonard  de 

Vinci  ins  Französische  übersetzt  von  Jacques  Sorr^ze 

(Paris:  Calmann  Levy  1901)  718  So. 

Der  lange,  grau  in  grau  geschriebene  Roman,  dessen  Wert 

dem  Umfang  nicht  gleichkommt,  entrollt  die  Lebensgeschichte  von 

Leonardo  da   Vinci  im  Rahmen  der  damaligen  historischen  und 

kulturhistorischen  Begebenheiten.     An  zwei  Stellen  werden  die 

Verdächtigungen  erwähnt,  wonach  Leonardo  gleichgeschlechtlichen 

Verkehr  gepflogen  haben  soll. 

S.  230  erzählt  der  Schüler  Leonardo's,  Cesare,  einem  Mit- 
schüler Giovanni,  der  seinen  Meister  aufs  tiefste  liebt  und  ehrt, 
über  Leonardo's  Vorleben: 

„Im  Jahre  1476  war  Leonardo  24  Jahre  alt  und  sein 
Meister,  der  berühmte  florentinische  Maler  Andrea 
Verrochio  40.  Ein  anonymer  Bericht,  worin  Beide 
widernatürlicher  Unzucht  beschuldigt  waren,  wurde  in 
einen  der  runden  Kasten  gelegt,  die  sog.  Tamburi,  die 
man  an  die  Säulen  der  Hauptkirchen  Florenz  hinzu- 
hängen pflegte.  Am  9.  April  desselben  Jahres  unter- 
suchten die  sog.  nächtlichen  mönchischen  Aufseher  die 
Sache  und  sprachen  die  Angeklagten  frei,  aber  unter 
der  Bedingung,  daß  der  Bericht  erneuert  würde,  nach 
der  zweiten  Anklage  am  9.  Juni  wurden  Leonardo  und 
Verrochio  für  unschuldig  erklärt.  Niemand  erfuhr  mehr 
darüber.  Bald  darauf  verließ  Leonardo  die  Werkstätte 
von  Verocchio  und  ließ  sich  in  Mailand  nieder. 

O!  gewiß  ist  es  eine  schändliche  Verleumdung!  fügte 
Cesare  hinzu,  mit  einem  ironischen  Funken  im  Auge. 
Obgleich  du  noch  nicht  weißt,  Freund  Giovanni,  welche 
Widersprüche  in  seinem  Herzen  herrschen.  Siehst  Du, 
es  ist  ein  Labyrinth,  in  dem  selbst  der  Teufel  sich  das 
Bein  brechen  würde.  Einerseits  scheint  er  Jungfer  und 
andererseits  würde  man  sagen  .  .  .  " 
Cesare  wird  von  dem  wütenden  Giovanni  unterbrochen, 
der  seinen  Meister  warm  in  Schutz  nimmt. 

S.  700  Franz  I.  von  Frankreich  besucht  das  Atelier  von 
Leonardo.  Der  König  bewundert  das  herrliche  Portrait  der 
Monna  Lisa  und  glaubt,  der  Maler  habe  die  Frau  leidenschaftlich 
geliebt. 

daß  die  männliche  Liebe  mit  orientalischer  Glut  und  mit  einer 
Leidenschaftlichkeit,  die  ihres  Gleichen  sucht,  besungen  wird  in 
Bd.  4  S.  87,  91,  Bd.  5  S.  10,  20,  137,  138,  139,  Bd.  6  S.  216,  Bd.  7 
S.  240,  241,  Bd.  8  S.  21. 


—    1077    — 

Ein  Begleiter  des  Königs  raunt  ihm  jedoch  zu,  man  behaupte, 
Leonardo  habe  nicht  nur  die  Joconda  nicht  geliebt,  sondern  über- 
haupt kein  Weib  ....  er  sei  fast  Jungfer. 

„Und  noch  leiser,  mit  einem  anrüchigen  Lächeln, 
fügte  er  etwas  Unzüchtiges  über  die  socratische  Liebe 
Leonardo's  und  die  ungewöhnliche  Schönheit  seiner 
Schüler  bei. 

Franz  I.  wunderte  sich,  dann  zuckte  er  mit  den  Achseln 

mit  dem   nachsichtigen  Lächeln  eines   von  Vorurteilen 

freien  Weltmannes,  der  zu  leben  versteht  und  die  Andern 

nicht    hindert  zu   leben  wie   ihnen   gut  dünkt,   da   er 

wußte,    daß   in   dieser  Art  von   Angelegenheiten   man 

nicht  über  Geschmack  und  Farben  streiten  soll". 

In  dem  Roman  selber  wird  Leonardo  nicht  als  Homosexueller 

dargestellt,  nur  freundschaftliche  Beziehungen  zwischen  ihm  und 

besonders  zwei  seiner  Schüler,  Giovanni  und  Francesco,  werden 

geschildert,  hauptsächlich  aber  die  Verehrung  und   Liebe    dieser 

Schüler  zu   ihrem   Meister.    Die   einzige   Art  Liebesleidenschaft 

Leonardo's  ist  die  zu  Monna  Lisa  oder  vielmehr  zu  dem  Porträt, 

das  er  von  ihr  malt,  eine  Leidenschaft  von  idealem  eigenartigem 

Charakter,  der  jede  Sehnsucht  nach  fleischlicher  Annäherung  fehlt 

und  die  sich  mehr  auf  das  Porträt  der  schönen  Frau  konzentriert, 

in  welches  der  Maler  ein  unmögliches  Ideal  hineinzulegen  strebt. 

Leonardo's  Natur  stellt  M£rejkowsky  überhaupt  als  instinktiv 

dem  Geschlechtsverkehr  abhold  dar. 

S.  640  heißt  es: 

„Die  platonischen  Absurditäten  der  damaligen  Zeit 
erweckten  in  ihm  nur  Langweile  oder  Lachen,  er  konnte 
sich  nicht  enthalten,  die  schmachtenden  Seufzer  der 
himmlischen  Liebschaften  und  die  faden  Sonette  im 
Geschmack  von  Petrarka  zu  bespötteln.  Nicht  minder 
fremd  war  für  ihn  was  die  Allgemeinheit  Liebe  nannte. 
Indem  er  kein  Fleisch  aß,  weil  es  ihn  anekelte,  ent- 
hielt er  sich  gleichfalls  des  Weibes;  jeder  körperliche 
Besitz  in  oder  außerhalb  der  Ehe  —  erschien  ihm  ge- 
mein. Und  er  entfernte  sich  davon  wie  vom  blutigen 
Kampf,  ohne  sich  zu  entrüsten,  zu  tadeln,  zu  recht- 
fertigen, indem  er  das  natürliche  Gesetz  des  Liebes- 
und Hungerkampfes  anerkannte,  aber  selbst  nicht  daran 
Teil  nehmen  wollte,  sich  einem  andern  Gesetz  von 
Liebe  und  Schamhaftigkeit  unterwerfend." 

Nach    M^rejkowskys    Roman     erscheint    Leonardo's 
Geschlechtsnatur  dunkel  und  rätselhaft. 

68* 


// 


Ml 


—    1078    — 

Manche  Züge  erinnern  an  das  Wesen  eines  Edel- 
päderasten,  an  den  Homosexuellen,  der  sich  seines  tief- 
eigenen Empfindens  nicht  bewußt  ist  oder  sein  Gefühl 
im  Innersten  verbirgt. 

Ob  der  historische  Leonardo  tatsächlich  homosexuell 
war  oder  nicht,  dürfte  nicht  feststehen,  obgleich  seine 
Homosexualität  schon  oft  behauptet  worden  ist,  so  kürz- 
lich von  dem  Kunsthistoriker  Muther. 

Wünschenswert  wäre  eine  genaue  Untersuchung  der 
Frage,  deren  endgültige  Lösung  uns  z.  B.  Karsch  in 
seiner  tief  gründlichen  objektiven  Weise  bringen  möge. 

Narkissos:  Der  neue  Werther,  eine  hellenische  Passions- 
geschichte (Verlag  Spohr,  Leipzig)  1902  erschienen. 
Gewählt  ist  die  Form  des  Tagebuchs. 
Im  Vorwort  bezeichnet  „Narkissos"  als  Verfasser  des  Tage- 
buchs einen  jungen   Studenten   der  Medizin,   der  Weihnachten 
1901  erschossen  in  seinem  Zimmer  aufgefunden  worden  sei. 

Das  Tagebuch  beginnt  mit  der  Wiedergabe  eines  Antwort- 
schreibens von  Professor  K.  in  Wien  an  den  jungen  Mediziner. 
Er  sei  ein  psychischer  Hermaphrodit,  bei  dem  das  Gefühl 
zum  eigenen  Geschlecht  überwiege.  Ratschläge  streng  geregelter 
Lebensweise,  Fernhalten  alles  Perversen,  Anbahnung  von  Ver- 
kehr mit  dem  Weibe  u.  dergl.  Er  solle  sich  an  Professor  W.  in 
Berlin  wenden,  der  werde  ihn  von  seiner  Krankheit  heilen. 

Aus  Pflicht  wird  der  Student  versuchen,  sich  zu  heilen,  im 
Grunde  seines  Herzens  widerstrebt  es  ihm,  wegzuwerfen,  „was  ihm 
das  schönste  und  reinste  Gefühl"  ist. 
Schilderung  seiner  ersten  Jugend. 

„Welch  seltsame  Jugend  habeich  erlebt!  ....  Meine 
Schulzeit  ist  eine  Kette  von  liebevollsten  Hingebungen 
an  angebetete  Lehrer  und  wollüstigen  Freundschaften 
mit  erkorenen  Wahlverwandten  —  ein  Spiel  von 
Schwelgerei  und  Entsagung,  glühender  Eifersucht  und 
begehrlichstem  Streben".  (S.  14). 

Er  hat  dann  Krafft-Ebings  Buch  gelesen: 
„Nie  werde  ich  den  Eindruck  von  damals  vergessen. 
Längst  hatte  ich  erkannt,  daß  ich  anders  geartet  sei, 
wie  die  übrigen.  Und  ich  glaubte,  daß  niemals  die 
Jahrtausende  vor  mir  und  künftig  je  einer  das  empfinden 
konnte  und   könnte,  was  mich  erfüllte.    Ja,  so  mochte 


1079 


wohl  auch  die  vielgerühmte  Frauenliebe  glühen  —  nur 
nicht  so  sehnend,  verzehrend,  so  ganz  innerlich  und 
alles  übrige  tilgend. 

Ich  fühlte  mich  einsam  in  meiner  Sonderart,  wie  ein 
Wesen  aus  einer  andern  Welt,  das  irrtümlich  auf  diesen 
Erdball  geraten  ist.     Aber  der  einfachste  Instinkt  riet 
mir  zur  Heuchelei." 
Er  suchte  dann  mit    Erfolg    trotz    seines    Widerwillens  "Be- 
ziehungen  zu  Mädchen  anzuknüpfen. 

„Das  war  der    Anfang   der    großen    und    einzigen 
Lüge,  die  mein  Leben  verunreinigte  und  die  mich,  den 
Freigeborenen,  zumSklaven  gemacht  hat." 
Der  eigentliche  Grund,  warum  er  an  Prof.  K.  schrieb,  war 
nicht  sich   und  seine  Natur  aufzugeben. 

„Von  der  Lüge  will  ich  mich  befreien,  Reinheit  will 
ich  wieder  haben,  und   sollte  ich  darüber  mein   Glück 
verlieren !" 
Er  wendet  sich  an  Prof.  W. 

Vier  Wochen  befindet  er  sich  in  Behandlung.  Noch  kein 
Erfolg.    Er  soll  alles  meiden,  was  ihn  reizen  könnte, 

„d.  h.  wohl,  ich  soll   mich    von   meinen   Freunden 
fern   halten,   meine   Empfindungen   der  Zuneigung  und 
des  Wohlgefallens  an  ihnen  selbst  unterdrücken.     Nun 
ich  tu'  das  ja  so  gut  ich  kann.    Aber  ich  bin  mir  nicht 
klar,   ob    ich   da  nicht  in    eine    neue    schlimme    Lüge 
geraten   bin.    Belüge   ich  nicht   mich  selbst?     Meine 
Seele  schielt   weg   von    dem,   was  ihr   Verlangen    ist. 
Aber   ist  ein  schielender  Blick  besser  als  ein  aufrich- 
tig voller?    Denke  ich  jetzt  wirklich  weniger  an   das 
Verbotene    oder     nur    heimlicher ,     unkontrollierter?" 
(S.  32.) 
Inzwischen  hat  er  im  Hörsaal    der   Universität   die   nähere 
Bekanntschaft  eines  Studenten,  Alfred  P.  gemacht.  P.  ist  Philosoph 
und  Aesthetiker.    Beide  werden  enge  Freunde,  beide  schwelgen 
in  Musik  und  Litteratur. 

Die  Freundschaft  des  Studenten  mit  Alfred  P.  verwandelt 
sich  allmälig  in  eine  heftige  Leidenschaft.  Er  kann  ihn  nicht 
mehr  entbehren,  nicht  mehr  vermissen,  „die  Anmut  seiner 
schlanken  Gestalt,  den  Zauber  seiner  Bewegungen,  seinen  Blick, 
seine  liebe  Stimme". 

Prof.  W.  hat   mit  der   hypnotischen  Suggestion  begonnen. 

Die  Hypnose  gelingt.    Aber  noch  ist  nicht  der  Grad  der  Hypnose 

erreicht,  der  für  die  entscheidende  Suggestion  Erfolg  verspricht. 

„Der    Patient    sucht    seine    Phantasie   auf    die    Frau    zu 

lenken." 


—    1080    — 

Nachts  „quäle  ich  mein  Hirn  mit  der  krankhaften 
Versinnlichung  nackter  und  halbbekleideter  Frauen- 
körper, aus  deren  bewegter  Schönheit  mir  ein  Reiz  er- 
blühen soll.  Und  oft  glaube  ich  ihre  lockende  Süßigkeit 
zu  spüren  —  bis  eine  edle  Jünglingsgestalt,  der  Blick 
eines  lieben  Freundes,  das  buhlerische  Spukzeug  in 
seine  finstern  Winkel  zurückjagt."    (S.  44.) 

Im  Grunde  gesteht  er  sich: 

„Ich  fürchte,  ich  bin  keinen  Schritt  weiter,  und 
wenn  ich  es  glaubte,  belog  ich  mich.  Die  Phantasie 
einer  leidlich  geübten  malerischen  Anschauung  kann 
mir  wohl  die  Körper  schöner  Frauen  vor  die  Sinne 
zaubern,  eine  krampfhafte  Anstrengung  des  Willens 
kann  mich  sogar  ihren  sinnlichen  Reiz  im  Spiegelbild 
ahnen  lassen."    (S.  48.) 

Die  Notwendigkeit  eines  Erfolgs  wird  dringend,  da  das 
Semester  zu  Ende  geht  und  der  Student  zu  seihen  Angehörigen 
abreisen  muß. 

Prof.  W.  wird  die  entscheidende  Suggestion  vornehmen. 

„Die  entscheidende  Suggestion  soll  mich  befähigen, 
Mann  für  das  Weib  zu  sein.  Meine  letzte  Nacht  in 
dieser  Stadt,  die  Geburtsnacht  meiner  Männlichkeit,  sie 
soll  mir  das  erste  Abenteuer  bringen.  Ob  jemals  in 
kühnen  Zeiten  ein  irrender  Ritter  stärkeren  Mutes  be- 
durfte, ein  Abenteuer  zu  bestehen?  Kann  es  möglich 
sein,  ein  so  ganz  Anderer  zu  werden,  daß  ich  das  ver- 
gesse, was  mich  jetzt  mit  Glut  erfüllt,  daß  ich  aus 
meinem   Ekel  meine  Wollust  mache?"    (S.  58.) 

Die  Suggestion  mißglückt,  die  entscheidende  Wendung  tritt 
nicht  ein.    Der  Student  will  nunmehr  sich  töten. 

„Ich  wollte  vor  der  Lüge  fliehen,  und  vor  ihr  bin 
ich  nur  im  Tode  sicher.  Lüge  war  mein  ganzes  früheres 
Leben  gewesen.  Was  ich  fühlte,  das  Beste  in  mir, 
mußte  ich  verbergen,  nur  gegen  mich  selbst  durfte  ich 
wahr  sein. 

Und  nun  —  als  ich  die  Wahrhaftigkeit  suchte,  geriet 
ich  in  eine  neue,  viel  größere  Lüge;  jetzt  belog  ich 
mich  selbst.  Pfui  der  qualvollen  Anstrengungen,  meine 
Seele  mit  dem  zu  kitzeln,  was  sie  anwidert!  Pfui  der 
erlogenen  Hoffnung  auf  ein  neues  Leben,  in  dem  ich 
nicht  mehr  ich  wäre!  Ich  hatte  mich  selbst  verleugnet; 
der  Tod  sollte  mir  Strafe  und  Erlösung  sein.  Das  sah 
ich  jetzt  klar:  als  lebender  Mensch  konnte  ich  niemals 
anders  werden.  Ich  will  sein  dürfen,  wie  ich  bin  .  .  . 
Wir  sind  in    uns   genug   runde,    volle    Naturen.    Wir 


—    1081     — 


brauchen  nicht  weiter  zu  scharfen,  weil  wir  das  Ziel  des 
Geschaffenen  sind  .  .  .  Wir  wollen  Gipfel  und  Grenzen 
der  Menschheit  sein."    (S.  62  flgd.) 
Er  will  sterben  weil  er  „sich  selbst  verachtet". 
Schon  hat  er  den  Revolver  in  der  Hand,  da  tritt  Alfred  P.  ein. 
„Er  sah  wohl  mein  Leid,  meine  Gefahr  —  mit  einem 
Griff  hatte  er  die  Waffe  entfernt  und   glitt  an   meiner 
Seite    nieder,    mit    seinen   Armen    meinen    Leib    um- 
schlingend." 

„Da  schwand  die  ganze  Welt  und  einsam  und  einzig 

blieben    wir,    ein    eng   umschlungenes   Menschenpaar, 

eine   ungeheure,  unbegreiflich  wundersame  Liebe,  eine 

neue  Welt."     (S.  66.) 

Am  nächsten  Tage  muß  der  Student  zu  seinen  Angehörigen 

abreisen. 

Die  zwei  Monate  Ferien  lebt  er  nur  in  Gedanken  an  Alfred 
und  nährt  sich  von  seinen  täglichen  Briefen,  von  den  Ver- 
sicherungen seiner  Liebe,  seiner  Treue.  Allmählich  werden  die 
Briefe  seltener  und  weniger  stürmisch. 

Als  die  Freunde  sich  wiedersehen,  ist  Alfred's  Benehmen 
geändert.    Er  zeigt  nur  freundliche  Gleichgültigkeit. 

Aussprache  zwischen  den  Freunden.  Alfred  liebt  in  seiner 
Art,  aber  nicht  mit  dem  lodernden  Feuer,  der  himmelstürmenden 
Glut  des  Freundes.  In  die  Liebe  des  Studenten  zu  Alfred  mischt 
sich  Verachtung,  nachdem  er  die  Schmach  erlebt,  sein  Heiligstes 
weggeworfen  zu  haben.  Und  trotz  dieser  Verachtung  geschieht 
es,  daß  er  sich  dem  Geliebten  völlig  hingibt. 

„Was  nie  geschah  so  lange  unsere  Leidenschaft  neu 
und  stark  loderte,  ist  jetzt  in  Müdigkeit  geschehen;  wir 
sind  zusammen  in  den  Schlamm  getaucht.  Unsere 
Leiber  haben  sich  beschmutzt.  (S.  79.) 

„Was    ich  nur   dem    Freiesten    geben    dürfte,   dem 
König,   der  mit  mir  die  Welt  eroberte,   um   den  Thron 
mit  dem  Freund  zu  teilen  —  ich  habe  es  ihm  gegeben 
in  dem  Augenblick,   da  ich  anfing,   ihn   zu  verachten. 
So  muß  ich  denn  sterben.    (S.  80.) 
Der  Brief,  den  der  Selbstmörder  für  seinen  Freund  zurück- 
gelassen, wird  im  Anhang  mitgeteilt. 

Was  er  ihm  zu  sagen  hat,  hat  er  in  eine  Erzählung 
symbolistisch  eingekleidet: 

Er  erzählt  ihm  die  Geschichte  eines  chinesischen  Madarinen, 
der  einer  ausländischen  Bajadere  zu  Liebe  seinen  Zopf  abschneidet 
und  nachher,  nachdem  die  Geliebte  zur  Prostitution  zurück- 
gekehrt, sich  an  seinem  Zopf  aufhängt. 


—    1082    — 

Den  Widerhall  der  homosexuellen  Zwangslage  auf 
einen  zartbesaiteten,  feinfühligen  Uranier  hauptsächlich 
von  einer  Seite  beleuchtend,  die  Seelenqualen  des 
Beeiden  unter  besonderem  Gesichtswinkel  betrachtend, 
hebt  der  Verfasser  eine  Wirkung  unter  den  zahlreichen 
unheilvollen  Ausflüssen  der  peinlichen  Situation  des 
Homosexuellen  hervor:  die  Last  der  Lüge  und  Heuchelei, 
welche  den  ideal  angelegten,  wahrheitsliebenden  Uranier 
bedrückt 

Nicht  an  der  Qual  der  Nichtbefriedigung  sinnlicher 
Bedürfnisse  leidet  der  „neue  Werther",  sondern  an  edleren 
Leiden.  Der  Zwang  zur  Lüge,  die  Notwendigkeit  der 
Verstellung  und  Unwahrheit  foltert  ihn.  Nicht  deshalb, 
weil  seine  Leidenschaft  vom  Durchschnitt  abweicht,  fühlt 
er  sich  unglücklich,  sondern  wegen  des  heuchlerischen 
Versteckspiels,  zu  dem  er  genötigt,  wegen  der  Maske, 
die  er  zur  Schau  tragen  muß. 

Um  dieser  Lüge  zu  entgehen,  um  Reinheit  und  Wahr- 
heit zu  erlangen,  deswegen  allein  wendet  er  sich  an  einen 
Arzt,  unterwirft  sich  einer  „Heilung"  versprechenden 
Behandlung. 

Aber  er  fühlt,  daß  er  nur  die  Lüge  wechseln,  daß  er 
seinem  Innersten  fremde  Gefühle  an  Stelle  seiner  natur- 
gemäßen Instinkte  eintauschen  würde. 

Deshalb  wird  bei  seiner  wahrheitsliebenden  Natur 
auch  die  Hypnose  keinen  wirklichen  Erfolg  erzielen 
können.  Die  entscheidende  Suggestion,  welche  ihm  eine 
fremde  Gefühlswelt  aufdrängen  soll,  wird  an  seiner  Wahr- 
heitsliebe, an  seiner  eingewurzelten  Eigenart  scheitern. 

Neben  dem  Motiv  „Haß  gegen  Lüge  und  Heuchelei" 
wird  in  der  zweiten  Hälfte  und  am  Ende  der  Novelle 
ein  anderes  Motiv  in  den  Vordergrund  gestellt,  das 
Motiv  „des  Sichselbsttreubleibens".  Nachdem  die  Heil- 
ung mißglückt,  sind  es  nicht  das  Bewußtsein  und  die 
Verzweiflung,  zur    fortdauernden    Lüge    und    Heuchelei 


—    1083    — 


gezwungen  zu  sein,  sondern  die  Scham  und  Rene,  sich 
zu  einem  Versuch  der  Änderung  der  homosexuellen  an- 
geborenen Natur  hergegeben  zu  haben,  welche  ein  erstes 
Mal  den  Helden  zur  Pistole  greifen  lassen. 

Um  den  Selbstmordversuch  aus  diesem  Motiv  heraus  er- 
klärlich  zu  machen,  legt  Verf  asser  seinemHelden  eine  Verherr- 
lichung seiner  homosexuellen  Individualität  in  den  Mund, 
einen  Panegyrikus  der  als  höheres  Gefühl  empfundenen 
homosexuellen  Eigenart.  Aber  trotzdem  erscheint  die  Be- 
gründung des  Selbstmordversuchs  aus  diesem  Motiv  der 
Untreue  gegen  sich  selbst  unzulänglich. 

Noch  unbefriedigter  wirkt  beim  Selbstmord  am 
Schlüsse  die  Verwendung  des  gleichen  Motivs,  welches 
dort  in  etwas  anderer  Gestaltung  auftritt.  Der  Held 
tötet  sich,  weil  er  seinem  hohen  Ideal  einer  wahren 
Liebe  untreu  geworden,  weil  er,  nachdem  Liebe  und 
Hochschätzung  gegenüber  dem  unwürdigen  Freund  ge- 
schwunden, von  dem  Taumel  vorübergehender  Sinnlich- 
keit ergriffen,  zu  einem  sinnlichen  Verkehr  ohne  echte 
Liebe  sich  hinreißen  ließ. 

Er  scheidet  aus  dem  Leben,  weil  er  fürchtet,  auch 
fernerhin  nicht  die  Kraft  zu  besitzen,  dem  grobsinnlichen 
Reiz  zu  widerstehen  und  seiner  edleren  Natur,  seiner 
idealen  Lebens-  und  Liebesauffassung  treu  zu  bleiben. 

Der  Charakter  des  Helden  ist  zwar  von  vornherein 
als  ein  idealer  gezeichnet,  nichts  desto  weniger  bleibt  das 
ungenügend  entwickelte,  unvermittelt  auftretende  Motiv 
zum  Selbstmord  überraschend. 

In  Konsequenz  des  Hauptgedankens  der  Novelle  und 
ihrer  psychologischen  Ausgangspunkte  hätte  man  einen 
Selbstmord  aus  Gram  über  den  Mißerfolg  des  Heilungsver- 
suchs und  aus  Verzweiflung  über  das  nach  kurzem  Glück  un- 
entrinnbare Zurücksinken  in  die  homosexuelle  Zwangs- 
lage   erwartet,    eine  Motivierung,    die    übrigens    aus    der 


—    1084    — 

symbolischen  Schlußerzählung  hervorzugehen  scheint,   in 
der  Novelle  selbst  aber  nicht  zum  Ausdruck  kommt. 

Die  gerügten  Mängel  werden  aufgewogen  durch 
schöne  Vorzüge:  interessante  Schilderung  der  Wirkungs- 
losigkeit einer  hypnotischen  Kur  —  nicht  grob  effekt- 
voll, sondern  psychologisch  begründet  —  verständnisvolle 
Darstellung  seelischer  Stimmungen  und  feine  Schattierung 
homosexuellen  Leids. 
Pugnator:    Triumph  der  Liebe.    Aus  den  Papieren 

eines  Geächteten.     (Leipzig,  Verlag  Spohr,  1902). 

Die  Erzählung  ist  in  Tagebuchform  eingekleidet. 
Ein  Jüngling,  Anfangs  der  zwanziger  Jahre,  wird  von   einer 
innigen,  tiefen  Zuneigung  zu  einem  elfjährigen  Knaben  ergriffen. 
Der  Gedanke  an  das  geliebte  Kind  verläßt  ihn  nicht  mehr. 

Er  wird  mit  der  Familie  des  Knaben  bekannt.  Seine  Liebe 
ist  eine  völlig  reine  und  ideale. 

„Mein  Gebet  war  nur  ein  Gedanke  des  Glücks  und 
ein  Wunsch  des  Heiles  für  die  Zukunft.  Ich  denke  mir, 
mein  Liebling  wird  älter,  reifer  an  Körper  und  Seele; 
seine  Liebe,  jetzt  noch  unbewußte  Anhänglichkeit  an 
den,  der  ihm  Angenehmes  tut,  wird  bewußtes  Hingeben 
an  den  Freund,  an  den  Geliebten!  Eine  Seele,  ein  Herz 
werden  wir  sein,  eins  in  der  Arbeit,  in  der  Ruhe,  in  den 
höchsten  Momenten  glühenden  Lebens!"  (S.  7.) 
Der  Jüngling  darf  mit  dem  Knaben  eine  Nacht  im  gemein- 
samen Bett  zubringen.    Er  empfindet  unendliches  Glück : 

„Und  doch,  trotz   allen  Stürmen   der  Leidenschaft, 
keine  geschlechtlichen   Begierden,  im  Gegenteil  würde 
es  mir  wie  ein  mörderisches  Verbrechen  vorkommen, 
mein  höchstes  Heiligtum  zu  entweihen."    (S.  15.) 
Fünf  Jahre   vergehen.      Der   Liebhaber,    der   vor   dem  2. 
juristischen  Examen   steht  und   inzwischen  von   dem  geliebten 
Knaben  getrennt  war,   sieht  ihn  als  16jährigen  Jüngling  wieder. 
Seine  Liebe  dauert  fort  und  entbehrt  jetzt  auch  nicht  des  sinn- 
lichen Charakters. 

Um  dem  schmächtigen  und  blassen  Gymnasiasten,  der  der 
Junge  geworden,  einen  Aufenthalt  in  der  Sommerfrische  zu  er- 
möglichen, verschafft  ihm  der  Liebhaber  das  dazu  nötige  Geld, 
das  er  durch  Übersetzung  der  amores  Lucian's  sich  verdiente. 
Die  Veröffentlichung  dieser  Übersetzung  zieht  ihm  jedoch  eine 
Verfolgung   wegen    Verbreitung    einer    unzüchtigen    Schrift   zu. 


1085     — 


Da  gelegentlich  einer  aus  diesem  Anlaß  bei  dem  jungen  Juristen 
vorgenommene  Haussuchung  verschiedene  Photographien  des 
Knaben  mit  Widmung  gefunden  werden,  wird  er  wegen  des  Ver- 
dachts unzüchtiger  Handlungen  mit  einem  Knaben  unter  14  Jahren 
verhaftet.  Mangels  Beweises  wird  er  bald  wieder  freigelassen, 
aber  seine  juristische  Zukunft  ist  zerstört.  Er  wird  Hauslehrer 
in  der  Familie  des  geliebten  Walther.  Auf  alle  mögliche  Weise 
sucht  er  ihm  seine  Liebe  zu  erweisen.  Der  Junge  zeigt  sich  aber 
kühler  wie  früher.  Die  geringsten  Zärtlichkeiten  des  Andern,  auch 
den  bloßen  Kuß,  weist  er  zurück,  und  als  dieser  ihm  offen  seine 
glühende  Leidenschaft  gesteht,  vermag  ihm  der  ähnlicher  Gefühle 
unfähige  Junge  nur  Mitleid  aber  keine  Liebe  entgegenzubringen. 
Nach  hartem  inneren  Kampfe  findet  der  Liebhaber  die  Kraft  der 
Entsagung.  Er  will  glücklich  sein  im  Gefühl  seiner  Liebe  auch 
ohne  Erwiderung. 

Ja  er  bringt  es  über  sich,  von  Walther  sich  zu  trennen  und 
eine  auswärts  ihm  angebotene  Redakteurstelle  anzunehmen,  welche 
ihm  gestatten  wird,  für  den  Geliebten  das  Nötige  zu  seiner 
Unterstützung  und  seinem  Studium  zu  verdienen. 

In  einem  Nachwort  sagt  Pugnator,  der  Verfasser  des  Tage- 
buchs sei  im  Laufe  des  Sommers  1902  gestorben,  die  letzten 
8  Jahre  habe  er  Gelegenheit  gehabt,  ihn  zu  beobachten. 

Derselbe  habe  stets  gearbeitet,  sich  selbst  niemals  das  Ge- 
ringste gegönnt  und  nur  für  den  Geliebten  gelebt.  Diesen  habe 
er  studieren  lassen  und  völlig  für  ihn  gesorgt,  trotzdem  er  stets  nur 
kurze  Briefe  von  ihm  erhalten.  Vor  einem  Jahre  habe  der  Geliebte 
sein  letztes  Examen  bestanden  und  sei  in  einer  Klinik  in  Wien  ange- 
stellt worden.  Seitdem  sei  der  unglückliche  Freund  wie  abgemattet 
gewesen  und  habe  oft  gesagt,  nun  dürfe  er  ruhen,  sein  Lebenszweck 
sei  erfüllt.  Als  er  erkrankte,  habe  er  absichtlich  seinen  Walther  nicht 
rufen  lassen.  In  seinem  Testament  habe  er  1000  Mark  zum  Ankauf 
eines  Hochzeitsgeschenks  für  seinen  Liebling  bestimmt.  Pugnator 
schließt  mit  den  Worten:  „Unter  den  vielen  Tausenden  findet  sich 
vielleicht  doch  einer  oder  der  andere,  der  meinen  Freund  ver- 
steht und  sich  vielleicht  beschämt  sagt:  „Welch  ein  Mensch, 
dieser  Paria!" 

Die  Fähigkeit  der  Homosexualität  zu  höchster 
Tugend,  aufopfernder  Hingabe,  selbstlosester  Liebe  und 
heroischer  Überwindung  der  Sinnlichkeit  wird  von  Pu- 
gnator in  einer  Weise  vor  Augen  geführt,  daß  man  das 
Werkchen  gleichsam  als  concretes  Beispiel  für  die  Aus- 
führungen betrachten  kann,  die  in    dem  Schriftchen  von 


—    1086    — 

Reiffegg  „die  Bedeutung  der  Jünglingsliebe  für  unsere 
Zeit1)*  entwickelt  sind.  Zeitigt  doch  das  Verhältnis  des 
Helden  zu  seinem  Walther  alle  die  edlen  Früchte,  die  das 
genannte  Schriftchen  von  homosexuellen  Bündnissen  erhofft. 

Zu  diesem  Charakter  der  Novelle  steht  allerdings 
der  Anfang  der  Liebe  des  Helden  in  Widerspruch,  da 
seine  Leidenschaft  zu  einem  11jährigen  (!)  Knaben  ent- 
facht wird. 

Obgleich  diese  Neigung  zu  dem  Kind  als  rein  und 
laptonisch  geschildert  wird  und  erst  gegenüber  dem 
geschlechtsreifen  Jüngling  einen  sinnlicheren  Anstrich 
erhält,  so  wird  doch  sowohl  der  hetero-,  als  auch  der 
homosexuelle  Leser  durch  diese  Liebesergüsse  gegenüber 
einem  Knaben  unsympathisch  berührt,  namentlich,  weil 
man  den  Eindruck  gewinnt,  als  ob  Pugnator  diese 
Pädophilie  als  ein  den  Homosexuellen  gewöhnliches  und 
natürliches  Gefühl  darstellte. 

Tatsächlich   ist    aber   dieses  Liebesgefühl   zu  einem 
unreifen  Knaben  regelmäßig  den  Homosexuellen  ebenso 
fremd,   wie    die  Vergötterung   eines    unreifen  Mädchens 
den  Heterosexuellen. 
Walloth,  Wilhelm:  Ein  Sonderling,  Roman  aus  der 

italienischen  Renaissance  (Leipzig,  Lotus- Verlag)  1901. 

Der  Roman  spielt  in  der  Renaissancezeit  am  Hofe  des 
Herzogs  von  Rimini.  Die  Trauung  des  Sohnes  des  regierenden 
Herzogs,  Giovanni  Malatesta,  mit  Francesca  soll  vollzogen  werden. 
Alle  Hochzeitsgäste  sind  versammelt,  nur  der  Bräutigam  wird  ver- 
mißt. Sein  junger  Freund  und  Schützling,  der  Goldschmied  Gaddi, 
findet  ihn  im  Park  von  tiefer  Gemütserschütterung  überwältigt. 
Nur  zögernd  hat  Giovanni  der  Verlobung  zugesagt,  jetzt  erfüllt 
ihn  mit  Schaudern  der  Gedanke,  ewig  an  ein  Weib  gefesselt  zu 
werden.  Vergeblich  führt  ihm  Gaddi  die  Schönheit  seiner  Braut 
vor  Augen. 

„Er  fühle,"  bemerkt  Giovanni,  „daß  er  nur  zur  edel- 
sten Art  der  Freundschaft  geschaffen  sei,  die  Liebe 
mit   ihrer  düsteren  Extase    setze    herab,    mache    den 


*)  Siehe  oben  Kapitel  I.    J 


—    1087     — 


Geistvollen  dem  Dummen  völlig  gleich.  Er  könne 
kaum  ausdrücken,  wie  sehr  es  ihn  anekle,  da  Lieb- 
kosungen verschwenden  zu  sollen,  wo  er  höchstens 
achte  —  nie  liebe!  Man  besinge  und  male  freilich 
vor  allem  die  Reize  des  Weibes  —  er  aber  finde, 
daß  diese  Reize  nur  in  der  Einbildung  solcher  vor- 
handen seien,  die  nicht  gewohnt  seien,  tiefer  über  die 
Dinge  nachzudenken,  sondern  sich  blind  ihrem  geist- 
losen Instinkt  überließen.  Was  er  von  diesen  „Reizen0 
kennen  gelernt,  habe  ihm  die  Oberzeugung  beigebracht, 
der  Schöpfer  habe  im  Weib  ein  untergeordnetes  Wesen 
scharfen  wollen.  In  der  ganzen  Natur  sei  stets  das 
Männliche  reicher  begnadet,  als  das  Weibliche.  Am 
genauesten  könnten  wir  das  dort  beobachten,  wo 
unser  Urteil  gewiß  nicht  bestochen  werde  —  beim 
Tier!  Der  Hengst  sei  gewiß  schöner  als  die  Stute,  der 
Löwe   schöner  als   die  Löwin,  der  Hahn   schöner  als 

die  Henne "     (S.  15). 

Mit  derartigen  Gefühlen  führt  er  unter  heuchlerischer  Maske 
seine  Braut  zum  Altar. 

„Anfangs  empfand  er  seine  junge  Frau  neben  sich 
wie   ein   ihm  völlig  fremdes   Wesen,   wie   einen   Eis- 
block,  der  Kälte  auf  ihn  überströmte,   erst  als  sie  von 
der  Feierlichkeit  ergriffen  leise  vor  sich  hinweinte,  fühlte 
er  sich  menschlich    zu  ihr  hingezogen.    Er  fing  an  sie 
zu  bedauern,  weil  sie  ihn  zum  Gatten  erhalten/"  (S.  22). 
Abends,  als  er  sich  mit  Francesca  in  seine  Gemächer  zurück- 
zieht, werden  ihm  von  seinem  Erzieher  zwei  wertvolle  Geschenke 
dargereicht,  die  Erzstatue  eines  antiken  Faunes,  ein  Meisterwerk 
griechischer  Kunst,   und  eine  wertvolle   alte   Handschrift.     Sein 
aufs   höchste  gesteigertes   Interesse  und  der  ästhetische  Genuß 
lassen   ihn   seine  junge   Frau   vergessen,  welche   ihrerseits  die 
künstlerische  Begeisterung  und  die  philosophischen  Betrachtungen 
ihres  Gatten  nicht  versteht.    Gekränkt  zeigt  sie   ein   kühles  Be- 
nehmen, das  Giovanni  wieder  als  Ausfluß   weiblicher  Anmaßung 
und  Herrschsucht  auffaßt.    Ihre  Schönheit  vermag  nicht  den  sich 
einschleichenden  Mißton  zwischen  beiden  zu  beseitigen. 

„Er  mußte  sich  gestehen,  daß  sie  schön  sei  — 
ihn  aber  fröstelte  bei  dem  Anblick  dieser  Schönheit, 
vergebens  suchte  er  in  seinem  Innern  und  suchte  nach 
jenem  Funken,  der  den  Mann  so  gewaltig  im  Weibe 
sich  verzehren  läßt.  Je  deutlicher  er  es  sich  ausmalte, 
er  solle  nun  diese  ein  wenig  verdrossen  emporgezoge- 
nen Lippen  mit  den  seinen  berühren,  desto  kälter 
stieß  ihn  ein  inneres  Grauen  zurück."    (S.  30). 


h^ 


—    1088    — 

Francesca  fühlt,  daß  ihr  Gatte  sie  nicht  liebt;  Giovanni  ge- 
steht ihr  selbst  zu,  daß  er  sie  nur  achte  und  schätze:  In  lehr- 
haftem Ton  setzt  er  ihr  auseinander: 

„Ich  weiß  sehr  wohl,  daß  ich  nicht  bin  wie  Andere 
—  ja,    ich  weiß  sogar,   ich  bin  mir  selbst  ein  Rätsel. 
Meine  Neigung  zur  Melancholie  ist  so  groß,   daß  sie 
mir  jeden  alltäglichen  Lebensgenuß   verdirbt.     Zudem 
denke  ich  über  „das  Weib"  anders  wie  Andere.     Mir 
steht  das  Weib    auf  Erden  so   hoch,   das   Duldende, 
Hingebende   im   Charakter  des  Weibes  flößt  mir  eine 
solche   Ehrfurcht  ein,   ich   habe   so  viel  Achtung  vor 
der   erlösenden  Mission   des  Weibes,   daß    diese  An- 
betung in  mir  jedes  Gefühl   vor  irdischer  Annäherung 
erstickt.  Ich  sehe  in  jedem  Weib  eine  Madonna,  dessen 
Leib   durch  die  Liebe  entweiht  würde."    (S.  30). 
Francesca   dankt  ihm  spöttisch  für   diesen  Einblick  in  sein 
Seelenleben,  sie  begreift  ihn  kaum  und  beginnt  an  seiner  gesunden 
Vernunft  zu  zweifeln.    Tief  beleidigt  begibt  sie   sich  in  ihre  Ge- 
mächer. 

Die  beiden  Gatten  leben  nunmehr  völlig  getrennt. 
Als  Francesca  sich  dauernd  vernachlässigt  sieht,  greift  ein 
stummer  Unmut  in  ihr  Platz,  der  allmählich  in  verstockten  Haß,  ja 
in  Verachtung  überging.  Giovanni  gibt  sich  völlig  seinen  künst- 
lerischen und  philosophischen  Bestrebungen  hin,  die  Neigung  zu 
Gaddi  übt  immer  mehr  Einfluß  auf  ihn  aus. 

„Tagelang  sah   der  Prinz    seinem   Günstling    beim 
Arbeiten  zu,   ritt  mit  ihm  spazieren,   musizierte,   malte 
mit  ihm,   kurz,   ging  ganz  in  einem   in  Kunstgenüssen 
schwelgenden  Leben  auf,  das  durch  seine  phantastischen 
Ausschreitungen   oft  genüg  bei  den  nüchtern  denken- 
den Bürgern  Rimini's  Anstoß,  bei   dem  Adel  des  Hofes 
Neid,  bei  der  Geistlichkeit  Entrüstung  erregte."  (S.  50). 
Die  Geistlichkeit  verzieh   dem   Prinzen  seinen   „Geist   am 
wenigsten",  sein  Aufrollen   religiöser  Streitfragen,  seine  Ausfälle 
gegen  ein  versteinertes  Christentum,  das  „aus  den  milden  Lehren 
des  edlen  Christus  eine  furchtbare  Foltermaschine  geschmiedet,  und 
des  Meisters  einfache  schöne  Worte  verdreht  habe,  um  die  Unglück- 
lichen noch  unglücklicher  zu  machen"  (S.  59).  Besonders  der  Bischof 
Salviati,  welcher  darnach  strebte,  Giovanni  von   der  Thronfolge 
auszuschließen,   um   dann   um   so   leichter   das  Herzogtum   dem 
Papste  in  die  Hände  zu  spielen,  sucht  gegen  Giovanni  den  alten 
Herzog  aufzuhetzen.     Dieser,  welcher  nach   einer   stürmischen 
Jugend   in   seinen   alten  Tagen   einer  weltfeindlichen  Frömmelei 
verfallen  ist,   leiht   nur  zu    willig  sein  Ohr   den  Einflüsterungen 
Salviati's  und  dessen  Anhängern.    Giovanni's  Lebenswandel  und 


—    1089    — 

seine  freien  Anschauungen,  für  welche  ihm  jedes  Verständnis 
fehlt,  sind  ihm  ein  Greuel.  Die  Feinde  Giovanni's,  darunter 
sein  eigener  Bruder  Paolo,  der  nur  an  Weibern  und 
Pferden  Gefallen  findet  und  der  verlassenen  Francesca  den 
Gatten  zu  ersetzen  strebt  —  stellen-  den  Prinzen  nicht  nur  als 
einen  Phantasten,  sondern  als  einen  halb  geisteskranken,  sogar 
gewaltsam  auf  Umsturz  sinnenden  Menschen  dar,  sodaß  der  Her- 
zog seinen  Sohn  durch  den  Anführer  der  Sicherheitswache,  den 
wegen  einer  blutigen  Niederwerfung  eines  früheren  Aufstandes 
berüchtigten  Castoro,  im  Geheimen  überwachen  läßt. 

Giovanni  erfährt  durch  Gaddi  und  den  Hofnarren,   der  ihm 
gewogen,  von  den  gegen  ihn  gesponnenen  Intriguen. 

Da  sein  eigentümliches  Verhältnis   zu  seiner  Frau,  welches 

allmählich  bekannt  wird,  und  seine  Freundschaft  zu  Gaddi  Anlaß 

zu  allerlei  Gerüchten  geben,  versucht  Giovanni  die  Öffentlichkeit 

über  seine  wahren  Gefühle  zu  täuschen,  indem  er  eine  Liebschaft 

mit  einer  Jugendfreundin  Emilia,  die  ihrerseits  ihn  liebt,  simuliert. 

„Ich  möchte  nicht,    gesteht  Giovanni   ihr  aufrichtig 

zu,  für  einen  Sonderling  gehalten  werden   —   nicht  für 

einen  Weiberfeind  —  es  ruht  nun  einmal  ein  Makel   in 

unserem  Zeitalter  auf  dem,  der  das  Weib  nicht  für  die 

Krone   der  Schöpfung  hält  —  und  sich  daher  von  ihm 

abwendet." 

Zum  Schutz  gegen  seine  Feinde  erwächst  dem  Prinzen  eine 

sichere  Hilfe   in    der  Person    des  Kastellanes  Alberto,    der   sich 

selbst   nebst  seinen  Truppen   dem  gefährdeten  Fürstensohn   zur 

Verfügung  stellt. 

Alberto  ist  Giovanni   aufrichtig  zugetan,   er   hat  Nachsicht 
mit  den  Eigentümlichkeiten  und  „Schwächen"  des  Prinzen. 

„Ich  hege  keine  Vorurteile",  sagte  er,  „ich  bin  selbst 

ein  viel  zu  großer  Verehrer  der  Kunst,  als  daß  ich  einem 

Schönheitsbegeisterten    die   Bewunderung   körperlicher 

Formen  verübeln  sollte  —  mögen  diese  nun  von  einer 

Seele   durchleuchtet  sein,   welche  es  auch   sei  .  .  .  ich 

habe  in  Rom  als  Jüngling  oft  mit  dem  göttlichen  Michel 

Angelo  geplaudert  —  ich  habe  ihm  zum  Modell  gesessen 

—  und  seine  wunderbaren  Reden  haben  mich  über  das, 

was  die  Geistlichen  menschliche  Schwächen  nennen  — 

o,  vielleicht  sind's  gar  keine  -Schwächen   —   aufgeklärt, 

aber   schweigen  wir  von    dem,  was  jeder  mit  sich  und 

seinem  Gott  abzumachen  hat."    (S.  171.) 

Seitdem    Giovanni    sich    der   Hilfe   Alberto's    und    seiner 

Truppen  sicher   weiß,   legt  er  sich   noch  weniger  Zwang  an,  er 

hält  noch  weniger  zurück  mit  seinen  freien  Anschauungen,  seinen 


—    1090    — 

Sarkasmen  und  Paradoxen.  In  Kunst  und  Philosophie  schwelgt 
er  mit  seinen  Freunden,  feierlich  läßt  er  das  Hauptwerk  Gaddi's, 
Zeus  mit  Ganymed  zu  seinen  Füßen,  zum  Entsetzen  seines  Vaters 
enthüllen. 

Vergeblich   ermahnt  ihn  der   alte  Fürst:   „Denke  an 
dein  Seelenheil,  sage  dich  los  von  diesen  üppigen  Tage- 
dieben, die  dich  zu  unerhörten  Sinnengenüssen  verführen, 
sage  dich  los  von  diesen  Bildern,  die  das  Nackte  ver- 
herrlichen, von  jenen  Versen,   die  dem  Eros  huldigen." 
(S.  183.) 
Seine  Feinde  werfen  ihm  Verschwendungssucht,  Gottesläste- 
rung,  Menschenhaß,    Weiberverachtung    vor    und    wollen    ihn 
geradezu    als   Geisteskranken    hinstellen.      Giovanni    soll  end- 
gültig vom   Arzt  des  Herzogs   auf  seinen  Geisteszustand   unter- 
sucht  und    dann  als   Irrsinniger  der   Freiheit   beraubt  werden. 
Das   Benehmen    des    Prinzen    gegenüber   dem   Arzte    und   die 
Antworten,   die    er  ihm   gibt,    betrachtet    der   Arzt    als  Äuße- 
rungen  der    Geistesgestörtheit.     Der  Arzt   hatte   Giovanni  vor- 
gehalten,  er    habe    so   gar    nichts   Ritterliches,    Männliches    in 
seiner  Lebensführung,    fast  könne  man  sagen,  sein  Denken  und 
Fühlen  sei  weibisch.    Hierauf  erklärt  ihm  Giovanni,  „Das,  was  die 
Menschheit  von  ihrer  tierischen  Rohheit  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
befreit  habe,  sei  das  Weib;  die  Liebe  zum  Weib  habe  den  rohen 
Urmenschen  allmählich  zum  Kulturmenschen  erzogen,  ja  ihn  all- 
mählich  mit  Weiblichkeit  angesteckt,   das   Menschengeschlecht 
gehe  einer  allmählichen  Verweiblichung  entgegen." 

Als  der  Arzt  sich  erdreistet,  direkt  ihn  einen  Geisteskranken 
zu  nennen,  zieht  Giovanni  das  Schwert  gegen  ihn.  Seit  dieser 
Zeit  läßt  ihn  der  Herzog  auf  Schritt  und  Tritt  beobachten  und 
Giovanni  weiß,  daß  er  bei  der  nächsten  Gelegenheit  seine  Ge- 
fangennahme und  dauernde  Einsperrung  zu  gewärtigen  hat.  Ins- 
besondere drängen  hierzu  der  Herzog,  GiovannFs  Gattin  und  sein 
Bruder  Paolo,  sowie  Bischof  Salviati.  Letzterer  hat  Giovanni 
schon  angekündigt,  daß  er  wegen  Gottlosigkeit  und  Sittenlosigkeit 
vor  das  Inquisitionsgericht  gestellt  werden  soll. 

Giovanni  beschließt  nunmehr,  seinen  Feinden  zuvorzu- 
kommen. Während  eines  vom  Herzog  veranstalteten  großen 
Staatsfestes,  an  dem  die  ganze  Hofgesellschaft  versammelt  sein 
wird,  wollen  Giovanni  und  der  Kastellan  Alberto  mit  den 
besten  Truppen  den  Herzog  und  seinen  Anhang  überrumpeln 
und  gefangen  nehmen,  worauf  der  Prinz  zum  Herrscher  von 
Rimini  ausgerufen  werden  soll.  Schon  ist  Alles  bereit  und 
Alberto's  Truppen,  die  in  den  Gärten  aufgestellt  sind,  warten  nur 
auf  das  Zeichen  Giovanni's.  Dieser  vereitelt  aber  den  Plan,  in- 
dem er  beim  Anblick  eines  unter  den  Gästen  befindlichen  Spionen, 


—    1091    — 


der  ihn  in  der  letzten  Zeit,  beobachtet  hatte,  von  plötzlicher  Wut 
ergriffen,  diesen  niedersticht.  Alles  greift  zu  den  Waffen  und 
die  günstige  Gelegenheit,  ohne  Kampf  sich  der  Feinde  Giovanni's 
zu  bemächtigen,  ist  verfehlt.  Der  Herzog  und  sein  Gefolge 
ziehen  sich  zurück,  desgleichen  Giovanni  mit  seinen  Getreuen. 
Alberto  und  Gaddi  bestürmen  ihn  nunmehr,  nicht  zu  zögern  und 
den  Kampf  zu  befehlen.  Aber  noch  schreckt  Giovanni  vor  dem 
Blutvergießen  zurück.  Da  opfert  sich  Gaddi  selbst  auf,  um  den 
Kampf  herbeizuführen.  In  Gaddi,  der  früher  mehr  aus  Eigennutz 
und  Eitelkeit  dem  Prinzen  zugetan  war,  hat  allmählich  eine  tiefere 
und  edlere  Anhänglichkeit  sich  entwickelt.  Allmählich  hat  bei 
ihm  auch  eine  gewisse  Verweiblichung  Platz  gegriffen. 

„Er  entdeckte  in  sich  eine  Art  von  Hingebung  und 
Verehrung,   die  ihm  dadurch,  daß  sie  eher  einen  weib- 
lich duldenden,  als  männlich  trotzenden  Zug  trug,  fast 
erschreckte,  obwohl  er  wußte,  daß  diese  Bewunderung 
eines  edel  veranlagten  Menschen  ihn  selbst  ehrte.    Ihm 
selbst  kam  es  fast  vor,  als  habe  er,  der   früher   leicht- 
sinnig —  oberflächlich  gewesen  —  sich  allmählich  in  eine 
Johannesnatur  verwandelt,   als   sei   das  Leben   wertlos, 
als   hätten   die  weltlichen   Genüsse   keinen  Reiz   mehr 
für  ihn.a    (S.  200.) 
Gaddi    bringt  sich    selbst   eine   Wunde    bei   und  versetzt 
Giovanni  in  den  Glauben,  er  sei  von  seinen  Feinden  angegriffen 
worden.   Jetzt,  da  sein  geliebter  Gaddi  tötlich  verwundet  worden 
ist,  zaudert  der  Prinz   nicht   länger  und   gibt   das  Zeichen  zum 
Handeln.    Die  ganze  Nacht  wütet   nun   der  Kampf.     Die   Partei 
des  alten  Herzogs  wird  besiegt.    Der  alte  Herzog  selber,    Fran- 
cesca    und    Paolo   fallen,    obgleich    Giovanni   ihren   Tod    nicht 
wollte.    Der  Sieg  hat  keinen  Wert  mehr  für  Giovanni,  da  Gaddi 
an  seiner  Wunde  erliegt;  er  hat  nicht  mehr  die   Kraft,  weiter  zu 
leben  und  nimmt    Gift.    Emilia,    seine   Jugendfreundin,    die    ihn 
leidenschaftlich  liebte,  teilt  mit  ihm  den  Giftbecher.    Das  Herzog- 
tum von  Rimini  fällt  in  die  Hände  des  Papstes,  Salviati's  Plan  ist 
gelungen;  noch  hat  der  Kampf  der  beiden  Parteien  Riminis  kaum 
ausgetobt,  als  römische  Soldaten  einziehen  und  sich  des  Herzog- 
tums bemächtigen. 

Die  sinnliche  Seite  der  Homosexualität  tritt  in  dem 
Roman  völlig  zurück,  Walloth  hat  Alles  vermieden,  was 
bei  einem  heterosexuellen  Leser  Anstoß    erregen  könnte. 

Die  Idealisierung,  welche  die  Liebe  Giovanni's  erfährt, 
hindert  aber  nicht,  daß  man  den  Pulsschlag  echter  und 
heftiger  Leidenschaft  fühlt.     Eine    weit  wichtigere  Rolle 


Jahrbuch  V. 


69 


—    1092    — 

als  die  sinnlichen  und  die  Gefühlsraomente  spielt  die  ge- 
samte homosexuelle  Eigenart  des  Helden.  Man  kann  den 
Verfasser  nur  loben,  daß  er  sich  nicht  auf  die  Schilderung 
der  geschlechtlichen  und  sentimentalen  Seite  der  Homo- 
sexualität beschränkt  hat,  sondern  die  schwierigere  Aufgabe, 
die  Darstellung  des  gesamten  Komplexes  der  eigentümlichen 
Geistesverfassung  eines  höher  gearteten,  aber  typischen 
Uraniers  zu  lösen  versuchte. 

In  allen  Reden  und  Anschauungen  des  Prinzen,  in 
seinen  künstlerischen  Excursen  und  philosophischen  Be- 
trachtungen, überall  zeigt  sich  die  homosexuelle  Individu- 
alität und  ein  Gemisch  männlicher  und  weiblicher 
Charaktere: 

Der  weiblich  bewegliche  Geist  und  der  männlich 
tiefere  Intellekt,  das  sensitive  Gemüt,  die  feminine  Ge- 
fühlsbetonung und  die  zersetzende  Ironie,  die  aphoristisch- 
sprunghafte Denkungsart,  die  lebhafte  Phantasie,  die 
künstlerische  Begabung,  das  effektvoll-rhetorische  Pathos 
und  der  hohe  Flug  der  Gedanken,  der  Mut  und  die 
Kühnheit  zu  großen  Plänen  und  die  Unentschlossenheit 
im  entscheidenden  Augenblick,  die  Schwäche  und  Zag- 
haftigkeit, wenn  es  zu  handeln  gilt. 

Und  dann  finden  sich  vor  allem  die  Züge,  von 
denen  man  nicht  sagen  kann,  welche  von  ihnen  instinktiv 
aus  der  homosexuellen  Natur  hervorwuchsen  und  welche 
zwar  aus  dem  Boden  der  uranischen  Veranlagung  ent- 
springend, doch  zum  großen  Teil  den  vielfachen  Konflikten, 
denen  die  Homosexualität  ausgesetzt  ist,  ihre  Entfaltung 
verdanken :  Die  pessimistische  Weltanschauung,  welche 
aus  dem  Schmerz  und  der  Empörung  über  die  Mißdeutung 
und  Verachtung  der  angeborenen  und  als  berechtigt  em- 
pfundenen Gefühle  fließt;  die  Menschen  Verachtung,  her- 
vorgewachsen aus  der  Tragik  ungerechter  Beurteilung 
und  törichter  Verdammung,  der  weltfeindliche  Skepticis- 


—     1093    — 


s* 


mus,  eine  Frucht  des  unverschuldeten  Leidens,  das  sich 
und  die  Welt  mit  Galgenhumor  persifliert. 

In  mancher  Beziehung  erinnert  Giovanni  an  Hamlet 
Wie  dieser  durch  die  Last  eines  furchtbaren  Ereig- 
nisses aus  seinem  seelischen  Gleichgewicht  gebracht,  zu 
grüblerischer  Weltbetrachtung  und  zu  tieferem  Erfassen 
aller  Dinge  gelangt,  so  wird  Giovanni  durch  das  Ver- 
hängnis seiner  Naturanlage  in  seinem  Innersten  aufgerüttelt, 
unter  dem  Einfluß  seiner  verkannten  Eigenart  und 
der  Feindschaft,  der  er  überall  begegnet,  zu  Sarkasmus 
und  Pessimismus  gedrängt,  so  bildet  sich  aber  auch 
bei  ihm  die  Fähigkeit  aus,  allen  Dingen  den  tieferen  Sinn 
abzugewinnen,  die  Mängel  und  Fehler,  die  Schattenseiten 
bloß  zu  legen  und  schonungslos  zu  geißeln.  Rächt  er 
sich  doch  gleichsam  für  den  Haß  seiuer  Feinde  und  die 
Verfehmung  seiner  Eigenart  durch  die  Zersetzung  und 
Zerstörung  aller  Vorurteile,  durch  rücksichtslose  Verfol- 
gung von  Unverstand  und   Heuchelei. 

So  ist  Giovanni  zugleich  ein  Vorkämpfer  freiheitlicher 
Ideen,  fortgeschrittener  Weltanschauung,  wie  denn  über- 
haupt ein  zweiter  Hauptgrundzug  dieses  homosexuellen 
Romans  in  dem  Kampf  gegen  Intoleranz,  Engherzigkeit 
und  religiösen  Fanatismus,  in  dem  Sichauflehnen  eines 
kühnen  Geistes  gegen  ein  reaktionäres,  in  mittelalterlichen 
Vorurteilen  befangenes  Milieu  zu  suchen  ist. 

Der  Roman  will  des  Weiteren  noch  etwas  Anderes 
sein,  nämlich  ein  Zeitgemälde  der  Renaissance;  in  der 
Schilderung  mancher  Personen  und  in  zahlreichen  äußeren 
Einzelheiten  ist  das  Colorit  der  Zeit  gut  getroffen.  Doch 
habe  ich  das  Gefühl  eines  gewissen  Anachronismus  em- 
pfangen, insofern  die  bigotte,  kleinbürgerliche  Atmosphäre, 
in  der  Giovanni's  Feinde  und  Verwandte  leben,  insofern 
ihr  ausgesprochener  Haß  gegen  jede  Geistesfreiheit  nicht 
völlig  zu  jener  gewaltigen  Epoche  zu  passen  scheint,  wo 
Kunst  und  Wissenschaft  neu  aufblühten,  wo  Lebensgenuß 

69* 


L 


—     1094    — 

und  Sinnesfreude  ungehemmt  sich  entfalteten,  und  selbst 
ein  großer  Teil  der  Geistlichkeit  auch  über  die  geschlecht- 
lichen Triebe  milder  dachte,  zu  jener  Zeit,  von  welcher 
noch  jetzt  Bauten  und  Gemälde  Zeugnis  der  herrschenden 
Pracht-  und  Prunkliebe  ablegen. 

Die  Handlung  ist  fesselnd  und  interessant,  sie 
zeigt  am  Beginn  dramatische  Intensität  und  am  Schluß 
wirkungsvolle  Tragik,  dagegen  ist  in  der  Mitte  des  Romans 
der  Aufbau  nicht  einwandsfrei. 

Der  Charakter  des  Helden  wird  in  verschiedenen 
Episoden  und  zahlreichen  Gesprächen  breitgelegt,  ohne 
daß  die  etwas  zerfließende  Handlung  fortschreitet. 

Manchmal  sind  die  Motive,  welche  die  Personen 
leiten,  etwas  unklar,  den  Haß  und  die  Feindschaft  der 
Umgebung  Giovannis  müssen  wir  mehr  dem  Verfasser 
aufs  Wort  glauben,  als  daß  sie  eingehender  begreiflich 
gemacht  würden. 

Oft  gewinnt  man  den  Eindruck,  als  habe  Walloth 
über  der  eingehenden  Schilderung  des  Helden  den 
Zusammenhang  mit  dem  Ganzen  außer  Acht  gelassen 
und  vergessen,  den  Faden  der  Handlung  straffer  zu  ziehen. 
Das  Zerfließen  der  Handlung  paßt  andererseits  gerade  zu 
der  Disharmonie  des  Helden  selbst,  vermehrt  noch  mehr 
die  Empfindung  des  Zerklüfteten  und  Zerrissenseins,  das  den 
Helden  selbst  erfüllt.  Das  schöne  Ebenmaß,  dem  man 
in  Walloth's  „Paris,  der  Mime*  begegnet,  fehlt  im 
„Sonderling";  was  aber  letzterer  Roman  an  Glätte  und 
Formvollendung  verliert,  gewinnt  er  an  größerer  Charakte- 
ristik, Gedankentiefe  und  temperamentvoller  Darstellung. 

Walloth  hat  sich  derart  in  seinen  Helden  hinein- 
gelebt, daß  er  in  manchen  Stellen,  in  den  Ausfällen,  die 
er  seinem  Giovanni  in  den  Mund  legt,  die  ästhetische 
Grenze  überschreitet,  daß  er  sich  von  seinem  Temperament 
zu  weit  fortreißen  läßt  und  auch  in  gewissen  Ausdrücken 
und  Wendungen    einen    verfeinerten  Geschmack  verletzt. 


4 

4 


1095    — 


Der  Sonderling  ist  ein  ernstdurchdachtes,  mit  Über- 
zeugung und  Kraft  geschriebenes  Werk,  das  auch  besonders 
heterosexuelle  Leser  wegen  des  eigenartigen  homosexuellen 
Helden  mit  Nutzen  und  Interesse  lesen  werden. 

Übersetzungen    von    Eekhoud's    Escal-Vigor    und 
Petronius'  Satyricon. 
Eekhoud,    Georges:    Escal-Vigor.       Deutsch    von 

Meienreis,  ßichard  Dr.  (Verlag  Spohr  1902.) 

In  dem  Jahrbuche  II  S.  275  habe  ich  ausführlich 
die  Bedeutung  dieses  schönen  Romans  hervorgehoben  und 
eine  Charakteristik  desselben  gegeben. 

Auch  in  der  recht  guten  deutschen  Übersetzung  von 
Meienreis  kann  man  die  Vorzüge  des  Werkes  vollauf 
würdigen.  Wenn  auch,  wie  fast  unvermeidlich,  die  Ur- 
sprünglichkeit, die  Farbe  und  das  Colorit  des  Original* 
in  der  Übersetzung  etwas  Einbuße  erleiden,  so  hat  doch 
Meienreis  die  sehr  großen  Schwierigkeiten  in  der  Wieder- 
gabe des  eigenartigen  Stiles  und  der  individuellen  Aus- 
drucksweise Eekhoud's  im  Allgemeinen  sehr  glücklich  über- 
wunden und  im  großen  und  ganzen  den  urwüchsigen 
vlämischen  Erdgeruch  nicht  verwischt.  Manches  ist 
ihm  trefflich  gelungen,  stellenweise  hat  er  überraschend 
glückliche,  dem  Original  adäquate  Wendungen  und  Worte 
gebildet.  Besonders  gut  geraten  ist  die  wilde  packend*1 
Schlußszene,  sowie  die  in  schwungvolle  Sprache  über- 
tragene Erzählung  des  feurigen  Hirten,  in  welcher  der 
Held  seinem  Geliebten  das  Bekenntnis  seiner  Leiden- 
schaft ablegt. 

Manchmal  hätte  ich  etwas  weniger  Auflösung  des 
Satzes  in  Nebensätzchen,  mehr  die  das  Original  aus- 
zeichnende Präzision  und  Concision  gewünscht,  auch 
wäre  besser  ein  allzuöfterer  Gebrauch  von  trockc- 
Zeitwörtern     wie     -sein,     vorhanden 


nen 


sein" 


ver- 


mieden  worden.      Allerdings  nur    stellenweise    —   leider 
gerade    auf    den    ersten    Seiten  —  fallen    diese    kleinen 


—    1096    — 

Mängel  auf.  An  dem  Gesamteindruck  ändern  sie  wenig. 
Dem  glücklichen  Übersetzer,  der  auch  Möller's  „Nina" 
dem  Deutschen  zugänglich  gemacht,  darf  man  Dank  zollen 
für  die  Art  und  Weise,  wie  er  die  nicht  leichte  Aufgabe 
gelöst  hat,  um  dem  deutschen  Publikum  die  Kenntnis 
des  belgischen  Meisterwerkes  zu  vermitteln. 

Tailhade,  Laurent:  Le  Satyricon  de  Patrone, 
traduction,  (Paris,  Charpentier,  1902). 
Der  berühmte  älteste  Roman,  in  welchem  ein  Sitten- 
bild des  Tiberius  und  besonders  auch  die  mit  einer 
Selbstverständlichkeit  und  Kühnheit  sondergleichen  ge- 
schilderten homosexuellen  Liebesabenteuer  in  packendster 
Realistik  entrollt  werden,  hat  in  Tailhade's  Übersetzung 
eine  unverfälschte  vollständige  wörtliche  Übertragung 
ins  Französische  gefunden.  Ich  habe  den  lateinischen 
Text  nicht  zur  Hand;  glaube  aber  annehmen  zu  dürfen, 
daß  Tailhade  Ton,  Stil,  und  Sprache  der  zahlreichen 
Typen  des  Romans  völlig  richtig  getroffen  hat.  Denn 
alle  eigenartigen  und  charakteristischen  Eigenschaften 
des  Stils  und  der  Sprechweise,  die  dem  Original  nach- 
gerühmt werden,  (z.  B.  in  Huysmans'  „A  Rebours"  s. 
40 — 42)  finden  sich  jedenfalls  in  der  Übersetzung.  Sie 
scheint  mir  eine  bedeutende  Leistung. 

Über  seine  Übersetzung  sagt  Tailhade    in    der  Ein- 
leitung unter  Anderem: 

„Da  wo  Petronius  Kerle  sprechen  läßt,  die  aus  der 
Hefe  des  Volks,  des  Zuhältertums  und  des  Stellionats 
zu  Reichtum  und  zugleich  zu  den  „guten  Prinzipien" 
gelangt  sind,  da  wo  er  reich  gewordene  Lustknaben  in 
Scene  setzt  ....  habe  ich  für  gut  gehalten,  reich- 
liche Anleihen  bei  dem  modernen  Rotwelsch  zu  machen, 
das  allein  Äquivalente  für  die  charakteristische  Unter- 
haltung dieser  Burschen  enthält. 

Ich  habe  auch  nicht  versucht,  die  mißlichen  Stellen 
abzuschwächen  und  zu  modernisieren  oder  die  Un- 
züchtigkeit mit  einem  Pflästerchen  zu  bedecken.  Die 
Heiterkeit    und   Ruhe   in   der    Schamlosigkeit    ist   ein 


1097    — 


Zeichen  der  antiken  Kunst,  sie  glänzt  bei  Petronius 
wie  in  den  obscönen  Statuen  und  Farben  des  Museums 
zu  Pompei  ....  Ich  habe  mich  bemüht,  den  „Skan- 
dal" des  Textes  in  seiner  ganzen  Reinheit  zu  bewahren/- 

Zum  Schluß  will  ich  den  Roman  von 
Hoflfmann,  V,  Das  vierte  Geschlecht.  Roman.  (Barmen 

Wiemann  1902.) 
anführen,  weil  man,  nach  dem  Titel  zu  urteilen,   geneigt 
sein  könnte,  Homosexuelles  in  ihm  zu  suchen.     Tatsächlich 
enthält  er  nichts  dergleichen. 

Unter  dem  „vierten  Geschlecht*  will  der  Verfasser 
analog  dem  von  Wolzogen  aufgestellten,  auf  gewiss e 
Arten  (nicht  homosexueller)  Frauen  bezogenen  „dritten 
Geschlecht*  die  Sorte  von  Mann  verstanden  haben, 
„der  die  Frau  nicht  achtet,  seine  Kraft,  Zeit  und  Aus- 
dauer lieber  verpraßt  und  sich  im  gewissen  Sinne  damit 
groß  tut"  (S.  7). 

Als  Vertreter  dieses  „vierten  Geschlechts"  schildert 
Hoflmann  unter  andern  die  beiden  Weiberfeinde  Wiede- 
mann  und  Nöhring. 

Auf  den  ersten  Blick  sollte  man  glauben,  daß  beide 
homosexuell  gedacht  seien.  Wiedemann,  der  mit  Nöh- 
ring zusammenlebt,  strickt  und  stopft  Strümpfe,  kocht, 
bratet  und  bäckt. 

Nöhring  entwirft  Zeichnungen  für  kunstvolle  Sticke- 
reien und  beide  können  nicht  genug  ihrem  WeiberhaÜ 
Ausdruck  geben.  Trotzdem  sind  sie  nicht  homosexuell, 
denn  als  eines  Tages  ein  Dienstmädchen  des  Hauses  sich 
in  das  Bett  von  Wiedemann  geschlichen,  läßt  Wiedemann 
die  Gelegenheit  zum  Besitz  des  Mädchens  nicht  vorüber 
gehen  und  behält  sie  als  Dienstmädchen  bei  sich,  während 
auch  Nöhring  ihre  Gunst  nicht  verschmäht. 

Der  Roman  ist  ein  seichtes  Machwerk,  in  welchem 
namentlich  der  stellenweise  geradezu  ordinäre  Ton  und 
der    vulgäre    Stil    abstößt.       Von     einer    irgendwelchen 


—    1098    — 

tieferen  oder  geistreichen  Schilderung  des  vom  Verfasser 
benannten  sogn.  vierten  Geschlechts  kann  keine  Rede  sein. 
Der  Titel  ebenso  wie  die  Decke  mit  der  karikatur- 
haften Zeichnung  sind  nur  Mittel  um  sensationslüsterne 
Leser  anzulocken. 

IL  Weibliche   Homosexualität. 
Duo,  Aimöe:      Sind   es  Frauen?    Roman     über   das 
dritte  Geschlecht.     (Berlin   W  57.    Eckstein  Nachf. 
Verlag).     (Ecksteins  Moderne  Bibliothek  50  Pfg.) 

In  Genf  hat  sich  eine  Anzahl  homosexueller  Frauen,  haupt- 
sächlich Studentinnen  zusammengefunden.  Im  Hause  der  Stu- 
dentin Minotschka  Fernandoff,  die  ihre  Freundinnen  abends  um 
sich  versammelt,  lernen  wir  den  ganzen  Kreis  kennen:  unter 
anderem  Gräfin  Marta  Kinzey,  das  Verhältnis  der  Gastgeberin,  eine 
polnische  Musikstudentin,  die  als  Millionärstochter  nur  zu  ihrem 
Vergnügen  studierte,  und  die  lediglich  wegen  Minotschka  nach 
Genf  gekommen  war.  Ferner  Frau  Annie,  eine  hübsche  30jährige 
Frau,  welche  schon  nach  sechsmonatlicher  Ehe  gütlich  von  ihrem 
Manne  sich  getrennt  hatte. 

Die  Gastgeberin  Minotschka  Fernandoff  hatte  als  zwanzig- 
jährige Studentin 

„ihren  Leibburschen,  einen  jungen  Juristen,  gehei- 
ratet, um  sich  nach  3  Jahren  scheiden  zu  lassen.  Sie 
hatte  ihren  Zustand  vor  der  Ehe  nicht  erkannt,  und  die 
Ehe  selbst  mit  dem  sie  über  alles  liebenden  Mann  ward 
ihr  ein  Greuel.  Als  sie  nach  drei  Jahren  frei  geworden, 
lebte  sie  wieder  auf,  heute  galt  ihr  jene  Schreckens- 
zeit, ihre  sonst  so  glückliche  Ehe,  als  eine  verlorene 
Lebenszeit."  (S.  13.) 
Bei  Bier,  Kognak  und  Cigaretten  wird  über  Ehe,  Medizin 
und  die  homexuelie  Frau  lebhaft  debattiert. 

Bertha  Cohn,  die  Pragerin,  erzählt  von  „der  Fritz,  die  sich 
verlobt  und  sogar  ihren  Bräutigam   liebt." 

„Nun  ja",  erwidert  Dr.  Tatjana,  die  Ärztin,  „so  ist 
sie  eben  ein  normales  Wesen  und  hat  sich  geirrt  bis 
dahin.  Das  ist  doch  nichts  Besonderes  !  Frau  Annie, 
Sie,  liebe  Minotschka  und  ich  —  wir  haben  uns  auch 
seiner  Zeit  geirrt,  wenn  auch  im  entgegengesetzten  Sinn. 
Sie  beide  heirateten  erst,  und  ich,  ich  hatte  einen  Geliebten 
—  und  dann  mußten  wir  alle  erfahren,  daß  wir  für  den 
Mann  keinen  Sinn  haben  und  zum  dritten  Geschlecht 
gehören.    Bei  der  Fritz  war's  umgekehrt!"    (S.  13.) 


—    1099    — 

Die  Unterredung  erstreckt  sich  weiter  auf  die  Medizin  als 
Beruf  der  Frau.  Minotschka  ist  von  der  Medizin  zur  Philosophie, 
Literatur  und  Kunstgeschiche  übergegangen. 

„Nicht  die  Medizin  ist  schuld  daran,"  sagt  sie, 
„daß  ich  im  Studium  umsattelte,  sondern  der  heutige 
Stand  unserer  Wissenschaft,  die  Unterdrückung  un- 
angenehmer Enthüllungen ! 

Sind   die   Ärzte   nicht  unsere   ärgsten  Feinde,  weil 
sie  die  Wahrheit  nicht  im  Lichte  der  Wissenschaft  ent- 
hüllen?    Könnten  sie  nicht  durch  die  wahren,  wissen- 
schaftlichen Tatsachen  die  Frauenfraße  in  andere  Bahnen 
lenken,  die  keine  Frauenfrage,  sondern  eine  Frage  des 
dritten  Geschlechts  ist?" 
Minotschka  verlangt  dann,   daß   eine   ihrer   homosexuellen 
Freundinnen   den  Mut  haben   sollte,  in  einer  Doktordissertation 
den  Beweis   der   Existenz   des   dritten   Geschlechts    positiv  zu 
erbringen. 

Auch  Gräfin  Kinzey  meint: 

„Gewiß,  wir  müssen  versuchen,  uns  in  der  Öffent- 
lichkeit durchzuringen,  anerkannt  und  nicht  übersehen 
zu  werden!  Der  größte  Teil  des  Volkes  und  der  Ge- 
bildeten hat  keine  Ahnung  von  unserer  Existenz,  von 
unseren  Bedürfnissen,  unserem  Menschenrecht.  Und 
doch  tragen  wir  an  dem  allen  selbst  die  Schuld!  Wir 
treten  nicht  genug  für  uns  ein,  wir  verfechten  nicht 
unsere  Thesen,  wir  geben  uns  nicht  frei  zu  erkennen 
als  Menschen,  die  weder  Mann  noch  Weib  sind. 
Wir  müssen  zu  jeder  Zeit  eintreten  für  unser  Selbst, 
wir  müssen  uns  immer  und  immer  wieder  behaupten 
und  nicht  zurückdrängen  lassen  als  Kranke  oder  auf 
eine  künstliche  Pose  stellen  lassen,  als  gnädigst  aner- 
kannte, besonders  begabte  Frauen,  sondern  wir  müssen 
zeigen,  daß  wir  Vertreter  einer  Mischung,  eine  Menschen- 
spezies sind,  die  ein  Recht  auf  Berücksichtigung  hat, 
zeigt  sie  sich  doch  ausnahmslos  als  Intelligenz-Elite. 
Wir  können  unser  Selbst  aber  nur  erfolgreich  wahren, 
wenn  wir  uns  unerschrocken  außerhalb  des  Kreises 
echter  Weiber  und  Männer  stellen,  wenn  wir  nicht 
heuchlerisch  unter  falscher  Etikette  auf  dem  Lebensmarkt 
herumlaufen.  Schlimm  genug,  daß  man  uns  zwingt, 
Komödie  zu  spielen  und  als  Weib  auftreten  zu  müssen, 
allem  ausgesetzt,  was  das  Weib  zu  erwarten  hat,  ein- 
rangiert zu  werden  in  die  Warenmusterkarte  für 
Männer!"     (S.  20-21). 


—     1100    — 

Und  Minotschka  antwortet: 

„Es  ist  Pflicht,   heilige  Pflicht  einer  jeden  von  uns, 
die  mit  Überzeugung  zum  dritten  Geschlecht  gehören, 
unentschlossene,  schwankende  Gefährtinnen,  deren  Zu- 
stand  wir  mit   kundigem  Auge   und   dem  Gefühl  der 
Zusammengehörigkeit  leicht  erkennen,  die  aber  nichts 
von  Liebe  und  Leben  wissen,  vor  der  Ehe  zu  warnen, 
sie   zurückzuhalten,    sich    und  ihren  Mann  unglücklich 
zu  machen0  etc.     (S.  21). 
So  vergehen  Stunden  in  anregenden  Gesprächen. 
Einige  Tage  später  findet  sich  der  Kreis  der  homosexuellen 
Frauen   bei   einem    Glase   Bier    auf   einer   Konzertterrasse   zu- 
sammen. 

Zwei  fremde  Herren,  Deutsche,  die  am  gleichen  Tisch  Platz 
genommen,  ergehen  sich  über  die  angeblichen  Schattenseiten, 
die  das  Studium  der  Medizin  für  die  Frau  nach  sich  zöge.  Das 
Weib  müsse  alle  weiblichen  Reize  verlieren,  und  dann,  meint  der 
eine,  sei  wohl  die  studierte  Frau  zur  Ehe  untauglich,  denn  sie 
werde  ihr  Studierzimmer  über  ihren  Haushalt  stellen ! 

„Sicherlich"'  erwidert  Minotschka,  „darum  heiraten 
wir   auch   nicht!     Ich    bin    vollständig    Ihrer   Ansicht, 
daß  die  zartbesaitete,  hingebende,  weibliche  Frau  nie- 
mals eine  Ärztin  werden  kann  oder  sonst  Bedeutendes 
im     öffentlichen    Leben    leisten   wird.      Diese  Frauen 
gehören  ins  Haus,  und  werden  sich  im  Hause  auch  stets 
am  wohlsten  fühlen.    Bitte,  verwechseln  Sie  uns  nicht 
mit   diesen   sehr    schätzenswerten   Frauen,  wir  bilden 
eine  andere  Kategorie."    (S.  51). 
Und  auf  den  Einwand  des   anderen  Herrn:   Die  Frau  fände 
dort  immer  in  anderer  Weise  Betätigung  ihrer  Kraft,  z.  B.  in  der 
Diakonie,  sagt  sie: 

„Sie  vergessen  noch  eines,  zwei  Berufe  stehen 
der  Frau  jederzeit  offen:  die  Diakonie  und  —  die 
Prostitution.  Der  eine,  der  nur  Aufgaben  des  Ichs, 
Duldung  und  Unterdrückung  der  Individualität  auf  dem 
Leidensweg  des  Glaubens  bietet,  und  der  zweite,  der 
den  Frauen  durch  Preisgebung  ihres  körperlichen  Seins 
ein  uraltes  Gewerbe  sichert,  das  man  ihnen  unbean- 
standet überläßt Das  ist  so  ziemlich 

das  Alpha  und  Omega  des  Lebens!     Und  als  Mittel- 
ding rangiert  die  Ehe  ein."      (S.  52). 
Die  Geliebte  von  Minotschka,  Gräfin  Kinzey,  muß  sich  auf 
eine  Zeit  lang  von  der  Freundin  trennen,  infolge  des  Todes  ihres 
Vaters  ist  sie  genötigt,  nach  Warschau  zu  reisen,  aber  sie  ver- 


—    1101     — 


spricht,   im   nächsten   Semester  wieder  zu   Minotschka  zurück- 
zukehren. 

Diese  begibt  sich  nach  Beendigung  des  Semesters  nach 
München  in  Begleitung  der  Schauspielerin  Pierette,  welche  die 
Bühne  verläßt  und  durch  Stundengeben  ihr  Brot  verdienen  will. 
Pierette  ist  in  Minotschka  verliebt,  findet  aber  keine  Erwi- 
derung ihrer  Leidenschaft;  die  große  gewaltige  Liebe  zu  Marta 
Kinzey  erfüllt  noch  ganz  Minotschka,  zu  einer  Liebelei  hat  sie 
weder  Zeit  noch  Lust.  Die  Abwesenheit  der  Gräfin  dauert  an, 
ihre  Briefe  werden  immer  seltener  und  kühler,  eines  Tages 
kündigt  sie  ihre  Verlobung  mit  einem  Offizier  an.  Verzweiflung 
Minotschka's.  Zwei  Jahre  vergehen.  Der  Kreis  der  einstigen 
Studentinnen  ist  in  alle  Himmelsrichtungen  zersprengt.  Von  der 
Gräfin  hat  Minotschka  seit  längerem  nichts  mehr  gehört. 

Der  wunde  Punkt  in  ihrer  Liebe  schmerzt  noch  immer. 
Das  Leben  erscheint  ihr  zwecklos.  Sie  will  Europa  verlassen 
und  in  Sidney  eine  internationale  Fortbildungsschule  übernehmen, 
um  dann  dort  ihr  Leben  zu  beschließen. 

Vor  ihrer  Abreise  will  sie  noch  ihren  Geburtsort  Paris 
wiedersehen. 

In  Paris  besucht  sie  auch  den  P&re  Lachaise:  in  Gedanken 
an  ihre  einstige  Geliebte  und  die  Zeit  der  ersten  Liebestage  ver- 
sunken, wandelt  sie  zwischen  den  Gräbern.  Ein  eigentümliches 
Schicksal  fügte,  daß  sie  auf  dem  Kirchhofe  die  Gräfin  wiederfindet. 
Sie  ist  in  Trauerkleidung,  ihr  Mann  ist  vor  6  Monaten  in  Davos  ge- 
storben. Die  Gräfin  fleht  um  Verzeihung,  sie  habe  die  Hoffnung 
nicht  aufgegeben,  die  Freundin  wiederzufinden,  ihrem  Gatten  sei 
sie  doch  nur  Freundin  gewesen. 

„Er  wußte  alles  und  trotzdem  wollte  er  mich  nach 
außen  hin  zum  Weibe,  wollte  er  in  Kameradschaft 
mein  Gefährte  sein !  O,  Minotschka,  und  wie  habe  ich 
trotz  seiner  Liebe  und  Güte  gelitten,  wie  fürchterlich 
rächte  mich  das  Schicksal  —  an  Dir,  wenn  Du  willst! 
Nein,  Frauen  unserer  Art  dürfen  nicht  heiraten, 
auch  nicht  in  Freundschaft,  das  ist  gegen 
jede  Natur!  Solch  eine  Ehe  ist  ein  armes,  namen- 
loses Verhältnis,  eine  Fessel,  ein  Vergewaltigung,  ein 
Frevel,  im  leichtesten  Falle  eine  entsetzliche  Last!" 
(S.  93-94.) 
Minotschka  verzeiht. 

„Und  dann   gingen   sie  Arm   in  Arm  der  Stadt  zu, 
hinaus  in  die  Seligkeit  des  Frühlings  und  ihres  Lebens! 

Das  Interesse  der  Erzählung  konzentriert  sich  auf 
die  Betrachtungen  über  die  homosexuelle  Frau,  die  Ehe 


—     1102    — 

und  die  Frauenemanzipation  überhaupt,  sowie  auf  die 
Denkungsart  der  homosexuellen  Frauen.  Den  Kernpunkt 
dieser  Auslassungen,  wonach  die  Individualität  jeder  Frau 
zu  entwickeln,  ihre  Fähigkeiten  und  Bedürfnisse  zu  be- 
rücksichtigen seien  und  nur  die  nach  ihrem  Charakter 
und  ihren  Neigungen  dazu  geeignete  Frauen  die 
Ehe  eingehen  sollten,  kann  man  nur  billigen.  Mit  Recht 
legt  der  Verfasser  seine  Betrachtungen  über  Frauen- 
emanzipation  gerade  in  den  Mund  der  homosexuellen 
Frauen,  da  diese  zweifellos  schon  ihrer  Natur  und  ihrer 
männlicheren  Eigenart  entsprechend  die  typischsten  Ver- 
treterinnen der  Frauenrechte  sein  werden. 

An  der  Erzählung  ist  wenig  Stoffliches ;  die  Motive 
und  Handlungen  sind  nirgends  durchgeführt,  das  Ganze 
bildet  mehr  eine  Skizze.  Der  erste  Teil  wird  durch  die 
interessanten  philosophischen  und  sozial -ethischen  Ge- 
spräche fast  ausschließlich  ausgefüllt,  während  dann  der 
zweite  Teil  die  etwas  mageren  Episoden  der  Auflösung  des 
Liebesverhältnisses  zwischen  Minotschka  und  der  Gräfin, 
sowie  die  Schilderung  der  durch  diesen  Bruch  in  Minotschka's 
Seele  hervorgerufenen  Gefühle  der  Verzweiflung,  der 
Öde  und  Wehmut  enthält. 
Faure,  Gabriel:    La    derniere   journ^e   de  Sappho: 

roman.   (Paris:  Soci£t£  du  Mercure  de  France  1901). 

Dem  Roman  geht  eine  Einleitung  voran,  welche  einige  all- 
gemeine Bemerkungen  über  den  weibweiblichen  Geschlechts- 
verkehr enthält: 

Hinsichtlich  dieses  Verkehrs  herrschten  zahlreiche  Irrtümer; 
zum  Teil  sei  die  Literatur  daran  Schuld,  die  nicht  genügend 
zwischen  Laster  und  Krankheit  unterscheide.  Man  müsse  zunächst 
die  Kranken  ausscheiden,  alle  diejenigen,  die  infolge  von  Erblich- 
keit, geistiger  Gebrechen  oder  physischer  Anomalie  eher  zum 
männlichen  Geschlecht  gehörten.  Diese  seien  zu  bedauern,  ihr 
Leben  sei  verfehlt,  es  sei  ebenso  ungerecht,  sie  auszulachen,  wie 
einen  Blinden  oder  Buckligen.  Für  die  Lasterhaften  sollte  man 
den  Namen  Lesbierin  oder  ähnliche  beleidigende  Ausdrücke  vor- 
behalten. Aber  auch  unter  diesen  seien  nicht  alle  gleich  ver- 
dammenswert.    Die,  welche   aus  Gewinnsucht  sich  leiten  ließen, 


—     1103    — 

seien  es  kaum  mehr,  als  die,  welche  sich  um  Geld  einem  be- 
liebigen Manne  hingäben.  Die,  welche  aus  Bedürfnis  handelten, 
Gefangene,  Nonnen,  Mädchen,  zu  alt  und  zu  häßlich,  um  einen 
Geliebten  zu  verführen,  seien  fast  ebenso  sehr  zu  bedauern,  als 
zu  tadeln.  Die  wahren  Schuldigen  seien  diejenigen,  welche  aus 
Perversität  dem  Lesbismus  sich  zuwendeten,  diese  allein  verdienten 
Abscheu  und  Verdammungsurteil.  Glücklicherweise  sei  diese 
Kategorie  nicht  häufig,  meist  beschränke  sich  ihr  Laster  auf  be- 
friedigte Neugierde. 

Abgesehen  von  den  Hysterischen  und  Krankhaften  ziehe 
jedes  echte  Weib  die  männliche  Umarmung  den  läppischen  Zärt- 
lichkeiten der  Frau  vor. 

Der  weibweibliche  Verkehr  hinterlasse  stets  Enttäuschung 
und  Unbefriedigtsein,  er  biete  nur  einen  erotischen  Betrug  sonder- 
gleichen. 

Man  könnte  nach  dem,  was  gesagt  und  gedruckt  werde, 
zu  urteilen  glauben,  daß  heute  der  Sapphismus  viele  Anhänge- 
rinnen zähle.  Dies  sei  ein  Irrtum.  Der  Mann  beliebe  stets  die 
Frau  zu  beschmutzen,  und  die  Frauen  verleumdeten  sich  stets 
untereinander.  Nichts  sei  leichter,  als  den  zärtlichen,  etwas 
demonstrativen  Freundschaften  lasterhafte  Motive  unterzuschieben, 
besonders  gefährlich  in  dieser  Beziehung  seien  die  Lesbierinnen, 
welche  überall  ihre  eigene  Verderbnis  vermuteten  und  die  un- 
schuldigsten Frauen  nach  sich  beurteilten. 

Sappho  selbst  sei  keine  Kranke  gewesen,  sie  habe  auch 
Männer  geliebt  und  sei  für  einen  Mann,  Phaon,  gestorben.  Sie 
dürfte  vielmehr  den  Typus  der  lasterhaften  Frau  darstellen,  und 
doch  sei  sie  nicht  mit  den  modernen  Lasterhaften  zu  verwechseln. 
Abgesehen  vom  Klima  und  den  besonderen  in  Lesbos  üblichen 
Gebräuchen  habe  Sappho  Entschuldigungsgründe,  die  ihren  Nach- 
ahmerinnen nicht  zur  Seite  ständen.  Damals  habe  das  Scham- 
gefühl, wie  wir  es  heute  kennen,  nicht  existiert.  Sappho  und 
ihre  Freundinnen  hätten  ihr  Laster  offen  gezeigt.  Bei  ihrem  Tod 
habe  ganz  Griechenland  getrauert.  Überhaupt  sei  diese  antike 
Liebe  zum  gleichen  Geschlecht  oft  nur  eine  Art  des  universellen 
Schönheitskultus  gewesen.  Aber  trotz  Allem  verletze  man  nicht 
ungestraft  die  Natur,  und  Sappho  habe  durch  ihre  eigenen  Fehler 
gelitten.  Vielleicht  könne  man  in  dieser  Beziehung  ihm,  dem 
Verfasser,  vorwerfen,  eine  allzumoderne,  allzu  reumütige,  allzu 
christliche  Sappho  geschildert  zu  haben.  Dies  kompensiere  aber 
dann  andererseits  die  Beschuldigungen  der  Immoralität,  welche 
einige  naive  Leute  vielleicht  erheben  würden. 

Verfasserschließt  dann  seine  Einleitung  mit  folgenden  Worten, 
welche  den  Schlüssel  und  Grundton  seines  Romans  abgeben: 


—     1104    — 

„Keine  hat  mehr  wie  Sappho  das  Glück  erstrebt, 

sie  stßrb,  ohne  das  Höchste  gekannt  zu  haben.    Keine 

hat  mehr  wie  sie  von  jeder  Wollust  gekostet,  sie  starb 

ohne  das  Höchste  gekannt  zu  haben.    Keine  hat  mehr 

wie    sie  die  Liebe   verspottet,  welche   ein  Liebespaar 

durch  alle  Fasern  ihres  Wesens  vereinte.  ...   Sie  starb 

für  diese  Liebe,   diese  Liebe,   alt  wie  die  Welt,   ewig 

wie  sie,    einzige    Quelle     des    wahren    Glücks    und 

der  höchsten  Wollust." 

Der  Roman:    Sappho   verzehrt  sich  in  Liebesleidenschaft 

zu    Phaon,    der    aber    ihren    Verlockungen   widerstanden    hat. 

Nachdem    Sappho    alle    ihre  Gelüste   und  Begierden  befriedigt, 

Mann  und  Frau,  Jungfrau  und  Jüngling  in  ihren  Armen  gehalten, 

ist  sie  zum  erstenmal  von  echter  Liebe  ergriffen.    Beim  Fest  der 

Aphrodite  hofft  sie  durch  ihre  Erscheinung  und  ihr  Dichtertalent 

Phaon  zu  gewinnen.  Vor  versammeltem  Volk  tritt  sie  auf,  strahlend 

in  äußerer  Pracht  und  Schönheit,  und  trägt  ihre  letzte  Dichtung, 

einen  Hymnus  an  die  Göttin  vor.    Aber  mitten   im  Gesang  hält 

sie  inne,  sie  hat  Phaon,  den  sie  zu  besiegen  hoffte,  in  der  Menge 

erblickt,   gleichgültig  gegen   ihren   Gesang   und   ihre  Schönheit, 

glückstrahlend  an  der  Seite  seiner  Verlobten. 

Verwirrt  und  bestürzt  flieht  sie  in  ihre  Gemächer,  wo  sie 
sich  ihrem  wilden  Schmerz  überläßt.  Dort  wird  sie  von  einer 
ihrer  früheren  Geliebten,  Rhodope,  aufgesucht,  die  einst  von 
Sappho  verführt  wurde.  Was  bei  Sappho  nur  ein  Abenteuer 
unter  vielen  war,  bedeutete  für  Rhodope  eine  dauernde  Leiden- 
schaft. Sappho  hatte  sie  fortgeschickt,  jetzt  kehrt  Rhodope  zu- 
rück, wähnend,  der  Augenblick  sei  günstig,  um  ihre  Herrin  wieder 
zu  erobern.  Vergeblich  sucht  sie  die  früheren  Zeiten  in  das 
Gedächtnis  der  Dichterin  zurückzurufen,  vergeblich  entrollt  sie 
ihre  gemeinsame  Liebesgeschichte:  Wie  sie  sich  beim  Bruder 
der  Sappho,  dessen  Geliebte  Rhodope  gewesen,  in  Eresos 
kennen  gelernt,  wie  Sappho  durch  ihre  Zärtlichkeiten  und  Schön- 
heit sich  einzuschmeicheln  wußte,  wie  Sappho  sie  dann  entführt 
und  beide  von  Eresos  nach  Mitylene  gewandert,  die  Freuden  der 
Reise  teilend,  die  Gefahren  und  Abenteuer  gemeinsam  bestehend, 
wie  dann  angesichts  von  Mitylene  zum  erstenmale  Sappho  in 
Liebe  sie  umfangen  und  ein  noch  nie  empfundenes  Glück 
ihr  bescheert.  Umsonst  fleht  Rhodope  in  glühenden  Worten 
um  Liebe,  umsonst  sucht  sie  durch  Schilderung  ihrer 
früheren  Wonnen  Sappho's  Leidenschaft  wieder  zu  entfachen. 
Sappho  hat  alles  vergessen  und  bleibt  stumm  gegenüber  ihrem 
Schmerz.  Sie  glaubt  kaum  Rhodope  jemals  geliebt  zu  haben, 
ein  Spielzeug  war  sie  nur,  wie  alle  andern.  Als  Rhodope  halb- 
entblößt sich  ihr  zu  Füßen  wirft,  jagt  Sappho,  von  einem  Gefühl 
des  Ekels  ergriffen,  das  Mädchen  fort. 


—    1105    — 

Kaum  hat  sich  Rhodope  entfernt,  als  Phaon  Sappho  besucht. 
Er  kommt  sie  zu  trösten  und  ihren  Schmerz  durch  besänftigende 
Worte  zu  lindern.  Aber  Sappho  will  Liebe,  doch  diesem  Manne 
gegenüber  ist  sie  machtlos.  Ihr  Flehen  ist  vergeblich.  Wenn  er 
ihre  Liebe  verschmähe,  möge  er  sie  wenigstens  als  Werkzeug 
der  Wollust,  als  Dirne  benutzen.  Alle  Wollust  und  sinnlichen 
Reize,  die  Sappho  Phaon  bietet,  locken  ihn  nicht,  er  sehnt  sich 
nur  nach  einer  Liebe,  der  Liebe  seiner  Verlobten.  Er  verläßt  die 
verzweifelte  Sappho,  um  nie  wiederzukehren. 

In  wilder  Fieberphantasie  ziehen  noch  einmal  vor  den  Augen 
Sappho's  alle  ihre  Opfer,  alle  ihre  männlichen  und  weiblichen 
Geliebten  vorüber,  im  Traume  treten  sie  an  Sappho  heran  in 
unnennbaren  Umarmungen  und  wollüstigen  Verkettungen  mit- 
einander sich  vermengend.  Im  letzten  Kapitel  eilt  Sappho  von 
Verzweiflung  und  ungestillter  Sehnsucht  nach  Phaon  übermannt, 
auf  den  das  Meer  überragenden  Felsen,  von  welchem  sie  sich 
in  die  Fluten  herab  stürzt. 

Das  wirkliche  Schicksal  der  geschichtlichen  Sappho 
ist  wohl  kaum  mit  Sicherheit  festzustellen  und  der  Tod 
der  Dichterin  für  Phaon,  den  Faure  in  seiner  Einleitung 
als  geschichtliche  Wahrheit  hinstellt,  ist  gerade  in  den 
letzten  Jahren  von  wissenschaftlicher  Seite  in  das  Reich 
der  Mythe  verwiesen  worden. 

Wie  dem  auch  sein  mag,  jedenfalls  wird  Sappho 
stets  als  der  Typus  einer  homosexuellen  Frau  gelten, 
deshalb  ist  es  wohl  zunächst  als  seltsam  zu  erachten, 
daß  Sappho,  deren  Namen  einer  der  charakteristischsten 
Bezeichnungen  für  den  homosexuellen  weiblichen  Verkehr 
abgegeben  hat,  als  heterosexuelle  Heldin  geschildert  wird. 

Als  ein  Fehler  muß  es  sodann  betrachtet  werden, 
daß  Faure,  wie  er  es  in  seiner  Einleitung  selbst  bemerkt, 
die  griechische  Sappho  allzu  ver christlicht  hat  in  ihrer 
Reue  und  ihrem  nachträglichen  Abscheu  vor  dem  homo- 
sexuellen Verkehr,  und  dadurch  die  Wahrscheinlichkeit 
des  Charakters  seiner  Heldin  getrübt  hat.  Noch  weniger 
glücklich  erscheint  der  Versuch,  das  Axiom,  daß  das 
höchste  Glück  in  der  wahren  Liebe,  nicht  in  der  Jagd 
nach    der    Wollust    zu    finden    sei,    in    der    Geschichte 


—    1106    — 

Sappho's  symbolisieren  zu  wollen  und  ihre  heterosexuelle 
Leidenschaft  in  Gegensatz  zu  ihren  früheren  Regungen 
zu  stellen.  Dabei  hat  Faure  gerade  die  Leidenschaft 
Sappho's  zu  Phaon  in  solchen  glühenden  Farben  zum 
Ausdruck  gebracht,  daß  man  wenig  von  einer  idealen 
und  edlen  Liebe  spürt.  Besonders  in  der  Szene,  wo  die 
liebestolle  Sappho  Phaon  um  Gegenliebe  anfleht  und 
schließlich  zu  jeder  Wollust  sich  ihm  anbietet,  tritt 
Sappho's  Leidenschaft  in  brünstiger  und  sinnlicher 
Weise  zu  Tage.  Umgekehrt  finden  sich  feinere,  idealere 
Züge  in  der  Schilderung  des  homosexuellen  Verhält- 
nisses mit  Rhodope.  Die  Erzählung  der  letzteren  von 
ihrem  früheren  Liebesbund  hinterläßt  einen  unleugbaren 
poetischen  Eindruck,  ihre  Gefühle  erscheinen  zarter, 
inniger  als  Sappho's  heftige  heterosexuelle  Liebesglut. 

Der  Roman  enthält  keinerlei  psychologische  Dar- 
stellung der  Leidenschaft  Sappho's,  keinen  Einblick  in 
die  Entwicklung  der  Gefühle,  das  Problem  der  Homo- 
sexualität ist  an  und  für  sich  von  keiner  Seite  ergründet. 

Trotzdem  handelt  es  sich  nicht  um  ein  Marktprodukt 
für  das  große  Publikum,  sondern  um  ein  Werk  für  ver- 
wöhntere Leser;  der  lyrische  Erguß,  die  glänzende 
Sprache,  der  poetische  Rythmus  des  ciselierten  Stiles 
drücken  ihm  ein  künstlerisches  Gepräge  auf,  das  aber 
mehr  den  Charakter  gesuchten  Raffinements  und  über- 
künstelter  Berechnung  als  echte  Empfindung  verrät. 
JanitSChek,    Maria:     Neue   Erziehung    und   alte 

Moral  aus  der  Novellensammlung   Die  neue  Eva. 

(Leipzig,  Hermann  Seemann  Nachfolger)  S.  109 — 150. 

Seffi  ist  seit  ihrem  achten  Jahre  nach  dem  Tode  ihrer  Eltern 
bei  dem  Ökonom  Steffert  gemeinsam  mit  dessen  sieben  Söhnen 
erzogen  worden. 

Wie  ein  Junge  ist  sie  aufgewachsen,  wie  ein  Bube  von  Frau 
Steffert  behandelt  worden. 

Als  sie  zum  Mädchen  heranreift,  muß  sie,  die  bisher  mit 
den  jüngsten  Adoptivbrüdern  in  einem  Zimmer  geschlafen,  in  der 


—     1107    — 

oberen  Kammer  übernachten.  Jetzt  erst  gewinnt  sie  Interesse  und 
Bedeutung  bei  den  Buben.  Sie  besuchen  sie  Abends,  der  eine, 
ein  junger  Leutnant,  küßt  sie  und  drückt  ihr  die  Brüste;  von  der 
Mutter  ertappt,  muß  Seffi  dafür  büßen. 

Bald  kommt  ein  anderer  der  Brüder,  Alfred,  zu  ihr;  mit  ihm 
liest  sie  Stunden  lang  verbotene  Bücher,  Casanova,  Boccacio,  die 
ihre  Einbildungskraft  und  Sinnlichkeit  entflammen.  Alfred  erzählt 
ihr  auch  seinen  ersten  Geschlechtsverkehr  mit  einem  Weib.  Den 
älteren  Fritz  forscht  Seffi  aus,  er  ist  erfahrener  als  Alfred  und 
kennt  schon  besser  das  Weib,  er  erzählt  ihr  die  tollsten,  un- 
flätigsten Dinge. 

Eines  Abends,  als  sie  wieder  mit  einander  flüsterten,  kommt 
Ruprecht,  der  ältere  Bruder,  hinzu.  Er  jagt  Fritz  fort  und  warnt 
sie  vor  den  Brüdern.  Er  selbst  gesteht  ihr  seine  Liebe.  Als  sie 
aber  von  plötzlicher,  wilder  Sinnlichkeit  gepackt,  zur  Hingabe 
ihres  Körpers  bereit  ist,  bemeistert  sich  Ruprecht,  denn  er  kann 
sie  „noch  lange  nicht  heiraten,  und  sie  wird  vielleicht  ein  Kind 
bekommen  — .a 

„In    der  Folge  belauerten    die   Brüder  sich  gegen- 
seitig und   alle   naschten  an  ihr  herum,   was  sie  leicht 
naschen  konnten.  Sie  mit  ihrer  Jugendfülle  und  strotzen- 
den Gesundheit,    litt   wie   ein   geknebeltes  Tier  unter 
diesen   brennenden   aufstachelnden  Liebkosungen.    Sie 
wälzte  sich  schlaflos  in  ihrem  Bett  und  verwünschte  ihr 
Magdtum.    Das   „Kind"  war  für  sie   das  drohende  Ge- 
spenst".    (S.  142). 
Frau  Steffert,  der  Seffis  Verstörtheit  auffällt  und  die  allerlei 
Mutmaßungen  anstellt,  schildert  ihr  in  grellen  Farben  die  Schmach, 
die  ein  Mädchen  auf  sich  lädt,  wenn  es  Mutter  wird. 

Nach  solchen  Schilderungen  schwur  Seffi  sich,  ihre  Jung- 
fräulichkeit zu  bewahren,  und  schrieen  auch  ihre  vollen  Adern 
noch  lauter  nach  Erfüllung. 

Agathe,  eine  Nichte  des  Hausherrn,  ein  zierliches,  blondes 
Mädchen  von  16  (ahren,  kommt  zu  Besuch  und  schläft  in  Seffi's 
Zimmer.  In  ihr  findet  Seffi  eine  Geschlechtsgenossin,  der  sie  ihr 
Herz,  ausschütten  kann. 

„Sie  krochen  in  ihren  weißen  Hemdchen  abwech- 
selnd eine  zu  der  anderen  und  tauschten  ihre  Gedanken 
über  dieses  und  jenes.  Eines  Nachts,  als  Seffi  laut 
schluchzt,  will  Agathe  sie  trösten,  sie  preßte  Seffi  an 
sich  und  umschlang  sie  innig.  In  diesem  Augenblick 
wurde  Seffi  ruhig  und  schloß  die  heißen  Lider.  Ein 
bleicher,  zärtlicher  Schein  huschte  über  ihr  Gesicht. 
Brust  an  Brust  schlummerten  sie  ein."    (S.  144). 

Jahrbuch  V.  70 


—    1108    — 

Alfred  bemerkt  die  intimere  Freundschaft  der  Mädchen 
und  macht  seine  Mutter  darauf  aufmerksam. 

Er  erweckt  den  Argwohn  der  Mutter.  „Sie  machte  die 
Bemerkung,  daß  Agathe  lebhafter,  feuriger  neben  Seffi  wurde,  daß 
beide  sich  unnötig  lang  in  die  Augen  sahen  und  mehr  als  sonst 
zwischen  jungen  Mädchen  üblich  ist,  sich  Zärtlichkeiten  erwiesen, 
daß  die  eine  die  Nähe  der  anderen  suchte  und  traurig  wurde, 
wenn  sie  sie  missen  mußte. 

Sie  befiehlt,  daß  Agathe  in  einem  Zimmer  allein  schlafe. 
Vergeblich  fleht  sie  Seffi  an: 

„Mutter,  von  klein  auf  hast  du  mich  dazu  ange- 
halten, alle  Vorgänge  in  der  Natur  ohne  Scheu  zu  be- 
obachten. Du  schlugst  mich,  wenn  ich  die  Augen 
senkte.  Nichts  sollte  mir  erspart  bleiben;  alle  Adern 
des  großen  Nervennetzes  der  zeugenden  und  nichts  als 
zu  zeugen  begehrenden  Natur  hast  du  mir  bloßgelegt. 
Keine  Milderung,  keinen  Schleier  sollte  es  für  mich 
geben. 

Nackt  alles  sehen  und  kennen  lernen,  war  dein  Wahl- 
spruch, Mutter,  ich  bin  jung  und  kräftig;  eines  Tages 
habe  ich  selbst  das  Verlangen  verspürt,  das  jede's 
Naturgeschöpf  in  sich  trägt.  Mein  glühendes  Liebe- 
bedürfnis zu  erwidern,  haben  sich  mir  junge  Arme 
geöffnet,  aber  da  hast  du  mir  dein  Halt  zugerufen. 
Eine  Dirne  wäre  ich,  wenn  ich  der  Natur  folgte,  die 
du  tags  vorher  als  rein  und  groß  gepriesen,  und  mit 
Schlägen  und  Schimpf  jagtest  du  mich  aus  deinen 
Hause.  Mutter  —  sie  legte  die  bebenden  Lippen  an 
das  Ohr  der  Frau  —  „du  selbst  bist's,  die  mich  in  die 
Arme  der  Freundin  getrieben,  laß  sie  mir  nun  .  .  .  ." 
(S.  149). 

In  den  verschiedenen  Novellen  des  Bandes  ist  ein 
meist  sexuell-perverses  Problem  behandelt.  Das  homo- 
sexuelle ist  nur  in  der  obigen  Erzählung  berührt. 

Der  geschilderte  Fall  hat  mit  typischer  Homosexualität 
nichts  gemein  und  stellt  nur  die  Ablenkung  des  hetero- 
sexuellen Triebes  in  Folge  der  Unmöglichkeit  seiner 
Befriedigung  dar.  Der  Gedanke  der  Novelle  erhellt  deut- 
lich aus  dem  Titel:  „Neue  Erziehung  und  alte  Moral", 
und  besonders  aus  der  Schlußapostrophe  Seffi's.  Die 
männliche  Erziehung  SeffTs,  die  Abhärtung   des  Körpers 


—    1109    — 

die  Unterdrückung  des  weiblichen  Feingefühls  und  der 
mädchenhaften  Schamhaftigkeit  haben  eine  männliche 
Sinnlichkeit,  eine  glühende  sinnliche  Begierde  zur  Folge. 
Die  alte  Moral  verlangt  aber  Unterdrückung 'des  Fleisches, 
stempelt  den  geschlechtlichen  außerehelichen  Verkehr  zur 
Sünde,  die  Zeugung  des  unehelichen  Kindes  zur  Schmach. 
Dieser  Widerspruch  zwischen  der  neuen  Erziehung  und 
der  alten  Moral  drängt  Seffi  auf  gleichgeschlechtliche 
Bahnen,  wo  sie  mit  der  Stillung  ihrer  Glut  und  der  Be- 
friedigung ihrer  Sentimentalität  gleichzeitig  Sicherheit 
vor  schmachvollen  Folgen  findet. 

Die  Ausführung  dieser  Gedanken  ist  nicht  frei  von 
Mängeln,  denn  die  Sinnlichkeit  SeffVs  wird  nicht  so  sehr 
durch  Erziehung  als  durch  die  in  der  Novelle  den  brei- 
testen Raum  einnehmende  Verführung  und  Einwirkung 
ihrer  Adoptivbrüder  aufgestachelt,  wenn  auch  ihre  Er- 
ziehung sie  dem  Einfluß  der  erwachenden  Sinnlichkeit 
leichter  zugänglich  macht. 

Die  Novelle  macht  den  Eindruck  des  temperamentvoll 
Improvisierten,  etwas  kraß  Hingeworfenen,  Tendenziös- 
gewoll  ten. 

Die  Schlußworte    Seffis    fallen  eigentlich    nicht    aus 

Seffis  Munde,  sondern  aus   dem  Munde   der  Verfasserin, 

welche  mit  ihnen  die  Moral  der  Geschichte  verkünden  will. 

Keben    Georg:     Unmögliche  Liebe    aus:     Unter 

Frauen:      Pariser  Geschichten.     S.  1 — 52      (Jena: 

Hermann  Costenoble  Verlag.)     1901. 

Madame  Claudine  Pron,  die  Kupplerin  und  Inhaberin  eines 

geheimen  galanten  Hauses,  wo  Lebemänner  mit  Frauen  und  Mädchen 

zusammen  kommen,  liebt  selbst  nur  ihr  eigenes  Geschlecht. 

„Nur  die  frische  Sinnlichkeit  reizte  sie,  die  ideale 
Keuschheit,  welche  fruchtbar  wurde  ohne  den  Mann. 
Ihre  Lippen  hätten  niemals  ein  Weib  berührt,  das  in 
ihrem  Hause  verkehrte  und  von  welchem  sie  sah,  das 
es  durch  Wünsche  des  anderen  Geschlechts  sicherweichen 

ließ Claudine's  Liebe  zum  Weibe  war  das  Ende 

und  verletzter  Stolz  der  Anfang  gewesen. 

70* 


—    1110    — 

Gedemütigt  war  sie,  daß  sie  trotz  ihrer  Vorzüge  nie 
ein  Mann  aus  Liebe  begehrte.  Sie  hatte  sich  keinem 
aufgedrängt. 

Eine  vernachlässigte  Frau,  die  gefallen  will,  schien 
ihr  der  Bettlerin  gleich,  die  um  ein  Almosen  bittet.  Aber 
sie  wollte  sich  für  jenen  ungerechten  Zufall  entschädigen. 
(S.  5.) 
Im  Nachtcaffee  erlauscht  sie  die  Unterredung  zweier  Unbe- 
kannten:   Höpfner,  ein  Deutscher,  erzählt  dem  Sänger  aus  Mont- 
martre, Alexander,  seine  Liebe  zu  Lorette,  einer  Buffetdame  eines 
benachbarten  Restaurants,  einer  Unerbittlichen,  die  keusch  wie  der 
Mond  sei. 

Claudine  sucht  Lorette   auf  und  macht  ihre  Bekanntschaft. 
Beide   bringen   einen  Abend  gemeinschaftlich  zu.    Claudine  ent- 
deckt der  unschuldigen  Lorette  ihre  Gefühle.    Beim  Souper  und 
beim  Sekt  im  Nachtrestaurant  überhäuft  sie  Lorette  mit  Liebes- 
erklärungen  und   Liebkosungen.    Claudine  erreicht  ihren  Zweck. 
„Lorette  fand  nicht  mehr  den  Mut,  Claudine  zu  wider- 
stehen, ein  lähmend  schlaffes  Gefühl  zwang  sie  nieder. 
Zu  oft  gab  ihr  Claudine  zu  begreifen,   daß  die  Liebe 
weniger  zu  den  Wissenschaften  als   zu   den  Künsten 
gehöre  und   in  keinem  Fall  zu  den  Dummheiten.     Aus 
reinster  Kindlichkeit  war  Lorette  ein  üppiges  Opfer  ge- 
worden. Ihr  überlistetes  Denken  achtete  die  Verführerin 
mehr,  als   eine  Entehrte   ihren   Verführer  achtet  .... 
Der  Kampf  war  vorbei.     Claudine's  innige  Freundschaft 
hatte  Lorette's  ganzes  Wesen  verändert.   Ihr  Mangel  an 
Selbstbewußtsein,    der    sich    als    Schüchternheit    gab, 
machte  alle  Stufen  geheimer  Entwicklung  durch.    Auch 
war  sie  scheu  und  verschämt  vor  Männern,  dann  wurde 
sie  abstoßend.  Höpfner  kannte  sie  nicht  mehr."  (S.  20.) 
Lorette  wird  ihr  Beruf  lästig,  sie  gibt  ihn  auf.  Claudine  richtet 
ihr  eine  Wohnung  ein  und  unterhält  sie.    Auch  Lorette' s  Äußeres 
ändert   sich  allmählich: 

„Claudine  war  von  rücksichtsloser  Begehrlichkeit,  ihr 
Temperament  war  für  Lorette  vergiftend  gefährlich  .... 
Lorette's  Gesicht  mit  dem  fahlen  Teint  und  den  rötlich 
geschwollenen,   schwarz  umränderten  Augen  erhielt  für 
Claudine  eine  eigene  geistige  Beleuchtung."    (S.  24.) 
Lorette  erfährt  erst  nach  geraumer  Zeit  das  Gewerbe  ihrer 
Freundin.  Sie  glaubt  zuerst,  daß  Claudine  mit  den  in  ihrem  Hause 
verkehrenden  Männern  oder  wenigstens   mit  den  Frauen   sie  be- 
trüge.   Aber  als  Claudine  ihr  schwört,  sie  liebe  nur  ihre  Lorette, 
sie  liabe   nie   ein   Weib   beruht,  das   in   ihrem   Hause   verkehrt 


—  1111   — 

und  die  „sie  in  widerwärtiger  Umarmung  mit  Männern  gesehen," 
verzeiht  ihr  Lorette." 

Während  des  Carnevals  trifft  Höpfner  die  beiden  Frauen  auf 
dem  Maskenball  der  großen  Oper.  Er  errät  das  Verhältnis 
zwischen  Beiden  und  daß  Claudine  ihm  Lorette  geraubt. 

Höpfner  spielt  gegenüber  Claudine  den  Verliebten,  er  ver- 
steht es,  sie  in  den  Glauben  zu  versetzen,  als  begehre  er  sie 
leidenschaftlich. 

Sie  weiß  nicht,  wer  der  maskierte  Liebhaber  ist, 

„aber  zum  ersten  Mal  bekam  sie  einen  Verehrer,  für 
den  sie  nicht  Handelsartikel  war,  sah  einen  Mann  als 
Gefangenen  der  Liebe. 

Ihr  gesunkener  Stolz,  ihr  gebrochenes  Selbstbewußt- 
sein richtet  sich  auf.     Durch  die  unerwartete  Anbetung 
eines  Mannes  war  ihr  aufgedrungener  Haß    gegen   das 
andere  Geschlecht  erloschen".    (S.  40). 
Als  sie  später  in  dem  Liebhaber  Höpfner  den  Deutschen  er- 
kennt, den  sie  schon  früher  im  Restaurant  gesehen  und  der  schon 
damals  „bezwingend  männlich,  naturkräftig  derb  auf  sie  gewirkt 
hatte,"   setzt  sie   seinem  Werben   keinen  Widerstand  entgegen. 
Sie   erinnert  Höpfner   an   seine   unglückliche   Liebe   zu  Lorette. 
Aber  Höpfner  versichert  ihr,  er  liebe  die  Spröde  nicht  mehr,  die 
jetzt  so  grausam  entstellt,  so  kränklich  verlebt  aussähe.    Claudine 
zögert  nicht  mehr;   am   nächsten  Tag  wird  Höpfner  sie  in  ihrem 
Hause  besitzen  dürfen. 

Höpfner  hat  aus  Liebe  gehandelt,  um  sich  an  Claudine 
wegen  Lorette's  Verführung  rächen  zu  können.  Sein  Freund 
Alexander  setzt  Lorette  von  dem  Treubruch  ihrer  Geliebten  in 
Kenntnis,  er  wird  sie  in  Claudine's  Haus  führen,  wo  sie  sich  von 
deren  Untreue  überzeugen  wird. 

Höpfner  kommt  zur  versprochenen  Stunde  zu  Claudine.  Sie 
will  sich  ihm  hingeben,  als  sie  entkleidet  vor  ihm  steht,  weist  er 
sie  jedoch  kühl  zurück:  „Sie  sind  im  undankbaren  Alter,  Madame! 
Ich  bedauere!    Sie  gefallen  mir  nicht!" 

In  diesem  Augenblick  tritt  Lorette  durch  eine  Seitentür 
herein. 

Höpfner  versichert  ihr,  daß  alles  nur  ihretwegen  geschehen 
sei,  ihretwegen,  die  ihn  lieben  solle. 

Aber  als   Lorette  merkt,   daß   der  Streich  einen  Racheakt 
gegen  Claudine  bedeutete,  wendet  sie  sich  erbittert  gegen  Höpfner: 
„Gehen  Sie,  Monsieur!     Wenn   ich  Sie   bisher  ge- 
liebt hätte,   so   liebe   ich  Sie  jetzt   nicht  mehr!    Denn 
Sie   haben   als  Mann   bei   Ihrer  Rache  vergessen:   Die 
Verhöhnte  konnte  sich  nicht  wehren  und  ist  —  wie  ich 
-  ein  Weib."    (S.  51). 


—    1112    — 

Wenn  ein  Deutscher  Pariser  Geschichten  schreibt, 
darf  natürlich  eine  möglichst  krasse  Illustrierung  sogen. 
Pariser  Laster  nicht  fehlen.  Und  so  mußte  natürlich  die 
gleichgeschlechtliche  Liebe  als  lasterhafte  Neigung  und 
Unmoralität  heterosexueller  Frauen  herhalten  und  den 
Anlaß  zu  der  Geschichte  der  erfahrenen  Verführerin,  die 
das  schwache  junge  Mädchen  seelisch  und  körperlich  zu 
Grunde  richtet,  abgeben. 

Zwar  springt  gar  zu  deutlich  die  in  unwahrscheinlicher 
Weise  motivierte  Umwandlung  der  leidenschaftlichen 
Lesbierin  in  die  Augen,  die  plötzliche  Verwandlung  der 
von  instinktiver  Inbrunst  und  Begiede  zu  ihrem  eigenen 
Geschlecht  besessenen  Claudine  in  die  mannstolle  Frau, 
die  sich  durch  die  erheuchelte  Liebeserklärung  eines 
jener  bisher  so  verhaßten  Männer  betören  läßt  und  ihre 
homosexuelle  Glut  einfach  funkenlos  erstickt  und  mit  der 
Leidenschaft  zum  Mann  vertauscht. 

Aber  was  schadet  das,  wenn  man,  wie  der  Verfasser 
es  tut,  diese  Änderung  in  den  Gefühlen  der  Heldin  zu 
einem  packenden  Schluß-  und  Knalleffekt  bequem  ver- 
wenden und  dabei  noch  die  beleidigte  Sexualmoral  rächen 
kann. 

Die  gerügten  Mängel  und  Unwahrscheinlichkeiten 
werden  diejenigen,  welche  die  Homosexualität  nur  aus 
den  Büchern  kennen  und  das  Angeborensein  leugnen, 
nicht  abhalten  in  Keben's  Heldin  ein  Beispiel  ihrer  Theorien 
zu  entdecken.  Hat  doch  schon  Bloch  in  seiner  Ätiologie 
der  Psychopatia  sexualis  mit  Genugtuung  auf  Keben's 
Novelle  hingewiesen.  Trotz  dieser  Bedenken  gegen  die 
Richtigkeit  der  Schilderung  von  Claudine's  Charakter  und 
Natur  muß  die  geistreiche  Silhouettierung  der  feurigen 
Matrone  anerkannt  und  überhaupt  die  elegante  Pointierung 
und  das  rasche  graziöse  Tempo  der  mit  etwas  Pariser  Esprit 
gewürzten  Novelle  gerühmt  werden. 


—    1113    — 

Marie  Madeleine:  1)  Sappho  2)Crucifixa.   Gedichte 

aus  der  Sammlung  Auf  Kypros  (Berlin- Vita.) 

Marie  Madeleine,  die  bekannte  Dichterin,  welche  die 
sinnliche  Liebe  des  Weibes  zum  Mann  in  einer  Anzahl 
von  Gedichten  mit  einer  glutvollen,  ja  brünstigen  Sinn- 
lichkeit, aber  in  einer  etwas  forcierten,  gesucht  kraft- 
vollen Manier  besungen  hat,  widmet  dem  homosexuellen 
Gefühle  nur  die  beiden  Gedichte  „Sappho*  und  „Crucifixa". 

Auch  diese  beiden  Gedichte  geben  mehr  ein  künst- 
lerisch gesuchtes,  gewollt  perverses  Gefühl  wieder,  als 
empfundene  Ursprünglichkeit.  Die  poesievolle  Schönheit 
der  kunstvollen  Strophen  wird  man  aber  rückhaltslos 
bewundern  können. 
Montfort,   Charles:     Le    Journal    d'une    Saphiste: 

(Offenstadt  Paris  1902). 

Aline,  welche  schon  im  10.  Jahr  als  Interne  in  das  Mädchen- 
pensionat gekommen,  befreundet  sich  mit  Juliette.  Zur  Zeit  der 
Pubertät  wird  Aline's  Neugierde  durch  die  Zärtlichkeiten,  die 
sie  zwischen  den  übrigen  Schülerinnen  bemerkt,  erregt  und  ihre  { 

Sinnlichkeit  aufgestachelt.    Die  meisten  Mädchen  schlüpfen  nachts  f 

in  das  Bett  einer  Freundin,  Aline  erlauert  ihre  Küsse  und  engen  j 

Umarmungen.  \\ 

Auch  sie  kommt  eines  Nachts  zu  Juliette  ins  Bett  und 
seither  schlafen  sie  stets  zusammen. 

Das  Verhältnis  mit  Juliette  dauert  nicht  lange,  diese  verläßt 
bald  die  Schule. 

Eine  neue  Schülerin,  Mirette,  ersetzt  sie.  Mirette  und  Aline 
werden  von  einer  gegenseitigen  stürmischen  Leidenschaft  zu 
einander  ergriffen. 

Sie  gestehen  sich  ihre  Liebe. 

Sie  schwören  sich  ewige  Treue. 

Mirette  bringt  auch  die  Ferien  im  Hause  von  Aline  zu. 
Beide  schlafen  in  einem  Zimmer,  sie  leben  Tag  und  Nacht  ihrer 
Liebesleidenschaft. 

Doch  Aline  muß  jetzt  das  Pensionat  verlassen  und  ihr 
Vater  dringt  auf  Verlobung  mit  dem  reichen  Hector.  Aline 
setzt  lange  dem  Begehren  ihres  Vaters  heftigen  Widerstand 
entgegen,  endlich  gibt  sie  nach:  Aber  Mirette  wird  sie  nie 
vergessen  und  auch  nach  der  Heirat  ihr  Liebesverhältnis  fort- 
setzen.   Die  Brautnacht  ist  weniger  schrecklich  verlaufen,  als  sie 


—    1114    — 

gefürchtet.  Sie  haßt  zwar  ihren  häßlichen  Mann  und  hat,  das 
Bild  Mirette's  vor  Augen,  die  männliche  Umarmung  erduldet,  aber 
Hector  hat  sich  anständig  benommen.  Der  Ehemann  entdeckt 
das  Verhältnis  seiner  Frau  mit  Mirette,  welche  die  Ferien  im 
Hause  zubrachte. 

Er  verbietet  Aline  die  Freundin  wiederzusehen.  Im  Ver- 
steckten verkehren  aber  beide  weiter  mit  einander.  Hector,  der 
sie  ausspioniert,  erfährt  es.  Aline  muß  zwischen  ihm  und  Mirette 
wählen.  Sie  verläßt  ihren  Mann  und  lebt  mit  Mirette,  die 
inzwischen  aus  dem  Pensionat  ausgetreten,  zusammen. 

Aus  Neugierde,  aus  Langeweile  und  nicht  zuletzt  um  Geld 
zu  bekommen  —  denn  sie  hat  kein  Vermögen  mehr,  ihr  Vater 
ist  völlig  ruiniert  gestorben  und  ihr  Mann  gibt  ihr  nichts  —  wird 
Aline  die  Maitresse  eines  Freundes  ihres  Mannes.  Mirette  darf 
aber  hiervon  nichts  erfahren.  Die  gegenseitige  Liebe  beider 
Frauen  dauert  fort. 

Mirette  erkrankt  an  hysterischen  Nervenkrämpfen,  die 
Leidenschaft  und  der  übermäßige  Sinnengenuß  töten  sie;  ihr 
Körper  ist  völlig  erschöpft,  nichts  kann  sie  retten;  sie  stirbt. 
Aline's  Tagebuch  —  der  Roman  ist  in  dieser  Form  geschrieben  — 
endigt  mit  den  Worten: 

„Meine  letzte  Bitte  wird  sein: 
„Frauen,  erstrebet  als  Liebe,  nur  die  einzige  und  die 
starke,  diejenige,  welche  die  ganze  Menschheit  beherrscht; 
die  gesunde  und  ehrbare,  die  kräftigende  und  herrliche, 
weil  zeugende,  die  Liebe  des  Mannes."    (S.  216.) 

Ähnliche  Ermahnungen  enthalten  auch  der  als  Vorwort 
dienende  Brief  der  Heldin. 

Sie  will  einem  Freund  die  Einsicht  des  Tagebuchs  gewähren, 
damit  „seine  Maitressen  und  alle  übrigen  Frauen  sich  vor  der 
unsinnigen  lesbischen  Liebe  hüten." 

Der  Roman  entbehrt  jeder  tieferen  Charasteristik,  jeder 
Psychologie,  jeder  Stimmung  und  sonstiger  künstlerischen 
Vorzüge.  Die  Leidenschaft  der  beiden  Frauen  wird  in  be- 
haglicher Pikanterie  und  Sinnlichkeit  geschildert. 

Der  angebliche  moralische  Zweck:  Warnung  und 
Abschreckung  vor  dem  Sapphismus  insbesondere  durch  die 
Erzählung  des  —  übrigens  in  plumper  und  wohl  medicinisch 
kaum  haltbaren  Weise — dargestellten  Todes  einerLesbierin 
darf  über  den  Wert  des  Buches  nicht  hinwegtäuschen. 

Das  moralische  Pflästerchen,  mit  dem  Montfort  das 
Tagebuch  zum  Beginn  und  zum  Schluß  einkapselt,  kann 


—    1115    — 

den  wahren  Zweck  des  Romans  nicht  verbergen,  den  der 
bloßen  lüsternen  Sensation,  welchen  auch  die  beigegebenen 
ans  Obscöne  grenzenden  Bilder  veranschaulichen. 

Möller,  O.  W. :  Wer  kann  dafür?  Eine  sexual- 
psychologische Schilderung  aus  dem  Dänischen,  über- 
setzt von  Dr.  Richard  Meienreis.  (Leipzig: 
Spohr  1901.) 

In  einem  Vorwort  macht  der  Übersetzer  auf  die  Wichtig- 
keit der  homosexuellen  Frage  aufmerksam. 

Das  Problem  sei  bisher  wohl  in  der  französischen  Belletristik, 
kaum  aber  in  der  deutschen  behandelt  worden. 

Und  doch  wäre  es  eine  ganz  unangebrachte,  ja  verderbliche 
Prüderie,  sich  hier  mit  Vertuschen,  Verheimlichen  und  Drüber- 
hingehen  immer  weiter  helfen  zu  wollen,  anstatt  Klarheit  zu 
schaffen  und  der  Sache  auf  den  Grund  zu  gehen. 

Viele  unglücklichen  Ehen  und  auch  die  Erzeugung  Homo- 
sexueller könnten  verhütet  werden. 

Aufklärung  und  Wahrheit  könnten  nur  Segen  stiften. 
Es   müsse  daher  als  hohe   sittliche  Pflicht  einer  wahrhaft 
volkstümlichen  Verlagsanstalt  bezeichnet  werden,  das  Dunkel  zu 
lichten  und  alte  Vorurteile  zu  zerstreuen. 

Im  vorliegenden  Buch  werde  das  Problem  der  gleich- 
geschlechtlichen Empfindung  mit  so  feiner,  bis  in  die  kleinsten 
Fasern  richtiger  Beobachtung,  dabei  mit  solcher  Decenz  und  so 
hohem  sittlichen  Ernst  behandelt,  daß  er  (Meienreis)  es  für  ver- 
dienstlich erachte,  dasselbe  einem  größeren  deutschen  Leserkreis 
zugänglich  zu  machen. 

Die  Novelle:  Dr.  Jünger,  Astronom  von  Beruf,  und  als 
Verfasser  eines  erfolgreichen  Romans  bekannt,  kommt  als  erster 
Assistent  an  das  Observatorium  von  Heidelberg.  Dort  wird  er 
Hausfreund  in  der  Familie  eines  feingebildeten,  liebenswürdigen 
früheren  Offiziers.  Die  eine  Tochter,  Nina,  ist  eine  eigenartige 
Persönlichkeit. 

„Sie  war  alles  andere  als  schön."  .  .  . 

„Es  war  kurz  gesagt  etwas  —  man  kann  nicht 
sagen  Emanzipiertes,  nicht  einmal  Unweibliches  oder 
absolut  Unschönes  —  über  sie  ausgebreitet,  in  Ermange- 
lung eines  treffenderen  Ausdrucks  könnte  man  sagen: 
etwas  Originelles  und  Problematisches.  Sie  würde  einen 
Psychologen  mehr  interessiert  haben,  als  einen  Ball- 
kavalier."   (S.  10.) 


—    1116    — 

„Keine  sichtliche  Rundung  der  Brust  verriet  das  Weib, 

ihre  Gesichtszüge  waren  scharf  markiert,   und  in  ihrem 

Blick  lag  etwas  Festes  und  Selbstbewußtes,  wie  man  es 

nur  selten  bei  einem  weiblichen  Wesen  findet".  (S.  25.) 

Beide,  Nina  und  Jünger,   werden  aufs   engste  befreundet; 

Nina,  obwohl  sonst  verschlossen,  gewährt  Jünger  allmählich  einen 

Einblick  in  ihr  Seelen-  und  Geistesleben. 

Aber  ein  Etwas  ist  in  ihr,  das  Jünger  nicht  begreift  und  sie 
selbst  gesteht  ihm,  daß  er  sie  nicht  völlig  kenne: 

„Ich  bin  bizarr",  sagt  sie,  „viel  mehr  als  sie  ahnen. 
Ich  betrachte  Sie  als  einen   Freund.     Nicht  wahr,  so 
betrachten  Sie  mich  auch?    Wir  haben  so  viele  Sym- 
pathien  gemeinsam,   und  doch   würden  sie  mich  nicht 
verstehen  können,  wenn  ich  Ihnen  alles  erzählte  —  selbst 
meine   nächsten  Angehörigen  würden   mich    am   Arm 
nehmen  und  schütteln  und  fragen,  ob  ich  verrückt  sei." 
(S.  29.) 
Jüngeres  freundschaftliche  Gefühle  verwandeln  sich  allmählich 
im  Verkehr  mit  der  geistig  und  seelisch  interessanten  Nina  in  Liebe. 
Er  gesteht  ihr  seine  Zuneigung.     Aber  Nina  liebt  ihn  nicht. 
Verzweifelt  kündigt  ihr  Jünger  an,  er  werde  fortziehen,  sie  möge 
ihn  vergessen. 

Nunmehr  offenbart  ihm  Nina  ihre  wahren  Gefühle  und  ihr 
bisher  so  sorgsam  gehütetes  Geheimnis. 

Das  Unglaubliche,  das  Seltene  an  ihr  sei  .  .  .  ein  Weib. 
Sie  liebe  eine  Freundin.  Jünger  könne  ihr  nicht  mehr  werden, 
als  ein  Freund,  aber  dieser  möge  er  bleiben,  sie  könne  ihn  nicht 
vermissen. 

Jünger  betrachtet  ihre  seltsame  Liebe  als  eine  Art  Krankheit, 
noch  könne  ihr  Gefühl  sich  ändern,  er  hofft  auf  Heilung. 

Wiederum   verkehren   beide  wochenlang    in    alter   inniger 

Freundschaft  weiter,   bis  endlich  Nina  glaubt,  Jünger  zu  lieben. 

Jubelnd  schreibt  sie  ihm :   „Ich  liebe  Sie,  ich  liebe  Sie  innerlich." 

Aber  auch   in   ihren   Gefühlsausbrüchen   gegenüber  Jünger 

klingt  ihre  Neigung  für  das  Weib  nach. 

„Ich  habe  niemals  einen  Mann  geküßt,  und  doch 
habe  ich  so  innerlich  nach  Liebe  gelechzt;  ich  wäre 
vergangen,  wenn  ich  nicht  jemand  geküßt  hätte.  Es  ist 
nicht  Schönheit,  worauf  ich  sehe,  nein,  es  ist  ein  gewisser 
leuchtender  Schein,   ein   ganz   eigener  Duft,   der  über 

eine  Frauensperson  ausgebreitet  sein  kann 

Wenn  ich  weiter  des  Nachts  träumte,  und  sie  mich  im 
Traume  küßte,  war  ich  froh  und  zehrte  davon  den 
ganzen  Tag,  denn  sie  gab  mir  selten  mehr  als  die 
Hand  .  .  ."  (S.  65.) 


—    1117    — 

Jünger  glaubte  Nina  nunmehr  für  immer  gewonnen  zu  haben, 
er  darf  ihr  den  ersten  Kuß  auf  die  Lippen  drücken,  den  sie  er- 
widert, ihn  ihrer  Liebe  versichernd. 

Doch  nur  kurz  ist  ihr  Glück.  Nina  fühlt  bald,  daß  sie  Jünger 
doch  nicht  liebe,  wie  sie  den  Gatten  lieben  müßte.  Schon  ihn 
zu  küssen,  wird  ihr  schwer,  sie  wird  sich  bewußt,  daß  keine 
Änderung  ihrer  Natur  sich  vollzogen  hat  und  daß  eine  Ehe  mit 
Jünger  unmöglich  ist: 

„Ich  bin  unglücklich  darüber",  schreibt  sie  ihm,  „daß 

ich  Dich  nicht  liebe.   O  Gott,  so  war  das  nur  ein  Traum, 

—  ich  kann  also  keinen  Mann   lieben!    Du  bist  mein 

bester,   mein   aufrichtigster   Freund,   aber  nicht  mehr; 

ich  kann  Dir  alles  anvertrauen,  aber  nicht  Dich  lieben. 

O  vergib,  vergib!"    (S.  77.) 

Noch   will  Jünger  nicht  alle  Hoffnung  aufgeben,  ein  Jahr 

lang  soll  sie  seine  Braut  bleiben.     Vielleicht  werde   dann  noch 

alles  gut,  sie  soll  in  dieser  Zeit  „die  Freundin  nicht  mehr  sehen, 

niemanden  mit  Liebe  küssen,   bei  niemanden   Liebe  suchen  im 

ganzen  folgenden  Jahr." 

Aber  auch  das  vermag  Nina  ihm  nicht  zu  versprechen. 

„Sie  saß  fast  eine  Stunde  ganz  still,  gleichsam  um 
nachzudenken,  dann  aber  bekam  sie  auf  einmal  Kraft 
zum  Sprechen:  Nein,  Otto,  nein,  das  kann  ich  nicht, 
selbst  wenn  es  mein  Leben  gälte,  hörst  Du !  .  .  .  Nein 
ich  mag  das  nicht  versprechen,  denn  ich  würde  es  nicht 
halten  können.  Du  ahnst  nicht,  was  Du  verlangst,  Du 
kennst  mich  doch  noch  nicht  ganz  und  weist  nicht,  wie 
groß  die  Leidenschaft  ist,  die  in  meiner  Brust  glüht. 
Du  könntest  gerade  so  gut  mein  Leben  fordern,  als  sie 
nicht  mehr  sehen  zu  dürfen,  Du  würdest  nur  mein 
Leben  verbittern,  ohne  selbst  irgend  welche  Freude 
davon  zu  haben.  ...  Ich  kann  wach  vor  Sehnsucht 
liegen,  halbe  Nächte  hindurch,  wenn  die  eine  oder  die 
andere  Dame  —  in  der  Gesellschaft  zum  Beispiel  — 
mir  etwas  Entgegenkommen  gezeigt  hat.  Ohne  ein  Weib 
zu  küssen,  kann  ich  nicht  leben."  (S.  81.) 
Beide  fühlen,  daß  Jünger  nicht  mehr  bleiben  kann,  daß  er 
nur  noch  unglücklicher  werde,  wenn  er  Nina  nicht  zu  vergessen 
suche. 

„Sie  waren  „Beide  unglücklich,  grenzenlos  unglück- 
lich". „Sein  Leben,  seine  Zukunft  hatte  er  auf  sie  gebaut, 
nichts  gedacht  ohne  sie,  alles  mit  ihr  .  .  .  Und  sie 
hatte  ihn  lieb  gehabt,  innig  lieb.  Nur  „lieben"  hatte  sie 
nicht  sagen  können!     Ein  Haarbreit   mehr,    ein  Milli- 


—     1118     — 

gramm  mehr  in  die  Wagschale  und  sie  hätte  ihn 
geliebt.  —  Aber  die  Natur  hatte  selbst  die  Schranke 
gezogen:  sie  konnte  keinen  Mann  lieben.  — "  „Wer 
faßt  sie  ganz,  die  Tragik  derartiger  Menschenschick- 
sale?! .  .  .«    (S.  84.) 

Und  doch  müssen  sie  „Tausende  solch  unglücklicher 
Geschöpfe  an  sich  selbst  erfahren,  die  ein  wunderliches 
Spiel  der  Natur  in  die  Welt  hinausstieß,  wo  sie  außer 
den  namenlosen  geheimen  Seelenqualen  ihres  Innern  oft 
auch  noch  statt  Mitleid  die  Verachtung  und  den  Hohn 
ihrer  glücklicher  gearteten  Mitgeschöpfe  zu  ertragen 
haben,  wenn  sie  nicht  ihre  eigenartige  Naturanlage,  an 
der  sie  schuldlos  sind,  als  tiefstes  Geheimnis  stets  in 
sich  verschließen  und  —  zuwider  dem  ihnen  meist  inne- 
wohnenden Wahrheitsdrang  —  zeitlebens  als  lebende 
Lügen  einhergehen/    (S.  83. 

Jünger  scheidet  von  Nina: 

„Zum  letztenmal  schloß  er  sie  in  seine  Arme. 

„Küsse  mich  zum  Abschied,  Du  Geliebte!"  flüsterte  er. 

Halb  mechanisch  ließ  sie  es  geschehen,  daß  er  sie  küßte, 
aber  ihre  Lippen  waren  kalt  wie  die  einer  Toten. 

Er  riß  sich  los. 

„Lebe  wohl,  meine  einzige  Nina",  sagte  er,  „weine  nicht 
um  meinetwillen;  Du  kannst  ja  nichts  dafür." 

„Nein,  ich  kann  nichts  dafür,  ich  kann  nichts,  ich  kann 
nichts  dafür!"  Es  klang  beinahe,  wie  ein  Aufschrei.  „O,  daß 
Du  ein  Weib  wärest,  damit  ich  Dich  lieben  könnte!" 

Sie  sank  zurück  und  verbarg  ihr  Gesicht  in  den  Händen. 

So  schieden  sie."    (S.  86.) 

Arm  an  äußeren  Geschehnissen  und  klein  an  Umfang 
ist  die  psychologische  Analyse  der  Novelle  um  so  reicher 
und  der  Gehalt  an  seelischer  Feinheit  um  so  größer. 

Dem  Verfasser  ist  es  gelungen,  ein  anschauliches 
und  ergreifendes  Bild  einer  homosexuellen  Frauenseele 
zu  geben  und  aus  dem  Einzelfall  typische  Züge  zu  ge- 
winnen. 

Nina  empfindet  die  homosexuelle  Neigung  als  natür- 
liche Regung,  als  Naturnotwendigkeit,  aber  zugleich  unter 
dem  Einfluß  der  sie  umgebenden,  anders  gearteten  Welt 
kommt  ihr  das  Seltsame,  Außergewöhnliche  ihrer  Leiden- 
schaft zum  Bewußtsein  und  zwingt  sie  zu  tiefstem  Ver- 


—    1119    — 

bergen  ihrer  ureigensten  Gefühle.  Dieser  Zwang  zur 
Heuchelei  steht  aber  im  vollsten  Widerspruch  zu  Nina's 
offenem  Charakter,  zu  ihrem  Wahrheitsdrang,  ihrem 
Freiheitsdurst.  Und  so  bewirkt  dieser  Konflikt  zwischen 
Sein  und  Scheinen,  zwischen  Individualität  und  not- 
gedrungenem Konventionalismus  eine  Disharmonie  in 
ihrem  ganzen  Wesen,  die  sich  in  ihrem  Benehmen,  ihrem 
Denken  und  Wollen,  ja  in  ihrem  Äußern  widerspiegelt 
und  zu  einer  mysteriösen,  rätselhaften  Persönlichkeit 
stempelt.  Aus  der  Aufrichtigkeit  des  Charakters  und 
der  Lauterkeit  ihrer  Gesinnung  fließt  dann  das  tief- 
empfundene Bedürfnis,  dem  verständnisvollen  Freund 
gegenüber  sich  von  dem  Druck  des  lastenden  Geheim- 
nisses zu  befreien. 

Allerdings  zuerst  zaghaft  und  zurückhaltend  ent- 
quillt das  Tief  verborgene  ihren  Lippen;  beschönigend 
zeigt  sie  zuerst  nur  die  edleren  Seiten  ihrer  Homo- 
sexualität. Später  aber  wagt  sie  es,  mutig  und  uner- 
schrocken ihre  ganze  Seele  mit  allen  ihren  geheimsten 
Trieben  und  sinnlichen  Begehren  bioszulegen.  Mit  dem 
rückhaltlosen  Enthüllen  ihrer  wahren  Natur  entschädigt 
sich  Nina  gleichsam  für  das  langverhaltene  Geheimnis, 
für  das  heuchlerische  Schweigen,  das  ihr  so  lange  auf- 
gezwungen. 

Zugleich  erfleht  sie  in  der  freiwilligen  Blosstelluug 
ihrer  Schwächen  ihre  Sühne  und  Entschuldigung  für 
ihre  sie  beherrschende  glühende  Sinnlichkeit. 

Andererseits  aber  ist  es  Stolz  und  Selbstbewußtsein, 
das  aus  ihr  spricht,  ist  es  der  Durchbruch  der  vollen 
Individualität,  die  ihre  Eigenart  nicht  verläugnet,  die  sich 
in  ihren  Höhen  und  Tiefen  bejaht. 

In  diesem  Bekenntnis  offenbart  sich  das  Urwüchsige, 
Angeborene,  Zwangs-  und  Schicksalsmäßige  der  homo- 
sexuellen Leidenschaft,  das  Nichtsdafürkönnen,  das 
Nichtandersseinkönnen,  welches  eine  Liebe  zu  Jünger  zu 


—     1120    — 

einer  durch  ihre  Natur  bedingten  Unmöglichkeit  macht, 
obgleich  sie  den  wie  keine  andere  Person  ihr  sympathi- 
schen, mit  ihr  geistig  harmonierenden  Freund  schätzt 
und  achtet,  obgleich  der  Wunsch  sie  beseelt,  ihn  zu 
lieben,  wenn  sie  nur  könnte. 

Hierin  liegt  die  Tragik  der  Novelle,  in  der  Kluft, 
die  Beide,  Jünger  und  Nina,  trotz  ihrer  gegenseitigen 
Anziehung  und  gemeinsamen  Sympathien  von  einander 
trennt  —  tiefer,  als  sonst  Mann  und  Frau  — ,  in  der  Unglück-* 
liehen  Liebe  Jünger's  zu  einer  Frau,  deren  Natur  hoff- 
nungslos Gegenliebe  ausschließt,  zu  einem  Wesen,  äußer- 
lich Frau  und  doch  keine  Frau,  die  in  ihrem  Innersten 
stets  ihm  fremd  bleiben  muß. 

Der  Aufbau  ist  interessant  und  fesselnd.  Das  Ganze 
zeichnet  sich  durch  eine  stimmungsvolle  Schlichtheit  aus, 
die  namentlich  in  der  Schlußszene  ergreifend  und  über- 
zeugend wirkt. 

Liane  de  Pougy.  Idylle  Saphi.que  roman  (Paris  librairie 
de  la  Plume  1901.    330  S.) 

Annhine  de  Lys,  die  berühmte  Pariser  Courtisane,  eine  der 
Königinnen  der  Halbwelt,  hat  die  Liebe  einer  jungen,  20jährigen 
homosexuellen  Amerikanerin,  Florence  Bradfford,  entfacht.  Florence 
verschafft  sich  ohne  Weiteres  Eingang  zu  Annhine  und  gesteht 
ihr  ihre  glühende  Leidenschaft.  Annhine  hat  nicht  die  Seele  der 
gewöhnlichen  Buhlerin.  Zwar  verkauft  sie  ihren  Körper  dem 
Manne  und  läßt  sich  von  einem  vielfachen  Millionär  fürstlich 
unterhalten,  aber  ihre  Seele  strebt  nach  Höherem,  Edlerem;  ein 
ungestilltes  Bedürfnis  nach  wirklicher  Liebe,  nach  Zärtlichkeit 
erfüllt  sie. 

Das  Genus-  und  Luxusleben  hinterläßt  in  ihrem  Innern  nur 
eine  furchtbare  Einöde,  einen  unbegrenzten  Ekel  zurück,  sie  lechzt 
nach  Neuem,  nach  Veränderung.. 

Annhine  ist  nicht  homosexuell  und  hat  noch  niemals  von 
dem  „Lesbischen  Laster"  gekostet.  Gerührt  und  geschmeichelt 
durch  die  Anbetung  und  Vergötterung,  die  Florence  ihr  entgegen- 
bringt, durch  ihre  Leidenschaft,  Schönheit  und  Zärtlich- 
keit, empfindet  sie  selbst  freundschaftliche,  ehrliche  Zuneigung 
zu  dem  jungen  Mädchen.  Ihre  Seelen  harmonieren  und 
verstehen    sich.    Annhine    läßt    sich    von    ihr   bewundern    und 


—     1121     — 

liebkosen,   aber  das  Ziel  ihrer  Wünsche,   den  geschlechtlichen 
Verkehr,  gestattet  sie  ihr  nicht. 

Die  Freundin  von  Annhine,  Altesse,  die  energischere,  weniger 
sentimentale,  zielbewußtere  Courtisane  warnt  sie,  sich  nicht  von 
der  Leidenschaft  Florence's  umstricken  zu  lassen,  eine  „lesbische 
Liebe  würde  ihre  schwache  Gesundheit,  ihre  schon  kranken 
Nerven  zerrütten,  schon  viele  bekannte  Pariserinnen  seien  an 
dieser  Leidenschaft  zu  Grunde  gegangen." 

Florence  ist  verlobt  mit  einem  reichen  jungen  Amerikaner, 
Willy.  Sie  hat  ihrem  Bräutigam  ihre  homosexuelle  Natur  offen- 
bart und  ihn  in  ihre  Neigungen  völlig  eingeweiht.  Er  liebt  nur  ihre 
schwärmerische  Seele,  mit  ihrem  Körper  kann  sie  anfangen,  was 
sie  will.  Um  ihren  Bräutigam  zu  erproben,  hat  sie  vor  seinen 
Augen  weibweiblicher  Umarmung  sich  hingegeben;  er  selbst  mag 
sich  dann  sinnlich  befriedigen  mit  schönen  Frauen,  die  sie 
ihm  selbst  ausgesucht.  Bisher  war  ihr  Bräutigam  nicht  eifer- 
süchtig auf  ihre  Geliebten,  aber  das  Verhältnis  mit  Annhine  erregt 
seine  Eifersucht,  er  fühlt,  daß  Florence  eine  tiefere  Liebe  zu  der 
berühmten  Courtisane  gefaßt  hat,  er  fürchtet,  die  Seele  seiner 
Braut  zu  verlieren. 

Um  Florence  Abscheu  vor  Annhine  einzuflößen,  bestellt  er 
diese,  die  ihn  nicht  kennt,  durch  eine  Kupplerin  zu  einem  Stell- 
dichein, unter  dem  Vorwand  eines  heftigen  sinnlichen  Begehrens. 
Annhine,  die  gewöhnlich  auf  derartige  Angebote  nicht  eingeht  — 
sie  hat  allen  nur  erdenklichen  Luxus  von  ihrem  Herrn,  dem  sie 
in  5  Jahren  4  Millionen  kostete  —  läßt  sich  doch  durch  die  an- 
gebotene Summe  von  25000  Fr.  für  die  einmalige  Hingabe  an 
den  Amerikaner  verlocken.  Als  sie  nackt  im  Bette  liegt,  ruft 
Willy  seine  Braut  herein  und  zeigt  ihr  ihre  angebliche  Freundin, 
die  sich  einem  Fremden  verkaufte. 

Aber  die  Wirkung  auf  Florence  ist  nicht  die  erhoffte.  Sie 
bricht  mit  Willy  und  verzeiht  Annhine. 

Beide  verkehren  inniger,  vertrauter  als  zuvor,  aber  immer 
noch  kann  Annhine  keine  sinnliche  Liebe  für  Florence  fühlen : 

„Ich  bin  ein  ganz  einfacher  Charakter  im  Grund" 
sagt  sie  zu  Florence,  „obgleich  berühmt  und  überall 
gekannt,  und  niemals,  ich  schwöre  es,  habe  ich  noch 
das  Laster  berührt,  von  dem  Du  beseelt  bist!  Du  ver- 
stehst mich  nicht,  ich  will  nicht  die  Kokette  mit  Dir 
spielen,  noch  weniger  Deine  Begierde  durch  meine 
Weigerung  steigern!  Sieh,  wenn  Du  meine  Hingabe 
verlangst,  bin  ich  die  Deine,  nimm  mich  hin.  Es  wird 
die  peinliche  Fortsetzung  sein  alles  dessen,  was  ich  seit 
Jahren  erduldet.     Du  bist  in  mein  Leben  gekommen  in 


—     1122    — 

einem  Augenblick  des  Ekels  und  des  Überdrusses,  als 
ich  irgend  etwas  wollte:  etwas  Gutes,  etwas  Wahres, 
Neues,  Besonderes.  Da,  Florence,  hast  Du  mein  Inter- 
esse erweckt.  Zuerst  habe  ich  Dich  ausgelacht,  dann 
hat  mich  Dein  Liebreiz  angezogen.  Deine  Perversität 
umstrickt  mich  und  stößt  mich  zurück.  Sie  erinnert 
mich  zu  sehr  an  das,  was  mein  Beruf  ist.  Du  hast  mir 
neue  Horizonte  geöffnet,  Du  scheinst  verstanden  zu 
haben,  was  in  mir  vorgeht.  Ich  liebe  Dich  mit  zartem  Gefühl, 
das  nichts  verderbliches  enthält.  Deine  Worte  wiegen 
mich  in  seltsamer  Weise.  Ich  bin  viel  mehr,  viel  besser 
die  Deine,  als  auf  die  andere  Art,  handele  aber  nach 
Deinem  Willen,  ich  werde  nicht  mehr  versuchen,  Dir 
abzuwehren,  aber  ziehe  nicht  das  zarte  Gefühl,  das  ich 
für  Dich  fühle,  in  den  Kot. 

Ich  will  wahr  und  offen  mit  Dir  sein  und  nicht 
untertänig  und  lügnerisch  wie  alle  Tage  und  wie  mit 
allen  andern." 

Bevor  Florence  Annhine  kennen  gelernt,  hatte  sie  zahlreiche 
homosexuelle  Liebschaften,  zuletzt  mit  Jane  d'Espant,  einer  vor- 
nehmen. Dame  aus  der  Gesellschaft.  Diese  hat  eine  dauernde 
Leidenschaft  zu  Florence  gefaßt  und  will  die  Geliebte  nicht  preis- 
geben. Verzweifelt  eilt  sie  zu  Annhine,  unter  Tränen  flehend,  ihr 
nicht  die  Geliebte  zu  rauben;  Annhine  tröstet  und  beruhigt  sie 
durch  die  Versicherung,  daß  ihr  Verhältnis  mit  Florence  nicht 
das  sei,  was  diese  glaube,  da  sie,  Annhine,  nicht  Lesbierin  sei. 

Auf  einem  Ball,  wo  die  Schönheiten  von  ganz  Paris  er- 
scheinen und  auch  zahlreiche  Lesbierinnen,  bringen  Annhine  und 
Florence,  beide  kostümiert,  vergnügte  Stunden  ausgelassener 
Fröhlichkeit  zu.  Aber  Jane  d'Espant  hat  sie  erkannt.  Sie  hat 
jetzt  die  Gewißheit  erlangt,  daß  sie  das  Herz  von  Florence  ver- 
loren hat  und  von  Schmerz  und  Verzweiflung  überwältigt,  ersticht 
sie  sich  vor  den  Augen  der  Geliebten. 

Das  Ereignis  übt  eine  solche  erschütternde  Wirkung  auf 
Annhine  aus,  daß  sie  erkrankt.  Sie  muß  fort  von  Paris,  ihrem 
aufreibenden  Großstadtleben,  dem  Einfluß  von  Florence  ent- 
zogen werden.  Mit  ihrer  Freundin,  Altesse,  verweilt  sie  einige 
Monate  in  Italien  und  Spanien.  In  verschiedenen  Abenteuern 
sucht  sie  Zerstreuung,  aber  der  Gedanke  an  Florence  verläßt  sie 
nicht  mehr.  Nachdem  sie  wieder  nach  Paris  zurückgekehrt,  findet 
ihr  Herz  eine  Zeit  lang  in  einer  heftigen  Leidenschaft  zu  einem 
ganz  jungen  Manne  Befriedigung.  Das  Verhältnis  ist  jedoch  nur 
von  kurzer  Dauer.  Der  Geliebte  muß  auf  Befehl  seiner  Eltern 
Paris  verlassen. 


—    1123    — 

Immer  mächtiger  wird  jetzt  ihre  Sehnsucht  nach  Florence 
und  beide  treffen  sich  wieder.  Stunden  gemeinsamen  Seelen- 
austauschs  und  innigster  geistiger  Gemeinschaft  verbringen  sie 
nach  der  langen  Trennung,  wie  zwei  Geliebte,  die  sich  endlich 
wieder  gefunden.  Annhine  kämpft  nicht  mehr  gegen  das  Gefühl, 
das  sie  mächtig  zu  Florence  hinzieht,  auch  ihre  Sinnlichkeit  ist 
erwacht  und  Alles  ist  sie  bereit  der  Geliebten  zu  gewähren.  Aber 
noch  fühlt  sie  eine  Art  Scham,  in  dem  Hause,  wo  sie  dem  Manne 
käuflich  angehörte,  sich  ihrer  schönen,  hehren  Liebe  hinzugeben. 

Annhine  glaubt  sich  infolge  eines  körperlichen  nervösen 
Zustandes  schwanger,  und  als  ihr  Herr  diese  Nachricht  kühl  und 
mit  sichtlichem  Unbehagen  empfängt,  kommt  es  zwischen  Beiden 
zum  Bruch.  Annhine  schleudert  ihm  ihren  Groll  und  ihren  Haß 
gegen  ihn  und  die  Männer  überhaupt  ins  Gesicht,  geißelt  seinen 
Egoismus,  der  nur  das  Weib  als  Werkzeug  der  Wollust  behandelt 
und  jeder  wahren  Liebe  ermangelt. 

Annhine  erkrankt  schwer,  sie  wird  in  einem  Krankenhaus 
untergebracht.  Florence  gelingt  es,  sie  auch  dort  zu  sehen. 
Beide  schmieden  Pläne  für  die  Zukunft,  sie  wollen  weit  fort  von 
Paris,  ganz  für  sich  in  wahrer  Ehe  leben,  Florence  wird  sich  mit 
Willy  aussöhnen  und  ihn  heiraten,  er  wird  sich  an  ihrem  geistigen 
Besitz  genügen  und  ihr  Beider  Beschützer  sein.  Florence  schreibt 
auch  an  Willy,  der  nach  Amerika  zurückgekehrt  ist,  er  nimmt  mit 
Freuden  die  Versöhnung  an. 

Aber  Annhine  wird  immer  schwächer,  sie  gelobt  sich,  wenn 
ihre  Schmerzen  aufhören  und  sie  genesen  sollte,  alle  ihre  Kräfte 
dazu  zu  verwenden,  Florence  von  ihrer  lesbischen  Leidenschaft 
abzubringen  und  sie  zur  wahren  Gattin  WilJy's  zu  machen. 
Annhine's  Krankheit  nimmt  jedoch  zu,  sie  stirbt.  Florence  wird 
jetzt  Willy  nicht  heiraten,  dies  ist  nun  für  sie  zwecklos,  sie  tele- 
graphiert ihm,  nicht  nach  Europa  zu  kommen. 

Ein  besonderes  Interesse  bietet  der  Roman  schon 
deswegen,  weil  die  Verfasserin  selber  zu  den  bekann- 
testen Persönlichkeiten  der  Halbwelt  zählt,  die  sie  in 
verschiedenen  Exemplaren  schildert,  zu  jenen  fast  europäi- 
schen Berühmtheiten,  deren  Bilder  die  Schaufenster  in 
Paris,  Trouville,  Nizza,  Ostende  schmücken.  Kein 
Wunder  daher,  daß  mau  in  der  Darstellung  und  der 
Psychologie  der  Cöurtisane  den  Eindruck  der  Wahr- 
haftigkeit empfängt.  Mag  man  auch  die  Lebensweise 
derartiger    Frauen    in    sittlicher  Beziehung   nicht    höher 

Jahrbuch  V.  71 


—    1124    — 

werten  als  diejenige  der  gewöhnlichen  Dirnen,  so  er- 
wecken doch  die  blendenden  Eigenschaften  des  Geistes 
und  Intellectes,  wie  sie  die  Heldin  Annhine  aufweist  und 
von  denen  Verfasserin  selber  in  ihrem  eigenartigen 
Roman  ein  glänzendes  Zeugnis  abgelegt  hat,  Bewunderung 
und  rufen  die  Erinnerung  an  griechische  Aspasien  wach. 
Gewisse  Stellen  des  Buches  atmen  echt  weibliche 
Zartheit  der  Stimmung  und  des  Gefühls,  seelenvolle 
Poesie. 

Die  gewagtesten  Situationen  und  Gefühle  werden 
zwar  mit  einer  Art  selbstverständlicher  Unverschämtheit 
und  Keckheit  geschildert,  stets  wird  aber  Brutalität  oder 
andererseits  auch  pikante  Lüsternheit  taktvoll  vermieden. 
Die  homosexuelle  Natur  von  Florence  ist  mit 
scharfen  Augen,  denen  wohl  die  Gelegenheit  nicht  gefehlt 
hat,  ähnliche  Wesen  in  der  Wirklichkeit  zu  beobachten, 
gezeichnet:  Das  frühzeitige  Auftreten,  das  Angeboren- 
sein des  konträren  Triebes,  der  mächtige  sinnliche  Impuls 
und  die  stürmische  Exaltiertheit  der  Leidenschaft  und 
aus  dieser  fließend  die  Auflassung  der  lesbischen  Liebe 
als  der  zarteren,  feinfühligeren,  besseren  im  Gegensatz  zu 
der  gröberen,  brutaleren  zum  Mann. 

In  folgenden  Stellen    erhält    man    ein  anschauliches 
Bild  dieser  homosexuellen  Natur: 

„Acht  Jahre  war  ich  alt,  als  ich  unbestimmte  Triebe  ver- 
spürte, meine  Cousine  war  schön,  ich  vergaß  zu  schlafen, 
wenn  ich  sie  nachts  betrachtete.  Des  Abends  sagte  sie 
ihr  Gebet  und  ich  hätte  wissen  wollen,  was  sie  wünschte, 
um  es  für  sie  von  Gott  zu  erflehen" 
und  vorher  auf  die  Bemerkung  von  Annhine: 

„Diese  Leidenschaft  sei  weit  über  ihr  Alter,  es  müsse 
denn  sein,  daß  es  sich  um  etwas  Instinktmäßiges  handele," 
erwidert  Florence:  „Es  gibt  Frauen,  die  sich  zuvor  in 
tausend  Pfade  verirren,  bevor  sie  den  wahren  Weg 
finden,  andere  haben  einen  guten  Engel,  der  sie  führt 
und  da  sie  ein  Paradies  in  Übereinstimmung  mit  ihrer 
Individualität  gefunden  haben,  bleiben  sie  darin." 


—     1125     — 

Im  Gegensatz  zu  der  geborenen  Homosexuellen  wird 
bei  Annhine  das  allmähliche  Sicheinschleichen  des  homo- 
sexuellen Gefühls  entwickelt:  die  Schwierigkeit,  mit  welcher 
diese  Empfindung  sich  langsam  Bahn  bricht,  das  Fremd- 
artige, dem  eigentlichen,  urwüchsigen  Wesen  der  hetero- 
sexuellen Annhine  Widerstrebende  der  lesbischen  Liebe 
und  andererseits  der  perverse  Reiz,  den  Florence  auf  sie 
ausübt. 

Der  Charakter  und  das  Seelenleben  von  Annhine  ge- 
währen ein  treffendes  Beispiel,  wie  mühsam  und  daher 
—  falls  überhaupt  möglich  —  wohl  selten  bei  hetero- 
sexuellen erwachsenen  Frauen  sich  eine  Umwandlung 
ihres  Geschlechtsgefühls  vollzieht. 

Obgleich  Alles  Annhine  zur  Erwiderung  dieser  für 
sie  perversen  Liebe  drängt:  ihr  Bedürfnis  nach  wahrer 
Liebe,  die  Notwendigkeit  der  liebelosen  Hingabe  au  den 
ungeliebten  Mann,  die  Sucht  nach  neuen  Reizen  und  un- 
gekannten  Empfindungen,  die  stürmische  Glut  und  die 
Vergötterung,  der  sie  bei  Florence  begegnet,  bäumt 
sich  doch  im  Grunde  ihre  innerste  Natur  gegen  die 
sinnliche  Preisgabe  an  die  geliebte  Freundin  auf  und 
tatsächlich  stirbt  sie  auch,  ohne  ihrem  heterosexuellen 
Wesen  untreu  geworden  zu  sein. 

Der  seltsame  Bräutigam  und  sein  Verhältnis  zu 
Florence,  welche  einer  gewissen  satirisch-humoristischen 
Färbung  nicht  entbehren,  sind  wohl  als  sinnbildliche 
Projektionen  der  exaltierten  Leidenschaft  von  Florence  zu 
betrachten,  als  logisch  gedachte  Folgerung  aus  dem  homo- 
sexuellen Empfinden  der  jungen  Amerikanerin,  bei  welcher 
nur  ein  derartiger  Verlobter  denkbar  ist. 

Als  realistischer  Typus  aufgefaßt,  stellt  Willy  dagegen 
einen  sexuell  Perversen  dar,  der  an  der  fremden  weiblichen 
Homosexualität  Entzücken  findet,  eine  Art  hauptsächlich 
geistiger  „Voyeur*. 

71* 


—    1126    — 

Rögnier,  Henri  de:  L'amour  et  le  plaisir.    Histoire 
galante  in  dem  Mercure  de  France,  (Dezember  1901.) 

Die  Marqese  von  Rochemaure,  welche  seit  Jahren  ein  Ver- 
hältnis mit  dem  nicht  eifersüchtigen  und  duldsamen  Grafen  von 
Falbin  hat,  gewährt  während  dessen  Abwesenheit  ihre  Liebesgunst 
den  Herrn  Beaugisson  und  de  la  Blanchere,  die  beide  mit  ihren 
Frauen  auf  dem  Schloß  der  Marqese  zu  Besuch  weilen. 

Die  Frauen  der  beiden  Liebhaber  der  Marqese  ■erraten  die 
wahre  Sachlage,  sie  sind  aber  nicht  über  ihrer  Ehemänner  Untreue 
ärgerlich,  denn  sie  sind  verständig  genug,  um  zu  wissen,  daß  „gar 
viele  Männer  außer  der  Ehe  ihr  Vergnügen  suchen." 

Während  die  Herren  von  Beaugisson  und  de  la  Blanchere 
den  ganzen  Tag  mit  der  Marqese  beschäftigt  sind,  unternehmen 
ihre  Frauen,  Laurence  und  Am61ie,  weite  Spaziergänge  in  die  Um- 
gegend. Beide  lernten  sich  schon  im  Kloster  kennen,  und  sind 
seit  Jahren  eng  befreundet. 

Sie  stoßen  im  Walde  auf  einen  Eremiten,  der  ihnen  seine 
Lebensgeschichte  erzählt  Er  war  Offizier  in  den  Kriegen 
Napoleon's  I.;  bei  dem  Eindringen  in  ein  Kloster  hat  er  nachts 
eine  Nonne  besessen,  am  andern  Tage  erkennt  er  an  ihrem 
Bildnis,  das  er  mitgenommen,  die  Geliebte,  die  ihm  als  Gattin 
von  den  Eltern  verweigert  worden  war  und  von  ihm  seit  Jahren 
vergeblich  gesucht  wurde. 

Seit  dieser  Zeit  ist  er  Eremit  geworden.  In  dem  Bilde  der 
Nonne  erkennen  die  beiden  Frauen  die  Oberin  des  Klosters,  in 
dem  sie  erzogen  wurden. 

Am  Ende  der  Erzählung  erwacht  die  Sinnlichkeit  des  Eremiten 
und  er  will  seine  Zärtlichkeiten  den  beiden  Frauen  aufdrängen, 
die  vor  ihm  fliehen. 

Seit  diesem  Abenteuer  „empfinden  die  beiden  Frauen  eine 
für  die  andere  eine  neue  Freundschaft,  zarter  auf  Seite  von 
Am61ie,  lebhafter  auf  Seite  von  Laurence.* 

„Sie  gingen  umher,  sich  um  die  Hüften  haltend  oder 
wenn  sie  saßen,  faßten  sie  sich  die  Hände. 

Der  Liebesgedanke  äußerte  sich  bei  ihnen  durch  un- 
schuldige Liebkosungen,  in  denen  sie  die  Erregung  ihres 
Herzens  stillten.     Sie   küßten   sich   bei  jedem   Anlaß, 
kitzelten,  liebkosten  sich.    Die  Küsse  von  Amelie  waren 
lang  und  zaghaft,    die   von  Laurence  heftig  und  kühn. 
Beide  horchten  auf  beim  geringsten  Lärm,  beim  Ge- 
räusch  eines  fallenden  Blattes   oder  dem  Flug  eines 
Vogels." 
Die  Ehemänner  von  Am£lie  und  Laurence  sind  mißmutig  und 
gegenseitig  eifersüchtig  wegen  der  Marqese.    Jeder  möchte   sie 


—    1127    — 

allein  besitzen.    Die   demnächstige   Rückkehr   des   Grafen   von 
Falbin  veranlaßt  die  beiden  Männer  mit  ihren  Frauen  abzureisen. 
Amglie  und  Laurence  bleiben  am  letzten  Abend  lange   allein 
im  Salon  sitzen  und  finden  sich  in  Liebe. 

Am  andern  Tage,  als  sie  in  den  Wagen  zur  Abfahrt  steigen, 
drehen  sie  sich  noch  einmal  um  und  werfen  dem  Schloß  einen 
Kuß  zu. 

„Sie  waren  glücklich,  war  es  nicht  da,  wo  sie  gelernt 
hatten,  der  reizenden  Freundschaft,  die  sie  vereinte,  das 
hinzuzufügen,  was  ihr  gewöhnlich  fehlt,  um  sie  der  Liebe 
gleich  zu  machen,  das  Vergnügen?" 

Nicht  als  Laster  oder  angeborene  Neigung,  sondern 
—  wie  dies  so  oft  in  Frankreich  bezüglich  der  weiblichen 
Homosexualität  geschieht  —  als  unschuldiges  Vergnügen  j 

zweier  Frauen,  als  Krönung   ihrer  Jahre  langen  inuigen  ' 

Freundschaft  skizziert  R^gnier  das  homosexuelle  Empfinden 
von  Amalie  und  Laurence.  Nachsichtig  lächelnd  teilt  er  dem 
Verhältnis  der  beiden  Frauen  die  schönere,  edlere  Rolle  zu 
gegenüber  der  Lüsternheit  des  Eremiten,  der  weiten  Herzens- 
gastfreundschaft der  Marqese  und  der  Untreue  der  Ehe- 
männer. Aber  nicht  beweisen  und  lehren  soll  die  kleine  Ge- 
schichte, die  R^gnier  selbst  „histoire  galante u  betitelt.  Sie  will 
nur  eine  anmutig-erotische,  in  vollendetem  Stil  geschriebene  j 

Erzählung  im  Genre  des  18.  Jahrhunderts,  ein  feinfarbiges  J 

Gemälde   k  la  Fragonard  sein,  über    das    des  Verfassers  J 

Ironie  leicht  hingleitet.  ! 


Rlgal,  Henry:   Sur  le  mode  sapphique  (L'effort). 

Das  Buch  ist  im  Mercure  de  France,  Oktobernummer 
1902  S.  203,  angeführt  und  von  Pierre  Quillard  besprochen. 
Es  ist  mir  jedoch  nicht  gelungen,  das  Werk  in  Paris  auf- 
zutreiben. Ich  muß  mich  daher  mit  den  kurzen  Bemer- 
kungen von  Quillard  begnügen. 

Danach  handelt  es  sich  um  12  kleine  Gedichte  mit 
einem  Epigraph  von  Pierre  Lonys: 

„Wenn    ein    Liebespaar    aus    zwei    Frauen 
sich  zusammensetzt,   so   ist    es  vollkommen." 


—     1128    — 

Quillard  sagt  ungefähr: 

»In  Wechselstrophen  entrollt  sich  die  Liebschaft  von 
Chrysea  und  MnaYs  in  einer  sanften  ionischen  Landschaft;  aber 
es  ist  das  Los  liebesgewandter  Freundinnen,  eines  Abends  Er- 
müdung zu  zeigen,  und  weil  ein  junger  und  kräftiger  Hirte 
Chrysea  betrachtet  hat,  träumt  sie  seither  von  stärkerer  und 
besserer  Liebe. 

Die  Idylle  entbehrt  nicht  einer  gewissen  wollüstigen  Grazie, 
obgleich  man,  wenn  der  Titel  nicht  wäre,  sich  irren  und  glauben 
könnte,  die  Liebschaft  zwischen  Chrysea  und  MnaYs  spiele  sich 
zwischen  einem  Mädchen  und  einem  Epheben  ab." 

Willy,    Claudine  ä  l'Ecole    (Paris:    Ollendorf.      Titelbild 
von  E.  della  Sudda).1) 

Claudine,  die  15jährige  Tochter  eines  in  seine  Studien  ver- 
tieften Gelehrten,  wächst  heran  völlig  sich  selbst  überlassen,  sie 
schildert  die  Eindrücke  ihres  letzten  Schuljahres  und  ihrer 
Examenszeit. 

Intelligent,  aufgeweckt,  geistreich,  aber  ausgelassen,  respekt- 
los und  mutwillig  wie  ein  Junge  überschüttet  sie  alles,  Mitschüle- 
rinnen, Lehrer  und  Lehrerinnen  mit  gleichem  Spott,  humorvoller 
Ironie  und  Skepticismus. 

An  der  der  Vorsteherin  der  Schule  beigeordneten  Lehrerin, 
der  hübschen  19jährigen  Aimee  Lanthenay  findet  Claudine  großen 
Gefallen,  ihre  Gegenwart  erfüllt  sie  mit  Entzücken,  sie  läßt  sich 
von  ihr  englische  Privatstunden  geben,  nur  um  sie  öfters  sehen 
und  küssen  zu  können. 

Aber  die  Vorsteherin,  die  häßliche,  rothaarige  Frl.  Sergent 
liebt  selbst  Aim£e  und  veranlaßt  sie  mit  Claudine  zu  brechen. 

Frl.  Sergent  und  Aim6e  werden  intime  Freundinnen.  Sie 
schlafen  in  einer  Stube  und  sind  unzertrennlich.  Selbst  während 
der  Schulstunden,  wenn  sie  sich  nicht  beobachtet  glauben,  lachen 
und  kichern  sie  miteinander  wie  zwei  verliebte  Turteltauben. 

Sogar  in  den  Pausen  schließen  sich  beide  ein. 

„Oft  schon  ist  das  Paar  von  plötzlich  eintretenden 
Schülerinnen  überrascht  worden",  (erzählt  Claudine), 
„aber  man  fand  sie  so  zärtlich  umschlungen   oder  so 


*)  Die  drei  Romane  von  Willy  über  Claudine  enthalten  auch 
Schilderungen  männlicher  Homosexualität,  besonders  der  zweite 
Band  „Claudine  ä  Paris";  die  Darstellung  weiblicher  homosexueller 
Gefühle  Überwiegt  aber,  deshalb  die  Aufnahme  unter  die  Rubrik 
der  weiblichen  Homosexualität. 


—    1129    — 

vertieft  in  ihrem  Geflüster  oder  Frl.  Sergent  ihre  kleine 
Aimee  mit  so  vieler  Hingabe  auf  ihrem  Schoß  haltend, 
daß  die  Dümmsten  davon    bestürzt  waren  und  auf  ein 
„Was  wollt  Ihr  noch"  von  der  Roten,  schnell  fortliefen, 
entsetzt  durch  das  wilde  Runzeln  ihrer  dichten  Augen- 
brauen. Ich  wie  die  andern  bin  oft  plötzlich  eingedrungen, 
und  sogar  ohne  Absicht  manchmal;    die  ersten  Male, 
wenn  ich  es  war  und  sie  allzunahe  aneinander  waren, 
stand  man  schnell  auf  oder  man  gab  vor,  die  aufgelöste 
Haartracht  der  Andern  in  Ordnung  zu  bringen,  schließ- 
lich haben  sie  sich  nicht  mehr  wegen  mir  Gewalt  ange- 
tan.   Dann  hafs  mir  keinen  Spaß  mehr  gemacht." 
Die  Schwester  von  Aimee,  die  junge  Luce,  ist  Mitschülerin 
von  Claudine.     Aimee  behandelt  sie  schlecht.    Luce  stellt  sich 
unter  den  Schutz  von  Claudine  und  verliebt   sich  in   sie.    Luce 
sucht  alle  Gelegenheiten,  um  mit  Claudine  allein  sein  zu  können, 
sie  drängt  sich  an  sie  heran,  streichelt  sie,   „schließt  fast  ihre 
grauen  Augen  und  öffnet  ihren  kleinen  frischen  Mund,*   aber  sie 
reizt  Claudine  nicht. 

„Diesen  Morgen",  berichtet  Claudine,  „habe  ich  sie 
weich  geschlagen,  weil  sie  mich  in  der  Scheune  küssen 
wollte,  sie  hat  nicht  geschrien  und  fing  nur  an  zu  weinen, 
bis  ich  sie  tröstete,  indem  ich  ihr  die  Haare  streichelte. 
Ich  habe  ihr  gesagt:  Dummes  Ding,  Du  wirst  schon 
Zeit  genug  haben,  diesen  Überfluß  an  Zärtlichkeit  später 
zu  stillen,  wenn  Du  in  die  Normalschule  eintreten  wirst. 
Du  wirst  keine  zwei  Tage  dort  sein,  als  schon  zwei 
„dritten  Jahres"  sich  wegen  Dir,  ekelhaftes  Tierchen, 
entzweit  haben  werden. 

Sie  läßt  sich  mit  Wollust  beschimpfen  und  wirft  mir 
Blicke  des  Dankes  zu." 
Schließlich  richtet  Luce  einen  Brief  an  Claudine,   indem  sie 
um   ihre  Liebe  fleht.    Aber  Claudine  liebt  nicht  „Menschen,  die 
sie  beherrscht".    Sie  gibt  Luce  den  Brief  in  tausend  Stücken  zer- 
rissen zurück. 

Gegenüber  Aim6e  und  Frl.  Sergent  wird  Claudine  manchmal  1 1 

recht  frech  und  ausgelassen.    Einmal  kommt  es  zur  Aussprache  \. 

zwischen   der  Vorsteherin   und  Claudine.    Frl.  Sergent:  I 

„Unsere  Beziehungen  haben  gleich  schlecht  begonnen.  i 

Es  ist  Ihre  Schuld.  Sie  haben  sich  voll  schlechten  Willens  l 

gezeigt  gleich  von  Anfang  an  und  Sie  haben  meine 
Zuvorkommenheiten  zurückgewiesen.  Sie  hatten  mir 
jedoch  intelligent  und  hübsch  genug  geschienen,  mich 
zu  interessieren,  die  ich  weder  Schwester  noch  Kind  habe." 


—    1130    — 

(„Beim  Teufel,  denkt  Claudine,  wenn  ich  je  gedacht 
hätte  . .!  Man  kann  mir  nicht  deutlicher  erklären,  daß  ich 
ihre  kleine  „Aim6e"  gewesen  wäre,  wenn  ich  gewollt 
hätte.  Nun!  nein,  es  sagt  mir  nichts,  selbst  wenn  ich 
zurückdenke.  Und  doch,  auf  mich  wäre  Fräulein  Lanthenay 
eifersüchtig  zur  Stunde.    Welche  Komödie!") 

„Es  ist  wahr,  Fräulein,"  erwiderte  Claudine.  „Aber 
notwendigerweise  hätte  es  eine  schlechte  Wendung  ge- 
nommen, wegen  Frl.  Lanthenay;  Sie  haben  einen  solchen 
Eifer  entwickelt  ihre  Freundschaft  zu  gewinnen  und  die- 
jenige zu  zerstören,  die  sie  mir  etwa  entgegenbringen 

konnte. Lange  bin  ich  deswegen  wütend  gewesen, 

verzweifelt  sogar,  weil  ich  fast  so  eifersüchtig  bin  wie 
Sie  .  .  .  Warum  haben  Sie  Aim£e  genommen?  Ich  habe 
soviel  Leid  gehabt,  ja,  da  seien  Sie  zufrieden,  es  hat 
mir  viel  Leid  getan  .  .  .  Aber  ich  habe  gesehen,  daß  sie 
nicht  an   mir  hielt,  an  wem  hält  sie?    Ich   habe  auch 
gesehen,  daß  sie  wirklich  nicht  viel  wert  war:  es  hat 
mir  genügt.    Ich  habe  gedacht,  daß  ich  genug  Dumm- 
heiten machen  würde,  ohne  die  zu  begehen,  den  Sieg 
über  Sie  davon  zu  tragen." 
Das  letzte  Drittel  des  Buches  ist  ausgefüllt  mit  der  höchst 
amüsanten  Beschreibung  des  Examens,  den  Claudine  aufs  glän- 
zendste besteht. 

Willy:  Claudine  ä  Paris  (Paris,  Ollendorf). 

Claudine  kommt  mit  ihrem  Vater  nach  Paris.  Sie  erneuern 
Bekanntschaft  mit  einer  alten  entfernten  Verwandten.  Deren  Enkel 
Marcel,  ein  17j ähriger  Junge,  wird  bald  der  beste  Kamerad  von 
Claudine. 

Marcel  sieht  aus,  wie  ein  Mädchen  in  Hosen.  Claudine  be- 
schreibt ihn  wie  folgt: 

„Blonde  Haare,  ein  bischen  lang,  den  Scheitel  auf 
der  Rechten,  ein  Teint  wie  der  von  Luce,  blaue  Augen 
einer  kleinen  Engländerin  und  nicht  mehr  Schnurrbart 
wie  ich.   Er  ist  rosig,  spricht  sacht,  mit  einer  besonderen 
Art  seinen  Kopf  ein  bischen  auf  der  Seite  zu  halten, 
indem  er  zu  Boden  schaut  —  man  möchte  ihn  aufessen. 
....  Er  ist  angezogen  wie  das  Bild  eines  Mode- 
journals.   Und  dieser  Gang,  dieser  wiegende  und  rut- 
schende Gang!    Diese  Art  sich  umzukehren,  indem  er 
sich  auf  einer  Hüfte  herumbiegt.  Nein,  er  ist  allzu  schön. 
Marcel  fragt  Claudine  über  ihre  Schulzeit  und  insbesondere 
über  ihre  Freundinnen  aus,  sie  hat  ihm  von  Luce  gesprochen  und 
er  sofort   eine  homosexuelle  Liebschaft   erratend,  möchte  Nähe- 


—     1131     — 

res  wissen.  Marcel  hat  einen  schönen  gleichalterigen  Freund, 
Charlie  Gonzales.  Claudine  erblickt  dessen  Photographie  in 
Marcel's  Zimmer.  Mit  Feuer  und  Begeisterung  spricht  Marcel  von 
seinem  Freund,  rühmt  seine  weiße  Haut,  seine  schwarzen  Haare, 
seine  so  reizende  Seele. 

Auf  seine  Lobeshymne  antwortet  ihm  Claudine: 

„Ich  verstehe,  Sie  sind  seine  Luce"  nnd  als  Marcel 
erschrocken  auffährt,  Ja,  seine  Luce,  sein  Spielzeug, 
sein  Liebling,  was!  Man  braucht  Sie  nur  zu  sehen, 
gleichen  Sie  denn  einem  Manne?  Das  ist  es  also, 
warum  ich  Sie  so  hübsch  fand!" 
Claudine  versichert  ihm  dann,  daß  sie  ihn  necken  wollte,  ihm 
aber  keine  Unannehmlichkeiten  bereiten  werde. 

„Es  gibt  viele  Dinge,  die  ich  sehr  gut  im  Stillen  be- 
trachten kann." 

Allerdings,  „diese  kleinen  Vergnügungen  heißt  man 
bei  Äädchen  „Spielereien  von  Schülerinaen,"  aber  wenn 
es  sich  um  Buben  von  17  Jahren  handelt,  ist  es  fast 
eine  Krankheit." 
Später  muß  Claudine  Genaueres  über  die  Liebe  von  Luce 
Marcel  erzählen,  mit  wollüstiger  Neugierde  und  perversem  Inte- 
resse möchte  er  Einzelheiten  über  die  Leidenschaft  von  Luce  er- 
fahren. 

Seinerseits  berichtet  er  über  sein  Verhältnis  mit  Charlie.  In 
der  Schule  lernte  er  ihn  kennen.  Zu  Charlie  allein,  der  durch  seine 
Schönheit  und  Eleganz  unter  den  übrigen  schmutzigen  und  un- 
ordentlichen Schuljungen  hervorragte,  fühle  er  sich  hingezogen. 
Beide  verstanden  sich  bald.  Als  jedoch  dem  Vater  Marcel's  ein 
Liebesbrief  Charlie's  an  seinen  Sohn  in  die  Hände  geriet,  wurde 
Charlie  von  der  Schule  fortgeschickt,  doch  das  Verhältnis  der 
beiden  Jungen  dauert  fort. 

Marcel  zeigt  Claudinen  einen  Brief  Charlie's  mit  Beteuer- 
ungen schwärmerischer  Liebe  und  heroischer  Freundschaft,  ver- 
mengt mit  Exkursen  über  die  homosexuelle  LHteratur  und  die 
berühmten  geschichtlichen  Freundschaften. 

In  Paris  begegnet  Claudine  zufällig  Luce.  Diese  ist  völlig 
verändert  und  lebt  als  die  glänzend  unterhaltene  Maitresse  eines 
alten  alleinstehenden  Onk&ls. 

Luce  hat  Claudine  nicht  vergessen,  ihre  Liebe  zu  ihr  lodert 
aufs  Neue  auf  und  wieder  ist  sie  im  Begriff  ihre  Zärtlichkeiten 
Claudinen  aufzudrängen.  Aber  diese  stößt  sie  zurück  und  eilt 
trotz  ihrer  Bitten  davon. 

„Es  ist  nicht  das  erste  Mal,  daß  diese  unverbesser- 
liche Luce  mich  in  Versuchung  zu  bringen  trachtet  und 
nicht   das  erste  Mal,   daß  ich   sie  schlage.    Aber  eine 


—    1132    — 

Erregung    hat    mich    ergriffen.      Eifersucht    vielleicht, 

ein  stummer  Groll  bei  dem  Gedanken,  daß  diese  Luce, 

welche  mich  anbetete,  mich   auf  ihre  Art  anbetet,  sich 

frohgemut  einem  alten   Sünder  hingeworfen  hat.    Und 

Ekel,  Ekel  gewiß!" 

Der  Vater  von  Marcel,  Renaud,   ein  überlegener  Weltmann 

von  45  Jahren,  gewinnt  Interesse  für  die  eigenartige  Claudine,  die 

ihrerseits   in  Renaud  den  ersten  Mann    findet,  der  ihr  Achtung 

und  Liebe  einflößt.    Sie  verlobt  sich  mit  Renaud. 

Willy:    Claudine  en  manage  (Paris  Ollendorf  1902). 

Claudine  hat  sich  mit  Renaud  verheiratet,  sie  hat  nichts  von 
der  schüchternen,  mit  Scheu  den  Geheimnissen  des  Ehelebens 
entgegensehenden  jungen  Frau.  Sie  liebt  ihren  Gatten  geistig 
und  körperlich.  Wie  zwei  gute  Kameraden  sprechen  sie  beide 
über  ihre  Vergangenheit  und  über  ihre  intimsten  Regungen. 

Beide  besuchen  den  Geburtsort  Claudine's  und  die  Schule 
von  Frl.  Sergent.  Durch  Schülerinnen  erfährt  Claudine,  daß  das 
Liebesverhältnis  zwischen  den  beiden  Lehrerinnen  fortdauert. 

Mit  Wehmut  gedenkt  Claudine  der  Schulzeit  und  der  treu- 
ergebenen Luce,  eine  Sehnsucht  beschleicht  sie  nach  dieser,  die 
sie  so  schlecht  behandelte  und  im  Grunde  doch  geliebt  hat. 
Neue  Schülerinnen  haben  die  früheren  ersetzt.  Eine  besonders, 
Helene,  gefällt  Claudine.  Sie  hätte  leichtes  Spiel  sie  zu  gewinnen, 
mit  Lust  pflückt  sie  den  Abschiedskuß  auf  ihren  Lippen. 

In  Paris  geht  Claudine  nur  mit  Widerwillen  in  Gesell- 
schaft, aber  ihr  Mann,  der  reiche  und  bekannte  Schriftsteller, 
kann  sich  nicht  völlig  zurückziehen.  Claudine  wird  von  ver- 
schiedenen Männern  umworben,  alle  lassen  sie  kalt,  aber  sie  ist 
„auch  nicht  für  Frauen". 

Sie  liebt  mit  allen  ihren  Sinnen  ihren  Mann  und  doch  be- 
schleicht sie  ein  Gefühl  des  Unbefriedigtseins. 

Claudine  lernt  eine  schöne  Engländerin,  Frau  Rezi  Lambrock, 
kennen,  die  Eindruck  auf  sie  macht.  Sie  befreunden  sich,  Claudine 
mit  ihren  kurzgeschorenen  Haaren,  ihrem  jugendlichen  knaben- 
haften Aussehen  gewinnt  das  Herz  der  Engländerin. 

Renaud  errät  die  gegenseitige  Anziehung  der  beiden  Frauen. 

„Wegen  meines  abgeschnittenen  Haares  und  meiner 

Kälte  gegen  sie,  sagen  die  Männer:  „Sie  ist  für  Frauen." 

Denn,  es  ist  sinnfällig:  wenn  ich  nicht  die  Männer 

liebe,  muß  ich  die  Frauen  begehren,  o  Einfältigkeit  des 

männlichen  Geistes! 

Übrigens  scheinen  mir  die  Frauen  —  wegen  meines 
geschnittenen  Haares  und  meiner  Kälte  gegenüber  ihren 


—    1133    — 

Gatten  und  Geliebten  —  zur  gleichen  Ansicht  wie  sie 
hinzuneigen. 

Ich  habe  in  der  Richtung  nach  mir  hübsche  neugierige 
Blicke  aufgefangen,  verschämte  und  flüchtige  Errötungen, 
wenn  ich  einen  Augenblick  meine  Augen  auf  der  Grazie 
eines  sich  darbietenden  Halses  ruhen  lasse." 
Er  ist  aber  nicht  eifersüchtig,  im  Gegenteil  er  fragt  Claudine 
über  ihre  Gefühle  für  Rezi  aus,  er  will  wissen,  wie  weit  ihr  Ver- 
hältnis gediehen  ist. 

Solche  Zärtlichkeiten    und    sexuelle   Spielereien   zwischen 
Frauen  seien  bedeutungslos. 

Und   doch   ist  Renaud   wegen  Marcers  Homosexualität  be- 
trübt und  bekümmert. 

„Immer  dasselbe  Lied,  meine  Liebe.  Mein  reizender 
Sohn  mitrailliert  mit  neogriechischer  Literatur  einen 
Jungen  aus  guter  Familie.  Du  sagst  nichts  mein  Kind? 
Ich,  ich  sollte  daran  gewöhnt  sein!  Leider!  aber  diese 
Geschichten  packen  mich  mit  einem  solchen  Grauen. 
Warum?  (fragt  Claudine). 
Renaud  springt  auf. 
Wie,  warum? 

Warum,  wollte  ich  sagen,  mein  lieber  Großer, 
lächeln  Sie,  angelockt  fast  billigend  bei  dem  Ge- 
danken, daß  Luce  mir  eine  allzuzärtliche  Freundin 
war?  bei  der  Hoffnung,  ich  wiederhole  es,  bei  der 
Hoffnung,  daß  Rezi  eine  glücklichere  Luce  werden  könnte? 

—  Es  ist  das  nicht  dasselbe! 

—  Gottlob  nein,  nicht  ganz. 

—  Nein,  es  ist  nicht  dasselbe!  Ihr  könnt  alles  Euch 
erlauben,  ihr  Frauen.  Es  ist  reizend  und  es  ist  ohne 
Bedeutung. 

—  Ohne  Bedeutung  ...  ich  bin  nicht  Ihrer  Ansicht! 

—  Doch,  ich  behaupte  es!  Es  ist  zwischen  Euch, 
hübsche  Tierchen  eine,  wie  soll  ich  sagen,  eine  Tröstung 
für  djen  Verkehr  mit  uns,  eine  Abwechselung,  die  Euch 
beruhigt. 

—  O? 

—  . . .  oder  wenigstens  euch  entschädigt,  das  logische 
Suchen  nach  einem  vollendeten  Partner,  nach  einer 
Schönheit  der  euren  ähnlicher,  in  der  sich  eure  Sensi- 
bilität und  eure  Schwächen  sich  abspiegeln  und  wieder- 
erkennen. Wenn  ich  es  wagen  würde  (aber  ich  wage 
es  nicht),  würde  ich  sagen,  daß  gewisse  Frauen  die 
Frau  brauchen,  um  ihren  Geschmack  für  den  Mann  zu 
bewahren." 


—     1134    — 

Claudine's  Neigung  zu  Rezi  wird  trotz  ihrer  Liebe  zu  Renaud 
immer  heftiger  und  entwickelt  sich  zur  sinnlichen  Leidenschaft. 
Sie  kämpft  eine  Zeit  lang  mit  sich  selbst,  widersteht  aber  schließ- 
lich nicht  mehr.  Sie  wird  den  Bitten  Rezi's  folgen  und  sich  ihr 
hingeben.  Aber  Beide  wissen  nicht,  wo  sie  in  Ruhe  ihre  Liebe 
bergen  können.  Bei  Rezi  laufen  sie  Gefahr  von  deren  eifer- 
süchtigem Gatten  überrascht  zu  werden,  bei  Claudine  ist  die 
neugierige  Dienerschaft  störend. 

Schließlich  veranlaßt  Rezi  Claudine  ihren  eigenen  Gatten  zu 
bitten,  einen  Zufluchtsort  für  sie  zu  finden.  Renaud,  der  alle 
Phantasien  Claudine's  gutheißt,  der  auch  die  intimsten  sexuellen 
Beziehungen  zwischen  den  beiden  Frauen  mit  entschuldigendem 
und  fast  freudigem  Lächeln  ansieht,  besorgt  ihnen  ein  Logis,  wo 
sie  sich  nachmittags  treffen  können.  Er  selbst  gibt  Rezi  den 
Schlüssel.  Später  begleitet  er  selbst  die  Frauen  in  ihr  Liebes- 
nest, tändelt  mit  Rezi,  macht  geistreiche  Anspielungen  auf  die 
Liebesszene  zwischen  den  Frauen,   die  folgen  wird  u.  s.  w. 

Claudine  empfindet  selbst  für  ihren  Mann  Scham  und  dann 
besonders  Eifersucht,  daß  Renaud  sich  so  vertraut  und  freund- 
schaftlich mit  Rezi  benehme. 

Claudine  ist  eine  Zeit  lang  krank.  Während  ihrer  Genesung 
begibt  sie  sich  eines  Tages  von  einem  Verdacht  getrieben  in  die 
Wohnung  ihres  früheren  Stelldicheins  mit  Rezi.  Sie  findet  dort 
Renaud  und  Rezi  zusammen.  Beide  hatten  sie  hintergangen. 
Claudine  ist  zuerst  unerbittlich  gegen  Renaud.  Sie  reist  nach  ihrem 
Heimatsort  und  will  ihren  Gatten  nie  mehr  wiedersehen.  Doch 
bald  besinnt  sie  sich  auf  seine  bittenden  und  zärtlichen  Briefen 
hin  eines  Andern. 

Sie  verzeiht  ihm,  er  hat  ja  doch  nur  mit  Rezi  gemacht,  was 
sie  selbst  mit  so  wenig  Unterschied  mit  ihr  gemacht  hat. 

Nach  Paris  will  sie  aber  nicht  zurück.  Renaud  soll  zu  ihr, 
zu  seinem  liebenden  Weibe  kommen,  die  nicht  weiter  ohne  ihren 
geliebten  Gatten  leben  kann.1) 


*)  Alle  drei  Romane  von  Willy  sind  auch  in  deutscher  Über- 
setzung erschienen  und  zwar  von  Georg  Nördlinger  (Verlag  von 
G.  Grimm,  Budapest  1902.) 

Die  obigen  Citate  sind  fast  alle  von  mir  übersetzt.  Die  Über- 
setzung von  Nördlinger  ist  nicht  schlecht,  aber,  wie  mir  vorkommt, 
etwas  vergröbernd,  nicht  immer  die  exakte,  allerdings  schwer  zu  tref- 
fende Nuance  des  Originals  wiedergebend. 

Die  Ausstattung,  d.  h.  namentlich  das  äußere  vulgäre  Decken- 
bild des  3.  Bandes  paßt  nicht  zu  dem  Geist  des  Originaltextes  und 
würde  auf  ein  ordinäres  Machwerk  hinweisen. 


—    1135    — 

In  Claudine  hat  Willy  eine  Frauengestalt  von  sel- 
tener Individualität  und  Urwtichsigkeit  geschaffen,  ultra- 
modern und  doch  von  natürlicher  Weiblichkeit  und 
Frische,  eine  wilde  Pflanze,  die  in  einer  Treibhausluft 
aufgewachsen  wäre. 

Das  instinktmäßige,  triebartige  Handeln,  das  Nach- 
geben allen  Regungen  und  Begehren,  das  lebhafte  Fühlen 
und  persönliche  Empfinden  charakterisiert  dies  kraftvolle 
Wesen,  die  Claudine  ist.  j 

Hauptsächlich  im  ersten  Roman  „  Claudine  ä  Pecole"  j 

lebt  das   prachtvolle    Exemplar  des   angehenden  Weibes  j 

in  dem  Ungestüm  seiner  Triebe,  seiner  Aufrichtigkeit  und  i 

Verschlagenheit,  Offenheit  und  Tücke.  i 

Die  Homosexualität  spielt  in  allen  drei  Romanen 
eine  nicht  unbedeutende  Rolle.    Die  Zeichnung  des  mann-  ' 

liehen  Homosexuellen  „Marcel*  ist  klar  und  einfach. 
In  Marcel  begegnet  man  dem  typischen  Effeminierten  und  v 

geborenen  Homosexuellen,  dessen  weibische  Veranlagung  in  j 

Gang,  Bewegung,  Sprache,  Neigungen,  Charakterzügen  deut-  ! 

lieh  sich  ausprägt.  Claudine  (und  Willy)  hält  ihn  für  einen 
Kranken  und  Degenerierten.  Eigentümlich  ist  die  ver- 
schiedene Auffassung,  welche  Willy  (durch  den  Mund 
Claudine's  und  Renaud's)  über  die  weibliche  und  männliche 
Homosexualität  ausspricht.  Während  Marcel's  Neigung 
Krankheit  heißt,  werden  die  geschlechtlichen  konträren 
Handlungen  der  Weiber  reizende  Spielereien  ohne  Be- 
deutung genannt.  Eine  verschiedene  Beurteilung  der 
männlichen  und  weiblichen  Homosexualität  wird  auch 
tatsächlich  im  allgemeinen  in  Frankreich  gemacht.  Wenn 
auch  die  weibliche  Homosexualität  nicht  die  Duldung 
erfährt,  die  Renaud  ihr  zukommen  läßt,  und  immerhin  als 
Laster  betrachtet  wird,  so  begegnet  sie  doch  nicht  dem 
harten  Verdammungsurteil,  dem  die  männliche  Homo- 
sexualität anheimfällt. 


—     1136    — 

Selten  läßt  man  die  Entschuldigung  der  Krankhaftig- 
keit gelten  und  spricht  einfach  von  abscheulicher  Morali- 
tät  des  Homosexuellen. 

So  bemerkte  mir  letzthin  ein  heterosexueller  Franzose, 
als  ich  ihm  das  schöne  Buch  eines  der  gefeiertsten  weltbe- 
kannten französischen  Schriftsteller  rühmte,  mit  einer  Miene 
der  Verachtung:  „ich  liebe  X  nicht  und  dann  ist  er  ein 
Mann  von  scheußlichster  Moralität,  ich  habe  es  von 
einem  seiner  Kollegen  bestimmt  erfahren,  er  ist  „für 
Männer"  und,  denken  Sie  sich,  er  ist  nicht  einmal  aktiv, 
sondern  passiv.1)* 

Bei  Willy  erscheinen  die  homosexuellen  Gefühle  der 
Frauen  nicht  als  lasterhaft,  ebensowenig  sind  diese 
Weiber  als  Kranke  oder  Vertreterinnen  einer  besonderen 
Menschenklasse,  als  sexuelle  Zwischenstufen  aufgefaßt. 
Die  homosexuellen  weiblichen  Neigungen  sind  vielmehr 
als  natürliche  Empfindungen  normaler  Personen,  als  natür- 
liche Gefühlsvarietäten  betrachtet. 

Deshalb  zeigen  alle  Weiber,  die  in  den  Romanen 
auftreten,  Hang  zu  Liebeleien  mit  ihren  eigenen  Geschlechts- 
genossinnen, sie  lieben  Mann  und  Frau,  wie  sich  die 
Gelegenheit  trifft.  Aus  des  Verfassers  liebevoller  Dar- 
stellung leuchtet  sein  halb  ernsthaftes,  halb  spaßhaftes 
Vergnügen  an  diesen  „ Spielereien u  hübscher  Frauen 
hervor,  das  ihn  aller  Wirklichkeit  zum  Trotz  in  jeder 
Frau  ein  zu  conträren  Zärtlichkeiten  neigendes  Weib  er- 
blicken läßt 

Obgleich  Claudine  als  normale  Frau  gedacht  ist, 
bietet  doch  die  gesamte  Darstellung  ihres  Charakters  das 
Bild  der  psychischen  Hermaphrodisie. 


*)  Der  betreffende  Schriftsteller  —  eine  Zierde  der  französi- 
schen Literatur  —  soll  tatsächlich  homosexuell  sein  und  steht 
wenigstens  ziemlich  allgemein  in  diesem  Ruf.  Seine  Romane  ver- 
raten echt  weibliches  Empfinden  und  eines  seiner  Werke  behandelt 
eine  —  wenn  auch  verschleiert  dargestellte  —  homosexuelle  Liebe. 


—    1137    — 

Schon  in  der  Schule  liebt  sie  mit  stürmischer,  plötz- 
lich entfachter  Leidenschaft  Aim6e  Lanthenay  und  zwar 
nicht  aus  entgleistem  Trieb,  oder  unbestimmtem  Drang 
der  Pubertätszeit,  da  sie  die  Bewerbungen  der  Männer 
ausschlägt,    weil  gerade    diese  Liebhaber  ihr  mißfallen. 

Später  tritt  ihre  Neigung  bei  der  Bekanntschaft  mit 
Rezi  unwillkürlich  wieder  hervor,  auch  hier  nicht  infolge 
Verführung,  Überdruß  am  Mann  oder  sonstigen  äußeren 
Ursachen,  denn  sie  liebt  gleichzeitig  ihren  Mann  auf- 
richtig und  findet  bei  ihm  völlige  sinnliche  und  geistige 
Befriedigung.  Ja  selbst  ein  gewisser  sadistischer  Zug 
tritt  in  ihrem  Benehmen  gegenüber  Luce  hervor. 

Den  seltsamsten  Teil  der  drei  Romane  bildet  die 
Darstellung  des  Verhältnisses  zwischen  Claudine  und 
Rezi  und  die  Stellung  Renaud's  zu  demselben. 

Mancher  Leser  wird  sich  vielleicht  entsetzen  ob 
dieses  Ehemanns,  der  seine  Frau  auf  den  Weg  von  Lesbos 
hinlenkt  und  ihre  homosexuelle  Liebschaft  beschützt. 
Der  juristisch  und  strafrechtlich  Geschulte  wird  vielleicht 
in  Renaud  den  schweren  qualifizierten  Kuppler  verurteilen, 
der  die  mit  homosexuellem  Treiben  complizierte  Unzucht 
seiner  Frau  duldet  und  begünstigt.  Auch  abgesehen  von 
solchen  moralischen  Erwägungen  wird  man  doch  der  amü- 
santen Gestalt  des  eigentümlichen  Ehemanns  den  Mangel 
künstlerischer  Wahrscheinlichkeit  vorwerfen  können. 

Allerdings  mag  man  sein  Verhalten  aus  seiner  ein- 
mal gegebenen  milden  Anschauung  über  weiblichen  con- 
trären  Verkehr  erklären  und  aus  dem  Motiv,  durch  Ab- 
lenkung des  Gefühls  auf  homosexuelle  Bahnen  gefähr- 
licherem Ehebruch  seiner  Frau  mit  einem  Mann  vorzu- 
beugen. 

Aus  dem  gegenseitigen  Ehebruch  beider  Ehegatten, 
der  trotzdem  das  Eheglück  nicht  stört,  und  ihrer  Wieder- 
vereinigung nach  kurzer  Trennung  kann  man  auch  eine 
Lehre   der   Nachsicht   und    des  Vergebens    gegenseitiger 


—    1138    — 

Untreue  und  Fehler  herauslesen,  eine  Moral  fiir  duldsame 
Eheleute,  wonach  milde  Beurteilung  ihrer  Fehler  unerbitt- 
lichem Groll  vorzuziehen,  und  verträgliches,  ja  glückliches 
Zusammenleben  als  Preis  verständnisvollerer  Ein- 
sicht erworben  und  erhalten  wird.  Aber  alles  dies  be- 
rechtigt nicht  zu  dem  Lob,  das  z.  B.  Rachilde  im  Mercure 
de  France  dem  Buch  spendet. 

Das  Dreigespann  Claudine,  Rezi,  Renaud  würde 
eine  vertieftere  Analyse  erfordert  haben,  eine  Charakte- 
ristik, die  die  seelischen  Wandlungen  der  Persönlich- 
keiten dem  Verständnis  näher  gebracht  hätte. 

Alle  drei  Bücher  sind  in  dem  Geist  eines  Schlingels 
von  einem  Mädchen  geschrieben,  das  mit  hervorragendem 
Talent,  mit  ungemeiner  Beobachtungsgabe,  Verve  und 
Temperament  seine  Eindrücke  und  sein  Milieu  zu  schil- 
dern verstände. 

Alles  saust  und  braust  dem  ungestümen  Charakter  der 
Erzählerin  entsprechend  in  impressionistischen  Bildern, 
manches  grotesk  verzerrt,  vor  dem  Leser  vorüber,  nament- 
lich  in  Claudine   ä  l^cole,  dem  besten  der  drei  Romane. 

In  Claudine  ä  Paris  wird  der  Ton  etwas  ruhiger, 
während  der  2.  Teil  von  Claudine  en  Manage  mit  der 
Schilderung  des  von  dem  Ehemann  geduldeten  homo- 
sexuellen Verhältnisses  der  beiden  Frauen  in  die  para- 
doxe Farce  ausartet. 

Das  Schwelgen  in  ungewöhnlichen,  psychologischen 
Variationen  und  Combinationen ,  eine  gewisse  Sucht 
zu  verblüffen  und  Willy's  Vorliebe  zu  geistreichem  Spott 
und  Ironie  (wovon  er  in  dem  Figaro  unter  dem  anderem 
Pseudonym  *)  „POuvreuse*  seit  Jahren  glänzende  Proben  ab- 
gelegt hat),  stempeln  Claudine  en  Manage  zu  einem  zwar 
psychologisch  interessanten,  aber  künstlerisch  minder- 
wertigen Roman. 


*)  Der  wahre  Name  von  Willy  ist  Gauthior- Villars. 


—    1139    — 


Kapitel  III. 
Besprechungen  des  Jahrbuches*). 

1)  Ärztliche  Zentral-Zeitung  (Wien)  13.  Dezember: 

Darlegung  des  Wesens  der  Homosexualität,  die  leider  von 
Vielen  noch  in  das  Gebiet  der  willkürlichen  und  lasterhaften 
Ausschweifungen  verwiesen  werde,  ein  Standpunkt,  den  unglück- 
licherweise auch  noch  die  Strafgesetze  einer  Anzahl  von  Staaten 
teilten.  Daran  anknüpfend  Hinweis  auf  das  die  Beseitigung  der 
Strafe  gegen  die  Homosexualität  bezweckende  Komitee  und  Her- 
vorhebung der  wichtigsten  Aufsätze  des  Jahrbuchs. 

Zahlreiche  hübsche  Holzstiche  schmückten  vorteilhaft  das 
Werk  und  förderten  wesentlich  das  Verständnis  des  interessanten 
und  anregenden  Inhalts.  Das  Jahrbuch  möge  unter  den  Ärzten 
und  Juristen  die  weiteste  Verbreitung  finden  und  die  edlen  Zwecke 
des  Komitees  wirksam  fördern. 

2)  Allgemeine     Deutsche    Universitäts-Zeitung 

15.  Januar  1903. 

Besprechung  von  Hanns  Fuchs  in  ähnlichem  Sinne  wie  die 
weiter  unten  erwähnte  der  Politisch-Anthropologischen  Revue. 

3)  Archiv  für  physikalisch-diätetische  Therapie 

in     der     ärztlichen     Praxis    (Herausgeber  Dr. 

Ziegebrock),  15.  Juli: 

Die  Jahrbücher  werden  als  außerordentlich  lehrreich,  in 
anthropologischer  wie  rein  praktischer  Hinsicht  gleich  wertvoll 
bezeichnet.  Mehr  noch,  wie  seine  Vorgänger,  enthalte  Band  4 
eine  geradezu  überwältigende  Fülle  von  Material,  das  zur  Beleuch- 
tung der  sexuellen  Zwischenstufen  und  damit  auch  zur  Klarlegung 
normal-physiologischer  Zustände  von  unendlichem  Werte  sei. 
Erst  die  Abweichungen  von  der  Norm,  studiert  und  beobachtet, 
wie  sie  hier  vorlägen,  erschlössen  das  Verständnis  der  sogen, 
normalen  Vorgänge.  Die  Norm  sei  keine  feste  und  das  „Abnorme" 
habe  tausendfältige  Beziehungen  zur  Norm. 

Sodann  wird  hervorgehoben  die  geradezu  mustergiltige  Aus- 
stattung des  Buches  und  die  Fülle  der  tadellosen  Abbildungen. 


*)  Wo   der  Jahrgang   der  Besprechung  nicht  angegeben  ist, 
rührt  sie  aus  dem  Jahr  1902  her. 

Jahrbuch  V.  72 


—    1140    — 

4)  Berliner    klinische    Wochenschrift,    18.  August 
(Besprechung  von  Posner): 

Auch  wer,  wie  Referent,  der  Bewegung  bezweckend  die 
Aufhebung  des  §  175  zurückhaltend  gegenübertrete  und  keines- 
wegs so  weit  gehe,  jeden  verkommenen  Päderasten  als  Gegen- 
stand des  Mitleids  und  als  Objekt  rein  psychiatrischer  Betrach- 
tungsweise anzusehen,  werde  anerkennen  müssen,  daß  das 
intimere  Studium  der  Frage  mancherlei  Neues  und  Wichtiges  ge- 
fördert habe  und  daß  jedenfalls  in  der  Beurteilung  des  Einzel- 
falles dem  Arzt  ein  entscheidendes  Wort  gebühre.  Von  diesem 
Standpunkte  aus  werde  man  die  Berechtigung  anerkennen  müssen, 
alle  auf  das  Thema  bezüglichen  Ergebnisse  sorgfältig  zusammen- 
zutragen und  als  Material  für  das  etwa  reformbedürftige 
Strafgesetz  zu  sichten. 

Von  den  Aufsätzen  hebt  Referent  die  Arbeit  von  Neugebauer 
sowie  diejenige  von  Karsch  hervor.  Er  bezweifelt,  daß  die  Homo- 
sexualität von  Johannes  von  Müller  völlig  sicher  erwiesen  sei. 

Das  Jahrbuch  halte  sich  von  sensationeller  Aufbauschung 
und  Erregung  von  Lüsternheit  fern;  wer  sich  für  das  Gebiet 
interessiere,  werde  mancherlei  Stoff  zum  Nachdenken  und  zum 
Studium  finden. 

Rezensent  scheint  der  unrichtigen  Meinung  zu  sein, 
daß  die  Päderastie  oft  als  eine  lasterhafte  Gewohnheit 
heterosexueller  Wüstlinge  sich  darstelle.  Verkommene 
Päderasten  können  sehr  wohl  homosexuell  geboren  sein, 
und  werden  auch  oft  von  Geburt  an  homosexuell  sein. 
Die  Homosexuellen,  welche  das  Prädikat  „verkommen" 
verdienen,  verdienen  dasselbe  nicht  wegen  ihres  Treibens, 
sondern  wegen  gröblicher,  sittlicher  Mängel  oder  häßlicher 
Charakterfehler. 

5)  Berliner    Morgenpost,    26.    Juli    (Zwischen    den 

Geschlechtern,  von  Conrad  Albert i): 

Alle  Welt  nähme  an,  es  gäbe  zwei  fest  abgegrenzte  Ge- 
schlechter; Die  Natur  schaffe  niemals  nur  Extreme;  auch  bei  den 
Geschlechtern  seien  Zwischenstufen  vorhanden.  Referent  streift 
dann  die  Frage  der  embryonalen  Doppelnatur  des  Menschen. 
Der  homosexuelle  Trieb  sei  in  der  natürlichen  Organisation  der 
Conträren  begründet,  ein  freier  Wille  komme  dabei  nicht  in  Be- 
tracht. Die  Bestrafung  der  angeborenen  Neigung  daher  eine  Un- 
gerechtigkeit und  die  Bestrebungen  des  Jahrbuchs  zu  billigen. 


—     1141     — 

Mit  Recht  lege  das  Jahrbuch  besonderen  Wert  auf  den 
Nachweis  der  Homosexualität  bei  historischen  Persönlichkeiten. 

Vor  Einem  aber  wolle  er,  Referent,  warnen,  nämlich 
nicht  jedes  Produkt  eines  Schriftstellers  als  eine  persönliche  Beichte 
aufzufassen.  Nichts  reize  den  Künstler  mehr,  als  sich  in  fremde 
Gefühle  hineinzuversetzen  und  sie  darzustellen.  So  sei  auch 
Goethe  nicht  homosexuell  gewesen,  weil  er  manchmal  ähnliche 
Töne  habe  erklingen  lassen. 

Der  Schlußbemerkung  von  Alberti  stimme  auch  ich 
im  allgemeinen  und  speziell  hinsichtlich  von  Goethe  bei, 
jedoch  wird  man  bei  manchen  Schriftstellern  und  Dichtern 
aus  der  Art  und  Weise,  in  der  sie  die  Homosexualität 
darstellen,  aus  ihren  das  innerste  Herzensbedürfnis  ver- 
ratenden Ergüssen,  in  vielen  Fällen  die  homosexuelle 
Natur  des  Dichters  selbst  erraten,  z.  B.  bei  Platen. 

6)  Deutsche  medizinische  Presse,  Nr.  18: 

Eine  Nebeneinanderstellung  der  Hermaphroditen  und  Homo- 
sexuellen, wie  sie  im  Jahrbuch  erfolge  durch  Aufnahme  der  Arbeit 
von  Neugebauer  erscheine  zwar  agitatorisch  recht  geschickt,  die 
medizinische  und  juristische  Stellung  beider  sei  jedoch  grund- 
verschieden. Die  Zwitter  hätten  für  ihren  nur  scheinbar  perversen 
Trieb  eine  anatomische  Grundlage,  ihr  Wunsch  einer  Änderung 
ihres  Standesamts  würde  kaum  auf  behördlichen  Widerstand  stoßen. 
Bei  Homosexuellen  fehle  jede  anatomische  Stütze,  wenigstens 
habe  noch  Niemand  die  einst  behauptete  Endigung  der  Nervi 
erigentes  bei  Homosexuellen  nachgewiesen;  immerhin  seien  sie  als 
kranke  oder  mindestens  abnorme  Menschen  zu  betrachten  und 
ganz  energisch  müsse  gegen  das  auch  in  Jahrbuch  IV  hervor- 
tretende Bestreben  protestiert  werden,  die  homosexuelle  Liebe 
als  etwas  Natürliches  und  demnach  mit  der  heterosexuellen  Liebe 
Gleichberechtigtes  hinzustellen. 

Referent  mißbilligt  deswegen  einige  Sätze  von  Römer  sowie 
von  Praetorius,  namentlich  wendet  er  sich  gegen  meine  Auffas- 
sung, wonach  es  keine  Schande  sei,  wenn  die  idealere  Seite  der 
Homosexualität  zur  Entwicklung  gebracht  würde. 

Referent  meint:  Zu  einer  weiteren  „Entwicklung"  der  Homo- 
sexualität nach  irgend  einer  Richtung  beizutragen,  scheine  ihm 
nicht  gerade  erstrebenswert  zu  sein.  Vom  ärztlichen  Standpunkte 
aus  erscheine  es  vielmehr  geboten,  die  Homosexualität  nicht  zu 
fördern,  sondern  ihr  in  jeder  Weise  zu  steuern. 

Strafgesetze  seien  allerdings  hierzu  nicht  das  rechte  Mittel. 
Man  möge  §175  aufheben,  da  namentlich  §  51  die  Homosexuellen 

72* 


—     1142    — 

kaum  straffrei  mache.  Man  möge  aber  nach  Aufhebung  des 
Strafgesetzes  aus  öffentlichen  Mitteln  Heilstätten  für  Homosexuelle 
errichten,  um  auch  den  Unbemittelten  die  Möglichkeit  einer 
Heilung  zu  bieten.  Eine  öffentliche  Anerkennung  der  Berechtigung  der 
krankhaften  Triebe  der  Homosexuellen  sei  dagegen  nicht  zu  wünschen. 

Eine  Behandlung  der  körperlichen  Hermaphrodisie 
im  Jahrbuche  halte  ich  entgegen  der  Anschauung  des 
Rezensenten  für  gerechtfertigt ;  denn  die  körperliche 
Hermaphrodisie  hat  den  Charakter  der  sexuellen  Zwischen- 
stufe mit  der  Homosexualität  gemein  und  bildet  einen 
der  zahlreichsten  Ringe  in  der  Kette,  welche  das  rein 
männliche  mit  dem  rein  weiblichen  Geschlecht  verbindet. 

Übrigens  kommen  auch  bei  manchen  Homosexuellen 
anatomisch  dem  entgegengesetztenGeschlecht  entsprechende 
körperliche  Merkmale  vor,  namentlich  bei  den  Androgynen 
und  Gynandern,   die  Rezensent  nicht  zu  kennen  scheint. 

An  meiner  Auffassung,  daß  eine  Entwicklung  der 
Homosexualität  nach  der  idealen  Seite  hin,  kein  Schade 
sei,  halte  ich  auch  jetzt  noch  fest.  Denn  für  die  Homo- 
sexuellen, die  nicht  geheilt  sein  wollen  und  die,  die  nicht 
geheilt  werden  können,  (die  Mehrzahl  wohl)  ist  es  immerhin 
besser,  daß  eine  Veridealisierung  ihres  Triebes  stattfindet, 
als  daß  sie  lediglich  in  dem  grobsinnlichen  Genuß  völlig 
aufgehen. 

7)  Deutsche     Medicinische      Wochenschrift 

Literatur-Beilage,    Nr.   6    1903.      Besprechung    von 

Eulenburg: 

Das  außerordentlich  sorgfältig  und  geschickt  redigierte 
„Jahrbuch  IV"  erfreue  sich  wieder  eines  reichen  und  in  mannig- 
faltiger Weise  interessierenden  Inhalts.  Unter  andern  wird  her- 
vorgehoben die  sehr  vollständige  und  erschöpfende  Bibliographie, 
dagegen  die  Widerlegung  von  Wachenfeld  kaum  als  durchweg 
überzeugend  bezeichnet. 

8)  Deutsche  Praxis,  Zeitschrift  für  praktische  Ärzte, 

25.  November: 

Es  sei  ein  großes  Verdienst  des  Herausgebers  auf  einem 
Gebiet  Wandel  zu  schaffen,  auf   dem   die   medizinische  Wissen- 


—     1143     — 

schaft  in  erster  Linie  berufen  sei,  Klarheit  zu  schaffen  und  Grund- 
sätze herbeizuführen,  vor  denen  der  Jurist  Halt  zu  machen  habe. 
Die  „stattliche  Reihe  hervorragender  Mitarbeiter"  wird  hervor- 
gehoben und  die  „geradezu  splendide  Ausstattung"  des  Jahr- 
buchs rühmend  anerkannt. 

9)  Frankfurter  Neueste  Nachrichten  27. September. 
Zweck  des  Komitees  und  der  Jahrbücher  werden  auseinander- 
gesetzt. Es  verdiene  hohe  Anerkennung,  daß  sich  eine  Schar 
von  Männern  zum  Kampf  gegen  die  in  Deutschland  verbreitete 
Unkenntnis  und  gegen  die  schreiende  Ungerechtigkeit  zusammen- 
getan hätten.  Die  Jahrbücher  zeugten  von  tiefer  Sachkenntnis, 
enthielten  eine  Menge  von  ernstem  und  wissenschaftlichen  Beweis- 
und  Aufklärungsmaterial.  Es  sei  zu  hoffen,  daß  sie  im  Laufe  der 
Zeit  die  bestehenden  Vorurteile  beseitigten,  sie  seien  ein  eminent 
sittliches  Unternehmen. 

10)  Freistatt.     Kritische  Wochenschrift    für   moderne 

Kultur  (München),  4.  November.     (Besprechung  von 

Hanns  Fuchs): 

Würdigung  der  Aufsätze  des  Jahrbuchs.  Referent  wünscht 
Sonderabdruck  des  „schönen"  Aufsatzes  „Homosexualität  und 
Bibel"  sowie  meiner  Widerlegung  des  Buches  von  Wachenfeld. 
Unter  den  kleineren  Abhandlungen  zählt  Referent  diejenigen  des 
norwegischen  Gelehrten  sowie  von  Merzbach  zu  den  bedeutend- 
sten. Jeder,  der  nicht  mit  dem  festen  Willen,  seinen  gegnerischen 
Standpunkt  zu  behalten,  an  die  Lektüre  der  Jahrbücher  heran- 
gehe, werde  in  ihnen  eine  Fülle  von  Anregung  und  Belehrung 
finden.  Und  da  ein  so  törichtes  Wollen  doch  wohl  selten  sei,  würden 
die  Jahrbücher  erfolgreiche  Pioniere  werden  für  eine  Zeit,  in 
welcher  jeder  Individualität,  solange  sie  der  Allgemeinheit  nicht 
schädlich  sei,  Existenzberechtigung  zuerkannt  werde. 

11)  Die  Gegenwart,  24.  Januar  1903: 

Ruhige  Entschiedenheit  und  sympathischen  jeden  unzüchtigen 
Gedanken  ausschließenden  Ernst  rühmt  Rezensent  auch  an  Jahr- 
buch IV.  Eine  tunlichst  vollkommene,  alle  Winkel  erleuchtende  Auf- 
klärung tue  not.  Handele  es  sich  um  eine  Naturanlage,  so  sei  die 
Strafe  unhaltbar.  DenBeweis  für  die  Existenz  dieses  Naturtriebes  führe 
das  Jahrbuch  in  ziemlich  bündiger  Weise.  Möge  man  ihm  auch 
widerstrebend  folgen,  sogar,  wie  Rezensent,  jedes  freundliche 
Wort  nur  sehr  widerstrebend  niederschreiben  —  Gerechtigkeit 
über  Alles:  Das  Jahrbuch  überzeuge  am  Ende,  weil  es  erschüttere 
und  rühre.  Zu  viel  Ehrlichkeit,  zu  viel  Mut  und  Wissen  sei 
darin. 


—     1144    — 

12)  Juristische    Wochenschrift    15.   August   1902: 

i  Besprechung  von  Kuhlenbeck. 

;  Kuhlenbeck  bespricht  das  Buch  von  Bloch  und  wendet  sich 

,  zugleich  gegen   die  Bestrebungen   des  Komitees  und  des  Jahr- 

I  buchs. 

Homosexualität  sei  Entartung,  die  das  Volk  vergifte;  Bestrebun- 
gen zu  Gunstensexueller  Zwischenstufen  wagten  mit  einer  selbst  dem 
Altertum  fremden  Schamlosigkeit  das  Haupt  zu  erheben,  obwohl 
schon  der  Apostel  Paulus  die  Widernatürlichkeit  der  Homosexualität 
als  eine  der  schlimmsten  Früchte  der  verfallenden  heidnischen 
Civilisation  gekennzeichnet  habe.  Zahlreiche  neuere  Produktionen 
unterstützten  diese  Bestrebungen. 

Gegenüber  den  Forschungen  von  Bloch  sei  die  Lehre  des 
Angeborenseins  sexueller  Perversitäten  nicht  mehr  haltbar. 

Die  Aufhebung  des  §  175  würde  nur  die  betreffenden  Ver- 
gehen vermehren.    Eine  zweckmäßige   Strafe   sei  zu  verlangen; 
auch   der  Entartete  müsse  die  Folgen  seiner  Handlungen  tragen. 
Zum  Schlüsse  hofft  Rezensent,  daß  die  seiner  Zeit  durch  die 
,  lex   Heinze    aufgerollte    gesetzgeberische    Frage   betreffend    die 

|  obscöne  Litteratur  nicht  für  immer  erledigt  sein  möge. 

I  Gegenüber  den  jeder  objektiven  Würdigung  baren,  von 

(  subjektiver    blinder    Abneigung    erfüllten    temperament- 

vollen   Ausführungen    des    Rezensenten    glaube    ich    auf 
j  irgend  welche  Bemerkungen  verzichten  zu  können. 

13)  Das  Kleine  Journal    28.  Juli    (Besprechung  von 

f  Dr.  Merzbach). 

;  Dank  hauptsächlich  den  Bestrebungen  des  Komitees  könnten 

i  die    Homosexuellen   ausrufen:    „La  värite  est  en  marche".    Die 

Homosexuellen   müßten  ganz  straflos  bleiben.    Diese  edlen  Be- 
j  strebungen  unterstütze  das  Jahrbuch  aufs  nachdrücklichste.  Günstige 

«  Besprechung   der  einzelnen   Arbeiten.     Gelegentlich  der  Wider- 

legung von  Wachenfeld's  Buch  tadelt  Referent  gleichfalls,  wie  ich 
es  getan,  daß  Wachenfeld  und  auch  Bloch,  dessen  „Beiträge  zur 
Aetiologie  der  psychopathia  sexualis",   eine   herbe  Kritik  heraus- 
'  forderten,  vom  grünen  Tisch  aus  die  Homosexuellen  beurteilten. 

Wer  die   Homosexuellen   verstehen   wolle,    der  solle  unter  sie 
|  treten  und  sie  als  Menschen  und  vor  allem  als  sehr  brauchbare 

i  Menschen  kennen  lernen,  die  weder  anders  Denkende  zu  bekehren 

sich   unterfingen,    noch   Gelüste   ä   la  Sternberg  heterosexuellen 
!  Angedenkens,  an  den  Tag  legten. 

Man  habe  in  dem  Jahrbuch   ein   großes,   bedeutungsvolles, 
wissenschaftliches  Faktum  vor  sich,   an  dem  auch  die  praktische 


—    1145    — 


Jurisprudenz  nicht  länger  achtlos  vorübergehen  könne.  Die 
Revision  des  Strafgesetzbuches  stehe  ja  bevor.  Also  videant 
praetores! 

14)  Kleine  Presse:    22.  Juni. 

Das  Jahrbuch  mit  seinem  großen  ärztlichen  und  juristischen 
Material  sei  dazu  angetan,  die  Frage,  ob  nicht  §  175  grausam 
für  die  abnorm  Veranlagten  sei,  wachzuhalten.  Die  Ansicht,  daß 
die  Gesetze  auf  die  Normalmenschen  zugeschnitten  sein  müßten, 
werde  so  bald  nicht  schwinden,  besonders  wegen  der  Befürchtung 
einer  Verwirrung  des  natürlichen  Gefühls  im  Falle  der  Straf- 
losigkeit des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs. 

Aber  die  gerechtere  Auffassung,  daß  bei  der  Verletzung  des 
§  175  meistens  Unglückliche,  krankhaft  Veranlagte  und  nicht 
etwa  nur  verächtliche,  verdorbene  Lüstlinge  in  Betracht  kämen, 
gewinne  doch  wohl  immer  mehr  an  Boden,  und  dazu  trage  auch 
das  Jahrbuch  seinen  Anteil  bei. 

17)     Medizinisch  -  Chirurgisches    Centralblatt 
(Wien)  26.  September  (Besprechung  von  Dr.  Segel). 

Über  die  Bestrebungen  des  Komitees  und  des  Dr.  Hirschfeld 
gäbe  es  wohl  unter  den  Gebildeten  der  ganzen  Welt  nur  ein 
Urteil,  gelte  nur  ein  Wunsch:  daß  nämlich  der  mit  den  edelsten 
Mitteln  geführte  Kampf  gegen  Gesetze,  die  vor  der  Wissenschaft 
und  Humanität  längst  nicht  mehr  bestehen  könnten,  bald  von 
Erfolg  gekrönt  sein  mögen.  Referent  meint  dann,  es  sei  um  so 
betrübender,  daß  die  meisten  Beiträge,  mit  wenigen  Ausnahmen, 
namentlich  mit  Ausnahme  der  exakt  wissenschaftlichen  Arbeit  von 
Neugebauer  nicht  auf  der  Höhe  ihrer  Mission  stünden.  Nament- 
lich gelte  dies  von  den  historischen  Arbeiten  des  Jahrbuchs,  auf 
die  besonderes  Gewicht  zu  legen  gewesen  wäre.  Die  einen  be- 
friedigten nicht  durch  das  Skizzenhafte,  Unvollendete  ihrer  Art, 
die  anderen  ermüdeten  durch  eine  Unsumme  von  Details,  die  wohl 
in  einer  Monographie,  nicht  aber  in  einem  der  Propaganda  und 
Belehrung  dienenden  Werke  am  Platze  seien.  Immerhin  läge  ein 
Stück  ehrlicher  Arbeit  vor,  von  dem  er,  Referent,  laut  wünsche, 
daß  es  nicht  vergeblich  getan  worden  sei. 

Es  ist  nicht  meine  Sache  den  Wert  der  Aufsätze 
des  Jahrbuches  zu  verteidigen.  Die  Aufsätze  sollen  der 
Propaganda  und  Belehrung  dienen,  aber  in  erster  Linie 
sollen  sie  wissenschaftlichen  Charakter  aufweisen  und 
durch  diesen  Charakter  der  Wissenschaftlichkeit  und 
Wahrhaftigkeit    wirken.     Diesen  Eigenschaften  begegnet 


—     1146    — 

man  aber  gerade  in  hohem  Maße  bei  Kars ch's  Aufsätzen, 
die  allerdings  nicht  immer  eine  sog.  leichte  Lektüre 
sind  und  —  glücklicherweise  —  es  auch  nicht  sein  wollen 
und  sollen. 

18)  Medizinische  Reform:   Wochenschrift  für  sozi- 
ale   Medizin    9.  August.       Zur     Sociologie     der 
konträren  Sexualität  von  M.  Eichhorn. 
Die   öffentliche   Meinung  betrachte   leider  immer  noch  die 
Homosexualität  als  Verirrung  und  Zeichen  von  Dekadenz. 

Ungerechtigkeit  des  §  175.  Die  Konträrsexuellen,  wenn 
auch  nicht  gleichartig,  so  doch  vollkommen  gleichberechtigt  gegen- 
über den  normal  Empfindenden.  Die  geschlechtlichen  Anomalien 
beruhten  teils  auf  physiologischer  Zwitterbildung,  teils  auf  erb- 
licher psychischer  Veranlagung.  Verfasser  teile  nicht  die  Auffassung 
Blochs,  der  die  Homosexualität  für  eine  von  Verführung  herzu- 
leitende Erscheinung  betrachte. 

Verfasser  hebt  die  Nachteile  des  §  175  hervor  und  verlangt 
volle  Gleichberechtigung  und  gleiche  Behandlung  der  Homo-  und 
Heterosexuellen.    Er  bespricht  dann  günstig  das  Jahrbuch. 

Dasselbe  bringe  eine  ganz  außerordentliche  Fülle  wert- 
vollen und  interessanten  wissenschaftlichen  Materials,  sowie 
eine  Anzahl  vortrefflicher  Illustrationen.  Es  sei  noch  mehr  als 
seine  Vorgänger  mit  seiner  Reichhaltigkeit  und  wissenschaftlich 
objektiven  Darstellung  in-  hohem  Grade  geeignet,  bei  Ärzten  und 
Laien  die  noch  bestehenden,  zum  großen  Teil  auf  Unkenntnis 
beruhenden  Vorurteile  zu  zerstreuen. 

Die  Popularisierung  der  Bestrebungen  des  Jahrbuchs  und 
des  Komitees  sei  im  sozial-medizinischen  Sinne  wünschenswert 
und  notwendig. 

19.  Mercure  de  France.  Mainummer  1902.  Henri 
Albert,  der  über  die  deutsche  Literatur  berichtet, 
bringt  S.  543,  544  eine  Kritik  über  Niemann's  homo- 
sexuellen Roman  „Zwei  Frauen"  (vgl.  Jahrbuch  III 
S.  454)  und  sagt  bei  dieser  Gelegenheit  in  ironischem 
Ton: 

„Es  scheint,  daß  das  „Problem"  der  sexuellen  Inver- 
sion die  Deutschen  sehr  interessiert.  Denn  sie  sind 
gewahr  geworden,  daß  es  da  ein  „Problem"  gäbe 
und,  da  man  es  lösen  mußte,  haben  einige  Gelehrte 
das  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen  gegründet,  das 
schon  seinen  dritten  Jahrgang  aufweist.  Es  ist  ein  Fort- 


—    1147    — 

schritt  in  dem  Sinne,  daß  die  Schamhaftigkeit  nicht  mehr 

bei  der  geringsten  Anspielung   erschrickt  und  daß  man 

beginnt,  „davon"  sprechen  zu  können." 

Albert  läßt  sich   dann   ziemlich    abfällig   über  Niemann's 

Roman  aus.     Allerdings,    sagt   Albert,    sei  es  in  Deutschland 

schwer  von  der  homosexuellen  Leidenschaft  zu  reden. 

„Die  deutsche  Sprache  hat  keinen  erotischen  Wort- 
schatz. Man  müßte  lateinisch  sprechen.  Es  gibt 
wohl  die  reizende  Redensart  „Warme  Brüder",  aber  die 
„warmen  Schwestern"  hatten  bisher  nicht  von  sich  reden 
machen.  Niedliches  Land,  wo  die  Unkenntnis  für  Un- 
schuld gehalten  werden  kann." 

Henri  Albert  scheint  die  reichhaltige  homosexuelle 
deutsche  Belletristik  nicht  zu  kennen.  Die  weibliche 
homosexuelle  Literatur  ist  allerdings  in  Deutschland  weit 
spärlicher  vertreten  als  in  Frankreich,  und  zwar  wohl 
hauptsächlich  deswegen,  weil  infolge  der  Bestrafung  der 
mannmännlichen  Liebe  und  ihrer  größeren  sozialen  Be- 
deutung das  Interesse  in  Deutschland  mehr  auf  sie  als 
auf  die  konträre  Liebe  des  Weibes  gelenkt  ist.  Ferner 
darf  man  nicht  vergessen,  daß  der  Franzose  dank  seiner 
Vergötterung  des  Weibes  auch  bei  der  anomalen  Leidenschaft 
der  Frau,  die  er  mit  nachsichtigem  Blicke  betrachtet,  sich 
durch  den  Reiz  und  die  Anmut  des  weiblichen  Ge- 
schlechts angezogen  fühlt,  während  der  heterosexuelle 
Franzose  mannmännlichen  Liebesäußerungen  gegenüber 
sich  im  allgemeinen  noch  ablehnender  und  unduldsamer 
verhält  als  der  Deutsche. 

20)  Neues  Leben:  Anarchistisch-sozialistische  Wochen- 
schrift 26.  Juli.  Ein  Emancipationswerk  der 
Kulturbestrebungen  von  R.  Hartmann. 

Die  Bestrebungen  der  Konträrsexuellen  setzten  sich  in  auf- 
steigender Linie  fort.  Beweis  hierfür  sei  das  4.  Jahrbuch,  das 
zweifellos  bedeutsamste  der  bisher  erschienenen. 

Referent  hebt  die  Wichtigkeit  des  Aufsatzes  von  Neugebauer 
hervor,  bezeichnet  denjenigen  von  Fuchs  als  gediegen,  doch 
stimmt  er  dessen  Ausführungen  nicht  bei,  insbesondere  hält  er 


—    1148    — 

auch  ein  momentanes  Allzuviel  in  der  homosexuellen  literarischen 
Produktion  nicht  für  einen  Schaden.  Die  meisten  übrigen  Auf- 
sätze werden  noch  erwähnt. 

Das  Unternehmen  der  Herausgeber  verdiene  von  Erfolg 
gekrönt  zu  werden.  Der  sachliche,  ruhige  und  wissenschaftliche 
Ernst,  mit  dem  die  Fragen  behandelt  würden,  müsse  Jedem  impo- 
nieren und  trage  zur  Beweiskräftigkeit  viel  bei.  Freilich  finde 
man  täglich,  daß  immer  wieder  die  Märchen  von  der  Übersättigung 
und  Widernatürlichkeit  auftauchten.  Homosexualität  lasse  sich 
aber  nicht  erwerben. 

Das  Komitee  möge  in  der  Veröffentlichung  populärer 
Broschüren  wie  z.  B.  des  Schriftchens  „Was  muß  das  Volk  vom 
dritten  Geschlecht  wissen"  fortfahren.  Jedem  Einzelnen  sei  zu 
wünschen,  daß  er  sich  mit  diesem  Gebiet  bekannt  mache.  Die 
Jahrbücher  seien  sehr  geeignet  dazu. 

21)  Politisch- Anthropologische  Revue.  Wochen- 
schrift für  das  soziale  und  geistige  Leben  der  Völker. 
Dezembernummer.    Besprechung  von  Hanns  Fuchs. 

Es  gäbe  kaum  einen  anderen  Aufsatz,  der  so  wie  der  von 
Neugebauer  in  so  vorzüglichster  Weise  die  Kenntnis  des  für  den 
Gynäkologen  und  Gerichtsarzt  gleich  wichtigen  Gebietes  des 
Zwittertums  vermittle. 

Der  Rat  von  Merzbach,  die  Homosexuellen  sollten  sich  als 
mundus  in  mundo  ihr  Dasein  zimmern,  erscheint  Rezensent 
richtiger  und  humaner  als  die  Forderung  von  Dr.  Fuchs:  die  Er- 
richtung von  Humanitätsanstalten  zum  Zweck  der  Heilung  der 
Konträren. 

Wahre  Humanität  bemühe  sich  doch,  jeder  Individualität, 
die  der  Gesellschaft  nicht  schädlich  sei,  Existenzmöglichkeit  zu 
schaffen,  ohne  aus  der  Welt  ein  großes  Krankenhaus  zu  machen. 

Die  übrigen  Arbeiten  werden  lobend  besprochen. 

Für  jeden,  der  sich  mit  der  homosexuellen  Frage  beschäftigen 
wolle,  und  das  solle  jeder  Gebildete  tun,  brächten  die  Jahrbücher 
eine  Fülle  von  Material.  Möge  man  sich  auch  mit  einigen  Einzel- 
heiten nicht  einverstanden  erklären,  vornehme  Sachlichkeit  werde 
niemand  diesen  Büchern  absprechen  können. 

22)  Das  Recht.      10.  September.       Besprechung    von 

Rechtsanwalt  Dr.  Fuld  (Mainz). 

Vielleicht  werde  der  Umfang  des  4.  Jahrbuchs  (fast  1000 
Seiten!)  schon  genügen,  um  die  wissenschaftlichen  Kreise  mit  der 
Überzeugung  zu  erfüllen,  daß  die  Bewegung,  welche  sich  mit  der 


—    1149    — 

Stellung  der  Gesetzgebung  zu  dem  homosexuellen  Problem  befasse, 
nicht  mehr  unterschätzt  werden  könne.  Rezensent  könne  das 
von  hervorragender  Seite  geäußerte  Bedauern  darüber,  daß  an- 
scheinend die  Publikationen  über  die  homosexuelle  Frage  zu 
einer  ständigen  Erscheinung  in  der  Literatur  würden,  nicht  teilen. 
Das  Jahrbuch  IV.,  dessen  vornehme  Ausstattung  wohltuend  berühre, 
halte  an  der  streng  ernsten  Behandlung  des  Problems  fest. 

Fuld  will  in  dem  Weglassen  der  Zeitungsausschnitte  einen 
Fortschritt  sehen,  man  vermeide  so  den  Schein  der  beabsichtigten 
sensationellen  Verwertung  von  Pikanterien. 

Von  den  Aufsätzen  hebt  Fuld  hervor:  die  von  Karsch, 
Römer  und  Praetorius.  Von  Karsch  sagt  er,  daß  er  durch  die 
Fülle  des  von  ihm  behandelten  Materials  in  Erstaunen  setzte. 

Fuld  erkennt  zwar  den  historischen  und  literar-h ist ori sehen 
homosexuellen  Studien  eine  kulturhistorische  Bedeutung  zu,  er 
würde  es  aber  für  verfehlt  halten,  wenn  auch  in  den  ferneren 
Bänden  denselben  ein  gleicher  übermäßig  großer  Raum  gewidmet 
würde.  Er  meint,  das  Jahrbuch  würde  dadurch  den  Charakter 
der  Aktualität  zum  Teil  einbüßen,  der  ihm  doch  unbedingt  gewahrt 
werden  müsse. 

Erfreulich  sei  es  andererseits,  daß  die  psychologische  Seite 
des  Problems  immer  stärker  betont  und  die  psychische  Frage 
immer  mehr  vertieft  werde;  es  dürfte  dies  mit  der  Zeit  doch  dazu 
beitragen,  daß  die  Anschauung,  welche  Homosexualität  lediglich 
unter  dem  Gesichtspunkt  des  Lasters  betrachte,  mehr  und  mehr 
erschüttert  werde. 

Der  Ansicht  von  Fuld  bezüglich  der  Zeitungsaus- 
schnitte  vermag  ich  nicht  beizutreten,  Das  Jahrbuch  hat 
wohl  schon  zur  Genüge  bewiese^  daß  es  nicht  Sen- 
sation bezweckt  und  wird  diesen  Verdacht  wohl  nicht 
zu  fürchten  brauchen.  Im  vergangenen  Jahre  sind  die 
Zeitungsausschnitte  lediglich  des  Platzmangels  wegen 
fortgeblieben.  Die  Zeitungsausschnitte  veranschaulichen 
in  besonders  deutlicher  Weise,  welche  Rolle  die  Homo- 
sexualität im  täglichen  Leben  spielt,  sie  führen  drastisch 
vor  Augen  die  Bedeutung  und  Wichtigkeit  der  Homo- 
sexualität in  der  Wirklichkeit  sowie  die  Notwendigkeit  der 
Reformbedürftigkeit  des  §  175;  sie  tragen  dazu  bei,  den 
Charakter  der  Aktualität  dem  Jahrbuch  zu  wahren,  den 
Fuld  selbst  —  und   mit  Recht  —  für  erforderlich   hält 


—    1150    — 

Darüber,  ob  nicht  im  Jahrbuch  IV  den  literar- 
historischen Arbeiten  ein  allzu  großer  Raum  eingeräumt 
worden  ist,  läßt  sich  streiten. 

23)  Reichs-Medizinal- Anzeiger,    26.   September. 
Besprechung  von  Rohleder  (Leipzig): 

Das  Jahrbuch  sei  allen  gebildeten  Homosexuellen  bekannt. 
Wer  wissenschaftlich  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität,  ja  der 
vita  sexualis  überhaupt,  arbeite,  begrüße  stets  den  neuen  Jahr- 
gang mit  Freuden.  Auch  der  4.  Band  biete  eine  reiche  Fülle  von 
Abhandlungen  aus  der  Feder  wissenschaftlich  hochstehender 
Autoren,  was  dem  Werk  seinen  wahren  Wert  verleihe.  Die  beste 
wissenschaftliche  Arbeit  des  Jahrbuchs  sei  diesmal  die  von 
Neugebauer  verfaßte,  außerordentlich  fleißige  und  gründliche  auch 
in  Bezug  auf  ihr  Quellenstudium. 

Die  Forderung  von  Fuchs:  die  Errichtung  von  Humanitäts- 
anstalten zur  Behandlung  der  Konträren  werde  wohl  noch  lange 
nicht  erfüllt  werden.  Diese  Anstalten  würden  wohl  auch  nicht 
den  gewünschten  Erfolg  aufweisen,  denn  die  homosexuelle  Liebe 
würde  in  einem  solchen  Sanatorium  in  Folge  des  notwendiger- 
weise intimen  Verkehrs  der  Homosexuellen  und  der  Unmöglich- 
keit völliger  Isolierung  wahre  Orgien  feiern.  Der  Aufsatz  „Homo- 
sexualität und  Bibel"  nötigt  dem  Rezensenten  „die  vollste  Hoch- 
achtung vor  der  Wahrheitsliebe  und  dem  Verständnis  des  Ver- 
fassers für  die  homosexuelle  Frage"  ab. 

Die  Arbeit  von  Katte  nennt  Rohleder  „sehr  interessant",  doch 
sieht  er  in  der  Erklärung  „die  Natur  solle  durch  liebende  Führung 
den  idealen  Fortschritt  der  Menschheit  steigern"  eine  zu  gewagte 
Explicatio  pro  domo.  Alles  in  AUem  bilde  auch  der  4.  Band 
eine  Fundgrube  mancher  Gebiete  der  vita  sexualis,  sich  würdig 
seinen  Vorgängern  anschließend. 

24)  Schmidt's  Jahrbücher  der  Medizin,  August- 
nummer.    Besprechung  von  Möbius: 

Erwähnung  der  Aufsätze.  Allen,  die  sich  für  die  psychologisch 
und  praktisch  sehr  wichtigen  Fragen  des  geschlechtlichen  Zwischen- 
reiches interessierten,  sei  dieser  neue  Band  angelegentlich 
empfohlen. 

25)  Sozialistische  Monatshefte.    Besprechung  von 

Otto  Kiefer. 

Anerkennende  Anführung  der  Aufsätze  und  ihrer  Haupt- 
gedanken. Bezüglich  der  Abhandlung  von  Katte  sagt  Kiefer: 
Katte,  der^  bereits  im  Band  II  in  ungemein  freimütiger  Weise 
seine  eigene,  für  den  feingebildeten  Homosexuellen  fast  typisch 


—  1151  — 

zu  nennende  Autobiographie  veröffentlicht  habe,  bringe  diesmal 
einen  nicht  gerade  tiefsinnigen  Aufsatz  über  den  Daseinszweck 
der  Homosexuellen.  Es  wäre  ein  dankbares  Unternehmen,  dieses 
Thema  vom  modern  philosophischen  Standpunkt  einmal  be- 
leuchtet zu  sehen. 

In  den  Jahrbüchern  handle  es  sich  um  tiefernste  Bestre- 
bungen, die  noch  viel  zuwenig  in  weiteren  Kreisen  bekannt  seien, 
zum  Schaden  vieler  tüchtiger  Glieder  des  deutschen  Volkes,  die 
schwer  litten  unter  dem  Drucke  veralteter  Rechts-  und  Moral- 
anschauungen. 

26)  Schwäbische  Tagwacht,  15.  Juli: 

Unter  denjenigen  Menschen,  die  über  das  geltende  Recht  in 
Deutschland  sich  zu  beschweren  Grund  hätten,  ständen  nicht 
an  letzter  Stelle  die  männlichen  Homosexuellen.  Geächtet  von 
den  weitesten  Kreisen  ihres  Volkes,  ewig  Gefahr  laufend,  für  die 
Betätigung  eines  ihnen  keineswegs  unnatürlich  vorkommenden 
Triebes  in  das  Gefängnis  zu  kommen,  erstrebten  diese  Kreise 
und  mit  ihnen  auch  viele  andere,  denen  die  wissenschaftliche 
Erkenntnis  höher  als  die  veralteten  Scheinmoralsysteme  sei,  die- 
jenige Gleichberechtigung  vor  dem  Gesetz,  die  ihnen  andere 
Länder  wie  Frankreich  seit  bald  hundert  Jahren  gegeben  hätten 
und  die  ihren  ohnehin  glücklosen  Zustand  wenigstens  zu  einem 
relativ  erträglichen  gestalten  würde.  Hieran  anknüpfend  macht 
Rezensent  auf  die  Bestrebungen  des  Komitees  aufmerksam  und 
führt  den  Hauptinhalt  der  wichtigsten  Aufsätze  des  Jahrbuchs  an. 

Man  sehe  aus  dem  Bericht,  um  welch  ernstes  Werk  es  sich 
handle;  unbefangenen  Wahrheitsforschern  —  und  die  solle  es 
doch  auch  im  „frommen"  Schwaben  stellenweise  noch  geben  — 
könne  die  Lektüre  nur  empfohlen  werden. 

27)  Die  Umschau,  1.  Januar  1903.    Besprechung  von 
Dr.  Mehler: 

Die  bei  Besprechung  des  3.  Jahrbuchs  gerügten  Mißgriffe 
seien  im  4.  Band  vermieden.  Rezensent  gibt  dem  Wunsch  Aus- 
druck, daß  durch  die  Versendung  von  Fragekarten  an  Ärzte  die  Fest- 
stellung der  Anzahl  der  Homosexuellen  wenigstens  in  einer  Stadt 
approximativ  ermöglicht  würde. 

Die  Versendung  von  Fragekarten  an  Ärzte  könnte 
kaum  einen  praktischen  Wert  haben,  da  außer  wenigen 
Ärzten  die  Mediziner  so  gut  wie  keine  Homosexuellen 
kennen  und  die  große  Mehrzahl  der  Konträren  sich  nie- 
mals einem  Arzt  anvertraut. 


—    1152    — 

28)  Vossische  Zeitung,  4.  Juli: 

Man  möge  über  die  Bestrebungen  des  Komitees  günstig 
oder  ungünstig  denken;  mit  dem  „Jahrbuch",  welches  das  vor- 
züglichste Kampfmittel  des  Komitees  sei,  könne  man  sich  zufrieden 
geben.  Es  trage  viel  dazu  bei,  die  einschlägige  Frage  zu 
klären. 

Die  Aufsätze  von  Neugebauer,  Fuchs,  Merzbach,  Karsch  und 
Praetorius  werden  erwähnt.  Die  Arbeit  von  Fuchs  sei  die  wert- 
vollste; psychologisch  interessant  seien  die  Selbstbekenntnisse 
zweier  abnorm  veranlagter  Männer. 

28)  Die  Welt  am  Montag  (2.  März  1903).  1:  Beilage. 
Sexuelle  Zwischenstufen  von  Johannes 
Gaulke. 

Die  bisherigen  Theorien  über  die  Ursachen  der  Homosexuali- 
tät, wonach  sie  ein  Endprodukt  eines  lasterhaften  Lebenswandels, 
oder  psychopathische  Erscheinung  oder  Vorsichtsmaßregel  der 
Natur  zur  Verhütung  der  Übervölkerung  sei,  seien  unhaltbar,  des- 
gleichen auch  die  Theorie  der  Supervirilität.  Als  superviril  könne 
man  überhaupt  jeden  —  ob  homo-  oder  heterosexuell  — 
Menschen  bezeichnen,  der  sich  von  der  Tyrannei  des  Geschlechts- 
triebes frei  gemacht  habe.  In  der  Kunst  könne  die  Supervirilität 
—  die  die  Unterdrückung  der  mit  der  künstlerischen  Produktion  aufs 
innigste  verknüpfte  Geschlechtsliebe  zu  ihrer  Voraussetzung  habe  — 
kaum  als  ein  Vorzug  betrachtet  werden. 

Krafft-Ebing,  Moll  und  die  Jahrbücher  hätten  das  Wesen  der 
Homosexualität  festgestellt.  Sie  sei  nicht  Krankheit,  nicht  Laster, 
sondern  auf  eine  Störung  des  fötalen  Entwicklungsprozesses 
zurückzuführen. 

Erörterung  des  Aufsatzes  von  Neugebauer.  Das  körperliche 
Scheinzwittertum  sei  sehr  wichtig  auch  für  die  homosexuelle  Frage, 
ebenso  wie  ein  physisches  gäbe  es  ein  psychisches  Zwittertum. 

Sodann  Hinweis  auf  die  Aufsätze  von  Karsch  und  Römer. 
Viele  Handlungen  und  Werke  berühmter  Männer  seien  erst  ver- 
ständlich, wenn  man  ihre  Naturanlage,  ihr  Liebesleben  kenne. 
Der  Uranismus  habe  in  der  Kulturgeschichte  eine  größere  Rolle 
gespielt,  als  man  bisher  geahnt. 

Bei  der  Homosexualität  sei  zu  fragen:  ob  die  Homosexuellen 
als  Schädlinge  der  Gesellschaft  zu  betrachten  seien  oder  nicht. 
Jedes  sentimentale  Raisonnement  darüber  sei  zwecklos  und 
irreführend. 

Aus  den  Taten  vieler  Uranier  der  Geschichte  sähe  man, 
daß  sie,   ebenso   wie   die  Heterosexuellen,    auf  allen   Gebieten 


—    1153    — 

Großes  geleistet  und  Gutes  gestiftet  hätten ;  andere  dagegen,  wie 
z.  B.  Elagabal  oder  Papst  Alexander  IL  hätten  es  an  Ruchlosig- 
keit mit  jedem  Normalgeschlechtlichen  aufgenommen. 

Es  würde  sich  lohnen,  auch  diesen  Erscheinungen  einmal 
nachzuforschen,  bisher  habe  man  vorwiegend  nur  von  außer- 
ordentlich tüchtigen  und  guten  Neigungen  in  der  Geschichte 
gehört.  Vom  objektiven  Standpunkt  sei  unbedingt  daran  festzu- 
halten, daß  die  Art  des  Geschlechtsempfindens  —  ob  hetero- 
oder  homosexuell  —  nicht  den  Wert  eines  Individuums  bestimme. 

29)  Wiener  klinische  Rundschau,  No.  34. 

Die  Idee,  ein  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen  heraus- 
zugeben, habe  nicht  nur  eine  glänzende  Verwirklichung  erfahren, 
sondern  auch  ihre  Existenzberechtigung  dadurch  bewiesen,  daß 
schon  der  IV.  Bd.  dieses  eigenartigen  und  interessanten  Unter- 
nehmens vorliege.  Jahrzehntelanges  Unrecht  solle  gesühnt  werden 
durch  die  Erkenntnis,  welche  leidenschaftslose  wissenschaftliche 
Forschung  gebracht.  Dazu  habe  das  Jahrbuch  mächtig  beige- 
tragen und  sein  Herausgeber  Dr.  Hirschfeld,  der  furchtlose  und 
wackere  Kämpe  für  Recht  und  Wahrheit. 

Der  IV.  Band  enthalte  eine  große  Reihe  bedeutsamer  Bei- 
träge. Die  Aufsätze  von  Neugebauer,  Karsch,  Fuchs,  Römer 
werden  dann  angeführt. 

30)  Wiener  medizinische  Presse,  1.  März  1903. 

Das  Jahrbuch  IV  biete  eine  Fülle  bemerkenswerter  Abhand- 
lungen dar,  die  hauptsächlichsten  werden  angeführt. 
31.  Zeitschrift  für  Psychiatrie;  Bd.  59.  Besprechung 

von  Näcke. 

Pünktlich,  wie  immer,  sei  auch  wieder  das  Jahrbuch  er- 
schienen, abermals  mit  einer  Reihe  interessanter  Arbeiten  und 
meist  vorzüglichen  Holzschnitten  in  vornehmster  Ausstattung. 

Näcke  gibt  dann  den  Inhalt  der  einzelnen  Aufsätze  in  kurzen 
Worten  wieder. 

Einen  Glanzpunkt  des  Ganzen  bilde  sicher  die  genaue 
Bibliographie  und  die  ausgezeichneten  Kritiken  von  Praetorius, 
die  um  so  wertvoller  seien,  als  er  selbst  viele  Homosexuelle  kenne. 

32)    Zeitschrift  für    Psychologie    und    Physio- 
logie    der     Sinnesorgane.      Januar    1903.     Be- 
sprechung von  Dr.  Guttmann. 
Hervorgehoben  wird:  Die  Ausführlichkeit,  zum  größten  Teil 

strenge  Wissenschaftlichkeit  der  Arbeit. 

Es  sei  ein  trauriges  Zeichen  von  der  Interesselosigkeit  des 

Reichstags,   daß  nur  ein  einziger  Abgeordneter  der  Aufforderung 


—     1154    — 

des  Komitees,  persönlich  Homosexuelle  kennen  zu  lernen,  um  sich 
ein  Urteil  zu  bilden,  nachgekommen  sei. 

Das  Verbot  des  Vertriebs  der  Volksschrift  im  Kolportage- 
handel seitens  der  Polizei  tadelt  Referent  entschieden,  da  die  Schrift 
wegen  ihres  ernsten  Tones  allen  der  Frage  bisher  Fernstehenden 
zu  empfehlen  sei. 

.  Es  sei  zu  hoffen,  daß  endlich  die  Erkenntnis  sich  Bahn 
breche,  daß  es  sich  um  eine  nicht  durch  Strafen  aus  der  Welt  zu 
schaffende  Naturanlage  handele. 

33)    1.  Beilage  der  Charlottenburger  Zeitung:  Neue 
Zeit  und  Charlottenburger  Intelligenzblatt.  14.  Jan. 

2.  Berliner  Börsen-Courier  15.  Juni. 

3.  Die  Feder:  Halbmonatsschrift  für  die  deutschen 
Schriftsteller  und  Journalisten,  1.  August. 

4.  Frankfurter  Zeitung,  31.  August. 

5.  Kraft  und  Schönheit:  Zeitschrift  für  vernünf- 
tige Leibeszucht,  Septembernummer. 

6.  Magdeburger     General  -  Anzeiger,     Unter- 
haltungsblatt, 22.  Juli. 

7.  Die  medizinische  Woche,  25.  September. 

8.  Medico:  Medizinische  Wochenrundschau,  25.  Juni. 

9.  Naturistischer    Gesundheitsrat,    15.  August. 

10.  Pikanterien  No.  54. 

11.  Unser  Hausarzt:  Monatsschrift  für  Gesundheits- 
pflege, Jugenderziehung  und  Lebenskunst,  Oktober- 
nummer. 

12.  Straßburger  Post. 

Diese  Zeitungen  und  Zeitschriften  führen  die  Aufsätze  des 
Jahrbuchs  unter  Anerkennung  ihrer  Bedeutung  oder  Hinweis  auf 
ihren  Inhalt  an.  Meistens  wird  betont,  daß,  wer  noch  an  dem  Vor- 
handensein und  der  kulturellen  Bedeutung  des  dritten  Geschlechts 
gezweifelt  habe,  durch  die  Lektüre  dieses  1000  Seiten  starken, 
reich  illustrierten  und  trefflich  ausgestatteten  Bandes  eines  Andern 
belehrt  werde. 

In  allen  Besprechungen  wird  anerkannt,  daß  es  sich  um  ein 
Werk  handele,  das  nicht  nur  vom  rein  wissenschaftlichen,  sondern 
vom  allgemein  psychologischen  Gesichtspunkt  größte  Beachtung 
verdiene. 


—    1155    — 

Die  Zeitschrift  Medico  fügt  noch  hinzu,  daß  das  Studium 
des  Jahrbuchs  zweifellos  dem  Komitee  neue  Freunde  und  über- 
zeugte Anhänger  zuführen  werde,  die  das  Komitee  in  dem  Be- 
streben unterstützen,  den  §  175  abzuschaffen,  unter  dem  die 
Homosexuellen  schwer  und,  ärztlich-wissenschaftlich  betrachtet, 
ungerecht  zu  leiden  hätten. 

34)  Breslauer  Morgenzeitung.     23.  März  1903. 

Die  Kruppaffaire  habe  Veranlassung  gegeben,  mit  größerem 
Nachdruck  als  je  zuvor  die  Abschaffung  des  §  175  zu  verlangen. 
An  der  Existenzberechtigung  —  auch  der  moralischen  —  der 
Homosexuellen  werde  man  nach  den  aufklärenden  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  nicht  mehr  zweifeln  können  und  den  Bestrebungen 
des  Komitees  sympatisch  gegenüber  stehen  müssen. 

Der  4.  Bd.  des  Jahrbuchs  enthalte  eine  Fülle  wichtigen, 
wissenschaftlichen  Materials  ohne  jede  Beimischung  sensationeller 
oder  auf  die  Lüsternheit   von  Laien   spekulierender  Einzelheiten. 


Jahrbuch  V.  78 


Annie  Jones-Elliot 

geb.  1873  in  Maison,  W.-Virginia,  gest.  1902  in  New- York. 

73* 


Die  Homosexualität 
im  Russischen  Strafgesetzbuch 


von 


Vladimir  Nabokoff, 

Professor  des  Strafrechts  an  der  kaiserlich  russischen  Rechtsschule 
zu  St.  Petersburg. l) 


I. 

Bei  der  Festsetzung  des  dogmatischen  Begriffs  der 
widernatürlichen  Unzucht  machen  sich  die  Juristen  einer 
allzu  großen  Prüderie  schuldig.  Von  Rosshirt  ab,  welcher 
im  Jahre  1821  in  seinem  Lehrbuch  die  Sodomie  voll- 
ständig aus  dem  Grunde  übergeht,  weil  es  sich  dabei  um 
eine  zu  schmutzige  Materie  handele,  bis  zu  Neklindoff, 
(Handb.,  I  435)  welcher  vorschlägt,  über  Bestialität  und 
Päderastie  ebenso  einen  Schleier  zu  werfen,  wie  über  alle 
Schamlosigkeiten  überhaupt,  von  denen  der  Apostel  Paulus 
den  Christen  nicht  zu  sprechen  rät,  berührt  die  große 
Mehrzahl    der  Schriftsteller   nur  vorübergehend   und  im 


*)  Wir  danken  Herrn  Professor  von  Nabokoff  für  die  freund- 
liche Überlassung  seiner  so  vortrefflichen  Ausführungen,  welche 
einen  Teil  eines  viel  beachteten  Vortrags  über  Sittlichkeitsdelikte 
bilden,  den  der  berühmte  russische  Rechtsgelehrte  in  der  juristischen 
Gesellschaft  zu  St.  Petersburg  hielt.  Der  russische  Urtext  —  unsere 
Übersetzung  stammt  von  Herrn  v.  Nabokoff  selbst  —  erschien  in 
der  juristischen  Zeitschrift:  „Vestnik  Prava"  (Dez.  1902.) 


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—    1160    — 

Falle  äußerster  Notwendigkeit  die  rechtliche  Charakteristik 
dieser  Formen  der  Unzucht.  Daraus  entspringen  die 
ungeheuren,  oft  fast  unüberwindlichen  Schwierigkeiten, 
welche  der  Praxis  bei  Feststellung  des  Tatbestandes  in 
einzelnen  Fällen  erwachsen,  umsomehr  als  alle  Gesetz- 
bücher, welche  über  diese  Unzucht  Bestimmungen  ent- 
halten, immer  zu  allgemeine  und  zu  unbestimmte  Defi- 
nitionen von  ihr  geben.  Bis  in  die  jüngste  Zeit  und  zwar 
bis  zur  Veröffentlichung  des  Buches  von  Dr.  Wachenfeld 
„Homosexualität  und  Strafgesetz  ",  gab  es  überhaupt  keine 
monographische  rechtliche  Literatur  der  Frage.  Für 
Rußland  hat  aber  dieses  Thema  eine  besondere  Wichtig- 
keit. Unsere  Strafgesetzgebung  behandelt  bis  zur  letzten 
Zeit  die  Bestialität  und  die  Päderastie  mit  ganz  besonderer 
Strenge,  und  wenn  die  erstere  aus  dem  neuen  Strafgesetz- 
buch von  1903  (22.  März)  weggefallen  ist  und  die  Päde- 
rastie mit  einer  milderen  Strafe  bedroht  wird,  so  wurde 
der  Tatbestand  der  letzteren  in  Vergleich  zum  bisher 
geltenden  Recht  einer  viel  eingehenderen  kasuistischen 
Ausarbeitung  unterworfen.  — 

Schon  unsere  ältesten  kirchlichen  Gesetze  behandeln 
die  Strafbarkeit  der  Päderastie.  In  der  weltlichen  Ge- 
setzgebung finden  wir  die  ersten  Bestimmungen  hierüber 
in  den  Kriegsartikeln  Peter  des  Großen,  wo  eine  grausame 
Körperstrafe  für  die  „Mischung  des  Menschen  mit  dem 
Vieh"  und  auch  für  den  „Knabenschänder*  festgestellt 
wird.  Wird  dabei  Gewalt  angewendet,  so  soll  das  Urteil 
auf  Todesstrafe  oder  lebenslängliche  Galeerenstrafe  lauten. 
Der  „Svod  Zakonow"  von  1832  enthielt  schon  andere 
Straf bestimmungen :  Rutenstreiche  und  Deportation  für 
Päderastie,  sowie  für  Bestialität;  für  gewaltsame  Päderastie 
—  die  Katorga. 

Aus  der  Mittelperiode  sollte  hervorgehoben  werden, 
daß  im  Jahre  1785  der  Senat  einen  berühmten  Ukas, 
den   Fall   Banze-Kasper   betreffend,    erließ,    welcher   die 


—     1161     — 

Bestialitätfälle  dem  sog.  Gewissenstribunal  zuwies,  damit 
letzteres  solche  Fälle  „mit  allerlei  Nachsicht  und  barm- 
herziger Milde"  behandle,  „indem  die  bei  solchen  Fällen 
vorkommende  Selbstvergessenheit  fast  jede  Art  Wahnsinn 
übertrifft,  und  deshalb  müssen  auch  solche  Albernheiten, 
welche  sich  zu  Zeiten  bei  der  ungebildeten  Menschheit 
einschleichen  und  mit  grenzenloser  Unkenntnis  des 
einzelnen  Wesens  verbunden  sind,"  dem  Gewissenstribunal 
zuständig  sein. 

Das  geltende  Strafgesetzbuch  1845 ')  (Ulosh£ni£)  be- 
stimmt in  den  Artikeln  995—997  (Ausgabe  1885),  daß 
der  des  widernatürlichen  Lasters  der  Männerliebe  „Über- 
führte" der  Deportation  nach  Sibirien  unterliegt.  Wurde 
Gewalt  gebraucht  oder  war  das  Opfer  minderjährig  oder 
blödsinnig,  so  trifft  den  Schuldige»  Katorga  (Deportation 
mit  schwerer  Zwangsarbeit)  von  10 — 12  Jahren.  Die 
Bestialität  wird  bestraft  mit  Deportation  nach  den  ent- 
ferntesten Gegenden  Sibiriens.  Nachdem  im  Jahre  1900 
die  Deportation  zum  Teil  aufgehoben  wurde,  tritt  nun 
an  ihre  Stelle  im  Falle  der  ungeschärften  Männerliebe 
Zuchthaus  von  4 — 5  und  bei  Bestialität  von  5 — 6  Jahren 
ein.  —  Nach  der  „communis  opinio"  einheimischer  Ge- 
lehrten versteht  die  „Ulosh£ni£"  unter  „ Männerliebe"2) 
den  widernatürlichen  Coitus  zwischen  Personen  männ- 
lichen Geschlechts  und  zwar  per  anum.  Soweit  die 
Theorie.  Dagegen  sprach  sich  im  Jahre  1869  der  Senat 
(als  oberster  Kassationshof)  dahin  aus,  daß  er  den  §  996 
(gewalttätige  Sodomie)  in  Fällen   anwenden  ließ,   wo   ein 


*)  Für  deutsche  Leser  sei  es  bemerkt,  daß  bis  jetzt  das 
Strafgesetzbuch  von  1845  in  der  Ausgabe  vom  Jahre  1885  in  Kraft 
steht.  Am  22.  März  dieses  Jahres  (1903)  erfolgte  die  Bestätigung 
eines  neuen  Strafgesetzbuches,  jedoch  wird  sein  Inkraftsetzen  einer 
noch  unbestimmten  Zukunft  vorbehalten. 

2)  Der  betreffende  Terminus  „Mujelojstwo"  heißt  wörtlich 
„Mannesbeischlaf1*. 


—    1162     — 

Weib  vod  einem  Manne  widernatürlich  (per  anum)  ge- 
notzüchtigt wurde.  Diese  Entscheidung  erfolgte,  weil 
das  Gesetzbuch  unzüchtige  Handlungen  gegen  das  Weib 
als  solche  nicht  bestraft  (sie  können  eventuell  nur  als 
Injuria  mit  verhältnismäßig  unbedeutender  Arreststrafe 
geahndet  werden),  und  ferner,  weil  die  beschriebene 
Handlung  nicht  unter  den  Begriff  der  Notzucht  fällt. 
Daraus  erhellt  auch,  daß  in  Fällen,  wo  solcher  wider- 
natürlicher Coitus  ohne  Gewalt  vorliegt,  der  Senat  die 
Bestimmungen  über  einfache  Sodomie  nicht  anwenden  läßt. 

Die  Grenze  zwischen  Versuch  und  Vollendung  wurde 
vom  Senat  nicht  gezogen.  In  der  Theorie  herrscht  da- 
rüber ein  Streit  Nach  Neklindoff  fallen  bei  freiwilliger 
Sodomie  Versuch  und  Vollendung  zusammen,  zur  Voll- 
endung genüge  schon  der  Anfang  des  erotischen  Akts. 
Toinitsky  hingegen  meint,  daß  die  Tat  mit  der  intrusio 
membri  in  anum  vollendet,  ein  Versuch  dagegen  juristisch 
undenkbar  sei.  Die  Motive  zum  neuen  Strafgesetzbuche 
stimmen,  was  den  Moment  der  Vollendung  betrifft, 
Toinitsky  bei  und  erblicken  das  versuchte  Verbrechen 
im  Versuche  der  intrusio  membri. 

Über  den  Tatbestand  der  Bestialität  herrschen  frei- 
lich Kontroversen,  auf  die  ich  hier  nicht  weiter  eingehe, 
da  im  neuen  Strafgesetzbuche  dieses  Verbrechen  definitiv 
aufgehoben  ist.1) 

Ganz  anders  ist  es  im  Strafgesetzbuche  der  Sodomie 
ergangen.  Die  freiwillige  Sodomie  zwischen  Erwachsenen 
ist  strafbar.  Der  Entwurf  der  ersten,  zweiten  und  dritten 
Lesung  bestimmte  Gefängnisstrafe  bis  auf  ein  Jahr;  die 
vierte  setzte  ein  Minimum  von  drei  Monaten  fest.  Die 
Entwürfe  der  ersten  und  zweiten  Lesung  nahmen  aus: 
Sodomie   mit    einem  Knaben    unter  12   Jahren    und   mit 


\)    Dieses  Wegfallenlassen    der    Strafe    fand    allgemeine   Zu- 
stimmung.   Es  erhoben  sich  dagegen  bloß  vereinzelte  Stimmen. 


—     1163    — 

einem  MiDderj ährigen  von  12  bis  16  Jahren,  gegen  dessen 
Willen  oder  auch  mit  dessen  Zustimmung,  allein  unter 
Mißbrauch  seiner  Unschuld.  In  beiden  Fällen  tritt  Zucht- 
haus (bis  zu  fünf  Jahren)  ein.  Zu  den  qualifizierten 
Fällen  gehören:  die  Sodomie  mit  Verletzung  eines  Ab- 
hängigkeits-Verhältnisses oder  mit  einer  genötigten  (im 
Sinne  des  Gesetzes)  Person.  Der  Versuch  ist  in  allen 
Fällen  strafbar. 

Einige  Veränderungen  wurden  im  Entwürfe  der 
vierten  Lesung  vorgenommen.  Hier  wurde  dasselbe 
System  angenommen  wie  bei  strafbarer  Unzucht  mit 
Personen  weiblichen  Geschlechts. 

Die  Sodomie  zerfällt  in  voluntaria  (Gefängnisstrafe); 
violenta,  zu  welcher  die  S.  mit  einem  Knaben  unter  12 
Jahren  oder  mit  Verletzung  eines  Abhängigkeit -Ver- 
hältnisses oder  mit  einem  Genötigten  gehört;  in  allen 
diesen  Fällen  wird  mit  Katorga,  nicht  über  8  Jahr,  ge- 
straft. Bei  S.  nee  violenta  nee  voluntaria  ist  die  Strafe 
Zuchthaus  nicht  unter  drei  Jahren. 

Der  Vergleich  zwischen  der  dritten  Lesung  und  den 
ersten  zwei  zeigt  ein  deutliches  Streben,  die  Strafbarkeit 
der  S.  zu  erhöhen:  noch  weiter  geht  die  vierte  (an- 
genommene) Lesung.  Hier  wird,  wie  gesagt,  für  die 
freiwillige  einfache  S.  ein  Minimum  von  drei  Monaten 
Gefängnisstrafe  aufgestellt.  Die  Altersgrenzen  sind  weiter 
gerückt:  statt  12,  werden  14  Jahre  aufgestellt.  Die  S. 
mit  einem  Knaben  unter  14  Jahr  wird  immer  mit  Katorga 
bestraft,  auch  wenn  gar  keine  Gewalt  oder  selbst  Miß- 
brauch der  Unschuld  vorliegt  (z.  B.  mit  einem  Kyneden) 
vorliegt.  — 

Der  Tatbestand  ist  derselbe  wie  im  geltenden  Recht: 
coitus  per  anum  zwischen  Männern.  Da  das  neue  Straf- 
gesetzbuch mannigfaltige,  ebenfalls  sehr  strenge  Be- 
stimmungen über  unzüchtige  Handlungen  mit  Personen 
weiblichen  Geschlechts  enthält,  so  fällt  jeder  Grund  weg, 


—    1164    — 

die  früher  erwähnte  und  zwar  mit  Unrecht  erweiternde 
Auslegung,  nach  welcher  gewaltsame  S.  auch  da  an- 
genommen wird,  wo  ein  Weib  contra  naturam  ver- 
gewaltigt wurde, .  weiter  beizubehalten. 

Den  Motiven  zufolge,  genügt  zur  Vollendung  die 
Intrusio  membri.  — 

II. 

In  der  Frage  der  strafrechtlichen  Behandlung  der  S. 
kann  die  einschlägige  —  allerdings  überaus  reichhaltige 
und  interessante  —  medizinische  Literatur  leider  nur  von 
geringem  Nutzen  sein,  denn  unter  den  Medizinern  herrscht 
eine  große  Meinungsverschiedenheit  über  diese  Frage. 
Der  Jurist,  der  Willens  wäre  in  dieser  Materie  dem  Arzte 
zu  folgen,  würde  sich  sicherlich  in  der  großen  Menge  der 
sich  durchkreuzenden  Beobachtungen  und  Folgerungen 
verirren.  Aber  wenn  auch  diese  Kontroversen  wegfallen 
würden,  —  wenn  wirklich  die  medizinische  Wissenschaft 
zu  bestimmten  festen  Sätzen  gelangt  wäre,  —  so  würde 
dadurch  die  rechtliche  Seite  der  Frage  doch  keine  hellere 
Beleuchtung  erfahren. 

Nehmen  wir  nun  mit  der  Mehrzahl  der  Forscher  das 
an,  was  wohl  am  wahrscheinlichsten  ist,  daß  der  Uranismus 
zuweilen  eine  pathologische  (einerlei,  ob  angeborene  oder 
erworbene),  zuweilen  eine  nicht  pathologische  (lasterhafte) 
Erscheinung  sei.  Als  Merkmal  einer  solchen  Erscheinung 
dürfte  die  Tatsache  dienen,  daß  bei  pathologischem  Uranis- 
mus die  Neigung  zum  Weibe  so  gut  wie  ausgeschlossen 
und  der  normale  Koitus  dadurch  geradezu  unmöglich  oder 
wenigstens  im  höchsten  Grade  peinlich  wird;  dagegen  bei 
lasterhaftem  Uranismus  die  Neigung  zum  andern  Geschlecht 
sowie  die  Möglichkeit  des  normalen  Koitus  besteht.  Einen 
solchen  Unterschied  will  Wachenfeld  annehmen,  indem 
er  die  erste  Species  konträre,  die  zweite  nicht  konträre 
Homosexualität  benennt.     Welche  Folgerung  wird  nun  aus. 


—     1165    — 

diesem  Unterschied  gezogen?  Nach  Wachenfeld  soll  nur 
die  nicht  konträre  Homosexualität,  d.  h.  der  lasterhafte 
Uranismus  strafbar  sein.  Was  dagegen  die  konträre  H. 
betrifft,  so  will  er  hier  einen  der  Unzurechnungsfähigkeits- 
gründe des  §  51  des  St.-G.-B.,  nämlich  eine  geistige  Störung, 
sehen,  welche  als  Exkulpationsgrund  für  den  pathologischen 
Urning  dienen  soll. 

Aber  einmal  ist  diese  Möglichkeit  der  Anwendung 
des  §  51  im  hohen  Grade  bestreitbar.  Für  andere  Gesetz- 
bücher, und  namentlich  für  das  Russische,  wäre  sie  aus- 
geschlossen. Und  zweitens:  soll  der  konträre  Urning 
unzurechnungsfähig  sein,  so  trifft  ihn  keine  Strafe  auch 
wenn  der  Verletzte  ein  Minderjähriger  ist,  oder  Gewalt 
angewendet  wurde,  was  natürlich  nicht  annehmbar  ist. 

Es  erhellt  hieraus,  daß  diese  ohnehin  bestrittene 
Grenze  zwischen  pathologischem  und  lasterhaftem  Uranis- 
mus den  juristischen  Standpunkt  garnicht  fordert.  Auf 
diesem  Standpunkte  bleibend  werden  wir  uns  überzeugen, 
daß  die  richtige  Antwort  auf  die  Frage  außerhalb  des 
Gebietes  der  Medizin  zu  suchen  ist.  Und  zwar  werden 
wir  vom  kriminalpolitischen  Standpunkte  zum  Ergebnis 
gelangen,  daß  es  viel  mehr  Gründe  für  die  Straflosigkeit 
der  (freiwilligen)  S.  als  für  ihre  Strafbarkeit  gibt. 

Vor  allem  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß  die 
rechtliche  Begründung  der  Strafe  hier  auf  große  Schwierig- 
keiten stößt.  Den  vollständigsten  Versuch  einer  solchen 
Begründung  finden  wir  bei  Wachenfeld.  Der  erste  Grund, 
auf  den  er  verweist,  ist  die  Forderung  der  Sittlichkeit, 
welche  der  Staat  beschützen  soll.  Derselbe  Grund  wird 
von  den  Verfassern  der  Motive  zum  russischen  Entwurf 
angenommen,  indem  sie  meinen,  die  S.  soll  verfolgt 
werden  als  eine  naturwidrige  Handlung,  als  ein  leider  weit 
verbreitetes  Laster,  dessen  Bekanntwerden  durch  Ent- 
deckung des  einen  oder  des  anderen  Falles  die  öffentliche 
Sittlichkeit    verletzt    und    deshalb    Ahndung    durch    das 


—    1166    — 

Gesetz  erheischt.  Dem  stimmt  auch  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  Prof.  Vladimirof  bei,  indem  er  die  Unsitt- 
lichkeit  der  widernatürlichen  Unzucht  darin  erblickt,  daß 
dadurch  die  Selbstachtung  des  Menschen  preisgegeben 
wird.  Die  anderen  von  Wachenfeld  herbeigezogenen 
Gründe  sind  so  offenbar  nicht  stichhaltig,  daß  eine  aus- 
führliche Widerlegung  wohl  unterbleiben  mag.  So  sagt 
er  u.  A.,  der  Staat  möge  strafen  im  Interesse  des  allge- 
meinen Wohles,  in  Anbetracht  der  damit  verknüpften 
physischen  und  psychischen  Schädigung  der  Personen,  die 
mit  einander  S.  begehen,  und  auf  den  Einwand,  daß  hier 
eine  freiwillige  Gesundheitsschädigung  vorliegt,  antwortet 
er:  „der  Staat  muß  das  Mittel  gebrauchen,  das  ihm  zu 
Gebote  steht,  und  durch  die  Aufstellung  des  Strafgesetzes 
zu  verhüten  suchen,  daß  gesunde  Untertanen  psychisch 
und  physisch  verderbt  werden".  Es  ist  leicht  sich  vor- 
zustellen, in  welche  Lage  der  Staat  geraten  würde,  wenn 
er  ein  so  eingebildetes  Recht  gegen  Raucher,  Morphinisten, 
Atheromanen,  abgesehen  von  den  nützlichen  Professionen 
—  wie  Telephonisten,  Kohlengräber,  Drucksetzer  —  u.  s.  w. 
in  Anwendung  bringen  würde.  Der  letzte  Grund,  obgleich 
vom  alten  Feuerbach  eingeflößt,  klingt  fast  wie  ein 
Kuriosum  und  jedenfalls  wie  ein  schreiender  Anachronismus : 
,der  Mann,  welcher  geflissentlich  homosexuellen  Akten 
den  Vorzug  gibt,  bekundet  nicht  nur  eine  Geringschätzung 
des  normalen  Verkehrs,  sondern  auch  eine  Verachtung 
des  ehelichen  Lebens.  Hierzu  aber  kann  der  Staat,  der 
die  Ehe  sanktioniert  und  ihre  Heilighaltung  wünscht, 
nicht  schweigen".  In  dieser  Hinsicht  könnte  der  Staat 
dann  auch  mit  Fug  und  Recht  die  überzeugten  und  ein- 
gefleischten Hagestolze  bestrafen!  — 

Es  bleibt  also  schließlich  nur  der  erste  Grund  übrig. 
Es  ist  zweifellos,  daß  die  S.,  wenn  sie  die  öffentliche  Sitt- 
lichkeit verletzt,  tatsächlich  verfolgbar  und  strafbar  sein 
soll.     Das  Halten  eines  Bordells  für  Urninge,  die  mann- 


—     1167     — 

liehe  Prostitution,  die  Ausübung  des  Koitus  vor  Zeugen, 
u.  s.  w.,  alles  das  muß  natürlich  im  Namen  der  öffent- 
lichen Sittlichkeit  streng  gertigt  werden.  Aber  bei  der 
S.,  gewissermaßen  intra  muros,  darf  von  öffentlicher 
Sittlichkeit^  nicht  die  Bede  sein.  Jenes  „  Bekanntwerden  % 
von  dem  die  russischen  „Motive"  sprechen,  geschieht  doch 
gegen  Wissen  und  Willen  der  Beteiligten,  sie  können 
also  dafür  nicht  verantwortlich  gemacht  werden. 

Was  nun  die  Strafbarkeit  der  S.  als  einer  höchst 
unsittlichen  und  ekelhaften  Handlung  betrifft,  so  führt 
eine  solche  Ansicht  zu  unüberwindlichen  Schwierigkeiten. 
Es  entsteht  nämlich  die  evidente  Frage,  warum  bloß  die 
S.,  und  zwar  im  Sinne  des  coitus  per  anum,  strafbar  sei, 
man  muß  zum  Schluß  kommen,  daß,  da  vom  sittlichen 
Standpunkt  die%  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  nur 
in  der  Ehe  und  zwar  nur  auf  natürliche  Weise  erlaubt 
ist,  jede  außereheliche  und  zwischen  Eheleuten  jede  unnatür- 
liche Befriedigung  strafbar  sein  muß.  Wenn  man  jedoch 
einwendet,  die  S.  sei  ekelhafter  als  andere  Ausschweifungen, 
so  ist  das  erstens  Sache  des  subjektiven  Empfindens,  und 
zweitens  sind  auf  einem  solchen  Gebiete  derartige  Unter- 
scheidungen kaum  durchführbar.  Wenn  man  endlich  auf 
die  große  Verbreitung  der  S.  hinweist,  so  ist  eine  solche 
Assertion  ziemlich  fraglich,  insbesondere  was  den  coitus 
per  anum  betrifft1). 

Somit  ist  die  Begründung  der  Strafbarkeit  der  frei- 
willigen S.  höchst  zweifelhaft.   — 

Weiter  muß  bemerkt  werden,  daß  in  Bezug  auf  diese 
Handlung  dem  Gesetze  eine  Alternative  gestellt  wird, 
nämlich :  S.  soll  entweder  eine  genaue  Definition  oder  aber 
die  bloße  Benennung  enthalten.  Der  erste  Weg  ist 
schwierig:  es  können  unmöglich  ins  Gesetz  solche  unreine 
und  widerliche  Details  eingetragen   werden.     Der  zweite, 

*)  Siehe  darüber  Moll,  conträre  Sexualeuipfindung.  3.  Aufl.  S.288. 


—     1168    — 

den  die  meisten  Gesetzgebungen  einschlagen,  gibt  aber 
der  Praxis  keinen  Fingerzeig.  Es  ist  bekannt,  welche 
Schwankungen  und  Misverständnisse  der  Ausdruck  „wider- 
natürliche Unzucht"  in  der  deutschen  Literatur  und 
Gerichtspraxis  hervorrief.  Ich  habe  schon  erwähnt,  daß 
unsere  Praxis  S.  in  Fällen  annahm,  wo  mit  einem  Weibe 
per  anum  coitirt  wurde,  und  es  ist  nicht  ausgeschlossen, 
daß  in  der  Zukunft  die  Frage  auftauchen  wird,  ob  diese 
Auslegung  endgiltig  aufzugeben  sei.  Ohne  in  weitere 
Einzelheiten  einzugehen,  will  ich  nur  bemerken,  daß  für 
die  Beibehaltung  dieser  heutigen  Auslegung  ziemlich 
wichtige  Gründe  angeführt  werden  können. 

Es  ist  klar,  daß  alle  Schwierigkeiten,  welche  bei  der 
Definition  des  Tatbestandes  der  S.  entstehen,  erhöht 
werden,  wenn  das  Gesetz  nicht  nur  die  vollendete,  sondern 
auch  die  versuchte  Tat  straft. 

Diese  Betrachtungen  berühren  die  theoretische  Stellung 
der  S.  im  Strafgesetze. 

Sie  müssen  selbstverständlich  auch  für  die  qualifizierte 
S.  gelten.  Dieselbe  dürfte  nicht  aus  dem  allgemeinen 
Begriff  der  strafbaren  Unzucht  (attentat  k  la  pudeur) 
ausscheiden  und  sollte  also  keinen  selbständigen  Teil 
bilden. 

Noch  deutlicher  und  ganz  überzeugend  sind  die 
Einwände,  die  man  in  Bezug  auf  die  Aufgaben  und 
Zwecke  der  Strafrechtspflege  (Kriminalpolitik  im  E.  S.) 
gegen   die  Strafbarkeit   der  einfachen  S.  anführen   kann. 

Es  fragt  sich  nämlich :  welchen  Zweck  verfolgt  man 
und  was  erreicht  man,  wenn  man  den  Urning  auf  fünf 
bis  sechs  Monate,  ja  auf  ein  Jahr,  ins  Gefängnis  steckt? 
Den  Abschreckungs-Zweck ?  Aber  von  der  Abschreckung 
kann  hier  weniger  als  irgend  wo  anders  die  Rede  sein. 
Den  Zweck  der  Genugtuung  der  verletzten  öffentlichen 
Moral?  Aber  einmal  wird  die  öffentliche  Moral  wohl 
schwerlich   dadurch    befriedigt,    daß    aus  Hunderten  von 


—    1169    — 

Urningen  nur  wenige  Individuen  zur  Rechenschaft  ge- 
zogen werden;  zweitens  verläuft  in  solchen  Fällen  die 
Gerichtsverhandlung  von  Anfang  bis  zu  Ende  unter 
absolutester  Ausschließung  der  Öffentlichkeit,  sodaß  sie 
aus  dem  Fazit  der  öffentlichen  Aufmerksamkeit  aus- 
scheiden ;  und  drittens  stellt  man  einen  solchen  Zweck 
auf,  so  muß  vor  allem  festgesetzt  werden,  daß  der  Ab- 
scheu, welchen  die  Gesellschaft  den  Urningen  entgegen- 
bringt, gleichbedeutend  ist  mit  der  Forderung  des  Ein- 
greifens der  Strafjustiz:  für  die  gebildeten  Schichten  der 
Gesellschaft  ist  die  Möglichkeit  einer  solchen  Gleich- 
stellung mindestens  fraglich. 

Was  endlich  den  Verbesserungszweck,  den  des  heil- 
samen sittlichen  Einfluß,  betrifft,  so  dürfte  eine  Meinungs- 
verschiedenheit über  die  Unerreichbarkeit  dieses  Zweckes 
—  insbesondere  was  den  Gewohnheits  -Urning  angeht  — 
kaum  herrschen.  Die  Verbesserung  ist  nämlich  im  ge- 
gebenen Falle  der  Abgewöhnung  vom  Laster  oder  der 
Heilung  von  der  Krankheit  gleich,  und  wenn  man  ins 
Auge  faßt,  wie  selten  selbst  das  Streben  der  Therapie  in 
diesen  Fällen  —  sogar  bei  dem  leidenschaftlichen  Wunsche 
des  Patienten  zu  genesen  — ,  mit  Erfolg  gekrönt  wird, 
so  erhellt  von  selbst,  daß  das  Gefängnis  einen  derartigen 
heilenden  und  erziehenden  Einfluß  gewiß  nicht  bietet. 

Indem  also  der  Staat  den  Urning  straft,  gibt  er  un- 
gerecht, zwecklos  und  unnütz  Geld  und  Kräfte  aus,  die 
auf  eine  zweckmäßigere  Weise  verwendet  werden  könnten. 

Man  darf  weiter  die  unendlichen  Schwierigkeiten 
des  Prozesses  in  solchen  Fällen  auch  nicht  unterschätzen. 
Wird  öffentliche  Anklage  angenommen,  so  begegnet  schon 
die  Feststellung  des  Tatbestandes  —  insbesondere,  wenn 
der  Versuch  strafbar  ist  —  großen  Hindernissen.  Welch 
weiter  Anlaß  für  Chantage,  für  Erpressung,  wenn  man 
bedenkt,  daß  der  Beweis  hier  naturgemäß  sehr  selten  auf 
unwiderleglichen  Tatsachen  beruhen  kann.     Welche  Ge- 


—    1170    — 

legenheit  für  Feinde,  durch  üble  Nachrede  den  Gegner 
zu  vernichten!  Es  liegen  ganz  augenscheinliche  Bei- 
spiele auf  der  Hand  .... 

Wachenfeld  erwidert  freilich,  daß  aus  diesem  Grunde 
doch  niemand  daran  denkt,  den  Ehebruch  und  die  Un- 
zucht mit  Kindern  straflos  zu  lassen  —  aber  dieser 
Einwand  ist  ein  reiner  Sophismus.  Wenn  die  Schwierig- 
keit der  Feststellung  des  Tatbestandes  und  die  leichte 
Möglichkeit  der  Erpressung  als  einziges  Argument  gelten 
würden,  so  hätte  Wachenfeld  recht.  Aber  dieses  Argu- 
ment erscheint  nur  als  Verstärkung  anderer,  nicht  minder 
überzeugender  Gründe. 

Soll  man  noch  darauf  hinweisen,  welche  große 
Schwierigkeiten  und  wohl  auch  welchen  großen  Schaden 
die  Notwendigkeit  der  Herbeiziehung  der  Polizei  zur 
Erhebung  der  Anklage  bereitet?  Oder  auch  auf  die  Un- 
möglichkeit des  öffentlichen  und  die  Schwäche  des  ge- 
heimen Prozesses,  durch  welchen  es  dem  Angeklagten 
unmöglich  wird,  sich  vor  den  Augen  der  Gesellschaft 
von  dem  vielleicht  unverdienten  Verdachte  zu  reinigen? 
Und  endlich  auf  eins  der  größten  Übel,  auf  die  tatsächliche 
Nichtanwendung  des  Gesetzes,  auf  den  zufälligen  und 
unregelmäßigen  Charakter  der  Repression,  welche  den 
Einen  trifft  und  den  Anderen,  den  seine  Stellung  und 
seine  Beziehungen  schützen,  schont?  Auf  alles  dieses 
hinzuweisen,  hieße  von  allgemeinen  bekannten  Tatsachen 
unseres  sozialen  Lebens  sprechen. 

Zum  Schluß  noch  zwei  Worte  über  eine  Befürchtuug, 
welche  ausgesprochen  wird,  wenn  der  Vorschlag,  die 
Strafbarkeit  der  S.  aufzuheben  gemacht  wird.  Man  sagt : 
würde  eine  solche  Aufhebung  nicht  einer  offiziellen 
Sanktionierung  des  Lasters  gleichkommen  und  eine  noch 
größere  Verbreitung  desselben  hervorrufen? 

Die  Antwort  ist  nicht  schwer:  wie  das  Gebiet  des 
Strafrechts  mit  demjenigen  der  Sittlichkeit  nicht  zusammen- 


—    1171    — 

fällt,  so  berührt  die  Aufhebung  oder  die  Einführung  von 
Verboten  auf  einem  Gebiete  nicht  im  Mindesten  das 
Andere.  Das  einfache  stuprum,  die  Sodomia  ratione 
generis  (Bestialität)  waren  im  Russischen  St.-G.-ß.  bis  jetzt 
strafbar;  im  neuen  St.-G.-B.  fällt  die  Strafe  weg.  Soll 
das  heißen,  daß  diese  Handlungen  dadurch  eine  offizielle 
Sanktion  fanden? 

Gewiß  nicht!  Ferner:  wenn  der  Wucher  durch  das 
Gesetz  von  1893  in  Rußland  strafbar  wurde,  kann  man 
daraus  folgern,  daß  der  Wucher  bis  dahin  sich  einer 
offiziellen  Sanktion  erfreute?  Auch  ohne  jegliches  Straf- 
gesetz wird  die  Sodomie  in  den  Augen  des  gesunden  und 
normalen  Teils  der  Bevölkerung  immer  und  überall  als 
das  gelten,  was  sie  in  Wirklichkeit  ist,  nämlich  als  ein 
abnormer,  häufig  pathologischer  Akt,  dessen  Verbreitung 
von  dem  Vorhandensein  oder  dem  Wegfallen  der  Straf- 
drohung durchaus  nicht  abhängt. 


Jahrbuch  V.  74 


Aus  den  Aufzeichnungen  eines  Geistlichen.*) 

Non  intratur  in  veritatem  nisi  per  caritatem. 

Ehe  ich  in  die  Seelsorge  hinaustrat,  hatte  ich  schon 
Kenntnis  bekommen,  daß  verschiedene  Männer  sich  nicht 
zum  Weiblichen,  sondern  zum  Männlichen  in  ihrem  sexu- 
ellen Empfinden  hingezogen  fühlen.  Die  erste  Belehrung 
hierüber  empfing  ich  von  meinem  Vater.  Mein  Vater 
war  sehr  kräftig,  äußerst  viril,  er  hatte  3  Frauen  und 
mit  zweien  von  diesen  9  Kinder  gezeugt,  also  nicht  im 
entferntesten  etwa  selbst  irgend  wie  homosexuell  ver- 
anlagt. Aber  mein  Vater  war  ein  wahrhaft  freisinniger 
Mann,  der  auch  anderen  Menschen,  die  nicht  wie  er 
veranlagt  waren,  Gerechtigkeit  widerfahren  ließ. 

Der  Fall  Zastrow-Corny  war  vorgekommen.  Vater 
besprach  abends  im  Familienkreise  mit  meinen  älteren 
Brüdern  diesen  Fall;  ich  durfte  zuhören.  Bei  dieser 
Gelegenheit  schilderte  er  uns  einen  seiner  Jugend- 
kameraden, der  sich  einigemal  in  junge  Burschen  verliebt 
hatte.  Ich  war  Sekundaner,  als  ich  durch  mehrere  Tage 
auf  dem    Heimweg    von    einem    feinen   Herrn   belästigt 


*)  Um  auch  in  diesem  Jahrbuch  allen  vier  Fakultäten  das  Wort 
zu  geben,  bringen  wir  obige  Mitteilungen  eines  katholischen 
Priesters,  die  in  ihrer  menschenfreundlichen  schlichten  Art  für  sich 
sprechen.  *  Es  erfüllt  uns  mit  Genugtuung,  daß  nach  wie  vor  eine 
betrachtliche  Anzahl  sowohl  katholischer,  als  auch  evangelischer 
Pfarrer  unseren  Bestrebungen   vollste  Sympathie  entgegenbringen. 

Der  Herausgeber. 


—    1173    — 

wurde,  der  mir  auf  offener  Straße  seine  Liebe  bekannte 
und  mich  um  Gegenliebe  anflehte.  Ich  machte,  aufge- 
bracht hierüber,  meinem  Vater  Mitteilung,  der  mir  ernst 
sagte:  „Sei  nicht  voreilig  in  deinem  Urteil  über  einen 
Mann,  den  du  weder  genauer  kennst,  noch  infolge  deiner 
Unerfahrenheit  richtig  beurteilen  kannst."  Und  nun 
sprach  Vater  eingehender  mit  mir  über  „anders  veran- 
lagte" Menschen. 

Auch  der  Herr  Professor,  bei  dem  ich  Pastoral- 
medizin hörte,  hatte  über  dieses  Thema  zwar  kurz,  aber 
gerecht  und  leicht  verständlich  gesprochen. 

Ich  war  erst  kurze  Zeit  in  der  Seelsorge,  als  ich 
wegen  Erkrankung  meines  Herrn  Prinzipals  die  sonn- 
tägliche Christenlehre  übernehmen  mußte.  Ich  sprach 
zu  den  Christenlehrpflichtigen  davon,  daß  sie  herzhaft  zu 
mir  kommen  sollten,  wenn  ich  in  irgend  einer  Angelegen- 
heit ihnen  behilflich  sein  könne  durch  Rat  oder  Tat. 
Einige  Zeit  darauf  meldet  sich  bei  mir  ein  lTjähriger 
Christenlehrpflichtiger  mit  der  Bitte,  mir  ein  Anliegen 
vortragen  zu  dürfen.  Durch  freundliches  Entgegen- 
kommen hatte  ich  wohl  sein  Vertrauen  gewonnen,  denn 
gar  bald  legte  er  die  Befangenheit  ab  und  teilte  mir 
(außerhalb  der  Beichte)  folgendes  mit: 

„Nach  dem  Tode  seines  Vaters  wäre  er  zu  seinem 
seit  iy2  Jahren  verheirateten  Schwager  gezogen,  der 
Mechaniker  sei;  er  selbst  sei  Lehrling  in  einer  Engros- 
Handlung.  Vor  einigen  Wochen  habe  nun  sein  Schwager, 
der  stets  sehr  zärtlich  gegen  ihn  gewesen  sei,  sein  Bett 
in  sein  Schlafzimmer  übertragen  lassen  mit  der  Angabe: 
„ Meine  Frau  bedarf  des  Nachts  der  größten  Buhe,  da 
sie  bald  ihrer  Niederkunft  entgegen  sieht.44  Schon  in  der 
ersten  Nacht  habe  sein  Schwager  ihn  mit  Küssen  über- 
häuft und  da  er  selbst  vom  ersten  Augenblick,  da  er 
diesen  Mann  sah,  ihn  seiner  männlichen,  schönen  Gestalt 
wegen  lieb  gehabt  habe,   so   hätte  er  sich  dieses  Küssen 

74* 


—    1174    — 

nicht  nur  gefallen  lassen,  sondern  selbst  innigst  erwidert. 
Sein  Schwager  gestand  ihm,  daß  er  ihn  stets  sehr  lieb 
gehabt  und  daß  er  sich  schon  lange  danach  gesehnt  habe, 
ihn  in  seine  Arme  schließen  zu  können.  So  habe  sich 
zwischen  beiden  ein  inniges  Verhältnis  herausgebildet. 
Jetzt  empfinde  er  in  all  seinem  Glück  doch  Gewissens- 
bisse, da  er  sich  sagen  müsse:  „Ich  betrüge  meine 
Schwester." 

Durch  meine  Belehrung  wurde  er  getröstet  und  zu 
dem  Entschluß  bewogen,  das  Haus  seines  Schwagers  zu 
verlassen.  Auf  Wunsch  des  Jünglings  ersuchte  ich  den 
Schwager,  mich  zu  besuchen.  Er  kam;  in  der  Tat  der 
Mann  war  schön  und  kräftig  gebaut,  machte  einen  sehr 
guten  Eindruck  durch  sein  festes,  männliches  und  doch 
bescheidenes  Wesen.  Wir  besprachen  die  Sache.  Be- 
merkenswert ist  seine  Auslassung  gleich  zu  Beginn  des 
Gesprächs:  „Mein  junger  Schwager  erzählte  mir  von 
Ihnen;  ich  weiß,  daß  Sie  mich  verstehen  werden;  ich 
habe  zu  Ihnen  volles  Vertrauen." 

Dieser  Mann  hatte  bis  zu  seiner  Verheiratung  keinen 
sexuellen  Verkehr  mit  Frauenzimmern,  hingegen  leiden- 
schaftliche Jugendfreundschaften.  Seine  Frau  habe  ihm, 
da  er  sie  kennen  lernte,  gut  gefallen,  jedoch  eigentliche 
Liebe  habe  er  gegen  sie  nicht  empfunden,  während  sie 
in  ihn  stark  verliebt  gewesen  sei.  Durch  das  Reden 
seiner  Verwandten  und  in  der  Meinung  für  sein  ziemlich 
großes  Hauswesen  mit  Gesellen  und  2  Lehrlingen  müsse 
er  eine  Frau  haben,  hatte  er  sich  zur  Ehe  entschlossen. 
Seinen  jungen  Schwager  habe  er  stets  lieber  gehabt  wie 
seine  Braut  und  jetzige  Frau.  Er  habe  sich  aber  nichts 
merken  lassen. 

Der  Jüngling  zog  zu  einer  achtbaren  Familie,  hatte 
von  da  an  jedes  Zusammensein  mit  seinem  Schwager  unter 
vier  Augen  gewissenhaft  gemieden,  obschon,  wie  er  mir 
später  bekannte,  dieses  ihm  ungemein  schwer  gefallen  war. 


-     1175     — 

Seine  Schwester  gab  einem  sehr  zarten  Knaben  das 
Leben,  starb  leider  selbst  wenige  Stunden  darauf.  Das 
Kind  wurde  nur  einige  Tage  alt.  Sein  Schwager  hatte 
sich  eine  Haushälterin  genommen,  war  fest  entschlossen, 
nicht  mehr  zu  heiraten.  Da  eines  Sonntags  findet  sich 
der  Jüngling  wieder  bei  mir  ein  und  gesteht  mir  unter 
Tränen,  daß  sein  Schwager  ihn  täglich  brieflich  und 
mündlich  bestimme,  zu  ihm  zu  ziehen  —  er  könne  ohne 
ihn  nicht  mehr  leben  — .  Und  als  ich  an  den  Jüngling 
die  Frage  richtete:  „Was  willst  du  tun"?,  da  sagte  er: 
„Ich  möchte  gleich  heute  zu  ihm,  ich  habe  ihn  auch  so 
lieb*4.  — 

Er  zog  zu  seinem  Schwager  und  als  ich  nach  einem 
Jahr  diese  Stadt  verließ,  wohnten  sie  noch  beiein- 
ander. 

Die  Verwaltung  einer  großen  Pfarrei  mit  Fabrik- 
bevölkerung wurde  mir  übertragen.  In  der  Schule  hatte 
ich  im  8.  Schuljahr  einen  Knaben,  der  „anders  war",  als 
die  übrigen  Knaben.  Durch  sein  feines,  mädchenhaftes 
Gesicht  bildete  er  einen  großen  Gegensatz  zu  seinen  vier 
übrigen  Brüdern,  obschon  er  mit  diesen  unverkennbare 
Familienähnlichkeit  hatte.  Seine  Mutter  beklagte  sich 
einmal  bei  mir:  „Ach,  daß  ich  lauter  Buben  habe;  ich 
hätte  gern  auch  ein  Mädchen  gehabt4*.  Der  Knabe, 
welcher  fleißig  in  der  Schule  und  auch  nach  Verlassen 
der  Schule  arbeitssam  untl  gesittet  war,  wurde  von  seinen 
Kameraden  wohl  gelitten.  Eines  Sonntags  gegen  Abend 
mache  ich  einen  Spaziergang  im  nahen  Walde.  Ich  be- 
merke in  einiger  Entfernung  meinen  ehemaligen  Schüler; 
er  war  allein,  schien  traurig  zu  sein.  Ich  rufe  ihn  herbei, 
knüpfte  mit  ihm  ein  Gespräch  an,  und  was  bisher  bei 
mir  nur  Vermutung  war,  fand  ich  nun  bestätigt  — 
dieser  Knabe,  völlig  unschuldsvoll  und  unverdorben,  em- 
pfand homosexuell.  —  Zwei  Jahre  hindurch  konnte  ich 
ihn  beobachten  —  er  führte  sich  stets  tadellos. 


—    1176    — 

Ich  kam  in  eine  Amtsstadt.  Ein  unverheirateter 
Mann  von  28  Jahren,  der  stets  durch  sein  weibisches 
Wesen  aufgefallen,  heiratet  ein  sehr  wohlhabendes  Mäd- 
chen. Nach  3  Monaten  ist  Unfriede  im  Hause,  denn 
bei  der  letzten  Einquartierung  hat  der  junge  Ehemann 
Freundschaft  mit  einem  Soldaten  geschlossen  und  dieser, 
nachdem  er  vom  Militär  entlassen,  hat  Wohnung  bei 
seinem  Freunde  genommen.  Die  arme,  betrogene  Frau 
zeigt  ihren  Mann  an.  Der  Prozeß  wurde  jedofch  nieder- 
geschlagen. Die  Frau  verließ  ihren  Mann  und  der  Freund 
blieb  im  Hause.  Man  hörte  damals  nur  eine  Stimme: 
„Der  hätte  nicht  heiraten  und  so  seine  Frau  betrügen 
sollen."  — 

Ein  junger  Mann  aus  sehr  feiner  Familie,  bei  der 
Post  angestellt,  kommt  auf  Wunsch  seiner  Mutter  zu  mir, 
um  mir  folgendes  außerhalb  der  Beicht  zu  bekennen  und 
um  Rat  zu  bitten.  Depeschenträger  und  Briefträger,  mit 
denen  er  täglich  in  seinem  Berufe  verkehren  muß,  regen 
ihn  sexuell  ungemein  auf,  lassen  in  seinem  Herzen  Gelüste 
entstehen,  die  ihn,  da  er  sie  nicht  befriedigen  kann,  zu 
maßloser  Onanie  drängen.  Da  mir  sein  Nervensystem 
recht  zerrüttet  erschien,  weise  ich  ihn  an  den  Arzt. 
Einige  Wochen  vergehen,  er  kommt  wieder.  Die  Mittel 
des  Arztes  haben  nicht  geholfen.  Versuch  eines  Coitus 
bei  einem  öffentlichen  Mädchen,  den  er  auf  Rat  des 
Arztes  unternommen,  war  völlig  gescheitert.  Trost  und 
Rat  wurde  ihm  gespendet.  Nach  einigen  Wochen  kommt 
er  freudestrahlend  zu  mir  und  erzählt,  er  habe  jetzt 
einen  Freund,  den  er  innig  liebe,  der  ihm  aufrichtig  zu- 
getan sei,  der  wie  er  fühle  und  empfinde,  der  ihm  gesell- 
schaftlich und  beruflich  gleich  stehe.  Wie  doch  diese 
Freundschaft  oder,  richtiger  gesagt,  diese  Liebe,  diese  er- 
widerte Liebe  den  jungen  Mann  umgestaltete!  Sonst  miß- 
mutig, verzagt  und  schwermütig,  jetzt  voller  Freude  am 
Leben  und  im  Beruf! 


—    1177    — 

In  der  Nähe  wohnte  ein  etwa  50  Jahre  alter  Herr.  Er 
hatte  eine  Person  zur  Führung  seines  Hauswesens.  Den  Sohn 
eines  Handwerkers  in  der  Nachbarschaft  hatte  er  studieren 
lassen  und  derselbe  war  bereits  in  der  Oberprima;  in 
allen  Klassen  war  dieser  Jüngling  stets  Primus  gewesen. 
Als  ich  in  jene  Gegend  kam,  fiel  mir  das  öftere  und 
zärtliche  Zusammensein  dieses  Herrn  und  seines  Schütz- 
lings auf.  Seine  frühere  Wirtschafterin  schied  aus  dem 
Dienst;  an  ihre  Stelle  trat  eine  Frau,  die  auch  auf  dem 
Gymnasium  einen  Sohn  hatte.  Da  Herr  Z.  sich  um  diesen 
nicht  kümmerte,  aber  seinem  Liebling  nach  wie  vor  offene 
Gunstbezeugungen  gab,  wurde  diese  Frau  aus  Neid  an- 
gestachelt, den  Herrn  Z.  und  seinen  Liebling  zu  be- 
lauschen, zu  beobachten  und  endlich  bei  der  Polizei  an- 
zuzeigen. Herr  Z.  legte  ein  offenes  Geständnis  ab,  wurde 
zu  2  Jahren  verurteilt.  Sein  Schützling  erhielt  4  Wochen 
und  mußte  die  Schule  verlassen.  Kaum  war  Herr  Z.  aus 
dem  Gefängnis  entlassen,  so  suchte  er  seinen  Liebling 
wieder  auf.  Jetzt  weilen  beide  in  fernen  Landen.  Weder 
Strafe  noch  Vernichtung  seiner  gesellschaftlichen  Stellung 
konnte  also  diesen  Mann  von  seiner,  wie  er  bei  Gericht 
auch  offen  eingestand,  von  frühster  Jugend  an  empfun- 
denen Neigung  abbringen. 

Ein  junger  Schornsteinfegergeselle,  der  in  der  Schule 
einer  meiner  besseren  Schüler  war,  kommt  eines  Sonntags 
zum  Besuch.  Im  Laufe  des  Gesprächs  erfuhr  ich,  daß 
dieser  homosexuell  fühlt  und  stets  so  gefühlt  hat. 

Ein  junger  Bauer  in  meiner  Pfarrei  hat  ein  großes 
Hofgut  von  seinem  Vater  geerbt.  Jetzt  dringt  die  Ver- 
wandtschaft darauf,  daß  er  heiraten  müsse.  Man  sucht 
ihm  eine  Braut  aus,  die  nicht  nur  reich,  sondern  auch 
kernig  und  gesund  war;  eine  wirkliche  „Schönheit  vom 
Lande".  Sie  voller  Lebenslust  und  Üppigkeit;  er  still 
und  fast  schüchtern.  Das  Brautpaar  wird  nach  den 
Hochzeitsfeierlichkeiten  in  der  Nacht  durch  Burschen  in's 


—     1178    — 

neue  Heim  geführt.  Nach  der  Verabschiedung  von  den 
jungen  Burschen  sagt  er  zur  jungen  Ehefrau:  „Muß  noch 
nach  dem  Vieh  sehen."  Fort  ist  er,  kehrt  erst  am  nächsten 
Morgen  heim  und  gesteht  offen:  Ich  kann  mit  meiner 
Frau  nicht  in  einem  Zimmer  schlafen !  Die  ganze  Nacht 
hatte  er  im  Walde  zugebracht.  Alles  Zureden  und  Bitten 
half  nicht,  der  junge  Bauer  blieb  dabei:  „Ich  kann  mit 
keinem  Frauenzimmer  in  einen  Verkehr  treten".  Die 
junge  Bäuerin  hält  sich  an  den  Großknecht.  Nach  einigen 
Wochen  sind  beide  verschwunden,  tauchen  jenseits  des 
großen  Wassers  auf.  Die  Ehe  wurde  als  ungültig  erklärt, 
da  sich  herausstellte,  daß  der  junge  Bauer  gar  nicht  die 
Absicht  gehabt  hat,  eine  Ehe  zu  schließen,  bei  der  Frage 
des  Geistlichen  nicht  einmal  „Ja*  gesagt,  sondern  nur  „so 
einen  Ton*  hervorgebracht  hatte.  Schnell  verkaufte  der 
junge  Bauer  sein  Gehöft,  nur  um  nicht  mehr  heiraten  zu 
müssen. 

Ein  junger  Handwerksgeselle,  der  ehemals  mein 
Schüler  war,  wird  krank.  Ich  besuche  ihn  und  erkenne, 
daß  unglückliche  Liebe  diesem  jungen  Menschen  am 
Herzen  nagt.  Sein  Busenfreund  hatte  sich  von  ihm  ge- 
wendet und  sich  verlobt.  Ich  sagte  diesem  Jüngling,  daß 
er  sich  ein  großes  Ziel  setzen  solle;  im  Streben  nach 
diesem  Ziele  werde  er  diese  unglückliche  Liebe  über- 
winden lernen.  Er  setzte  sich  das  Ziel  und  ist  heute 
Leiter  einer  großen  Fabrik.  Seine  Liebe  zum  Genossen 
seiner  Jugend  ist  nicht  erloschen,  wenn  auch  zurückge- 
drängt. Einmal,  aber  nur  kurze  Zeit,  konnte  er  glücklich 
einen  jungen  Buchhalter  lieben.  Der  Tod  trennte  diese 
innigen  Bande.  Wie  doch  diese  aufrichtige  Liebe  über 
das  Grab  hinaus  fortdauert! 


Zeitungsausschnitte. 

Vorbemerkung  des  Herausgebers:  Mehrfachen  Anregungen 
entsprechend  bringen  wir  dieses  Jahr  wiederum  eine  Aus- 
wahl von  Zeitungsausschnitten.  Wir  sagen  denjenigen  Lesern, 
welche  uns  solche  übermittelten,  verbindlichsten  Dank  und 
bitten,  uns  auch  weiterhin  einschlägige  Notizen  aus  der  Presse 
mit  möglichst  genauer  Quellenangabe  zu  senden.  Wenn  auch 
diese  kurzen  Mitteilungen  —  meist  im  üblichen  Reporterstil 
gehalten  —  gewiß  nicht  Anspruch  auf  strenge  Wissenschaft- 
lichkeit erheben  können,  so  haben  wir  ihnen  dennoch 
in  diesem  Archiv  einen  Platz  eingeräumt,  weil  sie  ein  recht 
anschauliches  und  unmittelbares  Bild  von  Ereignissen  und 
Situationen  gewähren,  die  ohne  die  Vorkenntnis  sexueller 
Zwischenstufen  kaum  richtig  erfaßt  werden  können.  Wir 
haben  uns  auch  dieses  Mal  auf  Stichproben  beschränkt  und 
hauptsächlich  solche  herausgegriffen,  wo  Frauen  für  Männer 
oder  Männer  für  Frauen  gehalten  wurden  bezw.  in  der  Rolle 
des  anderen  Geschlechts  vorübergehend  oder  dauernd  lebten, 
ferner  Fälle  von  Erpressungen  und  Selbstmorden,  welche 
sicher  oder  mit  einer  an  Sicherheit  grenzenden  Wahrschein- 
lichkeit durch  die  conträre  Sexualempfindung  bedingt  wurden. 


Eine  Frau  als  Mann  verkleidet!  Einen  gar  seltsamen  Fang 
machte  vor  kurzer  Zeit  der  Gendarm  Katzbichler  von  Pasing  auf 
seinem  Patrouillengange  nach  Holzapfelkreut.  Schon  seit  längerer 
Zeit  bemerkte  er  einen  jungen,  mittelgroßen,  bartlosen  Mann,  in 
einen  schwarzen  Sackanzug  gekleidet,  mit  schwarzem,  steifem 
Hut,  Stehkragen  und  schwarzer  Kravatte  angetan,  der  sich  Tag 
für  Tag  in  dem  Gehölze  bei  Holzapfelkreut  herumtrieb.  Endlich 
lief  er  dem  Gendarmen  in  die  Hände,  der  ihn  auch  sofort  kon- 
trollierte. Der  Bursche  gab  an,  er  heiße  Max  Berr,  sei  Schneider- 
geselle und  zur  Zeit,  da  außer  Stelle,  bei  seinen  Eltern  in  Haid- 


—    1180    — 

hausen.  Der  Gendarm  sah  sich  den  Kunden  genauest  an  und  — 
stutzte.  Nach  eindringlichem  Befragen  gab  der  Bursche  auch  zu, 
kein  Mann,  sondern  die  stellenlose  19  Jahre  alte  Kellnerin  Sophie 
Berr  von  hier  zu  sein.  —  Die  „Herrenimitateuse"  wurde  verhaftet 
und  stand  vor  dem  Schöffengerichte,  angeklagt  einer  Verübung 
des  groben  Unfugs,  begangen  durch  Tragen  von  Männerkleidern, 
eines  Weiteren  der  falschen  Namensangabe  und  der  Arbeitsscheu. 
Die  Angeklagte  erscheint  im  Frauenstrafgewande  und  macht  genau 
den  Eindruck,  als  wenn  man  —  einen  Mann  in  Frauenkleider 
gesteckt  hätte!  Die  Berr  hat  männliche  Gesichtszüge,  männlichen 
Gang  und  Bewegungen.  Ihr  Kopfhaar  ist  ä  la  Fiesco  kurz  ge- 
schnitten, hinter  den  Ohren  abrasiert  und  verläuft  nach  vorne  zu 
einem  kleinen  Scheitel,  den  zu  beiden  Seiten  niedliche  „Sechser" 
umrahmen.  —  Sie  fühlt  sich  in  der  Frauen kleidung  sehr  unbequem, 
da  die  Röcke  keine  —  Hosentaschen  haben,  und  sie  die  Gewohn- 
heit hat,  die  Hände  in  die  Tasche  zu  stecken.  Unumwunden 
gesteht  sie  zu,  seit  längerer  Zeit  auch  bei  Tage,  meistens  aber 
zur  Nachtzeit,  in  Männerkleidung  in  und  außerhalb  der  Stadt  her- 
umspaziert zu  sein,  und  will  auf  diesen  Einfall  dadurch  gekommen 
sein,  daß  ihr  der  Friseur  den  „Tituskopf"  zu  kurz  geschnitten 
hätte.  In  Wirklichkeit  hatte  die  Berr  von  der  Polizeibehörde 
wiederholt  Arbeitsauftrag  bekommen,  den  sie  nicht  befolgte,  und 
wollte  auf  diese  Weise  der  bevorstehenden  Strafe  entgehen. 
Charakteristisch  bei  der  ganzen  Sache  ist,  daß  niemand  der  Berr, 
selbst  auf  offener  Straße  ansah,  daß  sie  ein  Weib  sei.  Nach 
längerer  Verhandlung  wird  die  Berr  wegen  der  genannten  Über- 
tretungen zu  einer  30tägigen  Haftstrafe  verurteilt ;  von  der  An- 
schuldigung einer  Verübung  des  groben  Unfugs,  begangen  durch 
Tragen  von  Männerkleidern  auf  Straßen  und  öffentlichen  Plätzen, 
wird  die  Berr  freigesprochen.  Das  Gericht  ging  hierbei  von  der 
Erwägung  aus,  daß  es  überhaupt  fraglich  ist,  ob  das  Tragen  von 
Männerkleidern  durrf  Frauenzimmer  unter  den  Paragraphen  des 
groben  Unfugs  fällt  und  strafbar  sei;  man  könne  höchstens 
einen  groben  Unfug  dann  für  gegeben  erachten,  wenn  die  betref- 
fende Person  öffentliches  Ärgernis  durch  ihre  Handlungsweise 
hervorgerufen  habe.  Dies  sei  aber  bei  der  Angeklagten,  die  man 
allgemein  für  einen  Mann  hielt,  nicht  zutreffend,  es  fehle  deshalb 
das  Moment  des  §  360,  Ziff.  11  des  R.-Str.-G.-B.,  das  eine  Be- 
strafung bedingt,  und  sei  deshalb  die  Angeklagte  von  diesem 
Reate  freizusprechen  gewesen.  (Münchener  n.  n.) 


—    1181     — 

Einer  Meldung  des  Moskauer  Korrespondenten  der  „St.  Pet. 
Ztg."  zufolge,  ereignete  sich  dieser  Tage  ein  kurioser  Vorfall  in 
der  gynäkologischen  Klinik,  wo  sich  eine  weibliche  Person  an 
Professor  Snegirew  mit  der  Bitte  um  Erteilung  einer  Bescheinigung 
darüber  wandte,  daß  sie,  obgleich  auf  den  Namen  Marie  getauft, 
doch  mehr  Anrecht  auf  einen  männlichen  Namen  erheben  dürfe. 
Nach  vorgenommener  wissenschaftlicher  Expertise  erwies  sich  die 
Annahme  der  Petentin  denn  auch  als  vollkommen  gerechtfertigt, 
und  wurde  ihr,  oder  vielmehr  ihm,  die  gewünschte  Bescheinigung 
erteilt. 

Sechsundzwanzig  Jahre  als  Mann  verkleidet.  Aus  Anlaß 
einer  beim  Wiener  Landesgericht  durchgeführten  Untersuchung 
kam  vor  einigen  Tagen  die  überraschende  Tatsache,  daß  eine 
jetzt  42  Jahre  alte  Frauensperson  seit  ihrem  16.  Lebensjahre,  also 
durch  26  Jahre,  als  Mann  verkleidet  und  als  Fabrikarbeiter  be- 
schäftigt war,  zur  Kenntnis  der  Behörden.  Marie  Kneidinger 
benützte  von  ihrem  16.  Lebensjahre  an,  als  sie  sich  selbst  über- 
lassen war  und  als  Fabrikarbeiterin  keine  Beschäftigung  finden 
konnte,  ihr  männliches  Aussehen  dazu,  um  als  Fabrikarbeiter 
Beschäftigung  zu  finden.  Die  Verkleidung  gelang  und  sie  leistete 
in  einer  Fabrik  in  Fünfhaus  die  schwersten  Dienste  eines  männ- 
lichen Arbeiters.  Nun  geschah  es,  daß  ein  junges  Mädchen,  eine 
Arbeitsgenossin,  sich  in  den  vermeintlichen  Mann  verliebte. 
Marie  Kneidinger,  die  als  Josef  Kneidinger  gemeldet  war,  heuchelte 
Gegenliebe,  verschob  aber  den  Termin  der  Heirat  jedesmal  mit 
einer  anderen  Ausrede.  Ein  Streit,  der  zwischen  dem  „Liebes- 
paare" entstand,  führte  zu  einer  strafrechtlichen  Untersuchung 
und  damit  auch  zur  Entdeckung  des  Geschlechts  des  „Josef 
Kneidinger".  (Bresl.  Generalanzeiger.) 

Amsterdam,  17.  Nov.  In  der  Kinkerstraat  wohnt  seit  Jahren 
ein  junges  Mädchen,  das  nunmehr  als  junger  Mann  durch  die 
Straßen  flaniert.  Als  Mädchen  führte  der  junge  Mann  dort  jahre- 
lang ein  Kurzwarengeschäft  und  gab  dabei  noch  Unterricht  an 
einer  Sonntagsschule.  Beim  Kaffeeklatsch  blies  er  stets  die  erste 
Flöte.  Man  kann  sich  das  Entsetzen  der  Kaffeeschwestern  aus- 
malen, als  sie  zur  Entdeckung  kamen,  daß  „sie"  ein  „er"  war, 
der  ihnen  jetzt  im  hellen  Sommerüberzieher  und  Schlapphut 
Fensterpromenaden  macht.  Gleichzeitig  kündigte  „er"  öffentlich 
seine  Verlobung  mit  einer  seiner  früheren  intimen  Freundinnen 


—     1182    — 

an.  Diese  Vermummung,  welche  wohl  ein  gerichtliches  Nachspiel 
haben  dürfte,  wurde  schon  von.  der  Geburt  des  Knaben  an 
durchgeführt.  Eine  Verwandte  hatte  den  Eltern  eine  bedeutende 
Geldsumme  in  Aussicht  gestellt,  falls  das  zu  erwartende  Kind  ein 
Mädchen  sei;  diesem  sollte  nach  zurückgelegtem  23.  Lebensjahre 
das  Geld  ausbezahlt  werden.  So  wurde  denn  der  Knabe  als 
Mädchen  eingeschrieben.  Kaum  hatte  er  aber  das  23.  Jahr  hinterm 
Rücken,  als  er  auch  die  Mädchenröckchen  ablegte  und  in 
Männerkleider  schlüpfte.  Seine  früheren  Freundinnen  behaupten, 
er  habe  in  keiner  Weise  Veranlassung  gegeben,  anzunehmen, 
daß  er  kein  Mädchen  sei.  * 


Wieder  eine  Frau,  die  als  Mann  gelebt  hat.  Ein  merk- 
würdiger Fall  einer  Frau,  die  sich  als  Mann  verkleidet  hat  und 
überall  als  Mann  gegolten  hat,  ist  soeben  wieder  einmal  in 
New-York  durch  den  Tod  der  Betreffenden  bekannt  geworden. 
Miß  Karoline  Hall,  die  Tochter  eines  Bostoner  Millionärs  und 
Architekten,  hatte  im  Auslande  Kunst  studiert  und  sich  als 
Malerin  einen  gewissen  Ruf  erworben.  Vor  zehn  Jahren  schlug 
sie  ihren  Wohnsitz  in  Mailand  auf,  wo  sie  Josephine  Boriani 
kennen  lernte,  die  dort  an  der  Kunstschule  war.  Beide  Frauen 
wurden  intim  befreundet,  und  als  Miß  Hall  später  männliche 
Kleidung  anlegte,  galt  Signorina  Boriani  als  Frau  Hall..  Be- 
wunderung für  Rofa  Bonheur  hatte  die  erstere  dazu  geführt, 
männliche  Kleidung  und  Gewohnheiten  anzunehmen.  Sie  konnte 
so  gut  rauchen,  trinken,  schießen  und  jagen  wie  die  Männer  und 
galt  überall  als  Bonvivant  und  guter  Kerl.  Als  Graf  Cassini  war 
sie  in  der  besten  Pariser  und  Londoner  Gesellschaft  bekannt. 
Sie  jagte  und  spielte  Golf  in  England,  besuchte  die  Caf£s  in  Paris 
und  war  in  Italien  Dilettant.  Als  sie  sich  mit  Signorina  Boriani 
auf  der  „Citta  di  Torino"  als  „Mr.  und  Mrs.  Hall"  von  Genua 
nach  New-York  einschiffte,  wurde  sie  während  der  Reise  so  krank, 
daß  der  Arzt  gerufen  werden  mußte,  der  ihr  Geheimnis  entdeckte. 
Sie  räumte  ein,  daß  sie  eine  Frau  wäre,  bat  ihn  aber  darum,  es 
vor  den  Mitreisenden  zu  verheimlichen,  wozu  der  Arzt  seine 
Einwilligung  gab.  Die  Krankheit  verschlimmerte  sich  aber  schnell, 
und  als  das  Schiff  in  den  New-Yorker  Hafen  einlief,  starb  sie. 

(Düsseldorfer  Neueste  Nachrichten.) 


Ein  82jähriger  Greis  in  Frauenkleidung.    Der  Greis,  den  wir 
im  Bilde  bringen,   hat  beinahe   sein  ganzes  Leben  lang  Frauen- 


—    1183    — 

kleider  getragen.  Als  junger  Bursche  zog  er  sich  bei  einem  un- 
glücklichen Sturz  eine  so  schwere  Verletzung  am  rechten  Ober- 
schenkel zu,  daß  ihm  das  Bein  abgenommen  werden  mußte.  Als 
er  geheilt  war,  schämte  er  sich,  mit  dem  hölzernen  Stelzbein  vor 
den  Leuten  herumzugehen   und  zog  deshalb  Frauenkleider  an, 


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durch  welche  sein  Gebrechen  mehr  verhüllt  wurde.  Der  Greis, 
welcher  jetzt  82  Jahre  alt  ist,  trägt  nun  die  Frauenkleider  beinahe 
70  Jahre  lang.  Er  lebt  in  Freienwalde,  in  Preußisch-Schlesien  und 
heißt  Clemens  Jung.  Von  den  Ortsbewohnern  wird  er  „die  alte 
Clementine"  genannt.    Seinen   Lebensunterhalt  verdient   er    sich 


—    1184    — 

durch  Spinnen  und  Aufspulen  für  die  Weber.  Da  diese  Arbeiten 
schlecht  bezahlt  werden,  so  kann  er  sich  im  Tage  bei  fleißiger 
Arbeit  16  Heller  verdienen.  In  seiner  freien  Zeit  spielt  er  mit 
setner  Harmonika  auf,  und  die  kleinen  Geschenke,  die  er  dafür 
erhält,  reichen  hin,  seine  bescheidenen  Bedürfnisse  zu  decken. 
Da  er  jetzt  schon  zu  alt  ist,  um  in  die  eine  halbe  Stunde  weit 
entfernte  Kirche  von  Freienwalde  zu  gehen,  hat  er  sich  in  seinem 
Hause  einen  kleinen  Altar  errichtet.  Unser  Bild  ist  nach  einer 
Skizze  gezeichnet,  die  uns  von  einem  Leser  unseres  Blattes,  der 
sie  kürzlich   bei   einem  Besuche  in  Freienwalde  entworfen  hat, 

freundlich  übermittelt  worden  ist.         (Illustriertes  Wiener  Extrablatt.) 


Un  homme-femme.  On  cherche  un  cambrioleur  et  Ton  re- 
trouve  une  cambrioleuse.  —  Une  perruque  qui  tombe  mal  ä 
propos.  La  concierge  de  Timmeuble  sis  au  numero  1  de  l'avenue 
de  PAlma  voyait  entrer,  hier  matin,  dans  le  vestibule,  un  individu, 
äg£  d'une  yingtaine  d'ann6e,  qui  s'engagea  dans  l'escalier  de 
service.  —  Vous  vous  trompez  d'escalier,  cria  la  concierge.  — 
Cela  n'a  pas- d'importance,  repondit  le  visiteur  en  continuant  de 
monter.  Inqutete,  la  brave  femme  pr£vint  son  mari,  qui,  croyant 
avoir,  affaire  ä  un  cambrioleur,  se  häta  de  fermer  la  porte  de  la 
nie.  Puis  il  monta  jusqu'aux  chambres  de  bonnes:  mais  il 
n'apergut  pas  le  prätendu  cambrioleur.  II  constata  seulement  que 
la  porte  de  la  chambre  de  Mlle  FSlicie  Witte,  camäriste  chez  le 
genäral  Logereau,  locataire  de  Pimmeuble,  etait  fracturSe.  La 
concierge,  pendant  ce  temps,  montait  la  garde  dans  le  vestibule. 
Au  mSme  instant,  une  jeune  et  jolie  femme,  grande,  blonde,  des- 
cendait  le  grand  escallier.  La  concierge  l'interpella  et  lui  demanda 
ce  quelle  däsirait.  —  Cela  ne  vous  regarde  pas,  ma  brave  dame, 
repondit  l'autre  avec  hauteur.  Eh  cet  instant,  le  concierge,  qui 
redescendait,  annon^ait  ä  sa  femme  le  cambriolage  qu'il  venait 
de  constater.  —  Va  chercher  les  agents,  ajouta  le  concierge,  moi 
je  surveillerai  mademoiseHe,  pendant  ce  temps.  Quelques  minutes 
plus  tard,  Pinconnue  etait  conduite  au  commissariat  de  police  des 
Champs-Elysees.  Elle  se  dgfendit  d'avoir  jamais  commis  un  m£fait 
de  queique  nature  qu'il  füt.  Mais,  dans  l;ardeur  de  sä  defense, 
sa  perruque  blonde  glissa  et  tomba  ä  terre,  et  Ton  se  trouva  en 
prGsence  d'un  jeune  homme,  que  la  concierge  reconnut  aussitöt 
pour  son  visiteur  du  matin.  Fouillä,  il  fut  trouvä  porteur  de  trois 
bagues,  d'une  montre  de  dame  en  or  et  de  divers  bijoux  apparte- 


—    1185    — 

nant  ä  MHe  Witte.  II  avait,  en  outre,  un  rasoir,  un  revolver  et 
une  pince-monseigneur.  II  dSclara  se  nommer  Alexis  Duteurtre, 
äg6  de  vingt-deux  ans.  Ce  jeune  homme,  qui  appartient  ä  une 
honorable  famille,  habitant  une  grande  ville  du  Nord,  a  refusd  de 
faire  connaitre  son  domicile.  II  a  6t6  envoyä  au  D£pöt,  par  les 
soins  de  M.  Prälat,  commissaire  de  police  des  Champs-Elysees. 

(Le  Journal,  Paris.) 


Ein  merkwürdiger  Mensch.  Der  19  Jahre  alte  Kellner  Wilhelm 
Hans  Julius  Seh.  ist  wegen  Diebstahls  angeklagt;  er  räumt  die 
ihm  zur  Last  gelegten  Straftaten  reumütig  ein  und  bittet  um  milde 
Strafe.  Der  Staatsanwalt  beantragt  wegen  dreier  einfacher  Dieb- 
stähle 10  Monate  Gefängnis  und  2 Jahre  Ehrverlust;  der  Gerichts- 
hof erkennt  auf  8  Monate  Gefängnis,  rechnet  dem  Angeklagten 
aber  6  Wochen  auf  die  erlittene  Untersuchungshaft  an.  Der  An- 
geklagte hielt  sich  im  Oktober  vorigen  Jahres  in  Hamburg  auf, 
um  sich  eine  Stelle  auf  einem  Schiffe  zu  suchen;  er  logiert  bei 
Leuten,  zu  denen  ihn  sein  auswärts  wohnender  Vater  gebracht 
hatte,  der  auch  sein  Logisgeld  bezahlte.  Eines  Tages  fand  Seh. 
in  einem  Schranke,  der  in  seinem  Zimmer  stand,  zwei  Sparkassen- 
bücher über  2700  Mk.;  er  nahm  diese  Bücher  heraus  und  hob  in 
mehreren  Raten  eine  Summe  von  ungefähr  500  Mk.  bei  der  Spar- 
kasse. Für  dieses  Geld  kaufte  er  sich  Frauenkostüme,  die  er  an- 
zog und  damit  auf  die  Straße  ging.  Der  Angeklagte  ist  anschei- 
nend ein  abnorm  veranlagter  Mensch,  der  die  eigentümliche  Nei- 
gung hat,  sich  wie  ein  Frauenzimmer  zu  kleiden  und  in  dieser 
Kleidung  umherzustreifen.  Trotzdem  er  auf  die  Sparkassenbücher 
genug  Geld  haben  konnte,  hat  er  noch  obendrein  seiner  Logis- 
wirtin ein  Paar  silberne  Löffel,  zwei  wertvolle  Andenken,  ge- 
stohlen und  für  2  Mark  verkauft.  Das  Erkenntnis  des  Gerichts 
ist  oben  mitgeteilt. 

(Zweite  Beilage  zu  No.  12  der  „Neuen  Hamburger  Zeitung".) 


Frauen  in  Männerkleidung.  Es  ist  im  Grunde  genommen 
merkwürdig  genug,  daß  das  Gesetz,  wenigstens  in  Deutschland, 
das  Tragen  von  Männerkleidung  bei  Frauen,  hauptsächlich  und 
beinahe  ausschließlich  aus  Gründen  der  Moral  mit  Strafe  bedroht, 
während  die  überwiegende  Mehrheit  derjenigen  Frauen,  die  es 
vorgezogen  haben,  in  der  Kleidung  des  starken  Geschlechts  durch 
das  Leben  zu  gehen,  dies  aus  dem  Grunde  taten,  weil  sie 
glaubten,  sich*  damit  den  Kampf  ums  Dasein  zu  erleichtern-   Das 


—     118(5    — 

englische  Gesetz  sieht  die  Sache  vom  rein  praktischen  Stand- 
punkte aus  an,  und  deshalb  fällt  das  Vergehen  hierzulande 
nur  unter  die  Kategorie  des  Betruges.  Strafe  ist  aber  hier  wie 
dort,  und  das  ist  schließlich  auch  nur  in  der  Ordnung,  denn 
wenn  jeder  in  diesem  Punkte  seinen  eigenen  Wünschen  und 
Neigungen  folgen  wollte,  so  wüßte  schließlich  —  um  auch  einmal 
einen  weniger  geistvollen  Ausdruck  anzuwenden  —  mancher 
Mann  gar  nicht  mehr,  wer  mancher  Mann  war,  und  das 
würde  doch  in  vielen  Fällen  zu  argen  Weitläufigkeiten  führen. 
Der  eklatanteste  Fall  in  dieser  Beziehung  wird  natürlich  aus 
dem  Lande  berichtet,  wo  alle  eklatantesten  Fälle  passieren,  aus 
Amerika.  In  New-York  starb  vor  kurzem  eine  Dame,  die  dreißig 
Jahre  lang  in  Männerkleidung  umhergegangen  ist,  ohne  daß  auch 
nur  ihre  nächste  Umgebung  eine  Ahnung  davon  hatte.  Sie  starb 
im  Alter  von  sechzig  Jahren,  und  als  nach  ihrem  Tode  das  Ge- 
heimnis bekannt  wurde,  war  ganz  Neuyork  erstaunt,  zu  hören, 
daß  der  wohlbekannte  Bürger  und  eifrige  Tammany- Politiker 
„Mr."  Murrey  Hall  ein  Weib  war.  Selbst  ihre  adoptierte  Tochter 
war  auf  das  höchste  überrascht,  ihren  Vater  nach  seinem  Tode 
von  einer  so  gänzlich  neuen  Seite  kennen  zu  lernen.  Das  Beste 
aber  ist,  daß  —  so  unglaublich  es  auch  klingen  mag  —  „Mr." 
Murrey  Hall  zweimal  verheiratet  war  und  mit  beiden  Frauen 
sehr  glücklich  gelebt  haben  soll.  Mr.  Murrey  Hall  war  der  erste 
Teilhaber  einer  großen  Neuyorker  Firma  und  hinterließ  ein  Ver- 
mögen von  250000  Kronen,  nachdem  sie  große  Summen  bereits 
bei  Lebzeiten  für  wohltätige  und  politische  Zwecke  geopfert 
hatte.  Bei  Wahlen  war  sie  einer  der  eifrigsten  Agitatoren,  und 
sie  soll  bei  der  Niederlage  des  Tammany-„Boß"  ganz  untröstlich 
gewesen  sein.  Auf  ihrem  Sterbebette  bekannte  sie,  daß  sie  die 
Verkleidung  nur  aus  dem  Grunde  getragen  habe,  um  besser 
Geld  verdienen  zu  können,  und  der  Erfolg  hat  gezeigt,  daß  es 
ihr  damit  ernst  war.  NB.  Auf  ihrem  Landgute  in  der  Nähe  der  Stadt 
Oswego,  am  östlichen  Ende  des  Ontariosees,  lebt  der  im  ganzen 
Bezirke  wohlbekannte  „Herr  Dr."  Mary  Walker,  eine  Frau,  die 
seit  vierzig  Jahren  nur  Männerkleidung  getragen  hat.  Vor  einiger 
Zeit  wurde  durch  '  Zufall  das  Geheimnis  verraten ,  aber  sie 
kümmert  sich  nicht  darum,  sondern  führt  das  freie  Herrenleben, 
das  ihr  sehr  zusagt,  ruhig  weiter,  ohne  daß  irgend  jemand  daran 
Anstoß  nimmt.  Sie  kann  reiten,  schießen,  fischen,  pflügen  und 
ist  ein  sehr  leidenschaftlicher  Raucher.  Auch  in  Großbritannien 
sind  verschiedene  bemerkenswerte  Fälle  vorgekommen,  die  man  für 


—    1187    — 

unglaublich  halten  könnte,  wenn  sie  nicht  gerichtskundig  wären, 
so  daß  jeder  Zweifel  ausgeschlossen  erscheint.  In  dem  Kohlen- 
grubendistrikte Merthyr  Tydvil  in  Wales  entlief  vor  einigen* 
Jahren  ein  vierzehnjähriges  Mädchen  und  legte,  in  der  Erwartung, 
so  besser  und  schneller  Arbeit  zu  finden,  Männerkleidung 
an.  Sie  hatte  sich  darin  auch  nicht  getäuscht,  denn  un- 
mittelbar darauf  arbeitete  sie  als  Kohlenbursche  in  einer 
der  Gruben  und  bezog  das  für  ein  vierzehnjähriges  Mädchen 
hohe  Gehalt  von  15  Schilling  pro  Woche.  Sie  mietete  sich  ein 
bescheidenes  Zimmer,  und  alles  wäre  ganz  schön  gewesen, 
wenn  sie  nicht  bei  ihrer  Wirtin  durch  ihre  „Reinlichkeit"  —  ein 
schönes  Kompliment  für  das  sogenannte  stärkere  Geschlecht  — 
Argwohn  erregt  hätte,  worauf  diese  sie  aus  dem  Hause  wies. 
Diese  Erniedrigung  war  für  ihre  zarten  Nerven  zuviel,  und  sie 
wurde  bald  darauf  so  krank,  daß  sie  in  ein  Hospital  ging,  wo  sie 
selbstverständlich  ihr  Geheimnis  preisgeben  mußte.  In  einer 
großen  Stadt  im  Norden  Schottlands  lebt  ein  in  der  Geschäfts- 
welt hochangesehener  Herr,  von  dem  man  sagt,  daß  er  kein  Herr 
sei,  sondern  eine  Dame.  Sie  (oder  er?)  erscheint  bei  allen 
öffentlichen  Funktionen,  ihre  Kleidung  und  ihre  Manieren  als 
Mann  sind  tadellos,  und  ihr  Geschlecht  war  umso  leichter  zu 
verheimlichen,  als  sie  nicht  nur  eine  außerordentlich  sonore,  tiefe 
Stimme  besitzt,  sondern  auch  einen  —  Schnurrbart,  um  den  sie 
mancher  Gymnasiast  beneiden  dürfte.  Vor  dem  Maryleboner 
Polizeigerichte  hatte  sich  vor  einiger  Zeit  eine  Frau  zu  ver- 
antworten, die  46  Jahre  lang  unentdeckt  und  unbeargwohnt  in 
Männerkleidung  umhergegangen  war.  Catherine  Coombe  erzählte 
bei  der  Verhandlung  ihre  interessante  Lebensgeschichte.  Sie  war 
mit  sechzehn  Jahren  einem  Manne  angetraut  worden,  den  sie 
nicht  liebte,  und  benutzte  daher  die  erste  beste  Gelegenheit,  ihm 
davonzulaufen,  und  um  nicht  per  Polizei  zurückgeholt  zu  werden, 
legte  sie  Männerkleidung  an.  Mehrere  Jahre  war  sie  als  Lehrerin 
in  einer  angesehenen  Schule  in  London  tätig  und  nahm  später 
eine  Stellung  als  Koch  auf  einem  Dampfer  der  Pacific  and  Orient- 
Linie  an,  die  sie  zwei  Jahre  lang  behielt.  Auf  dem  Schiffe  machte 
sie  die  Bekanntschaft  einer  vornehmen  vermögenden  Dame,  ent- 
deckte sich  ihr  und  lebte  vierzehn  Jahre  lang  mit  ihr  zusammen. 
Als  sie  hörte,  dass  ihr  Gatte  gestorben  war,  kehrte  sie  nach 
London  zurück,  nahm  dort  erst  eine  Stelle  als  Ladengehilfe  in 
einem  großen  Handlungshause  an,  wo  sie  fünfzehn  Jahre  blieb, 
um  dann  wieder  auf  den  Dampfer  zurückzukehren,  auf  dem  sie 

Jahrbuch  V.  75 


—    1188    — 

früher  als  Koch  gedient  hatte,  diesmal  jedoch  als  Maler  und 
Lackierer.  Von  da  ab  scheint  sie  jedoch  das  Glück  verlassen  zu 
haben,  denn  es  ging  ihr  immer  schlechter,  bis  sie  zuletzt  in  einem 
Armenhause  Unterkommen  suchen  mußte,  wo  sie  in  ihrer  Angst 
vor  dem  unvermeidlichen  Bade  ihr  Geheimnis  der  Verwaltung 
enthüllte.  

Frauen  in  Männertracht  sind  in  Paris  auch  außer  der 
Karnevalszeit  durchaus  nicht  selten,  gehen  aber  im  Alltagsleben 
gewöhnlich  unbemerkt  vorüber,  weil  der  Grund  zu  der  Ver- 
mummung meistens  in  einer  sonst  nur  dem  stärkeren  Geschlechte 
zukommenden  Beschäftigung,  nicht  etwa  in  Abenteuerlust  liegt, 
und  stehen  in  dieser  Beziehung  auf  gleicher  Stufe  mit  den  in  der 
Kleidung  von  ihren  männlichen  Berufsgenossen  nicht  zu  unter- 
scheidenden Fischerinnen  an  den  Küsten  des  Atlantischen  Ozeans 
und  den  Schnitterinnen  des  Val  d'IUiez  (Wallis).  Übrigens  finden 
sich  Beispiele  solcher  Frauen  auch  in  gebildeten  Ständen.  Die 
Gattin  des  Forschungsreisenden  Dieulafoy,  die  diesen  in  Männer- 
kleidung nach  Persien  usw.  begleitete,  erschien  auch  nacher  bei 
amtlichen  Festlichkeiten  im  Kreise  der  Akademiker  im  Zylinder 
und  mit  dem  Bande  der  Ehrenlegion  im  Knopfloche  ihres  Fracks. 
Bekannt  ist  ferner  die  Tracht  der  vor  zwei  Jahren  verstorbenen 
Malerin  Rosa  Bonheur,  deren  Werke  nicht  allein  einen  hervor- 
ragend männlichen  Charakter  besitzen,  sondern  die  sich  auch 
bis  zu  ihrem  Lebensende  männlich  kleidete,  bei  ihrem  Aufenthalte 
in  Paris  häufig  als  Reiter  ein  munteres  Pferd  tummelte  und  im 
blauen  Malerkittel  und  Schlapphut  im  Freien  Skizzen  aufzunehmen 
pflegte.  Auch  eine  Pariser  Schriftstellerin,  eine  Faktorin  in  einer 
Buchdruckerei  und  verschiedene  ähnliche  besser  gestellte  Frauen 
treten  stets  unter  männlicher  Maske  auf.  Man  meint,  wenn  der- 
artige Bräuche  sich  verallgemeinerten,  würde  eine  große  gesell- 
schaftliche Verwirrung  entstehen,  die  ein  polizeiliches  Einschreiten 
erfordern  könnte.  Der  „Petit  Parisien"  hat  daher,  wie  der  „Köln. 
Ztg."  aus  Paris  berichtet  wird,  Erkundigungen  eingezogen,  inwie- 
weit die  gedachte  Vermummung  gestattet  sei.  Ein  höherer 
Präfekturbeamter  erklärte  in  dieser  Beziehung  nur  die  jährlich 
zum  Karneval  erneuerte  Polizeiverordnung  über  die  Stunden  für 
maßgebend,  während  deren  die  Verkleidung  auf  offener  Straße 
erlaubt  sei.  Wenn  aber  eine  Person  versichere,  daß  sie  einen 
Anzug  alltäglich  trage,  und  wenn  dieser  der  landläufigen  Tracht 
entspreche,  sei  nicht  einzusehen,  weshalb   man   sie  verhindern 


—    1189    — 

könne,  sich  nach  ihrer  Art  und  nach  den  Bedürfnisseh  des  Standes* 
zu  kleiden.  Andernfalls  müßte  man  auch  das  geistliche  Gewand 
verbieten,  weil  sich  darin  womöglich  eine  Ähnlichkeit  mit 
einem  weiblichen  finden  lasse.  Es  gäbe  Fälle,  wo  Frauen  in  der 
Tracht  von  Maurern,  Fuhrleuten  usw.  arbeiteten,  und  in  solchen 
Fällen  drücke  die  Polizei  ein  Auge  zu.  Im  Kabinett  des  Präfekten 
gab  man  die  Antwort,  daß  die  vorliegende  Frage  streng  ge- 
nommen nur  noch  durch  eine  Polizeiverordnung  vom  16.  Brumaire 
des  Jahres  IX  (7.  November  1800)  entschieden  werden  könne, 
welche  die  Genehmigung  zu  den  damals  sehr  häufigen  Ver- 
mummungen von  einem  ärztlichen  Zeugnis  abhängig  macht,  daß 
der  Bewerber  oder  die  Bewerberin  der  besonderen  Tracht  aus 
Gesundheitsrücksichten  bedürfe.  Mit  der  Zeit  habe  man  aber 
Ausnahmen  hiervon  gemacht,  so  bei  Aurore  Dupin  (George  Sand), 
Rosa  Bonheur  und  Marguerite  Bellanger,  der  Margot  Napoleons  HL, 
die  die  Eifersucht  der  Kaiserin  erregt  habe.  Früher  seien  die 
Gesuche  um  die  Erlaubnis  zum  Tragen  von  Männerkleidern 
überhaupt  häufiger  gewesen;  seit  Einführung  der  an  das  stärkere 
Geschlecht  erinnernden  Kleidung  für  Radfahrerinnen  aber  scheine 
die  Sucht  der  Frauen  nach  sonstigen  männlichen  Trachten  immer 
mehr  abgenommen  zu  haben.  („Wiener  Fremdenblatt".) 


Frauen  —  als  „Ehemänner".  Der  Fall  des  „weiblichen 
Politikers"  Murray  Hall  in  New-York,  der  Frau,  die  dreißig  Jahre 
als  Mann  gelebt  und  deren  Geschlecht  erst  nach  ihrem  Tode 
bekannt  geworden  war,  wird  noch  immer  in  englischen  Blättern 
vielfach  besprochen.  Am  Merkwürdigsten  erscheint  dabei  die 
Tatsache,  daß  „Mr."  Hall  zweimal  verheiratet  gewesen  ist.  Und 
doch  steht,  wie  ein  englisches  Journal  erzählt,  dieser  Fall  durchaus 
nicht  so  vereinzelt  da.  In  den  Gerichtsarchiven  von  Taunton,  der 
Hauptstadt  der  englischen  Grafschaft  Somerset,  findet  sich  ein 
Bericht  aus  dem  November  1746,  demzufolge  eine  Frau  Namens 
Mary  Hamilton  angeklagt  war,  weil  sie  sich  mit  vierzehn  ver- 
schiedenen Frauen  hatte  trauen  lassen.  Ihre  letzte  „Gattin"  war 
Mary  Price,  die,  nachdem  sie  die  gegen  sie  verübte  Täuschung 
entdeckt  hatte,  ihren  weiblichen  Gatten  verhaften  ließ;  und  sie 
legte  gegen  ihn  vor  Gericht  Zeugnis  ab.  Der  Fall  war  so  unge- 
wöhnlich, daß  die  richterlichen  Beamten  kaum  wußten,  welche 
Strafe  sie  verhängen  sollten.  Sie  waren  jedoch  einstimmig  der 
Meinung,  daß  die  Gefangene  „eine  ungewöhnlich  ruchlose 
Schwindlerin"  wäre.    Als  solche  wurde  sie  dazu  verurteilt,  „öffent- 

75* 


—     1190    — 

lieh  in  Taunton  Glastonbury,  Wells  und  Shipton  Maltet  gepeitscht 
und  sechs  Monate  eingekerkert  zu  werden",  was  noch  eine  sehr 
mäßige  Strafe  für  jene  Zeit  strenger  Urteile  bei  den  leichtesten 
Vergehen  war.  35  Jahre  später  starb  in  London  eine  Frau 
Namens  Mary  East,  deren  Leben  einen  seltsamen  Roman  darstellte. 
Erst  sechzehnjährig,  wurde  sie  mit  einem  jungen  Mann  verheiratet, 
durch  dessen  Verbrechen  sie  kurz  darauf  für  immer  von  seiner 
Gesellschaft  befreit  wurde.  Er  wurde  gehängt.  Durch  ihre  Er- 
fahrungen mit  ihm  war  sie  aber  so  angeekelt,  daß  sie  nichts  mehr 
mit  den  Männern  zu  tun  haben  wollte.  Da  sie  ein  Mädchen  traf, 
deren  Liebe  ähnlich  schlecht  angebracht  gewesen  war,  kam  sie 
auf  den  Gedanken,  daß  sie  Beide  als  Mann  und  Frau  zusammen 
leben  könnten.  Sie  losten,  wer  von  ihnen  die  Rolle  des  Gatten 
annehmen  sollte,  und  da  das  Los  Mary  East  traf,  nahm  sie  sofort 
Männerkleidnng  an  und  die  Heirat  wurde  wie  üblich  gefeiert. 
Das  Paar  lebte  sehr  glücklich  zusammen,  und  da  sie  in  einem 
Rechtsstreit  zehn  Tausend  Kronen  gewannen,  konnten  sie  es 
wagen,  ein  Gasthaus  zu  begründen.  Dieses  gedieh  unter  ihrer 
Leitung  sehr  gut.  Erst  nach  dreißig  Jahren  wurde  „die  Frau"  krank 
und  starb.  In  dieser  Zeit  gebrauchte  eine  skrupellose  Frau,  die 
das  Paar  in  seiner  Jugend  gekannt  hatte,  ihre  Kenntnis,  um  von 
dem  „Gatten"  viel  Geld  zu  erpressen.  Gegen  die  Erpresserin 
wurde  ein  Verfahren  angeordnet,  in  dessen  Verlauf  die  erwähnten 
Einzelheiten  ans  Licht  kamen  und  großes  Aufsehen  erregten. 
Mary  East,  deren  Männername  James  How  war,  starb  im  Jahre 
1781  im  Alter  von  64  Jahren.  Vor  einigen  Jahren  erzählten 
amerikanische  Blätter  die  romantische  Geschichte  von  Alice  Brown. 
Derselben  war  ein  Legat  von  180.000  Kronen  hinterlassen  worden, 
das  jedoch  nur  im  Falle  ihrer  Heirat  ausbezahlt  werden  sollte. 
Obgleich  sie  das  Geld  sehr  gern  in  ihren  Besitz  bekommen  wollte, 
konnte  sie  sich  nicht  entschließen,  einen  Gatten  zu  nehmen,  und 
sie  traf  mit  einem  befreundeten  Mädchen  das  Abkommen,  daß 
dieses  das  entgegengesetzte  Geschlecht  vorstellen  und  sie  heiraten 
sollte.  Die  Trauung  wurde  richtig  in  New-York  vollzogen,  und 
nach  Vorzeigung  des  Trauscheins  wurde  das  Vermächtnis  aus- 
gezahlt. Die  Täuschung  wurde  erst  entdeckt,  als  die  Erbin  starb. 
Auch  bei  einem  Fischer  in  der  Bretagne  fand  man  nach  seinem 
Tode,  daß  er  dem  schwachen  Geschlecht  angehört  hatte.  Es  ging 
ihm  sehr  gut,  er  besaß  eine  kleine  Bootflotte  und  hatte  eine 
beträchtliche  Summe  als  Notgroschen  zurückgelegt.  Er  genoß 
aller  Achtung  und  war  bei  seinem  Tode  Witwer.    Er  war  tat- 


—    1191     — 

sächlich  zweimal  verheiratet  gewesen  und  hatte  ein  halbes  Jahr- 
hundert sein  wirkliches  Geschlecht  verbergen  können;  Niemand 
hatte  geahnt,  daß  er  eine  Frau  war,  noch  dazu  eine  die  Frauen 
geheiratet  hatte.  

Kostroma.  Mit  der  sonderbaren  Bitte,  seine  Frau  für  einen 
Mann  zu  erklären,  wandte  sich  dieser  Tage  ein  Bauer  aus  dem 
Kreise  Kologriw  an  die  Kostromatische  Gouvernements-Medizinal- 
verwaltung. Wie  die  Zeitung  „Russkoje  Slowoa  berichtet,  glich 
die  vor  der  Behörde  erschienene  Frau  ihrer  Kleidung  nach  tat- 
sächlich einem  Manne:  sie  trug  Männerhosen,  ein  Männerhemd, 
hohe  Wasserstiefel  und  war  auch  wie  ein  Mann  frisiert.  Nach 
der  ärztlichen  Besichtigung  der  jungen,  einem  hübschen  Knaben 
gleichenden  Frau,  vermochte  die  Medizinal- Verwaltung  das  Gesuch 
des  Bauern  nicht  zu  erfüllen  und  erklärte,  daß  seine  Frau  wirklich 
eine  Frau  sei.  Mit  diesem  Bescheid  wollte  sich  das  Bäuerlein 
indessen  nicht  zufrieden  geben  und  behauptete  eigensinnig,  daß 
er  es  wohl  am  besten  wissen  müsse,  wie  es  mit  seiner  Frau 
bestellt  sei.  Weiter  erzählte  er,  daß  seine  Frau  trotz  vierjähriger 
Ehe  kinderlos  sei  und,  wie  die  Dinge  lägen,  auch  kinderlos  bleiben 
werde.  Des  Zeugnisses  bedurfte  der  Bauer,  um  beim  Konsistorium 
eine  Trennung  seiner  Ehe  beantragen  zu  können. 


Von  einem  Kopenhagener  Maskenball.  Unser  Kopenhagener 
dt.-Correspondent  schreibt  uns:  In  einem  hiesigen  Verein  wurde 
dieser  Tage  ein  großer  Maskenball  veranstaltet.  Unter  den 
Anwesenden,  von  denen  nicht  jeder  gerade  zur  Elite  der  Gesell- 
schaft gehörte,  zeichnete  sich  besonders  eine  als  Pierrette 
costümierte  deutsche  Dame  durch  ihre  Schönheit  und  Anmut  aus. 
Niemand  vermochte  ihren  Reizen  zu  widerstehen,  und  die  Herren 
wetteiferten  um  einen  Tanz  mit  der  entzückenden  Dame.  Prüde 
war  die  schöne  Pierrette  gerade  nicht,  denn  sie  erwiderte  jede 
zarte  Liebkosung  und  drückte  ihre  Tänzer  sehr  zärtlich  an  sich. 
Die  vielen  Eroberungen  der  Pierrette  erregten  jedoch  die  Eifersucht 
der  anderen  Damen,  von  denen  eine,  die  das  Treiben  jener 
scharf  beobachtete,  bald  die  unliebsame  Entdeckung  machte,  daß 
die  deutsche  Dame  während  des  Tanzes  die  Brusttaschen  der 
Herren  untersuchte  und  sich  ihre  Brieftaschen  aneignete.  Über 
diese  Frechheit  entrüstet,  machte  sie  einen  Polizeiagenten  auf 
ihre  Entdeckung  aufmerksam.  Nachdem  dieser  sich  von  der 
Richtigkeit  der  Sache  überzeugt,  führte  er  die  junge  Dame  auf 


—    1192    — 

die  Wache,  wo  Pierrette  untersucht  wurde.  Groß  aber  war  das 
Erstaunen  der  Polizei,  als  die  schöne  Deutsche  sich  als  ein  — 
Mann,  ein  Buchbindergeselle  Namens  Alois  Embusch  entpuppte. 
Man  fand  in  seinem  Besitz  mehrere  Portemonnaies.  Er  gestand, 
eine  ganze  Reihe  Taschendiebstähle  verübt  zu  haben.  Der  schöne 
Buchbinderjüngling  wird  sich  nun  auf  eine  längere  Gefängnisstrafe 
gefaßt  machen  müssen.  Ben.  L.-Anz. 


Der  weibliche  Rittmeister.  Eine  eigenartige  Scheidungsklage 
wurde  in  Wien  von  einem  Ingenieur  gegen  seine  jugendliche 
Gattin  eingeleitet.  Als  Scheidungsgrund  führte  der  Kläger  Untreue 
seiner  Gattin  an,  und  als  Beweis  schloß  er  der  Klage  ein  Bild 
bei,  auf  dem  seine  Gattin  in  Husaren-Uniform  neben  einem  Ritt- 
meister photographiert  erscheint.  Der  Kläger,  der  gegenüber  der 
Rennweger  Kaserne  wohnt,  bemerkte,  als  er  kürzlich  nach  Hause 
kam,  daß  seine  Frau  rasch  einen  Gegenstand  zu  verstecken 
suchte,  und  er  entriß  ihr  das  erwähnte  Bild.  Zur  Rede  gestellt, 
gab  die  Frau  an,  daß  sie  „aus  Jux"  sich  mit  dem  ihr  von  einer 
Freundin  vorgestellten  Rittmeister  photographieren  ließ  und  gleich- 
falls „aus  Juxa  das  Kostüm  eines  Rittmeisters  wählte.  Sie  er- 
blickte in  dieser  Handlungsweise  nichts  Bedenkliches,  da  auch 
die  anderen  dem  Rittmeister  bekannten  Damen  sich  in  gleicher 
Weise  photographieren  ließen !  Der  Gatte  faßte  die  Sache  jedoch 
nicht  als  „Jux",  sondern  als  bittern  Ernst  auf  und  erhob  deshalb 
gegen  seine  Gattin  die  Ehescheidungsklage. 

(Charlottenburger  „Neue  Zeitung".) 


Eine  Ballettänzerin  —  ein  Mann.  Man  telegraphiert  uns 
aus  Ofenpest  unterm  16.  d.  M.:  Das  „Budapester  Morgenblatta 
berichtet:  Vor  einigen  Jahren  wurde  bei  der  königlichen  Oper 
eine  junge  Tänzerin  aufgenommen,  die  sich  bald  ob  ihrer  Anmut 
und  Bescheidenheit  allgemeine  Sympathien  erwarb.  Die  Tänzerin 
zeigte  vor  wenigen  Tagen  Spuren  von  Geistesstörung  und  mußte 
deshalb  in  die  Leopoldfelder  Irrenanstalt  gebracht  werden.  Bei 
der  Untersuchung  durch  Professor  Salgo  stellte  es  sich  heraus, 
daß  die  junge  Tänzerin  männlichen  Geschlechts  sei.  Die  Anzeige 
über  den  Vorfall  wurde  an  die  Behörden  erstattet. 


Das  männliche  Dienstmädchen.  Das  Blumenmädchen  Maria 
Kral,  eine  vierschrötige,  ältere  Dame,  war,  wie  aus  Wien  be- 
richtet wird,   vor   dem   Bezirksgerichte  Leopoldstadt  der  Über* 


—    1193    — 

schreitung  des  Ztichtigungsrechtes  gegenüber  einem  männlichen 
Dienstboten  angeklagt.  Seit  zwei  Jahren  steht  der  66jährige 
ehemalige  Schneidergehilfe  Josef  Wolf  bei  ihr  im  Dienste  und 
verrichtet  alle  Arbeiten,  welche  gewöhnlich  zu  den  Obliegen- 
heiten einer  Magd  gehören.  Er  führt  die  Kinder  spazieren,  räumt 
die  Zimmer  auf,  putzte  Schuhe  und  Kleider  usw.  Auch  in  anderer 
Beziehung  gleicht  er  den  weiblichen  Dienstboten.  Er  pflegte 
gern,  wenn  er  vom  Einkaufen  kam,  mit  anderen  Dienstmädchen 
und  Nachbarinnen  zu  tratschen  und  ließ  sich  dabei  auch  über 
seine  Gnädige  aus.  Als  Frau  Kral  davon  hörte,  zog  sie  den 
Peppi  zur  Rechenschaft  und  versetzte  ihm  einige  Ohrfeigen.  Die 
Züchtigung  war  aber  derart,  daß  Wolf  zehn  Tage  im  Spital 
liegen  musste.  Die  Angeklagte  gab  an,  sie  habe  im  Zorn  so 
gehandelt,  weils  Dienstmadl  an*  so  an*  Tratsch  g'macht  hat. 
Richter:  War  er  denn  bei  Ihnen  im  Dienst?  —  Angeklagte:  Der 
Peppi  ist  noch  bei  mir.  Er  ist  unser  Dienstmadl.  —  Staatsanwalt- 
schaftlicher Funktionär  Dr.  Danninger:  Besteht  wirklich  ein 
Dienstverhältnis  wie  mit  einer  Magd?  —  Angeklagte:  No  ja,  er 
hat  alles  g'macht.  —  Der  als  Zeuge  vernommene  Josef  Wolf 
erzählte  weinend,  er  habe  wenig  zu  essen  bekommen  und  die 
Gnädige  war  sehr  streng  mit  ihm,  obwohl  er  seine  Sachen  gut 
machte.  —  Richter:  Sie  sollen  über  die  Frau  getrascht  haben? 
—  Zeuge:  Da  müssen  die  Weiber  her;  die  müssen  sagen,  daß 
i  net  trascht  hab\  I  geh*  sonst  bis  zu  die  Stufen  vom  aller- 
höchsten Tron!  —  Der  Richter  verurteilte  die  Angeklagte  zu  24 
Stunden  Arrest,  indem  er  annahm,  daß  sie  das  ihr  zustehende 
Züchtigungsrecht  überschritten  habe.  Chari.  Neue  Zeit. 


Maria  Karfiol.  Aus  Pilsen,  4.  d.,  wird  uns  berichtet:  Heute 
wurde  am  hiesigen  Bahnhofe  der  Pilsen-Priesener  Bahn  von  einem 
Wachmann  eine  Frauensperson  angehalten,  welche  durch  ihr 
scheues  Wesen  die  Aufmerksamkeit  der  Passanten  erregte.  Sie 
wurde  zur  Ausweisleistung  aufgefordert  und  auf  die  Polizei- 
wachstube gebracht.  Dort  wurde  schließlich  constatiert,  daß  man 
es  mit  keiner  Frauensperson,  sondern  mit  einem  Manne  zu  tun 
habe.  Im  Verlaufe  des  Verhörs  wurde  die  Tatsache  festgestellt, 
daß  der  19  Jahre  alte  Mann  seit  seiner  Geburt  als  weibliches 
Wesen  erzogen  und  auf  den  Namen  Maria  Karfiol  getauft  und 
in  den  Matrikeln  eingetragen  wurde.  Er  ist  nach  Bukowa  bei 
Breznitz  zuständig  und  seit  zwei  Jahren  bei  dem  Grundbesitzer 
Gustav  Themmel  bei  Brüx  als  Dienstmagd  beschäftigt,  wo  er  alle 


—    1194    — 

weiblichen  Arbeiten  verrichtete.  Sein  Arbeitsbuch  lautet  gleich- 
falls auf  den  Namen  „Maria  Karfiol".  Auf  Befragen  gab  er  an, 
daß  er  von  seinen  Eltern  stets  als  Mädchen  erzogen  wurde,  alle 
weiblichen  Handarbeiten  erlernt  und  dann  einen  Dienst  als  Magd 
angenommen  habe.  Er  ist  von  großer  Statur,  hat  ein  ganz  glattes, 
mädchenhaftes  Gesicht,  trägt  seine  langen  Haare  in  einen  Zopf 
geflochten  und  bewegt  sich  in  den  Frauenkleidern  ohne  allen 
Zwang.  Er  raucht  und  trinkt  nicht  und  meidet  jede  Begegnung 
mit  dem  weiblichen  Geschlechte.  Er  behauptet  ferner,  daß  nur 
seine  Eltern  sein  Geschlecht  kennen,  daß  diese  ihm  seit  jeher 
den  Umgang  mit  Knaben  verboten  haben  und  ihn  nur  Frauen, 
kleider  tragen  ließen.  Den  Grund  hierfür  wußte  er  nicht  anzugeben. 
Maria  Karfiol  wurde  nun  in  Männerkleider  gesteckt  und  schließlich 
des  langen  Zopfes  beraubt.  Morgen  wird  er  in  Begleitung  eines 
Wachmannes  in  seine  Heimat  escortiert,  wo  festgestellt  werden 
wird,  ob  seine  Angaben  auf  Wahrheit  beruhen.  (Neues  Wiener  Tagbi.) 


Weibliche  Soldaten.  Vor  kurzem  ging  die  Meldung  durch 
die  Presse,  daß  in  dem  Kampfe  der  Filipinos  gegen  die  Ameri- 
kaner eine  kühne  Tochter  der  Insel  Luzon  an  der  Spitze  einer 
bewaffneten  Schaar  ins  Feld  gezogen  sei  und  den  Amerikanern 
mehrere  Gefechte  geliefert  habe.  Sie  hat  sich  aber  nicht  lange 
im  Felde  behauptet  und  ist  jetzt  eine  Gefangene  der  Amerikaner. 
Sie  ist  nicht  die  erste  Frau,  die  seit  den  Tagen  Jeanne  d'Arcs 
die  Waffen  für  ihr  Vaterland  ergriff.  Die  deutsche  Geschichte 
kennt  mehrere  Beispiele  aus  der  Zeit  der  Freiheitskriege,  und 
auch  die  Vereinigten  Staaten  haben  eine  solche  Heldenjungfrau 
aufzuweisen,  die  als  Frank  Thompson  während  des  Bürgerkrieges 
mehrere  Feldzüge  mitmachte,  in  der  Schlacht  in  der  Wildnis 
verwundet  wurde,  und  kürzlich  als  Gattin  von  L.  H.  Seelye  starb. 
Eine  der  sonderbarsten  und  berühmtesten  dieser  Kriegerinnen 
war  wohl  Dr.  James  Barry,  die  als  General-Inspektor  der  eng- 
lischen Militär-Lazarete  im  Jahre  1865,  75  Jahre  alt,  starb.  Fräulein 
Anne  Barry  war  eine  Verwandte  Lord  Fitzoy  Sommersets,  und 
dessen  Einflüsse  hatte  sie  es  zu  verdanken,  daß  sie  nicht  wegen 
ihrer  wiederholten  Verstöße  gegen  die  Disciplin  aus  der  Armee 
entlassen  wurde.  Um  die  Vorschriften  kümmerte  sie  sich  wenig, 
und  ihre  scharfe  Zunge  brachte  sie  häufig  in  Conflict  mit  den 
Behörden  und  einzelnen  Offizieren.  Einmal  geriet  sie  mit  einem 
Adjutanten  in  Wortwechsel,  und  da  damals  noch  Duelle  an  der 
Tagesordnung  waren,   zögerte   „Dr.   Barry"   keinen  Augenblick, 


—    1195    — 

sich  ihrem  Gegner  mit  der  Pistole  in  der  Hand  zu  stellen.  Das 
Duell  verlief  zwar  unblutig,  verschaffte  Dr.  Barry  aber  Ruhe  vor 
den  Hänseleien  der  jungen  Officiere.  Sie  tat  Dienst  in  England, 
Indien,  Canada  u.  s.  w.  und  starb  in  London  eines  plötzlichen 
Todes.  Daß  sie  eine  Frau  gewesen,  war  nur  wenigen  bekannt, 
und  auch  ihr  Grabstein  verrät  es  nicht.  (Beri.  L.-Anz.) 


Weil  er  sich  in  Frauenkleidern  nächtlicher  Weise  auf  den 
Straßen  herumzutreiben  liebt,  kommt  der  Artist  Welzel  wieder- 
holt mit  der  Polizei  in  Konflikt.  Vorgestern  stand  er  aus  der- 
selben Veranlassung  wegen  groben  Unfugs  vor  der  achten  Straf- 
kammer des  Landgerichts  I.  Der  Gerichtshof  stellte  sich  auf  den 
Standpunkt,  daß  das  Tragen  von  Frauenkleidern  durch  Männer 
nicht  ohne  Weiteres,  sondern  nur  dann  als  grober  Unfug 
anzusehen  sei,  wenn  den  Straßenpassanten  leicht  erkennbar  sei, 
daß  in  der  weiblichen  Kleiderhülle  ein  Mann  stecke.  Dies  sei 
bei  dem  Angeklagten  allerdings  nicht  der  Fall,  vielmehr  habe 
dessen  Figur  und  Gesicht  etwas  weibliches  an  sich.  Erwiesen 
sei  aber  durch  die  Beobachtungen  eines  Schutzmanns,  daß  der 
Angeklagte  auf  der  Straße  sich  genau  so  gerirt  habe  wie  eine 
öffentliche  Dirne,  er  auch  mit  männlicher  Begleitung  in  den  Tier- 
garten hineingegangen  sei,  was  den  Kontroidirnen  bekanntlich 
überhaupt  verboten  ist.  Bei  dieser  Sachlage  verurteilte  der 
Gerichtshof  den  Angeklagten  zu  sechs  Wochen  Haft.     (Vorwärts.) 


Der  Kammerdiener  im  Spitzenkleid.  Eines  schweren  Ver- 
trauensbruchs hat  sich  der  Diener  Eugen  Bartels  schuldig  gemacht, 
der  sich  unter  der  Anklage  des  Diebstahls-  vor  der  ersten  Ferien- 
strafkammer des  Landgerichts  I  zu  verantworten  hatte.  Bartels 
stand  seit  kurzer  Zeit  in  den  Diensten  des  Kommerzienrats  B., 
als  dieser  mit  seiner  Familie  eine  Reise  nach  dem  Süden  unter- 
nahm, ohne  den  Angeklagten  mitzunehmen.  Er  verlebte  nun 
beschauliche  Tage,  von  häufigen  Vergnügungen  unterbrochen. 
Am  7.  März  sollte  ein  Maskenball  im  Hotel  zum  König  von 
Portugal  stattfinden.  Der  Angeklagte  hatte  das  Verlangen,  daran 
teilzunehmen,  aber  keine  Mittel,  sich  eine  so  kostbare  Masken- 
garderobe leihen  zu  können,  wie  er  sie  zu  haben  wünschte.  Da 
kam  er  auf  eine  verwegene  Idee.  Die  Hausdame,  die  in  Abwesen- 
heit der  Frau  Kommerzienrätin  den  Hausstand  führte,  hatte  den 
Schlüssel  zum  Kleiderschrank  in  Verwahrung.  Der  Angeklagte 
wollte  auf  dem  Maskenball  als  elegante  Dame  auftreten.    In  Ab- 


—    1196    — 

Wesenheit  der  Hausdame  nahm  er  den  zum  Kleiderschrank  ge- 
hörigen Schlüssel  fort,  öffnete  den  Schrank  und  nahm  unter  dem 
Inhalt  eine  Auslese  vor.  Es  waren  nicht  die  schlechtesten  Stücke, 
die  er  aussuchte  und  mit  auf  sein  Zimmer  nahm.  Als  er  einen 
der  kostbaren  Spitzenröcke  anprobierte,  zerriß  dieser.  Der  An- 
geklagte brachte  ihn  nach  dem  Aufbewahrungsort  zurück,  die 
übrigen  Sachen  brachte  er  nach  der  Wohnung  seines  Freundes 
des  Masseurs  D.,  wo  er  sich  auch  am  Abend  des  Maskenballes 
ankleidete.  Nach  durchschwärmter  Nacht  zog  er  sich  wieder  in 
der  Wohnung  seines  Freundes  um  und  ließ  die  Damenkleider  dort. 
Nach  einigen  Tagen  entdeckte  die  Hausdame,  daß  die  Kleider 
fehlten.  Sie  machte  der  Kriminalpolizei  Anzeige.  Als  ein  Beamter 
den  Angeklagten  verhörte,  gab  dieser  an,  wo  er  die  Kleider 
gelassen  und  wozu  er  sie  benutzt  hatte.  Man  ließ  die  Garderobe 
holen.  Die  Kleider  sahen  bös  aus,  sie  waren  teilweise  zerrissen 
und  beschmutzt.  Der  Angeklagte  entschuldigte  sich  vor  Gericht 
damit,  daß  er  auf  dem  Maskenball  angetrunken  gewesen  sei  und 
in  diesem  Zustande  die  Kleider  nicht  so  habe  in  Acht  nehmen 
können,  wie  er  es  gewollt.  Durch  die  Beweisaufnahme  wurde 
festgestellt,  daß  die  Sachen  einen  Wert  von  über  2000  Mark  gehabt 
hatten  und  nun  fast  wertlos  geworden  waren.  Als  der  Staats- 
anwalt eine  Gefängnisstrafe  von  drei  Wochen  wegen  Diebstahls 
beantragt  hatte,  erhob  der  Angeklagte  den  Einwand,  daß  er  doch 
unmöglich  wegen  Diebstahls  verurteilt  werden  könne,  denn  er 
habe  doch  nicht  die  Absicht  gehabt,  die  Kleider  zu  behalten. 
Nur  aus  Nachlässigkeit  habe  er  verabsäumt,  diese  rechtzeitig 
wieder  an  Ort  und  Stelle  zu  bringen.  Seiner  Ansicht  nach  könne 
er  nur  wegen  Sachbeschädigung  verurteilt  werden.  Der  Gerichts- 
hof trat  dieser  Ansicht  bei.  Es  liege  kein  Diebstahl,  sondern 
Sachbeschädigung  vor  und  deshalb  sei  der  Angeklagte  mit~einer 
Gefängnisstrafe  von  vier  Monaten  zu  belegen,  denn  seine  Hand- 
lungsweise erfordere  eine  strenge  Sühne.  (B.  Morgenpost.) 


Ein  Mannweib.  Das  Spital  Lariboisiere  in  Paris  beherbegt 
augenblicklich  einen  Patienten,  der  in  Männerkleidern  sich  zur 
Aufnahme  meldete,  als  Monsieur  Paul  ins  Aufnahmeregister  ein- 
getragen wurde,  sich  aber  alsbald  als  Weib  entpuppte.  Monsieur 
Paul  ist  von  Beruf  Fuhrmann.  Seit  Jahren  übt  er  dieses  Handwerk 
aus,  ohne  daß  je  irgend  jemand  hinter  ihm  ein  Weib  vermutet 
hätte.  Seine  Kollegen  versichern,  daß  er  die  Peitsche  schwingen 
kann,    wie    jeder    richtige   Fuhrmann,   und   auch    Fluchen   und 


—    1197    — 

Schimpfen  wie  ein  solcher.  Und  doch  ist  „Monsieur  Paul*  ein 
Weib,  allerdings  ein  Weib  von  riesigen  Körperformen,  groß  und 
stark  wie  ein  Mann  und  in  jeder  Beziehung  von  männlichem 
Charakter.  Ihre  ganze  Person  zeigt  männlichen  Habitus,  breite 
ausgearbeitete  Hände,  kräftigen  Biceps  und  einen  scharf  ge- 
schnittenen, trotz  des  Fehlens  des  Bartes  durchaus  männlichen 
Gesichtsausdruck.  Monsieur  Paul  ist  ein  Findelkind.  Von  braven 
Fuhrleuten  gefunden  und  angenommen,  hat  sie  ihre  ganze  Kindheit 
—  sie  ist  25  Jahre  alt  —  bei  den  Pferden  zugebracht.  Da  ihr  der 
Beruf  ihres  Adoptivvaters  gefiel,  hat  sie,  als  sie  ins  reife  Alter 
trat,  Männerkleider  angelegt  und  die  Peitsche  in  die  Hand  ge- 
nommen. Kein  Mensch  ahnte,  daß  der  junge  Fuhrmann  ein  Weib 
sei.  Im  Augenblick,  wo  sie  ins  Spital  eintreten  mußte,  war  sie 
bei  einem  der  größten  Pariser  Rollfuhrwerkunternehmer  bedienstet. 
Seitdem  ihr  wirkliches  Geschlecht  entdeckt  ist,  lebt  sie  in  steter 
Angst,  ihr  Lohnherr  werde  sie  nicht  mehr  zurücknehmen  wollen. 


17  Jahre  ein  Mädchen  und  dann  ein  —  Mann.  Dieses  selt- 
same Ereignis  trug  sich  in  Kratsch  (Schlesien)  zu.  Auf  dem 
dortigen  Dominium  diente  seit  längerer  Zeit  eine  Magd  Auguste  KL 
Kürzlich  wurde  sie  krank,  und  bei  dieser  Gelegenheit  stellte  der 
Arzt  fest,  das  „Auguste"  ein  männliches  Wesen  sei.  Die  Person 
ist  nach  dem  „Niederschi.  Anz."  armer  Leute  Kind  aus  dem 
Bunzlauer  Kreise  und  als  Knabe  auf  den  Namen  „August"  getauft 
worden.  Da  das  Kind  jedoch  zart  und  schwächlich  blieb,  wurde 
es  von  den  Eltern  als  Mädchen  groß  gezogen.  Als  die  Eltern 
starben,  kam  es  zur  Pflege  zu  einer  Verwandten.  Vor  der  Ein- 
segnung wurde  im  Taufregister  der  Name  „August"  in  „Auguste" 
umgeschrieben.  Später  vermietete  sich  das  angebliche  Mädchen 
als  Magd.  Jetzt  hat  der  Siebzehnjährige  die  Unaussprechlichen 
angezogen,  den  Namen  „August"  angenommen  und  dient  als 
Schäferknecht.  (Oberländer  Volksblatt.) 


Eine  bulgarische  Amazone.  Aus  Tirnowa  wird  der  „Frankf. 
Ztg."  geschrieben:  Auf  meiner  Rückreise  von  der  Schipka- Feier 
mußte  ich  mich  ungezwungenerweise  zwei  Tage  in  Grabovo  auf- 
halten, weil  es  dort  weder  Wagen  noch  Pferde  infolge  des 
großen  Bedarfs  für  das  Fest  augenblicklich  gab,  die  mich  die 
45  km  lange,  noch  eisenbahnlose  Strecke  nach  Tirnowa  hätten 
befördern  können.  Als  ich  endlich  einen  Wagen  erhalten  hatte 
und  eben  die  letzten  Abmachungen  mit  dem  Besitzer  traf,  betrat 


—    1198    — 

ein  Mann  das  Zimmer,  der  die  Kleidung  der  bulgarischen  Bauern 
trug,  und  an  dem  mir  außer  seinem  bartlosen  Gesichte  die  für 
einen  Bauern  außergewöhnlich  kleinen  Füße  auffielen.  Unter  der 
nationalen  Pelzmutze  schaute  kurzgeschnittenes  schwarzes  Haupt- 
haar hervor,  und  die  Brust  schmückte  eine  Reihe  von  Medaillen, 
die  für  die  Teilnahme  an  dem  russisch-türkischen  und  dem 
bulgarisch -serbischen  Kriege  verliehen  worden  waren.  Der 
Wagenbesitzer,  der  den  Ankömmling  als  einen  alten  Bekannten 
begrüßte,  raunte  mir  zu:  „Das  ist  kein  Mann,  sondern  eine  Frau." 
Nun  wurde  meine  Neugierde  rege,  und  ich  knüpfte  ein  Gespräch 
mit  der  interessanten  Person  an.  Sie  hieß  Ivanka  Marcova  und 
war  aus  Rula  bei  Widdin  gebürtig.  1877  war  sie,  als  Mann  ver- 
verkleidet, in  die  bulgarische  Legion  eingetreten  und  hatte  mit 
dieser  den  Schipkapaß  verteidigen  helfen,  weshalb  sie  jetzt  auch 
der  Schipka-Feier  als  Veteran  mit  beigewohnt  hatte.  Nach  dem 
Feldzuge  verheiratete  sie  sich  mit  einem  Bauern  ihres  Heimats- 
ortes. Als  aber  der  Krieg  mit  Serbien  ausbrach,  litt  es  sie  nicht 
länger  daheim.  Sie  lief  ihrem  Manne  davon  und  trat  wieder  in 
die  bulgarische  Armee  ein,  mit  der  sie  die  Schlacht  bei  Slivnitza 
mitmachte.  Ihr  Mann  ließ  sich  infolge  dieser  Extravaganz  von 
ihr  scheiden,  und  seitdem  trägt  sie  nur  Männerkleidung.  Ihr 
Gesicht  zeigt  angenehme  Formen,  doch  sind  die  Züge  hart,  und 
die  Haut  ist  von  vielen  Falten  durchfurcht.  Da  sie  darüber 
klagte,  daß  der  Stadtpräfekt  von  Grabovo  ihr  nur  1  Frank  Zehr- 
geld gegeben  habe,  der  doch  für  ihren  fünf  Tage  beanspruchenden 
Rückmarsch  nach  ihrem  Heimatsorte  nicht  ausreichend  sei,  so 
schenkte  ich  ihr  eine  Kleinigkeit,  wofür  sie  mir  in  freilich  un- 
militärischer Weise  die  Hand  küssen  wollte.    (Chariottenb.  Neue  ztg.) 


The  Male  Patti.  Chaque  soir  paratt,  ä  dix  heures,  sur  la 
sc&ne  des  Ambassadeurs,  une  chanteuse  amSricaine  qui,  succes- 
sivement  vetue  d'une  robe  de  bal,  de  la  mantille  espagnole  ou 
du  travesti,  sait  prendre  les  diverses  attitudes  cenvenables  — 
tour  ä  tour  hautaine,  souriante  ou  desemparSe.  Elle  a  une  belle 
voix  de  soprano,  qui  ne  serait  pas  deplacSe  sur  nos  premi&res 
sc&nes  Iyriques.  Elle  conalt  Part  des  roulades  et  nuance 
ingSnieusement  ses  intonations.  Elle  sait  etre  sentimentale, 
ardente,  effarSe,  suppliante,  dSdaigneuse,  attristee,  ou  ioveuse. 
Ses  gestes  traduisent  ces  multiples  6tats  de  Tarne  et  du  coeur 
avec  une  616gante  pröcision.  Vraiment,  c'est  une  artiste  ä  qui 
Ton  voudrait  un  public  moins  superficiel  que  celui  qui  dissipe 


—    1199    — 

son  temps  dans  les  music-halls.  Elle  a  eu  ce  public  ä  New- 
York  et  dans  toutes  les  grandes  villes  amGricaines,  lorsqu'elle 
remplit,  dans  im  opera  intitule  1492,  le  röle  de  la  reine  Isabelle. 
On  l'appela  ä  cette  occasion:  la  nouvelle  Patti.  Elle  eut  un 
grand  succ&s,  qui  la  suivit  ensuite,  dans  toutes  les  grandes  villes 
d'Europe,  oü  eile  se  ftt  entendre.  Peu  ä  peu,  un  bruit,  qui  se 
repandit,  contribua  a  augmenter  encore  ce  succfcs  par  le  mysfere 
qu'il  repandit  sur  la  personnalife  reelle  de  cette  chanteuse  enferite. 
Le  nom  meme,  sous  lequel  on  la  connaissait  —  Stuart  —  donnait 
de  la  consistance  ä  ce  bruit.  Un  manager  facGtieux  fit  pr6c£der 
et  suivre  ce  nom  de  deux  points  d'interrogation.  Nouvelle  päture 
ä  la  curiosite  ....  Mais  tout  se  sait  et  Ton  sut  .  .  .  .  On  sut 
que  dans  la  vie  civile,  en  dehors  des  planches,  Stuart  etait  un 
jeune  homme  ....  Mais  Ton  ne  sut  den  de  plus,  car  Stuart 
se  satisfait  d'atteindre  ä  la  notorfefe  —  il  ne  refuserait  point  la 
gloire  —  sous  la  forme  emprunfee  d'une  grande  artiste,  et  til 
tient  ä  n'etre,  dans  le  priv6,  et  sous  sa  forme  reelle  —  la  forme 
masculine  —  qu'un  brave  gar^on  —  tres  simple,  tr6s  doux,  d'une 
parfaite  correction  d'allure,  et  qui  n'a  que  deux  objets  pour  son 
amour:  sa  m£re,  comme  tout  homme  de  coeur,  et  l'argent,  comme 
un  Americain  qu'il  est.  Cest  de  sa  bouche  m£me  que  nous 
tenons  ce  trait  de  sa  personnalife.  Nous  sommes  dans  sa  löge, 
simple  chambre  blanchie  ä  la  chaux,  gclairee  de  becs  de  gaze. 
«Stuart»  est  assis  devant  sa  glace  et  il  se  prSoccupe  d'accroitre 
l'6clat  noir  de  ses  yeux.  Mlle  Blanche,  son  habilleuse,  ajoute 
ä  ses  cheveux  noirs,  qu'il  vient  de  peigner  en  bandeaux,  une 
nfeche  Strangfcre  pour  parfaire  Tillusion.  Et  eile  s'etonne  de  le 
sentir  si  difförent  de  son  entourage  et  indifferent  ä'  beaucoup  de 
petites  joies  qui  ont  du  prix  pour  ses  camarades.  —  O !  monsieur 
Stuart,  dit-elle,  il  n'aime  rien,  il  n'aime  personne.  —  O!  si, 
r6plique-t-il  .  .  .  ma  m6re  et  Targent.  Cest  qu'il  lui  doit  beau- 
coup ä  sa  m&re.  Comme  nous  lui  demandions  si  la  qualite 
feminine  de  sa  voix  £tait  acquise  ou  lui  £tait  naturelle,  il  nous 
rSpondit,  avec  un  grand  accent  de  conviction:  C'est  la  voix  de 
ma  mfcre;  e'etait  une  c6febre  chanteuse  italienne.  Elle  a  perdu 
sa  voix  quand  je  suis  n£.  A  ce  moment,  un  papillon  gris6  de 
lumtere,  heurte  le  mur  blanc.  Mlle  Blanche  veut  le  tuer.  Mais 
Stuart,  avec  une  mine  effray^e,  s'äcrie:  O!  mon  Dieu!  Faut  pas 
tuer!  Cest  nouvelle  pour  moi . . .,  nouvelle!  II  est  haletant  et 
il  suit  d'un  regard  inquiet  et  doux  le  papillon  sur  la  muraille, 
Puis,  soudain  rieur,  il  appelle  une  chanteuse  pui  sort  de  la  löge 


—    1200    — 

voisine.  —  Bianca,  Bianca,  venez  ici,  Bianca!  Et,  s'adresfcant  k 
nous:  Bon  camarade!  Bianca!  Bon  collegue.  Pas  jalouse.  O! 
plus  jalouse  comme  les  autres.  Et  bon  caract&re!  Une  drölerie 
...  et  Mlle  Biana  s'enfuit.  C'est  son  tour  de  chanter . . .  Aprfcs, 
ce  sera  celui  de  Stuart.  11  faut  se  häter.  —  Quelle  robe  on  va 
mettre  ce  soir  ä  monsieur?  la  rose?  la  blanche?  questionne  Mlle 
Blanche.  ~  Stuart  est  en  train  de  mettre  son  corset.  La  meta- 
morphose  s'accomplit.  —  La  jaune,  repond-il.  —  Et  le  voici, 
bientöt  apres,  vetu  a'une  luxueuse  robe  en  soie  paille  garnie  de 
tulle  bouton  d'or.  Une  guirlande  de  roses  rouges  descent  de 
l'6paule  gauche  et  va  se  perdre  dans  la  tulle.  Stuart  est  depout 
et  observe  reffet  de  son  maquillage  dans  une  glace  ä  main. 
Satisfait,  il  nous  tend  la  glace.  —  Un  cadeau,  dit-il.  Une  V6rite 
en  6tain,  de  Vibert.  Je  Tai  regu  hier  d'une  grande  artiste.  — 
II  nous  dit  un  nom,  mais  aussitöt:  Ne  le  dites  pas.  Des  cadeaux, 
j'en  reqols  tous  les  jours  —  et  il  nous  montre  ses  doigis  charges 
de  bagues  de  prix.  Mais  je  n'aime  pas  qu'on  parle  de  ces 
choses  ....  C'est  du  cabotinage ....  Parlez  de  ma  voix. 
J'aime  mieux!  Mlle  Blanche  a  disparu.  Elle  revient  avec  un 
verre  d'eau  fraiche.  Stuart  le  boit  d'un  trait.  —  C'est  tout  ce 
que  je  prends  avant  de  chanter.  11  faut  que  je  sois  ä  jeun.  Je 
dtne  ä  minuit.  —  Quelques  heures  aprfcs,  en  effet,  Stuart  est 
assis  dans  un  restaurant  de  nut.  A  voir  ce  jeune  homme 
simplement  v6tu,  quoique  avec  une  grande  correction,  on  ne  se 
doute  pas  qu'il  vient  de  s'exhiber  sur  les  planches  et  lorsqu'on 
s'entretient  avec  lui,  sa  conversation  empreinte  de  nai'vet6, 
d'Gmotion,  son  allure  discr&te,  tranche  avec  1'idSe  que  Ton  se 
fait  d'ordinafre  d'un  . . .  cabotin.  —  Quand  nous  quitterez-vous, 
monsieur  Stuart?  —  O!  bientöt,  r6pondit-il;  je  passe  tous  les 
et6s  ä  New-York  .  .  .  avec  maman.  (Le  Petit  Bleu  de  Paris.) 


Baltimore.  Er  war  eine  „Sie".  Bekleidet  mit  einem  netten 
schwarzen  Anzug,  zierlichen  Halbschuhen  und  einem  modischen 
Strohhut  wurde  heut  Morgen  „Herr  Herman  S.  Wood",  eigentlich 
Fräulein  Lola  A.  Sawyer,  im  Polizeigericht  vorgeführt.  Sie  soll 
unter  Vorspiegelung  falscher  Tatsachen  sich  Geld  verschafft 
haben.  Die  Angeklagte  wurde  bis  zu  einem  Verhör,  das  am 
nächsten  Mittwoch  stattfand,  festgehalten.  Sechs  Jahre  lang 
wußte  Fräulein  Sawyer  sich  als  Mann  auszugeben.  Sie 
spielte  ihre  Rolle  ausgezeichnet,  rauchte  Cigaretten,  beteiligte 
sich    an    männlichem    Sport,    kurz    Niemand    ahnte,    daß   sich 


—    1201    — 

unter  den  Herrenkleidern  ein  weibliches  Wesen  verbarg.  Erst 
durch  ihre  Heirat  mit  Frau  Ernestine  L.  Hauck,  einer  35  Jahre 
alten  Wittwe  mit  zwei  Kindern,  wurde  ihr  wirkliches  Geschlecht  ruch- 
bar. „Herr  Wood"  hatte  bei  der  Wittwe  mehrere  Monate  gewohnt 
und  vor  einer  Woche  fand  die  Hochzeit  des  sonderbaren  Paares 
statt.  Letzte  Nacht  erschien  die  jung  verheiratete  Wittib  ganz 
bestürzt  bei  dem  „Rev."  Anthony  Bilkousky,  welcher  die  Trauung 
vor  einer  Woche  vollzogen  hatte  und  erzählte  dem  Geistlichen, 
daß  ihr  Gatte  eigentlich  nicht  „der  Artikel"  sei,  den  sie  gesucht 
habe.  Der  angebliche  Mann  sei  entweder  geschlechtslos  oder 
ebenfalls  eine  Frau,  jedenfalls  nicht  so  beschaffen,  wie  ihr  ver- 
storbener Erster.  Der  Geistliche  setzte  den  Polizeikapitän  McGee 
in  Kenntnis,  welcher  heute  die  Wohnung  des  Paares,  No.  719  N. 
Eutaw  Str.,  besuchte.  Der  Pseudo-Gatte  behauptete  Anfangs  steif 
und  fest,  daß  er  ein  Mann  sei,  seine  Frau  wisse  nicht,  was  sie 
schwätze,  als  aber,  der  Polizeikapitän  schließlich  verfängliche 
Fragen  an  „Herrn  Wooda  richtete,  brach  diese  zusammen  und 
legte  das  Geständnis  ab,  daß  er  eigentlich  eine  „Sie"  sei  und 
Lola  A.  Sawyer  heiße.  Lola  stammt  aus  North  Carolina  und  ist 
22  Jahr  alt.  Vor  sechs  Jahren  will  sie  durch  ein  Betäubungsmittel 
besinnungslos  gemacht  und  dann  vergewaltigt  worden  sein.  Sie 
gab  einem  Kinde  das  Leben,  das  jetzt  ihre  Mutter  in  North 
Carolina  in. Gewahrsam  hat.  Um  ihre  Schande  zu  verbergen,  legte 
sie  Männerkleider  an  und  kam  nach  Baltimore.  Hier  hat  sie  in 
verschiedenen  Berufen  als  „Mann"  gearbeitet,  ohne  daß  in  Bezug 
auf  ihr  Geschlecht  Verdacht  geschöpft  worden  wäre.  Da  sie  der 
Wittib  während  der  Brautzeit  100  Strl.  entlockt  hat,  erfolgte  auf 
Grund  dessen  ihre  Verhaftung. 


Entdeckung  einer  Lasterhöhle.  Dem  Chef  des  Detektivkorps 
der  Budapester  Polizei  Dr.  Koloman  Krecsänyi  ist  es  gelungen, 
im  Hause  Tabakgasse  Nr.  36  eine  Lasterhöhle  zu  entdecken.  Es 
ist  dies  der  Kaffeeschank  des  Arpäd  Röna,  in  welchem  allabend- 
lich unsittliche  Orgien  gefeiert  wurden.  Die  mächtige  Firmatafel 
des  Kaffeeschanks  trägt  die  Aufschrift:  „Muster-Kaff eeschank  und 
Speisehalle".  Bei  der  Polizei  wurde  noch  im  Läufe  des  ver- 
flossenen Monats  die  Anzeige  erstattet,  daß  dieser  Kaffeeschank 
eigentlich  eine  Lasterhöhle  sei.  Die  Polizei  konstatierte  alsbald 
die  Richtigkeit  der  Anzeige.  Der  Kaffeeschank  hat  zwei  Zimmer. 
Das  erste  dient  als  Speiseraum,  das  zweite  ist  ein  Hofzimmer, 
welches  durch  eine  Glaswand  und  einen  Peluche-Vorhang  vom 


—    1202    — 

ersten  getrennt  ist.  Hier  hielten  sich  die  Stammgäste  auf,  junge 
Leute,  meist  vagierende  Handlungsgehilfen,  Raseurgehilfen,  Zigeuner- 
musikanten etc.,  und  ältere  Herren,  von  denen  einige  sogar  im 
öffentlichen  Leben  eine  Rolle  spielen  sollen.  Diese  Gesellschaft 
der  „Eingeweihten"  hielt  sich  stets  im  zweiten,  verhängten  Zimmer 
auf,  und  wenn  ein  Fremder  dasselbe  betreten  wollte,  so  verstellte 
ihm  der  Cafötier  mit  den  Worten  den  Weg:  „Pardon,  drinnen 
hält  eine  geschlossene  Gesellschaft  ihre  Sitzung!"  Die  polizeiliche 
Beobachtung  eruierte  die  eigentliche  Natur  der  „geschlossenen 
Gesellschaft".  Die  Männer  nennen  sich  alle  mit  Mädchennamen. 
Der  Kellner  hieß  „Niobe",  während  der  CafGtier  den  klangvollen 
Namen  „Koronäs  Aranka"  trug.  Die  Übrigen  hießen:  Trilby, 
Ibolyka,  Melanie,  Bin,  Beatrix,  Pr6mes  Zsuzsi,  Idue,  Czigäny 
Aranka,  Margit  etc.  Es  wurden  häufig  Teeabende  veranstaltet. 
Bei  solchen  Anlässen  wurde  der  $chank  geschlossen,  damit  die 
Orgien  nicht  gestört  würden.  Die  jungen  Leute  zogen  Frauen- 
kleider an,  schminkten  und  parfümierten  sich,  und  es  wurde  bis 
in  den  späten  Morgen  getanzt.  Einem  Detektiv  gelang  es,  sich 
in  die  Gesellschaft  einzuschleichen,  wo  er  den  Namen  „Ella" 
erhielt.  Der  Kellner,  „Fräulein  Niobe",  gab  den  neuen  Mitgliedern 
Unterricht.  Samstag  Nachts  versammelte  sich  die  Gesellschaft 
wieder  zu  einer  Soiree.  Das  Hofzimmer  wurde  mit  Blumen- 
guirlanden  geschmückt  und  die  jungen  Leute  legten  ihre  schönsten 
Damenkleider  an.  Als  die  Gesellschaft  beisammen  war,  drangen 
die  Detektivs  durch  die  Hoftür  in  den  Raum,  wo  gerade  ein 
Coupletvortrag  der  Niobe  auf  dem  Programm  stand.  Die  Polizei 
verhaftete  acht  junge  Leute  und  überführte  sie  zur  Stadthauptmann- 
schaft des  VII.  Bezirks.  Sechs  alte  Herren,  zur  Ausweisleistung 
aufgefordert,  legitimierten  sich.  Die  Polizei  erstattete  der  Staats- 
anwaltschaft über  den  Fall  Bericht,  gegen  den  Cafetier  wurde  die 
Strafuntersuchung  eingeleitet.  Zugleich  wurde  die  Bezirksvor- 
stehung  ersucht,  demselben  die  Gewerbelizenz  zu  entziehen. 

(Neues  Pester  Journal.) 

Eine  Lasterhöhle.  Vor  dem  Strafbezirksgericht  kam  die 
Angelegenheit  des  „Muster-Kaffeeschanks"  (Minta-käv6csarnok)  in 
.der  Tabakgasse  zur  Verhandlung,  in  welchem  die  Polizei  im 
heurigen  Frühjahr  unsittlichen  Umtrieben  auf  die  Spur  kam.  Es 
waren  dreizehn  Angeklagte  vorgeladen,  die  ohne  Ausnahme  leug- 
neten, irgend  etwas  Strafbares  auch  nur  gesehen  zu  haben.  Inter- 
essant war  der  Bericht  Koloman  SzakälTs,  der  Rechtshörer  und 


—     1203    — 

gleichzeitig  Angestellter  der  Detektivabteilung  ist.  Szakäll  gab  zu 
Protokoll,  daß  er,  um  das  Treiben  in  jenem  Cafe  aufzudecken, 
eine  zeitlang  allabendlich  in  jenem  Cafe  erschienen  sei  und  be- 
müht war,  das  Vertrauen  der  betreffenden  Gesellschaft  zu  ge- 
winnen, was  ihm  nach  einiger  Zeit  auch  gelang.  Er  habe  zwar 
allerlei  sehr  Verdächtiges  gemerkt,  sei  jedoch  niemals  Zeuge 
eines  wirklichen  Vergehens  gewesen.  Es  entspann  sich  nun  eine 
erregte  Debatte  zwischen  dem  Verteidiger  Dr.  Alexander  Vaiß 
und  dem  staatsanwaltlichen  Bevollmächtigten  Dr.  Gölz.  Dr.  Vaiß 
hielt  nämlich  die  Eigenschaft  Koloman  Szakäll's  als  Rechtshörer 
unvereinbar  mit  seiner  Detektivtätigkeit  und  beantragte,  daß  von 
der  Mitwirkung  Szakäll's  in  dem  vorliegenden  Prozeß  dem  Univer- 
sitätsrektor Mitteilung  gemacht  werde.  Nachdem  der  staats- 
anwaltschaftliche Bevollmächtigte  hierauf  nicht  eingehen  wollte, 
erklärte  Dr.  Vaiß  die  Anklage  als  unbegründet  und  bat  um  ein 
freisprechendes  Urteil.  Diesem  Verlangen  wurde  auch  entsprochen 
und  die  Angeklagten  freigesprochen.  (Neues  Pester  Journal.) 


Eine  eigentümliche  Entdeckung  wurde  dieser  Tage  in  Paris 
gemacht.  Dort  hat  ein  Original  das  Zeitliche  gesegnet,  nicht 
ohne,  seinem  sonderbaren  Charakter  entsprechend,  der  Welt  eine 
originelle  Überraschung  zu  hinterlassen.  Der  Bureaudiener 
Marius  ist  gestorben,  eine  bescheidene,  witzige  und  allen  Pariser 
Journalisten  bekannte  Persönlichkeit,  die  in  den  meisten  Zeitungs- 
redaktionen der  Hauptstadt  ein-  und  ausging.  Marius  war  klein 
und  bartlos;  man  war  stets  über  sein  Alter  im  Zweifel,  wenn 
man  ihn  sah.  Der  ehemalige  Kammerpräsident  Burdeau  brachte 
ihn  in  der  Redaktion  des  „Soir"  als  Bureaudiener  unter.  Dann 
kam  er  am  Ev£cle  an.  Zuletzt  diente  Marius  bei  der  Sport- 
zeitung Auteuil  -  Longchamps.  Gestern  fand  man  ihn  tot  in 
seinem  Bette.  Man  glaubte  erst  an  einen  Selbstmord,  wozu  man 
bei  der  Eigenart  des  Verblichenen  nicht  unberechtigt  war.  Aber 
der  Gerichtsarzt  stellte  fest,  daß  Marius  im  Alter  von  62  Jahren 
eines  ganz  natürlichen  Todes  gestorben  sei,  und  hierbei  kam  er 
auf  die  unerwartete  Entdeckung:    Marius  war  eine  Frau! 

(Charl.  Neue  Zeitung.) 

Ein  Mann  als  —  Jungfrau  von  Orleans.  Ein  neues  Reiz- 
mittel für  Theaterbesucher  glaubt  der  St.  Petersburger  Schauspieler 
Glagolin  gefunden  zu  haben,  der  für  die  nächste  Zeit  sein  Auf- 
treten  als  —  Jungfrau   von   Orleans  ankündigt  und  sein  Vor- 

Jahrbuch  V.  76 


—     1204    — 

haben  eingehend  begründet.  Es  bedürfe  keines  weiblichen 
Künstlers,  um  die  Kriegerin  von  Orleans  zu  verkörpern.  Auch 
ein  Schauspieler,  sofern  er  ein  wirklicher  Künstler  sei,  könne 
ohne  Beeinträchtigung  der  Wirkung  die  Rolle  spielen.  Sarah 
Bernhardt,  die  die  Kunst  der  Hosenrollen  auf  ihre  höchste  Höhe 
und  zum  Selbstzweck  geführt  hat,  fand  also  ihren  Meister. 

(Berliner  Morgenpost.) 

Brüssel.  Ein  ganz  sonderbarer  Fall  beschäftigte  das  hiesige 
Civilgericht.  Die  18jährige  Marianne  Z.  aus  Bouchout  war  dieses 
Jahr  vom  Lande  nach  Brüssel  gekommen  und  hatte  im  Großstadt- 
leben erkannt,  daß  sie  die  Weiberröcke  zu  Unrecht  trug.  Sie 
tauschte  sie  daher  mit  der  Kleidung  des  stärkern  Geschlechts  um. 
Alsbald  aber  wurde  sie  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  es  dazu 
gewisser  Förmlichkeiten  bedürfe.  Sie  beauftragte  daher  mit  diesen 
einen  Rechtsbeistand,  und  das  Gericht  sprach  ihr  mit  reichlicher 
Begründung  vorgestern  das  Recht  zu,  auch  ferner  in  Männer- 
kleidern anzutreten.  Wie  der  Irrtum  auf  dem  Standesamt  in 
Bouchout  entstanden  ist,  muß  noch  ermittelt  werden.  Die  Eltern 
des  zum  jungen  Manne  gewordenen  Mädchens  können  wegen 
Verjährung  der  Sache  nicht  mehr  belangt  werden.      (Köln.  Zeit.) 


Die  gefälschte  Rieke.  Eine  merkwürdige,  aber  wahre  Ge- 
schichte hat  sich  im  Südwesten  Berlins  zugetragen.  Die  dort 
wohnende  Witwe  R.  suchte  eine  Auf  Wärterin.  Noch  am  selben 
Tage  stellte  sich  eine  jugendliche  Maid  vor,  die,  obwohl  sie 
sogenannte  Titusfrisur  trug,  wegen  ihres  angenehmen  Auftretens 
angenommen  wurde.  Sie  ließ  sich  Rieke  rufen,  machte  alles, 
selbst  die  Wäsche,  zur  vollsten  Zufriedenheit  und  hatte  nur  den 
einen  Fehler,  daß  sie  mit  Zimmerherren  der  Frau  R.  anbändelte. 
So  ging  das  mehrere  Wochen  weiter,  bis  der  eine  Mieter  ver- 
traulich erklärte,  daß  er  bestimmt  glaube,  überhaupt  kein  Mädchen 
vor  sich  zu  haben.  Ein  Zufall  kam  der  Erfüllung  des  Geheim- 
nisses zu  Hilfe.  Rieke,  die  nicht  bei  Frau  R.  schlief,  erzählte 
nämlich,  daß  sie  zum  Maskenball  gehe  "wolle,  und  war  auf  aus- 
gesprochenen Wunsch  bereit,  sich  in  ihrem  Kostüm  zu  präsentieren. 
Als  das  in  ziemlich  leicht  geschürztem  Kleide  geschah,  sagte  man 
ihr  auf  den  Kopf  zu,  daß  sie  gar  kein  Mädchen  sei.  So  war  es 
in  der  Tat.  Der  verkappte  junge  Mann  tat  gar  nicht  beleidigt, 
gab  lachend  sein  Geheimnis  preis  und  meinte,  daß  er  das 
Experiment  nur  unternommen  habe,  weil  er  in  seinem  Berufe  als 


—     1205    — 

Maler  absolut  keine  Arbeit  finden  konnte.    Natürlich  wurde  der 
talentvolle   Jüngling    in   Weiberkleidern    sofort    an    die    frische 

Luft  gesetzt.  (Charl.  Neue  Zeit.) 

Der  erste  weibliche  Romeo.  Alles  schon  dagewesen!  Sarah 
Bernhardts  unlängst  verkündete  Absicht,  den  Romeo  zu  spielen, 
die  so  großes  Aufsehen  erregte,  hat  auch  nicht  mehr  den  Vorzug 
der  Originalität.  Die  Saturday  Review  erinnert  an  einen  heute 
längst  vergessenen  weiblichen  Romeo.  Um  die  Mitte  des  19. 
Jahrhunderts  erregte  der  Romeo  der  Charlotte  Cushman  großes 
Aufsehen.  Die  Kritik  und  das  Publikum  waren  einig  über  den 
glänzenden  Erfolg.  Die  mutige  Schauspielerin  war  eine  Ameri- 
kanerin. Sie  war  in  Boston  geboren,  wurde  zuerst  zur  Opern- 
sängerin ausgebildet,  wandte  sich  dann  aber  dem  Schauspiel  zu 
und  hatte  ihre  ersten  großen  dramatischen  Erfolge  in  London. 
Ihre  Glanzrollen  waren  die  Lady  Macbeth,  Kardinal  Wolsley  und 
Romeo.  Ihre  erste  Romeodarstellung  fand  im  Haymarket  im 
Jahre  1846  statt.  Die  Schwester  der  Charlotte  Cushman  war 
ihre  Partnerin  als  Julia.  Über  die  Aufführung  schrieb  ein  an- 
gesehener englischer  Kritiker:  „Es  war  ein  ungewöhnlicher 
Triumph,  Romeo  gab  ihrer  Leidenschaftlichkeit  und  der  männ- 
lichen Kraft  ihres  Stiles  freie  Hand.  Als  Liebhaber  übertraf  sie 
in  der  Glut  der  Liebe  alle  männlichen  Schauspieler,  die  ich  in 
dieser  Rolle  gesehen  habe.  In  der  Szene  mit  dem  Mönch  über- 
traf sie  Charles  Kean.  Alles  Übertriebene  und  Unvernünftige  in 
Romeos  Verhalten  war  vergessen  in  der  Glut  seiner  Liebe,  und 
das  Publikum-  wurde  zu  der  stürmischsten  Erregung  hingerissen." 


Ein  Rätsel.  Die  in  Kiew  erscheinenden  Blätter  teilen  einen 
rätselhaften  Vorfall  mit.  In  der  Glasfabrik  in  Boguslawka  war 
ein  junger  Pole  Namens  Vincenz  Szuljakowski  als  Packmeister 
angestellt,  der  sich  in  der  ganzen  Gegend  großer  Beliebtheit 
erfreute.  Am  27.  Mai  1901  vermählte  er  sich  mit  einer  jungen 
Landsmännin,  einem  Fräulein  Szygielska  aus  Congreßpolen,  und 
dem  in  glücklichster  Ehe  lebenden  Paare  wurde  ein  reizendes 
Knäblein  geboren.  Vor  einigen  Tagen  nun  machte  Vincenz 
Szuljakowski  zu  Pferde  einen  Weg  in  den  nächsten  Ort,  wobei 
er  von  dem  scheugewordenen  Tier  aus  dem  Sattel  geworfen 
und  eine  lange  Strecke  am  Boden  geschleift  wurde.  Schwer  ver- 
wundet und  bewußtlos  wurde  er  in  den  nächsten  Edelhof  gebracht 
und  ein  Consilium  von  vier  Ärzten  an  sein  Krankenlager  berufen, 

76* 


—    1206    — 

wobei  sämtliche  vier  Ärzte  zu  ihrer  größten  Überraschung 
konstatierten,  daß  der  vor  ihnen  liegende  junge  Ehemann  —  eine 
Frau  ist.  Der  Vorfall,  der  bis  zur  Stunde  noch  nicht  aufgeklärt 
ist,  wurde  der  Behörde  zur  Anzeige  gebracht. 


Elbing.  („Herr  Pieske".)  Am  Sonntag  wurde  hier  ein  „Mann" 
festgenommen,  der  sich  Martin  Pieske  nannte.  Er  wurde  später 
wieder  freigegeben.  Wie  sich  nun  herausgestellt  haben  soll,  ist 
die  Person  kein  Mann,  sondern  eine  Frau  Marta  Pieske.  Es  ist 
wahrscheinlich,  so  schreibt  die  „Elb.  Ztg.a,  jenes  Mannweib,  das 
in  Westpreußen  schon  sehr  viel  von  sich  reden  gemacht  hat. 
Sie  war  die  Frau  eines  Offiziers  und  Großgrundbesitzers,  der 
früher  im  Kreise  Pr.-Stargard  ansässig  war,  aber  durch  die  tollen 
Streiche  seiner  Frau  von  der  Scholle  vertrieben  wurde.  Frau 
Pieske  hatte  von  jeher  eine  besondere  Vorliebe  für  Hosenrollen. 
Ihre  pikanten  Abenteuer  haben  in  Danzig  und  in  der  Provinz 
viel  Gesprächsstoff  geliefert,  aber  sie  auch  mit  dem  Strafgesetz 
wiederholt  in  Widerspruch  gebracht.  Als  dann  gar  noch  das 
Geld  ausging,  sank  Frau  Pieske  mehr  und  mehr  und  kam  ins 
Gefängnis  und  Zuchthaus.  Nach  einem  schwer  bewegten  Leben 
fand  man  sie  auf  einem  Dorfe  wieder.  Sie  war  einem  Bauern 
monatelang  ein  treu  ergebener  und  fleißiger  Knecht  gewesen, 
als  sie  es  sich,  gelüsten  ließ,  ihre  Kunstfertigkeit  auf  dem  Klavier 
zum  besten  zu  geben.  Dadurch  erweckte  sie  Verdacht,  und  die 
Folge  war  ein  weiteres  Umherirren.  „Herr  Pieske"  scheint 
übrigens  am  Ende  seiner  wechselvollen  Laufbahn  angelangt  zu 
sein.  Was  er  seinen  Kräften  zumutete,  war  mehr,  als  sie  aus- 
zuhalten vermochte.  Der  Todeskeim  soll  bedenklich  an  ihm 
nagen.  Das  Mannweib,  das  sein  wirkliches  Geschlecht  geschickt 
zu  verbergen  weiß  bei  den  vielen  Leibesuntersuchungen,  die  es 
über  sich  ergehen  lassen  muß  —  u.  a.  verlangt  jede  bessere 
Herberge  von  zweifelhaften  Personen  eine  gründliche  Untersuchung, 
damit  Ungeziefer  ferngehalten  wird  —  dürfte  keine  geborene 
Verbrechernatur  sein.  Erst  handelte  es  aus  Obermut  und  dann, 
als  es  sich  auf  abschüssiger  Bahn  befand,  aus  Not. 


„Herr  Pieske",  das  bekannte  Mannweib,  das  im  Januar  in 
Elbing  seine  Gastrollen  gab,  stellte  sich  heute  in  Männerkleidern 
und  Schirmmütze  der  Elbinger  Strafkammer  vor.  Marta  Pieske 
ist  am  23.  Mai  1860  als  Tochter  des  Rittergutsbesitzers  Gronert 
zu  Gellnitz  (Kreis  Berent)  geboren  und  hat  ein  bewegtes  Leben 


-     1207    — 

hinter  sich.  Ihre  Eltern  sind  gestorben,  ebenso  ihr  Ehemann 
der  Gutsbesitzer  Oskar  Pieske,  von  dem  sie  geschieden  war. 
Frau  Pieske  erklärte,  daß  sie  im  Elternhause  als  Knabe  erzogen 
worden  ist.  Sie  hat  viele  Tage  ihres  Lebens  Qefängniskost 
genossen.  U.  a.  hat  sie  wegen  Diebstahls  zwei  Jahre  und  wegen 
Betruges  drei  Jahre  Zuchthaus  verbüßt.  Am  26.  März  ist  Frau 
Pieske  von  der  Danziger  Strafkammer  wegen  verschiedener  Be- 
trügereien, die  sie  in  Danzig  und  Pr.  Stargard  verübt  hat,  zu  3 
Jahren  Zuchthaus  verurteilt  worden.  Wir  haben  damals  über 
„Herrn  Pieske"  und  seinen  abwechselungsreichen  Lebenslauf 
Näheres  erzählt.  Bevor  „Herr  Pieske"  nach  Elbing  kam,  war  er 
vom  16.  September  bis  Januar  d.  Js.  bei  Herrn  Fabian  in  Kalthof 
als  Knecht  tätig  gewesen.  Weil  dessen  Besitzung  niederbrannte, 
verlor  „Herr  Pieske"  seine  Stellung  und  geriet  aus  Not  wieder 
auf  die  Bahn  des  Verbrechens.  Unsern  Lesern  sind  die  Taten 
des  „Herrn  Pieske",  der  sich  unter  allerlei  märchenhaften  Er- 
zählungen bei  dem  Schuhmacher  Friedrich  Mater  (Äuß.  Mühlen- 
damm) Unterkunft  zu  verschaffen  wußte,  gewiß  noch  in  Erinnerung. 
Am  21.  Januar  besuchte  Pieske  den  Schuhmacher  Franz  Hoff- 
mann, um  auch  diesen  mit  Bezug  auf  die  vermeintliche  reiche 
Erbschaft  zur  Hergabe  von  Essen  und  Nachtquartier  zu  bestimmen. 
Hoffmann  hat  sich  über  den  Verbleib  der  Erbschaft  sehr  ab- 
gemüht, hat  aber  nichts  erfahren  können.  Die  Gerichtsverhandlung 
gestaltete  sich  sehr  amüsant,  selbst  die  sonst  so  ernsten  Richter 
konnten  ein  Lächeln  nicht  unterdrücken.  „Herr  Pieske"  bekam 
eine  Zusatzstrafe  von  1  Jahr  Zuchthaus  und  150  Mark  Geldstrafe 
oder  20  weitere  Tage  Zuchthaus  zudiktiert. 


Kischinew.  Eine  verkleidete  Dame  mit  Gymnasialbildung 
als  Eisenbahnarbeiter.  Wie  dem  „Kiewljanin"  aus  Kischinew  ge- 
schrieben wird,  wurde  dieser  Tage  auf  einer  Station  der  Südwest- 
bahnen die  abenteuerliche  Laufbahn  eines  „Wächters"  aufgedeckt. 
Vor  ungefähr  vier  Jahren  trat  in  den  Dienst  der  Südwestbahnen 
als  gewöhnlicher  Arbeiter  ein  junger,  hübscher  Bursche,  der  sich 
Alexander  R— ski  nannte.  Er  arbeitete  in  einer  Artel  und  lebte 
mit  den  Mitgliedern  der  Artel  in  den  gemeinschaftlichen  Kasernen 
und  teilte  alle  Beschwerden  des  Dienstes  mit  seinen  Kameraden. 
Durch  seinen  Fleiß  und  seine  Anstelligkeit  erwarb  sich  R— ski  in 
kurzer  Zeit  das  Vertrauen  und  die  Achtung  seiner  Vorgesetzten, 
die  ihm  bald  einen  Aufseherposten  einräumten.  Auch  in  dieser 
Stellung  kam  R— ski  in  vorbildlicher  Weise  seinen  Verpflichtungen 


—     1208    — 

nach  und  avancierte  nach  einem  Jahre  auf  einen  höheren  Posten, 
durch  den  er  eine  Vertrauensstellung  einnahm.  Zum  Erstaunen 
aller  Bekannten  des  vermeintlichen  jungen  Mannes  stellte  sich 
nun  vor  einigen  Tagen  heraus,  daß  sich  unter  der  einfachen 
Kleidung  des  Oberaufsehers  eine  Dame  verbarg  —  die  Tochter 
eines  Gouvernements-Sekretärs  Namens  Alexandra  Alexandrowna 
R— skaja;  sie  hatte  den  vollen  Kursus  eines  Mädchengymnasiums 
absolviert  und  dabei  eine  Prüfung  in  der  lateinischen  Sprache 
bestanden,  durch  die  sie  das  Recht  erhalten  hatte,  in  das 
Medizinische  Institut  für  Frauen  zu  treten.  Nach  Absolvierung 
des  Gymnasiums  bekleidete  Frl.  R.  längere  Zeit  den  Posten  einer 
Lehrerin  an  einer  Landschaftsschule  und  verschwand  dort  eines 
Tages  völlig  spurlos.  Da  alle  Nachforschungen  erfolglos  ver- 
liefen, glaubte  man  allgemein,  daß  die  Lehrerin  verunglückt  sei. 
Gegenwärtig  hat  sich  der  Eisenbahnarbeiter  wieder  in  eine  Dame 
verwandelt  und  wird  sich  wohl  für  die  Metamorphosen  vor  Gericht 
zu  verantworten  haben.  Das  russische  Blatt  betont  nachdrücklich 
die  Wahrheit  des  Mitgeteilten  und  erwähnt  noch  zum  Schluß,  daß 
die  junge  Dame  durch  Familienverhältnisse  unglücklichster  Art 
zu  ihrem  mehr  als  originellen  Schritte  veranlaßt  worden  ist. 

(Lodzer  Zeitung.) 

Der  Wasserseppli.  Im  Schwarzwald  lebt  ein  Original,  das 
außerhalb  der  Amtsbezirke  Triberg  und  Waldkirch  wenig  bekannt 
geworden  ist,  von  dem  aber  mancher  mit  Interesse  hören  wird: 
der  Wasser-  oder  Marketenderseppli.  Droben  auf  den  Höhen  des 
Walds,  in  der  Gegend  seiner  Heimat,  Niederwasser  im  Amt  Triberg, 
nicht  nur,  sondern  im  ganzen  Tale  der  Elz,  von  deren  Ursprung 
bis  zum  Dorfe  Buchholz  unterhalb  Waldkirch,  im  Simonswälder 
und  im  Glottertal,  ist  er  gut  bekannt  und  auf  allen  Höfen  gern 
gelitten.  Josef  Weber,  so  heißt  der  Mann,  der  der  Glücklichste 
weit  umher  ist  —  er  fällt  schon  auf  durch  sein  Gewand  und  sein 
eigenartiges  Gebahren.  Bei  der  Arbeit  trägt  er  sich  vollständig 
wie  eine  Frau.  Man  meint,  eine  Bauernmagd  aus  der  Gegend 
seiner  Heimat  vor  sich  zu  haben.  Wandelt  er  auf  der  Straße,  so 
ist  er  dessen  nicht  zufrieden;  eine  blaue  Zwilchhose,  weit  genug, 
hat  er  über  den  Rock  her  angezogen.  Frauenstrohhut  und  Frauen- 
kittel fehlen  indessen  auch  da  nicht.  Einen  blauen  großen  Zwilch- 
sack, den  er  halbteilig  über  die  Achsel  hängt,  führt  er  dann  stets 
mit  sich.  Wenig  Male  trägt  er  Schuhe,  fast  immer  ist  er  barfuß. 
Aus  seinem  starkknochigen,  runzeligen,  sonnverbrannten  Antlitz 


—    1209    — 

strahlt  unendliche  Zufriedenheit  und  Sorglosigkeit.  Große  runde 
Ohrringe  sollen  sein  Haupt  verschönen.  Seine  Stimme  ist  nicht 
die  eines  Manns,  noch  eines  Weibs;  sie  ist  ein  Zwitterding 
zwischen  beiden,  aus  welchem  Umstand  und  seiner  Vorliebe  zu 
Frauenkleidern  manche  schließen,  daß  er  weder  Weib  noch  Mann 
sei.  Der  Wasserseppli  ist  geboren  im  Jahre  1834.  Der  Schule 
entlassen,  zog  er  von  der  Höhe  seiner  Heimat  herab  durch  die 
Täler  des  Schwarzwalds,  das  Elztal,  Glotter-  und  Simonswälder- 
tal. Die  Wanderlust  hatte  ihn  mit  einem  Male  so  ergriffen,  daß 
er  es  in  der  Folgezeit  an  einem  „Platz"  mehr  wie  eine  Woche 
nicht  mehr  aushielt.  Und  seit  jener  Zeit  wandert  der  Seppli 
umher.  Ein  paar  Tage  sägt  er  Holz,  dann  wandert  er  wieder  ein 
wenig,  um  dann  wieder  kurze  Zeit  Holz  zu  sägen.  Wenn  er  bei 
der  Arbeit  ist,  so  waltet  er  fleißig  und  eifrig  seines  Amts.  Die 
Leute  bewirten  ihn  zum  Zeichen  ihrer  Zufriedenheit,  allerdings 
oft  auch  aus  Mitleid,  mit  seinem  liebsten  Genußmittel  auf  dieser 
Erden,  dem  Kaffee;  Wein  und  Bier  verschmäht  der  Seppli.  Und 
trotzdem  er  schon  so  viele  Jahre  wandert,  hat  man  noch  nicht 
gehört,  daß  er  Kaffee,  noch  sonst  etwas  gebettelt  hätte;  er  nimmt 
mit  Freuden,  was  man  ihm  gibt,  aber  zum  „Heischen"  gibt  er 
sich  nicht  herab,  wie  man  ihm  auch  nicht  nachsagen  kann,  daß 
er  seiner  Heimatsgemeinde  auch  nur  einen  Pfennig  Kosten  gemacht 
hätte.  Der  Seppli  hat  von  seinem  Vater  ein  stark  ausgeprägtes 
Rechtsgefühl  überkommen.  Man  hat  noch  nie  erfahren,  daß  er 
irgendwo  etwas  entwendet  oder  Jemand  sonst  etwas  zu  Leid  getan 
hätte.  Dagegen  ist  er  oft  schon  bei  seiner  Arbeit  auf  den  Höfen 
in  hohem  Maße  aufgebracht  worden,  wenn  er  sich  in  seinem 
Rechte  verletzt  glaubte,  grad  wie  sein  Vater,  der  sich  dann  in 
diesem  Stadium  durch  einen  „Kreuzsackrä"  Luft  machte  und  der 
deshalb  auch  hie  und  da  „Kreuzsackrä"  genannt  wurde.  Der 
Seppli  denkt  eben :  Recht  wider  Recht.  Leute,  die  ihm  freundlich 
begegnen  und  insbesondere  ihn  mit  „Seppli"  anreden,  hält  er  für 
brave,  redliche  Leut;  solche,  welche  nicht  freundlich  mit  ihm  ver- 
kehren, hält  er  für  bös  und  bleibt  ihnen  gegenüber  verstockt. 
Stadtleute  liebt  er  nicht,  ist  höchst  mißtrauisch  gegen  sie  und 
nur  mit  Unbehagen  spricht  er  mit  ihnen,  während  alle  Kinder 
seine  Freunde  und  Vertrauten  sind.  Auf  seinen  Zügen  durch  die 
Dörfer  begleiten  ihn  die  letzteren  scharenweise,  und  da  hat  er 
Arbeit  genüg,  jedem  Red  und  Antwort  zu  geben.  Die  Diener  von 
der  heiligen  Hermandad  fürchtet  er,  weil  ihn  einmal  einer,  der  ihn 
nicht  kannte,  „für  ins  Hüsle"  mitgenommen  hat.    Glücklicherweise 


—    1210    — 

aber  durfte  der  Seppli  alsbald  wieder  ins  Freie.  Im  Übrigen  ist 
er  mit  den  Ordnungswächtern  noch  alleweil  gut  ausgekommen, 
weil  er  niemand  behelligt  und  auch  niemand  Ärgernis  an  ihm 
nimmt.  Jedesmal,  wenn  er  in  seinen  Geburtsort  kommt,  zeigt  sich 
ein  schöner  Zug  seines  Gemüts.    Er  versäumt  nie,  dort  auf  den 


Wasserseppli  als  Mann  auf  der  Wanderschaft. 


Friedhof  zu  gehen  und  das  Grab  seiner  Mutter  aufzusuchen. 
Sonst  geht  er  jeden  Sonntag,  sei  er,  wo  er  wolle,  in  den  Gottes- 
dienst. Der  Seppli  hat  überhaupt  ein  weiches  Herz  und  eine 
große  Anhänglichkeit  an  seine  Bekannten  ist  ihm  eigen.  Als  ihm 
der  Erzähler  seiner  Zeit  die  Neuigkeit  brachte,  Altbürgermeister 


—    1211    — 

und  Landtagsabgeordneter  Blattmann  im  Glottertal  sei  auch  ge- 
storben —  16.  Juli  1901  —  da  ergriff  es  den  Seppli  sehr  und 
weinerlich  ließ  er  sich  aus:  „So,  so,  de  Burgermeister  isch  gstor- 
bet;  a  wa,  i  hane  guat  kennt.  Wenns  mers  nu  au  gestert 
z'Buechholz  scho  gsait  hätta  —  i  bi  bi  der  große  Greth  und  bim 


Wasserseppli  als  Frau  bei  der  Arbeit. 


Vogtsbur  gsi  —  so  war  i  gwiß  a  d'Lücht.  I  hane  fescht  gern 
gha  un  han  scho  viel  Kaffee  trunka  beim  Bürgermeister.  Des 
isch  mer  jetzt  net  recht". 

(A.  d.  Monatsbl.  d.  Bad.  «Seh warzwald Vereins  von  Josef  Ruf- Waldkirch.) 


—    1212    — 

Martee  ä  une  femme.  Mme  Ernestine  E.  Ranck  s'est  martee 
ily  a  quelques  semaines.  Le  manage  a  6t6  cel6br£  ä  Baltimore. 
Jusqu'ici  rien  d'extraordinaire;  car  on  se  marie  tous  les  jours  ä 
Baltimore.  Mais  oü  la  chose  devient  peu  ordinaire  c'est  que  le 
marie  etait  une  femme,  Lotta  Sawyer.  Miß  Sawyer  porte  des 
v£tements  masculins  depuis  plusieurs  annees  dejä.  Mme  Rank, 
d6s  qu'elle  s'est  apercue  de  la  supercherie,  a  d6pos6  une  de- 
mande  en  annulation  de  mariage.  Le  juge  Wright  a  sign6  un 
ordre  pour  que  cette  affaire  soit  jug£e  par  les  tribunaux.  Dans 
sa  demande,  Mme  Ranck  declare  qu'elle  est  veuve,  a  des  enfants 
et  a  6te  martee  ä  Lydia  Sawyer  le  15  juin  dernier  par  le  räverend 
Anthony  Bilkowsky,  et  que  ce  n'est  que  deux  jours  apr&s  la 
c6r6monie  qu'elle  a  decouvert  que  son  mari  etait  une  femme. 
Mme  Ranck  ajoute  dans  sa  demande  que  Paccus6  aavoue  l'avoir 
tromp6e.  Cette  demande  est  faite  contre  Lotta  A.  Sawyer  ou 
Lydia  Lotta  Sawyer,  connue  sous  le  nom  d'Hermann  G.  Wood. 
Un  cas  semblable  ne  s'est  jamais  präsente  devant  les  juges  et  le 
code  est  muet  en  ce  qui  touche   un   mariage  entre   deux  per- 

SOnneS  du  mßme  sexe.  (La  Fronde,  Paris.) 

Ein  Verbrecher  als  Stubenmädchen.  In  der  Wohnung  des 
Direktors  der  Anglo-  österreichischen  Bank  in  Budapest,  Lukacs, 
erschienen,  mehrere  Detektives,  und  einer  derselben  machte  der 
Frau  des  Hauses  die  überraschende  Mitteilung,  daß  ihr  Stuben- 
mädchen, das  schon  seit  mehreren  Wochen  bei  ihr  bedienstet 
war,  kein  Mädchen,  sondern  ein  Mann  und  noch  dazu  ein  schon 
wiederholt  bestrafter  und  von  der  Polizei  eifrig  gesuchter  Ver- 
brecher sei.  Als  das  „Mädchen"  unter  einem  Vorwande  in  den 
Salon  gerufen  wurde,  verhafteten  die  Detektivs  sofort  den  ver- 
kleideten Verbrecher.  (Morgenpost.) 

Der  Fall,  daß  eine  Frau  den  größten  Teil  ihres  Lebens  als 
Mann  zugebracht  hat,  ist  jüngst  wieder  in  London  aufgedeckt 
worden.  Die  jetzt  Sechsundsechzig  Jahre  alte  Person  erschien 
am  2.  März  unter  der  Anklage  eines  Betrugs  vor  Gericht  und 
zwar  in  Männerkleidung  und  machte  folgende  Angaben  über  ihren 
bisherigen  Lebenslauf:  Nachdem  sie  einige  Jahre  als  Lehrerin 
beschäftigt  war,  ging  sie  nach  Birmingham,  und  beschloß  dort, 
sich  als  Mann  zu  verkleiden,  weil  sie  so  besser  durchs  Leben 
zu  kommen  hoffte.  Sie  diente  zunächst  zwei  Jahre  auf  einem 
großen  Dampfer  als  Schiffskoch  und  wurde  dort  mit  der  Dienerin 


—    1213    — 

einer  Dame  bekannt.  Sie  „heiratete"  dieses  Mädchen  und  lebte 
vierzehn  Jahre  lang  mit  ihr  zusammen.  Dann  kehrte  der  „Gatte" 
nach  London  zurück,  wo  dann  später  bei  einer  Aufnahme  der 
Person  in  ein  Krankenhaus  ihr  wahres  Geschlecht  entdeckt  wurde. 
Der  „Lancei"  knüpft  an  diese  merkwürdige  Lebensgeschichte  einen 
geschichtlichen  Rückblick.  Außer  solchen  Romanhelden  wie  die 
unsterbliche  Rosalinde  gibt  es  noch  mehrere  geschichtliche  Bei- 
spiele von  Frauen,  die  fast  ihr  ganzes  Leben  als  Mann  ver- 
brachten. Eine  davon  war  Christina  Davis,  die  im  Jahre  1739 
starb,  nachdem  sie  viele  Jahre  im  2.  Dragonerregiment,  das  später 
wegen  seiner  Grauschimmel  den  Namen  der  „Schottischen  Grauen" 
erhielt,  gedient  hatte.  Sie  war  1667  geboren  und  hatte  in  sehr 
jungem  Alter  einen  Mann  Namens  Welsch  geheiratet.  Eines  Tages 
wurde  ihr  Gatte  zwangsweise  zum  Heere  eingezogen  und  nach 
Holland  gesandt.  Christina  verkleidete  sich  daraufhin  selbst  als 
Mann  und  ließ  sich  bei  einem  Infanterie-Regiment  einschreiben, 
um  ihrem  Manne  nachzufolgen.  Nach  vielen  Abenteuern,  unter 
die  auch  ihre  Teilnahme  an  der  Schlacht  von  Landen  fiel,  wurde 
sie  verwundet,  gefangen  genommen  und  dann  wieder  ausgewechselt. 
Sie  geriet  weiterhin  in  einen  Liebeshandel,  um  deswillen  sie  ein 
Duell  auszufechten  hatte,  ließ  sich  später  bei  der  Kavallerie  an- 
melden und  machte  die  Belagerung  von  Namur  mit.  Nach  dem 
Frieden  von  Rijswick  kehrte  sie  nach  Irland  zurück,  ohne  ihren 
Gatten  gefunden  zu  haben.  Sie  hatte  sich  aber  an  das  Soldaten- 
leben derart  gewöhnt,  daß  sie  bei  der  nächsten  Kriegserklärung 
wieder  in  das  Heer  eintrat.  Nach  der  Schlacht  von  Blenheim 
fand  sie,  als  Wache  bei  den  Gefangenen  befohlen,  endlich  ihren 
Gatten  wieder,  der  sie  seit  Langem  für  tot  gehalten  hatte.  Sie 
beschlossen  nun,  sich  als  Brüder  auszugeben  und  weiter  beim 
Heere  zu  bleiben.  Bei  Ramillies  wurde  sie  schwer  verwundet  und 
dabei  wurde  ihr  Geschlecht  entdeckt.  Ihr  Gatte  fiel  bei  Malplaquet, 
aber  sie  heiratete  später  noch  zweimal.  Nach  ihrem  Tode  wurde 
sie  mit  militärischen  Ehren  begraben.  Zwei  andere  Mannweiber, 
die  vor  etwa  zweihundert  Jahren  viel  von  sich  reden  machten, 
waren  Anna  Bonney  und  Mary  Read,  die  ein  Seeräuberleben 
führten.  Eine  andere  Frau  erwarb  unter  dem  Namen  James  Barry 
den  medizinischen  Doktorgrad  und  machte  eine  glänzende  Carriere 
als  Militärarzt,  ihr  Leben  wurde  später  der  Gegenstand  einer 
Novelle  „einer  modernen  Sphinx".  (Hannov.  Courier.) 


—     1214     - 

A  Young  Woman  as  Gargon  de  Caffö.  On  Sunday  last, 
says  the  "Fransais*,  the  commissary  of  policfc  of  the  Palais-Royal 
received  the  visit  of  a  young  waiter  from  a  cate  who  came  to 

lodge  a  Charge   against  a  young  woman,  Jeanne  D ,   aged 

twenty-six,  who  had  left  his  home,  taking  with  her  a  number  of 
bracelets,  rings,  earrings  and  brooches,  which  belonged  to  him- 
aWhat  were  you  doing  with  all  that  jewelry,  which  you  could 
not  wear?"  asked  the  commissary.  The  waiter  who  seemed  confused 
by  the  question,  stammered  a  vague  reply  and  went  off.    Jeanne 

D was  soon  arrested  and  taken  before  the  commissary.  When 

the  Charge  was  read  over  to  her,  she  cried,  "I  like  that.  Do  you 
mean  to  say  that  she  had  the  cheek  to  Charge  me?"  Surprised 
at  this  reply,  the  magistrate  questioned  his  prisoner  as  to  her 
relations  with  the  gargon  de  cate.    "Gargon  de  cate",  exclaimed 

Jeanne  D ,  awhy  Monsieur  le  Commissaire,  she's  my  eldest 

sister,  Marie  Duval,  aged  twenty-eight  years.  She  found  herseif 
without  a  Situation  six  months  ago,  so  she  cut  her  hair,  got  a 
waiter's  costume  and  was  engaged  in  a  number  of  cates  on  the 
boulevards."  The  commissary  of  police  sent  for  the  "soi-disant" 
Ernest  Portier,  who,  confronted  with  her  sister,  had  to  admit  the 
truth  of  her  Statement  and  withdrew  the  Charge  she  had  made. 
She  will  be  prosecuted  for  wearing  male  costume. 


Ein  Mann  in  Frauenkleidern  wurde  am  Montag  nach- 
mittag gegenüber  dem  Hause  Waterloouf er  17  aus  dem  Landwehr- 
kanal aufgefischt.  Der  Tote ,  ein  kräftiger  Mann  in  der  Mitte 
der  30er  Jahre,  mit  einem  leichten  Anhauch  von  blondem 
Schnurrbärtchen,  war  vollständig  wie  eine  Dame  gekleidet,  an 
seinen  Fingern  befanden  sich  eine  große  Anzahl  zierlicher  Ringe, 
welche  sich  jedoch  später  als  unecht  erwiesen.  In  seinen  Taschen 
fanden  sich  vor:  Ein  Deckel  von  einem  Gummistempel  in 
Uhrform,  zwei  „Hundertmark-Blüten",  zwei  alte  Tombakuhrketten, 
das  Werk  einer  alten  Spindeluhr,  Hausschlüssel  und  „Drücker", 
neun  kleine  Schlüssel  an  einem  Ringe  und  ein  leeres  schwarzes 
ledernes  Portemonnaie.  (Beri.  Morgenztg.) 

Seltsame  Metamorphose.  Daß  eine  Person  bis  zum 
26.  Lebensjahre  für  ein  Mädchen  gehalten  wird,  sich  aber  dann 
als  Mann  entpuppt  und  als  solcher  weiterlebt  —  dieser  wohl 
einzig  in  seiner  Art  dastehende  Fall  wird  aus  Guben  gemeldet. 
Aus  der  Anna  K.,   die  von  Geburt  an  für  ein  Mädchen  gehalten 


—     1215    — 

wurde  und  herangewachsen  in  dortigen  Fabriken  gearbeitet  hat, 
ist  ein  Albert  K.  geworden,  der  sich  jetzt  nach  Berlin  begeben 
hat,  um  hier  als  Mann  seinen  Lebensunterhalt  zu  erwerben. 

(Berl.  Morgenztg.) 

Eine  amerikanische  „Gesellschaftsdame".  Eine  in  Peoria 
(Vereinigte  Staaten)  erscheinende  Zeitung  schreibt:  Vor  un- 
gefähr einem  Jahre  arrangierte  in  Peoria  mit  den  Prominenten, 
welche  jede  Gelegenheit  benutzen,  die  ihnen  zum  Glänzen  ge- 
boten wird,  eine  Frau  Katharine  Howe  einen  sogenannten 
Völker-Karneval,  dem  sie  den  Namen  „Kirmes"  beilegte.  Katharine 
imponierte  durch  eine  edle  Dreistigkeit  namentlich  den  Blau- 
strümpfen, die  ein  Ideal  in  ihr  erblickten.  Obgleich  sie  mager 
war  wie  ein  Windhund  und  häßlich  wie  eine  Vogelscheuche, 
machte  sie  mit  ihrer  Maulfertigkeit  doch  Furore.  Daß  sie  gerade 
kein  sauberes  Pflänzchen  ist,  zeigte  sich,  nachdem  sie  ihren 
faulen  Zauber  ausgespielt  hatte.  Pumpe,  die  sie  angelegt,  wurden 
einfach  nicht  bezahlt,  und  Männer,  die  ihre  Rechnungen  präsen- 
tierten, wurden  von  der  schneidigen  Katharine  mit  Flüchen 
traktiert,  die  einem  Schweinetreiber  alle  Ehre  gemacht  haben 
würden.  Es  stellte  sich  auch  heraus,  daß  sie  Branntweine 
trinken  konnte,  wie  ein  Matrose.  Katharine  ist  kürzlich  im  Staate 
New -York  wegen  verschiedener  Krummheiten  verhaftet  worden, 
und  bei  der  Untersuchung  hat  es  sich  herausgestellt,  daß  sie  ein 
Mann  in  Frauenkleidern  ist  und  eigentlich»  Henr.es  heißt. 

(Berliner  Lokalanzeiger.) 


Musketier  Bertha  Weiß.  Die  Geschichte  der  Völkerkriege 
und  Revolutionen  verbucht  so  manche  Namen  streitbarer  und 
heldenmütiger  Frauen.  Frankreich  hat  eine  Jeanne  Hachette  und 
Jeanne  d'Arc;  aber  die  meisten  Beispiele  haben  die  Völker 
germanischer  Zunge  aufzuweisen.  Aus  dem  Kriege  von  1870/71 
ist  mir  dagegen  kein  Beispiel  bekannt  geworden,  das  eine  deutsche 
Frau  gegeben  hätte,  was  wohl  daran  liegt,  daß  die  Entscheidung 
auf  Frankreichs  Boden  ausgefochten  wurde.  Dennoch  hat  es  an 
romantischen  Abenteuerinnen  nicht  gefehlt,  welche  sich  diese 
Zeit  zu  nutze  machten.  Von  einer  solchen  Kreatur  soll  im 
folgenden  berichtet  werden.  Es  ist  Bertha  Weiß.  Ich  bemerke 
gleich,  daß  man  den  Namen  dieses  Weibes  im  Soldatenhabit  in 
der  Geschichte  deutscher  Regimenter  vergeblich  suchen  wird. 
„Musketier"  Weiß  war  eben  keine  Heldenjungfrau,  sondern  eine 


—     1216    — 

—  Hochstaplerin.  Aus  diesem  Grunde  schien  es  angezeigt,  ihrer 
nicht  in  „Lied  und  Heldenbuch"  Erwähnung  zu  tun.  Angesichts 
des  Schwindels  der  Familie  Humbert,  worin  ja  wieder  eine  Frau 
die  „Seele*  des  Ganzen  bildet,  dürfte  aber  doch  auch  der  „Fall 
Weiß"  für  Zivil  und  Militärs  großes  Interesse  bieten.  Ich  schöpfe 
meine  Darstellung   aus    den    mir   vor   mehreren  Monaten   über- 


Musketier Bertha  Weiß. 


lieferten  Tagebuch -Aufzeichnungen  eines  Rheinländers,  der  nach 
dem  Kriege  in  seiner  Heimatprovinz  zunächst  als  katholischer, 
sodann  als  protestantischer  Geistlicher  gewirkt  und  nicht  mehr 
unter  den  Lebenden  weilt.  „Es  war  gegen  Anfang  des  August 
1870  abends  um  die  elfte  Stunde.  Wir  saßen,  wie  (leider)  so  oft, 
in  einem  Wirtslokale,  uns  bei  Bier,  bei  Sang  und  Dampf  unter- 


—     1217    — 

haltend  und  amüsierend,  als  plötzlich  die  Wirtsstube,  welche  all- 
mählich leer  geworden  —  da  Mitternacht  herannahte  — ,  sich 
wieder  mit  neuen  Gästen,  und  zwar  mit  marschfertigen  Soldaten, 
füllte.  Auch  wir  an  unserem  Tische  waren  munter  geworden  und 
schwatzten  und  plauderten,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  dem  Teufel 
das  Ohr  ab  und  auch  wieder  an.  Ich  hatte  soeben  in  der 
größten  Begeisterung  eine  Erzählung  von  meinen  Erlebnissen  in 
der  Schweiz  (1861—1867)  beendet,  als  ein  junges  bart- 
loses Bürschchen  von  kleiner  Statur  —  seiner  Uniform  nach,  in 
der  er  steckte,  dem  29.  Regiment  angehörend  —  auf  mich  zu- 
schritt und  mit  seinem  zarten  Stimmchen  mich  also  anredete: 
„Wie  ich  soeben  aus  Ihrer  Erzählung  vernehmen  konnte,  haben 
Sie  in  der  Schweiz  in  Einsiedeln  studiert.  Bitte,  sagen  Sie 
mir  doch,  in  welchem  Jahre  dies  war  ?"  Als  ich  ihm  hierauf  die 
J  ahre  nannte,  sagte  er  rasch:  „Ei,  da  sind  wir  Studiengenossen! 
Auch  ich  habe  in  Einsiedeln  studiert,  und  zwar  zwei  Jahre,  und 
zwar  zu  derselben  Zeit!"  Und  meine  Hand  nehmend  und 
schüttelnd,  wollte  er  sofort  Smollis  mit  mir  trinken  auf  unsere 
alte  Studiengenossenschaft.  Obschon  ich  eben  noch  ziemlich  in 
Eifer  und  Hitze  war,  quasi  das  übliche  „Bierfieber"  hatte,  hatte 
mich  der  „Kamerad"  doch  plötzlich  stutzig  und  kaltblütig  ge- 
macht. Etwas  mißtrauisch  frug  ich  denn  nach  seinem  werten 
Namen.  Er  nannte  ihn  „Bernhard  Weiß".  Als  ich  ihm  hierauf 
bedeutete,  daß  ich  nicht  die  Ehre  hätte  und  mich  nicht  besinnen 
könnte,  einen  Studienkollegen  dieses  Namens  gehabt  und  gekannt 
zu  haben,  sagte  er  rasch  und  ohne  sich  irre  machen  zu  lassen: 
„Das  sei  leicht  möglich;  es  seien  daselbst  so  viele  Studenten  ge- 
wesen, daß  man  alle  nicht  habe  kennen  können.  Allein,  er  habe 
in  Einsiedeln  studiert  und,  nach  meiner  Angabe,  zu  derselben 
Zeit  wie  ich.  Er  sei  ja  in  Au',  einem  kleinen  Dörfchen  bei  Ein- 
siedeln, geboren,  also  ein  Schweizer."  Dabei  nahm  er  wieder 
das  Glas  zur  Hand  und  stieß  mit  mir  und  meinen  Bekannten  an. 
Mit  mir  aber  trank  er  Smollis.  Da  er  mir  so  zudringlich  und 
zugleich  doch  so  artig  und  freundschaftlich  entgegenkam,  ließ  ich 
mich  denn  auch  bald  herbei,  und  nun  tranken  wir  fröhlich  zu- 
sammen . . . ."  „Bernhard"  Weiß  kam  von  dieser  Nacht  an  vier 
Wochen  lang  täglich  in  das  Elternhaus  des  Gewährsmannes,  aß 
und  trank  am  gleichen  Tische  und  wußte  sich  rasch  bei  der 
Mutter  des  neugewonnenen  Kameraden  einzuschmeicheln.  Mit 
einer  Schwester  musizierte  der  fremde  Musketier  oft,  wie  mir 
dieselbe  mitgeteilt  hat.    Seine  Stimme  war  nicht  zart,  aber  heiser; 


—     1218    — 

doch  fiel  das  weiter  nicht  auf,  da  junge  Männer  ja  oft  diese 
Stimme  besitzen.  Er  kam  wohl  nur  des  Bruders  wegen.  Traf 
er  ihn  aber  nicht  zu  Hause,  so  setzte  er  sich  zu  Mutter  und 
Tochter,  um  zu  plaudern.  Der  jungen  Dame  war  der  Mensch 
zuwider  und  sie  sträubte  sich  gegen  eine  Unterhaltung  mit  ihm. 
Doch  die  gutmütige  Mutter  bat  dann  immer,  Mitleid  mit  dem 
„armen  Kerl"  zu  haben;  denn  sie  meinte,  er  sei  so  zart  und  sie 
glaube  nicht,  daß  der  die  Kriegsstrapazen  aushalte,  sondern  im 
Felde  bleibe.  Es  ist  richtig,  der  dick-  und  rotwangige  „Avantageur" 
war  als  Soldat  klein  und  nicht  schön  von  Gestalt.  Das  völlig 
bartlose,  rundliche  Kinn  und  das  weibische  Stimmchen  fielen  aber 
weiter  nicht  auf,  weil  der  „Kerl"  in  Uniform  steckte  und  so  man- 
chem jungen,  schmächtigen  Offiziersaspiranten  ähnlich  schien. 
Zwar  war  dem  Scharfblick  der  Schwester  nicht  entgangen,  daß 
Musketier  Weiß  für  einen  Soldaten  sehr  unordentlich  aussah,  und 
daß  er  immer  zwischen  den  Brustknöpfen  eine  dicke  Partie  von 
Briefen  und  Notizbüchern  verwahrte.  Und  der  Bruder  notiert  an 
einer  Stelle:  „Ich  erinnere  mich,  daß  mir  seine  ziemlich  wogende 
Brust  auffiel,  als  wir  einmal  zusammen  die  „Karthause"  hinauf- 
gingen .  .  .  „Kerl,  was  hast  Du  immer  für  eine  dicke  Brust," 
sagte  ich  damals  arglos  zu  ihm,  „stopfst  Du  Deinen  Rock  vorne 
mit  Baumwolle  aus,  um  Dir  ein  Ansehen  zu  geben?"  Er  lächelte 
ziemlich  verlegen  und  erwiderte  gefaßt:  „Gelt,  ich  gäbe  einen 
famosen  Feldwebel!"  Dabei  klopfte  er  triumphierend  auf  die 
Brust,  als  ob  das,  was  er  gesagt  hatte,  ein  ganz  Besonderes  sei 
.  .  .  Nichtsahnend  lenkte  ich  das  Gespräch  weiter."  Nach  vier 
Wochen  verabschiedete  sich  Weiß,  indem  er  vorgab,  wieder  „ins 
Feld"  gehen  zu  wollen.  —  Es  mochte  nun  seitdem  etwa  der 
gleiche  Zeitraum  verflossen  sein,  als  er  mir  eines  Sonntags  wieder 
begegnete.  Unter  lauten  Freudenbezeigungen  drückte  er  mir 
die  Hand  und  begann  abermals  neue  Kriegsabenteuer  zu  erzählen. 
Nun  war  er  wieder  täglich  bei  mir,  bis  er  nach  mehreren 
Wochen  endgiltig  Abschied  nahm,  um  „nach  Frankreich"  zu  gehen. 
Diesmal  begehrte  er  sowohl  von  mir,  als  von  meinem  Freunde 
Seh  ....  ein  Andenken.  Wir  wußten  nicht  recht,  was  wir  ihm 
geben  sollten.     Er  verlangte  aber  von  mir  ein  Messer  und  von 

Seh ein  Notizbuch.     Ich  kaufte  ihm  das  Gewünschte ;  und 

Seh lief  er   bis   aufs  Bureau    nach,    um   ja    des   ihm  Ver- 

sprochenenen  gewiß  zu  sein.  Meine  Mutter  gab  ihm  noch 
Trauben  und  ich  Briefbogen,  damit  er  uns  bald  von  Frankreich 
aus  schreiben  sollte.    Er  nahm  alles  und  zog  ab.  —  Es  vergingen 


—    1219    — 

Tage,  Wochen,  Monate  —  mein  Freund  ließ  nichts  von  sich 
hören  ....  Ein  preußischer  Artillerieoffizier  erzählte  zuerst 
einem  Freunde  von  einer  Abenteuerin  und  lenkte  mich  auf 
„Bernhard"  Weiß.  Wohl  hatte  ich  schon  in  Romanen  und  Er- 
zählungen ähnliche  Auftritte  eines  Weibes  als  Soldat  geschildert 
gefunden.  Aber  hier  in  der  Person  unseres  „Bernhard"  eine 
solche  Vagantin  leibhaftig  vor  Augen  gehabt  zu  haben,  das  ver- 
mochte ich  noch  immer  nicht  zu  glauben.  Doch  endlich  lieferten 
auch  Koblenzer  Lokalblätter  Biographien  jener  sonderbaren 
„Heldin",  und  ich  mußte  mich  nun  wohl  oder  übel  mit  der  trau- 
rigen Tatsache  abfinden,  daß  mein  Freund  „Ber-nhard"  Weiß  ein 
—  Frauenzimmer  gewesen  sei  ..."  Der  Drang,  als  Abenteuerin 
berühmt  zu  werden  und  sich  einen  Namen  zu  machen,  gleich- 
zeitig Schwindeleien  damit  zu  verbinden,  ließ  Bertha  Weiß  —  dies 
war  ihr  rechter  Name  —  Soldat  werden.  Sie  war  —  so  lauteten 
wenigstens  übereinstimmend  die  Recherchen—  keine  Schweizerin, 
sondern  sie  stammte  aus  Ostpreußen.  Ebenso  war  Bertha  niemals 
im  Kriege  gewesen,  obschon  sie  es  gewünscht  hatte.  Sie  soll 
nämlich  im  Griffemachen  mit  dem  Zündnadelgewehr  und  über- 
haupt im  Dienste  nicht  stramm  genug  gewesen  sein,  weshalb  ihr 
der  Hauptmann  Spitz  der  Kompagnie  das  Ausrücken  ins  Feld 
nicht  gestatten  wollte  .  .  ."  Rätselhaft  bleibt  für  uns  aber  doch 
alles.  Wie  war  es  bloß  möglich,  daß  das  Weib  in  Uniform  ge- 
steckt und  im  Truppenteil  als  löhnungsberechtigter  aktiver 
Soldat  eingereiht  werden  konnte?  Sie  mußt^  doch  zuvor  mit 
ihrem  wirklichen  Namen,  Geburtsort  und  Daten  in  die  Stamm- 
rolle und  Kompagnieliste  gesetzt  werden.  Da  ist,  wenn  die  Ver- 
mutung ausgeschlossen  bleiben  soll,  als  sei  ein  Mitwisser  des 
Betruges  im  Spiele  gewesen,  nur  die  Annahme  möglich,  daß 
Bertha  Weiß  echte,  aber  gestohlene  oder  glaubhaft  gefälschte 
Heimatspapiere  auf  ihren  nom  de  guerre  beigebracht  hat;  es  wäre 
denn,  man  hätte  infolge  der  Kriegswirren  und  der  damit  verknüpften 
Truppenverschiebungen  jene  peinliche  Kontrolle  außer  Acht  ge- 
lassen, was  immerhin  plausibel  erscheinen  könnte.  Nachdem 
der  Weiß  aber  dieser  Coup  d'affaire,  der  zweifellos  von  ihrem 
ausgesuchtesten  Raffinement  Zeugnis  ablegt,  gelungen  war,  ver- 
mochte sie  auch  unbekümmert  um  Entlarvung  den  echten  Soldaten 
zu  spielen.  Ja,  und  als  nach  Koblenz  gefangene  Franzosen  gebracht 
und  dort  in  einem  Barackenlager  festgehalten  wurden,  da 
avancierte  das  sprachenkundige  Weib  flugs  zum  Korporal,  was 
trotzdem  erst  recht  rätselhaft  bleibt,  da  doch  unter  den  Rheinlands- 

Jahrbuch  V.  77 


—    1220     — 

söhnen  gewiß  gar  mancher  des  französischen  Idioms  mächtig  ge- 
wesen sein  müßte  .  .  .  Aber  hören  wir  weiter.  Vom  Rhein  war 
die  Weiß  in  ihre  Heimatsprovinz  gegangen.  In  Königsberg, 
Gumbinnen  u.  a.  O.  hatte  sie  sich  in  der  Uniform"  eines  Feld- 
webels als  Inhaber  des  Eisernen  Kreuzes  ausgegeben,  weswegen 
sie  mehrere  Male  in  Haft  genommen  wurde.  Hierbei  war  auch 
ihr  Geschlecht  entdeckt  worden.  Nach  verbüßter  Haft  ging  Bertha 
Weiß  ins  Schlesische  hinein.  Mit  dem  Soldatenspielen  war  es 
jetzt  in  Friedenszeiten  nichts  mehr.  Also  verlegte  sich  das 
raffinierte  Weib  auf  einen  anderen  Schwindel.  Sie  besaß  die 
Kühnheit,  im  Kloster  der  Barmherzigen  Brüder  zu  Breslau  nicht 
nur  Eingang  zu  finden,  sondern  sich  sogar  als  —  Laienbruder 
aufnehmen  zu  lassen  .  .  .  Indessen  hielt  das  nicht  lange.  Ende 
1871  verschwand  sie,  um  fortan  in  der  Schweiz  den  Kutten- 
schwindel zu  versuchen.  Und  so  begegnet  man  ihr  zunächst 
unter  dem  Namen  „Lebeuf"  in  Einsiedeln,  wo  sie  seit  dem 
21.  Juni  1872  im  Benzingerschen  Verlagshause  in  Kondition  war. 
Natürlich  ging  sie  auch  bald  im  Kloster,  wo  sie  sich  dank  dem 
günstigen  Umstände,  daß  der  Pater  ein  Sohn  und  Bruder  jener 
Koblenzer  Familie  war,  leicht  Zutritt  hatte  verschaffen  können, 
aus  und  ein.  Ja,  es  dauerte  nicht  lange,  da  hatte  sie  dort  selbst 
als  „Bruder*  Aufnahme  gefunden,  weil  man  der  festen  Meinung 
war,  daß  „Lebeuf"  ein  guter  Freund  meines  Koblenzer  Gewährs- 
mannes und  mit  diesem  wohlbekannt  sei.  Doch  auch  hier  konnte 
eine  Entlarvung  nicht  ausbleiben.  Sie  soll  dann  noch  in  Bern  u.  a.  O. 
der  Schweiz  aufgetaucht  sein,  wurde  aber  schließlich  in  St.  Gallen 
verhaftet  und  auf  längere  Zeit  kaltgestellt.  Seitdem  hörte  man 
nichts  mehr  von  der  Abenteuerin,  bis  1878  aus  Zeitungsnotizen 
bekannt  wurde,  daß  sie  Ende  Januar  gestorben  war. 

(Nach  einem  Artikel:  „Aus  dem  Leben  einer  deutschen  Vagantin"  von 
Ernst  Kreowski  (Berlin)  mit  dessen  Zustimmung  aus  der  Beilage 
der  Berliner  Morgenpost.) 


Eine  tolle  Karnevalsgeschichte  erzählt  die  „Tribuna"  vom 
letzten  Maskenball  im  Eldorado  zu  Rom.  Ein  Student,  der  in  einer 
Parodie  auf  Mascagnis  „Iris"  die  Rolle  einer  japanischen  Tänzerin 
ganz  großartig  verkörpert  hatte,  war  über  seinen  Erfolg  im 
Mädchengewande  so  erfreut,  daß  er  die  Frauenkleider  auch 
während  des  Tanzes  trug.  Als  er  während  einer  Tanzpause 
planlos  durch  die  mit  weinseligen  Leuten  besetzten  Säle  schlenderte, 
raunte  ihm  plötzlich  Jemand  ins  Ohr:  „Ein  herrliches  Geschöpf!" 


—     1221     — 

,  Er  drehte  sich  um  und  gewahrte  einen  sympathischen  Jüngling, 

aus  dessen  Antlitz  sich  eine  so  naive  Bewunderung  ausdrückte, 
daß  dem  Bruder  Studio  sofort  der  Gedanke  durch  den  Kopf  fuhr: 
„Aha,  ein  verliebter  Narr,  der  mich  für  ein  echtes  Weib  hält!" 
Der  Verehrer  der  weiblichen  Schönheit  des  Studenten  hatte  das 
Aussehen  des  jugendlichen  bartlosen  Hausbesitzerssohnes,  der 
soeben  flügge  geworden  ist  und  bei  der  ersten  besten  Gelegenheit 
sein  Taschengeld  bis  zum  letzten  Heller  „verplundert".  Der 
Student  beschloß,  den  grünen,  abenteuerlustigen  Jüngling  gründlich 

|  hineinzulegen ;  er  ergriff  seinen  Arm,  warf  ihm  einen  seiner  feurigsten 

Blicke  zu  und  flüsterte  mit  liebebebender  Stimme:  „Gefalle  ich 

|  Dir  vielleicht,  Kleiner?"  —  „Sehr",  erwiderte  lieblich  errötend  der 

junge  Mann.  Der  Student  führte  nun  seinen  entzückten  Verehrer 
kreuz  und  quer  durch  die  Tanzsäle  und  ließ  dann  leichthin  die 

i  suggestiven  Worte  fallen :  „Ich  habe  riesigen  Appetit".  —  „Wirklich? 

j  Dann  wollen  wir  essen",   antwortete   schlicht   und  einfach  der 

Jüngling.  Gesagt,  getan.  Bald  darauf  nahm  ein  verschwiegenes 
Kabinet  das  Liebespärchen  auf.  Man  aß  und  trank  vorzüglich, 
und  als  man  gerade  ein  Bischen  zärtlich  werden  wollte,  kam  die 
Rechnung.  Der  „Hausbesitzerssohn"  sah  sie  nur  oberflächlich 
an  und  sagte  dann  mit  einem  reizenden  Lächeln  zum  Kellner: 
„Der  Herr  zahlt!"  Der  Kellner  verbeugte  sich,  diskret  und  ver- 
ständnisinnig lächelnd,  und  entfernte  sich.  Der  Student  aber  be- 
trachtete mit  weit  aufgerissenen  Augen  seinen  „Verehrer"  und 
fragte  mit  kaum  hörbarer  Stimme:  „Was  sagtest  Du  soeben?  Wer 
zahlt?"  —  „Du!"  —  „Ich?"  —  „Na,  ja,  der  Herr  zahlt  doch 
immer".  —  „Ja,  bist  Du  denn  nicht  der  Herr?"  —  „Ich?  Keine 
Ahnung!  Ich  bin  nur  als  Mann  verkleidet,  im  gewöhnlichen  Leben 

j  bin  ich  Modistin".    Tableau!  (M.  N.  N.) 


Merkwürdige  Geschlechtsverwechselung.  „Ein  Pfeifer  von 
dem  hier  in  Garnison  liegenden  Gräflich  Haakschen  Regimente, 
der  beide  schlesische  Feldzüge  mitgemacht,  ward  unerwartet  von 
einem  Sohn  entbunden.  Natürlich  war  der  Pfeifer  also  ein  Weibs- 
bild, und  der  Vater  des  Kindes  war  ein  Tambour  von  selbiger 
Kompagnie,  wobei  jener  diente.  Der  Vater  ward  Regimentstambour, 
und  bei  der  Taufe  seines  Sohnes  befanden  sich  die  vornehmsten 
Personen  des  Hofes  und  andere  angesehene  und  bemittelte  Leute, 
welche  die  Sechswöchnerin  so  reichlich  beschenkten,  daß  sie  in 
den  Besitz  von  mehreren  Hundert  Talern  kam".  So  meldet  die 
„Berlinische  Zeitung  von  Staats-  und  gelehrten  Sachen"  aus  dem 

77* 


—     1222    — 

Jahre  1746,  und  geschichtliche  Schriftsteller!  z.  B.  König,  bestätigen 
das  wundersame  Faktum,  daß  der  Pfeifer  nicht  bloß  von  einem 
Sohne,  sondern  auch  vom  Dienst  entbunden  wurde,  wird  eigens 
hinzugefügt,  ebenso,  daß  Trommler  und  Pfeifer  nachher  eine  gute 
Ehe  geführet.  —  In  dem  1584  neu  aufgesetzten  Turmknopfe  der 
Nikolaikirche  fand  sich  bei  der  Öffnung  folgende  Nachricht:  „Anno 
1583  ist  allhier  zu  Colin  an  der  Spree  in  der  Schulen  eine  Jung- 
frau offenbar  geworden,  so  in  Knabenkleidung  in  die  Schule  ge- 
gangen und  des  Baccalaurei  famulus  gewesen,  auch  bei  ihm  im 
Bett  geschlaffen,  welcher  an  ihr  nie  bemerkt,  daß  sie  ein  Weibs- 
bild gewesen.  Sie  war  von  Pariß  in  Frankreich  und  hat  ihre 
Lektion  allzeit  so  fleißig  gelernet,  das  sie  nie  gestäupet  worden. 
Kam  sie  derowegen  zu  einem  Bürger  an  einen  freien  Tisch  und 
vertrauete  sich  endlich  der  Fraue  an.  Der  Rat,  in  der  Meinung, 
es  sei  eine  Kundschafterin,  hat  sie  eingesetzet,  nachher  aber 
wieder  losgelassen,  da  ihre  Unschuld  sich  erwiesen.  Die  Gräfin 
von  Zollern  nahm  sie  zu  sich,  da  sie  schön  ausnähen  gekonnt, 
hat  sie  aber  dann  des  Administrators  zu  Halle,  Markgraf  Joachim 
Friedrichs  Gemahl  geschenket".  —  Im  Taufregister  der  Nikolai- 
kirche vom  23.  März  1598  findet  sich  aufgezeichnet:  „Hanns 
Welens  und  Annen  Frosts  Kind  getauft.  Dieses  Kind,  weil  weder 
die  Wehemutter  Margareth,  noch  die  Mutter,  noch  der  Vater,  noch 
der  Prediger  nicht  anders  gewußt  haben,  denn  daß  es  ein  Töchter- 
lein wäre,  ist  in  der  Taufe  Maria  genennt  worden.  Am  Tage 
darnach  aber  befand  die  Wehmutter,  daß  es  ein  Knäblein  were; 
sind  die  Eltern  darüber  erschrocken  und  haben  solches  ange- 
zeiget;  da  ist  vom  Ministerio  die  Antwort  worden,  die  Taufe  were 
darumb  nicht  unecht,  aber  das  Kind  sollte  Maria  Georg  heißen 
und  hinfort  Georg  genennet  werden".    Merkwürdig! 

(Vossische  Zeitung,  Berlin.) 


Ein  Mann  in  Frauenkleidern.  Am  8.  Juli  hat  sich  in 
Ottakring  (Wien)  ein  Aufsehen  erregender  Vorfall  abgespielt. 
Ungefähr  um  8  Uhr  morgens  wurden  Passanten  in  der  Sand- 
leitengasse von  einem  Individuum  mit  einem  Revolver  bedroht, 
das  Frauenkleider  trug.  An  Haltung,  Gang  und  Benehmen 
konnte  man  aber  sofort  erkennen,  daß  man  es  mit  einem  Manne 
zu  tun  habe.  Als  ihn  ein  Passant  festnehmen  wollte,  drückte  er 
einige  Male  den  Revolver  los,  der  aber  nicht  geladen  war,  und 
zog  dann  ein  großes  Küchenmesser  hervor,  das  er  unter  der 
Frauenbluse  verborgen  gehalten   hatte.    Aus  der  nahegelegenen 


—     1223    — 

Wachstube  wurden  nun  einige  Wachleute  herbeigeholt.  Eine 
Schar  von  Kindern  und  Passanten  hatte,  bevor  noch  die  Wache 
erschienen  war,  auf  den  Mann,  der  gegen  das  sogenannte 
„Fuchsenloch"  zu  laufen  begann,  Jagd  gemacht.  Während  der 
Verfolgung  versah  er  den  Revolver  mit  zwei  Patronen  und 
schwang  nun  drohend  diese  Waffe  und  das  Messer  in  der  Luft, 
um  die  Leute  von  der  Verfolgung  abzuhalten.  Als  die  Wachleute 
erschienen  und  sich  ihm  näherten,  gab  er  aus  dem  Revolver 
zwei  Schüsse  gegen  sich  ab  und  brachte  sich  einen  Streifschuß 
an  der  Stirne  bei,  die  zweite  Kugel  drang  ihm  in  die  Bauchhöhle. 
Er  stürzte  hierauf  zusammen  und  wurde  von  den  herbeigeeilten 
Wachleuten  in  das  Kommissariat  Ottakring  geführt.  Trotz 
seiner  schweren  Verwundung  legte  er  den  halbstündigen  Weg 
zu  Fuß  zurück.  Er  gab  an,  Franz  von  Erlaf  zu  heißen,  Wittwer, 
38  Jahre  alt  und  in  Petzeiskirchen  bei  Scheibbs  wohnhaft  zu  sein. 
Man  vermutete,  daß  der  Mensch  geistesgestört  sei.  Er  zeigte 
sich  sehr  apathisch,  hielt  die  Augen  fortwährend  geschlossen, 
gibt  aber  auf  Fragen,  die  an  ihn  gestellt  werden,  Antwort. 
Über  das  Motiv  seines  auffälligen  Benehmens  und  des  Selbst- 
mordversuchs verweigerte  er  jede  Auskunft.  Bewohner  der 
Sandleitengasse,  in  der  sich  die  Szene  zugetragen,  behaupten, 
daß  der  Mann  in  dieser  Gegend  schon  wiederholt  aufgetaucht 
sei  und  sich  in  Frauenkleidung  herumgetrieben  habe.  Auch 
gestern  abend  sei  er  dort  bemerkt  worden.  Er  drängte  sich  oft 
an  Frauen  und  Mädchen  heran,  um  mit  ihnen  ein  Gespräch  an- 
zuknüpfen. Um  sich  nicht  zu  verraten,  habe  er  ein  Taschentuch 
vor  den  Mund  gehalten,  das  seine  untere  Gesichtshälfte  verbarg. 

(MUnchener  Neueste  Nachrichten.) 


Die  geheimnisvolle  Schönheit.  Gar  manche  —  mehr  oder, 
minder  tiefe  —  schwere  Seufzer  sind  in  Dresden  von  den  Lippen 
ganz  junger  und  älterer  Mädchen,  junger  und  „mittelalterlicher" 
Frauen,  anklagend  zum  Himmel,  emporgestiegen,  als  es  schließ- 
lich bombenfest  stand:  Anthes  ist  auf  und  davon  nach  Amerika! 
In  der  Tat,  der  fahnenflüchtige  tonsüße  Georg  hat  eine  stattliche 
Schar  weiblicher  begeisterter  Bewunderer  in  Eibflorenz  zurück- 
gelassen .  .  .  Daß  der  so  plötzlich  bei  Nacht  und  Nebel  ver- 
duftete moderne  Arion  so  nebenbei  auch  als  Mann  an  sich  des 
öfteren  recht  lebhaft  von  sich  reden  gemacht,  soll  seiner  Eigen- 
schaft als  Magnet  der  besseren  Hälfte  des  Menschengeschlechts 
gegenüber  keinen  Abbruch  getan  haben.    Im  Gegenteil.    Und  da 


—    1224    — 

fällt  mir  ein,  mit  welcher  Aufregung  einmal  die  Dresdner  Damen- 
welt sich  unter  anderem  ebenfalls  mit  Anthes  beschäftigt  hat, 
wo  er  sich  wie  eine  verklingende  berauschende  Melodie  über 
die  große  Salzlake  verflüchtigt  hat.  Amerika  spielte  da  ebenfalls 
eine  Rolle.  Oder  vielmehr  eine  amerikanische  Dame.  Damals 
lautete  der  Ruf  der  Indignation  im  Munde  der  Bewunderinnen 
des  Sängers  zwar  nicht:  „O,  dieses  Amerika,  es  ist  eine  Sirene!" 
doch  ganz  ähnlich.  Oder  war  die  Amerikanerin,  die  ihn  ver- 
anlaßte,  eine  Sphinx?  Jedenfalls  konnte  niemand  sagen,  wer  sie 
war,  wo  sie  wohnte,  was  sie  in  Dresden  tat.  Weder  in  Gesell- 
schaften noch  in  Konzerten  wurde  das  prachtvolle  Geschöpf  mit 
der  golden  gewellten,  etwas  extravaganten  Haarfrisur  gesehen, 
nie  in  der  amerikanischen  Kirche  bemerkt.  Und  wie  scharf  auch 
gewisse  neugierige  und  eifersüchtige  Elemente  im  Musentempel 
umherspähten,  wenn  Anthes  seine  entzückten  Zuhörer  zu 
donnerndem  Applaus  begeisterte,  immer  und  immer  wieder 
mußten  sie  enttäuscht  die  Operngläser  sinken  lassen:  des  un- 
widerstehlichen Tenors  geheimnisvolle  Freundin  wurde  auch  hier 
niemals  entdeckt.  Nur  im  lichten  Dunkel  der  abendlich  be- 
leuchteten Straßen  der  Residenz  war  sie  zu  erblicken.  Stets  an 
seiner  Seite,  an  der  Seite  des  „Gottbegnadeten",  an  seinem 
Arme  hängend,  die  großen  blauen  Augen  an  seine  „edlen"  Züge 
geheftet,  ihm  hingegeben  in  seligstem  Jugendfrohmut.  Alle,  die 
das  Glück  hatten,  die  junge  Schönheit,  Anthes'  Amerikanerin  — 
denn  daß  sie  Amerikanerin  war,  mußte  jedermann  auf  den  ersten 
Blick  erkennen  — ,  auf  einer  solchen  vergnüglichen  Wandeltour 
zu  sehen,  stimmten  darin  überein,  daß  es  in  der  ganzen  Welt 
wohl  kein  weibliches  Wesen  gebe  mit  echterer  bezaubernder 
weiblicher  Grazie,  gepaart  mit  einer  ganz  unbeschreiblichen, 
•holdseligen,  echt  weiblichen  Koketterie.  Die  Art,  mit  der  sie  ihr 
„seidenbeseeltes",  bei  jeder  Berührung  raunend  rauschendes 
Gewand  hob  —  nicht  zu  viel,  nicht  zu  wenig,  weder  zimperlich 
noch  herausfordernd  — ,  war  genau  so  meisterhaft  wie  der  Ge- 
sang ihres  berühmten  Freundes.  Ja,  waren  die  beiden  miteinander 
nur  befreundet  oder  waren  sie  Liebende?  Die  Sache  war  nicht 
ganz  leicht  zu  entscheiden.  Man  sah  das  Paar  in  den  belebtesten 
Straßen  auf  und  ab  wandeln,  man  hörte  es  schwatzen,  man 
glaubte,  es  in  ein  paar  vereinzelten  Fällen  durch  die  vom  Prima- 
Ganymed  eines  fashionablen  Traiteurs  um  ein  Achtel  zu  weit 
geöffnete  Tür  im  tete-ä-t£te  sitzen  gesehen  zu  haben,  essend 
und  trinkend  und  Zigaretten  rauchend,  aber  was  bewies  das,  wo 


—     1225    — 

eine  „freie"  Amerikanerin  im  Spiele  war?  Immerhin  erhoben 
sich  Stimmen,  die  das  Benehmen  der  faszinierenden  Schönheit 
nicht  lady-like  fanden.  War  sie  eine  Lady?  Anthes  lachte  wie 
ein  Toller,  wenn  in  diesem  Sinne  eine  Frage  an  ihn  gestellt 
wurde,  Eines  Tages  begab  ich  mich  in  die  im  sogenannten 
englischen  Viertel  gelegene  Fremdenpension  der  Frau  S.,  um 
einen  Besuch  abzustatten.  Man  bat  mich,  zunächst  in  den  Salon 
einzutreten.  In  einer  Ecke  desselben  bemerkte  ich  ein  Paar  von 
einem  Fauteuilsitz  ausgehende,  langausgestreckte  männlich  be- 
kleidete Beine.  Was  aber  zu  diesen  gehörte,  blieb  mir  durch 
eine  riesenhafte  Zeitung  fast  gänzlich  verborgen.  Ich  räusperte 
mich  diskret.  Die  Zeitungswand  klappte  nach  vorn:  ein  junger 
Mensch  sprang  auf  und  machte  mir  eine  tadellose  Verbeugung. 
Ein  prachtvoller  Kerl,  schlank,  geschmeidig,  rassig  wie  ein 
Panther,  mit  hellen  Augen  und  schwarzem  Kopfhaar,  auf  dem  ein 
bläulicher  Glanz  lagerte.  „Dich  muß  ich  schon  einmal  irgendwo 
gesehen  haben,"  ist  mein  erster  Gedanke;  mein  zweiter:  „Ach, 
ich  weiß,  du  gleichst  dem  jugendlichen  Lord  Byron,"  und  dann 
entringt  sich  meinem  endlich  erleuchteten  Gehirn  triumphierend 
der  dritte:  „Du  mußt  ein  Zwillingsbruder  sein  von  ihr,  der  viel- 
besprochenen amerikanischen  Sphinx!"  Der  junge  Mensch  hatte 
inzwischen  die  Zeitung  zusammengefaltet;  nun  verbeugte  er  sich 
zum  zweiten  Male  und  verließ  das  Zimmer.  Sein  Gang,  seine 
Bewegungen,  die  besondere  Art,  die  langbewimperten  Augen 
aufzuschlagen  —  wirklich  eine  ganz  frappante  Ähnlichkeit  .... 
Ob  ich  recht  gehabt,  sollte  mir  bald  durch  einen  Zufall  klar 
werden.  Eine  Schneiderin,  die  in  unserem  Hause  arbeitete,  war 
in  die  Pension  gerufen  worden.  Dort  wurde  ihr  ein  kostbares 
Samtkostüm  behufs  einer  daran  vorzunehmenden  Änderung  über- 
geben. Bei  dieser  Gelegenheit  zeigte  ihr  das  Stubenmädchen 
eine  Anzahl,  wie  es  sagte,  „zu  dem  Samtkostüm  gehöriger" 
pompöser  Toiletten,  meist  elegante  Straßenkleider,  seidene 
spitzenbesetzte  Unterröcke  im  raffiniertesten  Frou-Frou-Genre, 
Hüte  von  fabelhaftem  Umfange  und  phantastischer  Ausschmückung, 
einer  immer  schöner  als  der  andere,  wie  die  Schneiderin  ver- 
sicherte, Mäntel,  Mantelets  und  Jacketts  von  „todschikem" 
Schnitt,  und  Boas  mit  geradezu  ehrfurchtgebietendem  reichem 
Straußfedergehalt  und  von  der  Länge  einer  Boa  constrictor. 
Auch  in  genialer  Unordnung  umherliegende  Fächer  und  Korsetts 
wurden  besichtigt,  Schuhe  und  Stiefel,  Regen-  und  Sonnenschirme, 
aber  auch  Spazierstöcke   nicht  zu  vergessen,   eine  Menge  kos- 


—    1226    — 

metischer  Mittel  of  first  class  quality,  wie  eine  junge  schöne  und 
eitle  Modedame  sie  wohl  in  Gebrauch  zu  nehmen  pflegt.  Hatten 
schon  die  Spazierstöcke  die  Verwunderung  der  Nadelkünstlerin 
hervorgerufen,  so  wuchs  diese  noch  mehr,  als  das  Mädchen 
einen  Schrank  öffnete,  in  dem  sich  eine  Anzahl  eleganter  — 
Herrenkleider  aneinander  schmiegten.  „Aber  um  des  Himmels 
willen,"  rief  unsere  Schneiderin  aus,  die  Hände  zusammen- 
schlagend, „wem  gehört  denn  diese  merkwürdige  Aus- 
stattung?" —  „Nun,  unserem  lustigen  Mr.  X.  Y.,"  gab  das 
Mädchen  zur  Antwort;  „er  ist  ein  amerikanischer  Krösus,  der 
mit  den  Goldstücken  nur  so  herumwirft.  Am  reizendsten  und 
freigebigsten  ist  er  aber  immer,  wenn  er  dies  hier  aufsetzt," 
fügte  es  lachend  hinzu,  und  dabei  zog  es  ein  weißes  Tuch  von 
einem  am  Toilettenspiegel  hängenden  Gegenstand.  Es  war  eine 
wundervoll  gearbeitete  goldblonde  —  Damenperrticke. 

(MUnchener  Neueste  Nachrichten.) 


Vom  Frauentage  in  Wiesbaden.  Die  Delegierte  in  Reform- 
tracht. Der  Zwischenfall,  der  sich  Montag  Nachmittag  in  Wies- 
baden ereignete  und  dessen  unfreiwillige  Heldin  eine  Teilnehmerin 
an  der  fünften  Generalversammlung  des  Bundes  deutscher  Frauen- 
vereine war,  hat  diesem  Frauenkongresse  mehr,  als  es  vielleicht 
sonst  der  Fall  gewesen  wäre,  das  Interesse  zugewandt.  Was 
zunächst  die  gestern  gemeldete  Verhaftung  einer  Berliner  Dame 
betrifft,  so*  stellt  sich  die  Sache  erfreulicherweise  harmloser  und 
humoristischer  dar,  als  sie  nach  der  Darstellung  der  Frankfurter 
Zeitung  geschienen  hatte.  Der  in  Wiesbaden  erscheinende  Rhein. 
Cour,  erzählt,  wie  uns  telegraphisch  übermittelt  wird,  über  die 
Szene  und  ihre  Veranlassung  folgendes:  „Gestern  Nachmittag 
wurde  uns  von  dem  Vorstande  des  Frauentages  mitgeteilt,  eine 
Delegierte  des  Frauenbundes  sei  auf  der  Friedrichstraße  verhaftet, 
nach  dem  Revier  verbracht  und  nach  Feststellung  ihrer  Personalien, 
ohne  ein  Wort  der  Entschuldigung,  entlassen  worden.  Da  uns 
dieser  Vorgang  sehr  unwahrscheinlich  vorkam,  erkundigten  wir 
uns  und  konnten  folgendes  feststellen:  Gestern  Nachmittag  be- 
merkte ein  Schutzmann  in  der  Friedrichstraße  einen  Mann,  der, 
von  etwa  300  Personen  umgeben,  langsam  die  Straße  entlang 
schritt.  Der  Schutzmann  hegte  die  Befürchtung,  es  sei  etwas 
Ungebührliches  vorgefallen,  eilte  hinzu  und  ersuchte  den  Herrn, 
ihm  auf  die  Polizeidirektion  zu  folgen.  Hier  bat  der  Vertreter 
der  heiligen  Hermandad   um   den  Namen   des  Betreffenden  und 


—    1227    — 

erfuhr  zu  seinem  größten  Erstaunen,  daß  er  es  mit  einer  Dame 
zu  tun  habe,  die  sich  ihm  als  eine  Berliner  Delegierte  zum  Frauen- 
tage legitimierte.  Der  Schutzmann  sorgte  zuer5t  dafür,  daß  die 
schaulustige  Menge  von  dannen  zog,  und  entließ  dann  die  sehr 
entrüstete  Dame,  indem  er  ihr,  immer  noch  zweifelnd,  bis  nach 
dem  Civilkasino  folgte.  Wie  uns  die  Erkennungsszene  geschildert 
wurde,  verlief  dieselbe  für  die  Unbeteiligten  sehr  humoristisch. 
Der  Fernstehende  nimmt  die  Lehre  daraus,  daß  die  Wiesbadener 
für  die  Kleiderreformen  der  Frauenrechtlerinnen  noch  nicht  ge- 
nügend vorbereitet  sind;  man  hat  hier  die  allerdings  noch  vor- 
sintflutliche Ansicht,  eine  Frau  müsse  wie  eine  Frau  aussehen 
und  man  könne  nichts  Verkehrteres  tun,  als  Frauenrechte  in 
Männerkleidern  verfechten  zu  wollen."  Danach  scheint  also  Frau 
Hilda  v.  D  ....  r  es  mit  der  Reformtracht  ein  wenig  zu  weit 
zu  treiben.  Wie  des  näheren  berichtet  wird,  trug  Frau  Hilda  zu 
ihrer  Reformkleidung  auch  einen  Herrenhut  und  unter  diesem  kurz- 
geschnittene Haare,  und  dieses  ganze  Ensemble  hat,  wie  erwähnt, 
in  dem  Schutzmanne  die  seltsame  Meinung  entstehen  lassen,  er 
habe  es  nicht  mit  einer  Frau  zu  tun,  die  ähnlich  wie  ein  Mann, 
sondern  mit  einem  Mann,  der  ähnlich  wie  eine  Frau  gekleidet  sei. 
Darnach  fällt  die  Lächerlichkeit  des  Vorfalles  zum  Teil  auf  seine 
Heldin  zurück.  Immerhin  aber  hätte  der  ehrenwerte  Wiesbadener 
Schutzmann  ein  wenig  vorsichtiger  sein  können,  und  hoffentlich 
hat  er  es  am  Ende  auch  nicht  an  der  genügenden  Entschuldigung 

fehlen  lassen.  (Berliner  Morgenpost,) 

Der  Fall  A g.    Die  wunderliche  Geschichte  von  dem 

verhafteten  und  wieder  freigelassenen  Fräulein  Dr.  jur.  A g, 

so  sich  jüngst  in  dem  in  deutschen  Landen  nicht  unbekannten 
Städtchen  Weimar  zugetragen  hat,  wird,  wie  alle  schönen  Ge- 
schichten, auf  zweierlei  Art  erzählt.  Die  Schilderung,  die  die 
Heldin  selber  von  dem  Vorfalle  entworfen  hat,  haben  wir  vor- 
gestern wiedergegeben,  jetzt  ist  ihr  die  amtliche  Darstellung  an 
die  Seite  getreten.  Da  es  eine  Darstellung  von  anderer  Seite  ist, 
zeigt  sie  den  Fall,  natürlich  auch  in  anderer  Beleuchtung,  und 
weil  die  nicht  weniger  humoristisch  ist  als  die  frühere,  so  sei 
das  Schriftstück  hier  wörtlich  wiedergegeben.  Der  Weimarer 
Oberbürgermeister  als  Vorstand  der  Weimarer  Polizei  veröffent- 
lichte folgende  „Bekanntmachung.  Die  Berichte  in  den  Zeitungen 
über  das  Vorkommnis  mit  Fräulein  Dr.  jur.  A g  ver- 
anlassen mich,   den  Vorgang,  wie  er  amtlich  festgestellt  worden 


—     1228     — 

ist,  bekannt  zu  geben:  Dem  Schutzmann  Haldrich  —  und  nach 
dessen  Angaben  auch  den  beiden  Bahnsteigschaffnern  —  war  die 
betr.  Dame  nach  Stimme,  Gesicht,  Haartracht,  Hut  und  Gesten 
(wie  sie  den  Hut  abnahm  und  "tiurch  die  Haare  strich)  aufgefallen. 
Der  Schutzmann  schöpfte  den  Verdacht,  daß  ein  Mann  sich  ver- 
kleidet und  die  Verkleidung  gewählt  habe,  um  sich  einer  etwaigen 
Erkennung  und  Entdeckung  aus  gewichtigen  Gründen  zu  ent- 
ziehen. Deshalb  sprach  er,  da  die  Schutzleute  wegen  der  jetzt 
so  häufigen  Schwindeleien,  Betrügereien  und  Diebstähle  zur  strengen 
Vigilanz,  insbesondere  während  der  Abend-  und  Nachtzeit,  ange- 
wiesen sind,  die  betreffende  Person  auf  der  Straße  an  und  fragte, 
wann  sie  zugereist  sei,  welche  die  Frage  beantwortete  und,  bevor 
Haldrich  imstande  war,  weitere  Fragen  zu  stellen,  hinzufügte: 
„Sie  wollen  mich  doch  mit  auf  die  Wache  nehmen,  da  nehmen 
Sie  mich  nur  gleich  mit,  ich  will  Ihre  Behörde  sprechen  und  ein 
Protokoll  aufnehmen  lassen,  die  Frechheit  geht  noch  über  Wies- 
baden.0 Des  Schutzmanns  Einwand,  die  Befugnis  um  Auskunft 
über  ihre  Person  zu  bitten,  stehe  ihm  doch  zu,  fertigte  die  Dame 
mit  der  Erklärung  ab:  „Dieses  Recht  wollen  wir  Ihnen  eben 
nehmen",  und  wiederholte  auf  das  bestimmteste  das  Verlangen, 
der  Polizeibehörde  vorgeführt  zu  werden,  ohne  daß  sie  ihren 
Namen  und  Stand  dem  Schutzmann  nannte.  Diesem  Verlangen 
entsprach  der  Schutzmann  Haldrich,  ohne  daß  die  Aufmerksamkeit 
anderer  erregt  wurde.  Schutzmann  Schulz,  der  Dienst  auf  der 
Polizeiwache  hatte,  bezeugt,  daß  pp.  Haldrich  nach  Ankunft  mit 
der  Dame  im  Rathause  letztere  nochmals  frug.  „Wollen  Sie  mir 
nun  Ihren  Namen  nennen?"  worauf  dieselbe  antwortete:  „Nein, 
Ihnen  sage  ich  meinen  Namen  nicht,  ich  verlange  einen  höheren 
Beamten."  Dem  anwesenden  Kriminalschutzmann  Quehl,  dem  die 
Dame  dann  ihren  Namen  nannte  und  der  mit  ihr  über  den  Vorfall 
verhandelte,  erklärte  Fräulein  Dr.  A g  unter  anderem:  „Eigent- 
lich habe  sie  den  Schutzmann  mit  hergebracht  und  nicht  der 
Schutzmann  sie,  der  Vorfall  komme  ihr  gerade  recht,  sie  brauche 
solches  Material,  damit  der  Paragraph  (sie  nannte  einen  Para- 
graphen des  Strafgesetzbuches)  falle,  sie  gehe  an  den  Reichstag, 
ihr  Name  sei  kein  unbekannter,  ihr  stünden  fast  alle  Zeitungen 
zur  Verfügung;  wir  hätten  einen  Fall  Berlin,  Köln,  München,  Wies- 
baden gehabt  und  nun  hätten  wir  noch  einen  Fall  Weimar." 
Weimar,  den  30.  Oktober  1902.  Der  Gemeindevorstand  Großh. 
Residenzstadt.  Der  Oberbürgermeister.  Pabst,  Geheimer  Re- 
gierungsrat."    Fräulein    A g   ist    eine    sehr   streitbare 


—    1229    — 

Dame,  und  es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  sie  die  Gelegenheit, 
die  sich  ihr  zu  einer  Demonstration  gegen  §  361,  6  St  G.  B.  bot, 

wirklich  mit  einer  gewissen  Freude  ergriff.    Fräulein  A g, 

so  schrieben  wir  am  Donnerstag,  „die,  fast  möchte  man  sagen, 
das  Glück  gehabt  hat,  am  eigenen  Leibe  die  widersinnigen  Folgen 
des  §  361  zu  verspüren,  wird  daraus  für  ihre  Bewegung  gewiß 
genügend  Kapital  zu  schlagen  wissen."    Aber  wir  glauben,  auch 

die  Darstellung  der  Weimarer  Polizei   wird  Fräulein  A g 

nicht  ganz  daran  verhindern  können.    Selbst  wenn  der  amtliche 

'  Bericht,   der  auf  den  Aussagen   der  beteiligten  Beamten   beruht, 

der  subjektiven  Färbung  ganz   entbehren  sollte,   würde  doch  so 

viel   bestehen   bleiben:    Der  Anlaß,  sich  in  polizeilicher  Experi- 

mental-Psychologie  zu  üben,  ist  Fräulein  A g  von  der  Polizei 

selbst  geliefert  worden.  Ist  etwa  ungewöhnliche  Kleidung  schon 
ein  Grund,  daß  eine  Dame,  die  im  übrigen  nicht  den  geringsten 
Wunsch  zu  erkennen  gegeben  hat,  von  irgend  jemand  ange- 
sprochen zu  werden,  plötzlich  just  von  einem  Schutzmanne  ange- 
sprochen und  nach  ihren  Personalien  gefragt  wird?  Auch  die 
Befugnis,  irgend  einer  Dame  den  Tituskopf  zurechtzusetzen,  kommt 
der  Polizei  nicht  zu.  Die  Kritik  der  Art  und  Weise,  wie  sich  das 
Fräulein  durchs  Haar  gestrichen  habe,  zeugt  zwar  von  einer 
sehr  feinen  Beobachfungsgabe,  aber  im  Interesse  der  männlichen 
und  weiblichen  Mitwelt  möchten  wir  doch  diese  ästhetische  Be- 
trachtungsweise nicht  gerne  zum  polizeilichen  Usus  werden  sehen. 
Ebensowenig  können   wir,    offen   gestanden,    uns  vorstellen,   in 

welcher  Weise  sich  die  Hutabnahme  des  Fräulein  A g  als 

eine  staatsgefährliche  Handlung  hätte  charakterisieren  können.  Die 
Weimarer  Polizei  hat  auch  selber  anerkannt,  daß  von  Seiten  des 
Schutzmannes  ein  Mißgriff  begangen  worden,  denn  sie  hat  sich 
dafür  in  loyaler  Weise  entschuldigt,  und  es  ergibt  sich  aus  dem 
Vorfalle  für  alle  Kollegen  des  berühmt  gewordenen  Schutzmannes 
von  Weimar  die  schöne  Lehre,  immer,  wenn  sie  sich  anschicken, 
eine  Dame  anzusprechen,  es  sich  vorher  recht  genau  zu  über- 
zeugen. Es  könnte  sonst  einer  wieder  an  das  so  energische 
Fräulein  Dr.  jur.  A g  geraten,   was  wir  keinem  wünschen 

möchten.  (Berliner  Morgenpost.) 

Chicago,  III.,  Sept.  25.— Officers  in  command  at  Fort  Sheri- 
dan are  discussing  the  propriety  of  seeking  to  arrest  Mrs.  Rufus 
M.  White  as  a  deserter  from  the  U.  S.  Army.  Disguised  in  the 
uniform   pf  a  U.   S.  soldier  they   say  that  she   enlisted   and  for 


—    1230    — 

the  past  three  months  has  masquereded  as  a  trooper.  She  lived 
with  her  husband,  who  is  a  tailor  at  the  fort,  posing  as  his  brot- 
her.  It  was  only  through  an  accident  to  her  3-year-old  daughter 
that  her  sex  was  revealed.  The  child  was  hurt,  and  between  its 
sobs  called  the  woman  „mother".  Mrs.  White  was  excused  by 
the  officers,  and  went  to  don  garb  becoming  her  sex.  Instead 
of  returning  she  disappeared  and  is  now  technically  a  deserter 
from  the  army.  Mystery  is  added  to  the  case  by  the  fact  that 
she  was  allowed  to  enlist  without  her  sex  becoming  known.  1t 
is  said  that  while  the  woman  was  at  the  fort  she  entered  into " 
the  sports  of  the  soldiers  with  all  the  zest  possible  to  a  man. 


Eine  Hochstaplerin  in  Männerkleidung  wurde  gestern  von 
einigen  Privatdetektivs  entlarvt.  In  der  Familie  des  Medizinal- 
rats E.  in  Ch.  verkehrte  seit  einigen  Monaten  ein  junger  Student 
der  Medizin,  der  sich  von  Kaminski  nannte  und  angab,  ge- 
bürtiger Pole  zu  sein.  Vor  etlichen  Wochen  machte  nun  der 
Medizinalrat  die  unangenehme  Entdeckung,  daß  ihm  mehrere 
teure  chirurgische  Instrumente  sowie  einige  Schmuckgegenstände 
von  Wert  abhanden  gekommen  waren,  und  sein  Verdacht  lenkte 
sich  auf  den  jungen  Polen.  Um  sich  darüber  Gewißheit  zu  ver- 
schaffen, betraute  er  ein  Privatdetektivbureau  mit  der  Beob- 
achtung des  jungen  Studenten,  dessen  Wohnung  der  Familie  des 
Medizinalrats  nicht  einmal  bekannt  war.  Schon  nach  wenigen 
Tagen  teilte  ein  Detektiv  dem  erstaunten  Medizinalrat  mit,  daß 
der  angebliche  Pole  eine  —  Polin  sei  und  bei  einer  Frau  in  der 
Knesebeckstraße  möbliert  wohne.  In  Begleitung  des  Medizinalrats 
begaben  sich  zwei  Detektivs  gestern  vormittag  zu  dem  Pseudo- 
Studenten und  entlarvten  ihn  als  —  Betrügerin.  Von  den  gestoh- 
lenen Schmucksachen  fand  man  nichts  mehr  vor,  wohl  aber 
sämtliche  Instrumente.  Die  Hochstaplerin,  welche  sich  unter 
falschem  Namen  in  Ch.  aufhielt,  verkehrte  in  Männerkleidung  in 
der  besten  Gesellschaft.  (Die  Weit  am  Montag.) 


Eine  drollige  Verkleidungsgeschichte,  die  sich  fast  wie  ein 
gut  erfundener  Schwank  erzählt,  aber  buchstäblich  wahr  ist,  ist 
dieser  Tage  in  Lübeck  passiert.  In  der  vom  Bahnhof  in  die 
Stadt  führenden  Holstenstraße  fiel  einem  Schutzmann  ein  sonder- 
bares Pärchen  auf,  ein  Landmann  und  ein  als  Künstler  sich  ge- 
berdender Jüngling,  der  sich  sehr  aufgeräumt  zeigte.  Der  Schutz- 
mann vermutete  in  dem  Jüngling  eine  Dame   in  Männerkleidung, 


—    1231    — 

folgte  den  beiden  ungleichen  Gesellen  und  lud  sie,  als  sie  in  der 
Nähe  der  Polizeihauptwache  angelangt  waren,  zu  einem  Besuche 
derselben  ein.  Hier  wurde  der  Jüngling  ersucht,  seine  Kopf- 
bedeckung und  eine  Perrücke,  sowie  einen  blauen  Kneifer  abzu- 
nehmen. Zeigte  sich  der  Landmann  während  der  Einleitung  zu 
dieser  Entkleidung  sehr  ungehalten,  daß  man  seinen  „Freund", 
der  auf  einer  benachbarten  Station  auf  der  Reise  nach  Lübeck 
zu  ihm  ins  Coupe  gestiegen  war,  etwas  energisch  anfaßte,  so 
war  es  jetzt  an  ihm,  den  Dummen  zu  spielen.  Aus  der  Entklei- 
dung erstand  niemand  anders  als  —  seine  eigene  Frau,  die  ihrem 
Herrn  Gemahl,  der  die  Freuden  des  Weihnachtstrubels  in  Lübeck 
allein  genießen  wollte  unerkannt  gefolgt  war.  Die  geistigen 
Gaben  scheinen  in  dieser  ländlichen  Ehe  —  die  Leutchen  stammen 
aus  dem  mecklenburgischen  Orte  Grevesmühlen  —  verschieden 
verteilt.  (Chan.  n.  z.) 

Amerikanerinnen  in  Männerrollen.  Vielleicht  erinnert  man 
sich  noch  jener  New- Yorkerin  Namens  Hall,  die  stets  als  Mann 
gekleidet  und  nur  als  solcher  bekannt,  ja  verheiratet,  in  der 
städtischen  Politik  und  in  Kneipen  eine  Rolle  spielte.  Damals 
handelte  es  sich  um  ein  Kind  des  Volkes.  Heute  nun,  —  so 
schreibt  uns  unser  New-Yorker  v.  G.-Korrespondent  —  brachte 
ein  Dampfer  aus  Europa  die  Leiche  der  wohlhabenden  Tochter 
eines  Offiziers  in  den  Hafen,  bei  deren  Tode  im  Bade  erst  kon- 
statiert war,  daß  der  angebliche  Winslow  Hall»  (derselbe  Name), 
der  in  Männerkleidern  als  Gatte  einer  hübschen  Italienerin  reiste, 
in  Wirklichkeit  Caroline  Hall,  eine  alte  Jungfer  aus  Boston  war. 
Die  Italienerin  gibt  zu,  seit  Jahren  als  dessen  „Gattin"  gelebt  zu 
haben.  „Er"  habe  sie,  die  arme  Gouvernante,  in  Neapel  kennen 
und  lieben  gelernt  und  ihr  die  Welt  gezeigt.  In  Europa  seien 
sie  meist  als  Graf  und  Gräfin  Cassini  gereist,  da  „er"  behauptet 
habe,  daß  bei  den  Leuten  der  alten  Welt  ein  „Graf*  vor  dem 
Namen  viel  ausmache.  Es  scheint  beinahe  mehr  bei  denen 
der  neuen.  (Beri.  l.-a.)   • 

Über  einen  Raubanfall,  den  ein  neunzehnjähriges  Mädchen 
in  der  Woche  vor  Ostern  verübt  hat,  berichtet  die  „Augsb.  Abend- 
ztg."  Der  Bahnhofwirt  in  Otterfing,  Emmeran  Portenlänger,  wurde 
Morgens,  als  er  noch  im  Bette  lag,  von  einem  Räuber  angegriffen, 
der  mit  einem  schweren  Maschinenhammer  nach  ihm  schlug,  ihn 
aber   nur  auf  Schulter  und  Arm   traf.    Auf  das   Geschrei   des 


—     1232    — 

Wirtes  sprang  der  Eindringling  von  der  Altane  und  flüchtete  in 
den  Frauenabort.  Dort  entpuppte  sich  der  Räuber  als  die  Tochter 
des  Stationsdieners ,  Marie  Ecker  aus  Murnau.  Sie  war  früher 
Aushilfskellnerin  bei  Portenlänger  und  kannte  das  Haus.  Nachdem 
sie  den  Raubplan  gefaßt  hatte,  verschaffte  sie  sich  in  München 
Männerkleider,  verbarg  sich  Nachts  im  Dachboden  und  schritt 
dann  in  der  Frühe  zur  Tat. 


Marie-Louise  et  Louis-Marius.  —  La  presse  fran^aise  s'est 
dejä  occupSe  du  cas  curieux  de  cette  jeune  repasseuse  d'Albi, 
qui,  vers  Tage  de  dix-huit  ans,  s'est  brusquement  transformge  en 
un  beau  ganjon  et  a  troqu£  ses  jupes  de  jeune  fille  pour  des 
culottes  viriles  convenant  desormais  ä  son  sexe  nouveau.  Un 
confrfcre  parisien  a  interrogä  ce  jeune  homme  qui  hier  encore 
etait  une  vierge  timide  et  lui  a  demand£  les  impressions  qu  'avait 
produites  en  son  esprit  sa  subite  m£tamorphose.  Marie-Louise, 
devenue  aujourd'hui  Louis-Marius,  est  un  joli  gar^on  bien  d^couple, 
d'une  taille  de  I  m.  68  environ,  ä  figure  douce,  £clair6e  par  deux 
grands  yeux  marron  clair,  les  cheveux  chätain,  sans  poitrine  et 
sans  hanches,  et  qui  ne  semble  pas  le  raoins  du  monde  embarrass6 
de  son  costume  masculin.  II  a  la  voix  claire  d'un  enfant,  bien 
qu'il  aille  sur  ses  dix  neuf  ans  et  qu'un  soup^on  de  moustache 
blonde  orne  sa  tevre  supärieure.  II  a  fui  Albi  oü  il  6tait  l'objet 
de  la  curiositG  publique,  pour  se  r£fugier  chez  un  de  ses  oncles 
ä  Carcassonne;  mais  il  lui  tarde  de  recevoir  ses  parents:  son 
p&re,  qui  a  ete  16g6rement  estomaqu6  de  se  voir  un  fils  quand 
il  s'6tait  accoutum£  ä  ch£rir  une  fille;  sa  mere,  pour  qui  il  a  une 
grande  affection,  et  sa  soeur  ain6e,  qui  est  une  habile  couturtere 
d'Albi.  Aussi  quitte-t-il  Carcassonne  aujourd'hui  pour  rentrer  dans 
sa  famille.  „  —  Je  resterais  bien  ici,  dit-il;  mon  oncle  m'ap- 
prendrait  son  mutier  de  plätrier,  car  je  ne  peux  plus  d£cemment 
continuer  ma  profession  de  repasseuse;  mais  je  languirais  trop, 
loin  des  miens.  Je  pense  que  les  gar^ons  d'Albi  ne  m'emböteront 
pas;  du  reste,  je  suis  d6cid£  ä  leur  rgpondre  comme  il  faut.  Et 
Louis-Marius  a  un  geste  energique  qui  affirme  manifestement  sa 
Virilit^;  il  serre  le  poing,  un  poing  d'homme  robuste  qui  n'a  rien 
de  la  dGlicatesse  d'une  main  de  femme.  Y  a-t-il  longtemps  qull 
s'est  senti  un  homme?  Par  bribes.  Marius  conte  son  histoire  qui 
a  6te  jusqu'ä  present  celle  d'une  fillette  sage:  il  a  fr£quente  l'ecole 
des  filles,  a  fait  sa  premi^re  communion  vetu  de  la  robe  de 
mousseline  blanche,   a  entrepris  le  metier   de  repasseuse   qu'il 


—    1233    — 

exer£ait  honnetement  ä  cöt£  de  sa  mere,  allait  ä  la  promenade 
avec  ses  compagnes  et  vivait  tranquille  sans  penser  ä  mal 
„  —  Cependant,  vous  Stiez  une  fille,  vous  deviez  avoir  des 
amoureux.  „  —  Oh!  r6pond  Marius,  je  ne  les  6coutais  pas. 
Marie-Louise  ne  fut  jamais  serr6e  de  pr£s  par  un  galant.  Et  puis, 
quelque  chose  troublait  son  äme:  „  —  II  y  avait  bien  deux  ans, 
ajoute  le  jeune  homme,  que  je  me  sentais  pousser  des  . . .  ailes, 
mais  je  n'osais  le  dire  ä  personne.  Enfin  tout  recemment  je  m'en 
suis  ouvert  ä  ma  m£re,  mon  pere  a  6t6  mis  au  courant,  on  m'a 
coup6  les  cheveux,  mis  un  pantalon,  et  voilä,  je  suis  un  homme 
et  j'en  suis  content.  „  —  Plus  content  que  fille?  „  —  C'est  que 
je  n'etais  plus  une  fille  depuis  quelques  mois,  et  j'avais  peine  ä 
supporter  mes  jupes.  „Et  vos  compagnes  connaissaient-elles  votre 
6tat?  Vous  pouviez  librement  leur  conter  fleurette.  „Oh!  je  n'en 
ai  jamais  abuse.  Louis-Marius  est  demeurS  chaste.  Nous  avions 
d'autres  questions  ä  poser,  mais  il  ne  fallait  pas  effaroucher 
davantage  la  pudeur  de  Marius  qui  pouvait  se  rebiffer  et  montrer 
son  poing,  ce  poing  promis  aux  jeunes  gens  d'Albi  trop  curieux. 
Puis  le  jeune  homme  n'aime  pas  les  journaux,  la  presse  a  d£jä 
trop  parle  de  lui.  Pour  l'instant,  il  va  se  faire  raser;  la  barbe  lui 
pousse  et  il  ne  veut  garder  que  la  moustache.  Et  il  s'en  va 
gaillardement  comme  un  homme  qu'ü  est,  qu'ü  est  definitivement: 
du  moins  il  Pespere.  (Beige.) 

L'Homme-Femme.  Dans  ses  „Echos",  le  Journal  a  signal6, 
hier,  le  cas  v6ritablement  extraordinaire  et  quasiment  unique  d'une 
femme  hospitalis6e  en  ce  moment  ä  Lariboistere,  et  qui  cache 
son  identit6  sous  des  vßtements  masculins,  Or,  cette  femme,  et 
ce  n'est  pas  lä  la  particularit£  la  moins  curieuse  de  son  cas,  exerce 
le  dur  mutier  de  charretier.  J'aurais  voulu  parier  ä  cette  femme, 
lui  demander  les  raisons  qui  lui  ont  fait  £changer  ses  habits 
föminins  contre  la  cotte  et  la  vareuse  du  roulier;  mais  M.  Faure, 
directeur  de  Lariboisiere,  n'a  rien  negligG  pour  sauvegarder 
Tincognito  de  sa  malade,  et  il  a  gtabli  ä  l'entour  de  son  lit  un 
minutieux  Service  de  surveillance.  J'ai  essay6  d'interroger  M. 
Faure;  Taimable  fonctionnaire  s'est  retranchS  derri^re  le  secret 
professionnel.  Sa  femme-roulier  Va  supplie  de  ne  donner  aucun 
detail  sur  sa  personnalitS;  le  directeur  a  promis  et  il  tient  parole  . . . 
Cependant,  j'ai  r6ussi  ä  me  renseigner,  j'ai  vu  la  malade  et,  si 
je  ne  Tai  pas  questionnee,  c'est  que  je  n'ai  pas  voulu  troubler 
son  sommeil . . .  L'homme-femme,  „Monsieur  Paul",  c'est  le  nom 


r-    1234    — 

qui  la  däsigne  sur  les  registres  d'inscription,  est  soignee  dans  le 
service  du  docteur  Peyrot,  dans  la  salle  Denonvilliers.  Monsieur 
Paul  n'est  pas  un  inconnu  ä  Lariboistere :  if  y  a  quatre  ans,  le 
docteur  Peyrot  l'a  op6r6  pour  un  accident  du  genou.  Aussi,  mardi 
dernier,  lorsque  Monsieur  Paul,  qui  souffrait  £norm£ment  de  son 
ancienne  blessure,  se  präsenta  ä  Lariboistere,  il  fit  prävenir  le 
directeur,  qui  lui  6vita  les  formalitäs  de  la  visite.  Aujourd'hui, 
^interessant  sujet  va  beaucoup  mieux  et,  dans  le  courant  de  la 
semaine  prochaine,  Monsieur  Paul  aura  repris  son  fouet,  et, 
certes,  lorsque  nous  le  rencontrerons  dirigeant  de  lourds  fardiers 
ä  travers  les  rues  de  la  capitale,  aucun  de  nous  ne  songera  ä 
suspecter  son  sexe.  Cette  femme  est,  en  effet,  une  gaillarde, 
taillee  comme  un  väritable  hercule,  et  eile  se  plait  ä  raconter 
certaines  de  ses  prouesses,  certaines  des  altercations  qu'elle  eut 
avec  des  hommes  —  de  vrais  hommes,  ceux  lä  —  et  qu'elle  vous 
retourna  comme  un  gant.  Toute  sa  personne  dänote  la  force 
physique:  ses  mains  sont  larges  et  puissantes,  les  biceps  Enormes  . 
et  la  töte,  malgr£  l'absence  de  barbe  ou  de  moustache,  ressemble 
plutöt,  avec  ses  cheveux  noirs  et  drus,  tailles  ä  la  Bressan,  ä  un 
visage  d'homme  adulte.  Et  Monsieur  Paul,  qui  vient  d'entrer  dans 
sa  vingt-cinquteme  annee,  s'offre  chaque  semaine  le  luxe  d'une 
söance  chez  le  coiffeur,  qui,  malgr£  que  l'utilit£  ne  s'en  fasse  pas 
sentir,  promene  son  rasoir  sur  la  face  glabre  de  son  client. 
L'histoire  de  cette  femme,  de  cette  jeune  fille?  Elle  est  simple. 
Tout  enfant,  eile  fut  trouvee  par  des  rouliers  et,  comme  on  ne 
put  d6couvrir  ses  parents,  les  charretiers  —  de  braves  gens  — 
l'adopt&rent  —  ä  plusieurs.  Elle  grandit  tant  bien  que  mal  dans 
les  jambes  des  chevaux  et,  lorsqu'elle  eut  atteint  sa  cinqui&me 
ann6e,  eile  Stait  dejä  grandelette.  Ses  p^res  adoptifs,  ä  tour  de 
röle,  remmen£rent,  pour  la  distraire,  faire  avec  eux  leurs  livraisons. 
Et  Tenfant  s'eprit  d'une  veritable  affection  pour  les  chevaux.  De 
la  vie,  eile  ne  connaissait  que  les  charretiers,  qui  la  comblaient 
de  soins  et  de  prGvenances,  et  leurs  robustes  percherons.  On  ne 
songea  jamais  ä  Tenvoyer  ä  l'Gcole,  et  eile  —  et  pour  cause  — 
ne  le  demanda  pas.  Elle  ne  sait,  par  cons£quent,  ni  lire  ni  ecrire, 
mais  eile  n'en  est  pas  moins  tr&s  intelligente,  encore  qu'un  peu 
libre  d'allure  et  de  langage.  Un  jour,  Tenfant  voulut  conduire  un 
attelage.  L'idee  amusa  ses  parents  adoptifs,  hommes  simples,  et, 
pour  lui  permettre  cette  expSrience,  ils  lui  confectionnferent  des 
v£tements  de  jeune  gar9on.  La  filierte  recommen9a  le  lendemain 
et  les  jours  suivants  et,  depuis,  eile  n'a  jamais  plus  quitt£  les 


—    1235    — 

habits  masculins.  Actuellement,  Monsieur  Paul  est  employe  chez 
un  des  plus  importants  camionneurs  de  Paris,  et  ses  patrons, 
ä  tous  les  points  de  vue,  sont  satisfaits  de  ses  Services.  L'homme- 
femme  craint  que  ceux  qui  remploient,  s'ils  apprennent  sa  veri- 
table  identitS,  ne  le  remercient.  C'est  justement  pour  cette  raison 
que  la  malade  de  Lariboisiere  a  supplie  M.  Faure  de  ne  pas 
d6voiler  son  incognito.  Et  puis  Monsieur  Paul  a  peur,  si  son 
sexe  est  connu,  d'etre  en  butte  aux  tracasseries  et,  aussi,  aux 
galanteries  de  ses  camarades.  Or,  Monsieur  Paul  est  sag£  et 
veut  rester  sage  ...  Paul  Erio. 

(Le  Journal,  Paris.) 

Un  homme-femms  ä  Lariboisiere.  11  y  a  quelques  jours,  on 
apportait  ä  l'höpital  Lariboisiere  un  charrettier  qui  venait  d'£tre 
victime  d'un  accident  assez  grave.  C'£tait  un  individu  paraissant 
äg6  d'une  trentaine  d'annSes,  au  masque  glabre,  aux  traits  accen- 
tu£s,  avec  des  cheveux  tr6s  noirs  coupes  drus,  et  pourvu  de 
muscles  d'athl&te.  Quelle  ne  fut  pas  la  stup£faction  des  m£de- 
cins  chargSs  d'examiner  Pinconnu,  en  dexouvrant  que  ce  fort 
gaillard  6tait  ....  une  femme!  Et  une  femme  possedant  tous 
les  attributs  de  son  sexe.  Cet  etrange  personnage,  qui  a  d'aüleurs 
—  tout  comme  Mme  Dieulafoy  —  une  permission  en  r£gle  de 
porter  le  costume  masculin,  repond  au  nom  de  Paul  et  feint  de 
ne  pas  entendre  ceux  des  internes  qui  l'appellent  Madame.  II 
serait  interessant  de  savoir  pour  quel  motif,  et  ä  la  suite  de 
quelles  circonstances,  cette  femme  a  ete  amen6e  ä  choisir  le  rüde 
metier  de  charretier.  (Le  Journal.  Paris.) 


Ein  Mann  in  Frauenkleidung  wurde  in  der  Nacht  zum  Donnerstag 
um  3  Uhr  vor  dem  Hause  Luisenstraße  14  sinnlos  betrunken  auf- 
gefunden. Die  vermeintliche  Frauensperson,  die  schönes  langes 
blondes  Haar  hatte  und  einen  großen  Federhut  trug,  wurde  von 
einem  Schutzmann  und  einem  Wächter  in  die  benachbarte  Charite 
gebracht.  Als  man  sie  hier  betten  wollte,  stellte  sich  heraus, 
daß  man  es  mit  einem  Manne  zu  tun  hatte.  Der  Betrunkene 
wurde  nun  nach  dem  Gewahrsam  des  Polizeipräsidiums  gebracht. 

(Berl.  Morgenzeitung.) 


Männer  in  Frauenkleidern.  Vor  kurzem  starb  in  Freienwalde 
ein  82jähriger  Greis,  der  fast  sein  ganzes  Leben  lang  Frauen- 
kleider getragen   hat.    Der  Mann,   Namens  Klemens  Jung,  hatte 

Jahrbuch  V.  78 


—    1236    — 

sich  als  junger  Bursche  bei  einem  unglücklichen  Sturze  eine 
schwere  Verletzung  am  rechten  Oberschenkel  zugezogen,  so  daß 
ihm  das  Bein  abgenommen  werden  mußte.  Als  er  geheilt  war, 
schämte  er  sich,  mit  dem  hölzernen  Stelzbein  vor  den  Leuten 
herumzugehen  und  zog  deshalb  Frauenkleider  an,  durch  die  sein 
Gebrechen  mehr  verhüllt  wurde.  Beinahe  siebzig  Jahre  lang 
ging  der  Mann,  der  von  seinen  Ortsgenossen  „die  alte  Klementine" 
genannt  wurde,  in  Frauenkleidern  einher.  Es  ist  dies  wohl  die 
seltsamste  Ursache,  wegen  welcher  ein  Mann  in  seiner  äußeren 
Erscheinung  sein  starkes  Geschlecht  verleugnete.  Indessen  gab 
es  und  gibt  es  wohl  heute  noch  zahlreiche  Männer,  die  —  sei  es 
in  einzelnen  Fällen,  sei  es  dauernd  —  Frauenkleider  anlegten, 
was  für  den  gesunden  und  normal  veranlagten  Mann  immer 
etwas  Verächtliches,  Herabwürdigendes  hat.  Es  hat  Männer  ge- 
gegeben, die  zu  bestimmten  Zwecken,  so  um  ihre  Verfolger  auf 
der  Flucht  zu  täuschen,  Frauenkleider  für  kurze  Zeit  anlegten. 
So  floh  z.  B.  der  bekannte  holländische  Gelehrte  und  Staatsmann 
Hugo  Grotius  im  Jahre  1621  in  den  Kleidern  seiner  hochherzigen 
Frau  aus  dem  Gefängnis  und  rettete  sich  nach  Frankreich.  Und 
es  hat  andere  Männer  gegeben,  welche  zu  anderen  Zwecken  der 
Täuschung  die  Maske  der  Frau  annahmen,  sei  es  als  Spione  im 
Kriege,  sei  es  um  Betrügereien  auszuführen.  So  erregte  bei- 
spielsweise im  Jahre  1807  in  England  ein  Gauner  großes  Auf- 
sehen, der  sich  in  Damenkleidung  bewegte  und  insbesondere 
in  Postwagen  bei  vornehmen  Herren  Diebstähle  ausführte,  nach- 
dem er  die  betreffenden  Opfer  zu  allerlei  Liebenswürdigkeiten 
und  zärtlichen  Annäherungen  veranlaßt  hatte.  Und  derartige 
Gauner  sind  wohl  oftmals  vor-  und  nachher  in  großer  Zahl  bis 
auf  unsere  Zeit  aufgetreten.  Weit  interessanter  aber  ist  das 
Gebiet  der  Männer  in  Frauenrollen  auf  der  Bühne.  In  unserer 
heutigen  Zeit  wirkt  die  Darstellung  einer  Frauenrolle  durch 
einen  Mann,  wenn  nicht  gar  unästhetisch  so  doch  höchst  komisch, 
und  nur  zu  komischen  Zwecken  legt  der  männliche  Darsteller 
auf  der  Bühne  Frauenkleider  an.  Besondere  Sensation  erregte 
in  dieser  Beziehung  der  Schwank  „Charleys  Tante",  der  vor 
zehn  Jahren  etwa  von  England  nach  Deutschland  importiert 
wurde  und  noch  heute  manchmal  gegeben  wird,  weil  die  männ- 
liche Hauptrolle,  eine  Verkleidungsrolle,  ungemein  komisch  wirkte. 
Auch  in  den  Vari6t6bühnen  treten  oftmals  Komiker  in  Damen- 
kleidung auf,  doch  wirken  diese  sogenannten  Damenimitatoren 
zumeist  unästhetisch   und  widerlich.    Der  Unterschied  zwischen 


—    1237     — 

diesen  und  den  Darstellern  der  Hauptrolle  von  „Charleys  Tante" 
liegt  freilich  auf  der  Hand.  Die  letzteren  wollen  keine  Frau  in 
Wirklichkeit  darstellen,  das  Publikum,  das  die  Intrigue  des 
Stückes  kennt,  ergötzt  sich  daran,  wie  im  Stücke  eine  Person 
gefoppt  wird  dadurch,  daß  ein  Mann,,  der  jedem  Zuschauer  als 
Mann  bekannt  und  erkennbar  ist,  sich  für  eine  Frau  ausgibt. 
Je  weniger  dieser  Komiker  wirklich  als  Frau  erscheint,  je  mehr 
seine  linkischen  Bewegungen  in  den  Frauenkleidern  das  Publikum 
immer  wieder  an  den  Mann  erinnern,  je  komischer  ist  die 
Wirkung  der  Rolle.  Anders  bei  den  Damenkomikern  und 
Damenimitatoren,  bei  deren  Auftreten  der  Witz  darin  liegen  soll, 
daß  sie  durch  Stimme,  äußere  Erscheinung  und  Allüren  voll- 
kommen den  Mann  zu  verleugnen  suchen  und  als  Frau  auftreten, 
um  plötzlich  dann  am  Schlüsse  ihrer  Vorführung  durch  Rückfall 
ins  männliche  Organ  sich  als  Männer  zu  decouvrieren.  Alles  das 
wirkt  auf  das  feinere  ästhetische  Empfinden  des  modernen  Ge- 
schmacks widerlich.  Das  ist  nun  freilich  nicht  immer  der  Fall 
gewesen;  die  Anschauungen  haben  in  dieser  Beziehung  voll- 
kommen gewechselt.  Es  hat  eine  Zeit  gegeben,  wo  die  Bühne 
überhaupt  von  Frauen  nicht  betreten  wurde  und  Männer  in  weib- 
lichen Rollen  auftraten,  Das  englische  Theater  z.  B.  wurde  erst 
ungefähr  im  Jahre  1670,  unter  Karl  IL,  von  Damen  betreten,  deren 
Rollen  bis  dahin  von  Knaben  und  dem  Alter  dieser  nahe- 
stehenden Jünglingen  gespielt  worden  waren.  Der  letzte  Schau- 
spieler, welcher  sich  in  weiblichen  Rollen  als  Knabe  berühmt 
gemacht  hatte,  so  daß  er  der  Liebling  aller  Damen  war,  lebte 
noch  weit  ins  18.  Jahrhundert  hinein  und  hieß  Kynaston.  Häufig 
fuhren  die  vornehmsten  Ladys,  wenn  er  die  Rolle  der  Julia  oder 
Cordelia  gespielt  hatte,  mit  ihm  im  Hydepark  umher  und  weideten 
sich  an  seiner  Grazie,  Zurückhaltung  und  dem  schönen  Anstände, 
sowie  an  der  Täuschung,  von  welcher  das  große  Publikum  be- 
fangen war,  wenn  es  den  Knaben  für  eine  junge  reizende  Miß 
hielt.  Als  endlich  in  England  auch  die  Frauen  die  Bühne  be- 
traten, erregte  es  zuerst  sittliche  Entrüstung,  und  ein  Epigramm 
aus  jener  Zeit  lautet: 

Da  jetzt  die  Tugend  farblos  geht 

Und's  weibliche  Geschlecht  selbst  ohne  Scham  dasteht, 

So  hat  es  sich  den  Männern  zugesellt, 

Und  tritt  nun  im  Theater  auf  fürs  Geld. 
In  Italien  hatte  sich  die  Sitte   noch  am  längsten  erhalten; 
noch  im  19.  Jahrhundert,  und  in  der  Oper  bis  unsere  Zeit  hinein 

78* 


—     1238    — 

wurden  Frauenrollen  von  Männern  gegeben.  Goethe  widmete  bei 
seinem  zweiten  Aufenthalt  in  Italien  im  Jahre  1790  dieser  selt- 
samen Erscheinung  eine  längere  Betrachtung.  „Es  ist  kein  Ort 
in  der  Welt,"  so  meint  er,  „wo  die  vergangene  Zeit  so  unmittel- 
bar und  mit  so  mancherlei  Stimmen  zu  dem  Beobachter  spräche, 
als  Rom.  So  hat  sich  auch  dort  unter  mehreren  Sitten  zufälliger 
Weise  eine  erhalten,  die  sich  an  allen  Orten  nach  und  nach  fast 
gänzlich  verloren  hat.  Die  Alten  ließen,  wenigstens  in  den  besten 
Zeiten,  keine  Frau  das  Theater  betreten.  Ihre  Stücke  waren  ent- 
weder so  eingerichtet,  daß  Frauen  mehr  und  weniger  entbehrlich 
waren,  oder  die  Weiberrollen  wurden  durch  einen  Akteur  vor- 
gestellt, welcher  sich  besonders  darauf  geübt  hatte.  Derselbe 
Fall  ist  noch  in  dem  neueren  Rom  und  dem  übrigen  Kirchen- 
staat, außer  Bologna,  welches  unter  anderen  Privilegien  auch  die 
Freiheit  genießt,  Frauenzimmer  auf  seinen  Theatern  bewundern 
zu  dürfen."  Goethe  findet  die  Ursache  der  Erscheinung,  daß  sich 
in  Rom  die  Sitte  am  längsten  erhalten  habe,  darin,  daß  „die 
neueren  Römer  überhaupt  eine  besondere  Neigung  haben,  bei 
Maskeraden  die  Kleidung  beider  Geschlechter  zu  verwechseln". 
„Im  Karneval",  so  erzählt  er,  „ziehen  viele  junge  Burschen  im 
Putz  der  Frauen  aus  der  geringsten  Klasse  umher,  und  scheinen 
sich  gar  sehr  darin  zu  gefallen.  Kutscher  und  Bediente  sind  als 
Frauen  oft  sehr  anständig  und,  wenn  es  junge,  wohlgebildete 
Leute  sind,  zierlich  und  reizend  gekleidet.  Dagegen  finden  sich 
Frauenzimmer  des  mittleren  Standes  als  Pulcinelle,  die  vorneh- 
meren in  Offizierstracht  gar  schön  und  glücklich.  Jedermann 
scheint  sich  dieses  Scherzes,  an  dem  wir  uns  alle  einmal 
in  der  Kindheit  vergnügt  haben,  in  fortgesetzter  jugendlicher  Tor- 
heit erfreuen  zu  wollen.  Es  ist  sehr  auffallend,  wie  beide  Ge- 
schlechter sich  in  dem  Scheine  dieser  Umschaffung  vergnügen, 
und  das  Privilegium  des  Tiresias  so  viel  als  möglich  zu  usur- 
pieren suchen."  „Ebenso  haben",  so  sagt  Goethe  dann  weiter, 
„die  jungen  Männer,  die  sich  den  Weiberrollen  widmen,  eine 
besondere  Leidenschaft,  sich  in  ihrer  Kunst  vollkommen  zu  zeigen. 
Sie  beobachten  die  Mienen,  die  Bewegungen,  das  Betragen  der 
Frauenzimmer  auf  das  Genaueste:  sie  suchen  solche  nachzu- 
ahmen, und  ihrer  Stimme,  wenn  sie  auch  den  tiefen  Ton  nicht 
verändern  können,  Geschmeidigkeit  und  Lieblichkeit  zu  geben; 
genug,  sie  suchen  sich  ihres  eigenen  Geschlechts  so  viel  als 
möglich  zu  entäußern.  Sie  sind  auf  neue  Moden  so  erpicht,  wie 
Frauen  selbst;  sie  lassen  sich   von  geschickten  Putzmacherinnen 


—    1239    — 

herausstaffieren,  und  die  erste  Aktrice  eines  Theaters  ist  meist 
glücklich  genug,  ihren  Zweck  zu  erreichen.  Was  die  Nebenrollen 
betrifft,  so  sind  sie  meist  nicht  zum  besten  besetzt;  und  es  ist 
nicht  zu  leugnen,  daß  Colombine  manchmal  ihren  blauen  Bart 
nicht  völlig  verbergen  kann.  Allein  es  bleibe  auf  den  meisten 
Theatern  mit  den  Nebenrollen  überhaupt  so  eine  Sache ;  und  aus 
den  Hauptstädten  anderer  Reiche,  wo  man  weit  mehr  Sorgfalt 
auf  das  Schauspiel  wendet,  muß  man  oft  bittere  Klagen  über 
die  Ungeschicklichkeiten  der  dritten  und  vierten  Schauspieler,  und 
über  die  dadurch  gänzlich  gestörte  Illusion  vernehmen.  Ich  be- 
suchte die  römischen  Komödien  nicht  ohne  Vorurteil;  allein  icli 
fand  mich  bald,  ohne  daran  zu  denken,  versöhnt;  ich  fühlte  ein 
mir  noch  unbekanntes  Vergnügen,  und  bemerkte,  daß  es  viele 
andere  mit  mir  teilten.  Ich  dachte  der  Ursache  nach,  und  glaubte 
sie  darin  gefunden  zu  haben,  daß  bei  einer  solchen  Vorstellung 
der  Begriff  der  Nachahmung,  der  Gedanke  an  Kunst,  immer  leb- 
haft blieb,  und  doch  das  geschickte  Spiel  nur  durch  eine  Art 
von  selbstbewußter  Illusion  hervorgebracht  wurde.  Wir  Deutschen 
erinnern  uns,  durch  einen  fähigen  jungen  Mann  alte  Rollen  bis 
zur  größten  Täuschung  vorgestellt  gesehen  zu  haben,  und  er- 
innern uns  auch  des  doppelten  Vergnügens,  das  uns  jener 
Schauspieler  gewährte.  Ebenso  entsteht  ein  doppelter  Reiz  da- 
her, daß  diese  Personen  keine  Frauenzimmer  sind,  sondern 
Frauenzimmer  vorstellen.  Der  Jüngling  hat  die  Eigenheiten  des 
weiblichen  Geschlechts  in  ihrem  Wesen  und  Betragen  studiert; 
er  bringt  sie  als  Künstler  wieder  hervor;  er  spielt  nicht  selbst, 
sondern  eine  dritte  und  eigentlich  fremde  Natur.  Wir  lernen 
diese  dadurch  nur  desto  besser  kennen,  weil  sie  jemand  beob- 
achtet, jemand  überdacht  hat;  und  uns  nicht  die  Sache,  sondern 
das  Resultat  der  Sache  vorgestellt  wird."  Goethe  schildert  dann 
im  weiteren  noch,  wie  er  die  Locandiera  von  Goldoni  von  einem 
Jüngling  dargestellt  gesehen  habe;  die  Rolle  ist  durch  die  Düse 
in  Deutschland  vielfach  bekannt  geworden  —  und  Goethe  meint, 
daß  gerade  in  dieser  Rolle,  in  der  die  unmittelbare  Wahrheit 
durch  eine  Darstellerin  vielfach  empören  müsse,  ein  männlicher 
Darsteller  mit.  seiner  Nachahmung  mehr  befriedige,  und  kommt 
zu  dem  Schluß,  daß,  „wenn  nicht  jeder  sich  daran  ergötzen  sollte, 
so  findet  der  Denkende  doch  Gelegenheit,  sich  jene  Zeiten  ge- 
wissermaßen zu  vergegenwärtigen,  und  ist  geneigter,  den  Zeug- 
nissen der  alten  Schriftsteller  zu  glauben,  welche  uns  an  mehreren 
Stellen    versichern:     es    sei    männlichen    Schauspielern    oft   im 


—    1240    — 

höchsten  Grade  gelungen,  in  weiblicher  Tracht  eine  geschmack- 
volle Nation  zu  entzücken."  Indessen  hat  man  sich  in  Deutsch- 
land zu  Goethes  Zeiten  schon  lange  von  solchen  Anschauungen 
entwöhnt,  wie  bekanntlich  überhaupt  die  wenig  naturwahre  Bühnen- 
kunst Weimars  stets  angefochten  wurde.  Schon  zu  Goethes 
Zeiten  benutzte  man  die  Darstellung  von  Frauenrollen  durch 
Männer,  ebenso  wie  die  sogen.  Beinkleiderrollen  der  Frauen,  um 
Heiterkeit  zu  erregen,  und  einige  Jahre  nach  Goethes  Tode  war 
es  einer  der  tollsten  Bühnenschwänke,  der  auf  allen  deutschen 
Bühnen  die  größte  Heiterkeit  erregte,  Das  Fest  der  Handwerker, 
dieses  noch  heute  zuweilen  gegebene  Possenstück  „mit  ver- 
kehrter Besetzung0  darzustellen,  d.  h.  die  Männerrollen  durch 
Frauen,  die  Frauenrollen  durch  Männer  geben  zu  lassen,  und  bis 
in  unsre  Tage  tauchte  von  Zeit  zu  Zeit  solche  Harlekinade  auf, 
in  denen  der  Komiker  sich  Frauenkleider  anlegte.  Kurz  vor 
Charleys  Tante  wurde  ein  deutscher  Schwank,  betitelt  Ameri- 
kanisch, gegeben,  in  dem  mit  demselben  Mittel  der  gleiche 
komische  Effekt  erzielt  wurde.  Im  Cirkus  und  auf  der  Speziali- 
tätenbühne soll  es  übrigens  heute  noch  nicht  selten  vor- 
kommen, daß  Männer  in  weiblicher  Verkleidung  in  allen  mög- 
lichen Künsten  sich  zeigen.  Bei  einem  Cirkus  wirkte  auch  der 
bekannte  Cirkusschriftsteller  Emil  Mario  Vacano  einst  als  „Signora 
Sanguetta«.  Der  seltsamste  Mann,  der  je  in  Frauenkleidern 
lebte,  war  der  bekannte  Chevalier  d'Eon,  von  dem  es  freilich 
nicht  ganz  feststeht,  ob  er  eine  Frau  oder  ein  Mann  gewesen, 
Die  neuesten  Forschungen  neigen  der  zweiten  Annahme  zu. 
zu.  Er  wurde  im  Jahre  1723  zu  Tonnerre  in  Bourgogne  geboren 
und  wurde,  nachdem  er  die  Rechte  studiert  hatte,  vom  Prinzen 
Conti  dem  König  Ludwig  XV.  für  den  diplomatischen  Dienst  em- 
pfohlen. Bei  verschiedenen  Gelegenheiten  trat  er  schon  in  diesen 
diplomatischen  Missionen,  die  ihm  nun  übertragen  wurden,  in 
Frauenkleidung  auf.  Später  muß  er  auf  ausdrücklichen  Befehl 
Ludwigs  XVI.  weibliche  Kleidung  dauernd  tragen.  Seit  dem 
Jahre  1784  lebte  er  wieder  in  London  und  ernährte  sich  durch 
Fechtunterricht,  doch  ging  er  stets  in  Damenkleidern,  glich  auch 
in  seinem  völlig  bartlosen  Gesicht  und  mit  seiner  zarten  Gestalt 
einem  Weibe.  Er  starb  in  London  im  Jahre  1810.  Völlig  auf- 
gelöst ist  das  Rätsel  seines  Lebens  nie,  und  wenn  auch  festzu- 
stehen scheint,  daß  er  zu  den  Männern  gehörte,  die  in  Weiber- 
kleidern einhergingen,  so  bleibt  es  umsomehr  rätselhaft,  warum 
dies  geschehen.  (Kölnische  Volkszeitung.) 


—     1241     — 

Ein  Betrüger  in  Frauenkleidern.  Gestern  nachmittag  betrat 
eine  feingekleidete  Dame  den  „Alsterpark"  und  ließ  sich  zwei- 
mal Rühreier  mit  Schinken  und  Spargel  vorsetzen.  Hierauf  ver- 
langte und  erhielt  sie  Kaffee.  Nachdem  sie  einen  Brief  geschrieben, 
bat  sie  den  Hauskellner,  er  möge  ihrem  draußen  wartenden 
Kutscher  auch  Kaffee  und  Kuchen  bringen.  Während  der  Kellner 
diesen  Auftrag  ausführte,  lief  die  Person  aus  dem  Garten.  Als 
ein  Kassierer  sie  anhielt,  bat  sie,  er  möge  sie  doch  laufen  lassen, 
sie  komme  gleich  wieder  und  dann  erhalte  er  ein  feines  Trink- 
geld. Als  der  Kassierer  sie  genauer  betrachtete,  entdeckte  er, 
daß  ein  Mann  in  den  Kleidern  steckte.  Bald  danach  kamen  der 
Hauskellner  und  der  Droschkenkutscher  gelaufen  und  fragten  nach 
der  Dame.  Als  man  ihnen  sagte,  diese  sei  schnell  weggelaufen, 
erzählten  die  beiden,  es  sei  ein  Mann,  der  in  den  Frauenkleidern 
stecke.  Der  Gauner  habe  den  Kellner  um  10  Mk.  und  den 
Droschkenkutscher  um  18  Mk.  Fahrgeld  betrogen.  Auf  dem 
Tische,  an  dem  der  Schwindler  gegessen  hatte,  hatte  er  einen 
Brief  liegen  lassen,  der  an  einen  Offizier  in  einem  hiesigen 
Hotel  gerichtet  war.  Der  Brief  enthielt  die  Worte,  daß  die 
Schreiberin  nicht  mehr  länger  mit  ihm  leben  könne  und  sich 
töten  wolle.  (Hamburger  Echo.) 


Spremberg  i.  L.,  12.  Juni.  Unter  der  Stichmarke:  „Ein 
Mann  in  Frauenkleidern"  schreibt  man  uns:  Verschiedene  Per- 
sonen unsrer  Stadt  ist  in  letzter  Zeit  eine  weibliche  Person  auf- 
gefallen, Witwe  Hedwig  Fischer,  geb.  Adler  aus  Königsbrück  mit 
Namen,  von  der  man  annehmen  mußte,  daß  sie  keine  Frau  sei. 
Auch  unserer  Polizei  war  die  Sache  verdächtig  vorgekommen. 
Man  ging  demnach  der  Sache  auf  die  Spur.  Es  wurden  Erkun- 
digungen eingezogen,  und  nach  der  heute  vorgenommenen  Ver- 
handlung wurde  durch  einen  Zeugen  festgestellt,  daß  die  Hedwig 
Fischer,  die  am  27.  Mai  1850  in  Königsbrück  geboren  sein  will, 
der  am  28.  September  1845  in  Großenhain  geborene  Weber 
Julius  Wilhelm  Paul  Fischer  ist.  Er  war,  wie  weiter  ermittelt 
wurde,  in  Großenhain  verheiratet,  lebte  seit  einigen  Jahren  aber 
von  der  Frau  wegen  Ehezwistigkeiten  getrennt  und  ist,  wie  er 
angibt,  zu  dem  Schritte  der  Verkleidung  gekommen,  um  dadurch 
ein  besseres  Fortkommen  zu  haben.  Der  Weber  Fischer  ist,  wie 
ferner  festgestellt  wurde,  in  Posen  bereits  seit  ein  paar  Jahren 
als  Kinderfrau  in  Stellung  gewesen.    Im  großen  Ganzen   macht 


—     1242  .— 

er  äußerlich  nicht  den  Eindruck  eines  Mannes,  da  er  eine  Perrücke 
und  stets  einen  Korb  bei  sich  trug.  (Frankf.  Oder-ztg.) 


Wien:  In  einem  Vorstadtspital  lebt  noch  heute  ein  altes 
Mütterchen,  die  einst  bessere  Tage  gesehen  und  auf  den  Brettern 
der  Vari6t6s  reichen  Beifall  geerntet  hat.  Sie  verdankt  ihre  Er- 
folge ihrem  eigenartig  männlichen  Wesen,  das  sie  befähigte,  als 
Volkssänger  aufzutreten.  Hinter  dem  schnurrbärtigen  Manne  mit 
der  sonoren  Tenorstimme  und  den  vollkommen  natürlichen 
energischen  Bewegungen  hatte  wohl  niemand  das  Weib  ver- 
mutet, und  mancher  ihrer  Bewunderer  war  lange  Zeit  hindurch 
der  Meinung,  daß  „die"  Pepi  wirklich  „der"  Pepi  wäre.  Das 
fortschreitende  Alter  hinderte  Josephine  Schmeer,  so  ist  Pepis 
eigentlicher  Name,  ihre  natürliche  Veranlagung  im  Dienste  einer 
Kunst  zu  verwerten,  die  so  recht  bezeichnend  war  für  das  lustige 
Treiben  der  alten  Kaiserstadt. 

Josephine  oder  Pepi  Schmeer,  der  weibliche  Fürst,  ist 
ins  Versorgungshaus  gegangen  und  beim  „Blauen  Herrgott41, 
dem  freundlichen  Greisenasyl  der  Mutter  Vindobona,  wird 
sie  ruhig  ihre  Tage  beschließen.  Sie  hat  schöne  Tage  ge- 
sehen, die  Pepi  Schmeer,  denn  sie  war  eine  ganz  originelle 
Erscheinung  auf  dem  Brettl.  Viele  von  denen,  deren  Beruf 
es  war,  in  der  schönen  Stadt  am  blauen  Donaustrande  zu  singen 
und  zu  sagen,  haben  unter  dem  schützenden  Obdach  des  „Blauen 
Herrgott"  ihren  letzten  Seufzer  ausgehaucht,  denn  dem  Volks- 
barden flicht  schon  die  Mitwelt  keine  Kränze.  Die  Schmeer  hieß 
der  „weibliche  Fürst11.  Als  sie  vor  40  Jahren  in  kleinen  Rollen 
im  Pratertheater  spielte,  imitierte  sie  den  Direktor  so  täuschend, 
daß  man,  wenn  sie  ungesehen  blieb,  den  Fürst  zu  hören  glaubte. 
Und  sie  blieb  der  „weibliche  Fürst"  auf  allen  Plakaten,  in  denen 
sie  das  Publikum  zu  ihren  Soireen  einlud.  Sie  trat  immer  in 
Männerkleidern  auf.  Man  sagte,  sie  hätte  eine  spezielle  Be- 
willigung der  Polizei  hierbei  gehabt.  So  lange  sie  jung,  ge- 
schmeidig und  fesch  war,  bildete  das  Mädchen  in  Männerkleidern 
eine  Anziehungskraft.  Sie  soll  auch  zu  Hause  lieber  in  Männer- 
kleidern gegangen  sein,  als  in  weiblicher  Toilette.  Ursprünglich 
Tänzerin,  brachte  sie  es  bis  zur  Balletmeisterin  und  wurde  später 
Volkssängerin.  Zuerst  trat  sie  in  Budapest  auf  und  kam  dann 
nach  Wien.  Die  Grazie  und  die  Anmut  ihrer  Bewegungen  ließen 
sofort  die  einstige  Tänzerin  erraten.  Mit  einem  Liede  machte  sie 
Furore  in  Wien  und  die  ganze  Wienerstadt  sang  es  ihr  nach,  bis 


—    1243    — 

heute  ist  es  ein  geflügeltes  Wort  im  Wiener  Dialekt  geblieben: 
„Außi  möcht'  i  geh'n«.  Das  sang  sie  unnachahmlich.  Das  waren 
ihre  besten  und  schönsten  Tage,  als  Alle  dieses  Lied  von  ihr 


Volkssänger  Josefine  Schmeer. 


hören  wollte.  Vor  etwa  zehn  Jahren  wurde  sie  vom  Schlage  ge- 
rührt und  die  braven  Kollegen  und  Kolleginnen  mußten  der  Vete- 
ranin des  Brettls  zu  Hilfe  eilen.    Sie  trat  dann  einige  Male  wieder 


—    1244    — 

auf,  aber  ihre  Kraft  war  gebrochen  und  so  sah  sie  sich  endlich 
genötigt,  ins  Versorgungshaus  zu  gehen.  In  der  Geschichte  des 
Wiener  Volkssängertunis  wird  man  Josephine  Schmeer,  den  weib- 
lichen „Fürst",  nicht  vergessen  dürfen,  und  diejenigen,  die  sie  in 
ihrer  Blütezeit  gekannt,  werden  nicht  ohne  Teilnahme  von  ihrem 
Geschicke  erfahren.  (Der  Artist,  Düsseldorf.) 


Hid  his  sex  f or  thirty  Years.  Rockland.  The  person  supposed 
to  be  Lillian  G.  Carver  of  North  Haven  is  in  reality  Arthur  L. 
Carver.  „Lillian  G.  Carvera  for  thirty  years  has  lived  in  North 
Haven  with  „her"  parents,  and  for  some  years  past  has  conducted 
a  candy  störe  and  barber  shop.  „Miß  Carver"  is  dired  of  mas- 
querading  under  the  female  guise,  evidently  judging  from  this 
affidavit:  „Having  been  known  in  North  Haven,  Me.  (my  birth- 
place  and  home  for  thirty  years)  as  a  female  by  the  name  of 
Lillian  G.  Carver,  I  do  hereby  publicly  declare  thad  I  have  been 
masquerading,  and  for  more  than  ten  years  against  my  wishes. 
Force  of  habit,  filial  regard  and  dread  of  the  necessary  Sensation 
attendänt  upon  such  a  step  have  prevented  me  from  doing  my 
duty,  which  now,  as  a  Christian,  I  undertake  to  do.  My  real  name 
is  Arthur  Leslie  Carver  and  I  am  a  man.  „Arthur  L.  Carver." 
„Wittness:  Lyman  R.  Swett,  Boston,  Nov.  16, 1901.  „Mrs.  Martha 
E.  Carver,  George  E.  Carver,  Rockland,  Dec.  10,  1901." 


„Evaa  Humbert  ein  —  Mann?  Die  geniale  Frau  Humbert, 
welche  durch  ihre  Schlauheit  so  viele,  viele  Millionen  von  ver- 
trauensseligen Landsleuten  einzuheimsen  wußte,  wird  jetzt  eines 
neuen  originellen  Schwindelmanövers  bezichtigt.  Man  vermutet 
nämlich,  sie  habe  ihr  Eva  genanntes  Kind  fälschlich  als  Mädchen 
ausgegeben,  um  gewisse  Zwecke  bei  der  Ausbeutung  des  Mär- 
chens von  der  Millionenerbschaft  zu  erreichen.  Ein  Privattele- 
gramm berichtet  uns:  Paris,  29.  Mai,  2  Uhr  5  Min.  Nachmittags. 
(Von  unserem  u.-Correspondenten.)  Von  Personen,  welche  mit 
der  Familie  Humbert  eng  befreundet  waren,  liegt  eine  Erklärung 
vor,  daß  „Fräulein  Eva  Humbert",  deren  auffallend  hohe  Gestalt 
und  ganz  unweiblich  klingende  Stimme  jedermann  befremdeten, 
männlichen  Geschlechtes  sei.  Als  Motiv  dieses  Betruges  wird 
angegeben,  daß  schon  vor  Geburt  dieses  Kindes  der  Crawford- 
Schwindel  eingeleitet  war.  Nach  dem  ursprünglichen  Plane  hatte 
der  alte  Crawford  die  Tochter  des  angebeteten,  aber  leider  einem 
Anderen  vermählten  Weibes  (der  Frau  Humbert)  zur  Erbin  der 


—     1245    — 

Hundert  Millionen  unter  der  Bedingung  eingesetzt,  daß  das  junge 
Mädchen  als  Achtzehnjährige  den  Neffen  des  Erblassers  heirate. 
Und  zur  Durchführung  dieser  romantischen  und  rührenden  Kom- 
bination hatte,  -  vermutet  man,  Frau  Humbert  das  Taufregister 
fälschen  lassen.  (Beri.  L.-Anz.) 


L'habit  ne  fait  pas   le   moine Dimanche  dernier  un 

gar$on  de  cafe,  imberbe,  proprement  v£tu,  s'etait  presente  au 
commissariat  du  quartier  du  Palais-Royal,  rue  des  Bons-Enfants. 
Apres  avoir  d6clar6  s'appeler  Ernest  Palier,  äg&  de  vingt-huit  ans, 
demeurant  rue  du  Cloltre- Saint- Honore,  il  s'etait  plaint  d'avoir 
et6  victime  d'un  vol  assez  important  de  la  part  d'une  femme,. 
Euge'nie  Chevalier.  Je  ne  demande  qu'une  chose,  avait  ajoute 
Palier,  c'est  qu'elle  me  rende  mon  argent.  Si  eile  consent  ä 
cette  restitution,  je  retirerei  ma  plainte.  Fort  bien,  r6pondit  M. 
Egartheler,  mais  vous  oubliez  d'indiquer  l'adresse  de  cette  femme? 
Elle  habitait  le  meme  hötei  que  moi,  dit  le  gar$on  de  cafe,  et 
hier  eile  a  demenage  ä  la  cloche  de  bois.  J'ignore  oü  eile  se 
trouve  actuellement.  Je  vais  la  faire  rechercher.  De  votre  cöt6, 
si  vous  apprenez  du  nouveau,  vous  voudrez  bien,  je  vous  prie, 
m'en  avertir.  Hier  matin,  Ernest  Palier  retournait  rue  des  Bons- 
Enfants  et  disait  au  commissaire:  Je  viens  de  retrouver  ma 
voleuse.  Elle  est  en  place  rue  Vivienne.  M.  Egartheler  se  fit 
aussitöt  amener  Eugänie  Chevalier  par  un  de  ses  inspecteurs. 
Celle-ci  entra  dans  un  acces  de  colere  folle  en  apercevant  le 
gar$on  de  cafe:  Comment,  s'ecria-t-elle,  tu  as  os£  deposer  une 
plainte  contre  moi?  Eh!  bien,  tu  vas  me  le  payer.  Je  vais  tout 
dire.  Et,  se  tournant  vers  le  magistrat:  Ernest  Palier  n'est  pas 
un  homme,  mais  une  femme,  dit-elle.  Ernest  Palier  s'appelle 
Marie  Duval.  Comme  eile  se  trouvait  sans  travail,  il  y  a  trois 
mois,  eile  a  eu  l'idäe  de  se  faire  couper  les  cheveux  et  d'endosser 
le  costume  masculin.  Depuis  lors,  eile  sert  d'extra  dans  les 
cafes.  On  juge  de  P&onnement  de  M.  Egartheler  ä  cette 
r£v£lation  inattendue.  Le  ganzem  de  cafe  avait  bl£mi.  II  dut 
finir  par  avouer,  ä  sa  grande  confusion,  qu'Eugenie  Chevalier 
avait  dit  la  v6rit£:  C'est  vrai,  balbutia-t-il,  je  suis  une  femme. 
Quel  mal  y  a-t-il  ä  cela,  d'ailleurs?  Aucun,  rgpondit  M.  Egartheler; 
seulement,  je  me  vois  neanmoins  contraint  de  vous  dresser 
contravention.  C'est  le  sourire  aux  levres  —  Fäpre  sourire  de  la 
vengeance  —  qu'Eugenie  Chevalier  est  mont6e  dans  le  panier  ä 
salade  pour  se  rendre  au  Depot. 


—     1246    — 

Who  is  „Mr."  Harry  Hight?  Special  to  the  Post-Dispatch. 
Springfield,  HL,  Sept.  25.— Mystery  surrounds  the  identity  of  a> 
joung  woman,  attired  in  male  clothing,  arrested  in  this  city  by 
the  police.  The  woman  gives  her  name  as  „Harry  Hight",  and 
says  she  is  from  St.  Louis.  The  St.  Louis  police  assert  that  no 
person  of  her  description  is  known  to  them.  The  arrest  here 
was  made  upon  Information  received  from  Litchfield  notifying 
the  police  of  this  city  to  look  out  for  the  masquerader.  The 
woman  was  turned  over  to  Chief  of  Police  Herring.  Questions 
were  immediately  plied  concerning  her  name,  her  home  and  her 
purpose  in  going  about  in  male  attire.  A  smile  stole  over  her 
•face  as  she  replied,  „My  name  is  Harry  Hight.  I  have  been 
stopping  for  seven  weeks  in  St.  Louis.  I  am  now  in  Springfield 
and  expect  to  remain  here  a  short  time.  As  to  my  home  or  who 
my  relatives  are  you  will  have  to  guess.a  „Well,  are  you  a  man 
or  a  woman?"  asked  Officer  Jones.  „I  am  a  man,  and  I  wish 
you  would  address  me  as  Mr.,  if  you  please,"  responded  the 
prisoner.  Effort  after  effort  was  tried  to  make  her  disclose  her 
identity,  but  the  woman  only  laughed  at  the  officers.  She  was 
good-natured  about  everything.  The  officers  examined  her 
clothes  and  found  that  what  she  wore  was  new.  She  was 
attired  in  a  blue  serge  suit,  wore  a  black  stiff  hat,  a  high  turned- 
down  collar  with  a  polka  dot  tie.  Her  shoes  were  light  in 
weight,  but  patterned  after  a  man's  shoe.  In  the  crown  of  her 
hat  was  the  inscription:  „Bulwer  &  Co."  and  „W.  B.  &  Mc  Hat  Co.", 
St.  Louis,  Mo.  Two  envelopes  addressed  to  Col.  A.  H.  Wheat 
of  Litchfield,  and  to  J.  W.  Dean  of  Tower  Hill  were  found  in 
her  possession.  After  this  examination  was  made  and  another 
effort  was  tried  to  get  the  prisoner  to  talk,  she  was  locked  up 
in  the  woman's  departement  of  the  city  prison.  An  examination 
of  a  fine  alligator  skin  travelling  bag,  which  the  woman  carried, 
was  then  made.  In  it  was  a  lady's  tailormade  black  suit,  two 
silk  skirts,  a  jacket  and  underskirt,  a  spectacle  case,  some  powder, 
a  curling  iron  and  a  bottle  of  paregoric.  The  label  on  the  bottle 
bore  the  name  Rüssel  Riley,  1400  Olivestreet,  St.  Louis.  On 
the  sqectacle  case  was  the  name,  „C.  W.  Beardsley",  jeweler  and 
optician,  Litchfield,  III.  The  prisoner  was  photographed  and  took 
her  place  before  the  camera  without  any  protest.  When  it  was 
over  she  laughed  and  said  she  hoped  every  one  was  now  satisfied. 
The  self-styled  Mr.  Hight  is  about  5  feet  7  inches  tall  and  weighs 
about  125  pounds.    She   is  a  blonde  ande  fairly  good  looking. 


—     1247    — 

Her  hair  has  been  blondined  and  is  parted  on  one  side.  Her 
teeth  are  pretty.  Four  have  gold  crowns  on  them  and  some  of 
the  Oders  are  filled  witth  gold.  The  prisoner  will  be  kept  in  the 
city  prison  for  a  few  days  on  suspicion.  At  the  end  of  this  time 
if  nothing  can  be  found  out  conceraing  her  career  she  will  be 
prosecuted  on  a  Charge  of  masquerading  in  male  attire.  The 
officers  hope  to  plan  a  mode  of  procedure  that  will  assist  in 
getting  her  to  throw  off  the  mask.  —  The  Mystery  at  Litchfield. 
Special  to  the  Post-Dispatch.  Litchfield,  111.,  Sept.  25.— Saturday 
evening  about  7  o'clock  two  persons  registered  at  the  Blacburn 
Hotel  of  this  city,  under  de  names  of  J.  Howard,  St.  Louis,  and 
Harry  Hight,  St.  Louis.  The  elderly  gentleman  was  about  6  feet 
tall,  about  50  years  of  age  and  wore  very  nice  and  well  kept 
Van  Dyke  whiskers.  They  occupied  the  same  room  in  the  hotel 
Saturday  night,  and  the  old  gentleman  left  on  Sunday  morning, 
stating  that  Higbt  would  leave  on  Tuesday  morning.  Before  the 
departure  of  Hight  for  Springfield  it  was  suspected  that  she  was 
a  woman,  and,  alter  he  had  gone,  the  Springfield  police  were 
notifid. 

In  Lemberg  wurde  ein  in  einem  Hotel  bediensteter  Kellner, 
der  auf  den  Namen  Michael  hörte,  wegen  Führung  eines  falschen 
Dienstbuches  mit  drei  Tagen  Arrest  bestraft.  Es  stellte  sich 
nämlich  heraus,  daß  Michael  ein  verkleidetes  Mädchen  war.  Als 
zehnjähriges  Kind  war  Michaeline  aus  dem  Elternhaus  entflohen 
und  hatte  als  Bursche  verkleidet  eine  Stellung  angenommen. 


Am  Silvesterabend  gegen  7  Uhr  erregte  in  Altenburg  unterm 
Schloß  ein  Frauenzimmer  in  Männerkleidern  berechtigtes  Auf- 
sehen und  Ärgernis,  zumal  es  betrunken  war.  Ein  hinzugerufener 
Schutzmann   brachte   das  Frauenzimmer  in  sicheren  Gewahrsam. 

(Geraer  Zeitung,  Gera-Reuß.) 


Über  die  Eheschließung  zwischen  zwei  Mädchen,  die,  wie 
bereits  telegraphisch  gemeldet  wurde,  in  Spanien  das  größte  Auf- 
sehen erregte,  liegen  jetzt  ausführliche  Mitteilungen  vor.  Aus 
Madrid  wird  nämlich  geschrieben:  Unter  der. Bevölkerung  von 
La  Corunna  herrscht  gegenwärtig  große  Aufregung  über  ein  Er- 
eignis, das  einem  phantastischen  Romane  zu  entstammen  scheint; 
handelt  es  sich  doch  um  die  bürgerliche  und  kirchliche  Ehe 
zwischen  zwei  Mädchen,    die  erst  vor  wenigen  Tagen  vollzogen 


—     1248    — 

wurde  und  plötzlich,  man  weiß  nicht  wie,  ans  Tageslicht  gekommen 
ist.  Die  Geschichte  des  Verhältnisses  der  beiden  Frauen  ist 
folgende:  Anfangs  der  achtziger  Jahre  des  verflossenen  Jahr- 
s  hunderts  besuchten  die  beiden  jungen  Mädchen  Marcela  Gracia 
Ibaas  und  Elisa  Sanchez  das  Lehrerinnen  -  Seminar  in  La 
Corunna.  Zwischen  beiden  Mädchen  entspann  sich  eine  intime 
Freundschaft,  welche  wegen  ihres  seltsamen  Charakters  den  Eltern 
i  der  jungen  Marcela  ein  Gräuel  war.    Alle  Warnungen,    die   an 

|  Marcela  gerichtet  wurden,  waren  vergeblich;  sie  wollte  den  Ver- 

kehr mit  der  gefährlichen  Freundin  nicht  abbrechen.    Selbst  ein 
ausdrückliches  Verbot   blieb   fruchtlos.    Marcela   ließ  sich  voll- 
j  ständig  von  ihrer  Sappho  beherrschen  und  vernachlässigte  ihre 

!  Eltern.    Um  dem  Treiben   seiner  Tochter  ein  Ende  zu  machen, 

i  ließ  sich  ihr  Vater,  ein  Hauptmann,  nach  Madrid  versetzen.   Nach 

Jahren  trafen  die  beiden  Mädchen  —  Marcelas  Vater  war  ge- 
storben —  wieder  in  La  Corunna  zusammen,  um  jsich  nicht  wieder 
|  zu  trennen.  Elisa  Sanchez  gab  ihre  Lehrerinnenstelle  auf  und  zog 

zu  ihrer  Freundin  Marcela,  die  in  der  Nähe  von  La  Corunna  als 
Lehrerin  angestellt  war.  Vor  einigen  Monaten  kam  Elisa  auf  den 
tollen  Gedanken,  mit  ihrer  Freundin  eine  Ehe  in  aller  Form  ein- 
zugehen. Sie  stellte  sich  in  Männerkleidern  bei  einem  Geist- 
lichen in  La  Corunna  vor  und  bat  ihn,  sie  zu  taufen;  dies  sei 
nämlich  früher  aus  Rücksicht  auf  die  religiösen  Anschauungen  des 
Vaters  unterlassen  worden;  sie  sei  in  London  erzogen  worden, 
aber  sie  wünsche  dem  katholischen  Glauben  Treue  zu  schwören, 
um  sich  mit  der  Marcela  Gracia,  die  dem  Geistlichen  sehr  gut 
bekannt  war,  zu  verheiraten.  Das  Benehmen  des  angeblichen 
Mannes  war  ein  derartiges,  daß  der  Geistliche  nichts  Böses  ahnte 
und  nach  einer  sehr  erfolgreichen  Unterweisung  in  der  katholischen 
Lehre  am  26.  Mai  den  38jährigen  „Mann"  auf  den  Namen  Mario 
Jos£  Sanchez  taufte.  Mittlerweile  hatte  der  falsche  Mario  Sanchez 
die  Eheschließung  mit  Marcela  Gracia  vorbereitet.  Da  alle  Doku- 
mente in  bester  Ordnung  und  das  Aufgebot  in  formeller  Weise 
erledigt  war,  stand  der  Ehe  nichts  mehr  im  Wege.  Am  8.  Juni 
fand  die  Eheschließung  in  aller  Form  statt;  ein  Verwandter  des 
„Bräutigams"  war  einer  der  Trauzeugen.  In  diesen  Tagen  nun 
lief  bei  dem  Geistlichen,  der  den  angeblichen  Mario  getauft  und 
getraut  hatte,  eine  regelrechte  Anzeige  ein,  nach  welcher  er  und 
alle  an  den  religiösen  Handlungen  beteiligten  Personen  das  Opfer 
eines  frechen  Betruges  geworden  waren.  Der  Geistliche  übergab 
die  Anzeige  dem  Staatsanwalt,   der  jetzt  das  weitere  veranlaßte. 


—     1249     — 

Das  junge  Ehepaar,  das  sich  den  Freuden  des  Honigmondes 
hingab,  wurde  verhaftet.  Einer  leiblichen  Untersuchung  durch 
den  Gerichtsarzt  widersetzte  sich  Mario  Sanchez,  so  daß  „er" 
mit  Gewalt  dazu  gezwungen  werden  mußte.  Das  Ergebnis  der 
Untersuchung  war  derart,  daß  das  Ehepaar  ins  Untersuchungs- 
gefängnis geschickt  wurde.  Eigenartig  ist  es,  daß  der  Verwandte 
des  falschen  Mario  sich  von  dieser  Person  hatte  täuschen  lassen, 
obwohl  er  sie  bisher  stets  als  Frau  gekannt  hatte.  Er  entschuldigt 
sich  jetzt  damit,  daß  seine  Verwandte  ihm  eine  hochromantische 
Geschichte  erzählt  habe,  wodurch  allerdings  das  Andenken  ihres 
Vaters  entehrt  wurde.  Die  Mutter  wußte  von  dem  Treiben  ihrer 
Tochter  nichts,  sie  wohnt  in  Santiago  und  erfreut  sich  dort  all- 
gemeiner Achtung. 

Hartnäckiger  Erpresser.  Mit  dem  Schmiedgesellen  Sebastian 
Lieb  dahier  hatte  sich  ein  zeitweise  hier  wohnender,  in  der  Pro- 
vinz begüterter  Adeliger  in  unsaubere  Geschichten  eingelassen. 
Diesen  Umstand  benützte  Lieb  seit  einigen  Jahren,  an  dem  Herrn 
Baron  ergiebige  Erpressungen  vorzunehmen.  Im  Jahre  1900  erbat 
er  sich  ein  Darlehen  von  150  Mk.,  zuerst  höflich,  dann  unter  der 
versteckten  Drohung,  die  vorgekommenen  Geschichten  der  Frau 
Gemahlin  des  Herrn  Baron,  ja  der  Polizei  mitzuteilen.  Durch 
Vermittlung  eines  hiesigen  Rechtsanwalts  erhielt  Lieb  die  nach- 
gesuchten 150  Mk.  Eine  Zeit  lang  hatte  der  Herr  Baron  Ruhe, 
dann  fing  Lieb  wieder  zu  bohren  an  und  ging  in  seinen  Briefen 
in  äußerst  raffinierter  Weise  zu  Werke.  Er  erhielt  öfters  Geld- 
beträge und  verlangte  schließlich  5—600  Mk.  zur  Auswanderung 
nach  Amerika.  Es  wurde  ihm  auch  eine  nicht  unbeträchtliche 
Summe  zugesichert,  die  er  jedoch  erst  in  Hamburg  in  Empfang 
nehmen  konnte.  Lieb  fuhr  zwar  nach  Hamburg,  nicht  aber  nach 
Amerika;  er  wurde  wasserscheu,  kehrte  wieder  um  und  setzte 
seine  Erpressungen  fort,  die  den  Herrn  Baron  um  einen  Tausender 
erleichterten.  Als  Lieb  gar  nicht  aufhörte,  wurde  er  schließlich 
angezeigt  und  heute  wegen  Erpressung,  wozu  noch  Diebstahl 
und  Urkundenfälschung  kamen,  zu  3  Jahren  6  Monaten  Gefängnis 
und  öjährigem  Ehrverlust  verurteilt. 


Basel.  Strafgericht.  (Sitzung  vom  1.  und  3.  November  1902.) 
Das  Strafgericht  wurde  am  letzten  Samstag  und  Montag  durch 
die  Erledigung  eines  vielbesprochenen  Skandalprozesses  in  An- 
spruch genommen.    Es  handelte  sich  dabei  um  höchst  bedenk- 


—     1250    — 

liehe  Erscheinungen  und  Vorgänge,  die  indessen  in  Bezug  auf 
einzelne  Persönlichkeiten  auch  Anlaß  zu  ganz  falschen  Gerüchten 
gegeben  haben;  es  ist  eben  auch  in  dieser  Sache,  wie  oft  bei 
sensationellen  Prozessen,  ganz  gewaltig  übertrieben  und  phan- 
tasiert worden.  Die  Samstagssitzung  dauerte  von  morgens  8  Uhr 
mit  der  üblichen  ca.  zweieinhalbstündigen  Unterbrechung  um  die 
Mittagszeit  bis  gegen  7  Uhr  abends,  die  Montagssitzung  von 
nachmittags  4  Uhr  bis  abends  gegen  9  Uhr.  Den  Vorsitz  führte 
Herr  Präsident  Dr.  Hübscher.  Die  sämtlichen  14  Angeklagten 
waren  der  Erpressung,  einzelne  überdies  der  Unterschlagung 
angeschuldigt.  Es  handelte  sich  um  eine  Bande  jugendlicher 
Taugenichtse,  die  seit  längerer  Zeit  in  schamloser  Art  Erpressungen 
verübten,  indem  sie  mehrere  hiesige  Einwohner  mit  der  Enthüllung 
gewisser  unsittlicher  Handlungen  bedrohten,  die  jedoch  nach  dem 
Gesetz  nicht  strafbar  sind.  Die  Verhandlungen  fanden  unter 
Ausschluß  der  Öffentlichkeit  statt  und  es  hatten  nach  der  in 
unserer  Stadt  üblichen  Praxis  auch  die  Vertreter  der  Presse 
keinen  Zutritt  zu  denselben.  Es  kann  deshalb  nicht  in  der 
üblichen  eingehenden  Weise  darüber  Bericht  erstattet  werden. 
Nach  dem,  was  wir  über  die  Sache  in  Erfahrung  bringen  konnten, 
stehen  die  Angeklagten  im  Alter  von  18  bis  28  Jahren;  der 
Nationalität  nach  sind  es  drei  Basler,  sodann  Angehörige  anderer 
Kantone  und  Ausländer.  Die  meisten  Angeklagten  sind  schlecht 
beleumdet.  Sie  trieben  sich  zum  Teil  beschäftigungslos  hier 
herum  und  das  mag  wohl  der  Hauptgrund  gewesen  sein,  wes- 
wegen sie  auf  solche  Abwege  gerieten.  Die  Erpressuug  wurde 
systematisch  und  in  raffinierter  Weise  betrieben  und  hatte  in 
einzelnen  Fällen  zur  Folge,  daß  ganz  bedeutende  Beträge  zur 
Auszahlung  gelangten.  Die  Angeklagten  wurden  am  Samstag 
Morgen  getrennt  in  Droschken  und  in  Begleitung  einer  größeren 
Zahl  von  Polizisten  nach  dem  Gerichtshaus  am  Bäumlein  ver- 
bracht, damit  unterwegs  keine  Zwiegespäche  stattfinden  konnten. 
Sie  benahmen  sich  schon  auf  dem  Transport  und  dann  namentlich 
während  der  Gerichtsverhandlung  so  frech  und  ausgelassen,  daß 
am  Samstag  Morgen  vom  Gericht  die  Verfügung  getroffen  wurde, 
es  sei  ihnen  in  der  Mittagspause,  während  welcher  sie  im  Ge- 
richtshaus zu  verbleiben  hatten,  nur  Wasser  und  Brot  zu  ver- 
abreichen. Das  Verhör  der  Angeklagten  nahm  sehr  viel  Zeit  in 
Anspruch.  Als  Zeugen  waren  nur  wenige  Personen  geladen 
worden.  Der  Staatsanwalt  und  die  drei  Verteidiger  gelangten 
erst  in  der  Sitzung  vom  Montag  Nachmittag  zum  Worte.    Von 


—    1251    — 

der  Staatsanwaltschaft  wurden  Strafen  bis  zu  zwei  Jahren  Zucht- 
haus beantragt.  Die  geheime  Beratung  des  Gerichts  dauerte 
etwa  3  Stunden,  so  daß  die  Urteilsverkündigung  erst  gegen  9  Uhr 
nachts  erfolgen  konnte.  13  Angeklagte  wurden  der  Erpressung, 
3  überdies  der  Unterschlagung  (in  Bezug  auf  Velos)  schuldig 
befunden.  Der  14.  Angeklagte  wurde  freigesprochen.  Gegen  die 
Hauptschuldigen  wurden  Zuchthausstrafen  von  je  3,  2l/t  und 
1  Jahren  ausgesprochen.  Ferner  wurden  verurteilt:  ein  Ange- 
klagter zu  2  Jahren  Gefängnis,  einer  zu  ll/2  Jahren,  zwei  Ange- 
klagte zu  je  9  Monaten,  ein  Angeklagter  zu  8  Monaten,  zwei 
Angeklagte  zu  je  6  Monaten,  ein  Angeklagter  zu  3  Monaten  und 
zwei  Angeklagte  zu  je  2  Monaten  Gefängnis.  (Basier  z.) 


Mannheim,  30.  Dez.  In  geheimer  Sitzung  verhandelte  heute 
die  Strafkammer  gegen  den  Photographengehilfen  Otto  Schwörer 
aus  Worms,  den  Bäckergesellen  Heinrich  Schenkenberger  aus 
Neckarhausen  und  den  Schlossergesellen  Ludwig  Hentel  von  hier 
wegen  Erpressung.  Die  Angeklagten  hatten  im  Oktober  d.  J. 
nach  einem  vorbedachten  Plane  einen  angesehenen  hiesigen  Ge- 
schäftsmann, der  zur  Perversität  neigte,  zu  einem  Ver- 
gehen gegen  §  175  R.-St.-G.  B.  verleitet  und  ihm  dann, 
nachdem  sie  ihn  erbarmungslos  bis  an  die  Grenze  des  Selbst- 
mords gehetzt  hatten,  die  Summe  von  2000  Mk.  abgepreßt.  1000 
Mark  von  diesem  Gelde  hat  der  Rädelsführer  Schwörer  in  einer 
Nacht  in  Frankfurt  durchgebracht.  Das  Gericht,  welches  den 
Fall  als  den  krassesten,  der  je  vorgekommen  sei,  charakterisierte, 
verurteilte  Schwörer  zu  3  Jahren  9  Monaten,  Schenkenberger  zu 
2  Jahren  6  Monaten  und  Hertel  zu  1  Jahr  9  Monaten  Gefängnis 
und  erkannte  auf  Verlust  der  Ehrenrechte  für  die  Dauer  von  drei 
Jahren. 

Fortgesetzte  Erpressungen  schamlosester  Art  hatte  der 
Schneider  Karl  Rothe  gegen  einen  höheren  pensionierten  Beamten 
ausgeübt  und  diesen  dadurch  in  Furcht  und  Unruhe  versetzt. 
Die  siebente  Strafkammer  des  Landgerichts  I  verurteilte  den  An- 
geklagten, der  bereits  wegen  gleicher  Straftaten  mehrmals,  zuletzt 
mit  drei  Jahren  Gefängnis,  vorbestraft  ist,  zu  5  Jafiren  Gefängnis 
und  Ehrverlust  auf  gleiche  Dauer,  wobei  dem  Bedauern  Ausdruck 
gegeben  wurde,  daß  das  Gesetz  eine  höhere  Bestrafung  nicht 
zulasse. 


Jahrbuch  V.  79 


—    1252    — 

Als  ein   äußerst  gefährlicher  Mensch  zeigte  sich   der  so- 
genannte   „ Arbeiter"    Karl   Hauck,   welcher   gestern    der   ersten 
Ferienstrafkammer  des  Landgerichts  I  aus  der  Untersuchungshaft 
vorgeführt  wurde.  Der  Angeklagte  gehört  zu  denjenigen  Burschen, 
welche  ihre  Opfer  unter  älteren   Herren  suchen,   die  gewissen 
Neigungen  fröhnen.    Trotz  seiner  Jugend  —  er  ist  erst  21  Jahre 
alt  —  ist  er  bereits  zweimal  wegen  Erpressung  und  Diebstahls 
insgesamt   zu   drei   Jahren  Gefängnis   verurteilt  worden.     Nach 
Verbüßung  dieser  Strafe  ließ  er  sich  die  Handlung  zu  Schulden 
kommen,  die  wiederum  seine  Verhaftung  veranlaßte.    Am  Abend 
des  8.  Juni  unternahm  der  Angeklagte  einen  seiner  gewöhnlichen 
Raubzüge  in  der  Friedrichstraße.    Ein  Dr.  X.  ging  ihm  ins  Garn 
und  folgte  dem  Angeklagten   nach  dessen   in  der  Marienstraße 
gelegenen  Wohnung.    Als  der  Besucher  sich  wieder  entfernen 
wollte,    spannte   der  Angeklagte   andere   Saiten   auf.     Mit   dem 
Gelde,   das  Dr.  X.  auf  den  Tisch  gelegt   hatte,   nicht  zufrieden, 
verlangte  der  Angeklagte  einen  Betrag  von  500  Mk.    Dr.  X.  er- 
klärte angsterfüllt,  daß  er  eine  so  große  Summe  nicht  bei  sich 
führe.    Der  Angeklagte  ergriff  zunächst  die  Wasserflasche  und 
drohte,   sie   an   dem  Kopfe  seines  Opfers  zu  zerschlagen,  falls 
dieses  den   geringsten  Widerstand  wage.    Der  eingeschüchterte 
alte  Herr,  der  besonders  den  Skandal  fürchtete,  ließ  es  ruhig  ge- 
schehen, daß   der  Angeklagte  seine  sämtlichen  Taschen   durch- 
suchte und  denselben  das  ganze  Geld  —  etwa  60  Mk.  —  ent- 
nahm.   Der  Vampyr  war  aber  noch   nicht   zufrieden,    er   zwang 
den  Dr.  X.,   einen  Schuldschein  über  500  Mk.  auszustellen  und 
ihm   eine  seiner  Visitenkarten  zu  überlassen.    Dann  konnte  der 
Ausgeplünderte   sich   entfernen,  der  Angeklagte  entließ   ihn  mit 
der  Drohung,    daß    er,  ihn   bei   seiner  Behörde   und   bei  seiner 
Familie  anzeigen  werde,  wenn  er  den  Schuldschein  nicht  einlöse. 
Staatsanwalt  Beier  beantragte  gegen  den  Angeklagten,   der  sich 
während  der  Verhandlung  höchst  frech  benahm,  eine  Zuchthaus- 
strafe von  vier  Jahren  und  fünfjährigen  Ehrverlust,  der  Gerichts- 
hof unter  dem  Vorsitzenden  Landgerichtsrat  Dietz  ging  aber  mit 
der   Begründung,   daß    der  Angeklagte  einer  der   gefährlichsten 
Menschen  sei,  die  es  gebe,  weit  über  den  Antrag  hinaus.    Das 
Urteil  lautete  auf  sechs  Jahre  Zuchthaus  und  die  Nebenstrafen. 


Eine  nächtliche  Attacke.  Der  Sekretär  einer  vornehmen 
Persönlichkeit  wurde  am  15.  Mai  um  Mitternacht  im  Rathausparke, 
als   er   dort   zu   einem    bestimmten  Zwecke   einbog,   das  Opfer 


—    1253    — 

einer  Erpressung  besonderer  Art,  zu  deren  Ausführung  sich  an 
dieser  Stelle  in  den  Nachtstunden  systematisch  Gauner  der 
schmutzigsten  Sorte  einfinden.  Erst  vor  wenigen  Wochen  war  ein 
Anfall,  welcher  auf  einen  Auskultanten  hier  versucht  wurde, 
Gegenstand  einer  Gerichtsverhandlung.  Der  Auskultant  war 
allerdings  kaltblütig  gewesen  und  hatte  den  Erpresser,  der  ihm 
folgte,  einem  Wachmanne  zugeführt.  Die  Gefährlichkeit  der 
Leute,  die  sich  des  Nachts,  auf  Beute  lauernd,  hier  einfinden,  ist 
der  Sicherheitsbehörde  und  den  Gerichten  wohlbekannt,  und  es 
sollte  dem  mehr  Aufmerksamkeit  zugewendet  werden.  An  dem 
erwähnten  Abende  hatte  sich  der  Privatsekretär,  ein  Mann  in  der 
Mitte  der  Dreißiger,  durch  einige  Zeit  beim  Spatenbräu  be- 
funden und  mehrere  Gläser  Bier  konsumiert;  dann  hatte  er  sich 
in  das  Caf£  Scheidl  begeben.  Hierauf  empfand  er  das  Ver- 
langen, auf  angenehme  Weise  Luft  zu  schöpfen;  nahm  einen 
Fiaker,  fuhr  mit  ihm  über  den  Ring  bis  zur  Aspernbrücke  und 
dann  den  Weg  zurück  bis  zum  Burgtheater.  Dort  ließ  er  den 
Wagen  halten  und  begab  sich  in  den  Rathauspark,  wo  er  einen 
dort  befindlichen  Anstandsort  betrat.  Drinnen  befanden  sich  zwei 
Burschen,  zu  dem  lichtscheuen  Gesindel  gehörend,  das  sich  hier 
seine  Zusammenkünfte  gibt.  Der  Sekretär  erzählt  nun  das 
weitere  folgendermaßen:  „Als  ich  heraustreten  wollte,  kam  einer 
der  Burschen  auf  mich  zu  und  ersuchte  mich  um  etwas  Geld. 
Ich  wollte  ihm  keins  geben.  Darauf  erhob  er  eine  Beschuldigung 
gegen  mich.  Ich  sagte,  „das  ist  nicht  wahr."  Er  wiederholte 
sein  Verlangen  um  Geld  mit  dem  Bemerken,  daß  er  mich  sonst 
nicht  freilasse.  Ich  wollte  mich  aus  der  Situation  retten,  griff  in 
die  Tasche  und  gab  ihm  ein  paar  Kronen.  „Sie  müssen  mehr 
geben,"  erklärte  der  Mensch,  „sonst  lassen  wir  Sie  nicht  heraus. 
Geben  Sie  einen  Zehner,  dann  lassen  wir  Sie  frei!"  Mir  war 
darum  zu  tun,  mich  aus  der  Situation  zu  retten,  und  ich  nahm 
die  Brieftasche,  um  seinen  Wunsch  zu  erfüllen.  Er  riß  mir  die 
Brieftasche,  in  der  sich  dreißig  Gulden  befanden,  aus  der  Hand 
und  eilte  davon.  Ich  wollte  ihm  nach,  da  kam  ein  zweiter 
Bursche  und  verlangte  meine  Uhr.  Um  los  zu  kommen,  gab  ich 
ihm  auch  diese.  Ich  mußte  mir  dann  im  Caf6  vom  Marqueur 
drei  Gulden  ausborgen,  um  den  Fiaker  zu  bezahlen.  Wie  aus 
dem  weiteren  Berichte  des  Sekretärs  hervorgeht,  war  damit  die 
Sache  noch  nicht  zu  Ende.  In  der  Brieftasche  hatten  die' 
Burschen  seine  Visitenkarte  gefunden,  welche  sie  belehrte,  wer 
er  sei.    Sie   fanden   darin  auch   das  Wappen   seines  Chefs,  bei 

79* 


—    1254    — 

dem  er  eine  Vertrauensstellung  besitzt,  und  zwei  Photographien 
der  Kinder  jener  Persönlichkeit.  Als  der  Sekretär  am  nächsten 
Tage  in  sein  Bureau  ging,  sagte  ihm  am  Tore  des  Hauses  der 
Portier,  zwei  junge  Leute  seien  dagewesen  und  hätten  ihn  zu 
sprechen  gewünscht.  Am  zweitnächsten  Tage  kamen  die  beiden 
in  seine  Kanzlei.  Es  waren  in  der  Tat  seine  Bekannten  vom 
Rathauspark.  Sie  sagten  ihm,  daß  sie  ihm  die  Brieftasche  und 
die  —  nicht  sehr  wertvolle  —  Uhr  zurückbrächten  und  200  fl. 
dafür  begehrten.  Er  brauche,  fügten  sie  bei,  nicht  zu  fürchten, 
daß  sie  dann  noch  mit  neuen  Forderungen  kommen  würden.  Sie 
seien  im  Begriffe,  Wien  zu  verlassen  und  brauchten  hierzu  das 
Geld.  Überdies  würden  sie,  nachdem  sie  ihm  seine  Sachen 
zurückgegeben  hätten,  keine  Beweise  mehr  gegen  ihn  haben. 
Der  Bedrohte  war  bereits  geneigt,  ihnen  auch  dieses  Lösegeld 
zu  geben,  entschied  sich  aber  dafür,  zuerst  mit  seinem  Advokaten 
zu  sprechen.  Dieser  riet  ihm,  die  Anzeige  zu  machen,  was  er 
auch  tat.  Er  gab  den  Erpressern  ein  Rendezvous  in  einem 
Restaurant  der  Margaretenstraße  und  ließ  sie  dort  verhaften. 


Ein  den  besseren  Gesellschaftskreisen  angehörender  hier 
lebender  Herr  ist  in  die  Hände  einer  ebenso  schamlosen  wie 
frechen  Erpresserbande  geraten.  Auch  diese  Affäre  hängt,  wie 
die  meisten  derartigen  Vorkommnisse,  mit  einem  gerade  in  der 
letzten  Zeit  vielfach  bekämpften  Paragraphen  des  Strafgesetz- 
buches zusammen.  Wie  in  allen  diesen  Fällen,  so  scheute  sich 
auch  hier  das  Opfer  dieser  Gauner  aus  einer  ja  begreiflichen 
Furcht  vor  der  Öffentlichkeit  lange  Zeit,  die  Burschen  der 
Polizei  anzuzeigen.  Bereits  in  der  vergangenen  Woche  erlangten 
die  schon  mehrfach  vorbestraften  und  polizeilich  bekannten 
Individuen  von  dem  in  Schwabing  wohnenden  Herrn  einen 
größeren  Geldbetrag.  Da  ihnen  Dinge,  wie  oben  angedeutet,  zu 
Gehör  gekommen  waren  und  sie  dem  Manne  damit  drohten,  er- 
hielten sie  die  Summe  von  mehrereren  hundert  Mark.  In  einem 
weiteren  Schreiben  wurde  die  Summe  von  2000  Mk.  verlangt. 
Auch  dieser  Versuch  glückte.  Der  eine  dieser  Burschen  wird  be- 
reits wegen  verschiedener  anderer  Reate  steckbrieflich  verfolgt. 
Beide  haben  nunmehr  in  Begleitung  eines  Frauenzimmers  München 
verlassen  und  sollen  sich  nach  Frankfurt  a.  M.  gewendet  haben. 

(Frankfurter  Zeitung.) 


—    1255    - 

Ein  hervorragendes  Mitglied  eines  hiesigen  Theaters  war 
vorgestern  nicht  wenig  überrascht,  als  es  sich  zur  Vorstellung 
begeben  wollte  und  ihm  der  Theaterportier  einen  Brief  ein- 
händigte, der  in  der  Theater-Portierloge  abgegeben  war  und  ge- 
heimnisvolle Andeutungen  über  eine  peinliche  Angelegenheit 
enthielt.  In  dem  Schreiben  hieß  es,  der  Absender  müsse  dem 
Schauspieler  Vorwürfe  machen,  denn  er  habe  ihn  vor  Wochen 
zu  einer  Handlung  verleitet,  die  das  Strafgesetz  verfolge,  und- 
nun  sei  er  —  Schreiber  —  erkrankt.  Er  verlangt,  daß  ihm  der 
Schauspieler  400  Kronen  in  seine  Wohnung  senden  möge.  Der 
Brief  war  mit  „Konrad  Ludwig  Böhmke"  unterfertigt.  Nun  war 
sich  der  Schauspieler  weder  der  ihm  vorgeworfenen  Handlungs- 
weise bewußt,  noch  war  ihm  der  Herr  Böhmke  irgendwie  be- 
kannt. Er  trug  deshalb  den  Brief  zur  Polizeibehörde.  Diese 
stellte  fest,  daß  der  unterfertigte  Konrad  Ludwig  Böhmke  wirklich: 
in  der  angegebenen  Adresse  wohnte.  Ein  Polizeiagent  überstellte 
ihn  der  Behörde,  und  bei  der  Einvernahme  gestand  der  Häftling 
ohne  weiteres  zu,  den  Brief  geschrieben  zu  haben.  Er  behauptete 
aber,  daß  die  in  dem  Briefe  enthaltenen  Tatsachen  der  Wahrheit 
entsprechen.  Da  der  Künstler  aber  bei  seiner  Behauptung  blieb, 
wurde  Böhmke  dem  von  ihm  Angeschuldigten  vorgeführt,  und 
jetzt  erst  erklärte  er,  den  fälschlich  Verdächtigten  gar  nicht  zu 
kennen.  Der  Mann,  der  ihn  zu  der  strafbaren  Handlung  verleitet 
habe,  sei  ihm  später  irrig  als  der  Künstler  dieses  Namens  be- 
zeichnet worden.  Böhmke,  ein  Kellner  von  22  Jahren,  wurde 
nun  in  Haft  behalten  und  dem  Landesgerichte  eingeliefert.  Die 
Ausforschung  des  Mannes,  den  Böhmke  als  seinen  Verführer  be- 
bezeichnet, ist  eingeleitet  worden. 


Un  chantage  de  plusieurs  centaines  de  mille  francs.  —  Un 
maitre-chanteur  peu  ordinaire  est  Auguste  Boileau  que  M.Jolliot, 
juge  d'instruction,  a  confronte  hier  avec  sa  victime,  M.  Otto  de 
S  .  .  . ,  gros  industriel  de  Zürich.  Boileau  avait  lie.  tr£s  intimement 
connaissance  avec  1'industriel,  en  1879,  lors  de  son  passage  ä 
Paris;  il  en  profita  pour  le  faire  „chanter".  11  s'entendit  avec  le 
nomme  Viou  qui,  un  beau  jour,  entra  dans  la  chambre  d'hötel  oü 
etaient  Boileau  et  M.  Otto,  et  se  disant  le  brigadier,  Robert  exhiba 
un  mandat  d'arret  lanc6  contre  Boileau  par  le  parquet  de  Mar- 
seille pour  excitation  de  mineures  ä  la  d£bauche.  Le  pseudo- 
brigadier  examina  les  deux  amis  et  trouva  Strange  leur  presence 
dans  la  meme  chambre.    11  r£digea  un  proc&s-verbal;  Boileau  se 


—     1256    — 

jeta  ä  ses  genoux,  pleura,  le  supplia  de  ne  point  le  perdre,  lui 
offrant  25000  francs.  Viou  se  laissa  attendrir  par  cette  somme, 
mais  comme  Boileau  n'avait  pas  le  moindre  liard,  ce  fut  M.  Otto 
qui  versa  l'argent.  L'industriel  croyait  tout  termin£,  quand  il 
re£ut  des  lettres  menagant  de  le  dgnoncer.  Boileau  lui  däclara 
qu'il  avait  besoin  d'argent  pour  acheter  la  police,  et  M.  Otto  versa 
tantöt  trente  mille  francs,  tantöt  cinquante  mille  francs.  Mais 
enfin,  voyant  que  le  pr&endu  brigadier  Robert  ne  serait  jamais 
satisfait,  il  se  dgcida  ä  porter  plainte.  Boileau  fut  arr£t6,  mais 
son  complice  Viou  demeurait  introuvable.  On  vient  de  s'apercevoir 
qu'il  est  au  bagne  depuis  un  an.  Viou,  ancien  for^at  gvadg,  avait 
6te  arr£t&  sur  la  d£nonciation  de  sa  maltresse.  Cette  fille,  ä  qui 
il  avait  confi£  les  vingt-cinq  mille  francs  extorqu£s  ä  M.  Otto  de 
S  . . .,  s'&ait  enfuie  avec  les  billets  de  mille  francs  et,  pour  ne 
pas  avoir  ä  redouter  Viou,  l'avait  dönonce  ä  la  police  lyonnaise. 
Hier,  Boileau,  jouant  ä  nouveau  la  com6die,  s'est  jete  aux  genoux 
de  sa  victime,  jurant  sur  la  tete  de  sa  m&re  qu'il  ne  recommen- 
cerait  plus.  —  Je  n'ai  pas  une  grande  confiance  en  vos  serments, 
a  r£pliqu6  M.  Otto  de  S  . . .  Vous  m'avez  jurö  autrefois  sur  la  töte 
de  votre  pfcre  et  vous  n'avez  pas  tenu  parole.  Je  ne  crois  pas 
davantage  ä  la  töte  de  votre  m£re.  Sur  cette  räponse,  Boileau, 
s£chant  subitement  ses  larmes,  s'est  lev£  et  a  injuria  l'industriel 
de  Zürich.  II  a  fallu  mettre  fin  ä  la  confrontation.  M«  Leon 
Bayl6  assistait  l'inculpö.  Quant  ä  M.  Otto  de  S  . . .,  partie  civile, 
il  a  pour  avocat  Me  Fr^miet.  (Le  Matin.) 


Un  maitre-chanteur.  —  M.  Lamblard,  bijoutier,  54,  rue  des. 
Archives,  se  promenait,  vers  six  heurs  du  soirs,  sur  le  boulevard 
des  Capucines,  lorsqu'il  fut  accostö  par  un  jeune  homme  assez 
bien  mis,  qui  lui  declara  n'avoir  pas  mangö  depuis  trois  jours; 
Le  bijoutier,  apitoyö,  l'emmena  alors  dans  un  restaurant  qu'il 
connaissait  sur  les  quais.  En  traversant  la  place  Carrousel,  l'in- 
dividu  lui  sauta'  au  cou,  cherchant  ä  l'embrasser.  Au  m€me  mo 
ment  surgit  un  autre  individu.  —  Ah!  ah!  cria-t-il,  miserable,  je 
suis  agent  de  la  Süretö,  je  vois  bien  quelles  sont  vos  intentions : 
vous  en  avez  pour  cinq  ans  de  travaux  forcis.  Suivez-moi  au 
poste  de  la  rue  Richelieu.  Et,  ce  disant,  il  mit  la  main  au  collet 
de  M.  Lamblard  En  route,  l'agent  proposa  au  bijoutier  de  le 
relächer  s'il  lui  donnait  5  francs.  Le  bijoutier  refusa,  et,  devant 
le  poste  de  la  rue  Richelieu,  insista  pour  le  faire  entrer.  La,  le 
soi-disant  agent  la  fit  ä  „l'öpate";  mais  arriv£  devant  M.  Peschard, 


—    1257     — 

commissaire  de  police,  il  fut  fouill£  et  trouv6  porteur  d'une  fausse 
carte  de  la  pr&ecture  et  d'un  revolver  charg6.  II  a  declar6  se 
nommer  Ren6  Denoyers,  äge  de  trente-cinq  ans,  demeurant  im- 
passe Quelma.    II  a  6t6  envoyfe  au  D£pöt. 


Erpressungsversuch.  Ein  Tagelöhner  aus  Köln  suchte,  wie 
man  uns  berichtet,  von  einem  Kaufmann  40  Mk.  zu  erpressen, 
indem  er  ihm  schrieb,  wenn  er  das  Geld  nicht  hergebe,  werde 
er  ihn  wegen  unnatürlicher  Unzucht  anzeigen.  Als  der  Kaufmann 
auf  den  Brief  nicht  reagierte,  machte  der  Tagelöhner  tatsächlich 
die  Anzeige,  und  die  Folge  war,  daß  der  Kaufmann,  der  sich  auf 
einer  Reise  befand,  in  Düsseldorf  verhaftet  wurde.  Der  Kaufmann 
wurde  14  Tage  in  Untersuchungshaft  gehalten,  worauf  sich  seine 
Unschuld  herausstellte.  Hierauf  wurde  der  Tagelöhner  unter  An- 
klage des  Erpressungsversuches  gestellt.  Der  Staatsanwalt  be- 
antragte für  den  gefährlichen  Menschen  5  Jahre  Gefängnis.  Das 
Gericht  bestrafte  ihn  mit  drei  Jahren  Gefängnis  und  5  Jahren 
Ehrverlust.  (Deutsche  Warte.) 


Die  an  die  Angelegenheit  Krupp  sich  anschließenden  Er- 
örterungen scheinen  die  Phantasie  des  Klempners  Adolf  Levy  in 
unglaublicher  Weise  angeregt  zu  haben.  Er  hatte  sich  gestern 
wegen  versuchter  Erpressung  vor  der  dritten  Strafkammer  des 
Landgerichts  I  zu  verantworten.  Er  befand  sich  in  Not  und 
richtete  an  einen  Großkaufmann,  den  er  nur  dem  Namen  nach 
kannte  und  von  dessen  Lebensführung  er  nicht  die  geringste 
Ahnung  hatte,  einen  frechen  Erpresserbrief.  Er  stellte  darin  die 
völlig  aus  der  Luft  gegriffene  Behauptung  auf,  daß  der  Adressat 
als  ein  Mann  bekannt  sei,  der  sich  fortgesetzt  gegen  §  175 
St.-G.-B.  versündige.  Er,  der  Schreiber,  habe  die  feste  Absicht, 
das  lichtscheue  Treiben  des  Adressaten  zur  Kenntnis  der  Staats- 
anwaltschaft zu  bringen,  falls  ihm  nicht  bis  zu  einem  bestimmten 
Tage  ein  Schweigegeld  von  20  000  Mk.  an  einem  genau  bezeich- 
neten Orte  eingehändigt  werden  würde.  Der  Empfänger  des 
Briefes,  auf  den  die  dreiste  Beschuldigung  ganz  und  gar  nicht 
paßte,  setzte  die  Kriminalpolizei  in  Kenntnis  und  begab  sich  in 
Begleitung  eines  Polizeibeamten  zur  festgesetzten  Stunde  an  den 
bezeichneten  Ort.  Der  Angeklagte  war  aber  nicht  sichtbar.  Bald 
darauf  traf  ein  zweiter  Brief  ein,  worin  dem  Adressaten  dringend 
nahe  gelegt  wurde,  zur  Vermeidung  von  Schmach  und  Schande 
den  nunmehr  auf  25  000  Mk.  erhöhten  Betrag  zu  zahlen,    aber 


—    1258    — 

allein  zu  kommen,  da  die  Anwesenheit  eines  Dritten  bei  derartigen 
Angelegenheiten  überflüssig  sei.  Diesmal  gelang  es,  den  Erpresser 
einzufangen.  Er  vermochte  sich  im  Termin  nur  damit  zu  ent- 
schuldigen, daß  ihm  die  Not  jenen  Plan  eingegeben  habe.  Das 
Gericht  verurteilte  den  nur  unwesentlich  vorbestraften  Angeklagten 
zu  1  Jahr  6  Monaten  Gefängnis.  (Voss.  Zeitung.) 


Wien,  25.  März.  Orig.-Ber.  Erpressungsprozeß.  Der  Uhren- 
händler Franz  Laszko  gehört  zu  einer  schlimmen  und  gefährlichen 
Sorte  von  Erpressern.  Sein  Opfer  in  dem  heutigen  Falle,  ein 
Herr  T.,  ehemaliger  Geschäftsführer  eines  großen  Hauses,  hat 
durch  ihn  nicht  nur  die  Wertsachen  und  Geldbeträge,  welche  er 
ihm  gegeben,  sondern  auch  seine  Stellung  und  seine  Braut  ver- 
loren. Herr  T.  befand  sich  in  einer  Nacht  in  einer  einsamen 
Gegend  hinter  dem  Stadtparke  auf  dem  Heimwege.  Da  traf  ihn 
ein  anständig  gekleideter  Mann  und  fragte  ihn,  welches  der  Weg 
in  die  Fasangasse  sei.  T.  gab  ihm  die  Auskunft  und  fügte  bei, 
daß  er  in  derselben  Richtung  gehe.  Der  Fremde  ersuchte,  sich 
ihm  anschließen  zu  dürfen,  und  knüpfte  ein  Gespräch  mit  ihm  an. 
Auf  dem  Wege  beschuldigte  der  Begleiter  ihn  plötzlich,  er  habe 
sich  in  gröblicher  Weise  unstatthaft  gegen  ihn  benommen,  und 
erklärte,  daß  er  einen  Wachmann  rufen  werde.  Obwohl  T.,  wie 
er  sagt,  sich  völlig  schuldlos  fühlte  —  auch  das  Gericht  nimmt 
dies  an  —  war  er  doch,  da  er  von  Natur  aus  ängstlich  ist,  durch 
diese  Drohung  sehr  verwirrt,  und  als  der  Unbekannte  sich  bereit 
erklärte,  gegen  einen  größeren  Geldbetrag  von  seinem  Vorhaben 
abzustehen,  gab  er  ihm  seine  Uhr  und  einen  Ring.  Er  vervoll- 
ständigte seine  Unbesonnenheit,  indem  er  ihm  seinen  Namen 
sagte  und  ihn  aufforderte,  in  sein  Geschäftslokal  zu  kommen,  wo 
er  Uhr  und  Ring  gegen  einen  Geldbetrag  auslösen  wolle.  In  der 
Tat  erschien  der  Erpresser,  der  nach  seiner  'Angabe  Ludwig 
hieß  —  sein  Name  ist  Franz  Laszko  —  mit  einem  Begleiter, 
welchen  er  als  seinen  Bruder  bezeichnete,  aber  im  Widerspruche 
hierzu  Mesarosch  nannte,  in  T.'s  Kontor  und  erhielt  von  ihm  für 
die  Wertsachen  Geld.  Von  da  an  war  der  Geschäftsführer  in 
den  Händen  Laszko's.  Dieser  konnte  sich  jetzt  auf  die  Will-* 
fährigkeit  T.'s  als  auf  ein  Zugeständnis  berufen,  kam  immer  wieder 
von  neuem  und  erhielt  stets  —  angeblich  immer  bloß  für  dieses 
Einemal  noch  —  Geld.  Der  Chef  des  Geschäftsführers,  welcher 
von  diesen  Besuchen  Kenntnis  erlangte,  erklärte,  daß  er  keinen 
Angestellten  haben  wolle,   dar  Besuche  von  Erpressern  erhalte, 


—     1259     — 

und  entließ  ihn.  Nunmehr  erfuhr  auch  seine  Braut  von  diesen 
Vorgängen  und  richtete  an  ihn  einen  Absagebrief.  Bevor  T. 
jedoch  aus  dem  Geschäfte  schied,  ersuchte  er,  daß  der  angeb- 
liche Ludwig,  wenn  er  sich  wieder  einfinde,  verhaftet  werden 
möge.  Dies  geschah  auch.  In  der  Untersuchung  bezeichnete 
Laszko  die  Erzählung  T.'s  als  vollkommen  unwahr  und  gab  über 
seine  Beziehungen  zu  diesem  Auskünfte,  nach  welchen  der  Ge- 
schäftsführer aus  anderen  Ursachen  sein  Schuldner  wäre.  Es 
war  nun  anfangs  schwer  festzustellen,  auf  welcher  Seite  di& 
Wahrheit  sei.  Da  entdeckte  nun  der  Untersuchungsrichter 
(Dr.  Joseph  Wagner)  unter  den  Effekten  Laszko's,  die  er  durch- 
suchte, ein  abgerissenes  Stück  einer  bezirksgerichtlichen  Vor- 
ladung. Dies  zeigte  ihm  den  Weg  zu  weiteren  Nachforschungen, 
und  hierbei  ergab  es  sich,  daß  Laszko  wegen  einer  häßlichen 
Affäre,  die  gleichfalls  an  Erpressung  grenzte,  zum  Bezirksgerichte 
vorgeladen  war.  Noch  andere  Umstände  ergänzten  sodann  das 
Netz  des  Beweises,  und  Laszko  wurde  infolgedessen  von  einem 
Senate  unter  Vorsitz  des  Landesgerichtsrates  Dr.  Gemperle,  wo- 
bei Staatsanwalts-Substitut  Dr.  Schnabel  die  Anklage  vertrat,  zu 
fünfzehn  Monaten  schweren  Kerkers  verurteilt. 


Freche  Erpresser.  (Landgericht  München  I.)  Der  22  jährige 
Lithograph  Alois  Ruhland  hier  hatte  sich  im  Einverständnis  mit 
dem  19jährigen  Schlosser  Karl  Zapf  von  Bayreuth  am  26.  April 
in  der  öffentlichen  Bedüfnisanstalt  am  Karlsplatze  an  einen  aus- 
wärts wohnhaften  Privatier  in  so  auffallender  Weise  herangemacht, 
daß  dieser  sofort  den  Raum  verließ.  Zapf  folgte  dem  Herrn  bis 
zum  Bahnhofe,  wo  er  in  der  Bedürfnisanstalt  des  Nordbaues  dieses 
Manöver  wiederholte.  Eine  abwehrende  Handbewegung  des 
Privatiers  wurde  durch  freche  Mißdeutung  später  von  Zapf  zu 
einer  ganzen  Reihe  von  Erpressungen  und  Erpressungsversuchen 
ausgebeutet.  Schon  tags  darauf  suchten  Zapf  und  Ruhland  den 
Privatier  an  seinem  Aufenthaltsorte  auf  und  Zapf  erzählte  dem 
Privatier,  daß  ihm  nach  dem  Vorgang  in  der  Bedürfnisanstalt  bei 
dem  hastigen  Verlassen  derselben  seine  Brieftasche  mit  100  Mk. 
Inhalt  zu  Verlust  gegangen  sei;  dabei  ließ  er  durchblicken,  daß  er 
diesen  Vorfall  in  die  Öffentlichkeit  bringen  werde,  wenn  er  für 
den  angeblichen  Verlust  nicht  entsprechend  Entschädigung  erhalte. 
Eine  solche  lehnte  der  Bedrängte  anfänglich  mit  dem  Bemerken 
entrüstet  ab,  daß  nichts  Unrechtes  vorgekommen  sei,  worauf  Zapf 
den  verabredungsgemäß  in  der  Nähe  wartenden  Ruhland  herbei- 


—    1260    — 

rief,  der  mit  zynischem  Lächeln  bestätigte,  daß  er  Zeuge  einer 
angeblichen  anstößigen  Handlung  in  der  Bedürfnisanstalt  gewesen 
sei.  Um  die  Dränger  los  zu  bekommen,  händigte  der  Privatier 
dem  Zapf  den  Inhalt  seines  Portemonnaies  mit  3  Mk.  50  Pfg.  aus. 
Schon  Tags  darauf  wärmte  Ruhland  in  einem  an  den  Herrn  ge- 
richteten Brief  das  Märchen  von  dem  angeblichen  Verlust  der 
Brieftasche  auf,  bat  für  Zapf  um  ein  Darlehen  von  100  Mk.,  drohte 
mit  Bloßstellung  des  Adressaten  in  der  Öffentlichkeit  und  wurde 
schließlich  deutlicher  durch  das  Postskriptum:  „Bevor  man  so 
etwas  tut,  muß  man  zuerst  das  Strafgesetz  lesen".  Der  Bedrängte 
ließ  sich  durch  diesen  Brief  bestimmen,  an  die  Adresse  des  Zapf 
durch  einen  Dienstmann  20  Mk.  zu  schicken.  Schon  einige  Tage 
darauf  schrieb  Zapf  auf  Ruhlands  Veranlassung  wieder  und  erhielt 
infolge  seiner  versteckten  Drohungen  die  erbetenen  80  Mk.,  die 
er  persönlich  in  der  Wohnung  des  Adressaten  in  Empfang  nahm. 
Der  Privatmann  ließ  Zapf  eine  Bestätigung  unterzeichnen,  daß  er 
mit  Zapf  gar  nichts  zu  tun  gehabt  habe  und  glaubte  dadurch 
endlich  Ruhe  zu  bekommen.  Zapf  setzte  aber  in  vielfachen 
Briefen  mit  neuen  versteckten  Drohungen  seinem  Opfer  derart  zu, 
daß  der  ohnehin  nervöse  Mann  erkrankte.  Nach  der  Zurückkunft 
von  einer  Badereise  suchte  Zapf  mit  Ruhland  und  mehreren 
anderen  Burschen  gleichen  Schlages,  die  in  den  ganzen  Plan  ein- 
geweiht waren,  den  Privatier  in  seiner  Wohnung  auf  und  be- 
lästigten ihn  während  des  ganzen  Nachmittages  durch  fortwähren- 
des Läuten  an  seiner  Hausglocke  und  auffallendes  Patrouillieren  vor 
dem  Hause.  Als  die  Tochter  des  Geängstigten  nach  München  fuhr, 
um  den  Rechtsbeistand  ihres  Vaters  von  den  Erpressungen  zu  ver- 
ständigen, wurde  sie  von  den  Burschen  in  frechster  Weise  be- 
schimpft. Der  Anwalt,  der  dem  Zapf  mit  Anzeige  beim  Staats- 
anwalt gedroht  hatte,  wurde  von  Ruhland  telephonisch  unter  dem 
Namen  Zapfs  mit  einer  Flut  von  persönlichen  Beleidigungen  und 
Verdächtigungen  überschüttet.  Die  weiteren  Versuche  des  Zapf, 
„Unterstützung"  und  „Darlehen"  herauszupressen,  blieben  erfolg- 
los. Anfangs  Juli  vor.  Js.  stellte  sich  Ruhland  einem  hiesigen,  ihm 
als  sehr  vermögend  bekannten  Universitätsstudenten  unter  einem 
falschen  Namen  als  „Detektiv"  vor,  der  angeblich  mit  Ermittelungen 
über  eine  mit  dem  Taglöhner  Ettenberger  begangene  strafbare 
Handlung  betraut  sei.  Der  anfangs  verblüffte  Student  erkannte 
gar  bald,  daß  Ruhland  kein  Detektiv  sei.  Dieser  bezeichnete  sich 
nun  selbst  als  armen  Schlucker,  der  trotz  seiner  Dürftigkeit  Anstand 
nehme,  sein  Wissen  in  dieser  Sache  in  der  Öffentlichkeit  breit  zu 


—     1261     — 

schlagen,  und  bewog  den  Studenten  zur  Hergabe  von  zweimal 
50  Mk.  Am  2.  August  erbrachen  Zapf  und  Ruhlahd  das  leer- 
stehende Atelier  eines  Malers  in  der  Landwehrstraße  und  stahlen 
dort  einen  Reisekoffer  und  einen  vollständigen  Anzug.  Zapf 
schwindelte  außerdem  durch  ein  gefälschtes  Telegramm  dem 
Vater  eines  seiner  Bekannten  15  Mk.  heraus.  Die  von  dem 
Privatier  erpreßten  Summen  teilte  Zapf  mit  Ruhland  und  mehreren 
anderen  in  die  Pläne  beider  eingeweihten  Burschen.  Zapf  ist 
größtenteils  geständig  und  bezeichnet  Ruhland  als  den  Anstifter. 
Dieser  leugnet  und  sucht  Zapf  möglichst  zu  belasten.  In  der 
Verhandlung  ergab  sich,  daß  außer  den  Angeklagten  noch  ein 
ganzer  Rudel  gleichgesinnter  Burschen  dieses  schmutzige  Erpresser- 
gewerbe nach  wohlüberlegtem  Plane  seit  einiger  Zeit  schon  be- 
treiben und  besonders  in  der  öffentlichen  Bedürfnisanstalt  am 
Karlsplatze  ihr  Unwesen  treiben.  Ruhland  wurde  zur  Gesamt- 
gefängnisstrafe von  7  Jahren  6  Monaten,  Zapf  von  5  Jahren 
6  Monaten  und  jeder  zu  5  Jahren  Ehrverlust  verurteilt. 

(Münch.  N.  N.) 


Falsche  Anschuldigung  und  Erpressung  —  ein  Prozeß  aus 
§  175  Str.-G.-B.  (Landgericht  München  I.)  Der  21jährige,  schon 
vorbestrafte,  von  seinen  eigenen  Eltern  wegen  seiner  Rohheit  ge- 
fürchtete Schlossergeselle  Karl  Kronschnabl  von  hier  machte  am 
6.  September  v.  J.,  Nachts  11  Uhr,  einem  Schutzmann  die  An- 
zeige, daß  ein  vor  ihm  gehender  Herr  in  den  Anlagen  am  Karls- 
platze unsittliche  Handlungen  mit  ihm  vorzunehmen  versucht  habe. 
Der  Bezichtigte,  ein  Buchhalter  aus  Augsburg,  wurde  festgenommen 
und  nach  einem  Verhör  auf  der  Polizeiwache,  in  welchem  er  die 
Beschuldigung  entschieden  in  Abrede  stellte,  wieder  entlassen. 
Am  9.  September  beschuldigte  Kronschnabl  einen  Privatier  aus 
Schleißheim,  daß  dieser  an  einem  allgemein  zugänglichen  Orte 
des  „Cafö  Royal"  sich  mit  ihm  vergangen  habe.  Der  Privatier 
sprang,  um  den  lästigen  Menschen  abzuschütteln,  rasch  in  einen 
vorüberfahrenden  Trambahnwagen.  Kronschnabl  verfolgte  ihn 
bis  nach  Sendung,  erneuerte  im  Trambahnwagen  seine  Behauptung 
und  machte  auf  die  Weigerung  des  Privatiers,  das  geforderte 
Schweigegeld  zu  zahlen,  einem  Schutzmann  die  unwahre  Anzeige, 
daß  der  Privatier  sich  gegen  ihn  vergangen  habe.  Der  Herr 
wurde  mit  Droschke  zur  Polizeiwache  in  der  Daiserstraße  ver- 
bracht, dort  verhört  .  und  nach  Feststellung  seiner  Personalien 
wieder  entlassen.    Am  12.  September  machte  Kronschnabl  eine 


—    1262    — 

dritte  Anzeige:  Ein  anderer  Privatier,  von  hier  habe  sich  gegen 
ihn  in  der  Flur  eines  Hauses  an  der  Herzog  Wilhelmstraße  einen 
unsittlichen  Angriff  erlaubt.  Auch  dieser  Verdächtigte  stellte  vor 
der  Polizei  nicht  nur  diese  Beschuldigung  entrüstet  in  Abrede, 
sondern  behauptete  auch,  daß  Kronschnabl  ihm  gedroht  habe, 
wenn  er  nicht  3  Mk.  von.  ihm  erhalte,  werde  er  ihm  „den  Herrn 
schon  zeigen"  und  Anzeige  gegen  ihn  wegen  Verfehlung  nach 
§  175  des  Str.-Q.-B.  erstatten.  Fiel  der  Polizei  die  rasche  Auf- 
einanderfolge der  von  Kronschnabl  erstatteten  Anzeigen  schon 
auf,  so  wurde  bei  den  gepflogenen  Erhebungen  der  Verdacht 
gegen  Kronschnabl,  daß  dieser  wissentlich  falsche  Anzeigen  ge- 
macht habe,  immer  mehr  bestärkt.  Die  von  ihm  Bezichtigten  sind 
ältere,  hochachtbare  Männer,  er  selbst  ein  arbeitsscheuer  Mensch, 
der  sich  auffallend  häufig  in  der  Nähe  der  Bedürfnisanstalt  am 
Karlsplatz  herumtrieb,  um  sich  dort  Opfer  seiner  Erpressungs- 
versuche auszuersehen.  Durch  die  eidlichen  Aussagen  der  so 
schmählich  Bezichteten  wurde  festgestellt,  daß  Kronschnabl  sich 
in  aufdringlicher  Weise  an  die  drei  Herren  herangemacht  hat, 
ihnen  seine  Begleitung  aufgedrungen  und  bei  zweien  der  Zeugen 
selbst  versucht  habe,  sie  zu  Unsittlichkeiten  anzuregen.  Auf 
Zurückweisung  dieser  Zudringlichkeiten  beschuldigte  dann  plötzlich 
Kronschnabl  die  Herren  solcher  Handlungen  und  forderte  Schweige- 
geld. In  allen  drei  Fällen  der  von  Kronschnabl  erstatteten  An- 
zeigen wurde  das  Verfahren  eingestellt.  Kronschnabl  wird  wegen 
dreier  Vergehen  der  falschen  Anschuldigung  und  zweier  Vergehen 
des  Erpressungs Versuchs  zur  Gefängnisstrafe  von  acht  Jahren  und 
fünfjährigem  Ehrenrechtsverlust  verurteilt,  wobei  als  besonders 
straferschwerend  die  außerordentliche  Niedrigkeit  und  Gemein- 
gefährlichkeit der  Handlungsweise  hervorgehoben  wurde. 

(M.  N.  E.) 

Erpressung.  Auf  der  Anklagebank  sitzen  fünf  junge  Leute 
und  zwar  der  Schlosser  Karl  Darmstadt,  der  Auslaufer  Thomas 
Höhne,  der  Auslaufer  Heinrich  Friedr.  Heiler,  der  Arbeiter  Karl 
Schön  und  der  Kellner  Edmund  Wiedeck  aus  Wien.  Der  Haupt- 
angeklagte, der  Ausläufer  Hans  Haas  fehlt.  Laut  Anklage  sind 
die  Genannten  der  Erpressung,  begangen  an  einem  Journalisten 
v.  M.,  schuldig.  Die  Angeklagten  sind  durchweg  schon  mehr 
oder  minder  vorbestraft.  Haas  ist  überdies  noch  unsittlicher 
Handlungen  angeklagt.  Die  Verhandlung  findet  bei  Ausschluß 
der  Öffentlichkeit   statt.     Darmstadt   erhält   sechs  Monate   Ge- 


—    1263    — 

fängnis,  Höhne  neun  Monate.    Die  übrigen  Angeklagten  werden 
freigesprochen. 


Festgenommen  wurde  gestern  Abend  der  ehemalige  Schau- 
spieler Carl  Behrens,  einer  jener  unheimlichen  Gesellen,  die  sich 
in  Frauenkleidern  umherzutreiben  pflegen,  um  Opfer  anzulocken 
und  dann  zu  bestehlen  oder  sonst  wie  zu  prellen.  Behrens  ist 
schon  wiederholt  bestraft.  (Berliner  Morgenpost.) 


Ein  unverschämter  Bursche.  Wegen  versuchter  Erpressung 
hatte  sich  der  Kellner  Paul  Schellmann  vor  der  dritten  Strafkammer 
am  Landgericht  II  zu  verantworten.  Der  Angeklagte  gehört  einer 
Zunft  von  jungen  Leuten  an,  die  ein  dunkles  Gewerbe  betreibt 
und  ihre  Opfer  sowohl  unter  denen  sucht,  die  mit  ihr  in  unlautere 
Beziehungen  treten,  wie  auch  unter  jenen,  welche  auf  solche  Be- 
ziehungen hinauslaufende  Zumutungen  abweisen.  In  diesen  Falle 
war  das  Opfer  der  bekannte  Herrenreiter  von  T.-L.  Der 
Angeklagte  hatte  Herrn  von  T.  in  Restaurants  wiederholt  bedient, 
hatte  ihm  seine  Not  geklagt  und  dann  wohl  ab  und  zu  ein  Fünf- 
oder Zehnmarkstück  erhalten.  Schließlich  aber  erbat  er  solche 
Unterstützungen  mit  dem  kategorischen  Imperativ  und  drohte  mit 
„Enthüllungen",  was  Herrn  von  T.-L.  veranlaßte,  sich  an  die 
Kriminalpolizei  zu  wenden,  die  dem  Angeklagten  sehr  bald 
das  Handwerk  legte.  Unter  Ausschluß  der  Öffentlichkeit  wurde 
derselbe  zu  zwei  Jahren  Gefängnis  verurteilt.  (Berliner  Morgenpost.) 


Gelderpressung.  Es  ist  gestern  der  Polizei  gelungen  ein 
paar  junge  Burschen  zu  verhaften,  die  unter  verschiedenem  Vor- 
wande  Leute  in  Fallen  gelockt  haben  und  später  unter  Drohungen 
von  Skandalisierung  diesen  Geld  abpreßten.  Die  zwei  Verhafteten, 
wovon  der  eine  ein  alter  Freund  von  der  Polizei,  eine  früher 
bestrafte  Person  J.  Chr.  Jensen,  der  andere  ein  schwedischer 
Damenkomiker  ist,  haben  mit  ein  paar  Kameraden  zusammen  in 
Nörreboulevara  Nr.  110  zugehalten,  und  hier  ist  es  gestern  der 
Polizei  gelungen  die  zwei  Verbrechern  zu  verhaften.  Die  Ver- 
haftung wurde  von  einem  Herrn  veranlaßt,  der  seine  Uhr  dem 
Verbrecherkomplott  für  25  Kr.  verpfändet  hatte.  Als  er  die  Uhr  ein- 
lösen wollte  verlangten  die  Schurken  50  Kr.  dafür,  und  als  er 
das  Geld  geholt  hatte,  forderten  sie  sogar  noch  Zinsen.  Er 
ging  jetzt  zur  Polizei,  und  man  hofft  die  zwei  anderen  ebenfalls 
zu  ergreifen. 


-     1264    — 

Wien.  (Erpressung.)  Der  Fleischergehilfe  Maximilian  Strauß, 
ein  junger  Mensch,  war  heute  der  Erpressung  angeklagt,  weil  er 
den  Hofopernsänger  Herrn  Reichmann  in  einem  Briefe  einer 
strafbaren  Handlung  beschuldigte  und  ihm  mit  einer  Anzeige  drohte, 
wenn  dieser  ihn  nicht  für  die  Unterlassung  entschädige.  In  seiner 
Anforderung  war  er  bescheiden,  er  begehrte  fünf  Gulden.  Den 
Brief  unterschrieb  er  nicht,  doch  fügte  er  seine  richtige  Adresse 
bei.  Dadurch  war  es,  nachdem  Herr  R.  die  Sicherheitsbehörde 
verständigt  hatte,  leicht  möglich,  Maximilian  Strauß  zu  verhaften. 
Der  Angeklagte,  von  Dr.  v.  Thersch  verteidigt,  wurde  zu  vier 
Monaten  schweren  Kerkers  verurteilt. 


Ein  Berliner  Kellner  in  Frauenkleider,  der  von  der  hiesigen 
Staatsanwaltschaft  seit  längerer  Zeit  wegen  mehrfacher  raffinierter 
Erpressungen  steckbrieflich  verfolgt  wird,  wurde  gestern  durch 
die  Kriminalpolizei  in  Dresden  festgenommen.  Der  Verhaftete 
pflegte  stets  in  Frauenkleidern,  bald  mit  blonder,  bald  mit 
schwarzer  Perrücke,  sich  an  die  Männerwelt  heranzumachen  und 
hinterher  schwere  Erpressungen  in  gewisser  Beziehung  zu  verüben. 

(Berliner  Morgen  Zeitung.) 


Über  eine  skandalöse  Affaire  schreibt  man  aus  Basel  dem 
Mühlhauser  „Expreß":  Es  ist  hier  viel  die  Rede  von  einer 
skandalösen  Affaire,  welche  bereits  zu  wiederholten  Malen  die 
Strafkammer  in  nicht  öffentlicher  Sitzung  beschäftigt  hat.  Im 
Monat  Januar  d.  Js.  verschwand  plötzlich  der  Geschäftsleiter 
eines  großen  Handelshauses  hiesiger  Stadt.  Seine  Leiche  wurde 
einige  Tage  später  aus  dem  Rhein  gezogen.  Aus  der  bei  dem 
Selbstmörder  gefundenen  Korrespondenz  ging  hervor,  daß  er  mit 
jungen  Leuten  von  18—20  Jahren  widernatürliche  Unzucht  ge- 
trieben hatte.  Es  war  eine  ganze  Bande,  die  sich  zu  dem 
unsauberen  Gewerbe  zusammengefunden  hatte.  Man  wagte  nicht 
gegen  sie  vorzugehen,  da  sie  den  Schutz  einflußreicher  Personen 
genossen.  Eines  ihrer  Opfer  war  auch  jener  Musiker,  der  sich 
vor  etwa  vier  Wochen  unweit  St.  Privat  eine  Kugel  vor  den 
Kopf  schoß.  Endlich  kam  die  Geschichte  aber  doch  zu* den 
Ohren  des  Gerichts,  eine  Untersuchung  wurde  eingeleitet  und  17 
Verhaftungen  vorgenommen.  13  dieser  jungen  Leute  erhielten 
Strafen  von  zwei  Monaten  Gefängniß  bis  zu  8  Jahren  Zuchthaus. 
Da  keine  Revision  eingelegt  ist,  wird  diese  Geschichte,  die  hier 


—     1265    — 

ungeheuer  viel  Staub  aufgewirbelt  hat,  jetzt  hoffentlich  bald  aus 
der  öffentlichen  Diskussion  verschwinden. 

(Straßburger  Bürgerzeitung.) 


Karlsruhe.  Ein  verheirateter  Kaufmann  von  hier,  der  in 
letzter  Zeit  mit  Obst  handelte  und  der  schon  wegen  Erpressung 
und  Vergehen  gegen  den  §  175  des  R.-St.-G.-B.  vorbestraft  ist, 
suchte  einen  hiesigen  Geschäftsmann  zu  ähnlichem  Vergehen  zu 
verleiten,  um  hinterher  von  demselben  200  M.  erpressen  und 
damit  flüchtig  gehen  zu  können. 


Eine  saubere  Erpressungsgeschichte.  Fünf  Personen  hatten 
sich  am  Dienstag  wegen  Erpressung  vor  der  zweiten  Strafkammer 
des  Landgerichts  I  zu  verantworten:  Der  noch  jugendliche  Be- 
reiter Richard  Karl  Wilhelm  Aßmann,  der  Reisende  Wilhelm 
Wolff,  der  Schankwirt  Hermann  Füllgraf,  der  Kaufmann  Friedrich 
Holzke  und  der  Kellner  Emil  Reiher.  Der  Anklage  scheinen 
Vorgänge  zu  Grunde  liegen,  die  einen  bedenklichen  Beitrag  zur 
Sittengeschichte  bilden,  denn  der  Staatsanwalt  sah  sich  —  schon 
bevor  der  Eröffnungsbeschluß  verlesen  wurde  —  veranlaßt,  im 
Interesse  der  öffentlichen  Sittlichkeit  den  Ausschluß  der  Öffent- 
lichkeit zu  beantragen.  Der  Gerichtshof  beschloß  nach  diesem 
Antrage.  Äußeren  Vernehmen  nach  handelt  es  sich  um  einen 
Erpressungsfeldzug  gegen  einen  außerhalb  Berlins  wohnenden 
hocharistokratischen  Herrn,  der  übrigens  als  Zeuge  nicht  an- 
wesend war,  sondern  zur  Zeit  sich  auf  einer  ausgedehnten  See- 
reise im  Auslande  befinden  soll.  Der  Herr  war  bei  einer  An- 
wesenheit in  Berlin  in  etwas  dunkler  Weise  in  Beziehungen  zu 
dem  Angeklagten  Aßmann  getreten,  und  diese  wenig  kavalier- 
mäßige Annäherung  soll  den  Ausgangspunkt  zu  wiederholten 
Brandschatzungen  gebildet  haben,  zu  deren  Vornahme  mehrere 
der  Angeklagten  nach  dem  Wohnorte  ihres  Opfers  gereist  sind. 
Das  Ende  vom  Liede  war  eine  Strafanzeige,  die  die  Festnahme 
der  beiden  ersten  Angeklagten  durch  den  Kriminalkommissar  von 
Tresckow  und  die  Anklage  zur  Folge  hatte.  Nach  etwa  fünf- 
stündiger Beratung  unter  strengstem  Ausschlüsse  der  Öffentlich- 
keit ergab  sich  die  Notwendigkeit  einer  Vertagung,  weil  ein  nicht 
anwesender  Zeuge,  auf  den  nicht  verzichtet  werden  kann,  nicht 
zur  Stelle  geschafft  werden  konnte.  Die  Verhandlung  soll  am 
Sonnabend  um  9  Uhr  fortgesetzt  werden. 


—     1266    — 

Eine  saubere  Erpressungsgeschichte.  Der  umfangreiche 
Erpressungsprozeß,  welcher  sich  gegen  fünf  Angeklagte  richtete, 
endete  gestern  mit  der  Verurteilung  sämtlicher  Angeschuldigten. 
Es  handelte  sich,  wie  bereits  mitgeteilt,  um  die  Ausbeutung  eines 
hocharistokratischen  Herrn,  der  sich  durch  seine  perversen  Neig- 
ungen den  Angeklagten  überliefert  hatte.  Die  Strafen,  welche, 
wie  in  der  Urteilsverkündung  hervorgehoben  wurde,  hart  aus- 
fallen mußten,  da  die  ganze  Handlungsweise  der  Angeklagten 
sich  als  eine  höchst  gemeingefährliche  kennzeichne,  lauteten  wie 
folgt:  Bereiter  Wilhelm  Aß  mann  und  Reisender  Wilhelm  Wolff 
je  2  Jahre  6  Monate  Gefängnis  und  dreijährigen  Ehrverlust, 
Schankwirt  Hermann  Füllgraf  6  Monate  Gefängnis  und  ein  Jahr 
Ehrverlust,  Kaufmann  Friedrich  Holzke  9  Monate  Gefängnis  und 
ein  Jahr  Ehrverlust  und  Kellner  Emil  Reiher  1  Jahr  6  Monate  Ge- 
fängnis und  drei  Jahre  Ehrverlust.  Füllgraf  und  Holzke  wurden 
auf  freien  Fuß  gesetzt,  die  übrigen  Verurteilten  erklärten,  sich 
bei  dem  Erkenntnisse  nicht  beruhigen  zu  wollen. 


Gefährlicher  Bursche.  Der  „Arbeiter"  Otto  Gusch  aus  der 
Tilsiterstraße  ist  einer  von  den  Menschen,  die  sich  auf  den  Bahn- 
höfen aufhalten,  um  unerfahrene  Leute  zu  verschleppen  und  zu 
plündern.  Am  Abend  sah  er  nun  den  Kaufmann  G.  von  aus- 
wärts auf  dem  Schlesischen  Bahnhof  ankommen  und  folgte  ihm 
nach  dem  Bahnhof  Friedrichstraße.  Als  er  ihm  auch  hier  auf 
keine  andere  Weise  beikommen  konnte,  stieß  er  die  Drohung 
aus:  „Höre  mal,  wenn  Du  nichts  gibst,  so  lasse  ich  Dich  ver- 
haften." G.  erschrak  zwar,  war  aber  vernünftig  genug,  sich  nicht 
einschüchtern  zu  lassen.  Nun  besaß  Gusch  wirklich  die  Frechheit, 
ihn  zu  beschuldigen,  daß  er  auf  einem  Hausflur  in  der  Kloster- 
straße Unzucht  mit  ihm  getrieben  habe.  Auf  der  Revierwache 
konnte  der  Beschuldigte  leicht  nachweisen,  daß  er  ohne  Auf- 
enthalt vom  Schlesischen  Bahnhofe  gekommen  war  und  die  Kloster- 
straße garnicht  berührt  hatte.  Andererseits  wurde  festgestellt, 
daß  man  in  dem  Angeber  einen  wegen  ähnlicher  Räubereien 
schon  mehrfach  bestraften  Menschen  vor  sich  hatte.  Die  Folge 
war,  daß  der  Kaufmann  wieder  entlassen,  Gusch  dagegen  ver- 
haftet wurde. 


—    1267    — 

Erpressung  an  den  Prinzen  Franz  Josef  von  Braganza 
in  London. 
(Zeitungsausschnitte  aus  dem  Berliner  Tageblatt.) 
Seltsame  Abenteuer  eines  Prinzen,  der  Inkognitostudien  machen 
wollte,  berichtet  uns  ein  Privat-Telegramm,  unseres  Londoner 
ß-Korrespondenten :  Ein  sensationelles  Schauspiel  spielte  sich 
gestern  auf  dem  Southwarkgericht  ab.  Mehrere  Individuen  aus 
dem  verkommensten  Osten  Londons  waren  angeklagt,  Erpressungs- 
versuche an  einem  Mitgliede  eines  europäischen  regierenden 
Fürstenhauses  unternommen  zu  haben.  Die  Namen  des  Anklägers 
und  des  Verhafteten  waren  nicht,  wie  üblich,  auf  den  Akten- 
stücken, die  die  Presse  einsehen  darf,  angegeben,  und  jedes 
Ansuchen,  sie  zu  nennen,  wurde  abgelehnt.  Der  Prinz  soll  am 
Dienstag  Abend  seine  ihm  vom  Hofe  angewiesene  Wohnung  ver- 
lassen und  in  einem  fashionablen  Hotel  diniert  haben,  dann  aber, 
heißt  es,  hat  er  sich  mit  mehreren  Fremden  in  eine  Matrosen- 
kneipe in  Southwark  begeben  und  ist  dort  unter  unnennbaren 
Umständen,  mit  seiner  Umgebung  verhaftet  worden.  Bis  dahin 
hatte  niemand  geahnt,  daß  die  Hauptperson  des  Dramas  ein 
kaiserlicher  oder  königlicher  Prinz  sei.  Die  Polizei  war  wie  zer- 
schmettert, als  sich  dies  herausstellte.  Von  einer  einfachen  Ent- 
lassung konnte  nicht  die  Rede  sein,  da  die  Polizei  selbst  ihre 
Detektivs  entsandt  hatte,  um  das  übelberüchtigte  Lokal  auszu- 
heben. Man  telephonierte  an  den  Polizeipräsidenten,  und  nun 
wurde  die  Sache  so  dargestellt,  als  ob  der  Prinz  nach  Southwark 
zum  Zweck  der  Erpressung  verschleppt  worden  wäre.  Die  Namen 
der  Erpresser  werden  geheim  gehalten.  Die  Hauptperson  ist,  so- 
weit ich  ermitteln  konnte,  entweder  ein  Prinz  aus  dem  Südwesten 
Europas  oder  aus  einer  größeren  östlichen  Monarchie.  Die  Ge- 
schichte wird  heute  im  „Morning  Leader"  publiziert,  dessen  Ge- 
richtsreporter sich  männlich  weigerte,  über  die  Angelegenheit 
Stillschweigen  zu  beobachten,  falls  er  zu  der  Verhandlung  zu- 
gelassen werden  wollte.  Die  Verhandlung  selbst  scheint  schließ- 
lich von  gestern  auf  heute  vertagt  worden  zu  sein. 


Zu  dem  Londoner  Prinzenabenteuer,  von  dem  wir  im 
gestrigen  Abendblatt  Mitteilung  machten,  geht  uns  ein  weiteres 
Privat-Telegramm  von  unserem  ß-Korrespondenten  zu,  welches 
besagt,  daß  der  Prinz  nicht  einem  südwesteuropäischen,  sondern 
einem  anderen  Reiche  angehört.  Genaueres  ist  noch  nicht  bekannt 
geworden. 


Jahrbuch  V.  80 


—    1268    — 

ß  London,  27.  Juni.  (Privat -Telegramm.)  Der  in  die  von 
uns  gemeldete  Skandalaffaire  verwickelte  Prinz  ist  gegen  80000 
Mark  Kaution  losgelassen  worden  und  in  die  Heimat  zurück- 
gekehrt.   

Die  Inkognito-Abenteuer  eines  Prinzen  in  London.  Wir 
erhalten  zu  dieser  Angelegenheit,  welche  uns  schon  vor  einiger 
Zeit  beschäftigt  hat,  folgendes  Privat-Telegramm  unseres  ß-Kor- 
respondenten  aus  London:  Nachdem  ein  hiesiges  Abendblatt 
keinen  Anstand  genommen  hat,  den  Namen  des  Prinzen  zu  ver- 
öffentlichen, der  in  die  schmutzige  Geschichte  im  Eastend  ver- 
wickelt ist,  liegt  kein  Grund  mehr  vor,  damit  länger  zurück- 
zuhalten. Es  handelt  sich  um  den  23jährigen  Prinzen  Franz 
Joseph  Braganza,  der  als  Offizier  in  der  österreichischen  Armee 
steht  und  sich  im  Gefolge  des  Erzherzog-Thronfolgers  Franz 
Ferdinand  von  Österreich  befand.  Prinz  Franz  Josef  ist  der 
Sohn  des  Herzogs  Miguel  Braganza,  königliche  Hoheit,  und 
seiner  verstorbenen  Gemahlin,  der  Prinzessin  Elisabeth  von  Thurn 
und  Taxis.  Der  junge  Prinz  stand  heute  (das  heißt  am  gestrigen 
Mittwoch)  wieder  vor  dem  Polizeigericht  zu  Southwark,  gemein- 
schaftlich mit  Henry  Chandler,  15  Jahre  alt,  eines  Verbrechens 
bezichtigt,  ferner  mit  William  Jerry,  24  Jahre  alt,  Buchmacher- 
kommis,  und  Charles  Shermann,  17  Jahre  alt,  Zeitungsverkäufer, 
welche  wegen  Beihilfe  und  Anreizung  angeklagt  sind.  Der  Prinz, 
ein  blonder  junger  Mann,  glattrasiert,  mit  dunklem  Teint,  welcher 
in  eleganter  Morgentracht  erschien,  erhielt  die  Erlaubnis,  nicht 
mit  den  übrigen  Angeklagten,  schmutzig,  ungewaschen  und  herab- 
gekommen aussehenden  Burschen,  in  dem  Anklageraum  Platz 
nehmen  zu  müssen.  Er  stand  neben  diesen.  Keine  Namen  wurden 
aufgerufen,  auch  die  Art  des  Verbrechens  nicht  näher  bezeichnet. 
Die  Reporter  erhielten  keinen  Einblick  in  die  Rolle.  Den  Vorsitz 
in  der  Verhandlung  führte  Richter  Fenwick  an  Stelle  des  Richters 
Chapman,  der  das  erste  Verhör  geleitet  hatte.  Der  Advokat  Gill, 
der  die  Verteidigung  des  Prinzen  übernommen  hatte,  war  nicht 
erschienen,  der  Advokat  Palmer  vertrat  Chandler  und  Sherman, 
Gerry  wurde  nicht  verteidigt.  Der  Vorsitzende  Fenwick  schloß 
die  Reporter  und  das  Publikum  von  der  Sitzung  nicht  aus,  wie 
letzthin  Chapman.  Der  Sollicitor  Muskett  konstatierte  dann,  daß 
t  vom  Polizeikommissar  beauftragt  worden  sei,  diese  vier 
entlemen  auf  Grund  von  Beschuldigungen  zu  verfolgen,  die  in 
2m  Aktenstücke,  das  im  Einverständnis  mit  dem  Advokaten  des 


—    1269    — 

Prinzen  der  Fall  um  acht  Tage  vertagt  werden  solle,  bis  der 
Richter  Chapman,  der  schon  einen'  Teil  des  Falles  untersucht 
habe,  darin  fortfahren  könne.  Es  sei  daher  vorläufig  nicht  nötig, 
daß  er  irgend  eine  Erklärung  abgebe.  Nachdem  auch  der  Advokat 
Palmer  in  die  Vertagung  gewilligt,  und  beide  Schutzleute  bestätigt 
hatten,  daß  ihre  in  der  letzten  Gerichtssitzung  zu  Protokoll  ge- 
gebenen Aussagen,  die  ihnen  zur  Einsicht  vorgelegt  wurden,, 
richtig  seien,  wurde  der  Prinz,  der  bekanntlich  eine  hohe  Bürg- 
schaft gestellt  hat,  gegen  diese  entlassen.  Die  drei  anderea 
Angeklagten  aber  wurden  ins  Gefängnis  abgeführt.  Wir  haben 
bereits  das  Gerücht  gemeldet,  wonach  die  Verteidigung  des 
Prinzen  sich  darauf  stützen  werde,  daß  ein  Erpressungsversuch 
gegen  ihn  gemacht  worden  sei,  dem  er  keine  Folge  gegeben  . 
habe;  darauf  sei  die  Anzeige  bei  der  Polizei  erstattet  worden, 
was  nicht  nur  zur  Verhaftung  der  drei  anderen  Angeklagten, 
sondern  auch  zu  der  des  Prinzen  geführt  habe.  Das  stimmt 
aber  nicht  dazu,  daß  nach  internationalem  Recht  Verhaftungen 
von  Personen  im  Gefolge  eines  exterritorialen  Gesandten,  wie  es 
der  Erzherzog  Franz  Ferdinand  zweifellos  war,  nur  bei  ihrer 
Ergreifung  in  flagranti  delicto  zulässig  sind. 


London,  9.  Juli.  Bei  der  heutigen  Wiederaufnahme  des 
Prozesses  gegen  den  Prinzen  Braganza  wurde  öffentlich  unter 
Nennung  des  Namens  verhandelt.  Der  Vertreter  der  Polizei 
modifizierte  den  ersten  Antrag  auf  Verfolgung  wegen  schweren 
sittlichen  Vergehens  in  einen  solchen  wegen  indezenten  Ver- 
haltens. Die  Beweisaufnahme  ergab,  daß  die  Falle  für  den 
Prinzen  von  langer  Hand  durch  Mietung  einer  besonderen  Wohnung 
seitens  des  Buchmachers  Gerry,  der  auch  die  Jungen  gedungen 
zu  haben  scheint,  vorbereitet  war.  Doch  ist  noch  unklar,  ob  der 
Vermieter  der  Wohnung,  der  sich  ein  Loch  in  der  Wand  zu  dem 
gemieteten  Zimmer  zur  Beobachtung  gebohrt  haben  will  und  im 
kritischen  Moment  die  Polizei  herbeiholte,  mit  im  Komplott  ist. 
Der  Prozeß  wurde  auf  acht  Tage  vertagt.  Die  soziale  Stellung 
des  Prinzen  scheint  durch  den  Prozeß  nicht  beeinträchtigt  zu  sein, 
da  er  gestern  mit  dem  Prinzen  Teck,  dem  Fürsten  Lichtenstein 
und  anderen  hochgestellten  Personen  bei  der  Prinzessin  Hatzfeldt 
als  Gast  im  Claridge-Hotel  dinierte. 


Der  Prozeß  Braganza.  18.  VII.  02.  Gestern  wurde  gegen  den  Her- 
zog Braganza  der  Prozeß,  der  auf  acht  Tage  vertagt  war,  fortgesetzt. 

80* 


—    1270    — 

Ein  Privat-Telegramm  unseres  Londoner  ß- Korrespondenten 
meldet  uns:  Bei  der  Fortsetzung  der  Beweisaufnahme  ergab  das 
Verhör  mit  den  Polizisten,  daß  der  Herzog  Braganza  versucht 
hatte,  den  ihn  verhaftenden  Polizisten  durch  Nennung  seines 
Namens  und  Standes  zu  bestimmen,  ihn  freizulassen,  was 
der  Polizist  —  wie  später  auch  der  Vorstand  des  Polizei- 
bureaus —  ablehnte.  Der  Prinz  selbst  sagte  aus,  er  sei 
in  das  Haus,  wo  seine  Verhaftung  stattfand,  von  den  mit- 
angeklagten  Burschen  verschleppt  worden.  Der  Prinz  erklärte, 
an  dem  Tage  seiner  Verhaftung  reichlich  Champagner  getrunken 
zu  haben,  wogegen  die  Polizisten  behaupteten,  er  sei  vollständig 
nüchtern  gewesen.  Der  Prinz  versicherte  schließlich  auf  seine 
Ehre,  daß  die  gegen  ihn  erhobene  Anklage  absolut  unbegründet 
sei.    Die  Verhandlung  wurde  auf  acht  Tage  vertagt. 


London,  24.  Juli.  Der  Prinz  von  Braganza  vor  Gericht.  Bei 
der  heutigen  Wiederaufnahme  des  Vorverfahrens  gegen  den 
Prinzen  Franz  Josef  von  Braganza  und  Genossen,  von  denen 
die  beiden  jungen  Burschen  heute  gewaschen  und  mit  zwei 
weißen  Kragen  versehen  waren,  erschienen  als  Zeugen  des  Prinzen 
dessen  Bruder  Miguel  und  ein  Freund  Graf  Sizzo,  die  bekundeten, 
daß  der  Prinz  Franz  Josef  in  jener  verhängnisvollen  Nacht  zum 
Diner  und  Souper  stark  getrunken  hatte  und  nicht  nüchtern  war. 
Auch  habe  er  ein  Rendezvous  mit  einer  Dame  Nachts  um  \2l/9 
Uhr  am  Empire  verabredet.  Die  Rede  des  Verteidigers  des  Prinzen 
stützte  sich  auf  drei  Punkte:  Nach  ärztlichem  Zeugnis  sei  kein 
Verbrechen  verübt  worden,  ferner  habe  der  Hauswirt,  der  dies 
konstatiert  haben  will,  nach  Zeugenaussagen  nicht  durchs  Schlüssel- 
loch sehen  können  und  sei  erst  später  mit  seiner  Aussage  heraus- 
gerückt, daß  er  sich  ein  Spionierloch  in  die  Wand  gebohrt  habe, 
und  schließlich  liege  ein  offenbarer  Erpressungsversuch  vor.  Der 
Richter  Chapman  erklärte,  es  sei  nicht  unmöglich,  daß  der  Prinz 
in  eine  Falle  gelockt  wurde,  aber  er  könne  sich  nicht  überzeugen, 
daß  der  Prinz  in  aller  Unschuld  das  fragliche  Haus  betreten  habe. 
Er  wolle  nicht  den  Funktionen  der  Jury  vorgreifen,  und  wenn  er 
den  Prinzen  freispreche,  so  beschuldige  er  die  Zeugen  Burbedge 
und  Street,  die  durchs  Spionierloch  gesehen  haben  wollen,  des 
Meineids.  Das  könne  er  nicht,  obwohl  in  analogen  Fällen  Er- 
pressung sehr  wahrscheinlich,  müsse  er  den  Fall  vor  die  Ge- 
schworenen verweisen.    Der  Prinz  und  Genossen  wurden  dem 


—    1271     — 

Old  Bailey-Gericht  überwiesen,   der  Prinz  aber  gegen  Kaution 
auf  freiem  Fuße  belassen. 


Als  Sir  Edward  Clarke  plaidierte  und  gerade  erklärte, 
es  liege  ein  Erpressungskomplott  gegen  den  Prinzen  vor,  ereignete 
sich  eine  überraschende  Unterbrechung.  Ein  gutgekleideter  Hen- 
nef aus  dem  Publikum:  „Ja  wohl,  es  ist  eine  Erpressung,  eine 
Erpressung!"  Der  Richter  verfügte,  daß  der  Herr  aus  dem  Saale 
entfernt  werde.  Dieser  aber  rief,  während  die  Polizisten  ihn 
hinausführten,  nochmals:  „Es  ist  eine  Erpressung,  sonst  nichts; 
ich  gehe  nicht,  bevor  ich  alles  gesagt  habe;  ich  habe  Derartiges 

selbst  erlitten".  Straßburger  Post,  27.  VII.  02. 


Prinz  Franz  Josef  Braganza  vor  Gericht.  11.  VII.  02.  VordemCen- 
tralkriminalgerichtshofe  in  London  wurde  wiederum  gegen  Prinz 
Josef  von  Braganza  und  drei  Mitangeklagte  im  Alter  von  15,  17  und 
24  Jahren  wegen  eines  angeblichen  Vergehens  gegen  die  Sittlich- 
keit verhandelt.  Die  Angelegenheit  hat  uns  schon  öfter  be- 
schäftigt. Der  Sachverhalt  stellte  sich  nach  der  Verhandlung  wie 
folgt  heraus:  Prinz  Franz  Josef  von  Braganza,  23  Jahre  alt  und 
österreichischer  Offizier,  war  zu  den  Krönungsfeierlichkeiten  nach 
London  gekommen.  Der  älteste  Mitangeklagte,  ein  Kommis, 
mietete  in  der  Duke  Street  zwei  Zimmer,  über  deren  Verwendung 
er  sich  nicht  äußerte.  Es  zogen  sodann  die  beiden  jugendlichen 
Arbeiter,  Chandler  und  Shermann,  zu  ihm.  Der  Hauswirt  will  die 
jungen  Leute  von  Anfang  an  in  Verdacht  gehabt  haben,  und  er 
beobachtete  sie  deshalb.  Am  24.  Juni  legte  er  sich  mit  einem 
anderen  Hausbewohner  auf  die  Lauer,  und  sie  sahen,  wie  die 
beiden  Knaben  mit  einem  elegant  gekleideten  Herrn,  dem  Prinzen, 
gegen  Mitternacht  nach  Hause  kamen.  Sie  wollen  sodann  durch 
das  Schlüsselloch  und  ein  Loch,  welches  sie  mit  einem  Feder- 
messer in  die  Tür  geschnitten  hatten,  beobachtet  haben,  was  der 
Prinz  mit  dem  Knaben  vornahm.  Es  wurde  Polizei  dazu  gerufen 
und  sämtliche  Beteiligte  verhaftet;  den  Kommis  faßte  man  auf  der 
Treppe  ab.  Auffällig  war  es,  daß  bei  der  Voruntersuchung  der 
Hauswirt  und  sein  Genosse  versäumten,  das  mit  dem  Federmesser 
in  die  Tür  geschnittene  Loch  zu  erwähnen,  und  daß  sie  davon 
erst  Mitteilung  machten,  als  eine  Lokaluntersuchung  ergab,  daß 
sie  durch  das  Schlüsselloch  gar  nicht  hatten  beobachten  können, 
was  sie  angeblich  beobachtet  haben  wollen.  Es  liegt  demnach 
der  Verdacht  nahe,   daß   es  sich  um  einen  Erpressungsversuch 


—     1272    — 

gegen  den  Prinzen  handelte,  und  daß  der  Prinz  sich  unbegreiflicher- 
weise unter  irgend  einem  Vorwande  von  den  zerlumpten  Knaben 
in  das  Haus  locken  ließ.  Der  Prinz  selbst  leugnet  die  Tat,  deren 
er  beschuldigt  wird.  Er  behauptet,  einen  Sektfausch  gehabt  zu 
haben,  und  in  diesem  den  Knaben  Gehör  geschenkt  zu  haben, 
die  ihm  gesagt  hätten,  sie  würden  ihn  in  lustige  Gesellschaft 
führen.  Er  will  dadurch  auch  erklären,  wie  es  zu  verstehen  ist, 
daß  er  den  Knaben  Goldstücke  gab,  die  bei  diesen  gefunden 
wurden.  Die  Verhandlungen  fanden  gestern  noch  nicht  ihren 
Abschluß. 


Der  Prinz  Braganza  freigesprochen!  13.  9.  02.  Das  ist  der 
Schlußakt  der  sensationellen  Abenteuer  des  zur  Krönungsfeier  König 
Eduards  nach  London  entsandten  Prinzen  aus  dem  früher  in  Por- 
tugal regierenden  Hause.  Ein  Privat-Telegramm  unseres  Londoner 
Vertreters  meldet  uns:  Die  Geschworenen  des  Old-Baily-Gerichtes 
landen  keine  Beweise  für  das  dem  Prinzen  Franz  Josef  von  Braganza 
-zur  Last  gelegte  Sittlichkeitsvergehen  und  sprachen  ihn  frei. 


Prinz  Franz  Josef  von  Braganza  unter  Curatel  gestellt. 
Mit  Genehmigung  des  Wiener  Landgerichts  wurde,  wie  uns  ein 
Telegramm  unsers  na.-Korrespondenten  aus  der  österreichischen 
Hauptstadt  meldet,  über  den  Prinzen  Franz  Josef  von  Braganza, 
Leutnant  im  ungarischen  Husaren-Regiment  Nr.  7,  Curatel  ver- 
hängt; zum  Curator  ist  Prinz  Karl  Ludwig  von  Thurn  und  Taxis 
bestellt  worden.  Die  gerichtliche  Verfügung  geschah  mit  Zu- 
stimmung des  Prinzen  von  Braganza,  doch  wird  im  Amtsblatt 
der  Wiener  Zeitung,  wo  der  Gerichtsbeschluß  publiziert  wird, 
nicht  gesagt,  ob  die  Entmündigung  wegen  Verschwendung  oder 
geminderter  Zurechnungsfähigkeit  des  Prinzen  erfolgte.  Prinz 
Franz  Josef  von  Braganza  hatte  in  der  letzten  Zeit  oft  von 
sich  reden  gemacht,  da  er  ja  in  den  viel  erörterten  peinlichen 
Prozeß  in  London  verwickelt  war,  bei  dem  er  indessen  von  der 
Anklage,  ein  Sittlichkeitsverbrechen  begangen  zu  haben,  frei- 
gesprochen wurde. 

Einige  Urteile  der  Presse   zum  Fall  Braganza. 
I.  Zum  Londoner  Skandal  schreibt  uns  ein  Angehöriger  der 
österreichischen   Aristokratie:    Abermals    hat    sich    in    London 
ein  eigenartiger  „Skandal"  ereignet,   der  geeignet  ist,  seine  Vor- 
gänger gleichen  Genres,  den  Cleveland-Street-Skandal  vom  Jahre 


—    1273    — 

1889  und  jenen  des  Jahres  1895,  dessen  Opfer  der  bekannte 
englische  Schriftsteller  Oskar  Wilde  wurde,  an  Sensation  noch 
zu  übertreffen.  Wohl  war  auch  im  Cleveland-Street-Skandal 
eine  fürstliche  Persönlichkeit,  der  verstorbene  Herzog  von 
Clarence,  Englands  Thronerbe,  der,  wenn  er  nicht  gestorben, 
heute  den  Titel  eines  Prinzen  von  Wales  führen  würde  —  be- 
troffen, allein  die  Sache  wurde  vertuscht.  Der  Skandal  von 
1902  aber  steht  unübertroffen  da,  denn  am  vergangenen  Mittwoch 
stand  vor  einem  englischen  Richter  Prinz  Franz  Josef  von 
Braganza,  der  Enkel  Dom  Miguel's  —  der  einige  Zeit  hindurch 
den  portugiesischen  Königstitel  getragen,  auf  welchen  er  freilich 
am  26.  Mai  1854  verzichtete,  aber  nur,  um  diesen  Verzicht  schon 
am  1.  Juni  desselben  Jahres  in  Genua  zu  widerrufen  — ,  der 
Neffe  der  Erzherzogin  Maria  Theresia,  der  Stiefmutter  des 
österreichischen  Thronfolgers,  der  Neffe  der  Erbgroßherzogin 
von  Luxemburg,  das  Patenkind  des  Kaisers  von  Österreich.  Er 
befand  sich  im  Gefolge  des  Erzherzogs  Franz  Ferdinand  von 
Österreich-Este,  seines  Stiefkousins,  um  an  der  —  nun  auf- 
geschobenen —  Krönung  des  Königs  von  England  als  offizieller 
Gast  teilzunehmen.  Nach  den  Zeitungsberichten  soll  er  unter 
eigentümlichen  Umständen  verhaftet  worden  sein;  er  soll  eine 
unsittliche  Handlung  mit  dem  jungen  Burschen  Henry  Chandler 
vorgenommen  und  dabei  ertappt  worden  sein.  Auch  diesmal 
wird  es  nicht  an  Stimmen  fehlen,  die  da  meinen,  es  handle  sich 
um  einen  Wüstling,  der  in  rastloser  Jagd  nach  neuen  Genüssen 
schließlich  zu  sexuellem  Verkehr  mit  dem  eigenen  Gechlechte 
gelangt  ist.  Auf  alles  wird  man  verfallen,  nur  nicht  auf  den 
eigentlichen  Grund,  daß  es  sich  bei  dem  Prinzen  von  Braganza 
um  eine  jener  zahlreichen  „sexuellen  Zwischenstufen"  handelt, 
für  welche  seit  Jahren  hervorragende  Männer  Deutschlands  ein- 
getreten sind,  um  für  sie  den  §  175  bei  der  Revision  des  Straf- 
gesetzbuches zu  tilgen.  —  Das  wissenschaftlich -humanitäre 
Komitee  veröffentlicht  Jahrbücher,  und  im  vorletzten  dritten 
Bande  derselben  vom  vorigen  Jahre  befindet  sich  ein  Artikel 
von  Dr.  M.  Hirschfeld  „Sind  sexuelle  Zwischenstufen  zur  Ehe 
geeignet?"  In  diesem  Artikel  lesen  wir  S.  63— 68  die  Biographie 
eines  jungen  Mannes,  der  seit  einer  Reihe  von  Jahren  in  Wien 
nur  in  weiblicher  Kleidung  sein  Leben  verbringt.  Er  machte  die 
Bekanntschaft  einer  jungen  Dame,  die,  ihrer  Neigung  zum  weib- 
lichen Geschlecht  entsprechend,  es  wiederum  liebt,  in  männlicher 
Kleidung   zu    erscheinen.     Auf  Seite  68    des   genannten  Werkes 


—     1274    — 

liest  man:  „Ich  lernte  bei  ihr  auch  einen  Prinzen  aus  könig- 
lichem Hause,  der  im  gewöhnlichen  Leben  Leutnant  in  einem 
Kavallerie-Regimente  ist,  in  einem  reizenden,  duftigen  Kleidchen 
aus  weißem  Tautropfentüll  mit  Maiglöckchen  usw.  kennen.  Er 
klagte  sehr  über  seine  Stellung,  wie  gern  würde  er  die  Uniform 
mit  Mädchenkleidern,  den  Säbel  mit  dem  Fächer  vertauschen,  der 
arme  Junge!"  —  Die  königlichen  Prinzen  im  österreichischen 
Heere  sind  nicht  so  reichlich  vertreten,  daß  man  nicht  sofort  an 
den  äußerst  mädchenhaft  aussehenden  Prinzen  von  Braganza 
denken  müßte.  Wer  ihn  kennt  und  um  die  Tatsache  der  Über- 
gangsstufen vom  weiblichen  zum  männlichen  Geschlechte  Bescheid 
weiß,  für  den  ist  es  klar,  daß  gerade  dieser  Prinz  einer  solchen 
angehört.  Und  ist  dies  so  selten?  Freilich  dringen  nur  die 
Fälle,  welche  hohe  Persönlichkeiten  betreffen,  in  die  Öffentlichkeit. 
Aber  nicht  bloß  Prinzen  und  Aristokraten,  sondern  Angehörige 
jedes  Standes  bis  zu  den  einfachsten  Arbeitern  finden  sich  im 
„dritten  Geschlecht".  Es  ist  bei  dem  Prinzen  von  Braganza 
wohl  ganz  ausgeschlossen,  daß  man  ihn  einen  „Wüstling"  nennen 
könnte.  Man  kann  doch  nicht  annehmen,  daß  er,  der  am 
7.  September  1870  geboren  wurde,  in  den  paar  Jahren,  seitdem 
er  elterlicher  Aufsicht  und  der  Erziehung  seiner  Lehrer  ent- 
wachsen war,  schon  von  normalem  Verkehr  tibersättigt  ist.  Ein 
Umstand  spricht  allerdings  gegen  ihn,  nämlich,  daß  sein  Komplize 
erst  fünfzehn  Jahre  alt  ist.  Wahrscheinlich  dürfte  aber  hier  ein 
Fall  von  frühreifer  Körperentwickelung  vorhanden  sein,  der 
Bursche  wahrscheinlich  einen  viel  älteren  Eindruck  machen  und 
—  last  not  least  —  von  seinen  Genossen  und  Helfershelfern 
William  Gerry,  dem  Buchmacherkommis  und  dem  Zeitungs- 
verkäufer Charles  Sherman  gründlich  abgerichtet  worden  sein. 
Vielleicht  trägt  gerade  diese  „cause  cetebre"  zu  besserem  Ver- 
ständnis der  so  häufigen  Fälle  derselben  Art  bei;  vielleicht  sieht 
man  endlich  einmal  ein,  daß  eine  Notwendigkeit  für  den  §  175 
nicht  besteht.  Hätte  der  Prinz  in  Italien  oder  Frankreich  einen 
solchen  Anfall  erleiden  können?  Nein;  denn  in  diesen  Ländern 
existiert  kein  derartiger  Paragraph.  —  Dort  wäre  es  zu  keinem 
Skandal  gekommen,  dort  wäre  nicht  ein  junges  hoffnungsreiches 
Leben  für  immer  „gesellschaftlich  unmöglich"  gemacht  worden. 
Möge  der  Prinz  sich  mit  dem  Märtyrer -Gedanken  trösten,  daß 
jeder  Fall,  der  in  die  Öffentlichkeit  dringt,  sein  Scherflein  dazu 
beiträgt,  bei  gebildeten,  vorurteilsfreien  Leuten  bessere  Ansichten 
über   die   sexuellen  Zwischenstufen   zu   verbreiten,    bis   endlich 


—     1275    — 
allgemein  eingesehen  wird,  daß  von  der  Natur  Gegebenes  nicht 

auszurotten  ist.  (Aus  dem  „Kampf",  Nr.  57.) 


II.  Die  Nachricht,  daß  Prinz  Franz  Josef  von  Braganza  unter 
Kuratel  gestellt  ist,  hat  ebenso  wie  dessen  bekannte  Londoner 
Affaire  einem  Teile  der  Presse  des  In-  und  Auslandes  den  Anlaß 
zu  mehrfachen  Entstellungen  der  Tatsachen  und  zu  persönlichen 
Verunglimpfungen  des  Prinzen  gegeben.  So  heißt  es  u.  A.,  der 
Freispruch  der  englischen  Jury  sei  lediglich  wegen  ungenügenden 
Beweismaterials  erfolgt,  die  wirkliche  Unschuld  des  Prinzen  sei 
nicht  ausgesprochen  worden,  die  Kuratel  sei  dann  über  ihn  wegen 
seiner  geistigen  Beschränktheit  verhängt  und  dergleichen.  Dem- 
gegenüber stellen  wir  fest,  daß  in  der  Gerichtsverhandlung  die 
vollständige  Unschuld  des  Prinzen  an  den  ihm  zur  Last  gelegten 
Dingen  rückhaltlos  und  in  der  allerbestimmtesten  Weise  anerkannt 
und  ausgesprochen  worden  ist.  Das  unnachsichtig  strenge  Ver- 
fahren in  der  gerichtlichen  Untersuchung  der  Sache  hat  dem 
schwer  verdächtigten  Prinzen  nur  zum  Vorteil  gereicht,  indem  da- 
durch klar  zu  Tage  trat,  daß  er  das  Opfer  eines  Komplots 
schmutziger  Erpresser  geworden  war.  Deshalb  sah  sich  der 
Kronanwalt,  nachdem  das  gesamte  Anklagematerial  der  Jury  vor- 
gelegt war,  zu  der  Erklärung  veranlaßt,  er  stelle  es  der  Jury  an- 
heim,  ob  sie  den  Fall  weiter  anhören  oder  den  Prinzen  ohne 
Weiteres  freisprechen  wolle.  Auf  die  entsprechende  Anfrage  des 
Vorsitzenden  Richters  lehnte  sodann  die  Jury  es  ab,  die  Zeugen 
der  Verteidigung  zu  hören  und  sprach  den  Prinzen  frei,  weil  kein 
der  Widerlegung  bedürftiges  Anklagematerial  vorliege.  Der  Ver- 
teidiger des  Prinzen  gab  noch  die  Erklärung  ab,  er  würde  diesem 
Abbruche  des  Prozesses  nicht  zustimmen,  wenn  nicht  alle,  auch 
die  schlimmsten  gegen  seinen  Klienten  erhobenen  Anklagen  voll 
und  ganz  der  Öffentlichkeit  vorlägen,  und  wenn  nicht  insbesondere 
der  Prinz  selber  Gelegenheit  erhalten  hätte,  unter  seinem  Eide 
und  auf  sein  Ehrenwort  als  Gentleman  eine  vollständige  Auf- 
klärung des  ganzen  Vorfalles  abzugeben.  Der  Vorsitzende  Richter 
erklärte  sich  mit  diesen  Worten  vollkommen  einverstanden.  Der 
endgültige  Urteilsspruch  der  Jury  stellt  sich  somit  als  die  glän- 
zendste Rehabilitierung  des  Prinzen  dar,  die  nach  der  Gerichts- 
ordnung möglich  war.  —  Was  die  Kuratel  betrifft,  so  hat  sich 
der  Prinz  durch  wohlmeinenden  Rat  bestimmen  lassen,  sich  frei- 
willig unter  Kuratel  zu  stellen,  bis  er  durch  ein  gesetzteres  Alter 
und  eine  reifere  Erfahrung  weniger  den  Gefahren   des  jugend- 


—    1276    — 

liehen  Leichtsinnes  ausgesetzt  und  besonders  auch  gegen  die 
Unbesonnenheiten  seines  guten  und  großmütigen  Herzens  mehr 
gesichert  sein  würde,  welches  in  Verbindung  mit  der  ihm  an- 
geborenen vertrauensseligen  Arglosigkeit  den  Prinzen  zwar  all- 
gemein beliebt  machte,  aber  auch  vielfach  mißbraucht  und  aus- 
gebeutet werden  ließ.  Daß  endlich  der  Prinz  veranlaßt  wurde, 
um  seine  Entlassung  aus  dem  österreichischen  Armeeverbande 
einzukommen,  ist  in  höheren  militärischen  Kreisen  lebhaft  be- 
dauert worden.  Die  unmittelbaren  militärischen  Vorgesetzten 
haben  den  jungen  talentvollen  Prinzen,  der  durch  seine  glänzend 
bestandenen  militärischen  Prüfungen  und  durch  seine  Tüchtigkeit 
als  Offizier  sich  ihres  besonderen  Lobes  erfreute,  nur  ungern  aus 
der  Armee  scheiden  sehen.  Auch  von  dieser  Entlassungsgeschichte 
sind  uns  die  näheren  Umstände  bekannt;  es  genüge  die  Bemerkung, 
daß  der  Schatten,  welchen  dieselbe  wirft,  nicht  auf  den  Prinzen 
Franz  Joseph  fällt.  Aus  der  Germania.  30.  10.  02. 

III.  Einer  der  zur  Krönung  nach  London  gekommenen  Fürsten, 
der  Prinz  Franz  Braganza,  ist  bei  dem  Bestreben,  die  durch  den 
Aufschub  der  Krönung  heraufbeschworene  Langeweile  durch  ge- 
legentliche Abenteuer  zu  bannen,  in  einen  Prozeß  verwickelt 
worden,  von  dem  —  trotz  sorgfältigster  Geheimhaltung  des  Tat- 
bestandes und  hermetischen  Abschlusses  der  Verhandlungen 
gegen  die  Öffentlichkeit  —  soviel  sich  erkennen  läßt,  daß  ein 
Vergleich  mit  dem  Prozeß  des  unglücklichen  Oskar  Wilde  sich 
aufdrängt.  Dieser,  einer  der  hervorragendsten  Dichter  der  Neu- 
zeit, wurde  um  die  Mitte  des  letzten  Jahrzehnts  des  verflossenen 
Jahrhunderts  von  einem  englischen  Gerichtshof  zu  zwei  Jahren 
Zuchthaus  verurteilt  wegen  eines  Delikts,  gegen  das  sich  im 
deutschen  Reichsstrafgesetzbuch  der  §  175  richtet,  der  von  der 
„widernatürlichen  Unzucht",  vom  Umgang  von  Personen  männlichen 
Geschlechts  miteinander  handelt.  Mit  dem  Thema  selbst  be- 
schäftigt sich  ein  Aufsatz  in  einer  der  nächsten  Nummern  des 
a.  T.  Hier  soll  nur  auf  den  äußerlichen  Unterschied  hingewiesen 
werden,  der  sich  in  der  Behandlung  des  Prinzen  gegenüber  der 
des  Dichters  zeigt,  eines  Dichters,  der  einst  zu  den  Lieblingen 
der  Londoner  Gesellschaft  gehörte.  Beide  sind  Opfer  von  Er- 
pressern geworden,  mit  dem  Unterschiede,  daß  Wilde  als  deren 
Verführer,  der  Prinz  als  der  von  ihnen  Verführte  behandelt 
ward.  Wilde,  gegen  den  die  peinliche  Gerichtsverhandlung  in 
breitester  Öffentlichkeit  und   entehrendster  Form  geführt  wurde, 


—    1277    — 

litt  unter  der  brutalen  Behandlung  dermaßen,  daß  er  nach  Ver- 
büßung seiner  Strafe  das  Zuchthaus  in  völlig  gebrochener  Ver- 
fassung verließ  und  kurze  Zeit  darauf  den  Leiden  erlag,  die  ihn 
das  an  sich  barbarische,  gegen  ihn  besonders  rigoros  gehand- 
habte Strafrecht  Englands  zugefügt.  —  Der  Prozeß  gegen  den 
Prinzen  zeigt  ein  anderes  Bild:  wie  schon  gesagt,  wickeln  sich 
die  Verhandlungen  hinter  verschlossenen  Türen  ab,  aber  auch 
die  Art  des  „Verbrechens"  gelangt  nicht  zur  Erwähnung,  keine 
Namen  werden  aufgerufen,  und  der  Prinz  erhielt  die  Erlaubnis, 
nicht  mit  den  übrigen  Angeklagten,  schmutzigen,  heruntergekom- 
menen Burschen,  auf  der  Anklagebank  Platz  nehmen  zu  müssen. 
—  Die  Gegenüberstellung  zeigt,  daß  auch  die  modernen  Justiz- 
puritaner Englands  zweierlei  Maß  kennen  und  höfisch  zu  kratz- 
fußen verstehen.  Die  alten  Rundköpfe,  die  einst  mit  einer  Art 
frommer  Pedanterie  ihren  König  geköpft,  mögen  sich  im  Grabe 
umdrehen.  (Der  arme  Teufel). 


IV.  Das  Abenteuer  des  Prinzen  von  Braganza.  Darüber  lesen 
wir  in  der  sozialdemokratischen  „Arbeiter-Zeitung"  folgende 
Darstellung:  Der  wegen  eines  straf  gesetzlich  verpönten  un- 
sittlichen Aktes  angeklagte  Prinz  Franz  Josef  von  Braganza  wurde 
von  den  Geschworenen  freigesprochen,  da  die  Anklage  zurück- 
gezogen war.  Es  wäre  gehässig,  wenn  wir  unsererseits  die 
Frage,  ob  schuldig  oder  nicht,  nachträglich  erörtern  wollten;  jeden- 
falls war  der  Prinz  schwer  betrunken,  ortsunkundig  und  in  die  Hände 
abgefeimter  Halunken  gefallen.  Da  aber  kaum  anzunehmen  ist, 
daß  die  Wiener  Presse  über  die  Angelegenheit  objektiv  berichten 
wird,  sollen  doch  einige  Punkte  hervorgehoben  werden,  die  die 
Sache  denn  doch  nicht  gar  so  einfach  erscheinen  lassen.  Vor 
allem  ist  zu  berücksichtigen,  daß,  wiewohl  die  Anklage  gegen 
den  Prinzen  zurückgezogen  wurde,  die  drei  Burschen,  seine 
Mitangeklagten,  schuldig  befunden  wurden,  sich  zur  Vermittlung 
eben  jenes  strafbaren  Aktes  verabredet  zu  haben.  Sie  selbst 
gaben  das  nachträglich  zu,  mit  der  Begründung,  daß  sie  den 
Prinzen  ausrauben  oder,  wie  die  Geschworenen  und  das  Gericht 
annahmen,  eine  Erpressung  an  ihm  begehen  wollten.  Also,  wohl- 
gemerkt: die  drei  Burschen  wurden  verurteilt,  nicht  wegen  ver- 
suchter Erpressung,  sondern  wegen  Vorschubleistung  zu  jenem 
Vergehen,  das  tatsächlich  verübt  zu  haben  der  Prinz  unschuldig 
befunden  wurde.  Die  Anklage  gegen  ihn  wurde  auch  darum  zurück- 
gezogen, weil  der  Aussage  der  zwei  Belastungszeugen,  die  Augen- 


—    1278    — 

zeugen  der  unsittlichen  Handlung  gewesen  zu  sein  vorgaben, 
nicht  Glauben  geschenkt  wurde.  Das  Kreuzverhör  drehte  sich 
darum,  ob  sie,  was  sie  gesehen  zu  haben  vorgaben,  durchs 
Schlüsselloch  gesehen  haben  konnten,  und  ob  ein  Loch  in  der- 
Tür,  durch  das  sie  geguckt  haben  wollten,  ihnen  erst  nachträglich, 
zur  besseren  Begründung  ihrer  Aussage,  eingefallen  sei.  Das 
Kreuzverhör  war,  wie  gewöhnlich  in  solchen  Fragen,  ohne  jedes 
positive  Ergebnis  nach  der  einen  oder  der  anderen  Richtung  hin. 
Jedenfalls  genießt  der  Hauptzeuge  vorzüglichen  Leumund,  während 
gegen  den  anderen  eine  schlechte  militärische  Konduite  vorliegt; 
mit  den  anderen  Burschen  konnten  sie  natürlich  nicht  zusammen 
operiert  haben,  und  ihr  Vorgehen,  namentlich  das  Anrufen  der 
Polizei,  läßt  wohl  kaum  auf  eine  selbständige  Erpressungsabsicht . 
schließen.  Zugegeben  wurde  auch,  daß  der  Prinz  in  sehr  ver- 
dächtiger Verfassung  im  Bette  der  Jungen  gefunden  wurde.  Die 
Verantwortung  des  Prinzen  ging,  so  viel  sich  entnehmen  läßt, 
dahin,  daß  ihn  die  zwei  von  den  Burschen  nach  dem  Empire- 
Variete  bringen  sollten,  ihn  aber  statt  dessen  zu  sich  nach  Hause 
brachten  oder  auch,  wenigstens  so  hieß  es  in  der  Vorunter- 
suchung, daß  sie  ihm  ein  Freudenhaus  zeigen  sollten.  Prinz 
Braganza  hat  alle  Ursache,  sich  selbst  Glück  zu  wünschen.  Er 
hat  Anspruch  darauf,,  daß,  soweit  er  in  Betracht  kommt,  die  Sache 
als  erledigt  betrachtet  wird.  Und  so  verdächtig  manche  Um- 
stände erscheinen  mögen,  so  soll  nicht  vergessen  werden,  daß, 
wer  aus  Unbedachtsamkeit  oder  in  trunkenem  Zustande  in  die 
Hände  solcher  Schandbuben  gerät,  mit  teuflischem  Geschick  in 
eine  fast  hoffnungslos  kompromittierende  Lage  gebracht  werden 
kann.  Nichtsdestoweniger  muß  das  Verhalten  der  englischen 
Gerichtsbehörden  als  geradezu  skandalös  parteiisch  bezeichnet 
werden.  Da  war  zunächst  der  Polizeirichter,  der  den  Namen  des 
Prinzen  geheimhalten  wollte;  dann  der  Richter,  der  der  über  die 
Versetzung  in  den  Anklagezustand  entscheidenden  Jury  eine 
negative  Entscheidung  geradezu  in  den  Mund  legte,  allerdings 
vergeblich.  Endlich  das  Verhalten  der  Behörden  in  der  Ver- 
handlung selbst!  Ohne  dem  Prinzen  nahetreten  zu  wollen,  ja 
zugegeben,  daß  er  ohne  Verschulden  in  diese  fürchterliche  Lage 
gebracht  worden  —  es  war  offenkundig  der  Jury  zu  überlassen, 
ihm  die  Rechtswohltat  des  Zweifels  zu  gute  kommen  zu  lassen, 
eine  Rückziehung  der  Anklage  aber  unter  solchen  Umständen 
ganz  unerhört. 


—     1279     — 

München,  23.  April.  Zur  Abwehr  des  Erpressertums.  Ein 
Gerichtssaalbericht  jüngstvergangener  Tage,  der  eine  Darstellung 
der  Praktiken  einer  typischen  Erpresserklasse  brachte,  gibt  uns 
Veranlassung,  vom  Standpunkt  des  objektiven  Beobachters  aus 
diese  Zustände  zu  beleuchten  und  die  Mittel  zur  Abwehr  ernster 
Erwägung  anheimzustellen.  Wir  denken  an  jene  Gruppe  höchst 
zweifelhafter  Existenzen,  welche  die  wirklichen  oder  vermeintlichen 
Anhänger  des  „dritten  Geschlechts"  oder,  wie  man  auch  sagt, 
die  homosexuell  Veranlagten  mit  —  bedauerlicherweise  meist 
trefflichem  —  Erfolg  in  die  Enge  zu  treiben  wissen,  nachdem  sie 
auf  scheinbar  mehr  oder  minder  harmlose  Art  sich  rasch  in  das 
Vertrauen  ihrer  späteren  Opfer  einzuschleichen  verstanden  oder 
auch,  der  häufigste  Fall,  in  gröberer  Art  eine  direkte  Verführung 
ins  Werk  gesetzt  haben.  Es  ist  nicht  Aufgabe  dieser  Zeilen,  die 
Bedeutung  und  Tragweite  der  sogenannten  Homosexualität  zu 
erörtern.  Die  traurige  Lage,  worin  sich  die  mit  dieser  Anlage 
Behafteten  versetzt  sehen,  verdient  vielleicht  mehr  Mitleid  als  Ab- 
scheu. Aber  man  mag  über  den  sie  betreffenden  Paragraphen 
des  Strafgesetzbuches  denken  wie  man  will,  er  hat  die  eine  offen- 
kundige und  vielbeklagte  Folge,  daß  er  ein  Gezücht  des  elendsten 
und  nichtswürdigsten  Erpressergesindels  großgezogen  hat,  das 
nicht  nur  eine  Geißel  der  im  Sinne  jenes  Paragraphen  Schuldigen, 
sondern  auch  vollkommen  unschuldiger,  wenn  auch  leider  nicht 
charakterfester  Personen  geworden  ist.  Denn  wie  auch  in  dem 
Gerichtsfalle,  der  den  Anlaß  zu  dieser  Betrachtung  geboten  hat, 
sehr  häufig  werden  die  Kunstgriffe  der  Erpresser  auch  an  Personen 
geübt,  welche  in  keiner  Weise  homosexueller  Natur  sind,  deren 
behäbiges  und  vor  allem  einen  wohlgespickten  Geldbeutel  ver- 
ratendes Äußere  aber  —  es  handelt  sich  zumeist  um  ältere 
Herren  —  dem  hoffnungsvollen  Jünger  der  Kunst,  Daumen- 
schrauben behufs  Gelderpressungen  anzulegen,  den  Eindruck 
eines  wohlgeeigneten  Objektes  macht.  In  allen  Großstädten,  be- 
klagenswerterweise auch  schon  in  unserem  schönen  München, 
hat  sich  diese  Art  des  Gaunertums,  insbesondere  an  gewissen 
Plätzen,  in  einer  Weise  breit  gemacht,  von  der  die  wenigsten  eine 
nur  entfernte  Vorstellung  haben.  Es  ist  kaum  glaublich,  nicht 
nur  wie  viele  an  sich  gewiß  höchst  ehrenwerte  Menschen  durch 
solche  Blutsauger  zu  leiden  haben,  sondern  auch,  welch'  scham- 
lose Mittel  von  den  letzteren  zur  Erreichung  ihrer  Zwecke 
angewendet  zu  werden  pflegen.  Wenn  man  zur  Bekämpfung 
dieses  abscheulichen  Unwesens  die  polizeiliche  Gewalt  anzurufen 


—    1280    — 

geneigt  sein  sollte,  so  darf  man  nicht  vergessen,  daß  ein  solches 
Vorgehen  weit  leichter  geraten,  als  getan  ist.  Man  mag  hundertmal 
beim  Anblick,  sogar  bei  einem  gewissen  verdächtigen  Herum- 
streichen eines  Burschen  der  Überzeugung  sein,  daß  er  jener  ge- 
fährlichen Sorte  zugehört  —  zu  einem  Einschreiten  in  der  Form 
der  Verhaftung  fehlt  aber  eben  meist  der  äußere  Anlaß.  Es  gibt 
auch  in  der  Tat  nur  ein  wirklich  geeignetes  Mittel,  jenem  Treiben 
wirksam  Halt  zu  gebieten:  die  Selbsthilfe  und  darüber  hinaus  der 
heilsame  Schrecken  der  Angehörigen  dieser  sauberen  Gilde,  welchen 
eine  konsequent  durchgeführte  Selbsthilfe  erzeugen  wird.  Zu- 
nächst ist  es  ja  eigentlich  —  ein  Moment,  das  unseres  Erachtens 
viel  zu  wenig  bisher  hervorgehoben  wurde  —  ein  Gebot  der 
persönlichen  Würde,  der  Selbstachtung,  Menschen  der  niedrigsten 
Art,  denen  kein  Mittel  schlecht  genug  ist,  wenn  es  nur  Geld 
bringt,  über  sich  nicht  im  geringsten  Macht  gewinnen  zu  lassen. 
Es  muß  wohl  ein  wahrhaft  furchtbares  Gefühl  sein,  von  einem 
Gesindel  schlimmster  Art  abzuhängen  —  wenn  man  nicht  den 
Mut  findet,  sich  selbst  zu  befreien.  Der  Einwurf  liegt  freilich 
nahe :  Man  scheut  sich,  einen  sogenannten  Skandal  zu  provozieren 
und  —  vielfach  besteht  nach  unseren  derzeitigen  Strafbestimmungen 
für  den  Geängstigten  selbst  Gefahr,  in  eine  strafrechtliche  Ver- 
folgung verwickelt  zu  werden.  Darauf  gibt  es  eine  sehr  einfache 
Antwort:  Was  ist  besser,  sich  zeitlebens  von  solchen  Subjekten 
quälen  zu  lassen  oder  aber  ein  entschiedenes,  energisches  Ende 
—  in  praxi  in  einer  Strafanzeige  wegen  Erpressung  bestehend  — 
selbst  auf  die  Gefahr  persönlicher  Verwicklungen  hin  zu  machen? 
Die  Entscheidung  wird  nicht  schwer  zu  fällen  sein.  Man  braucht, 
um  klar  zu  sehen,  nur  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  ein  gewohnheits- 
und  gewerbsmäßiger  Erpresser,  wenn  er  ein  schlaffes  und  furcht- 
sames Opfer  vor  sich  sieht,  in  seinen  Forderungen  unter  einer 
Skala  von  Vorwänden  (die  den  Kenner  der  Verhältnisse  wohl- 
bekannt sind)  immer  dreister  und  unverschämter  wird,  ja,  daß  er 
den  Unglücklichen  in  Verzweiflung  und  in  den  Tod  treibt.  Ein 
trauriges  Beispiel  haben  wir  in  diesen  Tagen,  seltsamerweise  fast 
gleichzeitig  mit  der  Verhandlung  des  Falles,  welcher  den  Anlaß 
zu  den  gegenwärtigen  Darlegungen  geboten  hat,  an  dem  Schicksat 
des  Freiherrn  v.  H.  erlebt.  Das  sind  aber  dieselben  Erpresser, 
welche  sich  furchtsam  zu  verkriechen  pflegen  —  die  dreiste  Roheit 
und  die  Feigheit  treffen  ja  gewöhnlich  zusammen  — ,  wenn  man 
ihnen  die  Zähne  zeigt.  Wenn  sich  doch  endlich  alle  diejenigen, 
die  von   derartigen  Menschen   geplagt  und  verfolgt  werden,  zu 


—     1281     — 

dem  festen,  ruhigen  Entschluß  aufraffen  könnten,  von  Anfang  an 
jeder  unverfrorenen  Zumutung  dieser  Art  ein  entschiedenes  Nein 
entgegenzusetzen!    Demgegenüber   ist   der  normale  Verlauf  der 
Dinge  so,  daß  der  Gepeinigte  alle  Geldopfer  bringt,  die  ihm  seine 
finanzielle  Lage  nur  irgend  gestattet,  und  endlich  dann  noch,  zur 
Verzweiflung  getrieben,  zu  einer  Anzeige  schreitet  oder  sich  an- 
waltschaftlichen Schutz   sichert.    Wie   naiv  selbst  hochgebildete 
Männer,  die  in  eine  solche  üble  Lage  geraten,  sich  oft  helfen  zu 
können  vermeinen,  zeigt  die  Tatsache,  daß  sie  (nach  vielen  An- 
zapfungen)   noch  ein  letztes  Opfer   bringen  wollen   gegen  eine 
unterschriftliche  Bestätigung  des  Erpressers,  daß  nichts  Strafbares 
vorgefallen   sei  —  denn   unbegreiflicherweise   lassen   sich  auch 
solche,  die  sich  nichts  gerade  Gesetzwidriges  zu  Schulden  kommen 
ließen,   gewöhnlich  mit  Rücksicht  auf  familiäre  Beziehungen  etc. 
quälen  —  oder  daß  der  Blutsauger  auszuwandern  verspricht  etc. 
Als  ob   dies  eine  Waffe   wäre  gegen  Menschen,    die   selbstver- 
ständlich keine  Spur  von  Ehrbegriffen  haben!   Einen  solchen  Kerl 
kann    man  ja  auch   unterschreiben   lassen,    daß    er  der  größte 
Gauner  auf  Erden  sei  —  er  unterschreibt  es  mit  Vergnügen,  wenn 
er  nur  Geld  sieht.    Der  Erfolg  bleibt  derselbe  —  die  Erpressung 
wird  fortgesetzt.    Gibt  man   wenig  Geld,   so  hat  man  das  Ver- 
gnügen, den  angenehmen  Besuch  recht  häufig  bei  sich  zu  sehen ; 
entschließt  man  sich  zu  einem  großen  Geldopfer,  so  hat  man  eine 
etwas  längere  Ruhepause  —  das  ist  der  ganze  Unterschied.    So- 
lange der  Einzelne  sich  scheut,   den  mutigen  Schritt  zu  tun   und 
jene  Subjekte  der  verdienten  Bestrafung  zuzuführen,  werden  sich 
die  Zustände   nicht  bessern.    Geschieht  dies  aber  einmal,  zeigt 
sich  mehr  Festigkeit  und  Entschlossenheit  —  und  derjenige,   der 
die  Sache  nicht  selbst  in  die  Hand  nehmen  will,  hat  es  ja  leicht, 
Rechtsschutz  durch  einen  Anwalt  zu  finden  — ,  dann  wird  alsbald 
eine  Änderung  eintreten.    Die   polizeilichen   Organe   haben  An- 
haltspunkte,  sie  werden   mit  größerem  Erfolg   ihre  Maßnahmen 
treffen  können,  und  man  arbeitet  so  auch  einem  wichtigen  Zweig 
der  öffentlichen  Wohlfahrt  in   die  Hände.    Natürlich   ist  es  dem 
Einzelnen  lediglich  darum  zu  tun,   sich  selbst  zu  befreien,  aber 
sein   entschlossenes  Vorgehen  wird  dann  auf  die  Allgemeinheit 
zurückwirken,    und   er   wird   sein  Teil   dazu  beitragen,    daß  ein 
Nachtgebiet  des  Großstadtlebens  erhellt  und  ein  unwürdiges  und 
schmachvolles   Treiben,   wo    nicht   aufgehoben,   so    doch    nach 
Möglichkeit  eingedämmt  werde. 

(Leitartikel  a.  d.  Münchener  Neuesten  Nachrichten  v.  23.  IV.  03.) 


—     1282    — 

Das  Bockenheimer  Schwesterdrama.  Zwei  Krankenschwestern, 
in  der  Blüte  ihrer  Jahre  stehend,  ausgezeichnet  durch  eine  Intelli- 
genz, welche  ihnen  die  Anerkennung  aller  Vorgesetzten  verschaffte, 
gingen  gemeinsam  in  den  Tod  und  wurden  in  „inniger  Umarmung" 
leblos  im  Bette  aufgefunden.  Der  Fall  gibt  zu  denken.  Die  eine, 
Ulli  Löther,  ist  gerettet  worden,  trotzdem  wird  die  Welt  nie  er- 
fahren, was  die  Beiden  veranlaßte,  den  Tod  zu  suchen.  Die 
Überlebende  wird  allerhand  Ausreden  erfinden,  welche  die  Tragödie 
aufklären  sollte,  in  Wirklichkeit  wird  diese  traurige  Tat  höchstens 
durch  einen  Zufall  aufgeklärt  werden.  Einen  Fingerzeig  zur  Be- 
urteilung dieses  psychopathologischen  Falles  gibt  die  innige  Um- 
armung der  Beiden  und  „die  auffällig  intime  Freundschaft",  von 
der  die  Berichte  sprechen.  Wer  Krafft-Ebing  kennt,  dem  wird 
ein  Licht  aufgehen;  wenigstens  herrscht  in  ärztlichen  Kreisen  über 
die  wahrscheinliche  Ursache  dieses  Doppelselbstmords  kaum  ein 
Zweifel.  Sollte  es  wirklich  bloß  ein  Zufall  sein,  daß  die  Berichte 
aller  Blätter  in  auffälliger  Übereinstimmung  die  innige  Zuneigung 
der  beiden  Mädchen,  die  Tatsache,  daß  sie  öfters  zusammen 
nächtigten  und  die  letzte  Todesumarmung  so  sehr  hervorheben.. 
Man  fragt  sich  vergebens,  weßhalb  suchten  Beide  den  Tod!  Sie 
waren  nicht  krank,  wenigstens  nicht  äußerlich  wahrnehmbar  geistig 
oder  körperlich,  sie  lebten  in  ruhiger  und  korrekter  Erfüllung 
ihrer  Berufspflichten,  sie  hatten  keine  von  außen  kommende  Ur- 
sache, den  Tod  zu  suchen.  Weßhalb  also!  Es  bleibt  nur  das 
psycho -pathologische  Moment  dieses  Selbstmords-  und  Mord- 
versuchs übrig.  Sollten  die  beiden  Mädchen  aus  übergroßer 
Liebe  zu  einander  den  Tod  gesucht  haben?  Der  vor  kurzem  in 
Wien  verstorbene  Psychiater  Freiherr  von  Krafft-Ebing  könnte  das 
Rätsel  dieser  Tat  lösen.  Der  berühmte  Forscher  hat  in  seiner 
Psychopathia  sexualis  uns  in  seinen  zahlreichen  Studien  auf  dem 
Gebiet  des  Nervenwesens  manches  enthüllt,  für  das  uns  seither 
das  positive.Verständnis  fehlte.  Er  würde  auch  den  Bockenheimer 
Fall  in  das  Bereich  seiner  Studien  gezogen  haben.  Aber  man 
braucht  gerade  keine  fachwissenschaftlichen  Kenntnisse  auf  diesem 
Gebiet  zu  besitzen,  um  zu  Vermutungen  zu  gelangen,  welche  die 
Tat  der  beiden  Schwestern  als  eine  in  unzurechnungsfähigem  Zu- 
stand geschehene  erscheinen  lassen.  Sollten  —  was  man  natürlich 
niemals  behaupten  kann  —  diese  Hypothesen  zutreffen,  so  wäre 
dies  keineswegs  eine  so  seltene  Erscheinung  und  wir  können  nicht 
umhin  bei  dieser  Gelegenheit,  natürlich  ohne  jede  Bezugnahme 
auf  den  Bockenheimer  Fall,  des  Umstandes  Erwähnung  zu  tun, 


—    1283    — 

daß  der  vielumstrittene  §  175  unseres  Strafgesetzbuches,  der  in 
der  letzten  Zeit  zu  ungewöhnlicher  Bedeutung  gelangte,  daß  dieser 
Paragraph  das  Strafbarkeitsbewußtsein  einer  menschlichen  Hand- 
lung in  die  Irre  zu  führen  geeignet  ist.  Was  bei  Homosexuellen 
bestraft  wird,  wenn  sie  masculini  generis  sind,  verwandelt  sich  in 
eine  erlaubte  und  straffreie  Handlung  beim  femininum.  Die  Zeiten, 
wo  man  aus  falscher  Scham  und  Prüderie  einen  großen  Bogen 
um  diese  Vorgänge  des  menschlichen  Lebens  machte  und  wo 
besonders  die  Presse  sich  in  naive  Unwissenheit  hüllen  mußte, 
sind  vorbei.  Die  Presse  ist  heute  das  großartigste  Aufklärungs- 
instrument des  20.  Jahrhunderts  und  auf  politischem,  sozialem, 
hygienischem,  ethischem,  physiologischem  und  psychologischem 
Gebiet  hat  sie  wichtige  Kultur-  und  Pionierdienste  zu  erfüllen. 
Deshalb  sei  auf  die  Häufigkeit  femininer  Homosexualität  hinge- 
wiesen, die  sich  bis  zur  geistigen  Verirrung  steigern  kann  und  die 
im  Interesse  der  Volksgesundheit  und  -Moral  ebenso  unter  Strafe 
gestellt  werden  müßte  wie  die  diesbezüglichen  männlichen  Ver- 
irrungen.  In  einer  Zeit,  wo  die  besten  Geister  der  Nation  an  der 
Arbeit  sind,  dieses  seelische  Dilemma  zu  lösen,  wo  der  Meinungs- 
streit pro  und  contra  §  175  hin-  und  herschwankt,  sollte  die 
Presse  mit  ihren  Kundgebungen  nicht  zurückhalten,  auch  sollte 
die  Frage  erwogen  werden,  ob  der  §  175  seine  Opfer  dem  Ge- 
fängnis oder  der  Nervenheilanstalt  überweisen  soll.  Wir  haben 
in  Jahrtausende  altem  Ringen  manches  Geheimnis  der  Natur 
gelöst,  die  Geheimnisse  des  menschlichen  Organismus  und  der 
menschlichen  Psyche  sind  aber  noch  in  tiefes  Dunkel  gehüllt. 

(Sonne.) 

Homosexualität.  Tout  comprendre  c'est  tout  pardonner. 
(Alles  verstehen,  heißt  alles  verzeihen.)  An  diesen  Satz  muß 
der  Wissende  stets  denken,  wenn  von  dem  Strafgesetz- 
paragraphen 175  die  Rede  ist,  was  in  der  letzten  Zeit  wegen 
der  Verdächtigung  gegen  Krupp  ja  sehr  oft  der  Fall  war;  denn 
leider  gilt  das  tout  comprendre  hier  in  sehr  weitem  Umfange 
nicht,  und  namentlich  trifft  dies  leider  auch  bei  unserer  Gesetz- 
gebung zu.  In  dem  betreffenden  Paragraphen  wird  nämlich  nur 
von  männlichen  Personen  gesprochen,  offenbar  in  der  gänzlich 
falschen  Voraussetzung,  daß  so  etwas  bei  weiblichen  Personen 
nicht  vorkomme.  Da  die  Leser  wohl  mit  Recht  erwarten  können, 
daß  das  Blatt  auch  in  dieser  Beziehung  der  Unwissenheit  auf 
dem  Gebiete  der  Lebenslehre  entgegenschritt,  sei  den  öffentlichen 

Jahrbuch  V.  ♦  81 


—    1284    — 

Blättern  (u.  z.  hier  dem  Schwab.  Merkur  vom  6.  Februar,  Abend- 
blatt) ein  besonders  offensichtlicher  Fall  beim  weiblichen  Ge- 
schlecht entnommen.  Aus  Frankfurt  a.  M.  wird  vom  5.  Februar 
gemeldet:  „Als  heute  morgen  die  Schwester  vom  Roten  Kreuz, 
die  im  städtischen  Krankenhause  in  Bockenheim  tätig  ist,  sich 
nicht  sehen  ließ  und  der  Verwalter  trotz  wiederholten  Klopfens 
an  der  Türe  ihres  Zimmers  keine  Antwort  bekam,  öffnete  er  ge- 
waltsam die  Türe.  In  dem  Bett  lagen  regungslos  in  Umarmung 
die  Schwester  und  eine  Berufskollegin.  Die  Bockenheimer 
Pflegerin,  Hilma  Scheibenhuber,  röchelte  noch,  verschied  aber 
nach  kurzer  Zeit.  Die  andere,  Lili  Löther,  gab  noch  Lebens- 
zeichen. Sofort  wurden  alle  Mittel  bei  ihr  angewandt;  ihr  Zu- 
stand ist  sehr  bedenklich,  doch  befand  sie  sich  um  2  Uhr  nach- 
mittags noch  am  Leben.  Zu  dem  traurigen  Unfälle  erfährt  die 
„Frkfrtr.  Ztg."  daß  die  Scheibenhuber  die  Löther,  die  im  hiesigen 
städtischen  Krankenhause  beschäftigt  ist,  gestern  abend  ab- 
geholt und  auf  die  Aufforderung  der  Oberschwester,  die  Löther 
bald  in  den  Dienst  zurückzuschicken,  geantwortet  hatte,  sie  fühle 
sich  unwohl  und  bedürfe  wahrscheinlich  selbst  der  nächtlichen 
Pflege.  Die  beiden  haben  sich  mit  Morphium  vergiftet,  das  man 
auf  einem  Tische  des  Zimmers  vorfand.  Das  Morphium  ent- 
stammt der  Apotheke  des  städtischen  Krankenhauses.  Ferner 
fand  man  zwei  Briefe,  der  eine  war  an  die  Oberschwester  ge- 
richtet, der  andere  an  die  Familie  der  einen  der  beiden  Schwestern. 
Die  Lili  Löther  ist  etwa  39  Jahre  alt  und  seit  drei  Jahren 
Pflegerin,  die  andere,  35  bis  36  Jahre  alt,  ist  vor  neun  Jahren 
Rote  Kreuzschwester  geworden.  Es  ist  noch  nicht  bekannt,  was 
die  beiden  veranlaßt  hat,  gemeinsam  in  den  Tod  zu  gehen;  sie 
waren  sich  sehr  innig  zugetan.  Ihre  Dienstführung  war  muster- 
haft und  ihre  ganze  Lebenshaltung  tadellos."  Was  die  beiden 
zum  Selbstmord  geführt  hat,  ist  doch  nichts  anderes  als  „un- 
glückliche Liebe",  wie  es  tausende  Male  bei  zweigeschlechtlichen 
Liebespaaren  der  Fall  ist.  Was  man  aber  nicht  begreift,  ist,  daß 
man  beim  männlichen  Geschlecht  etwas  schwer,  sogar  mit  Ab- 
erkennung der  bürgerlichen  Ehrenrechte,  bestraft,  was  man  beim 
weiblichen  Geschlecht  —  absichtlich  oder  unabsichtlich  —  zu 
übersehen  beliebt.  Wenn  das  Gesetz  auf  dem  Gebiete  des 
Geschlechtslebens  das  öffentliche  Ärgernis,  die  Gefährdung  der 
Rechte  anderer  Personen  und  insbesondere  Vergewaltigung  ver- 
hindert, so  ist  das  genug;  alles,  was  darüber  ist,  ist  vom  Übel. 

(Aus  Prof.  Jägers  Monatsblatt.) 


—    1285    — 

In  Wien  haben  zwei  Schriftsteller,  die,  wie  es  scheint 
geistig  nicht  ganz  normal  waren,  —  wie  telegraphisch  schon  be- 
richtet —  Hand  an  sich  gelegt.  Einer  ist  tot,  der  zweite  leicht 
verletzt.  Der  30jährige  Schriftsteller  Hugo  Astl-Leonhard  hat  sich 
mit  einem  Rasiermesser  getötet,  und  gemeinsam  mit  ihm  hat  sich 
sein  Freund,  der  Schriftsteller  Fritz  Lemmermeyer  zu  töten  ver- 
sucht, sich  jedoch  nur  leichtere  Schnittwunden  beigebracht. 
Astl  hatte  sich  auf  den  Boden  gesetzt,  mit  der  einen  Hand  einen 
Spiegel  gehalten  und  mit  der  anderen  Hand  die  tötlichen  Schnitte 
durch  seinen  Hals  geführt.  Bei  dem  furchtbaren  Selbstmorde  war 
Lemmermeyer  anwesend.  Die  beiden  Freunde  hatten  einander 
gelobt,  zu  gleicher  Zeit  zu  sterben.  Lemmermeyer  sah  dem 
furchtbaren  Beginnen  seines  Freundes  zu,  bis  dieser  zusammen- 
brach. Hierauf  ging  er  in  ein  Nebenzimmer  und  wollte  sich 
selbst  das  Leben  nehmen.  Er  öffnete  die  Brotklinge  seines 
Taschenmessers  und  brachte  sich  mit  dieser  oberflächliche  Schnitt- 
wunden am  Ellbogengelenk  des  linken  Armes  bei.  Als  er  das 
Blut  hervorquellen  sah,  scheint  er  den  Mut  verloren  zu  haben. 
Er  öffnete  die  Tür  in  das  Vorzimmer,  in  dem  sich  die  Gattin 
Astls  mit  einer  Dame  befand.  Doch  plötzlich  stieß  er  die  Worte 
aus:  „Du  darfst  nicht  feig  sein!"  und  zog  sich  wieder  in  das 
Zimmer  zurück,  die  Tür  hinter  sich  versperrend.  Er  eilte  in  das 
Kabinet,  wo  der  tote  Astl  lag,  hob  das  blutige  Rasiermesser  auf 
und  brachte  sich  am  linken  Handgelenk  eine  tiefe  Schnittwunde 
bei.  Frau  Astl  und  die  zweite  Dame  pochten  nun  an  die  Tür, 
und  als  nicht  geöffnet  wurde,  sprengten  sie  die  Türe  auf.  Die 
Damen  eilten  dann,  laut  um  Hilfe  rufend,  auf  den  Gang.  Die 
Hausleute  kamen  in  die  Wohnung.  Astl  war  bereits  tot.  Lemmer- 
meyer war  bei  vollem  Bewußtsein,  gab  aber  keine  Antwort. 
Doch  aus  mehreren  Briefen,  die  er  zurückgelassen  hat,  konnte 
man  sich  Klarheit  über  die  Tat  verschaffen.  In  einem  offenen 
Briefe  schrieb  er:  „Unüberwindliche  Schwermut  treibt  uns  in  den 
Tod.  Ich  gehe  gern  und  freiwillig  aus  dem  Leben  und  bitte,  am 
Grabe  keine  Rede  zu  halten."  Lemmermeyer  macht  den  Eindruck 
eines  geistig  nicht  normalen  Menschen.  Die  Rettungsgesellschaft 
schaffte  ihn  in  das  Allgemeine  Krankenhaus.  Hugo  Astl-Leonhard 
hat  bereits  am  23.  November  v.  J.  abends  auf  dem  Schottenring 
einen  Selbstmordversuch  gemacht.  Er  lebte  in  geordneten  Ver- 
hältnissen, beschäftigte  sich  mit  philosophischen  Arbeiten  und 
war  bereits  bei  seinem  ersten  Selbstmordversuch  als  im  höchsten 
Grade  überspannt  und  anormal  erkannt  worden.    Fritz  Lemmer- 

81* 


—    1286    — 

meyer  ist  43  Jahre  alt  und  ein  geborener  Wiener,  Er  hat  mehrere 
literarhistorische  Arbeiter,  veröffentlicht  und  eine  biblische  Tra- 
gödie „Simson  und  Djlila"  geschrieben. 


Budapest,  17.  Mai  1902.  Wie  wir  bereits  mitgeteilt  haben, 
hat  sich  ein  Leutnant  des  26.  Regiments,  Karl  Thaly,  Adoptivsohn 
des  Reichsabgeordneten  Koloman  Thaly,  in  Gran  erschossen.  Vom 
Selbstmord  erfahren  wir  folgende  Details:  Der  Selbstmord  des 
Leutnant  Karl  Thaly  erregte  in  Gran  umsomehr  großes  Aufsehen, 
da  vor  einiger  Zeit  ein  anderer  Leutnant  des  26.  Rgts.  Robert  Rosen- 
berg sich  ebenfalls  erschossen  hatte.  Beide  Selbstmorde  wurden  unter 
rätselhaften  Umständen  begangen  und  daß  dieselben  in  Zusammen- 
hang stehen  müssen,  geht  aus  folgendem  hervor:  Leutnant  Thaly 
kam  am  3.  aus  Wien,  wo  sich  das  Regiment  bis  jetzt  befand, 
nach  Gran,  wo  er  seither  mit  einer  Freundin  im  Hotel  „Magyar 
kirGly"  wohnte.  Von  da  übersiedelte  er  vorigen  Freitag  samt 
seiner  Freundin  in  eine  Privatwohnung.  Die  Dame  ist  Sonntag 
verreict  und  der  Leutnant  begleitete  sie  zur  Bahn.  Karl  Thaly, 
der  in  geordneten  finanziellen  Verhältnissen  lebte,  beschäftigte 
sich  in  letzter  Zeit  fortwährend  mit  Selbstmordgedanken.  In  den 
letzten  Tagen  verdüsterte  sich  sein  Gemüt  noch  mehr.  Er  ließ 
Sich  durch  die  Zigeunerkapelle  fortwährend  Beethoven's  Trauer- 
marsch vorspielen.  Der  Reichsabgeordnete,  Koloman  Thaly,  er- 
hielt Nachricht  über  dieses  Benehmen  und  reiste  nach  Gran  ab. 
Er  zeigte  seinem  Sohn  seinen  Besuch  telegraphisch  an.  Bei  seiner 
Ankunft  empfing  ihn  ein  Soldat  vor  der  Türe  seines  Sohns  mit 
einem  Briefe  und  mit  der  Bemerkung,  daß  der  Leutnant  schläft 
und  er  deshalb  nicht  hineingehen  könne.  Als  der  Vater  zum 
Sohn  hineingehen  wollte,  fand  er  die  Türe  verschlossen.  In  diesem 
Moment  ertönte  ein  Schuß.  Nachdem  die  Tür  mit  Gewalt  ge- 
öffnet wurde,  bot  sich  ihm  ein  schrecklicher  Anblick  dar:  sein 
Sohn  saß  über  einen  Tisch  gebeugt,  tot.  Auf  dem  Tische  standen 
4  brennende  Kerzen  und  in  der  Mitte  brannte  eine  Lampe.  Rechts 
befand  sich  die  Photographie  seines  Vaters,  links  dieselbe  des 
vor  kurzem  zum  Selbstmörder  gewordenen  Leutnants  Rosenberg. 
In  seinem  hinterlassenen  Brief  bat  er  seinen  Vater  um  Verzeihung 
und  ordnete  an,  daß  seine  irdischen  Überreste  in  der  Familien- 
Gruft  zu  Preßburg  bestattet  und  in  seinen  Sarg  die  Photographien 
von  seinem  Vater  und  vom  Leutnant  Rosenberg  hineingelegt 
rerden.a 


—    1287    — 

Double  Suicide.  Des  mariniers  ont  retirg,  hier  matin,  de 
la  Seine,  ä  la  hauteur  du  quai  aux  Fleurs,  les  cadavres  de  deux 
hommes,  Ms  ensemble  par  une  forte  corde.  11s  paraissaient 
äg£s  d'une  qttarantaine  d'annees.  L'un  est  blond  et  porte  des 
moustaches  rousses.  On  a  trouv6,  dans  ses  poches,  des  papiers 
au  nom  de  Joseph  Vonderwyn,  parqueteur  ä  Paris,  rue  de  La 
Jonqui&re.  Le  second,  ggalement  blond,  a  des  moustaches  blondes 
tres  fortes.  II  etait  porteur  d'un  livret  au  nom  de  Georges- 
Franc,  ois  Grigon,  n6  ä  Beaumont-sur-Oise.  Les  corps  ne  presen- 
taient  aucune  trace  de  blessures.  II  y  a  donc  tout  lieu  de 
supposer  qu'on  se  trouve  en  pr^sence  d'un  double  suicide. 
M.   Briy,    commissaire   de    police,    a  fait  transporter  les  deux 

Cadavres  ä  la  MorgUC  (Jean  de  Paris.) 


Gram  über  den  Tod  ihrer  Freundin  hat  die  fünfzehneinhalb 
»Jahre  alte  Arbeiterin  Martha  Grafenstein,  die  bei  ihrer  Mutter  in 
der  Georgenkirchstraße  wohnte,  zum  Selbstmord  veranlaßt.  Das 
Mädchen  besaß  in  einer  jungen  Hausgenossin,  mit  der  es  zu- 
sammen die  Schule  besucht  hatte  und  konfirmiert  worden  war, 
eine  Freundin,  an  der  es  mit  aller  Zuneigung  hing.  Die  Freundin 
starb  zu  Anfang  dieses  Jahres.  Martha  Grafenstein  war  über  den 
Verlust  untröstlich.  Wiederholt  klagte  sie  ihrer  Mutter,  daß  sie 
nun  keine  Freude  mehr  am  Leben  habe.  Anfangs  vorigen  Monats 
verließ  sie  ihre  Arbeitsstelle,  eine  Putzfedernfabrik,  und  kehrte 
auch  nach  Hause  nicht  mehr  zurück.  Alle  Nachforschungen  nach 
ihrem  Verbleib  hatten  keinen  Erfolg.  Jetzt  landete  man  die  Un- 
glückliche als  Leiche  aus  dem  Urbanhafen.  (Beri.  L.-Anz.) 


Der  Doppelselbstmord  in  München.  Wie  schon  berichtet, 
haben  sich  am  22.  v.  M.  im  Gasthof  zu  den  „drei  Löwen"  in 
München  zwei  junge  Männer  eingemietet,  die  sich  als  „Wilhelm 
Stöger,  Werkmeister  aus  Linz"  und  „Karl  Stöger,  Kellner  aus 
Linz"  meldeten.  Am  folgenden  Tage  fand  man  die  Beiden  in 
ihren  Betten  vergiftet  auf.  Es  wurde  festgestellt,  daß  der  Tod 
durch  Vergiftung  mit  Cyankali  eingetreten  sei.  Die  Photographien 
der  beiden  Toten  wurden  nach  Wien  gesendet  und  dem  Sicher- 
heitsbureau übergeben.  Dieses  stellte  fest,  daß  die  beiden  Photo- 
graphien auch  im  Verbrecher-Album  der  Wiener  Polizeidirektion 
enthalten  sind.  Dadurch  agnoszierte  das  Sicherheitsbureau  auch 
die  Toten.    Der   eine   ist   der  24jährige  Anton  Hartenstein,    zu 


—    1288    — 

Wien  geboren,  von  Profession  Malergehilfe,  später  Geschäfts- 
diener; er  hatte  in  Margarethen  gewohnt  und  war  seit  dem 
21.  v.  M.  vermißt.  Der  zweite  ist  der  17  jährige  Kellnerjunge 
Franz  Knauer,  zu  Zemling  in  Niederösterreich  geboren.  Er  hatte 
hier  im  ersten  Bezirk  gewohnt  Hartenstein  ist  in  Wien  zweimal 
wegen  Betruges  und  einmal  wegen  Veruntreuung,  ferner  vom 
Kreisgerichte  Korneuburg  wegen  Verbrechens  der  schweren 
körperlichen  Beschädigung  und  wegen  eines  schweren  Sittlich- 
keitsdeliktes mit  5  Jahren  schweren  Kerkers  abgestraft  Knauer 
ist  ebenfalls  wegen  eines  Sittlichkeitsdeliktes  mit  drei  Monaten 
schweren  Kerkers  abgestraft.  Er  stand  am  28.  Dezember  1900 
vor  dem  Landesgericht.  Sein  Komplize  war  als  geistesgestört  in 
irrenärztliche  Behandlung  gekommen.  Hartenstein  hat  sich  er- 
wiesenermaßen immer  im  Besitz  von  Cyankali  befunden. 


Aus  Königgrätz,  18.  d.,  wird  uns  gemeldet:  Gestern  Nacht 
um  12  Uhr  hat  sich  in  der  Kaserne  des  36.  Infanterie-Regiments- 
der  Infanterist  Sajcek  aus  dem  zweiten  Stock  aus  dem  Fenster 
gestürzt  und  blieb  vor  der  Kasernenwache  mit  zerschmettertem 
Kopfe  tot  liegen.  Um  dieselbe  Zeit  stürzte  sich  in  der  Artillerie- 
kaserne der  Rekrut  Anton  Provaznik  vom  ersten  Stocke  aufs 
Pflaster  hinab  und  ist  im  Spital  seinen  Verletzungen  erlegen. 
Zwischen  beiden  zu  derselben  Stunde  und  vor  den  Augen  der 
Kameraden,  ohne  daß  diese  es  hindern  konnten,  begangenen 
Selbstmorden  soll  eine  Beziehung  bestehen. 


Von  einem  geheimnisvollen  Doppelselbstmord  meldet  unser 
es-Korrespondent  aus  Werdau  in  Sachsen.  Zwei  dortige  junge 
Handwerksgehilfen,  der  Barbiergehilfe  Alfred  Wolf  und  der 
Müllergeselle  Gebert,  haben  sich  durch  Erschießen  entleibt.  Die 
Beweggründe  zu  der  Tat  stehen  noch  nicht  fest.  Durch  Inserate 
in  den  Werdauer  Lokalblättern  nahmen  die  Selbstmörder  herzlich 
Abschied  von  allen  Freunden  und  Bekannten.  Nachmittags  in 
der  zweiten  Stunde  begaben  sie  sich  in  die  Dachkammer  Wolfs, 
zogen  die  besten  Anzüge  und  frische  Wäsche  an,  legten  sich 
zusammen  auf  das  Bett  und  bald  darauf  krachten  zwei  Schüsse. 
Die  Hinzueilenden,  der  Hauswirt  und  der  Prinzipal  des  Barbier- 
gehilfen, fanden  die  Selbstmörder  bereits  entseelt  vor.  Gebert 
hatte  sich  mit  einem  Teschin,  Wolf  mit  einem  Revolver  in  die 
linke  Schläfe  geschossen. 


—    1289    — 

Laibach,  13.  Jänner.  Gestern  nacht  erschoß  sich  in  der 
Landwehrkaserne  der  Zugsführer  Rudolf  Marbol.  Er  hatte  vor- 
her auf  den  Heizer  im  Elektrizitätswerk,  Vinzenz  Magister,  ein 
Unsittlichkeitsattentat  auszuüben  versucht.  Magister  bedrohte 
dann  Marbol  mit  dem  Bajonette,  das  ihm  mit  Hilfe  des  Kamin- 
fegergehilfen Suppanz  entwunden  wurde.  Marbol  entfloh  dann 
in  die  Kaserne,  wo  er  sich  erschoß. 


Ein  eingefleischter  Weiberhasser.  In  Wien  ist  vor  einiger 
Zeit  ein  Hagestolz,  wie  er  im  Buche  steht,  als  er  zu  dem  Leichen- 
begängnisse seines  Bruders  fuhr,  gestorben.  Der  lange,  hagere 
Mann  mit  dem  schwarzen  Salonanzug,  stets  mit  Zylinderhut  und 
einem  Rohrstocke  versehen,  war  eine  typische  Figur.  Interessant 
ist  seine  Nachlassenschaft  In  einem  Fach  seines  Schreibtisches 
fanden  seine  Verwandten  ein  Päckchen  mit  der  Aufschrift : 
„Versuche  meiner  Verwandten,  mich  ins  Ehejoch  zu  zwingen.0 
Das  Päckchen  enthielt  62  Briefe,  die  vom  Jahre  1845  bis  1894 
laufen  und  mit  Bemerkungen  des  Hagestolzen  versehen,  regist- 
riert und  ad  acta  gelegt  sind.  Von  dem  Sammler  ist  ein  Zettel 
beigefügt  mit  den  Worten:  „62  Briefe  mit  ebenso  vielen  An- 
trägen von  heiratsbedürftigen  Mädchen  und  Witwen,  welche  ein 
Gesamtvermögen  von  1 760000  Gulden  ins  Feld  stellten,  um  mich 
zu  ködern."  In  seinem  Stammgasthause  erschien  er  jede  zweite 
Woche;  er  saß  nur  dort,  wenn  er  genau  wußte,  daß  kein  Platz 
für  eine  Dame  vorhanden  war.  Ging  er  ins  Theater,  so  nahm 
er  stets  drei  Sitze,  links  und  rechts  ließ  er  den  Sitz  leer.  Auf 
der  Straßenbahn,  im  Omnibus,  auf  der  Bahn  war  eine  mit  ordi- 
närem Tabak  gestopfte  Pfeife  seine  Begleiterin.  Dies  hielt  ihm 
das  weibliche  Geschlecht  meist  zur  Genüge  vom  Halse.  Charak- 
teristisch ist  eine  Stelle  im  Testament;  er  schreibt:  „Ich  bitte 
meine  Verwandten,  dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  auf  dem  Friedhofe, 
wo  ich  beerdigt,  neben  mir  keine  Frauenleichen  beerdigt  werden; 
ich  bitte  also,  für  mich  einen  Gruftplatz  für  drei  Leichen  zu 
kaufen  und  meine  Leiche  in  der  Mitte  zu  beerdigen,  die  Räume 
rechts  und  links  aber  unbelegt  zu  lassen." 


Ein  Todfeind  des  schönen  Geschlechts.  Im  neuesten  Heft 
des  „Rußki  Archiv"  erzählt  W.  Schiemann  Amüsantes  vom  General 
Helwig,  der  unter  Kaiser  Nikolaus  I.  Kommandant  der  Festung 
Dünaburg  war,  die  unter  Alexander  III.  in  „Dwinsk"  umbenannt 
wurde.    Einem  Petersburger  Briefe  der  „Frkf.  Ztg."   entnehmen 


—    1290    — 

wir  Folgendes:  Der  alte  Helwig  war  ein  Todfeind  des  schönen 
Geschlechts  und  suchte  jede  Begegnung  mit  einer  Frau  ängstlich 
zu  vermeiden.  Einmal  aber  blieb  ihm  das  Zusammensein  mit 
einer  Frau  doch  nicht  erspart,  und  diese  Frau  war  die  Kaiserin 
Alexandra,  die  Gemahlin  Nikolaus  4.  Das  Kaiserpaar  kam  zu 
einem  zweitägigen  Besuch  nach  Dfinaburg.  Der  Kaiser  schätzte 
General  Helwig  als  einen  tüchtigen  Offizier  sehr  hoch  und  erfreute 
ihn  durch  einige  anerkennende  Worte.  Am  nächsten  Tage  sollte 
eine  Besichtigung  der  Garnison  und  eine  Truppenparade  statt- 
finden. Der  Zar  machte  dem  Kommandanten  den  Vorschlag,  bei 
dieser  Gelegenheit  mit  der  Kaiserin  zusammen  im  Wagen  zu 
fahren.  Helwig  aber  suchte  diese  Ehre  höflich  von  sich  ab- 
zuwenden. „Ich  bin  noch  nicht  so  alt,  Ew.  Majestät,"  sagte  er, 
„daß  ich  Ihnen  nicht  zu  Pferde  folgen  könnte."  —  Doch  der 
Kaiser  blieb  dabei:  „Das  glaube  ich  gern,  lieber  Helwig.  Aber 
wer  könnte  meiner  Frau  besser  als  Du,  alles  zeigen?"  —  Am 
anderen  Tage  nahm  der  Kommandant  in  gelinder  Verzweiflung 
neben  der  Kaiserin  im  Wagen  Platz.  Kaiserin  Alexandra,  der 
ihr  Gatte  nichts  von  der  Idiosynkrasie  Helwigs  gesagt  hatte, 
konnte  sich  über  das  ungewöhnliche  Verhalten  ihres  Begleiters 
nicht  genug  wundern.  Der  Kommandant  war  äußerst  wortkarg 
und  unliebenswürdig,  beantwortete  die  Fragen  der  Kaiserin  nur 
widerwillig  und  ohne  diese  dabei  anzusehen  und  drehte  ihr  meist 
den  Rücken  zu.  Kaiser  Nikolaus  ritt  neben  dem  Wagen  her, 
beobachtete  den  unhöflichen  General  und  hatte  seinen  Spaß  an 
den  Qualen,  die  jener  litt,  sowie  an  der  Verwunderung  seiner 
Gemahlin.  Gut  gelaunt,  beschloß  der  Zar,  den  Scherz  fortzusetzen. 
Nach  der  Parade,  die  zu  seiner  vollsten  Befriedigung  verlief,  dankte 
er  dem  Kommandanten  und  dem  kommandierenden  General,  und  um 
Helwig  seine  besondere  Gunst  zu  beweisen,  sagte  er  sich  bei 
ihm  mit  der  Kaiserin  zum  Tee  an.  Der  alte  General  war  sichtlich 
auf  das  Unangenehmste  überrascht.  „Ich  habe  keine  Hausfrau. 
Ew.  Majestät!"  erwiderte  er.  „Ich  bin  ein  alter  Hagestolz!"  — 
„Warum  heiratest  Du  denn  nicht?  Ich  wüßte  eine  passende  Partie 
für  Dich".  —  „Ich  bin  zu  alt,  um  zu  heiraten,  Ew.  Majestät".  — 
„Ach  was,  zu  alt!  Zu  einem  Dauerritt  von  ein  paar  Meilen  bist 
Du  noch  jung  genug,  zum  Heiraten  aber  behauptest  Du  zu  alt 
zu  sein.  Nun,  ich  will  Dir  nicht  zur  Ehe  zureden,  aber  Tee  werde 
ich  bei  Dir  doch  trinken.  Wir  bitten  einfach  die  Kaiserin,  die 
Rolle  der  Hausfrau  zu  übernehmen.  Geh'  und  ersuche  sie  darum!" 
—  Schweren  Herzens  kam  der  Alte  dem  Befehl  nach.    Der  ver- 


—     1291     — 

hängnisvolle  Abend  kam.  Der  Teetisch  war  geschmackvoll  arran- 
giert, es  fehlte  nicht  an  Backwerk,  Früchten  und  allerhand  Nasch- 
werk. Die  Kaiserin  war  sehr  aufmerksam  gegen  ihren  Wirt;  sie 
reichte  ihm  selbst  den  Tee  und  Gebäck,  und  Helwig,  der  wie  auf 
Nadeln  saß,  mußte  nicht  nur  eine  Frucht  nach  der  anderen  aus 
den  Händen  der  Kaiserin  dankend  entgegennehmen,  sondern  an- 
standshalber auch  etwas  von  den  Dingen  genießen,  die  ihm  eine 
Frau  reichte.  Aber  das  Schlimmste  stand  dem  alten  Degen  noch 
bevor.  Beim  Abschied  reichte  ihm  die  Kaiserin  die  Hand  zum 
Kusse.  Helwig  bezwang  sich  und  tat,  was  die  Etikette  verlangte. 
Kaum  aber  hatten  seine  Gäste  ihn  verlassen,  so  ging  er  unver- 
züglich an  eine  gründliche  Reinigung  seines  äußeren  Menschen. 
Er  spülte  sich  nicht  nur  wiederholt  den  Mund  aus,  sondern  nahm 
sofort  ein  warmes  Bad,  wechselte  seine  Leibwäsche  und  zog 
eine  andere  Uniform  an.  Dann  ließ  er  seine  Kleider  sorgfältig 
desinfizieren  und  alle  Zimmer  seiner  Wohnung  durchräuchern. 
Der  Stuhl  aber,  auf  dem  die  Kaiserin  gesessen  hatte,  erhielt  am 
nächsten  Tage  einen  neuen  Überzug. 


Jahresbericht  1902/3. 

Eine  an  Arbeiten  und  wichtigen  Vorkommnissen 
überreiche  Zeit  ist  seit  der  Erstattung  des  letzten  Jahres- 
berichtes verstrichen.  An  erfreulichen  Tatsachen,  an  Er- 
folgen, an  Zeichen  wachsender  Erkenntnis  hat  es  nicht 
gefehlt,  aber  auch  tief  beklagenswerte  Ereignisse,  schmerz- 
hafte Verkennungen  und  Angriffe  sind  nicht  ausgeblieben. 

Der  schwerste  Schlag,  der  uns  im  Berichtsjahr  betroffen, 
ist  der  Tod  des  hervorragendsten  Vorkämpfers  unserer 
Bewegung.  Am  Abend  des  22.  Dezember  1902  ver- 
schied zu  Graz  in  Steiermark  .Richard  Freiherr 
von  Krafft-Ebing,  der  erste  Arzt  und  Naturforscher, 
welcher  sich  der  Homosexuellen  mit  größter  Energie  an- 
genommen hatte.  Wir  geben  eine  kurze  Übersicht  seines 
Lebens  nach  Aufzeichnungen,  welche  uns  von  einem  seiner 
Schüler  zugegangen  sind. 

Am  14.  August  1840  in  Mannheim  geboren,  begann 
Krafft-Ebing  seine  Studien  in  Heidelberg,  setzte  dieselben 
in  Zürich  fort,  und  wurde  1863  in  Heidelberg  promoviert. 
Sein  Großvater  mütterlicherseits  war  der  berühmte  Straf- 
rechtslehrer H.  J.  A.  Mittermaier  (1787 — 1867)  welchem 
die  deutsche  Rechtspflege  Reformen  auf  dem  Gebiete  des 
Gefängniswesens,  Einführung  humaner  Strafen  und  viel- 
fachen Fortschritt  verdankt.  Nach  Erlangung  des  Doktor- 
diplomes verbrachte  v.  Krafft-Ebing  einige  Zeit  auf 
Reisen,  welche  ihn  an  verschiedene  Hochschulen  führten, 
und  widmete  sich  sodann,   seiner  Neigung   folgend,   dem 


—    1293    — 

Berufe  eines  Irren-  und  Nervenarztes.  Er  nahm  1864 
eine  Assistentenstelle  an  der  berühmten,  von  Christian 
Roller  1842  gegründeten  Irrenanstalt  in  Illenau  an. 
Im  Jahre  1868  eröffnete  er  seine  Tätigkeit  als  Irrenarzt 
in  Baden-Baden.  Das  Jahr  1870  verbrachte  er  im 
Felde.  Heimgekehrt,  widmete  er  sich  der  Bearbeitung 
seines  im  Kriege  erworbenen  ärztlichen  Materials  und 
bewarb  sich  um  die  Venia  legendi  an  der  Leipziger 
Universität.  Schon  damals  hatte  v.  Krafft-Ebings 
Name  als  Autor  verschiedener  wertvoller  Veröffent- 
lichungen einen  guten  Klang;  Bismarck  selbst  war  es, 
dessen  Auge  auf  das  aufstrebende  junge  Talent  fiel: 
sein  Abgesandter  suchte  v.  Krafft-Ebing  auf,  als 
dieser  in  Berlin  auf  die  Entscheidung  des  Leipziger 
Professorenkollegiums  wartete,  um  ihm  die  Lehrkanzel 
in  Straßburg  anzutragen.  Dort  wirkte  v.  Krafft-Ebing 
bis  zum  Jahre  1873.  In  diesem  Jahre  folgte  er  einem 
Rufe  an  die  Spitze  der  Irrenanstalt  Feldhof  bei  Graz 
in  Steiermark,  mit  welchem  Amte  die  Professur  für 
Psychiatrie  in  Graz  verbunden  war. 

Die  Jahre  1873—1889,  in  welchen  v.  Krafft-Ebing 
zunächst  in  Feldhof  und  in  Graz,  später  nur.  als  Professor 
in  Prag,  wirkte,  waren  es,  wo  v.  Krafft-Ebing  sein  ganzes 
Wirken  und  Schaffen  frei  entfaltete  und  seinen  Weltruf 
begründete.  1889  wurde  er  an  Stelle  Leidesdorfs  nach 
Wien  berufen  und  wurde  1892  der  Nachfolger  des 
großen  Meynert.  Mit  Abschluß  des  Wintersemesters 
1902  trat  v.  Krafft-Ebing  von  seinem  Lehramte  in  Wien 
zurück,  legte  seine  zahlreichen  Ehrenstellen  nieder  und 
übersiedelte  nach  Graz.  Sein  körperliches  Befinden  ließ 
in  den  letzten  Jahren  in  Wien  viel  zu  wünschen  übrig; 
an  Graz  knüpften  ihn  frohe  Erinnerungen,  nicht  zu 
mindest  die  Erinnerung  an  sein  schaffensfreudiges  Wirken 
dort;  er  hoffte,  daß  dort  auch  seine  Gesundheit  wieder- 
kehren und   er  nochmals   seine   kräftige  Jugend  wieder- 


—     1294    — 

finden  werde.  Das  Schicksal  fügte  es  anders;  als  der 
Sommer  verging,  zu  dessen  Beginn  v.  Krafft-Ebing  in 
Graz  angekommen  war,  begannen  seine  Leiden,  und  vor 
Weihnachten  schloß  er  für  immer  seine  Augen. 

Mit  v.  Krafft-Ebing  starb  ein  großer  Gelehrter, 
ein  vielerfahrener  großer  Arzt  und  Meister  seiner  Wissen- 
schaft; außerordentlich  reich  ist  das  geistige  Erbe,  welches 
er  hinterließ.  Die  Zahl  seiner  wissenschaftlichen  Arbeiten 
nähert  sich  .400;  kein  Gebiet  der  Psychiatrie  und  Nerven- 
heilkunde gibt  es,  wo  er  nicht  fördernd  und  befruchtend 
eingewirkt  hätte.  Seine  Lehrbücher  der  Psychiatrie,  der 
forensischen  Psychopathologie  sind  Werke  von  immensem 
didaktischen  Werte.  Mit  demselben  Freimute  und  der 
gleichen  niemals  wankenden  Charakterstärke  vertrat  er 
wie  auf  dem  Gebiete  der  sexuellen  Psychopathologie 
auch  auf  anderen  Gebieten  der  forensischen  Psychiatrie 
seine  ärztliche  Überzeugung.  Sehr  mit  Recht  schreibt 
Albert  Moll  in  dem  Nekrologe,  welchen  er  seinem 
großen  Vorgänger  in  der  deutschen  medizinischen  Presse 
(1903.  No.  2.  p.  14)  widmet:  , Ohne  Krafft-Ebing  würden 
heute  noch  weit  mehr  Geisteskranke  und  sonst  Unzu- 
rechnungsfähige den  Strafanstalten  zugeführt  werden 
und  der  Brandmarkung  verfallen,  als  es  wohl  immer 
noch  der  Fall  ist.  Wenn  heute  mancher  Inkulpat  von 
den  Gerichtsärzten  als  Geisteskranker  erkannt  und  von 
verständigen  Richtern  als  solcher  beurteilt  wird,  so  ist 
das  nicht  zum  wenigsten  ein  Verdienst  Krafft-Ebings, 
der  unermüdlich  auf  diesem  Gebiete  tätig  war.* 

Sein  Lieblingsfach  aber  und  derjenige  Teil  seiner 
Lebensarbeit,  welcher  am  meisten  dazu  beitrug,  seineu 
Namen  über  die  ganze  Erde  zu  verbreiten,  war  die 
„Psychopathia  sexualis."  Vor  v.  Krafft-Ebing 
waren  nur  Teilgebiete  dieses  Gegenstandes  bearbeitet 
worden.  Krafft-Ebing  hat  die  Psychopathologie 
des  Geschlechtslebens  in  diesem   seinem   Werke   und  in 


—     1295     — 

den  zahlreichen  anderen  einschlägigen  Arbeiten  nicht 
nur  begründet,  sondern  nach  jeder  Richtung  hin  aus- 
gebaut. Er  sammelte  mit  außerordentlichem  Fleiße  die 
einschlägigen  Krankengeschichten  und  wurde  so  in  den 
Stand  gesetzt,  ein  riesiges  Material  kritisch  zu  sichten  und  die 
Probleme  der  Sexualpathologie  auf  eine  wissenschaftliche 
Basis  zu  stellen.  Das  Endziel  seines  Strebens  war  es, 
aus  der  Symptomatologie  eines  jeden  Falles  die  Ent- 
scheidung zu  treffen,  ob  es  sich  um  „Perversität"  oder 
„Perversion"  handle.  Krankheit  nannte  er  Per  Ver- 
sion, Laster  Perversität.  Mehr  als  alle  anderen 
Unglücklichen  stehen  die  Homosexuellen  in  v.  Krafft- 
Ebings  Schuld.  Wenn  der  wohl  nicht  mehr  ferne  Zeit- 
punkt kommt,  wo  die  Rechtspflege  sich  den  gebieterischen 
Postulaten  der  Wissenschaft  auch  auf  diesem  Gebiete 
anpassen  wird,  wird  von  Krafft-Ebings  Lebenswerk  von 
Erfolg  gekrönt  sein.  Die  Kulturarbeit,  die  er  auf  dem 
Gebiete  der  forensischen  Psychopathologie  geleistet  hat, 
sichert  v.  Krafft-Ebing  ein  unvergängliches  Andenken 
in  den  Annalen  der  Psychiatrie. 

Dem  gelehrten  und  edlen  Verfasser  der  Psychopathia 
sexualis  ist  die  Beschuldigung  nicht  erspart  geblieben, 
daß  er  mit  seinem  Buche  auf  die  sinnlichen  Interessen 
großer  Leserkreise  spekuliert  habe.  Er  trug  diesen  un- 
gerechten Vorwürfen,  unter  denen  er  schwer  litt,  Rech- 
nung, indem  er  auf  das  Titelblatt  der  XI.  Auflage  seines 
Werkes  (1901  erschienen)  die  Worte  setzen  ließ:  „Für 
Ärzte  und  Juristen".  In  Wirklichkeit  gibt  es  kaum  ein 
i  weites  Buch  in  der  Weltliteratur,  das  so  vielen  Tausenden 
den  inneren  Seelenfrieden  wiedergegeben  hat,  durch  seine 
Aufklärung  so  unendlichen  Segen  gestiftet  und  so  viele 
vom  Selbstmord  errettet  hat,  als  dieses  Werk,  aus  dem  eben 
so  viel  Wissen,  als  Güte  und  Unerschrockenheit  spricht. 

Für  das  wissenschaftlich-humanitäre  Komitee  bekun- 
dete Kraflft-Ebing  von  Anfang  an  das  lebhafteste  Inter- 


—    1296    — 

esse.  Er  wa^  einer  der  ersten  Unterzeichner  der  Petition, 
welche  die  Befreiung  der  Homosexuellen  vom  Strafgesetz 
fordert.  Seine  letzten  Studien  auf  dem  Gebiete  der 
Homosexualität  veröffentlichte  er  in  diesen  Jahrbüchern 
(Band  3  Seite  1  ff),  und  faßte  hier  das  Eesultat  seiner 
reichen  Erfahrungen  in  drei  prägnanten  Leitsätzen  zu- 
sammen. Nach  dem  Erscheinen  des  letzten  Bandes  — 
im  Sommer  1902  —  erhielten  wir  von  ihm  das  als  Vor- 
wort dieses  Jahrgangs  wiedergegebene  Schreiben. 

Der  Tod  hat  diesem  reichen  Leben  ein  vorzeitiges 
Ende  gesetzt.  Es  war  nach  allem  nur  eine  selbst- 
verständliche Pflicht,  daß  wir  im  Besitz  der  Trauerkunde 
der  Gemahlin  des  Verstorbenen  unser  Beileid  zum  Aus- 
druck brachten,  was  in  folgendem  Schreiben  geschah: 

Charlottenbnrg,  23.  12.  02.  Hpchverehrte  gnädige  Frau! 
Die  Kunde  von  dem  frühzeitigen  Hinscheiden  Ihres  teuren  Herrn 
Gemahls  hat  uns  aufs  tiefste  erschüttert.  Den  unersetzlichen  Verlust, 
von  dem  Sie  und  Ihre  Familie  betroffen  sind,  teilt  mit  Ihnen  die 
Wissenschaft,  um  die  der  Verstorbene  sich  so  hohe  Verdienste  er- 
worben hat,  und  die  Humanität,  für  deren  Ausübung  er  als  Ge- 
lehrter und  Mensch  so  unablässig  tätig  gewesen  ist.  Mag  die  Er- 
innerung an  das,  was  Sie,  gnädige  Frau,  besessen  haben,  das  ruhm- 
volle Andenken,  das  Ihr  Gatte  hinterläßt,  Sie  in  Ihrem  großen  und 
gerechten  Schmerze  trösten.  Für  das  wissenschaftlich-humanitäre 
Komitee  und  die  vielen  Tausende,  deren  Schutz  wir  uns  gewidmet 
haben,  wird  der  Name  „Krafft-Ebing"  in  hohen  Ehren  stehend  stets 
unvergessen  sein.  Beifolgenden  Lorbeerkranz  bitte  auf  seine  letzte 
Ruhestätte  gütigst  niederlegen  zu  lassen. 

Wir  erhielten  darauf  folgendes  Antwortschreiben. 

Graz  am  1.  Januar  1903.  Sehr  geehrter  Herr  Doktor! 
Für  das  mir  von  Ihnen  Namens  des  wissenschaftlich-humanitären 
Komitees  ausgesprochene  Beileid,  sowie  für  die  schöne  Kranzspende 
sage  ich  Ihnen  im  eigenen  wie  im  Namen  meiner  Familie  herzlich 
Dank.  Ganz  besonders  danke  ich  Ihnen  aber  für  die  tiefgefühlten 
Worte  der  Anerkennung  des  Wirkens  des  Verblichenen  im  Sinne 
des  wissenschaftlich-humanitären  Komitees,  welches  leider  durch  den 
allzufrtihen  Tod  seinen  Abschluß  fand.  Freifrau  Louise  von  Krafft- 
Ebing. 


—    1297    — 

Wir  können  den  .Verstorbenen  nicht  besser  ehren, 
als  indem  wir  uns  seine  Worte  zu  eigen  machen,  die 
wir  wohl   als  sein   Lebensprogramm   bezeichnen  dürfen : 

„Dasjedem  Staatsbürger  zustehende  Eecht 
der  freien  Meinungsäußerung  wird  zur 
Pflicht,  wenn  derselbe  vermöge  der  Kennt- 
nisse und  Erfahrungen,  welche  ihm  sein  Be- 
ruf entwickelt,  im  Stande  ist,  zur  Beseiti- 
gung   von  Irrtümern  beizutragen." 


Wir  würden  uns  einer  Unterlassung  schuldig  machen, 
wenn  wir  unter  den  weiteren  Verlusten,  welche  unser 
Komitee  zu  beklagen  hatte,  nicht  an  erster  «Stelle  des 
Prinzen  Georg  von  Preußen  gedenken  würden, 
welcher  am  4.  Mai  1902  im  77.  Lebensjahre  verschied, 
nicht  nur  deshalb,  weil  seine  königliche  Hoheit  unseren 
Kampf  materiell  unterstützte,  sondern  vor  allem  auch 
weil  der  feinsinnige  liebenswürdige  Fürst  gerade  in  dem 
urnischen  Teil  der  Bevölkerung  Berlins  ganz  besondere 
Verehrung  und  Sympathie  genoß. 

Viele  gebildete  Männer  haben  dem  Prinzen  geistig 
nahe  gestanden  und  in  dem  traulichen  stimmungsvollen 
Eckzimmer  der  Wilhelmstraße  den  guten  und  klugen 
Worten  lauschen  dürfen,  die  von  einem  reichen  Innen- 
leben Zeugnis  ablegten. 

Prinz  Georg  war  am  12.  Februar  1828  in  Berlin 
als  Sohn  des  Prinzen  Friedrich  von  Preußen,  der  ein 
rechter  Vetter  und  Spielgenosse  Kaiser  Wilhelm  I.  war, 
geboren.  Seine  Großmutter  väterlicherseits  war  die  schöne 
geistvolle  und  lebensfrohe  Prinzessin  Friedericke  von 
Mecklenburg-Strelitz,  die  Schwester  der  Königin  Luise. 
Die  Kinderjahre  verlebte  der  Prinz  in  Düsseldorf,  wo 
sein  Vater  als  Militärgouverneur  bis  1848  residierte. 
Hier,   wo  die   Malerschule   eben   erblühte,   das   Theater 


—     1298    — 

unter  Immermanns,  die  musikalischen  Bestrebungen  unter 
Mendelssohns  Leitung  standen,  erwuchs  in  ihm  früh  ein  sehr 
lebhaftes  Interesse  für  die  dramatische  Kunst, —  er  spielte 
selbst  Komödie  —  sowie  besonders  für  Musik  —  im 
Klavierspiel  brachte  er  es  zu  einer  gewissen  Virtuosität. 
In    Paris    lernte    er    die   Schauspielerin    Rachel   kennen, 


Georg,  Prinz  von  Preußen, 

f  4.  Mai  1902. 


deren  Kunst  ihn  anregte,  selbst  dramatisch  zu  produzieren. 
Jahre  lang  dichtete  er  im  stillen,  bis  ihn  die  Schriftstellerin 
Frau  von  Treskow-Pinelli  veranlaßte,  seine  Dramen  unter 
dem  Pseudonym  Georg  Conrad  der  Öffentlichkeit  zu 
übergeben.  Der  amtliche  Nachruf  bemerkt  darüber: 
n  Prinz  Georg  hat  sich  als  dramatischer  Dichter  aus- 
gezeichnet   und    eine    ganze    Reihe    solcher    Dichtungen 


BBBi 


—    1299    — 

veröffentlicht,  die  mit  Erfolg  aufgeführt  und  gesammelt 
in  vier  Bänden  erschienen  sind.  Sie  geben  Zeugnis  von 
dem  feinen  Geiste  des  Prinzen,  der,  idealen  Schwunges 
voll,  sich  tief  in  die  literarische  Kunst  versenkte." 

Etwa  30  Jahre  bestand  ein  freundschaftliches  Ver- 
hältnis zwischen  dem  Prinzen  Georg  und  der  Schrift- 
stellerin Elise.  Felicitas  von  Hohenhausen,  in  deren 
literarischen  Gesellschaften  Heinrich  Heine,  Alexander 
von  Humboldt,  Varnhagen  von  Ense  und  seine  geistreiche 
Gattin  Rahel  geb.  Levin  verkehrten.  Der  Prinz,  welcher 
für  seine  Person  sehr  einfach  lebte,  war  ein  leidenschaft- 
licher Bücherfreund,  ein  großer  Kunstkenner  und  Lieb- 
haber des  feineren  Kunsthandwerks.  Es  liegen  uns  eine 
Reihe  persönlicher  Erinnerungen  vor  von  Personen, 
mit  welchen  der  Prinz  in  regem  Verkehr  stand,  ich  greife 
einige  charakteristische  Mitteilungen  heraus.  Der  Schrift- 
steller Paul  Lietzow  berichtet:, 

„Der  Prinz  kam  mir  stets  bis  in  das  große  Empfangsgemach 
entgegen,  reichte  mir  die  Hand  bei  der  Ankunft  und  verabschiedete 
mich  nach  Ablauf  einer  Stunde  in  der  herzlichsten,  freundschaft- 
lichsten Art,  indem  er  häufig  meine  rechte  Hand  zwischen  seine 
beiden  Hände  nahm. 

Bei  meinen  Besuchen  mußte  ich  in  seinem  Arbeitszimmer  stets 
bei  ihm  am  Tische  Platz  nehmen,  entweder  ihm  gegenüber  oder 
neben  ihm  auf  dem  Sofa.  Stets  war  er  von  liebenswürdigstem  Wesen 
und  huldvoller  Freundlichkeit. 

Nachdem  er  sich  nach  meinem  Ergehen  eingehend  erkundigt 
hatte,  fragte  er  —  da  ich  ihm  stets  historische  Werke  und  Bilder 
mitbrachte,  für  die  er  sich  lebhaft  interessierte  —  gewöhnlich  humor- 
voll: „Nun,  was  gibt's  altes?" 

Prinz  Georg  setzte  voraus,  daß  ich  den  Inhalt  aller  Bücher 
kannte,  welche  ich  ihm  vorlegte.  Dies  war  nun  allerdings  auch  der 
Fall.  Ich  berichtete  kurz  über  den  Inhalt  und  der  Prinz  schaltete 
geistvolle  Bemerkungen  ein.  Es  war  ein  wirklicher  Genuß,  ihn 
sprechen  zu  hören.  Prinz  Georg  besaß  eine  Stimme  von  ganz 
eigenem  Wohllaut.  Alles  was  er  sagte,  zeugte  von  umfassender 
Bildung.  Sein  edler  Charakter  drückte  sich  in  jedem  seiner  Worte 
aus.    Aber  auch  sein  Äußeres  wirkte   bestechend.    Der  Prinz  war 

Jahrbuch  V.  82 


—    1300    — 

von  hoher  Figur.  Er  war  ein  schöner  Mann.  Ans  seinen  Augen 
sprühten  Fener  und  Geist.  Die  etwas  knappe  Uniform  saß  ihm  wie 
angegossen. 

Als  ich  dem  Prinzen  eines  Tages  das  Bnch  des  Leibarztes 
Dr.  Zimmermann  über  die  letzten  Lebensjahre  Friedrichs  des  Großen 
vorlegte,  blätterte  der  hohe  Herr  in  demselben.  Plötzlich  rief  er 
lebhaft:  „Hier  finde  ich  eine  merkwürdige  Kapitel-Überschrift:  Über 
Friedrichs  griechischen  Geschmack  in  der  Liebe.  Der 
Prinz  las  weiter  und  fuhr  dann  fort:  Der  Verfasser  verbreitet  sich 
darüber,  ob  Friedrich  der  Große  ebenso  geliebt  habe,  wie  Sokrates 
den  Alcibiades.  Bei  einem  späteren  Besuch  gab  mir  der  Prinz  das 
Buch  mit  ungewöhnlich  ernstem  Gesicht  zurück,  es  habe  ihn  sehr 
verdrossen,  daß  der  Verfasser  behauptete:  „Prinz  Heinrich  von 
Preußen,  der  Bruder  Friedrich  des  Großen,  wäre  wegen  seiner  gleich- 
geschlechtlichen Neigungen  von  der  ganzen  Armee  verachtet 
worden". 

Im  Februar  1872  —  ich  war  damals  noch  Buchhändler  —  war 
ich  eines  Nachts  mit  meinem  damaligen  Chef  Herrn  £.  Bock  bei 
den  buchhändlerischen  Ostermeß-Arbeiten.  Herr  Book  hatte  jene 
Bücher  vor  sich,  welche  den  Verlegern  als  unverkauft  über 
Leipzig  zurückgesandt  werden  sollten.  Ich  schrieb  die  ellenlangen 
„Remittenden-Fakturen".  Da  rief  Herr  Bock  plötzlich:  „hier  fehlt 
Schief-Levinche  und  seine  Kalle  von  Isaak  Bernays.  Das 
Buch  ist  nicht  verkauft.  Wo  ist  es?  „Ich  antwortete:  „Es  ist  doch 
verkauft!  Ich  habe  es  dem  Prinzen  Georg  gesandt  und  dieser  hat 
es  behalten".  Darauf  entschiedener  Zweifel  bei  meinem  Chef.  Ich 
bewies  meine  Behauptung  durch  Vorlage  des  Kontobuchs.  Prinz 
Georg  war  nämlich  ein  eifriger  Freund  der  Juden  und  des  Juden- 
tums. Bei  den  vielerlei  Gesprächen,  die  wir  über  recht  verschieden- 
artige Themata  mit  einander  führten,  brachte  der  Prinz  einst  selbst 
das  Gespräch  darauf.  Niemals  habe  ich  jemand  mit  größerer 
Sympathie,  Anerkennung,  ja  Bewunderung  über  die  Juden  sprechen 
und  urteilen  hören.  Der  Prinz  urteilte  stets  sehr  nachsichtig  über 
andere.  Er  war  von  großer  Menschenliebe  erfüllt  und  hat  diese 
während  seines  langen  Lebens  in  Wort  und  Tat  bewiesen.  Er  konnte 
aber  auch  in  heiligem  Zorn  erglühen,  wo  er  Unduldsamkeit  sah. 
Daher  waren  ihm  die  Antisemiten  und  deren  Agitationen  auf  das 
äußerste  verhaßt..  Wenn  von  dem  Auftreten  derselben  die  Rede 
war,  fand  er  nicht  Worte  genug,  um  seinen  Abscheu  und  Ekel 
auszudrücken. 

In  dieser  Beziehung  war  er  mit  dem  Könige  Ludwig  H.  von 


Ü1 


Bayern  eines  Sinnes.     Überhaupt  hatten   diese   beiden  fürstlichen 


—     1301    — 

Personen  vieles  gemeinsam.  Beide  waren  von  hoher  edler  Gestalt. 
Beider  Hanpt  zierte  dasselbe  auffallende,  üppige,  dunkle  Lockenhaar, 
welches  ihnen  das  Gepräge  des  Südländers  verlieh.  König 
Ludwig  und  Prinz  Georg  kauften  Unmassen  von  Büchern  an  und 
lasen  fast  stets  und  ständig.  Beide  waren  hervorragende  Kunstkenner 
und  große  Musik-  und  Theaterfreunde.  Beide  verabscheuten  Krieg 
und  Jagd.  Beide  schenkten  den  Tafelfreuden  nur  sehr  mäßige 
Beachtung.  Beide  waren  gutherzig  und  wohltätig.  Nur  in  einer 
Hinsicht  waren  sie  grundverschieden:  König  Ludwig  IL  war 
immer  freigebig.  Er  gab  leichten  Herzens  Millionen  aus! 
Prinz  Georg  dagegen  war  außerordentlich  sparsam. 

Ein  anderer  Gewährsmann  M.,  der  sich  der  Freund- 
schaft des  Prinzen  erfreuen  durfte,  schreibt  unter  man- 
chem anderen: 

Ein  vom  Leben  hart  angepackter,  einfachsten  Verhältnissen 
entstammender  Student,  durch  urnische  Naturanlage  vereinsamt  und 
innerlich  gebrochen,  wandte  ich  mich,  im  Schauspielertum  die  ein- 
zige Rettung  erblickend,  an  den  Prinzen  Georg,  indem  ich  eine 
Schilderung  meines  Lebens  und  kleine  Erzeugnisse  meiner  Feder 
beifügte.  In  eingehender  Teilnahme  und  Begründung  rät  der  Prinz 
von  der  ersehnten  Laufbahn  ab,  zeigt  alles  Versöhnliche  bei  Be- 
harrung auf  dem  bisherigen  Wege  und  hebt  in  mancher  Stunde  in 
liebenswürdiger  causerie  am  kunstgeschmückten  Kamin  den  ge-r 
drückten  Sinn  des  Zuhörers  in  höhere  Sphären.  Es  entspann  sich 
ein  jahrzehntelanger  reger  Gedankenaustausch  und  Briefwechsel. 
Auch  hier  seien  nur  einige  wenige  Momente  herausgegriffen,  die 
den  wahrhaft  vornehmen  Mann  charakterisieren.  Auf  ein  Frühlings- 
gedicht, daß  Herr  M.  ihm  übersandte,  antwortete  er:  „Wann  sind 
Sie  wieder  in  Berlin?  Ich  hätte  Ihnen  so  gern  für  das  wirklich 
wunderhübsche  Gedicht  gedankt,  das  wäre  eine  Aufgabe  für  Schu- 
mann gewesen.  Gern  hätte  ich  os  Bekannten  gezeigt,  ich  wußte 
aber  nicht,  ob  ich  es  tun  durfte."  Und  nach  wenigen  Tagen  mit 
gleicher  Feinheit  und  Rücksicht:  „Wie  freut  es  mich,  daß  ich  das 
reizende,  außerordentlich  anmutige  und  rührende  Gedicht  Bekannten 
zeigen  darf.  Ich  wagte  natürlich  nicht,  es  ohne  Erlaubnis  zu  tun, 
mit  Manuskripten  bin  ich  immer  sehr  vorsichtig."  Als  M.  ihm  ein- 
mal den  Wunsch  aussprach,  man  möchte  in  Briefen  und  Tagebuch- 
blättern des  Grafen  Platen  das  Geheimnis  seines  Lebens  klarer  als 
in  seinen  Werken  erschauen  können,  meinte  der  Prinz:  „Wahr- 
scheinlich hat  er  darüber  nichts  hinterlassen,  oder  die  Familie  wird 
längst  sorgfältig  alles  vernichtet  haben,  wovon  sie  glaubt,   daß  es 

82* 


—    1302    — 

sie  kompromittieren  könne."  Mehr  als  in  seinen  zahlreichen  Dramen 
—  unter  denen  als  die  wirkungsvollsten  Sappho,  die  er  Grillparzer 
widmete,  Phädra,  Konradin  und  Katharina  von  Medioi  (als  letztes 
1884  erschienen)  zu  bezeichnen  sind,  —  gibt  er  sich  selbst  in  einer 
Art  Tagebuch,  das  er  unter  dem  Titel:  „ Vergilbte  Blätter"  ganz 
ohne  Namen  erscheinen  ließ.  Hier  schreibt  der  Prinz,  der  unver- 
mählt geblieben  war,  die  schönen  Worte:  „Die  Liebe  ist  das 
Höchste  und  insofern  Unerreichbarste,  als  wir  sie 
nicht  willkürlich  hervorrufen  können;  sie  muß  über 
uns  kommen,  sie  ist  ein  Schicksal.  Sie  kommt  und 
geht,  ohne  uns  zu  fragen.  Wer  die  volle  Wucht  der 
Liebe  leugnet,  hat  sie  nie  gekannt." 

Wir  fügen  zum  Schluß  noch  eine  Erinnerung  hinzu, 
die  das  Berliner  Tageblatt  unter  dem  Titel:  „ Prinz  Georg 
von  Preußen  und  die  Berliner  Studenten"  veröffentlichte: 

„Wie  uns  geschrieben  wird,  unterhielt  der  vor  wenigen  Tagen 
verstorbene  Prinz  Georg  früher  auch  einen  sehr  freundlichen  Ver- 
kehr mit  den  literarischen  Kreisen  der  Berliner  Studentenschaft. 
Er  war  der  Protektor  eines  akademischen  Vereins,  dem  Ernst  von 
Wildenbrucb,  Otto  Franz  Gensichen,  Richard  Kahle  als  Ehrenmit- 
glieder angehörten,  und  dessen  zeitweiliger  Vorsitzender  Berthold 
Litzmann  war,  jetzt  Ordinarius  für  Literaturgeschichte  in  Bonn; 
auch  Ludwig  Ganghofer  erschien  Ende  der  siebziger  Jahre  in  diesem 
anregenden  Kreise.  Wenn  wir  unser  Stiftungsfest  begingen,  ver- 
fehlten wir  nie,  den  Prinzen  gebührend  einzuladen:  Der  Vorstand 
fuhr  dann  in  vollem  Wichs  am  Palais  in  der  Wilhelmstraße  vor 
und  wurde  hier  liebenswürdig  empfangen.  Pochenden  Herzens 
warteten  wir  jungen  Studeuten,  bis  die  Tür  sich  öffnete  und  die 
hohe  Gestalt  unseres  fürstlichen  Protektors  vor  uns  erschien.  Der 
Prinz  trug  bei  dieser  Gelegenheit  immer  seine  Ulanenuniform  mit 
den  Abzeichen  eines  Generals  der  Kavallerie:  er  geleitete  uns 
durch  eine  Flucht  von  bildergeschmtickten  Zimmern  bis  zu  jenem 
Eckzimmer  mit  dem  traulichen  Kamin,  an  dem  es  so  stimmungsvoll 
sich  plauderte.  Die  weiche,  fast  leise,  wohllautende  Stimme  des 
Prinzen  stand  in  einem  merkwürdigen  Gegensatz  zu  seiner  statt- 
lichen Erscheinung  und  der  soldatischen  Uniform.  Der  Prinz  er- 
kundigte sich  nach  der  Entwicklung  und  dem  Leben  des  Vereins 
und  nach  dem  Wohlergehen,  der  Beschäftigung  jedes  Einzelnen« 
Die  Unterhaltung  ging  bald  ins  Allgemeine  und  war  bei  dem 
meisterlichen  Erzählertalent  des  Prinzen  von  ganz  eigenem  Beiz. 
Jede  Scheu  war  gleich  nach  den  ersten  Worten   überwunden,  und 


—     1303    — 

immer  verließen  wir  das  Palais,  erfüllt  von  tiefen,  bleibenden  Ein- 
drücken. 

Der  Prinz  war  einer  der  Ersten,  die  das  Talent  Ernst  von 
Wildenbruchs  erkannten  und  förderten.  In  dem  später  abgebrann- 
ten Nationaltheater  wurde  Ende  der  siebziger  Jahre  vom  akademisch- 
literarischen  Verein  Wildenbruchs  „Menonit"  zum  ersten  Male  auf- 
geführt, und  es  ist  bekannt,  daß  der  Dichter  auch  später  noch  in 
diesem  Kreise  seine  Stücke,  denen  die  Bühne  merkwürdig  lange 
verschlossen  blieb,  zuerst  vorzulesen  pflegte.  Das  Nationaltheater 
erfreute  sich  damals  der  persönlichen  Fürsorge  des  Prinzen  Georg, 
von  dem  auch  wir  Studenten  nicht  selten  mit  einer  Einladung  in 
seine  Loge  erfreut  wurden;  in  den  Pausen  hielt  der  Prinz  dann 
Cercle  und  das  Gesehene  wurde  dann  kritisch  besprochen.  Einige 
von  uns  hatten  das  Glück,  auch  später  noch  mit  dem  Prinzen  in 
Fühlung  zu  bleiben  und  sich  seiner,  dauernden  Teilnahme  zu  er- 
freuen." 


Von  weiteren  Verlusten  gedenken  wir  des  Rechts- 
anwalts Dr.  Max  Geiger  in  Frankfurt  a.  M.,  unseres  lang- 
jährigen Fondszeichners,  der  sich  noch  kurz  vor  seinem 
Tode  um  die  Gründung  des  südwestdeutschen  Subkomitees 
hohe  Verdienste  erworben  hat  sowie  des  tüchtigen  Ge- 
lehrten Wilhelm  Cohn-Antenorid,  welcher  gerade  dabei 
war,  für  das  nächste  Jahrbuch  eine  längere  Arbeit  über 
den  Uranismus  in  China  zu  schreiben,  als  ihn  der  Tod  in 
Italien  ereilte.  Wer  ihn  näher  kannte,  wird  wissen,  daß 
mit  ihm  ein  hochstrebender  junger  Schriftsteller,  ein  selten 
guter  Mensch  und  ein  eifriger  Anhänger  unseres  Komitees 
aus  dem  Leben  geschieden  ist. 


Bei  weitem  das  bedeutsamste  Ereignis  für  die  Homo- 
sexuellen war  in  vergangenem  Jahre  der  Tod  Friedrich 
Alfred  Krupps.  Die  Umstände,  unter  denen  sich  das 
Ende  dieses  reichsten  Deutschen,  eines  der  mächtigsten 
Industriellen  der  ganzen  Welt  vollzog,  waren  derartige, 
daß  sie  die  Aufmerksamkeit  ausgedehntester  Volkskreise 
auf  die  homosexuelle  Frage  lenken  mußten. 


—     1304     — 

Man  kann  den  „Fall  Krupp"  in  drei  Abschnitte 
teilen,  den  eigentlichen  Fall,  welcher  genau  einen  Monat 
dauerte,  am  15.  November  1902  mit  dem  Artikel  des 
Vorwärts:  „Krupp  aufCapri"  begann,  in  dem  plötzlichen 
Tode  Krupps  am  22.  November  und  der  Essener  Kaiser- 
rede seinen  Höhepunkt  erreichte  und  am  15.  Dezember 
mit  der  Einstellung  des  Strafverfahrens  gegen  den  Vor- 
wärts schloß,  ferner   in  die  Vorgeschichte  des  Falls,    die 


F.  A.  Krupp, 

f  22.  November  1902. 


sich  über  Monate,  vielleicht  sogar  über  Jahre  erstreckte, 
endlich  in  das  Stadium  der  Nachwirkungen,  welches  auch 
jetzt  noch  nicht  als  völlig  beendet  anzusehen  ist. 

Bereits  seit  Jahren  liefen  die  Gerüchte  um,  Krupp 
sei  homosexuell,  sie  kursierten  nicht  nur  in  homosexuellen 
Kreisen,  wo  man  ihnen  nicht  viel  Bedeutung  hätte  bei- 
zumessen brauchen,  nicht  nur  bei  Erpressern  (Fall  Rhode), 


—    1305    — 

nicht  nur  bei  der  Berliner  Kriminalpolizei,  die  pflicht- 
gemäß von  diesen  Gerüchten  Kenntnis  nehmen  mußte, 
auch  denen,  die  aus  wissenschaftlichen  und  humanitären 
Gründen  eine  Abänderung  des  §  175  anstrebten,1)  wurden 
diese  Gerüchte  wieder  und  wieder  zugetragen,  die  schließlich 
auch  in  die  Kreise  seiner  Fraktion  (Reichspartei)  drangen, 
die  wohl  infolgedessen  auch  keine  Vertretung  zu  seiner 
Beerdigung  beorderte;  ein  politisch  dem  Verstorbenen 
nahestehendes  Blatt  die  „Hannoversche  AUgem.  Zeitung* 
schrieb  am  23.  November: 

„  . .  . .  von  seinen  (Krupps)  Freunden  mag  mancher  erleichtert 
aufatmen,  wenn  er  in  den  nächsten  Tagen  der  Gruft,  in  der  man 
Friedrich  Alfred  Krupp  beigesetzt  hat,  den  Bücken  gewandt  hat. 
—  Was  man  sich  immer  schon  zuflüsterte,  was  aber  ebenso  ängst- 
lich geheim  gehalten  wurde,  nämlich,  daß  Friedrich  Alfred  Krupp, 
wie  so  viele  hypersensible  oder  auch  übersättigte  Männer,  all- 
mählich zu  einer  krankhaften  Degeneration  des  Empfindungslebens 
gekommen  sei  und  daß  er  infolgedessen  Lebensgewohnheiten  an- 
genommen habe,  die  als  unmoralisch  angesehen  werden  müssen, 
obwohl  die  Wissenschaft  sich  längst  darüber  einig  ist,  daß  dabei 
meist  nur  von  einem  körperlichen,  nicht  unbedingt  aber  von  einem 
sittlichen  Defekt  die  Rede  sein  kann  .  . '." 

Ganz  besonders  herrschte  das  Gerücht  auf  Capri 
selbst.  Der  viel  auf  der  Insel  lebende  Reiseschriftsteller 
Karl  Böttcher  berichtete  in  einem  Zeitungsfeuilleton 
darüber  wie  folgt: 

„Nicht  erst  setzte  das  Gerücht  über  Krupp  bei  seinem  dies- 
jährigen capresischen  Aufenthalt  ein.  Es  schlich  bereits  bei  seinen 
früheren  Besuchen  ziemlich  aufdringlich  herum,  wuchs  und  gedieh 
während  der  diesjährigen  Saison  ins  Ungeheure  und  war  bald  kein 
Gerücht  mehr,  sondern  eine  allgemein  bekannte  schwere  Beschuldi- 
gung, die  als  alte  Geschichte  niemand  mehr  beachtete. 

Fragt  all  die  Fremden,  welche  sich  in  Capri  letzten  Winter 
aufhielten!  Fragt  jene  Leute,    die    sich  dort  als  deutsche  Kirchen- 

l)  Die  Unterzeichnung  der  Petition  hatte  Krupp  seiner  Zeit 
mit  der  Begründung  abgelehnt:  „er  könne  dieselbe  nicht  unter- 
schreiben, da  er  selbst  Mitglied  der  gesetzgebenden  Körperschaften 
sei,  an  welche  dieselbe  gerichtet  wäre." 


—     1306    — 

gemeinde  zusammenfanden!  Fragt  den  deutschen  Pastor!  Fragt  die 
verschiedenen  deutschen,  innerhalb  der  letzten  Saison  auf  dem 
Eiland  weilenden  pensionierten  Militärs!  Fragt  die  alten  Excellenzen! 
Fragt  alle  jene  Tausende,  die  auf  der  internationalen  Heerstraße 
einige  Zeit  auf  der  Sireneninsel  Bast  machten  —  es  war  im  brutal- 
sten Umfang  vorhanden,  dies  Gerücht. 

Dann  wuchs  es  über  die  Insel  hinaus,  setzte  nach  Neapel 
über,  wanderte  nach  Born,  wanderte  durch  ganz  Italien,  ging  über 
die  Alpen,  wuchs  und  wuchs,  ohne  daß  irgendwie  durch  energisches 
Zurückdämmen  Einhalt  geboten  wurde.  —  Die  Staatsanwaltschaft 
will  den  Urheber  ausfindig  machen:  Wie  wenn  man  nach  einem 
Wolkenbruch  nach  dem  ersten  Tropfen  recherchieren  könnte! 

Erst  nachdem  dies  Gerücht  längst  überall  herumschwirrte, 
wurde  es  von  der  neapolitanischen  „Propaganda",  die  ich  wahrlich  ■ 
nicht  verteidigen  möchte,  übernommen,  die  aber  in  den  drei  oder 
vier  Exemplaren,  wie  sie  allwöchentlich  ein  zeitungshandelnder 
Barbier  auf  der  Piazza  zu  Capri  verkauft,  ignoriert  wurde.  Ebenso 
wenig  hat  der  „Vorwärts"  die  „frivolen  und  verleumderischen 
Machenschaften"  aufgebracht  —  der  schwerste  Irrtum  bei  der 
ganzen  Sache.  Das  Berliner  Blatt  hat  nur  das  seit  Jahren  vor- 
handene umfängliche  Gerücht  im  Moment,  als  es  am  lautesten  er- 
scholl, aufgegriffen. 

So  manchen  Millionär  sah  ich  im  Lauf  der  letzten  Jahre  auf 
Capri  landen.  Nicht  etwa  dürftige  Mark-Millionäre,  gewissermaßen 
Millionär  -  Proletariat  —  nein,  hundertfache  Dollar  -  Millionäre, 
Millionär-Aristokratie,  wie  Morgan,  Bockefeller  und  dergleichen. 
Bei  keiner  dieser  finanziellen  Korpulenzen  hat  sich  Veranlassung 
geboten,  daß  die  Insel  so  schwer  verleumdet  werden  konnte,  wie 
bei  der  Anwesenheit  des  Kanonenkönigs.  —  Das  sind  in  diesem 
„Fall"  die  felsenfesten  Tatsachen. 

Nach  der  italienischen  brachte  im  Herbst  die  französi- 
sche, englische  und  amerikanische  Presse  Mitteilungen 
über  diese  Gerüchte  und  verzeichnete  die  später  wider- 
rufene Zeitungsnotiz,  es  sei  Krupp  nahegelegt  worden, 
die  Insel  zu  verlassen.  Der  Figaro  und  die  Wochenschrift 
T/Europ£en  brachten  längere  von  den  Verfassern  unter- 
zeichnete Aufsätze,  die  auf  seine  angebliche  Homo- 
sexualität Bezug  nahmen.  Am  30.  Oktober  erschien  dann 
im  Vorwärts  folgende  wenig  beachtete  Notiz: 


'    —    1307     — 

Herr  Krupp  auf  Capri.  Der  deutsche  Kanonenkönig,  dem 
seine  Unternehmerintelligenz  jährlieh  ein  Einkommen  von  einigen 
20  Millionen  abwirft,  hat  sich  auf  Capri  eine  Villa  gebaut,  wo  er 
sich  von  den  Anstrengungen  seines  Berufs  ausruht.  Herr  Krupp 
ist  bei  der  Capreser  Bevölkerung  so  sehr  beliebt,  daß  sogar  eine 
öffentliche  Straße  nach  ihm  benannt  ist 

Jetzt  geht  nun  durch  die   italienische  Presse    die   sonderbare 

Nachricht,  die  deutsche  Regierung  habe  so   heiße  Sehnsucht  nach 

ihrem  Krupp  empfunden,    daß    sie    ihn   bestimmt    habe,   Capri  für 

immer  zu  verlassen,    nach    der    deutschen  Heimat  zurückzukehren 

1  und  in  der  Villa  Hügel  sein  Leben  zu  fristen. 

Der  Geheime  Kommerzienrat  Krupp  ist  auch  Mitglied  des 
Herrenhauses.  Die  Geschichte  hat  wegen  der  rechtlichen  Frage  — 
der  merkwürdigen  angeblichen  Pression,  Capri  zu  verlassen  — 
einiges  öffentliches  Interesse.  Und  wir  machen  deshalb  die  deutsche 
Regierung  auf  die  Behauptungen  der  italienischen  Presse  aufmerk- 
sam, um  ihr  Gelegenheit  zu  geben,  sie  richtig  zu  stellen. 

Die  ersten  deutlichsten  Hinweise  brachte  am  8.  Nov. 
ein  verbreitetes  Zentrumsblatt,  die  Augsburger  Postzeitung, 
welches  schrieb: 

Rom,  6.  November.  Schon  seit  Jahren  zirkulieren  in  Italien 
Gerüchte,  daß  Capri,  die  schöne  Insel  im  Golf  von  Neapel,  ein 
wahres  Sodom  für  gewisse  Laster  geworden  sei.  Jetzt  hat  sich  die 
sozialdemokratische  Presse  der  Angelegenheit  angenommen.  Leider 
ist  in  die  Angelegenheit  der  Name  eines  deutschen  Großindustriellen 
von  bestem  Klang,  dessen  enge  Beziehungen  zum  Kaiserhof  bekannt 
sind,  aufs  engste  verwickelt.  Der  „Avanti",  der  römische  „Vor- 
wärts", bringt  unter  der  Spitzmarke:  „Die  Skandale  in  Capri", 
einen  größeren  Artikel,  der  den  deutschen  Großindustriellen  aufs 
schwerste  kompromittiert  und  ein  Einschreiten  der  italienischen  Re- 
gierung fordert,  welche  zwar  informiert  sei,  aber  sich  blind  stelle. 

Alle  diese  Publikationen  erfolgten,  ohne  daß  die  Be- 
hörden oder  Krupp  selbst  dagegen  einschritten,  da  er- 
schien am  15.  November  der  Aufsehen  erregende  Vorwärts- 
artikel, mit  welchem  der  eigentliche  „Fall  Krupp"  einsetzte. 
Derselbe  hatte  folgenden  Wortlaut: 

Krupp  auf  Capri.  Seit  Wochen  ist  die  ausländische  Presse 
voll  von  ungeheuerlichen  Einzelheiten  über  den  „Fall  Krupp".  Die 
deutsche  Presse  dagegen  verharrt  in  Schweigen.  Wir  haben  vor 
einiger  Zeit  die  Angelegenheit  angedeutet,  mochten  sie  aber  nicht 


—    1308    — 

näher  erörtern,  ehe  uns  nicht  ganz  einwandfreie  und  vollständige 
direkte  Informationen  zur  Verfügung  standen.  Nunmehr  aber  muß 
der  Fall  in  der  Öffentlichkeit  mit  der  gebotenen  ernsten  Vorsicht 
erörtert  werden,  da  er  nicht  nur  ein  kapitalistisches  Kultlirbild 
krassester  Färbung  bietet,  sondern  auch  vielleicht  den  Anstoß  gibt, 
endlich  jenen  §  175  aus  dem  deutschen  Strafgesetzbuch  zu  ent- 
fernen, der  nicht  nur  das  Laster  trifft,  sondern  auch  unglückselige 
Veranlagung  sittlich  fühlender  Personen  zu  ewiger  Furcht  ver- 
dammt und  sie  zwischen  Gefängnis  und  Erpressung  in  endloser 
Bedrohung  fest  hält. 

Der  Geheime  Kommerzienrat  Krupp,  Mitglied  des  preußischen  ' 
Herrenhauses,  der  reichste  Mann  Deutschlands,  dessen  jährliches 
Einkommen  seit  den  Flottenvorlagen  auf  25  und  mehr  Millionen 
gestiegen  ist,  der  über  50000  Arbeiter  und  Angestellte  in  seinen 
Betrieben  unterhält,  in  denen  das  Zentrum  der  völkermordenden 
Kriegstechnik  liegt,  —  Herr  Krupp,  den  die  fremden  Fürsten  und 
Staatsmänner  zu  besuchen  pflegen,  wenn  sie  Deutschland  durch- 
reisen, gehört  zu  jenen  Naturen,  für  die  der  §  175  eine  stete  Qual 
und  Bedrohung  bedeuten  würde,  wenn  nicht  auf  diesem  Gebiete 
die  Gerechtigkeit  in  Anerkennung  der  Bedenklichkeit  der  gesetzlichen 
Bestimmung  die  Binde  nur  selten  von  den  Augen  nimmt. 

Unter  dem  Einfluß  der  kapitalistischen  Macht  kann  eine  un- 
glückliche Veranlagung,  die  den  Besitzlosen  niederdrückt  oder  gar 
zerschmettert,  zu  einem  furchtbaren  Quell  der  Korruption  werden, 
die  dann  aus  einem  persönlichen  Schicksal  eine  öffentliche  Ange- 
legenheit gestaltet. 

Es  ist  bekannt,  daß  Herr  Krupp  seit  einiger  Zeit  auf  Capri, 
der  Insel  des  Kaisers  Tiberius,  am  Südeingang  zum  Golf  von 
Neapel,  eine  Villa  besaß.  In  den  illustrierten  Blättern  des  Scheri- 
schen Betriebs  konnte  man  Bilder  sehen,  die  bewiesen,  daß  der 
Mann  auch  in  seiner  Capri-Muße  nicht  rastete,  sondern  als  Wege- 
baumeister wunderbare  Straßen  aufführen  ließ  und  sonst  seinen 
Unternehmerfleiß  rastlos  betätigte.  Aber  Herr  Krupp  hatte  sich 
nicht  Capri  gewählt,  um  die  Insel  mit  Straßen  zu  beglücken,  sondern 
weil  das  italienische  Strafgesetzbuch  keinen  besonderen  §  175  kennt. 

In  seiner  verschwenderisch  ausgestatteten  Villa  —  wir  geben 
nur  einige  der  notwendigsten  Einzelheiten  wieder,  die  unser  italie- 
nischer Korrespondent  uns  berichtet  —  huldigte  er  mit  den  jungen 
Männern  der  Insel  dem  homosexuellen  Verkehr. 

Die  Korruption  war  bis  zu  einer  solchen  Höhe  gediehen,  daß 
man  bei  einem  Photographen  von  Capri  gewisse  nach  der  Natur 
aufgenommene  Bilder  sehen  konnte.    So  war  die  Insel  Capri,  wo 


-    1309    — 

das  Geld  Krupps  das  hierzu  nötige  moralische  Terrain  vorbereitet 
hatte,  ein  Centrum  homosexuellen  Verkehrs  geworden.  Die  neapoli- 
tanische Presse  wußte  darum,  aber  sie  schwieg. 

Man  erzählt,  daß  im  Vorjahre  der  „Matino"  —  das  Organ  der 
Camorra,  das  gegenwärtig  vor  den  neapolitanischen  Richtern  steht 
—  folgendes  publiziert  habe:  „Auf  der  Insel  Capri  ist  jetzt  Herr 
Krupp,  der  König  der  Kanonen  und  der  „Capitoni",  angekommen." 
Einige  Tage  darauf  kam  der  Redakteur  des  Blattes,  Scarfoglio,  mit 
einer  Dirne  nach  Capri  und  nach  dieser  Zeit  hat  der  „Matino"  den 
Mund  über  die  „Capitoni"  nicht  mehr  aufgetan,  er  veröffentlichte 
nur  noch  Lobeserhebungen  über  Krupp.  Auch  die  italienischen 
Behörden  wußten  von  den  Vorgängen,  aber  man  nahm  Rücksicht 
auf  den  König  der  Kanonen. 

Wie  weit  das  Kriechen  vor  Krupp  ging,  dafür  ein  Beispiel:  Als 
kürzlich  der  Ministerpräsident  Capri  besuchte,  riet  ihm  der  Bürger- 
meister der  Insel  an,  dem  Herrn  Krupp  ein  Begrüßungs-  und  Glück- 
wunschtelegramm zu  senden. 

Schließlich  wurde  der  Skandal  denn  doch  zu  groß  und  der 
Minister  des  Innern  sandte  im  geheimen  einen  Inspektor  der  öffent- 
lichen Sicherheit  nach  Capri,  der  eine  Untersuchung  anzustellen 
hatte.    Das  geschah  ohne  Wissen  der  Lokalbehörden. 

Auf  die  Ergebnisse  dieser  Untersuchung  hin  wurde  Herr  Krupp 
ersucht,  die  Insel  für  immer  zu  verlassen. 

Die  „Propaganda"  (das  sozialistische  Organ  von  Neapel),  welche 
diese  Dinge  an  die  Öffentlichkeit  gezogen  hat,  verlangt,  daß  der 
Bericht  über  die  Untersuchung  den  Justizbehörden  ausgeliefert 
werde,  aber  das  ist  bisher  nicht  geschehen.  . 

Auf  die  Rechtslage  des  Falles  wollen  wir  vorläufig  nicht  ein- 
gehen. Das  grauenhafte  Bild  kapitalistischer  Beeinflussung  wird 
dadurch  nicht  sonderlich  milder,  daß  man  weiß,  es  handelt  sich  um 
einen  pervers  veranlagten  Mann.  Denn  das  Mitleid,  das  das  Opfer 
eines  verhängnisvollen  Natur-Irrtums  verdient,  muß  versagen,  wenn 
die  Krankheit  zu  ihrer  Befriedigung  Millionen  in  ihre  Dienste  stellt. 
Insoweit  gibt  es  keine  ausreichende  Entschuldigung  für  den  Mann. 

Gleichwohl  bietet  der  Fall  für  die  deutsche  Gesetzgebung  ein 
hohes  Interesse.  So  lange  Herr  Krupp  in  Deutschland  lebt,  ist  er 
den  Strafbestimmungen  des  §  175  verfallen.  Nachdem  die  Perversität 
zu  einem  öffentlichen  Skandal  geführt  hat,  wäre  es  die  Pflicht  der 
Staatsanwaltschaft,  sofort  einzugreifen.  Vielleicht  erwägt  man  jetzt, 
um  diesen  das  Rechtsgefühl  verletzenden  Widerspruch  zwischen 
Gesetz  und  Anwendung  des  Rechtes  zu  beseitigen,  die  Beseitigung 
des  §  175,    der   das  Laster  nicht  ausrottet,   aber   das  Unglück  zur 


—    1310    — 

furchtbaren  Qual  verschärft    Von  sozialdemokratischer  Seite  ist  ja 
im  Reichstag  mehrfach  auf  eine  solche  Beform  gedrungen. 

Krupp  stellte  auf  eine  von  Berlin  aus  an  ihn  ge- 
richtete telegraphische  Anfrage  noch  am  Tage  der  Ver- 
öffentlichung bei  der  Staatsanwaltschaft  des  Berliner 
Landgerichts  I  Strafantrag  gegen  den  Vorwärts  wegen 
Beleidigung,  die  Nummer  wurde  polizeilich  beschlagnahmt. 
Während  die  gesamte  deutsche  Presse  zu  diesen  Vor- 
gängen Stellung  nimmt,  eine  Reihe  anderer  Zeitungen  in 
Dortmund,  Düsseldorf,  Hannover  etc.  wegen  Abdruck 
des  Artikels  unter  Strafverfolgung  gesetzt  und  ver- 
schiedentlich Haussuchungen  in  Redaktionsräumen  abge- 
halten werden,  während  überall  die  Frage  erörtert  wird, 
ob  die  Behauptungen  des  Vorwärts  auf  Wahrheit  beruhen 
oder  nicht,  ob  derselbe  „aus  antikapitalistischen  Motiven* 
gehandelt  habe  oder,  um  an  Hand  eines  „ Schulfalls" 
die  Unhaltbarkeit  des  §  175  klar  zu  legen,  erfolgte  am 
22.  November  die  überraschende  Nachricht  vom  Tode 
Krupps.  Das  offiziöse  Telegraphenbureau  teilt  dieselbe 
in  folgender  Form  mit: 

Villa  Hügel,  22.  November.  Exzellenz  Krupp  ist  heute  nach- 
mittag 3  Uhr  gestorben.  Der  Tod  ist  infolge  eines  heute  früh 
6  Uhr  eingetretenen  Gehirnschlags  erfolgt. 

Es  wurde  noch  mitgeteilt,  seine  letzten  Worte  seien 
gewesen,  daß  er  ohne  jeden  Groll  aus  der  Welt  scheide. 
Der  Verstorbene,  der  obwohl  äußerlich  kräftig  aussehend, 
stets  von  schwächlicher  Körperkonstitution  und  vielfach 
kränklich  war,  hatte  nur  ein  Alter  von  48  Jahren  erreicht. 

Unmittelbar  nach  dem  Eintreffen  der  plötzlichen 
Todeskunde  wurden  auf  allen  Seiten  Zweifel  laut,  ob  die 
amtlichen  Angaben  über  die  Art  des  Hinscheidens  wohl  der 
Wahrheit  entsprächen,  selbst  ein  Krupp  so  nahestehendes 
Organ,  wie  die  „Kölnische  Zeitung"  schrieb  in  ihrem 
Nachruf: 

„Die  Nachricht,  daß  F.  A.  Krupp  plötzlich  aus  dem  Leben  ge- 
schieden  ist,  wirkt  erschütternd,   wenn   man  sie  in  das  licht   der 


—     1311    — 

Beschuldigungen  rückt,  die  in  diesen  Tagen  gegen  ihn  in  der 
sozialdemokratischen  Presse  erhoben  worden  sind.  Haben  ihn  die 
Erregung  und  die  Erbitterung  über  nichtswürdige  Verleumdungen 
gefällt,   hat  er  sich  selbst  im  Bewußtsein   einer  Schuld  gerichtet?" 

Diese  Zweifel  verstärkten  sich  wesentlich,  als  trotz 
des  allgemeinen  Wunsches  eine  Sektion  der  Leiche  nicht 
vorgenommen  und  das  Ergebnis  der  ärztlichen  Toten- 
schau nicht  veröffentlicht  wurde.  Die  Beerdigung  am 
26.  November  gestaltete  sich  zu  einer  großartigen  Trauer- 
kundgebung. Über  20000  Teilnehmer  befanden  sich  im 
Gefolge,  darunter  der  Kriegs-,  Eisenbahn-,  Handels- 
minister, der  Staatssekretär  der  Marine,  und  vor  allem 
der  deutsche  Kaiser,  dessen  Kranz  die  Inschrift  trug: 
„ Meinem  besten  Freunde.  Wilhelm."  Vor-  und  nach 
den  Beisetzungsfeierlichkeiten  suchte  sich  der  Kaiser  zu 
informieren,  ob  an  den  Gerüchten  etwas  Wahres  sei.  Man 
versicherte  ihm  das  Gegenteil.  Krupp  sei  eine  unge- 
wöhnlich weiche,  zartfühlende  Natur  gewesen,  die  alles 
sexuelle  förmlich  perhorresziert  habe,  er  sei,  wie  man  sich 
ärztlicherseits  ausdrückte,  „asexuell"  gewesen;  namentlich 
die  Auskünfte  des  Superintendenten  Klingemann  erfüllten 
den  Kaiser  mit  Entrüstung  und  sichtlichem  Unwillen. 
Die  Trauerreden,  welche  der  Superintendent  und  der 
Vorsitzende  des  Kruppschen  Direktoriums  dem  Ver- 
storbenen am  Grabe  widmeten,  hatten  den  Kaiser  aufs 
tiefste  erschüttert.     Der  Geistliche  sagte  u.  a.: 

„Ein  vor  Gott  und  Menschen  wertvolles  Leben  ist  es,  das  hier 
dahingegangen  ist  Auf  eine  einzig  dastehende  Höhe  hat  das 
Schicksal  diesen  Mann  gestellt.  Der  Name  Krupp  ist  ein  Ehren- 
denkmal deutscher  Schaffenskraft.  Die  ihm  eigene  Bescheidenheit 
stellte  seine  eigene  Persönlichkeit  in  Schatten,  aber  er  hat  mit  Um- 
sicht und  Kraft  das  Erbe  verwaltet,  das  unter  ihm  zu  beispielloser 
Höhe  gediehen  ist.  Es  ist  für  uns  alle  ein  unerträglicher  Gedanke, 
daß  der  ruhmreiche  Name  von  Bosheit  und  Lüge  konnte  angetastet 
werden.  Krupp  war  ein  Mensch  von  besonders  zartem  sittlichen 
Empfinden,  von  Lauterkeit  und  Schlichtheit,  von  liebreichem  Herzen 
gegen  Untergebene   und  Mitarbeiter,    ein   treuer  Freund  und  hülf- 


—    1312    — 

bereiter  Wohltäter  vieler  Tausenden,  ein  opferwilliger  Bürger  des 
deutschen  Vaterlandes  und  der  Stadt.  Was  die  städtischen  und 
die  kirchlichen  Gemeinden  ihm  zu  danken  haben,  was  er  den  Alten 
und  Schwachen  in  seiner  Lieblingsstiftung,  dem  Altenhof,  getan, 
davon  legen  ungezählte  Kundgebungen  beredtes  Zeugnis  ab.  Aber 
die  menschliche  Dankbarkeit  kommt  immer  zu  spät,  sie  hat  nur  noch 
den  Abend  vor  seinem  Hinscheiden  erfreuen  können,  die  Nachricht 
von  der  geplanten  imposanten  Kundgebung  seiner  Arbeiterschaft. 
Es  widerstrebt  uns,  an  dieser  Stätte  des  Friedens  derer  zu  gedenken, 
die  ihm  so  bitter  weh  getan.  Es  wird  uns  schwer,  daß  unsere 
Klage  nicht  zur  Anklage  wird.  Aber  wir  freuen  uns,  an  dieser 
Stätte  der  letzten  Worte  des  Verstorbenen  gedenken  zu  können: 
„loh  scheide  ohne  Groll  und  Bitterkeit  gegen  alle  Menschen,  auch 
die,  die  mir  das  schlimmste  angetan."  Das  ist  der  Geist  Jesu,  der 
aus  diesen  Worten  spricht.  Mit  ihm  lassen  wir  Gott  Richter  sein. 
Wir  gedenken  an  ihn  als  den,  der  seinen  guten  Namen  vor  dem 
deutschen  Volke  rein  gehalten  hat.  Des  Reiches  Haupt,  unser 
kaiserlicher  Herr,  hat  es  sich  nicht  nehmen  lassen,  durch  sein  Er- 
scheinen zu  zeigen,  daß  ihm  in  dem  Verstorbenen  ein  treuer  Freund 
dahingegangen  ist." 

Nach  dem  Prediger  ergriff  sogleich  Herr  Landrat  a.  D. 
Köttger  das  Wort  und  widmete  namens  der  Werks- 
angehörigen dem  Verblichenen  einen  ergreifenden  Nach- 
ruf, welcher  mit  folgenden  Wort  schloß: 

„Es  wird  einem  jeden  von  uns  das  Herz  warm  bei  der  Er- 
innerung an  die  Freundlichkeit,  Liebenswürdigkeit  und  die  Güte 
des  Herrn,  die  jeder  von  uns  an  seinem  Teile  von  ihm  persönlich 
empfangen  hat.  Welch  furchtbares  Verhängnis,  daß  diesem  Manne 
unter  den  Großindustriellen  gerade  dieses  furchtbare  Unrecht  ge- 
schehen mußte.  Sr.  Majestät,  dem  Kaiser  und  König,  unserem 
allergnädigsten,  vielgeüebten  Herrn  schulden  wir  unvergeßlichen, 
heißen  Dank  dafür,  daß  Allerhöchstderselbe  durch  die  heutige  hoch- 
herzige Ehrung  der  richtigen  Würdigung  unseres  Verstorbenen  die 
Wege  geebnet  haben.  Wir  dürfen  hier  diesem  Danke  ehrfurchts- 
vollen Ausdruck  verleihen.  Wir,  die  wir  ihn  gekannt  haben,  wir 
wissen,  daß  wir  heute  der  Reinsten  und  Edelsten  einen  zur  letzten 
Ruhe  bestatteten,  geschmäht  und  verleumdet  nur  von  solchen,  die 
ihn  überhaupt  nicht  gekannt  haben.  Wir  wissen,  seine  sittliche 
Größe  kann  nicht  getroffen  werden  von  dem  Schmutz,  mit  dem 
niedrige  Gesinnung  und  Parteihaß  ihn  bewarfen.  Eine  Schande  für 
unser  Deutschland,  daß  Deutsche  sich  erniedrigen  konnten,  gemeine 


—    1313    — 

ausländische  Erfindungen  gegen  einen  Zeitgenossen  von  seiner  Be- 
deutung zu  schleudern.  Ein  Mann  von  Bedeutung,  ein  Mann  von 
großen  Erfolgen,  ein  Mann  von  Herz,  ein  Mann  von  vornehmer  Ge- 
sinnung, ein  Mann  von  größter  Pflichttreue,  ein  Mann  von  der 
glühendsten  Begeisterung  für  seinen  Kaiser  und  das  Vaterland,  so 
hat  er  unter  uns  gelebt,  und  so  wird  sein  Andenken  unter  uns 
allen  fortleben." 

Seinem  eigenen  Unmut  und  Schmerz  gab  der  Kaiser 
wenige  Minuten  nach  diesem  Trauerakt  in  einer  Rede 
Ausdruck,  die  sich  zu  einem  hochpolitischen  bedeut- 
samen Dokument  gestaltete.  Das  amtliche  fWolffsche) 
Telegramm  berichtete  darüber  wie  folgt: 

Vor  der  Abreise  von  Essen  hat  der  Kaiser  die  Mitglieder  des 
Direktoriums  und  die  Vertreter  der  Arbeiterschaft  der  Kruppschen 
Werke  in  einem  Wartesaal  des  Bahnhofes  um  sich  versammelt  und 
nachstehende  Anrede  an  dieselben  gehalten: 

„Es  ist  mir  ein  Bedürfnis,  Ihnen  auszusprechen,  wie  tief  ich  in 
meinem  Herzen  durch  den  Tod  des  Verewigten  ergriffen  worden 
bin.  Dieselbe  Trauer  läßt  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  und  Königin 
Ihnen  Allen  aussprechen  und  hat  sie  das  auch  bereits  schriftlich  der 
Frau  Krupp  zum  Ausdruck  gebracht.  Ich  habe  häufig  mit  meiner 
Gemahlin  die  Gastfreundschaft  im  Kruppschen  Hause  genossen  und 
den  Zauber  der  Liebenswürdigkeit  des  Verstorbenen  auf  mich  wirke* 
lassen.  Im  Laufe  der  letzten  Jahre  haben  sich  unsere  Beziehungen 
so  gestaltet,  daß  ich  mich  als  einen  Freund  des  Verewigten  und 
seines  Hauses  bezeichnen  darf.  Aus  diesem  Grunde  habe  ich  es 
mir  nicht  versagen  wollen,  zu  der  heutigen  Trauerfeier  zu  erscheinen, 
indem  ich  es  für  meine  Pflicht  gehalten,  der  Witwe  und  den  Töchtern 
meines  Freundes  zur  Seite  zu  stehen. 

Die  besonderen  Umstände,  welche  das  traurige  Ereignis  be- 
gleiteten, sind  mir  zugleich  Veranlassung  gewesen,  mich  als  Ober- 
haupt des  Deutschen  Reiches  hier  einzufinden,  um  den  Schild  des 
Deutschen  Kaisers  über  dem  Hause  und  dem  Andenken  des  Ver- 
storbenen zu  halten.  Wer  den  Heimgegangenen  näher  gekannt  hat, 
wußte,  mit  welcher  feinfühligen  und  empfindsamen  Natur  er  begabt 
war,  und  daß  diese  den  einzigen  Angriffspunkt  bieten  konnte,  um 
ihn  tötlich  zu  treffen.  Er  ist  ein  Opfer  seiner  unantastbaren  Inte- 
grität geworden.  Eine  Tat  ist  in  deutschen  Landen  geschehen,  so 
niederträchtig  und  gemein,  daß  sie  aller  Herzen  erbeben  gemacht 
und  jedem  deutschen  Patrioten  die  Schamröte  auf  die  Wange 
treiben  mußte   über   die  unsrem  ganzen  Volke  angetane  Schmach. 


—     1314    — 

Einem  kerndeutschen  Manne,  der  stets  nur  für  andre  gelebt,  der 
stets  nur  das  Wohl  des  Vaterlandes,  vor  allem  aber  das  seiner  Ar- 
beiter im  Auge  gehabt  hat,  hat  man  an  seine  Ehre  gegriffen,  diese 
Tat  mit  ihren  Folgen  ist  weiter  nichts  als  Mord;  denn  es  besteht 
kein  Unterschied  zwischen  demjenigen,  der  den  Gifttrank  einem 
andern  mischt  und  kredenzt,  und  demjenigen,  der  aus  dem  sichern 
Versteck  seines  Redaktionsbureaus  mit  den  vergifteten  Pfeilen  seiner 
Verleumdungen  einen  Mitmenschen  um  seinen  ehrlichen  Namen 
bringt  und  ihn  durch  die  hierdurch  hervorgerufenen  Seelenqualen 
tötet.  Wer  war  es,  der  diese  Schandtat  an  unsrem  Freunde  beging? 
Männer,  die  bisher  als  Deutsche  gegolten  haben,  jetzt  aber  dieses 
Namens  unwürdig  sind,  hervorgegangen  aus  eben  der  Klasse  der 
deutschen  Arbeiterbevölkerung,  die  Krupp  so  unendlich  viel  zu 
verdanken  hat,  und  von  der  Tausende  in  den  Straßen  Essens  heute 
mit  tränenfeuchtem  Blick  dem  Sarge  ihres  Wohltäters  ein  letztes 
Lebewohl  zuwinkten. 

(Zu  den  Vertretern  der  Arbeiter  gewendet.) 

Ihr  Kruppschen  Arbeiter  habt  immer  treu  zu  Eurem  Arbeit- 
geber gehalten  und  an  ihm  gehangen,  Dankbarkeit  ist  in  Eurem 
Herzen  nicht  erloschen;  mit  Stolz  habe  ich  im  Auslande  überall 
durch  Eurer  Hände  Werk  den  Namen  unsres  deutschen  Vaterlandes 
verherrlichtjgesehen.  Männer,  die  Führer  der  deutschen  Arbeiter 
sein  wollen,  haben  Euch  Euren  teuren  Herrn  geraubt.  An  Euch 
ist  es,  die  Ehre  Eures  Herrn  zu  schirmen  und  zu  wahren  und  sein 
Andenken  vor  Verunglimpfungen  zu  schützen.  Ich  vertraue  darauf, 
daß  Ihr  die  rechten  Wege  finden  werdet,  der  deutschen  Arbeiter- 
schaft fühlbar  und  klar  zu  machen,  daß  weiterhin  eine  Gemeinschaft 
oder  Beziehungen  zu  den  Urhebern  dieser  schändlichen  Tat  für 
brave  und  ehrliebende  deutsche  Arbeiter,  deren  Ehrenschild  befleckt 
worden  ist,  ausgeschlossen  sind.  Wer  nicht  das  Tischtuch  zwischen 
sich  und  diesen  Leuten  zerschneidet,  legt  moralisch  gewissermaßen 
die  Mitschuld  auf  sein  Haupt.  Ich  hege  das  Vertrauen  zu  den 
deutschen  Arbeitern,  daß  sie  sich  der  vollen  Schwere  des  Augen- 
blicks bewußt  sind  und  als  deutsche  Männer  die  Lösung  der  schweren 
Frage  finden  werden." 

Der  Vorwärts  betonte  in  der  Besprechung  dieser 
Kede  vor  allem,  daß  der  Kaiser  „unmöglich  den  der 
Beschlagnahme  verfallenen  Artikel  selbst  gelesen  haben 
könne",  die  Erörterung  des  Falls  sei  nicht  aus  politischen 
Gründen,  sondern  „ einer  strafrechtlichen  Keform  zu 
Liebe"  begonnen.     Das  Centralorgan  fährt  dann,  fort: 


—     1315    — 

„Wir  wollten  an  dem  Falle  eines  besonders  bekannten  Namens 
die  Notwendigkeit  der  Aufhebung  jenes  §  175  erweisen,  der  für 
viele  Unglückliche  eine  stete  Geißel  ist,  der  nicht  nur  das  Laster 
den  Erpressern  und  den  Richtern  ausliefert,  sondern  auch  das  Ver- 
hängnis eines  Naturirrtums  ewig  bedroht  und,  wie  wissenschaftlich 
feststeht,  eine  furchtbare  Zahl  von  Selbstmorden  verursacht  hat  — 
die  Beseitigung  einer  gesetzlichen  Bestimmung,  die  überdies  einen 
klaffenden  Widerspruch  des  geschriebenen  Gesetzes  und  seiner 
Anwendung  zur  Folge  hat  und  den  Willen  der  Polizei  zum  Schicksal 
über  zahlreiche  Existenzen  macht.  Darum  erwähnten  wir  den  Fall, 
darum  machten  wir  darauf  aufmerksam,  daß  in  Deutschland  solche 
Personen  der  Willkür  des  Paragraphen  rettungslos  ausgeliefert  seien. 

Wir  haben  diese  Tendenz  nicht  etwa  nur  ausgesprochen,  um 
die  Skandalsucht  zu  maskieren.  Das  ist  die  ekelhafte  Lüge  jener 
Preßpiraten,  deren  Phantasie  zwar  nach  unserer  Veröffentlichung 
sich  lediglich  in  der  Erfindung  schmutziger  Kalauer  betätigte,  die 
aber  dann  um  so  wüster  in  den  Chor  der  Empörten  brüllend  ein- 
stimmten. Eis  war  in  der  Tat  kein  Vorwand,  sondern  die  wirkliche 
Absicht  und  die  unmittelbare  Veranlassung.  Wir  sind  sogar  in  der 
seltenen  Lage,  in  der  Gerichtsverhandlung,  von  der  wir  annehmen, 
daß  sie  in  der  freiesten  Öffentlichkeit  geführt  werden  wird,  den 
zwingenden  Beweis  für  die  Reinheit  unsrer  Motive  und  die  wahre 
Absicht  unsres  Vorgehens  zu  erbringen. 

Haben  wir  somit,  wie  selbst  von  bürgerlichen  Blättern  anerkannt 
worden  ist,  alles  vermieden,  was  nur  entfernt  wie  persönliche  Be- 
schimpfung und  skandalsüchtige  Sensation  wirken  konnte  —  leider 
hat  die  Konfiskation  uns  die  Möglichkeit  genommen,  durch  ein- 
fachen Abdruck  des  Artikels  die  weitere  Öffentlichkeit  über  die 
Schamlosigkeit  der  bürgerlichen  Presse  aufzuklären  — ,  so  ist  es 
auch  falsch,  daß  wir  leichtsinnig  und  allzu  eilfertig  unkontrollierten, 
von  italienischen  Erpressern  aufgebrachten  Gerüchten  Glauben 
geschenkt  haben.  Unsere  Kenntnis  der  Angelegenheit  beruht  im 
wesentlichen  nicht  auf  italienischen  Gewährsmännern  —  soweit  wir 
italienische  Quellen  benutzt  haben,  sind  wir  durchaus  zuverlässigen 
und  ernsthaften  Männern  gefolgt  — ,  sondern  wir  haben  sie  ge- 
schöpft aus  gänzlich  anders  gearteten  lauteren  Quellen,  die  abseits 
jeder  Parteileidenschaft,  jedes  persönlichen  Interesses,  jedes 
politischen  Hasses  fließen. 

Und  auf  Grund  dieser  Informationen  stellen  wir  mit  ruhiger, 
fester  Überzeugung  als  unumstößlich  die  volle  Wahrheit  unsrer 
Andeutungen  fest.  Das  ist  und  das  soll  keine  gehässige  Be- 
schimpfung sein,   sondern  die  nüchterne,   wissenschaftliche,  ruhige 

Jahrbuch  V.  83 


—    1316    — 

und  zuverlässige  Konstatierung  einer  für  die  Gesetzgebung  bedeut- 
samen Erscheinung.  Und  weil  wir  nicht  den  mindesten  Anlaß 
haben,  an  der  unbedingten  Zuverlässigkeit  und  Unbefangenheit 
unsrer  Gewährsmanner  zu  zweifeln,  darum  ziehen  wir  die  notwendige 
Folgerung:  Wenn  es  wahr  ist,  daß  das  tragische  Ende  Krupps 
mit  den  seit  zwei  Monaten  bekannten  Veröffentlichungen  irgendwie 
zusammenhängt,  dann  ist  er  nicht  das  Opfer  einer  boshaften  Ver- 
leumdung, sondern  eines  der  vielen  Opfer  des  §  175  geworden.", 

Durch  die  Bede  des  Kaisers  in  Essen,  die  einer  so 
edlen  Aufwallung  entsprang,  war  der  Fall  Krupp  in  ein 
politisches  Fahrwasser  geraten,  wofür  er  von  vorneherein 
so  wenig  geeignet  schien.  Dieser  politische  Charakter 
kam  in  äußerst  heftigen  Angriffen  gegen  die  sozialdemo- 
kratische Presse  und  Partei,  in  zahlreichen  Kundgebungen 
seitens  der  Arbeiter  an  den  Kaiser,  auch  in  Entlassungen 
von  Arbeitern,  die  sich  an  den  Huldigungsadressen  nicht 
beteiligen  wollten,  in  einer  nochmaligen  Rede  des  Kaisers 
gegen  die   Sozialdemokratie    in   Breslau    zum  Ausdruck. 

Allgemein  sah  man  dem  Prozeß  gegen  den  Vorwärts 
mit  größter  Spannung  entgegen,  man  erwartete  eine  schwere 
Bestrafung  des  verantwortlichen  Redakteurs,  als  am 
15.  Dezember  das  Verfahren  gegen  den  Vorwärts  und 
die  übrigen  Blätter  eingestellt,  die  Beschlagnahme  des 
Artikels  wieder  aufgehoben  wurde.  Wie  der  Oberstaats- 
anwalt Dr.  Isenbiel  mitteilte,  hatte  die  Witwe  des  Ver- 
storbenen, Frau  Krupp,  erklärt,  „daß  sie,  durchdrungen 
von  der  Gewißheit  der  Schuldlosigkeit  ihres  Gatten,  Wert 
darauf  lege,  daß  der  Streit  um  den  Verstorbenen  in  der 
Öffentlichkeit  möglichst  zur  Ruhe  komme.  Es  sei  ihr 
deshalb  an  der  gerichtlichen  Bestrafung  der  Urheber  und 
Verbreiter  der  Gerüchte  nichts  mehr  gelegen". 

Der  Vorwärts  bemerkte  hierzu: 

„Wir  nehmen  die  Einstellung  des  Verfahrens  mit  derselben 
Gelassenheit  auf,  mit  der  wir  seine  Eröffnung  erfuhren.  Wir  waren 
auf  diesen  Ausgang  gefaßt.  Er  war  die  einzig  mögliehe  Lösung. 
Ja  mehr:  Wir  teilen  auch  die  Empfindungen  der  Witwe   des  Ver- 


—    1317    — 

storbenen,  und  es  befriedigt  uns  menschlich,  daß  wir  der  Notwendig- 
keit enthoben  sind,  einen  Toten  vor  Gericht"  zu  ziehen.  Der  Fall 
Krupp  im  engeren  Sinne  ist  für  uns  erledigt". 

Weiter  beißt  es  dann  noch: 

„Um  des  §  175  willen  hatten  wir  den  Fall  Krupp  erörtert.' 
Wahrhaft  erschütternde  Bekenntnisse  von  Personen,  die  unter  der 
Geißel  des  §  175  litten  und  die  uns  aus  Anlaß  unserer  Veröffent- 
lichung zugingen,  haben  unsere  Überzeugung  von  der  Notwendig- 
keit seiner  Beseitigung  oder  Änderung  noch  bestärkt.  Wir  erwarten, 
daß  trotz  der  Vereitelung  des  Prozesses,  der  Fall  Krupp  bei  der 
bevorstehenden  Revision  des  Strafgesetzbuchs  nicht  vergessen 
sein  wird." 

Außerordentlich  groß  war  die  Verblüffung  und  die 
Enttäuschung  der  bürgerlichen  Presse  über  den  Entschluß 
des  Oberstaatsanwalts  und  seine  Begründung.  Niemand 
wollte  so  recht  glauben,  daß  die  Durchführung  des  Straf- 
verfahrens, in  einem  Falle  der  den  Charakter  einer  Haupt- 
und  Staatsaktion  angenommen  hatte,  „nicht  mehr  als  im 
öffentlichen  Interesse  liegend"  anzusehen  sei.  Wir  greifen 
auch  hier  aus  vielen  eine  charakteristische  Preßäußerung 
heraus. 

Die  Vossische  Zeitung  bemerkte: 

„Unter  den  vielen  Mißgriffen,  welche  in  dieser  Affaire  gemacht 
sind  —  so  insbesondere,  daß  die  Arzte  verabsäumten,  ein  genaues 
Protokoll  über  die  Todesursache  bei  Krupp  aufzunehmen  und  zu 
veröffentlichen,  —  ist  die  erfolgte  Einstellung  des  Verfahrens  gegen 
den  „Vorwärts"  die  bedauerlichste.  Diese  Entscheidung  wird  alle 
Welt  überrascht  haben.  Denn  man  sollte  meinen,  wenn  irgendwo 
ein  öffentliches  Interesse  vorgelegen  hätte,  dem  Strafantrage  Folge 
zu  geben,  nicht  sowohl  um  eine  Strafe  auszuwirken,  auf  die  es  gar 
nicht  ankam,  als  vielmehr  eine  Beschuldigung  zu  widerlegen,  so 
wäre  es  hier  der  Fall,  zumal  nach  den  bedeutsamen  Kundgebungen, 
die  sich   an  die  Veröffentlichung  des  „Vorwärts"   und   den  Tod 

Krupps  geknüpft  hatten Welche  Wirkungen  muß  nicht  die 

Einstellung  des  Verfahrens  gegenwärtig  haben?  Die  beschlagnahmten 
Nummern  des  „Vorwärts"  können  fortan  wieder  verbreitet,  der 
Artikel  kann  mit  den  Kundgebungen,  die  ihm  folgten,  und  der 
Verfügung  über  die  Einstellung  des  Verfahrens  abgedruckt  werden; 
Diejenigen  behalten  Recht,  die  von  Anfang  an  lächelnd  voraus- 

88* 


—    1318    — 

sagten,  es  werde  trotz  der  Beschlagnahme  niemals  zur  gerichtliehen 
Verhandlung  kommen.  Man  muß  bekennen,  einen  unglücklicheren 
Ausgang  konnte  der  Fall  Krupp  für  die  Kreise,  die  ihn  mit  der 
Politik  in  Verbindung  brachten,  nicht  nehmen". 

Wir  kommen  zum  dritten  Stadium  des  Falles  Krupp, 
seinen  Nachwirkungen.  Die  politischen  Folgen,  die  sogar 
zu  einer  Präsidentenkrisis  im  Reichstage  führten,  können 
wir  hier  füglich  außer  Acht  lassen.  Wie  wir  bereits 
einleitend  bemerkten,  hat  der  traurige  Fall  insofern  Gutes 
bewirkt,  als  er  eine  große  Masse  derer,  welche  der  homo- 
sexuellen Frage  gleichgültig  oder  feindlich  gegenüber- 
standen, aufrüttelte  und  zum  Nachdenken  veranlaßte.  In 
vielen  tausend  Zeitungsartikeln,  in  zahlreichen  Broschüren 
wurde  auf  den  §  175  Bezug  genommen  und  als  sehr 
bemerkenswert  müssen  wir  konstatieren,  daß,  so  nahe  die 
Gelegenheit  lag,  von  ganz  verschwindenden  Ausnahmen 
abgesehen,  keine  Zeitung,  keine  Partei  —  selbst  nicht  das 
Centrum  —  auf  die  Beibehaltung  des§  175  Wert  legte  oder 
dieselbe  forderte.  Sehr  viele  Blätter,  die  das  Vorgehen 
des  Vorwärts  aufs  schärfste  mißbilligten,  traten  energisch 
für  die  Abschaffung  des  Strafparagraphen  ein,  so  schrieb 
u.  v.  a.  das  Hamburger  Fremdenblatt  vom  30.  Nov.: 

„Das  Vorgehen  des  „Vorwärts"  ist  um  so  verächtlicher,  als 
sich  ja  gerade  die  Sozialdemokratie  als  Partei  den  Bestrebungen 
angeschlossen  hat,  die  auf  eine  Beseitigung  des  §  175  des  Straf- 
gesetzbuches hinauslaufen,  jenes  in  anderen  Ländern  längst  aufge- 
hobenen Paragraphen,  der  die  sexuellen  Abnormitäten  des  Mannes 
nicht  als  krankhafte,  sondern  als  strafwürdige  Mißstände  betrachtet, 
des  Paragraphen,  der  in  unsere  moderne  Kulturwelt  hineinpaßt,  wie 
die  mittelalterliche  Praxis,  Geisteskranke  als  vom  Teufel  Besessene 
zu  bestrafen". 

Und  das  Berliner  Tageblatt  (29.  Nov.): 

„Heute  ist  die  Wissenschaft  nahezu  einig  darüber,  daß  es  sich 
hier  um  eine  anormale  körperliche  Erscheinung  handelt,  welche 
einen  strafbaren  „dolus"  ausschließt.  F.  v.  Liszt  meint,  daß  einer 
Beseitigung  des  §  175  Bedenken  nicht  entgegenstehen,  da  die 
Erregung  von  Ärgernis  ohnehin  strafbar  sei,  die  gewerbsmäßige 
männliche  Unzucht  aber,  die  einzige,  welche  Gefahren  biete,  durch 


—    1319    — 

eine  geänderte  Fassung  des  §  361,  6  des  Strafgesetzbuches,  der 
bisher  nur  von  der  gewerbsmäßigen  weiblichen  Unzucht  spricht, 
unschädlich  gemacht  werden  könne.  Es  darf  danach  zweifellos 
angenommen  werden,  daß  das  neue  deutsche  Straf- 
gesetzbuch einen  §  175  in  diesem  Sinne  nicht  mehr 
kennen  wird.  Ohne  hier  die  Frage  näher  untersuchen  zu  wollen, 
ob  die  gegen  Krupp  erhobenen  Beschuldigungen  zutreffend  waren 
oder  nicht,  ist  es  doch  sicher,  daß  der  Eindruck  dieser  Be- 
schuldigungen eine  der  Hauptursachen  des  Todes  dieses  größten 
Industriellen  Deutschlands  gewesen  ist,  und  insofern  kann  man 
sagen,  daß  Krupp  das  Opfer  eines  veralteten  Rechtsbegriffe» 
geworden  ist,  dessen  Unhaltbarkeit  und  Ungerechtigkeit  angesichts 
der  Erfahrungen  der  medizinischen  Wissenschaft  den  Fall  doppelt 
tragisch  erscheinen  läßt." 

Auf  der  anderen  Seite  zeigte  es  sich  allerdings,  daß 
auch  noch  viele  ganz  falsche  Vorstellungen  über  die 
Homosexualität  selbst  weit  verbreitet  waren.  Diesen 
trat  unser  Komitee  mit  einer  Erklärung  entgegen,  die 
am  1.  Dez.  in  der  Welt  am  Montag  erschien  und  von 
zahlreichen  Blättern  nachgedruckt  wurde.  Dieselbe  lautete : 

„Anläßlich  des  Falles  Krupp  ist  in  der  Presse  vielfach  die 
Anschauung  hervorgetreten,  daß  die  Behauptung,  jemand  sei 
homosexuell,  an  sich  eine  schwere  Beleidigung  und  Ehrenkränkung 
bedeute.  Ohne  die  Frage  hier  zu  erörtern,  ob  Alfred  Krupp 
homosexuell  gewesen  sei  oder  nicht,  erhebt  das  wissenschaftlich- 
humanitäre  Komitee  zu  Berlin  und  Leipzig  im  Namen  von  1500  ihm 
bekannten  Homosexuellen,  die  in  ihrem  Charakter  und  sittlichen 
Verhalten  genau  so  ehrenhaft  sind,  wie  die  normalsexuell  Geborenen 
gegen  diese  Auffassung  energischen  Widerspruch. 

Es  fordert,  daß  aus  wissenschaftlichen  Forschungsgebieten  die 
Konsequenzen  der  Humanität  gezogen  werden,   damit   die  folgen- 
schweren Verkennungen,  denen  schon  so  viele  homosexuell  Geborene 
zum  Opfer  gefallen  sind,  endlich  ein  Ende  nehmen. 
Wissenschaftlich-humanitäres  Komitee. 

I.  A.:    Dr.  med.  E.  Burchard.      Dr.  med.  M.  Hirschfeld. 
Dr.  med.  G.  Merzbach. 

Im  übrigen  erwuchs  in  dieser  Zeit  dem  Komitee 
die  schwierige  Aufgabe,  zwischen  den  übereifrigen  und 
überängstlichen    Elementen,    die    Tag    für   Tag    an    uns 


—    1320    — 

herantreten,  die  rechte  Mittellinie  innezuhalten.  Zahl- 
reichen Fragestellern  und  Interviewern  gegenüber  be- 
schränkten wir  uns  auf  Mitteilungen  über  die  Frage  der 
Homosexualität,  ohne  über  die  Persönlichkeit  Krupps 
uns  zu  äußern.  Es  sei  hier  nochmals  betont,  daß 
Indiscretionen  seitens  des  Komitees  nicht  zu  befürchten 
sind,  der  mehrfach  vorgeschlagene  „Weg  über  Leichen"1) 
wird  von  uns  unter  keinen  Umständen  betreten  wer- 
den. Namentlich  die  homosexuellen  Herren  bei  Hofe 
mögen  sich  keinen  Beunruhigungen  hingeben.  Der 
langsamere  Weg  der  wissenschaftlichen  Forschung  und 
Aufklärung    führt    auch    zum    Ziel.      Wir    wollen    aber 

l)  Moll  bemerkt  darüber  in  No.  50  der  Zukunft  (18/IX  1902): 
„Jedem  der  die  Bewegung  zur  Aufhebung  des  §  175  fördern 
will,  kann  nur  geraten  werden,  auf  dem  beschrittenen  Wege  fort- 
zufahren. Den  Homosexuellen  wird  manchmal,  auch  von  Wohl- 
meinenden, der  Vorwurf  gemacht,  sie  agitierten  zu  viel.  Was 
aber  sollen  sie  tun?  Wenn  sie  nicht  agitieren,  erreichen  sie  ihr 
Ziel  niemals.  Sie  hätten  dann  höchstens  noch  einen  andern  Weg: 
sie  müßten  suchen,  nach  Art  eines  rücksichtslosen  Feldherrn  oder 
Politikers  über  einen  Berg  von  Leichen  ans  Ziel  zu  kommen.  Sie 
brauchten  nur  die  Namen  von  Männern  öffentlich  zu  nennen,  deren 
Homosexualität  notorisch  und  jeden  Augenblick  zu  beweisen  ist. 
Sicher  würde  dann  Mancher,  der  die  Homosexualität  aus  tiefster 
Seele  verabscheut,  der  aber  Homosexuellen,  ohne  deren  Neigung 
zu  kennen,  nahe  steht,  über  die  Enthüllung  erstaunt  sein.  Mancher 
hohe  Beamte,  mancher  einflußreiche  Politiker  würde  sich  schließlich 
verwundert  sagen:  „Ich  glaubte  stets,  die  Homosexuellen  seien 
das  elendste  Pack  der  Welt,  nun  höre  ich  aber,  das  mein  Neffe, 
mein  Sohn,  mein  Freund  gleichgeschlechtlich  verkehren.  Und  er 
ist  doch  ein  so  braver,  ausgezeichneter  Mensch.  Wenn  er  auch 
so  ist,  dann  muß  man  doch  anders  über  die  Sache  denken." 
Dieser  Standpunkt  wäre  rücksichtslos  und  zahllose  Existenzen 
würden  dabei  sozial  vernichtet  werden.  Einfußreiche  Personen 
aber  würden  dadurch  unmittelbar  für  die  Sache  interessiert-  und 
ein  schneller  Erfolg  wäre  mehr  als  wahrscheinlich.  Trotzdem  wäre 
solches  Vorgehen  entschieden  zu  tadeln.  Ich  erinnere  an  diesen 
Weg  nur,  weil  man  den  Homosexuellen,  die  ihn  nicht  be- 
schreiten,  nicht  verwehren  soll,  sachlich  zu  agitieren." 


—    1321    — 

nicht  unterlassen,  diese  Herren  darauf  aufmerksam  zu 
machen,  ein  wie  hohes  Verdienst  sie  sich  erwerben 
würden,  wenn  sie  z.  B.  auf  einer  Nordlandsreise  Gelegen- 
heit nehmen  würden,  den  Kaiser  über  Wesen  und  Ver- 
breitung der  Homosexualität  zu  informieren.  Mögen  die 
Herren  bedenken,  in  welche  Unannehmlichkeiten  sie  nicht 
nur  sich  selbst,  sondern  auch  den  Kaiser  durch  einen  sie 
betreffenden  Skandal  bringen,  vor  dem,  wie  leider  die 
Fälle  Hohenau  und  Krupp  gezeigt  haben,  selbst  die  dem 
Thron  zunächst  stehenden  nicht  gesichert  sind. 

Es  tut  nichts  zur  Sache,  ob  Krupp  homosexuell 
gewesen  ist  oder  nicht,  ob  die  von  seinen  Ärzten  betonte 
„Asexualität"  der  Homosexualität  negativer  Teil  war 
oder  nicht,  ob  der  Verkehr  mit  den  „Kruppianern44,  „den 
rundbäckigen  Gesellen,  die  nachts  gut  schlafen44  nur  die 
reine,  harmlose  Freude  des  etiquettemüden  Hofmannes  am 
Naturburschentum  war,  wir  wollen  nicht  untersuchen,  ob 
man  in  seiner  scheuen  sensitiven  Natur,  seiner  ungewöhn- 
lichen Schamhaftigkeit,  seiner  Abneigung  gegen  Spiel, 
Jagd,  vielleicht  auch  gegen  Krieg,  ob  man  in  seinen 
Körperformen  urnische  Stigmata  finden  konnte,  es  kann 
uns  gleichgültig  sein,  ob  die  verhängnisvollen  Gerüchte 
auf  Wahrheit  beruhten  oder  nicht,  ob  die  furchtbaren 
seelischen  Erregungen  den  armen  Mann,  der  300 
Millionen  Mark  hinterließ,  zu  Boden  warfen,  oder  ob  er 
selbst  Hand  an  sich  legte:  Eins  steht  fest,  die  An- 
schauungen über  die  Homosexualität  haben  auch  diese, 
wie  so  viele  ähnliche  Katastrophen  herbeigeführt,  Friedrich 
Alfred  Krupp  ist  einer  der  vielen  Opfer  mangelnder 
Naturkenntnis  geworden,  nicht  nur  der  Kaiser,  auch  die 
Wissenschaft  hält  schützend  die  Hand  über  das  Andenken 
dieses    Mannes,    sie    wird  Sorge  tragen,    daß    sein  Name 

einer  besser  unterrichteten  Zukunft  rein  und  makellos 
erscheinen  wird. 


—     1322    — 

Neben  dem  Fall  Krupp  wurde  die  öffentliche  Auf- 
merksamkeit noch  durch  einige  andere  Ereignisse  in 
Anspruch  genommen,  welche  mit  der  homosexuellen 
Frage  in  nahen  Beziehungen  standen;  wir  heben  unter 
diesen  als  die  bemerkenswertesten  hervor:  Die  Erpressung 
des  Prinzen  von  Braganza  anläßlich  der  Krönungsfeier- 
lichkeiten in  London  und  den  Selbstmord  Hector  Mac- 


General  Macdonald, 

t  25.  März  1903. 


donalds,  des  populärsten  englischen  Generals.  Über  das 
erstere  Vorkommnis  ist  bereits  oben  —  unter  den  Zeitungs- 
ausschnitten —  Bericht  erstattet.  Zum  tragischen  Ende 
des  tapferen  Schotten,  welcher  sich  vom  gemeinen  Soldaten 
zum  Höchstkommandierenden  auf  Ceylon  emporgerungen 
hatte,  sei  noch  einiges  bemerkt.  Am  25.  März  1903 
enthielten    die    Zeitungen    ein  Telegramm    aus  Colombo, 


—    1323    — 

Ceylon,  über  eine  am  24.  d.  M.  gehaltene  Sitzung  des 
„ gesetzgebenden  Rates*.  Ein  Mitglied  interpellierte  den 
Gouverneur  über  die  peinliche  Angelegenheit  des  Generals 
Macdonald,  worauf  der  Gouverneur  folgende  Erklärung 
abgab  : 

„Wir  wissen  Alle,  daß  ernste,  sehr  ernste  Anschuldigungen 
gegen  Sir  Hektar  Macdonald  vorliegen.  Obwohl  die  Vergehen, 
deren  er  beschuldigt  ist,  sehr  schwere  sind,  so  sind  sie  nach  dem 
Gesetz  von  Ceylon  doch  nicht  strafbar  und  können  deshalb  nicht 
den  Gegenstand  einer  Untersuchung  seitens  eines  Gerichtshofes  in 
diesem  Lande  sein.  Als  die  Anschuldigungen  bekannt  wurden, 
hat  sich  General  Macdonald  auf  meinen  Rat  und  auf  meine  Ver- 
antwortung nach  England  begeben,  um  sich  dort  mit  seinen  Freunden 
und  Vorgesetzten  zu  beraten.  Er  hat  beschlossen,  nach  Ceylon 
zurückzukehren,  um  die  Anschuldigungen  zu  widerlegen,  und  ich 
wurde  ermächtigt,  ein  Kriegsgericht  zu  berufen,  das  in  dieser 
Sache,  ein  Urteil  sprechen  wird.  Jeder  Engländer,  jeder  loyale 
Untertan  hofft,  daß  der  bevorstehende  Prozeß  nach  einer  gewissen- 
haften Untersuchung  mit  der  vollständigen  ehrenhaften  Freisprechung 
eines  Soldaten  enden  wird,  der  eine  so  herrliche  Führung  im  Dienst 
seines  Königs  und  seines  Vaterlandes  aufzuweisen  hat,  wie  es  bei 
General  Macdonald  der  Fall  ist." 

Am  Mittag  desselben  Tages  fand  man  Sir  Heetor 
Macdonald  im  Regina  Hotel  zu  Paris  erschossen,  neben 
sich  die  Nummer  des  New-York  Herald,  welche  jenes 
Telegramm  und  sein  Bildnis  enthielt.  Die  Münchener 
Allgemeine  Zeitung  berichtet  darüber: 

„Der  General,  der  unter  der  offenbar  nur  allzu  begründeten 
Anklage  stand,  sich  auf  Ceylon  schwerer  sittlicher  Verirrungen 
schuldig  gemacht  zu  haben  und  der  deshalb  vor  einem  Kriegsgericht 
erscheinen  sollte,  hatte  sich  von  Ceylon  nach  London  begeben,  um 
sich  mit  seinen  Freunden  und  Vorgesetzten  zu  besprechen  und  den 
Versuch  einer  Applanierung  der  leidigen  Affäre  zu  machen.  Es 
war  ihm  das,  ungeachtet  der  vielfachen  Sympathien,  die  er  in 
militärischen  Kreisen  besaß,  nicht  gelungen,  er  hatte  vielmehr  vom 
War  Office  die  Weisung  erhalten,  sich  ohne  Verzug  über  Marseille 
nach  Ceylon  zu  begeben  und  sich  zur  Verfügung  des  Gerichts  zu 
stellen.  Er  hatte  die  Fahrt  in  der  Tat  angetreten,  nachdem  er 
zuvor  mit  Tränen  im  Auge  einem  seiner  Freunde  erklärt  hatte, 
daß   er,   wenn   die   Sache   nicht  niedergeschlagen  werde,   ein  ver- 


—    1324    — 

lorener  Mann  sei.  Am  20.  d.  M.  traf  er  in  Paris  ein,  aber  statt 
die  Heise  sogleich  fortzusetzen,  blieb  er  im  Regina-Hotel,  wohl  in 
der  Hoffnung,  daß  seine  Gönner  in  London  mächtig  genug  sein 
würden,  um  es  durchzusetzen,  daß  er  mit  Generalsrang  und  der 
damit  verbundenen  Pension  seinen  Abschied  nehmen  dürfe.  Er 
stammte  nämlich  aus  kleinen  Verhältnissen,  hatte  von  der  Pike 
an  gedient  und  besaß  kein  Vermögen.  Allein  seine  Hoffnung  ging 
nicht  in  Erfüllung.  Am  Mittwoch  früh  erhielt  er  durch  ein  Tele- 
gramm aus  London  den  gemessenen  Befehl,  ohne  Verzug  nach 
Ceylon  zurückzukehren,  wenn  er  nicht  aus  dem  Heere  ausgestoßen 
werden  wolle.  Nach  dem  Mittagsmahle  machte  er  einen  Ausgang 
und  kam  dann  bald  mit  der  Pariser  Ausgabe  des  New- York  Herald, 
die  sein  Bildnis  und  eine  kurze  Notiz  über  seine  Person  enthielt, 
ins  Hotel  zurück.  Er  zeigte  sein  Porträt  einem  der  Direktoren  des 
Hauses  und  ging  darauf  in  sein  Zimmer.  Man  sah,  wie  er  lange 
über  der  Zeitung  brütete  und  bitterlich  weinte.  Als  der  Diener 
gegen  2  Uhr  eintrat,  um  aufzuräumen,  sah  er  den  General  in  Hemd 
und  Beinkleid  am  Boden  ausgestreckt,  den  Kopf  an  einen  Sessel 
gelehnt.  Er  rief  Hilfe  herbei.  Ein  englischer  Arzt,  der  im  Hotel 
wohnte,  war  sogleich  zur  Hand  und  konstatierte,  daß  der  Tod 
infolge  eines  Revolverschusses  bereits  eingetreten  war.  Die  Waffe 
hielt  der  Tote  noch  in  der  Hand;  er  hatte  sie  an  die  rechte 
Schläfe  gesetzt  gehabt,  die  9-Millimeter-Kugel  war  in  der  Wunde 
stecken  geblieben.  Die  Polizeipräfektur  benachrichtigte  den 
Minister  des  Äußern  und  dieser  die  englische  Botschaft,  welche 
nach  London  telegraphierte.  General  Macdonald,  bei  dessen  Leiche 
nur  ein  ganz  geringer  Geldbetrag  sich  fand,  soll  infolge  Erpressungen, 
denen  er  bei  seinen  Verirrungen  ausgesetzt  war,  riesige  Summen 
geopfert  haben.  Für  seinen  einzigen  Sohn  und  seine  geschiedene 
Gattin  dürfte  die  englische  Regierung  sorgen.  In  einem  zurück- 
gelassenen Schreiben  erklärt  Macdonald,  daß  er  sterben  mußte,  weil 
die  Journale  den  Tatbestand  publioierten.  Seine  Gegner  in  Ceylon 
würden  nunmehr  zufrieden  sein.4' 

Sehr  charakteristisch  ist  es,  wie  man  die  Nachricht 
über  sein  Ende  im  Londoner  Kriegsministerium  aufnahm. 
Wir  geben  wörtlich  die  Mitteilungen  L£on  Brasils  wieder, 
welche  wir  dem  Pariser  Figaro  (Jeudi  26.  mars  1903) 
entnehmen : 

„Les  autorites  du  War  #  Office  avaient  presque  attendu  cette 
1n.  Un  des  tres  hauts  fonctionnaires  du  War  Office  me  disait  ce  soir: 


—    1325    — 

„Noub  commencions  ä  etre  inquiets,  quand  la  nouveUe  nous 
est  parvenue;  mais  je  ne  la  regrette  pas;  car,  en  effet,  c'est  pour 
le  mieux.  U  est  bien  triste  qu'un  si  brave  soldat  ait  fini  sa  vie 
de  cette  fac,on.  Je  crois  que  sa  faiblesse  fut  nne  espece  d'insanitä; 
mais  il  n'y  avait  pas  de  doute  sur  sa  oulpabilitä.  n  a  choisi  la 
fin  qui  valait  le  mieux  p.our  lui  comme  pour  l'arm^e/1 

Ueber  seine  Persönlichkeit  melden  die  englischen 
Blätter: 

Es  hat  selten  eine  Nachricht  England  und  besonders  Schottland 
so  tief  erschüttert,  wie  die  Meldung,  daß  sich  General  Sir  Hector 
Macdonald  —  der  „Fighting  Mac"  des  Volkes  —  gestern  in  einem 
Pariser  Hotel  erschossen  hat.  Der  erst  fünfzigjährige  General  war 
der  Liebling  des  gemeinen  Mannes  in  der  Armee  wie  im  Volke. 
Wie  Carlyle  der  Sohn  eines  kleinen  Hochlandbauern,  hatte  er  nur 
durch  eigene  Kraft  seinen  Weg  vom  Gemeinen  bis  zu  einer  der 
höchsten  Stellen  in  der  Armee  gemacht.  In  Schottland  ist  man 
außerordentlich  stolz  auf  den  Mann,  den  man  trotz  seiner  Titel 
und  Chargen  unbeirrt  weiter  Hector  Macdonald  nennt,  und  der 
imter  den  englischen  Militärs,  die  von  der  Pike  auf  gedient  haben, 
den  höchsten  Rang  einnimmt.  Seine  Familie  gehörte  zu  den  be- 
scheidensten, er  wurde  als  Knecht  auf  eine  Farm  verdingt  und  zur 
Feldarbeit  angehalten.  Schon  früh  zeigte  er  aber  eine  große 
Neigung  zum  Soldatenstand  und  übte  sich  schon  als  ganz  junger 
Barsche  täglich  im  Reiten.  Seine  Eltern  fürchteten,  er  werde  sich 
anwerben  lassen  und  gaben  ihn  zu  einem  Schnittwaarenhändler  in 
die  Lehre.  Aber  auch  hier  brachte  er  den  Feierabend  damit  zu, 
die  anderen  Lehrlinge  im  Exerzieren  abzurichten,  und  als  er  seine 
Abenteurerlust  gar  nicht  mehr  bezähmen  konnte,  nahm  er  den 
Werbeschilling  und  ging  mit  den  Truppen  nach  Egypten.  Er  diente 
zehn  Jahre  als  Gemeiner,  zuerst  bei  den  92er  Hochländern,  die 
seitdem  die  „Gordon  Highlander"  geworden  sind,  imd  zwar  von 
1870  bis  1879.  Zu  dieser  Zeit  wurde  Lord  Roberts  auf  dem  Marsche 
nach  Kabul  zuerst  auf  Macdonald  aufmerksam,  weil  er  als  Fahnen- 
sergeant eine  Abteilung  Hochländer  in  bewunderungswürdiger 
Weise  beherrschte.  In  seinem  Buche  über  Indien  erwähnte  Lord 
Roberts  den  Unteroffizier  mehrfach  wegen  seiner  außerordentlichen 
persönlichen  Bravour  und  schließlich  bot  er  ihm  an,  er  solle  wählen, 
ob  er  Offizier  werden  oder  das  Viktoriakreuz  als  Belohnung  erhalten 
wolle.  Zum  Glück  für  England,  wahrscheinlich  zum  Verhängnis 
für  sich  selbst,  wählte  „fighting  Mac"  die  Ernennung  zum  Offizier. 
Im  Jahre  1881  nahm  er  an  dem  ersten  Krieg  gegen  die  Buren  teil, 


—     1326    — 

focht  unter  Colley  bei  Majuba  Hill  und  wurde  in  den  Berichten  als 
besonders  tapfer  erwähnt.  Nachdem  Maodonald  wieder  nach  Egypten 
geschickt  worden  war,  avancierte  er  rasch.  Er  hat  an  allen  Feldzügen  im 
Sudan  teilgenommen.  Bei  der  Dongola-Expedition  kommandierte  er 
die  zweite  Infanterie-Brigade  und  erwarb  sich  den  Oberstenrang.  Bei 
Abu  Hamed  hatte  er  die  egyptische  Brigade  unter  sich.  Besonders 
zeichnete  er  sich  bei  der  Sohlacht  von  Omdurman  aus,  wo  sein 
kaltes  Blut  und  seine  Überlegenheit  die  schwarzen  Truppen  zwang, 
dem  furchtbaren  Überfalle  der  Derwische  Stand  zu  halten.  Dafür 
belobte  ihn  das  englische  Parlament,  und  er  wurde  zum  Aide  de 
Camp  der  Königin  Victoria  ernannt.  Im  Juli  1898  wurde  Maodonald, 
der  damals  Oberst  war,  an  die  Spitze  einer  Expedition  gestellt, 
welche  die  Aufgabe  hatte,  einerseits  die  letzten  Beste  des  Auf- 
ruhrs im  Sudan  zu  unterdrücken,  anderseits  den  Frieden  in  Unyoro 
zu  siebern  und  gute  Beziehungen  zu  den  Stämmen  der  Shulis 
herzustellen.  Oberst  Macdonald  teilte  das  Expeditionskorps  in  drei 
Kolonnen  und  drang  an  der  Spitze  der  Hauptkolonne  durch  Bukhora 
vor,  während  die  beiden  anderen  Kolonnen  sich  einerseits  gegen 
den  Nil,  andererseits  gegen  den  Rudolf-See  wendeten.  Am 
8.  September  besetzte  eine  der  Kolonnen  Wadelai. .  Macdonald 
drang  mit  seinen  Truppen  unter  erfolgreichen  Kämpfen  tief  in  den 
Sudan  ein,  und  es  gelang  ihm  schließlich,  sich  mit  den  beiden 
anderen  Kolonnen  am  1.  Januar  1899  in  Mumias  zu  vereinigen, 
wodurch  ein  vollständiger  Erfolg  erzielt  wurde.  Im  Jahre  1899 
kam  Macdonald  nach  Indien,  und  von  dort  wurde  er  nach  Südafrika 
geschickt,  um  die  Highland-Brigade  nach  dem  Tode  Wanchope's 
zu  kommandieren.  Er  führte  die  Brigade  zum  Sieg  von  Paardeberg 
und  wurde  in  diesem  Treffen  verwundet.  Es  wurde  ihm  dafür  der 
Bath-Orden  verliehen;  1901  bekam  er  das  Kommando  von  Südindien. 
In  Südafrika,  wie  überall,  wo  er  seine  hoben  militärischen  Fähig- 
keiten beweisen  konnte,  war  Heotor  Maodonald  das  Ideal  der 
Truppen.  Als  die  Highland-Brigade  die  Niederlage  von  Modder- 
River  erlitten  hatte,  hieß  es  allgemein :  „Das  wäre  nicht  geschehen, 
hätten  wir  Hector  bei  uns  gehabt."  Wanchope  war  tot  und 
begraben,  und  Lord  Metbuen  hatte  den  Glauben  an  sich  bei  den 
Soldaten  verloren.  Da  kam  Macdonald,  und  alles  änderte  sich. 
Er  stellte  die  Leute  neu  zusammen,  teilte  ihnen  von  seiner  frischen 
Lebenskraft  mit  und  hatte  sie  in  kürzester  Zeit  zu  einer  Mustertruppe 
organisiert.  Obwohl  er  selbst  niemals  müde  wurde,  wußte  er  genau, 
wann  seine  Mannschaft  der  Ruhe  bedurfte,  wann  er  sich  in  kein 
Gefecht  einlassen  konnte.  Wo  immer  ein  britischer  General  ein 
koloniales  Lager  betrat,  standen  die  Kolonialtruppen  in  schweigender 


—    1327    — 

Ehrfurcht  und  leisteten  nur  den  vorgeschriebenen  Salut.  Macdonald 
wurde  aber  überall  mit  wahrem  Jubelgeschrei  empfangen.  Die 
Kanadier,  Kapkolonisten  und  Australier  verfehlten  nie,  ihn  auf  eine 
Weise  zu  begrüßen,  daß  selbst  Roberts  und  Kitchener  ihn  hätten 
beneiden  können.  Nach  der  Schlacht  von  Magersfontein  wurde 
Macdonald  ausgesendet,  um  im  Oranjestaat  aufzuräumen,  und  die 
Schnelligkeit,  mit  welcher  er  seine  Hochländer  durch  das  Land  trieb, 
wurde  als  eine  merkwürdige  Leistung  betrachtet.  Dabei  lebte 
Macdonald  so  wie  seine  Soldaten  und  war  immer  dort 
zu  sehen,  wo  die  Kugeln  am  dichtesten  fielen,  denn  seine 
Lust  am  Kampfe  blieb  ihm  stets  treu  —  eine  Eigenschaft,  welche 
die  Soldaten  am  höchsten  bei  ihm  schätzten.  Man  wunderte  sich 
allgemein,  daß  Macdonald,  der  die  rechte  Hand  Kitohener's  in 
Egypten  gewesen,  im  Burenkriege  keine  wichtigere  Rolle  anvertraut 
bekam.  Man  vermutete,  daß  etwas  gegen  ihn  vorliege  —  was  es 
sei,  konnte  man  sich  aber  nicht  erklären.  In  England  erregte  die 
Nachricht,  daß  Hector  Macdonald  vor  ein  Kriegsgericht  gestellt 
werden  sollte,  das  peinlichste  Aufsehen  und  in  vielen  militärischen 
Kreisen  heftigen  Unwillen.  Junge  Offiziere  wollten  gar  nicht  glauben, 
daß  es  sich  um  eine  ernste  Sache  handeln  könne,  und  äußerten 
die  Zuversicht,  daß  Macdonald  Alles  werde  aufklären  können.  Am 
heftigsten  äußerten  sich  die  Unteroffiziere.  Einer  sagte:  „Ich  war 
mit  ihm  in  Egypten,  und  ich  muß  sehr  handfesten,  soliden  Beweis 
bekommen,  ehe  ich  glaube,  daß  er  sich  je  das  Geringste  zuschulden 
kommen  ließ".  Charakteristisch  für  die  Schätzung  des  durch  zahllose 
kühne  Taten  vor  dem  Feind  berühmt  gewordenen  Generals  war 
die  erste  Begegnung  mit  dem  König  nach  dem  Siege  von 
Omdurman.  Der  damalige  Prinz  von  Wales  sprach  sein  Befremden 
aus,  daß  er  Macdonald  noch  nie  zuwr  persönlich  getroffen  habe. 
Maodonald  erwiderte:  „Doch,  Sir!  1875  habe  ich  vor  Ihrem  Zelte 
einmal  Wache  gestanden."  Der  Prinz  antwortete:  „Macdonald, 
Sie  haben  als  Gemeiner  Wache  gestanden  und  es  bis  zum  General 
in  der  britischen  Armee  gebracht.  Ich  bin  stolz  darauf,  Ihre 
Hand  schütteln  zu  dürfen."  Ein  Kriegskamerad  Macdonald's,  der 
oft  mit  ihm  im  Feuer  gestanden,  sagte  heute:  „Er  war  absolut 
der  einzige  Mann,  von  allen,  die  ich  sah,  der  mit  aufrichtigem  Ver- 
gnügen in  einem  Kugelregen  gestanden  hat." 

Über  die  Beerdigung  des  armen  Generals  brachten  die 
Münch.  Neuesten  Nachrichten  folgendes  Privattelegramm : 

„In  ganz  Schottland  bat  die  Behandlung  der  Leiche  Macdonalds 
ungeheure  Erbitterung  hervorgerufen.    Die  schottischen  Blätter  ver- 


—    1328    — 

öffentlichen  Berichte,  nach  denen  die  Leiche  des  Generals  in  Paris  in  der 
englischen  Kirche  nicht  zugelassen  wurde,  sondern  von  den  maß- 
gebenden Personen  in  eine  Schuttkammer  zwischen  altem  Gerumpel 
und  Besen  verwiesen  wurde.  Von  Paris  nach  London  wurde  die 
Leiche  in  einer  gewöhnlichen  weißen  Holzkiste  spediert.  In  London 
angekommen,  war  niemand  zu  deren  Abnahme  bereit,  trotz  aller 
Anstrengungen  seines  Bruders  und  Vetters  und  die  Leiche  wurde 
in  einem  gewöhnlichen  Karren,  auf  dem  sonst  Paeketetticke  expediert 
werden  und  welcher  mit  Ankündigungen  von  Vergnügungslokalen 
behangen  ist,  von  London  -  Bridge  -  Bahnhof  nach  Kings- Groß- 
Bahnhof  gebracht.  Auch  dort  war  nichts  zu  dessen  Empfang 
bereit.  Einige  50  schottische  Gesellschaften  und  städtische  Körper- 
schaften sandten  Abordnungen  oder  Telegramme  an  das  Kriegs- 
ministerium mit  der  Bitte,  die  Vertagung  der  Beerdigung  zu 
gestatten,  damit  wenigstens  privatim  die  Schotten  ihrem  General 
die  letzte  Ehre  erweisen  könnten.  Aber  alle  diese  Bitten  blieben 
unbeantwortet.  Auch  die  Witwe  des  Verstorbenen,  welche  mit 
ihm  in  Unfrieden  gelebt  und  gerichtlich  ihre  Rechte  zur  Geltung 
gebracht  hatte,  ließ  sich  auf  nichts  ein  und  bestand  darauf,  daß 
die  Beerdigung  ganz  form-  und  scheinlos  am  Montag  6  Uhr  früh 
stattfand". 

Bemerkenswert  ist  noch  folgende  Kundgebung  eines 
angesehenen  englischen  Blattes: 

„London,  29.  März.  —  „Reynolds  Newspaper"  tadelt  die  eng- 
lischen Militärbehörden  wegen  ihrer  Strenge  gegenüber  dem  General 
Mao-Donald  und  schreibt  diese  Härte  dem  Umstände  zu,  daß  der 
General  nicht  der  Aristokratie  angehört.  Es  verwahrt  sich  dagegen, 
die  dem  Selbstmörder  zugeschriebenen  Praktiken  entschuldigen  zu 
wollen,  erinnert  aber  daran,  daß  sie  unter  der  vornehmen  Welt 
Londons  sehr  verbreitet  sind  und  daß,  wenn  ein  Skandal  zu  ent- 
stehen droht,  er  gewöhnlich  im  Keime  erstickt  wird.  —  Das  Blatt 
citiert  speciell  den  Fall  eines  Kanonikus,  dem  man  eine  Stelle  in 
den  Colonien  anwies,  mehrerer  Offiziere,  denen  man  gestattete, 
Dienste  in  mohamedanischen  Ländern  anzunehmen,  und  schließlich 
jenen  eines  Mitgliedes  des*  Oberhauses  mit  einem  Freunde  der 
königlichen  Familie.  Diesen  Letzteren  zwang  man  nicht,  das  Land 
zu  verlassen.  —  Zum  Schlüsse  gibt  „Reynolds  Newspaper"  der 
Hoffnung  Ausdruck,  daß  die  Affaire  Macdonald  dem  englischen 
Volke  ebenso  die  Augen  offnen  wird,  wie  die  Affaire  Krupp  den 
Deutschen  die  Augen  geöffnet  hat." 


•j^m 


—    1329    — 

Vielfach  wurde  auch  das  Verfahren  gegen  den  be- 
kannten deutschen  Maler  Allers,  welcher  von  Neapel  aus 
in  contumaciam  zu  4^2  Jahren  Zuchthaus  und  hohem 
Schadenersatz  verurteilt  wurde,  mit  dem  Fall  Krupp  in 
Zusammenhang  gebracht.  Davon  kann  nicht  im  entfern- 
testen die  Rede  sein.  Von  Krupp  wurde  nur  behauptet, 
daß  er  mit  Erwachsenen  homosexuell  verkehrt  habe,  von 
keiner  Seite  war  ihm  vorgeworfen  worden,  daß  er  Hand- 
lungen, begangen  hätte,  welche  in  Italien  strafbar  seien, 
während  Allers  nachgewiesenermaßen  unter  Anwendung 
von  Gewalt  schwere  Sittlichkeitsverbrechen  an  Minder- 
jährigen begangen  hat,  eine  Tat,  die  selbstverständlich 
stets  aufs  schwerste  verurteilt  werden  muß. 

Riefen  die  großen  Fälle  Krupp,  Braganza,  Mac-Donald 
neben  einer  Reihe  kleinerer  das  Interesse  der  Öffentlich- 
keit für  das  Schicksal  der  Homosexuellen  hervor,  so  war 
auf  der  anderen  Seite  unser  Komitee  unablässig  bemüht, 
seinerseits  weitere  Aufklärung  zu  verbreiten.  Es  ist  uns 
immer  mehr  zur  Gewißheit  geworden,  daß  die  Beseitigung 
der  Volksvorurteile  für  die  Urninge  von  höherem  Wert 
ist,  wie  die  Aufhebung  der  Strafbestimmungen.  Ist  es 
doch  schon  vorgekommen,  daß  Uranier  aus  Ländern,  wo 
keine  Strafbestimmungen  mehr  bestehen,  dagegen  die  un- 
günstige Volksmeinung  noch  fortdauert,  z.  B.  aus  Holland, 
nach  Deutschland  geflüchtet  sind,  wo  zwar  die  Gesetze 
noch  existieren,  die  Unkenntnis  des  Publikums  hingegen 
im  Schwinden  begriffen  ist. 

Die  Petition  wurde  als  wichtigstes  informatorisches  Do- 
kument wie  im  vergangenen  Jahre  an  alle  deutschen  Richter, 
so  in  diesem  an  sämtliche  Rechtsanwälte  —  im  ganzen  7300 
—  versandt.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  nur  von  zwei 
Anwälten  direkt  abiebnende  Bescheide  eingingen,  dagegen 
eine  sehr  beträchtliche  Anzahl  von  Zuschriften,  die  sich 
lebhaft  für  die  Abänderung  des  §  175  aussprechen.  Ich 
greife  aus  der  Menge  einige  Beispiele  heraus: 


—    1330    — 

Rechtsanwalt  Dr.  v.  Pannwitz-München  schrieb:  Hochgeehrter 
Herr!  Hiermit  ermächtige  ich  Sie  gerne  meine  Namensunterschrift 
dem  mir  gütigst  übersandten  Zirkulare  beizufügen.  Ich  habe  in 
meiner  umfangreichen  Strafpraxis  wiederholt  Gelegenheit  gehabt, 
die  unseligsten  Folgen  des  §  175  des  R.-Str.-G.-B.  kennen  zu 
lernen.  In  einen  der  eklatantesten  Fällen  wurde  ein  herzensguter 
und  durchaus  vornehm  denkender  Mann  der  besten  Gesellschaft 
durch  das  Treiben  eines  Erpressers  seiner  sozialen  Stellung  be- 
raubt und  dauernd  ins  Exil  getrieben.  In  einem  anderen  Falle 
verlor  ein  freigesprochener,  gleichfalls  den  besten  Ständen  an- 
gehöriger  Mann  durch  die  Veröffentlichung  der  Anklage  in  einer 
auswärtigen  Zeitung  Ansehen  und  Stellung.  Auch  gegenwärtig 
liegt  mir  wieder  ein  tiefbetrtibender  Fall  ähnlicher  Art  vor.  Ich 
werde  gern  Veranlassung  nehmen,  bei  der  seinerzeitigen  Gerichts- 
verhandlung auch  auf  die  im  höchsten  Maße  begrüßenswerte  Be- 
wegung, von  welcher  mir  Ihre  geschätzte  Zuschrift  kundtut, 
hinzuweisen. 

Rechtsanwalt  Walter  Steinbock  in  Fürstenberg:  Soeben  habe 
ich  Ihre  Zusendung  empfangeu  und  beeile  mich,  Ihnen  meine 
Unterschrift  für  die  Petition  zur  Verfügung  zu  stellen.  Mir  ist  ein 
Fall  bestimmt  und  hat  mich  recht  nahe  betroffen,  indem  der  bloße 
Verdacht^,  des  Verstoßes  gegen  den  §  175  des  Str.-G.-B.,  der  sich 
nachher  (nach  den  Ermittelungen  der  Straf  behör de)  als  unbegründet 
erwies,  einen  Mann  von  tadelloser  Gesinnung  und  Lebensführung 
zur  Aufgabe  seiner  Carriere,  zur  Flucht  ins  Ausland  und  zum 
Verbleib  in  der  Verbannung  gebracht  hat.  Dem  Andenken  dieses 
ehrenhaften  Unglücklichen  bin  ich  es  schon  schuldig,  was  ich  tun 
kann,  zur  Aufklärung  beizutragen. 

Dr.  G.  Haberling,  Rechtsanwalt  am  Großherzogl.  Oberlandes- 
gericht zu  Darmstadt:  Im  Besitze  Ihrer  gefl.  Zuschrift  vom  Gest- 
rigen gehe  ich  mit  den  Ausführungen  Ihrer  Eingabe  an  die  gesetz- 
gebenden Körperschaften  des  Deutschen  Reiches  zwecks  Ab- 
schaffung des  traurigen  §  175  des  Str.-G.B.,  den  ich  als  Ver- 
teidiger wiederholt  in  seiner  Schwere  kennen  zu  lernen  Gelegenheit 
hatte,  völlig  einig  und  bitte  etc. 

Justizrat  Dr.  Lewinski,  Stadtverordnetenvorsteher  in  Posen: 
Ich  füge  Ihrem  Aufrufe  gern  meinen  Namen  hinzu,  nachdem  ich 
durch  den  Einblick  in  praktische  Strafrechtsfälle  die  volle  Be- 
rechtigung Ihrer  Bestrebungen  erkannt  habe. 


—    1331    — 

Kuhn,  Rechtsanwalt  und  Notar  in  Laben:  Zufolge  des  mir  zu- 
gegangenen Schriftstücks,  betreffend  die  Aufhebung  des  §  175  des 
Str.-G.-B.,  bitte  ich,  meinen  Namen  den  Unterschriften  derjenigen, 
welche  die  Eingabe  unterschrieben  haben,  beizufügen.  M.  E.  läßt 
sich  für  die  Aufrechterhaltung  des  §  175  auch  das  Rechtsbewußtsein 
des  Volkes  nicht  mehr  anführen,  da  das  Volk  oder  wenigstens 
der  gebildete  Teil  desselben,  in  seiner  weitüberwiegenden  Mehrheit 
die  Delikte  gegen  §  175  des  R.-G.-B.  aus  einem  krankhaften,  un- 
widerstehlichen Triebe  entsprangen  ansieht. 

Justizrat  Fischer  in  München:  Für  Ihre  geschätzte  Zuschrift 
spreche  ich  meinen  verbindlichsten  Dank  aus  und  bitte,  Ihrer  Ein- 
gabe an  die  gesetzgebenden  Körperschaften  des  Reichs  gefälligst 
auch  meinen  Namen  beizufügen,  wenn  dies  noch  möglich  ist.  Ihre 
ebenso  kurze,  als  erschöpfende  und  schlagende  Begründung  habe 
ich  mit  höchstem  Interesse  gelesen.  Die  Verzögerung  meiner 
Antwort  hat  nicht  etwa,  wie  es  scheinen  könnte,  darin  ihren  Grund, 
daß  ich  zu  der  Frage  erst  hätte  Stellung  nehmen  müssen.  Nur 
durch  äußere  Umstände  war  ich  abgehalten,  Ihr  gefälliges  Schreiben 
gleich  zu  beantworten  und  verlor  dann  die  Sache  aus  dem  Ge- 
dächtnis, bis  ich  durch  das  Lesen  eines,  die  bedenklichen  Folgen 
de*  §  175  scharf  beleuchtenden  Rechtsfalles  —  ich  lege  *das  betr. 
Zeitungsblatt  hier  bei  —  wieder  daran  erinnert  wurde. 

Großherzogl.  bad.  Notar  Friedrich  Walz  in  Pforzheim:  Für  die 
gefällige  Übersendung  der  Eingabe,  den  §  175  des  R.-Str.-G.-B.  be- 
treffend, sehr  dankbar,  ermächtige  ich  Sie,  auch  meinen  Namen 
darunter  zu  setzen.  Beobachtungen  des  täglichen  Lebens  weisen 
mit  gebieterischer  Notwendigkeit  auf  die  Abänderung  des  Para- 
graphen. Neben  anderen  sehr  charakteristischen  Fällen  ist  mir 
folgender  .bekannt,  den  ich  Ihnen  in  kurzen  Zügen  mitteilen  möchte: 
N.  N.  ist  auf  dem  Lande  geboren  und  aufgewachsen,  war  nur  ver- 
hältnismäßig kurz  in  der  Fremde.  Von  Beruf  ist  er  Landwirt. 
Weil  sehr  begabt,  hat  er  sich  viel  geistige  Bildung  angeeignet. 
Zu  Hause  lebt  er  wie  ein  Weib  —  kocht  selbst,  näht,  wäscht  usw. 
In  Unkenntnis  seiner  gesundheitlichen  Beschaffenheit  hat  er  ge- 
heiratet, aber  die  Ehe  mußte  naturgemäß  ein  jähes  Ende  nehmen. 
Die  Frau  war  so  vernünftig,  sich  ohne  Skandal  von  ihm  zu  trennen, 
und  nun  lebt  er  seiner  anderen  Liebe  —  einem  jungen  schmucken 
Bauernknecht  (!)  —  von  dem  er  unter  bitteren  Tränen  versicherte, 
nicht  lassen  zu  können.  Dies  geschah  natürlich  im  strengsten 
Vertrauen,  und  die  Außenwelt  hat  von  der  ganzen  Sache  nur  eine 

Jahrbuch  V.  84 


—    1332    — 


unbestimmte  Ahnung,  der  sie   allerdings  des  öfteren  in  der  be-  i 

kannten  Lieblosigkeit  Ausdruck  gibt    loh  füge  bei,  daß  der  Mann  | 

durchaus    ehrenwert  und  gediegen  und  in  hohem  Maße  wohltätig  ', 
ist    Die  Härte  des  Gesetzes  und  der  Menschen  macht  einen  in 
einem    solchen  Falle,    wo    übermächtige   Naturanlage  in   förmlich 

diktatorischer  Weise  zum  Widerspruch  mit   dem  Gesetze  zwingt,  ', 

schaudern.  ' 

i 

Dr.  Julius  Gottschalk,  Rechtsanwalt  in  Aachen:  Mit  Freuden 
will  ich  die  Überzeugung,  die  ich  aus*  praktischen  Fällen  gewonnen 
und  stets  vertreten  habe,  auch  dadurch  betätigen,  daß  ich  der 
Eingabe  an  die  gesetzgebenden  Körperschaften  meinen  Kamen  bei- 
zufügen bitte. 

GrpßherzogL  hess.  Notar  Dr.  Weiffenbach  in  Bingen  a.  Rh.: 
Unter  höfl.  Bezugnahme  auf  Ihre  Drucksendung  bitte  ich  Sie,  den 
unter  der  Eingabe  auf  Abschaffung  des  §  175  des  R.-Str.-G.-B.  be- 
findlichen Unterschriften  auch  meinen  Namen  gefl.  beizufügen. 
Die  von  medizinischer  und  juristischer  Seite  geltend  gemachten 
Gründe  erscheinen  mir  so  durchschlagend,  daß  man  sich  ihnen 
wohl  kaum  entziehen  kann.  Gleichzeitig  bitte  ich  um  gefl.  Über- 
sendung der  Schrift:  „Was  muß  das  Volk  vom  dritten  Geschlecht 
wissen?",  da  ich  mich  über  die  Materie,  die  demnächst  unsere  Volks- 
vertretung und  jeden  gebildeten  Deutschen  beschäftigen  wird, 
näher  unterrichten  möchte. 

Oscar  Jerschke,  Rechtsanwalt  in  Straßburg  i.  E. :  Ich  erkläre 
mich  mit  Ihrer  Petition  an  die  gesetzgebenden  Körperschaften 
wegen  des  §  175  des  Str.-G.-B.  durchaus  einverstanden  und  können 
Sie  auch  meinen  Namen  den  übrigen  beifügen.  Es  ist  kaum  zu  be- 
greifen, daß  dieser  Paragraph  immer  noch  am  Leben  ist!  Noch 
weniger,  daß  es  Persönlichkeiten  gibt,  die  an  sich  der  Petition 
sympathisch  gegenüberstehen,  aber  sich  scheuen,  ihren  Namen  da- 
runter zu  setzen,  damit  sie  nicht  in  den  Verdacht  geraten,  in  irgend 
welchen  Beziehungen  zu  diesem  Paragraphen  zu  stehen. 

Bruno  Mankiewioz,  Rechtsanwalt  in  Frankfurt  a.  M.:  Für  die 
freundliche  Zusendung  der  Eingabe,  welche  an  die  gesetzgebende 
Körperschaft  dos  Deutschen  Reiches  bezügl.  Abschaffung  des  §  175 
des  Str.-G.-B.  gerichtet  werden  soll,  sage  ich  Ihnen  meinen  besten 
Dank.  Ich  hatte  in  meiner  Praxis  wiederholt  Gelegenheit,  mit 
Leuten,  die  aus  diesem  Paragraphen  angeklagt  waren,  zu  tun  zu 
haben  nnd  habe  dabei  die  feste  Überzeugung  gewonnen,   daß  die 


—    1333    — 

Betreffenden  keine  verbrecherischen,  sondern  nur  krankhafte  Neig- 
ungen hatten.  Ich  stimme  den  Bestrebungen  auf  Beseitigung  dieses 
Paragraphen  von  ganzem  Herzen  zu  und  ermächtige  Sie,  'auch 
meinen  Namen  unter  die  Eingabe  zn  setzen. 

Dr.  Oskar  Metzger,  Rechtsanwalt  in  Freiburg  i.  B.:  Ich  bin 
mit  der  Eingabe  völlig  einverstanden  und  freue  mich  im  Interesse 
der  beklagenswerten  Opfer  einer  anormalen  Veranlagung,  daß  in 
entschiedener  Weise  vorgegangen  wird. 

E.  Notar  Hauber  in  Eusel:  Der  an  die  gesetzgebenden  Körper- 
schaften des  Deutschen  Reiches  behufs  Abschaffung  des  §  175  des 
R.-Str.-G.-B.  zu  richtenden  Eingabe  —  mit  dem  mitgeteilten  In- 
halte —  schließe  ich  mich  hiermit  an  und  bedaure  nur,  daß,  wenn 
Sie  Ihr  Ziel  erreichen,  damit  das  furchtbare  Unrecht,  welches  bis- 
her auf  Grund  des  §  175  des  R.-Str.-G.-B.  seitens  der  Staatsgewalt 
an  vielen  der  ärmsten  Menschen  verübt  wurde,  nicht  wieder  gut 
gemacht  werden  kann. 

Rechtsanwalt  Emanuel  in  Berlin:  Mit  den  Bestrebungen  des 
wissenschaftlich-humanitären  Komitees  für  Beseitigung  bez.  Ab- 
änderung des  §  175  des  Str.-G.-B.  bin  ich  in  jeder  Weise  ein- 
verstanden und  ermächtige  Sie  gern,  meinen  Namen  den  Unter- 
schriften beizufügen.  Es  besteht  für  mich  schon  seit  langem  nicht 
mehr  der  mindeste  Zweifel,  daß  der  genannte  Paragraph  einer  der 
widersinnigsten  unseres  Strafgesetzbuches  ist. 

Victor  Fraenkl,  Rechtsanwalt  in  Berlin:  Mit  verbindlichem 
Danke  für  die  Drucksache  —  betr.  §  175  des  R.-Str.-G.-B.  —  bitte 
ich,  auch  meinen  Namen  den  Unterschriften  der  Eingabe  beizufügen. 
Bei  der  Langsamkeit,  mit  welcher  in  Deutschland  derartige 
Reformen  sich  durchzusetzen  pflegen,  ist  leider  zu  fürchten,  daß 
die  schlimmer  als  mittelalterliche  Tortur  dieser  sogenannten  Ge- 
setzesbestimmung noch  recht  lange  ihr  schädigendes  Unwesen 
treiben  und  noch  gar  manche  Opfer  heischen  werde. 

Rechtsanwalt  beim  Großh.  Landgericht  Karlsruhe  F.  Neukum 
in  Durlaoh:  Bezugnehmend  auf  das  an  mich  gerichtete  Zirkular  — 
betreffend  Anregung  der  Abschaffung  des  §  175  des  R.-Str.-G.-B.  — 
ersuche  ich  Sie,  meinen  Namen  ebenfalls  den  Unterschriften  bei- 
zufügen, welche  die  Beseitigung  des  genannten  §  anstreben.  Ich 
kann  mich  zwar  der  Auffassung  nicht  verschließen,  daß  es  Einzel- 
fälle  gibt,    in  denen    eine  krankhafte  Perversität  nicht   vorliegt, 

84* 


—    1334    — 

jedoch  bin  loh  der  Überzeugung,  daß  solche  in  der  weitaus  er- 
drückenden Mehrzahl  der  zur  Strafverfolgung  gezogenen  Fälle  vor- 
handen ist,  so  daß  daneben  die  wenigen  strafrechtlich  verantwort- 
baren Verstöße  geradezu  verschwinden  und  keinen  besonderen 
Schutz-Paragraphen  notwendig  machen. 

Rechtsanwalt  Moos  II  in  Ulm  a.  D.:  Für  die  Zusendung  Ihres 
Zirkulars  danke  ich  bestens  und  gestatte  Ihnen  gern,  meinen  Namen 
demselben  anzufügen.  Der  naturwissenschaftlichen  Forschung  in 
dieser  Frage  nachzugehen,  bin  ich  beruflich  nicht  in  der  Lage, 
auch  die  kriminalpolitischen  Erwägungen  sind  für  meine  Stellung- 
nahme nicht  bestimmende.  Mich  leitet  dabei  der  Gedanke,  daß  für 
das  Verhalten  der  Homosexuellen  ein  innerhalb  der  normalen  körper- 
lichen und  geistigen  Beschaffenheit  denkbares  Motiv  nicht  gegeben 
ist.  Warum  sollte,  wenn  eine  krankhafte  Veranlagung  nicht  vor- 
liegt, sich  ihre  Sinnlichkeit  anders,  als  normal,  betätigen?  Ein 
Leitsatz  unserer  modernen  Strafrechtswissenschaft  ist  die  Rechts- 
regel: nullum  crimen  sine  culpa;  damit  stimmt  die  Tatsache  überein, 
daß  bei  allen  unsere  Strafgesetzgebung  festgelegten  Kategorien  der 
Straftaten  ein  innerhalb  des  normalen  Empfindungslebens  liegendes 
Motiv  denkbar  ist.    Das  Motiv  für  einen  Mord,  um  das  weitgehendste 

Beispiel  zu  wählen,   kann  in  Geldgier,  Rachsucht,  Eifersucht 

gegeben  sein;  also  in  an  sich  keineswegs  abnormen  Empfindungen 
und  Vorstellungen.  Ein  auf  einer  normalen  Veranlagung  beharren- 
des Motiv  ist  aber  bei  der  Homosexualität  nicht  denkbar.  Bestraft 
wird  vielmehr  bisher  die  Betätigung  einer  krankhaften  Veranlagung, 
einer  abseits  des  normalen  Empfindungslebens  gelegenen,  von  inner- 
halb der  normalen  Veranlagung  denkbaren  Motiven  im  Regelfall 
nicht  geleiteten  Handlung.  Von  einem  Verschulden  kann  hier 
höchstens  ausnahmsweise  die  Rede  sein,  deshalb  ist  die  Bestrafung, 
welche  eigentlich  die  krankhafte  Veranlagung  als  solche  trifft,  ein 
zu  beseitigender  Rest  der  mittelalterlichen*  Kriminalistik. 

Rechtsanwalt  John  Alexander,  Hamburg.  Ihre  Bemühungen 
verdienen  den  aufrichtigen  Dank  aller  Menschenfreunde ;  namentlich 
stimme  ich  aus  meinen  Erfahrungen  als  Verteidiger  den  Gründen 
am  Schluß  Ihrer  Eingabe  (Chantage)  in  den  No.  II  u.  IH  des  Nach- 
trages  zu. Ich  habe,   obgleich    ich   nur   ausnahmsweise 

Verteidigungen  übernehme,  die  Überzeugung,  daß  mit  diesem  Krebs- 
schaden schleunigst  aufgeräumt  werden  sollte,  weil  selbst  der 
objektive  Tatbestand  bei  den  meisten  Verurteilungen  auf  diesem 
Gebiet  nicht  einwandsfrei  festgestellt  erscheint;  —  trotz  der  richter- 


—    1335    — 

liehen  Feststellung.  —  In  einem  Fall  habe  ich  den  Ruin  einer 
Familie,  deren  Haupt  ich  erfolglos  verteidigt  habe,  erlebt;  nicht 
einmal  Begnadigung  war  zu  erlangen,  obwohl  das  Urteil  schließlich 
nur  auf  Beleidigung  lautete. 

Rechtsanwalt  Dr.  Karl  Siehr,  Königsberg,  Oberlandesgericht. 
Ihrer  Eingabe  betreffend  §  175  meine  Unterschrift  hinzuzufügen, 
ermächtige  ich  Sie,  da  die  von  Ihnen  angestrebte  Gesetzesänderung 
aus  den  von  Ihnen  angeführten  Gründen  wünschenswert  erscheint 
und  die  Natur  der  in  Rede  stehenden  Materie  es  mit  sich  bringt, 
daß  weit  weniger  Unterschriften,  als  wünschenswert,  deshalb  zu 
erreichen  sein  werden,  weil  weite  Kreise  die  Größe  der  Fehler- 
haftigkeit der  jetzigen  Bestimmung  und  den  daraus  entstehenden 
Schäden  für  das  Staats  wohl  zu  erkennen,  die  medizinische  und 
strafrechtliche  Bedeutung  der  Frage  zu  durchdringen  nicht  in  der 
Lage  sein,  weitere  teils  aus  Gleichgültigkeit  teils  aus  Scheu,  ihren 
Namen  mit  §  175  in  Verbindung  zu  bringen,  nicht  antworten  werden. 

In  der  Münchener  Abteilung  unseres  Komitees  (Vor- 
sitzender Rechtsanwalt  Dr.  Fraas)  wurde  nach  der  Affäre 
Krupp  eine  ausführliche  Eingabe  an  die  Civilcabinette 
sämtlicher  deutscher  Höfe,  Senate  der  freien  Städte  und 
den  Statthalter  von  Elsaß-Lothringen  verschickt.  Dieselbe 
lautete: 

Sr.  Hochwohlgeboren  dem  Herrn  Vorstand  des  Groß- 
herzoglichen  Kabinettes  zu  Oldenburg.  Ew.  Hochwohlgeboren!  Das 
„Wissenschaftlich-humanitäre  Komitee,  Abteilung  München,"  welches 
es  sich  zur  Aufgabe  gesetzt  hat,  auf  Grund  der  Selbsterfahrung 
von  Tausenden  und  sicher  gestellter  Forschungsergebnisse  Klarheit 
darüber  zu  schaffen,  daß  es  sich  bei  der  Liebe  zu  Personen  des 
gleichen  Geschlechts,  der  Homosexualität,  um  eine  Naturerscheinung 
handelt  und  dahin  zu  arbeiten,  daß  die  §§  175  D.-R.-St.-G.-B.  und  129 
Ö.-Str.-G.,  deren  bloßer  Bestand  für  jeden  konträrsexuell  Em- 
pfindenden, auch  bei  völlig  tadelloser  Lebensführung,  eine 
fortgesetzte  Beschimpfung  und  Beschuldigung  bildet,  in  ihrer 
jetzigen  Fassung  abgeschafft  werden,  gestattet  sich  Ew.  Hoch- 
wohlgeboren folgende  Erwägungen  mit  der  ganz  ergebensten  Bitte 
zu  unterbreiten,  dieselben  an  Allerhöchster  Stelle  baldmögüchat  in 
geeigneter  Weise  zur  Sprache  zu  bringen. 

Anläßlich  der  über  Geheimrat  Krupp  kurz  vor  seinem  Tode 
aufgestellten  Behauptungen  und  der  daraus  entstandenen  Interesse- 


—    1336    — 

nähme  nicht  allein  für  diesen  einzelnen  Fall,  sondern  im  allgemeinen 
für  die  mit  der  Homosexualität  verbundenen  Strafbestimmungen  und 
der  daraus  folgenden  gesellschaftlichen  Mißachtung  halten  wir  den 
Zeitpunkt  für  gekommen,  entsprechend  unserer  oben  dargelegten 
Tendenz,  wiederholt  für  die  von  uns  bereits  am  18.  Januar  1898 
durch  Petition  im  Reichstag  angeregte  Abänderung  der  genannten 
deutschen  Gesetzesbestimmung  aufs  Energischste  eintreten  zu  sollen. 
Denn  —  einerlei  ob  die  von  der  sozialdemokratischen  Presse  auf- 
gestellten Behauptungen  über  Krupp  beweisbar  sind  oder  nicht  — 
der  Umstand,  daß  die  bloße  Behauptung  einer  derartigen  Ver- 
anlagung die  indirekte  Ursache  selbst  zum  Tode  eines  so  hervor- 
ragenden Mannes  werden  kann,  gibt  zu  ernsten  Betrachtungen 
Anlaß  und  zeigt  zur  Genüge,  daß  die  bestehenden  gesetzlichen  und 
damit  zusammenhängenden  gesellschaftlichen  Anschauungen  zu 
unhaltbaren  Consequenzen  führen. 

Wie  wir  mit  aller  Bestimmtheit  versichern,  gehören  geistig 
und  gesellschaftlich  hervorragende  Männer  aller  Zeiten  und 
Länder  in  großer  Anzahl  zu  den  Homosexuellen,  und  gerade 
hier  zeigt  sich,  daß  dieselben  entweder  durch  das,  infolge  des 
Paragraphen  bekanntlich  so  gefährlich  gewordene  Erpressertum, 
oder  schon  durch  die  Anhängigmachung  eines  Strafverfahrens 
—  von  einer  Verurteilung  ganz  abzusehen  —  unmöglich  ge- 
macht werden,  oder  daß  wir,  wie  moderne  Strafrechtslehrer 
[Professor  Kohler-Berlin]  ernsthaft  fordern,  zu  einer  utüitarischen 
Rechtssprechung  gelangen,  welche  bedeutende  Talente  dem  Vater- 
lande unter  allen  Umständen  zu  erhalten  sucht,  den  kleinen 
Mahn  aber  gegen  die  Härte  des  Gesetzes  nicht  schützt.  Hierzu 
kommt,  daß  wohl  keine  Bestimmung  des  Strafgesetzes  so  häufig 
ungeahndet  tibertreten  wird,  und  daß  nach  Professor  Gross-Prag 
Ausspruch  dies  gegen  den  wichtigsten  Grundsatz  der  Strafrechts- 
politik, die  Erhaltung  von  Ernst  und  Wirkung  des  Strafrechts 
durch  Gleichmäßigkeit  der  Handhabung  und  durch  Bestrafung 
von  möglichst  vielen  Delikten,  verstößt. 

Es  mag  im  Übrigen  genügen,  wenn  wir  auf  die  weiteren 
Gründe  kurz  hinweisen,  welche  gerade  von  berufenster  medicinischer 
und  juristischer  Seite  zur  Abänderung  des  Paragraphen  geltend 
gemacht  *  werden  .... 

Es  darf  wohl  daran  erinnert  werden,  daß  eine  von  den  hervor- 
ragendsten Vertretern  der  Wissenschaft  so  dringend  befürwortete 
Gesetzesänderung  im  Interesse  der  Gerechtigkeit,  des  Vertrauens 
unseres  Volkes  auf  einheitliche  Rechtsprechung  und  des  Lebens- 
glückes von  tausenden  anormal  veranlagten,   oft  sehr  bedeutenden 


—    1337    — 

und  durchaus  sittlich  denkenden  Menschen  nicht  länger  zurück- 
gestellt werden  sollte,  damit  in  den  Jahren,  welche  noch  bis  zum 
Abschluß  der  geplanten  Strafgesetzreform  vergehen  werden,  die 
Zahl  der  mittelbaren  und  unmittelbaren  Opfer  dieser  Strafbestimmung 
sich  nicht  täglich  mehren. 

Wir  verkennen  nicht,  daß  es  großer  Selbstüberwindung  bedarf, 
sich  mit  dioser  Frage  näher  zu  befassen,  glauben  aber  trotzdem  im 
Hinblick  auf  die  Lauterkeit  unserer  Bestrebungen  einer  gnädigen 
Gewährung  unserer  Bitte  entgegensehen  zu  dürfen." 

Von  den  Höfen  München  und  Darmstadt  trafen  Ant- 
worten mit  dem  Vermerke  ein,  daß  die  Eingabe  im 
Allerhöchsten  Auftrage  den  betreffenden  Staatsministerien 
überwiesen  worden  sei,  andere  Höfe  beschränkten  sich  auf 
einfache  Empfangsbestätigungen. 

Ferner  traten  wir  an  sämtliche  deutsche  Justizmini- 
sterien mit  einem  Gesuch  heran,  die  Staatsanwälte  auf- 
zufordern, in  jedem  Falle  aus  §  175  einen  gerichtlichen 
Sachverständigen  hinzuzuziehen.  Die  Eingabe  hatte  fol- 
genden Wortlaut: 

„Hochgebietender  Herr  Staatsminister!  Ew.  Excellenz  beehren 
wir  uns  nachstehende  Angelegenheit  mit  der  Bitte  um  hochgeneigte 
Erwägung  gehorsamst  vorzutragen.  Bei  denjenigen  Verurteilungen, 
welche  in  neuerer  Zeit  wegen  Verfehlung  gegen  §  175  R.  St.  G.  B. 
stattgefunden  haben,  sind,  bei  im  wesentlichen  gleichartigen  Hand- 
lungen, die  Strafen  außerordentlich  verschieden  bemessen  worden, 
da  das  Angeborensein  konträrsexueller  Neigungen  eine  sehr 
ungleichmäßige  Berücksichtigung  erfahren  hat,  sodaß  teils  Frei- 
sprechung oder  Verhängung  geringer  Freiheitsstrafen,  teils  aber 
auch  Verurteilung  zu  langdauernden  Gefängnisstrafen  erfolgt  ist. 
Eine  derartig  verschiedene  Praxis  muß  notwendigerweise  zu  erheb- 
lichen Härten  und  Unbilligkeiten  führen,  auch  lebhafte  Beun- 
ruhigung bei  allen  mit  konträrsexuellen  Naturtrieben  Behafteten 
hervorrufen.  Indem  wir  anbei  die  seiner  Zeit  an  Bundesrat  und 
Reichstag  gerichtete  Petition  überreichen  und  auf  die  umfassende 
Literatur  bezugnehmen,  welche  wir  zur  Verfügung  zu  stellen  gern  erbötig 
sind,  gestatten  wir  uns  Ew.  Excellenz  die  ehrerbietige  Bitte  zu  unter- 
breiten, in  hochgeneigte  Erwägung  zu  ziehen  ob  es  nicht  angängig 
wäre,  an  die  Herren  Staatsanwälte  eine  Anweisung  in  dem  Sinne 
zu  erlassen,  daß  zur  Herbeiführung  einer  einheitlicheren  Praxis  bei 
Strafanträgen  aus  §  175  in  jedem   einzelnen  Falle   die  Frage  nach 


—    1338    — 

dem  Vorhandensein  eines  derartigen  Naturtriebes  eingehend  erörtert 
und  dabei  den  neuesten  Ergebnissen  der  Wissenschaft  in  vollstem 
Maße  Rechnung  getragen  werden  möge." 

Vor  allem  wandten  wir  uns  im  Interesse  der  Homo- 
sexuellen auch  an  die  Mitglieder  der  Kommissionen, 
welche  mit  Beginn  des  Jahres  1903  zusammengetreten 
waren,  um  eine  Revision  des  deutschen  Strafprozesses, 
Strafgesetzes  und  Strafvollzuges  vorzubereiten,  mit  fol- 
gendem Anschreiben: 

„Hochgeehrter  Herr!  Durch  Ihre  Berufung  in  die  Commission 
zur  Vorbereitung  des  neuen  Reichs-Strafgesetzbuches  ist  die  Zu- 
kunft einer  nicht  unbeträchtlichen  Menschenklasse,  deren  sorgsame 
Erforschung  seit  Jahren  die  Hauptaufgabe  des  unterzeichneten 
Komitees  bildet,  in  Ihre  Hände  gelegt  worden.  Wir  stellen 
Ew.  Hochwohlgeboren  auf  Wunsch  gern  die  Unterlagen  zur  Ver- 
fügung, welche  uns  die  Überzeugung  beigebracht  haben,  daß 
der  §  175.  R.-Str.-G.-B.  in  seiner  jetzigen  Form  nicht  aufrecht 
erhalten  werden  kann.  Die  Leiter  des  Komitees  erbieten  sich 
Ihnen  gegenüber  zu  jeder  schriftlichen  und  namentlich  auch  münd- 
lichen Auskunft  Die  letzte  aus  dem  Komitee  hervorgegangene 
Arbeit,  welche  das  in  Frage  stehende  Gebiet  auf  Grund  sehr  aus- 
gedehnter Objektstudien  behandelt,  beehren  wir  uns  Ihnen  mit 
gleicher  Post  zu  tibersenden.  Von  höchstem  Werte  erschiene  es 
uns,  wenn  Ew.  Hochwohlgeboren  Gelegenheit  nehmen  würden, 
derartig  veranlagte  Personen  durch  eigenen  Augenschein  kennen 
zu  lernen.  Eine  größere  Anzahl  derselben  aus  verschiedenen  Ge- 
sellschaftsschichten hat  sich  zur  persönlichen  Vorstellung  bereit 
erklärt. 

Indem  wir  diese  unsere  Bitte  Ihrer  geneigtesten  Berück- 
sichtigung empfehlen,  zeichnen  etc." 

Die  Kommission,  welcher  die  so  außerordentlich 
wichtige  Aufgabe  zugefallen  ist,  die  Reform  unserer 
Strafgesetze  vorzubereiten,  besteht  aus  acht  Professoren 
des  Strafrechts,  nämlich  den  Herren  Birkmeyer-München, 
van  Calker-Straßburg  i.  E.,  Frank-Tübingen,  v.  Hippel- 
Halle,  Kahl-Berlin,  v.  Lilienthal-Heidelberg,  v.  Liszt- 
Berlin  und  Wach-Leipzig.  Von  diesen  hervorragenden 
Gelehrten  haben  sich  bisher  nur  zwei  —  v.  Liszt  und 
v.  Lilienthal  —  mit  aller  Bestimmtheit  für  die  Streichung 


—     1339    — 

des  §  175  erklärt,  wir  hoffen,  daß  auch  die  übrigen 
Herren  durch  eine  sorgfältige  Prüfung  der  Materie,  vor 
allem  durch  die  so  notwendige  persönliche  Bekanntschaft 
mit  Homosexuellen  zu  der  Überzeugung  gelangen  werden, 
daß  es  sich  hier  —  wir  zitieren  die  Worte  eines  hohen 
Staatsbeamten —  „nicht  um  eine  wissenschaftliche  Marotte, 
noch  um  eine  sexuelle  Caprice,  sondern  um  eine  sittliche 
Forderung14  handelt. 

Bis  der  Entwurf  des  neuen  Strafgesetzbuchs  fest- 
gelegt ist,  wird  es  wohl  noch  gute  Weile  haben,  es 
können  noch  Jahre  vergehen,  bis  derselbe  dem  Reichs- 
tage vorgelegt  wird.  Es  ist  sehr  fraglich,  ob  der  1903 
gewählte  Reichstag  während  seiner  bis  1898  dauern- 
den Legislaturperiode  schon  die  endgültige  Entscheidung 
fällen  wird.  So  sehr  dies  im  Interesse  derjenigen  zu 
bedauern  ist,  die  noch  einer  ungerechten  Bestimmung 
zum  Opfer  fallen  werden,  so  hat  es  doch  auch  insofern  sein 
Gutes,  als  bis  dahin  noch  in  weitesten  Volkskreisen 
aufklärend  vorgegangen  werden  kann,  da  wir  es  für 
wichtig  halten,  daß  der  §  175  nicht  aus  bloßen  Rechts- 
gründen  fällt,  sondern  im  Einklang  mit  der  natur- 
wissenschaftlichen Erkenntnis  der  Fachleute  sowohl 
wie  auch  des  großen  Publikums.  Wir  konstatieren 
mit  Genugtuung,  daß  auch  diejenigen  Gelehrten,  welche 
mit  unserer  Ansicht  vom  Angeborensein  der  Homosexua- 
lität nicht  übereinstimmen,  sich  fast  ohne  Ausnahme  für 
die  Abänderung  des  §  175  ausgesprochen  haben,  selbst 
Dr.  Iwan  Bloch  sagt  in  seinem  letzten  Werke,  das  er 
unter  dem  Namen  Dr.  Eugen  Dühren  herausgegeben  hat 
(„Das  Geschlechtsleben  in  England*,  Bd.  III,  Seite  8), 
„daß  er  in  Deutschland  die  Gefängnisstrafe  für  Vergehen 
gegen  §  175  abgeschafft  sehen  möchte,  da  durch  dieselbe 
der  Zweck,  eine  Verbreitung  homosexueller  Neigungen 
und  Betätigungen  zu  verhindern  nicht  erreicht  wird." 
Auch  der  alte  Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  Pelman  in  Bonn 


r 


—    1340    — 

hat  neuerdings  unserer  Petition  seine  Unterschrift  erteilt, 
da  er  den  „besagten  §  für  wirklich  tiberflüssig  und  schädlich 
hält.*  „Ich  bemerke  indess*  —  fügt  er  hinzu  —  „daß 
Sie  mir  und  sehr  vielen  meiner  Kollegen  die  Zustimmung 
durch  die  Art  der  Begründung  sehr  schwer,  wenn  nicht 
unmöglich  gemacht  haben,  während  ich  kein  Bedenken 
trage,  den  Punkten  I — IV  des  Anhanges  beizutreten.* 
Ähnlich  äußerte  sich  auch  Geh.  Med.  Rat  Jolly  in  einem 
Vortrage   in  Berlin. 

Hervorragende  Persönlichkeiten  im  öffentlichen  Leben, 
bedeutendere  Mitglieder  der  gesetzgebenden  Körper- 
schaften, vor  allem  die  Presse  wurden  —  soweit  die 
Mittel  reichten  —  auch  in  diesem  Jahre  wiederum  mit 
Schriftenmaterial,  namentlich  mit  den  Jahrbüchern  ver- 
sehen. Von  unserer  Volksschrift:  Was  soll  das  Volk  vom 
dritten  Geschlecht  wissen  ?  sind  bis  jetzt  c.  18000  Exem- 
plare verbreitet.  Die  Bedeutung  der  Jahrbücher  wurde 
von  vielen  Seiten  —  u.  a.  in  gegen  50  Besprechungen  — 
voll  anerkannt.  Wir  geben  eine  Bemerkung  wieder, 
welche  sich  über  dieselben  in  dem  neuesten  Buche 
Schrenck-Notzings1)  findet: 

„Diesen  Zweck  verfolgt  das  zum  erstenmal  1899  erschienene 
und  heute  in  vier  Jahrgängen  resp.  Bänden  vorliegende  von  Dr. 
Hirschfeld  herausgegebene  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen. 
Bd.  I  zählt  280,  Bd.  II  483,  Bd.  III  616  und  Bd.  IV  980  Seiten. 
Alles,  was  irgendwie  eine  Beziehung  zum  sexuellen  Problem  bietet, 
findet  man  hier  mit  Quellenangaben  gesammelt.  Hochinteressante 
wissenschaftliche  Abhandlungen  aus  der  Feder  geistreicher  Ge- 
lehrter, historische,  anthropologische,  medizinische,  literarische  Bei- 
träge, ausführliche  Besprechung  der  Literatur  und  bibliographische 
Notizen   haben   dieses   Unternehmen   bereits   zu  einem  wertvollen 


*)  Kriminalpsychologische  und  psychopathologische 
Studien.  Gesammelte  Aufsätze  aus  den  Gebieten  der  Psychopathia 
sexualis,  der  gerichtlichen  Psychiatrie  und  der  Suggestionslehre 
von  Dr.  Freiherrn  v.  Schrenck-Notzing  in  München,  Leipzig, 
Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth.   1902. 


—    1341    — 

und  für  den  Fachmann  unentbehrlichen  Hilfsmittel  der  Forschung 
gemacht.  Man  mag  die  Lehre  des  Angeborenseins  der  Homo- 
sexualität (im  Sinne  Krafft-Ebings)  verwerfen,  wie  sie  in  den  Jahr- 
büchern beinahe  dogmatisch  vertreten  wird  und  mit  immer  neuen 
Beweismitteln  ausgestattet  erscheint;  man  mag  es  als  ein 
Charakteristikum  unserer  dekadenten  Zeit  betrachten,  daß  eine 
psyohopathologische  Spezies  von  Menschen  bestehend  aus  wirk- 
lichen Degenerierten,  aus  Hermaphroditen  und  psychischen  Zwittern, 
eine  besondere  soziale  Anerkennung  und  Daseinsberechtigung 
anstrebt,  sowie  freie  Betätigung  ihres  mit  dem  Naturzweck  im 
Widerspruch  stehenden  geschlechtlichen  Trieblebens,  der  riesigen, 
unermüdlichen  Arbeitskraft,  der  zähen  Ausdauer,  der  geschickten 
Organisation,  wie  sie  in  diesem  Unternehmen  betätigt  sind,  wird 
man  die  volle  Anerkennung  nicht  versagen  können,  umso  weniger, 
als  die  Abänderungsbedürftigkeit  des  §  175  ja  auch  von  den 
Gegnern  der  Vererbungstheorie  zugegeben  wird." 

Neben  der  litterarischen  wurde  im  vergangenen 
Jahre  die  Vortragspropaganda  in  ausgedehntem  Maße 
zu  Hülfe  genommen.  Nach  dem  unter  so  eigentüm- 
lichen Umständen  erfolgtem  THe  Krupps  traten 
sowohl  wissenschaftliche  als  politische,  gewerkschaft- 
liche und  sonstige  Korporationen  an  unser  Komitee 
mit  der  Anfrage  heran,  ob  nicht  von  unserer  Seite 
bei  ihnen  Vorträge  über  die  homosexuelle  Frage 
gehalten  werden  könnten.  Nur.  ungern  und  nach  reif- 
licher Überlegung  entschlossen  wir  uns  hierzu.  Wir 
sagten  uns,  daß  diese  Art  der  Agitation  möglicherweise 
als  eine  übertriebene  angesehen  werden  und  Anstoß  er- 
regen könne,  während  wir  uns  andererseits  nicht  ver- 
hehlten, daß  in  dem  lebendigen  Wort  ein  außerordent- 
lich wirksames,  fast  unersetzliches  Mittel  gegeben  war, 
zumal  sich  in  der  freien  Diskussion  Gelegenheit  bieten 
würde,  mit  dem  Gegner  über  das  Problem  ins  Klare  zu 
kommen. 

Der  erste  Vortrag,  welcher  von  der  medizinischen 
Abteilung  der  Berliner  Wildenschaft  veranstaltet  werden 
sollte,  wurde  durch  ein  Verbot  des  Rektors  der  Univer- 


—    1342    — 

sität  unmöglich  gemacht.  Unter  Berufung  auf  dieses 
Verbot  untersagte  auch  die  Leipziger  Polizeibehörde 
einen  Vortrag  über  denselben  Gegenstand.  Ähnlich 
geschah  es  in  Hannover.  An  beiden  Orten  waren  bereits 
für  die  Abhaltung  und  Bekanntmachung  kostspielige 
Vorbereitungen  getroffen  worden. 

Im  übrigen,  namentlich  auch  seitens  der  Berliner 
Polizeibehörden  wurde  den  Veranstaltungen  nichts  in  den 
Weg  gelegt.  Der  Erfolg  der  Versammlungen  war  ein 
über  alle  Erwartungen  großer.  Die  großen  Säle  waren 
stets  bis  auf  den  letzten  Platz  gefüllt,  wiederholt  fand 
wegen  Überfüllung  polizeiliche  Absperrung  statt,  gegen 
800,  1000,  1200  in  einem  Falle  gegen  1600  Personen 
wohnten  den  einzelnen  Vorträgen  bei.  In  einer  Ver- 
sammlung, in  welcher  die  Ärzte  Dr.  von  Oppel  und  Dr. 
Burchard  das  Referat  übernommen  hatten,  wurde  abge- 
stimmt, wieviel  Personen  für,  wieviel  gegen  die  Ab- 
schaffung des  §  175  waren.  Von  1000  Anwesenden 
stimmten  nur  11  dagegen.  In  den  oft  lebhaften  Diskus- 
sionen bekannten  sich  wiederholt  mutige  Anwesende 
öffentlich  als  homosexuell.  Wiederholt  sah  man  während 
des  Vortrags  Homosexuelle  in  ihrer  starken  seelischen  Er- 
schütterung Tränen  vergießen.  Sehr  interessant  waren 
manche  Bemerkungen  aus  dem  Publikum.  So  sagte  in 
einer  Versammlung  ein  alter  Mann:  »Vor  50  Jahren 
habe  ich  einmal  einen  solchen  Menschen,  der  etwas  von 
mir  wollte,  angezeigt;  er  verlor  seine  Stellung,  seine 
Heimat  und  Familie.  Was  gäbe  ich  jetzt  darum,  wenn 
ich  das  wieder  gut  machen  könnte!"  —  Nach  einem 
Vortrage  in  Charlottenburg  trat  ein  General  a.  D.  auf 
mich  zu  und  bemerkte:  „Heute  Abend  sind  mir  zwei 
merkwürdige  Erlebnisse  meines  Lebens  klar  geworden. 
Als  ich  noch  Fähnrich  war,  erschoß  sich  in  meinem  Re- 
giment ein  Leutnant,  der  bei  weitem  der  beliebteste 
Offizier    war.     In  einem  Briefe,    den  er  an  seine  Käme- 


—     1343    — 

raden  gerichtet  hatte,  teilte  er  mit,  er  sei  anders  wie 
andere  Männer  gewesen,  mit  Aufbietung  aller  Kräfte  sei 
es  ihm  bisher  gelungen,  sich  zu  beherrschen,  er  spüre, 
daß  er  es  nicht  mehr  imstande  sei,  deshalb  mache  er  ein 
Ende.  Später  wäre  in  einer  seiner  Garnisonen  ein  ver- 
heirateter Major  der  Kavallerie  gewesen,  von  dem  sich 
die  Leute  zuraunten,  er  sei  Päderast.  Hier  in  Berlin 
hätte  er  die  beiden  Töchter  des  schon  lange  verstorbenen 
Offiziers  wiedergesehen,  sie  gingen  beide  als  Prostituierte 
auf  der  Friedrichstraße.*  Ganz  besonders  erfolgreich 
war  auch  ein  Vortrag  in  Frankfurt  am  Main,  über  den 
die  gesamte  dortige  Presse  ausführlich  berichtete.  Wir 
geben  einige  Besprechungen,  wieder.  So  schrieb  die 
Frankfurter  Zeitung: 

„Das  dritte  Geschlecht.  Der  polytechnische  Saarhat  nicht  oft 
eine  so  große  Zahl  von  Besuchern  beherbergt  wie  am  Dienstag 
abend.  Das  aktuelle  Thema  galt  der  „homosexuellen  Frage*'  oder 
dem  „dritten  Geschlecht".  Das  wissenschaftlich-humanitäre  Komitee 
Berlin-Frankfurt  a.  M.  hat  damit  den  ersten  Schritt  nach  Süd- 
deutschland getan;  öffentliche  Versammlungen  waren  bisher  nur  in 
Berlin  abgehalten  worden.  Diesem  Komitee,  das  bekanntlich  die 
Aufhebung  des  §  175  des  Reichsstrafgesetzbuches  anstrebt,  gehört 
eine  große  Anzahl  von  Männern  im  ganzen  deutschen  Reiche  an, 
deren  Namen  von  Bedeutung  ist,  und  es  ist  bereits  mit  einer  ein- 
gehenden Begründung  seiner  Forderung  hervorgetreten.  Einer  der 
ersten  Wortführer  dieser  modernen  Bewegung  ist  Dr.  med.  Magnus 
Hirschfeld.  Er  war  der  Sprecher  des  Abends.  Ehe  er  begann, 
begrüßte  der  Vorsitzende  Rechtsanwalt  Dr.  Fuld-Mainz  die  Ver- 
sammlung imd  gab  der  Hoflhung  Ausdruck,  daß  der. Versuch,  auf- 
klärend im  Sinne  der  Bestrebungen  jenes  Komitees  zu  wirken, 
Erfolg  haben  möge.  Man  habe  es  mit  einer  sittlichen  Frage  aller- 
ersten Ranges  zu  tun,  und  es  sei  zu  erwarten,  daß  die  hohen  Ziele 
der  Vereinigung  volles  Verständnis  finden  würden." 
(Es  folgt  eine  genaue  Inhaltsangabe  des  Vortrags.) 
„Zum  Schluß  richtete  Redner  einen  energischen  Appell  an  die 
Homosexuellen,  selbst  an  dem  Kampf  teilzunehmen.  Sie  müssen 
aus  ihrer  scheuen  Zurückhaltung  heraustreten;  Recht,  Ehre  und 
Freiheit  stehen  für  sie  auf  dem  Spiel.  Hoffentlich  wird  bald  der 
Tag  anbrechen,  da  Recht  über  Unrecht,  Wissenschaft  über  Aber- 


—    1344    — 

glaube,   Menschenliebe  über   Menschenhaß  die  Oberhand  gewinnt. 
Tosender  Beifall  folgte  den  Schlußworten  des  Redners." 

Die  Frankfurter  Neuesten  Nachrichten  schlössen  ein 
sehr  eingehendes  Feuilleton  über  den  Vortrag  mit 
folgenden  Worten: 

„Von  hohem  sittlichen  Ernste  getragen,  verstand  es  der  Redner 
die  delikatesten  Fragen  mit  großer  Zartheit  zu  behandeln;  er 
beurteilte  sie  vom  moralischen,  ethischen,  ästhetischen  und  natur- 
wissenschaftlichen Standpunkte.  Er  setzte  auseinander,  daß  §  175 
des  St.-G.-B.  in  seiner  gegenwärtigen  Gestalt  unhaltbar  ist.  In  der 
Diskussion  blieb  der  Vortragende  Sieger,  die  Gegenbemerkungen 
fanden  im  Saale  nur  vereinzelten  Beifall.  Der  Zudrang  zu  dem 
Vortrag  glich  einer  Völkerwanderung,  die  Zuhörer  standen  bis  an 
der  Straße,  viele  mußten  umkehren/ 

Der  Frankfurter  General- Anzeiger  bemerkte  u.  a.: 

„Die  homosexuelle  Frage  machte  gestern  abend  auf  Ver- 
anlassung des  Wissenschaftlich-humanitären  Komitees  Berlin-Frank- 
furt a.  M.  Dr.  Hirsch  fei d  aus  Berlin,  eine  Autorität  auf  diesem 
Gebiete,  im  Polytechnischen  Saale  zum  Gegenstand  eines  äußerst 
interessanten  und  instruktiven  Vortrages.  Der  Andrang  des 
Publikums  war  ein  so  großer,  daß  zahlreiche  Personen  keinen  Platz 
mehr  bekommen  konnten.  Kopf  an  Kopf  gedrängt  lauschten  die 
Anwesenden,  unter  denen  sich  auch  mehrere  Damen  befanden, 
den  etwa  eineinhalbstündigen  lehrreichen  Ausführungen  (folgt 
Inhalt).  Nachdem  Redner  unter  stürmischen  Beifall  geschlossen, 
trat  ein  hiesiger  Arzt  als  Vertreter  konträrer  Anschauungen  auf, 
wurde  aber  unter  dem  Beifall  der  Anwesenden  von  dem  Referenten 
ebenso  sachlich  wie  treffend  widerlegt.  Gegen  halb  12  Uhr  wurde 
die  Versammlung  von  dem  Vorsitzenden  geschlossen." 

Angesichts  dieser  regen  agitatorischen  Tätigkeit  mußte 
es  als  unausbleibliche  Folge  angesehen  werden,  daß  sich 
alsbald  eine  Gegenströmung  bemerkbar  machte,  die  sich 
allerdings  nur  in  mäßigen  Grenzen  hielt.  Von  dem 
Kongreß  der  Sittlichkeitsvereine  in  Leipzig  wurde  eine 
Petition  abgesandt,  welche  die  Beibehaltung  des  §  175 
fordert.  Namentlich  waren  es  einige  kleinere  Blätter 
idealistischer  Richtung  (Volkskraft-Bremen,  Lebensspuren- 
Lorch,    Aristokratissimus-Steglitz)    die    sich    gegen    uns 


L 


I 


—    1345    — 

wandten  in  der  Befürchtung,  es  könne  durch  diese  Propa- 
ganda einer  Degeneration  des  Volkes  Vorschub  geleistet 
werden.  Die  Redakteure  übersehen,  daß  es  sich  hier 
lediglich  darum  handelt,  das  Verständnis  eines 
vorhandenen  Zustandes  zu  vermitteln,  auf  dessen  zu- 
oder  abnehmende  Verbreitung  einen  Einfluß  zu  nehmen 
wir  naturgemäß  außer  Stande  sind.  Eine  andere  Gruppe 
von  Gegnern  schimpfte  ohne  zu  prüfen.  So  schrieb  ein 
süddeutsches  Zentrumsblatt: 

„Verbrecher-Versammlungen  sind  seit  dem  „Fall  Krupp"  in 
Berlin  an  der  Tagesordnung.  Es  handelt  sieh  um  traurige  Gesellen, 
welche  die  Aufhebung  des  §  175  des  Strafgesetzbuches,  der  die 
Unzucht  zwischen  Mann  und  Mann  und  zwischen  Weib  und  Weib 
mit  Zuchthaus  bedroht,  verlangen.  Zu  ihren  Versammlungen  sind, 
wie  die  Plakatsäulen  verkünden,  auch  „Damen"  zugelassen.  Und 
die  Polizei?" 

Nachdem  wir  unter  Übersendung  von  Material  dem 
Blatt  mitgeteilt  hatten,  daß  wir,  im  Falle  keine  Zurück- 
nahme erfolgen  würde,  gerichtliche  Bestrafung  beantragen 
würden,  erfolgte  folgende  Berichtigung: 

„Wir  haben  uns  aus  den  Schriften  des  „Wissenschaftlich- 
humanitären Komitees"  und  aus  seiner  an  die  gesetzgebenden 
Körperschaften  gerichtete  Petition  überzeugt,  daß  unsere  Äußerungen 
unrichtig  waren.  Wir  nehmen  daher  die  Ausdrücke  „Verbrecher- 
Versammlungen",  „traurige  Gesellen"  zurück,  und  berichtigen  noch 
wie  folgt:  Die  Bestrebungen  des  „Wissenschaftlich-humanitären 
Komitees"  sind  nicht  auf  die  Aufhebung  des  §  175  gerichtet, 
sondern  auf  die  Abänderung  dieses  Paragraphen;  der  Sinn  des 
§  175  ist  in  dem  genannten  Entrefilet  unrichtig  wiedergegeben." 

Eine  Dame,  Frau  Marie  Anderson,  ging  sogar  so 
weit,  eine  Gegenschrift:  „Wider  das  dritte  Geschlecht*  zu 
veröffentlichen,  in  der  sie  unter  nicht  wiederzugebenden 
Schmähungen  nicht  davor  zurückschreckte,  uns  Sätze  unter- 
zuschieben, die  nirgends  auch  nur  dem  Sinne  nach  gesagt 
worden  sind.  So  schrieb  sie:  „Es  ist  schon  weit  gekommen, 
wenn  in  der  Schrift:  „Was  muß  das  Volk  vom  dritten 
Geschlecht   wissen"    steht:    „ Die  Frauen   emanzi- 


—     1346    — 

pieren  sich  von  den  Männern,  emanzipieren  wir  uns  von 
den  Frauen*. 

Als  wir  den  Verleger*  auf  diese  und  andere 
Fälschungen  aufmerksam  machten ,  war  er  so  loyal,  die 
Schrift  aus  dem  Buchhandel  zurückzuziehen.    Er  schrieb: 

„Sehr  geehrter  Herr!  In  Erledigung  Ihres  geschätzten  Briefes 
teile  ich  Ihnen  ergebenst  mit,  daß  die  Untersuchung  betreffend 
unrichtiger  Citierung  in  dem  Buche  „Wider  das  dritte  Geschlecht" 
aus  dem  Schriftchen  „Was  soll  das  dritte  Volk  vom  dritten  Ge- 
schlecht wissen"  zu  unserem  größten  Erstaunen  leider  ergeben  hat, 
daß  verschiedene  Citate  falsch  sind.  Wir  haben  die  Schrift  sofort 
der  Vernichtung  anheim  gestellt  und  die  wenigen  Exemplare,  die 
in  den  ersten  Tagen  an  die  Buchhandlungen  gingen,  zurückbeordert. 
Es  tut  uns  sehr  leid,  daß  wir  so  schlimm  getäuscht  worden  sind, 
aber  weder  unser  B.  noch  einer  unserer  Revisoren  ist  auf  den 
Gedanken  gekommen,  daß  die  Citate  unrichtiges  enthalten  könnten. 
Wir  sind  in  Wirklichkeit  das  Opfer  unseres  guten  Glaubens  geworden, 
denn  es  steht  uns  ferne  Schriften  herauszugeben,  die  dem  Inhalte 
nach  der  Wahrheit  nicht  entsprechen.  Wir  sind  natürlich  gerne 
bereit  dem  Komitee  dies  offiziell  mitzuteilen.  Unser  B.  steht  Ihnen 
zur  eventl.  weiteren  Besprechungen  stets  zu  Diensten." 

Ein  gewisses  Aufsehen  erregte  es,  daß  eine  andere 
Dame,  welcher  wir  auf  eine  uns  von  vertrauenserweckender 
Seite  zugegangene  Empfehlung  unseren  wissenschaftlichen 
Fragebogen  zur  Beantwortung  übersandt  hatten,  bei  der 
Staatsanwaltschaft  den  Antrag  stellte,  daß  auf  Grund 
dieser  Sendung  gegen  uns  eine  öffentliche  Anklage  wegen 
Beleidigung  und  Verbreitung  unzüchtiger  Schriften  er- 
hoben werden  sollte.  Es  fanden  mehrfache  recht  zeit- 
raubende Verhöre  statt,  in  einem  eingehenden  Schreiben 
rieten  wir  der  Kgl.  Staatsanwaltschaft  von  einer  Anklage 
abzusehen,  welche  bei  allen,  welche  die  Freiheit  der 
Wissenschaft  hoch  halten,  das  unliebsamste  Aufsehen  er- 
regen müßte,  worauf  die  Nachricht  einging,  daß  das  ge- 
führte Vorverfahren  eingestellt   worden  sei. 

Der  besagte  Fragebogen  war  unter  Zugrundelegung 
des  im  ersten  Jahrbuche  f.  s.  Zw.  erschienenen  von  einer 


—    1347    — 

Kommission,  bestehend  aus  den  Herren  Dr.  Merz- 
bach, Dr.  v.  Kömer,  Dr.  Meienreis,  Baron  v.  Teschen- 
berg  und  mir  neu  bearbeitet  und  an  ca.  1000  Männer 
und  Frauen,  zumeist  solche,  die  uns  als  homosexuell 
bekannt  waren,  versandt  worden.  Bisher,  sind  gegen 
300  brauchbare  Beantwortungen  eingegangen,  die  ein 
äußerst  wertvolles  wissenschaftliches  Material  enthalten, 
von  dessen  weiterer  Durcharbeitung  wir  uns  noch 
wichtige  Aufschlüsse  versprechen  dürfen.  Wir  bitten  im 
Interesse  der  weiteren  objektiven  Erforschung  und  der 
damit  im  Zusammenhang  stehenden  Befreiung  der  Homo- 
sexuellen recht  sehr,  sich  die  Zeit  und  Mühe  zu  nehmen, 
die  Fragen  möglichst  genau  und  streng  wahrheitsgemäß 
zu  beantworten.  Die  Bogen  stehen  gratis  zur  Verfügung. 
Wir  machen  darauf  aufmerksam,  daß  die  strenge  Geheim- 
haltung der  Namen  unter  das  ärztliche  Berufsgeheimnis 
fällt  Wenn  irgend  möglich,  empfiehlt  es  sich  zur  körper- 
lichen Untersuchung  sich  einem  sachverständigen  Arzte 
vorzustellen.  Wir  raten  den  Homosexuellen,  sich  —  auch 
ohne  daß  sie  in  Konflikt  geraten  sind  —  mit  ärztlichen 
Gutachten  über  ihren  Zustand  zu  versehen,  um  gegebenen- 
falls Verwandten,  Freunden,  Vorgesetzten  und  Behörden 
gegenüber  ein  solches  an  der  Hand  zu  haben! 

Leider  warten  noch  immer  eine  sehr  beträchtliche  An- 
zahl von  Homosexuellen  Unannehmlichkeiten  ab,  ehe  sie  sich 
an  das  wissenschaftlich-humanitäre  Komitee  wenden.  Die 
Zahl  der  Erpressungsfälle,  in  denen  wir  zur  Hilfe  gerufen 
wurden,  war  immer  noch  eine  recht  große.  In  einem 
Falle  handelte  es  sich  „um  die  Kleinigkeit  von  225,000 
Mark*,  welche  ein  anonymer  Chanteur  als  Schweigegeld 
beanspruchte.  Oft  genügten  energische  Warnungen,  oft 
mußten  wir  auch^die  Kriminalpolizei  hinzuziehen,  mit 
der  wir  dauernd;  auf  bestem  Fuße  stehen.  Die  gericht- 
lichen Verfolgungen  Homosexueller  waren  wohl  etwas  ge- 
ringer, aber  doch  namentlich  in  der  Provinz  noch  häufig 

Jahrbuch  V.  85 


—    1348 


genug.  Es  gibt  wohl  kein  Rechtsgebiet,  auf  den  zur  Zeit 
eine  so  außerordentliche  Rechtsungleichheit,  vorhanden 
ist,  wie  auf  diesem.  Abgesehen  von  den  vielen  Fällen, 
in  denen  überhaupt  keine  Anklage  erhoben  wird,  erkennt 
bei  nahezu  gleichem  Tatbestand  der  eine  Gerichtshof  auf 
eine  Woche,  ein  anderer  auf  3  Monate,  ein  dritter  auf 
1  Jahr  Gefängnis.  Ein  ganz  besonders  betrübender  Ge- 
richtsfall war  die  schwere  Verurteilung  des  homosexuellen 
Rentiers  Metzentin  in  Berlin,  von  der  der  Verteidiger 
in  der  „ W.  a.  M."  folgende  Schilderung  gab : 

Sehr  geehrte  Redaktion! 
Wenn  ich  Sie  heute  bitte,  dieser  Zuschrift  freundliche  Auf- 
nahme zu  gewähren ,  so  geschieht  es  lediglich  deshalb,  weil  die 
Stimme  der  Menschlichkeit  und  das  Gerechtigkeitsgefühl  mich  dazu 
treiben.  Die  Öffentlichkeit  hat,  so  bin  ich  überzeugt,  ein  unzweifel- 
haftes Anrecht  darauf,  zu  erfahren,  welch  schwerwiegendes  Urteil 
am  2ä.  April  1903  über  einen  wegen  Vergebens  gegen  §  175  St.G.B. 
Angeklagten  verhängt  und  wie  diese  so  tiefeingreifende  Entscheidung 
begründet  wurde.  Es  handelt  sich  um  einen  56  Jahre  alten,  homo- 
sexuell veranlagten  Rentier  M,,  welcher,  zweimal  auf  Grund  des 
§  175  St,  G,  B.  vorbestraft,  sich  am  23.  April  wegen  einer  neuen 
solchen  Anklage  vor  der  9,  Strafkammer  des  hiesigen  Landgerichts  I 
zu  verantworten  hatte.  Er  war  beschuldigt,  in  der  Nacht  vom  19. 
Eura  2(1  Februar  d.  J.  einen  anderen  Mann  auf  der  Straße  angeredet, 
mit  ihm  in  mehreren  Lokalen  dem  Alkohol  zugesprochen,  ihn  dann 
in  seine  Wohnung  mitgenommen  und  sieh  dort,  nachdem  der  Fremde 
eingeschlafen,  durch  „widernatürliche  Unzucht"  vergangen  zu  haben. 
Nach  einer  Woche  von  diesem  und  einem  Bruder  desselben  mehr- 
fach  behelligt,  erstattete  Rentier  IL  gegen  beide  Personen,  deren 
Photographien  im  Verbrecheralbum  des  Berliner  Polizeipräsidii  sich 
^finden,  Anzeige  wegen  Erpressung  und  Bedrohung.  Sie  wurde 
r  Staatsanwaltschaft  zurückgewiesen;  dagegen  wurde  diesen 
isonen  soviel  Glauben  geschenkt,  daß  die  Erhebung  der 
£egen  den  Rentier  M.  wegen  Vergehens  gegen  §  175  StG.B* 

Hau ptv erhandlang  war  auf  meinen  Antrag  Herr  Dr.  Hirsch- 
der  bewahrte  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  sexuellen 
sehenatüfeu  und  konträren  Sesualempfindung,  geladen.  In 
am   ausführlichen   Gutachten,    dessen    schriftliche   Ausarbeitung: 


—    1349    — 

schon  vorher  zu  den  Gerichtsakten  eingereicht  worden,  sprach  sich 
der  Sachverständige  dahin  ans,  daß  bei  dem  Angeklagten  zweifellos 
eine  die  Strafbarkeit  beseitigende  krankhafte  Störung  der  Geistes- 
tätigkeit, durch  welche  die  freie  Willensbestimmung  ausgeschlossen, 
vorhanden  gewesen  sei.  Herr  Dr.  Hirschfeld  begründete  die  Schluß- 
folgerung eingehend  durch  Schilderung  der  körperlichen  Beschaffen- 
heit des  Angeklagten,  seines  Lebensganges,  seiner  homosexuellen 
Veranlagung,  seiner  Entartung  durch  übermäßigen  Alkoholgenuß  — 
aus  Verzweiflung  —  und  seiner  erblichen  Belastung,  da  mehrere 
seiner  Angehörigen  in  Geisteskrankheit  gestorben.  Für  den  Fall, 
daß  das  Gericht  sein  Gutachten  nicht  als  ausreichend  erachten 
sollte,  schlug  der  Sachverständige  noch  eine  Untersuchung  und  Be- 
obachtung des  Angeklagten  durch  einen  vom  Gericht  zu  bestellenden 
Arzt  vor.  Als  Verteidiger  stützte  ich  mich  auf  die  überzeugenden 
Darlegungen  des  Herrn  Dr.  Magnus  Hirschfeld  und  wies  u.  A.  auch 
darauf  hin,  daß  die  Vorstrafen  des  Angeklagten  ganz  anders  be- 
urteilt werden  müssen  als  sonst  frühere  Verurteilungen  eines 
Menschen;  es  sei  gerade  ersichtlich,  daß  M.,  dessen  Leben  ein  fort- 
gesetztes Martyrium  bedeute,  im  Kampf  gegen  seine  homosexuelle 
Veranlagung  des  unwiderstehlichen  Dranges  doch  nicht  habe  Herr 
werden  können. 

Nach  längerer  Beratung  verkündete  der  Vorsitzende  Herr  Land- 
gerichtsdirektor Müller,  daß  der  Angeklagte  wegen  Vergehens  gegen 
§  175  St.  G.  B.  mit  einem  Jahr  Gefängnis  bestraft  und  sofort  in 
Untersuchungshaft  genommen  wird.  Die  Strafkammer  schenkte  den 
beiden  eigenartigen  Zeugen  vollen  Glauben;  obwohl  der  eine  selbst 
zugegeben,  daß  auch  er  betrunken  gewesen,  erachtete  ihn  der  Ge- 
richtshof doch  als  fähig,  zu  entscheiden,  daß  der  Angeklagte  sich 
im  vollen-  Besitz  seiner  Geisteskräfte  befunden ;  die  Feststellung  des 
Sachverständigen,  daß  derartige  Persönlichkeiten,  wie  der  Ange- 
klagte, infolge  des  Zusammenwirkens  der  verschiedenen  Momente 
gegenüber  dem  Alkohol  besonders  wenig  widerstandsfähig,  hielten 
die  Richter  für  völlig  unerheblich!  Auch  alle  sonstigen  Darlegungen 
des.  Gutachtens  glaubte  die  Strafkammer  gänzlich  unbeachtet  lassen 
zu  können,  so  daß  der  Vorsitzende  bei  der  Urteilsverkündigung 
eine  homosexuelle  Veranlagung  durchaus  ablehnte  und  u.  a.  meinte, 
man  solle  eben  nicht  homosexuell  veranlagt  sein! 

Als  der  Angeklagte  die  Höhe  der  gegen  ihn  erkannten  Strafe 
vernommen,  sank  er  in  sich  zusammen.  Bei  seiner  Abführung  duch 
den  Gerichtsdiener  schrie  er  den  Richtern  gellend  das  Wort  „Justiz- 
mörder" entgegen« 

85* 


—     1350    — 

Ich  habe  geglaubt,  den  Fall  M.  eingehender  schildern  zu 
müssen,  da  er  einen  der  grausigsten  Beweise  für  die  unseligen 
Wirkungen  des  §  175  St.  G.  ß.  darbietet!  Der  Fall  M.  ist  ein  be- 
sonders greller  Mahnruf,  an  der  Aufklarung  über  das  Wesen  der 
Homosexualität  unablässig  zu  arbeiten,  damit  endlich  die  mittel- 
alterliche Tortur  des  §  175  St.  G.B.  aus  unseren  Tagen  verschwinde! 

Mit  vorzüglicher  Hochachtung 

Ihr  ergebener 

Victor  Fraenkl,  Rechtsanwalt. 

Die  Zeitschrift  „Kampf*,  die  ebenso  wie  die  „ Freie 
Meinung"  in  Berlin  sehr  lebhaft  für  die  Rechte  der 
Homosexuellen  eingetreten  ist,  bemerkte  zu  diesem  Urteil 
in  einem  „Advocatus  communis*  unterzeichneten  Artikel 
u.  a. : 

„Kann  man  es  dem  Gequälten  nicht  nachfühlen,  daß  er  sich 
mit  letzter  Kraft  aufraffte  und  dem  Gerichtshof  mit  gellender,  herz- 
zerreißender Stimme:  „Justizmörder!"  zuschrie!?!  Eine  entsetzliche 
Szene,  die  auf  alle  Anwesenden  einen  geradezu  erschütternden 
Eindruck  machte.  Und  was  führte  der  Vorsitzende  des  Gerichts- 
hofs zur  Begründung  an?  „Sie  sollen  eben  nicht  homosexuell  sein!" 

Kann  der  Präsident  die  ewigen  Gesetze  der  Natur  umstoßen? 
Vermißt  er  sich,  was  Gott  geschaffen  hat,  durch  den  Hauch  seines 
Mundes  in  sein  Gegenteil  zu  verkehren? 

Was  hätte  der  Unglückliche  nicht  darum  gegeben,  anders 
geartet  zu  sein?  Sein  Weib  hatte  sich  von  ihm  scheiden  lassen, 
aus  seinem  bürgerlichen  Beruf  war  er  ausgestoßen  worden;  der 
Schande  und  Verfehmung  preisgegeben,  irrte  er  in  seinem  Alter 
einsam  durchs  Leben,  sich  hier  und  da,  weil  ihn  niemand  mehr  um 
seiner  selbst  willen  liebte,  ein  Tröpflein  Liebeslust  im  Schlamme 
der  männlichen  Prostitution  erkaufend.  Und  glaubte  da  der  Ge- 
richtspräsident wirklich,  der  Ärmste  hätte  nicht  anders  sein  wollen, 
wenn  er  nur  gekonnt  hätte?  Das  läßt  sich  leicht  sagen:  „Sie  sollen 
eben  nicht  homosexuell  sein!"  Will  der  Präsident  sagen,  wie  man 
das  ausführen  kann? 

N;h'h  diesem  Urteil,  das  in  der  Zeit  der  wissenschaftlichen 
ifklärung  wie  ein  Hohngelächter  über  die  Errungenschaften  eines 
j!1t  KrutTt-Ebing  wirkt,  wird  wieder  das  Erpressertum  wie  eine 
>chtiut  anschwellen,  da  jeder  Homosexuelle  sich  lieber  die  ärgsten 
, -elli  rrirn  gefallen  lassen  wird,  als  sich  dem  auszusetzen,  auf  die 


—     1351     — 

eidliche  Aussage  eines  Mitschuldigen,  eines  notorisch  bestraften 
Lumpen  zu  langen  entehrenden  Freiheitsstrafen  verurteilt  zu  werden. 

Es  ist  zwar  Berufung  eingelegt  worden,  weil  die  Verteidigung 
durch  Ablehnung  des  Antrages  auf  Hinzuziehimg  noch  eines  Sach- 
verständigen beschränkt  worden  ist;  doch  wird  es  helfen? 

Hoffentlich  gibt  es  noch  Richter  bei  uns,  die  nicht  in  alten 
Vorurteilen  befangen,  sondern  dem  stetigen  Vorwärtsschreiten  der 
Aufklärung  folgend,  anstatt  mit  dem  Schwert  der  Gerechtigkeit 
gegen  den  unglücklichen  Homosexuellen  zu  rasen,  selbst  dazu  bei- 
tragen, den  unheilvollen  §  175  zu  beseitigen,  oder  ihn,  solange  das 
noch  nicht  geschehen  ist,  doch  wenigstens  in  humaner  Weise  aus- 
zulegen trachten  so,  daß  er  den  geborenen  Homosexuellen  nicht 
trifft,  da  dieser  keine  für  ihn  widernatürliche  Unzucht  treibt,  wenn 
er  gleichgeschlechtlich  verkehrt.  Dann  wird  der  Fall  Metzentin, 
ebenso  wie  der  Fall  Krupp,  wenn  er  auch  über  einen  Märtyrer 
hinwegschreitet,  der  Allgemeinheit  zum  Segen  gereichen:  endlich 
muß  doch  der  §  175  einmal  fallen !"  —  Advocatus  communis. 

Wie  uns  zuverlässig  mitgeteilt  wurde,  betrachteten 
die  Berliner  Chanteure  diesen  Ausgang  des  Prozesses 
tatsächlich  als  eine  Art  Sieg  und  es  war  ein  glücklicher 
Zufall,  daß  zwei  Wochen  später  in  einem  verwandten 
Fall,  der  sich  allerdings  insofern  unterschied,  als  beide 
Beteiligte  angeklagt  waren,  der  Erpreßte  freigesprochen, 
der  Erpresser  dagegen  zu  21/*  Jahren  Gefängnis  verur- 
teilt wurde. 

Mit  der  Außentätigkeit  des  Komitees,  von  der  wir 
hier  nur  einen  kurzen  Überblick  haben  geben  können, 
ging  die  innere  Ausgestaltung  Hand  in  Hand.  Es  fanden 
zwei  Halbjahrskonferenzen  —  die  IX.  am  6.  Juli  1902 
im  Altstädter  Hof,  die  X.  am  11.  Januar  1903  im  Hotel 
zu  den  vier  Jahreszeiten  —  statt,  die  hauptsächlich  der 
Festlegung  der  weiteren  Agitation  gewidmet  waren  sowie 
regelmäßige  Monats  Versammlungen,  in  denen  wissen- 
schaftliche und  künstlerische  Vorträge  abwechselten ; 
unter  den  Vorträgen  seien  die  von  Herrn  Dr.  Max 
Alberty  über  Platen,  von  Herrn  Schriftsteller  Lietzow 
über   Ludwig  II.    und    von  Herrn   v.  Teschenberg  über 


—     1352    — 

die  Persönlichkeit  Oskar  Wildes  besonders  hervorgehoben. 
Alle  Veranstaltungen  erfreuten  sich  eines  sehr  regen 
Besuchs  sowohl  von  heterosexuellen  als  auch  von  homo- 
sexuellen Herren  und  Damen,  und  nahmen  einen  äußerst 
harmonischen  Verlauf  mit  Ausnahme  einer  Monatssitzung, 
in  der  es  infolge  der  energisch  verfochtenen  Behauptung 
eines  Arztes,  daß  die  Homosexualität  auf  Willensschwäche 
beruhe,  zu  äußerst  stürmischen  Auseinandersetzungen  kam. 

Über  den  Stand  der  Bewegung  wurden  regelmäßige 
Monatsberichte  verfaßt,  für  welche  diejenigen,  welche  die 
Zusendung  wünschen,  3  bis  5  Mark  Herstellungs-  und 
Portokosten  entrichten. 

Die  Zahl  der  Fondszeichner  stieg  von  94  im  Jahre 
1901  auf  243  pro  1902,  die  zur  Verfügung  stehenden 
Mittel  von  4415.80  Mk.  im  Jahre  1901  auf  6519.33  Mk. 
im  Jahre  1902. 

Wir  machen  wiederholt  darauf  aufmerksam,  daß  der 
endliche  Sieg  unserer  Bestrebungen  nicht  nur  eine  Frage 
der  Zeit,  sondern  auch  eine  Geldfrage  ist.  Sehr  viele 
reiche  Uranier  beschränken  sich  immer  noch  darauf, 
„mit  großem  Interesse  zu  verfolgen",  wie  eine  verhältnis- 
mäßig kleine  um  das  Komitee  geschaarte  Anzahl  von 
Fondszeichnern  bemüht  ist,  auch  für  sie  die  Kastanien 
aus  dem  Feuer  zu  holen.  Als  erhebendes  Beispiel  von 
Opferwilligkeit  wollen  wir  dagegen  das  Anerbieten 
eines  urnischen  Schuhmachers  zu  Köln  a.  Rh.  erwähnen, 
der,  als  er  von  dieser  Bewegung  Kenntnis  erhielt,  seine  ge- 
samten Ersparnisse  in  Höhe  von  400  Mk.  dem  Komitee  zur 
Verfügung  stellte.  Selbstverständlich  lehnten  wir  dieses 
Opfer  ab,  möge  es  aber  denen,  die  bisher  noch  nichts 
für  die  gerechte  Sache  übrig  hatten,  zum  Muster  dienen. 

Neben  der  Berliner  Centrale  entfalteten  namentlich 
die  Komitees  in  München  (Rechtsanwalt  Dr.  Fraas  am 
Platz  1/2)  in  Leipzig  (Max  Spohr,  Sidonienstr.  19.  Egon 
Eickhoff,  Leipzig-L.)  sowie  in  Frankfurt  a.  M.  (Ritterguts- 


—    1353    — 

besitzer  Jansen-Friemen-Cassel)  eineregeTätigkeit,  während 
die  Bemühungen,  welche  in  Hamburg  von  Dr.  Hoefft- 
Börsenbrücke,  in  Hannover  von  J.Heinrich  Denker,  Fabrik- 
besitzer in  Sulingen  und  Schriftsteller  König-Hannover 
sowie  im  nördlichen  Teil  der  Rheinprovinz  vom  Grafen 
v.  d.  Schulenburg,  Haus  Oeft  bei  Kettwig  a.  d.  Ruhr 
unternommen  wurden,  bisher  nennenswerte  Erfolge  nicht 
aufzuweisen  hatten.  Immer  reger  gestalteten  sich  dagegen 
die  Beziehungen  zum  Auslande;  in  Konstantinopel  und 
St.  Petersburg,  in  Kopenhagen  und  Christiania,  in  Amster- 
dam und  Brüssel,  in  London  und  Paris,  Italien  und  der 
Schweiz  —  um  nur  einige  Orte  zu  nennen  —  besitzen 
wir  tätige  Mitarbeiter,  die  an  diesem  Befreiungskampf 
den  lebhaftesten  Anteil  nehmen. 

Gewiß  befinden  sich  im  Strafgesetzbuch  Bestimmungen, 
die  ebenso  verbesserungsbedürftig  sind,  wie  der  §  175,  aber 
wenige  berühren  so  lebenswichtige  Interessen  wie  dieser, 
gewiß  ist  die  Homosexualität  nur  eine  Teilerscheinung 
des  öffentlichen  Lebens,  aber  sie  ist  ein  Teil,  dessen  ge- 
rechte Behandlung  für  das  Verständnis  und  sicher  auch 
für  das  Wohl  des  Ganzen  von  hoher  Bedeutung  ist  — 
deshalb  ist  die  Lösung  dieser  Frage,  welche  vielleicht  einer 
objektiveren  individuelleren  Beurteilung  der  Menschen 
untereinander  die  Wege  bahnt,  so  außerordentlich  wichtig. 

So  mögen  denn  alle  —  ob  objektiv  oder  subjektiv 
interessiert  —  in  ruhiger,  unermüdlicher  zuversicht- 
licher Tätigkeit  weiterkämpfen  im  Gefühl  der  Sicher- 
heil^  wie  sie  der  Satz  der  Alten  verleiht:  „Magna  est 
vis  veritatis  et  praevalebit,"  der  einem  Gedanken  Aus- 
druck gibt,  den  Schopenhauer  (»Welt  als  Wille  und 
Vorstellung ■«  IV.  Aufl.  Bd.  II.  Seite  42)  in  folgende 
Worte  kleidet,  mit  denen  ich  dieses  Jahrbuch  schließen 
möchte:  „Und  zum  Trost  derer,  welche  dem  edlen  und  so 
schweren  Kampf  gegen  den  Irrtum  in  irgend  einer  Art 
und  Angelegenheit  Kraft  und  Leben  widmen,  kann  ich 


—    1354    — 

mich  nicht  enthalten,  hier  zu  sagen,  daß  zwar  so  lange, 
als  die  Wahrheit  noch  nicht  dasteht,  der  Irrtum  sein  Spiel 
treiben  kann,  wie  die  Eulen  und  Fledermäuse  in  der 
Nacht:  aber  eher  mag  man  erwarten,  daß  Eulen  und 
Fledermäuse  die  Sonne  zurück  in  den  Osten  scheuchen 
werden,  als  daß  die  erkannte  und  deutlich  und  vollständig 
ausgesprochene  Wahrheit  wieder  verdrängt  werde,  damit 
der  alte  Irrtum  seinen  breiten  Platz  nochmals  ungestört 
einnehme.  Das  ist  die  Kraft  der  Wahrheit,  deren  Sieg 
schwer  und  mühsam,  aber  dafür,  wenn  er  einmal  errungen, 
nicht  mehr  zu  entreißen  ist*. 

Charlottenburg,  Berlinerstr.  104. 
1.  September  1903. 

Dr.  M.  Hirschfeld. 


VI.  Abrechnung.*) 


a)  Von  den  Zeichnern  von  Jahresbeiträgen  für  1902 
bei  den  Geschäftsstellen  in  Charlottenburg,  Frankfurt  a.  M. 
und  Leipzig  eingegangene  Beträge: 


P.  R.  &  R.  A.  in  Rußland   .    . 
do.  Extrabeitrag .     . 

G.  St.  J. 

Dr.    phil.    A.,    Charlottenburg, 

pro.  Dezember 

Dr.  Aletrino,  Amsterdam  .  .  . 
Max  A.  in  Berlin  N.W.  .  .  . 
Max  A.  in  Berlin  S.W.  .  .  . 
G.  B.  in  Köln      ...... 


Fol. 

Mk.' 

158 

100 

J» 

100 

188 

68 

178 

10 

202 

20 

111 

24 

137 

8 

193 

30 

360 

Pf*. 


*)  1.  Die  Fondszeichner  werden  freundlichst  um  Mitteilung 
gebeten,  ob  bei  der  nächsten  Abrechnung  ihr  voller  Name  oder 
eine  bestimmte  Chiffre  angeführt  werden  soll. 

2.  Von  folgenden  43  Fondszeichnern  gingen  die  Beiträge  für  1902 
bis  zum  1.  Juli  1903  nicht  ein:  cand.  med.  B.  in  H.  Eugen  B.  in  B. 
Aug.  B.  in  Essen.  A.  B.  in  London.  Theo  B.  in  Berlin.  Wilh.  B. 
in  H.  Dr.  E.  B.  Ingenieur  C.  in  W.  Karl  Friedr.  C.  stud.  tech.  D. 
F.  F.  in  Berlin.  Robert  G.  in  B.  Emil  H.  in  W.  Pianist  H.  in  B. 
J.  in  Berlin.  Ernst  K.  in  D.  Otto  K.  in  Berlin.  M.  K.  in  H. 
A.  K.  in  Sp.  Dr.  L.  in  B.  Adolf  M.  in  Berlin.  Dr.  v.  M.  Graf  M. 
William  M.  in  B.  Heinr.  P.  in  B.  Baron  de  P.  R.  de  L.  Albert 
S.  in  0.  Hans  Seh.  in  Berlin.  Seelhorst.  Geometer  S.  Apotheker  R. 
Richard  S.  in  E.  Carl  St.  in  M.  Otto  St.  in  Berlin.  Franz  U.  in  M. 
Otto  W.  in  Berlin.  R.  W.  in  B.  v.  W.  in  St.  Jul.  W.  in  Ch. 
A.  W.  in  Berlin.    W.  in  W.    Max  Z.  in  B. 


—    1856    — 


FoL 

Mk. 

Pfe- 

Übertrag: 

360 

— 

8 

E.  O.  B.  in  L. 

199 

50 

— 

9 

Gustav  B.  in  Charlottenburg    . 

171 

2 

— 

10 

Überzeugt  in  Charlottenburg    . 

128 

30 

— 

11 

Marcus  Behmer  in  Berlin     .    . 

114 

30 

— 

12 

Berthold  B.  in  A. 

118 

20 

— 

13 

Georg  B.  in  Berlin 

132 

i    20 

— 

14 

Emil  B.  in  Charlottenburg  .     . 

208 

20 

— 

15 

E.  B.  in  P 

47 

50 

— 

16 

S.  B.  jr.  in  B 

165 

3 

— 

17 

Eduard  Bertz,  Schriftst.,  Potsdam 

20 

20 

— 

18 

Georg  B.  in  K. 

211 

100 

— 

19 

Carl  B.  in  Frankfurt    .... 

109 

20 

— 

20 

B.  in  M 

105 

100 

— 

21 

Josef  v.  B.  in  W. 

229 

1      6 

— 

22 

C.  Br.  in  B 

50 

5 

— 

23 

Adolatus 

187 

45 

— 

24 

Herrn.  Br.  in  Berlin     .... 

161 

20 

— 

25 

Chemiker  F.  Brinkmann,  Berlin 

29 

20 

— 

26 

Emil  Carl  in  B 

147 

8 

— 

27 

C.  C.  in  M 

198 

20 

— 

28 

Holland  1000 

215 

30 

— 

29 

Ch.  in  Berlin 

172 

3 

— 

30 

M.  Cl.,  New-York 

197 

20 

— 

31 

L.  C.  in  Berlin 

150 

5 

— 

32 

C.-A.  Schriftsteller  in  Berlin     . 

66 

20 

— 

33 

J.  C.  in  Berlin 

206 

20 

— 

34 

Fabrikbesitzer  D.  in  S.     .    .    . 

5 

55 

— 

35 

Theodor  D.  in  Ch 

146 

12 

— 

36 

Albert  D.  in  B 

176 

3 

— 

37 

Josef  Glinnowski 

159 

20 

— 

38 

W.  H.  E.  in  Seh 

175 

20 

— 

39 

Eg.  E 

71 

10 



1167 

— 

—    1357 


Fol. 

Mk. 

Pfg. 

Übertrag: 

1167 

— 

40 

Freiherr  H.  v.  E.  auf  Seh.  .     . 

210 

100 

— 

41 

Theodor  E.  in  B.     ... 

226 

40 

86 

3 
10 
25 



42 

G.  E.  in  Berlin    .... 

_ 

43 

C.  E.  E.     do 



do.       Extrabeitrag .     . 

1 

50 

44 

Ingenieur  B.  E 

215 

20 



45 

Robert  E.  in  Berlin      .     . 

140 

9 

-- 

46 

K.  F.  in  L 

103 

20 

— 

47 

M.  F.  in  Mecklenburg.     . 

89 

3 

— 

48 

Gustav  F.  in  Charlottenburg 

224 

i      ° 

— 

49 

„Agricola" 

182 

80 



50 

Ph.  F.  in  Osnabrück    .     . 

84 

20 

— 

51 

Freiherr  v.  F.  i.  H.      .     . 

83 

30 

— 

52 

Anthonis  F.  in  B»    .     .     . 

154 

227 

183 

178 

93 

56 

43 

2 
12 
20 
22 

3 
20 
13 

^_ 

53 

F.  F   &  Co   in  B.    .    .    . 

54 

F.  L 

55 

Walter  F.  in  L 

_ 

56 

Ernst  F.  in  Berlin  .     .     . 

57 

F.  in  Ch 

_ 

58 

Willy  F.  in  B 

mmm^ 

59 

Siegfried  Gabriel  in  B.     . 

142 

36 

— 

60 

Dr.  G.  in  Jena     .... 

17 
31 

5 
100 



61 

Rechtsanw.  Dr.  G.  in  F. . 

— 

62 

Ludw.  G.  in  Berlin       .     . 

28 

10 

— 

63 

Dr.  Adolf  G.  in  Berlin     . 

6 

25 

— 

64 

F.  W.  G.  in  Berlin  .     .     . 

200 
177 

40 
3 

_ _ 

65 

v.  G.  in  B 

— 

66 

Rechtsanw.  A.  G.  in  B.    . 

168 

20 

— 

67 

C.  G.  Bayern  pro  1901    . 

45 

20 

— 

do.          pro  1902    .     . 

* 

20 

— 

68 

K.  G.  in  Budapest  . 

94 

20 

_ _ 

69 

Baron  de  G.  in  W.       .     . 

189 

20 

— 

1904 

50 

—    1358    — 


..    — . 

Fol. 

Mk. 

Pfg. 

Übertrag: 

1904 

50 

70 

Fritz  G.  in  R 

181 

,    24 

14 

71 

Dr.  M.  6.  in  L 

185 

i      8 

49 

72 

B.  H.  in  Berlin 

162 

i      1 

— 

73 

D.  v.  H.  in  Berlin 

151 

9 

— 

74 

O.  H.  in  V.     ...'...    . 

3 

30 

— 

75 

A.  H.  München 

21 

,    50 

— 

76 

W.  H.  in  Köln 

221 

,    25 

— 

77 

E.  W.  Hellek 

191 

i    25 

— 

78 

H.  in  Frankfurt 

101 

|    50 

— 

79 

R,  H.  in  Berlin 

222 

!      1 

— ■ 

80 

Paul  H.  in  Berlin 

143 

20 

— 

do.               Extrabeitrag 

143 

20 

— 

81 

Waldemar  Heßling,  Haiensee  . 

155 

20 

— 

82 

W.  K.  H.  in  D 

78 

100 

— 

do.            Extrabeitrag    . 

78 

1 

50 

83 

0.  H.  in  Berlin 

174 

3 

— 

84 

stud.  tech.  H.  in  B 

194 

25 

— 

85 

Dr.  phil.  H.  i.  H. 

64 

20 

— 

86 

K.  R.  Z.  Frankfurt  a.  M.     .     . 

162 

30 

— 

do.              Extrabeitrag 

162 

30 

— 

87 

Dr.  H.  in  A 

190 

20 

— 

88 

Dr.  L.  H.  in  G 

196 

5 

— 

89 

Th.  G.  H.  in  M 

224 

,    20 

— 

90 

Adolf  J.  in  Berlin 

9 

:     6 

— 

91 

Dr.  phil.  J.       do 

14 

1  10 

— 

92 

H.  J.  in  Freiburg 

41 

20 

— 

93 

W.  J.  in  F 

82 

j    50 

— 

do.        Extrabeitrag  .     .     . 

82 

!    50 

— 

94 

Carl  J.  in  Berlin 

207 

1 

— 

95 

Valfrid  J.  in  St 

170 

5 

— 

96 

A.  J.  in  Seh 

196 

5 

— 

97 

F.  J.  Bez.  Osnabrück  .... 

15 

20 

— 

2609 

63 

—    1359    — 


Fol.  i  Mk.     Pfg. 

Übertrag:  2609       63 

98  Dr.  M.  Katte,  Berlin    ....  34  20 

99  L.  D.  K.  in  G .    .  90  15 

100  W.  K.  in  Leipzig 192  20 

101  Prof.  Dr.  Fr.  Karsch  in  Berlin  7  40 

102  Carl  JE.  in  Berlin 216  6 

103  Konrad  K.  in  Berlin    ....  108  30 

do.         Extrabeitrag  ...  .108  10 

104  N.  K.  in  Berlin 212  20 

105  P.  S.  (durch  Dr.  Hirschfeld)     .  98  100 

106  F.  K.,  Hamburg 217  30 

107  Paul  K.  in  L.      ......  164  18 

do.        Extrabeitrag  ...  164  20 

108  Hans  Kl.  in  Berlin 174  1 

109  Musikdirektor  K 171  4 

110  Architekt  K 173  24 

111  Richard  K.  in  Berlin   ....  130  20 

112  A.  K.  in  A 195  30 

113  F.  K.  in  Berlin 173  5 

114  Otto  K.  in  Berlin     .        ...  165  22       50 

115  Rudi  K.  in  B 126  13 

116  Otto  K.  in  Berlin 129  20 

117  Ernst  L.  in  Berlin 153  2 

118  Schriftsteller  Paul  R.  Lehnhard  141  36 

119  L.  in  Berlin 197  10 

120  A.  L.  in  Berlin 131  10 

121  J.  L.  in  Breslau 52  40 

122  Dr.  Lilienstein 156  20 

123  Dr.  med.  L.  in  F. 39  20 

124  A.  L.  in  St 214  3 

125  Prof.  Dr.  L.  in  B 2  20 

126  J.  L.  aus  K 203  20 

127  I  Willy  L.  in  Berlin   .     .     .    .     .  208  4 

^263       IT 


—    1360    — 


Fol. 

Mk. 

Pfe- 

Übertrag: 

3263 

13 

128 

Dr.  A.  L.  in  Berlin      .... 

202 

4 

— 

129 

L.  in  Charlottenburg    .... 

225 

5 

— 

130 

Arthur  L.  in  B. 

154 

3 

— 

131 

Dr.  Paul  Lutze  in  Köthen   .    . 

44 

20 

— 

do.        Extrabeitrag   .    .    . 

44 

1 

50 

132 

Frau  Reg.-Rat  Dr.  Martha  Mar- 

quardt,  Berlin 

159 

40 

— 

133 

Richard  M.  in  Berlin 

204 

4 

— 

134 

J.  M.  in  Hannover  . 

24 

50 

— 

135 

M.  O.  23     .    .    .    . 

70 

65 

— 

136 

L.  M.  in  Berlin    . 

35 

12 

— 

137 

Dr.  Th.  in  L.  .    . 

190 

48 

50 

138 

Otto  M.  in  L. 

160 

20 

— 

139 

K.  M.  in  Neu-R 

49 

10 

— 

do.        Extrabeitrag  .    .    . 

49 

4 

25 

140 

H.  Metzenthin  pro  1901  .    .    . 

116 

20 

— 

do.              pro  1902  .    .    . 

116 

20 

— 

141 

F.  M.  in  A 

179 

110 

— > 

142 

Adolf  M.  in  Berlin 

152 

6 

— 

143 

„Friedel"     ... 

188 

20 

— 

144 

Dr.  M.  in  L.   .    .    . 

18 

5 

— 

145 

8.  M.  in  Ch.    .    . 

97 

20 

— 

146 

E.  G.  H.     ... 

167 

40 

— 

147 

Nobody   .... 

72 

24 

— 

148 

Johannes  N.  in  B. 

214 

10 

— 

149 

Integer  vitae    .    . 

32 

20 

— 

150 

Schriftsteller  N.  in  B.      ... 

117 

40 

— 

151 

V.  A.  N.  in  Hamburg      .    .     . 

59 

50 

— 

152 

Ludwig  Noster,  Berlin      .    .    . 

170 

9 

— 

153 

E.  O.  in  B 

10 

130 

— 

154 

„Ohne  Namen" 

53 

20 

— 

155 

P.  O.  in  C.      .... 

177 

20 

— 

4114 

38 

•m*m 


—  1361  — 


Übertrag : 


156 
157 
158 
159 

160 

161 
162 
163 
164 
165 
166 
167 

168 
169 
170 
171 
172 
173 
174 
175 

176 
177 
178 
179 
180 

181 

182 


Ph.  v.  P.  in  B.    .    . 
Baron  v.  P.  in  St.    . 
Numa  Praetorius 
Dr.  med.  Pr.  in  F.    . 

do.       Extrabeitrag 
R.  S.  123 


do.  Extrabeitrag 
P.C.Frankfurt  .  . 
J.  R.  cand.  pb.  in  Ch. 
„Imprimatur"  .  . 
B.  R.  in  Rom  .  .  . 
H.  S.  in  O.  ... 
R.  in  K.  .  .  .  . 
R.Ra.F 

do.       Extrabeitrag 
Fidkbes.  R.  D.     .    . 

PaulR 

Dr.  R.  in  C.     .     .    . 

Maro 

Willibald  v.  S.-G.    . 
Zahnarzt  S.  in  B.     . 
Otto  8.  in  M.    .    .     . 
Herrn.  8.  in  Berlin  pro  1901 
do.  pro  1902. 

W.  S.  in  M 

Franz  8.  in  Berlin  .  . 
Dr.  8.  in  Rotterdam  . 
Dr.  Sp.  in  M.  ... 
Rechtsanw.  Dr.  8.  in  H. 

do.        Extrabeitrag 

J.  Seh.  in  B 

E.  S.  Charlottenburg    . 


Fol. 

38 

187 

11 

63 

12 

166 
54 

199 
79 
48 
22 
62 

68 
155 

77 
223 
189 
210 
176 
122 

37 
127 
180 
102 

23 

148 
134 


Mk. 

14114 

20 

20 

200 

40 

1 

200 

1 

20 

20 

15 

20 

100 

40 

25 

1 

100 

6 

20 
10 
30 
25 
20 
20 
20 
25 
8 
10 
40 
20 
1 
24 

20_ 

15238 


Pfg. 
38 


50 
50 


15 
50 


50 


53 


—     1362     — 


1 

Fol. 

Mk. 

Pfff- 

Übertrag: 

5238 

53 

183 

L  S.  77  München 

4 

j    30 



184 

E.S.  inH. .    . 

51 

!    20 



185 

S.  &  T.  in  Berlin 

213 

!  io 



186 

v.  Seh.  in  B 

124 

i    20 



187 

A.  S.  in  Sp 

217 

J      5 

_ 

188 

8.   in  D 

99 

;  20 

•    10 

- 

do.       Extrabeitrag    .    .     . 

— 

189 

C.  Seh.  in  Leipzig 

191 

1    25 



190 

Paul  Sch.-D 

194 

88 

i      3 
i    28 

191 

Seh.  in  Budapest 



192 

Mechaniker  A.  Seh.  in  B.     .    . 

228 

1      6 

__ 

193 

Dr.  Alfred  Schröder,  Berlin 

106 

!    20 



194 

Emil  S.  in  B 

39 

1  io 



195 

Graf  Seh 

67 
30 

50 
60 

196 

E.  S.  in  E 

_ _ 

197 

Reg.  Bmstr.  Seh.  in  B.     ... 

179 

25 



198 

Otto  Seh.  in  B 

164 

3 



199 

Wulf  Seh 

103 
16 

20 
3 

200 

Robert  Seh.  in  Berlin     .... 



201 

A.  St.  Schweiz 

121 

22 



202 

R.  St.  in  Z 

18 

40 



203 

I.  8.  in  B 

204 

20 



204 

G.  St.  in  P 

73 

20 



205 

A.  St  in  Seitmanns     .... 

213 

20 



206 

Ludwig  St 

163 

12 



207 

Freiherr  v.  T.  M 

186 

10 



208 

Hermann  Freiherr  v.Tesehenberg, 



Charlottenburg 

33 

25 



209 

Leoni  Thiel 

205 

15 

— 

210 

Dr.  M.  M.  Rom 

87 

49 

70 

211 

E.  T.  in  Köln 

218 

20 



212 

Baron  Carl  v.  T.  in  R.     ... 

216 

20 



5808 

23 

1363     — 


Fol.  1 

Mk. 

Pfg- 

Übertrag: 

1 

5880 

23 

213 

E.T.  inF 

58  ■ 

25 

— 

214 

U.  in  Berlin 

144 

9 

— 

215 

C.  L.  A.  H. 

36  ! 

20 

— 

216 

Paul  V.  in  Berlin 

172  ' 

20 

— 

217 

V.-B.  in  Berlin 

203  ! 

10 

— 

218 

Schriftsteller  V.  in  B.      ... 

211 

1 

— 

219 

Dr.  V.  in  B 

195 

3 

— 

220 

Paul  V.   in  ß 

147 

4 

— 

221 

,W r,  Dresden"     .... 

123 

50 

— 

222 

W.  O.  42 

149 

220  | 

10 

24 



223 

V.  V.  in  Wien 



224 

Walter  W 

113! 

22 



225 

Otto  W.  in  N 

219 

5 



226 

F.  W.  in  München 

19  1 

10 



227 

Wilh.  W.  in  H. 

158 ; 

20 



228 

Otto  W.  in  Ch 

184 

80 



do         Extrabeiträge    .    .     . 

29 

10 

229 

Dr.  H.  W.  in  Berlin     .... 

107 

20 

— 

230 

M.   W.   in   Berlin 

160 

2 

— 

231 

W.  in  Berlin 

167 

10 

— 

232 

C.  W.  in  Japan 

212 

20 

— 

233 

Harry  W.  in  B 

133 

20 

— 

234 

J.  W.  in  R 

225 

20 

— 

235 

Caesareon 

223 

20 

— 

236 

K.  W.  Schaumburg-Lippe     .     . 

139 

10 

— 

237 

v.  W.  in  Berlin 

200 

10 

— 

238 

Baron  W 

46 

20 

— 

339 

L.  W.  Berlin 

91 

50 
35 

240 

Paul  W.  in  Beilin 

100 

— 

241 

S.  L.  W.  iu  Basel 

42 

20 

— 

242 

St.  v.  Z.  in   B 

108 

20 

— 

243 

Maximilian  Bayer,  Karlsruhe 

227 

20 

— 

6519 

33 

Jahrbuch  V. 


—     1364     — 


b)  Außerdem  erfolgten  1902  folgende  einmalige 
Zahlungen : 


,8/. 


7h 

7 

8 


,r/< 

"7. 

*/. 

1B/9 

,8/:o 
U 


81/ 
/l 


27/ 
/ll 

«8/ 


«/. 


Vit 
1» 


Conferenz-Sammlung 

N.  N.  Schaumburg-Lippe  .  .  . 
aus  Frankfurt  durch  J 

E.  Manen 

Conferenz-Sammlung 

Prinz   X 

M.  H.  in  M.  durch  T 

Sprawiditipi 

Erdmannsdorf 

Müll.  W.  E.H.  München     .... 

H.  ß.  durch  Spohr 

Incognitus         do 

K.  in  Gütersloh 

Ernst  Möllers 

Ungenannt  No.  CO 

Dr.  med.  M.  Hannover  durch  O.  . 
Ravenne  durch  Spohr    

F.  I.  Florenz 

A.  L.  durch  Brand 

Sänger  T. 

Rup.    N 

N.  in  F.  für  Intervention  .  .  . 
Fritz  H.  Leihgebühr  f.  Jahrbuch  . 
für  Jahrbuch  Einbände  u.  Portos 

1,80  +  1,80  +  0,65  + 1,50  +  2  — 
+  1,50  +  1,50       

für  50  Petitionen 

für  Volksschriften  1, \-2, — 

A.  St.  f.  1  Jahrbuch 

J.  W.  f.  2  Jahrbücher   .... 


Mk. 

271 

10 

45 

2 

198 

100 

50 

20 

5 

100 

3 

20 

5 

10 

10 

20 

2 

20 

5 

3 

10 


10 
12 
3 
11 
10 
967 


Ptg. 
40 


60 


75 


50 


25 


1 


1365     — 


Übertrag: 

E.  in   W.  f.  2  Jahrbücher     .... 

R.  in  W.  f.  1  Jahrbuch 

L.  in  Ch.  f.         do 

v.  P.  f.  Jahrhuch  I.  antiqu 

für  Monatsberichte 

5,-  +  3,-  +  4  -  +  3  -  +  3,- 

+  5, 1-  3, \-  3, \-  3, (-  5 - 

+  3  -  +  5  -  3,-  +  5, h  8,-  + 

3  -  +  3, [■  3, h  3  -  +  3, h 

3, 1-8,- 


Mk. 

Pfg. 

967 

25 

13 

40 

10 

14 

12 

— 

3 

— 

77 


11082 


79 


Ausgaben  laut  Buch. 

a)  Schreibmaterialien,  Einladungen  u.  div.  575,80  Mk. 

b)  Petitionen  (8000  an  sämtliche  Rechts- 
anwälte Deutschlands),    Volksschriften, 

Bücher    zur  Rezension,   Zeitungen  etc.  1318,65     „ 

c)  Porto  für  Petitionen,  Jahrbücher, 
Einladungen ,  Volksschriften ,  Korre- 
spondenzen etc 1143,87     „ 

d)  Jahrbücher  für  die  Fondszeichner     .     .  952, —     „ 

e)  Jahrbücher  zu  Propagandazwecken  .     .  2057, HO     „ 

f)  Inventar  (Schreibmaschine,  Aktenregal, 

Stempel  etc.) 159, —     „ 

g)  Vortrags  -  Konferenz  -  Monatsvers.-  und 

sonstige  Spesen 104,20     „ 

h)  Gehalt  des  Sekretärs 1130, —     „ 

•    zusammen  7440,82  Mk. 

86* 


—     1366    — 

Gesamt-Einnahmen. 

1)  Fondszeichner 6519,33  Mk, 

2)  einmalige  Zahlungen 1082,79     „ 

3)  Überschuß  vom  Jahre   1901     ....         340,34     , 

7942,46  Mk. 
Gesamt- Ausgaben  wie  oben  7440,82     „ 

mithin  Überschuß  am  31.  Dezbr.  1902.         501,64  Mk. 

Charlottenburg  und  Leipzig,  31.  Dezember  1902. 

Dr.  Hirschfeld.  Max  Spohr. 


Gegengezeichnet 

Fabrikbesitzer  J.  Heinr.  Denker,  Sulingen. 
Rittergutsbesitzer  W.  Jansen,  Friemen. 


Verzeichnis  der  Abbildungen. 

Band  I. 

Richard  Freiherr  von  Krafft-Ebing         ....      Titelbild 

Th.  Widdig,  urnischer  Arbeiter 34 

Willibald  von  Sadler-Grün  in  verschiedenen  Trachten        .  65 

Ritter  D'Eon 79 

König  Ludwig  11.  von  Bayern 84 

Verhältnis  des  Schulter-  zum  Beckengürtel  .  .129. 

Urnischer  Arbeiter  mit  weiblichem  Becken  .        .        .  130  u.  131 

Allgemein  verengtes  weibliches  Becken  .       .       .132 

35  Abbildungen  von  Scheinzwittern  und  deren  Genitalien  225,  226, 

238,  239,  240,  248,  249,  256,  257,  258,  272,  273,  283,  296,  297, 

302,  303,  305,  323,  342,  343,  346,  347,  353,  357,  358,  372,  374, 

375,  376,  377,  379,  380. 

Felicita  von  Vestvali 426 

Dieselbe  in  Straßentoilette                    431 

Dieselbe  als  Petruchio 435 

Dieselbe  als  Hamlet 438 

Rosa  von  Braunschweig 443 

Heinrich  Hößli 449 

Heinrich  Hößli's  Geburtshaus 455 

Der  schwarze  Adler  im  alten  Glarus 458 

Der  Gasthof  zum  Löwen  im  alten  Glarus     ....  459 

Heinrich  Hößli  als  Jüngling 466 

Derselbe  als  Greis 467 

Aemil  August  als  Erbprinz 651 

August,  Herzog  zu  Sachsen-Gotha  und  Altenburg  639 

Herzog  August  von  Gotha  als  Griechin        ....  643 

Szene  aus  dem  „Kyllenion"    .                                            .  658 

Schlußvignette  der  Novelle  „Kyllenion"        ....  687 


—    1368    — 

Band  II. 

87  Abbildungen    zum  Artikel    von  Drs.  v.   Römer  siehe 

Spezial-Anhang 922 

Ainofrauen  mit  tätowiertem  Schnurrbart       ....  940 

Annie  Jones-Elliot 1158 

Der  84jährige  Clemens  Jung 1183 

Wasserseppli  als  Mann 1210 

Wasserseppli  als  Frau 1211 

Musketier  Bertha  Weiß 1216 

Georg,  Prinz  von  Preußen 1298 

F.  A.  Krupp 1304 

General  Macdonald 1322 


Druck  von  G.  Reichardt,  Groitzsch  i.  S. 


\ 

THE  UNIVERSITY   OF  MICHIGAN 

AR6ÜS  STORASE 

DATE   DUE