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JAHRESBERICHT
über
die Fortschritte der klassischen
AlteFtumswissensehaft
begründet
Conrad B ii r s i a n
herausgegeben
L. Grni-litt iiiKi TV. Ki-oU,
Hundertnndz wanzigster Band. (-yJ^^-^^oj
Zweiunddreissigster Jahrgang 1904.
Erste Abteilung.
GRIECHISCHE KLASSIKER.
LEIPZIG 1905.
0. R. REISLA.ND.
Inhalts-Verzeichnis
des hundertundzwanzigsten Bandes,
Seite
Bericlit ü])er die Forschungen auf dem Gebiete der
griechischen Sprachwissenschaft mit AusscMuß
der Keine und der Dialekte in den Jahren
1890-1903 von Eduard Schwyzer . . . 1—152
Bericht über die Literatur zur Koine aus den Jahren
1898—1902 von Stanislaus Witkowski in
Lemberg 153—251
Bericht über die Forschungen auf dem Gebiete der
griechischen Sprachwissenschaft
mit Ausschluss der Keine und der Dialekte in den
Jahren 1890-1903.
Von
Eduard Schwyzer.
Seit mehr als zwanzig- Jahren ist in diesen Jahresberichten nicht
mehr von der eifrigen Tätigkeit auf dem Gebiete der griechischen
Grammatik die Rede gewesen; keiner der verschiedenen Gelehrten, die
nach einander die Aufgabe übernahmen, gelaugte znr Ausarbeitung seines
Berichtes. Inzwischen wuchs jedoch die Masse des zu bewältigenden
Stoffes immer mehr, und als der jetzige Berichterstatter vor einigen
Jahren sich zur Übernahme der Arbeit entschloß, war er sich von
vornherein klar, daß es sich nicht darum handeln könne, über alles,
was seit dem Ende der 70er Jahre erschien, auch nur knapp zu refe-
rieren und setzte deshalb im Einverständnis mit der Redaktion das
Jahr 1890 als Ausgangspunkt seines Berichtes fest, um so mehr, als
ihm dafür nur die spärlichen Mußestunden, welche eine angestrengte
mehrfache Berufstätigkeit und andere Arbeiten übrig ließen, zu Gebote
standen. Die vorgeschriebene Abgrenzung gegen die Berichte über
vergleichende Sprachwissenschaft, über die Koine und die griechischen
Dialekte, sowie über die einzelnen Schriftsteller ließ sich nicht immer
streng durchführen.
Außer der Bibliotheca philologica classica habe ich die seit 1891
erscheinende, seit 1892 von A. Thumb redigierte Bibliographie über
das Gebiet der griechischen Sprachkunde im „Anzeiger für indo-
germanische Sprach- und Altertumskunde. Beiblatt zu den indo-
germanischen Forschungen" mit Dank benutzt. — Meine Abkürzungen
sind die der Bibliotheca philologica classica.^)
*) Vgl. auch die Berichte von W. Prellwitz, Jahresbericht über die
griechische Dialektforschung von 1882—1899. BuJ. Bd. GVL 1900, 3. Abt.
S. 70—112 und Griechisch. 1899—1002 in Vollmöllers Uoman, Jahresbe-
richt VI, Ißl— 73 sowie den an den vorliegenden Bericht anschlieBenden
über die Koine von St. Witkowski. — Die Auswahl unter den im Mscr.
vollständig gegebenen Besprechungen wurde durch die Redaktion getroffen.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1904. I.) 1
2 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Gesamtdarsteilimgen der Grammatik der ganzen Gräzität sowie
einzelner Perioden.
Die höchste Aufgabe, die der geschichtlichen Sprachbetrachtung
gestellt ist , besteht nicht iu der Sammlung und Sichtnns des Stoffes,
in der Einreibung desselben in die Fächer des grammatischen Hand-
buches, sondern in einer Darstellung des Lebens einer Sprache in seiner
ganzen Breite im Zusammenhang mit der Kultur, deren vornehmstes
Zeugnis sie bildet.
Ist dieser Ruf auch auf verschiedenen Gebieten sprachwissen-
schaftlicher Forschung in den letzten Jahren laut geworden, so hat er
doch auf griechischem Boden noch wenig Nachfolge gefanden. Man
muß sich volläufig mit im Verhältnis zu der Fülle des Materials und
der Bedeutung der Aufgabe recht knappen Skizzen zufrieden geben.
In erster Linie verdienen die Einleitungen zu den ausführlichen
Grammatiken von Kühner-Blaß, G. Meyer, A. N. Jannaris,
G. N Hatzidakis genannt zu werden; ebenfalls aus Hatzidakis'
Feder stammt der interessante Überblick über die griechische Sprach-
geschichte von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwai't, welcher der
griechischeil Bearbeitung des Wörterbuches von Lideil und Scott (Athen,
KwvcjTavTiviSTic 1901) vorausgeschickt ist. Eine erste Orientierung auch
über die griechische Sprachgeschichte in ihrer ganzen Ausdehnung bietet
E. Schwyzer, Die Weltsprachen des Altertums in ihrer geschicht-
lichen Stellung. Berlin 1902.
Von einzelnen Perioden der Sprachgeschichte sind bisher im oben
angedeuteten Sinne am besten und ausführlichsten die vor der Geschichte
liegenden Anlange des Griechischen behandelt worden, die jenseits der
Grenze unseres Berichtes liegen, von P. Kretschmer, Einleitung in
die Geschichte der griechischen Sprache. Göttingen 1896; von der
zu erwartenden Fortsetzung ist noch nichts aus Licht getreten. Hier
sind noch aufzuführen die Skizzen von :
E. Zarncke, Die Entstehung der griechischen Litteratursprachen.
Leipzig 1890.
Rez. von My, Rcr 1890, Nr. 18 p. 351. Egeuolff, BphW 10,
1246—8. Hilberg, ZöGy 41, 1139. Dittenberger, DL 1891, 1375—6.
*C. 0. Zuretti, Sui dialetti letterari greci. Torino 1892.
Rez. von B., LC 1892. 817—8. Meisterhans, NphR 1893, 170—1.
Zarnckes Vortrag gibt, ausgehend von der Betonung des Unter-
schieds zwischen gesprochener und geschriebener Sprache auch für
Griechenland, einen hübschen Überblick über die Literatursprachen der
voralexandrinischen Zeit. Die älteste, der epische Dialekt, der nicht
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 3
mit einer gesprochenen Mundart identifiziert werden darf — Ficks An-
schauungen werden abgelehnt — hat die Dichtersprache der ganzen
Folgezeit beeinflußt. In der Lyrik venät diesen Einfluß am meisten
die Elegie, schon weniger der lambos, am wenigsten das Melos, das
neben den vorwiegenden dorischen auch äolische Elemente in sich auf-
genommen hat. Das Drama, das ja eine Art Vereinigung von Epos
und Lyrik bildet, wird, im Anfang noch ziemlich stark den Einfluß der
älteren Gattungen verratend, in der Folgezeit immer nationaler: von
Anfang an deckt sich mehr mit der Sprache des Lebens die Komödie.
— Auch die älteste ionische Literaturprosa zeigt Beeinflussung durch
den epischen Stil, wenn auch schon vor unserer ältesten Überlieferung
eine primitive Literaturprosa wohl vorhanden gewesen ist. Herodots
Sprache ist mit keiner Ortsmundart identisch, wenn auch eine solche,
die milesische, wohl die Grundlage bildete. An die epische Sprache
schließt sich auch die philosophische an — die pythagoreische Schule
mit ihrem Versuch, eine dorische Prosa zu entwickeln, steht für sich — ,
die wieder für Hippokiates die Grundlage bildet. In Attika endlich
geht die Knnstprosa aus von der Hhetorik (Gorgias). der an die zu-
gespitzte, wit/.ige sizilianische Redeweise anknüpfte, von der man später
allerdings manches abstreift. Den Schluß bildet eine Warnung vor
kritikloser Benutzung der Dialektinschriften für die Textkritik.
Im übrigen ist noch die Form des grammatischen Handbuches,
das ja neben der geschichtlichen Darstellung immer unentbehrlich
bleiben wird, maßgebend geblieben.
Unser Zeitraum hat zwei neue Gesamtdarstellungen hervorge-
bracht, welche den Anspruch erheben, die geschichtliche Entwickelung des
Griechischen von seinen ältesten Zeiten bis hinunter auf die Gegenwart
zu verfolgen. Es sind die Bücher von
*H. C. Muller, Historische Grammatik der hellenischen Sprache.
Leiden. I. Grammatik, 189 L IL Chrestomathie, 1892.
Rez. GMr, BphW 12, 437—43; 13, 24—25. Krumbacher, NphR
1892, 105—8; 1893, 124. W. Schulze, DL 1893, 1383—5. Thumb,
lA. 2, 171 und
A. N. Jannaris, An historical Greek grammar. London 1897.
Rez. Th(umb), LC 1898, 365-7. KK.. ByZ 7, 221—3. R.Meister,
BphW 1898, 993—6. Kretschmer, WklPh 1898, 735—41.
Das Buch von H. C. Muller ist, soweit ich nach anderen Ver-
öffentlichungen des Amsterdamer Philhellenen urteilen kann-, mit Recht von
der Kritik einstimmig als oberflächlich und dilettantisch verurteilt worden.
Das Werk von Jannaris bringt nach Vorwort, Inhaltsübersicht
und Übersicht über die benutzte Literatur sowie die verwerteten
1*
4 Bericht über griechische Sprachwisienschaft 1890-1903 (Schwyzer.)
Spracbquellen (p. I — XXXVIII) erst eine kurze Darlegung der ge-
samten griechischen Sprachentwickelung (S. 1 — 20), dann auf S. 21
— 100 die Laut-, auf S. 101-311 die Formeulehre und auf S. 312—
506 die Syntax; die S. 507 — 580 füllen sechs Anhänge über Akzent,
Quantität, Endkonsonanten, Indikativ Fut., Modi und Infinitiv, während
Wort-, Sach- und Stellenindex — nach englischer Weise reichhaltig —
die S. 581 — 737 einnehmen. Jannaris' Werk ist der erste nennens-
werte Versuch, die Gesaratgeschichte des Griechischen darzustellen, und
man wird zugeben müssen, daß er in den fünf Jahren, in denen er
seine Aufgabe bewältigen zu können glaubte, fleißig gearbeitet hat.
Freilich, Vollständigkeit nach allvn Richtungen hin ist auch nicht er-
strebt worden: die vorhistorische Periode und die Dialekte blieben von
vornherein ausgeschlossen. So ist die Grammatik für das Altgriechische
schon dem Material nach durchaus ungenügend und erträgt in keiner
Weise einen Vergleich mit den gleich nachher zu nennenden Dar-
stellungen. Alle Anerkennung verdient der Stoff, der aus helleuistischea
und mittelgriechischeu Inschriften, Papyii und literarischen Quellen,
wenn auch nicht in einiger Vollständigkeit, beigebracht wird, und darin
liegt der wisseus( hattliclie Wert des Buches. Als anregend und nützlich
sei ferner die stete Gegenüberstellung der alten und neuen Formen und
Ausdrücke hervorgehoben, besonders auch in der Syntax, die in ihrem
altgriechischen Teil nicht mehr als jede bessere Schulgrammatik bietet.
Das Hauptgebiechen des Buches, infolgedessen es auch als Lehrbuch
für Studierende unbrauchbar ist, da es nur verderblich wirken könnte,
ist der oft und augenfällig hervortretende Mangel des Verfassers an
sprachwissenschaftlicher Schulung. Von dem Geist, der in den neueren
sprachwissenschaftlichen Werken herrscht, die er zu Anfang in so
großer Zahl aufführt, hat er wenig in sich aufgenommen. Natürlich
glaubt Jannaris, daß die heutige neugriechische Aussprache in allen
wesentlichen Punkten die der klassischen Zeit sei. Die metrische
Dehnung bei Homer setzt nach J. den Gebrauch der Schrift voraus
(S. 22); die langen Vokale waren tatsächlich nicht vorhanden, sondern
sind nur eine Erfindung der Grammatiker und Metriker (S. 27); wenn
es wirklich ein e, o gegeben hätte, hätten doch „Ignorant scribes and
stone-cutters" gelegentlich zt, oo schreiben müssen (S. 39); -[spa ist durch
Ersatzdehnuug aus 7£pa(a) entstanden (S. 533); das Augment ist nichts
anderes als E EN, die archaische Form von att. -^ r^v (S. 185). Es
mug an diesen Proben genügen, die sich namentlich aus der Lautlehre
sehr stark vermehren ließen. Besonders mag noch bemerkt sein, daß
auch die Erklärung mittel- und neugriechischer Formen oft zu starken
Bedenken Anlaß gibt; die mit einer gewissen Stetigkeit zutage tretende
Polemik gegen Hatzidakis ist selten glücklich.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 5
Zwei andere neue Gesamtdarstellungen beschränken sich im wesent-
lichen auf das Altgriechische und dienen hauptsächlich Unterrichtszwecken :
H. Hirt, Handbuch der griechisclieu Laut- und Formenlehre.
Eine Einführung in das sprachwissenschaftliche Studium des
Griechischen. Heidelberg 1902.
ßez.: Solmsen, ALL XIII, 137; BphW 1902, 1002/9. Tharab,
LC 1903, 285. Schwyzer, NJklA 1903, 443 f.
Ich muß trotz des Lobes, das dem Bnche von anderer Seite ge-
spendet wurde, an meinem a. a. (). niedergelegten Urteil festhalten, daß es
von den Anfängern, für die es ja gerade berechnet ist, nur mit großer
Vorsicht benutzt werden darf. Oline selbständige Durchforschung der
griechischen Sprachquellen hat zwar Hirt die neuere sprachwissenschaft-
liche Literatur mit kritischem Urteil verwertet, und daß alle Richtungen
der Forschung, bald hier, bald dort, zum Wort kommen, ist nur als
ein Vorteil zu betrachten : aber der vorgeschichtlichen Konstruktion ist
im Verhältnis zur Betrachtung geschichtlicher Tatsachen, die prinzipiell
ebenso lehrreich und dem Gymnasiallehrer nützlicher wäre, viel zu viel
ßaum zugestanden. Zudem hat Hirt, besonders aus seinem Buche über
den indogermanischen Ablaut, manche Hypothese aufgenommen, die der
Anfänger nicht zu kenneu braucht. An manchen Stellen des Buches
tritt Hirts gewandte, flüssige Darstellung dem Leser entgegen : um so
mehr wird einen die anderwärts zu beobachtende Unklarheit stoßen,
die wohl auf a,llzu flottem Arbeiten beruht. Auch gelegentliche
Wiederholungen und Ungleichheiten, sowie eine Reihe von Druckfehlern
muß man in den Kauf nehmen. — Hirts Buch gehört einer Sammlung
indogermanischer Lehrbücher an; daß gerade er, dessen Forschungen
sich bisher besonders auf germanischem und slavischem Gebiete be-
wegten, das Griechische übernahm, hat darin seinen Grund, daß „er
gerade auf diesem Gebiete etwas Neues bieten zu können hoö'te",
womit seine Ablaut-Theorie gemeint ist. Fast gleichzeitig mit Hirt
hat ein Führer der griechischen Sprachforschung ebenfalls ein Lehrbuch
geschrieben, das aber Im Gegensatze zu Hirts Arbeit — mit vollem
Recht — den Anfänger vor allem auf den Wert der Tatsachen imd
die möglichst sicheren Erklärungsversuche hinweist:
r. N. XaT^iöaxt, 'AxaSY)(x£txa dva^vcujjxaTa ei? ttjv "EXXtjvixti^v,
Aaxtvtx'Tjv xotl [JLixpov ei? TT)v'Iv3tx'?jvypa[X[xaTixTQv. T6[xosa'. 'Ev'A9r^vatcl902
(-= ^tßXioö/jXTi MapacjXr^ dp. 175—178).
Eine in ihrer ganzen Anlage eigenartige sprachgeschichtliche Dar-
stellung des Altgriechischen — wie das Indische, ist, wenn auch in
etwas geringerem Maße, auch das Lateinische in dem bisher vorliegenden
ersten Bande nur Beiwerk, was sich auch äußerlich in den im latei-
6 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.^
nischen Druck unverhältnismäßig häufigen Druckfehlern kundgibt, die
freilich nur zum geringen Teil auf Rechnung des Verfassers zu setzen
sein werden. In griechischer Sprache für griechische Studenten ge-
schrieben, verdient doch das Buch auch außerhalb Griechenlands be-
kannt und studiert zu werden, obschon meines Wissens bis anhin [1903] keine
Besprechung in einer westeuropäischen Kultursprache erfolgt ist. Seinem
Gesamtcbarakter nach vergleicht es sich Wilmanns' Deutscher Grammatik:
an Wilmanns erinnert die ausführliche, lehrhafte, klare Darstellung, an
Wilmanns das Bestreben, nur abgeklärte Ergebnisse zu bieten und
kurzlebigen Hypothesen womöglich aus dem Wege zu gehen, an Wil-
manns die Fülle des vorgeführten sprachlichen Materials. Dagegen sind
Zitate antiker Quellen sowie moderner Literatur recht selten; da letztere
Hatzidakis' Hörern wenig zugänglich ist, sind nur in griechischer Sprache
erschiei ene Arbeiten sowie des Verfassers Einleitung einigermaßen
regelmäßig genannt. Einen besonderen Reiz erhält das Werk durch
die ziemlich häufige Heranziehung neugriechischer Aualoden. — Eine
knappe Inhaltsangabe der zwölf Kapitel des bis jetzt [1903] erschienenen
I. Bandes mag einen Begriff von dem reichen Inhalt des Werkes geben.
Kap. I enthält als Einleitung in die historische Grammatik des Griech.,
Lat. und Indischen einen Abriß der Geschichte der Sprachwissenschaft
und ihrer Methoden und eine Übersicht über die \äs. Sprachen sowie
über die äußeren Schicksale der 3 genannten Einzelsprachen, wobei be-
sondess die Behandlung des Griechischen hervorgehoben sei; stoflFlich
hängt mit dem I. das II. Kapitel teilweise zusammen, das über die
Quellen der alten Grammatik handelt, freilich besonders mit Rücksicht
auf deren methodische Benutzung. Auch hier stellt H. einen Grundsatz
auf, den er schon wiederholt begründet hat und der auch in den Kapiteln,
die der Aussprache gewidmet sind, oft wieder auftaucht, wonach alle
auftälligen Besonderheiten, die sich auf Inschriften und in Papyri finden,
aus dem für die Sprachgeschichte zugrunde zu legenden Material aus-
zuscheiden sind, als barbarische Erscheinungen, die bei nationalen Griechen
nicht vorkommen. Obwohl hier strenge Kritik gewiß vounöten ist und
einzelne Erscheinungen durch die spätere Entvvickeluug nicht bestätigt
werden, auch Schreibfehler und Steiumetzversehen zuzugeben sind, wird
doch nicht weniges von dem. was die ägyptischen Papyri schon ver-
hältnismäßig früh zeigen, später allgemein; und wenn auch die Sprache
der niederen sozialen Schichten Athens eine Mischsprache war, so ist
doch zu bemerken, daß für die Fortbildung der Sprache gerade diese
Elemente vielleicht mehr in Betracht kommen als die konservativeren
oberen Schichten. H. scheint also auch mir vielfach niit seiner Kritik
zu weit gegangen zu sein. Kapitel III und IV gehören wieder zu-
sammen: handelt das eine von der Uervorbringung der Laute (Phonetik!},
Beriebt über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 7
spricht das andere von deren Darstellung durch die verschiedenen in
Betracht kommenden Alphabete. Lautgesetz und Analogie (samt
Volksetymologie und Kontamination) behandeln vom Standpunkt der
neueren Sprachwissenschaft Kap. V und VI; Kap. VII spricht über
die fremden Elemente in der Sprache (Sprachmischung), Kap. VIII
enthält die Lehre von der Ersatzdehnung, der rhythmischen Dehnung,
von der Vrddhiernng und besonders vom qualitativen und quantitativen
Ablaut. Ungemein ausführlich wird in den beiden folgenden Kapiteln
die Aussprache behandelt, im allgemeinen und im besonderen. H.
steht darin durchaus auf dem Boden der deutschen E'orschung und zer-
stört mit kritischer Schärfe mitunter sogar ein Zeugnis für das Auf-
kommen der heutigen Aussprache, das diese selbst zu finden glaubte,
um so mehr die falschem Patriotismus entstammenden dilettantischen
Versuche, die neugriechische Aussprache als solche dem Altertum zu-
zuschreiben. Das hindert ihn jedoch nicht, zu betonen, daß auch die
erasmische Aussprache für das Altgriechische offenbare Fehler aufweise
und mancher Punkt von der Wissenschaft unmöglich klargestellt werden
könne; die neugriechische Aussprache, wenn auch sicher in vielen
Punkten für das Altgiiechische fehlerhaft, habe doch den Vorteil,
lebendige Wirklichkeit zu sein, und er würde sie unbedingt auch für
westeuropäische Schulen empfehlen, wenn nicht durch ihre Einführung
zu der Schwierigkeit der Formenlehre noch die Schwierigkeit einer
historischen Orthographie hinzukäme. Kap. XI ist den beiden Hauch-
lauten, ihrer Aussprache und Geschichte, gewidmet, und Kap. XII be-
handelt ausführlich und mit reichlicher Vorführung von Beispielen die
Wort- und Satzbetonung des Griechischen, z. T. auf Grund von Einzel-
untersuchungen des Verfassers, die später zu nennen sind; die letzten
Paragiaphen des Kapitels untersuchen die Einordnung der Lehnwörter
aus dem Lateinischen in das griechische ßetonungssystem. — Selbst
wenn das Buch nur H.s durchaus selbständiges Urteil über die be-
handelten Fragen vermittelte, müßte es auch dem Forscher wichtig sein;
es enthält aber auch an manchen Stellen neue Gesichtspunkte, und
wenn auch nicht jeder überall zustimmen wird, darf doch eine baldige
Fortführung des Werkes von vornherein dankbarer Aufnahme sicher sein.
So wird man auch fernerhin wenigstens für diejenigen Perioden,
denen unser Bericht hauptsächlich gilt, einiger Werke nicht entraten
können, deren Anfänge zwar einer früheren Zeit angehören, die aber
in den letzten Jahren neu aufgelegt worden sind:
ß. Kühner, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache.
Erster Teil: Elementar- und Formenlehre. 3. Aufl. in 2 Bänden, in
neuer Bearbeitung besorgt von Friedr. Blaß. Hannover I 1890. 11.1892.
8 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Rez. von Ziemer, Gy 1892, Nr. 13. Brugmann, lA 1, 15 — 17;
6, 50-52. Witkowski, Eos VIT, 247—50.
G. Meyer, Griechische Grammatik. 3. Auflage. Leipzig 1896.
ßez. von Kretschmer, BphW 1897, 691-5. Solmsen, lA 11. 74—81.
K. Brugmann, Griechische Grammatik (in Müllers Handbuch).
3. Auflage. München 19üO.
Rez. von Th(umb), LC 1900, 1735 f. Bartholomae, WklPh 1902,
626—31. Meringer, ÖLbl 1902, 655.
Als Vorzug der früheren Auflagen der Kühuerschen Grammatik
hatte gegolten, daß sie nebeu reicher Sammlung von Tatsachen auch
bemüht war, sprachgeschichtliche Erklärungen zu geben unter Benutzung
der damaligen Ergebnisse der vergleichenden Sprachwissenschaft. Die
neue Auflage wird nicht mehr beiden Ansprüchen gerecht, und man
möchte wünschen, daß sie dem zweiten noch weniger gerecht zu werden
suchte. Blaß hat, unter Beibehaltung des Grundrisses, der ganzen Ein-
teilung, sich vor allem bemüht, seither bekannt gewordene Tatsachen
aus den Quellen und der neueren grammatischen Literatur nachzutragen
und vermeintliche Tatsachen zu beseitigen — und als Sammlung ver-
dient das Buch den vollen Dank der Wissenschaft; es muß, wie dies
Blaß im Vorwort in allerdings ziemlich einseitiger Weise tut, immer
wieder gegenüber bloßen Konstruktionen, besonders vorgeschichtlichen,
die Wichtigkeit der Feststellung der Tatsachen betont werden. Doch
die gegebenen Erklärungen sowie was zum Vergleich aus verwandten
Sprachen herbeigezogen wird, enthalten eine ganze Reihe von Irrtümern,
so daß in deren Benutzung größte Vorsicht geboten ist; von dem Geiste
der neueren Sprachforschnag ist darin noch recht wenig zu spüren.
Die erste Auflage von G. Meyers Grammatik erschien zu einer
Zeit, wo die Einten des Kampfes hoch gingen in der indogermanischen
Sprachwissenschaft; es war damals kein leichtes Unternehmen, bei dem
vielfach noch wenig abgeklärten Stande mancher Fragen eine Grammatik
des Griechischen mit Berücksichtigung der vergleichenden Sprach-
forschung zu schreiben — und das wollte Meyer leisten. Daneben bot
sie aber auch schon eine Sammlung und Sichtung des Sprachstoft'es,
und dieser Gesichtspunkt ist in der dritten Auflage der wichtigste ge-
worden; die entwickelungsgeschichtliche Forschung wird nicht vernach-
lässigt, noch sind die vorgebrachten Erklärungen etwa im Widerspruch
mit der jetzigen Wissenschaft, aber die Erklärung und besonders die
vorgeschichtliche Konstruktion steht durchaus in zweiter Linie. Außer-
li'ih ist die neue Auflage wenig von ihrer Vorgängerin verschieden;
immer noch beschränkt sich die Grammatik auf Laut- und Formen-
lehre, und auch in diesem Rahmen findet der Akzent keine Darstellung.
Beriebt über griechische Sjirachwissenschaft 1890-190o. (Scbwyzer.) 9
Die Einteilung: ist wesentlich die gleiche geblieben, wenn auch das neue
nachgetragene Material den Umfaug des Buches um einige Bocjen ver-
niehit hat. Wer an Hand der sprachwissenschaftlich fresichteten Tat-
sachen sich eine genauere Kenntnis der griechischen Sprachgeschichte
erwerben will, wird nach wie vor zu Gustav Meyers Buch greifen
müssen.
Dagegen setzt Brugmanns Werk die Kenntnis der Tatsachen vor-
aus, von denen nur angeführt wird, was für das Verständnis notwendig
ist, und stellt überall den entvvickelungsgeschichtlichen Gesichtspunkt
in den Vordergrund. Aus dem dürren Grundriß der ersten Ausgabe
ist in der dritten ein stattliches Buch geworden, das alle Teile der
Grammatik beleuchtet und namentlich der Syntax einläßliche Be-
trachtung widmet. Haben alle Abschnitte gegenüber den früheren Auf-
lagen bedeutende Umgestaltungen erfahien — den Fortschritten der
emsigen Sprachwissenschaft entsprechend — , so gilt dies doch am
meisten von der Syntax, wo jetzt durch Delbrücks großes Werk über
die vergleichende Syntax, dessen zwei erste Bände Brugmann noch
benutzen konnte — er anerkennt ausdrücklich Delbrücks Bedeutung
auch für seine Darstellung, wenngleich er nicht selten über den Alt-
meister syntaktischer Forschung hinausgekommen zu sein meint — , für
die Einzelsprachen die bisher noch vermißte vergleichende Basis ge-
schaffen worden ist. Durch Brugmanns Darstellung weht ein anderer
Geist als durch die schematischen Belegsammlungen früherer Bearbei-
tungen, es ist die Betrachtungsweise einer Psychologie, wie sie durch
Wundt begründet ist. Es mag beispielsweise hervorgehoben sein die Be-
handlung desGenetivs, desfjnachKomparativen, derVerbalaklionen. Dabei
ist auch die Form so klar und sauber, das wesentliche scharf heraushebend,
daß die Lektüre zu einem wahren Genuß wird. Aber auch in Lant-
und Formenlehre wird der Leser dankbar mancherlei Anregung finden :
es sei als Beispiel auf die Behandlung der epischen Zerdehnung vei-
wiesen, wozu Leskien aus slavischem Sprachgebiet eine feine Beob-
achtung beisteuert (S. 64).
Schließlich ist hier noch zu erwähnen die griechische Grammatik
von H. Meltzer, die zwei Bändchen der Sammlung Göschen füllt:
Griechische Grammatik I. Formenlehre (mit Register) — 11. Be-
deutungslehre und Syntax. Leipzig 1900, 1901.
ein im ganzen geschickter Auszug aus größeren Werken, namentlich
Brugmanns griech. Gramm., der teilweise, dem Plane der Sammlung
entsprechend, wie die in w'enig übersichtlicher Weise fortlaufend ge-
druckten Paradigmata zeigen, praktische Ziele verfolgt, aber in manchen
Partien, besonders in der Lautlehre, einem Nichtphilologen nicht ver-
10 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.)
ständlich sein wird. Der erste Teil enthält eine Reihe von Drnckfehlern
und Versehen, besonders auch unter den verglichenen indischen Wörtern.
Der Titel des höher za bewertenden zweiten Teils kann leicht irre-
führen; statt „Bedeutungslehre" erscheint in der Inhaltsübersicht „Wort-
bedeutung", womit nach Ries' Vorgang' bezeichnet wird, was die übliche
traditionelle Grammatik als Syntax der Kongruenz, des Adjektivs, Pro-
nomens und der Tempora und Modi des Verbs behandelt.^)
An die Gesamtdarstellungen seien, um sie nicht an verschiedenen
Stellen besprechen zu müssen, einige Schriften angeschlossen, welche
Beiträge zu verschiedenen Teilen der Grammatik enthalten.
J. La Roche, Beiträge zur griechischen Grammatik. Erstes
Heft. Leipzig 1893.
Rez. von G. Meyer, BphW 1894, 245—8. Kretschmer, DLZ
1894, 872 f. Brugmann, lA 5. 35 f.
Der Verfasser will „einzelne Bausteine zu dem Gebäude der
griechischen Grammatik beistellen", das „sich als ein immer dringen-
deres Bedürfnis herausstelle". Für seine Auffassung ist eine Stelle aus
der Vorrede bezeichnend: „Das inschriftliche Material habe ich ab-
sichtlich beiseite gelassen; ich wüßte auch nicht, was ich z. B. mit
einer Form wie otu; oder Guc hätte anfangen sollen, die möglicherweise
schon zu Piatons Zeiten unter der Landbevölkerung von Attika im
Gebrauch war, sich aber bei keinem einzigen Schriftsteller findet. Ahn-
liche Erscheinungen haben wir ja auch heutzutage in unserer und in
anderen Sprachen. Ich verkenne durchaus nicht den Wert des inschrift-
lichen Materials, aber bei der Benutzung desselben ist die größte Vor-
sicht geboten, und ich kann mich nicht genug über die Kühnheit
wundern, mit der man Aoristformeu wie £|j.£i$a, Exsua bereits in unsere
Texte eingeführt hat." — Das Buch enthält eine Reihe von Zusammen-
stellungen, die als Sammlungen des Materials, wenn auch nicht immer
vollständige, ihren Wert haben. Eine Abhandlung beschäftigt sich mit
der Deklination von uio;, die anderen verteilen sich auf die Konjugation
und die Syntax. Jene beschäftigen sich mit einzelnen Kapiteln der
Tempusbildung (den Passivfutura mit medialer Form, dem futurnm
exactum), der Modusbildung (den Doppelformen des Optativs im Aorist
*) Nur verweisen kann ich im Rahmen meines Berichtes auf Werke,
die das Griechische zusammen mit einer oder mehreren anderen idg.
Sprachen vergleichend darstellen, wie den großen „Grundriß" von K. Brug-
mann und B. Delbrück, dessen I. Band in 2. Auflage vorliegt, und die von
K. Brugmann daraus ausgezogene „Kurze vergleichende Grammatik", die
übrigens selbständigen Wert besitzt, das schon in 2. Auflage erschienene
-Short manual of comparative philology" von P. Giles, die „Phonetique et
etude des formes grecques et latines" von Riemann und Goelzcr,
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.) H
und bei den Verba contracta, den Konjunktiv-, Optativ-, Imperativformen
des Perfekts) , den Personalendungen (den ionischen Formen im pass.
Perf. und Plusquampert'., der 1. Sg. Plusquaraperf. act.), der Stamm-
bildung einzelner Verbalgruppen (dem Wechsel zwischen themavokalischer
und themavokalloser Flexion bei den Verba auf -vu[jli, im Optativ med.
praes. und aor. von xiftTgfj-t und T/jp-t)- Am meisten Raum nehmen die
syntaktischen Beitiäge ein. Sie behandeln die Kasuslehre (Nominativ
an Stelle des Vokativs in Fällen wie 91X0C w MsveXas, Beispiele für
den Akk. des Inhalts, die Rektion der Verbalkomposita mit xata, den
Genetiv bei den Ausdi-ücken nach etwas duften, riechen, sich in etwas
täuschen, irren), die Präpositionen (oia in Verbindungen wie ota [J-a'/ric
fiXOeiv, deren sylleptischen Gebrauch wie in cd ex Zaxuvi}ou vrje?), das
proleptische Piädikat, die Lehre vom Partizip (seine prädikative Ver-
wendung — das längste Stück der Beiträge — , seinen absoluten Ge-
brauch im neutralen Akk. wie }jlst6v und im Genetiv mit fehlendem
Subjekt) und die Satzlehre (Beispiele für die Formen des hypothetischen
Satzes und den irrealen Finalsatz).
J. Wackernagel, Vermischte Beiträge zur griechischen Spi'ach-
kunde. Programm zur Rektoratsfeier der Universität Basel 1897.
Die Schrift behandelt mit der bekannten scharfsinnigen Kom-
binationsgabe und philologischen Umsicht des Verfassers in zehn Auf-
sätzen vornehmlich Probleme der griechischen Stammbildung und Ety-
mologie, doch auch solche der Formenlehre und wenigstens im Vorbeiweg
werden auch Fragen der Lautlehre erörtert, so daß es sich empfiehlt,
die Besprechung an dieser Stelle zu geben.
1. (S. 3—4) a7puT:vo? heißt eigentlich „auf dem freien Felde
schlafend", dann „wachsam", „schlaflos". — 2. (S. 4 — 8) x-^IAH^!,
Grundform AtFioris: lat. saevus (? s. jetzt F. Solmsen, Untersuchungen
zur griech. Laut- und Verslehre 1901, 71 ff.). — 3. (S. 8—14) Aus-
gehend von dem gemeinindogermanischen "Wechsel von -ro- und anderen
Adjektivsuffixen mit -i- als Schlußvokal des ersten Kompositionsgliedes,
wofür griechische Beispiele gegeben werden (xoopo;: xuot-aveipa u. ä.,
T.uY,\rti: 7i:uxt|xrjOY)s) vereinigt W. d(p7t-x£pauvo; mit (äp7o? aus apYpos (unter
Anführung von Beispielen für konsonantische Ferndissimilation). Jenes
-i- spielt besonders in der Komparativbildung eine bedeutende Rolle;
xaXXiwv, e/Oicüv, poltov (zu homerisch pr^a aus * Fpaaa) u. ä. — 4. (S. 14 — 17)
(J-xetpr]; zu xepjoixcxi, „blank". W. hält sein Gesetz, wonach pa nach
betontem Vokal bleibt, nach unbetontem in p mit Dehnung des vorher-
gehenden Konsonanten übergeht, aufrecht (?). — 5. (S. 17 f.) äxrjv,
bei den attischen Tragikern Lehnwort und durch Anschluß an Bildungen
mit a priv. mit a, gehört zu i/a^dw. — 6, (S. 18 — 37) TiXeiv steht für
12 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 190P». (Schwyzer.)
TtXetc (homerisch tiUe;^ durch Einwirkung von rXsov. Bei osTv hat man
genau zu scheiden a) an einigen Aristotelesstellen ist dafür einge-
schobenes oEi anzunehmen (anschließend eine allgemeine Erörterung des
Herabsinkens parataktischer Sätzchen zu Partikeln), b) in 0X170U, [x-.xpo^
öav liegt Infinitiv der Limitation vor wie in e[xol SoxsTv, c) an einigen
Stellen steht ösTv durch Kontamination von SsT und Seov. — 7. (S. 37 — 40)
für öeuTToiva aus *o£j7toTV7a und W.s Gesetz der Vereinfachung von
Doppelkonsonanten nach langem Vokal (?). — 8. (S. 40 — 42) ixevtov
ist Hyperattizismus der -xoivr,, nach dem Verhältnis von l'vSot : att. I'voov
aus [j.£vTot umgebildet. — 9. (S. 42—51) die ;,äol." Optativendungen
-(jsia?, -cjete, -ceiav gehören zu einer Bildung mit -se, vgl. hom. ohz,
«Iete. — 10. (S. 52 — 62) ypecov kann nicht für -/pr; ov stehen, sondern
geht auf das neben y^or^ (ursprünglich wohl neutr.) stehende homerische
ypTju), ypeo) zurück, woran von Neutra wie oeov u. ä. -v antrat. Bei-
läufig Erörterung der attischen Kontraktion von ursprünglichem r^fo,
r^Fcu, TjFcx und der Deklination von 1:0X1? (für uoXtj aus t.oXt^V: als
attische Form).
Am besten werden wohl ferner hier erwähnt zwei Bücher, deren
eingehende "Würdigung außerhalb des Eahmens unseres Berichtes liegt,
die aber so viele und wichtige Beiträge zur Grammatik enthalten, daß
sie nicht übergangen werden können.
Gull. Schulze, Quaestiones epicae. Gütersloh 1892.
Rez. von Wackernagel, LC 1892, 38. Cauer, WklPh 1892. 39;
DLZ 1892, Nr. 48. Solmsen, lA 3, 124. Prellwitz, BKIS 19, 253 f.
An den Hauptvorwurf des Buches, die Behandlung der metrischen
Dehnung, ist, wo nur sich Gelegenheit bot, die Besprechung von Fragen
der Laut-, Formen-, Stammbildungslehre, der Syntax und ganz besonders
der Etymologie angeknüpft. Ist dabei naturgemäß die Sprache des
Epos am reichlichsten bedacht, fällt auch für die allgemeine griechische
Grammatik reiche Förderung ab. Nicht um den Inhalt des Werkes
nach dieser Richtung zu erschöpfen, sondern nur, um einige Proben zu
geben, sei hier aufmerksam gemacht auf die Auseinandersetzungen über
die Lautverbindungen Xj , XF, pF, vF 80 fl'., den Akzent 482 ff. . die
Komparativbildung 300 f., die Nomina auf -suj 456 If., die eingehenden
Erörterungen der Quantitätsverhältnisse und Bildung der Verba denomi-
nativa auf 6u>, iw (309—361) und acu, ita, ow (361—373).
F. Solmsen, Untersuchungen zur griechischen Laut- und Vers-
lehre. Straßburg 1901.
Rez. von Thumb, lA 14, 7 — 10.
Auch dieses Buch gilt vorzugsweise der Sprache des Epos, nament-
lich in seinem ersten Hauptteil (zur Lehre von der metrischen Dehnung
Beriebt über griechische Sprachwissenschaft ISiK)— 1903. (Schwyzer.) 13
im älteren griechischen Epos, S. 1 — 126). der die Forschungen von
W. Schulze und 0. A. Danielsson weiterfühi't, aber auch im zweiten
(Znr Lehre vom Digamma S. 127 — 301). Letzterer ist wieder in drei
Teile gegliedert: ein erster handelt „über metrische Wirkungen und
Wesen des Digamma" (es längt bei Homer und in der dialektischen
Poesie nur Vokale in Arsis, nicht in Thesis, was mit seinem Wesen
als Halbvokal nach Art des engl. ?^ zusammenhängt); ein zweiter be-
faßt sich mit „scheinbaren Störungen im Auftreten des Digamma" (sie
zerfallen in zwei Gruppen: einerseits haben anlautendes Fo-, Fto- bei
Homer, im Asiatisch-Aolischen, in Korinth und Gortyn und auf Kypros,
wohl auch in Lakonien, Böntien und Thessalien, nicht aber im Attischen
das F schon früh verloren, z. B. in 6pa<o, (Lvo?,^) andererseits gehen
Wörter, für die mau nach den verwandten Sprachen als Anlaut oF an-
setzt, wie £;, r/.acjToc, topwc, fjXi|, 'EXevy], das Reflexiv, auf vorgriechische
Nebenformen mit bloßem s- zurück; andere sind anders zu deuten, wie
denn iaxia, latt'a von Vesfa ganz zu trennen ist); den Beschluß macht
die Erörterung des Vokalvorschlags vor Digamma, der, ohne daß sich
bestimmte Bedingungen angeben ließen, in dreifacher Gestalt (als s, a
und — ganz selten, z. B. oüpavoc aus oFopavo?, oqvufxi — als o) auf-
tritt.^) Dabei wird die Etymologie der hergehörigen Wörter ausführlich
behandelt. Ein Exkurs (S. 302 — 9) führt die Verschiedenheiten in der
Behandlung der Gruppen Nasal oder Liquida -4- F im Ionischen auf
örtliche Sonderentwickeluug und das Eindringen attischer Formen zurück.
Beigegeben sind Register. — Noch weit mehr aber als es nach den
skizzierten Hauptgegenständen des Buches scheinen könnte, verdient es
die Aufmerksamkeit auch der allgemeinen griechischen Grammatik durch
die eingestreute Behandlung zahlreicher Einzelheiten der Laut-, Formen-,
besonders auch Stammbildungslehre, die hier nicht vollständig aufgezählt
werden können. Es seien daraus hervorgehoben die Beiträge zur Hap-
lologie (S. 97 Anm.), zur Metathese (S. 44, 259), die Bemerkungen
zum Schwund von o nach unbetonter Silbe wie in ßorjösto (S. 117), über
den Akzentwechsel des Attischen in spondeischen Wortformen wie 2a>?,
cppaT7)p (S. 87 f.), die Behandlung der Positionsbildung und Silbengrenze
(S. 161 &.), der Dissimilation von urgriech. ueu vor Konsonant zu uei
(S. 237), der Sulfixe ■ su? (S. 72), -ijto?, ■r^1'.o^, -cusios (S. 39), -ua-.oj
*) Es sei gleich angeführt, daß F. Solmsen darüber auch schon
ZvSpr 32, 373 ff gebandelt hat.
") Es sei verstattet, im Vorbeiweg auf ein Analogon zur griechischen
Prothese vor p in einer Schweizer Mundart hinzuweisen: „der Rarer im
Wallis schiebt jedem r ein a vor, z B das o>Rifp^ der (^rrüch Winter," sagt
Fr. J. Stalder, Schweizerische Dialektologie. 1819. S. 68; dieselbe Er-
scheinung habe ich selbst im wallisischen Lötschenthal beobachtet.
14 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
(S. 37 f.), -t'tov (S. 47 ff.), -5tov. -t'ötov (S. 75), -wst; (S. 120), der Kom-
positionsvokale (S. 22 ff., 265 f.).
Schließlich ist hier zu nennen
r. N. XcLT^iddY.i, rXuii7oXo'(iY.'u [xsUrai. I. Athen 1901.
In einem stattlichen, gut ausgestatteten Bande legt hierait der
ausgezeichnete Führer der neugriechischen Sprachstudien einen Teil
seiner in deutschen, griechischen und russischen Zeitschi iften verstreuten
Abhandlungen gesammelt (teilweise umgearbeitet oder ergänzt) vor; es
ist nur zu wünschen, daß der buchhändlerische Erfolg derart sei, daß
die in Aussicht genommene Fortsetzung ermöglicht wird. Die meisten
der im I. Bd. vereinigten Arbeiten liegen freilich außerhalb unseres
Berichtes und gerade die umfangreichsten, wie die vier interessaoten
Aufsätze über die Sprachfrage im heutigen Griechenland (S. 236 — 537),
wobei allerdings einleitungsweise auch die Diglossie des Altertums be-
rücksichtigt wird, oder die Zusammenfassung sämtlicher geschichtlichen
und sprachlichen Tatsachen, welche für das Griechentum der Makedonier
Zeugnis ablegen (S. 32 — 114), die methodisch vorbildlichen etymolo-
gischen Untersuchungen (von Eigennamen wie Mopsa?, Mu^rjöpäc, von
Appellativen wie ßpe YMÖapo;), die zugleich wichtige Beiträge zur
Stammbildungslehre enthalten. Die kleineren Artikel, welche Fragen
der altgriechischen Grammatik gewidmet sind — sie nehmen zusammen
immerhin 70 Seiten ein — werden je an ihrer Stelle besprochen werden.^)
Eine Reihe von Arbeiten beschäftigt sich mit der Sprache ein-
zelner Perioden und bestimmter Sprachdenkmäler als Ganzen.
Für die attische Zeit sind hier zu nennen
P. Kretschmer, Die griechischen Vaseninschriften ihrer Sprache
nach untersucht. Gütersloh 1894.
Rez. außer von den bei Larfeld, BuJ 87, Suppl. 159 — 61, Ge-
nannten z. B. von Cauer, WklPh 1895, 1161—66. Prellwitz, BKIS
20, 304—7. Schulze, GGA 1896, 228—56 (sehr reichhaltige Be-
sprechung). Solmsen, lA VIII, 63—65 und
K. Meisterhans, Grammatik der attischen Inschriften. 3. ver-
mehrte und verbesserte Aufl., besorgt von E. Schwyzer. Berlin 1900.
Rez. von Meister, BphW 1901, 22 f. Th(umb), LC 1901. 1458 f.
Kretschmer macht in seinem Buche, das aus zwei Abhandlungen
im 29. Band der ZvSpr entstanden ist, der Sprachgeschichte in dankens-
wertester Weise das Material der weit zerstreuten Vaseninschriften
*) A. C. Liddell, Greek grammar papers. London 1901, Blackie,
ist mir nicht zugänglich.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 15
zugUflglich. Er beschränkt sich jedoch nicht darauf, dasselbe in tun-
lichster VoIIständitzkeit vorzuleg'en, sondern liefert zue:leicli eine an Er-
gebnissen wie Anregungen ungemein reiche sprachgeschichtliche Be-
arbeitung. Der Wert der Vaseninschriften beruht namentlich darin,
daß wir aus ihnen einiges über die gesprochene Sprache des Lebens
lernm können, von der uns sonst so wenig bekannt ist — denn auch
die Sprache der meisten Inschriften ist eine Kunstsprache. Die Be-
handlung sämtlicher Vas»^ninschriften in der gleichen Darstellung recht-
fertigt sich dadurch, daß wir es überall mit Töpfersprache zu tun haben,
wenn dieselbe auch verschiedenen Dialekten angehört. Für uns kommt
hier hauptsächlich der Abschnitt über die attischen Vasen in Betracht
(S. 73 — 209), an Umfang wie Inhalt der reichste — auch die korinthi-
schen Vasen stehen an sprachlichen Ergebnissen weit zurück. Nach
einer Einleitung über die Vasenmaler, den Inhalt der Vaseninschriftep,
ihre Schrift und Chronologie folgt in drei Abschnitten (Vokale, Kon-
sonanten, zur Formenlehre) die eigentliche grammatische Darstellung,
der sich eine Anzahl von Bemerkungen zur Namenkunde anschließt.
Ist das Material auch oft recht spärlich, vermag ihm Kretschraer doch
sehr viel abzugewinnen; da werden wir z. B. inne, daß auch die Volks-
sprache von Athen wie lebende Mundarten Assimilationen und Dissimi-
lationen bei Vokalen und Konsonanten aufwies, z. B. das auch inschrift-
liche rjiJLucj'j;, MsxaxA^c, oft begegnet das Umspringen der Aspiration
wie in 'Avdi'Xoyo?; aus der Formenlehre sind von Interesse Bildungen
wie iraüc, 0^cTuc. Mit sicherem Takt wird zwischen neuen Formen und
Lautentwickelupgen und bloßen Verschreibungen geschieden.
In der neuen Auflage der bekannten Grammatik des der Wissen-
schaft allzu früh entrissenen Meisterhans ist versucht worden, das neu
hinzugekommene Material unter Wahrung der ganzen Anlage des Buches
nachzutragen und zugleich die ganze Auffassung der sprachgeschicht-
lichen Probleme auf den gegenwärtigen Stand der Sprachwissenschaft
zu bringen — in den früheren Auflagen ließ die wissenschaftliche Er-
klärung sehr oft zu wünschen übrig. Der Umfang der Schrift ist daher
einige Bogen stärker geworden; die Vermehrung ist besonders der
Lautlehre, die auch sonst die meisten Veränderungen aufweist, zugute
gekommen, am wenigsten der Syntax.
Den Versuch einer zusammenfassenden Behandlung der Vulgär-
sprache der attischen Defixionen, die übrigens auch nach Gebühr in
der neuen Auflage der Meisterhansschen Grammatik berücksichtigt
worden sind, mit Hervorhebung der für die Sprachentwickelung bedeut-
samen Erscheinungen macht der Aufsatz von
E. Schwyzer, Die Vulgärsprache der attischen Fluchtafeln.
NJklA 5 (1900), 244—262.
]() Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1003. (Schwyzer.)
Das Gebiet vou der hellenistischen Zeit bis zum 10. Jahrh. n. Chr.
beschlägt das Buch vou
K. Dieterich, Untersuchungen zur Geschichte der griechischen
Sprache, von der hellenistischen Zeit bis zum 10. Jahrh. n. Chr.
(Byzantinisches Archiv Heft 1 Leipzig 1898.)
Rez. von Schniid, WklPh 1899, 505 — 13. 540—50. Schwyzer,
BphW 1899, 498—503. Blaß, ThLZ 1899, 363 f. Hatzidakis, GGA
1899, 505—523.
DerVerfasser will im wesentlichen dieGesichtspunkte,(lieHatzidakis
im dritten Kapitel seiner für die neugriechische Forschung grundlegen-
den und auch für die s^jätaltgriechische hochwichtigen Einleitung in die
neugriechische Grammatik (Leipzig 1892,) S. 172 — 229 niedergelegt
hat, ausgestalten durch umfassendere Sammlung des Materials aus
den späteren Inschriften und Papyri und dessen Anordnung nach
geographischen Grundsätzen, um womöglich Schlüsse nicht nur auf
das Alter, sondern auch auf den lokalen Ursprung einzelner Sprach-
erscheinungen ziehen zu können. Die Durchführung des geographischen
Gesichtspunktes in dieser umfassenden Weise ist neu; doch sind die
Resultate der Statistik, welche namentlich Ägypten einen großen Anteil
an der Ausbildung des Neugriechischen zuweist, keineswegs sicher.
Aus zwei Gründen: einmal sind die uns zu Gebote stehenden Sprach-
quellen für die einzelnen Gegenden sehr ungleich; nur aus Ägypten be-
sitzen wir die unmittelbar aus dem Leben stammenden Papyri (die in
der gehaltreichen, eine kleine Einführung in die Papyruskunde bietenden
Besprechung der Oxyrrhynchos- Papyri durch v. Wilamowitz, GGA 1898,
675 — 704, auch sprachlich gewürdigt werden), während z. B. aus dem
inneren Kleinasien nur eine Grabschrift an die andere sich reiht.
Zweitens sind die Sammlungen Dieterichs nicht erschöpfend — Vollstän-
digkeit in den Belegen ist ja bei dem Umfang des Gebietes und der Zer-
streutheit der epigraphischen Veröffentlichungen uneireichbar, aber auch
die Zahl der beobachteten Erscheinungen läßt sich vermehren, wie dies
Thumb in der ByZ 9, 231— 41 getan hat — und vielfach nicht zuvei lässig,
was Pernot, Rcr. 1900, 283—95 an einer Partie im einzelnen nachgewiesen
hat. Das Werk, das namentlich anregend wirken will und dies Ziel auch in
hohem Maße erreicht, wenn auch in derParallelisierung alter und neuer Er-
scheinungen manchmal etwas weit gegangen wird, behandelt die sprachlichen
Erscheinungen nach den beiden Hanptteilen der Laut- (Vokalismus und
Konsonantismus) und Formenlehre (Nomen und Verbum) nebst einem
Exkurs über die xotvv^ und die heutigen kleinasiatischen ilundarten.
Obschon sich in erster Linie mit der Koine beschäftigend, mußte es
doch auch hier Erwähnung finden.
üerjcht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 17
Hier sind auch die Arbeiten zu nennen, welche die Sprache be-
stimmter Literaturkreise oder einzelner Schriftsteller behandeln, soweit
sie für die allgemeine Sprachgeschichte in Betracht kommen.
Allen voran steht das nunmehr vollendete, auch für den Sprach-
forscher hochwichtige AVerk von
W. Schmid, Der Atticismus in seineu Hauptvertretern von
Dionysius von Halikaruass bis auf den zweiten Philostratus dargestellt.
Stuttgart. I. 1887. IL 1889. HL 1893. IV. 1896. Register-
band 1897.
Das Werk macht den ersten Versuch, Umgangssprache und Li-
teratursprache in der Zeit vom 1. bis zum 3. Jahrh. nach Chr. gegen
einander abzugrenzen, nachzuweisen, wie stark auf die archaisierende
Schriftsprache des Attizismus die hellenistische Schriftsprache und die
zeitgenössische Umgangssprache eingewirkt hat, wie sich zum Schaden
für die griechische Spracheutwickeluug der Attizismus immer mehr von
<]er Volkssprache entfernt. Nach einander wird der Attizismus des
Dion^'sius vou Halikaruass, Polemo, Dio Chrj'sostomus, Herodes Atticus,
Lucian, Aristides, Allan, Philostratus geprüft: kommen die Ergebnisse
auch in erster Linie den behandelten Schriftstellern zugute, so zieht
doch auch die allgemeine Sprachgeschichte reichen Gewinn daraus, weil
der Blick immer auf das Ganze der Sprachentwickelung gerichtet bleibt.
Zu ganz besonderem Danke hat jedoch Schm. die Sprachforscher vom
Fach verpflichtet durch die „Übersicht über das gegenseitige Verhältnis
der verschiedenen Elemente der attizistischen Literatursprache", welche
den neunten Abschnitt des IV. Bandes bildet (S. 577—734). Unter
steter RückverweisuDg auf die Belegstellen zu den einzelnen Erscheinungen
iu den früheren Bänden entwirft hier Schm. ein Bild jener vou den ein-
zelnen mit verschiedenem Erfolge gehandhabten Kunstsprache. Ganz
hat keiner unter den Attizisteu das attische Vorbild erreicht: und
darauf gründet sich eigentlich das Interesse, das die allgemein griechische
Sprachgeschichte an der attizistischen Kunstsprache nimmt; die Ele-
mente, die sie unwillkürlich aus der Umgangssprache aufgenommen hat,
bilden eine wertvolle Ergänzung unserer für letztere nicht sehr reich-
lich fließenden Quellen. Bei allen ist am reinsten die Lautlehre; da-
gegen zeigen schon die Formenlehre^) und noch mehr Syntax und
Lexikon den Einfluß der lebenden Sprache. Besonders ausführlich sind
Wortbildung, Wortwahl und Wortbedeutung behandelt, obwohl dei Verf.
^) Es berühit in einem spracbgeschichtlichen Werke unangenehm,
wenn man lesen kann, die -/oivv; lasse die Komparativendungen -ov<z, -ovs;
(-ovc<;) gewöhnlich „offen", während sie von den Attizisten meist „kontra-
hiert* werden.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. 1904. I.) 2
]8 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
sich dabei bewußt ist, uiir einen ersten Versuch bieten zu können, da
es für das Lexikon der y.otvr, erst ganz wenige Vorarbeiten gibt.
Ferner ist nie zu vergessen, daß uns durch die ältere Literatur nur
ein Ausschnitt aus dem gesamten Sprachschatz bekannt ist; die Tat-
sache, daß ein Wort erst spflt auftritt, berechtigt noch nicht unmittelbar
zu dem Schhiß, es liege eine junge Bildung vor. Die sprachwissen-
schaftliche Forschung sollte dabei noch öfter befragt werden; so kann
z. B. Xtyavo; (S. 700) keine junge Bildung sein (vgl. über das Wort
II. Niedermann, BKIS 2'), 2.31 f.). Die Beurteilung der sog. poetischen
Elemente im attizistischen Sprachschatz ist jetzt durch A. Thumb, Die
griech. Sprache im Zeitalter des Hellenismus S 216 ff. auf eine andere
Basis gestellt worden. • — Eine wie erstaunliche Menge von Einzeltat-
sachen Schmid zusammengetragen und verarbeitet hat, das bringt einem
der Registerband besonders nahe.
Neben der sprachlichen orientiert hauptsächlich über die allgemein
geschichtliche Bedeutung des Attizismus der empfehlenswerte Vortrag
desselben
W. Schmid, Über den kulturgeschichtlichen Zusammenhang und
die Bedeutung der griechischen Renaissance in der Römevzeir.
Leipzig 1898.
An Arbeiten zu einzelnen Schriftstellern kann ich hier nur eben
namhaft machen:
C. Baron, De Piatonis dicendi genere. Paris 1891.
G. Kaibel, Stil und Text der 'Aöriv^uov -ohzzloi. Berlin 1893.
Ferner
S. Chabert, L'atticisme de Luden. These, Paris 1897.
K. Dürr, Sprachliche Untersuchungen zu den Dialexeis des Maxi-
mus von Tyrus. Ph Supplementband 8, 1 — 156.
G. Tröger, Der Sprachgebrauch in der pseudolonginischen Schrift
irspl u<\)r,o; und deren Stellung zum Attizismus I. Diss. Erlangen 1899.
H. Sexauer, Der Sprachgebrauch des Romanschriftstellers Achilles
Tatios. Diss. Heidelberg 1899.
W. Fritz, Die Briefe des Bischofs Sjmesius von Kyrene. Ein
Bi'itrag zur Geschichte des Atlicismus im 4. und 5. Jahrb. Leipzig
1898, vgl. die Besprechung von P. Wendland, ByZ 9, 228—31,
doch sei bei zwei hergehörigen Arbeiten eine Ausnahme verstattet.
Die eine bezieht sich auf das älteste griechische Buch — aus Alexanders
des Großen Zeit — das uns die ägyptische Eide erhalten hat:
In seiner Ausgabe von Timotheos' Persern (Leipzig 1903) behandelt
V. V. Wilamo\Yitz-Mö]lendorf auch Sprache und Stil (S. 38—55):
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) i9
im ganzen ist die Sprach form die attische. Nicht allzuviel füllt für
Ansspraclie und Flexion (ich nenne iiaXsa? für -aXaioc, wenn das wirklich
eine lautliclie Verschiebung ist), am meisten für die Wortwahl (auch
Komposition) ab. Besonders interessant ist für das Studium des klein-
asiatischen Yulgäi'idioms die Rede des Phi'ygers (zu xaiJtu, epyu) vgl.
o'.aXs^Eiv für oraXs-j'saöai Meisterhans-Schwyzer 192). — Endlich seien noch
einem Buche, das sich zunächst mit dem uns hier ferner liegenden Ge-
biete der Pap3'ri belaßt, aber auch für die allgemeine griechische
Grammatik sehr reiches Material euthält, einige Worte gewidmet:
W. Crönert, Memoria Graeca Herculanensis cum titulorura
Aegj'pti papyrorum codicum denique testimoniis comparatam pro-
posuit G. Cr. Leipzig 1903.
Die Schrift, eine Neubearbeitung der 1898 erschienenen „Quaestiones
Herculanenses" des rührigen Bearbeiters von Passows griechischem
Wörterbuch, will in erster Linie den Bedürfnissen der Textkritiker
entgegenkommen durch genaue Feststellung des Sprachgebrauchs in
seinen zeitlichen Schwankungen; die einzelnen Fragen werden deshalb
durch Material von denAttikern bis in die spätere Byzantinerzeit illustriert,
wobei allerdings immer womöglich von den herkulanensischen ßollen,
die Cr. selbst an Ort und Stelle studieren konnte, ausgegangen wird.
Es wird kaum eine Erscheinung besonders der späteren Sprache geben,
die nicht durch das mit staunensw'ertem Fleiße aus einer Unmasse von
Quellen (auch Inschriften) zusammengebrachte Belegraaterial neu be-
leuchtet würde; nicht nur der Textkritiker, auch der Linguist findet
eine Fülle von Stoff zu eigenen Beobachtungen. Denn gerade nach der
Seite des sprachgeschichHiclien Räsonnemeuts hin tut der Verfasser —
und wer wollte ihm das verargen"? — weniger; er zitiert, teils nicht
ohne genaue Kontrolle, die Arbeiten und Ansichten anderer, übt aber
in der Aufstellung von Erklärungen besonnene Zurückhaltung. Von
den acht Kapiteln des Baches entfallen vier auf das Lautliche (quaestiones
orthographicae resp. grammaticae de vocalium resp. consouautium usu),
eines ist dem Nomen, zwei dem Verbura gewidmet; das achte behandelt
unter dem Titel „de nonnullorum vocabulorum compositione" verschiedene
Fragen der Wortbildung. Einem Buche, das hauptsächlich als Nach-
schlagewerk dienen will und wird, dürfen natürlich auch ausführliche
ludices nicht fehlen ; es sei hier besonders darauf aufmerksam gemacht,
daß sie teilweise noch Nachträge zum Text enthalten.
Aussprache.
Die zahlreichen Schriften zur griechischen Aussprache verfolgen
fast ausschließlich praktische Ziele und bedeuten nur in den wenigsten
20 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.)
Fällen eine gelegentliche Bereicherung der Wissenschaft. Ich begnüge
mich daher mit einer Kennzeichnung der Hauptrichtuugen, um so mehr
als die wenigsten der hieher gehörigen Arbeiten mir zugänglich ge-
worden sind.^)
Als durchaus unwissenschaftlich zu betrachten ist die Richtung,
die darauf ausgeht, die heutige neugriechische Aussprache, wie sie, nicht
selten im Widerspruch mit den Lautgesetzen der lebenden Volksmuud-
arten, für die ein künstliches Gepräge tragende Schriftsprache gilt, als
die auch im alten Griechenland herrschende zu erweisen. In Griechen-
land vertritt dieselbe no'.;iaor][XY]xpa-/.6T:ouAoc, der 1889 (Athen, naXa;xr^-
Stjc) seine *Ba(javoc xcöv -spl t?j; iXXrjvf/.r,; rpo::'fOpä; £p7a[x'.y.iijv ano&si;£cov
(752 S.) erscheinen ließ (neuerdings entspann sich eine methodische
Polemik zwischen ihm und Hatzidakis, *AOriva 9 und 10 [1897. 1898J).
Einen Brennpunkt itazistischer Bestrebungen bildet die in Leyden er-
scheinende Zeitschi'ift 'EX^a'c, die auch verschiedene Aufsätze zur Aus-
sprache von riaTraÖTfjpLYjTpaxoKouXo?, H.C.Muller, E. A.S.Dawes und andern
enthält. In Frankreich bricht eine Lanze für die neugriechische Aus-
sprache E. Eagon, De la prononciation du Grec. Paris 1896, Poussielgue
(S. 6 werden Fälle wie 'Afx^r/.Tuwv neben 'Aixcixticüv, t-jaujüc für
7][j.'.c;'jc für den Itazisraus geltend gemacht !) und in Rußland sucht
'■'Mo desto w, besonders in zwei Artikeln des znrnal min. nar. prosves-
canija (1891 und 1893) IIaraor,[xrj-pay.6T:ouXoc' Anschauungen znm Durch-
bruch zu verhelfen. In Deutschland ist (außer einem Beitrag des von
*) Ich habe darauf verzichtet, alle mit der Aussprache sich beschäfti-
genden Schriften namhaft zu machen. Von den mir nicht vorliegenden
seien noch angeführt: Dawes, The pronunciation of Greek. London;
Chabert, La prononciation du Grec sous Marc Aurele d'apres Lucien.
Annales de l'universite de Grenoble 7, 1895, nr. 3; Kern, Zur Geschichte
der Aussprache des Griechischen 'E).X(z; 2, 85 — 88 (auf Grund indischer
Transkriptionen); Bevier, The Delphien hymns and tbe pronunciation of
the Greek vowels TrAPhA 26 (1895), IV— V. Literarische Zeugnisse für
die Aussprache behandeln Jannaris, Kratinos and Aristophanes on the
cry of the sheep AJPh 16, 46-51 (ß?,ß/i soll niclit den Naturlaut des Schafes
bezeichnen, sondern ein Wort der Kindersprache für das Schaf sein);
Tournier, Un calembour interessant pour l'histoire de la prononciation
du grec MSL 9,47 f. (verwertet das bekannte Kallimachosepigramm, unter
Zuhilfenahme verschiedener Konjekturen, wieder in itazistischem Sinn;
s. Blaß, Aussprache^ 63); Monro, On the bearing of Thucydides II 54
on Greek pronunciation; vgl. Academy 1895 S. 464 (die Vertausehuug von
/-tiiö; und 'Lwy'j-^ beweist nichts; ebensowenig natürlich die Vertauschung
von -?^\i.rj. und -ovyj., wenn Earle, CR 7, 20 mit Recht letztere Form in
■das Orakel bei üerod. 1, 67 einführt).
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 21
früher her in dieser Richtung- tätigen Ed. Engel in der 'EXXa's) nur
das in Leipzig erschienene Büchlein eines Ungarn zu nennen :
I. Telfy, Chronologie und Topographie der griechischen Aus-
sprache. Nach dem Zeugnisse der Inschriften. Leipzig 1893.
Es ist zu bedauern, daß der gute Gedanke, die griechische Aus-
sprache nach den inschriftlicheu Zeugnissen örtlich und zeitlich von
den ältesten Zeiten bis zum Ausgange des Altertums genau darzustellen,
einem Manne gekommen ist, dem Kenntnisse und Methode, die dazu
erforderlich sind, so ganz fehlen. Auch als Materialsammlung ist das
Büchlein durchaus wertlos, da der Verf. aus bekannten, oft freilich
veralteten, Handbüchern schöpft. Daß man schon in alter Zeit nicht
ganz phonetisch schrieb, wie der Verf. so oft betont, ist doch nichts
Xeues, aber man schrieb damals nicht für jedes spätere st E, wie auf
S. 1 gelehrt wird (asoi, Xe-sv). Oy^p ist-- natürlich unser Thier, mit
itazistischer Aussprache wird ja die Übereinstimmung noch schlagender
(S. 13)! Druckfehler sind häufig, wenn Fälle wie Enklid (S. 21 einmal,
S. 27 dreimal) wenigstens als solche gelten können.
Auch die in den westeuropäischen Schulen vielfach geltende
..erasmische" Aussprache des Altgriechischen steht in gar vielen Punkten
mit wissenschaftlichen Ergebnissen im Widerspruch, w^ährend in andern
uns die Mittel zur Bestimmung der Aussprache fehlen. Doch gelten
die Worte, die E. Legrand und H. Pernot ihrem Precis de prouonciation
grecque, der das Neugriechische behandelt, vorausschicken, auch für die
Länder deutscher Zunge: „nous sommes convaincus, que Tintroduction
de la prouonciation actuelle dans les lycees et Colleges aura une influeuce
desastreux sur Tenseignemeut du Grec." Die schlimmsten Folgen hat
wohl die bequeme Art, die Laute der heimischen Sprache zu substituieren,
in England. Diesem Zustand ein Ende zu machen ist das Ziel des
Büchleins von
E. V. Arnold and R. S. Conway, The restored pronunciation
of Greek and Latin. S^^'i edition. Cambridge 1898.
Einwände von Lloyd und Entgegnungen der Verfasser in zahl-
reichen Nummern der Acad. 1896.
Die Vorschläge der beiden Professoren an den Universitäten von
W^ales bezwecken „a reasonable approximation to the sounds which
actually existed in ancient times". So sollen z. B. Gß, a\i als zb, zm
(z wie im Frz.), 9, 9, 7 als p + h, t-rh, k + h, cpö als pt-!-h gesprochen
werden. Die beigegebenen Tabellen stellen die entsprechenden griechischen,
französischen, englischen und kymrischen Laute neben einander.
Mit der Wiedergabe der griechischen Akzentqualitäten in der
Schule im besonderen beschäftigt sich die Abhandlung von
22 Beriebt über griechische Sprachwissenschaft 1S90— 1903. (Schwyzer.)
Gr. J. P. J. B 0 1 1 a n d , Die althellenische Wortbetonung im Licht der
Geschichte. Leiden 1897.
„Der Zweck der Abhandlung: ist ein rein didaktischer; dieselbe
enthält nichts, was nicht den Männern der geschichtlichen Sprachwissen-
schaft ganz gut bekannt wäre." «Mein Autrag geht anf Beachtung
der griechischen Akzente in der Prosalektüre, und zwar so, daß man
sich angewöhne, den Zirkumflex mit wirklicher Hebung und Seckung
gleichsam als doppelten Vokal zu sprechen und beim Markieren des
Akuts die Quantitätsverhältnisse der alten Sprache möglichst zu wahren
sich bestrebe." Die Schrift enthält im übrigen eine weit zurückgreifende,
€twas langatmige Darlegung über die Entwickelung der griechischen
Betonung von indogermanischer Zeit an, ohne neue Ergebnisse, aber
von gelegentlichen Irrtümern nicht frei.
Lautlehre.
Allgemeines.
Eine gesonderte Behandlung der griechischen Lautlehre ist seit
Christs Büchlein über den Gegenstand (1859) nicht wieder versucht
worden. Jetzt tritt wieder ein klassischer Philologe mit eiuem Werkleiu
hervor, das in manchen Beziehungen an seinen Vorgänger erinnert:
A. Gercke, Abriß der Giiechischen Lautlehre. Berlin 1902.
Rez. von Bartholomae, \YklPh 1902, 822—26. Solmsen, BphW
1902, 991-6.
Das in usura scholarum und für private Repetitionen bestimmte,
als eine Vorschule zu giößeren Darstellungen gedachte Büchlein ist
nach zwei Seiten hin bemerkenswert: einmal durch die bloße Tatsache,
daß ein auf dem literarischen Gebiete der alten Philologie so aner-
kannter Forscher wie G. der sprachgeschichtlicheu Forschung so warmes
Interesse entgegenbringt, zweitens dadurch, daß außer Konsonantismus
nnd Vokalismus des ältesten Griechischen nicht nur auch der Akzent
in einem besonderen Abschnitt behandelt wird, sondern außerdem noch
ein Anhang den schon öfters beredeten Versuch wagt, die Veränderungen
des griechischen Lautsystems relativ-chronologisch zusammenzustellen.
Freilich ist nach des Verfassers eigenem Urteil der Anhang „nicht für
den Anfänger bestimmt uud darf überhaupt nur mit Vorsicht benutzt
werden": er gehört al?o im Grunde nicht in das Büchlein. Aber auch
die für Anfänger bestimmten Teile geben zu mancherlei Ausstellungen
Anlaß. Das Neue wird kaum viel Gläubige finden , weder die spora-
dische Vertretung von Mediae asp. durch Mediae (S. 6 f.), noch Ety-
mologien wie die von {)aXatra (aus fhXaTJa ./raldampf zu dtixo;, das
aber für aF£T|j.o; steht) und vaüsjov (zu d. „Nachen") auf S. 20. Nicht
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 1I3
;;anz selten macht sich eine gewisse Unklarheit bemerkbar: so wenn es
heißt: -, } werden zu <];, & zu j (S. 10 f.) oder wenn Xj, pj nach dem
Hochton gewahrt scheinen (S. 17), wo es heißen sollte „unmittelbar
nach dem Tonvokal des Wortes" oder ähul., oder wenn vuy.-i genau lat. nocti
t'utsprechen soll (S. 37). Schließlich sollte in einem für Antänger be-
stimmten Buche der Druck sorglältiger überwacht sein: S. 9 Z. 4 I.
vom statt von; S. 37 steht: adagio „Sprichwort" (neben äio); S. 17
ist für sruo-mo- zu lesen srou-mo-, S. 53 aXsupov für aXeupu); unrichtig
akzentuiert sind Cu[i.7] (S. 13), {xTa (S. 45), ve-/.uc (S. 21). i^ach diesen
Proben kann ich nicht zugeben, daß G.s Werklein die allerdings vor-
handene Lücke in ausreichender Weise ausfülle.
Wie viel sich für die historische Lautlehre aus dem inschriftlichen
Sprachmaterial gewinnen läßt, ist allbekannt, und später zu nennende
Arbeiten zeigen, daß diese Quelle immer noch nicht ausgeschöpft ist.
Auch ein anderes Mittel, die Wandlungen der griechischen Laute fest-
zustellen, ist in neuerer Zeit voUständiger und methodischer benutzt
worden, die Umschreibung griechischer Wörter in nicht-
griechischen Sprachen, wenn auch gerade hier, wo die griechische
Philologie lür die Beschaifung gesicherten Materials auf die Mithilfe
ihrer Schwestern, namentlich der orientalischen, angewiesen ist, noch
manches zu tun übrig ist.
Mehr gelegentlich berühren die griech. Lautlehre die Arbeit von
Tb. Eckinge r. Die Oithogiaphie lateinischer Wörter auf griechi-
schen Inschriften. München 1892 (Zürcher Dissertation) und das Ge-
genstück von C. Wessel.v, Die lateinischen Elemente in der Gräzität
der ägyptischen Papyrusurkuuden II WSt 25, 3 — 40, beides in der
Hauptsache als solche sehr wertvolle Materialsammlungen; in einem
■ersten Teile seiner Arbeit (WSt 24, 98—151) gibt W. eine eingehende
Zusammenstellung der lat. Lehnwörter in den Papyri, der kulturge-
schichtlich orientierende Bemerkungen voraufgehen.
Eine Arbeit, die in cr.ster Linie sich mit der Orthographie
einiger griechischer Lehnwörter des Lateinischen beschäftigt,
ist auch hier kurz zu besprechen:
Guilelmus Schulze, Orthographica. Marburg 1894.
Die Schrift enthält zwei Abhandlungen, die sich auf einem über-
reichen aus Jahrhunderte auseinanderliegenden, zum großen Teil kaum
beachteten Quellen zusammengetragenen Material aufbauen. I. (p. III
— XXVI). Ausgehend von den Formen epüencia, epilenticus in Ivonrad
von Megenbergs liher de verum natura (1349/50) weist Seh. nach, daß
die Form mit Nasal in der ganzen älteren lateinischen Überlieferung
die gewöhnliche ist; sie entspricht genau den aus der Vulgärsprache
24 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
stammenden Formen der y.otvy^ wie A-/;|X'];o[j.at, X-/)[x--a7.rjs, die ans der
christlichen und hellenistischen Literatur sowie ans Inschriften belegt
werden. Erst die Renaissance hat, von den Bj^zantinern angeregt, die
nasallosen Formen aufgebracht. — II. (p. XXVII— LVIII). Genau
gleich steht es mit der lat. Wiedergabe der griech. Lautverbindungen
9&, y&: bis auf die Renaissance schreibt das Lateinische ptli, cth, z. B.
dipt{Ji)ongus, monopt(Ji)almus, Nept(Ji)aUni, (inschriftl.) Apthonns, Melip-
tJiongus; Ei'kf(h)onius. Dazu stimmen die Formen der roman. Sprachen
wie ital. dälongo.
Auch auf einige Punkte der spätaltgriech. Lautlehre kommt zu
sprechen der Aufsatz von W. Luft, Die Umschreibung der fremden
Namen bei Wulfila ZvSpr 35, 291 — 313, wenn es sich auch dem zu
früh der Wissenschaft entrissenen Verfasser vornehmlich um das Gotische
handelt. Die got. Transkription der griechischen Wörter schließt sich im
ganzen an die Schrift-, nicht an die Vulgärsprache an, was sich be-
sonders bei den Konsonanten zeigt. Au bemerkenswerteren Ergebnissen
für das Griech. sei hervorgehoben: 9 = got. /, 9=- got. p-, 7 wird bei-
behalten oder durch k ersetzt (es entsprach nicht genau dem got. Spi-
ranten h, sondern war noch Jcch oder tief gutturale Spirans); a vor
lünenden Konsonanten wird einigemal durch z ( = stimmhaftem s) ge-
schrieben (z. B. in ;;ra?I^&?//erei = vulgärem Ttpsuputept, wie aiwaggeU
[neben ahcaggeljö] = zua-ciiXi, die sich durch die Endung als volkstümlich
ausweisen gegenüber dem gelehrten praitoriaun)\ yj wird durch e, seltener
ei, auch i und ai, wiedergegeben (dazu P. Kretschmer, SWA 143 [1901],
X, S. 8 Aum. 1); die Umschreibung von ext durch ai beweist weder
für das Griech. noch für das Got., dagegen geht L. im Zweifel zu weit, wenn
er für au: aw, eu: aiw nicht konsonantische Geltung von u zulassen will.
Mögen hier noch einige Einzelbemcrkungen gestattet sein. Naii-
haimbair S. 294 kann nur lat. November (Nohemher) vertreten; griech.
ist Noe[j.ßpto;. Zu Ulfilas kaisar (gewiß mit ai, nicht e gesprochen),
ahd. cheisur bietet eine genaue Parallele das armen, kaisr (gelelirt kesar)
mit ai, gegenüber e für griech. ai in später entlehnten Wörtern (s.
A. Thumb, ByZ 9, 402). Doppelschreibungen wie lasson, Lazzaru^
S. 298 können auf eine griech. A^orlage zurückgehen , die in vulgäi'er
Weise die in der Aussprache zusammenfallenden einfachen Konsonanten
und Geminaten verwechselte. Säur S. 303 kann die noch heute be-
stehende Aussprache des griech. u als it belegen (s. daiüber A. Tumb,
ByZ 9, 397 — 401). Didimus S. 303 könnte einem aus Aioujxoc assimi-
lierten griech. Aioiixo? entsprechen. Bei der Auseinandersetzung über got.
7t für griech. Spiritus asper ist nicht berücksichtigt, daß auch in armeni-
schen und rabbinischeu Lehnwörtern dafür h geschrieben wird, auch
inlautend, z. B. armen, siunhodos (A. Thumb, ßyZ 9, 391. 415), wo
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 25
Einfluß des Lat. nicht in Frage kommt, sondern theoretische Erwägungea
zu Grunde liegen. Eine Behandlung der got. Umschreibung griech.
Wörter vom griech, Standpunkt aus wäre nach diesen Proben nicht
vergeblich.
Eine erschöpfende Sammlung und Behandlung griechischer
Transkriptionen germanischer Wörter würde auch für die griech.
Lautlehre nicht ohne Gewinn bleiben. Es mag hier eine knappe Zu-
sammenstellung der beiläufigen Ergebnisse einiger neueren germanistischen
Arbeiten folgen, die von den Gräzisten, wie es scheint, bisher nicht
beachtet worden sind. Sie betreffen meist den Vokalismus. Ein sicheres
Beispiel für griech. ai an Stelle von germ. e ist wohl Aivo; bei Ptol.
(bei Tac. Aerius, deutsch hin, s. G. Kossiuna, IF 7, 306 f.), weitere
(l'xv■;iz-T^:;, Xaipouszoi, Ai^ouaicüvs^, l'atßo|xapo? u. ä., die freilich teilweise
späteren Schreibern zur Last fallen mögen) bei R. Much, ZDA 35,
369; 41, 118; Beitr. 17, 60); derselbe nimmt auf Grund der Um-
schreibung germanischer Wörter für Ptolemäus' Zeit Zusammenfall von
7] und i (ZDA 41, 108) und — siciierlich zu früh — von ot und tj
(ebd. 100. 107. 131) an. Für spirantische Aussprache von ■■; möchte
man in Anspruch nehmen Schreibungen wie TY]3op7tocxov (für Fr].) u. ä.
bei E. Much, ZDA 41, 120 und wie Kaso-jp-ji?, Visiirgis, das ja nach
den Ausführungen von W. Scheel, Ph 57, 578 ff. auf eine griechische
Quelle zurückgehen kann, bei K. Müllenhoff, Deutsche Altertums-
kunde 2, 215. Den spätgriecliischen Wandel von nt, nh zu ncl, ng be-
leuchten Schreibungen wie 1e-ii[}.6üvTo^, Aa-j-xoßapoot (R. I\Iuch, ZDA 41,
128), den von --, «ut zu ft, aft umgekehrte Schreibungen wie FauT,
Gapt, SpaujTiXac, Trapstüa für germ. Gaut, praßtila (ebd. 95); dagegen
vermag ich nicht zu glauben, daß pr für od in Aa^i';o^dpzoi mit dem
kypi-ischeu Wandel von po in pT etwas zu scliaffen habe (ebd. 112).
Ein freilich nicht der Dissimilationsregel (s. unten S. 42 f.) sich fügendes
Beispiel eines Wechsels von |x mit ß ist Prokops Schreibung Ap[^6puyoi
für Äremorici (bei 0. Bremer, Pauls Giundriß der germ. Philologie^
3, 879). Auch Volksetymologien kommen vor: Fr^zaioz; Prokop für
Gepidae. Einiges andere bei Fr. Kluge in Pauls Grundriß- 1, 498
Anm. 2 (darunter -oü'^a : angelsächs. pftf „Fahne"; also entsprach wohl
griech. f) nicht ganz genau germ. />). — Bei den Entlehnungen griech.
Wörter ins Germ, ist stets auch die vulgärgriech. Form zu berück-
sichtigen : so geht m. E. unser Kirche, got. kyr(eyikö (Kluge a. a. 0. 358 f.)
auf eine durch Snffixvertauschung entstandene Form y.upt/ov zurück
(Beispiele für y.upf/.oj bei K. Dieterich, Untersuchungen 67; dazu Kupixo;
bei J. Krall, Denkschr. d. Wiener Akad. 46 [1900] IV S. 18).
Die griechischen Bestandteile des Hebräischen behandelt nach
dem als Sammlung dankenswerten Buche von
26 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1S90— 1903. (Schwyzer.)
*J. Fürst, Glossarium graeco-hebraeum oder der griechische
"Wörterschatz der jüdischen Midraschwerke. Straßburg 1891 (vg-I. die
Besprechung voa A. Thumb, lA 6, 56—60), und den wenig: nütz-
lichen äußerlichen Zusammenstellungen von
M. Schwab, Trauscription de mots grecs et latins eu hebreu.
Journ, asiat. 9. serie X (1897) 414 — 444
mit eingehender Beobachtung- auch der sprachlichen Form solcher Ent-
lehnung, die freilich auch dem Gräzisten noch manches zu erledigen
überläßt,
*S. Krauß, Griechische und lateinische Lehnwörter im Talmud,
Midrasch und Targum. Mit Bemeikungen vod J. Low. I. Teil.
Berlin 1898. II. Teil 1899 (vgl. die Besprechung des L Teils von
A. Thumb, lÄ 11, 96—99).
Eine Zusammenstellung der griechischen Elemente des Armeni-
schen hat nach C. Brockelmann, ZDMG XLVII 1 ff., H. Hübsch-
mann. Armenische Grammatik I (Leipzig 1897) S. 322 — 391 gegeben.
Darauf beruht die Arbeit von
A. Thumb, Die griechischen Lehnwörter im Armenischen. ByZ 9,
388-452,
die, wie schon der Untertitel ;, Beiträge zur Geschichte der Koivr^ und des
Mittelgriechischeu" andeutet, aus der neuen Quelle besonders das Wissen
von griech. Sprachgeschichte zu bereichern sucht. Th. gibt nach einigen
methodologischen Bemerkungen eine Lautlehre der ungefähr 500 (volks-
tümlich sind aber nur 50) meist der Wissenschaft, dem Staat und der
Kirche von Bj'zauz im 5. beziehungsweise vor dem 10. Jahrh. ent-
nommenen Lehnwörter des Armenischen. Griech. o und e werden von den
Armeniern geschlossen gehört; u erscheint gleichzeitig als in und /,
was wenigstens teilweise auf griech. Verschiedenheiten zu beruhen
scheint. Für das Griech. wird aus den armen. Transkriptionen ein
helles und ein dunkles l wahrscheinlich. Historische Schreibungen wie
wie & = ß, /t = Spir. asper. ^) Der Abfall der Endungen in der Dekli-
nation, der, zumal bei i, am wenigsten bei o auftritt, wird mit der
Reduktion bzw. dem Ausfall unbetonter Vokale in den heutigen nord-
griech. Dialekten in Zusammenhang gebracht. Häutig treten au die
griech. AVörter armen, Suffixe an. Durch griech. Vermitteluug sind
auch die lat. {kaisr, s. oben S. 24) und roman. (im 12. und 13. Jahrh.) Lehn-
wörter des Arm. au ('genommen. — Wenig bietet dagegen das Persische:
*) Darf man bei armen, tom aus griech. ''lzi(i]^a an ueugr. VJu.c, -'^v.y.a
neben -yiuv. (aus *'li~j\).o), -fiiia (aus -jz'.<yy.) denken? Vgl. A. Thumb, Uand-
buch der neugr. Volkssprache S. 5.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.) 27
Th. Nöldeke, Griechische und aramäische Fremdwörter im Persischen
(in: Persische Studien II S. 34—46. SWA 126 Nr. 12) weiß nur
zwei griech. Wörter (otaor,jj.a und opayjxri) aufzuführen, die niclit erst
durch Vermittelung des Aramäischea ins Persische gelangt sind.
Alle Beachtung verdienen die Beobachtungen, welche J. J. Heß,
IF 6, 123—134 an den phonetisch treuen ägyptischen Umschreibungen
griechischer Wörter für das 2. Jahrh. nach Chr. gemacht hat: danach
ist 9 noch j? + /<, nicht/", -/noch k-.-h; die Ägypter hören auch damals
noch das durch den Spiritus asper ausgedrückte phonetische Element
in p;^) auch methodisch wichtig ist Heß' Ergebnis, daß O und o zw'ar
vor t Spiranten, dagegen in den andern Stellungen noch Verschlußlaute
sind: man kann daraus lernen, wie gefährlich es ist, ohne weiteres zu
verallgemeinern. Dagegen ist ^ in jeder Stellung zur stimmhaften
Spirans (frz. z.) entwickelt. Eine Keihe von Bemerkungen knüpft au
die Arbeit von Heß A. Thumb, IF 8, 188-197. Er stellt die Unter-
suchung durch Beiziehnng der orthographischen Eigentümlichkeiten der
griechischen Inschriften und Pap3Ti Ägj'ptens auf eine weitere Basis;
besonders bemerkenswert sind die Folgerungen, daß r^ und ti im 2. Jahrh.
n. Chr. in Ägypten noch nicht ganz mit i zusammengefallen waren,
und daß das spätgriechische u im Klang eiiiem iu nahe stand, was auch
durch die armenische Transkription mit üi nahegelegt wird. — Um
einigermaßen vollständig zu sein, verweise ich hier noch auf einige mir
nicht zugängliche Publikationen, die Material für ähnliche Studien
enthalten:
*0. V. Lemm, Giiech. und lat. Wörter im Koptischen, Bull, de
TAcad. Imp. de Sc. de St. Petersbourg 1900, Nr. I.
*W. Spiegelberg, Ägyptische und griechische Eigennamen aus
llumienettiketten der röm. Kaiserzeit. Leipzig 1901.
* A. Eiba r, Griechische Wörter in der kroatischen oder serbischen
Sprache. Skolski Yjesnik IX, Heft 1—6 (1903).
Vokalismus.
Die geschichtliche Entwickelung des griech. Yokalismus ist durch
frühere Arbeiten in ihren Grundzügeu längst festgestellt; doch zeigen
die anzuführenden Aufsätze und Artikel, daß noch manches erreicht
*) Es sei gleich hier bemerkt, daß A. Thumb, IF 8, 227-8 auf
einer archaischen Vasenaufschrift aus ßöotien einen neuen Beleg für aspi-
riertes p im Anlaut liest (hf>c!'Vy[Fo'.oüj]?). Übrigens ist Hatzidakis, *'A(}r;vä
H, 472, dafür eingetreten, daß p kein tonloses, sondern ein aspiriertes r
(rh) sei (nach lA 12, 219}.
28 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
werden kann, namentlich was die genauere Begrenzung eiozelner Laut-
erscheinungen und die Chronologie anbetrifft.
JFür ü sucht A. Thumb, IP 8, 195 namentlich auf Grund
armen. Trauskriptionen (vgl. oben S. 24. 26 f.) zu zeigen, daß es in spät-
griech. Zeit ähnlich ^Yie in klang — wie in gewissen modernen Dialekten.
Einen ähnlichen ^Yandel, der mit der Verdumpf ung von w zu ou zu-
sammengeht, hatte schon früher Hatzidakis, ZvSpr 34, 81 — 97
(= rAü)37oXo7t7.ai [j-e/iiai I 550 — 70), für die alten Lakonen (wie auch
die heutigen Zakonen) angenommen.^) K. Brugraann, BSG 1901,
89 — 98 schließt aus der Assibilation von inlautendem -t-j- in -c;u- in
Fällen wie oou?.6-ouvo; ( : ai. Suflix -tvana-m), -ijupsc, ^[J-i-uj, obor,, oa-iS?,
die er jetzt zugibt, daß schon im Urgriech. ein Anfang der Palatali-
sierung von u (— n) zu % vorhanden war, wie sie uns später besonders
aus dem Boot, (lou) bekannt ist; damit hängt vielleicht auch die Ent*
Wickelung des Spir. asp. bei anlautendem u- zusammen. Damit ist die
Zeitbestimmung vereinbar, welche G. N. Hatzidakis, 'Aör^va 8 =
rX(üa30Ä07i-/.'jri p.sA£t7.i I 547 — 9 gegenüber Wilamowitz verfochten hat:
der AVandel von n zu ü im Attischen war schon lange vor 500 vollzogen.
Mit dem ionisch -attischen Wandel von a zu y] beschäftigt sich
P. Kretschmer, ZvSpr 31, 285 — 296. Da der Wandel auch eioe
Anzahl von Lehnwörtern aus nichtgriechischen Idiomen, wie das semi-
tische ?.rjoavov, die Namen 2ap-Y]ou)v, Mrjoot-) noch ergriffen hat, ist er
verhältnismäßig jung, darf also auch nicht zur Aufstellung eines
Stammbaums der griechischen Mundarten verwendet werden. Im weitern
sucht Kr. die Ansicht, im Attischen sei ä nach i, s, p aus -q rückver-
wandelt durch neue und überzeugende Argumente zu stützen. Die
Rückverwandlung durch p wirkt auch über o hinweg: ay.poäfxa, a&poa
(nach W. Schulze, GGA 1897, 904), wird dagegen durch aspiriertes p
aufgehalten: (jo-q (Hatzidakis, "'Aör^va 10, 400). Das aus ä ent-
standene r) ist erst gegen Ende des 5. Jahrh. völlig mit urgriech. e
zusammengefallen (Hatzidakis, *'Ai}r;va 11, 393 f. =^ D.cu-ioX. [t-zli-on
1 589 f.). Daß dagegen die Gruppe urj im Attischen lautgeseizlich ist.
*) Sein Aufsatz über die Aussprache von c<'j fj ('Ai};,v5. 11, 15S— 162)
entzieht sich meiner Kenntnis.
-) Vgl. aucb Kc'oyrjOvijv neben thebanisch Kc/.o-/ar,'j-j<.oz; Ei(j^r,z gegen-
über pers. Xsajrirsfi (gleichzeitig mit Vokalkürzung; s. E. Kuhn, ZvSpr 31,
.■■)L'3f.; Chr. Bartholomae, Iranischer Grundriß I, 1, IGO): ferner ion. v-zr,-((jz,
frühzeitig aus phryg. a--'j.yj', entlehnt (F. Soimsen, ZvSpr 34, 63 f.); Cometes
bei Trogus aus Charon von Lampsakos, aus apers. Gaumäta (A. v. Gutschmid,^
kl. Sehr. V 39). Anderseits sind (schon in lies. Thcog. 340. 344) die Formen
^az<.z, A«oü)v beibehalten; auch Ac.zoi erweist sich durch sein ä als in relativ
i-pilter Zeit bekannt geworden.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1S90— 1903. (Schwyzer.) 29
weist Hatzidakis in ZvSpr 36, 589 — 96 (-= rXu)i3olo-;iy.aX \i.zU-'x'.
I 538 — 46) an Hand einer vollständigen Saramluiig- des Materials nach.
— In einem kleinen Aufsatz, IF 9, 343—6, verteidigt K. Brugmanu
seine Ansicht von' der monophthongischen Geltung der sogenannten un-
echten Diphthonge et und ou gegen die von 0. Hoffmanu, Griech. Dial.
3, 384 ff. erhobenen Einwürfe, gewiß mit Hecht, Ebenfalls mit der
Entwickeluug der e- und o -Vokale gibt sich in der Hauptsache ab
J. Mc Keen Lewis, Notes ou Attic Yocalism in den Papers of the
American school lY (1888), 261 — 277 — ohne neue Ergebnisse.^) —
Verschiedene Beobachtungen gelten der Monophthoagisierung der laugen
e-Vokale (r^, et, 7]t) zu t. Eine Anzahl von Fällen, wo st neben t er-
scheint, wie 'Apt3-oy.X£tÖT]? neben 'AptaToy.X-'oYjr, XaXxstarat neben XaXy.tatai
erklärt Hatzidakis ^Aftr^va 7, 458 — 468 durch Suffixvertauschuug —
ein häufig genug belegter Vorgang; anders über notetösatai neben
rioTstoaia W. Prellwitz, BuJ 1900, 100. Beiträge zur Geschichte des
orthographischen Wechsels zwischen r/. und t: aus attischen Urkunden
liefert B. Keil, MAI 20, 428. Brugmann hatte dieses r,t zu monoph-
thongischem e werden lassen, das dann durch et ausgedrückt wurde;
J. Schmidt tritt in ZvSpr 37, 37 — 39 wieder dafür ein, daß, wie wt
zu ot — eine Schreibung, die allerdings nur ganz vereinzelt auftritt —
?o Tjt zu diphthongischem et gekürzt worden sei, das dann später teils
zu t wurde, teils, z. B. in Flexionen wie dem Dat. ^iOuX-^, analogisch
durch r^ ersetzt wurde. Die Frage ist sehr schwer zu entscheiden;
immerhin ist auch jetzt noch Brugmanns Erklärung durch die neben r,t
und et erscheinende Schreibung E wohl begründet. Daß t], et noch im
2. Jahrb. n. Chr. von sonstigem t geschieden waren, folgert Thumb,
IF S, 194 aus ägyptischen Transkriptionen. Für die jetzt durch die
Ausbeute, welche die Inschriften geliefert haben, in den meisten Fällen
sichere Feststellung der Langdiphthouge bietet Anhaltspunkte das von
Eabe, RhMPh 47, 404—413 veröffentlichte Lexicon Messanense de
iota adscripto (dazu Nachträge von Schneider, ebd. 52, 447 — 9).
Von den Langdiphthongen geht auch aus ein postumer Aufsalz von
J. Schmidt, Zur Geschichte der Langdiphthonge im Griechischen.
ZvSpr 38, 1—52,
der freilich ungleich viel mehr enthält, als der von W. Schulze ge-
wählte Titel besagt. J. Schmidt bekämpft das von Osthoff aufgestellte
Gesetz, wonach langer Vokal -r t im Griech. vor Konsonant verkürzt
wird; die dafür beigebrachten Beispiele werden im einzelnen geprüft
und abgelehnt (-AstJTo? an Stelle von *pläisthos und aiuiv sowie die
*) Die Aufsätze von Pescatori über E, 0, 9. (Boficl 3, 166— S. 211—3)
kenne ich Dicht.
30 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Aoriste wie sTsua neben £Xe;a haben alte Kürze, in -/voiixsv, opatfxsv,
fj.r;£i|j.Ev sind die Kürzen analog-isch eingedrungen}, die dagegen sprechen-
den ins rechte Licht gestellt (Dat. Sg. auf -ci, -w, Präsentia wie |jli-
fi.vTJcy,cu, t)v7j3y.ü)) Die Hauptstütze der geltenden Ansicht war jedoch
die Gleichung Xuxoic = ai. lustrum. vrkäis. Deren ausführliche Wider-
legung bildet den auch durch die dazu verwendeten Mittel wichtigsten
und umfangreichsten Teil der Arbeit. Die herrschende Ansicht ist
innerlich un^Yahrscheinlich, da das Griech. sonst den Instrumental völlig
verloren hat und läßt den lesb. Typus toTj ösout unerklärt. Darin ist
eine Stufe erhalten, auf der einst alle griech. Dial. standen: bei den
Subst. ist -ot? nach der Analogie des Artikels an Stelle von -oi3t ge-
treten, das nicht durch Elision sein t verlieren konnte. Die Form toTc
ist aber nicht etwa alter Instrumental, wie dies C. Reichelt in seiner später
zn nennenden, J. Schmidt nicht bekannten, Abhandlung annimmt, der
im übrigen gleicher Ansicht ist wie J. S., sondern selbst aus xoTjt
hervorgegangen infolge seiner proklitischen Natur. Ein langer Exkurs
dient dem Nachweis, daß unbetonte, besonders proklitische Wörter be-
sonderen Gesetzen unterliegen, namentlich starke, bei anderen Wörtern
nicht vorkommende Kürzungen erfahren. So erklären sich die dialekt_
Formen av, y.a-, Ttap, d.-, -ap, auch das att. -poc für -posi aus TrpoTt,
argiv. 7:0t für ttoti, samt den auffälligen Assimilationen wie xappoov,
z'/äXikS. 7.a[x;x£:;3ov, 7.avvo[j.ov. y.7.'j'/;at;, a'jsp'jto, SO beim Stamm to-, ra-,
dessen Pioklise auch die Asdmilationen wie -oXXoyov bezeugen, außer
ToT? aus totsi auch homer. tojv als Artikel neben Tatuv als Pronomen,,
böot. -thess. TG(v neben -awv beim Subst. und entsprechendes ion. -röjv
neben -ewv , ferner thessal, toi aus xoTo (wonach auch bei den Subst.
der Gen. auf -01 statt auf -oto gebildet wurde, vgl. dazu olpiai aus
Giop-ai); auch att. toü coü ou verdanken ihre Einsilbigkeit der häufigen
proklitischen Stellung (vgl. dagegen die zweisilbigen oio^, täoz). End-
lich gehören dahin vou|xr,vta, öouy.uotor;; neben vsoc, ilsoc: Oiowpou, KXs-
ro'Xioc (mit s vor einfachem Konsonanten) und 0oxXoc, Go7v7]to; (die
Kürzung 0 urspr. nur vor Doppelkonsonanz); aos aus erstarrtem a'jToj
(z. B. in kret. auiautöt^ neben herakl. \i.zx a-j-o; aurüiv). ^) Mehr bei-
läuftg wird ausgeführt, daß att. tsXei aus töXsiei lautgesetzlich, xsXüi an
Stelle von tsXsiw (i aus cj zwischen ungleichen Vokalen ist sonst er-
halten) analogisch kontrahiert sei. [Vgl. noch die Nachträge].
*) Es sei hier gleich beigefügt, daß W. Schulze, Kontraktion in
proklitischem Worte, ZvSpr 3S, 286—9, die Kontraktion in o^pAv aü-.öv,
zzä-, oo-.ryj-^ (neben -3i.£(»y, sf:«; als einfachen Enklitika) nach dem von.
J. Schmidt gefundenen Grundsatz erklärt. Gleicherweise entstand neugr.
710p'; (auch in südgriech. Mundarten) aus y.'opt:, vgl. die Bemerkungen in
X'/tC'.oc^V.t ctx. dva-|v. I 520 Anm. 1 über die Betonung dieser Wörter.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 -l;)03. (Schwyzer.) 31
Eine schöne B-obachtiinff zur spätgriechischcn Orthographie hat
\V. Schulze, GGA 1897, 89G gemacht: statt a'i wird a.z<. geschrieben
(ebenso statt ot ost, s. Mei-iterhans^ 49, 28).
Besonderes Gewicht ist in den letzten Jahren auf die kombi-
natorischen Erscheinungen im Vokalismus gelegt worden. Zu
den assimilatorischen gehört die Konti'aktion. Wichtig ist ein
Gesetz, das etwa gleichzeitig von W. Schulze, Qiiaest. epp. 163;
F. Solmsen, ZvSpr. 32, 526 f.; P. Kretschmer, Vaseninschr. 141 ge-
funden wurde: so, sa bleiben im Attischen, wenn zwischen den beiden
Vokalen F geschwunden ist, immer unkontrahiert, wenn j oder s aus-
gefallen ist, nur in ursprünglich zweisilbigen Formen; vgl. auch die
darauf fußende Erklärung von eav neben eiiiY^v im Attischen durch
J. Schmidt, SPrA 1899, 310 Note.^) Hauptsächlich dem Nachweis,
daß psa im Attischen nur dann zu p« wurde, wenn ~ vor der Kon-
traktion lang wa", bei Kürze des a dagegen als pyj erscheint (rpir^pr],
oprj gilt der Aufsatz von Hatzidakis IF 5, 393 — 5 (^=rX(ü33oXo7iy.al
IxsXsxai I 571 — 3). Dagegen ist (die altidg. Form) y.v]p[o] nicht au?
(dem dichterisch nach dem V^erhältnis von ^po;:l'apoc, aap gebildeten)
-/.£ap entstanden, nach ßrugmann IF. 5, 341; o muß vor der Vokal-
kürzung vor Sonant und Kons, gefallen sein. Daß eine starke Kon-
sonantengruppe die Kontraktion hintanhält, vermutet J. Wacker-
uagel ZvSp. 33, 21 durch den Hinweis auf vzo—o^, vzoyix6i, wo
freilich F ausgefallen ist.
Die umfangreichste und eingehendste Arbeit auf dem Gebiete der
Vokalkontraktion ist aber der kürzlich erschienene Aufsatz von
K. Eulenburg, Zur Vokalkontraktiou im ionisch - attischen
Dialekt. IF 15, 129—211.
Das Verdienst der Untersuchung liegt nicht etwa in einer voll-
ständigen Sammlung des Materials — vollständig sind nur die einzelnen
Typen vertreten — noch in einer Vermehrung der bisher bekannten
Tj'pen durch selbständige Ausbeutung der Sprachquellen, sondern in
der Betrachtung der hergehörigen Vorgänge als Ganzes in ihrem
Inneren Zusammenhange. Unterstützt durch die Übersicht der Resul-
tate auf S. 204—6 hebe ich aus der Arbeit, die ausführlich auch die
Kontraktion in den homerischen Epen, besonders auch die (als Distrak-
tion gefaßte) epische Zerdehnung behandelt, hervor, was für das Attische
von besonderer Bedeutung ist. „Die Vokalkontraktionen erfolgten auf
assimilatorischem Wege, und zwar begann der Kontraktionsprozeß bei
sa, £0, so [~ — ou!], £ü), cüco, yjy] vor, bei aa, as, ao, aö, aw, oa, os, oo,,
^) Abweichend zwar Fick BKIS 23, 184 f. — Es sei auch hinge-
gewiesen auf J. Schmidts Behandlung von y-yä (ZvSpr. 33, 454).
32 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
o", 0(0, £3, se, £r,, r^^, tu«, wo uach dem Schwund des zwischenvokalischen
F. Bei Assimilation quantitativ und qualitativ verschiedener Vokale
nimmt nie ein langer Vokal die Qualität des kurzen an" (die bisher
für Kontraktion von a, o -- yj, e angeführten Beispiele beruhen auf
analogischer Umbildung oder werden als Bildungen erklärt, für die
jene Kontraktion nicht in Frage kommt, z. B. 9äv6c aus "cpaFcvüc ('?);
schwierig bleiben dabei die Formen von aipw, mit denen der Verf. sich S. 152
auf unmögliche Weise abfindet; da wäre doch die Annahme vorzuziehen,
daß die außerindikativischen Aoristfovmen nach den regelrecht kontra-
hierten dpa), v;p9y]v, äpöcJü usw., ^pa aus f^stpa ihr doi- durch ap- ersetzt
haben)! „Drei Vokale werden zum Monophthong zusammengezogen,
wenn in den auf Grund der Assimilationsregeln entstandenen Gruppen
zur betreffenden Zeit der 1. und 2., sovde der 2. und 3. kontrahiert
werden können. Die ionisch-att. quantitative Metathesis resp. Vokal-
kürzung trat bei urgr. Hiatus viel früher ein als bei F und bei Kou-
traktions-e als erstem Komponenten". Der att. Rückumlaut nach p
(öupa) fand vor Schwund des inlautenden F statt, der Kückumlaut nach
i, e (olxi'a, vEot) nach Abschluß aller Kontraktionen und der jüngeren
Metathesis, ungefähr gleichzeitig mit der jungen Kontraktion in Fällen
wie rUtpataic. — KKto\j:qdzo; S. 132 ist der Name eines Samiers, also
unattische Form.
Die Fernassimilatiou benachbarter einander nicht berührender
Vokale im Giiechischen hat auf Grund eines Materials, das auch durch
gelegentlich noch hinzugefundene Beispiele (bes. von Kretschmer,
Vaseninschr. 117 f.^), wo auch das von Prellwitz BKIS 25, 286 be-
handelte \}.'x-(oirjiy.6t bei Herodian schon zu finden ist, S 28, Anm. 1;
R. Meister, BSG 1899, 149. 153 [olod aus ^oXsFa; y.aXau „Hahn" aus
xsXaFu- zu lak. yAXoilo; „hallend"]; W. Prellwitz, BuJ 1900, 100
[auöaoTjs aus *auTaFdör]; für auroFaorjc; ebenso dürfte sich erklären
AY][j,äoY)? aus Ari[j.a-, Ar,|xo-Fd&rp] ; F. Solmseu, ZvSpr. 37, 7 Aura. 1
[ion.-att. y.aOapo? aus xoOapo^, vgl. herakl. y.oüapac dvy.oOapiovTi el.
y.oi}ap7i]) nicht stark verändert worden ist, J. Schmidt im ganzen
abschließend behandelt in seiner Arbeit über den Gegenstand in ZvSpr.
32, 321—394. Häufig ist unbetontes e an folgenden betonten o- Vokal
assimiliert worden (und zwar schon urgriechisch), ebenso findet sich
nicht selten die Angleichung von unbetontem e an folgendes a. Seltener
sind die Wandlungen von s vor o zu u. a vor u und Fo zu o, die
Assimilationen von a an s, a an o. Die Icstm Leiter der Assimilation
^) Vgl. besonders Mo'jv'.y'.djv für Moj u/'.ojv, neben M'vjvuyoc S. 120,
das Widerspiel von r]\vjyj-, aus r^'y.rjz.
ßericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schvryzer.j 33
sind Liquiden iiud Nasale , doch auch Verschlußlaute bilden keia
Hindernis. ^
Das Gebiet der Vokaldissirailatiou betritt K. Brugraanns
Aufsatz: Dissimilatorische Veränderung von e im Griechischen und
Aristarchs Regel über den homerischen Wechsel von r) und st vor
Vokalen. IF 9, 153 — 182. Nach einigen Vorbemerkungen über den
dissimilatorischeu Ursprung des ä in Fällen wie är^p, ouaär,^, aocpta,
u^ia wird gezeigt, daß allgemeiu-ionisch-attisch das durch Ersatzdelinung
von e oder durch Zusamnienziehung zweier s entstandene e unmittelbar
vor e und vor i nicht als st, sondern als r^ erscheint; vgl. die Beispiele
hom. TsXif^ei? aus tsXejFevx-; (jiti^sjji, a-^i, xX^'Cw (mit r) aus es).') Die
Hauptbedeutung der Arbeit liegt auf dem Gebiete der homerischen
Textkritik; sie erschließt in einem wichtigen Punkte das Verständnis
der Überlieferung. Die dissimilatorische Erklärung ist auch angewendet
worden auf öusTv neben ouoTv, (I)aXr,ps(=-si)otxti)v, ot'xsi neben oi'xot, Xotirstg
für Xonrois; vgl. die Zusammenfassung Meisterhans" 147 Nr. 1268.^)
Das Gesetz, wonach im Urgriechischen (früher nahm man sogar
an, gemeinwesteuropäisch) Langdiphthonge und Verbindungen langer
Vokale mit Liquida oder Nasal vor Konsonanten verkürzt wurden, hat
mit vorgriechischen Verhältnissen zu tun und liegt außerhalb unserer
Aufgabe; von J. Schmidt, SPrA 1899, 307 ff. bestritten, wird es
von ßrugmann, griech. Gramm. ^ 572 f. gehalten. Solmsen, BKIS 17.
329 — 339 hat dasselbe chronologisch zu fixieren gesucht; es trat erst
ein nach Abfall von t im absoluten Auslaut: daraus erklären sich die
Formen wie l^vojv, cpepu»v (vgl. auch z9)p für xrjpo). — Über die Kürzung
der Langdiphthonge im Attischen, die J. Schmidt annimmt, s. oben S. 29.
Interessant ist eine Beobachtung zum vokalischen Sandhi,
die W. Schulze, ZvSpr. 33, 133 — 137 an kretischen Inschriften ge-
macht hat. Aus der Poesie war schon läHgst bekannt, daß auslautende
lange Vokale vor vokalischem Anlaut gekürzt wurden, z. ß. TcXa^/Oyi
sirsu Auf einigen kretischen Prosainschrit'ten wird nun die Erscheinung
auch in der Schrift ausgedrückt; so schreibt eine Inschrift, die sonst E
und H scheidet, vor vokalischem Anlaut [xs für [xrj.
Für die Zulassung der Elision des Dativ-t an einer Anzahl von
Tragikerstellen tritt J. Brennan, CR. 7, 17 — 19, ein: vom sprach-
^) Hier ist wohl auch *P. Perdrizet, 'Ep:&o:3i'>; = 'A.ojÖo^^'.o; REä:
I, 3 p. 210 — 11 zu nennen.
2) Gegen Brugmann wendet sich H. Ehrlich, ZvSpr. 38, 22 ff.
") Dagegen dürfen T^vt^fj^oo:, -rM'^o'LLoz bei Dichtern nicht mit
U. v. Wilamowitz, SPrA 1900, 842 hierhergezogen werden; den Unter-
schied gegenüber ^av^-scpupo; erklärt H. Ehrlich, ZvSpr. 38, 35 Fußn. 1
überzeugend aus verschiedener Stammbildung.
Jahresbericht für Altertumswissenächaft, Bd. OXX. (190-1. I.) 3
24 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
■wissenschaftlichen Standpunkt aus kann man nur zustimmen, wenn sich
anch kaum entscheiden lassen wird, ob wirklich Elision oder nur deren
Vorstufe, konsonantische Geltung- vou i, vorliegt.
Yokalische Aphärese in Eigennamen, für die oft besondere
Gesetze, die sich eben nach besouderen Bedingungen richten, gelten,
hält P. Kretschmer, ZvSpr. 36, 270—3 gegen Fr. Bechtel, BKIS
20. 243; 23, 247 mit 0. Hoff mann, BKIS 22, 135 f. aufrecht auf
Grund von Beispielen wie pamph. <I>op6icjioc, Oavaotupoc, mess. rtuvtirTro?,
böot. AocjiTTTTo? u. ä.; auf einen übersehenen Fall von „Hyphärese"
macht Fr. Bechtel, BKIS 20, 241 ff. aufmerksam (ion. ©eatiaoo?,
'OpÖiaSos, Xaptaoo; für -zo;).
Für die vonHesych den Tarentinern zugeschriebene Vokalentfaltung
in Topovo; (für Topvo;) bringt eine interessante inschriftliche Bestätigung
aus dem lakon. Geronthrae bei W. Schulze, ZvSpr. 33, 124 f., die
zugleich die Überlieferung von der Gründung Tareuts beleuchtet.
Konsonantismus.
Eine Reihe von konsonantischen Lauterscheinungen sucht chrono-
logisch zu bestimmen G. N. Hatzidakis, Zur Chronologie der grie-
chischen Lautgesetze und zur Sprachfrage der alten Makedonier ZvSpr
37, 150 — 4. Es wird die beachtenswerte These verfochten , daß Er-
scheinungen wie der Wandel der alten Mediae aspiratae in Tenues
aspiratae (von bh in 9 usw.), die Wirkungen von j (im Wandel von
kj zu atj usw.), die Labialisierung bzw. Dentalisierung der vor-
griechischen Labiovelare («povoc, aber Osivw u. ä.), die Hauchdissimilation
(Ti07)}ii) auch im Makedonischen sich wieder finden, also in eine Zeit
zurückreichen, in welcher das Makedonische, über dessen Stellung hier
nicht zu reden ist, mit den anderen griechischen Mundarten noch in
Fühlung stand.
Die ausführliche Besprechung der Arbeiten über das Di gamma
liegt, da es schon früh nur noch in einzelnen Dialekten lebendig war,
außerhalb des gegenwärtigen Berichtes. Seine Geschichte innerhalb
des Griechischen, ja teilweise schon innerhalb des Gemeinindogerma-
nischen ist ja wesentlich die Geschichte seines Schwundes, die sich
immer deutlicher herausstellt. Besonders den Schwund des Digamma
in den einzelnen Mundarten verfolgt mit Anführung namentlich des neu
zutage getretenen Materials A. Thumb, Zur Geschichte des griechischen
Digamma IF 9, 294—342. Die schon früher festgestellte Chronologie
■wird durch Th. 8 Untersuchungen bestätigt: „das Ionisch -Attische unter-
scheidet sich von allen anderen Mundarten dadurch, daß F um einige
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 35
100 Jahre früher schwand, zuerst im kleinasiatischen Ionisch (rund 900
— 800 V. Chr.), dann in Naxos und dem "Westionischen (ca. 700?), sowie
in Attika (8. oder 7. Jahrh.?). Merkwürdig ist, daß sich dann sofort
der Dialekt von Thera anschließt (7. Jahrh.). In allen übrigen Dia-
lekten beginnt F erst seit 400 v. Chr. zu schwinden . . . der Laut ist
am widerstandsfcUiigiten in Böotieu (bis ca. 200 v. Chr.) und Paraphylien
(vielleicht bis ins 2. Jahrh. v. Chr.), Bemerkenswert ist, daß in den
lakon. Bergen F den Wandel der Zeiten bis heute überdauerte." Da-
gegen ist Th.s Annahme, daß F entsprechend der Vertretung durch
Spiiitus asper und leuis eine doppelte Aussprache gehabt habe, jetzt
durch Solmsens schon oben S. 13 berührte Erörterungen überholt, auf
die hier noch besonders verwiesen sei. Mit Einzelheiten beschäftigen
sich J. Schmidt, der ZvSpr. 33, 455 — 8 Wackernagels Ersetzung des
schwierigen lokr. Foxi durch r^ oti (RhMPh 48, 301 f.^ zurückweist,
und W.Schulze, der ZvSpr 33, 394— 7'TsX^, die epichorische Form
von 'EXea, aus 'TeUr), als genaue Transkription des fremden Namens
Velia nachweist.^).
Anschließend seien noch einige Arbeiten über den Spiritus
asper genannt. Für Darbishire, Notes on the spir. a. in Greek.
Tr. of the Cambridge pliil. soc. III 2, mit Addenda ebd. III 3, 119
— 125 muß ich freilich auf die Besprechung von Fr. Stolz, BphW 10,
1055 f. verweisen (D. untersucht mit Hilfe rein etymologischer
Methode die Unregelmäßigkeiten im Auftreten des Spir. a., die er aus
voi griechischen Verhältnissen erklärt); Cascio (Lo) Santi, Nozioni
sullo spir. a. nella lingua greca. Caltanisetta 1898 ist mir ebenfalls
nicht zu Gesicht gekommen. G. N. Hatzidakis, irepl t|'t^"ij£">? toü
apöpou. 'AOrjva 2, 380 nimmt nach lA 1, 58 gegen A. Thumb, Unter-
suchungen über den Spir. a. 1889 S. 18 an, daß der Verlust der As-
piration des Artikels von Fällen wie 6 Oeoj, wo durch Haucbdissimilation
die Form 0 entstehen mußte, seinen Ausgang genommen habe. Zu p s.
oben S. 27 Fußn.
Die Besprechung der neueren Arbeiten über die Entwickelung
der indogermanischen Gutturallaute im Griechischen, deren
wichtigste Brugmann, Griech. Gramm. ^ S. 113 § 92 Aum. zusammen-
stellt,-) fällt zumeist den Berichten über ,, vergleichende Sprachwissen-
schaft" sowie über „griechische Dialekte" zu. Das bedeutendste Er-
gebnis der neueren Forschungen auf griechischem Gebiet bildet die Er-
') Smyth, Über das F. TrAPhA 22 (1891) p. XXVIII ff. ist mir
nicht zugänglich.
^) Material sammelt A. Fick, Die q-Laute der griechischen Sprache
BKIS 16, 279-93; 18, 132 44.
3*
36 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
kenntnis, daß im äolisch-thessalischen Dialekt die Labiovelare auch
vor hellen Vokalen durch Labiale vertreten sind (z. B. lesb. cpr^p thess.
r£(p£tpaxov[Te;] : att. Or^p), wodurch in Verbindung mit anderen Tatsachen
der Beweis geliefert wird, daß auch die Entwickelung zu Dentalen in
den anderen Dialekten dem labialen Element des idg. Lautes zu danken
ist. Eine Ausnahme in der Vertretung der Labiovelare im Griechischen
erklärt die Beobachtung, daß dieselben nach u (u) den labialen Nach-
klang eingebüßt haben — also ein dissimilatorischer Vorgang! Dies
Prinzip wendet jetzt F. Solmsen, Über Dissimilations- und Assimilations-
erscheinungen bei den altgriechischen Gutturalen [nicht im Buchhandel
erschienenes deutsches Original des russisch geschriebenen Beitrages von
Solmsen im Sbornik statej v testi F. F. Fortunatova. Warschau 1902]
auf Wörter an, die ursprünglich zwei Gutturale oder Guttural und
Labial besaßen, die dann auf eiüander dissimilatorisch oder auch assimila-
torisch einwirkten; so erklären sich rapvo»]/, 7Lopvo<{>' neben -/opvot]^; -(E'fupa:
oetpüpa : ßoufpopac; ßXetpapov : -^Xstto); Ttif^vi : ap-oxorro? (für *dp'co7r6xo?);
pXrf^fuv : 7Xrf/o)v, -(X^ycuv u. a. Nach den gleichen Grundsätzen erklärt
sich die unregelmäßige Verschiebung in ahd. *pfropfo, ''propfo, pfroffo,
proffo aus lat. propago (s. Pauls Grundriß I- 343 und Schweiz.
Id. V 502).
Über die Aspiraten ist eine zusammenfassende Arbeit zu er-
wähnen:
Elizabeth A. S. Dawes, The pronunciation of the Greek
aspirates. London 1895.
Rez.: Meister, BphW 1896, 373 f. Thumb, lA 8, 62 f.
Die Verfasserin, wenn auch sichtlich für die neugriechische
Oeltuug der alten Aspiraten als Spiranten eingenommen, prüft doch die
Frage nicht mit dem dabei gewöhnlich zu treffenden Dilettantismus und
kommt schließlich zu dem Resultat, daß eine sichere Entscheidung un-
möglich sei (S. 102 f.). Jedenfalls hat sie nicht vermocht, für die An-
sicht, die sie doch unwillkürlich als die richtige begründen wollte,
stichhaltige Beweise beizubriogeu, so sehr sie sich bemüht. Zudem ist
das dafür beigebrachte Material, das übrigens eine viel schärfere zeit-
liche und örtliche Sichtung erforderte, noch hie und da anders zu
beurteilen. Das gilt z. B. von Verschiedenem, das im IX. Kapitel vor-
gebracht wird: thess. oiXocpsipoc für att. 9iX&i)r(po^ beweist keinen dialek-
tischen Wechsel von b beliebiger Entstehung mit 9, tpiSaxvtov neben Tiiöax-
viov keinen solchen von 0 mit 0, ebenso sind BcAiiiTrof, paXto'c anders zu
beurteilen (als Lehnwörter), -pY/fiotToc und xaUapCEJtw (S. 82, letzteres
auch S. 65) beweisen nichts für Attika, wenn auch die Inschriften, auf
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 37
denen die Formen vorkommen, im CIA. enthalten sind u. a. '•) Wenn
iu Kapitel III der Etymologie wegen für yöciv spirantisches ft ange-
nommen wird, so zeigt apxxo;, daß die vorausgesetzte ursprachliche
Spirantenreihe im Griechisclien auch durch reine Dentale vertrete»
sein konnte.
Eine Skizze der Geschichte der griechischen Aspiraten gibt auch
P. Kretschmer in seinem Aufsatz „Die sekundären Zeichen des griechi-
schen Alphabets" MIA 21, 410—20, worin er die Ansicht, die spiran-
tische Aussprache habe im nichtdorischen Kleinasien schon im 7, Jahrh.
V. Chr. geherrscht, die W. Schmid in seiner Abhandlung „Zur Ge-
schichte des griechischen Alphabetes" Ph 52, 360 ff., besonders 370
vorträgt, widerlegt. — Die Mehrzahl der Beispiele, welche G. Meyer,
griech. Gramm. ^ § 210 für die Übergangsstufe der Affrikaten anführt,
die man zwischen den Aspiraten und Spiranten einschiebt, ist nach
F. Solmsen, EhMPh 53, 139 anders zu fassen, vorab in att. "Wörtern,
wie Oirösuc
Daß <p noch bis in verhältnismäßig späte Zeit als p^-h gesprochen
werden konnte, zeigt die durch Hauchdissimilation aus Oiuatpopoc ent-
standene Form IIos'popoj, die in der lat. Gestalt Posphorus von
W. Schulze, ZvSpr 33, 386—93 reichlich belegt wird; daß ö in älterer
Zeit nicht Spirant sein konnte, ergibt sich daraus, daß spirantisches J>
fremder Sprachen wie des Iranischen und Altitalischen in den früheren
Beispielen immer durch t ersetzt wird, worüber W. Schulze, 'ApTa^apr)?
und Xitpa. ZvSpr 33, 214—24 handelt. Vgl. noch oben S. 24 ff.
Wenig begründet ist die Annahme, 6 sei in der attischen Volks-
sprache schon ziemlich früh spirantisch geworden (F. Solmsen, ZvSpr
34, 556); vgl. dazu auch oben S. 27.
Über die spätgriechische Entwickelung von 7 macht neuerdings^
K. Krumbacher, Abhandlungen für W. Christ, 1891 S. 360 wieder
einige Bemerkungen im Anschluß an seine frühere Arbeit. Hatzidakis,
*Aariva 11, 162 (s. lA 12, 218). DL 1901, 1109 f. erklärt den Wegfall
von 7 in einigen Fällen, den man bisher als Beweis spirantischer Lautung
gefaßt hat, anders: in oXi'ov (wonach 0X170;) böot. ituv, arkad. OtaXeia
liege Analogiewirkung (von [xstov jtXsTov; tiou = tu; 910X75) vor, in a-^rioya.
sieht er mit anderen Dissimilation (die übrigens auch in 7ivofjiat, 7tv(ujxa>
gewirkt habe).
^) Zu dem ionischen T:;iy;/[ic/.-o; vgl. jetzt Solmsen RhMPh 56, 497 ff.;
xaö^ctpiCicsxiu habe ich schon BphW 1899, 501 für lykisches Griechisch er-
klärt, gegenüber Dieterich, Untersuchungen 100, doch nimmt noch Thumb,
Die griechische Sprache im Zeitalter des Hellenismus 193^ das auf der-
selben Inschrift CIA III 73 erscheinende xa&etopoüaa-co als echt attisch.
38 Bericht über griecliische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Die sonst sich gleich bleibenden Liquiden und Nasale haben
in spätgriechischer Zeit in bestimmten Stellungen einige Veiänderungea
erlitten: W. Schulze, ZvSpr 33, 224 — 33 legt unter Beiziehung reichen
Materials den Übergang von X in p vor Konsonant (Topjxü), döspcpo;)
und von [x in v nach x, 9, y (llaTvo?, koisch 'AptJTar/vo;, kret. oapxva
= el. oQfpyjxa) dar; P. Kretschmer macht ZvSpr 33, 266 darauf auf-
merksam, daß die stark reduzierte Aussprache auslautender Nasale im
späteren Griechisch schon vei-hältnismäßig früh im Pamphylischen auftritt.
Über p s. oben S. 27 Fußn.
Eine zusammenfassende Darstellung der griechischen Gerain aten
bietet
E. Mucke, De cousonarum in Graeca lingua praeter Asiaticorum
dialectum Aeolicam geminatione. Programme von Bautzen und Freiberg
I (1883), II (1893), III (1895).
Ich muß mich mit einem Hinw^eis begnügen auf die Besprechungen
von (II) Kretschmer, WklPh 1894, 172-3. Bartholomae, BphW 1893,
1464—5.
Bemerkenswert ist dieUmstellung der Gemination, die W. Schulze,
ZvSpr 33, 375 f. zuerst beobachtet, und P. Kretschmer, ebd. 38, 115
durch einen neuen Fall gestützt hat, in Beispielen wie 'A--eX9j für
'AtteXX^, T|jl[xtitü) für 'T[j.rjTTto, Ksfifisvov aus Kejxsvvov (Cebenna).
Beispiele für die Einfachschreibung von Gerainaten, die durch
den Zusammenstoß eines auslautenden Konsonanten mit gleichlautendem
anlautenden des folgenden Wortes entstehen, gibt W. S c h u 1 z e , H 28, 22 ff.,
sowohl aus älterer Zeit wie EAME-=eo[([x) jxtq auf attischen Inschriften,
wo eine rein graphische Erscheinung vorliegt, wie aus jüngerer, z. B.
E(DT20C>lÄl — E'f u; cjocpia in einem Epigramm, wo viell. wirkliche Verein-
fachung der Aussprache anzunehmen ist.
Hauptsächlich mit den vorgeschichtlichen Verbindungen von
i mit Konsonant (y.;,, t^, 7!. , di usw.), also den geschichtlichen Lauten
TT, 88, J3, ^ beschäftigt sich die Schrift von
0. Lagercrantz, Zur griechischen Lautgeschichte. Upsala 1898.
Rez. von Solmsen, WklPh 1899, 649—54. Thumb. lA 12, 63—5.
Nach einer knappen Übersicht über die bisherigen Ansichten
untersucht L. im 2. Abschnitt die Entwickelung der nach ihm aus jenen
Konsonantenverbindungen hervorgegangenen urgriechischen Doppellaute
\>]) aus (xj, yj), dd (aus gj), ss (aus tj, thj, ts), zz (aus dj), ss (aus vor-
griech. sM-s) in den Dialekten. Neu und wichtig ist vor allem der
Versuch, eine verschiedene Entwickelung von •('] und 8j nachzuweisen.
Sie zeigt sich einmal im Attischen: vor ^ aus 7J (und auch vor tt aus
xj, yj) wnrde kurzer Vokal verlängert, während er vor ^ aus 8j un-
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 18D0 — 1903. (Schwyzer.) 39
verändert blieb, vgl. jisiCtuv, [La^m, OaxTtuv, aber ire^o?. Att. [xa^a gegen-
über ion. [id'^oL (zu (xocY-eipoc) erklärt jedoch Thumb a. a. 0. einleuchtend
aus ursprünglichem Dekliuationsablaut (vgl. att. Y^äiTTa: ion. -jXajja),
wobei freilich att. fxaCa analogisch nach dem Gen. usw. für zu erwartendes
*(x^^a eingetreten sein muß, und für die dehnende Wirkung von xj, yj bieten
die analogischen BeeiLflussuisgen so sehr ausgesetzten Komparative ein
wenig beweiskräftiges Material; die entgegenstehenden Fälle kommen
teils nicht zur Sprache wie cpuXaTxco, Ta'xTu), scpaCw, aitJ^co, teils werden
sie unbefriedigend als Lehnworte aus anderen Dialekten erklärt wie
oxta. Dagegen ist Entstehung von l'pow aus *F£p3öaj (aus Ttp^no : Fep^ov)
wahrscheinlicher als die bisher angenommene Reihe '' Fep^fw — *F£pCu>
( ■=*F£p!jöcu) — epocu; ein zweites Beispiel vermutet L. ansprechend
in hom. afxepöü). Das 3. Kapitel sucht sich, darin grundsätzlich, wenn
auch nicht im einzelnen, Früheren folgend, durch Annahme von mannig-
fachen Formübertraguugen , Suffixvertauschungen, Mischungen ver-
schiedener Stämme mit den Ausnahmen der regelmäßigen Eutwickeluug,
den Verben wie att. uXaxxcu (zkKclci), epsxxtu (IpexTjc) und den Substan-
tiven wie iiiXiaaa ([xsXix-), die lautgesetzlich -j- statt -xx- zeigen würden,
abzufinden.^) Die Geschichte der Schrift in urgriechischer Zeit zieht
der Verf. im 4. Kapitel heran, um seine vorgeschichtlichen Konstruk-
tionen zu stützen: wie im phönizischen Alphabet haben urgriech. x 8 i>
die Geltung von Explosiven wie von Spiranten gehabt, C bekam die
Geltuug z. Freilich bewegt man sich gerade hier auf besonders un-
sicherem Boden. Jene Laute können jedoch auch andere Quellen haben:
das bietet L. die Veranlassung, in einem 5. Kapitel die Entwickelung
von jj, jF im Anlaut, von xF, xi, xu zu behandeln. Besonderes Inter-
esse mui] endlich das 6. Kapitel erwecken, das die schon erwähnte
Wertung von ^ als z nach der negativen Seite dadurch zu stützen sucht,
daß es der Gleichsetzung von C niit ad, die von vielen neueren Gelehrten
angenommen wurde, entgegentritt. Doch gelingt es L. m. E. nicht, die
Beweiskraft von Transkriptionen wie 'ßpo[xa!ly;? = Auramazda zu er-
schüttern (wenn ^ auch in jüngerer Zeit noch auftritt, ist es eben als
historische Schreibung aufzufassen) und Etymologien wie o'Co; ■-= Ast wird
man nicht leichten Herzens preisgeben, gegen die Trennung von öso^oxoc,
AtoCoxo; von öeosooxoj, Aiojooxoc spricht alle Y/ahrscheinlichkeit. Jeden-
falls ist L.s z nicht die Panazee für die schwierige Frage des Laut-
*) Zu S. 84 sei die Bemerkung gestattet, daß A'ßjsaa sich am ein-
fachsten aus Aißj-'.asa (mit dem von J. Schmidt nachgewiesenen Übergang
von ui zu u und nachheriger Verschiebung des Akzents nach KiXiasa usw.)
erklärt.
40 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
wertes von ^; vielmehr deutet alles darauf hin, daß derselbe nicht un-
wesentlichen örtlichen und zeitlichen Schwankungen unterlag.^)
Die anregende Schrift erörtert im Zusammenhang mit ihrem Haupt-
gegenetand manche Frage der Stammbildung und ist reich an neuen
Etymologien.
Weniger eingehend behandelt einen Teil derselben Probleme mit
ähnlichen Ergebnissen W. F. Witten, On II and Z. AJPh 19 (1898),
420 — 36. Er betrachtet als Lautwert von ^ in den Fällen, wo es aus
7J, oj, ursprachl. j (wie in ^y/ov) hervorgegangen ist, die stimmhafte
Spirans }; urgriech. -/.j bzw. xj wurde nach ihm zunächst zu einem
palatalen bzw. supradentalen 5-Laut.-)
Auch andere i,- Verbindungen haben neuerdings eine besondere —
freilich kürzere — Behandlung erfahren durch
0. A. Daniels so n, Zur i- Epenthese im Griechischen. IF 14,
375—96.
Der Verfasser behandelt in erster Linie die Verbindungen von
Liquida oder Nasal mit i, für deren Entwickelung er gegenüber Brug-
manns neuester Ansicht (kurze vgl. Grammatik 92 f., 224 f., 246) an
der älteren lautgeschichtlichen Hypothese festhält. Plausibel erklärt
er den Unterschied von «faivw, jj-oTpa gegenüber xpivw, xtevo) aus der
Unmöglichkeit oder doch Schwierigkeit der Entwickelung eines ebenfalls
palatalen Gleitlautes zwischen i beziehungsweise s und v: allerdings läßt
er dabei die entsprechende Behandlung bei o, das man, als älteres u,
auf Seite von a und o finden sollte, unerklärt. Ich möchte vermuten,
daß ein einmal vorhandenes ''ßapuivo) zu Sapuvü) wurde wie ot:ijic>
ÖT.U? u. ä. (J. Schmidt, ZvSpr 32, 394 ff.), womit der Anstoß beseitigt
wäre. Im Vorbeiweg bricht D. eine Lanze für seine schon früher be-
gründete Annahme von Entwickelung eines diphthongbildenden i vor s -|-
Konscnant oder l, in Fällen wie AiaxXairio; Tpot^TQv (s. seine Schrift
*De voce AIZHOI quaestio etymologica. Upsala 1892), wozu jetzt
F. Solrasen, RhMPh 58, 614 einen neuen asiat. -äol. Beleg (sixo^-ro;)
beibringt. Dagegen bekämpft er die Annahme von Epenthese bei a und
bei F mit guten Gründen: in Fällen wie aXr^&eta aus dl-^Dtaia, TjosTa
aus TjSeFia — beide m'ü echtem zi gegenüber -repiva u. ä. — liege viel-
') Dal) mit C schon in alter Zeit ein einfacher Laut (oder eine Ge-
minata) bezeichnet werden konnte, zeigen die bisher für die Frage nicht
verwerteten altphrygischen Formen wie r/F^'/C, ^a-spzC, u. ä, (vgl. A. Torp,
Zum Phrygischen S. \-2 [in Christiania Skrifter 1806]).
") Nicht zugänglich ist mir 1". N. Xa-'toKxt;, T:zr/t toü >-j zai rspl
£x:vai3:(u; 'A^ri'.a 8, 496 f.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 41
mehr eine Assimilation des vorhergehenden konsonantischen Elementes
an t^ vor. Eingehend werden die Beispiele für die Epenthese bei F
bebandelt: aiFetoc, «[xotFav, AioaiFcov, Orj^aXoc, durchweg' im Gegensatz
zu den bisher geltenden Auffassungen. Bisher ist also gemeingriechische
Epenthese nur bei avt ovi und apt opt nachgewiesen.
Wiederholt zur Sprache kam innerhalb unserer Berichtsperiode
der Wandel von x vor i in j. Eine Zusammenstellung des gesamten
Materials aus allen Dialekten lieferte
P. Kret Schmer, Der Wandel von x vor i in a. ZvSpr 30,
565—91.
Durch die Sammlung des Materials wird die Arbeit ihren Wert
behalten, wenn auch das vom Verfasser gefundene Gesetz nicht be-
friedigt. Daher hat K. Brugmann im Anschluß an
*P. G. Goidanich, I continuatori ellenici di ti indo-europeo,
Saleruo 1893,
die ansprechende Vermutung aufgestellt, die Assibilierung von x sei
lautgesetzlich nur vor bei schnellem Sprechen konsonantisch gewordenem
t, e eingetreten, z. B. ttXoujioc aus TiXouxto;, eine Hypothese, welche
freilich auch nicht ganz ohne Eest aufgeht: [xupcjtvr) , MupsiXoc neben
jx'jpxo?! Dergleichen gelegentliche Einwendungen und seine Entgeg-
nungen hat bereits K. Brugmann, griech. Gramm. ^ 66 zusammen-
gestellt (neuerdings fügt P. Kretschmer, JÖAI V. 144 lesb. Ovajiöiov
aus *&vaxio'.ov hinzu; auch *npo3i aus rpoxt nach J. Schmidts Erörterung
[s. oben S. 30] bildet ein Gegenmonient). — Bei den Konsonanteu-
verbindungen verdient zunächst Aufmerksamkeit eine Erscheinung
der attischen Vulgärsprache, die P. Kretschmer, ZvSpr 31, 438 (vgL
auch ebd. 458; Vaseniuschr. 179 — 183; 236 f.) nachgewiesen hat: die
Töpfersprache stellt die Lautgruppen -/cj, 95 (denen in gewöhnlicher
Schreibung E, 4' entsprechen) hin und wieder in a/, acp um, z. B. euj/afxsvo;,
s^paj'föv. Die Erscheinung deutet darauf, daß in den Gruppen ^, <}>
<ler erste Bestandteil -/, 9 war; in ; ging dann dieser Laut in eine
gutturale Spirans über. Für l liefern weitere Stützen eine Tatsache
der Geschichte des Alphabets und die auf Naxos begegnende Schreibung
[]S für ^, worin [] eine Variante von B =h sein dürfte: für das nähere
muß ich auf P. Kretschmer a. a. 0. und MIA 21, 421 ff. verweisen.
Eine neue Behandlung der «-Verbindungen gibt H. Hirt, IE 12,
221—29 (bekämpft von Solmsen, BphW 1902, 1142): 6^ ist in allen
Stellungen außer in der Verbindung mit tp k und im Auslaut zu h ge-
worden, das später vielfach schwand, sm, sn wurden nicht zu zm, zn^
sondern zu lim. Im: daraus erklärt sich auch der Spir. a. in att. rjii-eu.
42 Bericht über griecliiscbe Sprachwissenschaft 1S90-1903. (Schwyzer.)
Y,|xat, i'vvufjLi, eijjLa, T}j.£poc (die äol. Formen wie a[X|XG bilden nicht die
Vorstufe der Formen); ksn wird yv, ksm y]i. usw.
"Wiederholte Behandlung hat die Umstellung von ojx zu \ib mit
nachfolgendem, durch das Übergewicht des \i nötigem Wandel von 8
in den Nasal der gleichen Artiknlationsstelle (v) erfahren: W. Prell-
witz hat BKIS 17, 171 unter Hinweis auf [xvcua neben o|X(uc 'A-j'ajj.£|xvcüv
aus 'A7ct[X£0|j.ü)v gedeutet und W. Schulze, ZvSpr 33, 166 weist das
attische fxsao'ixvYj noch in späten Glossaren nach, „ein neuer Beleg für
die Erfahrung, daß manch später Vulgarismus sich bei näherem Zusehen
als sehr altertümlich erweist". — Seine Vermutung, auch das Attische
habe einst die Form TrtoAetjLo; besessen (vgl. TpiTTTo'/.sjxoc u. ä. ; ZvSpr
31, 425 f.), ersetzt P. Kretschmer, ZvSpr 33, 571 mit ßecht durch
die Annahme epischen Einflusses.
Die Verteilung eines (seinem Wesen nach dazu geschaffenen)
Konsonanten auf zwei Silben hat W. Schulze, ZvSpr 33, 397 in
der auf einer attischen Grabschrift begegnenden Form oi'[x[jloi erkannt
und seither sind noch einige Beispiele dazugekommen: in größerem Zu-
sammenhang handelt jetzt darüber F. Solmsen, Untersuchungen zur
griechischen Laut- und Verslehre 1901, 164 — 6. — Über die Entwicke-
lung parasitischer Nasale im Griechischen trägt W. Schulze, Sams-
tag, ZvSpr 33, 366—86 ein reiches Material zusammen, einzelnes auch
G. Meyer, Zur Geschichte des Wortes Samstag, IF 4, 326—33. Die
Beispiele, von der Art von Xa|x|?8a neben Xäßoa, au}i.<]^£X>aov für lat.
subsellium erstrecken sich über viele Jahrhunderte, wenn auch der
Löwenanteil dem Spätgriechischen angehört, und stehen kaum alle auf
gleicher Linie; in manchen Fällen wird die Sprache der gräzisierten
Barbaren verantwortlich zu machen sein. Am wichtigsten ist für weitere
Kreise der Wissenschaft der Nachweis einer Form (jd|j.,3a-a neben aotj^ßata,
die sich aus vielfach belegten Namen wie ^a\i.}'x-:t\.z, ^afxßaTio; ergibt:
durch sie erhält das m in unserem Samstag und den gleichbedeutenden
Wörtern der anderen europäischen Sprachen seine Erklärung. ^)
Auch auf dem Gebiete des Kousonantismus hat sich der Gedanke
der Assimilation und Dissimilation fruchtbar gezeigt. Durch
Fernassimilation erklären sich Fälle wie MEy.axXr)?, -to'toj, xpaTcuirjC,
'Arpap-uTrjvo; auf attischen, xp'j'f axTo; auf einer oropischen Inschrift nach
den Darlegungen von W. Schulze, ZvSpr 33, 397 f.; P. Kretschmer,
ebd. 467, und ähnlich führt P. Kretschmer, ZvSpr 35, 603 — 8 den
bisher rätselhaften Wechsel zwischen [H und [x in Fällen wie 'Avopaßjoo;
') So ei klärt sich offenbar auch das von K. Müllenhoff, Deutsche
Altertumskunde 3, 105 f. als lätselhaft erklärte \i in 'A^TJulic^^yr^;, 'AfifHi-
~(zio'. (neben 'Apy'.'i^czTo').
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.) 43
neben 'Avöpa'fxu;, 'ASpaßrjvo? neben 'Aopa[j.uTT)voc, der sich besonders aus
der xoivT^ und dem Neugriechischen belegen läßt, sehr einleuchtend
darauf zurück, daß ß au einen Nasal des gleichen Wortes assimiliert
wurde; der Aufsatz behandelt auch das Gegenstück, die Ferndissirai-
lation von [x zu ß unter dem Einfluß benachbarter Nasale, wie ihod.
Fspßavtxov für repii-avtxov, in neugriech. ßuCavcu gegenüber altem [xuCaw.
(Einen methodischen Rückschritt gegenüber Kretschmer (was auch dieser
selbst ZvSpr 38, 115 Anm. 2 betont) bedeutet K. Dieterichs Be-
handlung derselben Erscheinung ZvSpr 37, 415—23. D. will einen
spontanen phonetischen Wechsel von [a und ß erweisen, muß jedoch
selbst für die altgriechischen Beispiele die Möglichkeit der Kretschmev-
schen Erklärung zugestehen. Seine Gegenbeispiele sind teils etymologisch
unklar, teils Lehnwörter, teils zeigen sie besondere Bedingungen (ßpe);
endlich ist nicht zu vergessen, daß die Erscheinungen des Neugriech.
und seiner Dialekte jung sein können.) Die assimilatorische und die
dissimilatorische Tendenz gehen eben durchaus neben einander her, ohne
daß sich für die Wirkung der einen oder der anderen bestimmte Be-
dingungen angeben ließen. Auch sonst sind einzelne Fälle von konso-
nantischer Ferndissimilation von mehreren Seiten zur Sprache gebracht
worden — und das zwar nicht neue, aber neu belebte und neu aufge-
faßte Prinzip dürfte sich nach den bisherigen Erfahrungen auch weiterhin
bewähren — so von J. Schmidt, ZvSpr 33, 457 COpöotYopac aus 'Op-
öpa'/opa? „der zu früher Morgenstunde auf dem Markte Erscheinende"),
W. Schulze, GGA 1896, 247 f. (XatpsjpaTr) u. ä., wo die Epigra-
phiker „verbessern"), F. Solmsen, RhMPh 53, 151—8 (-Xyjpoitx aus
::pTrjpojia, va'jxXr,poc, va'JxXapoj aus vauxpä(cj)poj „Schiffshaupt"). Auch der
Übergang von Ix 2x'jpou zu I Sx-jpou auf einer attischen Inschrift und
ähnliche Erscheinungen, die J. Wackernagel, ZvSpr 33, 39 betrachtet,
beruhen auf dissimilatorischen Tendenzen. Vgl. ferner oben S. 11.
13. Nur angeführt werden kann hier eine Schrift, die, ohne darauf
auszugehen, neues Mateiial beizubiingen, vom Standpunkte der allge-
meinen Sprachwissenschaft aus Gesetze für die konsonantische Dissimi-
lation überhaupt zu gewinnen sucht, M. Graramont, La dissimilation
«onsonantique dans les langues indo-europeennes et les laogues romanes.
Dijon 1895.
Nicht minder fruchtbar wird sich vielleicht das Erklärungsprinzip
der Metathese erweisen, wenn es nach den Grundsätzen der neueren
Sprachwissenschaft angewendet wird, wie es in den Arbeiten von
J. Wackernagel, ZvSpr 33, 9 f. (gelegentliche Zusammenstellung
meist schon bekannter Beispiele) und F. Kretschmer, ebd. 33, 472 f.
(Metathese von Liquiden wie in T£Ö£p[xevcu für -eöpsixixivcp, steX^yic für
axXe-f/i?, 'AjxaXrrioc für 'AcxXa-toj) geschieht. Gelegentlich steuert
44 Bericht über giiechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
K. Krumbacher, Abhandlungen für Christ 1891 S. 354 eiu Beispiel
bei ((fcXovTjV für ^atvoX/j;, paenula in Glossen). H. Hirt, IF 12, 232 — 8
erklärt neuerdings wieder eine Anzahl von Fällen, wo die neuere Sprach-
wissenschaft doppelte Vertretung vorgriech. Lautung annehmen zu müssen
glaubte, wie xpaTo? neben (dem metrisch bedingten) xap-oc, xapTspo;
mit Hilfe der besonders im Kretischen verbreiteten Metathese ("Acpop-
Ti8a u. ä.): genauere Untersuchung ist freilich nötig. S. noch oben S. 13.
Statt der gebräuchlichen Ausdrücke syllabische Dissimila-
tion, Haplologie bevorzugt W. Prellwitz, BKIS 23, 2ö0 ff, den
Ausdruck Silbenschichtung und sucht zwei neue Beispiele beizu-
bringen (oiävExr^; aus ota-av-svsxrj;? ötrjvcxr^.? scheint jedoch urgriech. e
zu enthalten; awa.';y.ri zur gleichen AVurzel svsx?) Interessant ist die
dialektische Form rjfxioiixvov, die H. Meister, BSG 1899, 154 nachweist.
Betrifft die Haplologie gewöhnlich unmittelbar aufeinander folgende
Silben, so kommen doch auch Fälle vor, wo sie über eine Silbe un-
gleicher Lautung hiuweggreift: durch den Hinweis darauf bringt
K. Brugmanu, BSG 1901. 31 — 34 die alte Herleitung von (uXexpavov
aus tu,\£voxpävov wieder zu Ehren.
Daß die Haplologie nicht nur im Einzelwort, sondern auch im
Satzzusammenhang vorkommt, darauf habe ich schon früher gelegentlich
und neuerdings in einem besonderen Artikel hingewiesen: E. Schwyzer,
Ein besonderer Fall von Haplologie im Griechischen, IF 14, 24 — 27
(ßaXX' ovuya; für ßcxXXov ovuya? in der aj-. Hp.), und daß genauere
Beobachtung noch weitere Fälle zutage fördern kann, zeigen die von
E. Nachmanson, BKIS 27, 294 f. beigebrachten rhodischen Beispiele;
vgl. auch F. Stolz, ZöGy 1903, 491 — 8.
Auliaiig: Akzent.
Eine eingehendere Darstellung des griechischen Akzents aus neuerer
Zeit fehlt; mau ist auf die knappen Zusammmenfassungeu in sprach-
vergleichenden Werken, wie H. Hirt, Der indogermanische Akzent.
Straßburg 1895, oder in K. Brugmann, Grundriss der vergleichenden
Grammatik der indogermanischen Sprachen- I 959 — 970 oder in den
Gesamtdarstellungen der griechischen Grammatik angewiesen (leider
fehlt eine Behandlung des Akzents auch in der 3. Aufl. von G. Meyers
Grammatik). 1)
*) P. FeroQ , Notions d'accentuation grecque. Tournai ISiU; M. Belli,
Deir accento greco. Livorno 18'JS sind mir nicht zu Gesicht gekommen.
Ebensowenig sind mir zugänglich die , griechischen Akzentstudien" H.
C. Mullers {E'/l'J.- 6, 226— --'50. 427—30), die auf der Höhe seiner übrigen
Schriften stehen werden (vgl. oben S. 3). Über die Schrift von B oll and
Eericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 45
„Zur Frage nach dem Wesen des griechischen Akzents" hat
F. Solmsen, VVDPh 43, 156 f. (vgl. I A 6, 154) das Wort ergriffen.
um nach dem Vorgang von anderen Gelehrten wie J. Wackernagel
und W. Schulze aus gewissen Lauterscheinungen die Folgerung zu
ziehen, daß der griechische Akzent neben dem vorwiegenden und von
den Xationalgramniatikern allein betonten musikalischen Charakter auch
schon in alter Zeit ein exspiratorisches Moment enthalten habe. Da
eine ausführlichere Darlegung in Aussicht gestellt ist, wird sich in
einem späteren Berichte Gelegenheit finden, näher auf die vielfach auf
unsicherem Boden sich bewegenden Vermutungen einzugehen.
Einen bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte des griechischen
Akzentes liefert
P. Kret Schmer, Der Übergang von der musikalischen zur ex-
spiratorischen Betonung im Griechischen, ZvSpr 30, 591 — 99.
Ausgehend von der Betrachtung der Schöpfung des griechischen
Akzentnationssj-stems um 400 v, Chr. im Anschluß an die Terminologie
der Musik sucht er das Aufkommen der vorwiegend exspiratorischen
Betonung namentlich an Hand der Verwechslungen von langen und
kurzen Vokalen auf Inschriften und Papyri, die auf eine dem musika-
lischen Prinzip zuwiderlaufende Ausgleichung der Quantitäten, deutet,
zu bestimmen. Als ungefähre Zeit ergibt sich das 2. Jahrh. v. Chr.
Eine neue zusammenfassende Behandlung der ganzen Frage bietet
G. N. Hatzidakis, -spl xou yp&vou tt;? e;i3iu7£iuc ~r,; -poscooiaj
£v t/; 'EXatjv'.xt] -c>cu3jr). "Ä9r,v7. 1901 = rXco-3oXo7'.xa) [itKi-a.'. I 574—88.
Nach einer Übersicht über die bisherigen Ansichten stellt er
nach Ausschaltung der nicht beweisenden Momente (wobei u. a. betont
wird, daß die Papyri nur für Ägypten beweiskräftig sind) die bekannten
Schriftstellerzeugnisse zusammen, die bis 200 n. Chr. führen. Wichtig
ist außerdem, daß im Tsakonischen bis heute altes lu und o als u und
o getrennt sind. Im eigentlichen Griechenland blieben die Quantitäten
bis 200 n. Chr. geschieden, außerhalb begann der Zusammenfall schon
in alexandrinischer Zeit (dabei ist aber wohl der Unterschied zwischen
Schrift- und Umgangssprache, besonders vulgärer Umgangssprache, zu
wenig beachtet).
Einen Terminus post quem für den Umschwung im Akzentprinzip
gewinnt E. Schweizer (Schwyzer), IF. 10, 207—11, indem er aus
der komischen Verwechselung -'aXvjv oow statt 7aXr,v' 6pw (Eur. Gr. 279),
s. oben S. 22. — Außerhalb der Grenzen unseres Berichts liegt wohl die
mir doppelt unzugängliche Abhandlung von A. Schachmatov über gemein-
same Erscheinungen des griechischen und slavischen Akzents in den
Theod. Korsch dargebrachten Xc<(:>;3-:-/;p'.(z S. 149—160.
40 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwjzer.)
die dem Schauspieler Hegelochos zustieß, auf damals (400 v. Chr.)
noch sehr lebendiges Gefühl für den musikalischen Akzent schließt.*)
Unter einigen Arbeiten, die sich mit einzelnen Fragen be-
schäftigen, ragt weit hervor die gehaltreiche Schrift von
J. Wackernagel, Beiträge zur Lehre vom griechischen Akzent,
Programm zur ßektoratsfeier der Universität Basel 1893. Vgl. die
Inhaltsangabe von W. Str(eitberg) lA 3, 236 f.
Sie enthält vier selbständige Aufsätze. I. Über den Wert und
das Alter des accentus gravis (S. 3 — 14). Der Gravis ist nicht,
wie häufig angenommen wird, eine Modifikation des Akuts, vielmehr
lassen die Zeugnisse der Grammatiker es als zweifellos erscheinen, daß
Endsilben von Oxytona im Zusammenhang der Rede genau denselben
Ton wie die sog. tonlosen Silben hatten, was schon Reiz u. a. sahen.-)
Das Graviszeichen wird gelegentlich in den älteren Handschriften als
allgemeines Zeichen der Barytonese verwendet; die uns geläutige Ver-
wendung ist erst in der späteren Kaiserzeit oder in der byzantinischen
Zeit aufgekommen und stellt lediglich einen Kompromiß dar zwischen
der antiken Wertung solcher Silben und der damaligen tatsächlichen
Geltung: das von W. Meyer gefundene Gesetz des akzentuierten Satz-
schlusses zeigt, daß man im IV. Jahrh. n. Chr. oxytonierte Endsilben
(mit Ausnahme von „Hilfswörtern" wie Artikel usw.) auch im Satz-
innern vollbetont empfand, indem die Pausaform (die übrigens auch für
die ältere Zeit für den Versschluß zu verlangen ist) eindrang. Inner-
halb der barytonen Silben muß es jedoch Abstufungen gegeben haben,
auf die freilich die griechischen Grammatiker, die ja nur das musika-
lische Moment berücksichtigten, nicht achteten. Daß gerade die in
Pausa oxytonierte Silbe im Satzinnern exspiratorisch hervorgehoben
worden sei, ist damit nicht gesagt, doch immerhin möglich. Das Alter
der Barytonese ist nicht sicher zu bestimmen ; unrichtig ist die auf
einige anders zu erklärende Aristotelesstellen sich gründende Ansicht,
sie stamme aus dem 3. Jahrh. v. Chr. — Über die Proklitika
(S. 15 — 19). Auch perispomenierte Wortformen unterliegen der Pro-
klisis: solchen proklitischen Akzent enthalten f] im ersten Glied der
Doppelfrage (für ^), w; w; (vollbetont in xal, ou6' w;), in perispome-
nierten Formen des Artikels. — IL Über Akzentveränderungen
im Griechischen und Auslautverkürzung im Latein durch
Einfluß eines folgenden Enklitikums (S. 19—23). Die Betonung
*) Vgl. dazu auch E. Schwyzer, NJklA 5, 234 Anm.
*) Dazu stimmt auch das Zeugnis der delphischen Hymnen, in deren
Melodie die Gravissilbe genau wie die vortonige behandelt wird, wie J-
Wackernagel, RhMPh 51, 304 f. ausführt.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 47
saor/s (wonach erst £-;a)-;£ gebildet wurde) geg^enüber lixi-^g (für '*v.i'{ty
vgl, deutsch müh) ist nicht zu beanstanden, sondem uralt. — Vor
enklitischen Wörtern erhalten perispomenierte Endsilben den Akut:
daher TJtot, tü^re, uijJTep; d7rxf)oy tivo; ist bloße Schreibung tür a-^aftoiS
Ttvo», da ein wirklicher Zirkumflex nicht zwei unbetonte Silben hinter sieb
haben kann; vgl. lat. sl qu/'dem. — III. Über doppelten Akut vor
Enkliticis (S. 24—27). Die feste Grammatikertradition, daß Paroxy-
tona mit trochäischem Ausgang vor enklitischen Wörtern wie Prope-
rispomena behandelt werden (also (f6X\d re, ev8a ttote wie rfZld xs, [x^va
iroTs) erklärt sich daraus, daß jene Wörter im Grunde properispomeuiert
sind (der Zirkumflex verteilt sich auf den kurzen Vokal und die folgende
Liquida, Nasalis, Spirans, wofür moderne Analogien angeführt werden).
Danach haben die Grammatiker auch ofppa xe u. ä betont.^) — IV. Über
die Glaubwürdigkeit der Akzentüberliefernng bei Homer
(S. 28—38). Brugmanns Skepsis geht zu weit. Den Angaben der
Grammatiker über die Betonung ihrer Zeit muß man glauben, und sie
wich von der homerischen nicht allzu stark ab: das Dreisilbengesetz
war schon urgriechisch (nur so veisteht man (Jp-/tEpeu>j, 'Axpsioeu), r.oXtua;
die Properispomenierung von xt^£i|X£v ist sehr alt, weil die diesen Typus
voraussetzende Neubildung Tioiotriv schon in der Odyssee vorkommt). Es
gab aber eine feste Akzenttradition, indem beim mündlichen Vortrag
auch der musikalische Wortton zum Ausdruck kam (S. 34); das zeigen
die Abweichungen der Grammatiker vom späteren Usus in der Betonung
später noch gebräuchlicher Wörter (z. B. Trxepuyo? W 875, -^ap auxov
M 214) und die Emanzipierung von naheliegenden Analogien bei ver-
schollenem Sprachgut (orjioxrj?, Oap-Eiat. xotpcp£'.ai, 9a[xa, xaxsvoÜTCa, die
übrigens teils sehr alt, teils wohl verständlich sind). Bei seltenen
Wörtern trifft man freilich gelegentliches Schwanken in der Betonung
und nachweislich haben die Grammatiker mitunter durch falsche Gene-
ralisierungen und Mißbrauch des Akzents zu exegetischen Zwecken ge-
fehlt. — Auf gelegentliche Bemerkungen zur Etymologie und Formen-
lehre sei nur hingewiesen: Ip-ßpa/u mit ev c. acc. (S. 12 Anm.); ot'xaSE
enthält den PI. olxa, wie [J.%a: [xrjpoc (S. 13 Anm.); über w; = zu
(S. 16 Anm.), acp- (S. 26 Anm.), t:ovüj::6vtipo» (S. 29 Anm.), dpyiEpsu); u. ä.
(S. 31 Anm.), die Flexion von xxoEaSai (S. 35 Anm.).
Mit vorgeschichtlichen Verhältnissen beschäftigen sich Arbeiten
von G. Allinson und G. N. Hatzidakis: ersterer bekämpft *AJPh
*) Auch dazu liefern die delph. Hymnen die erwünschte Bestätigung,
indem Silben, die aus Vokal + Liquida oder Nasal besteben, wie lange Vo-
kale und Diphthonge in zwei Silben zerlegt werden, im Gegensatz zu
positionslangen Silben, die auf andere Konsonanten enden, s. J. Wacker-
nagel, RhMPh 51, 305.
48 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
12, 59 — 67 Wheelers Gesetz über den Übergang ursprünglicher Oxytona
mit daktylischem Ausgang in Paroxytona (s. lA 12, 58); letzterer sucht
IF 5, 338—40 -ac, -av, dvoptac, ijxäj, al; als hochaltertümlich, ßoüc als
Analogiebildung nach dem Akk., :iüp, xf^p^) durch Kontraktion und
rX(u33oXo7iy.ai [xsXe-ai 1596 f. (aus 'Aörjva 1900) die vom Typus a^opa, ßoXi],
yoTQ, wvY^ usw. abweichenden Betonungen aixopYYj, Co^i, Xo-f/Yj, ^öötj, (foßrj,
-/po'fjir) usw. teils durch analogische Einflüsse, teils durch lediglich ge-
lehrte Überlieferung, teils daraus zu erklären, daß die betr. Wörter
nicht im Ablaut zu Formen mit -s- stehen (ywpa, y.6\j.i] u. ä.) —
H. Pedersen, Exkurs über den griechischen und lateinischen Akzent.
ZvSpr 38, 336 — 41 nimmt S. 339 ff. an , das Griechische habe urspr.
ein wirkliches Dreisilben-, nicht Dreimorengesetz gekannt; innerhalb
der drei Silben war der Akzent frei; die historischen Verhältnisse ent-
standen, indem innerhalb der drei Silben eine unbetonte Länge den Akzent
an sich (nicht auf sich) zog.-)
Unregelmäßigkeiten in der Betonung der Komposita hat
Hatzi dakis zwei Aufsätze gewidmet. Im einen (rXü)aaoXo7txal jxsXetai
I 591 — 6 [aus 'Aörjva 1899]) erklärt er die scheinbaren Ausnahmen
von dem Gesetz, daß substantivische Zusammensetzungen auf -t), -ä
mit Präposition oder Partikel als erstem Glied die Betonung des
Grundwortes beibehalten, sofern die Bedeutung nicht weiter verschoben
wird (z. B. dXXa'CT^ : auvaXXa-CY^): ijtoooxtj, lipo-, otvo/OT), GSpopporj sind
eigentlich Feminina zu Adj. auf -o?; auT07pa|j,fx>^ u. ä. sind nicht als
feste Zusammensetzungen zu rechnen (beachte au-oävftpwroj); xaxa'pa
ist Rückbildung zu xaTapüi[jLai wie f^xxa zu TjxrwfjLai u. ä. Im anderen
(ebd. I 597— 612 = 'A{)r,va 1900; deutsch in SPrA 1900, 418-423)
prüft er die Betonung der griech. Komposita auf -o? mit trochäischem
Ausgang, die sich im Gegensatz zu derjenigen der Komposita mit
daktylischem oder tribracbischem Au.egang auf den ersten Blick ganz
regellos darstellt. Eine eingehende Musterung der allgemeinen Be-
tonungsgesetze der Komposita auf -cc ergibt, daß "Wörter wie £7rr,ixotß6?,
£t:(üoo?, -poTTojjLTto'c, Euep^o'? u. ä., die (als präpositionale Zusammen-
setzungen) den Ton auf der drittletzten Silbe haben sollten, sich nach
den daneben liegenden Komposita gerichtet haben, in denen das Grund-
wort regelrecht seinen Ton auf der letzten Silbe beibehält, nämlich
dp7upa|xoißoj, xüijxipoo's, ^oyoT:o\ir.6Q, xaxocp7o? u. ä. Ferner gehört in
Fällen wie «171070;, vaüapyoj, die nach ^auayU u. ä. den Ton auf der
*) Doch ist das vorausgesetzte xic<f> eine junge Nachbildung nach r;p:
sap, s. oben S. r,i.
-) Ebenfalls nicht zugäuglich ist mir F. G. Allinson, On the
accent of certain enclitic combinutions in Greek. TrAPhA 27, 73 — 78.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1800 — 1903. (Schwyzer.) 49
Schlußsilbe tragen sollten, das zweite Glied nicht zu den entsprechenden
Verben, sondern zu abstrakten Verbalsubstantiva , die freilich nicht
immer nachweisbar sind, z. B. TzpioxozXoo^ ^= 6 tov TrpcuTov irXouv iroto'j[jLevof,
y.axoep7o; =^ ü xaxa l'p^a eywv: ihre Betonung ist also regelmäßig. Die
Beziehung der attischen Amterbezeichnungen auf -ap-/oj zu ap/v] zeigt
sich deutlich in den späteren Nebenformen auf -ap/Y)c.
Eine Einzelfrage stellt zur Diskussion W. M. Ramsay, CR 1897,
261 (AetSa; oder ģt65s auf kleinasiat. Inschr.?). ^)
Silbentrennung.
Die Silbentrennung, nicht die lediglich graphische, sondern die
der gesprochenen Rede, verdient vielleicht bei lautlichen Untersuchungen
noch mehr als bisher herangezogen zu werden: als Beispiel mag hier
nur F. Sol msens Zurückführung des Schwankens in der positionsbildenden
Kraft des F bei Homer auf verschiedene Silbentrennung genannt werden
(man sprach xpTQ-yüov | Feiucx;, aber FsiKä? F|e7:o?; Untersuchungen zur
.griech. Laut- und Verslehre 166; ebd. 161 fif. auch Allgemeines über
Positionsbildung und Silbentrennung; vgl. auch S. 182).^) Eine be-
sondere, durch das praktische Bedürfnis bestimmter Regeln für die
Oxford classical texts veranlaßte Skizze des Gegenstandes gibt
H. Stuart- Jones, The division of syllables in Greek CR 15
(1901), 396-401.
Unter I ancient practica werden Beispiele aus Inschriften (nach
Meisterhans, Gramm, d. att. Inschr. und Schwyzer, Gramm, d. perg.
Inschr.} und Papyri angeführt, unter II ancient theory die Grammatiker-
vorschriften geprüft. Eine Handhabe, die Silbentrennung der lebenden
Sprache zu bestimmen, bietet 1. die Haplologie: Fälle wie dvstudafiYjv
beweisen, daß man a-ve-vs-, nicht etymologisch dv-e-ve sprach (Schwyzer,
Gramm, d. perg. Inschr. 131); 2. die Verteilung eines Konsonanten auf
zwei Silben (s. oben S. 42). — Dazu eine Ergänzung: die Differenz
zwischen [xdpTu?, jjLdpxujtv und jxdpxupo; usw. beruht auf verschiedener
Silbentrennung; die Ferndissimilation der beiden p trat nur ein, wo sie
beide die Silbe schlössen (ptdp tup?, fidp-Typ-oiv), aber nicht in den
') Th. Kindlmann, Über die Betonung des griechischen Subst. der
1. und 2. Dekl. im Nom. Sing. Gymn Progr. Mähr.-Neustadt 1901 ist für
Schüler geschrieben und ohne wissenschaftlichen Wert (nach Stolz, ZöGy
1901, 5R1 f.).
-J Einige gelegentliche Bemerkungen fürs Griech. auch bei H. Hirt,
IF. 12, 227 f — Die einsclilägige statistische Arbeit von H. W. Smyth,
Mute and Liquida in Greek Meiie Poetry Tr.APhA 28 (1897), 111-143 ist
jnir nicht zugänglich.
Jabresbcriclit für Altertumpwissenscbaft. Bd CXX. (1904. I.) 4
50 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Formen wie [xotp-Tu-poc usw., wo sie nicht die gleiche Stellung in der
Silbe hatten.
Den Geltungsbereich des beweglichen v (v l^eXxuaTtxo'v), über
dessen Ursprung verschiedene Hypothesen aufgestellt worden sind, sicherer
zu bestimmen, gestatten namentlich die Inschriften: doch hat J. May,
Über das sog. v IcpeXx. NphR 1900, 505 — 8 nachgewiesen, daß auch
die Behandlung in einer Demostheneshandschrift nicht zur byzantinischen
Regel stimmt. — Eine ähnliche Erscheinung ist das bewegliche -?:
J. May, Über outtu und outwc, NphR 1901, 457 — 60 weist nach, daß
bei Demostheues ouxw; vor Konsonanten viel weiter verbreitet war als
unsere Überlieferung annehmen läßt.
Stammbildungs- und Fiexionslehre
des Nomons und Verbums sucht zu fördern
K.P. Johansson, Beiträge zur griechischen Sprachkunde, üpsala
1891 (in: Upsala Universitets Arsskrift 1890).
Rez. von Bartholomae, BphW 1892, Nr. 30/31. Bezzenberger,
BLZ. 1892, 713 f. Solmsen, lA 3, 5—7.
Die Arbeit enthält außer Nachträgen und Register drei Aufsätze,
die insofern näher zusammengehören, als sie vorwiegend Fragen der
Stammbildung beschlagen. Mit Problemen der nominalen Stammbildung
und Deklination beschäftigen sich der erste: „Einige Spuren des No-
minaltypus skr. iisrk asnäs im Griechischen" (dtJTptxYaXo; neben oaroüv,
oaxaxoc u. ä.) und der sich mit diesem vielfach berührende dritte: „Über
einige n-Stämme im Griechischen" (besonders über das t-Suffix vor
oder nach -r- und -n-Suffixen). Die gelehrten und scharfsinnigen, aber
nicht selten allzu gewagten Kombinationen des Verfassers kommen
besonders der griechischen Etj^mologie zugute, fallen aber im ganzen
hier außer Betracht. Ein Zug, der für das Bemühen des Verfassers,
sein Material möglichst vollständig zu sammeln, bezeichnend ist, ist die
stete Berücksichtigung der Ortsnamen; es ist aber methodisch bedenklich^
Namen, deren Bedeutung nicht sicher steht, ja, deren Griechentum
zweifelhaft ist, wie Icpairurv«, D-jova, 'AXixapvajsoc, Atv8up,os, zur Kon-
struktion indogermanischer Paradigmen zu verwenden. In Fällen wie
Xeaiva : Xeovt-o? ist ohne die Annahme vorgriechischer Doppelheiten
auszukommen, — Der längste Aufsatz ist dem griechischen x-Perfekt
gewidmet (S. 33 — 95). Er beginnt mit einer an sich wertvollen Dar-
stellung des Tatsächlichen in zwei Abschnitten: in einem werden die
Belege für das x-Perfekt in den Inschriften, namentlich in den Dialekt-
iuschrifteu, zusammengestellt, wobei sich, wenn auch die Belege seiteuer
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.) 51
sind, doch ergibt, daß alle die verschiedenen Typen gemeingriechisch
sind; ein zweiter illustriert an Hand einer Statistik der literarisch
überlieferten Formen die historische Ausbreitung des x-Typus von den
langvokalischen Musterformen zu den kurzvokalischen und konsonan-
tischen Themen. Eine besonnene Kritik der Ansichten über den Ur-
sprung des x-Perfektes ergibt am meisten Wahrscheinlichkeit für eine
schon von G. Curtius u. a. aufgestellte Vermutung, daß in x ein stamm-
bildendes Element vorliege; vgl. das Verhältnis von eSrjxa, T£i)Y)xa, dr^xT],
feci, phryg. aooaxex, skr. dhäkds. Dem Nachweis des vorgriechischen
nominal -verbalen, vielleicht ursprünglich präteritalen (?) Elementes vor
allem im Griechischen nnd Lateinischen sind zwei weitere Abschnitte
gewidmet (vgl. fjxa, eixiu, oitoxw; ßaxxpov, fäcundus), während die beiden
letzten eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie eine Vermittelung
mit Bugges Theorie bringen, nach welcher -xe ein Kompositionselement
ist, das auch — und zwar auch vor dem Verb — im Armenischen
und Etruskischen (dessen Indogermanentum auch J. eine ausgemachte
Sache zu sein scheint) begegne.
Komposition.
Als Arbeiten, welche das ganze Gebiet der Komposition beschlagen,
sind zu nennen:
H. C. Muller, Beiträge zur Lehre der Wortzusammensetzung
im Griechischen, mit Exkursen über Wortzusammensetzung im Indo-
germanischen und verschiedenen andern Sprachfamilien. Leiden 1896,
wofür ioh mich mit einer Verweisung auf die Besprechungen von
Ziemer, WklPh 1896, 901 f. und Stolz, NpliR 1896, 302, begnügen
muß, und
Fr. J. Bielecki, Les mots composes dans Escbyle et dans
Aristophane. Progr. des großherz. Athenäum. Luxemburg 1899.
Die Arbeit behandelt nur die für die Dichter charakteristischen
Komposita, gibt nicht etwa Nachweise für die zuerst bei ihnen auf-
tretenden. Hauptergebnis: Aschylos bildet keine langen Komposita
wie Aristophanes. Eigentümlich berührt es, wenn xAristophanes' An-
wendung obszöner Wörter folgendermaßen entschuldigt wird: ,, Aristo-
phane avait du entendre plus d'une fois ces mots autour de lui dans la
bouche d'esclaves ou de personnages grossiers."
Auf dem engeren Gebiete der nominalen Komposition ist
zunächst zu erwähnen die Neubearbeitung der einzigen zusammen-
fassenden Monographie:
r. N. TacpsTcr)?, Tot auv&exa T?jc 'EXXy)V[X7j; -/"XüiffCTr)?. TeZyo;
TiptuTov : t6 ovo[j.ctTtxov TtpcoTov (juvösTixov. ^ExSojtc ösuTspa. Athen 1894.
4*
^52 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Die 1. Auflage des dreiteiligen Werkes, die 1880—1882 auf
Ks^aXXYjvia erschien, ist mir nur aus der günstigen Besprechung in
BuJ 1890, 383 bekannt, die der Verfasser aus berechtigter Freude über
die ihm gewordene Anerkennung abdruckt. Die zweite Auflage soll im
Gegensatz zur ersten auch die Betonung eingehend berücksichtigen, was
im vorliegenden Teil naturgemäß noch nicht zur Geltung kommt (beim
rhythmischen Gesetz auf S. 111 ff., wonach ein *^!loa-9ooc wegen der
umgebenden Kürzen durch ßoTjöo'o; ersetzt werden mußte, ist die durch
die metrische Nötigung bewirkte Vorliebe der Dichter für -y)- in der
Kompositionsfuge zu wenig berücksichtigt). Das Material, das mög-
lichst vollständig vorgelegt wird — nur bei seltenen Wörtern mit ge-
nauem Zitat — liefert hauptsächlich die klassische Literatur, besonders
Homer, doch sind auch inschriftliche Erscheinungen herangezogen; die
spätere Sprache ist kaum berücksichtigt (vgl. dafür Schwyzer, perg.
Gramm. Register S. 205 a). Der 1. Hauptteil handelt nach den
Deklinationen und mit besonderer Rücksicht auf den Kompositions-
vokal von den (deklinierbaren) Nomina (Unterabschnitt: Kasusformen), der
2. Hauptteil von Adverbien, untrennbaren Partikeln wie oüj-, a-, dtpi-,
Präpositionen und Zahlwörtern als 1. Kompositionsglied. Schwierigere
Wörter werden dabei unter umfassender und methodischer Verwertung
der neueren, besonders deutschen sprachwissenschaftlichen Literatur
ausführlicher besprochen (doch kann aija nicht zu gleicher Zeit mit
lat. aequus und osk. aiti- verglichen werden S. 43 Anm. 1; xaXoc nicht
aus xaXjoj! S. 34; aiTTo'Xo; kann nicht die avest. Präposition a{i)wi
enthalten, die doch ai. ahhi entspricht S. 103). Die in der ßißXtoörjxr^
MapaaX^ erschienene Fortsetzung des Werkes ist mir nicht zugäng-
lich. — Andere Arbeiten zur nominalen Komposition beschränken sich
auf einzelne Schriftsteller oder einzelne Kapitel.
M. Glaser, Die zusammengesetzten Nomina bei Pindar. Diss.
Erlangen 1898.
Die sorgfältige Arbeit wendet sich mehr an die Pindariker, als
an die Sprachforscher: es kommt dem Verfasser darauf an, die Eigen-
tümlichkeiten Pindars in Bildung und Verwendung der nominalen
Komposita hervorzuheben, wobei manche Stelleu der pindarischen Ge-
dichte einläßlicher behandelt werden. Etwa Vs von Piudars Komposita
begegnen schon bei Homer, neue Typen hat er nicht geschaffen,
zeigt jedoch bei manchen reichere Entfaltung. Die sprachwissenschaft-
liche Erklärung ist nicht immer einwandfrei: Tspajxoiro? (S. 28 f.)
deutet TjepenY)? besser aus -spaj-sx., aiiJ,axoüpta (S. 55) ist nicht aus
at[xa-- verstümmelt u. ä.; xaXXivtxo; aus xaXio-vixoj! (S. 30).
W. Christ, Die verbalen Abhängigkeitskomposita des Griechischen.
SMA 1891, I, 143-246.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 190;5. (Schwyzer.) 53
Mit dem Thema beschäftigt sich im besonderen das V. Kapitel
der AbbaDdlung (S. J86 ff.), während die vier ersten der Behandlung
allgemeiner Frag-en der Komposition gewidmet sind. Das erste schlägt
eine neue Einteilung der Komposita in determinative (vauat-cpo'pTjxoc,
e-t--cii}rj[xt, apt-o£U£Toj), rektive oder Abhängigkeitskomposita (xapito-
cpo'poc, !jt5y]po-ßp(of, [i,ev£-TiToX£ixoc) und kopulative (TtXouil-u^teta, \u'/ß-
T^ixepov) vor, die jedoch auch nicht alle Ansprüche befriedigt, und zwar
von Glaser angewendet, aber von Brugmann seiner alten formalen Ein-
teilung nicht vorgezogen wird. Das II. Kapitel bringt eine Liste der
altererbten Komposita des Griechischen, wie sie durch Vergleichung
der verwandten Sprachen ermittelt werden können, das III. sucht in
jeder Gruppe die ältesten Typen festzustellen, und das IV. gilt der
Formbildung der Komposita (Form des ersten Gliedes und Betonung;
über einige Fragen der letzteren jetzt besser Batzidakis oben S. 48 f.).
Das V. Kapitel gibt eine (nicht erschöpfende) statistische Zusammen-
stellung der verbalen Abhängigkeitskomposita mit Besprechung inter-
essanter Bildungen (z. B. 'Haioooi^ Entsender, Leiter eines Feldzuges,,
zu levai [doch so; nicht tevai] oöo'v). Eingeteilt wird nach Bildungen,
wo der Verbalbegriff voransteht ('A7e-Xao?), wo er nachfolgt (d-ßXrj?,
-av-Sa[i.dxcüp) und wo beide Stellungen vorkommen ('ApyE-vstuc: vau-
apyo?). — Den Erklärungen gegenüber ist Vorsicht geboten; schon die
historische Grammatik des Griech. kann nicht zugeben, daß dp-/£- als,
erstes Kompositionsglied auf lautlichem Wege zu dpyi- geworden sei
(S. 195), daß tXdfluiJLo? aus TotXav-9u[j.o; zusammengezogen sei (S. 196
Anm. 2); was über vorgeschichtliche Fragen gelehrt wird, ist größten-
teils unhaltbar (z. B. ovojxa aus *o7vo[xa S. 154, rjouc aus su-adus „gut
eßbar' S. 155).
Ch. Renel, Compositorum Graecorura quorum in 1\ prior pars
exit de origine et usu. These, Lyon 1896,
Verf. sucht den in der griechischen Komposition befolgten Grund-
satz, daß das rectum dem regens vorangehe, auch für die Komposita mit
-ai- im ersten Glied, die längst Osthoff glaubwürdig erklärt hat, geltend
zu machen durch die ganz unhaltbare Annahme, das erste Glied gebe
auf ein Partizip auf -to-, -xeo- zurück, sogar 'Ava;i St^ixoc muß ein
solches Ptz. enthalten, „qui gubernatos homines habet" (S. 54). "Was
zur lautlichen Begründung der Erklärung angeführt wird, wird hoffent-
lich nur Eeuels Lehrer Paul Regnaud überzeugen, der für diese Art
von Wissenschaft die Verantwortung tragen muß. Aber wenn in der
nach Schriftstellern geordneten Liste der Komposita mit -at- (sie ist
nicht erschöpfend, da z. B. von den Tragikern nur Äschylos ausge-
beutet ist, mit eigentümlicher Begründung) auch Wörter wie 'Ava^t-
54 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
jxavÖTjp, AuadvÖTjo, 2ou5t(jxavf)c (Name eines Persers in Aesch. Pers.),
riaat^apTfja ohne Bemerkung figurieren, wird schon der Verf. selbst die
Verantwortung übernehmen müssen.
Einen kleinen Beitrag zur präpositionalen Zusammen-
setzung liefert
G. S. Säle, On the word -ape^stpesia and on Greek substantives
Compound with preposition CR 12, 347 f.
Es werden zwei Regeln aufgestellt: 1. wenn eine Präposition
•einem Subst. ohne weitere Veränderung vorgesetzt wird, hat sie adjek-
tivische Geltung, z. B. a'fpooo?, TrepiTiÄou?, Tiape^sipssta = xo irapl^ ttjc
sipeaiac; 2. wenn aus einem von einer Präposition abhängigen Kasus
ein Substantiv gebildet wird, erhält das Ganze eine neue Endung (ex-
OYjixia, ejjLfXETpia).
Ein interessantes Kapitel der präpositionalen (zumeist verbalen)
Zusammensetzung behandelt:
A. Großpietsch, De -reTpauXtüv vocabulorum genere quodam.
Breslauer philolog. Abhandl. Band VII 5. Breslau 1895.
Verf. behandelt einläßlicher als Fr. Schubert, Zur mehrfachen
präfixalen Zusammensetzung im Griechischen. Xenia Austriaca I (Wien
J893), 193 — 6 die Zusammensetzungen mit drei Präpositionen in den
Quellen bis zum VII. Jahrb. n. Chr. Er findet deren 266 (21 Subst.,
6 Adj., 2 Adv., die von Verben abgeleitet sind, die übrigen sind Verba),
wovon 200 nur vereinzelt vorkommen; die häufigsten Verba zeigen auch
zugleich die häufigsten Kombinationen der Präpositionen: zaTs^avicnraiiat,
aufXTrapEXTsi'vto. Schon bis 300 v. Chr. erscheinen 41 solcher Bildungen
(bis auf Äsch. nur bei Verben der Bewegung) , bis auf Augustus er-
scheinen 22, bis 300 n. Chr. 65, von 300—500 n. Chr. 44 neue .Bil-
dungen; die Zeit nach 500 hat 89 eigene. In älterer Zeit traten die
3 Präp. gleichzeitig an , später liegt gewöhnlich ein Bikompositura zu-
grunde. Unter den Dichtern brauchen sie am häufigsten die Epiker,
die auch darin bis ins VI. Jahrh. n. Chr. Homers Autorität folgen.^)
Über eine Anzahl sekundärer, meist aus der Verbindung von
Subst. mit nachfolgendem Adj. hervorgegangener Zusammensetzungen
handelt J. Wackernagel, Die Komposita auf -afpoi. ZvSpr 33, 43
— 56: i7:TroitoT0t|JLo; über inTroicoxaixio; aus ii:7r. TiOTa[xto;; 2(X|xo»}p7XTrj
*) Lediglich eine nicht einmal vollständige alphabetische Zusammen-
stellung der mit Präpositionen zusammengesetzten Verba bei Äschylos gibt
E. Lesser, Quaeationes Aeschyleae de ubertate verborum cum praeposi-
tionibus compositorum. Diss. Halle 1893. — Über *D. H. Holmes, Die mit
Präpositionen zusammengesetzten Verba bei Thukydides. ßerl. 1895, vgl.
Couvreur, Rcr L^97, II, 112 f.; Härder, DLZ 1897, 743.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 55
nach 2!a|i.o9pax£c statt hom. Safio? öpr]ixiri; dagegen bedeutete das bei
weitem ältere auaYpoc eigentlich „Sautänger"; später nicht mehr ver-
■standeu, wurde es in der Dichtersprache kühn der Verbindung au; a'/pioc
gleichgesetzt — der Vorgang wird durch zahlreiche Parallelen illustriert
— und zog weiter ai'-ya^po;, irirafpos, ova7poc statt ai'$, iittcoj, ovo; a-fptoi;
nach sich.
M. Heine, Substantiva mit a privatlvura. Diss. München 1902.
Der Hauptwert der Arbeit beruht nicht in den allgem. Erörte-
rungen des II. Teils, sondern im I. Teil, der eine nach vier Sprach-
perioden gegliederte, auf Grund der vorhandenen Lexika angefertigte
Zusammenstellung der in der Literatur (einschließlich der byzantinischen
Zeit) vorkommenden Substantiva mit a priv. (ohne Belegstellen) enthält.
Innerhalb der einzelnen Perioden unterscheidet die Verfasserin je
4 Klassen, je nachdem das Subst. von einem privativen Adjektiv, direkt
von einem Subst. oder von einem auf einem privativen Adjektiv be-
ruhenden Verb abgeleitet ist oder ohne Grundwort resp. zweifelhaft ist.
Zu wenig berücksichtigt ist die von der Verf. freilich S. 47 f. ange-
deutete Möglichkeit analogischer Nachbildungen mit Überspriogung des
schematisch anzusetzenden Zwischengliedes. dxoXajt'a u. ä. haben kein
T verloren: in grammatischen Dingen gebricht es der fleißigen Samm-
lerin überhaupt an selbständigem Urteil. ')
Namen.
Für die Personennamen haben wir durch die Arbeit der beiden
rührigsten Forscher auf dem Gebiete der griechischen Onomatologie
•eine zusammenfassende Darstellung erhalten:
Aug. Fick, Die griechischen Personennamen nach ihrer Bildung
erklärt und systematisch geordnet. Zweite Auflage bearbeitet von
Fr. Bechtel und Aug. Fick. Göttingen 1894.
Rez. von P. Kretschmer, lA 5, 37—41. Ziemer, ZöGy 1895,
422-9. 0. Hoffmann, BKIS 22, 130-9.
*) Auf folgende einschlägige Arbeiten kann ich nur verweisen:
1. G. Turiello, Sui compositi sintattici nelle lingue classiche. RF
22, 1-149;
2. J. Jedlicka, s-Stämme im 2. Glied homer. Komposita. LF 20,
25—33 (s. lA 3,241 f.);
3. J. Vintschger, Die ouio-Komposita sprachwissenschaftlich klassi-
fiziert. Progr. Gmunden 1899 (vgl. ZöGy 1901, 373 f.);
4. A. H. Hamilton, The negative Compounds in Greek. Diss.
Baltimore 1899 (vgl. Stolz, ZöGy 1902, 413 f.; Sitzler, WklPh 1902, 688
-90; My, Rcr 1903, 185 f; Thumb, lA 14,13).
56 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Das Buch ist eine vollständige Neubearbeitung des Buches von
A. Fick, das unter dem gleichen Haupttitel schon 1874 erschien.
Hatte die erste Auflage (die dadurch ihren "Wert behält) auf 133
Seiten auch die Namensysteme der verwandten Völker behaadelt, soweit
sie die altindogermanischen Prinzipien der Xamengebung beibehalten
haben — es sind Kelten, Germanen, Slaven, Iranier und Inder — lehnt
es die Neuauflage ausdrücklich ab, nochmals den indogermanischen Adel
der griechischen Namenbildung zu erhärten (S. 37), deren Prinzipien
auch der Widerspruch von W. Bannier, Die griech. Kosenamen
BphW 1894, 1181 f. nicht erschüttert hat, sondern beschränkt sich
auf die griechischen Personennamen, die durch die reichen Inschriften-
l'unde so sehr vermehrt worden sind (die lat. Überlieferung ist freilich
nicht ausgebeutet). Man kann die Fülle dessen, was neu geboten wird,
leicht daran ermessen, daß der Abschnitt „System der griechischen
Namenbildung" in der 1. Aufl. 90, in der neuen unter der "Überschrift
„Zusammenstellung der Vollnamen und Kosenamen" 259 S. zählt. Wenn
sich auch diese beiden Abschnitte ungefähr entsprechen und äußer-
lich gleich sehen, nur daß die neue Autlage statt Wurzeln wirkliche
Wörter als Stichformen ansetzt und für seltenere Namen Belegstellen,
bes. aus Inschriften, gibt, ist im übrigen die Anordnung nicht unwesent-
lich verändert; den drei formalen Abschnitten der früheren Arbeit
(I. Anfangsgruppen und Kosenamen, II. Endgruppen, IQ. System der
griech. Namenbildung) stehen jetzt die sachlichen: I. Menschennamen,
II. Heroennamen, III. Götternamen gegenüber. Die Hauptmasse bilden
natürlich die Menschennamen, bei denen auch die „Namen aus Namen"
(Kalender- oder Geburtstagsuamen, Widmungsnamen wie A-oXXcüv.o;,
übertragene Namen wie Götter-, Tiernamen als Menschenuanien, Ethuika
und Gentilia als Einzeluaraen, Berutsnamen) eine größere Bolle spielen
als bei den Heroennameu. — Freilich sind sich die Verfasser wohl
bewußt, daß sie nnr eine Vorarbeit zu dem gew'altigeu Bau eines wirk-
lichen griechischen Namenbuches getan haben (vgl. VII ff. 34): so
lehren uns gelegentliche Bemerkungen wie zu Mt]vo- S. 207 etwas über
den Anteil der einzelnen Landschaften und Zeiten (eine eigentliche
Namengeschichte ist ja wichtiger als die Nameudeutung), es fehlen die
Kosenamen, zu denen keine Vollnameu nachgewiesen sind, und die
ri'rsoncnnnnien, die auf Götterbeinamen zurückführen (MeiXr/oc zu
MsiXt/ioc). Was die Erklärung der Namen anbetiifft, wird hauptsächlich
die Behandlung der einfachen Götternamen (436 ff.) Anlaß zu Meinungs-
verschiedenheiten bieten können, so die Erklärung von <I)oi|3o? als
, .heilend", ai. bhe.sajä- , wenn auch die vergleichende Mythologie sogar
ironisiert wird. — S. 202 wäre zu Mevoi- ein Verweis auf Bsvoioo-
S. 78 angebracht gewesen. Zu S. 333: vielleicht ist das eine oder
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 57
andere Ethnikon auch dem als Name geblieben, der sich längere Zeit
in dem betreffenden Lande aufgehalten hat (z. B. Aiyütttio;), wie
wenigstens mittelalterliche Analogien vermuten lassen.
Die beiden Forscher sind eifrig bemüht, ihr Werk durch ge-
sonderte Bearbeitung einzelner Namengebiete und Nachtrage zu fördern:
Bechtel namentlich in zwei größeren, in Buchform erschienenen Arbeiten^
Fick in mehreren Aufsätzen. Zuerst sei genannt
Fr. Bechtel, Die einstämmigen männlichen Personennamen des
Griechischen, die aus Spitznamen hervorgegangen sind. GöAbh. 1898.
Rez. von Fick, WklPh 1898, 1105—1110.
Nach einer Einleitung, in der u. a. die Nachrichten über ]xe-ovo-
fjLa'jeic besprochen werden, wobei die von Plato überlieferte abgelehnt wird,
bietet Bechtel eine reichhaltige Sammlung der vielen aus einstämmigen
Spitznamen hervorgegangenen Männeroamen, in die jedoch nur solche
aufgenommen sind, die aus dem Sprachgebrauch, besonders der Komödie,
die oft herangezogen wird, unmittelbar zu verstehen sind, mit Be-
schränkung auf die Zeit vor 100 v. Chr. Die Anordnung läßt den
Wert der Untersuchung für die Kulturgeschichte deutlich in die Augen
springen: I. der Mensch als körperliches Wesen (Körperbau [besonders
zahlreich sind Namen für kleine Leute S. 9 f.] , Sprache . geschlecht-
liches Unvermögen, Gebrauch der Gliedmaßen, körperliche Fertigkeiten);
II. der Mensch als geistiges Wesen (1. Intellekt, 2. Gemüt a) Temperament
b) Charakter, näral. Vielesser, Trinker, XaYvot); III. der Mensch als
Glied der Gesellschaft (soziale Stellung, Lebensführung). Doch geht
auch der Grammatiker nicht leer aus; ich bedaure sehr, daß mir wie
das große Werk auch Bechtels kleinere Arbeit bei der Bearbeitung
der 3. Aufl. von Meisterhans' Grammatik d. att. Inschr. noch nicht zu-
gänglich war ; sonst hätte ich z. B. zu Kvicpwv S. 74 auf Bechtel S. 69,
zu AsTTtvY)? Maitüxr]; auf S. 77 auf AsTttvac Fuptouvto; (Bechtel 15) ver-
wiesen, auf S. 139 die von Bechtel S. 25 auf einer Vase entdeckte
Genetivbildung rXYjfxüooc meinen Beispielen angeschlossen; auf S. 8
findet der Homeriker mit -sXwp anregend den Namen Utläpr^; aus Styra
verglichen (vgl. Solmsen, ZvSpr 34, 536 ff.).
Neuestens schließt sich an
F. Bechtel, Die attischen Frauennamen nach ihrem System dar-
gestellt. Göttingen 1902.
Rez. von Kretschmer, WklPh 1903, 225—8.
Die Beschränkung auf die attischen Frauennanien liegt außer
am Reichtum und der bequemen Zugänglichkeit des Materials daran,
daß nur für Attika die Scheidung der bürgerlichen und nichtbürgerlichen
Namen möglich ist: daß die Frauennamen sich nach der sozialen
58 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1 890— 1903. (Schwyzer.)
Stellung- nicht unerheblich unterscheiden, ist aber gerade das Haupt-
•ergebnis des Buches. Die weiblichen Vollnameu, die übrigens fast
durchweg aus den gleichen Elementen bestehen wie die männlichen
Volloamen, nur movierte männliche Vollnamen sind, neben denen Kose-
formen verhältnismäßig selten auftreten , werden zwar von bürgerlichen
und nichtbürgerlichen Elementen gleichmäßig gebraucht, dagegen dringen
die übrigen Namen erst nach und nach, z. T. recht spät, aus der Sphäre
von Sklavinnen und Hetären in die bürgerlichen Kreise ein. Der umfang-
reichere zweite Teil, der der Deutung dieser Namen gewidmet ist, ist
auch von hohem kulturhistorischen Interesse. Es sei kurz auf die
wichtigsten Abschnitte desselben hingewiesen: Appellatives Adjektiv
(im Fem. od. Neutr.) aus Frauenname; Kaleuderuamen; Widmungsnamen:
Ethnika oder (brachylogisch) Ortsnamen als Frauennamen, Bezeichnungen
der Lebensstellung. Am häufigsten finden wir aber das mitunter er-
götzliche und vom Verfasser gelegentlich noch gewürzte Spiel der Me-
tonymie (Frauennamen aus Namen von göttlichen Wesen und Heroinen,
Märchenfiguren, hervorragender historischer Persönlichkeiten, von Tieren,
Pflanzen, Mineralien, aus Bezeichnungen des Lichts, des Tropfbar-
Flüssigen, von Spielzeug. Toilettengegenständen und Geräten überhaupt,
aus Namen öffentlicher Örtlichkeiten, von Festlichkeiten und Jahres-
zeiten, aus Abstrakten). Überall sind die ältesten Belege mitgeteilt.
Gelegentlich ist auch eine Bemerkung eingeflochten, die über das Thema
hinausführt, so S. 42 Anm. über die Doppelkonsonanz in ahd. flucchi
u. ä., S. 66 über das als echtgriech. erklärte "A^cpiov; S. 67 wird die
Messung xopäaiov festgestellt; S. 78 Anm. 4 das schon dem 4. Jahrh.
angehörige Bp-.ai? vielleicht riclitiger erklärt als noch in der neuesten
Auflage von Meisterhans S. 38; S. 64 wird die Etymologie von vsoYtXXdc
gegeben; S. 132 'E7riXa|jn}>tc zu Xa[jn]>oiJLai gestellt; S. 136 ein neuer
Beleg für Schwund von u in Laugdiphthongen gegeben. — "EpaTcuvacaa
S. 4 wird durch die Lautform als unattisch erwiesen [doch s. jetzt die
S. 31 genannte Arbeit von K. Eulenburg]; Ai'ör, S. 45 könnte geradezu
auf dem Pferdenamen beruhen, vgl. Anakreous Lied -uiXs ßpTQxiif) xtX.
A. Fick, Die griechischen Yerbandnamen BKIS 26, 233—265.
„Die Skizze ist zu dem Zweck entworfen, nachzuweisen, daß auch
die Verbandnanien nach denselben Grundsätzen wie die übrigen Eigen-
namen gebildet sind." Sie gibt zuerst eine Zusammenstellung der
Stammesuamen nach den häufigsten Ausgängen (Vollnamen auf aF'ovc;,
auf -oTiec, -(ors;, -tor.oi, vereinzelte Ausgänge wie in 'A/aiFoi, KsXaiilot,
MoXoffaoi, zusammengesetzte mit Präposition als erstem Glied), dann ein
nach den Landschaften (einschließlich Makedonien und Epirus) geordnetes
Verzeichnis der Ethnika mit zahlreichen Vermutungen (z. B. xao[j.o?
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 59
6T)ßaro; = Heerbann von Theben? S. 255; 'Axöi; aus 'A{>-rjvattc gekürzt
nach Art der zweistäramigen Vollnamen S. 258), die nicht bloß den
Sprachhistoriker interessieren, freilich nicht immer einwandfrei sind.
Ein Anhang spriclit über die Behandlung fremder Ethnika durch die
Griechen.
Mit weniger Glück wendet derselbe Gelehrte die gleiche Theorie
auf eine Kategorie adjektivischer Wörter an:
A. Fick, Die griechischen Götterbeinamen BKIS 20, 148—180.
Denn mit dem gleichen Recht wie für die Götterbeinamen, die
auf Grund von Bruchmanns Epitheta deorum, quae apud poetas Graecos
leguntur systematisch zusammengestellt werden, das Bildungsprinzip
der Eigennamen behauptet wird, könnte dies für die Beiwörter der
homerischen Helden und der Stätten ihrer Taten, am Ende für sehr
viele adjektivische Wörter überhaupt geschehen ; ist doch Kürzung auch
bei zusammengesetzten Adjektiven sicher bezeugt, wenn auch seltener
als bei Namen. Und aut der anderen Seite muß doch Fick selbst Ver-
wendung einstämmiger Beinamen zugeben: ßpojxioc, Kurpia wagt er selbst
nicht sicher als Kurzbildungen in Anspruch zu nehmen; auch für Zsu?
xspauvo? ist dies nicht sicher, indem die von der rein appellativen ab-
weichende Verwendung gerade durch die verschiedene Betonung cha-
rakterisiert sein kann. Neue Deutungen sind selten; es sei aus leicht
zu erkennendem Grunde auf die zweifelnd vorgetragene Vermutung
jxsXixepnfic = „ Gliedverhauer * hingewiesen (S. 167).
Der Kurznamenforschung insbesondere sind folgende Arbeiten
gewidmet :
0. Crusius, Die Anwendung von Voll- und Kurznamen bei der-
selben Person und Verwandtes. (Jahn-)Fleck. Jahrbb. 141/37
(1891), 385-94.
Die Erscheinung ist häufiger bei mythologischen Namen, kommt
aber auch bei Menschen in unserer Überlieferung nicht selten vor. So
heißt z. B. üu&a-j'opac auch Duötuv, T£p-av6poj auch Tsp-tuv, Mavoowpoc
(Ar. Vög. 656 f.) daneben Mav^; (ebd. 1311. 1329). Ähnlich ist es,
wenn der Name derselben Person verschiedene Ausgänge zeigt, wenn
z. B. ein KXsavopiov]; auch als K/iavopoc erscheint. Beide Erscheinungen
sind auch für Literaturgeschichte und Textkritik wichtig.
Nach dem gleichen Grundsatz vollzieht sich die Kürzung bei
zusammengesetzten Appellativa: J. Strachan, Koseformen in der Anrede,
ZvSpr 32, 596 weist xavf^wv für xav9r,Xi£ (bei Ar. Wesp. 201) und für
xav9ape (Fried. 82), W. Schulze: Zur Kurznamenbildung, ebd. 33,401
hellenistisch und spätgriechisch Ts-avoj, siravoc, ß-'atoj für -STavo&pi^,
<5-avo7:u)7tuv, [-{ta'.oöava-o; nach; vgl. auch W. Schulze, ZvSpr 32, 195 Anra.
60 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
Eine Reihe kleinerer Aufsätze und Artikel bringt Belege für
einzelne Namen oder beschäftigt sich mit der Etymologie solcher.
So Fr. Bechtel, Griechische Personennamen aus CIA IV 2 (BKIS
23, 94 — 99; Nachträge zu den „Personennamen" in der Anordnung
dieses Werkes); Böotische Eigennamen (ebd. 26, 147 — 152 [T£U|xa3i7£vet?
zu T£u|ji.ao[jLat, McuXiouToj zu fjLÖiXoc, Faoa>3io;]) ; der Frauenname 'AT:a-:rj
(H 34, 480;= „Trug", indem der Vater einen Sohn erwartet hatte);
Neue griech. Personennamen (H 34, 395 — 411; alphabetischer Nach-
trag aus den Inscr. Gr. maris Aegaei); Fikloi : vso-jiXÄoc aus *-7toXoc
lit. zlndu „sauge" (BKIS 27, 191 f.).; A. Fick, Einige griechische
Namen (BKIS 26, 110—13; altkorinthisch); Ouatta.- (ebd. 123—29;
„König Langohr" = Midas); Asklepios (ebd. 313—23; A. ist ursprüng-
lich eine Heilschlange ; der Name zu axaXaTca^ei • psii-ßeiai, „sich
in Windungen regend"; lloSaXetpio? „Schmalfuß" ist die aufgerichtete
Schlange); Fr. Fröhde, Aiovucjo; (BKIS 21, 185 — 202; gegen
Kretschraers Deutung aus dem Thrakischen wird wieder Herleitung aus
dem Griech. versucht); ^Iptj (ebd. 202 — 7); F. Solmsen, Drei boiot.
Eigennamen ßhMPh 53, 137 ff. (Fap[j.i-/oc zu got. waurms, Wurm u. a.);
einen beachtenswerten Versuch, die antike Auffassung von ili]\i.r^xrip mit
den Hilfsmitteln der modernen Wissenschaft zu rechtfertigen, machte
P. Kretschmer, WSt 24, 523 — 6 (Aa und lio uralte Lallnamen der
Erdgöttin, urspr. wohl = [xa; Aafj-axTjp also =^ Mutter Da): H. Diels,
Onomatologisches H 1902, 480—3 tritt für napfj-svlörjc mit Kürze ein.
das jetzt F. Blaß , FEPAS. Abhandlungen zur indogermauischeu
Sprachgeschichte August Fick gewidmet. Göttingen 1903, S. 1 — 16
durch rhythmische Erwägungen stützt, und deutet XquaitaGY] bei Solon
als XquotcjT. „heller Säuger"; zu einer Übersicht über eine Reihe von
Namenbildungsweisen erweitert sich der Aufsatz von W. Crönert»
Philitas von Kos. H 1902, 212 — 27; im Verlauf des Nachweises, daß
weder OtXrixa; noch <I>tXrjTa?, sondern OtXTxa; die richtige Namensform
für den kölschen Dichter ist, werden die Bildungstypen auf -a; und
-aÖT]! sowie die durch ein -r-Suffix gekennzeichneten durch ein reiches,
besonders aus den attischen Inschriften geschöpftes Material illustriert.
Einen Anfang, die von Fick-Bechtel nicht berücksichtigte lateini-
sche Überlieferung für das griech. Namenbuch auszubeuten, macht K.
Schmidt, Die griechischen Personennamen bei Plautus I. H 1902,
173 — 211. Vgl. noch oben S. 34 (über Aphärese in Personennamen).
Mehr sachliches Interesse als sprachliches haben die Arbeiten von
H. Meyersahni, Deorum nomina hominibus iraposita. Diss. Kiel 1891
(bei den Griechen finden sich Beispiele nicht vor Tiberius, dann be-
sonders im 2. Jahrh. n. Chr.),
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.) 61
Fuochi, Le etimologie di nomi propri nei tragici greci. Estr.
dei studi ital. di iilol. class. 6, 273-318,
eine Zusammenstellung der (vielfach auf irrigen Voraussetzungen be-
ruhenden) etymologischen Anspielungen bei den Tragikern, die mehr
dem Erklärer der Dichter als dem Sprachforscher dient, wenn sie auch
hie und da darauf Licht wirft, wie ein Name empfunden wurde, und
ß. Herzog, Namensübersetzungen und Verwandtes. Ph56, 33 — 70,
Der Verfasser überblickt die Namensänderungen im Gesamtgebiet
der Antike nach drei Gesichtspunkten: 1. Völlige Aufgabe und Um-
tauschuug des Namens an den einer fremden Sprache. 2. Akkommodation
des Klanges des angestammten Namens an den fremden Sprachgeist.
3. Übersetzung. Eine sprachliche These ist die Auuahme, daß Frauen-
namen, die von orientalischen Tieren und Pflanzen genommen sind, als
Nachahmung orientalischen Brauches zu betrachten seien.
Auch die Erforschung der griechischen Ortsnamen, an die sich
eiue Fülle interessanter Probleme auch sachlicher Art knüpfen, ist
neuerdings wieder iü Fluß gebracht worden durch
A. Fick, Altgriechische Ortsnamen I— VII. BKIS 21, 237—
286. 22, 1—76. 222—238. 23, 1—41. 189—244. 25, 109—127.
Angeregt durch E. Curtius, Gesammelte Abhandlungen I 477,
unternimmt F, den Versuch, das Material nach Sache und Form zu
ordnen, soweit es von seinen Vorgängern zusammengetragen ist: hin-
sichtlich der Vollständigkeit des Materials bezeichnet er selbst seine
fern von einer größeren Bibliothek entstandene Arbeit als bloße Vor-
arbeit; namentlich die Inschiiften, auch die daran anschließende gram-
matische Literatur, sind nicht genügend ausgebeutet.^) Dabei fällt
auch für die weitere Sprachforschung manches ab: manch seltenes
Dialektwort findet durch einen Ortsnamen erwünschte Bestätigung. Auf
der anderen Seite versagt gerade bei Namen, deren Sinn man gerne
wüßte, oft die Deutungskunst oder, was noch schlimmer ist, es sind der
JVIöglichkeiten zu viele; manche Ortsnamen sind auch kaum ursprüng-
lich griechisch. Bei einer Menge von Ortsnamen liegt ja die Herkunft
^) Einen Maß&tab für die trotz scheinbaren Reichtums doch ungemein
spärliche Überlieferung gibt die Vergleicbung der überlieferten Flurnamen
mit andern Kategorien oder gar mit Flurnamen von Ländern, für die eine
annähernd vollständige Kenntnis der Ortsnamen zu erreichen ist. Sammelte
doch einer der Mitarbeiter am Glossaire des patois romands aus einer Ge-
meinde 800 Flurnamen, von denen etwa die Hälfte isolierte, der Deutung
sich entziehende Wörter sind. Um so mehr muß vollständig gesammelt
werden, was irgendwie erreichbar ist.
62 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.)
auf der Hand; aber auch sie werden oft erst recht begreiflich durch
die Vergleichung mit bildungs- oder bedeutungsähnlichen. F. führt den
Stoff in sechs Hauptabteilungen vor: I. die senkrechte Gliederung
(Berge, Täler, Schluchten, Ebenen); II. die wagerechte Gliederung
(Gestade, Meeresteile und Meere, Inseln); III. die Binnengewässer
(stehende und fließende); IV. Namen von Ländern und Landschaften,
Gauen und Stadtbezirken, Fluren, Wäldern, Bainen und geweihten
Stätten; V. VI. Namen der menschlichen Wohnstätten zu dauerndem
oder vorübergehendem Aufenthalt, der Städte, Dörfer, Weiler, Burgen,.
Lagerplätze, Wachtposten usw. Innerhalb der Hauptabteilungen ist be-
sonders Ilücksicht genommen auf eigentliche und übertragene Namen
sowie auf formale Kriterien (wie auf die Wahl von Haupt- oder Bei-
wort in V. VI). Der VII. Abschnitt bringt eine Reihe von Nachträgen
und Berichtigungen, spricht sich skeptisch über die Annahme phöni-
kischer Namen auf griechischem Boden aus, hebt die Seltenheit von
Koseformen hervor — sie finden sich häufiger nur für die Namen der
ägyptischen Nomen -Hauptorte, wo man indes an Personifikation zu
denken hat — und klingt in den Wunsch aus, daß dereinst nicht nur
ein umfassendes Ortsnamenbuch — ein Pendant zu dem von W. Meyer-
Lübke befürworteten lateinischen Corpus topographicum — sondern auch
ein griechisches Sachwörterbuch entstehen möge. — Zu einzelnen Deu-
tungen Ficks machen Bemerkungen R. Thomas, BKIS 26, 183 — 6;
W. Prellwitz, ebd. 27, 192.
Für C. Angermann, Beiträge zur griechischen Onomatologie.
Programm der Fürstenschule in Meißen. 1893, muß ich auf die Be-
sprechungen von Kirchner, WklPh 1893, 1166—69 und Stolz, BphW"
1894, 38 verweisen.
Nominalbildung.
Aus der großen Menge der einschlägigen Abhandlungen seien
zunächst einige größere Arbeiten hervorgehoben.
Wiederholt hat die schon früher verhandelte Frage nach der Her-
kunft der griechischen Nomina auf -euc die Forschung beschäftigt, ohne
daß ein allgemein anerkanntes Ergebnis erzielt wäre.
K. Brugmann, Die Herkunft der griechischen Substantiva auf
t'k, Gen. f,Fo;. IF 9, 365—74,
der zugleich die frühere Literatur über die für das Griechische so cha-
rakteristische Bildung zusammenstellt, benutzt den in den indogerma-
nischen Sprachen oft belegten Wechsel zwischen vokalischem und kon-
sonantischem Stamm, z. B. ai. mar3^akas: p-eTpaE, um zu vermuten, es
liegen den Nomina auf -sy; Partizipia auf rjFo (woneben r^F) zugrunde,.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 190;5. (Schwyzer.) 63.
die zu Veiba auf -ew gehörten: 9opt)-F(o)- wie cpopyj-xoc, 'fopr^-acu. In
diesem Fall müßte also die griechische Bildung in vorgriech. Zeit zurück-
reichen, was auch die Meinung H. Keichelts ist, der BKIS 25, 240 f.
zwar Brugmanns Erklärung ablehnt, dagegen die IStämnie auf vjF (und
u)t) mit den i- (und M)-Stämmen aus ein und demselben ursprachlichen
Paradigma hervorgegangen sein läßt, sowie diejenige H. Ehrlichs
Die Nomina auf -EYZ, Leipziger Diss. 1901 (= ZvSpr 36, 1—48).^)
E. sucht in seiner scharfsinnigen und inhaltreichen Abhandlung, die
manches berührt, was mit dem Thema nicht unmittelbar zusammen-
hängt, glaublich zu machen, daß die Nomina auf -rjF- auf der gedehnten
e-Form zu o-Stämmen (itttit)-) und der schwächsten Gestalt des (im In-
dischen mit -uent- zu einem Paradigma verbundenen) Suffixes -ues-
(nämlich -us-) beruhen, tinreu; also gleichsam iTTTirjei? sei (?). Einen ganz
anderen Weg betritt wieder P. Kretschmer (s. die Fußnote 1), der
griechische Neubildung annimmt. Nur erwähnen will ich C. A. M.
Fennell, Greek 8tems ending in i and eu and^Aprjc. CR 1899, 306, der
ßatjiXTjF auf ßastXe^u, stark ßaaiXet^eF-, zurückführt (roAr^i sei dagegen,
sekundäre Dehnung).
Von einer ausführlichen Darstellung der Geschichte der griechi-
schen Nominalbildung liegt bis jetzt nur eine Probe vor;
A. W. Stratton, History of Greek Noun-Formation .1. Stems
with -fjL-. Chicago 1900. [SA. aus den „Studies in classical philo-
logy» der Universität Chicago, vol. II p. 115—243.]
Rez. von Solmsen, BphW 1900, 307-12: Stolz, ZöGy 1900, II,.
132-3.
Die Arbeit besteht, wenn man von dem programmatischen Ein-
gang und den wesentlich auf Brugmanns Grundriß beruhenden allge-
meinen Bemerkungen über die »«-Suffixe in den idg. Sprachen absieht,
zu einem guten Teile aus alphabetischen, nach dem Wortausgang geord-
neten Zusammenstellungen der Stämme auf -p-sv-, -aov-, -[xar-, -ixo-; die
Wörter auf -[xy], -[xovrj-, -[xt? und die possessiven Komposita sowie das
Semasiologische sind auf eine Fortsetzung verspart. Für jedes der an-
gegebenen Suffixe gibt der Verfasser zwei Reihen von Belegen: einmal
stellt er nach formalen Gesichtspunkten sämtliche ihm bekannte Bei-
spiele aus der gesamten Literatur bis in den Anfang der byzantinischen
Zeit zusammen, und zweitens gibt er eine Liste der in der vorhelle-
nistischen Zeit (vor 280 v, Chr.) belegten Bildungen mit Angabe der
Literaturgattung, in der sie erscheinen. Es wären aber nicht nur
^) Rez. von Meltzer, NphR 1902, 36 f.; Schwyzer, BphW 1902, 433
-7; Hatzidakis, DLZ 1902, 783-5; Kretschmer, Zöüy 1902, 711-3; Hirt,
LC 1903, 455 f. [; Solmsen, lA 15, 222-8].
64 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
mannigfache Wiederholungen vermieden, sondern auch die geschichtliche
Einsicht vertieft worden, wenn der Verfasser gleich für jede Bildungs-
besonderheit die Belege in chronologischer Folge gegeben hätte; die
weniger eingehende Behandlung der nachklassischen Sprache ist heute
nicht mehr zeitgemäß, und die Vernachlässigung der Inschriften (und
Papyri), die niemand durch die Bemerkung auf S. 115 für entschuldigt
halten wird, bringt die fleißige Arbeit um einen großen Teil ihres
"Wertes (so fehlt iredtoixa aus den Vaseninschriften). Zu einer wirklichen
history of the suffixes with -m- ist der Verfasser vielleicht gerade in-
folge seiner Anordnung nicht gekommen ; jedenfalls hat er sein Material
nicht geschichtlich verarbeitet, obschon sich schon daraus manches Inter-
essante ergeben hätte, z, B. daß die Bildungen auf -wfjLa (auch die auf
•£ü|xa) nicht so alt sind, um Kretschmers Hj^pothese, die der Verf.
8. 124 N. 1 anführt, gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Zu S. 135
ist ihm meine Erörterung über die kurzvokalischen Bildungen auf -[la
(perg. Gramm. 47 f.) entgangen; sie wird gestützt durch a'j[jL3ä|xa (s. BphW
1904, 533), das bei Stratton fehlt. äpia\io; S. 217 gehört nicht hierher;
warum soll das beiläufig auf S. 232 erwähnte veojjoc auf *v£o-/to? zu-
rückgehen? *v£Fox^o; wird doch durch das danebenstehende veä; als
Grundform gesichert.
Wie interessante Dinge in den Dialektinschriften Stratton sich
hat entgehen lassen, zeigt
F. Sol rasen. Zwei Nominalbildungen auf -[xa. ßhMPh 56,497
— 508: argivisch ^pajjfxa steht für 7pa(pj(xa, kret. <^d<^i\i.\x.ci. für <\)ci.-
<pq|j.a (:t]<a'fi^).
Die Namen hat Stratton ganz unberücksichtigt gelassen, obschon
dieser Teil des Wortschatzes bei genügender Vorsicht sehr wichtige Er-
gebnisse liefern kann, wie Stratton auch für sein Thema hätte lernen
können aus
R. Meister, Epigraphische und grammatische Mitteilungen. BSG
1894.
M. handelt im grammatischen Teil seiner Mitteilungen (S. 154 — 9)
über „stammabstufende Namen aus dem Norden und Nordwesten Griechen-
lands", indem er Pare wie 'Ajjlujxovsc : ^A[xu(xvoi, S-puixcov : 2Tpu|x(v)oo(upo;,
XaFovEj : Xaüvoi u. a. nach dem Prinzip der abstufenden Deklination
erklärt; die Etüuika auf -avs; verdanken ihr a der schwachen Stufe
mit urspr. -av- (vgl. TU9£Sav6? : TU!p£0(uv); formal steht ihnen makedon.
jj-e-fifftav gleich; 157 f. wird der loniername besprochen.
K. Brugmann, Der Ursprung der Barytona auf -joc BSG 51
(1899), 177-218
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 65
weist, im Gegensatz zu Lagercrantz, Zur griech. Lautgeschichte S. 16 ff.,
nach, daß die bary tonen Appellati va auf -joc wie xoixTraaoj, xpau-yauoc,
TToXXa-yopajo?, |x£i>u5o? und die Kurzuamen auf -ao; wie "Epacjo?, "üvrjaoc,
AZaoi ihrer Bildung nach identisch sind, und zwar sind erstere von den
Kurznamen ausgegangen. „Während der Gebrauch dieser Bildungstypeu
in weitem Umfang für Eigennamen nachweisbar ist, die Vollformen auch
als Appellativa von urgriech. Zeit her geläufig waren, erscheint die
Kurzform auf -soj in appellativem Sinne verhältnismäl.'ig nur selten in
der Literatur. Sie gehörte ganz vorzugsweise der Sprache des niederen
Volkes an, und es steht zu vermuten, daß hier weit mehr Wörter dieser
Art, z. T. wohl nur als kurzlebige Modewörter, geschaffen worden sind,
als die Überlieferung uns an die Hand gibt. Daß auch die Kurzformen
auf -ai? appellativisch verwendet worden seien, ist nicht nachweisbar"
(S. 217). Von neuen Etymologien seien die von diajoc S. 188, v^joc
S. 212 ff., opoaos S. 214 f. hervorgehoben.
FürA. Levi, Dei suffissi uscenti in sigma. Turin, Löscher 1898
muß ich auf die Besprechungen von Pauli, DLZ 1899, 1829 f. und
Stolz, BphW 1899, 1110 f. verweisen.
Von kleineren Arbeiten, die sich mit der griech. Nominalbildung
befassen, können hier nur die als solche erschienenen kurz besprochen
werden: es ist klar, daß auch in den etymologischen Arbeiten jeden
Augenblick Fragen der Stammbildung zur Behandlung kommen, doch
kann ich bei dem zeitlichen Umfang, den der Bericht angenommen,
nur mit dieser allgemeinen Bemerkung darauf hinweisen.
Um mit den Wurzelwörtern zu beginnen, so beseitigt J. Wacker-
nagel, Griech. Tcui'p. IF II 149 — 51, eben diese Form und mit ihr
das aus dem Rahmen der idg. Stammbildung herausfallende idg. puir.
indem er ein zerdehntes zuup als überlieferte Form nachweist. ^) —
Der vielumstrittenen Frage der Entstehung der Neutra auf -[xar- sucht
eine neue Seite abzugewinnen einmal Chr. Bartholomae, Griech.
«vo[xa> ovo'ixaTo?. IF I 300—18, der an Ficks Auffassung von -xoc als
Ablativsuffix festhält, außerdem aber betont, daß in einigen Bildungen
das m zum Stamm gehöre (^uSfxa, yeTixa, (jToiJ.a) und wahrscheinlich erst
«eknndär neutrales Geschlecht eingetreten sei. Dagegen erklärt
H. Osthoff in L. v. Patrubauys Sprachwissenschaftlichen Abhand-
lungen II 85 ff., vom Armenischen ausgehend, die griech. Flexion aus einer
Mischung der urspr. getrennt neben einander liegenden Typen cTTptüfjLaxa
^) 6. Fischer, Über die Deklination von -uo. Filologiceskoje obo-
zrjenije V 61-3 ist mir nicht zugänglich, ebensowenig, um dies gleich ab-
zutun, B. J. Wheeler, Die griech, Nomina auf •:, ioo;. PrAPhA XXIV,
p. LI-LIII; vgl. lA 5, 2.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1904. J.) 5
66 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer,)
(=lat, stratnenta), -a-tüv, *-txToi; und *a-p(u[xava. *-avtov, -a^t; dieMischung^
ergab im Sg. -aTo;, -an (aus *aTou -r *avoc usw.).
Über die Prosodie der Namen auf -tvr^; handeln G. Murray,
CR XII (1898), S. 20f. und J. E. Sandys, ebd. S. 205 f.: sicher be-
zeugt ist nur die Kürze (Aby^tvr,?, ilüpWjc, 2fii-/p"tvr)c), wie schon Lobeck
beobachtet hatte (vgl. auch W. Crönert, H 37, 222 und Anm. 3). — Auf
einige Bildungen der späteren Sprache, die namentlich auf Inschriften
belegt sind, hat W. Schulze die Aufmerksamkeit gelenkt, auf den
maskulinen Typus -a.;, -aooc, der in der neugriech. Deklination so kräftig
nachwirkt (ZvSpr 33, 229 — 31) und auf die femininen Typen 'Ap-:£[j.£''?
(RhMPh 48, 252 ff) und -ou,-, -outo? oder -oüooc (BphW 1893, Sp. 226 f.).
^Ein Singulare tantum" erörtert Th.Zachariae, nämlich Zlr^ (ZvSpr 34,
453 — 5) und aus zwei Epigrammen der Anthologie stellt "W. Headlara
ein altionisches xox£cuv(e, -a^) her (CR 15, 401 — 4).
Hier mag sich eine Arbeit anschließen, die das Adjektiv betrifft:
0. "Wilhelm, Beiträge zur Motion der Adjektiva im Griechi-
schen. II. Der Sprachgebrauch des Lukianos hinsichtlich der sog. Ad-
jektiva dreier Endungen auf -oc- Progr. des Ernestinum zu Koburg-
1892. Rez. von P. Schulze, WklPh 1892, 998-1000. Sie ist mir
außerdem nur aus den daran anknüpfenden, Material aus älteren Sprach-
perioden beibringenden Bemerkungen von L. Radermacher, GGA 1899»
695 bekannt.
Vielfache Erörterungen hat die griechische Komparation und
deren Verhältnis zu den Bildungen der verwandten Sprachen hervor-
gerufen; ich muß mich hier mit einigen Andeutuug:en begnügen.^) —
Die Superlativbildung auf -zol-o^ wird seit Ascolis' methodisch so
wichtig gewordener Arbeit allgemein als Analogiebildung gefaßt; aber
im einzelnen sind der Möglichkeiten noch viele. 0. Hoffmanu, Ph 60,
17 — 24 faßt 9iXT£poc u. ä. als aus *9iXtoT£po? (zu z,'.l-6i) entstanden
auf: nach Vollzug der Haplologie trennte das Sprachgefühl cptX--r£poc,
was zur Folge hatte, daß auch im Superlativ 'fi/.T-atoc, einer Bildung
wie |j.£?--aToc, 'ftX-Taxoc abgeteilt wurde. Aus solchen Formen hätte
sich --a-o; losgelöst. Die Schwächen dieser Theorie hat schon K. Brug-
mann. Zu den Superlativbildungen des Griechischen und Lateinischen.
1. Griechisch -TaToj. IF 14, 1 — 9 betont, der seinerseits die Vermutung^
') Die Bemerkungen von P. Regnaud, Origine des comparatifs en
(/(-Tjf>o: et des superlatifs en a'.-zo.-',-. RL 25, 97 — 99, haben mit der Sprach-
wissenschaft nichts zu schaffen. Dafür eine Frage, die sich auf eine der
Neuerungen in der griech. Komparation bizieht: ist if>oo)ji£vi3T£oo:, das man
gewöhnlich nach liiiv^ij-zpo- entstanden sein läßt, durch den Gegensatz
K3!):vi"3f-o; beeinflußt?
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 67
aufstellt, die Verschiedenheit zwischen mehreren idff. Sprachen in
der Superlativbildung beruhe darauf, daß schon in der Urzeit beim
Ordinale der Zehnzahl eine Bildung mit m (dekmmos) und eine mit t
(dekintos) konkurrierten: letztere nur wurde im Griech. beibehalten und
wucherte hier weiter. — Noch mehr hat die sog. unregelmäßige
Komparation die Forschung beschäftigt, und zwar vor allem das i,
das im Griechischen wie im ludischen erscheint. Gegenüber Thurueysen
(ZvSpr 33, 551 ff.) und Wackernagel (s. oben S. 11) geht H.Hirt,
IF 12, 200 — 8 von zweisilbigen Basen auf -ei aus (vgl. ai. svädi-yäu,
gr. fjöitov neben suäde-re u. ä.), und mit ihm stimmt H. ßeichelt,
BKIS 27, 104 f. im wesentlichen überein, der im übrigen besonders den
hin und wieder zutage tretenden partizipialen Charakter dieser Bildungen
betont (vgl. ai. nähhas tärnjän „die Wolke leicht durchdringend" u. ä.),
was schon vorher B. Delbrück, Oepiaxoc und Verwandtes. IF 14, 46
— 53 verfochten hatte (lylpicjTo; = avest. hairistö, zu «pspw, eigentlich,
„der am meisten, am besten bringende" u. ä.).
Zum Schluß sind noch etwas ausführlicher einige Arbeiten zu be-
sprechen, die die Grenzen des Griechischen nicht überschreiten und auch
tatsächliche Förderung in sich halten.
Nach den Erörterungen von W. Schulze, Quaestiones epicae 300 f.
über die Prosodie der Komparative auf -iwv hat K. Brugmann in
seinem Aufsatz über ,, Attisch fXEi'stüv für fiiCcov und Verwandtes" BSG
1897, II 185 — 98 eine Anzahl einzelner Formen mit Rücksicht auf
ihre gegenseitige Beeinflussung behandelt. Er erklärt [xetCfuv (neben
jxs^ac, [xe^tsTo;) durch Dehnung aus [xli^iuv, veranlaßt durch das Vorbild
der Komparationssysteme öäiTcDv : -ayoc xa/ 1 jto ?, eXäTxwv : (sXa/u?) eXa^toxo? ;
ebenso jjlSXXov (nach Positiv und Superlativ für [xeXXov, zunächst [xaXXov):
}xaXa {j-aXiaxa. Ahnlich sei Kodi statt *7i6c nach dem Vorbild von oxä?
(jxavxo?, jjLEAäs [j-äXavos u. a. eingetreten. Daß gegenseitige Beeinflussung
bei den Kompaiativen (wie beim Zahlwort) eine wichtige Eolle spielt,
belegen auch xpsix-wv (für *xp£xx(uv nach yeiptov), ion. essojv (für 7]33ü)v
nach -/pEaawv), att. oXei'Cüjv (zum Teil mit E geschrieben), für *oXrC«>v nach
fjLsi'Ctov. Zum Schluß wird die Wichtigkeit prinzipieller Untersuchungen
über die Wirkungen der Analogie in ganzen Gruppen von Formen und
Formensystemen betont. In ähnlichen Bahnen bewegt sich der Artikel
von J. Stracban, On some Greek comparatives. CR 1902, 397 f.,
der aber im Gegensatz zu andern Forschern die Herleitung von eXaxxwv
aus eXa-f/j- preisgibt und die Foim aus eXayj- deutet (vgl. iXa/iaxo?);
die att. Länge werde der Analogie von -^xxcov verdankt.
Schon oft ist auffälligen Erscheinungen, die eine normalisierende
Sprachbetrachtung korrigieren zu müssen glaubte, durch schärfere und
5*
68 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.)
vollständigere Beobachtungen zur Anerkennung verholfen worden : dafür
gibt ein sehr bemerkenswertes Beispiel
W. Crönert, Die adverbialen Komparativformen auf -co Ph. 61,
161-92.
Wenn Zenodot bei Homer v.ptinzin, «[xsiviu u. ä. las, ließ man
diese Lesart in neuerer Zeit meist auf sich beruhen, und wenn z. B.
bei Diodor (13, 91) überliefert war tüiv ok vsüJv ou -oXXaTs eXax-u) xtüv
xptaxositov, so war man rasch mit einer Korrektur zur Hand. Nun
beweist Crünert an Hand eines mit staunenswertem Fleiße aus der ge-
samten Überlieferung bis in die bj-^zantinische Zeit hinein — und zwar
meist aus den kritischen Apparaten der verschiedeneu Quellen — zu-
sammengebrachten Materials, daß der Gebrauch einer erstarrten Kom-
parationsform auf -(u sehr weit verbreitet ist. Am häufigsten läßt sich
-(u im Nom. Sing. masc. fem., Nom. Akk. Sg. Neutr. und in der Adverbial-
form nachweisen (S. 162 — 181; manche von diesen Beispielen mögen
freilich auf rein paläographischem Wege entstanden sein), doch auch
-CO für -ovo;, -ovi, -ovs;, -ovac, -ovcüv ist ausreichend belegt; vgl. z. B.
ai oantzvai iroXXcJ) jAeiCtu xa&eoxasav Thuk. 7, 28; iroXXtu TiXetu) vaüc Xen.
Hell. II 1, 14. Noch besonders hervorgehoben seien die Verbindungen
•rtXsi'u) iXaajo) (für tcXIov iXajiov), ettI rXctw; [j-ei^u), r.lz'.ta cppoveiv. Das
Material erlaubt auch, die Gebrauchsweise historisch zu verfolgen
(S. 186 ff.). Sicher bezeugt ist sie bei Herodot und (sehr häutig) bei
Hippokrates, dann bei den attischen Prosaschriftstellern, die sich hie
und da vom attischen Sprachgebrauche entfernen (Thukydides, Piaton,
Xenophon; bei Aristoteles in den weniger sorgfältig ausgearbeiteten
Schritten; den attischen Steinen ist der Brauch fremd, überhaupt finden
sich nur zwei inschriftliche Beispiele aus der ersten Kaiserzeit). Weiter-
hin finden sich Beispiele in ägyptischen Papyri, bei Lykophron, Chrysipp;
man kann überhaupt sagen, daß die adverbialen Komparativbildungen
von Anbeginn der hellenistischen Zeit bis in das 3. Jahrb. n. Chr. der
lebendigen Volkssprache angehört haben; in der Liteiatur erscheinen
sie noch später. ,,Den Abschreibern des Altertums müssen die ad-
verbialen Formen auf -tu recht geläufig gewesen sein. Eine genaue
Grenze zwischen echter und später eingeschobener Lesart wird sich
darum in vielen Fällen nicht ziehen lassen, immerhin zeigt das Beispiel
der Neuaristoteliker, daß man die adverbialen Formen für gesucht hielt.
Und so mögen sie denn in Zukunft, wo es irgend geht, in den Text
gesetzt werden" (S. 191)(?). Auf ueuionischen Ursprung deutet nach C'r.
aber auch die Entstehung der Gebrauchsweise: „wenn man die Wendungen
wie 0 -Xeto) ypovo?, t) rcXetw [xoipa, xo iXaxxoj [Aspoc, "■?)? xpei'xxto C">^j» • • •
betrachtet, so findet sich hierin derselbe Sprachgebrauch, der in den
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 69
"Wendungen xo-j; avcüxepw rpovovouc (Plat.), oti e^'/oTaTco xsi'fisvov (Thuk.),
TTpoeßaive etjtü-e'po) t^; 'EXXaooc (Herod.) vorliegt. Bei Homer finden
sich für die zuletzt angezogene Ausdrucksweise außer zpo-spw nur drei
Beispiele: sehr viele dagegen bei Herodot und Hippokrates. Von den
im Neuionischen häufigen Adverbialformen auf -epto und -arw sprang
der Brauch auf die Komparative -Xsituv, eXaajiuv u. a. über, wie um-
gekehrt neben xarcüTspco, avcotipw schon bei Herodot xaTcuTspo; dvui-oc-
-oi erscheinen (S. 187 f.).
Nominalflexion. ^)
Eine zusammenfassende Darstellung gab — auf die Behandlungen
des G-egenstandes in den Gesamtdarstellungen der griech. Grammatik
gehe ich hier nicht besonders ein — ein norv/egischer Sprachforscher :
A. Torp, Den graeske Nominalflexion sammenlignende frem-
stillet i sine Hovedtraek. Christiania 1890.
Eez. Bezzeuberger, DLZ 1893, Nr. 20.
Das Buch enthält anderseits mehr, anderseits weniger, als man er-
warten könnte, nämlich eine vergleichende Darstellung der Nominal-
liexion der wichtigeren idg. Sprachen mit besonderer Rücksicht auf das
Griechische, ohne daß jedoch dabei genauer auf einzelnes eingegangen
würde. Auf eine Einleitung, die manchen Gedanken äußert, der seither
die Forschung beschäftigt hat, werden die Flexionen erst der vokalischen
(besonders ausführlich sind die Stämme auf -iä oder -iä behandelt 64 ff.),
dann der halbvokalischen und diphthongischen, schließlich der kon-
sonantischen Stämme nach dem damaligen Stande der Wissenschaft zu-
sammenfassend dargestellt; die Literaturangaben sind auf das Alier-
notwendigste beschränkt. Das Hauptverdienst des Verfassers liegt in
der Zusammenfassung der Arbeiten anderer — gerade für das Griechische
bietet die Schrift nichts wesentlich Neues — und als solche vermochte
sie neben der Übersicht, die Brugmann gleichzeitig im Grundriß über
die idg. Deklination gab, nicht aufzukommen. Wenigstens erscheint das
') Für A. B. Westermayer, Der sprachliche Schlüssel oder die se-
mitisch-ursprachliche Grundlage der griech. Deklination. Paderborn 1890
muß ich auf die Rez. von A. ßezzenberger DLZ 1903 Nr. 5 verweisen. Die
Ergebnisse der Zusammenstellungen von J. Viteau, La declinaison dans
les inscriptions attiques de l'ompire. RPh 19(1895), '241 — 54 — Genetive auf -c/,
-r, wie 'AaLä, 'E-i-^cc-r,, Kurznamen auf -äz, auch lautliche Kennzeichen der
spätem Sprache — liegen uns hier ferner und sind übrigens bereits in die von
mir besorgte Neubearbeitung der Meisterhansschen Grammatik der att. In-
schriften eingearbeitet.
70 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.)
Buch wenig in der deutschen sprachwissenschaftlichen Literatur des
folgenden Jahrzehnts und scheint überhaupt den deutschen Forschern
wenig bekannt geworden zu sein; und doch hätten Wackernagel und
Bremer bei ihrer Behandlung von Moüja bzw. an. tyr (ZvSpr 33, 571 ff.
bzw. IF III 301 f.) auf Torp S. 78 bzw. 108* als Vorgänger ver-
weisen, Solinsen ZvSpr 34, 552 ff. gelegentlich "EixTiou^a ihn bekämpfen
können (S. 78). Einen schlechten Eindruck machen in einem Buch
über die griech. Nominalflexion die auffällig häufig falsch gesetzten
Akzentzeichen und ähnliche Versehen.
Einige Fragen aus dem Gebiet der sog. 3. DekÜLiation behandelt
in seiner tief eindringenden Weise
J. Wackernagel, Zur griechischen Nominalflexion. IF 14,
367-375.
1. Der Akkusativ Plur. auf -et? läßt sich nicht ohne weiteres als
akkusativisch verwendeten Nominativ auffassen, da -sc für -aj erst
verhältnismäßig spät und im griechischen Westen , anfangs auf (er-
starrte) Zahlwörter beschränkt, vorkommt. Vielmehr setzen homer. Akk.
-oXei; (:tcoXu?) und att. T:oXet? (r-oXtc) Akkusative auf -svc voraus, wo
£ aus den starken Kasusformen eingeführt ist, wie in homer. r.dizii,
nsXey.Ejjt, -oX£ii[aJi. Die Gleichheit des Nom. und Akk. PI. bei
t- und adj. u-Stäramen hat dann die entsprechende Doppelwertigkeit
von eu^svEic, TcXeiouc im Gefolge; hellenistisch ßasiXsic nach den adj.
u-Stämmen.^) — 2. Der Dat. Plur. auf -sjjt erklärt sich nicht durch
Ablösung dieses Elementes von den sigmatischen Stämmen, sondern
nach der Proportion Moijat : Moijaiai, Xuxoi : Xuxoifft =^ il^psi : öripscjji.
Eine Reihe kleinerer Arbeiten gilt den einzelnen Nominal-
kasus. Einen neuen, aber nicht unzweifelhaften Beleg für einen s-losen
Nom. Sing, eines männl. a-Stammes bringt F. Blaß, Fleck. Jbb. 1891,
557 — 60 bei (Eucjoioä). Was hier wohl sicher ist, nämlich, daß wir es
mit einem als Nominativ verwendeten Vokativ zu tun haben, ist bei
den homerischen Nom. -Formen wie iK-6-a umstritten: Neisser, BKIS
20, 44 — 54 und G. Uljanow in den XaputiQpta für Th. Korsch 125 ff.
(mit unzugänglich) haben die entsprechende Vermutung Brugmanns
bekämpft; s. darüber dessen griech. Gramm. ^ 220. Vgl. auch J. H.
Moulton, Academy 1893, 1125 S. 467 (s. lA 3, 238). Kühn ver-
mutet W. Schulze, ZvSpr 33, 316 ff. für das epische rdtva (ösa) den
Vokativ TioTvi, der ai. pdtni entsprechen würde. Doch kann 7io-va mit
Brugmann gr. Gramm. ^ 220 als Trorvta gefaßt werden, was vorzuziehen ist.
Nom. und Akk. Sing, betreffen die giundsätzlich wenig Neues
*) Zur Verwendung von l/ßü:, auch als Nom. (S. 372) bieten eine
Parallele die allerdings späteren ai vaD:, ^oD;.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 7X
bietenden prosodischen Feststellungen von .7. La Roche, Zur griech. und
iHt. Prosodie und Metrik WSt 19 (1897), 1 ff. Hier kommen in Betracht
der Nachweis S. 1 — 4, daß das a der Endung -ea ( : £uc) an allen
entscheidenden Stellen bei Epikern und im Ciior der att. Tragödie
immer kurz, im Dialog des att. Dramas immer lang gemessen wird
(diese Messung in Übereinstimmung mit der att. Sprachentwickelung),
und daß die Subst. auf -u;, -uo; (mit Ausnahme von ot^Z; ocppüc t/Ou^
tuyu; 7:Xr,i)üc und den einsilbigen Stämmen) in Nom. und Akk. Sing, bei
den älteren Epikern in der Regel langes ü, bei den jüngeren und bei
den Dramatikern nach metrischen Bedürfnissen bald die alte Länge, bald
•(die aus den anderen Kasus eingedrungene) Kürze zeigen (S. 4 — 7).
Eine Form desGen.Sg., die eineZeitlang zu entwickeluugsgeschicht-
lichen Schlüssen benutzt wurde, bespricht C. D, Bück, The genetives
TXaaiaFo and üajtaoäFo. CK 11 (1897), 190 f. Die neue Form
najtaoäFo aus Gela steht auf einer Prosainschrift, weshalb die Bildung
auf -aFo nicht künstlich sein kann, sondern der lebenden Sprache an-
gehören muß. Sie ist aber sekundär: F ist ein zwischen a und o neu
entwickelter Übergangslaut (vgl. dFutoü usw. [?]). Mehrfach sind die
homerischen Genetive auf -oio behandelt worden: auf die Bemerkungen
von A. Platt, Seme Homeric genitives. CR 11 (1897), 255—7 über
die Verteilung der Genetive auf -oto, -oo, -ou bei Homer folgte die
ausführliche Zusammenstellung von L. Meyer, Über die homerischen
Formen des Singulargenetivs der Grundformen auf o. GGN 1902,
351 — 74, wonach durchaus oio und oo (auch apostrophiert als o') herrschen
-00 nur an ganz wenigen Stellen begegnet. Über thessal. ot aus oio vgl.
oben S. 30. Die im Griech. bisher vergeblich gesuchte Genetiv-Endung -es
würde die thasische Form Atsay.optosw belegen (Kretschmer bei E. Jacobs,
Die Thasiaca des Cyriacus von Ancona. MAI 22 (1897). Anm. S. 126 f.,
wenn die Überlieferung gesicherter wäre. — Mit dem Lokativ Sing,
beschäftigt sich W. Streitberg, Die griechischen Lokative auf -st.
IF YI 339 — 41. Er parallelisiert den Akzentuuterschied zwischen
TEt, exsi, üixs'. (letzteres übrigens nach J. Wackernagel jung) und döset,
aauXsi, TCavoyjiJisi mit dem zwischen ix Ttoocüv und exTcoöcuv bestehenden,
läßt ihn also auf Enklise beruhen.
Das wichtigste Ergebnis der Forschungsperiode auf dem Gebiete
der Nominalflexion ist aber der Nachweis, daß im ältesten Griechischen
der Ablativ bei Nomina noch lebendig war, der F, Solrasen, Ein
nominaler Ablativus Sing, im Griech. RhMPh 51 (1894), 303 f. ge-
lungen ist: in der Verbindung {xr^rs rptd[j.£vov [xy^ts Fouüj einer neu
gefundenen delphischen Inschrift (jetzt bequem bei Solmseu, inscr. Graec.
p. 80) ist I'ot'xü) neben sonstigen -ou oder -o nicht als Gen., sondern als Abi.
(„aus dem Hause") zu fassen [Gegenartikel von Zubaty; s. JA 13, 185].
72 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 18S)0— 1?03. (Schwyzer.)
Die als uigriech. vorauszusetzende Form des Nom. PI. wäre als
tatsächlich vorhanden nachgewiesen, wenn "W. Streitberg recht haben
sollte, der IF VI 134 f. in dem auf eiuer ägypt. Inschrift von c. 1275
V. Chr. überlieferten Vülkernaraeu 'Akajwasa die griech.* 'AyaiFüic
(für 'AyociFoi) wiederfindet. Einer kyrenäischen Bildung widmet
K. Brugmann, BSG 1902, I. 110—13 eine Behandlung: er läßt
kyreuäisch laps; neben iapei^ nach der Analogie von o; : ouc (aus ov;)
im Akk. entwickelt sein, wozu aber auch auf Solmsen, BphW 1902,
1492 ff. und Wackernagel, IF 14, 372 f. verwiesen sein mag. Die im
Kretischen seltener neben -s; auftretende Endung -sv (z. B. ajjiv, xtvev,
ou77£vi£v) deutet J. Schmidt, Die kretischen Pluralnominative auf -ev
und Verwandtes ZvSpr 36, 400 — 416 überzeugend als zunächst beim
Pronomen aufkommende Neubildungen: als neben kret. cpspojjLec aus der
gemeingriech. Schriftsprache 'f£po[j.sv eindrang, bewirkte dies zunächst
neben «[xs; die Neubildung «[asv (vgl. Italien. egJi-no nach amino, amano
u. a., auch I7U) für '*h{6^ nach (pepto).
Auf den Nom. Akk. PI. Neutr. bezieht sich ein Aufsatz von
F. Solmsen, BKIS 18, 144 — 7, der auf kret. ari^axiva aufmerksam
macht, eine Form, die als ari zu messen und dem avest. ijä cica zu
vergleichen i^t, somit zeigt, daß die i-Stämme den Nom. Akk. PI. Neutr.
einst auch im Griech. auf T bildeten.
Zum Dat. PI. ist zu nennen
C. Reich elt. De dativis in -ou et -r,tj (-au) exeuntibus. Gymn.-
Progr. Breslau 1893.
Obschon sich die Abhandlung zunächst nur mit Homer und der
Dichtung des 7. und 6. Jahrhunderts befal?(t, ist sie doch auch hier zu
besprechen, da die behandelten Fragen für die gesamte Eutwickelung
des Griechischen wichtig sind. Der Verfasser stellt zunächst auf Grund
des genauer als Gerland und Nauck dies taten, gesammelten Materials
(in der Ilias begegnen 1121 -out, 413 -Y)ai, 211 -oic, 82 -rj;, in der
Odyssee entsprechen die Zahlen 1023:247:212:42) fest, daß im syn-
taktischen Gebrauch zwischen den längeren und kürzeren Formen kein
Unterschied besteht; namentlich tritt bei den letzteren keineswegs die
instrumentale Geltung in höherem Grade zutage. Die Stellen für die
kürzeren Formen werden dabei vollständig gesammelt. Nach der
Stellung vor Vokal bzw. vor Konsonant erhalten wir für Ilias bzw.
Odyssee die Verhältnisse 214 : 79 bzw. 149 : 105. Naucks Versuch, die
kurzen Formen vor Konsonant auf textkrilischem AVege zu beseitigen,
wird im einzelnen widerlegt, auch die apostrophierte Schreibung vor
Vokal wird bei der Seltenheit der Elision von i abgelehnt (zu S. 19:
Formen wie eOeao-js', <pciic' sind wohl nicht als aus eöeXouji, 9aji elidiert,
sondern diiekt als aus iöiXovTi, cpävti vor Vokal entstanden zu betrachten,
Bericht über griechische Sprachwiesenschaft lb9Ü--l'J03. (Schwyzer.) 73
vgl. TMoa für zavTia). Also sind die kürzeren Formen „synkopiert",
wie sich der Verfasser irreführend ausdrückt, denn er meint vielmehr
(S. 21 f.), daß die kürzeieu Formen durch aualogische Ausbreitung von
pronomioalen Formen wie toi;, Toüoscjai, oU u, cä. aus bei den Substan-
tiven neben die ursprünglichen auf -oui getreten seien, wozu auch die
Beobachtung der Dichtung des 7. und 6. Jahrh. stimmt. Für die
pronominalen Formen wie xou (und nur für diese) hält der Verf. an
instrumentalem Ursprung fest: diese immerhin etwas gezwungene Er-
klärung hat jetzt J. Schmidt, dem Heichelts Arbeit entgangen ist, durch
Besseres ersetzt (s. oben S. 30). Nur eben erwähnt sei die unhaltbare
Konstruktion von 0. Nazari, Dell' origine del locativo plurale nelF
autico indiano, greco e italico. Boficl 1900, Nr. 10 (SA.) 7 p., wo-
nach Xuy.ot? als idg. Lokativ auf -; zu betrachten wäre. Weiter weist
W. Schulze, ZvSpr 33, 399—401 eine Reihe von Formen vom
Typus su^'/svEiTi (auch au-f/svsüsi), -/ovsist aus späteren Inschriften nach,
Beispiele für eine Erscheinung, die im Akk. allgemein bekannt ist, für
das Vordringen des Nom. -Ausgangs. Einen Beleg tür den adverbialen
Lokativ Mu/Y^vYjai gewinnt L. Radermacher, RhMPh 57, C40.
Besondere Aufmerksamkeit ist dem Dual geschenkt worden. Die
Erklärung freilich, die B. I. Wheeler, Greek Duals in -z. IF VI
135 — 40 von dieser isolierten Form gibt — xuvs entstand neben xuvsc
nach tnuw neben *ii:ir(us — ist zu mechanisch, um überzeugend zu wirken,
rechnet auch nicht mit der verschiedenen Akzentqualität der beiden o>
und nicht mit der Tatsache, daß der Dual im Griech. von Anbeginn
an nicht die Tendenz sich auszudehnen zeigt, sondern das Gegenteil.
Die Konstruktionen von 0. Nazari, Del suffisso locativo -n nel greco
e neir antico indiano. Torino 1896, Bona (rez. v, Labriola, Boficl
III 240) über die Deklinationsenduugen -iv, -i (in a[X|xi) haben, sowe't
sie neu sind, nichts Überzeugendes, und der neueste Versuch, der
Endung -otiv beizukommeu, den H. Hirt, Zur Flexion des Duals und
der Pronoraina im Griechischen. IF 12, 238—41 gemacht hat (ouv aus
otaiv, mit Antritt der Lokativendung -aiv), scheitert, wie F. Solrasen,
BphW 1903, 1002 ff. hervorhebt, daran, daß -v in der genannten Foj'm
fest ist. Abzulehnen ist A. Ludwig, Eine besondere Dualform bei
Homer. S böhm. Ges. Wiss. 1897 Nr. 6 (S, 14 f.), wonach ajjL'forspcuv
N 303 eine Form des Nom. Dual sein soll. — Der Verbreitung des Duals
im geschichtlichen Griechischen sind die Arbeiten von E. Hasse und
H. Schmidt gewidmet. Nach den Vorarbeiten „Der Dual bei Xenophou
und Thukydides '. Progr. v. Bartenstein 1889, „Artikel und Pronomen
des Dualis beim Femininum im Attischen" Fleck. Jbb. 145 (1891),
416—18 und „Über den Dual bei den attischen Dramatikern". Progr.
von Bartenstein 1891 erschien
74 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
E. Hasse, Der Dualis im Attischen. Hannover und Leip5:ig
1893.
Rez, von Meisterhans, NphR 1894, 55.
Auf ein Vorwort von F. Blaß, das die Notwendigkeit vollstän-
diger Sammlung des Materials tür die griechische Grammatik betont,
folgt „eine vollständige statistische, möglichst alphabetisch geordnete
Übersicht über die Dualformen im Attischen", nach Pronomen, Nomen,
Verbum geordnet; das inschriftliche Material steuerte K. Meisterhans
bei (aber oh CIA IV, 1, b, 3T6^^^ ist nicht sicher fem. [S. 14]; CIA
I 128, 9 ist ergänzt, es fehlt das schon bei Meisterhans^ S. 96 Nr. 914
stehende Zitat CIA 129, 9 [S. 17] und anderes, das ich in Meisterhans^
berichtigen konnte). Es zeigt sich, daß die Dualforraen auf -a, -aiv bei
Artikel und Pronomen eine größere Verbreitung haben, als ihnen ge-
wöhnlich zugestanden wird, und zwar müßte das Paradigma lauteu: xa,
meist TU), xaTv, auch toiv. Das Eindringen der Form auf -oh ist aber
trotz dieser Statistik und des Verfassers echt papierenem Schluß aus
einer Platostelle (S. 18) vom Gen. -Dat. Dual, von Fem. der 2. und
3. Dekl. ausgegangen, infolge einer äußerlichen Assimilation des Ar-
tikels an die Endung -oiv: dafür spricht die Beobachtung, die der Verf.
selbst macht: „Man kann im Griech. wohl sagen aficpoiv xoiv uoXsoiv, -otv
■KoXiovj a|j.'pox£potv, aber niemals anders als xauxaiv xaiv aosXcpatv, wohl
xoTv 7£v£jeoiv, aber nicht anders als xaiv oixiaiv, wohl xoiv ösoiv, aber
auch für dieselben Gottheiten Tah ilsaiv, wohl xoiv yepoiv, aber ebenso
auch xaiv yspolv xaTv ejxauxou, jaiv yz^oh, yepoiv sjxaiv, '/tpoh xaivos."
Daß die Assimilation fast nur beim Artikel eintritt, erklärt sich aus
dessen besonders enger und häufiger Verbindung mit dem Substantiv.
Das Gleichmäßigkeitsbedürfnis zeigt sich auch darin, daß man sagen
kann TiaToe; 6uo, aber nur Traiooiv öuoiv; im Nom. Akk. verschlägt die
Anwendung der Pluralform nichts, da vollkorameue Gleichheit ja auch
bei Setzung der Dualform nicht zustande kommt.
Hasse hatte seine Untersuchungen noch in die spätere Zeit hinein
auszudehnen begonnen in seinen Abhandlungen „Der Dual bei Polybios"
Fleck. Jbb. 147 (1893), 162—4 und „Über den Dual bei Lukianos\
ebd. 681—8 (vgl. die ßez. von P. Schulze, WklPh 1894, 626 f.), als
von anderer Seite eine umfassendere Arbeit über den freilich rein künst-
lich am Leben erhaltenen Dual in jener Periode erschien:
H. Schmidt, De duali Graecorara et emoriente et reviviscente.
Breslau 1893 (^ Breslauer philologische Abhandlangen Band VI
Heft 4).
Rez. von G. Meyer, LC 1893, 1646 f.; Kretschmer, DLZ 1894,
453 f.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1896—1903. (Schwyzer.) 75
Die Abhandlung^ enthält eine fleißige Behandlung des Dualge-
brauchs von Aristoteles bis auf Dio Chrysostomos. Das Resultat ent-
spricht der allgemeinen Sprachentwickelung: Aristoteles, Tlieophrast und
Polyb, die der klassischen Epoche am nächsten stehen, brauchen den
Gen.-Dat. Dual noch nicht allzu selten, die beiden ersten auch noch
die Form auf -aiv, letzterer nur die auf -oTv, doch fast nur in Ver-
bindung mit öuoiv oder ajxcpoTv. Mathematiker wie Euklid und Archimed,
Historiker wie Diodor brauchen den Dual gar nicht, und auch der
Geograph Strabo verhält sich dagegen ablehnend, obwohl ihn Dionysios
von Halikarnass wieder (künstlich) erweckte (er braucht ihn bezeich-
nenderweise nur in der Formel xw ysrpe). Aber Nikolaos von Damaskos,
Philo, Josephus verfolgen den von Dionys gewiesenen Weg, weuu auch
erst Dio Chrysost als erster Attizist in des Wortes engerer Bedeutung
häufiger die Formen auf -to, -e, -otv und auch dualische Verbalformen
anwendet. Die erste dualische Verbalform seit Aristoteles erscheint bei
Josephus (tjsttjv).
Für den altepischen Kasus auf -aiv hat eine neue wichtige Tat-
sache aus Licht gezogen F. Solmsen, RhMPh ÖQ, 475 — 7 durch seinen
Nachweis, daJ3 era7raTp69tov in der Formel ovouixa xri eTriTra-pocpiov auf
der tanagräischen Inschrift REG 12, 53 ff., die übrigens eine hübsche
slavische Entsprechung hat, auf einer Form tratpo^i beruht: -9t war
also auch als Siug. -Suffix einmal im Böotischen oder Äoliscben
lebendig.
Pronomen.
Die Forschung hat sich im letzten Jahrzehnt besonders mit autoc
und dem Reflexivpronomen beschäftigt. Über das erstgenannte ist hier
sogar eine besondere Schrift zu nennen; ich meine
N. Flensburg, Ursprung und Bildung des Pronomens auto?.
Lund 1903.
Rez. von Brugmann, LC 1893, 857 f.
Nach einer negativ-kritischen Erörterung der Hypothese Windischs
und der von Wackernagel früher vertretenen stellt der Verf. zunächst
fest, daß auj, die argiv., böot., delph. Nebenform von auroc (besonders
in au; auTo; u. ä. Verbindungen), nicht aus auro; gekürzt sein könne
(dies freilich mit Unrecht, vgl. oben S. 30), und daß die Formen mit
<u (auocoTov) sekundär seien. Ein 4. Kapitel lehnt Zusammenhang von
"10- mit dem gleichlautenden Demonstrativstamm ab. Die beiden letzten
Kapitel sind wieder positiv: im 5. werden die Ausdrücke für „selbst"
in den idg. Sprachen durchmustert, Wortgebilde teils pronominalen,
76 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
teils aber nominalen Ursprungs (ai. tä-, efä-, avest. Jiva- neben ai,
tanü, ätman-, lit. päts). Das 6. Kapitel führt dann auro; auf ein Nomen
zurück, auf oi'j- aus aju- = ai. asu- „Leben, Leben der Seele", av.
atdku „Leben", alat. erus. auc repräsentiert den urspr. Nora., auxo'c ist
urspr. nicht Nora., sondern eine Bildung mit dem ablat. -lokalen Suffix -tos-
Tai. rhJmtds u. ä.). auxo? „von sich aus" wurde dann in seiner Isolierung als
Nom. empfunden und von da aus mit seinem historischen Formensystem
ausgestattet. Dies der Hauptinhalt der anregenden Schrift; Flensburgs
Hypothese ist die am besten durchgeführte und begründete ; in der Haupt-
sache scheint jedenfalls das Problem gelöst. — Im Hauptresultat ist
Flensburg zusammengetroffen mit
J. Wackernagel, Miszellen zur griech. Grammatik 23. Das
Refiexivum. ZvSpr 33, 2—21, 61 f.^).
der außerdem nachweist, daß die ßeflexiva eau--, E|xauT- sich im Atti-
schen durch die Länge ihres (also auf Krasis beruhenden) ä von au--
unterschieden, was durch die jüngeren inschriftlichen Schreibungen sa--,
eixaT- erwiesen wird, die sich seitdem noch vermehrt haben. Die ur-
sprünglichste aller Formen ist im louischen ewutw aus ioi aO-Ji, im
Attischen stehen Gen. oder Dativ an der Spitze der Entwickelung: so
modifiziert W. die Ausführungen von
A. Dyroff, Zum Pronomen reflexivnra. ZvSpr 32, 87 — 109,
der im Hauptteile seiner Arbeit ausführlich das von I. Bekker aufge-
stellte Reflexivpronomen Fso; widerlegt; „auch die klassische Philologie
hat £0? = eFo; aufzufassen und damit zu rechnen". D.s Ansicht ist
nunmehr auch inschriftlich bestätigt durch pharsalisch hza; s. F. Solmsen,
RhMPh 58, 611.
F. Solmsen, ZvSpr 31, 475 — 7 nimmt au, 6 osiva sei ausge-
gangen von raösiva und xaös sv« (gleicher Stamm wie in i/si-svo;). S.
noch oben S. 73.
Wenig ist zum
Zahlwort
zu bemerken. A. Weiskes angebliche, ohne Berücksichtigung der
Inschriften aufgestellte Kegel ,,über den Untei schied zwisclien dem
deklinabeln und indeklinabeln 660", wonach dieser Unterschied mit
substantivischer und adjektivischer Geltung, mit der Verwendung des
Wortes zum Ausdruck der Paarigkeit oder der reinen Zweizahl zusammen-
') Eine ähnliche Ansicht hat übrigens schon früher V. Henry aus-
gesprochen, der seine Prioritiit Rcr 1902, I, 190 feststellt.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 77
fällt (ZG 1893, 152; Beiträge zur griechischen Grammatik iu der Fest-
schrift zur 200 jährigen Jubelfeier der vereinigten Universität Halle-
Wittenberg dargebracht von der lat. Hauptschule der Franckeschen
Stiftungen. 1894, S. 17—21), ist schon von E. Hasse, Der Dual im
Attischen 5 Fußnote 1 zurückgewiesen worden. — W. Schulze, ZvSpr
33, 394 f. vermutet, daß oi^oc, tpt^o? erst nach xs-oa^o^ (aus xtzpct.ypjo^)
gebildet seien.
Adverbien.
Mit tatsächlichen Feststellungen beschäftigen sich einige kleinere
Artikel. So beweist J. May, NphR 1901, 457—60 aus Demosthenes-
handschriften, daß ouxw; viel verbreiteter war, als man gewöhnlich an-
nimmt [oben S. 50]; L. Radermacher, RhMPh 54, 638 weist einige
neue Belege für oGxfuji nach.
Andere Forscher haben sich an der Erklärung der Formen dieser
Wortklasse versucht, die ja ebenso interessant als schwierig sind. Eine
zusammenfassende Arbeit über eine semasiologische Gruppe von Ad-
verbien liefert
Fr. H. Fowler, The negatives of the indo-european languages.
Diss. Chicago 1896.
Der uns hier zunächst liegende Abschnitt über die griech. Ne-
gationen (S. 10—19) enthält S. 12 f. eine Zusammenstellung von Bei-
spielen wie AVörter, denen an sich nichts Negatives anhattet, über
intensive Bedeutung zu negativer gelangen, in der Art von deutsch
kein, frz. pas, rien-, auf dieser Grundlage wird dem gr. ou (verglichen
mit ai. u) urspr. intensive Bedeutung zugeschrieben. Doch werden
o'jx ouv und die ou |j.Y]-Konstruktionen wohl mit Unrecht zur Begründung
verwendet.
Erstarrte Kasusformen suchen in griech. Adverbien A. Bezzen-
berger, der BKIS 24, 321 Anm. 1 in r^o von Trup-jYjoov, a(paipy;o6v u. ä.
■den Ablativ, und W. Prellwitz, der ebd. 26, 311 in |xaxY)v, axixrjv
Instrumentale sehen will.
J. Schmidt, Die griech. Ortsadverbien auf -ut, -uu und der
Interrogativstamm ku. ZvSpr 32, 394—415 weist nach, daß die in
den Dialekten reich vertretenen Adverbia auf-ut, ui? (woraus -ü?) nicht
Lokative auf -ot sein können: sie sind vielmehr von *v:oi, *tuic ausge-
gangen (vgl. kret. oüut, syrak. tiüc, rhod. o-u?), Musterformen, die mit
•dem besonders im Arischen und Lateinischen vertretenen Interrogativ-
stamm ku zusammengehören.
78 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Verbum.\)
An die Spitze gestellt sei eine Arbeit zur verbalen Stamm-
bildung:
L. Sütterliü, Zur Geschichte der Verba denominativa im Alt-
griechischen. Erster Teil. Die Verba denomiuativa auf -«tu -etu -ou).
Straßburg 1891.
Rez. von Wackernagel, BphW 1892, 1109—13.
Die interessante, lesbar geschriebene Abhandlung setzt sich das
Ziel, die Schrift von der Pfordtens über denselben Gegenstand (1885)
zu ergänzen und zu vertiefen, ersteres namentlich durch die Beiziehung
des inschriftlichen Materials, letzteres durch Verinnerlichuug der ganzen
Auffassung, Darum geht jeder der drei Hauptteile, in die naturgemäß
die Schrift zerfällt, weniger auf die regelrecht gebildeten Grundtypen,
die von a- resp. o-Stämraen ausgehen, ein, als auf die auf anderen
Stämmen beruhenden Bildungen. Für die weite Ausbreitung der drei
Bildungen über ihre eigentlichen Grenzen hinaus werden teils formale
noch mehr aber semasiologische Analogiewirkungen verantwortlich ge-
macht; mit großem Scharfsinn wird den Mustern für einzelne Bedeutungs-
gruppen nachgespürt, wobei sich der Verf. freilich der Unsicherheit
seiner Ei-gebnisse bewußt bleibt; auch läßt sich nicht jedes Verb in
eine Gruppe einordnen. Am meisten Neues bietet in formaler Hinsicht
der Abschnitt über die Verba auf -6cu; S. nimmt an, ihre Neuschöpfung
sei teils nach der Proportion axsTro:, axsTrat;: axtizdio = öpr/xw, öpiYxot;:
ftpqxoü) erfolgt, teils den -to-Bildungen auf -toxo; zu danken. Gelegentlich
wird auch auf Etymologisches eingegangen, ich verweise beispielsweise
auf die Bemerkung über xu^uTam (S. 17 f.).
Augment und Reduplikation.
Hier ist in erster Linie zu nennen die umfassende Behandlang
dieses Gegenstandes für zwei poetische Literaturgattungen, deren Form
die Überlieferung sicherer zu beurteilen erlaubt als die Prosa:
0. Lautensach, Grammatische Studien zu den griechischen
Tragikern und Komikern. Augment und Reduplikation. Hannover 1899.
Rez. von Wecklein, BphW 1900, 737—40.
Der schon durch frühere Arbeiten bekannte Verfasser (vgl, unten
*) A. Pircüer, Flexion des griechischen Verbums, Gymn,-Progr,
Meran IS'JO, will nur Uüteirichtszwecken dienen, was hier ausdrücklich
bemerkt sei; vor P. Wpiß, Grundzüge des griech. und lat. Verbums,
Regensburg 1891, sei gewarnt (vgl, die Rez. von Brugmann lA 1, 26).
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 71)
S. 80) stellt in dieser Schrift nicht nur alle irgendwie von der gewöhn-
lichen Bildung abweichenden augmentierten und reduplizierten Formen,
sondern im Anschluß an die behandelten Fragen auch die einschlägigen
Zeugnisse der alten Grammatiker, Lexikographen, Scholiasten zusammen
und liefert damit einen Beitrag zur griech. Grammatik, der in Hasses
Behandlung des Duals seine genaueste Parallele hat. Er steht mit
Hasse auch insofern auf einer Linie, als er das Hauptgewicht entschieden
auf die Sammlung und Darstellung des Materials legt; die sprachge-
schichtliche Erklärung steht in zweiter Linie und ist nicht immer ein-
wandfrei. Ich gebe zunächst eine Übersicht über den Inhalt des Buches;
es zerfällt naturgemäß in zwei Teile. Der erste gilt dem Augment,
dem syllabischen (mit den Unterabteilungen: y) als Augment, Doppel-
konsouant nach dem syllab. Augment, z. B. I'ppeov, syllab. Augment
vor Vokalen A unverändert, B verschmolzen, z. B. slöov) und dem
temporalen (a bei urspr. mit F und 7 anlautenden Wurzeln, b bei
urspr. vokalisch anlautenden Wurzeln). Die Reduplikation ist ent-
weder Präsensreduplikation (ausführliche Darstellung der verschiedenen
Bildungsweisen), Aoristreduplikation (nur in wenigen Fällen belegt)
oder Perfektreduplikatiou ( a bei konsonantisch anlautendem Verbal-
stamm, b bei vokalisch anlautendem Verbalstamm). Den Beschluß
machen Abschnitte über die attische Reduplikation , das Augment der
Plusquamperfektformen (wozu auf J. Wackernagel lA V 68 f. verwiesen
werden konnte), Augment und Reduplikation der zusammengesetzten
Verba, doppelte Augmentation und Fehlen des Augments. — Sehr viel
Neues gegenüber der Darstellung bei Kühner-Blaß II 6 — 37 ergibt sich
nun freilich nicht; am meisten gewinnt die Lehre vom syllab. Augment
vor Doppelkonsonant (hier steht auch ein Ergebnis, das weitere Kreise
interessieren mag: xaxappotxTif]? „der sich hinabstürzende", vom intran-
sitiven xaTapp7]7vu}jLi ist die alte und echte, xatapaxr/]; die durch An-
lehnung an xaxapaacTcu [vielleicht begünstigt dnrch die Vereinfachung
der Geminaten] entstandene spätere Form), Dagegen werden Lauten-
sachs genaue und erschöpfende Zusammenstellungen für manche etymo-
logische Frage sich sehr wertvoll erweisen; der Gewinn für die Text-
kritik liegt auf der Hand.
Nur streifen kann ich eine Arbeit, die ein Kapitel aus der home-
rischen Augmentlehre beschlägt:
G. Dottin, Etüde de grammaire homerique: L'augraent des
verbes composes dans l'Odyssee et dans l'Iliade. Extrait des annales
de Bretagne. Rennes 1894,
um so mehr als sie mir nur aus der Inhaltsangabe lA VII 56 bekannt
ist; die Arbeit will die Bedingungen feststellen, unter denen das Augment
80 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.
erschien oder wegblieb: doch läßt sich mit Sicherheit nur aus prosodi-
schen Gründen die Notwendigkeit einer Form erweisen, hier allerdings
sehr oft. — Ebensowenig sind mir zugänglich der Aufsatz von Du-
gesnoy, L'augraent aux aoristes du verbe a^vu-j.-.. Compte rendu du
congres scientifique international des catholiques, tenu ä Paris 1 — 6.
VI. Sect. Philologie. Paris, Picard, 1891, p. 88—108 und die ein-
schlägigen Bemerkungen von K. E. K6v-oc, 'A{>r,va VII 289 ff.: ersteres
weist nach lA II 106 nach, daß vor Alexander nur die Indikative
l'a^a, ea^riv augmentiert erscheinen — erst später hat man es nach dem
Perf. xaTsaya auch in die Modi der Aoriste eingeführt — und letzterer
behandelt nach lA VII 50 auch Bildungen wie xexa-Y^pajjiat, |x£|x£&(u-
6£U}j,evoc u. ä. in der späteren Gräzität.
Ebenfalls eine Einzelfrage aus dem Gebiet der Augmentation
behandelt
Fr. Stolz, Studien zur Doppelaugmentierung der griechischen
Verba. WSt 25, 127—142,
der sich gegen die Annahme wendet, daß die Doppelzusammensetzung
oder die Verdunkelung des Sprachgefühls daran wesentlichen Anteil
habe; er sieht in dem schwankenden Sprachgebrauch vielmehr eine
, Laune der Sprache". Auch für das älteste attische Beispiel, -rjvsr/ofxTjv
r;v£cjyofji.rjv (doch begegnet noch bei Aristoph. und Eurip. av£3y.), läßt
sich kein Grund angeben: die Volkssprache oder einzelne Schriftsteller
mögen verantwortlich gemacht werden. Homer kennt die spezifisch att.
(auch bei Heiodot nicht sicher bezeugte) Doppelaugmentierung nicht;
daher ist avaivojiai mit rjvi^vaTo nicht mit Osthoff aus ava -r aivop.at (zu
aivo?) zu deuten (Potts Bedenken gegen Buttmanus Etymologie teile
ich aber: die für sich stehende Negation war ne, nicht v). Beiläufig
wird das Schwanken der herodot. Überlieferung in der Augmentierung
darauf zurückgeführt, daß Herodot die iterativen Imperf. und Aor.
durchaus unaugmentiert brauchte.^)
Person alendungen.
Auch hier ist eine umfassendere Arbeit voranzustellen:
0. Lautensach, Grammatische Studien zu den griechischen
Tragikern und Komikern. I. Personalendungen. Progr. des Ernestinum
zu Gotha 1896.
L. stellt aus seinen Quellen das Material zusammen, erst für die
aktiven, dann für die mediopassiven Endungen. Da wird dann manches
^) Vgl. auch *G. N. Ifatzidakis, U^y. i-yo/j^r^-M^ zvji'^yj -Jzwv. 'Aflr^va
14, 133-G.
Bericht über griechische Sprar hwissenschaft 1800— 1903. (Schwyzer.) 81
scbäifer piäzisiert; für die Textkritik, auch für die Datierung einzelner
Dramen (wenn auch hier alles mit Vorsicht aufzunehmen ist) fällt dies
lind jenes ab. So ist z. B. bei Ascb. und Soph. tj (1. Pers. Sinj.'.)
herzustellen, Eur. hat an 6 Stellen vor Vokal ^v, bei Arist. gilt noch ^.
aber im Plutos hat er sclion ^v; im Plusquamperf. hat die 1. Sing. -Tj,
erst für die mittlere Komödie -stv, in dei- 3. Sing, urspr. -st, doch schon
bei Soph. -eiv. Schon beim Plusquamperf., noch mehr aber beim Aorist
(rjvE^xa tl-i) gehört einzelnes bereits der Tempusbildung an. Für die
Dualendungen bildet L.s Arbeit eine teilweise Kontrolle von Hasses
Zusammenstellungen. Die Darlegung über sTrXTjpoüsav Eur. Hec. 574
(S. 18) zeigt, daß Jannaris, histoiical Greek grammar § 789 kein Recht
hatte, das Zitat als ältesten Beleg der neugriech. Umbildung der 3. Pers.
Flur, der Kontrakta zu geben: die Lesart geht auf Choiroboskos zurück,
dem die Bildung allerdings aus seiner eigenen Sprache geläufig gewesen
sein muß.
Von einer spätgriech. Umbildung der Endung der 3. PI. Perf. Akt.
räch der entsprechenden Aorist/orm nimmt ihren Ausgang die reich-
haltige Arbeit von K. Bure seh, Fs^ovav und anderes Vulgärgriechisch.
RhMPh 46, 193 — 232, auf die ich hier übrigens nicht näher einzu-
gehen habe.
Von den Ausführungen von C. M. Mulvany, Sorae forms of
Honieric Subjurctive. CR 10, 24 — 27 sei namentlich hervorgehoben,
daß er -ipi (aus -r^-i) statt -t;-'. als echt homerische Form verlangt.
Zu den Imperativendungen sind mehrere Arbeiten zu nennen:
*J. H. Wright, Five interesting Greek imperatives. Harvard Studies
in class. Phil. VII 85 — 93 stellt die Imperative tmi, oiyoi u. ä. zu-
sammen, worin er das demonstrative t „hier" sucht; ähnliche Bildungen
sind seither noch einige ans Licht gezogen worden: a';E'. -= a';z, o-ivci • oeüpo.
"Apy.(io£c (F. Solmsen, RhMPh 54, 345 ff.); K. Brugmann, Zur griech.
und germ. Präsensflexion. IF 15, 126—8 verknüpft damit das von
J. Wackernagel, ZvSpr 33, 25 ff. behandelte pindarische Swoi und nimmt
für die Bildungen idg. Alter in Anspruch: zugleich verwendet er sie
unter Preisgabe seiner früheren Erklärung von a'Ystc, «Yet (a^eic aus
«-,'£[3]'. + j, danach a-(zi), die kürzlich F. Stolz, Zur Bildung der 2. und
3. Sg, Präs. Akt. von cpYjiJLi. IF 14, 15—20 (97;; aus *cpö[[cj]i^- ?); Zur
Bildung der 2. und 3. Sg. Ind. und Konj. Pias. Akt. im Griechischen.
ZöGy 1902, 1057 — 66 (a.stc aus a-;t[j]i-i- a'-öc kontaminiert, danach
a-^Et) zu stützen versucht hat, zu einer neuen Erklärung dieser Formen,
die danach ihr si vom Imperativ auf -£i bezogen hätten. Der Aus-
gangspunkt ist aber zu wenig gesichert: für die Formen auf -ei ziehe
ich Solrasens Erklärung, der im Ausgang die Partikel ei sucht (vgl. ä
in mhd. hüfä), für oi'öoi Wackernagels Vermutung vor.
.Jahresbericht für Altertumswisseaschaft. Bd. UXX. (1904. I.) 6
82 Bericht üLier griecbisclie Spiacliwissoiiscliaft 1890 — ]'.)()". (Scbwy^cr.)
H. Hirts (ilcichsotzunji; vou griech. cpspovrcov mit got. balrandau,
ai. bbärantuni (IP VJL 179—182) bat, -choii J. Wackerna^el , Ver-
miscbte Beiträge 51 bekämpft, wenn aucb Hirt in seinem Handbncb
der griech. Laut- und Formenlehie 429 daran festhält.
Die sog. äoliscben Optativformen sind von vers<*hiedeueu
Seiten bebandelt worden: nach F. W. Walker, CR 10, 3G9 f. wäie
„seta a ligbter form of aetr/' „rpaSsituv simply tlie participle of Trpa^etac,
Ttpoc^ete": über J. Wackeinagels Erklärung s. oben S. 12. Dal', aut-li
sie nicht jederScbwierigkeiteutbehrt, betont Brugmanu griech. Grammatik '
319. Die neue Form aösaÄ-cuhaie auf einer elischen Bronze kläit nichts
auf (vgl. Meisterhans-Schwyzer 167 Nr. 1403). Die Gründe, mit denen
F. \V. Walker, CR 1898, 250-2 die Form U'ioizw als lautu'esetzlich
zu reciitfertigen sucht, werden wenige überzeugen (durch das Gesetz
,,that a nasal sonant cannot arise before a tantosyllabic vt" . das auch
durch yapiev r^i^jo^j bewiesen werden soll).
Unter den Arbeiten zu den medio passiven Endungen stelle
ich voran K. Zacher, Die Endung der 2. Pers. Sing. Ind. Med. Pa
Suppl.-Band "VII 473 — 84 (in: Kritisch-grammatische Parerga zu Aristo-
phanes, Pb Suppl.-Band VII 437 — 530).^) Grammatiker und Hand-
schriften weisen nach Zacher auf -et als spezifisch attische Form bei
Xomikern und Prosaikern. ^Die alte Form ist -r,'., deshalb w'ird diese
von den Tragikern bewahrt, in der Umgangssprache kommt -et auf',
von den Komikern und Rednern verwandt. Wenn nicht Aristophaues
selbst, so schrieben doch die zeitgenössischen Buchhandlungsschreiber in
seinen Werken -ei; -r/. erscheint wieder bei Xenophon, dann in der
y.o'.v/j. So weit der Verfasser: doch wird ein lautlicher Unterschied in
voralexandriuischer Zeit nicht vorliegen, nur ein graphischer.
Als Ausgangspunkt des al) betrachtet Chr. Bartholomae, Das
griechische Infinitivsuffix cöat. RhMPh45,151 — 3 eben deninönitiv, dessen
a uisprünglich nicht zur Endung gehört habe: eutsprechend ind. bhäru-
dhyäi „zu tragen", wörtlich „Tragang zu tun", war Fstoeu-flat ur.-iir.
veides + dhai „Erscheinung zu machen".
An Bartholomae knüpft an J. Wackeruagel, Die Medial-
endungen mit Ol). ZvSpr 33, 57 — 61: der Imperativisch gebrauchte Inf.
auf -ctlai veranlaßte zunächst im Imperativ, dann auch in den andereu
Modi die sukzessiven Neubildungen ji)iu : tu>, afte : -z, ailov : xov. oörjv : Tf,v.
Daß -oöat medial wurde, kann bei dieser Erklärung nicht mehr, wie
Barth, will, an den sonstigen medialen Formen mit oi) liegen, da ja
») Vgl. dieRcz. von Frautz, 1)17. l^'Jd, 182G— .^; -ü, LC lbl)5), 14UG;
Zuretti, BoH-l Vi 11-1 t.
ßericlit über griechische Sprachwissenschaft 1S90— 1903 (Schwyzer.) 83
diese jüng'er sind, soudei n beruht darauf, daß der Inf. auf -zi)a: zufällig-
g:erade bei medialen Verben überliefeit war. Unabliäng-iff hatte schon
vorher A. Hillebrandt, Die Endung" -crf)£. BKIS 18, 279—81 eine
ähnliche Erklärung- vorgebracht: cf^e ist danach analo2ische Unibildung-
eines urspr. -9s (: ai. -fha), -jflrjv solche eines urspr. -O/jv (: ai -Ihäm).
Nur eine, aber eine hochwichtige Arbeit ist zur Präsensbil-
dung- anzuführen: J. Schmidt, Die griechischen Präsentia auf tV/cw.
ZvSpr 37, 26 — 51. Der Aufsatz, dessen Hauptergebnis schon SPrA
1890, 921 bekannt gegeben worden war, beginnt mit einer Übersicht
über das Material mit Belegen: es lassen sich 13 Präsentia auf uy.oj
nachweisen, t ist als Länge zu fassen, als Tiefstufe zu äi. r/., w., das
bei den ältesten im Aorist ursprünglich daneben stand, vgl. aXis-/.o|xa'. :
saXtov (mit (D für coi), eupT-xw : Eupr^cjcu, -KiTTiaxco : pö(i). apapijxto ist,
wenn es T hat, junge Neubildung. Wo -r^cxw (iW^axco, ;j.'.}j.v7jaxü)) und
-cojxd) (»}pipjxü) nur bei Grammatikern; YqvwTxw immer ohne i) er-
scheint, sind T,i (ui statt T aus dem Aorist eingedrungen, wo es einst
vorhanden war. Das Prinzip der Erklärung veröffentlichte übrigens
H. Hirt noch früher (vgl. IF 12, 203 Anni.). — Nur hinweisen kann
ich hier auf F. Solmsens Behandlung des Übergangs von ion. o''^r,p.at
zu oiCo[j.ai (von ot^sat aus) IF 14, 426—8 und auf K. Brugmanus
Deutung der ion, Iterativpräterita auf -axov (zB. 9o?jxo-.' aus *^o.-yz
ay.o'i „ich war sagend*) IF 1.3, 267 — 77.^}
Futurum.
Nur beiläufig kanu hier eivvähnt werden, daß A. Bezzenberger
BKIS 26, 169 if. das dorische Futurum mit dem litauischen zusammen-
bringt: (awe-)siu ^ (E7crcpax-)a£cu. — An einzelnem ist vor allem zu
nennen ein Aufsatz von J. Wackernagel, Griech. •/.-z^'jrjzi. IF II
151 — 4. W. weist nach, daß bei Homer noch xTspioycrt. xo|j,iu), i-;X7.tz-
aöat u. ä. zu schreiben ist: die zirkumflektierten Eormen sind erst für
das V. Jahrh. nachgewiesen. Sie beruhen auf einer Ausdehnung des
zirkumflektierten Typus von ßißw, a-f/eXw usw. In hellenistischer Zeit
setzt sich dieser Vorgang fort: yaüi 7rioü|jiat, sooüfxot'.: ähnlich im Dorischen.
*) Nur zur Warnung weise ich auf F. Prestel, Zur Entwickelungs-
gescbichte der griechischen Sprache. Gymn.-Proer. Münnerstadt 1899 hin,
wo in völlig unwissenschaftlicher Weise über die Verba contracta geredet
wird. Da neues Material nicht geboten wird, ist die kleine Schrift durch-
aus wertlos. Vgl. S. 7: „Ich halte -(>c( bzw. -3i>ci für die älteste Form des
Suffixes der 2. Singular. Aus -oÖ^a ist nach Abfall von &« nunmehr o übrig-
geblieben, das durch Beigabe eines i eine Angleichung an ai und -•- erfuhr" !
6*
84 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
Aorist.
Unter diesem Stichwort ist zunächst eine Debatte namhaft zu
machen, die sich über einige dialektische Formen des sigmatiscben
Aorists entspann, jedoch auch für die allgemeine Sprachgeschichte
wichtig ist.
W. Schulze, Zur Bildung des sigmalischen Aorists im Griech.
ZvSpr 33, 126 — 32 bekämpft die von Bezzenberger und Fick aufge-
stellte, von Hoffmann angenommene Erklärung von Formen wie ojj-ocijai
mit Hilfe des ai. s/s- Aorists, wonach zwischen den beiden Sigma ein
Vokal ausgefallen wäre, durch den Nachweis, daß Dialekte, welche die
Geminata js festhielten, in jenen Aoristen nur a zeigen, z. B. herakl.
oji-oaavTe^ neben laor^zai. Die Formen wie dfjLOJcrai sind vielmehr. Neu-
bildungen nach T£>ijcyat. Demgegenüber sucht 0. Hoffmann, Zur
Bildung des sigmatiscben Aoristes BKIS 26, 30 — 44 seinen Standpunkt
zu rechtfertigen: Formen wie oajcaa&ai, 6-ojjoc neben (3[xojat beweisen
nichts gegen ihn. da hier cj anderer Entstehung sei. Auch Fexcj^t
(kret. FsTEil&i) sei nicht gleichartig wie (O[xo3a (vgl. ai. äpä-sis-am).
Innerlich ist das sehr wenig wahrscheinlich, da in den meisten Mund-
arten die aj verschiedener Entstehung zusammenfallen und man gerade
in dem Fall, wo die beiden a ursprünglich durch Vokal getrennt waren,
länger als sonst Geminata erwarten sollte. Reine Willkür ist es, wenn
Hoffmann e'jjoixat aus Ijjjojxai, jji im Lokativ aus aFt erklärt. Ebenso
wird man sich nicht davon überzeugen können, daß für (ü|xo3a neben
o[jLos3ai der Akzenlunterschied maßgebend gewesen sei und daß o^ioiat
in den betr. Dialekten Analogiebildung nach Xüjat sein könne. Zum
Schluß muß H. ohnehin erklären, wenn auch seinem Standpunkt keine
Tatsache widerspreche (was aber nicht richtig ist), so sei das Material
zu dürftig. — G. E. Parodi, Intorno alla formazioue delF aoristo
sigmatico e del futuro greco. StIF 6, 417—57 sucht nach neuen
"Wegen für die Ausbreitung des a im Aoiist; es soll auf einer Mischung
des Typus mit j und desjenigen mit «3 (zB. F£i33a, Fsis;, F£13t; ysFasa,
yeFa?, -/£Fa3T) beruhen; ein 3. Typus ist derjenige auf ej (zB. a-röp-
63', xop-£3-). Die zahlreichen neuen Hypothesen haben jedoch gegenüber
den bisherigen Erklärungen nichts Überzeugendes an sich. — Eine ganz
neue Erklärung des s-Aorists stellt F. W. Walker, Philological Notes IX.
The Greek Aorist. CR VII 289—292 auf: der Indikativ wurde erst
sekundär zum s-Konj. und Opt. hinzugebildet; der Ind. Akt. ist in den
Personalendungen nach dem Perf. umgebildet.
Ich schließe hier gleich die Erwähnung eines anderen Aufsatzes
desselben Verfassers an, worin nicht glücklicher gr. eSrixa usw. als ur-
Bericht über griecbisclie Sprachwissenscliaft 1S90— 1903. (Schwyzer.) gö
spiüngliche Perfekta angesehen weiden (Philological notes VIII. Greek
aorists and perfects in -xa. CR V 44G — 51).
Einige Ausnahmen, die zum Teil auch der Schnlgramniatik ange-
hören, bespricht J. Wackernagel, Unregelmäßige Aoriste auf -eja und
Verwandtes. ZvSpr 33, 35 — 38 (xoTSüjaxo, iKoftsaa umgebildet ans urspr.
"■Exeaaaro, ^If^essa; i^vesa nach evei/e^aa ; £7r6v£ja Hippokr. nach £7i6(}£ja).
— F, Stolz, Zum Konjunktiv des griechischen sigmatischen Aoristes.
IP II 154 — 6 macht darauf aufmerksam, daß sich Spuren des knrzvoka-
lischen Konjunktivs auch in der 2. 3. Pers. Sing, in der Überlieferung
der homerischen Gedichte erhalten zu haben scheinen. Er stützt sich
besonders auf B 4 Tt[j.rjj£i (später als Optativ mißverstanden). Um volle
Sicherheit zu gewinnen, wäre freilich das giaphische Verhältnis zwischen
£t und 7ji in den Homerhandschriften zu untersuchen. — K. Brugmann,
KaTajßöJaat bei Herodas. IF 1501 — 4 deutet diese Form schließlich
aus xaxaaßo^aai (vgl. Co'aaov ' aßsaov. Hesych.), während Darbishire,
CR VI 277 Umformung aus xaiasßsjai nach atop£jai : jTpcÖTa! annimmt.
• — Einen neuen Gesichtspunkt für das Verhältnis zwischen £i)£3av : lilrjxav
bei den Rednern macht K. Fuhr, E6HKAN und Ei^QKAN bei den
Rednern. RhMPh 57, 425 — 8 geltend: ,,die Formen mit x fimlen sich
öfter erst bei Deraostheues von 355 ati, lediglich infolge des Bestrebens,^
drei Kürzen hintereinander zu meiden." — Statistisch ist die Arbeit
von J. La Roche, Die Formen von dzzh und £v£7X£iv. WSt XXIII
300—12.
Perfekt.
Ein starkes Peif. yl/o^oi zu yavöavu), l/aoE weist J. Wacker-
nagel, BphW 1891, 1475 f. nach (mit Hilfe des von Kenj^on publi-
zierten Papyrus zu ß 192). — Nicht zugänglich ist mir E. La Terza,
Trattamento della vocale radicale nel tema del perfetto greco. Studi
glottolog. ital. 2 (1901), 1-91.
86 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Syntax.
Allgemeines.
Ira Gegensatz zu fast allen andern Teilen der griechischen Grammatik
ist die Syntax auch im Zeitraum des vorliegenden Berichtes im allge-
meinen noch durchaus eine Domäne der klassischen Philologie geblieben
und wenig von den parallelen Forschungen auf dem Gebiete der übrigen
indogei manischen Sprachen, besonders auch der neueren, berührt worden.
Verwunderlich ist dies nicht: ist doch der erste Grundriß einer ver-
gleichenden idg. Syntax, den B. Delbrück unternommen hat, erst vor
wenigen Jahren fertig geworden. Immerhin besitzen wir bereits in '2.
Bearbeitung eine Darstellung der griechischen Syntax, welche die Er-
gebnisse der vergleichenden Forschung verwertet und auf die entwicke-
lungsgeschichtliche Erklärung das Hauptgewicht legt, die schon oben
S, 8 f. besprochene Arbeit von K. Brugmann, Außer diesem und
Jannai is' Werke (s. oben S. 3 f.) gibt es nur noch eine wissenschaftliche
Bearbeitung der griechischen Grammatik, welche die Sjaitax mitbehandelt,
die Neubearbeitung von ß. Kühners Grammatik (über die Formeulehre
s. oben S. 8 f.):
R. Kühuei', Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache.
Zweiter Teil: Satzlehre. Dritte Auflage in zwei Bänden in neuer
Bearbeitung besorgt von B. Gerth. Erster Band. Hannover und
Leipzig 1898.
Der vorliegende 1. Band der Neubearbeitung entspricht dem 1. Teil
der Kühnerschen Syntax in der 2. Auflage, indem er ira wesentlichen
die Kongruenz, die Tempora und Modi, die Kasuslehre mit den Piäpo-
sitionen, das Pronomen beschlägt; wenn man den weniger gedrängten
Druck berücksichtigt, ist der Umfang unwesentlich gewachsen. Auch
bei der Neubearbeitung der Satzlehre sollte die Anlage des ganzen
Werkes gewahrt bleiben, obschon auch sie vielfach heutigen Anspiüchen
längst nicht mehr genügt. Selbstverständlich, aber mühevoll war die
Sichtung der oft auf veralteten Lesarten und Ausgaben beruhenden
Belege und der darauf beruhenden Schlüsse; wurden alte Belege ge-
strichen, so traten aber auch neue hinzu ; auch neuere Literatur ist, wenn
auch spärlich, zitiert. Aber auch eine Reihe von Grundauschanungen
Kühners mußten der Auffassung der neueren Forschung weichen; so
Rcricht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — ir)0;i, (Schwyzer.) S7
hat Gertli in die Tempuslehre den Begriff der Aktionsart eing-eführt,
dem Oi)tativ dns liecht eines selbständif^en ]\Iodns Jiurücki^-e^ebcu (Külmer
hatte ihn als Konj. der histor. Tempora gefaßt), den Gen. und Dat.
als Mischkasus behandelt — freilich alles so gut es bei der ganzen An-
lage des Ruches ging. Wenn so Kühneis Satzlehre auch in ihrer jüngsten
(Testalt nicht das Ideal einer griechischen Syntax darstellt, als reiche
Fundgrube bleibt sie nnschätzbar.
Ungefähr die Hälfte des im 1. Bande der Kühner-Gerthscheu Satz-
lehre dargestellten Stoffes — es fehlen die Abschnitte über Kasuslehre
mit Präp. und Pronomen — behandelt der 1. Teil einer in englisclier
Sproche erscheinenden aus'führlichen griech. Sjmtax:
1). L. Gilderslee ve, Sj'ntax of classical Greek from Homer to
Demosthenes. First part. The syntax of the simple sentence embracin,'
tlie doctrine of the nioods and tenses. With the Cooperation of
C. W. E. Miller. New York 1900.
p]iite gelegentliche Bemerkung berührt die Praxis des Übersetzeus
ins Griech. (^in the position of Jv beginners sometimes make a mistake
in this regard" § 433) und es läßt sich nicht leugnen, daß nicht so
sehr in der Beschränkung auf die klassische Zeit („the better days
of the language"! §64; doch werden ein paarmal ueutestamentliche und
andere spätere Erscheinungen zum Vergleich herangezojjen), als in der
Darstellung der Prosa der attischen Redner ,as the Standard of conven-
tional Greek" (p. IV) auf den üniversitätsunterricht Rücksicht genommen
ist, und dies ließe sich auch an Einzelheiten zeigen. An die Haltung
eines guten Lehrbuches erinnert auch die spärliche Anführung von
Literatur, die Seltenheit von Anmerkungen. Aber wir haben ein Lehr-
buch vor uns, aus dem der Lehrer nicht minder lernen kann als der
Schüler, es ist zugleich eine wissenschaftliche Leistung oder vielmehr
in erster Liniö eine solche. Die 190 Seiten des 1. Teiles enthalten
in 467 §§ eine Fülle von Belehrung. Die Darstellung ist knapp und
klar, stellenweise an ein Gesetzbuch ei'innerud , aber auch wieder des
erklärenden Momentes nicht entbehrend. Weniger gelungen in Anord-
nung und Behandlung scheint mir gegenüber den andern Abschnitten,
besonders der Tempuslehre , die Lehre von den Modi. Den meisten
Kaum bearsprucheu aber die zahlreichen, vielleicht einige Male (so für
die Substantivierung von Adj. und Ptc. S. 13/7 und für die Stellung
von äv S. 185/9) sogar etwas allzu zahlreichen Beispiele; sorgfältig und
zum Teil auf Grund selbständiger Sammlungen ausgewählt, in fast durch-
weg auch orthos^raphisch hergestellten Texten, illustrieren sie aufs beste
den Sprachgebrauch freilich nicht von Homer zu Demosthenes, wie es
im Titel heißt, sondern von Demosthenes zu Homer. Sie sind nämlich
88 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 - 1903. (Schwyzer )
überall genangeordnet, und zwar steht, wo immer möglich, die Sprache
der Redner an der Spitze, es folgen Plato, Xenoph., Thnk , Herod.,
die Komiker und Trjgiker, Pindar und die Ljm ik, die homerische Sprache
bildet den Schluß. Der prächtigen typographischen Ausstattun? ent-
spricht die äußerste Korrektheit des Druckes. G. faßt in seiner Syntax
die Ergebnisse wohl vierzigjähriger, nicht zum geringsten Teile prak-
tischer Arbeit zusammen; die Probe, die bisher davon vorliegt, beweist,
daß das Ganze ein durchaus eigenartiges, in seiner Art ausgezeichnetes
Werk bilden wird. — Als eine Art Ergänzung dazu kann man eine
andere Schrift des gleichen Verfassers betrachten, obschon sie nicht etwa
in dieser Absicht geschrieben wurde:
ß. L. Gildersleeve, Problems in Greek syntax. Baltimore 1903
[from the AJPh 23, 1—27. 121—141. 241— 260].
Die drei ausgereiften und anregenden Aufsätze, die sich auch durch
geistvolle Darstellung auszeichnen (wenn auch die für syntaktische Er-
scheinungen gewählten kühnen Bilder nicht nach jedermanns Geschmack
sein mögen), behandeln ohne Vorführung von Material in hinreichend
ausführlicher, wenn auch nicht breiter Erörterung einen großen Teil
des Gebietes, für das die „Syntax of class. Greek" nur Sätze aufstellen
und Beispiele liefern konnte; sie greifen sogar durch einige Beme» kungen
zum Satzgefüge über diesen Rahmen hinaus. Bilden sie somit tatsächlicli
teilweise eine willkommene Erläuterung zu dem größeren Werke, ist dies
doch nicht ihr Zweck: sie betrachten vielmehr all die vorgeführten Er-
scheinungen unter dem Gesichtspunkt des Stils; eine griechische Syntax
ist naluruotwendig eine syntaxis ornata. Gegenüber der bloß mecha-
nischen Statistik vieler syntaktischen Arbeiten wird jene Vertiefung
gefordert, die nur durch vollkommene Vertrautheit mit dem Schriftsteller
und dessen literarisch-ästhetischer Stellung erreicht wird. Syntaktische
Unterschiede W'urzeln oft lediglich im Stil, w-as an einer Reihe von
Beispielen feinsinnig nachgewiesen wird; auf der andern Seite wird aber
auch vor einem „hyperacstheticism" in der Syntax gewarnt. Aber das
Fehlen des substantivierten Inf. bei Homer (10 f.) beruht doch zunächst
darauf, daß in homerischer Zeit der Artikel noch nicht voll entwickelt
war; erst für die nachhomerische Epik ist das Fehlen des subst. Inf.
ein Stilcharacteristicum, das aber teilweise auch aus dem maßgebenden
Einfluß des hom. Epos, nicht allein aus der vulgären Sphäre jener syntak-
tischen Erscheinung sich erklärt. Für die nachklassische Zeit hat der
Verfasser nicht viel Sympathie, obschon er auch sie studiert; man ist
fast überrascht, nach Urteilen wie „oO jxr^ has become the cheap eni-
phasis of a showy race and a degenerate time" (S. 138), „we sigh when
we find iav with the indicative in later Greek* (S. 139) ihr doch einen
Bericht über griechische Sprach wisscnscliaft 1890—1903. (Schwyzer.) 89
Wert für die historische Sprachforschung zugestanden zu sehen (S. 258).
Und doch betont G. bei mehr als einer Erscheinung; der klassischen
Zeit, sie hätte zu Homers Zeiten abstoßeud gewirkt! Das Büchlein,
das uns den hochverdienten Forscher in der Einleitung auch menschlich
näher brinjit, enthält eine grundsätzliche Kritik vieler im folgenden
zu nennenden syntaktischen Arbeiten und sollte von jedem, der an eine
solche herantritt, studiert werden.^)
Von großer allgemeiner Wichtigkeit ist in der Syntax die syntak-
tische Assimilation oder Attraktion, Ausgleichung, wie mau auch
wohl zu sagen pflegt. Erscheinungen wie die Attraktion des ßelativs
oder die constructio ad sensum, die Prolepsis, die Modusassimilation
u. ä. sind bekannt genug und von allgemeinen Gesichtspunkten aus hat
schon Ziemer, Junggrammatische Streifzüge 55 ff. das einigende Band
gefunde»; jetzt liegen zwei ausgezeichnete schwedische Arbeiten vor,
die sich das Ziel gesteckt haben, je einen Schriftsteller auf jene Er-
scheinungen hin zu untersuchen, ein unternehmen, das nicht nur für
die Interpretation, sondern auch für die allgemeine griech. Syntax frucht-
bar zu nenuen ist:
J. E. Azelius, De assimilatione syntactica apud Sophoclem. Diss.
üpsala 1897.
^) Auf eine Reihe vou kleineren Arbeiten zur allgemeinen Syntax ein-
zelner Schriftsteller kann ich hier nur verweisen, z. T. auch darum, weil
sie mir niclit zugänglich sind:
*F. Weigel, Quaestiones de vetustiorum poetarum elegiacorum Graeco-
rum sermone ad syntaxin, copiam, vim verboram peitiaentes. Diss. phil.
Vindob. III 109-238; *Nehmeyer, Syntaktische Bemerkungen zu Hero-
dot. Progr. Darmstadt 1895; *C. F. Smith, Some poetical constructions
in Thucydides. TrAPhA 25, 61 — 81 (vgl. ßphW 1895, 1569 — 72); H.
Kalletiberg, Textkritik und Sprachgebrauch Diodors I. Progr. des Fried-
richs-Werderschen Gymn. Berbn !9Ul (Behandlung einer Reihe einzelner
Stellen, mehr textkritisch als grammatisch); *P. Schmidt, Die Syntax
des Historikers Herodian. Progr. Gütersloh 1893; E. Mann, Über den
Sprachgebrauch des Xenophon Ephesius. Progr. Kaiserslautern 1896 (enthält
neben einer Atizahl von Bemerkungen zur Formenlehre besonders Beobach-
tungen über die Syntax des attizisierenden Autors^
Neben textkritischen uud semasiologischen Bemerkungen enthalten auch
Syntaktisches die mir nicht zugänglichen (l>'./.oXo-,"./cr/.t -apc<-cr,p)^ai'c von K. X.
Kovxo; in vertchiedenen Bänden der 'Aö^rjvot (vgl. z. B. JA 5, 170. 7, 50). —
Oft berühren auch syntaktische Fragen die größeren wissenschaftlichen
Kommentare; hier muß es aus naheliegenden Gründen bei diesem Hinweis
sein Bewenden haben.
Gegenüber der Bearbeitung der Literatur liegt die syntaktische Be-
handlung der Inschriften, besonders auch der Dialektinschriften, noch sehr
im argen.
CQ Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer )
J. Liljeblafl, De a^similatione syntactica apiul Thucydiilcm quae-
stiones. I ad genera nuraeros casus pertinentes. Diss. Upsala 1900.
A. behandelt seinen Stoff nach Ziemers Kategorien der formalen,
der realen nnd der Kombinationsausgleichnng in 23 Abschnitten, wobei
alle Seiten der Syntax zur Sprache kommen; für alles alle Belea:e an-
zuführen, ist nicht beabsichtigt, dagegen finden interessantere Stellen
eingehende Erörterung. Ein willkommenes Gegenstück zu Ä.s Arbeit
bildet die Untersuchung von L.. indem sie einen Piosaiber behandelt,
freilich auch einen, der stilistisch eine besondere Stellung einnimmt.
Wenn L. in seiner umfangreichen Abhandlung nur einen Teil des von
Ä. bearbeiteten Gebietes hat bewältigen können, erklärt sich dies zum
guten Teile daraus, daß ei" wenigstens in gewissen Partien auf voll-
ständige Beibringung des Materials ausgeht. Die Anordnung ist selb-
ständig, indem L. wohl mit Recht Ziemers dritte Kategorie, die ledig-
lich eine besondere Erklärungsweise darstellt, aufgegeben hat. Vgl.
auch *K. Hude, Satzassimilation. NTF 6, 155. Nur einen Ausschnitt
behandelt
*P. L. Cleef, De attractionis in enuutiationibus relativis usn
Platonico. Diss. Bonn 1890.
Kasuslehre.
Ein gi'oßer Teil der hergehörigen Arbeiten sammelt, teilweise in
rein statistischer "Weise, nach den herkömmlichen Gesichtspunkten und
in Absicht auf Förderung der Textkritik, das Material für alle oder
einzelne Kasus aus einzelnen Schriftstellern. Diese können hier nicht
ausführlicher besprochen werden; eine Zusammenstellung der mir bekannt
gewordenen enthält die Anmerkung; ausdrücklich sei auf die Arbeiten
von Helbing und Stourac hingewiesen.^)
^) Homer und Ilesiod: *E. Kokorudz, Ablat , Lokat. und In-
strunjtnt. bei B. (polnisch). Progr. Stanislau 1891. 1892 (sucht nach ZöGy
1S93, 061 f. 1894, 849 f. aus den homcr. Gen. und Dat jene drei idg. im
Griech. untergegangenen Kasus auszuscheiden — eiu Unternehmen, das
nur unvollständig gelingen kann, da der Synkretismus schon in der ältesten
Zeit vollzogen ist; dies gilt auch für ähnliche Untersuchungen); J. A. Scott,
The vocative in Homer aud Uesiod. AJPh 24, 192 -G (w hat etwas Fami-
liäres, bezeichnet einen Mangel an Reserve, fehlt daher im allgemeinen im
Epos, namentlich im Gebet und in der Aurede an Götter); vgl. die Bemer-
kungen von Gilde rsleeve und Miller ebd. 197 — 9 (bei Ap. Rhod. ist
es äbnliib, aber bei Uomer scheint das Zurücktreten von o> auch technische
Gründe zu haben). Herodot: Stourac, Über den Gebrauch des Genc-
tivs bei Uerodot. Progr. Olmütz 1888. 1889. 1892. 1894. 189.-); R. Helbing,
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1800 — 1903. (Schwyzer.) Ol
Eine besondere Stellung nehmen die sog absoluten Kasnskon-
strnktionen ein, die entstanden, indem das Verhcältnis des (meist
partizipialon Kasus) zu seinem Recrens allmählich lockerer wurde und
der Kasus den Ausdruck eines besonderen Gedankens übernahm, schließ-
lich auch gesetzt wurde . wo im Satze kein Regens für ihn denkbar
ist. Im Griechischen ist am häufigsten der Genetiv so gebraucht
worden, dem die mir nicht zugängliche Arbeit von H. Hessau, De go
netivi absoluti apud scriptores quinti saeculi usu. FO 10, 237 — 61 gilt;
dagegen sind Dativ uui Lokativ (in vereinzelten Spuren wie xsXja-
criai OE vrjoal xa{}£tXo[;.£v bcia 7:avTa Hom. Od. 9, 149) auf halbem Wege
Stehen geblieben, indem die Lockerung des Abhängigkeitsveihältnisse^,
die für das Sprachgefühl bestand, es doch zu keinem formalen Ausdruck
über den Gebrauch des echten und des sociativen Dativs bei Uerodot. Di&s.
Freiburg im Br. 1S98 (vgl K.illenberg, WkIPh. 1899, 228/30); und: Der
iDslrumental bei Uerodot. Progr. Karlsruhe 1900 (vgl. WklPh 1900, 1329132 ;
Ansätze zu psychologischer Behandlungsweise; Beobachtung der beginnenden
Ersetzung des Dativs durch piäpositiona'o Fügungen). Tragiker: A.
nillert, De casuum syntaxi Sophoclca. Diss. Berlin 1896. (Behandlung
vom gewöbnlichen Sprachgobiauch abweichender Rektionen bei Homer und
Soph., die meist durch Bed-utungsverschiebungen — obschon der Verfasser
das nicht Wort haben will — und Analogie bedeutungsverwandter Veiba
erklärt werden; viel interessantes Material; beispielsweise sei auf die — un-
richtig erkläite — Verbindung von h mit Gen. hingewiesen S. 24, vgl.
dazu Meisterhans- Schwyzer 2U,1S N. 1720). Redner: P. Detto, De gene-
tivi apud Aeschiuem usu. Pro^r. Magdeburg 1901 (ansprucblose Zusammen-
stellung des interessanteren Materials; J Ei bei. De vocativi usu apud decem
orator.^s Atticos. Progr. des neuen Gymn. zu Würzburg 1893 (der Gebrauch
ist teils stilistisch-rhetorisch, teils durch die Rücksicht auf den Hiatus be-
dingt; Rücksicht auf die Setzung von w und die Stellung). Herodas:
"L. Valmaggi, De casuum syntaxi apud Herodam. RF. 26, 37 — 54.
Hier noch ein Beispiel, wie wichtig fur Eiklärung und Textgestaltung
•die historisch-vergleichende Syntax werden kann. Hillert (S. 14 f) wird von
Wecklein in der BphW 1897, 97 ff. wegen der (freilich anfechtbaren) Benutzung
von Eur. El. 123 xciaat 3c<: dXöyoo acpa-f^i; getadelt; ,,das ist einfach unmög-
lich und längst in ä. ■^'s^ay-'X- verbessert." Und doch ist der Genetiv längst
von Brugmann aufs schönste erklärt! Gleich sind die bei Stourac 1892,
S. 15 angeführten Beispiele aus Herodot zu fassen: aavooiXiov cüxoü -c.popv,-
aEvov II 91,13; TÖv rc/v-a Wa'ud-^z'j:, fr^'div-a Loy,^^ l 109,4; auch was Hoiton-
Smith, Conditional sentences 425 anführt, steht nahe.
Hier seien auch noch einige Kleinigkeiten zur Kasuslehre registriert,
die mir nicht zugänglich sind; J. Keelhoff, L'oxpression 'zb\>r-/.a -i) oh:;
■zT'i (p'.ßu) Ti ou -'.V«. RIP 36, 73 ff.; i'30; et le genitif. ebd. 37, 135; J. W.
Kern, On the case-constructon of verbs of sight and hearing in Greck.
Studies in honour of Gildersleeve 1902.
92 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1S90-1903. (Schwyzer.)
brachte. Anders ist es wieder beim Akkusativ, der, wenn auch viel
seltener als der Genetiv und zum Teil formelhaft verwendet, doch zu
einer selbständigen Untersuchung Stoff geboten hat:
F. Lell, Der absolute Akkusativ im Griechischen bis auf Aristo-
teles. Ein Beitrag zur historischen Grammatik der griechischea
Sprache. Gyinn -Progr. Würzburg 1892.
Einige Hauptergebnisse der sorgfältigen, ■svenn auch für ein Gyni-
nasialprogramm etwas zu viel Akzentfehler enthaltenden Arbeit sind
kurz folgende. Nach Entstehung und Gebrauch ist wohl zu scheiden
zvvischen dem Acc. abs. Sg. neutr. des Ptc. praes., selten fut., aor., perf.
oder fut. exact. unpersönlicher Verba in konzessiver, auch kausaler und
konditionaler Funktion, z. B. irapov, e^ov, osov, 66?av, y.upioöev, oeoo-j-
[xEvov, wonebeu der (undeutliche) Genetiv selten (im aor. und perf. pass.
und bei Adj.) gebraucht wird (völlig erstarrt ist das besonders bei Iso-
krates auftretende tu/ov in der Bedeutung von ayeoov, ijw^) und dem
freieren, aber weniger häutigen Acc. absol. persöul. Verba mit wc, der nicht
selten sogar im selben Satz mit dem Gen. abs. wechselt. Der erste Fall
entstand durch Verselbständigung einer akkusativ. Apposition zum ganzen
Satz, vgl. w? [XTj T£y.v' ebiöcojxsv, dv63iov öiav Eur. Her. f. 323 und "lojva
ou\o[Ld^(a a£, ttq Tu-/r] -psTiov Eur. Ion 661, der zweite durch Verselb-
ständigung akkusativischer Partizipialkonstruktion bei Verb. sent. und
declar. Am freiesten und relativ häufigsten hat Thukyiüdes den abs. Akk.,
besonders von unpers. Verben, gebraucht. Statt des neutr. vom Ptc.
finden wir auch das neutr. eines Adj. mit ov, das nur weggelassen werden
kann, wenn in; dabeisteht, die Partikel, die — neben üjjrcsp — auch sonst
zur Einführung eines subjektiven Momentes zutritt (ständig beim ptc.
fut.). Nicht berücksichtigt hat der Verfasser das formale Moment, das
in der Stellung liegt: die Apposition zum Satz muß diesem folgen,
während der abs. Akk. in seiner Stellung frei ist.
Pronomen (samt Artikel).
Unter den Arbeiten zum Pronomen nimmt die erste Stelle ein
A.Dyro ff, Geschichte desPronomen reflexivum. I. Von Homer bis
zur attischen Prosa. H. Die attische Prosa und Schlußergebnisse.
Würzburg 1892. 1893 (= Beitr. z. bist. Syntax der griech. Sprache, hg.
von M. Schanz. Band III Heft 3. 4).
Hat die von M. Schanz angeregte Sammlung auch noch nicht
die historische Syntax der klassischen Gräzität gezeitigt, die ihr Heraus-
geber im Jahre 1883 in 6 — 8 Jahren erscheinen lassen zu können glaubte,
Bericht über griechische Sprachwissenscliaft 1S90 — lOOo. (Schwyzer.) 03
so hat sie doch eine ganze Anzahl der wertvollsten Bausteine zu diesem
Gebäude geliefert-, sie enthält eine Reihe der besten Arbeiten zur
griechischen Syntax überhaupt, wetteifernd mit teilweise anders orien-
tierten Arbeiten der amerikanischen Syntaktiker. Und unter diesen
nimmt Dyroffs umfassende, mit Recht nur das bedeutungsvolle Material
ausführlich mitteilende , im übrigen sich auf statistische Tabellen be-
schränkende Darstellung der Geschichte der Reflexion nicht den letzten
Rang ein. Das einleitende Kapitel stellt nach einifjen allgemeinen
Bemerkungen über die Reflexion und ihren Ausdruck im Griechischen
die syntaktischen Gesichtspunkte für die folgende historische Darstellung
auf: scharfe Scheidung zwischen direkter (gewöhnlicher und invertierter)
und indirekter Reflexion, welch letztere sich wieder in abhängigen
Strukturen anders gestalten kann als in den verschiedenen Arten der
Nebensätze. Kapitel II — IX führen die allgemeinen Gesichtspunkte im
einzelnen an dem Material aus Epos, Lyiik, Drama, Herodot, der
attischen Prosa bis auf Plato durch; von den Inschriften sind nur die
attischen eingehender berücksichtigt. Die ersten Kapitel schließen je
mit einem Rückblick, der den Gebrauch des darin behandelten Sprach-
kreises kurz zusammenfaßt, vom VI. an ist dies dem umfangreichen
X. Kapitel (II 110—186) überlassen, das eine ausführliche, zugleich
einiges berichtigende Darstellung der wichtigsten Ergebnisse des ganzen
Buches bietet. Daran wird sich im allgemeinen der Sprachforscher
halten können, während die Behandlung der einzelnen Quellen besonders
dem Textkritiker viele schätzenswerte Winke gibt. — Das einfaclie
Pronomen, schon im Vorgiiechischen reflexiv, ist freilich bei Homer,
der auch hierin die ganze folgende Poe«ie aufs tiefste beeinflußt hat,
während sie in den Formen eine gewisse Entwickelnng aufweist, meist
anaphorisch — eine Verwendung, die bei der Bezeichnung der indirekten
Reflexion sich entwickelte, deren häufiger Gebrauch in der Poesie jedoch
auch stilistische und metrische Gründe hat.^) Auch Herodot zeigt noch
häufig die anaphorische Bedeutung, danach vereinzelt auch Thuk. und
Xenophon; Regel ist sonst im Att. der indirekte Gebrauch. Das ein-
fache Pronomen wird nach und nach durch die Verbindung mit «utoc
verdrängt — die homerische Verwendung der obliquen Kasus des allein-
^) Es sei darauf hingewiesen, daß jetzt Brugmann, gr. Gr. * 419
annimmt, die anaphorische Bedeutung sei durch Vermischung des reü.
Stammes mit finem urspr. davon gesonderten Stamme anaphorischer Be-
deutung entstanden, die zuerst im Dativ eintrat — Daß an und für sich
die Reflexion aus der Anaphora entstehen kann, zeigen gewisse Schweiz.
Dialekte, wo nicht nur, wie gewöhnlich im Mbd. die Dat. im, ir, PI. in,
sondern auch die Akk. reflexiv verwendet werden, z. B. er häd-tn ''brännt,
er bat sich eine Brandwunde zugezogen, wörtlich: „er hat ihn (sich) gebrannt".
94 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Scbwyzer.)
stehenden auTo; als Reflexiv oder Bildungen wie au-ocau-oü bleiben
vereinzelt. Die Eatwickelung' geht von der 3. Pers. aus, wo zuerst
eine feste Stellung der beiden Bestandteile sich heiausbildet, während
die entsprechenden Fügungen in der 1. und 2. Person anfangs ihrer
Stellung nach frei und ohue reflexive Bedeutung sind. Zuerst erscheint
eine zusammeugezogene Form bei Hesiod (iaur/]); das einfache Pronomen
geht im Attischen verloren (am zähesten ist ccpi'jt, vou einem Stamme,
der ursprünglich nichts Reflexives hatte). Dazu stimmt, daß iu der
3. Pers. sich das Bedürfnis einer einfachen Pluralform geltend machte
(wohl zuerst in possessiver Verwendung), die nun aucii vom Singular
aus gebildet wurde (iau-cüv, auTtuv), den man in seinem Ursprung nicht
mehr klar empfand, während die 1. und 2. Person die lediglich ver-
bundenen Formen beibehielten. Das Prouominai-Adjektiv besitzt ein
besonderes Interesse, weil es in der ältesten Zeit noch Spuren des freien
Gebrauchs für alle Personen (aber fast nur für den Singular) aufweist;
damit hängt aber der gelegentliche Gebrauch von aG-oü auTÖJv auch für
die 1. und 2. Pers. u. ä. nicht zusammen; nur zufällig ist die Sprache
wieder zu dem verlassenen alten Geleise zurückgekehrt. Das Wesen
der griech. Reflexion besteht darin, daß eine Handlung zu dem handelnden
Subjekt zurückläuft; von Subjektivität kanu nicht die Rede sein.
Dies einige Hauptergebnisse der tiefeindringeuden , von philoso-
phischem Geiste getragenen Arbeit, die sehr eine Fortsetzung für die
nachklassische Zeit erwünscheu läßt: nicht nur würden dabei einige
dieser eigene Erscheinungen in schärferes Licht treten (ioio;), sondern
auch die bevoizugte klassische Periode würde manches gewinnen. D.
weist ja selbst au verschiedenen Stellen auf die Wichtigkeit der Kenntnis
der byzantinischen Schreibgewohnheit hia (vgl. dazu auch Diel?,
DLZ 1898, 762), und die Erweiterung des Gebrauchs von sauTo- tritt
durch dessen Ausdehnung und Neugestaltung in späterer Zeit in eine
etwas andere Beleuchtung (vgl. Ilatzidakis, Eiul. 189 f.), — Diesen
Wunsch erfüllt — freilich nur für einen kleinen und für die lebendige
Sprachentwickelung belanglosen Teil der Literatur — das zweite Kapitel
der Leipziger Dissertation von
P. Lorentz, Observationes de pronominum personalium apud
poetas Alexandrinos usu. Berlin 1892,
deren erstes Kapitel auch die teils wirklich oder vermeintlich homerische
oder poetische, teils aber auch der Prosa folgende Anwendung der
übrigen Personalprunomina bei den alexandrinischcn Dichtern bis auf
Oppiau behandelt. — Mit Dyroffs Gebiet berührt sich auch wenigstens
in zwei Kapiteln, auf die der Verfasser sich besonders viel zugute
tut, die Arbeit eines tschechischen Forschers:
ßeiiclit über griecbi-.cbe Spiacbwissenschaft lb9ü - IDO;; (Scliwyzer.) 95
J. Kvicala, Badilui v oboru skladby jazylcüv iiidoeuropskycli I.
V Praze 1894 [--Forscliuiigen auf dem Gebiete der Syntax der idg-.
Sprachen; aus den Abb. der böhmischen Akademie zu Frag; hier
lediglich nach dem S. 191 — 2G4 beigegebenen deutschen Auszug aus
der tschechisch geschriebenen Abhandlung besprechen].
Freilich bildsu Dj'roffs Ausführungen, die Kv. noch niclit bekannt
waren, zugleich die beste Kritik von dessen Behandlung des Reflexivs,
die für eine anaphorische Giuudbedeutung eintritt und die freiere Ver-
wendung in allen Sprachen, wo sie auftritt, als sekundäre Entwickelunif
faßt. D^'roff ist im Vorteil, weil er seine Darlegungen auf einer voll-
st äudigen Sammlung des Materials aufbauen konnte. Ungerecht wäre
t's allerdings, dies von Kv. zu verlangen, da er sich im übiigen viel
weitere Grenzen gesteckt hat: er behandelt nicht nur das Reflexiv,
sondern einzelne Kapitel aus der j^anzen pronominalen Syntax und zieht
neben dem Griech., das iuimerhiu bevorzugt bleibt, auch die verwandten
Sprachen, bes. das Lat. und Tschech. sowie das Deutsche, heran. Die
formalen Bemerkungen zeigen freilich überall, daß der Verf, mit Er-
}.;ebnissen und Methode der neueren Sprachwissenschaft nicht bekannt
ist, sondern noch auf dem Staudpunkt seiner 1870 erschieneneu „Unter-
suchungen auf dem Gebiet der Pronomina" steht (z. B. a^- aus sv-,
0 aus tO; laetor aas laeto se!j. Die neuen syntaktisclien Ergebnisse
für das Griech., die hier allein in Frage kommen , stehen iu keinem
rechteu Verhältnis zum Umfange des Buches, zumal da die Sammlung
des Materials doch nicht vollständig und abschließend ist. Es sei hier
liervorgehoben, was weitere Beachtung verdient: Persöul. Pron.; über
(iKU Gebrauch des Nom. ohne Nachdruck (besonders in Formeln wie
i-jcojj-at, olo e-j'U);^) auch das Neugr. wäre zu berücksichtigen; der Unter-
schied zwischen betonter und unbetonter Form findet sich auch iu
deutschen Dialekten). Eecipr. Pron.: Zusammenstellung der ver-
schiedenen Ausdrucksmittel (z. B. auch avrjp sAev avopa, manus maiium
lavat). Possess. Pron.: u. a. Beispiele tüi- die objektive Verwendung
(£[xoc iToDo;). Demonstr. Pron.: ooz ist Pron. der 1., ouro; ursprünglich
solches de)- 2. Person, bei letzteiem verschwindet aber schon früh die
Beziehunj; auf die Person, es behält nur die Nuance, daß der Gegen-
stand, auf den es sich bezieht, bekannt ist; über die Entvvickelung des
Artikels: ein Rest der demonstrativen Bedeutung von to- auch noch
iu Tov £jj.£, Tov ai (Beispiele), ferner in Verbindungen wie tcov t;; Auöiüv
^) Über die Setzung von £710 handelt auch M. W. Humphreys, CIR
1S97, l'oü f. (nicht historisch). — Vgl. auch *M. L. Earle, Zum Gebrauche
des nicht pronominalen Nominativs als Ausdruck der ersten Person bei
Euripides (/■ tszo^jc;' d-oKhju.rj.'.). PrAPbA 32 p. XCIX — C.
96 Bericht über grieihische Sprachwissensciiaft 1890 — 1903. (Scliwyzer. )
(Herodot), die mit honier. -Tj ü'aiY.o'j::^ «[xa -ohi vuvy) yJ.v/ auf eine Linie
g'erückt werden, eigfentl. also ,,\on diesen jemand, nämlich von den
Lydern'-; der generelle Gebrauch des Artikels entstand, indem ein
Gegensatz vorschwebte. Interrog. Pron.: der Gebrauch von Tio-spoc
ist — im Gegensatz zu den slav. Entsprechungen — streng auf die
eigentliche Bedeutung beschränkt, nur das erstarrte TcoTspov leitet auch
mehr als zweigliedrige Fragen ein.
Eine besondere Anwendung von au-ro? untersucht F. Stolz, Der
attributive Gebrauch von auroj beim sociativen Dativ. "WSt 20, 244
— 251. Er weist (in Übereinstimmung mit Kühner-Gerth) nach, daß
auToc hier (wie auch sonst oft) ursprünglich nur die Aufgabe hatte,
ausdrücklich auf das im soziativen Dativ stehende Substantiv hinzu-
weisen, also ursprünglich fehlen konnte, also autoiJiv Ttittoisiv eigentl.
»mit den Pferden eben", , gerade mit den Pferden". Die Hinzufügung
von ouv ist jünger und das soziative Element in auro; ist erst in der
besprochenen Verbindung entwickelt. Ohne die Arbeit von Stolz zu
kennen , entwickelt grundsätzlich ungefähr dieselbe Anschauung
C. Hentze, Der sociative Dativ mit auto; in den homerischen Ge-
dichten. Ph. 61, 71—76.
Außer diesen größeren sind zu den Pronomina noch einige
kleinere Arbeiten zu nennen.^)
Eine besondere Besprechung erheischen die Untersuchungen über
ein schon im vorhergehenden kurz berührtes, seinem Ursprünge nach
pronominales Wort, den
Artikel.
Es handelt sich hier namentlich um die schwankende Anwendung
desselben bei Eigennamen oder diesen nahestehenden Wörtern. Nach
den mir nicht zugänglichen allgemeinen (?) Ausführungen von
B. L. Gildersleeve, On the article with proper names. AJPh
^) M. A. Kugener, Une hyperbate apparente du pronom enclitique
jic. RIP 189G, II 88/9G; L. Radermacher, Toaoöto; (ohne nachfolgenden
Konsekutivsatz, vgl. lat. est tanti) RhMPh 55, 482 f.; woran anknüpfend
N. Wecklein, über -oto; und -otoüto;. ebd. 58, 154; 'K. Sagawe, Über
den Gebrauch des Pronomens szc«3to; bei Ilerodot. Progr. Breslau 1891;
*Th. Korsch, De -"oTt; pronomine ad defiuitam rem relato. FO 11, 1,
87—90; M. Dufour, De l'emploi des pronoms relatifs grecs dans les pro-
positions interrogatives indirectes. RPh 14, 57—60 gibt eine Auswahl von
Beispielen für ö';, oto;, 030; an Stelle von 03x1;, ö-oto;, 6:1:030;.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 97
11, 483— 507 1) sind besonders zu nennen die Arbeiten von H. Kallen-
berg, Der Artikel bei Namen von Ländern, Städten und Meeren in
der griechischen Prosa [bis auf PausaniasJ. Ph 49, 515 — 47 und
Studien über den griechischen Artiiiel II. Progr. des Fiiedrichs-
Werderschen Gymn. Berlin 1891. Folgendes sind einige Hauptergeb-
nisse der eingehenden Uritersuchungen. Ursprünglich adjekt. Länder-
namen — nur solche können 77] oder /wpa bei sich haben — haben den
Artikel, solange sie adj empfunden werden [vgl. unser „ins Öster-
reichische, Bayrische"]; so sagte man in älterer Zeit tj BotwTia neben
dem adj. Botwr-.oc; als die Adj. Boiiotixoj und BoKuriaxo; aufkamen,
wurde der adj. Ursprung des Ländernamens nicht mehr empfunden und man
sagte deshalb Bottüxta. Doch finden sich auch mit unsern Mitteln nicht
zu erkläjende Ausnahmen: Auoia ohne Artikel trotz Auoio;; ähnlich
KiXtxia, Opu^ta [stammen diese Namen schon aus der Zeit, die den
Artikel noch nicht kannte?]. Städtenameu stehen ohne Artikel — iroXtc
tritt bei bekannten Städten nie zu — , Meere und deren Teile verlangen
ilin. Abgesehen ist bei den genannten und den gleich zu nennenden
Kategorien vom anaphorischen Gebrauch des Artikels sowie von den
attributiv stehenden Verbindungen mit Präpositionen, bei denen der
Aitikel auch da fehlt, wo er an sich stehen würde. Die zweite Ab-
handlung beschäftigt sich mit den Fluß- und Gebirgsnamen, die sich im
ganzen gleich verhalten und zwar schwankend, da ein subjektives
Moment dabei ausschlaggebend ist, das größere oder geringere Bekannt-
sein des Flusses oder Beiges. Unbekannte Flüsse oder Berge werden
ohne Aitikel eingeführt, erhalten dagegen den erklärenden Zusatz
iroT7(ji.6; bzw. opoc, der nur fehlt, wenn der Zusammenhang über die
Natur des Namens keinen Zweifel aufkommen läßt; bei Wiederholung
wird der Artikel zugeführt, den allgemein bekannte Flüsse schon bei
ihrem ersten Auftreten zeigen. So z. B. 6 NsiXoc (mit TcotaiJLoj erst
spät). Für die späteie Literatur (Polyb. bzw. Strabo) sind das zugesetzte
xaXoü(jL£voc und die Fügung 0 7roTa[JLÖ; 6 typisch.^)
M Das AJPh ist mir erst von Band 19, 1898 an zugänglich gewesen.
^) Arbeiten zu einzelnen Schriftstellern: *W. Uckermann, Über
den Artikel bei Eigennamen in den Komödien des Aristophanes. Progr.
des Sophiengymn. Berlin 1892; C. Schmidt, De articulo in nominibus
propriiö apud Atticos scriptores pedestres. Diss, Kiel 1890 (allgemeiner
und spezieller Teil, letzterer fleißige Materialsammlung; „articulum nunquam
sine causa, sed saepe sine regula stare; cur articulus stet, imprimis inter-
pretatiouis et>se); A. Zucker, Beobachtungen über den Gebrauch des
Artikels bei Personennamen in Xenophons Anabasis. Gymn.-Progr. Nürn-
berg 1899 (nach einer Kritik der Regeln der Schulgrammatik, wobei
Krügers FasBung den Vorzug erhält, wird wesentlich für den Nom. des
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1904. I.) 7
98 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Adjektiv. Zahlwort.
Xur genannt sei eine kleine Arbeit über die Substantivierung-
des Adj.:
M. Kohn, De usu adjectivornm et participiornm pro substantivis,
item substantivonim verbalium apud Thucydidem. Berlin 1891.
K. führt aus, die Subst. werden ohne, die snbst. Adj. mit Be-
ziehung auf einen bestimmten Fall gebraucht, und zwar besonders, wenn
das daneben stehende Subst. von der abstrakten zur konkr. Bedeutung
übergegangen sei. — Das Hauptinteresse gilt aber der Syntax der
Komparation, die eine ausführliche Behandlung erfahren hat:
0. Schwab, Historische Syntax der griechischen Komparation in
der klassischen Literatur. 3 Hefte. Würzbnrg 1893. 1891. 1895
(=Beitr. z. bist. Syntax der griech. Sprache Heft 11 — 13).
Die gehaltvolle Arbeit gliedert sich in einen allgemeinen und
einen ungleich größeren besonderen Teil, der — in sachlicher, nicht
chronologischer — Anordnung das Belegmaterial für die leitenden
Gesichtspunkte beibringt, freilich nur soweit es wirklichen Wert hat.
Die Hauptverdienste sind die strenge Scheidung zwischen der adversa-
tiven Bedeutung des Komparativs und des Superlativs, wo zunächst nur
der Kontrastbegriif in Vergleichung steht (vgl. ötiXu-soo;: arkad.
dppEVTspoc, (JptaTcpoc : os^tTspoc, evlp-repoc : uzspTspo;) und der steigernden
sowie die Auffassung des Komparationskasus (Gen. -Abi.) als unabhängig
neben r^ stehenden, sogar älteren Ausdrucksraittels für das Maß, von
dem aus der Adjektivbegriff beurteilt wird. Unbefriedigend bleibt da-
Artikels der Nachweis versucht, der Artikel stehe in der Erzählung als
lebensvolles stilistisches Element in dramatisch bewegten Szenen zur Be-
tonung der aktuellen Bedeutung des Erzählten. Ganz fehlt er dagegen in
Reden. Vielleicht wäre es besser zu sagen, er drücke eine persönliche
Anteilnahme der Schriftsteller mit einem Stich ins Familiäre aus);
*S. Brassai, Gebrauch des Artikels bei Plutarch (ungarisch). Egyetemes
phil. közlöny 17, 321—8; A. Deißmann, Der Artikel bei Eigennamen in
der spätgriechischon Umgangssprache. BphW 1902, 1467 f. (Der Artikel
steht teils wie in der früheren Sprache, teils auch ohne erkennbaren Grund
und schwankend.)
Einzelnes: *S. Sobolewski, Zur Lehre vom griech. Artikel (russ.)
FO 10, 103—118 (über das Fehlen des Artikels bei ro/.-.: u. ä.); 'J. E,
Harry, The Omission of the article with substantives after oij-o; öo£ ixsTvo;
in prose. TrAPhA 19, 48/64; H. Kallenberg, Der Artikel bei -'/;, ojto:,
i/Eivo; und oo£ [bei Herodot]. Jahresber. des pbilol. Vereins in Berlin in
ZG 1897, 204—22. — Vgl. noch unten S. 132.
Beriebt über griechische Sprachwissenschaft 1S90 — 1903. (Schwyzer.) 99
gegen die Behandlung von r^, das Brugmann, gr. Gr.^ 541 f. einleuchtend
als ;,wie'' erklärt. Nach diesen allgemeinen Andeutungen mag eine
Übersicht des besonderen Teiles einen Beijriff von der Fülle des ver-
arbeiteten Materials geben. Er beginnt mit der Syntax der (älteren)
gegensätzlichen Komparation; der gegensätzliche Komparativ wird be-
sonders bei der paarweisen Gegenüberstellung kontradiktorischer Adjektiv-
begriffe (Tipsaßo-spoi-vscuTspot: die verhältnismäßig Alten, Jungen) sowie
bei der Gegenüberstellung eines Begriffes und seiner Negation ver-
wendet. Besonders ausführlich wird das adversativ-korrektive |j.aXXov
(t)') „vielmehr" behandelt. Die doppelte Komparativform beim Vergleich
zweier Adjektivbegriffe (su-uysjTspo? v) aocpcurepo?) ist Ausdruck ihrer
gegenseitigen vergleichsweisen Beziehung. Für die Syntax der steigernden
Komparation ergibt sich als wichtigstes Einteilungsprinzip das ver-
glichene Glied: Komparationskasus oder -Jj. Als allgemeines Ergebnis
sei erwähnt, daß der Komparationskasus, abgesehen von den Fällen,
wo er aus formalen Gründen wenig beliebt oder nicht möglich ist, drei-
mal so häufig ist wie die Partikel, die freilich allmählich zunimmt
(wann der komparative Gen. verschwand, wäre noch zu untersuchen —
überhaupt würde eine Weiterführuug der Schwabschen Arbeit in die
hellenist. Zeit hinein viel Interessantes zutage fördern). Ausschließlich
steht z. B. der Gen. bei der sog. comparatio reflexiva und compeudiaria,
im bildlichen und sprichwörtlichen Vergleich (hier Übersicht über die
Vergleiche der griech. Lit.), in Verbindungen wie ouSsvoc, iravxo? [xaXXov
und bei Superlativen ((oxujxiupoTaToc aXXcov „im Vergleich zu andern";
in historischer Zeit freilich mehr und mehr partitiv gefaßt). Auch
sonst überwiegt der Gen. oder ist wenigstens gleichberechtigt; lediglich
formale grammatische oder stilistische Gründe sichern rj den Vorzugs-
oder gar den alleinigen Gebrauch (Dat. und Gen. als zweite Vergleichs-
glieder, Rücksicht auf Deutlichkeit oder Wohlklang, Vergleichung von
Adverbialbestimmungen, Sätzen oder Satzteilen). Weiter werden —
auch die Syntax der gegensätzlichen Kompai'ation zeigt entsprechende
Abschnitte — Umschreibung und Ersatz des Komparationskasus mittelst
Präpositionen (7rp6, avri, irpos c. acc, uapa c. acc u. a.) und komparativer
Konjunktionen (wc, uj--sp, zugleich eine Analogie zur Verwendung von
■}]). sowie die steigernden Vergleiche mit zu ergänzendem Vergleichs-
objekt behandelt. Die Vermischung der beiden Steigernngsgrade läßt
sich in der klassischen Zeit nur in bestimmten Fällen wie upöiTo? bei
nur zwei Gliedern, ujispo?, -fspaiTspo; (vgl. auch uo-spov-^') bei mehr als
zwei Vergleichsobjekten beobachten; Abschwächung der steigernden Be-
deutung zeigt sich in ou ttXeov = nicht mehr, ouxext, etwas häufiger bei
adversativen Komparativen wie Xwov xal a[X£ivov im Orakelstil. Ein
dritter Abschnitt des besonderen Teils beschäftigt sich mit den maß-
100 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
bestimmenden bzw. gradsteigernden Zusätzen, erst mit den zu beiden
Komparationsformen tretenden quantitativen Maßbegriffen oder intensiv-
steigernden und begrifiserweiteinden Zusätzen, dann mit den steigernden
Zusätzen zum Supei'lativ. Einzelnes: 7:0X6, aber oli'jio sind im ganzen
Rege!; Erklärung von Iv -01; yaXe-cuxa-ov (durch Verschiebung aus ev
T. ycLXzr.ioTOLToi?), oti ta/isxo? (eig. nur ori TayijTa); die sog. Doppel-
gradation ist meist in der Satzbildung oder psj^'hologisch begründet.
Der letzte Abschnitt gilt dem Ersatz und der Umschreibung der orga-
nischen Steinerungsformen. Die Gründe sind teils formelle (Partizipien,
Substantiva. piäpositiouale Ausdrücke) teils syntaktische Verhältnisse
(et (1)? [xa/asta, ort jxaXtJTa; otxrpav cptXoiatv, |xaXt3-' ep-oQ. ^) Neben den
gewöhnlichin jxaXXov, ]xaXi3-a tieten auch andere steigernde Adverbien
auf. Für die Bildung des Elativs ist der Zusatz der steigeraden
Partikel gegenüber dem elativeu Gebrauch des Superlativs als Regel zu
betrachten. Die elativen Adverbien haben teils bestimmte (freilich oft
verblassende) Bedeutung (ösivtüc, ixs^aXcoc, ßia'fspovxwr, a-eyvöi;), teils
allgemein steigernden Sinn (|jt.aXa, ttocvu); auch verbunden: [xaX' aivöic,
eu p.aXa. Die SchluEbemeikung zu Abschnitt III und IV über die
Stellung der Zus^ätze liefert einen interessanten Beitrag zu deui noch
wenig gepflegten Gebiete der Woitstellung. — Ein Stellenregister
würde i'ameiitlich den Kommentatoren einzelner Schriftsteller sehr zu-
statten kommen. — Durch die entsprechenden Abschnitte der Schwab-
schen zusammenfassenden Darstellung ist jetzt auch ersetzt die an sich
anerkennenswerte Abhandlung von F. Mayer, Verstärkung, Um-
schreibung und Entwejtunu der Komparationsgrade in der älteren
Gräzitäf [bis Herodot]. Piogr. Landau 1891.
Zum Zaiilwort sind die Bemerkungen von E. Hasse, Zur
Syntax des Zablwoi-tes ouo. Fleck. Jbb. 145. 540 — 3 und E Bruhn,
De ei; vocabi'lo aniiotatio giammatica. RliMPh 49, 168 zu nennen;
jener ^uclit Rejreln für verschiedenen Gebrauch der flektierten und
unflektierten Foimen von ouo autzustellHu (vgl. oben S. 76 f), wobei
er u. a ausführt, unflektiertes oöo önde sich besonder^, wenn ein Bruch-
teil (t(üv Ö'jo [xspäiv) oder ein unbestimmtes Mali (ouo 7^ -ptüjv f^ixspäiv)
angegeben werden soll; dieser bringt aus der späteien Lit. Belege für
die Alischwächung von £i; zum unbestimmten Artikel bei.
Präpositionen.
Eine eingehendere Arbeit über die Gesamtheit dieser scheinbar un-
bedeutenden und doch so wichtigen und für die Sprache charakteristischen
*) Hier s<'i gleich angeschlossen 0. Schwab, nc/.'.3-a bei Zahlen
[= potissimum]. Fleck. Jbb. 147, 5S5— 92.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1S90— 1903. (Schwyzer.) 101
Wörtchen in der ganzen Giäzität gibt es bisher noch nicht; denn das
umfangreiche Buch von
T. Moramsen, Beiträge zu der Lehre von den griechischen
Präpositionen. Berlin 1895
zieht zwar die griechische Literatur bis ins 15. Jahrh. n. Chr. samt
den wichtigeren luschrittensaramlungen in seinen Bereich, beschränkt
sich aber auf den Ausdruck unseres „mif, auf die griech. auv, jxsxa,
a[xa (ganz spät auch mit dem Gen, verbunden) und (anhangsweise) deren
Ersatz durch ofi-oü, eytuv, Xaßciv u. a. Ein Hauptergebnis ist es, das durch
alle Zeiten und Literatui'gattungen hindurch im einzelnen dargelegt
wird: au'v gehört der edlen Dichteisprache an, [xera erscheint fast nur
bei Prosaikern oder Dichtern, die der Prosa nahestehen (so z. B. bei
Aristophanes , aber auch bei Euripides hat es gegenüber den beiden
älteren Tragikern stark zugenommen). Innerhalb der Prosa nehmen
Herodot, Xenophon, Arrian und die späte Prosa eines Prokop eine be-
sondere Stellung ein, wenn sie au'v bevorzuuen, im Gegensatz zu den
Anacreontea und andern späten Dichtungen, die \i.t-d verwenden, so daß
die beiden Präpositionen die stilistische Eolle vertauscht haben. Auch
auf die Bedeutung wird Rücksicht genommen; so steht [xetoc anfangs
und besonders nur bei persönlichem Plural; in der rein attischen Prosa
kommt auv nur in formelhafter Verbindung wie c'jv öeco und in der Be-
deutung „einschließlich" vor. So wird eiu stilistisches Kennzeichen der
gi'iech. Literatursprachen ins rechte Licht gestellt, das bis auf des Ver-
fassers Frankfurter Osterprogramm von 1874 (..Entwickelung einiger
Gesetze für den Gebrauch der griech. Präpositionen Mexa, auv und a'jxa
bei Homer") nicht beachtet worden war. Diese Arbeit bildet den ersten
Abschnitt der „Beiträge", dem sich der Abdruck der Programme von
1876 und 1879, die die Untersuchung auf Euripides und die nach-
homerischen Epiker ausdehnen, anschließt. Dazu ist im Buche neu
hinziigekommeu ein IV. Abschnitt, der die drei Präpositionen bei den
übrigen Dichtern behandelt (eingeschoben ist ein kurzer Abschnitt über
die Prosa). Wenn ein kompetenter Beurteiler wie Delbrück (Vgl.
Syntax I 645) Mommsens erstes Programm „ein Muster geschichtlicher
Behandlung nennt, wie sie allen Präpositionen zuteil werden sollte",
wird man Urteil und Wunsch jedenfalls nicht auf die Darstellung
des ganzen Werkes ausdehnen wollen , die sich freilich aus der
sukzessiven Entstehung erklärt. Der Leser darf nicht vergessen, daß
der greise Verfasser mit dem Herzen bei seiner Arbeit war und durch
eine ausgedehnte Lektüre, wie sie wenige pflegen, am meisten für sich
selbst dabei gewonnen hat. Man wird dann auch über den klassizistischen
Standpunkt in der Beurteilung von Literatur und Sprache hinwegsehen
102 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer )
können. Es sei noch besonders bemerkt, daß eine Fülle von Bemer-
kungen textkritischer und literarisch-stilistischer Art sowie Erklärunjren
einzelner Stellen eingestreut sind; die z. T. ausführlichen Exkurse
(S. 662 — 825) berühren sich teils mit dem Thema (Stellung der Präp.,
Präp. am Ende des Trimeters, Konstruktion präpositionaler Komposita
mit gleicher Präp., Kasusadverbien), teils gehören sie mehr dem literar-
histcr.-stilist. Gebiet an (ovrwc, oci und yori, ßou^vopiai und eöeXw, die
sich kaum über eine umfangreiche Materialsammlung erhebende Be-
handlung des Sigmatismus u. a.).
Eine ßeilie kleinerer Arbeiten, die in der Anmeiknng zusammen-
gestellt sind, beschränken sich auf die Untersuchung eines Ausschnittes
aus der Literatur oder einzelner Schriftsteller, beschäftigen sich aber
gewöhnlich mit sämtlichen Piäpositionen ihres Gebietes. Nicht wenige
enthalten üb)igeus auch Nachträge zu Mommsens speziellem Thema.')
^) Kleinere Arbeiten über die Präpositionen a) sämtliche Präpo-
sitionen ihres Arbeitsfeldes behandelnde: *A. S. Hagget, On the uses
of prepositions in Homer. Studies in honor of Gildersleeve 1902; S. So-
bolewski, De praepositionum usu Aristophaneo. Mosquae 1890 (Aufzählung
und bisweilen ausführliche, für die Kenntnis des Schriftstellers wichtige
Erörterung sämtlicher Stellen, innerhalb der einzelnen Präpositionen nach
dem zugehörigen Substantiv bzw. regierenden Verb geordnet; am Schlüsse
Gesamtstatistik,- von allgemeinerem grammatischen Interesse ist die formale
Erörterung von aJv, af;, welch letzteres der Verfasser bei Aristopbanes urd
Thukydides fordert;; einen Ausschnitt aus demselben Gebiet behandelt
I. Iltz, De vi et usu praepositionum £-(, ptcT«, n:c(po'', -:f>', ~f>o:, L-o apud
Aristophanem. Diss. Halle 1890. (Materialsammlung; in einem besonderen
Kapitel werden Anastrophe, Elision, Aphäresis, Krasis bei den genannten
Präpositionen zusammengestellt). Etwas willkürlich begrenzt sein Gebiet
*P. Priewasser, Die Präpositionen bei KalJiraachus und lI(yondas, ver-
glichen itit denen bei Bacch}lides und dem bereits für Pindar bekannten
Resultate. Progr. Halle 1903. Schließen eine Reihe der besten syntak-
tischen Aibeiten das Tor vor Aristoteles, so sind hier erfreulicherweise
einige Arbeiten auf dem Gebiete der sog. nachklassischen Literatur zu
nennen: E. Hagfors, De praepositionum in Aristotelis politicis et in
Atheniensiura politia usu. Helsingforsae 1892 (Zusammenstellung des
Materials — eine Ergänzung zu R. Euckens Arbeit über die aristotel. Prä-
positionen; der Gebrauch in 'A&. to).. ist meist der attische, zeigt selten
eine aristotel. Besonderheit, ohne daß dadurch etwas gegen die Echtheit
der Schrift bewiesen wäre). Besonders sind spätere Historiker mit Unter-
suchungen über ihre Präpositionen bedacht worden: *K. Krause, Der Ge-
brauch der Präpositionen bei dem Historiker Herodian L Frequenz; aov und
».'--i c. geu. Progr. Strehlen 1893 (lehnt sich in diesem bisher vorliegerden
ersten Teile offenbar an Mommsen an); *K. Jaakkola, De praepositionibu.s
Zosimi quacstiones. Diss. Arctopol. Pori (Finnland) 1903; J. Scheftlein, De
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 103
Verbum.
Genera Verbi.
Das Gyrao.-Progr. von
*1I. Grosse, Beitiäge zur Syntax des griechischen Mediums und
Passivums. Leipzig 1891
sucht nach dem Referat lA 2, 107 besonders nachzuweisen, daß die
praepositioaum usu Procopiano. Progr. des neuen Gymn. Regensburg 1893 (be-
handelt nach einer allgemeinen Statistik nur die Besonderheiten ausfübrlicher;
darausseien hervorgehobenWendungen wieivlIixjXicz -i\).T.i{v; c,'r^ häufigeraIs3Üv
und <^^~c/; i; und selteneies su ist die häufigste Präposition; s'jpiaxc'.v i; la
70)fyic; -r^j- c. gen. auctoris == h-6 c. gen. auct.; Variation gleichbedeutender
Präpositionen im gleichen Abschnitt); A. Rüg er, Piäpositionen bei Johannes
Antiochenus I. Progr. Münnerstadt 1896 (gesonderte Untersuchung der
einzelnen Fragmenturuppen in literarhistor. Absicht; beiläufig auch eine
Frequenztabelle für Herodian); schließlich ist hier auch zu nennen J. Ei bei,
Der Sprachgebrauch des Historikers Theophyiaktos Simokattes I. Progr.
Schweinfurth 1898, indem darin zunächst nur die Präpositionen behandelt
werden (meist regieren sie den Akk.; häufig i; -« arAu-a u. ä; o-.d^uou;
tä&vavci u. a.). — Nicht zugänglich sind mir *J. Netusil, Zur Syntax der
zusammengesetzten Präpositionen im Griech. und Lat. FO 4, 22—41;
*J. Delboeuf, Des prepositions en Grec. Revue de l'instruction publ.
en Belgique 1893, 301—15; ebenso die ein verwandtes Gebiet zusammen-
fassend darstellende Schrift von *L. Lutz, Die Kasusadverbien bei den
attischen Rednern. Gymn.-Progr. Würzburg 1891 (vgl. ßphVV 1892, 43 f.;
WklPh 9, 494 f.) — bj einzelne Präpositionen behandeln: *C. Ploix,
La } reposition grecque au.f'-. Paris 1894; H. Skerlo, Einiges über den
Gebrauch von äv« bei Homer. Progr. Graudenz 1892 (scholastische Be-
handlung von cJva in der verbalen Zusammensetzung und als Präposition);
A. Juillard, Emploi et signification de la preposition /.a-d dans Thucydide.
Diss. Bern. St.-lmier 1894 (behandelt besonders ausführlich die Zusammen-
setzungen); E. Reitz, De praepositionis IIIEP apud Pausaniam periegetam
usu locali. Diss. Freiburg i/Br. 1891 (genaue Erörterung der einzelnen
Stellen mit besonderer Rücksicht auf topographische und Quellenfragea;
vgl. BphW 12, 1418 ff.; WklPh 9, 515 ff.); *W.A. Lamberton, -f.o; with
the accusative. Publications of the university of Pennsylvania 1891 (vgl.
Rcr 1893, 343 f.) und die kleineren Artikel von E. H. Donkin, i/. or dz6
denoting position. CIR 1895, 349 f. (beurteilt — unrichtig — Fälle wie
ix -y^z Yv,; nach Analogie von a'i' i--ojv jiczyso&a'.); J. Keelhoff, Sur une
-construction de -ofd [c. dat. bei Verben der Bewegung]. RPh 17, 186;
*S. Sobolewski, FO 10, 233 ff. (-f>o; c. acc. „bergauf"); M. C. P. Schmidt,
Fleck. Jbb. 155, 623 f. gibt Belege für y.a-d v. ^ „senkrecht zu" (vgl, be-
sonders -q xd&i-o; '(rja^^r^)- A. Weiske spricht in der S. 77 genanntda
Schrift auch über izi c. gen.
104 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.)
reflexive Bedeutung des Mediums nicht die ursprüngliche und daß passive
Ausdrucksweise bei Homer verhältnismäßig selten sei; vgl. auch
WklPh 8, 1152 f.
*F. Hylak, Über die passive Bedeutung medialer Aoristformen
bei Homer. Progr. Meseritsch 1901, gibt nach dem ausführlichen
Referat ZöGy 1892, 373 f. lediglich eine nach Verben geordnete
Materialsammlung.
E. Wim m er er, Das mediale Faturum sonst aktiver Verba im
Griechischen. Jahresber. des Realgj^mn. Stockerau (Ost.) 1894, läßt
nur für einen Teil der Fälle die von Delbrück aufgestellte Annahme
analogischer Ausbreitung des Typus ßr^ao|jLat : l'ßrjv gelten ; für die andern
Verben nimmt er an, daß sie, ihrer Bedeutung entsprechend, ursprüng-
lich in allen Tempora medial flektiert waren; das Medium, oft als
Passiv vervi'endet, trat in medialer Bedeutung neben dem Aktiv zurück,
erhielt sich aber im Futurum deshalb, weil dieses Tempus überhaupt
selten gebraucht wurde, und wurde durch die Neubildung des passiven
Futurums, welche die Verwendung des Fut. med. als Fut. pass. über-
flüssig machte, vollends gefestigt. Innerlich nicht sehr wahrscheinlich ;
einzelne Fälle wie homer. aivv^sw : jüngerem iTraivesofxat zeigen das um-
gekehrte chronologische Verhältnis. Bedenklich ist auch die Annahme
ursp. medialer Flexion für opaw, axouo) (vgl. die Etymologie). Neues
Material wird nicht beigebracht.
Eine Untersuchung, die vor einigen Jahren K. Krumbacher als
wünschenswert bezeichnet hat, unternimmt für das älteste Sprachdenkmal
A. Hildebrand, De verbis et intransitive et causative apud
Homerum usurpatis. Dissertationes philologae Halenses XI. Halle 1890.
H. sammelt das homerische Material für den Wechsel zwischen
transitivem und intransitivem Verbalgebrauch. Die Arbeit zerfällt in
2 Hauptteile; der 1. behandelt die Fälle, wo ein Objekt, das noch
daneben vorkommt oder sicher zu bestimmen ist, weggelassen ist; der
2. zählt die Verba auf, bei denen die Entwickelung des intransitiven
Gebrauches nicht klar ist oder der intransitive Gebrauch älter ist oder
schon vorgriechisch transitiver und intransitiver Gebrauch anzunehmen
ist. Für die Ansetzung der ältesten Grundbedeutungen stützt sich fl.
auf die etymologischen Forschungen. Erwünscht wäre ein Index der
behandelten Verba. — In diesem Zusammenhange ist auch
*F. Krebs, Zur Rektion der Kasus in der späteren historischen
Gräzität. 3. Heft. München 1890, anzuführen, da die Schrift nach
Hultsch, BphW 10, 1441 f. die Verba behandelt, die durch Zusammen-
setzung mit Präpositionen transitiv geworden siud.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1S90— 1903. (Schwyzer.) 105
Tempora und Modi.^)
„Die Lehre vom Gebrauch der Tempora im Griech. ist bis
zur Stunde noch durchaus unklar und in ihren Grundlagen nicht erkannt" :
so beginnt
C. Mutzbauer, Die Grundlagen der griechischen Tempuslehre
und der homerische Tempusgebrauch. Ein Beitrag zur historischen
Syntax der griechischen Sprache. Straßburg 1893
seine Darlegungen über die allgemeinen Grundlagen der griech. Tempus-
lehre, die den ersten, kürzeren (S. 1 — 41), theoretisch-programmatischen
Teil seines als 1. Teil einer homerischen Syntax gedachten Buches
bilden. Die Hauptthese des Verfassers, daß nicht der Zeitbegriif
(namentlich nicht der relative, der gar nie entwickelt v^urde), sondern
die Ai t der Handlung, der Unterschied zwischen präsentischer (linearer)
und aoristischer (punktueller) Aktionsart, für die Verwendung der
griech. Verbalformen bestimmend gewesen ist, ist freilich weder neu
noch der neueren Forschung nicht mehr bekannt, wenn auch die Praxis
und uiclit nur die der Mittelschule noch längst nicht alle Konsequenzen
gezogen hat; vielleicht wird man weitergehen, wenn einmal durch die
Verwertung von Pauls Forschungen über die Umschreibung des deutschen
^) Nicht zugänglich ist mir J. Flagg, Outlines of the temporal and
modal principles of Attic prose. Berkeley California 1893. — Die Unter-
suchung von F. Kaißling, Über den Gebrauch der Tempora und Modi
in des Aristoteles Politica und in der Atheniensium Politia. Diss. Erlangen
1893, ein Gegenstück zu der Arbeit von Hagfors (S. 102), bietet auch dem
Syutaktiker nach der landläufigen Weise geordnetes Material aus den beiden
genaunten Schriften — freilich auch nicht mehr. — *W. W. Goodwin,
Syntax of the modes and tenses of the Greek verb. London 1897, wie ich
wiederholt zitiert finde, ist wohl nur eine neue Auflage des verbreiteten
Werkes; die Bibl. phil. bucht dieselbe übrigens nicht. — Vgl. ferner K. Kunz,
Der griech. Iterativaorist und seine Übereinstimmung mit böhm. Verbal-
formen (böhm.). Progr. Pilsen 1891 (s. ZöGy 43, 468 f.). — Hier ist schließ-
lich auch J. Donovan, (German opinion on) Greek jussives. CR 9,
289—93. 342-6. 444—7 zu nennen, der vom Unterschied zwischen dem
Imperat. Präs. und Aor. ausgeht, aber in der Hauptsache über die ver-
schiedenen Darstellungen des Kapitels Aktionsart referiert, indem er schließ-
lich Kochs Terminologie, der für Präs. Aor. Perf. die Bezeichnungen „noch
nicht abgeschlossene Handlung, abgeschlossene H., Zustand" verwendet, den
Vorzug gibt. —Vgl. auch noch *P. Dörwald, Zur griech. Tempuslehre.
Gy 1899, 145—52 und *H. Meltzer, Zur griech. Tempuslehre, ebd. 329-36.
Eine Reihe von Fragen aus dem Gebiete der Tempus- und Modus-
iehre werden auch von den Arbeiten über die abhängigen Sätze behandelt,
auf welche hier ausdrücklich noch verwiesen sei (S. 124—31).
106 ßericbt über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Perf. mit haben und sein der Begriif der Aktionsart in die deutsche
Schulgrammatik eingeführt ist. Der Verfasser hat aber seine An-
schauungen selbst erworben und in 20jähriger Arbeit gepflegt und
daher wohl ein Recht gehört zu werden, wenn er auch die neueren
Forschungen nicht in vollem Umfange kennt (veraltet sind oft formale,
besonders auch etymologische Bemerkungen). So zeigt die Beiziehuug der
verwandten Sprachen, daß er die vorgeschichtliche Grundbedeutung des
Aorists (er soll das soeben Geschehene bezeichnen) unrichtig bestimmt
und zu weit geht, wenn er alle Präsentien als rein durativ faßt. Die
Hauptbedeutung des Buches, sein bleibender Wert, liegt aber darin, daß
der Vei fasser auch die Probe für seine Anschauungen macht, und zwar
nicht an wenigen ad hoc gewählten Beispielen, sondern am ganzen
homerischen Material: so war es wenigstens seine Absicht, wenn er sie
auch im 2. Teil (S. 41 — 393) nur für einen Teil der homerischen Verba
durchlühren konnte, für die Verba mit unverändertem Präsensstamme
und thematischen und athematischen und reduplizierten Aoristen und
für die Verba der Dehnklasse. Innerhalb dieser Klassen alphabetisch
geordnet, werden die einzelnen Verba samt ihren Komposita auf den
Bedeutungsunterschied der verschiedenen Tempusstämme untersucht;
das ist nicht nur für die homerische Lexikographie und Etj^mologie und
Interpretation wichtig, sondern auch für die Grundfragen; denn wie
Brugmann neuerdings betont hat, ist gerade auf dem Gebiete der
Aktionsarten schärfere Beobachtung des Einzelnen nötig. M.s gründliche
Einzelforschung hat auch bereits ihre Früchte getragen. Delbrück,
lA 5, 54 anerkennt dankbar, wie nützlich sie ihm bei der Ausarbeitung
der einschlägigen Abschnitte seiner vergleichenden Syntax gewesen ist.
Zunächst mögen einige Arbeiten folgen, die den Begriff der
Aktionsart in den Vordergrund stellen. Wie tief der Unterschied
zwischen präsentischer und aoristischer zVktionsart im griechischen
Sprachgefühl begründet war, zeigt die schöne Entdeckung von F. Blaß,
Demosthenische Studien IV (futurum praesentis und futurum aoristij.
RhMPh 47, 269—290, daß sich im Altischen die Tendenz zeigt, den
Unterschied der Aktionsarten auch im Futurum zu wahren;
freilich ist formaler Ausdruck des Unterschiedes nicht bei allen Verben
möglich, sondern nur wo zwei Futurfoimen vorhanden sind, vgl. z. B. Ilui
(e'/o), piäsentisch) : ayqiai (Ir/jr/, aoiistisch), besonders aber Fälle wie
«pavoujjtai : cpavi^aofiat (diese Doppelheit hat für Blaß den Ausgangspunkt
gebildet), (p Ospoüixat : (fi)ap/j30[j.at, aij/uvo^ixai : abyuv&rj^ojJLai, auch Tt|xrj-
aojjiai (mit pass. Bedeutung) : T([xrji)rja£-au Bekanntlich hat diese Tendenz
im Neugriech. zur systematischen Ausbildung eines tut. pracs. und lut.
aor. geführt.
Die Aktionsart zusammengesetzter Verba untersucht
ßericbt über griechische Sprachwissenschaft 1S90 — 1903. (Schwyzer.) 107
E. Pur die, The perfective , Aktionsart' in Polybios. IF 9, 63—153,
der freilich iu H. Meltzer, Vermeintliche Perfektivierung durch prä-
positionale Zusammensetzung im Griechischen. IF 12, 319 — 372 ein
scharfer Kritiker erwachsen ist. Purdie stellt sich, angeregt durch
Briigmanns Vermutung gr. Gr. - § 154 und den Widerspruch Herbigs
in seiner alle idg. Sprachen berücksichtigenden wichtigen Arbeit über
Aktionsart und Zeitstufe IF 6, 222 ff. die Aufgabe, zu beweisen, daß
der griechische Aorist, schon in der ältesten Zeit vorwiegend, wenn
auch nicht ausschließlich, koustativ, mit der Zeit immer mehr letzteren
Sinn erhalte; zum Ausdrucke der perfektiven bzw. ingressiven Färbung
habe man immer mehr zum Ersätze durch Komposita gegriffen , wobei
die Präpositionen (und zwar kommen besonders 8-J., suv, y.axa in Frage) zu
bloßen perfektivierenden Präfixen nach Art des deutschen fje- herabsinken.
Meltzer schließt sich in seinem Gegen artikel ziemlich genau an P.s Arbeit
an; räch einer selbständigen Erörttrung derTeiuiinologie der Aktionsarten
(wobei u. a. der Begriff terminativ in initiv und finitiv zerlegt wird) weist
er nach, daß die Beispiele für die konstative Bedeutung, welche P. bei
Homer findet, noch M'eiter beschränkt werden müssen, und gelangt auf
Grund der feststehenden Meinung, daß der Aorist im Griech. jederzeit
den Ausdruck der Perfektivität gebildet hat, und eiuer schärferen und
unbefangeneren, auch das von P. völlig vernachlässigte stilkritische Moment
heranziehenden Interpretation einer Reihe von Steilen aus Pol3'bios und
auch anderen Schriftstellern zu dem Resultat, daß von eiuer wirklich
entwickelten grammatischen Kategorie, wie sie P. annimmt, keine Rede
sein kann. „Die Präfigierung läßt die Aktion durchaus unverändert,
kann jedoch innerhalb derselben gewisse Schattierungen bewirken, im
Piäsens besonders die fiuitive, im Aorist die ausgeprägt resultative." ^)
Der Begriff der Aktionsart spielt auch eine große Bolle in einer
Arbeit über die erzählenden Zeitformen (Imperf., Ind. Aor. und
Perf., Plusquamperf.), die, obschon sie sich auf einen, zudem außerhalb
der Grenzen unseres Berichtes liegenden Schriftsteller beschränkt, doch
ausnahmsweise im Text genannt werden mag, da sie ein überreiches
Material ausbreitet (6000 Belege) und mit sicherer Methode Ergebnisse
gewinnt, die auch der gesamten griech. Terapuslehre zugute kommen:
F. Hultsch, Die erzählenden Zeitformen bei Polybios. Ein Bei-
trag zur Syntax der gemeingriechischeu Sprache. I — III. AbhSG
Band 13, 1—210. 347—468. 14, 1—100. Leipzig 1891—1893.
Im Vordergrund steht selbstverständlich das Verhältnis zwischen
*) Mir unzugänglich, aber wohl in diesem Zusammenhang zu nennen
ist der Aufsatz von *H. Meltzer, Zur Lehre von der Bedeutung des
Präsensstammes im Griechischen. WüKor 1900, 445 — 52.
108 Beriebt über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.)
Impeif. und Aor. Auf dem Boden der Curtiusschen Tempuslehre
stehend, kommt der Verfasser zu einem Ergebnis, das ähnlich bereits
von F. Blaß, RhM 44, 406 — 30 (1889) an Demosthenes g-ewonnen wurde,
daß „der Sprechende oder Schreibende durch das Imperf. die von ihm
als dauernd, durch den Indio. Aor. die als dauerlos aufgefaßte, der Zeit-
stufe der Vergangenheit zugeteilte Handlung bezeichne", was des näheren
noch dahin präzisiert wird, daß das Imperf. teils Dauer und Entwickelung
anzeigt, teils schildert, während der Ind. Aor. die Handlung als abge-
schlossen bezeichnet, daneben auch ingressive Bedeutung hat. Wieder-
holt wird betont, daß nicht der objektive Tatbestand, sondern die Auf-
fassung des Erzählers entscheidend ist, das also z. B. nicht die
längere oder kürzere Dauer der Handlung an sich, sondern die sub-
jektive Anschauung des Erzählers für die Wahl des Imperf. oder Aor.
maßgebend ist. Den Hauptraum nimmt die mit ausführlichen Erörte-
rungen verbundene Vorführung des Materials ein, wobei indes nicht
statistische Vollständigkeit erstrebt, sondern nur nichts Wichtiges ver-
gessen werden soll; im ganzen wird es geordnet nach der Bedeutung
oder etymologischen Zusammengehörigkeit der behandelten Verba und
ihrer Zusammensetzungen. In besonderen Abschnitten wird der Wechsel
zwischen Aor. und Imperf. im selben Satzgefüge behandelt. Im Gebrauch
des Imperf. und Aor. weicht Polyb. vom Attischen nicht ab, dagegen
ist das Plusquamperf. in Nebensätzen an Stelle des Aor. im Vordringen
begriffen. Dagegen scheint der kleine Best des historischen Präsens,
der sich noch findet, bei Polyb. auf literarischer Tradition zu beruhen:
so wenigstens nach J. Wackernagel, der in seiner gehaltvollen Besprechung
lA 3, 7 — 10. 5, 55 — 60 auch hervorhebt, daß dem bist. Präs. bei
Polyb. und anderswo nirgends etwas Dramatisches anhafte, dagegen
darauf aufmerksam macht, daß es fast nur in solchen Sätzen stehe, wo
dem Verbum finitum ein oder mehrere Partizipien vorausgehen, zum
Ausdruck des zeitlichen Zusammenschlusses der Handlungen.^)
Eine eigentümliche Verwendung des Ind. Aor. ist der sog.
gnomische Aorist, über den gehandelt bat
J. Schmid, Über den gnomischen Aorist der Griechen. Ein
Beitrag zur griechischen Grammatik. Gymn.-Progr. Passau 1894.
*) AufHultscb' Darlegungen fußt *C. W. E. Miller, The imperfect
and the aorist in Greek. AJPh IG, 139-185 (vgl. Golling, ZöGy 1897,
847 f.). — Hultsch hat auch schon mehrfach Nachfolge gefunden, vor allem
auf dem Gebiet der späteren Sprache: P. Thouveuin, Der Gebrauch der
erzählenden Zeitformen bei Ailianos. (Jahn-) Fleck. Jbb. 151, 378-94
(Seitenstück zu Hultsch' Arbeit, deren Ergebnisse in allem wesentlichen
für Alian bestätigt werden); K. Roth, Die erzählenden Zeitformen bei
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.) 109
Die Arbeit zerfällt in drei Teile: der erste gibt im Anschluß an
Curtius und Delbrück eine Übersicht über die griech. Tempuslehre
(„der Aorist nrgiert die im Verbalbegriff enthaltene Tätigkeit, actio
ipsa, oder den in demselben enthaltenen Zustand"), im zweiten Teil
bekennt sich der Verfasser bei einer Übersicht über die bisherigen Auf-
fassungen als Gegner der von Pfuhl begründeten Ansicht, im gnom.
Aorist habe sich eine ursprachliche zeitlose Verwendung des (augment-
losen) Ind. Aor. erhalten, im diitten Teil weist er zuerst an Hand
eines schönen, nach sachlichen Gesichtspunkten geordneten Materials,
wobei er allerdings die Grenzen wiederholt zu weit zieht, nach,
daß der gnom. Aor. nicht nur in allen generellen Sätzen, auch bei
absolut gültigen Urteilen, ferner auch bei Sitten und Gewohnheiten, und
zwar generell wie individuell, vorkommt und daß der Unterschied zwischen
gnom. Aorist und gnom. Perf. und Fut. nicht allzu groß ist; sie können beim
Ausdruck desselben Gedankens wechseln. Durch den gnom. Aor. wie
auch durch das stellvertretende Perf. werde in generellen Sätzen der
Verbalbegriff mehr hervorgehoben, urgiert, als dies durch das gleichfalls
statthafte Präsens und das in solchen Sätzen seltenere Futur geschehe. Aber
wie schon G. Herbig, derIF6, 249—261 auch den gnom. Aor. be-
handelt, ausgeführt hat, paßt die Definition auf den Aor. überhaupt,
nicht auf den gnom. insbesondere, und beseitigt nicht die Schwächen der
Theorie, welche den gnom. Aor. aus dem Aor. als histor. Prät. entstanden
sein läßt. Letzteres hatte schon vor Schmid der kroatische Gelehrte
A. Music versucht (1892), dessen in der Sprache seiner Heimat ge-
schriebene Arbeit aber erst durch die Selbstanzeige lA 5, 91 — 96 in
weiteren Kreisen bekannt wurde. Er führt aus, daß sich im Kroatischen
ein gnomischer Aor. entwickelt habe, der nicht auf dem Injunktiv
(dem augmentlosen Ind. Aor) beruhen könne, wodurch diese Annahme
auch lür das Griech. an "Wahrscheinlichkeit verliere; der gnom. Aor.
beruht allerdings auf der präteritalen Bedeutung, aber der Zeitpunkt
der Aoristhandlung ist nicht von der Gegenwart des Sprechenden, sondern
von einer angenommenen Gegenwart aus bestimmt. Diese An-
schauung ist zwar nicht von Herbig a, a. 0., wohl aber von Delbrück,
Dionysius von Halikarnaß [I] Gymn.-Progr. Bayreuth 1897 (zugleich Er-
langer Diss.; behandelt Imperf. und Aor. nach dem von Hultsch angewandten
Verfahren, dessen Ergebnisse er bestätigt); *Ph. Hultzsch, Die erzähleoden
Zeitformen bei Diodor. Progr. Pasewalk 1902 (vgl Bruhn, MhSch 1903,
479). Ferner ist hier zu nennen *A. W. A hl bürg, Nögra anmärkningar
tili imperfektets och aoristens syntax hos Thukydides. Fran Filol Före-
ningen i Lund 1902; vgl auch den lA 2, 63 im Auszug wiedergegebenen
tschechischen Aufsatz von H. Mayer.
110 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.)
Vßl. Syut. II 286—302 und Briiginanu, gr. Gr. ^ 490—2 angenommen
worden. ^)
In der Moduslehre sind zunächst einige Arbeiten zu nennen»
die darauf ausgehen, die Grundbedeutung des Konjunktivs und
Optativs zu gewinnen, um von dieser aus die geschichtlich gegebenen
mannigfaltigen Verwendungen abzuleiten.
K. Hammer Schmidt, Über die Grundbedeutung von Konjunktiv
und Optativ und ihr Verhältnis zu den Temporibus auf Grund der
homerischen Epen erörtert. Diss. Erlangen 1892; C. Mutzbauer»
Das Wesen des Konjunktivs und Optativs im Griechischen. VVDPh
1895, 74 — 77; Die Grundbedeutung des Konjunktivs und Optativs und
ihre Eniwickelung im Griechischen. Ph 62, 388—409; Das Wesen
des Opfativs. ebd. 626 — 38; H. Lattmann, Die Bedeutung der Modi
im Griechischen und Lateinischen. NJklA 9, 410 — 38; G. H. Müller^
De Graecorum modo optativo. Ph 49, 548 — 53; M. L. Earle,
A Suggestion on the development of the Greek optative. CR 1900,.
122—3.2)
Gegen die Mehrzahl dieser Arbeiten läßt sich grundsätzlich ein-
wenden , daß sie die vergleichende Forschung nicht oder zu wenig zu
^) H. C. A. Eimer, Note on the gnomic aorist. PrAPh.i 25, p. LIX —
LXin kenne ich nur aus lA 7, 53 f , wonach seine Ansicht mit derjenigen
Mutzbauers, Grundlagen 30-38 sich berührt. — Nach H. Pedersen,
ZvSpr 37, 231—4 bezeichnet in den Sätzen der oben besprochenen Art
„das Präsens die (ausnahmslose) Regel, der Aorist die gelegentlich ein-
treffende Handlung".
^j Anhangsweise seien hier einige Untersuchungen über den Modus-
gebrauch einzelner Schriftsteller erwähnt: L. Meyer, Über die Modi im
Griechiscl)cn. GöNachr 1903, 313 -4G (unvollständige Sammlung von Bei-
spielen für den homer. Modusgebrauch im Hauptsatz; Bemerkungen über
Form und Bedeutung des Opt, Konj., Imp.; Grundbedeutung des Opt. der
Wunsch, des Konj. das Wollen); L. Wählin, *De usu modorum apud
Apollonium Rhodium. Lund 1892 (vgl. Peppmüller, BphW 12, l(;4l ff.) und
De usu modorum Theocriteo. Göteborg 1897 (die zweite Abhandlung enthält
eine nach Satzarten und Bedeutung geordnete Materialsammlung, die auch
den modalen Ind. berücksichtigt, während die erste nach dem Vorwort der
zweiten auch allgemeine Eiörtcrungen gibt); P. Thouvenin, Unter-
suchungen über den Modusgebrauch bei Älian. Ph 54, 599—619 (Ergänzung
zu W. Schmid, Atticism. 3, 77 ff ; Älian weicht vom klass. Sprachgebrauch,
namentlich in den Konstruktionen bei -otv, auch öot^ und dadurch ab,
daß er den Opt. zur Bezeichnung des subjektiven Grundes nach Haupt-
tempus nicht kennt). — Vgl. ferner *M. L. Earle, Some remarks on the.
moods of will in Grcek. TrAPhA 1895, L f.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Sehwyzer.) Hl
Rate ziehen und sich bemühen, für die verschiedenen Gebrauchsweisen
der Modi, die schon voreiuzelsprachlich vorhanden waren, aus dem Material
einer Einzelsprache, nämlich des allerdings dabei eine führende Rolle
spielenden Griech., eine einheitliche Grundbedeutung- nachzuweisen -
während sich ein Forscher wieBrugmann sogar für das Idg. die Aufstellung'
einer Grundbedeutung- versagt (g-r. Gr. ^ 499 f. 503 f.). Nach Mutzbauer
ist in Haupt- und Nebensätzen der Konj. der Modus der Erwartung, der
Opt. (auch opt. obl.) der des Wunsches ; er sucht diese These auch bei
Homer durchzuführen, was aber nicht ohne Gewaltsamkeit abgeht, so
wenn S. 396 f. auch der adhortative Konj, aus dem der Erwartung erklärt
wird, oder S, 636 au der Stelle a 414 out' ouv a^p/EXir] en Tr£i!)oii,ai ei' Ttoftsv
eXdoi ein Opt. des Wunsches vorliegen soll („denn Telemach hat allerdings
den Wunsch, daß irgendwoher eine Botschaft käme; denn nur in diesem
Fall kann er zeigen, daß er ihr nicht mehr glaubt")! Unglaublich er-
scheint auch die Behauptung S. 392, daß -/sv beim Konj . und Opt. die Er-
wartung oder den Wunsch des Subj. auf einen bestimmten Fall, av ganz
allgemein auf alle Fälle beziehe. Lattmann, der sich besonders gegen
Delbrück und amerikanische Syutaktiker wendet, schreibt dem Konj.
Potentiale, dem Optat. fiktive Grundbedeutung zu.
In grundlose Konstruktionen verlieren sich die Artikel von Hammer-
schmidt (Konj. eigentlich ein Tempus fut., Opt. ein Tempus praet. mit
Futurbedeutung) und Müller (Opt. eig. Konj. Praet. — eine übrigens
schon alte Anschauung). Nach Earle ,,the precative use of the opt. may
well be taken as its most primitive use".
Der umfassendste Versuch, alle Anwendungen eines Modus auf
eine Grundbedeutung zurückzuführen, ist in einer französischen Arbeit
unternommen worden, die deshalb hier sich anschließen mag, obschon
sie noch viel anderes enthält:
H. Vandaele, L'optatif grec. Essai de syntaxe historique.
These, Paris 1897.
Die Grundanschauuug des, wie es scheint, wenig bekannt ge-
wordenen Buches (von gegen 300 S.) bildet der Satz: „L'optatif est
le mode de l'eventnalite possible, subjective", und zwar, wie es an einer
anderen Stelle heißt, „independamment de toute idee de temps". Der
Optativ des Wunsches hat sich aus dem Optativ der Möglichkeit ent-
wickelt; erst durch den Gedankenzusammenhang entstehen die ver-
schiedenen Schattierungen des Optativs überhaupt. DaC diese Hypothese
wahrscheinlicher ist als die umgekehrte, ist unbedingt zuzugeben, aber
beweisen läßt sie sich nicht durch Fälle wie Tröi? av ^Xotfiav, wo aller-
dings der Opt. pot. sich dem wünschenden nähert, aber eben doch
davon geschieden bleibt. Der Verfasser vergißt dabei, daß die Haupt-
112 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.)
anwendungen des Opt. schon aus dem Vorgriech. ererbt sind. Nach
einer knappen Darlegung der wichtigsten Gesichtspunkte in der „Intro-
duction" wendet sich V. zur Darstellung- des Opt. in unabhängigen
und abhängigen Sätzen, um seine Theorie im einzelnen zu veranschau-
lichen und zu stützen. Daß auch in den Nebensätzen der Opt. in der
überwiegenden Zahl der Fälle auf den potentialen zurückgeht, ist klar;
aber der Verf. geht zu weit, wenn er den teilweisen Ursprung der Be-
dingungssätze aus Wunschsätzen mit einer kurzen Bemerkung umgeht
und in w'eitgehendera Maße im Opt. der abhängigen Rede noch in der
klassischen Zeit einen deutlichen Potential finden will, dagegen die Be-
ziehung auf die Vergangenheit, die er doch zugeben muß, möglichst in
den Hintergrund treten läßt (,.on peut conjecturer que cette regle fut
surtout appliqu^e dans la langue litteraire" S. 204!). Freilich zeigen
andererseits die Beispiele für den Wechsel zwischen Konj. und Opt.
im gleichen Satze, z. B. Thuk. 3, 22, 8 o-(uc aaacp^ xa aTjpLsTa q toi?
•jzoXsixiot; xal [ir^ ßor^OoTsv S. 115 ff., daß immerhin ein Unterschied in
bestimmten Fällen ausgedrückt und empfunden werden konnte — und
zwar wird er gerade durch den Wechsel der beiden Modi zum Ausdruck
gebracht — aber das beweist nicht, daß auch in den Fällen, wo der
Gegensatz des andern Modus fehlte, der Konj. oder Opt. gleich em-
pfunden wurden, wie in jenen besonderen Fällen. In der (leider auch
tür Besonderheiten nicht vollständigen) Sammlung einer großen Anzahl
von gut gewählten Beispielen aus der griech. Literatur bis auf Lukian
liegt der bleibende Wert des fleißigen Buches. Am ausführlichsten
sind im 1. Teil die „propositions probl^niatiques ou potentielles" be-
handelt (mit vielen Unterabteilungen), denen die „propositions optatives,
volitives, concessives, deliberatives" sich anschließen; der 2. Teil be-
handelt nach einander die indirekten Fragen, die finalen und konseku-
tiven, die suppositiven und temporalen, die Relativsätze, um mit dem
Opt. der indirekten Rede und dem „optatif par attraction" zu schließen.
Zum Teil nicht neu, aber teils sicher unhaltbar sind einige Einzelaus-
führungen: S. 18 ff. über den Unterschied von av und xsv, 57 f. über
das wiederholte av („Intention de mettre en relief le mot priucipal de
la phrase"), 72 f. über elsv (eig. Opt.! aber das Formale übergeht der
Verf.), 90 oüx oIö' av d (Mischung aus oux olo' av, vgl. lat. nescio an,
und oux oio' £1 ), 135 über wjte.
Im Gegensatz zu den mannigfachen Bemühungen, eine Grundbe-
deutung der Modi zu gewinnen und auf diese um jeden Preis alle
historisch gegebenen Anwendungen zurückzuführen , suchen andere
Forscher vielmehr die einzelnen Gebrauchsweisen streng zu sondern,
besonders auch in den Nebensätzen, wo sich die ursprüngliche Be-
deutung oft verwincbt hat, so
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.) 113
W. G. Haie, The anticipatory subjunctive in Greek and Latin:
a chapter of comparative sj-ntax. Chicago 1894 (aus: Studies in
classical philology I).
In der Einleitung, die über die Modi im allgem. handelt, werden
die Gebrauchsweisen des Konj. nach anderer Vorgang zwei Gruppen
zugewiesen: der Konj. ist entweder „volitive" (voluntativ) oder , .anti-
cipatory" oder ,,prospective" (,, futurischer Konj."). Letztere Art, der
die Arbeit im besonderen gilt, ist im Griech. — und diese Sprache
kommt hier für uns allein in Betracht — im allgem. durch die Beifügung
von av oder xsv charakterisiert. Das Material ist besonders Homer ent-
nommen, doch wird teilweise bis aufs N. T. hinuntergegangen. Nur kurz
brauchen die verschiedenen Schattierungen des fut. Konj. ,,in independence"
und „in parataxis" dargelegt zu werden; die Hauptaufgabe, die sich
der Verfasser gestellt hat, ist, dessen Verwendung in Nebensätzen nach-
zugehen, wo er in weiter Ausdehnung erscheint, in Relativ-, Temporal-,
Frage-, Bedingungssätzen. Fi'eilich nicht ausschließlich : der Verf. gibt
selbst zu wiederholten Malen die Möglichkeit zu, eine gegebene Kon-
struktion sei auch vom voluntativen Konj. aus zu verstehen oder ent-
halte auch einen volnntativen Bestandteil; und es fragt sich denn doch,
ob das Sprachgefühl bei schon im Urgriech. fertigen Konstruktionen einen
Unterschied machte, den ja auch das Auge des Forschers nicht immer
scharf wahrzunehmen vermag. Beständig wird das Verhältnis zum Ind.
Fut. in seinen zeitlichen Schwankungen berücksichtigt. Es sei hier
noch besonders hingewiesen auf die Erörterungen über die Sätze mit
«uc, o-(oi, 7va usw. (S. 24 ff.) und mit -pi'v (S. 76 ff.), wo der ausschließ-
lich voluntativen Auffassung der Konj. durch Weber bzw. Sturm ent-
gegengetreten wird. Die klar und sorgfältig abgefaßte Schrift bildet einen
beachtenswerten Beitrag zur Aufhellung des Problems des Konj. im
Nebensatze.
Je einen Beitrag zur Verwendung des Konj. und des Opt. ent-
hält eine frühere Arbeit desselben Verfassers:
W. G. Haie, ,,Extended" and ,,remote" deliberatives in Greek.
Extr. from the TrAPhA 24, 156—205.
Der erste Teil des Aufsatzes stützt die Ausführungen von F.
B. Tarbeil, CR 5, 302, wonach der Konj. in Sätzen wie ou ^ap aXXov
olo" oToi Xs-.'w Soph. Phil. 938 auf einer Ausdehnung des Deliberativs der
unabhängigen Rede beruht, gegenüber M. L. Earle, CR 6, 93 — 95,
der ihn als „subjunctive of purpose in relative clauses" erklärt hatte. ^)
*) Vgl. auch *W. W. Goodwin, On the extent of the deliberative
construction in relative clauses in Greek. HSt 7, 1—12. An diesen Auf-
satz knüpft Bemerkungen M. L,, Earle, On the subjunctive in relative
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1904. I.) 8
114 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.)
Das Hauptergebnis des zweiten Teiles ist die Widerlegung der von
A. Sidgwick, CR 7, 97 — 99. 352 — 4 gegenüber anderen aufrecht er-
haltenen „remote deliberative", nämlich eines Optativs zum Ausdruck
von „remoteness of possibility" an Stelle des Kouj. in Fällen wie oux
£o6' oTitüs Xi^atixt xa <\izwri xaXa Äesch. Ag. 620. H. hält an der auch
von anderen aufgestellten Erklärung der Opt. in solchen Sätzen als
Potentiale Opt. ohne av fest. Beide Artikel bauen sich auf einem reichen
Material auf und behandeln ihren Gegenstand und was damit zusammen-
hängt, klar und eingehend; ein beiläufiges, aber nicht unwichtiges Er-
gebnis ist die Scheidung des nicht wünschenden Optativs in den ,,potential
Optative" und den „optative of ideal certainty or the Optative which is
used in ordinary conclusions, softened assertions" (S. 198). — Ebenfalls
mit den Problemen der Modi im Nebensatz beschäftigt si«h
*W. G. Haie, The origin of subjimctive and optative conditions
in Greek and Latin. HSt 12, 109—23.
Wie der Opt. in diesen Sätzen teils rein optativisch, teils potential
ist, so wird auch für den Konj. die Scheidung in den voluntativen und
futur. Bestandteil versucht; vgl. die Besprechungen von Dittmar, BphW
1902, 336-40; 373—6; Thumb, lA 14, 6.
Noch ist einiger kleinerer Arbeiten über den Optativ, besonders
über einzelne Anwendungen desselben, zu gedenken.
Nur nennen kann ich *F. G. Allinson, On causes contributory
to the loss of the optative in later Greek. Studies in honor of Gildersleeve
1902. — Über den Ausdruck des eigentlichen Optativs in der indirekten
Bede handelt *S. Sobolewski EO 5, 162. — Ebenso wenig sind mir
einige Arbeiten über den sog. iterativen Optativ zugänglich.^)
Mehrfach ist der sog. oblique Optativ erörtert worden, in
weiterem Zusammenhange von
0. Behaghel, Der Gebrauch der Zeitformen im konjunktivischen
Nebensatz des Deutschen. Mit Bemerkungen zur lateinischen Zeitfolge
und zur griechischen Modusverschiebung. Paderborn 1899.
Über des Griech. handeln besonders S. 176—195. B. geht aus
von der Grundanschauung, dai3, wo in der ältesten Zeit in der ab-
hängigen Bede ein Optativ erschien, dieser Modus dem betreffenden
Satze schon zukam, als er noch eine unabhängige Form hatte; durch
clauses after ou/ l'oi'.v and its kind. CR 10, 421 — 4, der im übrigen in der
Hauptsache Haie beistimmt. Beiläufig erklärt er als die älteste Bedeutung
des Konj. die adhortative,
*) *J. T. Allen, On the so-calied iterative optative in Greek.
TrAPhA 33; *C. Thulin, De optativo iterative apud Thucydidem. SA.
aus „Festskrift f. Prof. Weibull". Lund 1901 (vgl. DL 1902, 857).
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 190o. (Schwyzer.) 115
die Analogie weiter verbreitet, wird dann der Optativ zum Zeichen der
Abhängigkeit. Und zwar stand im Griech. der Opt. der abhängigen
Eede anfangs auch nach Haupttempus (Beispiele S. 178 Ü.). Ferner
kann sich nicht nur der Opt. Aor., sondern auch der Opt. Präs. auf
Tatsachen der Vergangenheit beziehen (iraueaxov [xvvjjTrjpa?, ffri? -otaÜTdc
-/£ (til^oi ■/ 314). Später wird der Opt. auf die Stellung nach Nebentempus
eingeschränkt, und zwar braucht man den Opt. Präs. für mit dem Hanpt-
verb gleichzeitige , den Opt. Aor. für dessen Zeit vorausliegende Vor-
gänge. Eine sichere Autwort auf die Gründe dieser Entwickelung gibt
B. nicht, dagegen schließt er mit einer kühnen Vermutung über av
(o'jx av szoiTjda war urspr. = non; an feci?).
Anerkennt B. in den angegebenen Grenzen eine ,, Modusver-
schiebung", so wird sie von andern bestritten: Gildersleeve (Problems
129 f.; AJPh 24, 394 f.) begnügt sich freilich damit, festzustellen, daß
schon bei Homer die Regel Konj, nach Haupt-, Opt. nach Nebenterapus
gelte; aber Mutzbauer Ph 62, 631 f. und Vandaele a. a. 0. 250 nehmen
für den Opt. überall die von ihnen aufgestellten Grundbedeutungen an. —
Zwei kleinere Arbeiten beschäftigen sich mit dem Nebeneinander von
Opt, und Konj. in abhängigen Sätzen. Davon ausgehend kommt
C. Chitil, Zur Konstruktion der Finalsätze im Griechischen.
Progr. Waidhofen an der Thaya (Österr.) 1899
zu dem Ergebnis, daß «Konj. und Opt. in Finalsätzen [und sonst]
einen größern oder geringern Grad logischer [nicht äußerlicher, syn-
taktischer] Abhängigkeit des Nebensatzes vom Hauptsätze ausdrücken"
(S. 17). Das zum Beweise verwendete Material ist dürftig und den
Sammlungen andrer entnommen. Dagegen beruht der Aufsatz von
H. D. Naylor, On the Optative and the graphic construction
in Greek subordinate clauses. CR 1900, 247—9. 345—52
doch auf selbständiger Materialsammlung, wenn auch den gefundenen
Eegeln zahlreiche Fälle widersprechen. Nach N. finden wir nämlich
Imperf. oder Plusquamperf. statt Opt. 1. regelmäßig, wenn der regierende
Satz unpersönlich oder negativ ist, 2. in der Hälfte der Fälle nach den
Verben des Sehens, Erkenncns u. ä. — Vgl. auch
*A. Mein, De optativi obliqui usu Homerico. I De sententiis
obliquis aliunde pendentibus primariis. Progr. Ernskirchen 1903
(zugleich Diss. Bonn).
Zum Imperativ ist außer dem Artikel von Donovan (S. 105) nur
*C. W. E. Miller, The limitation of the imperative in the Attic orators.
AJPh 13, 399—436 zu nennen; vgl. JA 3, 241.
Dem modalen Indikativ der Augmentpräterita gewidmet
ist die Arbeit von
8*
116 Beriebt über griechiscbe Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
C. Mutzbaiier, Die Entwickeluag des sog-enannten Irrealis bei
Homer. Ph 61, 481—502.
M. gebt entschieden zu weit, wenn er behauptet, weder bei Homer
noch im späteren Griech. habe der Begriff der Irrealität einen sprach-
lichen Ausdruck gefunden, sondern die Handlung, die nicht in Erfüllung
gegangen ist, werde einfach im Ind. eines Tempus der Vergangenheit
gegeben, indem die Sprache den Hörer oder Leser aus dem Zusammen-
hang der Gedanken erschließen lasse, daß die angedeutete Handlung
nicht in Erfüllung gegangen sei. Es gibt Fälle, wo dies zutrifft, aber
daß schon die homerischen Griechen den sog. Irreal modal empfanden,
zeigt die Hinzufügung von av und yiv und die Negation \t-r^, die alle
ursprünglich dem Ind. fremd waren. Daß in der Verwendung des
Imperf. i'jxeXXov zum Ausdruck eines Ereignisses, das sich niclit ver-
wirklicht hat, die früheste Erscheinungsform und zugleich der Anstoß
zu dem irrealen Gebrauch des Ind. zu sehen sei, läßt sich ebenfalls
nicht erweisen ; warum sollen nicht die Redeweisen mit oXi'i'ov oder o^psXov
ebenso alt sein? M.s Aufsatz bietet allerdings einige Ergänzungen zu
Brugmanns Darstellung (gr. Gr.^ 511), wo aber die wichtigsten Linien
der Entwickelung bereits sicherer gezogen sind.
Infinitiv und Partizip (mit Verbaladjekiv).
Nur nennen kann ich hier eine Arbeit, die sich mit Infinitiven
und Partizipien auf dem syntaktisch noch wenig gepflegten Gebiete
der griechischen Dialektinschriften beschäftigt. ^) Auch auf eine zu-
sammenfassende Arbeit über den Infinitiv kann ich nur verweisen.-)
Andre Arbeiten fassen einzelne Gebrauchsweisen des Infinitivs ins Auge; so
^) J. M.Granit, De infinitivis et participiis in inscriptionibus dialec-
torum Graecarum. Diss. Uelsingfors 1892.
^) Die Geschichte des Infinitivs verfolgt bis zu seinem Verschwinden
im Mittelgriecbischen *D. C. Hesseling in Psicharis Etudes de philologie
neogrecque. Paris 1892, p. 1—44; vgl. das Referat von A. Thumb, lA 5,60.
Angeschlossen seien einige Arbeiten über den Infinitiv bei einzelnen
Schriftstellern: *Sprotte, Die Syntax des Infinitivs bei Sophokles IL
Progr. Glatz 1891; *E. Lehner, Der Infi citiv bei Xenophon. Gymn. Progr.
Freistadt 1891; R. Tetzner, Der Gebrauch des Infinitivs in Xenophons
Anabasis. Gymn.-Progr. Dobran 1891 (genaue Statistik in Absicht auf die
Schulgrammatik ohne neue Ergebnisse von allgemeinem Wert; imperativ.
Infinitiv nur in einem Beispiel, und zwar in dem r-pl>z vöao; V 3, 13);
*E. G. W. Hewlett, On the articular Infinitive by Polybios. AJPh 9;
E. Nordenstam, Studia syntactica. I Syntaxis infinitivi Plotiniana. Diss.
Upsala 1893 (behandelt knapp, aber sauber den gesamten Gebrauch des
Inf., ohne und mit Artikel; letztere Anwendung ist bei Plotin ungemein
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) II7
Fr. Krapp, Der substantivierte Infinitiv abhängig von
Präpositionen und Präpositionsadverbien in der historischen Gräzität.
(Herodot bis Zosiraus.) Diss. Heidelberg 1892,
Die Abhandlung beginnt mit einer Statistik der Frequenz der
behandelten Erscheinungen, bei der sich ergibt, daß Polyb. am häufigsten
von denselben Gebrauch gemacht hat; er verwendet auch am häufigsten
die gegenüber den Präpositionen selteneren Präpositionsadverbien.
Ein zweites Kapitel handelt vom Gebrauch der einzelnen Präpositionen
und Präpositionsadverbien mit dem Inf.; es schließt mit einer zusammen-
fassenden Darstellung der Gebrauchsweise der einzelnen Autoren, wobei
sich ergibt, daß erst bei Thukydides die Konstruktion voll entwickelt
ist, indem er auch den Akk. mit Inf. von Präp. abhängen läßt. Ein
weiterer Abschnitt stellt fest, daß die Mannigfaltigkeit bei Präpositionen
und Präpositionsadverbien, die bei verschiedenen Kasus auftreten, ge-
ringer ist als sonst, wenn sie mit dem Inf. verbunden werden, und daß
durch die Infinitivkoustruktion besonders Temporal-, Final- und Kausal-
sätze ersetzt werden; Polyb. zeigt eine starke Abnahme der Konjunk-
tionen. Den Schluß bildet eine sorgfältige, nach den einzelnen Ver-
bindungen und den die Infinitivkoustruktion regierenden Subst. und
Verben geordnete Sammlung von Stellenangaben aus den behandelten
Schriftstellern. — Von zwei Seiten hat der Imperativische Infinitiv
eine gesonderte Behandlung erfahren, eine allgemeinere von E. Wagner,
Der Gebrauch des Imperativischen Infinitivs im Griechischen. Gymn.-
Progr. Schwerin i. M. 1891, eine sich auf ein bestimmtes Sprachgebiet
beschränkende von C. Hentze, Der Imperativische Infinitiv in den
homerischen Gedichten. BKIS 27, 106—137. Die hübsche Unter-
suchung W.s, die sich den Arbeiten ans der Schanzschen Schule würdig
häufig). Mit vorgeschichtlichen Fragen beschäftigt sich die wenig ertrag-
reiche Arbeit von *ß. Szc zurät, De infinitivi Homerici origine casuali.
Progr. Brody 1902 (vgl. ZöGy 1903, 561). Hier sei auch noch angeschlossen
der sonderbare Versuch von W. P. Lendrum, On the construction of
clauses following expressions of expectation in Greek. CR 4, 100 f., den
Inf. in Fällen wie süyöucvo; ^rjyrj-w -i <^^r^ih als dativisch zu fassen („for es-
cape").
Endlich seien an dieser Stelle einige kleinere, mir nicht zugängliche
Aufsätze über Infinitivkonstruktionen aufgeführt: über den Inf. nach Aus-
drücken des Fürchtens, also über Wendungen wie oioo'.za ä/.&aiv im Sinne
von oEooixc/ ay; kl^o handeln F. B, Tarbell AJPh 12, 70—72 (s. lA 1, 59)
und Gh. B. Gulick, HSt 12, 327 ff. (s. lA 14, 7), über den Akk. mit Inf.
bei Thukydides Inczß, B., EPhK 17,36—43. 100—112. 258—75. Über den
Inf. bei -fn'v und M"^ s. unten fS. 12G ff.). Den Inf. Präs., Fut., Aor. bei
jiiXXtu bei Homer und Plato skizziert A. Platt, JPh 21, 39—45 (Grund-
bedeutung von u.=XXuj: I am likely to do).
118 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1S90— 1903. (Schwyzer.)
zur Seite stellt, betrachtet auf Grundlage des vollständigen statistischea
Materials nach dem Vorgang anderer den imperativiscben Infinitiv be-
sonders in seinem Unterschied vom Imperativ ; der futurische Imperativ —
das ist der imperat. Inf. — wird teils in allgemeinen, für alle Zukunft
gültigen Vorschriften oder in Vorschriften, Befehlen usw., die sich auf
einen einzelnen, aber erst nach einiger Zeit eintretenden Fall beziehen,
gebraucht, teils und zwar seltener mit Zurücktreten des fut. Momentes
zur Bezeichnung eines energischen Befehls oder dringenden Wunsches.
Am lebendigsten bei Homer, findet sich die Gebrauchsweise immerhin
neben zunehmender Häufigkeit des Imperativs in der Dichtung bis in
späte Jahrhunderte, doch nicht mehr bei Nonnos und seiner Schule und
bei Oppian in unhomerischer Weise. Im prosaischen Sprachgebrauch
ist der imperat. Inf. typisch geworden und geblieben für die Gesetzes-
sprache, auch für die Rezeptierung; die nachklassische literaiische Prosa
hat ihn dagegen aufgegeben. Hentze nimmt eine Nachprüfung von
Wagners Eigebnissen für Homer vor, wobei sich ergibt, daß in der
2. Person die Konkurrenz des eigentlichen Imperativs auch in allge-
mein gültigen Vorschriften doch weiter reicht, als Wagner annahm, der
den imp. Inf. geradezu als regelmäßigen Ausdruck dafür hinstellte.
Außerdem ergänzt er W.s Material für den imp. Inf. der 3. Pers., der
mit Brugmann im Inf. der Infinitivkonstruktion bei zpiv anzunehmen ist.
Eine Reihe von meist kleinern Arbeiten beschäftigt sich mit
einzelnen Punkten aus der Lehre vom Partizip.^) F. Carter, Ou
some uses of the aorist participle. CR 5, 3—6. 249 — 53 handelt im
wesentlichen über das Ptc. Aor., sofern die dadurch ausgedrückte
Handlung der des regierenden Verbs nicht vorangeht. Das Ptc. be-
zeichnet an sich die Zeitstufe nicht; das zeigt sich noch in den Papyri,
^) J. Keelhoff, Du participe et du style grec. R. d. Humanites en
Belg. 1899, janv. ist mir nicht zugänglich. — Wie gewöhnlich sind auch
einige Arbeiten zu einzelnen Schriftstellern zu nennen; vorangestellt seien
zwei Untersuchungen von G. M. B ollin g, welche auch für die gesamte
griech. Sprachgeschichte gröllere Bedeutung haben, indem sie zum Teil die
Entwickelung der attischen Verwendung des Partizips als Äquivalent für
einen Nebensatz aus den noch viel einfacheren homerischen Verhältnissen
betrachten: 1. *The participle in Hesiod (Tbesis of the Johns Hopkins uni-
versityj SA. des Catholic Univers. Bull. (Washington) 3, 1897, 421—71.
2. The participle in Apollonius Rhodius. Reprinted from Studies in honor
of B. L. Gildersleeve. Baltimore 1902, S. 449—70. Für 1 mull ich mich
mit einer Verweisung auf einige Besprechungen (AJPh 20, 352; WklPh
1898, 673—6; lA 10, 119) begnügen, für 2 habe ich dem ausgezeichneten
Referat von H. Meltzer, lA 15, 244—6 nichts hinzuzufügen. — Einen Prosaiker
behandelt P. Eismann, De participii temporum usu Thucydideo I. Gymn.-
Bericlit über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.) 119
wo das Ptc. Aor. aach su xrotui u. dgl. zeitlos ist, nach *D. C. Hesse-
ling. Quelques observations sur remploi et l'bistoire du pavtieipe grec.
M61anges Kern. Leiden 1903, S. 69 — 72, der im übrigen nach lA 15,
64 besonders die m;ttel- und neugriechische Zeit behandelt. J. M. Stahl,
RhMPh 54, 150 f. i94 f. handelt über die Verwendung des prädikativen
Ptc. gegenüber deuischem Verbalsubstantiv, die besonders bei Thukydides
erscheint (z. B. ai'iov -^v oi Aaxsoaojxovtot uposi-ovrec).
Über VerbinUmgen des Ptc. mit Partikeln und Konjunktionen
haben gehandelt G M. BoUing, xaaot with the participle. AJPh
23, 319 — 21 (die Verbindung ist erst nachklassisch sicher nachweisbar)
und *S. Sobolew^-i, JFO 10, 233 f. (vgl. lA 8, 187).
Eine Hauptrdle spielt das Ptc. (neben dem Inf.) in den peri-
phrastischeu Verbal:onstruktionen. J. R. Wheeler, The participial
construction with xYyavstv and xupav. Harvard Studies II 143 — 58
gibt eine statistische Bearbeitung der Tragiker, Redner, Historiker, wie
ich lA 2, 107 entneme; der Aufsatz ist mir ebensowenig zugänglich
wie die daran anknipfeuden Bemerkungen von B. L. Gilde rsleeve
AJPh 12, 76 — 79. anderen periphrastischen Konstruktionen hat Ph.
Thielmann seine Aifmerksamkeit geschenkt 1. r/w mit Partizip.
Abhandlungen W. v. (lirist dargebracht S. 294—306. München 1891;
2. Über periphrastisch Veiba im Griech. BayrGy 1898, 55—65. Im
ersten Autsatz zeigt e\ wie die Verbindung des Ptc. Aor. mit l/w,
vorbereitet durch den hmerischen und hesiodeischen Gebrauch (Typen
iXüjv -j'ap e'/si 7£pa? bzw.xpu'!'«? 'iy^m) bei Herodot, den Tragikern und
Plato geradezu zur Umshreibung des einfachen Perfekts wird, im
zweiten werden nicht nu die Umschreibungen des einfachen Futurs
durch £T(xi, epyo[j.at mit P-;. Fut. (I'pyofj-at cppaawv) oder e&eXw mit Inf.
(cppajat öeXü)), sondern ai'.h Ausdrucksweisen wie h olx-ov eXöeiv, Sta
'foßou spyeaöai in ihrer ELwickelung, besonders bei Herodot und den
Tragikern, verfolgt.
Umfassende Bearbeitngen haben die Verbaladjektiva ge-
funden. Das Verbale aut-xoc bei Aesch. hatte Ch. E. Bishop in
einer Leipziger Diss. von 18b behandelt; er hat auch Soph. daraufhin
Progr. Inowrazlaw 1892 (behandt auf Grund einer guten und interessanten
Materialsammlung das Ptc. prae in Bezug auf die relative Zeitstufe; mit
Recht wird geltend gemacht, da das Ptc. praes. an sich nur die actio
durandi bezeichne, nicht die Gleic^eitigkeit, die sich vielmehr wie die ge-
legentlich auftretende Vergangenhe^bedeutung lediglich aus dem Zusammen-
hang ergebe. Der Verfasser steht .wie es scheint, ohne es zu wissen, in
seinen Ansichten den in der neuei Indogermanistik herrschenden nahe;
vgl. z. B. Brugmann, griech. GramiP 470 f.).
120 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— ] 903. (Schwyzer.)
untersucht (*AJPh 13, 171-99. 329—42. 449-62, vgl WklPh 1893,
1310—12; lA 3, 239). Einen Ausschnitt aus der vorhergehenden
Literatur behandelt *J. Wölfle, De adiectivi verbalis praesertim in
Iliade usu Homerico. Progr. Neuburg a. D. 1903,
Ch. E. ßishop, The Greek verbal in -TEO AjPh 20, 1—21.
121—38. 241—53
unterrichtet in eingehender und interessanter Weise über das verbal of
«Obligation", wie er statt „necessity" zu sagen vorzbht, in der Literatur
bis auf Aristoteles. Alle Fragen, die sich daran inüpfen, kommen zu
einer nicht breiten, aber doch erschöpfenden Behaidlung: die Etymo-
logie, wobei sich B. für die Annahme einer Wdterbildung von -to-
aus entscheidet, die Bildung und ihre Häutigkeit ^1831 Belege, wovon
286 auf verschiedenen Verbalstäramen und zwar neist auf dem Stamm
des pass. Aor. I beruhen; der verbalen Natur ntsprechend erscheint
das Verbale auf -xeo- fast nicht in der Kompoition, im Epos ist es
praktisch unbekannt); besonders aber die synftktischen Verhältnisse.
Es steht nur prädikativ, abgesehen von den irrttmlich philosophisch ge-
nannten Wendungen wie xo Trotyjxeov, xa -onr]x£; besondere Häufigkeit
in oratio obliqua läßt sich nicht behaupten; ebnso fehlt jeder Anhalt,
daß die freilich weit überwiegende unpersönlice Fügung die ältere sei
gegenüber der persönlichen. Das Agens steht im Dat., bei der unper-
sönlichen Konstruktion auch im Akk. Ausfüilich werden auch die
Rektionsverhältnisse dargestellt; neben Gen. und Dat. tritt der Akk.
stark in den Vordergrund, der auch in ^rbindungen wie xi öpa-
oxeov anzunehmen ist. Die Zahl der Ksuskonstruktionen wächst
in der spätem Zeit; darin zeigt sich di< fortschreitende Angliede-
ruDg des Verbales an das Verbalsystem. Ein anderer Abschnitt be-
handelt die vom Verbale abhängigen Inf. rd Nebensätze. Zu keinem
vollen klaren Ergebnis kommt B. bei Beandlung der Bedeutung des
Plur. auf -xea für den Sg, („a certain liVrty", „the sweeping exhau-
stiveness of the pl."). Die Copula steht ti -'^'a häufiger (in der Hälfte
der Fälle) als sonst (in einem Fünftel «' Fälle). Unbefriedigend ist
die Erklärung des akkusativischen Agis: es spricht vielmehr Ver-
schiedenes dafür, daß Konstruktionen W ~oiav 6o6v vw xps-xeov Ar. eq.
72 nach Analogie von Fällen entstand^, wo ein Ptc, das sich streng
grammatisch auf das (ausgelassene) dA'ische agens beziehen sollte, im
Akk. steht, z. B. ou Trpossxxeov o\xi-v f<-'^ t^oi* xouxujv XoYotc siooxa? Din.
1, 112; xoXiJ.rjx£ov . . . la^th a^aXu "asas 7Tpoc79£povx£ [XTfjyavac Eur.
IT 111. — Vgl. auch *J. H.T. Maji Verbais in -xso?, xsov. TrAPhA
26, II Nr. 5 (1895).
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.) 121
Partikeln.^)
Deren Bedeutsamkeit für die Färbung des Gedankens entsprechend,
entfallen die meisten hergehörigen Arbeiten auf die Negationen (vgL
dazu auch oben S. 77) und auf av und v.h.
Die Negationen ou und [j.q bei den wichtigsten rhetorisch-
historischen Schriftstellern der früheren römischen Zeit und im Neuen
Testament sowie beim homerischen Infinitiv und ouöe bei Sophokles
haben monographische Behandlungen erfahren.-) Eine neue Theorie für
li-q stellt E. R. Wharton (vgl. lA 1, 172; CR 10, 239) auf, wonach
die Partikel ursprünglich und wesentlich nicht negative oder prohibitive,
sondern interrogative Bedeutung gehabt hätte. Die mir nicht zugäng-
lichen Aufsätze von *F. C. Babbit, The use of \x-q in questions.
HSt XII 307 ff. (Fragen mit p-v] lassen negative oder positive Antwort
offen; s. lA 14, 6) und '^ J. E. Harry, Indicative questions with [xy^
and apa ii-q. Studies in honor of Gildersleeve 1902 bewegen sich da-
gegen auf sicherem, geschichtlichem Grunde. Für *Gallaway, On
the use of (xrj with the participle in classical Greek kann ich nur auf
*) Über den Partikelgebrauch einzelner Schriftsteller handeln im be-
sonderen G. Rosenthal, De Antiphontis in particularum usu proprietate.
Diss. Rostock. Leipzig 1894 (behandelt mit Rücksicht auf den rhetorischen
Stil und die zu Gunsten Antiphons entschiedene Echtheitsfrage den Gebrauch
von y.ai, -z, der Negationen, t„ d'LLd^ asv, öd u. a.); A. Joost, Bemerkungen
über den Partikelgebrauch Lukians. Festschrift für L. Friedländer 1895.
S. 163—182 (behandelt mit Rücksicht auf die Echtheitsfrage lukianischer
Schriften den Gebrauch von us-c^^ö mit Ptc. Präs., tcXv^', liviv, p).
-) D. Birke, De particularum n.-f] et ou usu Polybiano, Dionysiaco,
Diodoreo, Straboniano. Diss. Leipzig 1897 (öfter steht ji/i für oü der älteren
Sprache, bes. beim Inf., und zwar bei Pol. in 28, bei Dien, in 72, bei Diod.
in 258, bei Strabo in 858 Fällen, dagegen ist oü für \x-q selten; B. nimmt
an, in der Volkssprache seien die feineren Unterschiede geschwunden; daß
es sich aber nur um eine Verschiebung, nicht um eine Abstumpfung des
Gefühls für den Hauptunterschied der beiden Negationen handeln kann,
zeigt der Umstand, daß dieser noch im Neugr. ausgedrückt wird);
P. Thouvenin, Les negations dans le Nouveau Testament. RPü 18,
229—40 (Hauptunterschied bewahrt); *E. L. Green, [i-vj for oü before
Lucian. Studies in honor of Gildersleeve 1902; *J. Alton, Über die
Negation des Infinitivs bei Homer. Progr. Krumau (Ost.) 1890 (vgl. ZöGy
43, 177). — F. Fritzsche, De particula iüoi usu Sophocleo. Diss. Rostock
1897 (Behandlung und Gruppierung der einzelnen Stellen ohne allgemeine
Ergebnisse). Vgl. auch H. Kallenberg, oüoi ('j-r|0=) statt xr/i {ßXka) oü (arj)
Jahresber. d. philol. Vereins in Berlin in ZG 1897, 201—4 (für Herodot).
122 Beliebt über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
die Anzeige *AJPh 18, 369 verweisen. Daß die attrahierende Wirkung
des regierenden Satzes auf die Negation des Ptc.s das Gewöhnliche ist,
zeigt *G. E. Howes, The use of [iri with the participle, where the
negative is influenced by the construction upon which the participle
depends. HSt. 12, 277 ff. (vgl. lA 14, 6). Verschiedentlich ist die
Verbindung cu |j.rj behandelt worden, von C. D. Chambers, CIR 10,
150—3. 239; 11, 109-111; E. R. Wharton, ebd. 10, 239; ß. White-
law, ebd. 10,239—44; 1902, 277; E. A.Sonnenschein, ebd. 1902,
165 — 9 und von *W. W. Goodwin, On the origin of the construction
of oO ix-q. HSt I 65 — 88. Chambers verteidigt im 1. Artikel die
Erklärung durch Ellipse eines Ausdrucks der Befürchtung, erklärt aber
im 2., daß keine Theorie völlig genüge; Wharton nimmt Umstellung
z. B. aus jxr] -evTj-ai; ou „shall it be? no" an (vgl. oben seine Auf-
fassung von [jltq); damit berührt sich die Auffassung von Whitelaw, der
sich [XT] in ou {xf, -'evr^-ai als „perhaps, possibly" denkt; im 2. Artikel
behauptet Whit. gegenüber Sonnenschein, der ou jj.y) jy.ax];^; als „an
interrogative prohibition or a question containing a prohibition" deutet
und lat. quin uoli illudere vergleicht, ou als „nonne" faßt, daß in der
Eegel das Fut. stehe und daß Wendungen wie ou \i.y] ixsvsTs vielmehr
als „interrogative commands" aufzufassen seien (ou [j-svsTc; = jisvs, ou
jxf, ixsveT?; =^ ixTj [xsvs). Einzelne Punkte oder Stellen in Texten be-
handeln eine Eeihe kleinerer Arbeiten.^)
Über av und xsv handelt in zwei Czernowitzer Gymn.-Progr.
A. Polasch ek, Beiträge zur Erkenntnis der Partikeln äv und
xiv. 1890. 1891.
Er stellt in seiner fleißigen und mühevollen Arbeit die (nicht
bewiesene) Behauptung auf, av habe negierenden oder eine Negation
verstärkenden Sinn („schwerlich"), v.h affirmativen oder eine Negatiou
mildernden („leichtlich"). Der größte Teil des Baumes ist einer
Statistik der Verteilung der beiden Partikeln auf die einzelnen Vers-
stellen gewidmet; gewöhnlich überwiegt xsv bei weitem, wie es ja über-
haupt häufiger ist; wenn nun aber in der 4. und 5. Arsis das Ver-
hältnis sich umkehrt, so kann dies doch nicht, wie der Verf. meint, auf
einem Unterschied in der Bedeutung der beiden Partikeln beruhen,
sondern muß metrische Gründe haben. Vgl. dazu auch oben S, 111. 115. —
^) E. H. Donkin, oüy öt-. in Plato. CIR 10, 28 f. (= or/. ipiu cttj;
*J. Keelhoff, si o' ojv peut il etre synonyme de tl oi ji-^? RIP 35, 161
— 176; *S. Sobolewski, oüoi {\i.r,Zi) und xai w (zal ^-q). FO II 48;
E. Tournier, to jir; et -oO [irj. RPh 21,68 (verlangt Herodot 1,86 -o ar;
für töö \).ir^.
Bericht über griechische Sprachwisseaschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 128
M. Wiseii, av et xc(v) particulae. FFL II (1902) ist mir nicht
zugänglich. H. Richards, av vvith the future in Attic. CR G, 336 — 42,
sammelt die Belege für die auch von ihm bestrittene Erscheinung;
neben den von anderen angewendeten Mitteln der Emendation empfiehlt
er in einer großen Anzahl von Fällen Annahme von Verschreibung von
av aus 6t^. — In späterer Zeit findet sich nicht selten eav an Stelle
von av, worüber St. Langdon, History of the use of eäv for av in
relative clauses, AJPh 24, 447—51, handelt. Nur ganz vereinzelt be-
gegnet die Erscheinung in der klassischen und in der späteren profanen
Literatur, dagegen häufig in den Übersetzungen aus dem Hebräischen
und verwandten Erzeugnissen, und hier führt L. den Wechsel zwischen
äv und £av (für av) entschieden auf den Unterschied zwischen den
hebräischen Relativsätzen mit vorausgehendem Beziehungswort und
denen ohne solches zurück: „the Septuaginta translator strengthens the
translation of a complete relative clause by usiug the stronger form
lav". Daneben soll aber unabhängig der Brauch auch in der Volks-
sprache aufgekommen sein ,caused by the eflfort to emphasize the ab-
stract conditioual aspect of the relative clause".^)
Um die Etymologie der beiden Partikeln bemüht sich, aber
wenig glücklich, G. H. Müller, De origine particulae av. H 25, 463 f.,
der av aus a[x, dixo zu d[j.oc stellt, wie y.sv zu xoc = xic gehöre. Da-
gegen hat F. Solmsen. ZvSpr 35, 463 ff. die Zusammenstellung von
y.£(v) mit ai. kam, aksl. hl neu begründet.
Meist kürzere ÄulJerungen zu anderen Partikeln stelle ich in der
Anm.-) zusammen.
'■) Vgl. auch P. Dessoulavy, De la particule äv dans Thucydide.
Progr. Neuchätel 1895.
-) J. B. Mayor, ünrecorded uses of aoziy.a. ClR 1897, 442-4
(„for instance, at any rate, further, again"); K. Hu de, Über (czp in appo-
sitiven Ausdrücken. H. 36, 313—5 (zur AnkDüpfung nicht eines begründen-
den oder erklärenden Satzes, sondern einer bloßen Apposition, „scilicet,
quippe, nämlich"); J. M. Stahl, Über eine besondere Bedeutung von -^drj.
RhMPh 57, 1 — 7 (einräumend „freilich"); *Sagawe, oi im Nachsatz bei
Herodot (aus der Festschrift des Gymn. zu St. Maria Magd.) Breslau 1893;
W. M. Ranisay, y.oi meaning ,or'. ClR 12,337—41 (besonders in Kleinasien
bei Doppelnamen [meist 6 xai], auch bei Angabe verschiedener Ären, in der
späteren Sprache); C. Schmidt, De usu particulae ts earumque quae cum
-Ol compositae sunt apud oratores Atticos. Diss. Rostock 1891 (sammelt
das Material für ts und seine Verbindungen, auch für (üaxc, olöv -£ — der
größere Teil der Arbeit — sowie für toi, xofi'apo'Jv, -(j<.-^ä(jxo\, xauoi, jisv-oi,
Toivuv aus den att. Rednern mit Ausschluß Antiphons).
124 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Satzgebilde. ^)
Parataxis.
Am häufigsten wird die Parataxis, deren Gebiet später sehr durch
die Hypotaxis beeinträchtigt wird, noch angewendet bei Homer, worüber
C. Hentze, Die Parataxis bei Homer. Progr. Göttingen 1888—91,
handelt. Der hier zu berührende 3. Teil der Arbeit ist den. (korrespon -
dierenden und adversativen) reinen und angewandten Vergleichungs-
sätzen gewidmet, die teilweise auch die Grundlage korrelativer Satz-
gefüge bilden.
Abhängige Sätze. Satzgefüge.
Ausgehend von den Relativsätzen behandelt die vorgeschicht-
liche Entwickelung der meisten Konjunktionen
Ch. Baron, Le pronom relatif et la conjonction en grec et
principalement dans la langue homerique. Essai de syntaxe historique.
Paris 1891.
Die Schrift will, sich auf das Griech. beschränkend, eine Zu-
sammenfassung der Ergebnisse bieten , welche die historisch-ver-
gleichende Forschung gewonnen hat, und erreicht dies Ziel auch in
übersichtlicher Darstellung, wenn schon jetzt manches anders angesehen
wird (das Relativ und die konjunktionelle Verwendung von o waren
schon vorgriech. entwickelt oder doch in der Bildung begriffen) und
die formalen Bemerkungen z. T. schon als sie erschienen nicht zu
^) Nur nennen kann ich einige Arbeiten über die subjektlosen
Sätze und Impersonalien: *F. Cbowaniec, De enuntiatorum quae
dicuntur subiecto carentium usu Thucycideo. Gymn.-Progr. Jaroslau 1892
(vgl. ZöGy 1894, 855 f): A. Miodoüski, De enuntiatis subiecto carentibus
apud Herodotum. Diss. Krakau 1891 (zeigt nach einer Einleitung, in der
er sich als Anhänger Miklosichs bekennt, einen wie ausgedehnten Gebrauch
llerodot von den subjektlosen Sätzen macht); "■ A. Diessl, Die Impersonalien
bei Herodot. Progr. Wien 1899 (vgl. ZöGy 1901, 283). Vgl. auch G.
M. BoUing, AJPh 20, 112 (^wv als Ptc. zu y^O-
Hier mag sich anschließen *M. Malarenko, Aeschylus et Sophocles
quibus modis subiectum logicum in passivo verborum genere indicent, FG. 8,
17-34; 9, 27—40.
0. Wilpert, Das schema Pindaricum bei Piaton. Fleck. Jbb. 155,
504—6 bestreitet mit Recht, dali diese Figur an Stellen wie lo-i ylo auotp
•/.ol ßiiinoi xT/.. vorliege, ohne indessen seine Beispiele richtig zu beurteilen.
„Über parenthetische Sätze und Satzverbindungen in der Kranzrede
des Demosthenes" handelt *F. lleerdegen. Festschrift der Universität
Erlangen 1901 (vgl. Fuhr, BphW 1902, 417-21).
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— li)Oo. (Schwyzer.) 125
entschuldigen waren. Neues enthält das Buch nicht. Der Stoff ist auf
vier Kapitel verteilt: I. Transformation du pronom anaphorique au
pronom relatif (dabei wird -t beim Relativ als „des fois, peut-etre"
gefaßt); II. De Temploi du mode et de son influence sur la proposition
relative; III. Trausformation du pronom relatif en conjonction. IV.
Conjonctions d'origine diverse (scuc, Tva, st, irplv ■/]', [j-tq). *)
Nebensätze mit Konjunktionen.-)
Auf dem Gebiete der sog. Final- und Konsekutivsätze hat
die Forschung neben einer Reihe von Spezialarbeiten für einzelne Schrift-
steller oder Schriftstellergruppeu, die hier nur genannt werden können, ^)
nur eine Arbeit hervorgebracht, die weiter ausschaut:
*) Einen großen Teil der Nebensätze bei Aristophanes behandelt
S. Sobolewski, Syntaxis Aristophaneae capita selecta. De sententiarum
condicionalium temporalium relativarum formis et usu. Mosquae 1891. Die
Schrift zerfällt in 5 Kapitel: das 1. behandelt kurz den Tempusgebrauch
im allg., das 2. wendet sich ausführlicher gegen die Auffassung des conj.
aor. als Ausdruck der Vorgängigkeit und setzt den Begriff der Aktionsart,
der dem Verf. von seiner Muttersprache her vertraut ist, an deren Stelle;
die o letzten Kapitel behandeln mit besonderer Rücksicht auf den Modus-
gebrauch die im Titel genannten Satzarten. Im übrigen wäre zum Lobe
der Schrift das Gleiche zu sagen wie von der oben S. 102 genannten Arbeit
desselben Verfassers. Allgemeiner behandeln eine Reihe von Nebensätzen
*S. Sobolewski, FO 8, 75— 82. 153— 9 (vgl. lA 7, 50) und *J. NetuSil, FO
1, 1 — 26. 2, 11—32. 4, 23—4:1. 9,3-25. Hieher gehört wohl auch *I. H.
E 1 w e 1 1 , Note on certain forms of contrasted clauses in protasis. Pr APh A 29 p. X.
Hier ist weiter zu nennen *J. Klasen, De Aeschyli et Sophoclis enun-
tiatorum relativorum usu. Diss. Tübingen 1895 (behandelt nach Golliug,
ZöGy 189G, 993 f. u. a. die Relativsätze nach Interjektionen, Sätze mit 6j;).
Die Konstruktionen nach den Verb. die. etc. behandelt B. Kaiser, Quaestiones
de elocutione Demosthenica. Diss. phil. Hai. XIII 1, Halle 1895. Über
einen dänischen Aufsatz über homer. ^'.-z s. lA 1, 60. Vgl. zum ganzen
Abschnitt die Literatur zur Tempus- und Moduslehre (S. 105 — 16).
-) Ob *H. Pitman, Greek conjunctions. London 1896 sich hier
richtig einreiht, weiß ich nicht anzugeben. Ebenso kann ich *S. Brief,
Die Konjunktionen bei Polybios I— IIL Gymn.-Progr. Wien 1891/4 (es
werden nach WklPh 1893, 174—6 auch andere Schriftsteller, freilich nicht
vollständig, zum Vergleich herangezogen) nur nennen, um so mehr, als die
Arbeit an einer andern Stelle dieser Berichte genauer besprochen wird.
Hingewiesen sei wenigstens auf die Bemerkungen von *J. Keelhoff zu
iva, f.-j. und w; (RIP 37,5; 38,166-8) und von W. G. Rutherford (CR
10,6) und *S. Sobolewski (FO 11,81—5) zu ocivai oti, 6j; (selten).
') R. Heiligenstädt, De finalium enuntiatorum usu Herodoteo cum
Homerico comparato II. Gymn.-Progr. Roßleben 1892 (Fortsetzung der
Halenser Diss. des Verf. vom Jahr 1883; wertvolle Ergänzung zu Weber
120 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer,)
W. Berdolt, Zur Entwickelungsg-eschichte der Konstruktionen
mit cujTs. Beitrag- zur historischen Syntax des Griechischen. Gymn.-
Progr. Eichstätt 1894.
Die gedrängte, inhaltreiche Arbeit zerfällt in 3 Kapitel, Das
1. bietet eine Zusammenstellung der bisherigen Ansichten besonders
Geschichte der Absichtsätze; der vorliegende Teil handelt besonders von
der Verbindung mehrerer Finalsätze mit Rücksicht auf den Modusgebrauch;
es sei besonders auf die Beispiele für Wechsel zwischen Konj. und Opt. in
verbundenen Finalsätzen hingewiesen S. 10 f.; vgl. dazu auch Diel S. 22).
Eine Reihe von Arbeiten führen Webers Forschung in die hellenistische
Zeit hinein fort: R. Amelung, De Polybii eountiatis finalibus. Diss. Halle
1901 (Ergänzung zu Diel, den A. freilich nicht kennt, besonders wertvoll
durch das reiche Material, das aus den hellenistischen Inschriften und
Papyri beigebracht wird); J. Unna, Über den Gebrauch der Absichtssätze
bei Philo von Alexandrien. Diss. Würzburg 1895 (angeregt durch Diel;
das Urteil, „daß sich Philo im allgemeinen an die Regeln hält, welche
durch den Gebrauch der klassischen Autoren festgestellt waren", ist freilich
sehr allgemein; so braucht ja auch Philo oft den Konj. nach Nebentempus
und den Opt. nach Haupttempus); H. Geyr, Die Absichtssätze bei Dio
Chrysostomus. Gymn.-Progr. Wesel 1897 (Ergänzung zu Schmid, Atticism. ;
berücksichtigt das Verhältnis zu den Vorbildern und zum zeitgenössischen
Sprachgebrauch); H. Diel, De enuntiatis finalibus apud Graecorum rerum
scriptores posterioris aetatis. Gymn.-Progr. München 1895 (behandelt Pol.
Diod. DH. Joseph. Plut. Arr. App. Herod.; Hauptergebnisse der lehrreichen
Arbeit : Überhandnehmen von w; und von Finalsätzen an Stelle des Inf.;
Vermischung der Final- und Konsekutivsätze; Opt. nach Haupttempus be-
sonders bei Appian häufig).
Angeschlossen seien H. Knop, De enuntiatorum apud Isaeum con-
dicionalium et finalium formis et usu. Diss. Erlangen (und Gymn.-Progr. Celle)
1892 (den Finalsätzen sind freilich nur wenige Seiten gewidmet: aus der
Besprechung der Stellen für die Bedingungssätze seien hervorgehoben die
Beispiele für präteritale Bedeutung des Imperf. in der sog. irrealen Bedingung
S. 20 f.) und F. Johnson, De coniunctivi et optativi usu Euripideo in
enuntiatis finalibus et condicionalibus. Diss. Berlin 1893 (Sammlung des
Materials und Erörterung einzelner Stellen; warum der Verf. den Konj. nach
Nebentempus in Finalsätzen ganz beseitigen will, ist nicht einzusehen).
*J. Kobylanski, De enuntiatorum consecutivorum apud tragicos
Graecos usu ac ratione. Gymn. Progr. Kolomea 1894 (Sammlung nach
ZöGy 1895, 1145 f.); M. Wehmann, De öots particulae usu Herodoteo
Tliucydideo Xenophonteo. Diss. Straßburg 1891 (die tüchtige Arbeit, die
Berdolt für seine Untersuchung bereits benutzt hat [s. oben], behandelt nach
einer Übersicht über den epischen und tragischen Sprachgebrauch in
3 Kapiteln ihr Thema; im 4. faßt sie die Ergebnisse ausführlich zusammen.
Schon W. scheidet genau zwischen finalem und konsekutivem Gebrauch);
*W. Berdolt, Der Folgesatz bei Plato mit historisch gramm. Einleitung:
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903, (Schwyzer.) 127
über die Grundbedeutung von a)3-s; der Verf. tritt denen bei, die dem
TS indefinite Bedeutung zuschreiben (wsrs — „wie etwa" , urspr. „so
etwa"; vgl. aber, was Brugmann gr. Gr. ^ 530 zu Gunsten der kopula-
tiven Geltung von it ausführt). Das 2. Kapitel behandelt den kora-
paricrenden Gebrauch von Sj-s in der Epik und Lyrik, je nachdem die
Partikel im Gleichnis, im skizzierten Bilde , mit einfachem Wort er-
scheint (innerhalb dieser Kategorien sind die Gleichnisse sachlich ge-
ordnet). Denn wie das 3. Kapitel ausführt, geht der final-konsekutive
Gebrauch auf den komparierenden zurück: ojjts ist erst nur sekundär
zu einem final-konsekutiven Inf. getreten, um den in diesem enthaltenen
Verbalbegriflf als einen der Handlung des Hauptsatzes „entsprechenden"
zu bezeichnen (S. 33). Homer hat erst 2 Beispiele für diese Vorstufe
des späteren konsekutiven Gebrauchs von cujts (l 42 f. und p 20 f.), der
sich in solchen Verbindungen entwickelte, und die nachhomerische
epische und lyrische Dichtung machen noch einen spärlichen Gebrauch
von konsekutivem uists. Der erste Beleg für letzteres ist Hes. Opp. 44,
wo auch bereits ein formaler Subjektsakk. beim Inf. erscheint: damit
ist die besondere Konstruktion des konsekutiven oder wie der Verf.
S. 35 betont, finalen custs fertig, wenn auch Akk. mit Inf. erst bei
den Tragikern und Herodot reichlicher auftritt. Erst bei Soph. (nicht
bei Aesch. und seltener bei Eur. und den Prosaikern) erscheint S^ts
mit Modi (Ind., Opt. mit av, Imp.).
Bei den Temporalsätzen ist eine gröI5ere Arbeit anzuführen:
A. Fuchs, Die Temporalsätze mit den Konjunktionen „bis" und
,,so lange als". Würzburg 1902 (= Schanz' Beiträge, Heft 14).
Der Hauptwert der Untersuchung besteht in der Sammlung und
historischen Darstellung des Materials aus der voraristotelischen
Literatur, die in 9 Kapiteln erfolgt, während das 10. die Ergebnisse
zusammenstellt. Es handelt sich um Bedeutung und Konstruktion des
homer. eic o xe, des freieren herod. Ij o, des poet. o<ppa, des homer.
und att. £0)?, von sste, das bezeichnenderweise der Lyrik und Tragödie,
Herod. und Xenoph. angehört, des prosaischen [xsypi und a/pi und einiger
nur gelegentlich die Nuance „bis" oder „solange als" annehmender
Konj. relativen Ursprungs. Beiläufig werden auch der Ausdruck des
Zeitverhältnisses durch präpositionale Verbindungen, der Inf. bei [xeveiv,
die finale Verwendung von o^pa und Ico; berücksichtigt. Die ent-
wickelungsgeschichtliche Grundlage ist im 1. Kapitel gegeben, das über
der Konsekutivsatz in der älteren griech. Literatur. Diss. Erlangen 1897;
*W. A. Eck eis, (uoxt as an indes of style in the orators. Diss. Baltimore
1901 (kann auch dem Grammatiker Material bieten, vgl. BphW 1902,
870—4).
128 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
den homerischen Gebrauch handelt; da fordert freilich manches zum
Widerspruch heraus. So soll zU o xs für zl; ov, r;v ■/.£ usw. eingetreten
sein (S. 5 f.) ; dies ist an sich unwahrscheinlich und wird jedenfalls durch
die vom Verfasser beigebrachten Beispiele nicht erwiesen: Od. 6, 295 f.
heißt ypovov „eine Zeit, eine Weile", während Herod. 7,8 yp. „Zeit-
punkt" bedeutet. Dass o'fpa, iojc ursprünglich demonstrativ gewesen
seien, ist unwahrscheinlich, denn die Zurückführung auf demonstratives
*50-, die allenfalls neben der Zugehörigkeit zu relativem *jo- in Frage
käme, hat nichts für sich. Unhaltbar sind vielfach des Verf. An-
schauungen über Tempora (xo^pa oi [xiv [xr/a xöfx.a osps Od. 5, 425
soll heißen ,, erfaßte ihn und trug ihn", S. 30 f.; Ähnliches 23 f.) und
Modi; für letztere hätte er gerade auch für sein Thema viel aus der
oben S. 113 besprocheneu Schiift von Haie lernen können.^)
Ahnlich spricht sich jetzt in manchem über die Arbeit von
Fuchs aus
B. L. Gilder sleeve, Temporal sentences of limit in Greek.
AJPh 24, 388—407.
Dieser Aufsatz ist eine feinsinnige kritische Inhaltsangabe der
Fuchsschen Schrift; G. wendet sich namentlich auch gegen das im vor-
liegenden Fall von der Parataxe kommende Licht, das vielmehr „darkness"
sei; er betont mehrfach, daß schon die homerische Sprache hoch ent-
wickelt und hoch kultiviert gewesen sei. Im Vorbeiweg (S. 394 f.) be-
kämpft er wieder die Theorie der Modusverschiebung. S. 392 ist vom
Übergang der Bedeutung „bis" zu ,, solange" die Rede: es sei bemerkt,
*) Übrigens hat schon ^A. Dö bring, Zu den griech. und lat. Kon-
junktionen der Gleichzeitigkeit und Zeitgrenze (aus der Festschrift des
Friedr.-Koll.) Königsberg 1892, die von Fuchs aufgestellte Ansicht ver-
treten (nach DL 1894, 807). — Sämtliche Temporalsätze eines Schriftstellers
behandelt W. Warren, A study of conjunctional temporal clauses in Thu-
cydides. Diss. des Bryn Mawr College, Berlin 1897 (vgl. BphW 1898,
1253f.; WklPh 189S, 593—7; von modernem Geiste erfüllte, sich über den
Durchschnitt weit erhebende Untersuchung. Die Einleitung handelt all-
gemein über die verschiedenen Formen der zeitlichen Beziehung zweier
Handlungen. Kap I wendet die dabei gewonnenen Gesichtspunkte auf das
spezielle Thema an, indem es von den Modi, den Tempora, den Aktions-
arten des temporalen Haupt- und Nebensatzes, von den tempoialen Kon-
junktionen und der Stellung von Haupt- und Nebensatz spricht. Werden,
dabei nur charakteristische Beispiele für die einzelnen Erscheinungen ge-
geben und Stellen mit ungewöhnlicher Fassung ausführlicher behandelt,
so genügen Kap. II und III der Forderung der Vollständigkeit; jenes ent-
hält eine Gruppierung der Beispiele nach den Konjunktionen, dieses im
wesentlichen eine Statistik des Tempus- und Modusgebrauchs).
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 129
daß sie (v&reiuzelt) auch im schweizerdeutscheu ,,bis" begegnet, das
übrigens tw. auch die Bedeutuog „imterdesseii, inzwischen'' hat (Schweiz.
Id. IV 1699 f.).
Von verschiedenen Seiten ist die von J. Sturm 1882 in großem
Maßstabe unternommene Forschung über die Konstruktionen bei iiptv
tortgeführt worden.
I. A. Heikel, Über die Entstehung der Konstruktionen bei Trpiv.
Skand. Arch. I (1891), 274 — 98, vermutet im Gegensatz zu Sturm
einleuchtend als Vorstufe der TTpiv-Koustruktionen die Verbindung eines
Inf. von imperat. -Optativ. Bedeutung mit dem Adv. ;:piv in Parataxe
zu negativem Hauptgedanken, z. ß. ou Trplv 7:oX£|xoto \Lt8ri(3o\i.ii, upiv f uiov
nptapLoio txsuiki „neque enim prius puguam meditabor, prius filius Priami
veuiat". Indem die imperat. Bedeutung des Inf. zurücktrat, konnte die
Konstruktion auch nach positivem Hauptgedanken angewendet werden,
wo sie urspr. nicht möglich und bei Homer noch selten ist. Später
wurde nach negativem Hauptsatz der Inf. durch die Modi ersetzt, welche
die erwünschte Möglichkeit boten, zu unterscheiden, ob die Handlung des
7:piv-Satzes etwas Wirkliches oderGefordertes oderMögliches und Gredachtes
ausdrückt.
A. AVeiske, Zur Konstruktion von -ptv. Fleck. Jbb. 145, 238
lormuliert eine neue Regel für die Konstruktion von rpi'v, wonach der
Ind. oder Inf. steht, je nachdem sich die beiden Handlungen zeitlich be-
rühren oder nicht berühren.
Nach
*J. Frenze 1, Die Entwickelung des temporalen Satzbaus im
Griechischen. I. Die Entwickelung der Sätze mit FIPIN. Gymn.-Progr.
Wongrowitz J896
gehört TTpt'v eigentlich zum Hauptsatz, der urspr. nachfolgte, und wurde erst
durch , .Transposition" zur Konjunktion; der Inf. bei Trptv soll temporalen
Sinn haben, z. B. H 481 ouöe n; t-Xr^ Tipiv i:teetv, irplv Xei^j^ai uirepfievei
Kpovtüjvi „keiner wagte früher zu trinken, früher als bei dem Spenden
dem Kronion" (!).
Besonders fruchtbar — wenigstens quantitativ — ist die Berichts-
periode für die Bedingungssätze gewesen: an erster Stelle sei
genannt
K. Horton-Smith, The theory of conditional sentences in Greek
aud Latin for the use of students. London 1894.
Ein Buch , das trotz seines Gegenstandes persönlich genommen
werden muß und hauptsächlich persönlichen Wert hat, in erster Linie
wieder für den Verfasser. Hat er doch, als Philologe, der schon früh von
der Lehrtätigkeit Abschied nahm, um schließlich in die Reihe der ersten
Jahresbödcht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1904. I.) 9
130 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Staatsbeamten aufzurücken, fast ein halbe? Jahrhundert damit zug-ebracht,
wie er in der interessanten Vorrede erzählt. Während der Vorarbeiten
und der Ausarbeitung hat er nicht nur die griech. und röm. Liretatar
(anch die neuen Funde, dao:egen nicht die Inschriften) durchirenommen,
sondern auch die enj^lische, deutsche und niederländische, französische,
italienische, spanische und portugiesische Literatur in weitem Umfange
gelesen, überall Beispiele für sein Thema sammelnd, das er schon 1859
in einer besonderen Schrift behandelt hatte. Um die neueren syn-
taktischen Forschungen kümmerte er sich dabei nicht. So ist denn als
Ergebnis ernster und mühsamer Arbeit der stattliche Band von über
700 S. zustande gekommen, der in seinen theoretischen Aufstellungen
durchaus verfehlt ist. Die Grundlage für die Behandlung der griech. Be-
dingungssätze, die nach einer kurzen Einleitung auf S, 9 — 167 erfolgt,
bildet die Erklärung, der Opt. sei der griech. Konj. der Vergangenheit (Opt.
Präs. ■= Konj. Imperf. usw.). Am meisten Raum nimmt die Aufführung
der zwar zahlreichen, aber doch nicht vollständig gesammelten Beispiele
ein, erst für die regelmäßigen Konstruktionen, dann flir alleilei Be-
sonderheiten. Eine historische Entwickelung aufzuzeigen, wird dabei
nicht versucht. S. 168 — 282 sind dem Lat. gewidmet; dagegen spielen
griech. Beispiele wieder eine große Rolle in den Noten, die S. 285 —
644 Umfassen und reiches Material , nicht nur für die Bedinizungssätze,
aus allen oben genannten Literaturen bieten. Nur als (freilich oft nur
zufällige) Sammlung von allerlei Material hat das Buch für diejenigen
Wert, für die es persönlichen Wert nicht haben kann; den Zugang dazu
bilden 5 Indices.
Außerdem sind noch eine Anzahl kleinerer Arbeiten zu nennen.
Die Polemik gegen die Bezeichnung „iirealer Bedingungssatz", die M.
A. Bayfield, CR 4, 200—3 (vgl. 6, 90-92) eröffnet, beruht auf der
unrichtigen Annahme, es handle sich dabei um Dinge, die von Natur
unmöglich seien. — J. T. Allen, The use of Optative with tl in pro-
tasis. PrAPC 1899, LXIII und Th. E. Korsch, De ei particula cum
futuro indicativi coniuncta. FO 18, 61—80 sind mir nicht zugänglich.
H. Bill, Zur EntwickeJungsgeschichte des dritten Falls der griech.
Bedingungssätze. Gymn.-Progr. Kaaden 1897 sucht den sog. eventuellen
Fall aus postpositiven parataktischen Erwartungssätzen mit a'i' xev ab-
zuleiten, z. B. ^d)X outu),', ai' x£v Tt cpo'wc AavaoTji ^Ivr^ai „schieße so fort,
da kannst du leicht zum Segen werden den Danaern" 0 282. Aber in
den als Ausgangspunkt gewählten Beispielen liegt gerade eine abgeleitete
Verwendung von tl vor und übeihaupt ist es nicht nötig, jeden einzelnen
Fall auf seine parataktische oder juxtapositive Grundlage zurückzuführen;
war einmal die konjunktionellc Geltung von tl entwickelt, konnten sicli
die einzelnen Konstruktionen ohne weiteres einstellen.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 131
Andere untersuchen den Spiachgebranch einzelner Autoren.^)
Nur nennen kann ich eine Arbeit zur Oratio obliqna:
*C. Thulin, De oratione obliqua apnd Thncydiiioin. [Act.t
Univers. LundeDsis XXXVII und XXXVIIL] Lund 1902.
Wort- und Satzsteliung.
Der Stellung der Wörter und Sätze, die lans;e Zeit von der einzel-
sprachliclien wie der verg'leich'^.nden Grammatik etwas stiefmütterlich
bebandelt wurde, ist neuerdini;s eindringeiidere Arbeit gewidmet worden,
aach auf dem griechischen Gebiete. Einige der hier zu besprechenden
Arbeiten kann ich freilich nur nennen:
*Th. D. Goodell, The order of words in Greek. TrAPhA 21,
5-47.
*I. A. Heikel, Gm onvänd ordföljd i grekiskan. Forhandl paa
det 4. nord. Filologmode. Kbhu 1893, S. 126-31 (bei Hora Hes.
Herod. zeigt sich eine starke Tendenz, das Subj. dem Präd. folgen
zu lassen; nach lA 3, 240).
Überwiegend mit dem Griech. beschäftigt sich auch eine ein-
schlägige Arbeit von
J. Wackernagel, Über ein Gesetz der indogermanischen Wort-
stellung. IF 1, 333—435.
Es wird an Hand eines reichen Materials nachgewiesen, daß die
enklitischen Pronomina und die enklitischen Wörter überhaupt sowie
einige nicht enklitische Partikeln wie av, ap, apa, [xsv u. a. mit Vor-
liebe an der zvv'eiten Stelle des Satzes stehen und zwar nicht selten
ohne Rücksicht auf syntaktische Beziehungen, Ähnlich wird in einer
bestimmten Satzform das Verb behandelt (z. B. 'AXxtflio; dvsÖTjy.ev xtöa-
pipOO? VY)CJl(UTTf)i; S. 430).
H. L. Ebeling, Some statistics ou the order of woi'ds in Greek.
Studies in honor of B. L. Gildersleeve. Baltimore 1902, p. 229 — 40
*) *G. Vogrinz, EI und EIKE N) mit dem Konj. bei Homer. ZöGy
1890, 97- 106 (Sammlun» und Gruppierung;: 'G. Vogrinz, Der homerische
Gebrauch der Partikel tl. Gymn.-Progr. Brunn 1893 (vgl. BphW 1894, 161
— 4); C. He atze, Die Eotwick.dung der Jt Sätze mit dc^m Indikativ eines
Präteritum in den homerischen Epen. TEPAX 1903 S. 77 107 (Zurück-
führung auf die parataktische Grundlage); *E. ß. Clapp, Conditional
sentences in the Greek tragedians. TrAPhA 22, 81 — 92 (Frequenztabellen
nach lA. 2, 107); *F. Faß band er, De Polybii sententiis condicionalibus.
Gymn.-Progr. Münster 1895. Vgl. noch oben S. 115.
9*
132 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.)
weist zunächst Delbrücks Grundgesetz der okkasionellen Wortstellung,
daß das hervorzuhebende Wort nach vorn rückt, an der Stellung des Inf.
bei Verben in Plat. Prot, nach (in 593 Fällen folgt er; wo er betont
ist, geht er voran, in 42 Fällen), um dann die weniger einfache Stellung
von Kopula und Prädikativ, von Subj., Verb und Obj. an einigen plat.
Dialogen, Isokrates und Xenoph. anab. zu prüfen. Das Prädikativ steht
gewöhnlich vor der Kopula (auf die Enklise ist keine Rücksicht ge-
nommen !J; die gewöhnliche Folge ist Subj. Obj. Vb. ; das Obj. wird an
den Anfang gestellt, wenn es eine leichte Verknüpfung mit dem Vor-
hergehenden bildet oder die Anfangsvorstellung enthält, ohne daß es
deshalb besonders betont wäre (meist ist übrigens das voransteheude
Obj. ein ßelativpron. oder outo?). Dies einige Ergebnisse der hübschen
kleinen Abhandlung, die in den Tabellen auf S. 238 f. auch schätzens-
werte Beiträge zur Stellung pronominaler Wörter enthält.
Verschiedene Arbeiten beschäftigen sich mit der Stellung beim
Artikel, so die allgemein gehaltene von
*A. W. Milden, The limitatious of the predicative position in
Greek. Diss. Baltimore 1900.
M. behandelt nach BphW 1901, 84 — 86 besonders die prädikative
Stellung des Adj. und Ptc. in den obliquen Kas. (adverbial gebrauchte
Dat. und präpositionale Wendungen). Die präd. Stellung ist für die
gehobene Sprache kennzeichnend — so bei Thuk. und den att. Rednern — ;
spätere Nachahmer wie Lukian verfallen dabei in mauirierte Über-
treibung.
H. von Kleist, Der eingeschobene Genetiv des Ganzen bei Thu-
kydides. Fleck. Jbb. 143, 107—114
sammelt die thuk. Beispiele für Stellungen wie xaT? a'picra -cäv veuiv
^rXeoujat;, oi -cüv IlXataiöüv u-oXeXeiixjievoi: es ist aber gekünstelt, wenn
er überall ein attributives Verhältnis zu konstruieren sucht. Diesen
Eindruck hat schon H. Kallenberg geäußert, der Jahresber. des philol.
Vereins in Berlin in ZG 1897, 199—201 die Beispiele für die gleiche
Stellung aus Herodot sammelt. Vgl. auch *S. Sobolewski, Über die
Stellung des partitiven Genetivs im Griech. (russ.). FO 4, 51 f.
J. La Roche, Die Stellung des attributiven und appositiven
Adjektivs bei Homer. WSt 19, 161—80
sammelt die Tatsachen, die er in vier Gruppen zur Darstellung bringt:
]. das Adj. steht, vorangehend oder nachfolgend, im gleichen Verse
(der häuögste Fall, und zwar sind die beiden Stellungen im ganzen
etwa gleich häufig), 2. das Adj. steht im vorhergehenden Vers, 3. im
folgenden Vers, 4. mehrere Adj.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 133
E. S. Conway, On the interveawing of words with pairs of
parallel phrases. CR 1 900, 357—60
bringt Beispiele für Stellungen wie oest xe xo rXeov tj cpiXia y.oi-v/6[).zyoi
Thnk. 3, 12, seeptra Palatini sederaque petit Eiiandri Verg. Aen. 9, 9.
Auch sonst wird gelegentlich Rücksicht auf Wort- und Satz-
stellung genommen, z. B. in den Arbeiten über die Nebensätze; vgl.
oben S. 124 tf.; auch S. 100.
Zum Wortschatz.
Anhangsweise soll hier noch über die wichtigsten Veröffent-
lichungen zum griechischen Wortschatz Bericht erstattet werden, in
möglichster Kürze und mit Bescliränkung auf größere zusammenfassende
"Werke. Zur allgemeinen Orientierung kann auf
L. Cohn, Griechische Lexikographie. Handbuch der klassischen
Altertumswissenschaft Band II 1, 3. Aufl. S. 575 — 616. München
1900
verwiesen werden, eine eingreifende IJmarbeitung und beträchtliche Er-
weiterung des früher von G. Autenrieth bearbeiteten Artikels.
Wünschenswert wäre für eine neue Auflage die vollständige Anführung
der Arbeiten über den Wortschatz der einzelnen Schriftsteller.
Ein Unterschied, der nicht in der Natur der Sache liegt und
auch früher nicht gemacht wurde, aber praktisch besteht, ist die Schei-
dung zwischen den wesentlich deskriptiven Wörterbüchern, welche zwar
oft die Etymologie mitbehandeln, aber gewöhnlich ungenügend, und
den etymologischen Wörterbüchern , die eigentlich erst durch die Be-
gründung der vergleichenden indogermanischen Sprachforschung wissen-
schaftlich möglich geworden sind. Da das ideale Wörterbuch, welches
beiden Richtnngen ihr volles Recht läßt, noch fehlt, so mag zunächst
von den wesentlich
deskriptiven Wörterbüchern
die Rede sein. An erster Stelle ist zu nennen das
Ms'ja Xs^f/.ov xTJc sXXtjvix/]? -/Xoicjctt)? 'Avssttj KcüvaravTivtSou.
To|jio? a ß'. 'Ev 'AOr^vat? 1901. 1902.
Beruhen alle neueren griech. Wörterbücher auf Stephanus' gewal-
tigem Werk, so haben die neuesten ihre Grundlage in Passows Hand-
wörterbuch. Das gilt auch für dieses griechische Unternehmen, dessen
bisher erschienenen beiden Bände der Hälfte des vierbändigen Passow
von 1841 — 57 entsprechen. Freilieh beruht es nicht unmittelbar auf
Passow, sondern auf der 8. Ausgabe einer zuerst 1843 zu London er-
schienenen erglischen Bearbeitung von Passow durch Liddell und Scott,
die der deutschen Neuausgabe von 1841—57 vorzuziehen sein soll
134 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
und in England und Amerika das herrschende griech. Wörterbuch ist.
Auf Veranlassung des Verlegers 'A. K(uv3-avTtvt8r]? wurde zunächst das
englische Werk ins Neugriech. übersetzt und dann eine Reihe lexika-
lischer Hilfsmittel, die im Original noch nicht benutzt waren, aas-
gebeutet — besonders die spätgriech. Lexika von Ducange und Sopho-
klis — : auf dieser Grundlage wird das neue Werk redigiert.*) A. N.
Jannaris, CR 1902, 222 — 6 stellt eine erhebliche Verbesserung und Be-
reicherung gegenüber dem Original fest, und es muß bei der Anführung
dieses Urteils sein Bewenden haben, da der englische Passow mir nicht
zugänglich ist. Andererseits ist immerhin zu bemerken, daß die In-
schriften und Papj'ri nicht systematisch ausgebeutet sind, auch die vor-
handenen Indices sind nicht ausgeschöpft, so fehlt z. ß. die Mehrzahl
der in den Inschriften von Pcrgamou neu belegten Wörter (s. meine
perg. Gramm. 203), einige sind freilich aus anderen Quellen beigebracht.
Die Erklärungen sind neugriech. gegeben, und zwar sind hie und da
auch Ausdrücke der Volkssprache zur Erläuterung herangezogen; darin
besteht allerdings für nicht-griech. Benutzer eine Erschwerung, aber
auch ein Reiz. Dem I. Baude ist außer dem schon erwähnten Abriß
der griech. Sprachgeschichte von Hatzidakis (S. 2) auch eine Über-
setzung des oben genannten Artikels über griech. Lexikographie, aber
noch in der Bearbeitung von Autenrieth, vorausgeschickt.
Mit den Vorarbeiten zu einer neuen Bearbeitung des deutschen
Passow ist nach der Ankündigung der Verlagshandlung W. Crönert
beschäftigt, und zwar soll die erste Lieferung 1905 erscheinen. Bis
dahin muß man sich zur Ergänzung mit
A. Weiske, Bemerkungen zu dem Handwörterbuche der griechi-
schen Sprache, begründet von F. Passow. Progr. der lat. Hauptschule
Halle 1892, erweitert Leipzig 1898
begnügen, der sein Material in diei Gruppen vorführt: Abschnitt 1 und 2
weisen Wörter, die nur aus Späteren oder aus Dichtern o. ä. belegt sind,
auch aus der attischen Prosa nach; in der 3. Gruppe werden veraltete
oder sonst fehlerhafte Erklärungen beiichtigt.
Eiu Ergänzungswörterbuch, das auch dem neugriechischen Passow
noch zugute kommen wird, ist
*) Von einigen kleineren lexikalischen Sammlungen sind nur L.
Bürchner, Addenda lexicis linguae Graecae. Commeutationes Wöiffliuianae
Leipzig 1891, 351—62, sowie Kovco; (in verschiedenen Bänden der 'AJIrjvä)
als benutzt angeführt; vgl. außerdem *S. Krauz, Addenda lexicis Graecis
et Latinis EPliK 9, 672-5; L. Mendelssohn, Zum griech. Lexikon. Ph 52,
553-6. 55, 752-54; Simon, Epigraphische Beiträge zum griech. Thesau-
rus. ÄöGy 1891,481-6.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890-1903. (Schwyzer.) 135
H. van Herwerdeu, Lexicon Graecum suppletarium et dialec-
ticum. Leiden 1902.
H. hat mit sicherem Blicke das dringendste Bedürfnis der griech.
Lexikographie erfaßt: die lexikalische Anfai beitung der im letzten Jahr-
hundert nen hinzugekommenen handschriftlich und inschriftlich über-
lieferten Denkmäler. Und er hat sich weiter ein großes Verdienst er-
worben durch die Sammlung eines großen Materials aus diesen Quellen,
wenn man auch mit der Ausführung im einzelnen nicht durchweg ein-
verstanden zu sein braucht. Mit dem Räume hätte sparsamer umge-
gangen werden können; die Datierung nud Lokalisierung der Belege
könnte noch konsequenter durchgeführt sein; die grammatischen ilrtikel
gehören nicht In ein Wörterbuch, so dankenswert sie zum Teil sein
niöü,eu, zumal da ^ie doch nicht auf vollständigen Sammlungen beruhen.
Was die Vollständigkeit der Sammlung anbetrifft, so hat H selbst die
beste Kritik geliefert; er gibt selbst Nachträge von 50 Seiten bei und
veröflentlicht eben (1904) einen ganzen Band von ErKünzungeu.
Herwerden und die Griechen haben noch das Specimen von
Helen M. Searles, A lexicographical study of the Greek in-
scriptions. Chicago 1898 (aus den Studies in classical philology,
vol. II)
benutzen können. Die Verfasserin veröffentlicht eine Auswahl aus
dem von ihr für ein Lexikon der griech, Inschriften, besonders der
Dialekrinschriften, zusammengebrachten Material, das sie in drei Gruppen
ordnet: new woids (die umfangreichste; sie enthält auch inschriftliche
Belege für lediglich glossematisch belegte Wörter), rare words and rare
nieanings, poetical words; die epigraphische und grammatische Li-
teratur ist nach Kräften verwertet. Bei dem Fehlen umfassenderer lexi-
kalischer Hilfsmittel für den Wortschatz der griech. Inschriften ist die
Sammlung durchaus nützlich; daß sie aber besonders an Vollständigkeit
zu wünschen übrig läßt und auch sonst etwa zu Bedenken Anlaß gibt,
hat ein Kenner wie F. Solmsen, lA 11, 82 — 6, einläßlich dargelegt.
Dagegen liegt ganz außerhalb unseres Berichtes
!St. W. Ko ü[xavouoY)?, 5!uva7tü-fr, v£u)v Xecstov utto tcüv Xoytcüv irXa-
jOststJüv OLKO XYJ? aXcuaetüc [J^£/pt '^öjv xoti)' rjixa; ypovtov. 2 Bände. 'Ev
'Af>r,vai» 1900.
Der um die griechische Lexikographie hochverdiente, seither ver-
storbene Verfasser veröffentlicht darin seine Sammlung von über 600 000
Neologismen der griech. Literatursprache seit dem Falle Konstan-
tinopels, besonders aus den beiden letzten Jahrhunderten. Da das Werk
der Verlagshandlung für diesen Bericht eingeschickt wurde , mußte es
an dieser Stelle wenigstens erwähnt werden.
136 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
Auch die hier besprochenen größeren lexikographischen Arbeiten
stellen nur Nachträge zu älteren Werken dar; ein Werk, das den Grund
durchaus neu legt, wie der Thesaurus linguae Latinae, fehlt für das
Griechische noch und wird wohl noch lange fehlen. Und doch ist auch
jenes Monumentalwerk noch nicht imstande, Forderungen zu erfüllen,
wie sie H. Paul in seiner akademischen Abhandlung „Über die Aufgaben
der deutschen Lexikographie" aufgestellt hat. Auch ein mechanisches,
aber für die Stammbildnng wichtiges Hilfsmittel ist bisher für das Griech.
nur als Probe vorhanden, ein Kouträrindex in der Art der Gradenwitz-
schen Laterculi vocum Latiuarum.^)
•) Vorarbeiten zunächst rein mechanischer Natur zu einer umfassenden
Darstellung des griech. Wortschatzes sind die Indices za einzelnen Schrift-
stellern (wie S. Preuß, Index Demosthenicus. Leipzig 1892; Forman,
Index Andocideus. Oxford 1898) oder eingehendere Behandlungen des
Wortschatzes einzelner Denkmäler: A de Mess, Quaestiones de epi-
grammate Attico et tragoediae antiquiore diajecticae. Diss. Bonn 189>:
J. D. Rogers, The language of Aeschylus compared with the language
of the Attic inscriptions prior to 456 BC. Diss. Columbia Coli. New
York 1894; H. Wittekind, Sermo Sophocleus quatenus cum scriptori-
bus lonicis congruat, differat ab Atticis. Diss. Giessen 189G; A. W.
Förstemann, De vocabulis quae videntur esse apud Herodotum poeticis
Magdeburg 1892; lungius, De vocabulis antiquae comoediae Atticae quae
apud solos comicos aut omuino inveniuntur aut peculiari notione prae-
dita occurrunt. Traiecti ad Rhenum 1897; 0. Glaser, De ratione quae
intercedit inter sermonem Polybii et eum, qui in titulis saeculi III., II., I.
apparet. Diss. Gießen 1894; L. Goetzeler, Quaestiones de Appiani et
Polybii dicendi genus. Würzburg 1890; ebd., Einfluß des Dionysios vou
Hai. auf den Sprachgebrauch des Plutarch nebst einem Exkurse über die
sprachlichen Beziehungen des Plutarch zu Polybius. Abhandlungen W.
Christ dargebracht. München 1891. S. 194—210 u. a.
Hier seien auch einige selbständig erschienene lexikalische Behand-
lungen einzelner Wörter oder Wortgruppen namhaft gemacht: A. Amend,
Über die Bedeutung von -^'-sipc/xioy und «v-ri-cc.;. Progr. Dillingen 1893;
H. J. Flipse, De vocis quae est X'-^o; significatione et usu. Leyden 1902;
J. Job st, De vocabulorum iudiciariorum, quae in oratnribus Atticis in-
veniuntur, usu et vi. Diss. Münch. 190?; K. Koch, Quae fuerit ante So-
cratem vocabuli d^jz-J; notio. Diss. Jena 1900; E. Mehliss, Über die Be-
deutung von /.«Xö; bei Homer; Über die Bedeutung von ji;,oo'{/. Progr. Eia-
leben 1891 und 1900.
Viele kleinere lexikalische Beiträge finden sich zerstreut in Kom-
mentaren und in Zeitschriften.
Erst umfassende lexikalische Aufarbeitung des griech. Sprachschatzes
wird den Ausbau einer griechischen Bedeutungslehre ermöglichen, zu
der schon jetzt ab uüd zu ein Beitrag erscheint, vgl, F. Schröder, Zur
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwyzer.) 137
Etymologische Wörterbücher.
G. Cnrtius' griechische Etyraolog'ie, welche, zuerst 1858 erschienen,
die älteren Forschungen über die Herkunft des griechischen Wort-
schatzes zusammenfaßte, ist auch heute noch nicht voll ersetzt Frei-
lich ist auch die 1879 erschienene 5. Auflage nicht nur der Ergänzung
bedürftijr, sondern auch in vielem veraltet, aber kein neueres Werk
leistet, was Curtius' Buch für seine Zeit geleistet hat. So muß dieses
auch heute noch eingesehen werden, wenn es sich um etymologische
Fragen handelt, aber der Benutzer muß freilich die nötige Kritik üben
können; dies gilt aber vielleicht von jedem etymologischen Wörterbuch,
ja auch von vielen anderen Büchern, jedenfalls aber auch von den
neuen Bearbeitungen der griechischen Etjanologie. Da tritt uns zu-
nächst ein Werk entgegen, das schon durch seinen Umfang wirkt und
auf dem Titelblatt einen Namen von altem guten Klange nennt:
L. Meyer, Handbuch der griechischen Etymologie. I. Wörter
mit dem Anlaut a, z, o, yj, w. II. Wörter mit dem Anlaut t, ai, st,
Ol, u, au, EU, o'j, X (auch ^}, tt (auch (j^), x. III. Wörter mit der?»
Anlaut 7, ß, o, C, "/, 9. »). IV. Wörter mit dem Anlauf, a, v, [a, p,
X. Leipzig 1901/2.
Schon die Titel der einzelnen Bände, die deshalb voll angeführt
wurden, geben ein Bild wenigstens der äußeren Anlage des ganzen Werkes.
M. hat die gewöhnliche Ordnung des griech. Alphabetes als unwissenschaft-
lich aufgegeben und an dessen Stelle ein nach phonetischen Gesichts-
punkten aufgestelltes System gesetzt. Abgesehen davon , daß wohl
mancher dieses anders wünschen möchte, bedeutet dies praktisch einen
großen Nachteil. Wer nicht Fachmann ist, will ein etymologisches
Wörterbuch benutzen, um sich rasch über die Herkunft eines Wortes
zu orientieren — und es ist im Interesse der Sache zu wünschen, daß
ein griech. etymologisches Wörterbuch möglichst allgemein benutzt
werde — und solchen Benutzern ist wenig entgegengekommen, wenn
griechischen Bedeutungslehre. Progr. Gebweiler 1893; A. Levi, L'elemento
storlco nel greco antico. Contributo allo studio deir espressione metaforica
[SA. aus den Memorie della Reale Accademia delle scienze di Torioo
p. 335-405], Torino 1900.
Auch ist namentlich die Metapher und Verwandtes zum Gegenstand
allgemeinerer Erörterungen gemacht woiden, vgl. noch H. Blümner,
Studien zur Geschichte der Metapher im Griechischen. I. Leipzig 1891;
R. Thomas, Zur historischen Entwickelung der Metapher im Griechischen.
Diss. Erlaugen 1891; S. Reichenberger, Die Entwickelung des metony-
mischen Gebrauchs von Götteruamen in der griech. Poesie bis zum Ende
des alexandrinischen Zeitalters. Karlsruhe 1891.
138 Bericht über griechische SprachwisseDscbaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
n)aa sie erst zwingt, eiu neues giiech. Alphabet zu lernen. Denn die
gewählte Anordnung ist auch iin Innern der einzelnen Buchstaben durch-
geführt, es folgen sich also z. ß. unmittelbar as, ao, arj, acu usw., a5
kommt vor ax}x, axp, ]xaoa£iv kommt nach fxuyaXETj usw.: es ist für
den Uneingeweihten nicht leicht, ein Wort zu finden, zumal keine Silbe
eine "Wegleitung gibt Für deutsche Dialektwörterbücher hat Schmeller
ein System der Anordnung aufgestellt, das nach ihm den Namen trägt;
aber obschou es dafür wissenschaftlich durchaus berechtigt und von
vielen derartigen Unternehmen gebilligt ist, ist neuerdings Fischer in
seinem schwäbischen Wörterbuch davon abgegangen , und zwar mit
Rücksicht auf die praktische ßenutzbarkeit; wenn man seil Jahren au
einem Dialektwörterbuch mitarbeitet, das nach dem Schmellerschen
System augelegt ist, und beständig klagen hört, man könne das Ge-
suchte nicht finden — es gibt ja freilich Leute, welche nur gerade
soviel von der Sache wissen — kann mau das begreifen und muß die
Anwendung eines ähnlichen Systems auf eine Literatursprache, deren
Alphabet &eit alters feststeht, bedauein, um so mehi', als dadurch auch
nicht etwa zusammeiikommt, was innerhalb des Griechischen verwandt
ist. Doch veigißt man den rauhen Weg, wenn man bei dem reichlich
sprudelnden Quell der Eikenntnis angelaugt ist; und der Umfang des
Werkes verspricht ja ausgiebige Belehrung. Am meisten E.aura nimnit
liun aber die Antühiung von Belegen in Anspiuch. M. führt nämlich
kein Wort ohne einen oder mehrere Belege an, die vorab aus der
homerischen, bei selteneren Wörtern auch aus der späteren Sprache ge-
schöpft sind. Er betont damit augenfällig, daß bei der Etymologie
auch die Bedeutung mitzusprecheu hat, die sich eben nur ans dem Zu-
sammenhang sicher nmgienzen läßt. Es ist sehr erfreulich daß vor
einigen Jahren ein lateinisches etymologisches Wörterbuch angekündigt
wurde, das zugleich die ältesten Belege lür jedes Wort (die freilich
nicht immer die älteste Bedeutung enthalten) beizubringen verspricht.
Aber M. tat des Guten sicher etwas zu viel, besonders wenn er, was
nicht selten geschieht, außer griechischen auch altlat. Belege abdruckt
nnd ai. und got. Stellen anfühlt und übersetzt. Es gibt ferner auch
Wortkategorien, für deren Bedeutung die Anführung von Belegen nichts
ergibt (Zahlwörter u, ä.). Änderet seits sind Hesych und die Dialekt-
iuschriften nicht voll zu ihrem Recht gekommen. Freilich kann man
vom Bearbeiter eines etymologischen Wörterbuches nicht verlangen,
daß er erst ein Dialektwörterbuch sich anlege, aber man hätte verlangen
können, daß M. jedem Wort die Stellen in der sprachwissenschaftlichen
Literatur beigebe, wo darüber gehandelt ist. Statt dessen wird selten
einmal eine ältere Erklärung zitiert. Die neuere Literatur ist aber
außer Ficks vergleichendem Wörterbuch 4- Aufl. nicht nur nicht zitiert.
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1003. (Schwyzer.) 139
sondern gar nicht aufjjearbeitet. Das ist der schwerste Vorwurf, dea
man gejren Ms Werk erheben kann; und er ist schwer genug. Er
bringt das neue Werk um einen großen Teil seines Wertes. Nach
seinen prinzipiellen Anschauungen und den Erklärungen könnte es schon
vor etwa '60 Jahren, gleichzeitig mit den späteren Auflagen der
Curtiusscheii Etymologie, erschienen sein. Damit ist natürlich auch
gesagt, daß viele der vorgebrachten Erdärungen nicht zu halten sind.
Es wäre vom Standpunkte der neueren Forschungen aus leicht, eine
große Anzahl von Fehlern und Lücken im einzelnen namhaft zu macheu.
So ist M.s Weik nicht nur nicht das griechische etymologische Wörter-
buch, sondern darf nur mit Vorsicht benutzt werden. Auch dem Verf. persön-
lich nahestehende Beurteiler wie Bezzenberger BKIS 27, 137 — 85, der eine
große Zahl von neuen Etymologien beibringt, haben so urteilen müssen.
Damit ist fieilich nicht gesagt, daß das Wörterbuch — die Frucht
langer und ernste i- Aibeit, — dem, der es mit Kritik zu gebrauchen
versteht, nicht leichen Gewinn bringen könne. Ein Vorzug besteht
darin, daß sehr oft Wörter gleicher Bildung zur Erklärung zusammen-
gestellt werden, besonders bei selteneren Suffixen; damit ist eine Vor-
arbeit getan für eine griechische Wortbildungslehre, wie sie jetzt von
verschiedenen Seiten verlangt wird.
Schon vor der Veröffentlichung von L. Meyers Werk hat ein kür-
■leves Buch die Lücke der philologischen Literatur auszufüllen gesucht:
W. Prell witz. Etymologisches Wörterbuch der griechischen
Sprache mit Berücksichtigung des Neuhochdeutschen und einem
deutschen Wörterverzeichnis. Göttingen 1892.
Der handliche Band sucht die neueren Forschungsergebnisse be-
sonders für klassische PJiilologen zusammenzufassen, und die häufige
Benutzung des Buches zeigt, daß es in den Kreisen, auf die es be-
lechnet war, Anklang gefunden hat. Die Anordnung ist die rein alpha-
betische, stammverwandte Wörter sind nur durch Verweisungen mit
einander in Beziehung gebracht; die Fassung der einzelnen Artikel ist
knapp, freilich nicht immer auch klar, denn für ausführliche Be-
gründung fehlte der nötige Raum. So sind denn auch alle Verweise
auf die Literatur fortgelassen, die namentlich in zweifelhatten Fällen
sehr erwünscht wären und, abgekürzt gegeben, wenig Raum beanspruchen
würden. Es wäre dann auch möglich gewesen, verschiedene Richtungen
der Forschung zu Worte kommen zu lassen; denn so wie das Buch
jetzt vorliegt, mußte sich der Verf. auch in unsicheren Fällen für eine
Deutung entscheiden, und es kommen dabei besonders die Anschau-
ungen des auch um die griechische Etymologie hochverdienten Aug. Fick
zur Geltung. Dessen Etymologien stehen freilich — als glänzende
140 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
Einfälle — nicht allzu selten im Widerspruch mit sicher erkannten
Lautgesetzen und entbehren auch oft der gesiclierten philologischen
Grundlage, so daß dabei strenge Nachprüfung angebracht ist. Das
zeigt sich hin und wieder auch bei Pr. So wird mit ßXaacprjuo; —
einem neuerdings wiederholt behandelten Worte — rahd. blas «kahl,
gering" verglichen ;gehtman aber der Sache nach, so stelltsich die zweite Be-
deutung nur als eine gelegentliche Übertragung eines Wortes hei aus, zu dem
auch nhd. „(Stirn-) Blässe" beruht, dasalso au feinen ganz andern Begriflfskern
hinweist (vgl. schweiz.Id. V 149ff.)- Auch sonst erheischen die angeführten
Wörter, besonders aus dem Arischen, Vorsicht; die Umschreibung des
Indischen ist schwankend und für das Avestische verlangen die Be-
merkungen Bartholomaes zu Fick I* auch fiir Pr. Beachtung (ZDMG
48, 504 ff.). Glottogonische Hypothesen wie bei rotjAi^v und vExxap hätte
der Verf. nicht vorlegen sollen. Im Vorwort bemerkt Pr., daß er oft von
Kluges etym. WB. abgewichen sei; aber es wäre zu wünschen, daß er
.sich in einer neuen Auflage doch in manchem das neuerdings von ver-
schiedenen Seiten angegriffene Handbuch der deutschen Etymologie zum
Muster nähme, nämlich nach der historischen Seite. Ein etymologisches
Wörterbuch sollte z. B. auch für die landschaftliche Umgrenzunsr des
Wortschatzes etwas übrig haben, es sollte die Entlehnung von einem
Dialekt in den andern nachweisen (so fehlt z. B. bei dyir^v ein solcher
Hinweis bei Pr. wie bei L. Meyer). Wer soll dies tun, wenn nicht der
Etymologe? Die Bearbeiter von deskriptiven Lexika haben gewöhnlich
für die Lantverhältnisse, auf die es dabei ja sehr oft ankommt, kein
sehr scharfes Auge. Ein Beispiel für das Zurücktreten historischer Er-
wägungen gegenüber formalen ist das Fragezeichen bei ^aijoc: wenn etwas
sicher steht, ist es dessen Herkunft aus dem kelt.-germ, Wort für „Ger." ')
*) Eine zusammenfassende Darstellung der Lehnwörter des Griechi-
schen — ein nicht allzu schweres Werk, das auch kulturgeschichtlich von
hoher Bedeutung wäre — fehlt noch; nur einen Ausscimitt behandelt
H. Lewy, Die semitischen Fremdwörter im Griechischen. Berlin 1895.
Das Buch enthält in 17 nach sachlichen Gesichtspunkten aufgestellten
Gruppen eine Sammlung aller Wörter, die irgendwie aus dem Semitischen
(besonders Hebräischen) gedeutet werden können oder gedeutet wordeu
sind, also auch sehr, sehr viel Unsicheres. Wo eine Entlehnung nicht durch
kulturgeschichtliche Erwägungen wahrscheinlich gemacht werden oder sich
auf lokale Berührung stützen kann, bleibt sie unwahrscheinlich. Dies gilt
besonders auch für Fälle, wo griech. Wörter auf lediglich vorausgesetzte semi-
tische oder auf semitische Wurzeln zurückgeführt werden, und für die vieleu
geographischen und mythologischen Namen. Die Wiedergabe fremder Laute
unterließt in Lehnwörtern olt zeitlichen und örtlichen Schwankungen: um so
mehr hätte der Verf. eine systematische Lautlehre der Entlehnungen slms
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890— 1903. (Schwjzer.) 141
So bleibt, auch wenn mau von dem subjektiven Charakter der Etymologie
absieht, für eine neue Bearbeitung des in seinen Grenzen nützlichen
Buches noch allerhand zu tun übrig.
Man hat auch begonnen, die griechische Etymologie für die Schule
und den weiteren Kreis der Gebildeten zu popularisieren, so
D. Laurent et G. Hartraann, Vocabulaire etymologique de la
langue grecque et de la langue latine contenant les mots primitifs
grecs et latins avec l'indication de leur origine. Paris 1900.
Das hübsch ausgestattete Büchlein, das außer den im Titel ge-
nannten Teilen auch einen mehr als die Hälfte des Raumes umfassenden
Abschnitt „Racines sauscrites auxquelles se rattacheut les mots primitifs
en grec et en latiu" enthält, ist freilich ein von ÜDgeheuerlichkeiteu
aller Art strotzendes Machwerk. Ganz anders hat in Deutschland
H. Menge, wenn auch im einzelnen anfechtbar, die griechische Ety-
mologie in sein Schulwörterbuch eingearbeitet.
Auf die unabsehbare Menge einzelner Etymologien, wie sie sich
besonders in den Zeitschriften für idg. Sprachwissenschaft finden, einzu-
gehen, muß ich mir wenigstens für diesmal versagen, zumal da sie, streng
genommen, schon die Grenzen meines Berichtes überschreiten;^) doch
sei noch mit einem Wort hingewiesen auf ein größeres Werk, das von
allgemeinerer Bedeutung ist, weil es eine freilich schon ältere Methode
der etymologischen Forschung neu beleben will:
H. Osthoff, Etymologische Parerga. Erster Teil. Leipzig 1901.
O. verlangt — und er hat auch in Zeitschriften Beispiele für
ähnliche Untersuchungen geboten — daß an Stelle oder doch neben der
lexikalischen Form der etymologischen Forschung, wie sie in den ety-
mologischen Wörterbüchern zutage tritt, wieder mehr die zusammen-
hängende, begründende und untersuchende Darstellung gepflegt werde,
daß neben laut- und formgeschichtlichen Fragen auch den begrilfs-
geschichtlichen die gehörige Aufmerksamkeit geschenkt werde; man kann
hinzufügen, daß neben den Wörtern auch die Sachen gehört werden
dem Semitischen bieten sollen. Erst dann wird man sagen können, was
TDöglich und was unmöglich ist. Dazu kommt, daß außer den semitischen
Sprachen noch andere, von denen kärgliche Reste auf uns geisommen sind,
dem Griechischen Lehnwörter geliefert haben können,
^) Selbständig erschienene kleinere etymologische Arbeiten sind selten
geworden. Hier wäre K. Mezger, Vier Sprachwurzeln. Ein Beitrag
zur griechischen Etymologie und zur Sprachvergleichung. Progr. Schweinfart
1S94, zu nennen, der in völlig verfehlter Weise eine Unmenge von griech.
Wörtern auf die „vier Wurzeln ar, al, av, at" zurückführt.
142 Bericht über griechische Sprachwissenschaft ISOO— 1903. (Schwyzer.)
sollen (vgl. jetzt R.MeriDger, Wörter undSachen. IF 16, 101 ff. 17, 100 ff.).
Im vorliegenden Buche gibt 0. Proben dieser Art der Untersuchuug',
indem er je vier Gruppen von Wörtern behandelt, welche, die einen
im Pflanzen-, die andern im Tierreiche ihren Begriffskern haben. Die
Verpleichungen erstrecken sich bis in die entlegensten idg. Sprachen
nnd bis in die jüngsten Entwickelungsstufen; ebenso vollständig ist die
neuere wissenschaftliche Literatur angeführt. Speziell für das Griechische
fällt weniger ab; es sei etwa auf die Behandlung von xT)po; 18 f ,
xopFo; 36, oevopov 142 f., 7aX^ 183 f., lyaXXaiva 321 f. verwiesen (SeXxa
312 läßt sich doch ungezwungen mit dem Buchstabennamen vermitteln).
Nachträge.
Die Nachträge beziehen sich größtenteils auf S. 1—85; ihre
große Zahl erklärt sich wenigstens teilweise daraus, daß dieser Teil
des Mscr.s schon Neujahr 1904 in den Händen der Redaktion war,
während der Schluß erst Ende September 1904 abgeliefert wurde. —
Für S. 86 ff. gilt der Schluß der Fußnote auf S. 1 nicht.
Zu 10 f. In 12 Artikeln behandelt eine Reihe von (besonders
vorgeschichtlichen) Problemen A. Meillet, Hellenica. MSL 13 (1903),
26 — 55. Während 1 (Verkürzung langer Wörter unter gewissen Be-
dingungen) der allgemeinen Sprachwissenschaft angehört, dienen 3—5
der griechischen Lautlehre, besonders durch scharfsinnige Anwendung
von Ergebnissen der modernen Phonetik auf altbekanntes Material:
2 (p. 29/32) führt die divergierende Entwickelung der griech. Diphthonge
darauf zurück, daß in den Langdiphthongen der zweite Bestandteil
dem ersten an Dauer und Stärke nachstand, im Gegensatz zu den
Kurzdiphthongen; die Gesamtdauer ist bei Lang- und Kurzdiphthong
wesentlich die gleiche. 3 (p. 32 f.) sucht die Entwickelung von n zu
a daraus zu verstehen, daß a mit geringer Hebung des Gaumensegels
gesprochen wurde, also an sich schon ein nasales Element hatte.
4 (p. 33/8) spricht, teilweise sich an Tbunib (oben S. 34) anlehnend,
über das F; „c'est un v. consonne priv6 de sa sonorit^." 5 (p. 38/41)
sucht 7:i als normale Entwickelung von <fH zu erweisen: schwierig
bleiben aber Ti[j.r^, xiu), die man nicht mit M. von den bisher verglichenen
ind. "Wörtern leichten Herzens loszureißen wagen wird. Die übrigen
Artikel betreffen die Formenlehre, meist das Verb: 6 (p. 41/3) gehört
allerdings ebenso sehr zur Lautlehre, indem er den Wechsel zwischen qq
und o im Aor. auf -jj- als rhythmisch betrachtet (reXsuat, aber exeXeaaa
sind regelrecht); auch im Att. sollen neben tojo;, [xe'joc Formen mit «jj
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.) 143
bestanden haben ; ans solchen sollen sich die umstrittenen Formen mit
TT wie O^TTGt, epsTTüi, xpsiTTwv erklären — was wenijr Überzeugendes
hat. 7 (ji. 44 f.) führt mr.-o) und TTETojxa'. auf verschiedene Basen zurück,
10 (]). 48/50) postuliert als vorgeschichtliche Endung der 3. pers. pl.
des sigmat. aor. -aa, woraus -aav nach eXijtov; von hier und vom Ptc.
-aa(v)T- hat sich a besonders veibreitet. II (p. 50/2) betont, daß das
aspirierte Perf. gewöhnlicli neben sigmatischem Aor. auftritt; es ent-
stand, indem der Typus öairTU) : T£Ta9aTa[, axaKTco : e'jxacpa, und zwar zu-
nächst im Perf. med , auf ßXaTiTuj (ßsßXa'f a), xXeTtTco ; x£xXo9a) übertragen
wurde; si'Xricpa hat etymologisches cp. Weni|-'er wichtig sind im allge-
meinen die Bemerkungen zur Deklination: 9 (47 f.), eine Äußerung zum
Acc. TToXsic, berührt sich mit Wackeniagels Eiörterung oben S. 70;
8 (p. 45 7) sieht die Formen y]8i(o, rßiou^ als Sitz und Quelle des t im
Att. an; von allgemeinem Interesse ist 12 (p 52/5) D'une Innovation
parallele en attique et cn lesbien durch die Stellungnahme zur xotvr]-
Frage: „La xoiviq n'est douc pas de Tattique modifiö, c'est du greo
dialectical atticisö, et il leste vrai, que Tattique a eu dans la formation
de la xotvT^ uu role tout particulier."
Zu 18 vgl. auch W Ct önert, Zur Übellieferung des Dio Cassius.
WSt 21, 46—79; *Weißenberger, Die Sprache Plutarchs. Progr.
Straubing 1895; *A. Georg, Studien zu Leontios. Diss. München 1902
(vgl. ByZ 13, 596).
G. Thiele, Ionisch -attische Studien H 36, 218—71 spricht
S. 245—53 über ,,Gorgias Dialekt und Aussprache". Neben dem all-
gemeinen Nachweise, daß Gorgias ein äußerlich korrektes Attisch
schi'ieb, gelingen Tb mit Hilfe der Mittel der gorgianischen Rhetorik
eine Reihe von Beobachtungen zur Grammatik: Silbentrennung
(d-ire8avev), Spir. a-p. gesprochen, 9 — p + h, da mit t: alliterierend;
aber von einem Zusanimenfall von 01 und eu kann trotz der angeblichen
Assonanz otxta? eu-a^iav nicht die Rede sein. Am interessantesten, aber
freilich auch sehr unsicher und noch wenig begründet ist die Hypothese,
der Reimiktus falle mit einem festen exspiratorisciien Akzent zusammen.
Zu 20. Im letzten Augenblicke wird mir durch die Güte des
Verfassers Th. Papad^metracopoulos, La tradition ancienne et les
Partisans d'firasme, Athenes 1903, bekannt, worin er seinen Standpunkt
neuerdings verteidigt. Da es mir nicht mehr möglich ist, das umfang-
reiche Buch (fast 400 S.) für den vorliegenden Bericht durchzuarbeiten,
muß ich mich für diesmal mit diesem Hinweis begnügen.
Zu 28. Den Wandel von tu in au (auf den übrigens S. 41 ver-
wiesen werden konnte), hat schon E. R. Wharton, CR 1892, 259 f.
angenommen.
Zu 29/30 gehört noch Ch. Bally, Les diphthongues w, a, t) de
144 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890 — 1903. (Schwyzer.)
Fattique. MSL 13 (1903), 1 — 25. B. sucht dem viel behandelten
Problem durch genaue Berücksichtigung der Stellun;? der Langdiphthouge
eine neue Seite abzugewinnen; beachtenswert erscheint mir vor anderm
die Darlegung einer speziell attischen Kürzung der Langdiphthouge vor
a und ä (oder daraus entstandenem offenem e), z. B. aTo(i)f<, tia-paXoia;,
Doaaei, Tpoia aus -ü(w)iä-, Xeia, irapeiof, \i.ei6'(zi% aus -rt(^ü)^a-, ßauiXeia,
ypsta aus -t{w)iä--^ freilich kommt einem überall, wo es sich um ti
handelt, die Ungewißheit über die altattische Form (si oder r/.) in die
Quere. Formen wie TpoiY], rapeiai, dypetoi bei Homer verraten nach
B. attischen Einfluß. Wenn B. für den Anfang seines interessanten
und anregenden Aufsatzes die 3. Aufl. von Meisterhaus Gr. benutzt
hätte, was er mit eigentümlicher Begründung ablehnt, hätte er vielleicht
doch gesehen, daß Brugmauns Auffassung der Eutwickeluug von r^\.
durch nicht allzu wenige Tatsachen gestützt wird.
Zu 33. Schulzes Auffassung wird ueuerdings bestritten von
Heikel, Öfversigt af Finska Vetenskaps-Soc. Förhandl. 1903/4, Nr. 7
(nach lA 15, 220).
Zu 34 f. Den ersten unbestrittenen Beleg eines F im lon.-Att.
bietet 'Aiaai)viro(ü) auf einer protokorinthischen Lekythos; s. F. B.
Tarbeil and C. D. Bück, A signed Proto-Corinthian Lecythus in the
Boston Museum of fine Arts. BA 40 (1902), 40—8.
Zu 36 f. Über die phonetische Geltung von ■/{), '^\) handeln
A. Meillet et P. Bousselot, *La Parole 1901 Nr. 8; s. lA 15, 61.
41. Ob aulässlich des konsonant. • * Warren, [Über aoTjav
und ai(u!iav]. Album gratulatorium in honorem Henr. van Herwerden.
Utrecht 1902 (lA 15, 76) zu erwähnen war, muß ich unentschieden lassen.
44. Den Erörterungen über Haplologie im Satzzusammenhang
reiht sich au J. H. Wright, Studies in Sophocles. I. On certain
euphonic ellipses, mainly word-elisions. HSt 12, 137 tf. (s. lA 14, 5 f.).
44 ff. *A. Meillet, La Parole 1900, 193 tf. zeigt, daß im Griech.
urspr. quantite, ton, Intonation von einander völlig unabhängig waren
(s. IF 13, 112 f.); ebd., MSL 13, HO ff. stellt die Vermutung auf. daß
in Fällen wie oeixvuoDai das Griech. altertümlicher sei als das Ind.,
auch Betonungen wie xtöe-ai, oci'xvuvzai sind alt; J. Vendryes, üne loi
d'accentuatioa grecque: Topposition des genres. MSL 13, 131 — 46
handelt unter Berücksichtigung der nicht seltenen Ausnahmen über
Fälle wie ä'^opo^ : dt-zopa, ßoA.o; : ßoXn^, "i'o'voc : 70VT; ; auch in seinen Notes
grecques. MSL 13, 56—64 behandelt derselbe Gelehrte hauptsächlich
Fragen der Betonung (i'öou, T^i-r^t)•, die Betonung h-^^x^jp (statt [xirity^p)
erklärt J. P. Postgate, CR 1903, 56 aus dem Vok.; der Unterschied
gegenüber Trarr^p beruht darauf, daß der Vok. des Wortes für Mutter
Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.) 145
häufiger gebraucht wurde als der des Wortes für Vater; daß bei Piaton
der Begriff der Quantität genannt werde, bestreitet A. N. Jaunaris,
Plato's testiujüuy to quantity and accent. AJPh 23, 75 — 83. Hieher
wohl auch *G. N. Hatzidakis, nsplxovixtüv ixeraßoXüiv, 'AÖTjva 10,18—32.
■to. Zur Silbentrennung war auch eine Arbeit anzuführen, die
freilich vom Standpunkte des Metrikers uaternommen wurde und die
neueren sprachlichen Theorien nicht kennt: A. von Meß, Zur Posi-
tionsdehnung vor muta cum liquida bei den attischen Dichtern. RhMPh
08,270-93 (sie erweist sich als episches Element, schon Äschylos
führt im allgemeinen streng die sog. correptio Attica durch). Vgl. auch
*S. Zdanow, FO 17, 1. 18, 1 (s. lA 13, 177).
50. Vgl. auch -ß. F. Harding, The strong and the weak in-
lleetion in Greek. Boston 1897.
51 f. P. Stolz, Zur Wortzusammensetzung. WSt 23, 312 — 4;
*Neckel, Zur Zusammensetzung der Nomina im Griech. Progr. Fried-
land 1903 (vgl. MhSch 1904, 520).
54. *E. L. Green, Verbs compounded with prepositions in
Aeschylus. PrAPhA 33: die Bedeutungen präpositionaler Zusammen-
setzungen untersucht in gewohnter tief eindringender Weise J. Wacker-
nagel, Über Bedeutungsverschiebung in der Verbalkomposition. NGGW
1902, 737—57 (ausgehend von homer. iirioyaTo und -ncio^lwlev LXX er-
örtert W. eine Reihe von Beispielen, bei denen das Griech. stark ver-
tiefen ist, für die Erscheinung, daß „ein Verb durch Vorschub eines
Präverbiums, dessen Begriff an sich schon oder durch Verwendung in
gegensätzlichen Verben zum Begriff" des betr. Verbs im Gegensatz steht,
zum Ausdruck seines Gegenteils befähigt werden kann", z. B. «Tzooeiv
„losbinden, ablösen"). — Von der sog. Tmesis handeln *G. Schilling,
Die Traesis bei Euripides. Progr. Glogau 1892, und H. d'Arbois de
Jubainville, Linfixation du substantif et du pronom entre le prefixe
et le verbe en grec archaique et en vieil irlandais. MSL 10, 283—9
(genaue Unterscheidung der verschiedenen Fälle). — Hier sei des Titels
wegen auch genannt F. Solmsen, Zwei verdunkelte Zusammensetzungen
mit äv = dva. IP 13, 132 — 42. Die Arbeit handelt zwar nicht nur von
den im Titel gemeinten appr/asöat und appwostu (opp.), sondern auch
vom Wegfall von s (z) vor tönenden Lauten (atoojxat, cr-poüfbc) und
deutet Xorsöoc aus '-'XoaiaToc (got. lasiws).
55 ff. Vgl. noch *K. Schmidt, Beiträge zur griechischen Namen-
kunde. Progr. Elberfeld 1903; -Gh. W. Peppler, Comic terminations
in Aristophanes and the comic fragments. I. Diminutives, character-
uames, patronymics. Diss. Baltimore 1903. — G. Prölich, Quateous
in uomiüibus hominum Doricorum propriis historici Graeci formis dia-
lecticis usi vel Atticam dialectum secuti sint. 3 Progr. von Insterbnrg
Jahresbericht für Alteitumswissenechaft. Bd. CXX. (ia)4. I.) 10
146 Bericht über griechische Sprachwissenschaft 1890—1903. (Schwyzer.)
1896/8 (Znsaramenstellung der dorischen Personennamen, sowohl der i»
dialektgemäßer Form erscheinenden als der attizisierten , bei Herodot
und Tbuk , Xenoph. und Diodor unter Beiziehung der Inschriften und
Berücksichtigung der Etymologie und der handschriftlichen Überlieferung).
62 ff. Vgl. noch *G. N. Hatzidakis, Hspl twv h Tai.- -/.axalr.U-
atv (ivaXo7i(i)v. 'AB^va 10, 3 — 13 (Umgestaltung von Flexionsendungen
und Suffixen unter dem Einfluß der Analogie, lA 10, 115); Ilepl zoTj
ayir)}j.aTi3}ioü töüv (5vo[j.aT(uv sij -t;, -iv. 'AÖriva 12, 285 — 303 (analogischer
Einfluß der griecb. Kurznamen und des Lateinischen, TA 13, 178): Ot-
XoXo^ixai tJu^YjTv^jst?. ebd. 93 — 124 (über das Suffix -toeu;, lA 13, 17«) ;
*Gius. Ciardi-Dupre, Nota sui nomi greci in iiÄ2 (AH2). Firenze
1903 führt die Bildung nach K. F. W. Schmidt, BphW 1904. 1027-9
auf die von Haus aus adjektivischen weiblichen Namen auf -o- zurück,
während Schmidt a. a. 0. an männliche Eigennamen auf -aö-, -id- an-
knüpfen will.
66 f. Vgl. auch A. Meillet MSL 11, 6 f.; J. P. Fostgate
CR 1903, 56.
70. *P. Warncke, Der Gebrauch des Dat. PI. auf -sjai bei Homer.
Progr. Schrimm 1900.
73. Vgl. auch A. Ludwig, On the dual-forms e w äu. S. Böhm.
Ges. Wiss. 1903. Nr, IX (die Musterformen für die Duale auf -u> waren
o'jü> und a[j.cpu)).
78 f. Über unaugmentierte Verbalformen handeln auch G. N.
Hatzidakis 'A&riva 14, 133—6 (s. lA 15, 62) und J. H. Wright,
'EraauvaXoKfTi in Sophocles. HSt 12, 151 ff. (s. lÄ 14, 6).
79 f. Vgl. auch A. Platt, Duals in Homer. JPh 23, 205—10
(Duale der Augmenttempora sind in der Regel unaugmentiert, ausge-
nommen wenn sie gnomisch gebraucht sind); vgl. zu letzterer Beobach-
tung auch A. Platt, The augment in Homer, JPh 19, 211—37 (p.217:
„the gnomic aorist in old Epic poetrj- takes the augment"; p. 227:
„the augment is not a sign of past time in the aorist, it is added by
preference to the gnomic aorist which refers to any time and to the
perfect aorist*).
Zu 90 f. *E. B. Clapp, Pindar's accusative constructions.
TrAPhÄ 32, 16— 42.
Zu HO f. F. J. Hartmann, Untersuchungen über den Gebrauch
der Modi in den Historien des Prokop. Progr. Regensburg 1903 (vgl.
ByZ 13, 237-; NphR 1904, 100 f.).
Zu 121 f. *P. Brandt, De particularum subiunctivarum apud
Pindarum usu. Diss. Leipzig 1898; *E. L. Green, Tisp in Thuc,
Xenoph. and the Attic orators. PrAPhA 32, CXXXV— VIIT,
Autorenregister.
147
Antorenregister.
Rezensionen sind nicht berücksichtigt.
Ahlberg 109.
Allen 114. 130.
AUinson 47. 48. 114.
Alton 121.
Amelung 126.
Amend 136.
Angermann 62.
Arbois, d', de Jubain-
ville 145.
Arnold 21.
Azelius 89.
Kabbit 121.
Bally 143.
Bannier 56.
Baron 18. 124.
Bartholomae 28. 65. 82.
Bayfield 130.
Bechtel 34 55. 57. 60.
Behaghel 114.
Belli 44.
Berdolt 126.
Bevier 20.
Bezzenberger 77. 83.
Bielecki 51.
Bill 130.
Birke 121.
Bishop 119. 120.
Blaß 7. 60. 70. 106.
Blümner 137.
Bolland 22.
BoUing 118. 119. 124.
Brandt 146.
Brassai 98.
Brennan 33.
Brief 125.
Brockelmann 26.
Brugmann 8. 28. 29. 31,
33. 41. 44. 62 64. 66,
67. 72. 81. 83. 85. 86.
Bruhn 100.
Bück 71. 144.
Buresch 81.
Bürchner 134.
Carter 118.
Chabert 18. 20.
Chambers 122.
XazC\ooy.\z s. Hatzidakis.
Ghitil 115.
Chowaniec 124.
Christ 52.
Ciardi-Dupre 146.
Clapp 131. 14G.
Cleef 90.
Cohn 133.
Conway 21. 133.
Crönert 19. 60. 66. 68.
134. 143.
Crusius 59.
Danielsson 40.
Darbishire 35. 85.
Dawes 20. 36.
Deißmann 98.
Delbrück 67.
Delboeuf 103.
Dessoulavy 123.
Detto 91.
Diel 126.
Diels 60.
Diessl 124.
Dietericb, K. 16. 43.
Donkin 103. 122.
Donovan 105.
10*
,148
Atttorenregister.
Dottin 79.
Döhring 128.
Dörwald 105.
Dufour 96.
Dugesnoy SO.
Dürr IS.
Dyroff 76. 92.
Earle 20. 95. 110. 113.
Ebeling 131.
Eckeis 127.
Eckinger 23.
Ehrlich 33. 63.
Eibel 91. 103.
Eismann 118.
Eimer 110.
Elwell 125.
Eulenburg 31.
Fassbänder 131.
Fennell 63.
Feron 44.
Fick 31. 35. 55. 58. 59.
60. 61.
Fischer 65.
Flagg 105.
Flensburg 75.
Flipse 136.
Forman 136.
Fowler 77.
Förstemann 136.
Frenzel 120.
Fritz 18.
Fritzsche 121.
Fröhde 60.
Frölich 145.
Fuchs 127.
Fuhr 85.
Fuochi 61.
Fürst 26.
CJallaway 121.
Georg 143.
Gercke 22.
Gerth 86.
Geyr 126.
Gildersleeve 87, 88. 90.
96. 119. 128.
Glaser. M. 52.
Glaser, 0. 136.
Goetzeler 136.
Goidanich 41.
Goodell 131.
Goodwin 10.5. 113. 122.
Grammont 43.
Granit 116.
Green 121. 145. 146.
Grosse 103.
Groiipietsch 54.
Gulick 117.
Hagfors 102.
Hagget 102.
Haie 113. 114.
Hamilton 55.
flammerschmidt 110.
Harding 145.
Harry 98. 121.
Hartmann, F. J. 14(i.
Hartmaan, G. 141.
Hasse 73. 74. 100.
Hatzidakis 2. 5. 14. 20.
28. 29. 31. 34. 35. 37.
40.45.47.48. 80.145.
146.
Headlam 66.
Heerdegea 124.
Heikel 129. 131. 144.
Heiligenstädt 125.
Heino 55.
Helbing 90.
Hentze96. 117. 124.131.
Herbig 109.
Herwordea 135.
Herzog 61.
Heß 27.
Hessau 91.
Hesseling 116. 119.
Hewlett 116.
Hildobrand.104.
Hillebrandt 83.
Hillort 91.
Hirt 5. 41. 44. 49. «7.
73. 82. 83.
Hoffmann 34. 6n. 84.
Holmes 54.
Autorenrogister.
149
Horton-Smith 129.
Uude 90. 123.
Uübscbmann 20.
Haltsch 107.
Hultzsch 109.
Humphreys 9ä.
Hylak 104.
JTaakkola 102.
Jannaris 3. 20. 145.
Jedlicka 55.
Iltz 102.
Ineze 117.
Jobst 13G.
Johansson 50.
Johnson 12t;.
Joost 121.
Juillard 103.
Jangius 1311.
Maibel 18.
Kaiser 125.
Kaißling 105.
Kallenberg 89. 97. 98.
121. 132.
Keelhoff 91. 103. 118.
122. 125.
Keil 29.
Kern, H. 20.
Kern, J. W. 91.
Kindlmann 49.
Klasen 125.
Kleist, V. 132.
Koop 126.
Kobylanski 12(;.
Koch 136.
Kohn 98.
Kokorudz 90.
Kmv:3T«vT'.v[o7]C 133.
Kö'vTo; 89. 134.
Korsch 96. 130.
Kossinna 25.
Kc.uu.avouo7]; 135.
Krapp 117.
Krause 102.
Kränz 134.
Krebs 104.
Kretschmer 2. 14. 28.
31. 34. 37.38.41.42.
43. 45. 60. 63. 71.
Krumbacher 37. 44.
Kugener 96.
Kuhn 28.
Kühner 7. 86.
Kunz 105.
Kvicala 95.
liagercrantz 38.
Lapgdon 123.
Lamberton 103.
La Roche 10.71.85.132.
La Terza 85.
Lattmann HO.
Laurent 141.
Lautensach 78. 80.
Lehner IIG.
Lell 92.
Lemm 27.
Lesser 54.
Lendrum 117.
Levi 65. 137.
Lewy 140.
Liddell 14.
Liljeblad 90.
Lorentz 94.
Ludwig 73. 146.
Luft 24.
Lutz 103.
Mac Keen Lewis 29.
Main 120.
Malarenko 124.
Mann 89.
May 50.
Mayer, F. 100.
Mayer, H. 109.
Mayor 123.
Mehliii 136.
Meillet 142. 146.
Mein 115.
Meister 32. 44. 64.
Meisterhans 14.
Meltzer 9. 105. 107.
Mendelssohn 134.
Menge 141.
150
Autorenregister.
Meli, V. 136. 145.
Meyer, G. 8. 42.
Meyer, L. 71. HO. 137.
Meyersahm 60.
Mezger 141.
Milden 132.
Miller 86. 90. 108. 115.
Miodonski 124.
Mode&tow 20.
Mommsen 101.
Monro 20.
Moulton 70.
Much 25.
Mucke 38.
Muller 3. 44. 51.
Müller, G H. 110. 123.
Mulvany 81.
Music 109.
Mutzbauer 105. 110.116.
Jllaclimausoa 44.
Naylor 115.
Nazari 73.
Neckel 145.
Nehmeyer 89.
Neißer 70.
Netusil 103. 125.
Niedermaon 18.
Nöldeke 27.
Osthoff 65. 141.
Papadimitrakopulos 20.
143.
Parodi 84.
Pedersen 48. 110.
Peppler 145.
Perdrizet 33.
Pircher 78.
Pitman 125.
Platt 71. 117. 146.
Ploix 103.
Polaschek 122.
Postgate 144. 146.
Prellwitz 1. 29. 32. 42.
44. 62. 77. 139.
Prestel 83.
Preuü 136.
Priewasser 102.
Purdie 107.
Rabe 29.
Radennach er 66. 73. 77.
96.
Ragon 20.
Ramsay 49. 123.
Regnaud 66.
Reichelt, C. 72.
Reicbelt, H. 63. 67.
Reichenb erger 137.
Reitz 103.
Ribar 27.
Richards 123.
Rogers 136.
Rosenthal 121.
Roth 108.
Rousselot 144.
Rüger 103.
Rutherford 125.
Sagawe 96. 123.
Säle 54.
Sandys 66.
Santi 35.
Schachmatow 45.
Scheftlein 102.
Schilling 145.
Schmid, J. 108.
Schmid, VV. 17. 18. 37.
Schmidt, C. 97.
Schmidt, C. 123.
Schmidt, H. 74.
Schmidt, J. 29. 31. 32.
33 35. 40. 43. 72. 77.
83.
Schmidt, K. 60. 145.
Schmidt, M. C. P. 103.
Schmidt, P. 89.
Schneider 29.
Schröder 136.
Schubert 54.
Schulze 12. 23. 28. 30.
31 . 33. 34. 35. 37. 38-
42. 43. 59. 66. 70. 73.
77. 84.
Schwab, M. 26.
Schwab, 0. 98. 100.
Autorenregister.
151
Schweizer s. Schwyzer.
Schwyzer2. 14. 15.44.45.
Scott 90.
Seailes 135.
Sexauer 18.
Sidgwick 114.
Simon 134.
Skerlo 103.
Smith 89.
Smyth 35. 49.
Sobolewski 98. 102. 103.
114.119.122.125.132.
Solmsen 12. 13. 28. 31.
32. 33. 36. 37. 40. 41.
42. 43. 45. 49. 60. 64.
71. 72. 73. 75. 76. 81.
83. 123. 145.
Sonaenschein 122.
Spiegel berg 27.
Sprotte 116.
Stahl 119. 123.
Stolz 44. 80.81.85. 96.
145.
Strachan 59. 67.
S tratton 63.
Streitberg 71. 72.
Stuart-Jones 49.
Sütterlin 78.
Szczurat 117.
Tarbeil 113. 117. 144.
Telfy 21.
Tetzner 116.
Thiele 143.
Thielmann 119.
Thomas 62. 137.
Thouvenin 108. 110.121.
Thulin 114. 131.
Thumb 1. 26. 27. 28.
29. 34.
Tournier 20. 122.
Tröger 18.
fckermann 97.
Uljanow 70.
Unna 126.
Valmaggi 91.
Vaodaele 111.
Vendryes 144.
Vintschger 55.
Viteau 69.
Vogrinz 131.
W ackernagel 1 1 31. 43.
46. 54 65. 70. 76. 81.
82. 83. 85. 131. 145.
Wagner 117,
Wählin HO.
Walker 82. 84.
Warncke 146.
Warren 128. 144.
Weckleio 96.
Wehmann 126.
Weigel 89.
Weiske76. 103. 129.134.
Weiß 78.
Weißeaberger 143.
Wessely 23.
Westetmayer 69.
Wharton 121. 122. 143.
Wbeeler 65. 73. 119.
Whitelaw 122.
Wilamowitz 18. 33.
Wilhelm 66.
Wilpert 124.
Wimmerer 104.
WisÖQ 123.
Witkowski 1.
Wittekind 136.
Witton 40.
Wölfle 120.
Wright 81. 144. 146.
Zachariä 66.
Zacher 82.
Zarncke 2.
Zdanow 145.
Zubaty 71.
Zacker 97
152
Inhaltsübersicht.
Inhaltsübersicht.
Seite I
(Jesamtdarstellungen der Gram-
matik der ganzen Gräzität so-
wie einzelner Perioden ... 1
Aussprache 19
Lautlehre 22
Allgemeines 22
Vokalismus 27
Konsonantismus 34
Anhang: Akzent .... 44
Silbentrennung. . 49
Stammbildungs- u. Flexionslehre 50
Komposition 51
Namen 55
Nominalbildung 62
Nominalflexion 69
Pronomen 75
Zahlwort 76
Adverbien 77
Verbum 78
Augment U.Reduplikation 78
Personalendungen ... 80
Futurum 83
Aorist 83
Perfekt 85
Seite
Syntax 86
Allgemeines 86
Kasuslehre 90
Pronomen samt Artikel . . 92
Adjektiv. Zahlwort ... 98
Präpositionen 100
Verbum 103
Genera Verbi .... 103
Tempora und Modi . . 105
Infinitiv und Partizip (mit
Verbaladjektiv) . . .116
Partikeln 121
Satzgebilde 125
Parataxis 125
Abhängige Sätze. Satzge-
füge 125
Nebensätze mit Konjunk-
tionen 125
Wort- und Satzstellung . . 131
Zum Wortschatz 133
Nachträge 142
Autorenregister ... . . 147
Bericht über die literatur zur Koine aus den
Jahren 1898—1902.
Von
StanisLaas Witkowski
in Leraberff.
Vorbemerkungen.
Da die uogemein reiche Fülle des Mateiials es einem einzigen
Berichterstatter unmöglich machte, das ^anze Gebiet der griechischen
Sprachwissenschaft zu umfassen, also die Entwickeluns; der Sprache von
der ältesten erreichbaren Zeit bis mindestens 500 n. Chr. in allen ihren
Teilen: Laut-, Formen-, "Wortbildungslehre, Syntax usw. darzustellen,
so war es notwendig, daß sich mehrere in die Arbeit teilten. Das
Nächstliegende wäre nun gewesen, daß der eine etwa die Laut- und
Formenlehre, ein anderer die Syntax usw. übernommen hätte. Wir haben
einen anderen Weg eingeschlatren und versucht, den Gegenstand nicht
nach den verschiedenen grammalischen Gebieten, sondern chronologisch
unter uns zu teilen. Hierbei bot sich naturgemäß eine Einteilung in
zwei Perioden: die Geschichte der griechischen Sprache vor und nach
Alexander. Meiner Neiguncr entsprechend, wählte ich für meinen Teil
die Epoche der Koine, während E. Schwyzer es übernahm, über die
Sprachentwickelung vor Alexander zu berichten.
Die Geschichte der Koine reicht von Alexander d. Gr. bis etwa
500 n. Chr. Da der Stoff auch auf diesem engeren Gebiet reich ist,
und es mir unmöglich war, meinen Bericht über den ganzen Zeitraum
von acht Jahrhunderten auszudehnen, so mußte ein dritter Berichterstatter
hinzugenommen werden.
Jeder von uns dreien wird nun innerhalb seiner Epoche über das
ganze Gebiet der Grammatik berichten, somit Lautliches und Morpho-
logisches, Syntaktisches und Lexikalisches usw. berücksichtigen. Das
Bild der griechischen Sprachentwickelung wird dabei deutlicher ge-
zeichnet werden können, als wenn einzelne grammatische Gebiete von ver-
schiedenen Berichterstattern behandelt worden wären. Dies dürfte be-
sonders bei der Koine der Fall sein. Deijenige, der sich nicht für einzelne
Sprachperioden, sondern für einzelne Gebiete der Grammatik, etwa für die
154 Bericht üb. d. Literatur zur Koinea. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
Syntax, interessiert, wird sich das Nötige aus den drei Berichten leicht
zusammeustellen Icönnen.
Bei der Koine handelte es sich zunächst darum, innerhalb dieser
Epoche für die Darstellung- einen Abgrenzungspunkt zu finden. Das
war nicht leicht, denn die ganze Epoche bildet in sprachlicher Beziehung
eine Einheit. Ich dachte anfangs daran, die untere Grenze für die
erste Periode der Koine etwa um die Zeit der flavischeu Dynastie
anzusetzen, da die Sprache des Josephos mit der Sprache der älteren
Koineliteratur eng zusammenhängt. Später gab ich jedoch diesen Ge-
danken auf, und zwar aus folgendem Grunde. In der Geschichte der
Keine ist die Literatursprache von der Umgangssprache durch eine
tiefere Kluft getrennt als in der attischen Periode. Faßt man nun die
Literatursprache ins Auge, so mar^ht hier die Zeit des Augustus
einen Einschnitt. Die mächtige Strömung dos Attizismus lenkt die
Sprachentwickelung in andere Bahnen. Für die Geschichte der Koine
ist jedoch nicht die Literatursprache, sondern die Umgangssprache die
Hauptsache, denn diese ist lebendig, während die Literatursprache,
welche mehr oder weniger auf die attischen Muster zurückgeht, nur
insofern lebendig genannt werden kann, als sie von der Umgangssprache
beeinflußt wird. Die Umgangssprache bleibt von der attizistischen Be-
wegung gelehrter Kreise fast gänzlich unberührt,*) sie geht ihre eigenen
Wege und entwickelt sich durch die "Wirkung der ihr innewohnenden
Kräfte fort. Die Entwickelung der Umgangssprache weist nun inner-
halb der Periode von Alexander- bis etwa Justinian keinen markanten
Scheidepunkt auf. Will man einen solchen durchaus haben, so empfiehlt
sich die Zeit um Christi Geb. als Grenze, nud zwar nicht nur aus
praktischen Gründen, sondern zum Teile auch aus wissenschaftlichen.
Die meisten vokalischen Neubildungen der Koine sind Ende des 1. Jhd.
v. Chr. abgeschlossen. Auch für Thumb bildet jener Punkt einen
Einschnitt in der Entwickelung der Koine. Ähnlich denkt W. Schmid
W. f. k. Ph. 1S99 Sp. 512. Der Einschnitt in der Entwickelung der
Umgangsspraclie fällt demnach mit demjenigen iu der Literatursprache
zusammen. Mein Bericht umfaßt nun die fiühere Hälfte dieser Periode,
d. i. die drei letzten Jahrhunderte v. Clii'. Die andere Hälfte reicht
dann von Chr. Geb. bis etwa 500 u. Chr. Diese Einteilung hat freilich
ihre Schattenseite: gerade aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. besitzen
wir wichtige Sptachdenkniäler der T^mgangssprache iu den Schriften des
Neuen Testamentes und der ältesten christlichen Literatur. Man ent-
schließt sich nur ungern, diese Schriften von der Scptuaginta zu trennen.
*) Vgl. auch Thumb, Gr. Spr. S 248: „Der Attizismus ht eine rein
literarische Bewegung: er hat den Gang der l bcndcn Sprache nicht auf-
gehalten; denn der attische Dialekt ist schließlich ebenfalls untergegangen."
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S98— 1902. (Witkowski.) 155
mit der sie sprachlich zusammenhäng-en. Ich dachte anfangs daran,
wenigstens das Neue Testament hinzuzuuehmen, mnßte aber schon mit
Rücksicht auf die mir zur Verfügung,' stehende Zeit und die große Aus-
dehnung der nentestamentlichen Literatur diesen Gedanken aufgeben.
Bei einem Berichte über die Sprache ist man nicht selten in
Verlegenheit, wo mau die Grenze zwischen sprachlicher Erforschunj:
einerseits, Textkritik und Exegese andererseits ziehen soll. Ich war
in dieser Lage bei vielen Aufsätzen , welche über die Sprache der
Schriftsteller, besonders aber bei solchen, welche über die Inschriften
handeln. Von der die Exegese der Inschriften fördernden Literatur
habe ich nur weniges herangezogen: anderes schien mir nicht in diesen
Bericht zu gehören. Wie weit mir die richtige Abgrenzung des Stoffes
geglückt ist, muß ich den Lesern zu beurteilen überlassen. Überflüssiges
hoffe ich kaum zu bringen.
Ausgeschlossen habe ich Gesamtdarstellungen der griechischen
Grammatik und größere Monographien, in denen der Koine keine be-
sonderen Abschnitte gewidmet sind, z. B. Grammatiken von Brugmanii
(3. Aufl.) und Hirt, die neue Bearbeitung der Kühnerschen Syntax von
Gerth usw. In diesen Darstellungen findet die Koine wenig Berück-
sichtigung; der Grund liegt wohl hauptsächlich in dem Mangel an Mono-
graphien und an zusammenfassenden Bearbeitungen des Erkannten.
Manche Arbeiten waren mir trotz wiederholter Bemühungen un-
zugänglich odei- sind mir zu spät erreichbar geworden. Solche Arbeiten
sind durch einen Stern bezeichnet. Ich suchte ihren Inhalt mit Hilfe von mir
bekannten Eezensionen zu charakterisieren. Botfentlich wird man nichts
Wesentliches vermissen. Eigenes zu bieten suchte ich in dem Kapitel
«Wesen und Entstehung der Koine", zum Teile auch in anderen Kapiteln.
Es bleibt mir noch übrig, denjenigen, welche mir durch Zusendung
ihrer Arbeiten meine Aulgabe wesentlich erleichtert haben, meinen
wärmsten Dank auszusprechen. Besonders dankbar war ich für einige
Aufsätze, die in wenig zugänglichen Zeitschriften erschienen sind. Mein
Dank gebührt vor allem den Herren: v. Wilamowitz-Moellendorff,
Kretschmer, Thumb, W. Schmid, Deißmann, Scbwyzer, Crönert, Viereck,
Mahafify, Greufell, Hunt, Wilcken, A. Ludwich, Crusins. Ferner den
Herren Verfassern von Arbeiten, die außerhalb meines Berichtes liegen,
aber mit ihm eng zusammenhängen: Diels, Vahlen, Kvicala, Büttner-
Wobst, Hultsch und Theiraer.
In der griechischen Sprachwissenschaft hat sich in neuerer Zeit
iusofern eine bedeutsame Veränderung vollzogen, als die Forschung, die
»ich früher mit einer gewissen Einseitigkeit auf die griechische Sprache
vor Alexander beschränkte, in den letzten Jahren begonnen hat, aucli
15(» Bericht üb. d. Literatur zur Koine a, d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
der späteren Gräzität ihr Interesse zuzuwenden. Daß man sich ent-
schlossen hat, über den Zauberkreis der klassischen Schriftsteller hinaus-
zugehen, hat wohl seinen Grund hauptsächlich in dem reichen Zuwachse
neuen Stoffes in der Gestalt von Papyri und Inschriften. Dieser Zu-
wachs hat unser Urteil über die hellenistische Sprache auf eine ganz
andere Basis gestellt. Ungefähr gleichzeitig haben die byzantinische
Philologie und die neugriechische Grammatik einen großen Aufschwun:;'
iSienommen; dies beides erlaubt uns jetzt die Kontinuität der griechischen
Sprachentwickelung vom Altertum durch das Mittelalter hindurch bis
auf die Gegenwart zu verfolgen.
Über die Forschungen über die Koine in den Jahren 1896—1901
berichtet kurz, aber trefflich
A. Thumb, Arch. f. Pap. 2 (1903) S. 396—427.
Über die wichtigeren Erscheinungen der Koine berichten vom
Standpunkte der biblischen Gräzität
*Kennedy, Recent research in the language of the N. Test.,
Expository Times 12 (1901) S. 341 — 345, 455-458, 557—561 (vgl.
Thumb a. a. 0.), und
Deißraann in der Theol. Rundsch. 1 (1898) und 5 (1902),
s. unten.
Ich will meinen Bericht in zwei Hauptabschnitte einteilen. In
dem ersten sollen die allgemeinen Fragen Erörterung finden: der
zweite wird die Speziahirbeiten zur Sprache bringen.
I. Abschnitt.
Allgemeine Fragen.
Die Probleme und Aufgaben der Koineforschung skizziert das Buch
A. Thumb, Die griechische Sprache im Zeitalter des
Hellenismus. Beiträge zur Geschichte und Beurteilung der Koivr].
Straßburg 1901.
Ich werde unten wiederholt Gelegenheit haben, auf den Inhalt
dieses Buches genauer einzugehen, hier will ich mich darauf be-
schränken, es im allgemeinen zu charakterisieren.
Es enthält folgende Kapitel:
I. Begriff" und Umfang der Koivr^. Allgemeine methodische Fragen.
IL Der Untergang der alten Dialekte. III. Die Reste der alten Dia-
lekte in der Koivy^. IV. Der Einfluß nichtgriechischer Völker auf die
Entwickelung der hellenistischen Sprache. V. Dialektische Differen-
zierung der KoivT]. Die Stellung der biblischen Gräzität. VI. Ursprung
«nd Wesen der Koivt^. — Ein grammatisches Register, ferner ein ge-
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jabren 1808—1902. (Witkowski.) j 57
iiaues Wortregister, in welchem die alt- und die neugriechischen Wörter
gesondert vorgeführt werden, beschließen das Buch.
Th.s Buch ist eine vorzüg'liche Einführung in das Studium der
Koine. Ein solches Buch tat uns wirklich not. Auf diesem Gebiete
steckt die Forschung noch iu den Anfängen. Es gab hier alte, einge-
wurzelte Vorurteile, die leicht irreführen konnten (z. B. über die biblische
Gräzität), manche Frage mußte erst gestellt werden, in bezog auf die
Methode herrschte vielfach Unsicherheit. Th.s Buch ebnet die Wege. Es
gehörte Mut dazu , eine Einführnng in die Koine zu schreiben. Die
Zeit zur Zusammenfassung war noch nicht gekommen, das Material war
meistens noch unbearbeitet. Th. hat diesen Mut gehabt, und je größer
die Schwierigkeiten waren, die er zu überwinden hatte, desto größer
ist sein Verdienst. Sein Buch reinigte die Luft. Th.s Verdienst liegt
vor allem darin, daß er viele Probleme zum erstenmal gestellt hat, und
es gibt darunter recht schwierige (ich erinnere an die Frage nach der
Dififerenzieruug der Koine). Das Quellenmaterial hat er zwar nicht selb-
ständig durchgearbeitet — deshalb findet mau auch bei ihm verhältnis-
mäßig wenige neue Tatsachen — , trotzdem ist das Buch sehr nützlich.
Th. weist an vielen Stellen auf Aufgaben hin. die der Bearbeitung be-
dürfen. Ein solches Buch zu schreiben, war Th. mehr als ein anderer
berufen, denn einerseits gehört er zu den vorzüglichsten Kennern des
Neugriechischen und neugriechischer Dialekte, und andererseits ist er
mit der Koiueforschung wie wenige vertraut.
Die Wichtigkeit des Neugriechischen für die Koinestudien wird
heute allgemein anerkannt, und mit vollem Recht, denn in dem Neugrie-
chischen haben wir das Endergebnis der Entwickelung, iu der die Koine
das Mittelglied darstellt. Das Neugriechische erlaubt uus, auf manche die
Koine betreffende Hypothese gleichsam die Probe zu machen. Mau muß
hier aber vorsichtig vorgehen. Es werden oft aus dem Neugriechischen
Hückschlüsse auf die Koine gemacht, indem mau aus neugriechischen
Formen Kcineformeu erschließt. Dabei geht man m. E. mitunter zu
weit. Manche Erscheinung des Neugriechischen kann doch ihre Keime
nicht in der Koine, sondern erst im Byzantinischen haben. Die byzan-
tinische Umgangssprache kennen wir aber nur sehr ungenau. Es
genügt nicht, daß eine Form sowohl in den Papyri und den späteren
Inschriften als auch im Neugriechischen begegnet, um die neti-
griechische für eine direkte Portsetzung der gemeingriechischen zu
erklären. Dies kann nur dann geschehen, wenn die betreffende Fonn
mittels der mittelalterlichen Sprachdenkmäler auch für das Mittel-
alter nachgewiesen wird; sonst kann man immer annehmen, daß sich
eine solche Erscheinung unabhängig sowohl in alter als in neuer Zeit
entwickelt hat. Hatzidakis, der darüber sehr umsichtig urteilt (Gott.
158 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
gel. Anz. 1899, S. 506 fF.), erweist an Beispielen, daß Wörter, die im
19. Jhd. aus der Schriftsprache in die Umgangssprache eins:edrungen
sind, gerade solche Veränderungen erlitten haben wie in der Koine; so
findet man sowohl in den Papyri als im Neugriechischen uTrepExr)?, urs-
peuia, trotzdem diese Wörter im Neugriechischen erst seit dem Be-
freiungskriege wieder bekannt geworden sind. Wenn wir Trap(x8tooü|ji.s in
einem Papyrus und heute auf Kerkyra treffen, so kann neugriechisch
öi6oo|xs von oiöouv gebildet worden sein. So begegnet ouTiep (= G-s'p) nur
in der Koine, ist aber heutzutage unbekannt; umgekehrt gehört xpou'fy.
(-- y.pu9a) nur der Neuzeit an, kommt aber in der Koine nicht vor.
Wenn man ferner sieht, daß zahlreiche sehr charakteristische Erschei-
nungen der Koine im Neugriechischen nicht fortleben, so wird man nocli
mehr zur Vorsicht gemahnt.
Th.s Buch, um zu ihm zurückzukehren, zeichnet sich durch aus-
}.;ezeiehete Methode und treffliche sprachwissenschaftliche Schulung,
durch große Umsicht im Urteil und lichtvolle Darstellung aus. — Es
liat natürlich auch seine Mängel, die es mit den meisten neueren Ar-
beiten auf dem Gebiete der Koine teilt. Sie betreffen die spezifische
Methode der Koineforschung. Die Koine ist eine ganz eigenartige
Hprachliche Schöpfung; ihre Untersuchung bedingt auch eine eigenartige
Methode, und da die Koineforschung erst in den Anfängen steckt, so
ist auch ihre Methode noch vielfach mangelhaft. Unsere Inschriften
und Papyri, besonders aber die letzteren, enthalten nicht eine einheit-
liche Sprache, sondern eigentlich eine Mehrheit von Sprachen ; nicht nur
unterscheiden sich die öffentlichen Urkunden von den privaten, sondern
wichtige Unterschiede sind auch durch den Bildungsgrad des Schrei-
benden gegeben. Das weiß man zwar, aber in der Praxis wird darauf
zu wenig Rücksicht genommen. Es werden oft in eine ßeihe Erschei-
nungen der Laut- oder Formenlehre gestellt, welche nicht einer und
derselben, sondern verschiedenen Sprachschichten angehören.*) Und
doch ist vor' allem bei der Lautlehre Berücksichtigung des Bildungs-
niveaus ganz besonders wichtig. Lautveränderungen, die wir in dem
Schreiben eines Mannes aus dem Volke finden, kommen in der Sprache
der Gebildeten vielleicht erst Jahrhunderte später oder gar nicht vor.
Besonders gut kann man das heute in Städten mit gemischter Bevölke-
*) In wünschenswerter Weise werden diese Unterschiede von Crönert
in dessen Quaestiones Herculaneiiscs berücksichtigt. Hier erfährt man bei
jeder einzelneu Lautform, ob sie in einem korrekt oder nachlässig ge-
schriebenen Papyrus steht. Dies sollte in jeder Arbeit über die Sprache
der Inschriften und Papyri, besonders aber der letzteren, geschehen. —
Die Notwendigkeit der Scheidung zwischen verschiedenen Klassen der Pa-
pyri betont Thumb, Arch. f. Pap. 2 S. 398.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 15^
j ung: beobachten. In Lemberg z. B., wo das Rutheuische auf die Sprache
der Polen einen Einfluß ausübt, gebraucht die niedere Bevölkerung viele
.1 argonformen, die in rein polnische Gebiete oder in die Sprache der
Gebildeten in Lemberg nie Eingang finden werden. Diese Bildungs-
unterscbiede darf mau bei den hellenistischen Urkunden nie aus dem
Auge lassen, will man nicht in den Schlüssen fehlgehen.
Erleichtert wird die Scheidung der Papyri nach ihrer Herkunft durch
die von Wilcken in dem Arcli. f. Pap. (Bd.l) gegebene Zusammenstellung
der Papyri nach sachlichen (und chronologischen) Gesichtspunkten.
Verwandt mit diesem methodischen Mangel ist ein anderer, der in
der Koineforschung ebenfalls oft wiederkehrt. Ich meine die Nichtbe-
rücksichtigung oder ungenügende Berücksichtigung der Nationalität
des Schreibers. Schon Hatzidakis hat davor gewarnt, Barbarismen mit
echt griechischen Formen zusammenzubringen (Einleit. in d. ngr. Gramm.
S. 17 und 278. G. g. A. 1899 S. 510). Kretschmer scheidet mit Recht
aus der Koine diese nichtgriechischen Bestandteile (neben den durch
mangelhafte Kenntnis der Schriftsprache verursachten Schnitzern von
Seiten Ungebildeter) aus (Entst. d. Koine S. 4 f.). Ganz nachdrücklich
warnt vor hastiger Benutzung „plebejischer Urkunden" v. Wilaraowitz
(G. g. A. 1901 S. 40—42). „Wenn man immer wieder hört, daß in
Ägypten ai zu s, o- zu u sclion im 2. .Thd. v. Chr. geworden wäre, in
Athen erst drei Jahrhunderte später, so ist dabei dem verschiedenen
Beweismateriale nicht Rechunng getragen." Diese Kritik muß sich auch
auf die Ausführungen in meinem Prodromus grammaticae papyjorum
(S. 4 f.) beziehen. Ich war mir dort der Bedeutung des sozialen und
des nationalen Momentes wohl bewußt (vgl. meine Worte; „NonnuUi
quidem soni eodem tempore in papyris, quo in Atticorum titulis immu-
tati inveniuntur, alios tamen multo ante in sermone communi, saltera
in sermone Aegyptiorum, immutatos videmns quam ex titulis id
nobis conicere licet"), habe aber bei der darauf folgenden Formulierung
von Parallelen zwischen Ägypten und Attika diesen Gesichtspunkt nicht
scharf genug betont. Thumb bemerkt zwar mit Recht: „Das Radebrechen
eines Fremden beweist nichts für den Charakter einer Sprache" (S. 124),
ähnlich S. 154: „Soweit Römer selbst solche Übersetzungsfehler
machten . , . ., beweisen sie überhaupt nichts gegen die grammatische
Reinheit der Kotv/j" und S. 174: „Von der ägyptischen Koiv/j ist wohl
zu scheiden das Griechisch der nicht hellenisierten Ägypter; die Grenze
wird freilich nicht immer scharf zu ziehen sein." In der Beurteilung
von sprachlichen Tatsachen scheint er mir jedoch diesen Gesichtspunkt
nicht immer scharf genug im Auge zu haben.*)
*) Hatzidakis scheint mir andererseits in der Annahme von Barba-
rismen zu weit zu gehen.
] (30 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902 (Witkowski.)
EiQ dritter inethodiscber Mangel, dem man iu deu Arbeiten über
die Koiue oft begegnet, liegt dariu. daß mau zu wenig mit Ver-
schreibuugen rechnet. Jede, noch so unmögliche Form wird als eine
vom Schreiber mit Bewußtsein gebrauchte angesehen und zu Schluß-
folgeruugeii verwendet. Auch davor warnt v. Wilamowitz: ,Bei dem
Schreiben ist vollends nicht zu vergessen, daß die Leute Buchstabeu
auslassen und vertanscheu" (G. g. A. 1901, S. 40). Nachdrücklich be-
tont diesen Puukt K. Dieterich in der Besprechung des II. Teiles der
Mayserscheu Grammatik (B. Z. 1901).
Ich verweise ferner auf die Worte F. Solmsens, welche Ver-
schreibungen auf Vasen betreffen: „Schon auf den Steininschriften be-
gegnen nicht ganz selten Versehen der Steinmetzen: um wie viel häufiger
müssen Fehler auf den Vaseninschriften sein bei der viel größeren
Flüchtigkeit, mit der sie im Vergleich zu jenen im großen und ganzen
hergestellt sind! Der würde sich schwer betrügen, der alle Schreibungen,
die sich auf ihnen finden, für bare Münze nehmen wollte" (I. F. 8,
1898 Anz. S. 04). Was Solmsen über Vaseninschriften sagt, läßt sich
mit demselben, wo nicht mit größerem Eechte über die Papyri sa^en.
Auch Deißmaun warnt (G. g. A. 1898, S. 124): „Man wird doch auch
die offenbaren F^ehler eines von irgend einem Soldaten geschriebeneu
Papyrusbriefes nicht in deu Paragraphen einer graramatica papyrorum
registrieren." Erwähnen in einer Grammatik wird mau sie auf jeden
Eall, denn die Erfahrung lehrt, daß darüber, ob eine Form auf Ver-
«chreibuug beruht, das Urteil häufig scii wankt, aber man wird sie am
besten iu einer besonderen Rubrik behandeln.
Dies sind die drei methodischen Män£?el, die dem Buche Th.s hie
und da anhaften, er teilt sie jedoch', wie gesagt, mit den meisten Ar-
beitern auf diesem Gebiete, und sie sind iu dem Anfangsstadium der
F'orschung wohl unausbleiblich.
Da ich hier einmal bei der Erörterung vou methodischen Fragen
bin, so will ich noch einen Punkt berühren, der mit den oben be-
sprochenen im Zusammenhang steht. Wenn man in den Papyri und
Inschriften verschiedene Sprachschichten vor sich hat, was ist dann für
normal zu halten? Wann darf man sagen: diese oder jene, sei es laut-
liche, sei es morphologische, Veränderung ist in der Sprache abge-
schlossen? Hier wird man wohl mit Wilamowitz antworten: Mau muß
fragen, was die Schule lehrte, wann der Schulmeister, der Kedner,
der Schauspieler begonnen hat, dem Lautwaudel zu folgen (G. g. A. 1901,
S. 41). Begegnen uns gewisse lautliche Veränderungen in orthographisch
und sprachlich korrekten Urkunden, und zwar nicht sporadisch, sondern
häufig, dann ist man im allgemeinen berechtigt, den Prozeß in der
Sprache für abgeschlossen zu halten. Dann sind es keine „Fehler"
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1808 — 1002. (Witkowski.) 161
mehr, dann ist es schnlmäßicre Orthographie. Findet sich aber eine laut-
liche oder flexivische Form in einer barbarischen Urknnde, dann ist sie
noch gar nicht dem gleichzeitigen Griechisch |zuzuschreiben. Es wäre
interessant, zu untersuchen, ob und inwiefern der Attizismus auf die
Schrift und die Aussprache eingewirkt hat.
1. Name, Grenzen und Begriff der Koine.
Die Geschichte der griechischen Sprache zerfällt in zwei große
Perioden. Die erste ist die der dialektischen Sonderung; sie
dauert bis zu Alexander d. Gr. In dieser Periode gab es keine grie-
chische Sprache; es gab nur griechische Dialekte: Attisch, Böotisch,
Lesbisch usw. Die zweite Peiiode ist die der Spracheinheit, der
Oemeinspiache. Erst von dieser zweiten Periode ab kann von einer
griechischen Sprache die Rede sein. Das Griechische wird zur Welt-
sprache, zur ersten Weltsprache, welche die Geschichte kennt. Diese
griechische Weltspiache nennt man Koine. Nicht von allen wird aber
unter diesem Namen dasselbe Ding veistanden.
Was zunächst die Grenzen der Koine anlangt, so hat den Be-
griff am weitesten E. Schweizer (Scbwyzei') gefaßt. In seiner Gramm,
d. perg. Inschriften 1898 (S. 19 f.) hat er die Koine als „die gesamte
schriftliche und mündliche Entwickelitng des Griechischen . . . seit un-
gefähr 300 V. Chr." definiert. ,Nach unten gibt es keine Grenze: die
byzantinische wie die moderne griechische Sprachentwickelung sind Teile
der gemeiugriechischen." Daß Schweizer mit der Grenze nach unten
-ZU weit geht, hat Thumb gezeigt (S. fi ff). Dieser wies darauf hin,
daß nicht nur praktische, sondern auch wissenschaftliche Gründe gegen
eine solche Ausdehnung des Begriffes 'Koiue' sprechen. Um das Jahr
500 n. Chr. ist nämlich die Umgestaltung des Lautsystems (Quantitäts-
ausgleichung. Monophthongierung, Itazisraus) im wesentlichen abge-
schlossen. Sie bildet die Grundlage, auf welcher sich neugriechische
Dialekte herausbilden. Schweizer hat später seine frühere Auffassung
aufgegeben (N. Jb. 1901, S. 235). Allgemein geht man heute mit der
Grenze nach unten bis zum Ausgang des Altertums, bis etwa 5 00 n. Chr.
(Schwyzer a. a. 0., Thumb S. 7.) Um diese Zeit läßt man das Neu-
griechische beginnen. Letzteres teilt man gewöhnlich in Mittel- und
Neugiechisch ein. Andere lassen um 500 n. Chr. zuerst das Mittel- und
erst später das Neugriechische beginnen. Diese Grenze nach unten ist
natürlich fließend.*) Ähnliches gilt auch von der Grenze nach oben;
*) Manche ziehen 600 vor (Hatzidakis: 500 oder 600 S. 170 f.; 600
K. Dieterich S. XVI und Deißmann, Realencykl. f. protest. Theol. VII. S. 630).
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1904. I.) 1 1
1 62 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1 902 (Witkowßki.)
auch diese ist fließend. Hatzidakis und Thurab (S. 7) beginnen die
Koine mit Alexander d, Gr., andere ziehen das Jahr 300 vor
(Schweizer S. 19. Deißmann a. a. 0.), Letzteres Datum empfiehlt sich
als runde Zahl.
Wenn es sich darnm handelt, die lange Sprachperiode der Koine
in Abschnitte zu zerlegen, so dürfte eine Zweiteilung angezeigt sein:
die vorchristliche und die christliche Periode. In den Vorbemerkungen
habe ich diese Einteilung bereits zu begründen gesucht; sie wird auch
vertreten von Thumb (S. 9 f.).
Die Sprache dieser Periode nennt man gewöhnlich Koine. Da-
neben gibt es auch andere Namen : die griechische Gemeinsprache, die
griechische Weltsprache, Spätgriechisch, hellenistisches Griechisch.
Wie überall, so unterscheidet man auch hier die Schriftsprache
und die gleichzeitig gesprochene Umgangssprache. Die Schrift-
sprache ist uns erhalten in den Werken der Schriftsteller, die lebendige
Umgangssprache muß erschlossen werden. Dazu besitzen wir haupt-
sächlich zwei Mittel: erstens Privaturkunden, wie sie uns die Inschriften
nnd die Papyri, auch die Ostraka, bieten, ferner volkstümliche Literatur,
tür uns vertreten durch die Septuaginta, in der Kaiserzeit durch das
Neue Testament und die sich daran anschließenden altchristlichen
Schriften; zweitens die heutige neugriechische Volkssprache, nachdem
CS durch Hatzidakis erwiesen ist. daß die neugriechische Volkssprache
auf die Umgangssprache der antiken Koine zurückgeht.
Die älteren Forscher haben nun bei Koine meist nur an die
hellenistische Schriftsprache gedacht, weil nur diese direkt erhalten
ist. So gebraucht den Namen Krumbacher (Sb. d. baj'r. Ak. 1886,
S. 435, zuletzt Byz. Lit.-Gesch - S. 789); ähnlich Jannaris in seiner
Hist. greek grammar (1897). (Über die nahe verwandte Ansicht Wcnd-
lands s. unt.). Krumbacher hat dieser Koine, d.h. der hellenistischen
Schriftsprache, die Umgangssprache gegenübergestellt, die er
„Vulgärgriechisch", auch „Volksgriechisch" nennt. Andere dagegen
verstehen unter dem Namen Koine die gesamte schriftliche and
mündliche Sprachentwickeluug der hellenistischen Zeit (Hatzidakis
in verschiedenen Arbeiten, Schweizer Perg. Inschr. S. 19, Deißmanu
Eealenc. S. 630, Thumb S. 7 f., auch Kretschmer D. L. Z. 1901 Sp.
1049 f., der den Namen Koine in erster Reihe der mündlichen Um-
gangssprache zuweist, aber auch die Schriftsprache nicht ausschließen
will). Diese letztere Ansicht, wonach also unter der Koine sowohl die
Schrift-, als auch die Umgangssprache zu verstehen ist, scheint mir die
richtigere zu .sein.
Wie bereits oben hervorgehoben, ist die Koine durchaus nicht
einheitlich. Sie umfaßt die Sprache der geborenen Griechen, die-
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 163
4>riecbische Sprache der Makedonier, ferner das Griechische radebrechen-
der Barbaren. Kretschmer untei'scheidet in ihr 4 Sprachtypen: 1. die
Literatursprache, 2. die Sprache der volkstümlichen Literatur (die Sep-
tiiagiata, das Nene Testament und die sich daran anscliließende alt-
christliche Literatur). 3. die Kanzleisprache, 4. die Sprache privater
Aufzeichnungen. Halten wir au der Einteilung in Schrift- und Uni-
jrangssprache fest, so v^rerden sich die Typen 1. und 3. im großen Tand
ganzen unter Schrift-, 2. und 4. unter Umgangssprache zusammenfassen
lassen, wie das in bezug auf die letztere Gruppe Kretschmer selbst aus-
spricht (S. 4). Sowohl in der Schrift-, als auch in der Umgangssprache
gibt es aber zahlreiche Nuancen.
Überhaupt tragen die K o i n e - D e n k m ä 1 e r einen Mischcharakter
(Thumb S. 12 fif., W. Schmid W. f. k. Ph. 1901 Sp. 561 f.). Die
Sprache der Schriftsteller beruht auf einem Kompromisse zwischen der
lebendigen Umgangssprache der hellenistischen Zeit und der Sprache
attischer Muster. Unter den Inschriften und Papyri sind öffentliche und
private, auch halbprivate Urkunden (Bittschriften und Eingaben an Be-
hörden) zu unterscheiden. Die Schriftsprache übt besonders auf die
öffentlichen Urkunden einen Einfluß aus.
Dieser wenig einheitliche Charakter der Koine war für P. Wend-
land der Anlaß, die Berechtigung des Namens xoivV] überhaupt in Frage
zu stellen (ßyz. Zeitsch. 11, 1902, S. 184 f.). Seine Gründe sind indes
nicht stichhaltig. Der Einwand, daß die Grenzen der Koine nach oben
und unten fließend sind, daß innerhalb dieser Periode sich die Sprache
in beständigem Flusse befindet, daß sie auch in einem Zeitalter eine
Fülle individueller und lokaler Differenzen aufweist, besagt nichts, denn
er kann ebensogut gegen jede andere Sprachperiode und überhaupt
gegen jede Sprache erhoben werden. Ebensowenig beweisend ist der
andere Einwand, daß man vor dem 5. Jhd. u. Chr. von einem charak-
teristischen gemeinsamen Merkmale des neuen Lautsystems nicht reden
kann. Mögen auch die lokalen Differenzen bedeutend sein, was indes
nicht der Fall ist, so sind doch die Richtungen der lautlichen Entwicke-
lung und ihr allgemeiner Charakter (z. B. Quantitätsausgleichung und
exspiratorischer Akzent, Monophthongierung, Itazismns) überall dieselben.
Aus demselben Giunde kann man Wendland nicht zustimmen, wenn er
den Namen Koine im besten Fall auf die „Umgangssprache der Gebil-
deten" beschränkt wissen will.
Den Namen xoivv^ in eigentlichem Sinne behält Wendland für das
dem Attizismus vorausliegende hellenistische Griechisch bei; er nennt es
„literarische Koine". Im wesentlichen trifft er also mit der oben dar-
gelegten Ansicht Krumbachers zusammen, die ich ablehnen zu müssen
geglaubt habe. Dagegen enthält die genannte Rezension Wendlands
11*
164 Bericht üb. d. Literatur zurKoine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
andere sehr beachtenswerte Gedanken.*) So die Bemerkung über den
Charakter der Kanzleisprache: ^In der Kanzleisprache bildet die starre
Tradition ein starkes Gegengewicht gegen den Einfluß der lebendigen
Sprache," ferner die Betonung der Tatsache, daß auch die volkstüm-
liche Literatur der Koine von dem Einfluß der literarischen Tradition
nicht frei geblieben ist und daß sie sich infolge dieses Einflusses viel-
fach über das Niveau der gesprochenen Rede erhebt. „Lukas prägt
seine evangelische Vorlage genau so inf? Attizistische um, wie es oft
Philo und Josephus in ihren Bibelparaphrasen tun" (S. 186). Ganz
besondeis wichtig ist die Forderung, die er an die Koineforschung stellt:
„Nur eine Analyse der Sprache, bei der literarhistorische, stilistische
und sprachgeschichtliche Forschung sich durchdringen, kann zu einem
vollen Verständnis führen." Jede von einseitigem Gesichtspunkte aus
unternommene Forschung muß bei der Koine notwendigerweise zu
falschen Ergebnissen führen, da die Fragen hier ungemein kompliziert
sind und nur durch zusammenhängende geschichtliche Untersuchung ge-
lost werden können.
Es fragt sich in;n: welche Elemente in der Sprache eines helle-
nistischen Schrittstellers geboren der lebendigen Umgangssprache an.
d. h. sind nicht totes Gut. aus älterer Zeit? Diese Frage wurde bisher
von der Forschung kaum gestellt, geschweige denn beantwortet. Soweit
es sich heute sagen läßt, sind solche Elemente dann als Koineformen
oder Koinewörter zu betiachten, wenn sie in der neugriechischen Volks-
sprache wiederkehren. Ähnlich wird man urteilen, wenn ein Element
der Schriftspiacbe in reinen Quellen der Umgai.gsspiache vorkommt,
also in solchen Papyri utid Inschriften, welche die Sprache des täglichen
Lebens darstellen, in der Septuaginta oder im Neuen Testament. Hier
ist aber Vorsicht am Platze, denn auch diese Quellen sind nicht frei
von jedem Einfluß der Schriftsprache zu denken.
*) Unverständlich ist mir nur der Unterschied, den Wendland (S. 185)
zwischen der belletristischen, historischea, rhi'torischen und der übrigen
hellenistischen Literatur macht. „Es geht nicht an," sagt er, „die jüdischen
und christlichen Schritten für die gesprochene Vulgärspiache zu rekla-
mieren, die übrige hellenistische Literatur sprachlich als eine Mischung der
älteren attischen Literatur und der Umgangs>prache anzusehen. Es hat
doch neben Schriften in studierter Schulspra(;he eine große belletristische,
historische, rhetorifche Literatur vor dem Attizismus gegeben, die, so sehr
sie sich rhetorisch und stilistisch über die Umgangssprache erhob, auch im
Strome der lebendigen Sprachentwickelung sich bewegte und auf diese stark
einwirkte." Diese letztere Literatur, die belleiristische, historische und rhe-
torische, ist doch sprachlich nichts anderes als eine Mischung der älteren
attischen Literatur- und der Umgangssprache!
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 165
Mehr eröitert wurde die andere Frage (Thiimb S. 17 ff.): lassen
sich nicht umgekehrt ans dem Neuiiriechischen Koineformen erschließen?
Diese Fra^e kann bejaht werden. Thumb formuliert (S. 18) hierfür
folgendes Kriterium: „Wo das Neue Testament und das Neugriechische
übereinstimmen, dürfen wir unbedenklich von KoiviQ-Formen sprechen."
„Was für das Neue Testament gilt, findet Anwendung auf alle Arten
von Quellen der KotvY]." Mit anderen Worten: Wo das Neugriechische
mit unseren Quellen der Umgangskoine übereinstimmt, haben wir mit
Koineformen und -Wörtern zu tun.
Bei dieser Rekonstruktion von Koineformen aus dem Neugriechi-
schen geht man aber noch weiter Man versucht auf diesem Wege
Koineformen auch dann zu erschließen, wenn sie in unseren Koine-
quellen keine Bestätigung finden. Bei einer grammatischen oder lexika-
lischen Eischeinung, die über das ganze neugriecliische Sprachgebiet hii»
verbreitet ist, darf man nach Thumb (S. 24) dann altgriechischen Ur-
sprung annehmen, wenn ihre allmähliche Verbreitung in jüngerer Zeit
unwahrscheinlich ist — etwa deswegen, weil in neugriechischer Zeit die
Spracheutwickelung andere Wege gegangen ist. Die Methode ist nach
ihm am sichersten in denjenigen Fällen, wo die verschiedensten neu-
griechischen Dialekte verschiedene Formen aufweisen, die als Nach-
kommen einer erschließbaren älteren Grundform betrachtet werden
können: dann darf die Grundform ohne Bedenken in die altgriechische
KoivY^ verlegt werden. Mitunter kann aber ein einziger neugriechischer
Dialekt entscheidend sein.
Vor dem Übereifer, in den neugriechischen Sprachformen überall
einen altgriechischen Keim zu vermuten, warnt Thumb mit Recht; ob-
wohl die diesbezügliche Literatur noch ganz jung ist, so ist doch in ihr
in dieser Beziehung schon gesündigt worden. Tliumb betont, daß selbst
in. diesen Fällen, wo eine Erscheinung im Hellenistischen und im Neu-
griechischen belegt werden kann, eine Übereinstimmung den inneren
Zusammenhang noch nicht erweist. Eine hellenistische Form kann eine
ganz isolierte, singulare Erscheinung sein, die in der Koine keine Ver-
breitung hatte. Die ganze Frage bedarf nocli eingehender Untersuchung.
2. Der Untergang der altgrieehischen Dialekte.
Die neugriechische Volkssprache ist aus der Koine entstanden.
Dies gilt auch von allen neugriechischen Dialekten außer dem Zaku-
nischen, einem am Ostabhange des Parnon in Lakouien gesprochenea
Dialekte, welcher direkt auf den altlakonischen Dialekt zurückgeht.
Dieser Ursprung des Neugriechischen ist von Hatzidakis erwiesen und
bteht heute unerschütterlich fest (vgl. z. B. Kretschmer, Eutst. d. Koine
166 BericLt üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
S. 4, W. Schmid, W. f. k. Ph. 1901 Sp. 561).*) Die Entstehung des
Neugriechischen aus der Koine setzt voraus, daß zur Zeit dieser Ent-
stehung neben der Koine die alten Dialekte nicht mehr existierten.
Es fragt sich nun, in welche Zeit der Untergang der Dialekte zu
setzen ist. Um 1000 n. Chr. ist das Neugriechische bereits dialektisch
differenziert. Nach Thumbs Urteil beginnt diese Differenzierung bereits
um 500 n. Chr. Damals wären also die alten Dialekte bereits aus-
gerottet; sonst müßten wir eine deutlichere Nachwirkung derselben in
neugriechischen Dialekten erwarten. Das Jahr 500 ist aber nur ein
Terminus ante quem; der Untergang kann ja bedeutend früher erfolgt
sein. In der Frage, wann er tatsächlich erfolgt ist, ist eine Überein-
stimmung noch nicht erzielt. Die Ansichten divergieren hier ziemlich
bedeutend. Während Schwyzer annimmt, daß der ionische und der
äolische Dialekt bereits zu Crassus' Zeit erloschen waren (in der Be-
sprechung des Thumbschen Buches, N. Jb. 1901, Sp. 244),**) verlegt
W, Schmid den Untergang der Dialekte erst in die Mitte des ersten
Jahrtausends unserer Zeitrechnung (in der Besprechung desselben Buches,
W. f. k. Ph. 1901, Sp. 564). Eine vermittelnde Stellung nimmt Thumb
ein (Gr. Spr. S. 28 ff.); nach ihm sind die alten Dialekte im 1. — 2. Jhd.
n. Chr. erloschen. Dies sucht Thumb eingehend zu begründen; ich will
hier seine Argumente vorführen. Thumb beruft sich zunächst auf
Zeugnisse der Alten. So bezeugt Sueton (Tib. c. 56) das Bestehen des
rhodischen Dialektes für das 1. Jhd. n. Chr., Pausanias (IV 27, 11)
dasjenige des raessenischen für das 2. Jhd. n. Chr. Gerade die Her-
vorhebung dieser Tatsache beweist nach Thumb, daß die Dialekte zu
jener Zeit im allgemeinen erloschen waren. Ich bedaure, auf diese
Stellen hier nicht näher eingehen zu können; ich muß mich auf die
Bemerkung beschränken, daß mir Thumbs Schlußfolgerung nicht not-
wendig scheint. — Einen zweiten Beweisgrund sieht Thumb nach dem
Vorgange von Hatzidakis (Einleitung S. 167) in der Tatsache, daß im
1. und 2. Jhd. n. Chr. archaisierende Versuche gemacht werden, den
ionischen und dorischen Dialekt in die Literatur wieder einzuführen,
und daß bei diesen Versuchen dialektische Fehler begangen werden.
Daraus folge, daß die Dialekte damals nicht mehr gesprochen wurden.
Schweizer hat diese Schlußfolgerung angefochten (Perg. Inschr. S. 26);
die Verfasser jener Schriften hätten die Dialekte weder als Mutter-
*) Als ein Kuriosum notiere ich, daß Franz Krci k (in der polnischen
Monatßschritt Muzeum 1901, S. 177) diese Tatsache leugnet.
**j In seiner Gramm, d. perg. Inschr. S. '2G spricht Schw. allerdings
die Ansicht aus, daß die Dialekte zum Teil wenigsteus bis in die spätere
Kaiserzeit Linein fortlebten. Er scheint also für die Kaiserzeit nur das
J'ortbestehen des attischen sowie der dorischen Dialekte anzunehmen.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S98— 1902. (Wifkowski ) 167
spräche gesprochen, noch an Ort und Stelle dialektologische Studien
gemacht: sie schöpften ihre Kenntnisse aus Büchern. Ich stimme
Schweizer volllioramen bei.*)
In der Reihe der alten Zeugnisse über das Schwinden der Dialekte
führt Thumb (S. 31) Philostratos vita sopb. I 529 an, wo von einem
Byzantier das öwpta^etv hervorgehoben wii'd. Dieses Wort übersetzt
W. Schraid 'dorisch reden', Thumb 'die dorische Mundart nachmachen,
affektieren'. Dio von Prusa (1. Jhd. n. Chr.) spricht von einer Frau
in Elis, die dorisch redete. Der Sophist Aristeides tadelt jene, welche
sich ihrer alten Mundart schämen; nach Thumb spricht auch dies
dafür, daß die Mundarten damals nur noch in kümmerlichen Resten
lebten. Auf die letzte Stelle ist m. E. wenig zu geben. Diejenigen,
die vom Lande in die Stadt kommen und sich in ihr ansiedeln, pflegen
sich ihres Dialektes zu schämen und die Sprache ihres neuen Milieus
anzunehmen. Neben den von Thumb angeführten scheint mir noch
erwähnenswert die Stelle bei demselben Aristeides or. 44, 84.3 Dind.,
wo lobend hervorgehoben wird, daß sich in Rhodos lauter echt dorische
Namen finden. (Vgl. W. Schmid, Griech. Renaissance S. 46.) Für
unsere Frage beweist sie freilich wenig, weil Eigennamen fortzuleben
pflegen, auch wenn die Spi'ache, welcher sie angehören, längst ver-
schwunden ist.
Vom 3. Jhd. an fehlen äußere Zeugnisse für das Fortleben der
alten Dialekte.
Neben den alten Zeugen und den archaisierenden dialektischen
Schriften ist für Thumb ein wichtiges Zeugnis das Verhalten der
Dialektinschriften. Sie verstummen über das 3. Jhd. n. Chr. hinaus,
"■) Ich mache hier auf die Ausführungen Thumbs (Griech. Spr. S. 30 f.)
über die dialektischen Texte der alten Klassiker aufmerksam. Il den
lakonischen Inschriften kommt 3 statt & sowie der Rhotazismus im Auslaut
nicht vor dem 2. oder 1. Jhd. v Chr. vor; daraus folgt, daß in den Tosten
alter Schriftsteller wie Alkman, Aristo phanes oder Thukydides diese Ortho-
graphie erst von den Grammatikern hellenistischer Zeit eingeführt worden
ist. Über den Dialekt der Böoterin Korinna vgl. Thumb S. 31 und Wila-
mowitz Abh. d. Gott. Ges. N. F. IV S. 11 f. — Offene Genetive auf -siov bei
attischen Prosaikern (Tsi/smv usw. bei Xenophon) hält Kretschmer (Entst.
d. Koine S. 22) für Eindringlinge aus der Koine. ßof.f>«; und ii'.x&c im
Attischen sind nach Thumb (S. 56) Dorismen (anders, aber m. E. schwer-
lich richtig, über \i\y.rr^ W. Schmid W. f. k. Ph. 1901, Sp. 601); aiv er-
klärt Thumb, allerdings zurückhaltend, ebenfalls für ein Lehnwort, ivszsv,
v~io c. gen. in der Bedeutung 'in betreff', o'« c. acc. = sv:/.«, der ver-
schiedene Gebrauch des Artikels bei Völkernamen, sind ionisch (Thumb
S. .57).
168 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
nachdem schon vorher der Einfluß der Koine sowohl in der Zunahme
der Koineinschrifteu wie der Koineformen in Dialekttexten sich immer
deutlicher bemerkbar gemacht hat. Hatzidakis, Psichari, Pernot und
Thumb (s. I. F. 6 Anz. 223 f.) schließen nun aus dieser Tatsache, daß
dieser in den Inschriften sich abspielende Vorgans? das allmähliche Ab-
sterben der Dialekte widerspiegle. Die Berechtigung dieser Schluß-
iolgerung ist von mehreren bestritten worden, so von G. Mej^er, Oiko-
nomides, Schwyzer (s. Thumb S. 33), ß. Meister (B. ph. W. 1901,
Nr. 46 Sp. 1430) und anderen; Schwyzer hat dann seine Ansicht
freilich teilweise aufgegeben; er meint jetzt, daß das Verschwinden der
Dialektinschriften nur für die städti'^chen Zentren das Aufhören der
Dialekte beweise (N. Jb. 1901, S. 237). Auch Kretschmer (D. L. Z.
1901, Sp. 1049) bestreitet, daß der Rückaang des Dialektgebrauches
auf den Inschriften das Schwinden der Dialekte im Leben beweise,
indem er auf das Nebeneinander der neuhochdeutschen Schriftsprache
und der alten Dialekte hinweist. Meines Erachtens hat Kretschmer recht.
Das Schwinden der Dialektinschriften kann ja davon kommen, daß man
beginnt, für diese Denkmäler die Schriftsprache als passender anzusehen.
Es ist an sich möglich, daß das Verhalten der Dialektinschriften die
Vorgänge der gesprochenen Sprache abspiegelt, notwendig ist es nicht.
Ehe die Frage endgültig gelöst werden kann, bedarf es eingehender
Untersuchungen über das allmähliche Umsichgreifen der Koine auf dem
Gebiete der Inschriften.
Seine Annahme sucht Thumb ferner (Griech. Spr. S. 39) durch
folgende Schlußfolgerung zu begründen: Wäre die Wahl von Dialekt
oder Koine abhängig von allgemeinen literarischen Tendenzen oder
Moden, so müßten wir wiederum im Zeitalter des Archaismus ^^. u. 2.
Jhd. n. Chr.) eine Zunahme der Dialektioschrifteii erwarten, %vährend
das Gegenteil der Fall ist. Darauf ist zu erwidern: archaistische
Tendenzen machen sich unter den Literaten geltend; den Kanzleien
sowie den in den Privatinschriften vertretenen Volksschichten sind
diese Tendenzen fremd, und das ist der Grund, warum die Dialekt-
inschriften nicht zunehmen.
Auf seine These von den Inschriften als Zeugen wirklicher Ver-
hältnisse gestützt, schildert Tliumb die Ausbreitung der Koine in
folgender Weise: Böotien und Thessalien scheinen ihren Dialekt schon
vor Christus aufgegeben zu haben; die Äolier haben ihn noch früher
mit der Koine vertauscht, und am frühesten haben die lonier, sowohl
auf den Inseln wie in Kleinasien, sich ihrer einheimischen Mundart
entwöhnt: die Eigentümlichkeiten des ionischen Dialektes schwinden
bereits im Laufe des 3. Jhd. v. Chr. Einen zähen Widerstand setzte
der Peloponnes dem Eindringen der Koine entgegen: die alten Dialekte
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 169
werden hier zunächst durch eine dorische Verkehrssprache oder
„achäisch- dorische" Koine abgelöst; erst mit Beginn der Kaiserzeit
gewinnt die „attische" Koine Einfluß. Der Prozeß der örtlichen Aus-
breitung der Koino ist nach Thumb folgender: der Mittelpunkt der
Ausbreitung scheint die ionische Inselwelt gewesen zu sein; das ionische
Kleinasien folgte wolil unmittelbar, dann das äolische Kleinasien,
Thessalien und Böotien: zuletzt kommt der Peloponnes Der Kampf
zwischen lonier- und Doriertuni dauert in der Sprache fort noch zu einer
Zeit, als die historische Rolle beidt^r Stämme bereits ausgespielt war.
Auch die Mischtexte, die den Dialekt mit eingesprengten atti-
schen Formen oder umgekehrt darbieten, sind für Tbnmb ein Abbild
der lebenden Sprache (S. 42). Auf Rhodos z. B. zeigt sicli eine
stärkere Durchdringung der Dialektiuschriften mit Koiueformen erst
etwa seit Beginn unserer Zeitrechnung.*) Schwyzer (S. 25) erklärte die
Mischtexte in der Weise, daß man die Absicht hatte, im Dialekt zu
schreiben, dabei aber unwillkürlich von der allgemeinen Schrittsprache
beeinflußt wurde. Darauf erwidert Thumb (S. 52): „Das Bild der
Sprachcntwickehing, welches uns die Inschriften in den Zwischenstufen
zwischen reinem Dialekt und reiner Koivr] darbieten, entspricht dem
Zustand, den wir bei einer natürlichen, durch die lebende Sprache
bedingten Entwickelung zu erwarten haben;" .... ein solches in sich
harmonisches Bild der inschiittlichen Sprachform wäre nicht zn erwarten,
wenn es sich nur um verschiedene Grade in der Beherrschung der
Schriftsprache handelte. Dieser Grund Thumbs verdient allerdings
Beachtung.
3. Wesen und Entstehung der Koine.
Die Entstehung der Koine bildet eine Kardinalfrage der griechischen
Sprachgeschichte. Mit der Frage nach der Entstehung hängt die Frage
nach dem Wesen der Koine, d. h. nach ihren dialektischen Bestand-
teilen, eng zusammen. Trotzdem ist die eine Frage von der anderen
zu trennen, wie dies Kretschmer mit Recht betont.
Die Frage nach der Entstehung der Xoine ist wohl die schwierigste
unter allen, die die Koineforschuug zu lösen hat. Die junge Wissen-
schaft hat sich an sie kühn herangewagt, freilich war sie zum Teile
*) S. 51 nimmt Thumb an, daß auf dem asiatisch-äolischen Gebiete
in späterer Zeit im Acc. PI. -c.;, -oo; gesprochen, aber die „Orthographie"'
-ai;, -0'; noch festgehalten wurde; dies ist mir nicht glauljlich. Thumb
beruft sich darauf, daß man seit Ende des 4. Jhd. fortfuhr, coi und ai zu
schreiben, obwohl das i in der Aussprache erloschen war; hier haben wir
aber mit einer ganz anderen Ersch-.inung zu tun.
170 Beriebt üb. d. Liteiatur zur Koinea. d. Jahren 1S9S— 1902. (Witkowski.)
dazu gezwungen, denn für die Koiueforschun^ hat diese Frage nicht
iiur eine theoretische, sondern auch eine praktische Bedeutung, da von
der A.nsicht, die man sich von der Entstehung und dem "Wesen der
Koine bildet, die Beurteilung zahlreicher Einzelfragen der Laut- und
Forujenlehre abhängt; je nach dieser Ansicht wird man bei einer Form
entweder von spontaner Entwickelung oder vom Einflüsse eines Dialektes
reden usw. Eine Übereinstimmung der Ansichten ist hier noch lange
nicht erzielt; zwei Meinungen stehen sich heute schroff gegenüber. Dies
ist gar nicht zu ve»wundern: Die Frage nach der Ausbildung der neu-
Lochdentschen Schriftsprache bezeichnet Konr. Burdach als die schwie-
rigste der deutschen Sprachgeschichte, und Friedrich Kluge bekennt, die
Entstehung der englischen Schriftsprache sei noch in völliges Dunkel
gehüllt und viel komplizierter als die der neuhochdeutschen Schrift-
sprache (Schwyzer N. Jb. 1901, S. 245.). Bei der Koine sind die
Schwierigkeiten noch größer. Sie liegen einerseits in der Mangelhaftig-
keit des Materials, das besonders für die Anfänge der Entwickelung,
für das III. Jahrhundert spärlich fließt und für die Kenntnis der Um-
gangssprache überhaupt unzureichend ist, anderseits in dem Umstände,
daß wir für die Entstehung der Koine keine Analogien besitzen, da
unter solchen historischen Bedingungen meines Wissens keine andere
Sprache entstanden ist. Die „dorische Koine" ist doch etwas Ver-
schiedenartiges: an ihrer Ausbildung waren lauter solche Stämme be-
teiligt, die sich mundartlich nahe standen, w'ährend diejenigen, welche
die gemeingriechische Koine ausgebildet haben, nicht eines Stammes,
sondern verschiedeuer Stämme, ja nicht nur Griechen, sondern auch
Barbaren waren; bei der dorischen Koine wohnten die verschiedenen
Stämme in räumlicher Trennung, bei der gemeingriechischen Koine in
räumlicher Mi^chunsr; die ersteren lebten eng nebeneinander, die letzteren
waren über die ganze Welt zerstreut. (Vgl. W. Schmid W. f. k. Ph.
1901, Sp. 563.)*)
a) Wesen der Eoine.
In bezug auf das Wesen der Koine, d. h. auf ihre dialektischen
Bestandteile, auf ihr Verhältais zu den altgriechischen Dialekten, gehen
heute die Meinungen nach zwei Richtungen auseinander. — Die einen
*) Hirt I. F. 8, 1898 Anz. S. 58 glaubt eine Parallele zur Koine in
der deutschen Schriftsprache zu finden, die ebenfalls dialektische Unter-
schiede aufweise (Vermibchung niederdeutscher Aussprache mit schrift-
sprachlich'-m Stoffe in den niederdeutschen Städten). Doch haben die ge-
schichtlichen Verhältnisse, unter denen sich die Koine herausgebildet hat,
in den deutschen keine Parallele.
Bericht üb. d Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (VVitkowski.) 171
erklären das Attische für die wesentliche Grundlage der Koioe, die
anderen halten sie für eine bunte Mischung der Dialekte.
Das Problem ist nicht neu: schon Galen schwankte, ob er die
Koine für Attisch oder eine gänzlich verschiedene Mundart halten
sollte (xrjv -/.oivrjv ötaXsxTOV, stxs (Xi'a tcüv 'AtÖiowv .... sirs xat a.k\T^
Tt; oAo)? ' in der Schrift irepi öiacpopa? a-pu-ziAulIv II 5 VIII 584, 17
Kühn; vgl. Tbnmb, Gr. Spr. S. 203).
Das Attische für die Grundlage der Koine halten: Hatzidakis
(z. B. Einl. S. 168 f.), Krumbacher (Sitzungsber. d. bayer. Ak. 1886,
S. 435, zuletzt Byz. Lit.^ S. 789), W. Schmid (G. g. A. 1895,
S 30f. : „fast makellos rein attischer Laut- und Formenbestand der
Koine" W. f. k. Ph. 1901, Sp. 603; Schm. leugnet nahezu alle ionischen
und dorischen Elemente),*) Thumb (Gr. Spr. S. 202 ff" . er gibt
aber ionischen Einfluß zu), John Schmitt I. F. 12 (1901) Anz.
S. 70, P. Wendlaud (B. Z. 11, 1902, S. 186); vgl. auch Holm, Gr.
Gesch. 4, 560 und Anm. 4 (S. 576), ferner Kai bei (Stil und Text
der 'A9r,vat(uv T:oXi-£ta S. 37: „Die Mischung der Atthis mit fremden,
vor allem ionischen Elementen, hat den Grund zur y.oivr, gelegt"),
Ciardi-Dupre (Bessarione. Anno VI. Ser. IL Vol. 2. p. 205—212:
La xoivTQ secondo il prof. P. Kretschmer).
Eng verwandt mit dieser ist die Ansicht E. Schwyzers (Gramm,
perg. Inschr. S. 27 ti ). Auch er hält das Attische für die Grundlage
der Koine (,,Es bildete also im letzten Grund das Attische auch den
Kern der gemeingriechischen Volkssprache"), gibt jedoch den Einfluß
anderer Dialekte zu (S. 31: „Das zum Gemeingriechischen sich ent-
wickelnde Attische wurde also in erster Linie von den Lautsystemen
der alten Dialekte beeinflußt, 'man sprach es an verschiedenen Orten
verschieden aus'." S. 32: „Auch in der Formenlehre werden sich die
alten Dialekte gelegentlich geltend machen Im allgemeinen
wird auf diesem [d. h. morphologischem] Gebiet der altdialektische Ein-
fluß am geringsten sein, denn die Formenlehre einer fremden Sprache
wird zuerst und am leichtesten erlernt ..." „Weit größer ist der
Spielraum des altdialektischen Einflusses wieder in der Wortbildung . . ."
„Noch unwillUüilicher wird das altdialektologische Substrat auf dem
Gebiete der Syntax und des Wortschatzes zum Vorschein kommen."
„Selbstverständlich war dabei nicht jeder Dialekt von gleichem Ge-
wicht .... Dabei spielte jedenfalls das über ein weites Sprachgebiet
verbreitete ionische eine bedeutende ßoUe."). N. Jb. 1901, S. 246, wo
er über Thumbs Meinung referiert, betont er freilich seine von der
Thumbschen zum Teile abweichende Ansicht mit keinem Worte. Weltspr.
') Doch nimmt er Thumbs Thesen an.
1 72 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898 - 1902. (Witkowski.)
d. Altert. 1902 S. 17 lUinert er sieb: ,Die auf dem Attischen beruhende,
in geringerem Maße mit Elementen anderer Dialekte, vorab des ionischen,
durchsetzte gr. Gemeinsprache ..."
Dieser Annahme des attischen Kernes der Koine steht die andere
Ansicht gegenüber, wonach die Koine eine Mischung verschiedener
Dialekte ist. In einem gewissen Sinne war dies schon die Ansicht des
alten Sturz (De dialecto Alexandrina S 50: „Ortam fuisse dialectum
Alexaudiinam e pluribus aliis dialectis, ut attica. macedonica, aegyptiaca
aliisque fortassis, et hac ipsa plurium dialectornm inter se mixtura, et
coniunctione factum esse, ut distingneretui- tanquam diversa et pecnliaris,
ab Omnibus reliquis dialectis."). Ja, nian kann noch beilentend weiter
zurückgehen und zeigen, daß dieser Gedanke bereits den byzantinischen
Grammatikern und, wie Kretschmer (Entstehung der Koine, S. 31) an-
nimmt, v.ohl auch schon ihren antiken Quellen gelänfiu; vvar. Johannes
Philoponos iiepl SiaXixxiüv gibt als Gründe der Giamniatiker dafür, daß
die xoivV] kein besonderer Dialekt sei, an: sie habe nichts Eigenes,
sondern sei aus den vier Dialekten [Dorisch, Aolisch, Ionisch, Attisch]
zusammengesetzt. Dasselbe wiederholt später Gregorios von Korinth
p. 11 Schäfer, und auch Isidor (Orig. IX, 1, 4 p 282 Lindemann)
nennt die Koine: id est mixta sive communis (Näheres s bei Kretschmer
a. a. 0.). Wilamowitz hatte 1»77 (Verhandlungen der 32. Philo-
logen-Versammlung in Wiesbaden S. 40) die Annahme, daß die Koine
, korrumpiertes Attisch sei", verworfen und sie für ein ionisches Volks-
idiom erklärt. Später (Z. f. G. W. 1884 S. 106 f.) bekennt er
sich freilich nicht mehr zu seiner früheren Behauptung und gibt die
attische Grundlage zu. In seinem Buche Euiipides' Hprakles ^l, Vor-
wort, S. VII betont er den Einfluß des Ionischen auf den Wortschatz
der Koine. Den urspiünglichen Gedanken vun Wilamowitz' hat in neuerer
Zeit Wilhelm Schulze aufgenommen (B. ph. W. 1893, Sp. 227) und
von einem sehr tiefgreifenden Einfluß von Seiten eines ionischen Bauern-
idioms gesprochen. Viel weiter ist neuerlich Kretschmer gegangen.
Anfangs (W. f. k. Ph. 1898, Sp. 739) vertrat er noch den Standpunkt,
daß in der Koine „das Ionisch-Attische den Grundton abgab, die
attizistische Schriftsprache einen gewissen Einfluß ansübte, aber auch
die übrigen Dialekte raehreres beisteuerten." (Ähnlich W. f. k. Ph.
1899, Sp. 3.) Er hat aber nachher „die Konnivenz eregen das Attische
als ungerechtfertigt erkannt" (D, L. Z. 1901, Sp. 1051) und in seiner
Schrift „Die Entstehung der Koine" (Sitzungsber. d, Wiener
Ak. Bd. 143, 1900, auch Sonderabdiuck), die gleichzeitig mit dem
Buche Thunibs „Die giiechische Sprache" erschien, die These aufge-
stellt, die mündliche Koine sei „weder Attiscli, auch nicht verderbtes
Attisch, noch Ionisch . . ., sondern eine meikwürdige Mischung ver-
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1808—1902. (Witkowski.) 17-)
schiedenster Dialekte" (S. G) (vj;l. S. 31: , .eine bunte Mischang-
fast sämtlicher Dialekte, in der das Attische . . . nur durch ein oder
zwei wichtige Elemente vertreten ist").*) Ahnlich wie früher Kretschmer
(in der W. f. k. Ph. 1899, Sp. 3) urteilt A. Deißmann (Realencykl.
i. Protest. Theol. VU^ 1899, S. 633): „Der allgemeine Charakter der
hellenistischen Umgangssprache, der zugleich die sichersten Rückschlüsse
auf ihre Entstehung gestattet, ist der einer gemeinsamen griechischen
Sprache, die, auf der Mischung der Mundarten, besonders der ionischen
und attischen (aber auch der anderen) beruhend, von allen Seiten der
Welt, für die sie sich bildete, Bereicherungen erfahr, aber auch von
innen herans selbständig Neues entfaltete."
Die Argumente der beiden sich gegenüberstehenden Anschauungen
sind am eingehend>ten dargelegt einerseits von Thumb (Gr. Spr. Kap. VI),
andererseits von Kretschmer (Entst der Koine). Ich will hier ver-
suchen, im Anschluß an ihre Darlegungen die Hauptgründe vorzuführen.
Zunächst betont Thumb, worin ihm auch Kretschmer zustimmt,
daß es sich bei der Frage nach der Entstehung der Koine vor allem
um die gesprochene Koine handelt. Die Schriftkoine hält Th. für
€ine Mischsprache, entstanden aus der Umgangssprache und Elementen
der attischen Literatursprache.
Th. beginnt seine Darlegung mit der Untersuchung darüber, welche
Elemente zur Lösung der Frage heranzuziehen seien. Wilamowitz
hatte geraeint (Z. f. G. W. 1884, S. 106 f.), mau müßte hier Wort-
gebrauch und Syntax mehr als die Laut- und Formenlehre ins Auge
fassen. Wichtigkeit der Sjmtax und der Phraseologie betont auch
Wilh. Schmid W. f. k. Ph. 1901, Sp. 599; er stützt seine These
durch Beispiele (eine bestimmte Art des Gen. absol. als lonismus, des
substantivierten Infin. als Attizismus). Th, will von der Syntax vor-
läufig absehen, und zwar aus zwei Gründen: erstens ist die Syntax der
Dialekte noch zu wenig bekannt, zweitens kann abweichender syn-
taktischer Gebrauch der Koine eine innere naturgemäße Ent Wickelung
sein. Neben der Laut- und Formerlehre muß der Wortschatz unter-
sucht werden, und zwar sowohl die Wortbedeutung als Wortbildung.
Den Wortschatz hält jedoch Th. für ein nicht immer sicheres Kriterium
(S. 62 und 205); der Wortschatz spiele bei der Frage nach den Ele-
menten keine andere Rolle als der Lehnwörterbestand in irgend einer
Sprache. (Dem Wortschatz legt er entscheidendes Gewicht erst bei
der Frage nach dem ältesten Heimatlande und dem ethnographischen
Substrat der Koine bei.) Wo die Bedeutung eines Koinewortes sich
*) Von der Schriftsprache urteilt Kr. anders; sie ist nach ihm
entstelltes Attisch (D. L. Z. 1901, Sp. 1050).
1 74 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowsii.)
aus der alten attischen nicht entwickeln läßt, dagegen in einem anderen
Dialekt direkt bezeugt ist, haben wir einen festen Stützpunkt. Den
haben wir auch dann, wenn in verschiedenen Mundarten verschiedene
Wörter die gleichen Dinge bezeichnen. In dem Wortschatz der
Koine spielt das ionische Element eine hervorragende Rolle. Die
Wörter, welche die attizistischen Lexika als hellenistisch verwerfen,
sind zum großen Teile ionisch. Ja, Hesychios sagt geradezu: laorr
iXXTrjvto-t. Ionische Wörter zeigen auch die Septuasinta und die Papyri,
lonismen der Schriftsteller, z. B. des Polybios und Josephos. stammen
nicht aus der Lektüre des Herodot oder Hippokrates, sondern aus der
Koine. Eine ßeihe neuer Wörter dieser Schriftsteller werden durch
ihr Fortleben in der neugriechischen Volkssprache als Bestandteile der
Koine erwiesen. Nur die lonismen der attizisierenden Schriftsteller
stammen möglicherweise aus der Lektüre. Schon bei Aristoteles haben
wir in den lonismen einen Hauch des neuen Sprachgeistes. Bekannt
sind die lonismen bei Xenophon: die Schlußfolgerung Thumbs, dat>
dieser Schriftsteller ionische Elemente aus der attischen Umgangssprache
geschöpft hat, scheint mir unhaltbar; Xen. lebt ja während der ganzen
Periode seiner schriftstellerischen Tätigkeit außerhalb Athens. Ionisch
sind ferner gewisse Wortbildungen, z. B. die Neutra auf -[xa. Schwierig
ist das Urteil über sog. „poetische" Wörter. Zahlreiche Wörter, die
uns aus der Tragödie bekannt sind und deshalb für poetisch gehalten
werden, kommen in der Koine, z. B, in den Papyri, in der biblischen
Gräzität usw. vor. Es ist ausgeschlossen, sagt Th., daß die Übersetzer
des Alten Testamentes oder Leute, welche Rechnungen und andere
Schriftstücke des täglichen Lebens abfaßten, Wörter aus der Sprache
der Poesie mit Absicht aussuchten, und darin, besonders in bezug auf
die letztere Art von Schriftstücken, wird man ihm recht geben. Es
fragt sieht nun, woher diese Wörter der Koine zugeflossen sind. Hier
sind nach Th. zunächst zwei Antworten möglich: entweder sind die
poetischen Wörter alter Besitz der attischen Umgangssprache, auf
die sie beschränkt blieben, oder sie sind der Koine aus dem Ionischen
zugeströmt. Zwischen beiden Fällen ist nach Th. noch ein Mittelweg
möglich: ionische Elemente sind der Koine durch die attische Volks-
sprache übermittelt. Thumb glaubt, daß in der Tat alle drei Faktoren
zusammengewirkt haben. Bei Aristoplianes kommen zahlreiche De-
minutiva vor; eine Vorliebe für diese Bildungen zeigt auch die Koine
und das Neugriechische. Hier haben wir eine Wirkung der attischen
Volkssprache, die auch durch sonstige Übereinstimmungen im Wort-
schatz der attischen Komödie und des Neuen Testamentes bestätigt wird.
Wie erklären sich aber diejenigen poetischen Wörter, die der Tragödie
und der Koine angehören? Einige werden altattisch sein, wie dies
Bericht üb d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S98— 1902. (Witkowski.) 175
Rutherford für a/.-ri iiud ^coaxT^p nachgewiesen hat. Andere sind ionisches
Element; sie sind der Koine teilweise durch die attische Volkssprache
ühermittelt. Andere endlich sind erst in der hellenistischen Zeit in di }
Koine eingedrungen. Aber auch andere Stämme haben sicherlich zum
Wortschatz der Koine ihren Teil beigetragen, wenn auch nach Th.Tin
viel geringerem Maße. Man sieht einen Dorismus in [:iouvo; (vgl.
Kretschmer Entst. der Koine S. 18) — nach Th. ohne zwingenden
Grund; aXer.xwp hält Kretschmer für dorisch, Thumb für „poetisch"
(S. 217); zu den Dorismen rechnet Kretschmer ae^tjtavs; (anderes ge-
hört in die Lautlehre). Poetische Wörter bei nicht attizisierenden
hellenistischen Schriftstellern wie Polybios oder Josephos stammen dem-
nach vielfach aus der Koine, nicht aus Lektüre, was bei den Fragen
nach der Abhängigkeit der Schriftsteller zu beachten ist.
Gegen das Verfahren Thumbs, die „poetischen" Wörter in der
Koine als ionisch anzusprechen, erhob Widerspruch W. Schmid (W. ,
f. k. Ph. 1901, Sp. 598 f.), nach meiner Überzeugung jedoch ohne
triftigen Gl und. Bedenklich in dem Verfahren Thnmbs scheint mir nur
die Annahme, daß die attische Umgangssprache zahlreiche lonismen besaß.
Warum soll man direkten Einfluß des Ionischen leugnen? Meine Meinung
über den Ausgangspunkt dieses Einflusses werde ich später darlegen.
Ich habe oben die Frage nach fremden Elementen der attischen
Umgangssprache berührt. Ich will hier auf diese Frage kurz ein-
gehen. Der attische Dialekt war durch die politische Stellung Athens
und den Handelsverkehr schon im 5. Jhd. dem Zuströmen fremden
Sprachgutes ausgesetzt. Dieser fremde Einfluß wird auch durch die
pseudo-xeuophontische Schrift vom Staate der Athener (11, 8) ausdrück-
lich bezengt. In den attischen Inschriften gibt es allerdings, wenn wir
von fremden Namen absehen, wenig Beispiele für fremde Dialektformen
([^oppa?, ii'.-AOi; 3UV?; Sta c. Akk. statt svsxa usw., s. Kap. „Untergang
d. alten Dialekte"). (Diese ganz spärlichen Beispiele sprechen gegen
die oben erwähnte Annahme Thumbs, wonach zahlreiche lonismen der
Koine durch Vermittlung der attischen Umgangssprache zngetlossen sein
sollen). Gegen allzu weit gehende Ausnutzung der ps. xenophontischeu
Stelle wendet sich mit Recht W. Schmid W. f. k. Ph. 1901, Sp. 597
Anm.; er weist darauf hin, daß die attischen Fluchtafeln diese An-
nahme nicht bestätigen. Später wirkt die Koine auf das Attische ein,
und häufig (z. B. bei Erscheinungen wie öia c. Akk. u. ähnl.) läßt sich
zwischen fremdem Dialekt und Einfluß der Koine nicht mehr eine scharfe
Grenze ziehen. Der letzteren Quelle entstammen: jiaatXujoc, vaoc, Im-
perat. -ü>aav (= -cov), eoioouv (ion.), Iva (ion.), ou&et'c, -ap'/ric (wohl ion.)
usw. Nur das Ionische scheint in die grammatische Form des Attischen
etwas tiefer eingegriff"en zu haben; die Dorismen sind nichts anderes
176 Berjchtüb.d. Literatur zur Koinea. d. Jahren 1898— 1902. (Witkowski.)
als Lehnwörter. Dieses aus Inschriften gewonnene Bild wird durch
literarische Quellen bestätigt. Wir finden hier dorische Lehn-
wörter auf dem Gebiete der Kriegskunst (Xo/a'/oj usw.), bei Aristo-
phanes dorisches tuwo; und tuwoüto;; ionisch ist zquAu-ouc.
Während ein weitgehender Einfluß der Dialekte auf den "Wort-
schatz der Koine von allen (mit Ausnahme von W. Schraid) zugegeben
wird, verhält es sich anders auf dem Gebiete der Laut- und Formen-
lehre der Koine. Laute und Formen lassen uns in der Frage nach
den Dialektbestandteilen der Koine am ehesten eine sichere Entscheidung
treffen, während sie in lexikalischen Fragen nicht so sicher ist (Thumb
S. 62). Hier gehen die Meinungen zur Zeit weit auseinander. Ich
will zunächst die Ansicht Thumbs darlegen.
Was methodische Grundsätze angeht, so dürfen wir von Dialekt-
bestandteilen der Koine reden, wenn sie 1. in den Koiuetexten vor-
kommen, 2. im Neugriechischen fortleben. Beide Quellen ergänzen sich
gegenseitig. Dorische Elemente sind nach Th. in der Koine auf ein
Minimum beschränkt. Er rechnet hierzu: Aor. 'dr.'xt.i'x. statt Iraua (zu
TraiCw), den Genusgebrauch q Xtfioc statt 6 Xtixo? usw. (dor. ßoppa? ist
in der Koine ausgemerzt zugunsten von ßopsac). lonismen sind nach
Th. offene Formen, wie Gen. auf -sojv, ypuaeo? usw. (S. 63); sporadisch
vorkommendes tj statt ä in der Flexion der Stämme*) z. B. aneipTTjc, [xa-/aipT)c
(diese Erscheinung ist auch im Neugriechischen wenig verbreitet), wobei zu
beachten ist, daß r, statt a auf Kleinasien und Ägypten beschränkt ist; die
Erscheinung ist nach Thumb nicht als Wirkung der Analogie zu deuten.
Andere sehen in der Erscheinung den Einfluß der Anulogie (z. B.
Moulton Class. ßev. 1901 S. 34; W. Schmid W. f. k. Ph. 1899 S. 543
und andere; vgl. unten passim). Ionisch ist die Behandluno; der Aspi-
rata in Wörtern wie y.tf}(uv, Jiaöpaxoc, xuftpa, ferner die Wörter evsxsv
(und eTvsxsv) und ähnliche, a-Y]).i(oTy);, vojuoc, Ordinalia des Typus Tpeu-
xatosxaro;; für unentschieden iiält dagegen Thumb die Frage, ob in
xecfjepec ein lonismus oder spontaner Lautwandel vorliegt; ionisch sind
ferner nach ihm: der Stamm -7- in dem Gen. otwpuyoc und anderes
Vereinzelte, was von dem Attizisten Phrj'nichos angeführt wird. Es
treten einige lonismen aus dem Neugriechischen hinzu (S. 86 if.); hier
gilt die Eegel: Was an lonismen allgemein neugriechisch ist, war bereits
in der Koine. W. Schmids Skeptizismus hinsichtlich aller lonismen und
Dorismen der Koine erscheint auch mir unberechtigt. Ich glaube mit
Thumb (S. 73), daß die Anzahl der in der Koine wirklich vorhandenen
Dialektismen für größer gehalten werden darf, als vorläufig zutage tritt.
*) Aus der Reihe der von Thumb S. CS f. angeführten Beispiele ist
•dTC'.atrjir; zu streichen.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S9S— 1902. (Witkowski.) 177
Bei der DialektraischunK in der Koine kam es niclit selten vor,
daß Doppel formen entstanden; die eine von ihnen siegte dann über
die andere oder es fand ein Kompromiß statt oder endlich behauptet
sich die Doppelform bis zum heutigen Tag in neugriechischen Dialekten.
Die vielbesprochenen Formen si'eXoc, ueXoc, [xuaXoc und ähnliche, in denen
die Koine zwischen z und a schwankt, beruhen nach Th. auf einem
Kompromiß zwischen attischen (ai'aXoc, uaXoc, [xueXo; usw.) und ionischen
Formen (ueXo», ateXo; usw.). Einen Ausgleich sieht Thumb auch in der
Behandlung der Lautgruppe -pj-; pp ist attisch und zum Teil dorisch,
pa ionisch; in der Koine siegte ps, aber nicht vollständig, denn es
kommen auch Formen mit pp vor.
Auch Attizismen nimmt Th. für die Koine an: hellenistisch
]6t 3 3, aber daneben findet sich auch tt. Alles in allem ist die Zahl
<ler lautlichen und flexivischen Dialektismen in der Koine nach Thumb
gering. Dasselbe läßt sich von der neugriechischen Volkssprache sagen.
Was die ßeste alter Dialekte im Neugriechischen betrifft, so
werden solche von Psicbari und dessen Schüler Pernot negiert, ohne
Zweifel mit Unrecht, wie dies bereits Hatzidakis nachgewiesen hat.
In der Annahme solcher ßeste muß man allerdings vorsichtig sein,
denn in vielen Fällen, wo es den Anschein haben könnte, daß wir mit
den Resten alter Dialekte zu tun haben, handelt es sich nur um sekun-
däre Erscheinungen der Koine oder des Neugriechischen (z. B. -/pooc^c
statt -/pusoi). Es gibt im Neugriechischen Dorismen (Thumb S. 81 If.,
Kretschmer Entst. S. 29), wie ä, vielleicht auch lonismen. Heutzutage
gilt der Grundsatz: die im Neugriechischen erweisbaren Reste alter
Dialektformen dürfen der Koine vindiziert werden (Thumb S. 81). Man
braucht sich nicht dagegen zu sträuben und etwa die Ansicht vorzu-
ziehen, daß mancher Rest ohne Vermittelung der Koine direkt ans
einem Dialekte in das Neugriechische gelangt ist. Wenn man zugibt,
daß die Koine lokal differenziert war, so läuft es in der Praxis auf
dasselbe hinaus, ob man heutige Dorismen des Kretischen direkt aus
dem alten Dialekte ableitet oder sie der kretischen Koine zuschreibt.
Bei der ganzen Frage handelt es sich lediglich um den prinzipiellen
Standpunkt. Richtig urteilte darüber schon Gust. Meyer (s. bei Thumb
S. 100). In isolierten Gegenden haben die neugriechischen Dialekte
einen altertümlicheren Charakter: so der zakonische sowie die kappa-
dokischen Dialekte.
Zu erwähnen ist, daß Thumb nach dem Vorgange von Hatzidakis
das vielbesprochene neugriechische vepo(v) 'Wasser' auf vr)p6v (zusammen-
gezogen aus veapov 'fri.'ches Wasser')' zurückführt. Er bespricht auch
diß jungdorische Kontraktion von sa zu r, (ßajiXrj usw.). Den Einwand,
daß in dem Worte vepo s, nicht i aus rj erscheint, beseitigt er durch
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1904. I.) \'2
178 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
den Hinweis auf die heutigen poutischen Dialekte, in denen wir statt
y] ein e finden.
"Während nach Thumb die Koine in der Laut- und Formenlehre
jiur geringe außerattische Dialektbestaudteile aufweist, ist nach Kretsch-
mer der Einfluß anderer Dialekte ein sehr weitgehender. Bei der Auf-
zählung der von Kr. statuieiteu Dialektismen übergehe ich meisten-
teils diejenigen, die Th. zugibt und die ich aus diesem Grunde schon
oben erwähnt habe.
Um mit dem ionischen Dialekte zu beginnen, so schreibt Kr.
die allerdings erst in der späteren Kaiserzeit völlig durchgeführte
Psilosis dem ionischen Einflüsse zu. Ionisch sind die unkontrahierter»
Formen der Koine; die kontrahierten, die daneben vorkommen, sind
Attizismen. Ionisch ist ferner ou66c, der Übergang der Verba auf -jjit
in die w-Flexion (öiSoi usw.), die Flexion Nom. -oüc, Gen. -ou-o; oder
-ouoos, dagegen beruht die Flexion Nora, -aj. Gen. -5, Plur. -aos« auf
«nner Kreuzung ionischer und dorischer Flexion.
Doris men sind außer Formen wie Xaoc, vao;; p,apoxüi[j.at usw.,
außer der Flexion ü'pvi?, opvi-//j?, außer Abweichungen im Geschlecht-
(y) XtfjLo?, <];uXXo;)*) die spirantische Aussprache der Mediae ß, 7, S, die
für ß und 7 schon im 2. Jhd. v. Chr. bezeugt ist. Die neugriechische
Betonung dOpcuTroi oder Icpa7av ist nach Kr. in die Koine aus dem
Dorischen gelangt ((JvöptuTio'., eXaßov). Thumb (Arch. f. Pap. 2 S. 426)
bemerkt mit Recht, daß wir nicht wissen, ob die Koine ebenso betonte
wie das Neugriechische und erklärt die neugriechische Betonung wohl
richtiger aus der Wirkung der Analogie.
Boiotische Elemente sieht Kr. 1. in der Monophthongieruug
der i-Dipbthoi:ge (ai ^ e, 01 = ü, ei ^ i),**) 2. die Aussprache des t] als i,
3. die Endung -crav in der 3. PI. Ind. des starken Aoristes und des Im-
perfekts, Es ist ein Verdienst Kretschmers, nachgewiesen zu haben, daß
in der Koine zwei Artikulationen des y) (^ e) nebeneinander bestanden:
die ionisch-attische (usw.) offene und die böotisch-thessalische geschlossene.
*) 6 o-7;i.voc bei Aristophanes kann auch auf attischem Genuswechsel,
nicht auf fremdem Einfluß beruhen.
**) Hier muß ich mit Rücksicht auf Kretschmer S. 7 bemerken, daß
ich nach wie vor daran festhalte, daß uns die Papyri ein treueres Abbild
der Sprache geben als die Inschriftfn. Dies betont auch Thumb Arch. f.
Pap. 2 S. 402; er hebt hervor, daß die Inschriften sorgfältiger hergestellt
werden und eich über die flüchtige Redeweise des Augenblicks erheben.
Nur manche Grabinschriften können den Papyri direkt verglichen werden.
Vgl. auch Thumb Theol, Rundsch. 5 (1902) S. 90, Gr. Spr. S. 168 f. Daß
auf späten attischen Steinen vulgäre Fehler vorkommen, erklärt sich aus
den geschichtlichen Zuständen der griechischen Städte.
Beriebt üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 179
Die letztere trns: den Sies? davon und führte schließlich zu i, die erstere
lebte neben ihr bis ins Mittelalter hinein. Geg^en die Annahme, daß
die Formen auf -aav ein Böotismus sind, wnrde von mehreren Seiten
geltend gemacht, daß solche Formen auf böotischen Inschriften erst im
'J. Jhd. V. Chr. erscheinen. Griechische Heimat der Neubildungen auf
-Tav nimmt auch Thurab an (Gr. Spr. S. 198 f ).
Nordwestgriechische Elemente sind nach Kr.: 1. Dat. PL der
konsonantischen Stämme auf -ot?, 2. Akk. PI. auf -s? (-ou? Xs^ov-ce;),
o. mediale Flexion von eijj-i (vJjxtt^ nsw), 4. die Vermischung der Verba
üuf -ottu mit denen auf -ew, und vielleicht 5. ax für ari>.
Es folgen, um unsichere äolische Spuren zu übergehen, ver-
schiedene unattische Elemente Hieher reebnet Kr.: 1. c-
(= att. tt) und das Wort crjixEpov, 2. pj (^ att. pp), das in der Koine
nur teilweise zur Herrschaft j^elangte, 3. Übergang von ixti in mb, vt
in nd (Einfluß griechischer Dialekte Kleinasiens),*) 4. Akk, auf -av
(wie Hu-'aTs'pav). Attisch war an der Koiue nach Kr. eiiientlich nur
die Vertretung von altem ä durch y). Attischem Einflüsse ist ferner
die attische Weise der Kontraktion zuzuschreiben.
Die von Kietschmer in seiner Schrift „Die Entstehung der
Koine" niedergelegten Ansichten waren von ihm in den Hauptpunkten
schon früher in der W. f. k. Pü. 1898, Sp 738 ausgesprochen, so daß
Thumb in seinem Buche bereits^ auf sie Rücksicht nehmen konnte, Th.
verhält sich ihnen gegenüber ablehnend. Überhaupt ist in der Frage
naieh der Mischungsfähigkeit des Laut- und Formensystems der Stand-
punkt beider Gelehrter ein verschiedener. Während Thumb von der An-
schauung ausgeht, daß „der Wortschatz in viel höherem Grade niisohuags-
tähig ist als etwa Laut- und Formensystem" (S. 234), liält Kretschmer
dasLaut- und Formensystem in hohem Grade für mischungsfähig. Kretsch-
mer meint (Entst. S. 6), daß wir, hier wie in allen Dialektfrayen, das
Hauptgewicht auf die Lautverhältnisse zu legen haben; erst ,,in zweiter
Linie kommen die Übereinstimmungen der Flexion in Betracht; am
wenigsten lassen sich die lexikalischen Verhältnisse berücksichtigen,
teils ans Mangel au Material, teils weil sich im Wortschatz die Dialekt-
grenzen leicht und trüb verschieben. Syntaktische Unterschiede der
griechischen Dialekte kennen wir nur wenige • Wo nun Kr. äußeren
Einfluß sieht, nimmt Th. „innere Entwickelung innerhalb der
Koine" an; sowohl im Laut- als im Formeusystem haben sich nach
Th. nur die attischen Keime weiterentwickelt, sie entwickelten sich
rascher in den neu hellenisierten Gebieten als in dem Mutterlande. So
*) Über jJL- — - im Neugriechischen (~c-();o; — aTrc'f/.o;] vgl. Kretsch-
mer, K. Z. 35, Zur gr. Lautlehre. Wechsel von ß u, a. S. 604 f.
12*
180 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski )
lasse sich die Monophthongierung auch im Rahmen des attischen Laut-
systems verstehen. Die itazistische Aussprache des ei habe ihre Keime
im Attischen. Es ist nach Thumb undenkbar, daß der böotische Stamm
in Ägypten allen übrigen Griechen seine Aussprache aufgezwungen haben
sollte. Besonders bedenklich scheint es ihm, Umgestaltungen des
Flexionssystems aus einzelnen Dialekten abzuleiten. Diese Umgestaltungen
erklärt er durch das die Koine charakterisierende Streben nach Ver-
einfachung und Ausgleichung.*) Nur die Schaffung ganz neuer
Typen, die nicht bloß Vereinfachung des älteren Flexionssystems sind,
lasse uns das Maß der Einwirkung einzelner Dialekte erkennen, so die
Neubildung der Nomina auf -5? -Söoc und -oüc -oü8oc, die ionisch ist.
Kretschmers Schrift rief gleich nach ihrem Erscheinen einen
heftigen Widerspruch hervor. Nur Rieh. Meister billigte im Prinzip
die Theorie von der Beteiligung aller Dialekte an der Koine, erklärte
sich jedoch für den attischen Charakter der letzteren (B. ph. W. 1901
Sp. 1431); auch Ed. Schwj^zer machte Kr. gewisse Zugeständnisse (Die
Weltsprachen des Altertums, 1902, S. 18 Fußn.: „Auch wer dem Haupt-
ergebnis nicht zustimmen kann, wird zugeben müssen, daß die alten
Dialekte stärker bei der Bildung der /.otvv^ beteiligt waren , als man
bisher annahm"), zum Teile auch P. Weudland, der sonst auf Thumbs
Standpunkt steht (B. Z. 11 , 1902, S 186: „Es wird ein Verdienst
Kr.s bleiben, die Negierung aller Dialektbestandteile in der xoivtq mit
Erfolg bestlitten zu haben."}. Kretschmer hat den Wunsch geäußert,
daß in dieser Frage nicht solche das Wort ergreifeu mögen , welche
nicht die nötige Kenntnis des Neugriechischen dazu mitbringen. Meine
neugriechischen Kenntnisse sind sehr bescheiden , und so muß ich um
Nachsicht bitten, wenn ich mir erlaube, hier meine Meinung zu äußern.
Ich glaube, daß der Gedanke Kr.s von der stärkeren Beteiligung der
Dialekte an der Herausbildung der Koine eine freundlichere Aufnahme
verdiente, als sie ihm zuteil geworden ist. Der Widerspruch gegen
Kretschmer hat meines Erachtens seine Quelle hauptsächlich darin, daß
er seinem Gedanken eine Form gegeben hat, die zum Widerspruch
reizen mußte. Zwar glaube auch ich mit Thumb, daß der attische
Dialekt die Grundlage der Koine bildet und daß der ionische an ihr
*) Akkusative wie toI; ro-vTz;, die W. Schmid (G. g. A. 1895 S. 39
und Attiz. IV ()83) durch Schwächung des « erklärt, sind für Kretschmer
(W. f. k. Ph. 1898 Sp. 739), Sehwyzer (Perg. las. § 24) und Thumb viel-
mehr akkusativisch gebrauchte Nominative. Für diese letztere Erklärung
sprechen Formen wie too; ßaa'./.il; u. dgl. towie spätgr. xo; -'.[ie; (zu 'A
T'.iJ.i;), wo a unter dem Akzent steht und nicht durch Schwächung zu z
werden konnte: vgl, auch xol; zcz/.oi (Hatzidakis Einl. S. 29 u. .'379), ferner
KiLir, y.oi o't c<:-o-j ravta; P. Berol. Hl.'), 15. U (2. Jhd. n. Chr.).
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) l.Sl
stärker beteiligt ist als die übrigen. Die Verteilung von ä und ?] und
die Gesetze der Kontraktion sind nicht die einzigen attischen Elemente
der Keine. Die Aspiration, die doch in der Periode vor Chr. Greb.
der Koine nicht fremd ist, die Lautbehandlung in Formen wie xopr,,
5Xoc, $evo;, das ganze äußere Bild der Deklination und Konjugation —
alles dies und manches andere ist in der Koine attisch. Auch wird
Thumb recht haben , wenn er annimmt , daß die Keime des Itazismus
bereits in der Behandlung des si im Attischen lagen, und dies kann
auch bei anderen Lautprozessen der Fall gewesen sein; ferner werden
sich viele Flexioiisformen durch innere Entwickelung erklären lassen.
Trotzdem ist der Gedanke nicht abzuweisen, daß die Entwickelung der
neuen Laut- und Flexionsformen in Ägypten, Syrien, Kleinasien dadurch
befördert wurde, daß die lonier und Attiker aus dem Munde der
Böoter, der Nordwestgriechen usw. in täglichem Verkehr die Formen
hörten, die in der Richtung ihrer eigenen Sprachentwickelung lagen.
Die Tendenz war da, sie wohnte dem Attischen inne, und die in ihrer
Richtung liegenden Formen fremder Dialekte haben die Entwickelung
der Keime in der neuen Heimat beschleunigt. Wenn der in Ägypten
wohnhafte Attiker das et in dem Wort 7£iToiv stark geschlossen aus-
sprach und dasselbe Wort im Munde des Böoters -ixcov klingen hörte,
so war die ihm selber naheliegende Lautentwickelung dadurch betördert.
Der Attiker konnte den Akk. PI, touc XqovTsc selber schaffen, hörte
er aber tagtäglich diese Form aus dem Munde des Nordwestgriechen,
so war die ihm eigene Lauttendenz dadurch begünstigt. Dies dürfte
erklären, warum in so vielen Fällen die neuen Erscheinungen zuerst
in den neu kolonisierten Ländern zum Vorschein kommen. Hier war
der Verkehr von Leuten verschiedener Mundarten ein viel regerer
als in der alten Heimat. Gerade auf diesem Gebiete der Lautlehre,
auf welchem die vorige Periode am kräftigsten vorgearbeitet hatte, ich
meine die Monophthongierung der Diphthonge im Böotischen, finden
sich neue Formen frühe, und sie finden sich besonders frühe in Ägypten,
wo die Böoter im Heere der Ptolemäer in großer Zahl dienten. (Dieser
Beobachtung möchte ich jedoch kein besonderes Gewicht beilegen.^
Von diesem Gesichtspunkte aus ließe sich wohl bei näherer Untersuchung
das frühe, resp. späte 'Auftreten mancher Laut- und Flexionserscheinung
erklären. — Und daß dieselbe Tendenz mehreren Dialekten innewohnen
konnte, wird man wohl zugeben; solche Erscheinungen wie die Über-
Iiandnahme des exspiratorischen Elementes in dem Akzente und die
Ausgleichung der Quantität, die Monophthongierung und der Itazismus,
hatten ihre Keime in verschiedenen Mundarten. Ähnliches läßt sich
von der Tendenz zu Analogiebildungen in manchen Fällen der Flexion
sagen (vgl. die Endung -aav).
182 Bericht üb. d. Literatur zar Koine a. d. Jahren 1 898- 1902. (Witkowski.)
Hätte Kretschmer seine These von dem Einflüsse verschiedener
Dialekte in ähnlichem Sinne formuliert, so wäre wi>hl die Opposition
gegen sie nicht so stark gewesen. Seine ßehanptun^c, die Koiue sei
eine bunte Mischung verschiedener Dialekte, mußte Widerspruch her-
vorrufen, um so mehr als diese Formulierung den Gedanken an einen
mechanischen Prozeß nahelegt. Seine These wäre also nach meiner
Ansicht so zu modifizieren, daß wir statt eines direkten einen
indirekten Einfluß anderer Dialekte zu statuieren haben. Ich will
nicht behaupten, daß alle Erscheinungen auf diesem Wege zu erklären
seien: manche von ihnen kann durch direkte Beeinflussung in Kietsch-
merschem Sinne, andere wieder ausschließlich durch innere Entwickelung
entstanden sein. Einzeluntersuchungen werden uns wohl in den Stand
setzen, viele dieser Fragen ziemlich sicher beantworten zu können. Es
müssen bei jeder Erscheinung die Verhältnisse untersucht werden,
unter denen sie zum erstenmal erscheint, also, wann und wo und unter
welchen historischen Verhältnissen sie zum Vorschein kommt, ob z. ß.
Vertreter des vei mutlich einwirkenden Dialektes in der Tat auf jenem
Gebiete sich denken oder nachweisen lassen, wo sich der Prozeß voll-
zogen zu haben scheint, usw. Zurzeit ist uns die Chronologie und die
Geographie der Erscheinungen zu wenig bekannt. Wenn wir z. B. auf
ägyptischen- Papyri die Schieibung dTjjaupu (— -oü) finden, welche Aus-
sprache des u als u voraussetzt, so möchten wir gern etwas Näheres
über die Herkunft des Schreibenden wissen. Ich glaube, man wird in
Zukunft in unseren Koinetexten mehr Dialektismen, sei es direkte, sei
es indirekte, nachweisen, als man heute annimmt. Ist ja selbst Thumb,
der sich gegen die Annahme der Dialektmischuug in der ägyptischen
Koine sträubt (S. 66), gezwungen, manche E'scheinung durch solche
Mischung zu erklären. S. 194 schreibt er: „Wenn daher in Ägypten
und im hellenisierten Kleinasien bisweilen ou statt o (i) begegnen, so
erklärt sich das aus der Mischung der verschiedenen grie-
chischen Elemente, welche daselbst zusammengekommen sind."
(Auch bei der lufinitivenduug -ev statt -eiv der herkulanensischeu
Papyri knüpft er an die Tafeln von Herakleia an, s. unten.). — Thumb
(8. 206) piäzisiert den Grundsatz, das Attische sei die Grundlage der
gesprochenen Koine, dahin, daß er das gesprochene Attisch als
diese Grundlage ansieht. Dieses Attisch kennen wir einigermaßen aus
Fluchtafeln und Vaseniuschriften. Thumb stellt 7 Erscheinungen zu-
sammen, die sich sowohl in dem Vulgärattischen als in der Koine
finden. Hierher gehören: Vokalentfaltuug. Silbendissimilation, 7tvo(x.a'.,
El : £ (ttXeov), bpocpo? st tpo'po» u. dgl , Imperative wie dvotßa st. dvaßrjdi,
die Betonung I8i und Xaße, die attisch und gemeingriechisch ist (vgl.
♦das Neugr.). Gegen Thumb wendet sich mit Recht Kretachmer (D. L. Z.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S98-10O2. (Witkowski.) ISo
1901 Sp. 1051 f). Er führt aus, daß diese 7 Erscheinunsen nicht
ausschließlich attisch, sondern vielen Dialekten gemeinsam, überhaupt
keine Dialektmerkmale sind. So kommt z. B. die Silbendissimilation
in jedem Dialekt und in jeder Sprache vor. — Skeptisch urteilt darüber
auch Ed. Sehwyzer (N. Jb. 1901 S. 246). Von den 7 Übereinstimmungen
Thumbs läßt er nur ein paar Einzelheiten gelten, so die Betonung
ioi: zu dieser will ich aber bemerken, daß sie nicht vnlgärattisch,
sondern allgemeinatiisch ist und demnach mit dieser Liste nichts
gemein hat.
Die schriftliche Koine.
Die oben dargelegte Meinungsverschiedenheit in bezug auf den
Charakter der Koine betrifft die gesprochene Koine. Was die
schriftliche Koine anbelangt, stimmen die Ansichten ziemlich überein.
Die hellenistische Literatur- und Schriftsprache ist kein selb-
ständis^es und in sich festes Idiom (Kretschmer, Entst. S. 36 f.). Die
Schriftsteller der hellenistischen Zeit schwankten zwischen der lebendisen
Gemeinsprache, die sie um sich hörten und selbst sprachen, und der
toten Sprache der attischen Prosaliteratur, die sie als klassisch ansahen
und die schon im 4. Jhd. zu einer allgemeinen griechischen Literatur-
und Schriftsprache erhoben worden war. Jeder Schriftsteller mischte
nach seiner Bildung, nach der literarischen Tendenz seines Werkes usw.
in das Attische mehr oder weniger Elemente aus der mündlichen Koine.
Die schriftliche Koine ist also eine Kompromißsprache,
die vom reinen Attisch bis zur reinen Umgangssprache alle
möglichen Zwischenstufen durchlief.
Den attischen Charakter der schriftlichen Koine gibt auch
Kretschmer ausdrücklich zu. Nacli ihm (D. L. Z. 1901, Sp. 1049) ist sie
„im wesentlichen nichts Selbständiges, sondern ein mit mehr oder
weniger Elementen aus der Umgangssprache versetztes Attisch".
„Allerdings enthält sie auch Bestandteile, die weder aus der Umgangs-
sprache noch aus dem Attischen stammen, lexikalische und sj'ntaktische
Neuerungen, die sie selbständig entwickelt hat, aber diese haben mehr
stilgeschichtliche und literarische als sprachgeschichtliche Bedeutung.*
Und D. L Z. 1901 Sp. 1050 nennt er die hellenistische Schriftspraclie
,ein modifiziertes Attisch".
b) Entstehang der Koine.
Diese Frage ist am ausführlichsten von Thumb und von
Kretschmer behandelt worden. Der betreffende Abschnitt bei Thumb
scheint mir nicht zu den besten Partien seines Weikes zu gehören, so
wie überhaupt die Darlegung der geschichtlichen Verhältnisse in seinem
184 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S9S— 1902. (Witkowski.)
Buche ziemlich flüchtig und deshalb wenig befriedigend ist. Besser
sind die Darlegungen Kretschmers. Doch scheinen mir die ansschlag-
gebenden Gesichtspunkte bisher überhaupt nicht mit der nötigen Schärfe
zur Geltung gebracht worden zu sein.
Um die Entstehung der Koine zu begreifen, muß man den ganzen
Gang der griechischen Staaten- und Kulturgeschichte im Auge haben
(W. Schmid, W. f. k. Ph, 1901, Sp. 398). Die geschichtlichen Be-
dingungen, unter denen die Koine entstand, werden von Thumb und
Kretschmer im ganzen übereinstimmend geschildert. Den Keim zur Ent-
stehung der Koine hat nach Thumb der erste attische Seebund gelegt.
Das Attische nahm seit dieser Zeit manches fremde, besonders ionische
Element auf und umgekehrt wirkte es auf andere Dialekte ein. In den
großen Städten Griechenlands, namentlich Athen, und in den Hafen-
orten waren die Verhältnisse der Eatwickelung einer Mischsprache
günstig. Für Athen ist diese Mischsprache durch Ps.-Xenophon bezeugt;
seine Angabe bezieht sich nur auf die athenische Umgangssprache, nicht
auf die Literatursprache. Auch in anderen Handelsstädten waren die
Verhältnisse ähnlich. Dieselbe Dialektmischung wie auf den attischen
beobachten wir auch auf den sog. chalkidischen und manchen unter-
italischen Vasen. Besonders in den sizilischen und unteritalischeu
Kolonien, wo vielfach Vertreter verschiedener Stämme zusammenlebten
(vgl. Himera), lagen die Verhältnisse ähnlich.
Die Eutvvickelung der Keine im eigentlichen Sinne beginnt mit
der "Weltpolitik Alexanders. Als Sprache der neuen Reiche bot sich
dasjenige Attisch dar, welches im Gebiet des ägäischen Meeres ge-
sprochen wurde und durch das Ionische hindurchgegangen war (Thumb
S 238). Das Heer und die Kolonisten bedienten sich dieser einheit-
lichen Sprache. Ihre Tiäger sind auch die Juden, besonders in Ägypten,
wo die jüdische Bevölkerung von Philen auf etwa eine Million geschätzt
wird. Wie hat man sich nun die Umgangssprache unter der mannig-
faltig zusammengesetzten Bevölkerung der neuen Reiche vorzustellen?
Nach Kretschmer (S. 33) mag zuerst wohl jeder seinen heimischen
Dialekt beibehalten und höchstens nach und nach die auffallendsten
Eigentümlichkeiten aufgegeben haben. Aber schon in der zweiten
Generation wird diese Abschleifung beträchtlich zugenommen haben und
vollends die späteren Generationen mußten den Znsammenhang mit den
Mutterdialekten der ersten Generation verlieren. Ihre Dialekte flössen
hier in einer einzigen Gemeinsprache zusammen. Kleinasien und Ägypten
sind also der Boden, auf welchem die Koine ausgebildet worden ist.
Hier entwickelte sich die Sprache ungehemmt und daher rascher al»
im Mutterland, wo die alten Dialekte eine starke Hemmung bildeten
(Thumb S. 246).
Bericht üb. d Literatur zur Koine a. d. Jahren 189S — 1902. (Witkowski.) J85
Es ist nicht zu bezweifeln, daß von diesen Ländern Griechenland
spSter eine Rückwirkung- erfahren hat (Thnmb S. 246). Hatzidakis
(G. g. A. 1899, S. r)09) sucht dies zu leugnen, aber mit Unrecht.
Nicht nur die Kaufleute, die aus Ag-ypten und Rhodos nach dem Mutter-
lande kamen, niclit nur die lömische Kolonisation von Patrai und
Korinth, die auch hellenistische Kolonisten zujjetührt haben wi»d, nicht
nur attische Besitzungen im ägäischeo Meere, olympische und ähnliche
Feste, sowie anderes, was Thiimb anfühi't, sondern vor allem war es
die politische Macht Ägyptens, die diese Rückwirkung vermittelte,
und das Streben der Ptolemäer, sowie anderer hellenistischer Fürsten,
GriechenlaDd in ihre Einflußsphäre hineinzuziehen. Unter der Ober-
herrschaft der Ptolemäer standen die Kykladen, Samothrake, Samos;
Itanos auf Kreta, Thera und Arsinoe im Peloponnes waren Stützpunkte
ihrer Macht. An der Spitze dieser Inseln und Städte standen Beamten
der Ptolemäer. Es wäre interessant, die Sprache dieser piolemäischen
Städte auf die Spuren äiJfyptischen Einflusses hin zu untersuchen.
Die verschiedenen dialektischen Formen rangen anfangs in der
Koine miteinander um die Herrschaft. Die Ausgleichung hat sich dann
in der Weise vollzoi^en, daß die eine den Sieg davontrug (Thumb S. 242,
Kretschmer S. 36). Die Grundsätze, die den Sieg bestimmten, faßt
Thumb in 5 Thesen zusammen:
1. Was gemeinsamer Besitz des Attischen und Ionischen war, ist
nicht angetastet worden (t]; -ouat, -aat). 2., 3. Formen, in denen das
Attische mit den übrigen nichtionischen Dialekten übereinstimmte,
tingen den Sieg davon (ä nach i e p), ebenso Formen, in denen das
Ionische mit den übrigen Dialekten tibereinstimmte (ats statt tt). 4. Wo
die attische und ionische Form verschieden waren und die übiigea
Dialekte bald mit dem einen, bald mit dem anderen dieser Dialekte
übereinstimmten, sind beide Formen erhalten (apsrjv neben &appiu), oder
5. es ist in diesem Falle eine Kompromiß form entstanden ([xueXoc
u. a.), oder endlich trägt den Sieg eine dorische usw. Form (gen.
Daüjavia, vaoc) davon.
Prütt man Th.s Sätze, so zeigt sich, daß die These von dem
Obsiegen der weit verbreiteten Formen nicht immer zutrifft. So siegte
1. die Deklination ttoXsiu; usw., nicht koXio;, 2. kontrahierte Nomina
finden sich in der Koine neben den unkontrahierten und siegen schließ-
lich in der Mehrzalil der Fälle über die offenen Formen, wie das Neu-
griechische lehrt (Kretschmer S. 24), 3. der ionische Akk. sg. der
Feminina auf -cu auf -oüv (att. -o») ist gemeingriechisch geworde»
(Mavvouv usw.) (Kretschmer S 25), 4. der attische finalkonsekutive Gen.
des substantivierten Infinitivs ist gemeingriechisch (W. Schmid, W. f.
186 Beriebt üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 189S — 1902. (Witkowski.)
k. Ph. 1901, Sp. 599 f ). Eine Prüfung der Thumbschen Thesen am
Wortschatz wäre sehr erwünscht.
Bei den Darstellungen der Anfänge der Koine werden die G-riechea
zü sehr in den Vordergrund gerückt. Der Ausgangspunkt der
Koine ist in erster Reihe bei den Makedoniern zu suchen.
Das makedonische Schwert trägt die griechische Spiache und Kultur
in die neuen Gebiete. Griechische Stämme nelimen Anteil au diesem
Werke, aber die Hauptträger sind die Makedonier. Das Griechische
wird in den neuen Reichen zur Staatssprache deshalb, v/eil es die
Sprache der Eroberer, der Makedonier, ist. Die griechische olfizielle
{Sprache der neuen Länder hat im Anfang diejenige Form, die ihr die
Makedonier gegeben haben, d. h. diejenige Form, welche sie im Munde
der Makedonier hatte. Das Giiechische im Reiche Alexanders und der
Diadochen ist in eister Reihe das Griechisch der Makedonier.
Die Griechen sind dabei mitbeteiligt, aber die ausschlaggebende Rolle
spielen nicht sie, sondern die Makedonier. Wollen wir wissen, wie die
Koine in ihren Anfängen aussah, so müssen wir fragen: welche Form
•hatte sie in Makedotiieu? Seit König Archelaos nimmt Makedonien
Anteil an der griechischen Kultur. In Makedonien sind der König,
der Hof, der Adel hellenisiert. Für die Zeit Philipps und Alexanders
steht das fest. Das Volk sprach damals wohl noch vorwiegend make-
iionisch, aber Griechisch wurde allgemein verstanden. Alexander spricht
zum Heere griechisch. Dies beweist auch der Prozeß des Philotas.
Philotas verteidigt sich vor dem aus Makedouieru und Griechen be-
stehenden Heere in giiechischer Sprache; sie wurde also auch von
Makedoniern verstanden. Aber nicht nur verstanden, sondern auch ge-
sprochen; dies muß man daraus schließen, daß im 2. Jhd. v. Chr. die
Makedoüiei beieits hellenisiert sind, wie dies aus Poiybios, Strabon und
Livius folgt. Seit Philipp und Alexander schreibt die makedonische
Kanzlei attisch (Wilamowitz, Z. f. G. W. 38, 1884, S. 106 f.). Es
wird aber kein reines Attisch gewesen sein, denn Philipps Vorgänger
haben ohne Zweifel Ionisch geschrieben (Wilamowitz a. a. 0,). Auch
das Attisch des Hofes und des Adels in Makedonien kann kein reines
Attisch gewesen sein; es wird in der neuen Heimat manchen Zug ein-
gebüßt, manchen neuen gewonnen haben. Es war stark ionisch ge-
färbt; die ionischen Städte an der makedonischen Küste spielten in dem
Werke der Vermittlung des Griechischen an die Makedonier eine wich-
tige Rolle. Ein in Olynth gefundener Vertrag zwischen König Amyntas
von Makedonien und den Chalkidiern (zwischen 389 und 383 nach Ditten-
tierger 2, 77) zeigt \Lia[z neben cpiXiVjv, Ma/oSoviij; 3uiJ.|jL[a-/i]rj;, stsa, TeXsa,
^eXeovTaj, tsXsousi und anderen ionischen Formen (Thumb S. 236), Die
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898-1902. (Witkowski.) 187
iouische F{}rbiing"des makedonischen Attisch beweisen viele Inschriften.
In zwei Briefen des Königs Äntigonos an die Teier v. J. 304 oder 303
V. Chr. kommen Formen wie teajapotv und xejtjepaxovTa, ouvxajKo,
Xepjo'vTjjov vor, also louismen, ferner ^pa3&ai. In einer Inschrift des
Kassandros aus gleicher Zeit, die im makedonischen Küstenlande ge-
funden worden ist, erscheint ebenfalls aa (dXXajjsjöat) (Tlinmb S. 238).
Richtig sagt also Thumb: „Die Sprache, welche . . . Alexander in das
Perserveich und nach Ägypten trug, war bereits eine -/oivr] otaXexxos;
sein Heer, in welchem Makedoneu und Hellenen vereinigt waren, be-
diente sich . . . der griechischen Sprache, und diese kann nichts anderes
als die Koivtq gewesen sein." Nur hätte er daraus Koüseqnenzen ziehen
sollen. Das ionisch gefärbte Attisch Alexanders, seines Hofes, seiner
Generale upd Oifiziere, seiner Kanzlei ist die Grundlage, auf welcher
sich die Koine im Orient entwickelt. Die Griechen verschiedener
Stämme, die teils als Söldner, teils als Kolonisten in Asien und Atrypten
sich ansiedeln, helfen dann an dem weiteren Ausbau der neuen Sprache.
Wenn wir in dem Eide, den die Athener 336 Alexander dem Großen
leisten, ionische Formen finden (ca statt tt), so ist das nicht aus den
Verhältnissen des Attischen zu erklären, sondern es liegt darin eine
Akkommodation au die Sprache des neuen Herrschers. Nur dieser
Gesichtspunkt erklärt uns, warum das Ionische in der Koine
eine so wichtige Rolle spielt.
Nicht Griechenland, sondern Makedonien ist also der
Ausgangspunkt der Koine. Kein anderer Dialekt als das Attische
konnte die Grundlage der neuen Gemeinsprache werden und das Ionische
mußte in der neuen Spiache stärker hervortreten als die übrigen Dialekte.
Die Entwicklung des Altischen im 5. und 4. Jhd., also das attische
Reich des 5. Jhd. und die sprachlichen Verhältnisse der Haudelsstädte,
spielen in der Entstehung der Koine eine untergeordnete Rolle. Da-
gegen darf man die Höfe der persischen Satrapen nicht vergessen.
Hier finden wir in ältester Zeit das Ionische; als im 5. Jhd. Athen
eine politische Macht wird, gewinnt sein Dialekt Bedeutung für diese
Höfe ; nach dem peloponnesischen Kriege macht sich dann das Dorische
geltend. Diese Verhältnisse haben die Entstehung einer Gemeinsprache
im Osten begünstigt (vgl. Schwyzer, Die Weltsprachen des Altertums
S, 17). — Ich habe diese geschichtliche Grundlage, die mir in den bis-
herigen Foischuugen nicht gebührend zur Geltung gekommen zu sein
scheint,*) hier nur kurz skizzieren können. Es wird mir wohl möglich
sein, meine Ansicht in kurzer Zeit des Näheren zu begründen.
*) Einige richtige Gedanken enthält der III. Band der Griechischen
Geschichte von Beloch.
188 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
Will man die Entstehung der Koine besjreifen, so muß man vor
iillem unsere Denkmäler der zweiten Hälfte des IV. und die des
TU. Jhdts. einer eingehenden Prüfung unterziehen: nicht nur
die Inschriften und Papyri, sondern auch die literarische Überlieferung:
die Fragmente der Historiker usw. Man wird dann sehen, wo die neuen
Züge der Koine zum Vorschein kommen und wie sie sich allmählich
ausbreiten. Man hört immer, daß Ägypten und Kleinasien in besonders
hebern Grade an der Entstehung der Koine beteiligt sind. Ich glaube,
Syrien spielt eine gleiche Rolle wie diese Länder. Ja, wer
weiß, ob Syrien nicht wichtiger gewesen ist ah Ägypten, denn die
Ptolemäer wollten nicht hellenisieren, aber die Seleukiden haben dies
versucht. Daß uns die Koine bei Syrien nicht so stark in die Augen
fällt, liegt daran, daß man in Syrien so wenig schrieb. Hätten wir
mehr Inschriften aus diesem Reiche, so würde uns die Beteiligung
Syriens an der Herausbildung der Koine handgreiflicher werden. Aber
auch aus dem, was wir haben, ließe sich das Bild voller gestalten.
Über die Ausbreitung der griechischen Sprache in unserer
Periode handelt auch Ed. Schwyzers akademische Antrittsvorlesung
,Die Weltsprachen des Altertums in ihrer geschichtlichen
Stellung" (Berlin 1902). Schw.s Absicht war, nur einen gemein-
verständlich orientierenden Überblick über das weite Gebiet zu geben
und diesen Zweck hat er vollkommen erreicht. Unter einer Weltsprache
des Altertums versteht er nicht etwa ein antikes Volapük, eine künst-
liche Sprache — diesen Begriff einer Universalspracbe suchen wir im
Altertum vergebens — , sondern solche geschichtlichen Sprachen,
die sich über andere Sprachen erhoben, die nationalen Schranken durch-
brochen und auch außerhalb ihres Vaterlandes in weiteren Kreisen ge-
sprochen oder doch verstanden wurden, also etwas, was sich dem heutigen
Worte „Kultursprache" nähert. Aber, obwohl die Grenzen der antiken
Kultnrwelt recht eng gewesen sind, da sie sich auf den Kreis der ums
Mittelmeer gelegenen Länder im wesentlichen beschränken, gab es nicht
einmal in diesem kleinen Kreise eine Weltsprache, sondern deren zwei,
die gleichtberechtigt nebeneinander standen. Griechisch und Lateinisch.
Noch vor dem Griechischen spielte eine Zeitlang die Rolle einer Welt-
sprache in gewissem Sinne das Babylonische. Es war die Diplomaten-
sprache der damaligen orientalischen Welt.
Mit Alexander d. Gr. wird das Griechische zur Weltsprache des
Ostens. Diese Gebietserweiterung des Griechischen im Orient war schon
früher vorbereitet: schon um 400 v. Chr. hatten wenigstens in Klein -
asien manche persische Satrapen an ihren Höfen griechisches Wesen
Bericht üb- d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 181)8 — 1902. (Witkowski.) 189
gepflegt. Vf. bespricht hierauf die Ausbreitung des Griechischeo im
Osten. Das Weitere, wie inzwischen im Westen allmählich das Latein
zur Weltsprache wird, wie mit der Zeit an manchen Punkten ein Kampf
zwischen den beiden Weltsprachen beginnt, gehört nicht iu den Bereich
dieses Berichtes.
Mit einem Worte will ich noch hier die über die Koine geäußerten
Werturteile berühren. Es war bis in die jüngste Zeit allgemein
üblich, die Koine als 'Entartung' und 'Verfair zu kennzeichnen. Gegen
solche Urteile wird von Neueren (wie Thumb S. 250 flf. , Wunderer,
Polj'bios-Forschungen I.S. 91) mit Recht Protest erhoben. Man betont, daß
der Verlust au Formen und die Beseitigung älterer syntaktischer
Nuancierung noch lange nicht Minderung an Ausdrucksfäbigkeit be-
deutet; sonst müßte z. B. das Englische recht abschätzig beurteilt
werden. In ihrem Wortschatz ist die Koine nicht verarmt, vielmehr
hat sich dieser wesentlich bereichert.
4. Der Einfluss nichtgriechischer Völker auf die Koine.
Die Frage nach dem Einflüsse fremder Sprachen auf die Koine
ist ein noch wenig bearbeitetes Gebiet In der Beurteilung dieses
Einflusses herrscht unter den Forschem eine ziemlich weitgehende
Übereinstimmung. Man ist darin einig, daß dieser Einfluß kein sehr
großer war.
Thumb widmet dieser Frage das IV. Kapitel seines Buches.
Ich will dessen Inhalt hier skizzieren. Von allen griechischen Landen
ist am giündlichsten Kleinasien hellenisiert worden. Mindestens
in der Kaiserzeit war es ein ganz griechisches Land mit griechischer
Kultur. Die Sprachen der einheimischen Völker: der Lyder, Phryger,
Lykier, Kappadokier usw., sind zwar in dieser Zeit nicht ganz ver-
schwunden, spielen aber eine höchst bescheidene Kolle. Hieronymus bezeugt
noch für das 4. Jhd. das Bestehen des Keltischen unter deu Galatern;
wie gering aber derartige Keste gewesen sein müssen, erhellt aus der
Tatsache, daß sich durch die türkische Invasion hindurch keine Spur
der alten Spiachen Kleinasiens bis zum heutigen Tag gerettet hat,
während in Ägypten trotz der arabischen Überflutung das Koptische,
in Syrien Reste syrischer Dialekte sich behauptet haben. Wenn nun
andererseits das Griechische in Syrien und Ägypten völlig ausgerottet
worden ist, so ist das ein Maßstab für deren geringe Hellenisierung.
Das Griechische war hier wohl die Sprache der städtischen Kreise,
190 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
während auf dem Lande sich die einheimischen Mundarten behaupteten.
In Syrien war das griechische Element nach Osten zu immer spärlicher ;
in Mesopotamien gibt es griechische Inschriften nur in geringer Anzahl,
In Palästina kann von einer eigentlichen Hellenisierung kaum die Rede
sein. Griechische Gemeinden hat es im jüdischen Palästina nicht ge-
geben. Die Juden lernten das Griechische als Verkehrs- und Handels-
sprache, die Gebildeten machten sich mit der griechischen Literatur
bekannt, behaupteten aber ihre Muttersprache. Daß sich jedoch die Juden
dem Kultureinfluß des Griechenturas nicht völlig entziehen konntea,
beweisen zahlreiche griechische Lehnwörter der rabbiuischen Schriften.
Sie sind durchaus nicht vorwiegend gelehrter Natur, sondern gehören
großenteils der Umgangssprache an. Der griechische Einfluß erstreckt
sich auf alle Gebiete, mit Ausnahme der Sphäre des Seelenlebens.
Diese Lehnwörter sind eine nicht zu unterschätzende Quelle der Koine,
denn sie geben uns Aufschluß über Lautform und Wortschatz des
gleichzeifi'^en gesprochenen Griechisch. Die Schwierigkeit für ihre Be-
nützung besteht darin, daß wir bei der Lautform nicht immer imstande
sind zu sagen, was auf die Rechnung der Griechen und was auf die
Rechnung der Semiten zu setzen ist. Über diese Lehnwörter handelt
*S> Krauß, Griechische und lateinische Lehnwörter im
Talmud, Mid rasch und Targum, Mit Bemerkungen von J. Low.
2 Bde. Berlin 1898—99.
(Ich verweise auf die Besprechung des 1. Bandes durch A. Thumb I.
F. 1 1 (1901) Anz. S. 96—99 und auf die kurze Chaiakteristik beider Bände
aus der Feder desselben Gelehrten Archiv f. Pap. 2, 1903, S. 406 f; an
letzterem Orte werden auch Besprechungen des Werkes von semitislischer
Seite genannt.) Der 1. Band bringt die Resultate für die Grammatik und
den Wortschatz; die Einleitung handelt über die jüdisch-hellenistische
Literatur und den griechischen Einfluß in Palästina. Der 2. Band ist ein
Lexikon der Lehn- und Fremdwörter, wozu J. Low ein kulturhistorisches
Sachregister gefügt hat. Nach Thumb. dessen Besprechung auch die
vorstehende Inhaltsangabe entnommen ist, ist es Krauß nicht gelungen,
die Grenze zwischen dem griechischen und dem semitischen Auteil richtig
zu ziehen, so nützlich und anerkennenswert die geleistete Arbeit auch
ist. Von seniitistischer Seite wird gegenüber den Etymologien des Vf. zur
"Vorsicht gemahnt und die Transskription besonders der Vokale tür un-
zuverlässig gehalten. Berichtigungen und Nachträge bringen die ge-
nannten Rezensionen. Krauß glaubt in den griechischen Elementen der
rabbinischeu Sprache spezielle (lautliche und formale) Züge einer
palästinischen oder rabbiuischen Gräzität zu erkennen, diese Züge sind
jedoch nichts anderes als die bekannten Züge der Koine, wie sie uns
aus Ägypten und Asien bekannt ist. Höchstens könnte man nach
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 189S- 1902. (Witkowski.) 19 1
Thumb (a. a. 0.) in semasiologischer Hinsicht etwas wie Judengriechisch
vermuten.
Eine wichtige kritische Ereräüznng zu Krauß bildet
*A. Schlatter, Verkanntes Griechisch. Beiträge zur Förde-
Tung christlicher Theologie, 4 (1900). S. 49—84. Eine Reihe von Krauß'
Lesungen werden hier verwoifen und meistens durch bessere ersetzt,
die sich enger an den überlieferten Text anschließen. Doch verfährt
8chlat,ter nicht immer ohne eine gewisse Gewaltsamkeit. (Thumb Ärch,
2. S. 407. VirL Deißmann, Th. Rundsch. 5, 1902, S. 63.)
Eine viel reinere Quelle bieten die in den semitischen Inschriften
erhaltenen griechischen Lehnwörter, denn sie sind nicht wie die Lehn-
wörter der gedruckten Texte durch eine lange handschriftliche Über-
lieferung hindurchgegangen. Bei
M. Lidzbarski, Handbuch der uordsemitischen Epi-
graphik. 2 Teile. Weimar 1898
findet man in der Zusammenstellung des Wortschatzes der Inschriften
auch diese Lehnwörter.
Ich kehre zur Besprechung des fremden Einflusses auf die Koine
zurück. Ägypten wird zu einem Mittelpunkt der gesamten helle-
nistischen Kulturwelt. *) Die Ptolemäer streben jedoch nicht danach»
das Land zu helleuisieren. Dies versuchen in Syrien die Seleukiden,
aber auch Syrien ist nur an der Oberfläche hellenisiert worden. Helle«
nisiert sind nur Kleinasien, Thrakien und Makedonien.
Was nun den Einfluß dieser fremden Völker auf das Griechische
anbelangt, so erlangt man am raschesten Klarheit über die Fremd- und
Lehnwörter, also über den Wortschatz. Es fehlen hier noch mono-
graphische Behandlungen. Die im J. 1895 erschienene Arbeit von
H. Lewy, Die semitischen Fremdwörter im Griechischen, läßt nach
Thumbs Urteil an Methode und Kritik viel zu wünschen übrig.**) Im
*) Von dem Werke: ApostolidesB., Essai sur rbellenisme egyptien
et ses rapports avcc rbellenisme classique et Thellenisme moderne, ist
bisher Tome I. L'bellenisme sous l'ancien et le moyen empire. Fase. 1-3
(Paris 1898-9) erschienen. Vf., ein abwechselnd in Ägypten und Paris
lebender Arzt, will in diesem Werke eine ausfübrliche Geschichte der Be-
ziehung Ägyptens zu den Hellenen von der frühesten Vorzeit an entwerfen
und den grüßen Einfluß der Griechen zeigen. Fase. 3 schließt mit dem
Eüde der 8. Dynastie. (Vgl. Rezens. von A. Wiedemann W. f. k. Ph. 1900
Sp. 369 ff.).
**) J. Levy, Sur quelques noms semitiques de plantes en
Grece et en Egypte (Revue arcLeol. 36, 1900, S. 334-344) handelt über:
1. cii?.«p>.',v (=•- assyr. sallapaau), 2. \w-pQrj.(A:, (syrisch), 3. ac<3Z3Tov (semit.),.
4. abujv (= aram. sisana;.
192 Bericht üb. d Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S9S — 1902. (Witkowski.)
allgemeinen läßt sich sa^eu, daß dieZahl der Fremdwörter im Griechischen,
die vor Alexander nicht groß war, in dieser Periode größer, aber doch
im wesentlichen eine mäßige geblieben ist von einer Überflutung durch
semitische oder ägyptische Wörter kann nicht die Rede sein. Die
Namen der staatlichen und militärischen Ordnung, des Kultus, der
Münzen, Maße und Gewichte, der Gebrauchsgegenstände des täglichen
Lebens sind griechisch wie zuvor. Nur solche AVaren, Produkte und
Einrichtungen, welche Handel und Verkehr als Fremdes ins Land
brachten, tragen fremde Namen. Stets sind es aber rein materielle
Dinge. Diese Verhältnisse lassen sich am besten an der Hand der
Papyri abschätzen, denn diese bieten mit ihren Rechnungen, Quittungen,
Briefen usw. Gegenstände und Wörter des täglichen Lebens. Nur die
Datierung cach ägyptischen Monatsnamen und die Eigennamen erinnern
uns an Ägypten; ein ägyptisches nomen appellativum ist sehr selten.
Die von Glossatoren ganz im allgemeinen bezeugten Fremdwörter dürfen
nicht, wie Thumb (S. 110) mit Recht mahnt, auf das Konto der Koine
gesetzt werden, einmal weil ihr Alter nicht bestimmt ist, dann weil
sie als „Glossen" gar keine griechischen Lehnwörter zu sein brauchen,
besonders wenn sie aus ursprünglich uichtgriechischen Gegenden belegt
werden. Wenn andererseits manche Wörter erst z. B. in uatur-
historischen Schriften jüngerer Zeit vorkommen, so dürfen wir daraus
nicht schließen, daß jene Worte erst in jüngerer Zeit aufgekommen
seien: in älterer Zeit war einfach keine Gelegenheit zu ihrer Mitteilung
geboten. Die Koine-Schrit'tsteller, welche aus Ägypten stammen, ver-
halten sich den fremden Elementen gegenüber ungefähr wie die Verfasser
der Papyri (Thumb S. 117). Auch in Kleiuasien scheinen die ein-
heimischen Sprachen den Wortschatz der griechischen losch ritten nur
unmerklich beeinflußt zu haben.
Was die Syntax betrifit, so ist eine Einwirkung fremder Sprachen
auf die Koine in unseren Texten bis j'itzt kaum nachweisbar (über die
Semitismeu der biblischen Griidtät rede ich in einem besonderen Kapitel),
zum Teil wohl deshalb , weil sich spontane Entwickelung und fremder
Einfluß schwer trennen lassen. Thumb (S. 132) nimmt jedoch an, daß
fremde syntaktische Färbung der vulgären Koine in Äg3^pten und Klein-
asien sicher bestanden hat. Färbung der vulgären Koine im Munde
der Einheimischen, möchte ich hinzufügen; denn im Munde der Griechen
hat die Koine schwerlich diese Färbung gehabt.
Ziemlich weit gehen dagegen manche Forscher in der Annahme
fremden Einflusses auf das Lautsystem der Koine und demnach auf
ihren grammatischen Bau. Ein solcher Einfluß ist meines Erachtens
von vornherein nicht auszuschließen, doch muß mau in seiner Annahme
sehr vorsichtig sein, da es sich hier um Sprachen von grundverschiedenem
Bericht üb. d. Literatur zur Koinc a. d. Jahnen ] 898-1902. (Witkowski.) 193
Bau handelt. Das Ruthenische übt auf die polnische Sprache unterer
Schichten in Ostgalizien iu lautlicher, ja sogar uiorpliologischer Hinsicht
einen Einfluß, aber in diesem Falle handelt es sich um einander nahe-
stehende Sprachen. Dagegen läßt sich ein ähnlicher Einfluß des
Deutschen auf das Polnische nicht beobachten. Daß die griechischen
Laute im Munde eines Ägypters, Syrers oder Kleinasiaten einen anderen
•Charakter hatten als im Munde eines geborenen Griechen, ist zuzugeben.
Handelt es sich dagegen um die Aussprache geborener Griechen, so
ist ein solcher Einfluß fremden Idioms denkbar in Ländern, wo die
Einheimischen völlig helleuisiert sind. Hier erfolgt mit der Zeit Aus-
gleichung der Aussprache. Wo dagegen die Einheimischen fortfahren
ihre Sprache zu sprechen, wie es in Asypten oder Syrien der Fall ist,
dort kann von einem Einflüsse der fremden Sprache auf das Lautsystem
geborener Griechen nur ausnahmsweise die Rede sein. Und auch bei
dieser Beschränkung kann es sich nur um einen Einfluß auf die Sprache
■der unteren griechischen Schichten handeln; die Aussprache der ge-
bildeten Griechen und Makedonier unterlag diesem Einflüsse nicht,
nichtig ist der methodische Grundsatz Thnmbs (3. 26), wonach die
Verbreitung des Vorkommens von Sprachvorgäugeu am sichersten ent-
scheidet, ob es sich um echtgriechische Vorgänge handelt.
Eine ziemlich weitgehende Beeinflussung der Koine Ägyptens
und Klein asiens nimmt Thumb an. Ahnlicher Ansicht ist Kretschmer
(W. f. k. Ph. 1899 Sp. 2, vgl. auch Sp. 4).
Am nächsten liegt es, fremden Einfluß bei der besonders in Ägypten
häutigen Verwechslung von Media, Tennis und Aspirata an-
zunehmen. (Es fragt sich, ob sich nachweisen läßt, daß unter den
Schreibern, bei denen diese Verwechslung vorkommt, sich auch Griechen
befinden V). Xun wissen wir, daß das Koptische kein d besitzt. Auch
g kommt im Koptischen nur in griechischen Wörtern vor. Tenues
und Mediae wurden also von dem Ägypter nicht oder nur schwer aus-
einandergehalten. Die Verwechslung von Tennis und Media ließe sich
somit erklären. Es werden aber in der ägyptischen Koine Tenues auch
mit Aspiraten verwechselt. Hier ist die Erklärung schwieriger, weil
das Demotische Aspiraten besitzt. Thumb nimmt Zuflucht zu der
Annahme, daß die griechischen und die ägyptischen Aspiraten sich nicht
vollständig deckten. Die Schwierigkeit liegt darin, daß diese Ver-
wechslungen nicht allein in Ägypten, sondern auch in Kleinasien belegt
sind. Um die Erklärung aus dem fremden Einflüsse zu retten, wird
angenommen, daß das kleinasiatische Lautsystera diese Laute ebenso-
wenig schied wie das ägyptische. Dieses kleinasiatische System ist uns
unbekannt, und deshalb läßt sich sein Einfluß auf das Griechische nichts
nachweisen.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1004. I.) 13
194 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
Viel hypothetischer ist der fremde Einfluß bei zwei anderen Er-
scheinungen des Konsonantismus: bei dem Schwunde des intervokalischen
7 und bei der Nasalentwickelung vor Explosivlaut (z. B. ISafißaTi; st.
2aßßaTt;, "Avöpajxu? St. "Aopap-u?). Beide Erscheinungen sind noch nicht
genügend erklärt. (Vgl. Hatzidakis G. g. A. 1899 S. 514.). Einen be-
achtenswerten Versuch, die Nasalentwickelung zu erklären, findet man
bei Thumb (Griech. Spr. S. 135 ff.). Hatzidakis hält Formen mit [t^
für Barbarismen (G. g. A. 1899, S. 510).
Über den Einfluß des ägyptischen Lautsystems auf die Koine
handelt Thumb in dem Aufsatz:
Zur Aussprache des Griechischen (I. F. 8, 1898, S. 188
—197).*)
Auf dem Gebiete des Vokalismns vermutet man bei einigen Er-
scheinungen ebenfalls fremden Einfluß. So denkt man beim Wandel
eines betonten a in e (z. B. [xsXtcjTa = iJ-aXiaia) an ägyptischen Einfluß.
Die Verwechslung von i und s (z. B. 7i7ovic=7£7ovec) erklären Kretschmer
and Thumb aus kkinasiatischer autochthoner Aussprache, wobei
Kretschmer richtig bemerkt, daß es sich in diesen Fällen lediglich um
barbarische Sprachfehler handelt. Ahnliche Erscheinungen in Ägypten
erklärt Thumb aus der einheimischen Aussprache, die ein langes i, aber
kein kurzes i kannte. Da jedoch nach den Papyri der Unterschied
zwischen i und i in Ägypten bereits in der ersten Hälfte des 3. Jhd.
V. Chr. verwischt erscheint, so brauchten sich die Autochthonen um
diesen Unterschied nicht zu kümmern — sprachen sie griechisches I wie
I aus, so konnten sie auch griechisches 1 ebenso aussprechen, da beide
Laute im Griechischen ähnlich klangen — und demnach halte ich diese
Erklärung für hinfällig, u wird in Kleinasien und Ägypten mit i ver-
wechselt. Hierin will man einen Einfluß des Kleinasiatischea (Phry-
gischen) sehen. Thumbs Ausführungen scheinen mir auf sehr unsichere
Grundlagen aufgebaut zu sein. Auch für die Ausgleichung der Vokal-
quantität sucht man den Ausgangspunkt in Kleinasien. Noch unsicherer
als dies ist die Annahme, daß die Vereinfachung der Langdiphthonge
ai, iDi mit dem Phrygischen zusammenhängt. — Viel behandelt wurde
die Prothese eines i vor a impurura: ioty^Xtj usw. Gegen Thumbs An-
nahme, der hierin den Einfluß des Phrygischen sieht, erheben Einspruch:
*) Außer dem bereits Erwähnten führe ich aus diesem Aufsatze
folgendes an: Im 2. Jhd. n. Chr. besaß das Koptische echte Aspiraten
(ph, kh), im Griech. war der Hauch schwächer (p k). «^ und o sind vor i
durcli ts (nts) transskiibiert, also spirantisch. (Klang es nicht -= ts, resp.
dz ?). r, ist noch nicht -= i, ai mit sonstigem i noch nicht vollständig zu-
sammengefallen, 'j ist = ü oder iu.
Beriebt üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 195
Schweizer, W. Schmid (W. f. k. Ph. 1901, Sp. 60-2) und John
Schmitt (I. F. 12, 1901 Anz. S. 73 ff.). Letzterer hält die Möglich-
keit einer spontanen Entwickelnng nicht für ausgeschlossen. Daneben
denkt er an analogische und lautliche Ursachen. Das häufige Vor-
kommen des i auf phrygischen Inschriften ist nach ihm noch kein
zwingender Grund, um die Prothese auf fremde Einflüsse zurückzuführen.
Thumb (S. 147 ff.) untersucht auch das Fortleben dieser „fremden
Einflüsse" im Neugriechischen. Er findet, daß der ägyptische Einfluß
vorübergehend war. Die Verwechslung von Tennis, Media und Aspirata
hat im Neugriechischen keine Spuren hinterlassen, noch weniger andere
Erscheinungen. Einen Zusammenhang zwischen der Nasalentwickelung
vor Kousonans in der Koine und im Neugriechischen hält auch Thumb
für ganz unsicher. Ahnliches ist zu sagen von dem Wechsel zwischen
e und i. Den Einfluß Kleinasiens sieht Thumb in dem Wandel von
Nasal -+- Tennis in Nasal -^ Media und möglicherweise auch in anderen
Erscheinungen (u : i, Quantitätsverschiebung). Kleinasien spielt nach ihm
in bezug auf die Beeinflnssung der Koine eine wichtige Rolle, was er
damit erklärt, daß hier das griechische und einheimische Element ver-
schmolz. Bezüglich dieser Einflüsse sieht er eine Parallele in dem Ver-
halten des Lateins zu den Sprachen roraanisierter Länder.
Was das Latein betrifft, so kann von einer eingreifenden gram-
matischen Beeinflussung des Griechischen durch das Latein keine Rede
sein. *) Eine tiefergehende Einwirkung des Lateinischen sieht Thumb nach
dem Vorgange von Hatzidakis in den Eigennamen und Nomina agentis
auf -t?, -tv statt -10?, -tov, welche etwa seit Beginn unserer Zeitrechnung*
auftreten. Die Herleitung dieser Erscheinung aus dem Latein scheint
mir bedenklich zu sein. Wenn 'louXt?, Aup»^Xi? aus den Vokativformen
luli, Aureli entstanden sind, wenn es sich also zunächst nur um Eigen-
namen handelt, wie erklärt sich dann die Tatsache, daß die Formen
auf -t? auf Kosten derer auf -lo? zu einer so außerordentlich weiten
Verbreitung gelangen? (John Schmitt a. a. 0. S. 77). Die Neutra
auf -tv (= -tov) weiß ja auch Thumb nicht zu erklären. In der Auf-
nahme lateinischer Lehnwörter unterscheidt-t Thumb drei Perioden:
die Zeit der Republik, die Kaiserzeit bis Konstantin, die frühbyzan-
tinische Epoche bis Justinian, wo der Höhepunkt eireicht ist. Die
völlige Einbürgerung lateinischer Elemente wird durch die überaus
stattliche Zahl von lateinischen Lehnwörtern des Neugriechischen er-
wiesen. Es sind dies außer Begriffen des Heerwesens und der Bureau-
*) Von der Zurückhaltung, mit der die Griechen allzeit der römischen
Sprache und Literatur gegenüberstanden, spricht Norden Antike Kunst-
piosa L S. 60 und 0. Crusius Philol. 62 (1903) S. 133 ff.
13*
196 Berichtüb.d. Literatur zur Koinea.d. Jahren 1898-1002. (Witkowski.)
kratie namentlich Begriffe des täglichen Lebens. Lateinische Lehn-
wörter des Griechisclieu sind noch wenig untersucht. Auf dem Gebiete
der Papyri ist der lateinische Einfluß untersucht durch
K. Wessely, Die lateinischen Elemente in der Gräzität
der ägyptischen Papyrusurkunden. (Wien. Stud. 24, 1902,
S. 99—151.)
Der lateinische Einfluß zeigt sich hier erst in den nachchristlichen
Jahrhunderten. Vor Chr. Geb. kommen lateinische Eigennamen in den
Papyri nur ganz vereinzelt vor.
5. Dialektische DiiTerenzierung der Koinc.
Daß die Keine in lexikalischer Beziehung lokal differenziert
war, wird ziemlich allgemein zugegeben.*) Eine Differenzierung des
Laut- und Formenbestandes, von "W. Schmid (W. f. k. Ph. 1899,
Sp. 549) so gut wie bestritten**) , wurde als denkbar bezeichnet
von Deißmann (Realenc. f. prot. Theol. VII [1899] S. 633 f.), von
Hatzidakis (*nept t9jc Tcor/.iXyjS uapaooaeco? t^c eXXrjvtx^; YXcodUY)?.
'AOY)va 11, 1899, S. 389—393) und von Kretscbmer (W. f. k. Ph.
1898, Sp. 738); der zuletzt genannte Gelehrte gibt sie in seiner späteren
Schrift ,,Die Entstehung der Koine" S. 35 f. ausdrücklich zu,***) indem
er manche dialektischen Unterschiede bis in die Anfänge der Koin
zurückreichen läßt (z. B. offene Ansprache des yj neben geschlossener,
Aspiration neben Psilosis, oXoc : ou>.oc usw.). Eingehend haben diese
Frage behandelt Thunib im 5. Kapitel seines Buches, nachdem er sie
schon früher kurz gestreift hatte (Zur Aussprache des Griechischen,
L F. 8, 1898, S. 195 f), und K. Dieterich in den 'Untersuchungen',
über die später berichtet werden soll.
Daß eine Sprache, die über ein so weites Gebiet verbreitet war
und von so mannigfachen Elementen gesprochen wurde, kaum einheitlich
sein konnte, ist von vornherein anzunehmen. Es fragt sich nun, in
welcher Periode der Koine an eine solche Dialektspaltung gedacht
werden kann, Thumb meint (S. 163): „Solange die alten Dialekte
noch neben der Koiw^ bestanden haben, ist diese überhaupt noch nicht
*) Einen Versuch, die Erscheinungen der Koine geographisch zu
fixieren, besonders das ägyptische und kleinasiaüsclie Griechisch ausein-
anderzuhalten, unternahm schon im J. 1892 K. Buresch Philol. 51
S. 84—112.
**) Er redet von der erstaunlichen Einheitlichkeit der x.o'./v;, welche
sich in allen Gebieten des weiten hellenistischen Kulturbereiches offenbare
(W. f. k. Ph. 1899, Sp. 549).
***) Ähnlich urteilen andere, z. B. Hirt I. V. 8, 1898 Anz. S. 58.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 197
fertig, imd es hat keinen Sinn, nach 'Dialekten jener Sprachforni zu
fragen, die als werdende Gemeinsprache neben den alten Mundarten
stand . . ." ,,erst nach dem Abschluß dieses Amalgaraierungsprozesses
and nach dem Absterben der alten Dialekte . . . kann es sicli um einen
Znstand der Koivn^ handeln, welcher der Frage nach mundartlicher Diffe-
renzierung: Berechtigung verleiht. Nach unseren Ausführungen über das
Schwinden der alten Dialekte ist der postulierte Zustand im wesentlichen
in den ersten christlichen Jahrhunderten, für einzelne helleuisierte Länder
(wie Ägypten) schon zwei bis drei Jahrhunderte vor Beginn unserer
Zeitrechnung eingetreten." S. 24 sagt er, daß die Koine sicher schon
gegen Ende des Altertums differenziert war. In ähnlichem Sinne äußerte
sich schon früher K. Dieterich (Untersuch. S. XVI): ,,Denn wie
konnten zu einer Zeit, wo die alten Dialekte sich auflösten, schon wieder
neue da sein?" So, wie Dieterich und Thumb, Inöchte ich die Frage
nicht stellen. Thumb nimmt ja selbst nach dem Vorgang Kretschmers
an, daß es in der Koine von Anfang an ein doppeltes e gab. Es ist
von vornherein keineswegs ausgeschlossen, daß die Koine schon in ihren
Anfängen dialektische Unterschiede aufwies. Um die Frage zu beant-
worten, beginnt man am besten vom Ende, vom Neugriechischen. Das
Neugriechische zeigt eine starke Dialektspaltung. Wann ist sie ent-
standen? Die Antwort ist schwierig, weil es Dialekttexte erst aus der
zweiten Hälfte des Mittelalters und dazu nur in spärlicher Zahl gibt.
Nun haben sich die neugriechischen Dialekte Unteritaliens, die mit süd-
griechischen Dialekten verwandt sind, vor dem 11. Jhd. von dem
Mutterstamme abgetrennt. Die neugriechischen Dialekte haben also
vor dem 11. Jhd. existieit. Auch der kappadokische Dialekt hat sich
vor dem Jahre 1000 losgelöst. Da nun die um das Jahr 1000 vor-
handene Dialektspaltung nach Thumb kaum erst in 2 — 3 Jahrhunderten
entstanden sein kann, so müssen Keime der Dialektspaltung schon im
Verlauf des 1. bis 5. Jhd. existiert haben. Eine Bemerkung des
Strabon, daß man von Stadt zu Stadt verschieden spreche, bezieht Th.
auf die Koine. Letzteres glaube ich nicht. Die Differenzen der Koine
konnten in den einzelnen Städten nicht so stark sein. Strabons Worte
beziehen sich auf die alten Dialekte. Thumb nimmt m den ersten Jahr-
hunderten nach Chr. fünf Sprachkreise an: einen ägyptischen, einen klein-
asiatischen, und im Mutterlande eine ionisierende Koine (im Macht-
bereich der lonier), eine dorisierende (im Gebiet der dorischen Inseln,
des Peloponnes sowie des ätolischen und achäischen Bundes), endlich
einen attischen Sprachkreis. Wohl mit Recht nennt W. Schmid
(W. f. k. Ph. 1901, Sp. 600) diese Annahme problematisch. Skeptisch
urteilt darüber auch Ed. Schwyzer N. Jb. 1901, S. 244. Und
vollends die Vermutung Thumbs, die fünf Dialekte, die der Triumvir
198 Bericht üb. d. Literatur zur Koinea. d. Jahren 1898 — 1902. (Witkowski.)
Crassns nach Qaintilian (11, 2, 50) beherrscht haben soll, seien jene
Dialekte der Koine, i<;t völlig unhaltbar und deshalb einstimmig ver-
worfen worden (vgl. W. Sehmid W. f. k. Ph. 1901. Sp. 601, Ed.
Schwyzer N. Jb. 1901, S. 244, P. Kretschmer D. L. Z. 1901,
Sp. 1049). Daß es sich um alte Dialekte handelt — füge ich hinzu — ,
geht hervor aus Quint. 12, 10, 34: illis [sc. Graecis] non verboram
modo, sed linguarura etiam inter se differentiura copia est. (Daß
es sich bei Crassus um die alten Dialekte handelt, hebt richtig Kretsch-
mer hervor, Entst. d. Koi. S. 35).
Im allgemeinen lassen sich dialektische Verschiedenheiten nur
schwer feststellen. Dies liegt nicht nur in der Ungleichheit unserer
Quellen, sondern auch daiin, daß z. B. lautliche Nuancen feinerer Art
in der schriftlichen Darstellung überhaupt nur selten zur Geltung
kommen; und doch dürfen wir gerade in solchen lautlichen Dingen
wichtige Nuancen vermuten.
Der angebliche alexandriuische Dialekt.
Schon die alexandrinischen Grammatiker und dann die Neueren
seit Sturz reden vielfach von 'alexandrinischera Dialekt'. Nach Thumb
sind w'ir heute nicht berechtigt, einen solchen Dialekt anzunehmen, und
man stimmt ihm darin zu (z. ß. W. Scbmid, W. f. k. Ph. 1901, Sp. 600,
Kroll Herrn. 30, S. 462). Was für Kennzeichen der Mundart von
Alexandria ausgegeben wird, sind einfach Merkmale der Koine *) Eine
*) Ob man freilich so leichten Herzens über die Augaben der alten
Grammatiker liiuweggebeii darf, ist mir nicht ausgemacht. Ich habe auf
unsere Frage hin einen sprachlichen Vorgang untersucht und will hier das
Resultat mitteilen. Es handelt sich um die Perfekta mit der Endung 3. PI.
-c/v. Darüber liest man bei Thumb (S. 170) : „Wenn Sextus Empiricus uns
z. ß. belehrt Li^iz oj; -q tm^jÖ: toT: WXs^cfvopiu^'.v eXr^/.uD-ofv xci ä-i/.rj/.'jDvv, so
wissen wir jetzt besser, daß die Übertragung der Aoristendung -cv auf das
Perfektum räumlich sehr viel weiter verbreitet war; der Ausweg Bureschs,
daß die Neuerung ,besonderö auf alexandrinischem Gebiet vollzogen
wurde', läßt sich angesichts der Belege aus Kleinasieu, Kreta, Lakonien
usw. nicht offen haltt n." Sehen wir uns die Belege näher au. Zu den bei
Dieterich S. 235 f angeführten Beispielen aus den Papyri sind hinzuzufügen:
a/.Yj'ictv P. Par. 25, Z. 17, P. Leid, ß Subskr. 3 (aus der königlichen Kanzlei!)
--= P. Brit. 17, 23 (163 v. Chr.), i-'.o:o..ixc/v P. Brit. 17, 49 (162 v Chr.). Ich
erwähne ferner, daß P. Par. 31, 23 (a. 162) der Schreiber zuerst statt
r,c,u<>y.(/\i.z-j •(^\.w7.rjy (j.£v schrieb. Wenn wir von dem zuletzt genannten und
dem in der Londoner Kopie 17, 23 vorkommenden Belege absehen, ge-
winnen wir aus den ptolemäischen Papyri 3 weitere Belege. Zu den ia-
fichriftlichen Belegen bei Dicterich ist aus Schwezer hinzuzufügen: uiuwm*
Oreek Inscr. Brit. M. 3, 1, Nr. 420, 57 (Priene, Mitte d. 2. Jhd. ▼. Chr.).
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1 898— 1902. (Witkowski.) 190
Scheidung von alexandrinischem und sonstig'em ägyptischen Griechisch
läßt sich mit unseren Hilfsmitteln nicht durchführen. Dali das ägyp-
tische Griechisch seine besonderen Kennzeichen hatte, ist glaublich;
Thumb führt unter Modifizierung der Annahme von Buresch (Philol.
51, S. 84 ff.) drei solche einigermaßen charakteristische Erscheinungen
an: die Vertauschung von Tennis Media und Aspirata, die Verwechse-
lung von Tj oti e i und die Ausstoßung des intervokalischen 7; vielleicht
ist dazu der Abfall des auslautenden Nasals hinzuzufügen.*) Mit Recht
bemerkt dabei Thumb (S. 174), daß von der ägyptischen Koine das
Griechisch der nichthellenisierten Ägypter wohl zu scheiden ist.
Daß es kein Juden griechisch, das eine Abart des Dialekts
von Alexandria sein soll, und keine besondere biblische Gräzität gab,
davon rede ich in dem Kapitel über die biblische Gräzität.
Dialektische Differenzierung der Koine läßt sich aber nicht nur
aus den urkundlichen Quellen, sondern auch durch vergleichende Unter-
suchung neugriechischer Dialekt formen und der alten Überliefe-
rung erschließen. Was die Methode betrifft, so muß man nach Thumb
folgenderweise verfahren: wenn es uns gelingt, eine dialektisch ge-
bliebene Neuerung ins Altertum hin aufzurücken und daneben das "Weiter-
leben des Alten festzustellen, dürfen wir von den Anfängen dialektischer
Mit Rücksicht auf die Herkunft stammen nun 9 Beispiele aus Ägypten , 5
aus Griechenlaud, 4 aus Kleinasien, 1 aus Rom. (Von den lit-raiischea
Beispielen: 10 aus dem Neuen Testament [so Winer- Schmiede! S. 113, 15;
Dieterich führt nur 5 Belege an] und 3 aus den falschen Sibyllinen,
sehe ich ab.). Wenn wir daher die Inschriften und Papyri reden lassen,
so nimmt Ägypten doch die erste Stelle ein. Ich will auf diese Tat-
sache kein Gewicht legen, deun sie hängt vielleicht mit der Beschaffen-
heit unseres Materials zusammen, aber man könnte Buresch in einem ge-
wissen Sinne recht geben: zwar nicht in dem Sinne, daß die Neuerung
-besonders auf alexandrioischem Gebiet vollzogen wurde', aber daß sie in
Ägypten besonders verbreitet war; dann würde auch Sextus' Behauptung
berechtigt erscbeiaen (mit der geuannten Modifikation, daß man nicht an
Alexandrien, sondern an Ägypten denkt). Ich bemerke, daß ich nur die
ptolemäiscben Papyri und nur deren Publikationen bis 1894 berüiksichtigt
habe; sonst würde man ohne Zweifel mehr als 9 Beleee finden. Was die
Chronologie betrifft, stammt das älteste Beispiel (3. Jhd.) allerdings aus
Kleinasien, im 2. Jhd. fiuden wir 2 Belege aus Kleinasien und 7 aus
Ägypten, im 1 Jhd. 4 aus Griechenland. (Vier Belege kann ich chronolo-
gisch nicht bestimmen.) Also ist die Erscheinung in Ägypten früh und
häufig zu belegen.
*j In der Vertauschung von Tenuis Media und Aspirata, ferner in
dem Abfall des auslautenden v sieht Hatzidakis Barbarismen (G. g. A. 1899
S. 510).
200 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S9S— 1902. (Witkowski.)
Differenzierung der Koine reden. Darin kann man Thumb wohl recht
geben. Solche alten Dialektmerkinale sind für Thumb:
1. Die Entwickeluug des „irrationalen" oder parasitischen 7
(axoüvo), xXaqcj). 2. Palatalisierung des 7. vor e, i in ts, t^ oder ts.
Die Beispiele, auf welche sich Th. hierbei stützt, sind jedocli ganz un-
sicher und deshalb schwebt das hohe Alter dieser Erscheinung völlig
in der Luft. 3. Vereinfachung der Doppelkonsouans. 4. Übergang
vou A. -+- KoDSonans in p + Konsonans; für das Neugriechische stützt sich
Th. auf die Form dSsX^o? (= allg. gr. doepcpoc), die er in der Gegend
von Samsun notiert hat, und auf döX^o. das er von einem Kappadokier
hörte. Th. dürfte aber übersehen, daß die neugriechischen Formeu
(dosXfpo;) auch auf dem Einflüsse der Schule oder der Kirchen-
sprache beruhen können; auch sonst ist manche Dialektform auf den
Einfluß der Sehrittsprache zurückzuführen; solche gelehrten Formen
gebrauchen Bauern im Gespräch mit Gebildeten, besonders aber mit Aus-
ländern, überall. 5. Die pontische Aussprache des t) als e. 6. Ver-
schiedene Aussprache des u: nebeneinander existierte die Aussprache als
ü und i und wahrscheinlich auch u und in. — Lediglich für möglich
hält dagegen Th., daß unbetontes a neben Liquiden zu z wurde (neu-
griechisch -/psß^üCTi = altgriechisch xpap^a-tov).
Auf dem Gebiete der Flexion schreibt Th. der Koine folgende
Erscheinungen zu:
1. In der 3. PI. Act. standen nebeneinander die Endungen v und
Ol (cpepouot : «pepouv, eXaßav : eXaßaai). 2. Die Neubildungen auf -jav in
der 3. PI des Impf, und des starken Aor. waren in der Koine lokal
beschränkt (das östliche Mittelgriechenland war wohl ihre Heimat). (In
diesem Punkte trifft Thumb mit Kretschmer im wesentlichen zusammen;
über den Grund der üppigen Wucherung dieser Endung — beabsichtigte
Herstellung von Gleichsilbigkeit — vgl. Kretschmer, Entstehung S. 9 f.).
3. Th. fragt, ob nicht auch die Ausbildung des neugriechischen x-
Aoristes in einigen neugriechischen Dialekten (axo-jza = axooia) in die
Koine zu verlegen sei.
6. Die Sprache der griechischeu Bibel.
Bis in jüngste Zeit hörte man über die Stellung der biblischen
Gräzität ganz schiefe Urteile. Es wurde vom „Judengriechisch", von
Hebraismen (Semitismen) der biblischen Sprache usw. gesprochen. Es ist
ein Verdienst A Deißmanns, mit den Vorurteilen, die auf diesem Gebiete
herrschten, aufgeräumt zu haben. Die philologische mit der theologischen
Schulung verbindend, erkannte er den Zusammenhang der biblischen
Gräzität mit der gleichzeitigen Koine und wies sie sowohl prinzipiell
Bericht üb, d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 201
als auch in zahlreichen Einzelfällen nach. Dies tat er vor allem in seinen
Büchern: Bibelstudien (Marburg 1895) und: Neue Bibelstndien (Mar-
burg- 1897)."} Die Resultate seiner Forschungen sind kurz zusamraen-
.zefaßt in seinem Schrit'tchen:
Die sprachliche Erforscliung- der grieclii sehen Bibel»
ihr gegenvvärtijier Stand und ihre Aufgaben. (Vorträge der theolo-
gischen Konferenz zu Gießen. XII.) (Gießen 1898),
sowie in dem Artikel;
Hellenistisches Griechisch (mit besonderer Berücksichtigung
der griechischen Bibel), in der: Realenzyklopädie für protestantische
Theologie und Kirche. 3. Aufl., Bd. VII. (Leipzig 1899), S. 627—639.
Die letztere Arbeit stellt die wichtigere Literatur über die
Koine zusammen und handelt über Definitionen des Begriffes Koivv^, über
ihren Namen, Charakter und ihre Entstehung, über Differenzierungen
der Koine und über die griechische Bibel als Denkmal des hellenistischen
Griechisch. Auf die in dem ersten Teile dieser Arbeit niedergelegten
Ansichten D.s ist bereits im Vorstehenden Bezug genommen worden;
auf den Inhalt des zweiten Teiles sowie denjenigen seines Schriftchens
„Die sprachliche Erforschung der griechischen Bibel" will ich jetzt
genauer eingehen. Es sei vorher erwähnt, daß D. die wichtigere Koine-
Literatur der letzten Jahre mit besonderer Berücksichtigung der bi-
blischen Sprache in zwei Berichten in der Theolog'ischen Rundschau
besprochen hat u. T, : Die Sprache der griechischen Bibel.
(Septuagiuta, Neues Testament und Verwandtes), Bd. I. 1898,
S. 463-472 und Bd. V, 1902, S. 58—69.
Auf Deißmanns Arbeiten fußt A. Thumb. In seinem Buche
„Die griechische Sprache" handelt er über die biblische Gräzität an
zwei Stellen: in Kap. IV (über Semitismen der biblischen Gräzität)
und in Kap. V (über die Stellung der biblischen Gräzität). Derselbe
Gelehrte suchte in seinem vor der 46. Versammlung deutscher Philo-
logen gehaltenen Vortrage:
Die sprachgeschichtliche Stellung des Biblischen Grie-
chisch (Theol. Rundschau, V, 1902, S. 85—99)
die Stellung zu fixieren, welche die Sprache des N. T, im Zusammen-
hang der gesamten sprachlichen Entwickelung einnimmt, wobei er auf
*) G, A. Deißmann, Bible Studies. Contributions , chiefly from
papyri and inscriptions, to the history of the language, literature and
religion of hellenistic Judaism and primitive Christianity. Authorised
translation ... by A. Grieve. Edinburgh 1901 ist eine Übersetzung
dieser beiden Werke D.s. Sie enthält Zusätze und Korrekturen. (.Vgl.
Thumb, Arch. f. Pap. 2 S. 415.)
1^02 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 189S - 1902. (Witkowski.)
das "Wesen der Koine und andere die Gemeinsprache betreffende Fragen
«■ingiiig.
Ich will hier versuchen, die Ansichten Deißroanns und Thurabs
wiederv.ugeben. Wie bereits in der Vorrede bemeikt worden ist, werde
ich mich haujitsSchlich auf die Septuaginta beschränken, die Sprache
des Neuen Testamentes nur kurz berühren.
Daß die biblische Gräzitiit so lange als etwas Isoliertes, Einzig-
artiges betrachtet worden ist, hat seinen Grund darin, daß noch vor
kurzem die Septuaginta und das Neue Testament im wesentlichen die
einzigen Zeugen der hellenistischen Umgangssprache waren. Man merkte
leicht den Abstand des Giiechischen dieser Texte von dem , klassischen-'
Attisch. Man merkte aber auch den Unterschied zwischen der Sep-
tuaginta und z. B. Polybios; namentlich in der Syntax war dieser Unter
schied auttallend. So schuf man den Begriff .Judengriechisch". Erst
das Studium der Papyri und In-chrifteu ei möglichte eine richtige Beur-
teilung der Bibelspiache. Viele wollten früher einen Einfluß des Se-
mitischen auch in dem grammatischen Bau des Griechischen finden.
Was die Flexionsformen betrifft, so meinte Schraiedel, daß das in der
Apokalypse vorkommende Wort -/.a-r^^wp eine ., aramäische Zustutzung"
von xatr^Yopoc sei. Doch haben W. Schmid (W. f. k. Ph. 1899, Sp. 541
und 1901, Sp. 602) und Thnmb (S. 126) nachgewiesen, daß xaTr,7(up
eine ecbtgriechische Bildung ist. Es stellt sich immer deutlicher heraus,
daß die Laut- und Formenlehre der biblischen Sprache die charak-
teristischen Züge der Umgangskoine zeigt. Selbst das Wort spauvao)
(statt ipeuvau)), das als ein spezifisches Kennzeichen des Bibelgriechisch
galt, ist jetzt außerhalb des biblischen Griechisch nachgewiesen.*) Der
Wortschatz der Bibelsprache ist noch nicht allseitig durchforscht, aber
es ist schon gelungen, mehrere vermeintliche Hebraismen auf diesem
Gebiete als Schöpfungen griechischen Geistes zu erweisen, und diese
wenigen Fälle sind von prinzipieller Bedeutung: man ist berechtigt, in
der Zulassung von Semitismen sich sehr skeptisch zu verhalten. Nach
dem Urteile Tliumbs (S. 120 f.) wird von Winer-Schmiedel (Gramm,
d. ueutestam. Giiechisch) der semitische Einfluß immer noch überschätzt.
Das griechische Judentum und das Christentum haben ohne Zweifel
neue Wörter und neue Wortbedeutungen geschaffen, aber das ist eine
Tatsache der Religiousgeschichte, nicht der SpracLgeschichte. Deiß-
mann (Realeuz. S. 636 f.). sagt mit Recht: „Wer spricht von einer
Mundart der Stoa oder einer Gräzität der Gnosis? Wer schreibt eine
Grammatik des Neuplatonismus? Und doch haben alle diese Bewegungen
den griechischen Wortschatz bereichert und verändert," Die Syntax
') Krctschmer erinnert auch an theräische Formen '^üspyiT-z;, r/ix^ob--.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jabren 1898—1902. (Witkowski.) 203
der ffriechiscben Bibel scheint noch am ersten die Annahme eines
, biblischen" Griechisch zuzulassen. Konstruktionen, Wortstellungen
und Satzbau, wie wir sie z. B. in den Psalmen oder in den Evanj^elien
lesen, finden sich nicht einmal in den vulgärsten Papj^ri (Deißmann).
Dies eiklärt sich aus der Eigenart der biblischen Schriften. Sie zer-
fallen sprachlich in zwei große Gruppen; in originalsriechische Scbriften
nnd Übersetzungen semitischer Vorlagen. Die Septuaginta ist
vorwiegend Übersetzer griechisch; uvsprünglicbgriechisch sind
einige Apokryphen des Alten Testamentes (z. B. das vierte Makkabäer-
buch). Beim Neuen Testament sind nach der Annahme der Theologen
die meisten Teile der sj'iioptischen Evangelien und vielleicht einiges aus
der Apokalj^pse des Johannes Übersetzungen aramäischer (hebräischer)
Vorlagen (so Deißmann, Sprachl. Erforschung S. 9). — Die original-
griechischen Schriften der Bibel sind Denkmäler eines wirklich gespro-
cheneu Griechisch. Die Übersetzungen ahmen die Eigentümlichkeit der
fremden Vorlage nach. Halten wir da, wo das semitische Original
noch vorhanden ist, den Urtext neben die Übersetzung, so sehen wir,
wie Semitismus für Semitismus eben sklavische Nachahmung des Ori-
ginals ist (Deißmann). Auf die Frage: deckt sich dieses Übersetzer-
griechisch mit der griechischen Umgangsspraclie der Übersetzer oder
ist es ein ad hoc zurechtgemachtes, von der Vorlage abhängiges
Oriechisch? — ist zu antworten: es ist ein künstliches, papiernes, kein
gesprochenes Griechisch.*) Mitunter finden wir in einer und derselben
biblischen Schrift das Nebeneinander dieser beiden Arten von Griechisch:
so sind die Prologe des Buches Sirach und des Lukasevangeliums
originalgriechisch, die Schriften selber aber sind von semitischer Vor-
lage abhängig (Deißmann, Realenz. S. 638). Das angebliche Juden-
griechisch ist also nicht lebendige Sprache gewesen, sondern ist durch
die Methode der Übersetzung veranlaßt. Die Semitismen sind hier
okkasionell; daneben gibt es nach Deißmann auch usuell gewordene.
In bezug auf syntaktische Semitismen sind die Meinungen
nicht ganz einig. Viteau, der die Syntax der Septuaginta und des
Neuen Testamentes auf diese Erage hin am gründlichsten untersucht
hat, geht in der Annahme von sjmtaktischen Semitismen weit. Von
den Schriften des Neuen Testamentes sagt er: „on remarque dans la
langue du N. T. un grand nombre d'expressions et de constructions
hebraisantes ou purement hebraiques" (Etüde sur le grec du Nouveau
Testament. Le verbe, Paris 1893, S. 233). Auch Swete ist .geneigt,
viele Seraitismen in der LXX anzunehmen (Introduction to the Oid
") [Hier und sonst bietet die sog. Africitas ganz analoge Erschei-
nungen; so sei für Cbersetzerlatein auf Rhein. Mus. b'2 S. 580 verwiesen. W. K.J
; 204 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahrea 1898-1902. (Witkowski.)
Testament in Greek, passim), vgl. S. 9: „Into tbis hybrid speech
(sc. the patois of the Alexandrian streets) the Jewish colony would
infuse ... a strong colouiing of Seraitic thought, and not a few
reminiscences of Hebrew or Aramaic lexicography and grammar. Such
at any rate is the monument of Jewish-Egyptian Greek which survives
in the earlier books of the so-called Septuagint." Zurückhaltender
urteilt Deißraann (a. a. 0 ). Andere sind noch weniger als Deißmann
geneigt, syntaktische Seraitismen zuzugeben. Schmiedel sagt von den
tibersetzeru dei" Septuaginta: „geradezu ungriechische Konstruktionen
haben sie in der Regel nicht" (Winer- Schmiedel, Gramm, d. neu-
testam. Griechisch S. 29). Mit Mißtrauen steht der Annahme von
Semitismen auch Thumb entgegen (Die griech Spr. S. 129 ff.). Er
sieht von der Septuaginta ab, weil „für syntaktische Fragen eine
Übersetzung überhaupt nur von sehr bedingtem Weite ist"; der speziell«
Wert der Septuaginta sei nach den einzelnen Stücken sehr verschieden,
da die Verfasser bald ziemlich frei, bald wörtlich übersetzen. Die
Frage nach Hebraismen gewinnt nach Thumb nur da eine gewisse
Berechtigung, wo der Gebrauch der Septuaginta mit der Syntax des
hebräischen Originals einerseits und des Neuen Testaments andererseits
übereinstimmt. Solange die Sprache der Papyri nicht untersucht sei,
müsse eine Antwort darauf, ob ein Hebraismus vorliege, in den meisten
Fällen unbefriedigend bleiben. Thumb will nicht behaupten, daß die
biblische Gräzität von hebräischer Ausdrucksform gänzlich frei sei,
aber der fremde Einfluß äußert sich nach ihm mehr im Stil und in der
Denk- und Anschauungsweise als in der Sprache im engern Sinn:
unhellenisch sei der Satzparallelismus der Septuajiinta, die Verwendung
der Parabel im Neuen Testament (hierin folgt er Norden, Antike Kunst-
prosa S. 509). Er leugnet einen Einfluß des Hebiäischeu beim Gebrauch
von Aktivum und Medium, den Viteau angenommen hatte. Auch
sei gegenüber dem häufigen Gebrauch der Präpositionen Zurück-
haltung des Urteils nötig (S. 12«), weil die reiche Gestaltung des prä-
positionalen Ausdrucks ein Kennzeichen der spälgiiechischen Sprache
sei. Auch andere Erscheinungen wie ouo o6o 'je zwei', il (zl) fir^v,
oTToo =^ 'auf welchem' oder Verbindung des deklinierten Relativums
und des im entsprechenden Kasus hinzugefügten auios sollen auf zu-
fälligem Zusammentreffen griechischer Sprachentwickeiung und hebräischen
Gebrauches beruhen.
Ist die griechische Bibel Denkmal der Umgangs- oder der Literatur-
sprache? Diese Frage ist noch nicht eingehend untersucht. Heute
kann man nur soviel sagen, daß das Bibelgiiechisch wesentlich der
Umgangssprache zuzurechnen ist: dies gilt für die Sprache der meisten
Bücher der LXX und der Evangelien (Deißmann S. 639). Innerhalb
Bericht üb. d Literatur zur Koinc a. d. Jahreu IS'.^S— ]!)0t>. (Witkowski.) 205
der beiden Hauptgruppen : der übersetzten und der On'ginalschriftcn,
linden sich aber Verschiedenheiten. Die Übersetzungen sind nicht von
einer und derselben Hand sremacht. Es liegen hier sprachlich disparate
Elemente nebeneinander. Nach Deißmann (S. 638) ist es zweifellos,
daß sich einzelne Schriften der Literatursprache bedienen oder bedienen
wollen. Die Hebräerepistel z. B. meidet den Hiatus und zeigt nach
Blaß (Gramm, d. neutest. Griech. S. 290) im Satzbau nnd Stil die
Sorgfalt und das Geschick eines Kunstschriftstellers. Nach Deißmann
sind die Paulusbriefe Denkmäler der Timgangssprache, obwohl auch
Paulus rhetorisch angehaucht ist.*) Ähnlich urteilt Thnmb. Die
Septuaginta, das Neue Testament und die altchristliche Literatur richten
sich an ein größeres Publikum, sie erheben sich über eine lokale
Pärbung und bedienen sich einer ,, Durchschnittssprache" (Gr.Spr.S. 169).
Das N. T. zeigt den Versuch, die lebende Sprache der Zeit literatur-
fähig zu machen (Theol. Rundsch. 5, 1902, S. 93). Auch Th. gibt zu,
daß die Unterschiede des A. und N. T. sowie die Unterschiede der
verschiedenen Autoren des N. T. darin bestehen, daß die Wortwahl,
das Verhältnis zwischen der Umgangssprache und der klassischen
(attischen) Korrektheit oder die stilistische Form in den einzelnen
Schriften, ja selbst innerhalb dieser, verschieden ist (Gr. Spr. S. 183 f.).
Das individuelle Gepräge einzelner Autoreu zeigt ihren Anteil au den
literarischen Vorgängen der Zeit. ,, Lukas und Paulus z. B. stehen
diesen nicht fremd gegenüber, uud so liefert auch das Studium des
Neuen Testamentes einen interessanten Beleg für den Kampf zwischen
Literatur- und Volkssprache" (S. 184). Norden (Ant. Kunstpr. II
485 ff.) hat durch eine Gegenüberstellung einer Reihe gleicher Sätze
der Synoptiker gezeigt, „daß Lukas au einer überaus großen Anzahl von
Stellen das vom klassizistischen (attischen) Standpunkt aus Bessere hat";
er vermeidet nicht nur aramäische und lateinische Wörter, sondern auch
solche hellenistische Ausdrücke, welche von den Attizisten verworfen
werden, und verwendet Formen der attischen Grammatik statt der
hellenistischen (Thumb, Gr. Spr. S. 1 84).
So wenig es ein spezifisches „Bibelgriechisch" gibt,**) so wenig
gibt es ein Judeugriechisch überhaupt. Das hat ebenfalls Deiß-
mann nachgewiesen. Ilim folgen Thumb, W. Schmid (W. f. k. Ph.
1901, Sp. 600) u. a. Die Septuaginta ist kein Zeugnis für dieses
Griechisch; die Sprache, die nach Abzug von Eigenheiten der Über-
*) Gegen die Annahme Nordens (Ant. Kunstprosa), daß der Stil des
Paulus unhellenisch ist, haben die Theologen Widerspruch erhoben (vgl,
Thumb Arch. f. Pap. 2 S. 420).
**) Dies wird allgemein anerkannt, vgl. z.B. W. Schmid, W. f. k. Ph.
1901, Sp. 600.
206 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
Setzung übrigbleibt, ist die gewöhnliche Koine (Thumb, Gr, Spr. S. 175).
Die Juden in Alexandria und überhaupt in Ägypten waren in der
Sprache völlig hellenisiert, so daß sie das Hebräisch erst nachträglich
lernten. Hochgebildete jüdische Schriftsteller wie Philon oder Josephus
Flavius schreiben ein völlig reines Griechisch (S. 125). Ebensowenig
ist die Sprache des Neuen Testamentes eine judengriechische Mundart.
Die biblische Gräzität ist also kein Dialekt der Koine. Eine gewisse
P^ic;enart zeigt vielleicht die Sprache der palästinischen, nichthell i-
nisierten Juden. Griechische Lehnwörter der rabbinischen Schriften
zeigen vielfach eine andere Bedeutung als dieselben "Wörter im Alten
und Neuen Testament.
Auf den Bericht über die Stellung der biblischen Gräzität lasse
ich eine Übersicht über die übrigen, die Septuaginta betreffenden
Schriften folgen. Sie würde passender ihren Platz in dem besonderen
Teile dieses Beuchtes finden, aber es scheint mir wenig geboten, den
Bericht über die Septuagintaforschung auf diese Weise in zwei. Stücke
zu zerreißen.
Die Reihe dieser Arbeiten eröffnet
H. B. Swete, An introduction to the Old Testament in
Greek. With an appeudix containiui; the Letter of Aristeas edited
by J. Thackeray. Cambridge 1900.*)
Eine Einführung in die Septuaginta war seit langem Bedürfnis,
sowohl in Deutschland als in England, diesem „klassischen Lande der
Septuagintaforschung" (H. Lietzmann, G. g. A. 1902, S. 329). Swete s
Introduktion ist die erste ihrer Art, und sie muß als ein ausgezeich-
netes Werk bezeichnet werden. Auf jeder Seite hat mau beim Lesen
den Eindruck, daß der Vf. mit den zahlreichen und schwierigen Pro-
blemen der Septuagintaforschung wie wenige vertraut ist. Alle Fragen,
die sich an die Septuaginta knüpfen, finden in dem Buche eine ein-
gebende Erörterung.
Die Mehrzahl der Fragen, die in dem Sweteschen Buche berührt
werden, liegt außerhalb der Rahmen dieses Berichtes, deshalb kann ich
den Inhalt mancher Kapitel nur ganz kurz skizzieren. Das Buch zer-
fällt in 3 Teile: 1. The hibtory of the Greek Old Testament and of
its transmission. 2. The contents of the Alexandrian Old Testament.
3. Literary use, value and textual condition of the Greek Old
Testament.
Kap. I. „The Alexandrian Greek Version" bringt eine knappe
Entstehungsgeschichte der jüdischen Gemeinde in Alexandria und er-
*) iDzwischen ist das Buch in 2. Auflage erschienen (London 1903^.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902, (Witkowski.) 207
zählt, unter welchen Umständen und wann in den jüdischen Kreisen
dieser Stadt die Septuaginta entstand. Es ist möglich, daß das Penta-
teuch schon unter Philadelphos übersetzt worden ist, unrichtig' dagegen
die Nachricht, die Demetjios von Phaleron daniit verknüpft oder die
Übersetzung auf Wunsch des Königs unternommen sein läßt. Der König
hat aber vielleicht „encouraged the work of translation" und zwar aus
l)olitischen Gründen. Die Propheten sind übersetzt vor 132 v. Chr.
Vor Beginn unserer Zeitrechnung besaß Alexandrien sämtliche oder
fast sämtliche Schriften des A. T. in griechischer Übersetzung. Kap. II.
„Later Greek versions"* handelt über die Entstehung der übrigen grie-
chischen Übersetzungen des Alten Testamentes, vor allem der von Aquila,
Theodotion und Syniraachos (alle drei im 2. Jhd. n. Chr.). Kap. III.
„The Hexapla and the Hexaplaric and other recensions of the Septua-
ginf gibt die Geschichte dieses grolkn Werkes des Origenes (3. Jhd.).
Kap. IV handelt über die „Ancient versions based upon the Septua-
gint". Kap. V bringt ein dankenswertes Verzeichnis der LXX Hand-
schriften; die Uiizialen weiden genau beschrieben, die Minuskelhand-
schriften nach Holmes-Parsons aufgezählt. Beim Oktateuch stellt Sw.
alle für die neue Cambridger LXX kollationierten Handschriften zu-
sammen. Kap. VI bespricht die Ausgaben der LXX und gibt Geschichte
und Cbarakteristik der wichtigeren.
Der IL Teil des Werkes beginnt mit der Geschichte des Kanons ;
die erhaltenen Verzeichnisse der LXX-Schriften werden abgedruckt.
Kap. II handelt über das Verhältnis der LXX (^masa zum hebräischen
rethischen) Texte. Kap. III bespricht die nur griechisch erhaltenen
Schriften. Kap. IV. ,The Greek of the Septuagint". Wir finden hier
die erfreuliche Mitteilung, daß eine Giammatik der Septuaginta von
einem „kompetenten Gelehrten" vorbereitet wird. Vf. spricht über den
Wortschatz, Konstruktionen und ,. Orthographie" dieses Griechisch. Es
folgt ein Abschnitt über die Wortbildung, Deklination und Konjugation,
sowie über die Syntax. In philologischer Hinsicht ist in diesem Kapitel
manches anfechtbar; so wird z. B. unter „Orthographie" manche
Eischeinung genannt, die in das Kapitel der Lautlehre gehört u. dgl.,
aber die Zusammenstellung der wichtigsten Erscheinungen, z. B. auf
dem Gebiete des Wortschatzes, ist dankenswert. Das Verhältnis der
Sprache der LXX zur Koine ist nicht ganz richtig dargestellt: Sw.
!-pricht zu viel von dem Judengriechisch und Alexandrinisch. Kap. V
handelt von dem Übersetzungscharakter der LXX. Swete nimmt ziem-
lich viele Semitismen an. Die Darlegungen über die Schwierigkeiten,
die die Übersetzer zu überwinden halten, und über die Art und Weise,
wie sie sie überwunden haben, enthalten interessante Einzelheiten.
Kap. VI behandelt Vers- und Kapitelteilung, Lektionen und Katenen.
208 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898 - 1002. (Witkowßki.)
Im III. Teile des Buches spricht Sw. über die Benutzung der
LXX durch Nichtchristeu , durch die Autoreu des Neuen Testamentes
und Christen, über die griechischen Übersetzungen as aids to Biblical
study, über den Einfluß der LXX auf die christliche Literatur, über
die textual conditiou der LXX und die damit verbundeneu kritischen
Probleme.
Der reiche Inhalt des Werkes ist von mir nur skizziert. Die
Swetesche Arbeit ist ein unentbehrliches Hilfsmittel für jeden Sep-
tuaginta- und Koineforscher. Die klare Sprache des Buches verdient
besonders hervorgehoben zu werden.
Eine Einführting in die Septuagiuta gab gleichzeitig mit Swete
ein deutscher Gelehrter
*W. Baudissiu, Einleitung in die Bücher des Alten Testamentes.
Leipzig 1901. (Rez. Eiedel, Theol. Literaturblatt 23.)
Über die Bedeutung der LXX für die Geschichte der griechischen
Sprache handelt
*J, Korsunskij, Perevod LXX . . . (Die Übersetzung der
LXX, deren Bedeutung in der Geschichte der griech. Sprache und
Literatur.) (Russisch.) Petersburg 1898.
Die sprachliche Seite der Septuagintaforschuug ist em gänzlich
vernachlässigtes Gebiet. Im Jahre 1898 klagte Deißraann: „Eigentlicli
grammatische Untersuchungen zu den LXX fehlen ganz" (Sprachl. Er-
forsch, d. gr. Bibel, S. 18). Seit dieser Zeit ist es nicht besser ge-
worden; nicht eine einzige Arbeit ist auf diesem fruchtbaren Gebiete
zu verzeichnen. Eine Grammatik der LXX ist erfreulicherweise in
Aussicht gestellt, ein Wörterbuch leider noch nicht. Cremers Biblisch-
theologisches Wörterbuch der Neutestamentlichen Gräzität dient zurzeit
für die meisten Wörter zugleich als Wörterbuch der LXX. Über die
Schwierigkeiten eines LXX -Wörterbuches spricht Deißmann, Sprachl.
Erforschung, S. 15, wobei er seine Ausführungen an Beispielen de-
monstriert. Derselbe Gelehrte betont die Notwendigkeit exegetischer
Bearbeitungen einzelner Bücher der LXX.
Zu verzeichnen sind hier nur ein paar kleine Artikel von Eb.
Nestle, die Einzelheiten des Sprachgebrauchs behandeln.
'•'Eb. Nestle, Septuagiuta und Bibelvulgata. (Ein merk-
würdiger Sprachgebrauch.). Blätter f. bayr. Gymn.-Schulwesen 1898,
S. 737.
Derselbe, Ein moabitischer Stadtname in den grie-
chischen Wörterbüchern (Philol. 59, 1900, S. 312)
•Bericht üb. d, Literatur zur Koine a. d. Jahren 189S— 1902. (Witkowski.) 209
beseitigt aus griechischen Wörterbüchern das Appellativum y.Etpa;, «So;
'geschoren' lerem. 48, 31, indem er es durch den Eigennamen KeipdSac
oder besser Kstp 'A8az ersetzt, welcher Transkription des von den LXX
als kir hadäs gelesenen moabitischen Ortsnamen ist und V. 37 uoch
einmal in derselben Transkription vorkommt. (In der neuesten Ausgabe
von Swete und in der Konkordanz von Hatch-Redpath steht der Name
noch als Appellativum.)
Derselbe, Die Geschichte eines Druckfehlers (T:avr6^po/o;
in 3. Macc. 6, 4). B. ph. W. 1901, Sp. 28—30.
Das falsche -av-coßpoyoy? für rovToßpoyou; steht bereits in der
Sixtiua (1586/7).
"'Derselbe, äpro;. Bienenbett. [Hohesl, 5, l.J Korrespondenzbl.
f. d. Gelehrten- u. Realschulen Württ. 9, 1902, S. 95—98.*)
*W. Dittmar, Vetus Testamentum in Novo. Die alttesta-
mentlichen Parallelen des N. T. im Wortlaut der Urtexte und der
Septuaginta zusammengestellt. 1. Hälfte: Evangelien u. Apostelge-
schichte. Göttingen 1899.
mir bekannt aus der Rezension von Eb. Nestle in der D. L. Z.
1899, Sp. 1697 — 9, enthält ein nach der Reihenfolge der alttestament-
lichen Bücher geordnetes Stellenverzeichnis (S. 170 — 175), das reicher
ist als dasjenige von Theile in dessen Ausgabe des N. T.
Der Aristeasbrief.
Die Ausgabe des Aristeasbriefes
Aristeae ad Philocratem epistula. Cum ceteris de origine
versionis LXX icterpretum testimoniis Ludovici Mendelssohn schedis
usus ed. P. Wendlaud. Lipsiae 1900
«nthält einen trefflichen Index verborum (S. 170 — 220), in v/elchem
bei den einzelnen Wörtern angegeben wird, ob sie in der LXX, bei
Polybios, in den PapjTi, Inschriften usw. vorkommen. Wichtigere
Wendungen und Redensarten des Aristeas werden aufgezählt. In den
Observatioues graramaticae sind die wichtigsten grammatischen Er-
scheinungen zusammengestellt. — Von der Entstehungszeit des Briefes
urteilt W. (p. XXVII): „libellus noster posteriori Maccabaeorum aetati
tribuendus est. Eum ante Romauorum a. 63 in Palaestinam invasionem
scriptum esse patet. (Dies folge ans der Schilderung der Verhältnisse
und ans den in dem Briefe vorkommenden Namen.)
'") E. Nestle, Septuagintastudien III. (Beilage z. Progr. d.
theol. Seminars Maulbronn.) Stuttgart 1S99 enthält Textkritisches zum apo-
kryphen Gebet Manasses und zum Buche Tobit.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (190t. I.; 14
210 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898- 1 902. (Witkowski.)
L. Raderra acher, BaatXeuc 'Avxtoyo? Oavi'ct (Rh. M. 56, 202 ff.)
behandelt den bei Athen. 12, 547a mitgeteilten Brief eines Königs
Antiocbos und kommt auf Grund der Vergleichung der Sprache
dieses Briefes mit der Sprache des Ps. Aristeas und der LXX zu
dem Resultat, daß dieser Brief in der Volkssprache geschrieben
und daher gefälscht ist. Der Fälscher ist in den jüdischen Kreisen
Ägyptens zu suchen,
7. Die achäisch dorische und die nordwestgriechische Koine.
In den Staaten des achäischen Bundes bildete sich in unserer
Epoche eine achäisch-dorische Gemeinsprache. Wir können ihr
Wirken besonders auf dem Boden Arkadiens erkennen. Literatur hat
sie nicht hervorgebracht; der Arkadier Polybics bedient sich nicht ihrer,
sondern der attischen Koine. Sie dauerte ungefähr 200 Jahre; mit
Beginn der Kaiserzeit ist sie der attischen Koine unterlegen.
Auch in den Staaten des ätolischen Bandes begegnen wir einer
Gemeinsprache. Diese Gemeinsprache hält man für eine von der achäisch-
dorischen verschiedene und nennt sie 'nordwestgriechische Koine*
(R. Meister, B. ph. W. 1901, Sp. 1527; ihm folgt Ed. Schwyzer,
Weltspr. d. Alt. S. 12 Anm. 18). Andere reden statt von zweien von
einer einzigen Gemeinsprache, die sie „achäisch-dorisch" nennen (so
Bück, s. unt.). Diese Gemeinsprachen (ev. Gemeinsprache) bilden
parallele Strömungen zu der attischen Koine, doch sind sie ihr nicht
ebenbürtig, einmal, da sie keine Literatur hervorgebracht haben,
zweitens, weil ihre Verbreitung weit engere Grenzen aufweist.
Dieser Gemeinsprache ist nur ein einziger Aufsatz gewidmet:
C. D. Bück, The sonrce of the so-called Achaean-Dori c
xoivY^. (The American Journal ot Philol. 21, 1900, S. 193—196.)
B. zeigt, daß die achäisch-dorische Koine (der Name stammt von
Meister, Gr. Dial. II, S. 81 ff.), welche in der Hauptsache auf nord-
westgriechische Dialekte zurückgeht, manches attische Element ent-
hält und demnach ein neues Zeugnis für den Einfluß der „attischen"
xotv/] ist. Die achäisch-dorische Koine ist nach B. identisch mit dem
Dialekt, welcher in Epirus, Akarnanien, Atollen, Phokis und
Phthiotis gesprochen wurde. Back bemerkt nun, daß derjenige
dieser Dialekte, welcher uns am besten bekannt ist, der alt-phokische,
etwas ganz anderes ist als diese xoivv^. Etwas anderes ist auch das
Lokrische. Das Alt-Ätolische ist mit dieser y.otvr( ebenfalls schwerlich
identisch. Es ist nicht glaublich, daß einige Elemente dieser Koine
im Alt-Ätolischen existiert hätten, so z. B. die Konjunktion tl. Es
sind vielmehr Spuren des attischen Dialektes, welcher gleichzeitig z. B.
Bericht üb. d Literatur zur Koiaea. d. Jahren 1898— 1902 (Witkowski.) 211
auch das Delphische beeinflußt. Attische Einflüsse sind im Delphischen
zu konstatieren, noch ehe die Ätoler in Delphi den Fuß setzten. Auch
der Dialekt einiger dorischer Inseln zeigt attischen Einfluß In der
achäiscb-dorischen Koine finden sich folgende attische Formen: 1. ei
(statt ai), 2. rpiÜTo; (statt Trpaxo?). 3. oi häufiiier als rot, 4. iepo;
hSufiger als tapd?, 5. ei? neben ev c. acc, 6. sporadisch slvai und upo?
(ueben sTfisv und ttoti). 7. sporadische Attizismen wie g-en. ßaaiXetuc,
TToXeo);; öaXatxa, TSTTapec: eöcv, eu); av; imperat. ovtojv, ptc. (ov; imperat.
-Tcoaav; sixocJi USW. —
Die achäisch-dorische Koine ist durchaus nicht einheitlich. Nicht
nur sind die Mischungsverhältnisse in ihr verschieden, sondern auch
ist die Grundlage derjenigen Dialekte, welche dem achäischen Einflüsse
unterliegen, und die Grundlage jener, welche ätolischen Einfluß zeigen,
keinesvi^egs identisch. Nur der ätolische Kreis zeigt ev c. acc. und
Dative konsonantischer Stämme auf -otc. Auch Bück ist geneigt,
ätolische Koine von der achäischen zu unterscheiden. Der
attische Einfluß läßt sich übrigens in nahezu sämtlichen dorischen
Dialekten vom 4. Jhd. an nachweisen und — abgesehen von den oben
genannten ätolischen Spuren — das Ergebnis ist nicht wesentlich ver-
schieden.
Eine Untersuchung dieser achäischen und nordwestgriechischen
Sprachverhältnisse ist ein dringendes Bedürfnis der Koineforschung.
Dabei wäre auch zu ermitteln, wie tief der Einfluß dieser Koine reicht,
denn es hat den Anschein, daß sie nur auf bestimmte Schichten von
Gebildeten beschränkt und dem Volke als solchem fremd war.
8. Der Attizismus.
Einen Abriß der Greschichte der attizistischen Bewegung in der
Literatur gibt W. Schmid in seiner gehaltvollen akademischen An-
trittsrede:
Über den kulturgeschichtlichen Zusammenhang und
die Bedeutung der griechischen Renaissance in der Römer-
zeit. (Leipzig 1898.)
Die ersten Proteste gegen den unter orientalischem Einfluß ent-
standenen Asianismus lassen sich im 2. Jhd. v. Chr. hören. Ihren
Ausgangspunkt suchte man in Pergamon. Seh. bestreitet dies mit
Rücksicht darauf, daß wir von einer pergameuischen Rednerschule
nicht hören und daß die pathetische Richtung der pergameuischen Kunst
nicht für eine klassizistische Strömung in dieser Stadt spricht. Er
glaubt vielmehr, daß die Insel Rhodos der Sitz dieser Reaktion ge-
wesen ist. Zur Begründung dieser Vermutung führt er eine Reihe von
14*
21 2 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1 898— 1902. (Witkowski.)
Argumenten an. Der in ßhodos gemachte Versuch ist ein zaghafter:
es ist kein offener Gegensatz gegen den Asianismus — man wünscht
nur eine Abdämpfung asianischer Übertreibung. Der eigentliche Kampt
beginnt auf römischem Boden zur Zeit des Augustus. Man verlangt
hier energisch eine Rückkehr zum Attischen und beginnt mit einer
literarischen Polemik gegen den Asianismus und mit grammatischen,
lexikalischen, philologisch-kritischen und ästhetischen Arbeiten über die
attische Prosaliteratur. Anfangs wünscht man keine pedantische Nach-
ahmung der Klassiker, mit der Zeit verlangt man eine vollständige
Wiederaufnahme der altattischen Literatursprache. Die weitere Ent-
wickelung dieser Bewegung seit Dion gehört nicht in unseren
Bericht.*)
Über die Entwickelung des Stils in unserer Periode handelt
Ed. Norden, Die antike Kunstprosa vom VI. Jhd. v.Chr.
bis in die Zeit der Renaissance. Bd. I. (Leipzig 1898.)
Kap. 5: 'Die Entartung der griech. Prosa. Deraetrios von Pha-
leron und die asianische Beredsamkeit' (S. 126 — 155). Vgl. auch
S. 258 ff. N. spricht hier von zwei Stilarten des Asianismus, den er
in dem Charakter der Asiaten wurzeln läßt: der zierlichen Stilart des
Hegesias und der anderen, bombastischen. Der Asianismus ist nach N.
eine fast unbewußte Fortsetzung der sophistischen Kunstprosa. Den
Ausgangspunkt des Attizismus ist N. geneigt eher in Alexandria zu
suchen. Sodann spricht er von der literarischen xoivy] des Polybios,
die frei von jeder Rhetorik ist; große Sätze mit Anakolutheu sind für
sie bezeichnend. Nur kann man sie nicht mit N. „die in schriftstelle-
rische Sphäre gehobene Sprache der Kanzleien" nennen. Gegen diese
Benennung erheben Einspruch auch Wilamowitz und Wunderer, Poly-
bios Forschungen L S. 118.
U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Asianismus und Atti-
zismus (Hermes 35, 1900, S. 1—52).
Von der reichen Fülle der Gedanken hebe ich nur die uns hier
näher angehenden hervor. W. will den Begriff des Asianismus klären,
das Verhältnis dieser Strömung zur alten und neuen Sophistik bestimmen
und den Ursprung des Attizismus beleuchten. Wie Norden, nimmt auch
W. an, daß wir in der Entwickelungsgeschichte der Kunstprosa eine
direkte Verbindungslinie zwischen dem 5. Jhd. v. Chr. und dem 2.
n. Chr. ziehen dürfen, ferner daß der Asianismus der alten Zeit eine
*| Besondere Anerkennung verdient bei Schmid der Umstand, daß
er die Bedeutunü; der Sophistik, deren Erforschung er so viel Arbeit ge-
widmet hat, nicht überschätzt.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a, d, Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 213
naturgemiiße Weiterentwickelung der sophistischen Knnstprosa der
platonischen Zeit ist (S. 21). Dagegen erhebt er Widerspruch gegen
die weitere Annahme Nordens, daß derjenige Stil, den Seneca am voll-
endetsten repräsentiert und den Quintilian die corrupta eloquentia
nennt, die Fortsetzung des Asianisraus sei, weiterhin gegen die An-
nahme, daß sich zwei Richtungen gegenüberstehen, die Archaisteu
und die Neoteriker des Stiles, jene anknüpfend an die attischen Klassiker^
diese an die Sophisten der platonischen Zeit und die mit diesen ihrer-
seits verwandte asianische Rhetorik, daß bei den Archaisten Erstarrung,
bei den Neoterikern Fortbildung sei. W. hebt hervor, daß die neote-
rische Richtung nichts erreicht hat; auf die lebendige Sprache hat sie
nicht eingewirkt, ebensowenig auf die christliche Literatur, die mit der
Zeit klassizistisch wird. Asianismus bezeichnet nicht die gesamte neote-
rische Rhetorik. Es ist ein Schlagwort, ausgegeben in Rom um die
Mitte des 1. Jhd. v. Chr., das kaum zwei Menschenalter vorgehalten
hat. Zur Zeit Quintilians existiert diese Stilrichtung nicht mehr. Der
Name richtete sich gegen die Redner, die zur Zeit Ciceros in der Provinz
Asia herrschten, und deren Vorbilder (wie Tiraaios). Vorgeworfen
wurde den Asianern : die durchgängige Rhythmisieruug und die komma-
tische Rede; zweitens Übermaß an Schmuck in der XsEtc und Mangel
der x'jpia ovo}ji.aTa. Da mit der Zeit des Tiberius die Polemik gegen
den Asianismus verschwindet, so ist diese Richtung später nicht mehr
lebendig. Demnach kann die Ansicht von Rohde nicht zutreffend sein,
daß die zweite Sophistik die Fortsetzung des Asianismus wäre. Die
Anknüpfung der zweiten Sophistik an die alte ist nur ein Coup der
Sophisten der Kaiserzeit, bestimmt, die Würde der Kunst zu erhöhen.
Mit den Flaviern fängt keine neue Periode an; das 1. Jhd. n. Ohr.
war gewiß reich an Rednern, ebenso das 1. Jhd. v. Chr. und wohl auch
die zweite Hälfte des 2.; vor der Mitte des 2. Jhd. klafft eine Lücke
bis empor zu den letzten Attikern wie Demochares, aber das liegt nur
an unserer Überlieferung. Es gibt eine Kontinuität von der altep
Sophistik bis in die neue und über sie hinaus; der Asianismus ist die
fortlebende attische Sophistik. Die Kontinuität besteht in dem Ab-
stoßen der hellenistischen Literatur; ein direktes Anknüpfen an die
alte Sophistik ist nicht vorhanden. Die silberne Latinität entspricht
dem hellenistischen Griechisch, nicht dem gleichzeitigen.
Der Atlizismus hebt keineswegs um 200 v. Chr. an; weder
Neanthes noch Agatharchides sind Attizisten (S. 25, 28 Anm. 2). Sie
haben die |xi[Ar,aic nicht gefordert. Der Attizismus ist nicht in Rhodos
entstanden («egen W. Schroid); die griechischen Grammatiker in Rom
haben die Reaktion inauguriert. Ein einzelner Mann ist nicht imstande,
eine solche fundamentale Umkehr des Geschmackes zu bewirken. Wie
214 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski. )
diese "Wandlung- in der Volksseele gekommen ist, vermag die Geschichte
Dicht zu sagen. Ein wichtiger Faktor ist die Schule. Die Römer
mußten Griechisch lernen. Die Frage, was ist als Griechisch zu be-
trachten, was ist als musterhaft zu interpretieren, drängte sich auf. In
Rom haben sich die Griechen auf ihre Klassiker besonnen.
Stilistisches berührt auch die Erörterung eines Volksbeschlusses
von Mautineia-Antigoneia durch Wilamowitz Hermes 35 (1900), S. 536
— 542. Der Beschluß ist in peloponnesischer Koine verfaßt und asianisch
gefärbt.
II. Abschnitt.
Spezialarbeiten.
Im vorstehenden habe ich diejenigen Arbeiten besprochen, die
allgemeine Frajzen behandeln. Der Besprechung der übrigen, zu
welcher ich jetzt übergehe, könnte ich nun entweder die übliche Ein-
teilung in die Laut-, Formenlehre, Syntax usw. oder eine Ein-
teilung nach den verschiedenen Quellenklassen : Papyri, Inschriften usw.
zugrunde legen. Die Koine, wie sie uns vorliegt, ist nicht einheitlich:
der Unterschied zwischen der Umgangs- und der Schriftsprache ist in
ihr sehr bedeutend. Würde man die Einteilung in Laut-, Formenlehre
usw. wählen, so wäre man gezwungen, innerhalb der Lautlehre die ver-
schiedenen sprachlichen Schichten (Papyri, Inschriften usw.) auseinander-
zuhalten, ebenso bei der Flexionslehre usw. Ich ziehe die Einteilung
nach den Quellenklasseu vor, schon aus dem Grunde, weil viele Arbeiten
sich über mehrere Gebiete der Grammatik erstrecken und deshalb
wiederholt genannt werden müßten. Ich behandle der Reihe nach die
Papyri, Inschriften und Schrittsteller, Bei jeder dieser Klassen be-
apreche ich zuerst die Arbeiten über die Laut-, dann solche über die
Formenlehre u>w. Nur bei den Schriftstellern behalte ich aus prak-
tischen Rücksichten die Reihenfolge nach den einzelnen Schriftstellern.
Die verschiedenen Quellenklasseu fasse ich zu zwei Hauptgruppen zb-
sammen: die Papyri (und Ostraka) und die Inschrilteu sind für uns eine
Quelle der Umgangs-, die Schriftsteller eine solche der Schriftsprache.
Natürlich läßt sich hier keine feste Grenze ziehen; es ist nur eine an-
nähernde Scheidung möglich; die Sprache vieler Papyri und Inschriften
nähert sich sehr der Schriftspiache. Meine Einteilung in die Unigangs-
■nod die Schriftsprache soll hauptsächlich dem Zweck allgemeiner Ori-
Bericht üb. d. Literatur zur Koinea. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski) 215
entierung dienen. Den Arbeiten übei- die einzelnen Quellenklassen
schicke ich diejenigen Arbeiten voraus, welche sich über zwei oder mehr
Klassen erstrecken.
Arbeiten, welche sich auf mehrere Quellenklassen
erstrecken.
a) Laut- und Formenlehre.
Die wichtigsten Erscheinungen der Laut- und Formenlehre,
die uns in den Papyri, Inschriften und zum Teile auch bei den
Schriftstellern entgegentreten, behandelt das Buch:
K. Dieterich, Untersuchungen zur Geschichte der
griechischen Sprache von der hellenistischen Zeit bis zum 10.
Jahrb. n. Chr. (Byzantinisches Archiv. Heft 1.) Leipzig 1898.
Das von Krumbacher angeregte Buch stellt sich die Aufgabe, die
sprachlichen Keime des Neugriechischen auf Grund der Papyri und In-
schriften festzustellen. Die literarischen Quellen werden erst in zweiter
Linie und nur aus zweiter Hand herangezogen; Vollständigkeit ist bei
ihnen nicht erstrebt. Es ist also eine retrospektive Betrachtung der
gemeingriechischen Spracherscheinuugen, vom Neugriechischen aus unter-
nommen. Das gewonnene Material sucht D. nach sprachlichen Gesichts-
punkten zu grnppieien und sowohl chronologisch als vor allem nach
seinem lokalen Ursprung zu ordnen. Was die zeitlichen Grenzen be-
trifft, welche D. seiner Untersuchung gezogen, so erstrecken sie sich
von 300 V. Chr. bis 1000 n. Chr. D. ist zwar überzeugt, daß der
Koinisieruugsprozeß bereits um 600 n. Chr. abgeschlossen ist, trotzdem
verlegt er die untere Grenze bis 1000 n.Chr. aus zwei Gründen: weil
erst im 11/12. Jhd. umfangreichere vulgäre Texte einsetzen, so daß die
zwischen dem 7. und 11. Jhd. klaffende Lücke unansgefüllt bliebe,
andererseits, um die Unhaltbarkeit der Theorie von der Ausbildung des
Neugriechischen nach dem 10. Jhd. zu erweisen. Es muß hinzugefügt
werden, daß D. mit dem Neugriechischen völlig vertraut ist.
Vf. geht nun die einzelnen Erscheinungen der Laut- und Formen-
lehre durch; am Schluß jedes dieser beiden Hauptteile gibt er eine Zu-
sammenfassung der Ergebnisse. Ich kann ihm in der Erörterung der
einzelnen Erscheinungen nicht folgen; nur die Ergebnisse kann ich
mitteilen. Beim Vokalismus zeigt Ägypten besonders viele neue Er-
scheinungen (wenn man die ganze Epoche ins Auge faßt); beim Konso-
Dautismus kommt ihm Griechenland nahe (S. 139). Von den Flexions-
crscheinungen kommt die größte Anzahl ebenfalls auf Ägypten, eine
geringere auf Kleinasien, die wenigsten auf Griechenland. W. Schmid
216 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S9S— 1902. (Witkowslci.)
(W. f. k. Ph. 1899, Sp. 511) dürfte aber recht haben, wenn er be-^
hauptet, daß die relativ größte Anzahl von Erscheinungen bei Ägypten
sich daraus erkläre, daß wir nur aus Ägypten Papyrustexte besitzen.
Was die chronologische Verteilung betrifft, so weist in den drei Jahr»
handelten v. Chr. Ägypten die meisten neuen Spracherscheinungeu
auf, dann folgt Griechenland, die letzte Stelle nimmt Kleinasien ein;
in den vier ersten Jahrhunderten n. Chr. steht Ägypten wieder an der
Spitze, Kleinasien zwischen ihm und Griechenland. Vor Chr. ist das
griechische Mutterland an konsonantischen und nominalen Neuerungen
wesentlich stärker beteiligt als Ägypten, welches in den Vokal-
veränderungen und in der Verbalflexion den Sieg davonträgt. Faßt
man das ganze Gebiet der Koine ins Auge, so entfallen. bei der Flexion
die meisten nominalen Neubildungen auf die zweite Periode (1. —
4. Jhd. n. Chr.), die meisten Verbalerscheinungen auf die erste
Periode (300—1 v. Chr.).
D.s Buch ist nicht frei von Mängeln. Für Einzelheiten verweise ich
auf die gehaltvollen Rezensionen von Hatzidakis G. g. A. 1899, S. 505 —
523, vonW. Schmid W. f. k. Ph. 1899 Nr. 19 und 20, der auch zahl-
reiche Nachträge gibt, und von Thumb B. Z. 9, 1900, S. 232 ff. Thumb
hat hervorgehoben, daß einzelne wichtige Erscheinungen bei D. fehlen,
so z. B. der Itazismus, die Gemination der Konsonanten, ferner daß andere
Erscheinungen in einer unvollständigen Weise herangezogen sind, so
die Verwechslung von Tenuis, Media und Aspirata.*) Aber auch sonst
ist das Material aus Inschriften und Papyri nicht erschöpft, was aller-
dings D. selber gesteht (S. XVIII). Es werden ferner vom Vf. Laut'
gesetze konstruiert, wo das Material unzureichend ist, oder wo es sich
nur um gewisse Regelmäßigkeiten handelt. Er nimmt häufig einen Zu^
sammenhang zwischen Erscheinungen des Neugriechischen und der Koine
an, wo ein solcher nicht besteht (vgl. Hatzidakis a a 0. und Thumb
Gr. Spr.). Altoialektische und gemeinsprachliche Erscheinungen werden
häufig zusammengeworfen (Kretschraer Entst. d. Koi. S. 14). Dana
gibt es in dem Buch zu viel Statistik! Für jede einzelne Spracher-
scheinuug werden statistische Berechnungen angestellt, was oft zweck-
los ist, zumal das Material selten vollständig herangezogen ist. Zahlen
bedeuten ja hier weniger als die Wichtigkeit der Erscheinungen. Die
verschiedenen Arten von Urkunden (öff"entliche, private), ferner der
Bildungsgrad des Schreibers werden nicht genügend berücksichtigt.
Die Lesarten der Pariser Papyri sind an der Hand des Facsimilia nicht
*) S 186 liest min z. ß., daß in Ägypten Tenuis statt Aspirata gar
nicht vorkommt, während die Papyri zahlreiche Beispiele dieser Ver-
wechselung bieten.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 217
nachgeprüft worden und deshalb nicht selten falsch. Um auch melir
Äußerliches zu berühren, ^vird bei den Urkunden ihre Entstehnng:szeir.
oft nicht angegeben. Die Zusammenfassungen des Vf. sind wenig über-
sichtlich, weil neben wichtigen Erscheinungen unbedeutende stehen; so
hätte z. B. beim Konsonantismus die Zusammenfassung an Übersicht-
lichkeit gewonnen, wenn der Vf. um wichtige Erscheinungen wie die
Vertauschung von Teiiues, Mediae und Aspiratae und um den Schwund von
V vor Konsonant die verschiedenen weniger wichtigen Erscheinungen
gruppiert hätte.
Trotz dieser Mängel ist das Buch sehr wertvoll. Ein reiches
Material ist in ihm gesammelt und bearbeitet. Der Vf. hat sich nicht
darauf beschränkt, das Material zu sammeln und geschichtlich zu ver-
werten; er hat sich bemüht, es auch wissenschaftlich zu erklären, und
dies ist ihm in selir vielen Fällen gelungen. Er versteht zu beobachten,
besonders aber zu kombinieren , ferner das Material nach allen Seiten
auszunutzen. Seine chronologische und noch mehr seine geographische
Statistik ist wertvoll, mag sie im einzelnen noch so viel Unsicheres
enthalten. Auch die klare und richtige Stellung von Problemen ist ein
Verdienst des Buches. Es gehört zu den wichtigsten Arbeiten, welche
in den letzten Jahren über die Koine veröffentlicht worden sind.
Den Schluß bildet ein Exkurs, betitelt: ,,Die xoiv«^ und die klein-
asiatischen Mundarten". Sein Inhalt ist folgender: Zwischen der Sprache
der Stein- und Papyrusurkunden und derjenigen gewisser heutiger klein-
asiatischer Mundarten (besonders der pontischen und kappadokischen,
ferner der Sprache einiger Inseln) gibt es starke Übereinstimmungen.
Vf. untersucht diese Übereinstimmungen und kommt zu dem Ergebnis,
daß zwischen diesen Mundarten und der xocvr^ ein innerer Zusammen-
hang besteht, indem fast alle phonetischen Eigentümlichkeiten der heu-
tigen Dialekte auf der Stufe der ägyptisch-kleinasiatischen Koine, die
meisten der morphologischen auf der Stufe der attischen Koine stehen.
Die Zahl der der ersteren angehörenden Erscheinungen ist fast doppelt
so groß als die der attischen Koine. Die ägyptisch-kleinasiatische Koine
behauptet auf den Inseln den Vorrang. - — Mir steht in diesen Dingen kein
Urteil zu; ich verweise hierfür auf Thumb, B. Z. 9, 1900, S. 239 f. '}
£XX7)vix7] ^XtüasTj. 'AÖTjva 13 (1901), S. 247—261.
H. nimmt an, daß der Unterschied von Länge und Kürze we-
*j John Schmitt, Über phonetische und graphische Erscheinungen
im Vulgärgriechischen. Leipziger Habilitationsschrift (Teubner 1898) bezieht
sich auf Mittel- und Neugriechisches. - :
218 Bericht üb. d. Literatur zur Koioe a. d. Jahren 1898—1902 (Witkowski.)
nij^stcns in der „offiziellen" Sprache sich bis ins 3. Jhd. behauptet habe.
Die Änderung des alten Zustandes begann zuerst außerhalb der grie-
chischen Heimat (darin stimmt er mit Thumb, Griech Spr. S 143 und
150 überein). Vgl. Thumb, Arch. f. Pap. 2, S 424.
Über die Formen des Wortes xpoxoStXo; mit Metathesis (xopx(5oiXo;)
handelt W. Crönert, W. St. 20, 1898, S. 61 Anm , vgl. Nachtrag
S. 79; Belege des Wortes aus der LXX bringt Ad. Deißmann, Theol.
Bundsch. I, S. 470.
*r. N. Xar^iSaxtc, Hspl toü a^rYjixaTiofJLOu xuiv ^vojidcTtov sif -i;
-tv dvn -lOs -lov ev ttj |xeTa7£vsjTEpa 'EXXyjvixtq. 'Af^riva 12 (1900), 285
—303.
'Gegenüber neueren Erklärungsversuchen hält H. daran fest, daß
die Bildung -ic statt -to? (ATr)[j.TQTpt?, xotpnrj-n^ptv u^w ) auf analogischem
Wege entstanden sei; seine frühere Erklärung modifiziert der Vf. da-
hin, daß sowohl die zahlreichen älteren Kurznaraeu auf -t; (^Afi; usw.)
wie der lateinische Einfluß das Wachstum der spätgriechischen Bildung
befördert haben.' I. F. 13 (1902), Anz. 178.
Über Akk. konsonantischer Stämme auf -av ([XT)Tepav, iratepav)
bandelt B. Keil (Nachrichten d. Gott. Ges. Wiss. 1899, S. 151 f.).
Den Ausgangspunkt des Prozesses sieht er in Femininen wie [XYitepav,
Ou^a-cepav usw.
J. La ßoche. Die Formen von eiTcetv und eve^xeiv (W. St.
23, 1901, S. 300-311)
gibt eine statistische Zusammenstellung der Formen auf -ov und -«,*)
wobei auch Schriftsteller unserer Periode, wenn auch nicht erschöpfend,
berücksichtigt werden. Hellenistische Schriftsteller gehrauchen vor-
wiegend Formen auf -a. Eine Medialform eiKot|xr)v, jedoch nur in der
Zusammensetzung mit aro, ist in dieser Epoche häufig, ähnliches gilt
von der Form rjveyxafjnr^v.
b) Wortbildung.
A.Hamilton, The negative Compounds in greek. A disser-
tation presented to the board of TJniversity studies of Ihe Johns Hop-
kins University. Baltimore 1899.
Die Abhandlung, v\ elcher leider kein Index vocabulorum beigegeben
ist, behandelt den Stoff in folgenden Kapiteln: Tlie form of the prefix.
The form and Classification of the Compounds. The limitations on the
') Bei den attischen Schriftstellern sind dif Formen r,vj-,'/.c(, -et;, -ajisv,
-OTE, -av, also der ganze Indikativ, viel häufiger als die entsprechenden
Formen auf -ov.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 219
use of the prefix in composition. The favorite types of nesrative Com-
pounds, Expres^ions which may replace the negative Compounds. The
semasiology of the negative Compounds. The negative Compounds as an
dement of style. History of the formation of the negative Compounds
in greek. — Vor Alexander vermeidet das Griechische Komposita mit
■ä' priv. von solchen Wörtern, welche mit dv- beginnen (so gibt es z. B.
kein *dv-ava-f/.ato;). Spjiteres Griechisch verfährt in dieser Beziehung
nicht so stieng: wir finden in Ciceros Briefen dvavTiXsxto;, dvavTi^wvT)-
To; usw. (S. 26). Komposita, die anfangs nur in poetischer und tech-
nischer Sprache vorkommen, werden in späterer Periode allgemein (S. 43).
Vf. veranschaulicht seine Resultate mit Hilfe von drei Tafeln. Er be-
schränkt sich dabei auf die in dem Lexikon von Liddell und Scott
befindlichen Wörter. Die Inschriften sind nicht berücksichtigt.
Die Zahl der negativen Komposita beläuft sich im Griechischen
nach H. auf 3058 (im Sanskrit 1475, im Latein 846). Eine große
Anzahl erscheint znm erstenmal in der nachklassischen Periode.
Vor 500 V. Chr. gibt es 15%, in der attischen Literatur 26.8%,
in der hellenistischen Peiiode 7 % (zusammen in der vorrömischen
Zeit 48,8 °/o), in der römischen Periode (mit Ausschluß der christ-
lichen und technischen Liteiatur) 12,9 %, in der byzantinischen, christ-
lichen und technischen Literatur 37.8 °/o. Viele neue Komposita weisen
auf: die Anthologie. Ciceio, Diodor, Dionysios von Halikarnaß, Lukian
und KjTÜlos von Alexandrien.
*A. W. Stratton, History et greek noun-forraation. L'
Sterns with -[i-. (Studies in classical phil. 2, 1899, S. 115—223.)
(berücksichtigt auch das spätere Griechisch). Vgl. die ßez. v. A.
Thumb, I. F. 12, 1901, Anz 65 f.
c) Syntax.
Hier haben wir keine das ganze Gebiet umfassende Arbeit zu
verzeichnen; e? sind nur monographische Arbeiten zu einzelnen Autoren
erschienen, welche diese oder jene syntaktische Erscheinung zum Gegen-
stande haben.
Einige Bemerkungen allgemeinerer Natur (absol. Genet. ptcp.,
iiualkonsek. Genet. des Substantiv, lufin ) findet man bei "W. Schmid
W. f. k. Ph. 1901, Sp. 599 f.
Im Mittelpunkte der Forschung über die Syntax der Koine steht
4ie Frage nach der Aktionsart des Aoristes in dieser Periode.
Der Untersuchung dieser Frage sind zwei Arbeiten gewidmet:
E. Purdie, The Perfective 'Aktionsart' in Polybius.
L F. 9 (1898), S. 63—153, und
2 20 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
H. Meltzer, Vermeintliche Perfektivierung durch prä-
positionale Zusammensetzung im Griechischen. I. F. 12
(1901), S. 319—372.
Beide Arbeiten beschäftigen sich zwar vornehmlich mit Polybios,
aber die Bedeutung der in ihnen erörterten Frage geht weit über den
Kreis dieses Schriftstellers hinaus, und so möge es erlaubt sein, auf
diese Arbeiten an dieser Stelle einzugehen.
Der Kernpunkt von Pur dies Untersuchungen besteht in dem
Satze, daß sich in dem Zeiträume zwischen Homer und Polybios eine
erhebliche Änderung in der Bedeutung des griechischen Aoristes voll-
zogen habe: während er bei Homer überwiegend perfektiv (punktuell)
gewesen sei, habe er hier immer mehr „konstativen" Sinn erhalten,
dagegen habe man, um Perfektivität auszudrücken, immer mehr zum
Ersätze der Simplicia durch Komposita, besonders mit Sidc, auv, xa-dE,
gegriffen, wobei diese Präfixe ihre sinnliche oder materielle Grund-
bedeutung („the material meaning") hätten aufgeben müssen.
Die Verfasserin erörtert zunächst die Beg-riffe: die durative oder
imperfektive und die perfektive Aktionsart. Die Perfektiva werden in:
a) durative Perfektiva und ß) momentanaktige Perfektiva, die letzteren
in a) einfache momentanaktige, b) ingressive und c) effektive Perfektiva
eingeteilt. Hierauf spricht die Vf. von den Iterativa und von der
„konstativen" Aktionsart. Während sie den perfektiven Aorist mit
einem Punkte vergleicht, sagt sie von dem „konstativen" Aoriste, er
gleiche weder einer Linie noch einem Punkte, sondern dem Umfang
einer Kreisfigur, er sei „zirkulär". Das „kon-tative" otTJvat z. B.
heiße 'to stand' und halte die Mitte zvvischeu der durativen und per-
fektiven Bedeutung. Es stelle die reine Bedeutung der Wurzel dar
('the bare root meaning under its simplest and m^st indefinite aspect').
Der ,,konslative" Aorist P.s umfaßt ein erheblich weiteres Gebiet als
der ,, konstatierende" Aorist in dem bisher üblichen Sprachgebrauch,
wie dies Meltzer 8. 327 auseinandersetzt. D nn der konstatierende
Aorist begreift nur den Indikativ und seine Stellvertreter (Partie, Inf.»
Opt, obliqn.), der ,,konstative" Aorist der Vf. dagegen auch den Im-
perat., Konjunktiv, Opt. potent., den nichthistorischen Inf. und das
nichthistovische Partie, kurzum er fällt mit dem zusammen, was man
sonst unter dem linearperfektiven oder wohl auch dem punktualisieren-
den Aorist versteht.
In bezug auf die Grundbedeutung des Aoristes eiklärt sich die
Vf. gegen die Theorie von Mahlow und Mutzbauer (auch den Hultsch
zählt die Vf. den Vertretern dieser Theorie bei), wonach der „konsta-
tive" Aorist älter sei als der perfektive; sie stellt sich auf den Stand-
punkt von Her big, Delbrück und Streitberg, welche die perfektive
Bericht üb. d. Literatur zurKoine a. d. Jahren ISOS— 1002. (Witkowski.) 221
Funktion für cälter erklären. Mutzbauer hatte behauptet, der Aorist
bei Homer drücke die Perfektivität aus; die Vf. nimmt dage;?en an,
der Aorist habe zwa. bei Homer überwiegend die perfektive, aber da-
neben oft auch die ,,konstative" Funktion. Dies sucht sie an 13 Verben,
die bei Homer vorkommen , zu erweisen. Hierauf wendet sie sich zu
Polybios. Nicht alle Komposita dienen bei diesem zum Ausdrucke der
Perfektivität; diese Funktion haben nur diejenigen, in denen die ma-
terielle Bedeutung der Präposition verwischt sei. Die Anfänge dieser
Veränderung der ursprünglichen Funktion des Aoristes sieht P. schon
liei Thukydides und Xenophon, aus deren Werken sie zahlreiche Sätze
auf diesen Punkt hin untersucht hat. Ihre These sucht die Vf. durch
Prüfung von 26 Polybianischen Verba zu erweisen. Ausnahmen von
der allgemeinen Regel bilden 1. einige Komposita, die imperfektiv
(durativ) sind. Zu ihnen gehören: y.a9r)|i,at, xaOeuSw und xai:ax£i|i-at,
2. einige Simplicia, die im Aorist perfektive Bedeutung zeigen; es sind
dies: esTrjv, I'yvwv, äV/ov, -/.paxioi, xuptsuo).
Das Ergebnis der Untersuchungen Purdies, welches von Brugmann
Or. Gr.^ 1900, 482 — 4 im wesentlichen anerkannt worden ist, wurde
in Frage gestellt durch die oben genannte Arbeit Meltzers. M. be-
ginnt ebenfalls mit der Prüfung des Begriffes „perfektiv". Den Namen
„perfektiv schränkt er nicht mit Delbrück und Brugmann auf den Fall
ein, daß ein Simplex durch Präfigierung einer Präposition perfektiv
wird. Vielmehr gebraucht er ihn mit Purdie und Streitberg auch von
reinen Simplicia, wie dies in der slawischen Grammatik geschieht, ja,
eigentlich nur von diesen, denn nach M. besitzt die Präfigierung nicht
die Kraft, wirklich zu perfekti vieren. Perfektive Aktion liegt nach ihm
noch nicht vor, wenn der Endpunkt nur ins Auge gefaßt wird oder seine
Erreichung aus dem Zusammenhang erhellt, sondern erst dann, wenn sie
vom Redenden bezeichnet und ausgedrückt ist. Hierauf unterzieht M.
die Methode P.s einer in den Hauptpunkten berechtigten Kritik. Er
betont die Stiluutei'schiede der Poesie und Prosa: bei Homer mußte der
konstatierende Aorist von selbst zurücktreten, weil er als Epiker das
malende Imperfekt vorzieht, wo später die Prosa den nüchternen Aorist
gebraucht. Er wirft der Vf. vor, daß sie nicht die Ausgabe von
Hultsch oder Büttner- Wobst, sondern die nivellierende Dindorfsche ihrer
Untersuchung zugrunde gelegt hat. Der wichtigste Einwand, der gegen
die Vf. erhoben werden kann und auch von M. erhoben ist, richtet sich
dagegen, daß sie das Hiatusgesetz bei Polybios gänzlich außer acht ge-
lassen hat. Schon Mollenhauer (De verbis compositis Polybianis, Halle
1881) hat nachgewiesen, daß dva7i£[i,T:2iv, StaTrefXTreiv, oiaTitaretv bei Poly-
bios ohne Unterschied vom Simplex erscheint und Kälker (De elocut.
Polyb. 1880) hat den Satz ausgesprochen, daß die Wahl des Simplex
222 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
oder Kompositums oft nur durch das Streben nach der Vermeiduno: des
Hiatus bedingt ist. Demnach waren von vornherein sämtliche Beispiel©
auszuscheiden, in denen ein Kompositum durch die Scheu vor dem
Hiatus gebraucht worden ist, also nach einem Vokale alle diejenigen
augmentierten Formen, in denen das präpositionelle Präfix mit einem
Konsonanten beginnt; ferner alle augmentlosen Formen, in denen das
Simplex einen vokalischen Anlaut hat. Leider ist auch Meltzer von
dieser Sünde nicht ganz freizusprechen, weil er zwar in solchen Bei-
spielen den Hiatus nicht unbeachtet läßt, sie aber trotzdem verwertet,
z. B. Pol. 1, 34, 4 (S. 352), Pol. 2, 46, 3 u. a. (S. 353) usw. — Ich
möchte gegen P. noch einen weiteren Einwand erheben. In vielen
Fällen, wo P. perfektiven Aorist annimmt, haben wir vielmehr termi-
native Aktion. So besonders oft beim Worte otwxeiv. Die Komposita
dieses Wortes mit auv- und xara- haben nach P. nicht selten „effektive"
Bedeutung, „i. e. they denote the successful carrying out of the pursuit
up to a given point." Ganz deutlich ist die terminative Funktion z. B.
Pol. 11, 14, 7 ojJTrep oux auxöv xov cpoßov ixavov ovra tüu? aira; e^xXivavxac
a^pi xüiv TiuXcüv auvöttuxeiv oder 1. 34, 4 xpstJ'aiJ.Evoi ok xotSxou? iTiexetvxo
xal xaxeoicuxov auxou? £co? s.U xov yotpaxa. P. nennt die Aktion in
diesen Beispielen perfektiv. Hierauf erörtert M. die Frage, welche
Wurzeln neben ihrem punktuellen Aoriste auch noch einen „punktuali-
sierenden" („konstatierenden", „komplexiven") bilden können. Seine
Antwort lautet: 1. Aoriste von punktuellen Wurzeln (z. B. döoy), die
mit Präsentien von nichtpunktuellen Wurzeln (opui) zu einem System
zusammengeschlossen werden, sind stets punktuell. 2. Aoriste von
punktuellen Wurzeln (z. B. e^vojv), deren Präsentia von dieser Wurzel
gebildet werden und neben dem inkohativen Sinne auch einen durativen
haben, sind höchstwahrscheinlich ebenso punktuell. 3. Aoriste von
„zweiseitigen" Präsentien (z. B. cpsu'/cu) (a) inkohativ; „mache mich an
die Flucht-*, b) durativ: „bin auf der Flucht") sind gemischt, d. h. a)
Ingressiv oder resultativ („bin entflohen" oder „entkommen"), b) punk-
tualisierend („konstativ") („bin auf der Flucht gewesen"). Eine Unter-
suchung von 13 homerischen Verba ergibt dem Vf., daß die perfektive
Bedeutung des Aorists bei Homer vor der „konstativen" noch viel
stärker überwiegt, als dies Purdie annimmt.
Was Polybios anlangt, so bestreitet M. mit Recht, daß hier von
einem scharfen Gegensatz zwischen materieller und perfektiver Bedeutung
des Präfixes in den Komposita die Rede sein könne. Berechtigt ist
auch der Einwand, daß man sich nicht auf auv, did und xaxa beschränken
darf; an6 muß ebenfalls herangezogen werden, und M. möchte auch
dvo, tk und Iy. heranziehen, ja nicht einmal [xsxa beiseite lassen.
Er weist ferner darauf hin, daß gerade auf dem Gebiete der Aktions-
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d.Jalireo 1898—1902. (Witkowski.) 223
art das Sprachüeliilil seit Anbeginn der griechisclien Überlieferung- bis
auf den lieutiuen Tag sicli nicht geändert hat. Weiterhin l<önne man
nicht bei Thukydides und Xenophon von einer stufenmäßigen Abnahme
der perfektiven Kraft reden. Piudie hatte für Polybios folgendes Er-
gebnis erhalten: Der Aorist des verbum simplex ist „konstativ", der-
jenige des verbnm compositum momentan-perfektiv (punktuell) und zwar
entweder ingressiv oder effektiv. Das Imperfektum des simplex ist du-
rativ, des compositum durativ-perfektiv (linear-perfektiv). Meltzer er-
hält folgendes Ergebnis: Beim Simplex ist der Aorist nicht nur „kon-
statiV, sondern auch perfektiv, beim Kompositum nicht nur punktuell-
perfektiv, sondern auch linear perfektiv („konstativ"); das Imperfekt
ist beim Simplex durativ (auch inkohativ usw.), beim Kompositum im-
perfektiv und zwar gern termiuativ. Die Präfigierung läßt also
nach M. die Aktion durchaus unverändert, sie kann jedoch
innerhalb derselben gewisse Schattierungen bewirken, im Präsens be-
sonders die «finitive" (d. h. derartige terminative, bei welcher der End-
punkt ins Auge gefaßt wird). M.s Ergebnis stimmt also in der Haupt-
sache mit der alten Ansicht von Miklosich (vgl. Gr. d. slaw. Spr. 4, 291),
wonach die Prätixe im Griechischen auf die x\ktionsart der Verba keinen
Einfluß haben, sowie mit derjenigen Herbigs, nach welchem (I. F. G, 230)
in späterem Griechisch eine Annäherung an die Perfektivierung im
Keime vorliege, aber von einem wiiklich entwickelten perfektiven Ge-
brauch der verbalen Komposita nicht die Rede sein könne.
M. besitzt eine umfassende Belesenheit auf dem Gebiete der ver-
balen Aktionsarten sowie des Polybianischen Sprachgebrauches.
Man wird billigerweise ein endgültiges Urteil in der äußerst
schwierigen Frage nach der Aktionsart des späteren griechischen Aoristes
von mir nicht erwarten. Dazu müßten sämtliche von beiden Verfassern
ihren Arbeiten zugrunde gelegten Belege zuvor einer gründlichen Prüfung
unterzogen werden. Aber auch dies würde schwerlich zur Lösung der
Frage genügen. Das Beobachtungsmaterial ist in beiden Arbeiten doch
wohl zu beschränkt. Die Verfasser haben ja nicht einmal bei den von
ihnen berücksichtigten Autoreu (Homer, Thukj'-dides, Xenophon, Polybios)
sämtliche Verba in allen Aoristformeu herangezogen. Eine klare Ein-
sicht in diese Dinge wird sich nur gewinnen lassen, wenn das Material
mit statistischer Vollständigkeit gesammelt und verarbeitet vorliegen
wird. Ferner wird sich die Frage ohne Heranziehung des Slawischen
kaum lösen lassen. Im Slawischen sind ja diese Verhältnisse besonders
scharf und deutlich. Man wird jedoch sowohl beim Griechischen als
beim Slawischen neben der Syntax auch die Wortbildung ins Auge
lassen müssen, denn diese beiden Seiten des Verburas bedingen sich hier
gegenseitig in ganz besonderem Grade, Die perfektive und die itera-
224 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
tive Aktion kreuzen sich ungemein oft. Die ganze Frage ist für das
Griechische von hervorragender Bedeutung und fordert dringend eine
Lösung.
Die von Delbrück angeregten Fragen über die Aktionsarten
werden gegenwärtig lebhaft erörtert. Ich nenne hier zwei Arbeiten:
Pedersen, Zur Lehre von den Aktionsarten. K. Z. 37, S. 219—250
«nd Chr. Sarauw, Syntaktisches, I. Kritik des Begriffes punktuell etc.
K. Z. 1902 S. 145 — 1.94, ohne auf sie näher einzugehen, weil sie außer-
halb der Rahmen dieses Berichtes liegen.
Die Arbeiten von Purdie und Meltzer betreffen direkt die lite-
rarische Koine. Die Sj^ntax der Inschriften ist noch gar nicht in
Angriff genommen. Für die Syntax der Papyri haben wir den ein-
zigen Beitrag in der unten zu besprechenden Arbeit von Völker.
*Allinson, On causes coutributory to the loss of the
Optative etc. in later Greek, in: Studies in honour of Basil
Gildersleeve, Baltimore 1902.
'Ganz dürftig'. W. Kroll B. ph. W. 1903 Sp. 462.
*E. L. Green, [xrj for ou before Luciau, in: Studies in ho-
nour of Basil Gildersleeve, Baltimore 1902.
W. Crönert, Die adverbialen Komparativformeu auf -«i>
(Philol. 61, 1902, S. 161-192)
bespricht eine interessante Spracherscheinung: Formen wie -X$i(d, eXaxTm,
jieiCcD usw., die adverbial gebraucht werden, z. B, Diod. 13, 91 rüiv ot
vstjjv aovr)9pöia[JLeva)v et; eva totiov ou -oXXaic iXaztu) tujv -cp'.axosiwv. Sie
stehen für den Xom. Sg. aller Geschlechter, für Akk. -Xsiov, aber auch
für alle andere Kasus, wie = -ovo;, -ovi, -ovs;, -ova;, -ovcuv, -oai. Die
ersten Spuren dieses Gebrauchs finden sich schon bei Homer (Zenodot).
Vf. stellt Beispiele dieser Erscheinung von den ältesten Zeiten bis in
die byzantinische Periode zusammen. In den Inschriften sind solche
JFormen selten, sie finden sich jedoch in den ägyptischen Papyri, am
zahlreichsten sind sie in der Literatur. Nach Cr. gehören sie der leben-
digen Koine au, vorzüglich der ägyptischen; in die Koine sind sie aus
dem Ionischen gewandert. Ich vermute, daß der Ausgangspunkt in den
Komp. tcXsiü>, eXaoaw liegt, die in allen Sprachen besonders gern adver-
bial gebraucht werden. Nebenbei werden auch Wendungen: TtXeov sXaxTov,
sowie [i-siCcu 9pov£rv, -Xet'üi 9povsrv (neben ^itia cppovstv) besprochen. Crö-
nert hat das Verdienst, auf diese merkwürdige Tatsache aufmerksam
gemacht zu haben; von älteren Herausgebern wurden diese adverbialen
Formen gewöhnlich geändert.
A. Deißraanu, Der Artikel vor Personennamen in der
spätgriechischen Umgangssprache. B. ph.W. 1902, Sp. 1467—8.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Wltkowski.) 225
Verteidigt seine Schreibung tyiv IloXiTty.yiv in einem Papyrus über
diokletianische Verfolgung, indem er Beispiele beibringt, wo Namen
vorher nicht genannter Personen mit dem Artikel versehen werden ;
eines dieser Beispiele stammt aus ptolemäischer Zeit.
A. Deißmann, Die griechische Titulatur desTriuravirn
Marcus Antonius (Hermes 33, 1898, S. 344)
handelt über Konstruktionen wie ol a-o t9]c 'Anloa "EX>.Yjvei.
d) Lexikalisches.
H. van Herwerden, Lexicon graecnra suppletorinm et
dialecticura. Lugd Bat. 1902.
Stellt neue Wörter und neue Bedeutungen bekannter Wörter auf
Grund der in der 2. Hälfte des 19. Jhd. entdeckten Schriftstellertexte,
Papyri und Inschriften, ferner die bei den Autoren und Grammatikern
erhaltenen Dialekttürmeu zusammen. Von den Glossen sind vollständig
diejenigen aulgenommen worden, welche vom Grammatiker ausdrücklich
einem bestimmten Dialekte zugeschrieben werden, von den übrigen die
wichtigeren. Von den Eiueunamen wurden nur bestimmte Klassen be-
rücksichtigt. Vf. bekennt selber, daß seine Sammlung sich schwerlich
als vollständig erweisen wird, aber schon das Verzeichnis der von ihm
herangezogenen Publikationen zeigt, daß ihm keine wiclitigere entgangen
ist. Die Kritik hat an diesem Werke manches ausgesetzt, und ohne
Zweifel ist es nicht frei von Mängeln. Dies ist aber natürlich, schon aus
dem Giunde, weil es nicht möglich ist, einen so kolossalen Stoff nach
a,llen Seiten hin gründlich durchzuarbeiten. In dem Werke liegt eine
unseheuie Masse Arbeit; schwerlich hat ein zweiter Gelehrter diese
Publikationen durchgearbeitet. H.s Lexikon ist eine höchst willkommene
und verdienstliche Eigänzung des Thesaurus von Stephanus, und wir
müssen dem greisen Gelehrten dankbar sein, daß er uns ein so wich-
tiges Hilfsmittel geschenkt hat. Beim Gebrauche des Werkes ist nicht
zu vergessen, daß manches in dem Hauptteile fehlende Wort in den
Addeuda nachgetragen ist.
*A. Thumb, Die Namen der Wochentage im Griechischen.
Zeitschr. f. deut. Wortforschung 1 (1900), S. 163—173.
Inhaltsangabe I. F. 13 (1902), Auz. 119 'Deutliche An-
sätze zu einer festen Benennnng einzelner Tage finden sich schon vor
dem Aufkommen der Wochentagsnamen in Papyri. Die Woche tritt
deatlicu erst bei den griechisch redenden Juden hervor. Im christlichen
Hellenismus setzt sich die alte, mit der LXX beginnende Übung fest
Jahresbericht ftlr Altertumswissenschaft. Bd. CXX. (1904. I.) 15
226 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S9S- 1902. (Witkowski.)
und behauptet sich.' Th. stellt die ältesten Zengoisse für die Woobe
und ihre Tage aus Papyri, Inschriften und Schriftstellern zusammen.
e) Vermischtes.
W. Schulze, Graeca Latiua. Clottingae 1901.
Diese Arbeit handelt unter anderem über Au«drucksweisen wie
rt.uk ouo o'M (entstanden aus dva S-jo und Süo Suo; schon bei Aischyl.
;xupta fjLupia); ßtaiaavTt ixect X';*) upo uoX^ou xrf, t:6Ä£ü); 'in großer Ent-
fernung von der Stadt' (z. B. LXX, Diod., Strabo, Dionys., Jos., App.,
Inschr.); fiexa osxa ety) -oü oixvjaai (LXX, Dion. H.) (die letztere Redens-
art ist kein Latinismus, sie hat mit: an'e diem quartum nonas . . .
nichts gemeinsam) ; über Verblassung von Deminutiven ((Lti'ov LXX = o^?) ;
Ij,£vtu = pernocto (Pol.); Tiotew xov -^povov = oia-rptßtu x. '/^. (LXX); O'.a-
xpsro}xai = pudore confuudor (LXX).
L. ßadermacher, Griechischer Sprachbrau cii (Pbilol. 60,
1901, S. 491—501)
bringt kleinere Beiträge zum späteren Grriechisch. Pap. Rain, des 6. Jhd.
(Wien. Stud. 9, S 260) wird der augebliche Nom. (Akk ) PI. asi,- 'ihr'
(in: csi; xpixov) beseitigt (R. liest: es i; xpixov). Hierauf gibt R. eine
dankenswerte Zusammenstellung von neutralen Adverbien in der Koine
(z. B. [xsxpiov = }j-£xptü)c), redet von vulgärer Verwechselung von w; und
£(oc, von den Bildungen e^aXXo; 'außergewöhnlich' und l^avöpojTro; und
von den Worten des Kallimachos (in Apoll. 103) Vr\ Vi\ Tai^ov Tsi ßeXoc,
in denen eine etymologische Spielerei mit isi Tsi r^dx i6v vermutet und
daraus Schluss über die Aussprache von st und y) im 'i. Jhd. ge-
zogen wird.
A. Die Umgangssprache.
I. Papyri (und Ostraka).
Bei dieser Quellenklasse will ich von der konsequenten Durch-
führung meiner Einteilung in einem Punkte abweichen: an die nicht-
literarischen Papyri will ich die literarischen anschließen.
*) Dat. comparationis statt Abi. comp. (nulU minor etc.) (Schulze
S. 14) scheint mir seinen Ausgangspunkt in solchen Ausdrücken zu haben
wie der von mir angeführte; nulli minor = nulli cedens. Sagte man ein-
mal: nulli minor, so konnte dann auch gesagt werden: nulli maior.
Vielleicht wirkten aber bei diesem letzteren Typus die Verba des Über-
treffens: nulli praestans u. ähnl. mit.
Bericht üb. d. Literatur zurKoiae a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 227
Über die Papyrusliteratur von den 70er Jahren bis 1898 handelte
in diesem Berichte einsehend P. Viereck Bd. 102 (1899).
U. Wilckeu informiert in seinem auf der Straßburger Philologea-
versaramlung 1901 gehaltenen Vortrage „Der heutige Stand der
Tapyrusforschung" (N Jb. 7, 1901, S. 677—691) unter anderen
auch über die sprachlichen Arbeiten auf diesem Gebiete in den Jahren
1897 — 1901 und die wichtigeren neu. entdeckten literarischen Texte.
W. betont die Bedeutnug der Papyri für die griech. Sprachgeschichte,
besonders für die Frage nach der Entstehung der Koine, auch für die
Frage nach der Stellung des sog. Bibelgriechisch, sowie die Bereicherung
des griechischen Woitschatzes durch die neuen Papyrusurkunden.
1. Die uichtliterarischeu Papyri.
a) Laat- and Formenlehre.
Eine Spezialgramraatik der ptolemäischen Papyri gab
E. Mayser, Grammatik der griechischen Papyri aus der
Ptolemäerzeit. 1. Teil [Voka}ismus|. Programm von Heilbroun.
Leipzig, Teubner, 1898. — 2. Teil. Konsonantismus. Programm
Stuttgart 1900.
Bisher liegt demnach nur die Bearbeitung der Lautlehre vor.
M. behandelt sowohl die literarischen als die uichtliterarischeu Papyri-
Wollte er die ersteren überhaupt heranziehen, so waren sie von
den nichtliterarischen durchweg zu scheiden.*) Dies geschieht indes
nicht oder es geschieht in ungenügender Weise (vgl. z. B. S. 1 Anm.
14, S. 4, 2a und öfter). Wichtiger ist, daß innerhalb der nichtlite-
rarischen Uikunden die verschiedenen Sprachschichteu nicht auseinander
gehalten weiden. Bei den Papyri ist diese Scheidung noch notwendiger
als bei den Inschriften, weil die Bildungsunterschiede hier bedeutend
stärker sind als bei jenen. Man stelle nur eine Urkunde aus der könig-
lichen Kanzlei neben einen von Fehlern wimmelnden Privatbrief oder
eine Traurabeschreibung. Vf. ahnte das, aber er setzte sich darüber
leichten Herzens hinweg. I, S. XI äußert er sich in dieser Beziehung*
so: „Dagegen hat sich mir eine Abhandlung des gesamten Stoffes nach
den Klassen der Verfasser, in Hinsicht ihrer Zugehörigkeit zu ver-
schiedenen Nationalitäten, Ständen und Berufsarten, nach mehrfachen
Versuchen, als nicht durchführbar herausgestellt." — „In bezug auf
Stände und politische Stellung machen sich allerdings Unterschiede
*) Am besten waren sie in Anmerkungen, als Parallelen, zu bc
bandeln.
15*
228 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
geltend, nnd man könnte in dieser Beziehung- die aus der könig-
lichen Kanzlei stammenden Dokumente, lichterliche Entscheidungen
und Aktenstücke, Kontiakte nnd Bankanweisnniren, Schrittstücke
niederer königlicher Beamten, den Privaturkunden und Briefen
gegenübei stellen." Eine Einteilung des Stoffes nach der Zugehörigkeit
der Verfasser zu vejschiedenen Nationalitäten, oder, was wichtiger wäre,
zu verschieilenen Stämmen ist gewiß nicht durchführbar. Aber eine Ein-
teilung nach den Ständen der Verfasser oder, besser gesagt, nach ihrem
Bildungsgrade ließ sich durchführen. Gewiß bietet sie Schwierigkeiten,
aber es handelt sich ja hier nicht um eine haarscharfe S:heidung.
Schweizer stieß bei der Einteilung der pergamenischen Inschriften
auch auf Schwierigkeiten — es genügt, an die Briete nach Pessinunt
zu erinnern — , trotzdem ließ er sich durch die Schwierigkeiten von
einer Einteilung nicht abschrecken. Ich will von dem Vf. nicht zuviel
verlangen : eine Einteilung in sort.'fältiy:e und nachlässige Urkunden hätte
zur Not genügt, v.ie sie bei Crönert Quaestt. Herc. völlig genügt. (Vgl,
auch K. Dieterich B. Z. 9, 1900, S. 534 f.). Mayser vernichtet auf
jede F^inteiluiig und tröstet sich damit, daß die hauptsächlichsten
Charakteristika sich über alle Klassen verbreiten. Er verspricht zwar
in der Einleitung: „Auf die Klassifizierung der einzelnen Papyri wird
in den Einzelaustühruusfen gebührend Rücksicht genommen werden,"
aber dies geschieht in der Tat sehr selten. Infolgedessen haben seine
Zusanimenstelluügen von Belegen oft einen gerintren Wert, wenn er
z. B., um die Schreibung arsTstaa, £|x£t^a usw'. (I S. 25 f.) als korrekt
zu erweisen, neben Ui künden mit korrekter Orthographie auch nach-
lässig geschriebene zu Zeugen anruft. So hat feiner die Schreibung
{^poiojituX'.ov für die Frage der Orthographie gar keinen Wert, weil sie
in einem Papyrus steht, der von Fehlern wimmelt. — Es muß weiter
gegen den Vf. der Vorwurf erhoben werden, daß er die erste Hand
sehr oft unbeachtet läßt, obwohl sie für die Fragen der Lautlehre
höchst wichtig ist, da sie allein uns oft über die wirkliche Aussprache
belehrt, während die zweite Hand das Sehulmäßige eintülirt. — Eline
große Schwierigkeit lag für den Bearbeiter darin, daß unsere Papyras-
edilionen sehr oft falsche Angaben über Lesarten der Urkunden ent-
halten. Dies betrifft vor allem die Pariser PapjTi: Vf. hat sich
redlich die Mühe gegeben, die Lesungen der Herausgeber nachznprüfen.
Seine Kollationen stimmen in den allermeisten Fällen mit den in meinem
Prodromns grammaticae papyrorum (Kiakau 1897) veröffentlichten über-
ein. Ich habe in der genannten Arbeit ausdrücklich eiklSrt, daß ich
nur eine Auslese der wichtigeren Lesarten gebe. Mayser bringt 1
S. VIII Anm. 1 Revision weiterer Stellen. A. a. O. bemerkt er, in
zwei wichtigen Fragen stehe er der Pap3Tnssprache gegenüber auf
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898-1902. (Witkowski.) 229
einem anderen Standpunkte als ich: einmal in bezug auf die Überreste
der Dialekte in der Papyrnssprache, zweitens im Verliältnis zum
Itazisraus. Meine Auffassung der ersteren Fraye habe ich bereits
oben darizeletjt. Mayser j^'ibt au, daß es im mündlichen Vtrkehr
genug- Anlaß zur Sprachvermischung gab (I S. IX), „allein die Trag-
weite dieses Faktors ist" nach ihm „für die geschriebene Sprache
nicht zu überschätzen". Für die Sprache der Papjni leuunet er auch
diu Dialektismen nach Möglichkeit. M. hält also offenbar die Papyri
für Zeugen der geschriebenen Sprache. Das ist ein ganz falscher
Standpunkt. Was den Itazismus betrifft, so ist mir unverständlich,
warum M. den Übeigang von st in i nicht zum Itazismus rechnet.
Daß der Standpunkt M.s in der FrHge des Itazismus ein verkehrter
ist, hat bereits Karl Dieterich (B. Z. IX, 1900, S. 535) hervorge-
hoben; derselbe hat auch aus Mayser Stellen anselührt, an denen dieser
sich selber widei spricht. — Hiermit habe ich bereits die wissenschaft-
liche Bearbeitung des Stoff'es beiülirt. In der Anordnung desselben
folgte M. dem Beispiel des Meisterhans. Es ist bereits von Dieteiich
hervorgehoben worden, daß diese Anordnung für die Papyri niclit paßt,
weil bei den Papyri der Stoff ein anders gearteter ist. Ebensowenig
befriedigt M s Bearbeitung: Vf. ist mit wissenschaftlicher Phonetik zu
wenig vertraut (vgl. auch Dieterich a. a. 0.). Wenn a in s übergeht,
redet M. von „Lautverschlechterung" (I S. 8). Erklärung scliwieriger
Formen wird oft nicht versucht (vgl. z. B. oiwpucpo; statt oitupo^oc
S. 12). — Die beiden veröffetitlichteu Hefte enthalten leidt-r keinen
Index vocabulorum. — Papyri des Biit. M. zitiert M. nach Seiten der
Ausgabe; die Nummern der Papyri vermißt man ungern.
Was die Vollständigkeit des Materials betrifft, so wäre es leicht
zu zeigen, daß M. gai- manches entgangen ist. Einiges hat schon "W.
Cröuert nachgetragen (Arch. f. Pap. I, S. 210 ff ).*)
*) Um nur einen Punkt zu berühren, so fehlen unter ,3 statt v;''
folgende Belege: jis (wotil =-- ji/^) Fl. P. II 4, 9, 7 (a. 255/1), yoz^^o-j.zo^ Fl. P.
II 14, Ib, 1 (3 Jhd.) (so in P), X(u-£|iiooc Fl. P. II 27, 3, 7 (3 Jhd.), ji^va
(3 korrigiert in /,), Brit. 18, 33 (a. 161), /.czOix •. (= korr. in /]) Biit. 23a (p. 38)
21 (a. 158), -;.ojc/v3vszyJ>T] (-- -rjvr/Jlr,) Brit. 23 d 75 (a. 15817), iv-/j)r; Brit. 23
d SO lin beiden letzteren Belegen ist es schwer zu entscheiden, ob Vokal-
vertauscIiUBü oder Fehlendes Aujimeiites vorliegt, weil die Urkunde nachlässig
geschrieben ist); 3'ju-so'.;v3vr]j.xEv[inc (= -£vr,vc-(jjL-) Par. 8, 14 (,a 129) (wohl
ohne Redupl, weil die Urkunde sonst fast fehleifrei ist); Z äv ivjyjpcfasv
Fl. P. II 22, 13 (3. Jhd.) (wühl ohue Augment, weil die Urkunde sonst
korrekt geschiieben ist).
Unter „vj statt s" fehlen: -oXtiuisIov (75 korr. in st) Fl. P. II 13, 15, 3
230 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 189S— 1902. (Witkowski.)
Gegen Spezialgrammatiken wie diejenigen Maysers oder
Schweizers wird immer wieder der Einwand eriioben, eine Grammatik
der Papyri, der Inschriften usw. hätte keine Berechtigung, da es eine
Sprache der Papyri, eine Sprache der Inschriften usw. nicht gebe. Das
ist ja selbstverständlich und jeder Verfasser einer Spezialgrammatik weiß
es ebensowohl wie seine Rezensenten; es wäre wirklich Zeit, diesen»
ewigen Herumreden ein Ende zu macheu. Der ganze Streit ist ja
nichts anderes als eine verbi controversia. Daß eine Spezialgrammatik
aus praktischen Gründen berechtigt ist, geben alle zu, und die Verfasser
solcher Grammatiken lassen sich doch durch nichts anderes als eben
durch diese Gründe bestimmen. Der Name .Grammatik" sagt ja in
solchen Fällen nichts anderes als daß die betreffende Arbeit nicht etwa
zusammenhanglose Bemerkungen, sondern eine systematische Zusammen-
stellung sprachlicher Tatsachen enthält. Wie soll man denn eine
solche Arbeit überschreiben? „De sermone . . ."V Aber man wird ja
in solchem Falle denselben Einwand ei heben I Für ähnliche Haar-
spalterei müssen ja auch Titel wie: ^De sermone Polj'bii" usw'. als
falsch erscheinen. Es handelt sich hier indes um die Sache, nicht um
den Namen. Bezeichnend ist, daß keiner von denjenigen, die die üb-
lichen Namen „Grammatik" oder „sermo" kritisieren, vorgeschlagen
hat, wie solche Arbeiten zu überschreiben wären. Wählt man einen
Titel: ,,De sonis et formis in papyris obviis", ist das ebenso deutlich
wie „Grammatica"? Die Freunde von Haarspalterei können sich
freuen: t-ie haben erreicht, daß Nachmanson seine Monographie über
die Sprache der masuetischen Inschriften nicht mehr „Grammatik",
sondern „Laute und Formen" betitelt hat. Das geht noch. Aber denke
man sich, daß jemand nicht nur die Laut- und Formen-, sondern auch
die Wortbildungslehre, Syntax, Lexikalisches und Stilistisches bearbeitet
(a. 253 , -s'o;) 13, 15, 4, or; (= Si) Fl P. II 14, 2, 18 (3. Jhd.); bei f;.»; (= zv,-)
fehlen Belege aus den Biit. und Leid. Papyri (bis auf einen einzigen), und zwar:
Brit 22 V (p. 8) 31 (a. 164/3), ßrit. 25 (p. 163) 9 (ra a. 162—0), Brit. 18 (p. 22)
5 (a. 161), Leid. C 2, 21 (p. 118) (a. 162-0), 2. 2.5, Leid S 2, 25 (a. 159/S),
3, 33; 3, 37; 4, 20; 4, 24; 6, 31; 7, 10; Leid. T 1, 15 (a. 158); 1, 24; 1,
33; 2, 16; 2, 19; Brit. 30 (p. 165) 11 (2. Jhd nach Keny.), 15 und 21;
tz/'c (w.hl ^ s'.'-i-cs) Par. 51, 45 (a 160). ao>.av-,v'.or,; steht außer an der
von M. angeführten Stelle Leid. C 4, 3 (a. 160) noch in ders. Urkunde
Z. 13. (vo(p/,'.orj; steht Leid. C 4, 5 (p. 93), nicht 4, 3).
Wenn M 7:/.r,ov£^'>y.; unter der Rubrik: „v; statt c" nennt, so war auch
. z'kr^iu (= TzXi«,) Leid C 2, 17 (p. 118) in diese Rubrik aufzunehmen. Zählt
er unter dieser Rubrik d(jyupY/ und 'Eo^r^o; auf, so durften ß/i>/;to (Dat.,
=r ßy^sf) Par 53, 9 (a. 163—1), ferner 'H.-iazX^oü; xo/.siv Par. 23, 12 (ca. a. 165)
und 'llf.(/z/.r,o'j7.o"/,:'.v Par. 54, 79 (a. 163—1) nicht übergangen werden.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 23 1
har. danu wird das alles im Titel stehen müssen! Die armen Gelehrten,
die einen solchen ellenlang^en Titel werden zitieren müssen I
Über die Grenzen, in denen die Heranziehung von Parallelen
aus verwandten Sprachg:ebieten in Spezialgrammatiken erfolgen soll,
sind die Meinungen stark geteilt, Deißmann (G. g. A. 1898, S.
122) erhebt gegen die nentestamentliche Grammatik von Blaß den
Vorwurf, daß sie dieses verwandte Material zu wenig berücksichtigt.
>,Aber wie soll der Leser ... zu der Erkenntnis gelangen, daß liie
Spracherscheinungen der im Neuen Testament zusammengefaßten Schriften
in einem geschichtlichen Znsammenhang stehen, wenn nicht überall, wo
es angeht, dieser Zusammenhang von dem Grammatiker nachgewiesen
oder doch angedeutet wird?" Anders dagegen niteilt Crönert (Arch.
f. Pap. 1, S. 215). Nach ihm braucht z. B. in einer Grammatik der
ptolemäischen Papyri außer den Verweisen auf andere Darstellungen
nichts zu stehen, was nicht aus den Ptolemäerpapyri geschöpft ist. —
Ich möchte nun glauben, Parallelen werden immer erwünscht sein, so-
lange wir keine Grammatik der Koiue haben. Nur darf durch Heran-
ziehung von Parallelen die übersichtliche Vorführung des eigentlichen
Stoffes nicht beeinträchtigt werden. Es wird sich demnach empfehlen
Parallelen durch anderen, am besten kleineren, Druck von dem eigent-
lichen Texte zu unterscheiden und durchweg a capite, also getrennt,
vorzuführen. — Mit Recht verlaugt Deißmann a. a. 0., daß in solchen
x\)beiteu auf die Einzelaufgaben hingewiesen werde, die der Lösung
harren.
J. H. Moulton, Grammatical notes from the papyri.
Class. Rev. 15 (1901), S. 31-38 u. S. 434—442
gibt Belege für wichtigere Erscheinungen der Laut- und Formenlehre
sowie der Syntax des Noraens (und Pronomens) aus den Papja'i, welche
die Sprache des Neuen Testamentes illustrieren (Vf. ist jüngerer Sohn
des Bearbeiters der Winerschen Grammatik). Tatsachen, die für diesen
Zweck belanglos waren, notiert er nur h -apsp^tp. Er stützt sich auf
die wichtigeren Papyruspublikationen (nur die Pai-iser Papyri sind wenig
berücksichtigt). Die Belege sind nicht vollständig, trotzdem ist die Zn-
sammenstellung verdienstlich, besonders für die Syntax, wo bis auf die
Syntax des Akkus. Sammlungen überhaupt fehlen. Dem Bildungsgrad
der Schreiber wird nur selten Rechnung getragen. Und doch wäre es
interessant, zu wissen, inwieweit etwa die "Wahl der Formen XT^tj^op.«'.
— XiQlJuJ^ojxa'. oder lAocajcüv — iXa-cTcuv mit dem Bildunusgrade des
Schreibers zusammenhängt. — Manches von dem, was bei M. unter
'Orthography' steht, gehört entweder in die Lautlehre (so zi : tt) odev
232 Bericht üb. d. Literatar zur Koine a. d Jahren 1898-1902. (Witkowski.)
in die Syntax (eav statt av — schon im 2. Jhd. v. Chr.), mancher Beleg
der Flexion in die Syntax {izzzlzüaaadai statt Inf. Fut., iotv p.-?) ivr,v =
evTj und älinl.). Zu den Belegen aus den Papyri gibt M. Parallelen
aus den Inschriften (besonders ans den Inscr. maiis Aegaei und Le-
tronne, ßecueil des in>criptions) und ans dem Neuen Testament. In den
Genetiven auf -prj; und -vitj; sieht M. keinen lonismus, sondern eine
"Wirkung der Analogie. Bei den Formen anf -i;. -tv (= -lo;, -lov) hebt
er gegen Hatzidakis (Latinismus) hervor, daß Vokative auf -t selten
sind. Im 3. Jhd v. Chr. haben wir schon vjixioXtv Rev. L. 54, im
1. Jhd. V. Chr. StpouSstv (— -i'v für -tov) Letr. ßecueil Nr. 90,
Syntax (des Nomens und Pronomens):
Numeri. Plur. d. Verbs mit Neutr. Plur.
Kasus. Nora, iXeto? ^iv nsv^^. ('Omission of the subject in a
Standing foimula'); on "/«pt; tou dtolz ixa'fx/jv n. ahn.
Akk.: 8fr. fijjura etym., doppelter Akk., Akk. temp.
Gen. a) echter Gen. Mit Veiba; Gen. loci, temp. b) AbL
c) Gen. abs ('wide extension').
Dat. a) Dat. b) Loc. (Dat. loci et temporis). c) Instram.
Adiect. Komparation. Superl. ist im Schwinden besriffen;
die meisten Formen sind Elative; Kompar. tritt an Stelle des
Superl. nur sporadisch.
Pronomen sxatepo? von 3 Personen; aXXoc statt sTspoc. i.'Ö'-o;
in der alten Bedeutung 'own' (gegen Deißmann), nicht ^ kaoxoZ.
— sauToü von der 1. und 2. Pers. — eautüiv = aXXi^A.tuv.
Relativ nm. Attraktion sehr häufig, o; statt zk (interr.)
und TIC statt om? nur sporadisch. — IIa; 'irgend welcher' in
negativen Sätzen (aveu -asTj; . . .).
♦Derselbe, Notes from the Papyri, in The Expositor,
6th series, Nr. XVI, 1901, S. 271—282
teilt (nach Thnmb, Arch. f. Pap. 2 (1903) S. 416) besonders Lexika-
lisches mit, um zn zeisjen, daß „biblisclie'-' Wörter nichts anderes als
Spiachgnt der Koine sind. (Vgl. auch Deißmann, Theol. Rimdschau ö,
1902, S. 63).
b) WortbildDog.
Erwünscht wäre eine Arbeit über die ägyptischen Eigennamen
in den Papyri und Ostraka. W. Crönert stellt ein größeres Werk
über die griecliischen Doppelnamen in Aussicht (Wesselys Studien z.
Paläogr. Heft II S. 37), das in dem ersten Teile eine Erklärung der
Erscheinungen und eine geographisch geordnete Darstellu ig der Eigen-
Bericht üb. d Literatur zur K»ine a. d. Jahren 1S98— 1902. (Witkoweki.) 233
tümiichkeit der einzelnen Länder, in dem zweiten eine Zusammenstellung'
aller Beispiele geben soll.
Vorläufig gibt er nur zwei dankenswerte Aufsätze über ägyptische
Eigennamen :
Zu den Eigennamen der Papyri und Ostraka (Wessehs
Studien z. Paläogr. Heft II 1902 S. 36-38), und
Zur Bildung: der in Ägypten vorkommenden Eigennamen
(Ibid. S. 39—43).
Der erste Aufsatz handelt über die Ji.fryptischen Eigennamen im
allgemeinen und biingt dann Verbesserungen und Er^^änzungen zu den
Eigennamen der Papyri und Ostraka. P. Amh. II 68, 67 ist ßaatXtxoc
kein Eigenname (wie Radermacher wollte), sondern = ß. 7pa[x[jLaTe6;.
Der an zweiter Stelle genannte Aufsatz bringt interessante Be-
merkungen über äi^yptiöch-griechische Namen („Mischnamen" möchte
ich sie nennen), z. B. Ssvapexa und über hellenische Foimen ägyptischer
!Namen, in denen vor allem die Volksetymologie wirksam war.
c) Syntax.
F. Völker, Papyrorum graecarum syntaxis specimen.
Diss. Bounae, 1900.
Der dankenswerte Beitrag ist die erste Untersuchung- über die
Syntax der Papyri und demnach über die Syntax der gemeingriechischeu
ümgangsspiache. Vf. handelt über den Akkusativ (S. 5 — 30) und iu
einem Exkurse über den Schwund von -v und -s (S. 30 — 37). Beim
Akkusativ teilt er den Stoff in folgende Gruppen ein: 1. De accusativo
a verbis pendente, 2. De acc. obiecti interni, 3. De acc. relationis,
4. De acc. modi, 5. De duplici acc, 6. De acc. qnodam apposito,
7. De acc. absoliito, 8. De acc. rubricaium, 9. De acc. rationum et
catalogorum, 10. De acc. temporis, 11. De acc. loco nom. c. inf. posito,
12. De acc. avaxoXoufltp, 13. De forma accusativi vices nominativi
gereute. — Was die Texte betrifft, die sich heutzutage ein jeder Ar-
beiter auf dem Gebiete der Papyrussprache vielfach selber konstituieren
muß, so hat V. die vorhandenen Beiträge zur Textkiitik sorgfältig ver-
wertet. Die Sprache der Papyri verg-leicht er in dankenswerter Weise
mit der der LXX. Leider wird auch bei V. der Bildungsgrad der
Schreiber nicht gebührend berücksichtigt. Dazu steht seine grammatische
Bildung nicht immer auf der Höhe der Wissenschaft. Formen wie
7) appaßüiva (S. 30) gehören nicht in die Syntax, sondern in die Flexions-
lehre. Nachlässige Konstiuktionen waren nicht in eine Reihe neben
korrekten zu stellen, sondern getrennt, etwa in Anmerkungen, zu be-
handeln. Ich meine Konstruktionen wie: Zl-rjjXTrjxpioü [xoü] (ip"/iau>|xaTO'fuXay.o;
234 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. cl. Jahren 1898—1902. (Witkowski.)
•/al 7pot[xixat£a (S. 26) oder: TaüTYjv r/jv e-'.cj-oXf,v e-i-paqjY] (S. 27). Akk.
in ßechnuDgen, Rubriken nsw. (z. B. xov X070V -cuiv yaXxwv S. 19) ist
anders zu beurteilen als die übrigen Kategorien. A.m wenigsten be-
friedigt der Abschnitt de -c finali. Viele von den hier zusammen-
gestellten Beispielen sind reine Verschreibunseo, andere sind nachlässig:e
Konstruktionen, andere endlich zweifelhaft, -c klang nicht schwach,
denn es ist bis auf den heutigen Tag erhalten, wie Hatzidakis hervor-
gehoben hat. — Von den Sätzen werden oft zu kleine Stücke zitiert,
so daß man den Sinn nicht übersieht. Beim -v und -? war immer der
Tininittelbar darauf folgende Laut ausdrücklich anzugeben. Zu bedauern
ist. daß die Aibeit keinen Index besitzt. Interessant sind die Beispiele.
in denen der Akk. durch präpositionale "Wendungen ersetzt wird , wie
-XccTu? airo twv (ufxwv (S. 12), weil sie uns die Richtung zeigen, in
welcher sich die Sprache entwickelt.'-')
d) Vermischtes.
Sprachliches berühren die gelehrten Besprechungen der Oxj'rhynchus-
Papyri von Wilamowitz in den G. g. A., so des II. Bandes in den
G. g A. 1900, S. 29—58, u. bes. S. 57 f. (dieser Band bringt einige
ptolemäiscbe Urkunden; der I. Band, von Wilamowitz in den (y. g. A.
1898 besprochen, enthält keine vorrömischen Stücke), ferner seine Anzeige
des Werkes: Grenfell, Hunt, Hogarth, Fayum towns and their Papyri
(1900) in den G. g. A. 1901, 30—45, s. b'^s. S. 40— 42. \V. erinnert
hier unter anderem, daß man bei den Verbindungen xaö' etoc, £9 ?ar) usw.
fcigeutlich mit dem Inlaute zu tun hat. Aut andere Ausführungen dieser
letzten Anzeige nehme ich in einem anderen Kapitel Rücksicht.'''^')
L. ßadermacher. Aus dem zweiten Bande der Aniberst
Papyri (Rh M. 57, 1902, S. 137—151)
Ijehandelt auch sprachliche Fragen.
R,eiches Material zur sprachlichen Erklärung der Papyri bringen
auch die Arbeiten der Juristen. Ich nenne z. B.
*j S. 27 Anm. 1 soll beim Vat. C 5 heißen: s. II, a. Ch. (statt: p. Gh.).
Übrigens ist die dort ziticite Lesart nicht mein, sondern Lurabrosos
Eigentum.
**) Bei Nr 127 berührt Wil. die Lesung der Herausgeber Sic). \{a-oizoj.
Ich glaube, dies ist nichts anderes als o'' 'AyMoo'j. Der Pap. stammt aus
dem 2/3. Jud. n Cbr. Z 15 steht occfvv wahrscheinlich für -^cc/.ov. Ver-
tauschung von Dentalen ist ia der Urkunde allerdings nicht belegt, eben-
sowenig wie diejenige von oi— j— •., aber bei dem geringen Umfange der
Urkunde hat dies nichts zu sagen.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898— 1'.X)'2. (Witkowski.) 2oi>
O. Gradenwitz, Einführancf in die Papyrusurkunde.
1. Heft. Leipzig 1900.
Hier werden zahlreiche juristische Termini der Papyri erklärt.
Wichtig für sprachliche Untersuchungen ist auch der sog. Konträr-
index zu einigen PHpjTuspublikationen, der diesem Buche beigegeben
ist; es ist dies ein Index, in welchem die Wolter nicht nach den Au-
fanas-, sondern nach den Endbuchstaben geordnet sind, z. B. ^opo;,
v.zopo?, ar((xea(popoc, 010(9090;, 7pat!J.|xaTr]96po» . . ., irpo?. aairpo;, Xa|i,:cp6c,
■/.ÖTTpo;, Ttuppoc. laTpoc usw. Ein solcher Index ist nützlich für Unter-
suchungen über Wortzusammensetzung und Stammbildung-, da hier die
Wörter nach Suifixen bequem zusammengestellt werden.
In dem Artikel Papyrus und Lexikon (Arch. f. Pap, 1,
lUGO, S. 92 — 103 gibt derselbe Gelehrte beachtenswerte Ratschläge
für Anfertigung von Indices zu Papyruspnblikationen.
*L. Mitteis, Trapezitika. Zsch. d. Sav.-Stitt. XIX. Roman.
Abt. 1898; auch Sonderabdruck, 1899, 64 S.,
mir bekannt nur aus der Besprechung von Viereck in diesem Jahres-
berichte 102 (1899), III, 298 f , erläutert u, a. die Ausdrücke oiaYpa'fsiv
'Zahlung anweisen, zahlen' und oia-jpa'fiQ 'Zalilungsbeuikundung'.
H. Erman, Die 'Habe' Quittung bei den Griechen. Arch.
f. Pap. 1, 1900, S. 77—84
handelt über a-syo) (und dTüoototujxi).
Viele juridische Termini der Papyri erklärt auch
J. C. Naber, Observatiunculae ad papj'ros juridicae.
Arch. f. Pap. 1, 1900/1, S. 85-91, 313—327; 2, 1902/(3), S. 32—40.
2. Die literarischen Papyri.
Diese sind für die Zwecke der Lautlehre noch wenig ausgebeutet.
Die wichtigste Arbeit betrifft hier die herkulaneusischen Rollen
Über den heutigen Zustand dieser Rollen und ihre Behandlung
informiert in lichtvoller Weise der treffliche Kenner dieses Zweiges,
CrÖnert, Über die Erhaltung und die Behandlung der herk.
Rollen. N. Jb. 5, 1900, S. 586—591.
Derselbe sammelt wertvollen Stoff zur Lautlehre der Koine in
der Arbeit:
W. CrÖnert, Quaestiones Herculaneuses. (Götting. Diss.)
Lipsiae 1898.*)
*) De Abhandlung ist Teil einer größeren Arbeit. Die letztere iot
inzwischen bei Teubner erschienen u. d. T. .Memoria graeca Herculanensis".
2i36 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d Jahren 1898—1902. (Wittowski.)
Herkulanensiscbe Papyri sind für sprachliche Untersuchungea
deshalb wichtia:, weil sie nicht von solchen groben Fehlern wimmeln
wie viele ägyptische Papyri, weil wir also in ihnen ein Spiegelbild der
Orthogiaphie und des lautlichen Zustandes der gebildeten Sprache be-
sitzen. Vf. unterscheidet genau sorirtältiiTere von nachlässiger ge-
schriebenen Handschriften. Seine Untersucliangen sind auch deshalb
wichtig, weil er sich nicht auf die heiknlanensisclien Rollen beschränkt,
sondern neben ihnen anch die literarischen und nichtliterariscben Papyri
Äijypteiis, ältere Uandscliritten wichtigerer Autoieu und Inschriften
heranzieht. Seine Arbeit bildet deshalb für die in ihr behandelten
Fragen, vor allem für die Fragen der hellenistischen Orthographie und
des Vokalismus, neben Kühner-Blaß eine vorzüidiclie Informationsquelle
und es ist auffallend, daß sie bisher verliältnisniäßig weni<^ berück-
sichtigt wird. Der Grund dürfte darin liegen, daß der Titel „Quae-
stiones Herculanenses'*, nicht ,.Quaestiones Heiculaiienses grammaticae"
lautet. Ciöiierts Untersnchungen sind grüiidlicli und geuau.
Vf. spricht zueis-t von den Akzenten- und Spisitus- sowie Wort-
trennungszeichen, die in den lierknlanensisrlien Papyri ,^ien)lich spärlich
sind. Hierauf bespricht er ausfühilich dieWoitirennuns. Er untt rscheidet
die Trennung von Kompositionsüliedern und durch Eli-ion verbundenen
Wörtern von den üb» igen Fällen. An<h hier endet im allgemeinen die
Silbe auf den Vokal; unr wenn auf den Vokal zwei Konsonanten
folgen, von denen der erstere eine Nasalis oder Liquida ist, werden die
Konsonanten getrennt. Die Geminaten werden ebtufalls uetreunt; eriät
später setzt man sie in die näcnste Zeile. Wenn der eiste der beiden
Konsonanten ein <j i>t, schwankt die Praxis. Beim Komp(»situm kommt
der Endkonsonant elidierter Präposition in die zweite Zeile: d ] irsötoxs
usw. Auch bei alhiiisteheudeii Iq, oux ou/ kommt der Konsonant in
die nächste Zeile. Bei bU, :tp6c, o6v und ev bleibt dagegen der Kon-
sonant in der eisten Zeile
Was den Vokali-;nius anbelangt, kommt nicht selten in der
Endung des Infinitivs (und zwar nur in diesem j meikwüniigerweise
die Schreibung -ev für eiv vor (s/sv).*) e und tj werden nicht ver-
wechselt, ebensowenig o et tu. Für das Verhältnis von i und u sind
die Formen ßu^Äo? und tjixuju bemerkenswert, u und ot werden nie,
s und ai nur ausnahmsweise (an 2 Stellen) verwechselt — Ausführlich
ist der Abschnitt über den Itazismus. Für et vor Vokal sttht t) nicht
selten (dXiQflTrja, -»X^ov), für et vor Konsonant nur ganz ausnaiimsweise.
Das Umgekehrte, et tür tj, kommt fast nie vor. Sehr selten wird auch
*j Thumb Arch. f Pap. 2, S. 40U knüpft an die doiischen Infinitive
auf -37 an.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 18üS— 190-2 (Witkowski.) 237
■f^ mit t vertauscht. Ziemlich oft erscheint i für et, sehr oft ei für \.
Fälle, wo et lür • steht, sind ganz selten. Natürlich ist man auch hier
nicht selteu im Zweifel, ob man bei gewissen Nomina -sta oder -la als
normal ansetzen soll. tt. wird mitunter kontrahiert; auch statt te'.
kommt ei vor. Verwechselt werden auch t] und ei. i adscriptnm fehlt
sehr oft oder es wird geschrieben da. wo es unnötig ist. Es fehlt erst
seit dem 2. Jhd. v. Chr. Vom 3. Jhd. n. Chr. ab wird es durchweg
weggelassen.
Den literarischen Papyri aus Ägypten ist keine solche Behandlung
zuteil gewoiden Wünschenswert wäre hier eine Arbeit über Lautliches.
In den Papyrusfrasmenten des Platonischen Laches findet sich an
drei Stellen ou für o. ß. Koellner, Bemerkungen zu den Papy-
rusfragmenten des platonischen Laches (Philol. 58, 1899.
S. 312 — 4) glaubt, daß der Schieibe)- des Papyrus einen nach alter
attischer Oithogiaphie geschriebenen Text als Vorlage gehabt und bei
der Transskiiption an diesen 3 Stellen Fehler begangen habe, was mir
wenig wahrscheinlich ist.*)
Ostraka.
In dem Hauptwerke über dieses Gebiet
ü. Wilcken, Griechische Ostraka aus Ägypten und Nnbien.
2 Bde. Leipzig und Berlin 1899
ist der Sprache leider kein besonderer Abschnitt gewidmet; da jedoch
in dem Werke die Bedeutung zahlreicher Wörter festgestellt wird, so
erfährt durch es auch die Sprache wesentliche Förderung. Das Buch
enthält ein Wörterverzeichnis.
n. Die Inschriften.
a) Laut- und Formeulehre.
Unter den Inschriften haben die pergamenischen einen Bearbeiter
gefunden :
E. Schweizer, Grammatik der pergamenischen In-
schriften. Beiträge zur Laut- und Flexionslehre der gemein-
griechischen Sprache. Berlin 1898.
Schw.s Grammatik gibt nicht nur statistische Zusammenstellungen,
sondern auch wissenschaftliche Erklärung der Tatsachen. Es ist ein
vorzügliches Buch. Vf. besitzt eine tüchtige sprachwissenschaftliche
Schulung, st in Urteil ist umsichtig und eindringend. Schw.s Buch
kann als Muster einer grammatischen Monographie dienen.
*) Arth. Ludwich Über die Papyrus -Kommentare zu den Home-
rischen Gedichten, Königsberg 1002 (Univ.-Pr.) handelt über Papyri aus
römischer Zeit.
238 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898 - 1902. (Witkowski. i
Die pergamenischen Inschriften bilden in sprachlicher Hinsicht
keine Einheit. Vf. unteischeidet unter ihnen 3 Gruppen. 1. Erlasse
und andere Schriften der königlichen Kanzlei (vor 133 v. Chr.), 2. Volks-
beschlüsse, 3. Privatinschriften (wenig umfangreich). Eine besondere
Gruppe bilden außerperganienische Inschriften, d. h. Inschriften, welche
in Pergamon gefunden, aber niclit in Perganion entstanden sind. Hierher
gehören : a) Ei lasse i ömischer Statthalter und Kaiser, b) andere außer-
perganienische Inschriften; in den letzteren erscheint nicht die Koine,
sondern ein altgriecliis-cher Dialekt, vor allem der äoliscbe und rhodische.
Neben Prosainscliriften gibt es auch eine Anzahl metrischer Inschriften.
Vf. zieht sämtliche Inschriften heran, doch legt er das Hauptgewicht
mit Eeclit auf die in Kotvr] abgefaL'ten. Die letzteren reichen von
ca. 300 V. Chr. bis etwas nach 200 n, Chr. Schon im Anfang des
3. Jhd. V. Chr. ist in Pergamon in öffentlichen Inschriften ausschließlich
die Koine verwendet; den nahen äolischen Dialekt zeigt keine einzige
Inschrift, nicht einmal die privaten.
Diese sorgfältige Scheidung des wenig einheitlichen Materials ist
ein großer Vorzug der Grammatik und sollte in allen Arbeiten auf
dem Gebiete der Koine — vor allem bei den Papyri — nachgeahmt
werden. Nur hätte ich gewünscht, daß die metrischen Inschriften, deren
Sprache einen ganz anderen Charakter trägt, auch nach außen hin ge-
trennt behandelt wären, etwa unter Anwendung kleinerer Typen , wie
dies auch in dem Buche mitunter geschieht.
Vf. zieht oft auch andere Koineinschriften , besonders klein-
asiatische, heran. Das ist dankenswert, nur hätten auch hier die nicht-
pergamenischen Inschriften um größerer Übersichtlichkeit willen immer
getrennt (z. B. a capite und mit kleineren Typen) vorgeführt werden
sollen.
Die praktische Brauchbarkeit des Buches wäre viel höher ge-
worden, wenn bei jedem Belege sein Datum angegeben worden wäre
(wie dies bei Mayfer geschieht). Ferner hätte ich gewünscht — eben-
falls aus praktischen Giündeu — daß bei der Einteilung in Perioden
am Christi Geburt ein Einschnitt gemacht worden wäre.
Es ist schade, daß teilweise erhaltene Buchstaben auf dieselbe
Weise bezeichnet werden wie gänzlich verlorene, d. h. beide Arten [ J.
Ein besonderer Vorzug des Buches besteht darin, daß neben den
Koiueformen auch die gewöhnlichen attischen Eormeu berücksichtigt
werden, sofern sie noch in den Inschriften vorkommen.
Nachträge gab W. Crönert in seiner Besprechung des Buches
Z. f. G. W. 1898, S. 577—586 und 812 f. '
Um eine Einzelheit zu berühren, ist die „Metathese" S. 130 f. irr-
tümlich in den Abschnitt über den Konsonantismus statt in den Ab-
Ik'richt üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 23!»
schnitt über den Vokalismus geraten (es handelt sich dort fast ans-
.schließlich nm Metathese von Vokalen).
Auf den wichtigen Abschnitt „Begriff, Umfang und Entwickelung
der -/.otviQ" ist bereits im vorstehenden Rücksicht genommen worden.
Ans dem reichen Inhalte der Grammatik kann ich nur die aller-
wichtigsten Tatsachen hervorheben.
L L a u 1 1 e Ii r e.
A. Vokalismns.
Einfache Vokale.
SV2-/.EV ist die gewöhnliche Form. lepTjTsuiu sehr häutig neben -a-
(louismus nach Schw.; anders Thumb). iotr). ava9$u,a (s durch Einfluß
der Nomina auf -st;), si = i seit der Mitte des 2. Jhd. v. Chr. außer
vor Vokalen; es wurde aber auch vor Vokalen zu i, wenn dem si ein
i vorausging. Daß si vor Vokalen erhalten blieb, geht aus der
Schreibung yjo, vja (= eo, ea) hervor. Neben sio, r/j findet sich auch
£0 (e, geschlossen), sto, sta wurde zu io, la wahrscheinlich erst im
1. Jhd. n. Chr. ts'.o uia wird seit der Mitte des 2. Jhd. v. Chr. zu iio,
iia und weiter zu io, la.
r/. wird auf o verschiedene Weisen geschrieben: a) si im Inlaut
(Äs'to'jp-a'a) und im Dativ ('Epp-sr. Analogie der s-Stämme). Dieses zi
ist in älterer Zeit --^ e, in jüngerer (seit dem 2. Jhd. v. Chr.) = T.
b) gewöhnlich jq-.. c) t,. tji ist in älterer Zeit (3. u. früh. 2. Jhd.) = e,
in jüngerer im Inlaut und Auslaut der Mask. auf tjc =; i, sonst ■=^ e
(Analogie), r, (— r,t, si) ist in älterer Zeit — e (rji, £-. waren also
monophthongisch), in jüngerer Zeit == e (offen).
Für den Wandel von -j zu >. gibt es keine Zeugnisse aus Perg.
Diphthonge.
ai = £ nur auf zwei späten vulgären Steinen (davon ein Beleg
nicht ganz sicher), aia neben aa: eXaa; (att.) ; immer «st.
Ol zu u kein Beispiel. In der Volkssprache des 2. Jhd. n. Chr.
wurde o: vielleicht zu u; dies schließt Schw. aus anderen kleinasiat. In-
schriften. -oiTicafföa'. neben -or^-i oi wird immer häufiger.
uto- neben Go-.
ä'. wird zu ö" in der 1. Hälfte des 2. Jhd. v. Chr.
cot ., ., CO ,. „ 2. „ „ (150—125) (in
äol. Inschriften schon im Anfang des 3. Jhd.).
7.U wird zu ä in der 2. Hälfte des 1. Jhd. v. Chr. (iaTov).
Kombinatorischer Lautwandel.
Ausgleichung der Quantität (zuerst bei w). Kontraktion :
Trpoetpia^fjievo'j, Trposar/jaRv. w. wird ZU i.
i>40 Bericht üb. ä. Literatur zur Koine a. d. Jahren 189S - 1902. (Witkowski. )
B. EonsoDantlsmns.
1. Pan fache Konsonauten.
Tenues und Mediae: keine Beispiele der Verwechselung, ß spi-
rantisch seit Christi Geburt. 7 in der Volkssprache wahrscheinlich
spirantisch (in Pessinunt dliri<: 2. Jhd. v. Chr ).
Aspiratae: 9 wohl bilabialer Spirant. 0 spirantisch? (oüöeis nicht
oder nicht die einzige Form der Volkssprache). 7 auf dem Wege zum
Spiranten begriffen.
Spiranten: Spir. asper h wenigstens in der Umgangssprache
wohl aufgegeben.*)
Nasale: Vor Konsonanten reduziert.
2. Kousonantenverbindungeu.
Doppelkonsonanten: Vereinfachung beginnt, pp (nicht pj). Nur
33 (xT nnr in "AiraXoc).
Vei bindung beliebiger Konsonanten : ut zu nd nicht nachweisbar.
Nur ^tveaöai. C = z in jüngerer Zeit.
II. Flexionslelire.
Dual kommt weder beim Nomen noch beim Verbum vor.
A. Deklination.
ä-Stämme. xcuXea. Gen. 'AttsaXsoc; -ac -5t5o; selten. Plur. i:pz7-
o-Siämme. Kontrak. -oZi -oöv (ypuiia einmal in der Kaiserzeit).
Att. DeUl. nicht mehr lebendig, -t;, -iv (= -10?, -lov) spät und vulgär.
Subst. -apyoc neben -apyY)?. vj {}£6; und yj Oea. ex76vr|. utoc nie
nach 3. Dekl.
i-Stämrae. Gen. -stuc, einmal -loc
u- „ Fl. vi[J.t3Y] (att. -sa).**)
s- , Gen. von Eigennamen auf -ou;, volkstümlich anch
-o'j; Akk. nur -iq. -xX^c Gen. -y.)iooc. Fl 7£pa, 7epü)v.
r-Stämme. ^u-(ixipnw (I Beleg, Kaiserz.).
n- ., Akk. 'At:o/,X(ü, Uoutioü).
Adiectiva. Nur p-eiCova usw. Superl. uij'tJTo;.
*) Auch mir, wie Thumb, ist es wenig wahrscheinlich, daß Formeln
wie: xaf^' £xo;, xc/l>' loiav, l-s.'' ur-, dialektisciie Reste seien. Sie können sehr
wohl in der Koine entstinden sein
**) Ob rt\i'-TQ eine altdialektieche Kontraktion ist, ist mir zweifelhaft.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 189S— 1902. (Witkowski.) 241
Prouom. iauTüiv (nie atpiuv au-wv) und nur für 3. Pars. Nie
ou (refl.). sauToü neben auxou.
Numer. o-jo indecl. xhunpz; (nie 'sp-). -svra- in Kompos. os-
xjtouo. Ord. T£5ciap£7y.aio£xaTo; nsw. (Ion.).
B. KonJngatloD.
Personalendungen: sV/ojav (einmal). Imperat. nur -Tujcjav, -(j&wsav.
2. sg. M. ßou^vT) (einmal). 3. PI. nie -a-at, -axo.
Augm. und ßedupl. PIsq. stets augmeutiert. icupwv. Att.
Kedupl. erhalten, zv.-qixii. Augm. ip-, I- (geschr. si-), aber su-, ocpsXov
Tj Oso's (mit d. 3. Pers.). Nie Doppelsetzung des Augm. Nie v^'fisXXov
usw. dvaX(üp.a.
Präsensstamm: s-iixsXsojxat und 'Xo[xai. oi[jLat. apixo'V (2. Jhd.
V. Chr.). o|jLvu(u.
Fut.: -tcü von -1^(0. -/.aXssü) (1. Jhd. v. Chr.). Fnturbildung der
verba liquida bewahrt, i'^w. Xr^'\>o\i.ai.
Aor. a) sigm. a'jijL[j.£l;at. £cpY)a£v. Keine Aor. auf -$a von Dental-
stämmen, b) asigm. Nie £7£vrj»^r,v. eI-ov und si-a. yjv£-j-/.ov. esttiv und
Icr-vjaa nie verwechselt.
Perf. TEOvjy.a (3. Jhd.), -EÖstza (2. Jhd.). gsTrjxa und (trans.)
saxaxa; ijiavat USW. a-^-q^io'/oi.. — VCH-ai (^^Tw) ; EiV/fjjxai (neben eV/rjy.a).
Plsq. -£tv, -£t;, -£iT£. Fut. 3. nicht zu belegen.
Aor. Ps. £K£ji£XTQ9Tf]v. ot£X£7rjV und X£yi>r,va'.. £Ta/i>r,v und (2. Jhd.
n. Chr.) £-a-f/)v.
Modi. Nie iav mit Indic.
Partie. Pf. -uXa und (1. Jhd. v. Chr.) -sta.
Charakteristik der einzelnen Inschriftengruppen: Am korrektesten
sind die Inschriften der königlichen Kanzlei. Ihnen stehen die Demos-
iuschriften der Königszeit nicht viel nach, während die der römischen
Zeit viel nachlässiger sind. Den letzten Rang nehmen die Privat-
inschriften ein: auch diese sind in der Königszeit viel sorgfältiger als
in der römischen. Nur in ihnen kommt ai = £ vor (spätröra. Z.) und
wird der Quantitätsunterschied aufgegeben. Königliche Kanzlei atti-
zisiert bewußt: Gen. Eujxevou;. Akk. -yj, Ptc. Pf. -uta usw. Unter den
königlichen Inschriften sind die Briefe an den Priester von Pessinunt
nachlässiger (in Pessinunt hergestellt). Keine der drei Gruppen schreibt
die Umgangssprache; alle schreiben eine konventionelle Literatursprache.
Es sei erlaubt, einige Bemerkungen zu einzelnen Stellen anzu-
sehließen.
Atvuaiou BGH. 18, 39 f., n. 4,14 dürfte eine Verschreibung sein.
Die Schreibung 'Au^iav 512, 3 (nicht vor Hadrian) = lat. Appiam
scheint zu zeigen, daß «p in Pergamon zu dieser Zeit noch nicht spi-
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. CXX. (1904. I.) 16
242 Berichtüb.d. Literatur zur Koinea.d. Jahren 1898-1902. (Witkowski.)
rautisch war (= Apphian, nicht Apfian). Die vou Schweizer aus anderen
kleinasiatischen Inschriften angeführten Beispiele (S. 111), in denen cp
statt TT steht (opsjßuTspou , Ouppou, nicht aber aosATitp n. a.), dürften
darauf hinweisen, daß auch in jenen Gegenden 9 noch nicht spirantisch
war. Schweizers Skeptizismus scheint mir zu weit zu gehen. Die
Slaven und Litauer ersetzen grlech. 9 und deutsches f in volkstümlichen
Wörtern durch p, niemals jedoch setzen sie umgekehrt f für griech. -
oder deutsches p; der Franzose ersetzt ein deutsches, der Litauer ein
slaviscbes k durch eh. In Rhodiapolis in Lykieu ist 9 eher f als ph,
vgl. -j'E^pacp'faTs u. ähnl. (Schweizer a. a. 0.) (schwerlich ist 99 hier
eine AfPricata = pf).
S. 153. Nom. PI. au-n£V££c Ath. Mitt. 14, 89 Nr. 5 (Myrina am
elaitischen Meerbusen) ist neugebildet nach dem Gen. cju-ffsvEüiv; man
wollte gleiche Anzahl von Silben in allen Kasus herstellen. — S. 159.
Bei dem Korapar. irpsaßusTepos (südl. Kleinas.) Sterrett, Papers of the
American school IL Nr. 333, 1 f. liegt der Verdacht einer Verschreibuug
nahe. — S. 161. Die Bemerkung: „Wie bei sr/a-o;, empfaPid man
ein Bedürfnis zur Superlativisierung auch bei den adj. auf -aio;: ts-
ÄsuTato-axov . . ., 7.opu9at6TaTov ..." ist schwerlich richtig, da hier
nicht die Endung, sondern die Bedeutung die Rolle spielt. Doch hat
Schw. vielleicht eben dies gemeint. — S. 161. korn-oZ trägt den Sieg
über auTou davon nicht nur deshalb, weil auroö nach dem Schwund des
Spir. asper mit auxou zusammenfiel, sondern — und dieser Grund wirkte
sicherlich schon früh — weil in der Periode, wo die Deutlichkeit der
Form ein so wichtiges Moment ist, in au-roü die Person nicht deutlich
genug ausgedrückt erschien.
J. Valaori, Der delphische Dialekt. Göttingen 1901
enthält eine Laut- und Formenlehre dieses Dialektes von der ältesten
Zeit bis zu seinem Untergang, beschränkt sich also nicht auf die Keine;
wenn ich trotzdem die Arbeit hier nenne, so geschieht es deshalb, weil
unsere Periode in Delphi durch besonders zahlreiche Inschriften ver-
treten ist. Eine genauere Besprechung dieser Grammatik muß ich mir
hier versagen.
b) Lexikalisches.
*H. M. Searles, A lexicographical study of tlie greek
inscriptions. Chicago 1898. (The University of Chicago. Studie»
in classical philology. Vol. IL)
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1 898— 1902. (Witkowski.) 243
Hier werden zunächst die neuen Wörter, d. h. diejenig-eu, welche
nur aus Dialektiuschriften (und etwa noch aus Glossen) zu belegen sind,
dann (S. 82 — 108) selteue Wörter und Bedeutungen, endlich poetische
Wörter in alphabetischer Folge zusainmeus:estellt. S. arbeitet an einem
Lexikon zu den griechischen Dialektinschriften. (Vgl. W. Wernberger,
B. ph. W. 1899, Nr. 7, Sp. 214 f.)
c) Yennischtes.
Einen sehr ausführlichen und für sprachliche Untersuchungen
wichtigen Index besitzen ""Die Inschriften von Magnesia am
Mäander, hrsgb. v. Otto Kern, Berlin 1900 (besprochen eingehend
von Wilamowitz G. g. A. 1900, S. 558—580, der nur die Überladung
des Index mißbilligt. Diese Besprechung enthält auch einige Be-
merkungen über die Koine; s. bes. S. 566 f.).
Manche Bemerkung über die Sprache der Koine bietet auch
K. Buresch, Aus Lj'dien, Epigraphisch-geographische Reise-
früchte. Leipzig 1898.
A. Deißmann, Die Rachegebete von Rheneia. (Philol. 61,
1902, 8. 252—265)
bespricht zwei wahrscheinlich jüdische Grabsteine; nach D. stammen
sie aus dem 2/1. Jhd. v. Chr. und beweisen die Existenz einer jüdischen
Gemeinde auf Delos um die Wende des 2. Jhd. Die Sprache ist ein
Mosaik aus der LXX. Die beiden Steine sind ein Zeugnis für die
frühe Existenz der LXX und ihren frühen Gebrauch im Diaspora-
judentum.
Wilamowitz, Lesefrüchte, Herrn. 34, 1899, S. 203 flf., 601 ff.,
gibt wichtige sprachliche Bemerkungen zur Inschrift von Ephesos, die
von Benndorf in der Pestschrift für Kiepert veröffentlicht worden ist.
P. Kretschmer, Lesbische Inschriften. 1. Tempeiinschrift
von Eresos (Jahreshefte d. österr. arch. Inst. 5, 1902, S. 139 ff.).*)
gibt sprachliche Bemerkuugen zu einer Inschrift aus dem 2/1. Jhd. v. Chr.
*Th. Reinach, Un temple eleve par les femmes de
Tanagra. Rev. d. etudes gr. 11 S. 53 — 115
enthält einen ausführlichen sachlichen und sprachlichen Kommentar
einer neugefundenen größeren Inschrift des 3. Jhd. v. Chr.
*R. Meister, Beiträge zur griechischen Epigraphik und
Dialektologie. I. (Verhandl. d. k. sächs, Ges. d. Wiss. Phil.-hist.
Kl. 51, S. 141—160)
*) Derselbe Band enthält einen epigraphischen Wortindex zu den
Bänden I— V (von J. Oehler).
IG*
244 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1808—1002. (Witkowski.)
gibt Interpretation einer durch Umfang und sprachliche Bedeutung sich
auszeichnenden Inschrift von Thespiai aus d. 3, Jhd. v. Chr. (welche
Colin Bull. corr. hell. 21, 1898 veröffentlicht hat).
F. Solrasen, "Ovoixa v.q e-i7:a-p6®tov (Rh. Mus. 56, 1901,
S. 475—7)
bespricht die Form sTrtTcaxpocptov (^= 'Patrouymikon') iu einer Inschrift
aus Tanagra aus d. 3. Jhd. v. Chr. (Rev. d. et. gr. XII [irrtümliche
Aufschrift: XI] 53 ff); sie ist gebildet von e-l 7:a-p69t(v) (ablativischen
Ursprungs) und entzieht den Boden der Annahme Delbrücks (zuletzt
Vgl. Synt. I 677), daß das Suffix -<pt(v) ursprünglich nur im Plur.
heimatberechtigt war. Die Formation auf -<pt bei Homer ist ein
Aolismus.
H. Diels, 'Apstvo? (Rev. de phil. 22, 1898, S, 132)
erklärt dieses in einer delischen Inschrift des 3. Jhd. v. Chi*, vor-
kommende Wort (von dpi'a, Name eines Baumes).
Eine wichtige Quelle für die Kenntnis der attischen Volks-
sprache sind
Die Flachtafeln.
E. Schwyzer, Die Vulgärsprache der attischen Fluch-
tafeln (N. Jb. 5, 1900, S. 244—262)
stellt in dankenswerter "Weise zusammen, was sich aus den Fluchtafeln
für die griechische Sprachgeschichte ergibt. Das Material entnimmt er
der Publikation von R. Wünsch: Defixionum tabellae Atticae. CIA
Appendix. Berlin 1897, sowie der Publikation von E. Ziebarth,
Nene attische Fluchtafeln. Nachr. d. Gott. Ges. d. Wiss. 1899,
S. 105—135. Wünsch gibt den Text von 220 Bleitäfelchen, die den
Feind der Rache der Todesmächte der Unterwelt überliefern und
gewöhnlich in Grabkammern mit einem bronzenen Nagel befestigt
werden; Ziebarth fügt weitere 20 Stück hinzu. Die Tafeln gehören iu
ihrer Hauptmasse ins 3. Jhd. v. Chr., einige mögen ins 2. fallen, kaum
eine ins 4,, unter den Ziebarthschen sind einige nachchristlich. Die
Sprache dieser Tafeln ist vulgär, wir haben also in ihr die nächste
Parallele zu der in den ägyptischen Papyri vorliegenden Umgangs-
sprache. Es finden sich hier auch schon mehrere Erscheinungen,
die aus den Papyri bekannt sind. So kommen hier Fälle von Aus-
gleichung der Vokalquautität vor: lange und kurze Vokale werden
durchaus verwechselt (e und yj, o und cd). Wir sehen hier auch den An-
fang der Monophthongierung von Diphthongen: das echte und das unechte
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 245
si ist schon fast zu i geworden (ic für si?) u. ähnl. — daneben be-
zeichnet et allerdings immer noch ein ??eschlossenes kurzes e (KXsiavopoi,
AajjLEiac). Der Langdiphthoug rji erscheint schon als £i (-^ttsi usw.),
war also ebenfalls fast zu i geworden. Die Langdiphthonge ai, wi ver-
lieren sporadisch ihren zweiten Komponenten (y.rjpü)). Dagegen sind
7.1, ot unverändert. Es verdient auch ein konservativer Zug der unteren
Schichten der Bevölkerung hervorgehoben zu werden: aus dem alten
Alphabete wird nocli E , ü für si ou und H als Zeichen des Spiritus
asper beibehalten. — Auf dem Gebiete des Konsonantismus fällt die
Vereinfachung von Doppelkonsonanten auf ('(X(öz7.t., 'Inovi/oc usw.).
Der Nasal erscheint vor Konsonant reduziert (OacptXo? für IlaiJ!,-
91X0;). 'OXi'o; für 0X170; in 'OXiav9ior,c. Vokalassimilatiou in 'ö'fiXicDv
für 'ß'fsXitüv usw. Metathese: £v9aÜTa. Von den Erscheinungen des
kombinatorischen Lautwandels verdienen erwähnt zu werden: Entfaltung
eines Nasals vor Explosiven: -fXiuvxa? für ^XojTTotc Entfaltung eines
Sekundärvokals: 'Ep'.;a.^c für 'Epixr^;.*) Sandhi: xa h (= xal ev); —
IxTjOä'v, [jLTji)a[xoü. Die Formen oixottjC neben oi/sttjc, (tpssocpovr) neben
<I>£pas96vr) erklärt Schw., indem er 0 in ihnen als einen allgemeinen
Kompositionsvokal ansieht. Es könnte aber auch in den Formen
Assimilation angenommen werden. — Flexion: Der Dual ist im Ab-
sterben: zaiöta ö'jo ÖTqXca. In den Nominativen wie 'AptJToxXsTj? für
-y.X% sieht Schw. eine Wirkung der Analogie (Ausgleichung der Silben-
zahl nach anderen Kasus) (sind es nicht ionische Formen V). Wirkung
der Analogie haben wir in AtoxXsv (= lliov.lia). Sigmatische Eigen-
namen auf -Y)c bilden den Akk. oft auf -r^v. Die Kontraktion ist unter-
lassen im Gen. Detpaisajc: auch dr^Xca erscheint unkontrahiert. Über-
gang von der vokalischen Deklination zur konsonantischen ist wohl an-
zunehmen in 'ApiTcavopoc (Gen.). Wir finden in den Tafeln den frühesten
Beleg für das noch heute lebende oizo^ für auro;; dagegen erscheint nur
aaoTüJ, nicht, wie in späterer Zeit ausschließlich, csauxco. Von oiio
'binde' findet sich öoüfxev; das regelrechte xaxaoüi kommt viel häufiger
vor als das analogische xaraösw ; neben diesen Formen erscheint auch
xaxaotoTjix!, (wohl nicht attisch); in xcxTaoEvutu haben wir schon eine mit
V erweiterte Form. Imperat. 3. PI. hat bereits die jüngere Form mit
-sav (xaraosöeaftcujav).
Wichtig ist, daß fremde Elemente in dem Attisch dieser Tafeln
unbedeutend sind: js erscheint einigemal neben dem gewöhnlichen tt
(-i'Xuijaa). Von den kleinasiatischen Bildungen des Typus -5; -5oo?, -st
-siSof, -oü -oüöo; trifft man hier xfjv -^va^xa 'Ap-sixstv („mit i" Schwyzer)
*j Tcc/isTy^v für Taybxyjv hält Schw. mit Recht für unsicher. Es
könnte einfach eine Verschreibung sein.
246 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898 — 1902. (Witkowski.)
(neben dem Gen. 'ApT£[jLiooc), Mask. Kowüj Gen. Kovvü neben Kowyoo;.
Ionisch ist wohl ypuj£o-/oo;.
R. Wünsch, Neue Fluchtafeln (Rh. M. 55, 1900, S. 62—85,
232—271)
teilt Ergebnisse einer Revision der von Ziebartli (a. a. 0.) veröffent-
lichten Tafeln mit, die auch in sprachlicher Beziehung manche Be-
richtiguug und Ergänzung- brachte.
0. Hoffmann, Zwei neue arkadische Inschriften (Philol.
59, S. 201—5).
Unter den von Ziebarth Nachr. d. Gott. Ges. d. Wiss. 1899,
105 ff. lierausgeg-ebenen attischen Fluchtafeln befinden sich zwei
(Nr. 21. 22) im arkadischen Dialekt; bemerkenswert sind in ihnen die
Formen auTw =- hom. auttuc 'ebenso' und y.tXoi — y.thoii mit ot statt ai wie
ark. -yi'vrjToi u. dgl.
B. Die Literatursprache.
I. Prosaiker.
1. Auf mehrere Schriftsteller
erstreckt sich die lexikalische Arbeit in großem Stil:
H. Diels, Elementum. Eine Vorarbeit zum griechischen und
lateinischen Thesaurus. Leipzig 1899.-
Diese Monographie handelt über den Gebrauch des Wortes ator/stov
auch bei den hellenistischen Schriftstellern, namentlich Philosophen.
Die Geschichte dieses Wortes mit besonderer Beziehung auf das
N. T. hat auch Deißmann im Artikel 'Elements' in der Encyclopaedia
Bibl. II (1901) S. 1258—1262 behandelt; er kommt unabhängig von
Diels zu gleichem Ergebnis. Vgl. Thumb Arch. f. Pap. 2 S. 424.
2. Theophrast (Charaktere).
P. Wendland, Zu Theophrasts Charakteren (Philol. 57,
1898)
bringt in dem zweiten Teile dieses Aufsatzes, 'Exegetisches' (S. 112 —
122), auch sprachliche Bemerkungen. W. bezeichnet als wünschenswert
einen vollständigen Index zu den Charakteren, da allein ein solcher die
sichere Grundlage für eine sprachgeschichtliche Verwertung der Schrift
geben kann. Über die Art, wie der Bearbeiter mit seiner Vorlage
umgegangen ist, wird das Urteil nach W. wahrscheinlich dahin lauten,
„daß er, abgesehen von mancher (wohl nicht mechanisch zu erklärender)
Bericht üb. d. Literatur zur Keine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 247
Kürzung- luul Kontamination verschiedener Charaktere . . ., wenigen
Änderungen in Wertform, Flexion und Syntax, sehr wenigen im delectus
verborura, seine Vorlage treu wiedergegeben hat." Die im Kon-
versationston abgefaßte Schrift wird manche bis dahin der Literatur-
sprache fremde Wörter zuerst in dieselbe eingeführt haben. Die Vor-
rede, manche längere Zusätze am Schlüsse und wenige kürzere im Texte
der Kapitel sind unecht.
0. Immisch, Über Theophrasts Charaktere (Philol. 57,
1898)
berührt auch die Spraclie und den Stil dieses Werkes. Er lehnt die
Annahme von Diels, wouach die Charaktere eine weitgehende byzan-
tinische Durchsetzung zeigen.
3. Polybios.
Die syntaktischen Arbeiten von Purdie und Meltzer sind
bereits oben besprochen worden.
K. Amelung, De Polybii enuntiatis finalibus. Diss.
Halensis. Halis S. 1901.
Vf. vergleicht überall in dankenswerter Weise den Gebrauch
Polybios' mit demjenigen der Inschriften und Papyri. Von den Papyrus-
Publikationen werden nur einige herangezogen. Er teilt die Absichtssätze
in 2 Klassen ein: vollständige und unvollständige Absichtssätze. Außerdem
werden die Verba imperandi (postulandi u. dgl.) behandelt, die im Attischen
in der Regel mit dem Inf., bei Pol. mit Tva und ottw? verbunden werden.
— A) Vollständige Absichtssätze. Was die Modi betrifft, so steht
nach den historischen Tempora bei Pol. fast durchweg der Coni. Opt.
findet sich nur an 9 Stellen. Den Coni. gebrauchen mitunter schon
attische Eedner und ziemlich oft Herodot und Thukydides. Bei den
späteren Schriftstellern (Aristoteles, Theophrast, Josephos, Lukian)
überwiegt der Coni. Fast ausschließlich erscheint der Coni. im N. T.
In der Keine macht sich also in bezug auf den Gebrauch der Modi
das Prinzip der Nivellierung und Vereinfachung geltend. In anderen
Satzkategorien kommt der Opt. bei Polyb. häufig vor. Den Ind. Fut.
in vollständigen Absichtssätzen verwirft Am. bei Pol., trotzdem die
LXX und das N. T. ihn kennen, und zwar deshalb, weil die beste
Handschrift des Pol., Vaticanus, den Coni. bietet und weil die In-
schriften das Fut. nicht kennen. An einer Stelle findet sich bei Pol.
das Impf. (Einfluß des Irrealis). Die Inschriften und Papyri zeigen
nach historischen Tempora durchweg den Coni. (2 Beispiele des Opt.
erst aus den Inschriften des 3. Jhd. n. Chr.) In bezug auf die Modi
stimmt also die Sprache Polybios' mit derjenigen der hellenistischen
Inschriften und Papyri überein. — Was die Konjunktionen betrifft
248 Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898 — 190'2. (Witkowski.)
so ist bei den attischen Schriftstellern iva häufiger, dagegen in den
attischen Inschriften o-wc «v das fast ausschließliche. In den helle-
nistischen Inschriften und Papj^ri erscheint ottcu? und ottu)? av viel
häufiger als Tva (sehr selten «!>?, resp. wc av). Bei Polybios finden wir
dagegen fast durchweg "iv a (ouw? nur an 5 Stellen; nicht in den 5 ersten
Büchern). — B) Unvollständige Absichtssätze nach den Verba curandi,
deliberandi («ppovxiCetv, TxpovosTff&at . . .) u. dgl. Im Attischen steht hier
oTTtuc mit Fut. (selten o>?), seltener mit Coni. (Opt.) (für "iva hat A. nur
3 Belege gefunden). In den hellenistischen Inschriften ist Fut. sehr
selten (3 Belege); das gewöhnliche ist hier sowohl nach den Haupt-
ais nach den historischen Tempora der Coni. (Opt, nur dreimal); die
Partikel ist ottw? (selten oViu? av und i'va; nie (oc oder w? av). Auch
bei Pol. ist Coni. das gewöhnliche, aber er gebraucht nicht oitoi?, sondern
Tva. In den Modi stimmt also Pol. mit den gleichzeitigen Inschriften
und Pap3^ri überein, in den Konjunktionen macht sich bei ihm das
Prinzip der Vereinfachung geltend (Fut. kommt einmal vor, ötm; und
ws je einmal). Vollständige und unvollständige Absichtssätze hält
demnach Polybios nicht auseinander. — C) Nach dem Verba imperandi
u. dgl. ist bei den Attikern der Inf. das gewöhnliche. Auch bei Pol.
finden wir in der Pegel den Inf. Doch kommen daneben bei ihm auch
Tva-Sätze vor. Keime dieser Konstruktion finden sich schon bei attischen
Schriftstellern (6 Belege), mit dem Unterschiede, daß hier die Partikel
durchweg o-wc ist. Die hellenistischen Inschriften und Papyri haben
Sätze mit orw?, ottoj? av und iva mit Coni. — In den Dekreten römischer
Magistrate steht nach den Verba imperandi otto); und Tva mit Coni.
Finalsätze sind in diesen Inschriften nach Am. häutiger als in den echt
griechischen. — Die Arbeit ist umsichtig und gründlich.
C. Wunderer, Polybios-Forschungen. Beiträge zur Sprach-
und Kulturgeschichte. I. Teil: Sprichwörter und sprichwört-
liche Redensarten bei Polybios. Leipzig 1898.
W. untersucht zunächst die als -apotfxiat bezeichneten oder mit
To ör] Xe76[i.£vov eingeführten Redensarten in Hinsicht auf die Quellen,
aus denen sie stammen. Die epische Poesie, Euripides, vor allem aber
die Komödie (Menander) haben den griechischen Sprachschatz beeinflußt.
Eine zweite Gruppe bilden Sprichwörter, welche nicht als solche be-
zeichnet werden. Viele von ihnen gehen ebenfalls auf die Literatur
zurück. Ein großer Teil von Sprichwörtern beider Gruppen stammt
aus der Volkssprache. P. benützt nach W. ein Sammelwerk von Sprich-
wörtern, wahrscheinlich das des Stoikers Chrysippos. (Vf. hat dies m.
E. nicht bewiesen.) Vf. redet dann von der sprichwörtlichen Verwen-
dung gewisser Eigennamen. S. 85—94 charakterisiert er den Polybia-
nischen Stil und die Koine.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1S9S— 1902. (Witkowski.) 249
4. Diodor.
J. La Roche, Sprachliches aus und zu Diodor (W. St. 21,
1899, S. 17—37)
gibt statistische Zusammenstellungen über einige morphologische,
sj'ntaktische und lexikalische Tatsachen bei Diodor und anderen
hellenistischen Schriftstellern, besonders Polybios, wobei auf den
attischen Gebrauch hingewiesen wird. Leider wird zwischen Attizisten
und Schriftstellern wie Polybios nicht unterschieden. Es ergibt sich für
den Vf., daß man bestimmten Teilen des Diodorischen Werkes die Ver-
schiedenheit seiner Quellen anmerkt; in spruchlicher Hinsicht habe er
sich vorzugsweise Polybios zum Vorbild genommen. Letzteres halte ich
für unbewiesen; gemeinsame sprachliche Eigentümlichkeiten erklären
sich dadurch, daß sie der Koine angehören. — L. R. handelt über
Formen isTavsiv und b-rav; 7:i|x-pav; Pf. sa-ajj-ai; über Formen von i^am
(Pf. l'Crjxa, imperat. praes. C^9t u. a.); Tzpo-epiui (Praeter, -pos-spouv
Diod.), rposcp/^teuaa Sept. Joseph. (Sept. auch eTrpo^v^—usa), Pf. rjp£icj[xai
(spsi'düj) und andere ähnlich reduplizierte Perfekta, -zixvjyjx (neben -tvj-
yrixa und seltenem TeTu-/a), zi-zzu-ni-ai, etsu^^drjv (Imal bei Polyb.), Aoriste:
£iXafi./)v, £upa, e'jTssa, ^X9a, sioa, l'Xet'l'a, Ptc. ouva? (zu ouvw), IßXasxrjSa,
EÖpaaa; über al vaüc und xac v^ac; Kompar. -dytov, Adv. zpwTcu;; über
die Konstruktion au-oic toIs (iTiTrotc): Ellipsen wie: -oXXv] -r^c 'Asi'a? 'ein
großer Teil von Asien' ; Konstruktion -oXsfxsiv xiva 'bellum inferre alicui'
(att. Tivl oder r.poi xiva); öaup-a^oj und oo^av lyo) sv tivi (att. z~i x'.vt);
über Ausdrücke für 'verscheiden' : syAsintu xov ßiov, ixtTcaXXdzxui (mit und
ohne -rov ß(ov) und xataciTpe^cu (mit und ohne -ov ßtov); o 'lovioc (bei
Polybios und Diodor immer mit einem Substantiv); oia^spco xt (statt xiv6;):
oia ixayjr]? y.pivsiv (att. isvai, sXäsTvj; stti ^svto: -/.cxXsrv (das dem Vf. ver-
dächtig erscheint); ^qv-^i^«^ <^-7^o '^'"'o» 'i^it etwas fertig sein, etwas voll-
bracht haben'; osu-spato;, xpixalo? usw. 'am zweiten, dritten . . . Tag",
8po(xaroc. — Leider sind die einzelnen Gruppen nicht gehörig geordnet.
H. Kallenberg, Textkritik und Sprachgebrauch Diodors.
L (Beilage zum Jahresbericht des Friedrich-Werderschen Gymnasiums
zu Berlin. 1901). Berlin 1901
enthält sorgfältige Beobachtungen über den Sprachgebrauch Diodors,
z. B. über Tptü^oöuxat, über den Gebrauch des Artikels, über den Dat.
temp. mit und ohne iv, Wendungen wie sv xoT; Trpoxlpoi? ypovot; usw.,
auvsp-^eiv und Verwandtes, xy] xpix?] rjpiepa u. ähnl., }X£ypi xou vuv.
Th. Hultzsch, Die erzählenden Zeitformen bei Diodor
von Sizilien (Jahresber. d. Progymn. zu Pasewalk 1902).
Vf., der in seiner Hallenser Dissertation 1893 über den Gebrauch
des Aor. und Imperf. bei Diodor geschrieben und dort namentlich die
Verba der Bewegung, vor allem l£va^ und i'^eiv, behandelt hat, setzt
950 Bericht üb. d. Literatur zurKoine a. d. Jahren 1S9S— 1902. (Witkowski.)
hier diese Studien fort und handelt von s/ctv und Konipp. (av-r/etv,
TTpojsyetv), ferner von -/i'vsaöai und Kompp. (t~qar)ii.n.i, -poi-iao^iii, Trapa-
-,'ivotxai, TTspqivojjLai) , endlich kurz über im'^'-Dloiiii. Der Gebrauch des
Aor. und Impf, dieser Verba wird mehr vom Staudpunkte der Text-
kritik als demjenigen der Syntax behandelt, und obwohl das Urteil des
Vf. umsichtig- ist, ist das ganze etwas äuiSerlich und die Ergebnisse
ziemlich dürftig.
5. Parthenios.
R. Mayer-G'schrey, Parthenins Nicaeensis quäle in fa-
bularum amatoriarura breviario diceudi g-enus secutus sit.
Heidelberg 1898.
Parthenios' Büchlein sind rasch hingeworfene u7:o}i.vr([jLa-a, Er
gehört nicht zu den Attizisten. Trotzdem bietet seine Sprache für die
Koine kein besonderes Interesse, weil sie sich oft an die, zumeist poe-
tischen, Vorlagen hält. Von dem reichen Inhalte der Arbeit kann ich
nur einiges herausgreifen. Nach M. stammt ein großer Teil der bei
Parth. zahlreichen lonismen aus der Lektüre des Herodot. Das ist nur
zum Teil richtig; mancher lonisraus ist poetischen Quellen entnommen,
andere stammen aus der Koine (so z. B. Xao?, vaoc oder Periphrasen).
Sg. poetische, ferner seltene und neue Wörter sind bei Paith. häufig,
pp kommt vor neben pj, -u- neben aj, attische Deklination und Dualis
neben Gen. auf -irjc, -pYjS, Aor. £72V7^i}/]v ; a\i'^i neben oia c. acc. (= evexa),
£(0? c. gen. Participia sind häufiger als Nebensätze, Finalsatz ist nur
einmal belegt, Verba petendi haben ottojc c. coni. , nicht Inf., jxy^ er-
scheint häufig statt orj usw. Hiatus wird nicht gemieden. Zu loben ist
der konservative Standpunkt des Vf. in der Textkritik und seine Selb-
ständigkeit gegenüber der Ausgabe Sakolovvskis , auf welcher er fußte.
Die Arbeit ist sehr fleißig und zeugt von liebevoller Vertiefung in die
Sprache des Autors, nur ist Vf. mit der methodischen Seite der Koine-
forschung etwas zu wenig vertraut.
IL Dichter.
1. Theokritos.
*L. Wahlin, De usu modorum Theocriteo. Göteborg 1898.
'Sorgfältig und verständig' M. Rannow W. f. k. Ph. 1899 Nr. 23.
*H. R. Fairclough, A? — wc in Theocritus and Homer.
Class. Rev. 14, S. 394—96.
Über die „exclamative force" des zweiten (o; bei Theokrit 2, 82;
der Gebrauch ist „a survival from earliest times". I. F. 13, 1902, Anz.
S. 180.
Bericht üb. d. Literatur zur Koine a. d. Jahren 1898—1902. (Witkowski.) 251
2. Apollonios Rhodios.
*E. Fitch, The proprieties of epic specch in the A.rgo-
nautica of Apollonios ßhodius. In; Proceedings of the Ame-
rican Philological Association. Vol. 33.
3. Herodas.
*L. Valniaggi, De casuum syntaxi apud Herodam. Riv.
di filol. 26, 1898, S. 37—54.
Nach T. F. 10, S. 116 enthält die Arbeit kritische Zusammen-
stellung der Tatsachen.
*S. Olschewsky, La langue et la metrique d'H6rodas.
Leiden 1898.
III. Vermischtes.
L. Eadermacher, Zu Isyllos von Epidauros (Philol. 58, 1899,
S. 314 — 6) sucht die Worte bei Isyllos I 13 xo vAllo^ 6e Koptovlc ers-
y.Xrjö/) so zu erklären, daß er xo y.dXXo; ok für ein vorangestelltes
„Lemma" im Nom, (statt Akk.) hält. Die von ihm herangezogenen
Fälle von Prolepsis haben jedoch mit dieser Stelle wenig Gemeinsames.
Ferner sucht R. Diodor II 52, 4 zu erklären.
Derselbe nimmt bei Dionys. Halic. de Isaeo p. 607 R r.oXXa
7ap av TU lowv supoi x:ap' auTw die Worte xi? locuv nochmals in Schutz
indem er sie durch Beispiele zu sichern sucht (Griechischer Sprach-
brauch, Philol. 59, 1900, S. 596 f.).
Derselbe bietet in seinen Analecta X (Philol. 59, 1900) Be-
merkungen zum Texte und zum Sprachgebrauche der griechischen Reste
des Henochbuches (S. 166 — 175).
Nachtrag zu Seite 187.
Bei der Erörterung der Faktoren, die im 5. und 4. Jhd. in Athen
der Entstehung der Koine vorarbeiteten, ist die große Zahl der Me-
toiken bisher nicht, oder wenig, beachtet worden. Die einzige Volks-
zählung in Athen, von der wir wissen, die unter Demetrios von Phaleron
gegenEnde des 4. Jhd. veranstaltet wurde, ergab bekanntlich 21 000 Bürger,
10 000 Metoiken und 400 000 Sklaven. Die Anzahl der Metoiken belief
sich demnach etwa auf die Hälfte der Bürger. Unter ihnen waren
viele Barbaren, namentlich Vorderasiaten.
Verzeiclmis der besprochenen Arbeiten.
Einfache Erwähnungen und Zitate aus Arbeiten, denen kein kritisches Urteil
folgt, ferner Rezensionen sind hier in der Regel nicht berücksichtigt.
Seite
AI linsen, On causes etc. to the loss of the Opt. in later greek . . 224
Amelung, R., De Polybii enuntiatis finalibus 247
Apostolides, Essai sur rhellenisme egyptien 191
Aristeae ad Philocratem epistula ed. Wendland 209
Baudissin, Einleitung in die Bücher des Alten Testaments. . . . 208
Bück, The source of the so-called Achaean-Doric /otw) 210
Bure seh, Aus Lydien 243
Crönert, Quaestt. Herculanenses 158. 235
— Über die Erhaltung usw, der herk. Rollen 235.
— Zu den Eigennamen der Papyri und Ostraka 233
— Zur Bildung der in Ägypten vorkommenden Eigennamen .... 233
— Arch. f. Pap. 1 210 ff. 229. 231
— W. St. 20 S. 61 Anm. u. S. 79 218
— Z. f. G. W. 1898 S. 577 ff. 238
— Die adverbialen Komparativformen auf -w 224
Deissmann, Bible studies 201
— Die sprachliche Erforschung der griechischen Bibel 201 ff.
— Sprache der griechischen Bibel (Theol. Rundsch. 1898 u. 1902) 15G. 201
— Hellenist. Griechisch (Realenc. f. protest. Theol.) 173, 201 ff.
— G. g. A. 1898 S. 122 ff. IGO. 231
— Rachegebete von Rheneia 243
— Artikel vor Personennamen 224
— Die griechische Titulatur des usw. M. Antonius 225
— Elements 246
Diels, Elementum 24G
— 'ApJivo; 244
Dieterich, K., Untersuchungen z. Gesch. d, griech. Sprache 196 ff. 215 fl".
— B. Z. 1900 S. 535 ff. 229
— B. Z. 1901 (Besprechung von Mayser) IGO
Dittmar, Vetus Test, in Novo 209
Erman, H., Die Habe-Quittung bei den Griechen 235
Fairclough, (o;-"); in Theocritus and Homer 250
Fitch, Epic speech of etc. Apollonios Rhodius 251
Gradenwitz, Einführung in die Papyrusurkunden, 1 235
— Papyrus und Lexikon 235
Green, jir^ for oü before Lucian 224
Hamilton, Negative Compounds in greek 218
Verzeichnis der besprochenea Arbeiten. 253
Seite
Hatzidakis, G. g. A. 1899 S. 5U6 ff 158. 150. 18.'>
— llt[j'. ~oD ypovc/'j T^; i;[3w3£oj; T/j; -fiooioo'.ct; 217
— IlsfJ'! Toö oyr;u.c(":tau.oö tujv fvvojic<'~o)v si; -i; . , 218
Uerwerden, Lexicon graecum suppletorium 225
Iloffmann, 0., Zwei neue arkadische Iss 246
Hultzsch, Th, Die erzählenden Zeitformen bei Diodor 249
Immisch, Über Theophrasts Charaktere 247
Kallenberg, Textkritik und Sprachgebrauch Diodors. 1 249
Keil, B., Nachrichten d. Gott. Ges. 1899 S. 151 f. 218
Kennedy, Recent research in the language of the N. T 156
Kern, 0., Inschriften von Magnesia 243
Koellner, Bemerkungen zu den Papyrusfragmenten des plat. Laches 237
Korsunskij, Perevod LXX (Übersetzung der LXXj 208
Krauß, Griechische und lateinische Lehnwörter im Talmud .... 190
Krcek, Muzeum 1901 S. 177 166
Kretschmer, Entstehung der Koine 159. 172 ff. 183 ff.
— D. L. Z. 1901 Sp. 1049 ff 168. 182. 183
— Lesbische Inschriften, 1 243
Kroll, Hermes 30 S. 462 198
Krumbacher, Byzantinische Literaturgeschichte 162
La Roche, Formen von zhzh und hv(/.zh 218
— Sprachliches aus und zu Diodor , 249
Levy, J., Sur quelques noms semitiques d. plantes 191
Lewy, H., Die semitischen Fremdwörter im Griechischen 191
Lidzbarski, Handbuch der nordsemitischen Epigraphik 191
Ludwich, Über die Papyrus-Kommentare zu den Homer. Gedichten 237
Mayer-G'schrey, Parthenius Nicaeensis 250
Mayser, Grammatik der griechischen Papyri I, und II 227
Meister, R., Beiträge zur griechischen Epigraphik. 1 243
Meltzer, Vermeintliche Perfektivierung usw. im Griechischen . . . 220
Mitteis, Trapezitika 235
Moulton, Grammatical notes from the papyri 231
— Notes from the papyri 232
Naber, Observatiunculae ad papyros iuridicae 235
Nestle, Septuaginta und Bibelvulgata 208
— Ein moabitischer Stadtname 208
— Geschichte eines Druckfehlers (ravTÖßpoyo;) 209
— ap-o; 209
— Septuagintastudien. III 209
Norden, Antike Kunstprosa 204 f. 212
Olschewsky, La langue etc. d'Herodas 251
Pedersen, Zur Lehre von den Aktionsarten 224
Purdie, The Perfective Aktionsart in Polybius .......... 219
Radermacher, Baoi^-Eu; 'Avcioya; $avic^ 210
— Griechischer Sprachbrauch . 226. 251
254 Verzeichnis der besprochenen Arbeiten.
Seite
RaderiuacLer, Aus dem II. Bande der Amherst Papyri 234
— Zu Isyllos von Epidautos 251
— Analecta X 251
Reinach, Tb., Un temple etc de Tanagra 243^
Sarauw, Syntaktisches. 1 224
Schlatter. Verkanntes Griechisch 191
Schmid, W., Über den usw. Zusammenhang usw. d. griech. Renaiss. 211
— W. f k. Ph. 1901 Sp. 597 ff 175. 197. 205
Schmitt, John, Üb. pbonet. u. graph. Erscheinungen im Vulgärgriech. 217
Schulze, W., Graeca Latina 226
Schwyzer (Schweizer), Gramm, d. perg. Iss 161. 166 f. 171. 237.
— Weltsprachen des Altertums 188
— Vulgärsprache der attischen Fluchtafeln 244
— N. Jb. 1901 S. 244 ff. 197 f.
Searles, Lexicograph. study of the greek iss 242
Solmsen, I. F. 189S Anz. S. 64 160
— "Ovou.c x/; \~\~axrj6'jj,\'j V 244
Stratton, History of greek noun-formation. 1 219
Swete, Introduction to the Old Test, in greek 203 f. 206 ff.
Thumb, Griech. Spr. im Zeitalt. d. Hell. 156. 159. 166. 167. 168. 171 ff.
183 ff". 189 ff. 196 f. 198 ff. 201 ff.
— Zur Aussprache des Griechischen 194
— Sprachgeschichtliche Stellung des biblischen Griechisch .... 201 ff.
— Namen der Wochentage im Griechischen 225
— Arch f. Pap. 2 (1903) S. 396 ff 156 ff.
Valaori, Der delphische Dialekt 242
Valmaggi, De casuum syntasi ap. Herodam 251
Viereck, Bericht über die Papyrusliteratur 227
Völker, Papyrorum graec. syntaxis specimen 233
Wahlin, De usu modorum Theocriteo 250
Wendland, B. Z. 11 (1902) S. 184 f 163 f.
— Zu Theophrasts Charakteren 246
— V, Aristeas.
Wessely, Die lateinischen Elemente in den usw. äg. Papyrusurk. . 196
Wilamowitz, G. g. A. 1900 S. 29 ff" 234
— G. g. A. 1901 S. 30ff 159. 160. 234
— Asianismus und Attizismus 212
— Hermes 34 S. 203 ff., 601 ff" -243
35 S. 536 ff 214
Wilcken, Griech. Ostraka 237
— Der heutige Stand der Papyrusforschung 227
— Arch. f. Pap. I (Zusammenstellung der Papyri) 159
Witkowski, Prodromus gramm. papyrorum 159. 228
Wunderer, Polybios-Forschungen. I. . 248
Wünsch, Neue Fluchtafeln 246
Inhaltsübersicht.
Seite
Vorbemerkungen 153
I. Abschnitt. Allgemeine Fragen 15S
1. Name, Grenzen und Begriff der Koine IGl
2. Der Untergang der altgriechischen Dialekte 1G5
3. Wesen und Entstehung der Koine 169
a) Wesen der Koine .... 170
Die schriftliche Koine 183
b) Entstehung der Koine 183
4. Der Einfluß nichtgriechischer Völker auf die Koine .... 189
5. Dialektische Differenzierung der Koine 196
Der angebliche alesandrinische Dialekt 198
6. Die Sprache der griechischen Bibel 200
Der Aristeasbrief 209
7. Die achäisch-dorische und die nordwestgriechische Koine . 210
8. Der Attizismus 211
II. Abschnitt. Spezialarbeiten 214
Arbeiten, welche sich auf mehrere Quellenklassen erstrecken . 215
a) Laut- und Formenlehre 215
b) Wortbildung 218
c) Syntax 219
d) Lexikalisches 225
e) Vermischtes 226
A. Die Umgangssprache 226
I. Papyri (und Ostraka) 226
1. Die nichtliterarischen Papyri 227
a) Laut- und Formenlehre 227
b) Wortbildung 232
c) Syntax 2
d) Vermischtes , . . 234
2. Die literarischen Papyri 235
Ostraka 237
256 Inhaltsübersicht.
Seite
II. Die Inschriften 237
a) Laut- und Formenlehre 237
b) Lexikalisches 242
c) Vermischtes 243
Die Fluchtafeln 244
B. Die Literatursprache 24fi
I. Prosaiker 24fi
1. Mehrere Schriftsteller 246
2. Theophrast (Charaktere) 246
3. Polybios 247
4. Diodor 249
5. Parthenios 250
II. Dichter 250
1. Theokritos 250
2. Apollonios Rhodios 251
3. Herodae 251
III. Vermischtes 251
Nachtrag zu S. 187 , 251
•IKIHII IU8H0IUC1(CK1-*0Tm>IIItlL«eM*fT, tCT tCItMBlH-te^u-.fi Dfl LSTTC-«
JAHRESBERICHT
über
die Fortschritte der klassischen
Altertumswissenschaft
begründet
von
C 0 11 r <a d B 11 r s i a n
herausgegeben
von
L. GrVTl-litt iiiKl "%V. ICl'Oll.
Hunderteinnndzwanzigster Band.
Zweiunddreissigster Janrgang 1904.
Zweite Abteilung.
Grieehisehe und lateinische Autoren.
LEIPZIG 1905.
0. R. R E I S L A N D.
Inhalts -Yerzeichnis
des hunderteiDundzwanzigsten Bandes.
Seite
Bericht über die Tacitusliteratur 1896 — 1903 von
Eduard Wolff 1 — 125
Bericht über (üe Literatur zu späteren römischen
Geschichtsschreibern von 1897 bis einschliess-
lich 1902. Von Prof. Dr. Tlieodor Opitz,
Rektor des Gymnasiums in Zwickau . . . 126 — 142
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903
Eduard Wolff.
I. Tacitns als Schriftsteller. Seine Geschichtschreibang. Qoellen,
Eanstform und Tendenz seiner Werke.
1. F. Leo, Tacitus. 1896.
2. H. Peter, Geschichtliche Literatur der Kaiserzeit. 1897.
3. Ivo Bruns, Die Persönlichkeit in der Geschichtschreibung. 1898.
4. E. Norden, Antike Kunstprosa. 1898.
5. 0. Seeck, Entw. d. antiken Geschichtschreibung. 1898.
6. F. Ramorino, Cornelio Tacito nella storia della coltura. 1897.
7. 0. Wackermann, Der Geschichtsschreiber P. Com. Tacitus. 1898.
8. L Schwabe, P. Com. Tacitus bei Pauly-Wissowa. 1900.
9. K. Breysig, Kulturgeschichte der Neuzeit. 1901.
10. G. Boissier, Tacite. 1903.
11. J. Asbach, Römisches Kaisertum und Verfassung. 1896.
12. 0. Seeck, Anfang von Tacitus' Historien. 190L
13. F. Rühl, Zu Tacitus. 1901.
14. A. Viertel, Tiberius und Germanikus. 1901.
15. A. Spengel, Zar Geschichte des Kaisers Tiberius. 1903.
16. E. Groag, Zur Kritik von Tac. Quellen in den Historien. 1897.
17. F. MQnzer, Die Quelle des Tac. für die Germanenkriege. 1899.
18. B. Imendörffer, Beitr. z. Quellenkunde d. Ann. XI— XVI. 1901.
19. E. Wölfflin, Zur Komposition der Historien des Tacitus, 1901.
20. „ „ Plinius und Cluvius Rufus. 1901.
21. E. Borenius, De Plutarcho et Tacito inter se congruentibus. 1902.
22. L Paul, Kaiser M. Salvius Otho. 1902.
23. H. Vieze, Domitians Chattenkrieg. 1902.
II, Wortschatz und Sprachgebranch.
24. A. Gerber und Greef, Lexikon Taciteum. 1897—1903.
25. Ph. Fabia, Onomasticon Taciteum. 1900.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. OXXI. (1904. II.) 1
2 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
26. K. Reissinger, Die Präpositionen ob und propter. 1900.
27. G. Landgraf, Beitr. zur histor. Syntax. 1899.
III. Überlieferung und Kritik des Textes.
28. G. Andresen, In Tac. Hist. stud. crit. Progr. 1899 u. 1900.
29. „ „ Zur hdscbr. Überlief, d. Dialogus. 1900.
30. „ , Neue Lesungen in Tac. Annalen. 1902.
31. „ „ Zu Tac. Germ. 2, 11.
32. R. Noväk, Analecta Tacitea. 1897.
33. „ , Taciti Germania, Agricola, Dialogus. 1902.
34. R. Wuenscli, Zur Textgeschichte der Germania, 1897.
35. R. Reitzenstein, Zur Textgeschichte der Germania. 1898.
36. 0. Leuze, Die Agricola-hdschr. in Toledo. 1900.
37. Fr. Abbott, The Toledo mscr. of the Germania. 1903.
38. E. Longhi, Osservazioni critiche ed esegetiche. 1901.
1. Friedr. Leo, Tacitus. Festrede am 27. Januar 1896.
Göttingen. 18 S.
In wohlgefügter und schwungvoller Darstellung gibt L. ein ein-
drucksvolles Bild von der einsam in ihrer Größe aufragenden Gestalt
des Historikers, über dessen Lebensgang wir so wenig wissen, den wir
fast nur aus seinem Werke kennen, „das die Probe der Zeiten und
Geister bestanden hat". Allerdings ist, wie über manche Größe des
Altertums, auch das Urteil über Tacitus bis heute starken Schwankungen
ausgesetzt gewesen; solche Schwankungen treten besonders merklich auf,
wenn „ein Gefühl, eine Anschauung moderner Kultur die historische
Grundlage des Urteils verschoben hat". — - Mit wenigen kräftigen
Strichen deutet L. die „tiefen Schatten" an, die in Tacitus' Leben
fielen, die unter Nero verbrachte Jugend, die 15 Jahre des ,, Schweigens"
während der Tyrannei Domitians. Seine Produktion fällt in Trajans
Zeit; sie beginnt nach Leos Meinung mit dem Agricola (,,eine Biographie,
nichts anderes") und der etwa gleichzeitig verfaßten Germania, diese
beiden Schriften im deutlichen Hinblick auf das geplante große Geschichts-
werk; „wenig später" sei der Dialogus de or. erschienen.
Die dem Tac. von seinem Publikum entgegengebrachte Bewunde-
rung und Hochschätzung ist ihm im wesentlichen durch die Jahrhunderte
geblieben, obwohl jederzeit auch Tadel gegen seine Geschichtschreibung
rege geworden ist. Selbst Ranke, der den von ihm bewunderten Tac.
so fein und sicher charakterisiert, hat manchen Bedenken Ausdruck
verliehen. Daß die taciteische Historiographie keinen Anspruch auf
Originalität (geschweige denn auf Exaktheit) im modernen Sinne machen
Bericht über die Tacitusliteratur ISOC— 1903. (Wolff.) 3
kann, darf zugegeben werden, obgleich für Leos spezielle Voraussetzung,
Tac. habe gleich Plutarch aus einem älteren Autor nicht nur historischen
Stoff für (H. I. ü), sondern gelegentlich auch Betrachtungen und be-
zeichnendeWendungen herübergenommen, der Beweis noch nichthinreichend
erbracht ist. Wenn L. meint. Plut. könne nicht von Tac. entlehnt haben,
weil seine Schriften ganz anders angelegt seien als die des Römers,
so setzt er eine einseitige, ziemlich unbeholfene Arbeitsweise Plutarchs
voraus, ohne einen Beweis dafür zu liefern.
Das Kennzeichen der historischen Forschung müssen wir allerdings
dem Werke des Tac. absprechen, ohne daß darum unsere relative
Schätzung tiefer zu sinken braucht; die Grenzen seiner Glaubwürdigkeit
sind eben durch die auch von ihm befolgte Sitte der alten Historio-
graphie gegeben, für die Darstellung früherer Zeiten die vorhandenen
Gewährsmänner zu vergleichen. Um so mehr bleibt zu bedauern, daß
Tac. nicht mehr die Trajanische Gegenwart beschrieben hat, wobei er
genötigt gewesen wäre, Original zu sein. Die Wahrheit als eigentliches
Ziel seiner Darstellung zu betrachten, mit ,, objektiver" Treue schreiben
zu wollen, ist Tac, wohl nie in den Sinn gekommen. ,,Das Wort ,sine
ira et studio' ist, wie die meisten seiner Art, nachdem es Flügel be-
kommen hat, schief geflogen." Es soll nur bedeuten, daß Tac. keinem
Kaiser gegenüber von persönlicher Vorliebe oder persönlichem Haß er-
füllt gewesen sei. — li. erörtert nun den für das tiefere Verständnis
des Tac. maßgebenden Einfluß, den die Rhetorik auf die gesamte
Geistesbildung der röm. Kaiserzeit geübt, er weist auf die auch den
heutigen Romanen eigene, oft übergroße Hochschätzung der Form, des
wohllautenden Wortes hin und kennzeichnet die wichtigsten literarischen
Elemente, unter deren Einwirkung die Kunstprosa des Tac. sich ent-
wickelt hat, eine Entwickelung, aus der sich die stilistischen Ver-
schiedenheiten der 3 ersten Schriften erklären. Auch die meisterhafte
Kunst des Charakterisierens, die Tac. eigen ist, entlehnt ihre Mittel
hauptsächlich der Rhetorik. Während aber die Rhetorik leicht im
Äußerlichen ihr Genüge findet und zur Verflachung neigt, vereinigt sich
in Tac. mit diesem höchsten Kulturelement etwas anderes, höheres
Innerliches: Tacitus war ein Dichter, einer der wenigen großen
Dichter, die das röm. Volk besessen hat." Mehr Dramatiker als Epiker,
hat er in den Annalen eine Reihe der großartigsten (teilweise leider nur
fragmentarisch ej-haltenen) Tragödien aufeinander folgen lassen. — „Der
Dichter kann seine Persönlichkeit nicht verbergen; Tac. übergießt sein
Kunstwerk mit dem Schimmer seines Wesens; über ihm liegt etwas
von dem tragischen Bewußtsein, daß er als der letzte einer vergehenden
Welt an der Grenze zweier Zeitalter steht. Auch die römische Historie
hört mit Tacitus auf." —
1*
4 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—190?. (Wolff.)
2. Hermann Peter, Die geschichtliche Literatur über
die röm. Kaiserzeit bis Theodosius I und ihre Quellen. Leipzig
1897, B. G. Teubner. 2 Bde. XII u. 478 und VI u. 410 8.
Um die für eine gerechte Würdigung historischer Quellen ent-
scheidenden Tragen recht gewissenhaft beantworten zu können, hat der
Verf. dieses gelehrten Werkes, den Spuren seines Vaters folgend, das
Wesen und Werden der römischen Geschichtsüberlieferung bis in ihre
tiefsten und feinsten Wurzeln verfolgt und uns weit mehr, als der
Titel sagt, geboten: ein Stück römischer Kultur-, insbesondere Kunst-
geschichte. Außer einer allseitigen Prüfung der Individualität der
Autoreu sucht P. eine möglichst genaue Kenntnis der Kreise zu ge-
winnen, denen sie angehört haben, des gesamten Zeitalters und der
geistigen Strömungen, von denen sie beherrscht oder wenigstens berührt
worden. So entwirft er, mit der „Geschichte in der Jugendbildung"
beginnend, ein farbenreiches Bild von dem geistigen Leben des kaiser-
lichen Roms, „in dem die Schönheit und der Wohllaut der bloßen
Rede eine dem modernen Menschen fremde Rolle gespielt hat''. Daher
die allgemeine Überschätzung rednerischer Leistungen, aus der sich
manche uns befremdende Urteile über die Wirksamkeit hervorragender
literarischer Persönlichkeiten erklären.
Die Gliederung des Stoffes bei P. nach bestimmten leitenden
Gesichtspunkten bringt es mit sich, daß die Schriften und die Persön-
lichkeit des Tacitus (außer Bd. II, 4) an verschiedeneu Stellen des
Buches in den Bereich der Betrachtung gezogen werden. Einzeluuter-
suchungen und Interpretationen schwieriger Stellen sind überall einge-
streut ; doch sorgt eine Zeittafel und ein Register für Übersichtlichkeit.
Der vom , .geschichtlichen Interesse des Publikums" handelnde
Abschnitt zeigt, wie die poetischen und prosaischen Quellen der Über-
lieferung, denen das stadtrömische Publikum seine geschichtlichen Kennt-
nisse entnahm, durch die Sitte der Ahnenbilder (imagines), die damit
eng zusammenhängenden Leichenreden und durch die Gewohnheiten der
Rhetorenschule verfälscht wurden. Die wissenschaftlichen und sozusagen
historischen Neigungen oder auch Leistungen einzelner Kaiser, von
Augustus bis zu den letzten Inhabern des Thrones, sind vielfach be-
stimmend gewesen für die Neigung der Gebildeten; ein der Geschichte
zugewandtes Zeitalter hat es in Rom nicht gegeben.
Für das Verständnis des taciteischen Dialogs bietet der ganze
erste Abschnitt lehrreiche Betrachtungen. S. 182 heißt es von Curiatius
Maternus: ,, Stolz rühmt sich M., durch einen ,Nero' die Macht vou
dessen Günstling Vatinius gebrochen zu haben, ein Erfolg, den er
übrigens nur dem Vorlesen verdankte, wie denn diese gesamte Literatur
nicht auf die Bühne gekommen ist, kaum auf sie berechnet gewesen
Bericht über die Tacitusliteratar 189G — 1903. (Wolff.) 5
ist." — Der Agricola findet seine Würdigung im Zusammenhang mit
der unter und nach Domitian vorzugsweise von den Stoikern gepflegten
Literaturgattung der Exitus illustrium virorum, über die uns Plinius
näher unterrichtet. Die Schrift „steht mit dem einen Fuß auf dem
Boden der quasi funebres laudationes (Plin. ep. VIII, 12, 5; cf. V, 5, 3),
dem sie entwachsen ist, mit dem andern aber betritt sie schon die
freiere Bahn, welche endlich zu der höchsten Leistung der rhetorischen
Geschichtschreibunc: der Annalen führen sollte". Im Agricola ,,will Tac.
das verkörperte Ideal der altrömischen virtus feiern, welche der Tyrann
fast ausgerottet hätte", und insofern lasse sich diesem Werke der
Pietät ein tendenziöser Charakter nicht absprechen; sonst wäre ja auch
der wirkungsvolle Anfang und Schluß ganz vergriffen; „es darum eine
Tendenzschrift zu nennen, liegt mir fern, da ich es als Kunstwerk
bewundere."
Die Autobiographie beschränkt sich seit Tiberius im wesentlichen
auf den kaiserlichen Hof; als Ausnahmen bezeichnet P. die von Plinius
und Tacitus benutzten Memoiren des Domitius Corbnlo und des Suetonius
Paulinus. Wenn bei der Schilderung der armenischen Feldzüge in den
Annalen der Stoff einseitig um die Person des Corbnlo gruppiert und
dessen glänzende Eigenschaften stark hervorgehoben sind, so erkennt
P. darin teilweise wenigstens des Tacitus Werk. Ahnlich verhalte e&
sich mit Germanikus in den ersten Büchern der Annalen. In beiden
Fällen sei die Schilderung von Vorgängen auf entfernten Schauplätzen
schon durch die unverhältnismäßige Ausführlichkeit zu einer Art Ver-
herrlichung der römischen Kriegführung geworden. Hier wie dort
wundert sich der unbefangene Leser schließlich über die geringen Er-
folge. Eine dritte Parallele läßt sich allenfalls in der Darstellung der
Eroberung Britanniens durch Agricola finden. Die Kriegführung gegen
die Parther wird von Tac, der dem Gemüt des Lesers gern eine Er-
holungspause von den Vorgängen in Rom gewähren wollte, offenbar
über Gebühr verherrlicht, wenn auch das Verhalten des Corbnlo nicht
ganz unkritisiert bleibt. Sueton erwähnt weder den Feldherrn noch
die von ihm genommenen Städte Artaxata und Tigranocerta.
Über die Benutzung urkundlicher Quellen, namentlich der acta
Senat US und der acta urbis, durch Tacitus sowie durch andere
Historiker urteilt P. ziemlich übereinstimmend mit Hübner, Weidemann,
Kubitschek (bei Pauly-Wissowa) und Groag. ,, Unzweifelhaft" seien des
Tac. ausführliche Berichte über die Seuatsverhandlungen , wenigstens
in den Annalen, auf die acta senatus oder, wie sie Tac. unter Ver-
meidung der technischen Bezeichnung nennt, patrum acta, commentarii
senatus, zurückzuführen, — Acta urbis ist offizielle Bezeichnung, daneben
wird, weil es sich um eine allgemein bekannte Zeitung handelt, auch,
6 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
acta, diurna, publica acta gebraucht ; Tac. bebt das tageweise Erscheinen
hervor: diurna populi Romani, diurna actorum scriptura, und mit be-
sonderer Absichtlichkeit ann. 13, 31 cum ex dignitate p. ß. repertum
Sit res illustres annalibus, talia diurnis urbis actis mandare. •
Was unter der im Dial. 37 erwähnten Urkundensammlung des
Mucianus zu verstehen sei, ist nicht ganz klar. Andresen sieht in den
„acta" eine Sammlung ausgewählter Stücke aus den Reden berühmter
[Redner der Republik; das könne aber acta nicht heißen, meint P., und
da in die acta senatus jedenfalls auch im Senat gehaltene Reden auf-
genommen wurden, so können sie sehr wohl eine Vorstellung von der
Redetüchtigkeit der genannten Männer gegeben haben, nur daß nicht
allein an sie (oder auch an die acta populi) bei der Sammlung des
Mucianus zu denken ist. Das Wort acta sei also in der allgemeinen Be-
deutung „Urkunden" zu fassen, wofür quae et . . . manent spreche. Ku-
bitschek deutet acta an der erwähnten Dialogusstelle willkürlich: „buch-
mäßige Publikation denkwürdiger Ereignisse".
Der Abschnitt mit der Überschrift: ,,I)ie Richtungen in der
höfischen Beeinflussung der Überlieferung" (besonders S. 308—328)
enthält eiüen trefflichen Kommentar zu den Eingangsworten der Historien
(simul veritas . . . inest) und der Annalen (Tiberii Gaique . . . com-
positae sunt); P. lehrt hier die taciteische Beurteilung der Cäsaren im
Zusammenhang mit der literarischen Zeitströmung besser verstehen; er
zeigt, wie die Gewohnheit der Literaten und Höflinge, Fürstenideale zu
schildern, wirkliche oder vorgebliche Vorbilder der Kaiser (Alexander
d. Gr. vor allem) in leuchtenden Farben auszumalen, andererseits die
Verunglimpfung der Gegner, die bösartige Verkleinerung der Vorgänger,
auch durch die Monarchen selbst — wie alle diese Tendenzen die Ge-
schichtschreibung der Kaiserzeit nach entgegengesetzten Richtungen
hin beeinflußt haben. P. ist der Meinung, daß des Tacitus Scharfblick
im ganzen vollkommen richtig gesehen habe. — Der gut flavianisch
gesinnte ältere Plinius urteilt sehr scharf über die julisch-claudischen
Kaiser; über Tiberius vgl. u. h. 14, 144; 7, 149; 34, 62; 35, 28; 28,
23; über Caligula und Nero: 7, 45: 5, 2; 7, 46; 34, 45.
Im 2. Kapitel des II. Bandes sucht P. den politischen Standpunkt
der Schriftsteller klarzulegen, welche dieGeschichte der julisch-claudischen
und der flavischen Dynastie überliefert haben, und daraus Schlüsse auf
die Glaubwürdigkeit dieser Überlieferung zu ziehen. Er charakterisiert
zuerst, soweit es nach den wenigen Notizen möglich ist, die von Tacitus
als seine Vorgäuger genannten Autoren. Gelegentliche Andeutungen
des Tac. lassen schließen, daß die Kaiser von jenen eine weit schärfere
nnd ungünstigere Beurteilung erfahren haben als von ihm (vgl. ann.
4, 10). — Tacitus hat seine Aufgabe als Geschichtscüreiber ernst und
Bericht über die Tacitusliteratur 1890—1903. (Wolff.) 7
hoch aufgefaßt; sein sittlicher Maßstab ist die virtus, das dem Menschen
eigene unveräußerliche Gut (h. IV, 17). ,,Sie steht im Mittelpunkt seiner
Auffassung und Darstellung, die Strahlen dieser Sonne schenken Glück
und Ehre, ihre Verdunkelung bringt Entartung und Verfall." Die Ver-
nichtung der Persönlichkeit ist darum die ärgste Wirkung der Despotie
(infesta virtutibus terapora; vgl. Plin. ep. II 1, 3; VIII 14, 7; IX
13, 2), Die Einseitigkeit, mit der Tac. jene virtus zum Mittelpunkte
des gesamten politischen Lebens und zum bewegenden Faktor machte,
hat ihm, nach P.s Ansicht, im Urteil der modernen Geschichtsforschung
sehr geschadet. Die als vornehmste Verteidiger der virtus angesehenen
Stoiker entsprachen bei weitem nicht immer dem Ideal ihrer starren
Tugendlehre; viele könnte man, um einen neuerdings geprägten Aus-
druck zu gebrauchen, geradezu ,, Virtuosen des Opportunismus" nennen.
Wenn Tac, trotz aller warmen Empfindung für einzelne Märtyrer ihrer
Überzeugung, sich von überwiegendem Einfluß der Stoiker freigehalten
hat, so zeugt das für sein selbständiges scharfes Denken und seinen
Wahrheitssinn. Er identifiziert die Begriffe gut und adelig, schlecht
und nichtadelig; in der Betonung sozialer Sympathien und Antipathien
überschreitet er oft das Maß; echt römisch einseitig ist seine Mißachtung
alles „Barbarischen". Wenn er die Betätigung der virtus bei Fremden
und bei niederen Ständen bewundernd hervorhebt, so kommt ein gut
Teil des hellen Lichts auf Rechnung der dadurch erzielten rhetorischen
Wirkung. Von bewußter Fälschung der geschichtlichen Überlieferung
kann keine Rede sein. Nach allen seinen durch die Überlieferung der
Rhetorenschulen genährten Anschauungen mußte Tac. die alte röm.
Republik in glänzender Beleuchtung erscheinen; aber weder er noch
sein Freundeskreis stand der Monarchie als solcher feindlich gegenüber,
obgleich er ihre Schattenseiten nicht verkennt. Ergreifend hat Tac.
geschildert, wie Tiberius von Stufe zu Stufe sinkt, eine Tugend nach
der anderen ablegend, auch bei Nero ist die durch den Einfluß der
Höflinge gesteigerte Zunahme des Verbrechertums dramatisch durch-
geführt. Unbefangen deckt Tac. auch die Schäden der bürgerlichen
Gesellschaft auf, namentlich des Senatorenstandes, dessen teils freiwillige
teils unfreiwillige Erniedrigung nach des Tac. Ansicht mit dem Jahre
23 n. Chr. besonders auffällig zu werden beginnt (ann. 4, 6). Schein-
bar abweichende Äußerungen finden sich in panegyrisch gehaltenen
Reden (h. I 84 und II 32). Den Vorwurf, daß Tac, von seiner Vor-
liebe für die aristokratische Partei und Gesellschaft beeinflußt, bei den
Senatsverhandlungen übermäßig lange verweile, hält P. für unbegründet;
eine besondere Erklärung dafür findet er bei Plinius, wo ep. II, 11 in
24 Paragraphen über einen Repetundenprozeß , unter Trajans Vorsitz,
berichtet wird. Einleitend sagt Plinius dort: Seiet esse tibi (Tacito),
8 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
si quid actum est in senatu dignum ordine illo. Quamvis enim quietis
araore secesseris, insidet tarnen animo tuo maiestatis publicae cura.
H. I 55 heißt es senatus populique Romani oblitterata iam
nomina; zu dieser Charakterisierung des Senats, meint P., stehe im
Gegensatz die Stelle ann. 13, 28, ,,wo Tac. selbst die Bedeutung der
senatorischen Verhandlung überschätzt"(?): manebat nihilo minus
qua 8 dam imago rei publicae; und was „noch auffallender" sein soll,
ann. 3, 60 magnaque eins diei species fuit. Während Tiber die Macht
dei" eigenen Herrschaft festigt, gönnt er dem Senat „das Scheinbild alter
Zeit" (vgl. 1, 77 ea simulacra libertatis senatui praebebat), indem
er ihm Streitigkeiten über Tempelasylrechte in den Provinzen zur Ver-
handlung übergibt. Gleichwohl freue sich Tac. über dies „stattliche
Schauspiel", wie P. unzutreffend übersetzt; denn die Worte magna
species (vgl. h. I 94, 4 in speciem magnificum, sed usu sterile) sind wohl
von leiser Ironie diktiert wie die ganze genaue Aufzählung der ,,querelles
grecques" in den Kapiteln 61 — 63. Des Tages „großes Schaustück"
(show of power) geht ja denn auch ziemlich klanglos aus.
Den Kampf zwischen Nobilität und Prinzipat betrachtet Tac. mehr
von der ethischen als von der politischen Seite. Für eine Bevölkerung,
„die weder die ganze Knechtschaft noch die ganze Freiheit verträgt",
ist sein Ideal einer Staatsform die Übertragung der Gewalt durch
Adoption, und dieses Ideal hat sich unter Nerva und Trajan verwirklicht.
„Die Natur hatte Tac. ein warmes Gefühl für sittliche Größe und ein
gewaltiges Pathos verliehen; aber die schwere Zeit des Duldens unter
Domitian hatte sein Gemüt in Melancholie und Pessimismus getaucht
und ihn an jeder Sorge der Götter für das Menschengeschlecht so weit
verzweifeln lassen, daß er den Zorn zur treibenden Kraft ihrer Welt-
regierung macht."
In der Frage der Quellenbenutzung verwirft P. entschieden jene
mechanische und generalisierende Quellenkritik, wie sie Jahrzehnte
hindurch bei uns von ganzen , »Schulen" geübt worden ist. Er hebt
liervor, daß an und für sich ein wörtliches Entlehnen im Altertum wie
im Mittelalter keinen ernstlichen Anstoß erregte, daß man hierfür keine
festen Grundsätze aufgestellt hatte. Im allgemeinen galt der in früheren
Werken niedergelegte Stoff als Gemeingut; den rhetorischen Schmuck
hingegen achtete man grundsätzlich als fremdes Eigentum.
Auch das 6. Buch, „Allgemeine Würdigung der Geschicht-
schreibung der röm. Kaiserzeit" überschrieben, bringt viel über Tacitus,
namentlich wird gezeigt, wie er seine Aufgabe erfaßt, wie er den Stoff
verarbeitet und dargestellt hat. — Die Schilderung der Vergangenheit
betrachtete man wegen der dazu erforderlichen Stoffsammlung als die
schwierigere Aufgabe, während die Zeitgeschichte nur mehr kunst-
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 9
gerechte Darstellung erheischte. Tiefgreifende Bedeutung für das
historische Kunstwerk hat die oft erwähnte, im kaiserlichen Rom allge-
meine Sitte des Vorlesens gewonnen, wodurch stete Rücksicht auf
das Ohr maßgebend werden mußte. Wohlberechnete Gruppierung und
Abrundung im Hinblick auf Vortragspausen, Abschluß durch schwung-
volle und pointierte Sätze wurden mehr und mehr Gewohnheit. So
näherte sich die Geschichtschreibung der Poesie auch darin, daß sie
gleich ihr ästhetischen Genuß und sittlichen Nutzen bringen sollte.
"Wurde doch Lukans Pharsalia von den Alten ein Geschieh ts werk ge-
nannt. Für die Rede verlangte man „poetischen Schmuck aus der
Schatzkammer des Horaz, Vergil und Lukan".
Aber auch durch Mannigfaltigkeit des Stoffes suchte der Historiker
anregende Wirkungen zu erzielen : das Beiwerk unterhaltender Episoden
und Digressionen über fremde Völker, Beschreibung entlegener Schau-
plätze der Ereignisse u. a. m. wurde eifrig gepflegt. Solche Einlagen
teilt Ammianus Marcellinus in die 3 Abschnitte origo, situs, mores, was
für die Richtigkeit des umfangreicheren Titels der Genuania spricht.
Diese Schrift, nimmt P. an, sei aus den Vorarbeiten zu den Historien
erwachsen; der zunehmende Umfang habe den Rahmen des Geschichts-
werkes gesprengt. Selbstverständlich hat die kunstvolle Behandlung
nach ethischem und ästhetischem Maßstabe den Wert des Materials für
exakte Forschung beeinträchtigt. In unbefangener Würdigung fremder
Volksart, „barbarischer" Tugenden, wie in Wärme der Empfindung steht
die Germania in der römischen Literatur einzig da. — Asbachs Aus-
führungen über die politisch-praktische Tendenz des Werkes finden bei
P. keinen Anklang.
Wie allen alten Schriftstellern lag auch dem Tac. ein planmäßiges
Verfahren bei der Auswahl der Quellen fern, doch wußte er den Wert
der Gleichzeitigkeit oder der Autopsie wohl zu schätzen; auf mündliche
Mitteilungen beruft er sich wiederholt, auch übt er, ohne es jedesmal
zu sagen oder mit seinem besseren Wissen zu prunken, nicht selten
Kritik an seinen Vorgängern.
Als gemeinsame Quelle für Tacitus (in Buch 1 und II der Historien)
und Plutarch (im Galba und Otho) ist P. geneigt (im Gegensatz zu
seiner früheren, mit Mommsen übereinstimmenden Ansicht), den älteren
Plinius anzunehmen, dessen Spuren überhaupt bei Tac. weiter reichen
möchten, als man nach den Zitaten glauben sollte. — Hiergegen vgl.
Groag S. 777.
Die in der röm. Geschichtscbreibung überwiegende Rhetorik hat in-
sofern manchen Schaden angerichtet und manche Mißdeutung veranlaßt,
als sie die für ihre Zwecke geeigneten Tatsachen und Angaben nach Will-
kür auswählte, andere dagegen unbeachtet ließ, die für das Erkennen
10 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
der inneren Zusammenhänge der Dinge nicht minder wichtig, vielleicht
wichtiger waren. Als Eigentümlichkeiten dieser rhetorischen Dar-
stellungsweise nennt P. ferner die Scheu vor bestimmten und genauen
Zahlen, woraus viele Übertreibungen entstehen, die geringe Sorgfalt in
chronologischen Fragen, in topographischem Detail, auch die Abneigung
gegen den Gebrauch barbarischer Namen, fremder oder technischer
Ausdrücke (Umschreibung von amn^p, ann. 15, 71). Ganz natürlich ist,
daß gelegentlich die Rücksicht auf die Zeitfolge hinter dem stofflichen
Interesse zuiücktritt. Was die rhetorische Erweiterung und Zuspitzung
geschichtlicher Vorgänge betriff't, so erkläre Tacitus zwar, er wolle
uil componere miraculi causa (ann. 11, 27), verhalte sich aber nicht über-
all ablehnend gegen Wuuderberichte, z. B. h. IV, 81 und 82. Hier bleibt
freilich zu beachten , daß die berichteten Vorgänge im wunderreichen
Orient spielen und ein wichtiges Motiv für den Verlauf der Dinge dort bilden.
Die Anforderungen der Rhetorik machen sich weiter geltend in
phantastischer Behandlung von Reden, in Schilderung von Elementar-
ereignissen, Berichten über Kriegsoperationen und Schlachten, wobei
der Schriftsteller an Tatsächliches anknüpft und einzelne charakteristische
Züge verwertet, im übrigen aber seiner Einbildungskraft freien Lauf
läßt, so daß sein Gemälde der historischen Forschung nur schwachen An-
halt bietet. Situationsmalerei wurde überhaupt in der röm. Geschicht-
schreibung, namentlich unter Trajan und Hadrian, mit bewußter Kunst
betrieben. P. weist darauf hin, daß sich bei Tacitus, namentlich in
den Schilderungen aus dem fernen Germanien, der Einfluß epischer
Dichtungen bemerkbar mache; er erinnert u. a. an die Ähnlichkeit
zwischen dem ann. 2, 13 Erzählten und Lucan, Phars. 5, 504 ff. (plebeio
tectus amictu . . . tentoria postquam egressus vigilum somno cadentia
membra transsiluit).
Des Tac. Größe besteht in der Vereinigung aller vornehmen
Mittel der darstellenden Kunst; man muß nicht nur den Psychologen
oder den Dramatiker oder den Maler einseitig lühmen. In den Historien
ist die Handlung eng geschlossen, rasch und lebendig vorwärtsschreitend,
in den Annalen wirkt erschütternd das Drama „Tiberius", in dem sich
die einzelnen Akte wieder zu besonderen Dramen abrunden; uns überzeugt
die Entwickelung der Charaktere, weil sie aus der Tiefe des Herzens ge-
holt sind und so die geschichtlichen Handlungen als notwendige oder
mindestens verständliche Äußerungen der Charaktere erscheinen. Dabei
herrscht in der Darstellung feiner Geschmack, auch in den Sprachmitteln,
Kürze, Maß, Spannung, Steigerung. — Als Einzelbilder aus den Ann.
hebt der Verf. besonders hervor: 2, 9 Armin und Flavus, 2, 23 Sturm vor
der Emsmündung, 3, 1 f. Agrippinas Rückkehr, 11, 37; 13, 16; 14, 4—6
Tod der Messalina, des Britannikus, der Agrippina. —
Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff) H
Am Schluß faßt sich Peter so zusammen: „Die Rhetorik gestattete
dem Autor eine energischere Ausprägung seiner Persönlichkeit als die
heutige Geschichtschreibung, und wie wir einen betendendeu Menschen
auch bei häufigem Verkehr nicht vollständig erschöpfen und gerade das
Unbekannte uns reizt, so lassen uns die Rätsel in dem nach antiker Art
verschleierten Wesen eines Historikers nicht in Ruhe und zwingen uns
immer wieder, uns mit ihm zu beschäftigen, wenn es eine so großartige
Persönlichkeit ist wie Tacitus oder eine so liebenswürdige wie Livius."
3. Ivo Bruns, Die Persönlichkeit in der Geschicht-
schreibung der Alten. Untersuchungen zur Technik der antiken
Historiographie. Berlin 1898, W. Hertz. 102 S. 8.
Die an fruchtbaren Gedanken und feinen Beobachtungen reiche
Studie des Frühverstorbenen bildet eine ergänzende Fortsetzung
seines 1896 erschienenen größeren Werkes „Das literarische Porträt
der Griechen im 5. und 4. Jahrhundert vor Chr.". Der Verf.
will zeigen, daß die von Thukydides eingeführte künstlerische Art der
Behandlung historischer Personen, welche Br. , nicht gerade glück-
lich, die „indirekte" nennt, auch in der späteren Geschichtschreibung
geübt worden sei, und zwar in bewußtem Gegensatze zu der direkten
oder subjektivistischen Darstellungsweise. An den zwei Hauptvertretern
dieser Methode, Livius und Polybius, die begreiflicherweise zu solchen
vergleichenden Betrachtungen besonders einladen, sucht Br. zu-
nächst das Wesen und die tieferen Gründe der verschiedenen Technik
der Charakterisierung nachzuweisen. Nun hat es etwas Mißliches,
solche literarischen Erscheinungen, denen psychologische und ästhetische
Motive individuellster Art zugrunde liegen, auf bestimmte Formeln
zurückführen zu wollen und die bunte Mannigfaltigkeit von Erzeugnissen
der menschlichen Gestaltungskraft in künstlich enge Schranken von
Kategorien zu pressen. „Direkt" und „indirekt", „subjektivistisch" und
„objektivierend" sind doch immer vieldeutige, dehnbare Begriffe
die man je nachdem auch durch die Antithesen „realistisch"
und ,, idealistisch", „wissenschaftlich" — „künstlerisch", „verstandes-
mäßig reflektierend" — „intuitiv" u. a. m. ersetzen könnte.
Von dem Exkurs über den älteren Scipio bei Polybius (10, 2 — 5)
ausgehend, kennzeichnet Br. die Art, wie der Grieche bedeutende Persönlich-
keiten überhaupt zu schildern pflege; es leite ihn dabei nicht die aus-
malende und häufig steigernde Phantasie, sondern hauptsächlich nüchternes
Streben nach wissenschaftlicherAnalyse; er gebe keine Gesamtcharakteristik,
knüpfte vielmehr reflektierend einzelneZüge an die berichteten Handlungen
der Individuen an. Von Personen geringerer Bedeutung entwirft P.
mitunter einmalige und sehr wirkungsvolle Porträts. — Daß nun, im
12 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
Gegensatz zu Polybius , die selbständigen subjektiven Charakteristiken
bei Livius gänzlich fehlen sollen, daß sein Urteil in der Erzählung
„völlig verschwinde", kann nicht zugegeben werden; hier geht der
Verf. in der Zuspitzung des ohne Zweifel vorhandenen methodischen
Gegensatzes zwischen den beiden Historikern zu weit. Und wenn Livius
in der dritten Dekade, wo er den Polybius mitunter wörtlich benutzte,
doch dessen kritische Bemerkungen niemals reproduziert hat, so braucht
der Grund nicht gerade der zu sein, „weil jene polybianischen Er-
örterungen seiner Methode widersprachen". Die Unbefangenheit, mit
der Livius, gleich den meisten Alten, bei der Entlehnung des geschicht-
lichen Stoffes verfuhr, erstreckte sich eben nicht auf subjektive Re-
flexionen und rhetorisclien Schmuck, es sei denn, daß der Autor auch
solches Beiwerk ganz zu seinem Eigentum umgemodelt hätte.
Die drei Hanptmittel der ,, indirekten" Methode sind: „die Urteile
der Zeitgenossen, die Wirkung auf sie und Aussprüche der zu
schildernden Personen". Br. zeigt die „fast ausschließliche" Anwendung
dieser Mittel an dem von Livius entworfenen Bilde des Scipio und ver-
gleicht einzelne seiner Züge mit der polybianischen Darstellung.
Daß auch Tacitus die indirekte Art der Charakterisierung
namentlich aber deren Hauptmittel vielfach angewendet hat, insofern
als er es meisterhaft verstand, sein eigenes Urteil über bedeutende
Personen hinter demjenigen der Zeitgenossen zurücktreten zu lassen,
das weist Br. an den ersten 6 Büchern der Annalen nach, in denen
namentlich drei Individuen deutlich porträtiert hervortreten: Äugustus,
Germanikus, Tiberius. Ann. 1, 9 und 10 stellt der Autor, mit dem
eigenen Urteil zurückhaltend, die verschiedenen ,,sermones" der Be-
wunderer des verstorbenen Kaisers, der Tadler und Nörgler einander
gegenüber, Äußerungen, die er als den Niederschlag entgegengesetzter
Strömungen der öffentlichen (d. i. hauptstädtischen) Meinung zusammen-
gefaßt hat. Sie scheinen gleichsam als Korrektiv zu dienen für des Äugustus
selbstbewußtes politisches Testament, seine „Grabschrift", wie Peter das
Mon. Ancyranum nennt, worin der Monarch sich seine löblichen Charakter-
eigenschaften von Senat und Volk sozusagen bescheinigen läßt: den
Schild hätten sie ihm ,,virtutis, clementiae, iustitiae, pietatis causa"
gewidmet (auch ein Muster der „indirekten" Methode!). —
Die Charakteristik des Germanicus wird durch die ann. 2, 13
erzählte Episode angedeutet, wie der Feldherr zu nächtlicher Stunde
an den Lagerzelten lauschend, aus Soldatenmund sein eigenes Lob ver-
nimmt. Ergänzungen hierzu bilden die bei Gelegenheit seines Todes
laut werdenden Äußerungen von Zeitgenossen. — Was nun Tiberius
betrifft, dessen Persönlichkeit im Mittelpuniit alles Geschehens steht,
von dem Tacitus fast auf jeder Seite der 6 Bücher Annalen handelt,
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. ■ (Wolff.) 13
so ist der Grund, warum trotzdem von ihm keine direkte zusammen-
fassende Charakteristik gegeben wird (denn ann. 6, 51 sei nur ein Elogium
nach livianischem Muster), vielleicht in dem Satze angedeutet: morum
quoque tempora illi (Tiberio) diversa sq. Danach ist es ganz natürlich,
daß die taciteische Darstellung auf eine Verteilung, „nicht auf eine
Zusammenfassung des charakterisierenden Stoffes zielte.*' Wohl aber
hat Tac. an dem Punkte seiner Erzählung, wo er Tiberius als künftigen
Herrscher einführt (ann. 1,4), einige Grundzüge seines Wesens, als bei
den Zeitgenossen feststehend, im voraus angedeutet, namentlich die
Verstelluugskunst, den Hang zur Lüge, zum Bösen überhaupt, der alle
ursprünglichen besseren Keime erstickt. Diese schlimme Charakteranlage
des Claudiers ist für Tac. eine völlig ausgemachte Sache, mag er auch mit-
unter für die Handlungsweise des Kaisers mehrere Motive dem Leser
zur Auswahl bieten. Br. ist sogar geneigt, in solchen problematischen
Fassungen ein stilistisches Mittel zu erkennen, um die Sicherheit der
Grundlinien des taciteischen Urteils noch stärker hervortreten zu lassen (?).
Eine auffallende Ausnahme bilde das , .wirkliche" Schwanken des Autors
in seinem Urteil ann. 4, 57. — Weit häufiger als bei Livius und Thu-
kydides seien die charakterisierenden Urteile bei Tac. auf die Einzel-
fälle verteilt, so daß das Bild aus der aunalistischen Aufzählung der
Tatsachen und den zur Erklärung beigefügten kurzen Anmerkungen
erwachse.
Im ganzen stellt Br. die durch Polybius vertretene Richtung der
„wissenschaftlichen Exaktheit" in einen viel zu schroffen Gegensatz zu
der Methode der „objektivierenden" Darstellung, bei der uns, wie er
meint, leider manches verschlossen bleibe. Polybius war eben, um mit
Niebuhr zu reden, ,ein ganz praktischer Mensch, dem durchgehend
Wärme und der Sinn für das Idealische fehlte". Seine Kritik von
Eall zu Fall verspricht uns freilich scheinbar größere Richtigkeit und
Unparteilichkeit, sie sucht verständig Maß zu halten in Lob und Tadel;
was aber eine wesentliche Aufgabe der Geschichtschreibung ist, ragende
Gestalten der Vergangenheit in ihrem Wesen und Wirken uns lebendig
und gegenwärtig zu machen (durch „Gesamtcharakteristik"), das vermag
nur eine von schöpferischer Phantasie und von Leidenschaft erfüllte
Persönlichkeit. Und diese Eigenschaften werden auch durch die an-
erkannte Wahrheitsliebe des Polybius nicht aufgewogen.
4. Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom 6. Jahrh.
v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance. Leipzig 1898, B. G. Teubner.
2 Bde.
Auf Grund einer staunenswerten Belesenheit und mit erquickender
Frische geschrieben, bietet das groß angelegte, wenn auch nicht lücken-
lose Buch eine Fülle anregenden Stoffes; es will die Ursprünge, die
14 Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.)
Überlieferung und die inneren Zusammenhänge des Prosastils im Geist
der Antike selbst darlegen. Auf „antikes Fühlen" rechnet N. deshalb
auch bei seinen Lesern. „Wir müssen versuchen," heißt es (Einl. S. 11),
,ida, wo wir nicht mitempfinden können, wenigstens nachzuempfinden,"
Und daß es dem Verf. g-elingt, uns solches Nachempfinden (zusammen-
hängendes Lesen natürlich vorausgesetzt) leichter zu machen, darin
liegt nicht das geringste Verdienst des eigenartigen "Werkes, das auch
zum besseren Verständnis und zur ästhetischen Würdigung des Tacitus
einen schönen Beitrag liefert. — Es fehlt bei N. nicht an über-
raschenden, mitunter allzu scharf gespitzten Wendungen, auch Ver-
allgemeinerungen, als ob bei den Alten alles ganz anders gewesen wäre
als bei uns. „Im allgemeinen darf man sagen, daß es im Altertum
dem Schriftsteller größere Mühe machte, kunstlos als kunstvoll zu
schreiben (beatos quondam scriptores! — ); so stark war die Macht der
Tradition, der Erziehung und vor allem der Anlage." Mit übertriebener
Schärfe betont N. das Zurücktreten des Persönlichen hinter den die Zeit
beherrschenden Stilrichtungen: „Der Stil war damals eine erlernte
Kunst, deren Pegeln man im allgemeinen keiner Individualität zuliebe über-
treten durfte" . . . „Ein und derselbe Schriftsteller konnte nebenein-
ander in ganz verschiedenen Stilarten schreiben, indem er bald diese,
bald jene loia verwendete, je nachdem sie ihm für das vorliegende Werk
zweckentsprechend schien" . . . Der Stil war im Altertum nicht „der
Mensch selbst" (oder doch nur in sehr beschränktem Maße),
vielmehr „ein Gewand, das er nach Belieben wechseln konnte". Denn
auch der von Seneca (ep. 114 und 115) begründete Satz Piatons, oio?
6 TpoTTo? ToiouTo? xal 6 X070C, habc in der Praxis nicht die gleiche Be-
deutung gehabt wie bei uns. Vgl. übrigens Cic. de rep. II 1 ; Quint. XI
I, 30. — In einem gewissen Widerspruch mit diesen und ähnlichen
Behauptungen scheint mir zu stehen, was N. an anderen Stellen seines
Buches (I 165, 216, 244, 306, 326 u. ö.) über den Individualismus in
der Literatur sagt. — Zunächst aber hat er die eben berührte, be-
sonders auch von Leo vertretene Auffassung in seiner Erörterung der
Dialogusfrage zur Grundlage gemacht. Und gerade in diesem Abschnitte
des Buches sind N.s Darlegungen, auch im einzelnen, am wenigsten
stichhaltig und überzeugend, teilweise übrigens nur Erneuerungen älterer
Erklärungsversuche. Er nimmt den Ausdruck Agr. 3 per XV annos . . .
per Silentium venimus buchstäblich, behauptet die Identität des Maternus
(im Dialog) mit dem von Domitiau hingerichteten ,, Sophisten"
Maternus und bringt die schon früher widerlegte Deutung von sextam
stationem (D. 17, 13) von neuem aufs Tapet. John, in der Einleitung
s. Dialogusausgabe , Andresen, Jahresber. 25, 287 f., Gudeman n. a.
haben Leos und Nordens Hypothesen hinsichtlich der Abfassungszeit
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 15
des Dialogus in allen wesentlichen Punkten rait einleuchtenden Gründen
widerleg-t, so daß ich kaum etwas von Bedeutung hinzuzufügen wüßte.
Erfreulicher und vielfach von bemerkenswerter Schönheit ist N.s
Schilderung der historiographischen Tätigkeit des Tacitus, den er zu
der „Trias der ct£[xvoi" unter den alten Geschichtschreibern (Thukydides,
Sallust, Tacitus) zählt. Für die antike Auffassung vom Wesen der
Historiographie sind bekanntlich zwei auf griechische Quellen zurück-
gehende, übrigens mannigfach variierte Sätze kennzeichnend, nach denen
auch N. seinen Stoff gegliedert und behandelt hat: Opus (historiae)
Oratorium maxinie (Cic. de leg. I 2, 5) und: historia est proxima
poetis et quodam modo Carmen solutum (Quint. X 1, 31), wobei
jedoch bestehen bleibt, wie Polybius ausdrücklich erinnert: oxt to xe'Xoc
bTopiac xal zpa'jLooia.i ou xauTo'v. — "Was unter ae|xvoT7)c, die dem ge-
borenen Dichter eigen, zu verstehen sei, zeigt nach Nordens Ansicht
die Stelle bei Tac. h. II 50 procul gravitate (j.Vornehmheit") operis
coepti. — Von dem in der Literatur der Kaiserzeit hervortretenden
Individualismus sagt N. mit besonderer Beziehung auf Seneca und
Tacitus: „Durch diese (an Sallust anknüpfende) neue Richtung der
Geister erstarkte die Gabe der psychologischen Analyse, die Kunst
des Charakterisierens." Und so ist denn auch in den kleinen ,, Essais",
dem Agricola und der Germania, mit denen die Entwickelung des Tac.
als Historikers und als selbständigen Stilisten beginnt, sallustische Ein-
wirkung besonders deutlich wahrnehmbar. „Von da ab ist es ein Weg,
der ununterbrochen aufwärts führt. Das Streben nach dem Ungewöhn-
lichen und eine immer stärker sich ausprägende Subjektivität macht
sich geltend. Das Überströmen einer mächtigen Individualität, die, sich
selbst dessen unbewußt, allen Menschen und Begebenheiten ihren
Stempel aufdrückt, weist Tac. eine fast singulare Stellung in der antiken
Literatur an . . . Und doch ist auch Tac. kein Phänomen, auch er
ist nur aus seiner Zeit heraus zu verstehen, die er überragt." Vornehm-
heit, Kürze (plus significat quam loquitur), Kühnheit, Vorliebe für das
Ungewöhnliche sind die Hauptmerkmale „seines Stils, der sich als eine
qualitative und quantitative Steigerung des sallustischen darstellt".
Vgl. Nipperdey-Andreseu, Annalenausg. Einl. S. 42 ff. —
Die von Mommsen eröffnete historische Quellenanalyse der Werke
des Tac. sei, meint N., von einschneidender Bedeutung geworden, sie
habe freilich unserem Glauben an das rein individuelle Gepräge der
tacit. Schöpfungen bis zu einem gewissen Grade Eintrag getan; dafür
müsse uns der tiefere Einblick in das historische Werden entschädigen.
Was Nipperdey gegen Mommsens Ausführungen (im Hermes 4, 295 ff.)
über die Abhängigkeit der Hist. von einer dem Tac. mit Plutarch ge-
meinsamen Quelle geschrieben, sei „ganz unantik empfunden" (?). N. be-
16 Bericht über die Tacitasliteratur 1896-1903. (Wolff.)
tont übrigens (I 351 Anm.) selbst, „daß die Gesellschaft der röm.
Kaiserzeit eine erheblich höhere Durchschnittsbildung besaß, als es heute
der Fall ist" (vgl. auch Dial. 19). Und dieselbe Gesellschaft sollte
Autoren ersten Ranges ein solches Maß von (jli[xy](ji; nachgesehen haben,
wie uns manche Gelehrte glauben machen wollen? — Mit Recht be-
merkte Nipperdey (Ann.-Ausg. S. 29 Anm.): „Wie kann es glaublich
erscheinen, daß Tacitus ein allbekanntes Werk aus der nächsten Zeit
in dieser Weise abgeschrieben hätte und doch den Zeitgenossen als ein
so bedeutender Schriftsteller erschienen wäre, wie es geschehen ist." —
Daß Plutarch im Galba und Otho nicht von Tac. abhängig sei, daß
vielmehr beide einen Anonymus benutzt haben, hält N. durch die neueren
Untersuchungen für erwiesen. Gewisse Koinzidenzen zwischen der
Darstellung beider Autoren zeigen uns den Ton Senecas und seiner
Zeitgenossen, so daß Tac, wie Mommsen sich ausdrückt, „die Farben,
die er brauchte, zum guten Teil schon auf der fremden Palette hatte".
— „Tacitus hat als Historiker gearbeitet , wie es im Altertum Regel
war bei Darstellung vergangener Zeiten: er verglich seine Vorgänger
und bildete seine Ansicht aus ihrem Material. Manches hat er auch
stilistisch wörtlich (?) herübergenommen, oft gerade das, was man
früher als echt taciteisch ansah. Nun gehört es dem Anonymus, de»
man aus Vergleichung des Tacitus (H. I und II) und Plutarch (Galba
und Otho) sich vorstellt." — Aller solcher Einschränkung ungeachtet
lautet N.s Gesamturteil: ,,Der Stil des Tac. stellt sich uns dar als
eine Vereinigung des Besten aus der modernen Rhetorik mit der dieser
innerlich nahe verwandten saliustischen Diktion. Aber er hat diesen
modernen Stil kraft seiner gewaltigen, ja gewaltsamen Individualität in
stetiger Entwickelung zu der Vollendung gesteigert, die nie wieder
erreicht wurde, eben weil sie nur von einer so mächtigen Persönlichkeit
getragen werden konnte, wie sie der müde Boden der zur Rüste gehenden
alten Welt nicht wieder hervorgebracht hat." —
5. Otto Seeck, Die Entwickelung der antiken Geschicht-
schreibung und andere populäre Schriften. Berlin 1898.
In anziehender lebendiger Schilderung läßt der geistreiche Verf.
die mannigfachen Entwickeluugsstufen und Formen der ältesten geschicht-
lichen Überlieferung an unserem Auge vorüberziehen: vom Epos und
den Mythen, von Hesiod und Homer, zu den Logographen und zu
Herodot, von den Alten „Vater der Geschichte" genannt, ,, insofern
mit Recht, als er der erste war, welcher die Geschichtschreibung zur
Kunst erhob, und ihnen die künstlerische Seite derselben immer viel
näher am Herzen lag als die wissenschaftliclie" — eine oft aus-
gesprochene, aber bei der Schätzung der alten Historiker keineswegs
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (WolfF.) 17
immer genügend beachtete "Wahrheit. — Eine kurze Charakteristik der
Oeschichtschreibung der römischen Kaiserzeit schließt S. an die Be-
urteilung des Thukydides an. In diesem habe „die antike Geschicht-
schreibung sowohl in ihrer künstlerischen wie nach ihrer wissenschaft-
lichen Seite hin einen Höhepunkt erreicht, den sie niemals überschreiten
sollte". Nur in einer Beziehung ist die antike Geschichtschreibung noch
über Thuk3'dides hinausgewachsen, in dem Verständnis und der Schilde-
rung menschlicher Charaktere, und dieser letzte Fortschritt, den sie im
Altertum gemacht hat, gehört der röm. Kaiserzeit an. — In dem
,, Memoiren und Tendenzgeschichte" überschriebenen Kapitel zeigt
S., wie diese mit den sonstigen Verhältnissen scheinbar kontrastierende
Erscheinung gerade in den Zeitumständen tief begründet war. „Es
bildete sich in der Zeit des Verstummens der Opposition, des tyrannischen
Drucks ein psychologischer Scharfblick bei den Gebildeten aus, den man
fi-üher nicht gekannt. Die Biographie entfaltete deshalb in der Kaiser-
zeit ihre volle Blüte." Der Verf. gibt nun eine kurze Würdigung
Plutarchs und fährt dann fort: „Viel tiefer und bedeutender aber sind
die Charakteristiken zweier anderer Historiker, die nicht Biographen
sein wollen, des Tacitus und des Ammianus Marcellinus. Beide schreiben
allgemeine Reichsgeschichte, aber der Zug der Zeit ist mächtig genug,
um auch ihren Werken fast den Charakter einer Reihe von Kaiser-
biographien zu geben. Dabei wissen sie jede Seelenregung ihrer
Helden so verständnisvoll nachzuempfinden, jeden Charakter, mögen sie
noch so verschieden sein, so allseitig und erschöpfend auszugestalten,
wie es früher nie erreicht und auch in der Neuzeit nur selten über-
troffen ist. Drei Jahrhunderte trennen Ammian von Tacitus, und in
seiner zopfigen und geschmacklosen Schreibweise spricht sich der Unter-
schied ihrer Zeiten deutlich genug aus; aber während sonst in dieser
traurigen Epoche jede geistige Kraft eingeschrumpft ist, hat die Kraft
der Charakteristik eher gewonnen als verloren." — In einer fach-
männischen Kritik des gehaltvollen Buches wurde gesagt, der Verf. sei
eine kräftige und feingebildete Persönlichkeit, die gern ihre eigenen
Wege gehe, mit der man sich gern unterhalte und der man gern
widerspreche. Diese Sätze treffen m. E. auch für die letzten Aus-
führungen Seecks im wesentlichen zu. —
6. Feiice Ramorino, Cornelio Tacito nella storia della
coltura. Discorso letto per la solenne Inaugurazione degli Studi
nel R. Istituto Superiore a Firenze, addi 18 Novembre 1897. Seconda
edizione corretta. Milauo 1898, Ulrico Hoepli. 111 S. 8.
Was den historischen Schöpfungen des Tacitus bei den Zeitgenossen,
wenigstens bei der Elite der Nation, die von Plinius bezeugte lebhafte
Bewunderung und Teilnahme erweckte, waren nicht nur ihre besonderen
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXI. (1904. II.) 2
18 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
Eigenschafteu und die Persönlichkeit des Verfassers; es wirkten auch
äußere Umstände dazu mit. Die Germania wurde zu einem Zeitpunkt
herausgegeben, wo Trajans und mancher anderer Römer Sorgen sich vor-
nehmlich auf die nördlichen Reichsgrenzen , an Rhein und Donau,
richteten, hinter denen noch wenig gekannte, unbezwungene Germanen-
stämme hausten. Die Schrift konnte und sollte dem Vei'stäudigen
zeigen, was jene Völkerschaften bisher unbesiegbar gemacht, wessen
sich das Reich von ihnen vielleicht zu versehen habe; sie stellte zugleich
die naturwüchsige Art der Germanen in wirkungsvollen Gegensatz zu
der römischen Überkultur. — Der Agricola ist nach R.s Ansicht „una
vera e propria biografia", doch mit weiter Perspektive, wie sie dem
werdenden Historiker ziemt. Die Abfassung glaubt R., und mit ihm
einige seiner Landsleute, ins zweite oder gar ins dritte Regieruugsjahr
Trajans setzen zu sollen, auf Grund der Worte „augeat cotidie felici-
tatem" sq. (vgl. Plin. pan. 24 tu cotidie admirabilior . . pollicentur),
insbesondere nee spem modo se . . robur adsumpserit, die gegenüber den
W. quamquam primo statim ?q. nicht auf den am Rheinufer weilenden
Regenten bezogen werden könnten. Die W. der Einleitung . . . „per
Silentium venimus" will R. nur von der eigentlich historischen Schrift-
stellerei des Tac. verstehen, die mit dem Agricola begonnen habe; die
Germania komme als „solo (?) opuscolo geografico* nicht in Betracht.
Die Biographie des Agricola gab der lange zurückgedrängten Empörung
und dem Hasse gegen den toten Tyrannen leidenschaftlichen Ausdruck;
sie preist in der Person des erfolgreichen Feldherrn die altrömische
„virtus" und „constantia" und erhält zugleich durch die ausführliche
Schilderung des Schauplatzes der Ereignisse eine weitere allgemeine
Bedeutung.
Wenn auch minder leidenschaftlich und persönlich, zittert doch
die gleiche Gemütsstimmung noch fort in den größeren Werken, die
Tac. im Agricola in Aussicht gestellt hatte. Sie schilderten zunächst
die um ein Menschenalter zurückliegende Zeit und sodann, weiter
rückwärtsgreifend, die ganze Kaiserzeit seit Augustus' Tod bis zum
Ausgang des julisch-klaudischen Hauses, dessen Chronik bereits von
einer üppigen Legendenbildung umwuchert war. Die Aufgabe des
Historikers, aus dieser Mischung von Wahrheit uud Dichtung den echten
oder wenigstens glaubhaften Kern auszulösen und objektiv darzustellen,
wurde noch erschwert durch die nach Domitians Ende in Rom
herrschende allgemeine Reaktion gegen das Andenken der Tyrannen.
Jedenfalls aber konnte dem literarischen Publikum der trajanischen Zeit,
der „glücklichen Gegenwart" kaum ein interessanterer Gegenstand ge-
boten werden als die Geschichte der „vergangenen Knechtschaft". Und
mehr noch als die geschilderten Ereignisse mußten die handelnden und
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 19
leidenden Personen an sich Eindruck machen, wie sie Tacitns mit
dramatischer Lebendigkeit und Unmittelbarkeit auftreten läßt. Auch
ihre innersten Gedanken und Leidenschaften sieht man keimen, wachsen,
herrschen, zur Tat werden. Tiefste Kenntnis der Menschenseele und
Beobachtung des Lebens spiegelt sich in dem Reichtum der über alle
taciteischen Schriften verstreuten Sentenzen. Überall eigenartige Auf-
fassungs- und Darstellungsweise, die zum Nachdenken auffordert. Trotz
oder gerade wegen solcher Eigenschaften aber konnte Tacitus volles
Verständnis und rechte Schätzung nur bei geistig Auserwählten finden;
seine "Werke wurden nicht in dem Maße verbreitet, wie man erwarten
sollte. Schon das Zeitalter Hadrians und der Antonine, vor allem die
Curiositas zu befriedigen geneigt, vernachlässigte Tacitus zugunsten
Suetons, aus dessen Biographien man sich begnügte, die erste Kaiser-
zeit kennen zu lernen. Gleichgültigkeit oder Anfeindung fand Tac.
begreiflicherweise bei den Juden und Christen der ersten Jahrhunderte;
in Tertullians Apologeticus kommt er übel weg, und viel später zitiert
ihn Orosius einigemal in keineswegs freundlichem oder achtungsvollem
Tone. Während der folgenden Zelt des literarischen Niedergangs war
bekanntlich der Kaiser Tacitus bemüht, die Schriften seines vermeint-
lichen Ahnherrn der Vergessenheit zu entreißen oder wenigstens durch
Vervielfältigung für die öffentlichen Bibliotheken zu erhalten. Einen Fort-
setzer und, freilich recht ungelenken, Nachahmer, sowohl hinsichtlich
des Gegenstandes als auch in der annalistischen Form, fand Tac. in
Ammianus Marcellinus, der die letzten Jahre seines Lebens dazu ver-
wendete, die Kaisergeschichte von Nerva bis zum Tode des Valens zu
schreiben. In Italien war zur Zeit der großen Völkerbewegungen die
Erinnerung an den genialen Historiker derart verblaßt, daß sogar
Cassiodor ihn als „quidam Cornelius" zitiert. Der größere Teil der
30 Historienbücher ging verloren; die Erhaltung der Reste verdanken
wir den Klöstern; hin und wieder bezeugt eine geistliche Chronik Be-
kanntschaft ihres Verfassers mit Tacitus.
Ein weiter Sprung über Jahrhunderte hinweg führt uns zu
Boccaccio (Mitte des 14. Jahrb.), der die letzten Bücher der Annalen
und die ersten der Historien (Cod. Med. 11) zur Hand gehabt und
verwertet hat. Diese Bruchstücke wurden danach mehrfach kopiert
und anderen Gelehrten zugänglich. R. schildert kurz die weiteren
Entdeckungen von Handschriften, der ersten Bücher der Annalen
(Med. I) und der kleineren "Werke, die eifrigen Bemühungen der
Humanisten eines Niccolo de' Niccoli, Poggio u. a. m., er zeigt, welchen
Aufschwung damals, auch unter Pflege seitens der Päpste, die Tacitus-
studien genommen, wie die politische Schriftstellerei eines Macchiavelli,
Guicciardini, Giannotti u. a. dadurch belebt und befruchtet worden, wie
2*
20 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
infolge dieser Studien, durch die neue schwarze Kunst beschleunigt,
eine starke literarische Strömung von Italien ausgegangen sei, an der
Europas Hauptnationen teilnahmen. In rascher Folge erschienen
die Tacitusausgaben in Venedig, Rom, Mailand, Basel, Florenz,
Lyon usw. Nirgends aber dürften wohl die Annalen und Historien
mehr gelesen, übersetzt, nachgeahmt und zitert worden sein als damals
in Italien, wo einheimische und spanische Zwingherren in Tiberius und
Nero ihre Vorbilder fanden. Überhaupt wurde die Autorität des Tac.
oft genug angerufen, wenn es galt, die absolute Fürstengewalt des 16.
und 17. Jahrhunderts zu rechtfertigen, aber auch, um sie zu bekämpfen.
Denn wo boten sich schärfere Wafien, treffendere Schlagworte als bei
Tacitus, wo wurden Hofintrigen, Zänkereien von Kurtisanen, die
Schamlosigkeit der Emporkömmlinge so drastisch und mit solcher
Menschenkenntnis geschildert als dort?
Mit einigen "Worten gedenkt R. der rühmlichen Tätigkeit der
Freunde J. Lipsius und A. Moretus, die sich um die Textkritik und
Auslegung des Tac. so große Verdienste erworben haben. Bemerkens-
wert ist, daß in demselben Jahre 1580, in dem Muret das erste Buch
der Annalen herausgab , Montaignes Essais erschienen, die von einem
gründlichen Studium des Tac. Zeugnis ablegen. Überhaupt haben die
Franzosen ihre Vorliebe für den großen Historiker durch die besonders
hohe Zahl von Übersetzungen und Kommentaren seiner Schriften be-
tätigt; nicht nur vom künstlerischen, auch vom politischen und
moralischen Standpunkt aus wußten sie ihn aufs beste zu würdigen und,
je nach den wechselnden Zeittendenzen, zu verwerten.
Nach einer weiteren kurzen Betrachtung über die Spuren von
Tacituskenntnis in Spanien, Holland, Deutschland und England wendet
sich R. dem 18. Jahrhundert zu. Dieses Zeitalter der großen literarischen
und politischen Umwälzungen fand in der Hinterlassenschaft des genialen
Römers ein unerschöpfliches Material zur Begründung und Verfechtung
seiner Ideen und Ziele. Man weiß, was in dieser Hinsicht des Tac.
Schriften während der französischen Revolution und der Reaktion be-
deutet haben, wie der Historiker von Napoleon I. gering geachtet, ja
gehaßt wurde, wie dann Gelehrte und Politiker des zweiten Kaiserreichs
für und wider Tacitus leidenschaftlich Partei ergriffen; ein Streit, der
zugleich rechts vom Rhein mit erstaunlicher Wucht und Zähigkeit fort-
geführt worden und noch heute nicht erloschen ist. Daß diese, von
R. nur angedeutete, moderne Ki'itik dem Ansehen des Tacitus keinen
erheblichen Abbruch getan habe, wenigstens bei solchen, die einen
richtigen und billigen Maßstab an die antike G-eschichtschreibung an-
zulegen verstehen — darin stimme ich dem Verf. gern bei. — Die
Bericht über die Tacitusliteratur 1890-1903. (Wolff.) 21
interessanten Ausführungen R.s werden belegt und näher begründet in
zahlreichen Anmerkungen, die von des Yerf. Belesenheit und Gelehr-
samkeit eine vorteilhafte Vorstellung geben. — Vgl Andresen, J. B. 24,
297 ff.; Opitz, W. f. kl. Ph. 1900 N. 8, 208—210.
7. Otto Wackermann, Der Geschichtsschreiber P. Cor-
nelius Tacitus. Gymnasial-Bibliothek, herausgegeben von E. Pohlmey
und Hugo Hoffmann. 28. Heft. Gütersloh 1898, C. Bertelsmann.
94 S. 8.
Dieses mit erfreulicher Wärme und großer Anschaulichkeit und
Vollständigkeit ausgeführte Lebensbild des Tacitus hat seitens der Fach-
männer, wie billig, allgemeinen Beifall gefunden. (S. Andresen, J. ß.
24, 293 f. und 25, 294, wo auch die übrigen Besprechungen angeführt
sind.) Die Abhandlung bildet eine sehr zweckentsprechende Einführung
in die Tacituslektüre und darf zu den besten Leistungen der G.-B. ge-
rechnet werden. — In der Gesamtauffassung des Geschichtschreibers
(nicht -forschers!) und in der Würdigung seiner Werke bekennt sich
W. zu Bankes Standpunkt; doch geht er mit Recht auf die neueren
Kontroversen über die Quellenbenutzung und die Glaubwürdigkeit
des Tacitus nicht näher ein. — Von dem Bildungsgange des Historikers
können wir uns, wie W. richtig annimmt, nach dem Dialogus ein un-
gefähres Bild machen, von seiner Amterlaufbahn aus einzelnen Notizen der
übrigen Werke. Ob Tacitus eine «frühzeitige militärische Ausbildung"
(S. 14) zuteil geworden, muß dahingestellt bleiben, wenn ihm auch ein
gewisses Maß von Einsicht in das Heerwesen und in kriegerische Ver-
hältnisse nicht abzusprechen ist. Daß der Vorname Publins „jetzt in-
schriftlich beglaubigt" sei, hat sich bekanntermaßen inzwischen als ein
Irrtum herausgestellt. — An der durch die Hss bezeugten Echtheit des
(um 80 n. Chr. herausgegebenen) Dialogus zu zweifeln, sieht W. keinen
ausreichenden Grund. In bezug auf die Germania billigt er die voa
Asbach u. a. vorgetragene, aber mangelhaft begründete Ansicht: sie sei
,in erster Linie (?) eine politische Broschüre, bestimmt, einem augen-
blicklichen Staatsinteresse zu dienen, ein Stück Tagesliteratur in höherem
Sinne". Richtiger und ausführlich handelt W. über Entstehung, Inhalt
und Gedankengang der anderen Schriften. Die Historien, wenigstens
die ersten ihrer 14 Bücher seien nicht sehr lange nach dem J. 100
bekannt geworden, und zwar dem engeren Kreise des Tacitus. Dem-
nach hätte Plutarch, der seine Lebensbeschreibungen im J. 107 heraus-
gab, nach W.s Annahme für seine Schilderungen des J. 69 (Galba und
Otho) recht wohl die taciteische Darstellung (H. I u. II) benutzen
können. Gleichwohl begnügt sich Verf. mit der Erwähnung des Cluvius
22 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (WolfF.)
Eufus als gemeinschaftlicher Hauptquelle (?) des Tacitus und des
Plutarch. —
Wenn W. die Historien, „dem Stoffe und seiner Behandlung nach",
als eine Art Epos der Tragödienfolge der Annalen gegenüberstellt, so
scheint mir diese vergleichende Charakteristik etwas gesucht und, was
die Hist. betrifft, mit dem üblichen Begriffe der epischen Poesie nicht
recht im Einklang zu sein. — Wie in der Germania kommt übrigens
auch in den Annalen die rege Teilnahme ihres Verfassers für die Ge-
schicke der germanischen Völker deutlich zum Ausdruck durch die aus-
führlichen Berichte über ihre Kämpfe gegen Rom wie untereinander.
Auf der anderen Seite ist es die unvergleichliche Charakterisierung der
einzelnen Kaisergestalten, welche dem reifsten Werke des Tac. seinen
Hauptwert und -reiz verleiht. Diesen Bildern widmet W. eine längere
feinsinnige Betrachtung. Auch die kraftvolle Tendenz der taciteischen
Schriften, gegen Tyrannei und Herrschsucht sowohl wie gegen Niedrig-
keit, Schmeichelei und Heuchelei, stellt W. ins richtige Licht. In
philosophischen Fragen bekennt Tac. sich nicht zu bestimmten Lehr-
sätzen, in bezug auf die Religion hegt er, ohne sich ganz von den
herrschenden Vorstellungen loszureißen, höhere Ideen über das Wesen
der Gottheit und deren Einwirkung auf die Menschenschicksale. —
Angesichts der vielfach absprechenden und sich oft widersprechenden
modernen Urteile über die sachlichen Grundlagen und die Zuverlässigkeit
der taciteischen Geschicbtschreibung hebt W. richtig hervor, daß den
Alten eine Geschichtswissenschaft, wie wir sie heute kennen, fremd war;
ihnen galt kunstvolle Darstellung als die Hauptsache. Und so hat auch
Tacitus keine methodischen Quellenuntersuchungen im einzelnen au-
gestellt, sondern sich in der Regel damit begnügt, den Erzählungsstoff,
welchen er den aus guten Gründen von ihm bevorzugten Quellen ent-
nahm, wirkungsvoll zu gruppieren und künstlerisch auszugestalten. R.
kennzeichnet die Besonderheiten der taciteischen Sprache, ihre Kraft,
Kürze, poetische Färbung, die kühne Anwendung der rhetorischen Kunst-
mittel, vor allem des Gegensatzes, und schließt mit einer kurzen Be-
trachtung über das Schicksal der taciteischen Schriften im Mittelalter
und in der Neuzeit. Eine mit Asbachs Ansetzungen im ganzen über-
einstimmende Zeittafel ist beigegeben. —
8. Der Artikel P. Cornelius Tacitus von Schw'abe in
Pauly - Wissowas Realcnzyklopädie der klass. Altertumswissenschaft
(7. Halbband, Stuttgart 1900) behandelt alle wesentlichen den Autor
und seine Werke beireffenden Fragen, selbstverständlich in gedrängter
Kürze, mit verständig abwägendem Urteil. Literatur ist ziemlich reich-
lich verzeichnet; natürlich darf man nicht jede Dissertation oder Schul-
schrift zu finden erwarten, wo ohnehin Auswahl geboten ist. Solche
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 23
hätte mitunter etwas strenger sein sollen ; denn daß z. B. den formlosen
und wenig fördersameu Abhandlungen von A. Czyckiewicz 5 Zeilen ein-
geräumt sind, während unter der Germanialiteratur die Leistungen von
Rühs, Kießling, Dilthey u. a. , beim Dialogus die Arbeiten Valmaggis
fehlen, ist zu tadeln. Überall ist freilich auf Teuffel-Schwabe, Geschichte
der römischen Literatur, am Schluß auch auf Bahr und Bernhardy (nicht
auf M. Schanz) verwiesen, wo man weitere Belehrung schöpfen mag.
Der Vorname Publius steht nach Schwabes Ansicht ziemlich fest;
gegenüber dem doppelten Zeugnis des MI könne Apollinaris Sidonius
keinen Glauben beanspruchen, der den Tac. zweimal Gaius nennt. Der
Geburtsort ist unbekannt; alle Vermutungen betr. Interamna oder ein
Munizipium Oberitaliens sind unhaltbar. Nicht genau zu ermitteln ist
das Geburtsjahr; die größte Wahrscheinlichkeit spricht für 55 n. Chr.
(Plin. ep. VII 20, 3. 4. Dial. 1; Agr. 9). — Die im ganzen normale
Amterlaufbahn brachte den Tac. 89 in eine prätorische Provinzialstellung,
etwa als legatus pro praetore provinciae Belgicae. Nachher scheint seine
«ffentliche Laufbahn ins Stocken geraten zu sein durch die zwischen
Domitian und Agricola eingetretene Entfremdung; daher ist Tac. ver-
hältnismäßig spät Konsul geworden. Das durch die Lischrift von
Mylasa bestätigte Prokonsulat Asiens wird nach der damals üblichen
Ordnung ums J. 111 oder 112 erreicht worden sein. — S. meint, es
habe große "Wahrscheinlichkeit, daß Quintilian, wo er von den hervor-
ragendsten lebenden Rednern spricht, in erster Linie Tacitus und seinen
Freund Piinius im Auge habe: X 1, 122 habebunt qui post nos de er.
scribent . . . ac sequitur industria. Hingegen passe nicht wohl auf
Tacitus X 1, 104; denn im Munde eines 65 jährigen Mannes klinge ein
solches Lob des etwa 35 jährigen auffällig. Außerdem scheinen die
Woite superest adhuc auf einen älteren Mann hinzudeuten. — Des Tac.
Arbeit ruht vorzugsweise auf seinen Vorgängern in der historischen
Literatur; formale künstlerische Gestaltung steht auch ihm oben an,
daher Umbildung von Reden und Aktenstücken nach künstlerischen
stilistischen Forderungen. Tac. schreibt Reichsgeschichte, nicht Fürsten-
geschichte; natürlich aber treten die leitenden Männer, besonders die
Kaiser, ihr Kreis und Rom in den Vordergrund. Krittler und Mäkler
haben unbilligerweise Anforderungen an Tac. gestellt, die man heute
an den historischen Forscher stellt.
"Was nun die einzelnen "Werke des Tacitus anlangt, so nennt S.
den Dialogus ,die bedeutendste Einzelschrift zur römischen Literatur-
geschichte". Das Gespräch werde ins 6. Regierungsjahr Vespasians
verlegt (= 1. Juli 74 bis dahin 75); die Schrift sei später, doch nicht
unter Domitian, auch wohl nicht nach ihm verfaßt, weil sie dann dem
24 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (VVolff.)
Agr. und der Germ, zeitlich so nahe käme, daß für den bedeutenden
stilistischen Unterschied keine hinreichende Erklärung wäre. Denn die
Annahme (Leos u. a.), Tac. habe gleichzeitig in den verschiedenen Stil-
arten, bald zeitgenössisch, bald ciceronianisch, geschrieben, unterliege
den erheblichsten Zweifeln , auch im Hinblick auf den Charakter des
Tac, der einer solchen Spielerei der Schule, und zwar in reifem Lebens-
alter, wenig geneigt und zugänglich sein konnte. Mit der Einkleidung
des Dialogs vereinigt sich am natürlichsten die Veröffentlichung unter
Titus, im 26. oder 27. Lebensjahr des Autors. Die Zweifel an der
Urheberschaft des Tac. entspringen einseitiger Überschätzung des
stilistischen Gesichtspunktes. — Das Thema der Schrift ist mit den
Worten K. 1 gegeben: cur nostra aetas . . . retineat, doch gelangt die
gelehrte Unterhaltung erst allmählich zum eigentlichen Gegenstand, und
gegen das Ende hin scheint die Durchführung des Themas selbst etwas
zu ermatten (?). — Im Agricola verflicht Tac. seines Schwiegervaters
Leben mit der Zeitgeschichte und betont deshalb namentlich dessen
Tätigkeit und Leistungen in Britannien. Im ersten Teil, findet S.,
wirke das stetige Hervorheben der , Musterhaftigkeit" Agricolas etwas
erkältend, später rege sich die Teilnahme für das Opfer kaiserlicher
Mißgunst und Tücke. Die Darstellung in ihrer gehobenen rhetorischen
Form, voll innerlicher Bewegung, steigere sich bis zum Schlüsse. Die
Sprache zeigt viele Anklänge an Sallust. — Wie der ursprüngliche Titel
der sog. Germania gelautet habe, läßt S. unentschieden; an die „breit-
spurige" Aufschrift des Leidensis glaubt er nicht. Die Schilderungs-
weise zeigt auch hier Verwandtschaft mit Sallust. Mit Germanien oder
wenigstens mit Teilen des Landes scheine Tac. durch eigene Anschauung
vertraut geworden zu sein. — Die Historiae sind im 1. Jahrzehnt des
2. Jahrhunderts n. Chr. verfaßt und allmählich herausgegeben; der
Sondertitel wird bestätigt durch Tertullian, Pliuius den Jüngern und
Apollinaris. Die Verbindung mit den später verfaßten Aunaleu in fort-
laufender Bücherzählung ist wohl erst nach Tacitus erfolgt. Die Be-
handlung des ganzen ist streng anualistisch. Wie sich die 30 Bücher
auf Historien und Annalen verteilen, ist nicht ganz sicher, da beide
Werke am Schluß verstümmelt sind. Wäre Ritters Vermutung, daß
die Behandlung der neronischen Zeit bis B. XVIII sich ausgedehnt habe,
zutreffend, so müßte die Erzählung von B. XVI — XVIII ausführlicher
gewesen sein als in irgend einem früheren. Eher wird Tac. den Stoff
in dem vielleicht umfänglicheren 16. Buche zusammengedrängt haben.
Der Abschluß der Annalen fällt mit der Ausdehnung des röm. Reiches
bis zum „Roten Meer" zusammen. Unter diesem Rubrum mare wollte
Asbach nicht den Persischen, sondern den Arabischen Meerbusen ver-
stehen; es sei die im Jahre 106 erfolgte Einrichtung der Provinz Arabia
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 25
gemeint. Sicher unrichtig. Denn schon seit 30 v. Chr. erstreckte sich
das röm. Reich bis zum Arabischen Golf; an diesen konnte Tac. hier
gar nicht denken, nachdem er erst ann, 2, 60 if. Elephantine und Syene
als fernste Punkte von Rom genannt hat. Auch würde er dann nicht
das Rote Meer, sondern den Osten der Provinz, etwa Petra oder Bostra,
genannt haben. —
Aus Schwabes Bemerkungen über die Quellenfrage hebe ich nur
hervor, daß nach seiner Meinung Plutarch und Dio den Tacitus, natür-
lich neben andern Gewährsmännern, benutzt haben. Im ganzen aber
konnte ein Schriftsteller, der nicht für das große Publikum schrieb,
sondern für einen kleinen Kreis gleichgesinnter Patrioten, nicht populär
sein; er wurde bewundert, aber wenig gelesen. Im Mittelalter war
Tac. nahezu verschollen. — Die Schicksale der Tacitushandschriften
werden von S. ziemlich eingehend verfolgt, wobei er sich auf das grund-
legende Werk Voigts, Wiederbelebung der klassischen Altertumsw.
sowie auf Manitius, A. Hortis, Nolhac u. a. stützt. —
9. Kurt Breysig, Kulturgeschichte der Neuzeit. Bd. II:
Altertum und Mittelalter. II, 1. Berlin 1901.
Was der neben K. Lamprecht „modernste der modernen Historiker"
über den größten Historiker der römischen Kaiserzeit zu sagen
hat, ist jedenfalls beachtenswert, mögen uns auch einzelne seiner Aus-
sprüche — und Widersprüche — noch so sehr befremden. In dem Über-
blick über die alte Literatur S. 481 ff. handelt Br. über Tacitus. Nachdem
dieser schon S. 473 als der etwas „plu'asenreiche Tugendrhetor" gestreift
ist, dem man ebensowenig wie dem Schelm, Juvenal alles zu glauben
brauche, was sie über die Ausschweifungen ihrer Zeitgenossen berichten,
erwarten wir keine allzu freundliche Charakteristik. Diese beginnt
mit einem kühnen Bilde: „Gelangt man von Livius zu Tacitus, so hat
man den Eindruck eines Wanderers, der aus einem anmutigen, aber
wenig charakteristischen Hügelland plötzlich in ein Hochgebirge gerät,
das voll von den bizarrsten, aber auch großartigsten Abgründen und
Gipfeln ist . . . Tacitus war freilich nicht Historiker in unserem Sinne,
noch weniger Geschichtsforscher. Geschichtlichen Stoff mit systematischen
Augen zu betrachten, war nicht seine Sache; aber Tacitus ist der erste
Psychologe (S. 435: Sallust wurde der erste Psychologe unter den
röm. Historikern) unter allen Geschichtschreibern (wie ziemlich all-
gemein anerkannt; vgl. Norden I 87, Anm.), ja man wird sagen können,
er war der erste praktische Psychologe unter den Gelehrten überhaupt.
Er hat das historische Porträt geschaffen, eine nicht nur ästhetische,
sondern auch wissenschaftliche Errungenschaft" . . . Br. erkennt
26 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
an , daß Tac. auch aus der römischen Sprache wie kein anderer ein
Instrument zu machen wußte; er rühmt die monumentale Knappheit
und Präzision dieses Instruments; jedoch sei der Wissenschaft durch
jenes Überwiegen des Psychologischen und Ästhetischen auch ein schlimmer
Schaden zugefügt worden. „Ist niemals wieder mit so viel Kunst Ge-
schichte geschrieben worden , so auch nie wieder mit so viel Leiden-
schaft, mit so viel Voreingenommenheit und, auch das muß (?) gesagt
werden, mit so viel — objektiver — Unwahrhaftigkeit! Er war ganz
und gar Parteimann (s. auch S. 442 : Tacitus furchtbar erbitterte Partei-
nahme gegen einzelne Herrscher nicht nur, sondern ebensosehr, wenn
auch versteckter, gegen die cäsaristischen Institutionen selbst) ... er
gedachte mit Sehnsucht der Zeiten der Republik, in denen die Aristo-
kratie noch allein im Staate geherrscht hatte. Tac. war ein Sanguiniker
(vgl. S. 243), ein moralischer Rigorist, der allen und jeden Klatsch
der Hofgesellschaft wiederholt . . . Wie maßlos ungerecht seine
ästhetisch größte Leistung, sein Porträt des Kaisers Tiber ist, ist heute
fast allgemein (?) zugestanden . . . Schließlich ist man geneigt, auch
die Sicherheit der berichteten Tatsachen in Zweifel zu ziehen" . . .
S. 487. ,,Man kann auf ihn schmähen als auf einen unleidlich manierierten
Stilisten, als auf einen eitlen Rhetor, einen Tugendprediger, als auf
einen im Innersten unwissenschaftlichen Forscher. Und doch bleibt
bestehen, daß er die höchste Kraft stilistischer und komponierender
Formgebung in den Dienst der Geschichtschreibuug gestellt hat. Ob
Tac. willkürlich urteilt, ob er künstlerisch stilisiert, ob er wissenschaft-
lich (also doch!) konstruiert, in jedem Falle erhebt er sich souverän
über seinen Stoff." — Schön gesagt, aber es kommt gleich wieder
anders: „Die Fülle gehässiger Anekdoten, durch die er vor allem die
Unbefangenheit seines Urteils so sehr bloßgestellt hat ... das Über-
handnehmen kleinlich persönlicher und die Zurückdrängung
der großen, der charakteristischen Züge . . . Trotzdem ragt
seine Gestalt schroif und hoch über die bisherige Entwickelung der röm.
Geschichtschreibung hervor" . . . Man sieht, in B.s Ausführungen spielt
der Konzessivsatz eine derartige Rolle, daß manche seiner Urteile sich
gegenseitig geradezu aufheben. Er gibt zu, daß nirgends mehr Stoff
zu gerechtem Schelten sich bot als im kaiserlichen Rom ; trotzdem teilt
er in der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Tac. ganz den Stand-
punkt jener älteren Kritiker, von denen manche meinten, was man
über die Cäsaren und ihre Umgebung berichte, verdiene wenigstens
dann keinen Glauben, -wenn es der menschlichen Natur zu viel Schande
mache, den natürlichen Gesetzen zuwiderlaufe usw. Allein seit Voltaire
und Linguet hat uns die historische Foischung, nicht nur die Memoiren-
literatur, in dieser Hinsicht doch mancherlei Neues gelehrt! —
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolfif.) 27
10. Gaston Boissier, Tacite. Paris 1903, Hachette. 343 S.
Es ist über 30 Jahre her, daß B. die Schrift „L'opposition sous
les Cesars" erscheinen ließ, worin er durch eingehende Schilderung des
Milieu auch der Beurteilung des Tacitus eine breite, zuverlässige Grund-
lage zu schaffen suchte. Noch manche weitere Publikation hat seitdem
des Verfassers reges Interesse und feines Verständnis für den römischen
Historiker bekundet.
Der vorliegende Band vereinigt unter vereinfachtem Titel zu-
nächst 4 bereits in der Revue des deux Mondes (Jahrg. 1901) ver-
öffentlichte Aufsätze: Comment Tacite est devenu historien; La con-
ception de Fhistoire dans Tacite; Le jugement de T. sur les Cesars;
Les opinions politiques de Tacite. Die beiden letzten berühren sich
ihrem Inhalt nach am meisten mit der obenerwähnten älteren Schrift.
Beigefügt sind 3 Aufsätze über teilweise konnexe Gegenstände: Les
^coles de declamations äBome; Le Journal de Rome; Le poete Martial,
Im ersten Kapitel wird die Erziehung und die rhetorische und
philosophische Ausbildung des Tacitus skizziert, soweit wir uns aus
dem Dialogus eine Vorstellung davon machen können. Diese Schrift
sei zu Anfang der Regierung Domitians abgefaßt, vermutlich zuerst
einigen Freunden vorgelesen, nachher vielleicht mehrfach retuschiert
und endlich unter Nerva oder Trajan veröffentlicht worden. — Die von
Messalla im Dialog geforderte tüchtige Allgemeinbildung war auch
des Tacitus Ziel; nicht ohne eine gewisse Befriedigung nimmt er oft
Gelegenheit, in gelehrten Digressionen sein Wissen zu zeigen, wenn
es gilt, fremde Gebräuche, Einrichtungen oder auch gewisse Natur-
phänomene zu schildern. Eine der bemerkenswertesten Digressionen, des
Germanikus Besuch der Denkmäler Thebens betreffend, bespricht B. aus-
führlicher; um die Genauigkeit dieses Berichts prüfen zu können, hat er
seinen früheren Schüler Maspero um sachkundige x-^uskunft ersucht, die
er hier abdruckt. — Ägypten mit seinen zahlreichen Rätseln hatte die
Einbildungskraft des Römers vornehmlich angezogen; er rühmt sich,
es besser als andere zu kennen. Auch über den Serapiskult glaubt T.
(wohl in seiner Eigenschaft als XV vir sacris faciundis?) mehr Wissen-
schaft erworben zu haben als andere. Selbst über das Alphabet, dessen
Erfindung er, im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, den Phöniziern zu-
schreibt, ist er gut unterrichtet, und die neuere Forschung hat ihm
recht gegeben.
Weiterhin kennzeichnet B. das Verhältnis des Tac. zum Studium
der Philosophie, insbesondere auch zu Seneca und dessen weltbürgerlicher
Humanität, schildei't die politische Laufbahn des T. bis zum Konsulat,
womit zugleich die schriftstellerische Tätigkeit des Historikers beginnt;
hieran reihen sich Betrachtungen über Entstehung und Tendenz des
28 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
Agricola und der Germania. Land und Volk der Germanen habe der
Schriftsteller augenscheinlich aus unmittelbarer Nähe zu studieren Ge-
legenheit gehabt (B. stützt sich hierin vorwiegend auf die von Kritz
geltend gemachten Argumente). Von der Form der Schrift heißt es:
„Tac. entrebrusquement en matiöre et s'arrete quand il n'a plus rien ädiie.*^
Wie die Römer vor Tacitus über Begriff und Aufgabe der Ge-
schichtschreibung dachten, erfahren wir u. a. von Cicero, der selbst in
seinen späteren Jahren Historiker zu werden Neigung empfand: ne
quid falsi dicere audeat, ne quid veri uon audeat (mit ähnlicher, fast
rührender Naivetät äußert sich Napoleon III. im Vorwort zu seiner
Vie de Cesar). Freilich muß die Wahrheit kennen, wer sie sagen will;
das ist aber nicht leicht, vielmehr Aufgabe einer feinen Wissenschaft,
der Kritik (lat. iudicium). Tac. übte oft genug Kritik, auch ohne e&
ausdrücklich zu erwähnen. Vor allem aber bedarf es des neuschaffenden
Künstlers, der die Ereignisse der Vergangenheit uns lebendig ver-
mittelt. In der römischen Kaiserzeit nun war die literarische Form par
excellence die Beredsamkeit, über deren Anwendung auf die Ge-
schichtschreibung sich leicht schiefe Auffassung bilden konnten; ja es
lag eine gewisse Gefahr für die große Historiographie darin, daß man
in den Schulen die jungen Leute anwies, mageren Stoffen „colores"
hinzuzufügen.
In der Beurteilung der historischen Treue des Tac, der Art
seiner Quellenbenutzung usw. steht B. auf gleichem Standpunkt mit
Nipperdey, Peter, Groag u. a. Gleichwohl findet er, daß die drama-
tische Saite bei Tac. etwas zu oft und zu stark vortöne; nach alten
Mustern ersetze er in kunstvoller Weise die Wahrheit durch die Wahr-
scheinlichkeit. Um der stilistischen Einheitlichkeit seines Werkes willen
verzichtet der Autor sogar darauf, uns z. B. Briefe und Reden von
Kaisern im Wortlaut zu geben, wo es ihm möglich war. Die Neugier
gelehrter Forscher bleibt überhaupt gar oft unbefriedigt. Von gewissen
Gewohnheiten der Rbetorenschule, mag er auch im Dialog wegwerfend
darüber reden, hat sich Tac. nie völlig frei machen können. Man be-
achte nur, wie er in dem Streit zwischen Helvidius Priscus und Epriu»
Marcellus, obwohl er innerlich ganz auf jenes Seite steht > doch seine
Sympathie, sozusagen, unterdrückt und den Eprius eine überaus ge-
schickte Rede zuungunsten des H. halten läßt.
Im allgemeinen ist vornehme Würde die hervorstechendste Eigen-
schaft des Tac, nicht nur in seinem Charakter, sondern auch in seiner
Auffassung von der Geschichtschreibung als einer Art praktischer
Sittenlehre („une sorte d'enseignement pratique de la morale").
Des Tac. Urteil über die Kaiser hat scharfe Anfechtungen nicht
erst in dem „kritischen" 19. Jahrhundert erfahren. Voltaire schon
Bericht über die Tacitusliieratur 1896—1903. (Wolff.) 29
wollte die schrecklichen Diiig'e, die der „g'eistsprüheade Fanatiker"
einem Tiberius oder Nero imputierte, nicht gelten lassen; was dem g-e-
wöhnlichen Lauf der Dinge zuwider sei, verdiene keinen Glauben. Auch
der Advokat Linguet, später ein Opfer der Revolution, sprang in seiner
^Histoire des revolutions de Tempire romain" mit Tac. übel um. Die
Vernunft empöre sich dagegen, auch sei es wider die Natur, daß
Tiberius, wie Tac. behauptet, nach einem langen nüchternen und vor-
wurfsfreien Leben, mit 68 Jahren noch angefangen habe, sich Aus-
schweifungen hinzugeben, derentwegen der verdorbenste Zwanzigjährige
rot werde. Mit dem Achselzucken des Welt- und Menschenkenners
lehnt B. solche Begründungen ab, und mit B,echt. Die Geschichte
bietet uns übrigens grausige psychologische Rätsel in EüUe, bei denen
selbst unter Berechnung aller erdenklichen Momente nicht alles ohne
Rest aufgeht, obwohl die Tatsachen hinlänglich beglaubigt sind; man
denke nur an die Chronik der Borgia und der Visconti.
Napoleon I. verdachte es bekanntlich Tac. sehr, daß er von seinen
kaiserlichen Vorgängern so übel geredet; Chateaubriand und Andrö
Chenier fielen in Ungnade, weil sie Tac. gelobt hatten. Unter dem
zweiten Kaiserreich entbrannte der Streit von neuem ernstlicher, gründ-
licher, und aus Deutschland verschaffte man sich Waifen. „Fünfzehn
Jahre lang war die römische Geschichte ein Schlachtfeld, und man
warf sich die Imperatoren gegenseitig an den Kopf."^) Hauptsächlich
drehte sich der Streit um Tiberius und seine „Rettung". So nackt wie
in Frankreich trat diesseits des Rheins die politische Parteistellnng
dabei nicht hervor, obschon sie bis heute nicht ohne Einfluß auf die
Beurteilung des Tacitus sowie der von ihm Gebrandmarkten ge-
blieben ist.
Um zu einem begründeten Urteil in der Sache zu kommen, wendet
sich B. an die Zeitgenossen des Tac. und fragt: Wie haben sie seine
Werke aufgenommen? Auf Grund von Mommsens Schrift über den
jüngeren Plinius und Fabias Abhandlung: Les ouvrages de Tacite
reussirent-ils aupres des contemporains? (Rev. de philologie 1898) geht
er auf die vermutliche Entstehung der Historien, ihre sukzessive Publi-
kation, zuerst durch Vorlesungen, und ihre Wirkung auf die gebildeten
Kreise Roms näher ein. Jene Vorlesungen vor einem eingeladenen
Kreise literarisch gebildeter Freunde und Bekannten waren allgemein
üblich geworden und förderten das Streben nach rednerischem Schmuck
außerordentlich. Man gewöhnte sich zu schreiben, wie wenn man
^J Eine Probe davon, wie es damals bei uns zuging, gibt die
erbauliche Kontroverse L. Freytag— Ed. Pasch. Vgl. Clason, Tacitus und
SuetoQ S. 133.
30 Bericht über die Tacitusliteratar 1896—1903. (Wolff.)
spräche und gehört würde. Schöne geistreiche und volltönende Ab-
schlüsse (sententiae) markieren häufig einen ßuhepunkt im Lesen, der
zugleich die Aufmerksamkeit der Hörer wecken soll. Eine lebhafte
Phantasie könnte fast den jedesmal ausbrechendeu Beifall vernehmen.
Der Beifall galt aber nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt,
und Tac. konnte einen Domitian gar nicht schwärzer malen, härter
verdammen, als es die Zeitgenossen allgemein taten — sobald sie von
dem Ungeheuer befreit waren. Plinius schreibt den bekannten Brief
offenbar unter dem Eindruck eines überraschenden Erfolges, den Tac.
mit dem Vorlesen seiner Historien erreicht hatte. Er muß im ganzefl
die Eindrücke der großen Mehrheit der Mitlebenden (und Mitleidenden)
wiedergegeben haben. Ein erster Grund, ihm zu glauben. — Tac. be-
findet sich aber auch in Übereinstimmung mit den nachfolgenden
Historikern, so verschieden sie sonst von ihm oder untereinander sein
mögen. Sueton, Plutarch, Dio folgten großenteils verschiedenen Quellen
und berichten ziemlich unabhängig voneinander, und ihr Urteil über die
Cäsaren ist im wesentlichen das gleiche! Den Einwand, daß durch
die gewaltsamen Umwälzungen die den Kaisern günstigere Tradition
vernichtet worden sein könne, läßt B. nicht gelten: die Reaktion sei
selten von Dauer gewesen und das etwa zu berichtende Gute wäre
schließlich doch zutage gekommen. Was Martial und .Tuvenal zu
Ehren Domitians geschrieben, zeigt gerade durch die Ungeheuerlichkeit
der Schmeichelei ihre Lügenhaftigkeit. Die aus den Provinzen stammen-
den Lobsprüche auf einzelne Herrscher mögen ehrlich geraeint und be-
gründet gewesen sein (vgl. Velleius), hatte man doch an der Peripherie
des Reiches unter dem Wahnsinn der Cäsaren auch weniger zu leiden.
In der Hauptsache wird Tac. damals von niemand widersprochen.
Die Gesellschaft des kaiserlichen Roms wird schon im Dialog
von Tac. streng beurteilt. Die letzten Jahre unter Domitian vollendeten
die bittere Stimmung, in der er seine historischen Werke begann. Um
sich her fand er auch in der neuen Ära genug Anlaß, düster in die
Zukunft zu blicken, ungetäuscht durch das augenblickliche materielle
Gedeihen des Reichs und durch glänzende militärische Erfolge. Doch
bemüht er sich, der Gegenwart gerecht zu werden, die auch Tugenden
und Talente gezeitigt habe. — B verkennt nicht den starken Einfluß, den
Geburt, Erziehung, Umgebung und öffentliche Stellung (der Senatoren-
rang insonderheit) auf des Tac. Darstellungsweise ausgeübt haben. An
vielen antiken, besonders römischen Vorurteilen, wenn man sie so
nennen will, hatte Tac. reichlichen Anteil: Sklaven, Freigelassene,
Fechter sind ihm „viles": die Greuel des Zirkus lassen ihn kalt. Die
Juden betrachtet er (wie Mommsen) als „ein Element der Dekompo-
sition der großen Einheit des Reichs"; sein Haß gegen die Christen
Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.) 31
hat denselben Ursprung:. — Sein religiöses Glaubensbekenntnis spricht
Tac. nicht bestimmt aus (si quis manibus piorum sq.); von seinem
philosophischen Standpunkte aus machte er den populären Vorstellung-en
und Kulturg-ebräuchen gewisse Konzessionen, fügte sich den alten
Ih'äuchen der Staatsreligion; im Innern neigte er der unpersönlichen
Anschauung der Germanen zu.
Wurde Tacitus in seinen politischen Ansichten durch die Kreise,
in denen er lebte, beeinflußt, und waren diese republikanisch gesinnt
und Feinde des Kaisertums? Auf diese Fragen antwortet B. etwa
folgendes: Die Zahl der Unzufriedenen in der römischen Aristokratie
war sehr groß, und man hatte unter Caligula und Nero in der Tat
„einigen Grund", unzufrieden zu sein. Die politischen Umwälzungen
hatten im übrigen die süßen Gewohnheiten des weltlichen Lebens nicht
sehr tief berührt; die vornehme Welt in ihren Tischgesellschaften und
literarischen ,Cercles" pflegte frei über alles zu sprechen, insbesondere
aber über den Monarchen und sein Haus. Die geistreichen Frondeurs
fanden überall zu tadeln; denn die „gute alte Zeit" auf Kosten der
Gegenwart zu preisen, war zu Rom wie anderwärts frommer Brauch.
Die häufigen Verschwörungen aber in der ersten Zeit der Monarchie,
so die Pisonische, entsprangen nach Ansicht der Historiker fast immer
dem Haß gegen den Kaiser, selten der Abneigung gegen das Kaisertum
an sich; sie waren deshalb auch nicht danach angetan, die republikanische
Propaganda zu stärken; denn
„Einen Tyrannen zu hassen, vermögen auch knechtische Seelen,
Nur wer die Tyrannei hasset, ist edel und groß." (Goethe, Xen. 712.)
Auch Tacitus war nie Republikaner im modernen Sinne, obwohl
er gelegentlich respublica als Gegensatz von imperium gebraucht
(ann. 1, 3); er hielt Prinzipat und Freiheit nicht für unvereinbar.
Beweis dafür der nach Domitians Tod publizierte Dialog, der freilich den
Niedergang der großen Beredsamkeit als natürliche, unvermeidliche
Folge der Fiiedensraonarchie hinstellt (D. 37). Zu den von Seneca,
Quintilian u. a. erkannten und ausgesprochenen Gründen für den Ver-
fall jener Kunst fügt Tac. also einen neuen hinzu, und indem er so
auf dem Wege der historischen Kritik einen Schritt weitergeht, zieht
er zugleich für seine Person aus der gewonnenen Erkenntnis die Kon-
sequenz: er vertauscht den Bednerberuf mit dem des Geschichtschreibers,
in dem Gedanken sich tröstend, daß jene Blüte der republikanischen
Beredsamkeit durch heillose politische Kämpfe allzu teuer erkauft worden
sei (Dial. 41). In seinen politischen Grundanschauungen ist Tac. auch
später, trotz allen Erfahrungen, derselbe geblieben. Darüber belehrt
uns zunächst der Agricola, dem B. eine genauere Betrachtung widmet.
32 Bericht über die Tacitusliteratur 189G-1903. (Wolff.)
ohne gerade neue Gesichtspunkte aufzustellen. Agricola ist dem Tac.
mehr als ein siegreicher Feldherr und tüchtiger Provinzialbeamter; er
ist ihm der Typus des patriotischen, pflichttreuen Römers, der, auf
bessere Zeiten hoffend , die unvermeidbaren tjbel der Monarchie
zu ertragen weiß, ein Feind zweckloser Opposition. —
Der Senat war nur noch ein großer Name; er brauchte seine
traditionellen Rechte lediglich wann und wie der Kaiser es zuließ. Immer-
hin war Tac. stolz auf seine Zugehörigkeit zum Senat, in dem er jedenfalls
eine bedeutende Rolle spielte. Mit Genugtuung erfüllt es ihn, daß zu
Anfang von Tibers Regierung alle wichtigen Sachen vor dieser Körper-
schaft verhandelt wurden. Doch täuscht er sich nicht über den ent-
arteten Adel jener Zeit; noch weniger allerdings erfreut sich die
gedankenlose Volksmenge seiner Schätzung; aber sein Urteil ist nicht
von aristokratischem Hochmut und verblendetem Parteigeist bestimmt.
Er bewundert die Vergangenheit und fügt sich der Gegenwart.
"Wenn nun B. seine Ansicht schließlich dahin zusammenfaßt, es
sei kein zwingender Grund zu feindseliger Gesinnung des Tac. gegen
die Kaiser zu finden, kein Grund, die Wahrheit nicht zu sehen und zu
sagen , so gibt er doch zu , daß die abweichenden Urteile verständiger
Männer über Tacitus erklärlich seien: Sein Bild der Kaiserzeit ist nicht
vollständig; ein Teil ist zu sehr im Schatten geblieben, da er wie die
meisten alten Historiker, besonders die römischen, die Geschichte vom
ethischen Standpunkt aus betrachtete und so z. B. die wirtschaftliche
Seite des Lebens vernachlässigte. Die ^monumentalische" Geschicht-
schreibung der Alten lehrt eben, „was wir zu tun und was zu meiden
haben", um so wirksamer, je lebendiger und greifbarer uns die Menschen
der Vorzeit zu Zeitgenossen werden. Mehr noch als bei Sallust liegt
des Tacitus unvergleichliche Größe auf dem Gebiete der künstlerischen
Komposition und der psychologischen Vertiefung. Diese Eigenschaft
hat ihn der Renaissance und der modernen Welt besonders anziehend
gemacht. Er hat übrigens keineswegs alles, was Tiberius und seine
Nachfolger Gutes getan, verkannt oder verschwiegen, nur neben der
Schilderung ihrer Verbrechen diese Dinge zu sehr in den Hintergrund
treten lassen. Tiberius wäre wohl in keiner Lebensstellung ein liebens-
würdiger Mensch gewesen , das hinderte die ihm innewohnende
„Appietas"; ein tüchtiger Verwaltungsbeamter hätte er werden können.
,Was ihn wie die anderen Claudier korrumpierte, war der Cäsarismus.
Tiberius und sein Nachfolger sind die ersten Opfer der absoluten Macht
geworden, unter die sie andere beugten."
L. Bertrand spricht in seinem schönen Buche La fin du classi-
cisme von dem „ererbten Geschmack der Franzosen für die römische
Geschichte". Insbesondere mag ihr Verständnis für die durch die
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 33
Tyraunis erzeugten Erscheinungen im Volksleben durch Erfahrungen
der eigenen Geschichte geschärft worden sein. Und so dürfen denn
auch die auf gründlicher Sachkenntnis beruhenden und beredten Aus-
führungen Boissiers vollen Anspruch auf Beachtung erheben. —
11. Julius Asbach, Römisches Kaisertum und Ver-
fassung bis auf Traian. Eine historische Einleitung zu den
Schriften des P. Cornelius Tacitus. Köln 1896. 192 S.
Das inhaltreiche Buch, in der Tat eine sehr zweckentsprechende
Einleitung zu Tacitus' Schriften, bringt frühere Aufsätze des Verfassers
(Histor. Taschenbuch 188Ü — 88) umgearbeitet und durch eine Dar-
stellung der flavischen Dynastie vermehrt. B. I behandelt die Ent-
wickelung des Prinzipats bis zu Vespasian, B. II die Flavier, B. III
Nerva, Traian und Cornelius Tacitus. Schon die letzte Überschrift
deutet genugsam an, wie hoch A. die politische Bedeutung und den
persönlichen Einfluß des Tacitus einschätzt, ja m. E. überschätzt,
wenn er ihn geradezu „den Herold der Form des Prinzipates, die Nerva
und Traian geschaffen haben", nennt, — In eingehender "Würdigung
des Buches hat Mittag (W. f. kl. Phil. 1897 N. 35, 942—51) hervor-
gehoben, daß A. namentlich Wesen und Wandlungen des Prinzipates,
weniger seinen Wert, vortrefflich entwickelt und unter stetiger Berück-
sichtigung der „auswärtigen" Verhältnisse dargelegt habe, daß des Verf.
Anschauungen und Urteile auf unmittelbarem Quellenstudium beruhen
und meistens das Richtige treffen; doch weist er auch auf empfindliche
Mängel und Widersprüche (z. B. S. 46, 115. 128) hin, die teilweise
daher rühren, daß A. sich mit den neueren Fortschritten der Quellenkritik
nicht ausreichend vertraut gemacht habe. Zu der Frage über das Ver-
hältnis zwischen Tacitus, Plutarch, Dio, Sueton hat A. keine klar be-
stimmte Stellung genommen, was seinen Deduktionen natürlich mehrfach
zum Nachteil gereicht ; dies gilt u. a. auch von dem Versuche, die Re-
gierungsweise Domitians, im Widerspruch mit fast allen literarischen
Quellen, in eine günstigere Beleuchtung zu rücken. — Aus der
Schilderung der Lebensverhältnisse des Tacitus ist die durch
Büdinger angeregte, von A. selbst als „kühn" bezeichnete Vermutung
hervorzuheben , daß der Schriftsteller seine Heimat in Norditalien
gehabt habe; zur Begründung wird auf des Tac. Jugendfreundschaft
mit Plinius sowie auf die Beziehungen zu Verginius Rufus und zu Agri-
cola hingewiesen. — Im Dialogus sieht A. eine Jugendschrift des Tac,
die vielleicht erst später (die Zeittafel im Anhang nimmt das J. 96 an)
herausgegeben sei. In bezug auf die Entstehung und Tendenz des
Agricola stimmen seine Ansichten im wesentlichen mit Boissier und
Urlichs überein: „Die politische Tendenz des Agr. ist unverkennbar,
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXI. (1901. II.) 3
34 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
wenn auch verhüllt durch die professio pietatis," und S. 137: ,,Wenn
wir den Agricola wie eine Äußerung der Regierung betrachten können,
die gewisse Kreise eines Besseren zu belehren suchte, so führt uns die
unmittelbar nachher erschienene Germania auf das Gebiet der aus-
wärtigen Politik." Hier hat sich der Verf. zu einer mehr geistreichen
als zutreffenden Antithese verleiten lassen, zu einer Charakterisierung
der beiden Monographien, die durch deren Hauptinhalt durchaus nicht
gerechtfertigt ist. „Der Agricola ist eine Biographie, nichts anderes"
(Leo). Gegen die von Dierauer (Geschichte Trajaiis) am schärfsten
formulierte, von A. gebilligte (Westd. Zeitschr. III 12. 1884) und ver-
teidigte Bezeichnung der Germania als „politische Broschüre" habe ich
schon früher (Einl. m. Ausg. der Germ. S. IX ff.) Einspruch erhoben
und weiß mich damit in Übereinstimmung mit den meisten Erklärern.
Im Anschluß an Nitzsch weist A. sehr richtig darauf hin (S. 145 ff.),
daß die Darstellung der Germania insofern einseitig zu nennen sei, als
Tac. in seiner knappen und gedrungenen Schilderung gerade die Seiten
des Germanentums in den Vordergrund stellt, die mit römischem Wesen
und Brauch am stärksten kontrastierten, daß mithin dieser Standpunkt
des Verfassers bei der Beurteilung der Schrift nie außer acht zu
lassen sei.
Die Frage, wann und in welcher Weise die Historien und Annalen
verfaßt und herausgegeben sind , wird eine genaue Beantwortung
schwerlich finden , solange namentlich über die Chronologie der
plinianischen Briefe die Meinungen derartig auseinandergehen, wie z. B.
Mommsens, der die J. 97 — 108, und Asbachs, der 104 — 111 als Zeit-
raum der Abfassung und Veröffentlichung dieser Schriften annimmt.
Doch glaubt A. mit Mommsen schließen zu dürfen, daß die erste Gruppe
der Historien nicht vor 104 erschienen sei; um 109, wahrscheinlich
schon früher, habe Tac. das 12 Bücher (= 2 Hexaden) umfassende
Werk vollendet, die Annalen noch vor dem J. 115. Die Stelle ann. 2, 61,
aus der man auf eine spätere Abfassung schließen zu müssen glaube,
beziehe sich wahrscheinlich auf die im J. 106 durch A. Cornelius Palma
vollzogene Okkupation eines Striches Arabiens von Damaskus bis zum
Roten Meer. Daß A. hier sich im Irrtum befindet, lehrt der Zusammen-
hang jener Stelle und ein Blick auf die Karte. Vgl. auch oben S. 25.
Des Tacitus Urieil über die Vergangenheit, wie es sich in den
Hist. und Ann. kundgibt, ist naturgemäß durch seine Stellung in und
zu der ,, glücklichen" Gegenwart beeinflußt. Daß er ,,eine Säule der
neuen Regierung" gewesen, muß als Übertreibung bezeichnet werden,
ebenso daß das Glück der Gegenwart den Blick des Historikers „geblendet*
habe; wenigstens trifft das für das letzte Dezennium seines Schaffens
schwerlich mehr zu. A. bemerkt, daß die Einleitung der Historien
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 35
mir auf die Greueltaten Domitians hinweise, ohne seine äußeren Erfolgte
und seine tüchtige ßeichsverwaltung zu erwähnen; Tacitus sei hier
(noch!) ganz in Übereinstimmung; mit Plinius, der im Panegyricus den
Tyrannen, die,,immauissima belua", nur zur Folie für Trajan nimmt. Später
sind gewisse Euttäuschungen für Tac. wohl nicht ausgeblieben, weshalb
auch des trajanischen Prinzipats in den Annalen nirgends gedacht wird;
vermutlich hat er seine politischen Ideale nicht in dem Maße verwirklicht
gesehen, wie sein Freund Plinius, der sich allen Personen und Ver-
hältnissen anzupassen aufs beste verstand.
Welche Bedeutung Tac. dem Senate beimaß, dem Träger ehr-
würdiger Traditionen, dessen Erhaltung mit der Staatswohlfahrt eng
verknüpft war, beweisen viele Äußerungen in seinen Schriften, so auch
die Rede Othos au die Prätorianer h. I 83 und 84. Sein letztes Ideat
aber, das mit den Anschauungen Senecas vielfach Berührungen hat,
bleibt die Dyarchie von Princeps und Senat, wie sie Augustus gegründet,
wie sie Galba, Vespasian und Nerva wiederhergestellt haben. — Anzeige
von G. Andresen, Jahresb. 23, 127 ff.
12. Otto Seeck, Der Anfang von Tacitus' Historien.
Rh. M. 56 (1901), 227—232.
Mit erstaunlicher Zuversichtlichkeit, aber schwacher Begründung
wird hier der Satz aufgestellt: „Die beiden großen Geschichtswerke des
Tacitus haben niemals zwei gesonderte Einheiten gebildet." Hist. B. I
sei nach Vollendung der Annalen als B. XVII gezählt und gleichzeitig
das Proömium des engeren Anschlusses wegen umgestaltet worden.
Hinsichtlich der Bücherzählung beruft sich S., während er TertuUian
vergißt, auf Hieronymus, der doch nur ungenau von 30 Büchern Kaiser-
biographien spricht; und was das Zeugnis der einzigen Hs angeht, so
kann dieses für die ursprüngliche Anordnung und Zählung nicht be-
weisend sein. — Warum aber Tacitus gerade den, nach Seecks Theorie,
sinnlosen Ausdruck Initium operis sq. stehen ließ, während er die folgen-
den Worte sachgemäß verändert haben soll, dafür gibt S. die wunder-
liche Erklärung: die Anfangsworte hätten so fest im Gedächtnis des
Publikums gehaftet, daß der Verf. durch ihre Änderung Anstoß erregt
haben würde. Mit Recht fragt Fr. Rühl (s. unten), ob denn diese
Worte so ungeheuer eindrucksvoll und bewundernswert seien, daß sie
stehen bleiben mußten, auch wenn sie zum reinen Unsinn wurden. —
Im folgenden Teil der Vorrede, so argumentiert S., werde Tac. ur-
sprünglich gesagt haben , daß die Ereignisse bis zum J. 69 , wo die
Historien einsetzen, keiner neuen Darstellung mehr bedurften; diese
Phrase habe er, als er die Annalen hinzufügte, notwendig ändern
müssen, weil er sonst seine neue Arbeit für überflüssig erklärt hätte.
3*
36 Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.)
Daran, daß Tac. nicht auch die Anfangsworte der Kapitel 2, 3 und
4 gestrichen hat, was doch folgerichtig hätte geschehen müssen, scheint
S. keinen Anstoß zu nehmen; die Wendungen, die ihm als Einleitung
der selbständig gedachten Historien unpassend erscheinen, hat er falsch
ausgelegt. „Ich beginne mit dem Jahr 69, weil die frühere Zeit
schon von andern dargestellt ist" — so grob darf der Inhalt der
Stelle nicht zusammengefaßt werden. Wie die Partikel nam (die
Burnouf ganz unübersetzt läßt) hier zu nehmen ist, lehren Dutzende
von Parallelen aus Tac. (s. Lex. Tac. S. 892 ff.); vor allem aber liegt
im folgenden das Schwergewicht nicht auf dem ,,daß", sondern auf dem
„wie"? Tac. sagt: Ich werde die letzte Epoche (das letzte Menschen-
alter) unserer Greschichte schreiben, die ich selbst durchlebt habe (die
ihn darum besonders lockte) und die ich unparteiisch schildern will und
kann; die Zeit der früheren Monarchie darzustellen, ist (für mich noch
zu) schwierig wegen des Mangels au großen und wahrheitsliebenden
Gewährsmännern (veritas pl. m. infracta erinnert an Seneca: unde
primum veritas retro abiit). Wenn Tac. später dennoch seine geübte
Kraft an jene schwere Aufgabe gesetzt hat, so ist das gerade ein Beweis
dafür, daß er im Eingang der Historien nicht gesagt haben kann, die
Zeit vor Galba bedürfe keiner neuen historischen Darstellung. — Da
nach Seecks Ansicht der vorliegende Wortlaut nur für den Anfang der
Annalen gerechtfertigt sein soll, was nicht einmal völlig zutrifft, so
würde jedenfalls die vermutete ,, Änderung" eine äußerst überflüssige,
lästige und geschmacklose Variation des ann. 1, 1 Gesagten dar-
stellen.
Weiter bemängelt S. den Ausgangspunkt der Historien, den man
gewöhnlich mit dem 1. Jan. 69 zusammenfallen läßt. Das sei kein
Ausgangspunkt, den ein denkender Historiker sich gewählt hätte, wenn
nicht äußere Gründe ihn dazu veranlaß teu. Tac. habe offenbar das
annalistische Werk eines andern Historikers fortgesetzt, der mit dem
31. Dez. 68 abgebrochen hatte oder vielleicht darüber (gerade damals?)
verstorben war. Wer jener Autor gewesen, glaubt S. nach einigem
Hin- und Herraten (Plinius und Cluvius Rufus müssen außer Betracht
bleiben) mit einer „nahe an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit"
ausgemacht zu haben: Fabius Rusticus; denn erstens sei von seinen
Schritten kein Fragment erhalten, das über die Regierungszeit Neros
hinausginge, zweitens habe ihn Tac, wenigstens um seiner Sprache
willen (eloquentissimus), vor allen andern hochgeschätzt und dürfte ihn
darum wohl sich zum „Vorgänger" gewählt haben. Demnach führten
die Historien, wie S. meint, ehe sie ein Teil des großen Werkes
wurden, nach bekannter Analogie den Titel: A fine Fabii Rustici
libri XIV. Später freilich, als Tac. den Fabius als parteiischen
Bericht über die Tacitusliteratur 1 SOG— 1903. (Wolff.) 37
Zangen erkannt (ann. 13, 20), habe er sich entschlossen, dessen Werk
durch die Annalen zu verdrängen. —
Abgelehnt wird diese Hypothese mit einleuchtenden Gründen von
Fr. Rühl, Rh. M. 56 (1901) 513 ff.; G. Andresen, Jahresb. d. ph. V.
27, 301 f. (.,eine gewagte Vermutung"); Fr. Münzer, Die Entstehung:
der Hist. des Tacitus. Beitr. z. a. Gesch. 12. —
13. Franz Rühl, Zu Tacitus. Rh. M. 56 (1901), 508—516.
Ann. 1, 62 erzählt Tacitus, wie Germanikus, die fromme Ehren-
pflicht gegen die Opfer der Varusschlacht ertüllend, dadurch zugleich
seine Legionen zum erbitterten Rachekampf entflammt. Dann fährt er
fort: Quod Tiberio haut probatum . . . debuisse. Sonach hätte der
Kaiser, falls nicht bloße Tadelsucht ihn bestimmte (seu . . , trahenti),
das Verfahren des Germanikus (ob offiziell?) getadelt aus Gründen,
von denen, wie der Zusammenhang lehrt, Tac. den ersten offenbar
nicht als triftig anerkennt. Wie dieser über das religiöse Bedenken ge-
urteilt haben mag, läßt sich schwer sagen. Aus der völligen Unter-
lassung der Beerdigung konnte dem Feldherrn jedenfalls ein Vorwurf
gemacht werden, obwohl moderne Verteidiger des Tiberius geneigt sind,
diesem, wie meistens im Streitfalle, die richtigere Einsicht zuzuschreiben,
daß nämlich, mit Rücksicht auf die Stimmung des Heeres, die Be-^
stattung der Varianischen Legionen besser unterblieben wäre. Um so
mehr freute sich Rühl, eine Bestätigung des Gegenteils durch eine
Steininschrift vom Rhein erbringen zu können, „ein gleichzeitiges
Zeugnis, das die Stimmung und die Wünsche des Heeres unmittelbar
zum Ausdruck bringt". — Es ist der Kenotaph des in der Varusschlacht
gefallenen Optio M. Caelius von Bononia (Brambach, C. I. Rh. Nr. 209),
vom Bruder des Toten errichtet. Die Aufschrift „Ossa inferre licebit*
deutet R. dahin, daß im rheinischen Heere die Hoffnung auf einen dem-
nächstigen Rachezug lebendig war und daß der überlebende Bruder
die Asche des Gefallenen aus Germanien zurückzubringen und in dem
Grabmal beizusetzen gedachte. Auf ähnliche Wünsche vieler Soldaten
lassen des Tac. Worte schließen: nullo noscente alienas rellquias sq.
Die von anderer Seite vorgeschlagene Deutung der Grabschrift, daß
dadurch jedermann die Erlaubnis erteilt worden sei, die Reste eines
Verstorbenen hier beizusetzen, erklärt R. wohl mit Recht für unmög-
lich; es müsse dann vor allem „licet" oder „liceto" heißen; außerdem
finde sich nirgends ein Beispiel für eine solche allgemeine Erlaubnis,
durch die jener Caelius überdies sein Eigentumsrecht an dem Grabmal
beschränkt hätte. —
Sodann teilt R. einige hübsche die Kunstform des Tacitus be-
treffende Beobachtungen mit. — Der außergewöhnliche Beifall, dea
38 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
glaubwürdigen Zeugen zufolge Tac. bei seinen Zeitgenossen gefunden,
galt selbstverständlich nicht am wenigsten der wundervollen Dar-
stellungskunst, deren intimere Keize uns leider großenteils verschlossen
bleiben müssen. Namentlich gilt das von den Annaleu, in denen Tac,
wie ß. sich ausdrückt, im Grunde „mehr Essayist als Geschicht-
schreiber" ist. "Wir sind oft auf bloße Vermutungen angewiesen, ins-
besondere wo jene eigene Würze der Darstellung in gewissen Re-
miniszenzen literarischer Natur und leichten Andeutungen besteht, mit
denen der Autor verwandte Saiten bei seinem ,,leisbeweglichen" Publikum
anklingen machte. Ob eine solche Anspielung auch in den berühmten
"Worten ann. 2, 88 caniturque adhuc barbaras aput gentes zu finden ist,
wie R. glaubt? — eine Anspielung nämlich auf die „einem jeden
Römer geläufige Stelle*' Xen. Kyrupaedie 1, 2, 1 aoerat ezi xal vüv
UTCO Twv ßapßaptuv. Zwar bietet Armins Schicksal einige zum Nach-
denken anregende Vergleichungspunkte mit dem des Kyros, und zwischen
■dem Wortlaut der erwähnten Satzanfänge besteht ohne Zweifel einige
Ähnlichkeit; doch ist der Inhalt nicht charakteristisch genug, um es
glaubhaft erscheinen zu lassen, daß dem Tac. beim Niederschreiben
jenes Passus ein Stück Jugendlektüre vorgeschwebt habe. Im übrigen
lehrt die tägliche Erfahrung, wie leicht schon durch den Tonfall weniger
Silben, durch eine kleine Umstellung, durch ein selteneres Wort in
einem alltäglichen Zusammenhang bestimmte Erinnerungen in Wissenden
geweckt werden können. Man setze z. B. statt „ein glaubwürdiger
Mann" nur die Jamben ,,ein glaubenswerter Mann", und jeder Schiller-
fi'eund wird darin eine Reminiszenz vernehmen. —
Welche Werke ann. 2, 88 mit ..Graecorum annales" gemeint
seien, dafür glaubt R. keinen Anhaltspunkt zu haben; für Plutarchs
Kaiserbiographien sei der Name doch nicht anwendbar; wohl aber
dürften die Worte: qui sua tautum rairantur einen Seitenhieb auf
Plutarch bedeuten, der sein Griechentum, mehr als in seinen Schriften,
im persönlichen Umgang hervorgekehrt haben werde. Die „griechische
Eitelkeit" — Grai, geuus in gloriam suam effusissimum, Plin. n. h. 3, 42 —
ist allerdings ein in der röm. Literatur immer wiederkehrendes Leit-
motiv.
Bei den Worten Germ. 23 Potui humor . . . corruptus („Getränk
sieht aus wie Wein . . ."), meint ß., habe der Autor wohl das spöttische
Urteil im Sinne gehabt, das (nach Plin. n. h. 19, 145) der Kaiser Tiberius
einst über den germanischen Spargel (wie sich die Zeiten ändern!) aus-
gesprochen: herbam ibi quandam nasci simillimam asparago.
Zum Schlüsse beleuchtet R. die „fadenscheinigen Gründe", welche
O. Seeck für seine oben besprochene Hypothese vorgebracht, daß Annalen
und Historien von vornherein als einheitliches Ganzes geplant geweseu
Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolfl.) 39
oder doch zu einem solchen zusammengeflickt worden seien. Im ganzen
befindet sich E. bezüglich dieser Frage in Übereinstimmung mit fast
allen Sachverständigen. —
14. A.Viertel, Tiberius und Germanikus. Eine historische
Studie. Progr. Göttingen 1901. 60 S. 8.
Die Frage, zu deren Klärung V. einen Beitrag zu liefern beab-
sichtigt, ist anerkanntermaßen darum von nicht geringer Bedeutung,
weil gerade die im Verhältnis des Tiberius zu seinem Neffen Germanikus
hervortretenden Charaktereigenschaften des Kaisers seinem traditionellen
Bilde das Hauptgepräge verliehen haben. Die zugrunde liegende Dar-
stellung des Tacitus aber ist überreich an Problemen schwierigster Art,
und wie oft auch forschender Scharfsinn versucht hat, durch genaue
Analyse die berichteten Vorgänge von dem sie begleitenden Urteil des
iSchriftstellers zu trennen und so zu einer möglichst „objektiven" Auf-
fassung zu gelangen: es bleibt immer noch ein beträchtlicher selbst
dur<',li die Genialität eines Ranke (an den V. anknüpft) nicht befriedigend
erklärter Rest. — In der Blutsverwandtschaft des Germanikus mit
Augustus wurzelte der Argwohn des Tiberius gegen seinen Neffen und
dessen ehrgeizige Gattin. ,,Man darf nicht vergessen," bemerkt Ranke
(Weltg. III 1, 47 f.), „daß dieser (G.) in einem näheren Verhältnis zur
augusteischen Familie stand als sein Oheim Tiberius. Insofern von
Erbfolge die Rede sein konnte, hätte der Neffe größere Ansprüche
gehabt als der Oheim." Ziehen wir nun in Erwägung, welche Hoff-
nungen viele Senatoren an die Person des beliebten Prinzen knüpften,
und wie prekär, ja bedroht dem Tiberius seine Stellung als Princeps
anfangs erscheinen mochte, so wird uns wohl verständlich, wie aus dem
Gefühl der Unsicherheit sich in dem von Natur verschlossenen Manne
jene Eigenschaft ausbildete, die Tacitus als einen Grundzug seines
Wesens betrachtet: die Verstellungskunst. Schon an dem Punkt der
Erzählung, wo der Autor den Tiberius als künftigen Herrscher ein-
führt (ann. 1, 4), deutet er diesen Zug als einen im Urteil der Zeit-
genossen feststehenden im voraus an. Und von diesem Gesichtspunkte
aus vermindern sich die angeblichen Widersprüche in der taciteischen
Schilderung des Kaisers ganz erheblich, was V. freilich nicht zugeben
will. Allein war es etwa nicht Verstellung, wenn Tiberius, obwohl er
mit den Erfolgen des G. keineswegs zufrieden war (V. S. 7. 11), dessen
glänzenden Triumph durch besondere Spenden an die Plebs noch glän-
zender gestaltete? Jedenfalls eine auffallende Konnivenz der Volks-
stimmung gegenüber. Wie reimt es sich ferner zusammen, daß der
,,von dem Bewußtsein seiner Regeutenpflichten erfüllte Herrscher",
der „in der Wahl seiner Beamten so vorsichtig war" (V. S. 18), zur
40 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
Ordnung der Verhältnisse des Orients zwei nach Charakter und Talent
so völlig verschiedene, von hohen Aspirationen erfüllte Persönlichkeiten
zusammen aussendet? Piso, von ererbter, „heftiger Gemütsart, herrischem
Charakter und unbändigem Stolz, in der Tradition der Unabhängigkeit
groß und alt geworden, der kaum den Tiberius über sich erkannte",
untergeordnet einem verwöhnten jungen Manne ,,mit priazlichen Allüren",
der besondere „Proben eines hervorragenden militärischen und diplo-
matischen Talents noch nicht abgelegt" (den glänzenden Triumph also
uuberechtigterweise erhalten hatte). V. meint, vielleicht sei dem Tiberius
die Erfahrung und Willensstärke Pisos als „erwünschte Ergänzung" des
Mangels in Germanikus' Charakter erschienen ; im Widerspruch hiermit
sucht er (S. 59) den Mißgriff der Wahl so zu entschuldigen: „Beide
Teile (Tiberius, der in der W^ahl seiner Beamten so vorsichtige, und
der Senat) hatten eben keine genügende Kenntnis von ihm (Piso)."
Und doch war Plancina mit der Kaiserin „eng liiert". Keinenfall»
konnte es dem Herischer entgehen, daß unter den gegebenen Umständen
ein auch für das Staatsinteresse verhängnisvoller Konflikt kommen
mußte, dazu brauchte es in der Tat keiner „geheimen Instruktionen",
die Tacitus übrigens, was Ranke (III 2, 298) übersehen hat, nur als
ein ,,on dit" erwähnt: 2,43 credidere qnidam data et a Tiberio occulta
mandata (Pisoni) . , . Des Kaisers einziger Fehler in dieser Ange-
legenheit, meint V., sei der, daß er sich in der Person des Piso ver-
griffen habe, freilich ein Kardinalfehler, der dadurch nicht entschuldigt
wird, daß Piso vom Senate vorgeschlagen war, wie ja auch das unheil-
volle ,, malus impeiium" des Germanikus formell auf einem Senatsbe-
schluß beruhte. Denn in der mangelhaften Abgrenzung der beider-
seitigen Kompetenzen (richtiger wohl der außerordentlichen Vollmacht
des Prinzen), in der „latitude" der doch von Tiberius erteilten amt-
lichen Instruktionen, lag der Keim zu der gefährlichen Spannung, die
durch weibliche Eifersüchtelei und Leidenschaft, sowie durch das Über-
maß von Huldigungen, welche Griechenland, namentlich aber Athen dem
Prinzen als dem Vertreter des Imperiums darbrachte, gesteigert wurde
und bei der Regelung der armenischen Königsfrage zu offenem Hader
zwischen Germanikus und dem ihm unterstellten Piso führte. — Die
einzelnen Züge dieses unerfreulichen Bildes sind begreiflicherweise in
der VolksüberlieferuDg wie auch in gewissen Memoiren vielfach ent-
stellt worden (etiam secutis temporibus vario rumoie tractata, ann. 3, 19).
Za solchen „Erinnerungen" gehörten u. a. auch die der jüngeren
Agrippina, jene „vergiftete Quelle der Geschichte Tibers", wie sie
A. Stahr nannte; die Art jedoch, wie sie Tac. zitiert (ann. 4, 53), läßt
nicht darauf schließen, daß sie ihm Haupt- oder gar einzige Quelle für
die Schilderang der Schicksale des Germanikus gewesen wäre.
Bericht über die Tacitusliteratur 1S9(;-1903. (Wolff.) 41
Die Unterordnung Pisos selbst in militärisclien Dingen, sagt V.,
scheine keine unbedingte gewesen zu sein, indem P. ganz uugescheut
Zenturionen und Tribunen ein- und abgesetzt habe, „ohne daß dies von
Tac. als ein Übergriff gerügt wäre". Diese Ansicht gründet sich jedoch
auf eine unzulässige Interpretation der Worte ann 3, 12: si legatus officii
terminos, obsequium erga imperatorem exuit. Unzweifelhaft dient die
Hinzufügung von obsequium e. i. zur Erläuterung und schärferen De-
finition des Vorhergehenden und bezeichnet nachdrücklich die amtliche
Unterordnung unter den Oberbefehlshaber.
Die Politik des Tiberius in den parthisch-armenischen Angelegen-
heiten macht, nicht nur in der Darstellung des Tacitus, keinen günstigen
Eindruck. V. findet selbst (8. 22): „Am nächsten hätte es wohl ge-
legen, den Vonones wenigstens indirekt zu unterstützen" . . . , Trotzdem
wurde er preisgegeben, wahrscheinlich auf Ordre des Tiberius" . . .
„Silanus wird von Tib. wohl ermächtigt gewesen sein, den Vonones seinem
Schicksal zu überlassen," Silanus ging bekanntlich über seine Weisung
hinaus, indem er den Vonones verräterischerweise in seine Oewalt lockte
und festhielt: ein schwerer Mißgriff, der die römische Staatskunst als
falsch und schwach zugleich den Parthern gegenüber kompromittierte.
,In der Abberufung des Statthalters haben wir," sagt V. weiter, „den
Ausdruck der kaiserlichen Mißbilligung zu sehen, die allerdings un-
zweideutiger hervortreten würde, wenn sie von einer ßedressierung der
Maßregel, die das Mißfallen des Kaisers erregte, begleitet gewesen wäre.
Aber wie oft ist es nicht geschehen, daß man den Täter einer Handlung
reprobiert und der öffentlichen Meinung opfert, seine Tat aber und ihre
Folgen sich gefallen läßt," — Es kann niemand einfallen, Aufrichtigkeit
zur Richtschnur der Staatskunst machen zu wollen; aber jedenfalls
stimmt das hier gekennzeichnete Verhalten des Kaisers vollkommen
zu seiner von Tac. gegebenen Gesamtcharakteristik: Doppelzüngigkeit
und Verstellnngskunst. —
V. sucht die nähere Ursache und Art des weiteren Zerwürfnisses
zwischen Piso und Germanikus (ann. 2, 57 ff.) zu ergründen, kommt
aber selbstverständlich über Vermutungen nicht hinaus, die hier über-
haupt weiten Spielraum haben. S. 26 f : „Haben wir in dem Verhalten
Pisos eine offenbare Insubordination zu sehen? Es ist schwer, sich zu
einer solchen Annahme zu entschließen (der Wortlaut bei Tacitus ge-
stattet keine andere Auslegung, wie oben gezeigt ist) . . . Am wahr-
scheinlichsten dürfte ... die Annahme sein, daß die betr. Ordre des
Germ, nicht in die strikte Form des Befehls gekleidet war . . . Piso
mag gedacht haben . . . die Form des Befehls gestattete ihm vermutlich,
ihn unausgeführt zu lassen ..." Bei allem Raten darüber, was zwischen
den beiden noch vorgefallen, wodurch der Zwist verschärft worden sein
42 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
möge, bleibt immer nur die Alternative: entweder bat Tiberius in diesem
Falle mit tückischer Bosheit und mit Berechnung oder mit ungeheuer-
licher Verblendung gehandelt, jedenfalls nicht „dem echten Pflichtgefühl
des Herrschers" (H. Schiller) gemäß. — Mit Beziehung auf Armenien
und Persien spricht V. (S. 33) von der „aktiven und aggressiven Politik
des alten Kaisers", nach dessen Sinne „das energischere und selbst-
bewußtere Eingreifen Pisos" gewesen sei. Das klingt nicht gut zu-
sammen mit der Kennzeichnung (S. 11) der sonst befolgten „klugen und
vorsichtigen Politik" des Tiberius, noch weniger mit der erwähnten
Preisgebung des Vonones.
Tacitus ist übrigens, wie V. selbst (S. 31. 33 f.) zeigt, auch nicht
blind gegen die Mißgriffe und Fehler des Germanikus; ergibt deutlich
zu verstehen, daß nicht Pflichtgefühl den leichtherzigen Prinzen zum
Besuche Ägyptens getrieben; doch sollte sein menschenfreundliches Ein-
greifen bei der plötzlichen großen Hungersnot in Alexandria nicht so
ohne weiteres als „auf Popularität berechnet" ihm zum Vorwurf ge-
macht werden.
Der Bericht über des Germanikus Ausgang, den V. im einzelnen
beleuchtet, muß im ganzen nach dem von Tac. selbst gelieferten Maß-
stab beurteilt werden: ut quis misericordia in Germanicum et praesumpta
suspicione aut favore in Pisonem pronior diversi interpretabautur.
Danach stelle man sich den Wust von Legenden vor , mit denen sich
der Autor abzufinden hatte! Nicht jede Wendung ist auf die Goldwage
zu legen; „den logischen Widerspruch" aber, den V. in den Worten
(2, 71 a. E.) fingentibus — non ignoscent finden will, löse ich mir so:
„Sollten sie (die Verbrecher, Piso und Plancina), angeklagt, sich auf
angebliche ruchlose Aufträge (seitens des Tib. und der Livia) berufen
(um der Bestrafung zu entgehen), so wird man ihnen entweder (über-
haupt) nicht glauben oder (selbst wenn man dazu geneigt sein sollte)
ihnen (darum) doch keine Verzeihung gewähren." Der Sterbende will
Rache an Piso und Plancina, und nur an ihnen, geübt wissen; auf
Tiberius und Livia läßt er hier keinen Schatten eines Verdachtes
fallen. —
Im übrigen muß zugegeben werden, daß Tacitus bei seiner Gabe,
allen Winkeln des Menschenherzens nachzuspüren in psychologischen
Motivierungen und Deutungen, namentlich auch der Worte und Hand-
lungen des Tiberius mitunter zu weit gegangen ist; nicht neu ist der
Vorwurf, aber weniger begründet, daß er der „chronique scandaleuse"
Roms und des Kaiserhofes gegenüber zu wenig Skepsis zeige. Man sollte
doch nicht vergessen, daß z. B. die „unglaublichsten" Erzählungen von
Lastern und Freveln in den Fürsteuhäusern der Borgia, der Visconti,
der Buonaparte durch die neuere ,, exakte" Forschung oft ihre Bestäti-
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 43
gung erhalten haben. — Tast naiv möchte ich den Einwand nennen,
den V. gegen die von Tacitus behauptete (von Ranke übrigens un-
bedenklich geglaubte) Bestechung der Plancina durch Vonones erhebt,
daß sie nämlich sehr reich gewesen; ich sollte meinen, dieser gewissen-
losen Person, die ihren Gatten in der Stunde der Gefahr preisgibt,
wäre auch in sonstiger Hinsicht alles zuzutrauen, ganz abgesehen davon,
daß die Geschichte Beispiele genug kennt von reichen und sehr hoch-
gestellten Leuten, die sich vom Auslande kaufen ließen. Ob andere
Ton Tacitus erwähnte Einzelheiten, wie das Benehmen Pisos in Athen
und bei dem Gastmahl des Nabatäerkönigs u. a. ra. glaubhaft oder
wahrscheinlich seien, das abzuwägen ist mehr Sache subjektiver Auf-
fassung; wobei jedoch m. E. der Besonderheit südländischen Temperaments
und Brauches nicht immer genügend Rechnung getragen wird. — Daß
des Tiberins nachsichtiges Verhalten gegen Plancina einem „gewissen
Billigkeitsgefühl" entsprungen sei, das ihm den Wunsch eingab, „eine
Kompensation (!) gegen die Feindseligkeiten eintreten zu lassen, die
Agrippina gegen Plancina verübt haben wird" (ann. 6, 26) — das zu
glauben bin ich nicht imstande. — Vgl. Andresen, JB. 27, 313 ff.
15. Ä. Spengel, Zur Geschichte des Kaisers Tiberins.
(Sitzungsberichte der philos.-philol. und der bist. Klasse der Kgl.
Bayer. Akademie der Wissenschaften 1903 I. S. 3—63) München 1903,
Verlag der Akademie (G. Franz).
Ira Gegensatz zu Viertel, der, an Ranke und andere Autoritäten
sich anlehnend, einen beschränkten Teil des vielbehandelten Themas in
gemäßigter Darstellung bespricht, greift Spengel etwas weiter aus (nicht
tiefer) und nimmt, unbeeinflußt durch die bisherige Kritik, die Unter-
suchung des ,, Justizmords" von neuem auf, den seiner Ansicht nach die
Geschichtschreibung (und die Dichtung) „an der Ehre des hochbedeutenden,
vom besten Streben erfüllten Kaisers begangen hat." Sp. sucht nament-
lich über folgende Ereignisse grössere Klarheit zu gewinnen: Die Er-
mordung des Agrippa Postumus; Germanikus und der Aufstand der
Legionen am Rhein; Germanikus im Orient und sein Tod; die Ver-
schwörung des Seianns ; der Tod des jüngeren Drusus. Er unterwirft zu
dem Zweck die taciteische Überlieferung einer sehr lebhaften und herben
Kritik, indem er zugleich auf die entsprechenden Berichte bei Velleius,
Sueton, Dio, Josephus Bezug nimmt. Die Ausführungen Spengels sind
im einzelnen nicht frei von Wunderlichkeiten und willkürlichen Deutungen,
über die ich an einer anderen Stelle bereits gesprochen habe (N. Ph.
Rundsch. 1903 N. 21; vgl. auch Andresen, Jahresber. d. ph. V. 29,
232 ff.), sie ermangeln mitunter einer unerläßlichen Vorbedingung: der
erschöpfenden und genauen Auslegung der in Frage kommenden Schrift-
44 Bericht über die Tacitusliteratur 189(i— 1903. (Wolff.)
Stellertexte. Auch legt der Verf. nicht immer den rechten ästhetischen
und ethischen Maßstab an die antiken Historiker.
Das Geheimnis, welches die Anstifter des Prinzenmords auf Pla-
nasia umgibt, wird wohl nie ganz entschleiert werden. Ranke be-
scheidet sich mit der Bemerkung: „man behauptet, infolge einer An-
ordnung des Augustus selbst" (sei Agr. hingerichtet worden), fügt aber
doch hinzu, daß Tiberius das Resultat einer Untersuchung wahrschein-
lich selber habe fürchten müssen; er neigte also offenbar mehr dazu,
den Tiberius oder die Livia einer Fälschung (des Kodizills) für fähig zu
halten als zu glauben, der Großvater habe noch im Sterben einen Hin-
richtungsbefehl gegen seinen Enkel ausgefertigt. Und in der Tat: er-
forderte wirklich das ,, Staatsinteresse", wie Sp. annimmt, die Tötung
des unbändigen Prinzen, „um Unruhen nach des Kaisers Tode zu ver-
hüten", so mußte Augustus den blutigen Akt früher vollziehen lassen
und das Odium auf sich nehmen, um nicht mit einem solchen Auftrage
den Regierungsantritt seines Nachfolgers zu belasten und dessen Stellung
dadurch noch prekärer zu machen, als sie ohnedies war. Sp. läßt nun alle
sonstigen Möglichkeiten zu: daß Augustus, daß Livia die Tat befohlen,
daß gar der Kriegstribun S. auf eigene Verantwortung gehandelt habe:
aber Tiberius? nein! Dieser leugnet ja, den Befehl erteilt zu haben,
bedroht den Täter mit peinlicher Untersuchung („invidiam scilicet in
praesentia vitans" fügt Sueton, Tib. 22, treffend hinzu), und „nach
dem Bericht des Tacitus muß man (wirklich?) annehmen, daß er dazu
entschlossen war". — Mit Einwendungen ähnlicher Art sucht der Verf.
auch sonst die Glaubwürdigkeit des Tacitus und der anderen Autoren,
soweit sie dem Tiberius ungünstig sind, zu erschüttern. Der Kaiser
habe den Germanikus in jeder Hinsicht, an Energie, Erfahrung, Erfolg,
Ansehen so weit überragt, daß er ihn nicht als Nebenbuhler habe zu
fürchten brauchen (anders Ranke, Weltg. III 1, 31 und 47). — Ein
überaus weites Feld zur Entfaltung kritischen und hyperkritischen
Scharfsinus bieten die Feldzüge des Germanikus mit ihren rhetorisch
ausgeschmückten Wechselfällen, über deren Möglichkeit oder innere
Wahrscheinlichkeit ein objektives Urteil oft überhaupt nicht zu ge-
winnen ist. In der Schilderung des Tacitus zeigt Germanikus während
des Soldatenaufstands und einigemal auch im Verlauf der Kriegszüge eine
nach unsern Begriffen stark theatralische Haltung, die als Ausfluß eines
leidenschaftlichen, südländischen Temperaments zu erklären sein dürfte. Von
diesem Gesichtspunkt aus wird auch die Erzählung des Tacitus zu beurteilen
sein, daß Germanikus vor seinem Ende sich selbst für vergiftet gehalten
habe, was Sp. (S. 45) für „unmöglich" erklärt. Mit sehr fadenscheinigen
Gründen und in widerspruchsvoller Ausführung bemüht sich der Verf.
ferner, die „Verschwörung des Sejan" ins Reich der Fabel zu verweisen. —
Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.) 45
16. Edmund Groag, Zur Kritik von Tacitus' Quellen
in den Historien. Jahrbb. f. kl. Pliilol. 1897 Suppl.-Bd. XXIII
S. 711-798.
Eine sehr fleißige und besonnene Behandlung- der interessanten
Frage, an der seit C. Hirzel und Mommseu kein Historiker, kein
Tacitusforscher vorübergegangen ist, ohne sich mit ihr irgendwie abzu-
finden. Und einladende Hypothesen stehen ja in Fülle zur Auswahl.
Gr.. der an Fabias von ihm sehr hochgeschätzte Arbeit „Les sources
de Tacite" etc. anknüpft und sie mehrfach ergänzt, geht von der Über-
zeugung aus, daß das „ Einquellenprinzip " auf die Arbeitsweise des
Tacitus nicht anwendbar sei, daß seinen Geschichtswerken vielmehr ein
umtängliches Quellenstudium zugrunde liege. Zuerst handelt er von der
Benutzung der urkundlichen Quellen. Tac. hatte als Senator und
Konsular das Recht, die Acta senatus einzusehen, und hat von diesem
Recht für die Annalen ziemlich oft Gebrauch gemacht; namentlich sind
hier Schilderungen von Senatssitzungen auf Grund der Protokolle aus-
gearbeitet worden; am meisten im ersten Buch: K. 3. 4. 6. 7—10.
39 — 43. 44. 45. 47. In den Historien ist die Benutzung der Senats-
akten natürlich nicht in gleichem Maße zu verspüren; oft sind es auch
nur wenige Sätze, die solche offizielle Herkunft verraten: I 19. 47. 74.
77. 78. 79. 85. 90; ferner II 10. 55. 71, vielleicht auch 60, 90. 91;
III 37. 58. 80. — Die Acta diurna hat Tac. gleichfalls, wenn auch
nicht so häufig verwendet, vielleicht für Schilderung von Stadtereignissen,
wie der Einzug des Vitellius oder die Grundsteinlegung des Kapitols.
Daß an solchen Stellen der „Berichterstatterstil" noch erkennbar sein
soll, setzt eine unglaublich feine Witterung voraus. — Daß Tac. in
seinen Berichten über Senatsverhandlungen vorzugsweise ausführlich ist,
ein wärmeres Interesse dafür beweist als andere Autoren, daß er des-
halb nicht selten auch Tatsachen von geringerer allgemeiner Bedeutung
erwähnenswert findet, das erklärt sich aus seiner hohen Meinung von
den Pflichten und der Würde des Senats. Darum kann es auch nicht
sonderlich befremden, wenn er viele genaue Nachrichten über den
Senat und seine Tätigkeit bringt, die „bei Plutarch entweder voll-
ständig fehlen oder nur mangelhaft wiedergegeben sind" (Gr. S, 714;
vgl. 772). Der vom Verf. hieraus gezogene Schluß — und damit gehen
wir zu den literarischen Quellen über — , „daß Plutarch die taci-
teische Schrift nicht benutzt haben kann", wäre nur dann statthaft,
wenn zwischen beiden Autoren hinsichtlich ihrer Persönlichkeit, Lebens-
stellung, ihrer Studien sowie der Anlage und Tendenz ihrer Schöpfungen
größere Ähnlichkeit obwaltete, als tatsächlich der Fall ist. So aber
erklärt sich manche Divergenz ganz einfach; daß z. B. Plut. nichts
bekannt ist von den ehrgeizigen Hoffnungen des Suet. Paulinus, welche
46 Bericht über die Tacitusiiteratur 1896—1903. (Wolff.)
Tac. II 37 erwähnt (Gr. S. 756). Dieses selbe Kapitel ist übrigens
so reichlich mit rhetorischem Schmuck ausgestattet, daß aus einzelnen
Wendungen kein bestimmter Schluß auf die Herkunft dieser oder jener
Angabe gemacht werden darf. So möchte ich in den W. pavore belli (37, 1),
die ohnehin mit qui pacem belli amore turbaveraut in gewissem Wider-
spruch stehen, nichts weiter als eine rhetorische Amplifikation sehen,
wie sie Tac, häufig anwendet auch in Fällen, wo ganz klar ist, daß
nur die zweite formelle Alternative seiner eigentlichen Meinung ent-
spricht. Ob er an dieser Stelle den ersten Teil der Motivierung einer
anderen Vorlage entnommen, wie Gr. behauptet, halte ich trotz den
W. invenio apud quosdam auctores keineswegs für ausgemacht.
Die Beantwortung der Frage, woher die auffallenden Ähnlich-
keiten in der Darstellung Plutarchs (Galba und Otho) und Tacitus*
(h. I u. II) entsprungen sein mögen — es wird im folgenden noch
davon zu handeln sein — hängt nicht zum wenigsten auch von gewissen
chronologischen Momenten ab, die mit dem plinianischen Briefwechsel
in Beziehung stehen. Daß die unstreitbar nahe Verwandtschaft
zwischen vielen Stellen der beiden Autoren nur von der Benutzung
einer gemeinsamen Hauptquelle herstammen sollte, ist ebensowenig
wahrscheinlich wie Groags Annahme, jenes bis jetzt anonyme Werk sei
für Plutarch einzige Quelle gewesen. — Im übrigen kommt Gr. zu
dem Ergebnis, daß Tacitus wenigstens sich nicht durchweg einer Vor-
lage angeschlossen, vielmehr mit kritischem Blick abwechselnd bald
dieser, bald jeuer den Vorzug gegeben habe, wie sie ihm am zuver-
lässigsten und ergiebigsten scheinen mochten. Fast ausschließlich auf
Grund der gemeinsamen Vorlage seien verfaßt h. I 13, 21 — 26, 80 — 82;
n 39—44; zum größten Teil gehen auf sie zurück die Schilderungen
I 29—47; 71 — 79, 85—90. — Über die Vorgänge bei den germanischen
Heeren ist Tac. selbstverständlich meistens weit besser unterrichtet als
der Grieche, der von der Westhälfte des Reiches überhaupt wenig
weiß. Manche Ungenauigkeiten Plutarchs und Abweichungen von
Tacitus, bei sonstiger Übereinstimmung, erklären sich wohl auch daraus,
daß jener den Galba und Otho teilweise, wie Fabia annimmt, aus dem
Gedächtnis niedergeschrieben hat. — Von Sueton glaubt Gr., im Gegen-
satz zu Fabia, daß er seine Lebensbilder (des Galba, Otho und Vitellius)
der Hauptsache nach aus der gemeinsamen Quelle des Tac. und Plutarch,
aus Tacitus selbst und mindestens noch aus einem dritten Bericht zn-
sammeugestellt habe.
Wer war nun der gemeinsame Gewährsmann? Gr. beantwortet
zuerst die Frage: wer kann es nicht gewesen sein? Kein Senator,
kein Militär, kein Biograph. Cluvius ßufus scheine durch Nissen ond
Fabia abgetan zu sein; was diese beiden Gelehrten für Plinius als
Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolfif.) 47
Hauptquelle vorgebracht, sucht Gr. nicht ohne Geschick zu widerlegen.
Vipstanus Messalla habe vermutlich kein umfangreiches Werk ge-
schrieben, sich vielmehr auf den Kampf zwischen Vitellius und den
Flaviancrn beschränkt und hierfür dem Tacitus allerdings wertvolles
Material geliefert. — Der Gewährsmann muß dem Otho persönlich nahe
gestanden haben, den Plaviern freundlich gesinnt gewesen sein; die
Schreckenstage des J. 69 scheint er in Rom erlebt zu haben. —
Schließlich tritt Gr. mit der schüchtern geäußerten Vermutung hervor,
daß das Geschichtswerk des Fabius Rusticus, das, wie er glaubhaft
machen möchte, bis zu den Anfängen der Flavier gereicht hat, die gemein-
same Vorlage für Tacitus und Plutarch gebildet habe — also eine neue
Konjektur, die aber nicht größeren Anspruch auf Anerkennung erheben
darf, als die meisten übrigen. — In manchen Einzelheiten der Text-
auslegung scheint mir Gr. das Richtige nicht getroffen zu haben; ich
habe sie s. Z. in der Woch. f. kl. Philol. 1898 Nr. 43 besprochen.
Vgl. auch K. Niemeyer, Berl. phil. \Vs. 1897 S. 1296, und G. An-
dresen, JB. 24, 305—308. —
17. Fr. Münzer, Die Quelle des Tacitus für die Germanen-
kriege. Bonner Jahrbücher 104 (1899) S. 67—111.
Schon die Überschrift dieser gehaltvollen Abhandlung zeigt, wie
ihr Verfasser prinzipiell über die Grundlage der in Frage stehenden
Schilderungen urteilt, für die uns leider die Kontrolle sehr erschwert
ist. Daß für die Taciteische Darstellung der Germanenkriege Plinius
mit seinen Bella Germanica mindestens als eine wichtige Quelle in
Betracht kommt, diese Ansicht, sagt M., dürfe als allgemein verbreitete
gelten, nur sei sie im einzelnen nicht hinreichend begründet und be-
wiesen worden, auch nicht von Fabia in seiner preisgekrönten Schrift
über die Quellen des Tacitus. Um nun den Wahrscheinlichkeitsbeweis
zu führen — mehr läßt sich vorläufig beim besten Willen nicht er-
reichen — , daß Plinius auf dem bezeichneten Gebiet die Hauptquelle ^)
gewesen, greift M. die Sache in sehr geschickter und gründlicher Weise
an. Er zeigt zunächst, wie die militärische und literarische Tätigkeit
des PI. zusammengingen, wie dieser, dem Beruf als Reiteroffizier eifrig
ergeben, den Beifall seines obersten Kriegsherrn, des Kaisers Claudius,
sowohl im Felddienst als auch durch schriftstellerische Leistungen
sich zu verdienen bestrebt gewesen. Auch ohne den Hinweis auf das
angebliche Traumgesicht läge es nahe, daß der Autor PI. sich die Ver-
herrlichung von Vater und Bruder des Kaisers besonders angelegen
^) Außer Nissen hätte M. auch Clasons Erwähnung tun sollen, der
in s. beiden tüchtigen Arbeiten „Plutarch und Tacitus" und „Tacitus und
Sueton" (S. 62 f. 88 ff.) den Plinius als histor. Quelle gut charakterisiert.
48 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
sein ließ, znmal seit die jüngere Agrippina als Gattin des Claudius
„Regierende" geworden war. Es weisen aber auch einzelne Notizen
darauf hin. Der verlustreiche Sieg des Drusus bei Arbalo im Chauken-
lande, wo die Römer in einen Hinterhalt gefallen waren, wird von PI.
n. li. 11, 55 ohne Einschränkung mit „prosperrime pugnatum" bezeichnet;
allerdings lag in diesem Zusammenhang kein Anlaß vor, den Gang des
Ereignisses näher zu beschreiben. "Wichtiger ist, daß die beiden einzigen
(bei Tacitus ann. 1, 69 und Suet. Cal. 8) erhaltenen Bruchstücke der
Bella Germanica gerade von der Familie des Germanikus handeln. Auch
ann. 1, 41 und 44 glaubt M. Abhängigkeit von Plinius als sicher an-
nehmen zu dürfen. Was freilich die von Suetons Angaben abweichende
Nachricht über den Geburtsort des Caligula betrifft, so liegt keine
zwingende Veranlassung vor, die "Worte in castris genitus (1, 41) auf
Plinius zurückzuführen; Tacitus folgte wohl unmittelbar einer auch sonst
verbreiteten volkstümlichen Tradition (s. Nipp, zu 1, 41, 4), nach welcher
Caligula nicht in Italien geboren war, sondern im Rheinlande, das, wie
M. richtig hervorhebt, im weitesten Sinne damals als „castra" bezeichnet
werden konnte. — Liebenam und Fabia schlössen aus der singulären
Antührung ann. 1, 69 — und die Art der Erwähnung spricht dafür — ,
daß Tac. den Pliu. nur als Nebenquelle herangezogen haben werde; dies
gibt M. für die Regierung des Tiberius überhaupt zu, nicht aber für die
germanischen Kriege. Hier mußte dem Tac. eine solche Spezialschrift
ebenso willkommen sein, wie für die ersten Bücher der Historien die
Aufzeichnungen des Vipstanus Messalla. — Daß in der Frage nach
dem Ursprung der Germanen (G. 2) der "Widerspruch des Tac. sich
gegen eine von Plin. in den Bella Germ, vertretene Hypothese richtet,
ist recht wohl möglich, — "Volle Beachtung verdient, was M. über G. 3
ceterum et Ulixen . . . Asciburgium sagt: „Epigraphische Studien
im Rheinlande während des 1. Jahrhunderts waren etwas so Außer-
gewöhnliches, daß wir sie nicht wohl verschiedenen Personen zuschreiben
dürfen; kein Römer aber hat so viele Inschriften benutzt und kopiert
als gerade Plinius." Auf germanische Inschriften wird auch Suet. Tit. 4
verwiesen, wo ebenfalls die Benutzung des Plin. höchst wahrscheinlich
ist; denn dieser war Kriegskamerad des jugendlichen Titus und hat in
dem Geschichtswerk auch jene Zeit behandelt, wo Titus als Kriegstribun
in Germanien und in Britannien diente (57 n. Chr.).
Diese dankenswerten Zusammenstellungen gestatten natürlich noch
keine weitgehenden Schlüsse. Wertvoller ist, daß des Plinius Auf-
enthalt im Chaukengebiet und in anderen Teilen Westdeutschlands nach
Zeit und Gelegenheit sich ziemlich sicher feststellen läßt. Als 24jähriger
Reiteroffizier hat er an dem Zuge des Cn. Domitius Corbulo im J. 47
teilgenommen und vermutlich bald nachher sein historisches Werk be-
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 49
gönnen. Daß Tac. seinen Bericht über diesen Feldzug aus Plinius
geschöpft habe, ist sehr glaublich. M. erinnert (S. 74) noch an einzelne
Notizen der Naturgeschichte (16, 51; 16, 103; 10, 54; 22, 8), die diesen
Bericht ergänzen und erläutern, ohne daß Widersprüche darin zutage
träten. Er nimmt übrigens an, Tac. habe die Bella Germ., in denen
PI. auf die Verhältnisse des inneren Deutschlands nicht eingegangen sei,
erst später, für die Eist, und Ann., herangezogen. Auffallend bleibt
es immerhin, daß Tac, der ann. 11, 19 von den maiores Chauci als
etwas Bekanntem spricht, gerade in der Monographie über Germanien
die Zweiteilung der hier ausführlich behandelten Chauken (im Gegen-
satz zu den Friesen K. 34) nicht erwähnt, auch sonstiges Detail aus
Plin. nicht benutzt hat. — Die Einführung der Friesen (ann. 11, 19)
knüpft unmittelbar an den Bericht 4, 72 f. an; auch hier darf nach
M.s Ansicht Benutzung des PI. angenommen werden. — Ein wichtiger
innerer Grund aber vor allem mußte bestimmend sein für die Bevor-
zugung der plinianischen Darstellung jenes Krieges: ihre größere Auf-
richtigkeit im Gegensatz zu den früher veröffentlichten Schriften von
Zeitgenossen, die auf Tiberius Rücksicht zu nehmen und römische Miß-
erfolge zu beschönigen gehalten waren. Mit der Expedition Corbulos
und der von Claudius angeordneten Zurückziehung der römischen Truppen
aufs linke Rheinufer (47 n. Chr.) schloß vermutlich die Schilderung der
Gerraanenkriege ab, und einige Jahre später setzte das Werk a fine Aufidii
Bassi ein, das die Germauenkriege unter Nero eingehend behandelte. —
Die Bekanntschaft des Plinius mit Germanien beschränkte sich,
wie üben bemerkt, nicht etwa auf das Chaukenland; von zwei weit ent-
fernten Punkten innerhalb der germ. Militärgrenze, dem Mündungs-
gebiet des Rheins und dem Quellgebiet der Donau (n. h. 12, 98 und
31, 25), hat er durch Autopsie (vgl. auch 19, 145) Kenntnis gewonnen,
und sein Buch mußte dem Tac. eine willkommene Quelle sein. Daher
die weitgehende Übereinstimmung zwischen n. h. 4, 79 und Germ. 1^
Der Mons Abnoba kommt früher nirgends vor. Eine nachträgliche Er-
weiterung seines Wissens, Deutschland betreffend, bekundet Tac. (ähnlich
wie bei der Zweiteilung der Chauken) durch den Bericht über Silber-
bergbau im Mattiakergebiet (ann. 11, 10) insofern, als die Germania
von Erzschürfen in Deutschland noch nichts weiß. Jene Notiz schließt
sich an den Bericht über den Zug des Corbulo an, demnach wird auch
hier Tac. demselben landeskundigen Gewährsmann gefolgt sein, d. h. dem
Plinius, der allein (.^1, 20) von den heißen Quellen des Mattiakerlandes
berichtet hat. Nach M.s ansprechender Kombination dürfte PI. kurze
Zeit nach 47 in die dortige Gegend gekommen sein, und zwar gelegentlich
des Cbattenfeldzugs (ann. 12, 27), den sein vertrauter Freund, der Legat
Obergermaniens, P. Pomponius Secundus, im J. 50 unternahm.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXI. (1904. IL) 4
50 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
"Während Neros Regierung scheint PL, wohl unfreiwillig von
amtlicher Tätigkeit fern, vorwiegend seinen wissenschaftlichen Studien
gelebt zu haben. Doch macht M. auf Indizien aufmerksam, die auf
einen zweiten Aufenthalt des PI. in Germanien im Jahre 57 (und 58?)
schließen lassen. In der Naturgeschichte 33, 143 und 34, 47 zeigt PI.
eine auffallend genaue Kenntnis von dem Tafelgeschirr zweier in Nieder-
germanien stationierten Personen, des Porapeius Paulinus, der bis Mitte
57, und des Duvius Avitus, der von diesem Termin an dort Kommandant
war. Dazu kommen Anspielungen auf den ersten Kriegsdienst des
Titus, bei Tacitus (h. II 77) und Sueton (Tit. 4), sowie die Schilderung
der Salzgewinnung bei den Germanen (ann. 13, 57 und n, h. 31, 82).
Sollte übrigens nicht auch der unmotivierte Exkurs über den Moorbrand
bei Köln und die dagegen angewendeten sonderbaren Löschraittel von
dem Kuriositätenfreuud Plinius stammen? M. erinnert noch an den „fer-
tilissimus ager" Ubiorum (n. h. 17, 47) und „fecundissimum hoc solum"
(h. IV. 73).
Für die Schilderung der Gerraanikuszüge (ann. 1 und 2) vor
allem konnte Plinius nicht nur durch seine eigene Kenntnis "West-
deutschlands ein zuverlässiger Gewährsmann sein, sondern auch dadurch,
daß er in der Lage war, von Teilnehmern und Augenzeugen authentische
Nachrichten über die Vorgänge zu erhalten. Und ich möchte glauben,
daß überhaupt ein recht erheblicher Teil jener lebendigen Schilderungen
dem Kerne nach aus dem Munde des Plinius, wenn auch meist durch
das Medium des Neffen, dem Tacitus zugeflossen ist, daß das „saepe ex
eo audivi" (im Agr.) seine Bedeutung auch für die Historien und
Annalen gehabt haben wird.
In dem zweiten Abschnitt: Die Vorgeschichte des Bataver-
krieges, zeigt Münzer sehr geschickt, wie die meisten der von den
batavischen Auxilien handelnden Stelleu der ersten Historienbücher in
einem engen, sogar äußerlich bezeichneten Zusammenhang stehen, der
eine besondere Vorlage vermuten läßt: I 58 f. Hinweis auf die künf-
tige Bedeutung der 8 Batavischen Kohorten (et erant— adversae von
Tac. eingeflochtene Notiz); K. 64 Gewalttätigkeiten der Bat. im Lin-
gonenlande; II 27 — 29 wird das von ihnen Gesagte wiederholt und ver-
vollständigt, ihre Wichtigkeit erneut hervorgehoben. Tac. hat den zu-
sammenhängenden Bericht seiner Vorlage stückweise, nach dem Bedarf
der sjm chronistischen Darstellung, benutzt. Die Deutlichkeit erforderte
Wiederholungen und Verweisungen. II 66 treten die Bat. wieder auf;
Revolte in Turin, 68 in Ticinum; 69 nach Germanien zurückgeschickt.
Hindeutung auf den Bataveraufstand (principium — fatis). Hier bricht
Tac. die Mitteilungen von den Taten und Schicksalen der 8 Kohorten
ab, er knüpft auch IV 12 nicht etwa an deren Zurücksenduntj an^
Bericht über die Tacitusliteratur 189fi-1903. (Wolff.) 51
sondern beginnt nach kurzer Einleitung die Geschichte des Aufstandes
mit der Schilderung des Führers, der Ursachen der Empörung usw. —
K. 15, wo von der Gesandtschaft au die Kaninefaten die Rede ist,
fällt ein den glatten Fluß der Erzählung unterbrechender Satz auf:
mox — agentes; er weist mit mox auf einen späteren Zeitpunkt hin und
knüpft unmittelbar an II 69 an (reraissae, hier : missae) ; tum Mog. agentes
ist als etwas Neues hinzugefügt. Der ganze Passus bildet einen der
Schilderung des Aufstandes eingefügten fremdartigen Bestandteil, wie
das Folgende zeigt. Denn schon in seiner Rede K. 17 antizipiert Civilis
den Übertritt der 8 Veteranenkohorten, der als vollendete Tatsache
erst K. 21, nachdem die Erlebnisse jener Truppen in der Zwischenzeit
dargestellt sind, berichtet wird. Eine andere Inkongruenz zwischen
IV. 15 und 19 tritt darin hervor, daß dort nur von den bestimmten
(8) Bataverkohorten die Rede ist, hier dagegen Bataver und Kanine-
faten auftreten. Drittens erscheinen die Kohorten , die bis dahin
(K. 15) aus Italien nach Germanien marschierten, nun (K. 19) in ent-
gegengesetzter Bewegung begriffen. Man kann sich zwar, wie M. zeigt,
bei einiger Kombinationsgabe mit diesen kleinen TJngenauigkeiten un-
schwer abfinden, nichtsdestoweniger stellen sie einen Mangel dar, der
sich nur durch die erwähnte Annahme erklären läßt, daß nämlich
Tacitus zwei etwas voneinander abweichende Berichte zusammengearbeitet
hat. Die Notizen über die Bataverkohorten (h. I und 11) und die
Einschaltung IV 15 lassen den Bataveraufstand seinem Ursprung nach
als einen „Krieg der Soldaten zweiter Klasse gegen die erster" er-
scheinen (Mommsen, R. G. V 129), der sich erst später mit einem
äußeren Kriege verquickte. Der Ursprung dieser Überlieferung ist
apokryph. Die Schilderung des 4. und 5. Buches hingegen stellt die
Empörung als „Germanenkrieg" hin, wie ihn auch der an seiner Be-
wältigung beteiligte Frontin genannt hat. ,,Der Autor dieser Schilderung,"
sagt M., „läßt sich mit Sicherheit (?) bestimmen; es ist Plinius."
Dafür spreche erstens die Vertrautheit mit dem Schauplatz der Ereig-
nisse und zweitens die politische Tendenz, genauer die politische Beur-
teilung des Aufstandes. — M. legt großes, m. E. zu großes Gewicht
auf die gelegentliche Erwähnung der Schwimmkunst der batavischen
Reiter (ann. 2, 8 und 11). Diese ihre Kunst war doch ziemlich allgemein
bekannt (Dio 55, 24; epit. 69, 9), und wenn auch ann. 14, 29 und
Agr. 18 kühne Schwimmer unter den römischen Auxiliaren erwähnt
werden, so errieten die Leser des Tac. leicht, daß es meistens Bataver
gewesen. Weshalb hier der Berichterstatter (Agricola) sich „gegen die
ausdrückliche Anerkennung von deren Tüchtigkeit gesträubt" haben
sollte, da er doch Agr. 36 den batavischen Kämpfern reiches Lob zollt,
ist schwer einzusehen. Angesichts der ,, alten Bundesgenossenschaft"
4*
52 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (WolfiF.)
darf bei römischen Beamten und Offizieren einige Vertrautheit mit Land
und Volk der Bataver als selbstverständlich vorausgesetzt werden; sie
ist demnach als Kriterium in der Quellenfrage nicht zu überschätzen.
Um den Ursprung des ,, zweiten" Kriegsberichts genauer fest-
zustellen, beleuchtet M. die sachlich übereinstimmenden Darstellungen,
die Tacitus und Plutarch von dem Entscheidungskampf zwischen Otho
und Vitellius gegeben haben. Zu den auffälligsten Übereinstimmungen (die
wiederum deutliche Beziehungen mit h. IV, 12 aufweisen) beider Autoren
zählt er die von Batavern handelnden Episoden: h. II, 35 — Plut.
Otho 10 a. E. und h. II, 43 = Otho 12; Stellen, die jedoch mit den oben-
erwähnten Notizen von den batavischen Kohorten nichts zu tun haben.
Die gemeinsame Quelle (d. h. Piinius) mache sich u. a. darin geltend,
daß beide Schriftsteller an den ersterwähnten Stellen von ,, Germanen''
schlechthin, an den letzten von ,, Batavern" reden, daß ferner der Name
des Führers gleichmäßig gegeben sei: Varus Alfenus, während Tac.
sonst (5 mal) die „richtige" (?) Namensform biete. Hier scheint mir
M. etwas voreilig geschlossen zu haben. Bekanntlich verfährt Tac. in
bezug auf die Namenfolge sehr frei: Paetus Thrasea (5 mal), Thrasea
P. (2 mal), Quintilius Varus (5 mal), Varus Qu. (Imal), Arulenus
Rusticus und Rusticus Ar. (je 1 mal) usw. Darf man da dem anerkannten
Sprachkünstler unterstellen, er habe, gleich Plutarch, die etwas seltenere
"Wortfolge einer gemeinsamen Vorlage entnommen, er habe ferner, mit
der Bezeichnung Germani und Batavi mechanisch wechselnd, Piinius
nachgeschrieben ? Spricht jene Übereinstimmung in Kleinigkeiten nicht
vielmehr dafür, daß Plutarch die Historien (I und II wenigstens) vor
Augen hatte und eben wegen seiner geringeren Bekanntschaft mit dem
römischen Westen sich hier dem Wortlaut der Quelle enger anschloß,
als er sonst zu tun pflegte? —
Zu dem h. IV, 12 von den Batavern Gesagten tritt ergänzend die
IV, 15 gegebene wichtige Notiz über die Kaninefaten, die in der
Germania gar nicht genannt sind. Nur zwei römische Autoren über-
haupt wissen von ihnen zu berichten: Piinius und Velleius; denn die
römische Militärverwaltung, nicht die Wissenschaft, machte den Unter-
schied zwischen Batavern und Kaninefaten. Die Stellen Tac. ana.
4, 73 und 11, 18 gehen um so sicherer auf Plin. zurück. Vgl. auch n.
h. 4, 101. — Ahnlich steht es mit den Cugerni, den Marsaci, den
Sunuci; auch ihre Namen begegnen außer auf Inschriften nur bei Plin, und
Tac, und bei diesem wieder nicht in der Germania, sondern erst h. IV,
26 (V, 16, 18) bzw. IV, 56 und IV, 66. — Tac. bekundet die gleiche
Vorstellung von den Wohnsitzen jener Stämme wie Piinius, der durch
längeren Aufenthalt in niederrheinischen Stantlquartiereu (wie Asciburg
und GelüLiba) genauere Landeskunde erworben haben wird. Ihm ver-
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 53
dankt Tac, meint M., den im Gegensatz zu seinen sonstigen Schilde-
zungen kriegerischer Ereignisse ,, klaren und brauchbaren" Bericht über
den Bataveraufstand.
Übereinstimmend mit Nissen findet M. eine wesentliche Bekräfti-
gung seiner Ansichten in den engen persönlichen Beziehungen des
Pliuius zur flaviscben Dynastie, deren staaterrettendes Walten zu preisen
und gegen Verdächtigungen zu verteidigen, sei es auch nur bei der
Nachwelt, er als seine literarische Aufgabe betrachtete. Nun hatte der
Bataverfüist Civilis sich als alten Freund und Parteigänger Vespasians
hingestellt, auch von Briefen des Antonius Primus gesprochen, durch
die er gegen die Vitellianer aufgestachelt worden; um so nachdrück-
licher suchten deshalb die Kreise, aus denen des Tacitus Informationen
geflossen sein werden, die Empörung der Bataver als Germanicum
bellum zu qualifizieren. Gegen Antonius aber, der neben Hordeonius
Flaccus für den Aufstand verantwortlich gemacht wurde, erhob sich
später auch die Beschuldigung, die Zerstörung Cremonas verursacht zu
haben. Die siegreiche Sache, so deduziert M., brauchte einen Sünden-
bock, auf den man gehässige Handlungen der Drangperiode abladen
konnte, und diese Tendenz, die gegen den trotzigen, unbequemen
Antonius gerichteten Bestrebungen (Mucians u. a.), kommen auch in
jener Anklage zum Ausdruck, die Plinius, im Gegensatz zu Vipstanus
Messalla, gegen Antonius erhoben hat (h. III 28).
Kleine Widersprüche zwischen der Darstellung im 4, und im 2. Buche
(K. 86 und 97) der Historien in bezug auf die Beteiligung der Provinzial-
truppen am Kriege lösen sich bei Annahme verschiedener Quellen.
In einem Anhang: Die prokuratorische Laufbahn des älteren
Plinius, zeigt M., daß der Autor auch in der Zeit nach dem Bataver-
krieg Gelegenheit gehabt hat, sich über die Geschichte des Aufstandes
genauer zu unterrichten, und zwar nimmt er an, daß PI. im J. 70 als
kais. Prokurator in der Narbonensis (n. h. 2, 150; 14, 43), im J. 74
in der Belgica (n. h. 18, 183) geweilt habe. —
Nicht alle von M. vorgebrachten Beweismomente sind überzeugend;
in einigen untergeordneten Fragen hat er fehlgegriffen; in ihrer Ge-
samtwirkung aber hat die verdienstliche Abhandlung den sachlichen
Anteil des Plinius an der taciteischen Darstellung der Germanenkriege in
ein helleres Licht gerückt und als umfänglicher bewiesen, als die meisten
Forscher bisher zugeben wollten. — Vgl. Andresen, JB. 26, 238 ff.
18. Benno Imendörffer, Beiträge zur Quellenkunde der
sechs letzten Bücher der Annalen des Tacitus. Progr.
Brunn 1901. 22 S.
Daß unser Wissen über die literarischen Quellen des Tacitus —
auf solche beschränkt sich der Aufsatz — wenig mehr ist als Stückwerk»
j54 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
daß selbst die Vermutungen hier auf schwachen Grundlagen beruhen
und wir uns meistens mit Möglichkeiten und "Wahrscheinlichkeiten be-
scheiden müssen — mit diesem Zugeständnis beginnt der Verf. seine
Untersuchung, in der er sich, wie nach dem Gesagten begreiflich ist,
häufig gegen Fabias bekannte Abhandlung wendet. — Zuerst spricht I.
von den im zweiten Teil der Annalen namentlich angeführten Schrift-
stellern: Cluvius ßufus, Fabius Rusticus, Plinius d. A., die auffallender-
weise meist nur da genannt würden, wo sie von dem „Consensus
auctorum", wie 13, 20, abwichen. Tacitus scheine hier und anderswo
die Verantwortung für nicht vertrauenswürdige Angaben von sich ab
und jenen Autoren zuweisen zu wollen. Überhaupt hat Imendörflfer,
und nicht er allein, den Eindruck gewonnen, daß Tac. die Schriften der
3 Genannten wohl gekannt, aber kaum in größerem Umfang als Quellen
benutzt habe. Fabius wird zwar von Tac. in dessen historischer Erstlings-
schrift (Agr. 10) wegen seiner Darstellungskunst anerkannt, später wird
der prüfende Blick die Unzuverlässigkeit dieses Berichterstatters erkannt
haben, der denn auch 15, 61 nur ausnahmsweise benutzt ist, und zwar
weil er als vertrauter Freund Senecas Authentisches über dessen Ende
mitteilen konnte. Noch geringere Meinung scheint Tac. von Plinius,
wenigstens von seiner Urteilskraft gehegt zu haben. Vgl. Nipperdey,
Einl. und ann. 15, 53; 13, 31; n. h. 16, 200; 19, 24.
Ausgiebiger verwertet sind augenscheinlich Berichte römischer Feld-
herren über die von ihnen selbst geleiteten Feldzüge. In betreif des Dom,
Corbulo stimmt der Verf. mit E. Egli (Feldzüge in Armenien v. 41 — 63
n.Chr.) darin überein, daß bei Tac. die kriegerischen Ereignisse in Armenien
und Parthien (13, 7—9; 34-41; 14, 23—26; 15, 1—17; 25—31) derart
um die Gestalt des Corbulo gruppiert sind, daß ferner die Darstellung
eine so lebendige und verhältnismäßig einheitliche ist, daß als Haupt-
gewährsmann der General selbst gelten darf, wenngleich Tac. ausdrück-
lich nur 15, 16 auf seinen Bericht hindeutet. Diesen Bericht hat er
übrigens nicht unbesehen übernommen, sondern aus einer oder der
andern Nebenquelle — möglicherweise Licinius Mucianus — ergänzt
und korrigiert. — In ähnlicher Weise dürfte Tac. die Memoireu des
Feldherrn Suetonius Paulinus zur Schilderung der Kriege in Britannien
(14, 29—38) verwendet haben. Vgl. Peter, die gesch. Lit. I 203 Anm. —
Zu einem negativen Ergebnis kommt I. hinsichtlich Corbulos
Anteil an der taciteischen Schilderung des germanischeu Krieges (11,
16 — 20), und zwar einesteils wegen des für den Oberfeldherrn nicht
eben günstigen Inhalts , andernteils weil die Ausdrücke ,,ferunt"
und ,,fama" sowie der wiedergegebeue Ausruf Corbulos ,,Beatos quon-
dam duces Romanos" auf verschiedene Augen- und Ohrenzeugen
schließen lassen. Auch die Schilderungen zahlreicher anderer Kämpfe
Bericht über die Tacitusliteratur 189G— 1903. (WolflF.) 55
in den Provinzen scheinen nicht lediglich auf offiziellen Kriegsberichten,
sondern auch auf persönlichen Mitteilungen von Beteiligten zu beruhen;
besonders ausführlich ist die Erzählung 12, 31 — 40. —
Der anekdotenartige Abschnitt 13, 53 — 57 könnte möglicher-
weise wohl aus Berichten des Legaten Obergermaniens L. Vetus ent-
nommen sein, der seit dem J, 55 dort kommandierte und mehrfach von
Plinius als Schriftsteller zitiert wird. Wie hoch ihn Tacitus achtete,
zeigt ann. 16, 10—11. Trotzdem sollte man meinen, daß der eigentüm-
liche bunte Inhalt jenes Abschnittes eher auf den Polyhistor Plinius
selbst hinführe.
Was Tac. von Thrasea erzählt (16, 21 ff.), stammt nicht ans
Senatsakten, sondern im wesentlichen von einem Augen- und Ohren-
zeugen der entscheidenden Senatsverhandlungen und der letzten Stunden
des Märtyrers; daher die dramatisch bewegte Schilderung und der fort-
währende Wechsel des Schauplatzes. Dieser Zeuge wird Thraseas
Freund und Verehrer Arulenus Rusticus gewesen sein, dessen Lobschrift
Thraseas wohl in mehr als einem Exemplar der befohlenen Vernichtung
entgangen und von Tac. benutzt sein dürfte. — Eine weitere annehm-
bare Vermutung I.s geht dahin, daß manche Mitteilungen aus Neros
Umgebung von Seneca herrühren, dessen Vertrauter Fabius Rusticus
ihr literarischer Vermittler gewesen sein möge. — Auch die Selbst-
biographie des Kaisers Claudius könne für das 11. und 12. Buch der
Ann. einzelne beachtenswerte Tatsachen und Beobachtungen geliefert
haben; vielleicht seien selbst die Spottverse des Antistius (14, 48) und
die „Codicilli" des Fabricius Veiento nicht ganz unbeachtet geblieben.
Den auch bei Quintüian mit Anerkennung erwähnten Servilius
Nonianus bezeichnet Tac. (14, 19) als „tradendi.s rebus Rom. celebris";
er kann mithin für die vorneronische Zeit wohl als einer der von Tac.
benutzten, aber nicht genannten Autoren in Betracht kommen, ebenso
Aufidius Bassus, den I. (nach einer Bem. S. 19) auszuschließen scheint.
Von den in die Erzählung eingeflochtenen Reden nimmt der Verf.
an, daß Tac. , wo er nicht wirklich zitiere, einen Anhalt für Inhalt und
Gedankengang der Rede gewöhnlich in gut verbürgter schriftlicher oder
mündlicher Überlieferung (oft durch Ohrenzeugen) gefunden habe; als der-
artige Stellen bespricht er 11, 2. 26. 30; 12, 2. 41; 13, 21.
Daß die berüchtigten Memoiren der Agrippina, außer etwa 13,
14 und 21, von Tac. so viel beachtet worden seien, wie gewöhnlich an-
genommen wird, glaubt I. bezweifeln zu sollen, um so mehr als Tac.
überall starken Widerwillen gegen die Verfasserin kundgibt. Die Frage,
woher der Bericht über die merkwürdige Unterredung zwischen Seneca
und Nero (14, 53 — 56) stammen möge, hat I. nicht berührt; vermut-
licü würde er sie nicht im Sinne Friedländers (Der Philosoph Seneca;
56 Bericht über die Tacitusliteratur 189G— 1903. (Wolff.)
Hißt. Ztschr, 49, 2. S. 193 ff.) beantworten, daß nämlich die Unterredung^
vor Zeugen stattgefunden und der Kaiser vielleicht eine offizielle Be-
kanntmachung angeordnet habe, um sein Verhalten Seneca gegenüber
zu rechtfertigen. Jedenfalls ist der Bericht aus sehr intimer Quelle
geflossen.
Aus der großen Zahl (28) der unbestimmten Quellenhinweise
(quidam, alii tradidere, sunt qui Iradant etc.), deren Häufigkeit in den
einzelnen Büchern sehr verschieden ist, schließt I. mit Recht, daß Tac.
eine umfangreiche Literatur gekannt und wohl auch benutzt hat. Die
Sorgfalt und Gründlichkeit seiner Arbeitsweise werde namentlich durch
zwei lehrreiche Stellen bestätigt: 11, 27 haud ignavus sq. und 14, 9
sunt qui tradiderint, sunt qui abnuant; hier habe Tac, wie man an-
nehmen dürfe, mindestens 4 verschiedene Quellenschriftsteller eingesehen.
Schließlich fragt I. nach dem Grunde, warum Tac. so selten
seine Gewährsmänner nenne und sich in der Regel mit dunkeln An-
deutungen begnüge, und findet eine ganz plausible Erklärung darin,
daß der Autor häufig wenigstens durch die Natur der benutzten Ur-
kunden und vertraulichen Mitteilungen zu einer gewissen Diskretion
verpflichtet war oder doch sich verpflichtet hielt. Er schilderte Vor-
gänge, die von seiner Zeit teilweise nur durch einen kurzen Zwischenraum
getrennt waren, und konnte durch Nennung von Namen leicht die Ur-
heber seiner Nachrichten bloßstellen und schädigen. Hiermit trifft I.
meiner Ansicht nach das Richtige. — Vgl. Andresen, JB. 28, 280 f.
19. Eduard Wölfflin, Zur Komposition der Historien
des Tacitus. Separatabdr. aus den Sitzungsberichten der philos.-
philol. und der histor. Klasse der kgl. bayer. Akad. d. Wiss. 1901,
Heft I. S. 3—52.
Die frei und selbständig gestaltende Kunst des Tac. wird hier
von einem ihrer besten Kenner in helles Licht gestellt. Nach einigen
Betrachtungen über römische Annalistik und Biographie sowie über des
Tac. Arbeitspläne und die Gliederung des Stoffes zeigt W. durch eine feine
Analyse den Zweck des Vorworts und die Notwendigkeit der Einleitung
zu den Historien (I 1—11), die in ihrer gedrängten Form einen Ersatz
bieten solle für die Erzählung der zwischen Neros Tod und dem Neujahr
69 liegenden Ereignisse. Zugleich nimmt der Stilistiker Gelegenheit,
darauf hinzuweisen, wie geschickt Tac. die Tempora für seinen Zweck
verwendet: das Plusquamperfekt „fuerat" (12, 7), dem sich eine Reihe
von Imperfekten beiordnet, deutet auf das J. 68, noch weiter zurück
deuten die Formen egerat und deposuerat (K. 13). — Daß diese Ein-
leitung völlig geistiges Eigentum des Tac. ist, hat ernstlich wohl niemand
bestritten; selbst Nissen war ehrlich und inkonsequent genug, dem
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 57
Autor ,.das Zeugnis völliger Originalität und vollendeter Meisterschaft"
nicht vorzuenthalten, wenigstens für den ersten Teil der Historien. "Was
man in Rom nach Neros Tode fürchtete und hoffte , welche wichtigen
Meldungen in der stürmischen Epoche aus den Provinzen einliefen, das
brauchte Tac. nicht aus Geschichtsbüchern zu entnehmen; das konnte
er, soweit die eigene Erinnerung nicht ausreichte, zur genüge von älteren
Zeitgenossen, auch aus den Acta diurna (ann. 16, 22; Plin. ep. 7, 33) er-
fahren. Bei widersprechenden Überlieferungen hat er gewiß auch schrift-
liche Aufzeichnungen verglichen; auf solche beziehe ich, im Gegensatz
zu "Wölfflin, auch H. I 7, 5 fuere qui crederent; vgl. II 99, 1; Ann. 4,
18. 5; Agr. 40, 6.
W. verbreitet sich weiterhin über die Nekrologe (Galba, Piso,
Vinius, Otho), die Reden und die Gedanken des Tac. über die Bürger-
kriege — lauter durch Geist und Gedankenfülle hervorragende Bestand-
teile der Historien, die zu unverkennbar den Stempel ihres Urhebers
tragen, um als bloße Umarbeitung einer wenig älteren historischen
Darstellung gelten zu können. So weit verdienen die in lebhaftem Ton
gehaltenen Ausführungen W.s, die sich vielfach mit denen 0. Clasons
und R. Langes decken, aufrichtige Zustimmung. Sie sind freilich nicht
nur als Selbstzweck gemeint, des Tac. künstlerisches Schaffen zu würdigen;
vielmehr beabsichtigt der Verf., wie er von vornherein (S. 5) erklärt,
durch genauere Betrachtung der Komposition der Historien der alten
Streitfrage Tacitus-Plutarch „eine neue Seite abzugewinnen", mit anderen
Worten: er sucht aus der einheitlich originellen Gestaltung der Hist.,
insbesondere der Einleitung, den Nachweis zu erbringen, daß die Theorie
von einer gemeinsamen Quelle des Tac. (H. I und II) und Plut. (Galba
und Otho) unhaltbar, daß dagegen gewisse* charakteristische Beziehungen
zwischen der beiderseitigen Darstellung nur so erklärlich seien, daß
Plut. vor der Abfassung seines Galba und Otho die ersten Bücher der
Historien gelesen (mitunter flüchtig gelesen, selbst mißverstanden) und
benutzt habe. Übrigens erinnert W. daran, daß in jener Zeit die so-
zusagen manuelle Schwierigkeit bei Benutzung der Papyrusrollen sehr
ins Gewicht fällt, daß somit das Gedächtnis für die Beurteilung schrift-
stellerischer Arbeit einen weit wichtigeren Faktor bildete als heutzu-
tage. — Eür die Beweiskraft der in Frage kommenden Parallelen hängt
selbstverständlich viel davon ab, wie weit die überlieferten Tatsachen
noch im Bereich der Gegenwart des Autors lagen, ferner ob sie der-
artige sind, daß ihre Kenntnis vermutlich nur engere Kreise inter-
essierte, wie bei militärischen und anderen technischen Einzelheiten,
oder ob es sich um epochemachende, die Fama beschäftigende Ereignisse,
um wirkungsvolle Aussprüche und Anekdoten handelt, die von Mund
zu Mund gingen. Zu solchem Allgemeingut, an dem die Schriftsteller
58 Bericht über die Tacitusliteratur 1896 — 1903. (Wolff.)
keine größeren formellen Änderungen vorzunehmen pflegen, rechne ich
n. a. die Erzählung von dem Becherdiebstahl des Vinius. Ob der
Becher von Gold oder von Silber gewesen, verschlägt nichts: die Haupt-
sache bleibt, daß dem unehrlichen Gast nachher irdenes Geschirr vor-
gesetzt wurde. Dahin gehört ferner sein skandalöses „stuprum in ipsis
principiis" (H. I 49; Plut. G. 12). Mehr noch hafteten im Gedächtnis
der Nachwelt gewisse Eindrücke aus dem Scbreckensjahr; auch die
äußere Erscheinung Galbas als eines gichtbrüchigen, schwachen Greises
(invalidus senex; «xsOevt]? -/.cd -/sptuv PL G. 15. a. E.), „der fünf Kaiser
herrschen sah"; der ihm vorauseilende Ruf der ,,avaritia" und „saevitia";
diese betätigt durch den ,,blutigeQ Einzug". Sein Grundsatz: ,,legi a
se militem, non emi" war zum geflügelten Wort geworden. Von dem
erwähnten Gemetzel sagt Tac. übertreibend: trucidatis tot milibus
inermium militum (Die: 7000!), während Plutarch sich (G. 15) mit
vExpüiv toao'jTtüv begnügt und die Unzufriedenen wenigstens mit Schwertern
bewehrt sein läßt. — Mit sittlicher Genugtuung wird man noch lange
von dem wohlverdienten Strafgericht geredet haben, das jene ,,120"
— auf ein paar mehr oder weniger kam es ja nicht an — ereilte, die,
unbedachterweise schriftlich, den Lohn für ihre Beteiligung an der
Blutarbeit des 15. Januar von Otho verlangt hatten. Nichts ist also
natürlicher, als daß die Berichte bei Tac. (H. I 44), Plut. (G. 27) und
Sueton (Vit. 10) dem Inhalt und im wesentlichen auch dem Ausdruck
nach aufs engste übereinstimmen:
Tac. : libellos praemium exposcen- | Plut. : owpea? tqtouv ßi'ßXia oioovtsc . .
tium . . Vitellius postea invenit om- EupsOr^jav usxepov . . oüc 6 Oui-.
nesque conquiri et interfici iussit. dvaCTj-r,-ac a-avxac aTrsx-etvev.
Tacitus fügt noch die Moral von der Solidarität monarchischer
Interessen hinzu, indem er einen kurz vorher niedergeschriebenen Satz
(H. I 40 scelus cuius ultor est quisquis successit) variiert. Außerdem
hat er kräftig betonend : plures quam centum viginti; Plutarch bleibt
hier wie an anderen Stellen bei der genauen Zahlangabe. Nun stellt
Wölfflin verkehrterweise nur die Alternative: welcher Bericht ist das
Original, welcher die Reproduktion? Sie sind wahrscheinlich beide
Reproduktionen einer mündlichen Überlieferung, nicht aus Papj'rusrollen
herausgelesen. Das unter solchen Umständen selbstverständliche „postea"
(invenit) glaubt W. bei Tac. durch deu Hinweis auf dessen spätere
Darstellung der Regierung des Vitellius entschuldigen zu müssen; „wie
Plutarch davon (?) sollte Kenntnis gehabt haben, da er kein Leben
des Vitellius schrieb (!), ist weniger erklärlich, alles dagegen voll-
kommen klar, wenn er direkt aus Tacitus schöpfte, welchem er auch
sein ujTepov entnahm". Ein unrichtiger Schluß. Angenommen, es er-
Bericht über die Tacitusüteratur 1896-1903. (Wolff.) 59
zähle jemand von den s. Z. an Napoleon III. gerichteten, 1870 ans
Licht g-ekommenen Bettelbriefen — wird der Zusatz, ,,die später den
Deutschen in die Häude fielen", nicht als ein ganz natürlicher er-
scheinen? Übrigens steht die mechaniche Art des xlbschreibens , die
W. in diesem Falle dem Plutarch zutrauen möchte, in starkem Wider-
spruch zu dem, was im Eingänge des Aufsatzes von der historischen
Arbeitsweise der Alten richtig bemerkt ist.
In solchem Zusammeuhange also, wie er in den erwähnten Fällen
vorliegt, darf selbst aus augenfälliger Ähnlichkeit des Ausdrucks nicht
notwendig auf Abhängigkeit des einen Autors vom andern geschlossen
werden. Hingegen genügt bei Schilderungen mehr untergeordneten
Inhalts zuweilen schon eine charakteristische Wendung, ein Name, eine
Zahl, um den Ursprung einer Stelle mit großer Wahrscheinlichkeit fest-
zustellen. Ein vortreffliches Beispiel, von Wölfflin mehr nebenher er-
wähnt, bietet Tac. H. I 27 tres et viginti speculatores . . rapiunt;
totidem ferme in itinere adgregantur . . . paucitate salutantium,
veiglichen mit Plut. G. 25 . . «paai jjly) uXeiou? xptiov xal eT^out
7ev£(jdai . . . dcTiTQVTTjaav sTSpoi TOjoÜTot . . Hier schließt W, mit
vollem Eecht, daß Plut. sich mit «paai auf Tac. berufe ; es wäre in der
Tat ein seltsamer Zufall, wenn noch ein anderer Gewährsmann die
,, geringe Zahl" der ersten Anhänger Othos durch die Addition 23 + 23
gegeben hätte. Plut. läßt, wie oben „plures quam", hier „ferme" un-
berücksichtigt. — Die Worte G. 18 xal xa jjLSTpttüs 7:pa-to[jLeva (etiam
quae modeste — maßvoll, gelinde — agebat; vgl. I 90, 7; JI 68, 1)
bilden eine nicht übele, dem Wesen Plutarchs entsprechende Verein-
fachung der taciteischen Wendung H. I 7 seu bene seu male facta; von
einem „Übersetzungsfehler" kann keine Rede sein.
Eine scheinbar winzige, aber wohl zu beachtende Ähnlichkeit zeigt
sich in den Berichten der beiden Autoren von dem zweimaligen Ein-
greifen der Bataver in die Kämpfe am Po:
H. II 35 gladiatores navi-
bns molientes, Germani nando
praelabebantur . , t- r- a r r
II 43 accessit recens auxi-
lium Varus Alfenus cum
Batavis . .
Otho 10 Ol 6e Fepixavol Torj^Oöcovo?
Otho 12 l7nr^7a-C£v üuapoc 'AXcp^vos
Tou; x(zXou(Ji£vou? Baxaßouc . .
Tacitus braucht an der ersten Stelle, wie öfter, Germani zur
Abwechselung statt Batavi; Plut., bei dem dieser Name sonst nirgends
vorkommt, fügt Otho 12 die wohl aus H. IV 12 entnommene Erklärung
hinzu: Eiji 8s Fspixaväiv iKr.-^iz aptaioi xxX. Hier, wie an der ersten
Stelle, wo Fepixavoi ziemlich unvermittelt und ohne Erläuterung auftritt.
60 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
folgt er unbedingt dem Tacitus, dem er auch den Namen des Führers
Varus Alfenus, in der weniger gebräuchlichen Wortfolge, nachschreibt.
Diese formellen Besonderheiten fallen für die Quellenfrage um so mehr
in die Wagschale, als die Darstellung sich auf Einzelheiten von geringerem
allgemeinem Interesse erstreckt. —
Beachtenswert ist auch die, von W. nicht erwähnte, Über-
einstimmung von H. I 41 de percussore non satis constat: quidam
Terentium evocatum, alii Lecanium; crebrior fama tradldit Camurium
sq. und G. 27 dueacpa^e 6e auxov, w? ot TrXeiJToi Xe^oüst, Ka|xoüpioc
TIC ... "Eviot 81 TspevTiov, Ol Se Asxaviov laxopoüatv. Wer, wie Nissen
u. a., auch diese Koinzidenz nur aus der „gemeinsamen Vorlage" glaubt
erklären zu können, der streicht allerdings den Tac. aus der Reihe der
ersten Schriftsteller. — Kein allzu großes Gewicht dürfte auf die von W.
gezogene Parallele zwischen H. II 37 u. 38 und Plut. 0. 9 zu legen
sein; namentlich der vergleichende Rückblick auf den Äntagoni:<mus
Sulla — Marius und Pompejus — Cäsar lag jedem Historiker nahe genug.
Daß Tac. den Namen des Cäsar „mit Rücksicht auf die Dynastie der
Julier" unterdrückt habe, wie W. meint, ist unwahrscheinlich; Tac.
ließ sich hier offenbar nur von seinem Stilgefühl leiten; er liebte eben
solche Gleichungen mit einer unbekannt-bekannten Größe. — Zufällig
kann die Ähnlichkeit sein zwischen H. I 43 Insignem . . aetas nostra
vidit und Plut. G. 26 8v jio'vov ^Xioc lireTSev a$iov . .; auch die
zwischen H. I 82 Otho contra decus imperii toro insistens precibus
et lacrimis aegre cohibuit, redieruntque in castra inviti, und PI. 0. 3
'Opööc (iiTO T^c xXivTjc ■KoXXot uapTjYopTqjac xal SeYjdel; xai |jlt)S^
Saxpuojv «psiadffxevoc |x6Xt? dtireirsfjuj^ev auxouc braucht nicht auf Ab-
hängigkeit Plutarchs von Tacitus zurückgeführt zu werden; denn der
stürmische Ausgang jenes Gastmahls im Kaiserpalaste gehörte selbst-
verständlich bald zu den stadtbekannten Vorfällen, über die sich leicht auch
etwas abweichende Versionen zu bilden pflegen. Aus besonderer Quelle
entnahm PI. die genaue Zahl (80) der Gäste; er weiß auch, daß die
wütenden Soldaten 2 Zenturionen (Tac: severissimos centurionum) er-
schlagen haben; dagegen hat er von dem örtlichen Ursprung der
Meuterei eine ganz irrige Vorstellung gewonnen, und zwar, wie W.
richtig annimmt, infolge flüchtiger Lektüre des Tac, aus dem er sich
über den „unbedeutenden Anlaß" zum Aufruhr informierte. Offenbar
hat PI. von dem Kap. 80, in welchem die Ausdrücke „castra" und
„armamentarium" jedem Römer den Sachverhalt klar genug andeuteten,
nur Anfang und Ende sich eingeprägt: Parvo initio ... ex colonia
Ostiensi in urbem acciri — urbem ac Palatium petunt, und so läßt
er die Aufrührer von Ostia, statt von der Prätorianerkaserne aus, zur
Stadt eilen!
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 61
Dieser in der angegebenen Weise zu erklärende Irrtum Plutarchs
spj icht für seine Abhängigkeit von Tac. mehr als die oben angeführten
Stellen mit ihren formalen Berührungspunkten. Daß PI. auch sonst
hin und wieder seinen Gewährsmann mißverstanden hat, ist höchst
wahrscheinlich. Wölflflin jedoch hat in seinem berechtigten Bestreben,
die Originalität und Überlegenheit des Tac. darzutun, mehrfach über das
Ziel hinausgeschossen und sich zu unbilliger Beurteilung des Griechen
überhaupt fortreißen lassen, ihm namentlich auch Mißverständnisse und
Flüchtigkeiten zugeschrieben, die sich nicht beweisen lassen.
Die Cluviushypothese weist W. ,al8 ein leeres Traumbild" ab und
findet die natürlichste Erklärung für die häufigen Divergenzen zwischen
PI. und Tac. darin, daß Plutarch neben Tac. auch andere Quellenschrift-
steller las, doch nicht etwa nach einzelnen Kapiteln oder Sätzen ex-
zerpierte, sondern „in seinem Kopfe den gesamten Stoff verarbeitete",
so daß die einzelnen Elemente „ineinander überflössen". Wäre dies
ausnahmslos und gleichmäßig geschehen, so würden allerdings manche
der von W. aufgezeigten Widersprüche und Mißverständnisse unerklär-
lieh sein.
Sehr beachtenswerte und nützliche Hinweise gibt W. S. 46 ff. be-
züglich der für Tac. und seine historische Schreibart charakteristischen
Antithese von sive sive, seu seu, ne an und ähnlicher Satzformen. Der
gewissenhafte Tac. wolle keine Variante mit Stillschweigen übergehen
und suche nach Erklärungen für Widersprüche und Abweichungen in
der Überlieferung, fälle aber selten eine bestimmte Entscheidung.
Plut. braucht ähnliche Sätze weniger oft und nur vereinzelt an gleichen
Stellen wie Tac, vielmehr bevorzugt er in der ßegel kurzweg die seiner
optimistischen Richtung gemäßere Auffassung. Vereinfachungen liebt er
überhaupt; G. 23, 9 xaxeßaivsv tU -co o-cpaTo-söov ; bei Tac. I 17 geht
voraus : consultatum iude pro rostris an in senatu an in castris adoptio
nuncuparetur, und das iri in castra placuit wird näher begründet.
Eine scharfe, aber im einzelnen großenteils berechtigte Kritik
hat Andresen (W. f. kl.Ph. 1901 Nr. 16, 431—439) an Wölfflins Ab-
handlung geübt. Er geht von der Überzeugung aus, daß ein Gesamt-
urteil über diese Quellenfrage — von den chronologischen Schwierigkeiten
abgesehen — nur zu gewinnen sei durch eine in alle Einzelheiten ein-
dringende Vergleichuug der Berichte beider Schriftsteller, und zeigt,
wieviel in dieser Hinsicht, namentlich in der Interpretation Plutarchs,
W. vermissen lasse; z. B. stimmt G. 22, 25—27 -atpo; -e ti[xy)xoü —
ouvocpiavToc inhaltlich völlig überein mit H. I 52 tres patris consulatus
. . . Caesaris und mit Suet. Vit. 2 ex consulatu Syriae . . . duos
insu per ord. consulatus (hier hat W. flüchtig gelesen). Daß Plut. 0. 12
die kämpfenden Parteien (auf grund von H. II 43 fusa glad. manu) ver-
62 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
wechselt habe, ist eine irrige Annahme. In der Voraussetzung, daß
G. 24, 20 — 28 (Otho erhält das Losungswort der Verschworenen) auf
H. I 27 zurückgehen müsse, schreibt W. dem Plutarch eine kaum glaub-
liche Gedankenlosigkeit oder Unwissenheit zu, vergleichbar etwa der
von Mommsen zu G. 23, 12 — 13 (ta [xev Xe-j-siv . . . xa ok avaYi-jVcojxstv)
und H. I 18 (quo vir virum legeret, pronuntiat) vermuteten Irrung.
Andresen rügt auch die unrichtige Auffassung von H. I 29, 1 Proxima
pecuniae cura, zu der W. neigt, als „habe es sich zunächst um die
Beschaffung der nötigen Reisegelder gehandelt". — Diese und andere
zutreffende Ausstellungen A.s zeigen, daß W.s Beweismaterial ein keines-
wegs überall probehaltiges und zuverlässiges ist. Der Meinungsaustausch
zwischen dem Verf. und dem Kritiker, der sich an jene Besprechung
anschloß, hat übrigens für die genauere Erkenntnis des behandelten
Gegenstandes noch recht erfreulichen Gewinn abgeworfen. —
20. Ed. Wölfflin, Plinius und Cluvius Rufus. Archiv f.
lat. Lexikogr. u. Gramm, XII 3, 345—354.
Die auffallende Übereinstimmung Plut. 0. 3 (poßo'ufj-evo? . . . -^v ^o-
ßspcr'? und Tacitus H. I 81 cum timeret Otho timebatur, welche W. im vo-
rigen Aufsatz als ein (von Andresen nicht voll anerkanntes) Beweismoment
für die Abhängigkeit Plutarchs von Tacitus erwähnt hatte, gab ihm
Veranlassung, eine Übersicht ähnlicher Antithesen aktiver und passiver
Verbalformen aufzustellen. Es ist dies ein von Cicero vielfach ver-
wendetes , von Seneca zu reichster Mannigfaltigkeit ausgebildetes
rhetorisch - philosophisches System. W. zieht namentlich die Begriffe
des Besitzens, Beherrschens, Besiegens, Fürchtens in Betracht und
verfolgt viele solcher Wendungen ihrem Ursprung nach ziemlich weit
rückwärts. Einen besonderen Reiz haben diese Wortspiele, wenn der
Handelnde und der Leidende, der Herrscher und der Beherrschte, der
Sieger und der Besiegte ein und dieselbe Person sind. — Tacitus, der
die an solchen Antithesen besonders reichen Schriften Senecas fleißig
gelesen, spricht einen ähnlichen Gedanken wie H. I 81 schon im
Dialog 13 aus: quod timent an quod timentur? Diese Stelle nennt W.
entscheidend für die Frage, ob die Wendung: cum timeret Otho time-
batur von Tacitus selbst geprägt oder von einem anderen Autor herüber-
genommen sei.
In der Anzeige dieser Abhandlung (W. f. kl. Ph. 1902 Nr. 10,
260 — 271) vermehrt Andresen zunächst die Sammlung W.s noch durch
eine stattliche Reihe interessanter Beispiele und zieht zugleich solche
Stellen mit heran, wo der passivische Begriff gelegentlich durch eine
aktive Verbalform (parere, servire z. B. sind pass, Ergänzungen zu
imperare, dominari usw.) und beide Begriffe (oder einer von ihnen)
Bericht über die Tacitusliteratur 189G-1903. (Wolff.) 63
durch Adjektiva gegeben werden können. — Dann kommt A. auf den
Ausgangspunkt, die taciteische Antithese H. I 81 zurück und auf den
Schluß, den W. und andere aus ihrem gewiß nicht zufälligen Zusammen-
treffen mit der gleichartigen Wendung bei Plut. gezogen haben. Angesichts
der Tatsache, daß solche Gegenüberstellung des von derselben Person
ausgesagten „timere" und ,,timeri" bei gleichzeitigen Autoren wieder-
holt vorkomme, gleichsam literarisches Gemeingut gevresen sei, könne
W. auch mit dem Hinweis auf Dial. 13 keinen zwingenden Grund er-
bringen dafür, daß Tac, die Antithese cum timeret 0. timebatur erfunden
haben müsse. Die Möglichkeit bleibe immer noch, daß Tac, ohne
sich damit eines Plagiats schuldig zu machen, den die Situation glücklich
und scharf bezeichnenden Ausdruck aus seiner (irgend einer?) Quelle
übernommen habe. Hiermit dürfte A. das Richtige getroffen haben.
Man ziehe dabei in Rechnung, daß gewisse Schlagwörter und Reminis-
zenzen, die einen eigenartigen Vorgang entsprechend scharf kennzeichnen,
als solche bei mündlichem Vortrag schon durch die Betonung dem
Wissenden deutlich werden, daß dagegen bei schriftlicher Festlegung
den Alten die kleinen Hilfsmittel fehlten, von denen wir, aus Vorsicht,
vielleicht zu häufig Gebrauch machen : Anführungszeichen, Gedanken-
striche, Parenthese, Sperrdruck usw. Wie oft gehen solche leise An-
deutungen, mit oder ohne Gänsefüßchen, aus einem Geschichtswerk in
das andere über!
Die weitere Kritik A.s erstreckt sich auf die Frage nach der
Entstehungszeit der ersten Bücher Historien. W. glaubte in dem kurz
nach dem J. 100 geschriebenen Panegyricus des Plinius zahlreiche An-
klänge an H. I feststellen zu können, somit ein neues Moment zur
Zeitbestimmung dieser Schrift gewonnen zu haben. Dem gegenüber weist
A. aus demselben Panegyricus eine Reihe von Ähnlichkeiten auch mit
Annalenstellen nach, um zu zeigen, wie wenig auf solche ,, Anklänge"
zu geben sei. — Schließlich wendet sich A. gegen einige in W.s
Replik enthaltene Vorwürfe, die er als unbegründet zurückweist. —
21. C. E. Borenius, De Plutarcho et Tacito inter se
congruentibus. Helsingfors 1902. XXII, 156 S. 8.
Eine breit augelegte, von fleißigem Studium der alten wie der
neuen Literatur zeugende Neuprüfung der Frage, die einigen Gelehrten
im Sinne der Abhängigkeit Plutarchs (Galba und Otho) von Tacitus
(H. I. II), anderen durch die Voraussetzung einer gemeinschaftlichen
Quelle als erledigt gilt, während manche noch bei dem „non liquet"
verharren. B. tritt entschieden für die ersterwähnte Theorie ein. Mit
der chronologischen Vorfrage findet er sich so ab, daß er mit Wölflflin
annimmt, die ersten 3 Bücher der Historien seien um 105 erschienen;
64 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
demnach könne Plutarch jedenfalls, selbst wenn ,,Galba" und „Otho"
vor den Vitae parallelae verfaßt sein sollten, jenen Teil der Hist.
gekannt und benutzt haben. Vgl. übrigens F. ßühl, Rh. Mus. 56, 512.
In betreff der historischen Arbeitsweise der Alten und namentlich
des Verfahrens der römischen Geschichtschreiber ist bekanntlich von
neueren Gelehrten ohne greifbare Beweise die Ansicht geltend gemacht
worden, daß jene in der Nachahmung älterer Autoren viel weiter ge-
gangen seien, als sich mit unserer Auffassung von literarischer Selbständig-
keit vertrage — eine Behauptung, die, wie A. v. Gutschmid bereits
gezeigt hat, mit Zeugnissen aus dem Altertum selbst im Widerspruch
steht. • — Plutarch und Tacitus freilich, sagt B., bedienen sich in vielen
Abschnitten der erwähnten Bücher fast derselben Worte, sie stimmen
in Satzbildungen überein, ebenso in Urteilen, moralischen Betrachtungen,
eingeschalteten Episoden; auch sind ihnen viele Stilblüten, Bilder und
Sentenzen gemeinsam. Bei Voraussetzung gegenseitiger Unabhängigkeit
und einer gemeinschaftlichen Hauptquelle müßte Tac. sich bäuäg dem
Wortlaut dieser Quelle enger und unselbständiger angeschlossen haben
als Plutarch, was mit seiner Eigenart selbstverständlich unvereinbar ist.
Aus jener gemeinsamen Vorlage wird gewöhnlich auch das Mehr her-
geleitet, das Plut. häufig bei Beschreibungen der gleichen Geschehnisse
bietet. Solcher Elemente unterscheidet B. in Übereinstimmung mit
Peter und Wöllflin zwei Arten: einmal eigene rhetorische Zutaten
Plutarchs, Ausmalung seelischer Vorgänge, in denen seine Phantasie
sich gern ergeht, zweitens aber tatsächliche Ergänzungen aus anderen
Quellenschriftstellern; denn daß PI. das Kontaminieren fleißig geübt
haben muß, liegt auf der Hand (vgl. A. v. Gutschmid, H. Peter,
E. Norden, I 90 Anm. 1). Mitunter darf nach B. angenommen werden,
daß der Grieche auch des Tac. Gewährsmann direkt befragt hat,
namentlich in Fällen, wo bei sonstiger Übereinstimmung Tacitus viel
kürzer ist als Plutarch. Die höchst schwierige Aufgabe, zu unter-
scheiden, was auf diesem Wege gewonnen und was aus Tac. selbst
geschöpft sei, läßt sich hin und wieder, wie Fabia betonte, mit einiger
Wahrscheinlichkeit durch Heranziehung Suetous lösen. An manchen
Stellen, wo Plutarch diesem näher steht als dem Tacitus — meist ist
das Umgekehrte der Fall — düi'fte Benutzung einer gemeinsamen Quelle
anzunehmen sein. Immer bleibt jedoch zu beachten, daß wir da keine
großen Unterscliiede im Ausdruck voraussetzen dürfen, wo es sich um
einfache Vorgänge handelt, die ohnedies in keiner zusammenhängenden
Überlieferung gefehlt haben werden.
Mit Verwertung reichlichen Materials sucht B. nun Folgendes zu
beweisen: Plut. hat sowohl Tac. als auch einen gemeinschaftlichen Ge-
wähi'smann herangezogen, und zwar diesen vorzugsweise für G. 1 — 21
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 65
(bis 1. Jan. 69); für G. 22 — 0. 18 ist Tac. Hauptquelle; hier ist
nur weniges anderswoher genommen. Der Verf. hat zu seinem Zwecke
alle irgendwie in Betracht kommenden (und noch einige mehr!) Stellen
aus Plutarch nach der Kapitelfolge ausgezogen und ihnen die ent-
sprechenden Passus des Tacitus (H. I. II ) gegenübergestellt oder ihrem
Inhalt nach angegeben, auch die Zitate aus Sueton in den Fußnoten
beigefügt. In die Übersicht sind überall (von Kap. zu Kap.) Be-
trachtungen über Inhalt , Charakter und vermuteten Ursprung der Be-
richte eingeschaltet. Unter dem angehäuften Material finden sich neben
sehr markanten Stellen begreiflicherweise manche nichtssagende; dem-
gemäß sind auch B.s Schlußfolgerungen sehr ungleichartig. Gleich einer
der ersten Bemerkungen muß widersprochen werden; von den "W. PI.
G. 7, 18 — 20 TW o' dTieXsuÖEptp — ouvaixiv (cf. Tac. H. I. 13 nee minor
— vocitabant) heißt es: „haec quidem Plut. e fönte communi hausisse
non potest negari, qnoniam similior est Suetonio quam Tacito". Diese
größere Ähnlichkeit zwischen Suet. und Plut. beschränkt sich aber doch
auf das von den beiden gebrauchte, von Tac. wie auch sonst (bei anuli
=^ Ritterring) unterdrückte Beiwort „golden". Zudem bringt Plut. die
Notiz in anderem Zusammenhang als Tacitus ; mit Recht hält daher Fabia
die Ähnlichkeit für nicht frappant genug, um daraus auf Gemeinsamkeit
der Quelle sicher schließen zu können. — Mit unbegründeter Zuversicht
behauptet B., daß Plut. G. 10, 15 — 23 xaixoi cpavepüi? — etiretv, und
Tac. H. I 53 nee nisi — praeventus erat, demselben Autor entnommen
seien. Die PI. G. 12, 2 — 9 erzählte Verführungsgeschichte des Vinius
hat sicherlich lange zum Stadtklatsch gehört, sie braucht also nicht auf
Tac. H. I 48 zurückgeführt zu werden, ebensowenig freilich, wie Fabia
wollte, auf die gemeinsame Quelle. — In diesem ersten Teil der Unter-
suchung bewegt sich B. überhaupt mehrfach auf unsicherem Boden und
bedient sich zuweilen wunderlicher Argumente; so leitet er, überein-
stimmend mit Wöltflin, die Erwähnung des blutigen Einzugs bei PI. G-
15, 31—35 aus H. I 6 her und meint mit Bezug auf „tot milibus":
Cur Tacitus numerum reticuerit, Orosius docet — eine übel angebrachte
Berufung; denn hätte Tac. hier wirklich etwas ..mildern" wollen, so
würde er wohl überhaupt nicht von Tausenden Erschlagener gesprochen,
sondern sich etwa mit tot begnügt haben wie Plutarch mit vexpiöv
TOUOUTCUV.
In den sonst unähnlichen Abschnitten PI. G. 17, 6—20 und H.
I 72 findet sich eine höchst bezeichnende Übereinstimmung, die auch
B. nicht entgangen ist: Tioirftxc, (Tq£>.Xrvos) a^tov davaxou Nspojva xat 73-
v6[i.£vov ToiouTov l^ X ax oc X rTT cu V xai Tipoöouc TTspi^v — corrupto ad omne
facinus Nerone . . . postremo eiusdem desertor acproditor; eine
wirklich „echt taciteische Wendung", deren Nachahmung im vorliegenden
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXI. (1904. II.) 5
66 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
Zusammenhang bei Plut. mehr beweist als ein Dutzend sonstiger „Ähn-
lichkeiteu", auf die B. oft übertriebenen Wert legt. Was wollen z. B.
die angeblich wörtlichen Übereinstimmungen besagen, die der Verf.
S. 24 und 25 anführt: G. 22, 32-34 el,- u-s^eXf^wv — -ap' a-kcp
und H. I 56 Nocte — iurasse; G. 22, 35 — 37 -piüro; — irposEi-ev,
,,a Tacito (I 57 Proxima — consalutavit) ad verbum fere expressa"?
— Daß die ganze Erzählung von G. 22 ab aus Tac. als fast einziger
Quelle geflossen seiu soll, ist wohl zu viel behauptet; allerdings findet
sich hier ein von Hardy zuerst (?) erwähnter wichtiger Berührungspunkt:
G. 23, 4 dpyatpsjtaCovTa; — I 14 comitia imperii transigit; denn diese
Pointe ist zweifellos taciteischen Ursprungs.
Auf weitere Einzelheiten der an feinen Bemerkungen und Winken
reichen Abhandlung kann hier nicht eingegangen werden, doch mögen
zwei besonders sachkundige Kritiken in Kürze Erwähnung finden. G.
Andresen, in der Quellenfrage prinzipiell mehr zu Fabias Standpunkt
neigend, findet (JB. 29, 222—225), daß der Verf., dessen Gründlich-
keit und Sorgfalt er übrigens lobend anerkennt, zu leicht bereit sei, aus
augenfälligen Ähnlichkeiten Beweise für die Abhängigkeit Plutarchs
von Tacitus zu konstruieren. Was die von B. erwähnten Stellen be-
treffe, an denen PL den taciteischen Text mißverstanden haben solle,
so dürften nur 2 Fälle ernstlich in Betracht kommen: die Verlegung
der Meuterei nach Ostia, 0. 3 aus H. I 80, und der Ursprung der Worte
xtvooveueiv 6s xou? ev KpEji-cuvT] 0. 7 aus H. II 23 ubi pulsum Caecinam
pergere Cremonam accepit. Borenius glaubt, wüe oben erwähnt, durch
Heranziehung Suetons erweisen zu können, daß Plut. in vielen Fällen,
"WO er mehr hat als Tacitus (oft unbedeutende Wörter, nichtssagende
Sätze), dieses Plus aus der Quelle des Tac. entnommen und dem taci-
teischen Bericht hinzugefügt habe. Diese Erklärungsweise hält A.
für künstlich; näher liege jedenfalls die Vermutung, daß Tac. solche
Angaben, die Plut. wie Sueton aus einer gemeinsamen Vorlage fest-
gehalten, als unwichtig übergangen habe. — H. Peter (ßerl. Ph. Woch.
1903 N. 28, 867—868) rühmt gleichfalls die gründliche Gelehrsamkeit
und die nichts übersehende Sorgfalt des Verf.; er erkennt seine Un-
befangenheit an, mit der er in manchen Fällen die von anderen be-
hauptete Benutzung des Tac. bei Plutarch bestreite. P. trifft in einigen
Vorbehalten und Einwendungen, die auch gegen Wölflflin gerichtet sind,
mit Andresen zusammen. B. lege dem Fehlen oder Vorhandensein
von Zeitbestimmungen (z. B. G. 24, 11 scdÖcv; Suet. G. 19 und 0. 6
mane) eine übertriebene Bedeutung bei. „Der rhetorische Geschicht-
schreiber liebte eben genaue Zeitbestimmung (und Zahlen) nicht und
hat sie deshalb ^YeggeIassen, während sie der genaue Sueton grundsätzlich
aus der gemeinsamen Quelle beibehalten hat, Plutarch zufällig." Die
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 67
Verschiedenheit der einzelnen Berichte habe B. nicht überall zutreffend
gewürdigt; für Fabius Rusticus als die gemeinsame Grundlage für die
vorliegende tJberlieferung lasse sich (natürlich) kein zwingender Grund
anführen. Doch sei die Arbeit B.s als ein beträchtlicher Fortschritt
zur Lösung der nicht nur für Plut. und Tac. wichtigen Frage dankbar
zu begrüßen. —
22. L. Paul, Kaiser Marcus Salvius Otho. Rh. Mus. 57
(1902) S. 76—136.
Diese Lebensbeschreibung einer Persönlichkeit, die schon den
Zeitgenossen als eine problematische erschien , besteht der Hauptsache
nach in der Übersetzung oder Umschreibung der alten Schriftsteller,
in erster Reihe des Tacitus und des Plutarch, zu denen Sueton und
Dio ergänzend hinzutreten. Die erzählende Darstellung wird hier und
da von kritischen Bemerkungen unterbrochen, die, soweit sie den Text
des Tac. betreffen , an sich berechtigt , doch mitunter gegen solche
Lesarten und Auffassungen gerichtet sind, welche heute niemand mehr
ernstlich vertreten wird. Die Verbesserung Heinses H. I 43 ardentis
bedarf keiner besonderen Rechtfertigung mehr. — Wo sich Tacitus und
Plutarch widersprechen, verdient nach P.s Meinung der Römer das
größere Vertrauen; manche Züge bei Plutarch verdanken übrigens ihren
Ursprung dessen persönlichen Erfahrungen und mündlichen Mitteilungen
aus seinem Bekanntenkreise. Was sonst das gegenseitige Verhältnis der
Quellenschriftsteller angeht, so haben Tacitus, Plutarch und Sueton eine
gemeinsame Vorlage benutzt, ob Cluvius Rufus, den H. Peter ohne zu-
reichenden Grund aufgegeben habe, oder Plinius d. Ä., sei nicht sicher
festzustellen. Sonach scheint alles, was Clason, Nissen u. a. gegen die
Cluviushypothese geschrieben haben, für P. nicht von Gewicht zu sein.
P. schildert die Herkunft und Jugend Othos, seine verhängnisvolle
Freundschaft mit Nero und Claudius Senecio, die unwürdigen Beziehungen
zu Acte und zu Poppaea. Als durch die Schuld des ,,principale scor-
tum" jene Freundschaft mit dem jungen Kaiser ein jähes Ende nahm
(58 n. Chr.) und Otho nach dem fernen Lusitanien verschickt wurde,
da bewies er zehn Jahre hindurch in der Verwaltung der Provinz, daß
er ,, einer der Männer war , in denen durch den Dienst niedriger
Lüste Herrschsucht und Energie nicht unterdrückt werden" (K. Peter).
Sobald Galba den Abfall von Nero erklärt, tritt Otho ihm zur Seite
als , .glänzendste Erscheinung" (H. I 13 inter praesentes splendidissimus),
und bildet nun einen geradezu herausfordernden Gegensatz zu dem „me-
dium Ingenium" des gebrechlichen, engherzigen und geizigen Greises.
Sorge um das Staatswohl hält Galba davon ab, den beim Heere be-
liebten, leichtfertigen Otho zu adoptieren; er wählt sich zur Stütze einen
5*
68 Beriebt über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
Jüngling von „gutem Rufe", von altrömischer Denkart; der Soldaten
Gunst zu erkaufen, widerstrebt seinen Begriffen von Manneszucht; aber
diese lobenswerte Haltung besiegelt Galbas Schicksal. — Plutarch hat
in seinen beiden Schriften, die ein Ganzes bilden, den Ausgang der
Kaiser Galba und Otho im wesentlichen wie Tac. und Sueton erzählt, ,,so
daß wir," meint P., „die Annahme einer gemeinsamen Quelle nicht ab-
lehnen können" (?); der Grieche habe die Gewährsmänner für seine
Kaisergeschichten in den Kreisen des Tacitus und Plinius gesucht; mithin
sei kein Grund, an der Wahrheit auch der anekdotenhaften Züge zu
zweifeln. In der quellenmäßigen, mehrfach gekürzten Darstellung der
Kämpfe am Po hebt P. richtig hervor, daß der für Otho ungünstige
Ausgang ebenso durch sein törichtes Fernbleiben vom Eutscheidungs-
kampf verschuldet worden ist, wie durch den Kompetenzkonflikt der
Führer, die schließlich des Kaisers leidenschaftliche Ungeduld blindlings
zur Aktion drängte.
Ohne rechten Grund bezweifelt P. die Richtigkeit des taciteischen
Berichts (H. II 51) von dem nach Othos Tode erfolgten Einstürmen
der Soldaten auf Verginius: ein zweimaliger Aufruhr der Soldaten lasse
sicli schwer annehmen — doch nur, wenn man den Zusammenhang bei
Tac. völlig verkennt!
Die von Plutarch (0. 15) und Tacitus (H. II 48. 49) überlieferten
rührenden und leidenschaftlichen Szenen erhalten eine greifbare Be-
stätigung durch das, was Sueton (0. 10) von seinem eigenen Vater
berichtet. Othos Entschluß zum Selbstmord aber , meint P., ging
weniger aus der Übersättigung durch alle ßeize des Lebens oder aus
Scheu vor weiteren Anstrengungen und Gefahren hervor (so K. Peter),
als aus Mangel an Selbstvertrauen, aus dem Zweifel, ob er die Sache
werde durchführen können. Daß zur Verstärkung dieses Zweifels auch
,,superstitiöse" Momente mitgewirkt haben, wie Ranke (W. G. III 227 f.)
annimmt, stimmt mit allem, was über Otho und seine Beziehungen zu
den ,, Mathematikern" berichtet wird, aufs beste überein. Othos
Charakter, oder darf man sagen Charakterlosigkeit? — hat Tacitus
insbesondere durch die Mittel der Parallele mit Nero, wie des Gegen-
satzes zu Galba und selbst zu Vitellius verständlicher zu machen
gewußt. Othos „üagrantissimae cupiditates" werden, wie P. richtig
betont, den ,,ignavae voluptates" seines Nachfolgers verglichen und ver-
schaffen ihm einigen Anspruch auf mildere Beurteilung auch seines
Kapitalverbrechens; Vitellius stirbt ,,multis increpantibns, nullo in-
lacriraante"; Othos selbstgewählter, von vielen beklagter Tod hin-
gegen bildete in den Augen der meisten Zeitgenossen ein versöhnendes,
ausgleichendes Gegengewicht zu seinem lastervollen Leben. Nirgends
in der Tradition fehlt der pathetische Hinweis auf diesen Gegensatz:
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 69
Plut. 0. 18, 8—11; Tac. H. II 50; Suet. 0. 12, 9; 12, 15; Dio 64,
15, 2; Martial. 6, 32, 5 f. — Bemerkenswert ist, wie der Gedanke an
ein zum Selbstmord ermutigendes Beispiel sowie das Motiv der Waffen-
prüfung bei Sueton teilweise wörtlich sich wiederholt: Nero 49, 15;
Otho 10, 7; Nero 49, 11; Otho 11, 7. — Pauls Arbeit wird von
G. Andresen, Jahresber. 28, 304 — 306, als eine ,,für die historische
Kritik und für das Verständnis des Überlieferten nicht sonderlich er-
gebnisreiche, aber gewandt geschriebene Biographie" bezeichnet; ein
Urteil, dem ich nichts Wesentliches beizufügen wüßte. —
23. Hermann Vieze, Domitians Chattenkrieg im Lichte
der Ergebnisse der Limesforschung. Progr. Berlin 1902. 30 S. 4.
Die uns zu Gebote stehenden literarischen Quellen geben von
dem Chattenkrieg, der zu Anfang von Domitians Herrschaft stattfand,
ein unvollständiges und mehrfach widerspruchsvolles Bild, wie ja auch
über des Kaisers Persönlichkeit und seinen Anteil au kriegerischen
Erfolgen die Ansichten weit auseinander gehen. Um so wertvoller sind
die durch die Archäologie, insbesondere durch die Limesforschung
gewonnenen Resultate, welche über jene kriegerischen .Vorgänge
helleres Licht verbreitet haben. — Als Zeit des ersten Chattenkrieges
läßt sich durch Münzen aus dem J. 84, die Domitian den Beinamen
Germanikus geben, mit einiger Sicherheit das J. 83 bestimmen. Wer
der eigentliche „Angreifer" gewesen, blieb damals wohl ebenso im Halb-
dunkel wie bei ähnlichen Konflikten zu allen Zeiten. Die Wahrschein-
lichkeit spricht dafür, daß die Chatten „eine bedrohliche Haltung ein-
genommen" hatten, wie V. die Worte Frontins richtig deutet (Strat. I
1, 8): cum Germanos, qui in armis erant, vellet opprimere; wäre
es bei einem bloßen Verteidigungskrieg geblieben, so würde allerdings
wohl reprimere statt opprimere geschrieben worden sein. Der Notiz
bei Sueton (Dom. 6) expeditiones partim sponte suscepit partim
necessario; sponte in Catthos sq. (vgl. übrigens 2, 1), die das Unter-
nehmen deutlich als Angriffskrieg hinstellt, sucht V. die Spitze ab-
zubrechen: Sueton habe, durch sein Streben nach Kürze und Antithese
verleitet, den mißverständlichen Ausdruck „sponte'' gebraucht, und eine
so zwingende Notwendigkeit wie für den damaligen Sarmatenkrieg habe
ja auch tatsächlich nicht vorgelegen. Dennoch hätten auch persönliche
Wünsche, das Verlangen des jungen Kaisers nach kriegerischem Lorbeer
und der Hinblick auf Agricolas Erfolge in Britannien, einigen Anteil
an der Expedition (Rankes Ansicht: ,,nach Kriegsruhm trug er [Dom.]
wenig Verlangen" trat schon Asbach entgegen). Diese subjektiven
Gründe werden von Sueton, die objektive Ursache von Frontin, der
den Ereignissen näher stand, mehr betont — so glaubt V. die ,, schein-
70 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
bar" sich widersprechenden Angaben der beiden Schriftsteller vereinigen
zu können. Den Hauptzweck des Krieges bezeichnet er treffend so: es
mußte größeren Ruhestörungen vorgebeugt, das Vorterrain für das
Standquartier der Legionen, Mainz (das im J. 70 die Chatten belagert
hatten), erweitert und auf einen wirksamen Schutz der Grenze Bedacht
genommen werden. — Über die gegen die Chatten geführten Truppen
schweigen die Schriftsteller völlig, beredter sind die Steine: die Ziegel-
sterapel des damals entstandenen Kastells Friedberg z. B. zeigen uns,
daß jedenfalls aufgeboten wurden die 14. Legion aus Mainz, die 11.
aus Vindonissa, die 21. Rapax aus Niedergermanien. Die 1. Adiutrix
wird nicht gefehlt haben; von der 9. Hispana hat der Militärtribun
ßoscius Aelianus eine Vexillation aus Britannien herübergeführt, auch
von den Gardetruppen waren Abteilungen herangezogen worden. Welche
und wie viele von den in Obergermanien stehenden Auxiliaren zum
Kriege gegen die Chatten mitgezogen sind, läßt sich nur für einzelne
Kohorten feststellen. —
Um seine Absicht zu verschleiern, begab sich Domitian zuerst
nach Gallien, angeblich des Zensus wegen, und brach dann plötzlich
und unvermutet gegen den Feind auf. Die Operationsbasis war gegeben:
von Mainz auf der alten Beerstraße durch den Maingau und die
Wetterau (Hofheim— Okarben — Friedberg). Über Ausdehnung und Er-
folg des Feldzugs haben wir nur spärliche und einander widersprechende
Nachrichten: Sueton, der für Grenzkriege überhaupt wenig Interesse
zeigt, sagt a. a. 0. nur: de Chattis Dacisque post varia proelia
duplicem triuraphum egit; Tacitus stimmt in seinen gelegentlichen
Bemerkungen (Agr. 39 und Germ. 37) ganz mit Plinius (pau. 16 und 20)
überein, daß das Unternehmen ein Fiasko, der Triumph ein Schein-
triumph gewesen sei. Keine bessere Vorstellung davon hat Dio gehabt,
wie die Auszüge bei Zonaias und Xiphilinus zeigen. Diesen, nach V.s
Meinung voneinander unabhängigen Berichten über den Feldzug — die
Hofpoeten Martial und Statins zählen nicht — steht nun als ältester
Gewährsmann Frontin gegenüber, der den Chattenkrieg an 4 Stellen
erwähnt (1, 1, 8; 2, 3, 23; 1, 3, 10; 2, 11, 7) und dabei den Kaiser
jedesmal mit voller Titulatur Imperator Caesar Domitianus Augustus
Germanicus nennt. Daß er an der Expedition selbst teilgenommen,
hält V. für wahrscheinlich (Asbach für sicher, während Zwanziger es
bestreitet). Einzelne Ausdrücke Frontins, wie contusa immanium ferocia
nationum . . ., consecutus est, ne quis locus eins victoriam moraretur
(so ist zweifellos zu emendieren) . . ., subiecit dicioni suae hostes, würden
auf glänzende Erfolge Doraitians schließen lassen — wenn der General
seine Strategeraata etwa nach dem Tode des Kaisers geschrieben hätte.
V. hält zwar Frontins Berichte für unverdächtig; denn „wenn er auch
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 71
damals sicherlich gewissen Wünschen des Kaisers Rechnung
tragen mußte, so brauchen seine Berichte nicht in jeder Be-
ziehung angefochten zu werden". Dies wird auch niemand ernstlich
wollen, vielmehr können wir uns unter Zuhilfenahme der Mitteilungen
Frontins eine ungefähre Vorstellnug von der Art des Kampfes machen,
den im J. 83 eine starke römische Heeresmacht mit den durch ihre
"Wälder geschützten Chatten zu bestehen hatte. Eine eigentliche
Schlacht hat angesichts der Terrainschwierigkeiten und der bekannten
Kampfart der Gegner wohl nicht stattgefunden, und w'enn Frontin von
einem Siege rede, meint V. selbst, so nehme er auf Domitians Wunsch
Rücksicht, der einen entscheidenden Sieg davongetragen haben wollte.
Anderseits dürfen wir auch an einem Erfolg Domitians im Chatten-
lande nicht zweifeln; nur war er nicht bedeutend genug, um nach
Tacitus' Meinung die Ehre eines Triumphes zu verdienen. Das Gebiet
Dämlich, von dem die Chatten sich zurückgezogen hatten, blieb teilweise
besetzt. Das ist der unbestreitbare, durch die neueren Grabungen
bestätigte Erfolg des Feldzuges. Verf. geht hier auf die bisherigen
Ergebnisse der Limesforschung in der Wetterau näher ein, um die
Staudorte der Besatzungstruppen, den Umfang der Okkupation, die Be-
schaffenheit und Ausdehnung des Limes (den ursprünglichen Begriff hat
nicht erst Mommsen festgestellt, wie V. meint) zu bestimmen.
Von den übrigen konkurrierenden Quellen, sagt V., „stehen sich
Tacitus-Pliuius und der Gewährsmann des Dio am nächsten und können
als einander ergänzende . . . Berichte angesehen werden. Danach unter-
nahm Domitian einen Zug nach Gallien und machte dann einen Beute-
zug über den Rhein gegen (?) Bundesgenossen." Der Verf. meinte (vgl.
S. 15) wohl: „durch das Land von Bundesgenossen"; denn nur so-
viel berichtet Zonaras (11, 19): XsYiXaxY^aa; xiva xüiv uepav Tr^vou xcuv
£V37:üvoü)v, und mit ihm übereinstimmend Plinius, pan. 20: quam dissi-
milis nuper alterius principis (Domitiani) transitus, si transitus ille non
populatio fuit sq., also ein Plünderungszug (mit zuchtlosem Heere)
durch befreundetes (Mattiaker) Gebiet, das heutige „blaue Ländchen".
Wie V. unter transitus hier den „Rheinübergang" hat verstehen können,
ist kaum begreiflich, wenn man den ganzen Zusammenhang betrachtet;
pan. 20 i. A. Iter (Traiani) inde (e castris) placidum ac modestum.
ut plane a pace redeuntis . . . quam dissimilis nuper alterius principis
transitus sq. — Mit jenen römischen Bundesgenossen rechts vom Rhein
konnten die Bataver ebensowenig wie die Hermunduren gemeint sein
(selbstverständlich!); „es bleiben also," fährt V. fort, „nur die Mattiaker
und die Usipier übrig, die beide um diese Zeit in der Nähe der Chatten
wohnten und von Mainz aus am leichtesten erreichbar waren. Die
Nachricht der diesbezüglichen (so!) Schriftstellergruppe von einem
72 Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.)
Streifzug Domitians durch ihr (verstehe: der Bundesgenossen) Gebiet
hat an sich nichts Verdächtiges, da sie nicht geeignet ist, sein Ansehen
herabzusetzen (?) bis auf die allerdings feindselige Tendenz, daß sie,
die Bundesgenossen, allein davon betroffen worden wären, während
Domit. gegen die mehr zu fürchtenden Chatten nichts habe ausrichten
können." Dom. habe wohl die Mattiaker noch nachträglich für ihren
Abfall im J. 70 züchtigen wollen. Ob damit freilich auch dem Haupt-
zweck, das Vorland von Mainz für die Zukunft zu sichern, gedient ge-
wesen wäre, ist mir recht zweifelhaft.
Die Erzählung von den im Triumph Domitians aufgeführten
Pseudo-Chatten verweist V., wie auch Ranke u. a. getan , ins Fabel-
reich; nimmt sich doch die Anekdote ganz so aus wie eine Variation
des dem Caligula zugeschriebenen Geniestreichs (Die 59, 2, 1). Auch
dessen Feldzug war, wie der domitianische, „urplötzlich" unternommen
worden. Zu verwundern ist es übrigens nicht, daß das Mißverhältnis
zwischen Domitians großen Worten (or/xoüxo cu3T£ [i-i'(oi xaTcupöcüxtu?)
und seinem bescheidenen Erfolg die Erinnerung an die „Taten" des
hirnverbrannten Gaius erweckte und dadurch die Legendenbildung ge-
fördert wurde. — Manche Ausführungen Viezes ermangeln noch sorg-
fältiger und eingehender Begründung; auch Einzelheiten des Ausdrucks
lassen, wie angeführte Stellen zeigen, an Korrektheit zu wünschen
übrig. —
JI. Wortschatz und Sprachgebraach.
24. Lexicon Taciteum ediderunt A. Gerber et A. Greef.
Fase. XIII et XIV ed. A. Greef; fasc. XV ed. A. Greef et C. John;
fasc. XVI ed. C. John. Lipsiae, 1897. 1900. 1902. 1903, B. G.
Teubner. S. 1377—1802. Lex.-8.
Habent sua fata libelli. — Das 1877 herausgegebene erste Heft
dieses Werkes trug auf der Eückseite des Deckblattes den Vermerk:
„Das Lexicon Taciteum wird in 6 — 7 fasc. zum Preise von 3,60 M.
a fasc. erscheinen." Und nach 25 Jahren ist, mit dem 16. Heft, die
verdienstvolle Arbeit zum Abschluß gekommen, nachdem Greef, der
bereits im Frühjahr 1888 durch Gerbers Tod seines Mitarbeiters be-
raubt werden, in unermüdeter Tätigkeit, unter Hintansetzung seiner Ge-
sundheit, das Lexicon bis zum 15. Faszikel gefördert, dann aber sich
genötigt gesehen hatte, die Vollendung (die Buchstaben u und v) einem
andern Sachkundigen, C. John (der schon den Artikel sum bearbeitet
hatte), zu übertragen. John, dessen vorzügliche Dialogusausgabe weiter
nnien zu besprechen ist, hat Greels bewährtes Verfahren in der An-
ordnung und Behandlung des Stoffes durchweg festzuhalten, auch in
Bericht über die Tacitusliteratur 189f;-1903. (Wolff.) 73
Genanigkeit ihn zu erreichen sich bemüht, so daß die allseitig aner-
kannten Vorzüge dem Lexicon bis zum SchluDartikel bewahrt geblieben
sind. —
Die charakteristischen Eigenheiten der taciteischen Sprache und
ihre Abweichungen vom Wortschatz und Wortgebrauch der übrigen,
insbesondere der klassischen Prosaschriftsteller, treten auch in den vor-
liegenden 4 Schlußheften des Lexicons nach jeder Richtung hervor und
bieten in Menge Gelegenheit zu lehrreichen Beobachtungen.
Von den mit re zusammengesetzten Zeitwöi'tern macht Tac. im
ganzen sparsam Gebrauch; renuntio hat er nur einmal = „aufkündigen",
nie, wie Cicero und Cäsar, = , melden". Gänzlich meidet er repleo
(ziemlich oft steht expleo und suppleo), rescindo (dafür u. a. rumpo
und s. Komposita), reprehendo (auch reprehensio nur I 49, 3), reseco,
resigno, respiro, retexo, retardo; rescribo bedeutet ihm nur „zurück-
schreiben", „antworten". Es fehlen ferner retrorsum, rusticus (ebenso
agiicola: dafür 5 mal subst. agrestis, 2 mal cultor in gleicher Be-
deutung), saepissime (das volltönende saepenumero in einer Rede, 14,
43, 1), salio, satius, sceptrura (aber sceptuchus 6, 33, 8), secerno (oft
discerno), secludo, seiungo, sero „spät" (oft serus; vgl. subitus, impro-
visus,nie subito, improviso),serpo,serpens,spondeo; stupeo, stupidus, Stupor
(teilweise vertreten durch torpeo und torpor). Auch viele sonst häutige
Komposita mit sub vermissen wir im Wortvorrat des Tac: subiungo,
suborno, subsequor, subsido, succingo (dafür accingo, 8mal in eig.,
8 mal in metaphorischer Bedeutung), succumbo, suppouo, suscito; es
fehlen ferner superus, tellus, valde (validius ,, wirksamer" 2 mal in den
Ann.), vehementer, venustus (auch formosus), vestio , vitupero (5 mal
castigo), transporto (oft transfero, transmitto, transveho, selten traicio,
einmal transpono). — J^ur dem Dialogus gehören an: rhetor, ridiculus,
salto (tanze), sanguinans, sanus, schola, scholasticus, secedo, studeo
„studiere", Studiosus, studiose, sua spoute, subministro, subrideo, sub-
stantia facultatum , subtilis, supervacuus, suspicor, tametsi, temerarius,
teuer. — Vom psychologischen wie vom ästhetischen Gesichtspunkt aus
beachtenswert sind gewisse bei Tac. besonders häufige Beiwörter von fama
und rumor. — Als von Tacitus bevorzugte Wörter dürfen u. a. gelten:
remeo (dichterisch; 19 mal), repens (mehrfach = recens), repente. repen-
tinus (einmal, 15,4, 8, von Personen gebr.), subitus (33 mal, von Pers.
3 mal); reputo (fehlt bei Caes.) vertritt bei Tac, wiederholt die seltener
angewendeten W. considero, cogito, delibero, animo voluto u. a.; reve-
rentia, reus. robur (oft in milit. Bed., so bei Caes. nur b. c. III 87, 5),
rogito (rogare fast nur von amtlichen Anfragen und Anträgen), ruo
(fehlt bei Caes.), rumor. Sehr oft tritt saevitia auf, eng verschwistert
mit libido, licentia, superbia, luxus, luxuria, impudicitia, auch scelus und
74 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
seditio (Aufruhr, Meuterei, Krawall). Eine weitere Gruppe bilden socordia
(socors animus), inertia, ignavia, segnitia (nicht segnities), torpor; je
einmal steht torpedo und stultitia; 8 mal stuitus, 5 mal stolidus. Die
Wortsippe servus, servilis, servire, servitus, servitium (serva fehlt, dafür
ancilla, 9 mal) ist natürlich stark vertreten bei dem Autor, der sich
vorg-esetzt hat, die Geschichte der verg'ang-enen Knechtschaft zu
schreiben und die „Sklavenseelen" wie die Tyrannen (und gerade
tyrannus braucht Tac. nur einmal, 6, 6, 7, mit Anspielung auf eine
Stelle des Plato) zu brandmarken. Dem entspricht auch, daß simulare,
simulatio, suspicere, suspectare, suspicio, auch secretum in mannig-
fachster Verwendung in den Ann. besonders häufig vorkommen. Ferner
steht mancipium 15 mal, familia für servi 19 mal bei Tac, famulus fehlt.
Neben dem häufigen rursus und rursum (in den Ann. vorwiegend)
tritt iterum nur 6 mal auf, einmal (D. 17, 25) semel atque iterum. —
Sanguis steht oft raetonj^misch für Blutvergießen, Mord; Blutsverwandt-
schaft, Stamm, Abkömmling, Kind. Das „wenn* und ,,aber" spielt bei
Tac. eine große Rolle; sonach ist begreiflich, daß im Lexicon die um-
fänglich ausgeschriebenen Stellen mit „sed" nicht weniger als 24, die
Bedingungssätze mit ,si" 19 Spalten füllen. Die Häufigkeit der Kon-
struktion mit sive — sive, seu — seu und der Partikel vel (6 Sp.)
entspricht der psychologischen Motivierungsart des Tac. (Vgl. dazu die
Beobachtung Andresens in Jahresb. d. ph. V. 27 S. 321.) — Scrutor
hat bei T. 4 mal die eig. Bedeutung ,. durchwühlen", 8 mal „unter-
suchen", 8 mal ,,nach etw. forschen". Sedes steht oft für fines, terra,
patria, locus, loca, auch für ,, Mittelpunkt", ,,Herd" (des Kriegs),
,, Basis". — senectus (26 mal) findet sich in allen Schriften (außer D.),
senecta (26 mal) nur in Hist. und Ann. Sequor hat oft seine Stelle
am Satzanfang, um den Übergang zu vermitteln, ohne und mit Kon-
junktion (et, atque, que) oder Adverb. Die Stellen mit sermo füllen
4 Spalten. Sehr häufig und vielseitig ist die Verwendung der Zeit-
wörter trade, traho, tracto, turbo. — Die alliterierende Verbindung
silvae saltusque (A. 34, 6 und 2, 14. 6) mag als Hinweis dienen, daß
Tac. zur Schilderung des Schauplatzes der Kriegszüge des Agricola
und des Germanikus ,.die gleichen Farben auf der Palette" hatte. Ein
oft mißdeuteter Begriff ist sordes (4V2 Sp.), I 52,5; 60, 1 in Ver-
bindung mit avaritia als „schmutziger Geiz" aufgefaßt.
Zu den bei Tacitus nur vereinzelt vorkommenden, der klassischen
Prosa fremden, teilweise poeti'schen Wortbildungen gehören: regnatrix
(1, 4, 3), relatus (G. 3, 3), reluctor, revelo (G. 31, 5), relucesco, secundo,
sinuo, sonor, sanguinans, trausmeo (PlinJ, transmoveo, turbamentum
(Sali.), transgressus (Sali.), superventus (Pün.), transfugium (Liv.),
traiectus („Überfahrtstelle"), tabidus, temnendus, temptamentum, trucu-
Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.) 75
lentia, turpare. valescere, uligo (2 mal an charakteristischen Stellen),
traditio („Bericht", 16, 16, 12; anders Quintil.); supplicium = snppli-
catio (nach älterem Spr.gbr.), sellisternium, nach lectisternium gebildet,
trudis (Verg.), sellula (III 84, 17; das gewöhnlichere lecticula III 67, 8),
trenior terrae einmal für motus t. — Vor Tacitus in der Literatur,
wie es scheint, nicht nachweisbar sind u. a. sanctor (3, 26, 15), sub-
versor (3, 28, 3), subvectus „Zufuhr" (neben subvectio), sesquiplaga
(15. 67, 21), subsignanus (I 70, 22; IV 33, 7, von Stowasser falsch ge-
deutet) superstaguare (1, 79, 8), superurgere (2, 23, 18), venditalor,
vimentura, uniformis. Die „ignota antea vocabula" sellariorum et spin-
triarum (6, 1, 11) sind noch bei Sueton und Martial anzutreffen. Für
die militär. Bezeichnungen tertianus (i), septimani, tertiadecumani, vi-
cesimani, unetvicesimani, duoetvicesimaui finden sich Vorbilder bei
Plinius u. a.; auch tesserarius ist sicher keine Neubildung des Tac.
Seltene Wörter sind semifactus (Liv. 31, 46 u. auct. b. Afr. 83, 3),
supervolitare (Verg.), superstruere , subter (12, 63, 8), sacricola, sacri-
ficalis. —
Der Artikel res (17 Sp.) gibt zu vielen stilistischen Beobachtungen
Gelegenheit; hier sei nur erwähnt, daß res publica von fremden Ge-
meinwesen nicht gesagt wird, außer G. 13, 6. Vielfach variiert Tac.
der Form nach den Gegensatz von secundae (prosperae I 2, 5; III 18, 6)
und adversae res (A. 32, 4): inter secunda — rebus adversis (II 59, 19);
adversis — inter secunda (II 14, 17); adversarum rerum — in secundis
(III 77, 21); fortunam adversam — secundas res; sec. adversisque
(I 10, 2; IV 36, 4); secundis rebus suis — fortunae usf. — Öffent-
liche Zustände und Stimmungen zu schildern, bedient sich Tac. der
verschiedensten Verbindungen mit res: trepidae, turbidae (5 mal, das
Bild der trüben Flut), turbatae (4 mal), impulsae, motae, fractae, la-
bantes, fessae, perditae, maestae, incruentae, promptae, quietae, securae,
tranquillae res. —
Von scelus heißt es: „nou uisi id q. Verbrechen, Frevel", und
gleichsam zu genauerer Definition folgen die Zitate: 14, 62, 7 admissum
scelus — malorum facinorum, 11, 34, 4 o facinus, o scelus! u. a. m.
Jene Übersetzung deckt jedoch nicht an allen Stellen genau das, was
der Autor gemeint hat; so 4, 29, 7 scelere vaecors „vom Bewußtsein
seines Verbrechens" (Gewissen) gepeinigt. Dagegen ist scelus I 5, 7
offenbar auf den mißglückten verbrecherischen Streich des Nymphidius,
II 23, 22 auf den Kaisermord zu beziehen, und die Auslegung Schlüters
, Frevelmut, Tücke" ist unberechtigt. — sceptuchus (6, 33, 8), das sonst
in der ganzen Latinität nicht vorkommt, mag Tac. zur Bezeichnung
der sarmatlschen Häuptlinge ,mit einem leise spottenden Lächeln" an-
gewendet haben; ein moderner Schriftsteller hätte das Fremdwort ver-
76 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
mutlich in Gänsefüßchen gesetzt. Stowasser übersetzt sceptuchi ver-
kehrterweise „Hofmarschälle", wobei er offenbar an die persischen
Hofeunuchen Xenophons gedacht hat.
Unter scire „c. acc." bringt Gr. auch die Stelle G. 34, 2 de
actis deorum credere quam scire, fügt jedoch hinzu: Sed fortasse ,, scire
de". Diese letztere Auffassung ist m. E. die unzweifelhaft richtige;
vgl. Cic. p. Sulla 13, 39 de ceteris rebus sciebat . . . cum is, qui de
Omnibus scierit, de Sulla se scire negavit. — Bei secretum unterscheidet
Gr. eine abstrakte und eine konkrete Bedeutung; jedenfalls aber ge-
hören nicht unter verschiedene Rubriken die Beispiele 4, 57, 12 Khodi
secreto (dans sa retraite de Rh.) vitare coetus, I 10, 5 secretum Asiae,
III 63, 10 secreta Campaniae offerre Vitellio. — Die Bed. „geheimer
Verkehr" liegt 13, 18, 7 crebra cum amicis secreta habere, und IV, 49, 5
secreto eorum nemo adfuit gleichermaßen vor wie 15, 50, 8 Natalis
particeps ad omne secretum Pisoni erat, und I 22, 9 multos secreta
Poppaeae mathematicos habuerant. Der geheime Verkehr erfolgte wohl
meistens im ,, Boudoir" oder im geheimen Kabinett der Poppäa. Diese
Zusammenstellung spricht auch für die von Nipperdey-Andresen ver-
tretene Auffassung von 13, 12, 6 ambigua secreta = „vei'dächtige Zu-
sammenkünfte", nicht: zweideutige Heimlichkeiten über andere Persouen,
wie Gr. will. Böttichers Umschreibung : occultarum voluptatum societas
genügt nicht. G. 19, 3 litterarum secreta bedeutet nach Gr. „geheimer
Briefwechsel".
Zu den üblichen Umschreibungen von puer, puella, mulier gehören
außer den mit pueritia, puerilis, puellaris gebildeten Wendungen auch
die mit sexus: aetate aut sexu imbecilli, quod irabecillum aetate et sexu,
imbecillus et impar laboribus sexus, s. natura invalidus, imbellis s.,
imbellis s. aut fessa aetas; ferner virilis sexus stirps, duos virilis sexus
simul enisa est.
Simul und simul atque (ac) kommt als unterordnende Konjunktion
bei Tac. nicht vor, um so reicher ist die Abwechselung im Gebrauch
von simul zu korrelativer Wort- und Satzverbindung, auch mit et s.,
ac s., s.-que, s. et; s. . . et, s. . . que, s. ac, s. atque, s. . . atque,
simul . , simul. Dichterisch und nachklassisch steht s. als Präposition
mit Abi. dreimal in den Annalen: 3, 64, 9 septemviris s. et sodalibus
Aug., 4, 55, 8; 6, 9. 11.
Sistere wendet Tac. ziemlich oft in übertragener und prägnanter
Bedeutung an: ignem. sanguinem bellum, populationem, fugam s., so daß
auch die I 58, 12 überlieferte La statis odiis annehmbar wäre, wenn
sich nur Status = sedatus, compositus irgendwo sonst nachweisen ließe
und nicht vielmehr durchweg im Sinne von ,, feststehend", „regelmäßig"
gebraucht würde. Das ursprüngliche sedatis kann durch einen Sprech-
Bericht über die Tacitusliteratur 189G— 1903. (Wolff.) 77
oder Hörfehler zu statis entstellt worden sein. — I 35, 9 corpore sistens
ist hingegen vollkommen richtig, und des Faernus billige Konjektur
corpore, resistens, schon aus Gründen der Euphonie (vgl. unten Noväk)
abzulehnen. Hinsichtlich der Bedeutung „sich aufrechthalten", , .stand-
halten" (to stand) vgl. Heraeus zu I 35, 9 und Weißenborn-Müller zu
Liv. II 29, 8. — sinus ist oft mißdeutet worden. II 92, 18 per occaltos
aut ambitiosos sinus (vgl. A. 30, 12) erklärt Gr. zutreffend: „in heim-
lichen Verstecken oder bei hohen Gönnern". Hätte Tac. mit occ. s.
die Säckel niedriger, „obskurer" Leute gemeint, so bliebe unverständ-
lich, warum er dann nicht lieber obscuros geschrieben haben sollte. —
III 38, 19 in urbe ac sinu, nach Heraeus u. a. „im Schöße der Haupt-
stadt", wofür Sali. Cat. 52, 35 sprechen könnte: in sinu urbis sunt
bestes. Doch dürfte im Hinblick auf domesticus hostis (I 27, 2) rich-
tiger übersetzt werden: ,,in der Hauptstadt und zwar in seiner nächsten
Umgebung". — species wird je nach dem Zusammenhang überaus
mannigfach wiedergegeben: Anblick, Aussehen, äußere Gestalt, Er-
scheinung, Bild; prägnant: großartige (imponierende, eindrucksvolle)
Erscheinung, Traumbild, Glanz, Gepränge, Schönheit; als philosophisches
Fachwort: Form, Art, Begriff, Ideal, Musterbild (= specimen, das 2 mal
in diesem Sinne vorkommt); ferner: Schein. Anschein, Vorwand. —
speciosus, schönklingend, bestechend, glänzend, vom äußeren Schein im
Gegensatz zum inneren Gehalt (Hör. ep. I 16, 45 speciosa nomina);
dämm ist die Gegenüberstellung A. 44, 11 speciosae — nimiae schwer
zu begreifen. — Unter spes wird Andresens Deutung von 14, 15, 19
(procaces . . in spem potentiae) erwähnt, die jedoch kaum haltbar ist.
Die gewöhnlich vorgezogene Beziehung von in spem auf conscripti sunt
wird wahrscheinlicher durch IV 46, 3 lectus in eandem spem (sc. prae-
toriae miütiae) e legionibus miles ... — Im Artikel statim sind zwei
gleichartige Stellen: D. 28, 11 quae natos st. excipiunt, und A. 4, 11
quod St. parvulus „gleich als Kind" (auch 13, 3, 17 puerilibus st,
annis) unter verschiedenen Eubriken aufgeführt. Eine besondere Hervor-
hebung gebührte wohl der Breviloquenz D. 18, 16 nee statim deterius
esse . . . „darum nicht gleich" d. h. man braucht nicht gleich (vor-
eilig) anzunehmen, daß . . — statuere tritt häufig ein für instituere
(asyla st.), constituere, decernere; euphemistisch vom Selbstmord: de se
statuere (vgl. 6, 26, 2 morieudi consilium cepit). — strenuus läßt an
sich wohl keine Deutung ,,in malam partem" zu, wie sie Gr. für zwei
Stellen annimmt: III 57, 5 neque fidei constans neque str. in perfidia;
I 52, 12 sicut modesti quietique ita mali et strenui. Eine gute Eigen-
schaft wie die Tatkraft (Gegensatz inertia und quies) kann übel an-
gewendet werden, in ihrem Ziele sich vergreifen, auch auf selten der Bösen
sein (wie im letzteren Beispiel); die Grundbedeutung bleibt doch dieselbe.
78 Bericht über die Tacitusliteratur 189G— 1903. (Wolff.)
D. 12, 3 liest Gr. non in strepitu nee . ., lehnt also Schopens
Eniendation in str. urbis ab; allerdings läßt sich nicht behaupten, daß,
trotz der deutlichen Bezugnahme auf 9 a. E., gerade urbis ergänzt
werden müßte. Irgend ein Attribut zu strepitu indessen scheint mir,
auch um des Satzrhj^thmus willen, durchaus erforderlich. Wie man sich,
um hier das attributlose strepitu zu Verteidiger, auf Horaz (ep. II 2, 79
Tu me inter strepitus nocturnos atque diurnos vis canere) hat berufen
können, verstehe ich nicht. Paläographisch leicht erklärlich wäre
eine Textverderbnis aus in isto strepitu (in Eurem Großstadtlärm), das
dem Sinne nach also auf dasselbe hinauskäme wie Schopens La.»
Studium „wissenschaftliche Tätigkeit", „Lieblingsbeschäftigung"; hier-
von wird, wie von cura und labor, die weitere Bedeutung „Werk",
„Leistung" abgeleitet; in ganz besonderem Sinne 16, 4, 7 omnia studia
sua publicaret, von Neros musikalischen Kompositionen, ,, Etüden". —
III 21, 2 Progressi equites sub ipsa moenia vagos e Cremoneusibus
corripiunt; die Ortsbestimmung wird am natürlichsten zu progressi ge-
zogen, deshalb ist nicht zu vergleichen V 1 1 , 2 sub ipsos muros struxere
aciem „dicht unter den Mauern hin". Für diese Stelle lehnt übrigens
Gr. die Konjektur Ph. Wagners sub ipso muro ab, hinzufügend, daß
sub monte, sub moenibus etc. bei Tac. nicht vorkomme. IV 48, 4 liest
Gr. gleich Meiser nach M: sub Divo Augusto Tiberioque principibus. —
Das transitive suesco (wie adsuesco G. 4, 8) gehört der Dichtersprache
an; mit dem Neutrum des Fürworts als Objekt steht es bei Cicero,
fam. XY 8 a te id, quod suesti, peto. — 2, 52, 11 disciplinae et im-
periis suesceret; Nipperdey hält das überlieferte disciplina fest; denn
,,der Abi. bei adsuesco und adsuefacio ist nicht ungewöhnlich" (so bei
Liv.); bei Tac. allerdings findet er sich, soweit Dativ- und Ablativ-
formen zu unterscheiden sind, nirgends. —
Die Wendung V 11, 6 crebra pro portis proelia serebant
(„lieferten eine Eeihe von Gefechten") gehört m. E. nicht zu sero
„säen", sondern zu sero „anknüpfen", wie der Sprachgebrauch nament-
lich des Sallust und Livius zeigt. Die Ausdrucksweise II 86, 10 serendae
invidiae beruht doch auf einer ganz anderen Anschauung. — An manchen
Stellen haben Kritiker auf Vermutung hin dem Text des Tac. unnötiger-
weise ein Eeflexivpronomen einverleibt. Besonders töricht war Ritters
Konjektur zu I 10, 8 quotiens <se> expedierat, als ob hier derselbe
Fall vorläge wie 14, 36, 11 und 14, 8, 8 ad gratandum sese expedire
„sich in Bereitschaft setzen". Zu vergleichen ist vielmehr I 88, 5 und
II 99, 2 expedire ad bellum „ausrücken", „zu Felde ziehen". — Dieses
absolut gebrauchte expedire gehört eben zu den vielen, in der Schrift-
sprache natürlich selten gebrauchten, technischen Termini, wie auch das
bloße derigere neben se d. (u. aciem d.). IV 58, 30 legiones contra
Bericht über die Tacitusliteratur 1 896 -1903. (Wolff.) 79
derexerint haben deshalb Meiser u. Heraeus mit Recht als korrekte La
festgehalten (vgl. Liv. 37, 23, 10). Auch die forensische Sprache hat
ihre kurzen Fachausdrucke, wie excusare neben se excusare und excusari,
weshalb D. 5, 3 nichts zu ändern ist. Übrigens scheint die (paläographisch
leicht zu rechtfertigende) Einschaltung eines se auch in folgenden Fällen
unnötig zu sein: 1, 35, 13 proniptos ostentavere, 4, 59, 17 ut erectum et
fidentem aninii ostende r et, 5, 5,6 paratos ad ultionem... testarentur, viel-
leicht selbst 14, 2, 4 offerret saepius temulento comptam et incesto paratara.
Für nicht notwendig erklärt Gr. die Änderung Andresens 4, 3, 16
assumitur in conscientiam; mir scheint sie im Hinblick auf die Ver-
bindungen A, 13, 12 adsumpto in partem, 3, 44, 2 ads. in societatem
und vor allem natürlich 13, 12, 2 ads. in conscientiam höchst probabel. —
super, nicht supra, wie Wölfflin wollte, ist zu lesen 11148, 11 s. vota
fluentibus; auch 11, 38, 12 super Pallantem . . . ageret. Dagegen muß
D. 18, 21 supra gegen Halm, dem Gudeman und Wolff gefolgt sind,
wiederhergestellt werden, wie Andresen gezeigt hat (Progr. 1892 S. 8).
superbus ,,non nisi in malam partem" scheint mir zu viel gesagt,
wenigstens war die „stolze Aufschrift" 2, 22, 2 vom römischen Stand-
punkt aus nicht tadelnswert (man beachte: de se nihil addidit). Auch
der Stolz Agrippinas auf ihre Fruchtbarkeit (4, 12, 13 superbam fecundi-
tate A.) galt wohl nicht als frevelhafte Überhebnng. — Der singulare
Komparativ superius (memoravimus) V 19, 14 ist im Anbetracht des
gewöhnlichen Sprachgebrauchs nicht unbedenklich.
Ein kleines Kapitel zur Quellenbenutzung seitens des Tac. bietet
sich (S. 1658 b, 1659) unter trade ,,cum similibus": schriftlich über-
liefern, berichten, angeben. Beachtenswert ist dabei, daß neben zahl-
losen Formen wie prodidere, tradidere sich nur einmal tradiderunt
findet (2, 17, 17^. — Ein von Tac. in allen möglichen Bedeutungen
bevorzugtes "W. ist traho; zweifelhaft seine Auslegung 15, 1, 16 proxima
trahi; — für die Bed. „geplündert, verheert werden" lassen sich an-
führen II 61, 6 Aeduorum pagos trahi, und 3, 74, 6 pagi impune
traherentur; die Auffassung Drägers, Eoths, Kuauts u. a. ,, werde nach-
gezogen, folge nach" (ohne eine Zielangabe, wie in partes, in causam)
paßt minder gut in den Zusammenhang.
Die im Lex. (S. 1580 b) abgelehnte Textänderung 16, 14, 12
earaque causam multis exitii (M exitio) esse hat Andresen seitdem (in
Jahresb. 26 S. 250) eingehend und in übei'zeugender Weise gerecht-
fertigt. — Mit Eecht wird dagegen Halms Konjektur 14, 13, 1 tamen
cunctari als verfehlt zu betrachten sein, weil tamen bei Tac. überhaupt
nie am Anfang eines neuen Satzes steht. — IV 81, 3 oculorum tabes
ist im wesentlichen gleichbedeutend mit dem zweimal folgenden caecitas.
Der Umstand, daß der Unglückliche, wie tabes anzudeuten scheint, all-
80 Bericht über die Tacitusliteratar 1896—1903. (Wolfif.)
mählich blind geworden war, läßt übrigens die im Lex. gegebene Über-
setzung „Hinschwinden des Augenlichts, Augenleiden" darum keineswegs
als völlig angemessenerscheinen. — Nicht ganz gleichartigsind die (S. 1628a)
zusammengestellten Akkusative tantum: D. 13, 17 t. posse, III 57, 1 t.
valet und D. 24, 13 t. recesserimus. — Mit 2, 40, 10 haereutia corpori
tegmina sind schwerlich „Schilde" gemeint, vielmehr Harnische (une
armure serree contre le corps) und Helme; 12, 35, 14 loricarum
galearumve tegmina; 2, 21, 11. — Unzutrefiend ist (S. 1629b) D. 23,
27 tardare wiedergegeben mit ,, trüben" statt: zurückhalten, nicht zum
vollen Ausdruck kommen lassen. — In dem Artikel tempere gibt das
Lex. die Nuancen des Begriffs durch 12 verschiedene Wendungen
wieder, tepor bezeichnet bei Tac. im eig. (III 32, 7) und uneig.
Sinne (D. 21, 27) den negativen Begriff der „Lauheit" (wo Wärme
verlangt wird). — Für teuere (S. 1642a) scheint 4, 67, 13 (Graecos ea
tenuisse sq.) nur die eine Auslegung annehmbar zu sein, „diese Gegenden
innegehabt haben". — Im Art. terror verstehe ich nicht, weshalb
unter der Rubrik ß, c. gen. obi. aufgeführt sind IV 76, 2 quarum
terrore ,, Schrecken, den sie verbreiten würden," 4, 24, 6 t. nominis
Rom., 13, 48, 8 cuius (cohortis) terrore neben 1, 21, 3 ad t. ceterorura
i. q. ad ceteros terrendos. Hier waren die Beispiele zweckmäßiger zu
ordnen. — togatus wird I 38, 9 am besten weder durch „friedlich"
noch durch das selbstverständliche ,, ungepanzert" wiedergegeben, sondern
einfach durch ,,in der Toga".
Die Betrachtung der unter tot und totiens zusammengestellten
Wendungen legt den Gedanken nahe, in diesem oder jenem Falle, soweit
es möglich ist, festzustellen, welche wirklichen Verhältnisse solchen meist
rhetorisch übertreibenden allgemeinen Zahlbegriffen zugrunde liegen
dürften. Als charakteristisch hebe ich 2 Stellen hervor, wo der tat-
sächliche Kern eines hyperbolischen tot nachweisbar bis zur Dreizahl
zusammenschrumpft. Drusus spricht (3, 34, 31) von seiner Frau Li via
als „tot communium liberorum parente", und doch war die Zahl ihrer
Kinder bekanntlich nicht größer als die der Triumphe des Tiberius,
von denen es 3, 47, 4 entsprechend heißt : post tot receptos in iuventa
triumphos. Nicht viel weniger freigebig verfährt die Rhetorik mit
diesen Quantitätsbegriffen auch an andern Stellen, wie II 39, 9 tot
circum amnibus; 1, 46, 9 Aug. totiens commeare in Germaniam potuisse;
3, 73, 7 Spartaco post tot consularium exercituum clades; zu 2, 37, 15
en stirps et progenies tot consulum, tot dictatorum bemerkt Lipsius
ärgerlich: Vaniloqua hominis oratio et falsa: ubinam isti tot consules,
tot dictatores? Gerte ego in Hortensia gente uuum dict. reperio et
cons. unum. — Vgl. ferner IV 76, 21; 34, 31 (corrupta totiens victoria);
72, 8; III 38, 17; 2, 71, 11 u. ö. —
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (WolfiF.) gl
II 14, 2 trepidi nuntii i. q. „Eilboten". Warum nicht, wie in
den gleichartigen Verbindungen I 39, 12; 50, 1; IV 18, 6, „Schreckens-
boten" (bei denen sich meistens die Eile von selbst versteht)? — Unter
tres (S. 1668a) sollte die gute La des Toletanus A. 36, 4 quattuor
Bat. coliortes, statt des vor oder hinter cohortes eingeschobenen tres,
Erwähnung gefunden haben. — D. 31, 18 apud tristes i. q. „nieder-
geschlagen". Dies dürfte kaum die angemessene Schattierung innerhalb
der doch wohl beabsichtigten Gradatio descendens von Stimmungen und
Gesinnungen abgeben, besser ,, mürrisch" oder ,, unfreundlich". — Der
Ausdi'. 11, 21, 13 tristi adulatione hat recht wunderliche Deutungen
erfahren: „unheilbringend", ,, erbärmlich", „widerlich" usf., und doch
ist dies nicht die einzige Stelle, wo Tac, der Menschenkenner, jene
besondere Art „studierter" Kriecherei (meditatae adulationis 6, 3, 9)
kennzeichnet. Man verfolge nur z. B., wie Valerius Messala zu
schmeicheln versteht ,,vel cum periculo offensionis" (1. 8, 18 f.). Auch
Curtius ßufus war eben ,,ein Schmeichler mit ernstem Gesicht" (Nipp.)
oder gar mit bärbeißiger, sauertöpfischer Miene, nur des besseren Ein-
drucks wegen , eine Persönlichkeit wie sie ähnlich Goethe (auch ein
„altius coniectans") in den Xenien (53 und 54) geschildert hat:
„Ist das Knie nur geschmeidig, so darf die Zunge schon lästern.
Was darf der nicht begehn, der sich zu kriechen nicht schämt.
Was du mit Beißen verbrochen, das bringst du mit Schmeicheln
ins Gleiche;
Recht so! Auf hündische Art zahlst du die hündische Schuld."
Ubi verbindet Tac. mit den verschiedensten Zeitformen und in
allen möglichen Kombinationen, immer der Art des Vorgangs wohl an-
gepaßt. Ob dies auch 12, 54, 4 der Fall sei, ubi quati Uterus et
viscera vibrantur, orare ut . . bezweifelt John nicht ohne Grund
(beachte: festinatione continua . . . primo . . . postremo . . .) und schlägt
(S. 1691b) vor, vibrabantur herzustellen (unter vibro ist die Emendation
bereits aufgenommen), womit zu vergleichen ist: III 10, 17; 2, 4, 9;
auch 3, 26, 6; III 31, 9. — Nicht überzeugend ist Johns Änderung
(S. 1694a) D. 18, 6 utinam ne in ulla parte, die dem überlieferten
utinam nulla gegenüber sich recht schwerfällig ausnimmt. S. 1729 b
(unter utinam) ist dieser Vorschlag übrigens nicht erwähnt worden. —
Unter unicus weist J. zustimmend auf Andresens Vermutung hin, daß
4, 11, 7 filium hinter unicum ausgefallen sein möge. — IV 81, 12
famam vanitatis metuere. Die gewöhnliche (?) Übersetzung „Miß-
erfolg" verwirft J. mit Recht; er faßt vanitatis = temere quaesitae
gloriae, also etwa ,, eitle Vermessenheit". — S. 1738a wird auf Kobi-
linskis (Jahresb. XXVI 139) Auslegung von G. 6, 11 equi . . . nee
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXI. (1904. II.) 6
82 Bericht über die Tacitusliteratiir 189G-1903. (Wolfi.)
variare gyros sq. verwiesen. Dieser hat sich nachher, Jahresb. XXVII
190 f., korrigiert, ohne jedoch mehr Klarheit in die kavalleristische
Streitfrage bringen zu können.
Das kleine "Wörtchen ve hat in den Hss, auch des Tac, manche
Irrungen verursacht; besonders häufig und begreiflicherweise nicht leicht
zu berichtigen sind die Vervi-echselungen mit que. A. 33, 15 hat Gude-
man die Vermutung Urlichs' aufgenommen paludes montesque et flumina.
Die Disjunktivpartikel scheint in der Tat nicht recht angebracht.
Anders steht es G. 4, 8 caelo solove, wo die besondere Beziehung
(man braucht darum nicht gerade ve durch das papierne „beziehungs-
weise" zu übersetzen) von caelo auf frigora, von solo auf inediam
scharf betont wird. — II 75, 6 kann die La unus alter ve (Wurm,
Halm) als sicher betrachtet werden. S. auch John, Einl. z. Dialogus-
ausg. S. 20. — A. 12, 6 hat Guderaan mit cod. A. u. Toi. duabus
tribusque geschrieben, was nicht zu billigen ist. — Wie sehr die
Frequeutativbedeutung von ventitare abgeschwächt ist, zeigt die Ver-
bindung crebro ventitare 12, 3, 2 und 15, 52, 3. — Die Tacitushss bieten
zweimal die Ablativform veteri: 1, 60, 3 veteri ap. Rom. auctoiitate
und D. 24, 10 more veteri. Im Lexicon hat John beidemale vetere den
Yorzug gegeben, während er in seiner Dialogusausgabe, wie die meisten
Herausgeber, veteri beibehalten hat und zwar, was ich nicht recht
nachempfinden kann, „des Wohllauts wegen". — In betreff der kontro-
versen Stelle V 4, 18 hat John eine von Gi'eef abweichende, doch nicht
gerade die richtigere Auffassung zur Geltung gebracht. Unter „septe-
ni" ist zitiert: pl. cael. vim suam et cursus septenos [Halm; M Meiser
septimos] per cursus (Hes: numeros) (complent); im Art. via dagegen:
pl. cael. vi am [Bezzenberger ; M vim] suam et cursnm septenos per
numeros commeare [M; Halm, al. vim . . . compleant]. — Ansprechend
ist J.s Vermutung zu IV 47, 1 verane pauperie au uti videretur [malim
„ut ita videretur"]. — Daß II 78, 8 cupressus procera et latior
[Triller laetior] virebat die echte La sei, scheint mir höchst zweifelhaft.
Selbst wenn der Schriftsteller mit eigenen Augen nie eine Zypresse ge-
sehen hätte, würde er sich gescheut haben, demselben Gegenstande
zwei 80 entgegengesetzte Eigenschaften beizulegen. — IV 48, 10
(S. 1784b) legatorum vis [M ins corr. ex vis] adolevit. Nach Andresens
Angaben (Progr. 1900 S. 12) scheint doch ins ursprüngliche und bessere
La zu sein. S. 1785a wird im Art. vis die Stelle D. 26, 18 plus vis
habeat quam sanguinis nur in eckigen Klammern angeführt, denn J.
verwirft, wie die meisten Herausgeber, den Gen. vis. — 16, 18, 2
nox officiis et oblectamentis vitae transigebatur (Petronio). Dazu be-
merkt John: Vulgo „vitae" nou ad officiis trahitur; so von Greef, der
(S. 1016b) officia durch „Aufwartungen", „Besuche" wiedergibt.
Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (WolfiF.) 83
Nipperdey: Höflichkeitsbeweise, Empfänge, Visiten. Mit dieser engeren
Bedeutung des W. läßt sich indessen eine ungezwungene, natürliche Er-
klärung der Stelle nicht vereinigen. Pflichtmäßige oder auch Höflich-
keitsbesuche können nicht wohl beliebig in die Nachtzeit verlegt werden;
, .Empfänge" im eigenen Hause aber, zu denen der .,arbiter elegantiarum"
gewiß auch NachtgSste genug haben konnte, nannte man nicht „officia".
Petronins gehörte eben zu den von Seneca gemeinten Lebemännern ,,qui
officia lucis uoctisque perverterint" (ep. 122, 2); er verschlief den Tag
nnd „lebte" bei Nacht seinen pflichtmäßigen Verrichtungen und den Ver-
gnügungen, diesen vermutlich mit mehr Hingebung als jenen: ein rechter
Gegensatz zu einem Helvidius Priscus, von dem es bei Tac. (IV 5, 13)
heißt: cunctis vitae officiis aequabilis. — Greef war geneigt, G. 31, 13
der La cultu (Aussehen) den Vorzug zu geben (s. S. 808 a und 848 a),
John ist anderer Meinung und hat im Art. vultus die Stelle dem-
gemäß zitiert, wobei er sich allerdings in Übereinstimmung mit MüUen-
hoff befindet, ob auf dem rechten Wege, möchte ich bezweifeln.
Der A^ollständigkeit halber bringt das Lexicon in Klammern
einige Wörter, die, fehlerhafter Überlieferung oder gelehrter, aber ver-
kehrter Vermutung entsprungen, kein Recht auf Anerkennung haben:
repetitus 14, 6, 14, rullus D. 21, 17, sustentaculum II 28, 10, traditor
IV 24, 13, uls 12, 56, 4. — Die peinliche Sorgfalt der Bearbeiter läßt
sich bis ins kleinste verfolgen; so wird in einer Spalte nicht weniger
als 13 mal (z. ß. durch ,,cf. supra p. 1099b") auf Rubriken zurück-
verwiesen, unter denen, von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachtet,
dieselbe Stelle zu finden ist. Preilich genügt ein bloßes „supra", wie
es mehrfach vorkommt, nicht zu rascher Orientierung. Beispielsweise
ist S. 1391b hinter 11, 10, 17 turbatae sunt Parthorum res bemerkt
„cf. supra", womit S. 1390b Z. 20 v. u. gemeint ist. Mitunter hat
eine allzuweitgehende Gliederung, nach zufälligen Merkmalen, die
Arbeit unnötig kompliziert, wenn z. B. die Stellen, wo remittere mit
oder ohne Angabe der Ortsrichtung gebraucht ist, besonders rubriziert
werden: a) propr. i. q. zurückschicken, a) I 8, 16 dux deerat abducto
Vergiuio . . ., quem non remitti . . . crimen accipiebant; 74, 12 legati
apud Vit. remansere . . . praetoriani remissi sunt usw'. ß) III 66, 5
remitti eos (quartadecumanos) in Britanniam placuit. —
Wenn ich den Schlußheften des Lex. Tac. besondere Aufmerk-
samkeit gewidmet und zahlreiche Einzelbemerkungen daran geknüpft
habe, so hoffe ich darum nicht den Vorwurf unnützer Breite zu ver-
dienen. Das in seiner Art einzig dastehende Werk ist ja längst vor
seiner Vollendung allseits gebührend anerkannt und mit Gewinn ver-
wertet worden. Sein genaues Studium läßt aber zugleich erkennen,
wie weit wir noch immer von einer erschöpfenden , stichhaltigen Inter-
6*
84 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
pretation, geschweige denn von einer guten und geschmackvollen Über-
setzung des Tacitus entfernt sind. Wertvolle Beiträge gibt Andresen,
JB. 24, 325; 27, 248 ff.; 28, 306 if. ; 29, 239 ff. —
25. Philippus Fabia, Onomasticon Taciteum. Paris
1900, A. Fontemoing. 772 S. 8.
Noch war der mühevolle, solide Bau des Lexicon Taciteum nicht
vollständig unter Dach und Fach gebracht, als er bereits einen er-
gänzenden und höchst erv^'ünschten Anbau erhielt, in elegantem
französischem Stile ausgeführt. Das Onomasticon Taciteum, ein zur
Sammlung der ,,annales de l'universite de Lyon" gehöriges, splendid aus-
gestattetes Buch, knüpft an die wertvollen Vorarbeiten R. Mackes über
die römischen Eigennamen bei Tacitus (Progr. Hadersleben 1886, 1888,
1889, 1893) an und bringt 'Unter fleißiger Benutzung der wichtigsten
Sammelwerke, namentlich der Prosopographia imp. Rom., in alpha-
betischer Ordnung ein Verzeichnis sämtlicher bei Tacitns vorkommen-
den (subst. und adjekt.) Xamen von Personen und Örtlichkeiten, der-
art, daß die einzelnen Passus in genauem Wortlaut und einem für das
Verständnis des Zusammenhangs hinreichenden Umfang mitgeteilt
werden. Unter dem Text sind wiederholt auch solche Stellen abge-
druckt, wo der Schriftsteller bestimmte Personen im Sinne gehabt hat,
ohne doch ihre Namen zu erwähnen. Als bestimmend für die alpha-
betische Reihenfolge dienen bei den Römern die Geschlechtsnamen, in
zweiter Linie Vor- und Beinamen; wo bei Tac. der Gentilname einer
Persönlichkeit überhaupt nicht genannt ist, findet man diese unter der
Rubrik des Beinamens. Nur die Kaiser und Kaiserinnen sind unter
der bei dem Schriftsteller üblichen Benennung aufgeführt; unter Livia
sind auch alle Stellen angegeben, wo diese als Kaiserin-Mutter Augusta
oder Julia Augusta bezeichnet wird.
Die Zuverlässigkeit des „Onomasticon" ist von allen Seiten lobend
anerkannt worden. K. Niemeyer (B. Ph. Woch. 1901 Nr. 15) hat z. B.
behufs einer Stichprobe sämtliche Eigennamen des 11. Buches kontrolliert
und bei Fabia nur vermißt: im Art. Claudius (S. 201, 1 v. u.) die
Stelle 11, 28; unter Phraates (S. 534, 18) 11, 10. — 0. Andresen
(Jahresber. 27, S. 328—34) bringt viele Nachträge aus den Hand-
schriften, konstatiert aber die Genauigkeit und Vollständigkeit des
Lexikons ausdrücklich durch eine besondere Vergleichung mit dem bis
dahin als vollständigstes geltenden Namenverzeichnis, das E. Klebs
s. Z. zu Nipperdeys Textausgabe angefertigt hatte.
In bezug auf die Schreibung der Namen hält F. an der be-
glaubigten Überlieferung grundsätzlich aufs genaueste fest; gewissenhaft
notiert er abweichende (durch einen Stern als unsicher kenntlich ge-
Bericht über die Tacitusliteratur 189(1 — 1903. (Wolff.) 85
machte) Lesarten, mögen sie nun auf irgendwelchen Urkunden oder ge-
lehrten Vermutungen beruhen. Die ununterbrochen zunehmende Be-
reicherung der Inschriften-, Münzen- und Handschriftenkunde wirdjauch
in liieser Hinsicht noch manche Berichtigung bringen. Zunächst|hat
Andresen a. a. 0. auf Grund neuester Untersuchungen folgende Punkte
als der Verbesserung bedürftig erwähnt: Statt Vulcatius, Hilarias"
Decius Samnis, Vaticanus sei zu schreiben Vulcacius, Hilarus (Andr.
Progr. 1900 S. 9), Decidius Samnis, Vaticanum (Neutr.). Tac. er^
wähnt 4 Angehörige der Gens Volcatia, wie man früher allgemein
schrieb. Die Hss schwanken zwischen Volcatius, Vulcatius (so Fabia),
Volcacius u. Vulcacius, doch dürfen, scheint es, die beiden letzten
Schreibarten als die auch durch Inschriften und durch die entsprechende
griechische Namensform am besten beglaubigten gelten. Ob aber nun
Vulcacius oder Volcacius, wie Heraeus IV 9, 6 hat, den Vorzug ver-
dient, ist nicht leicht zu entscheiden. Bei Caesar b. g. VI 29, 4 bieten
die Hss BC und die meisten Herausgeber, auch Meusel, die Form C.
Volcacium Tullum. — Vulcacius Tullinus (16, 8) und Vulcacius Tertullinus
(IV 9) werden in der Prosopographie mit Recht identifiziert; eine
Textverderbnis liegt ziemlich sicher an der zweiten Stelle vor. — D. 21
hat John Decidio Samnite statt Decio S. in den Text gesetzt, weil ein
Decius Samnis sonst nirgends vorzukommen scheine. Die Emendation
stützt sich auf Cicero p. Cluentio 161, wo die Hss Decitio und Decidio
bieten. — Welches Substantiv zu Vaticanus (II 93) zu ergänzen sei,
sagt F. nicht. Der Zusammenhang der Stelle spräche eher für ager
oder campus als für mons oder collis, wenn wir nicht lieber mit
Andresen, der auf Elter (Rh. Mus. 1891 S. 112) hinweist, das subst.
Neutrum Vaticanum voraussetzen woUen. Ich möchte fast vermuten,
daß Tac. auch Aventinum (wie Liv. 1, 33, 2 und 5; 3, 67, 11) so ge-
braucht hat, obwohl die 3 Stellen, wo dieser Hügel oder Stadtteil er-
wähnt wird, nicht erkennen lassen, welches die Nominativform ist. Sonst
heißt es bei ihm stets Palatinus mons, Capitolinus mons, Capitolina arx,
moDS Caelius (III 51 Janiculum). — II 65 ist Hilarus (der Name fehlt
in der Prosopographie) zu lesen (nicht Hilarins), wie 13, 32 Lurius
Varus, da beidemale die erste Hand des Med. verbessert hat. Aus
Andresens neuesten textkritischen Beobachtungen (W. f. kl. Ph. 1902,
Nr. 26 ff.) ergibt sich ferner, daß die Stelle 16, 23 unter Illyricum ein-
zureihen ist, da ursprünglich supplendis Illyrici, nicht Illyricis, legionibus
im Med. geschrieben steht. — 3,67 hat des Schreibers Hand die richtige Form
Paconium an den Rand gesetzt, so daß die La ragonium nicht ernstlich in
Frage kommt. — III 77, wie IV 3, ist der auch durch Inschriften be-
stätigte Name Vergilius Capito, nicht Verginius C, handschriftlich über-
liefert, was Andresen (Jahresber. 27, S. 331/32) berichtigend nachträgt^
86 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
Die Frage, ob der 12, 49 als Legionslegat, 13,28 als Volkstribun
genannte Helvidius Priscus dieselbe Person mit dem berühmten Eidam
des Thrasea sein könne, wird von Fabia wie von den meisten Erklärern
verneint, hauptsächlich wegen der Notiz des Scholiasten zu Juvenal
(5, 36), daß H. Pr. unter Nero Quästor von Achaia gewesen. Obgleich
die Prosopographie zahlreiche Helvidii Prisci aus Inschriften nachweist,
wird darin die Identität jener Personen angenommen (auch von Willems,
le sönat Romain). — iV 45 steht die Namensform Manlius Patruitus
nicht ganz fest. Lipsius vermutete Patruinus; in der Prosopographie
heißt es, wie F. anmerkt, vielleicht sei Matidius st. Manlius zu lesen,
so daß hier der 78 n. Chr. gestorbene C. Salonius Matidius Patruinus
gemeint wäre: so denkt auch Willems a. a. 0. S. 69 und 107. — F.
glaubt, wie de Vit und Nipperdey, nicht an die von der Prosopographie
(238) und von Willems (S. 20) behauptete Identität des Konsuls L.
Calpuruius Piso (13,28; 13,31; 15,18) des J. 57 mit dem Prokousul
gl. Namens des Jahres 69 (IV 38: 49. 50). Und doch stehen dieser
Annahme m. E. keine triftigen Gründe im Wege.
IV 44 sollte unbedenklich gelesen werden: Pontiam Postum in am,
worauf einerseits die deutlichen Schriftzüge der Hs, anderseits die von
W. Heraeus erwähnten Analogien Terentia Postumina und Valeria
Postumina hinführen. — Der IV 7 mit Thrasea und Soranus zusammen
genannte Sentius, mit welchem (unter Nero) die Familie erlosch, war
wohl sicher, wie Willems S. 117 annimmt, Sohn des Konsuls 4 n. Chr.
Cn. Sentius Saturninus, (vielleicht) Stadtprätor 37, Konsul 41, und Feld-
herr unter Claudius in Britannien. — Daß 14, 51, 13 und I 72,2
Ofonius Tigellinus wiederherzustellen sei, hat F. schon vor einigen
Jahren glaubhaft gemacht. Wird doch der Gentilname Ofonius durch zwei
Inschriften, dagegen Sofonius oder Sophonius (so Lipsius) nirgends nach-
gewiesen. Zudem ist die Stelle des Dio, worauf Lipsius seine Ver-
mutung stützte, kürzlich durch Boissevain gut korrigiert worden. Ti-
'fsXXtvoc ö ^ocpcuvto? scheint durch Dittographie aus Tq. 'O'ftuvioc ent-
standen zu sein. Übrigens hat auch der Scholiast des Juvenal (1, 155)
Ofonius geschrieben.
Der pous Mulvius wird 4 mal von Tac. erwähnt: 13,47; I 87,
II 89, III 82 ; an den beiden letztgenannten Stellen hat die Hs auf-
tallenderweise ,,mului". Sollte dieser Genetiv nicht der Abwechselung
halber absichtlich statt des Adjektivs geschrieben sein? Vgl. I 41 und
II 55 lacus Curtii st. Curtius. Campus Martis (5 mal) tür C. Martius
(3 mal) will ich nicht als analoge Ausdrucksweise betonen. — Pyrrichum
trierarchum (II 16; M phyrricü) ist wohl ein Schreib- oder Druck-
fehler für Pyrrhicum? — Daß Tac. sowohl den gehobenen Ausdruck
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)' 87
Graii (bdsclir. übrigens nicht sicher) als auch das ironische und ver-
ächtliche Diminutiv Graeculus und Graecula gerade im Dialog (und
nur hier) anwendet, erklärt sich aus dem Zusammenhang, aus Ton und
Tendenz der einzelnen Redner. Ob dem Römer, wenn er vom „Grae-
culus" sprach, auch wohl der „tumens inani graculus superbia" der
Fabel vorschwebte? — Die Akkusativform Persen (12, 38 und 62) setzt
als Nominativ das altlateinische Perses, nicht Perseus, voraus.
In der Fußnote zu Tuisto dürfte die ,,gar nicht schlecht (durch
die Hssgruppe E) überlieferte und wohl mögliche" (so Müllenhoff) Namens-
form Tuisco Erwähnung gefunden haben. Im übrigen übt F. wohl-
berechtigte Zurückhaltung gegenüber MüUenhoffs Konjekturen zur Ger-
mania. An Helvecones (G. 43) hält er fest, vermutlich aus gleichem
Grunde wie Much, welcher die Ansicht vertritt, es sei in diesem Falle,
wenn Textesänderungen unumgänglich scheinen, richtiger, den Ptolemaus
(der AiXouaioivsj hat) nach Tacitus zu berichtigen als umgekehrt. Auch
Oxiones (G. 46) bevorzugt F., wohl mit Recht, obgleich M. das minder
gut beglaubigte Etiones für die „allein richtige" Form ausgegeben und
zu fast allgemeiner Anerkennung gebracht hat. Hingegen schreibt er
in Übereinstimmung mit M.s früheren Darlegungen (in Haupts Zeitschr.
IX 253 f.) Lugii (G. 43) und Jazuges (12, 29. 30). Inzwischen aber
hat uns der gleichzeitig mit dem Onomasticou erschienene Kommentar
M.s zur Germania (D. A. IV 484 f.) belehrt, daß sein Verfasser später
zu einer anderen Ansicht gekommen ist und in den Formen Lygii (codd.
iegiorum, leugiorum, ligios, lygios) und Jazyges (M iazigibus, iazigies)
die echte Überliefeiung zu erkennen geglaubt hat. — Die von Plinius
(n. h. 4,99) gebotenen Formen der Stammnamen: Istvaeones und lag-
vaeones, welche M. als die ursprünglichen betrachtet, werden im Onom.
überhaupt nicht erwähnt, ebensowenig die Variante Hermiones (BC b^).
Lemovii (G. 43) „kennt nur Tacitus; der Name ist nicht sicher: viel-
leicht ist Lemonii richtig, wie die Klasse D liest, b und ß am Rande"
(Müllenhoff).
Die Form Sunuci (IV 66) findet sich zwar auch inschriftlich
(C. I. L. III p. 872 f.) und in den Hss des Plinius (n. h. 4, 106),
kann jedoch nicht als unbestritten gelten. W. Heraeus zitiert aus der
Ephem. epigr. III 134 Texandri (Plin. Texuandri) et Sunici (auch
Sunnuci?). — Daß die handschr. Überlieferung Veneti, die Fabia mit
Recht beibehält, durch die Erinnerung an die paphlagonischen, adria-
tischen und keltischen Veneter beeinflußt worden sein wird, wie Müllenhoff
bemerkt, liegt ja auch nahe genug. Ob M. mit der Konjektur Varisti,
für Naristi, und mit seiner Namensdeutung das Richtige getroffen, wird
von manchen Forschern noch stark in Zweifel gezogen. —
88 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
26. K. Reissinger, Über Bedeutung nnd Verwendung- der
Präpositionen ob und propter. II. Teil. Progr. Speyer 1900.
Die römische Literatur nach Cicero — auf dieses Gebiet erstreckt
sich der vorliegende Teil von R.s Untersuchung — zeigt in ihren
verschiedenen Gattungen und Epochen auffallende Schwankungen, un-
regelmäßige Ebbe und Flut, sozusagen, im Gebrauch der genannten
Präpositionen. Um nur die bedeutendsten Prosaschriftsteller der
augusteischen Zeit und des ersten Jahrhunderts zu berühren, so steht
2unächst Livius in starkem Gegensatz zu Cicero in der Bevorzugung
von ob, das er überaus häufig in mannigfachen kausalen Formeln, aber
auch zur Bezeichnung des sog. inneren Grundes verwendet. Auch die
übrigen, von der Dichtersprache meist beeinflußten Prosaiker (Velleius,
Val. Maximus, Curtius u. a.) zeigen große Vorliebe für die in der
älteren Zeit hinter propter fast ganz zurückgesetzte Präposition ob.
Unter den Späteren nimmt Tacitus eine Ausnahmestellung ein; denn
während Seneca, Quintilian, die Plinius sich dem lange vernachlässigten
propter wieder zuwenden (das sie doppelt und dreifach so viel ge-
brauchen als ob), wird dieses von Tac. im ganzen nur 8 mal gesetzt,
und zwar 6 mal in der räumlichen Bedeutung = luxta, 2 mal übertragen :
I 65, 3 propter Neronem Galbamque pugnaretur (Wölfflin wollte pro
Nerone emendieren) „um — willen, für" (ebenso singulär bei Liv. VI 18, 9
in Verbindung mit einem persönlichen Fürwort) und D. 21, 21 propter
magnitudinem cogitationum „infolge, wegen, bei".
In bezug auf den Gebrauch des ,, selbständigen" ob (149 Stellen)
bei Tac. bringt R. einige beachtenswerte Berichtigungen zum Lexicon
Taciteum, in dem er namentlich eine richtiger und feiner abgestufte,
von der Grundbedeutung (in obviam) ausgehende Gliederung der Be-
deutungen des Wörtchens gewünscht hätte; es fehlen z. B. die Bed,
„als Bezahlung, zum Entgelt, im Interesse". Greef nimmt für
12 Stellen finale Bedeutung an; von diesen sind allerdings unbedingt
auszuscheiden: 2, 83, 8; 3, 6, 2; 6, 15, 11 ob rem publicam ,,für,
um — willen". Doch auch 12, 39, G ob irara (innerer Grund) 14, 14, 16
ob delicta und V 22, 15 ob stuprum (äußere Veranlassung) gehören
wie R. zutreffend beobachtet hat, nicht unter die Rubrik „vis finalis".
Verschiedene Auslegung ist denkbar für 4, 31, 11 und 11, 5, 10, viel-
leicht auch für 1, 79, 1 ob moderandas Tiberis inundationes, Stellen,
die übrigens Greef nicht hierher gezogen hat. Immerhin bleiben noch
Beispiele genug, in denen die finale Kraft der Präpos. nicht zu ver-
kennen ist: 1, 20, 2 ob itinera et pontes „zur Unterhaltung der W.
und Br.", 1, 58, 15 neque ob praemiura neque ut sq., 3, 27, 7 alia
ob prava ,,zu sonstigen bösen Zwecken", 13, 5, 5 ob id (vocabantur)
ut „afin que". — R. selbst umschreibt ferner I 63, 4 ob praedam
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff ) 89
„wegen der Beute (die in Aussicht stand), sowie 1, 3, 27 dignum ob
praemium, wegen eines würdigen Lohnes, der zu erwerben war".
Trotzdem kommt er schließlich zu dem sonderbaren Resultat: „Eine
finale Bedeutung von ob ist (wie in der klass. Literatur) auch in der
silbernen Latinität nicht sicher nachzuweisen." Ich denke, bei einer
natürlichen und ungezwungenen Auslegungsweise läßt sich, für Tacitns
wenigstens, diese Behauptung nicht aufrechthalten. Das ist auch die
Meinung Andresens, Jahresber. 26, 251 f. —
27. Gustav Landgraf, Beiträge zur historischen Syntax
der lateinischen Sprache. Progr. des K. Wilhelms-Gymnasiums
in München. 1899. 34 S. 8.
Zu den Spracherscheinungen, die, obwohl älteren und tieferen
Wurzeln entsprungen, gemeinhin doch noch als reine Gräzismen gelten,
gehören u a. der Dativ der beteiligten Person beim Passiv (Dativus
auctoris) und der Dativ nach den Ausdrücken des Zusammenseins und
Zusammeukommens, Vermischens und Tiennens. — Im Anschluß an
H. Tillmann, der jene Art des Dativs übersichtlich behandelt hat (acta
Erlang. II. 1881), gibt L. eine auf die wichtigsten Fälle sich be-
schränkende Auswahl nebst manchen dankenswerten Ergänzungen des
Stellenmaterials. So ist bei Tillmann das sonst nicht belegte desertus
snis Tac. ann. 3, 20, 13 nachzutragen (vielleicht auch h. V 3, 8 utrisque
desertl?). Tacitus liebt den Dativ, im Gegensatz zur klassischen Prosa,
auch beim gewöhnlichen Passiv (etwa 100 Stelleu), wie der ältere
Plinins, der ihn öfter setzt als den Ablativ mit a. Als Kuriosum be-
merke ich, daß Nipperdey in seinem unvollendeten Kommentar zu den
Historien I 11 procuratoribus (cohibentur), als „Abi. instr. = per procu-
ratores" aufgefaßt hat, trotz 3, 3; 12, 54 u. a. ra., vielleicht im Hin-
blick auf Caesar b. g. 7, 69, 7; 1, 8, 1 n. a. ähnliche Beispiele. —
Ganz der Dichtersprache (cadere, iacere alicui) gemäß ist 1, 59 sibi tres
piocubuisse legiones (= prostratas esse) und IV 17 cohortes quibus . .
procubuerint.
Der soziative Dativ, um den kurzen Ausdruck zu gebrauchen,
findet sich bei lungere und einigen Synonymen in allen Epochen der
römischen Literatur. In bezug auf Tacitus wäre hervorzuheben ge-
wesen, daß er iungere überhaupt nur mit dem Dativ, nie mit Abi. und
cum verbindet; jene Konstruktion war eben, wie L. zu Ovid bemerkt,
„viel bequemer zu handhaben". Für haerere mit Dat. erwähnt Verf.
zwei Stellen aus Tacitus als sicher: 2, 14 haerentia corpoii tegmina und
14,4 pectori haerens; dazu darf wohl noch der figürliche Gebrauch IV
19, 17 se cum exercitu tergis eorum haesurum esse gezählt werden;
weniger sicher natürlich, trotz Greef im lex. Tac, IV 23, 9 pleraque
90 Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.)
telorum turribus pinriisque . . haerebant und 1, 68, 8 (Germani) haesere
munimentis. — Die Adjektiva Concors und discors hat Tac. gewöhnlich
mit dem Dativ verbunden, letzteres auch je einmal mit cum und inter.
Im dritten Abschnitt gibt L. mehrere gute Proben für eine me-
thodisch-historische Behandlung der mit dem Dativ verbundenen
Verba composita. Vorbedingung für Schaffung eines gediegenen, nütz-
lichen Gesamtwerkes solcher Art sei, daß der Gebrauch eines jeden
Kompositums dui'ch die gauze Latinität hindurch verfolgt werde. Hofifen
wir, daß die gegebenen Anregungen auf empfänglichen Boden fallen! —
III. Überlieferung und Kritik des Textes.
28. Geoi'g Andresen, In Taciti Historias studia critica
et palaeographica. Progr. des Askan. Gymnasiums. Berlin 1899
und 1900. 23 und 30 S. 4.
Bereits im Herbst 1890 hatte Andresen eine genaue Nach-
vergleichung der die Annalen enthaltenden Florentiner Handschriften
vorgenommen und über die wichtigsten Ergebnisse seiner Tätigkeit im
Programm des Askan. Gj^mnasiums (1892) berichtet. S. Jahresbericht
für Altertumswissenschaft Bd. 89 (1896 II) S. 46 ff. — Ein zweiter
Aufenthalt A.s in der Mediceerstadt 1897 ist vornehmlich den Historien
zugute gekommen, indem viele auch nach Meisers trefflicher Arbeit noch
isweifelhaft gebliebene Stellen wiederholt geprüft wurden. Der Um-
stand, daß das Material des Med. II durch den Gebrauch vielfach ab-
gegriffen und die Schrift stark verblaßt ist, erschwert oft eine sichere
Lesung. Dazu kommt, daß über Art und Alter mancher Randnoten
und Korrekturen, die einzelne Buchstaben wie gauze Wörter betreffen,
erhebliche Zweifel herrschen. Die Eigenart des Schreibers hat A.
schärfer als seine Vorgänger beobachtet , hat die geringsten Ver-
schreibungen oder Ansätze dazu genau nach Gattungen unterschieden
und gewissenhaft registriert. Jener Kopist hatte eine ganz bestimmte
Gewohnheit, Versehen zu verbessern; bei seiner geringen Kenntnis des
Lateinischen irrte er oft, indem er Silben falsch trennte oder verband;
aber er hat nie willkürlich weder zugesetzt noch weggelassen oder
geäudert. Sonach haben wir in den Verbesserungen von seiner Hand
mit geringen Ausnahmen den Originaltext zu sehen. Die Unterscheidung
und Agnoszierung der dünnen schrägen Tilgungsstriche (von A. genau
beschrieben) als von erster Hand herrührend ist selbstverständlich nicht
leicht, aber sehr wesentlich für die Beurteilung des Schreibers und
seiner Fähigkeiten und Gewohnheiten. Meiser hatte in dieser Hinsicht
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 91
schon weit schärfer gesehen als Halm und Ritter, trotzdem konnte
Andresen noch beträchtliche Ergänzungen und Berichtigungen zu Meisers
Kollation liefern.
Bei einer ganzen Reihe von Stellen, wo in M ein ra oder s oder
andere Buchstaben, namentlich am Wortende, getilgt sind, nahm Meiser
für jene Tilguugszeichen späteren Ursprung an, so H. I 15, 22 praeci-
puam, 21, 6 rursüs; 25, 3 eoründem, 3, 1 steriles, 20, 8 exactionis,
27, 5 interpretantes: Andresen dagegen führt solche und andere Korrek-
turen größtenteils auf den Abschreiber selbst zurück, dessen Zuverlässig-
keit somit in ein günstigeres Licht tritt. Überhaupt, bemerkt A., „habet
etiam librai'iorum licentia leges quasdam ac terminos". — I 2, 7 etiam
prope etiam; hier ist das erste etiam durch jene unverkennbaren Striche
getilgt und somit die sinngemäßere La mota prope etiam auch paläo-
graphisch bestätigt. Ahnliche bisher nicht bemerkte Verschreibungen
finden sich II 76, 5 non certe non, III 69, 17, ann. 11, 9, 8 quam
atrociorem quam, in welchen Fällen die erste der gleichen Formen zu
streichen ist.
Eine ganz bestimmte Regel herrscht, wie A. zeigt, in M II be-
züglich der Schreibung der Silbe ti, wenn innerhalb desselben Wortes
ein Vokal darauf folgt. Dann wurden die beiden Buchstaben in einem
Zuge geschrieben, eine Gewohnheit des Schreibers, deren Nichtbeachtung
einige Mißverständnisse verursacht hat. Den Ursprung der Korruptel
I 20, 14 (evigilius, evigiliis oder euigililis) macht A. folgendermaßen
glaubhaft: Der Schreiber habe, vielleicht durch den Anklang an
Virgilius verleitet, euigilius geschrieben, dieses dann in euigilib; ge-
ändert. Die in das s eingetragene Abbreviatur für us ist deutlich zu
erkennen; die Korrektur entspricht ganz dem regelmäßigen Verfahren
des Kopisten. Meiser hat also das Richtige zwar nicht gelesen, aber
durch Vermutung getroffen. — Auch sonst beseitigt A. manche Un-
sicherheit und entzieht gewissen auf vermeintliche Varianten gestützten
Konjekturen den Boden, was auch als Gewinn gelten darf. So ist I
26, 4 das verschriebene Iduü dierü, woraus 0. Hirschfeld Iduum die
ebrium (!) machen wollte, von erster Hand in Iduum die korrigiert.
Die Zahl solcher irriger Angleichungen ist bekanntlich Legion. Als
echte La ergibt sich ferner I 39, 4 redire . . . petere (aus peteret
verbessert); vgl. 11, 34, 9; 12, 1, 5; 14, 1, 5. — Halms Emendation
I, 54, 10 ni sibi ipsi consiüerent wird durch IV 20, 19 und 1, 48, 3
gestützt; A. fügt noch V 8, 12 hinzu, wo si ipsi, nicht sibi ipsi in
der Hs steht.
Die Ähnlichkeit der Buchstaben a und t in longobardischer Schrift
hat zu manchen Irrtümern geführt, z. B. daß I 63, 3 raptisae ge-
schrieben stehe. Dem gegenüber zeigt A. (Progr. 1900 S. 23 f.), daß
92 Bericht über die Tacitusliteratur 1890—1903. (Wolff)
M II den Diphthong ae nie mit zwei Buchstaben, sondern e oder seltener
^ schreibt. Der Kopist schrieb nun vermutlich aus Versehen rapente
und änderte dies ungeschickt und mißverständlich in raptis, wobei je-
doch das ursprüngliche te erkennbar blieb. Gronovs Lesart derepente
kommt also in Wegfall. — Sehr häuög ist der Schreiber zum Anfang
oder Ende, auch zur Mitte des folgenden "Wortes übergesprungen; bald
ist er dann seines Irrtums gleich gewahr geworden, bald auch nicht.
Zu der langen Reihe dieser Art von Versehen gehört III 5, 10
commissior patientior, wozu A. bemerkt: „quid debuerit incertum est".
Am nächsten liegt doch wohl das Zusammentreffen eines Hörfehlers mit
einem Schreibversehen, wodurch commissorum aus quam iussorum (so
C. Heraeus) entstand, ähnlich wie 1, 57, 5 rebus commotis aus rebusque
motis, 15, 3, 3 confestinantius aus quam festinantius (vgl. auch Dial.
25, 9 cominus, für quominus?).
Auf Sprechfehler führt A. mit Recht die häufigen Verwechse-
lungen von exilium und auxilium zurück; dabei denke ich auch an
forma und fama, insbesondere aber an die zahllosen Vertauschungen
von p und b, großenteils vom Schreiber selbst verbessert: IV 66, 15
pettasios für bettasios, V 4, 8 scapies für Scabies usf. — I 65, 13
steht in M nicht colpniä (= colperniam; so Meiser), vielmehr hatte der
Schreiber coljam verschrieben (on fortgelassen), das j durch einen Quer-
strich getilgt, der mit dem darübergesetzten o eine dem p ähnliche
Form bildete. Fast ebenso liegt der Fall IV 72, 8. — Manche Korrop-
telen erklären sich aus der Ähnlichkeit von s und x in der longo-
bardischen Schrift. Auch die Verdoppelung des s spricht oft mit:
III 17, 2 fortissimi militis, richtig fortis militis; 15, 19, 1 pravissimus
mos statt pravus mos (so NovÄk). — I 68, 13 lesen die Ausgaben
iustu agmine „in ordentlichem, kriegsmäßigem Heereszuge" (Her.),
was, streng genommen, durch keinen Gegensatz bedingt ist. M hat In
(am Ende der Zeile) sto agmine. Nun erinnert A. an IV 84, 9 raanista
für manifesta, II 31, 6 inhostus für inhonestus (vgl. auch 15, 25, 6;
II 62, 13 inhora für inhonora? IV 41, 11 destit für destitit, 183, 12
cupidite für cupiditate) und schlägt vor zu lesen infesto agmine. —
Überhaupt begegnet kein Schreibfehler in M II so oft wie die Aus-
lassung von Silben innerhalb eines Wortes, namentlich am Ende der
Zeilen; convivum st. convivium , Misensis st. Misenensis (je dreimal),
Vespani für Vespasiani (5 mal). Sonach wird auch III 16, 6 die Lesung
fuge ultimus aus fuge velocimus (oc mit t verwechselt) entstanden sein,,
d. h. fugae velocissimus, wie C. Schenkl vermutete,
A. beschreibt noch manche Stellen genauer, wo die Feder des-
Kopisten, im Begriffe abzuirren , ein Verseben alsbald wieder gutzu-
machen gesucht hat , und schließt die Erörterung verschiedener
Bericht über die Tacitusliteratur 189fi-l;)03. (Wolff.) 93
Vorschläge zq Textänderungen an. — I 69, 5 steht (in a und
b) unverkennbar und ganz dem ausnahmslosen Gebrauch des
Tac, gemäß: e legatis (nicht ex). — Die Eraendation I 71, 9 deos
teste s mutuae reconciliatioais adhibens erscheint auf den ersten
Augenblick recht kühn, fast gewaltsam, und doch macht, wie Nipp,
betonte, erst diese Lesart verständlich, weshalb Otho den Celsus aufs
Kapitel, statt ins Palatium , berufen habe. Die meisten Erklärer
hafteten, meint A. , zu sehr an der Verbindung ne — metueret,
ohne das n als den eigentlichen Sitz der Verderbnis zu erkennen. Die
übrigen Fehler haben nichts Ungewöhnliches: mutue re wurde zu metuere,
wozu dann, wie öfters, ein t hinzutrat; tes für testes, wie decus für
dedecus; endlich hat falsche Aspiration ne hos aus deos gemacht, wie
IV 63, 10 ubi hos für Ubios, I 3, 11 de bis für deis geschrieben wurde.
I 74, 3 kam Madvig mit seiner Vermutung e quietis locum dem
Richtigen: e quietis locis (so beide Hss) sehr nahe. 77, 16 ist der
zweite Name des Saevinus (oder Scaevinus) durchaus unsicher. Die auf
p = prom folgenden 3 Buchstaben sind verändert (vom Schreiber
quo beabsichtigt?); promquc würde auf Propinquo führen (vgl. 13, 7, 3
proius für propius). Nur ist ein Saevinus Propinquus nirgends nach-
weisbar. Die Prosopographia imp. E. III S. 157 empfiehlt jetzt, unter
Berufung auf CLL. VIII 2437 S. 17 871, zu lesen Saevinio Proculo.
S. Andresen, Jahresb. XXV 307. — I 78, 5 hat Meiser geglaubt,
ostentai zu lesen; A. findet kein i, sondern nur einen von a ausgehenden
leichten Strich; das Ursprüngliche dürfte mithin ostentata sein. — 84, 6
ist nunmehr durch A.s wiederholte Prüfung als echte La erwiesen ut
confusi, statt des nur eine gezwungene Erklärung zulassenden hinc. M zeigt
3 Buchstaben : lu (oder n) t. Der Schreiber hatte irrigerweise zu In
exitium angesetzt, dann aber das I durch einen feinen Strich darüber
als ungültig bezeichnet. — Vom Schreiber des M rühren auch einzelne
irrtümliche Änderungen her (wie prorupto für proruto I 88, 10; 12, 43, 2;
15, 40, 2), die jedoch die Wertung seiner sonstigen Korrekturen nicht
beeinträchtigen können.
In dem Progr. von 1900 sind die zweifelhaften Stellen aus
H. II— V nach den verschiedenen Fehlergattungen zusammengestellt,
auch Heilungsvorschläge zu andern Stellen finden sich dazwischen ein-
gestreut. — Zu den gewöhnlichsten Erscheinungen der Paläographie ge-
hören Doppelschreibuugen und irrtümliche Wiederholungen aus dem
Vorhergehenden. II 4, 16 inexperti belli labor rechnet A. zu dieser
Art von Korruptelen. Das letzte Wort sei durch ein einigermaßen
ähnlich klingendes zu ersetzen, etwa ruber „das beschämende Gefühl";
vgl. II 22, 13 pudore coeptae temere oppugnationis. Der Vorschlag
sagt mir jedenfalls mehr zu als die meisten andern; dolor kommt ihm
•94 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
am nächsten. Aach I 2, 1 opus adgredior opibns (M) casibus liegt
nach A.s Ansicht eine verkehrte "Wiederholung vor, kompliziert durch
Angleichung an das folgende Wortende, wodurch das ursprüngliche Ad-
jektiv verloren ging. Ob Noväk diese Vermutung zuerst ausgesprochen
hat, bezweifle ich; sicher ist, daß von den bisher versuchten Heilungen
keine recht befriedigt; grave casibus (Noväk) klingt zu wenig an das
Überlieferte an. Opimum (a. b.) steht allerdings, wie Madvig einwendete,
zu seinem Ablativ nicht in ganz gleichem Verhältnis wie die übrigen
Arijektiva. Der ganze Ausdruck op. casibus ist eben unbestimmter
(das würde auch grave c. sein) und umfassender als die folgenden Ver-
bindungen, und darin finde ich eher eine Empfehlung dieser Lesart. —
Solche Wiederholungen aus dem Vorhergehenden (I 76, 2; II 22, 13; 13,
57, 16; 14, 38, 16; 15, 66, 1) brauchen nicht gerade immer Verwirrung im
Text angerichtet zu haben; I 67, 1 plus praedae sq. ist es freilich ge-
schehen, obschon die Silbe prae beidemale mit dem bekannten Ab-
kürzungszeichen geschrieben, sonach die Streichung des zweiten prae
selbstverständlich ist. Falsch wiederholte Silben im Anlaut hat die
erste Hand oft selbst korrigiert: II 41, 18 clamor adcurrentium claman-
tium „quod ipse aliquo modo in vocantium correxit". — III 74. 14
sollte das a-. Xe7. conlaceratum meiner Ansicht nach nicht beseitigt
werden.
Seltener kommt es vor, daß der Abschreiber etwas aus dem
Folgenden vorausnimmt: I 85, 1 oratio [per] od (ad) perstringendos ;
IV 58, 3 [hostium], aus dem nichts zu machen ist. Anders steht es
II 94, 12, wo die Form mortem sich höchstens, wie Heraeus annimmt,
als versprengte Randglosse zu supplicium in den Text eingeschlichen
haben könnte. Doch ist es kaum glaublich, daß Tacitus hier, gegen
seine Gewohnheit, das bloße animo gesetzt haben sollte; das nachdrück-
liche inerti animo (Pichena) bleibt eine vorzügliche Emendation. —
V 20, 13 beginnt nach defendere die neue Zeile mit a Interim. Das
a (von einigen in et geändert) ist vom folgenden ambiguum vorausge-
nommen, also zu streichen. Ob II 16, 5, iuravere (st. iurare) wirklich
durch das 6 Zeilen tieferstehende iuravere verschuldet ist? — Auch
TU 9, 17 möchte ich die Buchstaben fo (f getilgt) vor simni nicht mit
fortuna (Z. 21) in Zusammenhang bringen. — II 38, 18 ist vom Schreiber
selbst aus veniunt korrigiert worden venio; es zu ändern, liegt kein
Grund vor trotz der sonst ganz ähnlichen Stelle 12, 40, 24, v/o redeo
gebraucht ist. — Daß in den Hss weit häufiger eine Form der 1. oder
2. Person in die der 3. verschrieben ist als umgekehrt, erklärt A. wohl
mit Recht daraus, daß den Kopisten historischer Werke — unseren
Tertianern geht es infolge dauernder Cäsarlektüre ähnlich — die Formen
der 3. Person weit geläufiger als die übrigen waren und ihnen so oft
Bericht über die Tacitusliteratur 1 890— 1903. (WolfiF.) 95
uuwillkürlicb, aus der Feder flössen. Solche Versehen hat meistens
die erste Hand verbessert. IV 73, 3 schrieb Nipperdey, und nach ihm
die meisten: neque ego . . . populus Romanus (M populi Romani)
virtutem armis adfirmavit. Das letzte t ist aber durch einen schrägen
Strich getilgt, und die handschriftliche Überlieferung bietet sonach einen
(von Gantrelle und Spooner gebilligten) guten Sinn; der seiner Ver-
dienste stolz bewußte Feldherr durfte von sich sagen, er habe die virtus
des Römervolks mit den Wafifen, statt mit Worten, bewährt. Nipperdey
ist vermutlich durch die freiere Stellung des ego zu der Meinung ge-
kommen, im zweiten Satzglied werde ein neues Subjekt verlangt, und
hielt darum eine Textänderung für notwendig. — Unverdorben sind
nach A. auch folgende Stellen: I 60, 4 proruperant; 88, 14 instrumen-
tum (a. b,), wo einzelne Herausgeber zu Unrecht den Plural vorziehen;
11 86, 17 quietis cupidine: hier weise der Zusatz prima iuventa sowie
das in adversativem Sinne (wie 6, 51, 14) gebrauchte idem darauf hin,
daß Fuscus sich später anderen Bestrebungen zugewandt habe. Ich
meine, A. legt hier zu wenig Gewicht auf olim (= prima iuventa)
partis. Wer so jung schon Reichtum erworben hat, muß sich eifrig
gerührt, muß eine gewisse 7ioXuT:pa7[xoauvY] entfaltet haben, und zwar auf
einem Felde, das dem Senatoreustande verschlossen war. Cupido praedae,
auri, praemiorum sind häufige Verbindungen; nach allem hat die Kon-
jektur quaestus cupidine für mich die größte Wahrscheinlichkeit. —
II 87, 8 etiam si summa modestia regeretur. Hier könne, meint A.,
regetur (M) festgehalten werden, wenn man den Satz allgemein nehme:
eine Begleitung, die selbst dann nicht zum Gehorsam angetan zu sein
pflegt, wenn sie einmal in scharfer Zucht gehalten wird (?). — V 21,
10 et iussum erat (M), ;,quod ego verum esse puto": „und dabei war
es doch ausdrücklich angeordnet worden; aber (der Befehl war nicht
ausgeführt worden; denn) im Wege stand" . . . Vgl. Agr. 15, 14 sie
Germanias excussisse iugum, et flumine „und dabei würden" ... 4, 34,
19 et uterque perviguere. Sed obstitit, wie Germ. 34, 10; IV 78, 13.
— Nach ut iussum erat müßte obstitit enim stehen. Lex. Tac. p.
1457 a ist unsere Stelle von denen auszuscheiden, wo sed nach negativer
Partikel steht und „sondern" bedeutet.
IV 60, 10 at qui ipsos (M) ist nicht zu atque ipsos, sondern
zu et qui ipsos zu ändern, weil so die beiden Arten Wächter deutlicher
unterschieden werden. — II 32, 2 qua nemo . . . habebatur wird ge-
wöhnlich erklärt: quae tanta erat, ut nemo . . . haberetur, doch paßt
der Vergleich mit IV 61, 6 more, quo . . . arbitrantur, nicht; vielmehr
muß man beachten: II 55, 12 gratior Caesari modestia fuit, quod non
scripsisset; V 4, 7, memoria cladis, quod . . . turpaverat; II 74, 8
adrogantia militura, quod . . . inridebant, oder 14, 22, 19 nimia cu-
96 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
pido . . . tulit, quia fontem; vgl. 15, 65, 7; 69, 5. Es dürfte also
auch II 32, 2 zu schreiben sein: quia nemo . . . habebatur. Bei der
Ähnlichkeit der Abbreviaturen für qua und quia ist die Verwechselnng
nicht selten gewesen; auch 12, 64, 11; 15, 72, 9 ist quia zu qua ver-
derbt worden. — II 65, 3 muß es heißen Hilarus, nicht Hilarius;
denn ri ist in ru korrigiert (wie IV 81, 23; 83, 12). — IV 9, 6 und
16, 8, 8 wird Vulcacius Tertullinus (oder Tullinus) endgültig herzu-
stellen sein (Prosopogr. III p. 473 f.).
II 81, 3 inservientium regum ditissimus will A. nicht gelten lassen:
„Reges Orientis serviebant non inserviebant." Inservire passe nicht an
diese Stelle und werde zudem stets mit einem Dativ verbunden: Dial. 28,
16; ann. 16, 27, 10. Anders Agr. 30, 10; 32, 23. V 8, 6; 4, 32, 14.
Schon Noväk in seiner Ausgabe 1892 hat servientium geschrieben.
Demnach soll Th. Morus nicht recht behalten, der in seiner Utopia
sagt, daß die alten Römer servire und inservire nur durch die Zahl
der Silben unterschieden. — II 95, 11 ist sumptu ganeaque (Palmer)
besser als Meisers La sumptu gula ganeaque. - III 53, 10 hat der
Schreiber diem zu dies geändert; möglicherweise ist das Ursprüngliche
per dies noctesque; der rhetorische Plural, wie 1, 42, 3 liberos meos,
14, 1, 9 triumphales avos, ist wohl denkbar. III 66, 12 schreiben die
meisten extincto aemulatore (M aemulato), obwohl dieses Wort bei Tac.
sonst nirgends vorkommt; der Sinn verlangt Nebenbuhler, nicht Nach-
eiferer, also ist mit Rhenanus aemulo zu lesen; vgl. I 44, 6; II 77,
3; III 38, 23; 3, 8, 3 remoto aemulo. Die Korruptel entstand durch
Angleichung an die Schlußsilbe von extato (extincto). IV 16, 2 ist zu
schreiben se (nicht sese) cum cohorte; denn die zweite Silbe von sese
ist getilgt. Nicht ganz deutlich ist die La IV 48, 10, doch ins wahr-
scheinlicher als vis; 4, 15, 9 non se ins nisi in servitia . . . quod si
vim praetoris usurpasset manibusque militum usus foret (ins =
condicio ac potestas legatorum in Universum). IV 65, 4 möchte A.
liberatis st. libertatis lesen; doch scheint das Abstraktum nach
64, 13 libertas und 64, 20 servitutis angemessener. IV 65, 15 glaubt
er das überlieferte donec — vertuntur halten zu können; der Ind.
bringe die bestimmte Erwartung der Agrippiuenser zum Ausdruck (?).
79, 3 relictasibi ist A. geneigt so abzuteilen: relictas ibi (= apud
Agrippinenses) piguora societatis; vgl. 4, 55, 13 Pergamenos . . . aede
Aug. ibi Sita. Etwas zuversichtlicher proponiert er die Emendation
zu 15, 28, 7 laetioris ibi rei (s. W. f. kl. Ph. 1902 Nr. 28). —
V 8, 12 wird aus volgis epulsi (M) richtiger volgi pulsi oder
depulsi als expulsi herzustellen sein, expellere ist bei Tacitus ziemlich
selten und wird ähnlich wie an unserer Stelle nur noch Agr. 24, 11
gebraucht.
Beriebt über die Tacitusliteratur 189^-1903. (WolfF.) 97
Die Zahl der Lücken ist in der Überlieferung- der Hist. nicht
gering. II G5. 11 las Heraus früher richtig: exemplo L. Arruntii. Sed
Arruntium; vgl. I 15, 8 exemplo divi Augusti, . . . Sed Augustus, wo
gleichfalls die Unähnlichkeit des angeführten Vorbildes durch den Satz
mit sed hervorgehoben wird. 1180,15 stellt A. zur Erwägung, ob
nicht vor nihil aeqne ein sed einzuschalten sei; denn 7 mal findet sich
bei Tac. am Satzanfang sed nihil aeque in älinlichera Zusammenhang
wie hier, 2 mal in anderem Zusammenhang das bloße nihil aeque. III 86, 1
vermutete Weißenborn eine Lücke. M hat patrem illi Luceriara. A. nimmt
an. der Kopist sei von Lucium zu Luceriam abgeirrt: die Stelle habe ur-
sprünglich so gelautet: Patrem illi <Lucium Vitellium censorem ac ter
consulem fuisse memoravi, patriam habuit> Luceriara. Eine methodisch
geschickte, wenn auch natürlich problematische Ausfüllung.
Daß x\uslassungen am Ende der Zeilen, Kolumnen und Seiten
besonders häufig vorkommen, ist bekannt und begreiflich. Somit hat
Heraus' Konjektur IV 40, 15 diversa fama de Demetrio einige Wahr-
scheinlichkeit; vgl. 3, 62, 14 tribus de delubris sc. exposuere; I 50, 21
arabigua de Vespasiauo fama; 6, 32, 15 eo de homiue . . . sinistram in
lube famam. — Weitere Ergänzungen vermuteter Lücken sind: I 46, 24
tamquara . . . seponeretur <Ostiam amotus ibique> , wofür die ähn-
liche Stelle 16, 9, 4 sehr gut verwendet ist: Silanus tamquam Naxum
deveheretur, Ostiam amotus, post ... — IV 4, 17 prompsit . . . prin-
cipem <ita ipsi decoram; quippe> falsa aberant. III 73, 1 hat A.
zwischen plus und pavoris im Kod. die Spur eines i entdeckt und meint,
daß id oder incendium (oder id incendium) einzuschalten sei. — Keine
Lücke ist dagegen zu statuieren III 13, 4, wo Clemra vor transfugisse
ein et einschiebt. IV 39, 3 haben alle Ausgaben irrigerweise <et>
Tettio Juliano (M et tito); das Asyndeton ist in beiden Fällen an-
gemessen.
Was die verschiedenartigen Randschriften anlangt, so stammt
der weitaus größte Teil vom Schreiber des Kodex selbst und gibt den
echten Text; überall sind sie beachtenswert.
II 4, 5 steht in M sacerdotis, wofür Heinse, dem Halm gefolgt
ist, ohne hinreichenden Grund sacerdoti schrieb. Hätte Tac. den Priester
vorher erwähnt, so würde er den Dativ gesetzt haben: „so hieß (näm-
lich) der Priester". Sacerdotis id nomen erat aber bedeutet: „der
Priester war es, der so hieß". Vgl. die Stellen mit Dativ: 11, 30, 1;
12, 51, 12; 16, 30, 7; 15, 59, 24; mit Genetiv: III 50, 18; 14, 4, 7
(villae). Abweichend ist der Dativ gebraucht Agr. 22, 2 aestuario nomen.
— IV 15, 13, wo proximo überliefert ist, möchte A. nach Polsters Vor-
gang lesen: proximo applicata Oceano „das an den ganz nahen Ozean
gelehnte Lager" (?).
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXX.I. (1904. IL) 7
^8 Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.)
Durch Raadnoten von erster Hand wird der Text berichtigt:
II 41, 19 vocantium, aus dem zuerst irrtümlich geschriebenen clamantium
vom Schreiber in nicht ganz genauer Weise korrigiert.
II 68, 20 Text: ome, Eand: ois, also omiiis suspiciones zu lesen;
V 18, 5 Text: cuneus stranatavit, Rand: trans, mithin richtig: trans-
natavit (?). II 20, 5 mag die Randuote (uxores) quoque späteren Ur-
sprungs sein (nach Meiser); jedenfalls ist sie besser als Haases Kon-
jektur que. III 63, 4 steht im Text: ornatusque, am Rand: armatusque,
was A. vorzieht. Verwechselung zwischen ornare und armare ist über-
aus häufig. IV 65, 11 ist societatis vortrefflich durch die Randnote
sociatis emendiert worden. — Ob III 39, 7 die Marginalnote fides obsti-
nata besser als fidei obstinatio sei, läßt A. unentscbieden, wiewohl ob-
stinatio mit Genet. nur hier bei Tac. steht, während fides obstinata
sich auch V 5, 5 findet, ebenso 15, 21, 10 severitas obstinata. Vgl.
übrigens den Gebrauch von constantia G. 8, 2; II 13. 9; D, 6, 22. —
Höchst schwierig ist eine Entscheidung über den "Wert der Rand-
notizen in folgenden Fällen: 157.2 die proximo, Rand: die postero
(Z. 1 steht Proxima . . . hiberna!); 44, 12 illa die, R.: illo; II 29,9
obire vigilias, R. : circu(m)ire v.; jedenfalls ist letztere Verbindung die
gewöhnliche für „die Wachen inspizieren" (revidieren).
Eine Statistik der Schreibweise des Lautes ae ergibt, daß M II
mit wenig Ausnahmen, wo es (wie 12, 5, 4) eine besondere Bewandtnis
hat, überall (j oder viel seltener e statt der beiden Vokale zeigt; nur
prae hat seine eigene Abkürzung. Der Schreiber hat sogar öfter ein
in seiner Vorlage gefundenes nicht zusammengehöriges ae zu e ver-
ändert; und so sind verschiedene Verderbnisse aus dieser Schreib-
gewohnheit zu erklären, wie invidie dixit = invidia edixit u. a. m. —
Für oe läßt sich keine feste Gepflogenheit der Schreibung nachweisen,
nur daß seltenere Wörter und Eigennamen (Moesia) häufiger mit 2 Buch-
staben, gewöhnliche mit e oder e (nie proelium) geschrieben werden. —
29. G. Andresen, Zur handschriftlichen Überlieferung
des Tacit. Dialogus. (W. f. kl. Phil. 1900 Nr. 23, 641—46;
Nr. 28, 778 ff.)
Das auf R. Schoenes Kollation begründete günstige Urteil
A. Michaelis' über den von ihm E genannten cod. Ottobonianus 1455
ist «"heblich einzuschränken; denn seine Angaben über Lesarten jener
Hs sind mehrfach unrichtig oder ungenau. Dies hat A.s 1898 vor-
genommene Neuvergleichung des Ottob. und anderer Hss ergeben.
Unter Berücksichtigung aller scheinbar unwichtigen, doch für die Frage
nach Herkunft und Verwandtschaft der Hss keineswegs zu unter-
schätzenden Varianten vermag A. aus dem Ottob. an mehr als 80 Steiler»
Bericht über die Tacitusliteratur lSOG-1903. (Wolff) 99
Genaueres als Michaelis anzuführen, und manche seiner Fe^itstellungen
sind geeignet, bisher gehegte Zweifel über gewisse Lesungen zu besei-
tigen oder doch abzuschwächen. So steht 5, 2 modesti nicht in 2,
sondern in 7 Handschlitten , womit diese sinngemäßere La (s. Gude-
man, Komm., John, Einl. 14) auch diplomatisch hinreichend gestützt
wird. — Nur wenige der von Michaelis dem Ottob. zugeschriebenen
Emeudatiouen gehören diesem ausschließlich an, wie 22, 11 esset; andere
hat er mit seinem Bruder V gemein: 10, 23 arcem (auch CH), 17, 20
ei pugnae, 23, 9 Aufidi, 21, 45 in quautum, ferner mit H: 31, 5 exer-
cereut und 40, 18 illius. Mit A stimmt E nnr an 2 Stellen in Be-
sonderheiten überein: 14, 7 minime nicht wiederholt und 19, 19 fere-
bantur. — Die Vergleichung ergibt u. a., daß eine Benutzung des
cod. B bei der Anfertigung von E nicht stattgefunden haben kann.
Erwägenswert sind nach A.s Ansicht die von E überlieferten Laa: 13, 15
item (st. idem) adnuissent, wodurch Secundus dem Aper enger ange-
reiht würde; mehr noch 40, 17 aut (st. ac) Persarura; denn die Zu-
sammenfassung der Makedonier und Perser in dem neG;ativen Satze hat
etwas Unnatürliches. Andere Schreibungen aus E (und V) haben längst
mit Recht Aufnahme in verschiedenen Ausgaben gefunden: 6. 18 quod
illud gaudinm, 17, 15 illum, 25, 10 fatear (John). — Auch aus dem
gleichfalls neu kollationierten Parnesianus (C) verzeichnet A. eine
Reihe (über 40) Berichtigungen und Nachträge zu Michaelis' kritischem
Apparat. Danach ist 14, 2 Vibanias, 32, 16 vis quoqae. 35, 26 pro-
sequuntar (so Wolff, John, Helmreich) als allgemein überliefert zu be-
trachten (selbst D hat prosequimur, nicht persequiraur). C ist beson-
ders reich an Auslassungen (16), von denen 2 sich auch in D finden;
ein Umstand, der außer der beiden codd. gemeinsamen Korruptel ora-
tionis 19, 18 einen neuen Beweis für ihre enge Verwandtschaft liefert.
Was den Vaticanus 4498 (DJ betrifft, so hat er nach A.s
genauer Prüfung nnr 2 eigene Verbesserungen: 26. 1 optirao (= U)
und 38, 4 paucissimas horas (so annähernd auch AC). Von Verderb-
nissen hat er nur eine vor den anderen Hss voraus: 32, 11 ipse. Seine
ausschließliche Übereinstimmung mit C beschränkt sich auf 8 Stellen;
in anderen gehen Cl mit EV oder sonstigen Hss zusammen. Scheuer
hat richtig beobachtet, daß A mit CD zusammen einen besonderen Zweig
dieser Klasse bildet {y-), während EV den anderen Zweig repräsentiei t
(y*). In beiden Zweigen müssen manche Doppellesarten ursprünglich
vorhanden gewesen sein. —
Von textgeschichtlichera Interesse sind auch einige Bemerkungen
Andreseus zur handschriftlichen Überlieferung des Agricola
(W. f. kl. Ph. 1900 Nr. 47, 1299 ff.); hier berichtigt er einige Zweifel oder
ÜDgenauigkeiten , die Urlichs' grundlegende Ausgabe in bezug auf die
7*
100 Bericht über die Tacitusliteratur 180G— 1903. (Wolff.)
Lesungen der Vaticani 3429 und 4498 noch hatte bestehen lassen. Die
Textgestaltung wird davon kaum berührt werden; doch moniert A. mit
Hecht die willkürliche Änderung 40, 20 uti statt ut , die Halm und
andere ohne weiteres von Urlichs übernommen haben. —
30, G. Andresen, Neue Lesungen in Tacitus' Anualcn.
W. f. kl. Ph. 1902 Nr. 24. 26. 28.
Die nächste Veranlassung zu diesen neuesten paläographischen
Beobachtungen bot das Erscheinen eines Prachtwerks moderner Technik,
das auch den Tacitusstudien sehr zustatten kommt. Als 7. Band des
großen Unternehmens „Codices graeci et latini photographice depicti
duce Scatone de Vries" hat die Firma A. W. Sijthoff in Leiden im
April 1902 die beiden wichtigen Tacitushandschriften der Laurentiana,
68 I und 68 II (mit Einleitungen von E. ßostagno versehen) in vor-
züglicher photographischer Reproduktion der Öffentlichkeit übergeben
(vgl. auch Andresen. W. f. kl. Ph. 1902 Nr. 9, 231 ff.). — In Anbe-
tracht der wiederholten sorgsamen Vergleichungen und Beschreibungen
jener Codices durch hervorragende Gelehrte ist begreiflicherweise nicht
zu erw^arten, daß auf Grund der Sijthoffschen Nachbildungen größere
Neuerungen im bisherigen Text der betr. Taciteischen Werke eintreten
werden. Immerhin ist nun der Kritik eine weit leichter zugängliche,
breitere und objektive Basis geschaffen, die, abgesehen von ihrem speziell
technischen und historischen Interesse, auch für die Textgestaltung, die
uns hier vor allem angeht, von nicht geringer Bedeutung ist. Schon
die von Andresen gleich bei der ersten Durchsicht des Sijthoffschen
Werkes gehaltene Nachlese ist recht ansehnlich; und ich glaube nicht
zu irren, wenn ich noch eine reichhaltige Fortsetzung dieser Beobach-
tungen von der nächsten Zukunft erwarte.
A. hat es wie wenige verstanden, sich in die Irrungen und
Wirrungen der Kopistentätigkeit hineinzudenken, ihrer Feder bis in die
feinsten Züge zu folgen , so daß auch scheinbar unwesentliche Dinge,
klug kombiniert, ihm oft überraschende Resultate ergeben haben. Je
strenger die Handhabung des textkiitischen Apparats durch A.s Ver-
trautheit mit den Gesetzen des Taciteischen Sprachgebrauchs kontrolliert
wird , um so mehr überzeugen uns die meisten seiner vorsichtigen Ver-
besserungsvorschläge. Die wichtigsten Ergebnisse der „Nachlese", zu-
nächst auf die letzten Bücher der Anualeu beschränkt, mögen in Kürze
verzeichnet werden: 11, 8, 6 hatte Muret (nach ihm Holbrooke; s. auch
Phil. Rundsch. V Nr. 22, 678) das Richtige vermutet: necem . . ,
properaverat (11, 37, 3; 13, 17, 9). Wie die ursprüngliche Form prae-
paraberat durch den Schreiber umgestaltet worden ist, läßt sich in den
einzelnen Zügen verfolgen. Der größeren Deutlichkeit halber ist am
Bericht über die Tacitusliteratur 1S9C— 1903. (VVolfif.) 101
Raud von derselben Hand „propera" hinzugefügt. Necem parare ist an
sich tadellos, sagt aber etwas zu wenig. — 11, 14, 13 ist in formas
das s gestriciien; damit entfällt Halms Konjektur formast. — 33, 4
liest man neben spem incolumitatis Caesar is adfirraat ein anscheinend
vom Schreiber selbst herrührendes „ari", wonach vielleicht Caesar i
das Richtige ist. 37, 7 steht postera die (Halm irrtümlich postero).
— 12, 1, 5 ist ostentare und damit auch contendere gesichert (vgl.
14, 1, 5; 11, 34, 9; I 39, 4). 6, 11 ist vor accipiret (sie) eine Lücke
von etwa 7 Buchstaben Umfang; das am Rande stehende a erklärt sich
Andresen als den ersten der 7 ausgefallenen Buchstaben, demnach mag
ebensowohl a patribus (patrib;) als a senatu ergänzt werden. — 24, 6 certis
spatiis iuteriecti lapides. Ist hier, wie A. angibt, s in certis von der
Hind des Schreibers getilgt, so kommt dadurch kein annehmbarer Satz
zustande.
2ö, 10 ist eundem in (Halm) unberechtigt; au Stelle der Rasur
hinter eundem hat que (q;) gestanden, das der Schreiber irrigerweise
statt des folgenden quem gesetzt hatte. Die richtige La ist in eundem
modum. — 37, 4 ist, wie Becher vermutete, die echte La: foedere et
pace accipere. 38,10 lies e (nicht ex) castellis (s. 14, 2G. 7; Noväk
anal. Tac). — Als unlösbares Rätsel erscheint die vom Schreiber hei-
rührende Randnote 12, 55 duri locis, die 2 Zeilen tiefer als die Text-
worte duri circum loci steht. — 13, 18, 13 ist die Lesung Gerraanos
nuper eundem in honorem custodes additos nicht sicher; il hat super,
daher vielleicht zu lesen: G. per eundem honorem. Vgl. 15, 33, 10
quiqne Caesarem per honorem aut varios usus sectantur. — 20, 17
liegt wohl derselbe Fall vor wie 14, 60, 14 (s. Progr, 1892 S. 13), wo
ex aus et hergestellt, die echte La aber et ex ist; somit dürfte zu
korrigieren sein: sed vocem uuius et („noch dazu") ex inimica domo
adferri. — 23, 11 Text: auxiliumque, Rand (pr. m.): ex, d. i. exili-
umque. 25, 14 ist sicher überliefert: Nero autem metuentior in
posterum, nicht tamen. Der Irrtum erklärt sich aus der Ähnlichkeit
der Buchstaben a und t in der longobardischen Schrift; die Hs hat
aber nicht tu, sondern aü. Freilich verwendet Tacitus autem in den
größeren Werken nur 6 mal. in direkten und indirekten Reden (II 20, 5
ist nicht ganz sicher). Trotzdem glaubt A. sich lieber mit der singu-
lären Anwendung von autem abfinden zu sollen, als die unzweideutige
Überlieferung anzutasten.
14, 1, 5 hat bereits Lipsius das Rechte erkannt: incusare . . .
vocare. In der Hs ist das t in iucusaret gestrichen, also muß es auch
in invocaret getilgt werden. Vgl. 12, 1, 5; 11, 34, 9; I 39, 4 redire . . .
petere (aus peteret verbessert pr. m.). 14, 14, 3 lesen die meisten:
concertare equis regium . . . memorabat. M; cum celaret quis regium
102 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
. . . memorat. Tac. schrieb jedenfalls: certare equis. Concertare
kommt bei ihm sonst nicht vor (concertator 14, 29, 11). Vielleicht ist
cum aus dum verschrieben, dann würde memorat bestehen bleiben
können, also dum certare equis . . . memorat. 15, 14 ist postremus
aus postremum von erster Hand verbessert. Nero war mithin «der
letzte* der an den Juvenalien Auftretenden. 26, 7 lies e (st. ex) nobi-
litate. 39,12 hat Halm, was A. früher billigte, postea konjiziert,
doch zeigt das von später Hand korrigierte Wort (am Ende einer Zeile)
als ursprüngliche Anfangsbuchstaben pa, nicht po. Daraus möchte A.
schließen, daß der Kopist paucas aus Versehen 2 mal geschrieben habe,
daß also der echte Text nur lautete: quod paucas naves amiserat,
woran in der Tat nichts auszusetzen ist. 51, 15 hat M: cognotis, über
g ein a geschrieben, unter den Buchstaben not Punkte, wofür eine
vernünftige Deutung fehlt; übrigens entspricht nach A.s Meinung notis
dem Zusammenhang besser als die Vulgata cognitis. 57, 20 wird
Nipperdeys La relatura als die richtige bestätigt; denn in dem hdschr.
Prelatum ist P vom Schreiber durch Striche getilgt. Vgl. 59, 12 caput
interfecti relatum. 61, 2 steht prorugunt, das g senkrecht durch-
strichen, also proruunt, nicht (nach Weißenborn) prorumpiint.
15, 10, 17 ist hinter sustentavisset nichts ausgefallen, auch keine
Dittographie des et anzunehmen; das e am Ende der Zeile ist der
Anfangsbuchstabe von egre (aegre), bei dem der Schreiber, da der
Raum nicht ausreichte, abbrach, einen Tilgungsstrich setzte und egre
an die Spitze der neuen Zeile schrieb. — Als Parallele zu 15, 28, 7
laetioris ibi rei (s. Progr. 1900 S. 14) bringt Andresen: V 14, 3
prospeiarum illic rerum. — 15,34,7 muuus a Vatinio celebre edebatur.
In celebre ist der Buchstabe b durchstrichen; das etwas ungewöhnlich
gestellte Wort sage für die Stelle nichts von Bedeutung aus; möglicher-
weise, meint daher A., sei zu lesen: a Vatinio Celere. Daß Tacitus
diese von andern Schriftstellern wenig berührte Persönlichkeit hier mit
nur einem Namen sollte bezeichnet haben, sei nicht wahrscheinlich.
48, 13 lautet unzweideutig: qui . . . summum Imperium non restrictum
nee praeseverum , nicht straff und nicht übermäßig strenge". Die
Silben prae und pro sind in der longobardischen Schrift nicht zu ver-
wechseln ; somit ist perseverus aus den Wörterbüchern zu streichen und
dafür das echt taciteische Prägung zeigende praeseverns aufzunehmen. —
72, 15 stehen über illusit einige alte Buchstaben, die A. als erat liest;
sonach lägen zwei Laa vor: illusit und illuserat, zwischen denen zu
wählen schwer fällt, — An den W. 16, 22, 24 ut Imperium evertant
(M everterant), libertatem praeferunt: si perverterint, lib. ipsam
adgredientur, hat bisher niemand, soviel wir wissen, Anstoß genommen,
iand doch begründet A. in überzeugender Weise eine Textänderung als
Bericht über die Tacitusliteratur 189G— 1903. (Wolff.) 103
notwendio^, um den echteu Wortlaut zu gewinnen. Dreierlei müsse bei
scharfer Beobachtung auffallen : 1 Warum wiederholt Tac. in dem
sonst ganz gleichmäßig gebauten Satze nicht evertere, sondern wählt
ein anderes Kompositum? Die Berufung auf das „Streben nach Ab-
wechselung" reicht für diesen Zusammenhang nicht aus; 2. pervertere
verbindet Tac. sonst (10 mal) nur mit persönlichem Objekt, evertere
dagegen (je einmal) mit Imperium, orbem, rem publicam, provincias,
mores! — 3. Den 4 Verben müssen auch 4 Objekte, d. i. dem zwei-
fachen libertatem zweifaches Imperium, entsprechen. Nun zeigt sich,
was bisher unbeachtet geblieben, daß in der Vorlage des M. eine Doppel-
lesart gestanden haben muß; denn der Text hat perverterint mit über-
geschriebenem „al." = alii, der Rand trägt von derselben Hand die
Bern.: „al. impetraverint" , was keinen Sinn gibt. Aus der Ver-
schmelzung dieser beiden Laa aber gewinnt A. die vorzügliche Ver-
besserung: si Imperium (siipiü) everterint. —
Nachträglich stellt A. (Woch. f. kl. Ph. 1903 Nr. 50) an der Hand
der Sijthoffschen Reproduktion des M II fest, daß 11,27 a. E. aus
dem irrtümlich gesetzten tradam vom Schreiber selbst trado korrigiert,
auch 13, 14, 15 rursus deutlich getilgt w^orden ist. Somit, schließt
A., muß hier das nach Nipperdey zwar „nicht nötige, aber nicht über-
flüssige Wort" aus dem Texte entfernt werden, und das Stilgefühl des
Mnret und des Lipsius, die es neben inde nicht dulden wollten, besteht
eine glänzende Probe.
31. G. Andresen, Zu Tacitus' Germania. W. f. kl. Ph.
1903 Nr. 10, 276 ff.
Germ. 2, 11 ist in einem Teil der Handschriften nicht überliefert,
wie allgemein gelesen wird: Tuistonem ... et filium Mannum, vielmehr
haben Vat. 1862 (A), Vat. 2964, Ottob. 1796 ei filium. während die
Gruppe, welcher Uibinas 412 augehört, eins (aus ei verderbt) bietet.
Jenes ei nun hält A. für die echte La und schreibt: Ei filium Mannum
originem gentis conditoremque. Manne tris f. adsignant sq. „Wäre die
vulgata richtig, so müßten wir nicht filium M., sondern filium eins M.
erwarten." Durch eine Reihe schlagender Parallelstellen weist A. nach,
daß Tac. in ähnlichen Verbindungen diesen Genetiv regelmäßig zu
filius, frater, uxor usw. hinzusetzt. Halten wir also an ei fest und
ändern das überlieferte (an gentis assimilierte) conditorisque in condito-
remque, so gewinnen wir folgenden Text: Celebrant c. a. . . Tuistonem
deum terra editum. Ei filium Mannum, originem gentis conditoremque,
Mauno tris filios adsignant. Es sei ohnehin angemessener, betont A.
mit Recht, wenn Mannus allein, nicht auch sein Vater Tuisto zugleich,
als Ahnherr des Germanenvolkes bezeichnet werde; zudem finde sich
104 Bericht über die Tacitusliteratur 1890 — 1903. (Wolff.)
origo = auctor auch sonst nur von einer Person gebraucht, wie Tac.
ann. 4, 9; Verg. Aen. 12, IGG. — Übrigens werden durch A.s in jeder
Hinsicht ansprechende Eraendation nicht nur stilistische Bedenken ge-
hoben; auch für die Auslegung der folgenden problematischen Sätze
ist die leichte Textäüderung von Wichtigkeit, insofern als dadurch
Mannus neben Tuisto bedeutender hervorgehoben und somit auch die
richtige Beziehung der W. p Iuris deo ortos näher gelegt ist; freilich
kann ich, im Gegensatz zu Andresen und den meisten Erklärern, jenes
])luris nicht anders ergänzen als quam tris. Die natürliche Wort-
erklärung der ganzen Stelle hat seit J. Grimm und Wackernagel unter
der Fülle etymologischer und mythologischer Hypothesen zu leiden
gehabt Ist Mannus kein Gott, hieß es. sondern, wie unsere sprach-
wissenschaftlichen Autoritäten lehren, nur „der Mensch", ,,der erste
Mann", „der Urmensch", so kann unter deo nur Tuisto verstanden
werden, dem, wie Andresen annimmt, der germanische Mythus nur einen
Sohn zuschrieb, während gewisse römische Gelehrte von mehr als einem
Sohne des Tuisto sprachen. Allein für Tacitus — und nur seine Auf-
fassung haben wir zu ergründen — , war auch Mannus (trotz Müllen-
hoff II) ein Gott (gleich dem Sohn und dem Enkel der Gäa), der Gott,
dem die einen drei, andere mehr Söhne zuschrieben. Wie man auch
über das Sachliche urteilen mag: zu pluris läßt sich eben nur quam
tris ergänzen; denn der Gedankensprnng über das bestimmte Zahlwort
tris (fil. ads.) hinweg rückwärts bis zu filium und die Ergän?ung quam
unum ist ein Salto mortale bedenklichster Art. — Vgl. übrigens H.
Belling, W. f. kl. Ph. 1892 Nr. 15, 417 f., der in diesem Punkte Kritz
folgt. Auch Fabia, on. Tacit., ergänzt unbedenklich: Deo (Manno)
ortos. —
32. ßobert Xovuk, Analecta Tacitea. Sonderabdruck aus
Ceske Museum Filologicke Bd. II, Prag, Selbstverlag. 1897. 23 S.
Durch zahlreiche Publikationen aus dem Gebiete der römiscbeu
Prosaiker, namentlich des Livius und des Tacitus, hat sich N. als
tüchtiger Forscher und Kenner des Sprachgebrauchs bekannt gemacht.
Seine Beobachtungen erstrecken sich bis ins feinste Detail und sind
teilweise von bleibendem Werte. Da er zugleich mit der Technik der
Paläographie wohl vertraut ist, so erhalten manche der von ihm emp-
fohlenen Textänderungen einen gewissen Grad äußerer Wahrscheinlich-
keit; bei scharfer Prüfung freilich, vornehmlich des Zusammenhangs,
stellen sich viele seiner Emendationen nicht als notwendig, andere gar
mehr als „lusus ingenii" dar. An solchen hält N. übrigens durchaus
nicht eigensinnig fest, sobald er eine Möglichkeit zu sehen glaubt, die
Überlieferung befriedigend auszulegen, oder wenn ihm ein Vorschlag
Bericht über die Tacitusliteratur ISOG— 1903. (Wolff.) 105
vou anderer Seite einleuchtet . Jedenfalls geben N.s Studien zu weiteren
fruchtbaren Untersuchungen willkommenen Anstoß.
Ein Teil der in den ,,Analecta" begründeten Lesarten hat bereits
in N.s bisherigen Tacitusausgaben Aufnahme gefunden. Agr. 14, 5
verwirft er die seit Rheuanus übliche Umstellung vetere consuetudine . . .
ut haberet und vertritt die Ansicht, daß ut aus Dittographie von mansit
entstanden und habere zu lesen sei. Der taciteische Gebrauch des
Infin. in ähnlichen Verbindungen, mit mos^ ratio, cupido, negotium
(vielleicht auch Dial. 3, 20; s. unten), natura (I 55,5; II 20, 7),
macht diese Vermutung sehr annehmbar. Vgl, auch Caes. b. g. IV 7
Germ, consuetudo haec sit resistere neque deprecari. Dräger, H. S.
IP 278 ff. und 359 ff. — Agr. 16, 12 hält N. das überlieferte sinnlose
eiusque für nichts weiter als eine Doppelschreibnng von et ut suae
(etusue). Damit fiele in der Tat jede Schwierigkeit der Auslegung
fort, und Burnonf träfe so das Richtige: „avec la durete d'un homrae
qui venge sa propre injure". Der gewollte Gegensatz von suae und
publicae (rei p.) iniuriae stimmt ja auch am besten zum Vorhergeheuden,
mögen wir nun proprius oder, mit N., praecipuus lesen. Vgl. 3, 70, 7
sane lentus in suo dolore esset: rei publicae iuiurias ne largirctur;
14, 43, 18. Caes. b. g. I 12, 7; 20, 5. — Auch an der arg ver-
dorbenen Stelle 6, 16 vermutet N. den Fehler in der irrtümlichen
Wiederholung von lertia (•= inertia) und möchte lesen: idem praeturae
[certior et] silentiura. Die Aushilfe des Rheuanus mißbilligt N., weil,
tenor sonst bei Tac. nicht vorkomme. Mehr aber als die lexikologische
spricht m. E. dagegen die diplomatische Unwahrscheinlichkeit. Dies
gilt auch für Urlichs' Heilungsversuch K, 19 a. E. auctiore pretio.
Die hdschr. La ac ludere pretio, verdächtig schon wegen des voraus-
gehenden per ludibrium, harrt heute noch einer annehmbaren Deutung;
auch die durch den Toletanus gestützte leichte Konjektur von Wex:
ac luere pretio, die N. in seiner Neubearbeitung der kl. Schriften (s. u.)
akzeptiert, läßt keine recht befriedigende Erklärung zu.
Mit Recht erklärt sich N. dagegen, 34, 7 ruere, wie Selling,
Spengel und nach ihnen die meisten Gelehrten wollten, als Perfekt zu
fassen; denn Livius, Curtius und Tacitus brauchen das Perf. dieses
Verbs überhaupt nicht, während ruere als historischer Inf. gerade bei
Tac. ziemlich häufig begegnet. Einigermaßen wird ruere . , . pelle-
bantur geschützt durch 3, 26, 5 postquam exui . . . incedebat. Zu
penetrantibus ist natürlich nobis zu ergänzen, da Agr. deutlich auf
überstaudene Schwierigkeiten des Marsches (paludes moutesve et flumina
. . . tantum itineris, Silvas . . . aestuaria) und einzelne ,in agmine"
erlebte Begegnisse Bezug nimmt. — 37, 20 liest N. nacli der besseren
Hs und Rhenanus: persultare, wie die meisten; perscrutari kommt bei
106 Bericht über die Tacitusliteratur 18PG— 1903. (WolfiF.)
Tac. sonst nicht vor, würde auch gerade zum letzten Objekt rariores
(„lichtere") Silvas minder gut stimmen. — Zu 41, 13 comparantibns
cunctis merkt N. an, daß Tac. durchweg cunctis oder nniversis setzt,
so oft ein auf ibus ausgehendes Nomen vorangeht oder folgt. Omnibus
dagegen steht regelmäßig bei den auf is endigenden Worten. Noch
strenger meidet ein solches Homoeoteleuton -ibus -ibus (-is -is) Ammia-
iius Maiceliinus.
Zur Germania bringen die Analecta nichts sonderlich Neues.
An die Parallelen zu 11, 5 auspicatissimum initium: Quintil. X 1, 85 a.
exordiura, und Plin. ep. 9, 17 (Ammou fügte ep. 10, 28 hinzu) ist schon
früher erinnert worden (von Diltbey und dem Ref.). Vgl. auch Plin. n. h.
16, 75. — Auch brauchte nicht erst bewiesen zu werden, daß die Gegen-
überstellung vivere-mori häufiger ist als vivere-perire; wenn aber N.
daraufhin sowie wegen der Varianten der Hss pariendum (B) und perien-
dum (G) — par oder per sei nur versehentliche Wiederholung der ersten
Silbe von paratus — G. 18 a. E. moriendum für das kiäftige pereundum
einsetzen will, so ist er auf dem Irrwege. — Mit 20, 7 pares validaeque
vergleicht N. sehr treffend 28, 15 a similitudine et inertia Gallorum,
und IV 86 a. E. disparem mitioremque naturara; auch Decl. mai. 4, 14
parem dignamque faciem. Ich möchte, vorausgeset-'.t, daß meine Vermutung
das Richtige getroffen hat, hinzufügen II 100, 17 inter malos et similes.
Jedenfalls wird durch diese Beispiele Baumstarks Auffassung von 20, 7
pares (sc. aetate) , gleichaltrig" als einseitig erwiesen. Sachlich kommt
es freilich auf dasselbe hinaus, ob ich sage: gleichaltrig uud gleichkräftig
oder: in gleicher (jugendlicher) Vollkraft. — Im Gegensatz zu seiner
früheren Ansicht findet N. jetzt keinen Anstoß mehr in 6, 13 apta et
congruente; er vergleicht Sen. contr. 7 pr. 6 apte et convenienter;
Quint. V 10, 123 aptum atqne conveniens. — Ob die Änderung Praramers
(oder kommt Heraus die Priorität zu?) 22, 2 occupet notwendig sei,
will N. nicht entscheiden, nimmt sie jedoch in seine Ausgabe auf. —
Die Stelle 23, 1 hordeo aut frumento schwebte wohl Amm. Mqrcellinus
vor, als er 26, 8, 2 schrieb: est auteni Sabaia ex ordeo vel frumento in
liquorem conversis paupertinus in Illyrico potus. Übrigens ist frumento
schwerlich = alio frumento. Ob man damals schon Weizen in Germauien
baute, danach wird sich Tac. kaum so genau erkundigt haben; ergreift
eben die beiden für die Dierbereitung wichtigsten Getreidearten heraus.
Unverständlich bleibt, weshalb N. 15, 8 die Genetive vel armentoruni
vel frugnm, als von conferre „abhängig", in Vergleich zieht mit Amm.
Marc. 21. 16, 7 nee poniorum . . . gustaverit.
Beachtenswert ist, was N,, an die Varianten der Hss 30, 4 ac und
atque anknüpfend, statistisch nachweist: 1. Tac. schreibt stets simul ac,
pariter ac, periude ac, aeque ac vor konsonantisch anlautenden Wörtern;
Bericht über die Tacitusliteratur 1890- 19(>3. (Wolff.) 107
2. atque braucht er vor Konsonanten überhanpt selten, und zwar nur
in der Verbindung zweier Kinzehvöiter, wenn kein weiteies Wort da-
zwischen tritt. Danach ist 30.4 die La simnl ac deponit vorzuziehen,
und die einzige x\usnahn)e von der Regel, V 12, 7 atque per avaritiam,
wird stark verdächtig (auch schon im Hinblick auf das kurz vorher-
gehende atque!). Vielleicht ist hier ita statt atque zu lesen; irgendeine
Übergaugspartikel dürfte doch nötiir sein. Jene il"gel erweist auch, daß
Brotiers Vorschlag 1, 8, 9 atque (statt aut) cohoriibus zu schreiben,
verkehrt war. — Tagmanns Emendation 42, 5 praeciugitur (Plin. n. h.
II 166; V 143; vgl. den Gebrauch von praetexere und praetendere) ver-
wirft N. schon aus dem Grunde, weil Tac. praecintro sonst nirtceuds ge-
brauche; er möchte fiuis vor Danuvio einschalten und führt eine Menge
ganz belangloser Stellen für den Gebrauch von peragere auf. Aber
geht es nicht ohne jede Textänderung? Vgl. Mela II 16 (Thraecia)
qua laiera agit, Histro pelagoque contingitur. An unserer Stelle ent-
schuldigt velut offenbar eine etwas ungewöhnliche Wendung: frons (G.)
Danuvio peragitur, soweit die „Stirnseite" Gerraauiens (auf der langen
Strecke) durch die Donau gebildet wird.
Hist. I 12, 11 in Titi Vini odium (.Acidalius: odio) sucht N.
zum Überfluß duich Analoe:ien aus den Scriptores hist Aug. zu schützen.
— Die schöne Periode I 15, 23 inrumpet adulatio — utilitas vergleicht
er, außer mit Agr. 41,4 sed infensus — laudautts, mit Sen. de beuef.
1, 10, 2 nunc conviviorum vigebit furor et foedissimum patrimoniorum
exitium, culina, und 4, 11, 5 illa depravabat spes metus et inertissiraum
Vitium, voluptas — das ist ganz der auch in den Betrachtungen der
Germania wiederklingende Ton. — Ob I 33, 9 besser indignatio re-
languescat (Halm; M indignatioue languescat) oder nach J. Gronov
elanguescat (so die meisten) zu schreiben ist, steht dahin. Daß re-
languesco bei Tac. sonst nicht, elanguesco dagegen zweimal vorkommt,
kann nicht entscheidend sein. N. vermutet als echte La languescat.
Der Abschreiber habe vielleicht in als Präposition genommen und des-
halb ans indignatio den Ablat. gemacht.
Von der Stelle I 38, 2 ab exilio ausgehend, zeigt N., wie sorg-
fältig Tac, gleich andern feinfühligen Schriftstellern, vermieden hat,
auf einsilbige Wörter solche mit gleicher Anfangssilbe folgen zu lassen.
Eine Ausnahme macht zunächst das häufige in in- (doch sei 14, 48 a. E.
quin in insula unwahrscheinlich und vielmehr quin et in insula zu ver-
bessern); selten findet sich de de-, nie rae-, re re-, si si- (hier darf auf
die berechtigte Athetese hingewiesen werden II 83, 10 si [sibi] Brun-
disiam); dagegen kommen bei Tac. überhaupt nicht vor:
1. ab ab-, ad ad- (at-), cum cum-, ex ex-, ob ob- (op-), per per-,
post post-, prae prae-, pro pro-, sub sub-.
108 Bericht über die Tacitusliteratur 1S96— 1903. (Wolff.)
2, at at- (ad"), ne ne-, qua qua-, qui qui-, se se- (sae-j (I 88, 5
koDJiziere Ritter falsch: se secum expedire-), ut ut-.
Diese Feststellungen können natürlich in manchen textkritischen
Streitfragen die Entscheidung bedeutend erleichtern: 3, 1, 8 fidissimum
adpulsu (M adpulsü, Döderlein ad adpulsum); 4, 3, 10 adulterio pellexit
(so auch Nipp.-Andresen 9. Ausg., was N. nicht beachtet); nicht in
Betracht kommt ohnehin 13, 48, 4 ne necem (Walther) gegen Nipper-
deys Emendation ne caedem; 15, 72, 9 darf die Lücke nicht ausgefüllt
werden: Nymphidio qui quia nunc . . .; 11, 7, 11 ist die La senatores
qui quieta le publica (es genüge qui e[ta]re publica), und Agr. 19, 18
Bezzenbergers Vorschlag pro proximis (schon aus obigem Grunde)
zu verwerfen. Auch Halms Lesart 13, 44, 14 ex qua quasi incensus
(besser wäre auf jeden Fall: ea quasi incensus) ist angesichts dieser
Beobachtungen ebensowenig zu billigen wie die Konjektur J. Müllers
D. 25, 8 qua quasi cominus nisus. — 14, 2, 4 möchte N., um das
, lästige" se saepius zu vermeiden, schreiben: offerre <t se ei>
saepius; aber die Heilung ist durch vermehrte Einschaltang schwerlich
zu erzielen. Die La offerret saepius temulento comptam ist ganz ver-
ständlich und des Tac. Sprachgebrauch gemäß. Vgl. 1, 35, 13 promptos
ostentavere (sc. se); 4, 59, 17 ut erectum et fidentem animi ostenderet;
5, 5, 6 paratos ad ultionem vi piincipis impediri testarentur. An diesen
und ähnlichen Stellen hat die Kritik geglaubt, das Fürwort se ein-
schalten zu sollen.
II 25, 11 liest N., auf IV 2, 14 und G, 41, 8 Bezug nehmend,
unde rursus <erumpere> ausi; doch ist die Prägnanz unde rursus ausi
hinlänglich gesichert, durch V 11, 3 longius ausuri und II 71, 12 ad-
versus Neronem (Urlichs add. vim) ausus; 4, 59, 18 neque ausurum
contra Seianum. — Das Bestreben, aus dem Text des Tac. auffallende
Anomalien, durch Streichung oder durch Einschaltung von Worten oder
Wortteilen, zu beseitigen, führt N., wie man sieht, öfters zu weit. II 81, 3
zweifelt er (wie Andresen, s. S. 96) die Eichtigkeit von inservientium
an. Das Kompositum bezeichne nicht politische Unterwürfigkeit. In
sei Wiederholung der ersten Silbe von ingens. Möglich; vielleicht aber
hat Tac. eine leichte Schattierung des Gedankens beabsichtigt. — I 4t:>
a. E. ist zu lesen: in M. Icelum ut [in] libertum; denn Tac. pflegt in
solchen Verbindungen die Präposition nicht zu wiederholen. — Auch I
42, 7 findet sich ein unberechtigtes, aus der Vorzeile eingeschlichenes
in: in utrumque latus transverberatus. Vgl. Liv. 21, 7, 10 adversum
femur tragula gr. ictus cecidit; Plin. n. h. 7, 103 vulneratus umerum,
femur.
Zu III 25, 14 hatte N. schon 1884 vorgeschlagen, violatos zu
lesen. Indem er dies von neuem empfiehlt, geht er auf die von den
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.) 101)
meisten gebilligte La placatos gar nicht ein. III 65, 5 macht er den
aussichtslosen Versuch (ganz gegen seine Gewohnheit) ein ar. Xsyoiievov :
praecaute (M prae) einzuschwärzen; IV 15, 12 beseitigt er, wie Haase
und Heraus („ein Notbehelf), das überlieferte occupata. Daß übrigens
alle anderen Editoren von Weißenborns Kouj. occnpatum befriedigt
seien, ist unrichtig, wenigstens was Meiscr (accubantia) und den Ref.
betrifft. — Wie leicht eine übertriebene Benutzung der Statistik zu
Fehlschlüssen verleiten kann, zeigt N.s Ausführung zu IV 29, 5, wo ge-
wöhnlich effulgens (M et fulgens) gelesen wird. Weil nämlich das
Kompositum von Tac. nur dreimal, und zwar zufällig im Perf. und
riusqpf., fulgens aber öfters angewandt wird, so will N. nur das
letztere an unserer Stelle als berechtigt anerkennen; zieht aber den
ganz verschiedenen Zusammenhang der einzelnen Stellen nicht in Rech-
nung. Man vergleiche nur: 1, 24, 11 legioues non laetae . . . nequc
insignibus fulgentes, sed inluvie deformes et vultu, und IV 29, 5 si quis
audacia aut insignibus effulgens, ad ictum destinabant! Die Erklärung
der Textverderbnis : „spurium et ex superioribus irrepsit" ist außerdem
hier gar zu wohlfeil. — V 4, 14 verlangt der Sprachgebranch des Tac.
quod e Septem sideribus, nicht de. Die Möglichkeit eines Schreib-
versehens lag allerdings nahe genug (Dial. 21, 3 unum de populo gilt
für N. nicht als Gegeninstanz).
Auch die Annalen hat N. mit vielen Emendationen bedacht, die
zum Teil schon in seine Ausgabe von 1890 (s. m. Anzeige in N. Phil.
Rdsch. 1891 Nr. 2, S. 22—25) aufgenommen sind. 1, 17, 14 cle-
mentiam für saevitiam soll freilich nur „Notbehelf" sein, allein wir be-
dürfen eines solchen gar nicht. Gerade die auf den ersten Blick be-
fremdende Verbindung verschiedenartigster Begriffe ist, ich möchte
sagen, zu echt taciteisch, als daß wir ändern sollten. Ganz ähnlich
heißt es Agr. 31, 8 Britannia Servituten! suam cotidie emit, cotidic
pascit. — 2, 64, 10 ipsorumque regum <diversa> ingenia: ein ziemlich
willkürlicher, durch den Hinweis auf I 62, 1 und ähnliche Beispiele
mangelhaft begründeter Zusatz. — 2, 69, 4 temptabantur glaubt N.
befriedigend erklären zu können. Die gewöhnliche La iutentabantur
(so nach Wurm) stehe nicht im Einklang mit dem Stil des Tac, der
intentare (2 mal) und intendere nicht mit in c. acc, sondern mit dem
Dativ der Person konstruiere. Dieses Bedenken ist jedoch nicht stich-
haltig; man vergleiche die analogen Verbindungen: contumelias (probra)
iacere, ingerere, effundere, selbst inferre, dicerc in aliquem! Acerba
temptare scheint mir nicht zulässig. — Zu 4, 4, 13 exsequendum veor
(N. möchte etwa ut noscatur oder sciatur einschalten) bemerke ich, daß
derartige Brachylogie bei Tac. nicht unerhört ist; vgl. 4, 57, 6 pleram-
que permoveor, num . . . verius sit, „ich werde (wenn ich darüber
110 Bericht über die Tacitusliteratur 1S96 -1903. (Wolff )
nachdenke) unsicher", , schwanke' . . . Und selbst diese Redeweise ist
nicht „neu" (Nipp), da schon Cicero ad Att. I 14 schreibt: intellexi
hominera moveri (xiveTj&ai) iitmm [crederer] Crassum iniie ... — Um
Prammers (uml Nippel dt^ys) Verdacht, daß 4, 11, 6 hinter unicura das
W. filium ausgefallen sei, zu widerleg;en. läßt N. gleich eine ganze
Kolonne von Beispielen aus den , Deklamationen* aufmarschieren. Auch
wir sprechen in ähnlichem Zusammenhang vom „Einzigen", „Altesten"
usw. ohne Gefahr eines Mißverständnisses. — Mit Recht wird 4, 49, 10
eque (M, = aeque) als iriige Wiederholung aus dem Vorausgehenden
bezeichnet. Die Korrektur equi (Lipsins) erregt auch ein sachliches
Bedenken. Ihren Bestand an Rindvieh mochten die Bewohner der un-
wegsamen Balkanhöhen, denn diese sind ja gemeint (qui montium editis
incultu . . . agitabant, 46, 2) mit sich unter demselben Dache halten;
von Pferden ist in der ganzen Erzählung keine Rede. Übrigeus ist ja
der Ausdruck armenta weit genug, um auch Pferde und Esel miteinzu-
schließen, wie 1'6, 55, 9 pecora et aimeiita militnm. — 4, 65, 4 auxi-
lium tulisset (Lipsius). Döderleins La ai.xilium <por> tavisset (nach
Sali. Cat. 6, 5) sei dem Spracligebrauch des Tac. zuwider, der nur
opem, subsidium, auxilium ferresagt; alleidings kommt auxilium ferre bei
Tac. auch nur einmal vor, — 4, 69, 13 reiiceus adv. proximos (Weißen-
born) bedeutet zwar keine recht befiiedisjende Heilung der Stelle, noch
weniger aber das von N. befürwortete doppelsinnige egens <tidei> Für
tegens (Lipsius) fehlt es an passenden Belegen. — 5, 4, 8 ist tue rich-
tige Wortfolge: posse . . . paenitentiae seni <esse> — so schon
Ruperti — , nicht esse seni; denn so oft Tat', pcsse von ilem zngehö.'igeii
Infiü. trennt, stellt er diesen, wie 2 Dutzen 1 Beispiele lehren, aus Satz-
ende, — 5, 10, 5 per ilolumque (M qui) scheint, unrichtig:, da Tac.
nirgends (16, 2, 7 ist die La zweifelhaft; III ÖO, 10 hat man korrigiert,
s. Lex. Tac. 1257a unten) que an ein von einer Präpositit)n abhängiges
Wort anfügt. Auch Caes. b. g. II 11 a. E. sab occasmiique hat Meusel,
dem Kraner-Dittenberger folgt, que «etilgt. — 6, 13, 5 ist quibus e
provinciis (M et) nach fast konstantem Gebi-auch des Tac. zu schreiben.
Mit Ausnahme von zwei Fällen gehören alle, wo ex vor pr sich findet,
erst den letzten Büchern der Annalen an (vor provincia hat er nur e).
Demgemäß liest N. (wie Meiser) III 27, 8 dum ej^tj proximis agris; IE
24, 16 super hos e[t] praetorio; III 1 a. E. e[t] praesentibus (wie Nipp.).
— 6, 31 a. E. streicht N. außer ut auch die W. sponte Caesaris als eine
,, Randglosse" zu auctore. Diese Athetese ist methodisch kaum zu recht-
fertigen, wenn auch das handschriftlich Überlieferte schon des Tonfalls
wegen ( — uu — uu — uu) unmöglich ohne Änderung beibehalten werden kann.
11, 1, 7 bietet M coutionem populi R., wofür Halm contione in
populi R. verbesserte. Das will N. nicht gelten lassen. Tac. setze
Bericht über die Tacitu&literatur 1896-1903. (Wolff.) Hl
zwar mitunter (in den Annalen!) nach Dichterweise die Präposition
zwischen das Snbstantiv und einen zugehörigen Genetiv (Nipp, zu 3.
72, 4), doch beschränke sich dies auf die Präpositionen ab, ad, apud, inter.
Was also für ab in einem Einzelfalle, 4. 5, 8 initio ab Suriae, als zu-
lässig gilt, soll für in ganz unwahrscheinlich sein! Die diplomatische
Schwierigkeit kann doch gegen Halms Emendation kaum in Betracht
kommen. Den bloßen Ablat. contione halte ich in dem gegebenen Zn-
sammenhange nicht für passend; wenigstens läßt er sich nicht durch die
von N. angerufenen, verschiedenartigen Beispiele stützen: II 82, 10
Muc. prima contione . . . ostenderat, und III 36, 11 frequenti contione
laudibus cumulat. — 12, 37, 12 vinclis absoluti (M) hat Lipsius in ex-
solati geändert », Ritter soluti) ohne Not; denn man braucht keineswegs
in , ungewöhnlicher Snperstition" der Florentiner Hs gegenüber befangen
zu sein (wie Oielli von Nipperdey vorgeworfen wurde), um mit Noväk
für das übeilieferte absoluti einzutreten. Äußer auf Germ. 31, 7 donec se
(vinculo) . . . absolvat, verweist N. auf zahlreiche Beispiele ähnlicher
Verbindungen bei Apuleius hin. — 13, 25, 12 wird gewöhnlich, nach
Agricolas Hs, gelesen: quia vi attemptantem acriter reppnlerat (M via
temptautem). Nach N.s Ansicht ist via aus quia entstanden und als
entbehrlich zu streichen. "Warum aber korrigieren wir nicht lieber
vim temptantem (= v. parantem)? — Anch die Textverderbnis 13. 56, 7
terra uiuam in qua glaubt N. auf eine Art Dittographie zurückführen
zu sollen; er hält die Erwähnung des Lebens hier nicht für angebracht (?)
und liest, wie schon Nipp, (opusc. S. 364) wollte, terra in qua moria-
mur. Mir scheint Döderleins Emendation ubi vivamus weitaus die sinn-
reichste und einfachste zu sein. — 14, 20, 18 auctum iri (Madvig; M
augurii) ist verdächtig. Der Inf. fut. pass. findet sich nur noch 11, 27,
1 Visum iri; Lipsius schrieb augeri <debere>. N. glaubt mit der Än-
derung argui helfen zu können (arguere = anfechten, protestieren gegen),
doch verstehe ich nicht, wie er diesen Begriff mit der Ironie der Rede
in Einklang bringen will. Am nächsten liegt m. E. die Korrektur
augeri. — 13, 47, 9 bietet M: fato quievit atas, woraus man fast ebenso
leicht fatoque evitatas als, wie N. will, fatoque vitatas herauslesen kann.
Daß Tac. das einfache vitare auch = evitare braucht, lehrt I 18, 5
quae fato manent . . . non vitantur. Wir dürfen uns also nicht zu
streng an die Definition halten, die Porcellini unter Berufung auf Cic.
de fin. V 7, 20 und Sen. ep. XV 1 (93) a. E. gegeben hat. — 15,
19, 1 verdächtigt N. den Superlativ pravissimus mos (M pravissimos) ;
denn 1. komme pravus bei Tac. zwar ziemlich oft vor, doch nur im
Positiv vor (kein Grund! Das viel häutigere honestas steht auch nur
einmal, II 71, 6, im Superlativ), 2. der Positiv reiche für den Zu-
sammenhang völlig aus; 3. die Verderbnis der ursprünglichen La sei
112 Bericht über die Tacitusliteratur 189G— 1903. (Wolff.)
leicht zu erklären; analoge Fälle sind nicht selten. Dieser kumula-
tive Beweis hat nur in seinem dritten Glied einiges Gewicht, das durch
Andresens Darlegungen (Progr. 1899 S. 16 f.) namentlich auch durch
den Hinweis auf III 17, 2 (fortis militis) verstärkt wird. Die arg
korrupte Stelle 15, 35, 6 wird bei Nipp.-Andresen so gelesen: quin
inter libertos habere, gewiß eine kühne Emendatiou des überlieferten
quiue in nobiles. Nun findet sich das affirmative oder steigernde quin
bei Tac. selten ohne Zusatz (sicher nur dreimal; zweifelhafte Stellen
sind II 18, 6; 14, 48 a. E ). N. gibt eine vollständige Übersicht des
tacit. Gebrauchs von quin etiam, quin et (in den Ann. weit überwiegend),
quin immo, quin ipse, and empfiehlt au unserer Stelle quin et zu lesen.
Was hinter in nobiles stecken möge, wagt er nicht zu entscheiden.
Sollte nobiles durch Dittographie aus novisesse (e) entstanden sein?
Dann wäre zu leseu: quin et (etiam) habere, quos sq. Vgl. 16, 22, 12
Et habet sectatores vel potius satellites sq. — 15, 57, 5 sie primus
quaestionis dies contemptus (M.; Nipp. u. a.). Dafür las Prammer,
dem früher auch Noväk beistimmte: cousumptus. Wenn N. hiergegen
jetzt einwendet, Tac. schreibe in den Annalen absumere, nicht consumere
tempus, diem — und contemptus könne doch nicht aus absumptus ent-
stellt sein — so läßt sich aus deu zu Gebote stehenden Beispielen
keineswegs ein stilistisches ,,Entwickelungsgesetz" ableiten, auf Grund
dessen diese textkritische Frage entschieden werden könnte. Man
betrachte nur die Stellen: Agr. 21, 1 hiems absumpta; 23, 1 quarta
aestas insumpta; G. 11, 10 dies . . . absumitur; III 40, 9 tempora
cousultando consumpsit; IV 43, 11 consumptus per discordiam dies;
2, 8, 9 plures dies . . . absumpti; 3, 17, 13 biduum . . . absumptum ;
5, 7, 1 partem diei absumpsit. Von D. 3, 16 omne tempus . . . con-
sumas uud 14 a. E. otium suum consumere will ich ganz absehen.
Jedenfalls wird sich aus diesem Überblick zur Genüge ergeben, daß,
falls überhaupt eine Textänderung für erforderlich gilt, Prammers Kon-
jektur nach dieser Seite hin am wenigsten bedenklich ist.
Im Anschluß an die ,,Analecta" sei noch die zweite Auflage
der von Novak 1889 zuerst herausgegebenen Bearbeitung der drei kleinen
Schriften des Tac. erwähnt.
33. Cornelii Taciti Germania, Agricola, Dialogus de
oratoribus, zum Schulgebr. herausg. von Robert Noväk. Zweite
Auflage. Prag, A. Storch Sohn, 1902. XII, 96 S. 8.
Die Einleitung ist in böhmischer Sprache geschrieben, so daß
ich darüber nicht referieren kann. Die Zahl der in der „Adnotatio
critica" verzeichneten Textäuderungen (einige sind bereits oben erörtert
worden) ist noch immer überaus groß, obwohl N. einen Teil der be-
denklichsten Konjekturen mittlerweile hat fallen lassen.
Bericht über die Tacitusliteratur lS0ß-l!)O3. (Wolff.) 113
In der Grermania liest er: 2, 18 eo (sc. Maiino) statt deo; 2
a-. E. cum omnes primum a victis ob metum, mox . . . vocarentur;
5, 5 sucht er den freilich höchst auffallenden Subjektswechsel zu be-
seiti2:en, indem er improcerorum liest; 7, 4 wird admiratione beseitigt;
17, 4 ändert er: Sarmatarura ac Parthorum; 17 a, E. nuptis für nup-
tiis; hier soll ambiuiitur = cinguntur sein! K. 18 wird nicht nur
munera hinter probant (als „reine Dittographie"), sondern auch Z. 5
hinter baec ausgestoßen. '60, 3 schreibt N. si quidem herum colles p.
rarescunt, [et] Chattos suos . . . deponit. Verdächtig erscheinen N.
folgende überlieferte Worte; 3, 4 ipso cantu; 3, 10 hunc; 4, 4 in tanto:
8,6 nobiles; 12,6 dum puniuntur (als Interpolation); 19,6 maritus
(„wenigstens überflüssig"); 37 a. E. proxirais temporibus. Manche der
angeführten Bedenken verraten eine arge Verkennuug des Zusammen-
hangs der betr. Stellen, andere müssen gerade bei einem so feinen
Beobachter des Sprachgebrauchs wie Noväk besonders auffallen.
Mit Recht hingegen hat sich N. der Überlieferung angenommen
an folgenden Stellen: 4, 1 opiniouibus; 6, 12 dextros agunt; 15, 7 con-
ferre armentorum vel frugnm (wegen des Gen. vgl. Amm. Marc. 21,
16, 7); 28, 6 igitur inter Hercyniam; 35, 2 redit; 36, 5 nomina supe-
riori sunt. Die etwas zu gewaltsamen Umstellungen in dem Text der
Schlußkapitel macht N. nicht mit. — In der ersten Ausgabe hatte er
32, 2 geändert accolunt, ,^quam lectionem paulo post proposuit Zernial";
nun ist er wieder davon zurückgekommen. Sehr willkürlich verfährt N.
mit dem Schluß des K. 38: [principes . . . habent] ea cura . . ., sed
in altitudinem . . . compti sunt [ut hostiura oculis ornanturj.
Eine noch weit lebhaftere Tätigkeit entfaltet er in der Textkritik
des Agricola. Hier kommen die jüngst bekannt gewordenen Lesarten
der Toledaner Hs mit in Betracht, von denen mehrere sich in der Tat
als ursprünglich, andere als wohlerwogene Korrekturen erweisen, wie
26, 8 nonanis für Romanis. Einzelne der bisherigen Verbesserungs-
vorschläge erhalten durch den Toletanus erwünschte Bestätigung oder
Bekräftigung: 17, 8 subiit sustinuitque (Halm); 18, 20 subitis consiliis
(J. Fr. Gronov); 18, 22 patrius (Puteolan.); 19, 16 ac luere pretio
(Wex). Beachtung verdient ferner 15, 18 et cedendum (AB et exce-
dendum); 27, 7 se victos; 30, 10 nee uUa; 31, 5 ager atque annns,
wie F. Jakob wollte; vielleicht auch 36, 4 quattuor Batavorum (Ha-
plographie?); 38 a. E. praelecto. Das Bessere hat der Toletanu«
jedenfalls 6, 12 ac solacium (hier liest N. et); 30, 15 ac saxa, wo A
und B et bieten (vgl. 30, 9 pp. ac subsidiuni; 30, 12 r. ac sinus usw.);
dagegen sind als verunglückte Konjekturen zu betrachten 6, 11 naetns
«st ibi filiam und 16, 5 in barbaris ingeniis. N.s Vorschlag in bar
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXl. (1904. IL) S
114 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
baris suetum findet im Sprachgebrauch des Tac. keine Unterstützaa?.
— Mit einiger Genagtuung stellt N. fest, daß seine Ergänzung 15, 18
plus impetus <felicibu8> durch den Toletanus bestätigt worden sei, und
doch beweist diese Übereinstimmung vielleicht nur, daß auch jener
gelehrte Abschreiber an einen beabsichtigten Gegensatz glaubte und
deshalb konjiziereud zu dem nächstliegenden, dem Zusammenhang aber
nicht angemessenen Ausdruck gegriffen hat. Für solche äußerliche
Gegenüberstellungen sind dann (wie für vivendum — moriendum G. 18,
12; s. 0.) freilich Parallelen in Hülle und Fülle zu haben.
Von sonstigen Textäuderungen N.s sind bereits früher (von An-'
dresen) als erwägenswert bezeichnet worden: 3, 2 insociabiles (für das
aii. eip. dissociabiles); vgl. 13, 17, 5 insociabile regnum; 16, 10 i)rae-
cipuus; 28, 6 profugo; 30, 13 namque statt atque. Auch die nach
Wölfflin und Bährens hergestellte La 31 a. E. nou in patientiam nati
hat viel für sich; patientia „Unterwürfigkeit" wie IV 27, 13; Liv.
VI 26, 1.
Daß N. den Dialogus mit Agricola und Germania in einem
Bändchen vereint (auf dem Titelblatt ist zwar, wohl in symbolischer
Absicht, Dial. de or. etwas kleiner gedruckt) herausgegeben hat, muß
füglich wundernehmen, da er doch für die Textkritik des D. vor-
nehmlich die Sprache Quintilians als Maßstab nimmt. Denn davon ist
N. heute fest überzeugt: entweder hat das „Gespräch"* denselben Ver-
fasser wie die Institutio oratoria, oder Tacitus muß, vorausgesetzt, daß
er es doch geschrieben, Quintilians Redeweise ganz wunderbar nach-
geahmt haben. — Bekanntlich wurde die Autorschaft des Tac. neuer-
dings wieder von Weidner und Valmaggi bestritten, von ßibbeck als
„nicht erwiesen" betrachtet. — Natürlich kommt nun N. in vielen text-
kritischen Fragen jetzt zu anderen Ergebnissen als zu der Zeit, wo er
noch an den taciteischen Ursprung des Dial. glaubte; im ganzen neigt
er zu einem konservativen Verfahren, das er in einigen Punkten dem-
nächst eingehender zu begründen verspricht. Andererseits freilich hat
die Supposition der Autorschaft Quintilians und die dadurch bedingte
Rücksicht auf dessen „oratoria überlas" gewisse Einschaltungen zur
Herstellung des postulierten „Ebenmaßes" veranlaßt, die ich nicht loben
kann; z. B. 3. 2 sedentera eum et ipsum; denn daß in solchen Fällen bei
Tac, gerade die Auslassung des Fürworts die Regel ist, weiß N. jeden-
falls auch. Überflüssig sind ferner die Ergänzungen: 5, 3 se excusent
(nach Pithou); 5, 17 hoc Studium; 6 a. E. quamquam grata sint,,
quae diu serantur sqq. liest sich glatt, fast zu glatt, selbst für Qnintilian;
9, 20 praecerpta, languescens „vel simile quid" (evanescens? — eva-
nescit et?); 14, 16 primi oratores; 14 a. E. damnari (Halm); 12 a. F.
ist der Gleichmäßigkeit (mit includi) wegen esse hinter posteros ein-
Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. ^Wolff.) 115
geschoben worden. Dem „usus Quintilianeus" widerstrebt selbstverständ-
lich 15, 14 Graiis (Hs gratis), weshalb nach Dronkes Vorgang Graecis ge-
setzt wird. — 3 a. E. liest N. wie L. Constans u. a. adgregare; vgl.
6, 12, 16; Liv. III 4, 9. Dräger, H. S. II- 280. — Als interpoliert
betrachtet N 11, 17 cuiusque; auch 17, 22 et quidem, wofür Nissen aeque
idem emendierte, erscheint ihm verdächtig. 25, 17 numerosior soll nicht
vom Rhythmus, sondern von dem Stoffreichtum (?) zu verstehen sein,
durch den sich des Asiiiius Reden auszeichneten. Ein arger Irrtum!
Denn erstens ist numerosior nicht = copioslor, und zweitens kann bei
Asinius von „Fülle" ebensowenig die Rede sein wie von rhythmischer
Anmut. Er war nach allen alten Zeugnissen so ziemlich das gerade
Gegenteil von Cicero (D. 21, 32. Sen. ep. 100, 7; 114, 15; Quint. IX
4, 76; XI, 113), mag auch Seneca in seiner Abneigung gegen die
„Alten" etwas übertreiben. Des Arpinaten nitor, copia, plenitas, iucun-
ditas ging ihm jedenfalls ab, und aus diesem Grunde hielt Meiser die
Lesart numerosior an unserer Stelle für durchaus unwahrscheinlich.
Seine leichte Konjektur nervosior habe ich deshalb unbedenklich auf-
genommen; vgl. auch John, Krit. Anh. — 27, 1 schreibt N. at verere!
Das handschr. apparte oder apparate soll aus appareat im Vorher-
gehenden entsprungen sein. — 34, 1 1 ist impune gestrichen, ohne hin-
länglichen Grund (s. John, Einl. S. 27).
Es kann ja der sprachlichen Erklärung und dem sachlichen Ver-
ständnis des Dialogus nur förderlich sein, wenn diese anziehende Schrift
wieder einmal von einem solchen Gesichtspunkte aus betrachtet wird,
wie es s. Z. durch Vogel geschehen ist, der gleichfalls Quintiliau als
den Urheber vermutete. Mit um so größerer Sicherheit wird schließlich
die Autorschaft des Tacilus erkannt und anerkannt werden. Was aber
für die Einzeluntersuchnng dringend wünschenswert erscheint, ist schär-
feres Abwägen und Prüfen des jedesmaligen Zusammenhangs problema-
tischer Stellen, und daran läßt es N. mitunter fehlen. —
34. R. "Wünsch, Zur Textgeschichte der Germania.
Hermes XXXII (1897), 42—59.
In seiner Marburger Dissertation De Taciti Germaniae codicibus
Gerroanicis (1893) hatte W. die Beschaffenheit des von Holder und
Bährens weit überschätzten Hummelianus auf Grund der uns bekannten
Vergleichungen genauer festgestellt, auch den ihm nahestehenden Vin-
dobonensis II als gleich geringwertig charakterisiert. — Der oben-
erwähnte Aufsatz gibt zuerst einen kleinen Nachtrag über eine ver-
schollene deutsche Hs, nämlich einen von J. Lipsius berücksichtigten
cod. Barabergensis, der, wie eine Zusammenstellung der von L.
8*
116 Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.)
bezeugten Laa ergab, von der gewöhnlichen Überlieferung stark ab-
weicht, und zwar in höchst willkürlichen Änderungen, so daß sein
Verlust nicht zu bedauern ist. — Sodann sucht "W". mehrere der ita-
lienischen Hss zu Gruppen zusammenzufassen und so, nach dem von
Müllenhülf (D. A. IV 83 fi) besonders empfohleneu Verfahren, den
kritischen Apparat der Germania einfacher und übersichtlicher zu
machen. Von Hss zweiten Ranges sind en^er verwandt Vatic. 2964
und der unvollständige Ottobon. 1795 (Rd und ße bei Maßmann); sie
entstammen gemeinsamer Vorlage, haben manche von der Vulgata sich
entfernende Lesunsien. einige gemeinsam, andere wieder jede für sich
besonders, so daß keine aus der anderen abgeschrieben sein kann. Die
Vorlage war eine Mischhandschrift, die sowohl Laa der Klasse AB
wie solche der Klasse CD enthielt. (Die Rd und Re mit A gemein-
same La 2, 13 ei filium hält Andresen für richtig; s. oben S. 103.)
Weiter gibt W. die vollständige Kollation einer bisher nicht be-
kannten, jetzt in der Pariser Nationalbibliothek (N. 1180) aufbewahrten
Pergamenths des 15. Jahrhunderts (sie reicht bis 44, 15 regia utilitas).
Die von W. daneben gesetzten Laa von AB und CD beweisen jeden-
falls, daß auch diese Hs, wie ihre Venetianer Schwesterhs, auf Henochs
Apographum zurückgeht, daß sie ferner an die Klasse CD sich etwas
enger anschließt als an AB, was W. daraus erklärt, daß der Archetyp
des Parisinus aus der Vorlage von CD abgeschrieben worden sei,
nachdem diese an der Hand eines Mscr. der Klasse AB durch -
korrigiert war. Sonach stehe die Vorlage des Parisinus mit D auf
gleicher Stufe; dieser biete nichts Eigenes von Belang; orthographische
Kleinigkeiten und leichte Verderbnisse habe meist schon der Korrektor
gehoben.
Eine andere Gruppe italienischer Hss — cod. Laurent, plut.
73, 20 (bei Maßm. F), Roraanus, Bibl. angel. S. 4, 42 (RQ und Urbinas
412 (Rh) — ist ebenfalls ohne Wert für die Textgestaltung. Die ge-
meinsame Vorlage stammte aus einer Mischhandschrift (CD aus AB
durchkorrigiert) und wimmelte von Korruptelen und Einschaltungen.
Nicht ohne textgeschichtliches Interesse ist dagegen der Umstand, daß
im Laurentianus wie im Romanus hinter der Germania die Elegie des
Fr. Aretinus an Pius II sich befindet, daß ferner auch der Venetus
nicht nur das Wappen der Piccolomini zeigt, sondern auch f. 1 — 16i5
Traktate, Reden und Bullen jenes Papstes enthält. Von f. 167 ab folgt
Sueton de grammaticis, f. 172 C. Cornelii Taciti cqu. Rom. Dialogus
de oratoribus, dann die Germania. „Damit kommen wir," schließt W.,
„für die Provenienz des Archetypus in die Umgebung des Aeneas Sil-
vius". Die erste nachweisbare Benutzung dieses Archetypus, aus dem
alle anderen Hss geflossen, eben durch den späteren Papst falle in das
Bericht über die Tacitusliteratur 18l)G-1903. (Wolff.) .11,7
Jahr 1458. Die Notiz des Pontanus über die ans;ebliche Auffindung
des Apographum durch Henoch von Ascoli beruhe, wie auch Voig-t
annahm, auf einer willkürlichen Verallg-emeinerune:. — Verf. bemerkt,
daß Müllenhoffs Kollationen von AC und D erschöpfend und zuver-
lässig seien, wovon er sich durch Stichproben überzeugt habe. In
seinen eigenen Zusammenstellungen hingegen finden sich einige Unsenauig-
keiten; so gibt er S. 46 als überliefert an: 1, 10 arnobe RdAC arbone
KeBD, S. 48 dagegen: Arbono m. al. arnobf^ D(AC); S. 47 steht: 5, 21
affectatione RdeAB; 8, 11 Auriniam RdeCD; 9, 3 Herculera et Mar-
tern EdeCD: 12. 8 penarura RdeABCD; aber 8. 49: affectacione AB;
Auriniam ABDVen: Herculem ac Martern CDVen; poenarum
B CD Yen. —
35. E, ßeitzenstein, Zur Textgeschichte der Germania.
Philologus 57 (1898) S. 306—317.
R. berichtet über eine von H. Breßlau kollationierte , bis dahin
unbekannte Hs der Bibliothek Gambalunga zu Rimini. Sie ist aus dem
Jahr 1476 und enthält die Germania schon von Sueton und dem Dia-
logus losgelöst. Aus den Mitteilungen über diese Hs (p) glaubt R. den
Nachweis liefern zu können, daß uns neben den Klassen AB und CD
noch eine dritte unabhängige Rezension in einigen jungen Hss erhalten,
somit eine neue kritische Grundlage gewonnen sei. — Die Hs p stamme
zugleich mit den von Wünsch (Hermes 32, 46) besprochenen, schon von
Maßmann benutzten Hss Vat. 2964 (Rd) und Ottob. 1795 (Re) aus der
gleichen Vorlage, was durch die allen drei geraeinsamen Wortausfälle
klar werde. Jene Vorlage (a) hatte noch eine Fülle von Doppel-
lesungen, die sich schon im Archetyp oder in der ersten Humanistenhs
befunden haben müssen; sie bot im ganzen einen vorzüglichen Text.
R. zeigt an Beispielen, wie die Übereinstimmung von p und Rd (aus
denen sich cod. a wiedeiherstellen läßt) meistens die richtige La bietet,
die sie bald mit Aß, bald mit CD teilt, ohne daß jedoch au Kontami-
nation zu denken wäre. Jedenfalls werde a, wo eine sachliche Ent-
scheidung zwischen AB und CD unmöglich ist, den Ausschlag geben
dürfen, ja in einzelnen Fällen (wie 9, 3) gegen beide recht behalten.
— Gewisse Doppellesungen des Archetyps sind noch zu wenig betont
und beachtet worden. Man hat z. B. D als kontaminiert bezeichnet
(Scheuer S. 28, Gudeman S. CXXXIII); das Auseinandergehen der
Hss wurde nicht genügend erklärt. Die Voraussetzung, daß von dem
interessanten Werke die Humanisten nur zwei Abschriften direkt ge-
nommen haben sollten, sei an sich unwahrscheinlich.
R. gibt aus G. 1 — 13 Proben von einigen Besonderheiten (vor-
nehmlich orthographischen) der Hs p:
118 Bericht über die Tacitusliteratur 1896—1903. (Wolff.)
3, 10 nlyxem 11, 4 coheunt (aber 11, 11
5, 10 gingere (vgl. 6, 27 Ingo- coeuntium)
minioso Rd) 11, 13 cohercendi (= CD)
5, 12 aut (—DT) 12, 4 impelles; ferner:
5, 15 comertiorum (= T) 43, 12 ligiorum
5, 20 seratos 43, 14 mannimos
6, 10 lettissimis 37, 19 raarcho quoque mallio
9, 7 aductam (marcoque malio Rd).
10, 13 praessagia
Mit Rd übereinstimmend, weist p außerdem noch manche Be-
sonderheiten auf, die sich gleich den eben erwähnten größtenteils als
Hörfehler, aus Diktat entstanden, erklären; manche sind auf allerhand
Deutungsversuche von Abbreviaturen zurückzuführen: 1, 6 apperuit,
1,8 occeano (auch 2, 5: 2, 15; 3, 11), 6, 2 tellornm (auch D), 4. 9
tollerare (= DT), 6, 19 diffinitur, 7, 13 und 14 hü; ferner humedior,
perigrino, arbore (st. arbori), destinctio, abili u. a. m.
Ein enger Zusammenhang zwischen p 4- Rd = a und CD zeigt
sich vor allem in solchen Kleinigkeiten der Schreibung wie: 1, 1 agallis
(aC), 5, 12 aut (pD), 6, 2 tellorum (aD), 13, 14 priücipium Cui (pC),
40, 21 aurit archanus (pD), 37, 5 malern (pD), aties, speties, honerare,
honeribus, ille pavent, turbe, rheti^que; überhaupt sehr oft e statt ae.
— Für die beste La der Hs p hält Reitzenstein Gr. 9, 3 Herculem et
Martern, was allerdings auch durch den Toletanus gestützt wird. —
O. Leuze, Die Agricola-Handschrift in Toledo. Philo-
logus, Suppl.-Bd. VIII, 4. Heft (1900) S. 515-556.
Was R. Wünsch und A. Gudeman kurz vorher vergeblich
versucht hatten, gelang 1900 0. Leuze: von der in der Kapitular-
bibliothek zu Toledo aufbewahrten Hs (49. 2 der Zelada-Sammlung)
Einsicht nehmen und die wichtigsten Lesarten des Agricolatextes
notieren zu dürfen. Obwohl L, die zu einer erschöpfenden Prüfung
nötige Zeit nicht zu Gebote stand, sind seine Mitteilungen dennoch,
wie inzwischen der Amerikaner Abbott bestätigt hat, vollkommen zu-
verlässig. Er orientiert uns hinreichend über den Toletanus und sein
Verhältnis zu den beiden vatikanischen Hss, in denen allein der Agricola
überliefert ist. Auf eine gemeinsame Quelle der 3 Hss weisen u. a.
die vielen gleichen Korruptelen und Randbemerkungen hin. Und um
den Ursprung dieser Marginalien zu bestimmen, ist die Kollation der
neugefundenen Hs insofern von Wert, als dadurch bestätigt wird, daß
im gemeinsamen Stammkodex bereits sämtliche Randnoten vorhanden
gewesen, daß nicht etwa Pomponius für A eine besondere Hs zur Ver-
gleichung benutzt und daraus einige Interlinear- oder Randnotizen ent-
Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.) 119
nommen hat. Der Schreiber des Toi. hnt in 5 Fällen mit gutem Urteil
der Randnote den Vorzug vor der Textlesart fjegeben: 12, 4 in pedite,
22, 15 in convitiis, 31, 4 fortunaeque, .36, 4 Batavorum, 38, 9 prelecto
(nicht Praelecla; praelegere „vorbeisegeln*). — Mit Weglassung anderer
Randnoten, wie 6, 1 digressus, 15, 7 manus, 20. 8 incitamenta, hat T,
nach L.s Ansicht, nichts Wertvolles unterdrückt.
Zahlreiche Besonderheiten von T in Fällen, wo A und ß über-
einstimmen, lassen sich nur daraus erklären, „daß zwischen dem Ur-
kodex und AB ein Mittelglied einzuschieben ist, das für A und B,
nicht aber für T Quelle war". Bei Diskrepanzen zwischen den Vaticani
steht T meistens auf der besseren Seite, in sehr vielen (etwa 114) Fällen
jedoch weicht er von dem A und B gemeinsamen Text ab, weshalb mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß T gegenüber
AB einen besonderen Zweig der Überlieferung re- x
präsentiert. — Manchmal bietet T offenbar die einzig /v
richtige (oder doch eine annehmbare!) La, wo AB t / \,Y
zweifellos korrumpiert sind: 3, 17 servitutis, 9, 13 /\
deminuit (so Lipsius), 10, 13 enorme, 13, 12 auctor A/ \B
operis ( - Puteolanus), aus dem Gegensatz zu „agitavit" (Caligula) de
intranda Br. zu erklären; 13, 15 domitie (i corr.) gentes (= Puteol.),
14, 1 Plautius (= Rhenanus), 17, 8 subiit sustinuitque (Halm), 18, 13
degredi, 18, 19 in subbitis (= J. Fr. Gronovius), 19, 2 si iniuriae
(= Puteol.) sequerentur, 19, 6 per libertos (= Puteol.), 19, 16 ac
Inere pretio (= Wex), 25, 3 timebantur (= Puteol.), 27, 7 non virtute
se victos, sed (ähnlich Lipsius und Brotier) , 34, 5 iraputari
(= Puteol.), 36, 4 Agricola quatuor Batavorum, 36, 10 tractis
(= Puteol.), «echt taciteisch'*; 38,2 ßritanni (=^ Puteol.); hier ist
Anknüpfung mit que unstatthaft, da Br. in scharfem Gegensatz zu
victoribus steht. — 39, 10 cetera (et Dittographie der Endung
von occuparet), 41, 6 Mesia, 42, 22 in uUura (Rand; nuUum) rei
publicae usum (das Kompendium für publicae in der Vorlage
von A und B falsch aufgelöst), 43, 11 constabat (= Rhenanus), 45, 4
Carus Mitius (Rand: Mettius), 46, 10 formamque (^ Muret) ac
figuram. In fast allen diesen Fällen stellt T den echten Text dar und
bestätigt viele von Herausgebern schon aufgenommene Konjekturen
älteren und jüngeren Datums. Zweifelhaft bleibt 15, 18 plus Impetus
f aelicibus, maiorem constantiara penes miseros esse. Man könnte für
die La des T geltend machen die Anwendung des Begriffes felix in
Beispielen wie ann. 15, 16 certamen virtutis et ambitio gloriae felicium
hominum; Sen. de ben. I 13, 3 cui (Alexandro) pro virtute erat felix
temeritas; Tac. h.. IV 77 felici temeritate, Tollkühnheit, die in glück-
licher d. h. die Gefahren verkennender Blindheit darauf losgeht. Anderer-
120 Bericht über die Tacitusliteratur 1896-1903. (Wolff.)
seits ist zu erwägen, daß auch die Verzweiflung der miseria den
Anstoß zum kräftigen Handeln geben kann und daß die Not o-ft
zum äußersten Widerstände Kraft gibt.
Zu der dunkeln Stelle 31, 4 bemerkt L,: Ursprünalich hieß es
Bona fortunaeque in tributum, ager atque annus in frumentura conte-
runtur. Daß Tac. diese letzte Form geschrieben, werde durch die
andern Passiva wahrscheinlich. Das Kompendium für nr fiel hier weg,
und der Schreiber des T habe den Satz nicht verstanden, aber keine
selbständige Änderung anzubringen sich gestattet. Ein anderer Schreiber
habe bona fortunae als Objekt zu dem Aktiv couterunt genommen und
den Eelativsatz quae in . . . annus gebildet; doch habe er die ursprüng-
liche La que als Variante übergeschrieben.
Andere Stellen zeigen Abweichungen von AB, wo T „zum Teil
wenigstens gleich gute Lesarten hat": 6, 11 nactus est ibi filiam(?j,
6, 11 ac solacium; (s, auch 30, 15), 9, 21 nullis in hoc ipsius sermouibus,
9, 23 eligit (Rhenan.) sei nach errat wahrscheinlicher (?) als das Perfekt;
11, 5 bellis (st. in bellis) floruisse; 52, 16 patiens fiugum pecudumque
(Rand: fecüdö) ist wegen des folgenden tarde mitescunt nicht wohl
möglich, wie L. selbst fühlt; 13, 2 imperii munia (passe besser zu den
übrigen Objekten und zu obire), 16, 5 in barbaris ingeniis (eine ver-
fehlte Emendation); 18, 22 patrins (^ Puteol.) ausgeschrieben, 21, 5
laudando promptes castigando segues (Asyndeton; nicht übel), 25, 17
cedendum (ex Dittographie von et); 26, 8 nonanis paßt vorzüglich;
30, 10 nee ulla servientium litora, 30, 15 ac saxa, vielleicht besser
(als et s.) wegen des folgenden ut inf. Rom., dem gegenüber fl. ac saxa
enger zusammengehören; 30, 16 effugias, 31, 3 effugerunt, 32, 9 tarn
deserent — Gerraani quam . . ., 33, 15 vocem (Beroald., Rhenan) paßt
mehr zufortissimi cuiusque; 36, ITminime que equestres ea. n.(^=nostrorum
oder nostris?) pugnae; 38, 2 palantes mixto — ploratu, 38, 3 notare
integros (dies wird L. nicht ernsthaft empfehlen wollen); 39, 8 supra
principe m hat auch Nipperdey vermutet, 40, 8 cum eo praecepto ut,
41,8 cum totis cohortibus, 43,6 constans rnmor veueuo intercepti
(T interceptiim; die Punkte in schwarzer Tinte) möchte L. mit dem
Hinweis darauf rechtfertigen, daß der Gen. des Part, bei fama sehr
häufig ist; analoge Verbindungen von rumor kommen bei Tac. nicht vor.
45, 14 interfuere. — An 7 Stellen hat T Abweichungen in der Wort-
stellung. .Nicht ganz sicher ist die Lesung 10, 12 unde et in Universum
fama (oder forma; dieselbe Undeutlichkeit im Text der Germ. 34, 9
und 35, 16) est transgressis et universis fama sed. Schenkl meinte,
universis könne erst entstanden sein, als das ursprüngliche in Universum
zu Universum geworden war; dann habe man das sinnlose Wort ver-
bessern und an transgressis anlehnen wollen. Nun zeigt T, daß die
Bericht über die Tacitusliteratur 1890-1903. (Wolö.j 12]
Variante transgressis scliou im Archetyp und neben in Universum stand;
damit fällt die Folgerung selbständiger Randnoten in der Familie A. —
Ohne Schönes Konjektur: unde haec in Universum forma et sq. zu kennen,
hatte L. schon früher an forma gedacht, vielleicht sei damit die La
unde et in Universum zu lialten: ,und wirklich ist diese (J estalt vor-
handen diesseits Kaledoniens, und im allgemeinen bleibt diese Form
auch in Geltung, wenn man von da aus (über Klota und Bodotria)
hinübergeht"; aber freilich nur im allgemeinen; denn zunächst zwar
springen da, wo Kl. und B. Kaledonien und Britannien tiennen (so
Audresen) noch einmal Landmassen in gewaltiger Breite und Aus-
dehnung vor; dann aber läuft das Land in eine keilförmige Spitze aus.
Der Toletanus hat außer einigen falschen Trennungen und Zu-
sammensetzungen 17 bis IS Fehler, die sich in AB nicht finden: 1, 3
mala (st. magna), 2, 11 libertade, 3, 15 exaptae, 4, 1 Tulius; ausge-
lassen sind 22, 6 ab (vor Agricola), 30, 13 omne, 41, 17 deterioribus
principem, 43, 6 nobis nihil comperti, 43, 11 dispositas; falsch einge-
schoben ist 7, 3 uam vor matrem (iiam classis geht voraus), 16, 20 sed
vor Trebellius (der vorhergehende Satz beginnt mit sed!), 10, 12 et
universis fama (Eindringen einer Randglosse in den Text], 34, 9 de-
mentium zwischen ignavorum und et metuentium; 30, 4 Colitis et zwischen
universi und servitutis. Hier ist kein äußerlicher Grund für die Ein-
schaltung ersichtlich; vielleicht aber, meint L., sei die La doch echt
und ihre Erklärung möglich (?).
Eine konsequente Orthographie herrscht im T ebensowenig wie
in AB; im allgemeinen ist der Schreiber mehr geneigt, y statt i odar
e zu setzen, besonders in Eigennamen: Calj^donia, lyburnica, Hyspania,
Tyberius, Hyberi, Trayanus, auch phylosophye (doch nicht durchweg
so); er bevorzugt t vor c (spetles) und liebt (wie A) Doppelkousonanz;
jedenfalls aber spricht die Schreibweise eher für die Selbständigkeit der
3 Hss als für Abhängigkeit voneinander.
Puteolanus stimmt in seiner editio princeps mit T in manchen
Fällen überein, wo dieser gegenüber offenbaren Korruptelen in AB das
Richtige bietet, aber so, daß es jeder gelehrte Herausgeber finden mußte,
zumal wo die Verbesserung sehr nahe lag, wie 13, 12 auctor operis,
13, 15 domitae gentes, 19,2 iniuriae, 19,6 per libertos, 19, 13 aequa-
litas, 25, 3 timebantur, 32, 20 nee tiuisquam, 34, 15 imputari, 36, 10
tractis, 38, 2 Britanni. — Die meisten besseren und teilweise weniger
naheliegenden Laa des Toi. hat Puteolanus nicht: 3, 17 servitutis,
15, 18 felicibus, 17, 8 subiit, 18, 19 subitis, 27, 7 se victos, 3G, 4 quatuor.
Von allen sonstigen Abweichungen des T hat Puteolanus nur eine:
45, 19 contingit (st. contigit); sein Text hat nach allem mit der Familie
des T nichts gemeinsam, sondern steht den Vaticaui näher. — Auch
122 Bericht über die Tacitusliteratur 1896- 1903. (Wolff.)
der „vetus codex" des Falvius Ursinus (Antwerpen 1595) kann keinen-
falls mit T oder dessen Familie identifiziert werden. —
37. Frank F. Abbott, The Toledo manuscript of the
Germania of Tacitus. The Decennial Publications of the TFni-
versity of Chicago, First Series, vol. VI. 44 S. 4°. The University
of Chicago Press, Chicago 1903.
Es hat der Vermittelnng des Erzbi.schofs von Nicaea, Monsignor
Merry del Val, bedurft, um dem Verf. die Genehmigung zu einer voll-
ständigen Abschrift des in der Toledaner Sammelhs enthaltenen Ger-
maniatextes zu erwirken. Weshalb der Vorstand der Kapitular-
bibliothek jenen Kodex so streng sekretiert hat, ist nicht recht klar;
vielleicht aus dem gleichen Grunde wie einst Kardinal Orsini, der
seinen plautiuischen Schatz vor Poggios Neugier so eifersüchtig hütete,
weil er ihn selbst zu bearbeiten und zu publizieren beabsichtigte. ,,Tant
de bruit" . . . könnte man versucht sein zu sagen, nachdem A.s über-
aus sorgfältige und übersichtliche Arbeit den Germaniatext des Toletauus
vor uns aussebi-eitet und dessen Verwandtschaftsverhältnis zu den
übrigen Hss klargestellt hat. Aus des Verf. umfangreichen tabellarischen
Übersichten ergibt sich soviel ohne Zweifel, daß die Toledaner Germaniahs
aus demselben Archetyp stammt wie die 4 maßgebenden, von MüUen-
hofif Bb Cc benannten Hss, mit denen sie die meisten Fehler gemeinsam
hat, während sie fast nur in orthographischen und anderen unwesent-
lichen Äußerlichkeiten von ihnen abweicht. Der Text der Germania
ist, gleich dem von derselben Hand des „publicus scriba" Angelus
Crullus Tuders und mit derselben Tinte geschriebene Agricolatext, von
zahlreichen Varianten am Rande begleitet; Korrekturen einzelner Buch-
staben oder Silben sind von erster Hand über den Zeilen angebracht.
Außerdem finden sich noch Verbesserungen in braunroter und in hell-
roter Tinte, etwas späteren Datums, die jedoch A. ebenfalls auf den
Schreiber des Textes zurückführen möchte. Sie sind mit einer Aus-
nahme (16, 16 non aperta, Konjektur?) aas anderen dem T nahe ver-
wandten Hss entnommen.
Was nun das Verhältnis des T zu Bb und Cc betrifift, so gibt
jener die richtige La in Übereinstimmung mit Bb in etwa 47 Fällen,
mit Cc in 33 Fällen; die unrichtige La in Übereinstimmung mit Bb
in 11, mit Cc in 9 Fällen. Hieraus läßt sich, auch ohne eingehende
Prüfung der verschiedenen Lesarten, soviel schließen, daß T den Hss
Bb zwar unabhängig gegenüber, doch etwas näher steht als Cc.
In einigen Fällen läßt die Schreibart des T einen Schluß zu, wie
die Irrungen in einzelnen Hss entstanden sein können: 19, 9 invenit,
28, 1 aucto:^, 30, 12 r6e, 34, l Dulgicubuni, 39, 4 oiüs (Rand: nomis,
Bericht über die Tacitusliteratur 189fi— 1903. (Wolff.) 123
numis). — Eine besondere Übereinstimmung zwischen T und B besteht
darin, daß jener die aus dem älteren Exemplar überkommenen Doppel-
lesarten fast ebenso gewissenhaft wie B beibehalten hat (B zeigt 39,
T 34 Varianten, davon 20 fast ganz mit B übereinstimmende). Hierin
liegt wohl der wichtigste und interessanteste Vergleichunc;spnnkt und
zugleich ein Moment, das für die Einschätzung der neuen Hs immerhin
ins Gewicht fällt.
Eine weitere vergleichende Übersicht zeigt, daß T ein Augehöriger
der Gruppe von Hss und Ausgaben ist, die MüUenhoff unter der Be-
zeichnung E zusammengefaßt hat. Bei der bekannten BeschafiFenheit
dieser Gruppe (Müllenh. D. A. IV 78 iT.) genügt es, beispielsweise die
Laa des T mit denjenigen der Nürnberger Ausgaben zu vergleichen.
Seine Selbständigkeit den übrigen Vertretern dieses Zweiges gegenüber
beweist T einmal durch die umfangreichere Beibehaltung von Varianten,
sodann dadurch, daß er öfter allein die richtige Lesung zeigt, wo alle
andern irren. Hin und wieder könnte man vermuten, der Kopist des
Toletanus habe eigene, freilich nicht allzu glückliche Konjekturen in
den Text gesetzt, z. B. 14, 2 virtute principe, 18, 19 viventes . . .
parientes, 36, 4 potentis. — Daß einige wirkliche Verbesserungen im
Agricolatext auf sein Konto zu setzen sind, ist bereits erwähnt worden.
A. hat auch die Hss B und C einer genauen Nachprüfung unter-
zogen, als deren Ergebnis er im Anhang eine Reihe Ergänzungen und
Berichtigungen zu Müllenhoffs kritischem Apparat bringt; somit be-
reichert die fleißige Arbeit des amerikanischen Gelehrten die handschr.
Grundlage des Germaniatextes in dankenswerter Weise.
38. Enrico M. Longhi, Osservazioni critiche ed ese-
getiche sopra alcuni luoghi del l"' libro degli Annali di Tacito.
(Aus „Atene e Borna" Nr. 33/34) Firenze-Roraa 1901, G. Beucini.
30 S.
Zu den bisher nicht befriedigend erklärten Stellen bei Tacitas
rechnet L. u. a. 1, 24, 10 Druso propinquanti quasi per officium
obviae faere legiones. Indessen braucht hier nur die Auffassang:
officium = Pflicht, dovere, debito abgewehrt zu werden; daß per modal
zu nehmen ist, versteht sich von selbst. Die Sache liegt m. E. so:
Hätten die Legionen den in stattlicher Begleitung kommenden Prinzen
mit den üblichen (ut adsolet) Ehrenbezeigungen (Huldigungen), in
richtiger Parade empfangen, so mußten dem Vertreter des Imperator
die Augen der Soldaten entgegenleuchteu, wie ihr Waffenschmuck. So
war es nur eine Quasi-Ehrenbezeigung, mit der sie rein äußerlich ihrer
Pflicht genügten. Von eigentlicher Verstellung ist keine Bede; das
wäre per speciem officii, wie 6, 50, 9. — Dieser Auffassung entsprechen
124 Bericht über die Tacitusliteratur 1S9G-1903. (Wolff.)
im gauzen, soviel ich sehe, die meisten Übersetzungen (abgesehen von
Balbo und Valeriani): quasi a far riverenza (Davauzati); besser noch
come per rendergli gli onori dovuti (Menghini); as if to pay res.pect
(Furneaux); par une apparence de respect (Burnouf); als gelte es eine
Ehrenbezeigung (Andresen). Auch Pfitzners Umschreibung trifft das
Richtige. — 25, 13 cetera senatui servanda . . . esset — eine dunkle,
zweideutige Stelle; aber die Zweideutigkeit, bemerkt L. richtig, ist
eine gewollte: Tac. läßt den in seiner schwierigen Lage zwischen Senat,
Militär und Vulgus noch „schwankenden neuen Herrscher" nach der
ihm eigenen rätselhaften "Weise (suspensa semper et obscura verba 1,
11, 0; 24, I; 3, 51, 3) reden, und das ist ihm ja, wie die verschiedenen
Auffassungen dieses Passus beweisen, vorzüglich gelungen. L. verwirft
die Auslegung expertem fieri =^ privari. Am meisten in Überein-
stimmung mit des Tiberius geheimen Absichten (24, 4) sei wohl die
auch von Greef akzeptierte Deutung Nipperdeys: „den es sich zieme
weder der Gnade noch der Strenge für bar zu halten." — Sehr fein
hat L. die kraftvolle Anschaulichkeit der taciteischen Sprache nach-
gefühlt in den Worten 28, 1 noctem minacem . . . languescere. Dieses
Verbum stehe hier nicht für den astronomischen Terminus deficere —
das folgende defectionem solis gehört dem mit der ,, ratio" vertrauten
Autor — , vielmehr in seinem eigentlichen wahren Sinne : Tac, läßt uns
gleichsam unmittelbar die Worte der erschreckten Soldaten vernehmen,
die den Mond „schwinden" (30, 8 hebescere) sahen (egli s' immedesima
talmente con ci6 che narra o descn've da usare spesso le stesse parole
delle persone che ci presenta). — Von den alten Kommentatoren hat
Pichena diesen Punkt richtig aufgefaßt: ne intellegas speciem tantumraodo
languescentis habuisse: vere namque ianguescens et deficiens cerne-
t)atur a militibus. — Für 28, 3 schlägt L., gleichzeitig mit Constans
und Giibal, die Marginaliesart des Med. quae peragerent als passende
Heilung vor: pensando che quanto essi tentavano di condnrre a termine
avrebbe avuto prospero successo — eine höchst künstliche Ausdrucks-
weise, die L. selbst kaum befriedigen kann. Die nächstliegenden
Emendationen bleiben agerent (Davis) und pararent. Vgl. auch Sali.
Cat. 27, 3 ubi multa agitanti nihil procedit; Jug. 11, 8 parare atque
cum animo habere . . . quae ubi tardius procedunt. — 28, 14 Hi (nicht
ibi) vigiliis, stationibus, custodiis portarum se inserunt. Wozu, fragt L.,
solcher Wortreichtum, da doch die custodiae portarum lediglich eine
Art der stationes sind? Die ,, Kürze" im Stil der Aunalen bleibt eben
immer noch Mißverständnissen ausgesetzt; hier mußte vielleicht der
Hinweis auf den rhetorischen Numerus zur Erklärung genügen. L.
findet indessen für die umständlichen Ortsangaben einen besonderen,
sachlichen Grund in des Tac. Absicht, die einzelnen Punkte des Lagecs,
Bericht über die Tacitusliteratur 1S96-190;5. (Wolff.) 125
wo sich die Tätigkeit der Mabuer zur Ordnung am wirksamsten ent-
faltete, recht genau zu bestimmen, und zwar entsprechend den W. 25, 1
portas stationibus firmaut, globos armatorum certis castrorumlocis
opperiri inbent. Also „wo die Posten, die Wachen, die Torhüter
waren", dahin mußten die Gutgesinnten dirigieit werden. Die Auf-
forderung: quin potius at novissimi in culpam, ita primi ad paenitentiam
sumos, ist natürlich an die jedesmal zu bearbeitenden Meuterer ge-
richtet, die man klugerweise als Veriührte bezeichnete, quo facilius in
paenitentiam et spem veniae perducerent (Pichena). Vgl. Nipp.-Andr.
zu d. St. — 31, 8 multa seditionis ora vocesque. Die wirkungsvolle
poetische Personifikation hat L. vollkommen nachempfunden: das viel-
köpfige Ungeheuer der Empörung speit aus 100 Rachen Flammen der
Aufreizung unter die unzufriedenen Krieger. Man mag übersetzen:
durch viele Zungen, viele Stimmen kündete sich die Meuterei an; nur
nicht ora durch „Gesichter" oder „Organe" wiedergeben. Stark betont
wird der Gegensatz der aufreizenden Vielheit hier und des ,, einen"
Percennius in Paunonien (K. 17.), Vgl. übrigens 1, 43, 13 quorum
alia nunc ora nunc pectora contueor; 41, 3 gemitus ac planctns etiam
militum aures oraque advertere. — 40, 10 möchte L. die W. rauliebre
et mis. agmeu als antizipierte Apposition zu uxor und coniuges deuten
und diese als Subj. von iucedebat auflassen. Der so gewonnene lebendige
und markante Ausdruck entspreche dem Zusammenhang am besten. Mir
scheint im Gegenteil eine solche verstärkte Hervorhebung des Attributs
muliebre durchaus unangemessen. Davanzati, auf dessen Vorgang L.
hinweist, übersetzt allerdings schwungvoll genug: Fuggivasi, miserabile
donuesco stuolo, la moglie etc., aber die Wendung deckt sich mit dem
lateinischen Texte keineswegs.
Über andere, namentlich in deutschen und ausländischen Zeitschriften
erschienene Abhandlungen und viele kleinere Beiträge wird später im An-
schluß an die Besprechung der letzten Ausgaben der einzelnen taciteischen
Werke berichtet werden. B. W.
Bericht über die Literatur zu späteren römisclien
Geschichtsschreibern von 1897 bis einschliesslich 1902.
Von
Prof. Dr. Theodor Opitz,
Rektor des Gymnasiums in Zwickau.
Ämpelius.
V
Josef Sorn, einige Bemerkungen zum liber memorialis des L.
Ämpelius. Jahresbericht des k. k. ersten Staatsgymnasiums zu
Laibach. 16 Seiten, gr. 8. 1901.
Rez.: Archiv für lat. Lexikographie XII S. 438 — 439. —
Wochenschrift für klass. Philol. 1903 Nr. 9 S. 241-242 (Opitz).
Biographisches: Ämpelius war vermutlich ein Vorfahr des bei
Ammianus (28, 4, 3) erwähnten Ämpelius aus Antiochia und stammte
ebenfalls dorther, was mir eine ziemlich unsichere Vermutung zu sein
scheint. Macrinus, dem das Schriftchen gewidmet ist, ist der spätere
Kaiser (217 — 218). Daher ist Ämpelius etwa um 200 anzusetzen.
Sprachliches: Die Sprache des Ämpelius weist viele Afrikanis-
men auf, aulierdem viele griechische Wörter. Als Afrikanismen hebt
der Verfasser besonders hervor: Substantiva auf or als Adjektiva; ni-
gellus, limpidus und Adjektiva auf alis; Verba inchoativa, intensiva,
mit derb-drastischer Bedeutung, Komposita statt Simplicia; ferner re-
gnare mit Genetiv; Eigentümlichkeiten im Gebrauche der Präpositionen,
wie in paucis diebus, a vento movetur. Ausführlich wird auch die De-
klination griechischer Wörter besprochen.
Kritisches: Am ausführlichsten, aber in sehr kühner Weise be-
handelt der Verfasser das 8. Kapitel, miracula mundi, in dem große
Veränderungen im einzelnen, Umstellungen, Ausstoßung von Glossemen
vorgenommen werden. Von diesem Kapitel druckt er den vollständigen
Text in seiner Kezension ab. Scharfsinnig ausgedacht ist sehr vieles;
doch kommen wir im wesentlichen bei der schlechten Überlieferung
über eine größere oder geringere Wahrscheinlichkeit nicht hinaus. In
ähnlicher Weise werden auch noch andere zahlreiche Stellen behandelt.
Ber. üb. d. Lit. zu später, löm. Geschichtsschreib. 1897—1902. (.Opitz.) 127
Für richtig balle ich, daß 2, 3 qni noiniuautur esse, 2, 12 iiobilitati,
iiO, 1 rebus perfractis die Überliefeiung verteidigt und 2, 1 und 6 petit,
2, 1 iu sidera, 2, 3 hi wiederliergestellt wird. Sonst erscheint mir
folgendes recht beachtenswert: 2, 3 qiii niysteriis praesunt, 5, 2 qui
iiestatis diebus flaut [per aestatein], 8, 5 Marsyae autem quoque corium,
9, 4 primus Saturno et Ope natus, 9, 12 Cronii filius et Asteriae.
Josef Sorn, weitere Beiträge zur Syntax des Justinus (siehe
unten S. 137).
S. 13. Amp. 9, 12 ist zu lesen: conditorem et tutorem sni
Hellenes dicunt.
Eutropius.
Hermann Peter, die geschichtliehe Literatur über die römische
Kaiserzeit bis Theodosius I. und ihre Quellen. 2. Band. Leipzig 1897.
S. 131 f. und 348 f.: Der Verfasser stellt zunächst das über
Eutrops Leben Bekannte zusammen und charakterisiert seine Schreib-
weise als nüchtern und sachgemäß, dabei sei er von der Bedeutung
der Bildung für den Charakter durchdrungen.
Durch Zusammenstellung vieler Stellen mit Parallelstellen einerseits
aus Livius und Obsequens, anderseits aus Suetonius, Aurelius Victor und
Festus kommt der Verfasser hinsichtlich der Quellen etwa zu folgendem
Resultate: die Geschichte der Republik ist nach einer Livius -Epitome
gearbeitet, die des Julisch-Claudischen Kaiserhauses nach Sueton, die
weitere nach einer damals angesehenen Kaisergeschichte, jedoch mit
Benutzung einer Nebenquelle. Vgl. auch unten bei Aurelius Victor S. 139.
In den folgenden Zeiten wurde Eutropius viel gelesen und benutzt,
vor allem durch Hieronymus, und auch ins Griechische übersetzt (Paionios).
Friedrich Leo, die griechisch-römische Biographie nach ihrer
literarischen Form. Leipzig 1901. 8.
S. 305 f.: In der Darstellung Eutrops sondert sich- die Historie
von der Biographie, Livius von Sueton. Hinsichtlich des zugrunde
liegenden Schemas sind 3 Teile zu scheiden: 1. bis Domitian einschließ-
lich: genus, Charakterisierung, Politik und Kriege, Tod. — 2. bis Con-
stantinus einschließlich. Diese vitae entsprechen mehr dem suetonischen
Schema, z. B. bei Trajauus: genus, Regierung, Tugenden, ein besondere
charakteristisches dictum, Tod, Alter, Regierungszeit, Konsekration,
Gedächtnis. Die Vorgeschichte fehlt zumeist. — 3. bis lovianus. Hier
folgt die Charakterisierung auf den Tod. — Die Verschiedenheit der
Schemata beruht wohl auf den drei verschiedenen Quellen.
Gustav Reinhold, das Geschichtswerk des Livius als Quelle
späterer Historiker. Programm des Luisenstädtischen Gymnasiums
zu Berlin. 1898. 4, S. 20.
128 Ber. üb. d. Lit. zu später. Jöm. Geschichtsschreib. 1897—1902. lOpitz.)
Rez.: Wochenschrift für klass. Philol. 1899 Nr. 10 S. 266—268
(Soltau). — Jahresberichte des Berl. philol. Vereins XXV S. 24—25
(Müller).
Festus hat nicht Eutropius ausgeschrieben, sondern beide haben
eine gemeinsame Quelle benutzt. Dies geht aus deu Stellen hervor, an
denen beide im wesentlichen übereinstimmen, Festus aber Einzelheiten
hat, die bei Eutrop nicht stehen. Dieselbe Quelle, der der Name Chro-
nicon beigelegt wird, hat auch, wie bereits Pirogoff nachgewiesen hat,
Cassiodorius ausgeschrieben. Mit diesem Chronicon ist jedoch die livia-
nische Epitome, deren Benutzung für Orosius und die Periochä anzu-
nehmen ist, nicht identisch. Dies beweist der Verfasser durch An-
führung einer Anzahl Stellen, an denen der Bericht bei Orosius und
den Periochä von dem bei Eutropius und Festus, bzw. Cassiodorius
abweicht. Andererseits kommt es vor, daß Eutropius und die Periochä
zusammen von Livius abweichen. Indem der Verfasser nun auch noch
Obsequens zur Untersuchung heranzieht, glaubt er durch nachstehenden
Stammbaum alle Schwierigkeiten zu lösen:
Livius
Epitome
Periochae, Orosius Chronicon
Eutropius, Festus, Cassiodoiius, Obsequens.
Den Schluß der interessanten Abhandlung bildet (S. 13 f.) die
Besprechung mehrerer schwierigen Stellen, an denen der Verfasser je-
doch nachweist, daß die von ihm „aufgestellte Hypothese zur Erklärung
der Erscheinungen genügt und durch keine derselben widei'legt wird."
Nicht recht verständlich finde ich es, daß der Verfasser weder
Florus noch die Schrift de viris illustribus in die Untersuchung hinein-
gezogen hat.-
Wölfflin, das Breviarium des Festus. (Siehe unten S. 131).
Eutropius ist von Festus benutzt worden.
Kühl, Berliner philol. Wochenschrift 1897 Nr. 19 S. 589.
Der Verfasser macht darauf aufmerksam, daß der Brüsseler
Kodex 84, den Droysen ins 12. Jahrh. setzt und aus dem ßertiniarnus
(saec. 10 oder 11) abgeschrieben sein läßt, von Thomas, dem Heraus-
geber des catalogue des manuscrits de classiqnes latins de la biblio-
theque royale de Bruxelles (1896), ins 10. gesetzt wird.
R. Ehwald, Eutropius. Philologus Bd. 59 (N. F. 13) S. 627
—630.
Die wichtige Gothaer Handschrift cod. memb. I 101 saec. IX, die
außer Eutropius auch das Breviarium des Rufus und das 4. Buch.
Her. üb. d. Lit. zu später, lörn. Gcschichtsschreib. 1897- 1902. (Opitz.) 129
Frontiiis enthSlt. ist im Jahre 1795 durch den Benediktiner Maugerard
uach Gotha jrekooimen. Sie stammt aus Murbach. Der erste Teil ent-
hielt Schriften Angnstins. die aber vor dem Verkaufe abgetrennt worden
und, wie es scheint, verschollen sind.
P. Lambros, ein neuer Kodex des Paeanius. The classical
review XI S. 382—390.
Die ^griechische Bearbeituus: des Eutropius durch Paeanius war
bis jetzt nur durch cod. Monacensis CCXIII bekannt. Der Verfasser
hat eine neue Handschrift im Iwironkloster auf dem Athos, cod. 812,
gefunden. Diese ist besonders dadurch wichtig, daß sie das im Mo-
nacensis fehlende Mittelstück -= Eutr. VI, 9—11 und den dort ebenfalls
fehlenden Schluß -- Eutr. X. 11—16 enthält. Beide Stücke druckt der
Verfasser ab und daneben die entsprechenden Kapitel Eutrops, letztere
nach dem Texte von Dietsch. Der Schluß des Paeanius im Athous
stammt jedoch nicht ans Eutropius. Ein Ertrag für die Textkritik
dieses Schriftstellers scheint sich nicht zu eri^eben.
Beunett, die mit tanquam und quasi eing-eleiteten Substantiv-
sätze, Archiv für lateinische Lexikographie XI S. 142
weist bei Eutropius für tanquam zwei Beispiele nach (9, 15 und 10, 3).
Steele, affirmative final clauses in the latin historians. American
Journal of Philology XIX, 255—284.
Zur Bezeichnung' des finalen Verhältnisses bietet bei Eutropius
ut 21, ad 13, qui 3, quo 2, causa 1, part. fnt. 1, Gerundivum 3 Bei-
spiele. Dagegen fehlt das Supinum, sowie der Dativ und Genetiv des
Gerundivurns.
Nur der Vollständigkeit halber erwähne ich:
Eutropius, Roman bistory. Book 1 and 2, ed. by J. G.
Spencer. London, Bell. 12.
Exnperantius.
Die Epitome des Julius Exnperantius. Herausgegeben von
Gustav Landgraf und Carl Weymann. Leipzig, Druck und
Verlag von B. G. Teubner, 1902. 20 S. 8. (Sonderabdruck aus
dem „Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik". XII. Band.
4. Heft.)
ßez.: Revue critique 1903 Nr. 15 S. 299 (Lejay). — Wochen-
schrift für klass. Philol. 1903 Nr. 5 S. 120—121 (Opitz).
Außer der schon von Bursian (1868) benutzten Pariser Hand-
schrift (6085 saec. XI) standen den Herausgebern zur Verfügung:
1. eine von Goldast (f 1635) vermutlich aus einer Handschrift ge-
Jahresbericht für Altertumswlssenschnft. Bd. CXXI. (1904. 11.) 9
130 Bcr. üb. d.Lit. zu später, röm Geschichtsschrcib. 1S07 — l!i02. (Opitz.)
imachte Abschrift und 2. ein mit 5, 3 quo beginnende^; Münchenev
Rrnchstück (cod. lat. Mon. 29019, saec. XI— XII).
Aus dem apographon Goldastianum stammen die mit Kecht auf-
genommenen Lesaiten: 1, 5 et victimas, I, 11 paratis suffragiis, 2, 17
missus est, 6, 8 et in Etruriae litore, 6, 14 et impedito, aus dem Mo-
nacensis: 7, 3 Romanum und 7, 13 perraiserunt.
Mit Recht sind an folgenden Stellen Konjekturen aufgenommen
worden: 4, 1 1 armatus gestrichen, 5, 9 quod statt ut, G, 16 cum Triario «itatt
fontrario, (j, 17 is eingeschoben, 7, G iram gestrichen, 7, 26 frustrati
Omnibus. Anderes bleibt zweifelhafter, so 2, 9 bona patria statt bona
patriam oder 3, 4 vis eingeschoben.
Beigefügt sind zahlreiche Anmerkungen: teils sind sie kritisch,
teils weisen sie die Entlehnungen aus Sallustius nach, teils behandeln
sie überhaupt Sprachliches. Auf ihnen beruht zum großen Teile der
Wert der neuen Ausgabe.
Schmalz, zur Epitome des Julius Exuperantius. Berliner phi-
lologische Wochenschrift 1902 Nr. 35 S. 1083—1086.
Der Verf. beabsichtigt, „einiges zur richtigen Beurteilung der
Sprache des Epitomators beizutragen". 1. nimmt er Entlehnung
aus Sallust auch da an, wo der betreffende Ausdruck sich zwar nicht
bei Sallust selbst, aber doch bei seinen Nachahmern nachweisen läßt
2. stellt er Stellen aus anderen Schriftstellern zusammen, die den Exupe-
rantius beeinflußt haben können.
Festus.
Hermann Peter, die geschichtliche Literatur über die römische
Kaiserzeit usw. 2. Band.
S. 131 f. und 354 f.: Festus war von niedriger Abkunft aus
Trient, Statthalter in Syrien, magister memoriae, Prokonsul in Asien,
starb vermutlich 380. Der im Auftrage des Valens verfaßte kurze
Abriß entbehrt nicht völlig des rhetorischen Schmuckes. Doch beherrscht
Festus die Sprache nur in geringem Maße.
Die Vorlage des ersten, geographischen, Teiles läßt sich nicht
nachweisen, er enthält auch Notizen aus anderen Qnellen. Dann ist
Florus benutzt, die Livianische Epitome, die Kaisergeschichte bis Dio-
kletian, dann eine andere und eigene Erinnerungen. Näheres siehe bei
Eutropius S. 127 und Aurelius Victor S. 139.
Reinhold, das Geschichtswerk des Livius als Quelle späterer
Historiker.
Siehe unter Eutropius S. 128.
Ber. üb. d. Lit. zu später, röm Geschichtsschreib. ISi'T— Jrt02. (Opitz.) 131
Wülffliii, das Breviariiim des Festus. Archiv für lateinische
Lexikographie XIII, S. G9— 97 und S. 173-180.
cod. Basil. und cod. Pithoei sind insofern identisch . als ersterer
aus letzterem abgeschrieben ist. Bamb. ist besser als Gotli.
Das Blich zerfällt in 2 Teile: 1 — 14 Erwerbnn;? <ler einzelnen
Provinzen, 15 — 30 die Orientkriege. Diese Beschränkung verlangte der
Auftrag des Kaisers Valens. Daher ist der Titel breviarium rerum
gpstarum populi Eomani sachlich unzutreffend. Auf Grund der besten
Handschritten mu 1.1 er vielmehr lauten: breviarium de breviario r. g p. ß.
Für den 2. Abschnitt (Orientkriege) benutzte Festus 3 (Quellen:
1. Eutropius. Wichtig ist z. B. der Ausdruck Eutr. 9, 2 und Fest. 24
exsequiae = corpus, der vor Entrop nicht nachweisbar ist. Daraus, daß
ein Epitomator, wie z. B. Fe.stus, einzelne eigene Zusätze einfließen
läßt, die die Quelle, wie z. B. Eutropius, nicht hat, folgt nach Wölfflin
keineswegs, daß kein Abhängigkeitsverhältnis stattfindet. Denn „diese
Freiheit der Kontamination" haben sich sämtliche römische Epitoma-
toren genommen. Deshalb sind die Darlegungen von H. Peter nicht
haltbar. 2. Florus. Unter zahlreichen angeführten Stellen ist be-
sonders wichtig Flor, praef. und Fest. 20 niovit lacertos. 3. Epi-
torae Livii.
S. 81 — 95 bespricht der Verf. die Quellen des Florus (vgl.
unten S. 133) und erörtert eine Anzahl Fragen von grundsätzlicher
Bedeutung.
S. 173 ff.: 25 — 29 behandelt Festus Selbsterlebtes in eigener
Sprache. Daher ist dieser Abschnitt für die Analyse der Sprache am
wichtigsten. Hervorgehoben wird u. a. agmina ~-= copiae, congressio,
suscipere ^ accipere. Auch aus den anderen Teilen wird Sprachliches
besprochen, z. B. gewählte Ausdrücke, wie bellum formidabile, obtlnere
= ^besetzen und behaupten" auch im part. perf. pass., intimare, positos
= üjv, apud statt des Lokalis, adsequi Bithyniam, regnare per-
missus est.
Ehwald, Eutropius. Philologus Bd. 59 (N. F. 13) S. 627—630.
Handelt von der Herkunft des cod. Gothanus membr. I, 101, der
u. a. das breviarium enthält. Siehe bei Eutropius 8. 128.
Florus.
Hermann Peter, die geschichtliche Literatur über die römische
Kaiserzeit. 2. Band.
S. 271 f.: Der Titel epitome de T. Livio ist für das Werk des
Florus gut bezeugt. Doch hat er daneben auch noch andere Quellen
benutzt, so Sallustius, Caesar, Lucanus,
9*
132 Ber. üb. d. Lit. zu später röm. Geschieb tsschreib. 1897— 1902. (Opitz.
Otto Hirschfeld, Anlage und Abfassungszeit der Epitome des
Florus. Sitzunssberichte der Königlich Preußischen Akademie der
Wissenschafren zu Berlin. Berlin 1899. S. 542—554.
Daß Florus prooemium 5 die Köniffszeit, die infantia populi
Komani, auf 400 Jahre angesetzt haben sollte, ist nicht anzunehmen.
Daher ist die Konjektnr CCL richtig. Ebensowenig darf die 2. Periode,
die adulescentia, auf 150 Jahre angegeben werden. Hier ist ebenfalls
CCL zu schreiben. Das als Endtermin von Florus angegebene Konsulat
des Appius Claudius und Quintus Fulvins ist das Jahr 264 (nicht 212,
wie Halm wollte). Vgl. I, 17, 9 (pag. 41, 7 ßossb.) und I, 18, 1 (pag.
41, 11). Fulvius hat zwar in den Fasti M. als Pränomen, aber die auf
Livius oder die epitome Livii zurückgehende Überlieferung nennt ihn
Qu. Fernerhin ist die Dauer der iuventas mit 150 Jahren ebenfalls
falsch übelliefert, es ist CC zu lesen. Denn diese Zahl wir ausdrück-
lich I, 18. 2 (pag. 41, 17) genannt. Auch werden diese 200 Jahre
1, 34, 2 (pag 84, 2) und I, 47, 2 (pag. 112, 18) in C aurei und C ferrei
i;eteilt. Durch diese 250 + 250 H- 200 Jahre ergibt sich die im Anfang
des Proömiums in Aussiebt gestellte Zahl von 700 Jahren. Allen diesen
Darlegungen des Verfassers wird man wohl im wesentlichen beistimmen
können.
Das 1. Buch, d. h. das ganze ursprüngliche Werk, schließt etwa
mit dem Jahre 700 d. St. ab. Die folgenden Abschnitte sind erst
später hinzugefügt worden. Bei dieser späteren Redaktion ist auch der
2. Teil von I, 34 (= II, 19) einsteschoben und im Proömium 7 und 8
Caesar in Caesar Augustus verändert worden. Daher ist bei den dort
genannten letzten haut multo minus anui ducenti von Caesar (etwa
700 d. St.) auszugehen. Dies ist wichtig für die Abfassungszeit der
Epitome. Am Schlu-se des Proömiums ist das Präsens revirescit dem
in B überlieferten reviruit vorzuziehen. Hieraus ergibt sich, daß Trajan
bei Veröffentlichung des Werkes noch lebte.
Von besonderer Wichtigkeit für die Datierung ist aber die Stelle
I, 5, 5 (pag. 19, 12), an der im Anschlüsse an den Latinerkrieg die
Ausdehnung der damaligen Herrschaft Roms mit der späteren verglichen
wird. Hier hält der Verfasser die Lesart Sora statt Cora und schreibt
Algidura (mit C) statt Alsium, sowie Pregenae (mit Titze) statt
Fregellae. Mit Recht erklärt er, daß Faesulae nicht die etruskische
Stadt dieses Namens sein kann, und schlägt vor, Aefula zn lesen, wie
vor ihm schon Madvig, Nibby und Boot getan haben. Auf einen an-
deren Ausweg habe ich in Fleckeisens Jahrbüchern 1886 S. 432 hin-
gewiesen. Sehr ansprechend ist die weitere Annahme, daß die Worte
quod Carrhae nuper sich nicht auf die Niederlage des Crassns, sondern
auf die Ende 115 durch Trajan erfolgte Unterwerfung Mesopotamiens
Ber. üb. d. Lit. zu später, röm. Geschichtsschreib. 1897—1902 (Opitz.) 133
beziehen. Danach würde also die Epitome am Ende von Trajans Re-
gierung verfaßt sein.
Den erst bei der zweiten Auflag-e hinzugetiie:ten zweiten Teil hat
Florus nach der Vermutung des Verfassers nnter Hadrian geschrieben,
um dessen Friedenspolitik zu verherrlichen.
Die Einteilung- in 2 Bücher ist die ursprüngliche. Der Verfasser
der Epitome ist jedenfalls identisch mit dem Bhetor und dem Dichter.
Wölt'flin, Epitome. Archiv f. lat. Lexikographie, XII, S. 337 f.
Florus ist eine Mittelstufe zwischen dem Livius der Kaiserzeit
und den Periochä. Neben Livius sind Caesar und Sallustius benutzt.
Vielleicht betrachtete er seine Arbeit nur als ein Buch, das ans prak-
tischen Rücksichten in 2 Hälften zerlegt werden mochte. Vgl. auch
Wölfflin, das. XIII S. 72 f.
Derselbe, das Breviarium des Festus. (Siehe oben S. 131.)
S. 81 ff.: IJm zu beweisen, ,wie die Historiker nicht nur Irriges
abschreiben, sondern selbst irren, Dinge vei-wechseln oder umstellen,
anf eigene Gefahr hin Zusätze machen", untersucht der Verfasser die
Berichte de.s Florus über die römischen Könige und die drei ersten
Jahre des Hanuibalischen Kriegs. Venrleicht man dessen Erzählung
über Numa Pompilius und über den Streit des Tarquinius Priscus mit
dem Augur Navius mit der bei Livius, so ergeben sich Gründe genug,
um eine direkte Abhängigkeit anzunehmen. Und doch ist als Mittel-
glied eine um 30 nach Chr. verfaßte epitome Livii eiu^nschieben
Denn z. B. von der Aussetzung des Romulus und Remus sagt Livius
dreimal exponere, Florus, Quintilianus, de vir. ill. u. a. abicere (in
profluentem). Daß in der Epitome immaturum virginis amorem stand,
ergibt sich aus Flor. I, 3, 5 und Val. Max. VIII, 1,2. — Eiae beson-
dere Eigentümlichkeit des Florus ist die doppelte anacephalaeosis. —
Überhaupt weicht er, „offenbar absichtlich, so oft und so stark von
Livius ab, daß mau die Vorstellung eines Liviusauszugs im modernen
Sinne des Wortes aufgeben muß, der Titel ist nur a parte potiori za
verstehen". Dieses Resultat wird durch den Bericht des Florus über
den Anfang des 2. panischen Kriegs bestätigt.
Petrus Passowicz, de Flori codice Cracoviensi. Seorsum Im-
pressum ex XXVII. Tomo Classis philologicae Academiae Litterarum
Cracoviensis. Cracoviae, apud bibliopolam societatis librariae Polo-
nicae, 1898, 8. 74 S.
Rez.: Berl. philol. Wochenschrift 1898 Nr. 45 S 1387— 138Ö
(Roßbach). — Wochenschrift für klass. Philologie 1899 Nr. 22 S. 605
—606 (Opitz).
Codex Cracoviensis 416 gehört nicht, wie Roßbach praefatio
134 Ber. üb. d. Lit, zu später, röm. Geschichtsschreib, 1897—1902. (Opitz)
pag. XXII behauptet, dem 16., sondern dem 15. Jahrhundert an. Der
Schreiber war, wie durch eine mehrere Seiten füllende Aufzählung von
Beispielen aller Art nachgewiesen wird, des Lateinischen so unkundig,
daß der Verfasser sagt, daß ein codex peius habitus sich nicht leicht
finden dürfte. Der cod. Cracov. gehört der Klasse C an, ist aber weder
ans N noch aus L, sondern aus dem Archetypus dieser Klasse selbst
per rivulos hodie deperditos geflossen. So kommt es, daß er ein paar-
mal allein unter den von Roßbach benutzten Handschriften die richtige
Lesart hat, die übrigens bereits auf anderem Wege gefunden worden
ist. Die wichtigsten Stellen dieser Art sind: pag. 8, 13 (ed. Roßbach)
dolose; 70, 9 ahrupta; 87, 22 contentus: 143, 5 redit et; 151, 9 ßuctus;
163, 6 praeforiae; 164, 16 Pacorus; 179, 10 praecepere.
I, 1, 5 (pag. 6, 2) schreibt der Verfasser circiim urhem ipsarn, ma-
trem circum ipsam. Über die ähnlichen VeimutuDgen von Beck, Schmi-
dinger und Miodonski habe ich bereits in diesen Jahresberichten Bd. 97
S. 83 ff. gesprochen.
Wölfflin, die Entwickelung des Infinitivus historicns. Archiv
für lateinische Lexikographie X S. 181
vermutet, daß Plorus I, 38, 3 (pag. 90, 14 R.) weder armis petere
coeperunt noch a. p. constituunt das Richtige sei, sondern das bloße
petere.
Derselbe, zur Differenzierung der lateinischen Partikelu. Da-
selbst X S. 371 und 375
empfiehlt mit Recht Florus I, 7, 10 (pag. 14, 13 R.) die Lesart von
B aderat und I, 20, 4 (pag. 50, 4 R.) mox ut.
Derselbe, daselbst XI S. 6.
Floius I, 1, 2 (pag. 6, 18) abiectus in profluentem ist richtig
(nicht iactatus). Quint. 3, 7, 5 hat denselben Ausdruck. Dieser geht
auf die verlorene Epitome des Livius zurück. Richtig.
Derselbe, matrem geicre. Daselbst XII S. 453 f.
Florus I, 1, 3 (pag. 7, 2) lupa .... ubera admovit infantibus
matremque egit (Bamb.) ist bedeul lieh, denn es bedeutet nicht „Mutter-
pflichten erfüllen", sondern „die Rolle der Mutter spielen". Da Naz.
secessit hat, ist zu lesen matrem gessit (ohne se). Wohl richtig. Übri-
gens schon vorgeschlagen von Binsfeld, quaestiones Florianae Ö. 10.
Derselbe, über ubera. Daselbst XII S. 160.
Florus I, 1, 13 (pag. 7, 2) lupa .... ubera admovit infantibus.
Der Plural ubera ist dem nur im Bamb. überlieferten über vorzuziehen
[mit Roßbach], weil alle dieses Ereignis berichtenden Schriftsteller, vor
allem der aus Florus schöpfende Augustinus civ. d. 18, 21, den Plural haben.
Ber. üb. d. Lit. zu später. iftin.Geachichtsschreib. 1807—1902. (Opitz) 135
Derselbe, die Keitercenturien des Tarquinius Priscus. Rhein.
Mus. 57 (1902), S. 1308.
Floius 1, 5, 2 (pag-. 12, 4) ist statt der Überlieferung tribus
aiixit equites, die gewöLulich durch Einschiebung von centuriis ergänzt
wird, zu lesen: tribus auxit [equites]. Von ihm bereits im Archiv für
lat. Lexikographie V S. 406 A. vorgeschlagen.
Holm, Renzeusion von Cocchiu, la forma del Vesuvio nelle
pirture e descrizioni antiche. Berliner philologische Wochenschrift
1899 S. 1077.
Florus 11, 8, 4 (pag. 127, 19) fauces cavi niontes bedeutet nicht,
wie Cocchia meint, balze successive che iutersecano la linea diritta del
fflonte, d. h. Stufen des äußeren Abhangs, sondern vielmehr 'unter-
irdische Wege'. Wenn diese Angabe unwalirscheinJich ist, so beweist
<las nur, daß Florus oder sein Gewährsmann seine Phantasie hat walten
lassen, statt Tatsachen zu geben.
J. V. d. V(liet), zu Vergilius orator an poeta. Mnemosyne
XXVI S. 276,
pag. 183, 4 (ed. Roßbac'n) pulcherrimarum arborum amoenitate statt
plurimarum. Gut erdacht, aber überflüssig. — pag. 184, 1 nascentem
amicitiam fovebamus statt foederabamus. Nicht übel, aber ebenfalls
überflüssig.
von Winterfeld, ad Florura. Philologus LVIII S. 299.
Die Verse des Florus (bei Spartianus, Hadriauus IG, 3) müssen,
da Hadrians Antwort aus vier Zeilen besteht, ebenfalls vier Zeilen um-
faßt haben. Sie sind etwa folgendermaßen zu ergänzen:
Ego nolo Caesar esse,
ambulare per <u— u,
latitare per> Britannos,
Scythicas pati pruinas.
Kroll, das afrikanische Latein. Rhein. Museum Bd. 52 (1897)
S. 569—590.
Manches, was Wöllflin (Archiv VI. 1) bei Florus als afrikanisch
ansieht, ist vielmehr Archaismus, z.B. I, 3, 4 (pag. IG, 7) ex summe
studio, wo ex gegen BI zu halten ist [so schon Thome, Egen und
Wölfflin] oder L 26, 3 (pag, 68, 10) vix et aegre. Unbegründet ist
die zweimal in N überlieferte Form fraglare statt flagrare, I, 34, 7
(pag. 82, 6) und I, 40, 3 (pag. 96, 1).
Landgraf, zum Akkusativ der Richtung im Lateinischen. Ber-
liner philologische Wochenschrift 1897 S. 927 f.
Florus I, 45, 16 (pag. 108, 20) ist Britanniam ti-ansit mit BC
gegen NL (in Britanniam) zu lesen. Richtig.
136 Ber. üb. d.Lit. zu später röm.Geschichtsschreib. 1897—1902. (Opitz.)
Steele, affirmative final clauses in the latin historians. American
Journal of Pliilolo^y XIX, 255—284.
Zur Bezeichnung des finalen Veihältnisses bietet bei Florus
ut 32, ad 9, qui 2, quo 3, Supinum 1, part. fut. 2, Gerundivum 9 Bei-
spiele. Dagegen fehlt causa, sowie der Dativ und Genetiv des Gerun-
divuras.
Bennett, die mit tauquam und quasi eingeleiteten Substantiv-
sätze, Archiv für lateinische Lexikographie XI S. 146,
weist bei Florus für quasi zwei Beispiele nach: I, 12, 6 (pag. 31, 6)
und I, 34, 4 (pas. 81, 19).
Nicht zugänglich war mir:
Sabbadini, del 'numerus' in Floro. Rivista di filologia IV S. 600 f.
Ferner sind Bemerkungen zu Florus enthalten in den nachstehen-
den, mir ebenfalls nicht zugänglichen Werken:
Omont, catalogue des manuscrits grecs, latius, fran^ais et es-
pagnols (vgl. Wochenschrift für klass. Philol. 1898 Nr. 37 S. 1020) und
Leopardi, pensieri di varia filosofia e di belle letteratura.
Firenze 1898.
Justinus.
Egelhaaf, der Sturz der Herakliden und das Aufkorameu der
Mermnadeu. Verhandlungen der 46. Versammlung deutscher Philo-
logen und Schulmänner. Leipzig 1902. S. 122 f.
Der Bericht Justins (I, 7, 5) ist lediglich eine oberflächliche,
ins Plumpe gezogene Wiedergabe der herodotischea Vorlage.
Gudeman, latin literature of the empire. New York and
London. Harper & brothers publishers. 1898. S. 397 — 422
enthält die praefatio, sowie Abschnitte aus dem 24., 31., 32., 37., 38.
und 41. Buche. Zugrunde liegt der Kubische Text. Doch weicht
Gudeman ziemlich oft von ihm ab, meiner Ansicht nach in nicht sehr
vielen Fällen mit Recht, aber z. B. 37, 2, 6 exquisitioribus (Vorstius)
statt exquisitis tntioribus; 37, 3, 5 Asiae statt Gutschmids esset wieder
eingesetzt; 38, 4, 9 ipsi numerent (Madvig und Wopkens) statt ipse
uumeret; 41, 5, 8 Streichung von nam cognominavere (Ruperti).
Im Gedanken riclitig sind auch die Lesarten praef. 3 inter se segregati,
praef. 5 reddendam rationem, 37, 17 XXVI statt XL VI, aber teils ist
der Ausdruck, teils die Art der Änderung nicht unbedenklich. Gar
nicht zu billigen ist es, daß der Herausgeber von dem von Rühl praef.
pag. XIII aufgestellten Grundsatz, daß die in Gl oder CT oder CIl über-
lieferten Lesarten aufzunehmen sind, mitunter ohne einen recht ersicht-
lichen Grund abgewichen und geringeren Handschriften gefolgt iit, so
Ber. üb. d. Lit. zu später, röm. Geschichtsschreib. 1897—1902. (Opitz.) 137
24, 6, 2 trepidi statt et trepidi, 24, 8, 6 adversus deos contendebat
statt deos coDtemnebat, 31, G, 2 non tan tum statt non tarn. Von den
eigenen Konjekturen des Herausgebers erscheint mir 37, 3, 7 in den
Worten Laodice soror die Streichung von soror empfehlenswert, da
diese erst drei Zeilen vorher als soror uxorquc bezeichnet worden ist
38, 3, 9, wo der Herausgeber die von Kühl nach den Worten mul-
tum ibi auri .... regum an2;enoramene Lücke durch cumulatam aus-
füllt, ist es mir zweifelhaft, ob überhaupt eine solche vorhanden ist.
Justinus XXIV, cap. 6— 8 ist abgedruckt bei Bernhardt, Schrift-
quellen zur antiken Kunstgeschichte (Dresden-Berlin 1898) Bd. H S, 1—3.
Neu ha US, Eheinisches Museum Bd. 57 S. 474 — 76.
Trogus prol. X ist zu lesen: Ut Artaxerxes victus.
Ut defectores .... persecutus sit omnibusque victis decesserit.
Josef Sern, weitere Beiträge zur Syntax des M. Junianas
Justinus. Laibach, K. K. I. Staatsgymnasium. 1902. 13 S. 8,
ßez. : Archiv für lateinische Lexikographie XIU, S. 145—146.
— Wochenschrift für klass. Philol. 1904 Nr. 8 S. 213-214 (tz). —
Zeitschrift für österr. Gymnasien 54 S. 1146 (Lutz).
Im Anschluß an seine in diesen Jahresberichten Band 97 S. 97 f.
von mir besprochene Abhandlung über den Gebrauch der Präpositionen
bei Justinus (1894) macht der Verfasser zunächst einige Bemerkungen
zum Leben Justins. Mit Recht nimmt er an, daß er eine gründ-
liche rhetorische Bildung genossen hat. Die weitere Annahme jedoch,
daß er sogar Lehrer an einer Rhetorenschule gewesen sei und sich
eine Zeitlang von diesem Amte zurückgezogen habe, um seine Epitome
zu verfassen, läßt sich aus der praefatio 4—5 nicht beweisen. Heraus-
gegeben ist nach dem Verfasser die Epitome bald, nachdem das
Werk des Florus erschienen war.
Dann wird der Tempusgebrauch besprochen. Die wichtigsten
Punkte sind etwa: historisches Präsens, consecutio temporum, Be-
dingungssätze, indirekte Fragesätze, Verba des Wünschens und Begehrens,
Folgesätze, kausaleSätze, quod statt acc c. int., quippe, Vergleichungssätze,
Konzessivsätze, oratio obliqua. Von Einzelheiten ist besonders be-
merkenswert, daß antequam gar nicht und num nur zweimal vorkommt.
Mehrfach weicht der Verfasser vom Rühlschen Texte ab. Ich
erwähne nur die Stellen, an denen ich ihm beistimme: I, 6, 4 esse
statt adesse; I, 8, 9 dolendum statt doleret; 18, 7, 8 etsi statt tametsi
und 38, 4, 16 etsi statt etiamsi; 22, 4, 1 quod statt cum. An allen
diesen Stellen wird die Lesart von Jeep wiederhergestellt.
Landgraf, der accusativus des Zieles nach vocare und hortari.
Archiv für lateinische Lexikographie XI S. 104
138 Ber. üb. d. Lit. zu später, röm. Geschichtsschreib. 1897—1902. (Opitz.)
empfiehlt Just. 14, 1, 5 bellum mit TZ statt illum (Rühl nach DJ)
zu schreiben,
Benuett, die mit tanquam und quasi eingeleiteten Substantiv-
sätze, Archiv XI S, 416
vieist für quasi bei Justinus ein Beispiel nach (43, 2, 9).
Steele, affirmative final clauses in the latin historians. American
Journal of Philology XIX, 255-284.
Zur Bezeichnung des finalen Verhältnisses bietet bei Justinus ut
78, ad 96, qui 35, quo 6, causa 5, Supinum 8, part. fut. 30, Grerun-
divum 18, Dativ des Gerundivums 1 Beispiel. Dagegen fehlt der
Genetiv des Gerundivs.
Nicht zugänglich war mir:
(Jautarelli, die Motive der Verschwörung des Harmodios und
Aribtogeitou (zu Justinus II, 9, 1). Bollettiuo di filologia classica
1898, 10. April.
Nur der Vollstäudigkeit halber erwähne ich:
Selecta ex Cornelio Nepote, Justiuo usw. In usum regiae scholae
Etoneusis. New edition. London 1897.
Justinus, historiae philippicae. Extraits avec des sommaires
et des notes par A. Boue, Paris. IG.
Aurelius Victor.
1. Allgemeines.
Steele, affirmative final clau?es in the latin historians. Ame-
rican Journal of Philology XIX, 255—284.
Übersicht der in den vier Schriften sich findenden Beispiele von
Ausdrücken zur Bezeichnung des finalen Verhältnisses:
Oiigo de vir. ill. Caes. Epit.
11 12 7
15 2 2
6 11
— 2 —
2 2 —
— 1 —
6-2
2. de viris illastribas.
Friedrich Leo, die griechisch-römische Biographie.
S. 309 f.: Das Buch de viris illustribus ist ein nach Personen
geordneter Abriß der römischen Geschichte. Biographisch ist die An-
ad
5
ut
4
qui
3
quo
2
Supinum
3
gratia
5
part. fut.
—
Gerundivum
4
Ber. üb. d. Lit. zu später. röin.GeschichtsschrC'ib. 1897—1002. (Opitz.) X39
läge der meisten Artikel nur in sein* beschränktem Sinne. Kein ein-
ziger enthält etwas zur Beschreibung des Charakters. — Bei Beant-
wortung der Frage nach den Quelleuschriftstellern muß man sehr vor-
sichtig sein.
Hermann Peter, die geschichtliche Literatur usw. 2. Band,
S. 367 f.: Die Schrift de viris illnstribus zeigt Berührung
mit den Elogien. Ampelius und Florus haben dieselbe Quelle (Hj'ginus?)
benutzt. Die Livianischen Spuren sind fast völlig verwischt. Manche
wichtige Notiz findet sich nur hier, andererseits enthält die Schrift
grobe Irrtümer und Verwechselungen, Sie ist „ein in einzelnen Stücken
stark gekürztes, aber auch um mehrere Einschiebsel bereichertes
Exzerpt". Das ausführlichere Originalwerk setzt der Verf. an den
Schluß des 2. Jahrhunderts, den Kern der vorliegenden Schrift in die
Zeit der Breviarien.
Günther, Plutarchs vita Camilli in ihren Beziehungen zu
Livius und Aurelius Victor. Bernburg, Jahresbericht des Herzog-
lichen Karls-Eealgymuasiums. 1899. 4. 24 S.
S. 19 f.: Die Kapitel 23 und 24 (Camillus und Maulius Capitoliuus)
der Schrift de viris illnstribus stammen nicht aus derselben Quelle
wie der Bericht des Eloius, sondern gehen auf Cornelius Nepos zurück,
den für den gleichen Gegenstand auch Plutarch in der Biographie des
Camillus benutzt hat.
"Weymanu, kritisch-sprachliche Analekten. Wiener Studien XX
S. 159. 27. eicere = educere.
De vir. ill. 47, 4 hat Wijga eiectum quendam e carcere un-
nötigerweise beanstandet. Denn im späteren Latein 'sinkt eicere viel-
fach zu der an unserer Stelle erforderlichen Bedeutung von educere
herab'.
3. Caesares.
Friedrich Leo, Die griechisch-römische Biographie usw.
S. 307 f.: Die historiae abbreviatae des Victor stellen „für
sich allein eine Spielart der spät-römischen Historiographie" dar.
Scheinbar ist es römische Geschichte, tatsächlich fast nur Biographisches,
jedoch mit völliger Auflösung der biographischen Form, Die moralischen
Betrachtungen sollen durch ihr ,,sallustisch-taciteisches Gepräge und
Ethos den Eindruck des großen historischen Stils hervorrufen".
Hermann Peter, die geschichtliche Literatur usw. 2. Band.
S. 131 f. und 357 f.: Nachdem der Verfasser über das Leben und
die Anschauungen des Aurelius Victor gesprochen hat, betont er,
daß die Caesares kein Auszug aus einem größeren Werke des Victor
140 Ber. üb. d. Lit. zu später, röm. Geschichtsschreib. 1897—1902. (Opitz.)
sind, sondern das Oritrinalwerk. Namentlich aus der Versleicbung mit
dem Titel M. Ceti Faventini artis architectonicae privatis usibus
abbreviatus liber ergibt sich, daß Victor der Verfasser der historiae
abbreviatae ist.
Die gleiche Vorlage wie Victor benutzten auch Eutropius
und Festus. Ein Namen für sie hat sich nicht auffinden lassen. Bei
der Wahl des Stoffes haben die drei Ep'tomatoren verschiedene Wege
eingeschlagen, so daß die wörtliclieu Übereinstimmungen wenig zahlreich
sind. Am subjektivsten ist Victor. Der Verf. bietet zahlreiche Zu-
sammenstellungen. Der Stoff zerfällt nach den benutzten Qnelleu iu
drei Abschnitte: 1. bis Domitian einschließlich. Das Wesentliche
stammt aus Suetonius , das Nichtsuetonische findet sich meistens auch
bei Tacitus oder Dio. — 2. bis Gordian III. Die Überlieferung trägt
auch hier senatorischen Charakter. Manches deutet auf Marius Maximus.
Wichtig ist, daß Victor und Eutropius nur zwei Gordiane kennen. —
3. bis Diokletian. Die Quelle beurteilte die Kaiser etwa, wie die
historia Augusta und stellte Diokletian in der Auffassung eines alles
möglichst zum Besten für ihn wendenden Schriftstellers dar. — Auch
im folgenden liegt eine gemeinsame Quelle zugrunde, wenngleich sich
nicht mehr so viele Übereinstimmungen finden. Bei Constantinus und
Constantius gehen Victor und Eutrop auseinander.
Wölfflin, Epitorae. Archiv für lat. Lexikographie XII S. 340
Aum.
Da die Glossarien epitome durch adbreviatio oder breviarium er-
klären, kann der Titel der Caesares „historia abbreviata" nicht be-
weisen, daß diese ein Auszug sein müßten und kein Original werk sein
könnten.
Petschenig im Philologus LVIII (N. F. XII) S. 154.
Beachtenswert ist der Vorschlag Caes. 3, 8 piaedicarat statt des
überlieferten praedicaret (vulg. praedicavit) zu schreiben. — 20, 13 ist
die Ergänzung niti ebensogut möglich, aber ebenso unsicher, wie die
übrigen vorgeschlagenen. — 9, 8 wird in der Tat mit 0 transgressui zu
schreiben sein.
Heraeus, Varia X. Rhein. Museum 54 S. 31.
Caes. 33,6 mimariorum statt vinariorum unter Vgl. von Treb.
Pollio Vit. Gall. 21, 6. — 33, 30 coniici datur statt coniiciatur (Schott
coniicitur). Beides gut ausgedacht, aber nicht zwingend.
4. Epitome.
Friedrich Leo, die griechisch-römische Biographie usw.
S. 308: Im ersten Satze der einzelneu Kapitel der Epitome
wird zumeist das genus und die Begierungszeit angegeben, dann folgeu
Ber. üb. d.Lit. zu später, röm. Geschichtsschreib. 1897 — 1902. (Opitz.) 141
äie mores, die jedoch einige Male fast ganz fehlen. Die historischen
Begebenheiten kommen erst mit Constantinus zur Geltung, und zwar in
der suetonischen Form. Oft dient hie oder iste zur Anrciliung der
Notizen.
Hermann Peter, die geschichtliche Literatur usw. 2. Band.
S. 152 f. und 360 f.: Die Behandlung ist ungleich und geht
nach gewissen Schablonen. Im 1. Abschnitte (bis Domitianus) begegnet
sich die Epitome „in immer zunehmendem Maße" mit den Caesares.
Eine direkte Benutzuus liegt jedoch nicht vor, sondern es ist wohl ein
erweiterter Suetoiiius benutzt. Im 2. Abschnitte (bis Heliogabal) und
im 3. Abschnitte (bis Diocletianus) findet dasselbe Verhältnis zu
Entropius statt, wie im ersten zu Victor, Anfang-^ sind die Beziehungen
seltener, dann nehmen sie immer mehr zu. Auch hier liegt eine ge-
meinsame Quelle zugrunde, und zwar im 2. Abschnitte ein auf Marius
Maximus zurückgehendes Exzerpt, doch ist noch ein Mittelglied anzu-
nehmen, das zur historia Angusta in Beziehung steht. Im 3. Abschnitte
hat der Vorgänger der Epitome die griechische Tradition sehr heran-
gezogen. Der 4. Abschnitt bietet viel Gemeinsames mit Ammianus,
das sich durch ein gemeinsames Mittelglied erklärt. — Stark benutzt
ist die Epitome von Paulus Diaconus und Laudolfus Sagax.
Pichlmayr, L. Norbanus Lappius Maximus. Hermes 33, S. 664
—665.
Epitome 11, 10 bietet die in Betracht kommende Überlieferung
nicht L. Appiura Norbanum, sondern norbanum (oder ähnlich) lappium.
Der Vei fasser weist den Namen Lappius auch sonst nach und stellt
für den betreffenden Offizier die in der Überschrift genannten Namen fest.
Wölfflin, die Entwickelnng des infinitivus historicus. Archiv für
lateinische Lexikographie X S. 178
schlägt Epitome 45, 6 vor statt pingere venustissime, meminisse zn
lesen pingeie. vetustissirae meminisse.
Derselbe, zur Latiuität der Epitome Caesarum. Daselbst XII
S. 445—453.
Das eigene Latein des Verfassers zeigt sich in den Schlußkapiteüi
(40 — 4<s); denn hier erzählt er seine eigenen Erlebnisse mit seinen
eigenen Worten. Von diesen also ist bei einer Analyse seines Sprach-
gebrauchs auszugehen. Treten die in der genannten Partie beobach-
teten Eigentümlichkeiten auch in den früheren Teilen der Epitome
hervor, so muß man annehmen, daß eigener Sprachgebrauch des Epi-
tomators vorliegt, namentlich wenn sich dabei herausstellt, daß die be-
nutzte Quelle eine andere Ausdrucksweise vorzieht. Die grammatische
142 Ber. üb. d.Lit. zu später, röm. Geschichtsschreib. 1897—1902. (Opitz.)
Schulung des Verfassers läßt, trotzdem er in Rom g-elebt zu haben
scheint, zu wünschen übrig.
Einzelheiten: suus wird oft hinzugesetzt, ohne daß ein Gegen-
satz bezeichnet werden soll. — germanus und consanguineus in der Be-
deutung „Bruder". — Über hie und iste vgl. unten. — propter ist
durch ob verdrängt (gerade wie in den Caesares). — sub Augusto
und ähnliche Ausdrücke finden sich oft. ■ — apud zur Bezeichnung der
Orlsruhe ist bei Länder- und Städtenamen häufiger, als in oder der
Localis. — Beim Komparativ findet sich longe statt raulto, beim Positiv
multum statt valde. — 16 mal wird imperator effectus (efficitur) gebraucht.
Derselbe, zur Geschichte der Pronomina Demonstrativa III.
Daselbst XII S. 356 f.
In der Epitome sind die Kaiser bald mit hie bald mit iste be-
zeichnet. Dabei kommt letzteres nur im Nominativ Singularis vor.
während von ersterem alle Kasus gebraucht werden. In der Mittelpartie
der Epitome tritt der Gegensatz hie und is auf. In den letzten zehn
Kapiteln, in denen der Verfasser auf eigenen Füßen steht, fließt alles
in einander.
•IRLtN£fl •UCKDDUOICeitEt.AOTICN-fflCLt.SQKArT, •CTZEniNNCn-ICNUt.C CCt LCTTC-VC^F nl
JAHRESBERICHT
über
die Portschritte der klassischen
Altertumswissensehaft
begründet
von
Conrad Biirsian
herausgegeben
von
L. GrVTi-litt 1111(1 TV. Kroll.
Hundertzweinndzwaiizigster Band.
Zweiunddreissigster Jahrgang 1904.
Dritte Abteilang.
ALTERTUMSWISSENSCHAFT.
LEIPZIG 1905.
0. R. REISLAND.
Inhalts-Verzeicliiiis
des bundertzweiundzwanzigsten Bandes.
Seite
Bericht über die griecbischcu Staatsaltertümer für die
Jahre 1893(1890)— 1902 von J. Oehler in Wien 1 — 115
Bericht über griechische Geschichte von Tb. Lenschaii
in Berlin (1899—1902.) 116-304
Register über Abteilung I— III 305—312
Register der in Band 87 — 122 erschienenen Berichte 313-314
Bericht über die griechischen Staatsaltertümer für die
Jahre 1893(1890)— 1902
J. Oehler
in Wien.
Vorbemerkung.
Nach dem umfassenden Berichte über die griechischen Staatsalter-
tümer von J. H. Lipsias im XV. Bande dieser Jahresberichte wurde
im LX. und LXIV. die Fortführung dieses Berichtes durch Dr.
C. Schäfer angekündigt, erschien aber nicht, und erst im LXXXI. Bande
fand derselbe eine Fortsetzung durch O. Schultheß; doch umfaßt dieser
Bericht nur den I. Hauptartikel, in dem eine beschränkte Anzahl von
wichtigen Werken besprochen wird. Daher wollte Prof. Dr. Valerian
von Schoeffer den Bericht über die Jahre 1878—1898 erstatten, wurde
aber leider vor der Vollendung der Arbeit vom Tode hingerafft und
hinterließ nur die Einleitung und eine ausführliche Besprechung des
I. Bandes der 4. Auflage der Staatsaltertümer von Schoemann-Lipsius.
Durch die freundliche V^ermittelung des Herrn Prof. Dr. Lezius in
Kiew erhielt der Unterzeichnete das Manuskript, das im folgenden
unter Anführungszeichen abgedruckt wird. Als dem Unterzeichneten
im Juli 1900 noch in Krems der ehrenvolle Antrag gestellt wurde,
den Bericht von 1894 bis 1900 zu ergänzen, verhehlte er sich nicht
die Schwierigkeit dieser Aufgabe: ist doch gerade die letzte Zeit so
reich an Quellen, Funden und Einzelforschungen und ist in einer
kleinen Landstadt die Beschaffung der Literatur ungemein schwierig
und die Zeit zur wissenschaftlichen Arbeit bei der anstrengenden beruf-
lichen Tätigkeit eine sehr beschränkte. Das Interesse für die Sache
aber bewog ihn, zunächst für diese Zeit als Lückenbüßer einzutreten,
am dann von drei zu drei Jahren regelmäßige Berichte folgen zu lassen.
Um möglichste Vollständigkeit zu erzielen, erlaubt er sich, an alle
Fachgenossen die Bitte zu richten, ihm durch direkte Zusendung ihrer
Arbeiten über griechische Staatsaltertümer (Wien IX. Schubertgasse 10)
seine Arbeit gütigst erleicbtern zu wollen und diesen ersten Bericht
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) J
2 Bericht üb d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)- 190-2. ( J. Oehler.)
mit Nachsicht aufzunehmen. Absolute Vollständigkeit konnte nicht
erstrebt werden, da sie doch nicht zu erreichen war. Aus gewichtigen
Gründen sah sich Eef, veranlaßt, auf die Literatur bis 1890 zurück-
zugreifen. Was die befolgten Grundsätze anbelangt, so sind Rezensionen
soweit als möglich herangezogen und benutzt, wenn auch nicht aus-
drücklich angeführt. „Nur in den leider nicht ganz seltenen Fällen,
wo eine [durch ein Sternchen bezeichnete] Arbeit dem E.ef. nicht zur
eigenen Prüfung vorlag, soll die Rezension wiedergegeben werden. Es
mußte eine strenge Auswahl unter den selbständigen, das Gebiet der
Staatsaltertüraer berührenden Arbeiten getroffen werden: ausgeschieden
wurden vor allem solche, die auch andere Fächer der Altertumswissen-
schaft interessieren und demgemäß daselbst besprochen oder zu be-
sprechen sind. Dies bezieht sich besonders auf den Abschnitt der
Quellenkunde, da die einschlägigen Werke entweder unter die einzelnen
Autoren (namentlich Piaton und Aristoteles) oder unter die Epigraphik
oder Papyrusliteratur fallen. Weiter ausgeschieden wuiden im Prinzip
die großen Geschichtswerke; nur ausnahmsweise ist bei Behandlung
besonders wichtiger Fragen auch auf diese Werke Bezug genommen,
aber ohne Konsequenz und in knappster Form. Es sind auch solche
Werke ausgeschlossen worden, welche die hellenischen Institutionen in
einem größeren, meist vergleichend historischeu Zusammenhange be-
ti-achten. Nicht sowohl ausgeschlossen, als nicht in unser Gebiet fallend
sind diejenigen Werke, die im Rahmen der Kulturgeschichte des helle-
nischen Volkes auch die wichtigeren staatsrechtlichen Fragen behandeln."
Die Anordnung schließt sich im wesentlichen an die 2. Auflage von
Busolts Staats- undllechtsaltertümer an und umfaßt folgende „Hauptartikel
mit kurzen erläuternden Bemerkungen : I, Handbücher. IL Arbeiten über
die Grundlagen des hellenischen Staates (worunter sowohl die allgemeinen
Normen des Personenrechtes, der Geschlechtsorduung, der Vertussungs-
formen wie auch die sozialen Bestrebungen des griechischen Altertums
eingeschlossen sind). III. Arbeiten über den homerischen Staat.
IV. Sparta. V. Kreta. VI. Athen (nach der Gliederung: 1. Verfassungs-
geschichte. 2. Verfassung: a) Bürgerschaft und die anderen Einwohner-
klassen, b) Beamte, c) Ratsversammlungen, d) Volksversammlungen.
3. Verwaltung). VH. Die kleinen Staaten (nach der Einteilung: Pe-
loponnesos, Nordgriechenland, Inseln, Kleinasien). VIII. Amphiktyonien
und Bünde, Mutterstadt u. Kolonie. IX. Völkerrechtliche lustituiioneu.
Nicht überflüssig wird es sein, sich darüber zu verständigen,
weshalb dieser Bericht nach wie vor über die griechischen Staatsalter-
tümer benannt ist trotz des heftigen Protestes verschiedener Forscher
gegen diesen terminus techuicus." Schoeffer und Toepffer haben Vor-
lesungen über griechisches Staatsrecht gebalten; „es ist also kein
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.l 3
gedankenloses Haften an der Tradition, welches die alte Bezeichnung-
beibehalten ließ, sondern weil ein griechisches Staatsrecht vorläufig:
noch ein Postulat der Zukunft ist" (s. Thumser, Aufgaben eines zu-
künftigen griechischen Staatsrechtes Xenia Austriaca T, 257 — 271)
„und kein Gesetz rückwirkende Kraft haben darf, da sonst manche
wertvolle Abhandlung bei strenger Anwendung des besagten Begriffes
ans dem Berichte herausfallen würde, ohne Unterkunft in einem anderen
zu finden." Schoeffer hat die Eechtsaltertümer getrennt; Ref. hat sich
dagegen entschlossen, wenigstens die entsprechende Literatur anzuführen,
da einige Teile des Privatrechtes, wie besonders das Familien- uml
Erbrecht, zu dem hellenischen Staatsrechte in viel engerer Verbindung
stehen, als dies im modernen Staate der Fall ist, und sich nicht leicht
von ihm loslösen lassen.
I. Handbücherc
„Dieser Abschnitt hat dadurch eine Verkürzung erfahren, daß die
meisten einschlägigen Werke schon in dem erwähnten Berichte von
Schultheß besprochen wurden, es sich also nur um eine Ergänzung
handelt. Es ist hier eigentlich nur ein Werk anzuführen, aber eines
von kapitalem Wert:
1. Schoemann, Griechische Altertümer. 4, Aufl. neu bearb. v.
H. J. Lipsius. Bd. I. Das Staatswesen. Berlin 1897.
Der bewährte Meister, welcher schon für seine Neubearbeitung
von Schoemann-Meiers 'Alttischem Prozeß' sich die Anerkennung und
den Dank aller Altertumsforscher gesichert hat, unternahm es gleich
nach Bewältigung jener Aufgabe, dieselbe Sorge dem anderen hervor-
ragendsten Werke Schoemanns, seinen 'Altertümern", angedeihen zu
lassen , von denen jetzt nach einer Arbeitsunterbrechung von zirka
6 Jahren der erste Band, das Staatswesen betreffend, uns vorliegt. Man
kann über den prinzipiellen Wert solcher Überarbeitungen veralteter
Standart-Works verschiedener Meinung sein und Eef. steht nicht an, zu
erklären, daß er persönlich es vorgezogen hätte, ein vollständig lieues
Werk über griechisches Staatsrecht nach dem entsprechend abgeänderten
Plane zu besitzen (mit Erweiterungen, z. B. in betreff' der Quellen,
der antiken Staatslehre speziell des Aristoteles, von der jede neue Be-
handlung ausgeben sollte, der kleineren hellenischen Staaten, aber auch
mit Streichung alles desjenigen, was eher in eine Kulturgeschichte, denn
in ein Handbuch des Staatsrechtes pal.it — an solchen Exkursen ist
im Schoemannschen Buche kein Mangel - — und überhaupt mit viel-
fachen, sehr wünschenswerten Änderungen). Aber darüber läßt sich
mit dem Verfasser nicht rechten, man darf nur Stellung nehmen zu
4 Bericht üb. d. griech. Staats altertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler)
der Methode, nach der die Neubearbeitung durchgeführt ist. Und in
dieser Beziehung? verdient das vorliegende Werk unzweifelhaft den
Vorzug nicht nur vor der Fränkelschen Ausgabe der Boeckhschen
Staatshaushaltung, sondern auch vor desselben Verfassers Neuauflage
des attischen Prozesses.
Um sich eine genaue Vorstellung von Umfang und Methode der
Neubearbeitung zu bilden, sah sich Ref. gezwungen, dieselbe mit der
vorhergehenden Auflage von 1871 (die erste gehört dem Jahre 1855
an) nicht nur Seite für Seite , sondern Zeile für Zeile zu vergleichen.
Man kann nicht umhin, dem Herausgeber nicht nur die vollste An-
erkennung, sondern Bewunderung zu zollen für die peinliche Sorgfalt
und staunenswerte Geduld, mit der er sich seiner Aufgabe unterzogen
hat. Wie er am ursprünglichen Plane des Buches bis auf die Kapitel-
überschriften festgehalten hat (nur ,die Verfassungsänderungen vor
Solon' sind durch ,die drakontische Verfassung' ersetzt) , so ist auch
innerhalb der einzelnen Abschnitte der frühere Inhalt und die frühere
Form soweit irgend möglich gewahrt worden, dabei aber überall das
in mehr als einem Vierteljahrhuudert stark bereicherte Quellenmaterial
(Inschriften, Aristoteles' 'At^rjv. ttoX. , die neugefundenen Reden des
Hypereides) wie die in demselben Maße angewachsene wissenschaftliche
Literatur durchgehend ausgenutzt und ihre Resultate in den früheren
Rahmen hineingearbeitet worden. — Diesem Urteil können gewisse
kleine Unebenheiten, ja sogar etliche Widersprüche, die sich aus bis-
weilen zu weit getriebenem Konservatismus erklären, keinen Abbruch
tun. So liest man auf Seite 127: ,Die hellenischen Stämme wohnten
in Komen, d. h. in kleinen Ortschaften, die mit gleicher Selbständigkeit
nebeneinander bestanden, ohne einen Zentralpunkt', was, in dieser
Allgemeinheit gesagt, nicht richtig ist, auch auf der foli; enden Seite
widerrufen wird, wo , zweierlei Arten von Komen' angenommen werden,
solche, die sich als untergeordnete Glieder eines größeren Staatskörpers
mit einer Hauptstadt als Zentralpunkt verhalten, nnd zweitens solche,
die ohne eigentlichen Staatsverband bestehen, vielmehr in selbständiger
UnVerbundenheit verharren" — der Widerspruch erklärt sich dadurch,
(laß in der früheren Auflage der erste Satz sich nicht auf „die
liellenischen Stämme" überhaupt, sondern nur auf Völkerschaften
Arkadiens bezog. Solcher Unebenheiten oder "Widerspräche sind
übrigens nur eine verschwindend geringe Anzahl und zwar ausschließ-
lich in der ersten Hälfte des Buches; dieselbe ist, wie gesagt, 6 Jahre
vor Abschluß der zweiten gedruckt worden und es scheint hier der
Herausgeber seiner Vorlage etwas ultrakonservativ gegenübergestanden
zu sein, während die weiteren Abschnitte über Kreta und Athen ihn
notwendigerweise zu einer etwas freieren Behandlung drängen mußten.
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J. Oehler.) 5
Das Verhältnis des Herausgebers zu dieser Hälfte des Werkes ist
innerlicher geworden, der ersteren stand er gewissermaßen als Fremder
gegenüber. Trotzdem bietet auch dieser Teil eine stattliche Anzahl
von Änderungen. Auch in der „speziellen Darstellung der Hauptstaaten'-
bot das dem spartanischen gewidmete Kapitel verhältnismäßig wenig
Anlaß zu Änderungen. Die am tiefsten einschneidende Überarbeitung,
die größten Zusätze, die umfassendsten Besserungen mußten natürlich
Kreta, in noch höherem Grade aber Athen zuteil werden. Dieselbe,
ja vielleicht noch größere Sorgfalt wie dem Texte hat der Herausgeber
den Anmerkungen gewidmet. Der ursprüngliche Charakter derselben
ist streng bewahrt worden, nach wie vor sind sie nicht dazu bestimmt,
das Quellenmaterial vollständig zu liefern, sondern nur dem Leser die
bedeutendsten Belegstellen an die Hand zu geben. Dies war vielleicht
der schwierigste Teil der Arbeit und von der darauf verwandten Zeit
und Mühe läßt sich kaum noch eine Vorstellung bilden. Dieser Teil
der Arbeit ist an peinlicher Sorgfalt unübertrefflich, bedauern könnte
man allenfalls, daß nicht die wichtigsten Belegstellen im Wortlaut an-
geführt seien, was gerade bei einem für weitere Leserkreise bestimmten
Buche sehr passend gewesen wäre."
2. Schoemann, Griechische Altertümer. 4. Auflage. Neu
bearbeitet von J. H. Lipsius. 2. Band: Die internationalen Ver-
hältnisse und das Eeligionswesen. Berlin 1902.
Da der zweite Band, wie der Herausgeber selbst in der Vorrede
erklärt, nach denselben Grundsätzen bearbeitet ist wie der erste, sah
Ret sich genötigt, das Buch Seite für Seite durchzusehen, um die
Arbeit der Herausgeber zu erkennen und zu würdigen. Äußerlich hat
die 4. Aufl. gegenüber der im Jahre 1873 erschieneneu 3. eine Ver-
mehrung von 30 S. Text erfahren; man könnte sich darüber wundern,
wenn man erwägt, was der Zeitraum von 30 Jahren an Fanden und
Ergebnissen geliefert hat. Doch das Buch wird nicht als eine er-
weiterte, sondern eine neue Bearbeitung mit Recht bezeichnet:
tatsächlich sind einzelne Teile vollständig neu gearbeitet auf Grund
des neuen, besonders des epigraphischen Materials Lipsius und
Bischoff (dieser hat die Kapitel: Priester und andere Kultusbeamte,
Staatskulte und Feste bearbeitet) waren bestrebt, unter Wahrung des
alten wertvollen Grundstockes das Buch auf die Höhe der Zeit zu
bringen, so daß auch der 2. Band als ein im wesentlichen neues Buch
bezeichnet werden kann. Zu dem bewährten Grundstock gehören aber
nicht die Bemerkungen S. 453 f. über Beichtstuhl usw., die Ref. daher
lieber missen würde-, was sollen diese zum Verständnis der griechischen
Altertümer beitragen ?
C, Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
Ref. hat nicht das ganze Buch zu besprechen, sondern nur die
Abschnitte, die sich auf den Staat beziehen, und hat S. 1 — 284, dann
419 — 607 durchgesehen. Mit Anerkennung ist es zu bemerken, daß
die Literaturangaben ergänzt und die neuesten Erscheinungen nachge-
tragen sind; ältere Werke werden nur selten zitiert, eine Beschränkung,
die nur zu billigen ist; hier können nur die wichtigsten Änderungen
hervorgehoben werden.
K. IV. Die internationalen Verhältnisse. Neu eingefügt ist
S. 6 und 7 das Verfahren bei internationalen Rechtshändeln. S. 21 wird
die unrichtige Erklärung Schoemanns über i/öpoc berichtigt; es hätte
dabei auch auf das Institut der ^svooixat in manchen Staaten hinge-
wiesen werden können. S. 25 f. wird eine klare Darstellung des
Wesens der Trpoievta gegeben. S. 28 f. werden Beispiele für Verträge
angeführt, die Begriffe hoxilv.i und boiroAitsia präzisiert. — S. 31 er-
fahren wir die Bezeichnung \\\).(fiy.vjowz; Aörjvaicuv für die delische
Amphiktyonie. Eine wesentlich neue Darstellung fand die delphische
Amphiktyonie S. 33 — 44, manche Berichtigung die Darstellung über
das delphische Orakel S. 44 — 53, wobei der Einfluß des Orakels auf
Koloniegründungen, die Ausbreitung des Heroenkultus hervorgehoben
und eine richtigere Darstellung der Verfassung und Verwaltung
von Delphi gegeben wird (S. 51 f.). — In dem Abschnitte ,,Die
Nationalfeste** kam die bessernde Hand besonders den Olympien zu
gute. S. 55 ist das Wesen der i/sysipta genauer angegeben, S. 58 die
Zeit des Festes berichtigt, S. 59 ausführlicher über die regelmäßigen
monatlichen Opfer und den dabei tätigen Personen gehandelt. Was die
Wettkämpfe selbst anbelangt-, so sind eine Reihe von Verbesserungen
aufgenommen , die nicht einzeln angeführt werden können. Größere
Änderungen hat der Abschnitt über die landschaftlichen Staatenvereine
aufzuweisen. S. 80 wird hingewiesen auf die Bedeutung der Staram-
verwandtschaft. über die Arkauanen einzelnes berichtigt, neu behandelt
sind S. 81 f. die Lokrer, Phoker und Dorer. Die Thessaler und
Boioter erfahren austührlichere Darstellung, entsprechend den ge-
wonnenen Kenntnissen, die auch für die Arkader viel Neues ergeben
haben. Der Abschnitt über die Kolonialverhältnisse S. 92 — 101 hätte
eine durchgreifendere Veränderung verdient; es hätte sich eine Gliederung
nach Perioden empfohlen; mit Recht ist hinzugefügt, daß auch
militärische Interessen Veranlassung zur Koloniegründung gaben, daß
die in eine schon bestehende Ansiedelung zugesandten Ansiedler sTtoixot
lieißen und daß als eine Art d-oixiai auch die Genossenschaft der dionysischen
Künstler sowie die landsmannschaftlichen Vereinigungen der Ausländer
in den griechischen Städten zu betrachten sind. Nicht genug scheint
aber hervorgehoben, daß iu den eigentlichen Kolonien ein eigenes
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890) — 190-2. (J. Oehler.) 7
Bürgerrecht begründet wurde: vgl. Oehler, 'xA 7:01x1a bei Panly-Wissowa
I 2823—2836.
Größere Änderungen weisen ferner die Abschnitte über die
athenische Syniraachie und den ätolischen und achäischen Bund auf,
die aber passender unter Artikel VIII besprochen werden. In dem
Abschnitte: Allgemeine Charakteristik der griechischen Religion habe
ich nur wenige Änderungen bemerkt. S. 136 ist die Bemerkung mit
Recht aufgenommen, daß die ursprüngliche Naturbedeutung der Götter
nur vereinzelt bei Homer hervortrete. S. 148 ist die Erklärung hin-
zugefügt, daß zur Ausübung des Herrscheramtes Liebe zu den Unter-
gegebenen gehört und die Frommen gottgeliebt heißen. S. 156 ist
genauer gesprochen über den Glauben an Dämonen als Schutzgeister
der einzelnen Menschen, 162 der Grund für Einholung der Gebeine
eines Heros angegeben, weil die Wirksamkeit eines Heros zunächst an
die Stätte seines Grabes gebunden ist. Im Abschnitte „Verhalten des
Staates zum Kulte" ist S. 170 f. richtig das Verhalten des Staates gegen
fremde Kulte besprochen und richtig S. 171 hinzugefügt: die Zu-
stimmung von Rat und Volk zur Errichtung von Tempeln der Isis und
kyprischen Aphrodite war nur darum notwendig, weil ohne solche der
erforderliche Grundbesitz nicht erworben werden konnte. Es ist also
von einer staatlichen Autorisation zur Ausübung eines fremden Kultus
nicht die Rede. S. 174 ist manches über die Aufnahme neuer Kulte
geändert. Was den Kultus als Idololatrie betrifft, möchte Ref. nur
bemerken, daß er die Ansicht Reicheis: Vorhellen. Götterkulte, gegen
welche S. 185, Anm. 6 gerichtet ist, für richtig hält; lesen wir auch
bei Schoem.-Lips. S. 180: Es gab eine Zeit, wo man keine Bilder
hatte . . . : die Göttin haben sich die Trojanerinnen auf dem Throne
sitzend gedacht und so konnten sie auch den Peplos über ihre Knie,
eigentlich auf den Thron legen. In dem Abschnitte über Kultlokale
ist zu beachten S. 194 die berichtigte Beschreibung des Altares und
seiner Form und die Bemerkung S. 205, daß, wenn ein Tempel aus
irgend einem Grunde dem Bedürfnis nicht genügte, ein neuer neben
ihm für denselben Gott errichtet ward. Neben den angegebenen Bei-
spiele wäre auch der Parthenon zu nennen, der neben den alten Athena-
tempel trat. — S. 207 ist der Hypäthraltempel richtig erklärt und die
Ausführung über die Nebenteile berichtigt : der Tempel entwickelte sich aus
der einfachsten Form, in der er die Gestalt des altgriechischen Herrscher-
hauses hatte, durch zwei Erweiterungen, durch die Anfügung einer
Hinterhalle und durch die Schaffung eines Hallenumgangs. Eine ein-
gehende Umarbeitung haben die Abschnitte über ,,die Priester und andere
Knltusbeamte' und „Staatskulte und Feste" durch Bischoff erfahren;
er spricht über: Verwaltung der Tempelschätze unter Staatskontrolle,
8 Bericht üb. d, griecb. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
^m|j.r^vtoi und vstuTCoiot, Verwendung des Loses bei der Besetzung
der Priest ertümer, Verkauf des Priesterarates, Leiturgien der Priester,
Befreiung der Priester vom Kriegsdienste und Aratsdauer, Einweihungs-
feierlichkeiteu , jtecpavo; für isposuvr], ospixaTixov, Die zahlreichen
UmarbeitnngeD in dem Abschnitte über Staatskulte und Feste können
hier nicht einmal aufgezählt werden : er ist fast als völlig neu ge-
arbeitet zu bezeichnen. Völlig neu gearbeitet erscheint auch der Ab-
schnitt über die Kultgenossenschaften. Festgehalten ist, daß alle Ver-
eine wenigstens äußerlich Kultvereine waren und einen Schutzgott ver-
ehrten und in diesem Sinne die Bezeichnung Thiasoten im allge-
meinen berechtigt ist. Daß die Innungen durch den Einfluß römischer
Sitte hervorgerufen sind (S. 572), möchte Eef. nicht gelten lassen.
Wenn nach S. 573 Otaffo? und (^p^euivs? als offizielle Bezeichnungen zu-
nächst von solchen privaten Kultgenossenschaften in Anspruch genommen
werden durften, die der einen oder andern Gottheit des Staatskultus
noch besondere Verehrung widmeten, durfte nicht von Orgeonen der
phrygischen Göttermutter gesprochen werden; S. 172 ist ja mit Eecht
unterschieden worden zwischen dem Dienste der Göttermutter und dem der
phiygischen Kybele. Im Peiraelus finden sich Orgeonen, aber auch Thiasoten
der Göttermutter, wie schon Ziebarth bemerkie; diese Orgeonen waren ein
Verein von Bürgern, ähnlich den Orgeonen des Dionysos, die Thiasoten
umfaßten Bürger und Fremde. Ref. wird an anderer Stelle das Nähere
darüber ausführen. Die soziale und ökonomische Bedeutung dieser
Kultgenossenschaften erscheint noch immer nicht genug hervorgehoben.
Daß der Abschnitt über die Kulte der Phratrien und Geschlechte
manche Verbesserung erfahren, ist selbstverständlich. Nicht unwahr-
scheinlich erscheint dem Ref. die von Stengel BphW 1902, 778 f. gegebene
Erklärung zu S. 576 über [xeiov: es bezeichnet wohl dasOpfer für die ixetovsc,
d. h. für die in geringerem Alter stehenden Personen. Hinzugefügt ist
S. 578 die Austührung über den Kultus des Apollon 7:a-:pt«o;, der ur-
sprünglich auf die adeligen Geschlechter beschränkt war, dann aber auf
alle Bürger ausgedehnt wurde.
In dem Abschnitte über den häuslichen Kultus war wenig zu
ändern. Größere Veränderungen erfuhr der letzte Abschnitt: Begräbnis-
und Totenkult.
2. Arbeiten über die Grundlagen des hellenischen Staates
(worunter sowohl die allgemeinen Normen des Personenrechtes, der Ge-
schlechtsordnung, der Verfassungsformen wie auch die sozialen Be-
strebungen des griechischen Altertums eingeschlossen sind).
Über die Stellung der Beisassen in den griechischen Städten außer
Athen handelt:
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d J. 1S93(1S90)-1902 (J. Oehler.; 9
3. M. Clerc, Condition des etrangers domicilies dans les diflförentes
cit6s grecques iu Revue des uuiversites du Midi, tom, IV (1898)
1—32; 153—180; 249—275.
Der Verf. gibt zunächst eine Liste der Städte, in denen Bei-
sassen erwähnt werden: es sind 70 Städte, für welche vom V. Jahrh.
V, Chr. bis in die römische Zeit Zeugnisse angeführt werden. Die Bei-
sassen bildeten eine besondere Klasse der Bevölkerung, waren durch
Vermittelung eines TrpoaTotTr^c in ein Register verzeichnet, hatten ein
[xsToty-iov '^u zahlen und bestimmte Leistungen (Leiturgien) zu über-
nehmen. Als Auszeichnung erhielten sie 7^? -/.al oixia? l'YxxYjats, Iso-Hv.t.
und oLTzltioi. Zu den Kulten der Stadt waren sie zugelassen. Clerc
wirft auch die Frage auf, ob die ionischen Städte wirklich mehr als
die dorischen und aiolischen die Niederlassung der Fremden begünstigten
und ob für die Stellung der Beisassen die Verfassungsform eine Be-
deutung hatte. Er zeigt, daß unter den von ihm angeführten Städten
15 ionische, 23 aiolische und 30 dorische sind und von 31 Städten,
deren Verfassung wir kennen, 14 aristokratische und 17 demokratische
Verfassung hatten. Es ergibt sich, daß nicht die Politik, sondern
ökonomische Interessen ausschlaggebend waren: die Beisassen hatten
als Kaufleute, Großhändler und Kapitalisten große Bedeutung besonders
in Handels- und Industrieorten. Von den 70 Städten sind 40 Hafen-
orte, von den anderen sind die meisten stark bevölkerte und bedeutende
Orte, die auch iu ökonomischer Beziehung lür die ganze Gegend von
Bedeutung waren. Gerade dieser letzte Hinweis ist nach des Ref. An-
sicht der Hauptweit der Abhandlung Clercs. Von diesem Gesichts-
punkte aus werden auch die vielfachen Vereinsbildungen der Fremden
iii den griechischen Städten zu betrachten sein.
Bürger und Bürgerrecht finden eine ausführliche Behandlung iu
4. E. Szanto, Das griechische Bürgerrecht. Freiburg i. B. 1892,
Dieses durch gründliche Quellenkenntnis und Vertiefung in die
sich aufdrängenden Fragen ausgezeichnete Buch bezeichnet der Ver-
fasser als Vorarbeit zu einem griechischen Staatsrecht; es ist ihm auch
gelungen, die nur vereinzelten Tatsachen zu einem System zu ver-
knüpfen und einen wichtigen Teil des griechischen Staatsrechtes zu
rekonstruieren. Aus der Beantwortung der Frage: „Was ist der
Bürger?" ergibt sich ja auch die Antwort auf die Frage: „Was ist
der Staat .''* In der Einleitung wird der Begriff des Bürgerrechtes
untersucht, als entscheidendes Merkmal desselben das Recht der Teil-
nahme au der apy/j, der Regierungsgewalt, hingestellt und zwischen
„Vcllbürgern'' und „Bürgern minderen Rechtes* unterschieden. Natür-
lich änderte sich der Begriff „Bürger" zu verschiedenen Zeiten: in
10 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890) -1902. (J. Oehler.)
der ältesten Zeit war die Kultgenossenscbaft das wesentliche Moment,
in der historischen Zeit darf der sakrale Faktor nicht mehr in den
Vordergrnnd gerückt werden. Das Bürgerrecht ist ein gentilizisches,
wird also zunächst durch die Abstammung von Bürgern erworben.
Fremde erhalten es durch Schenkung; darüber bandelt der I. Teil:
„Der Verleihung des Bürgerrechtes". Motive für die Bürgerrechtsver-
leihung waren entweder cüvota und dv6pa7aöia, das Verdienst des Fremden
um den Staat, oder o^.YavOpwTiia, der Mangel an Bürgern in dem ver-
leihenden Staate, das letztere kommt bei der Verleihung des Bürger-
rechtes an ganze Massen in Betracht. Das verliehene Bürgerrecht, für
Avelches sich im Ilrkundestil seit dem letzten Drittel des V. Jahrb.
das Abstraktum -oXireta findet, war immer ein vollwertiges; der Neu-
bürger erhält Anteil an der ap-/7j, wenn auch manchmal mit gewissen
Beschränkungen, und wird, sei es nach freier "Wahl, sei es durch das
Los, in die staatlichen Unterabteilungen eingereiht sowie durch das
Ethnikon bezeichnet. Dankenswert ist die klare Darstellung des Ver-
hältnisses zwischen Proxenie und Politie, die nicht selten in demselben
Volksbeschlusse verliehen werden: das verliehene Bürgerrecht war meist
ein Ehrenbürgerrecht, wurde von dem Geehrten selten faktisch ausge-
übt, daher wurde als persönliche Auszeichnung die Proxenie mit den
daran geknüpften Rechten zugleich verliehen. Dieser Grund ist wohl
auch für die Kumulierung von Bürgerrechten in einer Person anzu-
nehmen. Das verliehene Bürgerrecht war ein erbliches: mit dem Vater
wurden zugleich auch die minderjährigen Kinder in das Bürgerrecht
aufgenommen, während für großjährige eine besondere Verleihung nötig
war. Die Verleihung des Bürgerrechtes erfolgte durch einen Akt der
souveränen Gew-alt; gegen den Verf. möchte Ref. mit ThumserBphW 1892,
1270 f. die Verleihung des Bürgerrechtes als \6iioi i-' dvopi gelten lassen.
Die Formel der Verleihung war nach Zeit und Ort verschieden und
Verf. hat dem Urkundenstile die gebührende Aufmerksamkeit zuge-
wendet. Mit Szanto und Swoboda glaubt Ref., daß in Jasos und
Mylilene bei der Verleihung des Bürgerrechtes nicht zwei Volksver-
sanimlungen erforderlich waren, sondern daß £vvo|xoi -/povoi eine bestimmte
Volksversammlung bedeutet, die für die Verhandlung dieser Dinge re-
serviert war. Der Ausdruck „Quasibürgerrecht" als Bezeichnung einer
Summe von Privatrechten ist wohl nur als Notbehelf gebraucht und
insofern nicht zu beanstanden. Verf. behandelt auch die Fälle, in denen
anscheinend die Bürgerrechtserteilung durch Magistrate erfolgte: es
handelt sich dabei nur um die Prüfung, ob der Bewerber den Be-
dingungen, welche für den Erwerb des Bürgerrechtes gestellt waren,
entspricht; doch muß der Magistrat durch die souveräne Gewalt dazu
ermächtigt sein, vgl. Anc. gr. inscr. III, 401. — Als Erschwerung der
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J. Oebler.) U
Verleihung erscheint in Athen seit dem Ende des IV. Jahrb. die ge-
richtliche Dokimasie.
Der Verlast des Bürgerrechtes tritt strafweise ein und wird durch
Atimie bezeichnet, dann durch Exil. Auch Kolonisten verlieren im
•Cregensatze zu den Kleruchen das Bürgerrecht der Mutterstadt. Da-
gegen zieht der Erwerb des Bürgerrechtes einer anderen Stadt nicht
wie in Eom den Verlust des Bürgerrechtes in der Heimatstadt nach
sich, so d jß wir häutig Personen erwähnt finden, welche Bürger einer
Reihe von Städten sind.
Der II. Teil handelt von der Isopolitie. (Vgl. dazu auch 5. L6crivain
in Daremberg et Saglio, Dict. III, 586 — 587: Isopoliteia.) Es ist dem
Verfasser gelungen, das Wesen der Isopolitie vollständig aufzuklären,
indem er nachweist, daß das Wort ursprünglich „gleichwertiges Bürger-
recht", d, h. der Neubürger mit den Altbürgern bezeichnet und di'ei
Stadien der Entwickelung hat: 1. ist es gleich TCoAtrsia, einseitig ver-
liehen an einzelne Personen oder Klassen; 2. von zwei Staaten gegen-
seitig erteiltes Bürgerrecht und 3. wechselseitig sich bedingendes, durch
Vertrag festgesetztes Bürgerrecht. Das letzte bot die Möglichkeit, den
Bürgern einer befreundeten Stadt für die Zeit eines vorübergehenden
Kriegszustandes Zuflucht zu gewähren. Dabei aber bleibt es das
charakteristische ^Merkmal der Isopolitie zweier Staaten, daß beide
Staaten unabhängig fortbestehen, d. h. ihre eigenen Beamten und Re-
gierungskörper behalten, und daß keine gemeinsame souveräne Gewalt
gescbatfeu wird. Es macht, wie Thumser ßerl. ph. Woch. 1892
Sp. 1300 richtig bemerkt, keinen Unterschied, ob das Gemeindewesen
der Fremden, welche das Bürgerrecht erhalten, fortbesteht oder nicht;
so war das Verhältnis der in das Bürgerrecht aufgenommenen Platäer
zu den Athenern kein anderes als das jener Samier, die attische Bürger
geworden waren. Zweifelhaft ist wohl was S. 97 f. über die Fort-
dauer der alten Isopolitie von Delphi für Sardes bemerkt wird. —
Erst spät wurde die Isopolitie für Zwecke der Staatenvereinigung ver-
wendet. Der III. Abschnitt hat die ,Sympolitie" zum Gegenstande und
behandelt in gelungener Weise diese, die sich charakterisiert durch die
gemeinsame souveräne Gewalt und das gemeinsame Bürgerrecht. Es
werden mit Recht zwei Formen der Sympolitie unterschieden: 1. die
synoikistische, indem die vertragschließenden Staaten in einen Einheits-
staat aufgehen, wie dies bei der Sympolitie des Theseus geschah, und
2. die bundesstaatliche Sympolitie, indem die bisherigen Staaten fort-
bestehen, ein gewisses Maß von Selbständigkeit behalten, daneben aber
eine gemeinsame souveräne Gewalt ohne Vorort geschaffen wird, wie
dies z. B. beim achäischen Bunde der Fall war. Bei der bundesstaat-
lichen Sympolitie wird ein neues, gemeinsames Bürgerrecht, die xotvoitoXi-
12 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
T£ia , geschaffen , während das bisherige Einzelbürgerrecht der
Bundesstaaten bestehen bleibt. Das Sonderbürgerrecht zieht das Gesamt-
bürgerrecht des Bandes nach sich, aber nicht umgekehrt. Was nun
die Bezeichnung der beiden Arten der Sympolitie betrifft, mag immer-
hin auch die Bemerkung Thumsers Sp. 1300 beachtet werden; wir
können daher die Bezeichnung folgendermaßen formulieren: 1. die
synoikistische Sympolitie , auch als auvo'.xisjj-oc oder suvxeXsia be-
zeichnet, und 2. die bundesstaatliche Sympolitie oder Sympolitie im
engeren Sinne.
Das gemeinsame Bundesbürgerrecht hat notwendig auch eine
primäre Volksversammlung des Bundes zur Folge, ebenso einen
primären Bundesrat. Die eingehenden Erörterungen über die ver-
schiedenen Bundesstaaten werden im Artikel VIII berücksichtigt werden.
Gewissermaßen als Ergänzung zu dem Buche Szantos ist zu
nennen :
6. W. Levison, Die Beurkunduog des Zivilstandes im Altertum.
Ein Beitrag zur Geschichte der Bevölkerungsstatistik. Bonn 1898.
Der Verf. dieser lehrreichen Untersuchung führt aus, wie die
Notwendigkeit, die Leistungsfähigkeit des Staatsganzen zu kennen, sowie
das Bedürfnis, den Besitz des Bürgerrechtes gegen Anfechtungen zu
sichern und Eindringlinge vom Genüsse seiner Vorteile und Ehren
fernzuhalten, zu statistischen Aufnahmen der Bevölkerung führte. Was
Hellas betrifft, so hat Athen eigentliche Geburtslisten nie gekannt.
Die Phratrien fülirten wohl das 7pa[jL|xaTsrov , ein Bürgerverzeichnis,
welches den Zweck hatte, die Herkunft des Eingetragenen aus der
rechtmäßigen Ehe eines Bürgers mit einer Athenerin zu beurkunden.
Diese Listen lassen sich mit unseren Taufbüchern insofern vergleichen,
als die Eintragung die Aufnahme in den Kultverband bezeichnete. Diese
Verzeichnisse der Phratrien dienten wahrscheinlich dem Gemeinde -
rcgister des 8^[aoc (Xr]^tap-/ixov 7pa[x[xa-:£rov) nicht als Grundlage, sondern
nur znr Kontrolle. Von Sterbelisten weiß die Überlieferung nichts.
Ähnliche Standeslisten wie in Athen mag es in vielen griechischen
Städten gegeben haben. In Kos wurden wahrscheinlich wirkliche Ge-
burtslisten geführt, wie Levison aus Collitz 3593 schließt.
Die Grundlage der politischen und sozialen Organisation bildet die
Familie, die sich zum Geschlechte erweiterte. Über die Bedeutung des
-/svo?, d. h. der zum Geschlechte erweiterten Familie handelt:
7. Ch. L6crivain, in Daremberg et Saglio, Dict. des ant. gr.
et rom. II, 1494—1504: Gens, vsvo^
Vgl. auch: Fustel de Coulanges: La cite ant. 17. Aufl. 111 f.;
Thalheim in Pauly-Wissowa I, 2110: ay/^KJxsU und für das ^evoj in
Bericht üb. d.griech.Staatsaltertüm.f d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 13
Athen: L. Beaucbet, Histoirc du droit priv^ de la lepnblique Atho-
nienne I, 6 f.
Der Artikel zeichnet sich durch klare Darlegung und übersicht-
liche Disposition aus. L. setzt zunächst den Begriff des ^evo? ausein-
ander; es ist die natürliche Gemeinschaft, die auf einen gemeinsamen
Stammvater zurückgeht, deren Mitglieder also durch die Bande des
Blutes verbunden sind. Außer ^evo? findet sich die Bezeichnung xrarpa
und 7ev£a. Von dem 7£voc im weiteren Sinne unteischeidet sich das
■■;iyo; im engeren Sinne, auch olxo;, bei dem vier Grade in Betracht
kommen. Die Mitglieder führen in Athen die Bezeichnung 7evv^Tai; für
andere Städte ist uns der Name nicht bekannt. Die Mitglieder sind
verbunden durch die häusliche Religionsübung und durch die natürliche
Verwandtschaft. Der Mittelpunkt des häuslichen Kultus war der Haus-
herd, die su-ta (s. Eoscher, Lex. I, 2622); die verwandtschaftlichen
Bande legten den Kindern gewisse Verpflichtungen gegenüber ihren
Eltern, dann ihren Aszendenten auf (vgl. die avaxpifft? der Archonten
in Athen). Eine der heiligsten Pflichten war die der Bestattung und
des Kultes der Toten. Aus dem Totenkult entstand dann der Heroen-
knlt, indem der Ahnherr des Geschlechtes als Heros verehrt wurde.
Auch die Ahndung des Mörders war in ältester Zeit Sache des Ge-
schlechtes. Der Kult des Herdes und der Toten sollte niemals unter-
brochen werden oder aufliören; das Erlöschen des Geschlechtes ist zu-
gleich das Erlöschen eines Kultus und wurde als das größte Unglück
angesehen. Es traten in der historischen Zeit auch politische Erwä-
gungen zu dieser religiösen Vorstellung. Daher erklären sich die Ein-
richtungen, die auf die Erhaltung der -/svo; abzielen; die Ehelosigkeit
war in manchen Staaten verboten, frühe Ehen empfohlen, kinderlose
Ehen wurden getrennt, den Beamten die Sorge für die Erhaltung der
Geschlecliter zur Pflicht gemacht. Daher erklärt sich die Adoption und
das Institut der Erbtochterehe. Die Geschlechter spielten in politischer
und sozialer Beziehung eine bedeutende Rolle; sie bildeten zugleich
Korporationen. Als solche hatte jedes Geschlecht 1. Seinen besonderen
Namen. 2. Sein Oberhaupt (ap/wv xou ^svoü?). 3. Die Mitglieder waren
solidarisch. 4. Das Geschlecht hatte sein gemeinsames Grab, seinen
Versammlungsort {Ht/i], s. Bourguet, Daremberg et Saglio, Biet. III
1103 — 1107 Xe3-/Y)). 5. Außer dem Kulte seines Heros hatte jedes
-evo? noch seinen besonderen Kult. 6, Jedes Geschlecht hatte seinen
eigenen Besitz, den das Oberhaupt verwaltete. Dabei erörtert L. ein-
gehend die Frage, ob im Beginne der hellenischen Gesellschaft Kommu-
nismus herrschte oder Privateigentum des Bodens. Er erklärt sich,
Gnii'auds Auseinandersetzungen folgend, mit Recht für Privateigentum.
Doch erschien dasselbe als Besitz des ^evo;; aber schon in homerischer
14 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J. Oehler.)
Zeit gab es Einzelnbestiz, der streng in dem 7£voc erblicb und unver->
äußerlich war. 7. Das -/e'vos war die erste Form der Gesellschaft, der
erste politische Organismus; aus der Vereinigung mehrerer -/svrj entstand
die r.6}dz. In der historischen Zeit haben die ^evT] diese Bedeutung verloren,
da andere Abteilungen von Bedeutung wurden, zu denen die alten -,'£vrj
in einem nicht mehr erkennbaren Verhältnisse standen. 8. Die alten
7evY) bildeten einen wesentlichen Teil der Aristokratie; so ist ihre Ge-
schichte auch die der hellenischen Städte bis zum Eintreten der Demo-
kratie. Es folgt dann eine Übersicht über die verschiedenen Arten der
Aristokratie und die Stellung der 7£vy) in derselben. Mit dem Unter-
gange der Aristokratie verloren auch die 7evT] ihre Bedeutung und be-
standen nur mehr als religiöse Korporationen weiter. In einigen
Städten wurden sie zu politischen Abteilungen, in welche alle Bürger
ohne Rücksicht auf die Abstammung eingeordnet wurden. So geschah
es in Samos; dort erscheinen als den alten 7£vrj entsprechende Ab-
teilungen die zaxpai, an anderen Orten Tiatpiai genannt; s.
8. H. Swoboda, Zur Verfassungsgeschichte von Samos in Fest-
schrift f. 0. Benndorf S. 250 f.
Über die Stammesgenossenschaft handelt:
9. *H. E. Seebohm, Ou the sctructure of greek tribal society.
London 1895. Rez.: BphW 1896, 1239—1240 v. Thalheim.
Nach der Angabe Thalheims versucht S,, manche von den Zu-
ständen, die. mitunter nicht in Übereinstimmung mit dem Staatsleben,
in geschichtlicher Zeit unter den Griechen vorwalteten, in das wahre
Licht zu setzen und durch Vergleichung mit ähnlichen Überresten be-
kannter Stammesgenossenschaften ihren wahren geschichtlichen Zu-
sammenhang mit einer früheren Stufe der Sitte und des Glaubens her-
zustellen. Es werden die Bedeutung und die Grenzen des Verwandt-
schaftsbandes sowie die Beziehungen zu Grund und Boden hauptsächlich
nach Fustel de Coulanges behandelt, die deutsche Literatur bleibt un-
benutzt; so wird der Wert der Abhandlung als sehr gering bezeichnet.
Als grundlegende Arbeit über die Phylen ist zu verzeichnen:
10. E. Szanto, Die griechischen Phylen. Sitzungsber. d. kais.
Akad. d. Wiss. in Wien, phil.-hist. Kl. CXLIV (1901), 74 S.
Mit scharfer Beobachtungsgabe und Besonnenheit durchmustert der
Verf., von der historischen Zeit ausgehend, das vorliegende Material und
kommt zu Schlüssen, die der bisherigen Annahme, „die Bürgerschaft
sämtlicher griechischer Staaten sei in Phylen eingeteilt gewesen und
die Phylen seien eine unbedingte Notwendigkeit im griechischen Staate''^
Bericht üb. d griecli. Staatsalteitüm. f. d J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 15
entgejjenstelien. Er unterscheidet mit Recht zwischen „ursprünglichen,
in vorhistorischer Zeit eingerichteten und später eingeführten" Pliylen.
Als ursprüngliche Phylen sind nur die dorischen und sogenannten
ionischen Phylen anzusehen; die späteren erweisen sich als künstliche,
nach den ursprünglichen eingerichtete Bildungen. i\bschüitt I (S. 4 —
26) behandelt die dorischen Phylen. Diese kommen in allen dorischen
Staaten vor und sind entstanden durch Teilung eines Ganzen in Gruppen ;
der Grund für die Dreiteilung liegt in dem Prinzip der Ansiedelung
und der Art der Bodenteilung durch die als Eroberer auftretenden
Dorier. T^rsprünglicli wurden die Angehörigen der Phyle durch das
Band örtlicher Zusammengehörigkeit der Grundstücke verbunden und
die Phylen hatten lokale Bedeutung. Au Stelle des alten ius soli trat
im Laufe der Zeit das gentilizische Band, während in Rhodos die lokale
Bedeutung bis in späte Zeit erhalten blieb. Mit Recht hat der
Verfasser auf die lokale Bedeutung hingewiesen und Ref. möchte
hinzufügen, daß die Lokalität auch noch in späterer Zeit bei Vereins-
bildungen ein nicht genug beachtetes Band bildet. Richtig sind die
Bemerkungen über die lokale Bedeutung der Phylen in Argos, Korinth,
Sikyon usw.
Abschnitt II (S. 26—37) behandelt die nichtdorischen Phylen
des Peloponnes. Im Gegensatze zu den überall als erobernder Stamm
auftretenden Doriern stehen die Stämme, die als autochthone bezeichnet;
werden oder bei der Okkupation eines Landstriches mit der ursprüng-
lichen Bevölkerung uuterschiedlos verschmolzen. Bei diesen Jinden sich
keine ursprünglichen Phylen und die als Phylen auftretenden Gebilde
gehören der späteren Zeit an: so in Messenien, Arkadien, Tegea.
Abschnitt III (S. 37—39): Die Phylen der äolischen Stämme.
Im Gebiete des äolischen Stammes (Böotieu und Thessalien) fehlten
die Voraussetzungen zur Phylenbildung, da es keine großen Staatswesen,
die etwa zur Teilung genötigt hätten, sondern nur Städte geringen
Umfanges gab,
Abschnitt IV (S. 39—61): 'Die ionischen Phylen' scheint Ref.
der gelungenste Teil der Arbeit. Die ionischen Phylen finden sich rein
nur in Attika und werden aus der amphiktyonischen Besiedelung des
Landes erklärt. Auch die Zwölfzahl findet ihre Begründung: je ein
Teil des Landes hatte durch einen Monat hindurch für die Leistungen
au das gemeinsame Heiligtum aufzukommen, so daß im Jahre 12 Ge-
meinwesen alternierten. So erklären sich die zwölf Städte in Attika,
ans denen durch Synoikismos der Staat Athen entstand; nach der
Einigung erst konnte eine Einteilung in die Phylen vorgenommen
werden, die nach Gottheiten benannt sind. Es kann hier nicht näher
auf die sonst berührten Fragen eingegangen werden, sondern es genügt,
16 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. I893(1890)-1902 (J. Oehler.)
auf die Auseinandersetzung über die Phyleu in den ionischen Kolonien
liinzu weisen,
Abschnitt V (61 — 71): Die späteren Phylen. Bei den später
geschaffeneu Phyleuorduuugen wurde nach Möglichkeit an der Stammes-
genosseuschaft festgehalten; daneben wurden Phylen nach Göttern,
Heroen, Fürsten usw. benannt. Ausführlichere Behandlung erfahren
die Phylen der kleinasiatischen Städte (S. 62 f.), und wird mit Recht
auf die Umwandlung der Phyleu zu Zünften und Genossenschaften hin-
gewiesen. So hat Szanto, ausgehend von faktischen Tatsachen, es ver-
standen, die ursprüngliche Bedeutung und spätere Funktion der grie-
chischen Phyle als staatlicher Abteilung klarzulegen und vielfach neue
Gesichtspunkte zu eröffnen.
Über die Verfassuugsformen liegt folgende Arbeit vor:
11. B E. Hammond, The political institutions of the ancient
Greeks. London 1895.
Wie Verf. in der Vorrede selbst sagt, gehört die Schrift eigentlich
d«m Gebiete der vergleichenden Staatswissenschaft an; daher soll nur
kurz der Inhalt angegeben werden. Folgende allgemeine Sätze werden
an griechischen Verhältnissen nachgewiesen: 1. Alle Gauverfassungen
haben Eegierungeu gehabt, welche voneinander in keiner wichtigen
Einzelheit abweichen. 2. Einfache Stadtverfassungen, die nicht auf
Eroberung ausgingen, hatten gewöhnlich nur drei Arten von Re-
gierungen: reine Oligarchie, reinen Despotismus oder offene und fast
ungemischte Demokratie. 3. In den großen Einheitsstaaten haben,
strenge genommen, die drei Arten der Regierung in regelmäßiger Folge
einander abgelöst. 4. Bundesstaaten gleichen sich darin, daß sie eine
gesetzgebende und eine ausübende Zentrale haben, während jeder der
Bundesgenossen eine eigene Regierung hat.
K. I. Die arische Rasse. — K. II. Die Einteilung der europäischen
politischen Körper. Es wird erwähnt, daß in Griechenland auf die
Stämme Stadtverfassungen folgten und als Unterschied zwischen den
Städten in Griechenland und Italien angegeben, daß die griechischen
Städte nicht auf Eroberung ausgingen, wohl aber die italischen. K. IIL
Politische Verfassungen in Griechenland: die heroischen Monarchien.
Es werden zwei Perioden unterschieden. Die erste Periode bis 700
oder 650 v. Chr.: Stämme und Stammverfassungen; die zweite Periode
von 700 (650) bis 338 v. Chr.: Städte und Stadtverfassungen. Die
zweite Periode wieder wird gegliedert in 3 Abschnitte: 1. 700—600:
in Athen, Korinth und Megara herrscht eine Gruppe privilegierter
Familien. 2. 600—500: Zeit der Tyrannen. 3. 500—338: Demokratie
und Oligarchie. — Als Stämme erscheinen die Achaier, Dorer und
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 17
Joner. — Über das heroische Zeitalter s. III. Artikel. — K. IV be-
handelt Sparta s. IV. Artikel. — K. V. Die griechischen Stadtver-
t'assungen. Diese Zeit wird in 4 Perioden eingeteilt: 1. Die älteren
Aristokratien und Oligarchien. 2. Die Tyrannen. 3. Die Demokratien
und die jüngeren Oligarchien. 4. Die Eroberung Griechenlands dnrch
Makedonien. K, VI. Aristoteles' Einteilung der Verfassungen. K. VII.
Der Acbäische Bund s. VIII. Artikel. Der Zweck des Buches läßt
es begreiflich erscheinen, daß der Verf. weder strenge Genauigkeit in
den Einzelheiten, noch Beherrschung der Fachliteratur anstrebt; doch
zeichnet ihn die Kenntnis eines freien Staatslebens sowie politischer
Blick aus.
Eine Art der Verfassungen findet ausführliche Behandlung in
dem Buche:
12. L. Whibley, Greek Oligarchies , their character and
Organisation. London 1896.
Das Buch zerfällt in 5 Kapitel: K. I. Klassifikation der Ver-
fassungen. Über die Oligarchie, ihren Charakter und ihr Verhältnis
zur Aristokratie. K. II handelt von den Veränderungen der Ver-
fassungen und den Ursachen derselben. K. III enthält die historische
Entwickelung der griechischen Verfassungen: 1. Der Ursprung der
Verfassungen. 2. Die heroische Monarchie. 3. Der Übergang von der
Monarchie zur Aristokratie. 4. Der Wechsel der Begierung mit dem
Eintreten der Aristokratie. 5. Der Übergang von der Aristokratie
zur Oligarchie. 6. Die Entwickelung der Verfassungen im V. Jahrh.
und 7. im IV. Jahrh. v. Chr. — Appendix A behandelt die Entwicke-
lung des athenischen Einheitsstaates: App. B: Die athenischen 7£vt) und
ihre Bedeutung in der älteren Verfassung. K. IV. Arten der Oligarchie.
K. V. Organisation der oligarchischen Begierung. App. C: Die oligar-
gische Erhebung in Athen, ihre vorläufige und beabsichtigte Verfassung.
Wie die Inhaltsangabe zeigt , gehört die fleißige Arbeit zum
großen Teile der Staatsvvissenschaft an, zum Teile wird sie bei dem
VI. Artikel Berücksichtigung finden. Hier soll nur bemerkt werden,
daß W. die Oligarchie als die Herrschaft einer privilegierten Klasse
auffaßt, die sich durch Reichtum vom Volke absondert. Es ist bei
ihm die Oligarchie im Grunde genommen der Verfassung gleichgesetzt,
die gewöhnlich als Timokratie bezeichnet wird. Mit Recht wendet
Holm BphW 1897, 177 f. ein: „Die herrschenden Wenigen müssen
doch nicht die Reicheren sein.*
Über die Gleichheit der grundlegenden Prinzipien der griechischen
Städteverfassungen, wie sie sich in dem gegenseitigen Verhältnisse von
Rat, V^olksversammlung, Beamten ausprägen, handelt ein Buch, das sich
Jahresbericht för Altertumswissenschaft. Bd. CXXn. (1904. III.) 2
18 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)-1902. (J. Oehler.)
als „epigrapbische Unter suchungen" bezeichnet, aber sowohl für die
Geschichte als für die Staatsaltertümer von Bedeutung ist.
13. H, Swoboda, Die griechischen Volksbeschlüsse. Leipzig
1890.
Mit größtem Fleiße und peinlichster Gewissenhaftigkeit hat der
Verf. das epigraphische Material gesammelt und die Entwickelung einer
Institution auf dem Gesamtboden Griechenlands, „die Volksbeschlüsse'',
zum Gegenstande seiner Untersuchung gemacht. Er hat sich nicht
begnügt, das Formular derselben festzustellen, sondern war bemüht, zu
zeigen, daß „ungeachtet aller Abweichungen im einzelnen die grund-
legenden Piinzipien der griechischen Städteverfassungen überall die
gleichen sind" (s. NphR 1892, 190). Damit hat er unsere Kenntnis
vom griechischen Staatsleben wesentlich gefördert und eine weitere
Vorarbeit für das griechische Staatsrecht geliefert. Die Einleitung
handelt „über die Grundlage für die Formulierung der griechischen
Psephismen und die Bescheidenheitsformel". Es wird hervorgehoben, daß
auch bei den außerattischen Beschlüssen ganz feste Regeln und sichere
Formen getroffen werden. Wenn Schoeffer BphW 1891, 991 f. gegen die
Stetigkeit des Urkundenstiles bemerkt, es war wohl mehr gewohnheits-
mäßiger Usus, scheint er übersehen zu haben, daß Sw. S. 3 selbst sagt:
„Die Macht einer konservierenden Tradition ist eben in diesen Dingen bei
den Griechen eine ganz außerordentliche gewesen." Gegen die bis-
herige Ansicht, die Protokolle des Rates und des Volkes hätten die
Grundlage der Steinurknnden gebildet, so v. Hartel, Hug, Miller und
zuletzt v. Willamowitz-Mölleudorf: Gott. gel. Anz. 162 (1900), 563:
„Das Psephisma auf Stein ist ein Auszug aus dem Protokolle der be-
treffenden Körperschaft, den der mit der Aufschrift betraute Beamte
besorgt hat" behauptet Swoboda, die Steinurkunden seien vom Stand-
punkte des Antrages oder Antragstellers konzipiert. Gegen diese Be-
hauptung vertreten Schoeffer BphW 1891, 097 f. und Bauer Forschungen
51 f. mit Recht die herrschende Ansicht; die Bescheidenheitsformel,
für welche Thumser ZöGg XLII 310 f. den Ausdruck „Formel der even-
tuellen Ratifikation" (Sanktion) vorschlägt, ist nach Bauer durch die un-
veränderte Herübernahme des Wortlautes des ursprünglichen Antrages
aus dem Verhandluugsprotokoll in die inschriftliche Aufzeichnung zu er-
klären. Auf gleiche Weise läßt sich die Anführung des ursprünglichen
Antrages, der durch Amendements ganz oder teilweise aufgehoben war,
verstehen. Man kam von der ursprünglichen Gewohnheit, die Ergebnisse
der Verhandlung in möglichster Kürze aufzuzeichnen, zu einer immer
ausführlicheren Wiedergabe der Verhandlungsprotokolle.
K. I. Das Präskript und die einfache Sanktionsformel. Mit
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 19
Eecht g-eht Verf. davon aus, daß uns das Präskript über die Faktoren
unterrichtet, die an dem Zustandekommen eines Volksbeschlusses mit-
wirkten; daher spiegeln sich gerade in ihnen die individuellen Ver-
schiedenheiten in der Verfassungsform und in dem parlamentarischen
Branche wieder. In dem Präskripte ist die Sanktionierungsformel das
wichtigste Stück; die Nennung des Antragstellers ist nicht ebenso nötig.
Der Verf. macht auf eine Gruppe von Inschriften aufmerksam, welche
die Psephismen nur durch die Sanktionsformel (gewöhnlich Bo^s ttj -oXs'.)
beurkunden ; passend spricht er da von einem „nordgriechischen Lokalstile".
K, II. Der Antragsteller. Nachahmung der attischen Dekrete.
In der Nennung des Antragstellers sieht Sw. mit Recht das frucht-
barste Moment für die Entwickelung des Präskriptes; darin kommt
das Prinzip zum Ausdrucke, daß der Urheber eines Dekretes für das-
selbe verantwortlich ist und haften muß. Außerdem lernen wir die
Beziehungen des Rates und der Behörden zum Volke kennen, wie sie
sich au verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gestalteten.
Dabei ist vor allem darauf Rücksicht genommen, ob der Antragsteller
als Privatmann oder als Bnleute oder in der Eigenschaft eines Beamten
den Vorschlag eingebracht hat. Durch die Anführung des Antrag-
stellers konnte das legale Zustandekommen eines Beschlusses genügend
bezeugt erscheinen. Was nun die Nachahmung Athens betrifft, so zeigt
Sw., daß die probulenmatische Formel mit Ausnahme der Klernchien
außerhalb Athens sich nirgends findet , daß also der nachweisbare
Einfluß Athens auf die Stilisierung der Präskripte ein geringer, da-
gegen auf die Gliederung des Inhaltes der Volksbeschlüsse größer war.
Gegen die Bezeichnung „abgekürzte Dekrete" (S. 47) hat Scboeffer
unnötige Bedenken erhoben; diese finden sich besonders häufig in Nord -
griechenland. — Allmählich entwickelt sich ein jüngeres Formular, bei
dem auf die Nennung des Antragstellers die ausführliche Begründung
folgt. — Das Formular bleibt bis in die Kaiserzeit erbalten und ist
Athen tonangebend.
K. III. Scheidung der Sanktionsformel. Für Athen kommt be-
sonders der Unterschied zwischen probuleumatischen und Volksdekreten
seit dem 2. Jahrzehnt des IV. Jahrh. v. Chr. in Betracht. In den
übrigen Städten ist eine solche Unterscheidung nicht nachzuweisen ; aber
aus dem Fehlen der probuleumatischen Formel ist nicht zu schließen,
daß die ßou>.7^ außerhalb Athens nicht das Recht der Vorberatung ge-
habt habe. Selbst Ratsdekrete sind nur wenige; Schoeffer meint, daß
auch diese vielleicht Volksdekrete sind. — In einigen Fällen wird der
Versuch gemacht, auf das Probuleuma des Rates hinzuweisen: zu B.
in Kyrae: -j-viupia ta; ßoXXac " l'oo^s TÜi di\).vi. —
2*
20 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890) - 1902. (J. Oehler.)
K. IV. Fortbildung des Antragstellers, probuleumatische and
Volksdekrete, Zusammensetzung des Ratsvorstandes. Es wird hier über
die Stellung des Nicht-Buleuten gesprochen und gezeigt, daß ein
solcher (iokuttis) die Anregung bei der ßouXi^ vorbringen mußte, ein
Bittgesuch an sie richten zu können; er mußte sich an den Vorstand
des Rates vpenden, der dann die Sache weiter führte. Es war Be-
werbung uYn Auszeichnungen üblich und der betreffende Bewerber
mußte sich durch Freunde an den Rat wenden. Die verschiedene Her-
kunft eines Beschlusses wird nur durch den Antragsteller angezeigt:
•/vtujxa TTpooxaxav bezeichnet ein probuleumatisches Dekret, 6 osTva slnev
ein Volksdekret, bei dem der Rat sich auf die verfassungsmäßige Ein-
bringung beschränkte. Dagegen erklärt Schoeffer 1041: ,Die mit
0 Seiva sIkev bezeichneten Dekrete sind solche, welche von Buleuten be-
antragt und durchgebracht waren, natürlich auf eigene Verantwortung;
die mit -jvtuixa -poj-axäv signierten Beschlüsse waren eingebracht
worden von den Prostaten teils aus eigener Initiative, teils auf Ver-
wendung von Privatpersonen, die zur Einbringung von Anträgen gesetz-
lich kein Recht hatten. Sie waren in diesem Falle die vor dem Ge-
setze verantwortlichen Antragsteller. Wir haben nur für Athen die
obligatorische Einbringung eines Ratsprobnleuma bezeugt und kein
Recht, dieses spezifisch athenische Gesetz auf andere Städte und Staaten
Griechenlands mit ihren wechselnden Verfassungen auszudehnen. Also
von einer Unterscheidung von probuleumatischen und Volksdekreten
läßt sich keine Spur finden," Nun wird in Jasos Anc. Gr. iuscr. III 444
und Lampsakos Ath. M. VI (1881) 96 das -poJ^^ouXsüsiv des Rates aus-
drücklich erwähnt; Swobodas Aufstellung ist daher nicht anzufechten.
Durch die Formel 7rpo(jTa-äv oder rpoxavecov fvwixT) wird bezeugt, daß
für diese Beschlüsse die Prytanen oder Prostaten verantwortlich sind;
wir finden da eine solidarische Verantwortlichkeit gegenüber der in-
dividuellen in Athen.
Was den Vorsitz im Rate betrifft, so wäre diese Frage besser
bei K. Vin behandelt worden. Recht hat der Verf. mit der Unter-
scheidung zwischen den 2 Arten des Ratsvorstandes, nämlich dem
wechselnden Ratsausschuß und dem Magistratskollegium als Ratsvorstand.
Schoeffer meint, schon die Stellung eines jeden Buleuten wird als dpyy]
bezeichnet, daher sei jeder Vorsitzende des Rates eo ipso apytuv. Allein
es ist doch zu beachten, daß der Rat als solcher eine apyr] war und
.laß der Beamte als solcher nicht Buleute war. Daher der Unterschied
von Bedeutung ist, ob ein aus der Mitte des Rates gebildeter Ausschuß
oder ein außerhalb des Rates stehendes Beamtenkollegium den Vorsitz
im Rate führte. Dieser Ratsvorstand bildete, wie Verf. richtig be-
merkt, das stetige, oligarchische Element in der demokratischen Ver-
Bericht üb. d. griecfa. Staatsaltertüra. f. d. J. 1893(1890)- 1!)Ü2. (J. Oehler.) 21
t'assung als Gegengewicht gegen die ausgedehnte Machtvollkommenheit
der Ekklesie.
K. V. Stellung der Nicht-Buleuten, Bewerbung um Auszeichnungen.
Es werden Beispiele angeführt für den Grundsatz des öifentlichen
Rechtes, daß die Stellung von Anträgen im Rate den Buleuten vor-
behalten war, sowie dafür, daß Bürger für ihre Schützlinge beim Rate
um eine Auszeichnung nachsuchten. Mögen es nun Anträge oder viel-
mehr Anregungen von Privatleuten, Anerbietungen zu Leistungen oder
Vorschläge von Gesandtschaften gewesen sein, die eigentliche Formulierung
erfolgte erst im Rate; der Rat also war der entscheidende Faktor für
die günstige Erledigung. Dem Rate stehen auch die Beamten in
gleicher Weise gegenüber: auch der Verkehr der Beamten mit dem
Volke wurde durch den Rat vermittelt. Die Sache änderte sich durch
die Einwirkung der Römer: es wurde dann das Recht der Antrag-
stellung den Magistraten allein vorbehalten. So sind die Dekrete von
Kyzikos zu erklären.
K. VI. Auti'äge von Magistraten. Nachdem sich ergeben hat,
daß die zwei Typen der Psephismen nicht durch die Fassung der
Sanktionstbrrael wie in Athen, sondern durch den den Antragsteller
betrefifenden Bestandteil bezeichnet werden, läßt sich an diesem Be-
standteile auch das Verhältnis der Beamten zum Rate und zur Volks-
versammlung erkennen. Jeder Beamte konnte als Bürger durch die
Stellung eines Antrages auf die Beschlußfassung der Gemeinde ein-
wirken. Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen die Beamten
ohne Vermittelung des Rates mit dem Volke verkehrten, also kraft
ihres Amtes. Der Verf. weist hin auf die Strategen in Athen: sie
waren die einzige Behörde in Athen, welche Buleutenrecht genoß.
Ahnlich war es in anderen Städten, wo bestimmte Kategorien oder die
Gesamtheit der höhereu Magistrate ihre Anträge dem Rate unmittelbar,
ohne Beihilfe eines Buleuten vorlegten. Ob damit auch ein unmittel-
bares Verhandlungsrecht mit dem Volke verbunden war, läßt sich nicht
entscheiden. Swoboda meint, der Rat habe sich in diesen Fällen mit
einem formellen Probuleuma begnügt, Schoeffer dagegen hält an der
Erklärung Lenschaus fest, die Beamten hätten direkt, sine senatus
consulto, mit dem Volke verhandelt.
K. VII. Ständiges Referat der Magistrate, Synarchien. Wenn
Beamte einen Antrag stellen , so geschieht es zunächst in den Fälle«,
die in die Kompetenz der betreffenden Beamten gehörten; ihr Antrag
erhält dadurch den Wert eines fachmännischen Gutachtens, unter-
scheidet sich von der Vorlage durch den Ratsvorstand. Durch solche
Anträge, für welche die Kollegien hafteten, wurde die Politik des
Staates in bestimmte Bahnen geleitet. In manchen Städten nun wurde
22 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
den Beamten, meistens den vereinigten Kollegien der wichtigsten und
höchsten Beamten die ständige Berichterstattung zugewiesen. Dadurch
traten sie an die Stelle des Ratsvorstandes, der Ausschüsse, bildeten also
die vorberatende Kommission für die Verhandlungen des Rates uod der
Ekklesie. Für diese vereinigten Kollegien wird nach Foucarts Vorgang
der Ausdruck Synarchien gebraucht und deren Wesen erörtert.
Danach bedeutet auvapyta 1. das Magistratskollegium; 2. in der
römischen Zeit im griechischen Osten das Archontenkolleginm; 3. bei
den Achaiern sowohl in dem Bundesstaate als in seinen Gliedern
ist ai cuvapyioct der stehende Ausdruck für dasjenige Kollegium vou
Beamten, welchem die vorbereitende Tätigkeit für die Bundesver-
sammlung, beziehungsweise für die lokalen Vertretuugskörper zusteht.
Die cuvapyiai waren ursprünglich keine Einschränkung der Demokratie,
sondern wurden es erst unter dem Einflüsse der Römer, denen sie sehr
gut paßten.
K. VIII. Vorsitz des Magistrates in Rat und Volksversammlung.
In manchen Städten hatten Beamte überhaupt den Vorsitz und das
Referat in Rat und Volksversammlung. Diese Einrichtung steht im
Gegensatze zu der andern, bei welcher die beratenden Versammluogeu
ihr Präsidium aus sich selbst bestellen. Es ist eine Übertragung
römischer Einrichtungen auf griechischem Boden; nach römischer An-
schauung hatten allein die höheren Beamten das Recht, mit dem Volke
zu verhandeln. Es wurden dann die Elemente der früheren Ordnung
berücksichtigt. Dabei fiel nicht überall das Präsidium im Rate mit
dem der Volksversammlung zusammen, sondern war öfter getrennt.
Schoeffer macht wohl mit Recht darauf aufmerksam, daß ein strenger
Unterschied gemacht werden mußte zwischen dem Vorsitze (Referate)
der Beamten in Rat und Volksversammlung und dem ihnen verlieheneu
Rechte, Anträge zu stellen. Dies letztere Recht euthält nur dann eine
Prärogative, wenn es mit Ausschluß aller Nichtmagistrate oder niederen
Magistrate als Reservatrecht auftritt. Unrecht hat Schoeffer mit der
Behauptung, daß der Vorsitz überall und zu jeder Zeit in Hellas ein
unveräußerliches Recht eines bestimmten Beamten oder Beamteu-
kollegiums gewesen sei.
K. IX. Veränderungen unter dem Einflüsse der Römer. In den
meisten Fällen erhielten die Magistrate, gewöhnlich auvap-/tat, allein
das Recht, an Rat und Volk zu referieren, daher jeder Antrag ihnen
zur Prüfung und Begutachtung übermittelt werden mußte; so hatten
denn Beamte die Funktionen übernommen, welche früher dem Vorstande
des Rates zukamen. Ausnahmsweise werden Nicht-Magistrate als Vor-
sitzende, Private als Antragsteller erwähnt. Es spielt eine wichtige,
vielleicht die wichtigste Rolle der Schreiber, dem die eigentliche Vor-
Bericht üb d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 23
bereitung und Formulierung der Anträge sowie die Geschäftsführung
im I^ate zufiel und der nun einer der ersten Würdenträger war. Die
Einwirkung der Eömer kommt auch in der formellen Gestaltung der
Psepbismen, für welche die römischen Senatuskonsulte vorbildlich waren,
zum Ausdrucke, Wichtig ist die veränderte Stellung des Rates:
aus einem ratgebenden wurde er durch die Römer zu einem mitent-
scheidenden Faktor. Die Veiänderung vollzog sich allmählich; die
früheren Stadtverfassungen blieben bestehen, nur wurden sie zweckent-
sprechend von den Römern umgebildet. Die Ausführungen des Verf.
in diesem Kapitel sind vollkommen überzeugend und fanden allgemeine
Billigung. Über die Stellung Griechenlands unter den Römern s. auch
unten Liebenam.
K. X. Gliederung der Präskripte, Postskript, Formulierung der
Gesetze, Kontrakte, Verträge. Erweitert wurde das Präskript durch
die Nennung des Vorsitzenden, die Art der Versammlung und durch
die Datierung. Diese Bestandteile wechseln nach Zeit und Ort und
treten nebeneinander in die verschiedenartigsten Verbindungen ein.
Am vollständigsten ist das Präskript in Athen seit der Mitte des
IV. Jahrh. v. Chr. — Zuweilen stehen Teile, die sonst im Präskripte
vorkommen, ja das ganze Präskript am Schlüsse des Dekretes; dafür
hat Verf. den passenden Ausdruck Postskript; dieses findet sich häufig
im nordgriechischen Lokalstile. Nun entbehrt eine Klasse von In-
schriften des Präskriptes oder Postskriptes vollständig; es sind dies
Gesetze, dann Verordnungen sakraler Natur, Kontrakte, Verträge.
Daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Art der Entstehung eine
von der der übrigen Dekrete verschiedene gewesen sei. Wir kennen
Nomothesie und Nomographie auch in Städten außer Athen. — Es ist
eine Eigentümlichkeit des Urkundenstils, der sich daraus erklärt, daß
man an der Gewohnheit, einen Beschluß durch kurze Aufschreibung
wiederzugeben, versehen mit einer Überschrift, festhielt. Durch diesen
älteren Stil erhielt die Urkunde das Gepräge einer größeren Feierlich-
keit. Die Vereinbarung selbst und das Psephisma, welches sie ge-
nehmigte, brauchten nicht beide aufgezeichnet zu werden, es genügte eines
von beiden. Dankenswert ist in diesem Kapitel die Darlegung über
die Gesetzgebung in außerattischen Staaten.
K. XI gibt ein Verzeichnis der Präskripte und Postskripte ; damit
wird der bisherige Bestand an Material nachgewiesen und eine rasche
Orientierung durch Nachschlagen ermöglicht.
Im Anschlüsse an das Buch Swobodas sei erwähnt:
14. C. Gnaedinger, „De Graecorum magistratibus eponymis
quaestiones epigraphicae selectae". Straßburg 1892.
24 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertütn. f d. J. 1893(1890)— 1902. (J.Oehler).
Dei- Verf. gibt zuerst eine Erklärung des Begriflfes „eponyme Be-
amte" und behandelt diese besonders auf Grund der Inschriften vor-
nehmlich aus der Zeit nach Alexander dem Großen; es werden 3 Arten
von eponymen Beamten besprochen: 1. Priester; 2. bürgerliche Magistrate;
3. die höchsten politischen Beamten, verwendet zur Bezeichnung des
Jahres. Es finden eine Reihe von Inschriften nach diesen 3 Gesichts-
punkten Besprechung; interessant ist vor allem das erste Kapitel „De
sacerdatibus", in dem der Nachweis erbracht ist, daß diese Art der Datie-
rung viel ausgedehnteren Gebrauch fand, als man ei warten möchte, und
nicht nach Stämmen verschieden war.
Mit den staatlichen Einrichtungen Griechenlands im allgemeinen
befassen sich auch mehrere umfangreichere Artikel in den beiden großen
Enzyklopädien, nämlich in Daremberg Saglio , Dictionnaire des Anti-
quites grecques et romaines, von dem bis jetzt 31 Lieferungen (bis
Magister) erschienen sind, und Panly - Wissowa, ßealenzyklopädie
(Band I— IV, Demodoros). Zu erwähnen sind in ersterem Werke:
xu)}i7] von Fougeres (III 852 — 859); 87][j,ioup7oi von Caillemer (II 66 f.j;
laoxeXsia von Lecrivain (III 5S7/8). Aus Pauly- Wissowa, ßeal-
enzyklopädie hebe ich hervor die Artikel von V. v. Schoelfer: ßasiXs-Jc
(III 58 — 82); ap/ov-sc (II 565—99), in dem eine Übersicht über das
Vorkommen dieser Bezeichnung gegeben und mit Recht behauptet wird,
daß das Archontat als spezielles Amt niemals bei den Dorern und
ihnen nahestehenden Stämmen vorkommt, sondern daß es als ursprüng-
lich nur für Athen und Boiotieu angenommen werden muß; aus Boiotien
wurde es von den nordgriechischen Völkerschaften, aus Athen von den
Inselbewohnern, besonders der Cykladen entlehnt; oyj[jLioup7oi (IV, 2856
— 62, bes. 2858 f.): diese Magistratur war keineswegs den Dorern
eigentümlich, erscheint unzweifelhaft alt in Elis, Acnaia, bei den Lokrern
und Phokern, in einigen Städten Thessaliens und gewann Bedeutung in
den Bünden. Der Artikel ßouXY^ (III 1020—1037) vom Referenten gibt
eine Übersicht über Vorkommen und Wirkungskreis des Rates auch
außer Athen; dj-uvojxoi (II 1870—72) und axe^^eia (II 1911—13) vom
Referenten suchen besonders auf Grund der Inschriften die Verbreitung
dieser Einrichtungen zu bestimmen.
Über die Verfassung der griechischen Städte unter der römischen
Herrschaft handelt
15. W. Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche.
Leipzig 1900.
Hier sollen nur die auf Griechenland bezüglichen Teile des
tüchtigen Buches erwähnt werden. S. 216 f. gibt die politische
Gliederung der Bevölkerung in VoUbürger, Insassen (Tiapoixoi), aTisXeudspoi
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 25
(Freigelassene) und e^eXeuöepot (die Kinder der Freigelassenen), wozu
die Ssvot i:ap£7ci8yi|jLouvT£? kommen, unter denen vor allem die römischen
Kanfleute von Bedeutung waren. Es wird dann über die Bürgerrechts-
verleihnng gehandelt und die gestattete Kumulierung von Bürger-
rechten. S. 220 f. gibt die Einteilung der Bürger in Pbylen und in
deren Unterabteilungen, die Benennung derselben und ihre Organisation
sowie ihre Befugnisse. Mit Recht wird darauf hingewiesen, wie die
uralten Einrichtungen vielfach fortbestanden und mit Stolz gepflegt
wurden. Dankenswert ist die Zusammenstellung der Städte, in denen
uns Phylennamen bekannt sind. Eingehend wird dann 227 f. über die
ßouXv^ gesprochen; ein eigener Anhang 565 f. behandelt die ^spoujia in
den kleinasiatischen Städten. Wertvoll sind die Zusammenstellungen über
das Vorkommen der einzelnen Amter.
Hier mögen noch einige Werke angeführt werden, die zwar nicht
„Staatsaltertümer " behandeln, aber von Bedeutung sind für die Er-
kenntnis mancher Zweige des griechischen Staatslebens.
Dazu gehört:
16. E. Ziebarth, Das griechische Vereinswesen. Leipzig 1896.
Die Arbeit ist grundlegend, weil sie zum erstenmal das inschrift-
liche Material gesammelt darbietet und systematisch verarbeitet. Dabei
ist die kulturhistorische und sozial-ökonomische Bedeutung der Vereine
hervorgehoben, aber nicht voll gewürdigt; eine solche Würdigung ist
Sache einer selbständigen Arbeit. Bei der Sammlung des Materiales
sind auch Inschriften aufgenommen, deren Bezug auf einem Verein
wohl sehr zweifelhaft ist. Bei der Feststellung der Terminologie ist
es dem Verfasser gelungen, Klarheit über die Bezeichnungen zu ver-
schaffen; leider hat er es vermieden, auf den Unterschied zwischen
op7£<Lv£c und ötaatÜTat einzugehen. Daher finden wir bis jetzt noch
immer (so auch von Wilhelm Jahresh. d. ö. arch. Instit. V (1902)
S. 132) die Behauptung, es habe kein Untei-schied bestanden. Referent
hat sich den Unterschied dahin klargemacht: dp^scüve; sind Bürger-
vereine im Dienste staatlich anerkannter Gottheiten, während diautöxai
die Mitglieder solcher Vereine sind, die a) aus Fremden allein oder
b) aus Fremden und Bürgern bestehen im Dienste einer fremden oder
in den Staatskult aufgenommenen Gottheit. Der Nachweis soll an
anderer Stelle geführt werden. Eine geographisch geordnete Übersicht
der Städte ermöglichte, sich ein Bild von dem Vereinsleben der einzelnen
Städte zu machen; eine solche Übersicht fehlt leider und erschwert die
Benützung des verdienstlichen Buches.
Die Vereine und das Vereinsleben bei den Griechen findet auch
vielfach Erwähnung in dem Werke eines Amerikaners:
26 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
17. C. 0. Ward, A history of the ancient working people frora
the earliest known period to the adoptiou of Christianity by Con-
stantine. WashingtoD. I. Band 1893; II. Band 1901.
Das "Werk kann, besonders für den ersten Band, keinen Anspruch
auf strenge Wissenschaftlichkeit erheben , verdient aber schon deshalb
Beachtung, weil es uns zeigt, wie in unserer Zeit, die sich bei uns
nicht genug tun kann in Angriffen gegen das klassische Altertum, be-
sonders gegen das griechische und in der selbst ein Rektor Magnifikus
der Wiener Universität sich zum Wortführer macht der Gegner der
klassischen Bildung, in dem nüchternen Amerika das klassische Altertum
Wertschätzung findet. In dem ersten Teile, den 39 Abbildungen
schmücken, finden sich lebensfrische Bilder aus der Organisation des
arbeitenden Volkes; die Aufstände desselben und deren soziale Be-
deutung finden gerechte Würdigung. Es wird dann der Messias ge-
schildert als Handwerker und Prophet, die Organisation der ersten
Christengemeinden mit Recht angeknüpft an die Handwerkervereine;
dabei läßt sich der Verfasser freilich in seiner Begeisterung zu Be-
hauptungen hinreißen, die sich nicht beweisen lassen. Der II. Band:
Origins of socialism zeigt einen bedeutenden Fortschritt: ebenso wie im
ersten finden wir zahlreiche Stellen aus den Kirchenvätern, dazu treten
inschriftliche Belege. Das 5. Kapitel behandelt die Bedeutung des
solonischen Vereinsgesetzes; das 8. die vorchristlichen Vereine; dabei
ist S. 169 — 174 in Anm. eine vom Referenten dem Verfasser zur Ver-
fügung gestellte geographisch geordnete Übersicht über die griechischen
Vereine abgedruckt. Gewiß wird die Arbeit W. bei seinen Lands-
leuten die verdiente Anerkennung finden und Anregung zur Forschung
in der angegebenen Richtung bieten, die geeignet ist, das Interesse auch
der größeren Menge für das griechische Altertum zu erwecken.
Ein neues Licht auf wichtige Seiten des antiken Kultur- und
Geisteslebens zu werfen, stellt sich zur Aufgabe das große Werk:
18. R. Pohl mann, Geschichte des antiken Kommunismus und
Sozialismus. München. I. Bd. 1893; II. Bd. 1901.
Vgl. dess.: „Die Anfänge des Sozialismus in Europa« in d.:
HZ 79 (1897) 385-451; 80 (1898) 193-242; 385-435.
Es ist hier nicht die Stelle, dieses Buch eingehend zu würdigen,
das ja nicht in die Staatsaltertümer gehört; doch ist es für die Erkenntnis
der staatsrechtlichen Entwickeluug von Bedeutung. Im allgemeinen
ist es ausgeweitet zu einer Geschichte der sozialen Frage im klassischen
Altertum und gibt im II. Bande eine ausführliche Behandlung der
sozialen Demokratie. Wir erhalten Aufschluß über den Kommunismus
der Urzeit und die Hauskommunion bei Homer; die kommunistischen
Bericht üb. d griecb. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893! 1890)— 1902. (J. Oehler.) 27
Einrichtungeu auf Lipara werden darcli den Charakter dieser Insel als
Korsarenburg erklärt. Die gemeinsamen Mahlzeiten in Sparta und auf
Kreta beruhen nicht auf kommunistischer Grundlage, sondern sind aus
politisch -militärisclien Motiven abzuleiien. Die neue politische und
soziale Ordnung zeigt sich als Ergebnis der Bewegungen des VI. Jahrb. ;
dabei tritt ein Widerspruch ein zwischen der sozialen und politischen
EntWickelung, der zur Politik der Faust führt und zur Auffassung des
Staates als einer Erwerbsgenossenschaft. Es wird hingewiesen auf die
Bedeutung der Vereinsbilduogen bei den Griechen ; auf solche sind
wohl mit Dümmler BphW 1895, 148 auch die Nachrichten über die pj-^tha-
goiäische Gütergemeinschaft zurückzuführen, nicht aber mit Pöhlmann
als späte Erfindung zu erklären. Auch die Arbeiteraufstände sind be-
handelt. Soweit kommt das Buch für diesen Bericht in Betracht: Es sind
neue Wege für die Betrachtung des klassischen Altertums gewiesen und
auch da, wo Mängel sich zeigen und ausgestellt werden, ist der richtigen
Erkenntnis vorgearbeitet schon dadurch, daß die betreffende Frage
überhaupt berührt wurde. Es wird die Aufgabe sein, auf der ge-
gebenen Grundlage nachzuprüfen, zu berichtigen und weiter zu bauen.
Anhangsweise mögen, da ein Bericht über die griechischen ßechts-
altertümer augenblicklich nicht gegeben wird, aber gerade das griechische
Recht vielfache Behandlung erfuhr, die das griechische Recht betreffen-
den Schriften angeführt werden:
Th. Thalheim, Rechtsaltertümer. Freiburg i. B. und Leipzig
1895 (=K. Fr. Hermanns Lehrbuch der griechischen Antiquitäten,
IL B. 1 Abt. 4. Aufl.).
H. F. Hitzig, Das griechische Pfandrecht. 1895.
E. Szanto, Über die griechische Hypothek. Arch. - epigr.
Mitt. XX (1897) 101—114.
G. Gilbert, Beiträge zur Entwickelungsgeschichte des grie-
chischen Gerichtsverfahrens und des griechischen Rechtes. Leipzig 1896
(XXIII. Supplementband d. Jahrb. f. kl. Philol. S. 445—536).
E. Hruza, Beiträge zur Geschichte des griechischen und römischen
Familienrechtes. I. Die Ehebegründnng nach attischem Rechte, 1892.
II. Polygamie und Pellikat nach griechischem Recht, 1894.
L. Ott, Beiträge zur Kenntnis des griechischen Eides. Leip-
zig 1896.
E. Ziebarth, Der Fluch im griechischen Recht. Hermes XXX
(1895) 57 — 70.
E. Ziebarth, Popularklagen mit Delatoreuprämien nach grie-
chischem Recht. Hermes XXXII (1897) 609-628.
28 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J. Oehler.,
L. Mitteis, L., ßeichsrecht und Volksrecht in den östlichen
Provinzen des römischen Kaiserreiches. Leipzig 1891.
Dziatzko, Autor- und Verlagsrecht im Altertum. Rh. Mus. XLIX
(1894) 559 f.
*P. Guiraud, La propriete fonciere en Grece jusqtfä la con-
quete romaine.
*H. Francotte, L'industrie dans la Grece ancienne.
*L. Brehier, De Graecoram iudiciorum origine. Paris 1899.
III. Der homerische Staat.
Außer in den bereits bezeichneten Handbüchern liegen besondere
Arbeiten über den homerischen Staat allein nicht vor. Das Interesse
wandte sich vielmehr dem mykenischen Zeitalter zu, das uns durch so
große Reste an Bauten und durch die Erzeugnisse des Kunstgewerbes
bekannt geworden ist. So verlockend es auch ist, diesen Artikel zu
einem über das mykenische Zeitalter zu erweitern, so paßt doch ein
solcher nicht in den Rahmen dieses Berichtes, da wir über die staat-
lichen Verhältnisse des mykenischen Zeitalters keine direkte Kunde
haben. Es wird noch die Aufgabe zu lösen sein, die homerischen Ge-
dichte nach dieser Seite zu untersuchen; in den älteren Stücken der
Dichtung werden sich gewiß Anklänge an die mykenische Zeit
linden lassen.
Über Mykenai und das mykenische Zeitalter sind zwei Werke
erschienen, die nur erwähnt werden mögen:
21. X. Taoüvxa?, Muxrjvai xal Muxifjvato; ttoXitisixo';. 'ABr^v/jaiv 1893.
22. Ch. Tsountas and J. Manatt, The Mycenaean age.
London 1897.
Zu vgl. ist auch: Ridgeway: What people produced the obiects
calied Mycenaen? Journ. of hell. stud. XVI (1896), 77 f.
Das homerische Königtum ist behandelt von v. Schoeffer in dem
Artikel ßaatXsus bei Pauly-Wissowa III, 55 f. — Hammond behandelt
im 3. Kapitel S. 26 f. die heroische Monarchie; er folgt Grote in der
Annahme, es seien die Achaier allein in der Ilias und Odyssee von Be-
deutung; die bedeutenden Faktoren seien: paatXsuf, a-jopr], -/epovisi und
endlich die Xaoi. — Mit Recht wird aufmerksam gemacht, daß nicht
der König allein entscheidet. Neues wird darin nichts geboten. Auch
Whibley bietet in § 22 The Heroic Monarchy S. 63 f. nichts Neues:
auch er spricht nach Grote von der achaischen Periode. Die Gesell-
schaft erscheint auf patriarchalischer Grundlage organisiert. Die Vei-
Bericht üb. d. griecb. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 29
fassnng umfaßt den König, die Versammlung der Adeligen, die Ver-
sammlung des Volkes.
Was die Einteilung des Volkes betrifft, meint Szanto, Pbylen
S. 3/4 : unter ^üXa seien die in der Boiotia aufgezählten Staaten zu
verstehen, nicht aber die Phj'len der historischen Zeit.
Über die Sklaven im homerischen Zeitalter handelt:
23. D. Seymour, Slavery and Servitude in Homer. In: The
American Journal of Archaeology V (1901), S. 23 und 24.
Er verweist darauf, daß das "Wort ooüXo? bei Homer nicht vor-
kommt, daß die gewöhnlichen 3 charakteristischen Merkmale für den
♦Sklaven bei den in Knechtschaft lebenden Menschen des homerischen
Zeitalters sich nicht finden. Eumaios bat selbst Diener, Dolios hat
Weib und Kinder. — Männliche Sklaven waren im Haushalte des
homerischen Zeitalters unbekannt: die achaischen Häuptlinge haben auf
ihrer Fahrt gegen Troja ebensowenig Diener mitgenommen wie die
Argonauten. So war denn auch die freie Arbeit noch nicht durch
Sklaven verdrängt. Gekaufte Sklaven werden nur drei erwähnt. —
Daher billigt Seymour die Angabe Herodots, daß die alten Griechen
keine Sklaven hatten.
Eine interessante Untersuchung über das Seewesen der homerischen
Zeit ist:
24. G. Glotz, „Les naucrares et les Prytanes des naucrares
dans la cite homeiique". In: Eevue des Etudes grecques XIII
(1900), S. 137-157.
Der Verf. weist darauf hin, daß bei den Studien über die Ein-
richtungen des homerischen Staates die Seemacht (Marine) vernach-
lässigt wurde, und meint, die Ausfüllung dieser Lücke werde auch ein
Licht werfen auf die Entstehung der Maiineverwaltung der historischen
Zeit. Er behandelt die Stelle Od. VIII, 27—36 und 48—49. Die
Bemannung wird -ai-A or^u-oi rekrutiert, was das Vorhandensein einer
staatlichen Verwaltungseinteilung voraussetzt. Diese stützt sich auf
die Einteilung des Volkes iu Phratrien und Phyleu. Der Verf. findet
nnn eine Beziehung zwischen der Zahl der Schiffe und der Dreizahl der
dorischen Pbjien , bei den loniern zu der Vierzahl. Odysseus hatte
12 Schiffe, ebenso viele Phylen oder Phratrien gab es in Ithaka; die
Zahl 12 dient für alle Zweige der Verwaltung, auch für die Mai'ine.
Verf. stellt S. 144 die Behauptung auf: die Flotte ist die auf das Meer
verpflanzte Bürgerschaft, die nach ihrer Gliederung in Phylen und
Phi-atrien auch herangezogen wird zur Stellung des Schiffsmaterials und
der Bemannung. Bei den Phäaken werden von jedem der 13 Teile des
Volkes 4 Mann zur Bemannung gestellt: wahrscheinlich sind die erwähnten
30 Bericht üb, d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893; 1890)— 1902. (J. Oehler;i
ßaatX^ec die Vorstände der Phratrien, deren je 4 zu einer Phyle ge-
hören. Es stellt also jede Phratrie einen Mann. Die Vorstände der
Phratrien sind die Leiter der Seeverwaltung unter Aufsicht der ^uÄo-
ßaaiXetc, der Vorstände der Phylen. Die Organisation des Seewesens
sei dann in die historische Zeit verpflanzt worden. Samos baute
704 V. Chr. G. eine Flotte von 4 Fahrzeugen, Polykrates stellte
40 Trieren, während des ionischen Aufstandes zählte die samische Flotte
60 Schilfe. "Wahrscheinlich bestanden in Samos die 4 ionischen Phylen.
mit deren Zahl dann die Zahl der Schiffe in Beziehung steht. Auch
in den Naukrarien Athens kann man vielleicht eine alte Einrichtung
erkennen; die Aufgaben der vauxpapot sind denen der ßaatX^e? von
Scheria gleich; danach waren die Prytanen der Naukraren die Phylo-
basileis. Im Athen des VII. Jahrhunderts waren die Archonten die
obersten Beamten, aber die «puXoßaaiXsT? hatten die richterliche, finanzielle,
militärische und maritime Verwaltung. Ref. kann auf die letzte Be-
hauptung erst bei der Besprechung der athenischen Flotte eingehen:
was die Ausführungen über die Flotte zur homerischen Zeit betrifft,
werden wir sie wohl mit großer Vorsicht aufnehmen.
Mit den Zuständen des homerischen Zeitalters beschäftigt sich
Felix Moreau in 3 Aufsätzen:
25. F. Moreau, Les finances de royautö homerique. Revue des
Etudes grecques VIII (1895), S. 287—320.
Es wird das Wesen und die Bedeutung des t£}j.£vo; erörtert:
dies wird zugleich mit der Königswürde verliehen und bleibt vom
Privateigentum des Königs gesondert; war das Königtum ein erbliches,
dann wurde auch das tIjj-evo? vererbt, daher die Bezeichnung Tra-rptuiov
TEIxevos. — Zu den Einnahmen des Königs gehört die Königsbeute, deren
Verteilung nach des Verf. Ansicht durch das Heer erfolgte; dabei erhielt
der König außer seinem Anteil ([J-otpa) wohl noch ein besonderes Stück
als -/epac. Außer den Einkünften aus dem tsjjlevoc und der Kriegsbeute
hatten die Untertanen gewisse Abgaben zu leisten; ob ein Unterschied
zwischen OsfAUTsc und öiotivcc. in der Weise zu machen ist, daß erstere
die regelmäßigen Abgaben, letztere aber freiwillige Geschenke des
Volkes bezeichnen, läßt sich nicht bestimmen; jedenfalls fehlt ein festes
System regelmäßiger Abgaben. Zu dem Reichtum der Könige trug
ihr Handel bei und die Geschenke der bewirteten Gäste bildeten einen
Teil ihrer Einkünfte. Über die Ausgaben des Königs, die seiner
Würde entsprangen, läßt sich nichts bestimmen.
26. F. Moreau, Les festins royaux et leur portee publique
d'apres TDiade et TOdyssee. Rev. des fitudes grecques VII (1894),
S. 133—145.
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 31
Der Verf. zeigt, daß die köuiglichen Mahlzeiten in keiner not-
wendigen Verbindung stehen mit dem politischen Leben; daß sie nur
ein Höflichkeitsakt sind, ausgetauscht mit den Freunden des Königs,
und ihre politische Bedeutung nur zufällig ist. — Der König hatte
volle Freiheit bei seinen Einladungen. Das V^olk zahlte diese Mahl-
zeiten nur indirekt. Diese Mahlzeiten sind demnach keine öffentliche
Einrichtung, kein Vorrecht der Könige und auch nicht die gewöhnliche
Form der Beratung.
27. F. Moreau, Les assemblees politiques d' apres l'Diade et
l'Odyssee. Revue des Etudes grecques VI (1893), S. 204—250.
Es ist ein Unterschied zwischen ßouXiQ und 070 piQ; dtSxo? bezeichnet
keine 3. Art von Versammlung neben den beiden genannten. Die
a';opr^ ist die allgemeine Versammlung, an der alle Bürger teilnehmen.
Das Recht, sie zu berufen, stand nach Moreau jedem Bürger zu, der
vor dem Volke öffentliche Angelegenheiten besprechen wollte. Die Ver-
sammlung fand auf einem öffentlichen Platze statt, der auch appT]
hieß ; während das Volk im Kreise herumsaß, saßen die Führer in der
JNIitte auf geglätteten Steinen. Jeder hatte das Recht zu sprechen und
genoß volle Redefreiheit. Die Kompetenz ist schwer zu bestimmen: sie
wurde wohl berufen, um über Angelegenheiten des allgemeinen Interesses
zu entscheiden ; dabei fühlte sich die Minorität durch die Entscheidungen
der Majorität nicht gebunden. Die Zustimmung erfolgte durcli Akkla-
mation oder durch ein Murmeln der Billigung, Stillschweigen galt als
Zeichen der Mißbilligung. Wenn die Tagesordnung erschöpft war, gingen
die Leute von selbst auseinander. Der allgemeinen Versammlung
des Volkes steht gegenüber die ßooXiQ, deren Bildung nicht leicht
zu bestimmen ist; denn wir erkennen keine feste Zusammensetzung,
auch keine bestimmte Zahl. Den Königen stand es frei, diejenigen zur
Beratung zu berufen, die sie wollten; natürlich wandten sie sich vor
allem an alte, erfahrene Männer und an die im Kriege hervorragenden
Führer. Nur nach dem Herkommen bildete sich eine Klasse von
ßooXTj'fopot. Die Berufung erfolgt durch den König zu verschiedenen
Zeiten und an verschiedenen Orten. Die Reihenfolge der Redner ist
an keine Regel gebunden. Der König legt der [io-jXiQ die Dinge zur
Beratung vor, zieht die verschiedenen Meinungen in Betracht, ist aber
dadurch nicht gebunden. Moreau sieht in der Einrichtung der beiden
Versammlungen den Beweis für den demokratischen Charakter der
homerischen Institutionen. Er präzisiert den Unterschied mit folgenden
Worten: L"agora est une assemblee generale, la boul6 est un conseil
de chefs; lagora d6cide, la boule conseille.
32 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1 893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
IV. Sparta.
Die Verfassung und Staatsordnung Spartas ist mit Benutzung der
Literatur bis 1893 kurz dargestellt, ohne daß neue Aufstellungen
gemacht werden, von:
28. Fustel de Coulange, Lacedaemoniorum respublica in Darem-
berg et Saglio, Dictionnaire III 886 — 900
und in dem schon erwähnten Buche von Hammond im Kapitel IV
S. 37 — 56, gleichfalls nur übersichtlich auf Grund der früheren Literatur.
Über die Einteilung der Bürger spricht Szanto, Phylen S. 12 f.: In
Sparta ist die ursprüngliche Existenz der drei dorischen Phylen nicht mehir
bezweifelt; in der historischen Zeit bestanden 5 lokale Phylen, neben
denen 27 Phratrien bezeugt sind. Die Oben hatten bereits zur Zeit
der lykurgischen Rhetra lokalen Charakter und waren Unterabteiligen
der Phylen; sie können mit den attischen Demen verglichen werden,
denn auch die Obenordnung ist rein territorial. —
Über die lykurgische Verfassung handelt außer J. Beloch,
Gr. Geschichte I S. 306, Bnsolt, Gr. Gesch. P S. 510 f., Meyer,
Gesch. d. Altert. II S. 564.
29. J. Toepffer, Die Gesetzgebung des Lykurgos (Vorlesung zu
Basel 1894/5 -= Beiträge zur griech. Altertumswissenschaft S. 347
—362).
Er kommt zu dem Resultate: Die Staatsordnung der Rhetra
handelt lediglich von der Konstituierung des Staates, ohne Bezug zu
nehmen auf die merkwürdige Lebensweise der Spartaner. Die Be-
gründung der Gesellschaftsordnung ist nicht das Werk eines Mannes,
wohl aber die Staatsordnung; dieser Mann war eine historische Persön-
lichkeit und trug den Namen Lykurgos. Historisch ist Lykurgos' Ver-
bindung mit Delphi und auf Grund dieser Verbindung ordnete er die
Staatsverfassung; historisch ist seine Beziehung zu Olympia und sein
Kult in Sparta. Mit Unrecht wollten demnach Stern und Kuchtner in
den weiter unten zu nennenden Schriften in Lykurgos nur einen Gott
sehen.
Über das Königtum ist zu vergleichen der Artikel von Schoeffer:
padtXeu; in Pauly-Wissowa III 55 f., der die bisherigen Erklärungsver-
suche des Doppelkönigtums für unzureichend erklärt, selbst aber keine
Erklärung zu geben vormag; vgl. auch Kuchtner S. 20, Anm. 1. —
über die Gerusie hat, ohne etwas Neues zu bringen, gehandelt:
30. E. Caillemer s. y. 7spouaia in Daremberg et Saglio Dict. II
p. 1549.
Was die Beamten anbelangt, haben nur die Ephoren eine ein-
gehendere Behandlung erfahren. Es sind zwei Schriften zu nennen,
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 190'i. f J. Oehler.) 33
die sich dieselbe Aufgabe gestellt haben, sie aber in verschiedener
Weise lösen:
31. E. von Stern, Zur Entstehung: und ursprünglichen Bedeutung
des Ephorats in Sparta. (Berl. Stud. f. klass. Philol. und Arch. XV,
2. Heft). Berlin 1894.
32. K. Kuchtner, Entstehung und ursprüngliche Bedeutung
des spartanischen Ephorats. Promotionsschrift. München 1897.
Stern glaubt von der Tradition absehen zu müssen und sieht in
den Ephoren die Repräsentanten des Volkes; ihr Ursprung sei abzu-
leiten aus dem zwischen Volk und Königtum geschlossenen Vertrage,
durch den der a-rdfuts ein Ende gemacht und die Fortdauer des König-
tums gesichert wurde. Dabei seien die Ephoren als Hüter und Wächter
der Volksrechte bestellt worden. Stern sieht in ihnen also „ Volks-
tribunen". — Kuchtner dagegen versucht zunächst, aus den frühesten
Befugnissen der Ephoren auf die Zeit ihrer Einsetzung zu schließen,
und erklärt sie im Anschlüsse an Holm als Staatsanfseher, als Wächter
des xoijfxo?; als solche hatten sie die Aufsicht über den x6a[jLos und
über alle, welche nach diesem leben sollten, also über die Bürger und
Könige. Schon daraus folgt, daß sie niemals von den Königen ernannt,
sondern vom Volke gewählt wurden und jeder Bürger Zutritt hatte.
Allmählich spielten sie sich als Volksvertreter auf und erlangten mit
Hilfe des Volkes manches wichtige Recht. Mit der lykurgischen Ver-
fassung stehen die Ephoren in keinem engen Zusammenhange,
sondern zwischen der Vollendung der Verfassung und der Einführung
der Ephoren ist ein Zeitraum von wenigen Dezennien anzunehmen.
Kuchtner nimmt auch Stellung zu der Frage, ob das Ephorat eine
gemeindorische Einrichtung sei; er verneint sie mit Recht, denn es
findet sich nicht in allen dorischen Staaten, hat nicht überall dieselben
Aufgaben und hat sich wohl erst von Sparta aus in die Kolonien ver-
breitet. Ferner sind zu erwähnen:
33. *A. Solar i, Fasti ephororum Spartanorum ab anno ante
Ol. 70, 1 (500 a. Chr.) usque ad Ol. 148, 1 (188 a. Chr.). Pisa 1898.
Das Buch bietet zunächst eine Einleitung über die Ephoren, ist
aber dann zu einem griechischen Lesebuche ausgestaltet.
34. *A. Solar i, Sul numero degli efori spartani. Bollettino di
tilologia classica VI S. 86 f.
Es gab 5 eigentliche Ephoren und 5 Stellvertreter.
35. *A. Solari, Ancora sulla locuzione 01 sv xiXti relativa
a Sparta. Bollettino di filol. class. VI 131 f.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 3
34 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J. Oehler.)
Gegen König, der iu einer Jenenser Dissertation zwischen -ra
xiKT^ und Ol ev xeXei einen Unterschied gemacht hatte, führt Solari aus,
beide Ausdrücke bedeuten die höchsten Aufsichtsbeauiten, in Sparta
also die Ephoren.
36. *A. Solari, De Spartae patronomia. Bollettiuo di filologia
classica VI p. 10 f. Torino 1899.
Das Institut der patronouii habe bereits vor Kleoraenes be-
standen, dieser habe ihnen wesentlich nur das Vorrecht der Jahresbe-
nennung zu ihrer früheren Kompetenz verliehen.
37. *A. Solari, La navarchia a Sparta e la lista dei navarchi.
Pisa 1897.
Diese Schrift wird als grundlegend für jede weitere Behandlung
der Frage der Nauarchi bezeichnet, denn sie stellt alles zusammen, was
uns über dieses Amt bekannt ist; dabei erweist sich, daß Belochs Be-
hauptung, „die Nauarchie sei ein Jahresamt und immer nur ein einziger
Kauarch gewesen", durch die Tatsachen keine Bestätigung liudet.
Eichtig wird bemerkt: e-tßaTY); ist kein amtlicher Titel, sondern heißt
nur „Krieger".
Inschrifclich bekannt geworden sind die a-ca-oi, über die
38. Th. Preger, Athen. Mitt. XXI (1896) S. 95/6
handelt und die er als ein Polizeiamt ähnlich den d-^ailosp^ot erklärt.
Was die Erziehung der jungen Spartaner betrifft, so bietet ein
Papyrus im britischen Museum eine Beschreibung derselben:
39. Keuyon, Fra'iment d'une Aax£oa'.|xovtiuv -oMrtii (?).
Revue de Philol. n. s. XXI (1897) S. 1—4.
Wir erfahren daraus, daß die harte Erziehung zwei Jahre
dauerte, wahrscheinlich vom 19. Lebensjahre an. Vielleicht stammt
dies Fragment aus der Aazsoatjxovtcüv uoXiTsia des Aristoteles.
40. P. Girard, Krypteia. Daremb. et Saglio III 871—873.
Das Wort bezeichnet sowohl die jungen Spartaner , welche eine
bestimmte Zeit Kriegsdienste leisteten zur Übung, die xpu-tot, als auch
diesen Dienst selbst, xpuTrn^. Während dieses Dienstes, der zwei
Jahre dauerte, durften die jungen Leute nicht in die Stadt kommen.
Über die Skytale handelt
41. J. H. Leopold, De scytala Lacouica. Maemos. XXVIII
(1900) 365—391.
Auf Grund der Prüfung der Quellen wird nachgewiesen, daß die
gewöhnliche Erklärung der Skytale unrichtig sei; sie habe nicht den
Zweck gehabt, einen geheimen Auftrag zu übermitteln, sondern diese
habe nur als Eest der frühereu Zeit in Sparta eine gewisse Feierlich-
Bericht üb d griech Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 35
keit und Hoheit behalten, da sie durch die Sitte der Vorfahren ge-
heiligt war. Der Brauch, Aufträge auf Holzsttibe zu schreiben, findet
sich in alter Zeit auch sonst und wurde bei Geldg:eschäften augewendet,
indem die Schuldsnmme auf 2 Holzstäbe geschrieben wurde, von denen
einen der Gläubiger, den andern die Zeugen erhielten. Auch als ein-
fache Alt eines Trenbeweises konnte der beschriebene und zerbrochene
Stab gebraucht werden: man brauchte die Teile nur zu vergleichen,
um sich von der Wahrheit zu überzeugen. Während in den anderen
Staaten dieser Brauch verschvand, bedienten sich die spartanischen
Ephoren noch fernerhin der beschriebenen Stäbe zur Übermittelung
wichtiger Befehle, so daß die Skytale selbst als Unterpfand und Zeichen
der Gewalt der Ephoren erschien. Zur Zeit der Alexandriner war der
alte Brauch in Vergessenheit geraten und die neue Erklärung erhielt
die Oberhand.
Über die Bevölkerungsklassen handeln einige Artikel bei Darem-
berg et Saglio:
42. E. Caillemer, Homoioi III 233/4.
Darunter sind die spartanischen Vollbürger gemeint, die nicht
bloß von spartanischen Eltern abstammten, sondern auch das vorge-
schriebene Leben führten. In der klassischen Zeit bildeten sie 2 Gruppen :
die xaXot -/aYaöot, ^vtuptiiot, eine Art Aristokratie, aus der die Gerusie
gebildet wurde, und den otjjxo?.
43. E. Caillemer, Hypomeiones III 350—352.
Diese waren Spartiaten, aber nicht Vollbürger, w^eil sie entweder
nicht die gesetzliche Erziehung genossen harten oder wegen geringer
Einkünfte die Beiträge nicht leisten konnten oder aus Weichlichkeit
nicht das vorgeschriebene Leben führten. Sie hatten keine bürger-
lichen politischen Rechte, behielten aber ihre Privatrechte und konnten
wieder unter die ofjtotot kommen.
44. Ch. Lecrivain, Helotae III 67—71.
Es wird über die „glebae adscripti* im allgemeinen gesprochen,
dann auch über die spartanischen. Ob der Name ETXoj-s? oder EiXtüra'.
herzuleiten sei von dem Namen der Stadt 'EXo? oder von der Wurzel
eX- oder von iXo?, Sumpf, läßt Leciivain .unentschieden. Besondere
Abteilungen bilden dann die veoöafjiwosi? und ixoftvxe?; über letztere
handelt
45. *L. Cantarelli, I motaci Spartani. Estratto dalla Rivista
di Filologia ed' Istruzione classica. Anno XVIII p. 465 — 484.
Der Verfasser gelaugt zu folgenden Resultaten: L Die Mothakes
sind zu unterscheiden von den Mothones; letztere sind vernae, Sklaven.
36 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler).
erstere freie Leute. 2. Als ix69axe; sind sie nicht zu verwechseln mit
den voOoi, mit welchen sie nur die spartanische a'itojq gemein hatten.
3. Die jxoöaxsc können also nur Periökenfamilien entstammt sein.
4. Ihre Erhebung in den Bürgerstand war fakultativ, nicht obli-
gatorisch, sondern erfolgte nur wegen besonderer Verdienste, Diese
Aufstellungen sind wohl in manchen Punkten zu modifizieren: es be-
standen die |x6daxec zum größten Teile aus v69oi, doch war nicht jeder
voOoc eo ipso auch p-oba^ und in das Korps der txoOaxEc konnten sowohl
einzelne Fremde als auch Periöken aufgenommen werden Auch der
Unterschied zwischen [xodaxe; und [xoötuvs; läßt sich nicht beweisen.
Über die Geschichte und Verfassung Spartas in der späteren Zeit
handelt die Dissertation von:
46. *Petit - Dutaillis, De Lacedaemoniorum rei publicae
supremis temporibus. Paris 1894,
Ohne eine kritische Würdigung der Quellen zu versuchen, hat der
Verf, dieser als fleißig bezeichneten Arbeit eine Geschichte des
spartanischen Staates von der Schlacht bei Sellasia (222 v. Chr.) bis zur
Eroberung Korinths durch die Römer (146 a, Chr,) gegeben. Voraus-
geschickt ist eine Einleitung, in der über die Regierung des Kleomenes,
besonders seine Reformen gehandelt wird. Am Schlüsse folgt eine
kurze Übersicht über die spätere Geschichte und Verfassung des
lakedaimonischen Staates. Ergebnisse von wesentlicher Bedeutung liegen
in der Arbeit nicht vor.
V, Kreta.
über die älteste Zeit können uns die Fände in Knossos und
Phaistos Aufschluß geben. Kreta war das Zentrum der mykenischen
Kultur und der Sitz mächtiger Könige; vgl, Pernier, Monuraenti
antichi XII (1902); A. J. Evans, The annual of thc British school
VII (1900/1), S. 1 — 120: The Palace of Knossos.
Interessant sind die Funde bei Gournja auf Kreta, über die
47. Sam Wide, Mykenische Götterbilder und Idole: Athen.
Mitt, XXVI (1901) 247—257
berichtet. Dort findet sicli keine Herrenburg, sondern nur eine Dorf-
gemeinde; Wide meint, die mykenischen Gemeinden scheinen in der
ältesten Zeit demokratisch verwaltet worden zu sein und lagen am
Meere, Über Kreta in der historischen Zeit liegt eine ausführliche
Arbeit vor:
48. A, Semen off, Antiquitates iuris publici Cretensium prae-
misso conspectu geographico ethnographico historico. Petropoli 1893.
Beriebt üb. d. griecb. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 37
Für uuseren Bericht kommen die Kapitel 4 bis 8 in Betracht;
Semenoff schließt sich im allgemeinen den Ansführungen Busols Griecli.
Gesch. I- S. 326 f. an. Nach dem Künigtume herrscht etwa seit
GOO V. Chr. die Aristokratie, seit etwa 300 v. Chr. Demokratie uud
etwa um 200 wird das xoivov twv Kpi^j-aieujv geschaffen, das bis in das
IV. Jahrb. n. Chr. bestand. Die Bevölkerung zerfiel in Freie und Un-
freie; von den Freien war die Minderheit Bürger, r.ohd-.ai, die Mehrheit
Nichtbürger, aitstaipoi. Die Bürger zerfielen in Phylen und Hetairien.
Außer den 3 dorischen Phylen nimmt Sera, noch rein kretische Phylen
an, so daß es im ganzen 8 Phylen gegeben hätte. Richtiger sagt Szanto
S, 21, daß wir die dorischen Phylen allgemein in Kreta annehmen
dürfen und keinen Grund haben, noch andere anzunehmen. Nach Sem.
waren die Phylen regional, nach Szantos richtiger Ansiebt aber gen-
tilizisch. Die ixotipeiai bildeten zugleich Tischgenossenschafteu uud
militärische Abteilungen; sie möchte ich mit den attischen Phratrien
vergleichen, nicht, wie es Sera, tut, mit den otapTot, die als Geschlechter
oder Adelssippeu aufgefaßt werden von Busolt und Szanto. Eine
andere Erklärung versucht
49. G. de Sanctis, The Startus in thc l'retan Inscriptions.
Araer. journ. of archaeology IL s. V (1901) 319 f.
Er erwähnt den atapTaysTa;, das Haupt eines Startus und meint
S. 326 : axapxoi where nothing eise than Colleges of raagistrates ; because
in the passage quoted above aTapio? means the College of the cosnii;
new magistracies beiug created along with the cosmi, all these Colleges
may very well have taken the narae of stai'ti, which would have come
to be an equivalent almost to cuvapyiai. — Frei waren die t^z^'.oiyjj: :
sie waren des Bürgerrechtes beraubt, konnten also keine Amter be-
kleiden, nicht an der Volksversammlung und an den gemeinsamen
Mahlzeiten teilnehmea; doch waren sie wohl zum Kriegsdienste ver-
pflichtet. Sie hatten Grundbesitz und trieben in den Städten Gewerbe
uud Handel. Sie hatten eine gewisse Abgabe zu leisten und unter-
schieden sich auch dadurch von den Bürgern. Die Sklaven lassen
sich in mehrere Gattungen einteilen: 1. [ivotxai, Hörige, welche das
Gemeindeland bebauten; 2. acpafi-tüitai, xXapuiTat, Hörige, welche Privat-
äcker bearbeiteten; dazu gehören auch die Foi/ss? des gortynischen
Gesetzes; 3. ooXoi -/po3u)vr,Toi, Kaufsklaven im Dienste der Privatleute*
4. ep^axtuvsc, -/.axaxaüxat, über die sich nichts Sicheres sagen läßt. Was
die Regierung anbelangt, so war ein wichtiger Faktor der Rat, die
ßcuXcf., der bis 300 v. Chr. aristokratisch war, dann demokratisch wurde.
Er setzte sich aus den gewesenen y.65|xo'. zusammen, die Zahl der -jEpovxx?
ist uns nicht bekannt. Er hatte ein eigenes Amtslokal: ap/eiov oder
38 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
TCpuTaveiov. Daneben erscheint die ttoX-c = uoXTxai = o%o?, der über die
Anträge des Kosmen und Geronten ohne Debatte abzustimmen hatte in
der Volksversammlung, exxXrjata. —
Von den Beamten sind die ersten die xocj|xot, 10 an der Zahl, die
nach Abschaffung: der königlichen Gewalt den Vorsitz in der Volks-
versammlung hatten, mit den Gesandten verhandelten, die Aufsicht über
die Staatsgüter und die religiösen Angelegenheiten hatten, von den
anderen Beamten Rechenschaft entgegennahmen, selbst aber den ^otld
rechenschaftspflichtig waren. Einer von ihnen, der in der Römerzeit
TipüJToxosfxo» heißt, v/ar eponym. Zuerst wurden sie nur aus gewissen
Sippen oder Geschlechtern gewählt, später nach der Einführung der
Demokratie aus der Gesamtheit der Phylen. Die Amtszeit betrug ein
Jahr; während ihrer Amtsführung waren sie sacrosaucti; gegeu die
Kosmen,' welche ihre Pflichten nicht erfüllten, waren Geldstrafen fest-
gesetzt. Die fjLva[i.ov£c hält Sem. für Archivbeamte, welche die Akte
des Kosmenkollegiums oder der einzelnen Kosmen aufzubew'ahren hatten.
Es werden dann 7pa[x[i,aT£r? erwähnt, deren Geschäfte denen der [ivapLovs;
ähnlich waren, daher sie bisweilen die Stelle der (xva'ixovsj einnahmen.
Die höchste Gerichtsbarkeit war beim Rate, daneben werden otxajTai,
xpitat, £p£UTai Tüiv avDptuirivfov und TipsqiaToi im suvojjita; erwähnt. —
Sakrale Beamte waren die tspop^oi, rupfpopoi, vaxopot, xcaiiasa? (sacerdos
Dionysii). — Verwaltungsbeamte , die dem Staatsschatze vorstanden,
werden keine besonderen genannt.
An der Spitze des xoivov xtüv KpyjTatstuv stand der Kprjxapy r,;,
daneben wird ein ;ujTap-/Y]c und ap-/ispsu;, ein guXXoyo;, ein xoivooix-.ov
genannt; die auch erwähnten auveopoi sind Mitglieder des suveSpiov, der
ßooXiQ. — An der Spitze des durch Vertrag zustande gekommenen
Bundes standen Knossos und Gortyn.
Nicht einsehen konnte ich:
Ciccotti, Le istituzioni pubbliche cretese. Studi di diritto XII
S. 205—240; XIII 133—186.
VI. Athen.
Unstreitig der schwierigste Teil des Berichts ist der über die
athenischen Staatsaltertümer: man versucht, ein „athenisches Staats-
recht" zu finden, und ist in emsiger Kleinarbeit bemüht, die Steine zu
bereiten, die Lücken auszufüllen ; jede Urkunde wird einzeln interpretiert,
jede Frage eingehend für sich und mit Rücksicht auf das Ganze be-
handelt. Spaten und Hacke helfen fleißig mit und die Funde an In-
schriften treten unterstützend ein. Die Schrift des Aristoteles «'AOrjv.
Bericht üb. d. griech. Staat saltertüm . f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 39
-o).." bat selbst eine eij^ene Literatur geschaffen, die nicht in diesem
Belichte behandelt werden kann, obwohl v. Schoeffer dies beabsichtist
nnd jedenfalls anch die Vorarbeiten getroffen hatte. Außer den Ab-
schnitten in den Geschichtswerken von Busolt, Beloch und Meyer sind
wichtige Bemerkungen, Fragen der Staatsaltertümer betreffend, enthalten
in C. "Wachsmuth, Die Stadt Athen im Altertum. IL Band, 1. Abt.
1890; A. Mommsen, Feste der Stadt Athen im Altertum. 1898. —
Die Verfassungsgeschichte und einzelne Fragen derselben fanden im
Ansclihisse an die Schrift des Aristoteles vielfache Behandlung. Zu
nennen sind:
50. G. W. Botsford, The Athenian Constitution. (Cornell
Studies in classical philology Nr. IV). Boston 1893.
51. U. V. Wilamowitz-Moellendorf, Aristoteles und Athen.
Berlin 1893. 2 Bände.
52. B. Keil, Anonymus Argentineusis. Fragmente zur Ge-
schichte des perikleischen Athen aus einem Straßburger Papyrus.
Straßburg 1902.
Botsford behandelt in 10 Kapiteln die Entwickelung der athenischen
Verfassung von den ältesten Zeiten au bis zum Beginne des pelo-
ponnesischen Krieges; dabei legt er das Hauptgewicht darauf, die Be-
deutung der einzelnen Verfassungsänderungen zu kennzeichnen. Als
Einleitung sind 2 Kapitel vorausgeschickt: Kapitel I weist nach, daß
die Familie die Grundlage des Staates ist; aus der Familie entsteht
das Geschlecht, gleich der Hauscommunio der Südslawen; aus der Ver-
einigung mehrerer Hausgemeinschaften geht die Brüderschaft (bratrstvo,
^pa-pi'a) hervor. Kapitel 2 behandelt die arische Geschlechterverfassung.
Kapitel 3 ist überschrieben: The Grecian gens, behandelt aber a) die
Familie vor Solon, b) die gens als Ganzes, c) abhängige Klassen in der
gens, d) Schwächung der gens. — Die Familie erscheint als Eupatriden-
familie; 7£vv9j-at ist die Bezeichnung für die Deszendenten, oixoyaXaxTs?
bezeichnet die vornehme Geburt und wird gebraucht für diejenigen,
welche dieselbe Milch geopfert. Die letztere Erklärung ist ebenso un-
richtig wie die der op7ccüv£; als Klienten (S. 83) der gens; ausführlicher
wird daiüber im folgenden Abschnitte gesprochen werden. Die Auf-
fassung der 7sa)p7ot, YswpLopot, a-^potxoi und oTr)[jLioop7oi als abhängiger
Klassen gegenüber den Eupatriden ist unbegründet. Mit Recht wird
aber hervorgehoben, daß mit dem Wachstume der Macht des Königtums
sich die Lage der uichteupatridischen Stände besserte und mit dem
Sinken des Bauernstandes die Hebung der oy]\Lioop';oi verbunden war.
Nachdem in Kapitel 4 und 5 über die Phratrie und Phj^le gehandelt
ist, worüber der folgende Abschnitt zu vergleichen, beginnt Kapitel 6
40 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
die eigeutliche Verfassungsgeschichte mit der Besprechung des König-
tunis, wobei vor allem die Angaben Homers berücksichtigt erscheinen,
der 'jouXiq und d-jopa sowie des Verfalles der Köuigsherrschaft.
V. Wilamowitz-Moellendorf gibt im II. Bande, Abschnitt 2 — 5
eine Übersicht und behandelt in Exkursen einzelne Fragen genauer.
Abschnitt 2 (S. 34 — 67) behandelt die athenische Politie von Kekrops
bis Selon und 5 (S. 126 — 144) die Könige von Athen. Zu vergleichen
sind noch tür diese Zeit:
53. J. Toepffer, Die Liste der athenischen Könige. Hermes
XXXI (1896) S. 105—123 und
54. U. V. Wilamowitz-Moellendorf, Die lebenslänglichen
Archonten Athens. Hermes XXXIII (1898) S. 119—129.
Wilamowitz stellt die Ansicht auf: Das Königtum besteht seit
Kekrops, seit Ion tritt dazu die Polemarchie, seit Akastos das Ar-
choutenamt, aber die Könige bleiben Erbkönige. Schärfer faßt Toepffer
die Eutwickelung in den Sätzen: Das Königtum wurde in Athen
niemals abgeschafft, abgeschafft wurde nur das Geschlechtskönigtum; ur-
sprünglich waren die Könige lebenslänglich, dann befristet. Mit der
Abschaffung des lebenslänglichen Königtums fand auch eine Änderung
der Sukzessionsordnung statt, indem an die Stelle der Vererbung der
Königswürde die Wahl aus der Gesamtheit der Genneten trat. Da in
der ältesten Zeit Amtsbefristung unbekannt war, ist anzunehmen, daß
auch der Polemarchos lebenslänglich sein konnte, indem dem ßasiXsu?
einmal die kriegsherrlichen Funktionen entzogen wurden. Als der
Archen in das staatliche Eponj^men-Yerzeichnis eingesetzt wurde, war
das Königtum ranglich der Arcliontenwürde untergeordnet und die
Verwandlung der alten Erbmonarchie in die Schattengestalt des Sakral-
königs abgeschlossen. Wilamowitz führt im Hermes den Nachweis, daß
lebenslängliche Archonten existiert haben.
Die Oligarchie vor Drakon (682 — 621 v. Ohr.) behandelt Botsford
im 7. Kapitel. Kichtig ist die Bemerkung, daß der Keim eines ge-
schriebenen Gesetzes schon vor Drakon bestand. Der Aufstand Kylons
wird als oligurchische Reaktion erklärt, daher seine Tyrannis unpopulär
war. Kapitel 8 beschäftigt sich mit der drakontischen Tiaiokratie.
B. meint, Drako habe die Verfassung im wesentlichen nicht geändert,
habe bei der Gesetzgebung unbeschränktes Recht gehabt und daher eine
gewisse Milderung in den Schärfen der früheren Satzungen durchgeführt.
Drakons Aufgabe sei es gewesen, die ey.xXrjaia ins Leben zurückzurufen
und in ihre Souveränität einzusetzen; die Klasseneinteilung habe
lediglich tinauzielle Zwecke geiiabt. Bemerkenswert ist die Vermutung,
die Bezeichnung 7:;v:a-/.oc;toix£0i}j.voi sei erst künstlich für eine besondeie
Bericht üb. d. griech, Staatsaltertüm. f. d. J. 1093(1890)— 1902. (J. Oehler.) 41
Klasse gescbaflfeu worden, während die anderen Bezeichnungen der
ältesten Zeit angehörten. Vgl.
55. *C. Cichorius, Zu den Naraen der attischen Steuerklassen,
Griechische Studien, H. Lipsius dargebracht. Leipzig 1894,
der die herrschende Klasse der i-ttsi; für den eupatridischen Reiteradel,
die Zeugiten für die alten Hopliten der Phalanx in der vorsolonischen
Zeit erklärt.
Über die drakontische Verfassung liegen viele Arbeiten vor.
Vor allem zu nennen ist: Wilaraowitz-Moellendorf I S. 76 f., II 55, dann:
56. *P. Meyer, Des Aristoteles Politik und die 'AaTjvaicuv
-oXiT£ta. — Bonn 1891.
57. G. Busolt, Zur Gesetzgebung Drakons. Philologus L (1891)
S. 393—400.
58. E. Szanto, Zur drakonischen Gesetzgebung. Arch.-epigr.
Mitt. aus üsterr. XV (1892) S. 180—182.
59. M. Fränkel, Zur drakontischen Verfassung. Rhein. Mus.
. XLVII (1892) S. 473-488.
60. L. Ziehen, Die drakontische Gesetzgebung. Rhein. Mu=^.
LIV (1899) S. 321—344.
61. Hof mann, Studien zur drakontischeu Verfassung. Progr.
Straubing 1899.
Wiiamovvitz charakterisiert die Tätigkeit Drakons IS. 83: „Es
ist eine einfache und verständige Ordnung, in der Bürgerschaft erst
einmal die Arbeiter abzusondern, die proletarii, die für den Staat
nichts weiter schatfen als die proles, dann die Wehrfähigen des Fuß-
volkes und der Reiter und daiüber eine oberste Schicht, die einzige iü
ViTahrheit, die mehr einnimmt und besitzt, als für die Führung eines
staudesgemäßen Haushaltes nötig ist. Diese Ordnung setzt eine starke
bäuerliche Bevölkerung voraus, einen von den Bauern nicht eben stark
unterschiedenen ländlichen Adel. Sie setzt eine Landwirtschaft voraus,
die wesentlich auf den Körnerbau gerichtet ist."* Die Klasseneinteilung
erscheint als eine plutokratische. Daß Drakon nicht als ils3iJ.oi)£xrj;
seine Gesetze gegeben, bemerkt Wilamowitz Hermes XXXIII S. 129
ganz richtig. Eine Schwierigkeit liegt in der Angabe der Zensuszahlen :
diese hat Szanto gelöst. Die Lösung des Piätsels liegt in dem den
Censuszahlen beigesetzten Begriffe „Schuldenfreiheit". Die Schatzuugs-
klassen bestanden zwar schon zu Diakons Zeit, aber da ihr Einteilungs-
grund der Ertrag war, so war infolge des Notstandes und der Über-
schuldung der Güter ein an sie geknüpfter Zensus illusorisch. Drakon
42 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J Oehler.)
griff daher zu dem Mittel, das VermÖg-en zum Einteilungserrund für
den Amterzeusus zu machen. Dieses Vermö^^en mußte wenig-stens
zengitisch sein. Nach Busolt ist ouria eXsuftspa ,, hypothekenfreies
Eigentum". Nach diesem war die Amtsfähigkeit abgestuft. Eine
wichtige Rolle spielten die 4 Prytanen des Naukrarienrates: Fränkel
S. 481 meint, die Prytanen hätten in Drakons Zeit Kompetenzen aus-
geübt, die sie zu einer wichtigen, über andere hinausgehobeneu Be-
hörde machten, auch Wilamowitz sagt S. 92: Die Prytanen der
Naukraren hatten eine bedeutende Machtstellung, bezeichnet i^ie als
tribuui, als plebeische Magistrate. Nach Fränkel hatten sie die Ober-
leitung der Finanzen und der Streitmacht, führten den Vorsitz in den
Versammlungen des Volkes und des Rates. — Wälirend Wilamowitz
4 Prytanen, entsprechend den 4 Phylen als jährige Vorsitzende des
Rates annimmt, behauptet Fränkel, wir können nicht erraten, wie stark
an Zahl die Prytanen der Naukraren waren; er setzt sie also außer
Beziehung zu den 4 Phylen, deren Vorstehern er nur sakralen Charakter
zuweist. Die Prytanen wurden aus der Klasse der -£v-axo3io|j.soi[xvot
genommen, Aj'chonten und raixtat mußten wenigstens Ritterzensus haben,
während Strategen und Hipparchen den Zeugiten entnommen wurden.
Die ixxXrjjia setzte sich zusammen aus allen, welche sich aus-
rüsten konnten, und hatte nebst der Wahl der militärischen Beamten
die Entscheidung über die wichtigsten Dinge, über Krieg und Frieden.
Die anderen Beamten wurden durch das Los bestellt. Der Rat, be-
stehend aus 401 Mitgliedern, wurde aus der ganzen grundbesitzenden
Bürgerschaft ausgelost; der Eintritt in den Rat sowie die Teilnahme
an den Sitzungen war obligatorisch: so finden wir schon in der
drakontischen Verfassung das Zweikammersystem: Rat und Volk. Die
Gesetzgebung fiel nach Botsfords Meinung den Thesmotheten unter der
Aufsicht des Areiopags zu; der Areiopag ergänzte sich nach wie vor
aus den abgetretenen Archonten, blieb auch ferner der Wächter der
Gesetze, hatte über die Amtsführung der Beamten zu wachen und
Klage von jedem durch einen Beamten gekränkten Bürger entgegenzu-
nehmen. Über Drakons Tätigkeit sagt Ziehen: Die heutige Forschung
ist sich darüber einig, daß die Tätigkeit Drakons sich im wesentlichen
wie die der römischen Dezemvirn auf die schriftliche Fixierung des
damals geltenden Gewohnheitsrechtes beschränkte; was als Gesetz
kodifiziert wurde, geschah unter Drakons Verantwortlichkeit, wie es
darin zu erkennen ist, daß er der Anschauung vor der unvorsätzlichen
Tötung zum gesetzlichen Siege verhalf. Die drakontische Timokratie
bezeichnet Botsford als die dritte Periode in der Entwickelung der
athenischen Konstitution; sie war eine Änderung des alten gentilizischen
Systems und bildet fortan die Basis der athenischen Verfassung.
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J, Oehler.) 43
"Wenn auch durch die Aufzeichnung des Rechtes, ilurch die Aus-
losung des Rates und der niederen Ämter aus der Bürgerschaft der
Adelsrat auf dem Areiopag eingeschränkt wurde, wurden doch die sozialen
Gegensätze nur verschärft. Diese hatten ihren Grund in dem wirtschaft-
lichen Notstande, der hervorgerufen war durch den Übergang von der
Naturalwirtschaft zur Herrschaft des Geldes. Die herrschende Klasse
stellt die Kapitalisten, die Gläubiger, betreibt Handel und kann durch
billige Sklavenarbeit den freien Handwerker niederhalten; das strenge
Schuldrecht gibt den Schuldner mit Habe und Leib in die Gewalt des
Gläubigers. Gar mancher ursprünglich freie Besitzer mußte sein Grund-
stück dem Gläubiger überlassen und bebaute es als exti^ixopo,. Mit der
Aufhebung dieses sozialen Notstandes befaßt sich das IX. Kapital Bots-
fords: The Solonian revolution. Vgl. über Solon und seine Verfassung:
Wüamowitz-Moellendorf I, 3 S. 39-75; II, 2 S. 59 f.
62. *A. Bauer, Literarische und historische Forschungen zu
Aristoteles 'A&rjvaiwv TroXiieia. I. Die solouische Gesetzgebung.
Gute Bemerkungen finden sich auch in:
63. H. Landwehr, Forschungen zur älteren attischen Geschichte.
Philologus. Suppl V (1884) S. 97-^196. IL Zur solonischen Ver-
fassung S. 131 f.
Die Tätigkeit Solons hat eine doppelte Bedeutung: eine soziale
und eine politische. Mit Recht legt Bolsford diese nach 3 Punkten
klar: 1. die j£>aa-/8c'.a, welche das Einzelinteresse dem Gesamtwohle
opferte: 2. die Reorganisation des Staates; 3. Gesetze verschiedenen
Inhaltes, durch die der strenge Gentilverband gelockert wurde, z. B.
die Erlaubnis, ein Testament zu machen. Solons Verfassung begründete
die Demokratie: durch ihn erhielten alle Athener Anteil an der Staats-
verwaltung. Die 3 Klassen erhielten wieder ihre vordrakontische Be-
deutung nach dem Einkommen; die Beamten wurden auf Grund einer
durch Wahl festgestellten Vorschlagsliste durch das Los bestellt. —
Eine richtige Würdigung der Tätigkeit Solons enthält
64. J. Toepffer, Über die Anfänge der athenischen Demokratie,
Beiträge S. 305-321,
der ausführt, es habe nach der Vertreibung der Könige eine rück-
sichtslose Alleinherrschaft der Geschlechter bestanden, die durch die
Tyrauuis im Laufe des VII. Jahrhunderts wohl öfter bedroht wurde.
Die solonische Gesetzgebung hat in alle Verhältnisse des bürgerlichen
Lebens tief eingegriffen und auf vielen Gebieten eine vollständige Um-
wälzung bewirkt. Mit den privatrechtlichen Verhältnissen vor Solon
beschäftigt sich
44 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)- 1902. ( J. Oehler).
65. *M. Wilbrandt, De rerum privatarum ante Solonis tempus
in Attica usu. Diss. Rostock 1895.
Eine populäre Darstellung der solonischen Verfassung und Vev-
gleichung mit der Verfassung des Servius Tullius gibt:
66. P. C. Anfossi, Le legislaziooi di Solone e Servio Tuilio.
Studio storico comparativo. Toriao 1899,
So hatte Solon durch die Beseititrung der Hypothekensteine, d. h.
durch die Schuldentilgung den verschuldeten und dadurch auch in seinen
politischen Rechten beschränkten bäuerlichen Mittelstand befreit; doch
fand die Demokratie nur Anklang bei der Küstenbevölkerung.
Die Tyrannis des Peisistratos und seiner Söhne ist von Botsford be-
handelt im 10. Kapitel und von Wilamowitz-Moellendorf II, 3 S. 68 — 76.
Peisistratos hatte Friede und Wohlstand, Ordnung und Fortschritt auf
sein Panier geschrieben; seine Zeit wird mit Recht als die goldene
Athens bezeichnet, in der für die Verschönerung der Stadt, für Re-
ligion, Kunst und Literatur sehr viel geschah und Maßregeln von
wohltätiger Wirkung für das gemeine Volk getroffen wurden. Über
die Familie des Peisistratos ist zu vergleichen
67. J. Toepffer, Die Söhne des Peisistratos. Hermes XXIX
(1894) S. 463—467.
Als fünfte Periode in der Geschichte der athenischen Verfassun.:
bebandelt Botsford die kleisthenische Verfassung und ihre Entwickeluna
bis zur Schlacht bei Salamis. In dieser Zeit erhielt die solonische
Verfassung Leben und bekam einen politischen Organismus, verwandelte
sich der Stammstaat in einen politischen. Der geutilizische Charakter
des Bürger rechtes blieb beibehalten, doch durch die Neubildung du*
Phylen wurde die Bildung einer lokalen Faktion unmöglich gemach^
Beachtenswert ist die Bemerkung, jede Phyle habe eine Trittye in oder
nahe der Stadt erhalten, um in der Ekklesia vertreten zu sein; denn
die entfernter Wohnenden konnten nur mit gewissen Opfern an Zeit
der Ekklesia beiwohnen. Über die kleisthenische Verfassung sind ferner
zu vergleichen:
Wilamowitz-Moellendorf II, 3 S. 76/7; 6 S. 145—168: Trittyen
und Demen.
68. H. Francotte, L'organisatiou de la cit6 athenieiine et In
reforme de Clistheues. Paris (Brüssel) 1893.
Hammond (s. Nr. 11) S. 72 — 76: Moderate populär governmeur
under the Clisthenean Constitution 508 — 480 B C. —
Durch Kleisthenes wurden die sefjhaften Bewohner der ländlichen
Demen Bürger von Athen. Kleisthenes, der als Aristokrat der Vater
Beriebt üb. d. griccb. Staatsaltertüm. f. d. J. 1.^93(1890) - 1902. (J. Gebier.) 45
der Demokratie wurde, beabsichtigte, die Stadt-, Land- uud Küsten-
provinz an Stenerkapital und Bevölkerung gleich zu machen; jede
Provinz zerfiel in 10 Kreise, xptTtus? genannt. Die Einzelgemeinde als
Selbstvervvaltungsköiper ist das eine und größte, das Kleisthenes ge*
schaffen hat. Dadurch , daß die Ausübung der politischen Rechte au
die Zugehörigkeit zu einem der Demen geknüpft ward, wurde jeder
Unterschied zwischen adelig und nicht adelig beseitigt. Um 501/500
war die Konsolidierung der Demokratie zum Abschlüsse gelangt und
in diesem Jahre wurde die Formel des Ratseides festgestellt. Seit 501
werden die Strategen nach Phylen bestellt, je einer aus einer Phyle.
Wir wissen nicht, seit wann es Strategen gibt; nicht unwahrscheinlich
ist es, daß, wie G. Busolt, Philologus L (1891) S. 398 f. vermutet, die
Aristokratie nach dem Staatsstreichversuche Kodons die militärische
Amtsgewalt des Polemarchos beschränkte, indem ihm die Kommandeure
der damaligen 4 Regimenter mit erhöhter Kompetenz an die Seite ge-
stellt wurden und für die Strategie ein besonderer Zensus festgesetzt
wurde, um diese Stellen den reichsten Familien zu wahren. Als Fort-
se*zer des kleisthenischen Werkes können wir mit Wilamowitz den
Themistokles ansehen. Mit Hilfe des Ostrakismos wurden die einfluß-
reichen alten Adelshäuser beseitigt; die "Wahl der Kandidaten für die
Kandidatenliste wurde lieu Gemeinden überwiesen.
Als sechste Periode der Verfassuugsentwickelung behandelt Bots-
ford im 12, Kapitel die Zeit von der Schlacht bei Salamis bis zum
Beginne des pelopounesischen Krieges. Diese Periode beginnt mit der
Wiedereinsetzung des Areiopag in seine frühere Stellung des Ansehens
und Einflusses im Staate gelegentlich der Perserkriege. Zu vergleichen
für diese Periode ist: Wilamowitz II 8 S. 186—200: Der Areiopag
vor Ephialtes und 3 S. 91 f. Mit Recht sagt Wilamowitz. die Vor-
herrschaft des Areiopags war das Hirn Athens; doch mußte er an Be-
deutung verlieren, seitdem keine bedeutenden Männer mehr in ihm
waren. Charakteristisch für diese Periode ist der Umstand, daß seit
der Schlacht bei Salamis die Theten an Bedeutung gewinnen. Daher
konstatiert auch Hammond S. 77/8: The changes between 480 and
432 B. C. den raschen Fortschritt der Demokratie. Plutarch, Aristid.
c 23 berichtet, auf den Autrag des Aristeides hin seien nach der Schlacht
bei Plataiai alle Bürger zum Archontate zugelassen worden. M. Frauke!,
Rhein. Mus. XLVII (1892) S. 488 Anra. meint: das sei Übertreibung;
die "Wahrheit ist, daß damals den Rittern das Amt geöffnet wurde. —
Dagegen behauptet
69. E. FabriciuB, Das Wahlgesetz des Aristeides. Rhein. Mus.
LI (1896) S. 456-462:
4(3 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler. ;
Seit dem Wahlgesetz von 487/6 wurden nach Aristoteles 'A8. tloa.
c. 22 die Archonten nicht mehr einfach gewählt, sondern aus zuvor
gewählten Leuten ausgelost. Im Jahre 478 soll Aristeides den Antrag
gestellt haben, fortan die Archonten aus allen Athenern zu wählen;
diese Nachricht des Plutarch ist unrichtig. Es war zu jener Zeit wohl
schwer, die erforderlichen 500 Männer zu finden, da^ die Übernahme
des Archoutats eine Schädigung im Gewerbsleben zur Folge hatte.
Man schlug den Ausweg ein, daß für diesmal aus allen Atlienern die
Kandidaten gewählt werden sollten.
Vom Jahre 457 an waren auch die Zeugitenwahl berechtigt. Im Jahre
460 wurde auf Antrag des Ephialtes die in der ganzen Politik aus-
schlaggebende Stellung des Areiopags gebrochen. Die Eeihe von Ob-
liegenheiten, die bis dahin der Areiopag gehabt, wurden anderen Organen
des Staates zugewiesen. — Der Rat der 500, die Volksversammlung
und die Gerichte haben die Amtspflichten übernommen, die EphialiCb
dem Areiopag entzog, so daß dieser fast nur noch ein Blutgerichtshoi
war. So wurde der letzte Unterschied zwischen Eupatriden und
Plebeiern getilgt. Als Schutzmittel gegen eine etwaige Anarchie der
e/xX7]aia wurden die ipcn^y] Trapavoixwv und die vou-oöexai eingesetzt;
B. Keil, Anonym. Arg. S. 173 behauptet mit ßecht, daß 460 die
vojjLOfpuXaxe; bestellt wurden mit der Bestimmung, darauf zu sehen, daß
die Beamten die bestehenden Gesetze in Anwendung bringen. Diese
Behörde wurde dann 404/3 von den Dreißig aufgehoben, da sie mii
den Absichten der Gewalthaber unvereinbar war.
Um 460 V. Chr. war die Demokratie in Athen vollendet. Der
Führer derselben war ein Menschenalter hindurch Perikles , von dem
Botsford mit Recht sagt, er habe ein absolutes Ansehen gehabt, mehr
als Könige und T3Tannen. In welcher Stellung hat Perikles seine all-
umfassende Herrschaft ausgeübt.^ Mit der Beantwortung dieser Frage
befaßt sich:
80. H. Müller-Strübing, Studien zur Verfassung von Athen
während des peloponnesischen Krieges. I. Über die Civilbeamten.
Neue Jahrb. f. klass. Philol. .147 (1893) S. 513—554.
Der Verf. behauptet, Perikles sei nicht als Stratege an der Spitze
des Staates gestanden, sondern als £-i|xeX7)Trj; oder Taixiac t% xotvr,.:
irpojooou, als Verwalter der öffentlichen Einkünfte. Trotz des Schweigens
der Inschriften hält er an der Ansicht fest, es habe bereits im V. Jahr-
hunderte einen Beamten gegeben , der die Stelle eines Oberaufsehers
über das ganze Finanzwesen einnahm, da ohne solch einheitliche
Spitze eine athenische Finanzverwaltung undenkbar sei. S. 534 heii'*:
es: „Der rf-oa-atr,? war ein staatsmännisch gebildeter, besonders fü;-
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm f. d. J. I.s93(l890) — ]9ÜL^ (J. Oohler.) 47
liuaDzielle Fragen kompetenter Fachmann, den das Volk, dessen Ver-
trauen er sich erworben hatte, beim Beginne jeder 4jährigen Finanzperiode
durch Wahl aus der ßouXTQ als sachkundigeu Berater bestellte. Er hatte
keine bestimmte, abgegrenzte Amtstätigkeit; denn alles, was der Rat
beschließt, unterliegt seiner Begutachtung und umgekehrt, alles was er
oltiziell tut und spricht, tut und spricht er im Auftrage des Kates.
Auf ihn paßt, was über den Beamten des IV. Jahrhunderts, der den
Titel führt: 6 em ttq öioixtjüsi , gesagt wird." Er vergleicht ihn mit
dem unter dem Titel „Großpensionär von Holland'' bekannten nieder-
ländischen Staatsbeamten. Da auch über die Kompetenz des Rates und
des avTtYpafps'j^ gehandelt ist, wird die Arbeit Müller-Strübings noch
in folgendem zu betrachten sein.
In die Zeit des Perikles fällt die Begründung des attischen
Eeicbes, das Athen seit 445 beherrschte. Die Reichskasse wurde nach
dem Anonymus Argeutinensis 459 nach Athen verlegt, Athena die
Schntzgöttin des Reiches. Mit der erweiterten Geschäftstätigkeit des
Rates und der Gerichte war die Einführung der Diäten notwendig.
Es mögen gleich die auf die Besoldungen bezüglichen Arbeiten ange-
führt werden:
Wilamowitz-Moellendorf, II, 10 S. 212-216: Diobelie.
71. F. Lenormant, Diobolium in Dareraberg et Saglio III 224.
72. *E. Ciccotti, Le retribuzione delle funzioni publiche civili
neir antica Atene e le sue consequenze. 30 S. Estratto dei
Rendiconti del R. Istituto Lombarde di scienze e lettere. ser. II.
vol. XXX. 1897.
Wilamowitz betrachtet die Diobelie mit Recht als Bürgersoid,
als Staatspension ; der Staat ist eine Aktiengesellschaft und verteilt die
Dividenden an die Aktionäre. Wir sehen wohl in allen Besoldungen
das kommunistische Streben der Bürger, Anteil am Gemeingute und a;i
dessen Ertrage zu erhalten; aber auch eine Entschädigung für die im
Interesse des Staates verwendete Zeit war gerecht, denn erst dadurch
wurde auch den Unbemittelten die Teilnahme an Rat, Gericht und
Volksversammlung ermöglicht.
Ciccotti kommt zu folgenden Ergebnissen : 1. Der Richtersold ist
durch Perikles eingeführt und hat 3 Oboleu niemals überschritten.
2. Der Versammluugssold ist erst im IV. Jahrhundert eingeführt
worden und allmählich von 1 Obolos auf 1 bis 1 V2 Drachmen gestiegen.
3. Für den Anfang der Schau- und Festgelder ist die gegen Ende des
peleponnesischen Krieges durch Kleophon eiugeführte o-wßeXta anzu-
sehen; diese letztere Behauptung ist mit Cauer abzuweisen. Was die
politische , soziale und ethische Wirkung der staatlichen Besoldungen
48 Bericht üb. d griecb. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1 890) -1902. (J. Oehler.)
anbelangt, bemerkt Ciccotti mit Recht: Die athenische Demokratie
stand und fiel mit der Remuneration fiir die Ausübung politischer
Fanktiouen, daher die Besoldung nicht unpassend als der Kitt der
Demokratie bezeichnet werden kann. Aber die Steigerung der Be-
soldungen, die als Hauptmittel zur Bereicherung angesehen wurden,
ging weit über das durch das Wesen der Verfassung gebotene Maß
hinaus, daher ist die Verurteilung derselben durch die vornehmsten
Denker erklärlich. Welchen Umfang die Besoldungen annahmen , be-
zeichnet Botsford, indem er sagt, es lebten etwa 20 OuO Bürger auf
Kosten der Staatskasse. Dagegen sorgte Perikles für die Reinheit der
Bürgerschaft und somit für die Gesundheit des Staates dadurch, daß
auf seinen Antrag im Jahr 451 v. Chr. neuerdings die beiderseits bürger-
liche Abstammung zur Bedingung für das Bürgerrecht gemacht wurde.
Die Verfassung während des peloponnesischen Krieges behandelt
Hammond S. 78 — 86: Democracy during the Pelopouuesian War
432—404 B. C. Er bespricht die IxxXrjsi'a und ßouXT] der 500, die
Exekutivbeamten, die Gerichtsbarkeit und gibt erläuternde Beispiele für
die Wandlung der Verfassung.
Gegenstand mehrfacher Erörterungen ist die Oligarchie des Jahres
411; es sind zu nennen: Hammond: Oligarchy at Athens. 411 B. C.
and 404 B. C. S. 88— 97; Whibley (s. Nr. 12), App. C: The Oligarchie
revolntion in Athens: the provisional and the projected Constitution
p. 192—207. Wilamowitz-Moellendorf II, 4 bes. S. 113 f.; U:
■:i}i%aTa Trotpsyojxsvot. A.Bauer, Literarische und historische Forschungen 3.
73. J. Rohrmoser, Über die Einsetzung des Rates der Vier-
hundert nach Aristoteles -oX. 'A&/)v. Wiener Studien XIV (1892)
S. 323-332.
74. U. Köhler, Die athenische Oligarchie des Jahres 411
V. Chr. Sitzungsber. Berl. Akad. 1895, S. 451—468.
74a. Derselbe, Der thukydideische Bericht über die oligarchische
Umwälzung in Athen im Jahre 411. Sitzungsber. Berl. Akad. 1900,
S. 803-817.
75. L. Ballet, Les constitutious oligarchiques d'Athenes sous
la revolntion de 412—411. Le Musee Beige. Revue de Philol.
class. II (1898) S. 1—31.
Dazu sind noch zu erwähnen die dem Referenten nicht zusäng-
lich gewesenen Abhandlungen: H. Micheli, La revolntion oligarchiquo
des Quatre-cents k Athenes et ses causes. Geneve 1893; Dufour, La
Constitution d'Athenes et l'oeuvre d'Aristote, Paris 1895; E. Meyer,
Forschungen zur alten Geschichte II S. 406—437. Zu unterscheiden
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. ]S!)3(1890)-U)02. (J. Oehler.) 40
sind die provisorische Verfassung, die allein geschichtliche Bedeutnns
hat, und der definitive Verfassungsentwurf, der in Geltung' treten sollte;
sobald die vor Sanios ankernde Flottenniannschaft ihre Zustinununs: £>-e-
^eben hätte. Der Träg-er der Gewalt war der Rat der 400. Wahr-
scheinlich sprengten die Olig-archen den alten Rat der 500 früher, als die
formelle "Wahl der 400 in den Pbylcn vollzogen war. Nach einem
Provisorium von 8 Tagen übernahmen die 400 die Geschäfte; auch
dieser Rat sollte nur provisorisch sein. Der Verfassungsentwurf selbst
wollte das Zweikammersystem (Rat und Volk) beseitigen; als Grund-
lage der Verfassung stellt sich die alternierende Ausübung der
Souveränitätsrechte durch 5000 Bürger von einem bestimmten Lebens-
alter an in einem vierjährigen Cyklus dai*. Mit Recht weist Köhler
hin auf eine analogeStaatsordnuug inBoiotien znrZeit des peloponnesischen
Krieges: diese Verfassung mochte für die athenischen Gesetzgeber vor-
bildlich sein. Aus dem Rate sollten auch die Beamten genommen
werden: der Rat wäre etwa 1000 Köpfe stark gewesen, die Zahl der
dem Rate entnommenen Oberbeamten hätte etwa 100 betragen. Ballet
gibt die Darstellung klar und übersichtlich. Das 1. Kapitel handelt
über die cu-ffpacpsT?. Es sollten zu den 10 -poJ'jouXoi. die je einer aus
jeder Phyle gewählt waren, 20 Bürger hinzutreten; diese Kommission
der 30 au-f^pacpetr sollte dem Volke die nach den Umständen beste
Verfassung unter Aufhebung der Soldzahlungen, außer für den Krieg,
sowie mit Beschränkung des vollen Bürgerrechtes auf 5000 Bürger vor-
schlagen. Im 2. Kapitel wird die Verfassung erörtert. 100 y.aTaÄoYeic
stellten die Liste der 5000 zusammen: die 5000 wieder wählten eine
Kommission von 100 Männern, welche den Entwurf der Verfassung
ausarbeiteten; doch zeigt dieser ganze Entwurf so sehr einen Geist,
ist so wohl durchdacht, daß die Annahme naheliegt, es habe dieser
Entwurf bei den Leitern der Bewegung von Anfang an festgestanden.
Nur die provisorische Verfassung, in der der Rat mit diktatorischer
Gewalt tätig war, trat ins Leben, dauerte aber nur 4 Monate. Der
definitive Verfassungsentwurf war, wie Wilamowitz mit Recht sagt,
ein totgeborenes Kind, da ein solcher Staat, wie ihn die Oligarchen
wollten, vielleicht in dem ländlichen Attika existieren konnte, aber
mit dem Reiche unvereinbar war. Köhler bemerkt: Solange Athen
die Seeherrschaft besaß, war ihm mit einer solchen Verfassung
nicht gedient; aber die Seeherrschaft war damals bereits gebrochen,
den Oligarchen war an der eigenen Macht und Herrschaft viel mehr
gelegen als an der Wahrung der auswärtigen Machtstellung des
Staates.
Doch eine solche oligarchische Herrschaft war gegen den Geist
Athens, sie wurde gestürzt, trotzdem die Oligarchen sich auf die ::aTptoc
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 4
50 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)-1902. (J. Oehler.)
iroXiTeia beriefen. Auch als 8 Jahre später die 30, die eie:entlich auch
eine Verfassung ausarbeiten sollten, sich der Tyrannis bemächtigt lintten,
wurde dennoch die Herrschaft der Masse, des 8^\i.oi, wiederhergestellt.
Während man im Jahre 411 die politischen Rechte auf die orrXa
Traps/ojievot beschränkt hatte, setzte man im Jahre 404 die Steuer an
die Stelle der Bewaffnung : es sind die Ti[jnr^ixa-:a rapeyoiJtsvot.
Die Zeit nach dem peloponnesischen Kriege bis zum Jahre
338 V. Chr. finden wir kurz besprochen bei Hammond S. 86 — 88:
Democracy after the Peloponnesian War 404—338 B. C, der mit den.
Worten schließt: „Die athenische Demokratie war die beste von den
griechischen Demokratien, die athenische Oligarchie die schlimmste
unter den griechischen Oligarchien." Botsford sagt S. 233: „Die Macht
Athens begann mit Kleisthenes; unter den 400 und unter den 30 war
Athen schwach, mit der Erneuerung der Demokratie wurde auch, soweit
dies die Erschöpfung durch die vielen Kriege erlaubte, seine Stärke
erneuert."
Ich komme zur Besprechung der Verfassung selbst und betrachte
zunächst die Bürgerschaft und ihre Gliederung, wobei die auf die ysvtj,
^P7£u)VE? und öiaaüjTai bezüglichen Fragen erledigt werden sollen.
Zu erwähnen ist vor allem:
76. *V. V. Schoeffer, Bürgerschaft und Volksversammlung in
Athen. I. Die Grundlagen des Staates und die politische Gliederung
der Bürgerschaft in Athen. Moskau 1891 (russisch).
Das 2. Kapitel enthält eine Geschichte der Phj^len. Die ur-
sprünglichen 4 Phylen waren weder Berufskasten noch eine ursprüng-
liche Vierteilung Attikas, sondern sie sind allgemein ionisch. Auch
Wilamowitz II S. 138 f. hält die 4 Phylen für ionisch, erkennt aber,
daß sie künstlich gebildet seien, berechnet für die Verwaltung, ebenso
wie ihre Unterabteilung, die Phratrien oder Trittyen. Szanto Phylen
S. 43 f. hat gezeigt daß die 4 sogenannten ionischen Phylen eigentlich
attisch sind, genannt nach Gottheiten und erst geschaffen, als der
Einheitsstaat bereits gebildet war. Diese Phylen waren annähernd gleich
groß, jede war in 3 Teile geteilt. Danach ist Botsford S. 102 — 110
zn berichtigen. Über die kleisthenischen Phylen wurde bereits oben
gesprochen. Eine dankenswerte Übersicht über die Phylen bietet eine
Tabelle: danach gab es 10 Phylen von 508—306 v. Chr.; 12 Phylen:
306—227; 13 Phylen: 226—201; 11 Phylen um 200; 12 Phylen
200 V. Chr.— 129 n. Chr.; 13 Phylen von 129 n. Chr. an, noch nach-
zuweisen 262 n. Chr. Über die nachkleisthenischen Phylen liegen
mehrere Arbeiten vor:
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 51
77. J. E. Kirchner, Die Phylen Antigonis und Demetrias.
Ehein. Miis. XLVII (1892) S. 550—557.
78. '^S. Shebel6w, Zur Geschichte der Bildung der nach-
kleisthenischen Phylen. Ixs^avoc, Sammlung von Aufsätzen, Th. Sokolöw
dargebracht. St. Petersburg 1895, S. 11—48 (russisch).
79. *F. 0. Bat es, The five post-kleistheneau tribes. (Cornell
studies of classical philology no. VlII.) Boston 1898.
Kirchner geht von den Ergebnissen, die Beloch und Philios ge-
wonnen haben, aus: Von 307/6 bis 221 bestanden 12 Phylen in der
Reihenfolge, daß Antigonis und Demetrias den 1. und 2., die 10 alten
Phylen den 3. bis 12. Platz in der offiziellen Reihenfolge innehatten.
Zu diesen 12 trat zwischen 229 und 221 die Ptolemais hinzu, daß es
also bis 200 13 Phylen gab, unter denen die Ptolemais die 7. Stelle
einnahm. Im Jahre 200 wurden Antigonis und Demetiias abgeschaffr,
dagegen die Attalis neu errichtet, diese erhielt den 12. Platz. Für die
Antigonis ermittelt Kirchner 10, für die Demetrias 9 Deraen.
Shebelew meint, Antigonis und Demetrias seien 307/6 mit je
10 Demen gebildet, die Ptolemais nicht vor 225 mit 24 Demen. Im
Sommer 200 wurden die Antigonis und Demetiias aufgelöst, dafür die
Attalis mit 12 Demen eingerichtet. Die Bildung der Hadrianis, welche
die 7. Stelle einnahm, fällt zwischen 129 und 131 n. Chr.
Bates weist nach, daß die Antigonis und Demetrias bereits 308/7,
die Ptolemais 229 v. Chr., die Hadrianis 125 n. Chr. (im Anschlüsse
an den ersten Besuch Hadrians) errichtet wurde. Die Anordnung der
Ptolemais und später der Hadrianis an der 7. Stelle der offiziellen Reihen-
folge wird darauf zurückgeführt, daß der Schaltmonat den 7. Platz ira
athenischen Kalender innehatte. Der größte Teil der Untersuchung
befaßt sich mit den Demen, welche den neu errichteten Phylen zuge-
wiesen wurden. Die Antigonis hatte 9 Demen, die von den 5 ersten
Phylen abgetrennt wurden , je zwei aus einer Phyle außer der Aka-
mantis, welche nur einen Demos abgeben mußte. Die Demetrias erhielt
7 Demen aus den 4 letzten Phylen, während die Aiantis ungeschmälert
blieb. Bei der Errichtung der Ptolemais wurden ihr 24 Demen aus
den 10 alten Phylen zugewiesen; die Attalis umfaßte 12 Demen, 11 aus
den 10 alten Phylen, 1 Demos wurde neu gebildet. Bei der Errichtung
der Hadrianis wurde von den bestehenden 12 Phylen je 1 Demos ab-
gezweigt, 1 Demos neu gebildet.
Was die Phratrien anbelangt, erinnert Botsford an die 12 Namen
der Städte in Attika, die uns Philochoros nennt, durch deren Synoikismos
Athen gebildet wurde. Die Zwölfzahl erklärt Szanto Phylen S. 43
aus der amphiktyonischen Besied elung Attikas und der Synoikismos
52 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. ] 893(1S90)- 1902. (J. Oehler.)
erfolgte durch die Verbindunsr der bis dahin selbständigen, aber in der
Form einer Amphiktyonie vereinigten Städte. Als der 3. Teil der
Phyle sind die Phratrien die vorkleisthenischen alten Trittyen. Diese
alten Phratrien hatten keinen lokalen, sondern einen religiösen Cha-
rakter. Ob Kleisthenes für diejenigen, welche nicht Glieder einer gens
waren, neue Phratrien eingerichtet, wie Botsford S. 194 annimmt, läßt
sich nicht sicher behaupten.
Als Unterabteilung der Phratrie erscheinen in der ältesten Zeit
die Y^vY). Diese sowie die Phratrien waren ursprünglich wohl den
Nicht- Eupatriden verschlossen. Wenn auch durch Kleisthenes au die
Stelle des Gescblechterstaates die Geraeindeordnung getreten war, be-
standen doch die früheren Verbände der -/svy) und rppaTpiai fort, wurden
aber auch den Nicht- Eupatriden zugänglich, da das Bürgerrecht immer
ein tfentilizisches blieb. Als staatsrechtliche Bezeichnungen erscheinen
auch op7£aiv£s und fltasw-rai.
Über die Phratrien handelt auch
79a. A. Körte, Das Mitgliederverzeichnis einer attischen Phratrie.
Athen. Mitt. XXVII (1902) S. 582-589.
Er behauptet, Athen habe nie mehr als 12 Phratrien gehabt;
doch verzichteten wegen der hohen Aufnahmekosten immer mehr Athener
auf die Aufnahme in die Phratie, so daß faktisch ein sehr groHer
Bruchteil der Bürgerschaft ohne Bruderschaft lebte, woraus sich die
geringe Mitgliederzahl erklärt.
Über die Bedeutung der attischen Geschlechter handeln Whibley,
Appendix B: The Athenian 7£vy] and their importance in the ear]}' Con-
stitution S. 95-104; J. Toepffer, Eu-arpi'Sai. Hermes XXJI (1887)
S. 479— 483 -= Beitr. 113—117, und besonders
80. M. Wilbrandt, Die politische und soziale Bedeutung der
attischen Geschlechter vor Solon. Leipzig 1899 (Philologus, Suppl. VII).
Toepffer macht darauf aufmerksam, daß Eurarpiooti nicht bloß den
ganzen Stand, sondern eine engere Körperschaft innerhalb dieses Standes,
also ein Geschlecht bezeichnet. AVhibley gibt eine gute Übersicht über die
Bedeutung der Mitgliedschaft eines -'evoc, welche die notwendige Be-
dingung für das Bürgerrecht war. Beachtenswert ist sein Vorschlag
S. 102, Aristoteles \\%. tzoX. c. 21 statt des überlieferten Traxpoftev zu
schreiben: „TrarpaSev, bey bis clan name." "Wilbrandt stellt folgende
Sätze auf: 1. Schon vor Drakon gehörte die gesamte Plebs den Ge-
schlechtern an, es deckten sich Geschlechtsaugehörigkeit und Bürger-
recht. 2, Nur die Landbesitzer bildeten die Bürgerschaft. 3. Der
Privatbesitz an Grund und Boden war bis auf Solon aufs engste an
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1 »93(1890)— 1902. (J. Oehler.) 53
die Geschlechter geknüpft. A. Mommseu, Feste der Stadt Athen, be-
merkt S. 271: „Was die Alten als ^evt) überlieferten, ist bald eine Be-
rufsgenossenschaft (z. B. die Keryken und Eumolpiden) , ein bloß
scheinbares, künstliches -fsvo?, das verschiedene Familien einschließt,
bald eine Familie, die Teil eines künstlichen 7evoc gewesen sein kann."
Vor allem kommen zur Erörterung die op-fsüivsc und ftiaaüJTat,
ihre Stellung zum -.svoc und ihre Bedeutung sowie ihr Verhältnis zu-
einander. In erster Linie kommt in Betracht das grundlegende Werk
von J. Toepffer, Attische Genealogie (1889), wo es S. 10 heißt: „Es
ist unter op-.'eiöviC die religiöse Körperschaft zu verstehen, die sich aus-
schließlich aus Mitgliedern der alten Geschlechter zusammensetzte" und
S. 14 Anm.: „Wenn die öiajöJTai nur eine Fraktion der cppaxeps? aus-
machten, so lag es nahe, anzunehmen, daß die diaaoi sich im Gegen-
satze zu den Orgeonenverbänden ursprünglich aus solchen Mitgliedern
zusammensetzten, die keinem der staatlich anerkannten Geschlechts-
verbände angehörten." Doch Rhein. Mus. XLV (1890) S. 372 f. schließt
sich Toepffer der Ansicht Schoells an, die dieser „Berichte der bayr.
Akad." 1889, II S. 1 f ausgesprochen hat: „Wir erkennen in den diajo-.
die quasi-gentilizischen Verbände solcher Bürger, welche außerhalb der
Gentilität stehen. Der altursprüngliche und regelmäßige Ausdruck für
diese quasi-gcntilizischen Kultgenossen ist op-^säivE;. Von diesen sind
die OtaaiÜTai weder der Bedeutung noch der Sache nach verschieden."
Auch Lipsius „Die Phratrie der Demotioniden" Leipziger Studien XVI
S. 159 — 171 meint, von den öiaacÜTat seien nicht verschieden die dp-ßZ^z^,
die neben den 6iJ.o-;aXaxT£; oder -/sw^xai als gleichberechtigte Mitglieder
der Phratrie erscheinen. Tarbell, American journ. of arch. V (1890)
S. 135 f. setzt Orgeonen und Thiasoten einander gleich, während Paton,
Amer. journ. of arch. VI (1891) S. 314 in den Orgeonen nur den
Kreis der unmittelbaren Verwandten sehen will. Die Gleichheit der
Orgeonen und Thiasoten nehmen auch an Gilbert, Handbuch I- S. 164 f.;
Busolt, Griech. Altert. (Müller Handb. IV- 1) S. 207; ders. Gr. Gesch. IP
S. 289; Lipsius, Schoemann I^ S. 387, Anm. 1. Thumser, Hermann
Antiq. I^ S. 313 f. dagegen sieht in den dp^süJvec die neu hinzuge-
kommenen eleusinischen Elemente; die Gründung der öt'a^oi als Unter-
abteilung der Phratrien sei wohl auf Kleisthenes zurückzuführen.
Francotte, L'organisation de la cit6 athenienne ist der Ansicht, die
7£vr] hätten lange Zeit nur die Altbürger, die Adeligen enthalten, welche
als Genneten oder Homogalakten bezeichnet werden; neben ihnen seien
dann die Nichtadeligen als Orgeonen oder Thiasoten in die Phratrien
eingetreten. Auch Whibley S. 99 sieht in den op-j'söivs; nichteupatri-
dische Elemente, welche auf Grund gemeinsamen Gottesdienstes^zum
Geschlechte zugelassen waren. Botsford S. 83 erklärt opfscöve; als
54 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. ( J. Oehler.)
Klienten der Geschlechter und meint S. 161, die nichtadeligen Glieder
der Gentes waren Orgeones, die den Phratrien zugewiesen wurden; sie
mochten als plebeische Geschlechter angesehen worden sein. Beauchet,
Histoire du droit prive de la rep. Athen. IV S. 359 erklärt, die Orpreones
seien eine ähnliche Organisation wie die yevy), umfaßten aber die Neubürger
sowie die diasot, denen die alten -/evr^ verschlossen waren. Wilamowitz-
Moellendorf, Arist. u. Athen II S. 269 f.: „Die Phratrie der Demotio-
niden" bezeichnet es als Willkür, die Thiasoten mit den Orgeones, die
Dekeleer mit den Genneten gleichzusetzen. Rechtlich hatte schon zu
Drakons Zeit jeder Athener eine Phratrie: es waren nur die Plebeier
als Orgeonen den Geschlechtern beigeordnet. Die Thiasoten konnten
als neuer Name auch ältere ^cw^tai und opYeuive; zusammenfassen.
Den von Wilamowitz ausgesprochenen Gedanken hat Wilbrandt weiter
ausgeführt. Die Plebeier haben Geschlechter für sich gebildet, in jeder
Phratrie waren Eupatridengeschlechter mit gentes minores verbunden.
Die Orgeonen waren Mitglieder der plebeischen Kultverbände: die alten
Kultverbände hätten sich in dtaacÜTai aufgelöst. Die Neubürger haben
seit Kleisthenes den Geschlechtern nachgebildete Verbände, in denen
dem Zeus Herkeios und Apollon Patroos geopfert wurde. Die fJLajoi
scheinen die Geschlechter verdrängt zu haben, so daß die Phratrien
nur noch ötasot als Unterabteilungen hatten.
Wie über die offiziellen, staatlichen opYsöive; und ^lazCi^Tai, über
ihre Bedeutung, ihr Verhältnis zueinander herrscht auch über die mit
den gleichen Namen bezeichneten Privatvereine die Ansicht, es herrsche
kein wesentlicher Unterschied zwischen den opYcüivsc und Oiajoixat; vgl.
zuletzt A. Wilhelm, Jahreshefte d österr. arch. Inst. V (1902) S. 127. —
Trotz dieser Gleichsetzung hat man manches auffällig gefunden:
C. Wachsmuth II S. 163 findet es auffällig, daß die Dionysiasten, die
sich als op';zw\zi bezeichnen, vornehme Bürger sind; Clerc: Bull. hell.
VII (1883) S. 73 hebt hervor, daß der Antragsteller der Dionysiasten
ein Bürger sei, bei den Qiaaoi v.erde er nicht als solcher bezeichnet.
Auf eines möchte ich aufmerksam machen: waren beide Bezeichnungen
wirklich gleichbedeutend und herrschte kein wesentlicher Unterschied,
dann ist es nicht verständlich, weshalb man Jahrhunderte hindurch beide
Bezeichnungen beibehielt. Foucart ,,Les assoc. rel." S. 86 sieht in den
Orgeonen nur Verehrer ausländischer Gottheiten und ihm folgt Borguet:
Bull. hell. XVIII (1894) S. 492; Schäfer: Jahrb. f. kl. Philol. 121, S. 423
sah in ihnen nur die Bezeichnung für die Verehrer der Magna llater. Diese
Ansichten sind widerlegt, geben aber einen Fingerzeig, daß die verehrte
Gottheit mit der Art des Vereines in Beziehung stehe. Obwohl A. Mommseu,
Feste der Stadt Athen S. 489/90 behauptet, daß zwischen Orgeonen
und Thiasoten kein wesentlicher Unterschied war, macht er S. 165 ge-
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)-1902. (J. Oehler.) : 5
legentlich des Herakleskultes, welcher Gott noch lans:e Zeit in Attika
als Fremder galt, die richtige Bemerkuüg: ,,Die solchen fremden Göttern
dienenden Vereine heißen Oi'aaoi." Wir haben Orgeoneninschriften
vom IV. — I. Jahth. v. Chr., Oiaaturai werden in Inschriften des IV. und
III. Jahrh. v. Chr. genannt; in diesen Inschriften haben sich gewisse
Eigentümlichkeiten rücksichtlich der verehrten Gottheiten und der Mit-
glieder feststellen lassen, auf Grund deren ich definiere: ,,Orgeones
siud die Mitglieder einer Kultgenossenschaft von Bürgern im Dienste
einer vom Staate anerkannten Gottheit. Thiasoten sind die Mitglieder
einer Kultgenossenschaft im Dienste einer fremden oder vom Staate
anerkannten Gottheit, die sich aus Fremden (also Nichtbürgern) allein
Oiler aus Fremden und Bürgern zusammensetzte." Die Thraker haben
allein das Privilegium erhalten, zu Ehren der seit 429/8 v. Chr. unter
den Staatsgottheiteii Athens erscheinenden Bendis einen Orgeonen-
verein zu bilden: s. Wilhelm a. a. 0.; das weist daraufhin, daß Fremde
solche Vereine nicht bilden durften, die Orgeones also eine exklusive
Stellung hatten. Andererseits lehrt uns die Bildung des Dionysiasten-
vereiues, der sich als Orgeoues bezeichnet, im Peiraieus, wie Bürger zu
einem solchen Vereine sich zusammentaten , die den Kult ihres Demos
pflegen wollten und örtlich zusammenwohnten. Ich möchte daraus zu-
1 ückschließen auf die staatlichen Orgeonen und Thiasoten: die (5pYeü>^e»
waren ^ew^tai und zwar nicht desselben ^svo;, die infolge lokaler Zu-
sammengehörigkeit sich auch zu gleichem Kulte verbanden. Die
'ip-|£Ü)V£; waren demnach 7ivv^tai, aber nicht alle 7svvr,ta'. waren auch
opYSüivEc. Die 9iac7Ü)-at dagegen wurden nur durch den Kult geeinigt
und boten so die Unterabteilung für die Neubürger. Als die vornehmere
nnd ältere Vereinsbildung haben sich die Orgeonen auch am längsten
erhalten. So glaube ich die Ansichten, die Toepffer in der Genealogie
ausgesprochen hat, als die richtigen hinstellen zu dürfen. Waren die
ötaaor als Vereinigungen der Neubürger in die staatlichen Unterab-
teilungen aufgenommen und den op-^eüivcj gleichgesetzt, so ist es be-
greiflich, daß der ursprüngliche Unterschied der staatlichen Unterab-
teilungen in späterer Zeit nicht mehr bemerkt wurde, so daß die Lexiko-
graphen auch die privaten Vereine gleichen Namens ohne weiteres
einander gleichsetzten, während tatsächlich sich beide streng voneinander
hielten, so daß im Dienste einer und derselben Gottheit sowohl op-ye-
tövs; als auch diajtütai ZU gleicher Zeit erscheinen, sogar an dasselbe
Heiligtum sich anschließen, ohne miteinander zu verschmelzen.
Hier mögen auch die Naukrarien besprochen werden. Jedenfalls
sind diese eine alte Einteilung, doch werden sie verschieden erklärt. Land-
wehr S. 179 f. meint, vauxpapo; hänge nicht zusammen mit vayj, hält
sie daher S. 178 für nichts weiter als für Verwaltungsbezirke wie später
56 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertiim. f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J. Oehler.)
die Demen, welche zum Zwecke der Verteilung der Leistungen der
Bürger an den Staat bestimmt waren. Auf das hohe Alter der Ein-
richtung der Naukrarien weist hin
■ 81.* W. Hei big, Les vases du Dipylon et les Naucraries.
Bxtrait des Memoires de l'Academie des Inscriptions et Belles-Lettres
XXXVI. Paris 1898.
Heibig führt aus, die Dipylonvasen mit Schiffsdarstellungen seien
älter als die 2. Hälfte des VIII. Jahrhunderts. Daraals also besaß
Athen Schifte zur Sicherung der Küste gegen Seeräuber, das Land sei
eingeteilt gewesen in Naukrarien. Die Einführung der Naukrarien da-
tiere von der Gründung des Staates her und die zahlreichen Dar-
stellungen bezeugen die Popularität der Einrichtung. Dieser Meinung
ist auch Glotz, Rev. des Etudes grecques XIII (1900) S. 137 f., der
das Wort ableitet von vauc und xpai'vtu „Commander". — Dagegen be-
hauptet Aßmann, BphW 1899, 16 f., die Dipylonschift'e haben nichts
mit den Naukrarien, diese wieder ursprünglich nichts mit den Schiffen
zu tun; in dem Worte vauxpapo; sei der zweite Teil ein recht zweifel-
haftes Griechisch, vielleicht das ganze ein Fremdwort. B. Keil, Anoym.
Arg. S. 221. f. meint, die Naukrarie sei eine ursprünglich ionischen
Städten eignende Uaterabteilung der Phyle, die Athen übernommen
habe; die Beziehung auf die Schiffe sei erst aus dem Namen erschlossen.
Dagegen wendet sich mit Recht
82. W. Kolbe, Zur athenischen Mariueverwaltung. Athen. Mitt.
XXVI (1901) S. 377-418.
Die richtige Erklärung des Wortes gibt
83. F. Solmsen, Nauxpcpoc, vaux/votpo^, vauxATjpo;. ßhein. Mus.
LIII (1898) S. 151 — 158.
Solmsen schließt sich der Anschauung an, daß Athen bereits im
VII. Jahrh. eine Flotte besaß, vauxpapoi ist der amtliche Titel einer
Behörde, die schon um 640 v. Chr. bestand, die Solon also schon vorfand,
vauxpapoc heißt „ Schiffshaupt ", „Schiffsoberst". Daraus wird die jüngere
Form vaüxXY]poj „Schiffseigentümer" verständlich. Unhaltbar ist die
Erklärung Botsfords, der vauxpapia auf vaoc zurückführen will: die
Glieder einer solchen seien in einem Tempel versammelt worden.
Eingehende Untersuchungen liegen vor über die Demen und
Trittyen.
84. *Leper, Sur la question des demes attiques (russisch).
Journ. d. russ. Ministerium f. d. Volksaufkläruug 1891.
85. A. Milchhöfer, Untersuchungen über die Demenordnung
des Kleisthenes. Berlin 1892.
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm, f. d. J. 1893(1890)— iy02.(J. Oehler.) 57
86. Derselbe, Zur attischen Lokalverfassung. Athen. Mitt.
XVIII (1893) S. 277 f.
87. R. Loeper, Die Trittyen und Deraen Attikas. Athen. Mitt.
XVII (1892) S. 319—433.
88. W. Judeich, Attika, Pauly-Wissowa II S. 2184—2237.
89. V. V. Schoeffer, ^^jxoi, Pauly-Wissowa IV S. 1—131.
90. E. Szanto, Die kleisthenischen Trittyen. Hermes XXVII
(1892) S. 312-315.
Die Zahl der Deinen, welche Botsford und Scboeflfer mit 100 an-
nehmen, war keine runde; 100 Demen hat es, wie Wilamowitz-Moellendorf
richtig bemerkt, nie gegeben. Die Trittyen kamen für die Aushebung
in Betracht und erscheinen in manchen Amtern vertreten: bei den
30 auXXoir^c tou ör,|j.o'j, den 30 xaxd or|p.ou; öixasTat.
Nach Botsfords Meinung traten die Trittyeu an die Stelle der
alten Naukrarien.
Bevölkeriingsklassen.
1. Bürger.
Da sich das Bürgerrecht auf der Abstammung aus einer staudes-
gleichen, ebenbürtigen Ehe, d. h. einer Ehe zwischen einem Athener
und einer Athenerin, begründete, mögen die das Eherecht behandelnden
Arbeiten angeführt werden.
91. E. Hruza, Beiträge zur Geschichte des griechischen und
römischen Familienrechtes. I. Die Ehebegründung nach attischem
Rechte. Erlangen und Leipzig 1892, 145 S. II. Polygamie und
Pellikat nach griechischem Recht. 1894, 190 S.
92. Th. Thalheim, Zu den griechischen Rechtsaltertümeru.
n. Progr. Hirschberg 1894.
93. N. Thumser, 'E'/fÜTjai», 7afi.7]Xia, sTrioixaaia. Serta Harte-
liana S. 189—192. Wien 1896.
94. L. Beauchet, Histoire du droit prive de la republique
Athenienne. Paris 1897, 4 Bände.
95. 0. Müller, Untersuchungen zur Geschichte des attischen
Bürger- und Eherechtes. Leipzig 1899 (Jahrb. f. klass. Philo!.
Suppl. XXV).
Hruza behauptet, die e-f/ur^ju sei nicht ,, Verlöbnis", sondern
„Ehebegründung", nämlich der Vertrag, auf Grund dessen der xuptoc
der zu verheiratenden Person sich bereit ei-klärt, dieselbe zur Frau zu
58 Bericht üb. d. griecb. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
geben, der künftige Ehegatte aber, sie zur Frau zu nehmen. Bei einer
iuixXrjpoc tritt an Stelle der e-j-^urjatc die iTrtötxaaia als Ehebegründung
in der Form der gerichtlichen Anerkennung des vom d^yiaxeuc nach
den bestehenden Gesetzen beanspruchten Rechtes. — Faixoj ist der
Ehevollzug; unter ■ya[XY)Xia, die nicht zu den Voraussetzungen staatlich
gültiger Ehebegründung gehöre, sei kein Opfer, vielmehr eine Abgabe
zu verstehen, welche der Mann für seine Frau an die Phratoreu ent-
richtet habe. Im II, Teile spricht Hr. über Polygamie, geht aber darin
zu weit, wenn er behauptet, das attische Recht habe die Polygamie
nicht gerade erlaubt; richtiger ist es, daß die Bigamie im allgemeinen
in Griechenland verpönt war. Dagegen gab es in Athen zwei Arten
von Konkubinen: die ::aXXaxai schlechthin und die TzaXXaxiQ, r^v av e-/7j
TIC lii' eXeuöepoic iraiatv ; letztere ist die Kebsfrau, die sich die begüterten
Athener aus den Familien der verarmten Bürger kauften. Endlich wird
über die Bedeutung der Ausdrücke: axotto;, v69os und Trapöevto? ge-
handelt.
Thalheim erklärt die i^Yurjciic als eine die Ehe vorbereitende
Handlung, die sich darstellt als ein mündlicher, vor Zeugen ab-
geschlossener Ehevertrag. Bei Erbtöchtern tritt an Stelle der lY^uTjat?
die STTtSixaata , wobei der Bescheid des apytov und das richterliche
Urteil die entscheidende Kraft haben, nicht aber, wie Hruza behauptet,
die X-^$is des ä^yureuc.
Thumser schließt sich Hruza an in der Erklärung der sY^uYiat?:
diese ist ein Ehevertrag im modernen Sinne, dabei ist an £77uav--=ein-
händigen nicht zu denken. Dagegen wird 7a|jLY)Xta als Opfer erklärt,
welches öffentlichen Charakter hatte. Da nämlich die l-f^urjaic nicht vor
der Behörde erfolgte, diese aber die bürgerliche Abkunft zu überwachen
hatte, wurde die Frau von dem Manne in seine Phratrie eingefülirt
und den Phratoren als die förmlich angetraute Gattin vorgestellt. Damit
war ein Opferschmaus ('(a\i.riUa) verbunden. Bei der IzUlr^^o; ist die
EKiotxaoi'a der Ehebegründuugsakt: dem l^yucöv entspricht der v6|xoc, dem
i77U{ü}ievoc der e7:i6ixa^o|x£vo;, die Ehebegründung erfolgt durch die
X^$ic. Der Yajxo; ist der Ehevollzug.
Beauchet I S. 80 entscheidet sich für die Monogamie in Athen,
schließt sich S. 100 f. der Einteilung der Konkubinen in zwei Klassen
an, erklärt S. 120 f. die Iy^utjjic als Kontrakt, durch welchen der
xupioc das Mädchen dem Manne zur Frau gibt; die e'/Yurjatc ist zu ver-
gleichen mit den sponsalia, während der -/«[xo; den nuptiae entspricht.
Müller sieht in der e77UT)atc die Voraussetzung der Ehe und beu
schäftigt sich besonders mit der Stellung der voöot, die als Kinder as-
der Verbindung eines Atheners mit einer Nichtathenerin erklärt werden.
Seit Drakon seien sie vom Bürgerrechte ausgeschlossen gewesen, durch
Bericht üb. d. grleob Staatsaltertam. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 59
Kleisthenes aber wieder aufg-enonimen worden, bis durch Perikles ihr
neaerlicher Ausschluß erfolgte. Nach der Katastrophe in Sizilien habe
man nicht bloß die Verbinflung mit Ausländerinnen anerkannt, sondern
SQfrar eine Nebenelie geschaffen, bis 403 die Fremdenehe wieder ver-
schwand nnd die freie iraXXaxTQ der unfreien immer näher rückte.
Das Kind wurde in die Phratrie und den Demos des Vaters ein-
geführt Über den Namen des Bürgers ist zu vergleichen: Wilamowitz-
Moellendorf, Der athenische Name, Aristot. u. Athen II S. 169 — 185.
Die offizielle Bezeichnung vereinigt mit dem Namen auch den
Vatersnamen und den Demos-, diese Bezeichnung ist seit dem V. Jahr-
hunderte die übliche. Die Einführung der Deraosbezeichnung geht auf
Kleisthenes zurück.
Vgl. auch:
96. S. Brück, Zu den athenischen Heliastentäfelchen. Athen.
Mitt. XIX (1894) S. 203—211.
97. R. Zahn, Ostrakon des Themistokles. Athen. Mitt. XXII
(1897) p. 345.
Auf den Richtertäfelchen erscheint neben dem Namen nur das
Demotikon; in den Ostraka dagegen ist bei Themistokles nur das
Demotikon, bei Megakles der Name des Vaters und das Demotikon, bei
Xanthippos in alter Weise nur der Vatersname beigesetzt. Daraus
sehen wir, daß die Neuerung des Kleisthenes nur allmählich in Ge-
brauch kam.
Die Frage nach dem Eintritt der Mündigkeit finden wir be-
handelt von
98. A. Hoeck, Der Eintritt der Mündigkeit nach attischem
Recht. Hermes XXX (1895) S. 347—354,
der nachweist, die Eintragung in das Geraeindebuch und die Mündig-
erklärung sei erfolgt, wenn der Betreffende das 18. Lebensjahr vollendet
hatte, also im 19. Lebensjahre stand. Auch für die Ephebie ergibt
sich das vollendete 18. Lebensjahr als Beginn derselben.
Eine der Listen ist zum Gegenstande eingehender Untersuchung
gemacht worden:
99. J. Toepffer, Das attische Gemeindebuch. Hermes XXX
(1895) S. 391-400 = Beiträge S. 261—270.
Koch hatte in den „Giiechischen Studien, Hermann Lipsius zum
siebzigsten Geburtstage dargebracht", das XYi^iapyixov 7pa[i.[jLaT£rov als
„athenische Beamtenlosungsliste" gedeutet. Toepffer sieht dagegen in
dem X. 7p. die Liste, das Personalinventar der attischen Gemeinde-
behörden, in das jeder Gemeindeangehörige eingetragen wurde, sobald
:60 Bei-icht üb. d griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
er 18 Jahre alt geworden. Damit war er mimdig und erhielt die
Herrschaft über die X^Sic, das Erbgut. Der Zweck der Liste war vor
allem ein staatlicher, da die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde das
staatliche Bürgerrecht begründete. Daher war die Einzeichnung in das
Gemeindebuch ein offizieller Akt, Die Lexiarchen ei'scheinen als die
Kontrollbeamten der Volksversammlung, wobei ihnen als Prüfstein das
X£ux(ü[i.a diente, das von dem ÄT];tap-/i7.ov 7po([X[xaTcrov nicht zu trennen
ist. Da Xrfiii auch im Sinne von fjXty.i'a einen Jahrgang des Bürger-
kätalogs bedeutet, so waren die XqEiapyoi wohl auch mit der Kontrolle
der 42 Jahrgänge der Bürgerliste betraut.
Mit der Zahl der Bürger beschäftigt sich
100. *P. Östbye, Die Zahl der Bürger von Athen im V. Jahr-
liundert. 1894.
Zur Zeit der Blüte Athens betrug die Zahl der Bürger nach
Busolt 35 000— 40 000, nach Gilbert 40— 47 000, nach Wilamowitz-
Moellendorf über 60 000, Östbye dagegen berechnet die Zahl der Bürger
von Attika auf mehr als 40 000 und für das attische ßeich auf 55 000.
Interessant ist die Bestimmung einzelner Zahlen: die Zahl der Kleruchen
wird für den Beginn des peloponnesischeu Krieges auf 12 000 be-
rechnet, dazu kommen 2000 bis 3000 cppoupoi; die Zahl der regelmäßig
außerhalb Attikas befindlichen Bürger wird auf etwa 15 000 geschätzt.
Etwa 16 000 standen im felddienstfähigen Alter zwischen 20 bis 50
Jahren.
2. Metöken.
Nach der Abhandlung V. Thumsers, Untersuchungen über die
attischen Metöken, Wiener Studien VII (18«5) S. 45 — 68 hat diese
große Bevölkerungsklasse eine ausführliche Darstellung gefunden ia
dem Buche:
101. M. Giere, Les meteques Atheniens. Paris 1893.
Der Verf behandelt auf Grund aller Dokumente die Frage von
neuem in gründlicher Weise. Me-oixo; bezeichnet zunächst „etranger
domicilie"; dann kommt es in doppeltem Sinne gebraucht vor: es be-
zeichnet den Fremden, den Wandernden, in der offiziellen Sprache aber
denjenigen, der seinen dauernden Wohnsitz in einer Stadt aufschlägt,
bereits eine bestimmte Zeit dort wohnt und gewisse Abgaben zahlr,
dafür aber einen gewissen Anteil an den Hechten des Bürgers hat.
Die Spezialabgabe der Metöken war das fjLsxoixiov, welches zur Kontrolle
des Zivilstandes diente; daher erklärt sich die große Strenge in der
Eintreibung dieser Kopfsteuer, die für Männer 12, für Frauen
6 Drachmen betrug. Außerdem hatten die Metöken die $£vt/.a (3 Obolen)
Bericht üb d. griech. Staatsaltertüm. f. d.J. 1893(1890)— 1902. ( J. Oehler.) 61
zu entrichten und wurden außer zur süscpopa, von der sie jedesmal V«.
aufbringen niuCten, auch zu anderen Leistnnceu berangezog:en. Im
Kriege hatten sie als Hopliten zu dienen, eine Anzahl als <\nXot. und
bildeten die Territorialarmee, die nur ausnahmsweise auch außer Landes
geführt wurde. Auf der Flotte spielten sie eine g^roße Rolle als Besatzunj?
der Trieren: doch wurden sie zur Trierarchie nicht lierangezog-en , da
diese Liturgie zugleich ein Amt war. Die Metökenlisten wurden in den
Pemen geführt und dienten sowohl für die Zahlung des [xstoi'y.iov als auch
für die Aushebung als Kontrolle. Die Söhne der Metökeu w'aren von
der Ephebie ausgeschlossen, hatten aber wohl Zutritt in die öffentlichen
Gymnasien, um dort die nötige Ausbildung für den Kriegsdienst zu.
erlangen. Was ihre bürgerlichen Rechte anbelangt, hatten sie keine
i-r;i<±'.'x und keine 7^^ xoti oixi'ac iYy.-cY^jic, durften aber Sklaven biesitzen,
wie sich aus den sogenannten ..Freilassungsschalen" ergibt. Ihren
Gerichtstand hatten sie im Zivilrecht vor dem Polemarchos, die fovixal
oixai dagegen gehörten vor den entsprechenden Gerichtshof, Dabei
galt der Mord eines Metöken als cpovo? axo-j^to? und wurde weniger
strenge bestraft: so erklärt sich, daß das Gericht in Palladion einen
solchen Fall zu entscheiden hatte. — AVas den Kultus anbelangt, so
hatten die Metöken Anteil an den Kulten des Staates. Anteil an.
politischen Rechten hatten die Metoeken nicht, wohl aber wurden ihnen
bisweilen Funktionen übertragen, von denen sich die Athener Nutzea
erwarteten. Sie standen unter dem Schutze der reffelmäßigen Beamten
der Stadt, die sich auch in der Fremde der Meötken annahmen, falls
diese die Kopfsteuer weiterzahlten.
Für Verdienste erhielten die Metöken Belohnungen: die s'yxtyjscc
-jrjc xat otxias gewöhnlich in Verbindung mit der rpoEsvia und icoreXsta; die ,
ariXtioi, zunächst jxstoixio'j, seltener Xeitoup-icuv. — Sehr wichtig war die
Verleihung der Isotelie, die ein finanzielles Privilegium gewährte : end-
lich konnten sie auch mit dem Bürgerrechte beschenkt werden.
Die Metöken bildeten einen Teil des Staates nnd waren ein-
geteilt in die Demen und Phylen: der [xs-rotxo; wird als oixuiv iv . . .
und dem Demosnamen bezeichnet; diese Bezeichnung ist die regelmäßige
in den offiziellen städtischen Dokumenten. Die Hinzufügung des Demos
zu dem Namen beweist, daß die Metöken einen Teil des Demos bildeten,
eingeschrieben waren in die Liste des Demos. Es erklärt sich daraus
der Ausdruck bei Pollux III 57 : ot ji.-?] lYY£-;pajX[X£vot sie rouc [Xctoixoo;.
Man konnte Bürger einer anderen Stadt und jxETotxoc in Athen sein;
daraus erklärt sich die Hinzufügung des Ethnikons zum Namen vor
oixmv iv . . . — Angegeben erscheint das legale Domizil. — "Wahr-
scheinlich mußte der Fremde, welcher den für den Aufenthalt
gesetzlich bestimmten Termin, nach welchem er also aufhörte, ein
62 Bericht üb. d. griecb. Staatsaltertüm. f. d J. 1898(1890)-1902. (J. Oehler.)-
sapeTOSrjfjLo; zn sein, überschritten hatte, sich beim Demarchos melden,
der ihn in das Register eintragen ließ; bei den erblichen Metöken
worden wohl die Söhne in die Register eingetragen. Als Teil der
Demen bildeten sie auch einen Teil der kleisthenischen Phylen ; an
diese schließen sich die Choregien der Metöken an. Thakydides be-
zeichnet Bürger und Metöken als düTot, so können sie als demicitoyens
(Halbbürger) bezeichnet werden. In der vielerörterten Frage des -poata-rr,;
schließt sich Clerc der Ansicht Wilamowitz-Moellendorfs an und er-
klärt ihn als den Demoten, der den neuen fxe-roixoi; dem Demos
präsentiert und ihn in das Register einschreiben läßt; er erscheint nicht
als Patron sondern als Pathe und hat mit dem rpo^Ta-rrj; eines Frei-
gelassenen nichts gemeinsam. Die oUt] di:po3Taatou ist gegen den
Metöken gerichtet, der es unterlassen hatte, sich in das Register der
Metöken einschreiben zn lassen.
Unter die Metöken traten auch die Freigelassenen, die dTrsXeuöspoi,
die ihrem früheren Herrn gegenüber, der jetzt ihr Trpoj-cd-cTjc war, ge-
wisse Verpflichtungen hatten und nach ihrer Eintragung in das Register
der Metöken dem Staate gegenüber perönlich verantwortlich waren.
Mit Recht hebt Clerc hervor , daß die Staatsmänner Athens die
Metöken begünstigten in der richtigen Erkenntnis, daß diese Klasse der
Bevölkerung große Bedeutung für die Eutwickelung der Industrie und
des Handels hatte. Die Zahl der Metöken betrug im V. Jahrhunderte
11750 mit einer jährlichen Geburtsziffer von 545. — Vom Ende desBundes-
geuossenkrieges datiert der endgültige Verfall der Metökenklasse und
Athens selbst. Besonders enge sind die Beziehungen der Metöken zum
Peiraieus: dort wohnten die meisten, vor allem aber die reichsten
und einflußreichsten Metöken als ßankieis, Rheder, Großhändler. —
Sie hatten dort ihre nationalen Heiligtümer, pflegten den Kult der
heimischen Götter in Vereinen und gaben dem Peiraieus das Aussehen
einer kosmopolitischen Stadt.
*P. Foucart, De libertorum condicione. Paris 1896, lag mir
nicht vor.
3. Sklaven.
Über die dritte Bevölkerungsklasse ist vor allem Beauchet zu
vergleichen; sonst sind zu nennen:
*Ciccotti, Del numero degli schiavi nell' Attica.
102. St. Waszynski, De servis Atheniensium publicis. Dissert.
Berlin 1898.
103. Derselbe, Über die rechtliche Stellung der Staatssklaven
in Athen. Hermes XXXIV (1899) S. 553—567.
Bericht üb. d. griech. Staafsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)-1902. {J. Oehler.) 63
104. 0. Silverio, Untersuchungen zur Geschichte der attischen
Staatssklaven. Progr.deskünigl.Maximilians-Gymnasium. München 1900.
105. K. Wernicke, Die Polizeiwache auf der Burg von Athen.
Hermes XXVI (1891) S. 51—75.
106. Caillemer, othxüsioi inDaremberg et Saglio, Diction. III 91f.
In der Dissertation handelt Waszynski über die Einteilung und
Verwendung; der Staatssklaven und ordnet sie in 3 Kategorien: 1. 37]-
fxotjiot uTTYjpsTai, 2. Sxuöai, 3. oTjixoatoi ep-jatai. In dem zweiten Aufsätze
bespricht er die rechtliche Stellung der Staatssklaven. Die oT,(x6atoi
waren Besitz der Gesamtheit, des Staates; sie waren in gewissem
Maße unabhängig, da sie nur bestimmte Dienststunden hindurch der
Behörde zur Verfügung stehen mußten, über die übrige Zeit selbst
verfügen konnten. Am besten standen sich die uTnrjpsTat, von denen
wir solche unterscheiden können, welche bloß die TpocpiQ, und solche,
welche neben der xpocpr] noch ein öritcuviov erhielten. Die xpotpiq betrug
3 Oboleu, das öyitujviov 1 bis 2 Obolen täglich. Sie konnten daher
Geschäfte treiben, sich ein Vermögen erwerben, sich eine Frau halten
und mit ihr im Konkubinate leben; natürlich gehörten die Kinder aus
einer solchen Verbindung dem Sklavenstande an, hatten kein Eecht auf
das Erbe des Vaters, sondern das Vermögen fiel dem Staate zu.
In staatsrechtlicher Beziehung waren sie ausgeschlossen von dem
Besuche der Palästren und Gymnasien und von der Teilnahme an der
Ekklesia. Die apyv), zu der der Sklave gehörte, war für ihn eine Art Patron,
der auf Wunsch des Sklaven und in dessen Namen bei der betreffendea
Instanz die Klage anhängig machte, da der orjjxo'jio; nicht persönlich
als Kläger vor Gericht auftreten durfte. Dagegen konnte er als An-
geklagter gerichtlich belangt werden. Die äcpx«i hatten natürlicli die
Disziplinargewalt über die ihnen untergebenen Sif)!J.6(jtoi; die Todesstrafe
jedoch konnte nur auf Grund des gefällten richterlichen Urteils an einem
Ö7){i6(jtoc vollstreckt werden. Für gute Dienstleistungen gab es Be-
lohnungen verschiedener Art wie eiraivoc und axecpavo?; in einer Reihe
von Fällen konnte die Freilassung erfolgen, wodurch der betreffende
Freigelassene in den Stand der Metöken übertrat. Ob ein gewesener
oTjjjLocjtoc irgend jemals in den Besitz des Bürgerrechtes gelangen konnte,
erscheint sehr fraglich, ebenso wie kaum anzunehmen ist, daß je ein
Privatsklave athenischer Bürger geworden wäre. Die augeblichen Vor-
rechte der Staatssklaven erklären sich ebenso aus ihi*er Tüchtigkeit als
besonders aus dem geringen Vertrauen, das der athenische Staat seinen
Bürgern entgegenbringen konnte. Richtig charakterisiert Giere ihre
Stellung: sie unterschieden sich nicht tatsächlich, sondern nur recht-
lich von den Metöken. Silverio zählt als Bezeichnungen auf: ornxojto»,
ÖT^fitoc und 8t)}jl6xoivoc (für den Folter- und Henkersknecht), unTjpErr);.
64 Berichtüb. d. griech. Staatsaltertüm.f d. J. 1S93(1890)— 1902. (J. Oehler.)
Die Sklaven hatten nur einen Namen, wobei ihnen die Führung: ge-
wisser Namen untersagt war. Erworben wurden sie durch Krieg-, durch
Vermösenseinziehung eines Bürgers, der Sklaven besaß; strafweise
wurden Metöken zu Sklaven. Hauptsächlich aber wurden sie auf dem
Sklavenmarkte erworben. Sie waren Eigentum des Staates und unter-
standen den Beamten, denen sie zugeteilt waren und welche Strafgewalt
über sie hatten. Es w^ar ihnen das Eingehen einer Art Ehe in der
Form des Konkubinates gestattet, die Kinder aus solcher Verbindung
waren Eigentum des Staates. Die Staatssklaven selbst konnten frei werden
entweder zur Belohnung für geleistete Dienste oder durch Loskauf und
traten dann in den Stand der Metöken über. Verwendet wurden sie im
Sicherheits- und Wachdienste in der Stadt, als Gehilfen im Sekretariats-
und ßechnungsw^esen sowie als Diener der Priester, als Herolde. Eine
wichtige Rolle spielten die skythischen Toxoten, 2y.ui>ai, die bald nach
den Perserkriegen eingeführt und nicht beritten waren. Ihre Zahl be-
trug anfangs 300, später 600, eingeteilt in 10 Kompagnien, entsprechend
den 10 Phyleu, so daß jede Kompagnie im Bereiche je einer Phyle
verwendet wurde. Sie dienten den Beamten in der G-Yipesia t^c exxXtj-
ct'ac, 2. d~. Tüiv 5ixaoTY)pto)v, 3. utt. töjv aXXwv auvoöü>v und 4. Ük. rüiv
y.oivwv To::cov xai ep^wv zur Aufrechthaltuug der öffentlichen Ordnung.
Nach Wernicke spielten sie als Wächter der Burg eine besondere
Rolle; zum Schutze des Heiligtums wurde am Eingange der Burg eia
eigenes Wachlokal errichtet, in dem stets drei Polizisten Wache halten
mußten. Es war der zehnte Teil der ganzen in der Ekklesia gerade
fungierenden Wache auf Burgwache, also entfiel auf jede Tpixt-j? der
Vorsitzenden Phyle ein Wächter. Dagegen bemerkt B. Keil, Anonym.
Arg. S. 146, Anm. 1 : Die Athener haben die Bewachung der Burg
nie Fremden anvertraut. Nachfolger der Bürger-Toxoten werden
darin die cppoupol (oi) Iv ttoXsi, nicht die Skythen-Toxoten.
Ihr Standquartier hatten die Skythen auf der a/opa, wo sie in
Zelten lagerten; sie w'urden, da ihre Besoldung den Staatsschatz zu sehr
belastete, um die Mitte des IV. Jahrh. abgeschafft und ihren Dienst
übernahmen zum Teil die Epheben.
Im Finanz- und Urkundenwesen wurde schon vor Beginn des
IV. Jahrh. eine große Anzahl Staatssklaven verwendet; sie bildeten
einen Kern tüchtiger Hilfsarbeiter und ein ständiges Hilfspersonal, das
Sachkenntnis und Erfahrung hatte: so bildeten sie einen zwar unter-
geordneten, aber nicht zu unterschätzenden Teil der Beamtenschaft,
vergleichbar unseren Subalternbeamten und Diurnisten.
Bevor ich an die Besprechung der einzelnen Beamten gehe, mögen
allgemeine, auf die Beamten bezügliche Fragen behandelt werden. Über
das Amtsjahr handelt:
Bericht üb. d. g^iech. Staatsaltcrtüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 65
107. B. Keil, Athens Amts- und Kalenderjahre im V. Jahih.
Hermes XXIX (1894) S. 32-81.
108. Derselbe, Das Sj'^stem des kleisthenischen Staatskalenders.
Ebendort S. 321-372.
In der ersten Abhandlung weist Keil nach, daß das Ämtsjahr
mindestens 15 Tage nach dem Kalenderjahr begann, und da noch nicht
dnrch eine regelmäßige Anordnung der Zahl der Prytanientage für eine
(Übereinstimmung zwischen Amts- und Kalenderjahr gesorgt war, die
Jahre divei-gierten. Kleisthenes hat ein Amtsjahr mit der Tagessumme
von 360 Tagen fixiert und in 10 Teile eingeteilt. Am Ende des V.
Jahrhunderts glich man das Bulejahr dem Kalenderjahre an, und zwar
aus praktischem Bedürfnis. Dazu vgl.:
A. Mommsen, Philol. LXI (N. F. XV) 1902. S. 214 f., der
S. 220 erklärt: „daß Athen vor Ol. 93, 1 ein besonderes, vom bürger-
lichen Kalenderjahr zu unterscheidendes Amtsjahr hatte, ist Tatsache."
In der zweiten Abhandlung kommt Keil zu dem Ergebnisse: Die
Tat des Kleisthenes auf dem Gebiete des Kalenderwesens besteht darin,
daß er das Mondjahr als Einzeljahr aufgab, das Sonnenjahr verschmähte
und ein zwischen beiden stehendes und vermittelndes Jahr einsetzte,
dessen Dauer es in der neuen Staatsordnung anwendbar machte. Die Au-
gleichung dieses Amtsjahres an das Kalenderjahr erfolgte in pentadischer
Anordnung, indem auf je zwei kalendarische Schaltjahre nur ein staat-
liches Schaltjahr kam.
Über die Art der Beamtenbestellung handeln:
109. *J. W. Headlam, Election by lot at Athens. Cam-
bridge 1891.
110. ß. Heister her gk, Die Bestellung der Beamten durch
das Los. Historische Untersuchungen. (Berliner Stud. f. klass.
Philol. u. Archaeol. XVI) 1896.
Headlam will die Bedeutung und das Wesen der Bestellung durch
das Los klarlegen und stellt zunächst fest, welche Beamten durch
das Los, welche durch Wahl eingesetzt wurden. Er führt dann aus,
das Los sei in späterer Zeit nicht religiösen Charakters gewesen, es
sei ihm vielmehr ein demokratischer Zug nicht abzusprechen. Es wird
dann im besonderen über die ßouXv^ und die Beamten: über die Finanz-,
Gerichts- und Verwaltungsbeamten gehandelt. Ein Exkurs ist der Ein-
führung des Loses gewidmet. Heisterbergk dagegen führt aus: Natur-
gemäß tritt die älteste Verwendung des Loses in den politischen In-
stitutionen dort ein, wo zwischen gleichem Anspruch und gleicher Be-
rechtigung entschieden werden soll, wo also das öfifentliche Interesse
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. OXXII. (1904. III.) 5
66 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
durch die Zuwendung des Amtes an eine bestimmte Person nicht berührt
wird. Es hat also das Los seine Stelle überall dort, wo ein Turnus
der Ämterbekleidnng unter den Berechtigten besteht, die Reihenfolge
aber gleichgültig ist. Eine solche Funktion hatte das Los in der vor-
solonisfhen Zeit, aber nur für den Eat, nicht für die Magistratur. Solon
hat Wahl und Los verbunden bei der Archontenbestellung eingeführt-
auf diese Weise wurde durch die Vorwahl dem Volke das Recht der
Bestimmung der Qualität der Beamten gegeben, durch die darauffolgende
Losung aber die Bestimmung der Person genommen. An und für sich
ist das Los weder demokratisch noch aristokratisch, sondern es kann
in beiden Verfassungsformen für deren Prinzip verwendet werden. Die
Eröffnuni? des Zutritts zum Archontate für alle Bürgerklassen hat die
Abschaffung der Vorwahl und die Einführung der reinen Erlösung
hei'beigeführt.
Thalheim, BphW 1897, 991 f. sieht in der Erlösung eineSchranke des
Wahlrechtes; die Weiterentwickelung führte zur Trennung von Wahl und
Los: Wahl für die militärischen Beamten seit 501, Losung ohne Vorwahl
für die Archonten seit nicht näher zu bestimmender Zeit. Thumser, BphW
1891, 1490 f. meint, die Gleichzeitigkeit der Abschaft'ung der Vorwahl und
der El Öffnung des Zutrittes zum Archontate für alle Bürger sei unmöglich.
Zum erstenmal wurde auch die Frage der Amtsbewerbung ein-
gehender behandelt:
111. Ch. Baron, La candidature politique chez les Athöniens.
Revue des Etudes gr. XIV (1901) S. 372—399.
Während in Rom der Amterbewerb bekannt ist, ist uns aus Athen
nichts Ähnliches berichtet. Man hat angenommen, die tpcnffri öexasfioü
und 7p. 6(upoooxiocc seien gegen Wahlbestechung gerichtet, doch handelt
es sich in den uns bekannten Fällen um Bestechung der Richter. Be-
stechung und zwar durch Geldzahlung zum Zwecke der Wahlbeeinflussung
scheint in Athen ein Ausnahmsfall zu sein. Der Wahlkampf erfolgte
zunächst mit den Waffen in der Hand durch die Parteien; tätig griffen
bei den Wahlen die Klubs ein, welche ihre Anhänger in allen Be-
völkerungsklassen hatten. In Athen fiel die Hoffnung weg, durch die
Bekleidung eines Amtes zur Verwaltung einer Provinz und dadurch zu
Reichtum zu gelangen.
Die gewählten, resp. erlosten Beamten wurden einer Dokimasie
unterzogen; vgl. Weinberger, Die Dokimasie. Wiener Studien XV
(1893) S. 148/9. Nach Abiauf der Amtszeit war jeder Beamte zur
Rechenscliaftsablage verpflichtet.
Wilamowitz-Moellendorf, Aristot. u. Ath. II Beil. 12, S. 231 —
251 : A070C und suiluvot.
Bericht üb. d. griecb. Staatsaltertüm. f.d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 67
112. Ae. Koch, De Atheniensium logistis, euthynis, synegoris.
Progr. Zittau 1894.
"Wilamowitz sagt: Der abtretende Beamte bat seine Rechnung
bei den Logisten einzureichen; die 10 Logisten haben binnen 30 Tagen
die Rechnung zu revidieren, die Anstände werden von den auvr^-fopot
(Anwälten) vertreten. Wenn die gerichtliche Verhandlung vor den
Logisten vorbei ist, dann ist Rechnung gelegt: Xo^oj osoorat. Darauf
folgt roch die eigentliche euf^uva, die mit der Geldgebarung zunächst
nichts zu tun hat, sondern sich auf die ganze Amtsführung richtet.
Die £!j8uvo[ waren Ratsherren, welche die vorgebrachten Beschwerden zu
prüfen hatten. Im gewöhnlichen Leben wurde X070V oioovat und £'jf>uvac
oioovat für beides gesagt; aber im Y. Jahrb. bestehen beide Piüfungen
in voller Krafr nebeneinander; das IV. Jahrb. ändert rechtlich nicht.s,
aber die trotz aller Kautelen ziemlich unverantwortlichen Demagogen
rissen das Regiment an sich, die s-Jöuvai traten vor dem X670C zurück.
Koch meint, es gab zwei Arten von Xo-j-urat: die ßouXr] bestimmte je
zehn Xo7i3Ta( durch das Los, welche xara -pu-avstav die Rechnuntren der
Beamten zu prüfen hatteu. Was die Verbindung von Xo-,'o; und s-i&uvai
betrifft, so ergibt sich, daß der X070J innerhalb des Amtsjahres, die
suöuvai aber erst nach Ablauf desselben abgelegt wurden. E-jöuvott
mußten von allen Beamten, auch wenn sie keine Staatsgelder verwaltet
hatten, auch von den ßouXsutai gelegt werden, und zwar innerhalb der
ersten 30 Tage nach Ablauf des Amtes. Auch danach konnten die
abgetretenen Beamten noch im Gerichte belangt werden: solche Prozesse
instruierten die Xo7tJTai, mit denen zugleich die auvy^Yopoi in Tätigkeit
traten; es inteivenieiten die euöuvoi und ihre Beisitzer. Außer den vom
Rate bestellten Xo-zisTai gab es noch 10 vom Volke, je einen aus einer
Phyle ernannte Logisten.
112a. *A. 'A pßavtTO-o'JXXof , ZTjXT^fxaTa xoü 'Axtr/ou Stxaiou.
II. Ilspl Ttüv £ui)uviuv. Athen 19u0,
Nach der R-z Bauers BphW 1901, 1264 beschäftigt sich der
Verf. mit den verschiedeneu als Logis'en bezeichneten Rechnungs-
behöiden Athens und <tinimt den Ausführnnizen von Wilamowitz darin
zn, daß Xü^o; die ReclinuMgs(irüfung, suöuva die Kontrolle der Amts-
führung ist. Mit Unreclit aber will er das J. 435 v. Chr. als Wende-
punkt des attisclien Recheuschaftsverfahrfns dahin bestimmen, daß seit
diesem Jahre die Logi>ten sowohl die Rechnungsprüfung al.-* die Kon-
trolle der Amtslühruiig besorgt haben. Bauer bemerkt mit Recht: wenn
in der luschritt CIA I 3i keine be.>ondere Behörde lür die suOuva ge-
nannt ist, kann nur geschlossen werden, daß die dafür zustehende Be-
hörde, die Euthynen, zu verstehen sei.
5*
68 Bericht üb. d.gnech.Staatsaltertüm. f. d.J. 1893(1890) -1902. (J. Oehler.)
Die Magistratur.
"Über die Arcbonten ist vor allem zu erwähnen
113 V. V. Schoeffer, apyovxs; in Pauly-Wissowa II (1896)
S. 565—599.
114. *C. Lecoutere, L'archontat Athenien d"apies la TroXtrei'a
^Aörjvatwv. Loavain-Paris 1893. ßez. BphW 1894, 1651 f. v. Tbumser.
115. J. Rangen, Das Archontat und Aristoteles' Staatsverfassung
der Athener. Progr. Ostrowo 1895.
116. ''\V. Scott Ferguson, The athenian archous of the third
and second centuvies before Christ. (Cornell studies in classical
Philology X) 1899.
116a. Kirchner, Götting. gel. Anz. 1900, S. 433—481.
116b. W. Kolbe, Zur athenischen Archontenliste des III. Jahrh.
Festsclirift f. 0. Hirschfeld S. 312—318.
Schoeffer bespricht die geschichtliche Entwickelung, die Stellung
des Archontats in der vollendeten Demokratie und das Fortdauern des-
selben bis in die Eömerzeit. wo es durch Wahl besetzt wurde. § 4 handelt
über den ap/wv, der in der Römerzeit iTrcuvufxoc genannt wird. In § 5
(S. 581 — ^598} wird eine Liste der Arcbonten vom J. 1068 v. Chr.
bis 485 n. Cbr. gegeben. § 6 endlich ist den Arcbonten gewidmet,
die von den Athenern in den Kleruchien an die Spitze der Ver-
waltung gestellt wurden. — Lecoutere spricht in der Einleitung über den
TJrspruDir und die Entwickelung des Archontats; der erste Hauptabschnitt
bandelt über die Bestellung der Arcbonten, der zweite über die Funk-
tionen derselben. Es werden die Qualifikationen erörtert, die zur Er-
langung der Archontenwürde nötig waren, die Bedingungen werden ge-
sondert in solche, die zu allen Zeiten gleich blieben, und solche, die
sich im Laufe der Zeit mannigfach änderten. Dann wird die Art der
Arcbonten wähl besprochen, die Dokimasie und Eidesleistung, ihre Ver-
antwortlichkeit während und nach ihrer Amtsführung. Auch der offizielle
Name, die Einkünfte und Ehrenrechte sowie das Aratslokal werden be-
handelt. Rangen bietet nur eine Inhaltsangabe.
Ferguson hat die athenische Chronologie der letzten vorchrist-
lichen Jahrhunderte ganz wesentlich gefördert und Kirchner zeigte in
der ausführlichen Besprechung, wie weit wir bei dem derzeitigen Stande
der Dinge in der Feststellung der attischen Arcbonten vom Beginne
des III. Jahrhunderts bis auf Augustus' Zeit kommen können; so bieten
beide ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Chronologie.
Kolbe zeigt, daß der Archon Kimon (CIA IV 2, 614b) in das
Bezieht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890) - 1902. (J. Oeblor.) (J9
Jahr 237/6 v. Chr. zu setzen sei, sein Vorgänger Lysias 238/7. So
stimmt die literarische und inschriftliche Überlieferung überein.
F. Poland behauptet in den „Griechischen Studien für Lipsius" :
„Das Prytaneiou hat seinen Namen von dem ay^tov selbst als dem zpu-
xaviv der Bürgerschaft wie des ganzen xArchoutenkollegiums; es hat
schon in der Königszeit neben dem Könisshause bestanden."
Eine reiche Literatur liegt vor über die 7pa{Xfi.aTst;.
117. E Caillemer, Grammatcis (-fpaiJ-ixaTsic) : Daremberg et
Saglio, Dictionn. IV (1896) S. 1646—1651.
118. J. Penndorf, De scribis rei publicae Atheniensium. Leipziger
Studien XVIII (1897).
119. *W. Scott Ferguson, The Atheniaa secretaries. (Cornell
studies in classical Philology VII.) New York 1898. Vgl. dazu :
A. Mommsen, Philolog. LXI (1902) S. 238 f.
Nicht einsehen konnte ich : E. Drerup, Über den Staatsschreiber von
Athen. Philol. histor. Beiträge C. Wachsmuth überreicht. Leipzig 1897.
Caillemer gibt eine klare, übersichtliche Darstellung über die
verschiedenen Sekretäre, die im V. und IV. Jahrh. erwähnt werden,
und handelt zunächst über den 7pa[jL[jiaT£uj x^sßouXTJ;; seine Funktionen
dauerten eine Prytauie, er war ßouXsun^?, gehörte aber nicht der pry-
tanierenden Phyle an. Es ist dies der von Aristoteles als ^paf^fi-atsus
xarot irpuravstav bezeichnete Seki'etär. Sein Name gibt, abgesehen von
der Datierung, den Dekreten Authentizität; er läßt die Dekrete in
Stein eingraben und öffentlich bekanntmachen und hat die Aufsicht
über das lletroon, das Staatsarchiv. Seit 363 v. Chr. erscheint neben
dem 7paji.}jLa-£uc ttj? ßoyX^;, der jetzt das ganze Jahr im Amte bleibt,
der 7pa[x[jLat£u; xaxa jrpuTavsiav, der einer der Prytanen ist, also während
der Prytanie, der er angehörte, seine Funktionen nicht ausüben konnte.
Der 7pa|jL[j.a-eu; t% ßouX% beginnt um diese Zeit zu seinem Titel die
Worte: xat Tou öi^fiou hinzuzufügen. Die Einsetzung des 7paa. x. -p.
hatte wohl den Zweck, die Funktionen des 7p. x. ß. zu erleichtern. Der
jährige Sekretär des Rates findet sich noch 322; im Jahre 321 dagegen
wird ein dva7pa9£u; erwähnt, der nach Cailleraers Meinung jedoch nur
der alte jährige Ratssekretär ist. Daher findet sich die ganze Zeit
über, in der der dva7pacp£uc genannt wird, keine Erwähnung das 7p. t.
ß. Dagegen erscheint in den Inschriften auch weiterhin der 7p. xaxa
Tip., der der Prytauie angehörte; diesem scheint ein Teil der Geschäfte
des Ratssekretärs übertragen worden zu sein. Vom Jahre 307 au nimmt
der Ratssekretär wieder seinen alten Titel 7pa|j.. t. ß. auf unter Hinzu-
fügung der Worte: xal toü orj|xau, erscheint auch kurz bezeichnet als
7p. Toü ÖY^ixou. Die Koexistenz des jährigen Sekretärs und des Prytanen-
70 Bericht üb, d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1803(1890)— 1902. (J. Dehler.)
Sekretärs ist noch zu Beginn des II. Jahrh. bezeugt. Der 70. 7.1x0. up.
bleibt natürlich nur so lange ira Amte, als die Phyle eine aktive Rolle
spielt, und tritt sein Amt an den Sekretär der folgenden Prj-tanie ab.
Mit der Vermehrung der Zahl der Phj'len mußte natürlich auch die
Zahl der Seki'etäre vermehrt werden. Seit 276/2 findet sich ein G^o-
7pa}jL{j.aTeu? erwähnt; es ist jedoch nicht bewiesen, daß dieser Mitglied
des Rates war, jedenfalls aber war er Bürger. Was den avTiYpacpetSc
betrifft, sind die Meinungen sehr verschieden: Müller-Strübiug hält ihn
nicht für den vorgesetzten Kontrolleur des Schatzmeisters, sondern für
den jährlich gewählten Tiapeopoc und Stellvertreter des Ta[xia;; Wila-
mowitz-Moellendorf dagegen meint, er sei nur ein subalterner Funktionär
gewesen, wohl richtig. Was den 7paix[xatsu? der Thesmotheten anbelangt,
so ist er keineswegs der Repräsentant der 10. Phyle.
Penudorf erörtert die drei Arten von Schreibern, die es zur Zeit
des Aristoteles gab: der dritte erfüllt nur die Rolle eines öffentlichen
Vorlesers, wird in den Inschriften oft als 6 7pa[Xfj,aT£uc bezeichnet, führt
bei Thukydides den Titel 6 ^pajxfxaxsuc 6 ttj? TioXetu;. Der 7pa(xixaTSuc em
Tous voixou? war mit der Aufsicht über die Gesetze betraut, doch war
sein Amt nur von kurzer Dauer. Der wichtigste war der 7pa}jL>j,aTeuc
6 xara Trputavsiav, erlost für ein Jahr, der zwischen Ol. 108, 1 und
104, 2 eingesetzt zu sein scheint; vor dieser Zeit waren seine Funktionen
einem prytauienweise wechselnden Schreiber, dem 7pa[x[xaT£'jc xr^ ßouX^«,
übertragen, der aus den Buleuten der nicht prytanierenden Phylen ge-
wählt war. Aus diesem Ratsbeamten wurde zwischen 368 und 362
V. Chr. ein öffentlicher Jahresbeamte, wohl identisch mit dem in der
ersten Hälfte des IV. Jahrh. auftretenden 7pa[jLtxaT£'j; tTj; pouX^c xal
Fergusons Arbeit hat vor allem chronologischen Wert: er legt
dar, daß vom Jahre 349/8 an bis 322/1 die Phylen, aus denen der
jährige 7pa|X[xaT£uc xaxa Trpuravsiav genommen wurde, in der offiziellen
Ordnung aufeinander folgten. Kirchner weist dasselbe Gesetz auch für
die Jahre 303/2 bis 299/8 nach und meint, es lasse sich dasselbe noch
weiter verfolgen bis zum Ende des II. Jahrh. Ferguson setzt auch für
die Zeit nach 363 den 7pa(i.(xaT£'jc x^j ßooX^c dem späteren 7pafjL[jLaTeuc
xaxa TTpoxaveiav gleich und nimmt an, der 7pa[xaax£u? t^c ßooXf,? habe
auch neben dem ava7pa'f£u? noch existiert, der bereits 335/4 bestanden
habe. Bis gegen das Ende des V. Jahrh. diente der Schreibername
hauptsächlich zur Datierung.
Im Anschlüsse an die 7pafjL[j,axcrc spricht Aristoteles, 'Ai). nnk.
c. 54 von den isponoi: vgl.
120. L. Ziehen, Die panathenäischen und eleusinischeu leporotoi.
Rhein. Mus. LI (1896) S. 211—225.
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 71
Von den ispo-oiol xat' eviauxov sind die anderen zu unterscheiden,
nämlich die auch upo~oioi genannte Festkommission, die vom Rate aus
seiner Mitte eingesetzt wurde. Solche tspoTcoioi leiteten die kleinen
Panathenäen. Die Upor.om xax' sviaurov hatten die Oberleitung des
Ganzen, vor allem aber die Festfeier in Athen und die 7:o[jl-tq zu be-
sorgen, während die andere Gruppe von icpozotoi nur im Heiliutura zu
Eleusis selbst funktionierte. Für diese findet sich auch die Bezeichnung
iepo-oiol 'EX£uaivo{}Ev, i. 'EXsuaivt, t. ^7 ßouX^;: der Unterschied in der
Funktion war wohl nur quantitativ, nicht qualitativ. Wenn im Laufe
der Zeit an die Stelle der alten Upo-otol 'EXsosivoOsv die i. h( ßouX?jc
traten, so betraf die Veränderung die finanzielle Seite: die finanzielle
Verwertung der von den Gläubigen gespendeten Feldfrüchte wurde in
der Zeit zwischen 419 und 329 v, Chr. den ispo-oioi genommen und
den i-izia-d-ai und Ta|xiai übertragen.
Der von Aristoteles 'A9. -oX. c. 43 genannte tSv xpyjvüiv £;rt[jLsXr|T>^j
i.-t jetzt inschriftlich erwiesen in einem Dekret vom J. 333 v. Chr.:
aipsdsl? ItX xa? xpTQva?: P. Foucart, Decret Athenien de Van 333 a. Chr.
Revue des fitudes gr. VI (1893) S. 1—17.
Über die Polizeibearaten (cf. Aristot. 'Aötjv. ttoX. c. 50 u. 51).
handelt
J. Oehler, 'Aaxuvo'ixot, Panly Wissowa II 1870—1872.
Derselbe, 'A7opav6[i.ot, Pauly- Wissowa I 883 — 885.
Verwaltungs- und Kassenbeamte.
121. E. Herzog, Zur Verwaltungsgeschichte des attischen
Staats. Verzeichnis der Doktoren. Tübingen 1897.
122. P, Panske, De magistratibus Atticis, qui saeculo a.Chr.
D. quarto pecunias pnblicas curabant. Pars prior. De magistratibus
pecunias publicas curantibus, qui Euclide archonte redintegrati sunt.
Leipziger Studien XIII (1890) S. 1—62.
123. J. Oehler, 'ATro8exTat, Pauly- Wissowa I 2818/9.
Herzog weist darauf hin, daß die Verwaltung des attischen Staates
einen modernen Anstrich zeigt und daß in der perikleischen Zeit die
technische Verwaltungsaufgabe von der politischen Bedeutung völlig
losgelöst erscheint. Neben die Archonten treten die Schatzmeister, die
lediglich Verwaltungsbeamte sind. Organe der Selbstverwaltung sind
die vauxpapot, die airooexxat sind Beamte im Zentralkassendienst, eine
Vertretung der 10 Phylen. Durch diese erhielt der Rat Einsicht in
den Verlauf der Einnahmen und Ausgaben, nachdem bis 463 der Areiopag
72 Bericht üb d.griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(lS90j- 1902. (J.Oehler.)
Einfluß auf die Verwaltung g-enoraraen hatte. Eine Verwaltungsgerichts-
barkeit gab es nicht, sondern die Gerichtshöfe dei- Eeliaia konamen auch
für die Verwaltung in ausgedehntester Weise in Betracht.
B. Keil, Anonym. S. 163 spricht über die Kolakreten. Nach
Wilamowitz-Moellendorf waren die Kolakreten die Kassenbeamten des
areiopagitischen ßates, dessen nicht unbedeateude Kasse sie während
des V. Jahrh. auch nach der durch Kleisthenes vorgenomraensn Ein-
setzung der Apodekten verwaltet hätten. Sie waren die einzigen Beamten
rein staatlicher Natur, die eine Kasse mit bedeutenden Barbeständen.
die Landeshauptkasse, zu verwalten hatten, während bei den Apodekten
und sonstigen Beamten eine Anweisungswirtschatt üblich war. Der
Verfall der Kolakretenkasse kann in das letzte Drittel des V. Jahr-
hunderts gesetzt werden, die Kolakreten selbst erscheinen nicht mehr
seit 410 V. Chr. G.
Das Verschwinden der Apodekten seit 323/2 bringt B. Keil,
BphW XII (1892) S. 618 in Verbindung mit der Institution des
im 1-^ oiotxTQ(7£i, der etwa 322 eingesetzt wurde; Dittmar (s. Nr. 133)
S. 156 meint, der Beamte mit dem Titel 6 eri tv] 6toix7]cj£'. sei 298/7
eingesetzt. Panske führt aus, daß die Hellenotaraiai nach Eukleides
nicht mehr gewählt und die xaixiai der Athena mit denen der übrigen
Götter in ein Kollegium zusammengezogen wurden, und behandelt im
§ 1 die Poletcu, im § 2 die Trpay.Tops;, im § 3 die Ta|xtai der Athena
und der anderen Götter und § 4 die diroSEXTai. Die Poleten waren 10
an Zahl, je einer aus einer Phyle erlost; sie hatten zu tun mit den
7:iTrpa3xo[X£va, die unterschieden werden in teXy), jxsTaXXa, [xtj&cuseu und
8Ti|j.eu6[jLeva. Die TcpaxTopss, gleichfalls 10 an Zahl, trieben die eirißoXai
und die von den Gerichtshöfen verhängten Strafgelder ein für den
Staatsschatz. In Kenntnis wurden sie gesetzt durch die e-f/pa'fKJ, das
Verzeichnis, von selten der Beamten; in diesem Verzeichnisse standen
die Namen der Schuldner und die Höhe der Schuldsumme. Die jrpax-
xope? löschten nun die Namen derjenigen, welche gezahlt hatten,
aus, die Namen derjenigen aber, die in der festgesetzten Zeit ihrer
Verpflichtung nicht nachgekommen waren, verzeichneten .sie in einer
Liste, die sie den Ta|xtai der Göttin übeimittelten. Die Schatzmeister
der Athena und der übrigen Götter, 10 an Zahl, erscheinen seit
Eukleides, während im V. Jahrh. 2 Kollegien bestanden: die Schatz-
meister der Athena und die 434 eingesetzten der anderen Götter. Viel-
leicht hatten sie für einige Zeit nach Eukleides die Sorge für den
Staatsschatz überhaupt. Zum letztenmal werden die Schatzmeister der
Athena 300/299 v. Chr. erwähnt: sie haben den Anfang des III. Jahrh.
wohl nicht lange überdauert. Die Apodekten hatten schon im V. Jahrh.
das Amt dtr exactores; sie traten au die Stelle der Kolakreten, waren
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 189^^(1890)— lOUi?. (J. Oehler.) 73
aber nicht mehr die Einnehmer der Abgaben, sondern erhielten einen
anderen Wirkungskreis. Näheres über die Finanzverwaltung s. unten.
Der Rat.
Zur Zeit der Demokratie bestanden in A.then 2 ßouÄai: die ß.
auf dem Areiopag und der Rat im Prytaneion. Über den Rat auf dem
Areiopag vgl.:
124. Thalheim, 'Apstoc -a-,o;, Pauly-Wissowa II 628 f. Wila-
raowitz-MoelJendorf, Aristoteles u. Athen 113; 8. S. 186—200:
Der Ai-eiopag vor Ephialtes.
Mit Eecht sagt Wilamowitz, die Vorherrschaft des Areiopag sei
das Hirn Athens gewesen: dieser hatte die Kontrolle der Beamten, war
Beschwerdeinstanz gegen die Beamten, griff in die meisten Gebiete der
Verwaltung ein und war der Wächter und Bewahrer der Verfassung.
Die vorherrschende Stellung verlor er durch Ephialtes und blieb fast
nur noch Blutsgerichtshof. Von seinen früheren Obliegenheiten erhielten
die Dokimasie der Beamten die Gerichte, die Annahme der si;a"fiS/.ia
fiel dem Volke zu, die Verwaltung ging auf den Rat der 500 über.
Über den Rat der 500 handeln
125. Caillemer bei Daremberg et Saglio, Diction. I 738 — 44.
126. J. Oehler, BouX7],Pauly-WissowaIII 1020—1037. H.Müller-
Strübing, Studien S. 535 f.: Stellung, Organisation und Funktionen
des Rates.
Einzelne Kompetenzfragen werden erörtert von:
127. H. Francotte, De la Legislation atheuienne sur les dis-
tinctions honorifiques et specialement des decrets des clerouchies athe-
uiennes relatifs ä cet objet. Le Musee Beige III (1899) S. 246—281;
IV (1900) S. 55—75; 105—123.
Vgl. G. Doublet, Decret athenien de Delos. Bull. hell. XVI
(1892) S. 369—378.
Francotte bespricht zwei Fragen: 1. Besitzt der Rat das Recht,
die Publikation der Volksbeschlüsse anzuordnen? 2. Besitzt der Rat
das Recht, Proxenie uudEuergesie zu verleihen? Beide Fragen werden
mit Recht verneinend beantwortet.
Als Leiter der auswärugen Angelegenheiten trat der Rat bei
Staatsverträgen in Tätigkeit ; vgl. :
128. A. Martin, Quomodo Graeci et peculiariter Athenienses
foedera publica iure iurando sanxerint. Paris 18S9,
der die Frage behandel!: „Wer hat den Eid im Namen des
Staates zu leisten? Wer hat ihn entgegenzunehmen?" Zunächst war
74 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
die ßouXTf^ dazu berufen, die seit der kleisthenischen Verfassung als Ver-
tretung der Gesamtheit den Mittelpunkt des Staatslebens bildete. Doch
genügte die Bürgschaft der PouXtq allein nicht, sondern es wurden auch
die cTpaTY)7oi, Ta^iapyot und iTmap^^ot, seit dem IV. Jahrh. auch die inrueT?
herangezogen, letztere wohl deshalb, weil sie sich aus den angesehensten
Kreisen der Bürgerschaft rekrutierten. Da der Rat die oberste Ver-
waltungsbehörde war, wird diese seine Stellung bei der Finanz- und
Marineverwaltung noch zu besprechen sein.
So erscheint der Rat der 500 als permanenter Ausschuß der
athenischen Bürgerschaft, dessen Tätigkeit sich auf ganz verschiedene
Dinge erstreckte, der aber vor allem die Oberaufsicht über die gesamte
Verwaltung führte. Eine beaufsichtigende Tätigkeit führte er durch
Dokimasien, deren uns bezeugt sind: 1. die 6oxt|xajt'a des neuen Rates
vor dem alten; 2. die ooy.t[jLacjia der Archonten vor Rat und Geriebt:
3. die 6oxi|xaata der jungen Bürger bei der Aufnahme unter die De-
moten; 4. die Soxtfxaai'a der aouvaxot, der Arbeitsunfähigen. Auch über
die öffentlichen Gebäude, für deren Instandhaltung er sorgte, führte er
die Aufsicht. Als Körperschaft hatte er seine eigenen Beamten: "|'pa|x-
jj-aTsTc, Totji-iat, x^puS werden erwähnt; als Körperschaft hatte er Diszi-
plinargewalt gegen seine Mitglieder: ef übte sie aus durch die ex^uXXo-
«popi'a. — W^as über die Ratssitzungen, über den Rat als Gericht be-
kannt ist, ist in dem obengenannten Artikel bei Pauly-Wissowa ausgeführt.
Die Volksversammlung.
Als zweite Kammer erscheint der ör^|xoc in der Volksversamm-
lung. Eine gute Übersicht über dieselbe gibt
129. G. Glotz, Ekklesia, Daremberg et Saglio II S. 511—527,
der von S. 516 über die athenische Ekklesia handelt. Zunächst be-
spricht er die Bedingungen, au die der Zutritt zur Ekklesia geknüpft
war: 1. Abkunft von athenischen Bürgern, 2. Mündigkeit, 3. Vollbesitz
der büigerlichen Rechte. Wer sich unberechtigt eindrängt, setzt sich
der 7pa9T) ^svi'ac aus. Von Bedeutung für den Besuch der Volksversamm-
lung war die Einführung des fxi3f>6c exxXTjaiajttxo? durch Agyrrhios.
Der Ort der Versammlung war ursprünglich die «-/opa, dann die Pnj^x;
nur die Versammlungen, in denen wenigstens 6000 Stimmen abgegeben
werden mußten, fanden auf der ayopcz statt; ausnahmsweise versammelte
sich das Volk im Dionysostheater und in der 2. Hälfte des IV. Jahrh.
auch im Peiraieus. Unter Selon hatte die Volksversammlung nur
die Beamtenwahl vorzunehmen und die Rechenschaftsablage entgegen-
zunehmen, brauchte also nicht oft zusammenzutreten. Seit Klei-
sthenes fand in jeder Prytanie eine Volksversammlung statt, xupt'a
Bericht üb d. p;ri(>ch. Staatsalt^rtüra f. d. J. 1893(1890) — 1902. (J. Oehler.) 75
l\xkri<3i<x grenannt; dazn traten noch 3 in jeder Prytanie, welche
als vo|xtfxo[ ey.xXTr)3tai. ah exxXiQiiat il T£Ta7|i.Evat ex t(ov v6[jlü>v bezeichnet
werden; außer diesen srab ps noch außerordentrche, aiSYxXrjToi. Eio
fester Termin war nicht bestimmt; nur die erste Volksversammlung'
eines jeden Jahres wurde am 11. Hekatombaion abgehalten. Für jede
Veisammlnne: pab es eine Tagesordnung', r.p6^p'x\i[s.a.: in jeder xupia Ix-
xXTjjia wurde die e-tystpoTovia vorgenommen. Im V. Jahrh. wurde in
der xupta sxxXT)3ia der 6 Prytanie die Ttpo/stpotovia über die Fratze vor-
genommen, ob der Ostrakismo-s anerewendet werden solle. Wilamowitz:
Aristot. u. Athen II, 18. S 252—256 handelt über die Kpo-/£ipoTovia
und meint, sie sei eine spätere lu'^titution. Über den gewöhnlichen Ver-
lauf der Volksversammlung ist nichts Neues zu sagen. Die Leitung
haben die Prytantr mt ihrem zm-jzdr.rii , später die Trposopot mit ihrem
irrtJTaTY]?. Was die Kompett^uz der Volksversammlung anbelangt, er-
scheint der 0^(10; als Souverän, di>r selbstverständlich unverantwortlich
und nur an die Gesetze gebunden war; doch besaß er schlechthin keine
Initiative. Wer den Souverän zu einer Ungesetzlichkeit verleiten wollte,
konnte deswegen gerichtlich belangt werden durch die ipa'fY] irapavo-
jxtüv. Vgl. :
130. L. E. Lögdberg, Aniraaiversioaes de actione rrapavoji-wv.
Dissert. Upsala 189«.
Nachdem Verfasser zunächst eine Auseinandersetzung über die
Nomothesie gegeben, kommt er S 69 zu dem Schlüsse: die Ypa'fY) ua-
pavotJLcüv wurde von Solon eingesetzt, um gesetzwidrige Volksbeschlüsse
zu verhindern; als gegen Ende des V. oder im Anfang des IV. Jahrh.
die jährliche Epicheirotonie und die Nomothesie eingeführt wurde,
wurde bestimmt, daß die 'ipi'^ri Tzapavofxcüv auch bei Gesetzen Anwen-
dung finden könne. Lögdberg meint, die sTir/stporovia könne nicht von
Solon stammen.
Gerichtliche Kompetenz halte die exxXrj^ia im Falle der -poßoXr^
und eipa-f^EXia. Für den Ostrakismus, für die Verleihung der aösia und
für die Bürgerrechtsverleihung war die qualifizierte Stimmenabgabe von
vrenigstens 6000 Bürgern vorgeschrieben; die Versammlung wurde von
den Prytanen auf die a-^opa einberufen, wo auch die Abstimmung statt-
fand, während noch am selben Tage das Volk auf die Pnyx berufen
wurde, wo das Resultat der Abstimmung verkündet wurde. Über die
ao£ta liegt die Abhandlung vor:
13L M. Goldstaub, De aosta? uotione et usu in iure attico.
Breslauer philol Abh. IV. 1889.
132. Thalheim, "ASsta. Pauly-Wissowa I (1893) 354.
Goldstaub unterscheidet die vom Volke selbst gewährte und die
76 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertiim. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
erbetene aöeia, letztere z. B. als sicheres Geleite für heimkehrende Ver-
bannte oder Angehörige fiemder Staaten. Besser wird von der aoaia
für künftige Handlangen nnd der aosia für vergangene Handlungen ge-
sprochen, wie es Thalheira tut. Für die erstere Art (also für Bean-
tragung auf Aufhebung der Atimie usw.) war die geheime Abstimmung
von mindestens 6000 Bürgern nötig, für die letztere, welche Straf-
losigkeit für vergangene Taten gewährt, genügte ein einfacher Volks-
beschluß.
In die Kompetenz der Ekklesia fiel die Verleihung von Ehren-
bezeugungen; von diesen hat die „Bekränzung" eingehende Behandlung
gefunden in zwei Arbeiten:
133. A. Dittmar, De Atheniensium more exteros coronis
publice ornandi quaestiones epigraphicae. Leipziger Stud. XIII (1890)
S. 63-248.
134. G. Schmitthenner, De corouarum apud Athenienses
houoribus quaestiones epigraphicae. Berlin 1891.
Dittmar bietet in seiner Untersuchung mehr, als der Titel er-
warten läßt. Er handelt I) De coronis pioxenia et euergesia con-
iunctis; II) de coronis, quae inveniuntur in civitatis decretis; III) de
leliquis coronis omnibus. Er findet, daß es vor 332/1 noch nicht üb-
lich war, die Proxenoi mit Kränzen zu schmücken, wie denn vor dieser
Zeit der Kranz die höchste Ehre der Bürger Athens war; es w'urde
nach 332/1 der Kranz als Gipfelpunkt der Ehren derProxenie nnd Euergesie
hinzugefügt. Während aber bis Ol. 11 J die Proxenie mit der Euergesie
verbunden erscheint, findet sich vor Ende des IV. Jahrb. die Proxenie auch
allein. Was die Euergetai betrifft, so wird mit Recht bemerkt, daß die
£U£p7£Tai der späteren Zeit w'ohl zu untersclieiden sind von denjenigen,
die im IV. Jahrh. mit der eu£p7£aLa geehrt wurden. Diese Ebren wurden
in ältester Zeit nur der betreffenden Person verliehen; allmälilich aber
erfolgt die Verleihung auch an die Nachkommen des Geehrten und
Regel ist dies nach Ol. 116; von Ende des IV. Jahrh. an kehrt mau
wieder zur Gewohnheit der älteren Zeit zurück. Was die Ladung ins
Prytaneion betrifft, bemerkt Dittmai-: Kein Melöke, der den Titel
7:p6$£voc xal £U£p7£-Tj? erhielt, wurde ins Prytaneion geladen. Was die
„Belobung", eraivoj, angeht, finden sicli bis Ol. 101 mehr Inschriften,
in welchen Eiiaivoc nicht vorkommt, dagegen ist seit Ol, 111 bei allen
Ttpo^Evoi der eraivoc erwähnt. Ursprünglich hatte auch diese Ehre eint'U
höheren W'ert, daher sie bisweilen durch ein Amendement den bean-
tragten Ehren hiuzugelügt wurde. Auch die Imiiilzici. ward nicht, wie
Monceaux fälschlich aiigenommem hatte, von allem Anfange allen
Proxenen und Eueigeten zuteil. Eerner erscheint die -po$£via y.ai
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d J. 1893(1890) - 1902. (J. Oeliler.) 77
z'jtp-[tji'x bis Ol. 98 fast nur oliue s^xTiriat; ^rjj y.al otxtac verliehen,
während seit Ol. 116 diese regelmäßig- damit verbunden ist. Wichtig
ist die Erörterung des Zusatzes xaxa xov v(>[j.ov bei der Verleihung eines
f^oldenen Kranzes: es sei zu übersetzen „von Rechts wegen"; es hätte
demnach in Athen Gesetze gegeben, in denen vorgeschrieben war, daß
Leute, die sich um den Staat verdient gemacht hatten, mit Belohnungen
und Ehren ausgezeichnet werden. Seit etwa 296 v.Chr. trat eine Do-
kimasie der Neubürger ein, vielleicht eine solche aller Ehrenbezeugungen.
Ä.uch bezüglich der Neubürger findet sich der Zusatz xata xov vrfjjLov
seit 320, während von 346 an der Zusatz erscheint: wv oi v6|xoi
XS70U31. Das Gesetz über die goldenen Kränze sei 285 v. Chr.
aufgehoben worden. Dagegen s. Schmitthenner. Der übrige Teil des
IT. Kapitels befaßt sich mit Bürgen echtsdiplomen. Im Kapitel III
wird über die Kränze im übrigen gehandelt und es werden mehrere
Perioden unterschieden: vor Ol. 100; zwischen Ol. 100 und 112;
zwischen Ol. 112 und 116; 116 bis 118; 119—123: endlich die Zeit
nach Ol. 123,3. — Im Jahre 286/5 wurde das Gesetz gegeben, nach
welchem die Prj'tanen aller Phylen, welche ihr Amt gut geführt,
oder diejenigen, welche ihr Geschäft am besten geführt, mit einem
goldenen Kranze geschmückt werden sollten. Was das Gesetz über die
Bekränzung des Rates wegen Erbauung der Schiffe betriflft, meint
Dittmar: in illa lege non scriptum erat senatum coronandum esse, si
munere bene functus esset, sed scriptum erat senatui non licere coro- .
nam petere. nisi naves curasset aedificandas. Ergo illa lege non iussum
est qnicquam, sed cautum. In der Zeit zwischen 304 und 286 wird
entweder ein goldener Kranz „von Rechts wegen** oder nur ein Öl-
zweigenkranz verliehen; nach 286 erfolgt die Verleihungeines goldenen
Kranzes an einen Fremden sehr selten, nach dem chremonideischen
Kriege fast nie.
Schmitthenner spricht zunächst über die öffentliche Verwendung
des Kranzes in Athen, der einmal als Abzeichen der Redner und
amtierenden Beamten , dann als Auszeichnung verdienter Personen er-
scheint. Aufgekommen sei die Sitte der Bekränzung zur Zeit des
Perikles; in der älteren Zeit nun hätten, meint Schm. im Gegensätze
zu Dittmar, die Athener viel eher einem Fremden als einem Bürger
eine Ehre erwiesen. Es gab verschiedene Arten von Kränzen; Blatt-
kränze (Lorbeer- , Efeu-, Myrten-, Ölbaumkränze) und goldene Kränze.
Bei den Blattkiänzen (öaXXoü sTe'favot) erscheint niemals ein Preis an-
gegeben; goldene Kränze werden vor Ol. 119 entweder ar.b yiXiwv
opayjJLÖjv oder a-ö rsviaxoaiwv opayjjLÜiv verliehen, wozu die xaixiai das
Geld zu zahlen haben. Nach Ol. 119 aber erscheint statt der Formel
0.7:0 opayjxtuv die Formel ypuiti) a-scpavti) xata xov vofxov , die Schmitth.
78 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. H. .1 1 8931 1 S90 1 - 1 902. (.T. Oehler.}
S. 24 dahin erkiSrt: es werde damit dPi- PiPis des Kranzes bezeichnet,
nachdem bald nach Ol. 118, 3 duich ein Gesetz bpstimmt worden war,
es sollte weiterhin kein Kranz veiliphen werden , der mehr als
500 Drachmen kostete; diese Erklärnns" liar viel für sich, nachdem auch
in anderen griechischen Städten älinliclip Bestimmunspn g-etioffen waren.
Da die Epheben die Kosten für die Kränzi- der von ihnen Geehiten
selbst anfbringen mußten, brauchtpn sie sich nicht an diese s^esetzliche
Bestimmung' zu halten. Auch bei der Verleilnuis der e^xTirjat? ist der
Zusatz xa-a xov v6[jlov auf das Piiviles-'ii'ni selbst zu beziehen.
Schon flühzeitig wnnie die Bt kiäiizunff öffentlich au.egerufen, das-
Ehrendekret in Stein eingegiaben; im Tluatei- wuiden nicht die Kiänze
der Bürger, sondern die den Fiemiieti veihVhenen veikündft.
War die Verleihung der Ehrenbtzengnngen Sache des Souveiäns,
des o^p-o?, in der Yolksversanmlung, so beiiuiften die Ehrenbeschliisse
attischer Kleruchen der Zustimmung: des athenischen Volkes, wenn diese
Beschlüsse athenische Bürger betieffen: G Dnnldet, Bull hell. XVI
(1892) S 373; Francotte in der ohengenaniiten Abhandlung.
Auch die Veihältnisse der Kleiuchien überhaupt wurden durch.
Volksbeschlüsse geregelt:
135. J. H. Lipsins, Zum ältesten attischen Volksbeschluß.
Leipziger Studien XII (1^90) S 221—224.
136. W. Judeich, Der älttste attische Volksbeschluß. Athen.
Mitt. XXIV (1899) S. 321 f.
Judeich erklärt, die Urkunde steile sich dar als Grundgesetz für
die eben dem attischen Staatsverbande eingefügten Scilaminier. Es
blieben den Salaminiein auch weiterhin Rechte: sie hatten das Recht
des Giundbesitzes und erinnern an die bevorrechteten Schut^bürger
(Isotelen).
Staatsverwaltung.
a) Finanzverwaltnng.
Die Leitung des Finanzwesens und die Kontrolle über dasselbe
war die Hauptseite der amtlichen Tätigkeit des ßates der 500. So
war auch das Reichsfinan?wesen ihm unterstellt, indem er die Vor-
arbeiten für die Abschätzung der Tribute traf. Als Keichsfinanzbeamte
erscheinen die Hellenotamiai.
136a. *H. Lehner, Über die athenischen Schatzverzeichnisse
des vierten Jahrhunderts. Straßburg 1890. Rez. BphW 1890, 1497 f.
v. Schoeffer.
Bericht üb. d. griecli. Staatsaltertüm. f. d. J. 18;)3(1890)— 1902, (J. Dehler.) 79
Der Verf. ueigt zu der Ansicht, daß das vereinigte Kollegium
der Tafxiai t^c i)sa; lind rw/ aXXtov ilscov nicht seit Ol. 94, 1 eingesetzt
sei, sondern seit Ol. 93, 3. Weiter stellt er fest, daß die ersten Schatz-
raeisterkollegien nach Eukleides bis Ol. 96, 2 jährlich drei Urkunden
veröffentlichten: ev tiö vscu -m 'Ey.arojx-Eotp, Iv. xoZ 'Om39oo6[i.ou, ir. to-S
IlapOsvaivo^. Seit Ol. 98, 4, in welchem Jahre das Kolleg der Tafiiat
Tcov aXXüJv ftscüv erneuert worden sei, wurden alle Schätze promiscue
auf einer Tafel verzeichnet, bis Ol. 103, 2 die Dreiteilung der Verzeich-
nisse wiedereingeführt wurde.
"Was die Tribute betrifft, sind zu erwähnen:
137. G. Bannier, De titulis aliquot atticis, rationes pecuniarum
Minervae exhibentibus. Berlin 1891.
138. W. Bannier, Die Tributeinnahmeordnung des attischen
Staates. Ehein. Mus. LIV (1899) S. 544—554.
Die erstgenannte Schrift behandelt ohne besonderes Ergebnis
einige Inschriften; in der zweiten wird erörtert: 1. die Voreinschätzung;
2. die Veranlagung; 3. die Bekanntgabe der Veranlagung und die
Entscheidung über die Berufungen; 4. die Aufstellung der Hebelisten;
5. die Vereinnahmung; 6. die Berechnung des Sechzigstels an die
Schatzmeister; 7. die Zwangsbeitreibung. Die Voreinschätzung nahmen
die xaxxai, welche ein jähriges Amt bekleideten, an Ort und Stelle vor
und trugen ihre Feststellungen in ihre Listen ein. Die erste Prytanie
machte auf Grund dieser Listen Vorschläge an die ßouXr,, welche an
den Panathenäen die Höhe des Tributes festsetzte, worauf noch der
S^fjLOi; zu jedem einzelneu Beschlüsse Stellung nahm. In den ,, Griechischen
Studien" für H. Lipsius sucht Panske ,,De contributionibus" den Unter-
schied zwischen den Tributen des V. Jahrh. (dem ^opoc) und den
Kontributionen des IV. Jahrh. (cuvTdccstc) historisch zu erklären. Diese
letzteren durfteu nur xa-a zd oo-iiiairt xüiv cu[j.[xaytüv von den Athenern
den Bündnern auferlegt werden, welche Beschränkung im V. Jahrh. nicht
bestand.
Das Budgetrecht stand der Volksversammlung zu: in der Volks-
versammlung wurden auch Anleihen und Rückzahlungen beschlossen.
139. E. Szauto, Zum attischen Budgetrecht. Eranos Vindo-
bonensis 1893, S. 103—107,
führt aus: Die Bewilligung von Taggeldern, die nur durch Gesetz
vorgenommen werden konnte, erfolgte in der Volksversammlung nur
dann, wenn ein Gesetz generell für alle subsummierten Fälle oder
speziell für einen einzelnen Fall es gestattete. Es wurde ein Nach-
tragskredit eingebracht, wofür der Ausdruck T:po;vo;j.o&£Tf,c;a'. gebraucht
wird. Die Gesetzessammlung der Athener war nach den Behörden ge-
80 Bericht üb. d.griech.Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890) -1902. (J. Oehler.)
ordnet, die mit ihrer Handhabung betraut waren; so waren die einzelnen
Budgetposten in den Gesetzen derjenigen Behörde enthalten, welche die
betreffende Auszahlung vorzunehmen hatten, also die Mehrzahl in den
Gesetzen der Pinanzbeamten. Panske ,,De magistratibus" S. 56 be-
hauptet: stetisse per populum Atheniensium , per simplex scitura suum
apodectis uon solum singulas pensiones quasi subitarias, verum etiam
perennes nee tempore definitas imperare.
140. E. Szanto, Anleihen griechischer Staaten. Wiener Studien
VII (1885) 232—252; VIII (188G) 1-36.
141. E. Cavaignac, Le decret de Callias. Comment les Athe-
uieus ont eteint leur dette apres la guerre archidamique. Revue de
Philol. XXIV (1900) S. 135—142.
Szanto S. 8 f : „Die Anleihen des attischen Schatzes sind nicht
immer zurückgezahlt worden; sie waren nicht viel mehr als Scheia-
anleiheu und der Tatbestand ist kein wesentlich anderer, als v.'enn die
überreichen Einnahmen des einen Budgetposteas für zu große Ausgaben
des anderen verwendet worden wären. Faktisch wurde der heilige Schatz
in Athen als ein staatlicher Reservefonds angesehen, dem jederzeit ent-
liehen werden konnte: die getrennte Verwaltung wie die Verzinsung
beweist nichts als die Anerkennung des Eigentumsverhältnisses."' Um
die Forderungen zurückzuzahlen, bedurfte es eines Volksbeschlusses,
welcher die Beamten anwies, die Rückzahlung zu leisten. Einen solchen,
für die Geschichte der athenischen Finanzen bedeutenden Beschluß,
CIA I 32 vom Jahre 420 behandelt Cavaignac, der zeigt, in welcher
Weise die Rückzahlung an die ,, Göttin" erfolgte; bei der Zusammen-
stellung der Einnahmen werden genau „die Reichseinnahraen" und „die
städtischen Einnahmen" gesondert, die Berechnung nach 4 jährigen
Finanzperioden angestellt.
Die ganze athenische Finanzverwaltung charakterisiert B. Keil
richtig als „Anweisungswirtschaft, die von der Hand in den Mund leht",
wobei CS nie zur Bildung eines wirklichen Staatsschatzes kommt. Nur
war Athen in der günstigen Lage, Anleihen bei den heimisclien Tempel-
schätzen machen zu können, die mäßig zu verzinsen waren und deren
Rückzahluugstermin ganz in den Händen des Schuldners, des Staates,
lag. Als dies nicht mehr möglich war, führte die Auleiheuswirtschaft
ebenso in Athen wie in den anderen griechischen Städten den finanziellen
Ruin herbei. Die Ilauptuisache sieht Szanto mit Recht in der Scheu
vor außerordentlichen Steuern, infolge deren die Städte zu Anleihen ge-
zwungen wurden. In Athen erscheint als solche außerordentliche Steuer
die Etacpopa, über die übersichtlich handelt
Bericht üb, d. griech. Staatsaltertüm. f. d J. 1893(1890) — 1902. (J. Dehler.) gl
142. Ch. Lecrivain, eijfpopd in Daremberg- et Saglio, Diction.
ir (1S92) S. 504—510.
Die Haupteinkünfte des Staates stellten die indirekten Gefälle und
die Domäneneiukünfte dar; sie wurden im V. Jalirh. regelmäßig- ver-
pachtet; vgl.
142a. M. Kostow/ew, Geschichte der Staatspacht in der rö-
mischen Kaiserzeit. Philol. Suppl. IX (1902) S 332-336.
Eine Ausgabenpost ist erörtert von
143. E. Drerup, Über die Publikationskosten der attischen
Volksbeschlüsse. N. Jahrb. f. Philol. 153 (1896) S. 227—257.
Es wird gezeigt, daß die Publikationskosten der attischen Volks-
beschlüsse sich nur nach dem Umfang des aufzuschreibenden Dekretes
richteten, und zwar so, daß für jede angefangenen 500 Buchstaben
10 Drachmen ausgeworfen wurden.
In dem Dekret zu Ehren des Pytheas: Rev. des Etudes grecq.
VI (1893)^ S. 1 f. heißt es, der xafitac xou d-q\i.oi) soll 20 Drachmen für
die Stele zahlen ex tüiv zl; toc xa-ra <\i-i]<fi(.j\).oizoL avaXtuxofjtsvwv tw Syjiaco.
Mit der Stellung der Staatsschuldner beschäftigt sich
144. *A. S. Arvanitopullo, Questioni di diritto attico. I. Dei
debitori verso lo stato ateniese, Roma 1899.
Es werden an Staatsschuldnern unterschieden 1. die Bundes-
genossen, die den cpopo^ nicht zahlten (es waren also Schuldner an die
Eeichskasse), 2. Athener, die dem Staate Trierengeräte schuldeten,
3. die Schuldner öffentlicher und heiliger Gelder, 4. Schuldner, deren
Verpflichtungen aus gerichtlichen Strafen wegen gesetzwidriger Hand-
lungen herrührten. Es intervenierten bei der Eintreibung 20 Logisten
und 10 3uvr]7opot als Kollegium, das in den Inschriften bezeichnet er-
scheine als 30 Logisten.
Militärwesen.
a) Landheer.
Der Rat führte die Oberaufsicht über die Reiter und Hopliten.
l'ber die ßeitertruppe spricht ß. Keil, Anonym. S. I40f. : In der Zeit
von 447 — 5 wurde eine unter der Kontrolle des demokratischen Staates
stehende ßeitertruppe aufgestellt durch Gewährung der xarasrasu und
des 31X0?; naturgemäß stellte dazu der Ritterstand das Hauptkontingent.
Das Roß dient dann auch zur Bezeichnung des Ritterzensus; vgl.
145. A. Ludwicb, Zur aristotelischen Schrift vom Staatswesen
der Athener, Pestschr. f. 0. Hirschfeld S. 61-68,
der die Angabe K. VII § 4 dahin erklärt, das plastische Werk habe
den Diphilos und neben ihm ein Pferd dargestellt.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. OXXII. ü90i. III.) G
82 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüni. f. d. J. 1893(1890)-1902. (J. Oehler.)
145a. W. Helbi^, Les ir.-zT; Atli^niens. Extrait des M6raoires
de rAcadeiDie des inscr. et bell, lettr. t. XXXVII. Paris 1902.
H, stellt hier die Vasenkunde in den Dienst der Altertümer, nin
die Zeit zu bestimmen, da die Athener ein Reiterkorps als besondere
Truppe rekrutierten, im Jahre 490 bildete die Reiterei keinen inte-
grierenden Bestandteil der athenischen Armee. Der Verf. spricht zu-
nächst über die iTTTreu der Naukrarien, über welche die Dipylonvasen
Aufschluß geben: die auf den Vasen dargestellten Reiter zeigen nur,
daß die Bewohner Attikas sich während der Periode des geometrischen
Stiles des Pferdes als Transportmittels statt des Wagens bedienten, be-
weisen aber nicht das Vorhandensein eines ßeiterkorps. Auch die
jungen Reiter auf den Vasen des VI. Jahrhunderts sind keine Reiter-
soldaten, sondern berittene dr^-ripizai. Auf den attischen Grabstelen er-
scheint auf dem Sockel häufig ein junger Reiter, während auf der Stele
selbst ein Hoplite dargestellt ist. Damit soll die soziale Stellung des
Verstorbenen bezeichnet werden als iirTrsu;: er hatte als Hoplite gedient,
sein Vermögen aber erlaubte es ihm, ein Pferd zu halten, das ihn
während des Marsches trug, und einen uityjpetyjc. Wo zwei Pferde dar-
gestellt sind, handelt es sich um einen TtevTaxostojxsSiixvo;; diese konnten
ein Korps der tr-etc bilden unter einem iTrTrapyoc So erscheinen die
mireic als berittene Hopliten ; ihr Kommandant, der Tn:7:apyo?, übernahm
nach der Organisation einer eigentlichen Kavallerie die Führung der-
selben. Bis zum Jahre 479 v. Chr. waren die lizrSiz berittene Hopliten
oder üTTTipsTai. Wenn nun auf Vasen des VI. Jahrh. Soldaten der
Kavallerie dargestellt sind, so handelt es sich da nicht um athenische,
sondern um thessalische Reiter; die thessalische Reiterei wird schon im
VII. Jahrh. erwähnt und spielt im VI. Jahrh. eine Rolle in der mili-
tärischen Geschichte Athens. Vasen des V. Jahrh. stellen Exerzitien
und Manöver der Reiter dar, die von H. auf die Soxi}xa3ia bezogen
weiden; Vasen mit derartigen Darstellungen gehören in die Zeit von
485 bis 455 v. Chr. Das Jahr 477 kann als terminus post quem für
die Organisation der athenischen Reiterei angenommen werden, der
terminus ante quem ist gegeben durch das Jahr 472; im Jahre 457
nahm die athenische Reiterei bereits teil an der Schlacht bei Tanagra.
Au der Spitze der ganzen Reiterei stand der TTtTiotpyo;, während die Phy-
larchen die Chefs der Eskadron einer Phyle waren; damit hörten die
berittenen Hopliten auf, eine besondere Truppe zu bilden. Zunächst
waren 300 Reitej-, die wohl kurz vor 438/7 v. Chr. auf 1000 vermehrt
worden. Die späte Eriichtung einer besonderen Reitertruppe erklärt
sich aus der Beschaffenheit des attischen Bodens. Im VII. und
VI. Jahrh. v. Chr. stützten sich alle Heere Griechenlands auf die Ho-
pliten, die als hellenische Truppe par excellcnce erscheinen; die berittenen
Beiichtüb d griecli. Staatsaltertüm. f. d J. 1893(1890)— 1902. f J. Oehler.) 83
llopliten, t-rsü, bildeten eine Elitetrnppe. Auch in Korinth gab es
tTTKEi?, berittene Hopliten; eine griechisclie Armee jener Zeit bot einen
eigentümlichen Anblick: Hopliten zu Fuß, solche zu Pferd, begleitet von
Dienern zu Pferd, manche hatten den Diener hinter sich auf ihrem Pferde.
b) Marine.
Eine der Hauptaufgaben des Rates war die Oberaufsicht über die
Flotte und zwar erhielt der demokratische ßat der 500 die volle Leitung
des Marinewesens etwa 462/1: Keil, Anonym. S. 212. Zuvor stand
die Flotte, unter der Leitung des Areiopaji, wogegen Kolbe (147) be-
hauptet, die SoTge für die neugeschaffene Flotte sei von vornherein dem
Rate der 500 übertragen weiden. Der Rat nun führte die Oberaufsicht
durch eine Kommission aus seiner Mitte. Darüber handelt außer B. Keil,
Anonymus, Beilage I: Zur athenischen Marineverwaltung 8. 201 — 224,
146. W. Kolbe, De Atheniensium re navali quaestiones selectae.
Philol. LVIII (1899) S. 503—552.
147. Derselbe, Zur athenischen Marineverwaltung. Athen. Mitt.
XXVI (19(h) S. 377—418.
Nach einer einleitenden Darstellung über den Ursprung der athe-
nischen Flotte handelt Kolbe im I. Teile über das Wachsen und die Ab-
nahme der athenischen Flotte bis zum Jahre 376 v. Chr., im IL Teile
über die Verwaltung der Marine, und zwar im 1. Kapitel über die
Verwaltung in der früheren Zeit und im 2. Kapitel über die Verwal-
tung im V. Jahrb., wobei die Beamten, die Trierarchie und der Sold
sowie die Verpflegung erörtert wird.
Die Aufgabe der vauxpapot war es, die Schiffe zu bauen, das Geld
dazu wurde vom Staate gegeben; die Naukraren kommandierten auch
die Schiffe, der Polemarch stand an der Spitze sowohl des Landheeres
als der Flotte. Theniistokles hat die Naukrarien beseitigt und die
Marineangelegenheiten den Trittyen übertragen sowie die Leiturgie der
Trierarchie eingeführt. B. Keil, Anonym. S. 229 mit Anm. nimmt an,
die Seemacht sei der Landmacht analog organisiert gewesen nach den
Phylen und ihren Unterabteilungen, den Trittyen, spricht sich dagegen
aus, daß Athen bereits im VII. Jahrh. im Besitze einer Flotte war, die
nach den Naukrarien organisiert gevyesen sei. Die Kommission des Rates,
welche die Aufsicht über die Schiffsbauten führt, sind die rptr^poTroiot, 10 vom
Rate aus seiner Mitte erwählt; sie hatte den Abschluß der Kontrakte
mit den Unternehmern zu besorgen. Dagegen besorgten die dpxt'extovec
die Übeiwachung der Ausführung der Arbeiten durch die vaunTi^o'', die
nach Keil im Dienste des Staates standen, Bezahlung erhielten und eine
hohe Stellung in der gesellschaftlichen Gliederung einnahmen, was jedoch
6*
84 Bericht üb. d. griech. Staatsaltcrtüm. f. d. J. 1S93(1890)-1902. (J. Dehler.)
nicht wahrscheinlich ist. Es erscheinen ferner erwähnt vetopoi: diese
hält Keil für die eigentlichen und höchsten Verwaltungsbeainten für die
athenische Marine im V. Jahrb. , die den Schiffsbau unter sich gehabt
und den [xiaOo? gezahlt haben; Kolbe dagegen führt aus, die vsmpoi hätten
nicht über größere Summen verfügt, hatten also auch den Schiffsbau nicht
unter sich, sondern diesen besorgten auch im V. Jahrh. die TptY]poTT;oioi.
Der Ansicht Kolbes können wir um so leichter zustimmen, als auch Keil
die E7:t|i.cXr,Tal xtüv vscupttov als Amtsnachfolger der vswpoi ansieht, so
daß wir ihnen auch die gleiche Befugnis zuschreiben. Eine eigene
Kommission des Rates sind die 10 im^iz'Koii.twi xou vewpiou, welche im
V. Jahrn. die Aufsicht über Schiffshäuser und Werften führte; mit der
Vernichtung derselben durch die 30 wurde auch das Amt aufgehoben,
nach der Wiederherstellung der Seemacht wurde dasselbe unter dem
Titel „e-iixsXrjxal xwv vscupituv' wiedereingesetzt.
Verschiedene Ansichten haben Keil und Kolbe über die Bedeutung
des Wortes e^ai'pstot. Nach Keil sind v^s? eSaipexot, naves exemptae,
mit besonderen, nicht mit den für die Flottenergänzung etatsmäßigen
Mitteln beschafft worden, während sie Kolbe S. 405 als Reservegeschwader
auffaßt, was wohl richtiger ist.
Der Vollständigkeit wegen sei auch erwähnt
148. F. Meindlhumer, Die Symmorieneinrichtung zur Zeit
des Demosthenes. Progr. Hörn 1900,
der eine leicht verständliche Darstellung der Symmorieneinrichtung gibt.
Gerichtswesen.
149. S. Brück, Über die Organisation der athenischen Heliasten-
gerichte im IV. Jahrh. v. Chr. Philol. LH (1893) S. 295—317;
395—421.
150. Derselbe, Die Heliastentäfelchen. Philol. LIV (1895)
S. 64—79.
151. Derselbe, Zu den athenischen Heliastentäfelchen. Ath.
Mitt. XIX (1894) S. 203—211.
152. *Th. Teusch, De sortitione iudicum apud Athenienses.
Diss. Göttingen 1895.
153. J. Vürtheim, De Heliaeis Atheniensibus. Mnemosyne
XXVIII (1900) S. 228—236.
Vgl. auch B. Keil: Anonymus, Beil. 2: Zum athenischen Gerichts-
wesen S. 225—269.
Bei der Wiederherstellung der demokratischen Verfassung nach
doBi Sturze der Dreißig wurde das Gerichtswesen neu organisiert und
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. 0(^lilor.) 85
in dieser Reorganisation bestand es den größten Teil des IV. Jabrh.
hindurch, während es im III. Jahrh. nicht mehr in seiner alten Gestalt
existierte. Jeder über 30 Jahre alte Bürger, der im Vollbesitze der
bürgerlichen Rechte war, konnte sich zur Heliasie melden; er erhielt
ein Täfelchen, das in früherer Zeit aus Bronze, zu Aristoteles' Zeit
aus Buchsbaumholz war. Auf diesem Täfelchen war der Name des
Bürgers, der seines Vaters, sein S^ixo; und der Buchstabe der Richter-
abteilung, der er angehörte, verzeichnet. Dieses Legitimationstäfelchen
behielt der Heliast dauernd; daher beschränkte sich die jährliche
Meldung nur auf die neu Eintretenden. Damit übernahm aber der
Bürger keineswegs die Verpflichtung, sich ein ganzes Jahr hindurch
an den sämtlichen Gerichtstagen einzufinden. Fast aile über 30 Jahre
alten Bürger waren Heliasten; in den Gerichtshöfen waren Städter und
Landleute, arm und reich, jung und alt, vertreten. Die Richter waren
phylenweise, innerhalb der Phylen in 10 Abteilungen (A — K) gegliedert;
Richtersektionen und Phjieu standen im Zusammenhang, waren aber
nicht identisch. Die Zahl der Richter in den 7pa[j.jj,a-:a konnte nur
annähernd gleich sein. Sixas-n^piov selbst bedeutet nicht „Richter-
abteilung", sondern ganz allgemein „Gerichtshof", und zwar sowohl das
Gerichtslokal als die in demselben versammelten Richter. Für jedes
Gerichtslokal wurde ein 7pci(|jL[jLa ausgelost. Von den 25 000 Bürgern,
die Athen in der ersten Hälfte des IV. Jahrh. zählte, waren 15 000 —
16 000 zur Heliasie berechtigt; man rechnete aber nur auf das Er-
scheinen eines Drittels (5000 — 6000), daher wird als der größtmögliche
Gerichtshof der von 500 betrachtet. Einen solchen nun bezeichnet im
prägnanten und speziellen Sinne der Ausdruck oixaatiqptov.
Teusch handelt über die Meldung zum Richteramt, über die täg-
liche Auslosung der Richter, Verlosung der Gerichtshöfe an die Richter.
Er nimmt an, daß die bronzenen Richtertäfelchen auch zur Auslosung
der Behörden benützt worden seien,
Vürtheim spricht 1. de numero heliaearura Atheniensium, 2. de
uominibus tribunalium. Der Ort, wo die Richter erlost wurden, war
in 10 Teile eingeteilt, jeder Teil hatte seinen besonderen Eingang und
war nur für die Richter einer Phyle bestimmt. In den einzelnen Ab-
teilungen standen wohl mehr als 10 Urnen, nämlich so viele, wie viele
Tribunale an dem Tage richteten (gegen die bisherige Meinung, es seien
10 xtßa>-'.a gewesen). Es werden dann 10 Namen von Gerichtshöfen
aufgezählt.
Keil erklärt die Zahl 6000 aus 30 Trittyen mal 200 Gaurichter ;
die Gerichtshöfe zu 500 seien nach Analogie des Rates gebildet. In
der Entwickelung des Gerichtswesens der vormakedonischeu Zeit unter-
scheidet er 4 Perioden, von denen die beiden ältesten durch das Jahr
86 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J. Oehier. )
403/2 geschieden sind; die 3. Periode beginnt mit 375, die 4. mit
338 V. Chr.
VII. Die kleineren Staaten.
a) Feloponnesos.
Epidauros.
154. B. Keil, Die ßechnuDgen über den epidaurischen Tholos-
bau. Athen. Mitt. XX (1895) S. 20 f.; 405 f.; vgl. derselbe:
Hermes XXXII (1899) S. 400, Anm. 1.
Von ordentlichen Beamten erscheinen der iapsu? und der xaxaXo-
70s (tSc? ßouXas), ßatsarchivar, von außerordentlichen die Mitglieder der
leitenden Baubehörde, die l78oTyjp£c und dufAeXoTroiat. Der lapsuj, der
Priester des Asklepios, erscheint als Jahreseponym; der xaxaXoYo; ver-
einigte in sich die Qualitäten des athenischen 7pa}A(xaTeuc x^? ßouX^c und
des späteren i-nX tt] oiotxT^ast, ist v^^ohl auch, entsprechend den athenischen
Logisten, bestimmt, die Forderungen der einzelnen Ressorls mit den
jeweilig einlaufenden Geldern in Balance zu halten. Was die Naraen-
gebung betrifft, erscheint, nach attischem Sprachgebrauche gesprochen,
stets das Demotikon. — Die Bürgerschaft von Epidauros scheint in
eine große Anzahl von Phratrien eingeteilt gewesen zu sein , wie dies
die große Zahl der Phratriennamen erkennen läßt.
Elis.
155. E. Curtius, der Synoikismos von Elis. Sitzungsber. Berl.
Akad. 1895 S. 793 f.
156. E. Szanto, Bronzeiuschrift aus Olympia. Jabresh. d. österr.
arch. Instit. I (1898) S. 197—212.
Curtius behandelt den Synoikismos, der in das Jahr 471 v. Chr.
fällt. Es bestand zuerst eine streng oligarchische Verfassung: 90 lebens-
längliche Geronten standen an der Spitze. An die Stelle der engen
Oligarchie wurde ein neuer, größerer Kreis von Geschlechtern zui*
Leitung der öffentlichen Angelegenheiten herangezogen. Doch war der
Synoikismos ohne zentrale Hauptstadt, es gab kein freies Bürgertum
und keine beschließende Bürgergeraeinde, sondern das Heiligtum allein
bildete den Mittelpunkt und das Band, welches die Bevölkerung zu ge-
meinsamen Leistungen verpflichtete.
Szanto bespricht das wohl mit Beziehung auf den Bund mit
Alexander vom Jahre 336 v. Chr. erlassene Gesetz, welches Verbannung
und Güterkonfiskation verbietet.
156a. R. Meister, Elisches Amnestiegesetz auf einer Brouzetafel
ausOlympia. Verb. d. köu. sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig L(1898)218f.
Beriebt üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890) — 1902. (J. Oehler.) 87
Nach M. be^iunt das Gesetz mit dem Verbote, die Nachkommen
bestimmter Leute, die vevea, Deszendenz, der 'fu-,a5e;, zu vertreiben;
es erscheint demnach als Zusatzgesetz, während das frühere Gesetz die
<f)U7o8£; selbst betraf. Das Gesetz gehört in das Jahr 335 v. Chr.; das
Jahr desPyrrhou ist nicht das Jahr des Gesetzes, sondern wohl 336 v. Chr.,
in welchem Jahre Alexander den Landfrieden hatte beschwören lassen.
Tav cjTaXav «osXtoüv erklärt Meister als: „Die Stele zu einer ohne Schrift-
tafel machen, d. h. die Schrifttafel aus der Stele herausreißen."
Arkadien.
156b. *G. Fougeres, Mantinee et lArcadie Orientale. Paris
1898. Rez. v. Oberhummer BphW 1900 Sp. 528-31.
Das Werk behandelt eine vielgenannte Stadt Griechenlands auf
Grund der französischen Ausgrabungen von 1887 — 1889 in drei Ab-
teilungen: 1. das Land, 2. den Staat von Mantineia, 3. dessen Geschichte.
Das Schlußkapitel der zweiten Abteilung enthält die Darstellung der
Verfassung und der öffentlichen Einrichtungen der Stadt.
Messenien.
156c. *K. Seeliger, Messenia und der Achäische Bund. Progr.
Zittau 1897. Rez. BphW 1897, 1109 f. v. Hertzberg.
Die Schrift behandelt die materielle Entwickelung des neuen
Staates von Messenien oder „Ithome" zuerst seit Epameiuoudas, dann
seit Philipp von Makedonien möglichst vollständig und planmäßig.
Dabei wird auch das innere Verfassungsleben und die Organisation ihres
Beamtenturas näher geprüft.
b) Mittel* and Nordgriechenland.
Korinth.
157. G. Busolt, Die korinthischen Prytanen. Hermes XXVIII
(1893) S. 312—320.
Nach dem Sturze der Tyranuis in Korinthos wurde wohl der
eponyme Beamte upu-avi; genannt, wie denn in den korinthischen Pflanz-
städten Anaktorion und Korkyra eponyme Prytanen erscheinen.
Thespiae.
158. P. Jamot. Le College des hierarques ä Thespies. Bull,
hell. XIX (1895) S 375—379.
159. Colin, Bull. hell. XXI (1897) S. 554—559.
160. B. Haussoullier, Notes epigraphiques. Revue de
Philol. XXII (1898) S. 359—363.
Die lepap/ot waren im III. Jahrb. die Hüter des Schatzes; sie
bildeten ein Kollegium von 5 Mitgliedern mit einem ^pajxixareu; und
einem x5pu$.
88 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
In der von Colin vevüfFentlichten Inschrift werden genannt apywv,
2 r.oXiy.oLpyoi, 7pi|Xfi.aTcuc; strittig erscheint die Bedeutung der in der-
selben Inschrift genannten TiposTatat. In der Inschrift IGr Sept I 1739
werden sie von Dittenberger als curatores erklärt; in der von Colin
veröffentlichten Inschrift, die in das letzte Viertel des III, Jahrb.
V. Chr. fällt, sind sie nach Haussoullier Bürgen, die auch sonst als
ä-fj'uoi in Thespiae erscheinen.
Delphi.
161. Hiller v. Gaertringen, Delphi. Paul}' - Wissowa IV
S. 2517—2700.
162. *A. Nikitsky, Delphisch-epigraphische Studien I. (russisch.)
Odessa 1894/5.
163. E. W. Buchheim, Beiträge zur Geschichte des delphischen
Staatswesens. I. Progr. Freiberg 1898.
164. B. Keil, Zur Verwertung der delphischen Rechnungsur-
kunden. Hermes XXXII (1897) S. .399—420.
164a. Derselbe, Von delphischem Eechnungswesen. Hermes
XXXVII (1902) 511—529.
165. H. Pomtow, Die delphischeu Buleuten. Philol. LVII (1898)
S. 524-563.
166. Th. Homolle, Reglements de la phratrie des Aaßudoai.
Bull. hell. XIX (1895) S. 1—69.
167. B, Keil, Zur delischen Labyadeninschrift. Hermes XXXI
(1896) S. 508—518.
168. H. Pomtow, Zum delphischen Labyadenstein. N. Jahrb.
f. kl. Philol. 153 (1896) S. 553/4.
169. P. Perdrizet, Labys. Rev. des Ktud. gr. XI (1898)
S. 245—249.
169a. Derselbe, Remarques sur Tinscription des Labyades,
ebenda S. 419-422.
Nach Buchheim zeitiel die Bevölkerung Delphis in Bürger. Bei-
sassen und Sklaven. Die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft
bildet die Familie, die Hausgeraeinde erweitert sich zur Trarptc«, deren
Mitglieder als TraTpuÜTai bezeichnet werden. Die Fremden, welche sich
in Delphi niedergelassen hatten und nach und nach das Bürgerrecht
erlangten, sind die auvoixot; in diese Klasse traten auch die Freige-
lassenen ein.
Was die Verfassung Delphis betrifft, hat Delphi wohl die in
den meisten griechischen Staaten nachweisbaren Stadien der Verfassung
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890) - 1902. (J. Oehler.) 89
durchgemacht. Nikitsky findet 22 Priesterperioden und unterscheidet
die 03101, die erblichen Dionysospriester, von den lebenslänglichen Apollon-
priestern, die identisch seien mit den Propheten und erblich waren iu
bestimmten Geschlechtern. Als Vertreter des Tempeldienstes erscheinen
die Demiurg-en mit 2 jährlich wechselnden e::iaTaTot'. an der Spitze.
Er handelt dann über das Eponymat und die ßuleia. Die Epo-
nymie der Archonten datiert in Delphi spätestens seit dem V. Jahrh.
V. Chr. Der Archon nahm die erste Stelle in der Zivilmagistratur ein.
Bedingung für die Erlangung des Archontats war bis in die spätere
Zeit altbürgerliche Abkunft; mehrmalige Bekleidung des Amtes war
ausgeschlossen. Über die Zahl der Buleuten läßt sich für das Ende
des IV. und den Anfang des III. Jahrh. nichts bestimmen; um die
Mitte des III. Jahrh. gab es 5 für das Semester, seit dem Ende des
III. Jahrh. bis zum Beginn des I. waren es 3 im Halbjahr, von denen
einer den Posten eines Sekretärs für das ganze Semester versah. Die
in den Freilassungsurkunden genannten Buleuten-Archonten sind iden-
tisch mit den rp'jTavsi?. Buleuten, Archonten, Prytanen bilden zu-
sammen den delphischen Rat und können als solche mit dem Namen
„-poßouXof bezeichnet werden.
Nach Keil war der Rat die oberste Finanzbehörde von Delphi;
in den 15 namentlich aufgeführten Mitgliedern desselben hat man den
geschäftsführenden Ausschuß zu erkennen. Als Beamte der Baubehörde
erscheinen -poccraxsüovTs;, deren Obmann der vaoTioioc ist; später er-
scheinen zwei vao-oioi, die vaoitota war also kollegialisch.
Eingehend handelt Pomtow über den Rat: der Buleausschuß be-
stand aus 15 Männern; die ersten 5 erscheinen als ßouXs-jovTs; dem ap/wv
adskribiert, führen die Bezeichnung ßouXsoTai, während die sonstigen
Mitglieder des Rates -p63ouXoi heißen. Der Vorbeschluß der ßouXTj
heißt aivo;. Die TtpuTavsij bilden eine achtgliedrige Fiuanzkommission
des Rates, der seinen 7pa|j.[j.at£u; hat. Im Gegensatze zum Rate wird
das Volk bezeichnet als ol -oXXoi; die Volksversammlung führt den
Namen: aXi'a, a-.'opa, £xy.Xr,3ia. Die Leiter der Volksversammlung führen
im IV. Jahrh. den Namen TTpoaXtwxai; doch bemerkt v. Stern, BphW
1896, 303 f., daß diese nicht nach Delphi, sondern nach Thurii gehören.
Die Amtsdauer der Buleuten war 1 Semester; seit dem Jahre 87/6
V. Chr. aber sind die Semesterbuleuten aufgehoben und es erscheinen
4jährige Buleuten. Die Zahl der Ratsmitglieder, der TrpoßouXot, betrug
im IV. Jahrh. 31 oder 32, so daß, da die Zahl der Vollbürger etwa
1200 betrug, auf je 40 Bürger ein 7rp6[iouXo; entfiel.
Bezüglich der Labyadeninschrift wird mit Recht darauf hinge-
wiesen, daß die -a^oi, die Vorstände dieser gentilizischen Genossenschaft,
sonst nur in Thessalien vorkommen: vgl.
so Bericht üb. d. giiech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
170. H. Swoboda, Festschrift f. 0. Hirschfeld S. 319—321:
Ta-^oc; der thessaliscbe Ursprang der Labyaden ist demnach sehr
wahrscheinlich. Interessant ist ferner, daß die Bestimmungen über
Bestattung und Trauer nicht vom Staate, sondern von der Phratrie
getroffen werden, was anf die staatsrechtliche Stellung der Phratrie im
delphischen Gemeinwesen schließen läßt.
170 a. A. Nikitsky, Die geographische Liste der delphischen
Proxenoi. Mit zwei Tafeln. Jujjew 1902.
N. behandelt die schon von Haussoullier Bull. hell. VII, 189 f. ver-
öffentlichte Inschrift, die eine geographisch geordnete Proxeuieliste ist,
umfassend die Zeit von 196/5 — 166 v. Chr. Es lassen sich drei Be-
standteile in derselben unterscheiden: 1. die ursprünglichen Gruppen
aus der ßedaktionszeit; 2. die trüberen Nachträge in den Abteilungs-
intervallen; 3. die spätesten Nachträge am Schlüsse der betreffenden
Kolumne. Im Laufe des IV. Jahrh. wurde es üblich, die :ip6Uvot in
geogiaphischer Ordnung aufzuzeichnen; die Aufzeichnung war keine
Ehrenerweisung, sondern der Zweck war ein praktischer. Als Vor-
läufer erscheint die chronologische Proyen ieliste, welche die kürzeste
Art war, Proxeniedekrete zu publizieren. S. 33 Anm. sind 6 Publikations-
arten aufgezählt. Die Liste gibt uns manchen Aufschluß über die
ausgedehnten Beziehungen Delphis im III. und IL Jahrh. v. Chr.
Thessalien.
In der oben Nr. 170 erwähnten Abhandlung führt Swoboda aus, daß
bereits Ende des V. Jahrh. die Jahresbeamten, welche an der Spitze der
einzelnen Orte standen, den Titel xa^ot führten; in älterer Zeit haben
wohl die Könige der einzelnen Städte von alters her die Bezeichnung
•ca-^oc geführt, welcher Titel auf die Beamten übertragen wurde, die an
die Stelle der Könige traten.
Larissa.
Pridik publiziert in den „IsveStijsl" des lussischen archaeologischen
Instituts zu Konstantinopel I (1896) eine Reihe von Inschriften, von
denen nr. 121, S. 129 eine Liste enthält von Bezeichnungen mit der
Endung -i'oai; es sind wohl 7£vt), wie Pridik bemerkt.
Über Chersonesus Taurica ist zu vergleichen
170b. Brandis, Pauly-Wissowa III 2261—69.
Die Stadt zeigt dieselben Magistrate wie die anderen megarischen
Kolonien; daher liest Brandis statt Delier „Delphier" als Teilnehmer an
der Gründung. Die Verfassung der Stadt war demokratisch: ßouXdt,
oäjjLo«; die Jahre werden gezählt nach den ßauiXe?; oder ßajiXeuovte;.
Über den Bürgeieid der Chersoniten handelt
Bericbtüb.d. griech. Staatsaltertiim. f. d. J. 1893(1890)- 1902. (J. Oehler.) 91
170c. B. Laty sehen, Berliner Akad. 1892, S. 479 f. vgl.
BphW 1892, 1278 f.
Wir ersehen, daß die STjfxtoop^oi Oberbeamte waren und die Ver-
pflichtung hatten, über die Verfas^^ung- zu waclien. Es bestand ferner
f in Volksuericht, in welchem mit Steinchen nach dem Gesetze abgestimmt
wurde. Die Inschrift gehört dem Ende des IV. oder dem Anfange des
III. Jahrh. v. Chr. an und enthält den Eid, den die jungen Bürger bei
der Eintragung in das Gemeindebuch zu leisten hatten.
c) lusela
Euhoia. In einer Inschrift aus Chalkis wird in der Datierung
ein fj7£[j.u)v genannt; ob dies der eponyme Beamte von Chalkis oder
des euboischen Bundes ist, läßt sich nicht bestimmen. Der erste Beamte
scheint der 3-pa-rj6; gewesen zu sein: Bull. hell. XVI (l>i92) S. 97 f.
Delos.
171. V. Schoeffer, Delos, Paul-Wissowa IV 2474—2502.
Für Delos ergibt sich eine gemäßigt demokratische Verfassung
in der Zeit der Selbständigkeit. Das Volk erscheint eingeteilt in
Phj'leu und Phratrien; daneben werden auch xptT-rue?, deren es wahr-
scheinlich 12 gab, unter Trittyarchen erwähnt. Der JJat zerfiel in 12
monatliche Piytanien, hatte ein TrpoJiouXeujjLa für die £xxXY]3ia zu fassen.
Unter den Beamten erscheint an erster Stelle der ap/wv, an zweiter
Stelle stehen die UpoTzoiot, deren es zuerst zwei, dann 4 gab; außerdem
werden -rafiiat, zwei 7pa[iji.aTerj, 'ko'ii'sxo.i und drei «YopavopLoi erwähnt.
Die Amtsdauer war ein Jahr, die Bestellung der Beamten erfolgte
durch Wahl.
Chios.
172. Bürchuer, Chios, Pauly-Wissowa III 2286—2297.
Sp. 2295 ist eine kurze Übersicht über die Verfassung gegeben.
Auf die ursprüngliche Königsherrschaft folgte eine Aristokratie, darauf
Tyrannen und endlich die Demokratie. Die Bürgerschaft war in
Phratrien eingeteilt. An Beamten werden im V. Jahrh. genannt:
oupoipuXaxec, Trevcexaiösxa , ßasiXeuj; im IV. Jahrh. TupuTavic, opurat,
i^STaaxal, oi xa-a fif^va taniai, d7opav6[jLOi.
Thasos.
173. A. Jacobs, Thasiaca. Berlin 1893.
Im 3. Kapitel (S. 34—50) wird gehandelt: De re publica
Thasiorum. Erwähnt werden ouuioexa apyovTE;, dann o'i ejn^xovxa xai
TptTQxosioL Die höchste Gewalt hatte der 6^ixo;; der ^ouXtj oblag die
Vorberatung der in der Volksversammlung zu stellenden Anträge.
92 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
Neben der ßcuXrj erscheint auch eine -/spousiot. Die Einteilung der
Bürger trägt einen gentilizischen Charakter: die Traxp-r; entspricht dem
8^|jLoc in Attika. Von Beamten werden genannt: drei jährliche
Archontes, die OecDpot, welche den voiJ.09uXa7.ec gleichzusetzen sind und
TrpoataTat, die das Bürgerverzeichnis führten, dafür sorgten, daß kein
Unwürdiger unter die Zahl der Bürger aufgenommen wurde, und die
Neubürger eintrugen; diioosx-ai, Upo|j.vr,|Xüjv. drei «716X0701, die mit den
athenischen -paxTtopsc zu vergleichen sind, d7oprjv6iJ.o; , -oXsfxop/o'.,
lepoTTotoc, xoj[jl6-oX'?, ispox^pu? und xpor-rcti.
Rhodos.
Vor allem ist zu nennen:
174. H. van Gelder, Geschichte der alten ßhodier. Haag 1900.
175. Derselbe, Ad corpus inscr. Rhodiarum. Mnemosyne XXIV
(1896) S. 72—98.
176. S. Selivanov und F. Hiller v. Gaertringen, Über die
Zahl der rhodischen Piytanen. Hermes XXXVIII (1903) S. 146.
Vgl. auch Bursian CX 51 ff., Brandis, Gott. Gel. Anz. 1895, S. 654.
Gelder behandelt Kapitel IV S. 178—289: Staat und Recht.
tJber die Einteilung der Bürger ist auch zu vergleichen Szanto, Phylen
S. 6: die Besiedelung durch die Dorier erfolgte in Rhodos nachweisbar
nach den drei Phylen lokal getrennt; S. 9: die überkommenen Phylen-
namen mußten sehr bald dem vorgefundenen Stadtnamen weichen, bes.
S. 10 und 11: für die spätere Zeit begegnen wir sowohl einer lokalen
Einteilung in xtoTvai und einer gentilizischen in ratpa'. , welche wieder
Oberabteilungeu besitzen, die vielleicht als Phratrien zu bezeichnen
bind, und noch höhere Oberabteilungeu, die ehemals Phylen waren,
damals aber vielleicht 3'J7-,'£V£ia'. genannt wurden. Als oberste Ab-
teilungen über der lokalen wie der gentilizischen Einteilung stehen die
drei nach den Städten genannten Phylen, so daß sich in Rhodos die
ursprüngliche, mit der Phyleneiuteilung identische Bodeneinteilung er-
halten hat. Über die v.zohii s. auch H. v. Gaertringen Hermes XXXVII
(1902) S. 143. Neben den xxoTvai erscheinen noch xwixai und |A£pT,.
Über die Demen: v. Schoeffer, Pauly-Wissowa IV 127 f. Außer den Voll-
bürgern werden auch Halbbürger erwähnt: }jiaTp6;£voi, siziöajjLiosrai,
vielleicht auch die £'j£p7eTa'.. Die nichtbürgerlichen Freien werden ge-
schieden in [XETotxoi und ;£vo'., letztere stehen unter einer eigenen Be-
hörde, den e7it|j.£XT)Tai -üjv ce'ujv. Unter den Sklaven werden die Staats-
sklaven als ooüXoi bezeichnet. Was die Beamten betrifft, so sind zu
unterscheiden die der einzelnen Städte vor dem Synoikismos und die des
Staates Rhodos. In Lindos und wahrscheinlich auch in Kameiros gab
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.) 93
es drei jährige e-idTatat, in allen 3 Städten einen Rat, fiaatpot, mit einem
7pa|xiJ,aT£'Jc -rtüv [xaarpjov; außerdem wird ein Tafxtaj genannt. Volks-
versaniniluugen linden sich in allen drei Gemeinden, Im Staate Rhodos
bildeten die höchsten Zivilbeamten die Tiputaveu, deren Zahl fünf be-
trug (s. Selivanov und H. v. Gaertringen) und die auf ein halbes Jahr
bestellt wurden: Brandis a. a. 0., Hiller v. Gaertringen Jahresh. d. ö.
Inst. IV (1901) S. 160. Sie spielen dieselbe Rolle wie in Athen der
gleichnamige Ratsausschul). Der Rat wurde alle halben Jahre ueu
gebildet, hatte einen 7pa[x|xa-£'jc und zusammen mit den Prytanen einen
67ro7pa}i,{i.arsu;. Der 65[j.o» tritt in der exxAr^aia als Träger der Souveränität
auf: Prj'tanen, Rat und ixy.Xvjot'a bilden die drei Faktoren der Regierung
lies Freistaates Rhodos. Die Flotte befehligte als Oberadmiral der
vauapyo;, dem TptTjpapyot und a7£[i.ov£c unterstanden. Die Landtruppeu
standen unter aTpaxaYoi, deren 12, 10, 9 genannt werden; sie waren
vielleicht auch die höchsten Finauzbeamten und hatten einen eigenen
•jpaiJL[xa-£6;. Nach den arpata^oi folgt in den Magistratslisten das
Kollegium der 5, resp. 7 xa[xiai mit einem 7pa[xjxat£tjj, nach diesem
Kollegium werden noch 3, resp. 5 eirij/oTcoi erwähnt, deren Kompetenz
sich nicht bestimmen läßt. In den rbodischen Besitzungen auf dem
Festlande, in der Peraia, werden inuzaTat genannt, die mit großer
Machttülle ausgestattet, aber nur für kurze Zeit gewählt zu sein
scheinen. Dagegen vgl. Bull. hell. XVIII (1894) S. 31 Nr. 10 und
S. 400, VkO angenommen ist: An der Spitze steht der aTpa-a^oj era xo
7:epav, dem die verschiedenen ccyeixovej unterstehen, während jedem a-j-ejituv
ein irtsxaxr,? oder mehrere ETttsxaxa'. untergeordnet sind.
An sonstigen Beamten kennen wir -uil-q-ai, apyix£y.-ov£;, xXrjpwxac
TtJüv Qiy.ajxtüv, doxuv6}j.ot, dc7opav6[x.ot, £7:i[jL£XYixal xuiv ^svoiv (die von Gelder
vorgeschlagene Lesung lT:t[jL£XY)xai xüiv %£ [opituv] ist nicht anzunehmen,
da auch sonst ^cvoöiy.at genannt erscheinen in Städten der Phoker*),
7U}j.vajiapyoi, STitsxaxirjc xüiv TtatSiuv, x(D|xap'/Yj?.
Außerhalb der Insel repräsentierten den rhodischeu Staat außer
den erwähnten Eziaxaxai noch der apywv ir.i xs. xöiv vfjjtov xal xüiv rXoituv
xüiv vr]aia)xtxüiv, die ÖEtopoi und die 7rp6$£vo'..
Astypalaia.
Bull. hell. XV (1891) 629-636; XVI (1892) 140 f. sind mehrere
Inschriften veröffentlicht, in denen als Beamte genannt erscheinen ein
oaijLi£p7oc -puxavic, der den Vorsitz im Kollegium der 5a|xt£p7ot hatte,
xafiiat, 7paixixax£!S; und Xo-^i^szaL
*) Vgl. die ^ivoxf/l-cti in Pinard: Heberdey-Kalinka, Bericht 1896,
S. "Jl Nr. 7: o'./.ci'jo6xo'j xczt '/;•/ xüjv ^^v'jx^o'.-Jjv c<[py_*jv . . .
94 Bericht üb d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1S93( 16i90) - 1902. (J. O^bler.)
Kos.
177. W. R. PaTon ard E. Hicks, The insciiptious of Cos.
Oxford 1H9I.
178. E.. Herzog, Koische Forschnng'f'n und Funde. Leipzigs
1899.
179. R. Herzog, Reisebericht aus Kos. Ath Mitt. XXni
(1898) 441 f.
Über die Einteilung- der Bürjier ist außer der Einleitung bei
Paton- Hicks jetzt zu vergleichen Szaiito, Phyleii S. 22 — 24: es bestanden
die drei doti-ciien Pliylen, die ursprün£:lich rein gentilizisch waren.
Unter der PhyieneinteiliuiLr stand die in Cliiliastyen, nach Paton je 9
zu einer Phyle geliörig' Mit Recht bemerkt abei Szanto, diese ChiliastyeQ
seien im Wesen den Doriem fremd und offenbar von einer der benach-
barten Städte Sanios oder Ephesos entlehnt; ur-piünglich mechanisch
aus den Pliylen grebildet, muliten sie durch Vererbung geutilizisch
werden. Die evatai waren Unterabteilungen der Chiliastyen, den evatat
untergeordnet die «[xarai, die gleiclizustelleu sind dem Ge^chlechte oder
der Sippe, Toepffrr bcrneikt in dei Rez. des Buches Patou-Hicks: Bei-
träge S. 224 — 229: Die Bezeichnungen auf -loon sind Geschlechter. Seit
dem oüvotxtajxo; dl s Jahres 366 v. Chr. finden wir auch Deraen in der-
selben Stellung zu der Phyle, wie sie die entsprechenden Abteilungen
in Attika hatten; an der Spitze des Demos steht der 3rj[j,ap7oc, jeder
i^fio? hat seinen Tajxta? Die Verfassung war eine demokratische: ßouXa
ond o3.\j.0i sind die entscheidenden Faktoren. Die Zahl der Ratsherren
ist nicht bekannt; in der Römerzeit erscheint auch eine -(tpouaia. oder
oüaTif)}ji.a Tüiv ::pe3ßuT£pü)v. Die Beamten überhanpt erscheinen als ap-
j^ovTE? bezeichnet; eponym war der jxovap/o;. Die npojraTat entsprechen
den uputavei; resp. jip&eSpoi in Athen; sie hatten einen muuatlichen
ImoTaTTQi und ein Amtshaus, Tcpuravetov. Die Amtszeit war wahrschein-
lich ein halbes Jahr, daher -/ei|j,£piva und Uspiva £;ot[jLr)vo; unterschieden
wird. Der Amtswechsel fand Ende des Geiai>tios -«tatt. Von 8ousti<,'ea
Beamten werden erwähnt ap-/tT£xxov£c, welche hei Akkorden den Staat
resp. das Heiligtum vertraten und die Anszaiiiung der Raten an die
Unternehmer bt stimmten; ferner lepoirotot, a7'jpavo[jLoi, TrioXrjTai, otxovofjioc,
TtotSoTpißTjc. Militärische Beamte sind die Grpa-f,7oi, wahrscheinlich 3,
vauapyo;, xpir^pocp'/oi und uiTTjpeTat Ttöv [xccxpc^v vaöjv. Vgl Pat. Hicks,,
Einl. und Toepffer, Kölsches Sakralgesetz, Beiw. Ö 204 — 233.
d) Kleiuasien.
Diesem Lande hat sich in der letzten Zeit ein reges Interesse
zugewendet: zahlreiche Reisen wurden unternommen zur geographischen»
Bericht üb d. griech. Staatsaltertüm f. d. J. 1893(1890) - 1902. (J. Oehler.) 95
epigraphischea und aichäoIof;:ischen Aufklärung, an einigen Orten wurden
Ausgrabungen in großem Stile vorgenommen und die Ergebnisse publi-
ziert. Die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien ist durch
eine groÜheizige Spende des regierenden Fürsten von und zu Liechten-
stein in den Stand gesetzt, die Vorarbeiten für die Tituli Asiae Mi-
nores zu betreiben, deren erster Band erschienen ist. Zahlreiche Spezial-
schrifien beschäftigen sich mit der Geschichte und der Verfassung ein-
zelner Städte. Im folgenden soll eine kurze Übersicht gegeben werden.
Zu nennen ist der Artikel
180. Asia von Brandis, Pauly-Wissowa II 1538—1562,
in dem S. 1550 f. über die Verfassungen der kleinasiatischen Städte
gesprochen wird. Die freien Städte behielten auch unter der römischen
Herrschaft ihre alte Verfassungsform, nur wurden die timokratischen
Verfassungen begünstigt und es fand eine Einschränkung des Bürger-
rechtes auf die besitzenden Klassen statt. Die Beamten blieben die
früheren, die Finanzverwaltung wurde unter die Aufsicht der vom
Kaiser ernannten Logisten gestellt.
Zum Gegenstände eigener Untersuchungen hat die Verfassung
die Städte Klein asiens unter den Antoninen gemacht
181. J. Levy, liltudes sur la vie mnnicipale de FAsie mineure
sous les Antonines. Rev. des :Et. gr. VIII (1895) 203—250; XII
(1899) 255 f.; XIV (1901) 350—371.
In der ersten Serie (VIII) behandelt Levy die Ekklesie, die Bule
und die Gerusia. Die Volksversammlung umfaßte alle, welche den
Titel TTo/äxai führten; doch ihre Kompetenz wurde allmählich einge-
schränkt und endlich ganz vernichtet, so daß die Ekklesie zu einer
wahren Privatkorporation wurde, während der Eat und die Beamten die
Befugnisse der Volksversammlung übernahmen. Die ßouXr^ war eine Ab-
ordnung des Volkes, gewählt im allgemeinen xata ^uXa;, und der Titel
des Buleuteu bezeichnete nur ein zeitweiliges Amt eines Bürgers. Aber
bald hörte der Rat auf, gewählt zu werden, die Ernennung der Rats-
herren wurde der Volksversammlung genommen und besonderen Magi-
straten zugewiesen: ßouXeuTiQj ist ein Ehrentitel, eine dauernde Tätigkeit
bezeichnend. Die Zahl der Ratsherren war eine feste, in Ephesos z. B.
betrug sie 450. Die Soxifiaata , welcher die Kandidaten unterworfen,
wurden, bezog sich auf das Alter, mindestens 30 Jahre, und auf das
Vermögen. Den Vorsitz führt der jährige ßouXapyo;, dem ein 7pa}i,|xa-
TEuc zur Seite steht, neben dem 8o7[ji,aT07pa(poi die Beschlüsse redigiereu
und den authentischen Text herstellen. Die ßouX>^ ist von der größten
Bedeutung in der lokalen Verwaltung; sie hat die Kandidaten für die
Ämter vorzuschlagen, kann Ehrenbezeugungen erweisen und hat die
96 Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
öflfentliche Ordnung berzustellea. Neben der ^ou^r^ erscbeint in vielen
Städten eine Gerusia, über deren Wesen und Bedeutung- verschiedene
Ansichten herrschen, die Levy zurückweist: er meint, die Gerusia sei
anzusehen als ein öfifentlicbes, offizielles Korps, dem aber jede positive
Kompetenz in Sachen der Verwaltung, jede politische Befugnis fehlt.
Dieser Kontrast erklärt sich aus der Geschichte der Gerusia. Sie knüpft
an an die Versammlung, welche Lysimachos Ende des IV. Jahrb. in
Ephesos unter diesem Namen einrichtete und mit der Leitung des Heilig-
tums betraute. In der römischen Zeit verbreitete sich diese Einrichtung
zunächst in die Städte, in denen Artemis verehrt wurde, und gegen
Ende des ersten Jahrh. n. Chr. war die Gerusia in den meisten Städten
Asiens konstituiert. Mit der Verpflanzung des alten Instituts änderte
es sich, es war schließlich nichts mehr als ein Kreis alter Leute, zu
vergleichen mit der Organisation der vsot. Über diese ist in der II. Serie
gehandelt (XII. Band). Die III. Serie (XIV. Band) handelt über die
Archive, Finanzen, über das Münzweseu und über die Gj'mnasiarchie,
Es möge hier erwähnt werden die Frage der tra-pOi^ouXot, über die
zuletzt gehandelt haben:
182. Fr. Cumoat, Rev. de philol. XXVI (1902) S. 224 f.
J. Levy, Les -arpoßouXoi dans Tepigraphie grecque et la littc-
rature talmudique. Ebenda S. 272—278.
F. Hiller v. Gaertringen. Ebenda 278/9.
Dncange hatte zaTpoßouXo; erklärt gleich -axYjp ßouX^c; es sei ein
Ehrentitel ; Cumont zitiert nur die Autoren, weist die Erklärung Du-
canges zurück und setzt das Wort gleich patronus. Levy zitiert auch
2 Inschriften aus Dorylaion, die etwa 250 n. Chr. zu setzen sind und
das Wort enthalten; H. v. Gärtringen führt eine Inschrift aus Faros
an, in der als Teilhaber an einer Spende erscheinen YepoujtauTat, ßou-
XeuTai xa) TraxpoßouXoi. Levj' meint, rarpoßouXoc bezeichne den Sohn
eines ßouXsuTi^c, entspreche dem praetextatus im Westen. Diese Er-
klärung hat wohl das Richtige getroffen: seitdem die Würde eines ßou-
Xeoxr,; erblich war, erscheint dur Sohn als Ratsherr der Zukunft. Die
Einführung des Wortes -arpoßouXoi erscheint als Nachahmung der prae-
textati und als Bruch der griechischen Städte mit den alten demokra-
tischen Tendenzen.
Eine besondere Stellung beanspruchen die makedonischen Militär -
kolonien; darüber handeln:
183. G. Radet, De coloniis a Macedonibus in Asiam eis Taurum
deductis. Paris 1892.
184. A. Schulten, Die makedonischen Militärkolonien. Hermes
XXXn (1897) 523-537.
Borichtüb.d griecb.Staatsaltertüui.f.d. J. 1SS)3(,1S90)— rJl>2. iJ.Oehlor.) \^^
Uadet gibt n;ich einer kinzcii Einleitung im ersten Teile eine
g-eugrapbiscbe und historische Übersicht über die Kolonien und be-
stimmt die Zahl derselben, dann behandelt er sie nach den ver-
schiedenen Zeiten: zunächst die Kolonien des Alexander, Autigonos
und Lysimachüs, dann die der Seleuciden und endlich die der Atta-
liden. Im zweiten Teile spricht er von dem Gründer der xaroixia,
denn das ist der Name der Militärkolonie, die sowohl von der olkqiyJ.'j.
als von der y.Xrjpooyt^ etwas Unterscheidendes aufweist: charakteristisch
ist, sie hat ihren Ursprung in einer militärischen Ausführung. Aus
ieui königlichen Regiment in Asien erklärt es sich, daß viele Kolonien
Könige als ihre Gründer verehrten. Im tolgenden Kapitel wird die
Lage dieser Militärkolonien besprochen: während die alten Kolonien
der Griechen fast ausschließlich am Meere gelegen waren, lagen die
makedonischen meist im Binnenlande an einer sehr besuchten Straße.
Bei der Auswahl der Kolonisten wurden Makedouier vorgezogen, denen
sich Griechen aller Stämme und ebenso Barbaren zugesellten, so daß iu
den Kolonien ein buntes Gemisch sich fand. Bei der Ansiedelung
wurdeu zunächst ältere Soldaten, die bereits untauglich waren, iu
Betracht gezogen; ihnen wurden Ackerlose zugewiesen. Dabei werden
uuterschiedeu solche, die von Abgaben frei sind, und solche, welche Ab-
gaben zu zahlen hatten. Außer diesen Vorteilen hatten die Ansiedler
noch manche Ehrenrechte. Was die Stellung und das Recht der
Kolonie anbelangt, ist festzuhalten, daß die Makedoner sich bestrebtem,
die Bewohner aus Dorfleuteu zu Städtern zu macheu. Einzelne
Kolonien besaßen eine gewisse Autonomie, waren aber in letzter Linie
vom Könige abhängig. Bestehen blieb die Verpflichtung zum Kriegs-
dienste; aber das festeste Band war die religiöse Verehrung, welche
nicht nur dem lebenden Herrscher, sondern auch den bereits ver-
storbeneu erwiesen wurde: es bestanden daher zwei Priester: einer
hatte dem lebenden, der andere den bereits gestorbenen Herrschern
die Opfer darzubringen. Schulten bestimmt als Militärkolonieu solche
Gemeinden, die durch Deduktion der Veteranen ihr Gepräge bekommen
haben. Es waren halbmilitärische Gemeinden; ein wesentliches Merkmal
ist: sie waren zugleich Festungen. Die Veteranenausiedlung wurde
bezeichnet als xa-oty.oi, die Gemeinde als -/.oivov , xa-otxia aber ist die
eigentliche Bezeichnung der makedonischen Militärkolonie; synonym
damit wird bisweilen y.iufxr, gebraucht. Die Attaliden ließen die Söldner
in dem bürgerlichen Gemeinwesen aufgehen.
Mit den Priestern Carieu.? und Lydiens beschäftigt sich
1&5. A. Heller, De Cariae Lydiaeque sacerdotibus. Suppl. d.
Jahrb. f. Philol. XVIII (1891) 215-264.
Jahresbericht für Altertums-wissenschaft. Bd. CXXII. (.1904. III.) 7
98 Bericht üb.d.griech.Staatsalteitüm f. d.J. 1893(1890)- 1902. (J.Oehler.)
Der erste Teil beliaüdelt die Acker: -irspi'ßoXoc, TrspnroXiov und
ycupa tepa, dann die Leute, die den Priestern unterstanden; darauf wird
über die familiae sacerdotum, über cumulatio, continuatio ?acerdotiorum
gesprochen. Wir erfahren Genaneres über die Zeremonien bei der
Übernahme des Amtes, über die Pflichten, die Einkünfte der Priester,
über die Art der Erlanaung der Priestertümer; aujäführlich ist ge-
sprochen über den Verkauf der Priestertümer, über die Art und Weise
des Verkaufes. — Der zweite Teil bebandelt die einzelnen Priester-
tümer und Priester in den Städten Cariens und Lydien>.
Im folgenden werden nach der Zeitfolge die Spezialschriften über
einzelne Städte angegeben:
P r i e n e.
186. Hicks, Ancient Greek Inscriptions III (1890) S. 52/53.
187. Th. Lenschan, De rebus Prienensiura. Leipziger Stud.
XII (1890) 110—220.
Wir erfahren, daß die Bewohner in Bürger und Fremde zerfielen;
die letzteren hiel.Jen itapor/oi. Die Bürger waren in Phylen eingeteilt,
deren eine die Pandionis war. Wahrscheinlich ist Hickb' Vermutung,
daß es auch eine Akamantis und Hippothontis gab, dagegen ungewiß,
ob an der Spitze der Phylen Phylarchen standen. Die volle Gewalt
wird repräsentiert durch Rat und Volk, die auf Antrag der Strategen
einen Beschluß fassen können. Die Zivil'ueamtea eischeinen als Kollegium
vereint: ouvapyiai; die meisten Beaujten w^areu jührig; über Art und Zeit
der Wahl ist nichts bekannt. Epouym war der oTS'favTj'fopoc; von
Militärbeamten werden die jTpa-TQ-fci und TTr7:ap-/ot erwähnt. Die Ver-
waltung der öfl'entlichen Gelder besoigte 6 £7:1 xrj; öioixT^jstu;, dem die
oix&v&iJLot untergeordnet waren, die unter anderem die Auszahlung der
Kosten für Ehrenbezeugungen zu besorgen hatten. Der 7pafjL|iaT£uc be-
soi'gt die Eintraunng der öffentlichen Beschlüsse. Zu den religiösen
Beamten gehören die upetj, Izpoizoio': und vscoroioi; der a-'ojvoils-Tjc richtet
die öffentlichen Spiele aus. Von besonderem Interesse sind dieSaiTocpu^-axe?,
welche die Aufsicht über das Getreide fühlten und iu dem ange^ebeaeu
Fall einen ins Bürgerrecht aufnehmen, da er sich um die Getreidever-
sorgung verdient gemacht hatte.
Ephesos.
Hicks gibt Piolegomena zu den Inschriften von Ephesos (s. Nr. 186)
S. 67 f., in denen die Verfassung dargestellt wird. Die Bürixersrhaft
zertiel in 6 Phylen: 'Ecpeast;, SEpaaTv^. Tr^toi, Kaprjvaioi, EucovufJLot,
Bsixßeivaiof, Unterabteilung der Pliyle war die ytXtauTui, die der (pparpia
in Athen entspricht. Neben der ßouXTi bestand auch eine ^epoo^ia. An
Bcii. litüb d. liriecb.Staatsaltcrtüm. f.d. J.1803(1890)— 1902. (J.Oehler.) 99
BeamtiMi ersclieineu gionaant a^opavojAoi, Gxpo^.■:T^■(Qi, 7pafjL[iLaTei; u. z. ßouX^;,
7epouariac, or^jxo'j, t^puravu, -cajxtai ttjc tioXso);, orxovojxoc.
In Vorbereitung: ist ein g-rol.W^s Werk: Forscbungen iu Ephesus,
lieraussej?. v. Osten-, arch. Institute.
Jasos.
Hick.« stellt a. d g-. St. S. 65/6 die Beamten zusammen: 4 ap/ovrec,
4 Ta|xiai, 2 ötJTUvojjLoi, 4 auvr^-fopot, 6 tipuravet?.
Erythrai.
188. H. Gacbler, Erythrae. Untersuchungen über die Ge-
schichte und die Verfasjsung' der St;i<lt im Zeitalter des Hellenismus.
■ Berlin 1892.
Das Buch behandelt im ersten Hauptteil (S. 1 — 55) die politische
Geschichte, im ersten Kapitel des zweiten Lliuiptteiles (S. 58 — 112) die
Inschritteu und im zweiten Kapitel (S. 113 — 123) die Verfas-ung von
Erythrai im 3. und 2. Jahrh. Die Verfassung von Erythrai war
streui.' demokratisch: das Volk repräsentierte die souverRuo Staatsi^ewalt.
Es versammelte sich in regelmäßigen und außerordentlichen Voiksver-
saramlungen. Zu den regelmäßigen gehörten die ap•/a^psJ^'at zur Wahl
der Beamten und wohl auch die Gerichtsversammlungen. Jeden Antrag
an das Volk hatte zuvor der Hat zu prüfen und in Gemeinschaft mit
den beiden obersten Beamtenkollegien, den Strategen und Exetasteu,
ein Gutachten, -/vcufXY], darüber abzugeben. Zur Zeit Kinious bestand
die von den Athenern eingesetzte ßouXT] aus 121 Mitgliedern, die durch
das Los bestimmt wuiden und über 30 J,ihre alt sein mußten. Die
Bürger zerfielen in 3 Pliylen, so daß jede Pliyle 40 Buleuten stellte.
Den Vor.^itz in der ßouÄiQ führten die Tipu-ävetc, die vvahrsciieiulich
4 Monate jimtierten. Von den Beamten steiit obenan der tcpoTioioc, der
jährig und eponym ist und mit den anderen Beamten sein Amt am
Ersten des Mor.ats 'ApT£[j.>at(uv (ziika 21. März) antritt. Er hat die
Staatsopfer zu besorueu und die Gemeinde den Göttern gegenüber zu
vertreten. Die wichtigsten politisciien Funktionen aber hatten die
27 aTpatTj-jOi, je 9 aus eiuer Phyle; es fni!;.üerten immer nur 9, je 3 aus
einer Phyle, duich 4 Monate (xsTpaiirjvot). ihnen obliegt die gesamte
Verwaltung des Staates im Krieg und Prifden, die Führung des Ober-
befehls im Krieiie. Sie berufen die Volk^vci Sammlung und haben die
Oberleitung iu der Finanzverwaliung; sie sind rechenschaftspflichtig.
Neben den aTpaTrj^oi werden die elezazxa!. genannt, doch ist weder über
ihre Zahl nocM über ihre Amtsdauer noch über ihre Kompetenz etwas
bekannt. Die Gleiehsetzung mit den athenischen Xo7ioTal und euöuvot,
wie sie Lamprecht ausspricht, i&t unrichtig; eher trifft Gabler das
ßichtitre, wenn er meint, sie seien Unterbeamten der Strategen für die
Piuanzverwaltuiig gewesen. Tatsächlich eischeineu sie im 4. Jahrh.
7*
1 00 Bericht üb. f1. griech. Staat .^.iltertüm.f. d. J . 1 ^^93(1 890)- 1902. {J. Oohler.)
als die obersten Finanzbeamten, während im 3. .Tahrh. die c-ooLzr^';oL
immer mehr sich zu den höchsten Beamten des Staates erhoben. Für
die finanzielle Tätigkeit der i^etasTai scheint mir das Fehleu eines
■ra|xtaj zu sprechen. Als Polizeibeamter erscheint der ayopavojxo; , der
die Aufsicht über den Markt führt und in Marktangelegenheiten Ge-
richtsbarkeit hat; er ist 4 Monate im Amte.
Bezüglich des Gerichtswesens ist zu bemerken, daß vom Volke ein
Berufsrichter für ein Jahr erwählt wurde. Wenn auch, wie H. Swoboda,
N. phil. Rundschau 1893, S. 254 f. ausführt, die Annahme eines einzigen
Richters für ein Jahr, die Zuweisung der Finanzverwaltang an die
Strategen nicht erwiesen ist, verdient die Arbeit doch alle Anerkennung.
Thyateira.
189, M. ClerCj De rebus Tbyatirenorura commentatio epigra-
phica. Diss. Paris 1893.
Das 5. Kapitel des Buches bandelt de re publica et magistratibus.
Die Einteilung der Bürgerschaft ist uns nicht bekannt, wohl aber ist
es wahrscheinlich, daß das Gebiet von Thyateira in y.(u[j,ai eingeteilt
war, deren Zahl wir aber nicht kennen. Inschriftlich sind 9pa-piai er-
wähnt. Die Macht hatte der Rat und das Volk. Über den Rat wissen
wir weder betreffs der Wahl noch der Rechte und Pflichten etwas.
An der Spitze stand der ßouXapyo;: welche Stellung der dvTapytuv, der
neben dem ßoyXapyoc erwähnt wird, einnahm, läßt sich nicht bestimmen ;
Clerc vermutet, derselbe habe die Funktionen eines Vizevorsitzenden
des Rates gehabt. Die Beamten werden im allgemeinen als ap/ov-ü be-
zeichnet; doch erscheint ein ^rpiuTo? apycov als ertovujior. In einigen In-
-schriften wird der s-pa-rj-jo; als cTriuvujxoi genannt. Zu den bedeutendsten
Beamten gehörten die3-:£9avrj-.p6pot undaxpa-rrj-joi, sie bildeten zusammen eine
j'jvapy'a. Beide Beamteukollegien hatten wahrscheinlich heilige, aut die
Götter bezügliche Geschäfte zu besorgen. Über die irpuTavst? ist unS'
nichts Eingehenderes bekannt; der i'ü-apyo; hatte wohl mit der Reiterei
ebensowenig zu tun wie die Strategen mit dem Fußvolk. Erwähnt wird
ferner der Eirenarch, der Aufseher über die öffentliche Zucht, der aber
nicht vom Volke erwählt, sondern vom Statthalter ernannt wurde. Ein
ehrenvolles Amt war das des 7pajx|xa-cü;; der a-ooi'/.-r^i tcüv -oXiiTixiöv
^pT)|xa-(uv entspricht dem a-oos'xTri; in Athen. Die aYopavofiot, die bald
jährig, bald halbjährig waren, hatten die Aufsicht über den Markt und
unterstützten häufig den Staat auf ihre Kosten. Die ^trüivai ergänzten
das ihnen vom Staate für den Getreideeinkauf zugewiesene Geld; eigen-
tümlich ist der -pt-sutr^c, der nach Boeckhs Ansicht die Aufsicht über
die annona führte, welche den Armen zugewiesen und nach den TpiteT;
verteilt wurde. Ein ordentlicher Beamter war der YU|xvatjiapyoc. Neben
den c/pyovTs; gab es noch eine Reihe von Xctroup-yia'. : die otvA-ptoxo:
Bericht üb.d.griech.Staatsaltertüm.f.d.J. 1893(1890)- 19U2.(J.UehI.M.) 101
wurden alle Jahre aus den Bürgern auserwählt, um die Eintreibung der
Tribute durchzaführen und, wenn nötig, mit ihrem Gelde einzutreten.
Vgl. 0. Seeck, Decemprimat und Dekaprotie, Beiträge zur alten
Geschichte I (1901) 147 If. Brandis, öey.aTcpojToi, Paulj'-Wissowa IV'
2417 f. E. Hula, Dekaprotie und Eikosaprotie, Jahresh. d. öst. arch.
Instit. V (1902) 197—207.
Freilich erscheinen die Grenzen zwischen «p/ai und Xettoup-ztat
allmählich verwischt: es tritt der Ausdruck 9'.XoT£t(j.iat sowohl für beide
als auch neben beiden ein. Hula hat richtig erkannt, daß die Inschrift
Ath. Mitt. XXIV (1889) 232, 71 gleich ist GIG 3491.
Miletos.
Zu nennen ist
190. B. Haussoullier, Demes et Tribus, Patries et Phratries
de Milet. ßev. de Philol. XXI (1897) 38-49.
Derselbe, Une liste de raeteques milesiens. P^ev. de Philol.
XXIII (1899) 80-87.
Derselbe, Etudes sur Thistoire de Milet et du Didymeion.
Paris 1902. XXXII u. 323 S.
H. zählt die erhaltenen Phylen-, Demen-, Patrie- und Phratrie-
uameii auf: Phj'len Oivr/i?, Ilavottovi;, 'Ay.afxavTi?, 'Aau>-i;; Demen
'Ap/acTii;, KaTa-oMTtoi, Asp'.O'., FlXaTatsTc, Tstyisossi?; Patrien NetXsiöat,
'ExaiTocoai; Phratrien neXa-i'ojvioa'., Ta-a3i3ai. Die Bezeichnung des
Bürgers geschieht in einigen Fällen mit oq]xoo . ., Tiairpia? . ., «ppr^tpa?.
In einer Inschrift der Xaiserzeit werden 12 Phylen genannt; H. ver-
mutet, die Bürgerschaft sei im V. Jahrh. v. Chr. in sechs Phylen ein-
geteilt gewesen wie in Kyzikos, die Zahl sei in der Kaiserzeit ver-
doppelt worden. Von den erhaltenen Phylennamen sind drei athenisch,
der vierte. 'AuwTct'?, ist böotiscb. Die Organisation der Demen ent-
lehnten die Milesier den Athenern. Eine -a-pia ist genannt nach dem
Gründer Xeileus: neben den Ey.atTaoat können auch die 07]Xioat als
Patria angesehen werden.
Eine von Haussoullier Rev. XXIII publizierte Inschrift weist für
ililetos das Bestehen von Metökeu nach; dieselbe zeigt auch, daß das
Gesetz in Miletos nur die Ehe zwischen einem Bürger und einer
Bürgerin, nicht aber zwischen einem Bürger und einer Ausländerin
kennt und daß die [i.r^-p6lzw. und alle voBoi den Piang von Metökeu
hatten und in ihre Listen eingetragen wurden. Listen der Metöken
gab es in Athen und in Pergamon: Fränkel, Nr. 249.
In der Geschichte Milets wird über die Tsr/o-otoi gehandelt: sie
hatten ihre eigene Kasse und einen -rajjiiac, der einen Monat im Amte war.
102 Berichtüb.d griech.Staatsaltertnra.f.d J. 1893;i890)-I902. (J. Oohler.)
Zu erwähnen sind die Inschriftp'.iblikationen von Perg-amon,
Magnesia am Maiandros, Hierapolis. Ilium, die, znm Teile mit treiflichea
Indices aus;»estattet, eine Übersicht über die Verfassung der Städte geben.
Lykien.
191. (t. Pougöres, De Lyciovum communi (Auy.-'wv -o y.oivov).
Paris 1898.
Der Verfa;?ser behandelt unter Benutzung der einschlägigen Lite-
ratur die Einrichtungen des lykischen Bundes zunächst bis zum Jahre
43 n, Chr. Bereits im V. Jahrb. v. Chr. sei auf Grund des geraein-
samen Kultes eine Gemeinschaft der lykischen Stämme entstanden, ver-
gleichbar der Araphiktyouie der Griechen; doch konnte ein xotvov erst
nach der Vertreibung der Dynasten gebildet werden. Die Entstehung
des xoivov setzt F. in die Zeit zwischen 276 und 204 v. Chr. Dann
von 169 bis 81 v. Chr. war Lykien eine civitas foederata, nach 81 aber
eine libera, amica sociaque civitas. Das xotvov bestand aus 23 ver-
bündeten Städten, deren Stimmrecht abgestuft war: 6 Städte hatten je
3, 8 je 2, 9 je 1 Stimme, so daß im ganzen 43 Stimmen waren.
Das y.oivov (juveöpiov hatte die Wahl der Beamten und Richter
sowie die Entscheidung über Krie^; und Frieden. Dazu versammelten
sich nur die aus den einzelnen Städten dafür gewählten Bürger, und
zwar an einem wechselnden Orte, da das xoivov keine Hauptstadt hatte.
Doch waren als Versammlungsorte nur die reichsten Städte geeignet,
die ein passendes Heiligtum, ein Theater und Stadion hatten; sie werden
als fjLYjtpoiToXeu bezeichnet. Das cuvsSpiov wurde für ein Jahr bestellt;
wie oft es im Jahre zusammentrat, ist nicht zu bestimmen. Die y.oivoi
oder Eilvr/.oi apyovTs; sind 1. Der Lykiarches, der oberste Beamte in
allen öffentlichen Angelegenheiten, auch der Feldherr im Kriege, neben
dem auch gtp'xti]-;o( erwähnt werden. Der Lykiarches wurde auf ein
Jahr gewählt. 2. Der Hipparchos, neben deni ein Hypohipparchos er-
scheint. 3. Der Nauarchos, da die Flotte zum Schutze gegen die See-
räuber eine große Bedeutung hatte. 4. Außerdem wird erwähnt ein
ap-/tcpuX7.$ und ein ujio^uXaE too l'övou;, ein Ypaixiia-ceuc xou sövouc und
ein T«|xiaf Toü xoivoü. In den einzelnen Städten waren voixoYpacoi zur
Vorbereitung und Aufzeichnung der Gesetze. Jährlicli wählte das
ouv£§piov auch die gemeinsamen Geiichtshöfe. Als -aTpwot fleoi wurde
Apollo Lykios, Latona und Artemis verehrt; der älteste Tempel war
das Letoon bei Xanthos, wo anch eine eövtxfj TtavT^-^upic gef-üert wurde.
Seit alter Zeit bestanden cuixTroXiTcTa'., indem kleinere Orte, x^ixai, mit
einer hervorragenden Stadt eine Gemeinscliaft bildeten; appendix II
S. 149 enthält einen sujxTroXiTetcDv catalogns. Neben den aufj-iroXiTsiat be-
standen noch auvTEXeia». zur gemeinsamen Münzprägung, die nach dem.
Bericht iib.d.griech.Staatsaltertüm.f;d. J. 1893(1800)— 1002. (J.Oehler.) 103
rhodischen Fuße erfolgte. Die Zwistigkeiten, die zwischen deu Städten
ausbrachen, führten ira Jahre 43 n. Chr. dazu, daß ihnen Kaiser Claudius
die Freiheit nahm, womit das freie xoivov aufhörte. Der zweite Teil
behandelt das provinciale Lyciorum commune. Das y.oivov behielt nur
die äußere Form ohne die alte Bedeutung, das juvsöptov wurde i^u einem
heiligen Kollegium besonders zum Kulte des römischen Kaisers und
der Göttin Roma. Es bestaud eine xotv?) ßo-jXr,, auch IvvojjLOi ßouXi^ oder
y.oivoßouXiov genannt, deren Mitglieder ßouXsuxat hießen und zu regel-
mäßigen Versammlungen zusammentraten; sie hatten ::po3ouXeu[i.aTa ab-
zufassen, die sich vor allem auf ^Ehrenbezeugungen bezogen. An die
Stelle des alten auveSptov trat die ly.Y.\-r]~ioL, zn der auch apyocj-atai ge-
hörten, über deien sonstige Znsammensetzung aber nichts bekannt ist.
Die Kompetenz war gering, betraf vor allem Ehrenbezeugungen, Ord*
jiung der religiösen Dinge sowie finanzielle Angelegenheiten. Jeder
Beschluß mußte vom Statthalter sanktioniert werden. Es finden dann
die einzelnen Beamten Besprechung, wobei Fougeres mit Nachdruck
dafür eintritt, daß der Lykiarches zu unterscheiden sei von dem ap-/iepeuj
Tulv Ssßaa-dv. Vgl. Treuber, BphW 1899, 74—79, der einzelne Ein-
wendungen erhebt. Auszüge aus den lykischen Bundesprotokollen teilt
E. Kaiinka, Eranos Viudob. S. 83-92 mit.
YIII. Amphiktyonien und Bünde, Mutterstadt uud Kolonie.
Hier möge Erwähnung finden:
191a. *H. Franc otte, Formation des villes, des etats, des
confederations et des ligues dans la Giece ancienne. Sonderabdruck
aus den Bulletins de TAcaderaie Royale de Belgique, Classe des
lettres etc. 1901 Nr. 9. 10. Paris 1901.
Ref. kennt das Buch nur durch die Rezension Lenschaus BphW
1902, 850 f., der es als einen Versuch bezeichnet, ein wichtiges Ka-
pitel des griechischen Staatsrechtes, nämlich die Bildung von Staaten
und Bünden, für sich im Zitsammenhang zu behandeln: Unter Bei-
bringung reichen Materiales werden die Formen der Staatenvereini-
gungen: Synoikismos, Perioikismos, Konföderation uud Liga scharf ge-
trennt und deutlich charakterisiert. Die wichtigste Form, der Synoi-
kismos, findet ira ersten Teile Behandlaug. Es sind zwei Hauptmerk-
male hervorgehoben: 1. Er ist die politische Vereinigung vorher
getrennter Gemeinwesen, die ihre staatliche Selbständigkeit verlieren
uud nur lokale Bedeutung behalten; 2. es wird eine Einheit des Bürger-
rechtes geschaffen. Dabei werden auch Probleme der altgriechischen
und speziell altattischen Geschichte behandelt: bei der ürbesiedelung
104 Bericlitüb. (l.giiocli.Staatsaltertüm. f. d.J. 1893^1890)- 1902. (J. Oehler.)
waren, wie Fr. iumimmt, die griechischen Stämme noch durchaus gen-
tilizisch in Phratrien und Denien gfeg'liedert. Diese g^entilizischen Ver-
bände waren nach Lenschaus richtiger Bemerkung während der Periode
des Gemeineigentums unzweifelhaft lokal, wurden mit der Entwickelung
des Privateigentums gelockert, und an ihre Stelle trat der Demos als
lokaler Gauveiband. Die Demen bilden die Elemente der ältesten Sy-
noikismen.
Im zweiten Teile versucht Fr. mit Glück eine scharfe, staats-
rechtliche Scheidung zwischen Konföderation (achäischer, aitolischer
Bund) und Liga (peloponnesischer Bund, delisch-attischer Seebund); er
legt auch sehr geschickt die Gründe dar, die im zweiten Falle fast not-
wendig zur Hegemonie des Vorortes führen mußten. Das Hauptver-
dienst der Schrift wird in der scharfen Begriffsbestimmung gefunden.
Über die Amphiktyonien handelt Schömann-Lipsius 11^ S. 29 f.;
dazu ist zu erwähnen:
192. F. Cauer, Amphikty^onia, Pauly-Wissowa I 1904—1935.
Eine Definition gibt Szanto, Die griechischen Phyleu S. 40: „Die
Vereinigung mehrerer Staaten oder Städte zum Zweck der Besorgung
des Dienstes in einem gemeinsamen Heiligtume heißt Araphiktyonie.*
Bei den. Zusammenkünften kamen auch andere Angelegenheiten zur
Sprache, so erhielten manche Amphiktyonien auch politische Bedeutung.
Cauer zählt folgende auf: 1. Die A. von Argos; 2. die von Onchestos;
3. die von Kalauria; 4. die von Korinth; 5. die delische und 0. die
pyläisch-delphische. Über die A. von Kalauria ist zu vergleichen:
193. V. Wilamovvitz-Moellendorf, Nachr. d. Ges. d. Wiss.
zu Giittingen 1896, S. 2,
der erklärt: ,,Die Ausgrabungen rechtfertigen die Annahme einer alter.,
politisch bedeutenden Amphiktyonie nicht." —
fber die delphische Amphiktyonie sind außer der klaren, über-
sichtlichen Darstellung- Cauers zu nennen:
194. H. Pomtow, Fasti Delphici II. Neue Jahrb. f. klass.
Philol. 149 (1894), 497—558; 657—704; 825-842; ebenda 155
(1897) 737—765; 785—848, der 752 f. Listen verschiedener Jahre
gibt.
195. W. Dittenbcrger, Die delphische Amphiktyonie im .lahi*,-
178 V. Chr. Hermes XXXII (1897) 161 — 190.
196. B. Keil, Zur Verwertung der delphischen ßechnungs-
Urkunden, Hermes XXXII (1897) 399-420.
197. A. Nikitsky, Chios in der delphischen Amphiktyonie,
Athen. Mitt. XIX (1894) 194—202.
Bericht üb. d.griech Staatsaltertüm f.d. J. 1803(1890) — 1902. (J.Oehler.) Jij.^y
Von besonderem Interesse ist es. die Zusammensetzung des am-
phiktyonischen S3'nedrions vor und nach der aitolischen Suprematie
können zu lernen. Jeder der 12 Stämme führte zwei Stimmen; von
diesen 12 Doppelstimmen sind drei von alters her gespalten: die der
Dorier, lonier und Lokrer. Im Jahre 346 wurden die zwei Stimmen
der Piioker auf den König der Makedonen und seine iNachkommen
übertragen; später wurde das Stimmrecht der ozolischen Lokrer zu-
gunsten der Aitoler suspendiert.
Über die Aitoler selbst sagt Pomtow S. 747: „Die Aitoler als
Stamm haben überhaupt niemals zur Amphiktyonie gehört, niemals,
weder vorher noch nachher, ein amphiktyonisches Stimmrecht besessen,
sondern ein solches nur auf dem Umwege durch die Hieronraemonen
ihrer am Synedrion teilnehmenden Bundesangehörigen ausüben können.
Diese Bundesangehörigen nun werden als AkuiXoi bezeichnet." Weiter
wuiden die Phoker wegen ihrer tapferen Taten gegen Brennus und die
Galater wieder aufgenommen und erhielten 278 v. Chr. die zwei Stimmen
des jVIakedonenkönigs. Im Jahre 275 wurde die malische Doppelstimme
gespalten, die zweite aitolische Stimme gebildet durch die Stimme der
Dorier aus der Metropolis. Wenn die Aitoler 5 Stimmen haben, so er-
klärt es sich daraus, daß zu den angegebenen zwei Halbstimmen noch
die zwei der Ainianen uud die eine opnntisch-lokrische hinzukommen.
Über die Kompetenz geben die von den Franzosen gefundenen
Inschriften Aufschluß: eine erschöpfende Darstellung wird erst nach der
Veröffentlichung aller Inschriften möglich sein.
Nikitsky meint, die Chier hätten nicht bloß in aitolischer Periode
als Quasi-Aitoler, sondern auch sonst der Amphiktyonie angehört und
es hätte zwischen Chios und anderen ionischen Inseln bei der Re-
präsentation der zweiten ionischen Stimme eine Abwechselung in der
Reihenfolge geherrscht.
Außer den Amphiktj^oneu gab es noch andere Vereine von Staaten
und Städten, die Schömann als landschaftliche Staateuvei'eine bezeichnet,
die wir aber unter dem Namen der xoiva zusammenfassen. Darüber
bietet das Notwendige:
198. G. Fougeres, xo'.vov, Daremberg et Saglio, Dictiou. V
(1899) 832-851.
Er erklärt S. 834 das xoivov als eine Kombination der Amphik-
tyonie, der bympolitie und der Symmachie. Das xo-.vov behält die au-o-
TToXi-Eia, die lokale Selbständigkeit, bei, darüber aber ordnet sich die
xoivojroAtT£i7. , das Recht des Staatenbundes. Daher wurde auch ein
Bundesbürgerrecüt geschaffen. Das xoivov übt seine Souveränität in den
Bundesversammlungen: die beiden Faktoren sind die sxxXYjsia und die
1 06 Bericht üb. d. griecli Staat-altertüm. f. d. J. 1893(1890)— 1902. (J. Oehler.)
ßouXrj oder das auvsSptov. Das Verhältuis zwischen dem xoivov und der
einzelnen Stadt wird durch eine Spezialkonvention, eine 6jj.oXo7ia, ge-
regelt. Es werden dann 3 Perioden unterschieden in der Geschichte der
xotva, die einzelnen xoiva aufgezählt und besprochen. Im folifendeo 8oll
zu den einzelnen Bünden die letzte Literatur anjjeg'eben werden.
Der athenische Seebiind.
Über diesen handeln außer anderen:
199. J. Zingerle, Zur Geschichte des zweiten athenischen
Bundes. Eranos Vindobonensis S. 359 — 371.
200. H. Swoboda, Der hellenische Bund des Jahres 371 v. Chr.
Rhein. Mus. XLIX (1894) S. 321—352.
201. J. Lipsius, Beiträge zur Geschichte griechischer Bundes-
verfassungen. I. Der athenische Seebund. Verh. d. kön. iächs. Ges.
d. Wiss. zu Leipzig L (1898) S. 145-160.
Z. meint, die Neuorganisation des Bundes im Jahre 377 bedeute
<;ine Stärkung der Befugnisse der einzelnen Bundesstaaten auf Kosten
Athens; sie sei erfolgt durch die Rücksicht auf Theben, um diesem den
Beitritt zu erleichtern. Die einzelnen Staaten seien wie früher durch
Sondervertrag an Athen gebunden, hätten aber einen doppelten Eid zu
leisten gehabt, einen an Athen, einen an das auvsopiov.
Sw. gibt eine Übersicht über die früheren Aufstellungen und stellt
den Vorgang bei der Aufnahme neuer Mitglieder folgendermaßen dar:
die Einleitung bildete ein Sondervertrag zwischen Athen und dem be-
treffenden Staate, wobei auch auf den Bund Rücksicht genommen wurde.
Das Synedrion des Bundes gab bei der Aufnahme sein Votum ab und
eist nach dem zustimmenden Beschluß des Synedrions wurde der Sonder-
vertrag dem attischen Demos zur Genehmigung vorgelegt; die Auf-
nahme selbst erfolgte durch die Aufschreibung auf die gemeinsame Stele
und durcli die gegenseitige Eidesleistung: das neue Mitglied hatte nur
dem athenischen Volke den Eid zu leisten. Von einer Bundeskonstitution
im eigentlichen Sinne kann nicht die Rede sein, das Bundesrecht hat
sich aus den geschichtlichen Verbältnissen heraus entwickelt. Die Ver-
fassung des Bundes stellt sich als Kompromiß dar zwischen unverein-
baren Elementen, da sie eine Epimachie, die ihrem Begiiffe nach nur
zwischen gleichberechtigten Staaten abgeschlossen werden kann, und
Folgeleistung den Beschlüssen des Vorortes und des Synedrions gegen-
über enthält. Athen hatte keinen Vertreter im Bundesrate, konnte daher
nie überstimmt werden; gerade in dem Mangel der Teilnahme am Sy-
nedrion lag Athens Stärke. Dem Synedrion ging jede Exekutive ab;
BerJcl.tüb d griecli.Staatsaltertüra.f..L J.lS93(lS90)-100-2.(J.OohIer.) 107
die Exekutive des Bnnles his; in den Händen des Vorortes, de? athe-
nischen Demos. So konnte Athon dnicl» kein learales Mittel znr Unter-
ovdnunsj unter den Willen des Bniides g^ezvvnne^en wei'den, jeder der
Bnndesstaatt^n dagegen hatte bei Außerachtlassun? seiner Pflicht die
gesamte Macht Athens und des Bundes «e^'en sich. Das Synedrion
seihst hatte in BnndesanereleL'enheiteri eine mit dem athenisclien Rate
konknrrierende, mit ihm gleichai tigfp Kompetenz, doch mnßte das Gnt-
achten des Synedrions dnreh den Rat an die Ekkle-^ie ^ehen, welche
die letzte EntscheiduDe hatte. — L. führt aus: eine eigentliche Bandes-
akte hat nie bestanden, deren Existenz ist vielmehr ansgeschlosscn,
doch mußten mit den Staaten die Grnndlasreu des Bundes und die Er-
richtung eines Synedrions vereinbart worden sein. Als feststehend darf
gelten, daß Athen im Sjaiedrion nicht vertreten war, der Voroit stand
also neben dem Bunde; diese Nebeuordnnng des Vorortes mnßte not-
wendig zur Überordnun«- desselben führen. Die Anfnahme neuer Mit-
glieder des Bundes war leiijjlich in das Ermessen »ies Vorortes gestellt.
Die BnndesmitglieJer mußten sich verpflichten, ohne Athen und das
-X7j9o; TÜ)v aujxixdywv weder Krieg zu führen noch Frieden zu schließen.
Die Meinung, es sei bei der Eirichtuug des Bundes auch ein Bundes
gericht eingesetzt worden, in dem neben dem attischen Demos auch das
Synedrion vertreten gewesen sei und eine entscheidende Stimme geführt
habe, ist unrichtig: die gerichtliche Verfolgun'^ wurde den Bundes-
genossen nur gegen diejenigen übertragen, die sich in ihrem Gebiete
aufhielten. Dem Synedrion stand nur eine richterliche Befugnis zu;
diese sollte die Erfüllung der von Athen übernommeneu Veipflichtun?,
keinei'lei staatlichen oder privaten Grandbesitz im Bundesgebiete zu
erwerben, gewährleisten. Daher hatte das Synedrion das Recht, An-
zeigen wegen Übertretung dieses Verbotes entgegenzunehmen und das
widerrechtlich erworbene Besitztum zu verkaufen. Ein Gerichtszwang
im weiteren Sinne wurde den Bundesstaaten im zweiten Bunde nicht
auferlegt; irrig wurde er aus ein paar Äußerungen des Isokrates ge-
folgert, die sich jedoch nicht auf den zweiten Bund, sondern auf den
ersten beziehen.
Achäischer Bund.
H. Swoboda, Die griechischen Volksbeschlüsse 255. E. Szanto,
Das griechische Bürgerrecht S. 111 f. Schoemann-Lipsius II* 123 — 132.
202. Brandis, Achaia, Pauiy-Wissowa I 156— 198, Verfassung
8. 166—169.
Der achaische Bund erscheint als ein Achaierstaat nach außen,
r.ach innen gab es gemeinsame Freiheit und gleiche Berechtigung. Nach
108 Bericbtüb.d griech Staatsaltertöm.f.d. J. 1893(1890)— 1902. (J.Oehler.)
Szanto war der Bund im staatsrechtlichen Sinne eine Sj'mpolitie, daher
ging Rat und Volksversammlung- des Bundes aus dem Gesamtstaat
hervor, die Bürger erschienen persönlich; jeder Bürger, der 30 Jahre
alt war, hatte Zutritt, konnte vorschlagen und reden, aber nur zu den
Gegenständen, die auf der Tagesordnung standen. Die Volksversamm-
lung hatte die Entscheidung über Krieg und frieden, Aufnahme in den
Bund, Unterhandlungen, Erteilung von Ehren, Wahl des Bundes-
beamten, die Bestrafung der Vergehen des Eundesbeamten. Die
Vorberatuug traf ein ständiger Ausschuß, die ßouXiQ. An der Spitze
des Bundes stand der c-rpa-rfpc, der mit einem Hipparchos und einem
Nauarchos das vom Bunde aufgestellte Heer befehligte und die Ober-
leitung des Krieges hatte. Als oberster Beamter des Bundes war er
der offizielle Leiter der Bundespolitik, berief im Verein mit den dq-
Ij.ioup7oi die Bundesversammlungen und führte deren Beschlüsse au^.
203. J. Lipsius, Beiträge zur Geschichte griechischer Bundes-
verfassungen. II. Der achäische Bund. V^erh. d. köc. sächs. Ges
d. Wiss. zu Leipzig L (1898) 160 f.
Der Verf. spricht über die Zusammensetzung und Zuständigkeit
der Bundesversammlungen und über die Existenz eines Bnndesiates
Zu den di'ei regelmäßigen Tagsatzungen (den v.abf^xoüsat auvoSoi) und
den Amtswahlen (ö.pyaipzzion) des Jahres treten noch außerordentliche
(cju^xXrjTO'.), die sich mit gesetzlich bestimmten Dingen zu befassen hatten.
Gegen Gilbert und Busolt sieht L. in der [iouXr^ eine repräsentative
Körperschaft, deren Mitglieder verpflichtet waren, sich bei den regel-
mäßigen cuvoooi einzufinden; die große Menge der stimmberechtigten
Bürger dagegen fanden sich wegen der zeitraubenden Reise nur ein.
wenn wichtige Gegenstände auf der Tagesordnung standen. Da aber
bei den Bundesversammlungen nicht nach Köpfen, sondern nach Städten
abgestimmt wurde, war es notwendig, für die Vertretung aller Städte
zu sorgen, was durch die ßouXrj geschah; doch wuide der Bundesrat
nicht durch das Zusammentreten der pouXai der einzelnen Städte ge-
bildet, war auch nicht ständig, sondern trat nur im Bedürfnisfalle zu-
sammen.
Der Aitolische Bund.
Swoboda S. 256/7; Szanto S. 81; Schoemann-Lipsius 117 — 122.
204. Wilcken, Aitolia, Pauly-Wissowa I 1113—1127; Bundes-
verfassung Sp. 1118-1121.
205. -H. Gillischewski, De Aetolonim praetoribus intra.
aunos 221 et 168 a. Chr. n. muneie funetis. Berlin 1896.
Bericht üb. d. griech. Staatsaltertüm f. d. J. 1 893(1890) - 1902. (J. Dehler.) 100
In dem aitolischen Bunde bestand eine freie Zentralgewalt, die
in den Btmdesbeamten. dem Bundesrat und in der Bundesversammlung
ihren Ausilruck fand. Die Bundesverfassung war im Grunde durchaus
deffiokratiscb, alle Bundesaugehörigen hatten dasselbe Recht. Die
Bundesbeamten wurden alljährlich von der Bundesversammlung gewählt.
Der erste Bundesbeamte war der axpataYoc, der als Bundespräsident
sowohl das Kommando über die Truppen führte als auch als der höchste
Zivilbeamte den Bundesrat und die Bundesversammlung einzuberufen
hatte und in den Yersamnilungen den Vorsitz führte. Neben dem
sTpaTaYOi erscheint der irirap-za^ und wohl auch ein vaüotpyo;. Der
Bundesrat, juviopiov, ßouXrj, erscheint als Vertretung der Bundesgemeinden,
die nach der Größe eine größere oder geringere Zahl ßouXcOxat entsenden.
Die Verhandlungen wurden geleitet durch zwei -poozd-ai. Der eigent-
liche Souverän des Bundes war die Gesamtheit der Aitoler: AixtuXoi
hießen alle Stämme zur Zeit ihrer Bundeszugehörigkeit; von ihnen
werden unterschieden ol iv AirtoXia xaxoixsovxe«.
Akarnanen.
Swoboda S. 257; Schoemann-Lipsius II* 80/1.
206. W. Judeich, Akarnanien, Pauly-Wissowa I 1150 — 1157;
Verfassung 1156 f.
Die Akarnanen bildeten einen sehr lose zusammengefügten
Bundesstaat. Die Bevölkerung gliederte sich in 10 bis 12 Gaue mit
je einem befestigten städtischen Mittelpunkt; die einzelnen Gaue stellten
ihre Kontingente zum Bundesheere unter eigenen itpa-rjot, deren einer
wahrscheinlich dann das Oberkommando luhi'te. Seit dem 4. Jahrh.
erscheint ein xotvöv xuiv 'Axapvavojv, eine Art Bundesrat. Seit 230 v. Chr.
bestand ein jüngerer Bund.
Arkader.
Swoboda S. 261; Schoemann-Lipsius IP 88 f.
207. B. Kiese, Beiträge zur Geschichte Arkadiens. Hermes
XXXIV (1899) 520 f.
208. Hiller v. Gaertringcu, Arkadia, Pauly-Wissowa II
1120—1137.
209. *P. Herthum, De Megaiopolitarum rebus gestis et de
conniiuni Arcadum republica. Commeniationes Jenenses V. 1894.
Boiotia.
Swoboda 8. 263—266 ; Szauto S. 157/8; Schoemann-Lipsius 11^ 84 f.
21U. F. Cauer, Boiotia, Pauly-Wissowa III 637—663. Vgl.
Bull. heil. XVI (1892) 456 f.
110 Bericht üb.d.griech.Staatsaltortüm f d.J 1893(1890) -1902. (J.Oehler.)
Euboia
Bull. hell. XVI (1892) 97; 101.
Die Existenz eines xoivov xojv EuJ^oie'tuv in der Zeit von 196 — 146
V. Chr. ist aus Livius bekannt; es wird eine ßouXi^ und ix/Xr^aia erwähnt.
"Vielleicht ist der in einer Inschrift von Chalkis erwähnte TjYeixoiv der
eponyme Beamte des Euboeischei\ Biuide?.
Ilischer Bund
Die Inschriften dieses Bundes sind jetzt zusamniei;f*-e teilt in dem
Buche von
Dörpfeld, Troja und Ilion. Athen 1902, II S. 462 f., Nr. 2—13.
Koivöv Tüiv lüJVtUV.
Swobo.ia S. 276; 277.
211. U. Köhler, Das asiatische Eeich des Antii^onos, Ber.
Berl. Akad. 1898, 824—843.
Korinthischer Bund.
212. J. Kaerst. Der korinthiscbe Büud ßhein. Mus. LH (1897)
519—556.
213. U. Köhler, Die Eroberung Asiens durch Alesander den
Großen und der korintbische Bund, Ber. Berl. Akad 1h98, 120 — 134.
Kaerst erkläit: Dei- korinthische Bund wai- ein xoivov tiöv 'EXXy^vtov
oüve6piov, eine Vereinigung der Vertieter aller Hellenen. Der eigent-
liche Ort für die politische wie ricbierliche Tagnnjj- des Synedrion war
ausschließlich Koiinth. Die Mitglieder waren EXsui^epot und auTov6|jLOi;
der Bundesteidherr hatte die Hübe des Antgebotes. resp. des Geldbei-
trages auf Grund einer von der Bnndesversaninilung entworfenen Taxe
zu bestimmen. Die korinthische Föderation war auf eine Vertretung
der gesaniteii hellenischen Nation angelegt und erieichte dieses Ziel in
einem Umfange wie keine andere hellenische Symmachie zuvor oder
nachher.
Bund der Magneten.
Swoboda S. 143 f.
214. A. Reichl, Der Bundesstaat der Magneten und das Orakel
des 'At:6XXwv Kopo-afo;. Progr. Prag, Kleinseite 1891.
2)5. M. Holleaux, Note sur deux inscriptiuns de la confedöration
des Magnetes. Revue de Philol. XXI (1897) 181—188.
Vgl. auch: Ath. Mitt. XIV, 54 f.; XV 283 f.; Bull. hell. XIII 274.
"Wir kennen 7 von den zu dem freien, selbständigen Bundesstaat
gehörigen Städten der Bewohner der Halbinsel Magnesia in Thessaliea.
Bericht üb. d. griech . Staatsaltortüm. f. d. J. 1893(1 890) - 1902. ( J. Oehler.) 1 1 1
Au der Spitze dürfte der xotvo? atpaTT]7oj g:estanden haben, dem die
arpaTr,7oi, die jährlich von den einzelnen Städten des Bundes für ein
Jahi' gewählt wnvden, untergeordnet waren. Ihre Amtsbefngnisse teilten
die aTpsTTj-jOi mit den vofxocpuXaxsc ; beide Beamtenklassen werden be-
zeichnet als apyovxec Daneben weiden mehrere Prytanen nnd Taixt'ai
erwähnt, ferner die e^sTasToti, welche vor der l'wofxo; ixy.XTjjta einer
Reihe von Beamten den Amtseid abnehmen, die demnach eine Aufsichts-,
Prüflings- nnd Rechenschaftsbehörde waien, denen der Eid statt der
Rechenschaftsablag-e geleistet wird. Die exxXricia bestand aus allen
vollberechtigten Bürgern des Bundesstaates und hatte über wichtige
Angelegenheiten des Bundesstaates zu beraten und zu beschließen.
Auch eine ßouXr^ wird erwähnt, welcher die Vorberatung der an
die exxXifjtjia zu leitenden Gegenstände oblag. Die xsr/oTroioi hatten
dafür zu sorgen, daß die Beschlüsse in steinerne Säulen eingegraben
und an entsprechenden Oiten aufgestellt wurden; ihnen oblag wohl auch
die Beaufsichtigung der öffentlichen Gebäude und Plätze.
Lokrer.
Swoboda S. 282; Schoemann-Lipsins IP 81 f.
K 0 1 V 0 V -: (u V VT) a i (u T öu V.
Swoboda S. 587; Szanto S. 135/6.
216. Bull. hell. XVII (1893) 20j; XVIII (1894) 402—405.
217. J. Delamarre, Un noveau docunient relatif ä la con-
federation des Cyclades. Rev. ue Philol. XXVI (1902) 291 — 300.
Vgl. XX, 103 f.
Das xotvov Twv vTjGtwTÜiv konstltuiertc sich 3u8 v. Chr. und
dauerte vielleicht bis zum Jahre 168 v. Chr. Als oberster Beamter
erscheint der vr,c;tap}(o; tüJv vrjaKUTcuv ; die auvsSpoi leisteten den Eid im
Namen der von ihnen vertretenen Staaten. Die von Delamarre mit-
raitgeteiite Inschrift aus der 2. Hälfte des III. Jahrb. v. Chr. enthält
dkiu Schluß eines Psephisma, wodurch bestimmt wird, die Kosten tür
die Stele und die Aufzeichnung sollten ano xoü xoivoü geleistet werden.
Der Beschluß selbst ist gefaßt zugunsten der Bewohner der Insel
Herakleia.
Phokis.
Swoboda S. 294/5; Szanto S. 120; Schömann-Lipsius II* 82.
218. G. Kazarow, De foederis Phocensium institutis. Diss.
Leipzig 1899.
Im xoivov Tiüv OtüXEüjv hatten alle Mitglieder gleiche Rechte und
nahmen an der Verwaltung teil; es bestand bereits im VI. Jahrh. v. Chr.,
i 1 2 Bericht üb. d. griech Staatsaltertiim. f. d. J. 1893(1 b90) — 1902. ( J. Ouhler.)
wurde durch Philipp aufgelöst, aber 338 wiederhergestellt. Im III. Jahrh.
iBußteu sich die Phuker den Aitoleru anschließen, bis der Bund 146
von den Römern aufgehoben wurde. Die oberste Behörde waren
3 sTpaTTj-'Ot, wohl jährig nnd durch das Volk bestellt. Die 3TpaTY)7oi
hatten die ixy.Xr^jia zu berufen und zu leiten, in der die Beamten ge-
wählt und die ßecheuschaftsablage entgegengenommen wurde; ebenso
hatte die ExxXr,3ta die Verleihung von Ehrenbezeugungen. Auch ein
Bundesrat, auv£optov, wird genannt. Sie hatten einen gemeinsamen
Staatsschatz, dem der Tafxiac vorstand; auch ein 7pa|X}jLat£uc wird erwähnt.
In späterer Zeit werden Phokarchen genannt, und zwar 3, daneben
4 otpyovTs;; welche Funktionen die apTt3TY)p£? hatten, ist nicht übei--
lietert, vielleicht bezogen sie sich auf den Staatsschatz. Kazarow gibt
auch an, was über die einzelnen Städte des Bundes bekanut ist: es
erscheinen ötp/w^ cruvsopiov, sxxXYjjia, xa[xia; und ap7upoTa[xia;, ^svoSt'y.ai,
rpay.Tfjp£;, örifjLioupYoi', -cu[JivaaLap/oi, eVor/.oi, dann tspsT? und ispapyat.
Über das ^'erhältuis zwischen Mutterstadt und Kolonie handelt.
Schömann-Lipsius 11^ S. 93 — 101. Wir haben zu unterscheiden: aT^otxia,
iro'.xta und xXr,pouyta. Über dirotxia handelt
219. J. Oehler, 'A-otxi'a, Pauly-Wissowa, I 2823—26 ebender-
selbe auch 'E-oixta, Pauly-Wissowa V (im Drucke).
IX. Völkerrechtliche Institutionen.
Die allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätze sind in Schoeraann-
Lipsius II* S. 3—29 in klarer, übersichtlicher Weise dargestellt. Gegen-
stand einer speziellen Schritt sind die Schiedse;erichte:
220. V. Berard, De arbitrio iuter liberas Graecorum civitates.
Paris 1894.
Im ersten Teile ist eine Sammlung der uus erhaltenen Nachrichten
gegeben, die zeigt, welche Städte von den Schiedsgerichten Gebrauch
machten; es sind 48, geoi'duet nach folgenden Gruppen: Städte des
Pelopounes und Siziliens; Städte des griechischen Festlandes; Städte
Asiens und der Inseln. Bei jedem einzelnen Falle ist eine kurze Er-
klärung gegeben. Der zweite Teil handelt über die Regeln und die
Geschichte des Schiedsgerichts in den griechischen Staaten: zunächst
über die Einsetzung des Schiedsgerichts; dann über die Art, wie die
Schiedsrichter ihres Amtes walteten; endlich über die Folgen und die
Geschichte des Schiedsgerichts. Auf Seite 103/4 ist eine Übersicht
gegeben, welche die streitenden Paiteieu, die Schiedsrichter und endlich
das Jahr des Schiedsgerichts enthält: wir ersehen daraus, daß die
Schiedsgerichte vom Jahre 743 v. Chr. bis in die zweite Hälfte des
Bericht üb. d.griech.Staatsaltertüm.fd.J. 1893(1890) -1902. (J.Oehler.) 113
zweiten vorchristlichen Jahrh. von verschiedenen Parteien in Anspruch
genommen wurden.
Eine andere Arbeit befaßt sich mit den Staatsverträgen:
221. R. von Scala, Die Staats vertrage des Altertums. I.
Leipzig 1898.
Es sind nicht bloß die Staatsverträge der griechischen Städte,
sondern die aller Staaten aufgenommen; doch bildet die Mehrzahl grie-
chische Verträge vom Jahre 650 v. Chr. an bis 338 v. Chr. Die Zu-
sammenstellung gibt zunächst Aufschluß über die oft weitreichenden
auswärtigen Beziehungen mancher griechischer Städte, dann gibt sie uns
die Terminologie. Wir finden den Ausdruck au|X[i,ayia, Bundesvertrag,
3-ovoa'', Friedensvertrag, auvö^xoti, Vertrag im allgemeinen. Das Do-
kument selbst führt die gleiche Bezeichnuug, nur bei den Dorieru findet
sich ein besonderer Ausdruck: Fpa-pa; vgl. Scala Xr. 27: 'AFpa-pa
TOis FaXeiot; '/.cd toi? 'HpFacuot; ' ouvfiayta y.xX. (588/7 v. Chr.); ebenda
Xr. 33 im Vertrage zwischen Anaitern und Metapiern: aFparpa . . .
<l''.Xi'av TTcVTaxov-a Yixzoi.
Nachträge.
Zu S. 17 Nr. IIa:
''A. H. .1. Greenidge. A handbook of greek coustitutional
history. London 1896. Rez. : BplAY 1898, 1203 v. Thalheim.
Der Verf. beabsichtigt, in erzählender Darstellung die Haupt-
linien der Eutwickelung des griechischen Rechtes zu geben, die ver-
schiedenen Arten der Staaten in der Reihenfolge ihrer Eutwickelung
darzustellen, wobei er mehr Aufmerksamkeit dem lebendigen Wirken
der Verfassungen als ihrer Gestaltung zuwendet. Einige einleitende
Kapitel handeln über die Eutwickelung des griechischen Staates zum
Verfassungsstaate, über Kolonisation und internationales Recht; darauf
werden die Staaten eingeteilt in Oligarchien, gemischte Verfassungen,
Demokratien und Bundesstaaten. Nach dieser Einteilung werden die
einzelnen Staaten behandelt, wobei vielfach Zusammengehöriges zer-
rissen wird.
Bei der Darstellung der einzelnen Verfassungen zeigt der Verf.
einen praktischen Blick für das Wirken der staatlichen Einrichtungeu.
'Als Quellen sind wesentlich deutsche Werke bezeichnet, dabei aber
■ wurden nicht immer die neuesten Auflagen benutzt, was manche Un-
richtigkeiten zur Folge hat.
Jaaresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (190^. III.) 8
1 14 Bericht üb.dgriech.Staatsaltertüm.f.d.J. 1893(1890)— 1902. (J.Oehler.)
Zu S. 32 Nr. 29 a:
*S. "Wide, Bemerkungen zur spartanisclien Lykurgoslegende.
Skandinavisches Archiv I (1892) 90 f.; s. BphW 1892, 982.
Verf. stellt folgende Vermutung auf: Lykurg ist ein über Hellas
verbreiteter alter chthonischer Gott, sein Name aus der Wurzel Xux
abgeleitet. Götter als Beamte der hellenischen Städte sind nicht selten
und so mag sich auch die Wandlung des alten, verdrängten Landes-
gottes in den spartanischen Gesetzgeber vollzogen haben.
Zu S. 44 Nr. 68:
*H. Francotte, L'oigaüisation de la cite athenienne et la re-
forme de Clisthenes. Extrait du T. XL VII des Mera. couronn. et
autres mem. publ. par TAcad. royale de Belgique. Paris (Brüssel)
1893. Bez.: BphW 1893, 1298 v. Holm.
Nachdem die -lirq lange Zeit nur die Altbürger, die Adligen, als
Genneten oder Homogalakten bezeichnet, enthalten hatten, traten dann
die Nichtadeligen als Orgeonen oder Thiasoten in die Phratrien. Die
Bedeutung der Nichtadligen steigt durch die Reformen Drakons und
Solons, wenn auch dann nur die x\dligen politisch Geltung haben. Erst
Kleisthenes beseitigt vollständig die politischen Unterschiede zynischen
Adligen und Nichtadligen, indem er die Ausübung der politischen Rechte
an die Zugehörigkeit zu einem Demos knüpft, freilich auch an die Zu-
gehörigkeit zu einer Phratrie wegen deren religiösen Charakter: er war
kein Revolutionär, sondern ein Reformator.
Zu S. 48:
*L. Whibley, Political parties in Athens during the Pelopon-
nesian war. Cambridge 1889. Rez,: BphW 1890, 183 f. v. Egel-
haaf.
Verf. viüU die Parteiverhältnisse in Athen während des pelopon-
nesischen Krieges nach allen Seiten einer neuen Prüfung unterziehen;
in 4 Kapiteln betrachtet er die athenische Verfassung und das athenische
Reich; Teilung und Zusammensetzung der Parteien; Stellung der Par-
teien zum Krieg und Parteiherrschaft in Athen. Der demokratischen
Partei stellt er die oligarchische gegenüber; dann wendet er sich der
von Nikias gegründeten und von Aristophanes vertretenen „Mittelpartei"
zu, deren Programm die doppelte Forderung enthielt: 1. es solle die
Macht der Volksversammlung beschränkt und 2. jeder Sold, abgesehen
von dem für die Truppen, abgeschafft werden.
Zu S. 4''> Nr. 62:
B. Keil, Die solonische Verfassung in Aristoteles' Verfassungs-
geschichte Athens. Berlin 1892. Rez.: BphW 1893, 485 f. v.
Bauer.
Bericht üb.d.griech.Staatsaltertüm.f.d.J. 1893(1 890)— 1902. (J.Oehler.) Il5
Der Verf. sieht in Solon vor allem einen Sozialreformer, bespricht
ausführlieh die Klasseneinteilung Solons und meint, die Bezeichnung
der ersten Klasse als Pentakosiomedimnen weise in eine Zeit zurück,
da die Olivenkultur in xAttika noch keine Rolle spielte. Als Folge des
timokratischen Prinzips für die spätere Zeit sieht er es an, daß infolge
des sinkenden Geldwertes viele bedenkliche Elemente tatsächlich ins
Archontat und in den Areiopag aufstiegen; Bauer bemerkt dazu, es er-
scheine von größerer Bedeutung, daß diese Elemente zu den übrigen
Ämtern das passive Wahlrecht und in der Volksversammlung das
Stimmrecht erwarben.
8*
Jahresbericht über griechische Geschichte
von
Thomas Leuschau in Berlin.
(1899—1902.)
Erstes Kapitel.
Die Anfänge der griechischen Kultur.
Ausgrabangen.
Melos (Phyläkopi): Bericht von Hogarth und Walters Annual
of the British school at Athens, vol. IV. V. 1897/9. Knossos: Bericht
von Evans, Annual VII. VIII. 1900/2. Kato Zakro: Ber. v. Hogarth
Annual vol. VII. Grournia: vgl. Bosanquet in JHSt. 1900. Amer.
Journ. of Archeol. 1902 p. 72. Phaestos: vgl. Bosanquet a. a. 0.
p. 339. Wide, BphW 1901.
Volo: Ber. v. Wide, BphW 1901, S. 795/6. Bosöjük: Ber.
V. Körte, Mitt. d. arch. Instituts 1901. Gordion: Ber. v. Körte,
Arch. Anzeiger 1901, S. 5. Kli revag : Ber. v. Vassits, Revue Archeolo-
gique 1902, p. 172 ff.
J. B. Bury, A History of Greece to the death of Alexander
the Great. London 1900.
W. Ridgeway, The early age of Greece vol. I. London 1901.
S. Wide, geometrische Vasen in Mitt. d. Arch. Inst. 1896, 385
und Jahrb. d. arch. Inst. 1899, S. 49.
Boehlau, aus altiouischen und italischen Nekropolen. Mitt. 1898.
Wie in der späteren griechischen Geschichte die Inschriften als
Marksteine betrachtet werden, nach denen die Fülle der überlieferten
Ereignisse einzuordnen ist, so haben für die vorgeschichtliche Entwicke-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 117
lung- des griechischen Volkes die Ausgrabungen in Hissarlik, Tiryns
und Mykene eine alles überragende Bedeutung gewonnen. Sie zuerst
gestatteten da einen sicheren Grund zu legen, wo man bisher auf un-
sichere Analogieschlüsse aus der Entwickelung der übrigen indoger-
manischen Völker, auf sprachgeschichtliche Forschungen, auf gelegent-
liche Erwähnungen in ägyptischen Inschriften und nicht zum wenigsten
auf den losen Triebsand der hellenischen Sagen zu bauen gewohnt war.
Allein die Kombination jener Funde mit der uns von anderen Seiten
her zu Gebote stehenden Kenntnis ergab eine Reihe einander seltsam
widersprechender Hypothesen, zwischen denen die Entscheidung un-
möglich war. und so gewöhnte man sich, auf neue Funde zu hoifen, die
Ordnung in diese Verwirrung bringen würden. Diese Hoffnung hat sich
zum Teil erfüllt, indem die Ausgrabungen der letzten Jahre uns vor
eine Reihe von neuen Tatsachen gestellt haben , mit deren Hilfe das
Bild der ältesten griechischen Zustände allmählich deutlichere Umrisse
gewinnt, und so wird jede Darstellung der griechischen Vorgeschichte
von den Ergebnissen der neuesten Ausgrabungen ausgehen müssen, ob-
wohl über die meisten von ihnen noch keineswegs endgültige Berichte
vorliegen.
Verhältnismäßig am günstigsten liegt die Sache in dieser Hinsicht
bei den Ausgrabungen, die die britische Schule unter Hogarths Leitung
in den Jahren 1898/9 auf Melos vorgenommen hat und in den Jahres-
berichten der Britischen Schule in Athen beschrieben hat. Im NW.
der Insel bei dem heutigen Dorfe Phyläkopi lag in vorgeschichtlicher
Zeit eine nicht unbedeutende Ansiedelung, die den Zugang zu einem
ziemlich flachen, aber gut geschützten Hafen beherrschte, der im Laufe
der Jahrtausende, wie es scheint durch Zurückweichen des Meeres, völlig
trocken gelegt ist. Der Platz war äußerst fest, da er mit dem Ufer
nur durch eine schmale Landzunge verbunden war, die in der Blütezeit
der Stadt eine gewaltige Befestigung trug, wovon noch heute deutliche
Spuren vorhanden sind. Für das Alter der Ansiedelung spricht der
Umstand, daß die Ausgrabungen außer ein paar Gegenständen ans
klassischer Zeit auch in den obersten Schichten nichts ergeben haben, was
unter die mykenische Blüteperiode herabreichte: man hat es also im
wesentlichen mit einer durchaus vormykenischen Anlage zu tun. Diese
frühe Besiedelung hing unzweifelhaft mit einem besonderen Vorzug der
Insel zusammen: sie ist im ganzen Umkreis der ägäischen Kultur die
einzige Stätte, wo sich der glasharte Obsidian findet, der in der Stein-
zeit und noch weit darüber hinaus zu Messerklingen, Pfeilspitzen und
allerhand Werkzeugen Verwendung fand und unzweifelhaft den
Hauptexportartikel der Insel gebildet hat. Vier Schichten der Be-
siedelung sind nach den Entdeckern zu unterscheiden. Von der untersten
118 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
und ältesten Schicht sind nur Scherben übrigg-eblieben, die eine selt-
same Ähnlichkeit mit den in Stentinello auf Sizilien gefundenen zeigen:
an beiden Orten, wie auch bei den ältesten Inselnekropoleu, sind keinerlei
Spuren menschlicher Wohnungen entdeckt worden, was darauf hindeutet,
daß diese ältesten Ansiedler nur in ganz rohen Hütten von vergäng-
lichem Material gewohnt haben können. Die Töpferware dieser ältesten
Schicht ist mit der Hand gemacht und poliert, wie in den ältesten
Gräberanlagen der Kykladen (Amorgos), zuweilen auch mit Eiuritzungen
versehen, aber nicht bemalt. Die zweite Schicht enthielt die bereits
solid gebauten Häuser, die zu einer allerdings noch gänzlich unbefestigten
Stadt vereinigt waren: eines von ihnen enthielt offenbar eine Obsidian-
werkstatt, wie die Masse der dort gefundenen Gegenstände aus diesem
Material bewies. Die Töpferwaren zeigten eine Entwickelung der rohen
Ornamentik aus der ersten Periode zu einer Art geometrischen Stils,
der besonders in der Zeichnung eine entschiedene Verwandtschaft mit
dem Dipylonstil aufweist und somit hier vor dem mykenischen er-
scheint; die Ornamente sind nur zum Teil noch eingeritzt, vielfach da-
gegen bereits aufgemalt und zeigen eine Vorliebe für organische Wesen,
Vögel, Fische, Vierfüßler, Menschen, daneben kommen indes auch Dar-
stellungen von Schiffen vor. Die dritte Periode unterschied sich zu-
nächst durch eine starke Befestigung und sodann durch kunstvollere
Konstruktion der Hänser, die besonders in der sorgfältigen Behandlung
der Ecken und Türpfosten zutage tritt: einzelne Räume zeichneten sich
durch wundervolle Wanddekoration aus (die weißen Lilien auf karmin-
rotem Grund, der Fries mit fliegenden Fischen). Sehr interessant
waren die Tonvasen aus dieser Schicht, sofern sie einen allmählichen
Übergang von dem geradlinig-geometrischen Stil der früheren Zeit zu
krummen Linien und naturalistischen Motiven erkennen lassen, der sich
schließlich immer stärker herausbildet: der Gebrauch der Drehscheibe
beginnt zu überwiegen und die Gefäße ähneln durchaus den auf Thera
unter der vulkanischen Schicht gefundenen. Von Metallen konnten
bereits Bronze und Blei sicher in dieser Schicht nachgewiesen werden.
Die vierte Ansiedelung endlich, die von den Findern als mykenische
bezeichnet wird, stellt sich gleichfalls als befestigte Stadt dar; hier
fanden sich am Ostende der Stadt die Reste eines mj^kenischen Palastes,
während die Häuser zwar eine praktischere und entwickeltere Anlage,
aber weit geringere Sorgfalt im Bau zeigen, als bei der vorigen Schicht.
Die Tonwaren bieten auch hier ein besonderes Interesse, insofern im
Anfang offenbar die einheimische Entwickelung sich fortsetzt : eines der
vollendetsten Stücke, die Vase mit den Fischern, hat sich in dieser
vierten Schicht gefunden. Dann aber beginnt mykenische Einfuhrware
ans der dritten und vierten Stilperiode das Ganze zu überschwemmen.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 119
so daß nur für die gröberen Hausgeräte die alte einheimische Weise er-
halten bleibt: in dem Brunnen auf dem Hofe des Palastes wurden neben
einer Unzahl rein mykenischer Scherben des dritten und vierten Stils
nur drei bemalte Gefäße gefunden, die der einheimischen Fabrikation
angehören. Auf kretischen Einfluß deuten mehrere Gegenstände aus
Steatit und sogenannten Kauiaresvasen; auch anderswoher importierte
Stücke linden sich und beweisen die Ausdehnung der Handelsbeziehungen,
in deren Mittelpunkt die Insel gestanden haben muß. Indessen das-
jenige, was die Blüte der Ansiedelung hervorgerufen hatte, bewirkte
schließlich auch ihr Absterben: als der zunehmende Gebrauch der
Metalle die Obsidianwerkzeuge und -waffen überflüssig machte, sank die
Handelsblüte mit der Unterbindung der Exportmöglichkeit dahin und
nach dem Verfall der mykenischeu Anlagen hat die Stätte eine neue
Besiedelung nicht mehr erlebt. — Die Hauptbedeutung der Funde von
Melos beruht darin, daß sie ebenso wie die Entdeckungen von Hissarlik
eine kontinuierliche Entwickelung von den Anfängen der Kultur bis in
die Blüte der mykenischen Zeit aufdecken und daß sie auf diese Weise
zugleich die älteste Inselkultur (Amorgos, Thera) mit der mykenischen
in Verbindung bringen. Je vollständiger aber die Entwickelungsreihe
vorliegt, um so eher wird man geneigt sein, das Alter dieser aegaeischen
Gesamtkultur, von der die mykenische zunächst nur eine lokal ent-
wickelte Abart ist, höher hinaufzusetzen, als man bisher getan hat, und
ihre Anfänge mindestens an den Beginn des dritten vorchristlichen
Jahrtausends zu verlegen.
Zu ähnlichem Ergebnis führt die Betrachtung der neuen Aus-
grabungen in Kreta, wo in den letzten beiden Jahren 1900/01 der
Spaten an den verschiedensten Stellen in Tätigkeit gewesen ist. Zu-
nächst hat an der Stätte des alten Phaistos eine italienische Expedition
unter Halbherrs Führung einen ausgedehnten Palast mykenischer Bauart
nebst einer dazu gehörigen Villa entdeckt, worüber zuletzt Wide
einen kurzen Bericht gegeben hat. Sodann haben zwei amerika-
nische Damen, Miß Boyd und Miß Wheeler, in der Nähe von Ravusi
bei Gournia eine kleine, wesentlich mykenische Ansiedlung bloßgelegt,
die den Hafeueingang vollständig beherrschte. Kleine aus Ziegeln ge-
baute Häuser sind zu zwei Straßenzügen geordnet, die auf einen aus
Quaderstein erbauten Palast hinführen, der im kleinen dieselbe Anlage
wie der von Phaistos zeigt; überall wurde eine große Menge mykenischer
Tonwaren und Bronzewerkzeuge, sowie Schmuckstücke aus Bronze ge-
funden. Eine ähnliche mykenische Kolonie deckte im Mai 1902 die
britische Schule unter Hogarths Leitung in Kato Zakro am Ostende
der Insel auf; doch fanden sich hier neben den mykenischen Tonwaren
auch viel einheimische Kamaresvasen. Diese bildeten auch die haupt-
1 20 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschaa.)
sächlichste Ausbeute bei Durchforschung' der berühmten diktäischen
Höhle, die Hogarth gleichfalls vornahm, während die Ausgrabungen in
Praisos nahezu nichts von Belang lieferten außer einigen Inschriften in
unbekannter Sprache, die Hogarth für eteokretisch hält. Weitaus die
wichtigsten Ergebnisse aber sind den Bemühungen zu verdanken, welche
ebenfalls im Auftrag der britischen Schule Arthur J. Evans seit Mai
1900 der Stätte des alten Knossos zugewandt hat. Diese liegt etwa
eine Stunde südlich von Megalokastro (Kandia) und etwas abseits von
ihr gleichfalls nach Süden zu in dem Winkel, den der Kairatos mit
einem Nebenbach bildet, erhebt sich ein Hügel, worauf sich ein unge-
heurer Palast ausbreitete, unmittelbar auflagernd auf einer ueolithischen
Schicht mit Handtöpferei und Steinwerkzeugen, die nach Ansicht des
Entdeckers unmöglich jünger sein kann als 3000 v. Chr. Nach und
nach erst sind die einzelnen Teile des Bauwerks aufgedeckt worden,
darunter ein Throngemach mit großem Vorsaal, das sich, wie es scheint,
nach einem inneren Hofe zu öffnete, ferner eine zweite, tieferliegende
Halle von riesigen Dimensionen, zu der man von allen Seiten her auf
Stufen hinabstieg, dazu ein Gewirr von Korridoren und daranstoßenden
Zimmern. Die Innendekoration zeigte Wandmalereien von einer Ge-
nialität und Feinheit der Ausführung, wie man sie bis dahin der my-
kenischen Kunst nicht zugetraut hatte; auch eine Reihe bemalter Gips-
statuen fand sich, die eine die mykenische weit überragende Kunsthöhe
erkennen lassen. Das Interessanteste vielleicht aber war die Entdeckung
einer Anzahl von Vorratskammern, die sämtlich auf einen Gang mündeten
und neben mancherlei Behältern für Vorräte eine ungeheure Masse von
Tontäfelchen mit einer Art linearer Schrift bargen, wie sie auf einzelnen
kretischen Funden aus vorgeschichtlicher Zeit schon früher zutage ge-
treten war. Eine besonders gelegene Kammer enthielt ebenfalls eine
Menge viereckiger, halbmondförmiger oder sonstwie gestalteter Körper
aus Ton, die mit einer andern offenbar älteren, hieroglyphenartigen
Schrift bedeckt waren, wie sie früher schon von Evans auf kretischen
Überbleibseln nachgewiesen war. In ihrer Gesamtheit gaben nun diese
Tontäfelchen den Beweis , daß das Linearsj'stem sich aus der Bilder-
schrift entwickelt habe, und damit die glänzende Bestätigung einer schon
früher von Evans ausgesprochenen Vermutung. Auffällig ist die ge-
ringe Anzahl von Tongefäßen, die innerhalb der Palastanlage zutage
gefördert wurden, um so mehr davon entdeckte man in den Wohnhäusern,
die um den Palast herumliegen, und zwar ergaben die unteren Schichten
meist einheimische Kamaresvasen, während die Oberschicht größtenteils
Vasen mykenischen Stils enthielt. Unter den im Palast selbst vorge-
fundenen Gegenständen war ein Alabastergefäß mit dem Namen des
sonst ziemlich unbekannten Hyksoskönigs Khyan, das sich in seiner Ver-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 12 1
einzelmig- jedoch nicht für die Chronologie verwerten läßt. Doch wird
die Annahme des Entdeckers, daß die Brandkatastrophe, der die ganze
ungeheure Anlage zum Opfer fiel, nicht viel später als 1400 v. Chr.
eingetreten sein kann, im allgemeinen das Richtige treffen.
Die Frage ist nun, wie sich die Forschung diesen Ausgrabungen
gegenüber zu stellen hat, und da kann von vornherein ein Ergebnis als
gesichert betrachtet werden, daß nämlich Mykeue selbst nicht der ein-
zige, ja vielleicht nicht einmal der wichtigste Mittelpunkt der Kultur
gewesen ist, die man gewöhnlich als die mj'kenische bezeichnet, sondern
daß Kreta eine mindestens ebenso glänzende Entwickelung dieser Kultur
gesehen hat. Über das Verhältnis beider zueinander wird mau freilich
erst dann ins reine kommen können, wenn ausführliche und genaue
Fundberichte über die Entdeckungen von Knossos vorliegen. Wir
wissen allerdings, daß die speziell mykenische d. h. die in Mykene
selbst erwachsene Kultur zur Zeit ihrer höchsten Blüte auf nähere und
entferntere Gebiete übergegriffen hat (Melos, Hissarlik u. a.), und so
ist auch bei der unleugbar nahen Verwandtschaft der beiden Kulturen
die Annahme nicht abzuweisen, daß die glänzende Blüte, von der der
Palast zu Knossos Zeugnis ablegt, durchaus auf mykenischen Einfluß
zurückgeht, wie das Hogarth und Welch, lediglich von den Vasenfunden
ausgehend, auch bereits tatsächlich behauptet haben. Allein abgesehen
davon, daß es wohl noch zu früh ist, in dieser Sache eine endgültige
Entscheidung zu fällen, sprechen die chronologischen A^erhältnisse eher
dagegen, insofern die Blüte in Kreta der von Mykene vorausgegangen
zu sein scheint, und so wird man wenigstens mit der Möglichkeit rechnen
müssen, daß sowohl die speziell mykenische, wie die kretische Kultnr
selbständige, unter besonders günstigen lokalen Verhältnissen entwickelte
Blüten an einem und demselben Zweige, der allgemein ägäischen Kultur
sind, deren Reste überall im Gebiet des Ägäischen Meeres zutage treten
und deren Entwickelui g wir bereits in ziemlicher Vollständigkeit zu
überblicken vermögen. Auch über das ungefähre Alter dieser Kultur
lassen sich gewisse Anhaltspunkte gewinnen. Fast überall hat sich
auf kretischem Boden über der ältesten neolithischen und unter der so-
genannten mj'kenischen Schicht eine eigentümliche Gattung von Töpferei -
erzeugnissen gefunden, die man nach ihrem Hauptfundort als Kamares-
vasen bezeichnet und die zweifellos als Produkte älterer einheimischer
Kunstübung anzusehen sind: dieselben Ornamente, die sich auf den
Tongefäßen der neolithischen Periode eingeritzt finden, kehren in der
Bemalung der Karaaresvasen wieder, um dann hier eine reichere Aus-
bildung zu erhalten, und im ganzen entsprechen die Kamaresvasen dem
sogenannten ersten mykenischen Stil Furtwängler-Löschkes, der sich auf
die ältesten Schachtgräber der Burg von Mj^kene beschränkt. Solche
122 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
kretischen Tong-efäße sind nun sowohl in Melos, wie auch unter der
vulkanischen Schicht auf Therasia entdeckt worden, wohin sie offenbar
durch Import gekommen sind; das wichtigste aber ist, daß Flinders
Petrie auf diese speziell kretischen Gefäße auch in den Gräbern zu
Kahun gestoßen ist, die der zwölften ägyptischen Dynastie (2778 — 2565
nach Petrie) angehören, und zwar unter Umständen, die ein späteres
Hineinschaffen der Gefäße ziemlich ausschließen. Man wird daraus mit
Furtwängler und Bury den Schluß ziehen dürfen, daß die ägäische
Kultur weit älter ist, als gewöhnlich angenommen wird. Ihre ersten
Anfänge (älteste Inselkultur, zweite Stadt in Hissarlik, vSchachtgräber
in Mykene) mögen bis 3000 v. Chr., ja wenn die zwölfte Dynastie wirk-
lich in die zweite Hälfte des vierten Jahrtausends zu setzen sein sollte,
sogar noch weiter zurückgehen und ihre Blütezeit wird sie zwischen
1600 und 1400 zuerst in Kreta, dann in Mykene gehabt haben, während
ihre letzten Ausläufer im Osten bis über das Jahr 1000 v. Chr. hinab-
reichen.
Indessen der einheitliche Charakter und die, soweit wir sehen
können, ununterbrochene Entv/ickelung dieser Kultur braucht ja nun
keineswegs durch Einheitlichkeit der Hasse bedingt zu sein, und so
erhebt sich hier im Anfang auch das Hauptproblem der griechischen
Urgeschichte: Wer w'aren die Träger der ägäischen Kultur?
Waren es die Griechen oder ein anderes nicht griechisches Volk, das
wir zunächst gar nicht kennen? Da ist es nun von vornherein wichtig,
ein Ergebnis im Auge zu behalten, das meines Erachtens unter allen
Umständen eine der sichersten Grundlagen der griechischen Vorgeschichte
bleiben wird, nämlich das von Kretschmer in seiner Einleitung in
die Geschichte der griechischen Sprache (1893 S. 401 ff".) erschlossene
Vorhandensein einer Bevölkerung, die eine nicht griechische Sprache
redete und mindestens einst Kleinasien, die Inseln und Griechenland
bedeckte, ja vielleicht sogar, wie Bury annimmt, mit der Urbevölkerung
der iberischen und italischen Halbinsel verwandt war. Daß wir es
dabei nun auch mit einer einheitlichen Rasse zu tun haben und daß
diese Rasse eben auch der Träger der mykenischen Kultur gewesen
sei, wie Kretschmer will, das ist freilich noch nicht ohne weiteres an-
zunehmen, allein wenn man das vorhin erschlossene Alter der ägäischen
Kultur in Betracht zieht, so wird man so viel immerhin als wahrscheinlich
zugeben, daß die Anfänge jener Kultur wenigstens dem Volke angehören,
welches einst die Küstenländer des Ägäischen Meeres bewohnte.
Weitaus am eingehendsten hat sich über die ganzeFrage Ridgeway
in seinem Buche The early age of Greece ausgesprochen und es empfiehlt
sich vielleicht, den Gedankengang des umfänglichen Werkes, von dem
bis jetzt erst der erste Teil erschienen ist, hier kurz darzulegen. Der
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 123
Verfasser beginnt mit einer eingehenden und sehr vollständigen Auf-
zählung sämtlicher Stätten, an denen sich Reste der sogenannten myke-
nischen d. h. ägäischen Kultur gefunden haben, und einer Beschreibung
der dort entdeckten Reste; soviel ich sehe, wäre nur einiges über die
neuesten Entdeckungen auf Kreta, sowie der von Wolters beschriebene
spätmj'kenische Begräbnisplatz zu Tschangli am Mykale nachzutragen.
(Ath. Mitt. XII, 226.) Als besonders charakteristisch ergeben sich ihm
dabei folgende Punkte: 1. Das Hauptzentrum der mj'kenischen Kultur
lag auf dem griechischen Pestland — was durch die kretischen Funde
einigermaßen zweifelhaft geworden ist — und von dort erstreckte sie
sich über die Inseln des Ägäischen Meeres, die Troas und Phrygien
bis zu den nördlichen Gestaden des Schwarzen Meeres. Nach Süden
und Südwesten reichte ihr Einfluß über Kreta und Rhodos bis nach
Lykien, Cj'pern und Ägypten, im Westen finden sich ihre Spuren in
Mittel- und Unteritalien sowie in Sizilien. 2. Diese Kultur zeigt ein
großes Geschick in der Anlage von Festungsbauten aller Art, Palästen
und Gräbern. 3. Sie gehört im wesentlichen dem Zeitalter der Bronze
an, die allgemein für Waffen im Gebrauch war. Eisen erscheint nur in
einigen späten Gräbern zu Schmuckstücken verarbeitet. 4. Die Träger
der mykenischen Kultur kannten keine Verbrennung, ihre Toten wurden
in zusammengekauerter Stellung begraben. 5. Die mykenische Kultur
hat sich unmittelbar aus der steinzeitlichen entwickelt. Sodann geht
Ridgeway dazu über, das Volk zu bestimmen, das als Träger der
mykenischen Zivilisation anzusehen ist, und knüpft dabei an eine be-
kannte, sehr alte Stelle der Odysee an (t 175 ff.), wo als Bestandteile
der kretischen Bevölkerung Kydonen, Eteokreter, Pelasger, Achaier und
Dorier genannt werden. Die beiden ersten schließt er aus, da sie offenbar
nur auf Kreta ihre Stätte haben; auch die erst in historischer Zeit ein-
gewanderten Dorier können nicht in Betracht kommen, und so bleiben
nur Pelasger und Achaier. Da nun aber diese, das bei Homer vor-
herrschende Volk, sich in ihier Kultur ganz wesentlich von der myke-
nischen unterscheiden, so kann es sich nur um die Pelasger handeln,
und das zweite Kapitel ist nunmehr dem Nachweis gewidmet, daß
überall da, wo sich Reste der mykenischen Kultur finden, in der grie-
chischen Sage und den anf ihnen, sowie den Genealogien, denen R.
ganz besonderes Gewicht beimißt, beruhenden Schriften auch Spuren
der Pelasger anzutreffen sind. Das dritte Kapitel befaßt sich mit der
homerischen Kultur und betont die Merkmale, die sie von der myke-
nischen unterscheiden. Dies wird im einzelnen auch durch Ab-
bildungen, die überhaupt das ganze Werk durchziehen und eine sehr
wertvolle Zugabe bilden, an der Kleidung, dem Schmuck, der Begräbnisart
und vor allem an den Waffen erwiesen, natürlich unter vollständiger
224 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Ablehnung der Ergebnisse Reicheis, dessen Forschung eben darauf aus-
geht, die homerische Kultur als mit der mykenischen identisch zu er-
weisen. Im vierten Kapitel untersucht der Verf. die Frage nach der
Herkunft der Achaier, die er nach Analogie späterer Wanderungen aus
dem Nordwesten ableitet. Als Bestätigung dient ihm die im fünften
bis achten Kapitel ausführlich und in allen Einzelheiten dargelegte
Ansicht, daß die Hallstattkultur (das Gräberfeld v. Glasinatz etc.j,
die den Übergang von der Bronze zur Eisenzeit repräsentiert, in wesent-
lichen Punkten mit der der homerischen Achaier übereinstimmt. Im
neunten Kapitel kommt Verf. dann auf die Verbreitung des Eisens zu
sprechen und das sehr interessante Ergebnis , das allerdings zur
herrschenden Ansicht im Widerspruch steht, ist dies, daß der Gebrauch
des Eisens sich von Zentraleuropa aus allmählich verbreitet. Dagegen
spricht zunächst das zeitliche Verhältnis: in den homerischen Gedichten,
deren Entstehung doch allerspätestens ins neunte Jahrhundeit gesetzt
wird, ist der Gebrauch des Eisens bereits ein sehr weit verbreiteter,
während die Hallstattkultur bisher wenigstens allgemein in die Jahre
800 — 400 V. Chr. gesetzt worden ist. — Sonach sind für ßidgeway
die Achaier ein von Nordwesten her eingewanderter keltischer Stamm,
der durch gewaltige Völkerbewegungen lange vor dem Jahre 1000 v. Chr.
in die Balkanhalbinsel hineingeschoben ward, und einen Beweis dafür
sucht er auch der Sprache zu entnehmen, indem er im letzten Kapitel
den eigentümlichen Labialismus im Griechischen auf keltische Ein-
wanderung zurückführt. Trotz mancher guten Bemerkungen ist indessen
das Kapitel nach der linguistischen Seite hin so wenig eindringend und
umfassend, daß man den Eindruck erhält, der Verfasser hätte besser
getan, die sprachliche Seite der Frage nicht in Betracht zu ziehen:
mindestens würde es dazu einer viel umfangreicheren Untersuchung
bedürfen.
Ich habe damit schon die Kritik des Werkes begonnen, die sich
nunmehr auch auf den übrigen Teil der Bücher zu erstrecken hat, an-
fangend vom zweiten Kapitel, in dem der Verf. den Nachweis aus
literarischen Quellen zu erbringen sucht, daß überall, wo durch Aus-
grabungen das Vorhandensein mykenischer Kultur nachgewiesen ist,
auch wirklich Pelasger gewohnt haben. Man kann gern zugeben, daß
dieser Beweis vollständig gelungen ist, allein damit kommt Ridgeways
Sache keinen Schritt weiter. Denn wenn man die Grundlagen der
ältesten giiechischen Geschichte prüft, so muß man unweigerlich zu
dem Ergebnis kommen, daß sagen wir über 700 v. Chr. hinaus über-
haupt kein sicheres, einwandfreies Material mehr vorliegt: höher hinauf
reichen nur die Angaben des Epos, die Genealogien und einzelne, schon
ziemlich ausgebildete Gründungssagen. Nun könnten ja diese für die
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 125
Geschichte unzweifelhaft verwertet werden, wenn sie uns in ihrer
ursprünglichen Gestalt erhalten wären, allein davon kann nach den
ciudriiisenden Untersuchungen, die Ed. Meyer (Forsch, zur alt. Gesch.
I 37 flf.) der Pelasgerfrage zugewandt hat, gar keine Rede sein. Bereits
die ältesten Logographen, Hekataios und vor allem Hellanikos, haben
das unendliche Gewirr der verschiedensten Sagen, Genealogien und
sonstigen Lokaltraditionen rationalistisch und chronologisch zu klären
versucht, nnd wo einzelnes nicht in das festgelegte Schema hineinpassen
wollte, da wurde frischweg korrigiert. Dabei war es nun von großer
Bedeutung, daß diese ältesten Logographen der vielleicht damals allge-
mein verbreiteten Ansicht huldigten, daß vor den Griechen eine Urbe-
völkeiuug vorhanden gewesen sei, die den Namen Pelasger geführt habe,
und daß sie dieser Ansicht bei ihrer Redaktion der älteren Sagenüber-
lieferung mannigfach Ausdruck gaben. Man wird das Gewicht dieser
Ausfühlungen nicht so unterschätzen dürfen, wie es Ridgeway getan
hat, wenngleich sich natürlich über einzelne Aufstellungen mit Meyer
streiten läßt. Sehr richtig sagt z. B. Bury (S. 25 A) — um eine viel-
erörterte Frage zu berühren — , es sei viel einfacher, den Namen der
athenischen Burg -sXap-jiy.ov als volkstümliche Nebenform von -sXasYtxov
zu fassen, als anzunehmen, daß unter dem Einfluß der allgemeinen
Überzeugung aus irsXap^ixov ueXasYtxov entstanden sei. Es gibt dazu eine
ganz schlagende Parallele aus dem Norden unseres Vaterlandes, wo die
sonst allgemein auch im Volke als höoengraw =^ Hünengrab bezeichneten
Tumuli an einzelnen Stellen auch mit leicht erklärbarer Volksetymo-
logie hönergraw = Hühnergrab genannt werden. Jene Bezeichnung ist
natürlich die ursprüngliche, aber — und darauf kommt es ja eben an
— ebensowenig wie sie beweist, daß jemals Hunnen an den Gestaden
der Ostsee gesessen haben, ebensowenig kann man aus dem -eXajYtxov
■zsXyoi der athenischen Burg schließen, daß jemals dort eine Ansiedelung
der Pelasger gewesen ist. Die Sache liegt genau so wie in türkischen
Gegenden, wo alte Bauten stets, worauf mich Herr Prof. Kroll hin-
weist, als von „Franken" herrührend bezeichnet werden. Tatsächlich
nachzuweisen sind die Pelasger eben doch nur in einigen wenigen Ge-
bieten Nordgriechenlands und in Kreta, wo sie das größtenteils von
jener herrschenden Ansicht noch unbeeinflußte Epos kennt. Alle spä-
teren Angaben sind eben schon von dem zur Zeit der Logographeu
herrschenden Vorurteil infiziert, und der aus ihnen geführte Beweis,
daß überall an den Stätten mykenischer Kultur Pelasger gesessen haben,
hat also nicht die geringste Beweiskraft, Nur das eine erfahren wir
daraus, daß die Griechen am Ende des fünften Jahrhunderts der An-
sicht waren, daß jene Reste ältester Kultur auf die Pelasger zurück-
zuführen seien.
126 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Wesentlich anders aber scheint mir denn doch die Sache bei den
Ausführungen Ridgeways im dritten Kapitel zu liegen, wo er die großen
Unterschiede feststellt, die zwischen der Zivilisation der homerischen
Achäer und den Trägern der raykenischen Kultur vorhanden sind. Das
unleugbare Geschick, mit dem ßeichel auf dein Gebiet der Bewaffnung
die IJbereinstimraung zu erweisen gesucht hat, kann doch nicht darüber
wegtäuscheu, daß jene angeblich vorhandene Übereinstimmung eben der
Punkt ist, von dem ßeichel ausgeht, daß also eine petitio principii vor-
liegt, wie Furtwängler noch kürzlich ausgeführt hat. Es geht damit
ähnlich — und dieser Vergleich mag daneben auch die wissenschaft-
liche Bedeutung erkennen lassen, die ich den Forschungen des leider
zu früh verstorbenen Mannes beimesse — wie mit der Liedertheorie
Lachmanns, deren Grundgedanke eben auch ein unbewiesenes Axiom ist.
Dieselbe souveräne Attitüde, mit der Lachmanu wegschnitt, was seiner
Theorie widersprach, nimmt auch Reichel der Überlieferung gegenüber
ein: man erinnere sich seiner Ausführungen über die Beinschienen,
deren Erwähnung überall als ein Zeichen späterer Entstehung galt, bis
neuerdings nun doch ein Exemplar in der unstreitig mykenischen Nekro-
pole von Enkomi-Salamis auf Cypern entdeckt worden ist. Wie sich
Reichel mit dieser Entdeckung abgefunden hätte, wissen wir nicht;
allein auch so wird man zugeben müssen, daß seine Betrachtungsweise
den homerischen Dichtungen gegenüber versagt. Eine scharfe Scheidung
zwischen älteren und jüngeren Partien, zwischen Ursprünglichem und
späteren Zutaten läßt sich weder von kulturgeschichtlichen, noch von
ästhetischen Gesichtspunkten aus finden, dazu ist die Umarbeitung in
Rhapsodenkreisen viel zu langwierig und eingehend gewesen, so daß an
manchen Punkten Ältestes und Jüngstes sich untrennbar amalgamiert
haben ; es wird immer nur gelingen, einzelne Züge bei Homer als älter
zu bezeichnen. Dasselbe Verhältnis liegt überall da vor, wo Dichtungen
lange im Munde des Volkes oder berufsmäßiger Sänger gelebt haben,
wie in den deutschen Märchen mit ihrer buntscheckigen Mischung
ältester und moderner Züge, oder in den deutschen Volksepen des
Mittelalters, die gerade auf dem Gebiete der Bewaffnung eine inter-
essante Parallele bieten. Unzweifelhaft schildern die Dichter sowohl im
Nibelungenlied wie in der Gudrun die Kultur ihrer Zeit, des hohen
Mittelalters, und daher ist die Bewaffnung durchweg die ritterliche,
Vollrüstung, dreieckiger Turnierschild, lange Stoßlanze: aber an manchen
Stellen, besonders solchen, die von jeher den Kern der Sage bildeten,
wie Saalkampf und Schlacht auf dem Wülpensande, tritt die uralte Be-
waffnung des Kriegers der Völkerwanderungszeit, großer Rundschild
und kurzer Ger hervor, ohne daß die Dichter das Bewußtsein der Dis-
krepanz zu haben scheinen. Ähnlich liegt die Sache bei Homer-, auch
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 127
bei ihm heißt das Schwert durchwen; das eherne, und doch wird es in
den ältesten Partien der Ilias ebensooft zum Hieb wie zum Stoß ge-
braucht, während die Natur des Bronzeschwertes seine Verwendung als
Hiebwafte ausschließt und es in der mykenischen Darstellung tatsächlich
nur zum Stoß gebraucht wird. Darin liegt eben der Beweis, daß die
homerischen Achäer bereits Eisenschwerter hatten, und es scheint mir
ein Hauptverdienst Ridgeways zu sein, daß er gezeigt hat, wie auch
die homerischen Achäer trotz des gegenteiligen Anscheins vollständig
bereits im Eisenzeitalter leben, wie ihre ganze Kultur der gewöhnlich
als Hallstattperiode bezeichneten entspricht. Daraus zieht er den Schluß,
daß die Achäer ein von Nordwesten gekommenes Volk sind, und dies
ist dann freilich nichts besonders Neues: wenn Ridgeway meint, es sei
allgemeine Ansicht, daß die Griechen von Nordosten her die Balkan-
halbinsel betreten hätten, so ist das ein Irrtum. Diese Hypothese hing
mit der anderen zusammen, daß die Heimat der Indogermaneu in Asien
zu suchen sei: eine Ansicht, die heute nur noch von wenigen Forschern
verfochten wird.
Kommen wir indessen noch einmal auf jene Diskrepanz in der
Bewaffnung zurück, die sich zwischen einzelnen Partien unserer mittel-
alterlichen Volksepen findet: beweist sie denn in Wirklichkeit die
Eassenverschiedenheit zwischen den ältesten Trägern der Sage und
ihren späteren Bearbeitern? Offenbar nicht, und somit beweist streng
genommen auch ßidgeways Darlegung der Verschiedenheit mykenischer
und homerischer Kultur nicht, daß ihre Träger verschiedenen Rassen
angehört haben müssen. Hier aber treten andere Erwägungen ein.
Schon oben ist auf die Ergebnisse von Kretschmers Forschungen hin-
gewiesen, die das Vorhandensein eines großen, über alle ägäischen
Inseln und Küsten verbreiteten nicht griechischen Volkes dargetau haben.
Sind demnach die Griechen erst später zugewandert, so fragt sich
natürlich, wann das geschehen ist, und tatsächlich geschichtlich über-
liefert ist uns eben nur die dorische "Wanderung. Allein die Dorier
fanden doch bei ihrer Ankunft schon Griechen vor, und so wird man
die sogenannte dorische Wanderung als den letzten Akt einer vielleicht
tausendjährigen Wanderungsperiode betrachten müssen, deren erste
Schichten sich unmittelbar über der Urbevölkerung lagerten, während
die letzte noch über beide zu liegen kam. Es fragt sich, ob in den
uns vorliegenden Dokumenten der ägäischen Zivilisation Erscheinungen
vorhanden sind, die auf derartige Völkerbewegungen gedeutet werden
können, und das scheint allerdings der Fall zu sein.
Seit langem hat man das Auftreten des geometrischen Stiles, der
den mykenischen ablöst, so jedoch, daß beide noch eine Zeitlang neben-
einander hergehen und sich gegenseitig beeinflussen, mit der Einwände-
128 Jahresbericbt über griechische Geschichte, (Lenschau.)
ruug der Dorier in Beziehung gebracht, ohne in Betracht zu ziehen,
daß die Örtlichkeit, in der der geometrische Stil seine höchste Aus-
bildung erreicht hat, daß gerade Athen guter Überlieferung zufols:e fast
gar nicht von den Doriern heimgesucht worden ist. Diese Auffassung
ist nicht mehr zu halten. In einer Reihe von Aufsätzen in den Mit-
teilungen hat Wide nachgewiesen, daß der geometrische Stil ebenso
alt wie der mykenische und nur durch diesen in den Hintergrund ge-
drängt worden sei. „Es ist der uralte griechische Bauernstil, der vor
der mykenischen Ornamentik in den Schatten getreten ist, aber gegen
Ende der mj^kenischen Periode wieder zum Vorschein kommt, nachdem
er von der mykenischen Kunst die Firnistechnik und verschiedene
Ornamente übernommen hat." Neuere Entdeckungen haben das bestätigt:
bei Volo in Thessalien hat Wide Kuppelgräber gefunden, die noch
keine Spur von Bronze, sondern lediglich Steingeräte, daneben aber
ausgesprochen geometrisch dekorierte Tongefäße lieferten. Ebenso haben
sich schon früher in Thera unter der ersten Tuffschicht neben myke-
nischen Vasen des ersten und zweiten Stils geometrisch verzierte Tou-
waren gefunden und endlich ist in den ersten Schichten von Pbylakopi
die allmähliche Entwickelung dieser geometrischen Dekoration genau
zu verfolgen. Dem gegenüber steht die ganz verschiedene Kunst der
Kamaresvasen, die nach Furtwängler die größte Ähnlichkeit mit dem
ersten und zweiten mykenischen Stil aufweist und deren Erzeugnisse
sich bereits in ägyptischen Gräbern aus dem Anfang des dritten Jahr-
tausends findet. Endlich ist das Vorkommen beider Stilgattungen
nebeneinander noch vor kurzem bei dem LTrnenfund von Klirovac in
Serbien hervorgetreten, den Vassits eingehend behandelt hat. Danach
ist es zweifellos, daß das Auftreten des geometrischen Stiles in eine
sehr frühe Zeit fällt; nimmt man ihn also, wozu gewichtige Gründe
vorliegen, als den eigentlich griechischen Stil in Anspruch, so muß die
Einwanderung der Griechen an die Küste des Agäischen Meeres be-
trächtlich vor 2000 v. Chr. erfolgt sein.
Wie verhält sich nun zu diesen beiden ursprünglichen Stil-
gattungeu die mykenische Kunst? Furtwängler hat kürzlich in
seinem Werke 'Antike Gemmen' (S. 15 ff.) festgestellt, daß im myke-
nischen Stil durchgängig zwei Elemente zu erkennen seien, ein ein-
heimisches, das die Männer durch sehr leichte Tracht, die Frauen
durch Faltenröcke charakterisiert und eine Vorliebe für Löwen, Sphinxe,
Greifen und Palmen zeigt, und ein zweites, das alle diese Zierformen
verschmäht, den Männern eine reichere Kriegstracht gibt und die Frauen
im geradlinigen Chiton abbildet. Es liegt nahe, darin das Einströmen
eines von Norden kommenden Elementes in die einheimische Kunst zu
sehen, worin also die Griechen zu erkennen wären. Den Gedanken
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 129
hat meines Wissens zuerst Tsuntas aasgesprochen, indem er von der
schrägen Dachform ausging, die die Gräber in der Unterstadt von
Mykene haben (Tsnntas-Manatt the Myceuean age. 1897). Er
erkannte darin eine Nachbildung der nordischen Dachform, während
im Süden sonst durchweg das platte Dach vorherrscht, und ebenso er-
blickte er in der Bauart der rajivenischen Hänser mit unbenutztem
ünterstock, in den von oben Wirtschaftsabfälle geworfen wurden, eine
Erinnerung an frühere Wohnungsverhältnisse, etwa an Pfahlbauten, bei
denen ja auch Küchenabtälle direkt durch den Fußboden ins Wasser
geworfen wurden: daraus schloß er, daß die Träger der mykenischen
Kultur ein aus dem kältei'en Norden gekommenes Volk gewesen seien.
Nun hat allerdings Dörpfeld schon in der Vorrede zu dem Tsuntas-
Manattschen Werk darauf hingewiesen, daß die Dachform der Gräber
sich ans der biöckligen Natur des Kalksteins erklären lasse, in dem
sie angelegt seien, und jene Küchenabfälle, ans denen Tsuntas so weit-
gehende Schlüsse zog, seien wahrscheinlich mit dem Schutt hinein-
gekommen, den man zur Ausfüllung der Grundmauern benutzt habe:
immerhin aber kann Tsuntas' Gedanke im Kern richtig sein, wenngleich
seine Begründung verfehlt war, und daß dem so ist, das scheint mir
doch durch Furtwänglers Beobachtung einigermaßen sichergestellt.
Danach könnte man sich die Vorgänge etwa folgendermaßen vor-
stellen: Die urspiüngliche Kunst der um das Agäische Meer herum-
wohnenden nichtgriechischen Bevölkerung tritt uns in den Kamaresvaseu,
der sogenannten ersten und zweiten mykenischen Schicht (den Schacht-
gräbern auf der Burg), wohl auch in Menidi und anf Thera in den
unter der Tuffschicht gefundenen Überbleibseln entgegen; nach allem,
was wir wissen, waren in erster Linie Kreta, dessen Bedeutung auch
Bury mit Recht hervorhebt, und Mykene ihre wichtigsten Mittelpunkte.
Allein von Norden her wanderten griechische Stämme und mit ihnen
geometrische Dekorationsformen ein , die hauptsächlich in Mykene und
vielleicht etwas früher auf Kreta eine enge Durchdringung mit den
einheimischen Kunslformen erlitten, so daß an beiden Punkten aus
gegenseitiger Befruchtung die Hochblüte „mykenischer" Kunst hervor-
ging, die dann in Mykene selbst, durch technische Fertigkeit und soziale
Verhältnisse unterstützt, eine ungeheure Exporttätigkeit entwickelte,
und den alten geometrischen Stil verdrängte, w-obei indessen auch
politische Verhältnisse, wie der Machtbereich der mykenischen Könige,
viel zu ihrer Ausbreitung beigetragen haben mögen. Hieraus erklärt
sich wohl der außerhalb Kretas ziemlich einheitliche Charakter der
mj'keuischen Kultur, während der geometrische Stil durchaus lokale
Dififereuzierungen aufweist, und nur die Frage entsteht naturgemäß,
■warum nur in Mj^kene und Kreta und nicht auch au anderen Stellen, wo die
Jahresbericht für Altertumswisseuschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 9
130 Jahresbeiicht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Griechen mit den Ureinwohnern in Berührung kamen , eine derartige
Entwickelung vor sich ging. Abgesehen davon, daß Ansätze dazu un-
zweifelhaft vorhanden sind, wie z. B. in Melos, wo indes die ein-
heimische Entwickeluug von der Importware direkt überschwemmt und
vernichtet ward, lag der Grund wohl zunächst darin, daß Mykene und
Kreta eben schon vorher Kultnrmittelpuuktc waren, vor allem aber in
den ethnologischen Verhältnissen. Es scheint, als ob die Einw'anderung
der Griechen in ihre späteren Wohnsitze viel Ähnlichkeit mit der
allmählichen Okkupation Galliens durch die Frauken gehabt hat: sie
ging nicht in mehreren oder einem großen Eroberungsznge vor sich,
sondern es war ein allmähliches Hinüberschieben und Drängen, so daß
die Bevölkerung, je W'eiter nach Norden, je reiner griechisch war,
während im Süden sich das griechische Element als eine immer dünner
werdende Oberschicht über der unterworfenen einheimischen Bevölke-
rung ausbreitete. Mj'kene mag in der Tat eine Zeitlang ein vorge-
schobener Posten gewesen sein, so daß also die Steffensche Erklärung
des Systems der von Mykene nach Norden ausgehenden Hochstraßen als
rückwärtiger Verbindungen doch die richtige wäre. Daraus würde
sich weiter erklären, daß sich in den mittelgriechischen Landschaften,
die immerdar „Hellenenland" im besonderen geheißen haben, sich
der nationale geometrische Stil durchsetzte, während die mykenische
Mischkunst, den Bevölkerungsverhältuissen entsprechend, einen viel
orientalischeren Charakter trägt: in der Blutmischung ihrer Träger
überwog weit das einheimische Element. Beiläufig würde dies auch
die geringe Widerstandskraft erklären, die die Staaten der Peloponnes
entwickelten, als der Stoß der dorischen Wanderung sie traf: sie
erlagen den neu einwandernden Stämmen etwa, wie die Westgoten in
Südgallien den Scharen Chlodovechs, während die in den mittel-
griechischen Landschaften sitzende, reiner griechische Bevölkerung den
Doriern gegenüber eine beachtenswerte Festigkeit im Widerstände
zeigt; nur ein ganz geringer Bruchteil der Einwanderer hat hier
Wohnung gefunden in einem wahrscheinlich unbesetzten, weil von
niemand begehrten Gebirgsländchen.
Schwieriger ist es, die geschilderten Vorgänge einigermaßen
zeitlich zu fixieren. Daß die Anfänge der ägäischen, nicht griechischen
Kultur bis in die Steinzeit, in den Anfang des dritten Jahrtausends,
ja noch weiter zurückgehen, ist bekannt: allein auch der Vortrab
der von NW. heranrückenden Stämme muß noch in der neolithischen
Periode das Meer erreicht haben, wobei Volo und Melos unter den sehr
früh besetzten Stationen gewesen sein müssen. Dann folgten neue ge-
waltige Scharen, die Mittelgriechenland in dichten Massen besetzten
und besiedelten; spätere Einwanderer rissen in weitem Ausgreifen in
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) ]31
Kreta und in der Peloponnes die Herrschaft an sich, wobei sie indes
unr eine dünne Oberschicht über der unterworfenen Bevölkerung
bildeten. Hier mag- bald nach 2000 bis 1400 und wohl noch länsere
Zeit darüber hinaus die sogenannte niykenische Kultur gehei-rscht haben,
die durchaus dem Bronzezeitalter angehört, wobei es fraglich bleibt, woher
der Gebrauch der Bronze kam; daß auch sie ans Mitteleuropa mit den
Einwanderem nach Griechenland gelangte, dafür hat ßidgeway einiges
beachtenswerte Material beigebracht. Daß übrig-ens die Einwanderer
sich auch weiter über die südlichen Kykladen, ja bis nach Cyperu
ausbreiteten, dafür hat man schon seit längerer Zeit die Ähnlich-
keit des kj'prischeu mit dem arkadischen Dialekt geltend gemacht.
Allein auch in Samos und bei Milet sind Spuren dieser Okkupation
vorhanden und sehr gut paßt dazu die Entdeckung Böhlaus, daß
die Kunst der sogenannten Fikellnravasen, die von ihm als altsamisch
erkannt ist, und die der sogenannten altrhodischen Vasen, die er mit
Recht auf altmilesischen Ursprung zurückführt, eben die letzten Aus-
läufer der mykenischen Kunst im Osten bilden. Dagegen erhielten die nörd-
lichen Kj'kladen und wohl auch die gegenüberliegende kleinasiatischeKüste
ihre Besiedelung von dem rein griechischen Hellas aus und es scheint
auch, als ob die allerdings ziemlich seltenen Funde aus älterer Zeit
mehr geometrische Dekorationsweise zeigen. Ans beiden Stilgattungen,
der geometrischen und mykenischen, die somit Einschlag und Kette
lieferten, entstand später auf asiatischem Boden die altionische Kunst.
Danach fällt also die Besiedelung der kieinasiatischen Westküste zum
großen Teil noch in die vordorische oder mykenische Zeit, ein Gedanke,
den meines "Wissens zuerst Eduard Meyer ausgesprochen hat, und der
immer mehr an Boden gewinnt; auch Burys Darstellung ist wesentlich
von ihm beeinflußt.
Welche Stellung aber ist nun in diesem Zusammenhange den
Ansiedelungen in Hissarlik zn/nweisen? In jener bereits erwähnten
Vorrede zu dem Tsuntas-Munattscheu Werk hat Döipfeld energisch auf
die Verschiedenheiten hingewiesen, welche die troische von der myke-
nischen Kultur trotz mancher Verwandtschaft trennen. Die Tatsache
ist unzweifelhaft und ebenso die, daß der alttioischen die altkyprische
Kultur am nächsten steht, so nahe, daß Ed. Meyer im ersten Bande
seiner Geschichte des Altertums noch an eine Beeinflussung auf
dem Seewege dachte, da eine Einwiikung über Land ausgeschlossen
erschien. In beiden Hinsichten haben die schönen Entdeckungen
A. Körtes aufklärend gewirkt, die er bei der Abtragung des Tumulus
von Bosöjük gemacht und in den Mitteilungen veröffentlicht hat. Zu-
nächst muß hier bemerkt werden, daß derartige Tumnli in Kleiuasieu
sehr häufig sind, sie finden sich nicht bloß an der Küste, in Lydien,
9*
132 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenscbau.)
Phry^ien und in der Troas, sondern auch weiterhin im Inlands wie bei
Gordion und Ipsos. Einen derselben, den von Bosöjük, vier Meilen süd-
westlich von Brussa, gelang es Körte zu öffnen, und sein Inhalt ergab
das überraschende Resultat, daß die hier gefundene Kultur völlig mit
der sog. fünften Stadt von Hissarlik identisch war, woraus Körte, hier
wohl mit Recht, auf Identität der Bevölkerung schließt. Wer war
dieses Volk? Aus dem Voikommen der Tumuli bis tief nach Kleiu-
asien hinein, wo sie in Gordion nach einer späteren Untersuchung K.s
dieselbe Struktur zeigen, sowie in Europa besonders bei Saloniki, fol-
gert Körte, daß es die Phrj'ger waren, die nach und nach in wieder-
holten Schwärmen über den Hellespont gingen und hier jene eigentüm-
liche Kultur erzeugten, die in den Funden von Hissarlik zutage tritt.
Diese auf anderem Gebiet gewonnene Ansicht paßt aber durchaus zu
den vorhin geäußerten Anschauungen über die Besiedelung Grriecheu-
lands; sobald man in Betracht zieht, daß die griechische und die phry-
gische Sprache nahe verwandt sind, so ergibt sich etwa folgender Zu-
sammenhang. Die gewaltige griechische Völkerwelle, die sich etwa um
2500 v. Chr. in die Balkanhalbinsel von Nordwesten her hereinschob,
teilte sich etwa in der Gegend des Schardagh. Der eine Strom, das
phrygische Volk, ergoß sich, überall Tumuli als Zeichen seines Vor-
handenseins zurücklassend, über das nördliche Gestade des Agäischen
Meeres und den Hellespont bis ans armenische Hochland, wobei es das
phrygische Reich und auf Grund der vorgefundeneu Zivilisation eine
eigene Kultur begründete, die in Hissarlik vorliegt. Die letzten Aus-
läufer mögen sogar bis Cypern gelangt und in jenen ISTordvölkern zu
erkennen sein, die den Hittitern in der Schlacht von Qadesch bei-
standen; in einer sehr interessanten Bemerkung macht Furtwängler
a. a. 0. auf den Zusammenhang der bei Qadesch erwähnten Takkara
mit den Teukreru und Teukros aufmerksam, der in einigen bei den
Ausgrabungen von Eukomi-Salamis gefundenen Gegenständen eine archäo-
logische Stütze findet (Antike Gemmen HI, S. 436 — 9) Der andere
Strom, die Vorfahren der Griechen ergossen sich in den südlichen Teil
der Halbinsel, überall die eigene Art bewahrend, wo sie zahlreich
genug waren, wie in Mittelgriechenland, weiter nach Süden dagegen
die sogenannte mykenische Mischkultur erzeugend. Beide Völkerströ-
mnngen erscheinen als ein langdauerndes Vorwärtsschieben und -drängen;
die letzten Ausläufer der westlichen Strömung, die in nord-südlicher
Richtung vor sich ging, mögen die Aqaiwascha gewesen sein, die samt
ihren Bundesgenossen um 1200 von König Merneptah bei Prosopis be-
siegt wurden: die des östlichen phrygischen Zweiges fanden ein Menschen-
alter später vor Migdol durch Ramses III. den Untergang. Die letzte
Phase der ganzen Bewegung, die dann wesentlich auf das eigentliche
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 13
Griechenland beschränkt blieb, ist die dorische Wanderung-, deren her-
gebrachte Datierung- möglicherweise gar nicht so sehr von der Wahrheit
abweicht.
Zweites Kapitel.
Das griecnische Mittelalter.
De Sanctis, 'Ar^u. Storia della Republica Ateniese dalle origine
alle riforme di Clistene. Koma 1898.
Ed. Meyer, Forschungen zur griechischen Geschichte. Zweiter
Band. Halle 1899.
C. Niebuhr, Einflüsse orientalischer Politik in Griechenland im
6. u. 5. Jahrh. Mitt. der Vorderasiat. Gesellschaft 1899. 3. Heft.
Berlin.
J. B. Bury, A history of Greece. London 1900.
H. Swoboda, Griechische Geschichte. Samml. Göschen, Leipzig
1901.
U. V. "Wilamowitz, die lebenslänglichen Archonten. Herrn. 33,
119—129 (1898).
J. Kirchner, zur Datierung einiger attischer Archonten. 1. Der
Archon Damasias. Rhein. Mus. 1898, 380 ff.
A. Wilhelm, der älteste attische Volksbeschluß. Mitt. d. Archäol.
Inst. 1898. S. 466—492.
L. Ziehen, die drakontische Gesetzgebung. Rhein. Mus. 1899.
S. 321 ff.
"W. Judeich, der älteste attische Volksbeschluß. Mitt. d. Archäol.
Inst. 1899. S. 321-338.
V. Costanzi, preistoria e protistoria dell' Attica (Rezension v.
de Sanctis Atthis). Rivista di Storia autica 1899 p, 189 — 208.
Ed. Schwartz, Tyrtäos. Herrn. 1899 S. 427—468.
J. Bei och, zur Geschichte des Eurypontidenhauses. Herrn. 1900
S. 254—261.
Wilisch, zur Geschichte des alten Korinth. Progr. des Gym-
nasiums zu Zittau 1901.
134 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
F. Jacob y, die attische Köuigsliste. I. Beitr. z. alten Ge-
schichte. 1902. II, 406—439.
Costanzi, La Guerra Lelantea. Atene e Roma Dec. 1902.
Pauly-Wispowa, Eealencyklopädie : Artikel Charillos, Chilon
(Niese), Chalkis Chersonesos (Bürchner), Dareios I (Swoboda).
Für die Zeit vom Einbruch der Gebirgsstämme bis zu deu Perser-
kriegen hat zuerst Eduard Meyer mit glücklichem Griff die Bezeichnung
des griechischen Mittelalters gewählt: in der Tat bietet die Geschichte
der Griechen sowohl in ihrer gesamten Entwickelung wie in einzelneu
Zügen manche interessante Parallelen zur Geschichte der abendlän-
dischen Völker in der Periode, die wir im besonderen Sinne das Mittel-
alter zu nennen gewohnt sind. Dennoch bilden unverkennbar in dem
genannten Zeitraum die letzten Jahrzehnte des siebenten Jahrhunderts
einen gewissen Abschnitt. Bis dahin konnten die Griechen sich wesent-
lich aus sich selbst heraus und ohne Einwirkung von außen her ent-
wickeln, auch stand ihrer Ausbreitung über das östliche Becken des
Mittelmeeres und seiner Anhängsel eigentlich nirgends ein ernstliches
Hindernis entgegen. Um 620 herum aber haben die Griechen so ziem-
lich das ganze Gebiet erfüllt, das noch lür sie verfügbar war; und mit
der Notwendigkeit, sich auf dem gegebenen ßaum einzurichten, beginnen
nun die Kämpfe innerhalb der griechischen Welt, während zugleich der
Augenblick gekommen ist, wo die Politik der mächtigen Nachbarn in
Ost und West mitbestimmend in die Geschichte des griechischen Volkes
einzugreifen sich anschickt.
Das erste leidlich beglaubigte historische Faktum der griechischen
Geschichte bleibt immernoch die dorische Wanderung: der Versuch
Belochs, auch sie ius Gebiet der Fabel zu verweisen und als das Er-
gebnis einer rationalistischen Geschichtsschreibung zu erklären, die den
klaffenden Zwiespalt zwischen den Zuständen zur Zeit Homers und der
Wirklichkeit auszufüllen suchte, kann im allgemeinen als von der For-
schung zurückgewiesen gelten. Doch kenneu wir von der Wanderung
selbst nur die allgemeinsten Umrisse: daß der Stoß der Eroberer zu-
nächst Westhellas betraf und dort die blühenden Landschaften um Ka-
lydon verheerte, erscheint allerdings sicher; ob aber der eigentliche Ein-
bruch in die Peloponnes von Nordwesten her über Naupaktos oder über
den Isthmos, was allerdings der natürlichste Weg gewesen wäre, oder
gar zur See von Südosten und Osten vor sich ging, das läßt sich mit
den gegenwärtigen Mitteln der Forschung kaum mit Sicherheit aus-
machen. Doch ist zu beachten, daß die dorische Eroberung hauptsäch-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 135
lieh die Ost- und Südküste betraf, also jene Landschaften, die durch
die Besiedelung der Inseln und Kleinasiens an Volkskraft stark ge-
schwächt waren: in der Tat erscheint es, als ob die frühere Ansicht
wonach die Kolonisation der kleinasiatischen Westküste eine Folge der
dorischen Wanderung- wäre, vielmehr umzudrehen, und die Kolonisation,
die dem Mutterland die Kräfte entzog", als eine Vorbedingung- des Sieges
der Eroberer aufzufassen sei. Im übrigen ist die Geschichte der do-
rischen Wanderung ein schwer zu entwirrender Sagenkomplex, aus dem
Bury in seiner Darstellung S. 58 ff. meiner Ansicht nach viel zu viel
einzelne Züge als geschichtlich entnommen hat. Ganz bekannt und auch
von Bury S. 80 angenommen ist der spätere Ursprung der Sage von
er Rückkehr der Herakleiden, die aber wohl nicht allzulange nach
dem Einbruch entstanden sein kann, da sie offensichtlich den Zweck
hat, die Invasion als eine rechtmäßige Wiedereroberung darzustellen.
In dieser Hinsicht bietet die Geschichte der germanischen Stämme eine
genaue Parallele: in der deutschen Heldensage wird im Gegensatz zur
historischen Wirklichkeit die Eroberung Italiens durch den Ostgoten Theo-
derich als eine Rückkehr des aus seinem Erbe durch Otaker vertriebeneu
rechtmäßigen Besitzers aufgefaßt. Möglicherweise kann dabei ja die
Erinnerung an die frühere Okkupation durch die stammverwandten West-
goten mitgewirkt haben, und partielle vorübergehende Besitzergreifungen
mögen ja auch der dorischen Wanderung voranfgegangeu sein: allein der
Hauptwert der Parallele liegt darin, daß sie zeigt, mit welcher
Schnelligkeit sich die historischen Verhältnisse im Gedächtnis der Völker
in wesentlichen Punkten verwischen, sofern die Sagenbildung in diesem
Falle noch vor 550 vor sich gegangen sein muß, da sie nach der Ver-
nichtung des Ostgotenreiches in Italien keinen Sinn mehr gehabt hätte.
Sonach kann die Sage von der Rückkehr der Herakleiden in sehr alter
Zeit schon wenige Geschlechter nach der Besitzergreifung entstanden
sein, die durch sie legitimiert werden sollte, und insofern erlaubt sie
auch wohl den Schluß, daß Messenien gleichfalls von den Doriern mit-
erobert worden ist, was bekanntlich Niese in Zweifel gezogen hat
(Herrn. 26). Mögen auch einzelne Züge der Sage hinzuerfunden sein,
in ihrem Kern ist sie wohl uralt, da später eine rechte Veranlassung
zu ihrer Entstehung nicht mehr vorhanden war. — Mit der Eroberung
des Peloponnes gleichzeitig oder nur wenig später muß auch die Be-
siedelung der südägäischen Inseln und der dorischen Städte an der
Westküste Kleiuasieus vor sich gegangen sein, wenigstens war sie längst
abgeschlossen, als um die Mitte des 8. Jahrhunderts die zweite Kolo-
nisation^periode einsetzte.
Zwischen diesen beiden großen Bewegungen liegt ein Zeitraum
der griechischen Geschichte, den fast vollständiges Dunkel umhüllt, was
136 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
nm so schlimmer ist, als in ihm sich offenbar die wichtigsten wirtschaft-
lichen und politischen Umwälzungen vollzogen haben. In ihn fällt nicht
nur der Niedergang des Königturas und das Aufkommen der Adels-
aristokratie, sondern auch die Entstehung der größeren Stadtgemeinden,
die freilich schon in vorhistorischer Zeit an Stätten wie Knossos. Mykene,
Athen, vielleicht auch Korinth ihren Anfang genommen haben muß.
Den inneren Zusammenhang dieser Bewegung hat Bury in wenigen
glücklichen Sätzen S. 73 ff. dargestellt. Allein eben in diese Periode
gehört auch unzweifelhaft die letzte scharfe Ausbildung des Privateigen-
tums an Grund und Boden mit allen ihren wirtschaftlichen und poli-
tischen Folgen, und gerade in dieser Beziehung empfinden wir die
Mängel unserer Überlieferung besonders schwer, (rewöhnlich nimmt
man an, daß nach einem Gesetz, dem alle wirtschaftliche Entwickelung-
unterliege, auch bei den Griechen dem Privateigentum das Familien-
eigentum voraufgegaugen sei, und wesentlich daiauf hat Guiraud (La
propriete fonciere en Grece Paris 1893) seine These begründet, daß in
homerischer Zeit das Familieneigentum an Grund und Boden durchweg-
die Regel gewesen sei und daß es sich in den meisten griechischen
Staaten bis in verhältnismäßig späte Zeit erhalten habe. Nun ist es
ja einleuchtend genug, daß in einer Gesellschaft, wie der homerischen,
deren Besitz wesentlich auf der Menge des Viehes beruhte, sich das
Anrecht auf die Gemeinweide auf die Zugehörigkeit zur Familie be-
gründete; dergleichen Zustände waren zum Beispiel in Gortyu noch
zur Zeit des Gesetzes nach einer unabweisbaren Vet mutung Zitelmanns
(Bücheler-Z., Recht von Gortyn S. 139 f.) noch durchaus die Regel.
Allein man darf doch nicht Kommunal- und Familieneigentura ver-
wechseln und daß daneben sich auch schon in homerischer Zeit nicht
bloß an beweglicher Habe, sondern auch an Gruud und Boden, viel-
leicht mit der Ausbildung des Ackerbaus, das Piivatvermögen voll-
ständig herausgebildet hat, das lehren die homerischen Gedichte doch
fast auf Schritt und Tritt. Unzweifelhaft fällt also die Ausbildung des
Privateigentums an Giund und Boden in eine bedeutend frühere Zeit,
als Guiraud Wort haben will; sie war um die Mitte des 8. Jalirhunderts
wohl schon im grol.'en und ganzen abgeschlossen. Doch würde es ver-
kehrt sein, iu dieser Hiusiclit überall in Griechenland Uniformität vor-
aussetzen zu wollen; es ist klar, daß auf dem bereits länger von
Hellenen besiedelten Boden von Osthellas sich andere Verhältnisse
herausgebildet haben, als in den der dorischen Eroberung anheim-
gefallenen Landschaften. Wie sich bei einzelnen Stämmen desselben
Volkes auf räumlich benachbarten Gebieten die größten Verschieden-
heiten herausbilden können, das zeigt die Buntscheckigkeit der Ent-
wickelung des germanischen Eigenturas- und Erbrechts, und sicherlich
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 137
rinden in derartigen uns unbekannten VcFSchiedenheiten manche eigen-
tümlichen Züge in der großen zweiten Kolonisationsperiode ihre Er-
kUirung-.
Über die Zeit dieser zweiten Kolonisation haben wir in den
Giündunssdaten der einzelnen Siedelungen eine ganze Reihe genauer
Angaben, die für die westgriecliischen Kolonien vvolil auf Autiochos und
den in chronologischen Dingen genauen Timaios, für die östlichen ia
letzter Linie auf Ephoros zurückgehen. Wenn nun auch diese Forscher
im wesentlichen auf lokalen Genealogien fußten, bei denen ja mancherlei
Fälschungen möglich waren, und wenn auch einzelnen Daten ganz ent-
schieden eigene Konstruktion zugrunde liegt, so wird man doch ihre
Angaben nicht ohne weiteres von der Hand weisen dürfen. Ein wirk-
lich grober Irrtum liegt doch nur bei dem italischen Kyme vor, wo er
offensichtlich aus einer Verwechselung mit der äolischen Stadt gleichen
Namens entstand; andererseits haben die Alten mit der Ansetzutig von
Taras, die zwar rein auf Konstruktion beruht, wie Busolt erwiesen hat,
doch so ziemlich das Richtige getroffen. Es kann daher nicht gebilligt
werden, wenn Bury S. 88 ff. eine gänzlich willkürliche, von aller Über-
lieferung abweichende Chronologie gibt und die östlichen Kolonien im
Pontos vor den notorisch älteren im Westmeer behandelt, offenbar nur
aus dem Grunde, weil er mit Wilamowitz den ursprünglichen Schauplatz
der Odyssee ins Schwarze Meer verlegt und erst eine spätere Über-
tragung auf das westliche Alittelmeerbecken annimmt. Es ist ja gar
nicht ausgeschlossen, daß die kleinasiatischen lonier bereits lange nach
dem Schwarzen Meer Handel trieben, ehe sie dort Kolonien anlegten,
und möglicherweise erklären sich so die sporadisch von einigen Städten
wie Trapezus ü'oerlieferteu hohen Gründungsdaten, allein daran ist kein
Zweifel, daß die große Masse der ionischen Pflanzstädte im Pontos
zwischen 700 und 650 gegründet worden ist. Im großen und ganzen
ergibt die Gesamtheit aller Gründungsdaten doch ein durchaus wahr-
scheinliches Bild, das nicht bloß zu dem stimmt, was wir sonst über
die Geschichte dieser Zeit wissen, sondern das auch durchaus der Art
und Weise entspricht, wie sich derartige Bewegungen sonst in der Ge-
schichte zu vollziehen pflegen ; insbesondere weist die Besiedelung der
übrigen Erdteile durch Europa, die in den letzten vier Jahrhunderten
vor sich gegangen ist, manche überraschend ähnlichen Züge auf. Da-
nach erscheinen als die Pioniere der griechischen Kolonisation durchaus
die Chalkidier und die Korinther, die, ihren Handelsinteressen folgend,
von 750 ab die sizilische und unteritalische Küste besetzen, wobei jene
die wichtigsten Positionen, Kyme und Rhegion, vorwegnehmen, während
Korinth Kerkyi'a als Zwischenstation nach Italien in Besitz nimmt und
die epirotische Küste besiedelt; charakteristisch ist, wie einzelne Grün-
138 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
dungen von Rivalen, wie das sizilische Megara, von ihnen durch Be-
siedelung des umliegenden Landes gleichsam mattgesetzt werden. Wenige
Jahrzehnte später schlägt das Kolonialfieber auf die Korinth benach-
barten Landschaften über; von Achaia und dem westlichen Lokris aus
erfolgt die Besiedelung der Küsten des tarentinischen Golfs, der eigen-
tümlicherweise von den ersten Kolonisatoren außer acht gelassen war,
offenbar weil der gewöhnliche Kurs der Handelsschiffe von Korkyra
nach St. Maria di Leuca und von dort quer hinüber zum lacinischen
Vorgebirge ging. Was diese Stämme zur Auswanderung bewogen haben
mag, ob Übervölkerung, ob die Gestaltung der Eigentumsverhältnisse,
ob eine durch die Erzählung der Korinther angestachelte Abenteurerlust
oder was das wahrscheinlichste, alles dieses zusammen, das wissen wir
nicht: sicher dagegen ist, daß Kroton, Sybaris, Metapont, Lokioi ur-
sprünglich Ackerbaukolonien waren und erst dadurch zu Handelsstädten
wurden, daß der ionische Handel ins Westmeer, dem durch die ver-
bündeten Koukun-enten Chalkis und Korinth der natürliche Weg durch
die Straße von Messina verschlossen war, nunmehr über die Städte des
Golfs nach der Küste des Tyrrhenischen Meeres geleitet ward, was
sowohl die ionische Gründung von Siris wie die andauernd guten Be-
ziehungen dieser Städte zu Milet erklärt. — Zum zweitenmal erweisen
f;ich dann die Chalkidier als Bahnbrecher der griechischen Kolonisation,
als sie im Anfang des 7. Jahrhunderts die thrakische Xordküste be-
setzen, vor allem die nach ihnen genannte Chalkidike; sofort folgen ihnen
die befreundeten Korinther mit Poteidaia, aber auch die rivalisierenden
Eretrier auf Pallene, Andres auf Akte; weiterhin wird Abdera von
Inselgriecheu begründet, alles ein Beweis, wie damals die koloniale Be-
wegung um sich zu greifen beginnt. Aber noch immer rühren sich die
asiatischen Griechen nicht, denen bis dahin ein reiches Hinterland zur
Verfügung gestanden hat, bis endlich die Abschließung dieses Hinter-
landes durch das lydische Königtum der Mermnadeu erfolgt, und nun
besiedeln die lonier unter Führung Milets von 675—650 in rascher
Folge die Küsten des Schwarzen Meeres und der Propontis. wobei es
als ein Zeichen der Handelsfreundschaft mit Megara anzusehen ist, daß
den Megareru die ungemein wichtige Position von Byzanz und Chalkedon
am Eingang des Bosporos überlassen bleibt. Damit war so ziemlich
alles zunächst verfügbare Land besetzt und die Kolonisation würde auf-
gehört haben, wenn nicht gerade damals, um die Mitte des 7. Jahr-
hunderts, Egypten dem Verkehr geöffnet und Naukratis als eine Art
von antikem Schanghai gegründet worden wäre. Auch hier waren die
asiatischen Griechen die ersten und es gelang ihnen, die konkurrieren-
den Haudelsmächte Chalkis und Korinth gänzlich fernzuhalten, nur
Korinths neuer Rivale, Aigina, erhielt den Zutritt. Zwanzig Jahre
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 139
später erfolgte dann noch die ganz isoliert dastehende Gründung von
Kyrene; sonst ist die griechische Kolonisation, die um 750 begonnen
hatte, ein Jahrhundert später bereits abgeschlossen. Spätere Aus-
wanderer mußten schon in das gefährliche westliche Mittelraeer, wo
Karthager und Tyrrhener herrschten. Von allen dorthin unternommenen
Versuchen hat nur die phokäische Gründung Massalia sich behaupten
können — und wie schwierig es nach und nach ward, zur Kolonisation
geeignete Plätze zu finden, zeigt die Geschichte von dem unglücklichen
Dorieus, die Herodot erzählt hat.
Im ganzen ergibt sich aus der vorstehenden Übersicht doch mit
Sicherheit, daß es wesentlich Handelsinteressea gewesen sind, die der
zweiten helleDischeu Kolonisation Antrieb und Richtung gegeben haben;
wie Swoboda (S. 26) zu der Behauptung kommt, alle älteren Kolonien
seien Ackerbaukolonieu gewesen, ist mir rätselhaft, denn wenn es auch
unzweifelhaft ist, daß mit jeder Besiedelung eine Landaufteilung ver-
bunden war, so berechtigt das doch nicht zu einem derartig generali-
sierenden Urteil. Dieses trifft vielmehr nur auf die achäischen Ko-
lonien am tarentiuischen Golf zu, bei denen in der Tat Landhunger
das treibende Motiv gewesen sein mag, und diese haben denn auch einen
besonders starken Zusammenhang mit dem Mutterlande bewahrt: mit
Recht weist Bury (S. 144) darauf hin, daß die olympischen Spiele aus
einer Vereinigung wesfgiiechischer Stämme mit ihren Stammesgenossen
über See hervorgegangen sind; darauf deutet nicht bloß ihre für West-
griecheuland zentrale Lage, sondern auch der Umstand, daß der xlnfang
des Siegerverzeichuisses fast nur achäische Xamen enthält. Indes auch
die Städte am tarentinischen Golf haben sich bald zu Haudelsemporien
ausgebildet und auch das weist auf kommerzielle Gründe als treibende
Kraft hin, daß fast nur Handelsstaaten sich an der Kolonisation be-
teiligten, während Argos, Elis, Athen trotz ihrer maritimen Lage keinen
Anteil genommen haben. Sicherlich sind daneben auch andere Gründe
wie Unzufriedenheit einzelner hervorragender Männer, Parteikämpfe usw.
maßgebend für die Kolonisation, aber im Grunde war es doch eben
das kommerzielle Interesse, das damals die griechische Welt hauptsächlich
beherrschte. Sieht man sich aber das Gesamtergebnis der Kolonisation
an, so ist keine Frage, daß die kleinasiatischen lonier und an ihrer
Spitze Milet, weitaus am günstigsten abgeschnitten hatte, obwohl sie
erst verhältnismäßig spät in die Kolonisationstätigkeit eiogetreten
waren. Seitdem Cbalkis und Korinth ihnen die Straße von Messina
verschlossen hatten, ging ihre Handelsstraße nach Westen über Aigina
und Megara und weiter über die achäischen Kolonien und ihre Depen-
denzen am Tyrrhenischen Meer. Vielleicht haben auch sie Korkyra
als Stützpunkt benutzt, und so würde sich das sofort feindliche Ver-
140 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
hältnis zwischen Korinth und Kerkyra daraus erklären, daß dieses eben
nicht rein korinthische Handelspolitik trieb, sondern die Gunst seiner
Lage ausnützte, um auch den loniern zu dienen. Nach Osten hin be-
herrschten die lonier den Pontes allein, wo nur das befreundete Megfara
Anteil an der Kolonisation hatte, und ebenso war der Verkehr mit
Ägypten die eifersüchtig bewachte Domäne der lonier, zu der von allen
Festlandgriechen nur Aigina zugelassen war. Demgegenüber herrschte
der Zweibund Chalkis-Korinth im Westen und ausschließlich an der
thrakischen Nordküste des Ägäischen Meeres, indessen hat man im Laufe
des siebenten Jahrhunderts oifenbar von Korinth aus versucht, auch in
den übrigen Handelsgebieten festen Fuß zu fassen und sich zu diesem
Behufe wohl mit dem ewig gegen Milet in Krieg liegenden Samos ver-
bündet. Wenigstens wird es kein Zufall sein, daß um die Mitte des
7. Jahrhunderts Korinth den euböischen Münzfuß annahm, der auch auf
Samos herrschte, und auf alte Beziehungen deutet auch die Notiz des
Thukydides (1. 13), daß der Koiinther Ameinokles um 700 herum den
Samiern Schifte gebaut habe. Doch wußte Milet den Zug dadurch zu
parieren, daß es nun seinerseits mit Eretria anknüpfte und dadurch zu
der ihm bisher verschlossenen thrakischen Nordküste Zutritt gewann.
Die räumliche Annäherung der rivalisierenden Interessen in Chalkis-
Eretria und Milet-Samos hat dann zu vielfachen Reibereien und endlich
zum Ausbruch des lelantischen Krieges geführt, der sich bald zu einem
allgemeinen Handelskrieg auswnchs. Von ihm wird später die Rede
sein; jetzt gilt es zunächst, die innere Entwickelung Spartas und Athens
im Lichte der neuesten Forschung zu betrachten.
Es kann nach den grundlegenden Untersuchungen der hervor-
ragendsten Forscher nicht mehr als zweifelhaft angesehen werden, daß
die gesamte Lykurgtradition, wie sie am vollständigsten in Plutarchs
Lykurgos vorliegt, tils eine Konstruktion durch Rückdatierung aus ver-
hältnismäßig später Zeit betrachtet werden muß, in der es für uns
schwer ist, Fiktion und geschichtliche Wahrheit zu unterscheiden. Dem-
nach sind wir für die Urgeschichte Spai tas auf mehr oder minder wahr-
scheinliche Vermutungen angewiesen, und dies gilt gleich anfangs von
der Entstehung der Stadt selber, der den meisten, und so auch Bury
(S. 120) als ein Synoikismos mehrerer kleiner, später noch als Quartiere
weiterbestehender Ortschaften erscheint. Die auf die Weise entstandene
Stadt gewann allmählich die Herrschaft über das umliegende Land und
seine Bewohner, deren Name Periöken dies Verhältnis andeutet Daraus
geht zunächst nicht ganz klar hervor, ob sich Bury die Periöken selbst
als dorischen Stammes denkt, wie z. B. Niese (Histor. Zeitschrift 26, 58)
tut, oder ob er der verbreiteteren Annahme gemäß in ihnen eine vor-
dorische Bevölkerung sieht. Aber auch in betreff jenes Synoikismos,
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lcnschau.) 141
der bei Biuy ah eine Art spontanen Aktes erscheint, wird man anderer
Ansicht sein dürfen: der vollkommen militärische Charakter, den die
spartanische Verfassiiug später trägt, legt es doch nahe, auch die Ent-
stehung der Stadt selbst und den Ursprung der Verfassung in einer
militärischen Notwendigkeit zu suchen. Nun sind wir ja über die Vor-
gänge bei der Eroberung nicht unterrichtet, nimmt man aber, etwa
nach Analogie der germanischen Reiche in der Völkerwanderung an,
daß die vielleicht nicht allzu zahlreichen Eroberer in den Genuß der
Ländereien des unterworfenen Volkes eingewiesen wurden und sich
6omit über das ganze Gebiet verteilten, so mußten sich bei hinreichender
Anzahl der unterworfenen Bevölkerung leicht lokale Aufstände bilden,
die wenigstens zuerst stets mit Menschenverlust für die Eroberer ver-
bunden waren und bei ihrer Zersplitterung über das ganze Land hin
erst allmählich unterdrückt wurden. Mithin erschien es vom militärischen
Standpunkt aus zweckmäßiger, die Eroberer auf einem Punkt zu steter
Kriegsbereitschaft zu vereinigen, um von dieser zentralen Stelle aus
das Land in Gehorsam zu ei halten, eine Maßregel, wie sie unter
ähnlichen, aber gi ößeren Verhältuissen Gaiserich anwandte, als er seine
Wandalen rings um Karthago herum ansiedelte. Waren also die Vor-
bedingungen für diesen Syuoikismos in dem Vorhandensein einer starken
vordorischen Bevölkeruug gegeben, so kann die zentralisierende Be-
wegung einer natürlichen Landesteiiung folgend sich in Nord- und Süd-
lakonien getrennt vollzogen haben, möglicherweise waren Sparta und
Amyklai die beiden Zentrallager, die erst später vereinigt wurden.
Im selben Maße aber, wie das in Unterwerfung zu erhaltende Terri-
torium wuchs, ward die Aufgabe der Eroberer natürlich immer schwieriger
und so würde sich ganz gut die zuerst von Ed. Meyer hervorgehobene
Tatsache erklären, daß das alte Sparta wesentlich freiere Lebensformen
gehabt hat als die spätere Zeit; die Eroberung Messeniens und die
daraus hervorgehende Erweiterung des Gebietes werden es gewesen sein,
die trotz der natürlichen Vermehrung des dorischen Herreuvolkes eine
immer stärkere Inanspruchnahme des einzelnen und eine immer straffere
Ausbildung der militärischen Disziplin nach sich gezogen haben. Über
die Eroberung selbst sind wir sehr mangelhaft unterrichtet. Sicher ist
nur soviel, daß sie unter König Theopompos stattfand, daß sie noch
ins 8. Jahrhundert zu setzen ist, und daß sie mit der Besiedelung von
Tarent irgendwie in Zusammenhang stand, wobei jedoch die Art der
Beziehung nicht mehr zu ermitteln ist. Entweder man nimmt an, daß
die Kolonisten dorischen Stammes sind, dann würde sich der Name
Parthenier ganz gut erklären; denn es ist an sich sehr wohl möglich,
daß das natürliche Anwachsen der dorischen Bevölkerung einen Mangel
au Landlosen und dadurch eiue Erschwerung der Familiengründung
142 Jabresbericbt über griechische Geschichte. (Lenschau.)
sowie ein AnwacLsen der unehelichen Geburten hervorrief. Alsdann
hat eben die Gefahr, durch Kolonisation die besten Kräfte zu verlieren,
die Machthaber Spartas zn jener Eroberungspolitik geführt, die sich
zuerst mit Erfolg- gegen Messenien richtete. Danach vväie die Gründung
von Taras die Veranlassung zum Kriege gewesen, und da sie später
als die der ersten achäischen Kolonien, also wohl nicht vor 720 erfolgte,
so müßte der Krieg in die letzten Jahrzehnte des ausgehenden Jahrhunderts
fallen. Oder aber man hält mit Geffcken die Ansiedler von Tarent
für Achäer, die die Heimat verließen, offenbar nachdem die schärfere
militärische Beherrschung des Landes, die nach der Eroberung Messeniens
eintrat, die Eeste einer selbständigen Urbevölkerung vollständig zu er-
drücken drohte. Dann ist die Gründung Tarents eine Folge des messe-
nischen Krieges, der somit in das dritte und vierte Jahrzehnt des Jahr-
hunderts zu setzen wäre, was mehr zu der traditionellen Datierung
stimmen würde.
Noch weniger sicher ist die Ansetzung des zweiten messenischen
Krieges. Daß das TraTsptuv yjij.£T£pcdv TiarspEj bei Tyrtaios ebensowohl
'unsere Vorfahren' als 'unsere Großväter' bedeuten kann, hat schon
Beloch gesehen; dennoch ist es im allgemeinen immer üblich gewesen,
den Aufstand des Aristomenes etwa 80 Jahre später als den ersten
Eroberungskrieg anzusetzen, also etwa zwischen 660 und 620, bis
Eduard Schwartz in seinem obengenannten Aufsatz „Tyrtäos" eine
wesentlich neue Theorie aufgestellt hat. Schw. weist zunächst nach,
daß sowohl Sosibios wie Apollodor, auf deren Angaben wesentlich die
Chronologie beruht, jene Worte des Tyrtaios mit „Großväter" über-
setzten und danach eben einen Zwischenraum von etwa 80 Jahren an-
nahmen, sodann aber zeigt er, daß es im Altertum noch eine ab-
weichende Ansicht gab, die des bei Pausanias (IV, 15 sqq.) benutzten
alexandrinischen Dichters Rhianos von Kreta, der in seinem Epos
Messeniaka den Krieg unter König Laotychidas, d. h. also an den
Beginn des fünften Jahrhunderts setzte. Diese Tradition, die Schw.
sofort als die richtige erkennt, ist bis auf geriuge Überbleibsel ver-
schollen. Doch scheint sie bei Plat. Ges. 6, 362 vorzuliegen und auch
Apollodor scheint sie im Sinne gehabt zu haben, wenn er (bei Strab.
362) von vier messenischen Kriegen redet. In diesen Aufstand fällt
nun die V/irksamkeit des Tyrtaios, der also um die Wende des 6. und
5. Jahrhunderts v, Chr. blühte, und jener zweite Krieg, der Aufstand des
Aristomenes, ist nur eine Erdichtung, die sich aus der wörtlichen Inter-
pretation jener obengenannten Worte des Tyrtaios unter dem Einfluß
der Wiederherstellung Messeniens durch Epamiuondas gebildet hat. In
Wahrheit fällt der gefährliche Aufstand der Messenier, auf den sich
Tyrtaios' Gedichte beziehen, eben unter Laotychidas, und von dieser durch
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Leaschau.) 143
ihn neu erschlossenen Tatsache aus ergeben sicli für Schw. die wichtigsten
Zusammcnhänsie mit der auswärtigen Politik Spartas von 500 bis 490
und ihren eigentümlichen Schwankungen: die anfängliche Unterstützung
der lonier und ihre Preisgabe nachher, sowie die unzulängliche Unter-
stützung Athens vor der Marathonschlacht erklärt Schw. daraus, daß
Sparta eben damals zu Hause einen Kampf auf Leben und Tod mit den
aufständischen Messeniern zu führen hatte. Sodann geht Schw. dazu
über, mit großem Scharfsinn und unleugbarem Geschick die Entstehung
der Tradition vom zweiten raeissenischen Kriege zu erweisen. — Dennoch
ruhen alle diese Behauptungen auf einer wenig soliden Grundlage, wie
JBeloch in dem Aufsatz „Zur Geschichte des Eurypontidenhauses'-
(Herm. 22) dargetan hat. Schw. sieht in Laotychidas ohne weiteres
den bekannten Spartanerkönig, der dem Damaratos nach dessen Ab-
setzung folgte und dessen Teilnahme an der Schlacht am Mykale 479
jedem geläufig ist. Seine Mitkönige aus dem Agiadenhause waren
Kleomeues I. und Leouidas; allein aus dem Verlauf der Erzählung des
Pausanias ergibt, daß nach Rhianos der dem Laotychidas gleich-
zeitige x\giade Auaxandros hieß (Paus. 4, 16 f.), der reichlich
100 Jahre früher regierte. Das Rätsel löst sich, sobald man die
beiden bei Herodot erhaltenen Königslisten des Agiadeu- und des
Eurypontidenhauses gegeneinanderhält. Nach Herodot 8, 131 war die
Reihenfolge seit Theopompos diese: Auaxandridas, Archidamos, Anaxi-
laos, Laotychidas, Hippokratidas, Menares, Agasilaos, Laotychidas. Von
diesen waren die beiden vorletzten, wie Herodot hinzufügt, nicht Könige;
also muß nach Hippokratidas das Königtum auf die jüngere Linie des
Eurypontidenhauses übergegangen sein, aus der Her. drei, Agasikles,
Ariston, Damaratos als Könige bezeichnet: mit der Absetzung des letzt-
genannten ist also die ältere Linie wieder zur Regierung gekommen,
und zwar mit Laotychidas II. Vergleicht man die Agiadenliste
(Her. 7, 204) , so entspricht Laotychidas L genau dem Agiaden
Anaxaudros, und es ist somit klar, daß Rhianos nach derselben Liste
gerechnet und daß der von ihm erzählte Aufstand des Aristomenes unter
Laotychidas I., d. h. also etwa ein Jahrhundert früher fällt, als Schwartz
annimmt; wir kommen damit auf die Zeit um 600 hei'um. Nun ist
allerdings richtig, daß man bis dahin bei Her. 8, 131 die Worte tz^v tüjv
ouo in t:Xtjv twv srxa geändert hat, wodurch Laotychidas I. aus der
Königsreihe ausscheidet, allein das geschieht nur, um Herodots Liste
mit der bei Paus. HI, 7, 5 und Plut. Lyk. 1 überlieferten in Einklang
zu bringen, die gleich nach Theopompos die bei Her. jüngere Linie
mit Archidamos L auf den Thron gelangen läßt: auf diesen folgen
Zeuxidamos, Anaxidamos, Archidamos IL, Agasikles, Ariston, Damaratos,
und nun erst tritt mit Laotychidas die andere Linie ein, die also hier-
144 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
nach vielmehr die jüngere der beiden von Theopompos ausgehenden
Linien wäre. ludessen ist eine solche Änderung- unmethodisch, man
w^ird eben eine zweifache Version der Königsliste annehmen müssen,
und da verdient die des Herodot, der also auch Rhiauos folgte, den
Vorzug vor der andern, unbekannten Ursprungs, die sich bei Paus, und
Plutarch findet. So weit Beloch, dem man die Wahrscheinlichkeit der
Gleichung- Anaxandros-Laotychidas I. nicht bestreiten wird. Dann aber
fällt nach Ehianos der Aufstand des Aristomenes um die Wende des 7.
und 6. Jahrhunderts, und von all den glänzenden Vermutungen
Schwartz' bleibt w'enig mehr übiig als ein Scherbenberg, aus dem sich
freilich noch manches wertvolle Stück gewinnen läßt. Dahin zähle ich
die Bemerkungen über die Entstehung der Aristomenessage, sowie über
den Einfluß, den Messeniens Wiederherstellung- durch Eparainondas auf
alle diese Geschichten gehabt hat, und auch das scheint mir von
Schwartz richtig erkannt, daß die Eroberung von der Südostecke
Messeniens begann, dann die Küstenebene ergriff und endlich durch Ithomes
Fall und die Besetzung der Ebene von Stenyklaros vollendet ward.
Dagegen ist der Hauptzweck des Aufsatzes nicht erreicht und nach wie
vor bleibt für den zweiten messenischen Krieg Tyrtaios die einzig
brauchbare Quelle; wenn Schw. seine Gedichte als eine athenische
Fälschung des ausgehenden sechsten Jahrhunderts hinzustellen sucht, so
halte ich diese Ansicht durch die Bemerkungen Ed. Meyers (Forschungen!!,
545 ft.}, für erledigt.
Bedeutend kompliziertere Probleme als das W^erden Spartas bietet
die älteste Geschichte Athens, da hier die Quellen, wenn auch durch
spätere Erdichtung und Rekonstruktion getrübt, sehr viel reichlicher
fließen. Um so erfreulicher ist es, daß die letzten Jahre ein Buch ge-
biacht haben, das alle einschlägigen Fragen mit großer Gründlichkeit
und Sachkenntnis erörtert: ich meine Gaet. de Sanctis Atthis, die das
"Werden Athens bis auf Kleisthenes schildert und ein ganz unentbehr-
liches Hilfsmittel für jeden bildet, der sich mit der älteren attischen
Geschichte beschäftigen will: aus diesem Grunde wäi-e es auch
wünschenswert, daß das Buch bald in einer guten deutschen Übersetzung
vorläge. — Ein Hauptgrund für das Interesse, das die attische Ur-
geschichte bietet, ist der, daß wir es hier mit einer rein griechischen,
durch fremde Einflüsse wenig gestörten Entwickelung zu tun haben.
"Während noch die ältere Forschung ziemlich ungeniert mit der An-
nahme nicht jiriechischer Siedelungen auf attischem Boden vorging, ist
man neuerdings in dieser Hinsicht viel zurückhaltender geworden:
, "Weder die Tradition, noch die Ortsbenennungen, noch die m^'thologische
noch die prähistorische Archäologie liefern einen sicheren Anhalt dafür, '
daß nach Etablierung der Griechen in Attika dieses Land teilweise oder
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lonschau.) 145
gänzlich von Barbaren bewohnt gewesen sei" — das ist das Erg^ebnis,
welches de Sauctis (S. 14) aus der Untersuchung der einschlägigen
Fragen gezogen hat, und darin stimmt ihm die gegenwärtige Forschung
unzweifelhaft zu. Schwieriger ist es, sich über die Art und Weise zu
einigen, in der die griechische Besitzergreifung Attikas vor sich ge-
gangen ist, und hierbei ist besondei-s die Frage nach der ältesten
Gliederung des attischen Volkes von Interesse. Soviel erscheint sicher,
daß von allen Einteilungen die Phratrie die älteste war; wie sie sich
aus einer ursprünglich loseren Vereinigung, einer Verbrüderung zum
Zwecke des persönlichen Schutzes im Kriege, zu einer dauernden In-
Rtitutioa auswuchs, hat de Sanctis (S. 39) sehr hübsch mit Heranziehung
der kretischen Hetairien und spartanischen Syssisitien gezeigt. Diesen
übergeordnet und zweifellos später sind die Phylen, Verbände, welche
von mehreren Phiatrien unter sich zur besseren Wahrnehmung ihrer
Interessen geschlossen! wurden: doch gehören Phratrien wie Phylen noch
der Urzeit an, sie existierten bei den loniern bereits vor der Besitzer-
greifung Attikas und müssen sich daher, wie de Sanctis annimmt, in
der ursprünglichen Landesteilung auch geographisch ausgeprägt haben.
Ich glaube, daß dieser Schluß auf einer unzulänglichen Vorstellung der
Zustände bei der Eroberung beruht. An sich freilich ist es durchaus
glaublich, dalj die Aufteilung des eroberten Landes in der Weise vor
sich ging, daß die einzelnen Pliratrien- und Phylengenossen räumlich
aneinander grenzende Gebietsteile erhielten ; allein die Okkupation ging
doch höchst wahlscheinlich nicht mit einem Schlage vor sich, und indem
nun jedesmal, wenn ein neues größeres Stück der Urbevölkerung abge-
nommen war, abermals die Aufteilung nach Phylen und Phratrien er-
folgte, ward das Gebiet derselben über ganz Attika zerstückelt und
sie bildeten nunmehr keine geschlossene geographische Einteilung. Eben
darum konnten sie auch passend die Abteilungen abgeben, als jene
Einigung des Landes vor sich ging, die die Sage dem Theseus zu-
schreibt. Daß die Daistellung dieser Einigung bei Thuc. II, 15 stark
von den Synoikismen seiner eigenen Zeit beeinflußt ist, wird man de S.
ohne weiteres zugeben; insbesondere ist wohl von einer friedlichen Zu-
sammensiedelung aus den Einzelstaaten, deren später auftauchende Zwölt-
zahl natüilich ganz problematisch ist, nicht die ßede gewesen, sondern
die Gaufürsten von Athen haben allmählich ihre Macht weiter und
weiter ausgedehnt. Als den letzten Akt dieser Einigung, die sehr früh
vor sich gegangen sein muß, da Homer sie voraussetzt, faßt de S. die
Angliederung von Eleusis, die nach ilim am Ende des VIII. Jahr-
hunderts erfolgte. Dagegen leitet Ed. Meyer (Forschungen II, 517) die
Einheit Athens aus der Urzeit ab, die wesentlich größere Staaten-
.gebilde gegenüber der Zersplitterung der historischen Periode kannte,
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 10
146 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau)
und folgerichtig sind ihm die Phylen eine politische Einrichtung des
Einheitsstaats, wesentlich jünger als die Phratrien und vorwiegend zu
dem Zweck geschaffen, „abwechselnd die Führung zu übernehmen, die
Ämter zu bekleiden und im Kat zu sitzen, während die Angehörigen
der übrigen Phylen währenddessen ihren Geschäften nachgehen können."
Da sich die Namen der athenischen Phjien auch bei den kleinasiatischen
Toniern finden und eine spätere Übertragung doch wohl unwahrscheinlich ist,,
so müßte ihre Einrichtung doch noch vor die erste Kolonisationsperiode,
also in die mykenische Zeit fallen. Nun sind die damaligen politischen
Verhältnisse wohl sicher nicht so primitiv gewesen, wie sie nns z. B.
bei Homer entgegentreten; allein eine derartige Kompliziertheit der
politischen Tätigkeit, besonders eine so starke Beteiligung des Volkes,
daß zu seiner Entlastung die abwechselnd amtierenden Phylen geschaffen
wurden, läßt sich doch kaum annehmen. Ich kann daher in der ent-
wickelten Ansicht Meyers gegenüber seiner älteren GdA. II, 58 geäußerten
Überzeugung keinen Fortschritt erblicken, noch weniger freilich in der
Meinung Burys (p. 179), wonach die Einrichtung der Phjden erst ins
9 Jahrhundert hin die politische Einigung Attikas fällt und die Namen
aus Milet nach Athen übertragen sind.
Völlige Übereinstimmung dagegen herrscht bei Meyer und de S;
über die Entstehung der Gene, der Geschlechter: sie sind im wesent-
lichen aus der zersetzenden Wirkung entsprungen, welche die Seßhaftig-
keit im Laufe der Jahrhunderte auf die attische Bevölkerung ausgeübt
hat. Es war natürlich, daß nach und nach, wenn auch das Bewußtsein
der Zusammengehörigkeit unter den Phratrien- und Phylengenossen nicht
ganz verloren ging, sich daneben die lokale Gemeinschaft des Gaus und die
soziale Ungleichheit geltend machten. Indem einzelne Geschlechter inner-
halb ihres Gaus eine durch Ansehen und Reichtum führende Stellung
einnahmen, bildete die Zugehörigkeit zu ihnen bald ein stärkeres Band
als die Zugehörigkeit zu den alten Verbänden der Phylen und Phratrien;
die Genneten, welche sich von einem wirklichen Ahn ableiten, sonderten
sich aus der Masse der übrigen Phratriengenossen ab, die nur einen
fiktiven Ahnherrn besaßen. Je höher das Ansehen eines Geschlechtes
war, um so mehr suchten andere Anschluß zu gewinnen, und so hat
sich auf attischem wie auf deutschem Boden in nachkarolingischer Zeit
jene Grundaristokratie entwickelt, die bald die bestimmende Macht im
Staate ward. Sodann erfolgte der Abschluß dadurch, daß die Zu-
gehörigkeit zum Verband von der Abstammung abhängig gemacht ward,
und ein weiterer Schritt zur Begründung des reinen Adelsstaats war
es, daß nunmehr die Genneten sich als die allein echten Phratrien-
genossen bezeichneten- und alle Nichtgenneteu auszuschließen suchen:
jener spätere Schematismus von cpuÄiQ — cpparpia — ^evoc war das Ziel, dem
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lecschau.) 147
diese Bevveguü^ zustrebte. Erreicht scheint es nicht zu sein; später
gab es in der Pbratrie neben den Homogalakten oder Genueten auch
die Orgeonen, wie de S. S. 61 ff. und Bury S. 171 annehmen, Verbände,
zu denen sich die Nichtgeiineten vereinigten. Das Bedenken, welches
Costanzi (S. 194) dagegen geltend gemacht hat, daß die Ausdrücke
opYSüivei und das ähnlich gebrauchte i^iajtüxat auf den Bakchoskultus
hinweisen und daß von diesem die Genneten doch wohl nicht aus-
geschlossen gewesen wären, kann nicht allzu schwer wiegen, zumal in
Hinsicht auf die vielen Spuren späteren Ursprungs, die der attische
Dionysosknlt aufweist. Man braucht ja darum noch nicht gleich an
eine religiöse Neuerung mit politischem Hintergrund zu deaken.
Mit der Entvvickelnng der Geschlechter, die sich schon auf
dem Boden des Einheitsstaats vollzogen haben muß, geht die Ent-
wickelung der Adelsherrschaft auf Kosten des Königtums parallel.
Wie es dabei zugegangen ist, hat zuerst Aristoteles in der pol. Ath. 3 zu
zeigen versucht, und die meisten neueren Forscher, auch Bury S. 169,
haben sich ihm angeschlossen. Abweichend von ihnen ist de S. (p. 120 flf.)
der Ansicht, daß der zuerst dem König beigegebene Beamte der apycuv
war, dessen Befugnisse übrigens nicht von denen des Königs abgezweigt
wurden; vielmehr übernahm der äp'/ui-* eine Eeihe von Obliegenheiten,
die erst nach und nach dem Staate erwachsen waren und die de S.
a. a. 0. zu definieren sucht. Erst das Amt des Polemarchen, den Ar.
an erster Stelle nennt, bedeutet eine Einschränkung der Königsgewalt,
mit der es dann rasch bergab ging. Die chronologischen Verhältnisse
der ältesten attischen Geschichte, die Köuigslisten usw. hat de S.
gleichfalls in Kap, 3 seines Buches einer eingehenden Betrachtung
unterzogen; hier wäre noch anzumerken, daß sowohl de S. als auch
Bury in dem Areopag, der damals die eigentliche Staatsleitung hatte,
ein Überbleibsel des ursprünglichen Beirats der Könige in homerischer
Zeit erkennen, während Ed. Meyer hieraus den Rat am Prytaneion ent-
stehen läßt, der sich später zur Bule entwickelte. Über die Zeit der
vollkommenen Ausbildung des Adelsstaats sind natürlich nur ungefähre
Angaben möglich: de Sanctis' Ansatz, Ende des 8. und Anfang des
7. Jahrhunderts, wird wohl das Richtige treffen, wie sich sofort zeigen
wird.
Eigentlich das einzige, was uns über diese Zeit aus dem Alter-
tum überliefert ist, sind die attischen Eponymenlisten, die im wesent-
lichen in zwei Versionen vorliegen, von denen die eine bei den Chrono-
graphen erhaltene auf Kastor zurückgeht, während die andere durch
das Marmor Barium vertreten wird. Ihnen hat Wilamowitz eine Unter-
j suchung gewidmet, deren Hauptbedeutung in den Grundanschauungen
[liegt, von denen der Verfasser ausgeht. Als den festen Punkt der
10*
148 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
ganzen Liste betrachtet er das Jahr des ersten jährlichen Archonten,
indem er annimmt, daß von ihm ab ein amtliches Verzeichnis vorlag,
wie es z. B. auch Aristoteles bei der Abfassung der pol. Ath. zur
Hand war. Andererseits w^aren wohl die Namen der ältesten Könige
bekannt; dazwischen aber klaifte eine Lücke, die erst nach und nach
mit den Namen der lebenslänglichen und der zehnjährigen Archonten
ausgefüllt ward. Unter jenen fällt Alkmeon durch seine kurze Re-
gierung auf; offenbar war er ein Eindringling, der nach zwei Jahren
beseitigt ward, woi-auf die Söhne des letzten lebenslänglichen Archonten
das Amt weiterführten: diese Usurpation des Alkmeon und die Rück-
gabe des Amts an die Medontiden, die indes mit seiner Befristung aut
10 Jahre verbunden war, ist nach "W. die erste einigermaßen sicher
bezeugte Tatsache der attischen Verfassungsgeschichte. Wie aber steht
es nun mit den lebenslänglichen Archonten? Sind sie wirklich als
Archonten aufzufassen, wie Aristoteles, Diodor, Vellejus, Nikolaos von
Damaskos und die Chronoui'aphen sie nennen, oder als Könige, wie sie
im Marmor Parium und späteren Grammatikeruotizeu bezeichnet werden?
W. erklärt den Unterschied für nicht so wesentlich, je nachdem
man von oben herab oder von unten herauf wie Aristoteles zählte,
konnte man sie bald noch als Könige, bald als Archonten auffassen.
Danach sind denn auch die Spekulationen, die Aristoteles an den
Übergang des Regiments an die Medontiden knüpft, für uns unverbind-
lich; W. selber stellt sich den Ütiergang so vor, daß neben das alte
Königsgeschlecht die aus der Fiemde gekommenen Medontiden als
eigentliche Regenten getreten sind, etwa wie die pippinidischen Haus-
nieier neben die Merowjnge treten. Dann wäre allerdings die Bezeich-
nung Archonten passender.
Bedeutend unitas>ender ist die Untersuchung, die neueidings
F. Jacoby dem Gegenstande gewidmet hat: von der doppelten Über-
lieferung ausgehend, stellt er zuerst den methodisch lichtigen Grund-
satz auf, daß es vor allem daiauf ankomint, die ursprüngliche Form
der Eponymenliste möghctist leiii her/.n<r.elleii , oline sich dabei auf
verfassungsgeschichtliche EröitemuLieii einzulassen Auch er geht davon
aus, daß das Jahr des Kivon d^r feste Punkt ist, von dem aus ab-
wäi'ts eine sichere cliroudoi^isehe Üheiliefeiuug vorlag, und sucht
dieses zeitlich zu hestimnien. Da nie Cluonom-aphen zwischen zwei
Jahren 683/2 (Hieronyn.us) uni 682/1 (Ainieniei_) scliwanken, so zieht
er in der Über/eugentr, daß die Übeilieteinug als auf amtlicher Auf-
zeichnung beruhend nicht «eM-hwankt hahen kann, das Maim. Par. heran,
das bei der bekannten Unsidierlieit dei "Epoc.iie die Ansätze 684/3 und
683/2 erlaubt; danach i-t 68:V2 mit Sicherheit als das Jalir des Kreon
anzusehen. Ob diese gegenseitige Koi-rektur statihatt ist, kann immer-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 149
liin fraglich erscheinen; es wird sich später doch bei Solou ein
Schwanken ergeben, obwohl andererseits dem Verf. zug'egeben werden
muß, daß Aristoteles bei der pol. Ath. in der Hand des Lesers ein
Exemplar der Liste voraussetzt und nirgends eine Unsicherheit be-
rücksichtigt. — Durch eine genaue Vergleichung der Überlieferung
weist nun Jac. nach, daß der Schluß der Liste bei Kastor so aussah:
Ol. 1 776/5 =: 2 Jahr des Aischylos,
6.1 756/5 ~r= 23 „
6.2 755/4 == 1 „ des Alkmeon,
6,4 753'2 =^^ 1 „ des Charops
und nach 70jähriger Regierung der osxasTei; endlich
Ol. 24,2 68312 Kreon.
Was den Anfang der Liste angeht, so setzte Kastor, wie Schwartz
erwiesen hat, Trojas Fall 1184/3 ins letzte Jahr des Menestheus, der
Anfang der Liste, Kekrops 1. Jahr, tiel bei ibm auf 1556/5. In einem
Teil der Überlieferung aber macht sich die Tätigkeit eines luterpolators
geltend, der mit 1182/1 als Jahr von Trojas Fall rechnete und nun
die voraufgehenden Regierungen um 2 Jahre verlängern mußte: er tat
das, indem er den beiden letzten, Theseus und Menestheus, ein Jahr
mehr gab; um aber die Summe nicht zu ändern, mußten diese zwei
Jahre bei den folgenden Regierungen wieder abgenommen werden,
Ist somit bis Theseus die Überlieferung in ihrem ersten Teil als ein-
heitlich auf Kastor zurückgehend erkannt, so ist eine "Wiederherstellung
des folgenden Teils von 1069/8 unmöglich, da hier die Chronik und
die excerpta barbari aus dem Kanon und außerdem der Barbarus aus
Julius Afrikanus interpoliert sind; als sicher kastorisch ist nur der
erste Teil der Liste von Kekrops bis Menestheus und der Schluß von
Aischylos bis Kreon anzusehen. — Eine ältere Stufe als Kastor stellt
das Marm. Par. dar; Hauptunterschied ist der, daß hier Trojas Fall
auf 1209/8, nicht wie bei Kastor auf 1184/3 angesetzt ist. Demgemäß
mußte Eratosthenes, der zuerst Trojas Fall auf 1184/3 berechnete und
also mittelbar oder unmittelbar die Quelle Kastors gewesen ist, bei
dieser älteren Liste Streichungen im Gesamtbetrag von 25 Jahren vor-
nehmen, und es fragt sich nun, wo er sie angebracht hat. Eine genaue
Vergleichung ergibt zunächst die Übereinstimmung in der Dauer der
Königsregierungen bis Menestheus: weiterhin zeigt sich dann sogar
noch eine Erhöhung der Diflerenz auf 30 Jahre und endlich stellt sich
heraus, daß die Abstriche gerade im letzten Teil der Liste zwischen
Aischylos und Kreon gemacht sein müssen; mehr ist mit Sicherheit
nicht zu sagen, da das Marm. Pai-. gerade aus diesem Zeitpunkt keine
Angaben erhalten hat. Es ergeben sich nun drei Möglichkeiten, entweder
150 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Eratosthenes hat einem der ota ßtou apyovTsc die dreißig Jahre abge-
nomraen, wo denn natürlich Alkraeon mit seiner zweijährigen Regierung
zuerst in Frage käme, oder er hat drei von den Xamen der os/ctETcTs
getilgt, so daß die dem Marm. Par. vorliegende Liste 10 öcxac-sic
aufwies (-^ lüO Jahre — 3 7£veai), oder er degradierte die letzten
öta ßi'ou ap/ovTec zu osy.asTsr? und gewann dadurch gerade 30 Jahre,
wobei zu beachten bleibt, daß der Überlieferung nach die 4 ersten
dvAazzzU Medontiden (Kodriden) waren, so daß also mit dem Wechsel
des Geschlechts zugleich die Befristung des Herrscheramts eintrat.
"Welche Möglichkeit vorliest, kann nur die historische Untersuchung
ergeben, und es wäre wünschenswert, daß dieser zweite Teil von
Jacobys Untersuchung nicht allzulange auf sich warten läßt. Einst-
weilen wird man so viel sagen können , daß mit dem Beginn der
Dekaeteis gegen das Ende des 8. Jahrhunderts der Beginn des Ge-
schlechterstaats anzusetzen ist.
Bekanntlich ist die Herischaft des Adels kein Segen für Attika
gewesen; unter ihr haben sich im Laufe des 7. Jahrhunderts geradezu
unerträgliche soziale Zustände entwickelt, die besonders den ländlichen
Grundbesitz in Mitleidenschaft zogen. Unsere Quellen drücken das da-
durch aus, daß sie berichten: es sei damals ein großer Teil der klei-
neren Eigentümer in den Stand der ~z)A-:'xi und exxrjiJLopo'. herabgedrückt
worden. Während nun über die -sXdtTat keine Meinungsverschiedenheit
herrscht — sie gelten als freie landlose Arbeiter, die sich im Tagelohn
verdangen — besteht über die Stellung der sx-nrjfxopoi große Unsicher-
heit, was um so eigentümlicher ist, als die Überlieferung so ziemlich
einheitliche Angaben macht. Die Worte des Ar. pol. Ath. c. 2 ixa-
Xo'jv-o 0£ -üd-ii y.al iy.zr^^l6pol ' i-l Taurrp 7ap t^; [xuÖcujeü)? sipifa^ov-o
-üiv ttXo'jji'ojv t«c d-'po'jj lassen sich doch nur so erklären, daß die Hek-
temoroi Pächter waren, die gegen Abgabe von einem Sechstel des Er-
trages den Reichen das Land bewirtschafteten, und daß es sich hier
tatsächlich um die Pacht ([x-'^öu)?'.;) handelte, zeigen die folgenden
Worte -/7.1 El [XYj Tocc }jLi38tu3£ii a-ootooi£v , a7tu7t[jLoi usw. Damit stimmt
nun durchaus überein, was Flut. Sol. 13 über die Lage dieser Leute
bemerkt ■?, 7ap k-(tuip-;o'rj Ixeivot; zy-i twv 7'.vo|j.£vtuv tsXoüvxe?, und nur
das kann zweifelhaft bleiben, ob Plutarch dieselbe Quelle wie Ar. be-
nutzte; jedenfalls hat er noch andere Gewährsmänner daneben gehabt,
da er ausdrijcklich zwischen landwirtschaftlichem Hypothekarkredit und
Personalveischulduug scheidet, wovon sich bei Ar. nichts findet. Auch
insofern ist ein kleiner Unterschied vorhanden, als Ar. die Hektemoroi
deutlich als Pächter btzeichnet, während die Worte Plutarchs eher
darauf schließen lassen, daß er kleine Eigentümer im Sinne hatte, wenn
man nicht ixsi'vot; mit i-.'stup-jouv verbindet, wo die Sache denn auf das-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Leaschau.) 151
selbe hinauskäme. Dageg:en berichten beide übereinstimmend, daß eiu
Sechstel des Ertiages als Abgabe bezahlt ward. Hiergegen hat man zu-
nächst geltend gemacht, daß eine solche Pachtsumme ja sehr gering
gewesen wäre und keineswegs die Klagen der Pächter gerechtfertigt
haben würde (de Sanctis S. 196); vielmehr sei die Sache so gewesen,
daß sie fünf Sechstel des Ertrages abgeliefert und nur ein Sechstel
für sich behalten halten (ßury S. 174). Eben daher will auch Meyer,
GdA. II, 643 Anm. sie nicht mehr als Pächter gelten lassen, da „für
diese eine so hohe Pachtsumme auch in den schlimmsten Zeiten eine
bare Uumöglichkeit" gewesen wäre; er bezeichnet sie daher geradezu
als Tagelöhner. Dies ist, nun sicherlich unnötig. Wenn man auch nicht
alles zu glauben braucht, was uns von der notleidenden Landwirtschaft
erzählt wird, so gibt es doch hichetlich bei uns gegenwärtig eine ganze
Menge Pächter, die aus dem Gute nur den Lebensunterhalt herauswirt-
schaften, der in barem Gelde oft gewiß nur ein Sechstel des Ertrages
ausmacht; ja, mancher Eigentümer braucht unzweifelhaft fünf Sechstel
des Ertrages nur, um seine Hypothekeugläubiger zu befiiedigen, ohne
daß mau ihn darum als Tagelöhner bezeichnete. Allein diese Ansicht,
wonach die Hektemoroi fünf Sechstel als Pacht zahlten und ein Sechstel
als Lohn behielten, widerspricht der Überlieferung, denn [xi3i>cu3ij bei
Ar. ist Pacht, nicht Lohn (|xta&6?), und wie de Sanctis S. 196 richtig
hervorhebt, handelt es sich in der besten Quelle, bei Ar. und Plut.,
um ein gegebenes, nicht um ein empfangenes Sechstel: diese letzte
Version findet sich offenbar durch ein Mißverständnis der Aristoteles-
stelle erst bei Phot. s. v. TtsÄarat und Hesych. s. v. exTYjfiopoi. Allein
dann bleibt die Schwierigkeit, die in der Geringfügigkeit der Pacht-
summe liegt, und was de Sanctis a. a. 0. zu ihrer Beseitigung vor-
bringt, ist gleichfalls nicht recht haltbar. Er sieht in der Hektemorie
nur eine Form des landwirtschaftlichen Hypothekarkredits und meint,
die Reichen hätten ein Gut stets bis zur Höhe des Bruttoertrages be-
liehen und alsdann von dem Schuldbetrag ein Sechstel d. h. I6-/3 Pro-
zent als Zins verlangt. Allein dem stehen die Worte des Ar. entgegen,
der von einem Pachtverhältnis spricht, während doch bei dem von
de Sanctis angegebenen Modus der Eigentümer im Besitz blieb, und
dann, wenn wirklich die Sache sich so verhalten hätte, würde nicht
Ar. einfach das in seiner Zeit schon gang und gäbe Wort Zins ge-
braucht haben {t6%o^)'? Also bleibt es dabei: nach den Angaben der
Alten sind die Hektemoroi Pächter, die ein Sechstel des Ertrages
als Pacht bezahlen, und, bei Lichte besehen, verschwindet auch die
vorhin genannte Schwierigkeit. Allerdings, wenn der Bruttoertrag eines
Gutes beispielsweise 30 OuO Mark beträgt, so würde 5000 Mark eine
sehr mäßige Pacht sein, nimmt man aber an, daß die attischen Pacht-
152 JahresbericLt über griechische Geschichte. (Lenschau.)
guter der damaligen Zeit nur eben so groß waren, daß sie den Lebens-
unterhalt hergaben, so war die Sechstelabgabe sehr drückend und bei
Mißwachs oder sonstigen Kalamitäten geradezu unerschwinglich. Hier
also treften wir auf den Kern der Sache: neben der Hypothekarver-
schuldung der Eigengüter ist es die Zerschlagung größeren Eigentums
in Zwergwirtschaften gewesen, die, von der Gier der Reichen, möglichst
viel aus dem Lande herauszuwirtschafteu, diktiert, den Ruin der bäuer-
lichen Pächter herbeigeführt hat. Liegt eine Spur davon etwa noch in
den seltsamen Worten f^ ok täz% 7^ öi' dXr;ui^ -^v bei Ar. vor? Daß sie
so, wie sie dastehen, eine Übertreibung sind, hat Ed. Meyer, GdA. II,
643 Anm. gezeigt; sind sie vielleicht aus einem Mißverständnis ent-
standen und bezog sich jene Notiz in der Quelle des Ar. etwa auf
die Kleinheit der Pachtparzelleu? Wir wissen es nicht, weil Plutarch
nichts Entsprechendes erhalten hat. Im übrigen standen die kleinen
Grundbesitzer, deren Zahl ziemlich bedeutend gewesen sein muß, wegen
der aus Solons Gedichten ersichtlichen Hypothekaiverschuldung nicht
viel besser da, und so trieben die ländlichen ßesitzverhältnisse in Attika
etwa seit 650 einer Katastrophe entgegen, die dann freilich noch zur
rechten Zeit, wenn auch durch ein radikales Mittel, verhindert ward.
Das Ende der großen Kolonisationsbewegung um 630 herum ist
auf die inneren Verhältnisse der hellenischen Staaten von hervorragendem
Einfluß gewesen: seitdem der Weg verschlossen war, auf dem mau bis
dahin unzufriedene Elemente abgeschoben hatte, nahmen überall in den
iiellenischen Gemeinwesen die politischen Gegensätze bedeutend schärfere
Formen an. Mächtig erhob die werdende Demokratie ihr Haupt, unter-
stützt vor allem durch die Umwälzung im Heerwesen, welche die Ent-
scheidung in die Massen des schwergerüsteten Fußvolks verlegte, und
durch das Aufkommen einer starken Industrie, wie sie sich in den ionischen
Städten Kleinasiens, in Athen, besonders in Korinth (Wilisch a. a. 0.
S. 18 ff.) entwickelte. Je nach der Schnelligkeit dieser Entwickelung
vollzog sich in den einzelnen Staaten bald früher, bald später der Über-
gang von der Adelsherrschaft zu demokratischeren Staatsformen, meistens
durch das Medium der Tyrannis hindurch, als deren mächtigster Ver-
treter Periandros von Korinth anzusehen ist. In dieser Hinsicht macht
jedoch Sparta eine Ausnahme, wo die demokratische Fortentwickelang
durch das Anwachsen der Macht des Ephorates charakterisiert wird.
Wie sich die Vorgänge im einzelnen abgespielt haben, ist uns unbe-
kannt: mit Recht nimmt Bury S. 124 f. im Anschluß an Ed. Meyer
an, daß die Anfänge des Amtes in sehr alte Zeit zurückreichen und
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 153
daß der Ephor ebenso wie der Archoii in Atlien zuerst als Zivilrichter
den Köuigcn zur Seite trat. Indessen in den Kämpfen gegen Ende des
siebenten Jahrhunderts, von denen aucli Sparta nicht verschont blieb,
müssen sie die Partei des Volkes ergriffen und, von der demokratischen
Strömung getragen, um 550 jene Stellung eilangt haben, die sie bald
nachher zur ausschlat:gebenden Macht im Staate erhob. Wenn daher
Cheilou ülter in (ieii Quellen als erster Ephor genannt wird (auch Niese,
Paulj'-Wissowa s. v. Cheilon, drückt sich so aus), so soll das w'ohl nur
bezeugen, daß unter seiner Amtsführuug das Ephorat jene Erweiterung
seiner Machtbefugnis erfuhr, und daraus wird" man mit Meyer und
Burj' schließen dürfen, daß Cheilon bei dieser Umgestaltung eine be-
deutende Rolle gespielt hat. Mit ihr ist jedenfalls der eigentümliche
Charakter der spartanischen Staatsverfassung vollendet, jene seltsame
Mischung patriarchalischer, aristokratischer und demokratischer Züge,
die schon das Altertum iu Verwunderung setzte uud für die ßury die
beste Erkläiung in jenem tief konservativen Zuge des spartanischen
Volkes gefunden hat, das die ehrwürdigen Formen auch dann zu er-
halten strebte, wenn der Inhalt längst verschwunden war (S. 125). Kein
Wunder, daß es ein englischer Gelehrter ist, der darauf zuerst hinge-
wiesen hat: liegt doch auch im englischen Nationalcharakter derselbe
Zug, die tiefe Ehrfurcht vor dem vorhandenen Recht, die nicht bloß in
der englischen Verfassung, sondern auch im gewöhnlichen Leben so
manche überlebte Institution erhalten hat, die nicht nur den radikaler
veranlagten romanischen Völkern, sondern auch uns Deutschen fast ein
Lächeln abnötigt.
Bedeutend genauer sind wir über den Ausgang der Adelsherr-
schaft in Athen unterrichtet, und da wird bekanntlich als der erste
Markstein der demokratischen Entwickeluug die Gesetzgebung Drakons
betrachtet. Auf Gruud von Aristoteles' Staat der Athener hat man ja
nun schon Drakon zu einem politischen Reformer ersten Ranges stempeln
wollen, der die meisten fruchtbaren Gedanken Solous bereits vorweg-
genommen habe; allein es kann wohl jetzt als ziemlich ausgemacht
gelten, daß Arist. seine Angaben über Diakon einer politischen Flug-
schrift entlehnt hat, die im Zusammenhang mit der reaktionären Be-
wegung von 411 entstanden ist uud der ein historischer Wert nicht
zukommt. Sowohl Bury wie auch de Sanctis haben sich diesem Urteil
angeschlossen, und in der Tat sind es heute nur noch wenige Forscher,
die in Drakon den Staatsmann großen Stiles auf Kosten Solons erblicken
möchten. Doch braucht er darum noch nicht die untergeordnete Per-
sönlichkeit gewesen zu sein, zu der ihn allerdings ganz gegen seinen
Willen Busolt macht, wenn er Gr. Gesch. II die Ansicht aufstellt, die
schriftliche Fixierung der Gesetze sei die Pflicht der etwa seit der
154 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Mitte des Jahrhunderts jährlich gewählten Thesmotheten gewesen: dann
bleibt für Drakon in der Tat nur die ziemlich untergeordnete Rolle des
Redaktors einer bereits vorliegenden schriftlichen Gesetzgebung. Gegen
diese Auffassung wendet sich L. Ziehen in einem beachtenswerten
Aufsatz (Rh. M. 54), in welchem er zunächst über das Ansehen, das
Drakon im Altertum genoß, und über die Kenntnis handelt, die man
in Athen tatsächlich noch von seiner Gesetzgebung hatte. Dabei kommt
er zu dem interessanten Ergebnis, daß der Name des Gesetzgebers so
gut wie verschollen war, bis die Parteikämpfe von 411 und wahrschein-
lich jene vorhin genannte oligarchische Parteischrift sein Andenken
wieder belebte: damals, als nach der sizilischen Katastrophe das einzige
Heil in der Rückkehr zu früheren, besseren Zuständen zu liegen schien
und alles unter der Flagge der -arpia TroXiieia segelte, mußte Drakous
Name als Empfehlung für den Verfassungsentwurf der Oligarchen her-
halten, sowie Kleisthenes' und Solons Name Radikalen und Mittelpar-
teilern als Aushängeschild dienton, und damals erst scheint das athenische
Publikum wieder auf ihn aufmerksam geworden sein. Allein der Kern
von Z.s Ausführungen liegt in der von Ihm entwickelten Ansicht über
die Thesmotheten: es erscheint ihm völlig undenkbar, daß die Athener
eines ständigen, jährlich erneuerten und aus sechs Köpfen bestehenden
Kollegiums bedurft hätten, lediglich um das attische Gewohnheitsrecht
aufzuzeichnen, wie Busolt will. Vielmehr war es ihre Pliicht, die wäh-
lend ihrer Amtsperiode gefällten richterlichen Entscheidungen, öiifiia,
die zwar keine bindende, wohl aber eine rechtsbildende Kraft besaßen,
schriftlich zu fixieren, und auf Grund des von ihnen gesammelten Ma-
terials schuf dann Drakon die erste Kodifikation des attischen Rechts.
Demgemäß war seine Tätigkeit also keineswegs eine bloße Aufzeich-
nung des attischen Gewohnheitsrechts, sondern eine vollständige Neu-
schöpfung, eine wiikliche Rechtsbildung, die im engen Anschluß an das
Volksbewußtsein vor sich ging: sehr schön führt Ziehen das au der Idee
der Unterscheidung zwischen vorsätzlicher und nicht vorsätzlicher Tötung
aus, die zwar im Rechtsbewuütsein der Massen schon lauge vorhanden
war, aber erst von Drakon wirklich gesetzlich fixiert ward. — Es ist
nicht zu leugnen, daß diese Ansicht etwas ungemein Bestechendes hat,
indem sie eine genaue Parallele zu dem Entstehen des germanischen
Rechts aus den Weistümern schafft, und um so bedauerlicher ist es,
daß sie an einem sprachlichen Bedenken leidet: Oej^-oi und öiafita sind
eben nach griechischem Sprachgebrauch doch niemals gerichtliche Ent-
scheidungen, sondern formulierte Gesetze, einerlei ob staatlicher oder
moralischer Natur, und ich fürchte, daß dadurch die Ziehensche Er-
klärung von der Tätigkeit der Thesmotheten unmöglich gemacht wird.
Bekanntlich hat die drakonische Gesetzgebung dem attischen
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 155
Lande, das vorwiegend an sozialen Schäden litt, nicht den Frieden
bringen können nnd somit mußte die Adelsherrschaft auf eine Ableitung
der unzufriedeneo Elemente nach außen bedacht sein: in diesen Zu-
sammenhang gehört m. E. der Versuch, durch Besetzung Sigeions
am Hellespont festen Fuß zu fassen, der dem Scharfblick der damaligen
Machthaber alle Ehre macht. Allein die gute Zeit der Kolonisation
war vorüber: Athen sah sich sofort in einen schweren Krieg mit Mi-
tylene verwickelt, an dem Alkaios und Pittakos von feindlicher Seite
teilnahmen, und wenn Periaiidros' Schiedsspruch den Athenern auch
Sigeion beließ, so war doch jede Ausdehnung des Gebiets ihnen dadurch
zugleich unterbunden und eine Ansiedelung der landlosen Proletarier-
masseu Attikas unmöglich gemacht worden. Auch scheint Sigeion später
wieder verloren gegangen zu sein ; erst Pisistratos hat es wieder erobert
und von da an blieb es in athenischem Besitz als Schlüssel des Helles-
ponts. Dies die gegenwärtig ziemlich allgemein gültige Ansicht; gegen
sie wendet sich de 8. S. 284 if., indem er nur einen einzigen Krieg
statuiert, der in die Zeit des Pisistratos fällt. Dabei ist zunächst zu-
zugeben, daß Her. 5, 94 allerdings nur von einem Kriege spricht nnd
die Anknüpfung mit ^ap zeigt, daß er ihn unter die Regierung von
Pisistratos' Sohn Hegesistratos veilegt. Allein dem widerspricht die Er-
wähnung des Alkaios und des Periandrischen Schiedsspruches, und dem-
gegenüber genügt es doch nicht, auf die zweifelhafte Chronologie dieser
Zeiten hinzuweisen, die erst von den Alexandrinern festgesetzt sei
(S. 286) oder auf die Unzuverlässigkeit des ältesten Teils der Olympio-
nikenliste, die den von Pittakos besiegten Olympioniken Phrynon ins
Jahr 636 versetzt. Oder glaubt de S. wirklich, daß Periandros noch
um 540 gelebt hat? Ist aber an der historischen Realität seines Schieds-
spruchs nicht zu zweifeln, so ergibt sich daraus doch mit Notwendigkeit,
daß Her. Ereignisse aus den veischiedenen Kriegen vermengt, und daß
tatsächlich in den letzten Jahrzehnten des 7. Jahrhunderts von Athen
aus der Versuch gemacht ist, in der Troas ein Kolonialreich zu gründen.
In dieselbe Zeit fällt auch der Beginn des Kampfes um Salamis,
dessen Veranlassung m. E. ebenfalls in den zerrütteten sozialen Ver-
hältnissen Attikas zu suchen ist. Zu allen Zeiten hat in solchen Fällen
die Ablenkung nach außen als ein bewährtes Mittel gegolten, das sich
hier um so mehr empfahl, als der Erfolg den Machthabern Attikas zu-
gleich einen bequemen Abfluß der unzufriedenen Bevölkerung nach der
Insel Salamis schaffen mußte. Über den Verlauf des Krieges besitzen
wir eine Menge Angaben, deren vollständige Unzuverlässigkeit de S.
p. 257 mit Recht betont und die bald Selon, bald Pisistratos die Haupt-
rolle zuerteilen ; sicher ist nur, daß unter Pisistratos' Regierung die end-
gültige Regelung durch den spartanischen Schiedsspruch erfolgte, der
1 56 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Salamis den Athenern zuwies. Daß Solon irgendwie am Kriege beteiligt
gewesen ist, das steht allerdings durch seine Elegie fest; neuere
Forscher, unter anderen auch Bury S. 192, verlegen deshalb den
entscheidenden Krieg um das Jahr 570 herum, um so einerseits die
Möglichkeit zu gewinnen, Solon und Peisistratos beide am Krieg zu be-
teiligen und andererseits den Streit zwischen Athen und Megara nicht
über einen zu langen Zeitraum auszudehnen. Allein mit Recht weist
de Sanctis auf die jahrhundertelangen Grenzstreitigkeiten zwischen Samos
und Priene, sowie zwischen den italienischen Stadtrepubliken des Mittel-
alters hin, und insofern steht nichts der Annahme im Wege, Solons Be-
teiligung noch ans Ende des 7. Jahrhunderts zu setzen. Vielleicht war
es ein unter seiner Leitung errungener vorübergehender Erfolg, der ihm
den Weg zum Archoutat bahnte.
Das vorläufige Scheitern der Expansionspläne ergab die Notwendig-
keit einer gütlichen Vereinigung zwischen den streitenden Parteien: um
sie herbeizuführen, ward Solon im Jahre 594/3 zum leitenden Archon
erwählt. Diese Zeitangabe beruht, wie bekannt, auf der Autorität des
Sosikrates bei Diog. Laert. 1, 65; eine andere Bestimmung ergibt sich
aus der parischen Marmorchronik in Verbindung mit den Angaben des
Aristoteles in der Ath. Polit. und ist von Kirchner in dem angeführten
Aufsatz über das Jahr des Archon Damasias verfochten. K. geht aus
vom Jahr des Komeas, in dem Peisistratos zur Regierung kam und das
er auf 560/59 fixiert. Nach Ar. pol. Ath. c. 14 nahm Peisistratos die
Akropolis 32 Jahre nach Solons Gesetzgebung in Besitz, was für diese
auf 591/0 führt. Nach Ar. c. 13 trat nun im 5. Jahre nach Solons
Archontat Anarchie ein, d. h. 587/6, fünf Jahre später noch einmal
583/2, darauf folgte Damasias, der also 582/1 Archon wa;", was wieder
genau mit dem Marmor Parium stimmt, das hier die Worte hat
Aafxajtou ap'/o\-zoi xoü oeutipou. Daß dies bedeutet „als D. II. Archon
war" (Damasias I. = 639) und nicht „als D. zum zweitenmal A. war",
erscheint mir allerdings sicher: sehr richtig bemerkt K., daß dies durch
xo Seutepov hätte ausgedrückt werden müssen. Mißlich ist für K.s Er-
kläiung nur der Anfang von Ar. pol. 13, wo es heißt, die Athener
hätten nach Solons Abreise, die doch frühestens auch nach K.s Ansicht
Ende 591/0 erfolgt sein kann, vier volle Jahre iu Ruhe gelebt: erst im
fünften, d. h. also doch 586/5, sei zum erstenmal das Archonteuamt nicht
besetzt worden, und es ist kein gutes Auskunftsmittel, wenn er hier
vorschlägt, vom Amtsantritt Solons zu rechnen. Vielmehr ergibt sich
daraus, da das Damasia.«jahr aus dem Marmor Parinm feststeht, 592/1
als Solons Amtsjahr, wobei denn das Jahr des Komeas auf 561/0 anzu-
setzen wäre, was bei dem Schwanken der Epoche des Marmor Parium,
die auch K. nicht ganz leugnen kann, wohl nicht bedenklich ist. In
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 157
der Tat stehen also für Solons Amtsjahr zwei Daten 594/3 (Sosikrates)
und 592/1 (Aiist. und Marmor Parinm) zur Wahl, beide haben, wie Bury
S 182 hervorliebt, einiges für sich. Jedenfalls aber empfiehlt es sich
nicht, durch Konjekturen wie die von A. Bauer, der Ar. pol. Ath.
14 statt 32 Tptaxovxa xai 6' schreiben will, den Unterschied zu ver-
wischen und auch de S. Verniittelungsversuch (S. 203/4) scheint mir
mißglückt, zumal er die Worte apyov-ro? Aa|xajiou xoü Ssu-epou vom
zweiten Amtsjahr des Damasias versteht, was sprachlich unmöglich ist.
Was nun das Werk Solons selber betrifft, so herrscht darüber
jetzt allgemeine Übereinstimmung, daß jene Verquickung der Seisach-
theia mit der Münzreform, wie man sie lange auf Androtions Autorität
hin angenommen hat, auf einem vollständigen Irrtum beruht: beide
haben nicht das geringste miteinander zu tun. Vielmehr war die Sei-
sachtheia eine der radikalsten Maßregeln, die es je gegeben hat: eine
vollständige Aufhebung sämtlicher Hypothekenschulden und sämtlicher
auf den eigenen Leib aufgenommener Personalschulden. Sie ward er-
gänzt durch das Verbot des oavöi^e'.v l-\ awiiizi, das die Wiederkehr
solcher Zustände unmöi>;lich machte: daß aber auch der Hypothekar-
kredit von Solon verboten oder wenigstens nur in ganz bestimmten
Fällen zugelassen ward, das hat de Sanctis (S. 206 f.) wohl mit Recht
aus der Ausdehnung geschlossen, die im späteren attischen Güterverkehr
die -pajic irA Xysst gewonnen hat. Unabhängig davon war die Münz-
reforra eine wesentlich handelspolitische Neuerung, auf die der Ausgang
des lelantischen Krieges und die neue Gruppierung der Handelsraächte
(s. u.) von maßgebendem Einfluß gewesen ist: das sog. euböische Talent,
das Solon einführte, war dasselbe, dessen sich die neuen Freunde Athens,
Korinth und Milet, bedienten, und seine Annahme muß für den auf-
blühenden Handel Athens eine große Erleichterung gewesen sein.
Über die mancherlei mit der Münzreform zusammenhängenden Pi'agen
hat de Sanctis S. 215 ff. mit gewohnter Gründlichkeit gehandelt.
Geringere Übereinstimmung herrscht über die eigentliche Ver-
fassung Solons, besonders über die Klasseneinteilung, und hier ist
die Hauptfrage die, ob jene Einteilung nach dem timokratischen Prinzip
erst von Solon jietroffen oder ob sie schon vor ihm vorhanden gewesen
ist. Es ist nicht zu leugnen, daß manche Stellen bei den Alten auf
ein früheres Vorhandensein der Klassen hindeuten, und so hält denn
auch Bur}^ die timokratische Einteilung für eine Konzession der Eupa-
triden, durch die sie schon um die Mitte des 7, Jahrhunderts dem Volke
entgegenzukommen suchten (S. 176). Sicher ist zunächst, daß die
Klassen namen bereits vor Solon existierten; ob sie aber einer festen
timokratischen Einteilung des Volkes entsprachen, das ist doch sehr
zweifelhaft; denn jene obenerwähnten Stellen der Alten gehen fast
158 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
immer in letzter Linie auf Aristoteles zurück und dieser mußte natür-
lich die vorsolonische Existenz der Klassen behaupten, da er sich durch
die apokryphe Verfassung Drakons hatte täuschen lassen. Aus diesen
Gründen nimmt de Sanctis an (S. 225 flf.) — und das wird auch wohl
das richtige sein — , daß Solon jene Namen als volkstümliche Bezeich-
nungen für den ungefähren Vermögensstand einzelner vorfand, daß da-
gegen die scharfe Scheidung der einzelnen Klassen durch die Festsetzung
eines Minimaleinkommens sein Werk ist. Daß dies Einkommen in Na-
turalien festgesetzt ward und somit nur der Grundbesitzer Aufnahme
in die drei oberen Klassen fand, ist allerdings charakteristisch: es
zeigt, welches die mächtigste Partei im Lande war, mit der auch Solon
zu rechnen hatte. Nun erscheint es freilich sonderbar, daß selbst reiche
Leute, sofern sie keinen Grundbesitz hatten, der politischen Rechte ent-
behrten, und noch sonderbarer vielleicht, daß seinerseits der Staat bei
außerordentlichen Geldauflagen, die nach den Klassen verteilt wurden,
auf die Mitwirkung dieser äußerst zahlungsfähigen Klasse verzichtet
haben sollte, daher hat bekanntlich Ed. Meyer (Gesch. d. Alt. II
S. 655) die Ansicht aufgestellt, die Zensussätze seien in Geld umge-
rechnet worden und hiernach seien auch die reinen Geldeinkommen zu
den Klassen veianlagt. Materiell ist dies Bedenken durchaus gerecht-
fertigt, allein da wir auch nicht das geringste über diese Sache aus
dem Altertum erfahren, so bleibt Meyers Annahme immerhin unsicher
und vielleicht ist sie gar nicht einmal notwendig. Vielleicht brauchte
Solon mit Leuten, die ein großes Geldeinkommen, aber kein Land be-
saßen, gar nicht zu rechnen, da jeder, der Geld hatte und eine politische
ßoUe spielen wollte, tatsächlich sehr leicht Land erwerben konnte, weil
infolge der massenhaften Zwangsversteigerungen das Angebot in Grund-
stücken sehr groß gewesen sein muß. Auch in der Folgezeit nach Solon
muß das Aufblühen von Handel und Industrie einen starken Übergang
kleiner Landbesitzer in die neuen Erwerbszweige begünstigt haben, so
daß für den Bemittelten die Grundlage politischer Berechtigung leicht
zu erweiben war. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint sogar Solons
Maßregel als eine wirtschaftlich äußerst verständige, indem sie dauernde
Nachfrage nach Land schuf und damit den Wert der Grundstücke er-
höhte oder ihn doch vor allzu starkem Sinken bewahrte. — Beiläufig
ergibt die Gleichsetzung von 1 Med. Gerste und 1 Metr. Ol, daß die
Preise zu Solons Zeit noch ziemlich gleich waren: offenbar stand der
Getreidepreis sehr hoch, da die Einfuhr wenig entwickelt war, und der
Ölpreis sehr niedrig, da es an Ausfuhrgelegenheit mangelte; auch das
ist in Betracht zu ziehen, daß nach den interessanten, wenn auch nur
annähernden Berechnungen von de S. (S. 229 f.) zur Produktion eines
Metr. Ol die doppelte Anbaufläche nötig war, wie zur Erzeugung von
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 159
einem Med. Gerste. Später änderte sich das Verhältnis unter dem Ein-
fluß reichlicher Getreidezufuhr aus dem Pontos und eines starken 01-
exportes sehr rasch: für den Anfang- des 4. Jahrhunderts berechnet
de S. aus dem Opfertarif CIA. II, 631 das Preisverhältnis von Ol und
Getreide wie 4 : 1 in Athen, ja für Lampsakos, das dem ^etreidereichen
Pontos so viel näher lag-, stellte es sich nach dem pseudoaristotelischen
Oekononiikos II, 1347a sogar auf 9:1. Indem die Anfänge dieser
Preisverschiebung bald nach Solon, der durch seiu Getreideausfuhrverbot
noch dazu mitwirkte, sich geltend gemacht haben müssen, sind die Grund-
lagen von Solons Klasseneinteiluni? sehr bald erschüttert worden: schon
zu Peisistratos' Zeit wird ein Mann, der 200 Metr. Öl erntete, ein viel
.größeres Einkommen gehabt haben als ein Mitglied der Pentakosio-
medinnenklasse, das etwa 600 Scheffel Getreide produzierte (de S.
p. 228 f.).
Es ist natürlich unmöglich, hier auf alle Einzelfragen einzugehen,
die über den Einfluß der Klassen auf die Wahl der Beamten, über
deren Zahl und Befugnisse existieren: sie sind sämtlich mit großer
Gründlichkeit bei de Sanctls behandelt. Von den vielen streitigen
Punkten mögen hier nur noch drei erörtert werden, welche die Ein-
setzung des Kate s der Vierhundert, die Volksgerichtsbarkeit und
die Art und Weise der Ämterbesetzung betreffen. Bekanntlich ist
Niese der erste gewesen, der (Histor. Ztschr. 69,60 1892) dem solonischen
Rat der Vierhundert die Existenz abgesprochen hat, und ihm schließt
sich de Sanctis an (S.245), während Bury auch hier einen konservativeren
Standpunkt behauptet (S. 185). In der Tat läßt sich bei der
notorisch geringen Bedeutung, welche die Volksversammlung bei Solon
einnimmt, nicht absehen, was denn der Rat bei Solon für Befugnisse
gehabt haben sollte. Auch das argumentum ex silentio erscheint zu-
lässig: in allen den Parteikämpfen, die auf die solonische Gesetzgebung
folgen, spielt der Rat der Vierhundert nicht die geringste Rolle, während
die Bule des Kleisthenes' höchst energisch in die politischen Verhältnisse
nach Kleisthenes' Vertreibung eingegriffen hat. Allerdings widerstrebt dem
die Überlieferung bei Ar. pol. Ath. c. 8, der ausdrücklich die Einsetzung
des Rates berichtet, und viele andere Stellen, die seinen Ursprung auf
Solon zurückführen. Demgegenüber aber ist festzuhalten, daß es eine
wirklich authentische Überlieferung über Solons Verfassungswerk nicht
gegeben hat, schon die Atthidenschreiber und Ar. waren, wie auch die
Ausdrucksweise der Ath. pol. zeigt, in den meisten Punkten durchaus
auf Rückschlüsse angewiesen. Außerdem aber liegt ja bekanntlich bei
den Athenern der späteren Zeit die entschiedene Neigung vor, demo-
kratische Einrichtung auf Solon als den Vater der Demokratie zurück-
zuführen. Alles in allem genommen wird man also das bei Ar. vor-
IfO Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
liegende, merkwürdig kurze Zeugnis für die Einsetzung des Rates nicht
sehr hoch veranschlagen und auch die in Plut. Solon vorliegenden
Gesetzesbruchstücke, in denen der Rat erwähnt wird, bilden keinen
Gegenbeweis, da der wirklich solonische Ursprung dieser (iesetze
mindestens sehr zweifelhaft ist.
Dagegen sehen fast alle Forscher (so auch Bury und de Sanctis)
die eigentlich demokratische Hauptreform Solons in der Einsetzung
der fjXiaia, deren alten Ursprung das schon in der Sprache sehr
altertümliche Gesetz bei Lys. 10, 16 bezeugt, und wenn man auch dem
Zeugnis der Alten, die die Geschworenengerichte sämtlich von Solou
datieren, nicht allzuviel Gewicht beimessen wird, so liegt doch
nicht der geringste Grund vor, an seiner Richtigkeit zu zweifeln. Nun
ist festzuhalten, daß ihre Tätigkeit unter Solon eine rein richterliche
war. Allerdings hat Wilamowitz (Ar. und Athen 1, 71) aus Ar. pol.
1274 a, wo gesagt wird, Solon habe dem Volke xo apyac atpsij&at xal suöuvstv
gegeben, den Schluß gezogen, das Volk habe nicht bloß die Beamten
erwählt, sondern auch ihre Amtsführung überwacht, so daß sogar ein
Appell von ihren Anordnungen an die Heliaia möglich gewesen sei.
Demgegenüber hebt de S. (p. 246 ff.) zunächst hervor, daß s'jOüveiv hier
ebenso wie 1281b in rein technischem Sinne gebraucht sei und sich auf
die bekannte Rechenschaftsablage nach vollendetem Amtsjahr bezöge.
Allein auch innere Gründe sprechen gegen W.s Annahme: wäre die
Heliaia wirklich berechtigt gewesen, in der gedachten Art in die Amts-
führung einzugreifen, so hätte sie ja tatsächlich das Heft in Händen
gehabt und wie konnte dann Solon von sich rühmen, „er habe dem
Volke nicht mehr gegeben, als gerade genüge"? Und wie erklärt es
sich ferner, daß noch nach Solon die erbittertsten Kämpfe um das
Archontat geführt wurden, wenn dieses tatsächlich zu einer Marionette
in der Hand der Heliaia geworden wäre, wozu es durch W.s Annahme
degradiert wird? Vielmehr ist daran festzuhalten, daß die Heliaia nur
richterliche Befugnisse hatte, selbstverständlich mit Ausnahme der Blut-
gerichtsbarkeit, für die der Areopag zuständig war. Den Umfang der
Prozesse, die vor der Heliaia zu führen waren, sucht de S. p. 248 wohl
im ganzen mit Glück zu bestimmen; weniger annehmbar erscheint seine
Ansicht, die Heliaia sei nur aus den ersten drei Klassen zusammen-
gesetzt gewesen. Er begründet sie damit, daß eine Entschädigung
damals noch nicht gezahlt sei und daß daher nur Wohlhabendere ihre
Zeit zu opfern imstande gewesen wären. Allein die Heliasten-
geschäfte waren damals ja bei weitem nicht so umfangreich und zeit-
raubend wie in den Zeiten der ausgebildeten Demokratie, und dann
fragt es sich doch noch sehr, für wen das Zeitopfer größer war, für
den entfernt wohnenden Zeugiten oder den in Athen ansässigen Theten.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 161
Es steht also nichts im Wege, an der Überlieferung festzuhalten, wonach
auch der untersten Klasse die Teilnahme an der Heliaia zustand, wenn-
gleich an sich die Überlieferung nicht viel taugen nias:.
Endlich der Modus der Beamtenwahl unter Solon, bei dem uns
abermals die Überlieferung im Stich läßt. Scheinbar klar und bestimmt
sagt Ar, pol. Ath. c. 8. es habe eine x^.-iQptuji; iy. Tcpo/piTcov, also eine
Art Kombination von AVahl und Los stattgefunden, allein sofort folgt
der bedenkliche Zusatz arnj-ziov ok, der beweist, daß es sich nicht um
eine überlieferte Tatsache, sondern um einen Rückschluß des Arist.
handelt, und dazu ist der solonische Ursprung des von ihm zum Beweis
angeführten Gesetzes keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Nun aber
fagt derselbe Ar. in der Politik 1274a, unter Solou seien die Ämter
durch Wahl besetzt und das ist auch die Ansicht des Atthidographen
gewesen, den Ar. pol. Ath. 22, 5 benutzt hat und der berichtet, vor
Telesinos (487/6) seien alle Archonten gewählt: der Zusatz -ots ixsii
TTjV Tupavvt'oa zpwrov ist offenbar gemacht, um den Widerspruch mit
c. 8, 1 zu verdecken. Bei diesem Widerspruch der Zeugnisse bleibt
nichts übrig, als die Sache aus inneren Gründen zu entscheiden, und das
ist de S. (p. 244) zuzugeben, daß die Erlösung mit der selbständigen
Bedeutung, die die Ämter zu Solons Zeit hatten, nicht zu vereinigen
ist: umgekehrt sagt er sehr richtig, daß das Archontat von dem Augen-
blick au, als es durch Los besetzt ward, jegliche Bedeutung verloren
hat. Sodann führt er gegen Fustel de Coulanges, der auf das religiöse
Element bei der Erlösung hingewiesen hatte, den Umstand ins Feld, daß
die Athener sicherlich nicht eine Soxifxania der Erlosten veranstaltet
hätten, wenn sie der Ansicht gewesen wären, daß der Erloste der Er-
wählte der Götter sei, was sich ja hören läßt, obwohl das Volk in
diesen Dingen keineswegs immer so konsequent denkt, wie de S. an-
zunehmen scheint. Endlich ist es richtig, daß die Archontenliste jener
Zeit eine ganze Eeihe hervorragender Männer enthält, und es wäre doch
seltsam, daß das Los so oft den Rechten getroffen hätte. Alles dieses
spricht für die Wahl der Beamten, für die sich auch de S. entscheidet.
Allein gegen die Wahl läßt sich doch auch geltend machen, daß die
Archontenliste neben einigen hervorragenden so viele gänzlich unbekannte
Ildamen enthält, und so kommt man doch schließlich wieder auf dieErlosung
Ix Trpoxpixüjv, bei der sich die Zusammensetzung der Archontenliste
noch am ersten erklärt: beruht Aristoteles' Annahme ihrer Einrichtung
durch Solon auch nur auf einem Schluß aus zweifelhaften Prämissen,
so kann er darum doch das Richtige getroffen haben. Auch Bury
(S. 186) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
Paßt man endlich das Gesamturteil über Solon und sein Werk
zusammen, so wird sich nicht leugnen lassen, daß seine Gesetzgebung
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 11
162 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
im allgemeinen segensreich gewirkt hat, insbesondere hat die Seisachtheia
für die sozialen Verhältnisse wieder eine gesunde Grundlage geschaffen.
Aber nicht überall hielt seine Staatsmann ische Erfahrung mit seiner
Einsicht und der Reinheit seiner Zwecke gleichen Schritt, und wenn
auch Wilamowitzens bekanntes Urteil, wonach „Solons eigenes Gewissen
es verneint haben wird, wie wir es verneinen müssen, daß er ein großer
Staatsmann gewesen", zu hart ausgefallen ist, das wird man zugeben
müssen, daß Solon seinen Zweck nicht erreicht hat: den Frieden hat
er seinem Lande nicht geben können. Der Hauptfehler seiner Ver-
fassung — das hat de S. (S. 252) klar gesehen — ist der Mangel
einer einheitlichen Zentralgewalt; indem er diese in seiner Person schuf,
ist Peisistratos, der äußerlich betrachtet Solons Lebenswerk vernichtete,
in Wahrheit der Wohltäter seines Volkes geworden, der nach langen
Kämpfen für sein ]jand den ersehnten Frieden heraufgeführt hat.
Um die Zeit von Solons Archontat herum scheinen sich in der
griechischen Welt mehrere größere Bewegungen vollzogen zu haben,
an denen zwar ein direkter Anteil Athens kaum mehr nachzuweisen
ist, die aber schwerlich spurlos am athenischen Staat vorübergegangen
sind. Die erste ist der sogenannte lelantische Krieg, eine Fehde
zwischen Chalkis und Eretria um das zwischen beiden Städten liegende,
fruchtbare lelantische Gefilde, die sich nach und nach zu einem allge-
meinen Handelskriege der griechischen Staaten untereinander ausweitete
und endlich mit der Niederlage von Eretria endete. Leider besitzen
wir keine einzige, zuverlässige Zeitangabe über den Krieg, und auch
der neueste Versuch Costanzis (Ateue e Roma Dez. 1902), ihn chrono-
logisch festzulegen, ist nicht von durchschlagendem Erfolge begleitet
gewesen. Darin allerdings wird man ihm beistimmen, daß weder aas
dem Aufhören der Kolonisationstätigkeit von Eretria um 650, noch ans
der Erwähnung des sagenhaften Königs Amphidamas, noch aus der
bekannten Stelle bei Archilochos über die Kampfesweise der speer-
berühmten, euböischen Herren etwas über die Zeit zu schließen ist; und
so bleiben denn relativ noch die sicherste Angabe die oft zitierten
Verse des Theognis 891 — 4, die von der Zerstörung Keriuths und der
Verwüstung der lelantischen Ebene ausgehend mit einer Verfluchung
des Kypselidengeschlechts endigen. Nun ist es richtig, daß Her. 5, 65
unter der Bezeichnung Peisistratiden auch Peisistratos selbst begreift,
wie auch wir, wenn wir von Karolingern sprechen, wohl meist Karl
den Großen einschließen, aber im Munde eines Zeitgenossen (xei'psTat
Vs. 892) will sich das doch nicht schicken, und so deuten die Theognis-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau ) 1(33
Verse wohl mit Sicherheit auf die Zeit des Periandros, der nach der
gewöhnlichen Chronologie von 625 — 585 regierte. Genaueres sucht
Costanzi zu ermitteln. Er geht davon aus, daß Milets Teilnahme am
Kriege nicht in die Zeit der inneren Kämpfe fallen kann, von denen
Her. 5,28 ^pricht, und deren Zeit er auf 560 — 520 in mühevoller
Untersuchung bestimmt, so daß also 560 einen terminus ante quem für
den Ausgang des Krieges bilden würde. Immerhin bleibt dabei ein
Widerspruch mit Her., der die Dauer jener Kämpfe auf zwei Generationen,
d. h. nach seiner Rechnung 66 Jahre beziffert, und es ist C. nicht ganz
gelungen, diese Schwierigkeit zu beseitigen. Einen Terminus a quo ge-
winnt er aus der Bemerkung Herodots (6, 127), wonach zur Zeit der
Hochzeit der Agariste Eretria noch geblüht habe, d. h. um 582 herum,
und zugleich möchte er daraus, daß ein Pharsalier das Kontingent der
Thessalier im lelantischeu Krieg führte, auf eine Vormachtstellung von
Pharsalos schließen, die erst nach dem Niedergang Larisas um 570
möglich war; es ergibt sich also für ihn der Ansatz 570 — 560 für den
Ausgang des Krieges. Ich gestehe, daß es mir unmöglich ist, dieser
Ansicht beizutreten, und zwar eben wegen jeuer Theognisverse, aus
denen doch hervorzugehen scheint, daß das Ende zu Periandros Zeit,
ja zum Teil durch seine Schuld eintrat. Nun aber ist P. nach der über-
lieferten Chronologie um 585 gestorben und es genügt doch nicht ein
einfacher Hinweis auf die Unsicherheit dieser Chronologie, die ich gern
zugebe, um alle ihre Ansätze vernachlässigen zu dürfen. Wahrschein-
lich fällt also das Ende des lelantischen Krieges noch in Periandros'
Zeit und vor den Beginn des heiligen Krieges gegen Kirrha (um 590),
also noch ins erste Jahr des 6. Jahrhunderts. Sein Anfang mag immer-
hin ziemlich weit ins siebente zurückgehen, wenngleich nach den oben
geschilderten Verhältnissen der Krieg kaum vor 630 begonnen haben
kann; sicherlich ist es eine lange, oft unterbrochene Fehde gewesen,
wie etwa die holländisch-englischen Kriege im 17. Jahrhundert. Worin
eigentlich Periandros' entscheidendes Eingreifen bestanden hat, ist nicht
mehr zu erkennen, mir persönlich erscheint die Vermutung Burys S. 151
sehr plausibel, wonach gegen Ende des Krieges die Häupter der krieg-
führenden Parteien, Korinth und Milet, über die Köpfe der Kleinen,
die die Zeche bezahlen mußten, hinweg eine Verständigung fanden, die
vielleicht durch das Aufkommen von Thrasybulos' Tyranuis in Milet
erleichtert ward. Jedenfalls bestand um Solons Archontat herum ein
Übergewicht Korinths, darauf scheint seine Münzreform hinzudeuten,
die in einer Annahme des in Korinth und Milet gebräuchlichen euböischeu
Talents bestand.
Ganz eigentümliche Ansichten über die politischen Verhältnisse
Griechenlands in damaliger Zeit hat C. Niebuhr in seinem obener-
11*
1Ü4 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
wähnten Buche entwickelt. Er geht davon aus, daß schon vor Kroisos
die griechischen Städte Kleinasiens in einem gewissen losen Abhängig-
keitsverhältnisse von den Herren des Hinterlandes gestanden haben,
woran nicht zu zweifeln sein wird. Wenn auch Gj'ges" Versuche nach
dieser Richtung hin durch seinen frühen Tod vereitelt wurden, so haben
doch Ardj's und Alyattes den Kampf wieder aufgenommen , und eine
Verständigung mit den Herischern des reichen Hinterlandes bot zu
große kommerzielle Vorteile, als daß man sie nicht durch eine simple
Anerkennung der Oberhoheit erkauft hätte; in dieser Hinsicht pflegen
Handelsstädte nicht sehr skrupulös zu denken , wie die Geschichte
mancher mittelalterlichen Städterepublik beweist. Auch darin hat
Niebuhr unzweifelhaft recht, daß der mächtigste Mann im damaligen
Griechenland, daß Periandros von Korinth in genauer Verbindung mit
Alyattes einerseits, mit Psammetichos und Necho andrerseits gestanden
hat. Allein er geht entschieden zu weit, wenn er meint, Periandros'
Macht habe sich auch beispielsweise über Athen und Lesbos erstreckt,
die in ihm ihren Suzerän anerkannt hätten. Dies schließt er aus der
Darstellung des Kampfes um Sigeion zwischen Athen und Mitj-leue, der
nach Her. 5, 94, wo allerdings die erste Besetzung Sigeious im 7. Jahr-
hundert und die Wiedereroberuug durch Peisistratos zusammengeworfen
sind, durch einen Schiedsspruch des Periandros auf Grund des Status
quo beigelegt ward. Dies Übereinkommen erscheint ihm vielmehr als
ein Vertrag zwischen Periandros als Oberherrn von Athen und Alyattes
als Suzejän der kleinasiatischen Griechen, welche die Wiederherstellung
des früheren Besitzstandes verabredeten und den beiden in Streit ge-
ratenen unbotmäßigen Untertanenstädten je einen Aisymneteu, Solon
in Athen, Pittakos in Lesbos, als Kurator bestellten, der Ordnung in
die verfahrenen Verhältnisse bringen sollte. Eine Bestätigung dieser
Ansicht sieht N. ferner darin, daß gleichzeitig mit dem Tode des Peri-
andros, dem der Sturz seiner Dynastie sehr bald folgte, auch in Athen
von neuem Parteikämpfe begannen, die schließlich Solons Werk ver-
nichteten. Gegen diese Auffassung ist nun zunächst geltend zu machen,
daß im lesbisch-athenischen Vertrag nicht der frühere Besitzstand (v£-
ixeaöat xrjv sl/ov), sondern der gegenwärtige, im Krieg erworbene , ttjV
e-/ou3i, wie Her. sagt, die Grundlage der Verständigung bildete, was
für die Beurteilung der Rolle des Periandros gegen Nieb. doch sehr ins
Gewicht fällt; sodann aber steht seine Behauptung zu allem, was wir
wissen, in einem so bedenklichen Widerspruch, daß man doch mindestens
den Nachweis erwarten müßte, die Neuordnung der Verhältnisse in
Athen und Lesbos sei im speziell korinthischen Interesse erfolgt. Das
ist freilich bei Lesbos unmöglich, da wir viel zu wenig über die gesetz-
geberische Tätigkeit des Pittakos wissen, allein für Athen vermißt raaa
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 165
den Nachweis ungern, zumal N. hier wirklich einiges anführen konnte,
was für seine Ansicht zu sprechen scheint. Denn die Annahme des in
Korinth geltenden j\Iünzfnl.)es und die ganze Tendenz der athenischen
Gesetzgebung, die den ackerbauenden Stand entschieden auf Kosten
der handel und industrietreibenden Bevölkerung begünstigt, konnte
dem Herrn der Handels- und Industriestadt Korinth unmöglich unan-
genehm sein. Allein dies alles erklärt sich hinlänglich aus den inneren
Verhältnissen Athens und der damaligen Lage der merkantilen Inter-
essen von selber und jedenfalls genügt es nicht, um Solon als einen
Agenten, einen Bevollmächtigten des korinthischen Tyrannen zu be-
zeichnen; würde Solon wirklich in seinen Gedichten so scharfe Worte
gegen die Tyrannis gefunden haben, wenn er selbst nichts weiter war,
als ein Beauftragter des Periandros? Was aber endlich das zeitliche
Zusammenfallen der Anarchie in Athen mit dem Sturz der Kypseliden
betrifft, so stimmt erstens die Sache nicht ganz genau, denn nach Ar.
pol. Ath. c. 13 dauerte die Ruhe nach Solons Archontat vier Jahre,
d. h. also bis 589 oder 587, je nachdem man die Verfassung chrono-
logisch bestimmt, Periandros aber starb der überlieferten Chronologie
zufolge erst 585. Nun mag diese ja falsch sein — übrigens stellt sich
immer mehr heraus, wie notwendig eine umfassende Untersuchung über
die Chronologie des sechsten Jahrhunderts ist — , aber selbst wenn
Gleichzeitigkeit vorläge, gibt es denn wirklich kein Beispiel, daß re-
volutionäre Bewegungen von einer Stadt auf eine benachbarte über-
springen, ohne daß an einen derartigen Znsammenhang, wie ihn N. sich
vorstellt, zu denken wäre ? Die Geschichte der Julirevolution und der
Bewegung von 1848 bietet Belege genug, und so wird man, denke ich,
die Ergebnisse Niebuhrs bis jetzt wenigstens rundweg ablehnen müssen.
Immerhin haben seine Untersuchungen das Verdienst, auf die große
Bedeutung Peiianders und seinen Einfluß auf die Geschichte Griechen-
lands, der von manchen Forschern entschieden unterschätzt wird, von
neuem energisch hingewiesen zu haben, und auch den Spuren lydischer
und ägyptischer Politik würden wir bei genauerer Kenntnis dieses Zeit-
raums sicherlich viel häufiger begegnen, als gemeinhin angenommen wird.
Endlich gewähren auch die Bemerkungen Niebuhrs über die Rolle, die
Delphi in den finanziellen Verhältnissen Griechenlands gespielt hat,
manche interessanten Ausblicke, bei denen jedoch immer festzuhalten
ist, daß es sich vorab nur um Möglichkeiten handelt.
Inwieweit Athen von den großen Bewegungen der damaligen Zeit
in Mitleidenschaft gezogen wurde, das läßt sich kaum mehr feststellen :
daß die Angaben über seine Teilnahme am Heiligen Kriege jedenfalls
mit Vorsicht aufzunehmen sind, hat de Sanctis S. 254 ff. gezeigt.
Allerdings muß eine kräftige äußere Politik schon allein durch die
166 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
inneren Kämpfe verhindert sein, die bald nach Solons Archoatat von
neuem ausbrachen. Diese haben nicht nur zu der seltsamen Maßregel
geführt, einmal im Jahre 581/0 an Stelle des ersten Archon zehn Ar-
chonten zu wählen, die sich unter die drei Stände verteilten — auf diese
unzweifelhaft richtige Deutung von Ar. pol. Ath. 13, 2 sind unabhängig
voneinander de Sanctis S. 257 und Meyer, Forschungen II, 537 ff., ge-
kommen — , sondern sie haben sicherlich auch vor Peisistratos' ehr-
geizigen Leuten den Gedanken der Tyrannis nahegelegt. Nichts anderes
beabsichtigte Daraasias, dessen Archontat Kirchner a. a. 0. auf 582/1
und das Polgejahr zu fixieren sucht, und an sich ist es durchaus wahr-
scheinlich, daß damals noch mehrere solche Versuche gemacht worden
sind. Es liegt daher in den allgemeinen Verhältnissen nichts, was der
Annahme Belochs (Rh. Mus. 1895) im Wege stände, daß der kylo-
nische Aufstand in diese Zeit zu setzen ist. Daß die überlieferte
Chronologie wertlos ist, weist de Sanctis S. 275 im Anschluß an Beloch
nach; auch über Theagenes haben wir keine bestimmten Angaben, und
das wahrscheinlichste bleibt doch immer, daß er erst nach Periandros'
Tod (585) in Megara aufkam. Anderseits macht de S. mit ßecht darauf
aufmerksam, daß wir über Kylon einen ausführlichen und in allen
Punkten einen durchaus wahrheitsgemäßen Eindruck machenden Bericht
haben, während wir über die Ereignisse des 7. Jahrhunderts, ja sogar
über Solon selbst, wenn man seine Gedichte ausnimmt, nahezu gar nichts
Sicheres wissen. Deutet dies schon auf eine spätere Zeit hin, so läßt
auch das Wiederaufleben des Krieges in Salamis, der diesmal durch
Peisistratos' Eingreifen glücklich beendet ward, vermuten, daß irgend
ein Grund für den Wiederausbruch der Feindseligkeiten vorlag, und da
konnte ja das Mißlingen der mit megarischer Hilfe versuchten Ver-
schwörung ganz gut den Anlaß gegeben haben. Paßt nun die Ver-
schwörung Cylons unzweifelhaft den Verhältnissen nach sehr gut in die
Zeit um 570 hinein, so hängt doch mit ihr noch eine zweite Frage zu-
sammen, die nach der Einsetzung der Naukrarien, deren Oberbeamte
in dem bekannten Bericht Herodots erwähnt werden. Daß die Erwäh-
nung der TipuTavte? TÜiv vauxpaptuv für ihre damalige Existenz beweisend
ist, selbst wenn sie wirklich die bei Her. ihnen zugedachte Holle nicht
gespielt haben, wie aus der stillschweigenden Berichtigung des Thuky-
dides (1, 126) hervorzugehen scheint, wird woiil keines Beweises be-
dürfen. Nun glaubt de S. p. 298 aus allgemeinen Erwägungen heraus
die Einrichtung der Naukrarien erst Peisistratos zuschreiben zu müssen,
und er ist daher geneigt, den Aufstand Kylons nach Peisistratos' 'Ver-
treibung anzusetzen. Allein dem widerspricht die ungezwungene Er-
klärung von Herodots Ausspruch, daß Kylons Attentat -po Trj; fTsiat-
aTpdtTou rjXixiTfjc geschehen sei: dies weist vielmehr ebenfalls in die Zeit
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 167
vor 560. Es fragt sich nun, wann die Naukrarien eing'esetzt sind. Die
alte (iberlioferuDg setzt sie noch vor Solou, aber allzu weit ins 6. Jahr-
hundert wird man sie schwerlich zurückverlegen dürfen, dagegen spricht
<^in wichlig-es Bedenken. Wie sich aus Pollux' (8, 108) Worten ergibt,
hatte eine jede der 48 Naukrarien ein Schiff zu stellen; dann aber
müßte also Athen bereits im 7. Jahrhundert eine Flotte von
48 Schiffen gehabt haben, eine für die damalige Zeit sehr erlicbliche
Seemacht — hat doch Korinth selbst im 5. Jahrhundert selten mehr
als 50 Schiffe unterhalten (vgl. Wilisch a. a. 0.). Man würde erwarten,
daß, im Besitz einer solchen Flotte, Athen im 7. Jahrhundert eine sehr
bemerkenswerte Eolle gespielt hatte, und da davon keine Spur vor-
handen ist, so wird nur die Annahme übrig bleiben, daß man die Ein-
setzung der Naukrarien als eine Maßregel des Adelsregiments be-
trachtet, die mit seinen verspäteten Expansiousbestrebungen im letzten
Jahrzehnt des 7. Jahrhunderts zusammenhing und später in Verfall
kam, bis sie unter der zielbewußten auswärtigen Politik des Peisistratos
wieder neues Leben gewann.
Nimmt man diesen Zusammenhang an, so muß die Wiederer-
oberung von Salamis kurz vor dem Sta.itsstreich des Pisistratos
augesetzt werden, dem sie den Weg zur Herrschaft bahnte; tatsächlich
kann sie auch nicht viel früher fallen, wie die Rolle der fünf Spar-
taner als Schiedsrichter zeigt: erst kurz vor der Mitte des 6. Jahr-
hunderts beginnt sich spartanischer Einfluß am Isthmos geltend zu
machen. Mit der endgültigen Eroberung der Insel hängt nun aber eine
Reihe von Fragen zusammen, die sich auf den ältesten uns erhaltenen
attischen Volksbeschluß CIA. IV, 2, la. IV, 3, 1 beziehen. Zunächst
hat Wilhelm in dem angeführten ^Aufsatz aus den Mitt. durch Wieder-
herstellung der richtigen Lesart oixsv ia 2aXa[j.rvi (^ eav 'S,a'k'X[ivn) statt
SV 2aXa[xrvt, wie man meist mit Annalime eines Versehens las, die Sache
dahin festgestellt, daß es sich bei dem Beschluß nicht um die athe-
nischen Kleruchen, sondern um die früheren Einwohner handle, deren
Rechte hier i^mschrieben werden. Eine solche Festsetzung aber wird
wahrscheinlich doch — das ist Judeich a. a. 0. zuzugeben — bald
nach der endgültigen Wiedereroberung der Insel, also zwischen 570 — 560,
vor sich gegangen sein. Dagegen spricht nur eines: A. Wilhelm, der
als der beste Kenner altattischer Inschriften gelten kann, möchte das
Dekret dem Schriftcharakter nach in die spätere Zeit des 5. Jahrhun-
derts näher an Kleisthenes heransetzen, und so ergeben die beiden An-
sätze vorderhand eine Abweichung von 40 bis 50 Jahren. Nun wäre
es ja möglich, daß der Beschluß erst bei Gelegenheit späterer Nach-
schübe von Kolonisten — solche haben unzweifelhaft stattgefunden (Ti-
modemos v. Acharnai Schol. Pind. Nem. II, 19) — erlassen worden ist,
168 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
um die Rechte der alten Bewohner zu schützen; auch sieht das Verbot
der Verpachtung- des Loses so aus, als ob damit Mißstände beseitigt
werden sollen, die sich im Lauf der Zeit herausgebildet haben. Wenn
de S. (p. 350) dagegen geltend macht, die Insel könne erst nach Kiei-
sthenes mit Kleruchen besiedelt sein, da die doit wohnhaften Athener
kleisthenische Demotika tragen, während der Gesetzgeber sonst doch
wohl eigene Demen auf Salamis eingerichtet hätte, so kann dies Be-
denken doch auch in seinen Augen nicht allzu schwer wiegen, da das-
selbe von Lemnos und Imbros gilt, deren Besiedelung er im Anschluß
an Meyer, Forschungen I, 15 ff. in Peisistratos' Zeit verlegt (S. 291),
Wenn aber dort die nachträgliche Annahme der kleisthenischen Demeu-
einteilung statuiert wird, warum nicht auch in Salamis? Staatsrechtlich
interessant wäre bei diesem Sachverhalt immerhin, daß auch das ganz
nahe gelegene Salamis nicht als athenischer Laudesteil, sondern als eine
Außenbesitzung so gut wie jene weiter entfernten Inseln angesehen
worden ist.
Etwa mit dem Jahre 560 beginnt dann in Athen die Herrschaft
des Peisistratos; allein gleich der Anfang ist nicht sichergestellt, da
es bei dem Schwanken des Ausgangsjahres im Marmor Parium zwischen
263 und 264 nicht sicher ist, ob Komeas 561/0 oder 560/59 das Ar-
chontat bekleidete, auch Kirchners Ausführungen zugunsten des Jahres
263 in dem mehrfach erwähnten Aufsatz haben m. E. die Unsicher-
heit nicht beseitigt. Dazu kommt nun, daß Aristoteles' Angaben nicht
übereinstimmen; in der Politik 1315 b. 30 beziffert er die Regierung
des Peisistratos auf 33 Jahre, davon 17 wirklicher Herrschaft, die der
Söhne auf 18, so daß als effektive Gesamtregierung 35 herauskommt.
In der pol. Ath. c. 17 gibt er allerdings dem Peisistratos dieselbe Ge-
samtzahl, aber 19 Jahre effektiver Herrschaft; die Söhne regieren nach
c. 19 Ende 17 Jahre; die Gesamtzeit aber vom Staatsstreich unter
Komeas bis zur Vertreibung unter Harpaktides dauert 49 Jahre.
Immerhin ist der Widerspruch nicht so groß, wie es zuerst den An-
schein hat; begann die Regierung des Peisistratos unter Korneas 560/59
und starb er im Jahre des Philoneos 528/7, so sind das mit iuklusiver
Zählung der Endtermine 33 Jahre. Dieselbe Zählungsart, auf die Re-
gierung der Söhne augewandt, ergibt von 528/7 bis 51 1/0 (Harpaktides)
allerdings 18 Jahre: dies die Rechnung in der Politik, wo eine ganz ge-
naue Berechnung für Aristoteles' Zwecke unnötig war. Anders lag die
Sache in der Verfassungsgeschichte Athens, wo es ihm auf Genauigkeit
ankam, und hier erkläien sich die überlieferten Zahlen am besten durch
die Annahme Ed. Meyers (Forsch. II, 240 ff.), daß Peisistratos' Staats-
streich in die zweite Hälfte des Komeasjahres (Frühling 559), sein Tod
noch unter Philoneos (Anfang Sommer 527), die Vertreibung der Söime
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 109
Anfang- 510 unter Harpaktides (511/0) fiel. Alsdann hatte Pislstratos
kurz vor seinem Tode sein 33. Regierungsjahr angetreten, Hippias re-
p'.orte nicht ganz 17 Jahre und die wirklich verflossene Zeit vom Staats-
streich bis zum Sturz Frühling 559 bis Frühling 510 betrug genau 49
Jahre. So weit läßt sich Übereinstimmung erzielen; allein es bleibt der
Widerspruch, daß nach der Politik Peisistratos' wirkliche Herrschaft 17
nach der pol. Ath. aber 19 Jahre gedauert hat und gerade die Kapitel der
pol. Ath., die hierüber Aufschluß geben könnten (14 und 15), befinden
sich in einer heillosen chronologischen Verwirrung, au der bisher auch
die scharfsinnigsten Hypothesen zuschauden geworden sind. Die Haupt-
sache ist, daß die zweimalige Verbannung des Peisistratos keines-
wegs sicher erscheint; sowohl de Saudis (S. 266) wie Ed. Mej'er
(Forsch. II, 248) haben sich mit guten Gründen für Belochs Ansicht
entschieden, wonach hier eine Dittographie vorliegt und Pisi.stratos in
Wirklichkeit nur einmal vertrieben ist, Schwierigkeiten macht nur die
chronologische Bestimmung der Verbannung. De S. hält als Jahr
der Vertreibung das des Hegesias fest (556/5, da er Komeas auf
561/0 fixiert) und rechnet nach Her. 1, 61 für das Exil 10 Jahre; da-
nach sei also Peisistratos 546/5 zurückgekehrt. Eine weitere Bestäti-
gung sieht er in Her. 5, 65, wo die Regierungszeit des Peisistratos und
seiner Sohne auf 36 Jahre normiert wird, indem er meint, es sei hier
von dem zusammenhängenden Regiment der Peisistratiden von der Rück-
kehr 546/5 bis zur Vertreibung Frühling 510 die Rede. Völlig unab-
hängig von de Sanctis, aber in allem wesentlichen übereinstimmend hat
auch Meyer, Forsch. II, 248 ff. die Chronologie der Peisistratidenzeit
behandelt, wobei er aus allgemein historischen Gründen eine möglichst
lange Dauer für die zweite Herrschaft des Peisistratos fordert. Allein
die de Sanctis- Meyersche Hypothese steht nicht nur mit den Angaben
über die Gesamtdauer von Peisistratos' effektiver Herrschaft in Wider-
spruch, sondern auch mit der durchaus glaubwürdigen Angabe Herodots
1, 63, daß Peisistratos' Söhne in der Schlacht von Pallene, die nach
de Sanctis-Meyer ins Jahr 546 fällt, sich an der Verfolgung beteiligten ;
denn da Hippias, unzweifelhaft doch der älteste, noch 490 bei Marathon
mit dabei war (Her. 6, 103), so kann er nicht wohl vor 560 geboren
sein, war also zur Zeit der Schlacht von Pallene höchstens 14 Jahre
alt. Andererseits liegt kein Grund vor, mit de S. 273 die Wahrheit
von Herodots Angabe zu bezweifeln, und so bleibt immer eine ungelöste
Schwierigkeit zurück. Aber vielleicht verschwindet auch diese, wenn
man Belochs Hypothese konsequent durchführt. Ist tatsächlich die
doppelte Verbannung des Pisistratos nur dadurch entstanden, daß zwei
selbständige Versionen nebeneinander gesetzt wurden, so liegt es
nahe, dasselbe auch als Giund der chronologischen Verwirrung in
170 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Ar. pol. Ath. c. 14 und 15 anzanehmen. Hier werden folgende Daten
gegeben :
Beginn der Tyi'annis unter Korneas 560/59.
Erste Verbannung l'-ei e/.z(o unter Hegesias.
Erste Rückkehr erei ocoosy.aTco.
Zweite Verbannung l'rsi ixaXtJxa ej^oojico.
Zweite Rückkehr evosxäTw erst.
Tod des Peisistratos 33 Jahre nach Korneas unter Philoneos 528/7.
Nimmt mau nun an, daß hier die Vermischung' zweier Versionen
vorliegt, sowie daß in beiden als feste chronologische Punkte nur Pei-
sistratos' Anfang- und Tod unter Korneas und Philoneos fixiert waren,
so lassen sich die Versionen selbst folgendermaßen rekonstruieren. Die
eine gab an, daß P. im 6. Jahr nach dem Staatsstreich vertrieben
ward und daß sein Tod im 11. Jahr nach seiner Rückkehr erfolgte;
offenbar kam es ihr darauf an, die Dauer der wirklichen Regierung
festzustellen und ihr zufolge hat Aristoteles in der Politik die Dauer
der effektiven Herrschaft auf 17 Jahre berechnet. Die zweite Version
legte die Verbannung in das 7. Jalir nach dem Staatsstreich, seinen
Tod ins 12. Jahr nach der Rückkehr, so erklären sich die 19 Jahre
effektiver Regierung bei Ar. pol. Ath. 17, 1. Beide Versionen aber kommen
chronologisch auf dasselbe heraus, sobald man annimmt, daß die erste
die exklusive, die zweite die inklusive Zählung befolgte, dann fällt die
Verbannung in das 6. resp. 7. Jahr bei inklusiver Zählung, d. i. wenn
man Korneas auf 560/59 setzt, das Jahr des Hegesias oder 554/3, die
Rückkehr in das 11. bzw. 12. Jahr vor seinem Tod (528/7), das heißt
539/8. Jedenfalls sind das die Zahlen, auf die die attische Überliefe-
rung führt; ob sie historisch brauchbar sind, ist noch eine andere Frage.
Indessen erklärt die lange Verbannung 554'3 — 539/8 nicht bloß die
Angaben Herodots über das Alter der Söhne, sondern auch die Stim-
mung im Kriegsrat zu Eretria, wo offenbar die Bedenklichkeit des
alternden Vaters durch Hippias jugendlichen Ungestüm mitfortgerissen
ward (Her. 1, 61): das stimmt besser, wenn man die Schlacht von
Pallene, der doch jener Kriegsi-at unmittelbar vorherging, ins Jahr 539
als ins Jahr 546 setzt. Daß aber jene Konfusion der Zahlen in Ar.
pol. Ath. 14, 15 aus einer Vermischung der beiden Versionen hervor-
gegangen ist, scheint mir auch daraus sich zu ergeben, daß nur bei vier
von den wechselnden Phasen in Peisistratos' Leben die Dauer augegeben
ist; da nur vier Angaben vorlagen, so blieb die Läui^e der letzten
Herrschaft unbezeiclinet. Wie die Kontamination entstanden ist, w^age
ich nicht zu bestimmen; ^ie dein Aristoteles selber auf die Rechnung
zu setzen, halte ich mit Wilamowitz (Arist. und Atlicn I, 17) für un-
möglich.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 171
Allerdings wird durch die oben gegebenen chronologischen An-
sätze die letzte Regierung des Peisistratos auf etwa 1 1 Jahre verkürzt
und das erscheint etwas wenig, wenn man die gewaltige Wirksamkeit
des Mannes bedenkt, der überall den Grund zu der späteren Macht-
stellung Athens im 5. Jahrhundert gelegt hat (Meyer a. a. 0. S. 247).
Die Wiedereroberung Sigeions, die Kolonisation von Lemnos und Irabros,
die Unterstützung des älteren Miltiades auf der thrakischen Chersones,
alles dies sicherte Athen die wichtige Einfahrt in den Hellespont; Rhai-
kelos gab eine gute Position an der thrakischen Küste und die Be-
ziehungen des Tyrannen zu Naxos und Sanios verschafften ihm be-
deutenden Einfluß irn südlichen Ägäischen Meere, während die Demüti-
gung Megaras und die dauernde Besetzung von Salamis der Stadt ihre
beherrschende Stellung im Saronischen Golf garantierte. Alles das be-
weist, daß Peisistratos sich die Weiterentwickelung Athens hauptsächlich
auf maritimem Wege dachte, und annähernd zehn Jahre lang ist Hippias'
Politik durchaus den Spuren des Vaters gefolgt. Die entscheidende
Wendung — das hat de Sanctis S. 295 richtig gesehen — trat ein, als
Hippias 519 sich entschloß, das Hilfsgesuch der Plataier anzunehmen
und damit eine Ausdehnung des athenischen Einflusses nach Mittel-
griechenlaud vorzubereiten. Damit verließ er die rein maritime Politik
des Vaters, der es verstanden hatte, fast mit allen größeren Land-
mächten, mit Thessalien und Argos so gut wie mit Sparta und Boiotien,
gute Beziehungen zu pflegen. Die nächste Folge war die bittere Ver-
feindung mit Theben, das vor allem seinem Vater den Weg zur Rück-
kehr gebahnt hatte. Wie viel gerade sie zum Sturz des Tyrannen bei-
getragen hat, das hat de S. bei alier Kürze S. 296 sehr richtig ent-
wickelt.
Über die Ermordung des Hipp archos geben bekanntlich Thu-
kydides und Aristoteles verschiedene Berichte, indem bei diesem es
Thessalos ist, der den eigentlichen Anlaß zur Verschwörung gibt. Mit
Recht schließen sich de S. S. 309 und Bury (S. 205) der Version des
Thukydides an und seiner Auffassung, wonach die Verschwörung wesent-
lich auf Privatrache beruhte. Den Einwurf, daß dann die Demokratie
die Verschwörer nicht als ihre Heroen und als Begründer ihrer Freiheit
g-efeiert haben würde, weist er bezeichnend mit den Worten ab: „in
Wahrheit hat dies Argument wenig Beweiskraft für uns, die wir täglich
sehen, aus welchem Schmutz die Revolution ihre Helden bildet." In-
dessen stimmte Thukydides' Bericht wenig zu dem Idealbilde, das man
sich später von Hipparchos machte, wie es in Piatons Hipparch zutage
tritt, und von diesem beeinflußt, hat dann die spätere Geschichtschreibung,
der Aristoteles folgt, den angeblich unechten Sohn zu dem eigentlichen
Missetäter gemacht, um das Andenken Hipparchs zu entlasten. Zum
172 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Sturz hat jedenfalls die Empörung nichts beigetragen; er ist haupt-
sächlich durch die Alkmeoniden unter Kleisthenes mit spartanischer
Hilfe erfolgt.
Die Verfassung des Kleisthenes wird gewöhnlich als die Voll-
endung der Demokratie betrachtet, nicht ganz mit Recht, wie de S.
hervorhebt. Die äußerlich am meisten hervortretende Veränderung ist
die Neueinteilung des Volkes in 10 Phylen und 100 Demen, die mit
einer umfassenden Aufnahme von Neubürgern Hand in Hand ging. Die
Aufstellung der neuen Bürgerlisten muß unmittelbar auf den Erlaß der
Verfassung gefolgt sein und dieses wäre nach de S. p. 326 der erste
öia'l'TjcpiafjLo?, den Ar. pol. erwähnt. Allerdings muß das Verfahren dem
bei den späteren oia^jyYjcptJsij beobachteten ziemlich ähnlich gewesen sein,
und so würde sich der Widerspruch lösen, den Beloch (Gr. Gesch. 1, 334)
zwischen der genannten Stelle und Ar. pol, 1275 b gefunden hat. Allein
der Kern von Kleisthenes' Reformen ist die Einsetzung des Rates, wo-
mit er eben jene Zentralbehörde geschaffen hat, die der solonischen Ver-
fassung fehlte. Die Wahl der Ratsherren erfolgte durchs Los (wahr-
scheinlich von Anfang au de S. 339) und es ist sehr wohl möglich,
daß von hier aus die Erlösung sich mehr und mehr auch auf die
Besetzung der Beamtenstellen ausdehnte, wie de S. a. a. O. meint;
die Anwendung des Loses beim Archontat 487/6 ist nach ihm die letzte
Phase dieser Bewegung. Um so stärker tritt die Bedeutung der ge-
gewählten Strategen hervor, und im Anschluß au Belochs attische Politik
entwickelt de S. (p. 339 f.), wie es kam, daß Rat und Strategen zu
der beherrschenden Stellung im 5. Jahrhundert gekommen sind, bis
dann mit dem 4. Jahrhundert Volksversammlung und Redner au ihre
Stelle treten. Das wenige, was wir von der Volksversammlung unter
Kleisthenes wissen, hat de S. S. 345 zusammengestellt; daß ihre Tätig-
keit nur beschränkt war, hat er mit Recht aus allgemeinen Erwägungen
geschlossen. Kleisthenes hat sehr wohl gesehen, daß die Entwickelung
zur Seeherrschaft die Theten ans Ruder bringen und der Volksver-
sammlung die Gewalt in die Hände spielen müsse, um das zu verhindern,
hat er die festländische Politik verfolgt, die Hippias durch das Bündnis
mit Plataiai inauguriert hatte. Daher hat er die Macht des Demos
beschränkt und den Zutritt zu den Ämtern nur den drei obersten
Klassen, den oirXa :Tap£-/&[j.£voi gestattet; auf sie mußte Athens Macht
begiündet werden, wenn es eine kraftvolle Landpolitik treiben wollte.
Die Korinther wußten sehr wohl, was sie taten, als sie Kleomenes'
Rachezug gegen Athen durch ihre Weigerung vereitelten; dies Athen
konnte ihnen nicht gefährlich werden, während sie seine maritime Ent-
wickelung unter Peisistratos sicher mit geheimer Sorge betrachtet
haben. Daß dann doch alles anders kam, lag an dem wachsenden
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschaii.) ]73
Übergewicht Aiginas und dem Herandrängen der persischen Weltmacht.
Beiden zu widerstehen war nur durch eine starke Flotte möglich, und
daß Athen nach kurzem Schwanken entschlossen wieder in die von
Peisistratos vorgezeichnete Bahn der Entwickelung zur Seemacht einge-
lenkt hat, das ist das Verdienst des größten Staatsmannes, den Hellas
hervorgebracht hat, das Veidienst des Themistokles.
Drittes Kapitel.
Die Perserkriege
und das Emporsteigen der attischen Seemacht.
500-431.
Ed. Meyer, Geschichte des Altertums. (GdA.) Bd. III, IV,
1—272.
Ed. Meyer, Forschungen zur Griechischen Geschichte. Bd. 11.
Halle 1899.
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Prasek, Forschungen zur Geschichte des Altertums. III. Zur
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Kießling, zur Geschichte der ersten Regierungsjahre des Da-
reios H3'staspes. Leipziger Diss. 1900.
Swoboda, Artikel Dareios und Datis in Pauly - Wissowas
Realencyklopädie.
Niebuhr, Einflüsse oriental. Politik auf Griechenland im 6. und
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Bury, the epicene oracle concerning Argos and Miletus. Beitr.
z. alt. Geschichte 1902. II, 14—25.
"Wachsmnth, Bemerkungen zu griech. Historikern. Rhein.
Mus. 56 (1901) 220 fi. (über Herod.).
174 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Köhler, der thukydideische Bericht über die oligarchische Um-
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S. 803—817.
Munro, J. A. R., Some observations on the Persian wars.
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Poucart, P., Les constructions de TAcropole d'apres T Anonymus
Argentinensis in Revue de philol. 1903 p. 1 — 12,
Bannier, Wilh., Die Tributeinnahmen des attischen Staates.
Rhein. Mus. Bd. 54 (1899) S. 544—54.
Mit dem Beginn der Perserkriege setzt der dritte Band von
Eduard Meyers Geschichte des Altertums ein, die er in zwei weiteten
Bänden bis zum Ende des Bundesgenossenkrieges und zur Vernichtung
des von Dionys I. auf Sizilien geschaffenen Reiches hinabgeführt hat.
Bei der fundamentalen Bedeutung des Werkes wird es sich nicht ver-
meiden lassen, daß der Gang der Berichterstattung von nun au sich
vorwiegend an Meyers Darstellung anschließt, um wenigstens die haupt-
sächlichen Ergebnisse zur Sprache zu bringen, durch die M. unsere
Kenntnis der griechischen Geschichte bereichert hat. Allein es ist
natürlich, daß dabei die streitigen Punkte vor allem zu berücksichtigen
sind, und so möchte ich, um jeden falschen Schein zu vermeiden, von
vornherein hier bemerken, daß ich Meyers Werk für die beste neuere
Bearbeitung der griechischen Geschichte überhaupt halte: ganze Partien
sind durch Beloch und ihn auf neue Grundlagen gestellt worden, so
daß auch die Einzelforschung sich fortan stets au seiner Darstellung
wird orientieren müssen.
Es ist ein altes Herkommen, die Vorgeschichte des persischen
Reiches an der Stelle zu behandeln, wo die Perser zum erstenmal be-
stimmend in die Geschicke Griechenlands eingreifen, und so beginnt
auch M. mit einer Darstellung der politischen, administrativen und
kulturellen Verhältnisse Persiens, die zum Teil auch die Folgezeit be-
rücksichtigt und als die beste Zusammenfassung unserer Kenntnisse auf
dem Gebiet der eranischen Geschichte betrachtet werden kann. Die
Anfänge des Reiches sind bereits im ersten Bande der GdA. erzählt:
Jahresbericlit über griechische Geschichte. (Lenschau.) 175
für ^ie sind von besonderer Wichtigkeit die chronoloi,'ischen Unter-
suchungen zur persischen Königsreihe (Forsch. II, 437 — 502), die zu-
gleich eine gute Einführung in die antike Chronologie bilden. Die Er-
gebnisse der ungemein mühevollen und mit Benutzung des gesamten
keilschriftlichen Materials geführten Untersuchung hat M. selbst auf
S. 501 f. zusammengefaßt; unter ihnen ist vor allem die Fixierung der
Einnahme Babylons durch Kyros auf den 10. Okt. 539 zu erwähnen.
Ermöglicht wird sie durch eine glänzende Konjektur in den Nabonned-
anualen, wo M. die Monatsbezeichnuug Tammuz durch Tisri ersetzt
(S. 469), ein "Vorschlag, der mittlerweile auch Prascheks Zustimmung
gelur.dcu hat (S. 6). Überhaupt kommt dieser auf anderem Wege,
indem er Peisers Ausetzung auf das Jahr 540 ablehnt, zu wesentlich
demselben Ergebnis wie Meyer; dagegeu stimmen beide Forscher nicht
in der Datierung von Kyros' Tod überein, der nach Praschek (S. 4)
noch im Jahre 530, nach Meyer dagegen erst im Frühjahr 528 eintrat.
Die Sache beruht darauf, daß die nach Kuras sär Babili sär mätäti
(Kyros, König von Babel, König der Länder) datierten babylonischen
Kontrakttäfelchen in ununterbrochener ßeihe bis zum 24. Tammuz
(Juni/ Juli) des 9. Regierungsjahres gehen, d. h. des Jahres 530, da das
erste Jahr des Kju-os mit postdatierender Fortlassung des Antrittsjahres
vom 1, Nisan 538 {= 20. März 538) rechnet, während schon mit dem
12. Ab. 530 die Datierung nach dem Antrittsjahr des Kambuzi-i-a sär
Babili sär mätäti eintritt. Daraus schließt nun Praschek, daß eben der
Tammuz (Juni/ Juli) der Sterbemonat des Kyros gewesen ist; wenn in
unleugbar späteren Kontrakttäfelchen noch der Name des Kj^ros genannt
wild, so erklärt er das für eine gelegentliche Erwähnung (Forsch.
S. 2—3). Allein offenbar ist ihm das von Meyer erwähnte Täfelchen
(Straßmaier, Leid. Orient Kongr. n. 17) entgangen, das vom 21. des letzten
Monats im 10. Jahre des Kjtos, Königs v. Babel, König der Länder,
d. h. also noch vom Februar 528 datiert ist, und so wird man sich
wohl zu der von Meyer (Forsch. II, S. 471 f.) entwickelten Ansicht
bequemen müssen. Danach setzte Kyios bei seinem Mitte 530 erfolgten
Aufbruch gegen die massagetischen Skythen Kambyses zum K. von
Babylon ein, weshalb denn auch ganz richtig mit Postdatierung das mit
1 . Nisan 529 beginnende Jahr als erstes Jahr des Kambj'ses bezeichnet
wird; allein erst im Frühjahr 528 hat er im Kampfe seinen Tod ge-
funden. Demgemäß fällt der Anfang seiner Regierung in den Herbst
558/7, da es wahrscheinlich ist, daß die von Her. 3, 67 gegebenen
Zahlen etwa durch Dionysios von Milet auf eine persische offizielle
Quelle zurückgehen, die nach dem mit dem Herbst beginnenden persischen
Jahre zählt. Die übrigen chronologischen Ergebnisse Meyers werden
nach und nach Erwähnung finden.
"1 76 Jahresbericlit über griechische Geschichte. (Lenscbau.)
Über den Anfang von Dareios' ßegiening berichtet die Inschrift
von Behistun , deren kürzlich von Winkler und Rost angefochtene
Glaubwürdigkeit Praschek mit Glück verteidigt (Forsch. S. 24—38).
Schwierig und unsicher bleibt die Chronologie der Inschrift, deren
Satrapienverzeichnis mit dem auf der Inschrift Persepolis e und dem
von Naksch-i-Rustem zu vergleichen ist: jedenfalls fällt ihre Abfassung
nach dem Sk^thenzug, den Praschek auf 511/0 ansetzt (Forsch. S. 86 ff.),
womit auch Meyer (GdA. III, 114 f.) im ganzen stimmt, während
Kießling die Inschrift unmittelbar an das Ende der großen Aufstände,
d, h. in das Jahr 519 verlegt. Bei diesem Schwanken iü der An-
setzuug der Ereignisse sind die Ergebnisse Prascheks in der zweit-
genaunten Abhandlung von Wichtigkeit. Indem es ihm gelingt, die
Identität der persischen Monatsnamen Bagajädis und Garmapada mit
den babylonischen Ti.sri und Tammuz (auch Adakätiis-Marcheswan,
Markazaua-Sebat?) zu erweisen, konstruiert er auf Grund der genauen
Angaben in der Behistuninschrift folgende Anordnung der Begeben-
heiten: Kambyses' Tod 522, Ermordung des Usurpators Ti^ri, d. h.
September/Oktober 522, sofern in den Kontrakttäfelchen noch am
1. Tisri nach Bardes, am 17. aber bereits nach Nidiutubel-Nebu-
kadnezar datiert ist (Beitr. S. 43), also Antrittsjahr des Darius 522
bis zum 1. Nisan des Folgejahrs (Straßmaier 1 — 10). Dann von 522
— 514 die großen Aufstände, die mit dem Fall Babylons Oktober 5 14
im VIII. Jahre des Dareios enden. Dies Datum erschließt Pr. aus
der eigentümlichen Tatsache, daß in der Reihe der Kontrakttäfelchen
plötzlich vom 25. Adar des VI. bis zum 28. Ab. des VIII. Dareios -
Jahres eine große Lücke klafft: Der Grund ist nach Pr., daß infolge
der während der Belagerung herrschenden geschäftlichen Unsicherheit
die Tätigkeit des Egibischen Bankhauses unterbrochen und erst nach
der Einnahme Babylons kurz vor dem 28. Ab. des VIII. Dareiosjahres
wieder aufgenommen ward.
Danach ist also der Kießlingsche Ansatz der Inschrift 519 zn
verwerfen; sie fällt nach 514 und jedenfalls auch nach der Neuordnung
der Satrapien, jener wichtigen Neuerung des Dareios, auf der sich von
da ab die Verwaltung des Persischen Reiches begründet. Ihr hat Mej'^er
eine eingehende Untersuchung gewidmet (GdA. S. 68 ff.), die zu dem
Ergebnis kommt, daß die Satrapen auch das militärische Kommando
in ihren Bezirken haben: „sie sind gewissermaßen die Generale der
Armeekorps ihrer Provinz" (S. 74). Die gegenteilige Ansicht, daß
Dareios eine grundsätzliche Scheidung zwischen Militäi'- und Zivil -
gewalt vornahm und den Satrapen ausschließlich die bürgerliche Ver-
waltung zuwies, habe ich zuerst vor fünfzehn Jahren in den Leipziger
Studien XII, p. 13 ff. auszuführen gesucht und nach und nach mancherlei
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 177
Zustimmung gefunden, zuletzt bei Kießling und .Swoboda (Art.
Dareios bei Pauly-Wissowa); ich halte aber auch heute noch dies für
das wahrscheinlichere. Gerade die gewaltigen Aufstände im Anfang
seiner Regierung müssen Dareios darüber belehrt haben, wie gefährlich
es ist, die zivile und militärische Gewalt in einer Hand zu vereinigen;
insofern erwies sich ihm die Teilung der Gewalten als das sicherste
und einzige Mittel, die Wiederkehr dieser Zustände zu verhüten. Daß
das von seinen Nachfolgern nicht beachtet ward, daß schon unter Arta-
xerxes I. sich die Fälle mehren, wo der Satrap der Provinz zugleich
das militärische Oberkommando seiner Provinz erhält, das habe ich
schon damals zugegeben und ebenso, daß vor Dareios von dieser Teilung
keine Rede ist: insofern entbehrt ein großer Teil dei- von Meyer S. 72
geltend gemachten Stellen der rechten Beweiskraft. Die Mißbräuche
der späterer Zeit aber, die, wie ich überzeugt bin, hauptsächlich zum
Zerfall des Reiches beigetragen haben, schließen doch nicht aus.
daß Dareios sehr viel schärfer gesehen hat als seine Nachfolger, und
tatsächlich ist das Prinzip der Teilung wohl niemals vollständig ver-
gessen worden, wie daraus hervorzugehen scheint, daß Alexander gerade
in diesem Punkt auf den großen Organisator zurückgegriffen hat. In-
dessen hoffe ich auf diese Sache demnächst ausführlicher zurück-
zukommen.
Mit vollem Recht dagegen hat M. mehr als seine Vorgänger die
kulturelle Bedeutung des gewaltigen Reiches hervorgehoben, das
wenigstens in den ersten 150 Jahren seines Bestehens den in ihm ver-
einigten Völkern die Segnungen eines fast ungestörten Friedens, einer
geordneten und wohlwollenden Verwaltung, sowie einer weitgehenden
religiösen Toleranz verschaffte. Insbesondere kommen die Bemühungen
des Dareios um die Sicherung und den Ausbau der vorhandenen
Handelsstraßen (Suezkanal, Fahrt des Skylax S. 96 ff.) zur Darstellung,
und eingehend wird nicht nur Religion und Kunst des herrschenden
Volkes (S. 115 ff.), sondern auch die Ent Wickelung der übrigen Nationen
(S. 128 ff.) im Reiche der Achaemeniden geschildert, das somit zuerst
unter allen geschichtlichen Bildungen mit einem gewissen Recht den
Anspruch auf den Namen eines Weltreichs erheben kann. Doch ist
hier ein Unterschied nicht zu übersehen, den M. andeutet, den aber
erst Kaerst in seinem Vortrag Die antike Idee der Oekumene (Leipzig
1903. S. 30 Anm. 15) ins rechte lacht gesetzt hat. Trotz aller Uni-
versalität des Reiches ist eine dauernde Verschmelzung der unter der Perser-
herrschaft vereinigten Völker niemals möglich gewesen, da die Grund-
lagen jener Herrschaft durchaus nationaler Natur waren: die Perser
waren das Herrenvolk, das über die Untertauen gebot; daher auch
4ie bevorzugte Stellung der eranischen Provinzen im persischen Reichs-
Jahresbericht für Alterhimswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 12
178 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
verband (vgl. Meyer, GdA. III, S. 30 ff. 110). Niemals ist wie im
Reiche Alexanders oder im späteren römischen Reich die Gleich-
berechtigung auch der Unterworfenen, der Kosmopolitisnms zum Prinzip
erhoben, und schon aus diesem Grunde mußte die Kultureinwirkung des
Perserreichs, das doch reichlich zwei Jahrhunderte bestanden hat, so
weit hinter der zurückbleiben, die Alexanders kurze Herrschaft auf die
Völker des Orients ausgeübt hat.
Mit dem Skythenzng des Dareios beginnen die engeren Be-
ziehungen des Perserreichs zur hellenischen Kultur, die innerhalb 20
Jahren zum Angriff auf das Mutterland geführt haben, und somit lenkt
hier die Darstellung M.s wieder in den Strom der griechischen Ge-
schichte ein , den sie am Ausgange des zweiten Bandes verlassen hat.
Passend steht daher an dieser Stelle GdA. III, 238 ff. eine Würdigung
der Quellen für den Zeitraum bis 431, wobei allerdings nur die Resultate
gegeben werden, während der Begründung im einzelnen der größte
Teil der Forschungen gewidmet ist (Bd. II, 1—87, 196—437). Unter
den Quellen, deren allgemeiner Charakter GdA. III, 258 ff. erörtert
wird, nimmt für die Perserzeit Herodot die hervorragendste Stellung
ein, und wenn auch die eigentliche Analyse seines Geschichtswerks
nicht an diese Stelle gehört, so müssen doch diejenigen Ansichten und
Tendenzen des Schriftstellers untersucht werden, die von wesentlichem
Einfluß auf seine Darstellung gewesen sind. Diesem Zwecke dient vor
allem Ms Untersuchung über Herodots Weltanschauung (Forsch. II,
252- 2G8, GdA. III, 245 ff".), in der er ihm seine Stelle in der Ent-
wickeluug des griechischen Geistes neben Sophokles zwischen Aischylos
und den Sophisten anweist. Statt des alten naiven Götterglaubens, um
dessen Wiederherstellung auf gereinigter Grundlage sich noch Asclu'los
bemüht, ist eine neue Weltanschauung aufgekommen, die auch Herodot
bekennt und deren Vertreter auf politischem Gebiete Perikles gewesen
ist: in ihrem Grundsatz, daß die Menschheit überirdischen Gewalten
unterworfen ist, die lediirlich nach ihren Launen die Welt i'egieren, er-
kennt man einen entschlossenen Realismus, der auf eine ethische Er-
klärung des Weltlaufs verzichtet und die Dinge hinnimmt, wie sie eben
sind. Sehr viel wichtiger für die Darstellung zunächst aber erscheinen
die politischen Tendenzen, die in dem Geschichtswerk zum Ausdruck
kommen. In der Art, wie Herodot sich zu den einzelnen griechischen
Staaten stellt, wie er die Spartaner mit Ironie von oben herab, die
Korinther und Thebaner mit unverhohlenem Haß, dagegen mit äußerster
Vorsicht die in nationalem Sinne doch sehr bedenkliche Haltung von
Thessalien und Argos behandelt, während Athens Verdienste bei jeder
Gelegenheit hervorgehoben werden, erkennt man mit M. (Forsch. II,
19G ff.) deutlich die politische Konstellation der ersten Jahre dea
Jahresbcriclit über {.'riecliische Goscliichte. (Lenschau.) I79
peloponnesischen Krieges, imd so ergibt sich, daß Herodot seiu Werk
wesentlich zur Verherrlichung des damals so viel verlästerten Athens
geschrieben hat, so jedoch, daß diese Tendenz seiner innersten tlber-
zeugung entsprach. Darum schließt eben das Werk auch mit der Er-
oberung von Sestos; die Begründung des Seebundes, der sich zu dem
viel verhaßten Reiche ausgewachsen hatte , mußte notgedrungen fort-
bleiben. Die Tendenz aber erklärt zugleich die begeisterte Aufnahme
des Werkes in Athen: offenbar haben die Athener das Werk eben-
sosehr als eine moralische Uuterstüizung in ihrem Kampfe empfunden,
wie die Engländer beim Ausbruch des Transvaalkrieges die Loyalitäts-
bezeugungen in Kanada und Australien. Wenn nun allerdings M.
weiterschließt, eben wegen dieser ausgesprochenen Stellungnahme zu-
gunsten Athens habe Herodot nicht in Thurioi bleiben können, sondern
sei nach Athen zurückgegangen, wo demnach auch die Entstehung des
Werks zu denken sei, so ist dem nicht ohne weiteres zuzustimmen.
M.s Argumente sind im einzelnen von Wachsmuth in dem oben-
genannten Aufsatz gewürdigt und im ganzen zuiückgewiesen worden.
Von sonstigen allgemeinen Tendenzen bei Her. hebt M. die Be-
vorzugung der Alkmeouiden hervor, die ihre Ergänzung in der ge-
flissentlichen Zurücksetzung ihres größten Feindes, des Thenüstokles
findet: sicherlich einer der am wenigsten sympathischen Züge des
Historikers. Daneben aber tritt deutlich die Absicht der Verherrlichung
des delphischen Orakels hervor, die M. nicht ganz übergehen durfte.
Hierin ist er in der Ablehnung der Ergebnisse C. Niebuhrs — denn
auf ihn zielt wohl die Bemerkung in der Vorrede des vierten Bandes
S. VIII — offenbar zu weit gegangen. Allerdings ist Niebuhrs Ansicht,
der in Her. schließlich nicht mehr als einen gewissenlosen Betrü^'er und
finanziellen Agenten der delphischen Priesterschaft sehen will , ja auch
nicht im entferntesten hinreichend begründet; aber das muß doch ge-
sagt w'erden, daß Her. den Erzählungen delphischer Priester eine recht
bedenkliche Leichtgläubigkeit entgegenbringt. — Übrigens ist M. in der
Annahme schriftlicher Quellen bei Her. (Forsch. H, 229 ff.) sehr vor-
sichtig; mit Recht wird Trautweins Dikaioshypothese verworfen und
auch bei Hekataios will M. nur eine Bekanntschaft, nicht eine Benutzung
zugeben (S. 233 A. 1). Eher möchte er eine Benutzung des Dionysios
v. Milet annehmen; was übrigens auch C. F. Lehmann Beitu'. z. alt,
Gesch. II, 334 — 40 befürw'ortet. Woher das Satrapien Verzeichnis in
3, 90, die Beschreibung der Königstraße 5, 52 und das Heer des Xerxes
7, 21 — 131 stammen, ist zweifelhaft; doch gehen alle diese Stellen auf
ein vorzügliches, vielleicht amtliches Material zurück, aus dem sie voll-
ständig übernommen sind. Für die ältere Zeit liegen vielfach, wie au
der Geschichte des Atys 1, 34 nachgewiesen wird, Erzählungen orienta-
12--^--
180 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
lischer Geschichtenerzähler (XoYOTrotot) vor, in deren Munde jene Ge-
schichten bereits ein ganz bestimmtes, auch bei Her. noch kenntliches
Gepräge erhalten haben. Aus diesem allen ergeben sich die Grundsätze
für die Benutzung Herodots, die in GdA. III, 242 kurz zusammen-
gefaßt sind.
Für die Zeit nach den Perserkriegen bis zum Beginn des pelopon-
nesischen Krieges bietet sodann Thukydides das sicherste Material, und
so empfiehlt es sich, gleich hier die Erörterung über seinen Wert als
Quelle anzuschließen, zumal die daiauf bezüglichen Untersuchungen zu
dem Besten gehören, was M. geschrieben hat (Forsch. II, 269—436).
Bekanntlich hat uns die Auffindung der athenischen Politie des Aristoteles
in den Stand gesetzt, an zwei Stellen , in der Geschichte voa der Er-
mordung Hipparchs und in der Darstellung der Parteikämpfe von 411,
Thukydides Erzählung an Aristoteles zu prüfen, und die Sache wird
dadurch nur interessanter, daß Ar. offenbar an beiden Stellen gegen
Thuk. polemisiert, obwohl er seineu Namen nicht genannt hat. Was
die Ermordung Hipparchs betrifft, so ist man jetzt wohl allgemein der
Ansicht, daß hier bei Thuk. und Ar. zwei verschiedene Berichter-
stattungen vorliegen, die an sich beide nicht einwand^frei sind, daß
dagegen Thuk. Bericht im ganzen noch der bessere ist; die entscheidende
Bedeutung, die noch Wilamowitz Ar. und Ath. I, 109 dem Waffen-
trageu beimaß, wird jetzt bedeutend geringer eingeschätzt. Immerhin
würde, auch wenn Ar. Bericht sich als der bessere erweisen sollte, das
für Thuk. Glaubwürdigkeit noch nicht entscheidend sein, da es sich bei
ihm nur um eine gelegentliche Erwähnung handelt: gleichsam im Vor-
übergehen hat er die athenische Überlieferung berichtigen wollen, da
er, vielleicht irrigerweise, die ihm bekannte Version für zuverlässiger
hielt. Dagegen greift die Erörterung über die Vierhundert an die
Grundfesten der Glaubwürdigkeit des Thuk.; w'enn er sich hier bei
Vorgängen, die recht eigentlich zu seinem Thema gehören, mangelhaft
oder gar falsch unterrichtet zeigt, so kann ihm dasselbe natürlich zehn-
oder zwanzigmal im Verlauf seines Werkes passiert sein, und seine
Berichterstattung hätte ebensowenig Anspruch auf die hohe Zuverlässig-
keit, die wir ihr beimessen, wie die irgend eines anderen zeitgenössischen
Historikers. Daß dem nicht so ist, daß Thuk. vielmehr seine ganz
einzige Stellung als Geschichtsschreiber behält, das hat Meyer m. E. in
der Abhandlung über den Sturz der 400 nachgewiesen (Forsch. II,
406—437), die ich deswegen auch für den Kern seiner Thukydides-
forschung halte.
Bekanntlich gibt Ar. eine Reihe von unanfechtbaren Aktenstücken,
die eine ganze Menge von größeren oder geringeren Abweichungen ent-
halten und deshalb seiner Ansicht nach genügten, die Darstellung seines
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 181
Vorgängers als falsch zu erweisen. Genügen sie aber dazu auch wirk-
lich? Schon Wilamowitz hat hier vorübergehend den richtigen Gedanken
geäußert: das, was in einer solchen Zeit geschieht, ist wirklich nicht
mit dem erschöpft, was in die Akten kommt (Ar. u. Athen I, 109).
Da setzt auch II. ein und deckt nun vor allem die IJnwabrscheinlich-
keiten in dem aristotelischen Bericht auf, die darin gipfeln, daß nach
ihm von 14.— 22. Thargelion (8. — 17. Juni) 411 tatsächlich ein Rat
d. h. eine Regierung überhaupt nicht existiert habe. Sodann weist er
im einzelnen nach, wie die Dokumente des Ar. eben nur die offizielle
Darstellung geben, der natürlich daran lag, die ganze Umwälzung, die
zweifellos in revolutionärer Form vor sich ging, als eine möglichst
harmlose und eigentlich ganz gesetzlich verlaufene Sache darzustellen.
Dazu gehölt auch die Berufung der Fünftausend, deren Wahl und Zu-
sammenberufung Ar. berichtet, während Thuk. entschieden leugnet, daß
sie jemals zusammengetreten. Bei schärferem Hinsehen aber erkennt
mau deutlich, daß Ar. sich über diesen Punkt sehr widerspruchsvoll
ausdrückt, ja c. 32, 2 sagt er direckt X6-{w |j.6vov vjps&Tjjav, womit er
in die thukydideische Darstellung einlenkt. Demgegenüber gibt Thuk.
eine Darstellung der Ereignisse, wie sie sich ihm nach seinen Er-
kundigungen auf Grund vor allem seiner Kenntnis der Verhältnisse
und Parteiführer darstellen müßte, eine Darstellung, die in jeder Hin-
sicht das Gepräge der Wahrheit trägt und jedenfalls nicht durch offizielle
Dokumente von der Art, wie sie bei Ar. vorliegen, widerlegt werden
kann. Ja, noch mehr, an einzelnen Stellen schimmert, wie M. zeigt
(S. 418 A. 2. S. 420) sogar noch die Bekanntschaft mit den von Ar.
ans Licht gezogenen Aktenstücken duich, die also Thuk. als offizielles
Machwerk erkannt und demgemäß nicht berücksichtigt hat. Um so
weniger fallen kleine üngenauigkeiten ins Gewicht, wie sie U. Köhler
in seiner gegen M. gerichteten Abhandlung mit Benutzung des aristote-
lischen Materials Thuk. nachzuweisen sich bemüht, indem schließlich das
eine oder andere Versehen in Nebendingen sicherlich entschuldbar ist.
Keineswegs aber genügt das vorhandene Material. Thuk. der Nachlässig-
keit oder der Verwendung ungeeigneter Informationen zu beschuldigen:
scheinbare Lücken in der Darstellung, die man mit dem unfertigen Zu-
stand des 8. Buches hat entschuldigen wollen, beruhen darauf, daß Thuk.
überhaupt nicht alles berichten will, sondern, wie überall, eine sorg-
fältige Auswahl der Geschehnisse getroffen hat.
Damit aber kommen wir auf eine Grundfrage der Thukjdides-
kritik überhaupt, auf die Frage nach den Grundsätzen, die Thuk. bei
der Abfassung seines Werks geleitet haben, und auch hier hat M. mit
sicherer Hand S. 362 — 406 diese Prinzipien gekennzeichnet. Schlechter-
dings nur das historisch Wirksame will Tliuk. berichten, und daher
182 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
kommt es, daß er manche Ding-e gar nicht erwähnt, die wir bei ihm
zu finden erwarten und deren Auslassung besonders im fünften Bucb
man abermals mit mangelndem Abschluß der Darstellung hat erklären
wollen Vielmehr tritt hier jenes Prinzip der Darstellung hervor, an
das Thuk. sich mit unverbrüchlicher, wenn auch, wie M. zugibt, manch-
mal zu weit gehender Strenge gehalten hat. Auch Persönlichkeiten hat
er nur insoweit dargestellt, als sie zielbewußt und mit selbständigem
"Willen auf den Gang der Ereignisse eingewirkt haben : dann aber hat er
auch fast alles von ihnen beigebracht, auch wenn sie wie Nikias persön-
lich unbedeutend waren und nur durch die Macht der Verhältnisse in
eine politische Rolle gedrängt wurden. Dagegen ist ihr persönliches
Schicksal dem Geschichtschreiber gleichgültig; wo ihre Wirkung auf-
hört, schwindet auch sein Interesse an ihnen und nur zugunsten des
größten Hellenen, den er kannte, des Themistokles, hat er eine Aus-
nahme gemacht, indem er seine persönlichen Schicksale auf persischem
Boden mitgeteilt hat. Nicht anders steht Thuk. den Massen gegen-
über, die zwar in dem Ringen der intellektuellen Kräfte um eine
historische Entscheidung keine selbständige Rolle spielen, die aber mit
ihren Impulsen und Stimmunaren sich bei jedem Ereignis bald hemmend,
bald fördernd geltend machen. Allein da alles dies sich ewig wieder-
holt, kann es nicht immer wieder Objekt der Darstellung sein, und so
hat Thuk. sich begnügt, in der Zeit zwischen Perikles' Tod und der
sizilischen Expedition, wo wir von den inneren Zuständen Athens fast
nichts durch ihn erfahren, an drei ihm besonders wichtigen Stellen die
Stimmung der Massen zu schildern. Das sind die Vorgänge beim
mityleuischen Aufstand, bei den Verhandlungen nach der Einnahme von
Sphakteria, nach Thuk. dem Wendepunkt des Krieges, da Athen damals
die einzige Möglichkeit eines günstigen Ausgangs versäumte, und end-
lich bei den Verhandlungen mit den Meliern. Das Mittel, dessen Thuk.
sich überall bedient, sind bekanntlich die Reden, die durchweg nur
ideale, nicht ephemere Wirklichkeit haben. Nach alledem freilich ist
Thuk. nicht ein objektiver Historiker im gewöhnlichen Sinne. In allem,
was er sagt, ist sein Urteil schon drin und ebenso in dem, was er ver-
schweigt: daß aber völlige Objektivität im populären Sinne für einen
Historiker unmöglich ist, daran hat M. mit wahien und tretfendcn
Worten erinnert (S. 386 f.).
Es ist klar, daß bei dieser Auffassung der Grundsätze, die Thuk.
bei seinem Werke geleitet haben, ein großer Teil der Anstöße fortfällt,
die man in seiner Darstellung gefunden und seit Ullrichs Vorgange (1845)
bald durch Annahme einer gesonderten Heiausgabe einzelner Teile,
bald durch den Mangel einer letzten Überarbeitung erklärt hat. Dies
hat M. an einem Falle besondeis instruktiv entwickelt, an der Ansicht
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 183
Xirchhoflfs, wonach Thuk. die di-ei Urkunden des Waffenstillstandes,
des Friedens und des Bündnisses zwischen Athen und Sparta 421 bei
seiner Niederschrift nicht im Wortlaut gekannt und erst 404 nach seiner
Heimkehr in das Werk eingelegt habe, ohne doch die kleinen dabei
sich ergebenden Widersprüche ganz zu verwischen. Indessen gehört die
Einzelbesprechung dieser Dinge in den Jahresbericht über Thukydides.
Meyers Ansicht über die Entstehung des Werkes läßt sich dahin zu-
sammenfassen, daß Thuk. die Ausarbeitung einzelner Teile natürlich
gleichzeitig oder bald nach den Ereignissen begonnen bat, daß aber diese
vorläufigen Ausarbeitungen nach seiner Rückkehr von ihm wieder durch-
gearbeitet sind und daß er mit der endj^ültigen Fassung etwa bis Mitte
411 gelangt war, als ihn der Tod abrief. Wie dies im einzelnen ver-
treten wird, läßt sich hier nicht ausführen.' das aber ist nicht zu ver-
kennen, daß die sog. thukydideische Fräse, soweit sie sich auf die Ab-
fassung des Werkes bezieht, von M. auf eine ganz neue Grundlage
gestellt ist und jedenfalls einer erneuten Revision bedarf. Daß deren
Ergebnisse der von M. vertretenen Ansicht näher stehen wird, als der
von Ullrich inaugurierten Forschun^sweise, ist mir nicht zweifelhaft:
allein wie bei der homerischen Frage, die von Lachmanns kühnem
Vorstoß ausging, liegt der Wert derartiger Hypothesen, wie sie Ullrich
und seine Nachfolger aufgestellt haben, eben darin, daß sie durch die
zu ihrer Widerlegung aufgewandte Geistesarbeit jenes tiefere Verständnis
angebahnt haben, das für Thuk. Meyer in den besprochenen Aufsätzen
geschaffen hat.
Neben Herodot und Thukydides stehen als wichtigste zeit-
genössische Quellen die immer noch wachsende Anzahl von Inschriften
aller Art; von den übrigen Historikern dieser und der Folgezeit ist
außer Ephoros, von dem bei Diodor größere Partien im Wortlaut
vorliegen mögen, keine in der ursprünglichen Passung erhalten. Viel-
mehr ist uns nur der Niederschlag in der biographischen Literatur ge-
blieben, deren Hauptvertreter für uns Plutarch und Nepos in ihren
Lebensbeschreibungen sind. Eine von diesen, die Biographie Kiraons,
hat Meyer genauer untersucht (Forsch. II, 1 ff.) und dabei zunächst
festgestellt, daß die Darstellung der Eurymedonschlacht aus Kallisthenes'
Hellenika entnommen ist, der einen im wesentlichen zuverlässigen Be-
richt über dieses wichtige Ereignis gegeben hat, während Ephoros'
parallele Darstellung (Diod. XI, 60—62) ersichtlich durch das unter
Simonides' Namen gehende Epigramm der Anth. 7, 296 beeinflußt worden
ist. In Wahrheit aber geht dies Epigramm auf die letzte Schlacht vor
Salamis, die die Athener nach Kimons Tod gewannen, und die Ver-
wechselung ist dadurch möglich geworden, daß das Weihgeschenk, dem
das Epigramm entnommen ist, keine deutliche Bezeichnung der Aktion
1S4 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
enthielt und daher schon früh als durch die Eurymedonschlacht veran-
laßt angesehen ward. Übrigens deutet doch wohl das oiot, mit dem
das Epigramm beginnt, mehr aut eine Grabinschrift, als auf ein Weih-
geschenk ; das wird trotz M.s Bemerkungen S. 14 immer die natürlichste
Beziehung bleiben. Nun aber schließt M. aus der ganzen Behandluuss-
weise bei Plut. , daß dieser nicht den Kallisthenes selber eingesehen
hat, sondern einer biographischen Quelle folgt, deren historische Urteils-
kraft sich darin zeigt, daß sie den trügerischen Bericht des Ephorcs
verworfen und dafür die sehr klare Darstellung des Kallisthenes bevor-
zugt hat. Nebenbei ergibt sich, da Kallisthenes in den Hellenika, die
vom Autalkidasfrieden bis zur Besetzung Delphis durch die Phokier
reichten (Wachsmuth a. a, 0. S. 223 f.), die Eurymedonschlacht nur
eingangsweise erwähnte, die Belesenheit von Plutarchs Gewährsmann»
der auf gutem, uns nicht mehr erhaltenen Material fußte. Aus ihm
stammt der größte Teil von Kimons Lebensbeschreibung, selbständig
scheint Plut. nur noch ein Werk des Didymos benutzt zu haben»
dessen Spuren M. in Kap. 4, 15, 16 nachzuweisen sucht. Diese Er-
gebnisse werden nun von M. sofort verallgemeinert. Er glaubt, die
antike Biographie ebensosehr als Einheit behandeln zu können, wie die
antike Chronographie: Plutarch und Nepos dürfen nicht wie Livius
oder Arrian, sondern nur wie Diogenes, Laertios, Markellinos und die
biographischen Artikel des Suidas benutzt werden, d. h. sie sind für
uns nur die Ausläufer einer gewaltigen biographischen Literatur, deren
Hauptvertreter in den drei letzten Jahrhunderten der vorchristlichen
Zeitrechnung uns verloren sind. Von einer direkten Benutzung der bei
ihm namhaft gemachten Quellen ist bei Plut. niemals die Rede, obwohl
er unzweifelhaft Herodot, Thukydides, Aristoteles gekannt hat; darauf
kam ihm bei der ethischen Tendenz seiner Darstellung viel zu wenig
an. In diesem Punkte steht Nepos viel selbständiger da, der nicht
bloß die Vulgatbiographie, die auch er benutzte, mit eigenen Exzerpten
aus Thuk. und anderen Historikern versetzte, sondern auch einzelne
Lebensbeschreibungen wie Pausanias aus Thuk., Datames vielleicht aus
Deinon selbständig auszog und gestaltete. Allein jene Bequemlichkeit,
die Plut. walten ließ, erhöht für uns nur den Wert des vou ihm Über-
lieferten, das somit als der Niederschlag der gelehrten, alexandrinischeu
Forschung aufzufassen ist, die nicht bloß über jetzt verlorene Quellen,
sondern auch über das in Archiven, Weihgescheuken usw. vorhandene
vorzügliche Material verfügte. Von ihrer Belesenheit und historischen
Urteilskraft den verschiedenen Berichten gegenüber gibt das Leben
Kimons einen vorteilliaften Begriff; dagegen versagt sie völlig in chrono-
logischen Fragen und in der Beurteilung des geschichtlichen Zusammen-
hangs. Vollständig hat keine der uns erhaltenen Viten den Strom der
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 18,")
Überlieferung erhalten, aber unbedenklich können sie und selbst einzelne
Notizen, die nachweislich auf jene Biographen zurückgehen, zur wechsel-
seitigen Ergtinzung benutzt werden: nur ist jede Einzclangabe dabei
auf ihren historischen Wert zu prüfen.
Diese methodischen Grundsätze wird man ohne weiteres unter-
schreiben können: anders dagegen steht es mit ihrer theoretischen Be-
gründung und der Ansicht Me\'ers über Plutarchs Wert als Quellen-
schriftsteller überhaupt. So bestechend diese auf den ersten Blick
wirkt, so läßt sich doch nicht verkennen, daß sie auf einem recht
schmalen Grunde ruht, nämlich allein auf der Analyse der Kimon-
biographie. Allerdings deutet M. an, daß in andern Lebensbeschreibungen
die Sache ebenso liegt, und in der Tat hat sich an der einzigen Stelle,
wo die Quellenkritik des Plutarch zu einem eiuigermaßeu reinlichen
Resultat gekommen ist, so ziemlich derselbe Befund ergeben: wir wissen,
daß das Leben Solons ziemlich genau dem Hermippos, einem der
schlimmsten jener späteren Biographen, nachgearbeitet ist. Allein im
besten Falle sind das Stichproben und es ist ein bißchen gewagt, danach
einen Mann wie Plutarch abzuurteilen, auf dem doch ein nicht geringer
Teil unserer geschichtlichen Kenntnisse beruht. Vielmehr zeigt sich
hier, wie notwendig eine umfassende, neue Darstellung von Plutarchs
schriftstellerischer Tätigkeit und Arbeitsweise ist, die sich denn freilich
nicht auf die Lebensbeschreibungen beschränken, sondern auch auf die
philosophischen Schriften erstrecken müßte. Allein da liegt noch sehr
vieles im Argen: vorderhand existiert für die Lebensbeschreibungen
noch nicht einmal eine genügende Textrezension, da die vv'eitaus besten
Handschriften, der Matritensis und Seitenstettensis erst nach Sintenis
Ausgabe zum Vorschein gekommen sind. Dennoch bleibt jene Unter-
suchung eine unabweisbare Notwendigkeit; erst wenn sie gemacht ist,
wird man ein abschließendes Urteil gewinnen können und sie würde
selbst dann noch für unsere Kenntnis der Überlieferung vom höchsten
Werte sein, wenn ihr Endergebnis sich schließlich mit Meyers Resultaten
decken würde.
Während in Athen die Demokratie des Kleisthenes ihre ersten
Erfolge errang, bereitete sich mit Naturnotwendigkeit der Zusammen-
stoß zwischen Persien und der hellenischen Kultur vor, der vor allem
in dem Expansionsbedürfnis des persischen Reiches begründet lag; „au
den Meerengen des Hellespont und des Bosporus kann kein Staat Halt
machen- (GdA. III, 296). Allein es war ein verhältnismäßig gering-
fügiger Anlaß , der den im geheimen längst vorhandenen Gegensatz
plötzlich akut werden ließ: der Aufstand der Ostgriechen, der ab-
186 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
g'esehen von dem ziemlich drücl^enden persischen Joch von Arista-
g-oras aus wesentlich persönlichen Gründen herbeigeführt ward, und
die Hilfe, die die athenische Volksversammlung ohne das ge-
ringste Gefühl der politischen Tragweite ihrer Handlung den Auf-
ständischen gewährte, brachte den Stein ins Eollen. Sehr richtig
führt M. aus, daß trotz aller Verschleierungsversuche Herodots
es keinem Zweifel unterliegt, daß für jenen verhängnisvollen Schritt
eben die Alknieoniden veiantwortlich waren, die damals Athen leiteten
(GdA. III, 303). Unerklärt dagegen bleibt in der Geschichte des Äuf-
standes hauptsächlich ein Punkt, die schnelle Rückkehr des athenischen
Geschwaders nach dem Treffen von Ephesos, wenn man eben nicht an-
nehmen will, daß die Athener sehr bald anderes Sinnes geworden sind
und die Flotte abberufen haben.
Und dies wird auch wohl tatsächlich das Richtige sein, da man
sich kaum zu dem Ausweg verstehen wird, den Niebuhr in seiner
schon im vorigen Kapitel erwähnten Schrift aus dieser Schwierigkeit
gefunden zu haben glaubt. Bekanntlich erzählt Her. 6, 19, daß der
Tempel zu Didyma von Dareios' Truppen geplündert und zerstört worden
sei; es gibt aber noch eine zweite, angeblich auf Kallisthenes zurück-
gehende Veision, wonach der Tempel und seine Schätze von den Bran-
chiden an Xerxes verraten wurden und von ihm die Vernichtung aus-
ging: später hätten dann beim Rückzug des Königs 479 die Branchideu
aus Furcht vor ihren Landsleuten ihre Heimat verlassen und seien in
Sogdiana angesiedelt worden, wo Alexanders Rache sie später ereilt
habe. Diese Erzählung findet sich an zwei Stellen bei Strabo (p. 518
und 634). Nun aber wissen wir durch Her. bestimmt, daß der Tempel
von Dareios zerstört ward, man wird also annehmen müssen, daß Strabo
oder seine Quelle an seine Stelle den Xerxes gesetzt hat, der ja all-
gemein als Tempelschäuder bekannt war, und eine Spur dieser Ver-
wechselung findet sich m. E. auch noch in Strabos Worten p. 634,
iv£-pTjCJi)rj o' 'J7T0 Espcoy, xaOa-sp xai xa aXXa. tspa 7:>.rjV -oü sv Eoiaio: der
Zusatz macht deutlich, daß die Worte nur auf die kleinasiatischen
Tempel gehen, die eben mit Ausnahme des ephesischen am Ende des
ionischen Aufstandes vernichtet wurden. Da nun N. auch die Über-
siedelung dem Dareios zuschreibt, kann er den Grund dieser Maßregel
nicht einsehen, weil die Perser in dem unterworfenen Lande doch sicher
ihre Freunde hätten schützen können; indem er aber an dem Faktum
festhält, wird ihm die Ansiedelung zur Deportation, und deren Grund
kann natürlich unmöglich ein den Persern freundlicher Akt, wie die
Überlieferung der Schätze, gewesen sein. Also, schließt N., fand
Dareios die Schätze eben nicht mehr vor und darum bestrafte er die
Branchiden mit Deportation. Aber auch auf die Frage, wo die Schätze
Jahresbericht über griechische Geschieht^. (Lenschau.) 187
geblieben sind, weiß N. die Antwort: Aiistagoras und der athenische
Adiniral, der Alkmeonide Mclanthios, haben sie unmittelbar nach der
Schlacht von Epliesos in Sicherheit gebracht und sich dann aus dem
Staube gemacht. Aristagoras fiel in Thrakien, Melanthios brachte die
Kostbarkeiten nach Delphi und hier kratzte man sorgfältig die Weih-
inschriften aus: die inschriftloseu angeblichen Weihgeschenke des
Kreises sind nichts weiter als eben jene Schätze von Di'lyma, wie denn
in Wirklichkeit nach den Vorstellungen jener Zeit Kroisos das Reichs-
heiligtum der Brauchiden gar nicht übergehen konnte, um einen so
weit entlegenen Tempel wie den delphischen zu beschenken. Herodot
aber hat wissentlich den Tatbestand durch die Fabel von der doppelten
Schenkung (Her. 1, 92) verdunkelt und damit den Betrug der Alkmeo-
niden und der delphischen Priesterschaft unterstützt. — Die Darstellung
Niebuhrs liest sich, um eioen von ihm angedeuteten Vergleich zu be-
nutzen, stellenweise spannend wie ein Kriminalroman, allein sie vermag
ebensowenig wie dieser über die Unwahrscheinlichkeit seiner Voraus-
setzungen hinwegzutäuschen. Diese besteht darin, daß N. den ganzen
Inhalt der Erzählung Strabos auf Dareios überträgt: die Sache kann
aber sehr wohl so gewesen sein, daß die Branchiden, um sich in dem
allgemeinen Untergang zu salvieren, tatsächlich die Schätze au die
Generale des Dareios auslieferten und unbehelligt unter seinem Schutz
im Lande verblieben ; erst als nach der Schlacht am Mykale die Perser-
herrschaft an der Küste gestürzt war, hat Xerxes sie auf ihre Bitten,
<la sie sich nicht mehr sicher fühlten, nach Sogdiana verpflanzt. Somit
bezieht sich die Verwechselung der Königsnamen nur auf den ersten
Teil der Strabonotiz, auf die Verbrennung des Tempels: wem sie aufs
Kerbholz zu setzen ist, ob Strabo, ob Kallisthenes oder einem vielleicht
vorhandenen Mittelsmann, das ist nicht mehr auszumachen.
Andeis wieder sucht Bury die Sache in dem oben angeführten
Aufsatz zu erklären, indem er von dem bei Her. VI, 19 und 77 über-
lieferten Doppelorakel ausgeht, das die Argeier kurz vor der ver-
nichtenden Niederlage von Sepeia erhielten und das am Ende zugleich
einen Ausspruch über Milet enthielt. Diese eigentümliche Beschaifen-
heit deutet nach B. darauf hin , daß damals ein enger politischer Zu-
sammenhang zwischen Argos und Milet bestand, und diesen findet er
darin, daß Aristagoras von den Spaitanern mit seinem Hilfsgesuch nach
Argos ging, wo man zwar geneigt war, ihm zu willfahren, aber doch
infolge des drohenden Krieges mit Sparta die Entscheidung von dem
Orakelspruch abhängig machte. Nun macht sich in den auf Milet be-
züglichen Worten eine ganz entschieden gereizte Stimmung des Gottes
gegen Milet Luft, die nach Bury auf das dort vorhandene Bestreben
zurückgeht, die Tempelschätze von Didyma für den Aufstand zu ver-
188 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
werten; wenn auch der bekannte Vorschlag des Hekataios zunächst
nicht durchdrang, so hat er doch in Milet selbst Anklang gefunden
und sicherlich drohte den Tempelschätzen von dort Gefahr. Wenn auch
B. es nicht direkt ausspricht, so legt doch seine ganze Darstellung die
Schlußfolgerung nahe, daß die Braachidenpriester selber die Schätze
und zwar nach Delphi in Sicherheit gebracht haben, wofür der Tempe
zerstört und sie selber deportiert wurden. B. also, der m. E. richtig
an der Zerstörung durch Dareios festhält, mußte nunmehr folgerichtig
ihm auch die Deportation auf die Rechnung schreiben, die indes in
unseren Quellen von Xerxes behauptet wird. Man sieht, wie nahe sich
seine Ansichten mit denen Nieb.; ) 5 berühren, und wenn auch die Lösung
noch nicht befriedigen mag, auf die hier liegenden Schwierigkeiten
energisch hingewiesen zu haben, bleibt immer Niebuhrs Verdienst, das
ihm niemand bestreiten kann. Übrigens erscheint mir doch, wie ich
beiläufig bemeiken will, Aristagoras' Hilfsgesuch in Athen darauf hin-
zudeuten, daß damals Athen nicht, wie Wilaraowitz, Meyer und andere
Forscher glauben, und wie vor kurzem noch C. F. Lehmann (Beitr. z.
alt. Gesch. II, 334 — 440) wieder ausgeführt hat, Mitglied des peloponne-
sischen Bundes war: wäre es das gewesen, so wäre doch wohl in dieser
wichtigen Frage die Entscheidung des Vororts auch für Athen maß-
gebend gewesen.
Der Ausgang des ionischen Aufstandes hat den Alkmeoniden ihre
Stellang gekostet: jetzt endlich sah man die Persergefahr unmittelbar
vor Augen. Die Lage in Athen hat M GdA. III, 310 richtig und
bedeutend schärfer als seine Voi-gänger gezeichnet. Noch immer besaß
die Peisistratidenpartei einen starken Anhang, so daß sie für 496/5
Hipparchos, den Sohn des Charmos, bei der Archoutenwahl durch-
brachte; man mochte hoffen, durch Anknüpfung mit dem alten Hippias den
Zorn des Königs zu besänftigen. Aber bald siegte die Partei, die energische
Vorbereitung zum Kampfe forderte: 493/2 ist ihr Haupt Themistokles
an die Spitze des Staates getreten und hat die Aufregung über den
Fall Milets benutzt, um den Hafenbau im Piräus zu beginnen und die
Seemacht Athens vorzubereiten, in der Athens Rettung und die künftige
Größe der Stadt vereinigt lag. Allein auf kurze Zeit ward der geniale
Mann in den Hintergrund gedrängt: die o-?.a zap£-/o|i.£voi, die Kleisthenes'
Reform zum entscheidenden Faktor im Staate gemacht hatte und deren
Selbstgefühl durch die Siege über Theben und Chalkis mächtig gewachsen
war, wollten den Kampf zu Lande, und ihnen bot sich in Miltiades, der
sein thrakisches Herzogtum im Stich gelassen hatte — die Geschichte an dar
Donaubrücke wird auch von Meyer verworfen — der geeignete Führer dar.
Die Schlacht von Marathon ist lange der Gegenstand vieler
Kontroversen gewesen; ihr eigentlicher Verlauf ist wesentlich durch
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 189
H. Delbrück anfffehellt, der seine zuerst in den ,,Perser- und Bar-
gunderkriegen" aufg-estellte Ansicht in seinem neuesten "Werke noch
einmal eingehend begründet und verteidigt hat (I, S. 41— 59). Danach
lagerte ]\Iiltiades mit dem athenischen Bürgeraufgebot am Ausgang des
engen Tales von Vrana, in einer gegen die Angriffe der persischen
Reiterei g-esicherten Stellung, die zugleich die an der Küste entlang
führende Hauptstraße nach Athen flankierte. Während er hier die ver-
sprochene Bundeshilfe der Lakedaimonier erwartete, mußten die persi-
schen Führer womöglich vorher die Entscheidung herbeizuführen suchen;
sie beschlossen deshalb den Angriff. Als die Perser bis auf Pfeilschuß-
weite d. h. etwa 150 Schritt herangekommen waren, stürzte sich Mil-
tiades im Laufschritt auf den Feind, der zuerst auf den Flügeln, dann
auch im Zentrum geworfen und bis zu den Schiffen verfolgt ward. Für
die in der siegreichen Schlacht Gebliebenen ward auf dem Schlachtfelde
dort, wo der letzte Mann gefallen war, ein noch heute erkennbarer
Grabhügel errichtet, der genau 8 Stadien vom Eingang des Vranatales
entfernt ist. Von seiner Spitze aus mag Herodot das Schlachtfeld über-
blickt haben und dabei hat sich in ihm. dem militärisch Ungeschulten,
die Vorstellung festgesetzt, der Hügel sei an der Stelle des ersten Zu-
sammenstoßes errichtet und die Athener hätten die ganze Strecke vom
Eingang des Vranatales bis zu diesem Punkte im Laufschritt zurück-
gelegt. So ist nach D. die fabelhafte Erzählung von dem Achtstadien-
lauf entstanden, der phj'sisch wie militärisch eine Unmöglichkeit ist.
Gegenüber dieser Darstellung, die ich in manchen Punkten für
richtig halte, verschlägt es sehr wenig, daß sie in manchen Punkten
wie z. B. auch darin, daß bei D. die Perser die Angreifer sind, von
dem Schlachtbericht des Herodot abweicht; wird doch die militärische
ünbrauchbarkeit dieses Berichts von allen Seiten jetzt zugestanden.
Die Schwierigkeit liegt darin, die Abwesenheit der Reiterei zu erklären.
Wir wissen ganz genau aus Her., daß die Perser mit Reiterei wohl-
versehen waren, und gerade in dem Zusammenwirken von Bognern und
Reitern beruhte, wie D. mit Recht hervorhebt (S. 42), die den Persern
eigentümliche Taktik, die ihnen so oft den Sieg verschafft hatte und
auch der griechischen Phalanx gegenüber die taktische Überlegenheit
sicherte. D. erklä-t die Sache nun so, daß bei der unerwarteten
Wirkung des athenischen Stoßes die Reiterei überhaupt nicht in Aktion
getreten sei, eine nicht sehr wahrscheinliche Sache, da sie doch, wenn
sie überhaupt vorhanden war, während der Verfolgung immerhin Zeit
gehabt hätte, wenigstens zum Schutz der Fliehenden einzugreifen.
Auch damit ist nicht viel gewonnen, wenn man sagt, die Perser hätten
von vornherein auf die Mitwirkung der Reiterei verzichtet, die auf dem
Gelände, wo die Schlacht stattfand, doch nicht zu verwenden war; denn
190 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
dann hätten die persischen Feldherren ja von vornherein die Möglichkeit
eines Rückzugs in die Ebene gar nicht erwogen; sie wären ihres Sieges
vollkommen sicher gewesen und das würde nur bei starker numerischer
Überlegenheit möglich gewesen sein, die bekanntlich von D. verneint
wird. Es bleibt also nichts übrig, als das Fehlen der Reiteiei aus der
Vorgeschichte der Schlacht zu erklären, und hier tritt ergänzend die Ab-
handlung von Munro ein, die auch trotz der Anlehnung an deutsche
Vorgänger (Busolt, Schillings) einen durchaus selbständigen Wert besitzt.
M. geht von der bereits mehrfach aufgeworfeneu Frage aus, wes-
halb die Perser gerade in Marathon gelandet sind. Her. sagt (VI, 102),
Hippias habe sie aus zwei Gründen dorthin geführt: einmal, weil
Marathon Eretria sehr nahe lag — aber natürlich auch um soviel weiter
von Athen, dem Zielpunkt der ganzen Kriegsfahrt, und zweitens, weil
die Ebene für die Reiterei günstig war — aber diese hätte ja in der
großen Ebene bei Athen ebenso gute, wenn nicht bessere Verwendung
gefunden. Neuere Historiker nehmen daher andere Motive bei Hippias
an: einen gewissen Aberglauben, der ihn denselben Weg wählen ließ,
auf dem vor 48 Jahren sein Vater die Herrschaft zurückgewonnen hatte,
oder aber die Absicht, von Marathon aus die Diakria in Aufstand zu
bringen, wo seit alter Zeit starke Sympathien für das Peisistratiden-
geschlecht vorhanden waren. Ob die persischen Feldherren sich um die
sentimentalen Erinnerungen des alten Herrschers viel gekümmert habeu,
steht dahin; jedenfalls fingen sie, wenn die Diakria zum Anschluß ge-
bracht werden sollte, ihre Sache sehr verkehrt an; dann hätten sie so-
fort die ins Tal von Marathon hinabführenden Pässe besetzen müssen,
anstatt den Feind mitten in das zu insurgierende Gebiet hineinzulassen.
Eben diese Nichtbesetzung der Pässe deutet aber nach M. darauf hin,
daß die Perser absichtlich das Heer der Athener nach Marathon locken
wollten, und dann kann ihr Plan eben nur der gewesen sein, daß sie
Miltiades mit einem Teil ihres Heeres bei Marathon festhalten, mit dem
andern aber einen Angriff auf Athen machen vrollten, wo sie ähnliche
verräterische Hilfe wie in Eretria zu finden hofften. Ob in dieser Hin-
sicht die Dinge in Athen wirklich so günstig für die Perser lagen, wie
Munro sie darstellt, ist vielleiclit fraglich; jedenfalls erscheint so der
Plan der Perser durchaus veiständlich. Und nun erklärt sich auch das
Fehlen der Reiterei, als Miltiades' Angriff erfolgte; sie war bereits ein-
geschifft, da sie bei dem Hauptschlage gegen Athen Verwendung
finden sollte.
Hiergegen läßt sich zunächst das einwenden, was Delbrück bei
der Besprechung der ähnlichen Hypothese Schillings geltend gemacht
hat (S. 53), daß dieser Plan eine bedeutende numerische Überlegenheit
der Perser voraussetze und daß in dem Falle Miltiades' Stellung voa
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Leaschau.) 191
Yornherein ganz unhaltbar gewesen wäre. Allein dieser Einwand ist
nicht zwingend, da das zur Deckung der Abfalirt aufgestellte Korps ja
keineswegs ebenso stark zu sein brauchte wie das athenische Heer.
Wenn es sich streng auf die Defensive beschränkte, so konnte bei
einigermaßen zähem Widerstände uüd bei der Entfernung des Schlacht-
feldes Zeit genug zur Einschiffung vorhanden seiu; tatsächlich war sie
ja auch fast beendet, als die siegreichen Athener herankamen. Anderer-
seits haben die persischen Feldherren wohl von vornherein mehr damit
gerechnet, daß Miltiades sofort, nachdem er die Einschiffung eines Teils
der persischen Macht erkannt hätte, den Abmarsch zum Schutz der
Hauptstadt antreten winde, und dann hätte auch ein an Zahl geringeres
Deckungskorps hingereicht, das atüenische Heer zu verfolgen und so
lauge hinzuhalten, bis die Hauptmacht vor Athen anlangte und der
Veri'at seiu Werk volliührte. Alle diese Berechnungen machte der
energische und über Erwarten erfolgreiche Angriff des Miltiades — in
diesem Punkte käme also Herodots Schlachtbericht doch wieder zu
Ehren — vollständig zuschanden; aber zugleich zeigt sich doch auch,
daß die eigentliche Rettung Athens nicht in dem siegreichen Ausgang
der Schlacht, der die Hauptmacht der Perser nicht berührte, sondern
in dem sofortigen Rückmarsch nach Athen beruhte, und daß die Athener
das fertig brachten unmittelbar nach der siegreichen Schlacht und trotz
des Siegesrausches, in dem sie sich befunden haben müssen (vgl. das
Beispiel des preußischen Heeres nach der Schlacht von Soor, Delbrück
S. 53), das ist allerdings eine Leistung, die die höchste Achtung vor
der Euei'gie des Feldherrn und der Disziplin des Bürgerheeres erzwingt.
Das Jahrzehnt zwischen Marathon und dem Zuge des Xerxes hat
den beiden führenden Staaten Griechenlands schwere innere Erschütte-
rungen gebracht, die zum Glück noch überwunden wurden, ehe der
König heranrückte. Der Versuch des Kleomeues, die spartanische Ver-
fassung umzustüizen, der endlich mit seinem Tode und einer dauernden
Schwächung der Königsmacht endete, ist uns nur noch in seinen Um-
rissen erkennbar; etwas mehr wissen wir von den Parteikämpfen in
Athen, in denen schließlich Theraistokles durch kluges Zuwarten und ge-
schickteste Diplomatie den Sieg gewann, nachdem er zunächst voll-
ständig durch Miltiades in den Hintergrund gedrängt war. Den Wende-
punkt der Kämpfe bildet die große Verfassungsänderung von 487/6
unter dem Archontat des Telesiuos, die entweder in der Einführung
des Loses für die Archouteuwahl, oder wenn man diese schon unter
Solon verlegt (vgl. S. 161) in der Erhöhung der Anzahl der Tzpoxp-.-oi von
40 auf 500. Mit Pvccht hat Meyer (GdA. III, 340 ff.) darauf hinge-
wiesen, daß hier eiue Maßregel einschneidendster Art vorliegt, sofern
die Besetzung der wichtigsten Staatsämter durchs Los unweigerlich zur
]92 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Folge haben mußte, daß sie eben dieser Wichtigkeit entkleidet wurden.
Tatsächlich ist denn auch von diesem Tase ab das Volk von Athen
sein eigener Regent geworden, dessen Wille Gesetz war; zugleich aber
muß auch in der Leitung des Strategeukollegiums eine Änderung ein-
getreten sein, da ein durchs Los gewählter, vielleicht also militärisch
ganz ungeschulter Polemarch unmöglich die hervorragende Stellung
einnehmen durfte, in der sich Kallimachos noch bei Marathon befindet.
Ob nun aber sofort die Änderung eingetreten ist, wie M. meint, daß
nunmehr neun Strategen aus den einzelnen Phylen, der zehnte als
Oberstratege aus dem gesamten Volke gewählt ward, und ob es wirk-
lich damals schon Sitte gewesen ist, daß der leitende Staatsmann dauernd
die Oberstrategie bekleidete (so Themistokles 481/0 und 480/79) das
läßt sich bei der Lückenhaftigkeit der Überlieferung nicht beweisen,
doch bleibt es immerhin wahrscheinlich. Als Urheber der neuen Ver-
fassung wird man mit M. doch wohl Themistokles betrachten müssen,
der von da an das Übergewicht erhält und nun Schlag auf Schlag seine
Gegner, Peisistratiden , Alkmeoniden und Aristides, den Leiter der
Miltiadespartei, stürzt, um alsdann 483/2 seinen Flottenplan durchzu-
drücken. Der unglückliche Verlauf des aiginetischen Krieges hat
sicherlich seine Anstrengungen unterstützt, vor allem aber die Nachricht
von der Niederwerfung des ägyptischen und babylonischen Aufstandes,
sowie von den neuen gewaltigen Vorbereitungen des Königs; ward doch
seit 483 schon am Athoskanal gearbeitet, dessen Zweck kein Geheimnis
war. Zugleich bot die Entdeckung einer besonders reichen Silberader
im Laureioubergwerk die Möglichkeit, den Flottenplan ohne besondere
Anstrengung der Staatsfinauzen durchzuführen. Daß freilich in der
Abwehr der Perser sich die politischen Absichten des Themistokles
nicht erschöpften, ist klar, seine staatsmäuuischen Gesichtspunkte
haben Meyer GdA. III, 3^1 und in gleichfalls selbständiger Weise
Munro S. 301 dargelegt.
Nach umfassenden und sehr sorgfältigen Vorbereitungen begann
mit dem Frühjahr 480 der Zug des Xerxes, unzweifelhaft (Meyer GdA.
III, 353) im Einverständnis mit Karthago, das sich durch die Fort-
schritte von Gelons Militärmouarchie in seiner sizilischen Provinz be-
droht sah. Wie günstig außerdem in Griechenland die Dinge für eine
persische Invasion lagen, ist bekannt: ein großer Teil der griechischen
Staaten sympathisierte insgeheim oder offen mit dem herannahenden
Feinde, und daß auch dieser Standpunkt sich mit guten Gründen recht-
fertigen ließ, hat Meyer S. 368 f. auseinandergesetzt. Über die Größe
des persischen Heeres besitzen wir die genauen Angaben Herodots,
allein daß die Zahlen absolut wertlos sind, hat Delbrück in den „Perser-
und Burgunderkriegen" und neuerdings wieder in seiner Geschichte
Jahresbericht über griechische Geschichte, (Lenschau.) 193
der Kriegskunst dargetan. Indessen geht er zn weit, wenn er nun
seinerseits das Heer auf höchstens 70—75 000 Kombattanten veran-
schlagt, offenbar mit völlige)' Unterschätzung des moralischen Eindrucks,
den der Sieg von Marathon gemacht haben muß. Wäre Xerxes' Heer
tatsächlich nicht größer gewesen wie die angegebene Zahl, so wäre die
Angst der Hellenen psychologisch unbegreiflich, 40 — 50 000 Mann konnten
sie doch auch nach D.s niedriger Schätzung ins Feld stellen und Ma-
rathon hatte doch gezeigt, daß auch einem numerisch überlegenen
Gesamtheer gegenüber ein griechischer Heerbann bei entschlossener
FühriM.g immer noch Chancen hatte. Man wird daher eine starke
Überzahl der Perser annehmen müssen, auch Mej-ers Ausatz, 100 000
Kombattanten, halte ich eher noch für zu gering. Einen eigentümlichen
Weg. auf dem er übrigens nicht ohne Vorgänger ist, schlägt Munro
S. 297 ein, um die Stärke des persischen Heeres zu ermitteln. Die
Liste Herodots im 7. Buch hält er für eine Aufstellung der militärischen
Leistungsfähigkeit überhaupt, nicht der wirklichen Heeresstärke. Indem
er nun eine dezimale Gliederung des Heeres annimmt, erscheint es ihm
nicht als Zufall, daß gerade 30 Generale erwähnt werden; gibt man
jedem von ihnen eine Division von 10 000 Mann, so macht das 300 000
Mann ans; zu demselben Ergebnis ist auch Bury S. 269 offenbar aus
ähnlichen Erwägungen heraus gekommen. Indem nun Herodot diese
Divisionsgenerale mit den Korpskommandeuren verwechselte, die je
60 000 Mann hatten, gelangte er zu der unglaublichen Zahl von 1,8 Mill.
Kombattanten, einschließlich der 80 000 Reiter und 20000 Kamelreiter. —
Daran mag manches richtig sein, insbesondere scheinen 10 000 Mann
eine Art höherer Truppeueinheit bei den Persern gebildet zu haben ;
allein wie bei allen diesen Dingen geht es nicht ohne Willkürlichkeiten
ab (z, ß. die 6 Reiterdivisiouen , wo Her. ausdrücklich nur 3 nennt
S. 297), um die Angaben der Quelle mit dem Schema in Einklang zu
bringen. So problematisch indessen Muuros Ansätze im einzelnen sind,
das Endergebnis, 180 000 Kombattanten, wird sich von der wirklichen
Zahl nicht allzuweit entfernen, die vielleicht zwischen diesem und dem
Meyerschen Ansatz in der Mitte liegt. — Ebenfalls wertlos sind Her.s
Detailangaben über die Flotte. Die Gesamtzahl hat er Aschylos' Persern
entlehnt und diese dann nach Gutdünken unter die einzelnen Teilnehmer
verteilt. Seine Xaivität dabei wird durch die Bemerkungen Mej^ers
(Forsch. II, 231 A. 2) und Munros S. 299 gut illustriert, immerhin
kommen seine Angaben hier der Wirklichkeit bedeutend näher als die
ganz imaginären Zahlen über das Landheer.
Für den Verlauf des Feldzugs und die Beurteilung der Ereignisse
ist es nun von höchster Wichtigkeit, den Kriegsplan der Griechen fest
im Ange zu behalten, wie ihn Mej^er zuerst Forsch, 11, 207 ff, und
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 13
194 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
noch einmal kürzer GdÄ. III, 372 f. dargelegt hat. Danach ist im
Gegensatz zu der von Her, beeinflußten Vulgata, der z. B. auch Bury
S. 269 ff. folgt und die das Verhalten der Lakedaimoier hart verurteilt,
dieses vielmehr als eine Folge der geheimen Verabredung zwischen den
spartanischen Behörden und dem leitenden athenischen Staatsmann an-
zusehen, die von vornherein darauf abzielte, die Entscheidung auf der
See zu suchen. Dies erkannt zu haben, ist meiner Ansicht nach ein
Hauptverdienst Meyers — einzelne gute Bemerkungen auch bei Munro
S. 303 — ; erst hierdurch rücken die Ereignisse in die rechte Be-
leuchtung und ich zweifle nicht, daß auch Delbrück seine Ausführungen
danach modifiziert haben würde (S. 60 ff".), wenn er Mej'ers Darstellung
bereits gekannt hätte. Andrerseits ist es klar, daß Xerxes die Ent-
scheidung zu Lande suchen mußte, wo seine Hauptstärke lag; die Flotte
sollte ursprünglich nur dazu dienen, schwierige Verteidigungsstellungen zu
umgehen und das Landheer in seinen Operationen zu unterstützen. Es
kam also für die Griechen alles darauf an, eine Seeschlacht herbeizu-
führen, und dazu eignete sich allerdings die Doppelstellung Thermo-
pylen- Artemision ausgezeichnet; verlegte man dem König in dem Eng-
paß den Weg, so war es für ihn das einfachste, die Stellung mit der
Flotte zu umgehen; bei diesem Versuch sollte dann eben die griechische
Flotte sich der persischen entgegenstellen und die Seeschlacht erzwingen.
Es galt also nur, Xerxes in den Thermopylen aufzuhalten, und dafür
genügte allerdings die verhältnismäßig kleine Truppenmacht, die Leonidas
befehligte; mehr einzusetzen, wäre Torheit gewesen. Hin zu opfern,
lag gar nicht in der Absicht der Spartaner, erst die eigentümliche Ver-
kettung der Umstände machte den Heldentod des Königs auch zu einer
militärischen Notwendigkeit.
Es ist nicht ganz leicht, sich über den Vezüauf der Doppelschlacht
Thermopylen -Artemision klar zu werden: daß die beiden Kämpfe
gleichzeitig waren, sagt Her. ausdrücklich und ebenso erfahren wir von
ihm, daß die beiden Streitkräfte der Griechen miteinander in dauern-
der Verbindung standen (8, 21). Man wird daher grundsätzlich an-
nehmen müssen, daß die Ereignisse auf den beiden Kampfplätzen sich
gegenseitig bedingt haben, und eben weil sie hierauf nicht genügend
Rücksicht nimmt, steht die Darstellung bei Meyer (GdA. III, 380) und
Delbrück (S. 60 ff.) hinter der von Munro (S. 307 ff.) zurück, der
wenigstens an den Hauptpunkten den Zusammenhang der Ereignisse
hervorhebt. Die Hauptsache ist die richtige Verwertung der Zeitangaben
Herodots. Die Flotte war von Therma aus bereits 11 Tage unterwegs
und lagerte am Strande von Sepias (7,138) als der dreitägige Sturm
losbrach, der ihr schwere Verluste zufügte. Ohne ihn wäre sie bereits
am 12. Tage abends in Aphetai eingetroffen, während sie jetzt erst
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 195
am 15. nachmittags anlangte. Dazu stimmt es genau, daß Xerxes
bereits xpiTaio? 7, 196 vor den Thermopylen stand: offenbar sollten Heer
und Flotte in je 12 Etappen den Weg bis zu den Therniopj^len und
Aphetai zurücklegen, was nun durch den Sturm verhindert ward. In-
zwischen hatte Xerxes die Flotte erwartet, da sie die Stellung der
Griechen bei Artemision forcieren und ihm auf diese Weise den Weg
bahnen sollte; deshalb entsendet die Flotte noch am Tage ihrer An-
kunft das Umgehungsgeschwader und läßt sich noch am Abend mit den
heranfahrenden Griechen in einen Kampf ein, der denn freilich ziemlich
übel für sie abläuft (Her. 8, 10—12). Xerxes mag sich bei der Mhe
seines Standpunktes persönlich davon überzeugt haben, daß mit der arg
mitgenommenen Flotte niclits zu machen sei und erst die Sturmschäden
ausgebessert werden müßten; dennoch ließ er noch einen Tag, den
vierten seit seiner Ankunft, verstreichen, offenbar weil er den Ausgang
des Umgehungsmanövers abwarten wollte (Munro S. 315). Wann er
die Nachricht von der Vernichtung der 200 Schiffe erhalten hat, steht
nicht fest, wahrscheinlich im Laufe der Nacht vom vierten auf den
fünften; vielleicht fällt auch auf den 4. Tag noch ein vergeblicher
Versuch der Flotte, bei dem die kilikischen Schiffe verloren gingen
(Her, 8, 14). Jetzt blieben dem König, wenn er rasch vorwärts kommen
wollte, nur noch zwei Möglichkeiten, entweder den Paß zu forcieren
oder die griechische Stellung von Westen her zu umgehen. Allein die
Frontalangriffe am 5. Tage überzeugten ihn, daß die Forderung
unmöglich sei, und so begann Hydarnes seine Umgehungsbewegung
wolil schon im Laufe des 6. Tages, denn es scheint durch Munro
S. 312 ff. hinlänglich erwiesen, daß die Zehntausend nicht den von
Herodot bezeichneten Fußpfad einschlugen, sondern einen längeren Um-
weg durch das Gebiet der Ainianen machten. Um diese Bewegung zu
maskieren, wurden die Frontalangriffe auch am 6. Tage fortgesetzt,
ohne jedoch so ernstlich gemeint zu sein, wie die Griechen dachten
(Munro S. 315). Am Morgen des 7. erscheint Hydarnes im Rücken der
Griechen, und da mittlerweile auch die Flotte mit ihren Reparaturen
zn Rande gekommen ist, erfolgt am 7. Tage nach Xerxes' Ankunft
zugleich der Kampf im Passe und die Schlacht am Artemision: abends
erfährt die griechische Flotte den Fall des Passes und zieht sich in
der Nacht darauf zurück.
Unter diesen Umständen erscheint die Handlungsweise des
[Leonidas in einem etwas anderen Lichte als gewöhnlich. Ob er wirklich,
wie Bury S. 276 meint, die Absicht gehabt hat, Hydarnes im Passe
'selber zu erdrücken, erscheint bei der Überzahl der Perser mehr als
i zweifelhaft. Daß die Stellung nach der Umgehung durch die persischen
Garden nicht mehr zu halten war, mußte er wissen; darum rettete er,
13*
19G Jahresbericht über griechische Geschichte (Lenscbau.)
was noch zu retten war, und schickte die Bundesgenossen nach Hause.
Er selbst hielt aus, nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist seiner
Instruktion getreu, der eine entscheidende Aktion der Flotte ver-
langte. Diese war noch nicht gefallen und danach handelte er. Der
wütende Ausfall der Lakedaimonier, die sich bis dahin in der Defensive
gehalten hatten — man denkt unwillkürlich an den Angriff der Brigade
Bredow bei Vionville — , mußte bei Xerxes den Glauben erwecken, daß
die Umgehung durch Hydarues gescheitert oder durch unvorhergesehene
Umstände aufgehalten sei, und nun sandte er seinen Admiralen den
drohenden Befehl (t6 oltzo Eeplou oEifxaivov-rs; Her. 8, 15), sofort anzu-
greifen. Der Beginn der Schlacht am Mittag läßt vermuten, daß die
Ordre erst im Laufe des Morgens ankam: wäre Leonidas mit den
übrigen Bundesgenossen früh am Morgen, gleich auf die Nachricht von
Hj'darnes' Eintreffen hin abgezogen, so würde der persische Flotten-
angriff selbstverständlich unterblieben sein. Der Zweck des griechischen
Feldzugsplanes war erreicht, und Leonidas hat dafür nicht zu teuer
mit seinem Leben gezahlt: noch in einem höheren Sinne, als man ge-
wöhnlich annimmt, konnten die Gefallenen von sich sagen xetjxeöa toi;
xeivojv p7^|xa(jt ueiöoixevot. Auch nur als Opfertod für die hellenische Frei-
heit betrachtet, war die Tat des Leonidas von unermeßlichem Wert —
das ist Delbrück zuzugeben (S. 65); aber sie war weit mehr: indem
der König durch sein Ausharren den letzten Kampf am Artemision er-
zwang, hat er viel zum endlichen Siege der griechischen Waffen bei-
getragen.
Leider aber befindet sich nun in der Zeitfolge der Ereignisse, auf
der die vorstehende Darstellung beruht, bei Her. ein schwer zu lösender
Widerspruch. Der letzte Kampf in den Thermopylen erfolgte nach seinen
Angaben am 7. Tage nach Xerxes' Ankunft vor dem Passe, der letzte
Kampf am Artemision aber am 2. Tage nach der Ankunft der
Flotte, d. h. am 5. Tage nach Xerxes' Ankunft vor Thermopylae;
dennoch betont Her. 8, 15 die Gleichzeitigkeit der Ereignisse und läßt
die Griechen erst abziehen, als ihnen der Fall des Passes gemeldet ist
(8, 21). Die meisten nehmen an, daß der Fehler in den Zeitangaben
über die Kämpfe des Landheers steckt (so Bury und mit einigen Modi-
fikationen auch Munro S. 307); nur Busolt meint, daß in den Ope-
rationen der Flotte zwei Tage übergangen sind, und dies erscheint als
(las Richtige; offenbar handelt es sich um die beiden Tage, an denen
die Flotte in Aphetai lag, am die Sturmschäden auszubessern. Die all-
gemeine Vorstellung, die auch Herodot hatte, war eben die, daß die
Schlacht am Artemision drei Tage hintereinander gewährt habe; das
stimmt aber nur insofern, als tatsächlich au drei Tagen gekämpft
worden ist. Auch wir, wenn wir von der dreitägigen Völkerschlacht
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 197
von Leipzig sprechen, rechnen meistens nicht damit, daß der 17. Ok-
tober 1813 ein Sonntag war, an dem der Kampf ruhte. Chronologisch
wird also gegen die vorstehende Schilderung der Doppelschlacht nicht
viel einzuwenden sein: im einzelnen bleibt natürlich manches unklar,
auch nach der die örtlichen Verhältnisse genau berücksichtigenden Er-
örterung Munros. Die zuerst von Bury gefundene Erklärung der nach-
kommenden 53 athenischen Schiffe, die in Wahrheit gegen das üm-
gehungsgeschw'ader detachiert waren, wird jetzt auch von Meyer (GdÄ..
S. 370) angenommen. Ebenso halten alle Forscher an der Entsendung
der 200 Schiffe um Euböa herum fest, die denn freilich eine bedenk-
liche Ähnlichkeit mit dem gleichen Manöver bei Salamis hat. Aber
vielleicht hofften die persischen Admirale, die sich über die mangelnde
Seetüchtigkeit ihrer durch den Sturm beschädigten Flotte wohl keinen
Täuschungen hingegeben haben, durch das Umgehungsmanöver die
Griechen zur Aufgabe der Stellung zu bewegen ; es ist daher gar nicht
so unwahrscheinlich, wie Munro p. 309 meint, daß die Bewegung sich
vor den Augen der Griechen vollzog. Auch Bury, der früher ebenfalls
der Ansicht war, die persischen Schiffe seien bereits bei Sepias abge-
schwenkt, hat in seiner Geschichte den Verlauf jetzt nach Herodot darge-
stellt (S. 274). Ob die kilikisehen Schiffe, die nachher in die Gewalt
der Griechen fielen, zu dem Umgehungsgeschwader gehörten, wie Munro
S. 311 will, läßt sich nicht ausmachen.
Die Niederlage der Griechen bei Arteraision-Thermopylae hat
Athens Schicksal besiegelt, jetzt war nur noch die Verteidigungs-
stellung am Isthmos möglich, die eine Preisgabe Athens erforderte, und
daß die Athener und Themistokles zu diesem Opfer bereit waren, sichert
ihnen die Anerkennung aller Zeiten. Teils um die athenischen Flücht-
linge auf der Insel zu schützen, teils um in günstigem Fahrwasser zu
schlagen, wo die größere Zahl und die überlegene Manövriertüchtigkeit
der Perser nicht zur Geltung kam, hatte die griechische Flotte im
Sund von Salamis Aufstellung genommen. Abgesehen von Burj-, der
noch im w^eseutlichen der Darstellung Herodots folgt, herrscht jetzt
darüber allgemeine Übereinstimmung, daß Her. die Dinge nicht nur
falsch berichtet, sondern auch tendenziös entstellt, was besonders in der
Schilderung vom Verhalten der Korinther und ihres Feldherrn Adeimantos
hervortritt. Natürlich unterliegt es keinem Zweifel, daß die Korinther
tapfer mitgefochten haben: die ganze Erzählung von ihrer Flucht ist
nichts weiter als böswillige athenische Mache, die wahrscheinlich, wie
Munro S. 3-29 ausführt, daher ihren Ausgang nahm, daß die Korinther
dem um Salamis herumsegelnden Umgehungsgeschwader entgegenge-
sandt waren. Somit bleibt als einzig brauchbarer Bericht der eines
Augenzeugen des Aschylos in den Persern; die Erzählung Ephoros-
198 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Diodors beruht nur auf einer allerdings verständigen Benutzung Äschylos^
und Herodots, hat aber manchmal das Richtige getroffen (Munro 329 f.).
Danach waren die Griechen zum Kampf bereit; die Schwierigkeit lag
nur darin, die Perser zum Schlagen zu bringen. Wäre die persische
Flotte direkt nach dem Peloponues gesegelt, so hätten die Griechen
sie auf offener See angreifen müssen, wo ihre Chancen bedeutend un-
günstiger lagen. Es ist Themistokles' Verdienst, durch die bekannte
Botschaft an den König die Schlacht herbeigeführt zu haben; ihr Wort-
laut, wie ihn Her. angibt, mag nicht authentisch sein, aber daß sie
noch mehr enthalten und insbesondere den Abfall Athens von der ge-
meinsamen Sache in Aussicht gestellt habe (Munro S. 331), ist mindestens
unerweislich. Auch so erscheint Xerxes' Entschluß durchaus begreif-
lich. Gewiß hätte er bei reiflicher Überlegung der VersuchuDg nicht
nachgeben sollen; wenn die Griechenflotte davonsegelte, so konnte ihm
das höchstens angenehm sein, da jede andere Stellung den Persern
größere Vorteile bot. Aber er ist nicht der einzige, der in Aussicht
auf einen glänzenden Erfolg sich zu einer Schlacht unter ungünstigen
Umständen hinreißen ließ: auch bei Austerlitz lag die Sache so, daß
ein Hinhalten von wenig Tagen Napoleons Rückzug bewirkt und alle
seine bisherigen Erfolge vernichtet hätte, allein Alexanders I. Ehrgeiz
warf alle Vernunftgründe über den Haufen und stürzte ihn ins Ver-
derben. Ebenso mag auch Xerxes in seiner Umgebung auf warnende
Stimmen gestoßen sein — die Rede der Artemisia 8, 68 kennzeichnet
die Lage durchaus richtig — , aber der Entschluß zur Schlacht ging eben
von ihm allein aus, und auf diesen Ei-folg war Themistokles' Botschaft
mit feinster psychologischer Berechnung (Meyer Forsch. II, 204) an-
gelegt. Mit Salamis war dann der Feldzug zunächst entschieden: der König
hatte die Seegeltung verloren und mußte nun darauf denken, seine
rückwärtigen Verbindungen, vor allem lonien zu sichern. (Meyer GdA.
o, 394). Eine scharfe Verfolgung hätte vielleicht die Gesamtmacht
der Perser zum Rückzug gebracht, allein mit dem Antrag darauf drang
Themistokles nicht durch. Die zweite Sendung an X. erklären Bury
sowohl wie Meyer mit Recht für Erfindung.
Die Vorgänge zwischen den Schlachten von Salamis und Plataiai
hat M. (GdA. III, 401 ff.) wesentlich richtiger beurteilt als seine
Vorgänger: daß Themist. 479 nicht mehr an der Spitze der athenischen
Politik steht, deutet allerdings eine Wendnug derselben an. In der
Tat hatte sich die Lage völlig verschoben , dadurch, daß man im Vor-
jahr nicht sofort zum Flottenaugriff vorgegangen war, was, wie gesagt,
wahrscheinlich den Rückzug des ganzen Perserheers bewirkt haben
würde. Jetzt drohte der Angriff des Mardonios, der in erster Linie
Athen treffen mußte, und da durften die Athener die Flotte nicht aus
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 199
dor Hand geben, zumal es unsicher war, ob Sparta zur rechten Zeit
im Felde erscheinen würde. Unter diesen Umständen mußte Athen ab-
lehnen, als die Spartaner im Frühjahr 479 zur Wiederaufnahme des
themistokleischen Feldzng-splanes aufforderten, und dies drückt sich auch
uarin aus, daß Themistokl^s 479 in den Hintergrund tritt. Nur möchte
ich dies Zurücktreten für ein freiwilliges halten: er selber war in ge-
wisser Beziehuug zum Festhalten an seinem Plan von 480 verpflichtet,
da die Spartaner ebenfalls ihre Verpflichtungen erfüllt hatten; um so
lieber mochte ihm jetzt der Rücktritt sein, den er unbedenklich aus-
lühren konnte, da offenbar zwischen ihm und Aristides eine Verständigung
stattgefunden hat: in der nächsten Zeit wirken beide zusammen und es
.sind im wesentlichen die Grundlinien der themistokleischen Politik, auf
ilenen auch Aristeides vorgeht. In der Benutzung von Mardouios' An-
trägen zum Druck auf Sparta kann man noch die sichere Hand des
Themistokles erkennen: sein scheinbar unfreiwilliger Rücktritt sicherte
ihm Spartas Wohlwollen, das ihm nachher so ?ehr beim Mauerbau zu-
statten kam.
über den Hergang der Schlacht von Plataiai, über die wir Her,
den einzigen ausführlichen, aber anerkanntermaßen militärisch unbrauch-
baren Bericht verdanken, hat Biuy S. 289 eine auf den Arbeiten von
Grundy 1894 und Woodhouse (Journ. of Hell. Studies) beruhende und
in wesentlichen Paukten neue Ansicht aufgestellt, wonach die Griechen
der angreifende Teil sind und durch ihre Manöver schließlich die
Schlacht erzwingen. Die ursprüngliche Stellung der Griechen befand
sich nach Bury am nördlichen Abhang des Kithäron, nicht sehr weit
unterhalb des Kammes, und erstreckte sich westwärts von den Pässen
?o weit, daß der linke Flügel frei in die Ebene von Plataiai hinaus-
ragte: ihnen gegenüber in der Asoposebene lag Mardonios, entschlossen
sich auf die Defensive zu beschränken, nur daß er durch Reiterangriffe
den linken Flügel der Gegner belästigte. Allein Pausauias, dessen
Ziel die Eroberung Thebens und die Abdränguug des Mardouios von
dieser seiner Operationsbasis war, beschloß, den Asopos westlich von
der persischen Stellung zu kreuzen und so die große Heerstraße
Plataiai — Theben zu gewinnen, wodurch seines Gegners Stellung un-
haltbar geworden wäre. Er befahl daher in der Nacht den Abmarsch
nach NW., hierbei aber ward durch die Schuld der Athener die Asopos-
brücke nicht erreicht, und am Morgen befand sich das Heer in der
zweiten Stellung an der Quelle Gargaphia und dem Androkratesheilig-
tum. Sofort bemerkte Mard. die ungünstige Lage des Gegners und be-
setzte den Kithäronpaß, wo er noch einen Transport abfing, so dal.l
nunmehr die Verpflegung der Griechen sehr schwierig ward; wenig
später gelaug der persischen Reiterei auch die Verschattung der
200 Jahresbericht über giiechische Geschichte. (Lenschau.)
Gargaphia. Durch Proviant- und Wassermangel gezwungen, beschloß
jezt Paus, wieder zurück an den Abhang des Kithäron zu gehen, wo
wenigstens Zufuhr von Süden her übers Gebirge gebracht werden konnte
und die Quellflüsse des Asopos Wasser genug darboten. Allein auch
diesmal waren seine Bewegungen in der Nacht nicht schnell genug aus-
geführt worden ; als der Morgen anbrach, befand sich sein Heer noch in
aufgelöster Ordnung auf dem Marsche südostwärts nach dem Kithäron zu,
und diesen Augenblick ersehend, griff Mardonios mit der Reiterei an,
der er das Fußvolk folgen ließ. So entwickelt sich die Schlacht, deren
weiterer Verlauf dann Her. zu entnehmen ist.
An dieser Darstellung ist zunächst das eine richtig, was zuerst
Delbrück (vgl. jetzt Gesch. d. Kriegskunst S. 80 ff.) betont hat, dal.)
sich Mardonios durchaus in der Defensive hielt: im Besitz vorzüglicher
Verbindungen mit Theben und mit der reichen böotischen Ebene im Rücken
hatte er allerdings nicht den geringsten Grund zum Losschlagen, während
die Verpflegung der Griechen von Süden her über den Kithairon von
vornherein schwierig gewesen sein muß. Er legte sich also aufs Ab-
warten und griff erst an, als sich ihm die denkbar günstigste Gelegen-
heit bot: jedenfalls genügt die schwierige Lage, in der sich das
Griechenheer am Morgen der Schlacht befand, vollkommen, um ein
Aufgeben der Defensive seitens der Perser zu motivieren, und es bedart
kaum der Vermutung Delbrücks und Meyers (GdA. III, 410), nach der
Mardonios durch das Vorgehen der Flotte gegen Kleinasien wider seinen
Willen in die Offensive gedrängt sei. Auch der Grund, den Olsen
(S. 6) für Mardonios' Angriff anführt, die Perser hätten losschlagen
müssen, da das griechische Heer sich noch fortwährend durch Zuzug
vermehrt habe, ist wenig durchschlagend: einmal wußte M. sehr wohl,
(laß allzuviel nicht mehr zu erwarten war, und dann hatte er ja, wie
wenigstens Olsen zugibt, immer noch eine bedeutende numerische Über-
legenheit. Allein gerade dieser Punkt wird bekanntlich bestritten:
Delbrück hat sogar behauptet, die Perser seien bei Plataiai eher in der
Minderzahl gewesen; denn da sie nach dem Zeugnis des Herodot
Xri^LCLTi y.al (>«ujx7) oux eAasjovs? gewesen, so seien bei numerischer Über-
legenheit ihre Niederlagen unerklärlich. Indes die Bemerkung Herodots
geht, wie Olsen (S. 14) richtig gesehen hat, auf die Perser allein, und
daß im Heere des Xerxes viel minderwertiges Material vorhanden war,
ist bei der Buntscheckigkeit seiner Zusammensetzung kein Wunder.
Für den ungünstigen Ausgang bei Plataiai aber kommen neben der
für den Nahkampf wenig geeignete Bewaffnung noch andere Umstände
in Betracht: der Verlust des tüchtigsten Reiterführers und vor allem
der Tod des Obergenerals, der gleich im Beginn der Schlacht tiel.
Artabazos, an den das Kommando überging, war von vornherein gegen
Jabiosbericbt über griechiscbe Geschichte. (Lenschau.) 201
die Schlacht gewesen; er begnügte sich jetzt, den Kampf abzubrechen,
und zwar ohne grülSereu Verlust, was ihm auch, wie allseitig zuge-
standen, vollkommen gelungen ist.
Andererseits werden auch durch Burys Hypothese die Bewegungen
des griechischen Heeres verständlicher: an Stelle des planlosen flin-
und Herziehens bei Her. tritt ein strategisches Manöver mit bestimmtem
Grundgedanken, dessen Durchführung denn freilich mancherlei zu
wünschen übrigließ. Übrigens müssen bei den nächtlichen Operationen
und der mangelhaften Lokalkenntnis vielfach Verschiebungen vorge-
kommen sein, die dann nachher durch Stellungswechsel wieder
auszugleichen waren, und daraus ist dann die alberne Geschichte
von dem zweimaligen Stellungswechsel der Spartaner im An-
gesicht des Feindes entstanden , die jetzt allseitig als böswillige
athenische Mache anerkannt ist. Immerhin fragt es sich, was Pausanias
bewog, seine zuerst gewählte Stellung aufzugeben und sich in da?
schwierige von Bury geschilderte Manöver einzulassen. Mej'er meint, es
sei der Erfolg gegen Masistios und die Aussicht gewesen, das Heer auf
dem niedrigeren Terrain besser entwickeln zu können. Allein die dann
zu zweit gewählte Stellung würde auf Pausanias' strategisches Geschick
kein günstiges Licht werfen, wie sie denn tatsächlich zwei Tage später
aufgegeben werden mußte. Entweder muß man also Pausanias wirklicli
aggressive Tendenz zuschreiben wie Bury, und darin wird man sich gegen-
über Herodots Dai Stellung, die in den allgemeinen Grundlagen doch
wohl das Richtige bewahrt haben wird, schwer entschließen, oder es
bleibt nur die. Annahme, daß Pausanias wirklich die geheime In-
struktion hatte, anzugreifen. Und das wird begreiflich, wenn mau den
gleichzeitigen Gang des Seekrieges in Betracht zieht. Wie angekettet
lagen die Schiffe bei Delos, offenbar auf Anstiften Athens, das die
Elotte nicht aus der Hand geben durfte, ehe nicht In Böotien die Ent-
scheidung gefallen war, die Attika ein für allemal von der Gefahr
der Invasion befreite. Um endlich den Seekrieg in Gang zu bringen,
mögen sich die spartanischen Behörden zum entscheidenden Vorgehen
am Kithäron entschlossen und Pausanias demgemäß mit neuen In-
struktionen versehen haben. Man sieht, es ist die Umkehrung der
Delbrück-Meyerschen Vermutung: nicht das Vorgehen der Flotte hat
die Entscheidung in Boiotien, sondern der Sieg von Asopos hat die
Schlacht am Mykale und die Befreiung loniens herbeigeführt.
Einzelheiten aus dem Bericht Herodots mögen immerhin wahr
sein, wie das V^erhalten des Amompharetos oder die Botschaft König
Alexandres L. die Bury S. 295 verwirft, da sie ja involviert, daß
Mardonios schon am Vorabend den Entschluß zur Schlacht gefaßt
haben mußte (Lleyer S, 410), während diese nach Bury sich ganz von
202 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
selber am Morgen entwickelt. Indessen Ist es doch denkbar, daß M.
die griechische Stellung für so erschüttert hielt, daß er bereits den An-
griff für den folgenden Tag erwog, und dann sofort anrückte, als er die
ungünstige Lage der Griechen am Morgen der Schlacht bemerkte. Sehr
gut ist auch noch in Herodots Schilderung Pausanias' Verhalten un-
mittelbar vor der Schlacht zu erkennen, das Meyer (Forsch. II, 207) mit
Recht rühmt; daß er die Opfer nach seinen Zwecken benutzte, durfte
Olsen (S. 4 f.) nicht für eine unerhörte und deswegen unglaubliche
Frivolität halten: dergleichen frommer Betrug ist doch zu allen Zeiten
von den Eegierenden geübt worden, die der Religion freier gegenüber-
standen.
Von der Schlacht am Mykale und dem Ende des Perserzuges ist
wenig Neues zu melden, übrigens bricht sich doch mehr und mehr die
Überzeugung bei den Historikern Bahn, daß Sestos Einnahme tatsächlich
der Schluß des Kampfes ist, der also auch für Herodot den Schluß der
Darstellung bilden mußte. (Meyer GdA. III, 416 ff.). Über die sizilischen
Dinge sind wir nur in den Hauptpunkten unterrichtet; den Schlacht-
bericht über den Kampf am Himeras hat Bnry noch benutzt, während
Meyer ihn unzweifelhaft mit Recht als ganz unglaubwürdig verwirft.
Nahezu auf allen Gebieten des griechischen Lebens hat der Aus-
gang der Perserkriege eine ungeheure Umwälzung hervorgerufen: wie
sie zunächst in den geistigen Kämpfen, die sich im 6. Jahrhundert vor-
bereiteten, die Entscheidung gebracht haben, das hat Meyer (GdA. III,
418 ff.) eingehend dargelegt. Ihr stellt sich die ökonomische Umwälzung
an die Seite, für die auch weiterhin das darauf sich beziehende Kapitel
bei Beloch (Gr. Gesch. I, 393) maßgebend bleibt. In politischer Hin-
sicht bestand die Hauptwirkuug darin, daß infolge ihrer Siege im Osten
und Westen die Griechen die erste Nation der damaligen Welt geworden
waren: es kam nun vor allen Dingen darauf an, die so gewonnene
Stellung zu behaupten, und dies war nur möglich, wenn es gelang, die
Kräfte der griechischen Nation unter einheitlicher Führung zusammen-
zufassen. Allein, wie Bury in den von politischem Verständnis ge-
tragenen Ausführungen auf S. 323 auseinandersetzt, der Druck der aus-
wärtigen Feinde war nicht andauernd genug, um das Volk zu einer
politischen Einheit zusammenzuschmieden, und so ist Griechenland nicht
über den Dualismus der beiden führenden Mächte herausgekommen, w'enn-
gleich unzweifelhaft Tiiemistokles' Grundgedanke kein anderer gewesen
ist, als jene Einigung durch Zwang zu bewirken und Athen an die
Spitze der Gesamtnation zu stellen.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 203
Unstreitig aber hatte Sparta durch seine bisherige Suprematie die
geschichtlich besser begründete Anwartschaft auf die Führung, und das
scheint Pausanias begriffen zu haben, wenn ihm auch die staatsmännischen
Fähigkeiten abgingen, die zur Durchführung der Aufgabe nötig waren.
Immerhin sticht ei" in dieser Hinsicht vorteilhaft von den übrigen
Spartanern ab. Allein der Hauptgrund, weshalb Sparta in den Hinter-
grund gedrängt ward, lag doch in den inneren Verhältnissen des Staates,
die Meyer vortrefflich auseinandergesetzt hat (GdA. III, 459 f.). Es
war die geringe Anzahl der herrschenden Klasse und ihre Exklusivität,
die mangelhafte Ausnutzung seines an sich großen Territoriums, die
gänzlich unzulängliche Finanzwirtschaft Spartas, die ihm wohl erlaubten,
seine Stellung an der Spitze des peloponnesischen Bundes zu behaupten,
über ein Hinausgreifen Spartas über die Peloponnes und eine wahrhaft
gesamthellenische Politik unmöglich machten. Das einzige Mittel, das
hier geholfen hätte, wäre die Aufnahme starker Elemente aus der
untertänigen Bevölkerung in die herrschende Kaste gew'esen, und auch
diese llöglichkeit hat sich Pausanias' beweglichem Geiste dargeboten,
als es mit seinen persischen Verbindungen niclit recht vorwärts wollte.
Allein die Masse der Bürgerschaft und an ihrer Spitze die Ephoren,
sahen offenbar nicht den geringsten Grund, an der Verfassung des
lakedaimonischen Staates zu rütteln, die sich ihrer Ansicht nach in den
Perserkriegeu so wohl bewährt hatte, und an dem Widerstand, den sie
leisteten, ist König Pausanias zugrunde gegangen.
Anders Athen, wo eben ein Staatsmann ersten Ranges an der
Spitze der Verhältnisse stand, der die Gunst der Lage klar durch-
schaute und die geeigneten Mittel ohne Skrupel anzuwenden verstand.
Es ist klar, daß die Gründung des delisch-attischeu Seehundes die Folge
von Themistokies' Flottenpolitik war, die er selber mit Sicherheit voraus-
gesehen hat: daß er die Ausführung Aristidcs überließ, zeigt einmal
das innige Einvernehmen zwischen beiden Männern, das mehrere Jahre
andauerte (Meyer S. 481 ff.) und andererseits auch die Selbstbescheidung
des großen Mannes, der seine Unliebenswürdigkeit in persönlichen Ver-
handlungen wohl gefühlt haben mag. Durch die Begründung des See-
bundes wird Athen der Vertreter des Einheitsgedaukens, ebenso wie
Sparta der Hort des Partikularismus, der grollend beiseite stand.
Doch ist der feindliche Gegensatz nicht sofort zutage getreten: es gab
in Sp. eine Partei, die der Entwickelung Athens ruhig zusah, ihm auch
die Herrschaft über Hellas gönnte, sofern nur das spartanische Bundes-
gebiet unangetastet und die Ehrenstellung gewahrt blieb, ebenso wie
es umgekehrt in Athen immer sentimentale Politiker vom Schlage
Kiraons gab, die ein einträchtiges Zusammenwirken der beiden Groß-
mächte befürworteten. Dem gegenüber hat Themistokies gerade in
204 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.^
den Tagen, in denen der Gedanke an die eben geschlossene "Waffen-
brüderschaft noch alle Gemüter beherrschte, mit scharfem Blick die
Unmöglichkeit erkannt, eine endgültige Auseinandersetzung zwischen
den beiden Großstaaten zu vermeiden. Sofort nach den Perserkriegen
wird seine Politik lakonerfeindlich : wie beim Mauerbau (vgl. den Ex-
kurs: die Berichte über den themistokleischen Mauerbau. Keil, An. Arg.
p. 282 ff.), so ist er ihnen in der pyläischen Amphiktionie entgegen-
getreten, und als er durch den Ostrakisraos aus Athen vertrieben ward,
hat er noch von Arges aus für seine Vaterstadt gewirkt, indem er den
gefährlichen Aufstand gegen Sparta schürte, der damals in der Pelo-
ponnes noch nicht erloschen war.
Die Organisation des Bundes ist vor allem das Werk des
Aristeides, dem als Feldherr der junge Kimon zur Seite trat, und sie
ist auf der Basis eines Gesamtbeitrages von 460 tal. von ihm unter
gewissenhafter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit zur Zufriedenheit
aller geordnet worden. Daß die Summe des Phoros dieselbe blieb, auch
wenn die Zahl der Bundesgenossen sich vergrößerte, war eine weise
Maßregel, die die werbende Kraft des Bundes hinlänglich erklärt. Hin-
gegen sind wir über die innere Eutwickelung in der ersten Zeit des
Bundes nur mangelhaft unterrichtet, und so könnte es zweifelhaft er-
scheinen, ob die Anfänge der Einheitsbewegung auf rechtlichem Gebiet
in eine so frühe Zeit hineinragen, wie Meyer S. 496 ff. ausführt. Immer-
hin ist für ein großes Handelsgebiet, wie es der Band darstellte, eine
gewisse Übereinstimmung des bürgerlichen Rechtes eine Notwendigkeit,
und so werden wohl in der Tat die Staatsverträge zwischen Athen und
den Bundesgliedern über handelsrechtliche und vermögensrechtliche Be-
stimmung in frühe Zeit hinaufgehen: Meyer verweist besonders auf das
Psephisma für Phaseiis CIA 11, 11 = DS^ 72), das er mit Wilhelm in
die Zeit der Eurymedoaschlacht setzt und in welchem bereits ein Ver-
trag mit Chios über die Behandlung von Schuldvertiägen (?u}x|i6Xaia)
erwähnt wird (Meyer 499). Später jedenfalls erst beginnt die einheit-
liche Gestaltung der Kapitalgerichtsbarkeit durch Einzelverträge mit
den Bundesgliedern, wovon noch manche Reste erhalten sind.
Die Chronologie des auf die Perserkriege folgenden Zeitraums
liegt bekanntlich sehr im argen: um so wichtiger ist daher jedes neu-
gewonnene sichere Datum, und nach dieser Richtung hin haben Meyers
Untersuchungen über die spartanische Künigsliste zu wichtigen Ergeb-
nissen geführt (Forsch. II, 392 ff.). Indem er den Grundfehler in
Diodors Eurypontidenliste aufdeckt, der die Zahlen durchweg um 8 Jahre
zu hoch ansetzt, gewinnt er als sicheres Datum die Absetzung des
Laotychidas 469/8, wodurch dessen Feldzug gegen Thessalien, den Bury
S. 326 noch nach älterer Weise auf 476 verlegt, nunmehr auf das Jahr
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 205
469 bestimmt wird. Zugleich würde nach Plut. Cim. 16 das Erdbeben
465/4 fallen und dazu stimmen durchaus dieAngaben desThuk. (I, 101 ff.)
über den tliasischen Aufstand, der bekanntlich mit dem Erdbeben in
Zusammenhang entstand (Meyer, G. G. III, 534); ebenso müssen die
Bewegungen im Peloponnes, die Schlachten von Tegea und Dipaia, sowie
der S^^noikisraos von Elis in das Ende der siebziger Jahre fallen. Daß
Sparta bei allen diesen Kämpfen von Athen gänzlich unbehelligt blieb,
haben zuerst Nordin und nach ihm Mej'er (S. 518 f.) dadurch erklärt,
daß Sparta dafür um diese Zeit den Athenern freie Hand gegen den
ßegenten Pausauias ließ, dessen Vertreibung aus Byzanz (etwa 472)
den Athenern den Besitz der Meerenge nach dem Pontos verschaffte.
Bis dahin hatten ihn die Ephoren gewähren lassen, denen seine Fest-
setzung an jener wichtigen Stelle keineswegs unangenehm war. Da-
gegen schritten (Meyer S. 516 ff.) die Athener sofort ein, als Sparta
mit der thessaiischen Expedition nach Nordgriechenland hinübergriff:
nach einer m. E. von Meyer mit Unrecht verworfenen Notiz des
Plutarch (Them. 20 Meyer 521) hat Themistokles als Pylagor Spartas
Maßregeln verhindert, die seinen Einfluß im Norden befestigen sollten.
Es ist der letzte Dienst, den er seinem Vaterlande erwiesen hat; bald
darauf ist er verbannt worden.
Das Jahr dieser Verbannung ist allerdings ungewiß. Zwar
darin stimmen jetzt fast alle Forscher überein, daß die bekanntlich
von Ad. Bauer verteidigte Angabe des Ar. pol. Ath. 25, wonach Them.
noch 462/ 1 in Athen gewesen sein müßte, vollkommen wertlos ist;
andererseits ergibt sich aus der Darstellung des Aiscbylos in den
Persern, daß Themistokles noch 471 in hohem Ansehen stand; er kann
also weder zwischen 474 und 472 (Swoboda S. 73) noch 472 (Bury S. 334)
dem Ostrakismos zum Opfer gefallen sein. Was ihn gestürzt hat, ist
fraglich: doch müssen die Erfolge Kimons viel dazu beigetragen
haben. Während dieser zur Fortsetzung des Krieges gegen Persieu
drängte, hat Them. unzweifelhaft, wie Meyer S. 511 richtig gesehen
hat, diesen mit der Befreiung der Ostgriechen für abgeschlossen
erachtet: je mehr seine Politik auf Sparta und den griechischen Westen
ihr Augenmerk richtete, um so gleichgültiger ward ihm der Kampf
gegen Persieu, und das hat ihm den Vorwurf der Perserfreundlichkeit
eingetragen, der dann zu seiner Verurteilung wegen [L-i)o:^ii.6i geführt
hat. Als Zeitpunkt der Vertreibung nimmt Meyer etwa 470 an, allein
es fehlt ein äußerer Anlaß und diesen gewinnt man vielleicht, wenn
man um diese Zeit einen erneuten Vorstoß des Großkönigs annimmt.
Daß die Verhandlungen zwischen diesem und Pausanias so ganz ohne
Erfolg gewesen sind, wird man kaum annehmen dürfen; Ende 469
mögen die ersten Nachrichten über große persische Flottenrüstungeu
206 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
nach Athen gekommen sein und dieses hat nnn einerseits in Sparta
Pausanias' Heimberufung durchgesetzt, andererseits zu Hause der Politik
Kimons, die sich also doch als die richtige erwiesen hatte, dadurch
freie Bahn geschaffen, daß es seinen großen Gegner ostrakisierte.
Danach würden Pausanias' Rückkehr und Themistokles' Verbannung
etwa gleichzeitig 468 erfolgt sein. Pausanias benutzte seinen Aufenthalt
in Sparta zur Aufwiegelung der Heloten; Themistokles ging nach
Argos und suchte von hier aus die eben erst unterworfenen pelo-
ponnesischen Bundesgenossen wieder in Bewegung zu setzen. Beides
mißlang. Paus, ward der Prozeß gemacht und auf Grund des in
seinen Papieren beschlagnahmten Materials verlangten die Spartaner in
Athen Them. Verurteilung wegen ixYjoia[x6;, die denn auch erfolgte:
zugleich ward der persische Angriff noch im Entstehen durch die
Enrymedonschlacht vernichtet. Themistokles' Flucht nach Westen er-
klärt M. unzweifelhaft zutreffend daraus, daß er zu Hieron wollte,
dessen Tod 467 seinen Plan vereitelte (GdA. III, 522 ff). Darauf ging
er während der Belagerung von Naxos nach Ephesos und bald darauf
zum König, bei dem er kurz nach der Thronbesteigung des Artaxerxes
465 anlangte. Wann Them. gestorben ist, bleibt unsicher; über die
gewaltsame Art seines Todes waren bald verschiedene Erzählungen im
Umlauf, die auch Thuk. gekannt hat und deren Entstehung Bury S. 335,
gestützt auf Rhusopoulos und Gardner Class. ßev. 1898, zu erklären
sucht. — Von der Eurymedonschlacht aus, die nach den vorherigen
Ausführungen etwa noch 468 fallen würde (Meyer 467 oder 466), er-
gibt sich dann das Weitere. Indem der Angriff der Perser nunmehr
dauernd abgeschlagen erschien, hatte der Bund nach Ansicht vieler
seinen Zweck erfüllt und um so drückender ward seine Last empfunden.
Das war die Stimmung in Büudnerkreisen, die zum Abfall von Naxos
(466) und Thasos (465/3, vgl. Meyer GdA. III, 534) führte. Die von den
Thasiern erbetene lakedämonische Hilfe versagte im letzten Augenblick
infolge des Erdbebens mit dem darauf folgenden Helotenaufstand (464),
der dann zur Hilfssendung Athens und nach deren Abweisung zu
Kimons Sturz führte (461).
Inzwischen war in Athen durch Ephialtes und Perikles der letzte
Schritt getan, der zur Ausbildung der vollendeten Demokratie führte.
Die wirtschaftlichen Gründe, aus denen heraus diese letzte Umwälzung
vor sich ging, hat M. (S. 542 ff.) in glänzender Zusammenfassung ent-
wickelt; ebendort findet sich auch eine vortreffliche Schilderung der
beiden Parteien und ihrer politischen Überzeugungen. Der Angriff"
der radikalen Demokratie begann mit dem Vorstoß gegen Kiraon, der
Biegreich von Thasos zurückkam (463); allein der Prozeß ward nicht
ernstlich geführt, da die Radikalen die rechte Zeit noch nicht für ge-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 207
kommen erachteten. Erst das Ililfsgesuch von Sparta und die Absendunj?
von 4000 Hopliten, wohl meistens Anhängern der konservativen Rieh-
twüg Kimons, macht die Bahn frei: 462/1 wird der Areopag gestürzt
nud die schnöde Zurückweisnng zieht Kimons Verbannung nach sich.
Sehr gut zeigt M., daß eben diese Zurückweisung es war, die den Weg
zu einer Verständigung zwischen beiden Parteien bahnte, indem der
angetane Schimpf aucli die konservative Partei mit fortriß: auch
Äschylos hat das neue Bündnis mit Argos und Thessalien gebilligt
(Eumeniden 458). So vollzieht sich nun 460 die entscheidende Wendung
in dei" athenischen Politik: die radikale Demokratie nimmt im Ein-
verständnis mit den Gegnern den Krieg gegen Sparta und zugleich,
den Traditionen von Kimons Partei gemäß, auch den Kampf gegen
Persien auf (Meyer 582 ff.).
Der Verlauf des großen Krieges steht im allgemeinen fest, doch
sind in der chronologischen Bestimmung der Einzelheiten manche Fort-
schritte gemacht. Die Besetzung von Nanpaktos setzt Mej'er (GdA.
3, 519) auf 455 an, da nach Thuk. 1, 103 der Krieg 10 Jahre dauerte:
es liegt kein Grund vor, hier in Tetaptci) Irei zu ändern, wie noch
Burj"^ annimmt, der die Ansiedlung der Messenier ins Jahr 460 legt
(S. 353). Auch die Ansetzung der Schlacht von Oinoe nach Roberts
Vorgang auf 460 wird Beifall finden, da sie sich den bekannten Er-
eignissen gut einfügt. Dagegen ist die Verlegung des Bundesschatzes
von Delos nach Athen, die nach der allgemeinen, auch von Meyer ge-
teilten Ansicht 454/3 stattfand, neuerdings recht zweifelhaft geworden.
Bekanntlich beruht der Ansatz auf der Inschrift CIA I, 260, die
Koehler mit vollständiger Sicherheit folgendermaßen ergänzt hat: km
zr^q ßouXTJ?, f,i npuJTo; l7p]a[jL|Ji,aT£U£v, ^pys 8i 'Adrjvaiotc 'Apioiicuv
folgt Name der Hellenotamien und ihres Schreibers im. tr^c -s-cdp-ri;
xai Tp[iaxo(jTTJc «P7/(? oi xptaxovxa ai:£Cprjva]v -rrjv aTrapyfjV t^v öecöi (iv5v
oLTzb TaXav[Tou. Aristion, unter dem die 34. Zahlung stattfand, war
421/0 Archon, also haben die Zahlungen 454'3 begonnen. Daraus schloß
man bisher, daß damals der Schatz nach Athen gebracht sei und die
Zahlungen als eine Abgabe an die Göttin für Aufbewahrung des
Schatzes eingerichtet seien; im Zusammenhang damit hat dann Meyer
gezeigt, daß damals nach Niederwerfung des ägyptischen Aufstandes
allerdings Gefahr vorlag, daß eine persische Flotte in keckem Hand-
streich Delos genommen hätte. Nun aber hat Bruno Keil kürzlich
unter dem Titel Anonymus Argentinensis ein Papyrosblatt herausgegeben,
auf dessen Rückseite Exzerpte aus einer Geschichte Athens stehen,
deren Herkunft bisher noch nicht aufgeklärt ist (Vermutungen darüber
bei Keil 181 ff.), und unter diesen findet sich in § 2 die zwar arg
verstümmelte, aber doch mit aller wünschenswerten Genauigkeit her-
208 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
stellbare Notiz, daß unter Euthyderaos (450'49) auf Antrag des Perikles
die Bundesversammlung die Überführung: des Schatzes beschlossen habe.
Allerdings ist der Wert der Notiz einigermaßen zweifelhaft, und stände
sie mit der Inschrift in Widerspruch, so würde man dieser den Vorzug
geben müssen-, allein beide lassen sich wohl vereinigen: 454/3 begann
die Zahlung der Sechzigstel und 450/49, als die Perser einen neuen
Angriff planten, der dann durch die Seeschlacht bei Salamis vereitelt
ward, ist der Schatz nach Athen überführt worden.
Dieser Ansatz findet nun scheinbar eine Bestätigung durch eine
scharfsinnige Hj'pothese Bruno Keils. Es war schon manchmal auf-
gefallen, daß in jenen Abrechnungen in der Einleitung dem Namen des
Archonten ^pyev 6 osiva stets 'Aör^vaiotj hinzugefügt wird, was doch in
Athen sehr überflüssig war: dies erklärt sich nun nach K. so, daß die
ersten jener Abrechnungen noch in Delos aufgestellt waren, wo der
Zusatz seine Berechtigung hatte, und daß die einmal gewählte Form
des Einganges dann auch beibehalten ward, als der Schatz nach Athen
kam. Allein mit Recht hat Foucart gegen diese Ansicht geltend ge-
macht, daß sich derselbe Zusatz 'AOrjvaiots ja auch in den Baureclinungen
des Parthenon finde, wo er doch schlechterdings nicht ebenso berechtigt
sei, und hierauf fußend schlägt er eine andere Erklärung vor. Er
meint, wo der Zusatz 'Alirjvaioi; zu dem Archontennamen in Urkunden
stände, da bedeute er allemal, daß an den in der Urkunde gegebenen
Abrechnungen nicht bloß die Athener finanziell interessiert seien,
sondern auch die Bundesgenossen, die sich an dem Wiederaufbau der
von den Persern zerstörten Tempel beteiligt hätten. Bekanntlich ist
die Forderung des Wiederaufbaus einer der Hauptpunkte, die Perikles
456 (über das Datum s. u.) auf dem panhellenischen Kongreß vor-
brachte, allerdings ohne jeden Erfolg: zwei Jahre später fand er im
Bundesrat mehr Entgegenkommen, und so haben tatsächlich 454/3 die
Bundesgenossen auf seine Anregung hin votiert, daß ein Sechzigstel
der Tribute für diesen Zweck Verwendung finden sollte; demgemäß wäre
der Zusatz 'Ai)r,vaiot; auch in den Eingang der auf den Propyläenbau
bezüglichen Abrechnungen einzufügen. Die Ansicht Foucavts hat
zweifellos manches für sich, und ich halte es für möglich, daß auch
Meyer sich ihr anschließt. Dieser hat allerdings vorderhand in der
Vorrede des 4. Bandes der GdA. Keils Ansichten zurückgewiesen und
an der Überführung des Schatzes im Jahre 454/3 festgehalten: daß
indessen der Schluß, auf dem dies Datum beruht, ziemlich brüchig ist,
kann nach den Bemerkungen von Keil S. 127 keinem Zweifel unterliegen.
Auch in der Behandlung der Eingangsworte des Fragments
weicht Foucart von Keil ab. Nachdem zunächst von dei- Wahl der
Baubeamten die Rede gewesen ist, heißt es weiter xal xov Ilapösvoiva
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lcnschau.) 200
}j.jr £'[T]r, t [xaTaj:oXe|X7)8evTcüv rfiq xtov Ikpjtjcov rjp^avTO oty.ooojxrjsa'..
Keil faßt das [xer' stt) i, wie das nächstliegende ist. als von dem Zeit-
punkt ab zu rechnen, dem die vorhergehende Notiz über die Bau-
bearaten angehört, und da nun der Anfang des Parthenonbaus auf 447/6
feststeht, so hat er es wahrscheinlich zu machen gesucht, daß tatsäch-
lich zehn Jahre früher, im Ausclilur) an den panhellenischeu Kongreß des
Perikles wichtige Entscheidungen in betreff der Bebauung der Burg-
flache gefallen sind (S. 78 ff.). Die Verzögerung im Beginn des Baus
erklärt er aus den notwendigen Vorbereitungen und den schweren Nieder-
lagen Athens in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, die Unsummen
versehlangen; erst die Überführung des Schatzes brachte die dafür
nötigen Geldmittel (Keil S. 116 ff). Bei dieser Auffassung ist nun
allerdings xaTajzoXEfjLTiöIvTwv r^0T^ tojv llspsuüv ein ziemlich überflüssiger
Zusatz, der sich natürlich auf die Seeschlacht bei Cypern und den
Kalliasfrieden bezieht; daß er sachlich nicht richtig ist, bildet keinen
Anstoß: wenn auch von einer y.aTaTioXeixYjjtc der Perser 449 nicht im
entferntesten die Rede war, so hat in der patriotischen Geschicht-
Echreibung doch der Abschluß der Perserkriege dafür gegolten. Anders
faßt Foucart die Sache an, er sucht in der Lücke, die Keil mit den
Worten •Ka■:ar.oX^\).r^\}iv-^o^/ xxe ausfüllt, die Angabe des Terrains, von
dem die zehn Jahre an zu rechnen sind, und da dafür natürlich Keils
Ergänzung viel zu unbestimmt ist, so schlägt er vor, [xt-" e-r) t' lAsri
Ty;v ava-/ü)prjaiv xcov Ospsiuv zu lesen, wobei natürlich diese ava/iupr^j'.;
in das Jahr 47 i) zu setzen wäre. Es ergäbe sich also aus den Worten
des Fragments die interessante Tatsache, daß bereits 469 mit dem Bau
des Parthenon begonnen worden ist. Nur war das eben nicht der peri-
kleische Bau, der 447 6 augefangen ward, sondern ein anderer, älterer,
dessen Grundmauern schon seit längerer Zeit auf der Akropolis aufge-
df!ckt sind: es sind die von Roß 1835 gefundenen Fundamente, die
lange Zeit für Reste des pisistratischen Hekatompedos gehalten wurden.
Daß dieser Bau zugleich und in organischem Zusammenhang mit der
südlichen Burgmauer geplant ist, hat Keil S. 84 ff. erwiesen, und da
<jie Südmauer, die sog. kimonische Mauer, alter Überlieferung zufolge,
aus der Beute der Eurymedouschlacht gebaut ward, so stimmt die Chro-
nologie genau. Möglich wäi'e nach dem oben Gesagten ja durchaus, daß
der Bauplan noch unter Themistokles' Mitwirkung festgesetzt wäre, und
so hätte danach Furtwäiiglers Bezeichnung „themistokleischer Parthenon"
«twas tür sich. Weshalb der ursprüngliche Plan später zugunsten des
perikleischen aufgegeben ward, hat Foucart ebenfalls S. 7 ff. ausein-
andergesetzt. — Eine Entscheidung zwischen den beiden Hypothesen
ist .zunächst unmöglich; was Foucart gegen Keil vorgebracht hat, ist
ohne Belang und dient offenbar nur, seiner Hypothese den Weg zu
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 14
210 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Leaschau.)
bahnen, die dann freilich auch annehmbar erscheint. Danach sind die
Angaben des Anonymus für die Chronologie kaum verwendbar, zumal
ja auch nicht ausgeschlossen ist, daß hinter dem t noch ein weiteres
Zahlzeichen stand.
Endlich das Ende des großen Kampfes, der Kallias friede von 449
und die dreißigjährigen Verträge von "446. Wie der sog. kimonische
Friede längst ins Gebiet der Legende verwiesen ist, so hat man auch
wohl die Existenz des Kalliasfriedeus völlig bestritten und nur ein fak-
tisches Aufhören des Kriegszustandes zwischen Athen und dem Perser-
könig zugeben wollen. Dennoch ist nicht zu bezweifeln, daß ein Ab-
kommen in irgendwelcher Form vorhanden gewesen sein muß, und daÜ
es auch tatsächlich durch Kallias' Yermittelung zum Abschluß ge-
kommen ist: die Gründe dafür hat Meyer, Forsch. II, 471 ff. noch ein-
mal ausführlich dargelegt. Freilich ein besonderer Grund , das Ab-
kommen, das die kyprischeu Städte dem König auslieferte, als einen
hervorragenden Erfolg zu feiern, war nicht vorhanden, um so weniger
als in dem Kriegszustand mit Persien auch die Existenberechtigung des
delischen Bundes wegfiel. Daß man das in bundesgenössischen Kreisen
wohl fühlte, zeigt der Abfall Euboias, und die Notwendigkeit, jetzt vor
allem das Reich zusammenzuhalten, nachdem der äußere Druck weg-
gefallen war, hat Perikles dann 446 zu den dreißigjährigen Verträgen
bewogen, durch die endgültig mit der Angriffspolitik von 461/0 ge-
brochen und die kontinentale Machtstellung Athens aufgegeben ward.
Aber die erste Großmacht zur See war Athen geblieben, und wah)-
scheinlich sind es gerade die Kriegsjabre gewesen, die dem Handel Athens
seine dominierende Stellung durch Lahmlegung der wichtigsten Kon-
kurrenten verschafften, vor allem auch im Westen, de}' bis dahin so
ziemlich korintldsche Domäne gewesen war. Wie günstig hier nach
Zurückdrängung der Karthager durch Gelou, nach dem Sturz der Mili-
tärmonarchie von Syrakus und der Niederwerfung des Duketios für das
Eingreifen Athens lagen, das zeigt die ausführliche Schilderung, die
Meyer am Ende des dritten Bandes (III, 625 ff.) von den Verhältnissen
der Westgriechen im 5. Jahrhundert entworfen hat.
Die beiden Friedensschlüsse von 449 und 446 bedeuteten das un-
verhohlene Eingeständnis, daß die Eroberungspolitik von 461, mit der
die demokratische Partei so glänzend begonnen hatte, vollständig ge-
scheitert sei; um so schwieriger war die Stellung des Staatsraaune?,
der einst in jugendlicher Tatenlust der energischste Vorkämpfer jener
Politik gewesen war und jetzt, der erkannten Notwendigkeit folgend,
mit fester Hand ihre Liquidation durchgeführt hatte. In der Tat ist
die durch die Friedensschlüsse geschaffene Lage die stärkste Probe auf
Perikles' staatsmännische Kunst gewesen, und rein politisch genommen.
Jaliresbericlit über griechische Geschichte. (Lenschau.) 211
(las vvivfl man Areyers Darstelluiii; dieser Ilauptperiode in Perikles'
Leben (OdA. IV, 1 — 52) zucreben, hat er die Probe glänzend bestanden.
Zunächst galt es den Anspruch der Stadt, nach außen hin die Gesamt-
vertreterin der hellenischen Nation zn sein, nicht fallen zu lassen, und
in diese Richtung seiner Politik würde sich die bekannte Xotiz über
Perikles' panhellenischen Kong-rel.l (Plut. Per. 17) einfüg'en, den des-
halb Meyer (GdA. TV, S. 6) zwischen Kalliasfrieden und Beg-inn des
Parthenonbaus verlegt, obwohl der Zusammenhang, in dem Plutarch die
Sache erwähnt, mehr auf die Zeit von 456 hindeutet. Nun mag es ja
sein, daß die historischen Notizen, in die in der Plutarchbiographie jene
Erwähnung eingebettet ist. an sich wertlos sind, und das Ereignis selber
so gut wie zeitlos überliefert ist. Dennoch kann man bezweifeln, ob
die Zeit nach 449 für ein solches Unternehmen wie den panhellenischen
Kongreß wirklich geeignet war. Wenn selbst in Athen der Abschluß
des Friedens einen derartigen Sturm der Entrüstung erregte, daß ihm
der Unterhändler Kallias zum Opfer fiel und in die Verbannung gehen
mußte, wie viel mehr mag man sich in Griechenland über den Ausgang
des gi'oßen Kampfes skandaliert haben, der sogar griechische Gemein-
wesen dem Könige preisgab und durch den Athen auf den einzigen
ßuhmestitel, den ihm niemand streitig machte, auf die Führung im
Kampf gegen den Erbfeind verzichtete! Das war sicherlich nicht die
für einen panhellenischen Kongreß günstige Stimmung. Das erkennt
auch M. an, wenn er meint, Perikles habe schwerlich einen günstigen
Ausgang erwartet, allein er sei auch darin ein echter Athener gewesen,
dalj er derartige Demonstrationen geliebt habe, in denen Athen selbst
das aussprach, was der Neid der übrigen Griechen ihm nicht zubilligen
wollte. Mag sein, wenn aber die Demonstration einen "Wert haben
sollte, so gehörte dazu doch vor allem eine starke Beteiligung von
Seiten der übrigen Staaten, und die wäre 449 bei der allgemeinen Ver-
haßtheit Athens sicherlich ausgeblieben. Viel günstiger lagen die Dinge
für das Zustandekommen des Kongresses im Jahre 456, als Athen nach
dem glänzenden Siege von Oinophyta auf der Höhe seiner Macht über
ein weites Landaebiet gebot und auch äußerlich an der Spitze der
Nation stand. Nicht einmal die Spartaner vermochten sich damals dem
Einflüsse Athens zu entziehen, wenn sie auch den Erfolg des Kongresses
zu verhindern wußten; 447 hätte sich kein Staat in Hellas um die
Aufforderung der Athener gekümmert. — Dagegen sieht M. mit vollem
Eecht in der Besiedelung von Thurioi ein Stück jener panhellenischen
Politik, die zugleich das Interesse Athens im Auge hatte. Die Stadt
sollte eine gesamthellenische Kolonie sein und zugleich Athens Stellung
im Westen stärken, wo seine Beziehungen immer mächtiger sich ent-
wickelten. Der Gedanke war großartig: er stammte in letzter Linie
14*
212 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
von Themistokles, dem Verhaßten, dessen Politik Perikles doch lang-
sam, Stück für Stück, hat übernehmen müssen. Aber die Ausführung
scheiterte endlich: ein Staatsmann vom Range des Themistokles ist Pe-
rikles eben nicht gewesen.
Geradezu bewunderungswürdig dagegen vom rein partei-
politischen Standpunkt aus ist die Art, wie sich Perikles trotz der von
ihm selbst herbeigeführten Niederlage seiner eigenen Politik von 461
die Gunst der radikalen Massen zu erhalten gewußt bat (Meyer GdA.
IV, 8), indem er das attische Bürgerrecht zu einem lukrativen Geschäft
zu machen verstand. Zunächst ist er auf der mit dem Richtersold einmal
eingeschlagenen Bahn konsequent weiter gegangen, die Verteilungen von
Kleruchenland kommen gleichfalls den ärmeren Bürgern zugute und
unmittelbar mit den Friedensschlüssen setzt jene glänzende Bauperiode
ein, die einer Unzahl von Bürgern Arbeit und lohnenden Gewinn
brachte. In diesen Zusammenhang fügt M. mit Recht nun auch das früher
angezweifelte, jetzt durch Aristoteles sichergestellte Bastardgesetz
ein, das dazu bestimmt w^ar, den Bürgern den legitimen Genuß der aus
den Staatsüberschüssen gewährten Emolumente zu sichern und die
Illegitimen auszuschließen, die durch ihre Menge den Anteil der Bürger
verkürzten. Staatsmäunisch betrachtet dagegen unterliegen alle diese
Maßregeln den schwersten Bedenken; mit Recht weist M. darauf hin.
daß hier die faule Stelle der perikleischen Politik lag, au der das
attische Reich schließlich zugrunde gegangen ist, und sehr passend zieht
er die großartige römische Bürgerrechtspolitik heran, die sich nicht
scheute, selbst eben erst unterwoifene Feinde in den Bürgerverband
aufzunehmen. Wäre ähnliches gegenüber den Metökeu , wie es
Kleisthenes 510 gewagt hatte, und den Bundesgenosssen geschehen, so
wäre der Verfall des Reiches abzuwenden gewesen. Eben das Beispiel
des Kleisthenes und die von der Not eingegebenen Vorschläge nach 414
zeigen, daß derartige Gedanken den Athenern nicht fern lagen:
Perikles hat sie nicht aufgenommen, weil sie seine Stellung gefährdet
haben würden. Mag er das auch nicht aus grober Selbstsucht, sondern
aus dem Bewußt-ein heraiis getan haben, daß niemand außer ihm im-
stande sei, den Staat durch die kommenden Gefahren hindurchzusteuern,
es bleibt doch seine Schuld, daß Athen bei dieser engherzigen Auffassung
des Bürgerrechts verharrte, und so ist das Reich daran zugrunde ge-
gangen, daß sein erfolgreichster Staatsmann persönliche Interessen über
die Sache gestellt hat.
Dagegen erkannte Perikles schon früh die Unvermeidlichkeit des
Konflikts mit Spaita und seine Vaterstadt für den heraufziehenden
Kampf so zu stärken, daß sie ihn siegreich bestehen mußte, das ist die
vornehmste Sorge seines Lebens geworden. Aus dieser T^berlegung
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Leuschau.) 213
heraus hat er den Büudnern gegenüber eine ungemein zielbewußte
Politik eingeschlagen, die mit Benutzung der vorhandenen Ansätze un-
weigerlich zur vollendeten Ausbildung des Reiches, zur Umwandlung
der Bundesgenossen in Untertanen führen mußte. Auch hier trieben ihn
die Ereignisse vorwärts. Mit dem Kalliasfrieden war dem Bunde der
Existenzgrund genommen : war kein Krieg mehr mit Persien, so bedurfte
er des Bundes nicht mehr und der unmittelbar folgende Abfall Eubüas
wirft ein grelles Streiflicht auf die damals unter den Bünduern
herischende Gärung. Hier hat Perikles scharf zugegriifen: als das
Hauptmittel, wodurch er die athenische Herrschaft über das Bundes-
gebiet befestigte, erkennt Meyer die Kleruchien in ihren beiden zuerst
von Beloch erkannten Abarten: die einen wie Hestiaia, Samos u. u.
lediglich aus athenischen Bürgern bestehend — nur in Amphipolis
wurden Bundesgenossen zugelassen — und den römischen Militärkoloniea
nicht unähnlich, die andern mehr im Charakter einer Besatzung, indem
ein Teil der bundesgeuüssischen Feldmark gegen teilweiseu Erlaß des
Tributes annektiert und mit athenischen Bürgern besiedelt ward. Mit
ßecht hat M. nach Busolts Vorgang die plötzlichen starken Verände-
rungen der Tributzahluugen, wie sie sich in den Listen finden, als ein
Anzeichen verwertet, daß au dem betreffenden Orte derartige Besatzungen
eingerichtet wurden (GdA. IV, 19 ff.). Durch diese Maßregeln erhielt
jiatürlich die Herrschaft Athens über das Bundesgebiet eine bedeutende
Stärkung, aber zugleich lastete sie immer schwerer auf den Büudnern
und hier ist denn auch der Punkt, an dem die attische Opposition
einsetzte, au ihrer Spitze Thukydides, der Sohn des Melesias, der jahre-
lang die Sache der Bünduer vertrat. In eingehender Untersuchung hat
M. (Forsch. II, 82 ff.) es wahrscheinlich gemacht, daß der Ostrakismos
des Thukj'^dides der neuen Bezirkseiuteiluug des Bandes, die im
Jahre 443/2 erfolgte, unmittelbar vorausgeht und mit ihr in ursäch-
lichem Zusammenhang steht. Mit der Bezirkseinteilung kam die Neu-
organisation des Reiches auch äußerlich zum Abschluß ; sie blieb von da
ab bestehen, nur daß wenige Jahre nachher der karische und der ionische
Bezirk zusammengeworfen wurden. Die späteren Anschlüsse, die be-
sonders durch Perikles' poutische Fahrt zustande kamen, blieben außer-
halb des Bezirksverbandes und erscheinen deshalb auch nicht in den
Tributlisteu, offenbar weil man für diese an dem Xormalsatz des Aristides
festhalten wollte; hätte man neue Mitglieder in den alten Verband auf-
genommen, so hätte bei den früheren Bündnern eine entsprechende Ver-
rainderuDg stattfinden müssen (Meyer GdA. IV, 44). Über die Art und
Weise, wie man sich die Pestsetzung, Beitreibung und Verrech-
nung der Tribute zu denken habe, hat W. B an ni er in anschaulicher
und größtenteils durchaus einleuchtender Weise auf Grund der vor-
214 Jabresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
handenen Tributlisteu gehandelt. Danach ward zunächst für jeden
Bezirk eine Voreinschätzung (1) durch 2 xa/xai wohl auf Grund der
vorigen Hebelisten veranstaltet, welche dann als Grundlage für die vom
Kate vorzunehmende, vom Volk ev. abzuändernde Veranschlagung (2)
diente. Nach ßekannt^'abe (3) dieser Veranlagung erfolgte die Erledi-
gung der Berufungen, die beim Rat eingebracht, dem Volke vorgelegt
und vor den Heliastengerichten entschieden wurden. Alsdann ward die
Hebeliste aufgestellt (4) von der eine Abschrift an die Hellenotamieu
ging. Nun begann die Vereinnahmung (5); über die eingegangenen Be-
träge ward Buch geführt und die Logisten erhielten ein Verzeichnis,
um die Sechzigstel zu berechnen; auch ward eine Ausfallliste ange-
fertigt. Hierauf folgte die Berechnung und Abführung der Sechzigstel
(G) und endlich die Beitreibung der nicht gezahlten Tribute (7). Wenn
auch im einzelnen natürlich einiges Hypothetische mit unterläuft, so ist
im ganzen das umständliche Geschäft der Tributerhebung doch un-
zweifelhaft in den von Bannier geschilderten Formen vor sich
gegangen.
So groß indessen Perikles' Verdienste um die Befestigung des
Reiches sind, noch höher ist vielleicht die umfassende und geradezu
organisatorische Tätigkeit anzuschlagen, die er auf finanziellem Ge-
biet entfaltete, um Athen die nötigen Geldmittel für den bevorstehenden
Krieg zu sichern. In ihr sieht Meyer das eigentlich Schöpferische der
perikleischen Politik und die Darstellung derselben, anknüpfend an die
Besprechung des bekannten Kalliaspsephismas, für das Meyer gegen
Beloch an der Kirchhoffschen Datierung festhält (434/3), erweitert sich
zu einer Finanzgeschichte Athens im 5. Jahrhundert, die einen großen
Teil des 2. Bandes der Forschungen einnimmt (11, 88 — 148). In den
Hauptgruudzügen wird M. entschieden beizustimmen sein: daß sowohl
die athenischen Staatseinnahmen, die er (GdA. 4, 29) auf annähernd
1000 tal. berechnet, keine Überschüsse ergeben haben, ist ziemlich
klar und ebenso müssen die während des Kriegszustandes auf 600 tal.
erhöhten Einnahmen aus dem Bundesgebiet (vgl. Keil S. 117 ff.) be-
sonders in den unglücklichen Kriegsjahren nach 456 völlig darauf
gegangen sein. Sobald also ein Krieg in Hellas ausbrach, wäre der
Staat in einer schlimmen Lage gewesen, wenn ihm nicht Anleihen aus
dem stattlichen Schatz der Athena zur Verfügung gestanden hätten,
und in eingehender Darstellung hat Meyer die Ansicht begründet, daß
Perikles prinzipiell den Schatz der Burggöttin als Reservefonds ange-
sehen hat, für den die Festsetzung einer oberen Grenze eben durch das
Psephisma des Kallias erfolgt ist. Nun ist es allerdings zweifellos, daß
in dem Beschluß selbst die Gründung eines Reichsschatzes aus den zu
erwartenden Überschüssen ins Auge gefaßt wird, und daraufliin hat be-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 215
kanutlich Kirchhoft' die gesonderte Existenz eines solchen für die Folge-
zeit angenommen. Allein M. hat überzeugend aiisgeführt, daß in betreff
des Reichsschatzes der Beschluß nur auf dem Papier geblieben ist,
indem der Beginn der kriegerischen Verwickelungen im Jahre 433 den
Überschüssen, die auch nach 434 aus den Bundessteuern erzielt
wurden und aus denen der Schatz angesammelt werden sollte, ein für
allemal ein Ende bereitete (Forsch. II, 114 ff.).
Im einzelnen freilich lassen sich manche Bedenken gegen M. er-
heben, wie denn seine Ansicht über die relative Bedeutungslosigkeit
der Kolakreten im 5. Jahrhundert (Forsch. II, 134 f.) bereits in Keil
einen energischen Gegner gefunden hat (S. 163 ff.), allein das ist auf
einem Gebiete nicht zu vermeiden, wo selbst die wichtigsten überlieferten
Tatsachen noch kontrovers sind. So sieht Beloch in den 2012 tal., die
nach Heliodoros bei Harp. der Bau der Propyläen gekostet haben soll,
die Gesamtkosten aller Tempelbauten auf der Burg (Gr. Gesch. l, 427
u. a.), während M. dem Wortlaut gemäß die Angabe nur auf die Pro-
pyläen bezieht; es ist ja aber klar, daß danach alle Berechnungen voll-
kommen verschieden ausfallen müssen. Ferner spielt in Meyers Berech-
nungen der 450/49 überführte Bundesschatz überhaupt keine Rolle,
offenbar weil er seiner Ansicht nach ganz geringfügig gewesen ist.
Nun ist allerdings richtig, daß die 5000 tal., die der Anon. Argent.
gibt, viel zu hoch gegriffen sind; Keil selber hat wahrscheinlich gemacht,
auf welche Weise der Verfasser zu seinem x\nsatz gekommen ist
(S. 117 ff.). Allein Keil weist doch auch darauf hin, daß 450/49 ein
ziemlich beträchtlicher Ivassenbestand vorhanden gewesen sein muß,
indem die erhöhten cpopo-. doch wohl aufgespart wurden für eine neue
Expedition gegen die Perser, die dann tatsächlich 449 erfolgte, und
andererseits, wenn der Schatz wirklich nur einen ganz minimalen Be-
stand hatte, wie M. meint, weshalb war es denn nötig, ihn zu flüchten?
Dazu bleibt es ja gerade bei Meyers Ansicht, wonach die Staatsein-
nahmen auch im Frieden aufgebraucht wurden, vollständig unerklärt,
woher die großen Überschüsse kamen, die es den Athenern ermöglichten,
von 446 bis 433 bei einem Eingang von höchstens 6500 tal. aus dem
Bundesgebiet nicht bloß jene gewaltige Bautätigkeit zu entwickeln,
sondern auch noch die 3000 tal. auf die Burg zu bringen, von denen
im Beginn des Kalliaspsephismas gesprochen wird. Mag die Göttin
immerhin einen großen Teil der Kosten getragen haben, die Aus-
schmückung der Akropolis muß Unsummen verschlungen haben, wie sie
aus den gewöhnlichen Staats- und Reichseinnahmen niemals gedeckt
w'erden konnten. Um so wahrscheinlicher ist es, daß eine ziemlich be-
trächtliche Summe im Bundesschatz lag, die nunmehr für athenische
Zwecke Verwendung fand. Auch ist offenbar doch ein Kausalzusammen-
216 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
hang zwisclieu der Verlegung' des Schatzes einerseits und dem Beginn
sowie dem ununterbrochenen Fortgang der Bautätigkeit andererseits,
und eben dahin deutet der schon im Altertum den Athenern oft geaug
gemachte Vorwurf, daß es sich auf Kosten der Bundesgenossen mit
Bauten geschmückt habe. Die beschlußmäßig abgeführten Sechzigste!,
im Jahr höchstens 7 — 10 tal., können unmöglich die Grundlage einer
solchen Behauptung abgegeben haben.
Soweit die allgemeinen Richtungslinien der Perikleischen Politik:
das Bild des Mannes selber hat auf dieser Grundlage M. ia einzelnen
Zügen schärfer und richtiger gezeichnet, als das bisher möglich war
(GdA.. 4, 46 ff.). Er ist ihm nicht mehr der erste Staatsmann, den die
hellenische Welt hervorgebracht hat: diese Stelle gebührt dem Themi-
stokles, den Perikles im Anfang seiner Laufbahn heftig befehdete und
auf dessen Gedanken er doch zuletzt wieder hingedrängt ward, sondern
auch M. schließt sich Belochs Ansicht au, der zuerst das entscheidende
Wort über Perikles geprägt; er ist der große Parlamentarier, der von
der inneren Politik herkam und auf diesem Gebiet zeitlebens Meister
geblieben ist. In der Kunst, die Massen zu lenken, steht er unerreicht
da; wenn seine Mittel dabei auch nicht immer einwandsfrei W'aren —
sein Ziel hat er niemals verfehlt. Allein M. ist doch gerecht genug,
anzuerkennen, daß Per. sich allmählich auch in das Verständnis der
großen Politik hineingearbeitet hat; sein Bruch mit der von ihm selber
461 empfohlenen Offensivpolitik, die er als undurchführbar erkannt
hatte, beweist das hinlänglich. „Auch P. ist ein anderer, Größerer
geworden, als er vom Parteihaupt zum Regenten emporstieg. Er wurde
freier und eben deshalb gemäßigter." Dennoch bleibt es richtig, daß
er die harten Realitäten in der äußeren Politik nicht hinlänglich ge-
würdigt hat, wie die verfehlte Gründung von Thurioi beweist. Schöpfe-
risch ist er eben nur in der inneren Politik und auf ihrem wichtigsten
Gebiet, dem Finanzwesen, geblieben.
Au diese Darstellung der Person des Perikles schließt sich bei
Meyer eine umfassende Darstellung der hellenischen Kultur im 5. Jahr-
hundert überhaupt. Soweit uie materiellen Grundlagen dabei in Frage
koniuien, ist sie später zu behandeln; w'as die Schilderung der geistigen
Entwickelung betrifft, so muß ich mich mit Anführung der Haupt-
gedanken und einiger besonders prägnanter Sätze begnügen. Dahin
gehört zunächst der Gedanke, daß nirgendwo und nirgendwann die
Bildung so tief in die breiten Schichten des Volkes eingedrungen ist,
wie im perikleischen Athen (S. 99 f.). eine Bildung allerdings, die sicli
vorwiegend mit künstlerischen Problemen befaßte und ursprünglich ebenso
sehr die Ergebnisse der Fachwissenschaften ablehnte, wie die der Phi-
losophie, besonders wo diese zu dem alten Götterglauben in Gegensatz
Jahresbericht über griechische Geschichte. (LenscLau.) 217
trat. Die Weltanschauung, die sich auf dieser Grundlage bei den Ge-
bildeten des perikleischen Zeitalters entwickelte und die er mit dem
Namen des empirischen Kealismus bezeichnet, hat M. ausführlich ge-
schildert (GdA. 4, 121 — 139, vgl. auch den Aufsatz über Herodots Welt-
anschauung Forsch. II, 256 ff.); ihre Vertreter sind ihm in erster Linie
Herodot, Sophokles und Perikles selber. Allein stärker und stärker
machte sich die Gegenströmung geltend: der Zweifel an den Göttern,
die der sittlichen Forderung nicht genügten, der Zweifel an der Vor-
trefflichkeit der herrschenden Demokratie, deren Schäden zu deutlich
hervortraten, und endlich das Betonen der Eiuzelpersönlichkeit, deren
überrtvgeuder Intellekt die der Menge gezogeneu Schranken mißachtet
und deren Beispiel man in einem Menschen wie Alkibiades vor Augen
hatte (S. 139 ff.). Der Vertreter und Prophet dieser neuen Ideen ist
Euripides, dessen Leben ein fortwährender Kampf gegen die alte Welt-
anschauung gewesen ist und der eben darum bei seinen Lebzeiten so
bitterwenig Anerkennung gefunden hat (S. 149 ff'.).
Nebenall dem her aber geht die gewaltige Umwälzung der gesamt-
hellenischen Kunst, Literatur und Wissenschaft (GdA. 4, 163 ff.). An-
geregt durch das gewaltige politische p]reiguis der Perserkriege streift
die bildende Kunst überall die starre Gebundenheit der älteren Kunst-
weise und ringt sich von der Schöpfung bewegter Idealgestalten all-
mählich zum Realismus durch; ein ähnlicher Vorgang vollzieht sich in
der Eutwickeluug der Dichtkunst, in dem Entstehen der Kunstprosa.
Infolge des überwiegenden Interesses aber, das Athen gerade den künst-
lerischen Problemen entgegenbringt, spielen sich alle diese Entwicke-
lungen in Athen ab; nur Argos, die zweite große Demokratie Griechen-
lands, hat in der Plastik eine eigene Kunstblüte erzeugt. Anders die
Ausbildung der exakten Wissenschaften und der Philosophie, der M.
ebenfalls ein Kapitel gewidmet hat, worin eine gewisse Vorliebe für
Pj'thagoras und die Eleaten neben einer Unterschätzung der leukippisch-
demokritischen Atomistik hervortritt: beide sind fern von Athen im
Osten und Westen erwachsen und seiner Art ursprünglich fremd. Allein
indem an Stelle der ontologischen und metaphysischen Spekulationen
wesentlich praktische Fragen treten, vor allen Dingen das Erziehungs-
problem, dessen sich sofort die Sophisten bemächtigen, wird Athen auch
in dieser Hinsicht der Hauptschauplatz des Streites zwischen alter und
neuer Weltanschauung, der schon in vollem Gange w'ar, als am poli-
tischen Horizont drohend der Kampf um die Vorherrschaft in Hellas
heraufzog.
218 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Viertes Kapitel.
Der Kampf um die Vorherrschaft 431 — 338.
J. B. Bury, a bistory of Greece p. 390—737.
H. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der polit.
Geschichte Bd. 1.
J. Kaerst, Geschichte des Hellenismus. I. 1 — 200. Leipzig 1901.
J. Kromayer, Antike Schlachtfelder in Griechenland. Bd. 1.
Von Eparainondas bis zum Eingreifen der Römer, 8. 1 — 195
(Mantineia u. Chaironeia). Leipzig 1903.
Ed. Meyer, Geschichte des Altertums. Bd. 4, 273—666. Bd. 5.
— Forschungen z. griech. Geschichte IL
0. Neuhaus, die Überlieferung über Aspasia von Phokäa.
Rh. Mus. N. F. 56, 272—283.
W. Kolbe, ein chronologischer Beitrag zui' Vorgeschichte d.
peloponnesischeu Krieges. Herm. 34, 380—394. 1899.
E. Dammauu, der Anfang des peloponu. Krieges. Philol. 58,
133—147. 1899.
Edm. Lange, noch einmal der Anfang des pelop. Krieges ibid.
553—556.
G. Busolt, zur Aufhebung der Verbannung des Thukydides.
Herm. 33, 336—40. 1898.
— Aristoteles oder Xenophon. Herm. 33, 71—86. 1898.
— zur Chronologie des Peloponnesischeu Krieges. Herm. 35,
573—584. 1900.
— zur Chronologie Xenophons. Herm. 33, 661—664. 1898.
\V. Di tten berger, die Familie des Alkibiades. Herm. 37,
1—13. 1902.
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Über die Ursachen des großen Krieges, dessen Ausgang Athens
Großmachtstelhing in der damaligen Welt zwischen den Karthagern im
Westen und dem Großkönig im Osten für immer vernichtete, hat es
bereits unter den Zeitgenossen zwei wesentlich verschiedene Ansichten
gegeben, aus deren Vermengung, wie Meyer (Forsch. II, 296 und
Exkurs 326 ff.) dargetan hat, alle Angaben der Späteren abzuleiten
sind. Die eine, die für uns hauptsächlich durch das Zeugnis der
attischen Komödie vertreten wird, läßt Perikles aus durchaus persön-
lichen Motiven den Krieg beginnen: in ihr spielt das im Sommer 432
gegen Megara erlassene Psephisma eine ganz besondere Rolle. Die
zweite Auffassung ist die des Thukydides, wonach als letzter und
eigentlicher Grund des Kampfes die wachsende Kriegslust der Spartaner
anzusehen ist, die mit Besorgnis das weitere Umsichgreifen Athens
verfolgen und so von den Koriutbern gedrängt sich zum Kriege ent-
&chließen: die Verwickelungen in Korkyra und der Chalkidike sind danach
nur der zufällige Anlaß des Krieges, der so wie so unvermeidlich war,
und das megarische Psephisma ist gar nur eine Episode aus der Vor-
geschichte, die bei der Aufzählung der Gründe überhaupt nicht in
Frage kommen kann. Derselbe Gegensatz beherrscht auch die Dar-
stellung der modernen Historiker : bekanntlich hat Beloch am energischsten
den Standpunkt vertreten, Perikles habe den Krieg aus Selbstsucht ent-
zündet, um seine schwer gefährdete Stellung durch Ablenkung der Un-
zufriedenheit nach außen wieder zu sichern. Daran ist zunächst so viel
richtig, daß etwa seit der Mitte der dreißiger Jahre sich in Athen eine
Mißstimmung bildete und in einer Reihe von Prozessen entlud, die
220 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
gegen Leute aus Perikles Umgebung gerichtet doch auf ihn allein ge-
münzt waren. Unter ihnen nimmt zeitlich der Hechenschaftsprozeß des
Pheidias die erste Stelle ein, obwohl auch er mit Beloch und Nissen
nicht allzulange vor dem Ausbruch des großen Krieges anzusetzen ist.
Denn wenn auch die Vollendung der Parthenosstatue nach Philochoros
ins Jahr 438/7 fällt, so braucht deswegen der Prozeß noch nicht un-
mittelbar nachher sich abgespielt zu haben, wie Meyer (Forsch. II, 301)
annimmt: im Gegenteil, je später der Prozeß angestrengt ward, um so
schwerer ward der Erweis der Unschuld und um so größer für den
Ankläger die Aussicht auf Erfolg. Bald darauf folgte der Prozeß
gegen Anaxagoras und endlich einer, der Perikles persönlich besonders
nahe gegangen sein muß, der gegen Aspasia.
• Über das Leben der Aspasia hat kürzlich Neuhaus in dem an-
geführten Aufsatz gehandelt und die Nachrichten, die wir über sie be-
sitzen, auf Deinen zurückgeführt; über ihre Persönlichkeit wird man
der Natur der Sache nach schwerlich jemals zu einem allgemeinen an-
erkannten Ergebnis gelangen. Gegen die bekannten bitteren Be-
merkungen von Wilamowitz (Ar. u. Athen II, 99) hat Meyer Berufung
eingelegt (Forsch. I, 55 f.), aber nur kurz und das mit vollem Recht,
denn alle diese Erörterungen über den moralischen Wert oder Unwert
verstorbener weiblicher Personen erinnern mehr oder weniger an den
berühmten Streit über Friederike von Sesenheiui , der vor einiger Zeit
bei vielen Freunden des Dichters stille Heiterkeit erregte. In dem
einen aber, und das ist die Hauptsache, hat Meyer unbedingt recht:
für Perikles ist sie sehr viel gewesen, der Prozeß muß ihn aufs tiefste
getroffen haben und von diesem Standpunkt aus erscheint Belochs An-
sicht, daß Perikles zum Kriege trieb, um weiteren Auseinandersetzungen
mit seinen Gegnern zu entgehen, menschlich durchaus begreiflicli.
Allein mit Hecht macht M. gegen diese Auffassung geltend, daß sie
durch Perikles' Art der Kriegführung widerlegt wird: wollte Perikles
seinen Feinden das Maul stopfen, so mußte er in energischem Drauf-
losgehen glänzende Erfolge zu erzielen suchen und nicht jene Ermattungs-
strategie anwenden, wie sie Delbrück treffend genannt hat, die mit der
Vermeidung großer Aktionen und gelegentlichen ßückschlägen un-
weigerlich verbunden nur seinen Feinden Wasser auf die Mühle treiben
mußte. In der Tat, „nicht weil, sondern trotzdem seine Stellung er-
schüttert war, hat Perikles den Kampf begonnen" (Meyer, Forsch. II, 302)
und also müssen es andere Gründe sein, die ihn zu seinem Voigeheu
bewogen haben.
Diese sehen Nissen (Hist. Ztschr. 27) und Wilamowitz (Ar. u.
Ath. II, 101) darin, daß Peiikles geglaubt habe, jetzt sei der rechte
Augenblick gekommen, um für Athen die Vorherrschaft in Hellas zu
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 221
erringen: denn weun auch Nissen nur zunächst von Megara als Kriegs-
objekt spricht, so erkennt er infolge der strategischen Wichtigkeit des
Ländchens in ihm den Schlüssel zu jener beherrschenden Stellung, die
Perikles für Athen anstrebte. Diese Ansicht schließt zunächst die An-
nahme ein, daß Perikles die Lehren der politischen Vergangenheit Athens,
ja die Erfahrungen seiner eigenen früheren Jahre vergessen habe. Un-
zweifelhaft deutlich hatte es Sparta gemacht, sowohl 510 wie 457 und
447, daß es eine Hegemonie Athens über Landstaaten als einen Eingriff
in sein Machtgebiet betrachte, und jedesmal hatte sich seine absolute
rborlegenheit im Landkrieg gezeigt. Wenn also Perikles jetzt noch
tiumal den Krieg wagen wollte, so mußte eine Verschiebung der Macht-
verhältnisse eingetreten sein, die gegründete Aussicht auf Erfolg bot.
Das war aber 431 nicht der Fall: die Konsolidierung des attischen
Reichs und die besseren finanziellen Grundlagen ersetzten kaum die
überwiegenden Machtmittel, mit denen das Athen von 461 in den Kampf
gegangen war, und wenn man meint, eben darin die Gunst des Augen-
blicks zu erblicken, daß es Athen eben 431 nur mit dem einen Feinde,
mit Sparta, zu tun gehabt habe, so ist auch das ein Irrtum, den man
Perikles nicht zutrauen darf: er wußte sofort, daß ein Angriff auf
Sparta bei jeder für Athen ki'itischen Wendung die alte Konstellation
von 461, Athen gegen Sparta und Persien, herstellen mußte und darin
hat er sich ja auch nicht getäuscht. Die Entscheidung brirgt eben
auch hier der aus Thukydides mit Sicherheit sich ergebende Kriegsplan :
ihrem innersten Wesen nach konnte die Ermattungsstrategie niemals
große Erfolge zu Laude erringen, sondern höchstens den selbständigen
Bestand des attischen Reiches schützen. Das Beispiel Englands, das
ebenfalls durch die gegen Napoleon im großen Stile angewandte Er-
mattungsstrategie auf fünfzig Jahre die Vorherrschaft gewann, trifft nicht
zu, weil die Bedingungen andere sind: Englands Stellung beruhte damals und
beruht heute noch auf der Uneinigkeit der Kontinentalmächte, aber für
Athen war bei dem allgemeinen Haß, den seine Herrschaft erregte, auf
eine derartige Eventualität niemals zu hoffen und zu Lande war ihm
schon Theben allein gewachsen, wie Bury mit Recht hervorhebt (S. 400).
Somit scheint doch Thukydides' Ansicht die richtigere zu sein,
wonach es die wachsende Besorgnis Spartas vor der steigenden Macht
Athens und die Kriegslust der peloponnesischen Jugend gewesen ist,
die schließlich den Ausbruch des Krieges hervorgerufen hat. Allein
mit Recht weist Meyer a. a. 0. darauf hin, daß nach Thuk. eigener
Darstellung Athen den Höhepunkt seiner Macht etwa 456 erreicht hat;
von da ab erfolgen die Rückschläge bis zu den Friedensschlüssen von
449 und 446, in denen Perikles, um den Bestand des Reiches zu retten,
sich zur Aufgabe der Expansionspolitik gezwungen sieht. Seitdem hat.
222 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
wenigstens soweit Thuk. die Ereignisse erzählt, die athenische Macht
keine nennenswerte Ausdehiuing erfahren, auch die pontische Fahrt
des Perikles erwähnt er nicht, weil sie ihm zu unbedeutend erschien;
nur hatte sich der Bestand des Reiches insbesondere durch die kluge
Finanzpolitik des leitenden Staatsmannes weiter befestigt. Andererseits
ist zwar die wachsende Kriegslust im Peloponnes zuzugeben, aber dem-
gegenüber steht die Erwägung, daß die spartanischen Behörden trotz
dem durchaus militärischen Charakter des Staates stets eine überaus
vorsichtige Politik befolgt haben, die sich nur im äußersten Notfall zum
Kriege verstand. Ein solcher Fall aber trat nicht ein, solange Athen
sich der Übergriffe ins spartanische Bundesgebiet enthielt, und das hat
es nach Thuk. Darstellung seit 446 wirklich getan. Wenn trotzdem
Thuk. gerade in Spartas Furcht vor der wachsenden Macht Athens
den eigentlich treibenden Grund zum Kriege sieht, so liegt das eben
daran, daß er den Krieg durchaus als Ganzes betrachtet, und dem
athenischen Staatsmann, der nach 17 jähriger Verbannung in seine ver-
wüstete und gederaütigte Vaterstadt zurückkam, mußte allerdings der
ganze Krieg als ein gewaltiges Ringen um die Herrschaft von Hellas
vorkommen : der Staat, der schließlich obsiegte, war es gewesen, der
von Anfang an zum Kriege getrieben hatte, weil er einsah, daß die
Chancen für einen endlichen Erfolg günstig lagen. Daraus würde sich
dann ergeben, daß bei Thuk. die Auffassung des ganzen Kampfes
durchaus von seinem Ausgang beherrscht wird : für Meyer, und zweifel-
los mit Recht, einer der stärksten Beweise dafür, daß das ganze Werk
mit Einschluß auch des ersten Buches erst nach dem Frieden von 404
niedergeschrieben ist.
Aber ebenso sicher ist es, daß wir nicht genötigt sind, uns diese
Auffassung zu eigen zu machen, sondern den letzten Grund für den
Ausbruch des Krieges anderswo zu suchen habeo, und dies ist offenbar
die Stelle, an welcher Nisse ns bekannter Aufsatz (Histor. Ztschr.
Bd. 27) ergänzend eintritt, der den Hauptgrund des Krieges in den
westgriechischen Verhältnissen und Korinth als die treibende Kraft be-
trachtet. Bis in die sechziger Jahre des 5. Jahrhunderts ist die korin-
thische Politik Athen durchweg freundlich gesinnt: sie war es, die
König Klcomenes 508 in den Arm fiel, sie hat Athen gegen den alten
Handelsrivalen Aigina unterstützt, und erst als Athen seinen Einfluß
über Megara, Mittelgriechenland und die nördliche Peloponnes ausdehnte,
trat notwendigerweise eine Entfremdung ein, die aber sofort wieder
weicht, als Athen 446 sich auf sein eigentliches Machtgebiet, das
Ägäische Meer und seine Nebenmeere, zurückzieht: im saraischen Krieg
hat Korinth eine musterhaft loyale Haltung an den Tag gelegt. Es
müssen also sehr schwerwiegende Gründe gewesen sein, die in dem
Jahreaberictt über griechisclie Geschichte. (Lenschau.) 223
.lalir/.ehiit vor dem Ausbruch des pelopoimesisclien Krieges zu einer
iundamentalen Änderung: in der Politik Korinths geführt haben, und
diese sind in dem Vorgehen Athens zu erkennen. Zurückj^edrRngt auf
seine ursprüngliche Position durch die Friedensschlüsse von 449 und
445 mußte, Athen für das jeder Großmacht innewohnende Expansions-
bcdnrfnis einen anderen Ausweg suchen und die Richtlinien der themisto-
kleischeu Politik, auf die Perikles in seinen letzten Jahren mehr und
mehr hingediängt ward, wiesen nach Westen, wo noch eine bedeutende
I^lachterweiteruug zu gewinnen war. Eine ganze Reihe von Spuren,
daß Athen hier allmählich festen Fuß gefaßt hat, sind von Nissen auf-
gedeckt, wenngleich seine Ansicht von der großen Aktion des Jahres 433
vielleicht unrichtig ist, sofern sie wesentlich darauf beruht, daß zwischen
der Ausfahrt des ersten athenischen Hilfsgeschwaders Mitte 433 und der
Schlacht von Sybota, nach N. Mitte März 432, mehr als 9 Monate
liegen, in denen wir über dies Geschwader nichts erfahren. Nissen
meint eben, dieses habe damals wesentlich im Westen verweilt, um
dort Athens Stellung zu stärken und zu befestigen. Nnn ist aber
Xissens Ansatz der Schlacht keineswegs sicher; Kolbe (Herm. 34) hat
nachgewiesen, daß der Abfall von Potidaia in die erste Julihälfte 432
zu verlegen ist, und da nunmehr der Zwischenraum zwischen der Schlacht
nach Nissens Ansatz und dem Abfall für die Menge der sich drängenden
Ereignisse offenbar zu kurz erscheint, so ist er zu der alten Bestimmung
der Schlacht auf den Sept. 433 zurückgekehrt. Indes kommt darauf
so viel nicht au; selbst wenn jene von Nissen im Jahre 433/2 im West-
meer unternommene athenische Aktion nicht auf Wirklichkeit beruht,
so bleibt auch ohne sie genug übrig, um Athens Anstrengungen im
westlichen Becken des Mittelmeers zu erhärten: schon die Gründung
von Thurioi zeigt deutlich die Richtung an, in der sich damals Athens
Politik bewegte. Alle diese Bestrebungen aber richteten sich im
wesentlichen gegen Korinth, das das Fundament seiner Handelsstellung
bedroht sah, und aus der Absicht, Athen ein für alleraal ein Paroli
zu biegen, ging das korinthische Unternehmen gegen Korkyra hervor,
welches damals wahrscheinlich, wie schon zwei Jahrhunderte früher
(vgl. S. 140), die Gunst seiner Lage benutzend, sich mit beiden rivali-
sierenden Handelsmächten freundlich stellen wollte, indem der Versuch,
Korkyra zu zwingen, mißlang, ward dieses auf Athens Seite gedrängt:
allein noch zeigt sich das ungemein vorsichtige Vorgehen Athens in
dem defensiven Charakter des Bündnisses mit Korkyra und der zögernden
Art der Unterstützung: seinen Zweck, daß beide Gegner sich schwächen
sollten, hat Athen gründlich erreicht. Mit dem Anschluß der Insel
war Athens Sieg im Westmeer endgültig entschieden, und nun trieb
die Erbitterung Korinth zu dem Schritt, der eigentlich schon den Kriegs-
224 Jahresbericht über griechische Geschichte. (LenschauO
fall bedeutete, zur Unterstützung Poteidaias. Sofort antwortete Perikles
mit dem megarischen Psephisma: den gelegentlichen Charakter der
Maßregel, die über Athens Entschlossenheit keinen Zweifel lassen
sollte, haben sowohl Meyer a. a. 0. wie auch Bury (S. 394) unab-
hängig voneinander hervorgehoben. Jetzt aber setzten die Korinther
den Spartanern die Pistole auf die Brust, und unter ihrem Druck hat
der Vorort den Krieg beschlossen. So haben die Verhältnisse des
Westens den Ausbruch des archidamischen Krieges bewirkt; das Auf-
geben der Ansprüche Athens auf eine Stellung im Westmeer brachte
den Nikiasfrieden, die Wiederaufnahme dieser Pläne im großen Stil 415
hat auch den Krieg wieder aufleben lassen, und so ist es eben dieser
Versuch Athens, seine Macht auch über das westliche Mittelmeerbecken
auszudehnen, gewesen, der es zugrunde gerichtet hat. Sizilien wußte,
wessen es sich von Athen zu versehen hatte : sobald Korkyra im zweiten
Seebund wieder auf athenische Seite trat, erschienen auch Dionysios'
Flotten auf dem Plan, um jeden Gedanken an eine Erneuerung der
Pläne von 435 und 415 von vornherein zu ersticken und noch Agathokles
hat den Anschluß Kerkyras an eine andere Großmacht verhindert.
Wo aber bleibt dann Thukydides? Es ist klar, daß sein Werk
lür die eben entwickelte Auffassung keinen Raum läßt, und Nissen hat
meines Erachtens schon sehr richtig den Grund erkannt, weshalb sich der
Geschichtschreiber in den sizilischen Dingen solche Zurückhaltung auf-
erlegt. Unmittelbar nach der Befreiung Athens 403 traten Verhält-
nisse ein, die eine Annäherung zwischen Athen und Korinth samt
Dionysios I. bewirkten; es ist die Zeit, die dem korintliischen Kriege
unmittelbar vorhergeht. Damals, wo man in Athen ein Bündnis mit dem
Herrscher Siziliens brennend ersehnte, kam alles darauf an, jeden Anstoß
gegenüber den neuen Freunden zu vermeiden, und das hat Thukydides
getan: jenen ersten Versuch in den dreißiger und vierziger Jahren
Athens Herrschaft über den Westen auszudehnen, hat er, soweit es
möglich war, mit Stillschweigen übergangen; den zweiten von 415 hat
er mit seiner großen Kunst zur Peripetie des ganzen Krieges gemacht,
die Athens Verderben herbeiführte. So liegt denn der letzte Grund —
darin kann ich Meyer beipflichten — im Dualismus der beiden helle-
nischen Großmächte, deren Gebiete zwischen Land und See sich nicht
reinlich scheiden ließen; die Doppelstellung Koriuths als Handels- und
Seemacht des peloponnesischen Bundes hat zuletzt doch den Kampf un-
vermeidlich gemacht. Und auch mir bleibt schließlich Thukydides' An-
sicht die richtige, aber in anderem Sinne, wie Meyer S. 326 meint:
Athens Macht ist in der Tat noch nach 446 gewachsen, eben durch seine
Erfolge im Westen, und dadurch, daß er dies zum Motiv des Krieges
macht, erweist sich Thukvdides als der unbestochene Geschichtschreiber.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 225
der sein Urteil nicht trüben läßt; allein in seiner Darstellung hat er
die Ereignisse des "Westens, in denen auch er den Keim des Krieges
erkannte, mehr zurückgedrängt, wenn er auch nichts verschwiegen hat,
(Meyer a. a. 0.) und sie nur als Anlaß hingestellt — das war die
Rücksicht, die er auf die Lage nehmen zu müssen glaubte, in der sich
seine gedemütigte Vaterstadt von 403 — 394 befand.
Mit dem Einfall der Thebaner in Plataiai beginnt der große
Krieg, wie Thuk. schreibt (2, 1, 2), zwei Monate vor Ablauf des
Archontats von Pythodoros, allein seine sonstigen Angaben lassen
darüber keinen Zweifel, daß die Zahl im Text verderbt ist. Mau pflegt
seit Krüger ^' für ouo zu lesen, und da der 1. Hekatombaion 431 mit
dem 1. August unserer Zeitrechnung zusammenfällt, so würde danach
der Einfall der Thebaner auf Anfang April anzusetzen sein. Aber
zunächst fragt es sich, ob Thuk. in diesem Ereignis wirklich den An-
fang des großen Krieges gesehen hat, was Dam mann in der genannten
Abhandlung bezweifelt. Er geht davon aus, daß das ap-/£rat o 6 ttoXeixo;
in II, 1. 1. nicht bedeute incipit bellum, sondern bellum describi incipitur,
und nachdem es ihm gelungen ist, diese von Ullrich und Steup ver-
tretene Eiklärung als richtig zu erweisen, sucht er nun weiter dar-
zutuD, daß nach der Auffassung des Thuk. trotz des thebanischen An-
griffs der Friede noch nicht gebrochen sei : erst mit dem Einfall der
Peloponnesier beginne der wirkliche Kriegszustand. Hiergegen aber
hat sofort Edmund Lange a. a. O. ein schwerwiegendes Bedenken er-
hoben. Nach der genauen Angabe des Thuk. ward der Nikiasfriede
gleich nach den großen Dionysien (8 — 13 Elapheboliou 421), d. h.
Anfang April abgeschlossen; da nun der Einfall, der nach D. für Thuk.
den Anfang des Krieges bildet, axfia^ov-o; toü jitou stattfand, d. h. also
Mitte Mai nach der gewöhnlichen Annahme, so hätte der Krieg
10 Jahre weniger IV2 Monate und nicht, wie Thuk. au dieser Stelle
V, 20, 1 ausdrücklich angibt, 10 volle Jahre und wenige Tage gedauert.
Es bleibt also dabei, daß der Einfall der Thebaner tatsächlich auch
für Thuk. den Anfang des Krieges bildet, und es gilt nun, diesen Zeit-
punkt näher zu bestimmen. Zwei Neumonde kommen hier in Betracht,
der eine Anfang März, der andere Anfang April, und da nun der Ein-
fall des peloponuesischen Heeres 80 Tage nach der Überrumpelung von
Plataiai axfxa^ovTo; xoü öipouc xal toü cjirou, d. h. nach der gewöhnlichen
Annahme, die mit den jetzigen Verhältnissen übereinstimmt, Mitte Mai
stattfand, so haben sich sowohl Lange wie Meyer (Forsch. IL 360 A. 2)
für Anfang März entschieden: allerdings muß dann II, 1, 2, wie M.
richtig hervorhebt, öuo nicht in xesaaps;, sondern in tlevts geändert
werden. Anders Busolt (Herm. 35), der die Grundlagen der oben ge-
gebenen Berechnung in Zweifel zieht und den Beginn der Ernte im
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) 15
226 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Altertum bedeutend später ansetzt als im heutigen Griechenland. Zu-
nächst ergeben die normalen, gregorianischen Daten eine Differenz von
9 Tagen, dazu kommen 2 Tage Verspätung infolge Verschiebung d?r
Sonnennähe, endlich ist die Entwaldung des Landes in Betracht zu
ziehen, unter deren Einfluß sich z. B. in Italien die Weizenernte um
einen ganzen Monat gegen das Altertum verfrüht hat. Alles dies
deutet nach ßusolt darauf hin, daß der gewöhnliche Beginn der Ernte,
der mit ay.|xa^ov-:oc xoy sitou bezeichnet wird, im Altertum in die Mitte
Juni fiel, wozu auch der Ausdruck axixa^ovToc toü st-ou xal tou öioo'j?
besser stimmt. Dann aber kann für den Überfall Plataias nur der
Neumond vom 3/4. oder 4/5. April, nicht der vom 5/6. oder 6/7. März
in Betracht kommen, und in der Tat gelingt es B., eine ganze Reihe
von Stellen geltend zu machen, an denen der beim Überfall Plataias
zur Zeitbestimmung gebrauchte Ausdruck ajxa ^p-, ap/oasviu von Thuk.
auf die Zeit von Mitte März bis Anfang April bezogen wird. Das Ge-
wicht der von Bnsolt beigebrachten Gründe wird mau nicht verkennen,
doch liegt die Sache wohl so, daß sie sich mit den bisher uns zur
Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr ins reine bringen läßt.
Die ersten Jahre des peloponnesischen Krieges sind arm au
äußeren Ereignissen, und diese schleppende Art der Kriegführung ist
von neueren Kritikern öfter dem Perikles vorgeworfen : sie meinen,
ein energischeres Vorgehen würde bessere Erfolge erzielt haben. Allein
diese Ansicht beruht, wie M. mit Recht ausführt, auf einer volligen
Verkennung der Machtmittel Athens wie des peri:deischen Kriegsplans,
dessen Ermattungsstrategie eben auf die für einen Angriffskrieg im
großen Stil unzulänglichen Kräfte Athens berechnet war. Dazu kam
bald die Lähmung der athenischen Macht durch die Pest, die, entweder
aus dem Osten (Meyer IV, 315) oder von Karthago her (Bury S. 407)
eingeschleppt, die Blüte Athens knickte und endlich auch den leitenden
Staatsmann dahinraffte. Perikles' Tod war vor allem deshalb ein Un-
glück, weil sein ganzes politisches System auf dem t^bergewicht des
leitenden Staatsmannes beruhte: ein Ersatzmann für ihn war aber nicht
vorhanden, denn Alkibiades, den er offenbar als seinen Nachfolger ge-
dacht hat, hatte eben damals das zwanzigste Jahr überschritten (Meyer
4, 324 ff., vgl. auch den Aufsatz von Dittenberger im Herm. 1903 S, 1).
Die schlimmste Folge davon war, wie Meyer und Bury übereinstimmend
hervorheben, daß Leitung des Staates und Führung des Krieges nicht
mehr in einer Hand lagen, indem jene den Demagogen, diese den Feld-
herren zufiel, und um das Verhältnis beider zu kennzeichnen, weist M.
mit Recht auf die unzähligen Rechenschaftsprozesse der Feldherren hin,
die so manchem Gut und Blut gekostet haben (379 ft\).
Unter den Demagogen dieses Schlages ragt als Typus vor allen
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 2"J7
Kleoii liervor, und es ist oft darauf hingewiesen, wie wenig wir in der-
T-a^e sind, den vielgescholtenen Mann zu beurteilen: sein Bild liegt
uns nur in der Darstellung seiner erbittertsten Feinde vor, von denen
der eine der größte Geschichtschreiber, der andere der größte Komödien-
dichter Athens gewesen ist. Demgemäß schwankt die Beurteilung
auch bei den neueren Historikern, sie ist bei Burj' bedeutend günstiger
ausgefallen als bei Meyei-. Indessen wird man zweierlei Kleon niemals
abstreiten können: einmal die revolutionäre Energie, die au die Männer
des Wohlfahrtsausschusses von 1793 gemahnt, und zweitens, daß er es
war, der die Mittel zur "Weiterführuug des Krieges beschaffte, dessen
Kosten denn doch von Perikles ganz erheblich unterschätzt worden
sind. Dies bleibt unter allen Umständen sein Verdienst; daß er in
seinen Methoden nicht wählerisch war, ist allerdings richtig, aber ii la
guerre comme a la guerre, und da das von ihm zunächst 428/7 ver-
suchte Mittel der siTOopa versagte, so blieb ihm freilich nichts übrig,
als die erst späte!- durchgesetzte Erhöhung der Tribute vorzunehmen.
Auch war, worauf M. wenigstens gelegentlich hingewiesen hat (S. 364),
die energische Fortführung des Krieges ökonomisch eine Notwendigkeit,
insofern der ländliche Teil der Bevölkerung seinen Erwerb völlig ver-
loren hatte und auf den Dienst als Ruderer und Hopliten angewiesen
war, um mit dem Sold sein Leben zu fristen. Somit wird gleich nach
der blutigen Unterdrückung des lesbischen Aufstandes — übrigens ver-
bessert Burj' mit Mahaffj- und Schütz die Zahl der Hingerichteten aus
A' 1000 in A = 30, schwerlich richtig, denn um 30 Getötete wäre nicht so
viel Aufhebens gemacht — , der Krieg mit großer Energie aufgenommen:
auswärtige Bündnisse werden gesucht und im Westen wird durch den zuletzt
glücklichen Ausgang des amphilochischen Krieges ein neues Bundesgebiet
erworben, zugleich als wertvolles Birdeglied für alle nach Westen ge-
richteten Unternehmungen. Nichts ist charakteiistischer für die Haupt-
tendenz der gesamten athenischen Politik, daß jetzt sofort Sizilien in Angritt'
genommen wird: zwei Jahre lang hat hier Laches mit geringen Streit-
kräften, aber doch mit Erfolg operiert, so daß die Vorwürfe, die seiner
Kriegführung gemacht sind (Holm, Gr. Gesch. II, 4, Bury S. 465), sich
als unbegründet herausstellen (Meyer 360). Bis hierhin wi)-d man Kleons
Tätigkeit alle Anerkennung zollen müssen ; sicher stand Ende 426 Athen
ganz anders da, als zwei oder auch drei Jahr früher beim Tode des Perikles.
Allein wollte man weiter kommen, so mußte man Sparta selbst
zu fassen suchen, und dazu bot sich 425 die erwünschte Gelegenheit.
Die Meinung Burj^s, daß Demosthenes und Kleon schon bei der Aus-
fahrt im Einverständnis gewesen sind (428/9 S.), hat viel für sich; es
ist doch mindestens merkwürdig, daß Demosthenes wegen seines Feld-
zugs in Atollen, der Handhabe genug bot, nicht zur Verantwortung
15*
228 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
gezogen ward, wie Phormion, der doch einen glänzenden Sieg gewonnen
hatte. Auch paßte der energische und fähige, wenn auch tollkühne
General viel mehr zu Kleons Politik als seine bedächtigeren Kollegen:
daß Kleon solch einen Mann gerade brauchte, hat B. (S. 428) mit Recht
auseinandergesetzt. Diese geheimen Beziehungen zwischen beiden hat
Thukydides offenbar nicht gekannt und daher beurteilt er Kleons
ganzes Verhalten in militärischer Beziehung offenbar unrichtig: das
erkennt auch Meyer an, indem er Delbrücks Einwände zurückweist, die
dieser zur Unterstützung von Thukydides Auffassung beibringt (Forsch.
II, 333 ff., 341). Vielmehr erklärt sich Thukydides' Urteil aus seinem
politischen Gesichtspunkt, wonach er ein aggressives Vorgeheu von
Athens Seite überhaupt verwirft, weil es dem von ihm gebilligten
Kriegsplan des Perikles zuwiderläuft. Ich glaube aber, man kann
noch ein Stück weitergehen und auch die Zurückweisung der ersten
lakedaimonischen Friedensgesandtschaft dnrch Kleon billigen. Als prak-
tischer Politiker hat auch er gewußt, daß der Vogel in der Hand
besser sei als der auf dem Dache; daher die zunächst wohl mit Absicht
überschiobene Forderung von Megara, Achaia usw. Als dann die
Spartaner in ihrer ersten Angst selbst dazu bereit waren, hat Kleon
nicht ohne Geschick die Verhandlungen hintertrieben; denn daß ein
Friede auf diese Bedingungen hin unmöglich von Dauer sein könne,
konnte er sich nicht verhehlen; seine Annahme und Durchführung von
Spartas Seite wäre politischer Selbstmord gewesen. Vor allem kam es
darauf an, die Spartaner auf Sphakteria in die Hand zu bekommen,
und diesen Dienst hat ihm Demosthenes geleistet, dem er die Ausführung
überließ. In betreff der topographischen Grundlage sind sowohl Meyer
wie Bury den vortrefflichen Untersuchungen Grundys (JHSt. 1896) ge-
folgt, aus denen sich ergibt, daß Thuk. die Örtlichkeit nicht aus eigener
Anschauung kannte, sondern zwei Berichte benutzte, einen ausgezeich-
neten für die Kämpfe auf Sphakteria und einen zweiten, weniger zu-
verlässigen für die Vorgänge in Pylos. Einige Nachträge, wenn auch
bedeutend weniger, als der etwas hochtrabende Titel erwarten läßt,
gibt Awdry in JHSt. 1900. Seine Annahme, daß Euiymedon auf die
Fahrt nach Sizilien als Nebeninstruktion die Vernichiung der sparta-
nischen Flotte mitgenommen habe, wird schwerlich zu erweisen sein;
auch ist sie nicht so wichtig, wie Awdry anzunehmen scheint; an-
sprechend ist dagegen die Vermutung, daß zwei wichtige Anstöße in
Thuk. Erzählung, die Angabe der Länge von Sphakteria und der
Breite des Südeingangs in die Bucht von Navarino, auf falscher Distanz-
schätzung beruhen, die um so weniger auffällt, wenn man als Thuk.
Gewährsmann einen der gefangen eingebrachten Spartiaten vermutet;
erfahrungsgemäß pflegen Landbewohner Meeresdistanzen stark zu unter-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 229
schätzen. Auch die Notiz des Thuk. über die Blockierung des Süd-
eingangs durch die Spartaner, die als eine physische Unmöglichkeit er-
kannt ist, erklärt sich nach A. am leichtesten daraus, daß die sparta-
nischen Führer zwar die Absicht hatten und auch UntersuchuDgen an-
gestellt haben, die dann allerdings die Unmöglichkeit ergaben, daß sie
dagegen von der Eifolglosigkeit ihrer Bemühungen den ihnen unter-
stellten Soldaten nichts mitgeteilt haben.
Die Gefangennahme der Spartiateu hat Athens Stellung noch
bedeutend verbessert, allein hier, auf der Höhe des Erfolges, den ei-
herbeigeführt hatte, beginnt die Verblendung Kieons. Unzweifelhaft
mußte er damals einen dauerhaften Fiieden, den auch Sparta halten
konnte, herbeizuführen suchen, einen Frieden etwa, wie ihn Preußen
und Österreich im Jahre 1866 geschlossen haben: das hat Meyer vor-
treft'lich ausgelührt (Forsch. II, 346 f.) und das ist auch Thuk. Auf-
lassung gewesen, die er den spartanischen Gesandten IV, 17 in den
Mund legt. Bei dem Dualismus der beiden Mächte war die Sache
schwierig, aber wenn man sich Korinth etwa in der Rolle Sachsens
denkt, nicht unmöglich. Inde?sen Kleon wollte mehr. Bis dahin hatte
er sich im Rahmen der perikleischen Kriegsführuug gehalten — De-
fensive mit gelegentlichen wertvollen Erfolgen — , jetzt faßte er den
Plan zu einer umfassenden Offensive in Hellas sowohl wie in Sizilien.
Allein diese brach nach anfänglichen Erfolgen (Methone, Kytheru,
Nisaia) zuerst im Westen infolge des Übereinkommens der sizilischeu
Städte, sodann in Griechenland selbst bei Delion vollkommen zusammen,
und sofort sieht sich Athen durch Brasidas auf die Verteiditrung zurück-
geworfen: bei dem Versuch, die verlorene Stellung in Thrakien wieder-
zugewinnen, ist Kleon gefallen und hat damit, soweit seine Person in
Betracht kommt, seine Fehler gesühnt. Als Typus betrachtet aber
verdient er allerdings die herbe Verurteilung durch Tlmkydides: diese
Staatsmänner, die im Erfolg sich nie zu bescheiden wußten und die
Kräfte des Staates in unverantwortlicher Weise überschätzten, sind
Athens Verderben geworden (Meyer Forsch. 11, 349 f.). Doch wird
man zweierlei nicht außer acht lassen düifen, einmal daß persönlich
unlautere Motive sich bei Kleon nicht nachweisen lassen und daß der
Erfolg von Sphakteria, der sein Werk und sein alleiniges Werk ist,
Athen die Behauptung seiner Positionen im Nikiasfrieden ermöglichte.
Allein dazu gehört Athens Stellang im Nordwesten, die es immer
wieder auf Sizilien verwies, und hat nicht insofern Thukydides recht,
der den Erfolg von Sphakteria für das größte Unglück Athens gehalten
hat? Von seinem Standpunkt aus, unzweifelhaft ja. Thukydides war,
wenn man den Ausdruck gestatten will, ein Kleinathener, der das Heil
in der Behauptung der Position sah, die Perikles geschaffen hatte;
230 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
aber die Mehrzahl der Athener von 425 und 415 dachte nicht so und
stand hinter Kleon, wie heute ein großer Teil der englischen Nation
hinter Chamberlain steht. Wenn einst die Morley und Asquith und
Rosebery oder ihre Nachfolger die Geschichte Englands schreiben, so
^Yird ihr Urteil über Chamberlain vermutlich nicht anders ausfallen,
wie das des Thnkydides über Kleon; allein das bringt die Tatsache
nicht aus der Welt, daß diese Männer einmal die Vertreter des Volks-
willens gewesen sind. Und wenn irgend etwas, so dient dies dazu, den
einzelnen zu entschuldigen.
Das Entscheidende beim Nikiasfrieden ist jedenfalls das, daß
Athen seine dominierende Stellung in Nordwestgriechenland behält, denn
damit war der Wiederausbruch des Krieges zur Gewißheit geworden:
bei der fundamentalen Bedeutung, die die Eroberung des Westens für
Athen hatte, mußte es, sobald die Lage nur einigermaßen günstig war,
seine Versuche auf Sizilien erneuern und damit jenen unüberbrückbaren
Gegensatz zu Koriuth wiederherstellen, der 431 den Krieg entzündet
hatte. Darin eben liegt die Berechtigung der Auffassung des Thuky-
dides, der den Krieg als Einheit und die Zeit von 421 — 414 als latenten
Kriegszustand auffaßt, nur daß er bei der Beschränkung, die ihm die
politische Lage nach 403 auferlegte, diesen Grund nicht direkt aus-
spricht: Meyer, der die Wichtigkeit der sizilischen Dinge etwas unter-
schätzt, hat deshalb große Mühe, die Auffassung des Thukydides zu
rechtfertigen, und sieht sich schließlich außerstande, die Frage, ob
diese grundlegende Auffassung des Historikers richtig sei, zu bejahen:
er meint sogar, der Friede habe ganz gut aus dem Provisorium ein
Definitivum werden können (Forsch, II, 359). Allein wer Athen kannte
und die athenische Demokratie wie Thukydides, der konnte darüber
nicht im Zweifel sein, daß das Abkommen von 421 nur ein fauler
Friede war, da er Athen im Besitz der Ausfallstellung nach Westen
(Akarnanien, Korkyra) beließ: auch ohne das Auftreten des Alkibiades und
sein Verhalten im Sonderbundskrieg, wo er alle Künste eines verschlagenen
Politikers spielen ließ, war der Wiederausbruch des Krieges
eine Notwendigkeit, sobald sich Athen wieder dem Westen und Sizilien
zuwandte. Mit demselben Nachdruck wie 431 mußte Korinth von
Sparta den Krieg verlangen und seine Worte mußten jetzt noch viel
schwerer ins Gewicht fallen, seitdem Sparta die Gefahren des Sonder-
bundes kennen gelernt hatte. Sicher ist es freilich, daß ohne Alkibiades
Athen sich schwerlich gleich so stark engagiert haben würde, und
ebenso sicher, daß jener dabei im wesentlichen eigensüchtige Zwecke
verfolgte: mit Recht braucht Meyer mehrfach mit Bezug auf ihn den
Ausdruck Kronprätendent, Eine andere Frage ist, ob er der Situation
gewachsen war. Bekanntlich hat ihm Beloch vorgeworfen, daß er im
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 231
entscheidenden Moment, bei der Kückberufung von Italien, nicht den
Miu gehabt habe, offen dem Demos den Gehorsam zu verweigern, allein
mit Recht wendet Meyer ein (IV, 515), dal.', er schwerlich ein loyales
-Biirgerheer, wie das auf der Fahrt nach Syrakus befindliche, zum Ab-
tall verleiten konnte. Er ging in die Verbannung und hier hat er den
Plan gefaßt, Athen zu demütigen, um alsdann als Helfer in der Not
zu erscheinen. Das ist ihm geglückt: auch darin hat M. die her-
gebrachte Ansicht gegen Beloch verteidigt, der dem Tun des Alkibiades
in Sparta nur geringe Wirkung auf den Gang des Krieges zuschreibt.
Es ist das beste Zeichen für die Güte der thukydideischen Dar-
sielluug des Krieges, daß sofort da, wo sie aufhört, die Schwierigkeiten
beginnen, insbesondere ist die Chronologie der Jahre 411 — 406 seit
Jahrzehnten bereits Gegenstand wissenschaftlicher Meinungsverschieden-
heit. Bekanntlich beruht sie, da Diodor als unbrauchbar ausscheidet,
wesentlich auf der Darstellung Xeuophons, die wenigstens die Jahres-
wechsel genau angibt. Daß die Angaben echt sind, hat Busolt im
Herrn. 33, 661 fi. daraus erwiesen, daß der Interpolator sie bereits
benutzte und die von ihm gemachten Fehler sich nur aus ihrem Vor-
handensein erklären: über ihre Verwertung stehen sich seit langem zwei
Ansichten gegenüber, die indessen darin übereinstimmen, daß sie Xeno-
phons Darstellung direkt an Thuk. anschließen und daher gezwungen
sind, im ersten Buch der Hellenika eine Lücke anzunehmen. Die
einen, Dodwell, Grote, E. Müller, setzen sie nach 1. 1. 8 an und
erhalten demgemäß für Thrasj'los' Zug nach lonien 409, für Alkibiades
Kückkehr 407; die anderen, Haacke, Breitenbach, Unger, Boerner, denen
sich auch Meyer IV, 617 anschließt, glauben, daß nach 1. 5. 10 die
Erwähnung eines Jahreswechsels ausgefallen ist, wodurch die erwähnten
Ereignisse ein Jahr hinaufrücken. In der eingangs genannten Arbeit
habe ich den Nachweis zu führen versucht, daß bei Xen. sich nirgends
eine Spur von einer Lücke findet und daß der Grundirrtum beider An-
schauungen in dem von ihnen angenommenen unmittelbaren Anschluß
Xenophons an Thuk. zu suchen ist. In Wirklichkeit liegt, wie das
schon 1859 von Büchsenschütz ausgeführt ist, rund ein Jahr dazwischen;
der in Hell. 1. 1. 2 erwähnte Winteranfang ist nicht der von 411,
sondern der von 410, und die Schlacht von Kyzikos ist nicht auf das
Frühjahr 410, sondern auf den November 410 anzusetzen. Für die
Begründung dieser Annahmen muß ich auf die Arbeit selbst verweisen:
ihre Ergebnisse sind mittlerweile in einer nachträglichen Bemerkung
von Meyer (IV, 619 A.) abgelehnt, der gegen sie die formelle und sach-
liche Evidenz ins Feld führt, mit der sich Xen. an Thuk. anschließe.
In der Tat ist es eben diese Evidenz, die ich leugne und die schon
früher geleugnet worden ist. Die Entscheidung muß ich anderen über-
232 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
lassen: hier nur soviel, daß mir die von Meyer (IV, 606 A.) angeführten
Synchronismen nicht zu genügen scheinen, um den oft behaupteten An-
schluß des Xen. an Thuk. Darstellung zu erweisen.
Etwas besser dagegen sind wir durch die neuereu Darstellungen
über das Wesen der Diobelie unterrichtet: nach Wilaraowitz' Vorgan?
(Ar. und Athen 2, 212 ff.) stimmen jetzt Meyer (IV, 612) und Bury
(S. 498) darin überein, in ihr eine sich nur auf den Teil der Be-
völkerung beziehende Maßregel zu erblicken, der nicht anderweitig in
irgend welcher Form vom Staate Geld erhielt. Offenbar sollte sie der
entsetzlichen Not und Verarmung steuern, in die viele, auch sonst
wohlhabende athenische Familien durch den seit der Besetzung von
Dekeleia ungemein verschärften Kriegsdruck geraten waren. Auch
die plötzliche "Wiederaufnahme der Bauten, der wir die Vollendung des
Erechtheions verdanken , hat offenbar den Charakter von Notstands-
arbeiten gehabt (vgl. Kap. VI). Beide Maßregeln gehen auf Kleophon
zurück, rätselhaft ist nur — auch Meyer und Bury berühren diesen
Punkt nicht — wo man in diesen Tagen der Erschöpfung noch das
Geld hernahm. Die Beute der hellespontischen Siege muß ja geradezu
ungeheuer gewesen sein, wenn sie dazu ansreichte.
Ebensowenig erlaubt uns der traurige Zustand unserer Überliefe-
rung die Gründe zu erkennen, die Alkibiades 407 bei seiner Rück-
kehr verhindert haben, nach der Tyranuis zu greifen. Wie fast alle
Forscher, so nehmen auch Meyer und Bury an, daß eben 407 der ge-
eignete Zeitpunkt war; sehr gut zeigt B , wie eben die Deckung des
Mjrstenzuges nach Eleusis eine Art Sühuung des Mj'sterienfrevels dar-
stellen sollte, um dessen willen er einst verbannt war. Daß es trotzdem
nicht zu dem Versuche kam, erklärt ßeloch eben aus Alk, Charakter,
der im entscheidenden Augenblick nicht den Mut des Zugreifens hatte,
während M. die asiatischen Ereignisse, Ankunft des Kjtos und Auf-
treten des Lysandros, heranzieht, die Alk. Anwesenheit auf dem Kriegs-
schauplatz nötig machten. Allein um so weniger erklärt sich dann das
lange Zaudern des Mannes, der monatelang in Athen verweilte — eine
Spur dieses Aufenthalts ist neuerdings in dem von ihm beantragten
Ehren. lekret für die Bewohner von Daphnu«, einem Flecken im Stadt-
gebiet Klazomenais hervorgetreten, das Tsuntas in der Eph. arch. 1898
S. 1 behandelt und in den Zusammenhang bei Thuk. 8, 23 ff. einge-
gliedert hat. Er muß doch wohl den günstigen Augenblick für den
Staatsstreich haben abwarten wollen, und wenn ihm dieser nicht ge-
lungen ist, so lagen doch wohl die Dinge so, daß es eben nicht ging.
Die allgemeine Begeisteining, mit der der siegreiche Feldherr empfangen
ward, darf nicht über das Mißtrauen täuschen, mit dem ihn die Extremen
von rechts nach links betrachteten: Kleophon saß seit der Diobelie
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 233
fester im Sattel als je und aristokratische Umtriebe haben in diesen
letzten Zeiten eine wichtige Rolle gespielt; mit Recht hebt Bury S. 506
diese für nus jetzt unfaßbaren Machinationen hervor. Auch das Fallen-
lassen des Siegers nach Notion deutet darauf hin, daß sein Anhang ent-
weder nicht bedeutend odei- nicht tatkräftig genug war: selbst im Heer
hatte er nach Xen. Hell. 1. 5. 17 keinen Boden mehr unter den Füßen,
als er ging. Es scheint, als ob seine Anhänger sich über die Verhält-
nisse getäuscht haben, als sie ihn nach Hause beriefen; zu der glänzen-
den Inszenierung seines i^inzugs reichte ihr Einfln.ß, weiter aber auch
nicht. Alkibiades wird gemerkt haben, daß die Zeit noch nicht reif
war, und ging, um abzuwarten. Inzwischen trieb die Wirkung der
oligarchischen Umtriebe, die Meyer zu unterschätzen scheint, Athen
dorn Ende zu. In der Darstellung der letzten Ereignisse des Krieges
haben sich M. und Bury beide mit Recht der Darstellung Xeoophon«
angeschlossen: zu erwähnen ist noch, daß damals nach Aigospotamoi,
im Zusammenhang mit der Amnestie des Patrokleides, auch Thukydides
heimberufen ward. Das hat Busolt (Herrn, 33) m. E. mit Recht
daraus geschlossen, daß Oinobios als Antragsteller genannt wird; nach
dem Frieden, in dem die Rückkehr der Verbannten ausdrücklich fest-
gesetzt ward, wäre ein besonderer Antrag unnötig gewesen und eben
darum unerklärlich. Gefolgt ist Thuk. dem Rufe nicht: die zwanzig
Jahre der Verbannung (Thuk. 5, 26) sind somit als runde Zahl aufzu-
fassen. — Endlich gehört in diese letzte Zeit noch der athenische
Volksbeschluß zugunsten der Samier, den zuerst LoUing 1889 heraus-
gegeben hat (Ditt. S}'!].^ 56) und der neuerdings von Foucart behandelt
worden ist: er stellt sich nach ihm als eine Kopie des ursprünglichen,
von den Dreißig zerstörten Volksbeschlusses dar, wie das der an der
Spitze stehende Xame des Kephisophou ergibt. Die geschichtlichen
Vorgänge, die den Hintergrund des Dekiets bildeten hat Foucart a. a. 0.
dargelegt; ich werde weiterhin noch einmal auf seine Abhandlung zu-
rückkommen müssen.
Die Reihenfolge der Ereignisse unter den Dreißig gehört bekannt-
lich zu den umstrittensten Partien der griechischen Geschichte, da die
beiden Hauptzeugen, Xenophon und Aristoteles, oder wie man nach
Busolts Forschungen (Herrn. 33) jetzt sagen kann, Androtion in der
Atthis in manchen Dingen diametral Entgegengesetztes berichten; während
Lj'sias der Natur der Sache nach bei seiner notorischen Parteilichkeit
erst in zweiter Linie in Betracht kommt. Die beiden wichtigsten
Punkte sind die Berufung des Harmosten Kallibios, die Ar. erst nach
der Hinrichtung des Theramenes, Xen. ziemlich im x\nfang der Gewalt-
herrschaft berichtet, und in der Einsetzung der Zehn nach Kritias
Tod, wo Ar. zwei Kommissionen unterscheidet, von denen die erste
234 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
den Kampf gegen die Männer im Peiraieus energisch fortführt, während
die zweite unter Rhinon und Phayllos die Versöhnung zustande bringt.
Gegen die Darstellung des Ar,, die zuletzt und am eingehendsten vor
Busolt a. a. 0. verteidigt worden ist, läßt sich aber zweierlei geltend
macheu (Meyer V, 39 A.): erstens, daß seine Ansctzuug der Berufung
des Kallibios aus dem auch bei Ephoros-Diodor beme)kbaren Bestreben
hervorgeht, Theramenes möglichst weiß zu waschen, und zweitens, daß
das von Ar. selbst überlieferte Aranestiedekret nur von ol rjiy.oL ev -ct^
TtoXsi redet, was nicht möglich wäre, wenn kurz hintereinander zwei
Zehnerkonimissionen die Herrschaft geführt hätten. Dem gegenüber
kann auch v. Schöffers Ansicht nicht aufkommen (Pauly-Wissowa,
Art. Ol oexa), der Xen. direkt Gescbichtsfälschung vorwirft; daß Xen.
in dem Friedensinstrument Hell. 11, 4, 38 die ör/a ev -y; -oXzi fortge-
lassen hat, beruht nicht auf Unterschlagung, sondern, wie Meyer a. a. 0.
S. 41 A. auseinandersetzt, darauf, daß diese sämtlich Rechenschaft ge-
legt und in der Stadt verblieben waren. — Kurz nach dem Sturz der
Dreißig und der durch Pausanias herbeigeführten Versöhnung fällt nun auch
das zweite der auf Samos bezüglichen und von Foucart in der ange-
führten Abhandlung behandelten Dekrete. Es stellt sich als ein Pro-
buleuma dar, das sieben Punkte enthält: 1. Lob der Samier, 2. Be-
stätigung der früheren Beschlüsse über die Verleihung des Bürgerrechts,
3. Gesandtschaft der Samier noch Lakedaimou, 4. Anschluß der
athenischen Gesandten, 5. Belobigung der Bewohner von Ephesos und
Xotion, 6. Vorstellung der Gesandten, 7. Einladung ins Prytaneum
(vgl. Ditt.' 48, ^56). Darauf folgt das Amendement des Kephisophon,
das die Punkte 2 und 7 noch einmal ausdiücklich hervorhebt, während
die übrigen nicht erwähnt werden. Diesen Tatbestand suchte zuletzt
Swoboda (?ymb. Pragenses 1893) so zu erklären, daß er meinte, die
nicht erwähnten Punkte seien aus Furcht vor den Lakedaimoniern ab-
gelehnt worden. Demgegenüber zeigt nun F., daß damals nach Lysauders
Sturz die Lage sich wesentlich geändert hatte, so daß die Furcht vor
den Lakedaimoniern schwerlich auf die Gestaltung des Beschlusses ein-
wirkte: vielmehr sei das Probuleuma tatsächlich angenommen, es seien
jedoch 2 und 7 noch einmal wiederholt worden, um jeden Irrtum in
betreff des Bürgerrechts auszuschließen, Nr. 7 besonders weil es die
Formel xaliait. im oeiTrvov enthielt, also auf einen Bürger ging, da es
bei einem Fremden im Sevia hätte heißen müssen. Eine solche Vor-
sicht sei damals geboten gewesen , als das von Thrasybul den Metöken
verliehene Bürgerrecht nachträglich ihnen durch Archiuos wieder ge-
nommen wäre. Wie wenig übrigens damals Athen von Sparta zu
fürchten gehabt habe, das erkennt Fouc. auch aus dem dritten Beschluß,
sofern hier bei den Ehrungen, die Poses wegen seiner doch gegen Sparta
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 235
gerichteten Politik erhielt, wesentlich über die vom Rat vorgeschlagenen
Ansätze herausgegangen wird.
Wenn die Feinde Athens geglaubt hatten, mit seiner Nieder-
werfung werde ein neuer, glücklicher Zustand eintreten, so hatten sie
sich gründlich getäuscht: auch ohne es zu wollen sah Sparta sich ge-
nötigt, au die Stelle Athens zu treten und seinen Bund über ganz
Hellas auszudehnen. Selbst die Tribute wurden weitergezahlt: sie
waren bei dem gänzlich unentwickelten und für eine moderne Groß-
macht völlig unzulänglichen Finanzwesen Spartas eine unumgängliche
Notwendigkeit. Lysandros ist es gewesen, der Sparta diese Stellung
verschafft hat; allein er hat auch eingesehen, daß die Hegemonie von
Hellas eine Aufgabe war, der das damalige Sparta in keiner Weise
genügen konnte: vor allem infolge der geringen Anzahl von VoU-
bürgeru, die die Grundlage der spartanischen Kriegsmacht und Ver-
fassung bildeten. An sich gab es zwei Wege, hier eine Änderung zu
schaffen: einmal den Übergang zur Monarchie, und ihn hat Lysandros
mit Bezug auf seine eigene Person unzweifelhaft beabsichtigt, anderer-
seits die Verbreiterung der Grundlagen des spartanischen Staats durch
Hereinnahme der Periöken, Neodamodeu, Fremden ev. sogar der
Heloten in die Bürgerschaft, wie sie offenbar der Aufstand des
Kiuadon zum Ziele hatte. Jener Versuch Lysanders brach sich an
dem Widerstände des legitimen Königtums, das sich von ihm in den
Schatten gestellt sah: als das Ende seiner politischen Macht ist die
Restauration der athenischen Demokratie durch König Pausanias an-
zusehen. Mit Recht bezeichnet diese Meyer als einen schweren politischen
Fehler, zugleich aber als die größte Ruhmestat Spartas, wie es denn über-
haupt nicht zu bezweifeln ist, daß M. im Anschluß an Beloch ein ent-
schieden besseres Verständnis der lakedaimonischen Politik angebahnt
hat, die bislang allzusehr durch die athenische Brille betrachtet ward.
Ebenso scheiterte Kinadons Verschwörung und daß damit auch der in
ihr liegende fruchtbare Gedanke zugrunde ging, das liegt an der Un-
fähigkeit der damaligen Politiker, über die Grenzen des Stadtstaates
hinauszudenken. Der einzige Fall, in dem das geschehen ist, die Er-
teilung des athenischen Bürgerrechts an die Samier, blieb ein unfrucht-
bares Experiment: nichts ist charakteristischer, wie M. mit Recht
hervorhebt (V, 221 f.), als daß die neue athenische Demokratie 401/0
auf Perikles' Bastardgesetz zurückgriff; Thrasybulos' weitgehende Neue-
rungen, die mit gesundem, politischem Instinkt die Kräftigung der
Bürgerschaft bezweckten, sind damals durch Archinos vereitelt.
236 Jahresbericht über giiechische Geschichte. (Lenschaa.)
Immerhin hat Sparta seine panhellenische Aufgabe begriffen,
wie die Aufnahme des Kampfes gegen Persien beweist, die allerdings durch
den verunglückten Aufstand des Kyros veranlaßt ward. Daß die
spartanische Regierung Kj'ros unterstützte, ließ sich bei den engen
Beziehungen zu dem persischen Prinzen nicht vermeiden ; die Konnivenz
der spartanischen Behörden gegen Klearchs Werbungen ward endlich
durch eine direkte Hilfssendung gekrönt: als solche faßt M. die Ab-
sendung des Nauarchen Samios. der allerdings Xen. Anab. 1. 4. 2.
Pythagoras genannt wird, ein naives Versteckspiel Xenophons, für das
Meyer noch andere Beispiele anführt. Allerdings mißglückte dei- Ver-
such, indem durch Klearchs Eigensinn die Schlacht von Kunaxa ver-
loren ging; aber das war ein unberechenbarer Gewinn für Hellas, da
Kyros als König ganz anders in die griechischen Verhältnisse einge-
griffen haben würde wie sein Bruder Artaxerxes (Bury S. 523).
Immerhin war durch die Unterstützung des Empörers der casus belli
zwischen dem Großkönig und Sparta gegeben, wenngleich die Sache
unzweifelhaft noch in Güte beigelegt werden konnte: daß Sparta dazu
keinen Versuch machte, das eben ist der Beweis dafür, daß es seine
panhellenische Aufgabe begriff. Im Gefühl dieser Verpflichtung hat es
durch Agesilaos den Kampf in Asien aufgenommen, den dann der
König durch eine Diversion in Hellas zu seinen Gunsten entschied.
Die Seeschlacht von Knidos, die Spartas Seegeltung vernichtete, und
die Koalition der Gegner im korinthischen Krieg, die den Spartanern
den Weg nach Mittelgriechenland verlegte und sie auf die Peloponnes
beschränkte, hat ihnen die Unmöglichkeit gezeigt, aus eigener Kraft
die Herrschaft über Hellas zu behaupten. Seit 390 beginnen die Be-
mühungen um sja'akusische Hilfe und das Königsbündnis, die durch
die drohende Wiederaufrichtung des athenischen Bundes, wie sie nach
Thrasybulos' Zug 388/7 möglich erschien, noch verstärkt wurden. Die
Konstellation der drei Hauptmächte: Persien, Sparta und Syrakus, hat
dann den Königsfrieden erzwungen. Spartas Herrschaft war gesichert;
allein die innere Berechtigung zur Hegemonie der Osthellenen, die im
Vorkampf gegen den persischen Erbfeind lag, hat es damit preisgegeben:
,,es war von jeder Anwandlung einer nationalistischen und idealen
Politik gründlich kuriert" (Meyer GdA, 5, 274).
Der Königsfriede ist die Stelle, an der zuerst die Westgriecben
bestimmend in die Geschicke des Mutterlandes eingegriffen haben, und
so ist hier der Ort, die Geschicke Siziliens nach 413 und die Ent-
stehung der Militärmonarchie Dionys I. zu behandeln. Bald nach der
athenischen Niederlage vor Syrakus, die den Fall der ersten hellenischen
Macht nur noch als eine Frage der nächsten Zeit erscheinen ließ, be-
ginnen sich in Ost und West die dem Griechentum feindlichen Gewalten
Jahresbericht übf^r griechische Geschichte. (Lenschau.) 237
wieder zu regen: wie damals Tissaphernes sich in die Verhältnisse Ost-
griechenlands einzumischen anfängt, so ist es auch offenbar dies Er-
eignis gewesen, das Karthago zum Einschlagen der seit 480 verlassenen
Angriffspolitik gegen Sizilien bewog. Daß in Karthago selbst eine starke
Minderheit der Kriegspartei entgegentrat, möchte Me3^er (GdA. 5, 64)
daraus schließen, daß die Karthager zunächst Syrakus das Schiedsge-
richt zwischen Egesta und Selinns antrugen: ich kann darin nur einen
durchaus gelungeneu Versuch sehen, die eigenen Absichten, über deren
Tragweite man sich völlig im klaren war, so lange wie möglich zu
maskieren. Im Jahre 409, wie Meyer und Bury mit Kecht gegen
Beloch festhalten, beginnt dann der Kampf mit der Eroberung von
Selinus und Himera; auch hier glaube ich im Gegensatz zu Meyer
(5, 69), daß es nicht die gelegentlichen Streifzüge des Hermokrates
gewesen sind, die den Wiederausbruch des Krieges hervorriefen,
sondern daß von vornherein die Eroberung Siziliens im umfassendsten
Sinne geplant war und daher die Kampagne von 406 nur als die
natürliche Fortsetzung der Unternehmungen von 409 aufzufassen ist.
Der abermalige Erfolg Himilkons, die Vernichtung von Akragas, hat
dann der Wahl des Dionys die Wege geebnet.
Freilich hat auch er das Geschick von Gela und Kamarina nicht
mehr zu wenden vermocht, und hier am Eingang seiner Laufbahn er-
hebt sich nun sofoit eine Frage, von deren Beantwortung die Gesarat-
auttassung von Diouysios' Persönlichkeit abhängt. Während Meyer die
Niederlage des Dionj^s vor Kamarina auf die verfahrenen Verhältnisse
zurückführt, glaubt Buiy (S. 641) an ein beabsichtigtes Fehlschlagen,
das Dionys die Wege zur Tyraunis mit Hilfe der Kaithager bahnen
sollte. Aber das erscheint unverständlich: ein Sieg würde Dionys aus
eigener Kraft das gewährt haben, was diese beabsichtigte Niederlage
ihm nach B.s Ansicht mit Hüte der Karthager verschaffen sollte.
Der Verdacht B.s hängt eben damit zusammen, daß er annimmt, Dionys
habe von vornherein nie die ernstliche Absicht gehabt, ganz Sizilien
zu erobern, vielmehr die karthagische Herrschaft, wenn auch im be-
schränkten Umfange zu belassen, um so die Syrakusier in beständiger
Furcht zu halten und seine Unentbehrlichkeit darzutuu. Die gegen-
teilige Autfassung wird von M. vertreten; danach beruht die Möglich-
keit von Dionys' Herrschaft eben darauf, daß er von vornherein als
Verteidiger des Griechentums gegen die Karthager aufgetreten ist. Die
Dichtigkeit dieser Annahme wird meines Erachtens durch nichts deutlicher
dai getan als durch Dionys' Verhalten bei der Belagerung von Motye 398,
wo er die gefangenen griechischen Söldner, die auf karthagischer Seite
gefochten haben, als Hochverräter hinrichten läßt. Dieser Vorgang ist
durchaus mit der Vernichtung der griechischen Söldner nach der Schlacht
238 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
am Granikos oder dem Untergang- der schwarzen Fähnlein bei Pavia
auf eine Stufe zu stellen: wie dort Alexander und die deutschen Lands-
knechte, so betrachtet sich Dionys als Vollstrecker des Willens der
Nation, die ihre eigenen Söhne vernichtet, wenn sie an ihr zu Ver-
rätern geworden sind. — Wenn endlich B. 665 gegen diese Auf-
fassung des Dionys als Vorkämpfer des hellenischen Volkstums gegen
<lie Barbaren anführt, daß er mehrfach blühende griechische Gemein-
v/esen vernichtet und mit Barbaren gegen Griechen paktiert habe, so
erklärt sich jenes aus den zentralistischen Tendenzen, die im Interesse
der Stärkung des hauptsächlichsten Gemeinwesens z. B. auch die
Römer bewog, unterworfene Gemeinden nach Rom zu verpflanzen, und
das Bündnis mit den Lukanern muß durchaus unter dem Gesichtspunkt
seines Erfolges betrachtet werden, sofern es endlich den Anschluß der
unteritalischen Griechen bewirkte. Als Realpolitiker war Dionj^s eben
in seinen Mitteln nicht wählerisch; aber das wird man ihm zugestehen
müssen, daß er den großen Gedanken seines Lebens durchgeführt hat.
Noch in Agathokles" Persönlichkeit hat dieser Gedanke weiter gewirkt
und den Griechen Siziliens den Widerstand gegen Karthago ermöglicht,
den die Demokratie und der Partikularismus der einzelnen Städte nie
geleistet haben würde und der wenigstens so lange aashielt, bis eine
stärkere Macht gegen die Panier auf den Kampfplatz trat. Und die
Anerkennung dieser Idee wird es gewesen sein, nicht bloß seine aller-
dings ungemeine Vorsicht und die Reinheit seines Privatlebens, die
schließlich das Volk mit ihm aussöhnte und jeden Widerspruch gegen
seine Herrschaft verstummen ließ: er war eben doch der Hort des
Griechentums, durch vierzigjährige Kämpfe als solcher bewährt. Daß
diese seine Stellung nicht sofort rein hervortrat, daß der unglückliche
Ausgang des Kampfes um Gela und der Friede von 405 ihn zwang,
den Ruhm, der Schützer der hellenischen Freiheit zu sein, sozusagen
auf Kredit vorwegzunehmen und seiner Stadt Opfer zuzumuten, die
nur der Befestigung der eigenen Herrschaft zu dienen schienen, das
ist in der Tat das Unglück seines Lebens gewesen: um so weniger
kann man annehmen, daß er selbst verräterischerweise die Niederlage
von Gela herbeigeführt hat.
Beruht demnach die Stellung des Dionys in erster Linie darauf,
daß er der Vertreter der nationalen Sache gegen den karthagischen
Erbfeind gewesen ist, so kommen daneben auch seine bedeutenden Eigen-
schaften als Staatsmann und Feldherr in Betracht. Doch wird man im
ganzen sagen müssen, daß er mehr ein genialer militärischer Organi-
sator, als ein großer Feldherr gewesen sein muß. Wenigstens hat er,
worauf Bury nach Freemans Vorgang S. C51 mit Recht hinweist, die
Entscheidung in offener Peldschlacht, die der geborene Feldherr sucht.
Jahresbericht über griechische Geschieht'^. (Lenschau.) 239
nach Kräfteu gemieden; fast alle seine Erfolge sind durch tJbeifälle
lind Kriegslisten, durch schlaue Diplomatie und kluu'e Benutzung der
T'mstände errungen. Möglich ist aber auch, daß hier der traurige
Zustand unserer tiberliefernng ist: vor allem bedauerlich ist es freilich,
wie Meyer GdA. 5, 102 hervorhebt, daß wir über die Finanzpolitik
des Dionys fast gar nichts wissen. Seine Kriegführung muß Unsummen
verschlungen haben und über die Art, wie er diese aufbrachte, ist so
gut wie nichts bekannt, außer ein paar gehässigen Anekdoten, die
Timaios in Umlauf gebracht hat. Auch staatsrechtlich bleibt die
Stellung, die Dionys einnahm, ziemlich unklar: wahrscheinlich bestanden
die Formen der Verfassung weiter und Dion^'s übte seine Gewalt als
Oberstratege aus. In den athenischen Volksbeschlüssen heißt er ap/wv
StxeXta?, vielleicht ist das die offizielle Titulatur, der sich Dionys von
Anfang an bediente, mit unverhüllter Aagabe des Ziels, das er sein
Leben lang im Auge gehabt hat (Meyer GdA. 5, 95).
In die Verhältnisse des Mutterlandes hat Dionys mehrfach und
zwar stets zugunsten Spartas eingegriffen, einmal wegen des Gegen-
satzes zu Athen, dem er und wohl nicht mit Unrecht noch lange Zeit
Eingriffe ins westliche Mittelmeer zutraute., und sodann, weil die Spar-
taner ihn ebenfalls in den schweren Anfangszeiten seiner Herrschaft
unterstützt hatten: er, der König, und Sparta sind die Garanten des
Antalkidasfriedens geworden, der auf Jahrzehnt e und in einzelnen
Aitikeln auf ein Jahrhundert hinaus die Verhältnisse Griechenlands be-
stimmt hat: die Schlußformel über die Autonomie der Einzelstädte
spielt noch in den Staatsverträgen der Diadochenzeit eine wichtige
ßolle. Den ersten Vorteil zog davon der König, der durch den Frieden
endlich die Hände gegen Euagoras frei bekam: nach zehnjährigem
Kampfe, dessen Dauer sowohl Meyer wie Bury in Übereinstimmung
mit Beloch auf 390/89 bis 381/80 ansetzten, ward er allerdings auf
sehr erträgliche Bedingungen hin zur Unterwerfung gezwungen. Über
die Verteilung der Ereignisse auf die einzelnen Jahre ist der Aufsatz von
Mesk zu vergleichen, der auch die obengenannte Datierung mit Glück
gegen Blaß Att. Bereds. II- 254 verteidigt hat. Alsdann ging auch
Sparta dai-an, mit den unbotmäßigen Elementen in Hellas aufzuräumen,
zunächst bekam Mantineia, dann Phleius und Olynth seine schwere
Hand zu spüren. Auch hier ermöglicht die von Meyer (F. II, 511)
wiederhergestellte spätere spartanische Königsliste eine genauere Chro-
nologie: danach erfolgte 382 das erste Eingreifen Spartas in die Ver-
hältnisse des Nordens und die Besetzung der Kadmeia 381 der Auszug
des x'\gcsipoli3 nach Olynth und einige Zeit darauf der Beginn der Be-
lagerung von Phleius, 380 während beide Belagerungen andauern (Isokr.
Paneg. 126) der Tod des Agesipolis, endlich Sommer 379 die Kapitu-
240 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
latiou erst von Pbleius, dann von Olynth (GdA. 5, 305 f.). Damit
■war die Eube wiederhergestellt und Sparta stand völlig intakt wieder
da, ein festes, in sich geeinigtes Staatswesen, neben dem Athen nur
t'ice sehr geringe Rolle spielte. Wie mächtig es den Zeitgenossen
imponierte, ergibt sich daraus, daß die damaligen politischen Theore-
tiker, auch Piaton, in Sparta die ihrem Ideal noch am nächsten kommende
Staatsverfassung verwirklicht sahen (GdA. 5, 364 f.}. Eist nach und
nach hat Piaton, besonders nach dem Scheitern seiner sizilischen Pläne
seine Hoffnung auf einen aufgeklärten Despotismus gesetzt und eben
dieses hat auch Xenophon am Ende eines langen Lebens, das in auf-
richtiger Verehrung Spartas begonnen hatte, als der Weisheit letzten
Schluß in der Kyrupaideia anerkannt. So bereitet die Theorie auf die
Hegemonie der makedonischen Könige vor und auch der Gedanke, kraft
dessen sie schließlich die innere Einigung der Osthellenen vollziehen,
klingt bereits um diese Zeit an: im Panegyrikos an den Olympien 380
predigt Isokrates den Nationalkrieg gegen Persien, allerdings auf Grund
des Zusammenwirkens von Sparta und Athen. Die Gleichstellung beider
Mächte, deren Machtbereich damals so ungleich wie möglich war, zeigt,
daß Athen jetzt nach einer Reihe von Eriedensjahren Kraft und Mut
genug zur Wiederherstellung des alten Dualismus in sich fühlte, inso-
fern Isokrates einer zeitgemäßen Wiederherstellung der athenischen See-
herrschaft das Wort redet, kann sein Panegyrikos mit Wilaraowitz als
das Programm des zweiten Seebundes bezeichnet werden.
Der Augenblick, den Plan ins Werk zu setzen, trat ein, als
Theben mit Unterstützung Athens die Kadmeia befreite. Bald darauf
ward durch den schnöden Überfall des Sphodrias und seine Ereisprechung
in Sparta der Bruch zwischen beiden Staaten unheilbar und nun beginnt
i^ofort unter Leitung von Chabrias, Timotheos und Iphikrates jene
plötzliche Expansion, die zur Gründung des zweiten Seebundes geführt
hat. Mit den inneren Verhältnissen dieses Bundes befaßt sich der
erste Teil der eingangs erwähnten Abhandlung von Lipsius, derzunächst
mit der eine Zeitlang in Mode gewesenen Bezeichnung „Dritter athenischer
Seehund" autiäunit. Mit Recht weist er darauf hin, daß jener Versuch
des Thrasybulos im Jahre 388/7, der durch dessen Tod und den An-
lalkidasfrieden ein schnelles Ende fand, eben nichts weiter bezweckte,
als die Erneuerung des ersten Seebundes in der Form, die er vor seiner
Vernichtung gehabt hatte: wirklich neue staatsmännische Gedanken
liegen erst dem Bündnis aus dem Jahre des Nausinikos zugrunde, das
deswegen allein die Bezeichnung Zweiter attischer Seebund verdient.
Sodann sucht Lipsius die Stellung Athens zum Bunde genauer zu prä-
zisieren: das allgemein zugegebene Übergewicht des Vororts zeigt sich
nach ihm am schärfsten in der Tatsache, daß die Aufnahme neuer
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lcnschau.) 241
Mitglieder des Bundes lediglich in sein Ermessen gestellt war. Diese
Ansicht hat Meyer (GdA. 5, 383 A.) kurz zurückgewiesen, dennoch ist
nicht recht abzusehen, wie sich die Sache in der Praxis anders gestaltet
haben kann, als so wie L. sicii den Hergang vorstellt. Wollte eine
Stadt dem Bunde beitreten, so war es doch sicherlich das Naturgemäße,
daß sie sich zunächst der Zustimmung des mächtigen Vororts versicherte,
dessen Stimme so viel galt wie die aller übrigen ßundesglieder zusammen,
und dem es nicht leicht an Mitteln fehlen konnte, seinem Willen im
Syuedrion Geltuug zu verschaffen (Lipsins a. a. 0. S. 150). So erklärt
es sich, daß in den uns erhaltenen athenischen Volksbeschlüssen bei
Aufnahme neuer Mitglieder einer Mitwirkung des Synedrions abgesehen
von der Eidesleistung nirgends gedacht wird, weil tatsächlich die Auf-
nahme zunächst durch Athen erfolgte: ob aber schon bei der Gründung
dies Athen als ausdrückliches Vorrecht zugestanden ist, das ist eine
staatsrechtliche Frage, bei deren Entscheidung ich mich meinem ver-
ehrten Lehrer nicht ohne weiteres anschließen möchte. Denn so gewiß
es ist, dciß Athen durch seine Stellung außerhalb des Synedrions sich
die Grundlage sicherte, aus der sich notwendigerweise ein Übergewicht
des Vororts ergeben mußte, ebenso gewiß ist es doch auch, daß seine
Staatsmänner bemüht waren, jeden Schein eines Athen zustehenden
Vorrechts zu vermeiden-, vielmehr stellten sie dies der natürlichen Ent-
wickelung anheim, die ja tatsächlich bald genug zu einer Vormacht-
stellung geführt hat. Daß Athen die Gelegenheit benutzte, wo es anging,
diese Stellung zu verstärken, ist selbstverständlich und in dieser Hinsicht
ist die Beschränkung der Jurisdiktion bemerkenswert, die, wie Lipsius
a. a. 0. ausführt, abgefallenen und mit Gewalt zurückgebrachten Buudes-
gliedern iu der Eorm auferlegt ward, daß von dem Spruch ihrer Gerichts-
höfe die £'p£3t? an die athenischen Gerichte gestattet ward. Daß ecpetjt;
Appellation bedeutet, hat Lipsius m. E. überzeugend gegen Wilamowitz
ausgeführt (a. a, 0 ).
Thebens Zutritt zum Bunde hat ihm mit der Rückendeckung
gegen Sparta zugleich die Möglichkeit gewährt, die Vereinigung der
boiotischen Städte unter seiner Führung zu bewerkstelligen. Daß ei
sich dabei tatsächlich um die Gründung eines Einheitsstaates gehandelt
hat, wie zuerst Vischer aussprach, hat Meyer GdA, 5, 391 gegen
Beloch festgehalten: m. E. wird es durch das Verhalten des Eparaeinon-
das auf dem Friedenskongreß zu Sparta bewiesen (s. u.). Dadurch aber
trat zwischen Theben und Athen eine Entfremdung ein, die bereits 374
zu einem Separatfrieden zwischen Athen und Sparta führte. Allein
durch Timotheos' Verschulden kam es sofort zu neuen Feindseligkeiten,
indem Sparta im Vertrauen auf die mittlerweile zugesagte Hilfe des
Dionys den Konflikt verschärfte (GdA. 5, 399), bis endlich 371 auf dem
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd CXXII. (1904. III.) 16
242 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Kong^reß zu Sparta die Mißhelligkeiten beigelegt wurden. Die Grund-
lage der dortigen Verhandlungen bildete der Königsfriede: darauf
konnten Sparta und Athen eingehen, da ihre Bünde auf Autonomie
beruhten. So richtig Meyer (GdA. V, 397 und 406,), während Bury aus
der Annahme des Grundsatzes der Autonomie folgert, daß beide Bünde
ihre Kraft verloren, Athen und Sparta auf ihr Reich verzichtet hätten
(S. 573).
Dagegen war nun allerdings der Boiotische Bund mit der Klausel
des Königsfriedeus nicht vereinbar und dies scheint die allgemeine
Ansicht auf dem Friedenskongreß zu Sparta gewesen zu sein. Auch
Epameinondas hat nicht das Gegenteil behauptet, sondern nur daß
Theben über Boiotien kraft desselben Rechtes herrsche, wie Sparta
über Lakedaimon, seitdem es in grauer Vorzeit die Landschaft zum
Einheitsstaat umgeschaffen habe: jedenfalls ist das der Sinn, der seiner
Frage an Agesilaos, ob er die Periöken freigeben wolle, zugrunde liei^t.
Aber er blieb mit seiner Ansicht allein; Theben ward vom Frieden
ausgeschlossen und König Kleombrotos mit der Exekution gegen die
renitente Stadt beauftragt, deren Verderben besiegelt schien. Allein die
Niederlage von Leuktra vernichtete sofort das spartanische Übergewicht,
und die bald darauf folgende Einigung Arkadiens, sowie die Wieder-
herstellung Messeniens lähmten die Kraft des spartanischen Staates^
der durch eine Reihe gewaltiger Festungen Argos, Mantineia, Tegea,
Megalopolis, Messene, von den wenigen ihm treugebliebenen Bundes-
genossen abgeschnitten, auf den Seeweg und dadurch auf die Ver-
ständigung mit Athen angewiesen war, wo er wenigstens in Kallistratos
einen beredten Anwalt und Veitreter seiner Politik gefunden hat.
Welche Rolle lason v. Pherae bei Leuktra gespielt hat, ist nicht ganz
klar, da die Darstellung des Ephoros (Diod. 15, 51 — 56) der xeno-
phontischen in weseiitlicheu Punkten widerspricht: sie wird von Meyer
abgewiesen (GdA. 5, 414,), während Bury ihr Glauben beimessen möchte
(S. 596). Die Abhandlung von Tropea, Giasone, il tago della Tessaglia,
habe ich nicht einschen können; ohne wesentlich Neues zu bringen, soll
sie den Besprechungen nach ein gutes Gesamtbild des merkwürdigen
Mannes geben, der ein Menschenalter vor König Philipp dessen Rolle
in Griechenland zu spielen bes-timmt schien.
Über die Verhältnisse des arkadischen Bundes, der unabhängig
von Theben bald nach dem Siege von Leuktra entstand und dann mit
Epaminondas' Beihilfe begründet ward, hat Niese (Hermes 34, 520 ff.)
eine eingehende Abhandlung veröffentlicht, aus der zunächst seine Aus-
führungen über das Gründungsjahr von Megalopolis zu erwähnen sind.
Die Angaben schwanken zwischen 371/0 bei Paus. 8, 27, 1 — 8, ferner
370 bei Paus. 9, 14, 4 und 368/7 Diod. 15, 72; von ihnen verwirft
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 243
Niese die beiden Daten des Pausanias, indem er darauf hinweist, daß
der bei Paus, als tegeatischer Kommissar genannte Proxenos unmöglich
mit dem 370 getöteten Führer der Demokratie von Tegea (Xen. hell.
6, 5, 6) identisch sein kann. Nach genauer Durchmusterung der Zeit-
ereignisse kommt er sodann zu dem Schluß, daß weder 370 noch 369
die Verhilltüisse die Begründung von Megalopolis und vor allem eine
Beteiligung des Epaminondas daran ermöglichten, und so entscheidet
er sich für das Datum Diodors 368/7, das vor allem daher zu passen
scheint, weil der Ausgang des lakedaimonischen Einfalls von 368/7 den
Arkadern die Notwendigkeit einer starken Festung an dieser Stelle
erwiesen hatte. Die Natur der Beweisfülirung bringt es mit sich, daß
eine absolute Sicherheit in diesen Ausätzen nicht zu erzielen ist: dazu
ist unsere Kenntnis der Zeitereignisse denn doch zu lückenhaft und au
sich ist es nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich, daß der
Bau sich über eine Reihe von Jahren hinzog; Anregung und Förderung
können also sehr wohl von Epaminondas bei seiner Anwesenheit auf
dem ersten und zweiten Zuge in die Peloponnes gegeben sein (ähnlich
Meyer GdA. 5, 432 f.). Bedenklicher aber ist es, wenn Niese aus dem
so gewonnenen Gründuugsjabr die Folgernng zieht, daß die Gründung
von Megalopolis mit dem Zusammenschluß des arkadischen Bundes ur-
sprünglich gar nichts zu tun gehabt habe, und daß es nie Bundeshauptstadt
gewesen sei. Dies widerspricht aufs schärfste UDserer gesamten Über-
lieferung, und auch der Umstand, daß die einzige Bundesversammlung,
von der wir wissen, in Tegea stattgefunden hat, kann ihr gegenüber
nicht in Betracht kommen. Weder Meyer noch Bury sind dieser
Nieseschen Ansicht gefolgt; ja Bury geht sogar nach der andern Seite
hin einen Schritt weiter (S. 599 ff. vgl. JHSt, 18, lö^; er glaubt in
Megalopolis noch den doppelten Charakter als einfache Bundesstadt
und als Hauptstadt des arkadischen Gesamtbundes zu erkennen. Die
Nordhälfte der Stadt nördlich vom Helisson bildete das neue selb-
ständige Gemeinwesen, die Südhälfte war der Sitz der Bundesbehörden,
der z-ndpi-oi, und trug durchweg den Charakter der Bundeshauptstadt.
Hierzu läßt sich nur so viel sagen, daß der archäologische Befund der
Buryschen Ansicht nicht widerspricht Dagegen sind wir über die Ver-
fassung des Bundes selbst, über seine Behörden usw. wieder recht im
unklaren, seitdem das Ehrendekret für Phylarchos (D. S. I^ 106), das
man bisher in dieser Beziehung verwerten konnte, nunmehr von Niese
als der Zeit von 255 — 245 angehörig erwiesen ist, während es Ditteu-
berger a, a. O. kurz nach Mantineia ansetzte; und ob man mit Meyer
die damaligen Verhältnisse ohne weiteres auf die Zeit der Gründung
übertragen kann (GdA. 5, 432), scheint doch fraglich.
Das ursprünglich gute Verhältnis zwischen dem arkadischen Bunde
16*
244 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
und Theben erlitt bald eine leichte Trübung, wozu unzweifelhaft die
Vernachlässigung der peloponnesischen Dinge beigetragen hat, der sich
Theben, mit Ausdehnung seines Einflusses im Norden beschäftigt, wäh-
rend der auf 369 folgenden Jahre schuldig machte. Diese hängt un-
zweifelhaft mit dem Prozeß des Epaminondas zusammen, über den
zuletzt Swob oda im Rh. Mus. Bd. 55 gehandelt hat. Auch er hält daran
fest, daß es sich nur um einen einmaligen Prozeß handelt, der von
Diodor 15, 72 ans Ende 369 nach dem zweiten Zuge, von allen übrigen
Quellen 370/69 nach dem ersten Zuge verlegt wird. Sw. entscheidet
sich für das letztgenannte Datum : sonach v.'ar der Prozeß ein Vorstoß
der thebauischen Friedenspartei, der Epaminondas sofort nach dem ersten
Zuge zu Leibe ging, da er durch den Angriff auf Lakedaimon seine
Instruktion, das Gebiet der Arkader zu schützen, überschritten hatte.
Epaminondas und der mitaugeklagte Pelopidas wurden mit Glanz frei-
gesprochen und sofort 369 wieder zu Boiotarchen gewählt. Indessen
hat schon Beloch (Griech. Gesch. II, 266 A.) darauf hingewiesen, daß
die Gegenpartei leiu verrückt gewesen sein müßte, wenn sie Ep. im
Winter 370 nach den ungeheuren, in der Peloponnes erzielten Erfolgen
angeklagt hätte; nimmt man hinzu, daß 368 beide nicht Boiotarchen
sind, so ist es allerdings wahrscheinlicher, daß die Gegenpartei die
günstige Gelegenheit nach dem zweiten ergebnislosen Zuge ergriff und
Diodor mit seiner Ansetzung des Prozesses auf Ende 369 zufällig das
Rechte getroffen hat. Demnach haben sich sowohl Mej'er GdA. 5, 436
und Bury S. 608 für Diodors Ansatz entschieden; der Ausgang des
Prozesses bedeutet zugleich die entschiedene Abkehr Thebens von den
peloponnesischen Dingen und seine Einmischung in die nordischen Ver-
hältnisse, wo durch lasons Ermordung die Bahn frei geworden war.
Daran hat auch der dritte Einfall des Epaminondas in die Pelo-
ponnes 367, der im wesentlichen bestimmt war, Thebens Stellung gegen
den selbständig vorgehenden arkadischen Bund zu kräftigen, wenig zu
ändern vermocht: sein anfänglicher Erfolg, die Gewinnung Achajas,
ward durch die unsinnigen Maßregeln der thebanischen Volksversamm-
lung in sein Gegenteil verkehrt. Man wird schweilich fehlgehen, wenn
man diese Maßregeln auf die demokratische Opposition zurückführt, die
Epaminondas' Politik diskreditieren wollte (anders Meyer GdA. 5, 446),
und der Erfolg blieb nicht aus: in den nächsten .Tahren ist das Gesicht
der thebanischen Politik beharrlich nach Norden gerichtet. Inzwischen
ging der arkadische Bund, unbeirrt durch den Frieden von 366, seine
eigenen Wege, die zunächst zum Konflikt mit Elis führten. Den Ver-
lauf des Kampfes hat Niese a. a. O. durchaus zutreffend dargestellt;
doch scheint es, als ob die von Fränkel (Sitz.-Ber. der Berl. Akademie
1898 41, 635) auf die Rückzahlung der dem Tempelschatz von Olympia
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 245
entnommenen Gelder durch den arkadischen Bund bezogene argivische
Urkunde in eine spätere Zeit gehört (R. "Weil, Zeitschr. für Numisni.
22, 1). Eben über diese Benutzung der Tempelschätze aber entstanden
Streitigkeiten unter den Buudesgliedern, die dem Bestände des Bundes
gefiihrlicli zu werden drohten, und nun mußte Theben, wenn es nicht
alle Früchte seiner Politik im Süden verloren gehen lassen wollte, so
schnell wie möglich eingreifen: an der Spitze bedeutender Heeresraassen
überschritt Epaminondas im Anfang 362 den Isthmos, um die Bundes-
genossen im Süden an sich zu ziehen und womöglich die Vereinigung
der Gegner zu hindern.
Über diesen letzten Feldzug des Epaminondas und die Schlacht
von Mantineia haben wir eine eingehende Monographie von Joh. Kro-
mayer, die mit großem Geschick sämtliche einschlagenden Fragen be-
handelt und im ganzen m. E. völlig gesicherte Resnltate ergibt. Be-
ginnen wir mit der Zeitbestimmung. Ende Juni 362 ist die Schlacht
geschlagen, wie man lange Zeit übereinstimmend geglaubt hat, bis die
Auffindung der Urkunde des Fünfbnndes Arkadien, Elis, Achaia, Athen
und Sparta CIA. II, 57b eine anderweitige Datierung zu erfordern
schien. Sie stammt aus dem Jahre des Molon, der am 1. Hekatombaion
= 15. Juli 362 sein Amt antrat; da nun kraft des Bündnisvertrages
die Hilfeleistung Athens bei Mantineia erfolgte, so erschien es evident,
daß die Schlacht später fallen mußte, und so hat sie Köhler zuerst auf
den Spätsommer 362 verlegt. Allein Kromayer zeigt, daß dann die
Zeit zwischen der Hilfeleistung der Athener und dem Treffen selbst
viel zu kurz wird, abgesehen davon, daß auch die Jahreszeit nicht mit
Xenophons Erzählung stimmt: man war mitten in der Ernte, die nach
dem grundlegenden Werke von Fougeres, Mantinee et l'Arcadie Orien-
tale p. 100, auf der arkadischen Hochebene spätestens mit Ende Juli
vorbei ist. Auch der früher von Beloch vertretene Ansatz der Schlacht
in den Sommer 361, sowie Ungeis Annahme, daß sie 363 falle und
mit dem Vertrage gar nichts zu tun habe, verwickeln in Schwierigkeiten,
und so sieht sich Krom. zu dem Schluß gedrängt, den übrigens auch
Bury S. 623 selbständig geäußert hat, daß die vorläufigen Abmachungen
in betreff des Bundes bereits Anfang 362 getroffen sind und daß daraufhin
die Hilfssendung der Athener erfolgte, während die wirkliche ßatifi-
kation des Vertrages erst nach dem Beginn von Molons Amtsjahr vor
sich ging (Krom. Beil. II, S. 100—113). Das ist in der Tat die ein-
fachste Lösung der Schwierigkeiten, die alle künstlichen Verschiebungen
überflüssig macht.
Ebenso glücklich scheint mir die Frage nach dem Orte des
Kampfes behandelt zu sein. Wer die genaue, durch vortreffliche Karten
und einige Photographien unterstützte Beschreibung des Schlachtfeldes
246 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
liest (S. 47 — 55), wird zu der Überzeugung gelangen, daß die Stellung
der Verbündeten sich eben da befand, wo Grote, Loring und Fougeres
sie gesucht haben. Es ist die engste Stelle der ostarkadischen Hoch-
ebene, zwischen Mytika und Kapnistra: hier standen die Verbündeten,
die nördliche Ebene und den Pelagoswald im Eücken, mit vortrefflicher
Flankendeckung auf beiden Seiten, während Epamiuondas von Tegea im
Süden her heranmarschierte. Die Wahl des Kampfplatzes, der den Ver-
bündeten die mannigfachsten Vorteile bot, macht dem Scharfblick des
alten, vorsichtigen Agesilaos, der offenbar der leitende Manu im ver-
bündeten Heere war, alle Ehre und seine Beschaffenheit stimmt mit dem
Gange der Schlacht aufs vortrefflichste überein.
Über diesen Gang haben wir bekanntlich zwei Berichte, den an-
erkannt sachgemäßen Xenophons, der aber leider nur die Vorgänge auf
dem rechten spartanischen Flügel und den Durchbruch des Eparainondas
schildert, und den des Diodor, der auch hier in seinen brauchbaren
Teilen auf Ephoros zurückgeht. Dieser zweite Bericht scheint zunächst
gänzlich wertlos: es ist die richtige diodorische Xormalschlacht, wie
Holm es einmal glücklich ausgedrückt hat, die hier geboten wird, und
so ist es verständlich, wenn Delbrück S. 135 mit Grote den Bericht
als durchaus unbrauchbar verwirft. Da ist es nun ein entschiedenes
Verdienst Kromayers, darauf hingewiesen zu haben (Beil. I, S. 90 ff.),
daß nach Abzug aller diodoreischen Redensarten, die bei jeder Schlacht-
schilderung vorkommen, doch ein Kern übrigbleibt, der sich als ein
natürlich ganz einseitiges Bild der Vorgänge auf dem athenischen linken
Flügel enthüllt, und mau wird ihm beistimmen, wenn er mit Köchly
und E-üstow das Bild der Schlacht aus einer Kontamination beider Be-
richte gewinnt: der eine stammt von dem spartanischen Gewährsmann
Xenophons, der auf dem rechten Flügel stand, den andern erhielt
Ephoros von einem Athener, der auf dem linken Flügel an der Schlacht
teilnahm und die Wirksamkeit der dortigen Truppen nach Möglichkeit
herauszustreichen suchte. Dabei bleibt es vollkommen bei der Ver-
urteilung von Diodors Bericht, der von den Vorgängen auf dem rechten
Flügel, wo doch die Hauptentscheidung fiel, überhaupt nichts erzählt:
das abfällige Urteil des Polybios 12, 25 über Ephoros" Schlachtschilde-
rungen ist in allen Punkten bestätigt. Dennoch bildet der diodorische
Bericht eine wesentliche Ergänzung und tatsächlich ist es Krom. infolge
seiner Benutzung gelungen, ein derartig klares Bild der Schlacht in
allen ihren Phasen zu zeichnen (S. 55 ff.), daß selbst einzelne Züge da-
durch den Stempel der Wahrscheinlichkeit erhalten.
Allein hiermit sind die Ergebnisse der Kromayerschen Forschungen
noch nicht erschöpft. Während Delbrück a. a. 0. noch das wesentliche
Verdienst des Epamiuondas in einer taktischen Neuerung erkennt, er-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 247
scheint diese bei Kr. sofort in einen höheren Zusammenhang ein;^e-
gliedert. Ihm ist Epaminondas der erste große Vertreter der Ver-
uichtungsstrategie: wie er entscheidende Schläge vorzubereiten und
auszuführen versteht, zeigt die Vorgeschichte der Schlacht mit dem
doppelten, allerdings beidemal durch plötzlich eintretende Ereignisse
gescheiterten Überfall von Sparta und Mantineia; in dieser Hinsicht
steht seine Feldherrnkunst in scharfem Gegensatz zu der Kunst der
kleinen Erfolge, wie sie Condottieri vom Schlage des Iphikrates und
Agesilaos zu üben verstanden (Krom. S. 39). Das Mittel dazu sind
ihm ungeheure Marschleistungen und eiserne Disziplin der Truppen,
Dinge, die ein ei*fahrener Kriegsmann, wie Xenophon, schon damals
als einen wesentlichen Teil der Kriegskunst des tliebanischen Heer-
führers erkannte (Krom, S. 44 f. Xen. 7. 5. 19). Dazu aber stimmt
nun auch die taktische Neuerung: die Flügelschlacht mit dem konzen-
trierten Angriff auf einen Punkt, der Durchbruch und die Aufrollung
der gegnerischen Linie ermöglichen in ganz anderer Weise die völlige
■Vernichtung der feindlichen Feldarmee, wie die alten Parallelschlachteu.
Aber auch in betreff jener taktischen Neuerung selbst, die als
sogenannte schiefe Schlachtordnung bezeichnet wird, führen Kr.s
Untersuchungen über Delbrück hinaus. Dieser erkennt als das wesentlich
Neue bei der schiefen Schlachtordnung die Verstärkung gerade des
linken Flügels, der nun jedesmal, zum Augriffsflügel bestimmt, den
stärksten Teil des feindlichen Heeres, den rechten Flügel, zu werfen
und so dessen Niederlage zu vollenden hat. So hat schon Xen. Hell.
7, 5, 23 die Sache aufgefaßt, ohne doch den Kern zu berühren; hätte
darin das ganze Geheimnis bestanden, so wäre der Stoß leicht zu parieren
gewesen. Demgegenüber hebt Kr. als das Wesentliche die Konzen-
trierung des Angriffs auf einen Punkt hervor, der sich alle übrigen
Dispositionen unterordnen müssen; wo aber dieser Angriff ansetzt, das
entscheiden die jedesmal vorhandenen Umstände. Unter ihnen Ist die
natürliche Beschaffenheit des Schlachtfeldes weitaus der wichtigste ; wie
sie sämtliche Dispositionen des Epaminondas bei Mantineia bedingt hat,
das hat Kr. überzeugend ausgeführt (S. 76 ff.). Delbrücks Irrtum ist
dadurch begreiflich, daß wir nur zwei Schlachtdispositiouen von Epa-
minondas selber haben : beidemal ist zufällig der rechte feindliche Flügel
der Angriffspunkt gewesen, weil es die Umstände so verlangten; daß
dies nicht in der Natur der Sache lag, zeigt Kr. an der Schlacht des
Pammenes, der in Epaminondas' Schule groß geworden war (S. 78 ff.).
Überhaupt aber ist ra. E. der Irrtum Delbrücks dadurch hervorge-
rufen, daß er zuviel Gewicht auf Leuktra legt und Ep. nach dieser Schlacht
beurteilt, die die Technik der schiefen Schlachtordnung sozusagen erst
im embryonalen Stadium zeigt: manche entscheidende Momente wie
248 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
z. B. das Umwenden nach dem Durchbruch uud das Aufrollen der
feindlichen Linie fehlen hier noch oder sie sind infolge der Eilfertig-
keit des Rückzugs gar nicht zur Geltung gekommen. Dem militärischen
Beobachter von dazumal mußte infolgedessen der Durchbruch bei Leuktra
nicht anders erscheinen, als der bei Tegyra und Koroneia; das Ent-
scheidende war nur, daß der Durchbrach die Stelle traf, wo der Kr.nig
und die Spartiaten standen. Hätte aber nur darin das Verdienst des
Epaminondas bestanden, wie Delbrück doch meint, so wäre es nicht
sonderlich groß, zumal auch die tiefen Gewalthaufen der boiotisohen
Taktik überhaupt angehört haben, und Xen. scheint das auch nicht ge-
funden zu haben; wenigstens würde es sich so erklären, daß er Epa-
minondas gar nicht nennt. Leuktra war ihm eine Art verbesserter Auf-
lage von Koroneia, nur mit vernichtendem Ausgange für Sparta, dessen
Mißerfolg er denn auch nach Kräften durch allerhand ungünstige Zufällig-
keiten zu erklären sucht. Dagegen erscheint bei Mantineia alles in
höchster Vollendung, der geniale Flankenmarsch, der die Feinde über
das Angriffsziel täuscht, die Flankendeckung für die Angriffskolonne,
der Durchbruch und die Einleitung der Bewegung zum Aufrollen durch
den Führer selber, die dann durch seinen Tod zu plötzlichem Stillstand
kommt — alles das zeigt den Schlachtendenker, der zuerst die Schlacht
nach einem einheitlichen Gesichtspunkt zu leiten gelehrt hat uud auch
in unserm Sinne der erste große Feldherr ist, den die Geschichte auf-
zuw'eisen hat. Hier hat ihm auch Xeuophon seine Bewunderung nicht
versagt: sie wiegt um so schwerer, als sie von einem erbitterten Feinde
Thebens kommt.
Je höher aber dadurch die Stellung wird, die Epaminondas als
Feldherr einnimmt, um so einmütiger sind die Historiker in der Ver-
urteilung des Staatsmannes, und das wird man Meyer (GdA. 5, 473 ff.)
zugeben müssen, er ist der große Vernichter gewesen, der auch das
letzte noch einigermaßen haltbare politische Gebilde von Hellas, den
spartanischen Staat, zerschmettert hat, ohne doch Neues an seine Stelle
setzen zu können. Allein die Gerechtigkeit erfordert doch auch zweierlei
hervorzuheben: daß er mit einer scharfen mehrfach siegreichen Oppo-
sition zu kämpfen gehabt hat und daß ei- aus der Mitte seiner Lauf-
bahn hinwegserissen ist, ohne sein Werk vollenden zu können. A'iel-
leic)it ifct ihm <hidurch die bitterste Enttäuschung erspart geblieben:
der Zweifel bleibt berechtigt, ob das boiotische Volk überhaupt im-
stande war, die Kolle zu tragen, die sein größter Sohn ihm zugedacht
hatte. Nach seinen letzten Worten scheint es Ep. ja selber nicht ge-
glaubt zu haben und so erhält sein Untergang etwas Tragisches: wie
es damals unmöglich war, Hellas aus sicli selbst heraus zu regenerieren,
hat Meyer (GdA. ö, 475) mit schönen Worten auseinandergesetzt. Als
Jahresbericht über griechiselie Geschichte. (Lenschau.) 249
wenige Jahre daraut' im Bundesgenossenkriege der athenische Seebund
zugrunde ging und die Militärmonarchie des Dionys in den schwachen
Händen seines Sohnes zerbrach, da war die Kraft der Nation zu Ende,
die sich in jahrhundertlangem Kampf um die Vorherrschaft erschöpft
hatte. ^In derselben Zeit, wo die griechische Kultur ihr Höchstes ge-
leistet hat und reif geworden ist, zur Weltkultur zu werden, hat die
Xation politisch alle Bedeutung verloren. Sie ist in Stücke zerschlagen
und die Trümmer liegen da, eine leichte Beute für jeden, der sich
bücken will, sie aufzuheben." (Meyer 5, 572). Aber der Mann, der
die zerbrochenen Stücke zu dem Schwerte zusammenschmiedete, mit
dem sein Sohn die Welt erobern sollte, war bereits am Werke: Philippos,
der Sohn des Amyntas, der König von Makedonien.
Die Beurteilung der späteren griechischen Geschichte häugt sehr
wesentlich mit der Beantwortung derFrage zusammen, ob die Makedonen
als den Griechen stammverwandt oder als ein fremdes Volk anzusehen
sind: je nachdem die Entscheidung fällt, wird man die griechische Ge-
schichte mit dem Ausgang des Bundesgenossenkrieges und der Partei-
kämpfe in Syrukus abschließen, wie Meyer tut, oder man wird sie
weiter bis zur Eroberung Asiens (Sommer 330) mit Beloch oder mit
Bury noch weiter bis zu Alexanders Tod sich erstrecken lassen. Leider
aber ist, v.'ie Kaerst in seiner Geschichte des Hellenismus I, 97 bei
Erörterung der Frage bemerkt, eine vollständig sichere Entscheidung
unmöglich. Auf der einen Seite steht die nicht wegzuleugnende Tat-
sache, daß sowohl im Bewußtsein des griechischen wie des makedonischen
Volkes ein sehr deutliches Gefühl der Xichtzusammeugehörigkeit vor-
handen war, das sich auf griechischer Seite in dem charakteristischen
Worte ausprägt, es sei ein hellenisches Köuigsgeschlecht, das über
makedonische Männer herrschte: sicher hatte Demosthenes, der es liebt,
seinen großen Gegner und dessen Volk als Barbaren hinzustellen, das
Gefühl der Zuhörer auf seiner Seite. Andererseits aber hat kein sonst
bekanntes Volk sich in so kurzer Zeit griechisches Wesen so völlig zu
eigen gemacht wie das makedonische, das später zur ßömerzeit mit
dem griechischen fast völlig verschmolzen und eins war, und es ist nicht
zu bezweifeln, daß dieser einzig dastehende Vorgang sich bedeutend
besser erklären läßt, wenn man ursprüngliche Stammesvervvandtschaft
annimmt, als unter Voraussetzung des Gegenteils. Unglücklicherweise
versagt hier völlig das Kriterium, das die Sprache an die Hand gibt:
ihre Erforschung zeigt zwar deutlich die Verwandtschaft der Makedonen
und I^peiroten, sowie ihre Verschiedenheit von den illyrischen Stämmen,
250 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
allein die Untersuchung, ob dtis makedonische den nordgriechischen Dia-
lekten hinzuzurechnen sei, wird nicht bloß durch die Spärlichkeit älterer
makedonischer Sprachreste erschwert , sondern auch durch die Schwierig-
keit zu unterscheiden, was als ursprüngliches Gut, was als griechisches
Lehnwort anzusehen ist. Die Frage muß daher vorweg unentschieden
bleiben, wenngleich man im allgemeinen Kaerst zustimmen wird, der
das Gewicht der für Stammesverwandtschaft sprechenden Gründe für
stärker hält. Einen eigentümlichen Ausweg schlägt ßury S. 683 ein;
er läßt das makedonische Volk aus einer Mischung hervorgehen zwischen
der ursprünglich griechischen Bevölkerung der makedonischen Ebene
und den nördlich wohnenden nichtgriechischen Stämmen der Ürestis,
Lynkestis und Elimiotis, die teilweise bis auf Philipp die Selbständig-
keit bewahrten: ein Vorgang also, wie er sich etwa in Finland zwischen
den Küstenfinen germanischer Abstammung und der ugroaltaischen Be-
völkerung des Innern abgespielt hat. Dagegen spricht (vgl. Kaerst 106),
daß Oresten wie Perdikkas der Eeichsverweser und Krateros, sogar
der Liebling des makedonischen Heeres, sich in den höchsten Stellungen
befunden haben, was bei der bekannten Empfindlichkeit der Makedonen
gegen fremdes Oberkommando schwerlich möglich gewesen wäre, wenn
jene Nord- oder Bergmakedonen nicht desselben Stammes gewesen wären,
wie die Makedonen der Ebene. So viel ist dagegen an der Burj^schen
Annahme unzweifelhaft richtig, daß jene Makedonen der Ebene viel
früher dem griechischen Einfluß verfielen, der seit den Tagen der
chalkidischen Kolonisation hier mächtig war, als die von der Küste
eutternteren Bewohner des oberen Hochlandes.
Dagegen hat man für dasKönigsgeschlecht vielfach griechischen
Ursprung angenommen und so viel ist sicher, daß die Griechen, seit
sie mit dem Königsgeschlecht in engere Berührung kamen, dieses für
griechischen und zwar heraklidischen Stammes gehalten haben. Allein
mit Recht weist Kaerst S. 107 ft". darauf hin, daß sich nirgends in der
makedonischen Geschichte eine Kluft zwischen Volk und Königtum
zeigt, dieses vielmehr gerade nur als ein durchaus nationales begriffen
werden kann. Also stellt sich die griechische Abstammung als Er-
dichtung dar, die aus dem bewul.lten Streben der herrschenden Ge-
schlechter in den Nordstämraen, sich der kulturell höher stehenden
hellenischen Nation zu nähern, hervorgeht; Kaerst führt eine ganze
Reihe ähnlicher Versuche ans den makedonischen Teilfürstentümern und
aus Epeiros an (S. 118), die die Sache aufs beste erläutern. Wahr-
scheinlich gehen diese Bestrebungen auf Alexander den Philhellenen
zurück, dem es zuerst gelang, den Anspruch durchzudrücken, und dabei
ist er, wie Kaerst überzeugend dailegt, durch die Tatsache unterstützt,
daß das makedonische Königsgeschlecht den vom orestischen Argos ab-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 251
zuleitenden Namen Argeadai führte, der die Anknüpfung an das pelo-
pounesische Argos und die Heraklessage ermöglichte. — Im ganzen
wird CS doch wohl das Wahrscheinlichste sein, daß Königtum und Volk
der -Makedonier in untrennbarer Vereinigung aus den im Norden
zurückgebliebenen Resten jener Gebirgsstämme erwachsen sind, deren
Einbruch einst zur sog. dorischen Wanderung den Anlaß gab.
Die Entwickelung Makedoniens denkt sich Kaerst im wesent-
lichen in der Weise, daß die Bergstämme, etwa wie die Samniten in
Kampanlen, allmählich die Herrschaft über die Ebene gewannen: wichtig
ist sein Hinweis darauf (S. 113), daß sich daraus allein schon mit
Naturnotwendigkeit der Interessengegensatz gegen die das Küstenland
beherrschende Macht, also seit den Perserkriegen gegen Athen heraus-
bilden mußte. Daraus erklärt sich die zweideutige Politik der späteren
makedonischen Könige, die fast immer bei scheinbar guten äußeren
Beziehungen zu den Herren der See die Hand im Spiele hatten, wenn
es galt, die hellenische Vormacht an der Küste zu erschüttern: das
trifft für den Zug des ßrasidas ebensogut zu, wie für die Unter-
nehmungen der Spartaner gegen Olynth, bei denen König Amyntas III.
die treibende Kraft gewesen ist. In der Tat befanden sich diese
Herrscher in derselben Übeln Lage wie die nordischen Königreiche der
Hansa gegenüber; in dem Augenblick, wo das Volk seiner Kraft be-
wußt wird, empfindet es die kaufmännische Ausbeutung durch die Herren
der Küste als einen unerträglichen Druck und so berechtigt es ist, den
prinzipiellen Gegensatz in dem Kampf zwischen Philipp und den
Athenern hervorzuheben, den Ausgangspunkt bildet immer doch der
Gegensatz der wirtschaftlichen Interessen, der in den besonderen lokalen
Besitzverhältnissen wurzelt.
Wenig genug ist es, was wir sonst von den wirschaftlichen,
sozialen und politischen Zuständen der Frühzeit Makedoniens wissen,
aber auch das wenige genügt, die vollkommene Verschiedenheit von der
hellenischen Kultur auf der von ihr damals erreichten Stufe erkennen
zu lassen. Das fast vollständige Fehlen städtischer Siedelungen, die
hervorragende Stellung des Adels in militärischer und politischer Hinsicht,
endlich die ausschlaggebende Gewalt des Herrschers sind die wichtigsten
Züge, die in Kaersts Schilderung (8.1200".) hervortreten, und auch darin hat
K. unzweifelhaft recht, daß der Beginn der neuen Zeit Makedoniens nicht
etwa schon in die Regierung des Königs Archelaos fällt, der freilich
der griechischen Kultur das Land in ganz besonders hohem Maße er-
schlossen hat. Auf Grund der Äußerung des Thukydides (2, 100, 2),
dal] dieser König mehr getan habe als alle die anderen vor ihm und sich
besonders um das Heer verdient gemacht habe, glaubte Köhler eine
Stelle des Anaximenes v. Lampsakos (fr. 7 Müll.) auf ihn beziehen zu
252 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.l
dürfen, wonach Alexander die Pezetairen organisiert habe : nach Köhlers
Annahme, der Beloch gefolgt ist, war hier der Name des Archelaos in
Alexander verschrieben und jener wäre demnach als der Organisator
des schweren makedonischen Fußvolks anzusehen. Allein die Worte
des Thuk. Ttt-o'.? te y.al o-Xoic 7.al t/j riXX-q rapaszsuY^ oiExoaixrjas können
doch nur auf die Bewaffnung des Heeres bezogen werden, wobei
charakteristisch die Beschaffung besseren Pferdematerials als die Haupt-
sache vorangestellt wird, und ferner wäre dagegen das direkte Zeugnis
des Diodor anzuführen, der die Einrichtung des schweren Fußvolks
König Philipp zuschreibt (16, 32). Entscheidend fällt nach Kaerst
(S. 115 A. 5) dagegen ins Gewicht, daß die Neuformation des makedo-
nischen Heeres, wie sie unter Philipp und Alexander erfolgte, bereits
unter dem Einfluß der taktischen Neuerungen steht, die in den ersten
Jahrzehnten des vierten Jahrhunderts aufkommen, und auch eine all-
gemeine Beobachtung läßt sich m, E. im selben Sinne verwerten: bis
auf König Philipp hat das Land schutzlos den Barbareneinfällen offen
gelegen, gegen die offenbar die Organisation des Ritterheeres nicht
genügte: von da ab sind zwar derartige Raubzüge noch oft von den
illyrischen und thrakischen Völkern versucht, aber stets mit leichter
Mühe zurückgetrieben worden. Das legt doch die Vermutung nahe, daß
eben in Philipps Zeit jene militärische Organisation fällt, die Makedonien
das Übergewicht über die Nachbarvölker verleiht, mit anderen Worten,
daß er der Schöpfer Makedoniens ist und in jener Notiz des Anaximenes
wie so oft der Name seines großen Sohnes den seinigen verdrängt hat.
Der vierundzwanzigjährige Prinz, der Anfang 359 den makedo-
nischen Thron bestieg, trat zunächst als Vormund seines unmündigen
Neffen Amyntas auf: kurz darauf w'ard ihm nach altem makedonischen
Herkommen, das sich auch auf die Dynastien der Diadochen fortgepflanzt
hat (Antigonos Doson, Attalos IL vgl. Breccia, H diritto dinastico uelle
monarchie dei successori di Alessandio Magno— Studi di Storia Antica.
IV, p. 57), die persönliche Königswürde übertragen, die er dann aller-
dings benutzt hat, das legitime Recht seines Neffen ganz beiseite zu
schieben. Infolge eines Einfalls der Nachbarvölker befand sich das
Land in furchtbarster Verwirrung, aber mit fester Hand griff der junge
Fürst zu und schuf in der neuen Heeresorganisation die Grundlage
einer w'irksameu Landesverteidigung. Neben die Kavallerie der i-aXpoi,
des makedonischen Adels, trat gleichberechtigt, wie der Name andeuten
soll, das schwere Fußvolk der 7:c^£Tatpot; auch die Hypaspisten, die
etwa den Peltasten entsprechen, erhalten deu Ehrennamen staTpot xuiv
G-aaiTiaTüiv und ein Teil von ihnen, das sog. Agema der Hypaspisten,
wurde sogar die vornehmste Truppe des Heeres, der der persönliche
Schutz des Königs anvertraut war. Der gemeinsame Name und der
Jahresbericht über griechische Geschiebte. (Lenschau.) 253
gemeinsame Dienst des Königs waren es jetzt, die das makedonische
Volk einigten: die bisherigen Teilfürstentümer wurden beseitigt, blieben
aber als Aushebungsbezirke für das ileer bestehen (so Kaerst 138).
Unzweifelhaft ist dieser Organisation vor allem auch eine politische
Tragweite beizumessen : sie bedeutet eine wesentliche Demokratisierung
der makedonischen Verfassung, und indem jetzt nicht mehr der Adel
allein, sondern das gesarate Volk in Waffen als Gefährten des Königs
bezeichnet ward, erhielt das Königtum Philipps eine breitere Grund-
lage und eine selbständigere Stellung, als seine Vorfahren sie dem Adel
gegenüber gehabt haben. Es ist ein besonderes Verdienst Kaersts,
auf diese gewöhnlich z. B. auch von Bury übersehene Seite von Philipps
Heeresreform energisch hingewiesen zu haben (S. 137 if.). — Was die
militärische Dedeutung angeht, so ist hier zunächst jene Dioiorstelle
zu beachten, durch die die Einrichtung der makedonischen Phalanx
aut Philipp zurückgeführt wird. Allein sehr richtig zeigt Delbrück
(I, 363 ff.), daß die Phalanx Philipps und Alexanders wesentlich anders
beschaffen gewesen sein muß als der ausgebildete Gewalthaufeu der
späteren Diadochenzeit, den Polybios so anschaulich schildert: er schließt
das hauptsächlich aus der Leichtigkeit, mit der sich die Phalanx in
Alexanders Schlachten bewegt, eine Tatsache, die Bury seltsamerweise
damit zu erklären sucht, daß in der Phalanx eine weitere Aufstellung
der einzelnen Soldaten Platz gegriffen habe, als sie bisher üblich ge-
wesen sei (S. 680). Auch die Bemerkung Delbrücks (I, 144) wird
richtig sein, daß der einzelne Phalangit sowohl, wie die Phalanx als
Masse dem in den vielen damaligen Kriegen aufs vielseitigste aus-
gebildeten Söldnerkrieger und seiner taktischen Fügung nicht gewachsen
war: das scheinen nicht bloß die ersten Schlachten gegen Onomarchos
zu beweisen, in denen Philipp unterlag, sondern auch die Zurückhaltung
im Gebrauch der Phalanx, die sich noch Philipp und Alexander auf-
erlegen, bei denen der Offensivstoss und die Umfassungsbewegung stets von
der schweren Reiterei ausgeht. Doch möchte ich nicht mit Delbrück
eben in der Inferiorität von Philipps Pezetairen das Motiv sehen, das
ihn dazu bewog, sie zur Phalanx zusammenzuballen, sondern viel eher
in dem Vorbild der Gewalthaufeu des Epaminondas, auf dessen Schultern
Alexanders und Philipps Kriegskunst durchaus steht (Kaerst S. 140).
Das wirklich Neue in der makedonischen Kriegskunst liegt (Delbrück
8. 145 und danach Kaerst S. 141) in der Taktik der verbundenen
Waffen, die durch die Beschaffenheit des makedonischen Heeres erfordert
ward: neben der verhältnismäßig wenig geübten makedonischen Phalanx,
die ihren Weg als taktische Erfindung erst machen mußte, stand dem
König in dem altbewährten, kriegstüchtigen Adel Makedoniens und
Thessaliens ein Reitermaterial erster Güte zur Verfügung, das sie dem-
254 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
entsprechend in den Vordergrund schoben. Tatsächlich hatte schon
Epaminondas bei Mantineia gleichsam tastend diese Verwendung der
Reiterei versucht: daß sein Beispiel zunächst keine Nachahmung fand,
lag in der großenteils mangelhaften Beschaifenheit und geringen Anzahl
der hellenischen Bürgerreiterei begründet. Im übrigen scheinen mir,
was die Ausbildung und Einrichtung der Phalanx betrifft, Delbrücks
Ansichten, wie ich hier nur andeuten kann, durch die Ausführungen
Kromayers in Hermes 35, 216 in sehr wesentlichen Punkten modifiziert
'/Ä\ sein.
Das neugebildete Heer und Philipps kluge Diplomatie ließen ihn
bald der Eindringlinge Herr werden, die Erwerbung der Goldbergwerke
des Pangaion schufen seinem Reiche die gesicherte finanzielle Grund-
lage (vgl. Kaerst 152 ff.), und so ist er trotz augenblicklicher Rück-
schläge (352 und 340) von Erfolg zu Erfolg geschritten, bis er sein
Ziel, die Hegemonie über Hellas, erreicht hat. Die Geschichte dieses
seines Erfolges liegt in ihren Grundzügen ziemlich klar vor uns; wie
viel trotzdem in Einzelheiten hier gewonnen ist, zeigt eine genaue Ver-
gleichung der einschlagenden Partien bei Bury S. 683 ff. und besonders
bei Kaerst (Kap. II) mit älteren Darstellungen, die hier nicht vor-
genommen werden kann. Für keine Periode der griechischen Geschichte
liegt uns ein so reiches, aber auch freilich kein so unzuverlässiges
Material vor, als für diesen letzten Kampf um die Vorherrschaft von
Griechenland, und das mag zum Teil den totalen Umschwung der
Gesamtauffassung erklären, der in den letzten Jahren eingetreten ist.
Aber auch nur zum Teil; in Wirklichkeit stehen wir vor einem Wechsel
der geschichtlichen Grundanschauungen überhaupt, der wieder einmal
das bedenkliche Wort bestätigt, welches wir alle uns zu jeder Zeit vor-
halten mögen; daß es zumeist der Herreu eigener Geist ist, in dem die
Zeiten sich bespiegeln. Die ältere Generation, die in den Tagen der
konstitutionellen Kämpfe wurzelt, wie sie in den dreißiger bis sechziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgefochten wurden, hat diese ganze
Periode mit den Augen des Demosthenes gesehen, auf den ein ver-
klärenden Schimmer fällt als den letzten unglücklichen Vorkämpfer des
freien, hellenischen Bürgertums, gegen den alles niederdrückenden
Absolutismus einer skrupellosen Königsgewalt: alles Unrecht, alle
Schande, die Demosthenes im Eifer des Kampfes auf König Philipps
Haupt gehäuft hat, ist willig geglaubt und womöglich noch vermehrt
worden. Aber ein neues Geschlecht von Historikern ist herangewachsen,
dessen Jugend die gewaltsame Einigung Italiens und Deutschlands von
Norden her erlebte, das den genialsten Staatsmann an der Arbeit sah,
und ihm hat sich unwillkürlich das Bild verschoben: auf Philipps Seite
fällt jetzt das Licht und Demosthenes ist der große Redner, aber im
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 25')
letzten Gründe doch der kurzsichtige Staatsraauu , der eine verlorene
und schlechte Sache vertritt, niclit ohne daß die Schlechti{?keit der
Sache auch auf die Art und Weise seiner Politik abfärbt Sicherlicli
kommt dabei auch ein, wenn ich so sagen darf, ästhetisches Vergnügen
in Betracht, mit dem man der bei aller Verschlagenheit doch geraden,
großzügigen und in ihren letzten Zügen bis Chaironeia vollkommen
klaren Politik König Philipps zuschaut, aber das Hauptmotiv liegt
doch anderswo. Es ist natürlich, daß eine Zeit wie die unsrige, die
den Willen zur Macht bewundert, die politisches Unrecht mit dem
besseren Recht höherer Zivilisation oder rücksichtsloserer Volksnatiir
rechtfertigt , die nationale Politik zur "Weltpolitik zu erweitern strebt,
ihre eigenen Züge in dem Werke Philipps und seines großen Sohnes
vviedcrrtndet und sich rückhaltlos auf die makedonische Seite stellt.
Auch Bury und Kaerst stehen auf diesem Standpunkt, und wenn die
vorhergehenden Darlegungen richtig sind , so können sie nicht anders
stehen. Doch ist in ihrer Darstellung ein wesentlicher Unter.echied.
Bury ist ganz Parteigänger Philipps, dadurch ist sein Urteil bestimmt
und so ist die interessante und viel Wahres enthaltende Charakteristik
des Demosthenes S. 736 im Grunde eine enorme Ungerechtigkeit; sie
ist nur dadurch begreiflich, daß in einem Lande, in dem Grotes Darstellung
noch mehr oder weniger die Geister beherrscht, die Reaktion gegen
ihn fast mit Notwendigkeit nach der entgegengesetzten Seite zu weit
gehen mußte. In Deutschland war es Beloch, der zuerst einer ge-
rechteren Beurteilung König Philipps die Bahn gebrochen hat, und so
hat Kaerst hier auf einem bereits vorbereiteten Boden zu arbeiten:
daher ist bei seiner mehr vorsichtig abwägenden Natur seine Behandlung
des Demosthenes weit maßvoller ausgefallen (S. 161 ff.). Er hat vor
allem den Staudpunkt eingenommen, von dem allein eine gerechte
Würdigung möglich ist, die Bücksicht auf die Gesamtentwickelung, und
sie gibt allerdings Philipp recht. Der Ausgang der griechischen
Geschichte zeigt, daß die Nation ihre politische Kraft in demselben
Augenblick verausgabt hatte, in dem ihre Kultur zur Weltkultur reif
geworden Vvar (vgl. oben S. 249). Sollte sie diese ihre Mission erfüllen,
so konnte das nur auf dem Wege der politischen Expansion ge-
schehen, zu der Griechenland nicht mehr fähig war, weil die hellenische
Polis, der Stadtstaat, völlig abgewirtschaftet hatte : diesen Dienst haben
Philipp und Alexander der hellenischen Kultur und der Gesamtent-
wickelung geleistet. Aber neben dieser Auffassung sub specie aeterni-
tatis gibt es eine zweite, die ebenfalls historisch berechtigt ist Und die
den geschichtlichen Charakter aus sich selbst und aus seiner Umgebung
heraus zu begreifen sucht: ihr wird Demosthenes immer eine ehr-
würdige Gestalt bleiben und bitter wird sie die Ungerechtigkeit der
256 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Pointe empfinden, mit der Bury seine Beurteilung schließt, daß alles
io allem Deraosthenes eben auch nur ein typischer Vertreter des Athens
seiner Zeit gewesen sei.
Es ist ganz interessant, zu sehen, wie die veränderte Grund-
anschauung auch die Wertschätzung einzelner Personen beeinflußt.
Durchweg gilt der älteren Geschichtschreibung Isokrates als ein Wort-
drechsler und Phrasendrescher, dessen Deklamationen nur geringen Einfluß
auf seine Mitbürger hatten und der nur als Redelehrer eine tiefer gehende
"Wirkung erzielt hat. Heute ist eine derartige Ansicht, wenn sie auch noch
hier und da, wie z. B. von Eoepp, (Alexander d. Große S. 4) ausgesprochen
wird, geradezu eine Seltenheit: Beloch und Meyer so gut wie Kaerst und
Bury sehen in ihm den ersten aller Publizisten des vierten Jahr-
hunderts, der im Gegensatz zu allen den mitten im politischen Treiben
stehenden Staatsmännern allein die richtige Schätzung der realen
politischen Kräfte gewonnen hat. Das mag vielleicht ein wenig
übertrieben sein — kein Geschichtsschreiber, der die Politik seiner
eigenen Zeit beurteilen will, kann in Isokrates sich selber verdammen
— aber das ist sicher, niemand ist von der älteren Richtung der
Geschichtschreiber so ungerecht beurteilt worden wie dieser Mann,
.,rait dessen Schriften anfangen muß , wer die griechische Geschichte
des vierten Jahrhunderts und die Zeit Philipps verstehen lernen will"
(Meyer 5, 280 A.).
Eine Einzelheit ist indessen noch aus dieser Zeit des Empor -
steigens der makedonischen Macht zu erwähnen, weil sie zugleich ge-
stattet, einen allgemeinen Gesichtspunkt zu markieren, der öfters ver-
nachlässigt wird. Unter den französischen Funden zu Delphi ist eine
Tafel mit einem Dekret zutage gekommen, durch welches den vier
Söhnen des Kersebleptes die Tipo^evta -poii-av-usra -posopta upoor/.ta gewährt
wird. Es ist zuerst von Perdrizet in BCH. 20, 466 (1896). dann
noch einmal von Hoeck im Hermes 1898 besprochen, der dabei Ge-
legenheit genommen hat, seine früheren Forschungen über die thra-
kischen Reiche zu berichtigen und zu erweitern. Aus dem Archouten-
namen ergibt sich die Zeit 351/0 — der Ansatz Homolies 356/5 er-
scheint weniger wahrscheinlich (vgl. Pomtow, Delph. Chronologie in
Pauly-Wiss. Realenz. S. 25. 113) — , daraus hat Hoeck mit Recht ge-
folgert, daß die Angabe in Demostheues' AristoUratea 163, wonach bei
Kotys Tod 359 Kersebleptes und seine übrigen Söhne noch |j.£'.paxuXXta
gewesen seien, auf einer Unwahrheit beruht. Die politische Lage, unter
der das Dekret entstanden ist, hat H. ebenfalls richtig geschildert: an
den Thermopylen 352 von den Griechen zurückgewiesen, wandte sich
Philipp wieder dem Nordosten seines Reiches zu, und nun versuchte
Kersebleptes es, um dem drohenden Kriege zu begegnen, die Hilfe
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 257
Atheus zn gewinnen. Diese versag-te indes sofort, als es hieß, Philipp
sei krank geworden, und nun richtete der thrakische Fürst sein Bündnis-
gesnch nach Delphi au Phalaikos: das vorliegende Dekret läßt ver-
muten, daß die Verhaudluugen von Erfolg gekrönt waren. Die Sache
ist iu mehrfacher Hinsicht interessant, einmal dadurch, da(.l sie zeigt,
wie der Gegensatz zwischen Philipp und den Phokeru damals die poli-
tischen Verhältnisse auch über die Grenzen Griechenlands hinaus be-
herrschte, und zweitens, weil sie erkennen läßt, daß die Sölduerherr-
schaft in Delphi keineswegs anarchische Zustände geschaften hatte, wie
das manchmal nach den Berichten zeitgenössischer Schriftsteller so er-
schtiut: daß der Ausbau des Tempels unter der phokischen Usurpation
ruhig seinen Fortgang genommen hat, das haben die delphischen Aus-
grabungen erwiesen (Bury S.701), und wenn diePhokier sich der Tempel-
schätze bedienten, so haben sie sich wohl ebenso gerechtfertigt wie die
Athener, wenn sie beim Schatz der Athene ihre Zwangsanleiheu machten.
Allein eben die Gesetzlichkeit dieser Zustände legte die Gefahr uahe,
daß sie dauernd wurden, vor allem, daß ein tatkräftiger und fähiger
Mann, wie es Ouoraarchos zweifellos war, gestützt auf die Tempel-
schätze und ein immer weiter anwachsendes Heer von Reisläufern, von
<lenen das damalige Griechenland wimmelte, in Phokis eine Militärmon-
archie begründete, ideenlos und ohne geschichtliche Vergangenheit, der
Griechenland lettungslos verfallen gewesen wäre. Der Versuch des rein
auf sich selbst gestellten, vaterlandslosen Söldnertums, Griechenland zu
knechten, ist tatsächlich gemacht worden, und davor die Nation be-
wahrt zu haben, ist wahrlich kein geringes Verdienst König Philipps
(Bury S. 714 und bes. Kaerst S. 157 f.). Neben dies negative tritt ein
weiteres positives Verdienst, das in der Erschließung der nördlichen
Balkanhalbinsel für die griechisch- makedonische Kolonisation liegt.
Diente sie auch zunächst der Sicherung der Landesgrenzen, so kam sie
doch einem der dringendsten, auch von Isokrates öfter ausgesprochenen
Bedürfnis der hellenischen Welt entgegen, und Tausende von Griechen
sind dem Euf des Königs gefolgt. Es ist sehr zu loben, dali Kaerst
S. 178 fif. diese sonst wenig beachtete Tätigkeit des Königs im Zu-
sammenhang dargestellt hat: allerdings, eine tiefgreifende Wirkung ist
dieser Kolonisation nicht beschieden gewesen, weil unter Alexander der
Schwerpunkt des Reiches sich nach Asien verschob und die kolonisato-
rischen Kräfte iu anderer Richtung verwandt wurden.
Es war um die Mitte des Jahres 339, als Philipp zum letzten
entscheidenden Schlage gegen Griechenland ausholte. Die diplomatische
Vorgeschichte des Feldzugs oder, mit anderen Worten, die Frage, wie
es kam, daß das Verfahren gegen Amphissa nicht in Athens, sondern
in Philipps Hände gelegt ward, der damit den Vorwand zum entschei-
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. [VMi. III.) 17
258 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
denden Eingreifen erhielt, wird wohl für immer dunkel bleiben, da die
Äußerungen der beiden Hanptbeteiligten , Aschiaes und Demosthenes,
sich hier diametral widersprechen (Kaerst S. 192 f.). Dagegen hat der
militärische Verlauf der Kampagne eine wesentlich neue und erschöpfende
Behau dlunnj durch Kr omay er erfahren, so daß nur noch in verhältnis-
mäßig nebensächlichen Dingen Unsicherheiten zurückgeblieben sind. Die
Grundlage bilden auch hier die chronologischen Fragen, die Kromayer
in der Beil. I, S. 172—187 erledigt hat: seine Ergebnisse decken sich
hier in wesentlichen Punkten mit der Darstellung Belochs im zweiten
Band seiner Griechischen Geschichte, doch tritt der Zusammenhang der
Ereignisse bei Kr. schärfer hervor. Danach beginnt um Mittsommer 340
die Belagerung von Perinthos; auf der Herbstpylaia desselben Jahres
kommt es zum Streit mit Amphissa, in den Winter fällt die Blockade
von Byzanz, die offizielle Kriegserklärung Athens und Demosthenes'
trierarchisches Gesetz (ebenso, bis auf den letzten Punkt, Kaerst 190 f.).
Ins Frühjahr 339 fallen nacheinander die Aufhebung der Belagerung
von Byzanz, Philipps Skythenzug und nun in der Frühlingsversammlung
der Amphiktionen, zwischen dem 11. Mai und 10. Juni, die Übertragung
des Kommandos gegen Amphissa (anders Kaerst 193 ff., der den Skythen-
zug Philipps in den Sommer ^ den Auftrag der Amphiktionen auf die
Herbstpylaia 339 verlegt). Anfang September besetzt Philipp Elateia-,
es folgt das Bündnis Athens und Thebens, das Gesetz über den Theo-
rikenfonds und der Auszug gegen Philipp, alles wohl noch vor Beginn
des Winters. In diesen Winter 339/8 hinein setzt Kr, sodann kleinere
siegreiche Gefechte der Verbündeten und den Wiederaufbau der Phokier-
städte: im Juni tritt mit dem Fall Amphissas die Wendung ein, der
am 2. Aug. die Schlacht von Chaironeia folgt. DenAugelpunkt dieser
ganzen Chronologie, für deren Begründung im einzelnen auf die Ab-
handlung selbst zu verweisen ist, bildet die Ansetzung des tJberfalls
von Elateia auf den Anfang Sept. 339: sie ist aus einer eigentümlichen
Interpretation der Stelle Asch. 3, 130 erschlossen. Ein Unfall am Tage
otÄaos [jL'JjTat des Mysterienfestes (21. Sept.) legte eine Befragung des
delphischen Orakels nahe: AYjfj-oa&svTf]; 6' ätvTsXeYe ©iXittki^siv xtjv HuBiav
cp'/axcuv, a-aiosuTos &^ xal (JiroXaucav y.al £[J!.m[i,T:Xa[jLevo; t^c ucp' uio-wv oioo-
jjLEVYjc ilouaicL^. Diese letzten Worte übersetzt Kr. etwa „sich brüstend
mit der ihm von euch übertragenen Amtsgewalt". Da nun diese Über-
tragung bekanntlich eben infolge der Besetzung Elateias eintrat, so muß
diese allerdings ihr vorausliegen und zwar etwa 14 Tage, wie Kr. mit
plausibeln Gründen dartut. Allein sowohl das (iirat^suToc a»v wie das
Part. Präs. otoo|xevY)c deuten an, daß die Stelle eher so zu erklären ist:
„in renommistischem Vertrauen auf eure gewöhnlich bewährte Nach-
sicht". Äschines will damit nur sagen, daß jenes Bonmot des Demo-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 259
sthenes durchaus ungehörig sei, und daß er es nur riskiert habe, weil
er wußte, daß ihm die Athener so leicht nichts übelnahmen. Kann
demnach die Stelle selber für die Chronologie nicht verwendet werden,
so verliert auch der Schluß, der die Ansetzung von Philipps Ernennung
zum Bundesfeldjierrn ergiebt, S. 182, seine zwingende Kraft; dennoch
stehe ich nicht an, Krom.s Chronologie in den Hauptpunkten für richtig
zu halten, da sie einen innerlich wahrscheinlichen Zusammenhang der
Dinge herstellt.
Mit der Besetzung von Elateia, das 30 km abseits der Straße
von Amphissa liegt, hatte Philipp allerdings seine Absichten gegen Athen
deutlich kundgegeben, wie man denn auch dort über den Sinn der
Maßregel keinen Augenblick im Zweifel war: indem er aber auch Ky-
tinion nahm, das den Weg nach Amphissa beherrscht, sicherte er seinem
Heere die feste Stellung südlich vom Öta zwischen den beiden genannten
Städten mit einer ausgezeichneten Verbindung nach rückwärts und sich
selber die Strategie der freien Hand, Sofort tritt nun die Diplomatie
in Aktion ; der König blieb ruhig abwartend in seiner Stellung und ver-
suchte, dui-ch eine Gesandtschaft Theben auf seine Seite zu ziehen. Die
ungeheure Gefahr veranlaßte Athen zu gewaltigen x\nstreuguugeu , die
diesmal von einem doppelten Erfolg gekrönt wurden sowohl in diplo-
matischer wie in militärischer Beziehung: die glänzende Beredsamkeit
des Demosthenes zog Theben auf die Seite Athens, und unmittelbar
darauf gelang es den Verbündeten, jene hervorragende Verteidigungs-
stellung vom Paß von Parapotamioi bis zum Paß von Graviä, der aus
der nordphokischen Ebene nach Amphissa führt, zu besetzen und damit
Philipp den Weg nach Hellas vollständig zu verlegen. Wie das im
Angesicht des Königs möglich war, wie es insbesondere kam, daß dieser
nicht wenigstens das Defilee von Gravia besetzte und sich damit die
Straße nach Amphissa völlig sicherte, bleibt unklar: hier eben ist
eine Stelle, w^o unsere Quellen vollständig versagen. Doch scheint der
König versucht zu haben, die Verteidigungslinie zu durchbrechen;
darauf bezieht Kr. jene flüchtige Erwähnung der Winterschlacht und
der Schlacht am Flusse bei Demosthenes. Gelungen ist der Versuch
nicht, vielmehr verstrich der Winter damit, daß beide Heere sich ab-
wartend gegenüberlagen.
Dies scheinbar nutzlose Herumliegen in der Verteidigungsstellung,
das die Verbündeten noch im Sommer fortsetzten und das vielfach ge-
tadelt worden ist, hat Kr. zutreffend erklärt: bei der Neuheit der make-
donischen Verhältnisse erwartete man eine Verwickelung im Norden,
die den König zum Abzug bewog, und dachte auch wohl, Zeit gewonnen,
alles gewonnen (S. 137). Dazu kam, daß die Stellung absolut sicher
erschien: die gegenteilige Ansicht Belochs ist gegenüber Kromayers
17*
260 Jahresbericht über griechische Geschichte, (Lenschau.)
genauen, durch eine vortreffliche Karte unterstützten Ausführungen
nicht mehr zu halten (S. 139 ff.): selbst eine Umgehung war nur unter
großen Schwierigkeiten und Gefahren möglich. Es blieb Philipp schließ-
lich nichts übrig, als sich durch einen Handstreich aus seiner täglich
unangenehmer werdenden Lage zu befreien. Er streute das Gerücht
aus, in Makedonien sei ein Aufstand ausgebrochen, und fingierte den
Abzug, der ein sofortiges Nachlassen der Wachsamkeit nach sich zog,
worauf der König gerechnet hatte. Ein nächtlicher Gewaltmarsch bringt
ihn zurück, er erstürmt den Pass von Graviä, das Söldnerheer und
Ampbissa werden vernichtet. Damit ist, von rechts her umgangen, die
Verteidigungsstellung der Griechen unhaltbar geworden.
Es ist das Verdienst Kr. s, in diesem Überfall von Amphissa, der
uns nur in späten Quellen überliefert ist , die entscheidende Wendung
des Feldzugs erkannt zu haben. Wie die Dioge lagen, war jetzt die
Schlacht für die Verbündeten eine Notwendigkeit, und auch das Terrain
war gegeben: es war die Enge zwischen Chaironeia und dem Akontion-
gebirge, das von Norden her hier dicht an den Kephissos herantritt,
eine vortreffliche Stellung, deren Vorzüge Kr. darlegt und deren Wahl
denselben sicheren strategischen Blick zeigt, der sich schon bei der
Besetzung der Linie Parapotamioi — Graviü bewährt hatte. Da das
Schlachtfeld selbst fast mit absoluter Genauigkeit zu bestimmen ist
(Kroni. S. 159), so ist auch die Stellung der Truppen nicht zweifelhaft:
auf dem linken Flügel, gedeckt durch die Stadt und den unmittelbar
sich anschljelienden Gebirgszug, der eine Umgehung während des Ge-
fechts unmöglich machte, standen die Athener, rechts, in der Flanke
nur durch den Kephissos gedeckt, das thebanische Aufgebot. Die militä-
rische Schwäche der Stellung sollte eben durch die Güte der Truppe
ersetzt werden, auch fiel dem thebanischen Flügel der Angriff zu. Der
Gesamtraum betrug von der Stadt bis zum Kephissos etwa 2 km, das
ergibt nach der Stärkeberechnung von Krora, (Beil. III) eine Tiefe
von etwa 16 Mann; die Front des griechischen Heeres stand nach
NW. Auf der gegnerischen Seite ordnete Philipp seine Truppen:
nach alter Sitte, von der er nicht abweichen durfte, hatte er den
rechten Flügel mit der Phalanx, die zum Hinhalten bestimmt war,
während die Reiterei auf dem linken Flügel die von dem Kronprinzen
Alexander befehligt ward, den Oftensivstoß zu führen hatte. Trotzdem
nur wenige Notizen aus Polyäu, Frontin und ein Schlachtbericht
Diodors erhalten sind, ergibt sich doch ein sicheres Bild des Verlaufes
der Schlacht ; während beim Kephissos die beiden Offensivflügel auf-
einander prallten, wich Philipp langsam zurück unter lebhaftem Nach-
drängen von athenischer Seite, so daß die Front des griechischen
Heeies sich nach N. drehte. Erst als Alexander gesiegt hatte und
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 261
seine Truppen zum Aufrollen einschwenkten, ^ebot Philipp Halt, und
nun erlagen auch die Athener dem Druck der Phalanx, So die Dar-
stellung Kromayers, die auch hier das Gepräge der inneren Wahrheit
trägt, wie eine Vergleichniig mit den älteren Darstellungen von Del-
brück 1, 47 und Bnry S. 728 auf den ersten Blick lehrt.
Eine Verfolgung der Geschlagenen hat nicht stattgefunden: erst
Alexander hat es verstanden, in dieser Hinsiclit seine Siege energisch
auszubeuten. Allein auch so war der Erfolg des Tages gesichert. Der
"Widerstand der Verbündeten war gebrochen, der lange Kampf um die
Vorherrschaft hatte sein Ende erreicht: endgültig ist von da ab Make-
donien die Vormacht Griechenlands geworden.
Fünftes Kapitel.
Die Expansion Griechenlands 338 — 323.
J. B. Bury, history of Greece. p. 737 — 836.
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262 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
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Jul. Kaerst, die antike Idee der Oekumene. Akad. Antritts-
vorlesung. Leipz. 1903.
Die ganz verschiedene Beurteilung, die Alexander der Große
auch in den neueren und neuesten Darstellungen gefunden hat, hängt,
abgesehen von den persönlichen Sympathien und Antipathien, die bei
der Auffassung geschichtlicher Größen eine besondere Rolle spielen.,
ganz vornehmlich von den Quellen ab, und gerade in dieser Hinsicht
sind wir bei Alexander besonders ungünstig gestellt, da wir außer
einigen Inschriften an Primärquellen so gut wie nichts, vielmehr nur
Bearbeitungen kennen, deren älteste in das erste Jahrhundert der
römischen Kaiserzeit fällt. Aber noch mehr: auch im Altertum hat es
eine Alexanderfrage gegeben, und fast alle unsere Gewährsmänner stehen
ihrem Stoff nicht unbefangen gegenüber, sondern zeigen sich von ge-
wissen Tendenzen beherrscht, die bald, wie bei Arrian und Plutarch,
auf die Verherrlichung, bald, wie bei Trogus-Justin und Curtius Rufus,
aut seine Herabsetzung hinauslaufen. Diese Tendenzen aufgehellt und
damit zugleich eine richtigere Wertschätzung der Alexanderhistoriker
ermöglicht zu haben, ist das Verdienst der modernen Quellenforschung,
die in den letzten Jahren unter den Händen von Schwartz, Reuß und
Schubert einige wichtige neue Ergebnisse gezeitig hat.
Der eine Zweig der Überlieferung, und zwar der bei weitem beste,
wird durch Arrians Werk dargestellt, das im wesentlichen auf Ptole-
raaios und Aristobulos, zeitgenössischen Quellen von hohem Werte, be-
ruht, ohne daß doch daneben die Alexandervulgata ganz vernachlässigt
wäre; diese wird vielmehr vom Schriftsteller meist mit den Ausdrücken
X£70'jai, Xe^exat, Xe^o'ijlsvov eingeführt. Nun wird allerdings infolge von
Schwartzens energischem Einspruch (Pauly-Wissowa, Art. Aristob.)
Aristobulos gegenwärtig nicht mehr so sehr hoch eingeschätzt, allein schon
durch die Benutzung des Ptolemaios wird Arrian für uns eine Quelle
ersten Ranges, und bei einer solchen ist es auch von Wichtigkeit, Zeit
und Umstände zu kennen, unter denen sie entstand. Man hat nun meist
nach Nissens Vorgang angenommen, Arrian habe im Alter, als er sich
von der höheren Beamtenkarriere zurückzog, und zwar von 166 — 168
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 263
sein Werk verfallt. Demgegenüber hat uun F. ßeuß in dem ersten
der j,'euauuten Aufsätze den m. E. bündig-eu Beweis geführt, dal.i die
Anabasis viclmeiu" ein Jugend werk ist und sicherlich vor 130 fällt,
als Arriau noch unter dem beherrschenden Einfluß seines Lehrers
Epiktet stand, und daß es vielleicht gerade dies Werk war, durch das
Hadrian auf den jungen Mann aufmerksam ward, der dann später im
höheren Verwaltungsfach erfolgreiche Verwendung fand. Es ist klar,
daß dies Faktura die Schätzung Arrians beeinflussen muH : wir haben
es also nicht mit der Arbeit eines alten, vielfach bewährten höhereu
Verwaltungsbeamten, sondern mit der Arbeit eines jungen Mannes zu
tun, bei dem sich noch manche Einflüsse der epiktetischen Lehre (s. ßeuß
a. a. 0.) zeigen und dem auch die etwas reichlich naive Äußerung über
die Wahrhaftigkeit des Ptolemaios praef. 2 allenfalls zuzutrauen ist.
Auch kann es fraglich erscheinen, ob man bei einem Erstlingswerk,
wie es demnach doch die Anab. Alex, war, jene reinliche Scheidung
der Quellen voraussetzen darf, die wir gewöhnlich bei Arriau annehmen.
Hin und wieder sind schon Zweifel dagegen rege gev/orden, und dahin
würde auch die Beobachtung zielen, die Schubert in Arrians Bericht
über die Porosschlacht gemacht hat: daß Arr. nämlich hier und da, wo
ihm die Relation der Hauptquellen nicht zu genügen schien, einfach
Stücke der Vulgata hineinarbeitete, ohne diese jedesmal ganz genau
durch Xi'(z-aL usw. zu bezeichnen. Und um so woniger kann es auf-
fallen, daß er ab und zu die Gelegenheit benutzt hat. Reden eigener
Erfindung einzulegen, wie die Alexandeis am Hyphasis (5, 27 ff.), die
jetzt nach Nieses Vorgang von den meisten für nicht authentisch ge-
halten wird. Daß in der Tat die Quellenfrage bei Arriau gar nicht
so einfach liegt, wie es nach der Vorrede scheint, ist freilich schon
öfters bemerkt worden.
Ein zweiter Strom der Überlieferung ist es, der in Diodor, Trogus-
Justin, und Curtius Rufus zutage tritt. Daß er sich im wesentlichen
aus Kleitarchüs herleite, ist eine alte, bewährte Hypothese: für Curtius
Rufus hat sie neuerlich noch Schwartz durch eingehende Zusammen-
stellungen erwiesen (Pauly-Wiss. , Art. Curtius Rufus). Das Inter-
essanteste an dieser Quelleuklasse ist das Vorhandensein einer ziemlich
starken, alexanderfeindlicheu Tradition, die sich vor allem bei Trogus-
Justin und Curtius Rufus geltend macht und für die man mannigfach
nach Erklärungen gesucht hat. Lange Zeit galt die Vermutung
Gustav Schwabs, daß jene alexanderfeindliche Färbung auf Timagenes
zurückginge, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert in Rom lebte
und eine Alexandergeschichte geschrieben haben soll: nur das erschien
zweifelhaft, ob er auf Curtius durch Trogus hindurch oder gleichmäßig
auf beide eingewirkt habe. Indessen ist diese ganze Einwirkung des
264 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Timagenes eine sehr problematische Sache: besonders Schwartz hat darauf
hingewiesen, daß wir bei Timagenes eigentlich nur von einer Diadochen-
geschichte, nicht von einer Geschichte Alexanders des Großen Kenntnis
haben. Auch Reuß kommt bei seiner Behandlung der Sache Rh. M.
57, 556 ff. zu einem negativen Resultat: doch läßt er es nach Ab-
lehnung der Timageneshypothese unentschieden, ob Cnrtius direkt von
Trogus abhängig ist oder nicht. Wesentlich hat dagegen Schwartz die
ganze Sache durch den Nachweis gefördert, daß die Tendenz bei Trogus
und Curtius zwar gleichmäßig, aber doch keineswegs im gleichen Sinne
alexanderfeindlich sei. Bei Trogus erscheint A. als der gewaltige, un-
widerstehliche Sieger und Tyrann, der niemand neben sich duldet und
mächtig ins TJngeraessene strebt; bei Curtius liegt die Sache so, daß er
Alexanders Erfolge nicht sowohl seinem überlegenen Genie, als vor-
nehmlich auch der tu'/y), dem Zufall zuschreibt, und diese Auffassung
liegt offenbar auch den Ausführungen des Livius zugrunde in Lib. 9,
17 — 19, wo er gegen einen Schriftsteller polemisiert, der behauptet
hatte, auch die Römer würden dem Genie Alexanders nicht wider-
standen haben. Ob das derselbe war, den Dionysios in der Vorrede
der Aut. Rom. 1. 4. 3 tadelt, weil er alle Erfolge Roms dem Glücke
zuschrieb und der direkt im parthischen Solde gestanden haben soll,
wird sich schwer ausmachen lassen; sicher ist nur die höchst inter-
essante Tatsache, die Schwartz aus allem diesem erschließt: daß nämlich
im ersten Jahrhundert der Kaiserzeit das glänzende Bild Alexanders
eine Trübung erfuhr und eine Geistesrichtung aufkam, die das Werk
des großen Königs herabzusetzen geneigt war. Erst Arrian und Plu-
tarch bezeichnen die Reaktion gegen diese Richtung : früliere Historiker
von geringerer Selbständigkeit wie Livius, Trogus, Curtius haben
ihr Tribut gezollt, zumal das Material für eine solche Beurteilung
damals massenhaft vorlag. Denn ob Alex, seine Erfolge der dpsTv^
oder der tu/t] verdanke, das muß, wie Schwartz mit Recht hervorhebt,
einer der beliebtesten tottoi in den hellenistischen Rhetorenschuleii ge-
wesen und dort nach allen Richtungen hin durchgesprochen sein. Da-
gegen geht jene Auffassung, die seine Weltherrschaft als ein Erzeugnis
frevelhafter u^-ipi; hinstellte, in ihren ersten Anfängen schon auf die
makedonische Umgebung des Königs zui ück : der ülynthier Kallistheiies
war nach Schwartz ihr erster Vertreter, und sie mußte um so mehr
»um Dnrchbruch kommen, als eins der hellenistisclien Reiche nach dem
anderen zerfiel und so das Werk Alexanders der Vernichtung anheim-
gegeben schien. Aus dem Betonen jener beiden Mächte, der -r-j/rj und
der ußpi», erwuchs die alexanderfeindliche Stimmung der ersten Kaiser-
zeit, die erst seit Plut. und Arrian wieder der Bewunderung wich:
Trogus und Cnrtius haben ihr, jeder in seine Weise, nachgegeben.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschaii.) 205
Indessen sind die beiden Vei'f^ionen der Alexandergescliichte, wie
sie durch Arrian einerseits, durch Diodor, Trogus- Justin, Curtius
andererseits vertreten werden, keineswegs streng voneinander geschieden.
Zur Erklärung der mannigfachen Bezieliungen, die zwischen ihnen vor-
liauden sind, hat Ecul.! vor allem dai'auf hingewiesen, daß Kleitarch eben
aucli Aristobulos benutzt habe, während Schwartz einen Augenblick
das gegenteilige Verhältnis anzunehmen geneigt war. Vielmehr ist
Kleitai'ch nach Reuß a. a. 0. der große Kompilator, der um etwa 260
im wesentlichen die Alexandergeschichte zum Abschluß gebracht und
damit die Grundlage für unsere zweite Quellenklasse geschaffen hat.
Daneben aber hat Schwartz noch eine zweite Mögliclikeit für die Er-
klärung jener vorhin genannten Beziehungen aufgedeckt: er nimmt
nicht ohne Grund an, daß die vornehmlich von Kleitarch heriührende
Vulgata immer wieder nach der arrianischen Version retuscliiert ward,
indem die Alexanderhistoriker sich stets von neuem an dem Werk des
Ptolemaios orientierten. Höchst eigentümlich ist endlich die Stelluni;
Plu'tarchs. Seine ganze apologetische Tendenz mußte ihn auf dieselben
Quellen wie Arrian hinweisen, und so ist denn zwischen beiden eine
weit gehende Übereinstimmung vorhanden, die sich auch auf die Notizen
aus der Alexandergeschichte erstreckt, welche an vielen Stellen Stiabos
sich verstreut finden. Diese Übereinstimmung hat nach Schönes Vorgang
Lüdecke seinerzeit dadurch zu erklären gesucht, daß er ein allgemeines
Sammelwerk, die Alexandergeschichte Strabos, als gemeinsame Grund-
lage annahm. Dagegen hat aber Schwartz mit vollem Rechte einge-
wandt, daß ein derartiges Sammelwerk mit reinlich geschiedenen Quellen,
wie es dann doch mindestens Arrian vorgelegen haben müsse, im Alter-
tum einfach undenkbar sei, und hauptsächlich deshalb hat es Lüdeckes
Annab.me auch nicht zu allgemeiner Geltung bringen können. Indessen
hat der Gedanke immerhin eine gewisse Anziehungskraft: das zeigt die
Annahme von Reuß, daß die Älexaudergeschichte einmal von einem
großen Kritiker behandelt worden sei , dessen Grundsätze jene drei
Schrittstsller sich übereinstimmend zu eigen gemacht hätten. Einzelne
dieser Grundsätze glaubt Reuß noch erkennen zu können, z. B. die
Verwerfung des Onesikritos, Polykleitos, Kleitarch, die den Grund bilde,
weshalb sie bei jenen drei Schriftstellern überhaupt nicht oder nur sehr
selten erwähnt werden. Selbstverständlich kann der Kritiker niemand
anders gewesen sein als Eratosthenes, der im dritten Buch seiner Geo-
graphie genügend Gelegenheit hatte, sich mit diesen Fragen zu be-
schäftigen. Die Sache ist einigermaßen problematisch, besonders bei
der Naivität, mit der Arrian über seine Quellen spricht, würde mau
wohl eine Andeutung seines Verhältnisses zu Eratosthenes erwarten;
für Plutarch aber trifft sie auch nicht zu. Überhaupt scheint, wie sich
266 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
bereits oben gezeigt hat, die Selbständigkeit dieses Schriftstellers noch
immer unterschätzt zu werden. Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht
Schuberts Untersuchung über den Tod des Kleitos, in der er bei dem
Bericht Plutarchs nicht weniger als vier Gewährsmänner aufweist;
Kallisthenes, Chares, Duris und Kleitarch; sollte Plutarch in der
Tat alle diese bereits einem Sammelwerk entnommen haben, ohne einen
einzigen selber nachzuschlagen?
Eine wichtige Stelle unter den verlorenen Quellen nehmen die Ephe-
mer iden ein, jene kurzen tagebuchartigeu Berichte, deren Charakter
zuerst Wilcken genauer dargelegt hat. Arrian hat sie durch Ptolemaios.
hindurch benutzt, allein auch bei Plutarch finden sich Stücke, die den
tagebuchartigen Charakter sogar noch deutlicher liervortreten lassen.
Über die Art, wie Plut. zu diesen Berichten gelangt sein könnte, hat
C.F.Lehmann kürzlich im Vorbeigehen sich geäußert: er nimmt aa,
dal) Eumenes, dem die Führung der Ephemerideu oblag, neben der
Reinschrift noch eine Abschrift (warum nicht das Brouillon, nachdem
es von Alex, genehmigt war?) aufbewahrt habe. Jenes, das offizielle
Exemplar, ging in Perdikkas' , des Reichsverwesers, Besitz über, mit
dessen Habe es 321 von Ptolemaios erbeutet ward; dieses blieb in
Eumenes' Händen und kam aus seinem Nachlaß au seineu Freund und
Landsmann Hieronymos v. Kardia, aus dessen Werk Plutarch seine
Kenntnis der Ephemeriden geschöpft haben wird. Es ist durchaus
möglich, daß die Sache so zugegangen ist: jedenfalls ist man so der
immerhin zweifelhaften Annahme überhoben, daß die königlichen Ephe-
merideu irgendwann in Buchform herausgegeben seien. — Eine andere
Primärquelle, die allerdings nicht allzuviel hergibt, ist kürzlich durch
Wilcken aufgedeckt worden. Er hat gezeigt, daß der sog. aristote-
lische Oikonomikos, der nach der bisherigen, auf Niebuhr zurück-
gehenden Annahme zwischen 308 und 188 in Kleiuasien entstanden sein
soll, in seinem zweiten Teil keine einzige Tatsache vorbringt, die über
Alexanders Tod hinabgiuge. Daraus zieht er mit Recht den Schluß,
daß die Beispielsammlung, die offenbar von einem Schüler auf den
Wink des Lehrers gemacht ist, um die Zeit kurz vor oder nach
Alexanders Tod zusammengestellt sein muß. Den gegenwärtigen Zu-
stand der Schrift erklärt sich Wilcken so, daß später ein Peripatetiker,
der eine Theorie der Ökonomie geschrieben hatte, um seinem Elaborat
einen gewissen praktischen Wert zu verleihen, die ältere Beispiel-
sammlung daran hängte; der Übergang ist allerdings in ß. 1, 8 noch
deutlich erkennbar.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau ) 267
Der Tag: von Chaironeia hatte König Philipp die V^orherrschaft
über die griechischen Staaten gegeben; der korinthische Landfriedens-
buud stellte die Form fest, in denen die makedonische Hegemonie über
Hellas zum Ausdruck kommen sollte. Über seine einzelnen Bestim-
nnuigen sind wir sehr mangelhaft unterrichtet. Alles, was sich darüber
sagen läßt, hat Kaerst auf Grund seiner früheren Forschungen noch
einmal ausführlich und übersichtlich zusammengestellt. Eine Hauptfrage
bleibt die, ob hier bereits, auf der Tagsatzung zu Korinth, der allge-
mein hellenische Kampf gegen Persien verkündet worden ist: mit an-
dern Worten, ob Philipp bereits den Krieg gegen den Großkönig geplant
hat, dessen Ausführung nachher seinem Sohne beschieden war. Gegen
diese Ansicht hat zuerst Ulrich Köhler seine Stimme erhoben, indem
er auf die Stelle bei Trogus- Justin hinwies, wo bei der Erwähnung der
Oruudbestimrauug des korinthischen Landfriedens das Motiv des Krieges
gegen Persien nichb als ein integrierender Teil, sondern mit den Worten
neque erat dubium IX, 5, 5 als die allgemeine damalige Vermutung,
als ein Schluß aus dem Charakter der vorausgehenden Bestimmungen
«rwähut wird. Ebenso hat Ranke in seiner Weltgeschichte die ältere
Darstellung stillschweigend durch eine andere ersetzt. Die Sache ist
demnach noch nicht vollkommen klar, und da sie für die Beurteilung
der Politik König Philipps und seines Sohnes von grundlegender Be-
deutung ist, so hat Kaerst a. a. 0. die ganze Erage einer erneuten
Besprechung unterzogen, deren Ergebnisse im wesentlichen mit der
älteren . Ansicht zusammeutreft'en.
Was zunächst die äußere Beglaubigung angeht, so ist es nicht
Diodor allein, der die asiatischen Pläne des Königs ausdrücklich be-
zeichnet, sondern auch Polybios 3, 2, 6 und beide Stellen berühren sich
in ihrem Wortlaut so nahe, daß nur an eine gemeinsame Quelle gedacht
werden kann (Kaerst, Beilage III). Andererseits erwähnt zwar Trogus-
Justin den Beweggrund des Angriffskrieges nur als bloße Vermutung,
allein die ganze übrige Darstellung setzt, wie Kaerst erwiesen hat, doch
■das Vorhandensein eines solchen Planes voraus, und so ist es ganz wohl
möglich, jene Bemerkung, an die Köhler anknüpft, als durch die Un-
genauigkeit des Auszuges entstanden zu denken. Immerhin ist dieser
äußere Anhalt zu schwach, um dauach die Streitfrage zu entscheiden;
hier müssen wesentlich innere Gründe mitsprechen und diese lassen
keinen Zweifel darüber, daß ein Angriffskrieg gegen Persien tatsächlich
im Plane Philipps gelegen hat. Zunächst hat Kaerst mit Recht darauf
hingewiesen (203 ff), daß etwa seit dem korinthischen Kriege der Groß-
könig die leitende Rolle in der griechischen Politik spielt: sowohl der
Antalkidas- wie der Pelopidasfriede waren in seinem Namen geschlossen
und Thebens Aufruf zum Widerstand gegen Philipp erging an alle
268 Jahresbericht über griechische Gescbiclite. (Lenschau.)
griechischen Staaten, ,,die mit dem Großkönig und den Thebancru die
Hellenen befreien wollten"; tatsächlich galt er also als Garant der
hellenischen Freiheit und Unabhängigkeit. Eine solche Stellung durfte
Philipp, der die alleinige Führung der Hellenen beanspruchte, unmöglich
dulden; eine ähnliche politische Notwendigkeit, wie sie 1866 die Aus-
einandersetzung zwischen PreuBen und Österreich herbeifühite, mußte
auch Philipp zum Kriege gegen Persien treiben. Sodann aber kann
sich der König nicht verhehlt haben, daß die Verfassung, die er Griechen-
land im Landfriedensbund gegeben hatte, so segensreich sie auch war,
doch eben eine aufgezwungene war und als solche empfunden wurde.
Nun aber gab es siche)lich kein Mittel, Makedonier und Griechen ein-
ander näher zu bringen, als ein gemeinsam geführter großer und sieg-
reicher Krieg, zumal wenn dieser Krieg seit langem in Griechenland
populär war. Hier tritt besonders hervor, wie Isokrates durch seine
panhellenischen Schriften dem König vorgearbeitet hatte; der Krieg
galt als Nationalkrieg und möglich ist es auch, daß die Rache für die
Schändung der nationalen Heiligtümer durch Xerxes direkt von Philipp
mit als Zweck des Zuges genannt ist (S. 205 Kaerst): hat doch auch
1870 noch die Schändung der Kaisergräber in Speier und die Ver-
wüstung der Pfalz eine EoUe gespielt. Entsprechend dem ganzea
Charakter des Nationalkrieges hatte nun aber der König die Absicht,
die griechischen Staaten in viel stärkerem Maße heranzuziehen, obwohl
immerhin die von Trogus-Justin gegebene Zahl von 200 000 Mann nur
die Gesamtwehrkraft des Bundes, nicht das für diesen einen Krieg zu
stellende Kontingent bezeichnen mag. Daß das nachher ganz anders
kam, daß in dem Heere Alexanders, welches 334 den Hellespont über-
schritt, die Zahl der Griechen verhältnismäßig gering war, beruht
darauf, daß Alexander diesen Gedanken seines Vaters von vornherein
lallen ließ und sich viel ausschließlicher auf die makedonische Wehr-
kraft stützte; es ist daher falsch, mit Koepp (S. 4) aus der geringen
Beteiligung der Griechen zu schließen, der Kiieg sei unpopulär und
Isokrates ein Schwätzer gewesen, dessen Worte niemals einen Wider-
hall in Griechenland gefunden hätten. Und so sehr auch Alexander
aus besonderen Beweggründen heraus den Anteil der Hellenen be-
schränkte, auf den Gedanken des Nationalkrieges selber hat auch er,
wie sich bald zeigen wird, nicht verzichten zu können geglaubt.
Aber es muß für Philipp noch ein dritter und nicht der unbe-
deutendste Grund zum Kriege hinzugekommen sein. Wie Kaerst mit
Recht hervorhebt, hat Ph. alle gewaltsamen Umwälzungen und Ände-
rungen in den Besitzverhältnissen verboten, insbesondere auch der Rück-
kehr der Verbannten einen Riegel vorgeschoben; mit einem Wort, er
hat eine Politik der Besitzenden getrieben und damit zunächst in den
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 260
einzelnen Staaten sich die Uuterstützung; einfiußreicher und politisch
wiiksanicr Kieise g^esichert. Allein damit war der besitzlosen Masse
die Hotfuuug; auf ein Wiederemporkommen völlig abgeschnitten und bei
dem gewaltigen Überschuß an kriegerischer Volkskraft, der damals in
Griechenland steckte, mußte diese Bestimmung entschieden gefährliche
Ausbrüche herbeiführen, wenn es nicht gelang, diese Kräfte nach außen
abzulenken. Das aber konnte nachhaltig nur durch eine Unternehmung
gegen Persien geschehen, die große Teile des Weltreichs für die helle-
nische Besiedelung im großen Stil nutzbar machte; denn auf solche
Glückszufälle wie die Neubesetzung Siziliens durch griechische Ansiedler
nach Timoleons Sieg am Krimisos '(3ö9), die eine ungeheure Menschen-
menge absorbierte, konnte nicht immer gerechnet werden. Eben die
Leichtigkeit, mit der jene Neukolonisation vor sich ging, zeigt, welche
]\Iassen überschüssiger Kraft Griechenland damals für auswärtige Auf-
gaben zur Verfügung hatte, und der Gedanke, diese im Dienste seiner
Politik zu verwerten, muß gerade Philipp nicht fern gelegen haben,
der bereits einmal eine ähnliche Ablenkung mit seiner Kolonisation im
Norden (vgl. S. 257) versucht hatte. Im wesentlichen also, wenngleich
Kaersts Gedanken hier etwas anders formuliert erscheinen, stimme ich
seiner Ansicht bei, daß wir vorwiegend auch aus inneren Gründen bei
Philipp den Gedanken eines Krieges gegen Persien und in gewissem
Sinne auch eine Ankündigung in Korinth voraussetzen müssen. Damit
ist nicht gesagt, daß das mit dürren Worten ausgesprochen worden ist,
was ja gar nicht einmal politisch klug gewesen wäre, allein der Cha-
rakter der Landfriedensbestimmuugen muß keinen Zweifel darüber ge-
lassen haben, worauf sie hinauswollten: ich glaube, die Worte Trogus-
Justins neque erat dubium entsprechen auch in ihrer Passung durchaus
der Wahrheit. Die eigentliche Kriegsankündigung sollte wohl in einem
besonderen Manifest erfolgen, unmittelbar vor Ausbruch des Krieges,
sobald Philipp mit seinen Rüstungen völlig zurande war.
Allein eine andere Frage ist es, wie weit die Absichten des
Königs gingen (Kaerst 205 &.), und da läßt sich wohl soviel mit Sicher-
heit sagen, daß er eine Eroberung des gesamten Perserreiches, wie sie
Isokrates empfahl, Aristoteles widerriet und Alexander nachher durch-
führte, nicht im Auge gehabt hat. Vielmehr erstreckten sich seine
Pläne wohl zunächst nur so weit, wie sie sich aus den Grundbestim-
mungen des Landfriedens ergeben, die für uns das letzte und wichtigste
Dokument von Philipps politischen Anschauungen bilden. Darin war
die Vereinigung aller Griechen verkündet, also auch der Osthelleneu,
die noch unter persischer Herrschaft standen, und um ihren Anschluß
herbeizuführen, würde die Eroberung Kleiuasiens mit Einschluß von
Cypern genügt haben, zugleich ein vollkommen ausreichendes Koloni-
270 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
sationsgebiet für den Überschuß der grieohischeu Bevölkerung. Keinen-
falls hat der König beabsichtigt, den Schwerpunkt des Reiches nach
Asien zu verlegen: er hat wesentlich makedonische, nicht Weltmacht-
politik getrieben. Ob ihn ebenso wie seinen Sohn die Ereignisse darüber
hinausgeführt hätten, das läßt sich nicht mehr ausmachen; wie die
Dinge liegen, müssen wir auch hier bei Alexander eine Abänderung
und in diesem Fall eine Erweiterung der Pläne seines Vaters feststellen.
Kurz bevor es zum Entscheidungskampf mit Persieu kam, ist
König Philipp zu Pella ermordet worden. Die Zeit der Ermordung
erschließt man aus der Angabe des Aristobulos, daß Alexander zwölf
Jahr und acht Monat regiert habe, das ergäbe Okt./Nov. 336. Streng
genommen beweist die Notiz allerdings nur, wie Meyer Forsch. II,
445 ff. gezeigt hat, daß Philipp nach dem makedonischen Neujahr
(Herbst) 336 starb, indes führt der Zusammenhang der Ereignisse
(loch auf denselben Zeitpunkt Herbst 336, den die allgemeine Ansicht
vertritt. Schwieriger ist die Schuldfrage zu entscheiden, mit der sich
"W Ulrich befaßt hat, um im Gegensatz zu Köhler Alexanders und
Olympias' Unschuld zu erweisen. Daß Pausanias nur ein Werkzeug in
den Händen anderer war, wird allseitig zugegeben, und als solche
galten in der offiziellen makedonischen Version die Lynkesten und
ßagoas. Was die Lynkesten bewogen haben sollte oder richtiger ge-
sagt, warum die Lynkesten gerade diesen Zeitpunkt, ihre verlorene
Teilfürstenstellung wiederzugewinnen, für passend gehalten haben, das
wissen wir nicht. Von Bagoas dagegen erscheint die Sache ganz
glaublich, das wird man Willrich zugeben, und auch der Einwurf
Köhlers, daß er dann auch Alexander gleich hätte raitermordeu lassen
müssen, verfängt nicht viel; über Alexanders Fähigkeiten täuschte sich
sogar Demosthenes und Kommt Zeit, kommt Rat ist immer ein be-
währter Grundsatz orientalischer Politik gewesen. Andererseits richtet
sich doch aber auch auf Olympias und Alexander ein Verdacht, dessen
Widerlegung Willrich nicht ganz gelungen ist. Dass Olympias die Sache
zuzutrauen ist, bedarf bei ihrem Naturell keiner Erörterung; für
Alexander aber kam die Teilnahme an der Verschwörung doch nur
dann in Betracht, wenn seine Erbfolge ernstlich bedroht war. Nun ist
es freilich keine Frage, daß im makedonischen Königshaus das Recht
der Erstgeburt galt, und insofern Iiätte Alexander ja nichts zu fürchten
gehabt; allein es gab eine Möglichkeit, ihn auszuschließen, wenn näm-
lich Philipp nachträglich seine Ehe mit Olympias als unrechtmäßig er-
klären ließ. Dann war Alexander ein voöo; und stand in der Erbfolge
gegen den Sohn der Kleopatra zurück, ein Vorgang, der bekanntlich
in der seleukidischen Dynastie eintrat, als Antiochos H. bei seiner Heirat
mit der ägyptischen Berenike seine frühere Ehe mit Laodikeia, der
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 271
Mutter seiner Söhne Seleukos und Antiocbos, für unrechtmäßig- erklären
ließ. Daß auf etwas Ahnliches die Pläne des Attalos hinausgingen,
mag man aus seiner beim Wein gefallenen Äußerung schließen: die
JEakedoneu sollten um einen echten Sproß Philipps beten. Natürlich
ist damit nicht gesagt, nnd es ist auch im höchsten Grade unwahr-
.scheinlich, daß Philipp, der seinen Sohn auf seine große Aufgabe plan -
mäßig vorbereitet hatte, wirklich mit seiner Enterbung umging; aber
darauf kommt es ja auch nicht an : es genügt, daß in Olympias' leiden-
schaftlicher Seele der Gedanke aufkeimte, Philipp könne damit um-
gehen, um ihre Mitwirkung zu erklären, und dazu mögen solche un-
bedachten Woite, wie das des Attalos, vielleicht auch im heftigen Wort-
wechsel mit seiner Frau von Philipp hervorgestoßene nnd niemals ernstlich
gemeinte Drohungen den Anlaß gegeben haben. Daß Ol5'mpias also im
Komplott war, ist keineswegs unwahrscheinlich; bei Alexander wird
man wohl so weit nicht gehen dürfen, im schlimmsten Fall ließ er
wohl nur geschehen, was er nicht hindern wollte, und dieser ,,Zug kalter
Tücke" würde dann auf ihm haften bleiben. Sicher ist, daß er den
Tod seines Vaters benutzt hat, um sich aller etwa in Frage kommen-
den Prätendenten zu entledigen ; daß er Attalos wie später Parmenion
nur heimlich aus dem Wege zu schaffen wagte, zeigt das Ansehen, das
Kleopatras Vater bei den Makedonen genoß. Alles in allem genommen,
bleibt doch etwas mehr an Alexander hängen, als Willrich und Kaerst
S. 237 Wort haben wollen; besser trifft Bury die Sache (S. 735), ^/ler
wahre Mörder war Olymplas, und Alexander war es, der die Früchte
des Verbrechens erntete."
Im Frühling des Jahres 334 beginnt der Krieg gegen Persien: es
war ein verhältnismäßig kleines und im wesentlichen makedonisches
Heer, das der König hinüberführte. Auf die geringe Anzahl der
Griechen (7000 Mann zu Fuß, 600 Reiter) hat ü. Köhler in dem er-
wähnten Aufsatz hingewiesen und zugleich auf die bemerkenswerte Tat-
sache aufmerksam gemacht (S. 12G ff.), daß Alexander diese Bundes-
truppen mit Ausnahme der Reiterei nie zur Feldschlacht herangezogen,
sondern nur zu Besatzungen und vorübergehender militärischer Besitz-
ergreifung benutzt hat. Offenbar hat er (Köhler S. 132 f.) sowohl
der politischen Gesinnung, wie auch der Kriegstüclitigkeit dieser Milizen
mißtraut und mit der Reiterei nur darum eine Ausnahme gemacht,
weil er in dieser Waffe den Persern au Zahl von vornherein nicht ge-
wachsen war und keinen Mann entbehren zu können glaubte. Man
kann doch zweifeln, ob diese Beweggründe wirklich für Alexander aus-
schlaggebend gewesen sind; waren es wirklich Bürgermilizen, so war
es sicherlich besser, ihre Zahl nicht zu beschränken, da sie als Geiseln
für die Treue der Staaten gelten konnten, und waren es, wie mir
272 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
richtiger scheint, zum größten Teil von den einzelnen Staaten gestellte
Söldner, so kann ihre Kriegstüchtig-keit nicht der der Pezetairen nach-
gestanden haben. Es scheint also, daß A. die griechischen Kontingente
nur sozusagen als Dekoration mitführte, da er auf den Gedanken eines
Xationalkrieges nicht verzichten VvoUte. Das bezeugt seine Haltung
gegenüber den griechischen Söldnern am Grauikos und vor allem,
worauf Köhler mit Recht S. 130 hinweist, ihre Entsendung in die
Heimat im Fiühjahr 330: mit der Verbrennung der Köuigsbiirg von
Persepolis war das Programm des Rachekrieges gegen Persien erfüllt,
und vom politischen Staudpunkt aus hatte die Heimkehr kein Bedenken
mehr, nachdem Autipatros 331 bei Megalopolis den letzten Widerstand
in Griechenland gebrochen hatte. Am Kampf dagegen ließ der König
die Griechen nicht teilnehmen , offenbar weil er den Sieg über den
Großkönig nur den Makedonen allein gewahrt wissen wollte. Das tritt
noch deutlicher bei der Flotte hervor, wo es dem König ein leichtes
gewesen wäre, gestützt auf die Kräfte des korinthischen Bundes —
Athen hielt damals 350 Trieren — den Persern ebenbürtig entgegen-
zutreten. Nicht Saumseligkeit oder Übelwollen, wie Köhler S. 122
und Bury S. 747 meinen, sondern des Königs eigener Wille trägt die
Schuld an der mangelhaften Beschaffenheit der Elotte, die in einem
Augenblick sogar das Gelingen des ganzen Zuges in Frage stellte: Wie
wenig das alles dem ursprünglichen Plan Philipps entsprach, ist schon
vorhin hervorgehoben.
Dagegen ist es nun sehr schwer, sich über die Absichten klar
zu werden, mit denen Alexander 334 nach Asien hinüberging: ob sclion
damals in seinem Kopfe der Plan einer Eroberung des persischen
Reiches, ja der Weltherrschaft fertig war, wie Kaerst S. 232 ff. und
zum Teil auch Burj^ (S. 747) annehmen oder ob es sich damals für
ihn noch lediglich um eine umfassende Landeroberuug liandelte, wie sie
etwa Philipp beabsichtigt haben mag. Sehr vieles wäre gewonnen, wenn
wir über die Stellung der befreiten Griechenstädte Kleinasiens etwas
mehr wüßten, vor allem, ob sie dem korinthischen Bunde angeschlossen
oder sofort in ein besonderes Verhältnis zu Alexander getreten sind.
Die Tatsachen liegen so: von Tenedos und Chios wissen wir, daß sie
dem korinthischen Bunde angehört haben, während die anderen klein-
asiatischen Städte später in eigene Verbände eingegliedert erscheinen
und unter Alexander jedenfalls eine Zeitlang eine auvra^i^ bezahlt haben
müssen, von der die Mitglieder des korinthischen Bundes satzungs-
gemäß befreit waren (Inscr. Brit. Mus. III, 400, soviel ich sehe, von
Kaerst seltsamerweise nirgends herangezogen). Daraus hat Kaerst ge-
schlossen, daß A. von vornherein nur die Inselgriechen in den Bund
aufgenommen, Asien dagegen sofort als ein gesondertes Gebiet behandelt
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Leaschau.) 273
habe, und das würde allerdings darauf schließen lassen, daß er schon
damals ein Großkönigtuni von Asien angestrebt habe. Allein dem
widersimcht z. B., daß er llitylene den Besitz der Peraia be-
stätigte und diese sogar erweiterte, und wenn auch sicher bereits
unter Alexandros ein besonderes Verhältnis zu den giiechisciieu Städten
bestanden hat, so wissen wir doch nicht, ob es gleich nach der Schlacht
am Granikos eingerichtet ward. Darauf aber kommt für unsere Frage
alles au: nachher hat AI. im Sinne des ßeichsgedankens sich sehr
schwere Eingriffe in die Stellung der griechischen Städte erlaubt und
so wäre es möglich, daß jenes ganze Verhältnis zu den asiatischen
Griecheustädten auf nachträglicher Verfügung von Susa aus beruht hat.
Die Hoffnung ist ja nicht ausgeschlossen, daß irgendwo in den klein-
asiatischen Städten ein Dokument zutage kommt, das über die Ver-
hältnisse von 334 und damit über Alexanders Absichten Licht ver-
breitet; bis dahin aber können Kaersts Ausführungen 261 ff. nur die
Geltung einer Hypothese beanspruchen. Vielmehr ist bis auf weiteres
festzuhalten, daß bis zur Schlacht von Issos — die eine militärische
Notwendigkeit auch dann war, wenn Alexander nur Kleinasieu be-
haupieu wollte — kein Anzeichen dafür vorliegt, daß vor Alexanders
Seele schon beim Auszug der große Plan des Weltreichs gestanden
hat. Auch daß Alexander die Verwaltung der eroberten Provinzen
nur Makedouen anvertraut, ist in diesem Zusammenhang keineswegs
unwichtig.
Über die Schlacht von Issos hatAd. Bauer in den österreichischen
archäologischen Jahrheften eine ausführliche Abhandlung veröffentlicht,
die durch Verwertung von Heberdej's und Wilhelms Reiseberichten zum
erstenmal eine zuverlässige topographische Grundlage ermöglicht; dem-
entsprechend haben sowohl Vorgeschichte wie Darstellung des Auf-
marsches in der Schlacht durch Bauer mannigfache Förderung erfahren .
Dareios stand in Sochoi jenseits des Amanos in breiter Ebene, bereit,
Alexanders Truppen, sobald sie aus dem Beilau-PaC heraustretend in
dem ausgedehnten Gelände sich entwickeln wollten, unter den günstigsten
Umständen anzugreifen. Auf die Nachricht jedoch, daß Alexander in
Tarsos verweile, gab er diese vorteilhafte Stellung auf, beschloß wo-
möglich Alexander noch in Kilikieu anzugreifen und marschierte nord-
wärts in weitem Bogen über den Arslan Boghas-Paß, der iu die kilikische
Ebene hinabführt. Dies ist von Bauer als eiu schwerer Fehler gerügt
worden (ähnlich Kaerst S. 275 ff.), sofern die Bewegung auf einer
Unterschätzuug der Schnelligkeit Alexanders beruht habe. Das kann
ich nicht finden: das lange, allerdings teilweise unfreiwillige Verweilen
Alexanders in Tarsos mochte den Gedanken nahe legen, daß er den
Angriff in Kilikieu abwarten wolle; auch mögen übertriebene Gerüchte
Jahresbericht für Altertumswisseuächaft. Bd. CXXII. (1904. IIL) IS
274 Jahresbericht über griochische Geschichte. (Lenschau.)
über Alexanders Krankheit mitgewirkt haben. Vor allem aber hatte
auch wohl der Großkönig seine Gründe, rasch zu schlagen; die Ver-
pflegung so gewaltiger Truppenmasseu raulite schwierig werden und die
persischen Großen haben sicherlich zum Kampfe gedrängt. Sowenig
man danach Dareios Entschluß als schweren Fehler bezeichnen kann, so
wenig Grund liegt doch auch andererseits vor, in ihm ein glänzendes
strategisches Manöver zu sehen, das Alexander von seiner Rückzugs-
linie abschnitt, eine Ansicht, die Beloch in dei' Griech. Geschichte II
vertreten hat. Vielmehr ist es lediglich dem Zufall zuzuschreiben, daß
Alex, am selben Tage wie Dareios von Socboi seinerseits von Tarsos
zum Marsch durch die Küstenpässe aufbrach und so jene Verkettung
der Umstände eintrat, welche dazu führte, daß die Schlacht mit ver-
kehrter Front geschlagen ward. Was man Alexander vorwerfen kann,
ist dies, daß er nach dem Arslan Boghas zu nicht genügend aufklärte
und besonders Koepp S. 32 hat diesen Fehler betont, doch macht Del-
brück I, 170 wohl mit Recht auf die Schwierigkeit aufmerksam, zwei
Tagemärsche weit über Gebirgspässe weg in feindlichem Lande zu re-
kognoszieren. Auch Delbrück ist übrigens der Ansicht, daß Dareios'
Marsch als einfacher Vormarsch gedacht war und nur durch Zufall
zum Umgehungsmarsch wurde (S. 169 f.).
In der Rekonstruktion des Aufmarsches zur Schlacht geht Bauer
von der bekannten Kritik aus, die Polybios 12, 17 — 22 dem Bericht
des Kallisthenes angedeihen läßt, und die auf dem Mißverhältnis der
von Kallisthenes angegebenen Breite des Schlachtfeldes (14 Stadien -^
2,5 km) mit den nach seiner Dai Stellung darauf operierenden Massen
beruht. Es fragt sich nur, wo der Fehler steckt. Beloch und ihm
folgend Delbrück (I, 154) finden ihn in den Massenangaben, ja dieser
meint sogar, das persische Heer sei nicht größer als 30 — 40 000 Mann
gewesen; danach würde also, wenn man Arrians Zahlen für das make-
donische Heer gelten läßt, Alexander sogar die Übermacht gehabt
haben. Ich muß gestehen, das heißt doch einen an sich richtigen
Grundsatz übertreiben. Gewiß sind Delbrücks Forschungen für die
Perserkriege bahnbrechend gewesen: die unmöglichen Zahlen Herodots
sind durch ihn endgültig beseitigt und in der Tat, auch von vornheiein
ist es ja völlig unwahrscheinlich, daß die Perser, denen bis dahin kein
Volk, auch die Griechen nicht, widerstanden hatten, eine so gewaltige
Übermacht zur Unterwerfung Griechenlands aufgeboten haben sollten.
Allein 333 lagen die Dinge doch wesentlich anders: hundertundfünfzig
Jahre von Kämpfen hatten die unbedingte Überlegenheit der Griechen
über die gleiche Anzahl von Persern dargetan, worauf sollten sich also
wohl Dareios' Siegesholfnungen gegründet haben, wenn nicht auf dem
Bewußtsein seiner tjberzahl? Man braucht darum noch nicht gleich
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau) 275
die phantastischen Zahlen der zweiten Quellenklasse anzunehmen, allein
die 160 000 Mann, die sich aus Arrians, auf Ptolemaios beruhender
Darstellung- ergeben , würden auch dann noch Beachtung verdienen,
wenn sie, wie Bauer m. E. allerdings mit Recht aus II, 8, 6, folgert,
auf einer schätzungsweisen Berechnung beruhen; sicherlich war dazu
niemand befähigter als Ptolemaios, der in der unmittelbaren Umgebung
des Königs die Schlacht mitmachte. Sobald man die Zahlen Arrians
aber auch nur für annähernd richtig hält, ist es unmöglich, mit Del-
brück den Paias-Tschai für den Pinaros zu halten, an dem bekanntlich
die Schlacht stattfand. Die Breite der Ebene (2V2 km) würde hier
allerdings genau mit Kallisthenes stimmen, aber die Unterbringung der
Massen wäre unausführbar gewesen; nicht einmal das makedonische
Heer konnte auf diesem Zwischenraum recht entwickelt werden, ein
Vorgang, der doch nach Kallisthenes' und Ptolemaios' Zeugnis gänzlich
glatt und unbehindert vor sich ging. Delbrück siebt das auch wohl ein
und nimmt deswegen Curtius' Angabe zu Hilfe, wonach die Phalanx
.32 Mann tief stand; allein das „nach Ptolemaios", das er zu Curtius'
Namen hinzusetzt, unterliegt schweren Bedenken und andererseits ist
es doch merkwürdig, daß Arrian, der hier eingestandenermaßen aut
Ptolemaios zurückgeht, eine so außergewöhnliche Aufstellung gar nicht
erwähnt. Es ist also wahrscheinlich richtiger, mit Bauer den Deli-
Tschai, der weiter nach Norden die hier 9 km breite Küstenebene
in südöstlicher Richtung durchfließt, für den Piuaros anzusehen, hinter
dem Dareios' Heeresmassen aufgestellt waren, und bei Kallisthenes
einen Fehler im Distanzschätzen vorauszusetzen, wie er allerdings öfter
vorkommt. Weniger überzeugend dagegen ist die Art und Weise, wie
Bauer die persische Aufstellung selbst zu rekonstruieren sucht. Er
nimmt an, daß das schwergerüstete Fußvolk von den Bergen an etwa
bis zur Mitte der Ebene, bis Otschaklu, hinter dem Pinaros mit der
Front ziemlich nach Südosten aufmarschiert war, von da ab aber folgte
seiner Ansicht die Front nicht mehr dem Pinaros, sondern reichte in
genau westlicher Richtung bis ans Meer, so daß hier die Trappen mit
dem Gesicht nach Süden standen. In dem Dreieck, das somit vom
rechten Flügel, vom Meeresnfer und vom Unterlauf des Pinaros gebildet
ward, fanden nach Bauer die von Arrian genannte und auf 30 000
Mann bezifferte Reiterei sowie 20 000 Leichte Platz. Die ganze Auf-
stellung erscheint auf den ersten Blick künstlich und wenig praktisch
(vgl. Delbrücks Bemerkungen S. 166 Anm.), vor allem aber wider-
spricht sie eingestandenermaßen unseren Quellen, die übereinstimmend
die Reiterei auf den rechten Flügel ans Meer und von da an bis ans
Gebirge das schwere Fußvolk postieren. Nun ist die Überlegung, die
Bauer zu dieser künstlichen Anordnung mit gebrochener Front geführt
18*
276 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
hat, diese : indem er an Arrians Zahl von 90 000 Schwerbewaffneten
festhält und eine Tiefe von 8 Mann nimmt, erhält er 11 250 Mann in
der Front, die bei 0,92 m Abstand bereits 10 km, also die ganze
Pinaroslinie einnehmen, so daß für die Reiterei gar kein Platz bleibt;
um sie also überhaupt unterzubringen, muß B. sie vor die Front des
rechten Flügels stellen. Es ist klar, daß alles davon abhängt, wie tief
man die Aufstellung des persischen Heeres annimmt und hierbei geht
B. von den "Worten Arrians II, 8, 6 aus- Toaouxouc -/ap iirl cpaXa-j-zoc
aTCX% e6r/£To to ytuptov ; indem er der einfachen Phalanx eine Tiefe von
a Mann gibt, wie in den griechischen Schlachten der ersten Hälfte des
4. Jahrhunderts, kommt er zu seinen abweichenden Ergebnissen. Allein
Delbrück hat mit Recht darauf hingewiesen, daß eine so dünne Phalanx
ein Unding sei (S. 168), regleraentsmäßig betrug später die Tiefe der
Sarissenphalanx IG Manu und das ist bei dem Ursprung der Phalanx
aus dem Gewalthaufen des Epaminondas für die Anfangszeit ebenfalls
vorauszusetzen. Setzt mau diesen Wert ein, so ergibt sich für die
Front des persischen Fußvolks rund 5 km Länge von den Bergen bis
zur Mitte der Ebene, den Rest der Pinaroslinie von der Mitte bis zum
Meer nahm in beträchtlicher flacherer Aufstellung die Reiterei samt
den Leichten ein. Das würde zu unseren Quellen stimmen. Dieselbe
Tiefenaufstellung auch für die Makedonier anzunehmen , hindert
Kallisthenes ausdrückliches Zeugnis, wonach die Makedonen 8 Mann
tief standen. Dies Zeugnis wird von Delbrück verworfen (8. 168),
verhielt sich die Sache wirklich so, so hat AI. offenbar die gewöhnliche
Phalanxtiefe auf die Hälfte verringert, um seiner Linie eine größere
Ausdehnung zu geben. Den Verlauf des Kampfes hat Delbrück in
überzeugender Weise geschildert (S. 154 ff.).
Die Schlacht von Issos ist m. E. die entscheidende Wendung in
Alexanders Leben geworden. Bald nach der Schlacht — wir kennen
weder genau den Zeitpunkt des Erscheinens der Gesandtschaft, noch
den Umfang der Auerbietungen (vgl. Kaerst S. 289 A. 1) — kamen
Boten von Dareios mit Friedensvorschlägeu, die im wesentlichen auf
Landabtretungeu, nach der höchsten Angabe der Provinzen bis zum
Euphrat, hinausliefen. Alexander lehnte ab; alleiu nach dem überein-
stimmenden Bericht unserer Quellen (von Arr. II, 25, 1 allerdings mit
li'iootji eingeführt) riet in dem voraufgehenden Kriegsrat Parmenion zur
Annahme. Mag auch die epigrammatische Zuspitzung, die Alexander
seiner Ablehnung gab, spätere Erfindung sein, an der Tatsache wird
man nicht zweifeln dürfen und diese ist allerdings höchst charakteristisch.
Zum erstenmal zeigt sich hier der Zwiespalt zwischen der altmakedo-
nischen Partei, an deren Spitze Parmenion stand, und den Ansichten
des Königs; es wird nicht zuviel gefolgert sein, wenn man mit Kaerst
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 277
annimmt, daß bis hierhin etwa Philipps Programm g'ingf und Parmenion,
der Vertraute seiner Pläne, sich für befugt hielt, vor einem Darüber-
hinausgeheu zu warnen. Doch ist aus Alexanders Ablehnung nicht zu
schließen, daß damals der Plan der Weltherrschaft schon in seinem
Kopfe fertig war; vielmehr läßt sie sich zunächst aus rein militärischen
Erwägungen erklären. Die Sicherheit des Heeres erforderte unbedingt
die Eroberung Phöniziens, Syriens und auch Ägyptens, um der persi-
schen Flotte, die immer noch drohend im Agäischen Meere stand, die
OperatioKsbasis zu rauben. Vor allem aber — und das hat schon
Beloch, Gr. Gesch. li, 640 gesehen — bedeutete ein sofortiger Friede
bei noch so großer Gebietsabtretung immer nur ein Hinausschieben der
Entscheidung; denn es war von vornherein klar, daß die Kräfte des
persischen Reiches noch keineswegs gebrochen waren und daß es stets
danach streben würde, die verlorenen Provinzen zurückzuerobern. Diese
militärischen Beweggründe werden Alexander in erster Linie bestimmt
haben: er ist nicht der einzige Eroberer, der weiter und weiter vor-
wärts gehen mußte, um das Errungene zu sichern. Allein sein staats-
männisches Genie mußte ihm auch sofort klarmachen, daß er mit der
Erobeiung des persischen Reiches zugleich die Grundlagen seiner make-
donischen Monarchie verrücke und damals zuerst wird das Bild des
makedonisch-persischen Weltreiches vor seiner Seele aufgetaucht sein.
Denn von jetzt an beginnen erst schüchtern, dann immer stärker seine
Versuche, die auf eine Verschmelzung von Persern und Makedoniern
hinzielen. Ihre frühsten Anzeichen erkennt man in der Belassung der
Satrapien in der Hand vornehmer Perser und in der bewußten An-
knüpfung an die orientalische Idee des Gottkönigtums, die nach
und nach immer deutlicher hervortritt.
Zu den ersten Spuren gehört das Interesse für einheimische Götter-
kulte, das Alexander an den Tag zu legen beginnt; so z. B. seine Ab-
sicht, im Tempel des Melqart zu Tyros zu opfern, die den Widerstand
der Tyrier hervorruft, ferner der allerdings sehr schlecht bezeugte
Besuch zu Jerusalem und vor allem die Fahrt zum Amun Ha, deren
Beweggründe schon im Altertum nicht verstanden vurden. Auch von
den neueren Forschern haben manche auf Erklärung verzichtet und
allerdings „es hat unergründliche Tiefen in Alexanders Seele gegeben,
aus denen Entschlüsse emporquollen, für die es eine ganz glatt auf-
gehende Erklärung nicht gibt" (Droysen). Trotzdem sieht Kaerst wohl
mit Recht als Beweggrund die Absicht an, durch den Besuch seinem
Königtum die göttliche Weihe zu geben, vor allem auch in den Augen
der Hellenen, bei denen das Ammonsheiligtnm seit langer Zeit in hohem
Ansehen stand (Kaerst S. 294). Allein ungemein charakteristisch ist
doch wieder Alexanders Verhalten; er bewahrte absolutes Stillschweigen
278 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
über das Gespräch, das er mit dem Oberpriester g-eführt hatte, und
dies Schweigen ist um so seltsamer, als es eigentlich nicht aus Rücksicht
auf die Griechenwelt hervorgegangen sein kann; sicherlich lag die Ver-
götterung auch noch Lebender dem griechischen Gefühl in der damaligen
Zeit gar nicht so sehr fern. Es scheint aber, als ob Alexander in
dieser ersten Zeit sich noch nicht recht mit der Sprache herausgetraut
hat. Das stimmt nun freilich nicht zu dem Bilde des phantastischen,
in orientalischen Vorstellungen sich bewegenden Gewaltherrschers, als
der AI. bei Niebuhr, Grote und zum Teil auch bei Kaerst erscheint;
besonders der letztgenannte Forscher vertritt die Ansicht, daß A. un-
umwunden auch von den Griechen seine persönliche Verehrung gefordert
hat. Demgegenüber behauptet Korneraaun, Alexander habe sich überall
in diesen Dingen völlig passiv verhalten: ,,er nahm an, was ihm in
dieser Beziehung geboten ward, einmal um nicht durch Ablehnung zu
beleidigen, sodann aber auch deshalb, weil ihm daran gelegen sein mußte,
für Orientalen und Griechen das gleiche Verhältnis zu seiner Person
zu schaffen" (S. 59). Der Streit beider Anschauungen darf nicht un-
nötig verschärft werden; gerade hier liegt die Wahrheit wohl wirklich
einmal in der Mitte und der letzte Teil jener Bemerkung Kornemanns
ist wohl geeignet, einen Ausgleich herbeizuführen. In dem Augenblick,
wo AI. in der Begründung des persisch-makedonischen Weltreichs eine
Notwendigkeit erkannte, hat er mit dem Zweck natürlich auch die
Mittel gewollt, und da ihm klar war, daß die Herrschaft über Orientalen
nur in der Form eines Gottkönigtums möglich war, so hat er alles
getan, um dieser Auffassung seiner Person Vorschub zu leisten. Allein
die in seiner Person begründete Reichseiuheit verlangte vor. allem auch
TTniformität in der Verehrung, die der Person des Herrschers galt, und
so mußte er dahin kommen, die Formen dieser Verehrung auch von
Griechen und Makedouiern zu verlangen. Das als ein Zeichen beginnen-
der Ti Übung in Alexanders Geist zu betrachten, scheint mir nur mög-
lich, wenn man annimmt, Alexander habe selbst an diesen Schwindel
geglaubt; vielmehr ist es gerade ein Beweis seiner staatsmännischen
Klarheit, die den Wert der Imponderabilien richtig einschätzte. Wirk-
lichen Glauben an seine Göttlichkeit hat er nie von den Griechen ver-
langt, sondern nur die äußeren Zeichen, nur soviel, wie nötig war, um
seine orientalischen Untertanen nicht irre zu machen, die denn freilich
mit diesen Zeichen einen tieferen Sinn verbanden. Aber AI. hat doch
deutlich das Gefühl gehabt, daß er besonders bei seinen Makedoniern
hier auf harten Widerstand stoßen würde, und so hat er 332 noch vor-
sichtig das Ergebnis seiner Unterredung mit Amun-Ea verschwiegen.
Erst in den Jahren der vollständigen Unterwerfung des Perserreiches
glaubte er fester zufassen zu können; allein der plötzlich erfolgende
Jahresbericht über griechische Geschichte (Lenschau.) 279
Stimraungsumschla^, die Vorfälle mit Kleitos und Kallisthenes, brachten
ihm zum Bewußtsein, daß die Sache so nicht ging, und so ist er klug
einen Schritt zurückgewichen : die Proskynese hat er von Makedoniern
und Griechen nicht mehr verlangt. Aber die Forderung selbst konnte
er nicht aufgeben, da sie mit dem Gedanken der Reichseinheit unlösbar
vei'bunden war, und er versuchte nun, sie auf indirektem Wege durch-
zusetzen. Sicher ist es kein Zufall, daß jene Anträge in den helle-
nischen Städten, die auf Alexanders göttliche Verehrung abzielten,
gerade kurz nach der 324 befohlenen Rückkehr der Verbannten auf-
tauchen: offenbar gingen sie von diesen aus, die recht wohl wußten,
daß sie damit in Alexanders Sinne handelten. Ganz ähnlich ist auch
das Verfahren des Königs bei der Münzprägung gewesen, die Kaerst
mit Recht heranzieht (S. 392 f.): wenn überhaupt, so hat erst ganz
zuletzt der König dem Herakleskopf seiner Münzen persönliche Züge
geben lassen, die dann bei seinen Nachfolgern die Regel werden.
Unter diesen Umständen erscheint Kornemanns Ansicht, daß AI. nur
zugelassen habe, was ihm an göttlichen Ehren dargebracht ward, in
dieser Schärfe nicht haltbar; unzweifelhaft hat er vielmehr göttliche
Ehren veranlaßt und vielleiclit in einzelneu Fällen verlangt, aber ledig-
lich nur aus Gründen der Staatsräson, nicht aus einer persönlichen
Überzeugung von seiner Göttlichkeit, wie sie Kaerst anzunehmen geneigt
ist (vgl. bes. 383 ff.). Auch in der Form, die ihr Koepp S. 41 bei-
mißt, wo er sie mit dem Glauben an ein Gottesgnadentum vergleicht,
wird die persönliche Überzeugung A s von seiner Göttlichkeit abzu-
lehnen sein und so bleibt nur jenes Bewußtsein, wie es die Größten
dieser Erde immer ausgezeichnet bat: daß sie turmhoch ans der Menge
der gewöhnlichen Sterblichen heivoriagen und, der Gottheit näher
stehend, nur mit ihrem eigenen Maße zu messen sind.
Im Frühjahr des Jahres 331 brach Alexander aus Ägypten zum
letzten Entscheidungskampf gegen Dareios auf, der ihn in der weiten
Tigiisebene erwartete. Von den vier großen Alexandei'schlachten ist
die von Gaugamela die in ihren Einzelheiten am wenigsten bekannte:
besonders die Aufstellung des makedonischen Heeres ist trotz der ge-
nauen Angaben Arrians nicht völlig geklärt. In dieser Hinsicht be-
zeichnet die Behandlung, die Delbrück S. 171 ff. der Schlacht ange-
deihen läßt, einen wesentlichen Fortschritt. Vor allem hat er mit der
alten Ansicht Köchly-Rüstows (danach noch Bury S. 776 ff.) gebrochen,
nach der Alexander zwei Treffen hintereinander gebildet habe; vielmehr
verdoppelte er die Tiefe der Phalanx und gab Befehl, daß im Falle
einer Umgehung die letzten Reihen kehrt machen und eine zweite Front
bilden sollten. Dazu paßt nicht nur Arrians Ausdruck l-.ixci.^z os /.at
OE'jTEpav T7;'.v w; slvat ttjv '^aXa'fi'a d|x9''3TO[j.ov 3, 12, 1, sondern vor
280 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
allem das put bezeugte Durchreißen der Phalanx während der Schlacht^
das einem Teil der persischen Reiterei die Möglichkeit gewährte,
Alexanders Schlachtreihe zu durchbrechen: wäre ein zweites Treff eu
vorhanden gewesen, so wären die Reiter notwendig auf dieses gestoßen,
wenn man nicht annehmen will, daß auch dies zweite Treffen genau zur
selben Zeit und an derselben Stelle gerissen sei. Schwieriger sind die
folgenden Worte ec eTrt/wjj-ZYjv ok, ei ttou ava-f/T) y.aTotXajx^avoi ir, ava-
T.zu^'j.i r^ ^'j-fAXsTacrt rr^v cpaXa-f,'0!, xara p.ev to oectov -/.cpa; eyojxsvoi -rfjC 3a3i-
Xix^S iXyj; Tüiv 'A7piav(Tjv e-ayilriaav oi Yjjxtjss? xts. D. faßt die Worte zi
ro'j-xaTo;>.7.ij/-iavo'. als Zwischensatz für sich und die in Rede stehenden
Truppen als Subjekt zu Eu^x^sTjat und avarTuEoti auf, worauf er sich
dann viele Mühe gibt, die Bedeutung der beiden Worte zu ergründen
(S. 177), ohne doch zu einem sicheren Ergebnis zu gelangen. Richtiger
scheint es, die Infinitive unmittelbar von xaTaXaio-^iotvoi abhängen zu
lassen: „wenn sich die Notwendigkeit ergeben würde, die Phalanx zu
lockern oder zusammenzuziehen". Mit dieser Notwendigkeit mußte AI.
wegen der Sichelwagen rechnen; da die Soldaten den Befelil hatten,
bei ihrem Herannahen auseinanderzutreten (Arr. 3, 13, ß), so ergab
sich eine plötzliche Verbreiterung der Front, der nachher die sofortige
Zusammenziehung folgen mußte. Eben hierbei war leicht eine Vber-
flügelung möglich, besonders in der rechten Flanke, die ja durch den
Offensivstoß der Hetärenreiterei entblößt war; Alexander konnte deshalb
zur Flankendeckung nur leichte Truppen brauchen, die imstande waren,
jeder Bewegung der Phalanx zu folgen. Diese Aufgabe erscheint wesent-
lich erleichtert, wenn man sie sich mit Delbrück nicht in Schlacht-
ordnung, sondern noch in Kolonnen aufgestellt denkt, alsdann würde
is E7:txa[X7:rjv nicht „hakenförmig", sondern „zur Hakenbildung" zu über-
setzen sein: sie sollten also im Falle einer Überflügelung eine haken-
förmig angesetzte Seitenfront zur Phalanx bilden. Der Verlauf der
Schlacht ist nur in seinen Gesamtzügen klar; im einzelnen bleibt noch
manches zweifelhaft (vgl. Delbrück a. a. 0.). Beachtenswert erscheint
die Vorsicht, mit der Alexander Vorkehrungen gegen eine TJmflügelung
trifft: sie beweist doch wohl, daß Dareios sehr überlegene Massen gegen
ihn heranführte.
Der Sieg von Gaugamela hat Alexander tatsächlicl) die Herr-
schaft über den damals bekannten Teil Asiens verschafft: die Nieder-
werfung des nationaliranischen Widerstandes in den Ostprovinzen konnte,
so langwierig und schwierig sie auch war, den Gang der Ereignisse
nicht mehr ändern. Um diese Zeit scheint AI. die Zügel etwas straffer
angezogen und die Würde seiner neuen Stellung als Nachfolger der
asiatischen Großkönige stärker betont zu haben. Eine Spur davon
findet sich sogar in dem entlegenen Delphi: es kann kein Zufall sein.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 281
flaß bis zur Herbstpylaia 332 in den Hierammamonenlisten die make
donisclien (resandlen mit der Bezeichnung- rap' A>.£;avopo'j ei neeführ
werden, während zuerst in der Frühjahrspylaia 329 — Archon Clia-
rixenos 330/29 v^l. Pomtow, Delph. Chronologie (S.-A. ans Paulj^-
Wissowa, Realenzykl.) S. IIG — ja vielleicht schon ein Jahr früher
der Name mit dem Titel uapa ßac7t?i(oc 'AXe^avopo'j erscheint. Dabei
aber stieß der König auf den entschiedenen Widerstand seiner makedo-
nisclien TJmcrebnng-, und deren Mißstimmung- entlud sich in einer Reihe von
Katastrophen, deren letzte, die Ermordung: des Kleitos, von Schubert
in einem besonderen Aufsatz behandelt ist. In der Überlieferung, wie
sie bei Plut. AI. 50 — 52 vorliegt, unterscheidet Seh. zunächst zwei
Quellen, deren eine durch das Erscheinen des Wahrsagers Kleomantis.
die andere durch das des Aristandros charakterisiert wird: diese läßt
sich mit guten Gründen auf Kallisthenes zurückführen. Ein zweiter
Gewährsmann ist Chares, der hauptsächlich an der Vorliebe für Kalli-
sthenes und der Parteilichkeit gegen Anaxarchos erkannt wird, seine
Spuren linden sich auch bei Justin und Arrian. Die Ausmalung der
ganzen Szene hat sich sodann Duris angelegen sein lassen, von dem
die Euripidesverse, die hier ganz unsinnigen Alarmsignale, die schwarzen
Gewänder stammen, und endlich auch Kleitarch, der Hauptgewährsmann
für Justin und Curtius: bei ihm ist Alexander stärker in den Mittel-
punkt geschoben, das Motiv geändert und endlich die Reue Alexanders
mit lebhaften Farben ausgestattet. Daneben liegen zwei makedonische
Berichte bei Arrian vor, Ptolemaios und Aristobulos, die den eigent-
lichen Grund nicht angeben und nur Kleitos die Hauptschuld beimessen.
Dies zeigt besonders die Erzählung- des Ptolemaios, die erkennbar durch
die Vorliebe für ägyptische Wahrsager bei Curt. IV, 10, 1 — 7 erhalten
ist, allerdings stark mit kleitarchischen Bruchstücken untermischt; eine
einwandsfreie Scheidung der Bestandteile scheint mir unmöglich. Da-
nach ergibt sich für Seh. der Schluß, dem man beistimmen kann: den
Anlaß zum Streit g-aben, wie allgemein berichtet wird, Spottlieder auf
die altmakedouischen Feldherren, denen A. Beifall zollte; abweichend
davon erzählte nur Kallisthenes, daß Kleitos sich über Alexanders
Gleichstellung mit den Dioskuren ereifert habe. Allein mit Recht hebt
Seh. hervor, daß Kallisthenes als Hofhistoriograph weder den wirklichen
Anlaß noch die AI. im höchsten Grade verletzenden Äußerungen des Kleitos
aufzeichnen konnte: es blieb ihm also nichts anderes übri?, als ein neues
Motiv zu erfinden, und dabei kam er auf die ihm persönlich höchst anstößige
Tatsache, daß AI. eine Gleichstellung mit den Göttern keineswegs übel-
nahm. Für den Verlauf des Streites ist dann Ptolemaios' Bericht maß-
gebend, der selber dabei tätig war, und Kleitos' unsinniges Verhalten dient
allerdings dazu, Alexanders Schuld in milderem Licht erscheinen zu lassen.
282 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) '
Der indische Feldzug ist die letzte große Unternehmung des
Königs, und an ihn hat besonders die Auffassung angeknüpft, die in
Alexander einen ins Ungemessene strebenden Eroberer und Weltherrscher
erblickt, dem diesmal durch die Weigerung seines Heeres ein energisches
Halt zugerufen wird. Allerdings kann dies aus der Tatsache des Feld-
zugs allein nicht geschlossen werden: Indien, d. h. das Pendschabland,
bildete tatsächlich unter Dareios I. und auch später noch eine Satrapie
des persischen Reiches, deren ßeiterkontingente auch bei Gaui,^amela
erwähnt werden, seine Eroberung würde also auch dann nicht aus dem
Rahmen von Alexanders Programm herausfallen, wenn dieses nur die
vollständige Eroberung des Perserreichs umfaßte. Für weitere Pläne
Alexanders wird dagegen hauptsächlich die Größe von Alexanders Heer
(120 000 Mann nach Arr. Ind. c. 19) geltend gemacht, insofern für die
Eroberung des Pendschab allein wesentlich geringere Streitkräfte genügt
haben würden (Kaerst S. 358 ff.). Gewiß ist kein Grund, mit Delbrück
S. 183 an der Höhe der angegebenen Zahl zu zweifeln, zumal man
sonst Arrian bei seinen Zahlenangaben über das makedonische Heer
Glauben beizumessen pflegt: daß die Angabe in den Indika steht, kann
ihre Glaubwürdigkeit nicht erschüttern, da Arrian auch hier Quellen
ersten Ranges wie Nearchos zu Gebote standen. Aber richtig ist aller-
dings die von Köchly-Rüstow bereits gemachte Bemerkung, daß „jetzt
die Avantgarde des Heeres die Schlachten schlägt", und dies führt
darauf, daß AI. den Asiaten, durch deren Anwesenheit die großen
Ziiferu sich erklären, eine ähnliche Rolle zugedacht hat wie den Helleneu
im Perserkrieg. Es kam ihm hier im wesentlichen darauf an, beide
Heeresteile, Makedouen und Asiaten, nicht bloß auf dem Exerzierplatz,
sondern durch die gemeinsamen Gefahren und Erfolge eines Feldzugs
zu verschmelzen, wobei er allerdings zunächst in der Feldschlacht nur
einzelne ausgewählte asiatische Truppen verwandte. Von dieser Seite
her betrachtet, gliedert sich also der indische Feldzug in die Reihe der
]\Jaßregeln ein, durch die AI. Makedonen und Perser einander näher zu
bringen suchte, und insofern kann die große Heereszahl nicht gut be-
nutzt werden, um daraus einen Schluß auf weitgehende Pläne Alexanders
zu ziehen.
Andererseits aber kann man auch nicht sagen, Alexander liabe
von vornherein nichts anderes beabsichtigt als die Eroberung des
Fünfstromlandes. Der Bau der Flotte auf dem Hydaspes ist, wie
Kaerst S. 365 A. richtig gegen Niese (Histor. Ztschr. 1897) ausführt,
noch lange kein Beweis dafür, daß AI. schon beim Einmarsch in Indien
die Rückkehr auf dem Indes in Betracht gezogen hat, und ebensowenig
darf man die Beschränkung des damaligen geographischen Gesichtskreises
heranziehen, um daraus etwas über AI. letzte Ziele zu entnehmen: das
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 283
ist ja gerade das Großartige au diesen späteren Unternehmungen
Alexanders, daß sie niclit bloß die Eroberung, sondern auch die Ent-
deckung und Erschließung neuer Länder bezweckeu. Vollends aber
den Widerstand der Soldaten als rhetorische Ausschmückung hinzu-
stellen und den Konflikt in Alexanders eigene Brust zu verlegen
(Koepp S. 60), ist rein unmöglich; die Tatsache der Weigening steht
doch durch Arrian fest und ihre Leugnung würde für die Glaubwürdig-
keit Arrians sehr schlimme Folgen haben. Daß allerdings im Detail
Ausschmückungen vorliegen, ist sicher und insbesondere scheint auch
mir die AI. in den Mund gelegte Rede arrianisches Erzeugnis zu sein, das
historisch für Alexanders Absichten nicht zu verwerten ist. Allein der
Anlaß, die Weigerung der Soldaten, bleibt doch bestehen und vor allem,
warum sollte sich denn gerade am Hyphasis der Kampf in Alexanders
Brust erhoben haben? Ein besonders schweies Hindernis des Weiter-
rnarsches lag nicht vor; die Bedeutung der Wüste Tharr als Schranke
zwischen dem Indus und Gangesgebiet ist von Niese recht erheblich
übertrieben : tatsächlich hat sie bei keiner Invasion Indiens vom Kabul-
paß her ein ernsthaftes Hindernis gebildet, zumal sie gar nicht bis
unmittelbar aus Gebirge reicht. So kommt man endlich zu dem Schluß,
daß A. als erstes Ziel seines Feldzugs die Sicherung des Fünfstrom-
landes betrachtet hat, daß er aber dabei auch einen weiteren Vormarsch
ins Auge faßte, falls die Umstände es verlangten und erlaubten. Der-
artige Umstände müssen tatsächlich eingetreten sein, allein der Weiter-
marsch scheiterte an dem Widerstände der Soldaten. Was AI. weiter
bezweckte und wie weit er gehen wollte, läßt sich heute nicht mehr
feststellen.
Eine einzige Feldschlacht von großer Bedeutung enthält die Ex-
pedition: den Kampf gegen Porös, den sowohl Delbrück 183 ff. wie
auch Schubert, dieser in einem besonderen Aufsatz, behandelt haben.
Auch hier geht Seh. zunächst auf eine möglichst scharfe Scheidung der
Quellen aus und beginnt mit der Untersuchung von Arrian 5, 9, 3, wo
dieser die Mittel angibt, durch welche Alexander Porös' Wachsamkeit
zu täuschen sucht. Da die beiden angegebenen Mittel einen Wider-
spruch untereinander enthalten, so entstammen sie verschiedenen Quellen,
als die Seh. Aristobulos und Ptolemaios erkennt; beide sind in Arrians
Bericht zusammengearbeitet. Einen dritten Bericht gibt Curt. 8, 13,
20 — 21; in ihm gelingt die Überlistung dadurch, daß der Alexander
sehr ähnliche Attalos, mit den königlichen Insignien bekleidet, im Lager
zurückbleibt, während Alexander heimlich ausmarschiert und den Über-
gang bewerkstelligt, eine echte Verkleidungsgeschichte im Stil des Duris,
auf den denn auch wohl Curtius' Schilderung zurückgeht. Endlich der
Bericht des Plutarch, der angeblich auf einem Briefe Alexanders selbst
284 Jahresbericht über griechische Geschichte. fLenschau.')
beruht: sowohl Schubert wie Bauer (Festschrift für M. Büdinger 1898)
erklären den Brief für ein späteres Machwerk, das aber auf gntea
Quellen (bes. Ptölemaios) iberuht; eine Ansicht, die jedenfalls mehr für
sich hat als Delbrücks Annahme; man habe es hier mit einem zwar
niclrt von Alexander selbst, aber aus seiner Umgebung herrührenden
Bulletin zu tun (Delbrück S. 189). Nun aber finden sich in dem
Arrianischen Schlachtbericht mehrfach Berührungen mit den andern
Versionen, insbesondere mit der kleitarchischen, die bei Diodor vorliegt.
Diese erklärt Seh. dadurch, daß er annimmt, Arrian habe, ohne es
ausdrücklich anzudeuten, in seineu hauptsächlich auf Ptölemaios be-
ruhenden Bericht Stücke der Kleitarchischen Version hineingearbeitet;
und er hält es deshalb für die erste Pflicht der Kritik, Ptölemaios'
Bericht möglichst rein wiederherzustellen, indem man sozusagen Kleitarch
(Diodor) von Arrians Darstellung abzieht. Das ist nun in der Praxis
nicht so einfach, wie es aussieht; es scheint mir aber auch an sich be-
denklich, da doch auch Kleitarch Ptölemaios und Aristobul benutzt
und aus ihnen jene übereinstimmenden Züge entlehnt haben kann.
Man läuft also Gefahr, bei einem solchen Subtraktionsexempel , wie es
Seh. vorschlägt, auch echte Züge aus dem Schlachtbild des Ptölemaios
zu tilgen. Obwohl daher die Möglichkeit der Versetzung mit ander-
weitigen Zutaten zugegeben werden muß, so scheint es doch richtiger,
den Gesamtbericht des Arrian, wie er nun einmal ist, der Rekon-
struktion zugrunde zu legen.
Das hat Delbrück getan, allerdings mit Zuhilfenahme jenes an-
geblichen Bulletins aus AI. Umgebung; was denn freilich den Erfolg
hat, daß er gerade in den wesentlichsten Punkten von Arrian abweicht.
Zunächst kommandiert bei Delbrück Alexander den linken, Koinos den
rechten makedonischen Flügel, während Arrian die Sache gerade um-
gekehrt darstellt. Allein hier unterliegt Arrian nach Delbrück bereit.5
einem Mißverständnis, das er aus den Worten des Bulletins cpoßY)f>£k
üE xa dyjpia xal xo ttX^Hqc xöiv TroX£|xuüv aOxo; [xlv evjsraa! xaxa Oaxspov
xepac, Koivov ok xw Ö£^uo r.poa'^j'x'kEh zu erklären sucht. Indem D. richtig
betont (S. 19B ff.), daß in den Worten (poßTjOeW xxs, der Grund für die
Anordnungen Alexanders gegeben sei, folgert er, daß in der Verteilung
der Flügel etwas Besonderes liegen müsse, und das könne eben nur
darin bestehen, daß abweichend von dem gewöhnlichen Brauch AI. den
linken, Koinos den rechten Flügel kommandiert habe; es sei also zu
übersetzen: „er selber habe aus Furcht usw. den einen (d. h. den
feindlichen rechten) Flügel angegriffen, Koinos dagegen sei mit dem
(makedonischen) rechten Flügel vorgegangen." Das ist sprachlich un-
möglich, die Gegenüberstellung von ffaxcpov und ööEtov hat nur dann
einen Sinn, wenn beide im gleichen Verstände, nämlich von den feind-
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 285
liehen Flügeln, gebraucht werden, auch verlangen evaeijai und -pojßaXciv
gleichmäßig die Angabe des Zieles, gegen das sich der Angrift' richtet.
Also ist zu übersetzen: „Koinos dagegen sei gegen den rechten indischen
Flügel vorgegangen" und die Anordnung der Flügel ist hier dieselbe
wie bei Arrian. Die Worte (fo';ir^x)t\; y.xi sollen nicht etwa eine be-
sondere, abweichende Anordnung der Flügel begründen, sondern nur
das Motiv angeben, warum AI. auf den Flügeln und nicht im Zentrum
angreift, und endlich der sachliche Grund, den D. noch für die Ver-
tauschuug des Kommandos anführt, (S. 193), wird sich weiterhin als nicht
stichhaltig erweisen. ISo viel über die Anordnung; auch den Verlauf
der Schlacht stellt sich D. anders vor, als bei Arrian angegeben ist.
Während bei diesem der Kampf nur auf dem linken Flügel entbrennt,
wirft sich die makedonische Kavallerie bei Delbrück auf beide Flügel
und drängt die hier befindliche indische Reiterei auf das Fußvolk
zurück, das nun, in der Flanke und im Rücken von der makedonischen
Kavallerie, in der Front von der Phalanx bedrängt, dem allgemeinen
Augriff erliegt. Gegen diese Darstellung ist ein sachliches Bedenken
zu erheben. Nach Arrian wird die Reiterei der Inder auf die Elefanten
zurückgedrängt, diese aber standen in der Front, nicht in den Flanken
der indischen Phalanx, auf die doch die indischen Reiter bei D.s Ansicht
zurückgeworfen sein müßten. D. fühlt das selbst und meint: die
Elefanten hätten wohl z. T. kehrt gemacht und wären durch die In-
fanterie hindurchgegangen, um den Makedoniern zu begegnen (S. 187),
ein xAuskunf tsmittel , das man mit Stillschweigen übergehen könnte,
wenn es nicht eben Delbrück wäre, der es gebraucht.
Gerade in diesem Punkt aber liegt m. E. der Schlüssel zum
Verständnis der Schlachtbeschreibung Arrians: die Flucht der indischen
Reiterei ging auf die Elefanten zu, diese standen in der Front, also
hat der Reiterkampf vor der Front, zwischen beiden Heeren stattge-
funden und der Gang der Schlacht läßt sich so rekonstruieren. Porös
war zuerst am Platz, seine Aufstellung war schon ziemlich weit vor-
geschritten, als Alexanders Fußvolk atemlos herankam. Er gönnte ihm
Zeit, sich zu erholen, und deckte es so lange mit der Reiterei, natürlich
wird er es in achtungsvoller Entfernung von den ludern aufgestellt
haben, so daß Porös sich nicht sofort mit den Elefanten darauf werfen
konnte. Der Zwischenraum zwischen beiden Heeren war also ziemlich
groß. Dann ging AI. zum Angriff vor: er schickte Koinos mit seinen
Reitern, vielleicht hinter der eigenen Phalanx herum auf den linken
Flügel und warf sich schräg rechts vorwärts, da die indische Front
bedeutend ausgedehnter war, auf den linken indischen Flügel, der ihm
entgegenritt, Arr. 5, 17, 1. In diesem Augenblick kam vom rechten
indischen Flügel her die dort postierte Reiterei den Ihrigen zu Hilfe
286 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
(TzavToöev ^uvaXi'sav-s? An*. 5, 17, 1 vgl. mit 15, 7) und warf sich auf
Alexanders linke Flanke, ward aber selber jetzt durch Koinos vom
linken makedonischen Flügel her in der Flanke gefaßt Nach hartem
Kampf wird die ßeiterei der Indier auf die Elefanten zurückgeworfen,
allein ihre Vernichtung ist unmöglich, da die makedonischen Pferde scheuen.
Jetzt führt AI. leichtbewaffnetes Fußvolk, das vor der Phalanx stand —
dies hat Schubert S. 556 mit glücklichem Scharfblick aus dem Namen
Taurons erschlossen — gegen die Elefanten heran (Arr. c 17, 3); es
gelingt, die Tiere wild zu machen. Inzwischen wirft sich AI. mit der
gesammelten Pieiterei auf die Flanken des indischen Fußvolks, und da
somit der Raum zwischen den Fronten frei wird, befiehlt er endlich
den Angriff der Phalanx (Arr. 5, 17, 7). So von allen Seiten bedrängt,
erliegt das Fußvolk und sucht endlich zu flüchten, wo es nur eine
Öffnung in dem Ring der andrängenden Feinde findet. — Wesentlich
anders stellt Bury S. 804 f. die Schlacht dar, er postiert Alexanders
Reiterei, wie es scheint auf Polyän basierend, in zwei Abteilungen auf
ilen linken Flügel, entfernt sich aber damit ebenfalls fast völlig vou
der im wesentlichen als richtig erkannten Darstellung Arrians.
Noch ein Punkt ist zu erledigen , die Mitwirkung des Krateros,
der nach dem Siege Alexanders über den Fluß geht und unter den
Fliehenden ein großes Blutbad anrichtet. Nun hat nach der gewöhn-
lichen Annahme A. den Fluß 150 Stadien oberhalb des Lagers über-
schritten, alsdann schlugen die Indier mit der Front nach Norden, ihr
linker Flügel stand am Flusse und der Angriff AI. würde sie von diesem
abgedrängt haben. Dann wäre die Flucht landeinwärts gegangen und
schwerlich konnte sich Krateros, der doch erst über den Fluß mußte,
noch stark an der Verfolgung beteiligen. Mit Recht gibt daher Schubert
der Ansicht York v. Wartenburgs den Vorzug, der die IJbergangsstelle
stromabwärts sucht. Alsdann war die indische Front nach Süden ge-
richtet, der linke Flügel stand landeinwärts und ihn wählte Alexander
als Angriffspunkt, da ein Erfolg an dieser Stelle die Indier gegen den
Strom und dem heranrückenden Krateros gerade in die Arme treiben
mußte. Tatsächlich sind denn auch die Verluste der Inder sehr schwer
gewesen.
Mit Alexanders Tod schließen sowohl Burys Griechische Ge-
schichte, wie auch der erste Band von Kaersts Geschichte des Hellenis-
mus ab und so ist hier der Ort, ein zusammenfassendes Urteil über
diese beiden Werke abzugeben. Bury gibt in seinem Buche eine mit
unleugbarem Geschick geschriebene Darstellung der gesamten Ent-
wickelung, die in erster Linie für den Studenten, im weiteren Sinne
auch auf das größere Publikum berechnet ist: für den erstgenannten
Zweck sind die kurzen Quellenangaben und Literaturnachweise am Schluß
Jahresbericht über griecbische Geschichte. (Lenschau.) 2i^7
besouders geeignet. lu den ftlteven Partien bat der Verfasser m. E.
der griechischen Sageugeschichte zu viel Wert beigelegt; es ist sehr
fraglich, ob alles das, was B. daraus anführt, wirklich zur Rekon-
struktion gebraucht werden kann. Die späteren Partien, etwa vom
6. Jahrhundert ab, geben dagegen ein klares Bild, dem der Verf. aus
eigenen Forschungen manche Züge hinzugefügt hat , und zeichnen sich
duich eiu tieflfendes Urteil in politischen und wirtschaftlichen Dingen,
weniger in kriegsgeschichtlichen Fragen aus. Der AVert des Buches
wird durch eine große Anzahl anspruchsloser Kartenskizzen und Münz-
bilder erhöht, während die nach Photographien reproduzierten Ansichten
aus Griechenland besonders in technischer Hinsicht einiges zu wünsclien
übriglassen. Im allgemeinen ist das Buch eine gute Zusammenfassung
der neueren Forschungen über die Griechische Geschichte, die auch
infolge ihres billigen Preises weiter Verbreitung in ihrem Heimatlande
sicher sein kann.
Während Burys Werk die Gesamtentwickelung der griechischen
Geschichte zum Gegenstand hat, bezieht sich Kaersts Buch nur auf
einen verhältuisniä(.)ig geringen Zeitraum, etwa die Jahre 360 — 323:
hier aber bezeichnet es einen wesentlichen Fortschritt über den bis-
hei-igen Stand der Forschung hinaus. Es ist jetzt wohl allgemein zu-
gegeben, daß die letzte Behandlung der Geschichte Alexanders duicli
Niese (1893) der Persönlichkeit des großen Königs nicht gerecht wird:
in dem Bestreben, nur das tatsächlich Verbürgte — und als tatsächlich
verbürgt gilt Niese eigentlich nur das, was die erste Quellenklasse
(.Arrian) überliefert — zugrunde zu legen, ist ihm das wahrhaft Geniale
und geradezu Dämonische in Alexanders Natur völlig entgangen. Hier
tritt Kaersts Darstellung ein, die zum Teil eben auf der zweiten Quellen-
klasse beruht, in der K. mit Recht eine wertvolle Ergänzung Arrians
erblickt: nur ist es ihm hier und da passiert, daß er in denselben
Fehler verfällt, 'den diese Quellenklasse so oft macht, indem sie, schwachen
Dramatikern des vorigen Jahrhunderts gleich, die Pläne und Gedanken
des volieutwickelten Mannes bereits in seine Jugend hineinverlegt und
so ein kaum zu ertragendes Zerrbild schafft. Als Beispiel mag der
Gedanke der Weltherrschaft dienen. So sehr ich glaube, daß er in
den letzten Jahren klar und deutlich vor Alexandeis Seele stand, so
wenig kann ich mich davon überzeugen, daß er den König bereits er-
füllte, als er an der Spitze seiner Scharen den Hellespont überschritt.
Auch das größte Genie ist nicht von Anfang an fertig, sondern ent-
faltet erst nach und nach allseitig seine Kräfte und im Hinblick hierauf
scheint mir Kaersts Darstellung eine Berichtigung zu erfordern. Ein
zweiter wesentlicher Vorzug des Buches aber liegt m, E. darin, daß
hier zum erstenmal und in umfassendster Weise gezeigt wird, wie die
288 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Entwickelung der politischen Ideen in Griechenland vor Alexander das
althellenische Ideal des geschlossenen Stadtstaats sprengt und zu jener
Erweiterung hindrängt, die von Bury mit dem glücklichen Ausdruck
The Expansion of Greece bezeichnet ist. Der Begriif der Oikumene
dämmert herauf und Alexander hat ihm zum erstenmal die Wirklichkeit
verliehen: seit jener Zeit ist er nicht wieder untergegangen, sondern
ein Gemeingut der wissenschaftlichen Bildung aller Zeiten geblieben,
wie Kaerst in jener Antrittsvorlesung sehr schön ausgeführt hat. Die
Darlegung des geistigen Zusammenhangs zwischen dem ausgehenden
Griechentum und der Periode des Hellenismus ist es, für welche die
Geschichtswissenschaft vor allem dem Kaerstschen Buche verpflichtet ist.
Sechstes Kapitel.
Zur griechischen Wirtschaftsgeschichte.
Ed. Meyer, Forschungen II.
H. Francotte, Tindustrie dans la Grece ancienne vol. 1. 2
(Bibliotheque de la faculte de Philosophie et de lettres de Tuni-
versite de Liege fasc. 7. 8.) Bruxelles 1900/01.
P. Guiraud, la main d'oeu vre industrielle dans 1' ancienne Grece
(Bibliotheque de la fac. de lettres de Tuniversite de Paris, vol. XII).
Paris 1900.
Rob. Poehlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und
Sozialismus. Bd. II. München 1901.
Jul. Bei och, Antike und moderne Großstädte in Wolfs Zeitschr.
f. Sozialwisscnschaft I, 413 ff. 500 ff. 1898.
— Die Großindustrie im Altertum ibid. 1899.
— Die Bevölkerung im Altertum Wolfs Zeitschr. II, 600 — 621.
1899.
— Die Handelsbewegung im Altertum in Conrads Jahrb. für
Volkswirtschaft. Dritte Folge, Bd. 18, 8. 626 ff.
M. Weber, Artikel über Griechische Agrargeschichte in Conrads
Handwörterbuch der Staatswissenschatt Bd. 1.
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 289
Ed. Meyer, Art. Bevölkerung d. Altertums in Conrads Handw.
der Staatswiss. Bd. 2, 674 ft. Nachtrag. S. 1216.
— Griechische Finanzen ebd. IlT, 936—948.
— Orientalisches und Griechisches Münzwesen ebda. V, 906—914.
Wenngleich im Verlauf der vorhergehenden Darstellung bereits
hier und da wirtschaftliche Probleme berührt worden sind, so empfiehlt
es sich doch, hier noch einmal die einschlägigen Forschungen, soweit
sie der Berichtsperiode angehören, zasammenzufassen, zumal unter ihnen
einige Werke sind, die sich mit Gesamterscheinungen des wirtschaft-
lichen Lebens im griechischen Altertum befassen und schon darum eine
eingehendere Besprechung verdienen. Und zwar wird von der Be-
völkerungsforschung auszugehen sein, die bei unserer lückenhaften
Kenntnis der ökonomischen Tatsachen des Altertums mehr als sonst die
Grundlage bilden muß, da sie allein imstande ist, den richtigen Maßstab
für die einzelnen wirtschaftlichen Erscheinungen an die Hand zu geben.
Es ist das Verdienst Belochs, mit Benutzung sämtlicher ein-
schlägigen Stellen und der Gesetze, die die moderne Bevölkerungs-
forschung an die Hand gibt, auf diesem Gebiet die Grundlagen ge-
schaffen zu haben, deren Haltbarkeit sich mehr und mehr herausstellt.
Seine Ergebnisse, die er im übrigen als Minimalzahlen betrachtet wissen
will, haben allmälilich allgemeine Anerkennung gefunden: sie werden
daher nicht bloß von Delbrück im ersten Band der Geschichte der
Kriegskunst, sondern auch von Meyer in dem Artikel Griechische Be-
völkerung durchweg zugrunde gelegt. Allein auf Grund späterer Er-
wägungen ist gerade Ed. Meyer in einem der wichtigsten Punkte, in
der Berechnung der Volkszahl Attikas im Beginn des peloponnesischen
Krieges, zu wesentlich abweichenden Ergebnissen gelangt, die er zu-
nächst im Nachtrag zum 3. Bande des Handwörterbuchs kurz skizzierte,
um sie sodann im 2. Bande der Forschungen ausführlicher zu begründen.
M. geht von der bekannten Stelle Thuk. 2, 13 aus, wo Perikles die
Stärke der athenischen Feldarmee auf 13 000 Mann angibt; dazu sind
nach ihm als Garnison noch aus den ältesten und jüngsten Jahrgängen
sowie aus den Metöken 16 000 Hopliten verfügbar. Zieht man die fest-
stehende Zahl von 3000 Metökenhopliten ab, so haben die ältesten und
jüngsten Jahrgänge für sich allein 13 000 Hopliten geliefert, d. h. eben-
soviel wie sämtliche übrigen Jahrgänge, die in die Feldarmee einge-
stellt waren. Da> das unmöglich erscheint, so hat man eine Änderung
für nötig gehalten, und zwar hat zuerst Beloch die Schreibung 6000
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. CXXII. (1904. III.) U>
290 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
vorgeschlagen, so daß also nach Abzug der 3000 Metöken die vswTarot
und Tipsaß'j-aTot 3000 Hopliten geliefert hätten. Allein abgesehen davon,
daß schon Ephoros bei Diod. 12, 40 die thukydideiscben Zahlen so ge-
lesen haben muß, v^le sie uns überliefert sind, ist es vollkommen un-
möglich, wie Meyer S. 154 treifend ausführt, daß 6000 Mann auch nur
im ertferntesten zur Verteidigung einer solchen Riesenfestung ausgereicht
hätten, wie sie das damalige Athen mit dem Peiraieus bildete. Viel-
mehr läßt sich an den Zahlen nicht rütteln, und genauer betrachtet
sind sie auch unanstößig, da Thnk. ja eine Bestimmung der Alters-
grenze nicht gibt und nichts uns an der Annahme hindert, daß man
mit der Bezeichnung TrpscrßuTaTot ziemlich tief hinabgegangen ist. Dem-
nach stellt sich M. die Sache so vor, daß aus der Gesamtzahl der
Wehrpflichtigen zunächst die Epheben, d. h. die Jahrgänge von 18 — 20,
sodann die 13 000 Hopliten der Feldarmee sowie 2500 Mann Besatzungen
im Bundesgebiet ausgehoben seien, wobei die Jahrgänge von 21 an so
weit wie nötig herangezogen wurden. Aus dem Rest der körperlich
minder Tauglichen und den älteren Jahrgängen, sei sodann die Be-
lagerungsarroee auf 13 000 -f 3000 Metökenhopliten ergänzt. — Indem
M. ferner die übrigen noch verfügbaren Angaben heranzieht, kommt
er endlich auf eine Anzahl von rund 35 500 für die erwachsenen männ-
lichen Angehörigen der drei oberen Klassen. Daß damals schon Theten
als Hopliten dienten, stellt er wohl mit Recht in Abrede, vielmehr hat
erst die wachsende Not des Krieges dazu gezwungen; anfangs taten
sie nur als Ruderknechte Dienst auf der Flotte und nach den in Aktion
tretenden Schiffszahlen berechnet M. ihre Zahl auf etwa 20—25 000
Mann. Dazu stimmt die Angabe des Philochoros Schol. Ar. vesp. 728
= Plut. Per. 37, nach der 445/4 bei einer Getreideverteilung 19 000
Bürger gezählt wurden; da die Zahl als Gesamtzahl zu gering ist, so
nimmt M. mit Beloch sie als die Zahl der Theten, der wirklichen
Empfänger, wodurch eben das auf anderem Wege gewonnene Ergebnis
bestätigt wird. Aus der Gesamtzahl der Bürger über 18 Jahre
(55 500) zuzüglich von etwa 14 000 Metöken, berechnet M. sodann nach
dem Verhältnis 1 : 3, welches dem seiner ökonomischen Struktur nach
Attika am nächsten stehenden Frankreich entnommen ist (Forsch. II,
162 f.), die gesamte freie Bevölkerung auf rund 170 000 Bürger und
42 000 Metöken also rund 210 000 Seelen, während Beloch sie in der
Griech. Gesch. 1,399 noch auf 100 000 Bürger und 30 000 Metöken
ansetzt. Übrigens hält der zuletzt genannte Forscher auch jetzt noch
daran fest, daß man mit der Zahl der erwachsenen Bürger keinesfalls
über 40 000 hinausgehen dürfe und daß die Zahlen des Thukydides einen
Fehler enthielten, wobei er jedoch die früher von ihm vorgeschlagene
Änderung von 16 000 in 6000 aufgegeben zu haben scheint.
Jahresbericht über griechische Geschiebte. (Lenschau.) 291
Bliebe noch die Zahl der Sklaven zu bestimmen, was indessen un-
j»eraein schwierig ist. Allgemein werden die ungeheuren Angaben des
Ath. VI, 272 als irreführend verworfen; nur Guiraud sucht sie zu
halten (p. 103 f.), erklärt aber eine Lösung des Problems für unmög-
lich. Immerhin hat M. mit Verwertung aller zu Gebote stehenden An-
gaben die Anzahl der Sklaven in Attika um 431 auf rund 150 000 be-
ziffert (Forsch. II. 185 ff.), diesmal in völliger Übereinstimmung mit
Beloch, der etwa zu dem gleichen Ergebnis kommt. Sonach würde
also als Gesamtbevölkerungszahl Attikas 360 000 Menschen anzusetzen
sein, wovon reichlich die Hälfte ihren Wohnsitz in der Stadt hatte;
damit stimmt im ganzen das überein, was wir von der Eigenproduktion
und der Einfuhr von Getreide wissen, obwohl die Schlüsse daraus,
worauf M. mit Recht aufmerksam macht, infolge der Lückenhaftigkeit
des Materials nur als sehr unsicher bezeichnet werden können. Dennoch
wird im ganzen das Bild, das Meyer von der Bevölkerungsgeschichte
Attikas entwirft (S. 179), wohl zutieffen: insbesondere verdient die Be-
rechnung der freien erwachsenen Bevölkerung von 431 auf rund 55 000
entschieden den Vorzug vor Belochs niedrigeren Zahlen, insofern sie
die gewaltige Kraftentfaltung des athenischen Staats und seine zähe
Ausdauer trotz der ungeheuren Verluste durch die Pest und die sizi-
lische Niederlage sehr viel besser erklärt.
Während so in den Bevölkerungsverhältnissen des Altertums die
Forschung allmählich an festem Boden gewinnt, liegt die Darstellung
der einzelneu Zweige antiker Volkswirtschaft noch sehr im argen.
Insbesondere vermißt man eine solche für die antike Landwirtschaft:
einen kurzen tiberblick gibt MaxWebers Artikel über Griechische Agrar-
geschichte und das sechste Kapitel im zweiten Bande von Pöhlmanns Ge-
schichte des antiken Sozialismus. Mit Recht hebt P. hervor, wie in den
Zeiten der ausgehenden Adelsherrschaft überall die Tendenz zur Ver-
nichtung der kleinen Grundbesitzer und zurLatifundienwirtschaft vorhanden
war, wie aber die soziale Gesetzgebung, vorzüglich Solon und die ein-
sichtige Tyrannis (Periandros, Peisistratos) hier energisch hemmend ein-
griff (S. 143 ff.). Vielmehr besaßen Attika und mit ihm manche andere
griechische Staaten noch im V. Jahrhundert einen kraftvollen Bauern-
stand, der erst durch die rund ein Jahrhundert dauernden Kriege um
die Hegemonie mit ihrer furchtbaren Verwüstung der Bodenkultur ver-
nichtet ward: treffend vergleicht Weber die Wirkung des peloponne-
sischen Krieges auf die griechischen Agrarverhältnisse mit der des
hannibalischen Krieges auf den italischen Bauernstand. Später ver-
schwindet der freie Bauer mehr und mehr, und im Attika des 4. Jahr-
hunderts ist der Teilpächter an seine Stelle getreten (Poehlmann S. 161 ff'.);
wo der Bauer sich hält, arbeitet er im wesentlichen unter dem Druck
19*
292 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
starker Hypothekarverschuldung. Dennoch muß damit ein gewisser
Stillstand eingetreten sein; zu einer wirklichen Latifnndieuwirtschaft
ist es, wie Weber hervorhebt, nicht gekommen. — Interessant sind
übrigens Meyers Bemerkungen über die Bodenkultur Attikas (189 ff.),
in denen er Böckhs Aufstellungen im Staatshaushalt (I^ 108 ff.) als
im wesentlichen irrig erweist. An der Hand der modernen Statistik
weist er nach, daß höchstens 25 Prozent der Bodenfläche Attikas für
den Körnerbau in Betracht kommen und daß davon noch jährlich die
Hälfte in Brache lag, während Böckh noch Vii der Fläche als mit
Getreide bestanden annahm und nur wenig auf Brachfelder abgerechnet
wissen wollte. Demgemäß sind Böckhs Schätzungen des Bodenertrages
viel zu hoch: die eleusinischen Zehntenlistea ergeben etwa insgesamt
für das Ende des 4. Jahrhunderts eine Ernte von 400 000 Med. Ge-
treide, wozu noch nach Meyers Rechnung reichlich 200 000 Med. aus
dem Kleruchenland kommen. Nun besitzen wir außerdem noch
Demosthenes' allerdings auch keineswegs genaue Angabe in der Lep-
tinea (20, 31), wonach die Einfuhr im Jahre B55 mehr als 800 000 Med.
betragen haben muß. So mißlich es ist, die Zahlen in Beziehung zu
setzen, da wir weder über den Gesamtausfall der Ernte 355 noch über
die Einfuhr im Jahre der eleusinischen Zehntenlisten (329/8) etwas wissen,
so wurde doch die Gesamtmenge des vertügbaren Getreides — 1,4 Mill.
Med., wenn beide Zahlen zusammengenommen werden — für eine Bevölke-
rung von 250 000 Seelen ausreichen, und mehr hat Athen zur Zeit
des Demetrios von Phaleron auch sicher nicht gehabt.
Auch in betreff der Handelsbewegung im Altertum ist die For-
schung bis jetzt noch kaum zu den ersten Grundlagen gelangt; wie wäre es
sonst möglich, daß ein mit Recht so angesehener Nationalökonom wie
Bücher die mehr als wunderliche Ansicht äußern konnte, der antike
Veikehr habe sich auf seltene Produkte und gewerbliche Handelsartikel
von hohem Werte beschränkt und sei deswegen in keiner Weise mit
dem modernen Masseuverkehr zu vergleichen. Daß unsere Angaben
dieser Ansicht aufs bestimmteste widersprechen, hat Bei och in den
Conradschen Jahrbüchern (III. Folge 18, 626 ff.) kurz dargelegt.
Noch im Notjahr 401/0, wo Handel und Wandel aufs schwerste dar-
uiederlag, ergab die Verpachtung der Hafenzölle im Piräus 30 tal.,
was auf eine Handelsbewegnug von 11 Mill. M. schließen läßt, der
etwa 40 Mill. M. nach dem heutigen Geldwert ensprechen würden. In-
dessen schon im folgenden Jahr stieg die Pachtsumme auf 36 tal.,
woraus sich eine Handelsbcwegung im Werte von 48 Mill. M. nach
heutigem Geldwert ergibt; dabei ist aber zu beachten, daß diese Summe
die Ein- und Ausgänge in den kleineren attischen Häfen, insbesondere
dem sehr lebhaften Oropos, nicht mit umfaßt. Andererseits wissen wir,
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 293
daß Atheu 413 deu damals 1000 tal. betragenden Tribut durch eine
Er/oatr, ersetzte, wobei es besser zu fahren hoffte: es muß also die
damalige Handelsbewegung in den Häfen des attischen Reiches
20 000 tal. -- 110 Mill. M. (=400 Mill. M. nach heutigem Geldwert)
überstiegen haben. Dabei waren aber Athen, Samos, Cliios nicht mit
eingerechnet, da sie keinen Tribut zahlten: im ganzen muß also die
Handelsbewegung im attischen Reiche 5—600 Mill. M. betragen haben,
was auf den einzelnen berechnet auch nach heutigen Begriffen eine
.sehr erhebliche Handelstätigkeit bedeutet. Ganz zuletzt ist übrigens
von der Handelsgeschichte des Altertums von Speck der zweite Band
erschienen, der die Griechen nmfaßt: ich bedaure, ihn zu spät erhalten
zu haben, so daß er dem nächsten Bericht aufbehalten bleiben muß.
Allerdings erweckt die Kritik Poehlmanns (Hist. Zs. 90, 106 f. 1903)
über den wissenschaftlichen Wert des Werkes keine sehr günstige Vor-
stellung.
Dagegen sind über die griechische Industrie zwei ausführlichere
AVerke erschienen, die eine eingehende Besprechung erfordern, Guirauds
Main d'oeuvre industrielle dans la Grece ancienne und Francottes
Histoire de l'industrie dans la Grece antique, von denen das zweite
nicht bloß dem Umfange nach das entschieden bedeutendere ist. Trotz-
dem wird man der Tendenz des Verf. kaum beistimmen können, der
sich, in Übereinstimmung mit Büchers Ansichten, durchweg bemüht, die
Geringfügigkeit der griechischen Industrie darzutun, die nicht im ent-
ferntesten mit unserer jetzigen Großindustrie verglichen werden könne.
Den Beweis dafür findet er zunächst in der relativ sehr geringen
Handelsbewegung, die eine Exportindustrie überhaupt unmöglich gemacht
habe; wenn demnach die griechische Industrie im wesentlichen für den
Inlandbedarf aufgekommen sei, so verstände es sich von selbst, daß sie
überhaupt nur geringe Dimensionen gehabt habe. Das klingt sehr
scheinbar, dennoch gibt auch F. zu, daß einzelne Artikel wie z. B.
Getreide in großen Massen in Athen eingeführt ward; Bauholz für die
Trieren und andere Rohmaterialien dürften einen zweiten recht beträcht-
lichen Posten ausgemacht haben, und jahrelang muß im peloponnesischen
Kriege, als die Eigenproduktion Attikas gleich Null war, die Getreide-
zufuhr sicherlich 2 Mill. Med. beti-agen haben. Nun aber ist es be-
kanntlich ein Hauptsatz der Volkswirtschaft, daß auf die Dauer kein
Land importieren kann, ohne zu exportieren, und da fragt es sich doch,
womit deckte Athen denn den sehr bedeutenden Import? Sicherlich
zum Teil mit seiner blühenden Ölausfuhr, die aber gerade im pelo-
ponnesischen Krieg und noch lauge nachher, bis die verwüsteten
Pflanzungen wieder einen Ertrag gaben, auf ein Minimum gesunken
sein muß. Dagegen repräsentiert ein Teil der Einfuhr sicherlich die
294 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Zinsen auswärtig angelegter Kapitalien, so gut wie Thukydides werden
noch andere Athener auswärts Bergwerks- und andere Unternehmungen
betrieben haben; und ebenso mag ein Teil der Einfuhr als Äquivalent
für die Frachten angesehen werden, die die attische Eeederei an der
Beförderung der auswärtigen Handelsbewegiing verdiente. Allein diese
Posten zusammen reichten schw^erlich hin, auch nur die Hälfte der Ein-
fuhr zu decken, und da Länder doch eben nur in Waren, nicht in Geld
bezahlen können, so muß im letzten Grunde eben die attische Industrie
den Einfuhrüberschuß gedeckt haben, so daß sie also keineswegs bloß
für den Inlandabsatz, sondern auch für den Auslandmarkt gearbeitet
haben wird, über den sie durch die Seeherrschaft Athens verfügte. Nichts
ist charakteristischer, als daß in dem Augenblick, wo Athen die See-
geltung verliert, es auch wirtschaftlich zusammenbricht.
Einen zweiten Beweis tür die geringe Ausdehnung der Industrie
m Athen und danach in Griechenland überhaupt findet Fr. in der ge-
ringen Anzahl der unbemittelten Bevölkerung, aus der die Großindustrie
ihr Arbeitermaterial hätte entnehmen müssen. Es ist natürlich, daß F.
bei der Berechnung der Bevölkerung Attikas (1, 161 ff.) durchweg den
niedrigen Belochschen Ansätzen folgt und gelegentlich, in der Sklaven-
zahl, noch unter sie herabgeht. Sehr charakteristisch ist dabei die Be-
handlung der Thukydidesätelle: die Belagerungsarmee, 16 000 Hopliten,
läßt er sich aus 1150 vecuTatoi und 2750 r.pzj^/jxzpo'. — die Zahlen be-
ruhen auf Analogien der belgischen Statistik — sowie endlich aus
12 000 Metökeuhopliten zusammensetzen, so daß also die Athener die
Verteidigung ihrer Vaterstadt fast ausschließlich den Metöken anvertraut
hätten: eine Behauptung, die man nur auszusprechen braucht, um ihre
TJnwahrscheinlichkeit zu erkennen. Auch liegt kein Grund vor, die
Angaben des Perikles mit Fr. für übertrieben zu halten, seitdem M.
die Notwendigkeit einer so starken Besatzung dargetan hat. Endlich
schlägt Fr. auch die Sklavenzahl weit geringer an, als es Beloch und
Meyer getan haben, wobei er aus der Getreideproduktiou bzw. Einfuhr
auf die Stärke der Bevölkerung schließt, ohne freilich über die Un-
sicherheit seiner Berechnung sich Täuschungen hinzugeben: übrigens
ist der von ihm zugrunde gelegte Durchschnittsverbrauch von 7 Med.
Getreide pro Kopf und Jahr doch wohl zu hoch. Vor allem aber
scheint Fr. gar nicht damit zu rechnen, daß das Zusammenströmen der
ländlichen Bevölkerung im Beginne des peloiionnesischen Krieges der
Industrie einen mächtigen Impuls gegeben hat: wenn auch von den Land-
leuten viele zum Kriegsdienst gebraucht wurden, alle läudlichen Sklaven
und die zum Kriegsdienst minder tauglichen Freien müssen doch das
Heer der Arbeitswilligen vermehrt und der Industrie billige Arbeits-
kräfte genug zur Verfügung gestellt haben. Legt man die Meyerschen
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 295
Zahlen zugrunde, so ergibt sich immerhin eine aus unbemittelten Freien,
Metöken und Sklaven bestehende Bevölkerung von rund 200 bis
250 000 Seelen, auf der sich eine recht beachtenswerte Industrie auf-
bauen konnte. Allerdings gehörte zur freien bürgerlichen Bevölkerung
davon wohl kaum mehr an als ein Fünftel und darin wird man Franc, recht
geben, dal.l hauptsächlich in den Händen der Metöken und Sklaven die
Industrie lag. Ein weiteres Anzeichen für die verhältnismälüg unbe-
deutende Rolle, welche die Industrie in Athen spielte, sucht Fr. daraus
zu gewinnen, daß die Kapitalanlagen, die uns in den Gerichtsreden
am häufigsten begegnen, dem Landbesitz;, dem Ausleihen auf Kredit,
dem Handel sich zuwenden, während Geldaufwenduugen für industrielle
Unternehmungen seltener vorkommen. Selbst wenn das der Fall wäre,
so würde daraus ein bestimmter Schluß kaum zu ziehen sein, da unser
Material ja zufällig gerade in dieser Hinsicht lückenhaft sein kann
(1. 188 &.). Jedenfalls darf man die Stücke des Aristophanes, die sich
vorwiegend an ein ländliches Publikum richten, nicht dazu verwenden,
um aus ihueu darauf zu schließen, daß die attische freie Bevölkerung
damals noch größtenteils im Landbau beschäftigt gewesen sei.
Aristophanes" Partei war im wesentlichen die der kleinen Landleute,
die der Krieg um alles gebracht hatte; auf sie waren seine Stücke
vorwiegend berechnet und wenn daher die gewerbliche Bevölkerung in
ihnen schlecht wegkommt und ihrem Geschmack nur wenij; Rechnung
getragen wird, so beweist das noch niclit, daß sie überhaupt nur einen
geringen Teil der Bevölkerung ausmachte: auf wen stützte sich denn
die den Landleuten wesentlich ungünstige Kriegspolitik Athens während
des peloponnesischen Krieges? Vielmehr geht gerade daraus, daß diese
trotz des Widerstandes der ländlichen Bevölkerung so lange erfolgreich
aufrechterhalten werden konnte, doch wohl mit Sicherheit hervor, daß
die Landleute eine zwar beträchtliche Minderheit, aber doch eben die
Minderheit gebildet haben. — Allein Fr. verwendet das Zeugnis des
Aristophanes noch in einem andern Sinne, es dient ihm dazu, die
Minderwertigkeit der industriellen Beschäftigung in der öffentlichen
Meinung zu bekräftigen, die seiner Ansicht nach unbegreiflich wäre,
wenn die Industrie tatsächlich eine große Rolle in Athen gespielt habe.
"Wie aber liegen die Dinge denn heute? Sehen wir einmal von Amerika ab,
wo das demokratische Prinzip sich am stärksten geltend macht, ist
nicht in allen Ländern, in denen der Grundadel eine lebensfähige
Volksschicht ausmacht, hier und da eine derartige Minderbewertung des
in Handel und Industrie erworbenen Reichtums hervorgetreten? Aus-
drücke wie Schlotjunker und Grubenbarone (Xay.y.6-XouToi) hat es immer
gegeben, aber lassen sie auf einen niedrigen Stand der Industrie
schließen? Eher doch wohl das Gegenteil, und wenn es uns als ein
296 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Zeichen der starken Industrialisierung Großbritanniens und zum Teil
auch Deutschlands gilt , daß sich in diesen Landern sogar der Hoch-
adel an industriellen und kommerziellen Unternehmungen beteiligt, so
lassen sich seit Solons und Theognis' Tagen ähnliche Beispiele auch für
Griechenland nachweisen. Mißfällige Äußerungen über die Handels-
und gewerbliche Tätigkeit aus Piaton und Aristoteles kann man genug
anführen, allein es ist anerkannt, daß diese bei beiden einer persönlichen
Überzeugung entspringen, die mit dem allgemeinen Urteil ihrer Zeit
in starkem Widerspruch stand. Jedenfalls gibt das Kapitel bei Guiraud
(p. 37) ein sehr viel richtigeres Bild der öffentlichen Meinung über
die Beschäftigung mit der Industrie, als die entsprechenden Ausführungen
Francottes (1, 234 ff.).
Endlich noch eine letzte Überlegung, die Fr. für seine Ansicht
ins Feld führt: die freie Arbeit hat durchweg in Konkurrenz mit der
Sklaverei gestanden, wenn es nun dieser nicht möglich gewesen ist, jene
zu töten, so kann der Grund nur der gewesen sein, daß entweder die
Nachfrage sehr groß oder das Angebot sehr gering gewesen ist. Fr.
(1, 346) entscheidet sich natürlich für diese letzte Auffassung, da sie
mit seiner Ansicht übereinstimmt, wonach die Industrie eine ganz ge-
ringe Rolle spielte und nur sehr wenig freie Arbeiter beschäftigte.
Allein die Voraussetzungen stimmen doch nicht ganz; man erkennt
auch bei unserem lückenhaften Material noch ganz deutlich, wie die
Sklavenarbeit allmählich die Löhne auf einen immer tieferen Stand
hinabdrückte. Zur Bestimmung des Lohn verhältnisses zwischen beiden
Kategorien von industriellen Arbeitern besitzen wir eine Reihe inschrift-
licher Angaben, die, von Francotte 1, 309 und Guiraud p. 181 be-
handelt, im wesentlichen das gleiche Resultat ergeben haben. Danach
kann es als feststehend betrachtet werden, daß bei den Bauten ara
Erechtheion, die der athenische Staat wahrscheinlich 408/7 vornehmen
ließ, der durchschnittliche Tagelohu unterschiedslos für Sklaven und
freie Arbeiter 1 dr. pro Tag betrug, ein Ergebnis, dessen Verwertung
nur dadurch einigermaßen erschwert wird, daß es sich hier offenbar
um sogenannte Xotstandsarbeiten gehandelt hat. Ein Jahrhundert
später in den Baurechuuugen von Eleusis betrugen die an freie Arbeiter
gezahlten Löhne 1 V2 bis 2V2 dr. pro Tag, während bei den Skhiven
für Nahrung 3 ob. pro Tag angesetzt werden. Noch anders stellt sicii
um 280 das Verhältnis in Delos, hier werden für Ernährung des
Sklaven zunächst 2 ob. pro Tag — 120 dr. im Jahr gerechnet, während
der freie Arbeitei' zuerst in Naturalien bezahlt, später bei der Um-
wandlung in Geld mit 240 dr. pro Jahr =^ 4 ob. pro Tag entlohnt
wird. Daneben kommen höher bezahlte, weil offenbar höher qualifizierte
Arbeiter bis zu 2 dr. Tagelohn vor. Das alles scheint mir nun das
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 297
Gegenteil von Fr. Ansicht zu erweisen, der ein Herabdrücken der
Löhne für den freien Arbeiter bestreitet. Allerdings ist in Eleusis 329
der Unterschied in der Entlohnung der freien Arbeiter und der Sklaven
noch recht bedeutend, wobei es immerhin sehr zweifelhaft bleibt, ob
jene Lohnangaben von 1 ^'2 — 2 V'2 dr. nicht besondere hochbezahlte
Klassen von Arbeitern darstellen: fünfzig Jahre später in Delos ist
schon kaum mehr ein Unterschied vorhanden. Denn das dortige Ver-
hältnis der Kosten der Sklavenarbeit zu denen der Arbeit des freien
Tagelöhners ist ja nur scheinbar wie 1:2 (2:4 ob.), sofern bei dem
Sklaven noch die Zinsen des Ankaufspreises, die Risikoprämie und die
Amortisation hinzugerechnet werden müssen. Nimmt man nun den
Preis des Sklaven nach ilaßgabe der delphischen Urkunden mit durch-
schnittlich 300 dr., den Kapitalzins nach Billeter mit 12, Amortisation
und Risiko mit 18 Prozent an, so ist den jährlichen Kosten des Sklaven
mit 120 dr. noch die Summe von 90 dr. oder 1 V2 ob. pro Tag hinzu-
zuschlagen. Daß diese Ansätze nicht zu hoch sind, ergibt sich daraus,
daß im V. Jahrhundert, als der Kaufpreis eines Bergvverksklaven etwa
150 dr. betrug, die tagliche Miete eines solchen sich auf 1 ob. stellte.
Tatsächlich also kostete damals in Delos die Sklavenarbeit oVs ob.
und der Unterschied zwischen den Kosten des Sklaven und dem Lohn
für freie Arbeit betrug nur V2 ob., offenbar der Ausdruck für die
bessere Qualität der freien Arbeit. Diese will nun allerdings Fr.
(II, 1 ff.) nicht gelten lassen; er schlägt die Sklavenarbeit für mindestens
ebenso produktiv an, da der Sklave durch die Aussicht auf den Los-
kauf veranlaßt worden sei, mit aller Kraft zu arbeiten, um die nötige
Sum.me zu ersparen (II, 14 f.). Allein abgesehen davon, daß das
Eigentumsrecht des Sklaven ganz vom Belieben des Herrn abhängig
war (Guiraud p. 113), so war doch auch der gewöhnliche Fabrik- oder
Bergwerkssklave gar nicht in der Lage, Eigentum zu erwerben: er
bezog ja keinen Lohn oder doch nur eine Geldentschädigung, die zur
Bestreitung der Lebensbedürfnisse eben hinreichte. Wollte er von dieser
ersparen, so war das nicht durch Anspannung seiner Produktionskraft
möglich, sondern nur durch Unterkonsumption, die mit der Zeit seine
Arbeitskraft notwendig beeinträchtigen mußte. Einzig und allein dann,
wenn der Sklave ein Geschäft selbständig gegen eine Abgabe an den
Herrn betrieb, wirkte die Aussicht auf Gewinn anspornend auf seine
Tätigkeit, ähnlich etwa wie der Stücklohn auf den freien Arbeiter;
allein im Vergleich zur Masse war die Anzahl dieser bevorzugten
Sklaven nur gering. Für alle übrigen kamen als Ansporn der Tätig-
keit nur Zwangsmittel in Betracht, die bekanntlich zur Erzielung einer
höheren Arbeitsleistung sehr ungeeignet sind, während der freie Ar-
beiter, auch wenn er im Tagelohn arbeitete, immer doch eine gewisse
298 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
Mindestleistung- liefern mußte, wenn er nicht seine Entlassung befürchten
wollte. Im großen und ganzen also muß doch die freie Arbeit mehr
wert gewesen sein und es ist ein Beweis des Drucks, den die Sklaven-
arbeit auf die Löhne ausübte, daß in Delos 280 der wirkliche Kosten-
unterschied nur noch V2 ob. pro Tag betrug. Daß es daneben besondere
hochbezahlte Kategorien von Arbeitern, eine Art Arbeiteraristokratie
gegeben hat, ist natürlich: solche finden sich immer, auch in Zeiten
sinkender Löhne. Aber mit 4 ob. war wohl tatsächlich das Existenz-
minimum erreicht. Wenn es zu Aristophanes' Zeit noch anging, bei
ganz bescheidenen Ansprüchen mit 3 ob. eine Frau und ein Kind zu
ernähren, so war dies um 280 sicher nicht mehr möglich, da fast
sämtliche Lebensmittel im Preise gestiegen waren. Denn es kommt
natürlich nicht auf die Lohnhöhe, sondern auf die Kaufkraft des Lohnes
an. das ist einer der wesentlichen Punkte, die Fr. meiner Ansicht nach
richtig erkannt hat: seine Ausführungen I, 327 fi. über das Budget
einer altgriechisclien Arbeiterfamilie gehören zu den interessantesten
Partien des ganzen Buches. Gewiß beruhen sie nur auf sehr unsicherem
Grunde. Man kann sich fragen, welchen Wert haben denn die ver-
einzelten uns überlieferten Angaben über den Getreidepreis, der doch
die Grundlage aller solcher Berechnungen bilden muß, wenn wir sehen,
wie innerhalb weniger Monate in Delos Schwankungen von 4 V2 — 10 dr.
im Preis des Medimnos Weizen vorkommen? Es ist sehr schwer, dai'auf-
hin einen mittleren Getreidepreis zu ermitteln und diesen der Berechnung
zugrunde zu legen: dennoch wird es immer wieder versucht werden
müssen, wenn man eine klare Anschauung der Dinge erhalten will, und
das hat Fr. mit Anwendung der Hilfsmittel unserer moderneu Statistik
getan. Aber auch er kommt zu dem Ergebnis, daß das Existenz-
miniraum für eine Familie von 5 Köpfen in Delos 280 etwa 380 dr.
pro Jahr betragen haben muß. Man sieht, wie tief der freie Arbeiter
mit seiner Entlohnung darunter bleibt: es ist eben auch damals nicht
anders gewesen, wie heute auf den niedrigen Einkommenstufen, Frau
und Kinder müssen mitarbeiten, um den Unterhalt zu erwerben. Denn
daß jene mit 4 ob. pro Tag == 240 dr. pro .lahr entlohnten Arbeiter
sämtlich unverheiratet gewesen sein sollen, wie Fr. 1, 325 annehmen
möchte, scheint mir eine ganz unbegründete Behauptung zu sein, und
selbst wenn es so wäre, der Satz „Gleicher Lohn iür gleiche Leistung"
wird auch im Altertum gegolten haben.
Es ist also durchaus berechtigt, im Gegensatz zu Francotte von
einer zunehmenden Verelendung und Proletarisierung der Massen
im IV. und III. Jahrhundert zu sprechen, die im wesentlichen durch den
Kapitalismus mit Hilfe der Sklavenarbeit ins Werk gesetzt ist. Diese
ökonomische Tatsache wird man in die geschichtliche Entwickelung des
Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.) 299
IV. uud III. Jahrhunderts einstellen müssen. Übrigens gibt auch Fr.
zu, daß in manchen Betrieben, besonders in den „schweren" Industrien
wie z. B. dem Bergbau, die freie Arbeit allmählich vollständig durch
Sklavenarbeit ersetzt ward. Daß der freie Arbeiter dennoch daneben
seinen Platz behielt, lag in dem verhältnismäßig häufigen Vorkommen
der Krisen. Solche Fabriken, die häufiger mit Absatzstockungen
zu rechnen hatten, konnten sich vernünttigerweise nur so viel Sklaven-
material beschaöen, wie sie ihrer Ansicht nach unter allen Umständen
zu beschäftigen imstande waren: ging das Geschäft flotter, so stellte
man freie Lohnarbeiter ein, die dann bei Beginn der Krise wieder aufs
Pflaster geworfen wurden. Danach mag man die Unsicherheit der Lage
des freien Arbeiterstandes ermessen. Daß er dabei nicht völlig zu-
grunde ging, verhinderte der Staat durch die in verschiedener Form
verteilten Unterstützungen oder Diäten, die nicht bloß in Athen vor-
handen , sondern in der ganzen griechischen Welt weit verbreitet waren.
Daß sie nicht als Entschädigungen, sondern nach naiver, rein demo-
kratischer Ansicht als Verteilung der Überschüsse der Staatskasse an-
zusehen sind, hat Fr. II, 46 ff. richtig begründet: übrigens hat Ed. Meyer
früher schon in dem Artikel Griech. Finanzen dieselbe Ansieht ent-
wickelt (S. 938 ft'.). Die Wirkung der Diäten war die, daß ein öko-
nomisch in der Verelendung begriffener Stand künstlich erhalten ward,
uud indem aus den höheren Stauden immer mehr durch die zunehmende
Konzentration des Kapitals herabsinken, hat der Staat künstlich
Proletariermassen herangezüchtet und so die soziale Revolution im IV.
und III. Jahihundert vorbereitet, deren Entstehung und Verlauf Poehl-
manu II, 224 ff, in meisterhafter Weise geschildert hat.
Es ist unmöglich, auf weitere Einzelheiten des Fraucotteschen
Werkes einzugehen, das aber muß hier zum Schluß noch gesagt werden;
trotz der m. E. verfehlten Tendenz des Herrn Verf., die Industrie als
eine (luautite negligeable im griechischen Wirtschaftsleben hinzustellen,
verdient sein Werk nicht geringe Anerkennung, da es manche Probleme
der griechischen Wirtschaftsgeschichte in energischer Weise gefördert
hat. Und in einem Punkt, scheint mir, wird Fr. auch sein Ziel er-
reichen: mau wird aufhören müssen, von einer antiken Großindustrie
zu sprechen, da dieser Ausdruck die durchaus unrichtige Vorstellung
hervorruft, als ob die griechische Industrie in irgend einer Hinsicht mit
der Eutwickelung verglichen werden könne, die die Industrie unserer
Tage genommen hat. Maschinen und Aktiengesellschaft — das hat
Guiraud in seinem ebenfalls lesenswerten Buch richtig betont p. 91 —
sind die Hebel des modernen Großgewerbes geworden, sie vor allem haben
auch jene Konzentration, jene Aufsaugung der kleinen Betriebe
durch die größeren und großen geschaffen, von der im Altertum noch
300 Jahresbericht über griechische Geschichte. (Lenschau.)
wenig zu spüren ist (Guiraud p. 91). Auch die Organisation der
Arbeit war im Altertum viel weniger differenziert als heutzutage, wie
denn die Werkzeuge der Alten ebenfalls stets auf einem recht primi-
tiven Zustand verblieben sind (Guiraud 61), und um es mit einem
Wort zu sagen: über den Punkt in der Entwickelung, den die Manu-
fakturindustrie des ausgehenden 18. Jahrhunderts in einzelnen gewerb-
reichen Gegenden von England, Frankreich und Flandern erreicht hatte,
ist die Industrie von Athen und Korinth auch in ihrer Blütezeit nie-
mals hinausgekommen.
Dem ursprünglichen Plane gemälj sollten die chronologischen
Fragen in einem besonderen Anhang behaudelt werden; im Verlauf der
Arbeit stellte es sich jedoch als bequemer heraus, die Ergebnisse für
die Zeitrechnung gleich in der Darstellung mit zu verwerten. Über
die rein technischen Fragen dagegen und die sich mit ihnen befassenden
Schriften hat erst kürzlich A. Mommsen (Philol. 61, 201—244. 1902)
in so ausführlicher und sachkundiger Weise gesprochen, daß hier
ein einfacher Hinweis auf die genannte Abhandlung genügt, zumal
ich in allen wesentlichen Punkten der Ansicht Mommsens nur bei-
stimmen kann.
Sachregister.
Ägäische Kultur Kap. 1. Zeit 130.
Verschiedenheiten 131. Kamares-
vasen 119 S. 129. Träger derselben
122, s. a. Mykene, Hissarlik.
Alexander d. Gr. bei Philipps Ermor-
dung 271 f. Polit. Ideen 2RS. 270 ff.
Stellung als Nachf. d. persischen
Könige 280. Vergötterung 278 f.
Indischer Feldzug 283 ff.
Alexanderhistoriker 2G2 ff. Epheme-
riden 266. Oikonomikos 266.
Alkibiades 232 f.
Alyattes 164.
Aqaiwascha 132.
Arkadischer Bund, seine Geschichte
242 ff.
Aspasia 220.
Athen, ältere Geschichte 144 ff.
Eponymenlisten 147 ff. Phylen,
Phratrien, Gene 145 ff. Königtum
147. Adelsherrschaft 147. 153. So-
ziale Zustände, £z-:r,u.op'.o'. 150 ff.
Naukrarien 166,s. a. Drakon, Solon,
Peisistratos.
Attika, Bevölkerungsgeschichte 287 ff.
Bodenertrag 292.
Attischer Seebund, erster: Tribute
213 f. Kleruchien 213. Bundes-
schatz und seine Verlegung 207 ff.
215. Ernouerung durch Thrasybul.
236. — Zweiter 240 ff.
Bevölkerungsforschung 289 f.
Bevölkerung v. Attika 289 ff.
Biographische Literatur: Plutarch
1S3 ff. Nepos 184. Suidas 184.
Bosöjük 131.
Chaironeia, Schlacht v. 257 ff.
Chalkidier als Kolonisatoren 137 f.
Delphi, Zustände unter d. Söldner-
herrschaft 257.
Demosthenes, Beurteilg. 254 f.
Diäten, Bedeutung 299. Wirkung 299.
Diobelie 232.
Dionys I. Persönlichkeit 237 ff.
Finanzpolitik 239.
Dorische Wanderung 127. 130. 133 f.
Drakons Gesetzgebung 154 ff.
Dreißig, die 233 f.
Eigentum, Familien E. 136. Aus-
bildung d. Privateig 136.
Enkomi-Salamis 126. 132.
Epaminondas, Prozeß 244. Dritter
Einfall in die Pelop 244. Be-
deutung als Feldherr 246 ff., als
Staatsmann 248 f.
Euagoras Krieg gegen E. 239.
Fikelluravasen 131.
Finanzgescbichte Athens im 5. Jahrh.
214 ff. Schatz d. Athena u. Reichs-
schatz 245 f.
Gaugamela, Schlacht v. 279 f.
Geometrischer Stil. 117. 118. 129.
Hallstattkultur 124.
Handelsgeschichte 137 ff. Kriege
162 ff.Umfang d. Handelsbewegung
292 f.
Heliaia, Einsetzung 160 f.
Herakleidensage 135.
Herodot 178 f.
Hippias' Politik 171. Hipparchs Er-
mordung 171.
Hissarlik 119. 122 f. 131.
Jason v. Pherai 242.
Industrie, griechische 293 f. Arbeiter-
material 293 ff. Lohnverhältnisse
296 f.
Isokrates 240. 255. 257. 268 f.
Issos, Schlacht v. 273 ff.
Kahun, Funde v. 122.
Kalliasfriede 210 f.
Kato Zakro 119
Kerkyra, Politik 140. 224.
Kersebleptes 255.
Khyau 120.
Kleiüasiatische Griechen, Besiedig.
131. Aufstand 185 ff. unter Alex.
272.
Kleisthenes 172 f.
Kleitos Ermordung 281 f.
Kleon, Politik u. Beurteilung 227 ff.
KliQOvaQ 128.
Kolakreten 215.
Kolonisation, erste in myken. Zeit
131. Zweite 136 ff. Motive 138.
Knossos, Ausgrabungen 120 ff.
302
Sachregister.
KöDigsfriede von 386. 242.
Korinther als Kolonisatoren 136 ff.
Verhältnis zu Kerkyra 140. 222.
Politik 222 f. treibt zum Kriege
g. Athen 225.
Kylonischer Aufstand 166 f.
Kyme, Griindungsjahr 137.
Kyros d. Ältere, Chronologie 175.
Kyros d. Jüngere, Aufstand 236.
Landfriedensbund, Korinthischer
267 ff.
Landwirtschaft, Griechische 291 f.
Kornpreise 298.
Laotychidas 142 f.
Lelantischer Krieg 162 f.
Leonidas 196 f.
Los b. d. Beamtenwahl 161, 172. 191.
Makedonen, Abstammung 249 f.
Königsgeschlecht 250 f. Älteste
Entwickelung d. Landes 251 f.
Heeresorganisation 252 ff.
Mantineia, Schlacht v. 245 ff.
Marathon. Schlacht v. 1S8 ff.
Melos, Funde v. 117 ff.
Merneptah 132.
Münzfuß, korinthischer 165, eu-
boeischer ib.
Mykenische Kultur 121 ff.
Obsidian 117.
Olympische Spiele 139.
Panhellenischer Kongreß 208. 211.
Parmenion 276 f.
Parthenon, Baugeschichte 209 fi.
xaxpic. zoXiXcioc 154.
Pausanias 199 ff. 203 ff.
Peisistratos, Kampf um Salamis 155,
um Sigeion 164, Chronologie 167 ff.
Pelasgeritrage 123 ff. :t;/,ap7'x(jv 125.
Peloponnesischer Krieg, Ursachen
219 ff. Einfall d. Thebaner 223 f.
Perikles' strategischer Plan 226.
Pylos-Sphakteria 228 f. Nikias-
friede 230. Letzte Zeiten 231 f.
Pentekontaetie 204 ff.
Periandros 163 ff.
Perikles 206 flf. Bastardgesetz 211.
Finanzpolitik 214 ff. Bedeutung
216. Beim Ausbruch des Krieges
219 ff. Strategie 226.
Persische Königsreihe 175 f. Kyros
175. Dareios 176 f.
Persische Monatsnamen 176. Reichs-
verwaltung, Satrapien 176.
Phaistos, Ausgrabungen 119.
Pheidias, Prozess 220.
Philippos V. Maked. 252 ff. Koloni-
sationstätigkeit 257. Pläne 267 ff.
272 ff. Beurteilung 255.
Phryger in Hissarlik 132.
Phyläkopi-Melos, Funde v. 117.
Plataiai, Schlacht v. 199 ff.
Piaton, polit. Theorien 240.
Plutarch als Quelle 185 ff. Lebens-
beschreibung Kimons 183 f.
Proletarisierung d. Massen im 4. Jahr-
hundert 299.
Psammetichos 164.
Psephisma d. Kallias 214 f. Mega-
risches 219. 224.
Ramses III 132.
Salamis, Krieg um S. 155. 166.
Schlacht V. 197 ff.
Solon, Chronologie 156 f. Teilnahme
am Krieg um Salamis 155. Ver-
fassung 157 ff. Seisachtheia, Münz-
reform, Klasseneinteilung 157 f.
Rat der Vierhundert 159. Heliaia
160. Beamtenwahl 161. Beur-
teilung 162.
Sparta, Urgeschichte 140 ff. Königs-
listen 143 f. Ursprung des Epho-
rats 152. Zweiter messenischer
Krieg 142 ff. Haltung in den Perser-
kriegen 193 f. Nach 403 235 f.
Allgemeine Politik 203.
Stentinello HS.
Tarent, Gründung 141 f.
Themistokles 198 f. Politik 199. 203 f.
212. 223 f. Verbannung 205. Tod
206.
Thermopylen -Artemision, Doppel-
schlacht bei 194 ff.
Thukydides, Auffassung des Krieges
222. 228 f. 230. Glaubwürdigkeit
180 f. Grundsätze 181. Thukydi-
deische Frage 1 83 f. Heimberufung
233.
Thukydides d. Melesias Sohn 213.
Thurioi, Gründung 211. 225.
Timagenes 264 f.
Tyrtaios 142 ff.
Waffen, homerische 126 f.
Autorenverzeiehnis.
Awdry 228 f.
Bannier 213 f.
Bauer, Ad., 157. 273 ff. 284.
Beloch, Jul, 143. 166. 169. 202. 220.
231 f. 235. 237. 241. 244 ff. 249.
252. 258 f. 268. 274. 277. 289 ff.
292 ff.
Böhlau 132.
Boyd, Mm, 119.
Bücher. K., 292 f.
Bury, J. B., 136. 139. 140. 147 usw.
Busolt, G., 153 f. 225 f. 233 f.
Costanzi, V., 147. 162.
Dammann 225.
Delbrück, H., 189 ff. 192 ff. 200 ff.
220. 226. 228. 246 ff. 253 ff. 274 ff.
279 ff. 289 f.
Dörpfeld 129. 131.
Evans, A. E., 120 ff.
Foucart, P., 208 f. 233 f.
Francotte, H., 293 ff.
Fränkel, M., 245.
Grundy 22s.
Guiraud, P., 136. 291 f. 293 ff.
Hoeck, Adalb., 255 f.
Hogarth 120 f.
Jacoby, F., 148 ff.
Judeich, W., 166.
Kaerst, Jul., 177. 247 ff. usw.
Keil Bruno, 207—215.
Kießling 176.
Kirchner 156.
Köchly-Rüstow 282 f.
Köhler, U., 245. 252. 267. 270 ff.
Kolbe, W., 225.
Kopp, Fr. 255. 274. 279. 283.
Kornemann, E., 278. 279.
Körte, A., 132 f.
Kretschmer, F., 122.
Kromayer, Joh., 245 ff. 254. 257 ff.
Lange, Edm., 225.
Lehmann, C. F., 179. 188. 266.
Lenschau, Th., 231 f.
Lipsius, J. H., 240 f.
Mahaffy 227.
Mesk, Jos., 240.
Meyer, Ed., 125 usw.
Munro, J. B., 190 ff. 193 ff.
Neuhaus, 0., 220.
Niebuhr, C. 163. 179. 186.
Niese, Bened., 135. 140. 159. 242 ff.
2(53 ff. 282. 287.
Nissen, H., 220 ff.
Olsen, Wald , 200 ff.
Poehlmann, Rob , 291. 293.
Pomtow 255
Praschek 175 f.
Ranke, L. v., 267.
Reichel, W., 126.
Reuß, Fr., 263 ff.
Ridgeway 122 ff.
Sanctis, G. de, 144—172.
Schilling 191.
V. Schöffer, V., 234.
Schubert 263. 266. 283 f. 286.
Schwartz 142 f. 263 f.
Speck 293.
Swoboda 139. 205. 234.
304
Autorenverzeichnis.
Trautwein 179.
Tropea 242,
Tsuntas-Manatt 129.
Vassits 128.
Wachsmuth, K., 179.
Weber, Max, 291.
Weil, R., 245.
Wheeler, Miß, 119.
Wide, Sam, 119. 128.
Wilamowitz-Möllendorff, U. v., 147.
160. 170. 220. 232. 241.
Wilhelm, A., 166. 273.
Wilisch 133.
Wilcken, U., 266.
Willrich, Hugo, 270 f.
York V. Wartenburg 286.
Ziehen, L., 154 f.
Yerzeichnis der besprochenen Schriften.
Abbott, F. F., the Toledo manuscript
of tlie Germania of Tacitus II 122
Amelung, R., de Polybii enuntiatis fina-
libus I 247
Andresen, G., in Taciti Histor. studia
crit. et paleaeograph. II 90
— zu Tacitus' Germania II 103
— zur handschriftl. Überlieferung des
Tacit. Dialoges II 98
— neue Lesungen in Tac. Annalen
II 100
'Af/ßav'.-OTrooXÄ.oc, A., Criiq^a-a -ou 'A'X'.-
•/jto ö'./«i&'j. II. III 67
Aristeae ad Philocratem epistula . . .
ed. P. Wen dl and I 209
Arnold, E. V, a. R. S. Conway, the
restored pronunciation of Greek a.
Latin I 21
Asbach, J., röm. Kaisertum u. Ver-
fassung bis auf Trajan III 33
Awdry, historieal aspect of the Pylos
a. Sphacteria incidents III 218
Azelius, J. E., de assimiiatione syntac-
tica apud Sophoclem I 89
Bannier, G., de titulls aliquot atticis
III 79
— W., die Tributeinnahmeordnung des
attischen Staates III 79. 174.
Baron, Ch , le pronom relativ et la
conjonction en grec I 124
— la candidature politique chez les
Atheniens III 66
Bates, F. 0., the five post-kleisthenean
tribes III 51
Bauer, A., die Schlacht bei Issos III 261
Beauchet, L., histoire du droit prive
de la republique Athen. III 57
Bechtel, F., die einstämmigen männ-
lichen Personennamen des Griech.
I 57
— die attischen Frauennamen I 57
Behaghel, 0., Gebrauch der Zeitformen
im konjunktiv. Nebensatz I 114
Jahresbericht für Altertumswissensohaft.
Beloch, J., z. Geschichte des Eurypon-
tidenhauses III 133
— antike u. moderne Großstädte
III 288
— die Großindustrie im Altertum
III 288
— die Bevölkerung im Altertum III
288
— die Handelsbewegung im Altertum
III 288
Berard. V., de arbitrio intra liberas
Graecorum civitatis III 112
Berdolt W.,zurEctwickelungsgeschichte
der Konstruktionen mit '')3-:s I 126
Bieiecki, Fr. J., les mots composes
dans Eschyle et dans Aristophane
I 51
Bishop, Ch. E., the Greek verbal in
-TEO 1 120
Boehlau, aus altion. u. ital. Nekropolea
III 116
Boissier, G., Tacite II 27
BolUnd. G. J. P. J., die althellen Wort-
lietonung im Licht dei- Geschichte
I 22
Borenius, C. E., de Plutarcho et Tacito
II 63
Botsford, G. W., the Athenian Consti-
tution III 39
Brandis, Achaia III 107
Brück, S , die Organisation der athen.
Heliastengerichte im 4. Jh. v. Chr.
III 84
— die Heliastentäfelchen III 84
Brugmann, K., die Herkunft der griech.
Subbtantiva auf sü;, Gen. /Fo; I 62
— der Ursprung der Barytona auf
-3o: I 64
— griech. Grammatik I 8
Bruns, J , die Persönliclikeit in der
Geschichtsschreibung der Alten U 11
Buciheim, £. W., z. Gtschichte des
delph Staatswesens III 88
Bd. CXXII. (1904. III.) 20
306
Register.
Buck. C. D., the souree of the so-
called Achaean-Doric Koiv/j I 210
Bury, J. B. history of Greece III 116.
173. 218. 261
— the epicene oracIe concercing Argos
a. Miletus III 173
Busolt, G., zur Gesetzgebung Drakons
III 41
— z Aufhebung der Verbannung des
Thukydides III 218
— Aristoteles oder Xenophon III 218
— z. Chronologie des Peloponnes.
Krieges III 218
— z. Chronologie Xenophons III 218
Caillemer, E , Homoioi III 35
— Hypomeiones III 35
— grammateis Cjoo.^^azal:,) III 69
— or,.)/--'.o. III 63
Cantarelli. L., i motaci Spartani III 35
Cavaignac, E., le decret de Callias
!II m
Christ, W , die verbalen Abhängigkeits-
komiiosita des Griech. I 52
Ciccotti, E, le retribuziooe delle fun-
zioni publiche civili nell' antica Atene
III 49
Clerc, Nl.. condition des etrangers do-
micilies dans les differentes cites
grecques III 9
— les meteques Atheniens III 60
— de rebus Thyatirenorum commen-
tatio epigraphica III 100
Cohn, L., i'iiech Lexikographie I 133
Costanzi, V. ureistoria e protistoria
dell' Attica III 133
— la g'i na Lelant a III 134
Crönert, W , Memoria Graeca Hercu-
lanenbis I 19
— die adverbialen Komparativformen
auf -..I 1 68. 224
— quacstionns Hereulanenses 1 2^6
Crusius, 0, die Anwendung von Voll-
u Kutziuimen etc. I 59
Curtius, E, der Synoikismos von Elia
III 8G
Dammann. E , der Anfang des pelo-
ponnes Krii'ges III 218
Danielsson. 0 A., zur i-Epenthese im
Gnech I 4U
Dawes, E. A S , the pronuaciation of
tlie Greek as|>irate8 I 36
Deiäsmann, A., die .sprach i Erforschung
der «riech. Bib.4 I 201
— Helleuistisclies Grie' hisch I 201
Delbrück, H., Gesch. d. Kriegskunst. I.
III 173. 21S. 2(;i
Dieterich, K, zur Geschichte der griech.
S;. räche I IG. 215
Dittenberger, W.. die delphische Am-
phiktyonie i. J. 178 v. Chr. III 104
— die Familie des Alkibiades III 218
Dittmar, A., de Atheniensium more
exteros coronis publice ornandi
III 76
Dottin, 6., etude de grammaire bome-
rique I 79
Dyroif. A., Geschichte des Pronomen
reflexivum I 92
Earle, M. L., development of the Greek
Optative I 110
Ebeiing, H. L., statistics on the order
of words in Greek I 131
Eulenburg, K., zur Vokalkontraktion im
ionisch-attischen Dialekt I 31
Fabia, Ph., onomasticon Taciteum II 84
Fabricius, E., das Wahlgesetz des
Aristeides III 45
Ferguson, W. S., the Athenian ar-
chons of the III. a. II. centuries
b. C. III 68
— the Athenian secretaries III 69
Fick, A., die griech. Personennamen
1 55
— die griech. Verbandnamen I 58
— die griech. Götterbeinamen I 59
— altgriech. Ortsnamen I 61
Flensburg, N., Ursprung u. Bildung des
Pronomens o.ü-6z I 75
Foucart, P , les constructions de 1'
Acropole d'apres 1' Anonymus Argent.
III 174
— Athenes et Samos de 405 ä 403
III 219
Fougeres, G., Mantinee et I'Arcadie
Orientale III S7
— de Lyciorum communi III 102
— y.m.6v III 105
Fowler, Fr. H, the negatives of the
indoeuropean languages I 77
Francotte, H., formation des villes etc.
djDs la Grece III 103
— i'organisation de la cite athen. et
la reforme de Clisthenes III 44. 114.
— I' industrie dans la Grece III 288
Fränkel, M., z. drakont. Verfassung
III 41
Fuchs, A., die Temporalsätze mit den
Konjunktionen „bis" u. „solange
als" I 127
Gaebler. K., Erythrae III 99
Gelder, H. van, Geschichte der alten
Rhodicr lll 92
— ad corpus inscr. Rbodiarum III 92
Gerber, A., »t A. Graef, lexicon Taci-
teum II 72
Gercke, A., Abriss d. griech. Lautlehre
I 22
Register.
307
Gildersleeve, B. L., syntax of classical
Greek. 1. I 87
— Problems in Greek syntax I 88
— on the article with proper names
I 96
— temporal sentences of limit in Greek
I 1-28
6illischew8ki, H., de Aetolorum praeto-
ribus Hl 108
Glaser, M., die zusammengesetzten No-
mina bei Pindar 1 52
Glotz, G., les naucrares et les prytanes
des naucrares dans la cite liome-
rique 111 29
— Ekklesia III 74
Gnaedinger, C, de Graecorum magistia-
tibus eponymis III 23
Goldstaub, M., de dosia; notione et usu
in iure attico III 75
Gradenwitz, 0., Einführung in die Pa-
pyriiskunde I 235
Greenidge, A. H. J., handbook of Greek
coustitutional history 111 113
Groag, E., zur Kritik von Tacitus'
Quellen in den Historien II 45
Grosspietsch, A., de -i-r^u-iM-j vocabu-
lorum genere quodam I 54
Gudeman. Latin literature of the em-
pire 11 13G
Guiraud , P., la main d'oeuvre in-
dustrielle dans l'ancienne Grece
111 288
Haie, W. G., the anticipatory subjunc-
tive in Greek a. Latin I 113
— „extended" a. ,remote- delibera-
tives in Greek I 113
Hamilton, A., the negative Compounds
in Greek 1 218
Hammerschmidt, K., Grundbedeutung
von Konjunktiv u. Optativ 1 110
Hammond. ß. E , the political institu-
tions of the ancient Greek III 16
Hasse, E., der Dualis im Attischen
1 74
X a^C'-oa/. '. c, r. N., äxaörjjiaix« äva-
■jvubajia'ca it; t/)v 'EX^r,v'.zy-)v, Aa^ivt-
7./;v xczt jiixpöv st; T^jV 'lvoixv;v fpc.ji|icz-
-'.xrjy I 5
— na^l "ZW ypovou t?^; E^too'jjcO); ty^z
z(503(oo'.o'c iv ■:r*'EX>.ifjv'.xi^j" 7>ao:3jy'| I 45
— -^'Kwoooko-'^'.y.rA att.i~a'. 1 14
Haussoullier , B. , Demes et Tribus,
l'atries et Phratries de Milet III 101
— unp liste de meteques milesiens
III 101
— sur Ihistoire de Milet et du Didy-
meion 111 101
Headiam, J. W., election by lot at
Athens III 65
Heine, M., Substantiva mit a privati-
vum I 55
Heisterbergk, B , Bestellung der Be-
amten durch das L is III 65
Heibig, W., les vases du Dipyloo et
les Naucraries III 56
— les i-T.v.z Atheniens III 82
Heller, A , de Cariae Lydiaeque sacer-
dotibus III 97
Herwerden, H. van, lexicon Graecum
suppletorium et dialecticum I 135.
225
Herzog, E., zur Verwaltungsgesch. d.
attibcben Staates III 71
— R., koische Forschungen u. Funde
111 94
— Reisebericht aus Kos III 94
Kicks, Greek inscriptions III 98
Hildebrand. A , de verbis < t intransitive
et causative apud Homerum usur-
patis I 104
Hiller von Gaertringen, Delphi III 88
Hirschfeld, 0., zur Epitome des Florua
11 132
Hirt, H. , Handbuch der griech. Laut-
u. Formenlehre I 5
Hoeck, Ad., die Söhne des Kersebleptes
Hl 219
Hofmann, Studien t.. drakont. Ver-
fassung? III 41
Homoile, Th., reglements de la phratrie
des X'/^jQoa: III 88
Horlon-Smith, R., the theory of condi-
lional sentences I 129
Hruza, E , z Geschichte des griech. u.
röiu. FamilieurccHts. I. III 57
Hultsch, F., die erzählenden Zeitformen
bei Polybios 1 107
Hultzsch, Th., die erzähl. Zeitformen
bei Diodor v. Sizilien 1 249
Jacobs, A, Thasiaca Hl 91
Jacoby. F.. die attische Königsliste I.
IH 134 '
Jannaris, A. N., an histor. Greek
grammar 1 3
Imendörffer, B , z. Quellenkunde der
6 letzten Bücher der Annalen des
Tacitus 11 53
Johansson, K. F., zur griech, Sprach-
kunde 1 50
Judeich, W., der älteste attische Volks-
beschlu.ss III 133
Julius Exuperantius, Epitome, hrsg.
V. G. Landgraf u. C. Weyman
II 129
Kaerst, J , Geschichte des Hellenismus.
Hl 218. 261
— die antike Idee der Oekumene III 262
20*
308
Register.
Kazarow, G., de foederis Phocensium
institutis III 111
Keil. B., Anonymus Argentinensis
III 39. 174
— Athens Amts- u. Kalenderjahre im
5. Jahrh III 65
— das System des kleisthen. Staats-
kalenders III 65
— die Rechnungen üb. d. epidaurischen
Tholosbau III 80
— z. Verwertung der delphischen
Rechnungsurkunden III 88. 104
— vom delphischen Rechnungswesen
III 88
— zur delischen Labyadeninschrift
JII 88
— die solon. Verfassung in Aristoteles'
VerfassungsgesehichteAthens III 114
Kiessling, zur Geschichte der ersten
Regierun^^sjahre des Dareios Hystas-
pes m 173
Kirchner, J. E-, die Phylen Antigonis
u. Deuietrias III 51
— z. Datierung einiger attischer Ar-
chonten. I. III 133
Koch, Ae. , de Atht-niensium logistis,
euthynis, synegoris 111 67
Köhler, A.. die Eroberung Asiens durch
Alexander d. Gr. u. d. Korinth. Bund
III 261
— d. thukydid. Bericht üb. d. oligarch.
Umwälzung in Athen 411. 111 174
Kolbe, W , z. atben. Archontenliste d.
3 Jahrh. III 68
— de Atheniensium re navali III 83
— zur atheu. Marineverwaltung III 83
— z. Vorgeschichte des peloponnes.
Krieges III 218
K(i)va-(zvT'.vi6ou, 'A., iiqa ?.c^'.xöv t-^;
e/.Xyjv'x:^; y^w^ov]; I 133
Koepp, Fr , Alexander der Grosse III 219
Kornttnann, E., z. Geschichte der an-
tik, n llerrscherkulte III 262
Körte, A , das Mittiliederverzeichnis
einer attischen Pbratrie III 52
Ko'JiKzvouor, c, w~. 'A., auvccfoi-f/j viojv
/.s^EOjv ü~'j ~y)v "/,c-Yt'.ov "Xasf^eiaöJv
d~b xjj; «X(Ö3E(ij-, jir/fvt tojv y.a&-' ^jji**
■/rjflywv I 135
Krapp, Fr., d. Substantiv. Ihfioitiv I 117
Krauss, S., griech. u. lat.'in. Lehn-
wörter im Talmud, Midrasch u.
Targum I 190
Kretschmer. P., die griech. Vasenio-
schiiften I 14
— der Wandel von t vor '. in 3 I 41
— der Übergang von der musikal. zur
exspirator. Betonung im Griech. I 45
— die Eutstehung der Koiue I 179
Kromayer, J., antike Schlachtfelder in
Griechenland. I. III 218
Kuchtner, K.. Entstehung u. ursprüngl.
Bedeutung des Ephorats in Sparta
III 33
Kühner, R., Grammatik der griech.
Spra'he. I. I 7
— Grammatik der griech. Sprache. IL
1^86
Kvicala, J., badäni v oboru skladby
jazykuv indoeuropkych. I. I 95
Lagercrantz, 0., zur griech. Lautge-
schichte I 38
Lsnibros, P., ein neuer Kodex des
Paeanius 11 129
Landgraf, G., z. histor. Syntax der
latein. Sprache II 89
Landwehr, H., Forschungen zur älteren
attiscnen Geschichte III 43
Lange, E., dtr Anfang des peloponnes.
Krieges III 218
La Roche, J., Beiträge z. griech.
Grammatik I 10
— Sprachliches aus u. zu Diodor I 249
Lattmann. H., Bedeutung der Modi I 1 10
Laurent, 0., et G. Hartmann, vocabuiaire
etymologique I 141
Lautensach. 0 , grammat. Stud. zu d.
griech. Tragikern u. Komikern I 7S
Lecoutere, C, l'archontat Athenes
d'apres la rjilx-v.a 'Abvczuuv III 68
Lecrivain, Ch., gens, fjvo: III 12
— Helotae III 35
Lehmann, C. F., zu den Ephemeriden
Alexanders d. Gr. III 261
Lehner, H , die athen. Schatzverzeich-
nisse des 4. Jahrh. III 78
Leil, Fr., der absolute Accusativ im
Griech. I 92
Lenschau, Th., de rebus Prienensium
III 98
— die Zeitfolge der Ereignisse von
Ende Sommer 411 bis zur Arginusen-
schlacht 111 21. s
Leo, Fr, Tacitus II 2
- die griech. -röm. Biographie II 127
Leopold. J. H., de scytala Laconica
111 31
Leuze. 0., die Agricola-Handschrift
in Toledo II 118
Levison, W., d Beurkundung des Zivil-
standes III 12
Levy, J , sur la vic municipale de l'Asie
mineure sans les Antonines III 95
— les T.az^i'j'^i'j'SlMK dans l'epigraphie
grecque et la litterature talmudique
III 96
Liebenam, W., Städteverwaltung im
röm. Kaiserreiche III 24
Register.
309
Liljeblad, J., de assimilatione syntactica
apud Thucydidem I 90
Lipsius, J., z. Gesch. griech, Bundes-
verfassungen. I. III 106
IL III 108
— H., z. Geschichte des 2. attischen
Seebundes III 219
Lögdberg, L. E,, animadversiones de
actione "«pav&jiUDv III 75
Longhi, E. M., 1° libro degli Annali di
Tacito II 123
Lorentz, P., de pronominum perso-
nalium apud poetas Alexandrinos
usu I 94
Luft, W., die Umschreibung der fremden
Namen bei Wulfiia I 2-4
Martin, A., quomodo Graeci et peculia-
riter Athenienses foedera publica
iure iurando sanxeriut III 73
Mayer-G'schrey, R., Parthenius Nicae-
ensis 1 250
Mayser, E., Grammatik der griech. Pa-
pyri aus der Ptolemäerzeit I 227
Meiliet, A , Hellenica I 142
Meister, R., Elisches Amnestiegesetz
III 86.
Meisterhans, K., Grammatik der atti-
schen Inschriften I 14
Meltzer, G., griech. Grammatik I 9
— H , vernieintl. Perfektivierung durch
präpositive Zusammensetzung im
Griech. I 220
Mesk, J., zum kyprischen Kriege III 219
Meyer. Ed , Geschichte des Altertums
III 116 u. ff 173. 219
— Forschungen z griech Gescbichte.II.
III 133. 173 219. 288
— Bevölkerung d. Altertums III 289
— griech. Finanzen III 2S9
— oriental. u. griech. Münzwesen
III 289
— G., griech. Grammatik I 8
— L., Handbuch der griech. Etymo-
logie I 137
— P. , des Aristoteles' Politik u. d.
A>)"/;vcziii)v Tji'ij.-i'irj \\{ 4X
Mommsen, T., zur Lehre von den griech.
Präpositionen I 101
Moreau, F., les finances de royaute
homerique III 30
— les festins royaux et leur portee
publique d'apres l'Iliade etl'Odyssee
III 30
Moree, les assemblees polit. d'apres
l'Iliade et l'Odyssee III 31
Moulton. J. H., grammatical notes from
the papyri I 231
I MQIIer, G. H., de Graecorum modo op-
i tativo I HO
— H. C, histor. Grammatik der hellen.
Sprache I 3
— 0., Z.Geschichte des attischen Bürger-
u. Eherechtes lil 57.
— -Strübing, .H., z. Verfassung von
Athen. I. Über die Civilbeamten
III 46
Munro, J. A. R., on the Persian wars
III 174
MOnzer, Fr., die Quelle des Taci*us für
die Germanenkriege II 47
Mutzbauer, C, Grundlagen der griech.
Tempuslehre u. homer. Tempus-
gebrauch I 105
— Konjunktiv u. Optativ im Griech.
I 110
— Entwickelung des sogen. Irrealis
bei Homer I 1 1.6
Neuhaus, 0 , die Überlieferung üb. As-
pasia von Phokäa III 218
Niebuhr, C , Einflüsse oriental. Politik
in Griechenland im 6. u. 5. Jh.
m 133
— Einflüsse oriental. Politik auf Grie-
chenland im 6. u. 5. Jh. III 173
Niese, B., zur Geschichte Arkadiens
ni 219
Nikitsl<y, A., delphisch-epigraph. Studien
III 88
— die geograph. Liste der delphischen
Proxenoi III 90
— Cbios in d. delphischen Amphik-
tyonie III 104
Norden, Ed., die antike Kunstprosa
I 212
Novak, R., analecta Tacitea II 104
Oehler, J, cz-ooix-cc. III 71
Olsen, W., die Schlacht bei Platäa
III 174
Osthoff, H., etymolog. Parerga 1 141
Östbye, F., die Zahl der Bürger von
Athen im V. Jahrb. III 60
Panske, P., de magistratibus Atticis
m71
Passowicz, P., de Flori codice Craco-
viensi II 133
Paton, W. R., a. E. Hicks, the inscrip-
tions of Cos III 94
Paul, L., Kaiser Marcus Salvius Otho
II 67
Penndorf, J., de scribis rei publicae
Atheniensium III 69
Perdrizet, P , Labys III 88
— sur I'inscription des Labyades
in 88
Peter, H., die geschichtl. Literatur üb.
die röm. Kaiserzeit II 4
310
Register.
Peter, H., die geschieht). Literatur üb.
d. rora Kaiserzeit II 127 u. ff.
Petit- Dutaiilis, de Lacedaemoniorumrei
publirae supremis temporibus HI .36
Pöhlmann, R. , Geschichte d antiken
Kommunismus u. Sozialismus III 2(1.
2S8
Polaschek, A., z. Erkenntnis der Par-
tikeln «v u. xiv I 122
Pomtow, H., die deipbischen Buleuten
III 88
— z. delphischen Labyadenstein III 88
— fasti Delphici II. III 104
Prasek, z. Geschichte des Altertums
111 III 173
— die Bedeutung der persischen Mo-
natsnamen III 173
Prellwitz, W. , etymolog. Wörterbuch
der griech. Sprache I 130
Purdie, E., the pirfective „Aktionsart"
in Polybius I 219
Radermacher, L., griech Sprachgebrauch
I 226
Badet, 6., de coloniis a Macedoribus
in Asiam eis Taurum reductis III 96
Ratnorino, F., Tacito nelia storia della
coltura II 17
Rangen, J., das Archontat u. Aristoteles'
Staatsverfassung der Athener III 68
Reichelt, C, de dativis in -oi; et -r/.;
(-«'.;) exeuntibus I 72
Reinhold, G., das Geschichtswerk des
Livius als Quelle späterer Historiker
II 127
Reissinger, K., die Präpositionen ob u.
propter II 88
Reitzensteln, R., zur Textgeschichte der
Germania 11 117
Renel, Ch., compositorum Graec. quo-
rum in XI prior pars exit de orifiine
et usu I 53
Reuss, ..Fr., Arrian u. Appian III 261
— z. Überlieferung der Geschichte
Alexanders d. Gr. III 261
Ridgeway, W., the early age of Greece. I.
HI 116
ROhl, Fr., zu Tacitus II 37
Sanctis, 6. de, the Startus in the Cre-
tan inscriptions IH 37
— 'ATl>i: III 133
Scala, R. v., die Staatsverträge des
Altertums. 1. III 113
Schmid, W , der Atticismus in seinen
Hauptvertretern I 17
— kulturgeschichtl. Zusammenhang u.
Bedeutung der griech. Renaissance
in der Römerzeit 1 211
Schmidt, H , de duali Graecorum et
emoriente et reviviscente I 74
Schmidt, J., zur Geschichte der Lang-
diphtonge im Griech. I 29
— die griech. Praesentia auf nxm I 83
— üb. d. gnomischen Aorist der
Griechen I 108
Schmitthenner, G., de coronarum apud
AtLenienses honoribus III 76
Schoefter, V. v., Bürgerschalt u. Volks-
versammlung in Athen. I. III 50
— vv/ov-i III 68
— Delos IH 91
— oi Ziv.o. III 218
Schoemann, J., griech. Altertümer. 4. A.
V. H. J. Lipsius. Bd. I. III 3
Bd. II. HI 3. 5
Schubert, R., der Tod des Kleitos III 262
— die Porosschlacht III 262
Schulten, A., die makedon. Militärko-
lonien III 96
Schuize, G., quaestiones epicae I 12
— orthographica I 23
— W., graeca latina I 226
Schwab, 0., histor. Syntax der griech.
Komparation in der klass, Literatur
198
Schwabe, Tacitus II 23
Schwartz. E., Aristobulos, Arrian, Cur-
tius Ruf US III 261
— Tyrtäos III 133
Schweizer, E., Grammatik der perga-
uien. Inschriften I 237
Schwyzer, E., die Vulgärsprache der
attischen Fluchtafeln I 15. 245
— die Weltsprachen des Altertums
I 188
Searles, H M., a lexicograph. study of
the Greek inscriptions I 135
Seebohm, H. E,, on the structure of
Greek tribal society III 14
Seeck, 0 , die Entwickelung der antiken
Geschichtschreibung II 16
— der Anfang von Tacitus' Historien
H 35
Seeliger, K., Messenia u. d. Achäische
Bund III 87
Selivanov, S., u. F. Hiller von Gaert«
ringen, die Zahl der rhodischen Pry-
tanen HI 92
Semenoff, A., antiquitates iuris public!
Oretensium III 3(1
Seymour, D., slavery a. servitude in
Homer HI 29
Shebelew, S., z. Gesch. der Bildung der
nachkleistheu. Phylen III 51
Siiverio, 0., z. Geschichte der attischen
Staatssklaven IH 63
Soiari, A., la navarchia a Sparta e la
lista dei navarohi III 34
Register.
311
Solmsen, F., zur griech. Laut- u. Vers-
lehre 112
— d. Wesen des griech. Akzents I 45
Sorn, J , zum über memorialis des L.
Ampelius II l"2ii
— weitere Beiträge zur Syntax des
M. Junianus .Tustinus II 137
Spengel, A., zur Geschichte des Kaisers
Tiberius II 43
Stern. E. v , z. Entstehung u. ursprüngl.
Bedeutung des Ephorats in Sparta
III 33
Stolz. Fr, z. Doppt'laugmentierung der
griech. Verba I 80
Stratton, Ä. W., history of Greek noun-
forrnntion I (i3
Stuart-Jones. H., the division of syllabies
in Greek I 49
Sütterlin, L., z. Geschichte der Verba
demonstrativa im Altgriech. I. I 78
Swete, H. B., an introduetion in the
Old Testament in Greek I 20fi
Swoboda, H., die griech. Volksbeschlüsse
III 18
— d. hellen. Bund d. J. 371 v. Chr.
III 106
— griech. Geschichte III 133
— Dareios u. Datis III 173
— zur Geschichte des Epaminondas
111 219
Szanto, E., d. griech. Bürgerrecht III 9
— die griech. Phylen III 14
— zur drakon. Gesetzgebung III 41
— zum attischen Budgetrecht III 79
— Anleiben griech. Staaten III 80
— Bronzfinschrift aus Olympia III 8G
Tacitus, Germania, Agricola. Dialogus
de oratoribus, hrsg. v. R. Novak
II 112
Teify, J., Chronologie u. Topographie
der griech. Aussprache I 21
Teusch, Th., de sortitione iudicum apud
Athenienses III 84
Tha'heim. Th , zu den griech. Rechts-
altertümern III 57
— CZ,03'.o; -riyj'^ III 73
— rpjv.a III 75
Thiele, G., ionisch-attische Studien 1 143
Thumb, A , die griech. Lehnwörter im
Armenischen T 26
— die griech. Sprache im Zeitalter
des Hellenismus I 156
— zur Aussprache des Griechischen
I 194
— die sprachgeschichtl. Stellung des
biblischen Griechisch I 201
Thumser N., 'E(pvr;3'.c, ^u^rjjM, i-wi-
■y.o.T.u III 57
Toeptfer, ]., die Gesetzgebung des Ly-
kurgos III 32
— d. Liste d. athen. Köniere III 40
— die Anfänge der athen. Demokratie
III 43
— die Söhne des Pei.sistratos TU 44
— das attische Gemeindebuch III 59
Torp, A., den graeske Nominalflexion
sammenlignende fremstillet i sine
Ilovedtraek I 69
T3£fji--/;;, T. N., -ä aüvi>=;cz x^; 'E>.-
>.r,v>x-^; -f'/.öjaari; I 51
Vandaele, H, l'optatif grec I 111
Viertel, A., Tiberius u. Germanikus
1139
VIeze. H., Domitians Chattenkrieg im
Lichte der Ergebnisse der Limes-
forsch ung II 69
Völker. F., papyrorum graecorum syn-
taxis specimen I 233
Vürtheim, J., de Heliaeis Atheniensibus
III 84
Wachsmuth, zu griech Historikern III 173
Wackermann,0., der Geschichtsschreiber
Tacitus II 21
Wackernagel, J., zur griech. Sprach-
kunde I 11
— zur Lehre v. griech. Akzent I 46
— zur griech. Nominalflexion I 70
— üb. e. Gesetz der idg. Wortstellung
I 131
Ward. CO., a history of the ancient
working people III 26
Warzynski, St., de servis Atheniensium
publicis III 62
— die rechtl. Stellung der Staats-
sklaven in Athen III 62
Weber, M., griecii. Agrargeschichte
ni 288
Weiske. A , zum Handwörterbuche der
griech. Sprache l 134
Wendland, P., die Berechtigung des
Namens xo'.v/j I 163
— zu Theophrasts Charakteren I 246
Wernicke, K., die Polizeiwache auf der
Burg von Athen III 63
Whibley, L, Greek oligarcbies III 17
— political parties in Athen III 114
Wide, S., geometr. Vasen III 116
Wilamowitz-Moellendorff, U v., Asia-
nismus u. Attizismus I 212
— Aristoteles u. Athen III 39
— die lebenslänglichen Archonten
Athens III 40. 133
Wilbrandt, M., d. polit. u. soziale Be-
deutung der attischen Geschlechter
vor Solon III 52
312
Register.
Wllcken, Aitolia III 108
— zu denpseudo-aristotel.Oeconomica
III 261
Wilhelm, A., der älteste attische Volks-
beschluss III 133
Wilisch, zur Geschichte des alten Ko-
rinth III 133
Willrich, H., wer Hess König Philipp
ermorden? III 261
Wimmerer, R., das mediale Futurum
sonst aktiver Verba im Griech. 1 104
Wölfflin, Ed., zur Komposition der Hi-
storien des Tacitus II 56
— Plinius u. Cluvius Rufus II 62
— dasBreviariumdesFestusII13L 133
Wölfflin, Ed., zur Latinität der Epitc
Caesarum II 141
Wunderer, C, Polybios-Forschuni
1248
Wünsch, R., zur Textgeschichte i
Germania II 115
Zarncke, E,, die Entstehung der grie
Litteratursprachen I 2
Ziebitrth, E., das griech. Vereinswes
III 25
Ziehen, L., d. drakont. Verfassu
III 41
— die drakont. Gesetzgebung III 1
ZIngerle, J., z. Gesch. d. 2. ath«
Bundes III 106
MIKIKI •UOHtauatlHU-UTIfll-IIIB.LaMtFT, •EriUlKHCN-ICMUlE DU ICTTC-VCKtint
Register
der in Band 87—122 erschieuenen Berichte.
Aristoteles, ältere Akademiker und
Peripatetiker v. F. Susemihl 189-1
88, 1-48.
Bibelübersetzungen, lateinische v. F.
Corssen bis 1899 101, 1-83.
Bflhnenwesen v. E. Bodensteiner 1885
-95 GO. 1—70. 106, 113-167.
Caesar v. J. Heller 1893/94 89, 86—
119. — 1895-97 97, 220-226.
Catull V. H.Magnus 1887-96 97, 190
—219. 101, 84—141.
Christlich-lateinische Poesie v. K. Wey-
man 1894—97 93, 165-219. — 1897
-99 105, 54—87.
Cicero, Briefe v. L. Gurlitt 1885(95)—
97 97, 1—60. — 1898—1900 105,
145-202. — 1900/01 109, 1-16.
Cicero, philosophische Schriften v. H.
Deiter 1894-97 101, 148-164.
Cicero, Reden v. G. Landgraf 1893—
95 89, 62-85. — 1896-1902 113,
74-88.
Cicero, rhetorische Schriften v. G.Ammon
1893—1900 105, 203-258. — 1900
— 1902 117, 138-154.
Dialekte, griechische v. W. Prellwitz
1882-99 lOG, 70-112.
— italische v. G. Herbig 1894-97106,
1-69.
Geographie des Nordens und Westens
V. D. Detlefsen 1881—93 90, 152—
279.
Geschichte, griechische v. Tb. Lenschau
1899—1902 122, 116-304.
Geschichte, römische v. L. Hüter 1889
—93 94, 1-277. v. L. Holzapfel
1894-1900 114, 1—25. 188—217.
118, 177-211.
Geschichtsschreiber, spätere römische
V. Tb. Opitz 1891-96 97, 81—125.
— 1897—1902 121, 126—142.
Grammatiker, lateinische, Scbolien und
Glossare v. P. Wessner 1891—1901
113, 113—227.
Herodot v. J. Sitzler 1895-97 100,
1-32. — 1898-1901 117, 74-109.
Hesiodor v. A. Rzach 1884-98 100,
92-170.
Homer, höhere Kritik v. P. Cauer 1888
-1901 112, 1—131.
HotTier, Realien v. A. Gemoll 1885—95
92, 233-276. — 1896-1902 117,
1-46.
Horaz, v. J. Haeussner 1892-96 93,
1-76. — 1897-99 105, 88—144.
Juristen, Feldmesser und scr. de re
rustica v. W. Kalb 1891 — 95 89,
206-312.- 1896-1900109, 17-85.
Komoedie, griechische v. K. v. Holzinger
1892-1901 liüj 159-328.
Lexikographie, lateinische v. K. Wagener
1886—99 114, 83—187.
Litteratur, griechische v. K. Haeberlin
1894-99 106, 234—289.
Litteratur, römische v. F. Aly 1891—96
98, 1—32.
Livius V. F. Fügner 1889-96 97, 61
— 80. — 1897-1900 105, 259—272.
Lucrez v. A. Brieger 1890—95 89,
120-205. — 1896-98 105, 1—53.
— 189911900 109, 145-161.
Lyriker, griechische v. J. Sitzler 1891
— 94 92, 1—204. — 1895-98 104,
76-164.
Mathematiker und Mechaniker, grie-
chische V. W. Schmidt 1890-1901
108, 59-128.
Metrik v. H. Gleditsch 1892-97 102,
1-64.
Musik, griechische v. K. v. Jan 1884
-99 104, 1-75. V. E. Graf 1899—
1902 118, 212-235.
314
Register.
Mythologie v. 0. Gruppe 1893—97 102,
133-243.
Naturgeschichte usw. v. M. Schmidt
1891—96 90, 71—151. v. H. Stadler
1895—97 114, 26-82.
Ovid V. R. Ehwald 1894—1902 109,
162-302.
Palaeographie und Handschriftenkunde
V. W. Weinberger 1874—96 98, 187
—310.— 1897—1900106, 168-233.
Papyrusforschung v.P. Viereck bis 1870
98, 135-186. bis 1898102, 244-312.
Phaedrus und Avienas v. H. Draheim
1895—98 101, 142-147.
Philosophen nacharistotelische v. K.
Praechter 1889-95 96, 1—106. —
1896—99 108, 129-211.
Philosophen, vorsokratische v. F. Lort-
ziDg 1876—97 96, 156—276. 112,
132-322. 116, 1-158.
Philosophie, jQdisch-hellenIstische v. P.
Wendland 1889—98 98, 118—134.
Pindar v. L. Bornemann 1892-96 92,
205-232. — 1837-1900 104, 165
—180. — 1901/02 117, 110-137.
Plastik V. B. Graef bis 1901 : 110, 1—50.
111—165.
PJinius d. J. v.K. Burkhard 1895—1901
109, 303—308.
Plutarch, Moralia v. A. Dyroff 1889-99
108, 1-58.
PrivataltertUmer, griechische v.H.BIüm-
ner 1891—1900 110, 66-110.
Quintilian v. G. Ammon 1888—1901
109, 86—144.
— Declamationen (und Calpurnius) v.
G.Lehnert 1888-1901 113, 89—112.
Redner, römische v. K. Burkhard 1891
—96 93, 77-115. — 1897-1902
117, 155—180.
Rhodos V. Hiller v. Gaertringen HO,
51—65.
Saoralaltertflmer, griechische v. H. v.
Prott bis 1899 102, 65-132.
Sallust V. B. Maurenbrecher 1878—98
101, 165-248. 113, 228-272.
Sophistik, zweite v. W. Schmid 1894—
1900 108, 212-280.
Sprache, griechische v. E. Schwyzer
1890—1903 120, 1—152. Koine v.
St. Witkowski 1898-1902 120, 153
—256.
StaatsaltertQmer, griechische v.J. Dehler
1893—1902 122, 1-115.
— römische v. W. Liebenam 1889
— 1901 118 1-148.
Tacllus V. G. Helmreich 1892—95 89
1-62. V. G. Wolff 1896-1903 121,
1—125.
Terenz v. F. Schlce 1889—96 93, 116
—164.
Thera v. Hiller v. Gärtringen 118,
149-176.
Thukydides v. Widmann 1888-99 100,
171—216.
Tragiker, griechische v. N. Wecklein
1892-95 88, 49-125. — 1896/97
96, 107-155.
Valerlus Maximus v. W. Heraeus 1391
97 97 i2Q 147.
Vergll v. R. Helm 1892-96 97, 148
— 189. — 1897—1901 113, 1—73.
Vulgär- und Spätlatein v. P. Geyer
1891—97 98, 33-117.
Xenophon v. E. Richter 1889-98 100,
33-91. — 1899—1902 117, 47—73.
►o;f:>
PA Jahresbericht über die Fort-
3 schritte der klassischen
J3 Altertumswissenschaft
Bd. 120-122
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