Skip to main content

Full text of "Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft"

See other formats


(>1 


/  ^y? 


JAHRESBERICHT 


über 


die  Fortschritte  der  klassischen 

AlteFtumswissensehaft 


begründet 


Conrad    B ii r s i a n 


herausgegeben 


L.  Grni-litt  iiiKi  TV.  Ki-oU, 


Hundertnndz wanzigster  Band.      (-yJ^^-^^oj 

Zweiunddreissigster  Jahrgang  1904. 
Erste  Abteilung. 

GRIECHISCHE  KLASSIKER. 


LEIPZIG  1905. 

0.    R.    REISLA.ND. 


Inhalts-Verzeichnis 

des  hundertundzwanzigsten  Bandes, 


Seite 


Bericlit  ü])er  die  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der 
griechischen  Sprachwissenschaft  mit  AusscMuß 
der  Keine  und  der  Dialekte  in  den  Jahren 
1890-1903  von  Eduard  Schwyzer    .     .     .         1—152 

Bericht  über  die  Literatur  zur  Koine  aus  den  Jahren 
1898—1902  von  Stanislaus  Witkowski  in 
Lemberg 153—251 


Bericht  über  die  Forschungen   auf  dem  Gebiete  der 

griechischen   Sprachwissenschaft 

mit  Ausschluss  der  Keine  und  der  Dialekte  in  den 

Jahren  1890-1903. 

Von 
Eduard  Schwyzer. 


Seit  mehr  als  zwanzig-  Jahren  ist  in  diesen  Jahresberichten  nicht 
mehr  von  der  eifrigen  Tätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  griechischen 
Grammatik  die  Rede  gewesen;  keiner  der  verschiedenen  Gelehrten,  die 
nach  einander  die  Aufgabe  übernahmen,  gelaugte  znr  Ausarbeitung  seines 
Berichtes.  Inzwischen  wuchs  jedoch  die  Masse  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  immer  mehr,  und  als  der  jetzige  Berichterstatter  vor  einigen 
Jahren  sich  zur  Übernahme  der  Arbeit  entschloß,  war  er  sich  von 
vornherein  klar,  daß  es  sich  nicht  darum  handeln  könne,  über  alles, 
was  seit  dem  Ende  der  70er  Jahre  erschien,  auch  nur  knapp  zu  refe- 
rieren und  setzte  deshalb  im  Einverständnis  mit  der  Redaktion  das 
Jahr  1890  als  Ausgangspunkt  seines  Berichtes  fest,  um  so  mehr,  als 
ihm  dafür  nur  die  spärlichen  Mußestunden,  welche  eine  angestrengte 
mehrfache  Berufstätigkeit  und  andere  Arbeiten  übrig  ließen,  zu  Gebote 
standen.  Die  vorgeschriebene  Abgrenzung  gegen  die  Berichte  über 
vergleichende  Sprachwissenschaft,  über  die  Koine  und  die  griechischen 
Dialekte,  sowie  über  die  einzelnen  Schriftsteller  ließ  sich  nicht  immer 
streng  durchführen. 

Außer  der  Bibliotheca  philologica  classica  habe  ich  die  seit  1891 
erscheinende,  seit  1892  von  A.  Thumb  redigierte  Bibliographie  über 
das  Gebiet  der  griechischen  Sprachkunde  im  „Anzeiger  für  indo- 
germanische Sprach-  und  Altertumskunde.  Beiblatt  zu  den  indo- 
germanischen Forschungen"  mit  Dank  benutzt.  —  Meine  Abkürzungen 
sind  die  der  Bibliotheca  philologica  classica.^) 


*)  Vgl.  auch  die  Berichte  von  W.  Prellwitz,  Jahresbericht  über  die 
griechische  Dialektforschung  von  1882—1899.  BuJ.  Bd.  GVL  1900,  3.  Abt. 
S.  70—112  und  Griechisch.  1899—1002  in  Vollmöllers  Uoman,  Jahresbe- 
richt VI,  Ißl— 73  sowie  den  an  den  vorliegenden  Bericht  anschlieBenden 
über  die  Koine  von  St.  Witkowski.  —  Die  Auswahl  unter  den  im  Mscr. 
vollständig  gegebenen  Besprechungen  wurde  durch  die  Redaktion  getroffen. 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1904.    I.)  1 


2         Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Gesamtdarsteilimgen  der  Grammatik  der  ganzen  Gräzität  sowie 
einzelner  Perioden. 

Die  höchste  Aufgabe,  die  der  geschichtlichen  Sprachbetrachtung 
gestellt  ist ,  besteht  nicht  iu  der  Sammlung  und  Sichtnns  des  Stoffes, 
in  der  Einreibung  desselben  in  die  Fächer  des  grammatischen  Hand- 
buches, sondern  in  einer  Darstellung  des  Lebens  einer  Sprache  in  seiner 
ganzen  Breite  im  Zusammenhang  mit  der  Kultur,  deren  vornehmstes 
Zeugnis  sie  bildet. 

Ist  dieser  Ruf  auch  auf  verschiedenen  Gebieten  sprachwissen- 
schaftlicher Forschung  in  den  letzten  Jahren  laut  geworden,  so  hat  er 
doch  auf  griechischem  Boden  noch  wenig  Nachfolge  gefanden.  Man 
muß  sich  volläufig  mit  im  Verhältnis  zu  der  Fülle  des  Materials  und 
der  Bedeutung  der  Aufgabe  recht  knappen  Skizzen  zufrieden  geben. 
In  erster  Linie  verdienen  die  Einleitungen  zu  den  ausführlichen 
Grammatiken  von  Kühner-Blaß,  G.  Meyer,  A.  N.  Jannaris, 
G.  N  Hatzidakis  genannt  zu  werden;  ebenfalls  aus  Hatzidakis' 
Feder  stammt  der  interessante  Überblick  über  die  griechische  Sprach- 
geschichte von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Gegenwai't,  welcher  der 
griechischeil  Bearbeitung  des  Wörterbuches  von  Lideil  und  Scott  (Athen, 
KwvcjTavTiviSTic  1901)  vorausgeschickt  ist.  Eine  erste  Orientierung  auch 
über  die  griechische  Sprachgeschichte  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  bietet 
E.  Schwyzer,  Die  Weltsprachen  des  Altertums  in  ihrer  geschicht- 
lichen Stellung.    Berlin  1902. 

Von  einzelnen  Perioden  der  Sprachgeschichte  sind  bisher  im  oben 
angedeuteten  Sinne  am  besten  und  ausführlichsten  die  vor  der  Geschichte 
liegenden  Anlange  des  Griechischen  behandelt  worden,  die  jenseits  der 
Grenze  unseres  Berichtes  liegen,  von  P.  Kretschmer,  Einleitung  in 
die  Geschichte  der  griechischen  Sprache.  Göttingen  1896;  von  der 
zu  erwartenden  Fortsetzung  ist  noch  nichts  aus  Licht  getreten.  Hier 
sind  noch  aufzuführen  die  Skizzen  von  : 

E.  Zarncke,  Die  Entstehung  der  griechischen  Litteratursprachen. 
Leipzig  1890. 

Rez.  von  My,  Rcr  1890,  Nr.  18  p.  351.  Egeuolff,  BphW  10, 
1246—8.    Hilberg,  ZöGy  41,   1139.   Dittenberger,  DL  1891,  1375—6. 

*C.  0.  Zuretti,  Sui  dialetti  letterari  greci.    Torino  1892. 

Rez.  von  B.,  LC  1892.  817—8.  Meisterhans,  NphR  1893,  170—1. 

Zarnckes  Vortrag  gibt,  ausgehend  von  der  Betonung  des  Unter- 
schieds zwischen  gesprochener  und  geschriebener  Sprache  auch  für 
Griechenland,  einen  hübschen  Überblick  über  die  Literatursprachen  der 
voralexandrinischen  Zeit.     Die  älteste,    der  epische  Dialekt,    der  nicht 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890 — 1903.  (Schwyzer.)  3 

mit  einer  gesprochenen  Mundart  identifiziert  werden  darf  —  Ficks  An- 
schauungen werden  abgelehnt  —  hat  die  Dichtersprache  der  ganzen 
Folgezeit  beeinflußt.  In  der  Lyrik  venät  diesen  Einfluß  am  meisten 
die  Elegie,  schon  weniger  der  lambos,  am  wenigsten  das  Melos,  das 
neben  den  vorwiegenden  dorischen  auch  äolische  Elemente  in  sich  auf- 
genommen hat.  Das  Drama,  das  ja  eine  Art  Vereinigung  von  Epos 
und  Lyrik  bildet,  wird,  im  Anfang  noch  ziemlich  stark  den  Einfluß  der 
älteren  Gattungen  verratend,  in  der  Folgezeit  immer  nationaler:  von 
Anfang  an  deckt  sich  mehr  mit  der  Sprache  des  Lebens  die  Komödie. 
—  Auch  die  älteste  ionische  Literaturprosa  zeigt  Beeinflussung  durch 
den  epischen  Stil,  wenn  auch  schon  vor  unserer  ältesten  Überlieferung 
eine  primitive  Literaturprosa  wohl  vorhanden  gewesen  ist.  Herodots 
Sprache  ist  mit  keiner  Ortsmundart  identisch,  wenn  auch  eine  solche, 
die  milesische,  wohl  die  Grundlage  bildete.  An  die  epische  Sprache 
schließt  sich  auch  die  philosophische  an  —  die  pythagoreische  Schule 
mit  ihrem  Versuch,  eine  dorische  Prosa  zu  entwickeln,  steht  für  sich  — , 
die  wieder  für  Hippokiates  die  Grundlage  bildet.  In  Attika  endlich 
geht  die  Knnstprosa  aus  von  der  Hhetorik  (Gorgias).  der  an  die  zu- 
gespitzte, wit/.ige  sizilianische  Redeweise  anknüpfte,  von  der  man  später 
allerdings  manches  abstreift.  Den  Schluß  bildet  eine  Warnung  vor 
kritikloser  Benutzung  der  Dialektinschriften  für  die  Textkritik. 

Im  übrigen  ist  noch  die  Form  des  grammatischen  Handbuches, 
das  ja  neben  der  geschichtlichen  Darstellung  immer  unentbehrlich 
bleiben  wird,  maßgebend  geblieben. 

Unser  Zeitraum  hat  zwei  neue  Gesamtdarstellungen  hervorge- 
bracht, welche  den  Anspruch  erheben,  die  geschichtliche  Entwickelung  des 
Griechischen  von  seinen  ältesten  Zeiten  bis  hinunter  auf  die  Gegenwart 
zu  verfolgen.    Es  sind  die  Bücher  von 

*H.  C.  Muller,  Historische  Grammatik  der  hellenischen  Sprache. 
Leiden.    I.  Grammatik,  189 L    IL  Chrestomathie,  1892. 

Rez.  GMr,  BphW  12,  437—43;  13,  24—25.  Krumbacher,  NphR 
1892,  105—8;  1893,  124.  W.  Schulze,  DL  1893,  1383—5.  Thumb, 
lA.  2,  171  und 

A.  N.  Jannaris,  An  historical  Greek  grammar.    London  1897. 

Rez.  Th(umb),  LC  1898,  365-7.  KK..  ByZ  7,  221—3.  R.Meister, 
BphW  1898,  993—6.     Kretschmer,  WklPh  1898,  735—41. 

Das  Buch  von  H.  C.  Muller  ist,  soweit  ich  nach  anderen  Ver- 
öffentlichungen des  Amsterdamer  Philhellenen  urteilen  kann-,  mit  Recht  von 
der  Kritik  einstimmig  als  oberflächlich  und  dilettantisch  verurteilt  worden. 

Das  Werk  von  Jannaris  bringt  nach  Vorwort,  Inhaltsübersicht 
und    Übersicht    über    die    benutzte    Literatur    sowie    die    verwerteten 

1* 


4         Bericht  über  griechische  Sprachwisienschaft  1890-1903   (Schwyzer.) 

Spracbquellen  (p.  I — XXXVIII)  erst  eine  kurze  Darlegung  der  ge- 
samten griechischen  Sprachentwickelung  (S.  1  —  20),  dann  auf  S.  21 
—  100  die  Laut-,  auf  S.  101-311  die  Formeulehre  und  auf  S.  312— 
506  die  Syntax;  die  S.  507 — 580  füllen  sechs  Anhänge  über  Akzent, 
Quantität,  Endkonsonanten,  Indikativ  Fut.,  Modi  und  Infinitiv,  während 
Wort-,  Sach-  und  Stellenindex  —  nach  englischer  Weise  reichhaltig  — 
die  S.  581 — 737  einnehmen.  Jannaris'  Werk  ist  der  erste  nennens- 
werte Versuch,  die  Gesaratgeschichte  des  Griechischen  darzustellen,  und 
man  wird  zugeben  müssen,  daß  er  in  den  fünf  Jahren,  in  denen  er 
seine  Aufgabe  bewältigen  zu  können  glaubte,  fleißig  gearbeitet  hat. 
Freilich,  Vollständigkeit  nach  allvn  Richtungen  hin  ist  auch  nicht  er- 
strebt worden:  die  vorhistorische  Periode  und  die  Dialekte  blieben  von 
vornherein  ausgeschlossen.  So  ist  die  Grammatik  für  das  Altgriechische 
schon  dem  Material  nach  durchaus  ungenügend  und  erträgt  in  keiner 
Weise  einen  Vergleich  mit  den  gleich  nachher  zu  nennenden  Dar- 
stellungen. Alle  Anerkennung  verdient  der  Stoff,  der  aus  helleuistischea 
und  mittelgriechischeu  Inschriften,  Papyii  und  literarischen  Quellen, 
wenn  auch  nicht  in  einiger  Vollständigkeit,  beigebracht  wird,  und  darin 
liegt  der  wisseus(  hattliclie  Wert  des  Buches.  Als  anregend  und  nützlich 
sei  ferner  die  stete  Gegenüberstellung  der  alten  und  neuen  Formen  und 
Ausdrücke  hervorgehoben,  besonders  auch  in  der  Syntax,  die  in  ihrem 
altgriechischen  Teil  nicht  mehr  als  jede  bessere  Schulgrammatik  bietet. 
Das  Hauptgebiechen  des  Buches,  infolgedessen  es  auch  als  Lehrbuch 
für  Studierende  unbrauchbar  ist,  da  es  nur  verderblich  wirken  könnte, 
ist  der  oft  und  augenfällig  hervortretende  Mangel  des  Verfassers  an 
sprachwissenschaftlicher  Schulung.  Von  dem  Geist,  der  in  den  neueren 
sprachwissenschaftlichen  Werken  herrscht,  die  er  zu  Anfang  in  so 
großer  Zahl  aufführt,  hat  er  wenig  in  sich  aufgenommen.  Natürlich 
glaubt  Jannaris,  daß  die  heutige  neugriechische  Aussprache  in  allen 
wesentlichen  Punkten  die  der  klassischen  Zeit  sei.  Die  metrische 
Dehnung  bei  Homer  setzt  nach  J.  den  Gebrauch  der  Schrift  voraus 
(S.  22);  die  langen  Vokale  waren  tatsächlich  nicht  vorhanden,  sondern 
sind  nur  eine  Erfindung  der  Grammatiker  und  Metriker  (S.  27);  wenn 
es  wirklich  ein  e,  o  gegeben  hätte,  hätten  doch  „Ignorant  scribes  and 
stone-cutters"  gelegentlich  zt,  oo  schreiben  müssen  (S.  39);  -[spa  ist  durch 
Ersatzdehnuug  aus  7£pa(a)  entstanden  (S.  533);  das  Augment  ist  nichts 
anderes  als  E  EN,  die  archaische  Form  von  att.  -^  r^v  (S.  185).  Es 
mug  an  diesen  Proben  genügen,  die  sich  namentlich  aus  der  Lautlehre 
sehr  stark  vermehren  ließen.  Besonders  mag  noch  bemerkt  sein,  daß 
auch  die  Erklärung  mittel-  und  neugriechischer  Formen  oft  zu  starken 
Bedenken  Anlaß  gibt;  die  mit  einer  gewissen  Stetigkeit  zutage  tretende 
Polemik  gegen  Hatzidakis  ist  selten  glücklich. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)         5 

Zwei  andere  neue  Gesamtdarstellungen  beschränken  sich  im  wesent- 
lichen auf  das  Altgriechische  und  dienen  hauptsächlich  Unterrichtszwecken : 
H.  Hirt,    Handbuch    der    griechisclieu   Laut-   und  Formenlehre. 
Eine     Einführung     in      das     sprachwissenschaftliche     Studium     des 
Griechischen.     Heidelberg  1902. 

ßez.:  Solmsen,  ALL  XIII,  137;  BphW  1902,  1002/9.     Tharab, 
LC  1903,  285.     Schwyzer,  NJklA  1903,  443  f. 

Ich  muß  trotz  des  Lobes,  das  dem  Bnche  von  anderer  Seite  ge- 
spendet wurde,  an  meinem  a.  a.  ().  niedergelegten  Urteil  festhalten,  daß  es 
von  den  Anfängern,  für  die  es  ja  gerade  berechnet  ist,  nur  mit  großer 
Vorsicht  benutzt  werden  darf.  Oline  selbständige  Durchforschung  der 
griechischen  Sprachquellen  hat  zwar  Hirt  die  neuere  sprachwissenschaft- 
liche Literatur  mit  kritischem  Urteil  verwertet,  und  daß  alle  Richtungen 
der  Forschung,  bald  hier,  bald  dort,  zum  Wort  kommen,  ist  nur  als 
ein  Vorteil  zu  betrachten  :  aber  der  vorgeschichtlichen  Konstruktion  ist 
im  Verhältnis  zur  Betrachtung  geschichtlicher  Tatsachen,  die  prinzipiell 
ebenso  lehrreich  und  dem  Gymnasiallehrer  nützlicher  wäre,  viel  zu  viel 
ßaum  zugestanden.  Zudem  hat  Hirt,  besonders  aus  seinem  Buche  über 
den  indogermanischen  Ablaut,  manche  Hypothese  aufgenommen,  die  der 
Anfänger  nicht  zu  kenneu  braucht.  An  manchen  Stellen  des  Buches 
tritt  Hirts  gewandte,  flüssige  Darstellung  dem  Leser  entgegen :  um  so 
mehr  wird  einen  die  anderwärts  zu  beobachtende  Unklarheit  stoßen, 
die  wohl  auf  a,llzu  flottem  Arbeiten  beruht.  Auch  gelegentliche 
Wiederholungen  und  Ungleichheiten,  sowie  eine  Reihe  von  Druckfehlern 
muß  man  in  den  Kauf  nehmen.  —  Hirts  Buch  gehört  einer  Sammlung 
indogermanischer  Lehrbücher  an;  daß  gerade  er,  dessen  Forschungen 
sich  bisher  besonders  auf  germanischem  und  slavischem  Gebiete  be- 
wegten, das  Griechische  übernahm,  hat  darin  seinen  Grund,  daß  „er 
gerade  auf  diesem  Gebiete  etwas  Neues  bieten  zu  können  hoö'te", 
womit  seine  Ablaut-Theorie  gemeint  ist.  Fast  gleichzeitig  mit  Hirt 
hat  ein  Führer  der  griechischen  Sprachforschung  ebenfalls  ein  Lehrbuch 
geschrieben,  das  aber  Im  Gegensatze  zu  Hirts  Arbeit  —  mit  vollem 
Recht  —  den  Anfänger  vor  allem  auf  den  Wert  der  Tatsachen  imd 
die  möglichst  sicheren  Erklärungsversuche  hinweist: 

r.    N.  XaT^iöaxt,    'AxaSY)(x£txa    dva^vcujjxaTa    ei?     ttjv  "EXXtjvixti^v, 

Aaxtvtx'Tjv  xotl  [JLixpov  ei?  TT)v'Iv3tx'?jvypa[X[xaTixTQv.  T6[xosa'.  'Ev'A9r^vatcl902 

(-=  ^tßXioö/jXTi  MapacjXr^  dp.    175—178). 

Eine  in  ihrer  ganzen  Anlage  eigenartige  sprachgeschichtliche  Dar- 
stellung des  Altgriechischen  —  wie  das  Indische,  ist,  wenn  auch  in 
etwas  geringerem  Maße,  auch  das  Lateinische  in  dem  bisher  vorliegenden 
ersten  Bande   nur  Beiwerk,    was    sich  auch  äußerlich  in  den  im  latei- 


6         Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.^ 

nischen  Druck  unverhältnismäßig  häufigen  Druckfehlern  kundgibt,  die 
freilich  nur  zum  geringen  Teil  auf  Rechnung  des  Verfassers  zu  setzen 
sein  werden.  In  griechischer  Sprache  für  griechische  Studenten  ge- 
schrieben, verdient  doch  das  Buch  auch  außerhalb  Griechenlands  be- 
kannt und  studiert  zu  werden,  obschon  meines  Wissens  bis  anhin  [1903]  keine 
Besprechung  in  einer  westeuropäischen  Kultursprache  erfolgt  ist.  Seinem 
Gesamtcbarakter  nach  vergleicht  es  sich  Wilmanns' Deutscher  Grammatik: 
an  Wilmanns  erinnert  die  ausführliche,  lehrhafte,  klare  Darstellung,  an 
Wilmanns  das  Bestreben,  nur  abgeklärte  Ergebnisse  zu  bieten  und 
kurzlebigen  Hypothesen  womöglich  aus  dem  Wege  zu  gehen,  an  Wil- 
manns die  Fülle  des  vorgeführten  sprachlichen  Materials.  Dagegen  sind 
Zitate  antiker  Quellen  sowie  moderner  Literatur  recht  selten;  da  letztere 
Hatzidakis'  Hörern  wenig  zugänglich  ist,  sind  nur  in  griechischer  Sprache 
erschiei  ene  Arbeiten  sowie  des  Verfassers  Einleitung  einigermaßen 
regelmäßig  genannt.  Einen  besonderen  Reiz  erhält  das  Werk  durch 
die  ziemlich  häufige  Heranziehung  neugriechischer  Aualoden.  —  Eine 
knappe  Inhaltsangabe  der  zwölf  Kapitel  des  bis  jetzt  [1903]  erschienenen 
I.  Bandes  mag  einen  Begriff  von  dem  reichen  Inhalt  des  Werkes  geben. 
Kap.  I  enthält  als  Einleitung  in  die  historische  Grammatik  des  Griech., 
Lat.  und  Indischen  einen  Abriß  der  Geschichte  der  Sprachwissenschaft 
und  ihrer  Methoden  und  eine  Übersicht  über  die  \äs.  Sprachen  sowie 
über  die  äußeren  Schicksale  der  3  genannten  Einzelsprachen,  wobei  be- 
sondess  die  Behandlung  des  Griechischen  hervorgehoben  sei;  stoflFlich 
hängt  mit  dem  I.  das  II.  Kapitel  teilweise  zusammen,  das  über  die 
Quellen  der  alten  Grammatik  handelt,  freilich  besonders  mit  Rücksicht 
auf  deren  methodische  Benutzung.  Auch  hier  stellt  H.  einen  Grundsatz 
auf,  den  er  schon  wiederholt  begründet  hat  und  der  auch  in  den  Kapiteln, 
die  der  Aussprache  gewidmet  sind,  oft  wieder  auftaucht,  wonach  alle 
auftälligen  Besonderheiten,  die  sich  auf  Inschriften  und  in  Papyri  finden, 
aus  dem  für  die  Sprachgeschichte  zugrunde  zu  legenden  Material  aus- 
zuscheiden sind,  als  barbarische  Erscheinungen,  die  bei  nationalen  Griechen 
nicht  vorkommen.  Obwohl  hier  strenge  Kritik  gewiß  vounöten  ist  und 
einzelne  Erscheinungen  durch  die  spätere  Entvvickeluug  nicht  bestätigt 
werden,  auch  Schreibfehler  und  Steiumetzversehen  zuzugeben  sind,  wird 
doch  nicht  weniges  von  dem.  was  die  ägyptischen  Papyri  schon  ver- 
hältnismäßig früh  zeigen,  später  allgemein;  und  wenn  auch  die  Sprache 
der  niederen  sozialen  Schichten  Athens  eine  Mischsprache  war,  so  ist 
doch  zu  bemerken,  daß  für  die  Fortbildung  der  Sprache  gerade  diese 
Elemente  vielleicht  mehr  in  Betracht  kommen  als  die  konservativeren 
oberen  Schichten.  H.  scheint  also  auch  mir  vielfach  niit  seiner  Kritik 
zu  weit  gegangen  zu  sein.  Kapitel  III  und  IV  gehören  wieder  zu- 
sammen: handelt  das  eine  von  der  Uervorbringung  der  Laute  (Phonetik!}, 


Beriebt  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)  7 

spricht  das  andere  von  deren  Darstellung  durch  die  verschiedenen  in 
Betracht  kommenden  Alphabete.  Lautgesetz  und  Analogie  (samt 
Volksetymologie  und  Kontamination)  behandeln  vom  Standpunkt  der 
neueren  Sprachwissenschaft  Kap.  V  und  VI;  Kap.  VII  spricht  über 
die  fremden  Elemente  in  der  Sprache  (Sprachmischung),  Kap.  VIII 
enthält  die  Lehre  von  der  Ersatzdehnung,  der  rhythmischen  Dehnung, 
von  der  Vrddhiernng  und  besonders  vom  qualitativen  und  quantitativen 
Ablaut.  Ungemein  ausführlich  wird  in  den  beiden  folgenden  Kapiteln 
die  Aussprache  behandelt,  im  allgemeinen  und  im  besonderen.  H. 
steht  darin  durchaus  auf  dem  Boden  der  deutschen  E'orschung  und  zer- 
stört mit  kritischer  Schärfe  mitunter  sogar  ein  Zeugnis  für  das  Auf- 
kommen der  heutigen  Aussprache,  das  diese  selbst  zu  finden  glaubte, 
um  so  mehr  die  falschem  Patriotismus  entstammenden  dilettantischen 
Versuche,  die  neugriechische  Aussprache  als  solche  dem  Altertum  zu- 
zuschreiben. Das  hindert  ihn  jedoch  nicht,  zu  betonen,  daß  auch  die 
erasmische  Aussprache  für  das  Altgriechische  offenbare  Fehler  aufweise 
und  mancher  Punkt  von  der  Wissenschaft  unmöglich  klargestellt  werden 
könne;  die  neugriechische  Aussprache,  wenn  auch  sicher  in  vielen 
Punkten  für  das  Altgiiechische  fehlerhaft,  habe  doch  den  Vorteil, 
lebendige  Wirklichkeit  zu  sein,  und  er  würde  sie  unbedingt  auch  für 
westeuropäische  Schulen  empfehlen,  wenn  nicht  durch  ihre  Einführung 
zu  der  Schwierigkeit  der  Formenlehre  noch  die  Schwierigkeit  einer 
historischen  Orthographie  hinzukäme.  Kap.  XI  ist  den  beiden  Hauch- 
lauten, ihrer  Aussprache  und  Geschichte,  gewidmet,  und  Kap.  XII  be- 
handelt ausführlich  und  mit  reichlicher  Vorführung  von  Beispielen  die 
Wort-  und  Satzbetonung  des  Griechischen,  z.  T.  auf  Grund  von  Einzel- 
untersuchungen des  Verfassers,  die  später  zu  nennen  sind;  die  letzten 
Paragiaphen  des  Kapitels  untersuchen  die  Einordnung  der  Lehnwörter 
aus  dem  Lateinischen  in  das  griechische  ßetonungssystem.  —  Selbst 
wenn  das  Buch  nur  H.s  durchaus  selbständiges  Urteil  über  die  be- 
handelten Fragen  vermittelte,  müßte  es  auch  dem  Forscher  wichtig  sein; 
es  enthält  aber  auch  an  manchen  Stellen  neue  Gesichtspunkte,  und 
wenn  auch  nicht  jeder  überall  zustimmen  wird,  darf  doch  eine  baldige 
Fortführung  des  Werkes  von  vornherein  dankbarer  Aufnahme  sicher  sein. 
So  wird  man  auch  fernerhin  wenigstens  für  diejenigen  Perioden, 
denen  unser  Bericht  hauptsächlich  gilt,  einiger  Werke  nicht  entraten 
können,  deren  Anfänge  zwar  einer  früheren  Zeit  angehören,  die  aber 
in  den  letzten  Jahren  neu  aufgelegt  worden  sind: 

ß.  Kühner,  Ausführliche  Grammatik  der  griechischen  Sprache. 
Erster  Teil:  Elementar-  und  Formenlehre.  3.  Aufl.  in  2  Bänden,  in 
neuer  Bearbeitung  besorgt  von  Friedr.  Blaß.  Hannover  I  1890.  11.1892. 


8         Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Rez.  von  Ziemer,  Gy  1892,  Nr.  13.  Brugmann,  lA  1,  15 — 17; 
6,  50-52.     Witkowski,  Eos  VIT,  247—50. 

G.  Meyer,  Griechische  Grammatik.     3.  Auflage.     Leipzig  1896. 

ßez.  von  Kretschmer,  BphW  1897,  691-5.  Solmsen,  lA  11.  74—81. 

K.  Brugmann,  Griechische  Grammatik  (in  Müllers  Handbuch). 
3.  Auflage.     München  19üO. 

Rez.  von  Th(umb),  LC  1900,  1735  f.  Bartholomae,  WklPh  1902, 
626—31.     Meringer,  ÖLbl  1902,  655. 

Als  Vorzug  der  früheren  Auflagen  der  Kühuerschen  Grammatik 
hatte  gegolten,  daß  sie  nebeu  reicher  Sammlung  von  Tatsachen  auch 
bemüht  war,  sprachgeschichtliche  Erklärungen  zu  geben  unter  Benutzung 
der  damaligen  Ergebnisse  der  vergleichenden  Sprachwissenschaft.  Die 
neue  Auflage  wird  nicht  mehr  beiden  Ansprüchen  gerecht,  und  man 
möchte  wünschen,  daß  sie  dem  zweiten  noch  weniger  gerecht  zu  werden 
suchte.  Blaß  hat,  unter  Beibehaltung  des  Grundrisses,  der  ganzen  Ein- 
teilung, sich  vor  allem  bemüht,  seither  bekannt  gewordene  Tatsachen 
aus  den  Quellen  und  der  neueren  grammatischen  Literatur  nachzutragen 
und  vermeintliche  Tatsachen  zu  beseitigen  —  und  als  Sammlung  ver- 
dient das  Buch  den  vollen  Dank  der  Wissenschaft;  es  muß,  wie  dies 
Blaß  im  Vorwort  in  allerdings  ziemlich  einseitiger  Weise  tut,  immer 
wieder  gegenüber  bloßen  Konstruktionen,  besonders  vorgeschichtlichen, 
die  Wichtigkeit  der  Feststellung  der  Tatsachen  betont  werden.  Doch 
die  gegebenen  Erklärungen  sowie  was  zum  Vergleich  aus  verwandten 
Sprachen  herbeigezogen  wird,  enthalten  eine  ganze  Reihe  von  Irrtümern, 
so  daß  in  deren  Benutzung  größte  Vorsicht  geboten  ist;  von  dem  Geiste 
der  neueren  Sprachforschnag  ist  darin  noch  recht  wenig  zu  spüren. 

Die  erste  Auflage  von  G.  Meyers  Grammatik  erschien  zu  einer 
Zeit,  wo  die  Einten  des  Kampfes  hoch  gingen  in  der  indogermanischen 
Sprachwissenschaft;  es  war  damals  kein  leichtes  Unternehmen,  bei  dem 
vielfach  noch  wenig  abgeklärten  Stande  mancher  Fragen  eine  Grammatik 
des  Griechischen  mit  Berücksichtigung  der  vergleichenden  Sprach- 
forschung zu  schreiben  —  und  das  wollte  Meyer  leisten.  Daneben  bot 
sie  aber  auch  schon  eine  Sammlung  und  Sichtung  des  Sprachstoft'es, 
und  dieser  Gesichtspunkt  ist  in  der  dritten  Auflage  der  wichtigste  ge- 
worden; die  entwickelungsgeschichtliche  Forschung  wird  nicht  vernach- 
lässigt, noch  sind  die  vorgebrachten  Erklärungen  etwa  im  Widerspruch 
mit  der  jetzigen  Wissenschaft,  aber  die  Erklärung  und  besonders  die 
vorgeschichtliche  Konstruktion  steht  durchaus  in  zweiter  Linie.  Außer- 
li'ih  ist  die  neue  Auflage  wenig  von  ihrer  Vorgängerin  verschieden; 
immer  noch  beschränkt  sich  die  Grammatik  auf  Laut-  und  Formen- 
lehre, und  auch  in  diesem  Rahmen  findet  der  Akzent  keine  Darstellung. 


Beriebt  über  griechische  Sjirachwissenschaft  1890-190o.  (Scbwyzer.)  9 

Die  Einteilung:  ist  wesentlich  die  gleiche  geblieben,  wenn  auch  das  neue 
nachgetragene  Material  den  Umfaug  des  Buches  um  einige  Bocjen  ver- 
niehit  hat.  Wer  an  Hand  der  sprachwissenschaftlich  fresichteten  Tat- 
sachen sich  eine  genauere  Kenntnis  der  griechischen  Sprachgeschichte 
erwerben  will,  wird  nach  wie  vor  zu  Gustav  Meyers  Buch  greifen 
müssen. 

Dagegen  setzt  Brugmanns  Werk  die  Kenntnis  der  Tatsachen  vor- 
aus, von  denen  nur  angeführt  wird,  was  für  das  Verständnis  notwendig 
ist,  und  stellt  überall  den  entvvickelungsgeschichtlichen  Gesichtspunkt 
in  den  Vordergrund.  Aus  dem  dürren  Grundriß  der  ersten  Ausgabe 
ist  in  der  dritten  ein  stattliches  Buch  geworden,  das  alle  Teile  der 
Grammatik  beleuchtet  und  namentlich  der  Syntax  einläßliche  Be- 
trachtung widmet.  Haben  alle  Abschnitte  gegenüber  den  früheren  Auf- 
lagen bedeutende  Umgestaltungen  erfahien  —  den  Fortschritten  der 
emsigen  Sprachwissenschaft  entsprechend  — ,  so  gilt  dies  doch  am 
meisten  von  der  Syntax,  wo  jetzt  durch  Delbrücks  großes  Werk  über 
die  vergleichende  Syntax,  dessen  zwei  erste  Bände  Brugmann  noch 
benutzen  konnte  —  er  anerkennt  ausdrücklich  Delbrücks  Bedeutung 
auch  für  seine  Darstellung,  wenngleich  er  nicht  selten  über  den  Alt- 
meister syntaktischer  Forschung  hinausgekommen  zu  sein  meint  — ,  für 
die  Einzelsprachen  die  bisher  noch  vermißte  vergleichende  Basis  ge- 
schaffen worden  ist.  Durch  Brugmanns  Darstellung  weht  ein  anderer 
Geist  als  durch  die  schematischen  Belegsammlungen  früherer  Bearbei- 
tungen, es  ist  die  Betrachtungsweise  einer  Psychologie,  wie  sie  durch 
Wundt  begründet  ist.  Es  mag  beispielsweise  hervorgehoben  sein  die  Be- 
handlung desGenetivs,  desfjnachKomparativen,  derVerbalaklionen.  Dabei 
ist  auch  die  Form  so  klar  und  sauber,  das  wesentliche  scharf  heraushebend, 
daß  die  Lektüre  zu  einem  wahren  Genuß  wird.  Aber  auch  in  Lant- 
und  Formenlehre  wird  der  Leser  dankbar  mancherlei  Anregung  finden : 
es  sei  als  Beispiel  auf  die  Behandlung  der  epischen  Zerdehnung  vei- 
wiesen,  wozu  Leskien  aus  slavischem  Sprachgebiet  eine  feine  Beob- 
achtung beisteuert  (S.  64). 

Schließlich  ist  hier  noch  zu  erwähnen  die  griechische  Grammatik 
von  H.  Meltzer,  die  zwei  Bändchen  der  Sammlung  Göschen  füllt: 

Griechische  Grammatik  I.  Formenlehre  (mit  Register)  —  11.  Be- 
deutungslehre und  Syntax.     Leipzig  1900,  1901. 

ein  im  ganzen  geschickter  Auszug  aus  größeren  Werken,  namentlich 
Brugmanns  griech.  Gramm.,  der  teilweise,  dem  Plane  der  Sammlung 
entsprechend,  wie  die  in  w'enig  übersichtlicher  Weise  fortlaufend  ge- 
druckten Paradigmata  zeigen,  praktische  Ziele  verfolgt,  aber  in  manchen 
Partien,    besonders  in  der  Lautlehre,    einem   Nichtphilologen  nicht  ver- 


10       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.) 

ständlich  sein  wird.  Der  erste  Teil  enthält  eine  Reihe  von  Drnckfehlern 
und  Versehen,  besonders  auch  unter  den  verglichenen  indischen  Wörtern. 
Der  Titel  des  höher  za  bewertenden  zweiten  Teils  kann  leicht  irre- 
führen; statt  „Bedeutungslehre"  erscheint  in  der  Inhaltsübersicht  „Wort- 
bedeutung", womit  nach  Ries'  Vorgang'  bezeichnet  wird,  was  die  übliche 
traditionelle  Grammatik  als  Syntax  der  Kongruenz,  des  Adjektivs,  Pro- 
nomens und  der  Tempora  und  Modi  des  Verbs  behandelt.^) 

An  die  Gesamtdarstellungen  seien,  um  sie  nicht  an  verschiedenen 
Stellen  besprechen  zu  müssen,  einige  Schriften  angeschlossen,  welche 
Beiträge    zu    verschiedenen  Teilen    der  Grammatik  enthalten. 

J.  La  Roche,  Beiträge  zur  griechischen  Grammatik.  Erstes 
Heft.     Leipzig  1893. 

Rez.  von  G.  Meyer,  BphW  1894,  245—8.  Kretschmer,  DLZ 
1894,  872  f.     Brugmann,  lA  5.  35  f. 

Der  Verfasser  will  „einzelne  Bausteine  zu  dem  Gebäude  der 
griechischen  Grammatik  beistellen",  das  „sich  als  ein  immer  dringen- 
deres Bedürfnis  herausstelle".  Für  seine  Auffassung  ist  eine  Stelle  aus 
der  Vorrede  bezeichnend:  „Das  inschriftliche  Material  habe  ich  ab- 
sichtlich beiseite  gelassen;  ich  wüßte  auch  nicht,  was  ich  z.  B.  mit 
einer  Form  wie  otu;  oder  Guc  hätte  anfangen  sollen,  die  möglicherweise 
schon  zu  Piatons  Zeiten  unter  der  Landbevölkerung  von  Attika  im 
Gebrauch  war,  sich  aber  bei  keinem  einzigen  Schriftsteller  findet.  Ahn- 
liche Erscheinungen  haben  wir  ja  auch  heutzutage  in  unserer  und  in 
anderen  Sprachen.  Ich  verkenne  durchaus  nicht  den  Wert  des  inschrift- 
lichen Materials,  aber  bei  der  Benutzung  desselben  ist  die  größte  Vor- 
sicht geboten,  und  ich  kann  mich  nicht  genug  über  die  Kühnheit 
wundern,  mit  der  man  Aoristformeu  wie  £|j.£i$a,  Exsua  bereits  in  unsere 
Texte  eingeführt  hat."  —  Das  Buch  enthält  eine  Reihe  von  Zusammen- 
stellungen, die  als  Sammlungen  des  Materials,  wenn  auch  nicht  immer 
vollständige,  ihren  Wert  haben.  Eine  Abhandlung  beschäftigt  sich  mit 
der  Deklination  von  uio;,  die  anderen  verteilen  sich  auf  die  Konjugation 
und  die  Syntax.  Jene  beschäftigen  sich  mit  einzelnen  Kapiteln  der 
Tempusbildung  (den  Passivfutura  mit  medialer  Form,  dem  futurnm 
exactum),  der  Modusbildung  (den  Doppelformen  des  Optativs  im  Aorist 


*)  Nur  verweisen  kann  ich  im  Rahmen  meines  Berichtes  auf  Werke, 
die  das  Griechische  zusammen  mit  einer  oder  mehreren  anderen  idg. 
Sprachen  vergleichend  darstellen,  wie  den  großen  „Grundriß"  von  K.  Brug- 
mann und  B.  Delbrück,  dessen  I.  Band  in  2.  Auflage  vorliegt,  und  die  von 
K.  Brugmann  daraus  ausgezogene  „Kurze  vergleichende  Grammatik",  die 
übrigens  selbständigen  Wert  besitzt,  das  schon  in  2.  Auflage  erschienene 
-Short  manual  of  comparative  philology"  von  P.  Giles,  die  „Phonetique  et 
etude  des  formes  grecques  et  latines"  von  Riemann  und  Goelzcr, 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.  (Schwyzer.)       H 

und  bei  den  Verba  contracta,  den  Konjunktiv-,  Optativ-,  Imperativformen 
des  Perfekts) ,  den  Personalendungen  (den  ionischen  Formen  im  pass. 
Perf.  und  Plusquampert'.,  der  1.  Sg.  Plusquaraperf.  act.),  der  Stamm- 
bildung einzelner  Verbalgruppen  (dem  Wechsel  zwischen  themavokalischer 
und  themavokalloser  Flexion  bei  den  Verba  auf  -vu[jli,  im  Optativ  med. 
praes.  und  aor.  von  xiftTgfj-t  und  T/jp-t)-  Am  meisten  Raum  nehmen  die 
syntaktischen  Beitiäge  ein.  Sie  behandeln  die  Kasuslehre  (Nominativ 
an  Stelle  des  Vokativs  in  Fällen  wie  91X0C  w  MsveXas,  Beispiele  für 
den  Akk.  des  Inhalts,  die  Rektion  der  Verbalkomposita  mit  xata,  den 
Genetiv  bei  den  Ausdi-ücken  nach  etwas  duften,  riechen,  sich  in  etwas 
täuschen,  irren),  die  Präpositionen  (oia  in  Verbindungen  wie  ota  [J-a'/ric 
fiXOeiv,  deren  sylleptischen  Gebrauch  wie  in  cd  ex  Zaxuvi}ou  vrje?),  das 
proleptische  Piädikat,  die  Lehre  vom  Partizip  (seine  prädikative  Ver- 
wendung —  das  längste  Stück  der  Beiträge  — ,  seinen  absoluten  Ge- 
brauch im  neutralen  Akk.  wie  }jlst6v  und  im  Genetiv  mit  fehlendem 
Subjekt)  und  die  Satzlehre  (Beispiele  für  die  Formen  des  hypothetischen 
Satzes  und  den  irrealen  Finalsatz). 

J.  Wackernagel,  Vermischte  Beiträge  zur  griechischen  Spi'ach- 
kunde.     Programm    zur    Rektoratsfeier    der  Universität  Basel  1897. 

Die  Schrift  behandelt  mit  der  bekannten  scharfsinnigen  Kom- 
binationsgabe und  philologischen  Umsicht  des  Verfassers  in  zehn  Auf- 
sätzen vornehmlich  Probleme  der  griechischen  Stammbildung  und  Ety- 
mologie, doch  auch  solche  der  Formenlehre  und  wenigstens  im  Vorbeiweg 
werden  auch  Fragen  der  Lautlehre  erörtert,  so  daß  es  sich  empfiehlt, 
die  Besprechung  an  dieser  Stelle  zu  geben. 

1.  (S.  3—4)  a7puT:vo?  heißt  eigentlich  „auf  dem  freien  Felde 
schlafend",  dann  „wachsam",  „schlaflos".  —  2.  (S.  4 — 8)  x-^IAH^!, 
Grundform  AtFioris:  lat.  saevus  (?  s.  jetzt  F.  Solmsen,  Untersuchungen 
zur  griech.  Laut-  und  Verslehre  1901,  71  ff.).  —  3.  (S.  8—14)  Aus- 
gehend von  dem  gemeinindogermanischen  "Wechsel  von  -ro-  und  anderen 
Adjektivsuffixen  mit  -i-  als  Schlußvokal  des  ersten  Kompositionsgliedes, 
wofür  griechische  Beispiele  gegeben  werden  (xoopo;:  xuot-aveipa  u.  ä., 
T.uY,\rti:  7i:uxt|xrjOY)s)  vereinigt  W.  d(p7t-x£pauvo;  mit  (äp7o?  aus  apYpos  (unter 
Anführung  von  Beispielen  für  konsonantische  Ferndissimilation).  Jenes 
-i-  spielt  besonders  in  der  Komparativbildung  eine  bedeutende  Rolle; 
xaXXiwv,  e/Oicüv,  poltov  (zu  homerisch  pr^a  aus  *  Fpaaa)  u.  ä.  —  4.  (S.  14 — 17) 
(J-xetpr];  zu  xepjoixcxi,  „blank".  W.  hält  sein  Gesetz,  wonach  pa  nach 
betontem  Vokal  bleibt,  nach  unbetontem  in  p  mit  Dehnung  des  vorher- 
gehenden Konsonanten  übergeht,  aufrecht  (?).  —  5.  (S.  17  f.)  äxrjv, 
bei  den  attischen  Tragikern  Lehnwort  und  durch  Anschluß  an  Bildungen 
mit  a  priv.  mit  a,  gehört  zu  i/a^dw.  —  6,  (S.  18 — 37)  TiXeiv  steht  für 


12       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 190P».  (Schwyzer.) 

TtXetc  (homerisch  tiUe;^  durch  Einwirkung  von  rXsov.  Bei  osTv  hat  man 
genau  zu  scheiden  a)  an  einigen  Aristotelesstellen  ist  dafür  einge- 
schobenes oEi  anzunehmen  (anschließend  eine  allgemeine  Erörterung  des 
Herabsinkens  parataktischer  Sätzchen  zu  Partikeln),  b)  in  0X170U,  [x-.xpo^ 
öav  liegt  Infinitiv  der  Limitation  vor  wie  in  e[xol  SoxsTv,  c)  an  einigen 
Stellen  steht  ösTv  durch  Kontamination  von  SsT  und  Seov.  —  7.  (S.  37 — 40) 
für  öeuTToiva  aus  *o£j7toTV7a  und  W.s  Gesetz  der  Vereinfachung  von 
Doppelkonsonanten  nach  langem  Vokal  (?).  —  8.  (S.  40 — 42)  ixevtov 
ist  Hyperattizismus  der  -xoivr,,  nach  dem  Verhältnis  von  l'vSot :  att.  I'voov 
aus  [j.£vTot  umgebildet.  —  9.  (S.  42—51)  die  ;,äol."  Optativendungen 
-(jsia?,  -cjete,  -ceiav  gehören  zu  einer  Bildung  mit  -se,  vgl.  hom.  ohz, 
«Iete.  —  10.  (S.  52 — 62)  ypecov  kann  nicht  für  -/pr;  ov  stehen,  sondern 
geht  auf  das  neben  y^or^  (ursprünglich  wohl  neutr.)  stehende  homerische 
ypTju),  ypeo)  zurück,  woran  von  Neutra  wie  oeov  u.  ä.  -v  antrat.  Bei- 
läufig Erörterung  der  attischen  Kontraktion  von  ursprünglichem  r^fo, 
r^Fcu,  TjFcx  und  der  Deklination  von  1:0X1?  (für  uoXtj  aus  t.oXt^V:  als 
attische  Form). 

Am  besten  werden  wohl  ferner  hier  erwähnt  zwei  Bücher,  deren 
eingehende  "Würdigung  außerhalb  des  Eahmens  unseres  Berichtes  liegt, 
die  aber  so  viele  und  wichtige  Beiträge  zur  Grammatik  enthalten,  daß 
sie  nicht  übergangen  werden  können. 

Gull.  Schulze,  Quaestiones  epicae.     Gütersloh  1892. 

Rez.  von  Wackernagel,  LC  1892,  38.  Cauer,  WklPh  1892.  39; 
DLZ  1892,  Nr.  48.     Solmsen,  lA  3,  124.     Prellwitz,  BKIS  19,  253  f. 

An  den  Hauptvorwurf  des  Buches,  die  Behandlung  der  metrischen 
Dehnung,  ist,  wo  nur  sich  Gelegenheit  bot,  die  Besprechung  von  Fragen 
der  Laut-,  Formen-,  Stammbildungslehre,  der  Syntax  und  ganz  besonders 
der  Etymologie  angeknüpft.  Ist  dabei  naturgemäß  die  Sprache  des 
Epos  am  reichlichsten  bedacht,  fällt  auch  für  die  allgemeine  griechische 
Grammatik  reiche  Förderung  ab.  Nicht  um  den  Inhalt  des  Werkes 
nach  dieser  Richtung  zu  erschöpfen,  sondern  nur,  um  einige  Proben  zu 
geben,  sei  hier  aufmerksam  gemacht  auf  die  Auseinandersetzungen  über 
die  Lautverbindungen  Xj ,  XF,  pF,  vF  80  fl'.,  den  Akzent  482  ff. .  die 
Komparativbildung  300  f.,  die  Nomina  auf  -suj  456  If.,  die  eingehenden 
Erörterungen  der  Quantitätsverhältnisse  und  Bildung  der  Verba  denomi- 
nativa  auf  6u>,  iw  (309—361)  und  acu,  ita,  ow  (361—373). 

F.  Solmsen,  Untersuchungen  zur  griechischen  Laut-  und  Vers- 
lehre.    Straßburg  1901. 

Rez.  von  Thumb,  lA  14,  7  —  10. 

Auch  dieses  Buch  gilt  vorzugsweise  der  Sprache  des  Epos,  nament- 
lich in  seinem  ersten  Hauptteil  (zur  Lehre  von  der  metrischen  Dehnung 


Beriebt  über  griechische  Sprachwissenschaft  ISiK)— 1903.  (Schwyzer.)       13 

im  älteren  griechischen  Epos,  S.  1 — 126).  der  die  Forschungen  von 
W.  Schulze  und  0.  A.  Danielsson  weiterfühi't,  aber  auch  im  zweiten 
(Znr  Lehre  vom  Digamma  S.  127  —  301).  Letzterer  ist  wieder  in  drei 
Teile  gegliedert:  ein  erster  handelt  „über  metrische  Wirkungen  und 
Wesen  des  Digamma"  (es  längt  bei  Homer  und  in  der  dialektischen 
Poesie  nur  Vokale  in  Arsis,  nicht  in  Thesis,  was  mit  seinem  Wesen 
als  Halbvokal  nach  Art  des  engl.  ?^  zusammenhängt);  ein  zweiter  be- 
faßt sich  mit  „scheinbaren  Störungen  im  Auftreten  des  Digamma"  (sie 
zerfallen  in  zwei  Gruppen:  einerseits  haben  anlautendes  Fo-,  Fto-  bei 
Homer,  im  Asiatisch-Aolischen,  in  Korinth  und  Gortyn  und  auf  Kypros, 
wohl  auch  in  Lakonien,  Böntien  und  Thessalien,  nicht  aber  im  Attischen 
das  F  schon  früh  verloren,  z.  B.  in  6pa<o,  (Lvo?,^)  andererseits  gehen 
Wörter,  für  die  mau  nach  den  verwandten  Sprachen  als  Anlaut  oF  an- 
setzt, wie  £;,  r/.acjToc,  topwc,  fjXi|,  'EXevy],  das  Reflexiv,  auf  vorgriechische 
Nebenformen  mit  bloßem  s-  zurück;  andere  sind  anders  zu  deuten,  wie 
denn  iaxia,  latt'a  von  Vesfa  ganz  zu  trennen  ist);  den  Beschluß  macht 
die  Erörterung  des  Vokalvorschlags  vor  Digamma,  der,  ohne  daß  sich 
bestimmte  Bedingungen  angeben  ließen,  in  dreifacher  Gestalt  (als  s,  a 
und  —  ganz  selten,  z.  B.  oüpavoc  aus  oFopavo?,  oqvufxi  —  als  o)  auf- 
tritt.^) Dabei  wird  die  Etymologie  der  hergehörigen  Wörter  ausführlich 
behandelt.  Ein  Exkurs  (S.  302  —  9)  führt  die  Verschiedenheiten  in  der 
Behandlung  der  Gruppen  Nasal  oder  Liquida  -4-  F  im  Ionischen  auf 
örtliche  Sonderentwickeluug  und  das  Eindringen  attischer  Formen  zurück. 
Beigegeben  sind  Register.  —  Noch  weit  mehr  aber  als  es  nach  den 
skizzierten  Hauptgegenständen  des  Buches  scheinen  könnte,  verdient  es 
die  Aufmerksamkeit  auch  der  allgemeinen  griechischen  Grammatik  durch 
die  eingestreute  Behandlung  zahlreicher  Einzelheiten  der  Laut-,  Formen-, 
besonders  auch  Stammbildungslehre,  die  hier  nicht  vollständig  aufgezählt 
werden  können.  Es  seien  daraus  hervorgehoben  die  Beiträge  zur  Hap- 
lologie  (S.  97  Anm.),  zur  Metathese  (S.  44,  259),  die  Bemerkungen 
zum  Schwund  von  o  nach  unbetonter  Silbe  wie  in  ßorjösto  (S.  117),  über 
den  Akzentwechsel  des  Attischen  in  spondeischen  Wortformen  wie  2a>?, 
cppaT7)p  (S.  87  f.),  die  Behandlung  der  Positionsbildung  und  Silbengrenze 
(S.  161  &.),  der  Dissimilation  von  urgriech.  ueu  vor  Konsonant  zu  uei 
(S.  237),    der  Sulfixe  ■  su?    (S.  72),    -ijto?,  ■r^1'.o^,  -cusios  (S.  39),    -ua-.oj 


*)  Es  sei  gleich  angeführt,  daß  F.  Solmsen  darüber  auch  schon 
ZvSpr  32,  373  ff   gebandelt  hat. 

")  Es  sei  verstattet,  im  Vorbeiweg  auf  ein  Analogon  zur  griechischen 
Prothese  vor  p  in  einer  Schweizer  Mundart  hinzuweisen:  „der  Rarer  im 
Wallis  schiebt  jedem  r  ein  a  vor,  z  B  das  o>Rifp^  der  (^rrüch  Winter,"  sagt 
Fr.  J.  Stalder,  Schweizerische  Dialektologie.  1819.  S.  68;  dieselbe  Er- 
scheinung habe  ich  selbst  im  wallisischen  Lötschenthal  beobachtet. 


14       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

(S.  37  f.),  -t'tov  (S.  47  ff.),  -5tov.  -t'ötov  (S.  75),  -wst;  (S.  120),  der  Kom- 
positionsvokale (S.  22  ff.,  265  f.). 

Schließlich  ist  hier  zu  nennen 

r.  N.   XcLT^iddY.i,  rXuii7oXo'(iY.'u  [xsUrai.  I.     Athen    1901. 

In  einem  stattlichen,  gut  ausgestatteten  Bande  legt  hierait  der 
ausgezeichnete  Führer  der  neugriechischen  Sprachstudien  einen  Teil 
seiner  in  deutschen,  griechischen  und  russischen  Zeitschi iften  verstreuten 
Abhandlungen  gesammelt  (teilweise  umgearbeitet  oder  ergänzt)  vor;  es 
ist  nur  zu  wünschen,  daß  der  buchhändlerische  Erfolg  derart  sei,  daß 
die  in  Aussicht  genommene  Fortsetzung  ermöglicht  wird.  Die  meisten 
der  im  I.  Bd.  vereinigten  Arbeiten  liegen  freilich  außerhalb  unseres 
Berichtes  und  gerade  die  umfangreichsten,  wie  die  vier  interessaoten 
Aufsätze  über  die  Sprachfrage  im  heutigen  Griechenland  (S.  236  —  537), 
wobei  allerdings  einleitungsweise  auch  die  Diglossie  des  Altertums  be- 
rücksichtigt wird,  oder  die  Zusammenfassung  sämtlicher  geschichtlichen 
und  sprachlichen  Tatsachen,  welche  für  das  Griechentum  der  Makedonier 
Zeugnis  ablegen  (S.  32 — 114),  die  methodisch  vorbildlichen  etymolo- 
gischen Untersuchungen  (von  Eigennamen  wie  Mopsa?,  Mu^rjöpäc,  von 
Appellativen  wie  ßpe  YMÖapo;),  die  zugleich  wichtige  Beiträge  zur 
Stammbildungslehre  enthalten.  Die  kleineren  Artikel,  welche  Fragen 
der  altgriechischen  Grammatik  gewidmet  sind  —  sie  nehmen  zusammen 
immerhin  70  Seiten  ein  —  werden  je  an  ihrer  Stelle  besprochen  werden.^) 

Eine  Reihe  von  Arbeiten  beschäftigt  sich  mit  der  Sprache  ein- 
zelner Perioden  und  bestimmter  Sprachdenkmäler  als  Ganzen. 

Für  die  attische  Zeit  sind  hier  zu  nennen 

P.  Kretschmer,  Die  griechischen  Vaseninschriften  ihrer  Sprache 
nach  untersucht.     Gütersloh  1894. 

Rez.  außer  von  den  bei  Larfeld,  BuJ  87,  Suppl.  159 — 61,  Ge- 
nannten z.  B.  von  Cauer,  WklPh  1895,  1161—66.  Prellwitz,  BKIS 
20,  304—7.  Schulze,  GGA  1896,  228—56  (sehr  reichhaltige  Be- 
sprechung).    Solmsen,  lA  VIII,  63—65  und 

K.  Meisterhans,  Grammatik  der  attischen  Inschriften.  3.  ver- 
mehrte und  verbesserte  Aufl.,  besorgt  von  E.  Schwyzer.    Berlin  1900. 

Rez.  von  Meister,  BphW  1901,  22  f.     Th(umb),  LC  1901.  1458  f. 

Kretschmer  macht  in  seinem  Buche,  das  aus  zwei  Abhandlungen 
im  29.  Band  der  ZvSpr  entstanden  ist,  der  Sprachgeschichte  in  dankens- 
wertester Weise    das    Material    der    weit    zerstreuten   Vaseninschriften 


*)  A.  C.  Liddell,    Greek  grammar  papers.     London  1901,   Blackie, 
ist  mir  nicht  zugänglich. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.)       15 

zugUflglich.  Er  beschränkt  sich  jedoch  nicht  darauf,  dasselbe  in  tun- 
lichster VoIIständitzkeit  vorzuleg'en,  sondern  liefert  zue:leicli  eine  an  Er- 
gebnissen wie  Anregungen  ungemein  reiche  sprachgeschichtliche  Be- 
arbeitung. Der  Wert  der  Vaseninschriften  beruht  namentlich  darin, 
daß  wir  aus  ihnen  einiges  über  die  gesprochene  Sprache  des  Lebens 
lernm  können,  von  der  uns  sonst  so  wenig  bekannt  ist  —  denn  auch 
die  Sprache  der  meisten  Inschriften  ist  eine  Kunstsprache.  Die  Be- 
handlung sämtlicher  Vas»^ninschriften  in  der  gleichen  Darstellung  recht- 
fertigt sich  dadurch,  daß  wir  es  überall  mit  Töpfersprache  zu  tun  haben, 
wenn  dieselbe  auch  verschiedenen  Dialekten  angehört.  Für  uns  kommt 
hier  hauptsächlich  der  Abschnitt  über  die  attischen  Vasen  in  Betracht 
(S.  73 — 209),  an  Umfang  wie  Inhalt  der  reichste  —  auch  die  korinthi- 
schen Vasen  stehen  an  sprachlichen  Ergebnissen  weit  zurück.  Nach 
einer  Einleitung  über  die  Vasenmaler,  den  Inhalt  der  Vaseninschriftep, 
ihre  Schrift  und  Chronologie  folgt  in  drei  Abschnitten  (Vokale,  Kon- 
sonanten, zur  Formenlehre)  die  eigentliche  grammatische  Darstellung, 
der  sich  eine  Anzahl  von  Bemerkungen  zur  Namenkunde  anschließt. 
Ist  das  Material  auch  oft  recht  spärlich,  vermag  ihm  Kretschraer  doch 
sehr  viel  abzugewinnen;  da  werden  wir  z.  B.  inne,  daß  auch  die  Volks- 
sprache von  Athen  wie  lebende  Mundarten  Assimilationen  und  Dissimi- 
lationen bei  Vokalen  und  Konsonanten  aufwies,  z.  B.  das  auch  inschrift- 
liche rjiJLucj'j;,  MsxaxA^c,  oft  begegnet  das  Umspringen  der  Aspiration 
wie  in  'Avdi'Xoyo?;  aus  der  Formenlehre  sind  von  Interesse  Bildungen 
wie  iraüc,  0^cTuc.  Mit  sicherem  Takt  wird  zwischen  neuen  Formen  und 
Lautentwickelupgen  und  bloßen  Verschreibungen  geschieden. 

In  der  neuen  Auflage  der  bekannten  Grammatik  des  der  Wissen- 
schaft allzu  früh  entrissenen  Meisterhans  ist  versucht  worden,  das  neu 
hinzugekommene  Material  unter  Wahrung  der  ganzen  Anlage  des  Buches 
nachzutragen  und  zugleich  die  ganze  Auffassung  der  sprachgeschicht- 
lichen Probleme  auf  den  gegenwärtigen  Stand  der  Sprachwissenschaft 
zu  bringen  —  in  den  früheren  Auflagen  ließ  die  wissenschaftliche  Er- 
klärung sehr  oft  zu  wünschen  übrig.  Der  Umfang  der  Schrift  ist  daher 
einige  Bogen  stärker  geworden;  die  Vermehrung  ist  besonders  der 
Lautlehre,  die  auch  sonst  die  meisten  Veränderungen  aufweist,  zugute 
gekommen,  am  wenigsten  der  Syntax. 

Den  Versuch  einer  zusammenfassenden  Behandlung  der  Vulgär- 
sprache der  attischen  Defixionen,  die  übrigens  auch  nach  Gebühr  in 
der  neuen  Auflage  der  Meisterhansschen  Grammatik  berücksichtigt 
worden  sind,  mit  Hervorhebung  der  für  die  Sprachentwickelung  bedeut- 
samen Erscheinungen  macht  der  Aufsatz  von 

E.  Schwyzer,  Die  Vulgärsprache  der  attischen  Fluchtafeln. 
NJklA  5  (1900),  244—262. 


]()       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1003.  (Schwyzer.) 

Das  Gebiet  vou  der  hellenistischen  Zeit  bis  zum  10.  Jahrh.  n.  Chr. 
beschlägt  das  Buch  vou 

K.  Dieterich,  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  griechischen 
Sprache,  von  der  hellenistischen  Zeit  bis  zum  10.  Jahrh.  n.  Chr. 
(Byzantinisches  Archiv  Heft  1  Leipzig  1898.) 

Rez.  von  Schniid,  WklPh  1899,  505  —  13.  540—50.  Schwyzer, 
BphW  1899,  498—503.  Blaß,  ThLZ  1899,  363  f.  Hatzidakis,  GGA 
1899,  505—523. 

DerVerfasser  will  im  wesentlichen  dieGesichtspunkte,(lieHatzidakis 
im  dritten  Kapitel  seiner  für  die  neugriechische  Forschung  grundlegen- 
den und  auch  für  die  s^jätaltgriechische  hochwichtigen  Einleitung  in  die 
neugriechische  Grammatik  (Leipzig  1892,)  S.  172 — 229  niedergelegt 
hat,  ausgestalten  durch  umfassendere  Sammlung  des  Materials  aus 
den  späteren  Inschriften  und  Papyri  und  dessen  Anordnung  nach 
geographischen  Grundsätzen,  um  womöglich  Schlüsse  nicht  nur  auf 
das  Alter,  sondern  auch  auf  den  lokalen  Ursprung  einzelner  Sprach- 
erscheinungen ziehen  zu  können.  Die  Durchführung  des  geographischen 
Gesichtspunktes  in  dieser  umfassenden  Weise  ist  neu;  doch  sind  die 
Resultate  der  Statistik,  welche  namentlich  Ägypten  einen  großen  Anteil 
an  der  Ausbildung  des  Neugriechischen  zuweist,  keineswegs  sicher. 
Aus  zwei  Gründen:  einmal  sind  die  uns  zu  Gebote  stehenden  Sprach- 
quellen für  die  einzelnen  Gegenden  sehr  ungleich;  nur  aus  Ägypten  be- 
sitzen wir  die  unmittelbar  aus  dem  Leben  stammenden  Papyri  (die  in 
der  gehaltreichen,  eine  kleine  Einführung  in  die  Papyruskunde  bietenden 
Besprechung  der  Oxyrrhynchos- Papyri  durch  v.  Wilamowitz,  GGA  1898, 
675 — 704,  auch  sprachlich  gewürdigt  werden),  während  z.  B.  aus  dem 
inneren  Kleinasien  nur  eine  Grabschrift  an  die  andere  sich  reiht. 
Zweitens  sind  die  Sammlungen  Dieterichs  nicht  erschöpfend  —  Vollstän- 
digkeit in  den  Belegen  ist  ja  bei  dem  Umfang  des  Gebietes  und  der  Zer- 
streutheit der  epigraphischen  Veröffentlichungen  uneireichbar,  aber  auch 
die  Zahl  der  beobachteten  Erscheinungen  läßt  sich  vermehren,  wie  dies 
Thumb  in  der  ByZ  9,  231—  41  getan  hat  —  und  vielfach  nicht  zuvei lässig, 
was  Pernot,  Rcr.  1900,  283—95  an  einer  Partie  im  einzelnen  nachgewiesen 
hat.  Das  Werk,  das  namentlich  anregend  wirken  will  und  dies  Ziel  auch  in 
hohem  Maße  erreicht,  wenn  auch  in  derParallelisierung  alter  und  neuer  Er- 
scheinungen manchmal  etwas  weit  gegangen  wird, behandelt  die  sprachlichen 
Erscheinungen  nach  den  beiden  Hanptteilen  der  Laut-  (Vokalismus  und 
Konsonantismus)  und  Formenlehre  (Nomen  und  Verbum)  nebst  einem 
Exkurs  über  die  xotvv^  und  die  heutigen  kleinasiatischen  ilundarten. 
Obschon  sich  in  erster  Linie  mit  der  Koine  beschäftigend,  mußte  es 
doch  auch  hier  Erwähnung  finden. 


üerjcht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       17 

Hier  sind  auch  die  Arbeiten  zu  nennen,  welche  die  Sprache  be- 
stimmter Literaturkreise  oder  einzelner  Schriftsteller  behandeln,  soweit 
sie  für  die  allgemeine  Sprachgeschichte  in  Betracht  kommen. 

Allen  voran  steht  das  nunmehr  vollendete,  auch  für  den  Sprach- 
forscher hochwichtige  AVerk  von 

W.  Schmid,  Der  Atticismus  in  seineu  Hauptvertretern  von 
Dionysius  von  Halikaruass  bis  auf  den  zweiten  Philostratus  dargestellt. 
Stuttgart.  I.  1887.  IL  1889.  HL  1893.  IV.  1896.  Register- 
band 1897. 

Das  Werk  macht  den  ersten  Versuch,  Umgangssprache  und  Li- 
teratursprache in  der  Zeit  vom  1.  bis  zum  3.  Jahrh.  nach  Chr.  gegen 
einander  abzugrenzen,  nachzuweisen,  wie  stark  auf  die  archaisierende 
Schriftsprache  des  Attizismus  die  hellenistische  Schriftsprache  und  die 
zeitgenössische  Umgangssprache  eingewirkt  hat,  wie  sich  zum  Schaden 
für  die  griechische  Spracheutwickeluug  der  Attizismus  immer  mehr  von 
<]er  Volkssprache  entfernt.  Nach  einander  wird  der  Attizismus  des 
Dion^'sius  vou  Halikaruass,  Polemo,  Dio  Chrj'sostomus,  Herodes  Atticus, 
Lucian,  Aristides,  Allan,  Philostratus  geprüft:  kommen  die  Ergebnisse 
auch  in  erster  Linie  den  behandelten  Schriftstellern  zugute,  so  zieht 
doch  auch  die  allgemeine  Sprachgeschichte  reichen  Gewinn  daraus,  weil 
der  Blick  immer  auf  das  Ganze  der  Sprachentwickelung  gerichtet  bleibt. 
Zu  ganz  besonderem  Danke  hat  jedoch  Schm.  die  Sprachforscher  vom 
Fach  verpflichtet  durch  die  „Übersicht  über  das  gegenseitige  Verhältnis 
der  verschiedenen  Elemente  der  attizistischen  Literatursprache",  welche 
den  neunten  Abschnitt  des  IV.  Bandes  bildet  (S.  577—734).  Unter 
steter  RückverweisuDg  auf  die  Belegstellen  zu  den  einzelnen  Erscheinungen 
iu  den  früheren  Bänden  entwirft  hier  Schm.  ein  Bild  jener  vou  den  ein- 
zelnen mit  verschiedenem  Erfolge  gehandhabten  Kunstsprache.  Ganz 
hat  keiner  unter  den  Attizisteu  das  attische  Vorbild  erreicht:  und 
darauf  gründet  sich  eigentlich  das  Interesse,  das  die  allgemein  griechische 
Sprachgeschichte  an  der  attizistischen  Kunstsprache  nimmt;  die  Ele- 
mente, die  sie  unwillkürlich  aus  der  Umgangssprache  aufgenommen  hat, 
bilden  eine  wertvolle  Ergänzung  unserer  für  letztere  nicht  sehr  reich- 
lich fließenden  Quellen.  Bei  allen  ist  am  reinsten  die  Lautlehre;  da- 
gegen zeigen  schon  die  Formenlehre^)  und  noch  mehr  Syntax  und 
Lexikon  den  Einfluß  der  lebenden  Sprache.  Besonders  ausführlich  sind 
Wortbildung,  Wortwahl  und  Wortbedeutung  behandelt,  obwohl  dei  Verf. 


^)  Es  berühit  in  einem  spracbgeschichtlichen  Werke  unangenehm, 
wenn  man  lesen  kann,  die  -/oivv;  lasse  die  Komparativendungen  -ov<z,  -ovs; 
(-ovc<;)  gewöhnlich  „offen",  während  sie  von  den  Attizisten  meist  „kontra- 
hiert* werden. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.     1904.    I.)  2 


]8       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.    (Schwyzer.) 

sich  dabei  bewußt  ist,  uiir  einen  ersten  Versuch  bieten  zu  können,  da 
es  für  das  Lexikon  der  y.otvr,  erst  ganz  wenige  Vorarbeiten  gibt. 
Ferner  ist  nie  zu  vergessen,  daß  uns  durch  die  ältere  Literatur  nur 
ein  Ausschnitt  aus  dem  gesamten  Sprachschatz  bekannt  ist;  die  Tat- 
sache, daß  ein  Wort  erst  spflt  auftritt,  berechtigt  noch  nicht  unmittelbar 
zu  dem  Schhiß,  es  liege  eine  junge  Bildung  vor.  Die  sprachwissen- 
schaftliche Forschung  sollte  dabei  noch  öfter  befragt  werden;  so  kann 
z.  B.  Xtyavo;  (S.  700)  keine  junge  Bildung  sein  (vgl.  über  das  Wort 
II.  Niedermann,  BKIS  2'),  2.31  f.).  Die  Beurteilung  der  sog.  poetischen 
Elemente  im  attizistischen  Sprachschatz  ist  jetzt  durch  A.  Thumb,  Die 
griech.  Sprache  im  Zeitalter  des  Hellenismus  S  216  ff.  auf  eine  andere 
Basis  gestellt  worden.  • —  Eine  wie  erstaunliche  Menge  von  Einzeltat- 
sachen Schmid  zusammengetragen  und  verarbeitet  hat,  das  bringt  einem 
der  Registerband  besonders  nahe. 

Neben  der  sprachlichen  orientiert  hauptsächlich  über  die  allgemein 
geschichtliche  Bedeutung  des  Attizismus  der  empfehlenswerte  Vortrag 
desselben 

W.  Schmid,  Über  den  kulturgeschichtlichen  Zusammenhang  und 
die  Bedeutung  der  griechischen  Renaissance  in  der  Römevzeir. 
Leipzig  1898. 

An  Arbeiten  zu  einzelnen  Schriftstellern  kann  ich  hier  nur  eben 
namhaft  machen: 

C.  Baron,  De  Piatonis  dicendi  genere.     Paris  1891. 

G.  Kaibel,  Stil  und  Text  der  'Aöriv^uov  -ohzzloi.     Berlin  1893. 

Ferner 

S.  Chabert,   L'atticisme  de  Luden.     These,  Paris  1897. 

K.  Dürr,  Sprachliche  Untersuchungen  zu  den  Dialexeis  des  Maxi- 
mus von  Tyrus.     Ph  Supplementband  8,  1 — 156. 

G.  Tröger,  Der  Sprachgebrauch  in  der  pseudolonginischen  Schrift 
irspl  u<\)r,o;  und  deren  Stellung  zum  Attizismus  I.    Diss.  Erlangen  1899. 

H.  Sexauer,  Der  Sprachgebrauch  des  Romanschriftstellers  Achilles 
Tatios.     Diss.  Heidelberg   1899. 

W.  Fritz,    Die  Briefe  des  Bischofs  Sjmesius   von  Kyrene.     Ein 

Bi'itrag  zur  Geschichte  des  Atlicismus  im  4.  und  5.  Jahrb.     Leipzig 

1898,  vgl.  die  Besprechung  von   P.  Wendland,  ByZ  9,  228—31, 

doch    sei    bei    zwei    hergehörigen   Arbeiten    eine  Ausnahme    verstattet. 

Die  eine  bezieht  sich  auf  das  älteste  griechische  Buch  —  aus  Alexanders 

des  Großen  Zeit  —  das  uns  die  ägyptische  Eide  erhalten  hat: 

In  seiner  Ausgabe  von  Timotheos'  Persern  (Leipzig  1903)  behandelt 
V.  V.  Wilamo\Yitz-Mö]lendorf  auch  Sprache  und  Stil  (S.  38—55): 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.   (Schwyzer.)       i9 

im  ganzen  ist  die  Sprach  form  die  attische.  Nicht  allzuviel  füllt  für 
Ansspraclie  und  Flexion  (ich  nenne  iiaXsa?  für  -aXaioc,  wenn  das  wirklich 
eine  lautliclie  Verschiebung  ist),  am  meisten  für  die  Wortwahl  (auch 
Komposition)  ab.  Besonders  interessant  ist  für  das  Studium  des  klein- 
asiatischen Yulgäi'idioms  die  Rede  des  Phi'ygers  (zu  xaiJtu,  epyu)  vgl. 
o'.aXs^Eiv  für  oraXs-j'saöai  Meisterhans-Schwyzer  192).  —  Endlich  seien  noch 
einem  Buche,  das  sich  zunächst  mit  dem  uns  hier  ferner  liegenden  Ge- 
biete der  Pap3'ri  belaßt,  aber  auch  für  die  allgemeine  griechische 
Grammatik  sehr  reiches  Material  euthält,  einige  Worte  gewidmet: 

W.  Crönert,  Memoria  Graeca  Herculanensis  cum  titulorura 
Aegj'pti  papyrorum  codicum  denique  testimoniis  comparatam  pro- 
posuit  G.  Cr.     Leipzig   1903. 

Die  Schrift,  eine  Neubearbeitung  der  1898  erschienenen  „Quaestiones 
Herculanenses"  des  rührigen  Bearbeiters  von  Passows  griechischem 
Wörterbuch,  will  in  erster  Linie  den  Bedürfnissen  der  Textkritiker 
entgegenkommen  durch  genaue  Feststellung  des  Sprachgebrauchs  in 
seinen  zeitlichen  Schwankungen;  die  einzelnen  Fragen  werden  deshalb 
durch  Material  von  denAttikern  bis  in  die  spätere  Byzantinerzeit  illustriert, 
wobei  allerdings  immer  womöglich  von  den  herkulanensischen  ßollen, 
die  Cr.  selbst  an  Ort  und  Stelle  studieren  konnte,  ausgegangen  wird. 
Es  wird  kaum  eine  Erscheinung  besonders  der  späteren  Sprache  geben, 
die  nicht  durch  das  mit  staunensw'ertem  Fleiße  aus  einer  Unmasse  von 
Quellen  (auch  Inschriften)  zusammengebrachte  Belegraaterial  neu  be- 
leuchtet würde;  nicht  nur  der  Textkritiker,  auch  der  Linguist  findet 
eine  Fülle  von  Stoff  zu  eigenen  Beobachtungen.  Denn  gerade  nach  der 
Seite  des  sprachgeschichHiclien  Räsonnemeuts  hin  tut  der  Verfasser  — 
und  wer  wollte  ihm  das  verargen"?  —  weniger;  er  zitiert,  teils  nicht 
ohne  genaue  Kontrolle,  die  Arbeiten  und  Ansichten  anderer,  übt  aber 
in  der  Aufstellung  von  Erklärungen  besonnene  Zurückhaltung.  Von 
den  acht  Kapiteln  des  Baches  entfallen  vier  auf  das  Lautliche  (quaestiones 
orthographicae  resp.  grammaticae  de  vocalium  resp.  consouautium  usu), 
eines  ist  dem  Nomen,  zwei  dem  Verbura  gewidmet;  das  achte  behandelt 
unter  dem  Titel  „de  nonnullorum  vocabulorum  compositione"  verschiedene 
Fragen  der  Wortbildung.  Einem  Buche,  das  hauptsächlich  als  Nach- 
schlagewerk dienen  will  und  wird,  dürfen  natürlich  auch  ausführliche 
ludices  nicht  fehlen ;  es  sei  hier  besonders  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  sie  teilweise  noch  Nachträge  zum  Text  enthalten. 

Aussprache. 

Die  zahlreichen  Schriften  zur  griechischen  Aussprache  verfolgen 
fast  ausschließlich  praktische  Ziele  und  bedeuten  nur  in  den  wenigsten 


20       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.) 

Fällen  eine  gelegentliche  Bereicherung  der  Wissenschaft.  Ich  begnüge 
mich  daher  mit  einer  Kennzeichnung  der  Hauptrichtuugen,  um  so  mehr 
als  die  wenigsten  der  hieher  gehörigen  Arbeiten  mir  zugänglich  ge- 
worden sind.^) 

Als  durchaus  unwissenschaftlich  zu  betrachten  ist  die  Richtung, 
die  darauf  ausgeht,  die  heutige  neugriechische  Aussprache,  wie  sie,  nicht 
selten  im  Widerspruch  mit  den  Lautgesetzen  der  lebenden  Volksmuud- 
arten,  für  die  ein  künstliches  Gepräge  tragende  Schriftsprache  gilt,  als 
die  auch  im  alten  Griechenland  herrschende  zu  erweisen.  In  Griechen- 
land vertritt  dieselbe  no'.;iaor][XY]xpa-/.6T:ouAoc,  der  1889  (Athen,  naXa;xr^- 
Stjc)  seine  *Ba(javoc  xcöv -spl  t?j;  iXXrjvf/.r,;  rpo::'fOpä;  £p7a[x'.y.iijv  ano&si;£cov 
(752  S.)  erscheinen  ließ  (neuerdings  entspann  sich  eine  methodische 
Polemik  zwischen  ihm  und  Hatzidakis,  *AOriva  9  und  10  [1897.  1898J). 
Einen  Brennpunkt  itazistischer  Bestrebungen  bildet  die  in  Leyden  er- 
scheinende Zeitschi'ift 'EX^a'c,  die  auch  verschiedene  Aufsätze  zur  Aus- 
sprache von  riaTraÖTfjpLYjTpaxoKouXo?,  H.C.Muller,  E.  A.S.Dawes  und  andern 
enthält.  In  Frankreich  bricht  eine  Lanze  für  die  neugriechische  Aus- 
sprache E.  Eagon,  De  la  prononciation  du  Grec.  Paris  1896,  Poussielgue 
(S.  6  werden  Fälle  wie  'Afx^r/.Tuwv  neben  'Aixcixticüv,  t-jaujüc  für 
7][j.'.c;'jc  für  den  Itazisraus  geltend  gemacht !)  und  in  Rußland  sucht 
'■'Mo desto  w,  besonders  in  zwei  Artikeln  des  znrnal  min.  nar.  prosves- 
canija  (1891  und  1893)  IIaraor,[xrj-pay.6T:ouXoc' Anschauungen  znm  Durch- 
bruch zu  verhelfen.     In  Deutschland  ist  (außer  einem  Beitrag  des  von 


*)  Ich  habe  darauf  verzichtet,  alle  mit  der  Aussprache  sich  beschäfti- 
genden Schriften  namhaft  zu  machen.  Von  den  mir  nicht  vorliegenden 
seien  noch  angeführt:  Dawes,  The  pronunciation  of  Greek.  London; 
Chabert,  La  prononciation  du  Grec  sous  Marc  Aurele  d'apres  Lucien. 
Annales  de  l'universite  de  Grenoble  7,  1895,  nr.  3;  Kern,  Zur  Geschichte 
der  Aussprache  des  Griechischen  'E).X(z;  2,  85  —  88  (auf  Grund  indischer 
Transkriptionen);  Bevier,  The  Delphien  hymns  and  tbe  pronunciation  of 
the  Greek  vowels  TrAPhA  26  (1895),  IV— V.  Literarische  Zeugnisse  für 
die  Aussprache  behandeln  Jannaris,  Kratinos  and  Aristophanes  on  the 
cry  of  the  sheep  AJPh  16,  46-51  (ß?,ß/i  soll  niclit  den  Naturlaut  des  Schafes 
bezeichnen,  sondern  ein  Wort  der  Kindersprache  für  das  Schaf  sein); 
Tournier,  Un  calembour  interessant  pour  l'histoire  de  la  prononciation 
du  grec  MSL  9,47  f.  (verwertet  das  bekannte  Kallimachosepigramm,  unter 
Zuhilfenahme  verschiedener  Konjekturen,  wieder  in  itazistischem  Sinn; 
s.  Blaß,  Aussprache^  63);  Monro,  On  the  bearing  of  Thucydides  II  54 
on  Greek  pronunciation;  vgl.  Academy  1895  S.  464  (die  Vertausehuug  von 
/-tiiö;  und  'Lwy'j-^  beweist  nichts;  ebensowenig  natürlich  die  Vertauschung 
von  -?^\i.rj.  und  -ovyj.,  wenn  Earle,  CR  7,  20  mit  Recht  letztere  Form  in 
■das  Orakel  bei  üerod.  1,  67  einführt). 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       21 

früher    her    in  dieser  Richtung-   tätigen  Ed.  Engel  in  der  'EXXa's)    nur 
das  in  Leipzig  erschienene  Büchlein  eines  Ungarn  zu  nennen : 

I.  Telfy,  Chronologie  und  Topographie  der  griechischen  Aus- 
sprache.    Nach  dem  Zeugnisse  der  Inschriften.     Leipzig  1893. 

Es  ist  zu  bedauern,  daß  der  gute  Gedanke,  die  griechische  Aus- 
sprache nach  den  inschriftlicheu  Zeugnissen  örtlich  und  zeitlich  von 
den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Ausgange  des  Altertums  genau  darzustellen, 
einem  Manne  gekommen  ist,  dem  Kenntnisse  und  Methode,  die  dazu 
erforderlich  sind,  so  ganz  fehlen.  Auch  als  Materialsammlung  ist  das 
Büchlein  durchaus  wertlos,  da  der  Verf.  aus  bekannten,  oft  freilich 
veralteten,  Handbüchern  schöpft.  Daß  man  schon  in  alter  Zeit  nicht 
ganz  phonetisch  schrieb,  wie  der  Verf.  so  oft  betont,  ist  doch  nichts 
Xeues,  aber  man  schrieb  damals  nicht  für  jedes  spätere  st  E,  wie  auf 
S.  1  gelehrt  wird  (asoi,  Xe-sv).  Oy^p  ist-- natürlich  unser  Thier,  mit 
itazistischer  Aussprache  wird  ja  die  Übereinstimmung  noch  schlagender 
(S.  13)!  Druckfehler  sind  häufig,  wenn  Fälle  wie  Enklid  (S.  21  einmal, 
S.  27  dreimal)  wenigstens  als  solche  gelten  können. 

Auch  die  in  den  westeuropäischen  Schulen  vielfach  geltende 
..erasmische"  Aussprache  des  Altgriechischen  steht  in  gar  vielen  Punkten 
mit  wissenschaftlichen  Ergebnissen  im  Widerspruch,  w^ährend  in  andern 
uns  die  Mittel  zur  Bestimmung  der  Aussprache  fehlen.  Doch  gelten 
die  Worte,  die  E.  Legrand  und  H.  Pernot  ihrem  Precis  de  prouonciation 
grecque,  der  das  Neugriechische  behandelt,  vorausschicken,  auch  für  die 
Länder  deutscher  Zunge:  „nous  sommes  convaincus,  que  Tintroduction 
de  la  prouonciation  actuelle  dans  les  lycees  et  Colleges  aura  une  influeuce 
desastreux  sur  Tenseignemeut  du  Grec."  Die  schlimmsten  Folgen  hat 
wohl  die  bequeme  Art,  die  Laute  der  heimischen  Sprache  zu  substituieren, 
in  England.  Diesem  Zustand  ein  Ende  zu  machen  ist  das  Ziel  des 
Büchleins  von 

E.  V.  Arnold  and  R.  S.  Conway,  The  restored  pronunciation 
of  Greek  and  Latin.     S^^'i  edition.     Cambridge  1898. 

Einwände  von  Lloyd  und  Entgegnungen  der  Verfasser  in  zahl- 
reichen Nummern  der  Acad.  1896. 

Die  Vorschläge  der  beiden  Professoren  an  den  Universitäten  von 
W^ales  bezwecken  „a  reasonable  approximation  to  the  sounds  which 
actually  existed  in  ancient  times".  So  sollen  z.  B.  Gß,  a\i  als  zb,  zm 
(z  wie  im  Frz.),  9,  9,  7  als  p  +  h,  t-rh,  k  +  h,  cpö  als  pt-!-h  gesprochen 
werden.  Die  beigegebenen  Tabellen  stellen  die  entsprechenden  griechischen, 
französischen,  englischen  und  kymrischen  Laute  neben  einander. 

Mit  der  Wiedergabe  der  griechischen  Akzentqualitäten  in  der 
Schule  im  besonderen  beschäftigt  sich  die  Abhandlung  von 


22       Beriebt  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90— 1903.  (Schwyzer.) 

Gr.  J.  P.  J.  B  0 1 1  a  n  d ,  Die  althellenische  Wortbetonung  im  Licht  der 
Geschichte.    Leiden  1897. 

„Der  Zweck  der  Abhandlung:  ist  ein  rein  didaktischer;  dieselbe 
enthält  nichts,  was  nicht  den  Männern  der  geschichtlichen  Sprachwissen- 
schaft ganz  gut  bekannt  wäre."  «Mein  Autrag  geht  anf  Beachtung 
der  griechischen  Akzente  in  der  Prosalektüre,  und  zwar  so,  daß  man 
sich  angewöhne,  den  Zirkumflex  mit  wirklicher  Hebung  und  Seckung 
gleichsam  als  doppelten  Vokal  zu  sprechen  und  beim  Markieren  des 
Akuts  die  Quantitätsverhältnisse  der  alten  Sprache  möglichst  zu  wahren 
sich  bestrebe."  Die  Schrift  enthält  im  übrigen  eine  weit  zurückgreifende, 
€twas  langatmige  Darlegung  über  die  Entwickelung  der  griechischen 
Betonung  von  indogermanischer  Zeit  an,  ohne  neue  Ergebnisse,  aber 
von  gelegentlichen  Irrtümern  nicht  frei. 

Lautlehre. 

Allgemeines. 

Eine  gesonderte  Behandlung  der  griechischen  Lautlehre  ist  seit 
Christs  Büchlein  über  den  Gegenstand  (1859)  nicht  wieder  versucht 
worden.  Jetzt  tritt  wieder  ein  klassischer  Philologe  mit  eiuem  Werkleiu 
hervor,  das  in  manchen  Beziehungen  an  seinen  Vorgänger  erinnert: 

A.  Gercke,  Abriß  der  Giiechischen  Lautlehre.     Berlin  1902. 

Rez.  von  Bartholomae,  \YklPh  1902,  822—26.  Solmsen,  BphW 
1902,  991-6. 

Das  in  usura  scholarum  und  für  private  Repetitionen  bestimmte, 
als  eine  Vorschule  zu  giößeren  Darstellungen  gedachte  Büchlein  ist 
nach  zwei  Seiten  hin  bemerkenswert:  einmal  durch  die  bloße  Tatsache, 
daß  ein  auf  dem  literarischen  Gebiete  der  alten  Philologie  so  aner- 
kannter Forscher  wie  G.  der  sprachgeschichtlicheu  Forschung  so  warmes 
Interesse  entgegenbringt,  zweitens  dadurch,  daß  außer  Konsonantismus 
nnd  Vokalismus  des  ältesten  Griechischen  nicht  nur  auch  der  Akzent 
in  einem  besonderen  Abschnitt  behandelt  wird,  sondern  außerdem  noch 
ein  Anhang  den  schon  öfters  beredeten  Versuch  wagt,  die  Veränderungen 
des  griechischen  Lautsystems  relativ-chronologisch  zusammenzustellen. 
Freilich  ist  nach  des  Verfassers  eigenem  Urteil  der  Anhang  „nicht  für 
den  Anfänger  bestimmt  uud  darf  überhaupt  nur  mit  Vorsicht  benutzt 
werden":  er  gehört  al?o  im  Grunde  nicht  in  das  Büchlein.  Aber  auch 
die  für  Anfänger  bestimmten  Teile  geben  zu  mancherlei  Ausstellungen 
Anlaß.  Das  Neue  wird  kaum  viel  Gläubige  finden ,  weder  die  spora- 
dische Vertretung  von  Mediae  asp.  durch  Mediae  (S.  6  f.),  noch  Ety- 
mologien wie  die  von  {)aXatra  (aus  fhXaTJa  ./raldampf  zu  dtixo;,  das 
aber  für  aF£T|j.o;  steht)  und  vaüsjov  (zu  d.  „Nachen")  auf  S.  20.    Nicht 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       1I3 

;;anz  selten  macht  sich  eine  gewisse  Unklarheit  bemerkbar:  so  wenn  es 
heißt:  -,  }  werden  zu  <];,  &  zu  j  (S.  10  f.)  oder  wenn  Xj,  pj  nach  dem 
Hochton  gewahrt  scheinen  (S.  17),  wo  es  heißen  sollte  „unmittelbar 
nach  dem  Tonvokal  des  Wortes"  oder  ähul.,  oder  wenn  vuy.-i  genau  lat.  nocti 
t'utsprechen  soll  (S.  37).  Schließlich  sollte  in  einem  für  Antänger  be- 
stimmten Buche  der  Druck  sorglältiger  überwacht  sein:  S.  9  Z.  4  I. 
vom  statt  von;  S.  37  steht:  adagio  „Sprichwort"  (neben  äio);  S.  17 
ist  für  sruo-mo-  zu  lesen  srou-mo-,  S.  53  aXsupov  für  aXeupu);  unrichtig 
akzentuiert  sind  Cu[i.7]  (S.  13),  {xTa  (S.  45),  ve-/.uc  (S.  21).  i^ach  diesen 
Proben  kann  ich  nicht  zugeben,  daß  G.s  Werklein  die  allerdings  vor- 
handene Lücke  in  ausreichender  Weise  ausfülle. 

Wie  viel  sich  für  die  historische  Lautlehre  aus  dem  inschriftlichen 
Sprachmaterial  gewinnen  läßt,  ist  allbekannt,  und  später  zu  nennende 
Arbeiten  zeigen,  daß  diese  Quelle  immer  noch  nicht  ausgeschöpft  ist. 
Auch  ein  anderes  Mittel,  die  Wandlungen  der  griechischen  Laute  fest- 
zustellen, ist  in  neuerer  Zeit  voUständiger  und  methodischer  benutzt 
worden,  die  Umschreibung  griechischer  Wörter  in  nicht- 
griechischen  Sprachen,  wenn  auch  gerade  hier,  wo  die  griechische 
Philologie  lür  die  Beschaifung  gesicherten  Materials  auf  die  Mithilfe 
ihrer  Schwestern,  namentlich  der  orientalischen,  angewiesen  ist,  noch 
manches  zu  tun  übrig  ist. 

Mehr  gelegentlich  berühren  die  griech.  Lautlehre  die  Arbeit  von 
Tb.  Eckinge r.  Die  Oithogiaphie  lateinischer  Wörter  auf  griechi- 
schen Inschriften.  München  1892  (Zürcher  Dissertation)  und  das  Ge- 
genstück von  C.  Wessel.v,  Die  lateinischen  Elemente  in  der  Gräzität 
der  ägyptischen  Papyrusurkuuden  II  WSt  25,  3 — 40,  beides  in  der 
Hauptsache  als  solche  sehr  wertvolle  Materialsammlungen;  in  einem 
■ersten  Teile  seiner  Arbeit  (WSt  24,  98—151)  gibt  W.  eine  eingehende 
Zusammenstellung  der  lat.  Lehnwörter  in  den  Papyri,  der  kulturge- 
schichtlich orientierende  Bemerkungen  voraufgehen. 

Eine  Arbeit,  die  in  cr.ster  Linie  sich  mit  der  Orthographie 
einiger  griechischer  Lehnwörter  des  Lateinischen  beschäftigt, 
ist  auch  hier  kurz  zu  besprechen: 

Guilelmus  Schulze,  Orthographica.     Marburg  1894. 

Die  Schrift  enthält  zwei  Abhandlungen,  die  sich  auf  einem  über- 
reichen aus  Jahrhunderte  auseinanderliegenden,  zum  großen  Teil  kaum 
beachteten  Quellen  zusammengetragenen  Material  aufbauen.  I.  (p.  III 
— XXVI).  Ausgehend  von  den  Formen  epüencia,  epilenticus  in  Ivonrad 
von  Megenbergs  liher  de  verum  natura  (1349/50)  weist  Seh.  nach,  daß 
die  Form  mit  Nasal  in  der  ganzen  älteren  lateinischen  Überlieferung 
die    gewöhnliche    ist;    sie  entspricht  genau  den  aus  der  Vulgärsprache 


24       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.) 

stammenden  Formen  der  y.otvy^  wie  A-/;|X'];o[j.at,  X-/)[x--a7.rjs,  die  ans  der 
christlichen  und  hellenistischen  Literatur  sowie  ans  Inschriften  belegt 
werden.  Erst  die  Renaissance  hat,  von  den  Bj^zantinern  angeregt,  die 
nasallosen  Formen  aufgebracht.  —  II.  (p.  XXVII— LVIII).  Genau 
gleich  steht  es  mit  der  lat.  Wiedergabe  der  griech.  Lautverbindungen 
9&,  y&:  bis  auf  die  Renaissance  schreibt  das  Lateinische  ptli,  cth,  z.  B. 
dipt{Ji)ongus,  monopt(Ji)almus,  Nept(Ji)aUni,  (inschriftl.)  Apthonns,  Melip- 
tJiongus;  Ei'kf(h)onius.  Dazu  stimmen  die  Formen  der  roman.  Sprachen 
wie  ital.  dälongo. 

Auch  auf  einige  Punkte  der  spätaltgriech.  Lautlehre  kommt  zu 
sprechen  der  Aufsatz  von  W.  Luft,  Die  Umschreibung  der  fremden 
Namen  bei  Wulfila  ZvSpr  35,  291 — 313,  wenn  es  sich  auch  dem  zu 
früh  der  Wissenschaft  entrissenen  Verfasser  vornehmlich  um  das  Gotische 
handelt.  Die  got.  Transkription  der  griechischen  Wörter  schließt  sich  im 
ganzen  an  die  Schrift-,  nicht  an  die  Vulgärsprache  an,  was  sich  be- 
sonders bei  den  Konsonanten  zeigt.  Au  bemerkenswerteren  Ergebnissen 
für  das  Griech.  sei  hervorgehoben:  9  =  got.  /,  9=- got.  p-,  7  wird  bei- 
behalten oder  durch  k  ersetzt  (es  entsprach  nicht  genau  dem  got.  Spi- 
ranten h,  sondern  war  noch  Jcch  oder  tief  gutturale  Spirans);  a  vor 
lünenden  Konsonanten  wird  einigemal  durch  z  (  =  stimmhaftem  s)  ge- 
schrieben (z.  B.  in  ;;ra?I^&?//erei  =  vulgärem  Ttpsuputept,  wie  aiwaggeU 
[neben  ahcaggeljö]  =  zua-ciiXi,  die  sich  durch  die  Endung  als  volkstümlich 
ausweisen  gegenüber  dem  gelehrten  praitoriaun)\  yj  wird  durch  e,  seltener 
ei,  auch  i  und  ai,  wiedergegeben  (dazu  P.  Kretschmer,  SWA  143  [1901], 
X,  S.  8  Aum.  1);  die  Umschreibung  von  ext  durch  ai  beweist  weder 
für  das  Griech.  noch  für  das  Got.,  dagegen  geht  L.  im  Zweifel  zu  weit,  wenn 
er  für  au:  aw,  eu:  aiw  nicht  konsonantische  Geltung  von  u  zulassen  will. 

Mögen  hier  noch  einige  Einzelbemcrkungen  gestattet  sein.  Naii- 
haimbair  S.  294  kann  nur  lat.  November  (Nohemher)  vertreten;  griech. 
ist  Noe[j.ßpto;.  Zu  Ulfilas  kaisar  (gewiß  mit  ai,  nicht  e  gesprochen), 
ahd.  cheisur  bietet  eine  genaue  Parallele  das  armen,  kaisr  (gelelirt  kesar) 
mit  ai,  gegenüber  e  für  griech.  ai  in  später  entlehnten  Wörtern  (s. 
A.  Thumb,  ByZ  9,  402).  Doppelschreibungen  wie  lasson,  Lazzaru^ 
S.  298  können  auf  eine  griech.  A^orlage  zurückgehen ,  die  in  vulgäi'er 
Weise  die  in  der  Aussprache  zusammenfallenden  einfachen  Konsonanten 
und  Geminaten  verwechselte.  Säur  S.  303  kann  die  noch  heute  be- 
stehende Aussprache  des  griech.  u  als  it  belegen  (s.  daiüber  A.  Tumb, 
ByZ  9,  397 — 401).  Didimus  S.  303  könnte  einem  aus  Aioujxoc  assimi- 
lierten griech.  Aioiixo?  entsprechen.  Bei  der  Auseinandersetzung  über  got. 
7t  für  griech.  Spiritus  asper  ist  nicht  berücksichtigt,  daß  auch  in  armeni- 
schen und  rabbinischeu  Lehnwörtern  dafür  h  geschrieben  wird,  auch 
inlautend,    z.  B.   armen,    siunhodos  (A.  Thumb,   ßyZ  9,  391.  415),  wo 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       25 

Einfluß  des  Lat.  nicht  in  Frage  kommt,  sondern  theoretische  Erwägungea 
zu  Grunde  liegen.  Eine  Behandlung  der  got.  Umschreibung  griech. 
Wörter  vom  griech,  Standpunkt  aus  wäre  nach  diesen  Proben  nicht 
vergeblich. 

Eine  erschöpfende  Sammlung  und  Behandlung  griechischer 
Transkriptionen  germanischer  Wörter  würde  auch  für  die  griech. 
Lautlehre  nicht  ohne  Gewinn  bleiben.  Es  mag  hier  eine  knappe  Zu- 
sammenstellung der  beiläufigen  Ergebnisse  einiger  neueren  germanistischen 
Arbeiten  folgen,  die  von  den  Gräzisten,  wie  es  scheint,  bisher  nicht 
beachtet  worden  sind.  Sie  betreffen  meist  den  Vokalismus.  Ein  sicheres 
Beispiel  für  griech.  ai  an  Stelle  von  germ.  e  ist  wohl  Aivo;  bei  Ptol. 
(bei  Tac.  Aerius,  deutsch  hin,  s.  G.  Kossiuna,  IF  7,  306  f.),  weitere 
(l'xv■;iz-T^:;,  Xaipouszoi,  Ai^ouaicüvs^,  l'atßo|xapo?  u.  ä.,  die  freilich  teilweise 
späteren  Schreibern  zur  Last  fallen  mögen)  bei  R.  Much,  ZDA  35, 
369;  41,  118;  Beitr.  17,  60);  derselbe  nimmt  auf  Grund  der  Um- 
schreibung germanischer  Wörter  für  Ptolemäus'  Zeit  Zusammenfall  von 
7]  und  i  (ZDA  41,  108)  und  —  siciierlich  zu  früh  —  von  ot  und  tj 
(ebd.  100.  107.  131)  an.  Für  spirantische  Aussprache  von  ■■;  möchte 
man  in  Anspruch  nehmen  Schreibungen  wie  TY]3op7tocxov  (für  Fr].)  u.  ä. 
bei  E.  Much,  ZDA  41,  120  und  wie  Kaso-jp-ji?,  Visiirgis,  das  ja  nach 
den  Ausführungen  von  W.  Scheel,  Ph  57,  578  ff.  auf  eine  griechische 
Quelle  zurückgehen  kann,  bei  K.  Müllenhoff,  Deutsche  Altertums- 
kunde 2,  215.  Den  spätgriecliischen  Wandel  von  nt,  nh  zu  ncl,  ng  be- 
leuchten Schreibungen  wie  1e-ii[}.6üvTo^,  Aa-j-xoßapoot  (R.  I\Iuch,  ZDA  41, 
128),  den  von  --,  «ut  zu  ft,  aft  umgekehrte  Schreibungen  wie  FauT, 
Gapt,  SpaujTiXac,  Trapstüa  für  germ.  Gaut,  praßtila  (ebd.  95);  dagegen 
vermag  ich  nicht  zu  glauben,  daß  pr  für  od  in  Aa^i';o^dpzoi  mit  dem 
kypi-ischeu  Wandel  von  po  in  pT  etwas  zu  scliaffen  habe  (ebd.  112). 
Ein  freilich  nicht  der  Dissimilationsregel  (s.  unten  S.  42  f.)  sich  fügendes 
Beispiel  eines  Wechsels  von  |x  mit  ß  ist  Prokops  Schreibung  Ap[^6puyoi 
für  Äremorici  (bei  0.  Bremer,  Pauls  Giundriß  der  germ.  Philologie^ 
3,  879).  Auch  Volksetymologien  kommen  vor:  Fr^zaioz;  Prokop  für 
Gepidae.  Einiges  andere  bei  Fr.  Kluge  in  Pauls  Grundriß-  1,  498 
Anm.  2  (darunter -oü'^a :  angelsächs.  pftf  „Fahne";  also  entsprach  wohl 
griech.  f)  nicht  ganz  genau  germ.  />).  —  Bei  den  Entlehnungen  griech. 
Wörter  ins  Germ,  ist  stets  auch  die  vulgärgriech.  Form  zu  berück- 
sichtigen :  so  geht  m.  E.  unser  Kirche,  got.  kyr(eyikö  (Kluge  a.  a.  0.  358  f.) 
auf  eine  durch  Snffixvertauschung  entstandene  Form  y.upt/ov  zurück 
(Beispiele  für  y.upf/.oj  bei  K.  Dieterich,  Untersuchungen  67;  dazu  Kupixo; 
bei  J.   Krall,  Denkschr.  d.  Wiener  Akad.  46  [1900]  IV  S.  18). 

Die  griechischen  Bestandteile  des  Hebräischen  behandelt  nach 
dem  als  Sammlung  dankenswerten  Buche  von 


26       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90— 1903.   (Schwyzer.) 

*J.  Fürst,  Glossarium  graeco-hebraeum  oder  der  griechische 
"Wörterschatz  der  jüdischen  Midraschwerke.  Straßburg  1891  (vg-I.  die 
Besprechung  voa  A.  Thumb,  lA  6,  56—60),  und  den  wenig:  nütz- 
lichen äußerlichen  Zusammenstellungen  von 

M.  Schwab,  Trauscription  de  mots  grecs  et  latins  eu  hebreu. 
Journ,  asiat.  9.  serie  X  (1897)  414 — 444 

mit  eingehender  Beobachtung-  auch  der  sprachlichen  Form  solcher  Ent- 
lehnung, die  freilich  auch  dem  Gräzisten  noch  manches  zu  erledigen 
überläßt, 

*S.  Krauß,  Griechische  und  lateinische  Lehnwörter  im  Talmud, 
Midrasch  und  Targum.  Mit  Bemeikungen  vod  J.  Low.  I.  Teil. 
Berlin  1898.  II.  Teil  1899  (vgl.  die  Besprechung  des  L  Teils  von 
A.  Thumb,  lÄ  11,  96—99). 

Eine  Zusammenstellung  der  griechischen  Elemente  des  Armeni- 
schen hat  nach  C.  Brockelmann,  ZDMG  XLVII  1  ff.,  H.  Hübsch- 
mann.  Armenische  Grammatik  I  (Leipzig  1897)  S.  322 — 391  gegeben. 
Darauf  beruht  die  Arbeit  von 

A.  Thumb,  Die  griechischen  Lehnwörter  im  Armenischen.  ByZ  9, 
388-452, 

die,  wie  schon  der  Untertitel  ;, Beiträge  zur  Geschichte  der  Koivr^  und  des 
Mittelgriechischeu"  andeutet,  aus  der  neuen  Quelle  besonders  das  Wissen 
von  griech.  Sprachgeschichte  zu  bereichern  sucht.  Th.  gibt  nach  einigen 
methodologischen  Bemerkungen  eine  Lautlehre  der  ungefähr  500  (volks- 
tümlich sind  aber  nur  50)  meist  der  Wissenschaft,  dem  Staat  und  der 
Kirche  von  Bj'zauz  im  5.  beziehungsweise  vor  dem  10.  Jahrh.  ent- 
nommenen Lehnwörter  des  Armenischen.  Griech.  o  und  e  werden  von  den 
Armeniern  geschlossen  gehört;  u  erscheint  gleichzeitig  als  in  und  /, 
was  wenigstens  teilweise  auf  griech.  Verschiedenheiten  zu  beruhen 
scheint.  Für  das  Griech.  wird  aus  den  armen.  Transkriptionen  ein 
helles  und  ein  dunkles  l  wahrscheinlich.  Historische  Schreibungen  wie 
wie  &  =  ß,  /t  =  Spir.  asper. ^)  Der  Abfall  der  Endungen  in  der  Dekli- 
nation, der,  zumal  bei  i,  am  wenigsten  bei  o  auftritt,  wird  mit  der 
Reduktion  bzw.  dem  Ausfall  unbetonter  Vokale  in  den  heutigen  nord- 
griech.  Dialekten  in  Zusammenhang  gebracht.  Häutig  treten  au  die 
griech.  AVörter  armen,  Suffixe  an.  Durch  griech.  Vermitteluug  sind 
auch  die  lat.  {kaisr,  s.  oben  S.  24)  und  roman.  (im  12.  und  13.  Jahrh.)  Lehn- 
wörter des  Arm.  au  ('genommen.  —  Wenig  bietet  dagegen  das  Persische: 


*)  Darf  man  bei  armen,  tom  aus  griech.  ''lzi(i]^a  an  ueugr.  VJu.c,  -'^v.y.a 
neben  -yiuv.  (aus  *'li~j\).o),  -fiiia  (aus  -jz'.<yy.)  denken?  Vgl.  A.  Thumb,  Uand- 
buch  der  neugr.  Volkssprache  S.  5. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.)       27 

Th.  Nöldeke,  Griechische  und  aramäische  Fremdwörter  im  Persischen 
(in:  Persische  Studien  II  S.  34—46.  SWA  126  Nr.  12)  weiß  nur 
zwei  griech.  Wörter  (otaor,jj.a  und  opayjxri)  aufzuführen,  die  niclit  erst 
durch  Vermittelung  des  Aramäischea  ins  Persische  gelangt  sind. 

Alle  Beachtung  verdienen  die  Beobachtungen,  welche  J.  J.  Heß, 
IF  6,  123—134  an  den  phonetisch  treuen  ägyptischen  Umschreibungen 
griechischer  Wörter  für  das  2.  Jahrh.  nach  Chr.  gemacht  hat:  danach 
ist  9  noch  j?  + /<,  nicht/",  -/noch  k-.-h;  die  Ägypter  hören  auch  damals 
noch  das  durch  den  Spiritus  asper  ausgedrückte  phonetische  Element 
in  p;^)  auch  methodisch  wichtig  ist  Heß'  Ergebnis,  daß  O  und  o  zw'ar 
vor  t  Spiranten,  dagegen  in  den  andern  Stellungen  noch  Verschlußlaute 
sind:  man  kann  daraus  lernen,  wie  gefährlich  es  ist,  ohne  weiteres  zu 
verallgemeinern.  Dagegen  ist  ^  in  jeder  Stellung  zur  stimmhaften 
Spirans  (frz.  z.)  entwickelt.  Eine  Keihe  von  Bemerkungen  knüpft  au 
die  Arbeit  von  Heß  A.  Thumb,  IF  8,  188-197.  Er  stellt  die  Unter- 
suchung durch  Beiziehnng  der  orthographischen  Eigentümlichkeiten  der 
griechischen  Inschriften  und  Pap3Ti  Ägj'ptens  auf  eine  weitere  Basis; 
besonders  bemerkenswert  sind  die  Folgerungen,  daß  r^  und  ti  im  2.  Jahrh. 
n.  Chr.  in  Ägypten  noch  nicht  ganz  mit  i  zusammengefallen  waren, 
und  daß  das  spätgriechische  u  im  Klang  eiiiem  iu  nahe  stand,  was  auch 
durch  die  armenische  Transkription  mit  üi  nahegelegt  wird.  —  Um 
einigermaßen  vollständig  zu  sein,  verweise  ich  hier  noch  auf  einige  mir 
nicht  zugängliche  Publikationen,  die  Material  für  ähnliche  Studien 
enthalten: 

*0.  V.  Lemm,  Giiech.  und  lat.  Wörter  im  Koptischen,    Bull,  de 
TAcad.  Imp.  de  Sc.  de  St.  Petersbourg  1900,  Nr.  I. 

*W.  Spiegelberg,  Ägyptische  und  griechische  Eigennamen  aus 
llumienettiketten  der  röm.  Kaiserzeit.     Leipzig  1901. 

*  A.  Eiba  r,  Griechische  Wörter  in  der  kroatischen  oder  serbischen 
Sprache.     Skolski  Yjesnik  IX,  Heft  1—6  (1903). 


Vokalismus. 

Die  geschichtliche  Entwickelung  des  griech.  Yokalismus  ist  durch 
frühere  Arbeiten  in  ihren  Grundzügeu  längst  festgestellt;  doch  zeigen 
die  anzuführenden  Aufsätze   und  Artikel,    daß    noch    manches   erreicht 


*)  Es  sei  gleich  hier  bemerkt,  daß  A.  Thumb,  IF  8,  227-8  auf 
einer  archaischen  Vasenaufschrift  aus  ßöotien  einen  neuen  Beleg  für  aspi- 
riertes p  im  Anlaut  liest  (hf>c!'Vy[Fo'.oüj]?).  Übrigens  ist  Hatzidakis,  *'A(}r;vä 
H,  472,  dafür  eingetreten,  daß  p  kein  tonloses,  sondern  ein  aspiriertes  r 
(rh)  sei  (nach  lA  12,  219}. 


28       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

werden  kann,  namentlich  was  die  genauere  Begrenzung  eiozelner  Laut- 
erscheinungen  und  die  Chronologie  anbetrifft. 

JFür  ü  sucht  A.  Thumb,  IP  8,  195  namentlich  auf  Grund 
armen.  Trauskriptionen  (vgl.  oben  S.  24.  26  f.)  zu  zeigen,  daß  es  in  spät- 
griech.  Zeit  ähnlich  ^Yie  in  klang  —  wie  in  gewissen  modernen  Dialekten. 
Einen  ähnlichen  ^Yandel,  der  mit  der  Verdumpf ung  von  w  zu  ou  zu- 
sammengeht, hatte  schon  früher  Hatzidakis,  ZvSpr  34,  81 — 97 
(=  rAü)37oXo7t7.ai  [j-e/iiai  I  550 — 70),  für  die  alten  Lakonen  (wie  auch 
die  heutigen  Zakonen)  angenommen.^)  K.  Brugraann,  BSG  1901, 
89 — 98  schließt  aus  der  Assibilation  von  inlautendem  -t-j-  in  -c;u-  in 
Fällen  wie  oou?.6-ouvo;  (  :  ai.  Suflix  -tvana-m),  -ijupsc,  ^[J-i-uj,  obor,,  oa-iS?, 
die  er  jetzt  zugibt,  daß  schon  im  Urgriech.  ein  Anfang  der  Palatali- 
sierung  von  u  (—  n)  zu  %  vorhanden  war,  wie  sie  uns  später  besonders 
aus  dem  Boot,  (lou)  bekannt  ist;  damit  hängt  vielleicht  auch  die  Ent* 
Wickelung  des  Spir.  asp.  bei  anlautendem  u-  zusammen.  Damit  ist  die 
Zeitbestimmung  vereinbar,  welche  G.  N.  Hatzidakis,  'Aör^va  8  = 
rX(üa30Ä07i-/.'jri  p.sA£t7.i  I  547 — 9  gegenüber  Wilamowitz  verfochten  hat: 
der  AVandel  von  n  zu  ü  im  Attischen  war  schon  lange  vor  500  vollzogen. 

Mit  dem  ionisch -attischen  Wandel  von  a  zu  y]  beschäftigt  sich 
P.  Kretschmer,  ZvSpr  31,  285  —  296.  Da  der  Wandel  auch  eioe 
Anzahl  von  Lehnwörtern  aus  nichtgriechischen  Idiomen,  wie  das  semi- 
tische ?.rjoavov,  die  Namen  2ap-Y]ou)v,  Mrjoot-)  noch  ergriffen  hat,  ist  er 
verhältnismäßig  jung,  darf  also  auch  nicht  zur  Aufstellung  eines 
Stammbaums  der  griechischen  Mundarten  verwendet  werden.  Im  weitern 
sucht  Kr.  die  Ansicht,  im  Attischen  sei  ä  nach  i,  s,  p  aus  -q  rückver- 
wandelt durch  neue  und  überzeugende  Argumente  zu  stützen.  Die 
Rückverwandlung  durch  p  wirkt  auch  über  o  hinweg:  ay.poäfxa,  a&poa 
(nach  W.  Schulze,  GGA  1897,  904),  wird  dagegen  durch  aspiriertes  p 
aufgehalten:  (jo-q  (Hatzidakis,  "'Aör^va  10,  400).  Das  aus  ä  ent- 
standene r)  ist  erst  gegen  Ende  des  5.  Jahrh.  völlig  mit  urgriech.  e 
zusammengefallen  (Hatzidakis,  *'Ai}r;va  11,  393  f.  =^  D.cu-ioX.  [t-zli-on 
1  589  f.).     Daß  dagegen  die  Gruppe  urj  im  Attischen  lautgeseizlich  ist. 


*)  Sein  Aufsatz  über  die  Aussprache  von  c<'j  fj  ('Ai};,v5.  11,  15S— 162) 
entzieht  sich  meiner  Kenntnis. 

-)  Vgl.  aucb  Kc'oyrjOvijv  neben  thebanisch  Kc/.o-/ar,'j-j<.oz;  Ei(j^r,z  gegen- 
über pers.  Xsajrirsfi  (gleichzeitig  mit  Vokalkürzung;  s.  E.  Kuhn,  ZvSpr  31, 
.■■)L'3f.;  Chr.  Bartholomae,  Iranischer  Grundriß  I,  1,  IGO):  ferner  ion.  v-zr,-((jz, 
frühzeitig  aus  phryg.  a--'j.yj',  entlehnt  (F.  Soimsen,  ZvSpr  34,  63  f.);  Cometes 
bei  Trogus  aus  Charon  von  Lampsakos,  aus  apers.  Gaumäta  (A.  v.  Gutschmid,^ 
kl.  Sehr.  V  39).  Anderseits  sind  (schon  in  lies.  Thcog.  340.  344)  die  Formen 
^az<.z,  A«oü)v  beibehalten;  auch  Ac.zoi  erweist  sich  durch  sein  ä  als  in  relativ 
i-pilter  Zeit  bekannt  geworden. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90— 1903.  (Schwyzer.)       29 

weist  Hatzidakis  in  ZvSpr  36,  589  —  96  (-=  rXu)i3olo-;iy.aX  \i.zU-'x'. 
I  538 — 46)  an  Hand  einer  vollständigen  Saramluiig-  des  Materials  nach. 
—  In  einem  kleinen  Aufsatz,  IF  9,  343—6,  verteidigt  K.  Brugmanu 
seine  Ansicht  von'  der  monophthongischen  Geltung  der  sogenannten  un- 
echten Diphthonge  et  und  ou  gegen  die  von  0.  Hoffmanu,  Griech.  Dial. 
3,  384  ff.  erhobenen  Einwürfe,  gewiß  mit  Hecht,  Ebenfalls  mit  der 
Entwickeluug  der  e-  und  o -Vokale  gibt  sich  in  der  Hauptsache  ab 
J.  Mc  Keen  Lewis,  Notes  ou  Attic  Yocalism  in  den  Papers  of  the 
American  school  lY  (1888),  261 — 277  —  ohne  neue  Ergebnisse.^)  — 
Verschiedene  Beobachtungen  gelten  der  Monophthoagisierung  der  laugen 
e-Vokale  (r^,  et,  7]t)  zu  t.  Eine  Anzahl  von  Fällen,  wo  st  neben  t  er- 
scheint, wie  'Apt3-oy.X£tÖT]?  neben  'AptaToy.X-'oYjr,  XaXxstarat  neben  XaXy.tatai 
erklärt  Hatzidakis  ^Aftr^va  7,  458 — 468  durch  Suffixvertauschuug  — 
ein  häufig  genug  belegter  Vorgang;  anders  über  notetösatai  neben 
rioTstoaia  W.  Prellwitz,  BuJ  1900,  100.  Beiträge  zur  Geschichte  des 
orthographischen  Wechsels  zwischen  r/.  und  t:  aus  attischen  Urkunden 
liefert  B.  Keil,  MAI  20,  428.  Brugmann  hatte  dieses  r,t  zu  monoph- 
thongischem e  werden  lassen,  das  dann  durch  et  ausgedrückt  wurde; 
J.  Schmidt  tritt  in  ZvSpr  37,  37 — 39  wieder  dafür  ein,  daß,  wie  wt 
zu  ot  —  eine  Schreibung,  die  allerdings  nur  ganz  vereinzelt  auftritt  — 
?o  Tjt  zu  diphthongischem  et  gekürzt  worden  sei,  das  dann  später  teils 
zu  t  wurde,  teils,  z.  B.  in  Flexionen  wie  dem  Dat.  ^iOuX-^,  analogisch 
durch  r^  ersetzt  wurde.  Die  Frage  ist  sehr  schwer  zu  entscheiden; 
immerhin  ist  auch  jetzt  noch  Brugmanns  Erklärung  durch  die  neben  r,t 
und  et  erscheinende  Schreibung  E  wohl  begründet.  Daß  t],  et  noch  im 
2.  Jahrb.  n.  Chr.  von  sonstigem  t  geschieden  waren,  folgert  Thumb, 
IF  S,  194  aus  ägyptischen  Transkriptionen.  Für  die  jetzt  durch  die 
Ausbeute,  welche  die  Inschriften  geliefert  haben,  in  den  meisten  Fällen 
sichere  Feststellung  der  Langdiphthouge  bietet  Anhaltspunkte  das  von 
Eabe,  RhMPh  47,  404—413  veröffentlichte  Lexicon  Messanense  de 
iota  adscripto  (dazu  Nachträge  von  Schneider,  ebd.  52,  447 — 9). 
Von  den  Langdiphthongen  geht  auch  aus  ein  postumer  Aufsalz  von 

J.  Schmidt,  Zur  Geschichte  der  Langdiphthonge  im  Griechischen. 
ZvSpr  38,  1—52, 

der  freilich  ungleich  viel  mehr  enthält,  als  der  von  W.  Schulze  ge- 
wählte Titel  besagt.  J.  Schmidt  bekämpft  das  von  Osthoff  aufgestellte 
Gesetz,  wonach  langer  Vokal  -r  t  im  Griech.  vor  Konsonant  verkürzt 
wird;  die  dafür  beigebrachten  Beispiele  werden  im  einzelnen  geprüft 
und    abgelehnt   (-AstJTo?  an  Stelle  von  *pläisthos    und    aiuiv    sowie  die 

*)  Die  Aufsätze  von  Pescatori  über  E,  0,  9.  (Boficl  3,  166— S.  211—3) 
kenne  ich  Dicht. 


30       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Aoriste  wie  sTsua  neben  £Xe;a  haben  alte  Kürze,  in  -/voiixsv,  opatfxsv, 
fj.r;£i|j.Ev  sind  die  Kürzen  analog-isch  eingedrungen},  die  dagegen  sprechen- 
den ins  rechte  Licht  gestellt  (Dat.  Sg.  auf  -ci,  -w,  Präsentia  wie  |jli- 
fi.vTJcy,cu,  t)v7j3y.ü))  Die  Hauptstütze  der  geltenden  Ansicht  war  jedoch 
die  Gleichung  Xuxoic  =  ai.  lustrum.  vrkäis.  Deren  ausführliche  Wider- 
legung bildet  den  auch  durch  die  dazu  verwendeten  Mittel  wichtigsten 
und  umfangreichsten  Teil  der  Arbeit.  Die  herrschende  Ansicht  ist 
innerlich  un^Yahrscheinlich,  da  das  Griech.  sonst  den  Instrumental  völlig 
verloren  hat  und  läßt  den  lesb.  Typus  toTj  ösout  unerklärt.  Darin  ist 
eine  Stufe  erhalten,  auf  der  einst  alle  griech.  Dial.  standen:  bei  den 
Subst.  ist  -ot?  nach  der  Analogie  des  Artikels  an  Stelle  von  -oi3t  ge- 
treten, das  nicht  durch  Elision  sein  t  verlieren  konnte.  Die  Form  toTc 
ist  aber  nicht  etwa  alter  Instrumental,  wie  dies  C.  Reichelt  in  seiner  später 
zn  nennenden,  J.  Schmidt  nicht  bekannten,  Abhandlung  annimmt,  der 
im  übrigen  gleicher  Ansicht  ist  wie  J.  S.,  sondern  selbst  aus  xoTjt 
hervorgegangen  infolge  seiner  proklitischen  Natur.  Ein  langer  Exkurs 
dient  dem  Nachweis,  daß  unbetonte,  besonders  proklitische  Wörter  be- 
sonderen Gesetzen  unterliegen,  namentlich  starke,  bei  anderen  Wörtern 
nicht  vorkommende  Kürzungen  erfahren.  So  erklären  sich  die  dialekt_ 
Formen  av,  y.a-,  Ttap,  d.-,  -ap,  auch  das  att.  -poc  für  -posi  aus  TrpoTt, 
argiv.  7:0t  für  ttoti,  samt  den  auffälligen  Assimilationen  wie  xappoov, 
z'/äXikS.  7.a[x;x£:;3ov,  7.avvo[j.ov.  y.7.'j'/;at;,  a'jsp'jto,  SO  beim  Stamm  to-,  ra-, 
dessen  Pioklise  auch  die  Asdmilationen  wie  -oXXoyov  bezeugen,  außer 
ToT?  aus  totsi  auch  homer.  tojv  als  Artikel  neben  Tatuv  als  Pronomen,, 
böot. -thess.  TG(v  neben  -awv  beim  Subst.  und  entsprechendes  ion.  -röjv 
neben  -ewv ,  ferner  thessal,  toi  aus  xoTo  (wonach  auch  bei  den  Subst. 
der  Gen.  auf  -01  statt  auf  -oto  gebildet  wurde,  vgl.  dazu  olpiai  aus 
Giop-ai);  auch  att.  toü  coü  ou  verdanken  ihre  Einsilbigkeit  der  häufigen 
proklitischen  Stellung  (vgl.  dagegen  die  zweisilbigen  oio^,  täoz).  End- 
lich gehören  dahin  vou|xr,vta,  öouy.uotor;;  neben  vsoc,  ilsoc:  Oiowpou,  KXs- 
ro'Xioc  (mit  s  vor  einfachem  Konsonanten)  und  0oxXoc,  Go7v7]to;  (die 
Kürzung  0  urspr.  nur  vor  Doppelkonsonanz);  aos  aus  erstarrtem  a'jToj 
(z.  B.  in  kret.  auiautöt^  neben  herakl.  \i.zx  a-j-o;  aurüiv).  ^)  Mehr  bei- 
läuftg  wird  ausgeführt,  daß  att.  tsXei  aus  töXsiei  lautgesetzlich,  xsXüi  an 
Stelle  von  tsXsiw  (i  aus  cj  zwischen  ungleichen  Vokalen  ist  sonst  er- 
halten) analogisch  kontrahiert  sei.     [Vgl.  noch  die  Nachträge]. 

*)  Es  sei  hier  gleich  beigefügt,  daß  W.  Schulze,  Kontraktion  in 
proklitischem  Worte,  ZvSpr  3S,  286—9,  die  Kontraktion  in  o^pAv  aü-.öv, 
zzä-,  oo-.ryj-^  (neben  -3i.£(»y,  sf:«;  als  einfachen  Enklitika)  nach  dem  von. 
J.  Schmidt  gefundenen  Grundsatz  erklärt.  Gleicherweise  entstand  neugr. 
710p';  (auch  in  südgriech.  Mundarten)  aus  y.'opt:,  vgl.  die  Bemerkungen  in 
X'/tC'.oc^V.t  ctx.  dva-|v.  I  520  Anm.  1  über  die  Betonung  dieser  Wörter. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890 -l;)03.  (Schwyzer.)         31 

Eine  schöne  B-obachtiinff  zur  spätgriechischcn  Orthographie  hat 
\V.  Schulze,  GGA  1897,  89G  gemacht:  statt  a'i  wird  a.z<.  geschrieben 
(ebenso  statt  ot  ost,  s.  Mei-iterhans^  49,  28). 

Besonderes  Gewicht  ist  in  den  letzten  Jahren  auf  die  kombi- 
natorischen Erscheinungen  im  Vokalismus  gelegt  worden.  Zu 
den  assimilatorischen  gehört  die  Konti'aktion.  Wichtig  ist  ein 
Gesetz,  das  etwa  gleichzeitig  von  W.  Schulze,  Qiiaest.  epp.  163; 
F.  Solmsen,  ZvSpr.  32,  526  f.;  P.  Kretschmer,  Vaseninschr.  141  ge- 
funden wurde:  so,  sa  bleiben  im  Attischen,  wenn  zwischen  den  beiden 
Vokalen  F  geschwunden  ist,  immer  unkontrahiert,  wenn  j  oder  s  aus- 
gefallen ist,  nur  in  ursprünglich  zweisilbigen  Formen;  vgl.  auch  die 
darauf  fußende  Erklärung  von  eav  neben  eiiiY^v  im  Attischen  durch 
J.  Schmidt,  SPrA  1899,  310  Note.^)  Hauptsächlich  dem  Nachweis, 
daß  psa  im  Attischen  nur  dann  zu  p«  wurde,  wenn  ~  vor  der  Kon- 
traktion lang  wa",  bei  Kürze  des  a  dagegen  als  pyj  erscheint  (rpir^pr], 
oprj  gilt  der  Aufsatz  von  Hatzidakis  IF  5,  393 — 5  (^=rX(ü33oXo7iy.al 
IxsXsxai  I  571  —  3).  Dagegen  ist  (die  altidg.  Form)  y.v]p[o]  nicht  au? 
(dem  dichterisch  nach  dem  V^erhältnis  von  ^po;:l'apoc,  aap  gebildeten) 
-/.£ap  entstanden,  nach  ßrugmann  IF.  5,  341;  o  muß  vor  der  Vokal- 
kürzung  vor  Sonant  und  Kons,  gefallen  sein.  Daß  eine  starke  Kon- 
sonantengruppe  die  Kontraktion  hintanhält,  vermutet  J.  Wacker- 
uagel  ZvSp.  33,  21  durch  den  Hinweis  auf  vzo—o^,  vzoyix6i,  wo 
freilich  F  ausgefallen  ist. 

Die  umfangreichste  und  eingehendste  Arbeit  auf  dem  Gebiete  der 
Vokalkontraktion  ist  aber  der  kürzlich  erschienene  Aufsatz  von 

K.    Eulenburg,    Zur    Vokalkontraktiou    im    ionisch  -  attischen 
Dialekt.     IF  15,  129—211. 

Das  Verdienst  der  Untersuchung  liegt  nicht  etwa  in  einer  voll- 
ständigen Sammlung  des  Materials  —  vollständig  sind  nur  die  einzelnen 
Typen  vertreten  —  noch  in  einer  Vermehrung  der  bisher  bekannten 
Tj'pen  durch  selbständige  Ausbeutung  der  Sprachquellen,  sondern  in 
der  Betrachtung  der  hergehörigen  Vorgänge  als  Ganzes  in  ihrem 
Inneren  Zusammenhange.  Unterstützt  durch  die  Übersicht  der  Resul- 
tate auf  S.  204—6  hebe  ich  aus  der  Arbeit,  die  ausführlich  auch  die 
Kontraktion  in  den  homerischen  Epen,  besonders  auch  die  (als  Distrak- 
tion  gefaßte)  epische  Zerdehnung  behandelt,  hervor,  was  für  das  Attische 
von  besonderer  Bedeutung  ist.  „Die  Vokalkontraktionen  erfolgten  auf 
assimilatorischem  Wege,  und  zwar  begann  der  Kontraktionsprozeß  bei 
sa,   £0,   so  [~  — ou!],    £ü),  cüco,   yjy]  vor,   bei  aa,   as,  ao,   aö,   aw,   oa,   os,  oo,, 

^)  Abweichend  zwar  Fick  BKIS  23,  184  f.  —  Es  sei  auch  hinge- 
gewiesen auf  J.  Schmidts  Behandlung  von  y-yä  (ZvSpr.  33,  454). 


32       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

o",  0(0,  £3,  se,  £r,,  r^^,  tu«,  wo  uach  dem  Schwund  des  zwischenvokalischen 
F.  Bei  Assimilation  quantitativ  und  qualitativ  verschiedener  Vokale 
nimmt  nie  ein  langer  Vokal  die  Qualität  des  kurzen  an"  (die  bisher 
für  Kontraktion  von  a,  o  --  yj,  e  angeführten  Beispiele  beruhen  auf 
analogischer  Umbildung  oder  werden  als  Bildungen  erklärt,  für  die 
jene  Kontraktion  nicht  in  Frage  kommt,  z.  B.  9äv6c  aus  "cpaFcvüc  ('?); 
schwierig  bleiben  dabei  die  Formen  von  aipw,  mit  denen  der  Verf.  sich  S.  152 
auf  unmögliche  Weise  abfindet;  da  wäre  doch  die  Annahme  vorzuziehen, 
daß  die  außerindikativischen  Aoristfovmen  nach  den  regelrecht  kontra- 
hierten dpa),  v;p9y]v,  äpöcJü  usw.,  ^pa  aus  f^stpa  ihr  doi-  durch  ap-  ersetzt 
haben)!  „Drei  Vokale  werden  zum  Monophthong  zusammengezogen, 
wenn  in  den  auf  Grund  der  Assimilationsregeln  entstandenen  Gruppen 
zur  betreffenden  Zeit  der  1.  und  2.,  sovde  der  2.  und  3.  kontrahiert 
werden  können.  Die  ionisch-att.  quantitative  Metathesis  resp.  Vokal- 
kürzung trat  bei  urgr.  Hiatus  viel  früher  ein  als  bei  F  und  bei  Kou- 
traktions-e  als  erstem  Komponenten".  Der  att.  Rückumlaut  nach  p 
(öupa)  fand  vor  Schwund  des  inlautenden  F  statt,  der  Kückumlaut  nach 
i,  e  (olxi'a,  vEot)  nach  Abschluß  aller  Kontraktionen  und  der  jüngeren 
Metathesis,  ungefähr  gleichzeitig  mit  der  jungen  Kontraktion  in  Fällen 
wie  rUtpataic.  —  KKto\j:qdzo;  S.  132  ist  der  Name  eines  Samiers,  also 
unattische  Form. 

Die  Fernassimilatiou  benachbarter  einander  nicht  berührender 
Vokale  im  Giiechischen  hat  auf  Grund  eines  Materials,  das  auch  durch 
gelegentlich  noch  hinzugefundene  Beispiele  (bes.  von  Kretschmer, 
Vaseninschr.  117  f.^),  wo  auch  das  von  Prellwitz  BKIS  25,  286  be- 
handelte \}.'x-(oirjiy.6t  bei  Herodian  schon  zu  finden  ist,  S  28,  Anm.  1; 
R.  Meister,  BSG  1899,  149.  153  [olod  aus  ^oXsFa;  y.aXau  „Hahn"  aus 
xsXaFu-  zu  lak.  yAXoilo;  „hallend"];  W.  Prellwitz,  BuJ  1900,  100 
[auöaoTjs  aus  *auTaFdör];  für  auroFaorjc;  ebenso  dürfte  sich  erklären 
AY][j,äoY)?  aus  Ari[j.a-,  Ar,|xo-Fd&rp] ;  F.  Solmseu,  ZvSpr.  37,  7  Aura.  1 
[ion.-att.  y.aOapo?  aus  xoOapo^,  vgl.  herakl.  y.oüapac  dvy.oOapiovTi  el. 
y.oi}ap7i])  nicht  stark  verändert  worden  ist,  J.  Schmidt  im  ganzen 
abschließend  behandelt  in  seiner  Arbeit  über  den  Gegenstand  in  ZvSpr. 
32,  321—394.  Häufig  ist  unbetontes  e  an  folgenden  betonten  o- Vokal 
assimiliert  worden  (und  zwar  schon  urgriechisch),  ebenso  findet  sich 
nicht  selten  die  Angleichung  von  unbetontem  e  an  folgendes  a.  Seltener 
sind  die  Wandlungen  von  s  vor  o  zu  u.  a  vor  u  und  Fo  zu  o,  die 
Assimilationen  von  a  an  s,  a  an  o.    Die  Icstm  Leiter  der  Assimilation 


^)   Vgl.    besonders  Mo'jv'.y'.djv    für  Moj  u/'.ojv,   neben  M'vjvuyoc  S.  120, 
das  Widerspiel  von  r]\vjyj-,  aus  r^'y.rjz. 


ßericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schvryzer.j       33 

sind  Liquiden  iiud  Nasale ,  doch  auch  Verschlußlaute  bilden  keia 
Hindernis.  ^ 

Das  Gebiet  der  Vokaldissirailatiou  betritt  K.  Brugraanns 
Aufsatz:  Dissimilatorische  Veränderung  von  e  im  Griechischen  und 
Aristarchs  Regel  über  den  homerischen  Wechsel  von  r)  und  st  vor 
Vokalen.  IF  9,  153 — 182.  Nach  einigen  Vorbemerkungen  über  den 
dissimilatorischeu  Ursprung  des  ä  in  Fällen  wie  är^p,  ouaär,^,  aocpta, 
u^ia  wird  gezeigt,  daß  allgemeiu-ionisch-attisch  das  durch  Ersatzdelinung 
von  e  oder  durch  Zusamnienziehung  zweier  s  entstandene  e  unmittelbar 
vor  e  und  vor  i  nicht  als  st,  sondern  als  r^  erscheint;  vgl.  die  Beispiele 
hom.  TsXif^ei?  aus  tsXejFevx-;  (jiti^sjji,  a-^i,  xX^'Cw  (mit  r)  aus  es).')  Die 
Hauptbedeutung  der  Arbeit  liegt  auf  dem  Gebiete  der  homerischen 
Textkritik;  sie  erschließt  in  einem  wichtigen  Punkte  das  Verständnis 
der  Überlieferung.  Die  dissimilatorische  Erklärung  ist  auch  angewendet 
worden  auf  öusTv  neben  ouoTv,  (I)aXr,ps(=-si)otxti)v,  ot'xsi  neben  oi'xot,  Xotirstg 
für  Xonrois;  vgl.  die  Zusammenfassung  Meisterhans"  147  Nr.  1268.^) 

Das  Gesetz,  wonach  im  Urgriechischen  (früher  nahm  man  sogar 
an,  gemeinwesteuropäisch)  Langdiphthonge  und  Verbindungen  langer 
Vokale  mit  Liquida  oder  Nasal  vor  Konsonanten  verkürzt  wurden,  hat 
mit  vorgriechischen  Verhältnissen  zu  tun  und  liegt  außerhalb  unserer 
Aufgabe;  von  J.  Schmidt,  SPrA  1899,  307  ff.  bestritten,  wird  es 
von  ßrugmann,  griech.  Gramm. ^  572  f.  gehalten.  Solmsen,  BKIS  17. 
329 — 339  hat  dasselbe  chronologisch  zu  fixieren  gesucht;  es  trat  erst 
ein  nach  Abfall  von  t  im  absoluten  Auslaut:  daraus  erklären  sich  die 
Formen  wie  l^vojv,  cpepu»v  (vgl.  auch  z9)p  für  xrjpo).  —  Über  die  Kürzung 
der  Langdiphthonge  im  Attischen,  die  J.  Schmidt  annimmt,  s.  oben  S.  29. 

Interessant  ist  eine  Beobachtung  zum  vokalischen  Sandhi, 
die  W.  Schulze,  ZvSpr.  33,  133 — 137  an  kretischen  Inschriften  ge- 
macht hat.  Aus  der  Poesie  war  schon  läHgst  bekannt,  daß  auslautende 
lange  Vokale  vor  vokalischem  Anlaut  gekürzt  wurden,  z.  ß.  TcXa^/Oyi 
sirsu  Auf  einigen  kretischen  Prosainschrit'ten  wird  nun  die  Erscheinung 
auch  in  der  Schrift  ausgedrückt;  so  schreibt  eine  Inschrift,  die  sonst  E 
und  H  scheidet,  vor  vokalischem  Anlaut  [xs  für  [xrj. 

Für  die  Zulassung  der  Elision  des  Dativ-t  an  einer  Anzahl  von 
Tragikerstellen  tritt  J.  Brennan,    CR.  7,    17 — 19,  ein:    vom  sprach- 


^)  Hier  ist  wohl  auch  *P.  Perdrizet,  'Ep:&o:3i'>;  =  'A.ojÖo^^'.o;  REä: 
I,  3  p.  210  —  11  zu  nennen. 

2)    Gegen  Brugmann  wendet  sich  H.  Ehrlich,  ZvSpr.  38,  22  ff. 

")  Dagegen  dürfen  T^vt^fj^oo:,  -rM'^o'LLoz  bei  Dichtern  nicht  mit 
U.  v.  Wilamowitz,  SPrA  1900,  842  hierhergezogen  werden;  den  Unter- 
schied gegenüber  ^av^-scpupo;  erklärt  H.  Ehrlich,  ZvSpr.  38,  35  Fußn.  1 
überzeugend  aus  verschiedener  Stammbildung. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenächaft,    Bd.  OXX.    (190-1.    I.)  3 


24       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.) 

■wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  kann  man  nur  zustimmen,  wenn  sich 
anch  kaum  entscheiden  lassen  wird,  ob  wirklich  Elision  oder  nur  deren 
Vorstufe,  konsonantische  Geltung-  vou  i,  vorliegt. 

Yokalische  Aphärese  in  Eigennamen,  für  die  oft  besondere 
Gesetze,  die  sich  eben  nach  besouderen  Bedingungen  richten,  gelten, 
hält  P.  Kretschmer,  ZvSpr.  36,  270—3  gegen  Fr.  Bechtel,  BKIS 
20.  243;  23,  247  mit  0.  Hoff  mann,  BKIS  22,  135  f.  aufrecht  auf 
Grund  von  Beispielen  wie  pamph.  <I>op6icjioc,  Oavaotupoc,  mess.  rtuvtirTro?, 
böot.  AocjiTTTTo?  u.  ä.;  auf  einen  übersehenen  Fall  von  „Hyphärese" 
macht  Fr.  Bechtel,  BKIS  20,  241  ff.  aufmerksam  (ion.  ©eatiaoo?, 
'OpÖiaSos,  Xaptaoo;  für  -zo;). 

Für  die  vonHesych  den  Tarentinern  zugeschriebene  Vokalentfaltung 
in  Topovo;  (für  Topvo;)  bringt  eine  interessante  inschriftliche  Bestätigung 
aus  dem  lakon.  Geronthrae  bei  W.  Schulze,  ZvSpr.  33,  124  f.,  die 
zugleich  die  Überlieferung  von  der  Gründung  Tareuts  beleuchtet. 


Konsonantismus. 

Eine  Reihe  von  konsonantischen  Lauterscheinungen  sucht  chrono- 
logisch zu  bestimmen  G.  N.  Hatzidakis,  Zur  Chronologie  der  grie- 
chischen Lautgesetze  und  zur  Sprachfrage  der  alten  Makedonier  ZvSpr 
37,  150 — 4.  Es  wird  die  beachtenswerte  These  verfochten ,  daß  Er- 
scheinungen wie  der  Wandel  der  alten  Mediae  aspiratae  in  Tenues 
aspiratae  (von  bh  in  9  usw.),  die  Wirkungen  von  j  (im  Wandel  von 
kj  zu  atj  usw.),  die  Labialisierung  bzw.  Dentalisierung  der  vor- 
griechischen  Labiovelare  («povoc,  aber  Osivw  u.  ä.),  die  Hauchdissimilation 
(Ti07)}ii)  auch  im  Makedonischen  sich  wieder  finden,  also  in  eine  Zeit 
zurückreichen,  in  welcher  das  Makedonische,  über  dessen  Stellung  hier 
nicht  zu  reden  ist,  mit  den  anderen  griechischen  Mundarten  noch  in 
Fühlung  stand. 

Die  ausführliche  Besprechung  der  Arbeiten  über  das  Di  gamma 
liegt,  da  es  schon  früh  nur  noch  in  einzelnen  Dialekten  lebendig  war, 
außerhalb  des  gegenwärtigen  Berichtes.  Seine  Geschichte  innerhalb 
des  Griechischen,  ja  teilweise  schon  innerhalb  des  Gemeinindogerma- 
nischen ist  ja  wesentlich  die  Geschichte  seines  Schwundes,  die  sich 
immer  deutlicher  herausstellt.  Besonders  den  Schwund  des  Digamma 
in  den  einzelnen  Mundarten  verfolgt  mit  Anführung  namentlich  des  neu 
zutage  getretenen  Materials  A.  Thumb,  Zur  Geschichte  des  griechischen 
Digamma  IF  9,  294—342.  Die  schon  früher  festgestellte  Chronologie 
■wird  durch  Th. 8  Untersuchungen  bestätigt:  „das  Ionisch -Attische  unter- 
scheidet sich  von  allen  anderen  Mundarten  dadurch,    daß  F   um  einige 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.)       35 

100  Jahre  früher  schwand,  zuerst  im  kleinasiatischen  Ionisch  (rund  900 
— 800  V.  Chr.),  dann  in  Naxos  und  dem  "Westionischen  (ca.  700?),  sowie 
in  Attika  (8.  oder  7.  Jahrh.?).  Merkwürdig  ist,  daß  sich  dann  sofort 
der  Dialekt  von  Thera  anschließt  (7.  Jahrh.).  In  allen  übrigen  Dia- 
lekten beginnt  F  erst  seit  400  v.  Chr.  zu  schwinden  .  .  .  der  Laut  ist 
am  widerstandsfcUiigiten  in  Böotieu  (bis  ca.  200  v.  Chr.)  und  Paraphylien 
(vielleicht  bis  ins  2.  Jahrh.  v.  Chr.),  Bemerkenswert  ist,  daß  in  den 
lakon.  Bergen  F  den  Wandel  der  Zeiten  bis  heute  überdauerte."  Da- 
gegen ist  Th.s  Annahme,  daß  F  entsprechend  der  Vertretung  durch 
Spiiitus  asper  und  leuis  eine  doppelte  Aussprache  gehabt  habe,  jetzt 
durch  Solmsens  schon  oben  S.  13  berührte  Erörterungen  überholt,  auf 
die  hier  noch  besonders  verwiesen  sei.  Mit  Einzelheiten  beschäftigen 
sich  J.  Schmidt,  der  ZvSpr.  33,  455 — 8  Wackernagels  Ersetzung  des 
schwierigen  lokr.  Foxi  durch  r^  oti  (RhMPh  48,  301  f.^  zurückweist, 
und  W.Schulze,  der  ZvSpr  33,  394— 7'TsX^,  die  epichorische  Form 
von  'EXea,  aus  'TeUr),  als  genaue  Transkription  des  fremden  Namens 
Velia  nachweist.^). 

Anschließend  seien  noch  einige  Arbeiten  über  den  Spiritus 
asper  genannt.  Für  Darbishire,  Notes  on  the  spir.  a.  in  Greek. 
Tr.  of  the  Cambridge  pliil.  soc.  III  2,  mit  Addenda  ebd.  III  3,  119 
— 125  muß  ich  freilich  auf  die  Besprechung  von  Fr.  Stolz,  BphW  10, 
1055  f.  verweisen  (D.  untersucht  mit  Hilfe  rein  etymologischer 
Methode  die  Unregelmäßigkeiten  im  Auftreten  des  Spir.  a.,  die  er  aus 
voi griechischen  Verhältnissen  erklärt);  Cascio  (Lo)  Santi,  Nozioni 
sullo  spir.  a.  nella  lingua  greca.  Caltanisetta  1898  ist  mir  ebenfalls 
nicht  zu  Gesicht  gekommen.  G.  N.  Hatzidakis,  irepl  t|'t^"ij£">?  toü 
apöpou.  'AOrjva  2,  380  nimmt  nach  lA  1,  58  gegen  A.  Thumb,  Unter- 
suchungen über  den  Spir.  a.  1889  S.  18  an,  daß  der  Verlust  der  As- 
piration des  Artikels  von  Fällen  wie  6  Oeoj,  wo  durch  Haucbdissimilation 
die  Form  0  entstehen  mußte,  seinen  Ausgang  genommen  habe.  Zu  p  s. 
oben  S.  27  Fußn. 

Die  Besprechung  der  neueren  Arbeiten  über  die  Entwickelung 
der  indogermanischen  Gutturallaute  im  Griechischen,  deren 
wichtigste  Brugmann,  Griech.  Gramm.  ^  S.  113  §  92  Aum.  zusammen- 
stellt,-) fällt  zumeist  den  Berichten  über  ,, vergleichende  Sprachwissen- 
schaft" sowie  über  „griechische  Dialekte"  zu.  Das  bedeutendste  Er- 
gebnis der  neueren  Forschungen  auf  griechischem  Gebiet  bildet  die  Er- 


')  Smyth,   Über  das    F.    TrAPhA  22  (1891)    p.  XXVIII  ff.  ist  mir 
nicht  zugänglich. 

^)  Material  sammelt  A.  Fick,  Die  q-Laute  der  griechischen  Sprache 
BKIS   16,  279-93;  18,  132    44. 

3* 


36       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.) 

kenntnis,    daß    im    äolisch-thessalischen  Dialekt    die  Labiovelare    auch 
vor  hellen  Vokalen  durch  Labiale  vertreten  sind  (z.  B.  lesb.  cpr^p  thess. 
r£(p£tpaxov[Te;] :  att.  Or^p),  wodurch  in  Verbindung  mit  anderen  Tatsachen 
der  Beweis  geliefert  wird,    daß  auch  die  Entwickelung  zu  Dentalen  in 
den  anderen  Dialekten  dem  labialen  Element  des  idg.  Lautes  zu  danken 
ist.     Eine  Ausnahme  in  der  Vertretung  der  Labiovelare  im  Griechischen 
erklärt  die  Beobachtung,   daß  dieselben  nach  u  (u)  den  labialen  Nach- 
klang eingebüßt  haben     —  also    ein  dissimilatorischer  Vorgang!     Dies 
Prinzip  wendet  jetzt  F.  Solmsen,  Über  Dissimilations-  und  Assimilations- 
erscheinungen bei  den  altgriechischen  Gutturalen  [nicht  im  Buchhandel 
erschienenes  deutsches  Original  des  russisch  geschriebenen  Beitrages  von 
Solmsen  im  Sbornik  statej  v  testi  F.  F.  Fortunatova.   Warschau  1902] 
auf  Wörter    an,    die    ursprünglich    zwei  Gutturale    oder  Guttural    und 
Labial  besaßen,  die  dann  auf  eiüander  dissimilatorisch  oder  auch  assimila- 
torisch einwirkten;  so  erklären  sich  rapvo»]/,  7Lopvo<{>' neben  -/opvot]^;  -(E'fupa: 
oetpüpa  :   ßoufpopac;  ßXetpapov  :  -^Xstto);  Ttif^vi  :  ap-oxorro?   (für  *dp'co7r6xo?); 
pXrf^fuv  :  7Xrf/o)v,  -(X^ycuv  u.  a.     Nach  den  gleichen  Grundsätzen  erklärt 
sich  die  unregelmäßige  Verschiebung  in  ahd.  *pfropfo,  ''propfo,  pfroffo, 
proffo    aus    lat.    propago    (s.    Pauls    Grundriß   I-   343    und    Schweiz. 
Id.  V  502). 

Über    die  Aspiraten    ist    eine    zusammenfassende  Arbeit   zu  er- 
wähnen: 

Elizabeth    A.    S.  Dawes,    The    pronunciation    of   the  Greek 
aspirates.     London  1895. 

Rez.:  Meister,  BphW  1896,  373  f.     Thumb,  lA  8,  62  f. 

Die  Verfasserin,  wenn  auch  sichtlich  für  die  neugriechische 
Oeltuug  der  alten  Aspiraten  als  Spiranten  eingenommen,  prüft  doch  die 
Frage  nicht  mit  dem  dabei  gewöhnlich  zu  treffenden  Dilettantismus  und 
kommt  schließlich  zu  dem  Resultat,  daß  eine  sichere  Entscheidung  un- 
möglich sei  (S.  102  f.).  Jedenfalls  hat  sie  nicht  vermocht,  für  die  An- 
sicht, die  sie  doch  unwillkürlich  als  die  richtige  begründen  wollte, 
stichhaltige  Beweise  beizubriogeu,  so  sehr  sie  sich  bemüht.  Zudem  ist 
das  dafür  beigebrachte  Material,  das  übrigens  eine  viel  schärfere  zeit- 
liche und  örtliche  Sichtung  erforderte,  noch  hie  und  da  anders  zu 
beurteilen.  Das  gilt  z.  B.  von  Verschiedenem,  das  im  IX.  Kapitel  vor- 
gebracht wird:  thess.  oiXocpsipoc  für  att.  9iX&i)r(po^  beweist  keinen  dialek- 
tischen Wechsel  von  b  beliebiger  Entstehung  mit  9,  tpiSaxvtov  neben  Tiiöax- 
viov  keinen  solchen  von  0  mit  0,  ebenso  sind  BcAiiiTrof,  paXto'c  anders  zu 
beurteilen  (als  Lehnwörter),  -pY/fiotToc  und  xaUapCEJtw  (S.  82,  letzteres 
auch  S.  65)  beweisen  nichts  für  Attika,  wenn  auch  die  Inschriften,  auf 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       37 

denen  die  Formen  vorkommen,  im  CIA.  enthalten  sind  u.  a.  '•)  Wenn 
iu  Kapitel  III  der  Etymologie  wegen  für  yöciv  spirantisches  ft  ange- 
nommen wird,  so  zeigt  apxxo;,  daß  die  vorausgesetzte  ursprachliche 
Spirantenreihe  im  Griechisclien  auch  durch  reine  Dentale  vertrete» 
sein  konnte. 

Eine  Skizze  der  Geschichte  der  griechischen  Aspiraten  gibt  auch 
P.  Kretschmer  in  seinem  Aufsatz  „Die  sekundären  Zeichen  des  griechi- 
schen Alphabets"  MIA  21,  410—20,  worin  er  die  Ansicht,  die  spiran- 
tische Aussprache  habe  im  nichtdorischen  Kleinasien  schon  im  7,  Jahrh. 
V.  Chr.  geherrscht,  die  W.  Schmid  in  seiner  Abhandlung  „Zur  Ge- 
schichte des  griechischen  Alphabetes"  Ph  52,  360  ff.,  besonders  370 
vorträgt,  widerlegt.  —  Die  Mehrzahl  der  Beispiele,  welche  G.  Meyer, 
griech.  Gramm.  ^  §  210  für  die  Übergangsstufe  der  Affrikaten  anführt, 
die  man  zwischen  den  Aspiraten  und  Spiranten  einschiebt,  ist  nach 
F.  Solmsen,  EhMPh  53,  139  anders  zu  fassen,  vorab  in  att.  "Wörtern, 
wie  Oirösuc 

Daß  <p  noch  bis  in  verhältnismäßig  späte  Zeit  als  p^-h  gesprochen 
werden  konnte,  zeigt  die  durch  Hauchdissimilation  aus  Oiuatpopoc  ent- 
standene Form  IIos'popoj,  die  in  der  lat.  Gestalt  Posphorus  von 
W.  Schulze,  ZvSpr  33,  386—93  reichlich  belegt  wird;  daß  ö  in  älterer 
Zeit  nicht  Spirant  sein  konnte,  ergibt  sich  daraus,  daß  spirantisches  J> 
fremder  Sprachen  wie  des  Iranischen  und  Altitalischen  in  den  früheren 
Beispielen  immer  durch  t  ersetzt  wird,  worüber  W.  Schulze,  'ApTa^apr)? 
und  Xitpa.  ZvSpr  33,  214—24  handelt.     Vgl.  noch  oben  S.  24  ff. 

Wenig  begründet  ist  die  Annahme,  6  sei  in  der  attischen  Volks- 
sprache schon  ziemlich  früh  spirantisch  geworden  (F.  Solmsen,  ZvSpr 
34,  556);  vgl.  dazu  auch  oben  S.  27. 

Über  die  spätgriechische  Entwickelung  von  7  macht  neuerdings^ 
K.  Krumbacher,  Abhandlungen  für  W.  Christ,  1891  S.  360  wieder 
einige  Bemerkungen  im  Anschluß  an  seine  frühere  Arbeit.  Hatzidakis, 
*Aariva  11,  162  (s.  lA  12,  218).  DL  1901,  1109  f.  erklärt  den  Wegfall 
von  7  in  einigen  Fällen,  den  man  bisher  als  Beweis  spirantischer  Lautung 
gefaßt  hat,  anders:  in  oXi'ov  (wonach  0X170;)  böot.  ituv,  arkad.  OtaXeia 
liege  Analogiewirkung  (von  [xstov  jtXsTov;  tiou  =  tu;  910X75)  vor,  in  a-^rioya. 
sieht  er  mit  anderen  Dissimilation  (die  übrigens  auch  in  7ivofjiat,  7tv(ujxa> 
gewirkt  habe). 


^)  Zu  dem  ionischen  T:;iy;/[ic/.-o;  vgl.  jetzt  Solmsen  RhMPh  56,  497  ff.; 
xaö^ctpiCicsxiu  habe  ich  schon  BphW  1899,  501  für  lykisches  Griechisch  er- 
klärt, gegenüber  Dieterich,  Untersuchungen  100,  doch  nimmt  noch  Thumb, 
Die  griechische  Sprache  im  Zeitalter  des  Hellenismus  193^  das  auf  der- 
selben Inschrift  CIA  III  73  erscheinende  xa&etopoüaa-co  als  echt  attisch. 


38       Bericht  über  griecliische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Die  sonst  sich  gleich  bleibenden  Liquiden  und  Nasale  haben 
in  spätgriechischer  Zeit  in  bestimmten  Stellungen  einige  Veiänderungea 
erlitten:  W.  Schulze,  ZvSpr  33,  224 — 33  legt  unter  Beiziehung  reichen 
Materials  den  Übergang  von  X  in  p  vor  Konsonant  (Topjxü),  döspcpo;) 
und  von  [x  in  v  nach  x,  9,  y  (llaTvo?,  koisch  'AptJTar/vo;,  kret.  oapxva 
=  el.  oQfpyjxa)  dar;  P.  Kretschmer  macht  ZvSpr  33,  266  darauf  auf- 
merksam, daß  die  stark  reduzierte  Aussprache  auslautender  Nasale  im 
späteren  Griechisch  schon  vei-hältnismäßig  früh  im  Pamphylischen  auftritt. 
Über  p  s.  oben  S.  27  Fußn. 

Eine  zusammenfassende  Darstellung  der  griechischen  Gerain aten 
bietet 

E.  Mucke,  De  cousonarum  in  Graeca  lingua  praeter  Asiaticorum 
dialectum  Aeolicam  geminatione.  Programme  von  Bautzen  und  Freiberg 
I  (1883),  II  (1893),  III  (1895). 

Ich  muß  mich  mit  einem  Hinw^eis  begnügen  auf  die  Besprechungen 
von  (II)  Kretschmer,  WklPh  1894,  172-3.  Bartholomae,  BphW  1893, 
1464—5. 

Bemerkenswert  ist  dieUmstellung  der  Gemination,  die  W.  Schulze, 
ZvSpr  33,  375  f.  zuerst  beobachtet,  und  P.  Kretschmer,  ebd.  38,  115 
durch  einen  neuen  Fall  gestützt  hat,  in  Beispielen  wie  'A--eX9j  für 
'AtteXX^,  T|jl[xtitü)  für  'T[j.rjTTto,  Ksfifisvov  aus  Kejxsvvov  (Cebenna). 

Beispiele  für  die  Einfachschreibung  von  Gerainaten,  die  durch 
den  Zusammenstoß  eines  auslautenden  Konsonanten  mit  gleichlautendem 
anlautenden  des  folgenden  Wortes  entstehen,  gibt  W.  S  c  h  u  1  z  e ,  H  28, 22  ff., 
sowohl  aus  älterer  Zeit  wie  EAME-=eo[([x)  jxtq  auf  attischen  Inschriften, 
wo  eine  rein  graphische  Erscheinung  vorliegt,  wie  aus  jüngerer,  z.  B. 
E(DT20C>lÄl  —  E'f  u;  cjocpia  in  einem  Epigramm,  wo  viell.  wirkliche  Verein- 
fachung der  Aussprache  anzunehmen  ist. 

Hauptsächlich  mit  den  vorgeschichtlichen  Verbindungen  von 
i  mit  Konsonant  (y.;,,  t^,  7!. ,  di  usw.),  also  den  geschichtlichen  Lauten 
TT,  88,  J3,   ^  beschäftigt  sich  die  Schrift  von 

0.  Lagercrantz,   Zur  griechischen  Lautgeschichte.   Upsala  1898. 

Rez.  von  Solmsen,  WklPh  1899,  649—54.    Thumb.  lA  12,  63—5. 

Nach  einer  knappen  Übersicht  über  die  bisherigen  Ansichten 
untersucht  L.  im  2.  Abschnitt  die  Entwickelung  der  nach  ihm  aus  jenen 
Konsonantenverbindungen  hervorgegangenen  urgriechischen  Doppellaute 
\>])  aus  (xj,  yj),  dd  (aus  gj),  ss  (aus  tj,  thj,  ts),  zz  (aus  dj),  ss  (aus  vor- 
griech.  sM-s)  in  den  Dialekten.  Neu  und  wichtig  ist  vor  allem  der 
Versuch,  eine  verschiedene  Entwickelung  von  •(']  und  8j  nachzuweisen. 
Sie  zeigt  sich  einmal  im  Attischen:  vor  ^  aus  7J  (und  auch  vor  tt  aus 
xj,  yj)  wnrde  kurzer  Vokal  verlängert,    während    er  vor  ^  aus  8j  un- 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  18D0  — 1903.  (Schwyzer.)        39 

verändert  blieb,  vgl.  jisiCtuv,  [La^m,  OaxTtuv,  aber  ire^o?.  Att.  [xa^a  gegen- 
über ion.  [id'^oL  (zu  (xocY-eipoc)  erklärt  jedoch  Thumb  a.  a.  0.  einleuchtend 
aus  ursprünglichem  Dekliuationsablaut  (vgl.  att.  Y^äiTTa:  ion.  -jXajja), 
wobei  freilich  att.  fxaCa  analogisch  nach  dem  Gen.  usw.  für  zu  erwartendes 
*(x^^a  eingetreten  sein  muß,  und  für  die  dehnende  Wirkung  von  xj,  yj  bieten 
die  analogischen  BeeiLflussuisgen  so  sehr  ausgesetzten  Komparative  ein 
wenig  beweiskräftiges  Material;    die  entgegenstehenden   Fälle   kommen 

teils  nicht  zur  Sprache  wie  cpuXaTxco,  Ta'xTu),  scpaCw,  aitJ^co,  teils  werden 
sie  unbefriedigend  als  Lehnworte  aus  anderen  Dialekten  erklärt  wie 
oxta.  Dagegen  ist  Entstehung  von  l'pow  aus  *F£p3öaj  (aus  Ttp^no :  Fep^ov) 
wahrscheinlicher  als  die  bisher  angenommene  Reihe  ''  Fep^fw  —  *F£pCu> 
( ■=*F£p!jöcu)  —  epocu;  ein  zweites  Beispiel  vermutet  L.  ansprechend 
in  hom.  afxepöü).  Das  3.  Kapitel  sucht  sich,  darin  grundsätzlich,  wenn 
auch  nicht  im  einzelnen,  Früheren  folgend,  durch  Annahme  von  mannig- 
fachen Formübertraguugen ,  Suffixvertauschungen,  Mischungen  ver- 
schiedener Stämme  mit  den  Ausnahmen  der  regelmäßigen  Eutwickeluug, 
den  Verben  wie  att.  uXaxxcu  (zkKclci),  epsxxtu  (IpexTjc)  und  den  Substan- 
tiven wie  iiiXiaaa  ([xsXix-),  die  lautgesetzlich  -j-  statt  -xx-  zeigen  würden, 
abzufinden.^)  Die  Geschichte  der  Schrift  in  urgriechischer  Zeit  zieht 
der  Verf.  im  4.  Kapitel  heran,  um  seine  vorgeschichtlichen  Konstruk- 
tionen zu  stützen:  wie  im  phönizischen  Alphabet  haben  urgriech.  x  8  i> 
die  Geltung  von  Explosiven  wie  von  Spiranten  gehabt,  C  bekam  die 
Geltuug  z.  Freilich  bewegt  man  sich  gerade  hier  auf  besonders  un- 
sicherem Boden.  Jene  Laute  können  jedoch  auch  andere  Quellen  haben: 
das  bietet  L.  die  Veranlassung,  in  einem  5.  Kapitel  die  Entwickelung 
von  jj,  jF  im  Anlaut,  von  xF,  xi,  xu  zu  behandeln.  Besonderes  Inter- 
esse mui]  endlich  das  6.  Kapitel  erwecken,  das  die  schon  erwähnte 
Wertung  von  ^  als  z  nach  der  negativen  Seite  dadurch  zu  stützen  sucht, 
daß  es  der  Gleichsetzung  von  C  niit  ad,  die  von  vielen  neueren  Gelehrten 
angenommen  wurde,  entgegentritt.  Doch  gelingt  es  L.  m.  E.  nicht,  die 
Beweiskraft  von  Transkriptionen  wie  'ßpo[xa!ly;?  =  Auramazda  zu  er- 
schüttern (wenn  ^  auch  in  jüngerer  Zeit  noch  auftritt,  ist  es  eben  als 
historische  Schreibung  aufzufassen)  und  Etymologien  wie  o'Co;  ■-=  Ast  wird 
man  nicht  leichten  Herzens  preisgeben,  gegen  die  Trennung  von  öso^oxoc, 
AtoCoxo;  von  öeosooxoj,  Aiojooxoc  spricht  alle  Y/ahrscheinlichkeit.  Jeden- 
falls ist  L.s  z  nicht  die  Panazee    für    die  schwierige  Frage  des  Laut- 


*)  Zu  S.  84  sei  die  Bemerkung  gestattet,  daß  A'ßjsaa  sich  am  ein- 
fachsten aus  Aißj-'.asa  (mit  dem  von  J.  Schmidt  nachgewiesenen  Übergang 
von  ui  zu  u  und  nachheriger  Verschiebung  des  Akzents  nach  KiXiasa  usw.) 
erklärt. 


40       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

wertes  von  ^;  vielmehr  deutet  alles  darauf  hin,  daß  derselbe  nicht  un- 
wesentlichen örtlichen  und  zeitlichen  Schwankungen  unterlag.^) 

Die  anregende  Schrift  erörtert  im  Zusammenhang  mit  ihrem  Haupt- 
gegenetand  manche  Frage  der  Stammbildung  und  ist  reich  an  neuen 
Etymologien. 

Weniger  eingehend  behandelt  einen  Teil  derselben  Probleme  mit 
ähnlichen  Ergebnissen  W.  F.  Witten,  On  II  and  Z.  AJPh  19  (1898), 
420 — 36.  Er  betrachtet  als  Lautwert  von  ^  in  den  Fällen,  wo  es  aus 
7J,  oj,  ursprachl.  j  (wie  in  ^y/ov)  hervorgegangen  ist,  die  stimmhafte 
Spirans  };  urgriech.  -/.j  bzw.  xj  wurde  nach  ihm  zunächst  zu  einem 
palatalen  bzw.  supradentalen  5-Laut.-) 

Auch  andere  i,- Verbindungen  haben  neuerdings  eine  besondere  — 
freilich  kürzere  —  Behandlung  erfahren  durch 

0.  A.  Daniels  so n,  Zur  i- Epenthese  im  Griechischen.     IF  14, 
375—96. 

Der  Verfasser  behandelt  in  erster  Linie  die  Verbindungen  von 
Liquida  oder  Nasal  mit  i,  für  deren  Entwickelung  er  gegenüber  Brug- 
manns  neuester  Ansicht  (kurze  vgl.  Grammatik  92  f.,  224  f.,  246)  an 
der  älteren  lautgeschichtlichen  Hypothese  festhält.  Plausibel  erklärt 
er  den  Unterschied  von  «faivw,  jj-oTpa  gegenüber  xpivw,  xtevo)  aus  der 
Unmöglichkeit  oder  doch  Schwierigkeit  der  Entwickelung  eines  ebenfalls 
palatalen  Gleitlautes  zwischen  i  beziehungsweise  s  und  v:  allerdings  läßt 
er  dabei  die  entsprechende  Behandlung  bei  o,  das  man,  als  älteres  u, 
auf  Seite  von  a  und  o  finden  sollte,  unerklärt.  Ich  möchte  vermuten, 
daß  ein  einmal  vorhandenes  ''ßapuivo)  zu  Sapuvü)  wurde  wie  ot:ijic> 
ÖT.U?  u.  ä.  (J.  Schmidt,  ZvSpr  32,  394  ff.),  womit  der  Anstoß  beseitigt 
wäre.  Im  Vorbeiweg  bricht  D.  eine  Lanze  für  seine  schon  früher  be- 
gründete Annahme  von  Entwickelung  eines  diphthongbildenden  i  vor  s  -|- 
Konscnant  oder  l,  in  Fällen  wie  AiaxXairio;  Tpot^TQv  (s.  seine  Schrift 
*De  voce  AIZHOI  quaestio  etymologica.  Upsala  1892),  wozu  jetzt 
F.  Solrasen,  RhMPh  58,  614  einen  neuen  asiat. -äol.  Beleg  (sixo^-ro;) 
beibringt.  Dagegen  bekämpft  er  die  Annahme  von  Epenthese  bei  a  und 
bei  F  mit  guten  Gründen:  in  Fällen  wie  aXr^&eta  aus  dl-^Dtaia,  TjosTa 
aus  TjSeFia  —  beide  m'ü  echtem  zi  gegenüber  -repiva  u.  ä.  —  liege  viel- 


')  Dal)  mit  C  schon  in  alter  Zeit  ein  einfacher  Laut  (oder  eine  Ge- 
minata)  bezeichnet  werden  konnte,  zeigen  die  bisher  für  die  Frage  nicht 
verwerteten  altphrygischen  Formen  wie  r/F^'/C,  ^a-spzC,  u.  ä,  (vgl.  A.  Torp, 
Zum  Phrygischen  S.  \-2  [in  Christiania  Skrifter  1806]). 

")  Nicht  zugänglich  ist  mir  1".  N.  Xa-'toKxt;,  T:zr/t  toü  >-j  zai  rspl 
£x:vai3:(u;  'A^ri'.a  8,  496  f. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.)        41 

mehr  eine  Assimilation  des  vorhergehenden  konsonantischen  Elementes 
an  t^  vor.  Eingehend  werden  die  Beispiele  für  die  Epenthese  bei  F 
bebandelt:  aiFetoc,  «[xotFav,  AioaiFcov,  Orj^aXoc,  durchweg'  im  Gegensatz 
zu  den  bisher  geltenden  Auffassungen.  Bisher  ist  also  gemeingriechische 
Epenthese  nur  bei  avt  ovi  und  apt  opt  nachgewiesen. 

Wiederholt  zur  Sprache  kam  innerhalb  unserer  Berichtsperiode 
der  Wandel  von  x  vor  i  in  j.  Eine  Zusammenstellung  des  gesamten 
Materials  aus  allen  Dialekten  lieferte 

P.  Kret Schmer,    Der  Wandel    von    x    vor  i  in   a.     ZvSpr  30, 
565—91. 

Durch  die  Sammlung  des  Materials  wird  die  Arbeit  ihren  Wert 
behalten,  wenn  auch  das  vom  Verfasser  gefundene  Gesetz  nicht  be- 
friedigt.    Daher  hat  K.  Brugmann  im  Anschluß  an 

*P.  G.  Goidanich,    I  continuatori  ellenici   di    ti  indo-europeo, 
Saleruo  1893, 

die  ansprechende  Vermutung  aufgestellt,  die  Assibilierung  von  x  sei 
lautgesetzlich  nur  vor  bei  schnellem  Sprechen  konsonantisch  gewordenem 
t,  e  eingetreten,  z.  B.  ttXoujioc  aus  TiXouxto;,  eine  Hypothese,  welche 
freilich  auch  nicht  ganz  ohne  Eest  aufgeht:  [xupcjtvr) ,  MupsiXoc  neben 
jx'jpxo?!  Dergleichen  gelegentliche  Einwendungen  und  seine  Entgeg- 
nungen hat  bereits  K.  Brugmann,  griech.  Gramm. ^  66  zusammen- 
gestellt (neuerdings  fügt  P.  Kretschmer,  JÖAI  V.  144  lesb.  Ovajiöiov 
aus  *&vaxio'.ov  hinzu;  auch  *npo3i  aus  rpoxt  nach  J.  Schmidts  Erörterung 
[s.  oben  S.  30]  bildet  ein  Gegenmonient).  —  Bei  den  Konsonanteu- 
verbindungen  verdient  zunächst  Aufmerksamkeit  eine  Erscheinung 
der  attischen  Vulgärsprache,  die  P.  Kretschmer,  ZvSpr  31,  438  (vgL 
auch  ebd.  458;  Vaseniuschr.  179  —  183;  236  f.)  nachgewiesen  hat:  die 
Töpfersprache  stellt  die  Lautgruppen  -/cj,  95  (denen  in  gewöhnlicher 
Schreibung  E,  4'  entsprechen)  hin  und  wieder  in  a/,  acp  um,  z.  B.  euj/afxsvo;, 
s^paj'föv.  Die  Erscheinung  deutet  darauf,  daß  in  den  Gruppen  ^,  <}> 
<ler  erste  Bestandteil  -/,  9  war;  in  ;  ging  dann  dieser  Laut  in  eine 
gutturale  Spirans  über.  Für  l  liefern  weitere  Stützen  eine  Tatsache 
der  Geschichte  des  Alphabets  und  die  auf  Naxos  begegnende  Schreibung 
[]S  für  ^,  worin  []  eine  Variante  von  B  =h  sein  dürfte:  für  das  nähere 
muß  ich  auf  P.  Kretschmer  a.  a.  0.  und  MIA  21,  421  ff.  verweisen. 
Eine  neue  Behandlung  der  «-Verbindungen  gibt  H.  Hirt,  IE  12, 
221—29  (bekämpft  von  Solmsen,  BphW  1902,  1142):  6^  ist  in  allen 
Stellungen  außer  in  der  Verbindung  mit  tp  k  und  im  Auslaut  zu  h  ge- 
worden, das  später  vielfach  schwand,  sm,  sn  wurden  nicht  zu  zm,  zn^ 
sondern  zu  lim.  Im:  daraus  erklärt  sich  auch  der  Spir.  a.  in  att.  rjii-eu. 


42       Bericht  über  griecliiscbe  Sprachwissenschaft  1S90-1903.  (Schwyzer.) 

Y,|xat,  i'vvufjLi,  eijjLa,  T}j.£poc  (die  äol.  Formen  wie   a[X|XG    bilden    nicht  die 
Vorstufe  der  Formen);  ksn  wird  yv,  ksm  y]i.  usw. 

"Wiederholte  Behandlung  hat  die  Umstellung  von  ojx  zu  \ib  mit 
nachfolgendem,  durch  das  Übergewicht  des  \i  nötigem  Wandel  von  8 
in  den  Nasal  der  gleichen  Artiknlationsstelle  (v)  erfahren:  W.  Prell- 
witz  hat  BKIS  17,  171  unter  Hinweis  auf  [xvcua  neben  o|X(uc  'A-j'ajj.£|xvcüv 
aus  'A7ct[X£0|j.ü)v  gedeutet  und  W.  Schulze,  ZvSpr  33,  166  weist  das 
attische  fxsao'ixvYj  noch  in  späten  Glossaren  nach,  „ein  neuer  Beleg  für 
die  Erfahrung,  daß  manch  später  Vulgarismus  sich  bei  näherem  Zusehen 
als  sehr  altertümlich  erweist".  —  Seine  Vermutung,  auch  das  Attische 
habe  einst  die  Form  TrtoAetjLo;  besessen  (vgl.  TpiTTTo'/.sjxoc  u.  ä. ;  ZvSpr 
31,  425  f.),  ersetzt  P.  Kretschmer,  ZvSpr  33,  571  mit  ßecht  durch 
die  Annahme  epischen  Einflusses. 

Die  Verteilung  eines  (seinem  Wesen  nach  dazu  geschaffenen) 
Konsonanten  auf  zwei  Silben  hat  W.  Schulze,  ZvSpr  33,  397  in 
der  auf  einer  attischen  Grabschrift  begegnenden  Form  oi'[x[jloi  erkannt 
und  seither  sind  noch  einige  Beispiele  dazugekommen:  in  größerem  Zu- 
sammenhang handelt  jetzt  darüber  F.  Solmsen,  Untersuchungen  zur 
griechischen  Laut-  und  Verslehre  1901,  164 — 6.  —  Über  die  Entwicke- 
lung  parasitischer  Nasale  im  Griechischen  trägt  W.  Schulze,  Sams- 
tag, ZvSpr  33,  366—86  ein  reiches  Material  zusammen,  einzelnes  auch 
G.  Meyer,  Zur  Geschichte  des  Wortes  Samstag,  IF  4,  326—33.  Die 
Beispiele,  von  der  Art  von  Xa|x|?8a  neben  Xäßoa,  au}i.<]^£X>aov  für  lat. 
subsellium  erstrecken  sich  über  viele  Jahrhunderte,  wenn  auch  der 
Löwenanteil  dem  Spätgriechischen  angehört,  und  stehen  kaum  alle  auf 
gleicher  Linie;  in  manchen  Fällen  wird  die  Sprache  der  gräzisierten 
Barbaren  verantwortlich  zu  machen  sein.  Am  wichtigsten  ist  für  weitere 
Kreise  der  Wissenschaft  der  Nachweis  einer  Form  (jd|j.,3a-a  neben  aotj^ßata, 
die  sich  aus  vielfach  belegten  Namen  wie  ^a\i.}'x-:t\.z,  ^afxßaTio;  ergibt: 
durch  sie  erhält  das  m  in  unserem  Samstag  und  den  gleichbedeutenden 
Wörtern  der  anderen  europäischen  Sprachen  seine  Erklärung.  ^) 

Auch  auf  dem  Gebiete  des  Kousonantismus  hat  sich  der  Gedanke 
der  Assimilation  und  Dissimilation  fruchtbar  gezeigt.  Durch 
Fernassimilation  erklären  sich  Fälle  wie  MEy.axXr)?,  -to'toj,  xpaTcuirjC, 
'Arpap-uTrjvo;  auf  attischen,  xp'j'f axTo;  auf  einer  oropischen  Inschrift  nach 
den  Darlegungen  von  W.  Schulze,  ZvSpr  33,  397  f.;  P.  Kretschmer, 
ebd.  467,  und  ähnlich  führt  P.  Kretschmer,  ZvSpr  35,  603  —  8  den 
bisher  rätselhaften  Wechsel  zwischen  [H  und  [x  in  Fällen   wie  'Avopaßjoo; 


')  So  ei klärt  sich  offenbar  auch  das  von  K.  Müllenhoff,  Deutsche 
Altertumskunde  3,  105  f.  als  lätselhaft  erklärte  \i  in  'A^TJulic^^yr^;,  'AfifHi- 
~(zio'.  (neben  'Apy'.'i^czTo'). 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.)       43 

neben  'Avöpa'fxu;,  'ASpaßrjvo?  neben  'Aopa[j.uTT)voc,  der  sich  besonders  aus 
der  xoivT^  und  dem  Neugriechischen  belegen  läßt,  sehr  einleuchtend 
darauf  zurück,  daß  ß  au  einen  Nasal  des  gleichen  Wortes  assimiliert 
wurde;  der  Aufsatz  behandelt  auch  das  Gegenstück,  die  Ferndissirai- 
lation  von  [x  zu  ß  unter  dem  Einfluß  benachbarter  Nasale,  wie  ihod. 
Fspßavtxov  für  repii-avtxov,  in  neugriech.  ßuCavcu  gegenüber  altem  [xuCaw. 
(Einen  methodischen  Rückschritt  gegenüber  Kretschmer  (was  auch  dieser 
selbst  ZvSpr  38,  115  Anm.  2  betont)  bedeutet  K.  Dieterichs  Be- 
handlung derselben  Erscheinung  ZvSpr  37,  415—23.  D.  will  einen 
spontanen  phonetischen  Wechsel  von  [a  und  ß  erweisen,  muß  jedoch 
selbst  für  die  altgriechischen  Beispiele  die  Möglichkeit  der  Kretschmev- 
schen  Erklärung  zugestehen.  Seine  Gegenbeispiele  sind  teils  etymologisch 
unklar,  teils  Lehnwörter,  teils  zeigen  sie  besondere  Bedingungen  (ßpe); 
endlich  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  die  Erscheinungen  des  Neugriech. 
und  seiner  Dialekte  jung  sein  können.)  Die  assimilatorische  und  die 
dissimilatorische  Tendenz  gehen  eben  durchaus  neben  einander  her,  ohne 
daß  sich  für  die  Wirkung  der  einen  oder  der  anderen  bestimmte  Be- 
dingungen angeben  ließen.  Auch  sonst  sind  einzelne  Fälle  von  konso- 
nantischer Ferndissimilation  von  mehreren  Seiten  zur  Sprache  gebracht 
worden  —  und  das  zwar  nicht  neue,  aber  neu  belebte  und  neu  aufge- 
faßte Prinzip  dürfte  sich  nach  den  bisherigen  Erfahrungen  auch  weiterhin 
bewähren  —  so  von  J.  Schmidt,  ZvSpr  33,  457  COpöotYopac  aus  'Op- 
öpa'/opa?  „der  zu  früher  Morgenstunde  auf  dem  Markte  Erscheinende"), 
W.  Schulze,  GGA  1896,  247  f.  (XatpsjpaTr)  u.  ä.,  wo  die  Epigra- 
phiker  „verbessern"),  F.  Solmsen,  RhMPh  53,  151—8  (-Xyjpoitx  aus 
::pTrjpojia,  va'jxXr,poc,  va'JxXapoj  aus  vauxpä(cj)poj  „Schiffshaupt").  Auch  der 
Übergang  von  Ix  2x'jpou  zu  I  Sx-jpou  auf  einer  attischen  Inschrift  und 
ähnliche  Erscheinungen,  die  J.  Wackernagel,  ZvSpr  33,  39  betrachtet, 
beruhen  auf  dissimilatorischen  Tendenzen.  Vgl.  ferner  oben  S.  11. 
13.  Nur  angeführt  werden  kann  hier  eine  Schrift,  die,  ohne  darauf 
auszugehen,  neues  Mateiial  beizubiingen,  vom  Standpunkte  der  allge- 
meinen Sprachwissenschaft  aus  Gesetze  für  die  konsonantische  Dissimi- 
lation überhaupt  zu  gewinnen  sucht,  M.  Graramont,  La  dissimilation 
«onsonantique  dans  les  langues  indo-europeennes  et  les  laogues  romanes. 
Dijon  1895. 

Nicht  minder  fruchtbar  wird  sich  vielleicht  das  Erklärungsprinzip 
der  Metathese  erweisen,  wenn  es  nach  den  Grundsätzen  der  neueren 
Sprachwissenschaft  angewendet  wird,  wie  es  in  den  Arbeiten  von 
J.  Wackernagel,  ZvSpr  33,  9  f.  (gelegentliche  Zusammenstellung 
meist  schon  bekannter  Beispiele)  und  F.  Kretschmer,  ebd.  33,  472  f. 
(Metathese  von  Liquiden  wie  in  T£Ö£p[xevcu  für  -eöpsixixivcp,  steX^yic  für 
axXe-f/i?,   'AjxaXrrioc    für    'AcxXa-toj)    geschieht.      Gelegentlich    steuert 


44       Bericht  über  giiechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

K.  Krumbacher,  Abhandlungen  für  Christ  1891  S.  354  eiu  Beispiel 
bei  ((fcXovTjV  für  ^atvoX/j;,  paenula  in  Glossen).  H.  Hirt,  IF  12,  232 — 8 
erklärt  neuerdings  wieder  eine  Anzahl  von  Fällen,  wo  die  neuere  Sprach- 
wissenschaft doppelte  Vertretung  vorgriech.  Lautung  annehmen  zu  müssen 
glaubte,  wie  xpaTo?  neben  (dem  metrisch  bedingten)  xap-oc,  xapTspo; 
mit  Hilfe  der  besonders  im  Kretischen  verbreiteten  Metathese  ("Acpop- 
Ti8a  u.  ä.):  genauere  Untersuchung  ist  freilich  nötig.     S.  noch  oben  S.  13. 

Statt  der  gebräuchlichen  Ausdrücke  syllabische  Dissimila- 
tion, Haplologie  bevorzugt  W.  Prellwitz,  BKIS  23,  2ö0  ff,  den 
Ausdruck  Silbenschichtung  und  sucht  zwei  neue  Beispiele  beizu- 
bringen (oiävExr^;  aus  ota-av-svsxrj;?  ötrjvcxr^.?  scheint  jedoch  urgriech.  e 
zu  enthalten;  awa.';y.ri  zur  gleichen  AVurzel  svsx?)  Interessant  ist  die 
dialektische  Form  rjfxioiixvov,  die  H.  Meister,  BSG  1899,  154  nachweist. 
Betrifft  die  Haplologie  gewöhnlich  unmittelbar  aufeinander  folgende 
Silben,  so  kommen  doch  auch  Fälle  vor,  wo  sie  über  eine  Silbe  un- 
gleicher Lautung  hiuweggreift:  durch  den  Hinweis  darauf  bringt 
K.  Brugmanu,  BSG  1901.  31 — 34  die  alte  Herleitung  von  (uXexpavov 
aus  tu,\£voxpävov  wieder  zu  Ehren. 

Daß  die  Haplologie  nicht  nur  im  Einzelwort,  sondern  auch  im 
Satzzusammenhang  vorkommt,  darauf  habe  ich  schon  früher  gelegentlich 
und  neuerdings  in  einem  besonderen  Artikel  hingewiesen:  E.  Schwyzer, 
Ein  besonderer  Fall  von  Haplologie  im  Griechischen,  IF  14,  24 — 27 
(ßaXX'  ovuya;  für  ßcxXXov  ovuya?  in  der  aj-.  Hp.),  und  daß  genauere 
Beobachtung  noch  weitere  Fälle  zutage  fördern  kann,  zeigen  die  von 
E.  Nachmanson,  BKIS  27,  294  f.  beigebrachten  rhodischen  Beispiele; 
vgl.  auch  F.  Stolz,  ZöGy  1903,  491  —  8. 

Auliaiig:    Akzent. 

Eine  eingehendere  Darstellung  des  griechischen  Akzents  aus  neuerer 
Zeit  fehlt;  mau  ist  auf  die  knappen  Zusammmenfassungeu  in  sprach- 
vergleichenden Werken,  wie  H.  Hirt,  Der  indogermanische  Akzent. 
Straßburg  1895,  oder  in  K.  Brugmann,  Grundriss  der  vergleichenden 
Grammatik  der  indogermanischen  Sprachen-  I  959 — 970  oder  in  den 
Gesamtdarstellungen  der  griechischen  Grammatik  angewiesen  (leider 
fehlt  eine  Behandlung  des  Akzents  auch  in  der  3.  Aufl.  von  G.  Meyers 
Grammatik).  1) 


*)  P.  FeroQ ,  Notions  d'accentuation  grecque.  Tournai  ISiU;  M.  Belli, 
Deir  accento  greco.  Livorno  18'JS  sind  mir  nicht  zu  Gesicht  gekommen. 
Ebensowenig  sind  mir  zugänglich  die  , griechischen  Akzentstudien"  H. 
C.  Mullers  {E'/l'J.-  6,  226— --'50.  427—30),  die  auf  der  Höhe  seiner  übrigen 
Schriften  stehen  werden  (vgl.  oben  S.  3).     Über  die  Schrift  von  B  oll  and 


Eericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       45 

„Zur Frage  nach  dem  Wesen  des  griechischen  Akzents"  hat 
F.  Solmsen,  VVDPh  43,  156  f.  (vgl.  I  A  6,  154)  das  Wort  ergriffen. 
um  nach  dem  Vorgang  von  anderen  Gelehrten  wie  J.  Wackernagel 
und  W.  Schulze  aus  gewissen  Lauterscheinungen  die  Folgerung  zu 
ziehen,  daß  der  griechische  Akzent  neben  dem  vorwiegenden  und  von 
den  Xationalgramniatikern  allein  betonten  musikalischen  Charakter  auch 
schon  in  alter  Zeit  ein  exspiratorisches  Moment  enthalten  habe.  Da 
eine  ausführlichere  Darlegung  in  Aussicht  gestellt  ist,  wird  sich  in 
einem  späteren  Berichte  Gelegenheit  finden,  näher  auf  die  vielfach  auf 
unsicherem  Boden  sich  bewegenden  Vermutungen  einzugehen. 

Einen  bemerkenswerten  Beitrag  zur  Geschichte  des  griechischen 
Akzentes  liefert 

P.  Kret Schmer,  Der  Übergang  von  der  musikalischen  zur  ex- 
spiratorischen  Betonung  im  Griechischen,  ZvSpr  30,  591 — 99. 

Ausgehend  von  der  Betrachtung  der  Schöpfung  des  griechischen 
Akzentnationssj-stems  um  400  v,  Chr.  im  Anschluß  an  die  Terminologie 
der  Musik  sucht  er  das  Aufkommen  der  vorwiegend  exspiratorischen 
Betonung  namentlich  an  Hand  der  Verwechslungen  von  langen  und 
kurzen  Vokalen  auf  Inschriften  und  Papyri,  die  auf  eine  dem  musika- 
lischen Prinzip  zuwiderlaufende  Ausgleichung  der  Quantitäten,  deutet, 
zu  bestimmen.     Als  ungefähre  Zeit    ergibt    sich  das  2.  Jahrh.  v.  Chr. 

Eine  neue  zusammenfassende  Behandlung  der  ganzen  Frage  bietet 

G.  N.  Hatzidakis,   -spl  xou  yp&vou  tt;?  e;i3iu7£iuc  ~r,;  -poscooiaj 
£v  t/; 'EXatjv'.xt]  -c>cu3jr).  "Ä9r,v7.  1901  =  rXco-3oXo7'.xa)  [itKi-a.'.  I  574—88. 

Nach  einer  Übersicht  über  die  bisherigen  Ansichten  stellt  er 
nach  Ausschaltung  der  nicht  beweisenden  Momente  (wobei  u.  a.  betont 
wird,  daß  die  Papyri  nur  für  Ägypten  beweiskräftig  sind)  die  bekannten 
Schriftstellerzeugnisse  zusammen,  die  bis  200  n.  Chr.  führen.  Wichtig 
ist  außerdem,  daß  im  Tsakonischen  bis  heute  altes  lu  und  o  als  u  und 
o  getrennt  sind.  Im  eigentlichen  Griechenland  blieben  die  Quantitäten 
bis  200  n.  Chr.  geschieden,  außerhalb  begann  der  Zusammenfall  schon 
in  alexandrinischer  Zeit  (dabei  ist  aber  wohl  der  Unterschied  zwischen 
Schrift-  und  Umgangssprache,  besonders  vulgärer  Umgangssprache,  zu 
wenig  beachtet). 

Einen  Terminus  post  quem  für  den  Umschwung  im  Akzentprinzip 
gewinnt  E.  Schweizer  (Schwyzer),  IF.  10,  207—11,  indem  er  aus 
der  komischen  Verwechselung  -'aXvjv  oow  statt  7aXr,v'  6pw  (Eur.  Gr.  279), 


s.  oben  S.  22.  —  Außerhalb  der  Grenzen  unseres  Berichts  liegt  wohl  die 
mir  doppelt  unzugängliche  Abhandlung  von  A.  Schachmatov  über  gemein- 
same Erscheinungen  des  griechischen  und  slavischen  Akzents  in  den 
Theod.  Korsch  dargebrachten  Xc<(:>;3-:-/;p'.(z  S.  149—160. 


40       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwjzer.) 

die    dem   Schauspieler    Hegelochos   zustieß,    auf    damals    (400  v.  Chr.) 
noch  sehr  lebendiges  Gefühl    für    den   musikalischen  Akzent  schließt.*) 
Unter  einigen  Arbeiten,    die  sich  mit    einzelnen   Fragen  be- 
schäftigen, ragt  weit  hervor  die  gehaltreiche  Schrift  von 

J.  Wackernagel,  Beiträge  zur  Lehre  vom  griechischen  Akzent, 
Programm  zur  ßektoratsfeier  der  Universität  Basel  1893.  Vgl.  die 
Inhaltsangabe  von  W.  Str(eitberg)  lA  3,  236  f. 

Sie  enthält  vier  selbständige  Aufsätze.  I.  Über  den  Wert  und 
das  Alter  des  accentus  gravis  (S.  3 — 14).  Der  Gravis  ist  nicht, 
wie  häufig  angenommen  wird,  eine  Modifikation  des  Akuts,  vielmehr 
lassen  die  Zeugnisse  der  Grammatiker  es  als  zweifellos  erscheinen,  daß 
Endsilben  von  Oxytona  im  Zusammenhang  der  Rede  genau  denselben 
Ton  wie  die  sog.  tonlosen  Silben  hatten,  was  schon  Reiz  u.  a.  sahen.-) 
Das  Graviszeichen  wird  gelegentlich  in  den  älteren  Handschriften  als 
allgemeines  Zeichen  der  Barytonese  verwendet;  die  uns  geläutige  Ver- 
wendung ist  erst  in  der  späteren  Kaiserzeit  oder  in  der  byzantinischen 
Zeit  aufgekommen  und  stellt  lediglich  einen  Kompromiß  dar  zwischen 
der  antiken  Wertung  solcher  Silben  und  der  damaligen  tatsächlichen 
Geltung:  das  von  W.  Meyer  gefundene  Gesetz  des  akzentuierten  Satz- 
schlusses zeigt,  daß  man  im  IV.  Jahrh.  n.  Chr.  oxytonierte  Endsilben 
(mit  Ausnahme  von  „Hilfswörtern"  wie  Artikel  usw.)  auch  im  Satz- 
innern vollbetont  empfand,  indem  die  Pausaform  (die  übrigens  auch  für 
die  ältere  Zeit  für  den  Versschluß  zu  verlangen  ist)  eindrang.  Inner- 
halb der  barytonen  Silben  muß  es  jedoch  Abstufungen  gegeben  haben, 
auf  die  freilich  die  griechischen  Grammatiker,  die  ja  nur  das  musika- 
lische Moment  berücksichtigten,  nicht  achteten.  Daß  gerade  die  in 
Pausa  oxytonierte  Silbe  im  Satzinnern  exspiratorisch  hervorgehoben 
worden  sei,  ist  damit  nicht  gesagt,  doch  immerhin  möglich.  Das  Alter 
der  Barytonese  ist  nicht  sicher  zu  bestimmen ;  unrichtig  ist  die  auf 
einige  anders  zu  erklärende  Aristotelesstellen  sich  gründende  Ansicht, 
sie  stamme  aus  dem  3.  Jahrh.  v.  Chr.  —  Über  die  Proklitika 
(S.  15 — 19).  Auch  perispomenierte  Wortformen  unterliegen  der  Pro- 
klisis:  solchen  proklitischen  Akzent  enthalten  f]  im  ersten  Glied  der 
Doppelfrage  (für  ^),  w;  w;  (vollbetont  in  xal,  ou6'  w;),  in  perispome- 
nierten  Formen  des  Artikels.  —  IL  Über  Akzentveränderungen 
im  Griechischen  und  Auslautverkürzung  im  Latein  durch 
Einfluß  eines  folgenden  Enklitikums  (S.  19—23).    Die  Betonung 


*)  Vgl.  dazu  auch  E.  Schwyzer,  NJklA  5,  234  Anm. 

*)  Dazu  stimmt  auch  das  Zeugnis  der  delphischen  Hymnen,  in  deren 
Melodie  die  Gravissilbe  genau  wie  die  vortonige  behandelt  wird,  wie  J- 
Wackernagel,  RhMPh  51,  304  f.  ausführt. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.)       47 

saor/s  (wonach  erst  £-;a)-;£  gebildet  wurde)  geg^enüber  lixi-^g  (für  '*v.i'{ty 
vgl,  deutsch  müh)  ist  nicht  zu  beanstanden,  sondem  uralt.  —  Vor 
enklitischen  Wörtern  erhalten  perispomenierte  Endsilben  den  Akut: 
daher  TJtot,  tü^re,  uijJTep;  d7rxf)oy  tivo;  ist  bloße  Schreibung  tür  a-^aftoiS 
Ttvo»,  da  ein  wirklicher  Zirkumflex  nicht  zwei  unbetonte  Silben  hinter  sieb 
haben  kann;  vgl.  lat.  sl  qu/'dem.  —  III.  Über  doppelten  Akut  vor 
Enkliticis  (S.  24—27).  Die  feste  Grammatikertradition,  daß  Paroxy- 
tona  mit  trochäischem  Ausgang  vor  enklitischen  Wörtern  wie  Prope- 
rispomena  behandelt  werden  (also  (f6X\d  re,  ev8a  ttote  wie  rfZld  xs,  [x^va 
iroTs)  erklärt  sich  daraus,  daß  jene  Wörter  im  Grunde  properispomeuiert 
sind  (der  Zirkumflex  verteilt  sich  auf  den  kurzen  Vokal  und  die  folgende 
Liquida,  Nasalis,  Spirans,  wofür  moderne  Analogien  angeführt  werden). 
Danach  haben  die  Grammatiker  auch  ofppa  xe  u.  ä  betont.^)  —  IV.  Über 
die  Glaubwürdigkeit  der  Akzentüberliefernng  bei  Homer 
(S.  28—38).  Brugmanns  Skepsis  geht  zu  weit.  Den  Angaben  der 
Grammatiker  über  die  Betonung  ihrer  Zeit  muß  man  glauben,  und  sie 
wich  von  der  homerischen  nicht  allzu  stark  ab:  das  Dreisilbengesetz 
war  schon  urgriechisch  (nur  so  veisteht  man  (Jp-/tEpeu>j,  'Axpsioeu),  r.oXtua; 
die  Properispomenierung  von  xt^£i|X£v  ist  sehr  alt,  weil  die  diesen  Typus 
voraussetzende  Neubildung  Tioiotriv  schon  in  der  Odyssee  vorkommt).  Es 
gab  aber  eine  feste  Akzenttradition,  indem  beim  mündlichen  Vortrag 
auch  der  musikalische  Wortton  zum  Ausdruck  kam  (S.  34);  das  zeigen 
die  Abweichungen  der  Grammatiker  vom  späteren  Usus  in  der  Betonung 
später  noch  gebräuchlicher  Wörter  (z.  B.  Trxepuyo?  W  875,  -^ap  auxov 
M  214)  und  die  Emanzipierung  von  naheliegenden  Analogien  bei  ver- 
schollenem Sprachgut  (orjioxrj?,  Oap-Eiat.  xotpcp£'.ai,  9a[xa,  xaxsvoÜTCa,  die 
übrigens  teils  sehr  alt,  teils  wohl  verständlich  sind).  Bei  seltenen 
Wörtern  trifft  man  freilich  gelegentliches  Schwanken  in  der  Betonung 
und  nachweislich  haben  die  Grammatiker  mitunter  durch  falsche  Gene- 
ralisierungen und  Mißbrauch  des  Akzents  zu  exegetischen  Zwecken  ge- 
fehlt. —  Auf  gelegentliche  Bemerkungen  zur  Etymologie  und  Formen- 
lehre sei  nur  hingewiesen:  Ip-ßpa/u  mit  ev  c.  acc.  (S.  12  Anm.);  ot'xaSE 
enthält  den  PI.  olxa,  wie  [J.%a:  [xrjpoc  (S.  13  Anm.);  über  w;  =  zu 
(S.  16  Anm.),  acp-  (S.  26  Anm.),  t:ovüj::6vtipo»  (S.  29  Anm.),  dpyiEpsu);  u.  ä. 
(S.  31  Anm.),  die  Flexion  von  xxoEaSai  (S.  35  Anm.). 

Mit  vorgeschichtlichen  Verhältnissen    beschäftigen    sich  Arbeiten 
von  G.  Allinson  und  G.  N.  Hatzidakis:    ersterer  bekämpft  *AJPh 


*)  Auch  dazu  liefern  die  delph.  Hymnen  die  erwünschte  Bestätigung, 
indem  Silben,  die  aus  Vokal  +  Liquida  oder  Nasal  besteben,  wie  lange  Vo- 
kale und  Diphthonge  in  zwei  Silben  zerlegt  werden,  im  Gegensatz  zu 
positionslangen  Silben,  die  auf  andere  Konsonanten  enden,  s.  J.  Wacker- 
nagel, RhMPh  51,  305. 


48       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

12,  59 — 67  Wheelers  Gesetz  über  den  Übergang  ursprünglicher  Oxytona 
mit  daktylischem  Ausgang  in  Paroxytona  (s.  lA  12,  58);  letzterer  sucht 
IF  5,  338—40  -ac,  -av,  dvoptac,  ijxäj,  al;  als  hochaltertümlich,  ßoüc  als 
Analogiebildung  nach  dem  Akk.,  :iüp,  xf^p^)  durch  Kontraktion  und 
rX(u33oXo7iy.ai  [xsXe-ai  1596  f.  (aus  'Aörjva  1900)  die  vom  Typus  a^opa,  ßoXi], 
yoTQ,  wvY^  usw.  abweichenden  Betonungen  aixopYYj,  Co^i,  Xo-f/Yj,  ^öötj,  (foßrj, 
-/po'fjir)  usw.  teils  durch  analogische  Einflüsse,  teils  durch  lediglich  ge- 
lehrte Überlieferung,  teils  daraus  zu  erklären,  daß  die  betr.  Wörter 
nicht  im  Ablaut  zu  Formen  mit  -s-  stehen  (ywpa,  y.6\j.i]  u.  ä.)  — 
H.  Pedersen,  Exkurs  über  den  griechischen  und  lateinischen  Akzent. 
ZvSpr  38,  336 — 41  nimmt  S.  339  ff.  an ,  das  Griechische  habe  urspr. 
ein  wirkliches  Dreisilben-,  nicht  Dreimorengesetz  gekannt;  innerhalb 
der  drei  Silben  war  der  Akzent  frei;  die  historischen  Verhältnisse  ent- 
standen, indem  innerhalb  der  drei  Silben  eine  unbetonte  Länge  den  Akzent 
an  sich  (nicht  auf  sich)  zog.-) 

Unregelmäßigkeiten  in  der  Betonung  der  Komposita  hat 
Hatzi dakis  zwei  Aufsätze  gewidmet.  Im  einen  (rXü)aaoXo7txal  jxsXetai 
I  591 — 6  [aus  'Aörjva  1899])  erklärt  er  die  scheinbaren  Ausnahmen 
von  dem  Gesetz,  daß  substantivische  Zusammensetzungen  auf  -t),  -ä 
mit  Präposition  oder  Partikel  als  erstem  Glied  die  Betonung  des 
Grundwortes  beibehalten,  sofern  die  Bedeutung  nicht  weiter  verschoben 
wird  (z.  B.  dXXa'CT^  :  auvaXXa-CY^):  ijtoooxtj,  lipo-,  otvo/OT),  GSpopporj  sind 
eigentlich  Feminina  zu  Adj.  auf  -o?;  auT07pa|j,fx>^  u.  ä.  sind  nicht  als 
feste  Zusammensetzungen  zu  rechnen  (beachte  au-oävftpwroj);  xaxa'pa 
ist  Rückbildung  zu  xaTapüi[jLai  wie  f^xxa  zu  TjxrwfjLai  u.  ä.  Im  anderen 
(ebd.  I  597— 612  =  'A{)r,va  1900;  deutsch  in  SPrA  1900,  418-423) 
prüft  er  die  Betonung  der  griech.  Komposita  auf  -o?  mit  trochäischem 
Ausgang,  die  sich  im  Gegensatz  zu  derjenigen  der  Komposita  mit 
daktylischem  oder  tribracbischem  Au.egang  auf  den  ersten  Blick  ganz 
regellos  darstellt.  Eine  eingehende  Musterung  der  allgemeinen  Be- 
tonungsgesetze der  Komposita  auf  -cc  ergibt,  daß  "Wörter  wie  £7rr,ixotß6?, 
£t:(üoo?,  -poTTojjLTto'c,  Euep^o'?  u.  ä.,  die  (als  präpositionale  Zusammen- 
setzungen) den  Ton  auf  der  drittletzten  Silbe  haben  sollten,  sich  nach 
den  daneben  liegenden  Komposita  gerichtet  haben,  in  denen  das  Grund- 
wort regelrecht  seinen  Ton  auf  der  letzten  Silbe  beibehält,  nämlich 
dp7upa|xoißoj,  xüijxipoo's,  ^oyoT:o\ir.6Q,  xaxocp7o?  u.  ä.  Ferner  gehört  in 
Fällen  wie  «171070;,    vaüapyoj,    die  nach  ^auayU  u.  ä.  den  Ton  auf  der 


*)  Doch  ist  das  vorausgesetzte  xic<f>  eine  junge  Nachbildung  nach  r;p: 
sap,  s.  oben  S.  r,i. 

-)  Ebenfalls  nicht  zugäuglich  ist  mir  F.  G.  Allinson,  On  the 
accent  of  certain  enclitic  combinutions  in  Greek.    TrAPhA  27,  73  —  78. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1800 — 1903.  (Schwyzer.)       49 

Schlußsilbe  tragen  sollten,  das  zweite  Glied  nicht  zu  den  entsprechenden 
Verben,  sondern  zu  abstrakten  Verbalsubstantiva ,  die  freilich  nicht 
immer  nachweisbar  sind,  z.  B.  TzpioxozXoo^  ^=  6  tov  TrpcuTov  irXouv  iroto'j[jLevof, 
y.axoep7o;  =^  ü  xaxa  l'p^a  eywv:  ihre  Betonung  ist  also  regelmäßig.  Die 
Beziehung  der  attischen  Amterbezeichnungen  auf  -ap-/oj  zu  ap/v]  zeigt 
sich  deutlich  in  den  späteren  Nebenformen  auf  -ap/Y)c. 

Eine  Einzelfrage  stellt  zur  Diskussion  W.  M.  Ramsay,  CR  1897, 
261   (AetSa;  oder  ģt65s  auf  kleinasiat.  Inschr.?).  ^) 

Silbentrennung. 

Die  Silbentrennung,  nicht  die  lediglich  graphische,  sondern  die 
der  gesprochenen  Rede,  verdient  vielleicht  bei  lautlichen  Untersuchungen 
noch  mehr  als  bisher  herangezogen  zu  werden:  als  Beispiel  mag  hier 
nur  F.  Sol  msens  Zurückführung  des  Schwankens  in  der  positionsbildenden 
Kraft  des  F  bei  Homer  auf  verschiedene  Silbentrennung  genannt  werden 
(man  sprach  xpTQ-yüov  |  Feiucx;,  aber  FsiKä?  F|e7:o?;  Untersuchungen  zur 
.griech.  Laut-  und  Verslehre  166;  ebd.  161  fif.  auch  Allgemeines  über 
Positionsbildung  und  Silbentrennung;  vgl.  auch  S.  182).^)  Eine  be- 
sondere, durch  das  praktische  Bedürfnis  bestimmter  Regeln  für  die 
Oxford  classical  texts  veranlaßte  Skizze  des  Gegenstandes  gibt 

H.  Stuart- Jones,    The    division    of  syllables  in  Greek  CR  15 
(1901),  396-401. 

Unter  I  ancient  practica  werden  Beispiele  aus  Inschriften  (nach 
Meisterhans,  Gramm,  d.  att.  Inschr.  und  Schwyzer,  Gramm,  d.  perg. 
Inschr.}  und  Papyri  angeführt,  unter  II  ancient  theory  die  Grammatiker- 
vorschriften geprüft.  Eine  Handhabe,  die  Silbentrennung  der  lebenden 
Sprache  zu  bestimmen,  bietet  1.  die  Haplologie:  Fälle  wie  dvstudafiYjv 
beweisen,  daß  man  a-ve-vs-,  nicht  etymologisch  dv-e-ve  sprach  (Schwyzer, 
Gramm,  d.  perg.  Inschr.  131);  2.  die  Verteilung  eines  Konsonanten  auf 
zwei  Silben  (s.  oben  S.  42).  —  Dazu  eine  Ergänzung:  die  Differenz 
zwischen  [xdpTu?,  jjLdpxujtv  und  jxdpxupo;  usw.  beruht  auf  verschiedener 
Silbentrennung;  die  Ferndissimilation  der  beiden  p  trat  nur  ein,  wo  sie 
beide    die  Silbe    schlössen    (ptdp  tup?,    fidp-Typ-oiv),    aber    nicht  in  den 


')  Th.  Kindlmann,  Über  die  Betonung  des  griechischen  Subst.  der 
1.  und  2.  Dekl.  im  Nom.  Sing.  Gymn  Progr.  Mähr.-Neustadt  1901  ist  für 
Schüler  geschrieben  und  ohne  wissenschaftlichen  Wert  (nach  Stolz,  ZöGy 
1901,  5R1  f.). 

-J  Einige  gelegentliche  Bemerkungen  fürs  Griech.  auch  bei  H.  Hirt, 
IF.  12,  227  f  —  Die  einsclilägige  statistische  Arbeit  von  H.  W.  Smyth, 
Mute  and  Liquida  in  Greek  Meiie  Poetry  Tr.APhA  28  (1897),  111-143  ist 
jnir  nicht  zugänglich. 

Jabresbcriclit  für  Altertumpwissenscbaft.    Bd    CXX.    (1904.   I.)  4 


50       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Formen   wie  [xotp-Tu-poc  usw.,    wo  sie  nicht  die  gleiche  Stellung  in  der 
Silbe  hatten. 

Den  Geltungsbereich  des  beweglichen  v  (v  l^eXxuaTtxo'v),  über 
dessen  Ursprung  verschiedene  Hypothesen  aufgestellt  worden  sind,  sicherer 
zu  bestimmen,  gestatten  namentlich  die  Inschriften:  doch  hat  J.  May, 
Über  das  sog.  v  IcpeXx.  NphR  1900,  505 — 8  nachgewiesen,  daß  auch 
die  Behandlung  in  einer  Demostheneshandschrift  nicht  zur  byzantinischen 
Regel  stimmt.  —  Eine  ähnliche  Erscheinung  ist  das  bewegliche  -?: 
J.  May,  Über  outtu  und  outwc,  NphR  1901,  457  —  60  weist  nach,  daß 
bei  Demostheues  ouxw;  vor  Konsonanten  viel  weiter  verbreitet  war  als 
unsere  Überlieferung  annehmen  läßt. 


Stammbildungs-  und  Fiexionslehre 

des  Nomons  und  Verbums  sucht  zu  fördern 

K.P.  Johansson,  Beiträge  zur  griechischen  Sprachkunde,  üpsala 
1891  (in:  Upsala  Universitets  Arsskrift  1890). 

Rez.  von  Bartholomae,  BphW  1892,  Nr.  30/31.  Bezzenberger, 
BLZ.  1892,  713  f.     Solmsen,  lA  3,  5—7. 

Die  Arbeit  enthält  außer  Nachträgen  und  Register  drei  Aufsätze, 
die  insofern  näher  zusammengehören,  als  sie  vorwiegend  Fragen  der 
Stammbildung  beschlagen.  Mit  Problemen  der  nominalen  Stammbildung 
und  Deklination  beschäftigen  sich  der  erste:  „Einige  Spuren  des  No- 
minaltypus skr.  iisrk  asnäs  im  Griechischen"  (dtJTptxYaXo;  neben  oaroüv, 
oaxaxoc  u.  ä.)  und  der  sich  mit  diesem  vielfach  berührende  dritte:  „Über 
einige  n-Stämme  im  Griechischen"  (besonders  über  das  t-Suffix  vor 
oder  nach  -r-  und  -n-Suffixen).  Die  gelehrten  und  scharfsinnigen,  aber 
nicht  selten  allzu  gewagten  Kombinationen  des  Verfassers  kommen 
besonders  der  griechischen  Etj^mologie  zugute,  fallen  aber  im  ganzen 
hier  außer  Betracht.  Ein  Zug,  der  für  das  Bemühen  des  Verfassers, 
sein  Material  möglichst  vollständig  zu  sammeln,  bezeichnend  ist,  ist  die 
stete  Berücksichtigung  der  Ortsnamen;  es  ist  aber  methodisch  bedenklich^ 
Namen,  deren  Bedeutung  nicht  sicher  steht,  ja,  deren  Griechentum 
zweifelhaft  ist,  wie  Icpairurv«,  D-jova,  'AXixapvajsoc,  Atv8up,os,  zur  Kon- 
struktion indogermanischer  Paradigmen  zu  verwenden.  In  Fällen  wie 
Xeaiva :  Xeovt-o?  ist  ohne  die  Annahme  vorgriechischer  Doppelheiten 
auszukommen,  —  Der  längste  Aufsatz  ist  dem  griechischen  x-Perfekt 
gewidmet  (S.  33 — 95).  Er  beginnt  mit  einer  an  sich  wertvollen  Dar- 
stellung des  Tatsächlichen  in  zwei  Abschnitten:  in  einem  werden  die 
Belege  für  das  x-Perfekt  in  den  Inschriften,  namentlich  in  den  Dialekt- 
iuschrifteu,  zusammengestellt,  wobei  sich,  wenn  auch  die  Belege  seiteuer 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.)        51 

sind,  doch  ergibt,  daß  alle  die  verschiedenen  Typen  gemeingriechisch 
sind;  ein  zweiter  illustriert  an  Hand  einer  Statistik  der  literarisch 
überlieferten  Formen  die  historische  Ausbreitung  des  x-Typus  von  den 
langvokalischen  Musterformen  zu  den  kurzvokalischen  und  konsonan- 
tischen Themen.  Eine  besonnene  Kritik  der  Ansichten  über  den  Ur- 
sprung des  x-Perfektes  ergibt  am  meisten  Wahrscheinlichkeit  für  eine 
schon  von  G.  Curtius  u.  a.  aufgestellte  Vermutung,  daß  in  x  ein  stamm- 
bildendes Element  vorliege;  vgl.  das  Verhältnis  von  eSrjxa,  T£i)Y)xa,  dr^xT], 
feci,  phryg.  aooaxex,  skr.  dhäkds.  Dem  Nachweis  des  vorgriechischen 
nominal -verbalen,  vielleicht  ursprünglich  präteritalen  (?)  Elementes  vor 
allem  im  Griechischen  nnd  Lateinischen  sind  zwei  weitere  Abschnitte 
gewidmet  (vgl.  fjxa,  eixiu,  oitoxw;  ßaxxpov,  fäcundus),  während  die  beiden 
letzten  eine  Zusammenfassung  der  Ergebnisse  sowie  eine  Vermittelung 
mit  Bugges  Theorie  bringen,  nach  welcher  -xe  ein  Kompositionselement 
ist,  das  auch  —  und  zwar  auch  vor  dem  Verb  —  im  Armenischen 
und  Etruskischen  (dessen  Indogermanentum  auch  J.  eine  ausgemachte 
Sache  zu  sein  scheint)  begegne. 

Komposition. 

Als  Arbeiten,  welche  das  ganze  Gebiet  der  Komposition  beschlagen, 
sind  zu  nennen: 

H.  C.  Muller,  Beiträge  zur  Lehre  der  Wortzusammensetzung 
im  Griechischen,  mit  Exkursen  über  Wortzusammensetzung  im  Indo- 
germanischen und  verschiedenen  andern  Sprachfamilien.  Leiden  1896, 
wofür  ioh  mich  mit  einer  Verweisung  auf  die  Besprechungen  von 
Ziemer,  WklPh  1896,  901  f.  und  Stolz,  NpliR  1896,  302,  begnügen 
muß,  und 

Fr.  J.  Bielecki,    Les    mots    composes    dans    Escbyle    et    dans 
Aristophane.     Progr.    des    großherz.    Athenäum.     Luxemburg   1899. 

Die  Arbeit  behandelt  nur  die  für  die  Dichter  charakteristischen 
Komposita,  gibt  nicht  etwa  Nachweise  für  die  zuerst  bei  ihnen  auf- 
tretenden. Hauptergebnis:  Aschylos  bildet  keine  langen  Komposita 
wie  Aristophanes.  Eigentümlich  berührt  es,  wenn  xAristophanes'  An- 
wendung obszöner  Wörter  folgendermaßen  entschuldigt  wird:  ,, Aristo- 
phane avait  du  entendre  plus  d'une  fois  ces  mots  autour  de  lui  dans  la 
bouche  d'esclaves  ou  de  personnages  grossiers." 

Auf  dem  engeren  Gebiete  der  nominalen  Komposition  ist 
zunächst  zu  erwähnen  die  Neubearbeitung  der  einzigen  zusammen- 
fassenden Monographie: 

r.  N.  TacpsTcr)?,  Tot  auv&exa  T?jc  'EXXy)V[X7j;  -/"XüiffCTr)?.  TeZyo; 
TiptuTov   :  t6  ovo[j.ctTtxov  TtpcoTov  (juvösTixov.  ^ExSojtc  ösuTspa.    Athen   1894. 

4* 


^52       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Die    1.  Auflage    des    dreiteiligen  Werkes,    die    1880—1882    auf 
Ks^aXXYjvia   erschien,    ist   mir   nur    aus    der  günstigen  Besprechung  in 
BuJ  1890,  383  bekannt,  die  der  Verfasser  aus  berechtigter  Freude  über 
die  ihm  gewordene  Anerkennung  abdruckt.    Die  zweite  Auflage  soll  im 
Gegensatz  zur  ersten  auch  die  Betonung  eingehend  berücksichtigen,  was 
im  vorliegenden  Teil  naturgemäß  noch  nicht  zur  Geltung  kommt  (beim 
rhythmischen  Gesetz    auf  S.   111  ff.,  wonach    ein  *^!loa-9ooc    wegen   der 
umgebenden  Kürzen  durch  ßoTjöo'o;  ersetzt  werden  mußte,  ist  die  durch 
die  metrische  Nötigung  bewirkte  Vorliebe    der  Dichter    für  -y)-  in  der 
Kompositionsfuge    zu  wenig    berücksichtigt).     Das  Material,    das  mög- 
lichst vollständig  vorgelegt  wird  —  nur  bei  seltenen  Wörtern  mit  ge- 
nauem Zitat  —  liefert  hauptsächlich  die  klassische  Literatur,  besonders 
Homer,  doch  sind  auch  inschriftliche  Erscheinungen  herangezogen;    die 
spätere  Sprache    ist    kaum  berücksichtigt    (vgl.  dafür  Schwyzer,    perg. 
Gramm.    Register    S.    205  a).      Der    1.    Hauptteil    handelt    nach     den 
Deklinationen    und    mit    besonderer  Rücksicht    auf   den    Kompositions- 
vokal von  den  (deklinierbaren)  Nomina  (Unterabschnitt:  Kasusformen),  der 
2.  Hauptteil  von  Adverbien,   untrennbaren  Partikeln  wie  oüj-,  a-,  dtpi-, 
Präpositionen  und  Zahlwörtern  als  1.  Kompositionsglied.     Schwierigere 
Wörter  werden  dabei  unter  umfassender  und  methodischer  Verwertung 
der    neueren,    besonders    deutschen    sprachwissenschaftlichen    Literatur 
ausführlicher    besprochen  (doch    kann    aija  nicht  zu    gleicher  Zeit  mit 
lat.  aequus  und  osk.  aiti-  verglichen  werden  S.  43  Anm.  1;  xaXoc  nicht 
aus    xaXjoj!    S.  34;    aiTTo'Xo;    kann    nicht    die  avest.  Präposition    a{i)wi 
enthalten,    die   doch  ai.  ahhi  entspricht  S.  103).     Die  in  der  ßißXtoörjxr^ 
MapaaX^    erschienene  Fortsetzung    des  Werkes    ist    mir  nicht    zugäng- 
lich. —  Andere  Arbeiten  zur  nominalen  Komposition  beschränken  sich 
auf  einzelne  Schriftsteller  oder  einzelne  Kapitel. 

M.  Glaser,  Die  zusammengesetzten  Nomina   bei  Pindar.     Diss. 
Erlangen  1898. 

Die  sorgfältige  Arbeit  wendet  sich  mehr  an  die  Pindariker,  als 
an  die  Sprachforscher:  es  kommt  dem  Verfasser  darauf  an,  die  Eigen- 
tümlichkeiten Pindars  in  Bildung  und  Verwendung  der  nominalen 
Komposita  hervorzuheben,  wobei  manche  Stelleu  der  pindarischen  Ge- 
dichte einläßlicher  behandelt  werden.  Etwa  Vs  von  Piudars  Komposita 
begegnen  schon  bei  Homer,  neue  Typen  hat  er  nicht  geschaffen, 
zeigt  jedoch  bei  manchen  reichere  Entfaltung.  Die  sprachwissenschaft- 
liche Erklärung  ist  nicht  immer  einwandfrei:  Tspajxoiro?  (S.  28  f.) 
deutet  TjepenY)?  besser  aus  -spaj-sx.,  aiiJ,axoüpta  (S.  55)  ist  nicht  aus 
at[xa--  verstümmelt  u.  ä.;  xaXXivtxo;  aus  xaXio-vixoj!  (S.  30). 

W.  Christ,  Die  verbalen  Abhängigkeitskomposita  des  Griechischen. 
SMA  1891,  I,  143-246. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 190;5.  (Schwyzer.)       53 

Mit  dem  Thema  beschäftigt  sich  im  besonderen  das  V.  Kapitel 
der  AbbaDdlung  (S.  J86  ff.),  während  die  vier  ersten  der  Behandlung 
allgemeiner  Frag-en  der  Komposition  gewidmet  sind.  Das  erste  schlägt 
eine  neue  Einteilung  der  Komposita  in  determinative  (vauat-cpo'pTjxoc, 
e-t--cii}rj[xt,  apt-o£U£Toj),  rektive  oder  Abhängigkeitskomposita  (xapito- 
cpo'poc,  !jt5y]po-ßp(of,  [i,ev£-TiToX£ixoc)  und  kopulative  (TtXouil-u^teta,  \u'/ß- 
T^ixepov)  vor,  die  jedoch  auch  nicht  alle  Ansprüche  befriedigt,  und  zwar 
von  Glaser  angewendet,  aber  von  Brugmann  seiner  alten  formalen  Ein- 
teilung nicht  vorgezogen  wird.  Das  II.  Kapitel  bringt  eine  Liste  der 
altererbten  Komposita  des  Griechischen,  wie  sie  durch  Vergleichung 
der  verwandten  Sprachen  ermittelt  werden  können,  das  III.  sucht  in 
jeder  Gruppe  die  ältesten  Typen  festzustellen,  und  das  IV.  gilt  der 
Formbildung  der  Komposita  (Form  des  ersten  Gliedes  und  Betonung; 
über  einige  Fragen  der  letzteren  jetzt  besser  Batzidakis  oben  S.  48  f.). 
Das  V.  Kapitel  gibt  eine  (nicht  erschöpfende)  statistische  Zusammen- 
stellung der  verbalen  Abhängigkeitskomposita  mit  Besprechung  inter- 
essanter Bildungen  (z.  B.  'Haioooi^  Entsender,  Leiter  eines  Feldzuges,, 
zu  levai  [doch  so;  nicht  tevai]  oöo'v).  Eingeteilt  wird  nach  Bildungen, 
wo  der  Verbalbegriff  voransteht  ('A7e-Xao?),  wo  er  nachfolgt  (d-ßXrj?, 
-av-Sa[i.dxcüp)  und  wo  beide  Stellungen  vorkommen  ('ApyE-vstuc:  vau- 
apyo?).  —  Den  Erklärungen  gegenüber  ist  Vorsicht  geboten;  schon  die 
historische  Grammatik  des  Griech.  kann  nicht  zugeben,  daß  dp-/£-  als, 
erstes  Kompositionsglied  auf  lautlichem  Wege  zu  dpyi-  geworden  sei 
(S.  195),  daß  tXdfluiJLo?  aus  TotXav-9u[j.o;  zusammengezogen  sei  (S.  196 
Anm.  2);  was  über  vorgeschichtliche  Fragen  gelehrt  wird,  ist  größten- 
teils unhaltbar  (z.  B.  ovojxa  aus  *o7vo[xa  S.  154,  rjouc  aus  su-adus  „gut 
eßbar'  S.  155). 

Ch.  Renel,    Compositorum  Graecorura  quorum  in  1\  prior  pars 
exit  de  origine  et  usu.     These,  Lyon  1896, 

Verf.  sucht  den  in  der  griechischen  Komposition  befolgten  Grund- 
satz, daß  das  rectum  dem  regens  vorangehe,  auch  für  die  Komposita  mit 
-ai-  im  ersten  Glied,  die  längst  Osthoff  glaubwürdig  erklärt  hat,  geltend 
zu  machen  durch  die  ganz  unhaltbare  Annahme,  das  erste  Glied  gebe 
auf  ein  Partizip  auf  -to-,  -xeo-  zurück,  sogar  'Ava;i  St^ixoc  muß  ein 
solches  Ptz.  enthalten,  „qui  gubernatos  homines  habet"  (S.  54).  "Was 
zur  lautlichen  Begründung  der  Erklärung  angeführt  wird,  wird  hoffent- 
lich nur  Eeuels  Lehrer  Paul  Regnaud  überzeugen,  der  für  diese  Art 
von  Wissenschaft  die  Verantwortung  tragen  muß.  Aber  wenn  in  der 
nach  Schriftstellern  geordneten  Liste  der  Komposita  mit  -at-  (sie  ist 
nicht  erschöpfend,  da  z.  B.  von  den  Tragikern  nur  Äschylos  ausge- 
beutet ist,    mit  eigentümlicher  Begründung)    auch  Wörter    wie  'Ava^t- 


54       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

jxavÖTjp,  AuadvÖTjo,  2ou5t(jxavf)c  (Name  eines  Persers  in  Aesch.  Pers.), 
riaat^apTfja  ohne  Bemerkung  figurieren,  wird  schon  der  Verf.  selbst  die 
Verantwortung  übernehmen  müssen. 

Einen  kleinen  Beitrag  zur  präpositionalen  Zusammen- 
setzung liefert 

G.  S.  Säle,  On  the  word  -ape^stpesia  and  on  Greek  substantives 
Compound  with  preposition  CR  12,  347  f. 

Es  werden  zwei  Regeln  aufgestellt:  1.  wenn  eine  Präposition 
•einem  Subst.  ohne  weitere  Veränderung  vorgesetzt  wird,  hat  sie  adjek- 
tivische Geltung,  z.  B.  a'fpooo?,  TrepiTiÄou?,  Tiape^sipssta  =  xo  irapl^  ttjc 
sipeaiac;  2.  wenn  aus  einem  von  einer  Präposition  abhängigen  Kasus 
ein  Substantiv  gebildet  wird,  erhält  das  Ganze  eine  neue  Endung  (ex- 
OYjixia,  ejjLfXETpia). 

Ein  interessantes  Kapitel  der  präpositionalen  (zumeist  verbalen) 
Zusammensetzung  behandelt: 

A.  Großpietsch,    De   -reTpauXtüv    vocabulorum  genere  quodam. 
Breslauer  philolog.  Abhandl.  Band  VII  5.     Breslau  1895. 

Verf.  behandelt  einläßlicher  als  Fr.  Schubert,  Zur  mehrfachen 
präfixalen  Zusammensetzung  im  Griechischen.  Xenia  Austriaca  I  (Wien 
J893),  193 — 6  die  Zusammensetzungen  mit  drei  Präpositionen  in  den 
Quellen  bis  zum  VII.  Jahrb.  n.  Chr.  Er  findet  deren  266  (21  Subst., 
6  Adj.,  2  Adv.,  die  von  Verben  abgeleitet  sind,  die  übrigen  sind  Verba), 
wovon  200  nur  vereinzelt  vorkommen;  die  häufigsten  Verba  zeigen  auch 
zugleich  die  häufigsten  Kombinationen  der  Präpositionen:  zaTs^avicnraiiat, 
aufXTrapEXTsi'vto.  Schon  bis  300  v.  Chr.  erscheinen  41  solcher  Bildungen 
(bis  auf  Äsch.  nur  bei  Verben  der  Bewegung) ,  bis  auf  Augustus  er- 
scheinen 22,  bis  300  n.  Chr.  65,  von  300—500  n.  Chr.  44  neue  .Bil- 
dungen; die  Zeit  nach  500  hat  89  eigene.  In  älterer  Zeit  traten  die 
3  Präp.  gleichzeitig  an ,  später  liegt  gewöhnlich  ein  Bikompositura  zu- 
grunde. Unter  den  Dichtern  brauchen  sie  am  häufigsten  die  Epiker, 
die   auch  darin  bis  ins  VI.  Jahrh.  n.  Chr.  Homers  Autorität  folgen.^) 

Über  eine  Anzahl  sekundärer,  meist  aus  der  Verbindung  von 
Subst.  mit  nachfolgendem  Adj.  hervorgegangener  Zusammensetzungen 
handelt  J.  Wackernagel,  Die  Komposita  auf  -afpoi.  ZvSpr  33,  43 
—  56:    i7:TroitoT0t|JLo;     über    inTroicoxaixio;     aus     ii:7r.     TiOTa[xto;;     2(X|xo»}p7XTrj 

*)  Lediglich  eine  nicht  einmal  vollständige  alphabetische  Zusammen- 
stellung der  mit  Präpositionen  zusammengesetzten  Verba  bei  Äschylos  gibt 
E.  Lesser,  Quaeationes  Aeschyleae  de  ubertate  verborum  cum  praeposi- 
tionibus  compositorum.  Diss.  Halle  1893.  —  Über  *D.  H.  Holmes,  Die  mit 
Präpositionen  zusammengesetzten  Verba  bei  Thukydides.  ßerl.  1895,  vgl. 
Couvreur,  Rcr  L^97,  II,  112  f.;  Härder,  DLZ  1897,  743. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       55 

nach  2!a|i.o9pax£c  statt  hom.  Safio?  öpr]ixiri;  dagegen  bedeutete  das  bei 
weitem  ältere  auaYpoc  eigentlich  „Sautänger";  später  nicht  mehr  ver- 
■standeu,  wurde  es  in  der  Dichtersprache  kühn  der  Verbindung  au;  a'/pioc 
gleichgesetzt  —  der  Vorgang  wird  durch  zahlreiche  Parallelen  illustriert 
—  und  zog  weiter  ai'-ya^po;,  irirafpos,  ova7poc  statt  ai'$,  iittcoj,  ovo;  a-fptoi; 
nach  sich. 

M.  Heine,  Substantiva  mit  a  privatlvura.    Diss.    München  1902. 

Der  Hauptwert  der  Arbeit  beruht  nicht  in  den  allgem.  Erörte- 
rungen des  II.  Teils,  sondern  im  I.  Teil,  der  eine  nach  vier  Sprach- 
perioden gegliederte,  auf  Grund  der  vorhandenen  Lexika  angefertigte 
Zusammenstellung  der  in  der  Literatur  (einschließlich  der  byzantinischen 
Zeit)  vorkommenden  Substantiva  mit  a  priv.  (ohne  Belegstellen)  enthält. 
Innerhalb  der  einzelnen  Perioden  unterscheidet  die  Verfasserin  je 
4  Klassen,  je  nachdem  das  Subst.  von  einem  privativen  Adjektiv,  direkt 
von  einem  Subst.  oder  von  einem  auf  einem  privativen  Adjektiv  be- 
ruhenden Verb  abgeleitet  ist  oder  ohne  Grundwort  resp.  zweifelhaft  ist. 
Zu  wenig  berücksichtigt  ist  die  von  der  Verf.  freilich  S.  47  f.  ange- 
deutete Möglichkeit  analogischer  Nachbildungen  mit  Überspriogung  des 
schematisch  anzusetzenden  Zwischengliedes.  dxoXajt'a  u.  ä.  haben  kein 
T  verloren:  in  grammatischen  Dingen  gebricht  es  der  fleißigen  Samm- 
lerin überhaupt  an  selbständigem  Urteil. ') 

Namen. 

Für  die  Personennamen  haben  wir  durch  die  Arbeit  der  beiden 
rührigsten  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  griechischen  Onomatologie 
•eine  zusammenfassende  Darstellung  erhalten: 

Aug.  Fick,  Die  griechischen  Personennamen  nach  ihrer  Bildung 
erklärt    und  systematisch  geordnet.     Zweite  Auflage  bearbeitet    von 
Fr.  Bechtel  und  Aug.  Fick.     Göttingen  1894. 

Rez.  von  P.  Kretschmer,  lA  5,  37—41.  Ziemer,  ZöGy  1895, 
422-9.     0.  Hoffmann,  BKIS  22,  130-9. 


*)  Auf  folgende  einschlägige  Arbeiten  kann  ich  nur  verweisen: 

1.  G.  Turiello,  Sui  compositi  sintattici  nelle  lingue  classiche.  RF 
22,  1-149; 

2.  J.  Jedlicka,  s-Stämme  im  2.  Glied  homer.  Komposita.  LF  20, 
25—33  (s.  lA  3,241  f.); 

3.  J.  Vintschger,  Die  ouio-Komposita  sprachwissenschaftlich  klassi- 
fiziert.   Progr.     Gmunden  1899  (vgl.  ZöGy  1901,  373  f.); 

4.  A.  H.  Hamilton,  The  negative  Compounds  in  Greek.  Diss. 
Baltimore  1899  (vgl.  Stolz,  ZöGy  1902,  413  f.;  Sitzler,  WklPh  1902,  688 
-90;  My,  Rcr  1903,  185  f;  Thumb,  lA  14,13). 


56       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Das  Buch  ist  eine  vollständige  Neubearbeitung  des  Buches  von 
A.  Fick,  das  unter  dem  gleichen  Haupttitel  schon  1874  erschien. 
Hatte  die  erste  Auflage  (die  dadurch  ihren  "Wert  behält)  auf  133 
Seiten  auch  die  Namensysteme  der  verwandten  Völker  behaadelt,  soweit 
sie  die  altindogermanischen  Prinzipien  der  Xamengebung  beibehalten 
haben  —  es  sind  Kelten,  Germanen,  Slaven,  Iranier  und  Inder  —  lehnt 
es  die  Neuauflage  ausdrücklich  ab,  nochmals  den  indogermanischen  Adel 
der  griechischen  Namenbildung  zu  erhärten  (S.  37),  deren  Prinzipien 
auch  der  Widerspruch  von  W.  Bannier,  Die  griech.  Kosenamen 
BphW  1894,  1181  f.  nicht  erschüttert  hat,  sondern  beschränkt  sich 
auf  die  griechischen  Personennamen,  die  durch  die  reichen  Inschriften- 
l'unde  so  sehr  vermehrt  worden  sind  (die  lat.  Überlieferung  ist  freilich 
nicht  ausgebeutet).  Man  kann  die  Fülle  dessen,  was  neu  geboten  wird, 
leicht  daran  ermessen,  daß  der  Abschnitt  „System  der  griechischen 
Namenbildung"  in  der  1.  Aufl.  90,  in  der  neuen  unter  der  "Überschrift 
„Zusammenstellung  der  Vollnamen  und  Kosenamen"  259  S.  zählt.  Wenn 
sich  auch  diese  beiden  Abschnitte  ungefähr  entsprechen  und  äußer- 
lich gleich  sehen,  nur  daß  die  neue  Autlage  statt  Wurzeln  wirkliche 
Wörter  als  Stichformen  ansetzt  und  für  seltenere  Namen  Belegstellen, 
bes.  aus  Inschriften,  gibt,  ist  im  übrigen  die  Anordnung  nicht  unwesent- 
lich verändert;  den  drei  formalen  Abschnitten  der  früheren  Arbeit 
(I.  Anfangsgruppen  und  Kosenamen,  II.  Endgruppen,  IQ.  System  der 
griech.  Namenbildung)  stehen  jetzt  die  sachlichen:  I.  Menschennamen, 
II.  Heroennamen,  III.  Götternamen  gegenüber.  Die  Hauptmasse  bilden 
natürlich  die  Menschennamen,  bei  denen  auch  die  „Namen  aus  Namen" 
(Kalender-  oder  Geburtstagsuamen,  Widmungsnamen  wie  A-oXXcüv.o;, 
übertragene  Namen  wie  Götter-,  Tiernamen  als  Menschenuanien,  Ethuika 
und  Gentilia  als  Einzeluaraen,  Berutsnamen)  eine  größere  Bolle  spielen 
als  bei  den  Heroennameu.  —  Freilich  sind  sich  die  Verfasser  wohl 
bewußt,  daß  sie  nnr  eine  Vorarbeit  zu  dem  gew'altigeu  Bau  eines  wirk- 
lichen griechischen  Namenbuches  getan  haben  (vgl.  VII  ff.  34):  so 
lehren  uns  gelegentliche  Bemerkungen  wie  zu  Mt]vo-  S.  207  etwas  über 
den  Anteil  der  einzelnen  Landschaften  und  Zeiten  (eine  eigentliche 
Namengeschichte  ist  ja  wichtiger  als  die  Nameudeutung),  es  fehlen  die 
Kosenamen,  zu  denen  keine  Vollnameu  nachgewiesen  sind,  und  die 
ri'rsoncnnnnien,  die  auf  Götterbeinamen  zurückführen  (MeiXr/oc  zu 
MsiXt/ioc).  Was  die  Erklärung  der  Namen  anbetiifft,  wird  hauptsächlich 
die  Behandlung  der  einfachen  Götternamen  (436  ff.)  Anlaß  zu  Meinungs- 
verschiedenheiten bieten  können,  so  die  Erklärung  von  <I)oi|3o?  als 
, .heilend",  ai.  bhe.sajä- ,  wenn  auch  die  vergleichende  Mythologie  sogar 
ironisiert  wird.  —  S.  202  wäre  zu  Mevoi-  ein  Verweis  auf  Bsvoioo- 
S.  78    angebracht   gewesen.     Zu  S.  333:    vielleicht    ist    das  eine  oder 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       57 

andere  Ethnikon  auch  dem  als  Name  geblieben,  der  sich  längere  Zeit 
in  dem  betreffenden  Lande  aufgehalten  hat  (z.  B.  Aiyütttio;),  wie 
wenigstens  mittelalterliche  Analogien  vermuten  lassen. 

Die  beiden  Forscher  sind  eifrig  bemüht,  ihr  Werk  durch  ge- 
sonderte Bearbeitung  einzelner  Namengebiete  und  Nachtrage  zu  fördern: 
Bechtel  namentlich  in  zwei  größeren,  in  Buchform  erschienenen  Arbeiten^ 
Fick  in  mehreren  Aufsätzen.     Zuerst  sei  genannt 

Fr.  Bechtel,  Die  einstämmigen  männlichen  Personennamen  des 
Griechischen,  die  aus  Spitznamen  hervorgegangen  sind.    GöAbh.  1898. 

Rez.  von  Fick,  WklPh  1898,   1105—1110. 

Nach  einer  Einleitung,  in  der  u.  a.  die  Nachrichten  über  ]xe-ovo- 
fjLa'jeic  besprochen  werden,  wobei  die  von  Plato  überlieferte  abgelehnt  wird, 
bietet  Bechtel  eine  reichhaltige  Sammlung  der  vielen  aus  einstämmigen 
Spitznamen  hervorgegangenen  Männeroamen,  in  die  jedoch  nur  solche 
aufgenommen  sind,  die  aus  dem  Sprachgebrauch,  besonders  der  Komödie, 
die  oft  herangezogen  wird,  unmittelbar  zu  verstehen  sind,  mit  Be- 
schränkung auf  die  Zeit  vor  100  v.  Chr.  Die  Anordnung  läßt  den 
Wert  der  Untersuchung  für  die  Kulturgeschichte  deutlich  in  die  Augen 
springen:  I.  der  Mensch  als  körperliches  Wesen  (Körperbau  [besonders 
zahlreich  sind  Namen  für  kleine  Leute  S.  9  f.] ,  Sprache .  geschlecht- 
liches Unvermögen,  Gebrauch  der  Gliedmaßen,  körperliche  Fertigkeiten); 
II.  der  Mensch  als  geistiges  Wesen  (1.  Intellekt,  2.  Gemüt  a)  Temperament 
b)  Charakter,  näral.  Vielesser,  Trinker,  XaYvot);  III.  der  Mensch  als 
Glied  der  Gesellschaft  (soziale  Stellung,  Lebensführung).  Doch  geht 
auch  der  Grammatiker  nicht  leer  aus;  ich  bedaure  sehr,  daß  mir  wie 
das  große  Werk  auch  Bechtels  kleinere  Arbeit  bei  der  Bearbeitung 
der  3.  Aufl.  von  Meisterhans'  Grammatik  d.  att.  Inschr.  noch  nicht  zu- 
gänglich war ;  sonst  hätte  ich  z.  B.  zu  Kvicpwv  S.  74  auf  Bechtel  S.  69, 
zu  AsTTtvY)?  Maitüxr];  auf  S.  77  auf  AsTttvac  Fuptouvto;  (Bechtel  15)  ver- 
wiesen, auf  S.  139  die  von  Bechtel  S.  25  auf  einer  Vase  entdeckte 
Genetivbildung  rXYjfxüooc  meinen  Beispielen  angeschlossen;  auf  S.  8 
findet  der  Homeriker  mit  -sXwp  anregend  den  Namen  Utläpr^;  aus  Styra 
verglichen  (vgl.  Solmsen,  ZvSpr  34,  536  ff.). 

Neuestens  schließt  sich  an 

F.  Bechtel,  Die  attischen  Frauennamen  nach  ihrem  System  dar- 
gestellt.    Göttingen   1902. 

Rez.  von  Kretschmer,  WklPh  1903,  225—8. 

Die  Beschränkung  auf  die  attischen  Frauennanien  liegt  außer 
am  Reichtum  und  der  bequemen  Zugänglichkeit  des  Materials  daran, 
daß  nur  für  Attika  die  Scheidung  der  bürgerlichen  und  nichtbürgerlichen 
Namen    möglich    ist:    daß    die    Frauennamen    sich    nach    der    sozialen 


58       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1 890— 1903.  (Schwyzer.) 

Stellung-  nicht  unerheblich  unterscheiden,  ist  aber  gerade  das  Haupt- 
•ergebnis  des  Buches.  Die  weiblichen  Vollnameu,  die  übrigens  fast 
durchweg  aus  den  gleichen  Elementen  bestehen  wie  die  männlichen 
Volloamen,  nur  movierte  männliche  Vollnamen  sind,  neben  denen  Kose- 
formen verhältnismäßig  selten  auftreten ,  werden  zwar  von  bürgerlichen 
und  nichtbürgerlichen  Elementen  gleichmäßig  gebraucht,  dagegen  dringen 
die  übrigen  Namen  erst  nach  und  nach,  z.  T.  recht  spät,  aus  der  Sphäre 
von  Sklavinnen  und  Hetären  in  die  bürgerlichen  Kreise  ein.  Der  umfang- 
reichere zweite  Teil,  der  der  Deutung  dieser  Namen  gewidmet  ist,  ist 
auch  von  hohem  kulturhistorischen  Interesse.  Es  sei  kurz  auf  die 
wichtigsten  Abschnitte  desselben  hingewiesen:  Appellatives  Adjektiv 
(im  Fem.  od.  Neutr.)  aus  Frauenname;  Kaleuderuamen;  Widmungsnamen: 
Ethnika  oder  (brachylogisch)  Ortsnamen  als  Frauennamen,  Bezeichnungen 
der  Lebensstellung.  Am  häufigsten  finden  wir  aber  das  mitunter  er- 
götzliche und  vom  Verfasser  gelegentlich  noch  gewürzte  Spiel  der  Me- 
tonymie (Frauennamen  aus  Namen  von  göttlichen  Wesen  und  Heroinen, 
Märchenfiguren,  hervorragender  historischer  Persönlichkeiten,  von  Tieren, 
Pflanzen,  Mineralien,  aus  Bezeichnungen  des  Lichts,  des  Tropfbar- 
Flüssigen,  von  Spielzeug.  Toilettengegenständen  und  Geräten  überhaupt, 
aus  Namen  öffentlicher  Örtlichkeiten,  von  Festlichkeiten  und  Jahres- 
zeiten, aus  Abstrakten).  Überall  sind  die  ältesten  Belege  mitgeteilt. 
Gelegentlich  ist  auch  eine  Bemerkung  eingeflochten,  die  über  das  Thema 
hinausführt,  so  S.  42  Anm.  über  die  Doppelkonsonanz  in  ahd.  flucchi 
u.  ä.,  S.  66  über   das  als  echtgriech.  erklärte  "A^cpiov;  S.  67  wird  die 

Messung  xopäaiov  festgestellt;  S.  78  Anm.  4  das  schon  dem  4.  Jahrh. 
angehörige  Bp-.ai?  vielleicht  riclitiger  erklärt  als  noch  in  der  neuesten 
Auflage  von  Meisterhans  S.  38;  S.  64  wird  die  Etymologie  von  vsoYtXXdc 
gegeben;  S.  132  'E7riXa|jn}>tc  zu  Xa[jn]>oiJLai  gestellt;  S.  136  ein  neuer 
Beleg  für  Schwund  von  u  in  Laugdiphthongen  gegeben.  —  "EpaTcuvacaa 
S.  4  wird  durch  die  Lautform  als  unattisch  erwiesen  [doch  s.  jetzt  die 
S.  31  genannte  Arbeit  von  K.  Eulenburg];  Ai'ör,  S.  45  könnte  geradezu 
auf  dem  Pferdenamen  beruhen,  vgl.  Anakreous  Lied  -uiXs  ßpTQxiif)  xtX. 

A.  Fick,  Die  griechischen  Yerbandnamen  BKIS  26,  233—265. 

„Die  Skizze  ist  zu  dem  Zweck  entworfen,  nachzuweisen,  daß  auch 
die  Verbandnanien  nach  denselben  Grundsätzen  wie  die  übrigen  Eigen- 
namen gebildet  sind."  Sie  gibt  zuerst  eine  Zusammenstellung  der 
Stammesuamen  nach  den  häufigsten  Ausgängen  (Vollnamen  auf  aF'ovc;, 
auf  -oTiec,  -(ors;,  -tor.oi,  vereinzelte  Ausgänge  wie  in  'A/aiFoi,  KsXaiilot, 
MoXoffaoi,  zusammengesetzte  mit  Präposition  als  erstem  Glied),  dann  ein 
nach  den  Landschaften  (einschließlich  Makedonien  und  Epirus)  geordnetes 
Verzeichnis    der    Ethnika    mit  zahlreichen  Vermutungen    (z.  B.  xao[j.o? 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       59 

6T)ßaro;  =  Heerbann  von  Theben?  S.  255;  'Axöi;  aus  'A{>-rjvattc  gekürzt 
nach  Art  der  zweistäramigen  Vollnamen  S.  258),  die  nicht  bloß  den 
Sprachhistoriker  interessieren,  freilich  nicht  immer  einwandfrei  sind. 
Ein  Anhang  spriclit  über  die  Behandlung  fremder  Ethnika  durch  die 
Griechen. 

Mit  weniger  Glück  wendet  derselbe  Gelehrte  die  gleiche  Theorie 
auf  eine  Kategorie  adjektivischer  Wörter  an: 

A.  Fick,  Die  griechischen  Götterbeinamen  BKIS  20,  148—180. 

Denn  mit  dem  gleichen  Recht  wie  für  die  Götterbeinamen,  die 
auf  Grund  von  Bruchmanns  Epitheta  deorum,  quae  apud  poetas  Graecos 
leguntur  systematisch  zusammengestellt  werden,  das  Bildungsprinzip 
der  Eigennamen  behauptet  wird,  könnte  dies  für  die  Beiwörter  der 
homerischen  Helden  und  der  Stätten  ihrer  Taten,  am  Ende  für  sehr 
viele  adjektivische  Wörter  überhaupt  geschehen ;  ist  doch  Kürzung  auch 
bei  zusammengesetzten  Adjektiven  sicher  bezeugt,  wenn  auch  seltener 
als  bei  Namen.  Und  aut  der  anderen  Seite  muß  doch  Fick  selbst  Ver- 
wendung einstämmiger  Beinamen  zugeben:  ßpojxioc,  Kurpia  wagt  er  selbst 
nicht  sicher  als  Kurzbildungen  in  Anspruch  zu  nehmen;  auch  für  Zsu? 
xspauvo?  ist  dies  nicht  sicher,  indem  die  von  der  rein  appellativen  ab- 
weichende Verwendung  gerade  durch  die  verschiedene  Betonung  cha- 
rakterisiert sein  kann.  Neue  Deutungen  sind  selten;  es  sei  aus  leicht 
zu  erkennendem  Grunde  auf  die  zweifelnd  vorgetragene  Vermutung 
jxsXixepnfic  =  „ Gliedverhauer  *  hingewiesen  (S.   167). 

Der  Kurznamenforschung  insbesondere  sind  folgende  Arbeiten 
gewidmet : 

0.  Crusius,  Die  Anwendung  von  Voll-  und  Kurznamen  bei  der- 
selben Person  und  Verwandtes.  (Jahn-)Fleck.  Jahrbb.  141/37 
(1891),  385-94. 

Die  Erscheinung  ist  häufiger  bei  mythologischen  Namen,  kommt 
aber  auch  bei  Menschen  in  unserer  Überlieferung  nicht  selten  vor.  So 
heißt  z.  B.  üu&a-j'opac  auch  Duötuv,  T£p-av6poj  auch  Tsp-tuv,  Mavoowpoc 
(Ar.  Vög.  656  f.)  daneben  Mav^;  (ebd.  1311.  1329).  Ähnlich  ist  es, 
wenn  der  Name  derselben  Person  verschiedene  Ausgänge  zeigt,  wenn 
z.  B.  ein  KXsavopiov];  auch  als  K/iavopoc  erscheint.  Beide  Erscheinungen 
sind  auch  für  Literaturgeschichte  und  Textkritik  wichtig. 

Nach  dem  gleichen  Grundsatz  vollzieht  sich  die  Kürzung  bei 
zusammengesetzten  Appellativa:  J.  Strachan,  Koseformen  in  der  Anrede, 
ZvSpr  32,  596  weist  xavf^wv  für  xav9r,Xi£  (bei  Ar.  Wesp.  201)  und  für 
xav9ape  (Fried.  82),  W.  Schulze:  Zur  Kurznamenbildung,  ebd.  33,401 
hellenistisch  und  spätgriechisch  Ts-avoj,  siravoc,  ß-'atoj  für  -STavo&pi^, 
<5-avo7:u)7tuv,  [-{ta'.oöava-o;  nach;  vgl.  auch  W.  Schulze,  ZvSpr  32,  195  Anra. 


60       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.) 

Eine  Reihe  kleinerer  Aufsätze  und  Artikel  bringt  Belege  für 
einzelne  Namen  oder  beschäftigt  sich  mit  der  Etymologie  solcher. 
So  Fr.  Bechtel,  Griechische  Personennamen  aus  CIA  IV  2  (BKIS 
23,  94 — 99;  Nachträge  zu  den  „Personennamen"  in  der  Anordnung 
dieses  Werkes);  Böotische  Eigennamen  (ebd.  26,  147 — 152  [T£U|xa3i7£vet? 
zu  T£u|ji.ao[jLat,  McuXiouToj  zu  fjLÖiXoc,  Faoa>3io;]) ;  der  Frauenname  'AT:a-:rj 
(H  34,  480;=  „Trug",  indem  der  Vater  einen  Sohn  erwartet  hatte); 
Neue  griech.  Personennamen  (H  34,  395  —  411;  alphabetischer  Nach- 
trag aus  den  Inscr.  Gr.  maris  Aegaei);  Fikloi  :  vso-jiXÄoc  aus  *-7toXoc 
lit.  zlndu  „sauge"  (BKIS  27,  191  f.).;  A.  Fick,  Einige  griechische 
Namen  (BKIS  26,  110—13;  altkorinthisch);  Ouatta.-  (ebd.  123—29; 
„König  Langohr"  =  Midas);  Asklepios  (ebd.  313—23;  A.  ist  ursprüng- 
lich eine  Heilschlange ;  der  Name  zu  axaXaTca^ei  •  psii-ßeiai,  „sich 
in  Windungen  regend";  lloSaXetpio?  „Schmalfuß"  ist  die  aufgerichtete 
Schlange);  Fr.  Fröhde,  Aiovucjo;  (BKIS  21,  185  —  202;  gegen 
Kretschraers  Deutung  aus  dem  Thrakischen  wird  wieder  Herleitung  aus 
dem  Griech.  versucht);  ^Iptj  (ebd.  202 — 7);  F.  Solmsen,  Drei  boiot. 
Eigennamen  ßhMPh  53,  137  ff.  (Fap[j.i-/oc  zu  got.  waurms,  Wurm  u.  a.); 
einen  beachtenswerten  Versuch,  die  antike  Auffassung  von  ili]\i.r^xrip  mit 
den  Hilfsmitteln  der  modernen  Wissenschaft  zu  rechtfertigen,  machte 
P.  Kretschmer,  WSt  24,  523 — 6  (Aa  und  lio  uralte  Lallnamen  der 
Erdgöttin,  urspr.  wohl  =  [xa;  Aafj-axTjp  also  =^  Mutter  Da):  H.  Diels, 
Onomatologisches  H  1902,  480—3  tritt  für  napfj-svlörjc  mit  Kürze  ein. 
das  jetzt  F.  Blaß  ,  FEPAS.  Abhandlungen  zur  indogermauischeu 
Sprachgeschichte  August  Fick  gewidmet.  Göttingen  1903,  S.  1  — 16 
durch  rhythmische  Erwägungen  stützt,  und  deutet  XquaitaGY]  bei  Solon 
als  XquotcjT.  „heller  Säuger";  zu  einer  Übersicht  über  eine  Reihe  von 
Namenbildungsweisen  erweitert  sich  der  Aufsatz  von  W.  Crönert» 
Philitas  von  Kos.  H  1902,  212 — 27;  im  Verlauf  des  Nachweises,  daß 
weder  OtXrixa;  noch  <I>tXrjTa?,  sondern  OtXTxa;  die  richtige  Namensform 
für  den  kölschen  Dichter  ist,  werden  die  Bildungstypen  auf  -a;  und 
-aÖT]!  sowie  die  durch  ein  -r-Suffix  gekennzeichneten  durch  ein  reiches, 
besonders  aus  den  attischen  Inschriften  geschöpftes  Material  illustriert. 

Einen  Anfang,  die  von  Fick-Bechtel  nicht  berücksichtigte  lateini- 
sche Überlieferung  für  das  griech.  Namenbuch  auszubeuten,  macht  K. 
Schmidt,  Die  griechischen  Personennamen  bei  Plautus  I.  H  1902, 
173 — 211.     Vgl.  noch  oben  S.  34    (über  Aphärese  in  Personennamen). 

Mehr  sachliches  Interesse  als  sprachliches  haben  die  Arbeiten  von 
H.  Meyersahni,  Deorum  nomina  hominibus  iraposita.  Diss.  Kiel  1891 
(bei  den  Griechen  finden  sich  Beispiele  nicht  vor  Tiberius,  dann  be- 
sonders im  2.  Jahrh.  n.  Chr.), 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.)       61 

Fuochi,   Le  etimologie  di  nomi  propri  nei  tragici  greci.     Estr. 
dei  studi  ital.  di  iilol.  class.  6,  273-318, 

eine  Zusammenstellung  der  (vielfach  auf  irrigen  Voraussetzungen  be- 
ruhenden) etymologischen  Anspielungen  bei  den  Tragikern,  die  mehr 
dem  Erklärer  der  Dichter  als  dem  Sprachforscher  dient,  wenn  sie  auch 
hie  und  da  darauf  Licht  wirft,    wie  ein  Name  empfunden  wurde,    und 

ß.  Herzog,  Namensübersetzungen  und  Verwandtes.  Ph56,  33 — 70, 

Der  Verfasser  überblickt  die  Namensänderungen  im  Gesamtgebiet 
der  Antike  nach  drei  Gesichtspunkten:  1.  Völlige  Aufgabe  und  Um- 
tauschuug  des  Namens  an  den  einer  fremden  Sprache.  2.  Akkommodation 
des  Klanges  des  angestammten  Namens  an  den  fremden  Sprachgeist. 
3.  Übersetzung.  Eine  sprachliche  These  ist  die  Auuahme,  daß  Frauen- 
namen, die  von  orientalischen  Tieren  und  Pflanzen  genommen  sind,  als 
Nachahmung  orientalischen  Brauches  zu  betrachten  seien. 

Auch  die  Erforschung  der  griechischen  Ortsnamen,  an  die  sich 
eiue  Fülle  interessanter  Probleme  auch  sachlicher  Art  knüpfen,  ist 
neuerdings  wieder  iü  Fluß  gebracht  worden  durch 

A.  Fick,    Altgriechische  Ortsnamen  I— VII.     BKIS  21,    237— 
286.    22,  1—76.  222—238.    23,  1—41.  189—244.    25,  109—127. 

Angeregt  durch  E.  Curtius,  Gesammelte  Abhandlungen  I  477, 
unternimmt  F,  den  Versuch,  das  Material  nach  Sache  und  Form  zu 
ordnen,  soweit  es  von  seinen  Vorgängern  zusammengetragen  ist:  hin- 
sichtlich der  Vollständigkeit  des  Materials  bezeichnet  er  selbst  seine 
fern  von  einer  größeren  Bibliothek  entstandene  Arbeit  als  bloße  Vor- 
arbeit; namentlich  die  Inschiiften,  auch  die  daran  anschließende  gram- 
matische Literatur,  sind  nicht  genügend  ausgebeutet.^)  Dabei  fällt 
auch  für  die  weitere  Sprachforschung  manches  ab:  manch  seltenes 
Dialektwort  findet  durch  einen  Ortsnamen  erwünschte  Bestätigung.  Auf 
der  anderen  Seite  versagt  gerade  bei  Namen,  deren  Sinn  man  gerne 
wüßte,  oft  die  Deutungskunst  oder,  was  noch  schlimmer  ist,  es  sind  der 
JVIöglichkeiten  zu  viele;  manche  Ortsnamen  sind  auch  kaum  ursprüng- 
lich griechisch.     Bei  einer  Menge  von  Ortsnamen  liegt  ja  die  Herkunft 


^)  Einen  Maß&tab  für  die  trotz  scheinbaren  Reichtums  doch  ungemein 
spärliche  Überlieferung  gibt  die  Vergleicbung  der  überlieferten  Flurnamen 
mit  andern  Kategorien  oder  gar  mit  Flurnamen  von  Ländern,  für  die  eine 
annähernd  vollständige  Kenntnis  der  Ortsnamen  zu  erreichen  ist.  Sammelte 
doch  einer  der  Mitarbeiter  am  Glossaire  des  patois  romands  aus  einer  Ge- 
meinde 800  Flurnamen,  von  denen  etwa  die  Hälfte  isolierte,  der  Deutung 
sich  entziehende  Wörter  sind.  Um  so  mehr  muß  vollständig  gesammelt 
werden,  was  irgendwie  erreichbar  ist. 


62       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.) 

auf  der  Hand;  aber  auch  sie  werden  oft  erst  recht  begreiflich  durch 
die  Vergleichung  mit  bildungs-  oder  bedeutungsähnlichen.  F.  führt  den 
Stoff  in  sechs  Hauptabteilungen  vor:  I.  die  senkrechte  Gliederung 
(Berge,  Täler,  Schluchten,  Ebenen);  II.  die  wagerechte  Gliederung 
(Gestade,  Meeresteile  und  Meere,  Inseln);  III.  die  Binnengewässer 
(stehende  und  fließende);  IV.  Namen  von  Ländern  und  Landschaften, 
Gauen  und  Stadtbezirken,  Fluren,  Wäldern,  Bainen  und  geweihten 
Stätten;  V.  VI.  Namen  der  menschlichen  Wohnstätten  zu  dauerndem 
oder  vorübergehendem  Aufenthalt,  der  Städte,  Dörfer,  Weiler,  Burgen,. 
Lagerplätze,  Wachtposten  usw.  Innerhalb  der  Hauptabteilungen  ist  be- 
sonders Ilücksicht  genommen  auf  eigentliche  und  übertragene  Namen 
sowie  auf  formale  Kriterien  (wie  auf  die  Wahl  von  Haupt-  oder  Bei- 
wort in  V.  VI).  Der  VII.  Abschnitt  bringt  eine  Reihe  von  Nachträgen 
und  Berichtigungen,  spricht  sich  skeptisch  über  die  Annahme  phöni- 
kischer  Namen  auf  griechischem  Boden  aus,  hebt  die  Seltenheit  von 
Koseformen  hervor  —  sie  finden  sich  häufiger  nur  für  die  Namen  der 
ägyptischen  Nomen -Hauptorte,  wo  man  indes  an  Personifikation  zu 
denken  hat  —  und  klingt  in  den  Wunsch  aus,  daß  dereinst  nicht  nur 
ein  umfassendes  Ortsnamenbuch  —  ein  Pendant  zu  dem  von  W.  Meyer- 
Lübke  befürworteten  lateinischen  Corpus  topographicum  —  sondern  auch 
ein  griechisches  Sachwörterbuch  entstehen  möge.  —  Zu  einzelnen  Deu- 
tungen Ficks  machen  Bemerkungen  R.  Thomas,  BKIS  26,  183  —  6; 
W.  Prellwitz,  ebd.  27,  192. 

Für  C.  Angermann,  Beiträge  zur  griechischen  Onomatologie. 
Programm  der  Fürstenschule  in  Meißen.  1893,  muß  ich  auf  die  Be- 
sprechungen von  Kirchner,  WklPh  1893,  1166—69  und  Stolz,  BphW" 
1894,  38  verweisen. 

Nominalbildung. 

Aus  der  großen  Menge  der  einschlägigen  Abhandlungen  seien 
zunächst  einige  größere  Arbeiten  hervorgehoben. 

Wiederholt  hat  die  schon  früher  verhandelte  Frage  nach  der  Her- 
kunft der  griechischen  Nomina  auf  -euc  die  Forschung  beschäftigt,  ohne 
daß  ein  allgemein  anerkanntes  Ergebnis  erzielt  wäre. 

K.  Brugmann,   Die  Herkunft  der  griechischen  Substantiva  auf 
t'k,  Gen.  f,Fo;.    IF  9,  365—74, 

der  zugleich  die  frühere  Literatur  über  die  für  das  Griechische  so  cha- 
rakteristische Bildung  zusammenstellt,  benutzt  den  in  den  indogerma- 
nischen Sprachen  oft  belegten  Wechsel  zwischen  vokalischem  und  kon- 
sonantischem Stamm,  z.  B.  ai.  mar3^akas:  p-eTpaE,  um  zu  vermuten,  es 
liegen  den  Nomina  auf  -sy;  Partizipia  auf  rjFo  (woneben  r^F)  zugrunde,. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  — 190;5.  (Schwyzer.)       63. 

die  zu  Veiba  auf  -ew  gehörten:  9opt)-F(o)-  wie  cpopyj-xoc,  'fopr^-acu.  In 
diesem  Fall  müßte  also  die  griechische  Bildung  in  vorgriech.  Zeit  zurück- 
reichen, was  auch  die  Meinung  H.  Keichelts  ist,  der  BKIS  25,  240  f. 
zwar  Brugmanns  Erklärung  ablehnt,  dagegen  die  IStämnie  auf  vjF  (und 
u)t)  mit  den  i-  (und  M)-Stämmen  aus  ein  und  demselben  ursprachlichen 
Paradigma  hervorgegangen  sein  läßt,  sowie  diejenige  H.  Ehrlichs 
Die  Nomina  auf  -EYZ,  Leipziger  Diss.  1901  (=  ZvSpr  36,  1—48).^) 
E.  sucht  in  seiner  scharfsinnigen  und  inhaltreichen  Abhandlung,  die 
manches  berührt,  was  mit  dem  Thema  nicht  unmittelbar  zusammen- 
hängt, glaublich  zu  machen,  daß  die  Nomina  auf -rjF-  auf  der  gedehnten 
e-Form  zu  o-Stämmen  (itttit)-)  und  der  schwächsten  Gestalt  des  (im  In- 
dischen mit  -uent-  zu  einem  Paradigma  verbundenen)  Suffixes  -ues- 
(nämlich  -us-)  beruhen,  tinreu;  also  gleichsam  iTTTirjei?  sei  (?).  Einen  ganz 
anderen  Weg  betritt  wieder  P.  Kretschmer  (s.  die  Fußnote  1),  der 
griechische  Neubildung  annimmt.  Nur  erwähnen  will  ich  C.  A.  M. 
Fennell,  Greek  8tems  ending  in  i  and  eu  and^Aprjc.  CR  1899,  306,  der 
ßatjiXTjF  auf  ßastXe^u,  stark  ßaaiXet^eF-,  zurückführt  (roAr^i  sei  dagegen, 
sekundäre  Dehnung). 

Von  einer  ausführlichen  Darstellung  der  Geschichte  der  griechi- 
schen Nominalbildung  liegt  bis  jetzt  nur  eine  Probe  vor; 

A.  W.  Stratton,  History  of  Greek  Noun-Formation  .1.  Stems 
with  -fjL-.  Chicago  1900.  [SA.  aus  den  „Studies  in  classical  philo- 
logy»  der  Universität  Chicago,  vol.  II  p.  115—243.] 

Rez.  von  Solmsen,  BphW  1900,  307-12:  Stolz,  ZöGy  1900,  II,. 
132-3. 

Die  Arbeit  besteht,  wenn  man  von  dem  programmatischen  Ein- 
gang und  den  wesentlich  auf  Brugmanns  Grundriß  beruhenden  allge- 
meinen Bemerkungen  über  die  »«-Suffixe  in  den  idg.  Sprachen  absieht, 
zu  einem  guten  Teile  aus  alphabetischen,  nach  dem  Wortausgang  geord- 
neten Zusammenstellungen  der  Stämme  auf  -p-sv-,  -aov-,  -[xar-,  -ixo-;  die 
Wörter  auf  -[xy],  -[xovrj-,  -[xt?  und  die  possessiven  Komposita  sowie  das 
Semasiologische  sind  auf  eine  Fortsetzung  verspart.  Für  jedes  der  an- 
gegebenen Suffixe  gibt  der  Verfasser  zwei  Reihen  von  Belegen:  einmal 
stellt  er  nach  formalen  Gesichtspunkten  sämtliche  ihm  bekannte  Bei- 
spiele aus  der  gesamten  Literatur  bis  in  den  Anfang  der  byzantinischen 
Zeit  zusammen,  und  zweitens  gibt  er  eine  Liste  der  in  der  vorhelle- 
nistischen Zeit  (vor  280  v,  Chr.)  belegten  Bildungen  mit  Angabe  der 
Literaturgattung,    in    der    sie    erscheinen.     Es    wären    aber    nicht  nur 

^)  Rez.  von  Meltzer,  NphR  1902,  36  f.;  Schwyzer,  BphW  1902,  433 
-7;  Hatzidakis,  DLZ  1902,  783-5;  Kretschmer,  Zöüy  1902,  711-3;  Hirt, 
LC  1903,  455  f.  [;  Solmsen,  lA  15,  222-8]. 


64       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

mannigfache  Wiederholungen  vermieden,  sondern  auch  die  geschichtliche 
Einsicht  vertieft  worden,  wenn  der  Verfasser  gleich  für  jede  Bildungs- 
besonderheit die  Belege  in  chronologischer  Folge  gegeben  hätte;  die 
weniger  eingehende  Behandlung  der  nachklassischen  Sprache  ist  heute 
nicht  mehr  zeitgemäß,  und  die  Vernachlässigung  der  Inschriften  (und 
Papyri),  die  niemand  durch  die  Bemerkung  auf  S.  115  für  entschuldigt 
halten  wird,  bringt  die  fleißige  Arbeit  um  einen  großen  Teil  ihres 
"Wertes  (so  fehlt  iredtoixa  aus  den  Vaseninschriften).  Zu  einer  wirklichen 
history  of  the  suffixes  with  -m-  ist  der  Verfasser  vielleicht  gerade  in- 
folge seiner  Anordnung  nicht  gekommen ;  jedenfalls  hat  er  sein  Material 
nicht  geschichtlich  verarbeitet,  obschon  sich  schon  daraus  manches  Inter- 
essante ergeben  hätte,  z,  B.  daß  die  Bildungen  auf  -wfjLa  (auch  die  auf 
•£ü|xa)  nicht  so  alt  sind,  um  Kretschmers  Hj^pothese,  die  der  Verf. 
8.  124  N.  1  anführt,  gerechtfertigt  erscheinen  zu  lassen.  Zu  S.  135 
ist  ihm  meine  Erörterung  über  die  kurzvokalischen  Bildungen  auf  -[la 
(perg.  Gramm.  47 f.)  entgangen;  sie  wird  gestützt  durch  a'j[jL3ä|xa  (s.  BphW 
1904,  533),  das  bei  Stratton  fehlt.  äpia\io;  S.  217  gehört  nicht  hierher; 
warum  soll  das  beiläufig  auf  S.  232  erwähnte  veojjoc  auf  *v£o-/to?  zu- 
rückgehen? *v£Fox^o;  wird  doch  durch  das  danebenstehende  veä;  als 
Grundform  gesichert. 

Wie  interessante  Dinge  in  den  Dialektinschriften  Stratton  sich 
hat  entgehen  lassen,  zeigt 

F.  Sol rasen.  Zwei  Nominalbildungen  auf  -[xa.  ßhMPh  56,497 
— 508:  argivisch  ^pajjfxa  steht  für  7pa(pj(xa,  kret.  <^d<^i\i.\x.ci.  für  <\)ci.- 
<pq|j.a  (:t]<a'fi^). 

Die  Namen  hat  Stratton  ganz  unberücksichtigt  gelassen,  obschon 
dieser  Teil  des  Wortschatzes  bei  genügender  Vorsicht  sehr  wichtige  Er- 
gebnisse liefern  kann,  wie  Stratton  auch  für  sein  Thema  hätte  lernen 
können  aus 

R.  Meister,  Epigraphische  und  grammatische  Mitteilungen.  BSG 
1894. 

M.  handelt  im  grammatischen  Teil  seiner  Mitteilungen  (S.  154 — 9) 
über  „stammabstufende  Namen  aus  dem  Norden  und  Nordwesten  Griechen- 
lands", indem  er  Pare  wie  'Ajjlujxovsc  :  ^A[xu(xvoi,  S-puixcov  :  2Tpu|x(v)oo(upo;, 
XaFovEj  :  Xaüvoi  u.  a.  nach  dem  Prinzip  der  abstufenden  Deklination 
erklärt;  die  Etüuika  auf  -avs;  verdanken  ihr  a  der  schwachen  Stufe 
mit  urspr.  -av-  (vgl.  TU9£Sav6?  :  TU!p£0(uv);  formal  steht  ihnen  makedon. 
jj-e-fifftav  gleich;  157  f.  wird  der  loniername  besprochen. 

K.  Brugmann,  Der  Ursprung  der  Barytona  auf  -joc  BSG  51 
(1899),  177-218 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       65 

weist,  im  Gegensatz  zu  Lagercrantz,  Zur  griech.  Lautgeschichte  S.  16  ff., 
nach,  daß  die  bary tonen  Appellati va  auf  -joc  wie  xoixTraaoj,  xpau-yauoc, 
TToXXa-yopajo?,  |x£i>u5o?  und  die  Kurzuamen  auf  -ao;  wie  "Epacjo?,  "üvrjaoc, 
AZaoi  ihrer  Bildung  nach  identisch  sind,  und  zwar  sind  erstere  von  den 
Kurznamen  ausgegangen.  „Während  der  Gebrauch  dieser  Bildungstypeu 
in  weitem  Umfang  für  Eigennamen  nachweisbar  ist,  die  Vollformen  auch 
als  Appellativa  von  urgriech.  Zeit  her  geläufig  waren,  erscheint  die 
Kurzform  auf  -soj  in  appellativem  Sinne  verhältnismäl.'ig  nur  selten  in 
der  Literatur.  Sie  gehörte  ganz  vorzugsweise  der  Sprache  des  niederen 
Volkes  an,  und  es  steht  zu  vermuten,  daß  hier  weit  mehr  Wörter  dieser 
Art,  z.  T.  wohl  nur  als  kurzlebige  Modewörter,  geschaffen  worden  sind, 
als  die  Überlieferung  uns  an  die  Hand  gibt.  Daß  auch  die  Kurzformen 
auf  -ai?  appellativisch  verwendet  worden  seien,  ist  nicht  nachweisbar" 
(S.  217).  Von  neuen  Etymologien  seien  die  von  diajoc  S.  188,  v^joc 
S.  212  ff.,  opoaos  S.  214  f.  hervorgehoben. 

FürA.  Levi,  Dei  suffissi  uscenti  in  sigma.  Turin,  Löscher  1898 
muß  ich  auf  die  Besprechungen  von  Pauli,  DLZ  1899,  1829  f.  und 
Stolz,  BphW  1899,  1110  f.  verweisen. 

Von  kleineren  Arbeiten,  die  sich  mit  der  griech.  Nominalbildung 
befassen,  können  hier  nur  die  als  solche  erschienenen  kurz  besprochen 
werden:  es  ist  klar,  daß  auch  in  den  etymologischen  Arbeiten  jeden 
Augenblick  Fragen  der  Stammbildung  zur  Behandlung  kommen,  doch 
kann  ich  bei  dem  zeitlichen  Umfang,  den  der  Bericht  angenommen, 
nur  mit  dieser  allgemeinen  Bemerkung  darauf  hinweisen. 

Um  mit  den  Wurzelwörtern  zu  beginnen,  so  beseitigt  J.  Wacker- 
nagel, Griech.  Tcui'p.  IF  II  149 — 51,  eben  diese  Form  und  mit  ihr 
das  aus  dem  Rahmen  der  idg.  Stammbildung  herausfallende  idg.  puir. 
indem  er  ein  zerdehntes  zuup  als  überlieferte  Form  nachweist.  ^)  — 
Der  vielumstrittenen  Frage  der  Entstehung  der  Neutra  auf  -[xar-  sucht 
eine  neue  Seite  abzugewinnen  einmal  Chr.  Bartholomae,  Griech. 
«vo[xa>  ovo'ixaTo?.  IF  I  300—18,  der  an  Ficks  Auffassung  von  -xoc  als 
Ablativsuffix  festhält,  außerdem  aber  betont,  daß  in  einigen  Bildungen 
das  m  zum  Stamm  gehöre  (^uSfxa,  yeTixa,  (jToiJ.a)  und  wahrscheinlich  erst 
«eknndär  neutrales  Geschlecht  eingetreten  sei.  Dagegen  erklärt 
H.  Osthoff  in  L.  v.  Patrubauys  Sprachwissenschaftlichen  Abhand- 
lungen II 85  ff.,  vom  Armenischen  ausgehend,  die  griech.  Flexion  aus  einer 
Mischung  der  urspr.  getrennt  neben  einander  liegenden  Typen  cTTptüfjLaxa 


^)  6.  Fischer,  Über  die  Deklination  von  -uo.  Filologiceskoje  obo- 
zrjenije  V  61-3  ist  mir  nicht  zugänglich,  ebensowenig,  um  dies  gleich  ab- 
zutun,  B.  J.  Wheeler,  Die  griech,  Nomina  auf  •:,  ioo;.  PrAPhA  XXIV, 
p.  LI-LIII;  vgl.  lA  5,  2. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1904.    J.)  5 


66       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer,) 

(=lat,  stratnenta),  -a-tüv,  *-txToi;  und  *a-p(u[xava.  *-avtov,  -a^t;  dieMischung^ 
ergab  im  Sg.  -aTo;,  -an  (aus  *aTou  -r  *avoc  usw.). 

Über  die  Prosodie  der  Namen  auf  -tvr^;  handeln  G.  Murray, 
CR  XII  (1898),  S.  20f.  und  J.  E.  Sandys,  ebd.  S.  205  f.:  sicher  be- 
zeugt ist  nur  die  Kürze  (Aby^tvr,?,  ilüpWjc,  2fii-/p"tvr)c),  wie  schon  Lobeck 
beobachtet  hatte  (vgl.  auch  W.  Crönert,  H  37,  222  und  Anm.  3).  —  Auf 
einige  Bildungen  der  späteren  Sprache,  die  namentlich  auf  Inschriften 
belegt  sind,  hat  W.  Schulze  die  Aufmerksamkeit  gelenkt,  auf  den 
maskulinen  Typus  -a.;,  -aooc,  der  in  der  neugriech.  Deklination  so  kräftig 
nachwirkt  (ZvSpr  33,  229 — 31)  und  auf  die  femininen  Typen  'Ap-:£[j.£''? 
(RhMPh  48,  252  ff)  und  -ou,-,  -outo?  oder  -oüooc  (BphW  1893,  Sp.  226  f.). 
^Ein  Singulare  tantum"  erörtert  Th.Zachariae,  nämlich  Zlr^  (ZvSpr  34, 
453 — 5)  und  aus  zwei  Epigrammen  der  Anthologie  stellt  "W.  Headlara 
ein  altionisches  xox£cuv(e,  -a^)  her  (CR  15,   401 — 4). 

Hier  mag  sich  eine  Arbeit  anschließen,  die  das  Adjektiv  betrifft: 
0.  "Wilhelm,  Beiträge  zur  Motion  der  Adjektiva  im  Griechi- 
schen. II.  Der  Sprachgebrauch  des  Lukianos  hinsichtlich  der  sog.  Ad- 
jektiva dreier  Endungen  auf  -oc-  Progr.  des  Ernestinum  zu  Koburg- 
1892.  Rez.  von  P.  Schulze,  WklPh  1892,  998-1000.  Sie  ist  mir 
außerdem  nur  aus  den  daran  anknüpfenden,  Material  aus  älteren  Sprach- 
perioden beibringenden  Bemerkungen  von  L.  Radermacher,  GGA  1899» 
695  bekannt. 

Vielfache  Erörterungen  hat  die  griechische  Komparation  und 
deren  Verhältnis  zu  den  Bildungen  der  verwandten  Sprachen  hervor- 
gerufen; ich  muß  mich  hier  mit  einigen  Andeutuug:en  begnügen.^)  — 
Die  Superlativbildung  auf  -zol-o^  wird  seit  Ascolis'  methodisch  so 
wichtig  gewordener  Arbeit  allgemein  als  Analogiebildung  gefaßt;  aber 
im  einzelnen  sind  der  Möglichkeiten  noch  viele.  0.  Hoffmanu,  Ph  60, 
17 — 24  faßt  9iXT£poc  u.  ä.  als  aus  *9iXtoT£po?  (zu  z,'.l-6i)  entstanden 
auf:  nach  Vollzug  der  Haplologie  trennte  das  Sprachgefühl  cptX--r£poc, 
was  zur  Folge  hatte,  daß  auch  im  Superlativ  'fi/.T-atoc,  einer  Bildung 
wie  |j.£?--aToc,  'ftX-Taxoc  abgeteilt  wurde.  Aus  solchen  Formen  hätte 
sich  --a-o;  losgelöst.  Die  Schwächen  dieser  Theorie  hat  schon  K.  Brug- 
mann.  Zu  den  Superlativbildungen  des  Griechischen  und  Lateinischen. 
1.  Griechisch  -TaToj.  IF  14,  1 — 9  betont,  der  seinerseits  die  Vermutung^ 


')  Die  Bemerkungen  von  P.  Regnaud,  Origine  des  comparatifs  en 
(/(-Tjf>o:  et  des  superlatifs  en  a'.-zo.-',-.  RL  25,  97 — 99,  haben  mit  der  Sprach- 
wissenschaft  nichts  zu  schaffen.  Dafür  eine  Frage,  die  sich  auf  eine  der 
Neuerungen  in  der  griech.  Komparation  bizieht:  ist  if>oo)ji£vi3T£oo:,  das  man 
gewöhnlich  nach  liiiv^ij-zpo-  entstanden  sein  läßt,  durch  den  Gegensatz 
K3!):vi"3f-o;  beeinflußt? 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       67 

aufstellt,  die  Verschiedenheit  zwischen  mehreren  idff.  Sprachen  in 
der  Superlativbildung  beruhe  darauf,  daß  schon  in  der  Urzeit  beim 
Ordinale  der  Zehnzahl  eine  Bildung  mit  m  (dekmmos)  und  eine  mit  t 
(dekintos)  konkurrierten:  letztere  nur  wurde  im  Griech.  beibehalten  und 
wucherte  hier  weiter.  —  Noch  mehr  hat  die  sog.  unregelmäßige 
Komparation  die  Forschung  beschäftigt,  und  zwar  vor  allem  das  i, 
das  im  Griechischen  wie  im  ludischen  erscheint.  Gegenüber  Thurueysen 
(ZvSpr  33,  551  ff.)  und  Wackernagel  (s.  oben  S.  11)  geht  H.Hirt, 
IF  12,  200 — 8  von  zweisilbigen  Basen  auf  -ei  aus  (vgl.  ai.  svädi-yäu, 
gr.  fjöitov  neben  suäde-re  u.  ä.),  und  mit  ihm  stimmt  H.  ßeichelt, 
BKIS  27,  104  f.  im  wesentlichen  überein,  der  im  übrigen  besonders  den 
hin  und  wieder  zutage  tretenden  partizipialen  Charakter  dieser  Bildungen 
betont  (vgl.  ai.  nähhas  tärnjän  „die  Wolke  leicht  durchdringend"  u.  ä.), 
was  schon  vorher  B.  Delbrück,  Oepiaxoc  und  Verwandtes.  IF  14,  46 
— 53  verfochten  hatte  (lylpicjTo;  =  avest.  hairistö,  zu  «pspw,  eigentlich, 
„der  am  meisten,  am  besten  bringende"  u.  ä.). 

Zum  Schluß  sind  noch  etwas  ausführlicher  einige  Arbeiten  zu  be- 
sprechen,  die  die  Grenzen  des  Griechischen  nicht  überschreiten  und  auch 
tatsächliche  Förderung  in  sich  halten. 

Nach  den  Erörterungen  von  W.  Schulze,  Quaestiones  epicae  300  f. 
über  die  Prosodie  der  Komparative  auf  -iwv  hat  K.  Brugmann  in 
seinem  Aufsatz  über  ,, Attisch  fXEi'stüv  für  fiiCcov  und  Verwandtes"  BSG 
1897,  II  185 — 98  eine  Anzahl  einzelner  Formen  mit  Rücksicht  auf 
ihre  gegenseitige  Beeinflussung  behandelt.  Er  erklärt  [xetCfuv  (neben 
jxs^ac,  [xe^tsTo;)  durch  Dehnung  aus  [xli^iuv,  veranlaßt  durch  das  Vorbild 
der  Komparationssysteme  öäiTcDv :  -ayoc  xa/ 1 jto ?,  eXäTxwv :  (sXa/u?)  eXa^toxo? ; 
ebenso  jjlSXXov  (nach  Positiv  und  Superlativ  für  [xeXXov,  zunächst  [xaXXov): 
}xaXa  {j-aXiaxa.  Ahnlich  sei  Kodi  statt  *7i6c  nach  dem  Vorbild  von  oxä? 
(jxavxo?,  jjLEAäs  [j-äXavos  u.  a.  eingetreten.  Daß  gegenseitige  Beeinflussung 
bei  den  Kompaiativen  (wie  beim  Zahlwort)  eine  wichtige  Eolle  spielt, 
belegen  auch  xpsix-wv  (für  *xp£xx(uv  nach  yeiptov),  ion.  essojv  (für  7]33ü)v 

nach  -/pEaawv),  att.  oXei'Cüjv  (zum  Teil  mit  E  geschrieben),  für  *oXrC«>v  nach 
fjLsi'Ctov.  Zum  Schluß  wird  die  Wichtigkeit  prinzipieller  Untersuchungen 
über  die  Wirkungen  der  Analogie  in  ganzen  Gruppen  von  Formen  und 
Formensystemen  betont.  In  ähnlichen  Bahnen  bewegt  sich  der  Artikel 
von  J.  Stracban,  On  some  Greek  comparatives.  CR  1902,  397  f., 
der  aber  im  Gegensatz  zu  andern  Forschern  die  Herleitung  von  eXaxxwv 
aus  eXa-f/j-  preisgibt  und  die  Foim  aus  eXayj-  deutet  (vgl.  iXa/iaxo?); 
die  att.  Länge   werde  der  Analogie  von  -^xxcov  verdankt. 

Schon  oft  ist  auffälligen  Erscheinungen,  die  eine  normalisierende 
Sprachbetrachtung  korrigieren  zu  müssen  glaubte,    durch  schärfere  und 

5* 


68       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.) 

vollständigere  Beobachtungen  zur  Anerkennung  verholfen  worden :  dafür 
gibt  ein  sehr  bemerkenswertes  Beispiel 

W.  Crönert,  Die  adverbialen  Komparativformen  auf -co  Ph.  61, 
161-92. 

Wenn  Zenodot    bei  Homer    v.ptinzin,    «[xsiviu  u.  ä.  las,    ließ  man 
diese  Lesart  in  neuerer  Zeit  meist  auf  sich  beruhen,    und  wenn   z.  B. 
bei  Diodor  (13,  91)  überliefert  war  tüiv  ok  vsüJv  ou  -oXXaTs  eXax-u)  xtüv 
xptaxositov,    so    war  man   rasch  mit   einer  Korrektur    zur  Hand.     Nun 
beweist  Crünert  an  Hand  eines  mit  staunenswertem  Fleiße  aus  der  ge- 
samten Überlieferung  bis  in  die  bj-^zantinische  Zeit  hinein  —  und  zwar 
meist  aus  den  kritischen  Apparaten    der    verschiedeneu  Quellen  —  zu- 
sammengebrachten Materials,  daß  der  Gebrauch  einer  erstarrten  Kom- 
parationsform auf  -(u  sehr  weit  verbreitet  ist.    Am  häufigsten  läßt  sich 
-(u  im  Nom.  Sing.  masc.  fem.,  Nom.  Akk.  Sg.  Neutr.  und  in  der  Adverbial- 
form   nachweisen  (S.  162 — 181;  manche  von    diesen  Beispielen    mögen 
freilich    auf    rein  paläographischem  Wege  entstanden  sein),    doch  auch 
-CO  für  -ovo;,  -ovi,  -ovs;,  -ovac,  -ovcüv  ist  ausreichend  belegt;    vgl.  z.  B. 
ai  oantzvai  iroXXcJ)  jAeiCtu   xa&eoxasav  Thuk.  7,  28;  iroXXtu  TiXetu)  vaüc  Xen. 
Hell.  II  1,  14.     Noch  besonders  hervorgehoben  seien  die  Verbindungen 
•rtXsi'u)  iXaajo)  (für   tcXIov  iXajiov),   ettI  rXctw;   [j-ei^u),  r.lz'.ta  cppoveiv.     Das 
Material    erlaubt    auch,    die    Gebrauchsweise    historisch    zu    verfolgen 
(S.   186  ff.).     Sicher  bezeugt  ist  sie  bei  Herodot  und  (sehr  häutig)  bei 
Hippokrates,    dann    bei  den  attischen  Prosaschriftstellern,  die  sich  hie 
und  da  vom  attischen  Sprachgebrauche  entfernen  (Thukydides,   Piaton, 
Xenophon;    bei  Aristoteles    in    den    weniger    sorgfältig  ausgearbeiteten 
Schritten;  den  attischen  Steinen  ist  der  Brauch  fremd,  überhaupt  finden 
sich  nur  zwei  inschriftliche  Beispiele  aus  der  ersten  Kaiserzeit).    Weiter- 
hin finden  sich  Beispiele  in  ägyptischen  Papyri,  bei  Lykophron,  Chrysipp; 
man  kann  überhaupt  sagen,   daß  die  adverbialen  Komparativbildungen 
von  Anbeginn  der  hellenistischen  Zeit  bis  in  das  3.  Jahrb.  n.  Chr.  der 
lebendigen  Volkssprache  angehört  haben;    in    der  Liteiatur    erscheinen 
sie    noch    später.     ,,Den  Abschreibern    des  Altertums  müssen    die    ad- 
verbialen Formen    auf  -tu    recht    geläufig    gewesen    sein.     Eine  genaue 
Grenze    zwischen    echter    und    später    eingeschobener  Lesart  wird  sich 
darum  in  vielen  Fällen  nicht  ziehen  lassen,  immerhin  zeigt  das  Beispiel 
der  Neuaristoteliker,  daß  man  die  adverbialen  Formen  für  gesucht  hielt. 
Und  so  mögen  sie  denn  in  Zukunft,    wo  es  irgend  geht,    in   den  Text 
gesetzt  werden"  (S.  191)(?).   Auf  ueuionischen  Ursprung  deutet  nach  C'r. 
aber  auch  die  Entstehung  der  Gebrauchsweise:  „wenn  man  die  Wendungen 
wie  0  -Xeto)  ypovo?,  t)  rcXetw   [xoipa,   xo  iXaxxoj   [Aspoc,   "■?)?  xpei'xxto  C">^j»  •  •  • 
betrachtet,    so  findet  sich  hierin  derselbe  Sprachgebrauch,    der  in  den 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       69 

"Wendungen  xo-j;  avcüxepw  rpovovouc  (Plat.),  oti  e^'/oTaTco  xsi'fisvov  (Thuk.), 
TTpoeßaive  etjtü-e'po)  t^;  'EXXaooc  (Herod.)  vorliegt.  Bei  Homer  finden 
sich  für  die  zuletzt  angezogene  Ausdrucksweise  außer  zpo-spw  nur  drei 
Beispiele:  sehr  viele  dagegen  bei  Herodot  und  Hippokrates.  Von  den 
im  Neuionischen  häufigen  Adverbialformen  auf  -epto  und  -arw  sprang 
der  Brauch  auf  die  Komparative  -Xsituv,  eXaajiuv  u.  a.  über,  wie  um- 
gekehrt neben  xarcüTspco,  avcotipw  schon  bei  Herodot  xaTcuTspo;  dvui-oc- 
-oi  erscheinen  (S.   187  f.). 


Nominalflexion.  ^) 

Eine  zusammenfassende  Darstellung  gab  —  auf  die  Behandlungen 
des  G-egenstandes  in  den  Gesamtdarstellungen  der  griech.  Grammatik 
gehe  ich  hier  nicht  besonders  ein  —  ein  norv/egischer  Sprachforscher : 

A.  Torp,    Den    graeske    Nominalflexion    sammenlignende    frem- 
stillet  i  sine  Hovedtraek.     Christiania  1890. 

Eez.  Bezzeuberger,  DLZ  1893,  Nr.  20. 

Das  Buch  enthält  anderseits  mehr,  anderseits  weniger,  als  man  er- 
warten könnte,  nämlich  eine  vergleichende  Darstellung  der  Nominal- 
liexion  der  wichtigeren  idg.  Sprachen  mit  besonderer  Rücksicht  auf  das 
Griechische,  ohne  daß  jedoch  dabei  genauer  auf  einzelnes  eingegangen 
würde.  Auf  eine  Einleitung,  die  manchen  Gedanken  äußert,  der  seither 
die  Forschung  beschäftigt  hat,  werden  die  Flexionen  erst  der  vokalischen 
(besonders  ausführlich  sind  die  Stämme  auf  -iä  oder  -iä  behandelt  64  ff.), 
dann  der  halbvokalischen  und  diphthongischen,  schließlich  der  kon- 
sonantischen Stämme  nach  dem  damaligen  Stande  der  Wissenschaft  zu- 
sammenfassend dargestellt;  die  Literaturangaben  sind  auf  das  Alier- 
notwendigste  beschränkt.  Das  Hauptverdienst  des  Verfassers  liegt  in 
der  Zusammenfassung  der  Arbeiten  anderer  —  gerade  für  das  Griechische 
bietet  die  Schrift  nichts  wesentlich  Neues  —  und  als  solche  vermochte 
sie  neben  der  Übersicht,  die  Brugmann  gleichzeitig  im  Grundriß  über 
die  idg.  Deklination  gab,  nicht  aufzukommen.    Wenigstens  erscheint  das 


')  Für  A.  B.  Westermayer,  Der  sprachliche  Schlüssel  oder  die  se- 
mitisch-ursprachliche  Grundlage  der  griech.  Deklination.  Paderborn  1890 
muß  ich  auf  die  Rez.  von  A.  ßezzenberger  DLZ  1903  Nr.  5  verweisen.  Die 
Ergebnisse  der  Zusammenstellungen  von  J.  Viteau,  La  declinaison  dans 
les  inscriptions  attiques  de  l'ompire.  RPh  19(1895),  '241  —  54  —  Genetive  auf -c/, 
-r,  wie  'AaLä,  'E-i-^cc-r,,  Kurznamen  auf  -äz,  auch  lautliche  Kennzeichen  der 
spätem  Sprache  —  liegen  uns  hier  ferner  und  sind  übrigens  bereits  in  die  von 
mir  besorgte  Neubearbeitung  der  Meisterhansschen  Grammatik  der  att.  In- 
schriften eingearbeitet. 


70       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer.) 

Buch  wenig  in  der  deutschen  sprachwissenschaftlichen  Literatur  des 
folgenden  Jahrzehnts  und  scheint  überhaupt  den  deutschen  Forschern 
wenig  bekannt  geworden  zu  sein;  und  doch  hätten  Wackernagel  und 
Bremer  bei  ihrer  Behandlung  von  Moüja  bzw.  an.  tyr  (ZvSpr  33,  571  ff. 
bzw.  IF  III  301  f.)  auf  Torp  S.  78  bzw.  108*  als  Vorgänger  ver- 
weisen, Solinsen  ZvSpr  34,  552  ff.  gelegentlich  "EixTiou^a  ihn  bekämpfen 
können  (S.  78).  Einen  schlechten  Eindruck  machen  in  einem  Buch 
über  die  griech.  Nominalflexion  die  auffällig  häufig  falsch  gesetzten 
Akzentzeichen  und  ähnliche  Versehen. 

Einige  Fragen  aus  dem  Gebiet  der  sog.  3.  DekÜLiation  behandelt 
in  seiner  tief  eindringenden  Weise 

J.    Wackernagel,    Zur    griechischen    Nominalflexion.      IF  14, 
367-375. 

1.  Der  Akkusativ  Plur.  auf  -et?  läßt  sich  nicht  ohne  weiteres  als 
akkusativisch  verwendeten  Nominativ  auffassen,  da  -sc  für  -aj  erst 
verhältnismäßig  spät  und  im  griechischen  Westen ,  anfangs  auf  (er- 
starrte) Zahlwörter  beschränkt,  vorkommt.  Vielmehr  setzen  homer.  Akk. 
-oXei;  (:tcoXu?)  und  att.  T:oXet?  (r-oXtc)  Akkusative  auf  -svc  voraus,  wo 
£  aus  den  starken  Kasusformen  eingeführt  ist,  wie  in  homer.  r.dizii, 
nsXey.Ejjt,  -oX£ii[aJi.  Die  Gleichheit  des  Nom.  und  Akk.  PI.  bei 
t-  und  adj.  u-Stäramen  hat  dann  die  entsprechende  Doppelwertigkeit 
von  eu^svEic,  TcXeiouc  im  Gefolge;  hellenistisch  ßasiXsic  nach  den  adj. 
u-Stämmen.^)  —  2.  Der  Dat.  Plur.  auf  -sjjt  erklärt  sich  nicht  durch 
Ablösung  dieses  Elementes  von  den  sigmatischen  Stämmen,  sondern 
nach  der  Proportion  Moijat :  Moijaiai,  Xuxoi :  Xuxoifft  =^  il^psi  :  öripscjji. 

Eine  Reihe  kleinerer  Arbeiten  gilt  den  einzelnen  Nominal- 
kasus. Einen  neuen,  aber  nicht  unzweifelhaften  Beleg  für  einen  s-losen 
Nom.  Sing,  eines  männl.  a-Stammes  bringt  F.  Blaß,  Fleck.  Jbb.  1891, 
557 — 60  bei  (Eucjoioä).  Was  hier  wohl  sicher  ist,  nämlich,  daß  wir  es 
mit  einem  als  Nominativ  verwendeten  Vokativ  zu  tun  haben,  ist  bei 
den  homerischen  Nom. -Formen  wie  iK-6-a  umstritten:  Neisser,  BKIS 
20,  44 — 54  und  G.  Uljanow  in  den  XaputiQpta  für  Th.  Korsch  125  ff. 
(mit  unzugänglich)  haben  die  entsprechende  Vermutung  Brugmanns 
bekämpft;  s.  darüber  dessen  griech.  Gramm. ^  220.  Vgl.  auch  J.  H. 
Moulton,  Academy  1893,  1125  S.  467  (s.  lA  3,  238).  Kühn  ver- 
mutet W.  Schulze,  ZvSpr  33,  316  ff.  für  das  epische  rdtva  (ösa)  den 
Vokativ  TioTvi,  der  ai.  pdtni  entsprechen  würde.  Doch  kann  7io-va  mit 
Brugmann  gr.  Gramm. ^  220  als  Trorvta  gefaßt  werden,  was  vorzuziehen  ist. 

Nom.  und  Akk.  Sing,  betreffen  die  giundsätzlich  wenig  Neues 


*)  Zur  Verwendung   von   l/ßü:,   auch   als  Nom.  (S.  372)   bieten   eine 
Parallele  die  allerdings  späteren  ai  vaD:,  ^oD;. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.)       7X 

bietenden  prosodischen  Feststellungen  von  .7.  La  Roche,  Zur  griech.  und 
iHt.  Prosodie  und  Metrik  WSt  19  (1897),  1  ff.  Hier  kommen  in  Betracht 
der  Nachweis  S.  1 — 4,  daß  das  a  der  Endung  -ea  ( :  £uc)  an  allen 
entscheidenden  Stellen  bei  Epikern  und  im  Ciior  der  att.  Tragödie 
immer  kurz,  im  Dialog  des  att.  Dramas  immer  lang  gemessen  wird 
(diese  Messung  in  Übereinstimmung  mit  der  att.  Sprachentwickelung), 
und  daß  die  Subst.  auf  -u;,  -uo;  (mit  Ausnahme  von  ot^Z;  ocppüc  t/Ou^ 
tuyu;  7:Xr,i)üc  und  den  einsilbigen  Stämmen)  in  Nom.  und  Akk.  Sing,  bei 
den  älteren  Epikern  in  der  Regel  langes  ü,  bei  den  jüngeren  und  bei 
den  Dramatikern  nach  metrischen  Bedürfnissen  bald  die  alte  Länge,  bald 
•(die  aus  den  anderen  Kasus  eingedrungene)  Kürze  zeigen  (S.  4 — 7). 

Eine  Form  desGen.Sg.,  die  eineZeitlang  zu  entwickeluugsgeschicht- 
lichen  Schlüssen  benutzt  wurde,  bespricht  C.  D,  Bück,  The  genetives 
TXaaiaFo  and  üajtaoäFo.  CK  11  (1897),  190  f.  Die  neue  Form 
najtaoäFo  aus  Gela  steht  auf  einer  Prosainschrift,  weshalb  die  Bildung 
auf  -aFo  nicht  künstlich  sein  kann,  sondern  der  lebenden  Sprache  an- 
gehören muß.  Sie  ist  aber  sekundär:  F  ist  ein  zwischen  a  und  o  neu 
entwickelter  Übergangslaut  (vgl.  dFutoü  usw.  [?]).  Mehrfach  sind  die 
homerischen  Genetive  auf  -oio  behandelt  worden:  auf  die  Bemerkungen 
von  A.  Platt,  Seme  Homeric  genitives.  CR  11  (1897),  255—7  über 
die  Verteilung  der  Genetive  auf  -oto,  -oo,  -ou  bei  Homer  folgte  die 
ausführliche  Zusammenstellung  von  L.  Meyer,  Über  die  homerischen 
Formen  des  Singulargenetivs  der  Grundformen  auf  o.  GGN  1902, 
351 — 74,  wonach  durchaus  oio  und  oo  (auch  apostrophiert  als  o')  herrschen 
-00  nur  an  ganz  wenigen  Stellen  begegnet.  Über  thessal.  ot  aus  oio  vgl. 
oben  S.  30.  Die  im  Griech.  bisher  vergeblich  gesuchte  Genetiv-Endung  -es 
würde  die  thasische  Form  Atsay.optosw  belegen  (Kretschmer  bei  E.  Jacobs, 
Die  Thasiaca  des  Cyriacus  von  Ancona.  MAI  22  (1897).  Anm.  S.  126  f., 
wenn  die  Überlieferung  gesicherter  wäre.  —  Mit  dem  Lokativ  Sing, 
beschäftigt  sich  W.  Streitberg,  Die  griechischen  Lokative  auf  -st. 
IF  YI  339 — 41.  Er  parallelisiert  den  Akzentuuterschied  zwischen 
TEt,  exsi,  üixs'.  (letzteres  übrigens  nach  J.  Wackernagel  jung)  und  döset, 
aauXsi,  TCavoyjiJisi  mit  dem  zwischen  ix  Ttoocüv  und  exTcoöcuv  bestehenden, 
läßt  ihn  also  auf  Enklise  beruhen. 

Das  wichtigste  Ergebnis  der  Forschungsperiode  auf  dem  Gebiete 
der  Nominalflexion  ist  aber  der  Nachweis,  daß  im  ältesten  Griechischen 
der  Ablativ  bei  Nomina  noch  lebendig  war,  der  F,  Solrasen,  Ein 
nominaler  Ablativus  Sing,  im  Griech.  RhMPh  51  (1894),  303  f.  ge- 
lungen ist:  in  der  Verbindung  {xr^rs  rptd[j.£vov  [xy^ts  Fouüj  einer  neu 
gefundenen  delphischen  Inschrift  (jetzt  bequem  bei  Solmseu,  inscr.  Graec. 
p.  80)  ist  I'ot'xü)  neben  sonstigen  -ou  oder  -o  nicht  als  Gen.,  sondern  als  Abi. 
(„aus  dem  Hause")  zu  fassen  [Gegenartikel  von  Zubaty;  s.  JA  13,  185]. 


72        Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  18S)0— 1?03.  (Schwyzer.) 

Die  als  uigriech.  vorauszusetzende  Form  des  Nom.  PI.  wäre  als 
tatsächlich  vorhanden  nachgewiesen,  wenn  "W.  Streitberg  recht  haben 
sollte,  der  IF  VI  134  f.  in  dem  auf  eiuer  ägypt.  Inschrift  von  c.  1275 
V.  Chr.  überlieferten  Vülkernaraeu  'Akajwasa  die  griech.*  'AyaiFüic 
(für  'AyociFoi)  wiederfindet.  Einer  kyrenäischen  Bildung  widmet 
K.  Brugmann,  BSG  1902,  I.  110—13  eine  Behandlung:  er  läßt 
kyreuäisch  laps;  neben  iapei^  nach  der  Analogie  von  o;  :  ouc  (aus  ov;) 
im  Akk.  entwickelt  sein,  wozu  aber  auch  auf  Solmsen,  BphW  1902, 
1492  ff.  und  Wackernagel,  IF  14,  372  f.  verwiesen  sein  mag.  Die  im 
Kretischen  seltener  neben  -s;  auftretende  Endung  -sv  (z.  B.  ajjiv,  xtvev, 
ou77£vi£v)  deutet  J.  Schmidt,  Die  kretischen  Pluralnominative  auf  -ev 
und  Verwandtes  ZvSpr  36,  400 — 416  überzeugend  als  zunächst  beim 
Pronomen  aufkommende  Neubildungen:  als  neben  kret.  cpspojjLec  aus  der 
gemeingriech.  Schriftsprache  'f£po[j.sv  eindrang,  bewirkte  dies  zunächst 
neben  «[xs;  die  Neubildung  «[asv  (vgl.  Italien.  egJi-no  nach  amino,  amano 
u.  a.,  auch  I7U)  für  '*h{6^  nach  (pepto). 

Auf  den  Nom.  Akk.  PI.  Neutr.  bezieht  sich  ein  Aufsatz  von 
F.  Solmsen,  BKIS  18,  144 — 7,  der  auf  kret.  ari^axiva  aufmerksam 
macht,  eine  Form,  die  als  ari  zu  messen  und  dem  avest.  ijä  cica  zu 
vergleichen  i^t,  somit  zeigt,  daß  die  i-Stämme  den  Nom.  Akk.  PI.  Neutr. 
einst  auch  im  Griech.  auf  T  bildeten. 

Zum  Dat.   PI.  ist  zu  nennen 

C.  Reich elt.  De  dativis  in  -ou  et  -r,tj  (-au)  exeuntibus.  Gymn.- 
Progr.     Breslau  1893. 

Obschon  sich  die  Abhandlung  zunächst  nur  mit  Homer  und  der 
Dichtung  des  7.  und  6.  Jahrhunderts  befal?(t,  ist  sie  doch  auch  hier  zu 
besprechen,  da  die  behandelten  Fragen  für  die  gesamte  Eutwickelung 
des  Griechischen  wichtig  sind.  Der  Verfasser  stellt  zunächst  auf  Grund 
des  genauer  als  Gerland  und  Nauck  dies  taten,  gesammelten  Materials 
(in  der  Ilias  begegnen  1121  -out,  413  -Y)ai,  211  -oic,  82  -rj;,  in  der 
Odyssee  entsprechen  die  Zahlen  1023:247:212:42)  fest,  daß  im  syn- 
taktischen Gebrauch  zwischen  den  längeren  und  kürzeren  Formen  kein 
Unterschied  besteht;  namentlich  tritt  bei  den  letzteren  keineswegs  die 
instrumentale  Geltung  in  höherem  Grade  zutage.  Die  Stellen  für  die 
kürzeren  Formen  werden  dabei  vollständig  gesammelt.  Nach  der 
Stellung  vor  Vokal  bzw.  vor  Konsonant  erhalten  wir  für  Ilias  bzw. 
Odyssee  die  Verhältnisse  214  :  79  bzw.  149  :  105.  Naucks  Versuch,  die 
kurzen  Formen  vor  Konsonant  auf  textkrilischem  AVege  zu  beseitigen, 
wird  im  einzelnen  widerlegt,  auch  die  apostrophierte  Schreibung  vor 
Vokal  wird  bei  der  Seltenheit  der  Elision  von  i  abgelehnt  (zu  S.  19: 
Formen  wie  eOeao-js',  <pciic'  sind  wohl  nicht  als  aus  eöeXouji,  9aji  elidiert, 
sondern  diiekt  als  aus  iöiXovTi,  cpävti  vor  Vokal  entstanden  zu  betrachten, 


Bericht  über  griechische  Sprachwiesenschaft  lb9Ü--l'J03.  (Schwyzer.)       73 

vgl.  TMoa  für  zavTia).  Also  sind  die  kürzeren  Formen  „synkopiert", 
wie  sich  der  Verfasser  irreführend  ausdrückt,  denn  er  meint  vielmehr 
(S.  21  f.),  daß  die  kürzeieu  Formen  durch  aualogische  Ausbreitung  von 
pronomioalen  Formen  wie  toi;,  Toüoscjai,  oU  u,  cä.  aus  bei  den  Substan- 
tiven neben  die  ursprünglichen  auf  -oui  getreten  seien,  wozu  auch  die 
Beobachtung  der  Dichtung  des  7.  und  6.  Jahrh.  stimmt.  Für  die 
pronominalen  Formen  wie  xou  (und  nur  für  diese)  hält  der  Verf.  an 
instrumentalem  Ursprung  fest:  diese  immerhin  etwas  gezwungene  Er- 
klärung hat  jetzt  J.  Schmidt,  dem  Heichelts  Arbeit  entgangen  ist,  durch 
Besseres  ersetzt  (s.  oben  S.  30).  Nur  eben  erwähnt  sei  die  unhaltbare 
Konstruktion  von  0.  Nazari,  Dell'  origine  del  locativo  plurale  nelF 
autico  indiano,  greco  e  italico.  Boficl  1900,  Nr.  10  (SA.)  7  p.,  wo- 
nach Xuy.ot?  als  idg.  Lokativ  auf  -;  zu  betrachten  wäre.  Weiter  weist 
W.  Schulze,  ZvSpr  33,  399—401  eine  Reihe  von  Formen  vom 
Typus  su^'/svEiTi  (auch  au-f/svsüsi),  -/ovsist  aus  späteren  Inschriften  nach, 
Beispiele  für  eine  Erscheinung,  die  im  Akk.  allgemein  bekannt  ist,  für 
das  Vordringen  des  Nom. -Ausgangs.  Einen  Beleg  tür  den  adverbialen 
Lokativ  Mu/Y^vYjai  gewinnt  L.  Radermacher,  RhMPh  57,  C40. 

Besondere  Aufmerksamkeit  ist  dem  Dual  geschenkt  worden.  Die 
Erklärung  freilich,  die  B.  I.  Wheeler,  Greek  Duals  in  -z.  IF  VI 
135 — 40  von  dieser  isolierten  Form  gibt  —  xuvs  entstand  neben  xuvsc 
nach  tnuw  neben  *ii:ir(us  —  ist  zu  mechanisch,  um  überzeugend  zu  wirken, 
rechnet  auch  nicht  mit  der  verschiedenen  Akzentqualität  der  beiden  o> 
und  nicht  mit  der  Tatsache,  daß  der  Dual  im  Griech.  von  Anbeginn 
an  nicht  die  Tendenz  sich  auszudehnen  zeigt,  sondern  das  Gegenteil. 
Die  Konstruktionen  von  0.  Nazari,  Del  suffisso  locativo  -n  nel  greco 
e  neir  antico  indiano.  Torino  1896,  Bona  (rez.  v,  Labriola,  Boficl 
III  240)  über  die  Deklinationsenduugen  -iv,  -i  (in  a[X|xi)  haben,  sowe't 
sie  neu  sind,  nichts  Überzeugendes,  und  der  neueste  Versuch,  der 
Endung  -otiv  beizukommeu,  den  H.  Hirt,  Zur  Flexion  des  Duals  und 
der  Pronoraina  im  Griechischen.  IF  12,  238—41  gemacht  hat  (ouv  aus 
otaiv,  mit  Antritt  der  Lokativendung  -aiv),  scheitert,  wie  F.  Solrasen, 
BphW  1903,  1002  ff.  hervorhebt,  daran,  daß  -v  in  der  genannten  Foj'm 
fest  ist.  Abzulehnen  ist  A.  Ludwig,  Eine  besondere  Dualform  bei 
Homer.  S  böhm.  Ges.  Wiss.  1897  Nr.  6  (S,  14  f.),  wonach  ajjL'forspcuv 
N  303  eine  Form  des  Nom.  Dual  sein  soll.  —  Der  Verbreitung  des  Duals 
im  geschichtlichen  Griechischen  sind  die  Arbeiten  von  E.  Hasse  und 
H.  Schmidt  gewidmet.  Nach  den  Vorarbeiten  „Der  Dual  bei  Xenophou 
und  Thukydides '.  Progr.  v.  Bartenstein  1889,  „Artikel  und  Pronomen 
des  Dualis  beim  Femininum  im  Attischen"  Fleck.  Jbb.  145  (1891), 
416—18  und  „Über  den  Dual  bei  den  attischen  Dramatikern".  Progr. 
von  Bartenstein  1891  erschien 


74       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.) 

E.  Hasse,    Der  Dualis    im   Attischen.     Hannover   und  Leip5:ig 
1893. 

Rez,  von  Meisterhans,  NphR  1894,  55. 

Auf  ein  Vorwort  von  F.  Blaß,  das  die  Notwendigkeit  vollstän- 
diger Sammlung  des  Materials  tür  die  griechische  Grammatik  betont, 
folgt  „eine  vollständige  statistische,  möglichst  alphabetisch  geordnete 
Übersicht  über  die  Dualformen  im  Attischen",  nach  Pronomen,  Nomen, 
Verbum  geordnet;  das  inschriftliche  Material  steuerte  K.  Meisterhans 
bei  (aber  oh  CIA  IV,  1,  b,  3T6^^^  ist  nicht  sicher  fem.  [S.  14];  CIA 
I  128,  9  ist  ergänzt,  es  fehlt  das  schon  bei  Meisterhans^  S.  96  Nr.  914 
stehende  Zitat  CIA  129,  9  [S.  17]  und  anderes,  das  ich  in  Meisterhans^ 
berichtigen  konnte).  Es  zeigt  sich,  daß  die  Dualforraen  auf  -a,  -aiv  bei 
Artikel  und  Pronomen  eine  größere  Verbreitung  haben,  als  ihnen  ge- 
wöhnlich zugestanden  wird,  und  zwar  müßte  das  Paradigma  lauteu:  xa, 
meist  TU),  xaTv,  auch  toiv.  Das  Eindringen  der  Form  auf  -oh  ist  aber 
trotz  dieser  Statistik  und  des  Verfassers  echt  papierenem  Schluß  aus 
einer  Platostelle  (S.  18)  vom  Gen. -Dat.  Dual,  von  Fem.  der  2.  und 
3.  Dekl.  ausgegangen,  infolge  einer  äußerlichen  Assimilation  des  Ar- 
tikels an  die  Endung  -oiv:  dafür  spricht  die  Beobachtung,  die  der  Verf. 
selbst  macht:  „Man  kann  im  Griech.  wohl  sagen  aficpoiv  xoiv  uoXsoiv,  -otv 
■KoXiovj  a|j.'pox£potv,  aber  niemals  anders  als  xauxaiv  xaiv  aosXcpatv,  wohl 
xoTv  7£v£jeoiv,  aber  nicht  anders  als  xaiv  oixiaiv,  wohl  xoiv  ösoiv,  aber 
auch  für  dieselben  Gottheiten  Tah  ilsaiv,  wohl  xoiv  yepoiv,  aber  ebenso 
auch  xaiv  yspolv  xaTv  ejxauxou,  jaiv  yz^oh,  yepoiv  sjxaiv,  '/tpoh  xaivos." 
Daß  die  Assimilation  fast  nur  beim  Artikel  eintritt,  erklärt  sich  aus 
dessen  besonders  enger  und  häufiger  Verbindung  mit  dem  Substantiv. 
Das  Gleichmäßigkeitsbedürfnis  zeigt  sich  auch  darin,  daß  man  sagen 
kann  TiaToe;  6uo,  aber  nur  Traiooiv  öuoiv;  im  Nom.  Akk.  verschlägt  die 
Anwendung  der  Pluralform  nichts,  da  vollkorameue  Gleichheit  ja  auch 
bei  Setzung  der  Dualform  nicht  zustande  kommt. 

Hasse  hatte  seine  Untersuchungen  noch  in  die  spätere  Zeit  hinein 
auszudehnen  begonnen  in  seinen  Abhandlungen  „Der  Dual  bei  Polybios" 
Fleck.  Jbb.  147  (1893),  162—4  und  „Über  den  Dual  bei  Lukianos\ 
ebd.  681—8  (vgl.  die  ßez.  von  P.  Schulze,  WklPh  1894,  626  f.),  als 
von  anderer  Seite  eine  umfassendere  Arbeit  über  den  freilich  rein  künst- 
lich am  Leben  erhaltenen  Dual  in  jener  Periode  erschien: 

H.  Schmidt,  De  duali  Graecorara  et  emoriente  et  reviviscente. 
Breslau  1893  (^  Breslauer  philologische  Abhandlangen  Band  VI 
Heft  4). 

Rez.  von  G.  Meyer,  LC  1893,  1646  f.;  Kretschmer,  DLZ  1894, 
453  f. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1896—1903.  (Schwyzer.)       75 

Die  Abhandlung^  enthält  eine  fleißige  Behandlung  des  Dualge- 
brauchs von  Aristoteles  bis  auf  Dio  Chrysostomos.  Das  Resultat  ent- 
spricht der  allgemeinen  Sprachentwickelung:  Aristoteles,  Tlieophrast  und 
Polyb,  die  der  klassischen  Epoche  am  nächsten  stehen,  brauchen  den 
Gen.-Dat.  Dual  noch  nicht  allzu  selten,  die  beiden  ersten  auch  noch 
die  Form  auf  -aiv,  letzterer  nur  die  auf  -oTv,  doch  fast  nur  in  Ver- 
bindung mit  öuoiv  oder  ajxcpoTv.  Mathematiker  wie  Euklid  und  Archimed, 
Historiker  wie  Diodor  brauchen  den  Dual  gar  nicht,  und  auch  der 
Geograph  Strabo  verhält  sich  dagegen  ablehnend,  obwohl  ihn  Dionysios 
von  Halikarnass  wieder  (künstlich)  erweckte  (er  braucht  ihn  bezeich- 
nenderweise nur  in  der  Formel  xw  ysrpe).  Aber  Nikolaos  von  Damaskos, 
Philo,  Josephus  verfolgen  den  von  Dionys  gewiesenen  Weg,  weuu  auch 
erst  Dio  Chrysost  als  erster  Attizist  in  des  Wortes  engerer  Bedeutung 
häufiger  die  Formen  auf  -to,  -e,  -otv  und  auch  dualische  Verbalformen 
anwendet.  Die  erste  dualische  Verbalform  seit  Aristoteles  erscheint  bei 
Josephus  (tjsttjv). 

Für  den  altepischen  Kasus  auf  -aiv  hat  eine  neue  wichtige  Tat- 
sache aus  Licht  gezogen  F.  Solmsen,  RhMPh  ÖQ,  475 — 7  durch  seinen 
Nachweis,  daJ3  era7raTp69tov  in  der  Formel  ovouixa  xri  eTriTra-pocpiov  auf 
der  tanagräischen  Inschrift  REG  12,  53  ff.,  die  übrigens  eine  hübsche 
slavische  Entsprechung  hat,  auf  einer  Form  tratpo^i  beruht:  -9t  war 
also  auch  als  Siug. -Suffix  einmal  im  Böotischen  oder  Äoliscben 
lebendig. 

Pronomen. 

Die  Forschung  hat  sich  im  letzten  Jahrzehnt  besonders  mit  autoc 
und  dem  Reflexivpronomen  beschäftigt.  Über  das  erstgenannte  ist  hier 
sogar  eine  besondere  Schrift  zu  nennen;  ich  meine 

N.  Flensburg,    Ursprung    und    Bildung    des  Pronomens    auto?. 
Lund  1903. 

Rez.  von  Brugmann,  LC  1893,  857  f. 

Nach  einer  negativ-kritischen  Erörterung  der  Hypothese  Windischs 
und  der  von  Wackernagel  früher  vertretenen  stellt  der  Verf.  zunächst 
fest,  daß  auj,  die  argiv.,  böot.,  delph.  Nebenform  von  auroc  (besonders 
in  au;  auTo;  u.  ä.  Verbindungen),  nicht  aus  auro;  gekürzt  sein  könne 
(dies  freilich  mit  Unrecht,  vgl.  oben  S.  30),  und  daß  die  Formen  mit 
<u  (auocoTov)  sekundär  seien.  Ein  4.  Kapitel  lehnt  Zusammenhang  von 
"10-  mit  dem  gleichlautenden  Demonstrativstamm  ab.  Die  beiden  letzten 
Kapitel  sind  wieder  positiv:  im  5.  werden  die  Ausdrücke  für  „selbst" 
in    den    idg.  Sprachen    durchmustert,    Wortgebilde   teils  pronominalen, 


76       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

teils  aber  nominalen  Ursprungs  (ai.  tä-,  efä-,  avest.  Jiva-  neben  ai, 
tanü,  ätman-,  lit.  päts).  Das  6.  Kapitel  führt  dann  auro;  auf  ein  Nomen 
zurück,  auf  oi'j-  aus  aju-  =  ai.  asu-  „Leben,  Leben  der  Seele",  av. 
atdku  „Leben",  alat.  erus.  auc  repräsentiert  den  urspr.  Nora.,  auxo'c  ist 
urspr.  nicht  Nora.,  sondern  eine  Bildung  mit  dem  ablat. -lokalen  Suffix  -tos- 
Tai.  rhJmtds  u.  ä.).  auxo?  „von  sich  aus"  wurde  dann  in  seiner  Isolierung  als 
Nom.  empfunden  und  von  da  aus  mit  seinem  historischen  Formensystem 
ausgestattet.  Dies  der  Hauptinhalt  der  anregenden  Schrift;  Flensburgs 
Hypothese  ist  die  am  besten  durchgeführte  und  begründete ;  in  der  Haupt- 
sache scheint  jedenfalls  das  Problem  gelöst.  —  Im  Hauptresultat  ist 
Flensburg  zusammengetroffen  mit 

J.  Wackernagel,    Miszellen    zur  griech.  Grammatik  23.     Das 
Refiexivum.    ZvSpr  33,  2—21,  61  f.^). 

der  außerdem  nachweist,  daß  die  ßeflexiva  eau--,  E|xauT-  sich  im  Atti- 
schen durch  die  Länge  ihres  (also  auf  Krasis  beruhenden)  ä  von  au-- 
unterschieden,  was  durch  die  jüngeren  inschriftlichen  Schreibungen  sa--, 
eixaT-  erwiesen  wird,  die  sich  seitdem  noch  vermehrt  haben.  Die  ur- 
sprünglichste aller  Formen  ist  im  louischen  ewutw  aus  ioi  aO-Ji,  im 
Attischen  stehen  Gen.  oder  Dativ  an  der  Spitze  der  Entwickelung:  so 
modifiziert  W.  die  Ausführungen  von 

A.  Dyroff,  Zum  Pronomen  reflexivnra.  ZvSpr  32,  87 — 109, 
der  im  Hauptteile  seiner  Arbeit  ausführlich  das  von  I.  Bekker  aufge- 
stellte Reflexivpronomen  Fso;  widerlegt;  „auch  die  klassische  Philologie 
hat  £0?  =  eFo;  aufzufassen  und  damit  zu  rechnen".  D.s  Ansicht  ist 
nunmehr  auch  inschriftlich  bestätigt  durch  pharsalisch  hza;  s.  F.  Solmsen, 
RhMPh  58,  611. 

F.  Solmsen,  ZvSpr  31,  475 — 7  nimmt  au,  6  osiva  sei  ausge- 
gangen von  raösiva  und  xaös  sv«  (gleicher  Stamm  wie  in  i/si-svo;).  S. 
noch  oben  S.  73. 

Wenig  ist  zum 

Zahlwort 

zu  bemerken.  A.  Weiskes  angebliche,  ohne  Berücksichtigung  der 
Inschriften  aufgestellte  Kegel  ,,über  den  Untei  schied  zwisclien  dem 
deklinabeln  und  indeklinabeln  660",  wonach  dieser  Unterschied  mit 
substantivischer  und  adjektivischer  Geltung,  mit  der  Verwendung  des 
Wortes  zum  Ausdruck  der  Paarigkeit  oder  der  reinen  Zweizahl  zusammen- 


')  Eine  ähnliche  Ansicht  hat  übrigens  schon  früher  V.  Henry  aus- 
gesprochen, der  seine  Prioritiit  Rcr  1902,  I,  190  feststellt. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       77 

fällt  (ZG  1893,  152;  Beiträge  zur  griechischen  Grammatik  iu  der  Fest- 
schrift zur  200  jährigen  Jubelfeier  der  vereinigten  Universität  Halle- 
Wittenberg  dargebracht  von  der  lat.  Hauptschule  der  Franckeschen 
Stiftungen.  1894,  S.  17—21),  ist  schon  von  E.  Hasse,  Der  Dual  im 
Attischen  5  Fußnote  1  zurückgewiesen  worden.  —  W.  Schulze,  ZvSpr 
33,  394  f.  vermutet,  daß  oi^oc,  tpt^o?  erst  nach  xs-oa^o^  (aus  xtzpct.ypjo^) 
gebildet  seien. 


Adverbien. 

Mit  tatsächlichen  Feststellungen  beschäftigen  sich  einige  kleinere 
Artikel.  So  beweist  J.  May,  NphR  1901,  457—60  aus  Demosthenes- 
handschriften,  daß  ouxw;  viel  verbreiteter  war,  als  man  gewöhnlich  an- 
nimmt [oben  S.  50];  L.  Radermacher,  RhMPh  54,  638  weist  einige 
neue  Belege  für  oGxfuji  nach. 

Andere  Forscher  haben  sich  an  der  Erklärung  der  Formen  dieser 
Wortklasse  versucht,  die  ja  ebenso  interessant  als  schwierig  sind.  Eine 
zusammenfassende  Arbeit  über  eine  semasiologische  Gruppe  von  Ad- 
verbien liefert 

Fr.  H.  Fowler,    The  negatives  of  the  indo-european  languages. 
Diss.  Chicago  1896. 

Der  uns  hier  zunächst  liegende  Abschnitt  über  die  griech.  Ne- 
gationen (S.  10—19)  enthält  S.  12  f.  eine  Zusammenstellung  von  Bei- 
spielen wie  AVörter,  denen  an  sich  nichts  Negatives  anhattet,  über 
intensive  Bedeutung  zu  negativer  gelangen,  in  der  Art  von  deutsch 
kein,  frz.  pas,  rien-,  auf  dieser  Grundlage  wird  dem  gr.  ou  (verglichen 
mit  ai.  u)  urspr.  intensive  Bedeutung  zugeschrieben.  Doch  werden 
o'jx  ouv  und  die  ou  |j.Y]-Konstruktionen  wohl  mit  Unrecht  zur  Begründung 
verwendet. 

Erstarrte  Kasusformen  suchen  in  griech.  Adverbien  A.  Bezzen- 
berger,  der  BKIS  24,  321  Anm.  1  in  r^o  von  Trup-jYjoov,  a(paipy;o6v  u.  ä. 
■den  Ablativ,  und  W.  Prellwitz,  der  ebd.  26,  311  in  |xaxY)v,  axixrjv 
Instrumentale  sehen  will. 

J.  Schmidt,  Die  griech.  Ortsadverbien  auf  -ut,  -uu  und  der 
Interrogativstamm  ku.  ZvSpr  32,  394—415  weist  nach,  daß  die  in 
den  Dialekten  reich  vertretenen  Adverbia  auf-ut,  ui?  (woraus  -ü?)  nicht 
Lokative  auf  -ot  sein  können:  sie  sind  vielmehr  von  *v:oi,  *tuic  ausge- 
gangen (vgl.  kret.  oüut,  syrak.  tiüc,  rhod.  o-u?),  Musterformen,  die  mit 
•dem  besonders  im  Arischen  und  Lateinischen  vertretenen  Interrogativ- 
stamm  ku  zusammengehören. 


78       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Verbum.\) 

An  die  Spitze  gestellt  sei  eine  Arbeit  zur    verbalen    Stamm- 
bildung: 

L.  Sütterliü,  Zur  Geschichte  der  Verba  denominativa  im  Alt- 
griechischen.  Erster  Teil.  Die  Verba  denomiuativa  auf  -«tu  -etu  -ou). 
Straßburg  1891. 

Rez.  von  Wackernagel,  BphW  1892,  1109—13. 

Die  interessante,  lesbar  geschriebene  Abhandlung  setzt  sich  das 
Ziel,  die  Schrift  von  der  Pfordtens  über  denselben  Gegenstand  (1885) 
zu  ergänzen  und  zu  vertiefen,  ersteres  namentlich  durch  die  Beiziehung 
des  inschriftlichen  Materials,  letzteres  durch  Verinnerlichuug  der  ganzen 
Auffassung,  Darum  geht  jeder  der  drei  Hauptteile,  in  die  naturgemäß 
die  Schrift  zerfällt,  weniger  auf  die  regelrecht  gebildeten  Grundtypen, 
die  von  a-  resp.  o-Stämraen  ausgehen,  ein,  als  auf  die  auf  anderen 
Stämmen  beruhenden  Bildungen.  Für  die  weite  Ausbreitung  der  drei 
Bildungen  über  ihre  eigentlichen  Grenzen  hinaus  werden  teils  formale 
noch  mehr  aber  semasiologische  Analogiewirkungen  verantwortlich  ge- 
macht; mit  großem  Scharfsinn  wird  den  Mustern  für  einzelne  Bedeutungs- 
gruppen nachgespürt,  wobei  sich  der  Verf.  freilich  der  Unsicherheit 
seiner  Ei-gebnisse  bewußt  bleibt;  auch  läßt  sich  nicht  jedes  Verb  in 
eine  Gruppe  einordnen.  Am  meisten  Neues  bietet  in  formaler  Hinsicht 
der  Abschnitt  über  die  Verba  auf  -6cu;  S.  nimmt  an,  ihre  Neuschöpfung 
sei  teils  nach  der  Proportion  axsTro:,  axsTrat;:  axtizdio  =  öpr/xw,  öpiYxot;: 
ftpqxoü)  erfolgt,  teils  den  -to-Bildungen  auf  -toxo;  zu  danken.  Gelegentlich 
wird  auch  auf  Etymologisches  eingegangen,  ich  verweise  beispielsweise 
auf  die  Bemerkung  über  xu^uTam  (S.  17  f.). 

Augment  und  Reduplikation. 

Hier  ist  in  erster  Linie  zu  nennen  die  umfassende  Behandlang 
dieses  Gegenstandes  für  zwei  poetische  Literaturgattungen,  deren  Form 
die  Überlieferung  sicherer  zu  beurteilen  erlaubt  als  die  Prosa: 

0.  Lautensach,  Grammatische  Studien  zu  den  griechischen 
Tragikern  und  Komikern.   Augment  und  Reduplikation.    Hannover  1899. 

Rez.  von  Wecklein,  BphW  1900,  737—40. 

Der  schon  durch  frühere  Arbeiten  bekannte  Verfasser  (vgl,  unten 


*)  A.  Pircüer,  Flexion  des  griechischen  Verbums,  Gymn,-Progr, 
Meran  IS'JO,  will  nur  Uüteirichtszwecken  dienen,  was  hier  ausdrücklich 
bemerkt  sei;  vor  P.  Wpiß,  Grundzüge  des  griech.  und  lat.  Verbums, 
Regensburg    1891,    sei  gewarnt    (vgl,  die  Rez.  von  Brugmann  lA  1,  26). 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       71) 

S.  80)  stellt  in  dieser  Schrift  nicht  nur  alle  irgendwie  von  der  gewöhn- 
lichen Bildung  abweichenden  augmentierten  und  reduplizierten  Formen, 
sondern  im  Anschluß  an  die  behandelten  Fragen  auch  die  einschlägigen 
Zeugnisse  der  alten  Grammatiker,  Lexikographen,  Scholiasten  zusammen 
und  liefert  damit  einen  Beitrag  zur  griech.  Grammatik,  der  in  Hasses 
Behandlung    des    Duals    seine    genaueste    Parallele   hat.     Er  steht  mit 
Hasse  auch  insofern  auf  einer  Linie,  als  er  das  Hauptgewicht  entschieden 
auf  die  Sammlung  und  Darstellung  des  Materials    legt;    die    sprachge- 
schichtliche Erklärung  steht  in  zweiter  Linie  und  ist  nicht  immer  ein- 
wandfrei.   Ich  gebe  zunächst  eine  Übersicht  über  den  Inhalt  des  Buches; 
es  zerfällt  naturgemäß  in  zwei  Teile.     Der    erste    gilt  dem  Augment, 
dem  syllabischen  (mit  den  Unterabteilungen:    y)  als  Augment,   Doppel- 
konsouant  nach   dem  syllab.  Augment,    z.  B.  I'ppeov,    syllab.   Augment 
vor  Vokalen  A    unverändert,    B  verschmolzen,    z.  B.  slöov)    und    dem 
temporalen    (a    bei    urspr.   mit  F  und   7    anlautenden  Wurzeln,    b    bei 
urspr.  vokalisch  anlautenden  Wurzeln).     Die  Reduplikation    ist   ent- 
weder Präsensreduplikation  (ausführliche  Darstellung  der  verschiedenen 
Bildungsweisen),    Aoristreduplikation    (nur    in    wenigen  Fällen   belegt) 
oder  Perfektreduplikatiou  ( a    bei    konsonantisch    anlautendem   Verbal- 
stamm,   b    bei    vokalisch    anlautendem    Verbalstamm).      Den   Beschluß 
machen  Abschnitte  über  die   attische  Reduplikation ,    das  Augment  der 
Plusquamperfektformen  (wozu  auf  J.  Wackernagel  lA  V  68  f.  verwiesen 
werden  konnte),    Augment    und  Reduplikation    der   zusammengesetzten 
Verba,  doppelte  Augmentation  und  Fehlen  des  Augments.  —  Sehr  viel 
Neues  gegenüber  der  Darstellung  bei  Kühner-Blaß  II  6 — 37  ergibt  sich 
nun  freilich  nicht;  am  meisten  gewinnt  die  Lehre  vom  syllab.  Augment 
vor  Doppelkonsonant  (hier  steht  auch  ein  Ergebnis,  das  weitere  Kreise 
interessieren  mag:   xaxappotxTif]?    „der  sich  hinabstürzende",  vom  intran- 
sitiven xaTapp7]7vu}jLi  ist  die  alte  und   echte,    xatapaxr/];    die  durch  An- 
lehnung an  xaxapaacTcu    [vielleicht    begünstigt    dnrch    die  Vereinfachung 
der  Geminaten]   entstandene  spätere  Form),     Dagegen  werden  Lauten- 
sachs genaue  und  erschöpfende  Zusammenstellungen  für  manche  etymo- 
logische Frage  sich  sehr  wertvoll  erweisen;   der  Gewinn  für  die  Text- 
kritik liegt  auf  der  Hand. 

Nur  streifen  kann  ich  eine  Arbeit,  die  ein  Kapitel  aus  der  home- 
rischen Augmentlehre  beschlägt: 

G.  Dottin,  Etüde  de  grammaire  homerique:  L'augraent  des 
verbes  composes  dans  l'Odyssee  et  dans  l'Iliade.  Extrait  des  annales 
de  Bretagne.     Rennes  1894, 

um  so  mehr  als  sie  mir  nur  aus  der  Inhaltsangabe  lA  VII  56  bekannt 
ist;  die  Arbeit  will  die  Bedingungen  feststellen,  unter  denen  das  Augment 


80       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer. 

erschien  oder  wegblieb:  doch  läßt  sich  mit  Sicherheit  nur  aus  prosodi- 
schen  Gründen  die  Notwendigkeit  einer  Form  erweisen,  hier  allerdings 
sehr  oft.  —  Ebensowenig  sind  mir  zugänglich  der  Aufsatz  von  Du- 
gesnoy,  L'augraent  aux  aoristes  du  verbe  a^vu-j.-..  Compte  rendu  du 
congres  scientifique  international  des  catholiques,  tenu  ä  Paris  1  —  6. 
VI.  Sect.  Philologie.  Paris,  Picard,  1891,  p.  88—108  und  die  ein- 
schlägigen Bemerkungen  von  K.  E.  K6v-oc,  'A{>r,va  VII  289  ff.:  ersteres 
weist  nach  lA  II  106  nach,  daß  vor  Alexander  nur  die  Indikative 
l'a^a,  ea^riv  augmentiert  erscheinen  —  erst  später  hat  man  es  nach  dem 
Perf.  xaTsaya  auch  in  die  Modi  der  Aoriste  eingeführt  —  und  letzterer 
behandelt  nach  lA  VII  50  auch  Bildungen  wie  xexa-Y^pajjiat,  |x£|x£&(u- 
6£U}j,evoc  u.  ä.  in  der  späteren  Gräzität. 

Ebenfalls    eine    Einzelfrage    aus   dem   Gebiet    der  Augmentation 
behandelt 

Fr.    Stolz,    Studien  zur  Doppelaugmentierung  der    griechischen 
Verba.     WSt  25,  127—142, 

der  sich  gegen  die  Annahme  wendet,  daß  die  Doppelzusammensetzung 
oder  die  Verdunkelung  des  Sprachgefühls  daran  wesentlichen  Anteil 
habe;  er  sieht  in  dem  schwankenden  Sprachgebrauch  vielmehr  eine 
, Laune  der  Sprache".  Auch  für  das  älteste  attische  Beispiel,  -rjvsr/ofxTjv 
r;v£cjyofji.rjv  (doch  begegnet  noch  bei  Aristoph.  und  Eurip.  av£3y.),  läßt 
sich  kein  Grund  angeben:  die  Volkssprache  oder  einzelne  Schriftsteller 
mögen  verantwortlich  gemacht  werden.  Homer  kennt  die  spezifisch  att. 
(auch  bei  Heiodot  nicht  sicher  bezeugte)  Doppelaugmentierung  nicht; 
daher  ist  avaivojiai  mit  rjvi^vaTo  nicht  mit  Osthoff  aus  ava  -r  aivop.at  (zu 
aivo?)  zu  deuten  (Potts  Bedenken  gegen  Buttmanus  Etymologie  teile 
ich  aber:  die  für  sich  stehende  Negation  war  ne,  nicht  v).  Beiläufig 
wird  das  Schwanken  der  herodot.  Überlieferung  in  der  Augmentierung 
darauf  zurückgeführt,  daß  Herodot  die  iterativen  Imperf.  und  Aor. 
durchaus  unaugmentiert  brauchte.^) 

Person  alendungen. 
Auch  hier  ist  eine  umfassendere  Arbeit  voranzustellen: 

0.  Lautensach,  Grammatische  Studien  zu  den  griechischen 
Tragikern  und  Komikern.  I.  Personalendungen.  Progr.  des  Ernestinum 
zu  Gotha  1896. 

L.  stellt  aus  seinen  Quellen  das  Material  zusammen,   erst  für  die 
aktiven,  dann  für  die  mediopassiven  Endungen.    Da  wird  dann  manches 


^)  Vgl.  auch  *G.  N.  Ifatzidakis,  U^y.  i-yo/j^r^-M^  zvji'^yj -Jzwv.  'Aflr^va 
14,  133-G. 


Bericht  über  griechische  Sprar hwissenschaft  1800— 1903.  (Schwyzer.)       81 

scbäifer  piäzisiert;  für  die  Textkritik,  auch  für  die  Datierung  einzelner 
Dramen  (wenn  auch  hier  alles  mit  Vorsicht  aufzunehmen  ist)  fällt  dies 
lind  jenes  ab.  So  ist  z.  B.  bei  Ascb.  und  Soph.  tj  (1.  Pers.  Sinj.'.) 
herzustellen,  Eur.  hat  an  6  Stellen  vor  Vokal  ^v,  bei  Arist.  gilt  noch  ^. 
aber  im  Plutos  hat  er  sclion  ^v;  im  Plusquamperf.  hat  die  1.  Sing.  -Tj, 
erst  für  die  mittlere  Komödie  -stv,  in  dei-  3.  Sing,  urspr.  -st,  doch  schon 
bei  Soph.  -eiv.  Schon  beim  Plusquamperf.,  noch  mehr  aber  beim  Aorist 
(rjvE^xa  tl-i)  gehört  einzelnes  bereits  der  Tempusbildung  an.  Für  die 
Dualendungen  bildet  L.s  Arbeit  eine  teilweise  Kontrolle  von  Hasses 
Zusammenstellungen.  Die  Darlegung  über  sTrXTjpoüsav  Eur.  Hec.  574 
(S.  18)  zeigt,  daß  Jannaris,  histoiical  Greek  grammar  §  789  kein  Recht 
hatte,  das  Zitat  als  ältesten  Beleg  der  neugriech.  Umbildung  der  3.  Pers. 
Flur,  der  Kontrakta  zu  geben:  die  Lesart  geht  auf  Choiroboskos  zurück, 
dem  die  Bildung  allerdings  aus  seiner  eigenen  Sprache  geläufig  gewesen 
sein  muß. 

Von  einer  spätgriech.  Umbildung  der  Endung  der  3.  PI.  Perf.  Akt. 
räch  der  entsprechenden  Aorist/orm  nimmt  ihren  Ausgang  die  reich- 
haltige Arbeit  von  K.  Bure  seh,  Fs^ovav  und  anderes  Vulgärgriechisch. 
RhMPh  46,  193 — 232,  auf  die  ich  hier  übrigens  nicht  näher  einzu- 
gehen habe. 

Von  den  Ausführungen  von  C.  M.  Mulvany,  Sorae  forms  of 
Honieric  Subjurctive.  CR  10,  24 — 27  sei  namentlich  hervorgehoben, 
daß  er  -ipi  (aus  -r^-i)    statt    -t;-'.  als    echt  homerische  Form    verlangt. 

Zu  den  Imperativendungen  sind  mehrere  Arbeiten  zu  nennen: 
*J.  H.  Wright,  Five  interesting  Greek  imperatives.  Harvard  Studies 
in  class.  Phil.  VII  85 — 93  stellt  die  Imperative  tmi,  oiyoi  u.  ä.  zu- 
sammen, worin  er  das  demonstrative  t  „hier"  sucht;  ähnliche  Bildungen 
sind  seither  noch  einige  ans  Licht  gezogen  worden:  a';E'.  -=  a';z,  o-ivci  •  oeüpo. 
"Apy.(io£c  (F.  Solmsen,  RhMPh  54,  345  ff.);  K.  Brugmann,  Zur  griech. 
und  germ.  Präsensflexion.  IF  15,  126—8  verknüpft  damit  das  von 
J.  Wackernagel,  ZvSpr  33,  25 ff.  behandelte  pindarische  Swoi  und  nimmt 
für  die  Bildungen  idg.  Alter  in  Anspruch:  zugleich  verwendet  er  sie 
unter  Preisgabe  seiner  früheren  Erklärung  von  a'Ystc,  «Yet  (a^eic  aus 
«-,'£[3]'.  +  j,  danach  a-(zi),  die  kürzlich  F.  Stolz,  Zur  Bildung  der  2.  und 
3.  Sg,  Präs.  Akt.  von  cpYjiJLi.  IF  14,  15—20  (97;;  aus  *cpö[[cj]i^- ?);  Zur 
Bildung  der  2.  und  3.  Sg.  Ind.  und  Konj.  Pias.  Akt.  im  Griechischen. 
ZöGy  1902,  1057 — 66  (a.stc  aus  a-;t[j]i-i-  a'-öc  kontaminiert,  danach 
a-^Et)  zu  stützen  versucht  hat,  zu  einer  neuen  Erklärung  dieser  Formen, 
die  danach  ihr  si  vom  Imperativ  auf  -£i  bezogen  hätten.  Der  Aus- 
gangspunkt ist  aber  zu  wenig  gesichert:  für  die  Formen  auf  -ei  ziehe 
ich  Solrasens  Erklärung,  der  im  Ausgang  die  Partikel  ei  sucht  (vgl.  ä 
in  mhd.  hüfä),  für  oi'öoi  Wackernagels  Vermutung  vor. 

.Jahresbericht  für  Altertumswisseaschaft.    Bd.  UXX.    (1904.    I.)  6 


82        Bericht  üLier  griecbisclie  Spiacliwissoiiscliaft  1890 — ]'.)()".  (Scbwy^cr.) 

H.  Hirts  (ilcichsotzunji;  vou  griech.  cpspovrcov  mit  got.  balrandau, 
ai.  bbärantuni  (IP  VJL  179—182)  bat,  -choii  J.  Wackerna^el ,  Ver- 
miscbte  Beiträge  51  bekämpft,  wenn  aucb  Hirt  in  seinem  Handbncb 
der  griech.  Laut-  und  Formenlehie  429  daran  festhält. 

Die  sog.  äoliscben  Optativformen  sind  von  vers<*hiedeueu 
Seiten  bebandelt  worden:  nach  F.  W.  Walker,  CR  10,  3G9  f.  wäie 
„seta  a  ligbter  form  of  aetr/'  „rpaSsituv  simply  tlie  participle  of  Trpa^etac, 
Ttpoc^ete":  über  J.  Wackeinagels  Erklärung  s.  oben  S.  12.  Dal',  aut-li 
sie  nicht  jederScbwierigkeiteutbehrt,  betont Brugmanu griech. Grammatik  ' 
319.  Die  neue  Form  aösaÄ-cuhaie  auf  einer  elischen  Bronze  kläit  nichts 
auf  (vgl.  Meisterhans-Schwyzer  167  Nr.  1403).  Die  Gründe,  mit  denen 
F.  \V.  Walker,  CR  1898,  250-2  die  Form  U'ioizw  als  lautu'esetzlich 
zu  reciitfertigen  sucht,  werden  wenige  überzeugen  (durch  das  Gesetz 
,,that  a  nasal  sonant  cannot  arise  before  a  tantosyllabic  vt"  .  das  auch 
durch  yapiev  r^i^jo^j  bewiesen  werden  soll). 

Unter  den  Arbeiten  zu  den  medio passiven  Endungen  stelle 
ich  voran  K.  Zacher,  Die  Endung  der  2.  Pers.  Sing.  Ind.  Med.  Pa 
Suppl.-Band  "VII  473 — 84  (in:  Kritisch-grammatische  Parerga  zu  Aristo- 
phanes,  Pb  Suppl.-Band  VII  437 — 530).^)  Grammatiker  und  Hand- 
schriften weisen  nach  Zacher  auf  -et  als  spezifisch  attische  Form  bei 
Xomikern  und  Prosaikern.  ^Die  alte  Form  ist  -r,'.,  deshalb  w'ird  diese 
von  den  Tragikern  bewahrt,  in  der  Umgangssprache  kommt  -et  auf', 
von  den  Komikern  und  Rednern  verwandt.  Wenn  nicht  Aristophaues 
selbst,  so  schrieben  doch  die  zeitgenössischen  Buchhandlungsschreiber  in 
seinen  Werken  -ei;  -r/.  erscheint  wieder  bei  Xenophon,  dann  in  der 
y.o'.v/j.  So  weit  der  Verfasser:  doch  wird  ein  lautlicher  Unterschied  in 
voralexandriuischer  Zeit  nicht  vorliegen,   nur  ein  graphischer. 

Als  Ausgangspunkt  des  al)  betrachtet  Chr.  Bartholomae,  Das 
griechische  Infinitivsuffix  cöat.  RhMPh45,151 — 3  eben  deninönitiv,  dessen 
a  uisprünglich  nicht  zur  Endung  gehört  habe:  eutsprechend  ind.  bhäru- 
dhyäi  „zu  tragen",  wörtlich  „Tragang  zu  tun",  war  Fstoeu-flat  ur.-iir. 
veides  +  dhai  „Erscheinung  zu  machen". 

An  Bartholomae  knüpft  an  J.  Wackeruagel,  Die  Medial- 
endungen mit  Ol).  ZvSpr  33,  57 — 61:  der  Imperativisch  gebrauchte  Inf. 
auf  -ctlai  veranlaßte  zunächst  im  Imperativ,  dann  auch  in  den  andereu 
Modi  die  sukzessiven  Neubildungen  ji)iu  :  tu>,  afte  :  -z,  ailov  :  xov.  oörjv  :  Tf,v. 
Daß  -oöat  medial  wurde,  kann  bei  dieser  Erklärung  nicht  mehr,  wie 
Barth,    will,    an    den  sonstigen  medialen  Formen   mit  oi)  liegen,    da  ja 


»)  Vgl.  dieRcz.  von  Frautz,    1)17.  l^'Jd,  182G— .^;  -ü,  LC  lbl)5),  14UG; 
Zuretti,  BoH-l  Vi   11-1  t. 


ßericlit  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90— 1903    (Schwyzer.)        83 

diese  jüng'er  sind,  soudei  n  beruht  darauf,  daß  der  Inf.  auf  -zi)a:  zufällig- 
g:erade  bei  medialen  Verben  überliefeit  war.  Unabliäng-iff  hatte  schon 
vorher  A.  Hillebrandt,  Die  Endung"  -crf)£.  BKIS  18,  279—81  eine 
ähnliche  Erklärung-  vorgebracht:  cf^e  ist  danach  analo2ische  Unibildung- 
eines urspr.  -9s  (:  ai.  -fha),  -jflrjv  solche  eines  urspr.  -O/jv  (:  ai  -Ihäm). 
Nur  eine,  aber  eine  hochwichtige  Arbeit  ist  zur  Präsensbil- 
dung- anzuführen:  J.  Schmidt,  Die  griechischen  Präsentia  auf  tV/cw. 
ZvSpr  37,  26 — 51.  Der  Aufsatz,  dessen  Hauptergebnis  schon  SPrA 
1890,  921  bekannt  gegeben  worden  war,  beginnt  mit  einer  Übersicht 
über  das  Material  mit  Belegen:  es  lassen  sich  13  Präsentia  auf  uy.oj 
nachweisen,  t  ist  als  Länge  zu  fassen,  als  Tiefstufe  zu  äi.  r/.,  w.,  das 
bei  den  ältesten  im  Aorist  ursprünglich  daneben  stand,  vgl.  aXis-/.o|xa'. : 
saXtov  (mit  (D  für  coi),  eupT-xw  :  Eupr^cjcu,  -KiTTiaxco  :  pö(i).  apapijxto  ist, 
wenn  es  T  hat,  junge  Neubildung.  Wo  -r^cxw  (iW^axco,  ;j.'.}j.v7jaxü))  und 
-cojxd)  (»}pipjxü)  nur  bei  Grammatikern;  YqvwTxw  immer  ohne  i)  er- 
scheint, sind  T,i  (ui  statt  T  aus  dem  Aorist  eingedrungen,  wo  es  einst 
vorhanden  war.  Das  Prinzip  der  Erklärung  veröffentlichte  übrigens 
H.  Hirt  noch  früher  (vgl.  IF  12,  203  Anni.).  —  Nur  hinweisen  kann 
ich  hier  auf  F.  Solmsens  Behandlung  des  Übergangs  von  ion.  o''^r,p.at 
zu  oiCo[j.ai  (von  ot^sat  aus)  IF  14,  426—8  und  auf  K.  Brugmanus 
Deutung  der  ion,  Iterativpräterita  auf  -axov  (zB.  9o?jxo-.'  aus  *^o.-yz 
ay.o'i  „ich  war  sagend*)  IF  1.3,  267  —  77.^} 


Futurum. 

Nur  beiläufig  kanu  hier  eivvähnt  werden,  daß  A.  Bezzenberger 
BKIS  26,  169  if.  das  dorische  Futurum  mit  dem  litauischen  zusammen- 
bringt: (awe-)siu  ^  (E7crcpax-)a£cu.  —  An  einzelnem  ist  vor  allem  zu 
nennen  ein  Aufsatz  von  J.  Wackernagel,  Griech.  •/.-z^'jrjzi.  IF  II 
151 — 4.  W.  weist  nach,  daß  bei  Homer  noch  xTspioycrt.  xo|j,iu),  i-;X7.tz- 
aöat  u.  ä.  zu  schreiben  ist:  die  zirkumflektierten  Eormen  sind  erst  für 
das  V.  Jahrh.  nachgewiesen.  Sie  beruhen  auf  einer  Ausdehnung  des 
zirkumflektierten  Typus  von  ßißw,  a-f/eXw  usw.  In  hellenistischer  Zeit 
setzt  sich  dieser  Vorgang  fort:  yaüi  7rioü|jiat,  sooüfxot'.:  ähnlich  im  Dorischen. 


*)  Nur  zur  Warnung  weise  ich  auf  F.  Prestel,  Zur  Entwickelungs- 
gescbichte  der  griechischen  Sprache.  Gymn.-Proer.  Münnerstadt  1899  hin, 
wo  in  völlig  unwissenschaftlicher  Weise  über  die  Verba  contracta  geredet 
wird.  Da  neues  Material  nicht  geboten  wird,  ist  die  kleine  Schrift  durch- 
aus wertlos.  Vgl.  S.  7:  „Ich  halte  -(>c(  bzw.  -3i>ci  für  die  älteste  Form  des 
Suffixes  der  2.  Singular.  Aus  -oÖ^a  ist  nach  Abfall  von  &«  nunmehr  o  übrig- 
geblieben, das  durch  Beigabe  eines  i  eine  Angleichung  an  ai  und  -•-  erfuhr" ! 

6* 


84        Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.) 


Aorist. 

Unter  diesem  Stichwort  ist  zunächst  eine  Debatte  namhaft  zu 
machen,  die  sich  über  einige  dialektische  Formen  des  sigmatiscben 
Aorists  entspann,  jedoch  auch  für  die  allgemeine  Sprachgeschichte 
wichtig  ist. 

W.  Schulze,  Zur  Bildung  des  sigmalischen  Aorists  im  Griech. 
ZvSpr  33,  126 — 32  bekämpft  die  von  Bezzenberger  und  Fick  aufge- 
stellte, von  Hoffmann  angenommene  Erklärung  von  Formen  wie  ojj-ocijai 
mit  Hilfe  des  ai.  s/s- Aorists,  wonach  zwischen  den  beiden  Sigma  ein 
Vokal  ausgefallen  wäre,  durch  den  Nachweis,  daß  Dialekte,  welche  die 
Geminata  js  festhielten,  in  jenen  Aoristen  nur  a  zeigen,  z.  B.  herakl. 
oji-oaavTe^  neben  laor^zai.  Die  Formen  wie  dfjLOJcrai  sind  vielmehr. Neu- 
bildungen nach  T£>ijcyat.  Demgegenüber  sucht  0.  Hoffmann,  Zur 
Bildung  des  sigmatiscben  Aoristes  BKIS  26,  30 — 44  seinen  Standpunkt 
zu  rechtfertigen:  Formen  wie  oajcaa&ai,  6-ojjoc  neben  (3[xojat  beweisen 
nichts  gegen  ihn.  da  hier  cj  anderer  Entstehung  sei.  Auch  Fexcj^t 
(kret.  FsTEil&i)  sei  nicht  gleichartig  wie  (O[xo3a  (vgl.  ai.  äpä-sis-am). 
Innerlich  ist  das  sehr  wenig  wahrscheinlich,  da  in  den  meisten  Mund- 
arten die  aj  verschiedener  Entstehung  zusammenfallen  und  man  gerade 
in  dem  Fall,  wo  die  beiden  a  ursprünglich  durch  Vokal  getrennt  waren, 
länger  als  sonst  Geminata  erwarten  sollte.  Reine  Willkür  ist  es,  wenn 
Hoffmann  e'jjoixat  aus  Ijjjojxai,  jji  im  Lokativ  aus  aFt  erklärt.  Ebenso 
wird  man  sich  nicht  davon  überzeugen  können,  daß  für  (ü|xo3a  neben 
o[jLos3ai  der  Akzenlunterschied  maßgebend  gewesen  sei  und  daß  o^ioiat 
in  den  betr.  Dialekten  Analogiebildung  nach  Xüjat  sein  könne.  Zum 
Schluß  muß  H.  ohnehin  erklären,  wenn  auch  seinem  Standpunkt  keine 
Tatsache  widerspreche  (was  aber  nicht  richtig  ist),  so  sei  das  Material 
zu  dürftig.  —  G.  E.  Parodi,  Intorno  alla  formazioue  delF  aoristo 
sigmatico  e  del  futuro  greco.  StIF  6,  417—57  sucht  nach  neuen 
"Wegen  für  die  Ausbreitung  des  a  im  Aoiist;  es  soll  auf  einer  Mischung 
des  Typus  mit  j  und  desjenigen  mit  «3  (zB.  F£i33a,  Fsis;,  F£13t;  ysFasa, 
yeFa?,  -/£Fa3T)  beruhen;  ein  3.  Typus  ist  derjenige  auf  ej  (zB.  a-röp- 
63',  xop-£3-).  Die  zahlreichen  neuen  Hypothesen  haben  jedoch  gegenüber 
den  bisherigen  Erklärungen  nichts  Überzeugendes  an  sich.  —  Eine  ganz 
neue  Erklärung  des  s-Aorists  stellt  F.  W.  Walker,  Philological  Notes  IX. 
The  Greek  Aorist.  CR  VII  289—292  auf:  der  Indikativ  wurde  erst 
sekundär  zum  s-Konj.  und  Opt.  hinzugebildet;  der  Ind.  Akt.  ist  in  den 
Personalendungen  nach  dem  Perf.  umgebildet. 

Ich  schließe  hier  gleich  die  Erwähnung  eines  anderen  Aufsatzes 
desselben  Verfassers  an,  worin  nicht  glücklicher  gr.  eSrixa  usw.  als  ur- 


Bericht  über  griecbisclie  Sprachwissenscliaft  1S90— 1903.  (Schwyzer.)       gö 

spiüngliche  Perfekta  angesehen  weiden  (Philological  notes  VIII.  Greek 
aorists  and  perfects  in  -xa.     CR  V  44G — 51). 

Einige  Ausnahmen,  die  zum  Teil  auch  der  Schnlgramniatik  ange- 
hören, bespricht  J.  Wackernagel,  Unregelmäßige  Aoriste  auf  -eja  und 
Verwandtes.  ZvSpr  33,  35 — 38  (xoTSüjaxo,  iKoftsaa  umgebildet  ans  urspr. 
"■Exeaaaro,  ^If^essa;  i^vesa  nach  evei/e^aa ;  £7r6v£ja  Hippokr.  nach  £7i6(}£ja). 
—  F,  Stolz,  Zum  Konjunktiv  des  griechischen  sigmatischen  Aoristes. 
IP  II  154 — 6  macht  darauf  aufmerksam,  daß  sich  Spuren  des  knrzvoka- 
lischen  Konjunktivs  auch  in  der  2.  3.  Pers.  Sing,  in  der  Überlieferung 
der  homerischen  Gedichte  erhalten  zu  haben  scheinen.  Er  stützt  sich 
besonders  auf  B  4  Tt[j.rjj£i  (später  als  Optativ  mißverstanden).  Um  volle 
Sicherheit  zu  gewinnen,  wäre  freilich  das  giaphische  Verhältnis  zwischen 
£t  und  7ji  in  den  Homerhandschriften  zu  untersuchen.  —  K.  Brugmann, 
KaTajßöJaat  bei  Herodas.  IF  1501 — 4  deutet  diese  Form  schließlich 
aus  xaxaaßo^aai  (vgl.  Co'aaov  '  aßsaov.  Hesych.),  während  Darbishire, 
CR  VI  277  Umformung  aus  xaiasßsjai  nach  atop£jai :  jTpcÖTa!  annimmt. 
• —  Einen  neuen  Gesichtspunkt  für  das  Verhältnis  zwischen  £i)£3av  :  lilrjxav 
bei  den  Rednern  macht  K.  Fuhr,  E6HKAN  und  Ei^QKAN  bei  den 
Rednern.  RhMPh  57,  425 — 8  geltend:  ,,die  Formen  mit  x  fimlen  sich 
öfter  erst  bei  Deraostheues  von  355  ati,  lediglich  infolge  des  Bestrebens,^ 
drei  Kürzen  hintereinander  zu  meiden."  —  Statistisch  ist  die  Arbeit 
von  J.  La  Roche,  Die  Formen  von  dzzh  und  £v£7X£iv.  WSt  XXIII 
300—12. 

Perfekt. 

Ein  starkes  Peif.  yl/o^oi  zu  yavöavu),  l/aoE  weist  J.  Wacker- 
nagel, BphW  1891,  1475  f.  nach  (mit  Hilfe  des  von  Kenj^on  publi- 
zierten Papyrus  zu  ß  192).  —  Nicht  zugänglich  ist  mir  E.  La  Terza, 
Trattamento  della  vocale  radicale  nel  tema  del  perfetto  greco.  Studi 
glottolog.  ital.  2  (1901),   1-91. 


86       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 


Syntax. 
Allgemeines. 

Ira  Gegensatz  zu  fast  allen  andern  Teilen  der  griechischen  Grammatik 
ist  die  Syntax  auch  im  Zeitraum  des  vorliegenden  Berichtes  im  allge- 
meinen noch  durchaus  eine  Domäne  der  klassischen  Philologie  geblieben 
und  wenig  von  den  parallelen  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  übrigen 
indogei manischen  Sprachen,  besonders  auch  der  neueren,  berührt  worden. 
Verwunderlich  ist  dies  nicht:  ist  doch  der  erste  Grundriß  einer  ver- 
gleichenden idg.  Syntax,  den  B.  Delbrück  unternommen  hat,  erst  vor 
wenigen  Jahren  fertig  geworden.  Immerhin  besitzen  wir  bereits  in  '2. 
Bearbeitung  eine  Darstellung  der  griechischen  Syntax,  welche  die  Er- 
gebnisse der  vergleichenden  Forschung  verwertet  und  auf  die  entwicke- 
lungsgeschichtliche  Erklärung  das  Hauptgewicht  legt,  die  schon  oben 
S,  8  f.  besprochene  Arbeit  von  K.  Brugmann,  Außer  diesem  und 
Jannai  is'  Werke  (s.  oben  S.  3  f.)  gibt  es  nur  noch  eine  wissenschaftliche 
Bearbeitung  der  griechischen  Grammatik,  welche  die  Sjaitax  mitbehandelt, 
die  Neubearbeitung  von  ß.  Kühners  Grammatik  (über  die  Formeulehre 
s.  oben  S.  8  f.): 

R.  Kühuei',  Ausführliche  Grammatik  der  griechischen  Sprache. 
Zweiter  Teil:  Satzlehre.  Dritte  Auflage  in  zwei  Bänden  in  neuer 
Bearbeitung  besorgt  von  B.  Gerth.  Erster  Band.  Hannover  und 
Leipzig  1898. 

Der  vorliegende  1.  Band  der  Neubearbeitung  entspricht  dem  1.  Teil 
der  Kühnerschen  Syntax  in  der  2.  Auflage,  indem  er  ira  wesentlichen 
die  Kongruenz,  die  Tempora  und  Modi,  die  Kasuslehre  mit  den  Piäpo- 
sitionen,  das  Pronomen  beschlägt;  wenn  man  den  weniger  gedrängten 
Druck  berücksichtigt,  ist  der  Umfang  unwesentlich  gewachsen.  Auch 
bei  der  Neubearbeitung  der  Satzlehre  sollte  die  Anlage  des  ganzen 
Werkes  gewahrt  bleiben,  obschon  auch  sie  vielfach  heutigen  Anspiüchen 
längst  nicht  mehr  genügt.  Selbstverständlich,  aber  mühevoll  war  die 
Sichtung  der  oft  auf  veralteten  Lesarten  und  Ausgaben  beruhenden 
Belege  und  der  darauf  beruhenden  Schlüsse;  wurden  alte  Belege  ge- 
strichen, so  traten  aber  auch  neue  hinzu ;  auch  neuere  Literatur  ist,  wenn 
auch  spärlich,  zitiert.  Aber  auch  eine  Reihe  von  Grundauschanungen 
Kühners  mußten    der  Auffassung    der   neueren  Forschung  weichen;  so 


Rcricht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890 — ir)0;i,  (Schwyzer.)       S7 

hat  Gertli  in  die  Tempuslehre  den  Begriff  der  Aktionsart  eing-eführt, 
dem  Oi)tativ  dns  liecht  eines  selbständif^en  ]\Iodns  Jiurücki^-e^ebcu  (Külmer 
hatte  ihn  als  Konj.  der  histor.  Tempora  gefaßt),  den  Gen.  und  Dat. 
als  Mischkasus  behandelt  —  freilich  alles  so  gut  es  bei  der  ganzen  An- 
lage des  Ruches  ging.  Wenn  so  Kühneis  Satzlehre  auch  in  ihrer  jüngsten 
(Testalt  nicht  das  Ideal  einer  griechischen  Syntax  darstellt,  als  reiche 
Fundgrube  bleibt  sie  nnschätzbar. 

Ungefähr  die  Hälfte  des  im  1.  Bande  der  Kühner-Gerthscheu  Satz- 
lehre dargestellten  Stoffes  —  es  fehlen  die  Abschnitte  über  Kasuslehre 
mit  Präp.  und  Pronomen  —  behandelt  der  1.  Teil  einer  in  englisclier 
Sproche  erscheinenden  aus'führlichen  griech.  Sjmtax: 

1).  L.  Gilderslee ve,  Sj'ntax  of  classical  Greek  from  Homer  to 
Demosthenes.  First  part.  The  syntax  of  the  simple  sentence  embracin,' 
tlie  doctrine  of  the  nioods  and  tenses.  With  the  Cooperation  of 
C.  W.  E.  Miller.     New  York  1900. 

p]iite  gelegentliche  Bemerkung  berührt  die  Praxis  des  Übersetzeus 
ins  Griech.  (^in  the  position  of  Jv  beginners  sometimes  make  a  mistake 
in  this  regard"  §  433)  und  es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  nicht  so 
sehr  in  der  Beschränkung  auf  die  klassische  Zeit  („the  better  days 
of  the  language"!  §64;  doch  werden  ein  paarmal  ueutestamentliche  und 
andere  spätere  Erscheinungen  zum  Vergleich  herangezojjen),  als  in  der 
Darstellung  der  Prosa  der  attischen  Redner  ,as  the  Standard  of  conven- 
tional  Greek"  (p.  IV)  auf  den  üniversitätsunterricht  Rücksicht  genommen 
ist,  und  dies  ließe  sich  auch  an  Einzelheiten  zeigen.  An  die  Haltung 
eines  guten  Lehrbuches  erinnert  auch  die  spärliche  Anführung  von 
Literatur,  die  Seltenheit  von  Anmerkungen.  Aber  wir  haben  ein  Lehr- 
buch vor  uns,  aus  dem  der  Lehrer  nicht  minder  lernen  kann  als  der 
Schüler,  es  ist  zugleich  eine  wissenschaftliche  Leistung  oder  vielmehr 
in  erster  Liniö  eine  solche.  Die  190  Seiten  des  1.  Teiles  enthalten 
in  467  §§  eine  Fülle  von  Belehrung.  Die  Darstellung  ist  knapp  und 
klar,  stellenweise  an  ein  Gesetzbuch  ei'innerud ,  aber  auch  wieder  des 
erklärenden  Momentes  nicht  entbehrend.  Weniger  gelungen  in  Anord- 
nung und  Behandlung  scheint  mir  gegenüber  den  andern  Abschnitten, 
besonders  der  Tempuslehre ,  die  Lehre  von  den  Modi.  Den  meisten 
Kaum  bearsprucheu  aber  die  zahlreichen,  vielleicht  einige  Male  (so  für 
die  Substantivierung  von  Adj.  und  Ptc.  S.  13/7  und  für  die  Stellung 
von  äv  S.  185/9)  sogar  etwas  allzu  zahlreichen  Beispiele;  sorgfältig  und 
zum  Teil  auf  Grund  selbständiger  Sammlungen  ausgewählt,  in  fast  durch- 
weg auch  orthos^raphisch  hergestellten  Texten,  illustrieren  sie  aufs  beste 
den  Sprachgebrauch  freilich  nicht  von  Homer  zu  Demosthenes,  wie  es 
im  Titel  heißt,    sondern  von  Demosthenes  zu  Homer.     Sie  sind  nämlich 


88       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  - 1903.  (Schwyzer ) 

überall  genangeordnet,  und  zwar  steht,  wo  immer  möglich,  die  Sprache 
der  Redner  an  der  Spitze,  es  folgen  Plato,  Xenoph.,  Thnk  ,  Herod., 
die  Komiker  und  Trjgiker,  Pindar  und  die  Ljm  ik,  die  homerische  Sprache 
bildet  den  Schluß.  Der  prächtigen  typographischen  Ausstattun?  ent- 
spricht die  äußerste  Korrektheit  des  Druckes.  G.  faßt  in  seiner  Syntax 
die  Ergebnisse  wohl  vierzigjähriger,  nicht  zum  geringsten  Teile  prak- 
tischer Arbeit  zusammen;  die  Probe,  die  bisher  davon  vorliegt,  beweist, 
daß  das  Ganze  ein  durchaus  eigenartiges,  in  seiner  Art  ausgezeichnetes 
Werk  bilden  wird.  —  Als  eine  Art  Ergänzung  dazu  kann  man  eine 
andere  Schrift  des  gleichen  Verfassers  betrachten,  obschon  sie  nicht  etwa 
in  dieser  Absicht  geschrieben  wurde: 

ß.  L.  Gildersleeve,  Problems  in  Greek  syntax.  Baltimore  1903 
[from  the  AJPh  23,  1—27.   121—141.  241—  260]. 

Die  drei  ausgereiften  und  anregenden  Aufsätze,  die  sich  auch  durch 
geistvolle  Darstellung  auszeichnen  (wenn  auch  die  für  syntaktische  Er- 
scheinungen gewählten  kühnen  Bilder  nicht  nach  jedermanns  Geschmack 
sein  mögen),  behandeln  ohne  Vorführung  von  Material  in  hinreichend 
ausführlicher,  wenn  auch  nicht  breiter  Erörterung  einen  großen  Teil 
des  Gebietes,  für  das  die  „Syntax  of  class.  Greek"  nur  Sätze  aufstellen 
und  Beispiele  liefern  konnte;  sie  greifen  sogar  durch  einige  Beme»  kungen 
zum  Satzgefüge  über  diesen  Rahmen  hinaus.  Bilden  sie  somit  tatsächlicli 
teilweise  eine  willkommene  Erläuterung  zu  dem  größeren  Werke,  ist  dies 
doch  nicht  ihr  Zweck:  sie  betrachten  vielmehr  all  die  vorgeführten  Er- 
scheinungen unter  dem  Gesichtspunkt  des  Stils;  eine  griechische  Syntax 
ist  naluruotwendig  eine  syntaxis  ornata.  Gegenüber  der  bloß  mecha- 
nischen Statistik  vieler  syntaktischen  Arbeiten  wird  jene  Vertiefung 
gefordert,  die  nur  durch  vollkommene  Vertrautheit  mit  dem  Schriftsteller 
und  dessen  literarisch-ästhetischer  Stellung  erreicht  wird.  Syntaktische 
Unterschiede  W'urzeln  oft  lediglich  im  Stil,  w-as  an  einer  Reihe  von 
Beispielen  feinsinnig  nachgewiesen  wird;  auf  der  andern  Seite  wird  aber 
auch  vor  einem  „hyperacstheticism"  in  der  Syntax  gewarnt.  Aber  das 
Fehlen  des  substantivierten  Inf.  bei  Homer  (10  f.)  beruht  doch  zunächst 
darauf,  daß  in  homerischer  Zeit  der  Artikel  noch  nicht  voll  entwickelt 
war;  erst  für  die  nachhomerische  Epik  ist  das  Fehlen  des  subst.  Inf. 
ein  Stilcharacteristicum,  das  aber  teilweise  auch  aus  dem  maßgebenden 
Einfluß  des  hom.  Epos,  nicht  allein  aus  der  vulgären  Sphäre  jener  syntak- 
tischen Erscheinung  sich  erklärt.  Für  die  nachklassische  Zeit  hat  der 
Verfasser  nicht  viel  Sympathie,  obschon  er  auch  sie  studiert;  man  ist 
fast  überrascht,  nach  Urteilen  wie  „oO  jxr^  has  become  the  cheap  eni- 
phasis  of  a  showy  race  and  a  degenerate  time"  (S.  138),  „we  sigh  when 
we  find  iav  with  the  indicative  in  later  Greek*  (S.  139)  ihr  doch  einen 


Bericht  über  griechische  Sprach wisscnscliaft  1890—1903.  (Schwyzer.)       89 

Wert  für  die  historische  Sprachforschung  zugestanden  zu  sehen  (S.  258). 
Und  doch  betont  G.  bei  mehr  als  einer  Erscheinung;  der  klassischen 
Zeit,  sie  hätte  zu  Homers  Zeiten  abstoßeud  gewirkt!  Das  Büchlein, 
das  uns  den  hochverdienten  Forscher  in  der  Einleitung  auch  menschlich 
näher  brinjit,  enthält  eine  grundsätzliche  Kritik  vieler  im  folgenden 
zu  nennenden  syntaktischen  Arbeiten  und  sollte  von  jedem,  der  an  eine 
solche  herantritt,  studiert  werden.^) 

Von  großer  allgemeiner  Wichtigkeit  ist  in  der  Syntax  die  syntak- 
tische Assimilation  oder  Attraktion,  Ausgleichung,  wie  mau  auch 
wohl  zu  sagen  pflegt.  Erscheinungen  wie  die  Attraktion  des  ßelativs 
oder  die  constructio  ad  sensum,  die  Prolepsis,  die  Modusassimilation 
u.  ä.  sind  bekannt  genug  und  von  allgemeinen  Gesichtspunkten  aus  hat 
schon  Ziemer,  Junggrammatische  Streifzüge  55  ff.  das  einigende  Band 
gefunde»;  jetzt  liegen  zwei  ausgezeichnete  schwedische  Arbeiten  vor, 
die  sich  das  Ziel  gesteckt  haben,  je  einen  Schriftsteller  auf  jene  Er- 
scheinungen hin  zu  untersuchen,  ein  unternehmen,  das  nicht  nur  für 
die  Interpretation,  sondern  auch  für  die  allgemeine  griech.  Syntax  frucht- 
bar zu  nenuen  ist: 

J.  E.  Azelius,  De  assimilatione  syntactica  apud  Sophoclem.  Diss. 
üpsala  1897. 

^)  Auf  eine  Reihe  vou  kleineren  Arbeiten  zur  allgemeinen  Syntax  ein- 
zelner Schriftsteller  kann  ich  hier  nur  verweisen,  z.  T.  auch  darum,  weil 
sie  mir  niclit  zugänglich  sind: 

*F.  Weigel,  Quaestiones  de  vetustiorum  poetarum  elegiacorum  Graeco- 
rum  sermone  ad  syntaxin,  copiam,  vim  verboram  peitiaentes.  Diss.  phil. 
Vindob.  III  109-238;  *Nehmeyer,  Syntaktische  Bemerkungen  zu  Hero- 
dot.  Progr.  Darmstadt  1895;  *C.  F.  Smith,  Some  poetical  constructions 
in  Thucydides.  TrAPhA  25,  61  —  81  (vgl.  ßphW  1895,  1569  —  72);  H. 
Kalletiberg,  Textkritik  und  Sprachgebrauch  Diodors  I.  Progr.  des  Fried- 
richs-Werderschen  Gymn.  Berbn  !9Ul  (Behandlung  einer  Reihe  einzelner 
Stellen,  mehr  textkritisch  als  grammatisch);  *P.  Schmidt,  Die  Syntax 
des  Historikers  Herodian.  Progr.  Gütersloh  1893;  E.  Mann,  Über  den 
Sprachgebrauch  des  Xenophon  Ephesius.  Progr.  Kaiserslautern  1896  (enthält 
neben  einer  Atizahl  von  Bemerkungen  zur  Formenlehre  besonders  Beobach- 
tungen über  die  Syntax  des  attizisierenden  Autors^ 

Neben  textkritischen  uud  semasiologischen  Bemerkungen  enthalten  auch 
Syntaktisches  die  mir  nicht  zugänglichen  (l>'./.oXo-,"./cr/.t -apc<-cr,p)^ai'c  von  K.  X. 
Kovxo;  in  vertchiedenen  Bänden  der  'Aö^rjvot  (vgl.  z.  B.  JA  5,  170.  7,  50).  — 
Oft  berühren  auch  syntaktische  Fragen  die  größeren  wissenschaftlichen 
Kommentare;  hier  muß  es  aus  naheliegenden  Gründen  bei  diesem  Hinweis 
sein  Bewenden  haben. 

Gegenüber  der  Bearbeitung  der  Literatur  liegt  die  syntaktische  Be- 
handlung der  Inschriften,  besonders  auch  der  Dialektinschriften,  noch  sehr 
im  argen. 


CQ        Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer ) 

J.  Liljeblafl,  De  a^similatione  syntactica  apiul  Thucydiilcm  quae- 
stiones.  I  ad  genera  nuraeros  casus  pertinentes.  Diss.  Upsala  1900. 
A.  behandelt  seinen  Stoff  nach  Ziemers  Kategorien  der  formalen, 
der  realen  nnd  der  Kombinationsausgleichnng  in  23  Abschnitten,  wobei 
alle  Seiten  der  Syntax  zur  Sprache  kommen;  für  alles  alle  Belea:e  an- 
zuführen, ist  nicht  beabsichtigt,  dagegen  finden  interessantere  Stellen 
eingehende  Erörterung.  Ein  willkommenes  Gegenstück  zu  Ä.s  Arbeit 
bildet  die  Untersuchung  von  L..  indem  sie  einen  Piosaiber  behandelt, 
freilich  auch  einen,  der  stilistisch  eine  besondere  Stellung  einnimmt. 
Wenn  L.  in  seiner  umfangreichen  Abhandlung  nur  einen  Teil  des  von 
Ä.  bearbeiteten  Gebietes  hat  bewältigen  können,  erklärt  sich  dies  zum 
guten  Teile  daraus,  daß  ei"  wenigstens  in  gewissen  Partien  auf  voll- 
ständige Beibringung  des  Materials  ausgeht.  Die  Anordnung  ist  selb- 
ständig, indem  L.  wohl  mit  Recht  Ziemers  dritte  Kategorie,  die  ledig- 
lich eine  besondere  Erklärungsweise  darstellt,  aufgegeben  hat.  Vgl. 
auch  *K.  Hude,  Satzassimilation.  NTF  6,  155.  Nur  einen  Ausschnitt 
behandelt 

*P.  L.  Cleef,    De  attractionis    in  enuutiationibus    relativis    usn 
Platonico.  Diss.  Bonn  1890. 

Kasuslehre. 

Ein  gi'oßer  Teil  der  hergehörigen  Arbeiten  sammelt,  teilweise  in 
rein  statistischer  "Weise,  nach  den  herkömmlichen  Gesichtspunkten  und 
in  Absicht  auf  Förderung  der  Textkritik,  das  Material  für  alle  oder 
einzelne  Kasus  aus  einzelnen  Schriftstellern.  Diese  können  hier  nicht 
ausführlicher  besprochen  werden;  eine  Zusammenstellung  der  mir  bekannt 
gewordenen  enthält  die  Anmerkung;  ausdrücklich  sei  auf  die  Arbeiten 
von  Helbing  und  Stourac  hingewiesen.^) 


^)  Homer  und  Ilesiod:  *E.  Kokorudz,  Ablat ,  Lokat.  und  In- 
strunjtnt.  bei  B.  (polnisch).  Progr.  Stanislau  1891.  1892  (sucht  nach  ZöGy 
1S93,  061  f.  1894,  849  f.  aus  den  homcr.  Gen.  und  Dat  jene  drei  idg.  im 
Griech.  untergegangenen  Kasus  auszuscheiden  —  eiu  Unternehmen,  das 
nur  unvollständig  gelingen  kann,  da  der  Synkretismus  schon  in  der  ältesten 
Zeit  vollzogen  ist;  dies  gilt  auch  für  ähnliche  Untersuchungen);  J.  A.  Scott, 
The  vocative  in  Homer  aud  Uesiod.  AJPh  24,  192 -G  (w  hat  etwas  Fami- 
liäres, bezeichnet  einen  Mangel  an  Reserve,  fehlt  daher  im  allgemeinen  im 
Epos,  namentlich  im  Gebet  und  in  der  Aurede  an  Götter);  vgl.  die  Bemer- 
kungen von  Gilde rsleeve  und  Miller  ebd.  197  —  9  (bei  Ap.  Rhod.  ist 
es  äbnliib,  aber  bei  Uomer  scheint  das  Zurücktreten  von  o>  auch  technische 
Gründe  zu  haben).  Herodot:  Stourac,  Über  den  Gebrauch  des  Genc- 
tivs  bei  Uerodot.  Progr.  Olmütz  1888.  1889.  1892.  1894.  189.-);   R.  Helbing, 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1800  —  1903.  (Schwyzer.)        Ol 

Eine  besondere  Stellung  nehmen  die  sog  absoluten  Kasnskon- 
strnktionen  ein,  die  entstanden,  indem  das  Verhcältnis  des  (meist 
partizipialon  Kasus)  zu  seinem  Recrens  allmählich  lockerer  wurde  und 
der  Kasus  den  Ausdruck  eines  besonderen  Gedankens  übernahm,  schließ- 
lich auch  gesetzt  wurde .  wo  im  Satze  kein  Regens  für  ihn  denkbar 
ist.  Im  Griechischen  ist  am  häufigsten  der  Genetiv  so  gebraucht 
worden,  dem  die  mir  nicht  zugängliche  Arbeit  von  H.  Hessau,  De  go 
netivi  absoluti  apud  scriptores  quinti  saeculi  usu.  FO  10,  237  —  61  gilt; 
dagegen  sind  Dativ  uui  Lokativ  (in  vereinzelten  Spuren  wie  xsXja- 
criai  OE  vrjoal  xa{}£tXo[;.£v  bcia  7:avTa  Hom.  Od.  9,  149)  auf  halbem  Wege 
Stehen  geblieben,  indem  die  Lockerung  des  Abhängigkeitsveihältnisse^, 
die  für  das  Sprachgefühl  bestand,  es  doch  zu  keinem  formalen  Ausdruck 


über  den  Gebrauch  des  echten  und  des  sociativen  Dativs  bei  Uerodot.  Di&s. 
Freiburg  im  Br.  1S98  (vgl  K.illenberg,  WkIPh.  1899,  228/30);  und:  Der 
iDslrumental  bei  Uerodot.  Progr.  Karlsruhe  1900  (vgl.  WklPh  1900,  1329132  ; 
Ansätze  zu  psychologischer  Behandlungsweise;  Beobachtung  der  beginnenden 
Ersetzung  des  Dativs  durch  piäpositiona'o  Fügungen).  Tragiker:  A. 
nillert,  De  casuum  syntaxi  Sophoclca.  Diss.  Berlin  1896.  (Behandlung 
vom  gewöbnlichen  Sprachgobiauch  abweichender  Rektionen  bei  Homer  und 
Soph.,  die  meist  durch  Bed-utungsverschiebungen  —  obschon  der  Verfasser 
das  nicht  Wort  haben  will  —  und  Analogie  bedeutungsverwandter  Veiba 
erklärt  werden;  viel  interessantes  Material;  beispielsweise  sei  auf  die  —  un- 
richtig erkläite  —  Verbindung  von  h  mit  Gen.  hingewiesen  S.  24,  vgl. 
dazu  Meisterhans- Schwyzer  2U,1S  N.  1720).  Redner:  P.  Detto,  De  gene- 
tivi  apud  Aeschiuem  usu.  Pro^r.  Magdeburg  1901  (ansprucblose  Zusammen- 
stellung des  interessanteren  Materials;  J  Ei  bei.  De  vocativi  usu  apud  decem 
orator.^s  Atticos.  Progr.  des  neuen  Gymn.  zu  Würzburg  1893  (der  Gebrauch 
ist  teils  stilistisch-rhetorisch,  teils  durch  die  Rücksicht  auf  den  Hiatus  be- 
dingt; Rücksicht  auf  die  Setzung  von  w  und  die  Stellung).  Herodas: 
"L.  Valmaggi,  De  casuum  syntaxi  apud  Herodam.   RF.  26,   37 — 54. 

Hier  noch  ein  Beispiel,  wie  wichtig  fur  Eiklärung  und  Textgestaltung 
•die  historisch-vergleichende  Syntax  werden  kann.  Hillert  (S.  14  f)  wird  von 
Wecklein  in  der  BphW  1897,  97  ff.  wegen  der  (freilich  anfechtbaren)  Benutzung 
von  Eur.  El.  123  xciaat  3c<:  dXöyoo  acpa-f^i;  getadelt;  ,,das  ist  einfach  unmög- 
lich und  längst  in  ä.  ■^'s^ay-'X-  verbessert."  Und  doch  ist  der  Genetiv  längst 
von  Brugmann  aufs  schönste  erklärt!  Gleich  sind  die  bei  Stourac  1892, 
S.  15  angeführten  Beispiele  aus  Herodot  zu  fassen:  aavooiXiov  cüxoü  -c.popv,- 
aEvov  II  91,13;  TÖv  rc/v-a  Wa'ud-^z'j:,  fr^'div-a  Loy,^^  l  109,4;  auch  was  Hoiton- 
Smith,  Conditional  sentences  425  anführt,  steht  nahe. 

Hier  seien  auch  noch  einige  Kleinigkeiten  zur  Kasuslehre  registriert, 
die  mir  nicht  zugänglich  sind;  J.  Keelhoff,  L'oxpression  'zb\>r-/.a  -i)  oh:; 
■zT'i  (p'.ßu)  Ti  ou  -'.V«.  RIP  36,  73  ff.;  i'30;  et  le  genitif.  ebd.  37,  135;  J.  W. 
Kern,  On  the  case-constructon  of  verbs  of  sight  and  hearing  in  Greck. 
Studies  in  honour  of  Gildersleeve  1902. 


92       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90-1903.  (Schwyzer.) 

brachte.  Anders  ist  es  wieder  beim  Akkusativ,  der,  wenn  auch  viel 
seltener  als  der  Genetiv  und  zum  Teil  formelhaft  verwendet,  doch  zu 
einer  selbständigen  Untersuchung  Stoff  geboten  hat: 

F.  Lell,  Der  absolute  Akkusativ  im  Griechischen  bis  auf  Aristo- 
teles. Ein  Beitrag  zur  historischen  Grammatik  der  griechischea 
Sprache.     Gyinn  -Progr.     Würzburg  1892. 

Einige  Hauptergebnisse  der  sorgfältigen,  ■svenn  auch  für  ein  Gyni- 
nasialprogramm  etwas  zu  viel  Akzentfehler  enthaltenden  Arbeit  sind 
kurz  folgende.  Nach  Entstehung  und  Gebrauch  ist  wohl  zu  scheiden 
zvvischen  dem  Acc.  abs.  Sg.  neutr.  des  Ptc.  praes.,  selten  fut.,  aor.,  perf. 
oder  fut.  exact.  unpersönlicher  Verba  in  konzessiver,  auch  kausaler  und 
konditionaler  Funktion,  z.  B.  irapov,  e^ov,  osov,  66?av,  y.upioöev,  oeoo-j- 
[xEvov,  wonebeu  der  (undeutliche)  Genetiv  selten  (im  aor.  und  perf.  pass. 
und  bei  Adj.)  gebraucht  wird  (völlig  erstarrt  ist  das  besonders  bei  Iso- 
krates  auftretende  tu/ov  in  der  Bedeutung  von  ayeoov,  ijw^)  und  dem 
freieren,  aber  weniger  häutigen  Acc.  absol.  persöul.  Verba  mit  wc,  der  nicht 
selten  sogar  im  selben  Satz  mit  dem  Gen.  abs.  wechselt.  Der  erste  Fall 
entstand  durch  Verselbständigung  einer  akkusativ.  Apposition  zum  ganzen 
Satz,  vgl.  w?  [XTj  T£y.v'  ebiöcojxsv,  dv63iov  öiav  Eur.  Her.  f.  323  und  "lojva 
ou\o[Ld^(a  a£,  ttq  Tu-/r]  -psTiov  Eur.  Ion  661,  der  zweite  durch  Verselb- 
ständigung akkusativischer  Partizipialkonstruktion  bei  Verb.  sent.  und 
declar.  Am  freiesten  und  relativ  häufigsten  hat  Thukyiüdes  den  abs.  Akk., 
besonders  von  unpers.  Verben,  gebraucht.  Statt  des  neutr.  vom  Ptc. 
finden  wir  auch  das  neutr.  eines  Adj.  mit  ov,  das  nur  weggelassen  werden 
kann,  wenn  in;  dabeisteht,  die  Partikel,  die  —  neben  üjjrcsp  —  auch  sonst 
zur  Einführung  eines  subjektiven  Momentes  zutritt  (ständig  beim  ptc. 
fut.).  Nicht  berücksichtigt  hat  der  Verfasser  das  formale  Moment,  das 
in  der  Stellung  liegt:  die  Apposition  zum  Satz  muß  diesem  folgen, 
während  der  abs.  Akk.  in  seiner  Stellung  frei  ist. 


Pronomen  (samt  Artikel). 
Unter  den  Arbeiten    zum  Pronomen    nimmt  die    erste  Stelle  ein 

A.Dyro  ff,  Geschichte  desPronomen  reflexivum.  I.  Von  Homer  bis 
zur  attischen  Prosa.  H.  Die  attische  Prosa  und  Schlußergebnisse. 
Würzburg  1892.  1893  (=  Beitr.  z.  bist.  Syntax  der  griech.  Sprache,  hg. 
von  M.  Schanz.  Band  III  Heft  3.  4). 

Hat  die  von  M.  Schanz  angeregte  Sammlung  auch  noch  nicht 
die  historische  Syntax  der  klassischen  Gräzität  gezeitigt,  die  ihr  Heraus- 
geber im  Jahre  1883  in  6 — 8  Jahren  erscheinen  lassen  zu  können  glaubte, 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenscliaft  1S90  — lOOo.  (Schwyzer.)       03 

so  hat  sie  doch  eine  ganze  Anzahl  der  wertvollsten  Bausteine  zu  diesem 
Gebäude  geliefert-,  sie  enthält  eine  Reihe  der  besten  Arbeiten  zur 
griechischen  Syntax  überhaupt,  wetteifernd  mit  teilweise  anders  orien- 
tierten Arbeiten  der  amerikanischen  Syntaktiker.  Und  unter  diesen 
nimmt  Dyroffs  umfassende,  mit  Recht  nur  das  bedeutungsvolle  Material 
ausführlich  mitteilende ,  im  übrigen  sich  auf  statistische  Tabellen  be- 
schränkende Darstellung  der  Geschichte  der  Reflexion  nicht  den  letzten 
Rang  ein.  Das  einleitende  Kapitel  stellt  nach  einifjen  allgemeinen 
Bemerkungen  über  die  Reflexion  und  ihren  Ausdruck  im  Griechischen 
die  syntaktischen  Gesichtspunkte  für  die  folgende  historische  Darstellung 
auf:  scharfe  Scheidung  zwischen  direkter  (gewöhnlicher  und  invertierter) 
und  indirekter  Reflexion,  welch  letztere  sich  wieder  in  abhängigen 
Strukturen  anders  gestalten  kann  als  in  den  verschiedenen  Arten  der 
Nebensätze.  Kapitel  II — IX  führen  die  allgemeinen  Gesichtspunkte  im 
einzelnen  an  dem  Material  aus  Epos,  Lyiik,  Drama,  Herodot,  der 
attischen  Prosa  bis  auf  Plato  durch;  von  den  Inschriften  sind  nur  die 
attischen  eingehender  berücksichtigt.  Die  ersten  Kapitel  schließen  je 
mit  einem  Rückblick,  der  den  Gebrauch  des  darin  behandelten  Sprach- 
kreises kurz  zusammenfaßt,  vom  VI.  an  ist  dies  dem  umfangreichen 
X.  Kapitel  (II  110—186)  überlassen,  das  eine  ausführliche,  zugleich 
einiges  berichtigende  Darstellung  der  wichtigsten  Ergebnisse  des  ganzen 
Buches  bietet.  Daran  wird  sich  im  allgemeinen  der  Sprachforscher 
halten  können,  während  die  Behandlung  der  einzelnen  Quellen  besonders 
dem  Textkritiker  viele  schätzenswerte  Winke  gibt.  —  Das  einfaclie 
Pronomen,  schon  im  Vorgiiechischen  reflexiv,  ist  freilich  bei  Homer, 
der  auch  hierin  die  ganze  folgende  Poe«ie  aufs  tiefste  beeinflußt  hat, 
während  sie  in  den  Formen  eine  gewisse  Entwickelnng  aufweist,  meist 
anaphorisch  —  eine  Verwendung,  die  bei  der  Bezeichnung  der  indirekten 
Reflexion  sich  entwickelte,  deren  häufiger  Gebrauch  in  der  Poesie  jedoch 
auch  stilistische  und  metrische  Gründe  hat.^)  Auch  Herodot  zeigt  noch 
häufig  die  anaphorische  Bedeutung,  danach  vereinzelt  auch  Thuk.  und 
Xenophon;  Regel  ist  sonst  im  Att.  der  indirekte  Gebrauch.  Das  ein- 
fache Pronomen  wird  nach  und  nach  durch  die  Verbindung  mit  «utoc 
verdrängt  —  die  homerische  Verwendung  der  obliquen  Kasus  des  allein- 


^)  Es  sei  darauf  hingewiesen,  daß  jetzt  Brugmann,  gr.  Gr.  *  419 
annimmt,  die  anaphorische  Bedeutung  sei  durch  Vermischung  des  reü. 
Stammes  mit  finem  urspr.  davon  gesonderten  Stamme  anaphorischer  Be- 
deutung entstanden,  die  zuerst  im  Dativ  eintrat  —  Daß  an  und  für  sich 
die  Reflexion  aus  der  Anaphora  entstehen  kann,  zeigen  gewisse  Schweiz. 
Dialekte,  wo  nicht  nur,  wie  gewöhnlich  im  Mbd.  die  Dat.  im,  ir,  PI.  in, 
sondern  auch  die  Akk.  reflexiv  verwendet  werden,  z.  B.  er  häd-tn  ''brännt, 
er  bat  sich  eine  Brandwunde  zugezogen,  wörtlich:  „er  hat  ihn  (sich)  gebrannt". 


94        Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Scbwyzer.) 

stehenden  auTo;  als  Reflexiv  oder  Bildungen  wie  au-ocau-oü  bleiben 
vereinzelt.  Die  Eatwickelung'  geht  von  der  3.  Pers.  aus,  wo  zuerst 
eine  feste  Stellung  der  beiden  Bestandteile  sich  heiausbildet,  während 
die  entsprechenden  Fügungen  in  der  1.  und  2.  Person  anfangs  ihrer 
Stellung  nach  frei  und  ohue  reflexive  Bedeutung  sind.  Zuerst  erscheint 
eine  zusammeugezogene  Form  bei  Hesiod  (iaur/]);  das  einfache  Pronomen 
geht  im  Attischen  verloren  (am  zähesten  ist  ccpi'jt,  vou  einem  Stamme, 
der  ursprünglich  nichts  Reflexives  hatte).  Dazu  stimmt,  daß  iu  der 
3.  Pers.  sich  das  Bedürfnis  einer  einfachen  Pluralform  geltend  machte 
(wohl  zuerst  in  possessiver  Verwendung),  die  nun  aucii  vom  Singular 
aus  gebildet  wurde  (iau-cüv,  auTtuv),  den  man  in  seinem  Ursprung  nicht 
mehr  klar  empfand,  während  die  1.  und  2.  Person  die  lediglich  ver- 
bundenen Formen  beibehielten.  Das  Prouominai-Adjektiv  besitzt  ein 
besonderes  Interesse,  weil  es  in  der  ältesten  Zeit  noch  Spuren  des  freien 
Gebrauchs  für  alle  Personen  (aber  fast  nur  für  den  Singular)  aufweist; 
damit  hängt  aber  der  gelegentliche  Gebrauch  von  aG-oü  auTÖJv  auch  für 
die  1.  und  2.  Pers.  u.  ä.  nicht  zusammen;  nur  zufällig  ist  die  Sprache 
wieder  zu  dem  verlassenen  alten  Geleise  zurückgekehrt.  Das  Wesen 
der  griech.  Reflexion  besteht  darin,  daß  eine  Handlung  zu  dem  handelnden 
Subjekt  zurückläuft;  von  Subjektivität  kanu  nicht  die  Rede  sein. 

Dies  einige  Hauptergebnisse  der  tiefeindringeuden ,  von  philoso- 
phischem Geiste  getragenen  Arbeit,  die  sehr  eine  Fortsetzung  für  die 
nachklassische  Zeit  erwünscheu  läßt:  nicht  nur  würden  dabei  einige 
dieser  eigene  Erscheinungen  in  schärferes  Licht  treten  (ioio;),  sondern 
auch  die  bevoizugte  klassische  Periode  würde  manches  gewinnen.  D. 
weist  ja  selbst  au  verschiedenen  Stellen  auf  die  Wichtigkeit  der  Kenntnis 
der  byzantinischen  Schreibgewohnheit  hia  (vgl.  dazu  auch  Diel?, 
DLZ  1898,  762),  und  die  Erweiterung  des  Gebrauchs  von  sauTo-  tritt 
durch  dessen  Ausdehnung  und  Neugestaltung  in  späterer  Zeit  in  eine 
etwas  andere  Beleuchtung  (vgl.  Ilatzidakis,  Eiul.  189  f.),  —  Diesen 
Wunsch  erfüllt  —  freilich  nur  für  einen  kleinen  und  für  die  lebendige 
Sprachentwickelung  belanglosen  Teil  der  Literatur  —  das  zweite  Kapitel 
der  Leipziger  Dissertation  von 

P.  Lorentz,    Observationes    de    pronominum    personalium   apud 
poetas  Alexandrinos  usu.  Berlin   1892, 

deren  erstes  Kapitel  auch  die  teils  wirklich  oder  vermeintlich  homerische 
oder  poetische,  teils  aber  auch  der  Prosa  folgende  Anwendung  der 
übrigen  Personalprunomina  bei  den  alexandrinischcn  Dichtern  bis  auf 
Oppiau  behandelt.  —  Mit  Dyroffs  Gebiet  berührt  sich  auch  wenigstens 
in  zwei  Kapiteln,  auf  die  der  Verfasser  sich  besonders  viel  zugute 
tut,    die  Arbeit  eines  tschechischen  Forschers: 


ßeiiclit  über  griecbi-.cbe  Spiacbwissenschaft  lb9ü  -  IDO;;    (Scliwyzer.)       95 

J.  Kvicala,  Badilui  v  oboru  skladby  jazylcüv  iiidoeuropskycli  I. 
V  Praze  1894  [--Forscliuiigen  auf  dem  Gebiete  der  Syntax  der  idg-. 
Sprachen;  aus  den  Abb.  der  böhmischen  Akademie  zu  Frag;  hier 
lediglich  nach  dem  S.  191  — 2G4  beigegebenen  deutschen  Auszug  aus 
der  tschechisch  geschriebenen  Abhandlung  besprechen]. 

Freilich  bildsu  Dj'roffs  Ausführungen,  die  Kv.  noch  niclit  bekannt 
waren,  zugleich  die  beste  Kritik  von  dessen  Behandlung  des  Reflexivs, 
die  für  eine  anaphorische  Giuudbedeutung  eintritt  und  die  freiere  Ver- 
wendung in  allen  Sprachen,  wo  sie  auftritt,  als  sekundäre  Entwickelunif 
faßt.  D^'roff  ist  im  Vorteil,  weil  er  seine  Darlegungen  auf  einer  voll- 
st äudigen  Sammlung  des  Materials  aufbauen  konnte.  Ungerecht  wäre 
t's  allerdings,  dies  von  Kv.  zu  verlangen,  da  er  sich  im  übiigen  viel 
weitere  Grenzen  gesteckt  hat:  er  behandelt  nicht  nur  das  Reflexiv, 
sondern  einzelne  Kapitel  aus  der  j^anzen  pronominalen  Syntax  und  zieht 
neben  dem  Griech.,  das  iuimerhiu  bevorzugt  bleibt,  auch  die  verwandten 
Sprachen,  bes.  das  Lat.  und  Tschech.  sowie  das  Deutsche,  heran.  Die 
formalen  Bemerkungen  zeigen  freilich  überall,  daß  der  Verf,  mit  Er- 
}.;ebnissen  und  Methode  der  neueren  Sprachwissenschaft  nicht  bekannt 
ist,  sondern  noch  auf  dem  Staudpunkt  seiner  1870  erschieneneu  „Unter- 
suchungen auf  dem  Gebiet  der  Pronomina"  steht  (z.  B.  a^-  aus  sv-, 
0  aus  tO;  laetor  aas  laeto  se!j.  Die  neuen  syntaktisclien  Ergebnisse 
für  das  Griech.,  die  hier  allein  in  Frage  kommen ,  stehen  iu  keinem 
rechteu  Verhältnis  zum  Umfange  des  Buches,  zumal  da  die  Sammlung 
des  Materials  doch  nicht  vollständig  und  abschließend  ist.  Es  sei  hier 
liervorgehoben,  was  weitere  Beachtung  verdient:  Persöul.  Pron.;  über 
(iKU  Gebrauch  des  Nom.  ohne  Nachdruck  (besonders  in  Formeln  wie 
i-jcojj-at,  olo  e-j'U);^)  auch  das  Neugr.  wäre  zu  berücksichtigen;  der  Unter- 
schied zwischen  betonter  und  unbetonter  Form  findet  sich  auch  iu 
deutschen  Dialekten).  Eecipr.  Pron.:  Zusammenstellung  der  ver- 
schiedenen Ausdrucksmittel  (z.  B.  auch  avrjp  sAev  avopa,  manus  maiium 
lavat).  Possess.  Pron.:  u.  a.  Beispiele  tüi-  die  objektive  Verwendung 
(£[xoc  iToDo;).  Demonstr.  Pron.:  ooz  ist  Pron.  der  1.,  ouro;  ursprünglich 
solches  de)-  2.  Person,  bei  letzteiem  verschwindet  aber  schon  früh  die 
Beziehunj;  auf  die  Person,  es  behält  nur  die  Nuance,  daß  der  Gegen- 
stand, auf  den  es  sich  bezieht,  bekannt  ist;  über  die  Entvvickelung  des 
Artikels:  ein  Rest  der  demonstrativen  Bedeutung  von  to-  auch  noch 
iu  Tov  £jj.£,  Tov  ai  (Beispiele),  ferner  in  Verbindungen  wie  tcov  t;;  Auöiüv 


^)  Über  die  Setzung  von  £710  handelt  auch  M.  W.  Humphreys,  CIR 
1S97,  l'oü  f.  (nicht  historisch).  —  Vgl.  auch  *M.  L.  Earle,  Zum  Gebrauche 
des  nicht  pronominalen  Nominativs  als  Ausdruck  der  ersten  Person  bei 
Euripides  (/■  tszo^jc;'  d-oKhju.rj.'.).     PrAPbA  32  p.  XCIX  — C. 


96       Bericht  über  grieihische  Sprachwissensciiaft  1890  —  1903.  (Scliwyzer. ) 

(Herodot),  die  mit  honier.  -Tj  ü'aiY.o'j::^  «[xa  -ohi  vuvy)  yJ.v/  auf  eine  Linie 
g'erückt  werden,  eigfentl.  also  ,,\on  diesen  jemand,  nämlich  von  den 
Lydern'-;  der  generelle  Gebrauch  des  Artikels  entstand,  indem  ein 
Gegensatz  vorschwebte.  Interrog.  Pron.:  der  Gebrauch  von  Tio-spoc 
ist  —  im  Gegensatz  zu  den  slav.  Entsprechungen  —  streng  auf  die 
eigentliche  Bedeutung  beschränkt,  nur  das  erstarrte  TcoTspov  leitet  auch 
mehr  als  zweigliedrige  Fragen  ein. 

Eine  besondere  Anwendung  von  au-ro?  untersucht  F.  Stolz,  Der 
attributive  Gebrauch  von  auroj  beim  sociativen  Dativ.  "WSt  20,  244 
—  251.  Er  weist  (in  Übereinstimmung  mit  Kühner-Gerth)  nach,  daß 
auToc  hier  (wie  auch  sonst  oft)  ursprünglich  nur  die  Aufgabe  hatte, 
ausdrücklich  auf  das  im  soziativen  Dativ  stehende  Substantiv  hinzu- 
weisen, also  ursprünglich  fehlen  konnte,  also  autoiJiv  Ttittoisiv  eigentl. 
»mit  den  Pferden  eben",  , gerade  mit  den  Pferden".  Die  Hinzufügung 
von  ouv  ist  jünger  und  das  soziative  Element  in  auro;  ist  erst  in  der 
besprochenen  Verbindung  entwickelt.  Ohne  die  Arbeit  von  Stolz  zu 
kennen ,  entwickelt  grundsätzlich  ungefähr  dieselbe  Anschauung 
C.  Hentze,  Der  sociative  Dativ  mit  auto;  in  den  homerischen  Ge- 
dichten.    Ph.  61,  71—76. 

Außer  diesen  größeren  sind  zu  den  Pronomina  noch  einige 
kleinere  Arbeiten  zu  nennen.^) 

Eine  besondere  Besprechung  erheischen  die  Untersuchungen  über 
ein  schon  im  vorhergehenden  kurz  berührtes,  seinem  Ursprünge  nach 
pronominales  Wort,  den 


Artikel. 

Es  handelt  sich  hier  namentlich  um  die  schwankende  Anwendung 
desselben  bei  Eigennamen  oder  diesen  nahestehenden  Wörtern.  Nach 
den  mir  nicht  zugänglichen  allgemeinen  (?)  Ausführungen  von 

B.  L.  Gildersleeve,   On  the  article  with  proper  names.    AJPh 


^)  M.  A.  Kugener,  Une  hyperbate  apparente  du  pronom  enclitique 
jic.  RIP  189G,  II  88/9G;  L.  Radermacher,  Toaoöto;  (ohne  nachfolgenden 
Konsekutivsatz,  vgl.  lat.  est  tanti)  RhMPh  55,  482  f.;  woran  anknüpfend 
N.  Wecklein,  über  -oto;  und  -otoüto;.  ebd.  58,  154;  'K.  Sagawe,  Über 
den  Gebrauch  des  Pronomens  szc«3to;  bei  Ilerodot.  Progr.  Breslau  1891; 
*Th.  Korsch,  De  -"oTt;  pronomine  ad  defiuitam  rem  relato.  FO  11,  1, 
87—90;  M.  Dufour,  De  l'emploi  des  pronoms  relatifs  grecs  dans  les  pro- 
positions  interrogatives  indirectes.  RPh  14,  57—60  gibt  eine  Auswahl  von 
Beispielen  für  ö';,  oto;,  030;  an  Stelle  von  03x1;,  ö-oto;,  6:1:030;. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890 — 1903.  (Schwyzer.)       97 

11,  483— 507  1)  sind  besonders  zu  nennen  die  Arbeiten  von  H.  Kallen- 
berg,  Der  Artikel  bei  Namen  von  Ländern,  Städten  und  Meeren  in 
der  griechischen  Prosa  [bis  auf  PausaniasJ.  Ph  49,  515 — 47  und 
Studien  über  den  griechischen  Artiiiel  II.  Progr.  des  Fiiedrichs- 
Werderschen  Gymn.  Berlin  1891.  Folgendes  sind  einige  Hauptergeb- 
nisse der  eingehenden  Uritersuchungen.  Ursprünglich  adjekt.  Länder- 
namen —  nur  solche  können  77]  oder  /wpa  bei  sich  haben  —  haben  den 
Artikel,  solange  sie  adj  empfunden  werden  [vgl.  unser  „ins  Öster- 
reichische, Bayrische"];  so  sagte  man  in  älterer  Zeit  tj  BotwTia  neben 
dem  adj.  Botwr-.oc;  als  die  Adj.  Boiiotixoj  und  BoKuriaxo;  aufkamen, 
wurde  der  adj.  Ursprung  des  Ländernamens  nicht  mehr  empfunden  und  man 
sagte  deshalb  Bottüxta.  Doch  finden  sich  auch  mit  unsern  Mitteln  nicht 
zu  erkläjende  Ausnahmen:  Auoia  ohne  Artikel  trotz  Auoio;;  ähnlich 
KiXtxia,  Opu^ta  [stammen  diese  Namen  schon  aus  der  Zeit,  die  den 
Artikel  noch  nicht  kannte?].  Städtenameu  stehen  ohne  Artikel  —  iroXtc 
tritt  bei  bekannten  Städten  nie  zu  — ,  Meere  und  deren  Teile  verlangen 
ilin.  Abgesehen  ist  bei  den  genannten  und  den  gleich  zu  nennenden 
Kategorien  vom  anaphorischen  Gebrauch  des  Artikels  sowie  von  den 
attributiv  stehenden  Verbindungen  mit  Präpositionen,  bei  denen  der 
Aitikel  auch  da  fehlt,  wo  er  an  sich  stehen  würde.  Die  zweite  Ab- 
handlung beschäftigt  sich  mit  den  Fluß-  und  Gebirgsnamen,  die  sich  im 
ganzen  gleich  verhalten  und  zwar  schwankend,  da  ein  subjektives 
Moment  dabei  ausschlaggebend  ist,  das  größere  oder  geringere  Bekannt- 
sein des  Flusses  oder  Beiges.  Unbekannte  Flüsse  oder  Berge  werden 
ohne  Aitikel  eingeführt,  erhalten  dagegen  den  erklärenden  Zusatz 
iroT7(ji.6;  bzw.  opoc,  der  nur  fehlt,  wenn  der  Zusammenhang  über  die 
Natur  des  Namens  keinen  Zweifel  aufkommen  läßt;  bei  Wiederholung 
wird  der  Artikel  zugeführt,  den  allgemein  bekannte  Flüsse  schon  bei 
ihrem  ersten  Auftreten  zeigen.  So  z.  B.  6  NsiXoc  (mit  TcotaiJLoj  erst 
spät).  Für  die  späteie  Literatur  (Polyb.  bzw.  Strabo)  sind  das  zugesetzte 
xaXoü(jL£voc  und  die  Fügung  0  7roTa[JLÖ;  6  typisch.^) 


M  Das  AJPh  ist  mir  erst  von  Band  19,  1898  an  zugänglich  gewesen. 

^)  Arbeiten  zu  einzelnen  Schriftstellern:  *W.  Uckermann,  Über 
den  Artikel  bei  Eigennamen  in  den  Komödien  des  Aristophanes.  Progr. 
des  Sophiengymn.  Berlin  1892;  C.  Schmidt,  De  articulo  in  nominibus 
propriiö  apud  Atticos  scriptores  pedestres.  Diss,  Kiel  1890  (allgemeiner 
und  spezieller  Teil,  letzterer  fleißige  Materialsammlung;  „articulum  nunquam 
sine  causa,  sed  saepe  sine  regula  stare;  cur  articulus  stet,  imprimis  inter- 
pretatiouis  et>se);  A.  Zucker,  Beobachtungen  über  den  Gebrauch  des 
Artikels  bei  Personennamen  in  Xenophons  Anabasis.  Gymn.-Progr.  Nürn- 
berg 1899  (nach  einer  Kritik  der  Regeln  der  Schulgrammatik,  wobei 
Krügers  FasBung  den  Vorzug  erhält,  wird  wesentlich  für  den  Nom.  des 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1904.  I.)  7 


98       Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

Adjektiv.    Zahlwort. 

Xur  genannt  sei  eine  kleine  Arbeit  über  die  Substantivierung- 
des  Adj.: 

M.  Kohn,  De  usu  adjectivornm  et  participiornm  pro  substantivis, 
item  substantivonim  verbalium  apud  Thucydidem.     Berlin   1891. 

K.  führt  aus,  die  Subst.  werden  ohne,  die  snbst.  Adj.  mit  Be- 
ziehung auf  einen  bestimmten  Fall  gebraucht,  und  zwar  besonders,  wenn 
das  daneben  stehende  Subst.  von  der  abstrakten  zur  konkr.  Bedeutung 
übergegangen  sei.  —  Das  Hauptinteresse  gilt  aber  der  Syntax  der 
Komparation,  die  eine  ausführliche  Behandlung  erfahren  hat: 

0.  Schwab,  Historische  Syntax  der  griechischen  Komparation  in 
der  klassischen  Literatur.  3  Hefte.  Würzbnrg  1893.  1891.  1895 
(=Beitr.  z.  bist.  Syntax  der  griech.  Sprache  Heft  11  — 13). 

Die  gehaltvolle  Arbeit  gliedert  sich  in  einen  allgemeinen  und 
einen  ungleich  größeren  besonderen  Teil,  der  —  in  sachlicher,  nicht 
chronologischer  —  Anordnung  das  Belegmaterial  für  die  leitenden 
Gesichtspunkte  beibringt,  freilich  nur  soweit  es  wirklichen  Wert  hat. 
Die  Hauptverdienste  sind  die  strenge  Scheidung  zwischen  der  adversa- 
tiven Bedeutung  des  Komparativs  und  des  Superlativs,  wo  zunächst  nur 
der  Kontrastbegriif  in  Vergleichung  steht  (vgl.  ötiXu-soo;:  arkad. 
dppEVTspoc,  (JptaTcpoc  :  os^tTspoc,  evlp-repoc  :  uzspTspo;)  und  der  steigernden 
sowie  die  Auffassung  des  Komparationskasus  (Gen. -Abi.)  als  unabhängig 
neben  r^  stehenden,  sogar  älteren  Ausdrucksraittels  für  das  Maß,  von 
dem  aus  der  Adjektivbegriff  beurteilt  wird.     Unbefriedigend  bleibt  da- 


Artikels  der  Nachweis  versucht,  der  Artikel  stehe  in  der  Erzählung  als 
lebensvolles  stilistisches  Element  in  dramatisch  bewegten  Szenen  zur  Be- 
tonung der  aktuellen  Bedeutung  des  Erzählten.  Ganz  fehlt  er  dagegen  in 
Reden.  Vielleicht  wäre  es  besser  zu  sagen,  er  drücke  eine  persönliche 
Anteilnahme  der  Schriftsteller  mit  einem  Stich  ins  Familiäre  aus); 
*S.  Brassai,  Gebrauch  des  Artikels  bei  Plutarch  (ungarisch).  Egyetemes 
phil.  közlöny  17,  321—8;  A.  Deißmann,  Der  Artikel  bei  Eigennamen  in 
der  spätgriechischon  Umgangssprache.  BphW  1902,  1467  f.  (Der  Artikel 
steht  teils  wie  in  der  früheren  Sprache,  teils  auch  ohne  erkennbaren  Grund 
und  schwankend.) 

Einzelnes:  *S.  Sobolewski,  Zur  Lehre  vom  griech.  Artikel  (russ.) 
FO  10,  103—118  (über  das  Fehlen  des  Artikels  bei  ro/.-.:  u.  ä.);  'J.  E, 
Harry,  The  Omission  of  the  article  with  substantives  after  oij-o;  öo£  ixsTvo; 
in  prose.  TrAPhA  19,  48/64;  H.  Kallenberg,  Der  Artikel  bei -'/;,  ojto:, 
i/Eivo;  und  oo£  [bei  Herodot].  Jahresber.  des  pbilol.  Vereins  in  Berlin  in 
ZG  1897,  204—22.  —  Vgl.  noch  unten  S.  132. 


Beriebt  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90 — 1903.  (Schwyzer.)       99 

gegen  die  Behandlung  von  r^,  das  Brugmann,  gr.  Gr.^  541  f.  einleuchtend 
als    ;,wie''   erklärt.     Nach    diesen    allgemeinen  Andeutungen    mag  eine 
Übersicht    des    besonderen  Teiles   einen  Beijriff  von  der  Fülle  des  ver- 
arbeiteten Materials    geben.     Er  beginnt  mit  der  Syntax  der  (älteren) 
gegensätzlichen  Komparation;    der  gegensätzliche  Komparativ  wird  be- 
sonders bei  der  paarweisen  Gegenüberstellung  kontradiktorischer  Adjektiv- 
begriffe (Tipsaßo-spoi-vscuTspot:  die  verhältnismäßig  Alten,  Jungen)  sowie 
bei    der    Gegenüberstellung    eines   Begriffes    und    seiner  Negation    ver- 
wendet.    Besonders    ausführlich    wird    das  adversativ-korrektive  |j.aXXov 
(t)')  „vielmehr"  behandelt.    Die  doppelte  Komparativform  beim  Vergleich 
zweier  Adjektivbegriffe    (su-uysjTspo?  v)  aocpcurepo?)    ist    Ausdruck    ihrer 
gegenseitigen  vergleichsweisen  Beziehung.  Für  die  Syntax  der  steigernden 
Komparation    ergibt    sich    als    wichtigstes  Einteilungsprinzip    das    ver- 
glichene Glied:    Komparationskasus  oder  -Jj.     Als  allgemeines  Ergebnis 
sei  erwähnt,    daß    der  Komparationskasus,    abgesehen  von  den  Fällen, 
wo  er  aus  formalen  Gründen  wenig  beliebt  oder  nicht  möglich  ist,  drei- 
mal   so    häufig    ist    wie    die  Partikel,    die   freilich  allmählich  zunimmt 
(wann  der  komparative  Gen.  verschwand,  wäre  noch  zu  untersuchen  — 
überhaupt    würde    eine  Weiterführuug    der  Schwabschen  Arbeit  in  die 
hellenist.  Zeit  hinein  viel  Interessantes  zutage  fördern).    Ausschließlich 
steht  z.  B.  der  Gen.  bei  der  sog.  comparatio  reflexiva  und  compeudiaria, 
im   bildlichen  und  sprichwörtlichen  Vergleich    (hier  Übersicht  über  die 
Vergleiche  der  griech.  Lit.),  in  Verbindungen  wie  ouSsvoc,  iravxo?  [xaXXov 
und    bei  Superlativen    ((oxujxiupoTaToc  aXXcov  „im  Vergleich  zu  andern"; 
in    historischer  Zeit    freilich    mehr    und   mehr  partitiv  gefaßt).     Auch 
sonst  überwiegt  der  Gen.  oder  ist  wenigstens  gleichberechtigt;  lediglich 
formale    grammatische  oder  stilistische  Gründe  sichern  rj  den  Vorzugs- 
oder gar  den  alleinigen  Gebrauch  (Dat.  und  Gen.  als  zweite  Vergleichs- 
glieder, Rücksicht  auf  Deutlichkeit  oder  Wohlklang,   Vergleichung  von 
Adverbialbestimmungen,    Sätzen    oder  Satzteilen).     Weiter    werden  — 
auch    die  Syntax  der  gegensätzlichen  Kompai'ation  zeigt  entsprechende 
Abschnitte  —  Umschreibung  und  Ersatz  des  Komparationskasus  mittelst 
Präpositionen  (7rp6,  avri,  irpos  c.  acc,  uapa  c.  acc  u.  a.)  und  komparativer 
Konjunktionen  (wc,  uj--sp,  zugleich  eine  Analogie  zur  Verwendung  von 
■}]).    sowie    die    steigernden  Vergleiche  mit  zu  ergänzendem  Vergleichs- 
objekt   behandelt.     Die  Vermischung  der  beiden  Steigernngsgrade  läßt 
sich    in    der  klassischen  Zeit  nur  in  bestimmten  Fällen  wie  upöiTo?  bei 
nur  zwei  Gliedern,  ujispo?,  -fspaiTspo;  (vgl.  auch  uo-spov-^')  bei  mehr  als 
zwei  Vergleichsobjekten  beobachten;  Abschwächung  der  steigernden  Be- 
deutung zeigt  sich  in  ou  ttXeov  =  nicht  mehr,  ouxext,  etwas  häufiger  bei 
adversativen  Komparativen    wie    Xwov    xal    a[X£ivov  im  Orakelstil.     Ein 
dritter  Abschnitt    des    besonderen  Teils  beschäftigt  sich  mit  den  maß- 


100     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  —  1903.  (Schwyzer.) 

bestimmenden  bzw.  gradsteigernden  Zusätzen,  erst  mit  den  zu  beiden 
Komparationsformen  tretenden  quantitativen  Maßbegriffen  oder  intensiv- 
steigernden und  begrifiserweiteinden  Zusätzen,  dann  mit  den  steigernden 
Zusätzen  zum  Supei'lativ.  Einzelnes:  7:0X6,  aber  oli'jio  sind  im  ganzen 
Rege!;  Erklärung  von  Iv  -01;  yaXe-cuxa-ov  (durch  Verschiebung  aus  ev 
T.  ycLXzr.ioTOLToi?),  oti  ta/isxo?  (eig.  nur  ori  TayijTa);  die  sog.  Doppel- 
gradation ist  meist  in  der  Satzbildung  oder  psj^'hologisch  begründet. 
Der  letzte  Abschnitt  gilt  dem  Ersatz  und  der  Umschreibung  der  orga- 
nischen Steinerungsformen.  Die  Gründe  sind  teils  formelle  (Partizipien, 
Substantiva.  piäpositiouale  Ausdrücke)  teils  syntaktische  Verhältnisse 
(et  (1)?  [xa/asta,  ort  jxaXtJTa;  otxrpav  cptXoiatv,  |xaXt3-'  ep-oQ.  ^)  Neben  den 
gewöhnlichin  jxaXXov,  ]xaXi3-a  tieten  auch  andere  steigernde  Adverbien 
auf.  Für  die  Bildung  des  Elativs  ist  der  Zusatz  der  steigeraden 
Partikel  gegenüber  dem  elativeu  Gebrauch  des  Superlativs  als  Regel  zu 
betrachten.  Die  elativen  Adverbien  haben  teils  bestimmte  (freilich  oft 
verblassende)  Bedeutung  (ösivtüc,  ixs^aXcoc,  ßia'fspovxwr,  a-eyvöi;),  teils 
allgemein  steigernden  Sinn  (|jt.aXa,  ttocvu);  auch  verbunden:  [xaX'  aivöic, 
eu  p.aXa.  Die  SchluEbemeikung  zu  Abschnitt  III  und  IV  über  die 
Stellung  der  Zus^ätze  liefert  einen  interessanten  Beitrag  zu  deui  noch 
wenig  gepflegten  Gebiete  der  Woitstellung.  —  Ein  Stellenregister 
würde  i'ameiitlich  den  Kommentatoren  einzelner  Schriftsteller  sehr  zu- 
statten kommen.  —  Durch  die  entsprechenden  Abschnitte  der  Schwab- 
schen  zusammenfassenden  Darstellung  ist  jetzt  auch  ersetzt  die  an  sich 
anerkennenswerte  Abhandlung  von  F.  Mayer,  Verstärkung,  Um- 
schreibung und  Entwejtunu  der  Komparationsgrade  in  der  älteren 
Gräzitäf  [bis  Herodot].     Piogr.     Landau   1891. 

Zum  Zaiilwort  sind  die  Bemerkungen  von  E.  Hasse,  Zur 
Syntax  des  Zablwoi-tes  ouo.  Fleck.  Jbb.  145.  540 — 3  und  E  Bruhn, 
De  ei;  vocabi'lo  aniiotatio  giammatica.  RliMPh  49,  168  zu  nennen; 
jener  ^uclit  Rejreln  für  verschiedenen  Gebrauch  der  flektierten  und 
unflektierten  Foimen  von  ouo  autzustellHu  (vgl.  oben  S.  76  f),  wobei 
er  u.  a  ausführt,  unflektiertes  oöo  önde  sich  besonder^,  wenn  ein  Bruch- 
teil (t(üv  Ö'jo  [xspäiv)  oder  ein  unbestimmtes  Mali  (ouo  7^  -ptüjv  f^ixspäiv) 
angegeben  werden  soll;  dieser  bringt  aus  der  späteien  Lit.  Belege  für 
die  Alischwächung  von  £i;  zum  unbestimmten  Artikel  bei. 

Präpositionen. 

Eine  eingehendere  Arbeit  über  die  Gesamtheit  dieser  scheinbar  un- 
bedeutenden und  doch  so  wichtigen  und  für  die  Sprache  charakteristischen 

*)  Hier  s<'i  gleich  angeschlossen  0.  Schwab,  nc/.'.3-a  bei  Zahlen 
[=  potissimum].     Fleck.  Jbb.  147,  5S5— 92. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90— 1903.  (Schwyzer.)     101 

Wörtchen  in  der  ganzen  Giäzität  gibt  es  bisher  noch  nicht;  denn  das 
umfangreiche  Buch  von 

T.   Moramsen,    Beiträge    zu    der  Lehre    von    den    griechischen 
Präpositionen.     Berlin   1895 

zieht  zwar  die  griechische  Literatur  bis  ins  15.  Jahrh.  n.  Chr.  samt 
den  wichtigeren  luschrittensaramlungen  in  seinen  Bereich,  beschränkt 
sich  aber  auf  den  Ausdruck  unseres  „mif,  auf  die  griech.  auv,  jxsxa, 
a[xa  (ganz  spät  auch  mit  dem  Gen,  verbunden)  und  (anhangsweise)  deren 
Ersatz  durch  ofi-oü,  eytuv,  Xaßciv  u.  a.  Ein  Hauptergebnis  ist  es,  das  durch 
alle  Zeiten  und  Literatui'gattungen  hindurch  im  einzelnen  dargelegt 
wird:  au'v  gehört  der  edlen  Dichteisprache  an,  [xera  erscheint  fast  nur 
bei  Prosaikern  oder  Dichtern,  die  der  Prosa  nahestehen  (so  z.  B.  bei 
Aristophanes ,  aber  auch  bei  Euripides  hat  es  gegenüber  den  beiden 
älteren  Tragikern  stark  zugenommen).  Innerhalb  der  Prosa  nehmen 
Herodot,  Xenophon,  Arrian  und  die  späte  Prosa  eines  Prokop  eine  be- 
sondere Stellung  ein,  wenn  sie  au'v  bevorzuuen,  im  Gegensatz  zu  den 
Anacreontea  und  andern  späten  Dichtungen,  die  \i.t-d  verwenden,  so  daß 
die  beiden  Präpositionen  die  stilistische  Eolle  vertauscht  haben.  Auch 
auf  die  Bedeutung  wird  Rücksicht  genommen;  so  steht  [xetoc  anfangs 
und  besonders  nur  bei  persönlichem  Plural;  in  der  rein  attischen  Prosa 
kommt  auv  nur  in  formelhafter  Verbindung  wie  c'jv  öeco  und  in  der  Be- 
deutung „einschließlich"  vor.  So  wird  eiu  stilistisches  Kennzeichen  der 
gi'iech.  Literatursprachen  ins  rechte  Licht  gestellt,  das  bis  auf  des  Ver- 
fassers Frankfurter  Osterprogramm  von  1874  (..Entwickelung  einiger 
Gesetze  für  den  Gebrauch  der  griech.  Präpositionen  Mexa,  auv  und  a'jxa 
bei  Homer")  nicht  beachtet  worden  war.  Diese  Arbeit  bildet  den  ersten 
Abschnitt  der  „Beiträge",  dem  sich  der  Abdruck  der  Programme  von 
1876  und  1879,  die  die  Untersuchung  auf  Euripides  und  die  nach- 
homerischen Epiker  ausdehnen,  anschließt.  Dazu  ist  im  Buche  neu 
hinziigekommeu  ein  IV.  Abschnitt,  der  die  drei  Präpositionen  bei  den 
übrigen  Dichtern  behandelt  (eingeschoben  ist  ein  kurzer  Abschnitt  über 
die  Prosa).  Wenn  ein  kompetenter  Beurteiler  wie  Delbrück  (Vgl. 
Syntax  I  645)  Mommsens  erstes  Programm  „ein  Muster  geschichtlicher 
Behandlung  nennt,  wie  sie  allen  Präpositionen  zuteil  werden  sollte", 
wird  man  Urteil  und  Wunsch  jedenfalls  nicht  auf  die  Darstellung 
des  ganzen  Werkes  ausdehnen  wollen  ,  die  sich  freilich  aus  der 
sukzessiven  Entstehung  erklärt.  Der  Leser  darf  nicht  vergessen,  daß 
der  greise  Verfasser  mit  dem  Herzen  bei  seiner  Arbeit  war  und  durch 
eine  ausgedehnte  Lektüre,  wie  sie  wenige  pflegen,  am  meisten  für  sich 
selbst  dabei  gewonnen  hat.  Man  wird  dann  auch  über  den  klassizistischen 
Standpunkt  in  der  Beurteilung  von  Literatur  und  Sprache  hinwegsehen 


102     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.  (Schwyzer ) 

können.  Es  sei  noch  besonders  bemerkt,  daß  eine  Fülle  von  Bemer- 
kungen textkritischer  und  literarisch-stilistischer  Art  sowie  Erklärunjren 
einzelner  Stellen  eingestreut  sind;  die  z.  T.  ausführlichen  Exkurse 
(S.  662 — 825)  berühren  sich  teils  mit  dem  Thema  (Stellung  der  Präp., 
Präp.  am  Ende  des  Trimeters,  Konstruktion  präpositionaler  Komposita 
mit  gleicher  Präp.,  Kasusadverbien),  teils  gehören  sie  mehr  dem  literar- 
histcr.-stilist.  Gebiet  an  (ovrwc,  oci  und  yori,  ßou^vopiai  und  eöeXw,  die 
sich  kaum  über  eine  umfangreiche  Materialsammlung  erhebende  Be- 
handlung des  Sigmatismus  u.  a.). 

Eine  ßeilie  kleinerer  Arbeiten,  die  in  der  Anmeiknng  zusammen- 
gestellt sind,  beschränken  sich  auf  die  Untersuchung  eines  Ausschnittes 
aus  der  Literatur  oder  einzelner  Schriftsteller,  beschäftigen  sich  aber 
gewöhnlich  mit  sämtlichen  Piäpositionen  ihres  Gebietes.  Nicht  wenige 
enthalten  üb)igeus  auch  Nachträge    zu  Mommsens  speziellem  Thema.') 


^)  Kleinere  Arbeiten  über  die  Präpositionen  a)  sämtliche  Präpo- 
sitionen ihres  Arbeitsfeldes  behandelnde:  *A.  S.  Hagget,  On  the  uses 
of  prepositions  in  Homer.  Studies  in  honor  of  Gildersleeve  1902;  S.  So- 
bolewski,  De  praepositionum  usu  Aristophaneo.  Mosquae  1890  (Aufzählung 
und  bisweilen  ausführliche,  für  die  Kenntnis  des  Schriftstellers  wichtige 
Erörterung  sämtlicher  Stellen,  innerhalb  der  einzelnen  Präpositionen  nach 
dem  zugehörigen  Substantiv  bzw.  regierenden  Verb  geordnet;  am  Schlüsse 
Gesamtstatistik,-  von  allgemeinerem  grammatischen  Interesse  ist  die  formale 
Erörterung  von  aJv,  af;,  welch  letzteres  der  Verfasser  bei  Aristopbanes  urd 
Thukydides  fordert;;  einen  Ausschnitt  aus  demselben  Gebiet  behandelt 
I.  Iltz,  De  vi  et  usu  praepositionum  £-(,  ptcT«,  n:c(po'',  -:f>',  ~f>o:,  L-o  apud 
Aristophanem.  Diss.  Halle  1890.  (Materialsammlung;  in  einem  besonderen 
Kapitel  werden  Anastrophe,  Elision,  Aphäresis,  Krasis  bei  den  genannten 
Präpositionen  zusammengestellt).  Etwas  willkürlich  begrenzt  sein  Gebiet 
*P.  Priewasser,  Die  Präpositionen  bei  KalJiraachus  und  lI(yondas,  ver- 
glichen itit  denen  bei  Bacch}lides  und  dem  bereits  für  Pindar  bekannten 
Resultate.  Progr.  Halle  1903.  Schließen  eine  Reihe  der  besten  syntak- 
tischen Aibeiten  das  Tor  vor  Aristoteles,  so  sind  hier  erfreulicherweise 
einige  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  sog.  nachklassischen  Literatur  zu 
nennen:  E.  Hagfors,  De  praepositionum  in  Aristotelis  politicis  et  in 
Atheniensiura  politia  usu.  Helsingforsae  1892  (Zusammenstellung  des 
Materials  —  eine  Ergänzung  zu  R.  Euckens  Arbeit  über  die  aristotel.  Prä- 
positionen; der  Gebrauch  in  'A&.  to)..  ist  meist  der  attische,  zeigt  selten 
eine  aristotel.  Besonderheit,  ohne  daß  dadurch  etwas  gegen  die  Echtheit 
der  Schrift  bewiesen  wäre).  Besonders  sind  spätere  Historiker  mit  Unter- 
suchungen über  ihre  Präpositionen  bedacht  worden:  *K.  Krause,  Der  Ge- 
brauch der  Präpositionen  bei  dem  Historiker  Herodian  L  Frequenz;  aov  und 
».'--i  c.  geu.  Progr.  Strehlen  1893  (lehnt  sich  in  diesem  bisher  vorliegerden 
ersten  Teile  offenbar  an  Mommsen  an);  *K.  Jaakkola,  De  praepositionibu.s 
Zosimi  quacstiones.  Diss.  Arctopol.  Pori  (Finnland)  1903;  J.  Scheftlein,  De 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  — 1903.   (Schwyzer.)     103 

Verbum. 

Genera  Verbi. 
Das  Gyrao.-Progr.  von 

*1I.  Grosse,  Beitiäge  zur  Syntax  des  griechischen  Mediums  und 
Passivums.     Leipzig  1891 
sucht  nach    dem  Referat  lA  2,  107    besonders    nachzuweisen,    daß   die 

praepositioaum  usu  Procopiano.  Progr.  des  neuen  Gymn.  Regensburg  1893  (be- 
handelt nach  einer  allgemeinen  Statistik  nur  die  Besonderheiten  ausfübrlicher; 
darausseien  hervorgehobenWendungen  wieivlIixjXicz  -i\).T.i{v;  c,'r^  häufigeraIs3Üv 
und  <^^~c/;  i;  und  selteneies  su  ist  die  häufigste  Präposition;  s'jpiaxc'.v  i;  la 
70)fyic;  -r^j-  c.  gen.  auctoris  ==  h-6  c.  gen.  auct.;  Variation  gleichbedeutender 
Präpositionen  im  gleichen  Abschnitt);  A.  Rüg  er,  Piäpositionen  bei  Johannes 
Antiochenus  I.  Progr.  Münnerstadt  1896  (gesonderte  Untersuchung  der 
einzelnen  Fragmenturuppen  in  literarhistor.  Absicht;  beiläufig  auch  eine 
Frequenztabelle  für  Herodian);  schließlich  ist  hier  auch  zu  nennen  J.  Ei  bei, 
Der  Sprachgebrauch  des  Historikers  Theophyiaktos  Simokattes  I.  Progr. 
Schweinfurth  1898,  indem  darin  zunächst  nur  die  Präpositionen  behandelt 
werden  (meist  regieren  sie  den  Akk.;  häufig  i;  -«  arAu-a  u.  ä;  o-.d^uou; 
tä&vavci  u.  a.).  —  Nicht  zugänglich  sind  mir  *J.  Netusil,  Zur  Syntax  der 
zusammengesetzten  Präpositionen  im  Griech.  und  Lat.  FO  4,  22—41; 
*J.  Delboeuf,  Des  prepositions  en  Grec.  Revue  de  l'instruction  publ. 
en  Belgique  1893,  301—15;  ebenso  die  ein  verwandtes  Gebiet  zusammen- 
fassend darstellende  Schrift  von  *L.  Lutz,  Die  Kasusadverbien  bei  den 
attischen  Rednern.  Gymn.-Progr.  Würzburg  1891  (vgl.  ßphVV  1892,  43  f.; 
WklPh  9,  494  f.)  —  bj  einzelne  Präpositionen  behandeln:  *C.  Ploix, 
La  }  reposition  grecque  au.f'-.  Paris  1894;  H.  Skerlo,  Einiges  über  den 
Gebrauch  von  äv«  bei  Homer.  Progr.  Graudenz  1892  (scholastische  Be- 
handlung von  cJva  in  der  verbalen  Zusammensetzung  und  als  Präposition); 
A.  Juillard,  Emploi  et  signification  de  la  preposition  /.a-d  dans  Thucydide. 
Diss.  Bern.  St.-lmier  1894  (behandelt  besonders  ausführlich  die  Zusammen- 
setzungen); E.  Reitz,  De  praepositionis  IIIEP  apud  Pausaniam  periegetam 
usu  locali.  Diss.  Freiburg  i/Br.  1891  (genaue  Erörterung  der  einzelnen 
Stellen  mit  besonderer  Rücksicht  auf  topographische  und  Quellenfragea; 
vgl.  BphW  12,  1418  ff.;  WklPh  9,  515  ff.);  *W.A.  Lamberton,  -f.o;  with 
the  accusative.  Publications  of  the  university  of  Pennsylvania  1891  (vgl. 
Rcr  1893,  343  f.)  und  die  kleineren  Artikel  von  E.  H.  Donkin,  i/.  or  dz6 
denoting  position.  CIR  1895,  349  f.  (beurteilt  —  unrichtig  —  Fälle  wie 
ix  -y^z  Yv,;  nach  Analogie  von  a'i'  i--ojv  jiczyso&a'.);  J.  Keelhoff,  Sur  une 
-construction  de  -ofd  [c.  dat.  bei  Verben  der  Bewegung].  RPh  17,  186; 
*S.  Sobolewski,  FO  10,  233 ff.  (-f>o;  c.  acc.  „bergauf");  M.  C.  P.  Schmidt, 
Fleck.  Jbb.  155,  623  f.  gibt  Belege  für  y.a-d  v.  ^  „senkrecht  zu"  (vgl,  be- 
sonders -q  xd&i-o;  '(rja^^r^)-  A.  Weiske  spricht  in  der  S.  77  genanntda 
Schrift  auch  über  izi  c.  gen. 


104     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.    (Schwyzer.) 

reflexive  Bedeutung  des  Mediums  nicht  die  ursprüngliche  und  daß  passive 
Ausdrucksweise  bei  Homer  verhältnismäßig  selten  sei;  vgl.  auch 
WklPh  8,  1152  f. 

*F.  Hylak,  Über  die  passive  Bedeutung  medialer  Aoristformen 
bei  Homer.  Progr.  Meseritsch  1901,  gibt  nach  dem  ausführlichen 
Referat  ZöGy  1892,  373  f.  lediglich  eine  nach  Verben  geordnete 
Materialsammlung. 

E.  Wim  m  er  er,  Das  mediale  Faturum  sonst  aktiver  Verba  im 
Griechischen.  Jahresber.  des  Realgj^mn.  Stockerau  (Ost.)  1894,  läßt 
nur  für  einen  Teil  der  Fälle  die  von  Delbrück  aufgestellte  Annahme 
analogischer  Ausbreitung  des  Typus  ßr^ao|jLat  :  l'ßrjv  gelten ;  für  die  andern 
Verben  nimmt  er  an,  daß  sie,  ihrer  Bedeutung  entsprechend,  ursprüng- 
lich in  allen  Tempora  medial  flektiert  waren;  das  Medium,  oft  als 
Passiv  vervi'endet,  trat  in  medialer  Bedeutung  neben  dem  Aktiv  zurück, 
erhielt  sich  aber  im  Futurum  deshalb,  weil  dieses  Tempus  überhaupt 
selten  gebraucht  wurde,  und  wurde  durch  die  Neubildung  des  passiven 
Futurums,  welche  die  Verwendung  des  Fut.  med.  als  Fut.  pass.  über- 
flüssig machte,  vollends  gefestigt.  Innerlich  nicht  sehr  wahrscheinlich ; 
einzelne  Fälle  wie  homer.  aivv^sw  :  jüngerem  iTraivesofxat  zeigen  das  um- 
gekehrte chronologische  Verhältnis.  Bedenklich  ist  auch  die  Annahme 
ursp.  medialer  Flexion  für  opaw,  axouo)  (vgl.  die  Etymologie).  Neues 
Material  wird  nicht  beigebracht. 

Eine  Untersuchung,  die  vor  einigen  Jahren  K.  Krumbacher  als 
wünschenswert  bezeichnet  hat,  unternimmt  für  das  älteste  Sprachdenkmal 

A.  Hildebrand,    De  verbis    et    intransitive    et  causative  apud 
Homerum  usurpatis.  Dissertationes  philologae  Halenses  XI.  Halle  1890. 

H.  sammelt  das  homerische  Material  für  den  Wechsel  zwischen 
transitivem  und  intransitivem  Verbalgebrauch.  Die  Arbeit  zerfällt  in 
2  Hauptteile;  der  1.  behandelt  die  Fälle,  wo  ein  Objekt,  das  noch 
daneben  vorkommt  oder  sicher  zu  bestimmen  ist,  weggelassen  ist;  der 
2.  zählt  die  Verba  auf,  bei  denen  die  Entwickelung  des  intransitiven 
Gebrauches  nicht  klar  ist  oder  der  intransitive  Gebrauch  älter  ist  oder 
schon  vorgriechisch  transitiver  und  intransitiver  Gebrauch  anzunehmen 
ist.  Für  die  Ansetzung  der  ältesten  Grundbedeutungen  stützt  sich  fl. 
auf  die  etymologischen  Forschungen.  Erwünscht  wäre  ein  Index  der 
behandelten  Verba.  —  In  diesem  Zusammenhange  ist  auch 

*F.  Krebs,  Zur  Rektion  der  Kasus  in  der  späteren  historischen 
Gräzität.  3.  Heft.  München  1890,  anzuführen,  da  die  Schrift  nach 
Hultsch,  BphW  10,  1441  f.  die  Verba  behandelt,  die  durch  Zusammen- 
setzung mit  Präpositionen  transitiv  geworden  siud. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90— 1903.   (Schwyzer.)     105 

Tempora  und  Modi.^) 

„Die  Lehre  vom  Gebrauch  der  Tempora  im  Griech.  ist  bis 
zur  Stunde  noch  durchaus  unklar  und  in  ihren  Grundlagen  nicht  erkannt" : 
so  beginnt 

C.  Mutzbauer,  Die  Grundlagen    der    griechischen  Tempuslehre 

und  der    homerische  Tempusgebrauch.     Ein  Beitrag   zur  historischen 

Syntax  der  griechischen  Sprache.  Straßburg  1893 
seine  Darlegungen  über  die  allgemeinen  Grundlagen  der  griech.  Tempus- 
lehre,  die  den  ersten,  kürzeren  (S.  1  —  41),  theoretisch-programmatischen 
Teil  seines  als  1.  Teil  einer  homerischen  Syntax  gedachten  Buches 
bilden.  Die  Hauptthese  des  Verfassers,  daß  nicht  der  Zeitbegriif 
(namentlich  nicht  der  relative,  der  gar  nie  entwickelt  v^urde),  sondern 
die  Ai  t  der  Handlung,  der  Unterschied  zwischen  präsentischer  (linearer) 
und  aoristischer  (punktueller)  Aktionsart,  für  die  Verwendung  der 
griech.  Verbalformen  bestimmend  gewesen  ist,  ist  freilich  weder  neu 
noch  der  neueren  Forschung  nicht  mehr  bekannt,  wenn  auch  die  Praxis 
und  uiclit  nur  die  der  Mittelschule  noch  längst  nicht  alle  Konsequenzen 
gezogen  hat;  vielleicht  wird  man  weitergehen,  wenn  einmal  durch  die 
Verwertung  von  Pauls  Forschungen  über  die  Umschreibung  des  deutschen 

^)  Nicht  zugänglich  ist  mir  J.  Flagg,  Outlines  of  the  temporal  and 
modal  principles    of  Attic  prose.     Berkeley  California    1893.  —  Die  Unter- 
suchung  von  F.  Kaißling,   Über    den  Gebrauch    der  Tempora   und  Modi 
in  des  Aristoteles  Politica  und  in  der  Atheniensium  Politia.   Diss.  Erlangen 
1893,  ein  Gegenstück  zu  der  Arbeit  von  Hagfors  (S.  102),  bietet  auch  dem 
Syutaktiker  nach  der  landläufigen  Weise  geordnetes  Material  aus  den  beiden 
genaunten    Schriften  —  freilich    auch    nicht    mehr.  —  *W.  W.  Goodwin, 
Syntax  of  the  modes  and  tenses  of  the  Greek  verb.  London  1897,   wie  ich 
wiederholt   zitiert   finde,    ist  wohl  nur  eine  neue  Auflage  des  verbreiteten 
Werkes;  die  Bibl.  phil.  bucht  dieselbe  übrigens  nicht.  —  Vgl.  ferner  K.  Kunz, 
Der    griech.  Iterativaorist   und  seine  Übereinstimmung  mit  böhm.  Verbal- 
formen (böhm.).  Progr.  Pilsen  1891  (s.  ZöGy  43,  468  f.).  —  Hier  ist  schließ- 
lich   auch    J.    Donovan,    (German    opinion    on)    Greek   jussives.     CR    9, 
289—93.  342-6.    444—7    zu  nennen,  der  vom  Unterschied   zwischen    dem 
Imperat.    Präs.   und  Aor.  ausgeht,    aber   in  der  Hauptsache    über  die  ver- 
schiedenen Darstellungen  des  Kapitels  Aktionsart  referiert,  indem  er  schließ- 
lich Kochs  Terminologie,  der  für  Präs.  Aor.  Perf.  die  Bezeichnungen  „noch 
nicht  abgeschlossene  Handlung,  abgeschlossene  H.,  Zustand"  verwendet,  den 
Vorzug   gibt.  —Vgl.  auch    noch  *P.  Dörwald,    Zur   griech.  Tempuslehre. 
Gy  1899,  145—52  und  *H.  Meltzer,  Zur  griech.  Tempuslehre,    ebd.  329-36. 
Eine  Reihe  von  Fragen    aus    dem  Gebiete  der  Tempus-  und  Modus- 
iehre  werden  auch  von  den  Arbeiten  über  die  abhängigen  Sätze  behandelt, 
auf  welche  hier  ausdrücklich  noch  verwiesen  sei  (S.  124—31). 


106     ßericbt  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.    (Schwyzer.) 

Perf.  mit  haben  und  sein  der  Begriif  der  Aktionsart  in  die  deutsche 
Schulgrammatik  eingeführt  ist.  Der  Verfasser  hat  aber  seine  An- 
schauungen selbst  erworben  und  in  20jähriger  Arbeit  gepflegt  und 
daher  wohl  ein  Recht  gehört  zu  werden,  wenn  er  auch  die  neueren 
Forschungen  nicht  in  vollem  Umfange  kennt  (veraltet  sind  oft  formale, 
besonders  auch  etymologische  Bemerkungen).  So  zeigt  die  Beiziehuug  der 
verwandten  Sprachen,  daß  er  die  vorgeschichtliche  Grundbedeutung  des 
Aorists  (er  soll  das  soeben  Geschehene  bezeichnen)  unrichtig  bestimmt 
und  zu  weit  geht,  wenn  er  alle  Präsentien  als  rein  durativ  faßt.  Die 
Hauptbedeutung  des  Buches,  sein  bleibender  Wert,  liegt  aber  darin,  daß 
der  Vei  fasser  auch  die  Probe  für  seine  Anschauungen  macht,  und  zwar 
nicht  an  wenigen  ad  hoc  gewählten  Beispielen,  sondern  am  ganzen 
homerischen  Material:  so  war  es  wenigstens  seine  Absicht,  wenn  er  sie 
auch  im  2.  Teil  (S.  41  —  393)  nur  für  einen  Teil  der  homerischen  Verba 
durchlühren  konnte,  für  die  Verba  mit  unverändertem  Präsensstamme 
und  thematischen  und  athematischen  und  reduplizierten  Aoristen  und 
für  die  Verba  der  Dehnklasse.  Innerhalb  dieser  Klassen  alphabetisch 
geordnet,  werden  die  einzelnen  Verba  samt  ihren  Komposita  auf  den 
Bedeutungsunterschied  der  verschiedenen  Tempusstämme  untersucht; 
das  ist  nicht  nur  für  die  homerische  Lexikographie  und  Etj^mologie  und 
Interpretation  wichtig,  sondern  auch  für  die  Grundfragen;  denn  wie 
Brugmann  neuerdings  betont  hat,  ist  gerade  auf  dem  Gebiete  der 
Aktionsarten  schärfere  Beobachtung  des  Einzelnen  nötig.  M.s  gründliche 
Einzelforschung  hat  auch  bereits  ihre  Früchte  getragen.  Delbrück, 
lA  5,  54  anerkennt  dankbar,  wie  nützlich  sie  ihm  bei  der  Ausarbeitung 
der  einschlägigen  Abschnitte  seiner  vergleichenden  Syntax  gewesen  ist. 

Zunächst  mögen  einige  Arbeiten  folgen,  die  den  Begriff  der 
Aktionsart  in  den  Vordergrund  stellen.  Wie  tief  der  Unterschied 
zwischen  präsentischer  und  aoristischer  zVktionsart  im  griechischen 
Sprachgefühl  begründet  war,  zeigt  die  schöne  Entdeckung  von  F.  Blaß, 
Demosthenische  Studien  IV  (futurum  praesentis  und  futurum  aoristij. 
RhMPh  47,  269—290,  daß  sich  im  Altischen  die  Tendenz  zeigt,  den 
Unterschied  der  Aktionsarten  auch  im  Futurum  zu  wahren; 
freilich  ist  formaler  Ausdruck  des  Unterschiedes  nicht  bei  allen  Verben 
möglich,  sondern  nur  wo  zwei  Futurfoimen  vorhanden  sind,  vgl.  z.  B.  Ilui 
(e'/o),  piäsentisch) :  ayqiai  (Ir/jr/,  aoiistisch),  besonders  aber  Fälle  wie 
«pavoujjtai :  cpavi^aofiat  (diese  Doppelheit  hat  für  Blaß  den  Ausgangspunkt 
gebildet),  (p Ospoüixat :  (fi)ap/j30[j.at,  aij/uvo^ixai :  abyuv&rj^ojJLai,  auch  Tt|xrj- 
aojjiai  (mit  pass.  Bedeutung) :  T([xrji)rja£-au  Bekanntlich  hat  diese  Tendenz 
im  Neugriech.  zur  systematischen  Ausbildung  eines  tut.  pracs.  und  lut. 
aor.  geführt. 

Die    Aktionsart     zusammengesetzter     Verba     untersucht 


ßericbt  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90  — 1903.    (Schwyzer.)     107 

E.  Pur  die,  The  perfective  ,  Aktionsart'  in  Polybios.  IF  9,  63—153, 
der  freilich  iu  H.  Meltzer,  Vermeintliche  Perfektivierung  durch  prä- 
positionale  Zusammensetzung  im  Griechischen.  IF  12,  319 — 372  ein 
scharfer  Kritiker  erwachsen  ist.  Purdie  stellt  sich,  angeregt  durch 
Briigmanns  Vermutung  gr.  Gr.  -  §  154  und  den  Widerspruch  Herbigs 
in  seiner  alle  idg.  Sprachen  berücksichtigenden  wichtigen  Arbeit  über 
Aktionsart  und  Zeitstufe  IF  6,  222  ff.  die  Aufgabe,  zu  beweisen,  daß 
der  griechische  Aorist,  schon  in  der  ältesten  Zeit  vorwiegend,  wenn 
auch  nicht  ausschließlich,  koustativ,  mit  der  Zeit  immer  mehr  letzteren 
Sinn  erhalte;  zum  Ausdrucke  der  perfektiven  bzw.  ingressiven  Färbung 
habe  man  immer  mehr  zum  Ersätze  durch  Komposita  gegriffen ,  wobei 
die  Präpositionen  (und  zwar  kommen  besonders  8-J.,  suv,  y.axa  in  Frage)  zu 
bloßen  perfektivierenden  Präfixen  nach  Art  des  deutschen  fje-  herabsinken. 
Meltzer  schließt  sich  in  seinem  Gegen artikel  ziemlich  genau  an  P.s  Arbeit 
an;  räch  einer  selbständigen Erörttrung  derTeiuiinologie  der  Aktionsarten 
(wobei  u.  a.  der  Begriff  terminativ  in  initiv  und  finitiv  zerlegt  wird)  weist 
er  nach,  daß  die  Beispiele  für  die  konstative  Bedeutung,  welche  P.  bei 
Homer  findet,  noch  M'eiter  beschränkt  werden  müssen,  und  gelangt  auf 
Grund  der  feststehenden  Meinung,  daß  der  Aorist  im  Griech.  jederzeit 
den  Ausdruck  der  Perfektivität  gebildet  hat,  und  eiuer  schärferen  und 
unbefangeneren,  auch  das  von  P.  völlig  vernachlässigte  stilkritische  Moment 
heranziehenden  Interpretation  einer  Reihe  von  Steilen  aus  Pol3'bios  und 
auch  anderen  Schriftstellern  zu  dem  Resultat,  daß  von  eiuer  wirklich 
entwickelten  grammatischen  Kategorie,  wie  sie  P.  annimmt,  keine  Rede 
sein  kann.  „Die  Präfigierung  läßt  die  Aktion  durchaus  unverändert, 
kann  jedoch  innerhalb  derselben  gewisse  Schattierungen  bewirken,  im 
Piäsens  besonders  die  fiuitive,  im  Aorist  die  ausgeprägt  resultative."  ^) 

Der  Begriff  der  Aktionsart  spielt  auch  eine  große  Bolle  in  einer 
Arbeit  über  die  erzählenden  Zeitformen  (Imperf.,  Ind.  Aor.  und 
Perf.,  Plusquamperf.),  die,  obschon  sie  sich  auf  einen,  zudem  außerhalb 
der  Grenzen  unseres  Berichtes  liegenden  Schriftsteller  beschränkt,  doch 
ausnahmsweise  im  Text  genannt  werden  mag,  da  sie  ein  überreiches 
Material  ausbreitet  (6000  Belege)  und  mit  sicherer  Methode  Ergebnisse 
gewinnt,   die    auch  der  gesamten   griech.  Terapuslehre  zugute  kommen: 

F.  Hultsch,  Die  erzählenden  Zeitformen  bei  Polybios.  Ein  Bei- 
trag zur  Syntax  der  gemeingriechischeu  Sprache.  I — III.  AbhSG 
Band  13,  1—210.  347—468.  14,  1—100.  Leipzig  1891—1893. 

Im  Vordergrund  steht  selbstverständlich    das  Verhältnis  zwischen 


*)  Mir  unzugänglich,  aber  wohl  in  diesem  Zusammenhang  zu  nennen 
ist  der  Aufsatz  von  *H.  Meltzer,  Zur  Lehre  von  der  Bedeutung  des 
Präsensstammes  im  Griechischen.    WüKor  1900,  445  —  52. 


108     Beriebt  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.    (Schwyzer.) 

Impeif.  und  Aor.  Auf  dem  Boden  der  Curtiusschen  Tempuslehre 
stehend,  kommt  der  Verfasser  zu  einem  Ergebnis,  das  ähnlich  bereits 
von  F.  Blaß,  RhM  44,  406  —  30  (1889)  an  Demosthenes  g-ewonnen  wurde, 
daß  „der  Sprechende  oder  Schreibende  durch  das  Imperf.  die  von  ihm 
als  dauernd,  durch  den  Indio.  Aor.  die  als  dauerlos  aufgefaßte,  der  Zeit- 
stufe der  Vergangenheit  zugeteilte  Handlung  bezeichne",  was  des  näheren 
noch  dahin  präzisiert  wird,  daß  das  Imperf.  teils  Dauer  und  Entwickelung 
anzeigt,  teils  schildert,  während  der  Ind.  Aor.  die  Handlung  als  abge- 
schlossen bezeichnet,  daneben  auch  ingressive  Bedeutung  hat.  Wieder- 
holt wird  betont,  daß  nicht  der  objektive  Tatbestand,  sondern  die  Auf- 
fassung des  Erzählers  entscheidend  ist,  das  also  z.  B.  nicht  die 
längere  oder  kürzere  Dauer  der  Handlung  an  sich,  sondern  die  sub- 
jektive Anschauung  des  Erzählers  für  die  Wahl  des  Imperf.  oder  Aor. 
maßgebend  ist.  Den  Hauptraum  nimmt  die  mit  ausführlichen  Erörte- 
rungen verbundene  Vorführung  des  Materials  ein,  wobei  indes  nicht 
statistische  Vollständigkeit  erstrebt,  sondern  nur  nichts  Wichtiges  ver- 
gessen werden  soll;  im  ganzen  wird  es  geordnet  nach  der  Bedeutung 
oder  etymologischen  Zusammengehörigkeit  der  behandelten  Verba  und 
ihrer  Zusammensetzungen.  In  besonderen  Abschnitten  wird  der  Wechsel 
zwischen  Aor.  und  Imperf.  im  selben  Satzgefüge  behandelt.  Im  Gebrauch 
des  Imperf.  und  Aor.  weicht  Polyb.  vom  Attischen  nicht  ab,  dagegen 
ist  das  Plusquamperf.  in  Nebensätzen  an  Stelle  des  Aor.  im  Vordringen 
begriffen.  Dagegen  scheint  der  kleine  Best  des  historischen  Präsens, 
der  sich  noch  findet,  bei  Polyb.  auf  literarischer  Tradition  zu  beruhen: 
so  wenigstens  nach  J.  Wackernagel,  der  in  seiner  gehaltvollen  Besprechung 
lA  3,  7 — 10.  5,  55 — 60  auch  hervorhebt,  daß  dem  bist.  Präs.  bei 
Polyb.  und  anderswo  nirgends  etwas  Dramatisches  anhafte,  dagegen 
darauf  aufmerksam  macht,  daß  es  fast  nur  in  solchen  Sätzen  stehe,  wo 
dem  Verbum  finitum  ein  oder  mehrere  Partizipien  vorausgehen,  zum 
Ausdruck  des  zeitlichen  Zusammenschlusses  der  Handlungen.^) 

Eine    eigentümliche    Verwendung    des    Ind.   Aor.    ist    der    sog. 
gnomische  Aorist,  über  den  gehandelt  bat 

J.  Schmid,    Über    den    gnomischen   Aorist    der  Griechen.     Ein 
Beitrag    zur  griechischen  Grammatik.     Gymn.-Progr.     Passau  1894. 


*)  AufHultscb'  Darlegungen  fußt  *C.  W.  E.  Miller,  The  imperfect 
and  the  aorist  in  Greek.  AJPh  IG,  139-185  (vgl.  Golling,  ZöGy  1897, 
847  f.).  —  Hultsch  hat  auch  schon  mehrfach  Nachfolge  gefunden,  vor  allem 
auf  dem  Gebiet  der  späteren  Sprache:  P.  Thouveuin,  Der  Gebrauch  der 
erzählenden  Zeitformen  bei  Ailianos.  (Jahn-)  Fleck.  Jbb.  151,  378-94 
(Seitenstück  zu  Hultsch'  Arbeit,  deren  Ergebnisse  in  allem  wesentlichen 
für   Alian    bestätigt   werden);  K.  Roth,  Die   erzählenden    Zeitformen    bei 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.   (Schwyzer.)     109 

Die  Arbeit  zerfällt  in  drei  Teile:  der  erste  gibt  im  Anschluß  an 
Curtius  und  Delbrück  eine  Übersicht  über  die  griech.  Tempuslehre 
(„der  Aorist  nrgiert  die  im  Verbalbegriff  enthaltene  Tätigkeit,  actio 
ipsa,  oder  den  in  demselben  enthaltenen  Zustand"),  im  zweiten  Teil 
bekennt  sich  der  Verfasser  bei  einer  Übersicht  über  die  bisherigen  Auf- 
fassungen als  Gegner  der  von  Pfuhl  begründeten  Ansicht,  im  gnom. 
Aorist  habe  sich  eine  ursprachliche  zeitlose  Verwendung  des  (augment- 
losen) Ind.  Aor.  erhalten,  im  diitten  Teil  weist  er  zuerst  an  Hand 
eines  schönen,  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  geordneten  Materials, 
wobei  er  allerdings  die  Grenzen  wiederholt  zu  weit  zieht,  nach, 
daß  der  gnom.  Aor.  nicht  nur  in  allen  generellen  Sätzen,  auch  bei 
absolut  gültigen  Urteilen,  ferner  auch  bei  Sitten  und  Gewohnheiten,  und 
zwar  generell  wie  individuell,  vorkommt  und  daß  der  Unterschied  zwischen 
gnom.  Aorist  und  gnom.  Perf.  und Fut. nicht  allzu  groß  ist;  sie  können  beim 
Ausdruck  desselben  Gedankens  wechseln.  Durch  den  gnom.  Aor.  wie 
auch  durch  das  stellvertretende  Perf.  werde  in  generellen  Sätzen  der 
Verbalbegriff  mehr  hervorgehoben,  urgiert,  als  dies  durch  das  gleichfalls 
statthafte  Präsens  und  das  in  solchen  Sätzen  seltenere  Futur  geschehe.  Aber 
wie  schon  G.  Herbig,  derIF6,  249—261  auch  den  gnom.  Aor.  be- 
handelt, ausgeführt  hat,  paßt  die  Definition  auf  den  Aor.  überhaupt, 
nicht  auf  den  gnom.  insbesondere,  und  beseitigt  nicht  die  Schwächen  der 
Theorie,  welche  den  gnom.  Aor.  aus  dem  Aor.  als  histor.  Prät.  entstanden 
sein  läßt.  Letzteres  hatte  schon  vor  Schmid  der  kroatische  Gelehrte 
A.  Music  versucht  (1892),  dessen  in  der  Sprache  seiner  Heimat  ge- 
schriebene Arbeit  aber  erst  durch  die  Selbstanzeige  lA  5,  91 — 96  in 
weiteren  Kreisen  bekannt  wurde.  Er  führt  aus,  daß  sich  im  Kroatischen 
ein  gnomischer  Aor.  entwickelt  habe,  der  nicht  auf  dem  Injunktiv 
(dem  augmentlosen  Ind.  Aor)  beruhen  könne,  wodurch  diese  Annahme 
auch  lür  das  Griech.  an  "Wahrscheinlichkeit  verliere;  der  gnom.  Aor. 
beruht  allerdings  auf  der  präteritalen  Bedeutung,  aber  der  Zeitpunkt 
der  Aoristhandlung  ist  nicht  von  der  Gegenwart  des  Sprechenden,  sondern 
von  einer  angenommenen  Gegenwart  aus  bestimmt.  Diese  An- 
schauung ist  zwar  nicht  von  Herbig  a,  a.  0.,  wohl  aber  von  Delbrück, 


Dionysius  von  Halikarnaß  [I]  Gymn.-Progr.  Bayreuth  1897  (zugleich  Er- 
langer Diss.;  behandelt  Imperf.  und  Aor.  nach  dem  von  Hultsch  angewandten 
Verfahren,  dessen  Ergebnisse  er  bestätigt);  *Ph.  Hultzsch,  Die  erzähleoden 
Zeitformen  bei  Diodor.  Progr.  Pasewalk  1902  (vgl  Bruhn,  MhSch  1903, 
479).  Ferner  ist  hier  zu  nennen  *A.  W.  A  hl  bürg,  Nögra  anmärkningar 
tili  imperfektets  och  aoristens  syntax  hos  Thukydides.  Fran  Filol  Före- 
ningen  i  Lund  1902;  vgl  auch  den  lA  2,  63  im  Auszug  wiedergegebenen 
tschechischen  Aufsatz  von  H.  Mayer. 


110     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.    (Schwyzer.) 

Vßl.  Syut.  II  286—302  und  Briiginanu,  gr.  Gr. ^  490—2  angenommen 
worden.  ^) 

In  der  Moduslehre  sind  zunächst  einige  Arbeiten  zu  nennen» 
die  darauf  ausgehen,  die  Grundbedeutung  des  Konjunktivs  und 
Optativs  zu  gewinnen,  um  von  dieser  aus  die  geschichtlich  gegebenen 
mannigfaltigen  Verwendungen  abzuleiten. 

K.  Hammer  Schmidt,  Über  die  Grundbedeutung  von  Konjunktiv 
und  Optativ  und  ihr  Verhältnis  zu  den  Temporibus  auf  Grund  der 
homerischen  Epen  erörtert.  Diss.  Erlangen  1892;  C.  Mutzbauer» 
Das  Wesen  des  Konjunktivs  und  Optativs  im  Griechischen.  VVDPh 
1895,  74 — 77;  Die  Grundbedeutung  des  Konjunktivs  und  Optativs  und 
ihre  Eniwickelung  im  Griechischen.  Ph  62,  388—409;  Das  Wesen 
des  Opfativs.  ebd.  626 — 38;  H.  Lattmann,  Die  Bedeutung  der  Modi 
im  Griechischen  und  Lateinischen.  NJklA  9,  410 — 38;  G.  H.  Müller^ 
De  Graecorum  modo  optativo.  Ph  49,  548 — 53;  M.  L.  Earle, 
A  Suggestion  on  the  development  of  the  Greek  optative.  CR  1900,. 
122—3.2) 

Gegen  die  Mehrzahl  dieser  Arbeiten  läßt  sich  grundsätzlich  ein- 
wenden ,    daß  sie  die  vergleichende  Forschung  nicht  oder  zu  wenig  zu 


^)  H.  C.  A.  Eimer,  Note  on  the  gnomic  aorist.  PrAPh.i  25,  p.  LIX — 
LXin  kenne  ich  nur  aus  lA  7,  53  f ,  wonach  seine  Ansicht  mit  derjenigen 
Mutzbauers,  Grundlagen  30-38  sich  berührt.  —  Nach  H.  Pedersen, 
ZvSpr  37,  231—4  bezeichnet  in  den  Sätzen  der  oben  besprochenen  Art 
„das  Präsens  die  (ausnahmslose)  Regel,  der  Aorist  die  gelegentlich  ein- 
treffende Handlung". 

^j  Anhangsweise  seien  hier  einige  Untersuchungen  über  den  Modus- 
gebrauch einzelner  Schriftsteller  erwähnt:  L.  Meyer,  Über  die  Modi  im 
Griechiscl)cn.  GöNachr  1903,  313 -4G  (unvollständige  Sammlung  von  Bei- 
spielen für  den  homer.  Modusgebrauch  im  Hauptsatz;  Bemerkungen  über 
Form  und  Bedeutung  des  Opt,  Konj.,  Imp.;  Grundbedeutung  des  Opt.  der 
Wunsch,  des  Konj.  das  Wollen);  L.  Wählin,  *De  usu  modorum  apud 
Apollonium  Rhodium.  Lund  1892  (vgl.  Peppmüller,  BphW  12,  l(;4l  ff.)  und 
De  usu  modorum  Theocriteo.  Göteborg  1897  (die  zweite  Abhandlung  enthält 
eine  nach  Satzarten  und  Bedeutung  geordnete  Materialsammlung,  die  auch 
den  modalen  Ind.  berücksichtigt,  während  die  erste  nach  dem  Vorwort  der 
zweiten  auch  allgemeine  Eiörtcrungen  gibt);  P.  Thouvenin,  Unter- 
suchungen über  den  Modusgebrauch  bei  Älian.  Ph  54,  599—619  (Ergänzung 
zu  W.  Schmid,  Atticism.  3,  77  ff  ;  Älian  weicht  vom  klass.  Sprachgebrauch, 
namentlich  in  den  Konstruktionen  bei  -otv,  auch  öot^  und  dadurch  ab, 
daß  er  den  Opt.  zur  Bezeichnung  des  subjektiven  Grundes  nach  Haupt- 
tempus nicht  kennt).  —  Vgl.  ferner  *M.  L.  Earle,  Some  remarks  on  the. 
moods  of  will  in  Grcek.     TrAPhA  1895,  L  f. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.   (Sehwyzer.)     Hl 

Rate  ziehen  und  sich  bemühen,  für  die  verschiedenen  Gebrauchsweisen 
der  Modi,  die  schon  voreiuzelsprachlich  vorhanden  waren,  aus  dem  Material 
einer  Einzelsprache,  nämlich  des  allerdings  dabei  eine  führende  Rolle 
spielenden  Griech.,  eine  einheitliche  Grundbedeutung-  nachzuweisen  - 
während  sich  ein  Forscher  wieBrugmann  sogar  für  das  Idg.  die  Aufstellung' 
einer  Grundbedeutung-  versagt  (g-r.  Gr.  ^  499  f.  503  f.).  Nach  Mutzbauer 
ist  in  Haupt-  und  Nebensätzen  der  Konj.  der  Modus  der  Erwartung,  der 
Opt.  (auch  opt.  obl.)  der  des  Wunsches ;  er  sucht  diese  These  auch  bei 
Homer  durchzuführen,  was  aber  nicht  ohne  Gewaltsamkeit  abgeht,  so 
wenn  S.  396  f.  auch  der  adhortative  Konj,  aus  dem  der  Erwartung  erklärt 
wird,  oder  S,  636  au  der  Stelle  a  414  out'  ouv  a^p/EXir]  en  Tr£i!)oii,ai  ei'  Ttoftsv 
eXdoi  ein  Opt.  des  Wunsches  vorliegen  soll  („denn  Telemach  hat  allerdings 
den  Wunsch,  daß  irgendwoher  eine  Botschaft  käme;  denn  nur  in  diesem 
Fall  kann  er  zeigen,  daß  er  ihr  nicht  mehr  glaubt")!  Unglaublich  er- 
scheint auch  die  Behauptung  S.  392,  daß  -/sv  beim  Konj .  und  Opt.  die  Er- 
wartung oder  den  Wunsch  des  Subj.  auf  einen  bestimmten  Fall,  av  ganz 
allgemein  auf  alle  Fälle  beziehe.  Lattmann,  der  sich  besonders  gegen 
Delbrück  und  amerikanische  Syutaktiker  wendet,  schreibt  dem  Konj. 
Potentiale,  dem  Optat.  fiktive  Grundbedeutung  zu. 

In  grundlose  Konstruktionen  verlieren  sich  die  Artikel  von  Hammer- 
schmidt (Konj.  eigentlich  ein  Tempus  fut.,  Opt.  ein  Tempus  praet.  mit 
Futurbedeutung)  und  Müller  (Opt.  eig.  Konj.  Praet.  —  eine  übrigens 
schon  alte  Anschauung).  Nach  Earle  ,,the  precative  use  of  the  opt.  may 
well  be  taken  as  its  most  primitive  use". 

Der  umfassendste  Versuch,  alle  Anwendungen  eines  Modus  auf 
eine  Grundbedeutung  zurückzuführen,  ist  in  einer  französischen  Arbeit 
unternommen  worden,  die  deshalb  hier  sich  anschließen  mag,  obschon 
sie  noch  viel  anderes  enthält: 

H.    Vandaele,    L'optatif    grec.     Essai    de    syntaxe    historique. 
These,  Paris  1897. 

Die  Grundanschauuug  des,  wie  es  scheint,  wenig  bekannt  ge- 
wordenen Buches  (von  gegen  300  S.)  bildet  der  Satz:  „L'optatif  est 
le  mode  de  l'eventnalite  possible,  subjective",  und  zwar,  wie  es  an  einer 
anderen  Stelle  heißt,  „independamment  de  toute  idee  de  temps".  Der 
Optativ  des  Wunsches  hat  sich  aus  dem  Optativ  der  Möglichkeit  ent- 
wickelt; erst  durch  den  Gedankenzusammenhang  entstehen  die  ver- 
schiedenen Schattierungen  des  Optativs  überhaupt.  DaC  diese  Hypothese 
wahrscheinlicher  ist  als  die  umgekehrte,  ist  unbedingt  zuzugeben,  aber 
beweisen  läßt  sie  sich  nicht  durch  Fälle  wie  Tröi?  av  ^Xotfiav,  wo  aller- 
dings der  Opt.  pot.  sich  dem  wünschenden  nähert,  aber  eben  doch 
davon  geschieden  bleibt.     Der  Verfasser  vergißt  dabei,  daß  die  Haupt- 


112     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.   (Schwyzer.) 

anwendungen  des  Opt.  schon  aus  dem  Vorgriech.  ererbt  sind.  Nach 
einer  knappen  Darlegung  der  wichtigsten  Gesichtspunkte  in  der  „Intro- 
duction"  wendet  sich  V.  zur  Darstellung-  des  Opt.  in  unabhängigen 
und  abhängigen  Sätzen,  um  seine  Theorie  im  einzelnen  zu  veranschau- 
lichen und  zu  stützen.  Daß  auch  in  den  Nebensätzen  der  Opt.  in  der 
überwiegenden  Zahl  der  Fälle  auf  den  potentialen  zurückgeht,  ist  klar; 
aber  der  Verf.  geht  zu  weit,  wenn  er  den  teilweisen  Ursprung  der  Be- 
dingungssätze aus  Wunschsätzen  mit  einer  kurzen  Bemerkung  umgeht 
und  in  w'eitgehendera  Maße  im  Opt.  der  abhängigen  Rede  noch  in  der 
klassischen  Zeit  einen  deutlichen  Potential  finden  will,  dagegen  die  Be- 
ziehung auf  die  Vergangenheit,  die  er  doch  zugeben  muß,  möglichst  in 
den  Hintergrund  treten  läßt  (,.on  peut  conjecturer  que  cette  regle  fut 
surtout  appliqu^e  dans  la  langue  litteraire"  S.  204!).  Freilich  zeigen 
andererseits  die  Beispiele  für  den  Wechsel  zwischen  Konj.  und  Opt. 
im  gleichen  Satze,  z.  B.  Thuk.  3,  22,  8  o-(uc  aaacp^  xa  aTjpLsTa  q  toi? 
•jzoXsixiot;  xal  [ir^  ßor^OoTsv  S.  115  ff.,  daß  immerhin  ein  Unterschied  in 
bestimmten  Fällen  ausgedrückt  und  empfunden  werden  konnte  —  und 
zwar  wird  er  gerade  durch  den  Wechsel  der  beiden  Modi  zum  Ausdruck 
gebracht  —  aber  das  beweist  nicht,  daß  auch  in  den  Fällen,  wo  der 
Gegensatz  des  andern  Modus  fehlte,  der  Konj.  oder  Opt.  gleich  em- 
pfunden wurden,  wie  in  jenen  besonderen  Fällen.  In  der  (leider  auch 
tür  Besonderheiten  nicht  vollständigen)  Sammlung  einer  großen  Anzahl 
von  gut  gewählten  Beispielen  aus  der  griech.  Literatur  bis  auf  Lukian 
liegt  der  bleibende  Wert  des  fleißigen  Buches.  Am  ausführlichsten 
sind  im  1.  Teil  die  „propositions  probl^niatiques  ou  potentielles"  be- 
handelt (mit  vielen  Unterabteilungen),  denen  die  „propositions  optatives, 
volitives,  concessives,  deliberatives"  sich  anschließen;  der  2.  Teil  be- 
handelt nach  einander  die  indirekten  Fragen,  die  finalen  und  konseku- 
tiven, die  suppositiven  und  temporalen,  die  Relativsätze,  um  mit  dem 
Opt.  der  indirekten  Rede  und  dem  „optatif  par  attraction"  zu  schließen. 
Zum  Teil  nicht  neu,  aber  teils  sicher  unhaltbar  sind  einige  Einzelaus- 
führungen: S.  18  ff.  über  den  Unterschied  von  av  und  xsv,  57  f.  über 
das  wiederholte  av  („Intention  de  mettre  en  relief  le  mot  priucipal  de 
la  phrase"),  72  f.  über  elsv  (eig.  Opt.!  aber  das  Formale  übergeht  der 
Verf.),  90  oüx  oIö'  av  d  (Mischung  aus  oux  olo'  av,  vgl.  lat.  nescio  an, 
und  oux  oio'  £1  ),  135  über  wjte. 

Im  Gegensatz  zu  den  mannigfachen  Bemühungen,  eine  Grundbe- 
deutung der  Modi  zu  gewinnen  und  auf  diese  um  jeden  Preis  alle 
historisch  gegebenen  Anwendungen  zurückzuführen ,  suchen  andere 
Forscher  vielmehr  die  einzelnen  Gebrauchsweisen  streng  zu  sondern, 
besonders  auch  in  den  Nebensätzen,  wo  sich  die  ursprüngliche  Be- 
deutung oft  verwincbt  hat,  so 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.    (Schwyzer.)     113 

W.  G.  Haie,  The  anticipatory  subjunctive  in  Greek  and  Latin: 
a  chapter  of  comparative  sj-ntax.  Chicago  1894  (aus:  Studies  in 
classical  philology  I). 

In  der  Einleitung,  die  über  die  Modi  im  allgem.  handelt,  werden 
die  Gebrauchsweisen  des  Konj.  nach  anderer  Vorgang  zwei  Gruppen 
zugewiesen:  der  Konj.  ist  entweder  „volitive"  (voluntativ)  oder  , .anti- 
cipatory" oder  ,,prospective"  (,, futurischer  Konj.").  Letztere  Art,  der 
die  Arbeit  im  besonderen  gilt,  ist  im  Griech.  —  und  diese  Sprache 
kommt  hier  für  uns  allein  in  Betracht  —  im  allgem.  durch  die  Beifügung 
von  av  oder  xsv  charakterisiert.  Das  Material  ist  besonders  Homer  ent- 
nommen, doch  wird  teilweise  bis  aufs  N.  T.  hinuntergegangen.  Nur  kurz 
brauchen  die  verschiedenen  Schattierungen  des  fut.  Konj.  ,,in  independence" 
und  „in  parataxis"  dargelegt  zu  werden;  die  Hauptaufgabe,  die  sich 
der  Verfasser  gestellt  hat,  ist,  dessen  Verwendung  in  Nebensätzen  nach- 
zugehen, wo  er  in  weiter  Ausdehnung  erscheint,  in  Relativ-,  Temporal-, 
Frage-,  Bedingungssätzen.  Fi'eilich  nicht  ausschließlich :  der  Verf.  gibt 
selbst  zu  wiederholten  Malen  die  Möglichkeit  zu,  eine  gegebene  Kon- 
struktion sei  auch  vom  voluntativen  Konj.  aus  zu  verstehen  oder  ent- 
halte auch  einen  volnntativen  Bestandteil;  und  es  fragt  sich  denn  doch, 
ob  das  Sprachgefühl  bei  schon  im  Urgriech.  fertigen  Konstruktionen  einen 
Unterschied  machte,  den  ja  auch  das  Auge  des  Forschers  nicht  immer 
scharf  wahrzunehmen  vermag.  Beständig  wird  das  Verhältnis  zum  Ind. 
Fut.  in  seinen  zeitlichen  Schwankungen  berücksichtigt.  Es  sei  hier 
noch  besonders  hingewiesen  auf  die  Erörterungen  über  die  Sätze  mit 
«uc,  o-(oi,  7va  usw.  (S.  24  ff.)  und  mit  -pi'v  (S.  76  ff.),  wo  der  ausschließ- 
lich voluntativen  Auffassung  der  Konj.  durch  Weber  bzw.  Sturm  ent- 
gegengetreten wird.  Die  klar  und  sorgfältig  abgefaßte  Schrift  bildet  einen 
beachtenswerten  Beitrag  zur  Aufhellung  des  Problems  des  Konj.  im 
Nebensatze. 

Je  einen  Beitrag  zur  Verwendung  des  Konj.  und  des  Opt.  ent- 
hält eine  frühere  Arbeit  desselben  Verfassers: 

W.  G.  Haie,    ,,Extended"  and  ,,remote"  deliberatives  in  Greek. 
Extr.  from  the  TrAPhA  24,  156—205. 

Der  erste  Teil  des  Aufsatzes  stützt  die  Ausführungen  von  F. 
B.  Tarbeil,  CR  5,  302,  wonach  der  Konj.  in  Sätzen  wie  ou  ^ap  aXXov 
olo"  oToi  Xs-.'w  Soph.  Phil.  938  auf  einer  Ausdehnung  des  Deliberativs  der 
unabhängigen  Rede  beruht,  gegenüber  M.  L.  Earle,  CR  6,  93 — 95, 
der  ihn  als  „subjunctive  of  purpose  in  relative  clauses"  erklärt  hatte. ^) 


*)  Vgl.  auch   *W.  W.  Goodwin,   On  the  extent  of  the  deliberative 
construction  in  relative    clauses  in  Greek.     HSt  7,  1—12.     An  diesen  Auf- 
satz   knüpft  Bemerkungen    M.  L,,  Earle,   On   the    subjunctive    in  relative 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1904.   I.)  8 


114     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.   (Schwyzer.) 

Das  Hauptergebnis  des  zweiten  Teiles  ist  die  Widerlegung  der  von 
A.  Sidgwick,  CR  7,  97 — 99.  352 — 4  gegenüber  anderen  aufrecht  er- 
haltenen „remote  deliberative",  nämlich  eines  Optativs  zum  Ausdruck 
von  „remoteness  of  possibility"  an  Stelle  des  Kouj.  in  Fällen  wie  oux 
£o6'  oTitüs  Xi^atixt  xa  <\izwri  xaXa  Äesch.  Ag.  620.  H.  hält  an  der  auch 
von  anderen  aufgestellten  Erklärung  der  Opt.  in  solchen  Sätzen  als 
Potentiale  Opt.  ohne  av  fest.  Beide  Artikel  bauen  sich  auf  einem  reichen 
Material  auf  und  behandeln  ihren  Gegenstand  und  was  damit  zusammen- 
hängt, klar  und  eingehend;  ein  beiläufiges,  aber  nicht  unwichtiges  Er- 
gebnis ist  die  Scheidung  des  nicht  wünschenden  Optativs  in  den  ,,potential 
Optative"  und  den  „optative  of  ideal  certainty  or  the  Optative  which  is 
used  in  ordinary  conclusions,  softened  assertions"  (S.  198).  —  Ebenfalls 
mit  den  Problemen  der  Modi  im  Nebensatz  beschäftigt  si«h 

*W.  G.  Haie,  The  origin  of  subjimctive  and  optative  conditions 
in  Greek  and  Latin.     HSt  12,  109—23. 

Wie  der  Opt.  in  diesen  Sätzen  teils  rein  optativisch,  teils  potential 
ist,  so  wird  auch  für  den  Konj.  die  Scheidung  in  den  voluntativen  und 
futur.  Bestandteil  versucht;  vgl.  die  Besprechungen  von  Dittmar,  BphW 
1902,  336-40;  373—6;  Thumb,  lA  14,  6. 

Noch  ist  einiger  kleinerer  Arbeiten  über  den  Optativ,  besonders 
über  einzelne  Anwendungen  desselben,  zu  gedenken. 

Nur  nennen  kann  ich  *F.  G.  Allinson,  On  causes  contributory 
to  the  loss  of  the  optative  in  later  Greek.  Studies  in  honor  of  Gildersleeve 
1902.  —  Über  den  Ausdruck  des  eigentlichen  Optativs  in  der  indirekten 
Bede  handelt  *S.  Sobolewski  EO  5,  162.  —  Ebenso  wenig  sind  mir 
einige  Arbeiten  über  den  sog.  iterativen  Optativ  zugänglich.^) 

Mehrfach  ist  der  sog.  oblique  Optativ  erörtert  worden,  in 
weiterem  Zusammenhange  von 

0.  Behaghel,  Der  Gebrauch  der  Zeitformen  im  konjunktivischen 
Nebensatz  des  Deutschen.  Mit  Bemerkungen  zur  lateinischen  Zeitfolge 
und  zur  griechischen  Modusverschiebung.     Paderborn  1899. 

Über  des  Griech.  handeln  besonders  S.  176—195.  B.  geht  aus 
von  der  Grundanschauung,  dai3,  wo  in  der  ältesten  Zeit  in  der  ab- 
hängigen Bede  ein  Optativ  erschien,  dieser  Modus  dem  betreffenden 
Satze  schon  zukam,    als  er  noch  eine   unabhängige  Form  hatte;    durch 


clauses  after  ou/  l'oi'.v  and  its  kind.  CR  10,  421  —  4,  der  im  übrigen  in  der 
Hauptsache  Haie  beistimmt.  Beiläufig  erklärt  er  als  die  älteste  Bedeutung 
des  Konj.  die  adhortative, 

*)  *J.  T.  Allen,  On  the  so-calied  iterative  optative  in  Greek. 
TrAPhA  33;  *C.  Thulin,  De  optativo  iterative  apud  Thucydidem.  SA. 
aus  „Festskrift  f.  Prof.  Weibull".  Lund  1901  (vgl.  DL  1902,  857). 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 190o.    (Schwyzer.)     115 

die  Analogie  weiter  verbreitet,  wird  dann  der  Optativ  zum  Zeichen  der 
Abhängigkeit.  Und  zwar  stand  im  Griech.  der  Opt.  der  abhängigen 
Eede  anfangs  auch  nach  Haupttempus  (Beispiele  S.  178  Ü.).  Ferner 
kann  sich  nicht  nur  der  Opt.  Aor.,  sondern  auch  der  Opt.  Präs.  auf 
Tatsachen  der  Vergangenheit  beziehen  (iraueaxov  [xvvjjTrjpa?,  ffri?  -otaÜTdc 
-/£  (til^oi  ■/  314).  Später  wird  der  Opt.  auf  die  Stellung  nach  Nebentempus 
eingeschränkt,  und  zwar  braucht  man  den  Opt.  Präs.  für  mit  dem  Hanpt- 
verb  gleichzeitige ,  den  Opt.  Aor.  für  dessen  Zeit  vorausliegende  Vor- 
gänge. Eine  sichere  Autwort  auf  die  Gründe  dieser  Entwickelung  gibt 
B.  nicht,  dagegen  schließt  er  mit  einer  kühnen  Vermutung  über  av 
(o'jx  av  szoiTjda  war  urspr.  =  non;  an  feci?). 

Anerkennt  B.  in  den  angegebenen  Grenzen  eine  ,, Modusver- 
schiebung", so  wird  sie  von  andern  bestritten:  Gildersleeve  (Problems 
129  f.;  AJPh  24,  394  f.)  begnügt  sich  freilich  damit,  festzustellen,  daß 
schon  bei  Homer  die  Regel  Konj,  nach  Haupt-,  Opt.  nach  Nebenterapus 
gelte;  aber  Mutzbauer  Ph  62,  631  f.  und  Vandaele  a.  a.  0.  250  nehmen 
für  den  Opt.  überall  die  von  ihnen  aufgestellten  Grundbedeutungen  an.  — 
Zwei  kleinere  Arbeiten  beschäftigen  sich  mit  dem  Nebeneinander  von 
Opt,  und  Konj.  in  abhängigen  Sätzen.    Davon  ausgehend  kommt 

C.  Chitil,  Zur  Konstruktion  der  Finalsätze  im  Griechischen. 
Progr.  Waidhofen  an  der  Thaya  (Österr.)  1899 
zu  dem  Ergebnis,  daß  «Konj.  und  Opt.  in  Finalsätzen  [und  sonst] 
einen  größern  oder  geringern  Grad  logischer  [nicht  äußerlicher,  syn- 
taktischer] Abhängigkeit  des  Nebensatzes  vom  Hauptsätze  ausdrücken" 
(S.  17).  Das  zum  Beweise  verwendete  Material  ist  dürftig  und  den 
Sammlungen  andrer  entnommen.     Dagegen  beruht  der  Aufsatz  von 

H.  D.  Naylor,  On  the  Optative  and  the  graphic  construction 
in  Greek  subordinate  clauses.  CR  1900,  247—9.  345—52 
doch  auf  selbständiger  Materialsammlung,  wenn  auch  den  gefundenen 
Eegeln  zahlreiche  Fälle  widersprechen.  Nach  N.  finden  wir  nämlich 
Imperf.  oder  Plusquamperf.  statt  Opt.  1.  regelmäßig,  wenn  der  regierende 
Satz  unpersönlich  oder  negativ  ist,  2.  in  der  Hälfte  der  Fälle  nach  den 
Verben  des  Sehens,  Erkenncns  u.  ä.  —  Vgl.  auch 

*A.  Mein,  De  optativi  obliqui  usu  Homerico.  I  De  sententiis 
obliquis  aliunde  pendentibus  primariis.  Progr.  Ernskirchen  1903 
(zugleich  Diss.  Bonn). 

Zum  Imperativ  ist  außer  dem  Artikel  von  Donovan  (S.  105)  nur 
*C.  W.  E.  Miller,  The  limitation  of  the  imperative  in  the  Attic  orators. 
AJPh  13,  399—436  zu  nennen;  vgl.  JA  3,  241. 

Dem  modalen  Indikativ  der  Augmentpräterita  gewidmet 

ist  die  Arbeit  von 

8* 


116     Beriebt  über  griechiscbe  Sprachwissenschaft  1890—1903.    (Schwyzer.) 

C.  Mutzbaiier,  Die  Entwickeluag  des  sog-enannten  Irrealis  bei 
Homer.     Ph  61,  481—502. 

M.  gebt  entschieden  zu  weit,  wenn  er  behauptet,  weder  bei  Homer 
noch  im  späteren  Griech.  habe  der  Begriff  der  Irrealität  einen  sprach- 
lichen Ausdruck  gefunden,  sondern  die  Handlung,  die  nicht  in  Erfüllung 
gegangen  ist,  werde  einfach  im  Ind.  eines  Tempus  der  Vergangenheit 
gegeben,  indem  die  Sprache  den  Hörer  oder  Leser  aus  dem  Zusammen- 
hang der  Gedanken  erschließen  lasse,  daß  die  angedeutete  Handlung 
nicht  in  Erfüllung  gegangen  sei.  Es  gibt  Fälle,  wo  dies  zutrifft,  aber 
daß  schon  die  homerischen  Griechen  den  sog.  Irreal  modal  empfanden, 
zeigt  die  Hinzufügung  von  av  und  yiv  und  die  Negation  \t-r^,  die  alle 
ursprünglich  dem  Ind.  fremd  waren.  Daß  in  der  Verwendung  des 
Imperf.  i'jxeXXov  zum  Ausdruck  eines  Ereignisses,  das  sich  niclit  ver- 
wirklicht hat,  die  früheste  Erscheinungsform  und  zugleich  der  Anstoß 
zu  dem  irrealen  Gebrauch  des  Ind.  zu  sehen  sei,  läßt  sich  ebenfalls 
nicht  erweisen ;  warum  sollen  nicht  die  Redeweisen  mit  oXi'i'ov  oder  o^psXov 
ebenso  alt  sein?  M.s  Aufsatz  bietet  allerdings  einige  Ergänzungen  zu 
Brugmanns  Darstellung  (gr.  Gr.^  511),  wo  aber  die  wichtigsten  Linien 
der  Entwickelung  bereits  sicherer  gezogen  sind. 

Infinitiv  und   Partizip   (mit  Verbaladjekiv). 

Nur  nennen  kann  ich  hier  eine  Arbeit,  die  sich  mit  Infinitiven 
und  Partizipien  auf  dem  syntaktisch  noch  wenig  gepflegten  Gebiete 
der  griechischen  Dialektinschriften  beschäftigt.  ^)  Auch  auf  eine  zu- 
sammenfassende Arbeit  über  den  Infinitiv  kann  ich  nur  verweisen.-) 
Andre  Arbeiten  fassen  einzelne  Gebrauchsweisen  des  Infinitivs  ins  Auge;  so 


^)  J.  M.Granit,  De  infinitivis  et  participiis  in  inscriptionibus  dialec- 
torum  Graecarum.     Diss.  Uelsingfors  1892. 

^)  Die  Geschichte  des  Infinitivs  verfolgt  bis  zu  seinem  Verschwinden 
im  Mittelgriecbischen  *D.  C.  Hesseling  in  Psicharis  Etudes  de  philologie 
neogrecque.  Paris  1892,  p.  1—44;  vgl.  das  Referat  von  A.  Thumb,  lA  5,60. 
Angeschlossen  seien  einige  Arbeiten  über  den  Infinitiv  bei  einzelnen 
Schriftstellern:  *Sprotte,  Die  Syntax  des  Infinitivs  bei  Sophokles  IL 
Progr.  Glatz  1891;  *E.  Lehner,  Der  Infi citiv  bei  Xenophon.  Gymn.  Progr. 
Freistadt  1891;  R.  Tetzner,  Der  Gebrauch  des  Infinitivs  in  Xenophons 
Anabasis.  Gymn.-Progr.  Dobran  1891  (genaue  Statistik  in  Absicht  auf  die 
Schulgrammatik  ohne  neue  Ergebnisse  von  allgemeinem  Wert;  imperativ. 
Infinitiv  nur  in  einem  Beispiel,  und  zwar  in  dem  r-pl>z  vöao;  V  3,  13); 
*E.  G.  W.  Hewlett,  On  the  articular  Infinitive  by  Polybios.  AJPh  9; 
E.  Nordenstam,  Studia  syntactica.  I  Syntaxis  infinitivi  Plotiniana.  Diss. 
Upsala  1893  (behandelt  knapp,  aber  sauber  den  gesamten  Gebrauch  des 
Inf.,  ohne  und  mit  Artikel;    letztere  Anwendung  ist   bei  Plotin    ungemein 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.    (Schwyzer.)     II7 

Fr.  Krapp,  Der  substantivierte  Infinitiv  abhängig  von 
Präpositionen  und  Präpositionsadverbien  in  der  historischen  Gräzität. 
(Herodot  bis  Zosiraus.)     Diss.  Heidelberg  1892, 

Die  Abhandlung  beginnt  mit  einer  Statistik  der  Frequenz  der 
behandelten  Erscheinungen,  bei  der  sich  ergibt,  daß  Polyb.  am  häufigsten 
von  denselben  Gebrauch  gemacht  hat;  er  verwendet  auch  am  häufigsten 
die  gegenüber  den  Präpositionen  selteneren  Präpositionsadverbien. 
Ein  zweites  Kapitel  handelt  vom  Gebrauch  der  einzelnen  Präpositionen 
und  Präpositionsadverbien  mit  dem  Inf.;  es  schließt  mit  einer  zusammen- 
fassenden Darstellung  der  Gebrauchsweise  der  einzelnen  Autoren,  wobei 
sich  ergibt,  daß  erst  bei  Thukydides  die  Konstruktion  voll  entwickelt 
ist,  indem  er  auch  den  Akk.  mit  Inf.  von  Präp.  abhängen  läßt.  Ein 
weiterer  Abschnitt  stellt  fest,  daß  die  Mannigfaltigkeit  bei  Präpositionen 
und  Präpositionsadverbien,  die  bei  verschiedenen  Kasus  auftreten,  ge- 
ringer ist  als  sonst,  wenn  sie  mit  dem  Inf.  verbunden  werden,  und  daß 
durch  die  Infinitivkoustruktion  besonders  Temporal-,  Final-  und  Kausal- 
sätze ersetzt  werden;  Polyb.  zeigt  eine  starke  Abnahme  der  Konjunk- 
tionen. Den  Schluß  bildet  eine  sorgfältige,  nach  den  einzelnen  Ver- 
bindungen und  den  die  Infinitivkoustruktion  regierenden  Subst.  und 
Verben  geordnete  Sammlung  von  Stellenangaben  aus  den  behandelten 
Schriftstellern.  —  Von  zwei  Seiten  hat  der  Imperativische  Infinitiv 
eine  gesonderte  Behandlung  erfahren,  eine  allgemeinere  von  E.  Wagner, 
Der  Gebrauch  des  Imperativischen  Infinitivs  im  Griechischen.  Gymn.- 
Progr.  Schwerin  i.  M.  1891,  eine  sich  auf  ein  bestimmtes  Sprachgebiet 
beschränkende  von  C.  Hentze,  Der  Imperativische  Infinitiv  in  den 
homerischen  Gedichten.  BKIS  27,  106—137.  Die  hübsche  Unter- 
suchung W.s,  die  sich  den  Arbeiten  ans  der  Schanzschen  Schule  würdig 

häufig).  Mit  vorgeschichtlichen  Fragen  beschäftigt  sich  die  wenig  ertrag- 
reiche Arbeit  von  *ß.  Szc  zurät,  De  infinitivi  Homerici  origine  casuali. 
Progr.  Brody  1902  (vgl.  ZöGy  1903,  561).  Hier  sei  auch  noch  angeschlossen 
der  sonderbare  Versuch  von  W.  P.  Lendrum,  On  the  construction  of 
clauses  following  expressions  of  expectation  in  Greek.  CR  4,  100  f.,  den 
Inf.  in  Fällen  wie  süyöucvo;  ^rjyrj-w  -i  <^^r^ih  als  dativisch  zu  fassen  („for  es- 
cape"). 

Endlich  seien  an  dieser  Stelle  einige  kleinere,  mir  nicht  zugängliche 
Aufsätze  über  Infinitivkonstruktionen  aufgeführt:  über  den  Inf.  nach  Aus- 
drücken des  Fürchtens,  also  über  Wendungen  wie  oioo'.za  ä/.&aiv  im  Sinne 
von  oEooixc/  ay;  kl^o  handeln  F.  B,  Tarbell  AJPh  12,  70—72  (s.  lA  1,  59) 
und  Gh.  B.  Gulick,  HSt  12,  327  ff.  (s.  lA  14,  7),  über  den  Akk.  mit  Inf. 
bei  Thukydides  Inczß,  B.,  EPhK  17,36—43.  100—112.  258—75.  Über  den 
Inf.  bei  -fn'v  und  M"^  s.  unten  fS.  12G  ff.).  Den  Inf.  Präs.,  Fut.,  Aor.  bei 
jiiXXtu  bei  Homer  und  Plato  skizziert  A.  Platt,  JPh  21,  39—45  (Grund- 
bedeutung von  u.=XXuj:    I  am  likely  to  do). 


118     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1S90— 1903.   (Schwyzer.) 

zur  Seite  stellt,  betrachtet  auf  Grundlage  des  vollständigen  statistischea 
Materials  nach  dem  Vorgang  anderer  den  imperativiscben  Infinitiv  be- 
sonders in  seinem  Unterschied  vom  Imperativ ;  der  futurische  Imperativ  — 
das  ist  der  imperat.  Inf.  —  wird  teils  in  allgemeinen,  für  alle  Zukunft 
gültigen  Vorschriften  oder  in  Vorschriften,  Befehlen  usw.,  die  sich  auf 
einen  einzelnen,  aber  erst  nach  einiger  Zeit  eintretenden  Fall  beziehen, 
gebraucht,  teils  und  zwar  seltener  mit  Zurücktreten  des  fut.  Momentes 
zur  Bezeichnung  eines  energischen  Befehls  oder  dringenden  Wunsches. 
Am  lebendigsten  bei  Homer,  findet  sich  die  Gebrauchsweise  immerhin 
neben  zunehmender  Häufigkeit  des  Imperativs  in  der  Dichtung  bis  in 
späte  Jahrhunderte,  doch  nicht  mehr  bei  Nonnos  und  seiner  Schule  und 
bei  Oppian  in  unhomerischer  Weise.  Im  prosaischen  Sprachgebrauch 
ist  der  imperat.  Inf.  typisch  geworden  und  geblieben  für  die  Gesetzes- 
sprache, auch  für  die  Rezeptierung;  die  nachklassische  literaiische  Prosa 
hat  ihn  dagegen  aufgegeben.  Hentze  nimmt  eine  Nachprüfung  von 
Wagners  Eigebnissen  für  Homer  vor,  wobei  sich  ergibt,  daß  in  der 
2.  Person  die  Konkurrenz  des  eigentlichen  Imperativs  auch  in  allge- 
mein gültigen  Vorschriften  doch  weiter  reicht,  als  Wagner  annahm,  der 
den  imp.  Inf.  geradezu  als  regelmäßigen  Ausdruck  dafür  hinstellte. 
Außerdem  ergänzt  er  W.s  Material  für  den  imp.  Inf.  der  3.  Pers.,  der 
mit  Brugmann  im  Inf.  der  Infinitivkonstruktion  bei  zpiv  anzunehmen  ist. 
Eine  Reihe  von  meist  kleinern  Arbeiten  beschäftigt  sich  mit 
einzelnen  Punkten  aus  der  Lehre  vom  Partizip.^)  F.  Carter,  Ou 
some  uses  of  the  aorist  participle.  CR  5,  3—6.  249 — 53  handelt  im 
wesentlichen  über  das  Ptc.  Aor.,  sofern  die  dadurch  ausgedrückte 
Handlung  der  des  regierenden  Verbs  nicht  vorangeht.  Das  Ptc.  be- 
zeichnet an  sich  die  Zeitstufe  nicht;  das  zeigt  sich  noch  in  den  Papyri, 


^)  J.  Keelhoff,  Du  participe  et  du  style  grec.  R.  d.  Humanites  en 
Belg.  1899,  janv.  ist  mir  nicht  zugänglich.  —  Wie  gewöhnlich  sind  auch 
einige  Arbeiten  zu  einzelnen  Schriftstellern  zu  nennen;  vorangestellt  seien 
zwei  Untersuchungen  von  G.  M.  B ollin g,  welche  auch  für  die  gesamte 
griech.  Sprachgeschichte  gröllere  Bedeutung  haben,  indem  sie  zum  Teil  die 
Entwickelung  der  attischen  Verwendung  des  Partizips  als  Äquivalent  für 
einen  Nebensatz  aus  den  noch  viel  einfacheren  homerischen  Verhältnissen 
betrachten:  1.  *The  participle  in  Hesiod  (Tbesis  of  the  Johns  Hopkins  uni- 
versityj  SA.  des  Catholic  Univers.  Bull.  (Washington)  3,  1897,  421—71. 
2.  The  participle  in  Apollonius  Rhodius.  Reprinted  from  Studies  in  honor 
of  B.  L.  Gildersleeve.  Baltimore  1902,  S.  449—70.  Für  1  mull  ich  mich 
mit  einer  Verweisung  auf  einige  Besprechungen  (AJPh  20,  352;  WklPh 
1898,  673—6;  lA  10,  119)  begnügen,  für  2  habe  ich  dem  ausgezeichneten 
Referat  von  H.  Meltzer,  lA  15,  244—6  nichts  hinzuzufügen.  —  Einen  Prosaiker 
behandelt  P.  Eismann,  De  participii  temporum  usu  Thucydideo  I.  Gymn.- 


Bericlit  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.   (Schwyzer.)     119 

wo  das  Ptc.  Aor.  aach  su  xrotui  u.  dgl.  zeitlos  ist,  nach  *D.  C.  Hesse- 
ling.  Quelques  observations  sur  remploi  et  l'bistoire  du  pavtieipe  grec. 
M61anges  Kern.  Leiden  1903,  S.  69 — 72,  der  im  übrigen  nach  lA  15, 
64  besonders  die  m;ttel-  und  neugriechische  Zeit  behandelt.  J.  M.  Stahl, 
RhMPh  54,  150  f.  i94  f.  handelt  über  die  Verwendung  des  prädikativen 
Ptc.  gegenüber  deuischem  Verbalsubstantiv,  die  besonders  bei  Thukydides 
erscheint  (z.  B.  ai'iov  -^v  oi  Aaxsoaojxovtot  uposi-ovrec). 

Über  VerbinUmgen  des  Ptc.  mit  Partikeln  und  Konjunktionen 
haben  gehandelt  G  M.  BoUing,  xaaot  with  the  participle.  AJPh 
23,  319 — 21  (die  Verbindung  ist  erst  nachklassisch  sicher  nachweisbar) 
und  *S.  Sobolew^-i,  JFO  10,  233  f.  (vgl.  lA  8,  187). 

Eine  Hauptrdle  spielt  das  Ptc.  (neben  dem  Inf.)  in  den  peri- 
phrastischeu  Verbal:onstruktionen.  J.  R.  Wheeler,  The  participial 
construction  with  xYyavstv  and  xupav.  Harvard  Studies  II  143 — 58 
gibt  eine  statistische  Bearbeitung  der  Tragiker,  Redner,  Historiker,  wie 
ich  lA  2,  107  entneme;  der  Aufsatz  ist  mir  ebensowenig  zugänglich 
wie  die  daran  anknipfeuden  Bemerkungen  von  B.  L.  Gilde rsleeve 
AJPh  12,  76 — 79.  anderen  periphrastischen  Konstruktionen  hat  Ph. 
Thielmann  seine  Aifmerksamkeit  geschenkt  1.  r/w  mit  Partizip. 
Abhandlungen  W.  v.  (lirist  dargebracht  S.  294—306.  München  1891; 
2.  Über  periphrastisch  Veiba  im  Griech.  BayrGy  1898,  55—65.  Im 
ersten  Autsatz  zeigt  e\  wie  die  Verbindung  des  Ptc.  Aor.  mit  l/w, 
vorbereitet  durch  den  hmerischen  und  hesiodeischen  Gebrauch  (Typen 
iXüjv  -j'ap  e'/si  7£pa?  bzw.xpu'!'«?  'iy^m)  bei  Herodot,  den  Tragikern  und 
Plato  geradezu  zur  Umshreibung  des  einfachen  Perfekts  wird,  im 
zweiten  werden  nicht  nu  die  Umschreibungen  des  einfachen  Futurs 
durch  £T(xi,  epyo[j.at  mit  P-;.  Fut.  (I'pyofj-at  cppaawv)  oder  e&eXw  mit  Inf. 
(cppajat  öeXü)),  sondern  ai'.h  Ausdrucksweisen  wie  h  olx-ov  eXöeiv,  Sta 
'foßou  spyeaöai  in  ihrer  ELwickelung,  besonders  bei  Herodot  und  den 
Tragikern,  verfolgt. 

Umfassende  Bearbeitngen  haben  die  Verbaladjektiva  ge- 
funden. Das  Verbale  aut-xoc  bei  Aesch.  hatte  Ch.  E.  Bishop  in 
einer  Leipziger  Diss.  von  18b  behandelt;  er  hat  auch  Soph.  daraufhin 


Progr.  Inowrazlaw  1892  (behandt  auf  Grund  einer  guten  und  interessanten 
Materialsammlung  das  Ptc.  prae  in  Bezug  auf  die  relative  Zeitstufe;  mit 
Recht  wird  geltend  gemacht,  da  das  Ptc.  praes.  an  sich  nur  die  actio 
durandi  bezeichne,  nicht  die  Gleic^eitigkeit,  die  sich  vielmehr  wie  die  ge- 
legentlich auftretende  Vergangenhe^bedeutung  lediglich  aus  dem  Zusammen- 
hang ergebe.  Der  Verfasser  steht  .wie  es  scheint,  ohne  es  zu  wissen,  in 
seinen  Ansichten  den  in  der  neuei  Indogermanistik  herrschenden  nahe; 
vgl.  z.  B.  Brugmann,  griech.  GramiP  470  f.). 


120     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— ] 903.   (Schwyzer.) 

untersucht  (*AJPh  13,  171-99.  329—42.  449-62,  vgl  WklPh  1893, 
1310—12;  lA  3,  239).  Einen  Ausschnitt  aus  der  vorhergehenden 
Literatur  behandelt  *J.  Wölfle,  De  adiectivi  verbalis  praesertim  in 
Iliade  usu  Homerico.     Progr.  Neuburg  a.  D.  1903, 

Ch.  E.  ßishop,  The  Greek  verbal  in  -TEO    AjPh  20,  1—21. 
121—38.  241—53 

unterrichtet  in  eingehender  und  interessanter  Weise  über  das  verbal  of 
«Obligation",  wie  er  statt  „necessity"  zu  sagen  vorzbht,  in  der  Literatur 
bis  auf  Aristoteles.  Alle  Fragen,  die  sich  daran  inüpfen,  kommen  zu 
einer  nicht  breiten,  aber  doch  erschöpfenden  Behaidlung:  die  Etymo- 
logie, wobei  sich  B.  für  die  Annahme  einer  Wdterbildung  von  -to- 
aus  entscheidet,  die  Bildung  und  ihre  Häutigkeit  ^1831  Belege,  wovon 
286  auf  verschiedenen  Verbalstäramen  und  zwar  neist  auf  dem  Stamm 
des  pass.  Aor.  I  beruhen;  der  verbalen  Natur  ntsprechend  erscheint 
das  Verbale  auf  -xeo-  fast  nicht  in  der  Kompoition,  im  Epos  ist  es 
praktisch  unbekannt);  besonders  aber  die  synftktischen  Verhältnisse. 
Es  steht  nur  prädikativ,  abgesehen  von  den  irrttmlich  philosophisch  ge- 
nannten Wendungen  wie  xo  Trotyjxeov,  xa  -onr]x£;  besondere  Häufigkeit 
in  oratio  obliqua  läßt  sich  nicht  behaupten;  ebnso  fehlt  jeder  Anhalt, 
daß  die  freilich  weit  überwiegende  unpersönlice  Fügung  die  ältere  sei 
gegenüber  der  persönlichen.  Das  Agens  steht  im  Dat.,  bei  der  unper- 
sönlichen Konstruktion  auch  im  Akk.  Ausfüilich  werden  auch  die 
Rektionsverhältnisse  dargestellt;  neben  Gen. und  Dat.  tritt  der  Akk. 
stark  in  den  Vordergrund,  der  auch  in  ^rbindungen  wie  xi  öpa- 
oxeov  anzunehmen  ist.  Die  Zahl  der  Ksuskonstruktionen  wächst 
in  der  spätem  Zeit;  darin  zeigt  sich  di<  fortschreitende  Angliede- 
ruDg  des  Verbales  an  das  Verbalsystem.  Ein  anderer  Abschnitt  be- 
handelt die  vom  Verbale  abhängigen  Inf.  rd  Nebensätze.  Zu  keinem 
vollen  klaren  Ergebnis  kommt  B.  bei  Beandlung  der  Bedeutung  des 
Plur.  auf  -xea  für  den  Sg,  („a  certain  liVrty",  „the  sweeping  exhau- 
stiveness  of  the  pl.").  Die  Copula  steht  ti  -'^'a  häufiger  (in  der  Hälfte 
der  Fälle)  als  sonst  (in  einem  Fünftel  «'  Fälle).  Unbefriedigend  ist 
die  Erklärung  des  akkusativischen  Agis:  es  spricht  vielmehr  Ver- 
schiedenes dafür,  daß  Konstruktionen  W  ~oiav  6o6v  vw  xps-xeov  Ar.  eq. 
72  nach  Analogie  von  Fällen  entstand^,  wo  ein  Ptc,  das  sich  streng 
grammatisch  auf  das  (ausgelassene)  dA'ische  agens  beziehen  sollte,  im 
Akk.  steht,  z.  B.  ou  Trpossxxeov  o\xi-v  f<-'^  t^oi*  xouxujv  XoYotc  siooxa?  Din. 
1,  112;  xoXiJ.rjx£ov  .  .  .  la^th  a^aXu  "asas  7Tpoc79£povx£  [XTfjyavac  Eur. 
IT  111.  — Vgl.  auch  *J.  H.T.  Maji  Verbais  in  -xso?,  xsov.  TrAPhA 
26,  II  Nr.  5  (1895). 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.   (Schwyzer.)     121 


Partikeln.^) 

Deren  Bedeutsamkeit  für  die  Färbung  des  Gedankens  entsprechend, 
entfallen  die  meisten  hergehörigen  Arbeiten  auf  die  Negationen  (vgL 
dazu  auch  oben  S.  77)  und  auf  av  und  v.h. 

Die  Negationen  ou  und  [j.q  bei  den  wichtigsten  rhetorisch- 
historischen Schriftstellern  der  früheren  römischen  Zeit  und  im  Neuen 
Testament  sowie  beim  homerischen  Infinitiv  und  ouöe  bei  Sophokles 
haben  monographische  Behandlungen  erfahren.-)  Eine  neue  Theorie  für 
li-q  stellt  E.  R.  Wharton  (vgl.  lA  1,  172;  CR  10,  239)  auf,  wonach 
die  Partikel  ursprünglich  und  wesentlich  nicht  negative  oder  prohibitive, 
sondern  interrogative  Bedeutung  gehabt  hätte.  Die  mir  nicht  zugäng- 
lichen Aufsätze  von  *F.  C.  Babbit,  The  use  of  \x-q  in  questions. 
HSt  XII  307  ff.  (Fragen  mit  p-v]  lassen  negative  oder  positive  Antwort 
offen;  s.  lA  14,  6)  und  '^  J.  E.  Harry,  Indicative  questions  with  [xy^ 
and  apa  ii-q.  Studies  in  honor  of  Gildersleeve  1902  bewegen  sich  da- 
gegen auf  sicherem,  geschichtlichem  Grunde.  Für  *Gallaway,  On 
the  use  of  (xrj  with  the  participle  in  classical  Greek  kann  ich  nur  auf 


*)  Über  den  Partikelgebrauch  einzelner  Schriftsteller  handeln  im  be- 
sonderen G.  Rosenthal,  De  Antiphontis  in  particularum  usu  proprietate. 
Diss.  Rostock.  Leipzig  1894  (behandelt  mit  Rücksicht  auf  den  rhetorischen 
Stil  und  die  zu  Gunsten  Antiphons  entschiedene  Echtheitsfrage  den  Gebrauch 
von  y.ai,  -z,  der  Negationen,  t„  d'LLd^  asv,  öd  u.  a.);  A.  Joost,  Bemerkungen 
über  den  Partikelgebrauch  Lukians.  Festschrift  für  L.  Friedländer  1895. 
S.  163—182  (behandelt  mit  Rücksicht  auf  die  Echtheitsfrage  lukianischer 
Schriften  den  Gebrauch  von  us-c^^ö  mit  Ptc.  Präs.,  tcXv^',  liviv,  p). 

-)  D.  Birke,  De  particularum  n.-f]  et  ou  usu  Polybiano,  Dionysiaco, 
Diodoreo,  Straboniano.  Diss.  Leipzig  1897  (öfter  steht  ji/i  für  oü  der  älteren 
Sprache,  bes.  beim  Inf.,  und  zwar  bei  Pol.  in  28,  bei  Dien,  in  72,  bei  Diod. 
in  258,  bei  Strabo  in  858  Fällen,  dagegen  ist  oü  für  \x-q  selten;  B.  nimmt 
an,  in  der  Volkssprache  seien  die  feineren  Unterschiede  geschwunden;  daß 
es  sich  aber  nur  um  eine  Verschiebung,  nicht  um  eine  Abstumpfung  des 
Gefühls  für  den  Hauptunterschied  der  beiden  Negationen  handeln  kann, 
zeigt  der  Umstand,  daß  dieser  noch  im  Neugr.  ausgedrückt  wird); 
P.  Thouvenin,  Les  negations  dans  le  Nouveau  Testament.  RPü  18, 
229—40  (Hauptunterschied  bewahrt);  *E.  L.  Green,  [i-vj  for  oü  before 
Lucian.  Studies  in  honor  of  Gildersleeve  1902;  *J.  Alton,  Über  die 
Negation  des  Infinitivs  bei  Homer.  Progr.  Krumau  (Ost.)  1890  (vgl.  ZöGy 
43,  177).  —  F.  Fritzsche,  De  particula  iüoi  usu  Sophocleo.  Diss.  Rostock 
1897  (Behandlung  und  Gruppierung  der  einzelnen  Stellen  ohne  allgemeine 
Ergebnisse).  Vgl.  auch  H.  Kallenberg,  oüoi  ('j-r|0=)  statt  xr/i  {ßXka)  oü  (arj) 
Jahresber.  d.  philol.  Vereins    in  Berlin  in  ZG  1897,  201—4   (für  Herodot). 


122     Beliebt  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  — 1903.    (Schwyzer.) 

die  Anzeige  *AJPh  18,  369  verweisen.  Daß  die  attrahierende  Wirkung 
des  regierenden  Satzes  auf  die  Negation  des  Ptc.s  das  Gewöhnliche  ist, 
zeigt  *G.  E.  Howes,  The  use  of  [iri  with  the  participle,  where  the 
negative  is  influenced  by  the  construction  upon  which  the  participle 
depends.  HSt.  12,  277  ff.  (vgl.  lA  14,  6).  Verschiedentlich  ist  die 
Verbindung  cu  |j.rj  behandelt  worden,  von  C.  D.  Chambers,  CIR  10, 
150—3.  239;  11,  109-111;  E.  R.  Wharton,  ebd.  10,  239;  ß.  White- 
law,  ebd.  10,239—44;  1902,  277;  E.  A.Sonnenschein,  ebd.  1902, 
165 — 9  und  von  *W.  W.  Goodwin,  On  the  origin  of  the  construction 
of  oO  ix-q.  HSt  I  65 — 88.  Chambers  verteidigt  im  1.  Artikel  die 
Erklärung  durch  Ellipse  eines  Ausdrucks  der  Befürchtung,  erklärt  aber 
im  2.,  daß  keine  Theorie  völlig  genüge;  Wharton  nimmt  Umstellung 
z.  B.  aus  jxr]  -evTj-ai;  ou  „shall  it  be?  no"  an  (vgl.  oben  seine  Auf- 
fassung von  [jltq);  damit  berührt  sich  die  Auffassung  von  Whitelaw,  der 
sich  [XT]  in  ou  {xf,  -'evr^-ai  als  „perhaps,  possibly"  denkt;  im  2.  Artikel 
behauptet  Whit.  gegenüber  Sonnenschein,  der  ou  jj.y)  jy.ax];^;  als  „an 
interrogative  prohibition  or  a  question  containing  a  prohibition"  deutet 
und  lat.  quin  uoli  illudere  vergleicht,  ou  als  „nonne"  faßt,  daß  in  der 
Eegel  das  Fut.  stehe  und  daß  Wendungen  wie  ou  \i.y]  ixsvsTs  vielmehr 
als  „interrogative  commands"  aufzufassen  seien  (ou  [j-svsTc;  =  jisvs,  ou 
jxf,  ixsveT?;  =^  ixTj  [xsvs).  Einzelne  Punkte  oder  Stellen  in  Texten  be- 
handeln eine  Eeihe  kleinerer  Arbeiten.^) 

Über  av  und  xsv  handelt  in  zwei  Czernowitzer  Gymn.-Progr. 

A.  Polasch ek,    Beiträge    zur  Erkenntnis  der  Partikeln  äv  und 
xiv.    1890.  1891. 

Er  stellt  in  seiner  fleißigen  und  mühevollen  Arbeit  die  (nicht 
bewiesene)  Behauptung  auf,  av  habe  negierenden  oder  eine  Negation 
verstärkenden  Sinn  („schwerlich"),  v.h  affirmativen  oder  eine  Negatiou 
mildernden  („leichtlich").  Der  größte  Teil  des  Baumes  ist  einer 
Statistik  der  Verteilung  der  beiden  Partikeln  auf  die  einzelnen  Vers- 
stellen gewidmet;  gewöhnlich  überwiegt  xsv  bei  weitem,  wie  es  ja  über- 
haupt häufiger  ist;  wenn  nun  aber  in  der  4.  und  5.  Arsis  das  Ver- 
hältnis sich  umkehrt,  so  kann  dies  doch  nicht,  wie  der  Verf.  meint,  auf 
einem  Unterschied  in  der  Bedeutung  der  beiden  Partikeln  beruhen, 
sondern  muß  metrische  Gründe  haben.    Vgl.  dazu  auch  oben  S,  111.  115.  — 


^)  E.  H.  Donkin,  oüy  öt-.  in  Plato.  CIR  10,  28  f.  (=  or/.  ipiu  cttj; 
*J.  Keelhoff,  si  o'  ojv  peut  il  etre  synonyme  de  tl  oi  ji-^?  RIP  35,  161 
—  176;  *S.  Sobolewski,  oüoi  {\i.r,Zi)  und  xai  w  (zal  ^-q).  FO  II  48; 
E.  Tournier,  to  jir;  et  -oO  [irj.  RPh  21,68  (verlangt  Herodot  1,86  -o  ar; 
für  töö  \).ir^. 


Bericht  über  griechische  Sprachwisseaschaft  1890—1903.   (Schwyzer.)     128 

M.  Wiseii,  av  et  xc(v)  particulae.  FFL  II  (1902)  ist  mir  nicht 
zugänglich.  H.  Richards,  av  vvith  the  future  in  Attic.  CR  G,  336 — 42, 
sammelt  die  Belege  für  die  auch  von  ihm  bestrittene  Erscheinung; 
neben  den  von  anderen  angewendeten  Mitteln  der  Emendation  empfiehlt 
er  in  einer  großen  Anzahl  von  Fällen  Annahme  von  Verschreibung  von 
av  aus  6t^.  —  In  späterer  Zeit  findet  sich  nicht  selten  eav  an  Stelle 
von  av,  worüber  St.  Langdon,  History  of  the  use  of  eäv  for  av  in 
relative  clauses,  AJPh  24,  447—51,  handelt.  Nur  ganz  vereinzelt  be- 
gegnet die  Erscheinung  in  der  klassischen  und  in  der  späteren  profanen 
Literatur,  dagegen  häufig  in  den  Übersetzungen  aus  dem  Hebräischen 
und  verwandten  Erzeugnissen,  und  hier  führt  L.  den  Wechsel  zwischen 
äv  und  £av  (für  av)  entschieden  auf  den  Unterschied  zwischen  den 
hebräischen  Relativsätzen  mit  vorausgehendem  Beziehungswort  und 
denen  ohne  solches  zurück:  „the  Septuaginta  translator  strengthens  the 
translation  of  a  complete  relative  clause  by  usiug  the  stronger  form 
lav".  Daneben  soll  aber  unabhängig  der  Brauch  auch  in  der  Volks- 
sprache aufgekommen  sein  ,caused  by  the  eflfort  to  emphasize  the  ab- 
stract  conditioual  aspect  of  the  relative  clause".^) 

Um  die  Etymologie  der  beiden  Partikeln  bemüht  sich,  aber 
wenig  glücklich,  G.  H.  Müller,  De  origine  particulae  av.  H  25,  463  f., 
der  av  aus  a[x,  dixo  zu  d[j.oc  stellt,  wie  y.sv  zu  xoc  =  xic  gehöre.  Da- 
gegen hat  F.  Solmsen.  ZvSpr  35,  463  ff.  die  Zusammenstellung  von 
y.£(v)  mit  ai.  kam,  aksl.  hl  neu  begründet. 

Meist  kürzere  ÄulJerungen  zu  anderen  Partikeln  stelle  ich  in  der 
Anm.-)  zusammen. 


'■)  Vgl.  auch  P.  Dessoulavy,  De  la  particule  äv  dans  Thucydide. 
Progr.  Neuchätel  1895. 

-)  J.  B.  Mayor,  ünrecorded  uses  of  aoziy.a.  ClR  1897,  442-4 
(„for  instance,  at  any  rate,  further,  again");  K.  Hu  de,  Über  (czp  in  appo- 
sitiven  Ausdrücken.  H.  36,  313—5  (zur  AnkDüpfung  nicht  eines  begründen- 
den oder  erklärenden  Satzes,  sondern  einer  bloßen  Apposition,  „scilicet, 
quippe,  nämlich");  J.  M.  Stahl,  Über  eine  besondere  Bedeutung  von  -^drj. 
RhMPh  57,  1  —  7  (einräumend  „freilich");  *Sagawe,  oi  im  Nachsatz  bei 
Herodot  (aus  der  Festschrift  des  Gymn.  zu  St.  Maria  Magd.)  Breslau  1893; 
W.  M.  Ranisay,  y.oi  meaning  ,or'.  ClR  12,337—41  (besonders  in  Kleinasien 
bei  Doppelnamen  [meist  6  xai],  auch  bei  Angabe  verschiedener  Ären,  in  der 
späteren  Sprache);  C.  Schmidt,  De  usu  particulae  ts  earumque  quae  cum 
-Ol  compositae  sunt  apud  oratores  Atticos.  Diss.  Rostock  1891  (sammelt 
das  Material  für  ts  und  seine  Verbindungen,  auch  für  (üaxc,  olöv  -£  —  der 
größere  Teil  der  Arbeit  —  sowie  für  toi,  xofi'apo'Jv,  -(j<.-^ä(jxo\,  xauoi,  jisv-oi, 
Toivuv  aus  den  att.  Rednern  mit  Ausschluß  Antiphons). 


124     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 


Satzgebilde.  ^) 

Parataxis. 
Am  häufigsten  wird  die  Parataxis,  deren  Gebiet  später  sehr  durch 
die  Hypotaxis  beeinträchtigt  wird,  noch  angewendet  bei  Homer,  worüber 
C.  Hentze,  Die  Parataxis  bei  Homer.  Progr.  Göttingen  1888—91, 
handelt.  Der  hier  zu  berührende  3.  Teil  der  Arbeit  ist  den.  (korrespon - 
dierenden  und  adversativen)  reinen  und  angewandten  Vergleichungs- 
sätzen  gewidmet,  die  teilweise  auch  die  Grundlage  korrelativer  Satz- 
gefüge bilden. 

Abhängige  Sätze.     Satzgefüge. 
Ausgehend  von  den  Relativsätzen  behandelt  die  vorgeschicht- 
liche Entwickelung  der  meisten  Konjunktionen 

Ch.  Baron,  Le  pronom  relatif  et  la  conjonction  en  grec  et 
principalement  dans  la  langue  homerique.  Essai  de  syntaxe  historique. 
Paris  1891. 

Die  Schrift  will,  sich  auf  das  Griech.  beschränkend,  eine  Zu- 
sammenfassung der  Ergebnisse  bieten ,  welche  die  historisch-ver- 
gleichende Forschung  gewonnen  hat,  und  erreicht  dies  Ziel  auch  in 
übersichtlicher  Darstellung,  wenn  schon  jetzt  manches  anders  angesehen 
wird  (das  Relativ  und  die  konjunktionelle  Verwendung  von  o  waren 
schon  vorgriech.  entwickelt  oder  doch  in  der  Bildung  begriffen)  und 
die    formalen  Bemerkungen    z.  T.    schon   als    sie    erschienen    nicht    zu 


^)  Nur  nennen  kann  ich  einige  Arbeiten  über  die  subjektlosen 
Sätze  und  Impersonalien:  *F.  Cbowaniec,  De  enuntiatorum  quae 
dicuntur  subiecto  carentium  usu  Thucycideo.  Gymn.-Progr.  Jaroslau  1892 
(vgl.  ZöGy  1894,  855  f):  A.  Miodoüski,  De  enuntiatis  subiecto  carentibus 
apud  Herodotum.  Diss.  Krakau  1891  (zeigt  nach  einer  Einleitung,  in  der 
er  sich  als  Anhänger  Miklosichs  bekennt,  einen  wie  ausgedehnten  Gebrauch 
llerodot  von  den  subjektlosen  Sätzen  macht);  "■  A.  Diessl,  Die  Impersonalien 
bei  Herodot.  Progr.  Wien  1899  (vgl.  ZöGy  1901,  283).  Vgl.  auch  G. 
M.  BoUing,  AJPh  20,  112  (^wv  als  Ptc.  zu  y^O- 

Hier  mag  sich  anschließen  *M.  Malarenko,  Aeschylus  et  Sophocles 
quibus  modis  subiectum  logicum  in  passivo  verborum  genere  indicent,  FG.  8, 
17-34;  9,  27—40. 

0.  Wilpert,  Das  schema  Pindaricum  bei  Piaton.  Fleck.  Jbb.  155, 
504—6  bestreitet  mit  Recht,  dali  diese  Figur  an  Stellen  wie  lo-i  ylo  auotp 
•/.ol  ßiiinoi  xT/..  vorliege,  ohne  indessen  seine  Beispiele  richtig  zu  beurteilen. 

„Über  parenthetische  Sätze  und  Satzverbindungen  in  der  Kranzrede 
des  Demosthenes"  handelt  *F.  lleerdegen.  Festschrift  der  Universität 
Erlangen  1901  (vgl.  Fuhr,  BphW   1902,  417-21). 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— li)Oo.   (Schwyzer.)     125 

entschuldigen  waren.  Neues  enthält  das  Buch  nicht.  Der  Stoff  ist  auf 
vier  Kapitel  verteilt:  I.  Transformation  du  pronom  anaphorique  au 
pronom  relatif  (dabei  wird  -t  beim  Relativ  als  „des  fois,  peut-etre" 
gefaßt);  II.  De  Temploi  du  mode  et  de  son  influence  sur  la  proposition 
relative;  III.  Trausformation  du  pronom  relatif  en  conjonction.  IV. 
Conjonctions  d'origine  diverse  (scuc,  Tva,  st,  irplv  ■/]',  [j-tq).  *) 

Nebensätze  mit  Konjunktionen.-) 
Auf  dem  Gebiete  der  sog.  Final-  und  Konsekutivsätze  hat 
die  Forschung  neben  einer  Reihe  von  Spezialarbeiten  für  einzelne  Schrift- 
steller oder  Schriftstellergruppeu,  die  hier  nur  genannt  werden  können,  ^) 
nur  eine  Arbeit  hervorgebracht,  die  weiter  ausschaut: 

*)  Einen  großen  Teil  der  Nebensätze  bei  Aristophanes  behandelt 
S.  Sobolewski,  Syntaxis  Aristophaneae  capita  selecta.  De  sententiarum 
condicionalium  temporalium  relativarum  formis  et  usu.  Mosquae  1891.  Die 
Schrift  zerfällt  in  5  Kapitel:  das  1.  behandelt  kurz  den  Tempusgebrauch 
im  allg.,  das  2.  wendet  sich  ausführlicher  gegen  die  Auffassung  des  conj. 
aor.  als  Ausdruck  der  Vorgängigkeit  und  setzt  den  Begriff  der  Aktionsart, 
der  dem  Verf.  von  seiner  Muttersprache  her  vertraut  ist,  an  deren  Stelle; 
die  o  letzten  Kapitel  behandeln  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  Modus- 
gebrauch die  im  Titel  genannten  Satzarten.  Im  übrigen  wäre  zum  Lobe 
der  Schrift  das  Gleiche  zu  sagen  wie  von  der  oben  S.  102  genannten  Arbeit 
desselben  Verfassers.  Allgemeiner  behandeln  eine  Reihe  von  Nebensätzen 
*S.  Sobolewski,  FO  8,  75— 82.  153— 9  (vgl.  lA  7,  50)  und  *J.  NetuSil,  FO 
1,  1  —  26.  2,  11—32.  4,  23—4:1.  9,3-25.  Hieher  gehört  wohl  auch  *I.  H. 
E 1  w  e  1 1 ,  Note  on  certain  forms  of  contrasted  clauses  in  protasis.  Pr APh  A  29  p.  X. 

Hier  ist  weiter  zu  nennen  *J.  Klasen,  De  Aeschyli  et  Sophoclis  enun- 
tiatorum  relativorum  usu.  Diss.  Tübingen  1895  (behandelt  nach  Golliug, 
ZöGy  189G,  993  f.  u.  a.  die  Relativsätze  nach  Interjektionen,  Sätze  mit  6j;). 
Die  Konstruktionen  nach  den  Verb.  die.  etc. behandelt B.  Kaiser,  Quaestiones 
de  elocutione  Demosthenica.  Diss.  phil.  Hai.  XIII  1,  Halle  1895.  Über 
einen  dänischen  Aufsatz  über  homer.  ^'.-z  s.  lA  1,  60.  Vgl.  zum  ganzen 
Abschnitt  die  Literatur  zur  Tempus-  und  Moduslehre  (S.  105  —  16). 

-)  Ob  *H.  Pitman,  Greek  conjunctions.  London  1896  sich  hier 
richtig  einreiht,  weiß  ich  nicht  anzugeben.  Ebenso  kann  ich  *S.  Brief, 
Die  Konjunktionen  bei  Polybios  I— IIL  Gymn.-Progr.  Wien  1891/4  (es 
werden  nach  WklPh  1893,  174—6  auch  andere  Schriftsteller,  freilich  nicht 
vollständig,  zum  Vergleich  herangezogen)  nur  nennen,  um  so  mehr,  als  die 
Arbeit  an  einer  andern  Stelle  dieser  Berichte  genauer  besprochen  wird. 
Hingewiesen  sei  wenigstens  auf  die  Bemerkungen  von  *J.  Keelhoff  zu 
iva,  f.-j.  und  w;  (RIP  37,5;  38,166-8)  und  von  W.  G.  Rutherford  (CR 
10,6)  und  *S.  Sobolewski  (FO  11,81—5)  zu  ocivai  oti,  6j;  (selten). 

')  R.  Heiligenstädt,  De  finalium  enuntiatorum  usu  Herodoteo  cum 
Homerico  comparato  II.  Gymn.-Progr.  Roßleben  1892  (Fortsetzung  der 
Halenser  Diss.  des  Verf.  vom  Jahr  1883;   wertvolle  Ergänzung   zu  Weber 


120     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.   (Schwyzer,) 

W.  Berdolt,  Zur  Entwickelungsg-eschichte  der  Konstruktionen 
mit  cujTs.  Beitrag-  zur  historischen  Syntax  des  Griechischen.  Gymn.- 
Progr.     Eichstätt  1894. 

Die  gedrängte,    inhaltreiche  Arbeit    zerfällt    in  3  Kapitel,     Das 
1.  bietet    eine  Zusammenstellung    der    bisherigen  Ansichten    besonders 


Geschichte  der  Absichtsätze;  der  vorliegende  Teil  handelt  besonders  von 
der  Verbindung  mehrerer  Finalsätze  mit  Rücksicht  auf  den  Modusgebrauch; 
es  sei  besonders  auf  die  Beispiele  für  Wechsel  zwischen  Konj.  und  Opt.  in 
verbundenen  Finalsätzen  hingewiesen  S.  10 f.;  vgl.  dazu  auch  Diel  S.  22). 
Eine  Reihe  von  Arbeiten  führen  Webers  Forschung  in  die  hellenistische 
Zeit  hinein  fort:  R.  Amelung,  De  Polybii  eountiatis  finalibus.  Diss.  Halle 
1901  (Ergänzung  zu  Diel,  den  A.  freilich  nicht  kennt,  besonders  wertvoll 
durch  das  reiche  Material,  das  aus  den  hellenistischen  Inschriften  und 
Papyri  beigebracht  wird);  J.  Unna,  Über  den  Gebrauch  der  Absichtssätze 
bei  Philo  von  Alexandrien.  Diss.  Würzburg  1895  (angeregt  durch  Diel; 
das  Urteil,  „daß  sich  Philo  im  allgemeinen  an  die  Regeln  hält,  welche 
durch  den  Gebrauch  der  klassischen  Autoren  festgestellt  waren",  ist  freilich 
sehr  allgemein;  so  braucht  ja  auch  Philo  oft  den  Konj.  nach  Nebentempus 
und  den  Opt.  nach  Haupttempus);  H.  Geyr,  Die  Absichtssätze  bei  Dio 
Chrysostomus.  Gymn.-Progr.  Wesel  1897  (Ergänzung  zu  Schmid,  Atticism. ; 
berücksichtigt  das  Verhältnis  zu  den  Vorbildern  und  zum  zeitgenössischen 
Sprachgebrauch);  H.  Diel,  De  enuntiatis  finalibus  apud  Graecorum  rerum 
scriptores  posterioris  aetatis.  Gymn.-Progr.  München  1895  (behandelt  Pol. 
Diod.  DH.  Joseph.  Plut.  Arr.  App.  Herod.;  Hauptergebnisse  der  lehrreichen 
Arbeit :  Überhandnehmen  von  w;  und  von  Finalsätzen  an  Stelle  des  Inf.; 
Vermischung  der  Final-  und  Konsekutivsätze;  Opt.  nach  Haupttempus  be- 
sonders bei  Appian  häufig). 

Angeschlossen  seien  H.  Knop,  De  enuntiatorum  apud  Isaeum  con- 
dicionalium  et  finalium  formis  et  usu.  Diss.  Erlangen  (und  Gymn.-Progr.  Celle) 
1892  (den  Finalsätzen  sind  freilich  nur  wenige  Seiten  gewidmet:  aus  der 
Besprechung  der  Stellen  für  die  Bedingungssätze  seien  hervorgehoben  die 
Beispiele  für  präteritale  Bedeutung  des  Imperf.  in  der  sog.  irrealen  Bedingung 
S.  20 f.)  und  F.  Johnson,  De  coniunctivi  et  optativi  usu  Euripideo  in 
enuntiatis  finalibus  et  condicionalibus.  Diss.  Berlin  1893  (Sammlung  des 
Materials  und  Erörterung  einzelner  Stellen;  warum  der  Verf.  den  Konj.  nach 
Nebentempus  in  Finalsätzen  ganz  beseitigen  will,  ist  nicht  einzusehen). 

*J.  Kobylanski,  De  enuntiatorum  consecutivorum  apud  tragicos 
Graecos  usu  ac  ratione.  Gymn.  Progr.  Kolomea  1894  (Sammlung  nach 
ZöGy  1895,  1145  f.);  M.  Wehmann,  De  öots  particulae  usu  Herodoteo 
Tliucydideo  Xenophonteo.  Diss.  Straßburg  1891  (die  tüchtige  Arbeit,  die 
Berdolt  für  seine  Untersuchung  bereits  benutzt  hat  [s.  oben],  behandelt  nach 
einer  Übersicht  über  den  epischen  und  tragischen  Sprachgebrauch  in 
3  Kapiteln  ihr  Thema;  im  4.  faßt  sie  die  Ergebnisse  ausführlich  zusammen. 
Schon  W.  scheidet  genau  zwischen  finalem  und  konsekutivem  Gebrauch); 
*W.  Berdolt,   Der  Folgesatz  bei  Plato  mit  historisch  gramm.  Einleitung: 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903,  (Schwyzer.)     127 

über  die  Grundbedeutung  von  a)3-s;  der  Verf.  tritt  denen  bei,  die  dem 
TS  indefinite  Bedeutung  zuschreiben  (wsrs  —  „wie  etwa" ,  urspr.  „so 
etwa";  vgl.  aber,  was  Brugmann  gr.  Gr. ^  530  zu  Gunsten  der  kopula- 
tiven Geltung  von  it  ausführt).  Das  2.  Kapitel  behandelt  den  kora- 
paricrenden  Gebrauch  von  Sj-s  in  der  Epik  und  Lyrik,  je  nachdem  die 
Partikel  im  Gleichnis,  im  skizzierten  Bilde ,  mit  einfachem  Wort  er- 
scheint (innerhalb  dieser  Kategorien  sind  die  Gleichnisse  sachlich  ge- 
ordnet). Denn  wie  das  3.  Kapitel  ausführt,  geht  der  final-konsekutive 
Gebrauch  auf  den  komparierenden  zurück:  ojjts  ist  erst  nur  sekundär 
zu  einem  final-konsekutiven  Inf.  getreten,  um  den  in  diesem  enthaltenen 
Verbalbegriflf  als  einen  der  Handlung  des  Hauptsatzes  „entsprechenden" 
zu  bezeichnen  (S.  33).  Homer  hat  erst  2  Beispiele  für  diese  Vorstufe 
des  späteren  konsekutiven  Gebrauchs  von  cujts  (l  42  f.  und  p  20  f.),  der 
sich  in  solchen  Verbindungen  entwickelte,  und  die  nachhomerische 
epische  und  lyrische  Dichtung  machen  noch  einen  spärlichen  Gebrauch 
von  konsekutivem  uists.  Der  erste  Beleg  für  letzteres  ist  Hes.  Opp.  44, 
wo  auch  bereits  ein  formaler  Subjektsakk.  beim  Inf.  erscheint:  damit 
ist  die  besondere  Konstruktion  des  konsekutiven  oder  wie  der  Verf. 
S.  35  betont,  finalen  custs  fertig,  wenn  auch  Akk.  mit  Inf.  erst  bei 
den  Tragikern  und  Herodot  reichlicher  auftritt.  Erst  bei  Soph.  (nicht 
bei  Aesch.  und  seltener  bei  Eur.  und  den  Prosaikern)  erscheint  S^ts 
mit  Modi  (Ind.,  Opt.  mit  av,  Imp.). 

Bei  den  Temporalsätzen  ist  eine  gröI5ere  Arbeit  anzuführen: 

A.  Fuchs,  Die  Temporalsätze  mit  den  Konjunktionen  „bis"  und 
,,so  lange  als".     Würzburg  1902  (=  Schanz'  Beiträge,  Heft  14). 

Der  Hauptwert  der  Untersuchung  besteht  in  der  Sammlung  und 
historischen  Darstellung  des  Materials  aus  der  voraristotelischen 
Literatur,  die  in  9  Kapiteln  erfolgt,  während  das  10.  die  Ergebnisse 
zusammenstellt.  Es  handelt  sich  um  Bedeutung  und  Konstruktion  des 
homer.  eic  o  xe,  des  freieren  herod.  Ij  o,  des  poet.  o<ppa,  des  homer. 
und  att.  £0)?,  von  sste,  das  bezeichnenderweise  der  Lyrik  und  Tragödie, 
Herod.  und  Xenoph.  angehört,  des  prosaischen  [xsypi  und  a/pi  und  einiger 
nur  gelegentlich  die  Nuance  „bis"  oder  „solange  als"  annehmender 
Konj.  relativen  Ursprungs.  Beiläufig  werden  auch  der  Ausdruck  des 
Zeitverhältnisses  durch  präpositionale  Verbindungen,  der  Inf.  bei  [xeveiv, 
die  finale  Verwendung  von  o^pa  und  Ico;  berücksichtigt.  Die  ent- 
wickelungsgeschichtliche  Grundlage  ist  im  1.  Kapitel  gegeben,  das  über 

der  Konsekutivsatz  in  der  älteren  griech.  Literatur.  Diss.  Erlangen  1897; 
*W.  A.  Eck  eis,  (uoxt  as  an  indes  of  style  in  the  orators.  Diss.  Baltimore 
1901  (kann  auch  dem  Grammatiker  Material  bieten,  vgl.  BphW  1902, 
870—4). 


128     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.    (Schwyzer.) 

den  homerischen  Gebrauch  handelt;  da  fordert  freilich  manches  zum 
Widerspruch  heraus.  So  soll  zU  o  xs  für  zl;  ov,  r;v  ■/.£  usw.  eingetreten 
sein  (S.  5  f.) ;  dies  ist  an  sich  unwahrscheinlich  und  wird  jedenfalls  durch 
die  vom  Verfasser  beigebrachten  Beispiele  nicht  erwiesen:  Od.  6,  295  f. 
heißt  ypovov  „eine  Zeit,  eine  Weile",  während  Herod.  7,8  yp.  „Zeit- 
punkt" bedeutet.  Dass  o'fpa,  iojc  ursprünglich  demonstrativ  gewesen 
seien,  ist  unwahrscheinlich,  denn  die  Zurückführung  auf  demonstratives 
*50-,  die  allenfalls  neben  der  Zugehörigkeit  zu  relativem  *jo-  in  Frage 
käme,  hat  nichts  für  sich.  Unhaltbar  sind  vielfach  des  Verf.  An- 
schauungen über  Tempora  (xo^pa  oi  [xiv  [xr/a  xöfx.a  osps  Od.  5,  425 
soll  heißen  ,, erfaßte  ihn  und  trug  ihn",  S.  30  f.;  Ähnliches  23  f.)  und 
Modi;  für  letztere  hätte  er  gerade  auch  für  sein  Thema  viel  aus  der 
oben  S.  113  besprocheneu  Schiift  von  Haie  lernen  können.^) 

Ahnlich  spricht  sich  jetzt  in  manchem  über  die  Arbeit  von 
Fuchs  aus 

B.  L.  Gilder sleeve,    Temporal    sentences    of    limit  in  Greek. 
AJPh  24,  388—407. 

Dieser  Aufsatz  ist  eine  feinsinnige  kritische  Inhaltsangabe  der 
Fuchsschen  Schrift;  G.  wendet  sich  namentlich  auch  gegen  das  im  vor- 
liegenden Fall  von  der  Parataxe  kommende  Licht,  das  vielmehr  „darkness" 
sei;  er  betont  mehrfach,  daß  schon  die  homerische  Sprache  hoch  ent- 
wickelt und  hoch  kultiviert  gewesen  sei.  Im  Vorbeiweg  (S.  394  f.)  be- 
kämpft er  wieder  die  Theorie  der  Modusverschiebung.  S.  392  ist  vom 
Übergang  der  Bedeutung  „bis"  zu  ,, solange"  die  Rede:  es  sei  bemerkt, 


*)  Übrigens  hat  schon  ^A.  Dö bring,  Zu  den  griech.  und  lat.  Kon- 
junktionen der  Gleichzeitigkeit  und  Zeitgrenze  (aus  der  Festschrift  des 
Friedr.-Koll.)  Königsberg  1892,  die  von  Fuchs  aufgestellte  Ansicht  ver- 
treten (nach  DL  1894,  807).  —  Sämtliche  Temporalsätze  eines  Schriftstellers 
behandelt  W.  Warren,  A  study  of  conjunctional  temporal  clauses  in  Thu- 
cydides.  Diss.  des  Bryn  Mawr  College,  Berlin  1897  (vgl.  BphW  1898, 
1253f.;  WklPh  189S,  593—7;  von  modernem  Geiste  erfüllte,  sich  über  den 
Durchschnitt  weit  erhebende  Untersuchung.  Die  Einleitung  handelt  all- 
gemein über  die  verschiedenen  Formen  der  zeitlichen  Beziehung  zweier 
Handlungen.  Kap  I  wendet  die  dabei  gewonnenen  Gesichtspunkte  auf  das 
spezielle  Thema  an,  indem  es  von  den  Modi,  den  Tempora,  den  Aktions- 
arten des  temporalen  Haupt-  und  Nebensatzes,  von  den  tempoialen  Kon- 
junktionen und  der  Stellung  von  Haupt-  und  Nebensatz  spricht.  Werden, 
dabei  nur  charakteristische  Beispiele  für  die  einzelnen  Erscheinungen  ge- 
geben und  Stellen  mit  ungewöhnlicher  Fassung  ausführlicher  behandelt, 
so  genügen  Kap.  II  und  III  der  Forderung  der  Vollständigkeit;  jenes  ent- 
hält eine  Gruppierung  der  Beispiele  nach  den  Konjunktionen,  dieses  im 
wesentlichen  eine  Statistik  des  Tempus-  und  Modusgebrauchs). 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)     129 

daß  sie  (v&reiuzelt)  auch  im  schweizerdeutscheu  ,,bis"  begegnet,  das 
übrigens  tw.  auch  die  Bedeutuog  „imterdesseii,  inzwischen''  hat  (Schweiz. 
Id.  IV   1699  f.). 

Von  verschiedenen  Seiten  ist  die  von  J.  Sturm  1882  in  großem 
Maßstabe  unternommene  Forschung  über  die  Konstruktionen  bei  iiptv 
tortgeführt  worden. 

I.  A.  Heikel,  Über  die  Entstehung  der  Konstruktionen  bei  Trpiv. 
Skand.  Arch.  I  (1891),  274 — 98,  vermutet  im  Gegensatz  zu  Sturm 
einleuchtend  als  Vorstufe  der  TTpiv-Koustruktionen  die  Verbindung  eines 
Inf.  von  imperat. -Optativ.  Bedeutung  mit  dem  Adv.  ;:piv  in  Parataxe 
zu  negativem  Hauptgedanken,  z.  ß.  ou  Trplv  7:oX£|xoto  \Lt8ri(3o\i.ii,  upiv  f  uiov 
nptapLoio  txsuiki  „neque  enim  prius  puguam  meditabor,  prius  filius  Priami 
veuiat".  Indem  die  imperat.  Bedeutung  des  Inf.  zurücktrat,  konnte  die 
Konstruktion  auch  nach  positivem  Hauptgedanken  angewendet  werden, 
wo  sie  urspr.  nicht  möglich  und  bei  Homer  noch  selten  ist.  Später 
wurde  nach  negativem  Hauptsatz  der  Inf.  durch  die  Modi  ersetzt,  welche 
die  erwünschte  Möglichkeit  boten,  zu  unterscheiden,  ob  die  Handlung  des 
7:piv-Satzes  etwas  Wirkliches  oderGefordertes  oderMögliches  und  Gredachtes 
ausdrückt. 

A.  AVeiske,  Zur  Konstruktion  von  -ptv.  Fleck.  Jbb.  145,  238 
lormuliert  eine  neue  Regel  für  die  Konstruktion  von  rpi'v,  wonach  der 
Ind.  oder  Inf.  steht,  je  nachdem  sich  die  beiden  Handlungen  zeitlich  be- 
rühren oder  nicht  berühren. 

Nach 

*J.  Frenze  1,  Die  Entwickelung  des  temporalen  Satzbaus  im 
Griechischen.  I.  Die  Entwickelung  der  Sätze  mit  FIPIN.  Gymn.-Progr. 
Wongrowitz  J896 
gehört  TTpt'v  eigentlich  zum  Hauptsatz,  der  urspr.  nachfolgte,  und  wurde  erst 
durch  , .Transposition"  zur  Konjunktion;  der  Inf.  bei  Trptv  soll  temporalen 
Sinn  haben,  z.  B.  H  481  ouöe  n;  t-Xr^  Tipiv  i:teetv,  irplv  Xei^j^ai  uirepfievei 
Kpovtüjvi  „keiner  wagte  früher  zu  trinken,  früher  als  bei  dem  Spenden 
dem  Kronion"  (!). 

Besonders  fruchtbar  —  wenigstens  quantitativ  —  ist  die  Berichts- 
periode für  die  Bedingungssätze  gewesen:  an  erster  Stelle  sei 
genannt 

K.  Horton-Smith,  The  theory  of  conditional  sentences  in  Greek 
aud  Latin  for  the  use  of  students.     London  1894. 

Ein  Buch ,  das  trotz  seines  Gegenstandes  persönlich  genommen 
werden  muß  und  hauptsächlich  persönlichen  Wert  hat,  in  erster  Linie 
wieder  für  den  Verfasser.  Hat  er  doch,  als  Philologe,  der  schon  früh  von 
der  Lehrtätigkeit  Abschied  nahm,  um  schließlich  in  die  Reihe  der  ersten 

Jahresbödcht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1904.  I.)  9 


130     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.    (Schwyzer.) 

Staatsbeamten  aufzurücken,  fast  ein  halbe?  Jahrhundert  damit  zug-ebracht, 
wie  er  in  der  interessanten  Vorrede  erzählt.  Während  der  Vorarbeiten 
und  der  Ausarbeitung  hat  er  nicht  nur  die  griech.  und  röm.  Liretatar 
(anch  die  neuen  Funde,  dao:egen  nicht  die  Inschriften)  durchirenommen, 
sondern  auch  die  enj^lische,  deutsche  und  niederländische,  französische, 
italienische,  spanische  und  portugiesische  Literatur  in  weitem  Umfange 
gelesen,  überall  Beispiele  für  sein  Thema  sammelnd,  das  er  schon  1859 
in  einer  besonderen  Schrift  behandelt  hatte.  Um  die  neueren  syn- 
taktischen  Forschungen  kümmerte  er  sich  dabei  nicht.  So  ist  denn  als 
Ergebnis  ernster  und  mühsamer  Arbeit  der  stattliche  Band  von  über 
700  S.  zustande  gekommen,  der  in  seinen  theoretischen  Aufstellungen 
durchaus  verfehlt  ist.  Die  Grundlage  für  die  Behandlung  der  griech.  Be- 
dingungssätze, die  nach  einer  kurzen  Einleitung  auf  S,  9 — 167  erfolgt, 
bildet  die  Erklärung,  der  Opt.  sei  der  griech.  Konj.  der  Vergangenheit  (Opt. 
Präs.  ■=  Konj.  Imperf.  usw.).  Am  meisten  Raum  nimmt  die  Aufführung 
der  zwar  zahlreichen,  aber  doch  nicht  vollständig  gesammelten  Beispiele 
ein,  erst  für  die  regelmäßigen  Konstruktionen,  dann  flir  alleilei  Be- 
sonderheiten. Eine  historische  Entwickelung  aufzuzeigen,  wird  dabei 
nicht  versucht.  S.  168 — 282  sind  dem  Lat.  gewidmet;  dagegen  spielen 
griech.  Beispiele  wieder  eine  große  Rolle  in  den  Noten,  die  S.  285 — 
644  Umfassen  und  reiches  Material ,  nicht  nur  für  die  Bedinizungssätze, 
aus  allen  oben  genannten  Literaturen  bieten.  Nur  als  (freilich  oft  nur 
zufällige)  Sammlung  von  allerlei  Material  hat  das  Buch  für  diejenigen 
Wert,  für  die  es  persönlichen  Wert  nicht  haben  kann;  den  Zugang  dazu 
bilden  5  Indices. 

Außerdem  sind  noch  eine  Anzahl  kleinerer  Arbeiten  zu  nennen. 
Die  Polemik  gegen  die  Bezeichnung  „iirealer  Bedingungssatz",  die  M. 
A.  Bayfield,  CR  4,  200—3  (vgl.  6,  90-92)  eröffnet,  beruht  auf  der 
unrichtigen  Annahme,  es  handle  sich  dabei  um  Dinge,  die  von  Natur 
unmöglich  seien.  —  J.  T.  Allen,  The  use  of  Optative  with  tl  in  pro- 
tasis.  PrAPC  1899,  LXIII  und  Th.  E.  Korsch,  De  ei  particula  cum 
futuro  indicativi  coniuncta.    FO  18,  61—80  sind  mir  nicht  zugänglich. 

H.  Bill,  Zur  EntwickeJungsgeschichte  des  dritten  Falls  der  griech. 
Bedingungssätze.  Gymn.-Progr.  Kaaden  1897  sucht  den  sog.  eventuellen 
Fall  aus  postpositiven  parataktischen  Erwartungssätzen  mit  a'i'  xev  ab- 
zuleiten, z.  B.  ^d)X  outu),',  ai'  x£v  Tt  cpo'wc  AavaoTji  ^Ivr^ai  „schieße  so  fort, 
da  kannst  du  leicht  zum  Segen  werden  den  Danaern"  0  282.  Aber  in 
den  als  Ausgangspunkt  gewählten  Beispielen  liegt  gerade  eine  abgeleitete 
Verwendung  von  tl  vor  und  übeihaupt  ist  es  nicht  nötig,  jeden  einzelnen 
Fall  auf  seine  parataktische  oder  juxtapositive  Grundlage  zurückzuführen; 
war  einmal  die  konjunktionellc  Geltung  von  tl  entwickelt,  konnten  sicli 
die  einzelnen  Konstruktionen  ohne  weiteres  einstellen. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.   (Schwyzer.)     131 

Andere  untersuchen  den  Spiachgebranch  einzelner  Autoren.^) 
Nur  nennen  kann  ich  eine  Arbeit  zur  Oratio  obliqna: 
*C.  Thulin,    De    oratione    obliqua    apnd    Thncydiiioin.      [Act.t 
Univers.     LundeDsis  XXXVII  und  XXXVIIL]     Lund  1902. 

Wort-  und  Satzsteliung. 

Der  Stellung  der  Wörter  und  Sätze,  die  lans;e  Zeit  von  der  einzel- 
sprachliclien  wie  der  verg'leich'^.nden  Grammatik  etwas  stiefmütterlich 
bebandelt  wurde,  ist  neuerdini;s  eindringeiidere  Arbeit  gewidmet  worden, 
aach  auf  dem  griechischen  Gebiete.  Einige  der  hier  zu  besprechenden 
Arbeiten  kann  ich  freilich  nur  nennen: 

*Th.  D.  Goodell,  The  order  of  words  in  Greek.  TrAPhA  21, 
5-47. 

*I.  A.  Heikel,  Gm  onvänd  ordföljd  i  grekiskan.  Forhandl  paa 
det  4.  nord.  Filologmode.  Kbhu  1893,  S.  126-31  (bei  Hora  Hes. 
Herod.  zeigt  sich  eine  starke  Tendenz,  das  Subj.  dem  Präd.  folgen 
zu  lassen;  nach  lA  3,  240). 

Überwiegend  mit  dem  Griech.  beschäftigt  sich  auch  eine  ein- 
schlägige Arbeit  von 

J.  Wackernagel,  Über  ein  Gesetz  der  indogermanischen  Wort- 
stellung.    IF  1,  333—435. 

Es  wird  an  Hand  eines  reichen  Materials  nachgewiesen,  daß  die 
enklitischen  Pronomina  und  die  enklitischen  Wörter  überhaupt  sowie 
einige  nicht  enklitische  Partikeln  wie  av,  ap,  apa,  [xsv  u.  a.  mit  Vor- 
liebe an  der  zvv'eiten  Stelle  des  Satzes  stehen  und  zwar  nicht  selten 
ohne  Rücksicht  auf  syntaktische  Beziehungen,  Ähnlich  wird  in  einer 
bestimmten  Satzform  das  Verb  behandelt  (z.  B.  'AXxtflio;  dvsÖTjy.ev  xtöa- 

pipOO?    VY)CJl(UTTf)i;    S.    430). 

H.  L.  Ebeling,  Some  statistics  ou  the  order  of  woi'ds  in  Greek. 
Studies  in  honor  of  B.  L.  Gildersleeve.    Baltimore  1902,  p.  229 — 40 


*)  *G.  Vogrinz,  EI  und  EIKE  N)  mit  dem  Konj.  bei  Homer.  ZöGy 
1890,  97-  106  (Sammlun»  und  Gruppierung;:  'G.  Vogrinz,  Der  homerische 
Gebrauch  der  Partikel  tl.  Gymn.-Progr.  Brunn  1893  (vgl.  BphW  1894,  161 
— 4);  C.  He  atze,  Die  Eotwick.dung  der  Jt  Sätze  mit  dc^m  Indikativ  eines 
Präteritum  in  den  homerischen  Epen.  TEPAX  1903  S.  77  107  (Zurück- 
führung  auf  die  parataktische  Grundlage);  *E.  ß.  Clapp,  Conditional 
sentences  in  the  Greek  tragedians.  TrAPhA  22,  81  —  92  (Frequenztabellen 
nach  lA.  2,  107);  *F.  Faß  band  er,  De  Polybii  sententiis  condicionalibus. 
Gymn.-Progr.    Münster  1895.    Vgl.  noch  oben  S.  115. 

9* 


132     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.  (Schwyzer.) 

weist  zunächst  Delbrücks  Grundgesetz  der  okkasionellen  Wortstellung, 
daß  das  hervorzuhebende  Wort  nach  vorn  rückt,  an  der  Stellung  des  Inf. 
bei  Verben  in  Plat.  Prot,  nach  (in  593  Fällen  folgt  er;  wo  er  betont 
ist,  geht  er  voran,  in  42  Fällen),  um  dann  die  weniger  einfache  Stellung 
von  Kopula  und  Prädikativ,  von  Subj.,  Verb  und  Obj.  an  einigen  plat. 
Dialogen,  Isokrates  und  Xenoph.  anab.  zu  prüfen.  Das  Prädikativ  steht 
gewöhnlich  vor  der  Kopula  (auf  die  Enklise  ist  keine  Rücksicht  ge- 
nommen !J;  die  gewöhnliche  Folge  ist  Subj.  Obj.  Vb. ;  das  Obj.  wird  an 
den  Anfang  gestellt,  wenn  es  eine  leichte  Verknüpfung  mit  dem  Vor- 
hergehenden bildet  oder  die  Anfangsvorstellung  enthält,  ohne  daß  es 
deshalb  besonders  betont  wäre  (meist  ist  übrigens  das  voransteheude 
Obj.  ein  ßelativpron.  oder  outo?).  Dies  einige  Ergebnisse  der  hübschen 
kleinen  Abhandlung,  die  in  den  Tabellen  auf  S.  238  f.  auch  schätzens- 
werte Beiträge  zur  Stellung  pronominaler  Wörter  enthält. 

Verschiedene  Arbeiten  beschäftigen  sich  mit  der  Stellung  beim 
Artikel,  so  die  allgemein  gehaltene  von 

*A.  W.  Milden,    The  limitatious  of  the  predicative  position  in 
Greek.     Diss.     Baltimore  1900. 

M.  behandelt  nach  BphW  1901,  84 — 86  besonders  die  prädikative 
Stellung  des  Adj.  und  Ptc.  in  den  obliquen  Kas.  (adverbial  gebrauchte 
Dat.  und  präpositionale  Wendungen).  Die  präd.  Stellung  ist  für  die 
gehobene  Sprache  kennzeichnend  —  so  bei  Thuk.  und  den  att.  Rednern  — ; 
spätere  Nachahmer  wie  Lukian  verfallen  dabei  in  mauirierte  Über- 
treibung. 

H.  von  Kleist,  Der  eingeschobene  Genetiv  des  Ganzen  bei  Thu- 
kydides.     Fleck.  Jbb.  143,  107—114 

sammelt  die  thuk.  Beispiele  für  Stellungen  wie  xaT?  a'picra  -cäv  veuiv 
^rXeoujat;,  oi  -cüv  IlXataiöüv  u-oXeXeiixjievoi:  es  ist  aber  gekünstelt,  wenn 
er  überall  ein  attributives  Verhältnis  zu  konstruieren  sucht.  Diesen 
Eindruck  hat  schon  H.  Kallenberg  geäußert,  der  Jahresber.  des  philol. 
Vereins  in  Berlin  in  ZG  1897,  199—201  die  Beispiele  für  die  gleiche 
Stellung  aus  Herodot  sammelt.  Vgl.  auch  *S.  Sobolewski,  Über  die 
Stellung  des  partitiven  Genetivs  im  Griech.  (russ.).    FO  4,  51  f. 

J.  La  Roche,    Die  Stellung    des    attributiven    und    appositiven 
Adjektivs  bei  Homer.    WSt  19,  161—80 

sammelt  die  Tatsachen,  die  er  in  vier  Gruppen  zur  Darstellung  bringt: 
].  das  Adj.  steht,  vorangehend  oder  nachfolgend,  im  gleichen  Verse 
(der  häuögste  Fall,  und  zwar  sind  die  beiden  Stellungen  im  ganzen 
etwa  gleich  häufig),  2.  das  Adj.  steht  im  vorhergehenden  Vers,  3.  im 
folgenden  Vers,  4.  mehrere  Adj. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)     133 

E.  S.  Conway,    On    the    interveawing    of  words  with   pairs  of 
parallel  phrases.    CR  1 900,  357—60 
bringt  Beispiele  für  Stellungen  wie  oest  xe  xo  rXeov  tj  cpiXia  y.oi-v/6[).zyoi 
Thnk.  3,  12,  seeptra  Palatini  sederaque  petit  Eiiandri  Verg.  Aen.  9,  9. 

Auch  sonst  wird  gelegentlich  Rücksicht  auf  Wort-  und  Satz- 
stellung genommen,  z.  B.  in  den  Arbeiten  über  die  Nebensätze;  vgl. 
oben  S.  124  tf.;  auch  S.  100. 

Zum  Wortschatz. 

Anhangsweise  soll  hier  noch  über  die  wichtigsten  Veröffent- 
lichungen zum  griechischen  Wortschatz  Bericht  erstattet  werden,  in 
möglichster  Kürze  und  mit  Bescliränkung  auf  größere  zusammenfassende 
"Werke.    Zur  allgemeinen  Orientierung  kann  auf 

L.  Cohn,  Griechische  Lexikographie.  Handbuch  der  klassischen 
Altertumswissenschaft  Band  II  1,  3.  Aufl.  S.  575 — 616.  München 
1900 

verwiesen  werden,  eine  eingreifende  IJmarbeitung  und  beträchtliche  Er- 
weiterung des  früher  von  G.  Autenrieth  bearbeiteten  Artikels. 
Wünschenswert  wäre  für  eine  neue  Auflage  die  vollständige  Anführung 
der  Arbeiten  über  den  Wortschatz  der  einzelnen  Schriftsteller. 

Ein  Unterschied,  der  nicht  in  der  Natur  der  Sache  liegt  und 
auch  früher  nicht  gemacht  wurde,  aber  praktisch  besteht,  ist  die  Schei- 
dung zwischen  den  wesentlich  deskriptiven  Wörterbüchern,  welche  zwar 
oft  die  Etymologie  mitbehandeln,  aber  gewöhnlich  ungenügend,  und 
den  etymologischen  Wörterbüchern ,  die  eigentlich  erst  durch  die  Be- 
gründung der  vergleichenden  indogermanischen  Sprachforschung  wissen- 
schaftlich möglich  geworden  sind.  Da  das  ideale  Wörterbuch,  welches 
beiden  Richtnngen  ihr  volles  Recht  läßt,  noch  fehlt,  so  mag  zunächst 
von  den  wesentlich 

deskriptiven  Wörterbüchern 
die  Rede  sein.    An  erster  Stelle  ist  zu  nennen  das 

Ms'ja  Xs^f/.ov  xTJc  sXXtjvix/]?  -/Xoicjctt)?  'Avssttj  KcüvaravTivtSou. 
To|jio?  a    ß'.     'Ev  'AOr^vat?   1901.   1902. 

Beruhen  alle  neueren  griech.  Wörterbücher  auf  Stephanus'  gewal- 
tigem Werk,  so  haben  die  neuesten  ihre  Grundlage  in  Passows  Hand- 
wörterbuch. Das  gilt  auch  für  dieses  griechische  Unternehmen,  dessen 
bisher  erschienenen  beiden  Bände  der  Hälfte  des  vierbändigen  Passow 
von  1841 — 57  entsprechen.  Freilieh  beruht  es  nicht  unmittelbar  auf 
Passow,  sondern  auf  der  8.  Ausgabe  einer  zuerst  1843  zu  London  er- 
schienenen erglischen  Bearbeitung  von  Passow  durch  Liddell  und  Scott, 
die    der    deutschen    Neuausgabe    von   1841—57   vorzuziehen    sein    soll 


134     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.   (Schwyzer.) 

und  in  England  und  Amerika  das  herrschende  griech.  Wörterbuch  ist. 
Auf  Veranlassung  des  Verlegers  'A.  K(uv3-avTtvt8r]?  wurde  zunächst  das 
englische  Werk  ins  Neugriech.  übersetzt  und  dann  eine  Reihe  lexika- 
lischer Hilfsmittel,  die  im  Original  noch  nicht  benutzt  waren,  aas- 
gebeutet —  besonders  die  spätgriech.  Lexika  von  Ducange  und  Sopho- 
klis  — :  auf  dieser  Grundlage  wird  das  neue  Werk  redigiert.*)  A.  N. 
Jannaris,  CR  1902,  222 — 6  stellt  eine  erhebliche  Verbesserung  und  Be- 
reicherung gegenüber  dem  Original  fest,  und  es  muß  bei  der  Anführung 
dieses  Urteils  sein  Bewenden  haben,  da  der  englische  Passow  mir  nicht 
zugänglich  ist.  Andererseits  ist  immerhin  zu  bemerken,  daß  die  In- 
schriften und  Papj'ri  nicht  systematisch  ausgebeutet  sind,  auch  die  vor- 
handenen Indices  sind  nicht  ausgeschöpft,  so  fehlt  z.  ß.  die  Mehrzahl 
der  in  den  Inschriften  von  Pcrgamou  neu  belegten  Wörter  (s.  meine 
perg.  Gramm.  203),  einige  sind  freilich  aus  anderen  Quellen  beigebracht. 
Die  Erklärungen  sind  neugriech.  gegeben,  und  zwar  sind  hie  und  da 
auch  Ausdrücke  der  Volkssprache  zur  Erläuterung  herangezogen;  darin 
besteht  allerdings  für  nicht-griech.  Benutzer  eine  Erschwerung,  aber 
auch  ein  Reiz.  Dem  I.  Baude  ist  außer  dem  schon  erwähnten  Abriß 
der  griech.  Sprachgeschichte  von  Hatzidakis  (S.  2)  auch  eine  Über- 
setzung des  oben  genannten  Artikels  über  griech.  Lexikographie,  aber 
noch  in  der  Bearbeitung  von  Autenrieth,  vorausgeschickt. 

Mit  den  Vorarbeiten  zu  einer  neuen  Bearbeitung  des  deutschen 
Passow  ist  nach  der  Ankündigung  der  Verlagshandlung  W.  Crönert 
beschäftigt,  und  zwar  soll  die  erste  Lieferung  1905  erscheinen.  Bis 
dahin  muß  man  sich  zur  Ergänzung  mit 

A.  Weiske,  Bemerkungen  zu  dem  Handwörterbuche  der  griechi- 
schen Sprache,  begründet  von  F.  Passow.  Progr.  der  lat.  Hauptschule 
Halle  1892,  erweitert  Leipzig  1898 
begnügen,  der  sein  Material  in  diei  Gruppen  vorführt:  Abschnitt  1  und  2 
weisen  Wörter,  die  nur  aus  Späteren  oder  aus  Dichtern  o.  ä.  belegt  sind, 
auch  aus  der  attischen  Prosa  nach;  in  der  3.  Gruppe  werden  veraltete 
oder  sonst  fehlerhafte  Erklärungen  beiichtigt. 

Eiu  Ergänzungswörterbuch,  das  auch  dem  neugriechischen  Passow 
noch  zugute  kommen  wird,  ist 


*)  Von  einigen  kleineren  lexikalischen  Sammlungen  sind  nur  L. 
Bürchner,  Addenda  lexicis  linguae  Graecae.  Commeutationes  Wöiffliuianae 
Leipzig  1891,  351—62,  sowie  Kovco;  (in  verschiedenen  Bänden  der  'AJIrjvä) 
als  benutzt  angeführt;  vgl.  außerdem  *S.  Krauz,  Addenda  lexicis  Graecis 
et  Latinis  EPliK  9,  672-5;  L.  Mendelssohn,  Zum  griech.  Lexikon.  Ph  52, 
553-6.  55,  752-54;  Simon,  Epigraphische  Beiträge  zum  griech.  Thesau- 
rus. ÄöGy  1891,481-6. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890-1903.    (Schwyzer.)     135 

H.  van  Herwerdeu,    Lexicon  Graecum  suppletarium  et  dialec- 
ticum.     Leiden  1902. 

H.  hat  mit  sicherem  Blicke  das  dringendste  Bedürfnis  der  griech. 
Lexikographie  erfaßt:  die  lexikalische  Anfai beitung  der  im  letzten  Jahr- 
hundert   nen    hinzugekommenen    handschriftlich    und   inschriftlich  über- 
lieferten Denkmäler.     Und  er  hat  sich  weiter  ein  großes  Verdienst  er- 
worben durch  die  Sammlung  eines  großen  Materials  aus  diesen  Quellen, 
wenn  man  auch  mit  der  Ausführung  im  einzelnen   nicht  durchweg  ein- 
verstanden   zu  sein  braucht.     Mit  dem  Räume    hätte  sparsamer  umge- 
gangen  werden   können;    die  Datierung    nud  Lokalisierung   der  Belege 
könnte  noch  konsequenter  durchgeführt  sein;  die  grammatischen  ilrtikel 
gehören    nicht  In  ein  Wörterbuch,    so    dankenswert  sie    zum  Teil  sein 
niöü,eu,  zumal  da  ^ie  doch  nicht  auf  vollständigen  Sammlungen  beruhen. 
Was  die  Vollständigkeit  der  Sammlung  anbetrifft,   so  hat  H    selbst  die 
beste  Kritik  geliefert;  er  gibt  selbst  Nachträge  von  50  Seiten  bei  und 
veröflentlicht  eben  (1904)  einen  ganzen  Band  von  ErKünzungeu. 
Herwerden  und  die  Griechen  haben  noch  das  Specimen  von 
Helen  M.  Searles,    A  lexicographical  study    of  the  Greek  in- 
scriptions.     Chicago  1898    (aus    den    Studies    in    classical    philology, 
vol.  II) 

benutzen    können.     Die    Verfasserin    veröffentlicht    eine    Auswahl    aus 
dem  von  ihr    für  ein  Lexikon    der    griech,  Inschriften,    besonders    der 
Dialekrinschriften,  zusammengebrachten  Material,  das  sie  in  drei  Gruppen 
ordnet:   new  woids  (die  umfangreichste;    sie  enthält  auch  inschriftliche 
Belege  für  lediglich  glossematisch  belegte  Wörter),  rare  words  and  rare 
nieanings,    poetical    words;    die    epigraphische    und    grammatische  Li- 
teratur ist  nach  Kräften  verwertet.    Bei  dem  Fehlen  umfassenderer  lexi- 
kalischer Hilfsmittel  für  den  Wortschatz  der  griech.  Inschriften  ist  die 
Sammlung  durchaus  nützlich;  daß  sie  aber  besonders  an  Vollständigkeit 
zu  wünschen  übrig  läßt  und  auch  sonst  etwa  zu  Bedenken  Anlaß  gibt, 
hat  ein  Kenner  wie  F.  Solmsen,    lA  11,    82 — 6,    einläßlich  dargelegt. 
Dagegen  liegt  ganz  außerhalb  unseres  Berichtes 
!St.  W.  Ko  ü[xavouoY)?,  5!uva7tü-fr,  v£u)v  Xecstov  utto  tcüv  Xoytcüv  irXa- 
jOststJüv   OLKO  XYJ?    aXcuaetüc  [J^£/pt  '^öjv  xoti)'  rjixa;  ypovtov.     2  Bände.     'Ev 
'Af>r,vai»   1900. 

Der  um  die  griechische  Lexikographie  hochverdiente,  seither  ver- 
storbene Verfasser  veröffentlicht  darin  seine  Sammlung  von  über  600  000 
Neologismen  der  griech.  Literatursprache  seit  dem  Falle  Konstan- 
tinopels, besonders  aus  den  beiden  letzten  Jahrhunderten.  Da  das  Werk 
der  Verlagshandlung  für  diesen  Bericht  eingeschickt  wurde ,  mußte  es 
an  dieser  Stelle  wenigstens  erwähnt  werden. 


136     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890  — 1903.   (Schwyzer.) 

Auch  die  hier  besprochenen  größeren  lexikographischen  Arbeiten 
stellen  nur  Nachträge  zu  älteren  Werken  dar;  ein  Werk,  das  den  Grund 
durchaus  neu  legt,  wie  der  Thesaurus  linguae  Latinae,  fehlt  für  das 
Griechische  noch  und  wird  wohl  noch  lange  fehlen.  Und  doch  ist  auch 
jenes  Monumentalwerk  noch  nicht  imstande,  Forderungen  zu  erfüllen, 
wie  sie  H.  Paul  in  seiner  akademischen  Abhandlung  „Über  die  Aufgaben 
der  deutschen  Lexikographie"  aufgestellt  hat.  Auch  ein  mechanisches, 
aber  für  die  Stammbildnng  wichtiges  Hilfsmittel  ist  bisher  für  das  Griech. 
nur  als  Probe  vorhanden,  ein  Kouträrindex  in  der  Art  der  Gradenwitz- 
schen  Laterculi  vocum  Latiuarum.^) 


•)  Vorarbeiten  zunächst  rein  mechanischer  Natur  zu  einer  umfassenden 
Darstellung  des  griech.  Wortschatzes  sind  die  Indices  za  einzelnen  Schrift- 
stellern (wie  S.  Preuß,  Index  Demosthenicus.  Leipzig  1892;  Forman, 
Index  Andocideus.  Oxford  1898)  oder  eingehendere  Behandlungen  des 
Wortschatzes  einzelner  Denkmäler:  A  de  Mess,  Quaestiones  de  epi- 
grammate  Attico  et  tragoediae  antiquiore  diajecticae.  Diss.  Bonn  189>: 
J.  D.  Rogers,  The  language  of  Aeschylus  compared  with  the  language 
of  the  Attic  inscriptions  prior  to  456  BC.  Diss.  Columbia  Coli.  New 
York  1894;  H.  Wittekind,  Sermo  Sophocleus  quatenus  cum  scriptori- 
bus  lonicis  congruat,  differat  ab  Atticis.  Diss.  Giessen  189G;  A.  W. 
Förstemann,  De  vocabulis  quae  videntur  esse  apud  Herodotum  poeticis 
Magdeburg  1892;  lungius,  De  vocabulis  antiquae  comoediae  Atticae  quae 
apud  solos  comicos  aut  omuino  inveniuntur  aut  peculiari  notione  prae- 
dita  occurrunt.  Traiecti  ad  Rhenum  1897;  0.  Glaser,  De  ratione  quae 
intercedit  inter  sermonem  Polybii  et  eum,  qui  in  titulis  saeculi  III.,  II.,  I. 
apparet.  Diss.  Gießen  1894;  L.  Goetzeler,  Quaestiones  de  Appiani  et 
Polybii  dicendi  genus.  Würzburg  1890;  ebd.,  Einfluß  des  Dionysios  vou 
Hai.  auf  den  Sprachgebrauch  des  Plutarch  nebst  einem  Exkurse  über  die 
sprachlichen  Beziehungen  des  Plutarch  zu  Polybius.  Abhandlungen  W. 
Christ  dargebracht.     München  1891.     S.  194—210  u.  a. 

Hier  seien  auch  einige  selbständig  erschienene  lexikalische  Behand- 
lungen einzelner  Wörter  oder  Wortgruppen  namhaft  gemacht:  A.  Amend, 
Über  die  Bedeutung  von  -^'-sipc/xioy  und  «v-ri-cc.;.  Progr.  Dillingen  1893; 
H.  J.  Flipse,  De  vocis  quae  est  X'-^o;  significatione  et  usu.  Leyden  1902; 
J.  Job  st,  De  vocabulorum  iudiciariorum,  quae  in  oratnribus  Atticis  in- 
veniuntur, usu  et  vi.  Diss.  Münch.  190?;  K.  Koch,  Quae  fuerit  ante  So- 
cratem  vocabuli  d^jz-J;  notio.  Diss.  Jena  1900;  E.  Mehliss,  Über  die  Be- 
deutung von  /.«Xö;  bei  Homer;  Über  die  Bedeutung  von  ji;,oo'{/.  Progr.  Eia- 
leben  1891  und  1900. 

Viele  kleinere  lexikalische  Beiträge  finden  sich  zerstreut  in  Kom- 
mentaren und  in  Zeitschriften. 

Erst  umfassende  lexikalische  Aufarbeitung  des  griech.  Sprachschatzes 
wird  den  Ausbau  einer  griechischen  Bedeutungslehre  ermöglichen,  zu 
der  schon  jetzt  ab  uüd  zu  ein  Beitrag  erscheint,    vgl,  F.  Schröder,    Zur 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.   (Schwyzer.)     137 

Etymologische  Wörterbücher. 

G.  Cnrtius'  griechische  Etyraolog'ie,  welche,  zuerst  1858  erschienen, 
die  älteren  Forschungen  über  die  Herkunft  des  griechischen  Wort- 
schatzes zusammenfaßte,  ist  auch  heute  noch  nicht  voll  ersetzt  Frei- 
lich ist  auch  die  1879  erschienene  5.  Auflage  nicht  nur  der  Ergänzung 
bedürftijr,  sondern  auch  in  vielem  veraltet,  aber  kein  neueres  Werk 
leistet,  was  Curtius'  Buch  für  seine  Zeit  geleistet  hat.  So  muß  dieses 
auch  heute  noch  eingesehen  werden,  wenn  es  sich  um  etymologische 
Fragen  handelt,  aber  der  Benutzer  muß  freilich  die  nötige  Kritik  üben 
können;  dies  gilt  aber  vielleicht  von  jedem  etymologischen  Wörterbuch, 
ja  auch  von  vielen  anderen  Büchern,  jedenfalls  aber  auch  von  den 
neuen  Bearbeitungen  der  griechischen  Etjanologie.  Da  tritt  uns  zu- 
nächst ein  Werk  entgegen,  das  schon  durch  seinen  Umfang  wirkt  und 
auf  dem  Titelblatt  einen  Namen  von  altem  guten  Klange  nennt: 

L.  Meyer,  Handbuch  der  griechischen  Etymologie.  I.  Wörter 
mit  dem  Anlaut  a,  z,  o,  yj,  w.  II.  Wörter  mit  dem  Anlaut  t,  ai,  st, 
Ol,  u,  au,  EU,  o'j,  X  (auch  ^},  tt  (auch  (j^),  x.  III.  Wörter  mit  der?» 
Anlaut  7,  ß,  o,  C,  "/,  9.  »).  IV.  Wörter  mit  dem  Anlauf,  a,  v,  [a,  p, 
X.     Leipzig  1901/2. 

Schon  die  Titel  der  einzelnen  Bände,  die  deshalb  voll  angeführt 
wurden,  geben  ein  Bild  wenigstens  der  äußeren  Anlage  des  ganzen  Werkes. 
M.  hat  die  gewöhnliche  Ordnung  des  griech.  Alphabetes  als  unwissenschaft- 
lich aufgegeben  und  an  dessen  Stelle  ein  nach  phonetischen  Gesichts- 
punkten aufgestelltes  System  gesetzt.  Abgesehen  davon ,  daß  wohl 
mancher  dieses  anders  wünschen  möchte,  bedeutet  dies  praktisch  einen 
großen  Nachteil.  Wer  nicht  Fachmann  ist,  will  ein  etymologisches 
Wörterbuch  benutzen,  um  sich  rasch  über  die  Herkunft  eines  Wortes 
zu  orientieren  —  und  es  ist  im  Interesse  der  Sache  zu  wünschen,  daß 
ein  griech.  etymologisches  Wörterbuch  möglichst  allgemein  benutzt 
werde    —    und  solchen  Benutzern  ist  wenig  entgegengekommen,    wenn 


griechischen  Bedeutungslehre.  Progr.  Gebweiler  1893;  A.  Levi,  L'elemento 
storlco  nel  greco  antico.  Contributo  allo  studio  deir  espressione  metaforica 
[SA.  aus  den  Memorie  della  Reale  Accademia  delle  scienze  di  Torioo 
p.  335-405],     Torino  1900. 

Auch  ist  namentlich  die  Metapher  und  Verwandtes  zum  Gegenstand 
allgemeinerer  Erörterungen  gemacht  woiden,  vgl.  noch  H.  Blümner, 
Studien  zur  Geschichte  der  Metapher  im  Griechischen.  I.  Leipzig  1891; 
R.  Thomas,  Zur  historischen  Entwickelung  der  Metapher  im  Griechischen. 
Diss.  Erlaugen  1891;  S.  Reichenberger,  Die  Entwickelung  des  metony- 
mischen Gebrauchs  von  Götteruamen  in  der  griech.  Poesie  bis  zum  Ende 
des  alexandrinischen  Zeitalters.    Karlsruhe  1891. 


138     Bericht  über  griechische  SprachwisseDscbaft  1890  — 1903.   (Schwyzer.) 

n)aa  sie  erst  zwingt,  eiu  neues  giiech.  Alphabet  zu  lernen.  Denn  die 
gewählte  Anordnung  ist  auch  iin  Innern  der  einzelnen  Buchstaben  durch- 
geführt, es  folgen  sich  also  z.  ß.  unmittelbar  as,  ao,  arj,  acu  usw.,  a5 
kommt  vor  ax}x,  axp,  ]xaoa£iv  kommt  nach  fxuyaXETj  usw.:  es  ist  für 
den  Uneingeweihten  nicht  leicht,  ein  Wort  zu  finden,  zumal  keine  Silbe 
eine  "Wegleitung  gibt  Für  deutsche  Dialektwörterbücher  hat  Schmeller 
ein  System  der  Anordnung  aufgestellt,  das  nach  ihm  den  Namen  trägt; 
aber  obschou  es  dafür  wissenschaftlich  durchaus  berechtigt  und  von 
vielen  derartigen  Unternehmen  gebilligt  ist,  ist  neuerdings  Fischer  in 
seinem  schwäbischen  Wörterbuch  davon  abgegangen ,  und  zwar  mit 
Rücksicht  auf  die  praktische  ßenutzbarkeit;  wenn  man  seil  Jahren  au 
einem  Dialektwörterbuch  mitarbeitet,  das  nach  dem  Schmellerschen 
System  augelegt  ist,  und  beständig  klagen  hört,  man  könne  das  Ge- 
suchte nicht  finden  —  es  gibt  ja  freilich  Leute,  welche  nur  gerade 
soviel  von  der  Sache  wissen  —  kann  mau  das  begreifen  und  muß  die 
Anwendung  eines  ähnlichen  Systems  auf  eine  Literatursprache,  deren 
Alphabet  &eit  alters  feststeht,  bedauein,  um  so  mehi',  als  dadurch  auch 
nicht  etwa  zusammeiikommt,  was  innerhalb  des  Griechischen  verwandt 
ist.  Doch  veigißt  man  den  rauhen  Weg,  wenn  man  bei  dem  reichlich 
sprudelnden  Quell  der  Eikenntnis  angelaugt  ist;  und  der  Umfang  des 
Werkes  verspricht  ja  ausgiebige  Belehrung.  Am  meisten  E.aura  nimnit 
liun  aber  die  Antühiung  von  Belegen  in  Anspiuch.  M.  führt  nämlich 
kein  Wort  ohne  einen  oder  mehrere  Belege  an,  die  vorab  aus  der 
homerischen,  bei  selteneren  Wörtern  auch  aus  der  späteren  Sprache  ge- 
schöpft sind.  Er  betont  damit  augenfällig,  daß  bei  der  Etymologie 
auch  die  Bedeutung  mitzusprecheu  hat,  die  sich  eben  nur  ans  dem  Zu- 
sammenhang sicher  nmgienzen  läßt.  Es  ist  sehr  erfreulich  daß  vor 
einigen  Jahren  ein  lateinisches  etymologisches  Wörterbuch  angekündigt 
wurde,  das  zugleich  die  ältesten  Belege  lür  jedes  Wort  (die  freilich 
nicht  immer  die  älteste  Bedeutung  enthalten)  beizubringen  verspricht. 
Aber  M.  tat  des  Guten  sicher  etwas  zu  viel,  besonders  wenn  er,  was 
nicht  selten  geschieht,  außer  griechischen  auch  altlat.  Belege  abdruckt 
nnd  ai.  und  got.  Stellen  anfühlt  und  übersetzt.  Es  gibt  ferner  auch 
Wortkategorien,  für  deren  Bedeutung  die  Anführung  von  Belegen  nichts 
ergibt  (Zahlwörter  u,  ä.).  Änderet  seits  sind  Hesych  und  die  Dialekt- 
iuschriften  nicht  voll  zu  ihrem  Recht  gekommen.  Freilich  kann  man 
vom  Bearbeiter  eines  etymologischen  Wörterbuches  nicht  verlangen, 
daß  er  erst  ein  Dialektwörterbuch  sich  anlege,  aber  man  hätte  verlangen 
können,  daß  M.  jedem  Wort  die  Stellen  in  der  sprachwissenschaftlichen 
Literatur  beigebe,  wo  darüber  gehandelt  ist.  Statt  dessen  wird  selten 
einmal  eine  ältere  Erklärung  zitiert.  Die  neuere  Literatur  ist  aber 
außer  Ficks  vergleichendem  Wörterbuch  4-  Aufl.  nicht  nur  nicht  zitiert. 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1003.  (Schwyzer.)     139 

sondern  gar  nicht  aufjjearbeitet.  Das  ist  der  schwerste  Vorwurf,  dea 
man  gejren  Ms  Werk  erheben  kann;  und  er  ist  schwer  genug.  Er 
bringt  das  neue  Werk  um  einen  großen  Teil  seines  Wertes.  Nach 
seinen  prinzipiellen  Anschauungen  und  den  Erklärungen  könnte  es  schon 
vor  etwa  '60  Jahren,  gleichzeitig  mit  den  späteren  Auflagen  der 
Curtiusscheii  Etymologie,  erschienen  sein.  Damit  ist  natürlich  auch 
gesagt,  daß  viele  der  vorgebrachten  Erdärungen  nicht  zu  halten  sind. 
Es  wäre  vom  Standpunkte  der  neueren  Forschungen  aus  leicht,  eine 
große  Anzahl  von  Fehlern  und  Lücken  im  einzelnen  namhaft  zu  macheu. 
So  ist  M.s  Weik  nicht  nur  nicht  das  griechische  etymologische  Wörter- 
buch, sondern  darf  nur  mit  Vorsicht  benutzt  werden.  Auch  dem  Verf.  persön- 
lich nahestehende  Beurteiler  wie  Bezzenberger  BKIS  27,  137 — 85,  der  eine 
große  Zahl  von  neuen  Etymologien  beibringt,  haben  so  urteilen  müssen. 
Damit  ist  fieilich  nicht  gesagt,  daß  das  Wörterbuch  —  die  Frucht 
langer  und  ernste i-  Aibeit,  —  dem,  der  es  mit  Kritik  zu  gebrauchen 
versteht,  nicht  leichen  Gewinn  bringen  könne.  Ein  Vorzug  besteht 
darin,  daß  sehr  oft  Wörter  gleicher  Bildung  zur  Erklärung  zusammen- 
gestellt werden,  besonders  bei  selteneren  Suffixen;  damit  ist  eine  Vor- 
arbeit getan  für  eine  griechische  Wortbildungslehre,  wie  sie  jetzt  von 
verschiedenen  Seiten  verlangt  wird. 

Schon  vor  der  Veröffentlichung  von  L.  Meyers  Werk  hat  ein  kür- 
■leves  Buch  die  Lücke  der  philologischen  Literatur  auszufüllen  gesucht: 

W.  Prell witz.  Etymologisches  Wörterbuch  der  griechischen 
Sprache  mit  Berücksichtigung  des  Neuhochdeutschen  und  einem 
deutschen  Wörterverzeichnis.     Göttingen   1892. 

Der  handliche  Band  sucht  die  neueren  Forschungsergebnisse  be- 
sonders für  klassische  PJiilologen  zusammenzufassen,  und  die  häufige 
Benutzung  des  Buches  zeigt,  daß  es  in  den  Kreisen,  auf  die  es  be- 
lechnet  war,  Anklang  gefunden  hat.  Die  Anordnung  ist  die  rein  alpha- 
betische, stammverwandte  Wörter  sind  nur  durch  Verweisungen  mit 
einander  in  Beziehung  gebracht;  die  Fassung  der  einzelnen  Artikel  ist 
knapp,  freilich  nicht  immer  auch  klar,  denn  für  ausführliche  Be- 
gründung fehlte  der  nötige  Raum.  So  sind  denn  auch  alle  Verweise 
auf  die  Literatur  fortgelassen,  die  namentlich  in  zweifelhatten  Fällen 
sehr  erwünscht  wären  und,  abgekürzt  gegeben,  wenig  Raum  beanspruchen 
würden.  Es  wäre  dann  auch  möglich  gewesen,  verschiedene  Richtungen 
der  Forschung  zu  Worte  kommen  zu  lassen;  denn  so  wie  das  Buch 
jetzt  vorliegt,  mußte  sich  der  Verf.  auch  in  unsicheren  Fällen  für  eine 
Deutung  entscheiden,  und  es  kommen  dabei  besonders  die  Anschau- 
ungen des  auch  um  die  griechische  Etymologie  hochverdienten  Aug.  Fick 
zur   Geltung.     Dessen   Etymologien    stehen    freilich    —    als    glänzende 


140     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.   (Schwyzer.) 

Einfälle  —  nicht  allzu  selten  im  Widerspruch  mit  sicher  erkannten 
Lautgesetzen  und  entbehren  auch  oft  der  gesiclierten  philologischen 
Grundlage,  so  daß  dabei  strenge  Nachprüfung  angebracht  ist.  Das 
zeigt  sich  hin  und  wieder  auch  bei  Pr.  So  wird  mit  ßXaacprjuo;  — 
einem  neuerdings  wiederholt  behandelten  Worte  —  rahd.  blas  «kahl, 
gering"  verglichen  ;gehtman  aber  der  Sache  nach,  so  stelltsich  die  zweite  Be- 
deutung nur  als  eine  gelegentliche  Übertragung  eines  Wortes  hei  aus,  zu  dem 
auch  nhd.  „(Stirn-)  Blässe"  beruht,  dasalso  au  feinen  ganz  andern  Begriflfskern 
hinweist  (vgl.  schweiz.Id.  V  149ff.)-  Auch  sonst  erheischen  die  angeführten 
Wörter,  besonders  aus  dem  Arischen,  Vorsicht;  die  Umschreibung  des 
Indischen  ist  schwankend  und  für  das  Avestische  verlangen  die  Be- 
merkungen Bartholomaes  zu  Fick  I*  auch  fiir  Pr.  Beachtung  (ZDMG 
48,  504  ff.).  Glottogonische  Hypothesen  wie  bei  rotjAi^v  und  vExxap  hätte 
der  Verf.  nicht  vorlegen  sollen.  Im  Vorwort  bemerkt  Pr.,  daß  er  oft  von 
Kluges  etym.  WB.  abgewichen  sei;  aber  es  wäre  zu  wünschen,  daß  er 
.sich  in  einer  neuen  Auflage  doch  in  manchem  das  neuerdings  von  ver- 
schiedenen Seiten  angegriffene  Handbuch  der  deutschen  Etymologie  zum 
Muster  nähme,  nämlich  nach  der  historischen  Seite.  Ein  etymologisches 
Wörterbuch  sollte  z.  B.  auch  für  die  landschaftliche  Umgrenzunsr  des 
Wortschatzes  etwas  übrig  haben,  es  sollte  die  Entlehnung  von  einem 
Dialekt  in  den  andern  nachweisen  (so  fehlt  z.  B.  bei  dyir^v  ein  solcher 
Hinweis  bei  Pr.  wie  bei  L.  Meyer).  Wer  soll  dies  tun,  wenn  nicht  der 
Etymologe?  Die  Bearbeiter  von  deskriptiven  Lexika  haben  gewöhnlich 
für  die  Lantverhältnisse,  auf  die  es  dabei  ja  sehr  oft  ankommt,  kein 
sehr  scharfes  Auge.  Ein  Beispiel  für  das  Zurücktreten  historischer  Er- 
wägungen gegenüber  formalen  ist  das  Fragezeichen  bei  ^aijoc:  wenn  etwas 
sicher  steht,  ist  es  dessen  Herkunft  aus  dem  kelt.-germ,  Wort  für  „Ger."  ') 


*)  Eine  zusammenfassende  Darstellung  der  Lehnwörter  des  Griechi- 
schen —  ein  nicht  allzu  schweres  Werk,  das  auch  kulturgeschichtlich  von 
hoher  Bedeutung  wäre  —  fehlt  noch;   nur  einen  Ausscimitt  behandelt 

H.  Lewy,  Die  semitischen  Fremdwörter  im  Griechischen.    Berlin  1895. 

Das  Buch  enthält  in  17  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  aufgestellten 
Gruppen  eine  Sammlung  aller  Wörter,  die  irgendwie  aus  dem  Semitischen 
(besonders  Hebräischen)  gedeutet  werden  können  oder  gedeutet  wordeu 
sind,  also  auch  sehr,  sehr  viel  Unsicheres.  Wo  eine  Entlehnung  nicht  durch 
kulturgeschichtliche  Erwägungen  wahrscheinlich  gemacht  werden  oder  sich 
auf  lokale  Berührung  stützen  kann,  bleibt  sie  unwahrscheinlich.  Dies  gilt 
besonders  auch  für  Fälle,  wo  griech.  Wörter  auf  lediglich  vorausgesetzte  semi- 
tische oder  auf  semitische  Wurzeln  zurückgeführt  werden,  und  für  die  vieleu 
geographischen  und  mythologischen  Namen.  Die  Wiedergabe  fremder  Laute 
unterließt  in  Lehnwörtern  olt  zeitlichen  und  örtlichen  Schwankungen:  um  so 
mehr  hätte  der  Verf.  eine    systematische  Lautlehre    der  Entlehnungen  slms 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890— 1903.  (Schwjzer.)     141 

So  bleibt,  auch  wenn  mau  von  dem  subjektiven  Charakter  der  Etymologie 
absieht,  für  eine  neue  Bearbeitung  des  in  seinen  Grenzen  nützlichen 
Buches  noch  allerhand  zu  tun  übrig. 

Man  hat  auch  begonnen,  die  griechische  Etymologie  für  die  Schule 
und  den  weiteren  Kreis  der  Gebildeten  zu  popularisieren,  so 

D.  Laurent  et  G.  Hartraann,  Vocabulaire  etymologique  de  la 
langue  grecque  et  de  la  langue  latine  contenant  les  mots  primitifs 
grecs    et   latins  avec  l'indication  de  leur  origine.     Paris  1900. 

Das  hübsch  ausgestattete  Büchlein,  das  außer  den  im  Titel  ge- 
nannten Teilen  auch  einen  mehr  als  die  Hälfte  des  Raumes  umfassenden 
Abschnitt  „Racines  sauscrites  auxquelles  se  rattacheut  les  mots  primitifs 
en  grec  et  en  latiu"  enthält,  ist  freilich  ein  von  ÜDgeheuerlichkeiteu 
aller  Art  strotzendes  Machwerk.  Ganz  anders  hat  in  Deutschland 
H.  Menge,  wenn  auch  im  einzelnen  anfechtbar,  die  griechische  Ety- 
mologie in  sein  Schulwörterbuch  eingearbeitet. 

Auf  die  unabsehbare  Menge  einzelner  Etymologien,  wie  sie  sich 
besonders  in  den  Zeitschriften  für  idg.  Sprachwissenschaft  finden,  einzu- 
gehen, muß  ich  mir  wenigstens  für  diesmal  versagen,  zumal  da  sie,  streng 
genommen,  schon  die  Grenzen  meines  Berichtes  überschreiten;^)  doch 
sei  noch  mit  einem  Wort  hingewiesen  auf  ein  größeres  Werk,  das  von 
allgemeinerer  Bedeutung  ist,  weil  es  eine  freilich  schon  ältere  Methode 
der  etymologischen  Forschung  neu  beleben  will: 

H.  Osthoff,  Etymologische  Parerga.    Erster  Teil.  Leipzig  1901. 

O.  verlangt  —  und  er  hat  auch  in  Zeitschriften  Beispiele  für 
ähnliche  Untersuchungen  geboten  —  daß  an  Stelle  oder  doch  neben  der 
lexikalischen  Form  der  etymologischen  Forschung,  wie  sie  in  den  ety- 
mologischen Wörterbüchern  zutage  tritt,  wieder  mehr  die  zusammen- 
hängende, begründende  und  untersuchende  Darstellung  gepflegt  werde, 
daß  neben  laut-  und  formgeschichtlichen  Fragen  auch  den  begrilfs- 
geschichtlichen  die  gehörige  Aufmerksamkeit  geschenkt  werde;  man  kann 
hinzufügen,    daß    neben    den  Wörtern   auch  die  Sachen  gehört  werden 


dem  Semitischen  bieten  sollen.  Erst  dann  wird  man  sagen  können,  was 
TDöglich  und  was  unmöglich  ist.  Dazu  kommt,  daß  außer  den  semitischen 
Sprachen  noch  andere,  von  denen  kärgliche  Reste  auf  uns  geisommen  sind, 
dem  Griechischen  Lehnwörter  geliefert  haben  können, 

^)  Selbständig  erschienene  kleinere  etymologische  Arbeiten  sind  selten 
geworden.  Hier  wäre  K.  Mezger,  Vier  Sprachwurzeln.  Ein  Beitrag 
zur  griechischen  Etymologie  und  zur  Sprachvergleichung.  Progr.  Schweinfart 
1S94,  zu  nennen,  der  in  völlig  verfehlter  Weise  eine  Unmenge  von  griech. 
Wörtern  auf  die  „vier  Wurzeln  ar,  al,  av,  at"  zurückführt. 


142     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  ISOO— 1903.    (Schwyzer.) 

sollen  (vgl.  jetzt R.MeriDger,  Wörter  undSachen.  IF  16, 101  ff.  17,  100  ff.). 
Im  vorliegenden  Buche  gibt  0.  Proben  dieser  Art  der  Untersuchuug', 
indem  er  je  vier  Gruppen  von  Wörtern  behandelt,  welche,  die  einen 
im  Pflanzen-,  die  andern  im  Tierreiche  ihren  Begriffskern  haben.  Die 
Verpleichungen  erstrecken  sich  bis  in  die  entlegensten  idg.  Sprachen 
nnd  bis  in  die  jüngsten  Entwickelungsstufen;  ebenso  vollständig  ist  die 
neuere  wissenschaftliche  Literatur  angeführt.  Speziell  für  das  Griechische 
fällt  weniger  ab;  es  sei  etwa  auf  die  Behandlung  von  xT)po;  18  f , 
xopFo;  36,  oevopov  142  f.,  7aX^  183  f.,  lyaXXaiva  321  f.  verwiesen  (SeXxa 
312  läßt  sich  doch  ungezwungen  mit  dem  Buchstabennamen  vermitteln). 


Nachträge. 

Die  Nachträge  beziehen  sich  größtenteils  auf  S.  1—85;  ihre 
große  Zahl  erklärt  sich  wenigstens  teilweise  daraus,  daß  dieser  Teil 
des  Mscr.s  schon  Neujahr  1904  in  den  Händen  der  Redaktion  war, 
während  der  Schluß  erst  Ende  September  1904  abgeliefert  wurde.  — 
Für  S.  86  ff.  gilt  der  Schluß  der  Fußnote  auf  S.  1  nicht. 

Zu  10  f.  In  12  Artikeln  behandelt  eine  Reihe  von  (besonders 
vorgeschichtlichen)  Problemen  A.  Meillet,  Hellenica.  MSL  13  (1903), 
26 — 55.  Während  1  (Verkürzung  langer  Wörter  unter  gewissen  Be- 
dingungen) der  allgemeinen  Sprachwissenschaft  angehört,  dienen  3—5 
der  griechischen  Lautlehre,  besonders  durch  scharfsinnige  Anwendung 
von  Ergebnissen  der  modernen  Phonetik  auf  altbekanntes  Material: 
2  (p.  29/32)  führt  die  divergierende  Entwickelung  der  griech.  Diphthonge 
darauf  zurück,  daß  in  den  Langdiphthongen  der  zweite  Bestandteil 
dem  ersten  an  Dauer  und  Stärke  nachstand,  im  Gegensatz  zu  den 
Kurzdiphthongen;  die  Gesamtdauer  ist  bei  Lang-  und  Kurzdiphthong 
wesentlich  die  gleiche.  3  (p.  32  f.)  sucht  die  Entwickelung  von  n  zu 
a  daraus  zu  verstehen,  daß  a  mit  geringer  Hebung  des  Gaumensegels 
gesprochen  wurde,  also  an  sich  schon  ein  nasales  Element  hatte. 
4  (p.  33/8)  spricht,  teilweise  sich  an  Tbunib  (oben  S.  34)  anlehnend, 
über  das  F;  „c'est  un  v.  consonne  priv6  de  sa  sonorit^."  5  (p.  38/41) 
sucht  7:i  als  normale  Entwickelung  von  <fH  zu  erweisen:  schwierig 
bleiben  aber  Ti[j.r^,  xiu),  die  man  nicht  mit  M.  von  den  bisher  verglichenen 
ind.  "Wörtern  leichten  Herzens  loszureißen  wagen  wird.  Die  übrigen 
Artikel  betreffen  die  Formenlehre,  meist  das  Verb:  6  (p.  41/3)  gehört 
allerdings  ebenso  sehr  zur  Lautlehre,  indem  er  den  Wechsel  zwischen  qq 
und  o  im  Aor.  auf  -jj-  als  rhythmisch  betrachtet  (reXsuat,  aber  exeXeaaa 
sind  regelrecht);  auch  im  Att.  sollen  neben  tojo;,  [xe'joc  Formen  mit  «jj 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890 — 1903.  (Schwyzer.)     143 

bestanden  haben ;  ans  solchen  sollen  sich  die  umstrittenen  Formen  mit 
TT  wie  O^TTGt,  epsTTüi,  xpsiTTwv  erklären  —  was  wenijr  Überzeugendes 
hat.  7  (ji.  44  f.)  führt  mr.-o)  und  TTETojxa'.  auf  verschiedene  Basen  zurück, 
10  (]).  48/50)  postuliert  als  vorgeschichtliche  Endung  der  3.  pers.  pl. 
des  sigmat.  aor.  -aa,  woraus  -aav  nach  eXijtov;  von  hier  und  vom  Ptc. 
-aa(v)T-  hat  sich  a  besonders  veibreitet.  II  (p.  50/2)  betont,  daß  das 
aspirierte  Perf.  gewöhnlicli  neben  sigmatischem  Aor.  auftritt;  es  ent- 
stand, indem  der  Typus  öairTU)  :  T£Ta9aTa[,  axaKTco  :  e'jxacpa,  und  zwar  zu- 
nächst im  Perf.  med  ,  auf  ßXaTiTuj  (ßsßXa'f a),  xXeTtTco  ;  x£xXo9a)  übertragen 
wurde;  si'Xricpa  hat  etymologisches  cp.  Weni|-'er  wichtig  sind  im  allge- 
meinen die  Bemerkungen  zur  Deklination:  9  (47  f.),  eine  Äußerung  zum 
Acc.  TToXsic,  berührt  sich  mit  Wackeniagels  Eiörterung  oben  S.  70; 
8  (p.  45  7)  sieht  die  Formen  y]8i(o,  rßiou^  als  Sitz  und  Quelle  des  t  im 
Att.  an;  von  allgemeinem  Interesse  ist  12  (p  52/5)  D'une  Innovation 
parallele  en  attique  et  cn  lesbien  durch  die  Stellungnahme  zur  xotvr]- 
Frage:  „La  xoiviq  n'est  douc  pas  de  Tattique  modifiö,  c'est  du  greo 
dialectical  atticisö,  et  il  leste  vrai,  que  Tattique  a  eu  dans  la  formation 
de  la  xotvT^  uu  role  tout  particulier." 

Zu  18  vgl.  auch  W  Ct  önert,  Zur  Übellieferung  des  Dio  Cassius. 
WSt  21,  46—79;  *Weißenberger,  Die  Sprache  Plutarchs.  Progr. 
Straubing  1895;  *A.  Georg,  Studien  zu  Leontios.  Diss.  München  1902 
(vgl.  ByZ  13,  596). 

G.  Thiele,  Ionisch -attische  Studien  H  36,  218—71  spricht 
S.  245—53  über  ,,Gorgias  Dialekt  und  Aussprache".  Neben  dem  all- 
gemeinen Nachweise,  daß  Gorgias  ein  äußerlich  korrektes  Attisch 
schi'ieb,  gelingen  Tb  mit  Hilfe  der  Mittel  der  gorgianischen  Rhetorik 
eine  Reihe  von  Beobachtungen  zur  Grammatik:  Silbentrennung 
(d-ire8avev),  Spir.  a-p.  gesprochen,  9  —  p  +  h,  da  mit  t:  alliterierend; 
aber  von  einem  Zusanimenfall  von  01  und  eu  kann  trotz  der  angeblichen 
Assonanz  otxta?  eu-a^iav  nicht  die  Rede  sein.  Am  interessantesten,  aber 
freilich  auch  sehr  unsicher  und  noch  wenig  begründet  ist  die  Hypothese, 
der  Reimiktus  falle  mit  einem  festen  exspiratorisciien  Akzent  zusammen. 

Zu  20.  Im  letzten  Augenblicke  wird  mir  durch  die  Güte  des 
Verfassers  Th.  Papad^metracopoulos,  La  tradition  ancienne  et  les 
Partisans  d'firasme,  Athenes  1903,  bekannt,  worin  er  seinen  Standpunkt 
neuerdings  verteidigt.  Da  es  mir  nicht  mehr  möglich  ist,  das  umfang- 
reiche Buch  (fast  400  S.)  für  den  vorliegenden  Bericht  durchzuarbeiten, 
muß  ich  mich  für  diesmal  mit  diesem  Hinweis  begnügen. 

Zu  28.  Den  Wandel  von  tu  in  au  (auf  den  übrigens  S.  41  ver- 
wiesen werden  konnte),  hat  schon  E.  R.  Wharton,  CR  1892,  259  f. 
angenommen. 

Zu  29/30  gehört  noch  Ch.  Bally,  Les  diphthongues  w,  a,  t)  de 


144     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890 — 1903.  (Schwyzer.) 

Fattique.  MSL  13  (1903),  1 — 25.  B.  sucht  dem  viel  behandelten 
Problem  durch  genaue  Berücksichtigung  der  Stellun;?  der  Langdiphthouge 
eine  neue  Seite  abzugewinnen;  beachtenswert  erscheint  mir  vor  anderm 
die  Darlegung  einer  speziell  attischen  Kürzung  der  Langdiphthouge  vor 
a  und  ä  (oder  daraus  entstandenem  offenem  e),  z.  B.  aTo(i)f<,  tia-paXoia;, 
Doaaei,  Tpoia  aus  -ü(w)iä-,  Xeia,  irapeiof,  \i.ei6'(zi%  aus  -rt(^ü)^a-,  ßauiXeia, 
ypsta  aus  -t{w)iä--^  freilich  kommt  einem  überall,  wo  es  sich  um  ti 
handelt,  die  Ungewißheit  über  die  altattische  Form  (si  oder  r/.)  in  die 
Quere.  Formen  wie  TpoiY],  rapeiai,  dypetoi  bei  Homer  verraten  nach 
B.  attischen  Einfluß.  Wenn  B.  für  den  Anfang  seines  interessanten 
und  anregenden  Aufsatzes  die  3.  Aufl.  von  Meisterhaus  Gr.  benutzt 
hätte,  was  er  mit  eigentümlicher  Begründung  ablehnt,  hätte  er  vielleicht 
doch  gesehen,  daß  Brugmauns  Auffassung  der  Eutwickeluug  von  r^\. 
durch  nicht  allzu  wenige  Tatsachen  gestützt  wird. 

Zu  33.  Schulzes  Auffassung  wird  ueuerdings  bestritten  von 
Heikel,  Öfversigt  af  Finska  Vetenskaps-Soc.  Förhandl.  1903/4,  Nr.  7 
(nach  lA  15,  220). 

Zu  34  f.     Den  ersten  unbestrittenen  Beleg  eines  F  im  lon.-Att. 

bietet  'Aiaai)viro(ü)  auf  einer  protokorinthischen  Lekythos;  s.  F.  B. 
Tarbeil  and  C.  D.  Bück,  A  signed  Proto-Corinthian  Lecythus  in  the 
Boston  Museum  of  fine  Arts.     BA  40  (1902),  40—8. 

Zu  36  f.  Über  die  phonetische  Geltung  von  ■/{),  '^\)  handeln 
A.  Meillet  et  P.  Bousselot,  *La  Parole  1901  Nr.  8;  s.  lA  15,  61. 

41.  Ob  aulässlich  des  konsonant.  •  *  Warren,  [Über  aoTjav 
und  ai(u!iav].  Album  gratulatorium  in  honorem  Henr.  van  Herwerden. 
Utrecht  1902  (lA  15,  76)  zu  erwähnen  war,  muß  ich  unentschieden  lassen. 

44.  Den  Erörterungen  über  Haplologie  im  Satzzusammenhang 
reiht  sich  au  J.  H.  Wright,  Studies  in  Sophocles.  I.  On  certain 
euphonic  ellipses,  mainly  word-elisions.  HSt  12,   137  tf.  (s.  lA  14,  5  f.). 

44  ff.  *A.  Meillet,  La  Parole  1900,  193  tf.  zeigt,  daß  im  Griech. 
urspr.  quantite,  ton,  Intonation  von  einander  völlig  unabhängig  waren 
(s.  IF  13,  112  f.);  ebd.,  MSL  13,  HO  ff.  stellt  die  Vermutung  auf.  daß 
in  Fällen  wie  oeixvuoDai  das  Griech.  altertümlicher  sei  als  das  Ind., 
auch  Betonungen  wie  xtöe-ai,  oci'xvuvzai  sind  alt;  J.  Vendryes,  üne  loi 
d'accentuatioa  grecque:  Topposition  des  genres.  MSL  13,  131 — 46 
handelt  unter  Berücksichtigung  der  nicht  seltenen  Ausnahmen  über 
Fälle  wie  ä'^opo^  :  dt-zopa,  ßoA.o;  :  ßoXn^,  "i'o'voc  :  70VT; ;  auch  in  seinen  Notes 
grecques.  MSL  13,  56—64  behandelt  derselbe  Gelehrte  hauptsächlich 
Fragen  der  Betonung  (i'öou,  T^i-r^t)•,  die  Betonung  h-^^x^jp  (statt  [xirity^p) 
erklärt  J.  P.  Postgate,  CR  1903,  56  aus  dem  Vok.;  der  Unterschied 
gegenüber  Trarr^p  beruht  darauf,    daß   der  Vok.  des  Wortes  für  Mutter 


Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.)     145 

häufiger  gebraucht  wurde  als  der  des  Wortes  für  Vater;  daß  bei  Piaton 
der  Begriff  der  Quantität  genannt  werde,  bestreitet  A.  N.  Jaunaris, 
Plato's  testiujüuy  to  quantity  and  accent.  AJPh  23,  75 — 83.  Hieher 
wohl  auch  *G.  N.  Hatzidakis,  nsplxovixtüv  ixeraßoXüiv,  'AÖTjva  10,18—32. 

■to.  Zur  Silbentrennung  war  auch  eine  Arbeit  anzuführen,  die 
freilich  vom  Standpunkte  des  Metrikers  uaternommen  wurde  und  die 
neueren  sprachlichen  Theorien  nicht  kennt:  A.  von  Meß,  Zur  Posi- 
tionsdehnung vor  muta  cum  liquida  bei  den  attischen  Dichtern.  RhMPh 
08,270-93  (sie  erweist  sich  als  episches  Element,  schon  Äschylos 
führt  im  allgemeinen  streng  die  sog.  correptio  Attica  durch).  Vgl.  auch 
*S.  Zdanow,  FO  17,  1.  18,  1  (s.  lA  13,  177). 

50.  Vgl.  auch  -ß.  F.  Harding,  The  strong  and  the  weak  in- 
lleetion  in  Greek.     Boston  1897. 

51  f.  P.  Stolz,  Zur  Wortzusammensetzung.  WSt  23,  312 — 4; 
*Neckel,  Zur  Zusammensetzung  der  Nomina  im  Griech.  Progr.  Fried- 
land 1903  (vgl.  MhSch  1904,  520). 

54.  *E.  L.  Green,  Verbs  compounded  with  prepositions  in 
Aeschylus.  PrAPhA  33:  die  Bedeutungen  präpositionaler  Zusammen- 
setzungen untersucht  in  gewohnter  tief  eindringender  Weise  J.  Wacker- 
nagel, Über  Bedeutungsverschiebung  in  der  Verbalkomposition.  NGGW 
1902,  737—57  (ausgehend  von  homer.  iirioyaTo  und  -ncio^lwlev  LXX  er- 
örtert W.  eine  Reihe  von  Beispielen,  bei  denen  das  Griech.  stark  ver- 
tiefen ist,  für  die  Erscheinung,  daß  „ein  Verb  durch  Vorschub  eines 
Präverbiums,  dessen  Begriff  an  sich  schon  oder  durch  Verwendung  in 
gegensätzlichen  Verben  zum  Begriff"  des  betr.  Verbs  im  Gegensatz  steht, 
zum  Ausdruck  seines  Gegenteils  befähigt  werden  kann",  z.  B.  «Tzooeiv 
„losbinden,  ablösen").  —  Von  der  sog.  Tmesis  handeln  *G.  Schilling, 
Die  Traesis  bei  Euripides.  Progr.  Glogau  1892,  und  H.  d'Arbois  de 
Jubainville,  Linfixation  du  substantif  et  du  pronom  entre  le  prefixe 
et  le  verbe  en  grec  archaique  et  en  vieil  irlandais.  MSL  10,  283—9 
(genaue  Unterscheidung  der  verschiedenen  Fälle).  —  Hier  sei  des  Titels 
wegen  auch  genannt  F.  Solmsen,  Zwei  verdunkelte  Zusammensetzungen 
mit  äv  =  dva.  IP  13,  132 — 42.  Die  Arbeit  handelt  zwar  nicht  nur  von 
den  im  Titel  gemeinten  appr/asöat  und  appwostu  (opp.),  sondern  auch 
vom  Wegfall  von  s  (z)  vor  tönenden  Lauten  (atoojxat,  cr-poüfbc)  und 
deutet  Xorsöoc  aus  '-'XoaiaToc  (got.  lasiws). 

55  ff.  Vgl.  noch  *K.  Schmidt,  Beiträge  zur  griechischen  Namen- 
kunde. Progr.  Elberfeld  1903;  -Gh.  W.  Peppler,  Comic  terminations 
in  Aristophanes  and  the  comic  fragments.  I.  Diminutives,  character- 
uames,  patronymics.  Diss.  Baltimore  1903.  —  G.  Prölich,  Quateous 
in  uomiüibus  hominum  Doricorum  propriis  historici  Graeci  formis  dia- 
lecticis  usi  vel  Atticam  dialectum  secuti  sint.  3  Progr.  von  Insterbnrg 
Jahresbericht  für  Alteitumswissenechaft.    Bd.  CXX.    (ia)4.    I.)  10 


146     Bericht  über  griechische  Sprachwissenschaft  1890—1903.  (Schwyzer.) 

1896/8  (Znsaramenstellung  der  dorischen  Personennamen,  sowohl  der  i» 
dialektgemäßer  Form  erscheinenden  als  der  attizisierten ,  bei  Herodot 
und  Tbuk  ,  Xenoph.  und  Diodor  unter  Beiziehung  der  Inschriften  und 
Berücksichtigung  der  Etymologie  und  der  handschriftlichen  Überlieferung). 

62  ff.  Vgl.  noch  *G.  N.  Hatzidakis,  Hspl  twv  h  Tai.-  -/.axalr.U- 
atv  (ivaXo7i(i)v.  'AB^va  10,  3 — 13  (Umgestaltung  von  Flexionsendungen 
und  Suffixen  unter  dem  Einfluß  der  Analogie,  lA  10,  115);  Ilepl  zoTj 
ayir)}j.aTi3}ioü  töüv  (5vo[j.aT(uv  sij  -t;,  -iv.  'AÖriva  12,  285 — 303  (analogischer 
Einfluß  der  griecb.  Kurznamen  und  des  Lateinischen,  TA  13,  178):  Ot- 
XoXo^ixai  tJu^YjTv^jst?.  ebd.  93 — 124  (über  das  Suffix  -toeu;,  lA  13,  17«) ; 
*Gius.  Ciardi-Dupre,  Nota  sui  nomi  greci  in  iiÄ2  (AH2).  Firenze 
1903  führt  die  Bildung  nach  K.  F.  W.  Schmidt,  BphW  1904.  1027-9 
auf  die  von  Haus  aus  adjektivischen  weiblichen  Namen  auf  -o-  zurück, 
während  Schmidt  a.  a.  0.  an  männliche  Eigennamen  auf  -aö-,  -id-  an- 
knüpfen will. 

66  f.  Vgl.  auch  A.  Meillet  MSL  11,  6  f.;  J.  P.  Fostgate 
CR  1903,  56. 

70.  *P.  Warncke,  Der  Gebrauch  des  Dat.  PI.  auf  -sjai  bei  Homer. 
Progr.     Schrimm  1900. 

73.  Vgl.  auch  A.  Ludwig,  On  the  dual-forms  e  w  äu.  S.  Böhm. 
Ges.  Wiss.  1903.  Nr,  IX  (die  Musterformen  für  die  Duale  auf  -u>  waren 
o'jü>  und  a[j.cpu)). 

78  f.  Über  unaugmentierte  Verbalformen  handeln  auch  G.  N. 
Hatzidakis  'A&riva  14,  133—6  (s.  lA  15,  62)  und  J.  H.  Wright, 
'EraauvaXoKfTi  in  Sophocles.     HSt  12,  151  ff.  (s.  lÄ  14,  6). 

79  f.  Vgl.  auch  A.  Platt,  Duals  in  Homer.  JPh  23,  205—10 
(Duale  der  Augmenttempora  sind  in  der  Regel  unaugmentiert,  ausge- 
nommen wenn  sie  gnomisch  gebraucht  sind);  vgl.  zu  letzterer  Beobach- 
tung auch  A.  Platt,  The  augment  in  Homer,  JPh  19,  211—37  (p.217: 
„the  gnomic  aorist  in  old  Epic  poetrj-  takes  the  augment";  p.  227: 
„the  augment  is  not  a  sign  of  past  time  in  the  aorist,  it  is  added  by 
preference  to  the  gnomic  aorist  which  refers  to  any  time  and  to  the 
perfect  aorist*). 

Zu  90  f.  *E.  B.  Clapp,  Pindar's  accusative  constructions. 
TrAPhÄ  32,  16— 42. 

Zu  HO  f.  F.  J.  Hartmann,  Untersuchungen  über  den  Gebrauch 
der  Modi  in  den  Historien  des  Prokop.  Progr.  Regensburg  1903  (vgl. 
ByZ  13,  237-;  NphR  1904,  100  f.). 

Zu  121  f.  *P.  Brandt,  De  particularum  subiunctivarum  apud 
Pindarum  usu.  Diss.  Leipzig  1898;  *E.  L.  Green,  Tisp  in  Thuc, 
Xenoph.  and  the  Attic  orators.    PrAPhA  32,  CXXXV— VIIT, 


Autorenregister. 


147 


Antorenregister. 

Rezensionen  sind  nicht  berücksichtigt. 


Ahlberg  109. 
Allen  114.  130. 
AUinson  47.  48.  114. 
Alton  121. 
Amelung  126. 
Amend  136. 
Angermann  62. 
Arbois,  d',  de  Jubain- 

ville  145. 
Arnold  21. 
Azelius  89. 
Kabbit  121. 
Bally  143. 
Bannier  56. 
Baron  18.  124. 
Bartholomae  28.  65.  82. 
Bayfield  130. 
Bechtel  34   55.  57.  60. 
Behaghel  114. 
Belli  44. 
Berdolt  126. 
Bevier  20. 

Bezzenberger  77.  83. 
Bielecki  51. 
Bill  130. 
Birke  121. 
Bishop  119.  120. 
Blaß  7.  60.  70.  106. 
Blümner  137. 
Bolland  22. 

BoUing    118.   119.   124. 
Brandt  146. 
Brassai  98. 
Brennan  33. 
Brief  125. 
Brockelmann  26. 


Brugmann  8.  28.  29.  31, 
33.  41.  44.  62  64.  66, 
67.  72.  81.  83.  85.  86. 

Bruhn  100. 

Bück  71.  144. 

Buresch  81. 

Bürchner  134. 

Carter  118. 

Chabert  18.  20. 

Chambers  122. 

XazC\ooy.\z  s.  Hatzidakis. 

Ghitil  115. 

Chowaniec  124. 

Christ  52. 

Ciardi-Dupre  146. 

Clapp  131.  14G. 

Cleef  90. 

Cohn  133. 

Conway  21.  133. 

Crönert  19.  60.  66.  68. 
134.  143. 

Crusius  59. 

Danielsson  40. 

Darbishire  35.  85. 

Dawes  20.  36. 

Deißmann  98. 

Delbrück  67. 

Delboeuf  103. 

Dessoulavy  123. 

Detto  91. 

Diel  126. 

Diels  60. 

Diessl  124. 

Dietericb,  K.  16.  43. 

Donkin  103.  122. 
Donovan  105. 

10* 


,148 


Atttorenregister. 


Dottin  79. 
Döhring  128. 
Dörwald  105. 
Dufour  96. 
Dugesnoy  SO. 
Dürr  IS. 
Dyroff  76.  92. 
Earle  20.  95.  110.  113. 
Ebeling  131. 
Eckeis  127. 
Eckinger  23. 
Ehrlich  33.  63. 
Eibel  91.  103. 
Eismann  118. 
Eimer  110. 
Elwell  125. 
Eulenburg  31. 
Fassbänder  131. 
Fennell  63. 
Feron  44. 
Fick  31.  35.  55.  58.  59. 

60.  61. 
Fischer  65. 
Flagg  105. 
Flensburg  75. 
Flipse  136. 
Forman  136. 
Fowler  77. 
Förstemann  136. 
Frenzel  120. 
Fritz  18. 
Fritzsche  121. 
Fröhde  60. 
Frölich  145. 
Fuchs  127. 
Fuhr  85. 
Fuochi  61. 
Fürst  26. 
CJallaway  121. 
Georg  143. 
Gercke  22. 
Gerth  86. 
Geyr  126. 
Gildersleeve  87,  88.  90. 

96.  119.  128. 
Glaser.  M.  52. 


Glaser,  0.  136. 
Goetzeler  136. 
Goidanich  41. 
Goodell  131. 
Goodwin  10.5.  113.  122. 
Grammont  43. 
Granit  116. 
Green  121.  145.  146. 
Grosse  103. 
Groiipietsch  54. 
Gulick  117. 
Hagfors  102. 
Hagget  102. 
Haie  113.  114. 
Hamilton  55. 
flammerschmidt  110. 
Harding  145. 
Harry  98.  121. 
Hartmann,  F.  J.  14(i. 
Hartmaan,  G.  141. 
Hasse  73.  74.  100. 
Hatzidakis  2.  5.  14.  20. 

28.  29.  31.  34.  35.  37. 

40.45.47.48.  80.145. 

146. 
Headlam  66. 
Heerdegea  124. 
Heikel    129.    131.    144. 
Heiligenstädt  125. 
Heino  55. 
Helbing  90. 

Hentze96. 117.  124.131. 
Herbig  109. 
Herwordea  135. 
Herzog  61. 
Heß  27. 
Hessau  91. 
Hesseling  116.  119. 
Hewlett  116. 
Hildobrand.104. 
Hillebrandt  83. 
Hillort  91. 
Hirt   5.  41.   44.  49.  «7. 

73.  82.  83. 
Hoffmann  34.  6n.  84. 
Holmes  54. 


Autorenrogister. 


149 


Horton-Smith  129. 
Uude  90.  123. 
Uübscbmann  20. 
Haltsch  107. 
Hultzsch  109. 
Humphreys  9ä. 
Hylak  104. 

JTaakkola  102. 
Jannaris  3.  20.  145. 
Jedlicka  55. 
Iltz  102. 
Ineze  117. 
Jobst  13G. 
Johansson  50. 
Johnson  12t;. 
Joost  121. 
Juillard  103. 
Jangius  1311. 

Maibel  18. 
Kaiser  125. 
Kaißling  105. 
Kallenberg   89.  97.  98. 

121.  132. 
Keelhoff   91.    103.  118. 

122.  125. 
Keil  29. 
Kern,  H.  20. 
Kern,  J.  W.  91. 
Kindlmann  49. 
Klasen  125. 
Kleist,  V.  132. 
Koop  126. 
Kobylanski  12(;. 
Koch  136. 
Kohn  98. 
Kokorudz  90. 

Kmv:3T«vT'.v[o7]C    133. 

Kö'vTo;  89.  134. 
Korsch  96.  130. 
Kossinna  25. 
Kc.uu.avouo7];  135. 
Krapp  117. 
Krause  102. 
Kränz  134. 
Krebs  104. 


Kretschmer    2.   14.   28. 

31.  34.  37.38.41.42. 

43.  45.  60.  63.  71. 
Krumbacher  37.  44. 
Kugener  96. 
Kuhn  28. 
Kühner  7.  86. 
Kunz  105. 
Kvicala  95. 
liagercrantz  38. 
Lapgdon  123. 
Lamberton  103. 
La  Roche  10.71.85.132. 
La  Terza  85. 
Lattmann  HO. 
Laurent  141. 
Lautensach  78.  80. 
Lehner  IIG. 
Lell  92. 
Lemm  27. 
Lesser  54. 
Lendrum  117. 
Levi  65.  137. 
Lewy  140. 
Liddell  14. 
Liljeblad  90. 
Lorentz  94. 
Ludwig   73.  146. 
Luft  24. 
Lutz  103. 

Mac  Keen  Lewis     29. 
Main  120. 
Malarenko  124. 
Mann  89. 
May  50. 
Mayer,  F.  100. 
Mayer,  H.  109. 
Mayor  123. 
Mehliii  136. 
Meillet  142.  146. 
Mein  115. 
Meister  32.  44.  64. 
Meisterhans  14. 
Meltzer  9.  105.  107. 
Mendelssohn  134. 
Menge  141. 


150 


Autorenregister. 


Meli,  V.  136.  145. 

Meyer,  G.  8.  42. 

Meyer,  L.  71.  HO.  137. 

Meyersahm  60. 

Mezger  141. 

Milden  132. 

Miller  86.  90.  108.  115. 

Miodonski  124. 

Mode&tow  20. 

Mommsen  101. 

Monro  20. 

Moulton  70. 

Much  25. 

Mucke  38. 

Muller  3.  44.  51. 

Müller,  G  H.  110.  123. 

Mulvany  81. 

Music  109. 

Mutzbauer  105. 110.116. 

Jllaclimausoa  44. 

Naylor  115. 

Nazari  73. 

Neckel  145. 

Nehmeyer  89. 

Neißer  70. 

Netusil  103.  125. 

Niedermaon  18. 

Nöldeke  27. 

Osthoff  65.  141. 

Papadimitrakopulos  20. 
143. 

Parodi  84. 

Pedersen  48.  110. 

Peppler  145. 

Perdrizet  33. 

Pircher  78. 

Pitman  125. 

Platt  71.  117.   146. 

Ploix  103. 

Polaschek  122. 

Postgate  144.  146. 

Prellwitz  1.  29.  32.  42. 
44.  62.  77.  139. 

Prestel  83. 

Preuü  136. 

Priewasser  102. 


Purdie  107. 

Rabe  29. 

Radennach  er  66.  73.  77. 

96. 
Ragon  20. 
Ramsay  49.  123. 
Regnaud  66. 
Reichelt,  C.  72. 
Reicbelt,  H.  63.  67. 
Reichenb  erger  137. 
Reitz  103. 
Ribar  27. 
Richards  123. 
Rogers  136. 
Rosenthal  121. 
Roth   108. 
Rousselot  144. 
Rüger  103. 
Rutherford  125. 
Sagawe  96.  123. 
Säle  54. 
Sandys  66. 
Santi  35. 
Schachmatow  45. 
Scheftlein  102. 
Schilling  145. 
Schmid,  J.  108. 
Schmid,  VV.  17.  18.  37. 
Schmidt,  C.  97. 
Schmidt,  C.  123. 
Schmidt,  H.  74. 
Schmidt,  J.  29.  31.  32. 

33    35.  40.  43.  72.  77. 

83. 
Schmidt,  K.  60.  145. 
Schmidt,  M.  C.  P.  103. 
Schmidt,  P.  89. 
Schneider  29. 
Schröder  136. 
Schubert  54. 
Schulze   12.  23.  28.  30. 

31 .  33.  34.  35.  37.  38- 

42.  43.  59.  66.  70.  73. 

77.  84. 
Schwab,  M.  26. 
Schwab,  0.  98.  100. 


Autorenregister. 


151 


Schweizer  s.  Schwyzer. 
Schwyzer2. 14. 15.44.45. 
Scott  90. 
Seailes  135. 
Sexauer  18. 
Sidgwick  114. 
Simon  134. 
Skerlo  103. 
Smith  89. 
Smyth  35.  49. 
Sobolewski  98. 102. 103. 

114.119.122.125.132. 
Solmsen  12.  13.  28.  31. 

32.  33.  36.  37.  40.  41. 

42.  43.  45.  49.  60.  64. 

71.  72.  73.  75.  76.  81. 

83.  123.  145. 
Sonaenschein  122. 
Spiegel berg  27. 
Sprotte  116. 
Stahl  119.  123. 
Stolz  44.  80.81.85.  96. 

145. 
Strachan  59.  67. 
S tratton  63. 
Streitberg  71.  72. 
Stuart-Jones  49. 
Sütterlin  78. 
Szczurat  117. 
Tarbeil    113.  117.  144. 
Telfy  21. 
Tetzner  116. 
Thiele  143. 
Thielmann  119. 
Thomas  62.  137. 
Thouvenin  108.  110.121. 
Thulin  114.  131. 
Thumb    1.    26.    27.   28. 

29.  34. 
Tournier  20.  122. 
Tröger  18. 
fckermann  97. 
Uljanow  70. 


Unna  126. 
Valmaggi  91. 
Vaodaele  111. 
Vendryes  144. 
Vintschger  55. 
Viteau  69. 
Vogrinz  131. 
W  ackernagel  1 1  31.  43. 

46.  54    65.  70.  76.  81. 

82.  83.  85.  131.   145. 
Wagner  117, 
Wählin  HO. 
Walker  82.  84. 
Warncke  146. 
Warren  128.  144. 
Weckleio  96. 
Wehmann  126. 
Weigel  89. 

Weiske76.  103.  129.134. 
Weiß  78. 

Weißeaberger  143. 
Wessely  23. 
Westetmayer  69. 
Wharton  121.  122.  143. 
Wbeeler  65.  73.  119. 
Whitelaw  122. 
Wilamowitz  18.  33. 
Wilhelm  66. 
Wilpert  124. 
Wimmerer  104. 
WisÖQ  123. 
Witkowski  1. 
Wittekind  136. 
Witton  40. 
Wölfle  120. 
Wright  81.  144.  146. 
Zachariä  66. 
Zacher  82. 
Zarncke  2. 
Zdanow  145. 
Zubaty  71. 
Zacker  97 


152 


Inhaltsübersicht. 


Inhaltsübersicht. 


Seite    I 
(Jesamtdarstellungen  der  Gram- 
matik der  ganzen  Gräzität  so- 
wie einzelner  Perioden  ...  1 

Aussprache 19 

Lautlehre 22 

Allgemeines 22 

Vokalismus 27 

Konsonantismus 34 

Anhang:  Akzent      ....  44 

Silbentrennung.     .  49 

Stammbildungs-  u.  Flexionslehre  50 

Komposition 51 

Namen 55 

Nominalbildung 62 

Nominalflexion 69 

Pronomen 75 

Zahlwort 76 

Adverbien 77 

Verbum 78 

Augment  U.Reduplikation  78 

Personalendungen  ...  80 

Futurum 83 

Aorist 83 

Perfekt 85 


Seite 

Syntax 86 

Allgemeines 86 

Kasuslehre 90 

Pronomen  samt  Artikel    .     .     92 
Adjektiv.    Zahlwort      ...     98 

Präpositionen 100 

Verbum 103 

Genera  Verbi      ....  103 
Tempora  und  Modi     .     .  105 
Infinitiv  und  Partizip  (mit 
Verbaladjektiv)    .     .     .116 

Partikeln 121 

Satzgebilde 125 

Parataxis 125 

Abhängige  Sätze.  Satzge- 
füge      125 

Nebensätze  mit  Konjunk- 
tionen       125 

Wort-  und  Satzstellung    .    .  131 

Zum  Wortschatz 133 

Nachträge 142 

Autorenregister    ...         .     .  147 


Bericht  über  die  literatur  zur  Koine  aus  den 
Jahren  1898—1902. 

Von 
StanisLaas  Witkowski 

in  Leraberff. 


Vorbemerkungen. 

Da  die  uogemein  reiche  Fülle  des  Mateiials  es  einem  einzigen 
Berichterstatter  unmöglich  machte,  das  ^anze  Gebiet  der  griechischen 
Sprachwissenschaft  zu  umfassen,  also  die  Entwickeluns;  der  Sprache  von 
der  ältesten  erreichbaren  Zeit  bis  mindestens  500  n.  Chr.  in  allen  ihren 
Teilen:  Laut-,  Formen-,  "Wortbildungslehre,  Syntax  usw.  darzustellen, 
so  war  es  notwendig,  daß  sich  mehrere  in  die  Arbeit  teilten.  Das 
Nächstliegende  wäre  nun  gewesen,  daß  der  eine  etwa  die  Laut-  und 
Formenlehre,  ein  anderer  die  Syntax  usw.  übernommen  hätte.  Wir  haben 
einen  anderen  Weg  eingeschlatren  und  versucht,  den  Gegenstand  nicht 
nach  den  verschiedenen  grammalischen  Gebieten,  sondern  chronologisch 
unter  uns  zu  teilen.  Hierbei  bot  sich  naturgemäß  eine  Einteilung  in 
zwei  Perioden:  die  Geschichte  der  griechischen  Sprache  vor  und  nach 
Alexander.  Meiner  Neiguncr  entsprechend,  wählte  ich  für  meinen  Teil 
die  Epoche  der  Koine,  während  E.  Schwyzer  es  übernahm,  über  die 
Sprachentwickelung  vor  Alexander  zu  berichten. 

Die  Geschichte  der  Koine  reicht  von  Alexander  d.  Gr.  bis  etwa 
500  n.  Chr.  Da  der  Stoff  auch  auf  diesem  engeren  Gebiet  reich  ist, 
und  es  mir  unmöglich  war,  meinen  Bericht  über  den  ganzen  Zeitraum 
von  acht  Jahrhunderten  auszudehnen,  so  mußte  ein  dritter  Berichterstatter 
hinzugenommen  werden. 

Jeder  von  uns  dreien  wird  nun  innerhalb  seiner  Epoche  über  das 
ganze  Gebiet  der  Grammatik  berichten,  somit  Lautliches  und  Morpho- 
logisches, Syntaktisches  und  Lexikalisches  usw.  berücksichtigen.  Das 
Bild  der  griechischen  Sprachentwickelung  wird  dabei  deutlicher  ge- 
zeichnet werden  können,  als  wenn  einzelne  grammatische  Gebiete  von  ver- 
schiedenen Berichterstattern  behandelt  worden  wären.  Dies  dürfte  be- 
sonders bei  der  Koine  der  Fall  sein.  Deijenige,  der  sich  nicht  für  einzelne 
Sprachperioden,  sondern  für  einzelne  Gebiete  der  Grammatik,  etwa  für  die 


154     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koinea.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

Syntax,  interessiert,  wird  sich  das  Nötige  aus  den  drei  Berichten  leicht 
zusammeustellen  Icönnen. 

Bei  der  Koine  handelte  es  sich  zunächst  darum,  innerhalb  dieser 
Epoche  für  die  Darstellung-  einen  Abgrenzungspunkt  zu  finden.  Das 
war  nicht  leicht,  denn  die  ganze  Epoche  bildet  in  sprachlicher  Beziehung 
eine  Einheit.  Ich  dachte  anfangs  daran,  die  untere  Grenze  für  die 
erste  Periode  der  Koine  etwa  um  die  Zeit  der  flavischeu  Dynastie 
anzusetzen,  da  die  Sprache  des  Josephos  mit  der  Sprache  der  älteren 
Koineliteratur  eng  zusammenhängt.  Später  gab  ich  jedoch  diesen  Ge- 
danken auf,  und  zwar  aus  folgendem  Grunde.  In  der  Geschichte  der 
Keine  ist  die  Literatursprache  von  der  Umgangssprache  durch  eine 
tiefere  Kluft  getrennt  als  in  der  attischen  Periode.  Faßt  man  nun  die 
Literatursprache  ins  Auge,  so  mar^ht  hier  die  Zeit  des  Augustus 
einen  Einschnitt.  Die  mächtige  Strömung  dos  Attizismus  lenkt  die 
Sprachentwickelung  in  andere  Bahnen.  Für  die  Geschichte  der  Koine 
ist  jedoch  nicht  die  Literatursprache,  sondern  die  Umgangssprache  die 
Hauptsache,  denn  diese  ist  lebendig,  während  die  Literatursprache, 
welche  mehr  oder  weniger  auf  die  attischen  Muster  zurückgeht,  nur 
insofern  lebendig  genannt  werden  kann,  als  sie  von  der  Umgangssprache 
beeinflußt  wird.  Die  Umgangssprache  bleibt  von  der  attizistischen  Be- 
wegung gelehrter  Kreise  fast  gänzlich  unberührt,*)  sie  geht  ihre  eigenen 
Wege  und  entwickelt  sich  durch  die  "Wirkung  der  ihr  innewohnenden 
Kräfte  fort.  Die  Entwickelung  der  Umgangssprache  weist  nun  inner- 
halb der  Periode  von  Alexander-  bis  etwa  Justinian  keinen  markanten 
Scheidepunkt  auf.  Will  man  einen  solchen  durchaus  haben,  so  empfiehlt 
sich  die  Zeit  um  Christi  Geb.  als  Grenze,  nud  zwar  nicht  nur  aus 
praktischen  Gründen,  sondern  zum  Teile  auch  aus  wissenschaftlichen. 
Die  meisten  vokalischen  Neubildungen  der  Koine  sind  Ende  des  1.  Jhd. 
v.  Chr.  abgeschlossen.  Auch  für  Thumb  bildet  jener  Punkt  einen 
Einschnitt  in  der  Entwickelung  der  Koine.  Ähnlich  denkt  W.  Schmid 
W.  f.  k.  Ph.  1S99  Sp.  512.  Der  Einschnitt  in  der  Entwickelung  der 
Umgangsspraclie  fällt  demnach  mit  demjenigen  iu  der  Literatursprache 
zusammen.  Mein  Bericht  umfaßt  nun  die  fiühere  Hälfte  dieser  Periode, 
d.  i.  die  drei  letzten  Jahrhunderte  v.  Clii'.  Die  andere  Hälfte  reicht 
dann  von  Chr.  Geb.  bis  etwa  500  u.  Chr.  Diese  Einteilung  hat  freilich 
ihre  Schattenseite:  gerade  aus  den  ersten  Jahrhunderten  n.  Chr.  besitzen 
wir  wichtige  Sptachdenkniäler  der  T^mgangssprache  iu  den  Schriften  des 
Neuen  Testamentes  und  der  ältesten  christlichen  Literatur.  Man  ent- 
schließt sich  nur  ungern,  diese  Schriften  von  der  Scptuaginta  zu  trennen. 


*)  Vgl.  auch  Thumb,  Gr.  Spr.  S  248:  „Der  Attizismus  ht  eine  rein 
literarische  Bewegung:  er  hat  den  Gang  der  l  bcndcn  Sprache  nicht  auf- 
gehalten; denn  der  attische  Dialekt  ist  schließlich  ebenfalls  untergegangen." 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S98— 1902.  (Witkowski.)     155 

mit  der  sie  sprachlich  zusammenhäng-en.  Ich  dachte  anfangs  daran, 
wenigstens  das  Neue  Testament  hinzuzuuehmen,  mnßte  aber  schon  mit 
Rücksicht  auf  die  mir  zur  Verfügung,'  stehende  Zeit  und  die  große  Aus- 
dehnung der  nentestamentlichen  Literatur  diesen  Gedanken  aufgeben. 
Bei  einem  Berichte  über  die  Sprache  ist  man  nicht  selten  in 
Verlegenheit,  wo  mau  die  Grenze  zwischen  sprachlicher  Erforschunj: 
einerseits,  Textkritik  und  Exegese  andererseits  ziehen  soll.  Ich  war 
in  dieser  Lage  bei  vielen  Aufsätzen ,  welche  über  die  Sprache  der 
Schriftsteller,  besonders  aber  bei  solchen,  welche  über  die  Inschriften 
handeln.  Von  der  die  Exegese  der  Inschriften  fördernden  Literatur 
habe  ich  nur  weniges  herangezogen:  anderes  schien  mir  nicht  in  diesen 
Bericht  zu  gehören.  Wie  weit  mir  die  richtige  Abgrenzung  des  Stoffes 
geglückt  ist,  muß  ich  den  Lesern  zu  beurteilen  überlassen.  Überflüssiges 
hoffe  ich  kaum  zu  bringen. 

Ausgeschlossen  habe  ich  Gesamtdarstellungen  der  griechischen 
Grammatik  und  größere  Monographien,  in  denen  der  Koine  keine  be- 
sonderen Abschnitte  gewidmet  sind,  z.  B.  Grammatiken  von  Brugmanii 
(3.  Aufl.)  und  Hirt,  die  neue  Bearbeitung  der  Kühnerschen  Syntax  von 
Gerth  usw.  In  diesen  Darstellungen  findet  die  Koine  wenig  Berück- 
sichtigung; der  Grund  liegt  wohl  hauptsächlich  in  dem  Mangel  an  Mono- 
graphien und  an  zusammenfassenden  Bearbeitungen  des  Erkannten. 

Manche  Arbeiten  waren  mir  trotz  wiederholter  Bemühungen  un- 
zugänglich odei-  sind  mir  zu  spät  erreichbar  geworden.  Solche  Arbeiten 
sind  durch  einen  Stern  bezeichnet.  Ich  suchte  ihren  Inhalt  mit  Hilfe  von  mir 
bekannten  Eezensionen  zu  charakterisieren.  Botfentlich  wird  man  nichts 
Wesentliches  vermissen.  Eigenes  zu  bieten  suchte  ich  in  dem  Kapitel 
«Wesen  und  Entstehung  der  Koine",  zum  Teile  auch  in  anderen  Kapiteln. 
Es  bleibt  mir  noch  übrig,  denjenigen,  welche  mir  durch  Zusendung 
ihrer  Arbeiten  meine  Aulgabe  wesentlich  erleichtert  haben,  meinen 
wärmsten  Dank  auszusprechen.  Besonders  dankbar  war  ich  für  einige 
Aufsätze,  die  in  wenig  zugänglichen  Zeitschriften  erschienen  sind.  Mein 
Dank  gebührt  vor  allem  den  Herren:  v.  Wilamowitz-Moellendorff, 
Kretschmer,  Thumb,  W.  Schmid,  Deißmann,  Scbwyzer,  Crönert,  Viereck, 
Mahafify,  Greufell,  Hunt,  Wilcken,  A.  Ludwich,  Crusins.  Ferner  den 
Herren  Verfassern  von  Arbeiten,  die  außerhalb  meines  Berichtes  liegen, 
aber  mit  ihm  eng  zusammenhängen:  Diels,  Vahlen,  Kvicala,  Büttner- 
Wobst,  Hultsch  und  Theiraer. 


In  der  griechischen  Sprachwissenschaft  hat  sich  in  neuerer  Zeit 
iusofern  eine  bedeutsame  Veränderung  vollzogen,  als  die  Forschung,  die 
»ich  früher  mit  einer  gewissen  Einseitigkeit  auf  die  griechische  Sprache 
vor  Alexander  beschränkte,   in  den  letzten  Jahren  begonnen  hat,  aucli 


15(»     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a,  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

der  späteren  Gräzität  ihr  Interesse  zuzuwenden.  Daß  man  sich  ent- 
schlossen hat,  über  den  Zauberkreis  der  klassischen  Schriftsteller  hinaus- 
zugehen, hat  wohl  seinen  Grund  hauptsächlich  in  dem  reichen  Zuwachse 
neuen  Stoffes  in  der  Gestalt  von  Papyri  und  Inschriften.  Dieser  Zu- 
wachs hat  unser  Urteil  über  die  hellenistische  Sprache  auf  eine  ganz 
andere  Basis  gestellt.  Ungefähr  gleichzeitig  haben  die  byzantinische 
Philologie  und  die  neugriechische  Grammatik  einen  großen  Aufschwun:;' 
iSienommen;  dies  beides  erlaubt  uns  jetzt  die  Kontinuität  der  griechischen 
Sprachentwickelung  vom  Altertum  durch  das  Mittelalter  hindurch  bis 
auf  die  Gegenwart  zu  verfolgen. 

Über  die  Forschungen  über  die  Koine  in  den  Jahren  1896—1901 
berichtet  kurz,  aber  trefflich 

A.  Thumb,  Arch.  f.  Pap.  2  (1903)  S.  396—427. 
Über    die    wichtigeren  Erscheinungen    der  Koine    berichten    vom 
Standpunkte  der  biblischen  Gräzität 

*Kennedy,  Recent  research  in  the  language  of  the  N.  Test., 
Expository  Times  12  (1901)  S.  341  —  345,  455-458,  557—561  (vgl. 
Thumb  a.  a.  0.),  und 

Deißraann  in  der  Theol.  Rundsch.  1  (1898)  und  5  (1902), 
s.  unten. 

Ich  will  meinen  Bericht  in  zwei  Hauptabschnitte  einteilen.  In 
dem  ersten  sollen  die  allgemeinen  Fragen  Erörterung  finden:  der 
zweite  wird  die  Speziahirbeiten  zur  Sprache  bringen. 

I.  Abschnitt. 

Allgemeine  Fragen. 

Die  Probleme  und  Aufgaben  der  Koineforschung  skizziert  das  Buch 

A.  Thumb,  Die  griechische  Sprache  im  Zeitalter  des 
Hellenismus.  Beiträge  zur  Geschichte  und  Beurteilung  der  Koivr]. 
Straßburg  1901. 

Ich  werde  unten  wiederholt  Gelegenheit  haben,  auf  den  Inhalt 
dieses  Buches  genauer  einzugehen,  hier  will  ich  mich  darauf  be- 
schränken, es  im  allgemeinen  zu  charakterisieren. 

Es  enthält  folgende  Kapitel: 

I.  Begriff"  und  Umfang  der  Koivr^.  Allgemeine  methodische  Fragen. 
IL  Der  Untergang  der  alten  Dialekte.  III.  Die  Reste  der  alten  Dia- 
lekte in  der  Koivy^.  IV.  Der  Einfluß  nichtgriechischer  Völker  auf  die 
Entwickelung  der  hellenistischen  Sprache.  V.  Dialektische  Differen- 
zierung der  KoivT].  Die  Stellung  der  biblischen  Gräzität.  VI.  Ursprung 
«nd  Wesen  der  Koivt^.  —  Ein  grammatisches  Register,    ferner  ein  ge- 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jabren  1808—1902.  (Witkowski.)     j  57 

iiaues  Wortregister,  in  welchem  die  alt-  und  die  neugriechischen  Wörter 
gesondert  vorgeführt  werden,  beschließen  das  Buch. 

Th.s  Buch  ist  eine  vorzüg'liche  Einführung  in  das  Studium  der 
Koine.  Ein  solches  Buch  tat  uns  wirklich  not.  Auf  diesem  Gebiete 
steckt  die  Forschung  noch  iu  den  Anfängen.  Es  gab  hier  alte,  einge- 
wurzelte Vorurteile,  die  leicht  irreführen  konnten  (z.  B.  über  die  biblische 
Gräzität),  manche  Frage  mußte  erst  gestellt  werden,  in  bezog  auf  die 
Methode  herrschte  vielfach  Unsicherheit.  Th.s  Buch  ebnet  die  Wege.  Es 
gehörte  Mut  dazu ,  eine  Einführnng  in  die  Koine  zu  schreiben.  Die 
Zeit  zur  Zusammenfassung  war  noch  nicht  gekommen,  das  Material  war 
meistens  noch  unbearbeitet.  Th.  hat  diesen  Mut  gehabt,  und  je  größer 
die  Schwierigkeiten  waren,  die  er  zu  überwinden  hatte,  desto  größer 
ist  sein  Verdienst.  Sein  Buch  reinigte  die  Luft.  Th.s  Verdienst  liegt 
vor  allem  darin,  daß  er  viele  Probleme  zum  erstenmal  gestellt  hat,  und 
es  gibt  darunter  recht  schwierige  (ich  erinnere  an  die  Frage  nach  der 
Dififerenzieruug  der  Koine).  Das  Quellenmaterial  hat  er  zwar  nicht  selb- 
ständig durchgearbeitet  —  deshalb  findet  mau  auch  bei  ihm  verhältnis- 
mäßig wenige  neue  Tatsachen  — ,  trotzdem  ist  das  Buch  sehr  nützlich. 
Th.  weist  an  vielen  Stellen  auf  Aufgaben  hin.  die  der  Bearbeitung  be- 
dürfen. Ein  solches  Buch  zu  schreiben,  war  Th.  mehr  als  ein  anderer 
berufen,  denn  einerseits  gehört  er  zu  den  vorzüglichsten  Kennern  des 
Neugriechischen  und  neugriechischer  Dialekte,  und  andererseits  ist  er 
mit  der  Koiueforschung  wie  wenige  vertraut. 

Die  Wichtigkeit  des  Neugriechischen  für  die  Koinestudien  wird 
heute  allgemein  anerkannt,  und  mit  vollem  Recht,  denn  in  dem  Neugrie- 
chischen haben  wir  das  Endergebnis  der  Entwickelung,  iu  der  die  Koine 
das  Mittelglied  darstellt.  Das  Neugriechische  erlaubt  uus,  auf  manche  die 
Koine  betreffende  Hypothese  gleichsam  die  Probe  zu  machen.  Mau  muß 
hier  aber  vorsichtig  vorgehen.  Es  werden  oft  aus  dem  Neugriechischen 
Hückschlüsse  auf  die  Koine  gemacht,  indem  mau  aus  neugriechischen 
Formen  Kcineformeu  erschließt.  Dabei  geht  man  m.  E.  mitunter  zu 
weit.  Manche  Erscheinung  des  Neugriechischen  kann  doch  ihre  Keime 
nicht  in  der  Koine,  sondern  erst  im  Byzantinischen  haben.  Die  byzan- 
tinische Umgangssprache  kennen  wir  aber  nur  sehr  ungenau.  Es 
genügt  nicht,  daß  eine  Form  sowohl  in  den  Papyri  und  den  späteren 
Inschriften  als  auch  im  Neugriechischen  begegnet,  um  die  neti- 
griechische  für  eine  direkte  Portsetzung  der  gemeingriechischen  zu 
erklären.  Dies  kann  nur  dann  geschehen,  wenn  die  betreffende  Fonn 
mittels  der  mittelalterlichen  Sprachdenkmäler  auch  für  das  Mittel- 
alter nachgewiesen  wird;  sonst  kann  man  immer  annehmen,  daß  sich 
eine  solche  Erscheinung  unabhängig  sowohl  in  alter  als  in  neuer  Zeit 
entwickelt  hat.    Hatzidakis,  der  darüber  sehr  umsichtig  urteilt  (Gott. 


158     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

gel.  Anz.  1899,  S.  506  fF.),  erweist  an  Beispielen,  daß  Wörter,  die  im 
19.  Jhd.  aus  der  Schriftsprache  in  die  Umgangssprache  eins:edrungen 
sind,  gerade  solche  Veränderungen  erlitten  haben  wie  in  der  Koine;  so 
findet  man  sowohl  in  den  Papyri  als  im  Neugriechischen  uTrepExr)?,  urs- 
peuia,  trotzdem  diese  Wörter  im  Neugriechischen  erst  seit  dem  Be- 
freiungskriege wieder  bekannt  geworden  sind.  Wenn  wir  Trap(x8tooü|ji.s  in 
einem  Papyrus  und  heute  auf  Kerkyra  treffen,  so  kann  neugriechisch 
öi6oo|xs  von  oiöouv  gebildet  worden  sein.  So  begegnet  ouTiep  (=  G-s'p)  nur 
in  der  Koine,  ist  aber  heutzutage  unbekannt;  umgekehrt  gehört  xpou'fy. 
(--  y.pu9a)  nur  der  Neuzeit  an,  kommt  aber  in  der  Koine  nicht  vor. 
Wenn  man  ferner  sieht,  daß  zahlreiche  sehr  charakteristische  Erschei- 
nungen der  Koine  im  Neugriechischen  nicht  fortleben,  so  wird  man  nocli 
mehr  zur  Vorsicht  gemahnt. 

Th.s  Buch,  um  zu  ihm  zurückzukehren,  zeichnet  sich  durch  aus- 
}.;ezeiehete  Methode  und  treffliche  sprachwissenschaftliche  Schulung, 
durch  große  Umsicht  im  Urteil  und  lichtvolle  Darstellung  aus.  —  Es 
liat  natürlich  auch  seine  Mängel,  die  es  mit  den  meisten  neueren  Ar- 
beiten auf  dem  Gebiete  der  Koine  teilt.  Sie  betreffen  die  spezifische 
Methode  der  Koineforschung.  Die  Koine  ist  eine  ganz  eigenartige 
Hprachliche  Schöpfung;  ihre  Untersuchung  bedingt  auch  eine  eigenartige 
Methode,  und  da  die  Koineforschung  erst  in  den  Anfängen  steckt,  so 
ist  auch  ihre  Methode  noch  vielfach  mangelhaft.  Unsere  Inschriften 
und  Papyri,  besonders  aber  die  letzteren,  enthalten  nicht  eine  einheit- 
liche Sprache,  sondern  eigentlich  eine  Mehrheit  von  Sprachen ;  nicht  nur 
unterscheiden  sich  die  öffentlichen  Urkunden  von  den  privaten,  sondern 
wichtige  Unterschiede  sind  auch  durch  den  Bildungsgrad  des  Schrei- 
benden gegeben.  Das  weiß  man  zwar,  aber  in  der  Praxis  wird  darauf 
zu  wenig  Rücksicht  genommen.  Es  werden  oft  in  eine  ßeihe  Erschei- 
nungen der  Laut-  oder  Formenlehre  gestellt,  welche  nicht  einer  und 
derselben,  sondern  verschiedenen  Sprachschichten  angehören.*)  Und 
doch  ist  vor'  allem  bei  der  Lautlehre  Berücksichtigung  des  Bildungs- 
niveaus ganz  besonders  wichtig.  Lautveränderungen,  die  wir  in  dem 
Schreiben  eines  Mannes  aus  dem  Volke  finden,  kommen  in  der  Sprache 
der  Gebildeten  vielleicht  erst  Jahrhunderte  später  oder  gar  nicht  vor. 
Besonders  gut  kann  man  das  heute  in  Städten  mit  gemischter  Bevölke- 


*)  In  wünschenswerter  Weise  werden  diese  Unterschiede  von  Crönert 
in  dessen  Quaestiones  Herculaneiiscs  berücksichtigt.  Hier  erfährt  man  bei 
jeder  einzelneu  Lautform,  ob  sie  in  einem  korrekt  oder  nachlässig  ge- 
schriebenen Papyrus  steht.  Dies  sollte  in  jeder  Arbeit  über  die  Sprache 
der  Inschriften  und  Papyri,  besonders  aber  der  letzteren,  geschehen.  — 
Die  Notwendigkeit  der  Scheidung  zwischen  verschiedenen  Klassen  der  Pa- 
pyri betont  Thumb,  Arch.  f.  Pap.  2  S.  398. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     15^ 

j  ung:  beobachten.  In  Lemberg  z.  B.,  wo  das  Rutheuische  auf  die  Sprache 
der  Polen  einen  Einfluß  ausübt,  gebraucht  die  niedere  Bevölkerung  viele 
.1  argonformen,  die  in  rein  polnische  Gebiete  oder  in  die  Sprache  der 
Gebildeten  in  Lemberg  nie  Eingang  finden  werden.  Diese  Bildungs- 
unterscbiede  darf  mau  bei  den  hellenistischen  Urkunden  nie  aus  dem 
Auge  lassen,  will  man  nicht  in  den  Schlüssen  fehlgehen. 

Erleichtert  wird  die  Scheidung  der  Papyri  nach  ihrer  Herkunft  durch 
die  von  Wilcken  in  dem  Arcli.  f.  Pap.  (Bd.l)  gegebene  Zusammenstellung 
der  Papyri  nach  sachlichen  (und  chronologischen)  Gesichtspunkten. 

Verwandt  mit  diesem  methodischen  Mangel  ist  ein  anderer,  der  in 
der  Koineforschung  ebenfalls  oft  wiederkehrt.  Ich  meine  die  Nichtbe- 
rücksichtigung oder  ungenügende  Berücksichtigung  der  Nationalität 
des  Schreibers.  Schon  Hatzidakis  hat  davor  gewarnt,  Barbarismen  mit 
echt  griechischen  Formen  zusammenzubringen  (Einleit.  in  d.  ngr.  Gramm. 
S.  17  und  278.  G.  g.  A.  1899  S.  510).  Kretschmer  scheidet  mit  Recht 
aus  der  Koine  diese  nichtgriechischen  Bestandteile  (neben  den  durch 
mangelhafte  Kenntnis  der  Schriftsprache  verursachten  Schnitzern  von 
Seiten  Ungebildeter)  aus  (Entst.  d.  Koine  S.  4  f.).  Ganz  nachdrücklich 
warnt  vor  hastiger  Benutzung  „plebejischer  Urkunden"  v.  Wilaraowitz 
(G.  g.  A.  1901  S.  40—42).  „Wenn  man  immer  wieder  hört,  daß  in 
Ägypten  ai  zu  s,  o-  zu  u  sclion  im  2.  .Thd.  v.  Chr.  geworden  wäre,  in 
Athen  erst  drei  Jahrhunderte  später,  so  ist  dabei  dem  verschiedenen 
Beweismateriale  nicht  Rechunng  getragen."  Diese  Kritik  muß  sich  auch 
auf  die  Ausführungen  in  meinem  Prodromus  grammaticae  papyjorum 
(S.  4  f.)  beziehen.  Ich  war  mir  dort  der  Bedeutung  des  sozialen  und 
des  nationalen  Momentes  wohl  bewußt  (vgl.  meine  Worte;  „NonnuUi 
quidem  soni  eodem  tempore  in  papyris,  quo  in  Atticorum  titulis  immu- 
tati  inveniuntur,  alios  tamen  multo  ante  in  sermone  communi,  saltera 
in  sermone  Aegyptiorum,  immutatos  videmns  quam  ex  titulis  id 
nobis  conicere  licet"),  habe  aber  bei  der  darauf  folgenden  Formulierung 
von  Parallelen  zwischen  Ägypten  und  Attika  diesen  Gesichtspunkt  nicht 
scharf  genug  betont.  Thumb  bemerkt  zwar  mit  Recht:  „Das  Radebrechen 
eines  Fremden  beweist  nichts  für  den  Charakter  einer  Sprache"  (S.  124), 
ähnlich  S.  154:  „Soweit  Römer  selbst  solche  Übersetzungsfehler 
machten  .  ,  .  .,  beweisen  sie  überhaupt  nichts  gegen  die  grammatische 
Reinheit  der  Kotv/j"  und  S.  174:  „Von  der  ägyptischen  Koiv/j  ist  wohl 
zu  scheiden  das  Griechisch  der  nicht  hellenisierten  Ägypter;  die  Grenze 
wird  freilich  nicht  immer  scharf  zu  ziehen  sein."  In  der  Beurteilung 
von  sprachlichen  Tatsachen  scheint  er  mir  jedoch  diesen  Gesichtspunkt 
nicht  immer  scharf  genug  im  Auge  zu  haben.*) 

*)  Hatzidakis  scheint  mir  andererseits  in  der  Annahme  von  Barba- 
rismen zu  weit  zu  gehen. 


]  (30     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902  (Witkowski.) 

EiQ  dritter  inethodiscber  Mangel,  dem  man  iu  deu  Arbeiten  über 
die  Koiue  oft  begegnet,  liegt  dariu.  daß  mau  zu  wenig  mit  Ver- 
schreibuugen  rechnet.  Jede,  noch  so  unmögliche  Form  wird  als  eine 
vom  Schreiber  mit  Bewußtsein  gebrauchte  angesehen  und  zu  Schluß- 
folgeruugeii  verwendet.  Auch  davor  warnt  v.  Wilamowitz:  ,Bei  dem 
Schreiben  ist  vollends  nicht  zu  vergessen,  daß  die  Leute  Buchstabeu 
auslassen  und  vertanscheu"  (G.  g.  A.  1901,  S.  40).  Nachdrücklich  be- 
tont diesen  Puukt  K.  Dieterich  in  der  Besprechung  des  II.  Teiles  der 
Mayserscheu  Grammatik  (B.  Z.  1901). 

Ich  verweise  ferner  auf  die  Worte  F.  Solmsens,  welche  Ver- 
schreibungen  auf  Vasen  betreffen:  „Schon  auf  den  Steininschriften  be- 
gegnen nicht  ganz  selten  Versehen  der  Steinmetzen:  um  wie  viel  häufiger 
müssen  Fehler  auf  den  Vaseninschriften  sein  bei  der  viel  größeren 
Flüchtigkeit,  mit  der  sie  im  Vergleich  zu  jenen  im  großen  und  ganzen 
hergestellt  sind!  Der  würde  sich  schwer  betrügen,  der  alle  Schreibungen, 
die  sich  auf  ihnen  finden,  für  bare  Münze  nehmen  wollte"  (I.  F.  8, 
1898  Anz.  S.  04).  Was  Solmsen  über  Vaseninschriften  sagt,  läßt  sich 
mit  demselben,  wo  nicht  mit  größerem  Eechte  über  die  Papyri  sa^en. 
Auch  Deißmaun  warnt  (G.  g.  A.  1898,  S.  124):  „Man  wird  doch  auch 
die  offenbaren  F^ehler  eines  von  irgend  einem  Soldaten  geschriebeneu 
Papyrusbriefes  nicht  in  deu  Paragraphen  einer  graramatica  papyrorum 
registrieren."  Erwähnen  in  einer  Grammatik  wird  mau  sie  auf  jeden 
Eall,  denn  die  Erfahrung  lehrt,  daß  darüber,  ob  eine  Form  auf  Ver- 
«chreibuug  beruht,  das  Urteil  häufig  scii wankt,  aber  man  wird  sie  am 
besten  iu  einer  besonderen  Rubrik  behandeln. 

Dies  sind  die  drei  methodischen  Män£?el,  die  dem  Buche  Th.s  hie 
und  da  anhaften,  er  teilt  sie  jedoch',  wie  gesagt,  mit  den  meisten  Ar- 
beitern auf  diesem  Gebiete,  und  sie  sind  iu  dem  Anfangsstadium  der 
F'orschung  wohl  unausbleiblich. 

Da  ich  hier  einmal  bei  der  Erörterung  vou  methodischen  Fragen 
bin,  so  will  ich  noch  einen  Punkt  berühren,  der  mit  den  oben  be- 
sprochenen im  Zusammenhang  steht.  Wenn  man  in  den  Papyri  und 
Inschriften  verschiedene  Sprachschichten  vor  sich  hat,  was  ist  dann  für 
normal  zu  halten?  Wann  darf  man  sagen:  diese  oder  jene,  sei  es  laut- 
liche, sei  es  morphologische,  Veränderung  ist  in  der  Sprache  abge- 
schlossen? Hier  wird  man  wohl  mit  Wilamowitz  antworten:  Mau  muß 
fragen,  was  die  Schule  lehrte,  wann  der  Schulmeister,  der  Kedner, 
der  Schauspieler  begonnen  hat,  dem  Lautwaudel  zu  folgen  (G.  g.  A.  1901, 
S.  41).  Begegnen  uns  gewisse  lautliche  Veränderungen  in  orthographisch 
und  sprachlich  korrekten  Urkunden,  und  zwar  nicht  sporadisch,  sondern 
häufig,  dann  ist  man  im  allgemeinen  berechtigt,  den  Prozeß  in  der 
Sprache    für    abgeschlossen    zu    halten.     Dann  sind   es  keine  „Fehler" 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1808  —  1002.  (Witkowski.)     161 

mehr,  dann  ist  es  schnlmäßicre  Orthographie.  Findet  sich  aber  eine  laut- 
liche oder  flexivische  Form  in  einer  barbarischen  Urknnde,  dann  ist  sie 
noch  gar  nicht  dem  gleichzeitigen  Griechisch |zuzuschreiben.  Es  wäre 
interessant,  zu  untersuchen,  ob  und  inwiefern  der  Attizismus  auf  die 
Schrift  und  die  Aussprache  eingewirkt  hat. 


1.     Name,  Grenzen  und  Begriff  der  Koine. 

Die  Geschichte  der  griechischen  Sprache  zerfällt  in  zwei  große 
Perioden.  Die  erste  ist  die  der  dialektischen  Sonderung;  sie 
dauert  bis  zu  Alexander  d.  Gr.  In  dieser  Periode  gab  es  keine  grie- 
chische Sprache;  es  gab  nur  griechische  Dialekte:  Attisch,  Böotisch, 
Lesbisch  usw.  Die  zweite  Peiiode  ist  die  der  Spracheinheit,  der 
Oemeinspiache.  Erst  von  dieser  zweiten  Periode  ab  kann  von  einer 
griechischen  Sprache  die  Rede  sein.  Das  Griechische  wird  zur  Welt- 
sprache, zur  ersten  Weltsprache,  welche  die  Geschichte  kennt.  Diese 
griechische  Weltspiache  nennt  man  Koine.  Nicht  von  allen  wird  aber 
unter  diesem  Namen  dasselbe  Ding  veistanden. 

Was  zunächst  die  Grenzen  der  Koine  anlangt,  so  hat  den  Be- 
griff am  weitesten  E.  Schweizer  (Scbwyzei')  gefaßt.  In  seiner  Gramm, 
d.  perg.  Inschriften  1898  (S.  19  f.)  hat  er  die  Koine  als  „die  gesamte 
schriftliche  und  mündliche  Entwickelitng  des  Griechischen  .  .  .  seit  un- 
gefähr 300  V.  Chr."  definiert.  ,Nach  unten  gibt  es  keine  Grenze:  die 
byzantinische  wie  die  moderne  griechische  Sprachentwickelung  sind  Teile 
der  gemeiugriechischen."  Daß  Schweizer  mit  der  Grenze  nach  unten 
-ZU  weit  geht,  hat  Thumb  gezeigt  (S.  fi  ff).  Dieser  wies  darauf  hin, 
daß  nicht  nur  praktische,  sondern  auch  wissenschaftliche  Gründe  gegen 
eine  solche  Ausdehnung  des  Begriffes  'Koiue'  sprechen.  Um  das  Jahr 
500  n.  Chr.  ist  nämlich  die  Umgestaltung  des  Lautsystems  (Quantitäts- 
ausgleichung.  Monophthongierung,  Itazisraus)  im  wesentlichen  abge- 
schlossen. Sie  bildet  die  Grundlage,  auf  welcher  sich  neugriechische 
Dialekte  herausbilden.  Schweizer  hat  später  seine  frühere  Auffassung 
aufgegeben  (N.  Jb.  1901,  S.  235).  Allgemein  geht  man  heute  mit  der 
Grenze  nach  unten  bis  zum  Ausgang  des  Altertums,  bis  etwa  5  00  n.  Chr. 
(Schwyzer  a.  a.  0.,  Thumb  S.  7.)  Um  diese  Zeit  läßt  man  das  Neu- 
griechische beginnen.  Letzteres  teilt  man  gewöhnlich  in  Mittel-  und 
Neugiechisch  ein.  Andere  lassen  um  500  n.  Chr.  zuerst  das  Mittel-  und 
erst  später  das  Neugriechische  beginnen.  Diese  Grenze  nach  unten  ist 
natürlich  fließend.*)     Ähnliches  gilt  auch   von  der  Grenze    nach  oben; 


*)  Manche  ziehen  600  vor  (Hatzidakis:    500  oder  600  S.  170  f.;    600 
K.  Dieterich  S.  XVI  und  Deißmann,  Realencykl.  f.  protest.  Theol.  VII.  S.  630). 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1904.    I.)  1 1 


1 62     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1 902  (Witkowßki.) 

auch  diese  ist  fließend.  Hatzidakis  und  Thurab  (S.  7)  beginnen  die 
Koine  mit  Alexander  d,  Gr.,  andere  ziehen  das  Jahr  300  vor 
(Schweizer  S.  19.  Deißmann  a.  a.  0.),  Letzteres  Datum  empfiehlt  sich 
als  runde  Zahl. 

Wenn  es  sich  darnm  handelt,  die  lange  Sprachperiode  der  Koine 
in  Abschnitte  zu  zerlegen,  so  dürfte  eine  Zweiteilung  angezeigt  sein: 
die  vorchristliche  und  die  christliche  Periode.  In  den  Vorbemerkungen 
habe  ich  diese  Einteilung  bereits  zu  begründen  gesucht;  sie  wird  auch 
vertreten  von  Thumb  (S.  9  f.). 

Die  Sprache  dieser  Periode  nennt  man  gewöhnlich  Koine.  Da- 
neben gibt  es  auch  andere  Namen :  die  griechische  Gemeinsprache,  die 
griechische  Weltsprache,  Spätgriechisch,  hellenistisches  Griechisch. 

Wie  überall,  so  unterscheidet  man  auch  hier  die  Schriftsprache 
und  die  gleichzeitig  gesprochene  Umgangssprache.  Die  Schrift- 
sprache ist  uns  erhalten  in  den  Werken  der  Schriftsteller,  die  lebendige 
Umgangssprache  muß  erschlossen  werden.  Dazu  besitzen  wir  haupt- 
sächlich zwei  Mittel:  erstens  Privaturkunden,  wie  sie  uns  die  Inschriften 
nnd  die  Papyri,  auch  die  Ostraka,  bieten,  ferner  volkstümliche  Literatur, 
tür  uns  vertreten  durch  die  Septuaginta,  in  der  Kaiserzeit  durch  das 
Neue  Testament  und  die  sich  daran  anschließenden  altchristlichen 
Schriften;  zweitens  die  heutige  neugriechische  Volkssprache,  nachdem 
CS  durch  Hatzidakis  erwiesen  ist.  daß  die  neugriechische  Volkssprache 
auf  die  Umgangssprache  der  antiken  Koine  zurückgeht. 

Die  älteren  Forscher  haben  nun  bei  Koine  meist  nur  an  die 
hellenistische  Schriftsprache  gedacht,  weil  nur  diese  direkt  erhalten 
ist.  So  gebraucht  den  Namen  Krumbacher  (Sb.  d.  baj'r.  Ak.  1886, 
S.  435,  zuletzt  Byz.  Lit.-Gesch  -  S.  789);  ähnlich  Jannaris  in  seiner 
Hist.  greek  grammar  (1897).  (Über  die  nahe  verwandte  Ansicht  Wcnd- 
lands  s.  unt.).  Krumbacher  hat  dieser  Koine,  d.h.  der  hellenistischen 
Schriftsprache,  die  Umgangssprache  gegenübergestellt,  die  er 
„Vulgärgriechisch",  auch  „Volksgriechisch"  nennt.  Andere  dagegen 
verstehen  unter  dem  Namen  Koine  die  gesamte  schriftliche  and 
mündliche  Sprachentwickeluug  der  hellenistischen  Zeit  (Hatzidakis 
in  verschiedenen  Arbeiten,  Schweizer  Perg.  Inschr.  S.  19,  Deißmanu 
Eealenc.  S.  630,  Thumb  S.  7  f.,  auch  Kretschmer  D.  L.  Z.  1901  Sp. 
1049  f.,  der  den  Namen  Koine  in  erster  Reihe  der  mündlichen  Um- 
gangssprache zuweist,  aber  auch  die  Schriftsprache  nicht  ausschließen 
will).  Diese  letztere  Ansicht,  wonach  also  unter  der  Koine  sowohl  die 
Schrift-,  als  auch  die  Umgangssprache  zu  verstehen  ist,  scheint  mir  die 
richtigere  zu  .sein. 

Wie  bereits  oben  hervorgehoben,  ist  die  Koine  durchaus  nicht 
einheitlich.     Sie  umfaßt    die  Sprache    der  geborenen  Griechen,    die- 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     163 

4>riecbische  Sprache  der  Makedonier,  ferner  das  Griechische  radebrechen- 
der Barbaren.  Kretschmer  untei'scheidet  in  ihr  4  Sprachtypen:  1.  die 
Literatursprache,  2.  die  Sprache  der  volkstümlichen  Literatur  (die  Sep- 
tiiagiata,  das  Nene  Testament  und  die  sich  daran  anscliließende  alt- 
christliche Literatur).  3.  die  Kanzleisprache,  4.  die  Sprache  privater 
Aufzeichnungen.  Halten  wir  au  der  Einteilung  in  Schrift-  und  Uni- 
jrangssprache  fest,  so  v^rerden  sich  die  Typen  1.  und  3.  im  großen  Tand 
ganzen  unter  Schrift-,  2.  und  4.  unter  Umgangssprache  zusammenfassen 
lassen,  wie  das  in  bezug  auf  die  letztere  Gruppe  Kretschmer  selbst  aus- 
spricht (S.  4).  Sowohl  in  der  Schrift-,  als  auch  in  der  Umgangssprache 
gibt  es  aber  zahlreiche  Nuancen. 

Überhaupt  tragen  die  K  o  i  n  e  -  D  e  n  k  m  ä  1  e  r  einen  Mischcharakter 
(Thumb  S.  12  fif.,  W.  Schmid  W.  f.  k.  Ph.  1901  Sp.  561  f.).  Die 
Sprache  der  Schriftsteller  beruht  auf  einem  Kompromisse  zwischen  der 
lebendigen  Umgangssprache  der  hellenistischen  Zeit  und  der  Sprache 
attischer  Muster.  Unter  den  Inschriften  und  Papyri  sind  öffentliche  und 
private,  auch  halbprivate  Urkunden  (Bittschriften  und  Eingaben  an  Be- 
hörden) zu  unterscheiden.  Die  Schriftsprache  übt  besonders  auf  die 
öffentlichen  Urkunden  einen  Einfluß  aus. 

Dieser  wenig  einheitliche  Charakter  der  Koine  war  für  P.  Wend- 
land  der  Anlaß,  die  Berechtigung  des  Namens  xoivV]  überhaupt  in  Frage 
zu  stellen  (ßyz.  Zeitsch.  11,  1902,  S.  184  f.).  Seine  Gründe  sind  indes 
nicht  stichhaltig.  Der  Einwand,  daß  die  Grenzen  der  Koine  nach  oben 
und  unten  fließend  sind,  daß  innerhalb  dieser  Periode  sich  die  Sprache 
in  beständigem  Flusse  befindet,  daß  sie  auch  in  einem  Zeitalter  eine 
Fülle  individueller  und  lokaler  Differenzen  aufweist,  besagt  nichts,  denn 
er  kann  ebensogut  gegen  jede  andere  Sprachperiode  und  überhaupt 
gegen  jede  Sprache  erhoben  werden.  Ebensowenig  beweisend  ist  der 
andere  Einwand,  daß  man  vor  dem  5.  Jhd.  u.  Chr.  von  einem  charak- 
teristischen gemeinsamen  Merkmale  des  neuen  Lautsystems  nicht  reden 
kann.  Mögen  auch  die  lokalen  Differenzen  bedeutend  sein,  was  indes 
nicht  der  Fall  ist,  so  sind  doch  die  Richtungen  der  lautlichen  Entwicke- 
lung  und  ihr  allgemeiner  Charakter  (z.  B.  Quantitätsausgleichung  und 
exspiratorischer  Akzent,  Monophthongierung,  Itazismns)  überall  dieselben. 
Aus  demselben  Giunde  kann  man  Wendland  nicht  zustimmen,  wenn  er 
den  Namen  Koine  im  besten  Fall  auf  die  „Umgangssprache  der  Gebil- 
deten" beschränkt  wissen  will. 

Den  Namen  xoivv^  in  eigentlichem  Sinne  behält  Wendland  für  das 
dem  Attizismus  vorausliegende  hellenistische  Griechisch  bei;  er  nennt  es 
„literarische  Koine".  Im  wesentlichen  trifft  er  also  mit  der  oben  dar- 
gelegten Ansicht  Krumbachers  zusammen,  die  ich  ablehnen  zu  müssen 
geglaubt  habe.     Dagegen    enthält    die    genannte  Rezension  Wendlands 

11* 


164     Bericht  üb.  d.  Literatur  zurKoine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

andere  sehr  beachtenswerte  Gedanken.*)  So  die  Bemerkung  über  den 
Charakter  der  Kanzleisprache:  ^In  der  Kanzleisprache  bildet  die  starre 
Tradition  ein  starkes  Gegengewicht  gegen  den  Einfluß  der  lebendigen 
Sprache,"  ferner  die  Betonung  der  Tatsache,  daß  auch  die  volkstüm- 
liche Literatur  der  Koine  von  dem  Einfluß  der  literarischen  Tradition 
nicht  frei  geblieben  ist  und  daß  sie  sich  infolge  dieses  Einflusses  viel- 
fach über  das  Niveau  der  gesprochenen  Rede  erhebt.  „Lukas  prägt 
seine  evangelische  Vorlage  genau  so  inf?  Attizistische  um,  wie  es  oft 
Philo  und  Josephus  in  ihren  Bibelparaphrasen  tun"  (S.  186).  Ganz 
besondeis  wichtig  ist  die  Forderung,  die  er  an  die  Koineforschung  stellt: 
„Nur  eine  Analyse  der  Sprache,  bei  der  literarhistorische,  stilistische 
und  sprachgeschichtliche  Forschung  sich  durchdringen,  kann  zu  einem 
vollen  Verständnis  führen."  Jede  von  einseitigem  Gesichtspunkte  aus 
unternommene  Forschung  muß  bei  der  Koine  notwendigerweise  zu 
falschen  Ergebnissen  führen,  da  die  Fragen  hier  ungemein  kompliziert 
sind  und  nur  durch  zusammenhängende  geschichtliche  Untersuchung  ge- 
lost werden  können. 

Es  fragt  sich  in;n:  welche  Elemente  in  der  Sprache  eines  helle- 
nistischen Schrittstellers  geboren  der  lebendigen  Umgangssprache  an. 
d.  h.  sind  nicht  totes  Gut.  aus  älterer  Zeit?  Diese  Frage  wurde  bisher 
von  der  Forschung  kaum  gestellt,  geschweige  denn  beantwortet.  Soweit 
es  sich  heute  sagen  läßt,  sind  solche  Elemente  dann  als  Koineformen 
oder  Koinewörter  zu  betiachten,  wenn  sie  in  der  neugriechischen  Volks- 
sprache wiederkehren.  Ähnlich  wird  man  urteilen,  wenn  ein  Element 
der  Schriftspiacbe  in  reinen  Quellen  der  Umgai.gsspiache  vorkommt, 
also  in  solchen  Papyri  utid  Inschriften,  welche  die  Sprache  des  täglichen 
Lebens  darstellen,  in  der  Septuaginta  oder  im  Neuen  Testament.  Hier 
ist  aber  Vorsicht  am  Platze,  denn  auch  diese  Quellen  sind  nicht  frei 
von  jedem  Einfluß  der  Schriftsprache  zu  denken. 


*)  Unverständlich  ist  mir  nur  der  Unterschied,  den  Wendland  (S.  185) 
zwischen  der  belletristischen,  historischea,  rhi'torischen  und  der  übrigen 
hellenistischen  Literatur  macht.  „Es  geht  nicht  an,"  sagt  er,  „die  jüdischen 
und  christlichen  Schritten  für  die  gesprochene  Vulgärspiache  zu  rekla- 
mieren, die  übrige  hellenistische  Literatur  sprachlich  als  eine  Mischung  der 
älteren  attischen  Literatur  und  der  Umgangs>prache  anzusehen.  Es  hat 
doch  neben  Schriften  in  studierter  Schulspra(;he  eine  große  belletristische, 
historische,  rhetorifche  Literatur  vor  dem  Attizismus  gegeben,  die,  so  sehr 
sie  sich  rhetorisch  und  stilistisch  über  die  Umgangssprache  erhob,  auch  im 
Strome  der  lebendigen  Sprachentwickelung  sich  bewegte  und  auf  diese  stark 
einwirkte."  Diese  letztere  Literatur,  die  belleiristische,  historische  und  rhe- 
torische, ist  doch  sprachlich  nichts  anderes  als  eine  Mischung  der  älteren 
attischen  Literatur-  und  der  Umgangssprache! 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     165 

Mehr  eröitert  wurde  die  andere  Frage  (Thiimb  S.  17  ff.):  lassen 
sich  nicht  umgekehrt  ans  dem  Neuiiriechischen  Koineformen  erschließen? 
Diese  Fra^e  kann  bejaht  werden.  Thumb  formuliert  (S.  18)  hierfür 
folgendes  Kriterium:  „Wo  das  Neue  Testament  und  das  Neugriechische 
übereinstimmen,  dürfen  wir  unbedenklich  von  KoiviQ-Formen  sprechen." 
„Was  für  das  Neue  Testament  gilt,  findet  Anwendung  auf  alle  Arten 
von  Quellen  der  KotvY]."  Mit  anderen  Worten:  Wo  das  Neugriechische 
mit  unseren  Quellen  der  Umgangskoine  übereinstimmt,  haben  wir  mit 
Koineformen  und  -Wörtern  zu  tun. 

Bei  dieser  Rekonstruktion  von  Koineformen  aus  dem  Neugriechi- 
schen geht  man  aber  noch  weiter  Man  versucht  auf  diesem  Wege 
Koineformen  auch  dann  zu  erschließen,  wenn  sie  in  unseren  Koine- 
quellen  keine  Bestätigung  finden.  Bei  einer  grammatischen  oder  lexika- 
lischen Eischeinung,  die  über  das  ganze  neugriecliische  Sprachgebiet  hii» 
verbreitet  ist,  darf  man  nach  Thumb  (S.  24)  dann  altgriechischen  Ur- 
sprung annehmen,  wenn  ihre  allmähliche  Verbreitung  in  jüngerer  Zeit 
unwahrscheinlich  ist  —  etwa  deswegen,  weil  in  neugriechischer  Zeit  die 
Spracheutwickelung  andere  Wege  gegangen  ist.  Die  Methode  ist  nach 
ihm  am  sichersten  in  denjenigen  Fällen,  wo  die  verschiedensten  neu- 
griechischen Dialekte  verschiedene  Formen  aufweisen,  die  als  Nach- 
kommen einer  erschließbaren  älteren  Grundform  betrachtet  werden 
können:  dann  darf  die  Grundform  ohne  Bedenken  in  die  altgriechische 
KoivY^  verlegt  werden.  Mitunter  kann  aber  ein  einziger  neugriechischer 
Dialekt  entscheidend  sein. 

Vor  dem  Übereifer,  in  den  neugriechischen  Sprachformen  überall 
einen  altgriechischen  Keim  zu  vermuten,  warnt  Thumb  mit  Recht;  ob- 
wohl die  diesbezügliche  Literatur  noch  ganz  jung  ist,  so  ist  doch  in  ihr 
in  dieser  Beziehung  schon  gesündigt  worden.  Tliumb  betont,  daß  selbst 
in.  diesen  Fällen,  wo  eine  Erscheinung  im  Hellenistischen  und  im  Neu- 
griechischen belegt  werden  kann,  eine  Übereinstimmung  den  inneren 
Zusammenhang  noch  nicht  erweist.  Eine  hellenistische  Form  kann  eine 
ganz  isolierte,  singulare  Erscheinung  sein,  die  in  der  Koine  keine  Ver- 
breitung hatte.    Die  ganze  Frage  bedarf  nocli  eingehender  Untersuchung. 

2.    Der  Untergang  der  altgrieehischen  Dialekte. 

Die  neugriechische  Volkssprache  ist  aus  der  Koine  entstanden. 
Dies  gilt  auch  von  allen  neugriechischen  Dialekten  außer  dem  Zaku- 
nischen,  einem  am  Ostabhange  des  Parnon  in  Lakouien  gesprochenea 
Dialekte,  welcher  direkt  auf  den  altlakonischen  Dialekt  zurückgeht. 
Dieser  Ursprung  des  Neugriechischen  ist  von  Hatzidakis  erwiesen  und 
bteht  heute  unerschütterlich  fest  (vgl.  z.  B.  Kretschmer,  Eutst.  d.  Koine 


166     BericLt  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

S.  4,  W.  Schmid,  W.  f.  k.  Ph.  1901  Sp.  561).*)  Die  Entstehung  des 
Neugriechischen  aus  der  Koine  setzt  voraus,  daß  zur  Zeit  dieser  Ent- 
stehung neben  der  Koine  die  alten  Dialekte  nicht  mehr  existierten. 
Es  fragt  sich  nun,  in  welche  Zeit  der  Untergang  der  Dialekte  zu 
setzen  ist.  Um  1000  n.  Chr.  ist  das  Neugriechische  bereits  dialektisch 
differenziert.  Nach  Thumbs  Urteil  beginnt  diese  Differenzierung  bereits 
um  500  n.  Chr.  Damals  wären  also  die  alten  Dialekte  bereits  aus- 
gerottet; sonst  müßten  wir  eine  deutlichere  Nachwirkung  derselben  in 
neugriechischen  Dialekten  erwarten.  Das  Jahr  500  ist  aber  nur  ein 
Terminus  ante  quem;  der  Untergang  kann  ja  bedeutend  früher  erfolgt 
sein.  In  der  Frage,  wann  er  tatsächlich  erfolgt  ist,  ist  eine  Überein- 
stimmung noch  nicht  erzielt.  Die  Ansichten  divergieren  hier  ziemlich 
bedeutend.  Während  Schwyzer  annimmt,  daß  der  ionische  und  der 
äolische  Dialekt  bereits  zu  Crassus'  Zeit  erloschen  waren  (in  der  Be- 
sprechung des  Thumbschen  Buches,  N.  Jb.  1901,  Sp.  244),**)  verlegt 
W,  Schmid  den  Untergang  der  Dialekte  erst  in  die  Mitte  des  ersten 
Jahrtausends  unserer  Zeitrechnung  (in  der  Besprechung  desselben  Buches, 
W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  564).  Eine  vermittelnde  Stellung  nimmt  Thumb 
ein  (Gr.  Spr.  S.  28  ff.);  nach  ihm  sind  die  alten  Dialekte  im  1.  — 2.  Jhd. 
n.  Chr.  erloschen.  Dies  sucht  Thumb  eingehend  zu  begründen;  ich  will 
hier  seine  Argumente  vorführen.  Thumb  beruft  sich  zunächst  auf 
Zeugnisse  der  Alten.  So  bezeugt  Sueton  (Tib.  c.  56)  das  Bestehen  des 
rhodischen  Dialektes  für  das  1.  Jhd.  n.  Chr.,  Pausanias  (IV  27,  11) 
dasjenige  des  raessenischen  für  das  2.  Jhd.  n.  Chr.  Gerade  die  Her- 
vorhebung dieser  Tatsache  beweist  nach  Thumb,  daß  die  Dialekte  zu 
jener  Zeit  im  allgemeinen  erloschen  waren.  Ich  bedaure,  auf  diese 
Stellen  hier  nicht  näher  eingehen  zu  können;  ich  muß  mich  auf  die 
Bemerkung  beschränken,  daß  mir  Thumbs  Schlußfolgerung  nicht  not- 
wendig scheint.  —  Einen  zweiten  Beweisgrund  sieht  Thumb  nach  dem 
Vorgange  von  Hatzidakis  (Einleitung  S.  167)  in  der  Tatsache,  daß  im 
1.  und  2.  Jhd.  n.  Chr.  archaisierende  Versuche  gemacht  werden,  den 
ionischen  und  dorischen  Dialekt  in  die  Literatur  wieder  einzuführen, 
und  daß  bei  diesen  Versuchen  dialektische  Fehler  begangen  werden. 
Daraus  folge,  daß  die  Dialekte  damals  nicht  mehr  gesprochen  wurden. 
Schweizer  hat  diese  Schlußfolgerung  angefochten  (Perg.  Inschr.  S.  26); 
die  Verfasser  jener  Schriften   hätten   die   Dialekte    weder    als  Mutter- 

*)  Als  ein  Kuriosum  notiere  ich,  daß  Franz  Krci  k  (in  der  polnischen 
Monatßschritt  Muzeum  1901,  S.  177)  diese  Tatsache  leugnet. 

**j  In  seiner  Gramm,  d.  perg.  Inschr.  S.  '2G  spricht  Schw.  allerdings 
die  Ansicht  aus,  daß  die  Dialekte  zum  Teil  wenigsteus  bis  in  die  spätere 
Kaiserzeit  Linein  fortlebten.  Er  scheint  also  für  die  Kaiserzeit  nur  das 
J'ortbestehen  des  attischen  sowie  der  dorischen  Dialekte  anzunehmen. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S98— 1902.  (Wifkowski )      167 

spräche  gesprochen,  noch  an  Ort  und  Stelle  dialektologische  Studien 
gemacht:  sie  schöpften  ihre  Kenntnisse  aus  Büchern.  Ich  stimme 
Schweizer  volllioramen  bei.*) 

In  der  Reihe  der  alten  Zeugnisse  über  das  Schwinden  der  Dialekte 
führt  Thumb  (S.  31)  Philostratos  vita  sopb.  I  529  an,  wo  von  einem 
Byzantier  das  öwpta^etv  hervorgehoben  wii'd.  Dieses  Wort  übersetzt 
W.  Schraid  'dorisch  reden',  Thumb  'die  dorische  Mundart  nachmachen, 
affektieren'.  Dio  von  Prusa  (1.  Jhd.  n.  Chr.)  spricht  von  einer  Frau 
in  Elis,  die  dorisch  redete.  Der  Sophist  Aristeides  tadelt  jene,  welche 
sich  ihrer  alten  Mundart  schämen;  nach  Thumb  spricht  auch  dies 
dafür,  daß  die  Mundarten  damals  nur  noch  in  kümmerlichen  Resten 
lebten.  Auf  die  letzte  Stelle  ist  m.  E.  wenig  zu  geben.  Diejenigen, 
die  vom  Lande  in  die  Stadt  kommen  und  sich  in  ihr  ansiedeln,  pflegen 
sich  ihres  Dialektes  zu  schämen  und  die  Sprache  ihres  neuen  Milieus 
anzunehmen.  Neben  den  von  Thumb  angeführten  scheint  mir  noch 
erwähnenswert  die  Stelle  bei  demselben  Aristeides  or.  44,  84.3  Dind., 
wo  lobend  hervorgehoben  wird,  daß  sich  in  Rhodos  lauter  echt  dorische 
Namen  finden.  (Vgl.  W.  Schmid,  Griech.  Renaissance  S.  46.)  Für 
unsere  Frage  beweist  sie  freilich  wenig,  weil  Eigennamen  fortzuleben 
pflegen,  auch  wenn  die  Spi'ache,  welcher  sie  angehören,  längst  ver- 
schwunden ist. 

Vom  3.  Jhd.  an  fehlen  äußere  Zeugnisse  für  das  Fortleben  der 
alten  Dialekte. 

Neben  den  alten  Zeugen  und  den  archaisierenden  dialektischen 
Schriften  ist  für  Thumb  ein  wichtiges  Zeugnis  das  Verhalten  der 
Dialektinschriften.    Sie  verstummen  über  das  3.  Jhd.  n.  Chr.  hinaus, 


"■)  Ich  mache  hier  auf  die  Ausführungen  Thumbs  (Griech.  Spr.  S.  30  f.) 
über  die  dialektischen  Texte  der  alten  Klassiker  aufmerksam.  Il  den 
lakonischen  Inschriften  kommt  3  statt  &  sowie  der  Rhotazismus  im  Auslaut 
nicht  vor  dem  2.  oder  1.  Jhd.  v  Chr.  vor;  daraus  folgt,  daß  in  den  Tosten 
alter  Schriftsteller  wie  Alkman,  Aristo phanes  oder  Thukydides  diese  Ortho- 
graphie erst  von  den  Grammatikern  hellenistischer  Zeit  eingeführt  worden 
ist.  Über  den  Dialekt  der  Böoterin  Korinna  vgl.  Thumb  S.  31  und  Wila- 
mowitz  Abh.  d.  Gott.  Ges.  N.  F.  IV  S.  11  f.  —  Offene  Genetive  auf  -siov  bei 
attischen  Prosaikern  (Tsi/smv  usw.  bei  Xenophon)  hält  Kretschmer  (Entst. 
d.  Koine  S.  22)  für  Eindringlinge  aus  der  Koine.  ßof.f>«;  und  ii'.x&c  im 
Attischen  sind  nach  Thumb  (S.  56)  Dorismen  (anders,  aber  m.  E.  schwer- 
lich richtig,  über  \i\y.rr^  W.  Schmid  W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  601);  aiv  er- 
klärt Thumb,  allerdings  zurückhaltend,  ebenfalls  für  ein  Lehnwort,  ivszsv, 
v~io  c.  gen.  in  der  Bedeutung  'in  betreff',  o'«  c.  acc.  =  sv:/.«,  der  ver- 
schiedene Gebrauch  des  Artikels  bei  Völkernamen,  sind  ionisch  (Thumb 
S.  .57). 


168     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

nachdem  schon  vorher  der  Einfluß  der  Koine  sowohl  in  der  Zunahme 
der  Koineinschrifteu  wie  der  Koineformen  in  Dialekttexten  sich  immer 
deutlicher  bemerkbar  gemacht  hat.  Hatzidakis,  Psichari,  Pernot  und 
Thumb  (s.  I.  F.  6  Anz.  223  f.)  schließen  nun  aus  dieser  Tatsache,  daß 
dieser  in  den  Inschriften  sich  abspielende  Vorgans?  das  allmähliche  Ab- 
sterben der  Dialekte  widerspiegle.  Die  Berechtigung  dieser  Schluß- 
iolgerung  ist  von  mehreren  bestritten  worden,  so  von  G.  Mej^er,  Oiko- 
nomides,  Schwyzer  (s.  Thumb  S.  33),  ß.  Meister  (B.  ph.  W.  1901, 
Nr.  46  Sp.  1430)  und  anderen;  Schwyzer  hat  dann  seine  Ansicht 
freilich  teilweise  aufgegeben;  er  meint  jetzt,  daß  das  Verschwinden  der 
Dialektinschriften  nur  für  die  städti'^chen  Zentren  das  Aufhören  der 
Dialekte  beweise  (N.  Jb.  1901,  S.  237).  Auch  Kretschmer  (D.  L.  Z. 
1901,  Sp.  1049)  bestreitet,  daß  der  Rückaang  des  Dialektgebrauches 
auf  den  Inschriften  das  Schwinden  der  Dialekte  im  Leben  beweise, 
indem  er  auf  das  Nebeneinander  der  neuhochdeutschen  Schriftsprache 
und  der  alten  Dialekte  hinweist.  Meines  Erachtens  hat  Kretschmer  recht. 
Das  Schwinden  der  Dialektinschriften  kann  ja  davon  kommen,  daß  man 
beginnt,  für  diese  Denkmäler  die  Schriftsprache  als  passender  anzusehen. 
Es  ist  an  sich  möglich,  daß  das  Verhalten  der  Dialektinschriften  die 
Vorgänge  der  gesprochenen  Sprache  abspiegelt,  notwendig  ist  es  nicht. 
Ehe  die  Frage  endgültig  gelöst  werden  kann,  bedarf  es  eingehender 
Untersuchungen  über  das  allmähliche  Umsichgreifen  der  Koine  auf  dem 
Gebiete  der  Inschriften. 

Seine  Annahme  sucht  Thumb  ferner  (Griech.  Spr.  S.  39)  durch 
folgende  Schlußfolgerung  zu  begründen:  Wäre  die  Wahl  von  Dialekt 
oder  Koine  abhängig  von  allgemeinen  literarischen  Tendenzen  oder 
Moden,  so  müßten  wir  wiederum  im  Zeitalter  des  Archaismus  ^^.  u.  2. 
Jhd.  n.  Chr.)  eine  Zunahme  der  Dialektioschrifteii  erwarten,  %vährend 
das  Gegenteil  der  Fall  ist.  Darauf  ist  zu  erwidern:  archaistische 
Tendenzen  machen  sich  unter  den  Literaten  geltend;  den  Kanzleien 
sowie  den  in  den  Privatinschriften  vertretenen  Volksschichten  sind 
diese  Tendenzen  fremd,  und  das  ist  der  Grund,  warum  die  Dialekt- 
inschriften nicht  zunehmen. 

Auf  seine  These  von  den  Inschriften  als  Zeugen  wirklicher  Ver- 
hältnisse gestützt,  schildert  Tliumb  die  Ausbreitung  der  Koine  in 
folgender  Weise:  Böotien  und  Thessalien  scheinen  ihren  Dialekt  schon 
vor  Christus  aufgegeben  zu  haben;  die  Äolier  haben  ihn  noch  früher 
mit  der  Koine  vertauscht,  und  am  frühesten  haben  die  lonier,  sowohl 
auf  den  Inseln  wie  in  Kleinasien,  sich  ihrer  einheimischen  Mundart 
entwöhnt:  die  Eigentümlichkeiten  des  ionischen  Dialektes  schwinden 
bereits  im  Laufe  des  3.  Jhd.  v.  Chr.  Einen  zähen  Widerstand  setzte 
der  Peloponnes  dem  Eindringen  der  Koine  entgegen:  die  alten  Dialekte 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     169 

werden  hier  zunächst  durch  eine  dorische  Verkehrssprache  oder 
„achäisch- dorische"  Koine  abgelöst;  erst  mit  Beginn  der  Kaiserzeit 
gewinnt  die  „attische"  Koine  Einfluß.  Der  Prozeß  der  örtlichen  Aus- 
breitung der  Koino  ist  nach  Thumb  folgender:  der  Mittelpunkt  der 
Ausbreitung  scheint  die  ionische  Inselwelt  gewesen  zu  sein;  das  ionische 
Kleinasien  folgte  wolil  unmittelbar,  dann  das  äolische  Kleinasien, 
Thessalien  und  Böotien:  zuletzt  kommt  der  Peloponnes  Der  Kampf 
zwischen  lonier-  und  Doriertuni  dauert  in  der  Sprache  fort  noch  zu  einer 
Zeit,  als  die  historische  Rolle  beidt^r  Stämme  bereits  ausgespielt  war. 

Auch  die  Mischtexte,  die  den  Dialekt  mit  eingesprengten  atti- 
schen Formen  oder  umgekehrt  darbieten,  sind  für  Tbnmb  ein  Abbild 
der  lebenden  Sprache  (S.  42).  Auf  Rhodos  z.  B.  zeigt  sicli  eine 
stärkere  Durchdringung  der  Dialektiuschriften  mit  Koiueformen  erst 
etwa  seit  Beginn  unserer  Zeitrechnung.*)  Schwyzer  (S.  25)  erklärte  die 
Mischtexte  in  der  Weise,  daß  man  die  Absicht  hatte,  im  Dialekt  zu 
schreiben,  dabei  aber  unwillkürlich  von  der  allgemeinen  Schrittsprache 
beeinflußt  wurde.  Darauf  erwidert  Thumb  (S.  52):  „Das  Bild  der 
Sprachcntwickehing,  welches  uns  die  Inschriften  in  den  Zwischenstufen 
zwischen  reinem  Dialekt  und  reiner  Koivr]  darbieten,  entspricht  dem 
Zustand,  den  wir  bei  einer  natürlichen,  durch  die  lebende  Sprache 
bedingten  Entwickelung  zu  erwarten  haben;"  ....  ein  solches  in  sich 
harmonisches  Bild  der  inschiittlichen  Sprachform  wäre  nicht  zn  erwarten, 
wenn  es  sich  nur  um  verschiedene  Grade  in  der  Beherrschung  der 
Schriftsprache  handelte.  Dieser  Grund  Thumbs  verdient  allerdings 
Beachtung. 

3.    Wesen  und  Entstehung  der  Koine. 

Die  Entstehung  der  Koine  bildet  eine  Kardinalfrage  der  griechischen 
Sprachgeschichte.  Mit  der  Frage  nach  der  Entstehung  hängt  die  Frage 
nach  dem  Wesen  der  Koine,  d.  h.  nach  ihren  dialektischen  Bestand- 
teilen, eng  zusammen.  Trotzdem  ist  die  eine  Frage  von  der  anderen 
zu  trennen,  wie  dies  Kretschmer  mit  Recht  betont. 

Die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Xoine  ist  wohl  die  schwierigste 
unter  allen,  die  die  Koineforschuug  zu  lösen  hat.  Die  junge  Wissen- 
schaft hat  sich  an  sie   kühn  herangewagt,    freilich  war    sie    zum  Teile 


*)  S.  51  nimmt  Thumb  an,  daß  auf  dem  asiatisch-äolischen  Gebiete 
in  späterer  Zeit  im  Acc.  PI.  -c.;,  -oo;  gesprochen,  aber  die  „Orthographie"' 
-ai;,  -0';  noch  festgehalten  wurde;  dies  ist  mir  nicht  glauljlich.  Thumb 
beruft  sich  darauf,  daß  man  seit  Ende  des  4.  Jhd.  fortfuhr,  coi  und  ai  zu 
schreiben,  obwohl  das  i  in  der  Aussprache  erloschen  war;  hier  haben  wir 
aber  mit  einer  ganz  anderen  Ersch-.inung  zu  tun. 


170     Beriebt  üb.  d.  Liteiatur  zur  Koinea.  d.  Jahren  1S9S— 1902.  (Witkowski.) 

dazu  gezwungen,  denn  für  die  Koiueforschun^  hat  diese  Frage  nicht 
iiur  eine  theoretische,  sondern  auch  eine  praktische  Bedeutung,  da  von 
der  A.nsicht,  die  man  sich  von  der  Entstehung  und  dem  "Wesen  der 
Koine  bildet,  die  Beurteilung  zahlreicher  Einzelfragen  der  Laut-  und 
Forujenlehre  abhängt;  je  nach  dieser  Ansicht  wird  man  bei  einer  Form 
entweder  von  spontaner  Entwickelung  oder  vom  Einflüsse  eines  Dialektes 
reden  usw.  Eine  Übereinstimmung  der  Ansichten  ist  hier  noch  lange 
nicht  erzielt;  zwei  Meinungen  stehen  sich  heute  schroff  gegenüber.  Dies 
ist  gar  nicht  zu  ve»wundern:  Die  Frage  nach  der  Ausbildung  der  neu- 
Lochdentschen  Schriftsprache  bezeichnet  Konr.  Burdach  als  die  schwie- 
rigste der  deutschen  Sprachgeschichte,  und  Friedrich  Kluge  bekennt,  die 
Entstehung  der  englischen  Schriftsprache  sei  noch  in  völliges  Dunkel 
gehüllt  und  viel  komplizierter  als  die  der  neuhochdeutschen  Schrift- 
sprache (Schwyzer  N.  Jb.  1901,  S.  245.).  Bei  der  Koine  sind  die 
Schwierigkeiten  noch  größer.  Sie  liegen  einerseits  in  der  Mangelhaftig- 
keit des  Materials,  das  besonders  für  die  Anfänge  der  Entwickelung, 
für  das  III.  Jahrhundert  spärlich  fließt  und  für  die  Kenntnis  der  Um- 
gangssprache überhaupt  unzureichend  ist,  anderseits  in  dem  Umstände, 
daß  wir  für  die  Entstehung  der  Koine  keine  Analogien  besitzen,  da 
unter  solchen  historischen  Bedingungen  meines  Wissens  keine  andere 
Sprache  entstanden  ist.  Die  „dorische  Koine"  ist  doch  etwas  Ver- 
schiedenartiges: an  ihrer  Ausbildung  waren  lauter  solche  Stämme  be- 
teiligt, die  sich  mundartlich  nahe  standen,  w'ährend  diejenigen,  welche 
die  gemeingriechische  Koine  ausgebildet  haben,  nicht  eines  Stammes, 
sondern  verschiedeuer  Stämme,  ja  nicht  nur  Griechen,  sondern  auch 
Barbaren  waren;  bei  der  dorischen  Koine  wohnten  die  verschiedenen 
Stämme  in  räumlicher  Trennung,  bei  der  gemeingriechischen  Koine  in 
räumlicher  Mi^chunsr;  die  ersteren  lebten  eng  nebeneinander,  die  letzteren 
waren  über  die  ganze  Welt  zerstreut.  (Vgl.  W.  Schmid  W.  f.  k.  Ph. 
1901,  Sp.  563.)*) 


a)    Wesen  der  Eoine. 

In  bezug  auf  das  Wesen  der  Koine,  d.  h.  auf  ihre  dialektischen 
Bestandteile,  auf  ihr  Verhältais  zu  den  altgriechischen  Dialekten,  gehen 
heute  die  Meinungen  nach  zwei  Richtungen  auseinander.    —  Die  einen 


*)  Hirt  I.  F.  8,  1898  Anz.  S.  58  glaubt  eine  Parallele  zur  Koine  in 
der  deutschen  Schriftsprache  zu  finden,  die  ebenfalls  dialektische  Unter- 
schiede aufweise  (Vermibchung  niederdeutscher  Aussprache  mit  schrift- 
sprachlich'-m  Stoffe  in  den  niederdeutschen  Städten).  Doch  haben  die  ge- 
schichtlichen Verhältnisse,  unter  denen  sich  die  Koine  herausgebildet  hat, 
in  den  deutschen  keine  Parallele. 


Bericht  üb.  d  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (VVitkowski.)     171 

erklären  das  Attische  für  die  wesentliche  Grundlage  der  Koioe,  die 
anderen  halten  sie  für  eine  bunte  Mischung  der  Dialekte. 

Das  Problem  ist  nicht  neu:  schon  Galen  schwankte,  ob  er  die 
Koine  für  Attisch  oder  eine  gänzlich  verschiedene  Mundart  halten 
sollte  (xrjv  -/.oivrjv  ötaXsxTOV,  stxs  (Xi'a  tcüv  'AtÖiowv  ....  sirs  xat  a.k\T^ 
Tt;  oAo)?  '  in  der  Schrift  irepi  öiacpopa?  a-pu-ziAulIv  II  5  VIII  584,  17 
Kühn;  vgl.  Tbnmb,  Gr.  Spr.  S.  203). 

Das  Attische  für  die  Grundlage  der  Koine  halten:  Hatzidakis 
(z.  B.  Einl.  S.  168  f.),  Krumbacher  (Sitzungsber.  d.  bayer.  Ak.  1886, 
S.  435,  zuletzt  Byz.  Lit.^  S.  789),  W.  Schmid  (G.  g.  A.  1895, 
S  30f. :  „fast  makellos  rein  attischer  Laut-  und  Formenbestand  der 
Koine"  W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  603;  Schm.  leugnet  nahezu  alle  ionischen 
und  dorischen  Elemente),*)  Thumb  (Gr.  Spr.  S.  202  ff"  .  er  gibt 
aber  ionischen  Einfluß  zu),  John  Schmitt  I.  F.  12  (1901)  Anz. 
S.  70,  P.  Wendlaud  (B.  Z.  11,  1902,  S.  186);  vgl.  auch  Holm,  Gr. 
Gesch.  4,  560  und  Anm.  4  (S.  576),  ferner  Kai  bei  (Stil  und  Text 
der  'A9r,vat(uv  T:oXi-£ta  S.  37:  „Die  Mischung  der  Atthis  mit  fremden, 
vor  allem  ionischen  Elementen,  hat  den  Grund  zur  y.oivr,  gelegt"), 
Ciardi-Dupre  (Bessarione.  Anno  VI.  Ser.  IL  Vol.  2.  p.  205—212: 
La  xoivTQ  secondo  il  prof.  P.  Kretschmer). 

Eng  verwandt  mit  dieser  ist  die  Ansicht  E.  Schwyzers  (Gramm, 
perg.  Inschr.  S.  27  ti ).  Auch  er  hält  das  Attische  für  die  Grundlage 
der  Koine  (,,Es  bildete  also  im  letzten  Grund  das  Attische  auch  den 
Kern  der  gemeingriechischen  Volkssprache"),  gibt  jedoch  den  Einfluß 
anderer  Dialekte  zu  (S.  31:  „Das  zum  Gemeingriechischen  sich  ent- 
wickelnde Attische  wurde  also  in  erster  Linie  von  den  Lautsystemen 
der  alten  Dialekte  beeinflußt,  'man  sprach  es  an  verschiedenen  Orten 
verschieden  aus'."     S.  32:    „Auch  in  der  Formenlehre  werden  sich  die 

alten  Dialekte  gelegentlich    geltend    machen Im  allgemeinen 

wird  auf  diesem  [d.  h.  morphologischem]  Gebiet  der  altdialektische  Ein- 
fluß am  geringsten  sein,  denn  die  Formenlehre  einer  fremden  Sprache 
wird  zuerst  und  am  leichtesten  erlernt  ..."  „Weit  größer  ist  der 
Spielraum  des  altdialektischen  Einflusses  wieder  in  der  Wortbildung  .  .  ." 
„Noch  unwillUüilicher  wird  das  altdialektologische  Substrat  auf  dem 
Gebiete  der  Syntax  und  des  Wortschatzes  zum  Vorschein  kommen." 
„Selbstverständlich  war  dabei  nicht  jeder  Dialekt  von  gleichem  Ge- 
wicht ....  Dabei  spielte  jedenfalls  das  über  ein  weites  Sprachgebiet 
verbreitete  ionische  eine  bedeutende  ßoUe.").  N.  Jb.  1901,  S.  246,  wo 
er  über  Thumbs  Meinung  referiert,  betont  er  freilich  seine  von  der 
Thumbschen  zum  Teile  abweichende  Ansicht  mit  keinem  Worte.  Weltspr. 


')  Doch  nimmt  er  Thumbs  Thesen  an. 


1 72     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898  - 1902.  (Witkowski.) 

d.  Altert.  1902  S.  17  lUinert  er  sieb:  ,Die  auf  dem  Attischen  beruhende, 
in  geringerem  Maße  mit  Elementen  anderer  Dialekte,  vorab  des  ionischen, 
durchsetzte  gr.  Gemeinsprache  ..." 

Dieser  Annahme  des  attischen  Kernes  der  Koine  steht  die  andere 
Ansicht  gegenüber,  wonach  die  Koine  eine  Mischung  verschiedener 
Dialekte  ist.  In  einem  gewissen  Sinne  war  dies  schon  die  Ansicht  des 
alten  Sturz  (De  dialecto  Alexandrina  S  50:  „Ortam  fuisse  dialectum 
Alexaudiinam  e  pluribus  aliis  dialectis,  ut  attica.  macedonica,  aegyptiaca 
aliisque  fortassis,  et  hac  ipsa  plurium  dialectornm  inter  se  mixtura,  et 
coniunctione  factum  esse,  ut  distingneretui-  tanquam  diversa  et  pecnliaris, 
ab  Omnibus  reliquis  dialectis.").  Ja,  nian  kann  noch  beilentend  weiter 
zurückgehen  und  zeigen,  daß  dieser  Gedanke  bereits  den  byzantinischen 
Grammatikern  und,  wie  Kretschmer  (Entstehung  der  Koine,  S.  31)  an- 
nimmt, v.ohl  auch  schon  ihren  antiken  Quellen  gelänfiu;  vvar.  Johannes 
Philoponos  iiepl  SiaXixxiüv  gibt  als  Gründe  der  Giamniatiker  dafür,  daß 
die  xoivV]  kein  besonderer  Dialekt  sei,  an:  sie  habe  nichts  Eigenes, 
sondern  sei  aus  den  vier  Dialekten  [Dorisch,  Aolisch,  Ionisch,  Attisch] 
zusammengesetzt.  Dasselbe  wiederholt  später  Gregorios  von  Korinth 
p.  11  Schäfer,  und  auch  Isidor  (Orig.  IX,  1,  4  p  282  Lindemann) 
nennt  die  Koine:  id  est  mixta  sive  communis  (Näheres  s  bei  Kretschmer 
a.  a.  0.).  Wilamowitz  hatte  1»77  (Verhandlungen  der  32.  Philo- 
logen-Versammlung in  Wiesbaden  S.  40)  die  Annahme,  daß  die  Koine 
, korrumpiertes  Attisch  sei",  verworfen  und  sie  für  ein  ionisches  Volks- 
idiom erklärt.  Später  (Z.  f.  G.  W.  1884  S.  106  f.)  bekennt  er 
sich  freilich  nicht  mehr  zu  seiner  früheren  Behauptung  und  gibt  die 
attische  Grundlage  zu.  In  seinem  Buche  Euiipides'  Hprakles  ^l,  Vor- 
wort, S.  VII  betont  er  den  Einfluß  des  Ionischen  auf  den  Wortschatz 
der  Koine.  Den  urspiünglichen  Gedanken  vun  Wilamowitz'  hat  in  neuerer 
Zeit  Wilhelm  Schulze  aufgenommen  (B.  ph.  W.  1893,  Sp.  227)  und 
von  einem  sehr  tiefgreifenden  Einfluß  von  Seiten  eines  ionischen  Bauern- 
idioms  gesprochen.  Viel  weiter  ist  neuerlich  Kretschmer  gegangen. 
Anfangs  (W.  f.  k.  Ph.  1898,  Sp.  739)  vertrat  er  noch  den  Standpunkt, 
daß  in  der  Koine  „das  Ionisch-Attische  den  Grundton  abgab,  die 
attizistische  Schriftsprache  einen  gewissen  Einfluß  ansübte,  aber  auch 
die  übrigen  Dialekte  raehreres  beisteuerten."  (Ähnlich  W.  f.  k.  Ph. 
1899,  Sp.  3.)  Er  hat  aber  nachher  „die  Konnivenz  eregen  das  Attische 
als  ungerechtfertigt  erkannt"  (D,  L.  Z.  1901,  Sp.  1051)  und  in  seiner 
Schrift  „Die  Entstehung  der  Koine"  (Sitzungsber.  d,  Wiener 
Ak.  Bd.  143,  1900,  auch  Sonderabdiuck),  die  gleichzeitig  mit  dem 
Buche  Thunibs  „Die  giiechische  Sprache"  erschien,  die  These  aufge- 
stellt, die  mündliche  Koine  sei  „weder  Attiscli,  auch  nicht  verderbtes 
Attisch,  noch  Ionisch  .  .  .,  sondern  eine  meikwürdige  Mischung  ver- 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1808—1902.  (Witkowski.)     17-) 

schiedenster  Dialekte"  (S.  G)  (vj;l.  S.  31:  , .eine  bunte  Mischang- 
fast  sämtlicher  Dialekte,  in  der  das  Attische  .  .  .  nur  durch  ein  oder 
zwei  wichtige  Elemente  vertreten  ist").*)  Ahnlich  wie  früher  Kretschmer 
(in  der  W.  f.  k.  Ph.  1899,  Sp.  3)  urteilt  A.  Deißmann  (Realencykl. 
i.  Protest.  Theol.  VU^  1899,  S.  633):  „Der  allgemeine  Charakter  der 
hellenistischen  Umgangssprache,  der  zugleich  die  sichersten  Rückschlüsse 
auf  ihre  Entstehung  gestattet,  ist  der  einer  gemeinsamen  griechischen 
Sprache,  die,  auf  der  Mischung  der  Mundarten,  besonders  der  ionischen 
und  attischen  (aber  auch  der  anderen)  beruhend,  von  allen  Seiten  der 
Welt,  für  die  sie  sich  bildete,  Bereicherungen  erfahr,  aber  auch  von 
innen  herans  selbständig  Neues  entfaltete." 

Die  Argumente  der  beiden  sich  gegenüberstehenden  Anschauungen 
sind  am  eingehend>ten  dargelegt  einerseits  von  Thumb  (Gr.  Spr.  Kap.  VI), 
andererseits  von  Kretschmer  (Entst  der  Koine).  Ich  will  hier  ver- 
suchen, im  Anschluß  an  ihre  Darlegungen  die  Hauptgründe  vorzuführen. 
Zunächst  betont  Thumb,  worin  ihm  auch  Kretschmer  zustimmt, 
daß  es  sich  bei  der  Frage  nach  der  Entstehung  der  Koine  vor  allem 
um  die  gesprochene  Koine  handelt.  Die  Schriftkoine  hält  Th.  für 
€ine  Mischsprache,  entstanden  aus  der  Umgangssprache  und  Elementen 
der  attischen  Literatursprache. 

Th.  beginnt  seine  Darlegung  mit  der  Untersuchung  darüber,  welche 
Elemente  zur  Lösung  der  Frage  heranzuziehen  seien.  Wilamowitz 
hatte  geraeint  (Z.  f.  G.  W.  1884,  S.  106  f.),  mau  müßte  hier  Wort- 
gebrauch und  Syntax  mehr  als  die  Laut-  und  Formenlehre  ins  Auge 
fassen.  Wichtigkeit  der  Sjmtax  und  der  Phraseologie  betont  auch 
Wilh.  Schmid  W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  599;  er  stützt  seine  These 
durch  Beispiele  (eine  bestimmte  Art  des  Gen.  absol.  als  lonismus,  des 
substantivierten  Infin.  als  Attizismus).  Th,  will  von  der  Syntax  vor- 
läufig absehen,  und  zwar  aus  zwei  Gründen:  erstens  ist  die  Syntax  der 
Dialekte  noch  zu  wenig  bekannt,  zweitens  kann  abweichender  syn- 
taktischer Gebrauch  der  Koine  eine  innere  naturgemäße  Ent Wickelung 
sein.  Neben  der  Laut-  und  Formerlehre  muß  der  Wortschatz  unter- 
sucht werden,  und  zwar  sowohl  die  Wortbedeutung  als  Wortbildung. 
Den  Wortschatz  hält  jedoch  Th.  für  ein  nicht  immer  sicheres  Kriterium 
(S.  62  und  205);  der  Wortschatz  spiele  bei  der  Frage  nach  den  Ele- 
menten keine  andere  Rolle  als  der  Lehnwörterbestand  in  irgend  einer 
Sprache.  (Dem  Wortschatz  legt  er  entscheidendes  Gewicht  erst  bei 
der  Frage  nach  dem  ältesten  Heimatlande  und  dem  ethnographischen 
Substrat    der  Koine    bei.)     Wo  die  Bedeutung  eines  Koinewortes   sich 


*)  Von  der  Schriftsprache  urteilt  Kr.    anders;    sie  ist   nach  ihm 
entstelltes  Attisch  (D.  L.  Z.  1901,  Sp.  1050). 


1 74     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowsii.) 

aus  der  alten  attischen  nicht  entwickeln  läßt,  dagegen  in  einem  anderen 
Dialekt  direkt  bezeugt  ist,  haben  wir  einen  festen  Stützpunkt.  Den 
haben  wir  auch  dann,  wenn  in  verschiedenen  Mundarten  verschiedene 
Wörter  die  gleichen  Dinge  bezeichnen.  In  dem  Wortschatz  der 
Koine  spielt  das  ionische  Element  eine  hervorragende  Rolle.  Die 
Wörter,  welche  die  attizistischen  Lexika  als  hellenistisch  verwerfen, 
sind  zum  großen  Teile  ionisch.  Ja,  Hesychios  sagt  geradezu:  laorr 
iXXTrjvto-t.  Ionische  Wörter  zeigen  auch  die  Septuasinta  und  die  Papyri, 
lonismen  der  Schriftsteller,  z.  B.  des  Polybios  und  Josephos.  stammen 
nicht  aus  der  Lektüre  des  Herodot  oder  Hippokrates,  sondern  aus  der 
Koine.  Eine  ßeihe  neuer  Wörter  dieser  Schriftsteller  werden  durch 
ihr  Fortleben  in  der  neugriechischen  Volkssprache  als  Bestandteile  der 
Koine  erwiesen.  Nur  die  lonismen  der  attizisierenden  Schriftsteller 
stammen  möglicherweise  aus  der  Lektüre.  Schon  bei  Aristoteles  haben 
wir  in  den  lonismen  einen  Hauch  des  neuen  Sprachgeistes.  Bekannt 
sind  die  lonismen  bei  Xenophon:  die  Schlußfolgerung  Thumbs,  dat> 
dieser  Schriftsteller  ionische  Elemente  aus  der  attischen  Umgangssprache 
geschöpft  hat,  scheint  mir  unhaltbar;  Xen.  lebt  ja  während  der  ganzen 
Periode  seiner  schriftstellerischen  Tätigkeit  außerhalb  Athens.  Ionisch 
sind  ferner  gewisse  Wortbildungen,  z.  B.  die  Neutra  auf  -[xa.  Schwierig 
ist  das  Urteil  über  sog.  „poetische"  Wörter.  Zahlreiche  Wörter,  die 
uns  aus  der  Tragödie  bekannt  sind  und  deshalb  für  poetisch  gehalten 
werden,  kommen  in  der  Koine,  z.  B,  in  den  Papyri,  in  der  biblischen 
Gräzität  usw.  vor.  Es  ist  ausgeschlossen,  sagt  Th.,  daß  die  Übersetzer 
des  Alten  Testamentes  oder  Leute,  welche  Rechnungen  und  andere 
Schriftstücke  des  täglichen  Lebens  abfaßten,  Wörter  aus  der  Sprache 
der  Poesie  mit  Absicht  aussuchten,  und  darin,  besonders  in  bezug  auf 
die  letztere  Art  von  Schriftstücken,  wird  man  ihm  recht  geben.  Es 
fragt  sieht  nun,  woher  diese  Wörter  der  Koine  zugeflossen  sind.  Hier 
sind  nach  Th.  zunächst  zwei  Antworten  möglich:  entweder  sind  die 
poetischen  Wörter  alter  Besitz  der  attischen  Umgangssprache,  auf 
die  sie  beschränkt  blieben,  oder  sie  sind  der  Koine  aus  dem  Ionischen 
zugeströmt.  Zwischen  beiden  Fällen  ist  nach  Th.  noch  ein  Mittelweg 
möglich:  ionische  Elemente  sind  der  Koine  durch  die  attische  Volks- 
sprache übermittelt.  Thumb  glaubt,  daß  in  der  Tat  alle  drei  Faktoren 
zusammengewirkt  haben.  Bei  Aristoplianes  kommen  zahlreiche  De- 
minutiva  vor;  eine  Vorliebe  für  diese  Bildungen  zeigt  auch  die  Koine 
und  das  Neugriechische.  Hier  haben  wir  eine  Wirkung  der  attischen 
Volkssprache,  die  auch  durch  sonstige  Übereinstimmungen  im  Wort- 
schatz der  attischen  Komödie  und  des  Neuen  Testamentes  bestätigt  wird. 
Wie  erklären  sich  aber  diejenigen  poetischen  Wörter,  die  der  Tragödie 
und    der  Koine  angehören?     Einige    werden    altattisch   sein,    wie  dies 


Bericht  üb  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S98— 1902.  (Witkowski.)     175 

Rutherford  für  a/.-ri  iiud  ^coaxT^p  nachgewiesen  hat.  Andere  sind  ionisches 
Element;  sie  sind  der  Koine  teilweise  durch  die  attische  Volkssprache 
ühermittelt.  Andere  endlich  sind  erst  in  der  hellenistischen  Zeit  in  di } 
Koine  eingedrungen.  Aber  auch  andere  Stämme  haben  sicherlich  zum 
Wortschatz  der  Koine  ihren  Teil  beigetragen,  wenn  auch  nach  Th.Tin 
viel  geringerem  Maße.  Man  sieht  einen  Dorismus  in  [:iouvo;  (vgl. 
Kretschmer  Entst.  der  Koine  S.  18)  —  nach  Th.  ohne  zwingenden 
Grund;  aXer.xwp  hält  Kretschmer  für  dorisch,  Thumb  für  „poetisch" 
(S.  217);  zu  den  Dorismen  rechnet  Kretschmer  ae^tjtavs;  (anderes  ge- 
hört in  die  Lautlehre).  Poetische  Wörter  bei  nicht  attizisierenden 
hellenistischen  Schriftstellern  wie  Polybios  oder  Josephos  stammen  dem- 
nach vielfach  aus  der  Koine,  nicht  aus  Lektüre,  was  bei  den  Fragen 
nach  der  Abhängigkeit  der  Schriftsteller  zu  beachten  ist. 

Gegen  das  Verfahren  Thumbs,  die  „poetischen"  Wörter  in  der 
Koine  als  ionisch  anzusprechen,  erhob  Widerspruch  W.  Schmid  (W.  , 
f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  598  f.),  nach  meiner  Überzeugung  jedoch  ohne 
triftigen  Gl  und.  Bedenklich  in  dem  Verfahren  Thnmbs  scheint  mir  nur 
die  Annahme,  daß  die  attische  Umgangssprache  zahlreiche  lonismen  besaß. 
Warum  soll  man  direkten  Einfluß  des  Ionischen  leugnen?  Meine  Meinung 
über  den  Ausgangspunkt  dieses  Einflusses  werde  ich  später  darlegen. 

Ich  habe  oben  die  Frage  nach  fremden  Elementen  der  attischen 
Umgangssprache  berührt.  Ich  will  hier  auf  diese  Frage  kurz  ein- 
gehen. Der  attische  Dialekt  war  durch  die  politische  Stellung  Athens 
und  den  Handelsverkehr  schon  im  5.  Jhd.  dem  Zuströmen  fremden 
Sprachgutes  ausgesetzt.  Dieser  fremde  Einfluß  wird  auch  durch  die 
pseudo-xeuophontische  Schrift  vom  Staate  der  Athener  (11,  8)  ausdrück- 
lich bezengt.  In  den  attischen  Inschriften  gibt  es  allerdings,  wenn  wir 
von  fremden  Namen  absehen,  wenig  Beispiele  für  fremde  Dialektformen 
([^oppa?,  ii'.-AOi;  3UV?;  Sta  c.  Akk.  statt  svsxa  usw.,  s.  Kap.  „Untergang 
d.  alten  Dialekte").  (Diese  ganz  spärlichen  Beispiele  sprechen  gegen 
die  oben  erwähnte  Annahme  Thumbs,  wonach  zahlreiche  lonismen  der 
Koine  durch  Vermittlung  der  attischen  Umgangssprache  zngetlossen  sein 
sollen).  Gegen  allzu  weit  gehende  Ausnutzung  der  ps.  xenophontischeu 
Stelle  wendet  sich  mit  Recht  W.  Schmid  W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  597 
Anm.;  er  weist  darauf  hin,  daß  die  attischen  Fluchtafeln  diese  An- 
nahme nicht  bestätigen.  Später  wirkt  die  Koine  auf  das  Attische  ein, 
und  häufig  (z.  B.  bei  Erscheinungen  wie  öia  c.  Akk.  u.  ähnl.)  läßt  sich 
zwischen  fremdem  Dialekt  und  Einfluß  der  Koine  nicht  mehr  eine  scharfe 
Grenze  ziehen.  Der  letzteren  Quelle  entstammen:  jiaatXujoc,  vaoc,  Im- 
perat.  -ü>aav  (=  -cov),  eoioouv  (ion.),  Iva  (ion.),  ou&et'c,  -ap'/ric  (wohl  ion.) 
usw.  Nur  das  Ionische  scheint  in  die  grammatische  Form  des  Attischen 
etwas  tiefer    eingegriff"en  zu  haben;    die  Dorismen    sind  nichts  anderes 


176     Berjchtüb.d.  Literatur  zur  Koinea.  d.  Jahren  1898— 1902.  (Witkowski.) 

als  Lehnwörter.  Dieses  aus  Inschriften  gewonnene  Bild  wird  durch 
literarische  Quellen  bestätigt.  Wir  finden  hier  dorische  Lehn- 
wörter auf  dem  Gebiete  der  Kriegskunst  (Xo/a'/oj  usw.),  bei  Aristo- 
phanes  dorisches  tuwo;  und  tuwoüto;;  ionisch  ist  zquAu-ouc. 

Während  ein  weitgehender  Einfluß  der  Dialekte  auf  den  "Wort- 
schatz der  Koine  von  allen  (mit  Ausnahme  von  W.  Schraid)  zugegeben 
wird,  verhält  es  sich  anders  auf  dem  Gebiete  der  Laut-  und  Formen- 
lehre der  Koine.  Laute  und  Formen  lassen  uns  in  der  Frage  nach 
den  Dialektbestandteilen  der  Koine  am  ehesten  eine  sichere  Entscheidung 
treffen,  während  sie  in  lexikalischen  Fragen  nicht  so  sicher  ist  (Thumb 
S.  62).  Hier  gehen  die  Meinungen  zur  Zeit  weit  auseinander.  Ich 
will  zunächst  die  Ansicht  Thumbs  darlegen. 

Was  methodische  Grundsätze  angeht,  so  dürfen  wir  von  Dialekt- 
bestandteilen der  Koine  reden,  wenn  sie  1.  in  den  Koiuetexten  vor- 
kommen, 2.  im  Neugriechischen  fortleben.  Beide  Quellen  ergänzen  sich 
gegenseitig.  Dorische  Elemente  sind  nach  Th.  in  der  Koine  auf  ein 
Minimum  beschränkt.  Er  rechnet  hierzu:  Aor.  'dr.'xt.i'x.  statt  Iraua  (zu 
TraiCw),  den  Genusgebrauch  q  Xtfioc  statt  6  Xtixo?  usw.  (dor.  ßoppa?  ist 
in  der  Koine  ausgemerzt  zugunsten  von  ßopsac).  lonismen  sind  nach 
Th.  offene  Formen,  wie  Gen.  auf  -sojv,  ypuaeo?  usw.  (S.  63);  sporadisch 
vorkommendes  tj  statt  ä  in  der  Flexion  der  Stämme*)  z.  B.  aneipTTjc,  [xa-/aipT)c 
(diese  Erscheinung  ist  auch  im  Neugriechischen  wenig  verbreitet),  wobei  zu 
beachten  ist,  daß  r,  statt  a  auf  Kleinasien  und  Ägypten  beschränkt  ist;  die 
Erscheinung  ist  nach  Thumb  nicht  als  Wirkung  der  Analogie  zu  deuten. 
Andere  sehen  in  der  Erscheinung  den  Einfluß  der  Anulogie  (z.  B. 
Moulton  Class.  ßev.  1901  S.  34;  W.  Schmid  W.  f.  k.  Ph.  1899  S.  543 
und  andere;  vgl.  unten  passim).  Ionisch  ist  die  Behandluno;  der  Aspi- 
rata in  Wörtern  wie  y.tf}(uv,  Jiaöpaxoc,  xuftpa,  ferner  die  Wörter  evsxsv 
(und  eTvsxsv)  und  ähnliche,  a-Y]).i(oTy);,  vojuoc,  Ordinalia  des  Typus  Tpeu- 
xatosxaro;;  für  unentschieden  iiält  dagegen  Thumb  die  Frage,  ob  in 
xecfjepec  ein  lonismus  oder  spontaner  Lautwandel  vorliegt;  ionisch  sind 
ferner  nach  ihm:  der  Stamm  -7-  in  dem  Gen.  otwpuyoc  und  anderes 
Vereinzelte,  was  von  dem  Attizisten  Phrj'nichos  angeführt  wird.  Es 
treten  einige  lonismen  aus  dem  Neugriechischen  hinzu  (S.  86  if.);  hier 
gilt  die  Eegel:  Was  an  lonismen  allgemein  neugriechisch  ist,  war  bereits 
in  der  Koine.  W.  Schmids  Skeptizismus  hinsichtlich  aller  lonismen  und 
Dorismen  der  Koine  erscheint  auch  mir  unberechtigt.  Ich  glaube  mit 
Thumb  (S.  73),  daß  die  Anzahl  der  in  der  Koine  wirklich  vorhandenen 
Dialektismen  für  größer  gehalten  werden  darf,  als  vorläufig  zutage  tritt. 


*)  Aus  der  Reihe  der  von  Thumb  S.  CS  f.   angeführten  Beispiele  ist 
•dTC'.atrjir;  zu  streichen. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S9S— 1902.  (Witkowski.)     177 

Bei  der  DialektraischunK  in  der  Koine  kam  es  niclit  selten  vor, 
daß  Doppel  formen  entstanden;  die  eine  von  ihnen  siegte  dann  über 
die  andere  oder  es  fand  ein  Kompromiß  statt  oder  endlich  behauptet 
sich  die  Doppelform  bis  zum  heutigen  Tag  in  neugriechischen  Dialekten. 
Die  vielbesprochenen  Formen  si'eXoc,  ueXoc,  [xuaXoc  und  ähnliche,  in  denen 
die  Koine  zwischen  z  und  a  schwankt,  beruhen  nach  Th.  auf  einem 
Kompromiß  zwischen  attischen  (ai'aXoc,  uaXoc,  [xueXo;  usw.)  und  ionischen 
Formen  (ueXo»,  ateXo;  usw.).  Einen  Ausgleich  sieht  Thumb  auch  in  der 
Behandlung  der  Lautgruppe  -pj-;  pp  ist  attisch  und  zum  Teil  dorisch, 
pa  ionisch;  in  der  Koine  siegte  ps,  aber  nicht  vollständig,  denn  es 
kommen  auch  Formen  mit  pp  vor. 

Auch  Attizismen  nimmt  Th.  für  die  Koine  an:  hellenistisch 
]6t  3  3,  aber  daneben  findet  sich  auch  tt.  Alles  in  allem  ist  die  Zahl 
<ler  lautlichen  und  flexivischen  Dialektismen  in  der  Koine  nach  Thumb 
gering.  Dasselbe  läßt  sich  von  der  neugriechischen  Volkssprache  sagen. 
Was  die  ßeste  alter  Dialekte  im  Neugriechischen  betrifft,  so 
werden  solche  von  Psicbari  und  dessen  Schüler  Pernot  negiert,  ohne 
Zweifel  mit  Unrecht,  wie  dies  bereits  Hatzidakis  nachgewiesen  hat. 
In  der  Annahme  solcher  ßeste  muß  man  allerdings  vorsichtig  sein, 
denn  in  vielen  Fällen,  wo  es  den  Anschein  haben  könnte,  daß  wir  mit 
den  Resten  alter  Dialekte  zu  tun  haben,  handelt  es  sich  nur  um  sekun- 
däre Erscheinungen  der  Koine  oder  des  Neugriechischen  (z.  B.  -/pooc^c 
statt  -/pusoi).  Es  gibt  im  Neugriechischen  Dorismen  (Thumb  S.  81  If., 
Kretschmer  Entst.  S.  29),  wie  ä,  vielleicht  auch  lonismen.  Heutzutage 
gilt  der  Grundsatz:  die  im  Neugriechischen  erweisbaren  Reste  alter 
Dialektformen  dürfen  der  Koine  vindiziert  werden  (Thumb  S.  81).  Man 
braucht  sich  nicht  dagegen  zu  sträuben  und  etwa  die  Ansicht  vorzu- 
ziehen, daß  mancher  Rest  ohne  Vermittelung  der  Koine  direkt  ans 
einem  Dialekte  in  das  Neugriechische  gelangt  ist.  Wenn  man  zugibt, 
daß  die  Koine  lokal  differenziert  war,  so  läuft  es  in  der  Praxis  auf 
dasselbe  hinaus,  ob  man  heutige  Dorismen  des  Kretischen  direkt  aus 
dem  alten  Dialekte  ableitet  oder  sie  der  kretischen  Koine  zuschreibt. 
Bei  der  ganzen  Frage  handelt  es  sich  lediglich  um  den  prinzipiellen 
Standpunkt.  Richtig  urteilte  darüber  schon  Gust.  Meyer  (s.  bei  Thumb 
S.  100).  In  isolierten  Gegenden  haben  die  neugriechischen  Dialekte 
einen  altertümlicheren  Charakter:  so  der  zakonische  sowie  die  kappa- 
dokischen  Dialekte. 

Zu  erwähnen  ist,  daß  Thumb  nach  dem  Vorgange  von  Hatzidakis 
das  vielbesprochene  neugriechische  vepo(v)  'Wasser'  auf  vr)p6v  (zusammen- 
gezogen aus  veapov  'fri.'ches  Wasser')' zurückführt.  Er  bespricht  auch 
diß  jungdorische  Kontraktion  von  sa  zu  r,  (ßajiXrj  usw.).  Den  Einwand, 
daß  in  dem  Worte  vepo  s,  nicht  i  aus  rj  erscheint,  beseitigt  er  durch 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1904.    I.)  \'2 


178     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

den  Hinweis  auf  die  heutigen  poutischen  Dialekte,    in  denen  wir  statt 
y]  ein  e  finden. 

"Während  nach  Thumb  die  Koine  in  der  Laut-  und  Formenlehre 
jiur  geringe  außerattische  Dialektbestaudteile  aufweist,  ist  nach  Kretsch- 
mer  der  Einfluß  anderer  Dialekte  ein  sehr  weitgehender.  Bei  der  Auf- 
zählung der  von  Kr.  statuieiteu  Dialektismen  übergehe  ich  meisten- 
teils diejenigen,  die  Th.  zugibt  und  die  ich  aus  diesem  Grunde  schon 
oben  erwähnt  habe. 

Um  mit  dem  ionischen  Dialekte  zu  beginnen,  so  schreibt  Kr. 
die  allerdings  erst  in  der  späteren  Kaiserzeit  völlig  durchgeführte 
Psilosis  dem  ionischen  Einflüsse  zu.  Ionisch  sind  die  unkontrahierter» 
Formen  der  Koine;  die  kontrahierten,  die  daneben  vorkommen,  sind 
Attizismen.  Ionisch  ist  ferner  ou66c,  der  Übergang  der  Verba  auf  -jjit 
in  die  w-Flexion  (öiSoi  usw.),  die  Flexion  Nom.  -oüc,  Gen.  -ou-o;  oder 
-ouoos,  dagegen  beruht  die  Flexion  Nora,  -aj.  Gen.  -5,  Plur.  -aos«  auf 
«nner  Kreuzung  ionischer  und  dorischer  Flexion. 

Doris men  sind  außer  Formen  wie  Xaoc,  vao;;  p,apoxüi[j.at  usw., 
außer  der  Flexion  ü'pvi?,  opvi-//j?,  außer  Abweichungen  im  Geschlecht- 
(y)  XtfjLo?,  <];uXXo;)*)  die  spirantische  Aussprache  der  Mediae  ß,  7,  S,  die 
für  ß  und  7  schon  im  2.  Jhd.  v.  Chr.  bezeugt  ist.  Die  neugriechische 
Betonung  dOpcuTroi  oder  Icpa7av  ist  nach  Kr.  in  die  Koine  aus  dem 
Dorischen  gelangt  ((JvöptuTio'.,  eXaßov).  Thumb  (Arch.  f.  Pap.  2  S.  426) 
bemerkt  mit  Recht,  daß  wir  nicht  wissen,  ob  die  Koine  ebenso  betonte 
wie  das  Neugriechische  und  erklärt  die  neugriechische  Betonung  wohl 
richtiger  aus  der  Wirkung  der  Analogie. 

Boiotische  Elemente  sieht  Kr.  1.  in  der  Monophthongieruug 
der  i-Dipbthoi:ge  (ai  ^  e,  01  =  ü,  ei  ^  i),**)  2.  die  Aussprache  des  t]  als  i, 
3.  die  Endung  -crav  in  der  3.  PI.  Ind.  des  starken  Aoristes  und  des  Im- 
perfekts, Es  ist  ein  Verdienst  Kretschmers,  nachgewiesen  zu  haben,  daß 
in  der  Koine  zwei  Artikulationen  des  y)  (^  e)  nebeneinander  bestanden: 
die  ionisch-attische  (usw.)  offene  und  die  böotisch-thessalische  geschlossene. 


*)  6  o-7;i.voc  bei  Aristophanes  kann  auch  auf  attischem  Genuswechsel, 
nicht  auf  fremdem  Einfluß  beruhen. 

**)  Hier  muß  ich  mit  Rücksicht  auf  Kretschmer  S.  7  bemerken,  daß 
ich  nach  wie  vor  daran  festhalte,  daß  uns  die  Papyri  ein  treueres  Abbild 
der  Sprache  geben  als  die  Inschriftfn.  Dies  betont  auch  Thumb  Arch.  f. 
Pap.  2  S.  402;  er  hebt  hervor,  daß  die  Inschriften  sorgfältiger  hergestellt 
werden  und  eich  über  die  flüchtige  Redeweise  des  Augenblicks  erheben. 
Nur  manche  Grabinschriften  können  den  Papyri  direkt  verglichen  werden. 
Vgl.  auch  Thumb  Theol,  Rundsch.  5  (1902)  S.  90,  Gr.  Spr.  S.  168  f.  Daß 
auf  späten  attischen  Steinen  vulgäre  Fehler  vorkommen,  erklärt  sich  aus 
den  geschichtlichen  Zuständen  der  griechischen  Städte. 


Beriebt  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     179 

Die  letztere  trns:  den  Sies?  davon  und  führte  schließlich  zu  i,  die  erstere 
lebte  neben  ihr  bis  ins  Mittelalter  hinein.  Geg^en  die  Annahme,  daß 
die  Formen  auf  -aav  ein  Böotismus  sind,  wnrde  von  mehreren  Seiten 
geltend  gemacht,  daß  solche  Formen  auf  böotischen  Inschriften  erst  im 
'J.  Jhd.  V.  Chr.  erscheinen.  Griechische  Heimat  der  Neubildungen  auf 
-Tav  nimmt  auch  Thurab  an  (Gr.  Spr.  S.    198  f ). 

Nordwestgriechische  Elemente  sind  nach  Kr.:  1.  Dat.  PL  der 
konsonantischen  Stämme  auf  -ot?,  2.  Akk.  PI.  auf  -s?  (-ou?  Xs^ov-ce;), 
o.  mediale  Flexion  von  eijj-i  (vJjxtt^  nsw),  4.  die  Vermischung  der  Verba 
üuf  -ottu  mit  denen  auf  -ew,  und  vielleicht  5.  ax  für  ari>. 

Es  folgen,  um  unsichere  äolische  Spuren  zu  übergehen,  ver- 
schiedene unattische  Elemente  Hieher  reebnet  Kr.:  1.  c- 
(=  att.  tt)  und  das  Wort  crjixEpov,  2.  pj  (^  att.  pp),  das  in  der  Koine 
nur  teilweise  zur  Herrschaft  j^elangte,  3.  Übergang  von  ixti  in  mb,  vt 
in  nd  (Einfluß  griechischer  Dialekte  Kleinasiens),*)  4.  Akk,  auf  -av 
(wie  Hu-'aTs'pav).  Attisch  war  an  der  Koiue  nach  Kr.  eiiientlich  nur 
die  Vertretung  von  altem  ä  durch  y).  Attischem  Einflüsse  ist  ferner 
die  attische  Weise  der  Kontraktion  zuzuschreiben. 

Die  von  Kietschmer  in  seiner  Schrift  „Die  Entstehung  der 
Koine"  niedergelegten  Ansichten  waren  von  ihm  in  den  Hauptpunkten 
schon  früher  in  der  W.  f.  k.  Pü.  1898,  Sp  738  ausgesprochen,  so  daß 
Thumb  in  seinem  Buche  bereits^  auf  sie  Rücksicht  nehmen  konnte,  Th. 
verhält  sich  ihnen  gegenüber  ablehnend.  Überhaupt  ist  in  der  Frage 
naieh  der  Mischungsfähigkeit  des  Laut-  und  Formensystems  der  Stand- 
punkt beider  Gelehrter  ein  verschiedener.  Während  Thumb  von  der  An- 
schauung ausgeht,  daß  „der  Wortschatz  in  viel  höherem  Grade  niisohuags- 
tähig  ist  als  etwa  Laut-  und  Formensystem"  (S.  234),  liält  Kretschmer 
dasLaut-  und  Formensystem  in  hohem  Grade  für  mischungsfähig.  Kretsch- 
mer meint  (Entst.  S.  6),  daß  wir,  hier  wie  in  allen  Dialektfrayen,  das 
Hauptgewicht  auf  die  Lautverhältnisse  zu  legen  haben;  erst  ,,in  zweiter 
Linie  kommen  die  Übereinstimmungen  der  Flexion  in  Betracht;  am 
wenigsten  lassen  sich  die  lexikalischen  Verhältnisse  berücksichtigen, 
teils  ans  Mangel  au  Material,  teils  weil  sich  im  Wortschatz  die  Dialekt- 
grenzen leicht  und  trüb  verschieben.  Syntaktische  Unterschiede  der 
griechischen  Dialekte  kennen  wir  nur  wenige  •  Wo  nun  Kr.  äußeren 
Einfluß  sieht,  nimmt  Th.  „innere  Entwickelung  innerhalb  der 
Koine"  an;  sowohl  im  Laut-  als  im  Formeusystem  haben  sich  nach 
Th.  nur  die  attischen  Keime  weiterentwickelt,  sie  entwickelten  sich 
rascher  in  den  neu  hellenisierten  Gebieten  als  in  dem  Mutterlande.   So 


*)  Über  jJL-  —  -  im  Neugriechischen  (~c-();o;  —  aTrc'f/.o;]  vgl.  Kretsch- 
mer, K.  Z.  35,  Zur  gr.  Lautlehre.     Wechsel  von  ß  u,  a.  S.  604  f. 

12* 


180     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski ) 

lasse  sich  die  Monophthongierung  auch  im  Rahmen  des  attischen  Laut- 
systems verstehen.  Die  itazistische  Aussprache  des  ei  habe  ihre  Keime 
im  Attischen.  Es  ist  nach  Thumb  undenkbar,  daß  der  böotische  Stamm 
in  Ägypten  allen  übrigen  Griechen  seine  Aussprache  aufgezwungen  haben 
sollte.  Besonders  bedenklich  scheint  es  ihm,  Umgestaltungen  des 
Flexionssystems  aus  einzelnen  Dialekten  abzuleiten.  Diese  Umgestaltungen 
erklärt  er  durch  das  die  Koine  charakterisierende  Streben  nach  Ver- 
einfachung und  Ausgleichung.*)  Nur  die  Schaffung  ganz  neuer 
Typen,  die  nicht  bloß  Vereinfachung  des  älteren  Flexionssystems  sind, 
lasse  uns  das  Maß  der  Einwirkung  einzelner  Dialekte  erkennen,  so  die 
Neubildung  der  Nomina  auf  -5?  -Söoc  und  -oüc  -oü8oc,  die  ionisch  ist. 
Kretschmers  Schrift  rief  gleich  nach  ihrem  Erscheinen  einen 
heftigen  Widerspruch  hervor.  Nur  Rieh.  Meister  billigte  im  Prinzip 
die  Theorie  von  der  Beteiligung  aller  Dialekte  an  der  Koine,  erklärte 
sich  jedoch  für  den  attischen  Charakter  der  letzteren  (B.  ph.  W.  1901 
Sp.  1431);  auch  Ed.  Schwj^zer  machte  Kr.  gewisse  Zugeständnisse  (Die 
Weltsprachen  des  Altertums,  1902,  S.  18  Fußn.:  „Auch  wer  dem  Haupt- 
ergebnis nicht  zustimmen  kann,  wird  zugeben  müssen,  daß  die  alten 
Dialekte  stärker  bei  der  Bildung  der  /.otvv^  beteiligt  waren ,  als  man 
bisher  annahm"),  zum  Teile  auch  P.  Weudland,  der  sonst  auf  Thumbs 
Standpunkt  steht  (B.  Z.  11 ,  1902,  S  186:  „Es  wird  ein  Verdienst 
Kr.s  bleiben,  die  Negierung  aller  Dialektbestandteile  in  der  xoivtq  mit 
Erfolg  bestlitten  zu  haben."}.  Kretschmer  hat  den  Wunsch  geäußert, 
daß  in  dieser  Frage  nicht  solche  das  Wort  ergreifeu  mögen ,  welche 
nicht  die  nötige  Kenntnis  des  Neugriechischen  dazu  mitbringen.  Meine 
neugriechischen  Kenntnisse  sind  sehr  bescheiden ,  und  so  muß  ich  um 
Nachsicht  bitten,  wenn  ich  mir  erlaube,  hier  meine  Meinung  zu  äußern. 
Ich  glaube,  daß  der  Gedanke  Kr.s  von  der  stärkeren  Beteiligung  der 
Dialekte  an  der  Herausbildung  der  Koine  eine  freundlichere  Aufnahme 
verdiente,  als  sie  ihm  zuteil  geworden  ist.  Der  Widerspruch  gegen 
Kretschmer  hat  meines  Erachtens  seine  Quelle  hauptsächlich  darin,  daß 
er  seinem  Gedanken  eine  Form  gegeben  hat,  die  zum  Widerspruch 
reizen  mußte.  Zwar  glaube  auch  ich  mit  Thumb,  daß  der  attische 
Dialekt    die  Grundlage    der  Koine  bildet  und  daß  der  ionische  an   ihr 


*)  Akkusative  wie  toI;  ro-vTz;,  die  W.  Schmid  (G.  g.  A.  1895  S.  39 
und  Attiz.  IV  ()83)  durch  Schwächung  des  «  erklärt,  sind  für  Kretschmer 
(W.  f.  k.  Ph.  1898  Sp.  739),  Sehwyzer  (Perg.  las.  §  24)  und  Thumb  viel- 
mehr akkusativisch  gebrauchte  Nominative.  Für  diese  letztere  Erklärung 
sprechen  Formen  wie  too;  ßaa'./.il;  u.  dgl.  towie  spätgr.  xo;  -'.[ie;  (zu  'A 
T'.iJ.i;),  wo  a  unter  dem  Akzent  steht  und  nicht  durch  Schwächung  zu  z 
werden  konnte:  vgl,  auch  xol;  zcz/.oi  (Hatzidakis  Einl.  S.  29  u.  .'379),  ferner 
KiLir,  y.oi  o't  c<:-o-j  ravta;  P.  Berol.  Hl.'),  15.  U  (2.  Jhd.  n.  Chr.). 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     l.Sl 

stärker  beteiligt  ist  als  die  übrigen.  Die  Verteilung  von  ä  und  ?]  und 
die  Gesetze  der  Kontraktion  sind  nicht  die  einzigen  attischen  Elemente 
der  Keine.  Die  Aspiration,  die  doch  in  der  Periode  vor  Chr.  Greb. 
der  Koine  nicht  fremd  ist,  die  Lautbehandlung  in  Formen  wie  xopr,, 
5Xoc,  $evo;,  das  ganze  äußere  Bild  der  Deklination  und  Konjugation  — 
alles  dies  und  manches  andere  ist  in  der  Koine  attisch.  Auch  wird 
Thumb  recht  haben ,  wenn  er  annimmt ,  daß  die  Keime  des  Itazismus 
bereits  in  der  Behandlung  des  si  im  Attischen  lagen,  und  dies  kann 
auch  bei  anderen  Lautprozessen  der  Fall  gewesen  sein;  ferner  werden 
sich  viele  Flexioiisformen  durch  innere  Entwickelung  erklären  lassen. 
Trotzdem  ist  der  Gedanke  nicht  abzuweisen,  daß  die  Entwickelung  der 
neuen  Laut-  und  Flexionsformen  in  Ägypten,  Syrien,  Kleinasien  dadurch 
befördert  wurde,  daß  die  lonier  und  Attiker  aus  dem  Munde  der 
Böoter,  der  Nordwestgriechen  usw.  in  täglichem  Verkehr  die  Formen 
hörten,  die  in  der  Richtung  ihrer  eigenen  Sprachentwickelung  lagen. 
Die  Tendenz  war  da,  sie  wohnte  dem  Attischen  inne,  und  die  in  ihrer 
Richtung  liegenden  Formen  fremder  Dialekte  haben  die  Entwickelung 
der  Keime  in  der  neuen  Heimat  beschleunigt.  Wenn  der  in  Ägypten 
wohnhafte  Attiker  das  et  in  dem  Wort  7£iToiv  stark  geschlossen  aus- 
sprach und  dasselbe  Wort  im  Munde  des  Böoters  -ixcov  klingen  hörte, 
so  war  die  ihm  selber  naheliegende  Lautentwickelung  dadurch  betördert. 
Der  Attiker  konnte  den  Akk.  PI,  touc  XqovTsc  selber  schaffen,  hörte 
er  aber  tagtäglich  diese  Form  aus  dem  Munde  des  Nordwestgriechen, 
so  war  die  ihm  eigene  Lauttendenz  dadurch  begünstigt.  Dies  dürfte 
erklären,  warum  in  so  vielen  Fällen  die  neuen  Erscheinungen  zuerst 
in  den  neu  kolonisierten  Ländern  zum  Vorschein  kommen.  Hier  war 
der  Verkehr  von  Leuten  verschiedener  Mundarten  ein  viel  regerer 
als  in  der  alten  Heimat.  Gerade  auf  diesem  Gebiete  der  Lautlehre, 
auf  welchem  die  vorige  Periode  am  kräftigsten  vorgearbeitet  hatte,  ich 
meine  die  Monophthongierung  der  Diphthonge  im  Böotischen,  finden 
sich  neue  Formen  frühe,  und  sie  finden  sich  besonders  frühe  in  Ägypten, 
wo  die  Böoter  im  Heere  der  Ptolemäer  in  großer  Zahl  dienten.  (Dieser 
Beobachtung  möchte  ich  jedoch  kein  besonderes  Gewicht  beilegen.^ 
Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ließe  sich  wohl  bei  näherer  Untersuchung 
das  frühe,  resp.  späte  'Auftreten  mancher  Laut-  und  Flexionserscheinung 
erklären.  —  Und  daß  dieselbe  Tendenz  mehreren  Dialekten  innewohnen 
konnte,  wird  man  wohl  zugeben;  solche  Erscheinungen  wie  die  Über- 
Iiandnahme  des  exspiratorischen  Elementes  in  dem  Akzente  und  die 
Ausgleichung  der  Quantität,  die  Monophthongierung  und  der  Itazismus, 
hatten  ihre  Keime  in  verschiedenen  Mundarten.  Ähnliches  läßt  sich 
von  der  Tendenz  zu  Analogiebildungen  in  manchen  Fällen  der  Flexion 
sagen  (vgl.  die  Endung  -aav). 


182     Bericht  üb.  d.  Literatur  zar  Koine  a.  d.  Jahren  1 898-  1902.  (Witkowski.) 

Hätte  Kretschmer  seine  These  von  dem  Einflüsse  verschiedener 
Dialekte  in  ähnlichem  Sinne  formuliert,  so  wäre  wi>hl  die  Opposition 
gegen  sie  nicht  so  stark  gewesen.  Seine  ßehanptun^c,  die  Koiue  sei 
eine  bunte  Mischung  verschiedener  Dialekte,  mußte  Widerspruch  her- 
vorrufen, um  so  mehr  als  diese  Formulierung  den  Gedanken  an  einen 
mechanischen  Prozeß  nahelegt.  Seine  These  wäre  also  nach  meiner 
Ansicht  so  zu  modifizieren,  daß  wir  statt  eines  direkten  einen 
indirekten  Einfluß  anderer  Dialekte  zu  statuieren  haben.  Ich  will 
nicht  behaupten,  daß  alle  Erscheinungen  auf  diesem  Wege  zu  erklären 
seien:  manche  von  ihnen  kann  durch  direkte  Beeinflussung  in  Kietsch- 
merschem  Sinne,  andere  wieder  ausschließlich  durch  innere  Entwickelung 
entstanden  sein.  Einzeluntersuchungen  werden  uns  wohl  in  den  Stand 
setzen,  viele  dieser  Fragen  ziemlich  sicher  beantworten  zu  können.  Es 
müssen  bei  jeder  Erscheinung  die  Verhältnisse  untersucht  werden, 
unter  denen  sie  zum  erstenmal  erscheint,  also,  wann  und  wo  und  unter 
welchen  historischen  Verhältnissen  sie  zum  Vorschein  kommt,  ob  z.  ß. 
Vertreter  des  vei  mutlich  einwirkenden  Dialektes  in  der  Tat  auf  jenem 
Gebiete  sich  denken  oder  nachweisen  lassen,  wo  sich  der  Prozeß  voll- 
zogen zu  haben  scheint,  usw.  Zurzeit  ist  uns  die  Chronologie  und  die 
Geographie  der  Erscheinungen  zu  wenig  bekannt.  Wenn  wir  z.  B.  auf 
ägyptischen- Papyri  die  Schieibung  dTjjaupu  (—  -oü)  finden,  welche  Aus- 
sprache des  u  als  u  voraussetzt,  so  möchten  wir  gern  etwas  Näheres 
über  die  Herkunft  des  Schreibenden  wissen.  Ich  glaube,  man  wird  in 
Zukunft  in  unseren  Koinetexten  mehr  Dialektismen,  sei  es  direkte,  sei 
es  indirekte,  nachweisen,  als  man  heute  annimmt.  Ist  ja  selbst  Thumb, 
der  sich  gegen  die  Annahme  der  Dialektmischuug  in  der  ägyptischen 
Koine  sträubt  (S.  66),  gezwungen,  manche  E'scheinung  durch  solche 
Mischung  zu  erklären.  S.  194  schreibt  er:  „Wenn  daher  in  Ägypten 
und  im  hellenisierten  Kleinasien  bisweilen  ou  statt  o  (i)  begegnen,  so 
erklärt  sich  das  aus  der  Mischung  der  verschiedenen  grie- 
chischen Elemente,  welche  daselbst  zusammengekommen  sind." 
(Auch  bei  der  lufinitivenduug  -ev  statt  -eiv  der  herkulanensischeu 
Papyri  knüpft  er  an  die  Tafeln  von  Herakleia  an,  s.  unten.).  —  Thumb 
(8.  206)  piäzisiert  den  Grundsatz,  das  Attische  sei  die  Grundlage  der 
gesprochenen  Koine,  dahin,  daß  er  das  gesprochene  Attisch  als 
diese  Grundlage  ansieht.  Dieses  Attisch  kennen  wir  einigermaßen  aus 
Fluchtafeln  und  Vaseniuschriften.  Thumb  stellt  7  Erscheinungen  zu- 
sammen, die  sich  sowohl  in  dem  Vulgärattischen  als  in  der  Koine 
finden.  Hierher  gehören:  Vokalentfaltuug.  Silbendissimilation,  7tvo(x.a'., 
El  :  £  (ttXeov),  bpocpo?  st  tpo'po»  u.  dgl ,  Imperative  wie  dvotßa  st.  dvaßrjdi, 
die  Betonung  I8i  und  Xaße,  die  attisch  und  gemeingriechisch  ist  (vgl. 
♦das  Neugr.).    Gegen  Thumb  wendet  sich  mit  Recht  Kretachmer  (D.  L.  Z. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S98-10O2.  (Witkowski.)     ISo 

1901  Sp.  1051  f).  Er  führt  aus,  daß  diese  7  Erscheinunsen  nicht 
ausschließlich  attisch,  sondern  vielen  Dialekten  gemeinsam,  überhaupt 
keine  Dialektmerkmale  sind.  So  kommt  z.  B.  die  Silbendissimilation 
in  jedem  Dialekt  und  in  jeder  Sprache  vor.  —  Skeptisch  urteilt  darüber 
auch  Ed.  Sehwyzer  (N.  Jb.  1901  S.  246).  Von  den  7  Übereinstimmungen 
Thumbs  läßt  er  nur  ein  paar  Einzelheiten  gelten,  so  die  Betonung 
ioi:  zu  dieser  will  ich  aber  bemerken,  daß  sie  nicht  vnlgärattisch, 
sondern  allgemeinatiisch  ist  und  demnach  mit  dieser  Liste  nichts 
gemein  hat. 

Die  schriftliche   Koine. 

Die  oben  dargelegte  Meinungsverschiedenheit  in  bezug  auf  den 
Charakter  der  Koine  betrifft  die  gesprochene  Koine.  Was  die 
schriftliche  Koine  anbelangt,  stimmen  die  Ansichten  ziemlich  überein. 

Die  hellenistische  Literatur-  und  Schriftsprache  ist  kein  selb- 
ständis^es  und  in  sich  festes  Idiom  (Kretschmer,  Entst.  S.  36  f.).  Die 
Schriftsteller  der  hellenistischen  Zeit  schwankten  zwischen  der  lebendisen 
Gemeinsprache,  die  sie  um  sich  hörten  und  selbst  sprachen,  und  der 
toten  Sprache  der  attischen  Prosaliteratur,  die  sie  als  klassisch  ansahen 
und  die  schon  im  4.  Jhd.  zu  einer  allgemeinen  griechischen  Literatur- 
und  Schriftsprache  erhoben  worden  war.  Jeder  Schriftsteller  mischte 
nach  seiner  Bildung,  nach  der  literarischen  Tendenz  seines  Werkes  usw. 
in  das  Attische  mehr  oder  weniger  Elemente  aus  der  mündlichen  Koine. 
Die  schriftliche  Koine  ist  also  eine  Kompromißsprache, 
die  vom  reinen  Attisch  bis  zur  reinen  Umgangssprache  alle 
möglichen  Zwischenstufen  durchlief. 

Den  attischen  Charakter  der  schriftlichen  Koine  gibt  auch 
Kretschmer  ausdrücklich  zu.  Nacli  ihm  (D.  L.  Z.  1901,  Sp.  1049)  ist  sie 
„im  wesentlichen  nichts  Selbständiges,  sondern  ein  mit  mehr  oder 
weniger  Elementen  aus  der  Umgangssprache  versetztes  Attisch". 
„Allerdings  enthält  sie  auch  Bestandteile,  die  weder  aus  der  Umgangs- 
sprache noch  aus  dem  Attischen  stammen,  lexikalische  und  sj'ntaktische 
Neuerungen,  die  sie  selbständig  entwickelt  hat,  aber  diese  haben  mehr 
stilgeschichtliche  und  literarische  als  sprachgeschichtliche  Bedeutung.* 
Und  D.  L  Z.  1901  Sp.  1050  nennt  er  die  hellenistische  Schriftspraclie 
,ein  modifiziertes  Attisch". 

b)    Entstehang  der  Koine. 

Diese  Frage  ist  am  ausführlichsten  von  Thumb  und  von 
Kretschmer  behandelt  worden.  Der  betreffende  Abschnitt  bei  Thumb 
scheint  mir  nicht  zu  den  besten  Partien  seines  Weikes  zu  gehören,  so 
wie  überhaupt  die  Darlegung  der  geschichtlichen  Verhältnisse  in  seinem 


184     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S9S— 1902.  (Witkowski.) 

Buche  ziemlich  flüchtig  und  deshalb  wenig  befriedigend  ist.  Besser 
sind  die  Darlegungen  Kretschmers.  Doch  scheinen  mir  die  ansschlag- 
gebenden  Gesichtspunkte  bisher  überhaupt  nicht  mit  der  nötigen  Schärfe 
zur  Geltung  gebracht  worden  zu  sein. 

Um  die  Entstehung  der  Koine  zu  begreifen,  muß  man  den  ganzen 
Gang  der  griechischen  Staaten-  und  Kulturgeschichte  im  Auge  haben 
(W.  Schmid,  W.  f.  k.  Ph,  1901,  Sp.  398).  Die  geschichtlichen  Be- 
dingungen, unter  denen  die  Koine  entstand,  werden  von  Thumb  und 
Kretschmer  im  ganzen  übereinstimmend  geschildert.  Den  Keim  zur  Ent- 
stehung der  Koine  hat  nach  Thumb  der  erste  attische  Seebund  gelegt. 
Das  Attische  nahm  seit  dieser  Zeit  manches  fremde,  besonders  ionische 
Element  auf  und  umgekehrt  wirkte  es  auf  andere  Dialekte  ein.  In  den 
großen  Städten  Griechenlands,  namentlich  Athen,  und  in  den  Hafen- 
orten waren  die  Verhältnisse  der  Eatwickelung  einer  Mischsprache 
günstig.  Für  Athen  ist  diese  Mischsprache  durch  Ps.-Xenophon  bezeugt; 
seine  Angabe  bezieht  sich  nur  auf  die  athenische  Umgangssprache,  nicht 
auf  die  Literatursprache.  Auch  in  anderen  Handelsstädten  waren  die 
Verhältnisse  ähnlich.  Dieselbe  Dialektmischung  wie  auf  den  attischen 
beobachten  wir  auch  auf  den  sog.  chalkidischen  und  manchen  unter- 
italischen Vasen.  Besonders  in  den  sizilischen  und  unteritalischeu 
Kolonien,  wo  vielfach  Vertreter  verschiedener  Stämme  zusammenlebten 
(vgl.  Himera),  lagen  die  Verhältnisse  ähnlich. 

Die  Eutvvickelung  der  Keine  im  eigentlichen  Sinne  beginnt  mit 
der  "Weltpolitik  Alexanders.  Als  Sprache  der  neuen  Reiche  bot  sich 
dasjenige  Attisch  dar,  welches  im  Gebiet  des  ägäischen  Meeres  ge- 
sprochen wurde  und  durch  das  Ionische  hindurchgegangen  war  (Thumb 
S  238).  Das  Heer  und  die  Kolonisten  bedienten  sich  dieser  einheit- 
lichen Sprache.  Ihre  Tiäger  sind  auch  die  Juden,  besonders  in  Ägypten, 
wo  die  jüdische  Bevölkerung  von  Philen  auf  etwa  eine  Million  geschätzt 
wird.  Wie  hat  man  sich  nun  die  Umgangssprache  unter  der  mannig- 
faltig zusammengesetzten  Bevölkerung  der  neuen  Reiche  vorzustellen? 
Nach  Kretschmer  (S.  33)  mag  zuerst  wohl  jeder  seinen  heimischen 
Dialekt  beibehalten  und  höchstens  nach  und  nach  die  auffallendsten 
Eigentümlichkeiten  aufgegeben  haben.  Aber  schon  in  der  zweiten 
Generation  wird  diese  Abschleifung  beträchtlich  zugenommen  haben  und 
vollends  die  späteren  Generationen  mußten  den  Znsammenhang  mit  den 
Mutterdialekten  der  ersten  Generation  verlieren.  Ihre  Dialekte  flössen 
hier  in  einer  einzigen  Gemeinsprache  zusammen.  Kleinasien  und  Ägypten 
sind  also  der  Boden,  auf  welchem  die  Koine  ausgebildet  worden  ist. 
Hier  entwickelte  sich  die  Sprache  ungehemmt  und  daher  rascher  al» 
im  Mutterland,  wo  die  alten  Dialekte  eine  starke  Hemmung  bildeten 
(Thumb  S.  246). 


Bericht  üb.  d  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  189S  — 1902.  (Witkowski.)     J85 

Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  von  diesen  Ländern  Griechenland 
spSter  eine  Rückwirkung-  erfahren  hat  (Thnmb  S.  246).  Hatzidakis 
(G.  g.  A.  1899,  S.  r)09)  sucht  dies  zu  leugnen,  aber  mit  Unrecht. 
Nicht  nur  die  Kaufleute,  die  aus  Ag-ypten  und  Rhodos  nach  dem  Mutter- 
lande kamen,  niclit  nur  die  lömische  Kolonisation  von  Patrai  und 
Korinth,  die  auch  hellenistische  Kolonisten  zujjetührt  haben  wi»d,  nicht 
nur  attische  Besitzungen  im  ägäischeo  Meere,  olympische  und  ähnliche 
Feste,  sowie  anderes,  was  Thiimb  anfühi't,  sondern  vor  allem  war  es 
die  politische  Macht  Ägyptens,  die  diese  Rückwirkung  vermittelte, 
und  das  Streben  der  Ptolemäer,  sowie  anderer  hellenistischer  Fürsten, 
GriechenlaDd  in  ihre  Einflußsphäre  hineinzuziehen.  Unter  der  Ober- 
herrschaft der  Ptolemäer  standen  die  Kykladen,  Samothrake,  Samos; 
Itanos  auf  Kreta,  Thera  und  Arsinoe  im  Peloponnes  waren  Stützpunkte 
ihrer  Macht.  An  der  Spitze  dieser  Inseln  und  Städte  standen  Beamten 
der  Ptolemäer.  Es  wäre  interessant,  die  Sprache  dieser  piolemäischen 
Städte  auf  die  Spuren  äiJfyptischen  Einflusses  hin  zu  untersuchen. 

Die  verschiedenen  dialektischen  Formen  rangen  anfangs  in  der 
Koine  miteinander  um  die  Herrschaft.  Die  Ausgleichung  hat  sich  dann 
in  der  Weise  vollzoi^en,  daß  die  eine  den  Sieg  davontrug  (Thumb  S.  242, 
Kretschmer  S.  36).  Die  Grundsätze,  die  den  Sieg  bestimmten,  faßt 
Thumb  in  5  Thesen  zusammen: 

1.  Was  gemeinsamer  Besitz  des  Attischen  und  Ionischen  war,  ist 
nicht  angetastet  worden  (t];  -ouat,  -aat).  2.,  3.  Formen,  in  denen  das 
Attische  mit  den  übrigen  nichtionischen  Dialekten  übereinstimmte, 
tingen  den  Sieg  davon  (ä  nach  i  e  p),  ebenso  Formen,  in  denen  das 
Ionische  mit  den  übrigen  Dialekten  tibereinstimmte  (ats  statt  tt).  4.  Wo 
die  attische  und  ionische  Form  verschieden  waren  und  die  übiigea 
Dialekte  bald  mit  dem  einen,  bald  mit  dem  anderen  dieser  Dialekte 
übereinstimmten,  sind  beide  Formen  erhalten  (apsrjv  neben  &appiu),  oder 
5.  es  ist  in  diesem  Falle  eine  Kompromiß  form  entstanden  ([xueXoc 
u.  a.),  oder  endlich  trägt  den  Sieg  eine  dorische  usw.  Form  (gen. 
Daüjavia,  vaoc)  davon. 

Prütt  man  Th.s  Sätze,  so  zeigt  sich,  daß  die  These  von  dem 
Obsiegen  der  weit  verbreiteten  Formen  nicht  immer  zutrifft.  So  siegte 
1.  die  Deklination  ttoXsiu;  usw.,  nicht  koXio;,  2.  kontrahierte  Nomina 
finden  sich  in  der  Koine  neben  den  unkontrahierten  und  siegen  schließ- 
lich in  der  Mehrzalil  der  Fälle  über  die  offenen  Formen,  wie  das  Neu- 
griechische lehrt  (Kretschmer  S.  24),  3.  der  ionische  Akk.  sg.  der 
Feminina  auf  -cu  auf  -oüv  (att.  -o»)  ist  gemeingriechisch  geworde» 
(Mavvouv  usw.)  (Kretschmer  S  25),  4.  der  attische  finalkonsekutive  Gen. 
des  substantivierten  Infinitivs    ist  gemeingriechisch    (W.  Schmid,  W.  f. 


186     Beriebt  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  189S  — 1902.  (Witkowski.) 

k.  Ph.  1901,  Sp.  599  f ).     Eine  Prüfung    der  Thumbschen  Thesen  am 
Wortschatz  wäre  sehr  erwünscht. 

Bei  den  Darstellungen  der  Anfänge  der  Koine  werden  die  G-riechea 
zü  sehr  in  den  Vordergrund  gerückt.  Der  Ausgangspunkt  der 
Koine  ist  in  erster  Reihe  bei  den  Makedoniern  zu  suchen. 
Das  makedonische  Schwert  trägt  die  griechische  Spiache  und  Kultur 
in  die  neuen  Gebiete.  Griechische  Stämme  nelimen  Anteil  au  diesem 
Werke,  aber  die  Hauptträger  sind  die  Makedonier.  Das  Griechische 
wird  in  den  neuen  Reichen  zur  Staatssprache  deshalb,  v/eil  es  die 
Sprache  der  Eroberer,  der  Makedonier,  ist.  Die  griechische  olfizielle 
{Sprache  der  neuen  Länder  hat  im  Anfang  diejenige  Form,  die  ihr  die 
Makedonier  gegeben  haben,  d.  h.  diejenige  Form,  welche  sie  im  Munde 
der  Makedonier  hatte.  Das  Giiechische  im  Reiche  Alexanders  und  der 
Diadochen  ist  in  eister  Reihe  das  Griechisch  der  Makedonier. 
Die  Griechen  sind  dabei  mitbeteiligt,  aber  die  ausschlaggebende  Rolle 
spielen  nicht  sie,  sondern  die  Makedonier.  Wollen  wir  wissen,  wie  die 
Koine  in  ihren  Anfängen  aussah,  so  müssen  wir  fragen:  welche  Form 
•hatte  sie  in  Makedotiieu?  Seit  König  Archelaos  nimmt  Makedonien 
Anteil  an  der  griechischen  Kultur.  In  Makedonien  sind  der  König, 
der  Hof,  der  Adel  hellenisiert.  Für  die  Zeit  Philipps  und  Alexanders 
steht  das  fest.  Das  Volk  sprach  damals  wohl  noch  vorwiegend  make- 
iionisch,  aber  Griechisch  wurde  allgemein  verstanden.  Alexander  spricht 
zum  Heere  griechisch.  Dies  beweist  auch  der  Prozeß  des  Philotas. 
Philotas  verteidigt  sich  vor  dem  aus  Makedouieru  und  Griechen  be- 
stehenden Heere  in  giiechischer  Sprache;  sie  wurde  also  auch  von 
Makedoniern  verstanden.  Aber  nicht  nur  verstanden,  sondern  auch  ge- 
sprochen; dies  muß  man  daraus  schließen,  daß  im  2.  Jhd.  v.  Chr.  die 
Makedoüiei  beieits  hellenisiert  sind,  wie  dies  aus  Poiybios,  Strabon  und 
Livius  folgt.  Seit  Philipp  und  Alexander  schreibt  die  makedonische 
Kanzlei  attisch  (Wilamowitz,  Z.  f.  G.  W.  38,  1884,  S.  106  f.).  Es 
wird  aber  kein  reines  Attisch  gewesen  sein,  denn  Philipps  Vorgänger 
haben  ohne  Zweifel  Ionisch  geschrieben  (Wilamowitz  a.  a.  0,).  Auch 
das  Attisch  des  Hofes  und  des  Adels  in  Makedonien  kann  kein  reines 
Attisch  gewesen  sein;  es  wird  in  der  neuen  Heimat  manchen  Zug  ein- 
gebüßt, manchen  neuen  gewonnen  haben.  Es  war  stark  ionisch  ge- 
färbt; die  ionischen  Städte  an  der  makedonischen  Küste  spielten  in  dem 
Werke  der  Vermittlung  des  Griechischen  an  die  Makedonier  eine  wich- 
tige Rolle.  Ein  in  Olynth  gefundener  Vertrag  zwischen  König  Amyntas 
von  Makedonien  und  den  Chalkidiern  (zwischen  389  und  383  nach  Ditten- 
tierger  2,  77)  zeigt  \Lia[z  neben  cpiXiVjv,  Ma/oSoviij;  3uiJ.|jL[a-/i]rj;,  stsa,  TeXsa, 
^eXeovTaj,  tsXsousi  und  anderen  ionischen  Formen  (Thumb  S.  236),   Die 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898-1902.  (Witkowski.)     187 

iouische  F{}rbiing"des  makedonischen  Attisch  beweisen  viele  Inschriften. 
In  zwei  Briefen  des  Königs  Äntigonos  an  die  Teier  v.  J.  304  oder  303 
V.  Chr.  kommen  Formen  wie  teajapotv  und  xejtjepaxovTa,  ouvxajKo, 
Xepjo'vTjjov  vor,  also  louismen,  ferner  ^pa3&ai.  In  einer  Inschrift  des 
Kassandros  aus  gleicher  Zeit,  die  im  makedonischen  Küstenlande  ge- 
funden worden  ist,  erscheint  ebenfalls  aa  (dXXajjsjöat)  (Tlinmb  S.  238). 
Richtig  sagt  also  Thumb:  „Die  Sprache,  welche  .  .  .  Alexander  in  das 
Perserveich  und  nach  Ägypten  trug,  war  bereits  eine  -/oivr]  otaXexxos; 
sein  Heer,  in  welchem  Makedoneu  und  Hellenen  vereinigt  waren,  be- 
diente sich  .  .  .  der  griechischen  Sprache,  und  diese  kann  nichts  anderes 
als  die  Koivtq  gewesen  sein."  Nur  hätte  er  daraus  Koüseqnenzen  ziehen 
sollen.  Das  ionisch  gefärbte  Attisch  Alexanders,  seines  Hofes,  seiner 
Generale  upd  Oifiziere,  seiner  Kanzlei  ist  die  Grundlage,  auf  welcher 
sich  die  Koine  im  Orient  entwickelt.  Die  Griechen  verschiedener 
Stämme,  die  teils  als  Söldner,  teils  als  Kolonisten  in  Asien  und  Atrypten 
sich  ansiedeln,  helfen  dann  an  dem  weiteren  Ausbau  der  neuen  Sprache. 
Wenn  wir  in  dem  Eide,  den  die  Athener  336  Alexander  dem  Großen 
leisten,  ionische  Formen  finden  (ca  statt  tt),  so  ist  das  nicht  aus  den 
Verhältnissen  des  Attischen  zu  erklären,  sondern  es  liegt  darin  eine 
Akkommodation  au  die  Sprache  des  neuen  Herrschers.  Nur  dieser 
Gesichtspunkt  erklärt  uns,  warum  das  Ionische  in  der  Koine 
eine  so  wichtige  Rolle  spielt. 

Nicht  Griechenland,  sondern  Makedonien  ist  also  der 
Ausgangspunkt  der  Koine.  Kein  anderer  Dialekt  als  das  Attische 
konnte  die  Grundlage  der  neuen  Gemeinsprache  werden  und  das  Ionische 
mußte  in  der  neuen  Spiache  stärker  hervortreten  als  die  übrigen  Dialekte. 
Die  Entwicklung  des  Altischen  im  5.  und  4.  Jhd.,  also  das  attische 
Reich  des  5.  Jhd.  und  die  sprachlichen  Verhältnisse  der  Haudelsstädte, 
spielen  in  der  Entstehung  der  Koine  eine  untergeordnete  Rolle.  Da- 
gegen darf  man  die  Höfe  der  persischen  Satrapen  nicht  vergessen. 
Hier  finden  wir  in  ältester  Zeit  das  Ionische;  als  im  5.  Jhd.  Athen 
eine  politische  Macht  wird,  gewinnt  sein  Dialekt  Bedeutung  für  diese 
Höfe  ;  nach  dem  peloponnesischen  Kriege  macht  sich  dann  das  Dorische 
geltend.  Diese  Verhältnisse  haben  die  Entstehung  einer  Gemeinsprache 
im  Osten  begünstigt  (vgl.  Schwyzer,  Die  Weltsprachen  des  Altertums 
S,  17).  —  Ich  habe  diese  geschichtliche  Grundlage,  die  mir  in  den  bis- 
herigen Foischuugen  nicht  gebührend  zur  Geltung  gekommen  zu  sein 
scheint,*)  hier  nur  kurz  skizzieren  können.  Es  wird  mir  wohl  möglich 
sein,  meine  Ansicht  in  kurzer  Zeit  des  Näheren  zu  begründen. 


*)  Einige  richtige  Gedanken  enthält  der  III.  Band  der  Griechischen 
Geschichte  von  Beloch. 


188     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

Will  man  die  Entstehung  der  Koine  besjreifen,  so  muß  man  vor 
iillem  unsere  Denkmäler  der  zweiten  Hälfte  des  IV.  und  die  des 
TU.  Jhdts.  einer  eingehenden  Prüfung  unterziehen:  nicht  nur 
die  Inschriften  und  Papyri,  sondern  auch  die  literarische  Überlieferung: 
die  Fragmente  der  Historiker  usw.  Man  wird  dann  sehen,  wo  die  neuen 
Züge  der  Koine  zum  Vorschein  kommen  und  wie  sie  sich  allmählich 
ausbreiten.  Man  hört  immer,  daß  Ägypten  und  Kleinasien  in  besonders 
hebern  Grade  an  der  Entstehung  der  Koine  beteiligt  sind.  Ich  glaube, 
Syrien  spielt  eine  gleiche  Rolle  wie  diese  Länder.  Ja,  wer 
weiß,  ob  Syrien  nicht  wichtiger  gewesen  ist  ah  Ägypten,  denn  die 
Ptolemäer  wollten  nicht  hellenisieren,  aber  die  Seleukiden  haben  dies 
versucht.  Daß  uns  die  Koine  bei  Syrien  nicht  so  stark  in  die  Augen 
fällt,  liegt  daran,  daß  man  in  Syrien  so  wenig  schrieb.  Hätten  wir 
mehr  Inschriften  aus  diesem  Reiche,  so  würde  uns  die  Beteiligung 
Syriens  an  der  Herausbildung  der  Koine  handgreiflicher  werden.  Aber 
auch  aus  dem,  was  wir  haben,  ließe  sich  das  Bild  voller  gestalten. 


Über  die  Ausbreitung  der  griechischen  Sprache  in  unserer 
Periode  handelt  auch  Ed.  Schwyzers  akademische  Antrittsvorlesung 
,Die  Weltsprachen  des  Altertums  in  ihrer  geschichtlichen 
Stellung"  (Berlin  1902).  Schw.s  Absicht  war,  nur  einen  gemein- 
verständlich orientierenden  Überblick  über  das  weite  Gebiet  zu  geben 
und  diesen  Zweck  hat  er  vollkommen  erreicht.  Unter  einer  Weltsprache 
des  Altertums  versteht  er  nicht  etwa  ein  antikes  Volapük,  eine  künst- 
liche Sprache  —  diesen  Begriff  einer  Universalspracbe  suchen  wir  im 
Altertum  vergebens  — ,  sondern  solche  geschichtlichen  Sprachen, 
die  sich  über  andere  Sprachen  erhoben,  die  nationalen  Schranken  durch- 
brochen und  auch  außerhalb  ihres  Vaterlandes  in  weiteren  Kreisen  ge- 
sprochen oder  doch  verstanden  wurden,  also  etwas,  was  sich  dem  heutigen 
Worte  „Kultursprache"  nähert.  Aber,  obwohl  die  Grenzen  der  antiken 
Kultnrwelt  recht  eng  gewesen  sind,  da  sie  sich  auf  den  Kreis  der  ums 
Mittelmeer  gelegenen  Länder  im  wesentlichen  beschränken,  gab  es  nicht 
einmal  in  diesem  kleinen  Kreise  eine  Weltsprache,  sondern  deren  zwei, 
die  gleichtberechtigt  nebeneinander  standen.  Griechisch  und  Lateinisch. 
Noch  vor  dem  Griechischen  spielte  eine  Zeitlang  die  Rolle  einer  Welt- 
sprache in  gewissem  Sinne  das  Babylonische.  Es  war  die  Diplomaten- 
sprache der  damaligen  orientalischen  Welt. 

Mit  Alexander  d.  Gr.  wird  das  Griechische  zur  Weltsprache  des 
Ostens.  Diese  Gebietserweiterung  des  Griechischen  im  Orient  war  schon 
früher  vorbereitet:  schon  um  400  v.  Chr.  hatten  wenigstens  in  Klein - 
asien    manche     persische    Satrapen  an  ihren  Höfen  griechisches  Wesen 


Bericht  üb-  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  181)8  —  1902.  (Witkowski.)     189 

gepflegt.  Vf.  bespricht  hierauf  die  Ausbreitung  des  Griechischeo  im 
Osten.  Das  Weitere,  wie  inzwischen  im  Westen  allmählich  das  Latein 
zur  Weltsprache  wird,  wie  mit  der  Zeit  an  manchen  Punkten  ein  Kampf 
zwischen  den  beiden  Weltsprachen  beginnt,  gehört  nicht  iu  den  Bereich 
dieses  Berichtes. 


Mit  einem  Worte  will  ich  noch  hier  die  über  die  Koine  geäußerten 
Werturteile  berühren.  Es  war  bis  in  die  jüngste  Zeit  allgemein 
üblich,  die  Koine  als  'Entartung'  und  'Verfair  zu  kennzeichnen.  Gegen 
solche  Urteile  wird  von  Neueren  (wie  Thumb  S.  250  flf. ,  Wunderer, 
Polj'bios-Forschungen  I.S.  91)  mit  Recht  Protest  erhoben.  Man  betont,  daß 
der  Verlust  au  Formen  und  die  Beseitigung  älterer  syntaktischer 
Nuancierung  noch  lange  nicht  Minderung  an  Ausdrucksfäbigkeit  be- 
deutet; sonst  müßte  z.  B.  das  Englische  recht  abschätzig  beurteilt 
werden.  In  ihrem  Wortschatz  ist  die  Koine  nicht  verarmt,  vielmehr 
hat  sich  dieser  wesentlich  bereichert. 


4.    Der  Einfluss  nichtgriechischer  Völker  auf  die  Koine. 

Die  Frage  nach  dem  Einflüsse  fremder  Sprachen  auf  die  Koine 
ist  ein  noch  wenig  bearbeitetes  Gebiet  In  der  Beurteilung  dieses 
Einflusses  herrscht  unter  den  Forschem  eine  ziemlich  weitgehende 
Übereinstimmung.  Man  ist  darin  einig,  daß  dieser  Einfluß  kein  sehr 
großer  war. 

Thumb  widmet  dieser  Frage  das  IV.  Kapitel  seines  Buches. 
Ich  will  dessen  Inhalt  hier  skizzieren.  Von  allen  griechischen  Landen 
ist  am  giündlichsten  Kleinasien  hellenisiert  worden.  Mindestens 
in  der  Kaiserzeit  war  es  ein  ganz  griechisches  Land  mit  griechischer 
Kultur.  Die  Sprachen  der  einheimischen  Völker:  der  Lyder,  Phryger, 
Lykier,  Kappadokier  usw.,  sind  zwar  in  dieser  Zeit  nicht  ganz  ver- 
schwunden, spielen  aber  eine  höchst  bescheidene  Kolle.  Hieronymus  bezeugt 
noch  für  das  4.  Jhd.  das  Bestehen  des  Keltischen  unter  deu  Galatern; 
wie  gering  aber  derartige  Keste  gewesen  sein  müssen,  erhellt  aus  der 
Tatsache,  daß  sich  durch  die  türkische  Invasion  hindurch  keine  Spur 
der  alten  Spiachen  Kleinasiens  bis  zum  heutigen  Tag  gerettet  hat, 
während  in  Ägypten  trotz  der  arabischen  Überflutung  das  Koptische, 
in  Syrien  Reste  syrischer  Dialekte  sich  behauptet  haben.  Wenn  nun 
andererseits  das  Griechische  in  Syrien  und  Ägypten  völlig  ausgerottet 
worden  ist,  so  ist  das  ein  Maßstab  für  deren  geringe  Hellenisierung. 
Das  Griechische  war   hier    wohl    die  Sprache    der   städtischen  Kreise, 


190     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

während  auf  dem  Lande  sich  die  einheimischen  Mundarten  behaupteten. 
In  Syrien  war  das  griechische  Element  nach  Osten  zu  immer  spärlicher ; 
in  Mesopotamien  gibt  es  griechische  Inschriften  nur  in  geringer  Anzahl, 
In  Palästina  kann  von  einer  eigentlichen  Hellenisierung  kaum  die  Rede 
sein.  Griechische  Gemeinden  hat  es  im  jüdischen  Palästina  nicht  ge- 
geben. Die  Juden  lernten  das  Griechische  als  Verkehrs-  und  Handels- 
sprache, die  Gebildeten  machten  sich  mit  der  griechischen  Literatur 
bekannt,  behaupteten  aber  ihre  Muttersprache.  Daß  sich  jedoch  die  Juden 
dem  Kultureinfluß  des  Griechenturas  nicht  völlig  entziehen  konntea, 
beweisen  zahlreiche  griechische  Lehnwörter  der  rabbiuischen  Schriften. 
Sie  sind  durchaus  nicht  vorwiegend  gelehrter  Natur,  sondern  gehören 
großenteils  der  Umgangssprache  an.  Der  griechische  Einfluß  erstreckt 
sich  auf  alle  Gebiete,  mit  Ausnahme  der  Sphäre  des  Seelenlebens. 
Diese  Lehnwörter  sind  eine  nicht  zu  unterschätzende  Quelle  der  Koine, 
denn  sie  geben  uns  Aufschluß  über  Lautform  und  Wortschatz  des 
gleichzeifi'^en  gesprochenen  Griechisch.  Die  Schwierigkeit  für  ihre  Be- 
nützung besteht  darin,  daß  wir  bei  der  Lautform  nicht  immer  imstande 
sind  zu  sagen,  was  auf  die  Rechnung  der  Griechen  und  was  auf  die 
Rechnung  der  Semiten  zu  setzen  ist.      Über   diese  Lehnwörter  handelt 

*S>  Krauß,  Griechische  und  lateinische  Lehnwörter  im 
Talmud,  Mid rasch  und  Targum,  Mit  Bemerkungen  von  J.  Low. 
2  Bde.     Berlin  1898—99. 

(Ich  verweise  auf  die  Besprechung  des  1.  Bandes  durch  A.  Thumb  I. 
F.  1 1  (1901)  Anz.  S.  96—99  und  auf  die  kurze  Chaiakteristik  beider  Bände 
aus  der  Feder  desselben  Gelehrten  Archiv  f.  Pap.  2,  1903,  S.  406  f;  an 
letzterem  Orte  werden  auch  Besprechungen  des  Werkes  von  semitislischer 
Seite  genannt.)    Der  1.  Band  bringt  die  Resultate  für  die  Grammatik  und 
den  Wortschatz;    die  Einleitung   handelt  über  die  jüdisch-hellenistische 
Literatur  und  den  griechischen  Einfluß  in  Palästina.    Der  2.  Band  ist  ein 
Lexikon  der  Lehn-  und  Fremdwörter,  wozu  J.  Low  ein  kulturhistorisches 
Sachregister  gefügt    hat.     Nach  Thumb.    dessen  Besprechung  auch  die 
vorstehende  Inhaltsangabe  entnommen  ist,  ist  es  Krauß  nicht  gelungen, 
die  Grenze  zwischen  dem  griechischen  und  dem  semitischen  Auteil  richtig 
zu  ziehen,  so  nützlich  und  anerkennenswert  die  geleistete  Arbeit  auch 
ist.    Von  seniitistischer  Seite  wird  gegenüber  den  Etymologien  des  Vf.  zur 
"Vorsicht  gemahnt  und  die  Transskription  besonders  der  Vokale  tür   un- 
zuverlässig   gehalten.     Berichtigungen    und  Nachträge   bringen  die  ge- 
nannten Rezensionen.    Krauß  glaubt  in  den  griechischen  Elementen  der 
rabbinischeu    Sprache    spezielle    (lautliche    und    formale)    Züge     einer 
palästinischen  oder  rabbiuischen  Gräzität  zu  erkennen,  diese  Züge  sind 
jedoch  nichts  anderes  als  die  bekannten  Züge  der  Koine,    wie  sie  uns 
aus    Ägypten    und    Asien    bekannt    ist.     Höchstens    könnte    man    nach 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  189S- 1902.  (Witkowski.)     19 1 

Thumb  (a.  a.  0.)  in  semasiologischer  Hinsicht  etwas  wie  Judengriechisch 
vermuten. 

Eine  wichtige  kritische  Ereräüznng  zu  Krauß  bildet 

*A.  Schlatter,  Verkanntes  Griechisch.  Beiträge  zur  Förde- 
Tung  christlicher  Theologie,  4  (1900).  S.  49—84.  Eine  Reihe  von  Krauß' 
Lesungen  werden  hier  verwoifen  und  meistens  durch  bessere  ersetzt, 
die  sich  enger  an  den  überlieferten  Text  anschließen.  Doch  verfährt 
8chlat,ter  nicht  immer  ohne  eine  gewisse  Gewaltsamkeit.  (Thumb  Ärch, 
2.    S.  407.     VirL  Deißmann,  Th.  Rundsch.  5,  1902,  S.   63.) 

Eine  viel  reinere  Quelle  bieten  die  in  den  semitischen  Inschriften 
erhaltenen  griechischen  Lehnwörter,  denn  sie  sind  nicht  wie  die  Lehn- 
wörter der  gedruckten  Texte  durch  eine  lange  handschriftliche  Über- 
lieferung hindurchgegangen.     Bei 

M.    Lidzbarski,    Handbuch    der    uordsemitischen    Epi- 
graphik.     2  Teile.     Weimar  1898 
findet  man  in  der  Zusammenstellung  des  Wortschatzes    der  Inschriften 
auch  diese  Lehnwörter. 

Ich  kehre  zur  Besprechung  des  fremden  Einflusses  auf  die  Koine 
zurück.  Ägypten  wird  zu  einem  Mittelpunkt  der  gesamten  helle- 
nistischen Kulturwelt.  *)  Die  Ptolemäer  streben  jedoch  nicht  danach» 
das  Land  zu  helleuisieren.  Dies  versuchen  in  Syrien  die  Seleukiden, 
aber  auch  Syrien  ist  nur  an  der  Oberfläche  hellenisiert  worden.  Helle« 
nisiert  sind  nur  Kleinasien,  Thrakien  und  Makedonien. 

Was  nun  den  Einfluß  dieser  fremden  Völker  auf  das  Griechische 
anbelangt,  so  erlangt  man  am  raschesten  Klarheit  über  die  Fremd-  und 
Lehnwörter,  also  über  den  Wortschatz.  Es  fehlen  hier  noch  mono- 
graphische Behandlungen.  Die  im  J.  1895  erschienene  Arbeit  von 
H.  Lewy,  Die  semitischen  Fremdwörter  im  Griechischen,  läßt  nach 
Thumbs  Urteil  an  Methode  und  Kritik  viel  zu  wünschen  übrig.**)    Im 


*)  Von  dem  Werke:  ApostolidesB.,  Essai  sur  rbellenisme  egyptien 
et  ses  rapports  avcc  rbellenisme  classique  et  Thellenisme  moderne,  ist 
bisher  Tome  I.  L'bellenisme  sous  l'ancien  et  le  moyen  empire.  Fase.  1-3 
(Paris  1898-9)  erschienen.  Vf.,  ein  abwechselnd  in  Ägypten  und  Paris 
lebender  Arzt,  will  in  diesem  Werke  eine  ausfübrliche  Geschichte  der  Be- 
ziehung Ägyptens  zu  den  Hellenen  von  der  frühesten  Vorzeit  an  entwerfen 
und  den  grüßen  Einfluß  der  Griechen  zeigen.  Fase.  3  schließt  mit  dem 
Eüde  der  8.  Dynastie.  (Vgl.  Rezens.  von  A.  Wiedemann  W.  f.  k.  Ph.  1900 
Sp.  369  ff.). 

**)  J.  Levy,  Sur  quelques  noms  semitiques  de  plantes  en 
Grece  et  en  Egypte  (Revue  arcLeol.  36,  1900,  S.  334-344)  handelt  über: 
1.  cii?.«p>.',v  (=•-  assyr.  sallapaau),  2.  \w-pQrj.(A:,  (syrisch),  3.  ac<3Z3Tov  (semit.),. 
4.  abujv  (=  aram.  sisana;. 


192     Bericht  üb.  d  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S9S  — 1902.  (Witkowski.) 

allgemeinen  läßt  sich  sa^eu,  daß  dieZahl  der  Fremdwörter  im  Griechischen, 
die  vor  Alexander  nicht  groß  war,  in  dieser  Periode  größer,  aber  doch 
im  wesentlichen  eine  mäßige  geblieben  ist  von  einer  Überflutung  durch 
semitische  oder  ägyptische  Wörter  kann  nicht  die  Rede  sein.  Die 
Namen  der  staatlichen  und  militärischen  Ordnung,  des  Kultus,  der 
Münzen,  Maße  und  Gewichte,  der  Gebrauchsgegenstände  des  täglichen 
Lebens  sind  griechisch  wie  zuvor.  Nur  solche  AVaren,  Produkte  und 
Einrichtungen,  welche  Handel  und  Verkehr  als  Fremdes  ins  Land 
brachten,  tragen  fremde  Namen.  Stets  sind  es  aber  rein  materielle 
Dinge.  Diese  Verhältnisse  lassen  sich  am  besten  an  der  Hand  der 
Papyri  abschätzen,  denn  diese  bieten  mit  ihren  Rechnungen,  Quittungen, 
Briefen  usw.  Gegenstände  und  Wörter  des  täglichen  Lebens.  Nur  die 
Datierung  cach  ägyptischen  Monatsnamen  und  die  Eigennamen  erinnern 
uns  an  Ägypten;  ein  ägyptisches  nomen  appellativum  ist  sehr  selten. 
Die  von  Glossatoren  ganz  im  allgemeinen  bezeugten  Fremdwörter  dürfen 
nicht,  wie  Thumb  (S.  110)  mit  Recht  mahnt,  auf  das  Konto  der  Koine 
gesetzt  werden,  einmal  weil  ihr  Alter  nicht  bestimmt  ist,  dann  weil 
sie  als  „Glossen"  gar  keine  griechischen  Lehnwörter  zu  sein  brauchen, 
besonders  wenn  sie  aus  ursprünglich  uichtgriechischen  Gegenden  belegt 
werden.  Wenn  andererseits  manche  Wörter  erst  z.  B.  in  uatur- 
historischen  Schriften  jüngerer  Zeit  vorkommen,  so  dürfen  wir  daraus 
nicht  schließen,  daß  jene  Worte  erst  in  jüngerer  Zeit  aufgekommen 
seien:  in  älterer  Zeit  war  einfach  keine  Gelegenheit  zu  ihrer  Mitteilung 
geboten.  Die  Koine-Schrit'tsteller,  welche  aus  Ägypten  stammen,  ver- 
halten sich  den  fremden  Elementen  gegenüber  ungefähr  wie  die  Verfasser 
der  Papyri  (Thumb  S.  117).  Auch  in  Kleiuasien  scheinen  die  ein- 
heimischen Sprachen  den  Wortschatz  der  griechischen  losch  ritten  nur 
unmerklich  beeinflußt  zu  haben. 

Was  die  Syntax  betrifit,  so  ist  eine  Einwirkung  fremder  Sprachen 
auf  die  Koine  in  unseren  Texten  bis  j'itzt  kaum  nachweisbar  (über  die 
Semitismeu  der  biblischen  Griidtät  rede  ich  in  einem  besonderen  Kapitel), 
zum  Teil  wohl  deshalb  ,  weil  sich  spontane  Entwickelung  und  fremder 
Einfluß  schwer  trennen  lassen.  Thumb  (S.  132)  nimmt  jedoch  an,  daß 
fremde  syntaktische  Färbung  der  vulgären  Koine  in  Äg3^pten  und  Klein- 
asien sicher  bestanden  hat.  Färbung  der  vulgären  Koine  im  Munde 
der  Einheimischen,  möchte  ich  hinzufügen;  denn  im  Munde  der  Griechen 
hat  die  Koine  schwerlich  diese  Färbung  gehabt. 

Ziemlich  weit  gehen  dagegen  manche  Forscher  in  der  Annahme 
fremden  Einflusses  auf  das  Lautsystem  der  Koine  und  demnach  auf 
ihren  grammatischen  Bau.  Ein  solcher  Einfluß  ist  meines  Erachtens 
von  vornherein  nicht  auszuschließen,  doch  muß  mau  in  seiner  Annahme 
sehr  vorsichtig  sein,  da  es  sich  hier  um  Sprachen  von  grundverschiedenem 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koinc  a.  d.  Jahnen  ] 898-1902.  (Witkowski.)     193 

Bau  handelt.  Das  Ruthenische  übt  auf  die  polnische  Sprache  unterer 
Schichten  in  Ostgalizien  iu  lautlicher,  ja  sogar  uiorpliologischer  Hinsicht 
einen  Einfluß,  aber  in  diesem  Falle  handelt  es  sich  um  einander  nahe- 
stehende Sprachen.  Dagegen  läßt  sich  ein  ähnlicher  Einfluß  des 
Deutschen  auf  das  Polnische  nicht  beobachten.  Daß  die  griechischen 
Laute  im  Munde  eines  Ägypters,  Syrers  oder  Kleinasiaten  einen  anderen 
•Charakter  hatten  als  im  Munde  eines  geborenen  Griechen,  ist  zuzugeben. 
Handelt  es  sich  dagegen  um  die  Aussprache  geborener  Griechen,  so 
ist  ein  solcher  Einfluß  fremden  Idioms  denkbar  in  Ländern,  wo  die 
Einheimischen  völlig  helleuisiert  sind.  Hier  erfolgt  mit  der  Zeit  Aus- 
gleichung der  Aussprache.  Wo  dagegen  die  Einheimischen  fortfahren 
ihre  Sprache  zu  sprechen,  wie  es  in  Asypten  oder  Syrien  der  Fall  ist, 
dort  kann  von  einem  Einflüsse  der  fremden  Sprache  auf  das  Lautsystem 
geborener  Griechen  nur  ausnahmsweise  die  Rede  sein.  Und  auch  bei 
dieser  Beschränkung  kann  es  sich  nur  um  einen  Einfluß  auf  die  Sprache 
■der  unteren  griechischen  Schichten  handeln;  die  Aussprache  der  ge- 
bildeten Griechen  und  Makedonier  unterlag  diesem  Einflüsse  nicht, 
nichtig  ist  der  methodische  Grundsatz  Thnmbs  (3.  26),  wonach  die 
Verbreitung  des  Vorkommens  von  Sprachvorgäugeu  am  sichersten  ent- 
scheidet,  ob  es  sich  um  echtgriechische  Vorgänge  handelt. 

Eine  ziemlich  weitgehende  Beeinflussung  der  Koine  Ägyptens 
und  Klein asiens  nimmt  Thumb  an.  Ahnlicher  Ansicht  ist  Kretschmer 
(W.  f.  k.  Ph.  1899  Sp.  2,  vgl.  auch  Sp.  4). 

Am  nächsten  liegt  es,  fremden  Einfluß  bei  der  besonders  in  Ägypten 
häutigen  Verwechslung  von  Media,  Tennis  und  Aspirata  an- 
zunehmen. (Es  fragt  sich,  ob  sich  nachweisen  läßt,  daß  unter  den 
Schreibern,  bei  denen  diese  Verwechslung  vorkommt,  sich  auch  Griechen 
befinden  V).  Xun  wissen  wir,  daß  das  Koptische  kein  d  besitzt.  Auch 
g  kommt  im  Koptischen  nur  in  griechischen  Wörtern  vor.  Tenues 
und  Mediae  wurden  also  von  dem  Ägypter  nicht  oder  nur  schwer  aus- 
einandergehalten. Die  Verwechslung  von  Tennis  und  Media  ließe  sich 
somit  erklären.  Es  werden  aber  in  der  ägyptischen  Koine  Tenues  auch 
mit  Aspiraten  verwechselt.  Hier  ist  die  Erklärung  schwieriger,  weil 
das  Demotische  Aspiraten  besitzt.  Thumb  nimmt  Zuflucht  zu  der 
Annahme,  daß  die  griechischen  und  die  ägyptischen  Aspiraten  sich  nicht 
vollständig  deckten.  Die  Schwierigkeit  liegt  darin,  daß  diese  Ver- 
wechslungen nicht  allein  in  Ägypten,  sondern  auch  in  Kleinasien  belegt 
sind.  Um  die  Erklärung  aus  dem  fremden  Einflüsse  zu  retten,  wird 
angenommen,  daß  das  kleinasiatische  Lautsystera  diese  Laute  ebenso- 
wenig schied  wie  das  ägyptische.  Dieses  kleinasiatische  System  ist  uns 
unbekannt,  und  deshalb  läßt  sich  sein  Einfluß  auf  das  Griechische  nichts 
nachweisen. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1004.    I.)  13 


194      Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

Viel  hypothetischer  ist  der  fremde  Einfluß  bei  zwei  anderen  Er- 
scheinungen des  Konsonantismus:  bei  dem  Schwunde  des  intervokalischen 
7  und  bei  der  Nasalentwickelung  vor  Explosivlaut  (z.  B.  ISafißaTi;  st. 
2aßßaTt;,  "Avöpajxu?  St.  "Aopap-u?).  Beide  Erscheinungen  sind  noch  nicht 
genügend  erklärt.  (Vgl.  Hatzidakis  G.  g.  A.  1899  S.  514.).  Einen  be- 
achtenswerten Versuch,  die  Nasalentwickelung  zu  erklären,  findet  man 
bei  Thumb  (Griech.  Spr.  S.  135  ff.).  Hatzidakis  hält  Formen  mit  [t^ 
für  Barbarismen  (G.  g.  A.  1899,  S.  510). 

Über  den  Einfluß  des  ägyptischen  Lautsystems  auf  die  Koine 
handelt  Thumb  in  dem  Aufsatz: 

Zur  Aussprache   des  Griechischen    (I.  F.  8,    1898,  S.  188 
—197).*) 

Auf  dem  Gebiete  des  Vokalismns  vermutet  man  bei  einigen  Er- 
scheinungen ebenfalls  fremden  Einfluß.  So  denkt  man  beim  Wandel 
eines  betonten  a  in  e  (z.  B.  [xsXtcjTa  =  iJ-aXiaia)  an  ägyptischen  Einfluß. 
Die  Verwechslung  von  i  und  s  (z.  B.  7i7ovic=7£7ovec)  erklären  Kretschmer 
and  Thumb  aus  kkinasiatischer  autochthoner  Aussprache,  wobei 
Kretschmer  richtig  bemerkt,  daß  es  sich  in  diesen  Fällen  lediglich  um 
barbarische  Sprachfehler  handelt.  Ahnliche  Erscheinungen  in  Ägypten 
erklärt  Thumb  aus  der  einheimischen  Aussprache,  die  ein  langes  i,  aber 
kein  kurzes  i  kannte.  Da  jedoch  nach  den  Papyri  der  Unterschied 
zwischen  i  und  i  in  Ägypten  bereits  in  der  ersten  Hälfte  des  3.  Jhd. 
V.  Chr.  verwischt  erscheint,  so  brauchten  sich  die  Autochthonen  um 
diesen  Unterschied  nicht  zu  kümmern  —  sprachen  sie  griechisches  I  wie 
I  aus,  so  konnten  sie  auch  griechisches  1  ebenso  aussprechen,  da  beide 
Laute  im  Griechischen  ähnlich  klangen  —  und  demnach  halte  ich  diese 
Erklärung  für  hinfällig,  u  wird  in  Kleinasien  und  Ägypten  mit  i  ver- 
wechselt. Hierin  will  man  einen  Einfluß  des  Kleinasiatischea  (Phry- 
gischen)  sehen.  Thumbs  Ausführungen  scheinen  mir  auf  sehr  unsichere 
Grundlagen  aufgebaut  zu  sein.  Auch  für  die  Ausgleichung  der  Vokal- 
quantität sucht  man  den  Ausgangspunkt  in  Kleinasien.  Noch  unsicherer 
als  dies  ist  die  Annahme,  daß  die  Vereinfachung  der  Langdiphthonge 
ai,  iDi  mit  dem  Phrygischen  zusammenhängt.  —  Viel  behandelt  wurde 
die  Prothese  eines  i  vor  a  impurura:  ioty^Xtj  usw.  Gegen  Thumbs  An- 
nahme, der  hierin  den  Einfluß  des  Phrygischen  sieht,  erheben  Einspruch: 


*)  Außer  dem  bereits  Erwähnten  führe  ich  aus  diesem  Aufsatze 
folgendes  an:  Im  2.  Jhd.  n.  Chr.  besaß  das  Koptische  echte  Aspiraten 
(ph,  kh),  im  Griech.  war  der  Hauch  schwächer  (p  k).  «^  und  o  sind  vor  i 
durcli  ts  (nts)  transskiibiert,  also  spirantisch.  (Klang  es  nicht -=  ts,  resp. 
dz  ?).  r,  ist  noch  nicht  -=  i,  ai  mit  sonstigem  i  noch  nicht  vollständig  zu- 
sammengefallen,    'j   ist  =  ü   oder  iu. 


Beriebt  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     195 

Schweizer,  W.  Schmid  (W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  60-2)  und  John 
Schmitt  (I.  F.  12,  1901  Anz.  S.  73  ff.).  Letzterer  hält  die  Möglich- 
keit einer  spontanen  Entwickelnng  nicht  für  ausgeschlossen.  Daneben 
denkt  er  an  analogische  und  lautliche  Ursachen.  Das  häufige  Vor- 
kommen des  i  auf  phrygischen  Inschriften  ist  nach  ihm  noch  kein 
zwingender  Grund,  um  die  Prothese  auf  fremde  Einflüsse  zurückzuführen. 

Thumb  (S.  147  ff.)  untersucht  auch  das  Fortleben  dieser  „fremden 
Einflüsse"  im  Neugriechischen.  Er  findet,  daß  der  ägyptische  Einfluß 
vorübergehend  war.  Die  Verwechslung  von  Tennis,  Media  und  Aspirata 
hat  im  Neugriechischen  keine  Spuren  hinterlassen,  noch  weniger  andere 
Erscheinungen.  Einen  Zusammenhang  zwischen  der  Nasalentwickelung 
vor  Kousonans  in  der  Koine  und  im  Neugriechischen  hält  auch  Thumb 
für  ganz  unsicher.  Ahnliches  ist  zu  sagen  von  dem  Wechsel  zwischen 
e  und  i.  Den  Einfluß  Kleinasiens  sieht  Thumb  in  dem  Wandel  von 
Nasal  -+-  Tennis  in  Nasal  -^  Media  und  möglicherweise  auch  in  anderen 
Erscheinungen  (u :  i,  Quantitätsverschiebung).  Kleinasien  spielt  nach  ihm 
in  bezug  auf  die  Beeinflnssung  der  Koine  eine  wichtige  Rolle,  was  er 
damit  erklärt,  daß  hier  das  griechische  und  einheimische  Element  ver- 
schmolz. Bezüglich  dieser  Einflüsse  sieht  er  eine  Parallele  in  dem  Ver- 
halten des  Lateins  zu  den  Sprachen    roraanisierter  Länder. 

Was  das  Latein  betrifft,  so  kann  von  einer  eingreifenden  gram- 
matischen Beeinflussung  des  Griechischen  durch  das  Latein  keine  Rede 
sein.  *)  Eine  tiefergehende  Einwirkung  des  Lateinischen  sieht  Thumb  nach 
dem  Vorgange  von  Hatzidakis  in  den  Eigennamen  und  Nomina  agentis 
auf  -t?,  -tv  statt  -10?,  -tov,  welche  etwa  seit  Beginn  unserer  Zeitrechnung* 
auftreten.  Die  Herleitung  dieser  Erscheinung  aus  dem  Latein  scheint 
mir  bedenklich  zu  sein.  Wenn  'louXt?,  Aup»^Xi?  aus  den  Vokativformen 
luli,  Aureli  entstanden  sind,  wenn  es  sich  also  zunächst  nur  um  Eigen- 
namen handelt,  wie  erklärt  sich  dann  die  Tatsache,  daß  die  Formen 
auf  -t?  auf  Kosten  derer  auf  -lo?  zu  einer  so  außerordentlich  weiten 
Verbreitung  gelangen?  (John  Schmitt  a.  a.  0.  S.  77).  Die  Neutra 
auf  -tv  (=  -tov)  weiß  ja  auch  Thumb  nicht  zu  erklären.  In  der  Auf- 
nahme lateinischer  Lehnwörter  unterscheidt-t  Thumb  drei  Perioden: 
die  Zeit  der  Republik,  die  Kaiserzeit  bis  Konstantin,  die  frühbyzan- 
tinische Epoche  bis  Justinian,  wo  der  Höhepunkt  eireicht  ist.  Die 
völlige  Einbürgerung  lateinischer  Elemente  wird  durch  die  überaus 
stattliche  Zahl  von  lateinischen  Lehnwörtern  des  Neugriechischen  er- 
wiesen.   Es  sind  dies  außer  Begriffen  des  Heerwesens  und  der  Bureau- 


*)  Von  der  Zurückhaltung,  mit  der  die  Griechen  allzeit  der  römischen 
Sprache  und  Literatur  gegenüberstanden,  spricht  Norden  Antike  Kunst- 
piosa  L  S.  60  und  0.  Crusius  Philol.  62  (1903)  S.  133  ff. 

13* 


196     Berichtüb.d.  Literatur  zur  Koinea.d.  Jahren  1898-1002.  (Witkowski.) 

kratie  namentlich  Begriffe  des  täglichen  Lebens.  Lateinische  Lehn- 
wörter des  Griechisclieu  sind  noch  wenig  untersucht.  Auf  dem  Gebiete 
der  Papyri  ist  der  lateinische  Einfluß  untersucht  durch 

K.  Wessely,  Die  lateinischen  Elemente  in  der  Gräzität 
der  ägyptischen  Papyrusurkunden.  (Wien.  Stud.  24,  1902, 
S.  99—151.) 

Der  lateinische  Einfluß  zeigt  sich  hier  erst  in  den  nachchristlichen 
Jahrhunderten.  Vor  Chr.  Geb.  kommen  lateinische  Eigennamen  in  den 
Papyri  nur  ganz  vereinzelt  vor. 

5.    Dialektische  DiiTerenzierung  der  Koinc. 

Daß  die  Keine  in  lexikalischer  Beziehung  lokal  differenziert 
war,  wird  ziemlich  allgemein  zugegeben.*)  Eine  Differenzierung  des 
Laut-  und  Formenbestandes,  von  "W.  Schmid  (W.  f.  k.  Ph.  1899, 
Sp.  549)  so  gut  wie  bestritten**) ,  wurde  als  denkbar  bezeichnet 
von  Deißmann  (Realenc.  f.  prot.  Theol.  VII  [1899]  S.  633  f.),  von 
Hatzidakis  (*nept  t9jc  Tcor/.iXyjS  uapaooaeco?  t^c  eXXrjvtx^;  YXcodUY)?. 
'AOY)va  11,  1899,  S.  389—393)  und  von  Kretscbmer  (W.  f.  k.  Ph. 
1898,  Sp.  738);  der  zuletzt  genannte  Gelehrte  gibt  sie  in  seiner  späteren 
Schrift  ,,Die  Entstehung  der  Koine"  S.  35  f.  ausdrücklich  zu,***)  indem 
er  manche  dialektischen  Unterschiede  bis  in  die  Anfänge  der  Koin 
zurückreichen  läßt  (z.  B.  offene  Ansprache  des  yj  neben  geschlossener, 
Aspiration  neben  Psilosis,  oXoc  :  ou>.oc  usw.).  Eingehend  haben  diese 
Frage  behandelt  Thunib  im  5.  Kapitel  seines  Buches,  nachdem  er  sie 
schon  früher  kurz  gestreift  hatte  (Zur  Aussprache  des  Griechischen, 
L  F.  8,  1898,  S.  195  f),  und  K.  Dieterich  in  den  'Untersuchungen', 
über  die  später  berichtet  werden  soll. 

Daß  eine  Sprache,  die  über  ein  so  weites  Gebiet  verbreitet  war 
und  von  so  mannigfachen  Elementen  gesprochen  wurde,  kaum  einheitlich 
sein  konnte,  ist  von  vornherein  anzunehmen.  Es  fragt  sich  nun,  in 
welcher  Periode  der  Koine  an  eine  solche  Dialektspaltung  gedacht 
werden  kann,  Thumb  meint  (S.  163):  „Solange  die  alten  Dialekte 
noch  neben  der  Koiw^  bestanden  haben,   ist  diese  überhaupt  noch  nicht 

*)  Einen  Versuch,  die  Erscheinungen  der  Koine  geographisch  zu 
fixieren,  besonders  das  ägyptische  und  kleinasiaüsclie  Griechisch  ausein- 
anderzuhalten, unternahm  schon  im  J.  1892  K.  Buresch  Philol.  51 
S.   84—112. 

**)  Er  redet  von  der  erstaunlichen  Einheitlichkeit  der  x.o'./v;,  welche 
sich  in  allen  Gebieten  des  weiten  hellenistischen  Kulturbereiches  offenbare 
(W.  f.  k.  Ph.  1899,  Sp.  549). 

***)  Ähnlich  urteilen  andere,  z.  B.  Hirt  I.  V.  8,  1898  Anz.  S.  58. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     197 

fertig,  imd  es  hat  keinen  Sinn,  nach  'Dialekten  jener  Sprachforni  zu 
fragen,  die  als  werdende  Gemeinsprache  neben  den  alten  Mundarten 
stand  .  .  ."  ,,erst  nach  dem  Abschluß  dieses  Amalgaraierungsprozesses 
and  nach  dem  Absterben  der  alten  Dialekte  .  .  .  kann  es  sicli  um  einen 
Znstand  der  Koivn^  handeln,  welcher  der  Frage  nach  mundartlicher  Diffe- 
renzierung: Berechtigung  verleiht.  Nach  unseren  Ausführungen  über  das 
Schwinden  der  alten  Dialekte  ist  der  postulierte  Zustand  im  wesentlichen 
in  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten,  für  einzelne  helleuisierte  Länder 
(wie  Ägypten)  schon  zwei  bis  drei  Jahrhunderte  vor  Beginn  unserer 
Zeitrechnung  eingetreten."  S.  24  sagt  er,  daß  die  Koine  sicher  schon 
gegen  Ende  des  Altertums  differenziert  war.  In  ähnlichem  Sinne  äußerte 
sich  schon  früher  K.  Dieterich  (Untersuch.  S.  XVI):  ,,Denn  wie 
konnten  zu  einer  Zeit,  wo  die  alten  Dialekte  sich  auflösten,  schon  wieder 
neue  da  sein?"  So,  wie  Dieterich  und  Thumb,  Inöchte  ich  die  Frage 
nicht  stellen.  Thumb  nimmt  ja  selbst  nach  dem  Vorgang  Kretschmers 
an,  daß  es  in  der  Koine  von  Anfang  an  ein  doppeltes  e  gab.  Es  ist 
von  vornherein  keineswegs  ausgeschlossen,  daß  die  Koine  schon  in  ihren 
Anfängen  dialektische  Unterschiede  aufwies.  Um  die  Frage  zu  beant- 
worten, beginnt  man  am  besten  vom  Ende,  vom  Neugriechischen.  Das 
Neugriechische  zeigt  eine  starke  Dialektspaltung.  Wann  ist  sie  ent- 
standen? Die  Antwort  ist  schwierig,  weil  es  Dialekttexte  erst  aus  der 
zweiten  Hälfte  des  Mittelalters  und  dazu  nur  in  spärlicher  Zahl  gibt. 
Nun  haben  sich  die  neugriechischen  Dialekte  Unteritaliens,  die  mit  süd- 
griechischen Dialekten  verwandt  sind,  vor  dem  11.  Jhd.  von  dem 
Mutterstamme  abgetrennt.  Die  neugriechischen  Dialekte  haben  also 
vor  dem  11.  Jhd.  existieit.  Auch  der  kappadokische  Dialekt  hat  sich 
vor  dem  Jahre  1000  losgelöst.  Da  nun  die  um  das  Jahr  1000  vor- 
handene Dialektspaltung  nach  Thumb  kaum  erst  in  2 — 3  Jahrhunderten 
entstanden  sein  kann,  so  müssen  Keime  der  Dialektspaltung  schon  im 
Verlauf  des  1.  bis  5.  Jhd.  existiert  haben.  Eine  Bemerkung  des 
Strabon,  daß  man  von  Stadt  zu  Stadt  verschieden  spreche,  bezieht  Th. 
auf  die  Koine.  Letzteres  glaube  ich  nicht.  Die  Differenzen  der  Koine 
konnten  in  den  einzelnen  Städten  nicht  so  stark  sein.  Strabons  Worte 
beziehen  sich  auf  die  alten  Dialekte.  Thumb  nimmt  m  den  ersten  Jahr- 
hunderten nach  Chr.  fünf  Sprachkreise  an:  einen  ägyptischen,  einen  klein- 
asiatischen, und  im  Mutterlande  eine  ionisierende  Koine  (im  Macht- 
bereich der  lonier),  eine  dorisierende  (im  Gebiet  der  dorischen  Inseln, 
des  Peloponnes  sowie  des  ätolischen  und  achäischen  Bundes),  endlich 
einen  attischen  Sprachkreis.  Wohl  mit  Recht  nennt  W.  Schmid 
(W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  600)  diese  Annahme  problematisch.  Skeptisch 
urteilt  darüber  auch  Ed.  Schwyzer  N.  Jb.  1901,  S.  244.  Und 
vollends  die  Vermutung  Thumbs,    die  fünf  Dialekte,    die  der  Triumvir 


198     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koinea.  d.  Jahren  1898 — 1902.  (Witkowski.) 

Crassns  nach  Qaintilian  (11,  2,  50)  beherrscht  haben  soll,  seien  jene 
Dialekte  der  Koine,  i<;t  völlig  unhaltbar  und  deshalb  einstimmig  ver- 
worfen worden  (vgl.  W.  Sehmid  W.  f.  k.  Ph.  1901.  Sp.  601,  Ed. 
Schwyzer  N.  Jb.  1901,  S.  244,  P.  Kretschmer  D.  L.  Z.  1901, 
Sp.  1049).  Daß  es  sich  um  alte  Dialekte  handelt  —  füge  ich  hinzu  — , 
geht  hervor  aus  Quint.  12,  10,  34:  illis  [sc.  Graecis]  non  verboram 
modo,  sed  linguarura  etiam  inter  se  differentiura  copia  est.  (Daß 
es  sich  bei  Crassus  um  die  alten  Dialekte  handelt,  hebt  richtig  Kretsch- 
mer hervor,  Entst.  d.  Koi.  S.  35). 

Im  allgemeinen  lassen  sich  dialektische  Verschiedenheiten  nur 
schwer  feststellen.  Dies  liegt  nicht  nur  in  der  Ungleichheit  unserer 
Quellen,  sondern  auch  daiin,  daß  z.  B.  lautliche  Nuancen  feinerer  Art 
in  der  schriftlichen  Darstellung  überhaupt  nur  selten  zur  Geltung 
kommen;  und  doch  dürfen  wir  gerade  in  solchen  lautlichen  Dingen 
wichtige  Nuancen  vermuten. 

Der  angebliche  alexandriuische  Dialekt. 

Schon  die  alexandrinischen  Grammatiker  und  dann  die  Neueren 
seit  Sturz  reden  vielfach  von  'alexandrinischera  Dialekt'.  Nach  Thumb 
sind  w'ir  heute  nicht  berechtigt,  einen  solchen  Dialekt  anzunehmen,  und 
man  stimmt  ihm  darin  zu  (z.  ß.  W.  Scbmid,  W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  600, 
Kroll  Herrn.  30,  S.  462).  Was  für  Kennzeichen  der  Mundart  von 
Alexandria  ausgegeben  wird,  sind  einfach  Merkmale  der  Koine  *)     Eine 


*)  Ob  man  freilich  so  leichten  Herzens  über  die  Augaben  der  alten 
Grammatiker  liiuweggebeii  darf,  ist  mir  nicht  ausgemacht.  Ich  habe  auf 
unsere  Frage  hin  einen  sprachlichen  Vorgang  untersucht  und  will  hier  das 
Resultat  mitteilen.  Es  handelt  sich  um  die  Perfekta  mit  der  Endung  3.  PI. 
-c/v.  Darüber  liest  man  bei  Thumb  (S.  170) :  „Wenn  Sextus  Empiricus  uns 
z.  ß.  belehrt  Li^iz  oj;  -q  tm^jÖ:  toT:  WXs^cfvopiu^'.v  eXr^/.uD-ofv  xci  ä-i/.rj/.'jDvv,  so 
wissen  wir  jetzt  besser,  daß  die  Übertragung  der  Aoristendung  -cv  auf  das 
Perfektum  räumlich  sehr  viel  weiter  verbreitet  war;  der  Ausweg  Bureschs, 
daß  die  Neuerung  ,besonderö  auf  alexandrinischem  Gebiet  vollzogen 
wurde',  läßt  sich  angesichts  der  Belege  aus  Kleinasieu,  Kreta,  Lakonien 
usw.  nicht  offen  haltt  n."  Sehen  wir  uns  die  Belege  näher  au.  Zu  den  bei 
Dieterich  S.  235  f  angeführten  Beispielen  aus  den  Papyri  sind  hinzuzufügen: 
a/.Yj'ictv  P.  Par.  25,  Z.  17,  P.  Leid,  ß  Subskr.  3  (aus  der  königlichen  Kanzlei!) 
--=  P.  Brit.  17,  23  (163  v.  Chr.),  i-'.o:o..ixc/v  P.  Brit.  17,  49  (162  v  Chr.).  Ich 
erwähne  ferner,  daß  P.  Par.  31,  23  (a.  162)  der  Schreiber  zuerst  statt 
r,c,u<>y.(/\i.z-j  •(^\.w7.rjy  (j.£v  schrieb.  Wenn  wir  von  dem  zuletzt  genannten  und 
dem  in  der  Londoner  Kopie  17,  23  vorkommenden  Belege  absehen,  ge- 
winnen wir  aus  den  ptolemäischen  Papyri  3  weitere  Belege.  Zu  den  ia- 
fichriftlichen  Belegen  bei  Dicterich  ist  aus  Schwezer  hinzuzufügen:  uiuwm* 
Oreek  Inscr.  Brit.  M.  3,  1,  Nr.  420,  57  (Priene,    Mitte   d.  2.  Jhd.  ▼.  Chr.). 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1 898— 1902.  (Witkowski.)     190 

Scheidung  von  alexandrinischem  und  sonstig'em  ägyptischen  Griechisch 
läßt  sich  mit  unseren  Hilfsmitteln  nicht  durchführen.  Dali  das  ägyp- 
tische Griechisch  seine  besonderen  Kennzeichen  hatte,  ist  glaublich; 
Thumb  führt  unter  Modifizierung  der  Annahme  von  Buresch  (Philol. 
51,  S.  84  ff.)  drei  solche  einigermaßen  charakteristische  Erscheinungen 
an:  die  Vertauschung  von  Tennis  Media  und  Aspirata,  die  Verwechse- 
lung von  Tj  oti  e  i  und  die  Ausstoßung  des  intervokalischen  7;  vielleicht 
ist  dazu  der  Abfall  des  auslautenden  Nasals  hinzuzufügen.*)  Mit  Recht 
bemerkt  dabei  Thumb  (S.  174),  daß  von  der  ägyptischen  Koine  das 
Griechisch  der  nichthellenisierten  Ägypter  wohl  zu  scheiden  ist. 

Daß  es  kein  Juden  griechisch,  das  eine  Abart  des  Dialekts 
von  Alexandria  sein  soll,  und  keine  besondere  biblische  Gräzität  gab, 
davon  rede  ich  in  dem  Kapitel  über  die  biblische  Gräzität. 

Dialektische  Differenzierung  der  Koine  läßt  sich  aber  nicht  nur 
aus  den  urkundlichen  Quellen,  sondern  auch  durch  vergleichende  Unter- 
suchung neugriechischer  Dialekt  formen  und  der  alten  Überliefe- 
rung erschließen.  Was  die  Methode  betrifft,  so  muß  man  nach  Thumb 
folgenderweise  verfahren:  wenn  es  uns  gelingt,  eine  dialektisch  ge- 
bliebene Neuerung  ins  Altertum  hin  aufzurücken  und  daneben  das  "Weiter- 
leben des  Alten  festzustellen,  dürfen  wir  von  den  Anfängen  dialektischer 


Mit  Rücksicht  auf  die  Herkunft  stammen  nun  9  Beispiele  aus  Ägypten ,  5 
aus  Griechenlaud,  4  aus  Kleinasien,  1  aus  Rom.  (Von  den  lit-raiischea 
Beispielen:  10  aus  dem  Neuen  Testament  [so  Winer- Schmiede!  S.  113,  15; 
Dieterich  führt  nur  5  Belege  an]  und  3  aus  den  falschen  Sibyllinen, 
sehe  ich  ab.).  Wenn  wir  daher  die  Inschriften  und  Papyri  reden  lassen, 
so  nimmt  Ägypten  doch  die  erste  Stelle  ein.  Ich  will  auf  diese  Tat- 
sache kein  Gewicht  legen,  deun  sie  hängt  vielleicht  mit  der  Beschaffen- 
heit unseres  Materials  zusammen,  aber  man  könnte  Buresch  in  einem  ge- 
wissen Sinne  recht  geben:  zwar  nicht  in  dem  Sinne,  daß  die  Neuerung 
-besonders  auf  alexandrioischem  Gebiet  vollzogen  wurde',  aber  daß  sie  in 
Ägypten  besonders  verbreitet  war;  dann  würde  auch  Sextus'  Behauptung 
berechtigt  erscbeiaen  (mit  der  geuannten  Modifikation,  daß  man  nicht  an 
Alexandrien,  sondern  an  Ägypten  denkt).  Ich  bemerke,  daß  ich  nur  die 
ptolemäiscben  Papyri  und  nur  deren  Publikationen  bis  1894  berüiksichtigt 
habe;  sonst  würde  man  ohne  Zweifel  mehr  als  9  Beleee  finden.  Was  die 
Chronologie  betrifft,  stammt  das  älteste  Beispiel  (3.  Jhd.)  allerdings  aus 
Kleinasien,  im  2.  Jhd.  fiuden  wir  2  Belege  aus  Kleinasien  und  7  aus 
Ägypten,  im  1  Jhd.  4  aus  Griechenland.  (Vier  Belege  kann  ich  chronolo- 
gisch nicht  bestimmen.)  Also  ist  die  Erscheinung  in  Ägypten  früh  und 
häufig  zu  belegen. 

*j  In  der  Vertauschung  von  Tenuis  Media  und  Aspirata,  ferner  in 
dem  Abfall  des  auslautenden  v  sieht  Hatzidakis  Barbarismen  (G.  g.  A.  1899 
S.  510). 


200     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S9S— 1902.  (Witkowski.) 

Differenzierung  der  Koine  reden.     Darin  kann  man  Thumb   wohl  recht 
geben.     Solche  alten  Dialektmerkinale  sind  für  Thumb: 

1.  Die  Entwickeluug  des  „irrationalen"  oder  parasitischen  7 
(axoüvo),  xXaqcj).  2.  Palatalisierung  des  7.  vor  e,  i  in  ts,  t^  oder  ts. 
Die  Beispiele,  auf  welche  sich  Th.  hierbei  stützt,  sind  jedocli  ganz  un- 
sicher und  deshalb  schwebt  das  hohe  Alter  dieser  Erscheinung  völlig 
in  der  Luft.  3.  Vereinfachung  der  Doppelkonsouans.  4.  Übergang 
vou  A.  -+-  KoDSonans  in  p  +  Konsonans;  für  das  Neugriechische  stützt  sich 
Th.  auf  die  Form  dSsX^o?  (=  allg.  gr.  doepcpoc),  die  er  in  der  Gegend 
von  Samsun  notiert  hat,  und  auf  döX^o.  das  er  von  einem  Kappadokier 
hörte.  Th.  dürfte  aber  übersehen,  daß  die  neugriechischen  Formeu 
(dosXfpo;)  auch  auf  dem  Einflüsse  der  Schule  oder  der  Kirchen- 
sprache beruhen  können;  auch  sonst  ist  manche  Dialektform  auf  den 
Einfluß  der  Sehrittsprache  zurückzuführen;  solche  gelehrten  Formen 
gebrauchen  Bauern  im  Gespräch  mit  Gebildeten,  besonders  aber  mit  Aus- 
ländern, überall.  5.  Die  pontische  Aussprache  des  t)  als  e.  6.  Ver- 
schiedene Aussprache  des  u:  nebeneinander  existierte  die  Aussprache  als 
ü  und  i  und  wahrscheinlich  auch  u  und  in.  —  Lediglich  für  möglich 
hält  dagegen  Th.,  daß  unbetontes  a  neben  Liquiden  zu  z  wurde  (neu- 
griechisch -/psß^üCTi  =  altgriechisch  xpap^a-tov). 

Auf  dem  Gebiete  der  Flexion  schreibt  Th.  der  Koine  folgende 
Erscheinungen  zu: 

1.  In  der  3.  PI.  Act.  standen  nebeneinander  die  Endungen  v  und 
Ol  (cpepouot  :  «pepouv,  eXaßav  :  eXaßaai).  2.  Die  Neubildungen  auf  -jav  in 
der  3.  PI  des  Impf,  und  des  starken  Aor.  waren  in  der  Koine  lokal 
beschränkt  (das  östliche  Mittelgriechenland  war  wohl  ihre  Heimat).  (In 
diesem  Punkte  trifft  Thumb  mit  Kretschmer  im  wesentlichen  zusammen; 
über  den  Grund  der  üppigen  Wucherung  dieser  Endung  —  beabsichtigte 
Herstellung  von  Gleichsilbigkeit  —  vgl.  Kretschmer,  Entstehung  S.  9  f.). 
3.  Th.  fragt,  ob  nicht  auch  die  Ausbildung  des  neugriechischen  x- 
Aoristes  in  einigen  neugriechischen  Dialekten  (axo-jza  =  axooia)  in  die 
Koine  zu  verlegen  sei. 

6.  Die  Sprache  der  griechischeu  Bibel. 

Bis  in  jüngste  Zeit  hörte  man  über  die  Stellung  der  biblischen 
Gräzität  ganz  schiefe  Urteile.  Es  wurde  vom  „Judengriechisch",  von 
Hebraismen  (Semitismen)  der  biblischen  Sprache  usw.  gesprochen.  Es  ist 
ein  Verdienst  A  Deißmanns,  mit  den  Vorurteilen,  die  auf  diesem  Gebiete 
herrschten,  aufgeräumt  zu  haben.  Die  philologische  mit  der  theologischen 
Schulung  verbindend,  erkannte  er  den  Zusammenhang  der  biblischen 
Gräzität  mit  der  gleichzeitigen  Koine  und  wies    sie    sowohl  prinzipiell 


Bericht  üb,  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     201 

als  auch  in  zahlreichen  Einzelfällen  nach.  Dies  tat  er  vor  allem  in  seinen 
Büchern:  Bibelstudien  (Marburg  1895)  und:  Neue  Bibelstndien  (Mar- 
burg- 1897)."}  Die  Resultate  seiner  Forschungen  sind  kurz  zusamraen- 
.zefaßt  in  seinem  Schrit'tchen: 

Die    sprachliche    Erforscliung-    der    grieclii sehen   Bibel» 
ihr  gegenvvärtijier  Stand    und   ihre  Aufgaben.    (Vorträge  der  theolo- 
gischen Konferenz  zu  Gießen.  XII.)  (Gießen  1898), 
sowie  in  dem  Artikel; 

Hellenistisches  Griechisch  (mit  besonderer  Berücksichtigung 
der  griechischen  Bibel),  in  der:  Realenzyklopädie  für  protestantische 
Theologie  und  Kirche.  3.  Aufl.,  Bd.  VII.  (Leipzig  1899),  S.  627—639. 

Die  letztere  Arbeit  stellt  die  wichtigere  Literatur  über  die 
Koine  zusammen  und  handelt  über  Definitionen  des  Begriffes  Koivv^,  über 
ihren  Namen,  Charakter  und  ihre  Entstehung,  über  Differenzierungen 
der  Koine  und  über  die  griechische  Bibel  als  Denkmal  des  hellenistischen 
Griechisch.  Auf  die  in  dem  ersten  Teile  dieser  Arbeit  niedergelegten 
Ansichten  D.s  ist  bereits  im  Vorstehenden  Bezug  genommen  worden; 
auf  den  Inhalt  des  zweiten  Teiles  sowie  denjenigen  seines  Schriftchens 
„Die  sprachliche  Erforschung  der  griechischen  Bibel"  will  ich  jetzt 
genauer  eingehen.  Es  sei  vorher  erwähnt,  daß  D.  die  wichtigere  Koine- 
Literatur  der  letzten  Jahre  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  bi- 
blischen Sprache  in  zwei  Berichten  in  der  Theolog'ischen  Rundschau 
besprochen  hat  u.  T, :  Die  Sprache  der  griechischen  Bibel. 
(Septuagiuta,  Neues  Testament  und  Verwandtes),  Bd.  I.  1898, 
S.  463-472  und  Bd.  V,  1902,  S.  58—69. 

Auf  Deißmanns  Arbeiten  fußt  A.  Thumb.  In  seinem  Buche 
„Die  griechische  Sprache"  handelt  er  über  die  biblische  Gräzität  an 
zwei  Stellen:  in  Kap.  IV  (über  Semitismen  der  biblischen  Gräzität) 
und  in  Kap.  V  (über  die  Stellung  der  biblischen  Gräzität).  Derselbe 
Gelehrte  suchte  in  seinem  vor  der  46.  Versammlung  deutscher  Philo- 
logen gehaltenen  Vortrage: 

Die  sprachgeschichtliche  Stellung  des  Biblischen  Grie- 
chisch (Theol.  Rundschau,  V,  1902,  S.  85—99) 
die  Stellung  zu  fixieren,   welche  die  Sprache  des  N.  T,  im  Zusammen- 
hang der  gesamten  sprachlichen  Entwickelung  einnimmt,   wobei  er   auf 


*)  G,  A.  Deißmann,  Bible  Studies.  Contributions ,  chiefly  from 
papyri  and  inscriptions,  to  the  history  of  the  language,  literature  and 
religion  of  hellenistic  Judaism  and  primitive  Christianity.  Authorised 
translation  ...  by  A.  Grieve.  Edinburgh  1901  ist  eine  Übersetzung 
dieser  beiden  Werke  D.s.  Sie  enthält  Zusätze  und  Korrekturen.  (.Vgl. 
Thumb,  Arch.  f.  Pap.  2  S.  415.) 


1^02     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  189S  -  1902.  (Witkowski.) 

das  "Wesen  der  Koine  und  andere  die  Gemeinsprache  betreffende  Fragen 
«■ingiiig. 

Ich  will  hier  versuchen,  die  Ansichten  Deißroanns  und  Thurabs 
wiederv.ugeben.  Wie  bereits  in  der  Vorrede  bemeikt  worden  ist,  werde 
ich  mich  haujitsSchlich  auf  die  Septuaginta  beschränken,  die  Sprache 
des  Neuen  Testamentes  nur  kurz  berühren. 

Daß  die  biblische  Gräzitiit  so  lange  als  etwas  Isoliertes,  Einzig- 
artiges betrachtet  worden  ist,  hat  seinen  Grund  darin,  daß  noch  vor 
kurzem  die  Septuaginta  und  das  Neue  Testament  im  wesentlichen  die 
einzigen  Zeugen  der  hellenistischen  Umgangssprache  waren.  Man  merkte 
leicht  den  Abstand  des  Giiechischen  dieser  Texte  von  dem  , klassischen-' 
Attisch.  Man  merkte  aber  auch  den  Unterschied  zwischen  der  Sep- 
tuaginta und  z.  B.  Polybios;  namentlich  in  der  Syntax  war  dieser  Unter 
schied  auttallend.  So  schuf  man  den  Begriff  .Judengriechisch".  Erst 
das  Studium  der  Papyri  und  In-chrifteu  ei  möglichte  eine  richtige  Beur- 
teilung der  Bibelspiache.  Viele  wollten  früher  einen  Einfluß  des  Se- 
mitischen auch  in  dem  grammatischen  Bau  des  Griechischen  finden. 
Was  die  Flexionsformen  betrifft,  so  meinte  Schraiedel,  daß  das  in  der 
Apokalypse  vorkommende  Wort  -/.a-r^^wp  eine  ., aramäische  Zustutzung" 
von  xatr^Yopoc  sei.  Doch  haben  W.  Schmid  (W.  f.  k.  Ph.  1899,  Sp.  541 
und  1901,  Sp.  602)  und  Thnmb  (S.  126)  nachgewiesen,  daß  xaTr,7(up 
eine  ecbtgriechische  Bildung  ist.  Es  stellt  sich  immer  deutlicher  heraus, 
daß  die  Laut-  und  Formenlehre  der  biblischen  Sprache  die  charak- 
teristischen Züge  der  Umgangskoine  zeigt.  Selbst  das  Wort  spauvao) 
(statt  ipeuvau)),  das  als  ein  spezifisches  Kennzeichen  des  Bibelgriechisch 
galt,  ist  jetzt  außerhalb  des  biblischen  Griechisch  nachgewiesen.*)  Der 
Wortschatz  der  Bibelsprache  ist  noch  nicht  allseitig  durchforscht,  aber 
es  ist  schon  gelungen,  mehrere  vermeintliche  Hebraismen  auf  diesem 
Gebiete  als  Schöpfungen  griechischen  Geistes  zu  erweisen,  und  diese 
wenigen  Fälle  sind  von  prinzipieller  Bedeutung:  man  ist  berechtigt,  in 
der  Zulassung  von  Semitismen  sich  sehr  skeptisch  zu  verhalten.  Nach 
dem  Urteile  Tliumbs  (S.  120  f.)  wird  von  Winer-Schmiedel  (Gramm, 
d.  ueutestam.  Giiechisch)  der  semitische  Einfluß  immer  noch  überschätzt. 
Das  griechische  Judentum  und  das  Christentum  haben  ohne  Zweifel 
neue  Wörter  und  neue  Wortbedeutungen  geschaffen,  aber  das  ist  eine 
Tatsache  der  Religiousgeschichte,  nicht  der  SpracLgeschichte.  Deiß- 
mann  (Realeuz.  S.  636  f.).  sagt  mit  Recht:  „Wer  spricht  von  einer 
Mundart  der  Stoa  oder  einer  Gräzität  der  Gnosis?  Wer  schreibt  eine 
Grammatik  des  Neuplatonismus?  Und  doch  haben  alle  diese  Bewegungen 
den  griechischen  Wortschatz  bereichert  und  verändert,"      Die   Syntax 


')  Krctschmer  erinnert  auch  an  theräische  Formen  '^üspyiT-z;,  r/ix^ob--. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jabren  1898—1902.  (Witkowski.)     203 

der    ffriechiscben   Bibel    scheint    noch    am    ersten    die  Annahme    eines 
, biblischen"    Griechisch    zuzulassen.      Konstruktionen,    Wortstellungen 
und  Satzbau,  wie  wir  sie  z.  B.  in  den  Psalmen  oder  in  den  Evanj^elien 
lesen,    finden   sich  nicht  einmal  in  den  vulgärsten  Papj^ri  (Deißmann). 
Dies  eiklärt  sich  aus  der  Eigenart    der  biblischen  Schriften.     Sie  zer- 
fallen sprachlich  in  zwei  große  Gruppen;  in  originalsriechische  Scbriften 
nnd    Übersetzungen     semitischer  Vorlagen.      Die    Septuaginta    ist 
vorwiegend    Übersetzer  griechisch;     uvsprünglicbgriechisch    sind 
einige  Apokryphen  des  Alten  Testamentes  (z.  B.  das  vierte  Makkabäer- 
buch).     Beim  Neuen  Testament  sind  nach  der  Annahme  der  Theologen 
die  meisten  Teile  der  sj'iioptischen  Evangelien  und  vielleicht  einiges  aus 
der  Apokalj^pse  des  Johannes  Übersetzungen  aramäischer  (hebräischer) 
Vorlagen  (so  Deißmann,  Sprachl.  Erforschung  S.  9).  —     Die  original- 
griechischen Schriften  der  Bibel  sind  Denkmäler  eines  wirklich  gespro- 
cheneu Griechisch.     Die  Übersetzungen  ahmen  die  Eigentümlichkeit  der 
fremden  Vorlage    nach.     Halten    wir  da,    wo    das    semitische  Original 
noch  vorhanden  ist,  den  Urtext  neben  die  Übersetzung,    so   sehen  wir, 
wie  Semitismus  für  Semitismus    eben  sklavische  Nachahmung  des  Ori- 
ginals ist  (Deißmann).     Auf  die  Frage:    deckt    sich  dieses  Übersetzer- 
griechisch  mit  der  griechischen  Umgangsspraclie    der  Übersetzer    oder 
ist    es    ein   ad    hoc    zurechtgemachtes,    von    der  Vorlage    abhängiges 
Oriechisch?  —  ist  zu  antworten:  es  ist  ein  künstliches,  papiernes,  kein 
gesprochenes  Griechisch.*)     Mitunter  finden  wir  in  einer  und  derselben 
biblischen  Schrift  das  Nebeneinander  dieser  beiden  Arten  von  Griechisch: 
so    sind    die  Prologe    des    Buches  Sirach    und    des   Lukasevangeliums 
originalgriechisch,    die  Schriften  selber  aber  sind  von  semitischer  Vor- 
lage abhängig  (Deißmann,  Realenz.  S.  638).      Das    angebliche    Juden- 
griechisch ist  also  nicht  lebendige  Sprache  gewesen,   sondern  ist  durch 
die  Methode    der  Übersetzung    veranlaßt.     Die    Semitismen    sind    hier 
okkasionell;    daneben  gibt  es  nach  Deißmann   auch   usuell  gewordene. 
In    bezug    auf   syntaktische    Semitismen    sind    die   Meinungen 
nicht  ganz  einig.     Viteau,    der    die  Syntax    der  Septuaginta  und  des 
Neuen  Testamentes  auf  diese  Erage    hin    am    gründlichsten  untersucht 
hat,   geht    in   der  Annahme   von  sjmtaktischen  Semitismen   weit.     Von 
den  Schriften   des   Neuen  Testamentes  sagt  er:    „on  remarque  dans  la 
langue  du  N.  T.    un    grand    nombre    d'expressions    et  de  constructions 
hebraisantes  ou  purement  hebraiques"    (Etüde  sur  le  grec  du  Nouveau 
Testament.     Le  verbe,  Paris  1893,  S.  233).     Auch  Swete  ist  .geneigt, 
viele    Seraitismen   in    der  LXX    anzunehmen    (Introduction  to  the  Oid 


")  [Hier    und  sonst    bietet  die  sog.  Africitas    ganz   analoge  Erschei- 
nungen; so  sei  für  Cbersetzerlatein  auf  Rhein.  Mus.  b'2  S.  580  verwiesen.  W.  K.J 


;  204     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahrea  1898-1902.  (Witkowski.) 

Testament  in  Greek,  passim),  vgl.  S.  9:  „Into  tbis  hybrid  speech 
(sc.  the  patois  of  the  Alexandrian  streets)  the  Jewish  colony  would 
infuse  ...  a  strong  colouiing  of  Seraitic  thought,  and  not  a  few 
reminiscences  of  Hebrew  or  Aramaic  lexicography  and  grammar.  Such 
at  any  rate  is  the  monument  of  Jewish-Egyptian  Greek  which  survives 
in  the  earlier  books  of  the  so-called  Septuagint."  Zurückhaltender 
urteilt  Deißraann  (a.  a.  0 ).  Andere  sind  noch  weniger  als  Deißmann 
geneigt,  syntaktische  Seraitismen  zuzugeben.  Schmiedel  sagt  von  den 
tibersetzeru  dei"  Septuaginta:  „geradezu  ungriechische  Konstruktionen 
haben  sie  in  der  Regel  nicht"  (Winer- Schmiedel,  Gramm,  d.  neu- 
testam.  Griechisch  S.  29).  Mit  Mißtrauen  steht  der  Annahme  von 
Semitismen  auch  Thumb  entgegen  (Die  griech  Spr.  S.  129  ff.).  Er 
sieht  von  der  Septuaginta  ab,  weil  „für  syntaktische  Fragen  eine 
Übersetzung  überhaupt  nur  von  sehr  bedingtem  Weite  ist";  der  speziell« 
Wert  der  Septuaginta  sei  nach  den  einzelnen  Stücken  sehr  verschieden, 
da  die  Verfasser  bald  ziemlich  frei,  bald  wörtlich  übersetzen.  Die 
Frage  nach  Hebraismen  gewinnt  nach  Thumb  nur  da  eine  gewisse 
Berechtigung,  wo  der  Gebrauch  der  Septuaginta  mit  der  Syntax  des 
hebräischen  Originals  einerseits  und  des  Neuen  Testaments  andererseits 
übereinstimmt.  Solange  die  Sprache  der  Papyri  nicht  untersucht  sei, 
müsse  eine  Antwort  darauf,  ob  ein  Hebraismus  vorliege,  in  den  meisten 
Fällen  unbefriedigend  bleiben.  Thumb  will  nicht  behaupten,  daß  die 
biblische  Gräzität  von  hebräischer  Ausdrucksform  gänzlich  frei  sei, 
aber  der  fremde  Einfluß  äußert  sich  nach  ihm  mehr  im  Stil  und  in  der 
Denk-  und  Anschauungsweise  als  in  der  Sprache  im  engern  Sinn: 
unhellenisch  sei  der  Satzparallelismus  der  Septuajiinta,  die  Verwendung 
der  Parabel  im  Neuen  Testament  (hierin  folgt  er  Norden,  Antike  Kunst- 
prosa S.  509).  Er  leugnet  einen  Einfluß  des  Hebiäischeu  beim  Gebrauch 
von  Aktivum  und  Medium,  den  Viteau  angenommen  hatte.  Auch 
sei  gegenüber  dem  häufigen  Gebrauch  der  Präpositionen  Zurück- 
haltung des  Urteils  nötig  (S.  12«),  weil  die  reiche  Gestaltung  des  prä- 
positionalen  Ausdrucks  ein  Kennzeichen  der  spälgiiechischen  Sprache 
sei.  Auch  andere  Erscheinungen  wie  ouo  o6o  'je  zwei',  il  (zl)  fir^v, 
oTToo  =^  'auf  welchem'  oder  Verbindung  des  deklinierten  Relativums 
und  des  im  entsprechenden  Kasus  hinzugefügten  auios  sollen  auf  zu- 
fälligem Zusammentreffen  griechischer  Sprachentwickeiung  und  hebräischen 
Gebrauches  beruhen. 

Ist  die  griechische  Bibel  Denkmal  der  Umgangs-  oder  der  Literatur- 
sprache? Diese  Frage  ist  noch  nicht  eingehend  untersucht.  Heute 
kann  man  nur  soviel  sagen,  daß  das  Bibelgiiechisch  wesentlich  der 
Umgangssprache  zuzurechnen  ist:  dies  gilt  für  die  Sprache  der  meisten 
Bücher  der  LXX    und   der  Evangelien  (Deißmann  S.  639).     Innerhalb 


Bericht  üb.  d  Literatur  zur  Koinc  a.  d.  Jahreu  IS'.^S— ]!)0t>.  (Witkowski.)     205 

der  beiden  Hauptgruppen :  der  übersetzten  und  der  On'ginalschriftcn, 
linden  sich  aber  Verschiedenheiten.  Die  Übersetzungen  sind  nicht  von 
einer  und  derselben  Hand  sremacht.  Es  liegen  hier  sprachlich  disparate 
Elemente  nebeneinander.  Nach  Deißmann  (S.  638)  ist  es  zweifellos, 
daß  sich  einzelne  Schriften  der  Literatursprache  bedienen  oder  bedienen 
wollen.  Die  Hebräerepistel  z.  B.  meidet  den  Hiatus  und  zeigt  nach 
Blaß  (Gramm,  d.  neutest.  Griech.  S.  290)  im  Satzbau  nnd  Stil  die 
Sorgfalt  und  das  Geschick  eines  Kunstschriftstellers.  Nach  Deißmann 
sind  die  Paulusbriefe  Denkmäler  der  Timgangssprache,  obwohl  auch 
Paulus  rhetorisch  angehaucht  ist.*)  Ähnlich  urteilt  Thnmb.  Die 
Septuaginta,  das  Neue  Testament  und  die  altchristliche  Literatur  richten 
sich  an  ein  größeres  Publikum,  sie  erheben  sich  über  eine  lokale 
Pärbung  und  bedienen  sich  einer  ,, Durchschnittssprache"  (Gr.Spr.S.  169). 
Das  N.  T.  zeigt  den  Versuch,  die  lebende  Sprache  der  Zeit  literatur- 
fähig zu  machen  (Theol.  Rundsch.  5,  1902,  S.  93).  Auch  Th.  gibt  zu, 
daß  die  Unterschiede  des  A.  und  N.  T.  sowie  die  Unterschiede  der 
verschiedenen  Autoren  des  N.  T.  darin  bestehen,  daß  die  Wortwahl, 
das  Verhältnis  zwischen  der  Umgangssprache  und  der  klassischen 
(attischen)  Korrektheit  oder  die  stilistische  Form  in  den  einzelnen 
Schriften,  ja  selbst  innerhalb  dieser,  verschieden  ist  (Gr.  Spr.  S.  183  f.). 
Das  individuelle  Gepräge  einzelner  Autoreu  zeigt  ihren  Anteil  au  den 
literarischen  Vorgängen  der  Zeit.  ,, Lukas  und  Paulus  z.  B.  stehen 
diesen  nicht  fremd  gegenüber,  uud  so  liefert  auch  das  Studium  des 
Neuen  Testamentes  einen  interessanten  Beleg  für  den  Kampf  zwischen 
Literatur-  und  Volkssprache"  (S.  184).  Norden  (Ant.  Kunstpr.  II 
485  ff.)  hat  durch  eine  Gegenüberstellung  einer  Reihe  gleicher  Sätze 
der  Synoptiker  gezeigt,  „daß  Lukas  au  einer  überaus  großen  Anzahl  von 
Stellen  das  vom  klassizistischen  (attischen)  Standpunkt  aus  Bessere  hat"; 
er  vermeidet  nicht  nur  aramäische  und  lateinische  Wörter,  sondern  auch 
solche  hellenistische  Ausdrücke,  welche  von  den  Attizisten  verworfen 
werden,  und  verwendet  Formen  der  attischen  Grammatik  statt  der 
hellenistischen  (Thumb,  Gr.  Spr.  S.  1 84). 

So  wenig  es  ein  spezifisches  „Bibelgriechisch"  gibt,**)  so  wenig 
gibt  es  ein  Judeugriechisch  überhaupt.  Das  hat  ebenfalls  Deiß- 
mann nachgewiesen.  Ilim  folgen  Thumb,  W.  Schmid  (W.  f.  k.  Ph. 
1901,  Sp.  600)  u.  a.  Die  Septuaginta  ist  kein  Zeugnis  für  dieses 
Griechisch;    die  Sprache,    die  nach  Abzug  von  Eigenheiten  der  Über- 

*)  Gegen  die  Annahme  Nordens  (Ant.  Kunstprosa),  daß  der  Stil  des 
Paulus  unhellenisch  ist,  haben  die  Theologen  Widerspruch  erhoben  (vgl, 
Thumb  Arch.  f.  Pap.  2  S.  420). 

**)  Dies  wird  allgemein  anerkannt,  vgl.  z.B.  W.  Schmid,  W.  f.  k.  Ph. 
1901,  Sp.  600. 


206     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

Setzung  übrigbleibt,  ist  die  gewöhnliche  Koine  (Thumb,  Gr,  Spr.  S.  175). 
Die  Juden  in  Alexandria  und  überhaupt  in  Ägypten  waren  in  der 
Sprache  völlig  hellenisiert,  so  daß  sie  das  Hebräisch  erst  nachträglich 
lernten.  Hochgebildete  jüdische  Schriftsteller  wie  Philon  oder  Josephus 
Flavius  schreiben  ein  völlig  reines  Griechisch  (S.  125).  Ebensowenig 
ist  die  Sprache  des  Neuen  Testamentes  eine  judengriechische  Mundart. 
Die  biblische  Gräzität  ist  also  kein  Dialekt  der  Koine.  Eine  gewisse 
P^ic;enart  zeigt  vielleicht  die  Sprache  der  palästinischen,  nichthell i- 
nisierten  Juden.  Griechische  Lehnwörter  der  rabbinischen  Schriften 
zeigen  vielfach  eine  andere  Bedeutung  als  dieselben  "Wörter  im  Alten 
und  Neuen  Testament. 

Auf  den  Bericht  über  die  Stellung  der  biblischen  Gräzität  lasse 
ich  eine  Übersicht  über  die  übrigen,  die  Septuaginta  betreffenden 
Schriften  folgen.  Sie  würde  passender  ihren  Platz  in  dem  besonderen 
Teile  dieses  Beuchtes  finden,  aber  es  scheint  mir  wenig  geboten,  den 
Bericht  über  die  Septuagintaforschung  auf  diese  Weise  in  zwei.  Stücke 
zu  zerreißen. 

Die  Reihe  dieser  Arbeiten  eröffnet 

H.  B.  Swete,  An  introduction  to  the  Old  Testament  in 
Greek.  With  an  appeudix  containiui;  the  Letter  of  Aristeas  edited 
by  J.  Thackeray.     Cambridge  1900.*) 

Eine  Einführung  in  die  Septuaginta  war  seit  langem  Bedürfnis, 
sowohl  in  Deutschland  als  in  England,  diesem  „klassischen  Lande  der 
Septuagintaforschung"  (H.  Lietzmann,  G.  g.  A.  1902,  S.  329).  Swete s 
Introduktion  ist  die  erste  ihrer  Art,  und  sie  muß  als  ein  ausgezeich- 
netes Werk  bezeichnet  werden.  Auf  jeder  Seite  hat  mau  beim  Lesen 
den  Eindruck,  daß  der  Vf.  mit  den  zahlreichen  und  schwierigen  Pro- 
blemen der  Septuagintaforschung  wie  wenige  vertraut  ist.  Alle  Fragen, 
die  sich  an  die  Septuaginta  knüpfen,  finden  in  dem  Buche  eine  ein- 
gebende Erörterung. 

Die  Mehrzahl  der  Fragen,  die  in  dem  Sweteschen  Buche  berührt 
werden,  liegt  außerhalb  der  Rahmen  dieses  Berichtes,  deshalb  kann  ich 
den  Inhalt  mancher  Kapitel  nur  ganz  kurz  skizzieren.  Das  Buch  zer- 
fällt in  3  Teile:  1.  The  hibtory  of  the  Greek  Old  Testament  and  of 
its  transmission.  2.  The  contents  of  the  Alexandrian  Old  Testament. 
3.  Literary  use,  value  and  textual  condition  of  the  Greek  Old 
Testament. 

Kap.  I.  „The  Alexandrian  Greek  Version"  bringt  eine  knappe 
Entstehungsgeschichte    der    jüdischen  Gemeinde   in  Alexandria   und  er- 


*)  iDzwischen  ist  das  Buch  in  2.  Auflage  erschienen  (London  1903^. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902,  (Witkowski.)     207 

zählt,  unter  welchen  Umständen  und  wann  in  den  jüdischen  Kreisen 
dieser  Stadt  die  Septuaginta  entstand.  Es  ist  möglich,  daß  das  Penta- 
teuch  schon  unter  Philadelphos  übersetzt  worden  ist,  unrichtig'  dagegen 
die  Nachricht,  die  Demetjios  von  Phaleron  daniit  verknüpft  oder  die 
Übersetzung  auf  Wunsch  des  Königs  unternommen  sein  läßt.  Der  König 
hat  aber  vielleicht  „encouraged  the  work  of  translation"  und  zwar  aus 
l)olitischen  Gründen.  Die  Propheten  sind  übersetzt  vor  132  v.  Chr. 
Vor  Beginn  unserer  Zeitrechnung  besaß  Alexandrien  sämtliche  oder 
fast  sämtliche  Schriften  des  A.  T.  in  griechischer  Übersetzung.  Kap.  II. 
„Later  Greek  versions"*  handelt  über  die  Entstehung  der  übrigen  grie- 
chischen Übersetzungen  des  Alten  Testamentes,  vor  allem  der  von  Aquila, 
Theodotion  und  Syniraachos  (alle  drei  im  2.  Jhd.  n.  Chr.).  Kap.  III. 
„The  Hexapla  and  the  Hexaplaric  and  other  recensions  of  the  Septua- 
ginf  gibt  die  Geschichte  dieses  grolkn  Werkes  des  Origenes  (3.  Jhd.). 
Kap.  IV  handelt  über  die  „Ancient  versions  based  upon  the  Septua- 
gint".  Kap.  V  bringt  ein  dankenswertes  Verzeichnis  der  LXX  Hand- 
schriften; die  Uiizialen  weiden  genau  beschrieben,  die  Minuskelhand- 
schriften nach  Holmes-Parsons  aufgezählt.  Beim  Oktateuch  stellt  Sw. 
alle  für  die  neue  Cambridger  LXX  kollationierten  Handschriften  zu- 
sammen. Kap.  VI  bespricht  die  Ausgaben  der  LXX  und  gibt  Geschichte 
und  Cbarakteristik  der  wichtigeren. 

Der  IL  Teil  des  Werkes  beginnt  mit  der  Geschichte  des  Kanons ; 
die  erhaltenen  Verzeichnisse  der  LXX-Schriften  werden  abgedruckt. 
Kap.  II  handelt  über  das  Verhältnis  der  LXX  (^masa  zum  hebräischen 
rethischen)  Texte.  Kap.  III  bespricht  die  nur  griechisch  erhaltenen 
Schriften.  Kap.  IV.  ,The  Greek  of  the  Septuagint".  Wir  finden  hier 
die  erfreuliche  Mitteilung,  daß  eine  Giammatik  der  Septuaginta  von 
einem  „kompetenten  Gelehrten"  vorbereitet  wird.  Vf.  spricht  über  den 
Wortschatz,  Konstruktionen  und  ,. Orthographie"  dieses  Griechisch.  Es 
folgt  ein  Abschnitt  über  die  Wortbildung,  Deklination  und  Konjugation, 
sowie  über  die  Syntax.  In  philologischer  Hinsicht  ist  in  diesem  Kapitel 
manches  anfechtbar;  so  wird  z.  B.  unter  „Orthographie"  manche 
Eischeinung  genannt,  die  in  das  Kapitel  der  Lautlehre  gehört  u.  dgl., 
aber  die  Zusammenstellung  der  wichtigsten  Erscheinungen,  z.  B.  auf 
dem  Gebiete  des  Wortschatzes,  ist  dankenswert.  Das  Verhältnis  der 
Sprache  der  LXX  zur  Koine  ist  nicht  ganz  richtig  dargestellt:  Sw. 
!-pricht  zu  viel  von  dem  Judengriechisch  und  Alexandrinisch.  Kap.  V 
handelt  von  dem  Übersetzungscharakter  der  LXX.  Swete  nimmt  ziem- 
lich viele  Semitismen  an.  Die  Darlegungen  über  die  Schwierigkeiten, 
die  die  Übersetzer  zu  überwinden  halten,  und  über  die  Art  und  Weise, 
wie  sie  sie  überwunden  haben,  enthalten  interessante  Einzelheiten. 
Kap.  VI  behandelt  Vers-  und  Kapitelteilung,  Lektionen  und  Katenen. 


208     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898  -  1002.  (Witkowßki.) 

Im  III.  Teile  des  Buches  spricht  Sw.  über  die  Benutzung  der 
LXX  durch  Nichtchristeu ,  durch  die  Autoreu  des  Neuen  Testamentes 
und  Christen,  über  die  griechischen  Übersetzungen  as  aids  to  Biblical 
study,  über  den  Einfluß  der  LXX  auf  die  christliche  Literatur,  über 
die  textual  conditiou  der  LXX  und  die  damit  verbundeneu  kritischen 
Probleme. 

Der  reiche  Inhalt  des  Werkes  ist  von  mir  nur  skizziert.  Die 
Swetesche  Arbeit  ist  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  für  jeden  Sep- 
tuaginta-  und  Koineforscher.  Die  klare  Sprache  des  Buches  verdient 
besonders  hervorgehoben  zu  werden. 

Eine  Einführting  in  die  Septuagiuta  gab  gleichzeitig  mit  Swete 
ein  deutscher  Gelehrter 

*W.  Baudissiu,  Einleitung  in  die  Bücher  des  Alten  Testamentes. 
Leipzig  1901.     (Rez.  Eiedel,  Theol.  Literaturblatt  23.) 

Über  die  Bedeutung  der  LXX  für  die  Geschichte  der  griechischen 
Sprache  handelt 

*J,  Korsunskij,  Perevod  LXX  .  .  .  (Die  Übersetzung  der 
LXX,  deren  Bedeutung  in  der  Geschichte  der  griech.  Sprache  und 
Literatur.)     (Russisch.)     Petersburg  1898. 

Die  sprachliche  Seite  der  Septuagintaforschuug  ist  em  gänzlich 
vernachlässigtes  Gebiet.  Im  Jahre  1898  klagte  Deißraann:  „Eigentlicli 
grammatische  Untersuchungen  zu  den  LXX  fehlen  ganz"  (Sprachl.  Er- 
forsch, d.  gr.  Bibel,  S.  18).  Seit  dieser  Zeit  ist  es  nicht  besser  ge- 
worden; nicht  eine  einzige  Arbeit  ist  auf  diesem  fruchtbaren  Gebiete 
zu  verzeichnen.  Eine  Grammatik  der  LXX  ist  erfreulicherweise  in 
Aussicht  gestellt,  ein  Wörterbuch  leider  noch  nicht.  Cremers  Biblisch- 
theologisches Wörterbuch  der  Neutestamentlichen  Gräzität  dient  zurzeit 
für  die  meisten  Wörter  zugleich  als  Wörterbuch  der  LXX.  Über  die 
Schwierigkeiten  eines  LXX -Wörterbuches  spricht  Deißmann,  Sprachl. 
Erforschung,  S.  15,  wobei  er  seine  Ausführungen  an  Beispielen  de- 
monstriert. Derselbe  Gelehrte  betont  die  Notwendigkeit  exegetischer 
Bearbeitungen  einzelner  Bücher  der  LXX. 

Zu  verzeichnen  sind  hier  nur  ein  paar  kleine  Artikel  von  Eb. 
Nestle,  die  Einzelheiten  des  Sprachgebrauchs  behandeln. 

'•'Eb.  Nestle,  Septuagiuta  und  Bibelvulgata.  (Ein  merk- 
würdiger Sprachgebrauch.).  Blätter  f.  bayr.  Gymn.-Schulwesen  1898, 
S.  737. 

Derselbe,  Ein  moabitischer  Stadtname  in  den  grie- 
chischen Wörterbüchern  (Philol.  59,  1900,  S.  312) 


•Bericht  üb.  d,  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  189S— 1902.  (Witkowski.)     209 

beseitigt  aus  griechischen  Wörterbüchern  das  Appellativum  y.Etpa;,  «So; 
'geschoren'  lerem.  48,  31,  indem  er  es  durch  den  Eigennamen  KeipdSac 
oder  besser  Kstp  'A8az  ersetzt,  welcher  Transkription  des  von  den  LXX 
als  kir  hadäs  gelesenen  moabitischen  Ortsnamen  ist  und  V.  37  uoch 
einmal  in  derselben  Transkription  vorkommt.  (In  der  neuesten  Ausgabe 
von  Swete  und  in  der  Konkordanz  von  Hatch-Redpath  steht  der  Name 
noch  als  Appellativum.) 

Derselbe,  Die  Geschichte  eines  Druckfehlers  (T:avr6^po/o; 
in  3.  Macc.  6,  4).     B.  ph.  W.  1901,  Sp.  28—30. 

Das  falsche  -av-coßpoyoy?  für  rovToßpoyou;  steht  bereits  in  der 
Sixtiua  (1586/7). 

"'Derselbe,  äpro;.  Bienenbett.  [Hohesl,  5,  l.J  Korrespondenzbl. 
f.  d.  Gelehrten-  u.  Realschulen  Württ.  9,  1902,  S.  95—98.*) 

*W.  Dittmar,  Vetus  Testamentum  in  Novo.  Die  alttesta- 
mentlichen  Parallelen  des  N.  T.  im  Wortlaut  der  Urtexte  und  der 
Septuaginta  zusammengestellt.  1.  Hälfte:  Evangelien  u.  Apostelge- 
schichte.    Göttingen  1899. 

mir  bekannt  aus  der  Rezension  von  Eb.  Nestle  in  der  D.  L.  Z. 
1899,  Sp.  1697  —  9,  enthält  ein  nach  der  Reihenfolge  der  alttestament- 
lichen  Bücher  geordnetes  Stellenverzeichnis  (S.  170 — 175),  das  reicher 
ist  als  dasjenige  von  Theile  in  dessen  Ausgabe  des  N.  T. 

Der  Aristeasbrief. 
Die  Ausgabe  des  Aristeasbriefes 
Aristeae   ad  Philocratem  epistula.    Cum  ceteris  de  origine 

versionis  LXX  icterpretum  testimoniis  Ludovici  Mendelssohn  schedis 

usus  ed.  P.  Wendlaud.  Lipsiae  1900 
«nthält  einen  trefflichen  Index  verborum  (S.  170 — 220),  in  v/elchem 
bei  den  einzelnen  Wörtern  angegeben  wird,  ob  sie  in  der  LXX,  bei 
Polybios,  in  den  PapjTi,  Inschriften  usw.  vorkommen.  Wichtigere 
Wendungen  und  Redensarten  des  Aristeas  werden  aufgezählt.  In  den 
Observatioues  graramaticae  sind  die  wichtigsten  grammatischen  Er- 
scheinungen zusammengestellt.  —  Von  der  Entstehungszeit  des  Briefes 
urteilt  W.  (p.  XXVII):  „libellus  noster  posteriori  Maccabaeorum  aetati 
tribuendus  est.  Eum  ante  Romauorum  a.  63  in  Palaestinam  invasionem 
scriptum  esse  patet.  (Dies  folge  ans  der  Schilderung  der  Verhältnisse 
und  ans  den  in  dem  Briefe  vorkommenden  Namen.) 


'")  E.  Nestle,  Septuagintastudien  III.  (Beilage  z.  Progr.  d. 
theol.  Seminars  Maulbronn.)  Stuttgart  1S99  enthält  Textkritisches  zum  apo- 
kryphen Gebet  Manasses  und  zum  Buche  Tobit. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (190t.    I.;  14 


210     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898- 1 902.  (Witkowski.) 

L.  Raderra acher,  BaatXeuc  'Avxtoyo?  Oavi'ct  (Rh.  M.  56,  202  ff.) 
behandelt  den  bei  Athen.  12,  547a  mitgeteilten  Brief  eines  Königs 
Antiocbos  und  kommt  auf  Grund  der  Vergleichung  der  Sprache 
dieses  Briefes  mit  der  Sprache  des  Ps.  Aristeas  und  der  LXX  zu 
dem  Resultat,  daß  dieser  Brief  in  der  Volkssprache  geschrieben 
und  daher  gefälscht  ist.  Der  Fälscher  ist  in  den  jüdischen  Kreisen 
Ägyptens  zu  suchen, 

7.    Die  achäisch  dorische  und  die  nordwestgriechische  Koine. 

In  den  Staaten  des  achäischen  Bundes  bildete  sich  in  unserer 
Epoche  eine  achäisch-dorische  Gemeinsprache.  Wir  können  ihr 
Wirken  besonders  auf  dem  Boden  Arkadiens  erkennen.  Literatur  hat 
sie  nicht  hervorgebracht;  der  Arkadier  Polybics  bedient  sich  nicht  ihrer, 
sondern  der  attischen  Koine.  Sie  dauerte  ungefähr  200  Jahre;  mit 
Beginn  der  Kaiserzeit  ist  sie  der  attischen  Koine  unterlegen. 

Auch  in  den  Staaten  des  ätolischen  Bandes  begegnen  wir  einer 
Gemeinsprache.  Diese  Gemeinsprache  hält  man  für  eine  von  der  achäisch- 
dorischen  verschiedene  und  nennt  sie  'nordwestgriechische  Koine* 
(R.  Meister,  B.  ph.  W.  1901,  Sp.  1527;  ihm  folgt  Ed.  Schwyzer, 
Weltspr.  d.  Alt.  S.  12  Anm.  18).  Andere  reden  statt  von  zweien  von 
einer  einzigen  Gemeinsprache,  die  sie  „achäisch-dorisch"  nennen  (so 
Bück,  s.  unt.).  Diese  Gemeinsprachen  (ev.  Gemeinsprache)  bilden 
parallele  Strömungen  zu  der  attischen  Koine,  doch  sind  sie  ihr  nicht 
ebenbürtig,  einmal,  da  sie  keine  Literatur  hervorgebracht  haben, 
zweitens,  weil  ihre  Verbreitung  weit  engere  Grenzen  aufweist. 

Dieser  Gemeinsprache  ist  nur  ein  einziger  Aufsatz  gewidmet: 

C.  D.  Bück,  The  sonrce  of  the  so-called  Achaean-Dori c 
xoivY^.     (The  American  Journal    ot  Philol.  21,  1900,  S.  193—196.) 

B.  zeigt,  daß  die  achäisch-dorische  Koine  (der  Name  stammt  von 
Meister,  Gr.  Dial.  II,  S.  81  ff.),  welche  in  der  Hauptsache  auf  nord- 
westgriechische Dialekte  zurückgeht,  manches  attische  Element  ent- 
hält und  demnach  ein  neues  Zeugnis  für  den  Einfluß  der  „attischen" 
xotv/]  ist.  Die  achäisch-dorische  Koine  ist  nach  B.  identisch  mit  dem 
Dialekt,  welcher  in  Epirus,  Akarnanien,  Atollen,  Phokis  und 
Phthiotis  gesprochen  wurde.  Back  bemerkt  nun,  daß  derjenige 
dieser  Dialekte,  welcher  uns  am  besten  bekannt  ist,  der  alt-phokische, 
etwas  ganz  anderes  ist  als  diese  xoivv^.  Etwas  anderes  ist  auch  das 
Lokrische.  Das  Alt-Ätolische  ist  mit  dieser  y.otvr(  ebenfalls  schwerlich 
identisch.  Es  ist  nicht  glaublich,  daß  einige  Elemente  dieser  Koine 
im  Alt-Ätolischen  existiert  hätten,  so  z.  B.  die  Konjunktion  tl.  Es 
sind  vielmehr  Spuren  des  attischen  Dialektes,  welcher  gleichzeitig  z.  B. 


Bericht  üb.  d  Literatur  zur  Koiaea.  d.  Jahren  1898— 1902  (Witkowski.)      211 

auch  das  Delphische  beeinflußt.  Attische  Einflüsse  sind  im  Delphischen 
zu  konstatieren,  noch  ehe  die  Ätoler  in  Delphi  den  Fuß  setzten.  Auch 
der  Dialekt  einiger  dorischer  Inseln  zeigt  attischen  Einfluß  In  der 
achäiscb-dorischen  Koine  finden  sich  folgende  attische  Formen:  1.  ei 
(statt  ai),  2.  rpiÜTo;  (statt  Trpaxo?).  3.  oi  häufiiier  als  rot,  4.  iepo; 
hSufiger  als  tapd?,  5.  ei?  neben  ev  c.  acc,  6.  sporadisch  slvai  und  upo? 
(ueben  sTfisv  und  ttoti).  7.  sporadische  Attizismen  wie  g-en.  ßaaiXetuc, 
TToXeo);;  öaXatxa,  TSTTapec:  eöcv,  eu);  av;  imperat.  ovtojv,  ptc.  (ov;  imperat. 
-Tcoaav;   sixocJi  USW.   — 

Die  achäisch-dorische  Koine  ist  durchaus  nicht  einheitlich.  Nicht 
nur  sind  die  Mischungsverhältnisse  in  ihr  verschieden,  sondern  auch 
ist  die  Grundlage  derjenigen  Dialekte,  welche  dem  achäischen  Einflüsse 
unterliegen,  und  die  Grundlage  jener,  welche  ätolischen  Einfluß  zeigen, 
keinesvi^egs  identisch.  Nur  der  ätolische  Kreis  zeigt  ev  c.  acc.  und 
Dative  konsonantischer  Stämme  auf  -otc.  Auch  Bück  ist  geneigt, 
ätolische  Koine  von  der  achäischen  zu  unterscheiden.  Der 
attische  Einfluß  läßt  sich  übrigens  in  nahezu  sämtlichen  dorischen 
Dialekten  vom  4.  Jhd.  an  nachweisen  und  —  abgesehen  von  den  oben 
genannten  ätolischen  Spuren  —  das  Ergebnis  ist  nicht  wesentlich  ver- 
schieden. 

Eine  Untersuchung  dieser  achäischen  und  nordwestgriechischen 
Sprachverhältnisse  ist  ein  dringendes  Bedürfnis  der  Koineforschung. 
Dabei  wäre  auch  zu  ermitteln,  wie  tief  der  Einfluß  dieser  Koine  reicht, 
denn  es  hat  den  Anschein,  daß  sie  nur  auf  bestimmte  Schichten  von 
Gebildeten  beschränkt  und  dem  Volke  als  solchem  fremd  war. 

8.    Der  Attizismus. 

Einen  Abriß  der  Greschichte  der  attizistischen  Bewegung  in  der 
Literatur  gibt  W.  Schmid  in  seiner  gehaltvollen  akademischen  An- 
trittsrede: 

Über  den  kulturgeschichtlichen  Zusammenhang  und 
die  Bedeutung  der  griechischen  Renaissance  in  der  Römer- 
zeit.    (Leipzig  1898.) 

Die  ersten  Proteste  gegen  den  unter  orientalischem  Einfluß  ent- 
standenen Asianismus  lassen  sich  im  2.  Jhd.  v.  Chr.  hören.  Ihren 
Ausgangspunkt  suchte  man  in  Pergamon.  Seh.  bestreitet  dies  mit 
Rücksicht  darauf,  daß  wir  von  einer  pergameuischen  Rednerschule 
nicht  hören  und  daß  die  pathetische  Richtung  der  pergameuischen  Kunst 
nicht  für  eine  klassizistische  Strömung  in  dieser  Stadt  spricht.  Er 
glaubt  vielmehr,  daß  die  Insel  Rhodos  der  Sitz  dieser  Reaktion  ge- 
wesen ist.     Zur  Begründung  dieser  Vermutung  führt  er  eine  Reihe  von 

14* 


21 2     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1 898— 1902.  (Witkowski.) 

Argumenten  an.  Der  in  ßhodos  gemachte  Versuch  ist  ein  zaghafter: 
es  ist  kein  offener  Gegensatz  gegen  den  Asianismus  —  man  wünscht 
nur  eine  Abdämpfung  asianischer  Übertreibung.  Der  eigentliche  Kampt 
beginnt  auf  römischem  Boden  zur  Zeit  des  Augustus.  Man  verlangt 
hier  energisch  eine  Rückkehr  zum  Attischen  und  beginnt  mit  einer 
literarischen  Polemik  gegen  den  Asianismus  und  mit  grammatischen, 
lexikalischen,  philologisch-kritischen  und  ästhetischen  Arbeiten  über  die 
attische  Prosaliteratur.  Anfangs  wünscht  man  keine  pedantische  Nach- 
ahmung der  Klassiker,  mit  der  Zeit  verlangt  man  eine  vollständige 
Wiederaufnahme  der  altattischen  Literatursprache.  Die  weitere  Ent- 
wickelung  dieser  Bewegung  seit  Dion  gehört  nicht  in  unseren 
Bericht.*) 

Über  die  Entwickelung  des  Stils  in  unserer  Periode  handelt 

Ed.  Norden,  Die  antike  Kunstprosa  vom  VI.  Jhd.  v.Chr. 
bis  in  die  Zeit  der  Renaissance.     Bd.  I.     (Leipzig  1898.) 

Kap.  5:  'Die  Entartung  der  griech.  Prosa.  Deraetrios  von  Pha- 
leron  und  die  asianische  Beredsamkeit'  (S.  126 — 155).  Vgl.  auch 
S.  258  ff.  N.  spricht  hier  von  zwei  Stilarten  des  Asianismus,  den  er 
in  dem  Charakter  der  Asiaten  wurzeln  läßt:  der  zierlichen  Stilart  des 
Hegesias  und  der  anderen,  bombastischen.  Der  Asianismus  ist  nach  N. 
eine  fast  unbewußte  Fortsetzung  der  sophistischen  Kunstprosa.  Den 
Ausgangspunkt  des  Attizismus  ist  N.  geneigt  eher  in  Alexandria  zu 
suchen.  Sodann  spricht  er  von  der  literarischen  xoivy]  des  Polybios, 
die  frei  von  jeder  Rhetorik  ist;  große  Sätze  mit  Anakolutheu  sind  für 
sie  bezeichnend.  Nur  kann  man  sie  nicht  mit  N.  „die  in  schriftstelle- 
rische Sphäre  gehobene  Sprache  der  Kanzleien"  nennen.  Gegen  diese 
Benennung  erheben  Einspruch  auch  Wilamowitz  und  Wunderer,  Poly- 
bios Forschungen  L  S.  118. 

U.  v.  Wilamowitz-Moellendorff,    Asianismus  und  Atti- 
zismus (Hermes  35,   1900,  S.  1—52). 

Von  der  reichen  Fülle  der  Gedanken  hebe  ich  nur  die  uns  hier 
näher  angehenden  hervor.  W.  will  den  Begriff  des  Asianismus  klären, 
das  Verhältnis  dieser  Strömung  zur  alten  und  neuen  Sophistik  bestimmen 
und  den  Ursprung  des  Attizismus  beleuchten.  Wie  Norden,  nimmt  auch 
W.  an,  daß  wir  in  der  Entwickelungsgeschichte  der  Kunstprosa  eine 
direkte  Verbindungslinie  zwischen  dem  5.  Jhd.  v.  Chr.  und  dem  2. 
n.  Chr.  ziehen  dürfen,    ferner  daß  der  Asianismus  der  alten  Zeit  eine 


*|  Besondere  Anerkennung  verdient  bei  Schmid  der  Umstand,  daß 
er  die  Bedeutunü;  der  Sophistik,  deren  Erforschung  er  so  viel  Arbeit  ge- 
widmet hat,  nicht  überschätzt. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a,  d,  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     213 

naturgemiiße  Weiterentwickelung  der  sophistischen  Knnstprosa  der 
platonischen  Zeit  ist  (S.  21).  Dagegen  erhebt  er  Widerspruch  gegen 
die  weitere  Annahme  Nordens,  daß  derjenige  Stil,  den  Seneca  am  voll- 
endetsten repräsentiert  und  den  Quintilian  die  corrupta  eloquentia 
nennt,  die  Fortsetzung  des  Asianisraus  sei,  weiterhin  gegen  die  An- 
nahme, daß  sich  zwei  Richtungen  gegenüberstehen,  die  Archaisteu 
und  die  Neoteriker  des  Stiles,  jene  anknüpfend  an  die  attischen  Klassiker^ 
diese  an  die  Sophisten  der  platonischen  Zeit  und  die  mit  diesen  ihrer- 
seits verwandte  asianische  Rhetorik,  daß  bei  den  Archaisten  Erstarrung, 
bei  den  Neoterikern  Fortbildung  sei.  W.  hebt  hervor,  daß  die  neote- 
rische  Richtung  nichts  erreicht  hat;  auf  die  lebendige  Sprache  hat  sie 
nicht  eingewirkt,  ebensowenig  auf  die  christliche  Literatur,  die  mit  der 
Zeit  klassizistisch  wird.  Asianismus  bezeichnet  nicht  die  gesamte  neote- 
rische  Rhetorik.  Es  ist  ein  Schlagwort,  ausgegeben  in  Rom  um  die 
Mitte  des  1.  Jhd.  v.  Chr.,  das  kaum  zwei  Menschenalter  vorgehalten 
hat.  Zur  Zeit  Quintilians  existiert  diese  Stilrichtung  nicht  mehr.  Der 
Name  richtete  sich  gegen  die  Redner,  die  zur  Zeit  Ciceros  in  der  Provinz 
Asia  herrschten,  und  deren  Vorbilder  (wie  Tiraaios).  Vorgeworfen 
wurde  den  Asianern :  die  durchgängige  Rhythmisieruug  und  die  komma- 
tische Rede;  zweitens  Übermaß  an  Schmuck  in  der  XsEtc  und  Mangel 
der  x'jpia  ovo}ji.aTa.  Da  mit  der  Zeit  des  Tiberius  die  Polemik  gegen 
den  Asianismus  verschwindet,  so  ist  diese  Richtung  später  nicht  mehr 
lebendig.  Demnach  kann  die  Ansicht  von  Rohde  nicht  zutreffend  sein, 
daß  die  zweite  Sophistik  die  Fortsetzung  des  Asianismus  wäre.  Die 
Anknüpfung  der  zweiten  Sophistik  an  die  alte  ist  nur  ein  Coup  der 
Sophisten  der  Kaiserzeit,  bestimmt,  die  Würde  der  Kunst  zu  erhöhen. 
Mit  den  Flaviern  fängt  keine  neue  Periode  an;  das  1.  Jhd.  n.  Ohr. 
war  gewiß  reich  an  Rednern,  ebenso  das  1.  Jhd.  v.  Chr.  und  wohl  auch 
die  zweite  Hälfte  des  2.;  vor  der  Mitte  des  2.  Jhd.  klafft  eine  Lücke 
bis  empor  zu  den  letzten  Attikern  wie  Demochares,  aber  das  liegt  nur 
an  unserer  Überlieferung.  Es  gibt  eine  Kontinuität  von  der  altep 
Sophistik  bis  in  die  neue  und  über  sie  hinaus;  der  Asianismus  ist  die 
fortlebende  attische  Sophistik.  Die  Kontinuität  besteht  in  dem  Ab- 
stoßen der  hellenistischen  Literatur;  ein  direktes  Anknüpfen  an  die 
alte  Sophistik  ist  nicht  vorhanden.  Die  silberne  Latinität  entspricht 
dem  hellenistischen  Griechisch,  nicht  dem  gleichzeitigen. 

Der  Atlizismus  hebt  keineswegs  um  200  v.  Chr.  an;  weder 
Neanthes  noch  Agatharchides  sind  Attizisten  (S.  25,  28  Anm.  2).  Sie 
haben  die  |xi[Ar,aic  nicht  gefordert.  Der  Attizismus  ist  nicht  in  Rhodos 
entstanden  («egen  W.  Schroid);  die  griechischen  Grammatiker  in  Rom 
haben  die  Reaktion  inauguriert.  Ein  einzelner  Mann  ist  nicht  imstande, 
eine  solche  fundamentale  Umkehr  des  Geschmackes  zu  bewirken.     Wie 


214     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski. ) 

diese  "Wandlung-  in  der  Volksseele  gekommen  ist,  vermag  die  Geschichte 
Dicht  zu  sagen.  Ein  wichtiger  Faktor  ist  die  Schule.  Die  Römer 
mußten  Griechisch  lernen.  Die  Frage,  was  ist  als  Griechisch  zu  be- 
trachten, was  ist  als  musterhaft  zu  interpretieren,  drängte  sich  auf.  In 
Rom  haben  sich  die  Griechen  auf  ihre  Klassiker  besonnen. 

Stilistisches  berührt  auch  die  Erörterung  eines  Volksbeschlusses 
von  Mautineia-Antigoneia  durch  Wilamowitz  Hermes  35  (1900),  S.  536 
— 542.  Der  Beschluß  ist  in  peloponnesischer  Koine  verfaßt  und  asianisch 
gefärbt. 


II.  Abschnitt. 

Spezialarbeiten. 

Im  vorstehenden  habe  ich  diejenigen  Arbeiten  besprochen,  die 
allgemeine  Frajzen  behandeln.  Der  Besprechung  der  übrigen,  zu 
welcher  ich  jetzt  übergehe,  könnte  ich  nun  entweder  die  übliche  Ein- 
teilung in  die  Laut-,  Formenlehre,  Syntax  usw.  oder  eine  Ein- 
teilung nach  den  verschiedenen  Quellenklassen :  Papyri,  Inschriften  usw. 
zugrunde  legen.  Die  Koine,  wie  sie  uns  vorliegt,  ist  nicht  einheitlich: 
der  Unterschied  zwischen  der  Umgangs-  und  der  Schriftsprache  ist  in 
ihr  sehr  bedeutend.  Würde  man  die  Einteilung  in  Laut-,  Formenlehre 
usw.  wählen,  so  wäre  man  gezwungen,  innerhalb  der  Lautlehre  die  ver- 
schiedenen sprachlichen  Schichten  (Papyri,  Inschriften  usw.)  auseinander- 
zuhalten, ebenso  bei  der  Flexionslehre  usw.  Ich  ziehe  die  Einteilung 
nach  den  Quellenklasseu  vor,  schon  aus  dem  Grunde,  weil  viele  Arbeiten 
sich  über  mehrere  Gebiete  der  Grammatik  erstrecken  und  deshalb 
wiederholt  genannt  werden  müßten.  Ich  behandle  der  Reihe  nach  die 
Papyri,  Inschriften  und  Schrittsteller,  Bei  jeder  dieser  Klassen  be- 
apreche  ich  zuerst  die  Arbeiten  über  die  Laut-,  dann  solche  über  die 
Formenlehre  u>w.  Nur  bei  den  Schriftstellern  behalte  ich  aus  prak- 
tischen Rücksichten  die  Reihenfolge  nach  den  einzelnen  Schriftstellern. 
Die  verschiedenen  Quellenklasseu  fasse  ich  zu  zwei  Hauptgruppen  zb- 
sammen:  die  Papyri  (und  Ostraka)  und  die  Inschrilteu  sind  für  uns  eine 
Quelle  der  Umgangs-,  die  Schriftsteller  eine  solche  der  Schriftsprache. 
Natürlich  läßt  sich  hier  keine  feste  Grenze  ziehen;  es  ist  nur  eine  an- 
nähernde Scheidung  möglich;  die  Sprache  vieler  Papyri  und  Inschriften 
nähert  sich  sehr  der  Schriftspiache.  Meine  Einteilung  in  die  Unigangs- 
■nod  die  Schriftsprache  soll   hauptsächlich   dem  Zweck  allgemeiner  Ori- 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koinea.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski)     215 

entierung  dienen.  Den  Arbeiten  übei-  die  einzelnen  Quellenklassen 
schicke  ich  diejenigen  Arbeiten  voraus,  welche  sich  über  zwei  oder  mehr 
Klassen  erstrecken. 


Arbeiten,    welche  sich  auf  mehrere  Quellenklassen 

erstrecken. 

a)  Laut-  und  Formenlehre. 

Die  wichtigsten  Erscheinungen  der  Laut-  und  Formenlehre, 
die  uns  in  den  Papyri,  Inschriften  und  zum  Teile  auch  bei  den 
Schriftstellern  entgegentreten,  behandelt  das  Buch: 

K.  Dieterich,  Untersuchungen  zur  Geschichte  der 
griechischen  Sprache  von  der  hellenistischen  Zeit  bis  zum  10. 
Jahrb.  n.  Chr.  (Byzantinisches  Archiv.     Heft  1.)     Leipzig  1898. 

Das  von  Krumbacher  angeregte  Buch  stellt  sich  die  Aufgabe,  die 
sprachlichen  Keime  des  Neugriechischen  auf  Grund  der  Papyri  und  In- 
schriften festzustellen.  Die  literarischen  Quellen  werden  erst  in  zweiter 
Linie  und  nur  aus  zweiter  Hand  herangezogen;  Vollständigkeit  ist  bei 
ihnen  nicht  erstrebt.  Es  ist  also  eine  retrospektive  Betrachtung  der 
gemeingriechischen  Spracherscheinuugen,  vom  Neugriechischen  aus  unter- 
nommen. Das  gewonnene  Material  sucht  D.  nach  sprachlichen  Gesichts- 
punkten zu  grnppieien  und  sowohl  chronologisch  als  vor  allem  nach 
seinem  lokalen  Ursprung  zu  ordnen.  Was  die  zeitlichen  Grenzen  be- 
trifft, welche  D.  seiner  Untersuchung  gezogen,  so  erstrecken  sie  sich 
von  300  V.  Chr.  bis  1000  n.  Chr.  D.  ist  zwar  überzeugt,  daß  der 
Koinisieruugsprozeß  bereits  um  600  n.  Chr.  abgeschlossen  ist,  trotzdem 
verlegt  er  die  untere  Grenze  bis  1000  n.Chr.  aus  zwei  Gründen:  weil 
erst  im  11/12.  Jhd.  umfangreichere  vulgäre  Texte  einsetzen,  so  daß  die 
zwischen  dem  7.  und  11.  Jhd.  klaffende  Lücke  unansgefüllt  bliebe, 
andererseits,  um  die  Unhaltbarkeit  der  Theorie  von  der  Ausbildung  des 
Neugriechischen  nach  dem  10.  Jhd.  zu  erweisen.  Es  muß  hinzugefügt 
werden,  daß  D.  mit  dem  Neugriechischen  völlig  vertraut  ist. 

Vf.  geht  nun  die  einzelnen  Erscheinungen  der  Laut-  und  Formen- 
lehre durch;  am  Schluß  jedes  dieser  beiden  Hauptteile  gibt  er  eine  Zu- 
sammenfassung der  Ergebnisse.  Ich  kann  ihm  in  der  Erörterung  der 
einzelnen  Erscheinungen  nicht  folgen;  nur  die  Ergebnisse  kann  ich 
mitteilen.  Beim  Vokalismus  zeigt  Ägypten  besonders  viele  neue  Er- 
scheinungen (wenn  man  die  ganze  Epoche  ins  Auge  faßt);  beim  Konso- 
Dautismus  kommt  ihm  Griechenland  nahe  (S.  139).  Von  den  Flexions- 
crscheinungen  kommt  die  größte  Anzahl  ebenfalls  auf  Ägypten,  eine 
geringere  auf  Kleinasien,  die  wenigsten  auf  Griechenland.    W.  Schmid 


216     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S9S— 1902.  (Witkowslci.) 

(W.  f.  k.  Ph.  1899,  Sp.  511)  dürfte  aber  recht  haben,  wenn  er  be-^ 
hauptet,  daß  die  relativ  größte  Anzahl  von  Erscheinungen  bei  Ägypten 
sich  daraus  erkläre,  daß  wir  nur  aus  Ägypten  Papyrustexte  besitzen. 
Was  die  chronologische  Verteilung  betrifft,  so  weist  in  den  drei  Jahr» 
handelten  v.  Chr.  Ägypten  die  meisten  neuen  Spracherscheinungeu 
auf,  dann  folgt  Griechenland,  die  letzte  Stelle  nimmt  Kleinasien  ein; 
in  den  vier  ersten  Jahrhunderten  n.  Chr.  steht  Ägypten  wieder  an  der 
Spitze,  Kleinasien  zwischen  ihm  und  Griechenland.  Vor  Chr.  ist  das 
griechische  Mutterland  an  konsonantischen  und  nominalen  Neuerungen 
wesentlich  stärker  beteiligt  als  Ägypten,  welches  in  den  Vokal- 
veränderungen  und  in  der  Verbalflexion  den  Sieg  davonträgt.  Faßt 
man  das  ganze  Gebiet  der  Koine  ins  Auge,  so  entfallen. bei  der  Flexion 
die  meisten  nominalen  Neubildungen  auf  die  zweite  Periode  (1. — 
4.  Jhd.  n.  Chr.),  die  meisten  Verbalerscheinungen  auf  die  erste 
Periode  (300—1  v.  Chr.). 

D.s  Buch  ist  nicht  frei  von  Mängeln.    Für  Einzelheiten  verweise  ich 
auf  die  gehaltvollen  Rezensionen  von  Hatzidakis  G.  g.  A.  1899,  S.  505 — 
523,  vonW.   Schmid  W.  f.  k.  Ph.  1899  Nr.  19  und  20,  der  auch  zahl- 
reiche Nachträge  gibt,  und  von  Thumb  B.  Z.  9,   1900,  S.  232  ff.    Thumb 
hat  hervorgehoben,  daß  einzelne  wichtige  Erscheinungen  bei  D.  fehlen, 
so  z.  B.  der  Itazismus,  die  Gemination  der  Konsonanten,  ferner  daß  andere 
Erscheinungen    in  einer  unvollständigen  Weise    herangezogen  sind,    so 
die  Verwechslung  von  Tenuis,  Media  und  Aspirata.*)    Aber  auch  sonst 
ist  das  Material  aus  Inschriften  und  Papyri  nicht  erschöpft,  was  aller- 
dings D.  selber  gesteht  (S.  XVIII).     Es  werden  ferner  vom  Vf.  Laut' 
gesetze  konstruiert,  wo  das  Material  unzureichend  ist,  oder  wo  es  sich 
nur  um  gewisse  Regelmäßigkeiten  handelt.    Er  nimmt  häufig  einen  Zu^ 
sammenhang  zwischen  Erscheinungen  des  Neugriechischen  und  der  Koine 
an,  wo  ein  solcher  nicht  besteht  (vgl.  Hatzidakis  a    a    0.  und  Thumb 
Gr.  Spr.).    Altoialektische  und  gemeinsprachliche  Erscheinungen  werden 
häufig    zusammengeworfen    (Kretschraer  Entst.    d.  Koi.  S.   14).     Dana 
gibt    es   in  dem  Buch  zu  viel  Statistik!     Für  jede  einzelne  Spracher- 
scheinuug  werden  statistische  Berechnungen  angestellt,  was  oft  zweck- 
los ist,  zumal  das  Material  selten  vollständig  herangezogen  ist.    Zahlen 
bedeuten   ja  hier  weniger  als  die  Wichtigkeit  der  Erscheinungen.     Die 
verschiedenen  Arten    von  Urkunden    (öff"entliche,    private),    ferner  der 
Bildungsgrad    des    Schreibers    werden    nicht    genügend    berücksichtigt. 
Die  Lesarten  der  Pariser  Papyri  sind  an  der  Hand  des  Facsimilia  nicht 


*)  S  186  liest  min  z.  ß.,  daß  in  Ägypten  Tenuis  statt  Aspirata  gar 
nicht  vorkommt,  während  die  Papyri  zahlreiche  Beispiele  dieser  Ver- 
wechselung bieten. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     217 

nachgeprüft  worden  und  deshalb  nicht  selten  falsch.  Um  auch  melir 
Äußerliches  zu  berühren,  ^vird  bei  den  Urkunden  ihre  Entstehnng:szeir. 
oft  nicht  angegeben.  Die  Zusammenfassungen  des  Vf.  sind  wenig  über- 
sichtlich, weil  neben  wichtigen  Erscheinungen  unbedeutende  stehen;  so 
hätte  z.  B.  beim  Konsonantismus  die  Zusammenfassung  an  Übersicht- 
lichkeit gewonnen,  wenn  der  Vf.  um  wichtige  Erscheinungen  wie  die 
Vertauschung  von  Teiiues,  Mediae  und  Aspiratae  und  um  den  Schwund  von 
V  vor  Konsonant  die  verschiedenen  weniger  wichtigen  Erscheinungen 
gruppiert  hätte. 

Trotz  dieser  Mängel  ist  das  Buch  sehr  wertvoll.  Ein  reiches 
Material  ist  in  ihm  gesammelt  und  bearbeitet.  Der  Vf.  hat  sich  nicht 
darauf  beschränkt,  das  Material  zu  sammeln  und  geschichtlich  zu  ver- 
werten; er  hat  sich  bemüht,  es  auch  wissenschaftlich  zu  erklären,  und 
dies  ist  ihm  in  selir  vielen  Fällen  gelungen.  Er  versteht  zu  beobachten, 
besonders  aber  zu  kombinieren ,  ferner  das  Material  nach  allen  Seiten 
auszunutzen.  Seine  chronologische  und  noch  mehr  seine  geographische 
Statistik  ist  wertvoll,  mag  sie  im  einzelnen  noch  so  viel  Unsicheres 
enthalten.  Auch  die  klare  und  richtige  Stellung  von  Problemen  ist  ein 
Verdienst  des  Buches.  Es  gehört  zu  den  wichtigsten  Arbeiten,  welche 
in  den  letzten  Jahren  über  die  Koine  veröffentlicht  worden  sind. 

Den  Schluß  bildet  ein  Exkurs,  betitelt:  ,,Die  xoiv«^  und  die  klein- 
asiatischen  Mundarten".  Sein  Inhalt  ist  folgender:  Zwischen  der  Sprache 
der  Stein-  und  Papyrusurkunden  und  derjenigen  gewisser  heutiger  klein- 
asiatischer Mundarten  (besonders  der  pontischen  und  kappadokischen, 
ferner  der  Sprache  einiger  Inseln)  gibt  es  starke  Übereinstimmungen. 
Vf.  untersucht  diese  Übereinstimmungen  und  kommt  zu  dem  Ergebnis, 
daß  zwischen  diesen  Mundarten  und  der  xocvr^  ein  innerer  Zusammen- 
hang besteht,  indem  fast  alle  phonetischen  Eigentümlichkeiten  der  heu- 
tigen Dialekte  auf  der  Stufe  der  ägyptisch-kleinasiatischen  Koine,  die 
meisten  der  morphologischen  auf  der  Stufe  der  attischen  Koine  stehen. 
Die  Zahl  der  der  ersteren  angehörenden  Erscheinungen  ist  fast  doppelt 
so  groß  als  die  der  attischen  Koine.  Die  ägyptisch-kleinasiatische  Koine 
behauptet  auf  den  Inseln  den  Vorrang.  - —  Mir  steht  in  diesen  Dingen  kein 
Urteil  zu;  ich  verweise  hierfür  auf  Thumb,  B.  Z.  9,  1900,  S.  239  f. '} 

£XX7)vix7]  ^XtüasTj.    'AÖTjva  13  (1901),  S.   247—261. 

H.    nimmt  an,    daß  der  Unterschied  von  Länge  und  Kürze  we- 


*j  John  Schmitt,  Über  phonetische  und  graphische  Erscheinungen 
im  Vulgärgriechischen.  Leipziger  Habilitationsschrift  (Teubner  1898)  bezieht 
sich  auf  Mittel-  und  Neugriechisches.  -  : 


218     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koioe  a.  d.  Jahren  1898—1902  (Witkowski.) 

nij^stcns  in  der  „offiziellen"  Sprache  sich  bis  ins  3.  Jhd.  behauptet  habe. 
Die  Änderung  des  alten  Zustandes  begann  zuerst  außerhalb  der  grie- 
chischen Heimat  (darin  stimmt  er  mit  Thumb,  Griech  Spr.  S  143  und 
150  überein).    Vgl.  Thumb,  Arch.  f.  Pap.  2,  S  424. 

Über  die  Formen  des  Wortes  xpoxoStXo;  mit  Metathesis  (xopx(5oiXo;) 
handelt  W.  Crönert,  W.  St.  20,  1898,  S.  61  Anm  ,  vgl.  Nachtrag 
S.  79;  Belege  des  Wortes  aus  der  LXX  bringt  Ad.  Deißmann,  Theol. 
Bundsch.  I,  S.  470. 

*r.  N.  Xar^iSaxtc,  Hspl  toü  a^rYjixaTiofJLOu  xuiv  ^vojidcTtov  sif  -i; 
-tv  dvn  -lOs  -lov  ev  ttj  |xeTa7£vsjTEpa 'EXXyjvixtq.  'Af^riva  12  (1900),  285 
—303. 

'Gegenüber  neueren  Erklärungsversuchen  hält  H.  daran  fest,  daß 
die  Bildung  -ic  statt  -to?  (ATr)[j.TQTpt?,  xotpnrj-n^ptv  u^w )  auf  analogischem 
Wege  entstanden  sei;  seine  frühere  Erklärung  modifiziert  der  Vf.  da- 
hin, daß  sowohl  die  zahlreichen  älteren  Kurznaraeu  auf  -t;  (^Afi;  usw.) 
wie  der  lateinische  Einfluß  das  Wachstum  der  spätgriechischen  Bildung 
befördert  haben.'    I.  F.  13  (1902),  Anz.  178. 

Über  Akk.  konsonantischer  Stämme  auf  -av  ([XT)Tepav,  iratepav) 
bandelt  B.  Keil  (Nachrichten  d.  Gott.  Ges.  Wiss.  1899,  S.  151  f.). 
Den  Ausgangspunkt  des  Prozesses  sieht  er  in  Femininen  wie  [XYitepav, 
Ou^a-cepav  usw. 

J.  La  ßoche.  Die  Formen  von  eiTcetv  und  eve^xeiv  (W.  St. 
23,  1901,  S.  300-311) 

gibt  eine  statistische  Zusammenstellung  der  Formen  auf  -ov  und  -«,*) 
wobei  auch  Schriftsteller  unserer  Periode,  wenn  auch  nicht  erschöpfend, 
berücksichtigt  werden.  Hellenistische  Schriftsteller  gehrauchen  vor- 
wiegend Formen  auf  -a.  Eine  Medialform  eiKot|xr)v,  jedoch  nur  in  der 
Zusammensetzung  mit  aro,  ist  in  dieser  Epoche  häufig,  ähnliches  gilt 
von  der  Form  rjveyxafjnr^v. 

b)    Wortbildung. 

A.Hamilton,  The  negative  Compounds  in  greek.  A  disser- 
tation  presented  to  the  board  of  TJniversity  studies  of  Ihe  Johns  Hop- 
kins University.     Baltimore  1899. 

Die  Abhandlung,  v\  elcher  leider  kein  Index  vocabulorum  beigegeben 
ist,  behandelt  den  Stoff  in  folgenden  Kapiteln:  Tlie  form  of  the  prefix. 
The  form   and  Classification  of  the  Compounds.    The  limitations  on  the 

')  Bei  den  attischen  Schriftstellern  sind  dif  Formen  r,vj-,'/.c(,  -et;,  -ajisv, 
-OTE,  -av,  also  der  ganze  Indikativ,  viel  häufiger  als  die  entsprechenden 
Formen  auf  -ov. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     219 

use  of  the  prefix  in  composition.  The  favorite  types  of  nesrative  Com- 
pounds, Expres^ions  which  may  replace  the  negative  Compounds.  The 
semasiology  of  the  negative  Compounds.  The  negative  Compounds  as  an 
dement  of  style.  History  of  the  formation  of  the  negative  Compounds 
in  greek.  —  Vor  Alexander  vermeidet  das  Griechische  Komposita  mit 
■ä'  priv.  von  solchen  Wörtern,  welche  mit  dv-  beginnen  (so  gibt  es  z.  B. 
kein  *dv-ava-f/.ato;).  Spjiteres  Griechisch  verfährt  in  dieser  Beziehung 
nicht  so  stieng:  wir  finden  in  Ciceros  Briefen  dvavTiXsxto;,  dvavTi^wvT)- 
To;  usw.  (S.  26).  Komposita,  die  anfangs  nur  in  poetischer  und  tech- 
nischer Sprache  vorkommen,  werden  in  späterer  Periode  allgemein  (S.  43). 
Vf.  veranschaulicht  seine  Resultate  mit  Hilfe  von  drei  Tafeln.  Er  be- 
schränkt sich  dabei  auf  die  in  dem  Lexikon  von  Liddell  und  Scott 
befindlichen  Wörter.  Die  Inschriften  sind  nicht  berücksichtigt. 
Die  Zahl  der  negativen  Komposita  beläuft  sich  im  Griechischen 
nach  H.  auf  3058  (im  Sanskrit  1475,  im  Latein  846).  Eine  große 
Anzahl  erscheint  znm  erstenmal  in  der  nachklassischen  Periode. 
Vor  500  V.  Chr.  gibt  es  15%,  in  der  attischen  Literatur  26.8%, 
in  der  hellenistischen  Peiiode  7  %  (zusammen  in  der  vorrömischen 
Zeit  48,8  °/o),  in  der  römischen  Periode  (mit  Ausschluß  der  christ- 
lichen und  technischen  Liteiatur)  12,9  %,  in  der  byzantinischen,  christ- 
lichen und  technischen  Literatur  37.8  °/o.  Viele  neue  Komposita  weisen 
auf:  die  Anthologie.  Ciceio,  Diodor,  Dionysios  von  Halikarnaß,  Lukian 
und  KjTÜlos  von  Alexandrien. 

*A.  W.  Stratton,    History    et  greek  noun-forraation.    L' 
Sterns  with  -[i-.    (Studies  in  classical  phil.  2,  1899,  S.   115—223.) 

(berücksichtigt  auch  das  spätere  Griechisch).  Vgl.  die  ßez.  v.  A. 
Thumb,  I.  F.   12,  1901,  Anz    65  f. 

c)    Syntax. 

Hier  haben  wir  keine  das  ganze  Gebiet  umfassende  Arbeit  zu 
verzeichnen;  e?  sind  nur  monographische  Arbeiten  zu  einzelnen  Autoren 
erschienen,  welche  diese  oder  jene  syntaktische  Erscheinung  zum  Gegen- 
stande haben. 

Einige  Bemerkungen  allgemeinerer  Natur  (absol.  Genet.  ptcp., 
iiualkonsek.  Genet.  des  Substantiv,  lufin )  findet  man  bei  "W.  Schmid 
W.  f.  k.  Ph.  1901,  Sp.  599  f. 

Im  Mittelpunkte  der  Forschung  über  die  Syntax  der  Koine  steht 
4ie  Frage  nach  der  Aktionsart  des  Aoristes  in  dieser  Periode. 
Der  Untersuchung  dieser  Frage  sind  zwei  Arbeiten  gewidmet: 

E.   Purdie,    The    Perfective    'Aktionsart'    in    Polybius. 
L  F.  9  (1898),  S.  63—153,  und 


2  20     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

H.  Meltzer,  Vermeintliche  Perfektivierung  durch  prä- 
positionale  Zusammensetzung  im  Griechischen.  I.  F.  12 
(1901),  S.  319—372. 

Beide  Arbeiten  beschäftigen  sich  zwar  vornehmlich  mit  Polybios, 
aber  die  Bedeutung  der  in  ihnen  erörterten  Frage  geht  weit  über  den 
Kreis  dieses  Schriftstellers  hinaus,  und  so  möge  es  erlaubt  sein,  auf 
diese  Arbeiten  an  dieser  Stelle  einzugehen. 

Der  Kernpunkt  von  Pur  dies  Untersuchungen  besteht  in  dem 
Satze,  daß  sich  in  dem  Zeiträume  zwischen  Homer  und  Polybios  eine 
erhebliche  Änderung  in  der  Bedeutung  des  griechischen  Aoristes  voll- 
zogen habe:  während  er  bei  Homer  überwiegend  perfektiv  (punktuell) 
gewesen  sei,  habe  er  hier  immer  mehr  „konstativen"  Sinn  erhalten, 
dagegen  habe  man,  um  Perfektivität  auszudrücken,  immer  mehr  zum 
Ersätze  der  Simplicia  durch  Komposita,  besonders  mit  Sidc,  auv,  xa-dE, 
gegriffen,  wobei  diese  Präfixe  ihre  sinnliche  oder  materielle  Grund- 
bedeutung („the  material  meaning")  hätten  aufgeben  müssen. 

Die  Verfasserin  erörtert  zunächst  die  Beg-riffe:  die  durative  oder 
imperfektive  und  die  perfektive  Aktionsart.  Die  Perfektiva  werden  in: 
a)  durative  Perfektiva  und  ß)  momentanaktige  Perfektiva,  die  letzteren 
in  a)  einfache  momentanaktige,  b)  ingressive  und  c)  effektive  Perfektiva 
eingeteilt.  Hierauf  spricht  die  Vf.  von  den  Iterativa  und  von  der 
„konstativen"  Aktionsart.  Während  sie  den  perfektiven  Aorist  mit 
einem  Punkte  vergleicht,  sagt  sie  von  dem  „konstativen"  Aoriste,  er 
gleiche  weder  einer  Linie  noch  einem  Punkte,  sondern  dem  Umfang 
einer  Kreisfigur,  er  sei  „zirkulär".  Das  „kon-tative"  otTJvat  z.  B. 
heiße  'to  stand'  und  halte  die  Mitte  zvvischeu  der  durativen  und  per- 
fektiven Bedeutung.  Es  stelle  die  reine  Bedeutung  der  Wurzel  dar 
('the  bare  root  meaning  under  its  simplest  and  m^st  indefinite  aspect'). 
Der  ,,konslative"  Aorist  P.s  umfaßt  ein  erheblich  weiteres  Gebiet  als 
der  ,, konstatierende"  Aorist  in  dem  bisher  üblichen  Sprachgebrauch, 
wie  dies  Meltzer  8.  327  auseinandersetzt.  D  nn  der  konstatierende 
Aorist  begreift  nur  den  Indikativ  und  seine  Stellvertreter  (Partie,  Inf.» 
Opt,  obliqn.),  der  ,,konstative"  Aorist  der  Vf.  dagegen  auch  den  Im- 
perat.,  Konjunktiv,  Opt.  potent.,  den  nichthistorischen  Inf.  und  das 
nichthistovische  Partie,  kurzum  er  fällt  mit  dem  zusammen,  was  man 
sonst  unter  dem  linearperfektiven  oder  wohl  auch  dem  punktualisieren- 
den  Aorist  versteht. 

In  bezug  auf  die  Grundbedeutung  des  Aoristes  eiklärt  sich  die 
Vf.  gegen  die  Theorie  von  Mahlow  und  Mutzbauer  (auch  den  Hultsch 
zählt  die  Vf.  den  Vertretern  dieser  Theorie  bei),  wonach  der  „konsta- 
tive"  Aorist  älter  sei  als  der  perfektive;  sie  stellt  sich  auf  den  Stand- 
punkt   von   Her  big,    Delbrück    und    Streitberg,    welche    die    perfektive 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zurKoine  a.  d.  Jahren  ISOS—  1002.  (Witkowski.)     221 

Funktion  für  cälter  erklären.  Mutzbauer  hatte  behauptet,  der  Aorist 
bei  Homer  drücke  die  Perfektivität  aus;  die  Vf.  nimmt  dage;?en  an, 
der  Aorist  habe  zwa.  bei  Homer  überwiegend  die  perfektive,  aber  da- 
neben oft  auch  die  ,,konstative"  Funktion.  Dies  sucht  sie  an  13  Verben, 
die  bei  Homer  vorkommen ,  zu  erweisen.  Hierauf  wendet  sie  sich  zu 
Polybios.  Nicht  alle  Komposita  dienen  bei  diesem  zum  Ausdrucke  der 
Perfektivität;  diese  Funktion  haben  nur  diejenigen,  in  denen  die  ma- 
terielle Bedeutung  der  Präposition  verwischt  sei.  Die  Anfänge  dieser 
Veränderung  der  ursprünglichen  Funktion  des  Aoristes  sieht  P.  schon 
liei  Thukydides  und  Xenophon,  aus  deren  Werken  sie  zahlreiche  Sätze 
auf  diesen  Punkt  hin  untersucht  hat.  Ihre  These  sucht  die  Vf.  durch 
Prüfung  von  26  Polybianischen  Verba  zu  erweisen.  Ausnahmen  von 
der  allgemeinen  Regel  bilden  1.  einige  Komposita,  die  imperfektiv 
(durativ)  sind.  Zu  ihnen  gehören:  y.a9r)|i,at,  xaOeuSw  und  xai:ax£i|i-at, 
2.  einige  Simplicia,  die  im  Aorist  perfektive  Bedeutung  zeigen;  es  sind 
dies:    esTrjv,  I'yvwv,  äV/ov,  -/.paxioi,   xuptsuo). 

Das  Ergebnis  der  Untersuchungen  Purdies,  welches  von  Brugmann 
Or.  Gr.^  1900,  482 — 4  im  wesentlichen  anerkannt  worden  ist,  wurde 
in  Frage  gestellt  durch  die  oben  genannte  Arbeit  Meltzers.  M.  be- 
ginnt ebenfalls  mit  der  Prüfung  des  Begriffes  „perfektiv".  Den  Namen 
„perfektiv  schränkt  er  nicht  mit  Delbrück  und  Brugmann  auf  den  Fall 
ein,  daß  ein  Simplex  durch  Präfigierung  einer  Präposition  perfektiv 
wird.  Vielmehr  gebraucht  er  ihn  mit  Purdie  und  Streitberg  auch  von 
reinen  Simplicia,  wie  dies  in  der  slawischen  Grammatik  geschieht,  ja, 
eigentlich  nur  von  diesen,  denn  nach  M.  besitzt  die  Präfigierung  nicht 
die  Kraft,  wirklich  zu  perfekti vieren.  Perfektive  Aktion  liegt  nach  ihm 
noch  nicht  vor,  wenn  der  Endpunkt  nur  ins  Auge  gefaßt  wird  oder  seine 
Erreichung  aus  dem  Zusammenhang  erhellt,  sondern  erst  dann,  wenn  sie 
vom  Redenden  bezeichnet  und  ausgedrückt  ist.  Hierauf  unterzieht  M. 
die  Methode  P.s  einer  in  den  Hauptpunkten  berechtigten  Kritik.  Er 
betont  die  Stiluutei'schiede  der  Poesie  und  Prosa:  bei  Homer  mußte  der 
konstatierende  Aorist  von  selbst  zurücktreten,  weil  er  als  Epiker  das 
malende  Imperfekt  vorzieht,  wo  später  die  Prosa  den  nüchternen  Aorist 
gebraucht.  Er  wirft  der  Vf.  vor,  daß  sie  nicht  die  Ausgabe  von 
Hultsch  oder  Büttner- Wobst,  sondern  die  nivellierende  Dindorfsche  ihrer 
Untersuchung  zugrunde  gelegt  hat.  Der  wichtigste  Einwand,  der  gegen 
die  Vf.  erhoben  werden  kann  und  auch  von  M.  erhoben  ist,  richtet  sich 
dagegen,  daß  sie  das  Hiatusgesetz  bei  Polybios  gänzlich  außer  acht  ge- 
lassen hat.  Schon  Mollenhauer  (De  verbis  compositis  Polybianis,  Halle 
1881)  hat  nachgewiesen,  daß  dva7i£[i,T:2iv,  StaTrefXTreiv,  oiaTitaretv  bei  Poly- 
bios ohne  Unterschied  vom  Simplex  erscheint  und  Kälker  (De  elocut. 
Polyb.  1880)    hat  den  Satz  ausgesprochen,    daß  die  Wahl  des  Simplex 


222     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

oder  Kompositums  oft  nur  durch  das  Streben  nach  der  Vermeiduno:  des 
Hiatus  bedingt  ist.  Demnach  waren  von  vornherein  sämtliche  Beispiel© 
auszuscheiden,  in  denen  ein  Kompositum  durch  die  Scheu  vor  dem 
Hiatus  gebraucht  worden  ist,  also  nach  einem  Vokale  alle  diejenigen 
augmentierten  Formen,  in  denen  das  präpositionelle  Präfix  mit  einem 
Konsonanten  beginnt;  ferner  alle  augmentlosen  Formen,  in  denen  das 
Simplex  einen  vokalischen  Anlaut  hat.  Leider  ist  auch  Meltzer  von 
dieser  Sünde  nicht  ganz  freizusprechen,  weil  er  zwar  in  solchen  Bei- 
spielen den  Hiatus  nicht  unbeachtet  läßt,  sie  aber  trotzdem  verwertet, 
z.  B.  Pol.  1,  34,  4  (S.  352),  Pol.  2,  46,  3  u.  a.  (S.  353)  usw.  —  Ich 
möchte  gegen  P.  noch  einen  weiteren  Einwand  erheben.  In  vielen 
Fällen,  wo  P.  perfektiven  Aorist  annimmt,  haben  wir  vielmehr  termi- 
native  Aktion.  So  besonders  oft  beim  Worte  otwxeiv.  Die  Komposita 
dieses  Wortes  mit  auv-  und  xara-  haben  nach  P.  nicht  selten  „effektive" 
Bedeutung,  „i.  e.  they  denote  the  successful  carrying  out  of  the  pursuit 
up  to  a  given  point."  Ganz  deutlich  ist  die  terminative  Funktion  z.  B. 
Pol.  11,  14,  7  ojJTrep  oux  auxöv  xov  cpoßov  ixavov  ovra  tüu?  aira;  e^xXivavxac 
a^pi  xüiv  TiuXcüv  auvöttuxeiv  oder  1.  34,  4  xpstJ'aiJ.Evoi  ok  xotSxou?  iTiexetvxo 
xal  xaxeoicuxov  auxou?  £co?  s.U  xov  yotpaxa.  P.  nennt  die  Aktion  in 
diesen  Beispielen  perfektiv.  Hierauf  erörtert  M.  die  Frage,  welche 
Wurzeln  neben  ihrem  punktuellen  Aoriste  auch  noch  einen  „punktuali- 
sierenden"  („konstatierenden",  „komplexiven")  bilden  können.  Seine 
Antwort  lautet:  1.  Aoriste  von  punktuellen  Wurzeln  (z.  B.  döoy),  die 
mit  Präsentien  von  nichtpunktuellen  Wurzeln  (opui)  zu  einem  System 
zusammengeschlossen  werden,  sind  stets  punktuell.  2.  Aoriste  von 
punktuellen  Wurzeln  (z.  B.  e^vojv),  deren  Präsentia  von  dieser  Wurzel 
gebildet  werden  und  neben  dem  inkohativen  Sinne  auch  einen  durativen 
haben,  sind  höchstwahrscheinlich  ebenso  punktuell.  3.  Aoriste  von 
„zweiseitigen"  Präsentien  (z.  B.  cpsu'/cu)  (a)  inkohativ;  „mache  mich  an 
die  Flucht-*,  b)  durativ:  „bin  auf  der  Flucht")  sind  gemischt,  d.  h.  a) 
Ingressiv  oder  resultativ  („bin  entflohen"  oder  „entkommen"),  b)  punk- 
tualisierend  („konstativ")  („bin  auf  der  Flucht  gewesen").  Eine  Unter- 
suchung von  13  homerischen  Verba  ergibt  dem  Vf.,  daß  die  perfektive 
Bedeutung  des  Aorists  bei  Homer  vor  der  „konstativen"  noch  viel 
stärker  überwiegt,  als  dies  Purdie  annimmt. 

Was  Polybios  anlangt,  so  bestreitet  M.  mit  Recht,  daß  hier  von 
einem  scharfen  Gegensatz  zwischen  materieller  und  perfektiver  Bedeutung 
des  Präfixes  in  den  Komposita  die  Rede  sein  könne.  Berechtigt  ist 
auch  der  Einwand,  daß  man  sich  nicht  auf  auv,  did  und  xaxa  beschränken 
darf;  an6  muß  ebenfalls  herangezogen  werden,  und  M.  möchte  auch 
dvo,  tk  und  Iy.  heranziehen,  ja  nicht  einmal  [xsxa  beiseite  lassen. 
Er  weist  ferner  darauf  hin,  daß  gerade  auf  dem  Gebiete  der  Aktions- 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.Jalireo  1898—1902.  (Witkowski.)     223 

art  das  Sprachüeliilil  seit  Anbeginn  der  griechisclien  Überlieferung-  bis 
auf  den  lieutiuen  Tag  sicli  nicht  geändert  hat.  Weiterhin  l<önne  man 
nicht  bei  Thukydides  und  Xenophon  von  einer  stufenmäßigen  Abnahme 
der  perfektiven  Kraft  reden.  Piudie  hatte  für  Polybios  folgendes  Er- 
gebnis erhalten:  Der  Aorist  des  verbum  simplex  ist  „konstativ",  der- 
jenige des  verbnm  compositum  momentan-perfektiv  (punktuell)  und  zwar 
entweder  ingressiv  oder  effektiv.  Das  Imperfektum  des  simplex  ist  du- 
rativ, des  compositum  durativ-perfektiv  (linear-perfektiv).  Meltzer  er- 
hält folgendes  Ergebnis:  Beim  Simplex  ist  der  Aorist  nicht  nur  „kon- 
statiV,  sondern  auch  perfektiv,  beim  Kompositum  nicht  nur  punktuell- 
perfektiv,  sondern  auch  linear  perfektiv  („konstativ");  das  Imperfekt 
ist  beim  Simplex  durativ  (auch  inkohativ  usw.),  beim  Kompositum  im- 
perfektiv und  zwar  gern  termiuativ.  Die  Präfigierung  läßt  also 
nach  M.  die  Aktion  durchaus  unverändert,  sie  kann  jedoch 
innerhalb  derselben  gewisse  Schattierungen  bewirken,  im  Präsens  be- 
sonders die  «finitive"  (d.  h.  derartige  terminative,  bei  welcher  der  End- 
punkt ins  Auge  gefaßt  wird).  M.s  Ergebnis  stimmt  also  in  der  Haupt- 
sache mit  der  alten  Ansicht  von  Miklosich  (vgl.  Gr.  d.  slaw.  Spr.  4,  291), 
wonach  die  Prätixe  im  Griechischen  auf  die  x\ktionsart  der  Verba  keinen 
Einfluß  haben,  sowie  mit  derjenigen  Herbigs,  nach  welchem  (I.  F.  G,  230) 
in  späterem  Griechisch  eine  Annäherung  an  die  Perfektivierung  im 
Keime  vorliege,  aber  von  einem  wiiklich  entwickelten  perfektiven  Ge- 
brauch der  verbalen  Komposita  nicht  die  Rede  sein  könne. 

M.  besitzt  eine  umfassende  Belesenheit  auf  dem  Gebiete  der  ver- 
balen Aktionsarten  sowie  des  Polybianischen  Sprachgebrauches. 

Man  wird  billigerweise  ein  endgültiges  Urteil  in  der  äußerst 
schwierigen  Frage  nach  der  Aktionsart  des  späteren  griechischen  Aoristes 
von  mir  nicht  erwarten.  Dazu  müßten  sämtliche  von  beiden  Verfassern 
ihren  Arbeiten  zugrunde  gelegten  Belege  zuvor  einer  gründlichen  Prüfung 
unterzogen  werden.  Aber  auch  dies  würde  schwerlich  zur  Lösung  der 
Frage  genügen.  Das  Beobachtungsmaterial  ist  in  beiden  Arbeiten  doch 
wohl  zu  beschränkt.  Die  Verfasser  haben  ja  nicht  einmal  bei  den  von 
ihnen  berücksichtigten  Autoreu  (Homer,  Thukj'-dides,  Xenophon,  Polybios) 
sämtliche  Verba  in  allen  Aoristformeu  herangezogen.  Eine  klare  Ein- 
sicht in  diese  Dinge  wird  sich  nur  gewinnen  lassen,  wenn  das  Material 
mit  statistischer  Vollständigkeit  gesammelt  und  verarbeitet  vorliegen 
wird.  Ferner  wird  sich  die  Frage  ohne  Heranziehung  des  Slawischen 
kaum  lösen  lassen.  Im  Slawischen  sind  ja  diese  Verhältnisse  besonders 
scharf  und  deutlich.  Man  wird  jedoch  sowohl  beim  Griechischen  als 
beim  Slawischen  neben  der  Syntax  auch  die  Wortbildung  ins  Auge 
lassen  müssen,  denn  diese  beiden  Seiten  des  Verburas  bedingen  sich  hier 
gegenseitig    in  ganz  besonderem  Grade,     Die  perfektive  und  die  itera- 


224     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

tive  Aktion  kreuzen  sich  ungemein  oft.  Die  ganze  Frage  ist  für  das 
Griechische  von  hervorragender  Bedeutung  und  fordert  dringend  eine 
Lösung. 

Die  von  Delbrück  angeregten  Fragen  über  die  Aktionsarten 
werden  gegenwärtig  lebhaft  erörtert.  Ich  nenne  hier  zwei  Arbeiten: 
Pedersen,  Zur  Lehre  von  den  Aktionsarten.  K.  Z.  37,  S.  219—250 
«nd  Chr.  Sarauw,  Syntaktisches,  I.  Kritik  des  Begriffes  punktuell  etc. 
K.  Z.  1902  S.  145 — 1.94,  ohne  auf  sie  näher  einzugehen,  weil  sie  außer- 
halb der  Rahmen  dieses  Berichtes  liegen. 

Die  Arbeiten  von  Purdie  und  Meltzer  betreffen  direkt  die  lite- 
rarische Koine.  Die  Sj^ntax  der  Inschriften  ist  noch  gar  nicht  in 
Angriff  genommen.  Für  die  Syntax  der  Papyri  haben  wir  den  ein- 
zigen Beitrag  in  der  unten  zu  besprechenden  Arbeit  von  Völker. 

*Allinson,  On  causes  coutributory  to  the  loss  of  the 
Optative  etc.  in  later  Greek,  in:  Studies  in  honour  of  Basil 
Gildersleeve,  Baltimore  1902. 

'Ganz  dürftig'.     W.  Kroll  B.  ph.  W.  1903  Sp.  462. 
*E.  L.  Green,  [xrj  for  ou  before  Luciau,  in:  Studies  in  ho- 
nour of  Basil  Gildersleeve,  Baltimore  1902. 

W.  Crönert,  Die  adverbialen  Komparativformeu  auf  -«i> 
(Philol.  61,  1902,  S.  161-192) 
bespricht  eine  interessante  Spracherscheinung:  Formen  wie  -X$i(d,  eXaxTm, 
jieiCcD  usw.,  die  adverbial  gebraucht  werden,  z.  B,  Diod.  13,  91  rüiv  ot 
vstjjv  aovr)9pöia[JLeva)v  et;  eva  totiov  ou  -oXXaic  iXaztu)  tujv  -cp'.axosiwv.  Sie 
stehen  für  den  Xom.  Sg.  aller  Geschlechter,  für  Akk.  -Xsiov,  aber  auch 
für  alle  andere  Kasus,  wie  =  -ovo;,  -ovi,  -ovs;,  -ova;,  -ovcuv,  -oai.  Die 
ersten  Spuren  dieses  Gebrauchs  finden  sich  schon  bei  Homer  (Zenodot). 
Vf.  stellt  Beispiele  dieser  Erscheinung  von  den  ältesten  Zeiten  bis  in 
die  byzantinische  Periode  zusammen.  In  den  Inschriften  sind  solche 
JFormen  selten,  sie  finden  sich  jedoch  in  den  ägyptischen  Papyri,  am 
zahlreichsten  sind  sie  in  der  Literatur.  Nach  Cr.  gehören  sie  der  leben- 
digen Koine  au,  vorzüglich  der  ägyptischen;  in  die  Koine  sind  sie  aus 
dem  Ionischen  gewandert.  Ich  vermute,  daß  der  Ausgangspunkt  in  den 
Komp.  tcXsiü>,  eXaoaw  liegt,  die  in  allen  Sprachen  besonders  gern  adver- 
bial gebraucht  werden.  Nebenbei  werden  auch  Wendungen:  TtXeov  sXaxTov, 
sowie  [i-siCcu  9pov£rv,  -Xet'üi  9povsrv  (neben  ^itia  cppovstv)  besprochen.  Crö- 
nert hat  das  Verdienst,  auf  diese  merkwürdige  Tatsache  aufmerksam 
gemacht  zu  haben;  von  älteren  Herausgebern  wurden  diese  adverbialen 
Formen  gewöhnlich  geändert. 

A.  Deißraanu,    Der  Artikel    vor  Personennamen    in    der 
spätgriechischen  Umgangssprache.  B.  ph.W.  1902,  Sp.  1467—8. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Wltkowski.)     225 

Verteidigt  seine  Schreibung  tyiv  IloXiTty.yiv  in  einem  Papyrus  über 
diokletianische  Verfolgung,  indem  er  Beispiele  beibringt,  wo  Namen 
vorher  nicht  genannter  Personen  mit  dem  Artikel  versehen  werden ; 
eines  dieser  Beispiele  stammt  aus  ptolemäischer  Zeit. 

A.  Deißmann,  Die  griechische  Titulatur  desTriuravirn 
Marcus  Antonius  (Hermes  33,  1898,  S.  344) 

handelt  über  Konstruktionen  wie  ol  a-o  t9]c  'Anloa  "EX>.Yjvei. 

d)    Lexikalisches. 

H.  van  Herwerden,    Lexicon    graecnra    suppletorinm  et 
dialecticura.     Lugd    Bat.  1902. 

Stellt  neue  Wörter  und  neue  Bedeutungen  bekannter  Wörter  auf 
Grund  der  in  der  2.  Hälfte  des  19.  Jhd.  entdeckten  Schriftstellertexte, 
Papyri  und  Inschriften,  ferner  die  bei  den  Autoren  und  Grammatikern 
erhaltenen  Dialekttürmeu  zusammen.  Von  den  Glossen  sind  vollständig 
diejenigen  aulgenommen  worden,  welche  vom  Grammatiker  ausdrücklich 
einem  bestimmten  Dialekte  zugeschrieben  werden,  von  den  übrigen  die 
wichtigeren.  Von  den  Eiueunamen  wurden  nur  bestimmte  Klassen  be- 
rücksichtigt. Vf.  bekennt  selber,  daß  seine  Sammlung  sich  schwerlich 
als  vollständig  erweisen  wird,  aber  schon  das  Verzeichnis  der  von  ihm 
herangezogenen  Publikationen  zeigt,  daß  ihm  keine  wiclitigere  entgangen 
ist.  Die  Kritik  hat  an  diesem  Werke  manches  ausgesetzt,  und  ohne 
Zweifel  ist  es  nicht  frei  von  Mängeln.  Dies  ist  aber  natürlich,  schon  aus 
dem  Giunde,  weil  es  nicht  möglich  ist,  einen  so  kolossalen  Stoff  nach 
a,llen  Seiten  hin  gründlich  durchzuarbeiten.  In  dem  Werke  liegt  eine 
unseheuie  Masse  Arbeit;  schwerlich  hat  ein  zweiter  Gelehrter  diese 
Publikationen  durchgearbeitet.  H.s  Lexikon  ist  eine  höchst  willkommene 
und  verdienstliche  Eigänzung  des  Thesaurus  von  Stephanus,  und  wir 
müssen  dem  greisen  Gelehrten  dankbar  sein,  daß  er  uns  ein  so  wich- 
tiges Hilfsmittel  geschenkt  hat.  Beim  Gebrauche  des  Werkes  ist  nicht 
zu  vergessen,  daß  manches  in  dem  Hauptteile  fehlende  Wort  in  den 
Addeuda  nachgetragen  ist. 

*A.  Thumb,  Die  Namen  der  Wochentage  im  Griechischen. 
Zeitschr.  f.  deut.  Wortforschung  1  (1900),  S.  163—173. 

Inhaltsangabe  I.  F.  13  (1902),  Auz.  119 'Deutliche  An- 
sätze zu  einer  festen  Benennnng  einzelner  Tage  finden  sich  schon  vor 
dem  Aufkommen  der  Wochentagsnamen  in  Papyri.  Die  Woche  tritt 
deatlicu  erst  bei  den  griechisch  redenden  Juden  hervor.  Im  christlichen 
Hellenismus  setzt  sich  die  alte,  mit  der  LXX  beginnende  Übung  fest 
Jahresbericht  ftlr  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.    (1904.    I.)  15 


226     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S9S- 1902.  (Witkowski.) 

und  behauptet  sich.'  Th.  stellt  die  ältesten  Zengoisse  für  die  Woobe 
und  ihre  Tage  aus  Papyri,  Inschriften  und  Schriftstellern  zusammen. 

e)    Vermischtes. 

W.  Schulze,  Graeca  Latiua.     Clottingae  1901. 

Diese  Arbeit  handelt  unter  anderem  über  Au«drucksweisen  wie 
rt.uk  ouo  o'M  (entstanden  aus  dva  S-jo  und  Süo  Suo;  schon  bei  Aischyl. 
;xupta  fjLupia);  ßtaiaavTt  ixect  X';*)  upo  uoX^ou  xrf,  t:6Ä£ü);  'in  großer  Ent- 
fernung von  der  Stadt'  (z.  B.  LXX,  Diod.,  Strabo,  Dionys.,  Jos.,  App., 
Inschr.);  fiexa  osxa  ety)  -oü  oixvjaai  (LXX,  Dion.  H.)  (die  letztere  Redens- 
art ist  kein  Latinismus,  sie  hat  mit:  an'e  diem  quartum  nonas  .  .  . 
nichts  gemeinsam) ;  über  Verblassung  von  Deminutiven  ((Lti'ov  LXX  =  o^?)  ; 
Ij,£vtu  =  pernocto  (Pol.);  Tiotew  xov  -^povov  =  oia-rptßtu  x.  '/^.  (LXX);  O'.a- 
xpsro}xai  =  pudore  confuudor  (LXX). 

L.  ßadermacher,  Griechischer  Sprachbrau cii  (Pbilol.  60, 
1901,  S.  491—501) 

bringt  kleinere  Beiträge  zum  späteren  Grriechisch.  Pap.  Rain,  des  6.  Jhd. 
(Wien.  Stud.  9,  S  260)  wird  der  augebliche  Nom.  (Akk )  PI.  asi,-  'ihr' 
(in:  csi;  xpixov)  beseitigt  (R.  liest:  es  i;  xpixov).  Hierauf  gibt  R.  eine 
dankenswerte  Zusammenstellung  von  neutralen  Adverbien  in  der  Koine 
(z.  B.  [xsxpiov  =  }j-£xptü)c),  redet  von  vulgärer  Verwechselung  von  w;  und 
£(oc,  von  den  Bildungen  e^aXXo;  'außergewöhnlich'  und  l^avöpojTro;  und 
von  den  Worten  des  Kallimachos  (in  Apoll.  103)  Vr\  Vi\  Tai^ov  Tsi  ßeXoc, 
in  denen  eine  etymologische  Spielerei  mit  isi  Tsi  r^dx  i6v  vermutet  und 
daraus  Schluss  über  die  Aussprache  von  st  und  y)  im  'i.  Jhd.  ge- 
zogen wird. 


A.    Die  Umgangssprache. 

I.    Papyri  (und  Ostraka). 

Bei  dieser  Quellenklasse  will  ich  von  der  konsequenten  Durch- 
führung meiner  Einteilung  in  einem  Punkte  abweichen:  an  die  nicht- 
literarischen Papyri  will  ich  die  literarischen  anschließen. 


*)  Dat.  comparationis  statt  Abi.  comp.  (nulU  minor  etc.)  (Schulze 
S.  14)  scheint  mir  seinen  Ausgangspunkt  in  solchen  Ausdrücken  zu  haben 
wie  der  von  mir  angeführte;  nulli  minor  =  nulli  cedens.  Sagte  man  ein- 
mal: nulli  minor,  so  konnte  dann  auch  gesagt  werden:  nulli  maior. 
Vielleicht  wirkten  aber  bei  diesem  letzteren  Typus  die  Verba  des  Über- 
treffens: nulli  praestans  u.  ähnl.  mit. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zurKoiae  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     227 

Über  die  Papyrusliteratur  von  den  70er  Jahren  bis  1898  handelte 
in  diesem  Berichte  einsehend  P.  Viereck  Bd.  102  (1899). 

U.  Wilckeu  informiert  in  seinem  auf  der  Straßburger  Philologea- 
versaramlung  1901  gehaltenen  Vortrage  „Der  heutige  Stand  der 
Tapyrusforschung"  (N  Jb.  7,  1901,  S.  677—691)  unter  anderen 
auch  über  die  sprachlichen  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  in  den  Jahren 
1897 — 1901  und  die  wichtigeren  neu.  entdeckten  literarischen  Texte. 
W.  betont  die  Bedeutnug  der  Papyri  für  die  griech.  Sprachgeschichte, 
besonders  für  die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Koine,  auch  für  die 
Frage  nach  der  Stellung  des  sog.  Bibelgriechisch,  sowie  die  Bereicherung 
des  griechischen  Woitschatzes  durch  die  neuen  Papyrusurkunden. 

1.  Die  uichtliterarischeu  Papyri. 
a)  Laat-  and  Formenlehre. 

Eine  Spezialgramraatik  der  ptolemäischen  Papyri  gab 

E.  Mayser,  Grammatik  der  griechischen  Papyri  aus  der 
Ptolemäerzeit.  1.  Teil  [Voka}ismus|.  Programm  von  Heilbroun. 
Leipzig,  Teubner,  1898.  —  2.  Teil.  Konsonantismus.  Programm 
Stuttgart  1900. 

Bisher  liegt  demnach  nur  die  Bearbeitung  der  Lautlehre  vor. 
M.  behandelt  sowohl  die  literarischen  als  die  uichtliterarischeu  Papyri- 
Wollte  er  die  ersteren  überhaupt  heranziehen,  so  waren  sie  von 
den  nichtliterarischen  durchweg  zu  scheiden.*)  Dies  geschieht  indes 
nicht  oder  es  geschieht  in  ungenügender  Weise  (vgl.  z.  B.  S.  1  Anm. 
14,  S.  4,  2a  und  öfter).  Wichtiger  ist,  daß  innerhalb  der  nichtlite- 
rarischen Uikunden  die  verschiedenen  Sprachschichteu  nicht  auseinander 
gehalten  weiden.  Bei  den  Papyri  ist  diese  Scheidung  noch  notwendiger 
als  bei  den  Inschriften,  weil  die  Bildungsunterschiede  hier  bedeutend 
stärker  sind  als  bei  jenen.  Man  stelle  nur  eine  Urkunde  aus  der  könig- 
lichen Kanzlei  neben  einen  von  Fehlern  wimmelnden  Privatbrief  oder 
eine  Traurabeschreibung.  Vf.  ahnte  das,  aber  er  setzte  sich  darüber 
leichten  Herzens  hinweg.  I,  S.  XI  äußert  er  sich  in  dieser  Beziehung* 
so:  „Dagegen  hat  sich  mir  eine  Abhandlung  des  gesamten  Stoffes  nach 
den  Klassen  der  Verfasser,  in  Hinsicht  ihrer  Zugehörigkeit  zu  ver- 
schiedenen Nationalitäten,  Ständen  und  Berufsarten,  nach  mehrfachen 
Versuchen,  als  nicht  durchführbar  herausgestellt."  —  „In  bezug  auf 
Stände    und   politische    Stellung    machen    sich    allerdings    Unterschiede 


*)  Am   besten   waren  sie   in  Anmerkungen,   als  Parallelen,   zu   bc 
bandeln. 

15* 


228     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

geltend,  nnd  man  könnte  in  dieser  Beziehung-  die  aus  der  könig- 
lichen Kanzlei  stammenden  Dokumente,  lichterliche  Entscheidungen 
und  Aktenstücke,  Kontiakte  nnd  Bankanweisnniren,  Schrittstücke 
niederer  königlicher  Beamten,  den  Privaturkunden  und  Briefen 
gegenübei stellen."  Eine  Einteilung  des  Stoffes  nach  der  Zugehörigkeit 
der  Verfasser  zu  vejschiedenen  Nationalitäten,  oder,  was  wichtiger  wäre, 
zu  verschieilenen  Stämmen  ist  gewiß  nicht  durchführbar.  Aber  eine  Ein- 
teilung nach  den  Ständen  der  Verfasser  oder,  besser  gesagt,  nach  ihrem 
Bildungsgrade  ließ  sich  durchführen.  Gewiß  bietet  sie  Schwierigkeiten, 
aber  es  handelt  sich  ja  hier  nicht  um  eine  haarscharfe  S:heidung. 
Schweizer  stieß  bei  der  Einteilung  der  pergamenischen  Inschriften 
auch  auf  Schwierigkeiten  —  es  genügt,  an  die  Briete  nach  Pessinunt 
zu  erinnern  — ,  trotzdem  ließ  er  sich  durch  die  Schwierigkeiten  von 
einer  Einteilung  nicht  abschrecken.  Ich  will  von  dem  Vf.  nicht  zuviel 
verlangen  :  eine  Einteilung  in  sort.'fältiy:e  und  nachlässige  Urkunden  hätte 
zur  Not  genügt,  v.ie  sie  bei  Crönert  Quaestt.  Herc.  völlig  genügt.  (Vgl, 
auch  K.  Dieterich  B.  Z.  9,  1900,  S.  534  f.).  Mayser  vernichtet  auf 
jede  F^inteiluiig  und  tröstet  sich  damit,  daß  die  hauptsächlichsten 
Charakteristika  sich  über  alle  Klassen  verbreiten.  Er  verspricht  zwar 
in  der  Einleitung:  „Auf  die  Klassifizierung  der  einzelnen  Papyri  wird 
in  den  Einzelaustühruusfen  gebührend  Rücksicht  genommen  werden," 
aber  dies  geschieht  in  der  Tat  sehr  selten.  Infolgedessen  haben  seine 
Zusanimenstelluügen  von  Belegen  oft  einen  gerintren  Wert,  wenn  er 
z.  B.,  um  die  Schreibung  arsTstaa,  £|x£t^a  usw'.  (I  S.  25  f.)  als  korrekt 
zu  erweisen,  neben  Ui künden  mit  korrekter  Orthographie  auch  nach- 
lässig geschriebene  zu  Zeugen  anruft.  So  hat  feiner  die  Schreibung 
{^poiojituX'.ov  für  die  Frage  der  Orthographie  gar  keinen  Wert,  weil  sie 
in  einem  Papyrus  steht,  der  von  Fehlern  wimmelt.  —  Es  muß  weiter 
gegen  den  Vf.  der  Vorwurf  erhoben  werden,  daß  er  die  erste  Hand 
sehr  oft  unbeachtet  läßt,  obwohl  sie  für  die  Fragen  der  Lautlehre 
höchst  wichtig  ist,  da  sie  allein  uns  oft  über  die  wirkliche  Aussprache 
belehrt,  während  die  zweite  Hand  das  Sehulmäßige  eintülirt.  —  Eline 
große  Schwierigkeit  lag  für  den  Bearbeiter  darin,  daß  unsere  Papyras- 
edilionen  sehr  oft  falsche  Angaben  über  Lesarten  der  Urkunden  ent- 
halten. Dies  betrifft  vor  allem  die  Pariser  PapjTi:  Vf.  hat  sich 
redlich  die  Mühe  gegeben,  die  Lesungen  der  Herausgeber  nachznprüfen. 
Seine  Kollationen  stimmen  in  den  allermeisten  Fällen  mit  den  in  meinem 
Prodromns  grammaticae  papyrorum  (Kiakau  1897)  veröffentlichten  über- 
ein. Ich  habe  in  der  genannten  Arbeit  ausdrücklich  eiklSrt,  daß  ich 
nur  eine  Auslese  der  wichtigeren  Lesarten  gebe.  Mayser  bringt  1 
S.  VIII  Anm.  1  Revision  weiterer  Stellen.  A.  a.  O.  bemerkt  er,  in 
zwei    wichtigen  Fragen    stehe    er    der    Pap3Tnssprache    gegenüber    auf 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898-1902.  (Witkowski.)     229 

einem  anderen  Standpunkte  als  ich:  einmal  in  bezug  auf  die  Überreste 
der  Dialekte  in  der  Papyrnssprache,  zweitens  im  Verliältnis  zum 
Itazisraus.  Meine  Auffassung  der  ersteren  Fraye  habe  ich  bereits 
oben  darizeletjt.  Mayser  j^'ibt  au,  daß  es  im  mündlichen  Vtrkehr 
genug-  Anlaß  zur  Sprachvermischung  gab  (I  S.  IX),  „allein  die  Trag- 
weite dieses  Faktors  ist"  nach  ihm  „für  die  geschriebene  Sprache 
nicht  zu  überschätzen".  Für  die  Sprache  der  Papjni  leuunet  er  auch 
diu  Dialektismen  nach  Möglichkeit.  M.  hält  also  offenbar  die  Papyri 
für  Zeugen  der  geschriebenen  Sprache.  Das  ist  ein  ganz  falscher 
Standpunkt.  Was  den  Itazismus  betrifft,  so  ist  mir  unverständlich, 
warum  M.  den  Übeigang  von  st  in  i  nicht  zum  Itazismus  rechnet. 
Daß  der  Standpunkt  M.s  in  der  FrHge  des  Itazismus  ein  verkehrter 
ist,  hat  bereits  Karl  Dieterich  (B.  Z.  IX,  1900,  S.  535)  hervorge- 
hoben; derselbe  hat  auch  aus  Mayser  Stellen  anselührt,  an  denen  dieser 
sich  selber  widei  spricht.  —  Hiermit  habe  ich  bereits  die  wissenschaft- 
liche Bearbeitung  des  Stoff'es  beiülirt.  In  der  Anordnung  desselben 
folgte  M.  dem  Beispiel  des  Meisterhans.  Es  ist  bereits  von  Dieteiich 
hervorgehoben  worden,  daß  diese  Anordnung  für  die  Papyri  niclit  paßt, 
weil  bei  den  Papyri  der  Stoff  ein  anders  gearteter  ist.  Ebensowenig 
befriedigt  M  s  Bearbeitung:  Vf.  ist  mit  wissenschaftlicher  Phonetik  zu 
wenig  vertraut  (vgl.  auch  Dieterich  a.  a.  0.).  Wenn  a  in  s  übergeht, 
redet  M.  von  „Lautverschlechterung"  (I  S.  8).  Erklärung  scliwieriger 
Formen  wird  oft  nicht  versucht  (vgl.  z.  B.  oiwpucpo;  statt  oitupo^oc 
S.  12).  —  Die  beiden  veröffetitlichteu  Hefte  enthalten  leidt-r  keinen 
Index  vocabulorum.  —  Papyri  des  Biit.  M.  zitiert  M.  nach  Seiten  der 
Ausgabe;  die  Nummern  der  Papyri  vermißt  man  ungern. 

Was  die  Vollständigkeit  des  Materials  betrifft,  so  wäre  es  leicht 
zu  zeigen,  daß  M.  gai-  manches  entgangen  ist.  Einiges  hat  schon  "W. 
Cröuert  nachgetragen  (Arch.  f.  Pap.  I,  S.  210  ff  ).*) 


*)  Um  nur  einen  Punkt  zu  berühren,  so  fehlen  unter  ,3  statt  v;'' 
folgende  Belege:  jis  (wotil  =--  ji/^)  Fl.  P.  II  4,  9,  7  (a.  255/1),  yoz^^o-j.zo^  Fl.  P. 
II  14,  Ib,  1  (3  Jhd.)  (so  in  P),  X(u-£|iiooc  Fl.  P.  II  27,  3,  7  (3  Jhd.),  ji^va 
(3  korrigiert  in  /,),  Brit.  18,  33  (a.  161),  /.czOix  •.  (=  korr.  in  /])  Biit.  23a  (p.  38) 
21  (a.  158),  -;.ojc/v3vszyJ>T]  (-- -rjvr/Jlr,)  Brit.  23  d  75  (a.  15817),  iv-/j)r;  Brit.  23 
d  SO  lin  beiden  letzteren  Belegen  ist  es  schwer  zu  entscheiden,  ob  Vokal- 
vertauscIiUBü  oder  Fehlendes  Aujimeiites  vorliegt,  weil  die  Urkunde  nachlässig 
geschrieben  ist);  3'ju-so'.;v3vr]j.xEv[inc  (=  -£vr,vc-(jjL-)  Par.  8,  14  (,a  129)  (wohl 
ohne  Redupl,  weil  die  Urkunde  sonst  fast  fehleifrei  ist);  Z  äv  ivjyjpcfasv 
Fl.  P.  II  22,  13  (3.  Jhd.)  (wühl  ohue  Augment,  weil  die  Urkunde  sonst 
korrekt  geschiieben  ist). 

Unter  „vj  statt  s"  fehlen:  -oXtiuisIov  (75  korr.  in  st)  Fl.  P.  II  13,  15,  3 


230     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  189S— 1902.  (Witkowski.) 

Gegen  Spezialgrammatiken  wie  diejenigen  Maysers  oder 
Schweizers  wird  immer  wieder  der  Einwand  eriioben,  eine  Grammatik 
der  Papyri,  der  Inschriften  usw.  hätte  keine  Berechtigung,  da  es  eine 
Sprache  der  Papyri,  eine  Sprache  der  Inschriften  usw.  nicht  gebe.  Das 
ist  ja  selbstverständlich  und  jeder  Verfasser  einer  Spezialgrammatik  weiß 
es  ebensowohl  wie  seine  Rezensenten;  es  wäre  wirklich  Zeit,  diesen» 
ewigen  Herumreden  ein  Ende  zu  macheu.  Der  ganze  Streit  ist  ja 
nichts  anderes  als  eine  verbi  controversia.  Daß  eine  Spezialgrammatik 
aus  praktischen  Gründen  berechtigt  ist,  geben  alle  zu,  und  die  Verfasser 
solcher  Grammatiken  lassen  sich  doch  durch  nichts  anderes  als  eben 
durch  diese  Gründe  bestimmen.  Der  Name  .Grammatik"  sagt  ja  in 
solchen  Fällen  nichts  anderes  als  daß  die  betreffende  Arbeit  nicht  etwa 
zusammenhanglose  Bemerkungen,  sondern  eine  systematische  Zusammen- 
stellung sprachlicher  Tatsachen  enthält.  Wie  soll  man  denn  eine 
solche  Arbeit  überschreiben?  „De  sermone  .  .  ."V  Aber  man  wird  ja 
in  solchem  Falle  denselben  Einwand  ei  heben  I  Für  ähnliche  Haar- 
spalterei müssen  ja  auch  Titel  wie:  ^De  sermone  Polj'bii"  usw'.  als 
falsch  erscheinen.  Es  handelt  sich  hier  indes  um  die  Sache,  nicht  um 
den  Namen.  Bezeichnend  ist,  daß  keiner  von  denjenigen,  die  die  üb- 
lichen Namen  „Grammatik"  oder  „sermo"  kritisieren,  vorgeschlagen 
hat,  wie  solche  Arbeiten  zu  überschreiben  wären.  Wählt  man  einen 
Titel:  ,,De  sonis  et  formis  in  papyris  obviis",  ist  das  ebenso  deutlich 
wie  „Grammatica"?  Die  Freunde  von  Haarspalterei  können  sich 
freuen:  t-ie  haben  erreicht,  daß  Nachmanson  seine  Monographie  über 
die  Sprache  der  masuetischen  Inschriften  nicht  mehr  „Grammatik", 
sondern  „Laute  und  Formen"  betitelt  hat.  Das  geht  noch.  Aber  denke 
man  sich,  daß  jemand  nicht  nur  die  Laut-  und  Formen-,  sondern  auch 
die  Wortbildungslehre,  Syntax,  Lexikalisches  und  Stilistisches  bearbeitet 


(a.  253  ,  -s'o;)  13,  15,  4,  or;  (=  Si)  Fl  P.  II  14,  2,  18  (3.  Jhd.);  bei  f;.»;  (=  zv,-) 
fehlen  Belege  aus  den  Biit.  und  Leid.  Papyri  (bis  auf  einen  einzigen),  und  zwar: 
Brit  22  V  (p.  8)  31  (a.  164/3),  ßrit.  25  (p.  163)  9  (ra  a.  162—0),  Brit.  18  (p.  22) 
5  (a.  161),  Leid.  C  2,  21  (p.  118)  (a.  162-0),  2.  2.5,  Leid  S  2,  25  (a.  159/S), 
3,  33;  3,  37;  4,  20;  4,  24;  6,  31;  7,  10;  Leid.  T  1,  15  (a.  158);  1,  24;  1, 
33;  2,  16;  2,  19;  Brit.  30  (p.  165)  11  (2.  Jhd  nach  Keny.),  15  und  21; 
tz/'c  (w.hl  ^  s'.'-i-cs)  Par.  51,  45  (a  160).  ao>.av-,v'.or,;  steht  außer  an  der 
von  M.  angeführten  Stelle  Leid.  C  4,  3  (a.  160)  noch  in  ders.  Urkunde 
Z.  13.     (vo(p/,'.orj;  steht  Leid.  C  4,  5  (p.  93),  nicht  4,  3). 

Wenn  M    7:/.r,ov£^'>y.;  unter  der  Rubrik:  „v;  statt  c"  nennt,  so  war  auch 

.  z'kr^iu  (=  TzXi«,)  Leid    C  2,  17  (p.  118)  in  diese  Rubrik  aufzunehmen.    Zählt 

er  unter  dieser  Rubrik  d(jyupY/   und  'Eo^r^o;  auf,    so  durften   ß/i>/;to  (Dat., 

=r  ßy^sf)  Par  53,  9  (a.  163—1),  ferner  'H.-iazX^oü;  xo/.siv  Par.  23,  12  (ca.  a.  165) 

und  'llf.(/z/.r,o'j7.o"/,:'.v  Par.  54,  79  (a.  163—1)  nicht  übergangen  werden. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     23 1 

har.  danu  wird  das  alles  im  Titel  stehen  müssen!  Die  armen  Gelehrten, 
die  einen  solchen  ellenlang^en  Titel  werden  zitieren  müssen I 

Über  die  Grenzen,  in  denen  die  Heranziehung  von  Parallelen 
aus  verwandten  Sprachg:ebieten  in  Spezialgrammatiken  erfolgen  soll, 
sind  die  Meinungen  stark  geteilt,  Deißmann  (G.  g.  A.  1898,  S. 
122)  erhebt  gegen  die  nentestamentliche  Grammatik  von  Blaß  den 
Vorwurf,  daß  sie  dieses  verwandte  Material  zu  wenig  berücksichtigt. 
>,Aber  wie  soll  der  Leser  ...  zu  der  Erkenntnis  gelangen,  daß  liie 
Spracherscheinungen  der  im  Neuen  Testament  zusammengefaßten  Schriften 
in  einem  geschichtlichen  Znsammenhang  stehen,  wenn  nicht  überall,  wo 
es  angeht,  dieser  Zusammenhang  von  dem  Grammatiker  nachgewiesen 
oder  doch  angedeutet  wird?"  Anders  dagegen  niteilt  Crönert  (Arch. 
f.  Pap.  1,  S.  215).  Nach  ihm  braucht  z.  B.  in  einer  Grammatik  der 
ptolemäischen  Papyri  außer  den  Verweisen  auf  andere  Darstellungen 
nichts  zu  stehen,  was  nicht  aus  den  Ptolemäerpapyri  geschöpft  ist.  — 
Ich  möchte  nun  glauben,  Parallelen  werden  immer  erwünscht  sein,  so- 
lange wir  keine  Grammatik  der  Koiue  haben.  Nur  darf  durch  Heran- 
ziehung von  Parallelen  die  übersichtliche  Vorführung  des  eigentlichen 
Stoffes  nicht  beeinträchtigt  werden.  Es  wird  sich  demnach  empfehlen 
Parallelen  durch  anderen,  am  besten  kleineren,  Druck  von  dem  eigent- 
lichen Texte  zu  unterscheiden  und  durchweg  a  capite,  also  getrennt, 
vorzuführen.  —  Mit  Recht  verlaugt  Deißmann  a.  a.  0.,  daß  in  solchen 
x\)beiteu  auf  die  Einzelaufgaben  hingewiesen  werde,  die  der  Lösung 
harren. 

J.    H.    Moulton,    Grammatical    notes    from    the    papyri. 
Class.  Rev.  15  (1901),  S.  31-38  u.  S.  434—442 

gibt  Belege  für  wichtigere  Erscheinungen  der  Laut-  und  Formenlehre 
sowie  der  Syntax  des  Noraens  (und  Pronomens)  aus  den  Papja'i,  welche 
die  Sprache  des  Neuen  Testamentes  illustrieren  (Vf.  ist  jüngerer  Sohn 
des  Bearbeiters  der  Winerschen  Grammatik).  Tatsachen,  die  für  diesen 
Zweck  belanglos  waren,  notiert  er  nur  h  -apsp^tp.  Er  stützt  sich  auf 
die  wichtigeren  Papyruspublikationen  (nur  die  Pai-iser  Papyri  sind  wenig 
berücksichtigt).  Die  Belege  sind  nicht  vollständig,  trotzdem  ist  die  Zn- 
sammenstellung verdienstlich,  besonders  für  die  Syntax,  wo  bis  auf  die 
Syntax  des  Akkus.  Sammlungen  überhaupt  fehlen.  Dem  Bildungsgrad 
der  Schreiber  wird  nur  selten  Rechnung  getragen.  Und  doch  wäre  es 
interessant,  zu  wissen,  inwieweit  etwa  die  "Wahl  der  Formen  XT^tj^op.«'. 
—  XiQlJuJ^ojxa'.  oder  lAocajcüv  —  iXa-cTcuv  mit  dem  Bildunusgrade  des 
Schreibers  zusammenhängt.  —  Manches  von  dem,  was  bei  M.  unter 
'Orthography'  steht,  gehört  entweder  in  die  Lautlehre  (so  zi  :  tt)  odev 


232     Bericht  üb.  d.  Literatar  zur  Koine  a.  d  Jahren  1898-1902.  (Witkowski.) 

in  die  Syntax  (eav  statt  av  —  schon  im  2.  Jhd.  v.  Chr.),  mancher  Beleg 
der  Flexion  in  die  Syntax  {izzzlzüaaadai  statt  Inf.  Fut.,  iotv  p.-?)  ivr,v  = 
evTj  und  älinl.).  Zu  den  Belegen  aus  den  Papyri  gibt  M.  Parallelen 
aus  den  Inschriften  (besonders  ans  den  Inscr.  maiis  Aegaei  und  Le- 
tronne,  ßecueil  des  in>criptions)  und  ans  dem  Neuen  Testament.  In  den 
Genetiven  auf  -prj;  und  -vitj;  sieht  M.  keinen  lonismus,  sondern  eine 
"Wirkung  der  Analogie.  Bei  den  Formen  anf  -i;.  -tv  (=  -lo;,  -lov)  hebt 
er  gegen  Hatzidakis  (Latinismus)  hervor,  daß  Vokative  auf  -t  selten 
sind.  Im  3.  Jhd  v.  Chr.  haben  wir  schon  vjixioXtv  Rev.  L.  54,  im 
1.  Jhd.  V.  Chr.  StpouSstv  (—  -i'v  für  -tov)  Letr.  ßecueil  Nr.  90, 

Syntax  (des  Nomens  und  Pronomens): 

Numeri.     Plur.  d.  Verbs  mit  Neutr.  Plur. 
Kasus.     Nora,    iXeto?    ^iv    nsv^^.    ('Omission   of  the  subject  in  a 
Standing  foimula');  on  "/«pt;  tou  dtolz  ixa'fx/jv  n.  ahn. 
Akk.:  8fr.  fijjura  etym.,  doppelter  Akk.,  Akk.  temp. 
Gen.  a)  echter  Gen.    Mit  Veiba;  Gen.  loci,  temp.  b)  AbL 

c)  Gen.  abs    ('wide  extension'). 
Dat.    a)  Dat.    b)  Loc.  (Dat.  loci  et  temporis).    c)  Instram. 
Adiect.     Komparation.     Superl.    ist  im  Schwinden  besriffen; 
die  meisten  Formen  sind  Elative;  Kompar.  tritt  an  Stelle  des 
Superl.  nur  sporadisch. 
Pronomen      sxatepo?  von  3  Personen;    aXXoc  statt  sTspoc.     i.'Ö'-o; 
in  der  alten  Bedeutung  'own'  (gegen  Deißmann),  nicht  ^  kaoxoZ. 
—  sauToü    von    der    1.    und    2.    Pers.   —   eautüiv  =  aXXi^A.tuv. 
Relativ nm.     Attraktion    sehr    häufig,     o;  statt  zk    (interr.) 
und  TIC  statt  om?  nur  sporadisch.  —  IIa;  'irgend  welcher'  in 
negativen  Sätzen  (aveu  -asTj;  .  .   .). 

♦Derselbe,    Notes    from    the    Papyri,    in    The    Expositor, 
6th  series,  Nr.  XVI,  1901,  S.  271—282 

teilt  (nach  Thnmb,  Arch.  f.  Pap.  2  (1903)  S.  416)  besonders  Lexika- 
lisches mit,  um  zn  zeisjen,  daß  „biblisclie'-'  Wörter  nichts  anderes  als 
Spiachgnt  der  Koine  sind.  (Vgl.  auch  Deißmann,  Theol.  Rimdschau  ö, 
1902,  S.  63). 

b)  WortbildDog. 

Erwünscht  wäre  eine  Arbeit  über  die  ägyptischen  Eigennamen 
in  den  Papyri  und  Ostraka.  W.  Crönert  stellt  ein  größeres  Werk 
über  die  griecliischen  Doppelnamen  in  Aussicht  (Wesselys  Studien  z. 
Paläogr.  Heft  II  S.  37),  das  in  dem  ersten  Teile  eine  Erklärung  der 
Erscheinungen  und  eine  geographisch  geordnete  Darstellu  ig  der  Eigen- 


Bericht  üb.  d  Literatur  zur  K»ine  a.  d.  Jahren  1S98— 1902.  (Witkoweki.)     233 

tümiichkeit  der  einzelnen  Länder,  in  dem  zweiten  eine  Zusammenstellung' 
aller  Beispiele  geben  soll. 

Vorläufig  gibt  er  nur  zwei  dankenswerte  Aufsätze  über  ägyptische 
Eigennamen : 

Zu  den  Eigennamen  der  Papyri  und  Ostraka  (Wessehs 
Studien  z.  Paläogr.  Heft  II   1902  S.  36-38),  und 

Zur  Bildung:  der  in  Ägypten  vorkommenden  Eigennamen 
(Ibid.  S.  39—43). 

Der  erste  Aufsatz  handelt  über  die  Ji.fryptischen  Eigennamen  im 
allgemeinen  und  biingt  dann  Verbesserungen  und  Er^^änzungen  zu  den 
Eigennamen  der  Papyri  und  Ostraka.  P.  Amh.  II  68,  67  ist  ßaatXtxoc 
kein  Eigenname  (wie  Radermacher  wollte),  sondern  =  ß.  7pa[x[jLaTe6;. 

Der  an  zweiter  Stelle  genannte  Aufsatz  bringt  interessante  Be- 
merkungen über  äi^yptiöch-griechische  Namen  („Mischnamen"  möchte 
ich  sie  nennen),  z.  B.  Ssvapexa  und  über  hellenische  Foimen  ägyptischer 
!Namen,  in  denen  vor  allem  die  Volksetymologie  wirksam  war. 

c)  Syntax. 

F.    Völker,    Papyrorum    graecarum    syntaxis    specimen. 
Diss.  Bounae,  1900. 

Der  dankenswerte  Beitrag  ist  die  erste  Untersuchung-  über  die 
Syntax  der  Papyri  und  demnach  über  die  Syntax  der  gemeingriechischeu 
ümgangsspiache.  Vf.  handelt  über  den  Akkusativ  (S.  5 — 30)  und  iu 
einem  Exkurse  über  den  Schwund  von  -v  und  -s  (S.  30 — 37).  Beim 
Akkusativ  teilt  er  den  Stoff  in  folgende  Gruppen  ein:  1.  De  accusativo 
a  verbis  pendente,  2.  De  acc.  obiecti  interni,  3.  De  acc.  relationis, 
4.  De  acc.  modi,  5.  De  duplici  acc,  6.  De  acc.  qnodam  apposito, 
7.  De  acc.  absoliito,  8.  De  acc.  rubricaium,  9.  De  acc.  rationum  et 
catalogorum,  10.  De  acc.  temporis,  11.  De  acc.  loco  nom.  c.  inf.  posito, 
12.  De  acc.  avaxoXoufltp,  13.  De  forma  accusativi  vices  nominativi 
gereute.  —  Was  die  Texte  betrifft,  die  sich  heutzutage  ein  jeder  Ar- 
beiter auf  dem  Gebiete  der  Papyrussprache  vielfach  selber  konstituieren 
muß,  so  hat  V.  die  vorhandenen  Beiträge  zur  Textkiitik  sorgfältig  ver- 
wertet. Die  Sprache  der  Papyri  verg-leicht  er  in  dankenswerter  Weise 
mit  der  der  LXX.  Leider  wird  auch  bei  V.  der  Bildungsgrad  der 
Schreiber  nicht  gebührend  berücksichtigt.  Dazu  steht  seine  grammatische 
Bildung  nicht  immer  auf  der  Höhe  der  Wissenschaft.  Formen  wie 
7)  appaßüiva  (S.  30)  gehören  nicht  in  die  Syntax,  sondern  in  die  Flexions- 
lehre. Nachlässige  Konstiuktionen  waren  nicht  in  eine  Reihe  neben 
korrekten  zu  stellen,  sondern  getrennt,  etwa  in  Anmerkungen,  zu  be- 
handeln. Ich  meine  Konstruktionen  wie:  Zl-rjjXTrjxpioü  [xoü]  (ip"/iau>|xaTO'fuXay.o; 


234     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  cl.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.) 

•/al  7pot[xixat£a  (S.  26)  oder:  TaüTYjv  r/jv  e-'.cj-oXf,v  e-i-paqjY]  (S.  27).  Akk. 
in  ßechnuDgen,  Rubriken  nsw.  (z.  B.  xov  X070V  -cuiv  yaXxwv  S.  19)  ist 
anders  zu  beurteilen  als  die  übrigen  Kategorien.  A.m  wenigsten  be- 
friedigt der  Abschnitt  de  -c  finali.  Viele  von  den  hier  zusammen- 
gestellten Beispielen  sind  reine  Verschreibunseo,  andere  sind  nachlässig:e 
Konstruktionen,  andere  endlich  zweifelhaft,  -c  klang  nicht  schwach, 
denn  es  ist  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten,  wie  Hatzidakis  hervor- 
gehoben hat.  —  Von  den  Sätzen  werden  oft  zu  kleine  Stücke  zitiert, 
so  daß  man  den  Sinn  nicht  übersieht.  Beim  -v  und  -?  war  immer  der 
Tininittelbar  darauf  folgende  Laut  ausdrücklich  anzugeben.  Zu  bedauern 
ist.  daß  die  Aibeit  keinen  Index  besitzt.  Interessant  sind  die  Beispiele. 
in  denen  der  Akk.  durch  präpositionale  "Wendungen  ersetzt  wird ,  wie 
-XccTu?  airo  twv  (ufxwv  (S.  12),  weil  sie  uns  die  Richtung  zeigen,  in 
welcher  sich  die  Sprache  entwickelt.'-') 


d)  Vermischtes. 

Sprachliches  berühren  die  gelehrten  Besprechungen  der  Oxj'rhynchus- 
Papyri  von  Wilamowitz  in  den  G.  g.  A.,  so  des  II.  Bandes  in  den 
G.  g  A.  1900,  S.  29—58,  u.  bes.  S.  57  f.  (dieser  Band  bringt  einige 
ptolemäiscbe  Urkunden;  der  I.  Band,  von  Wilamowitz  in  den  (y.  g.  A. 
1898  besprochen,  enthält  keine  vorrömischen  Stücke),  ferner  seine  Anzeige 
des  Werkes:  Grenfell,  Hunt,  Hogarth,  Fayum  towns  and  their  Papyri 
(1900)  in  den  G.  g.  A.  1901,  30—45,  s.  b'^s.  S.  40— 42.  \V.  erinnert 
hier  unter  anderem,  daß  man  bei  den  Verbindungen  xaö'  etoc,  £9  ?ar)  usw. 
fcigeutlich  mit  dem  Inlaute  zu  tun  hat.  Aut  andere  Ausführungen  dieser 
letzten  Anzeige  nehme  ich  in  einem  anderen  Kapitel  Rücksicht.'''^') 

L.  ßadermacher.   Aus  dem  zweiten  Bande  der  Aniberst 
Papyri  (Rh    M.  57,  1902,  S.   137—151) 

Ijehandelt  auch  sprachliche  Fragen. 

R,eiches  Material  zur  sprachlichen  Erklärung  der  Papyri  bringen 
auch  die  Arbeiten  der  Juristen.    Ich  nenne  z.  B. 


*j  S.  27  Anm.  1  soll  beim  Vat.  C  5  heißen:  s.  II,  a.  Ch.  (statt:  p.  Gh.). 
Übrigens  ist  die  dort  ziticite  Lesart  nicht  mein,  sondern  Lurabrosos 
Eigentum. 

**)  Bei  Nr  127  berührt  Wil.  die  Lesung  der  Herausgeber  Sic).  \{a-oizoj. 
Ich  glaube,  dies  ist  nichts  anderes  als  o''  'AyMoo'j.  Der  Pap.  stammt  aus 
dem  2/3.  Jud.  n  Cbr.  Z  15  steht  occfvv  wahrscheinlich  für  -^cc/.ov.  Ver- 
tauschung von  Dentalen  ist  ia  der  Urkunde  allerdings  nicht  belegt,  eben- 
sowenig wie  diejenige  von  oi— j— •.,  aber  bei  dem  geringen  Umfange  der 
Urkunde  hat  dies  nichts  zu  sagen. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—  1'.X)'2.  (Witkowski.)     2oi> 

O.  Gradenwitz,  Einführancf  in  die  Papyrusurkunde. 
1.  Heft.     Leipzig  1900. 

Hier  werden  zahlreiche  juristische  Termini  der  Papyri  erklärt. 
Wichtig  für  sprachliche  Untersuchungen  ist  auch  der  sog.  Konträr- 
index zu  einigen  PHpjTuspublikationen,  der  diesem  Buche  beigegeben 
ist;  es  ist  dies  ein  Index,  in  welchem  die  Wolter  nicht  nach  den  Au- 
fanas-, sondern  nach  den  Endbuchstaben  geordnet  sind,  z.  B.  ^opo;, 
v.zopo?,  ar((xea(popoc,  010(9090;,  7pat!J.|xaTr]96po»  .  .  .,  irpo?.  aairpo;,  Xa|i,:cp6c, 
■/.ÖTTpo;,  Ttuppoc.  laTpoc  usw.  Ein  solcher  Index  ist  nützlich  für  Unter- 
suchungen über  Wortzusammensetzung  und  Stammbildung-,  da  hier  die 
Wörter  nach  Suifixen  bequem  zusammengestellt  werden. 

In  dem  Artikel  Papyrus  und  Lexikon  (Arch.  f.  Pap,  1, 
lUGO,  S.  92 — 103  gibt  derselbe  Gelehrte  beachtenswerte  Ratschläge 
für  Anfertigung  von  Indices  zu  Papyruspnblikationen. 

*L.  Mitteis,  Trapezitika.   Zsch.  d.  Sav.-Stitt.    XIX.  Roman. 
Abt.  1898;  auch  Sonderabdruck,  1899,  64  S., 
mir    bekannt    nur  aus  der  Besprechung  von  Viereck  in  diesem  Jahres- 
berichte 102  (1899),  III,  298  f ,  erläutert  u,  a.  die  Ausdrücke  oiaYpa'fsiv 
'Zahlung  anweisen,  zahlen'  und  oia-jpa'fiQ  'Zalilungsbeuikundung'. 

H.  Erman,  Die 'Habe' Quittung  bei  den  Griechen.    Arch. 
f.  Pap.  1,   1900,  S.  77—84 
handelt  über  a-syo)  (und  dTüoototujxi). 

Viele  juridische  Termini  der  Papyri  erklärt  auch 

J.  C.  Naber,  Observatiunculae  ad  papj'ros  juridicae. 
Arch.  f.  Pap.  1,   1900/1,  S.  85-91,  313—327;  2,  1902/(3),  S.  32—40. 

2.   Die  literarischen  Papyri. 

Diese  sind  für  die  Zwecke  der  Lautlehre  noch  wenig  ausgebeutet. 

Die    wichtigste  Arbeit  betrifft  hier  die  herkulaneusischen  Rollen 

Über  den  heutigen  Zustand  dieser  Rollen  und  ihre  Behandlung 
informiert  in  lichtvoller  Weise  der  treffliche  Kenner  dieses  Zweiges, 
CrÖnert,  Über  die  Erhaltung  und  die  Behandlung  der  herk. 
Rollen.  N.  Jb.  5,  1900,  S.  586—591. 

Derselbe  sammelt  wertvollen  Stoff  zur  Lautlehre  der  Koine  in 
der  Arbeit: 

W.  CrÖnert,  Quaestiones  Herculaneuses.  (Götting.  Diss.) 
Lipsiae  1898.*) 


*)   De  Abhandlung  ist  Teil  einer  größeren  Arbeit.    Die  letztere  iot 
inzwischen  bei  Teubner  erschienen  u.  d.  T.  .Memoria  graeca  Herculanensis". 


2i36     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d  Jahren  1898—1902.  (Wittowski.) 

Herkulanensiscbe  Papyri  sind  für  sprachliche  Untersuchungea 
deshalb  wichtia:,  weil  sie  nicht  von  solchen  groben  Fehlern  wimmeln 
wie  viele  ägyptische  Papyri,  weil  wir  also  in  ihnen  ein  Spiegelbild  der 
Orthogiaphie  und  des  lautlichen  Zustandes  der  gebildeten  Sprache  be- 
sitzen. Vf.  unterscheidet  genau  sorirtältiiTere  von  nachlässiger  ge- 
schriebenen Handschriften.  Seine  Untersucliangen  sind  auch  deshalb 
wichtig,  weil  er  sich  nicht  auf  die  heiknlanensisclien  Rollen  beschränkt, 
sondern  neben  ihnen  anch  die  literarischen  und  nichtliterariscben  Papyri 
Äijypteiis,  ältere  Uandscliritten  wichtigerer  Autoieu  und  Inschriften 
heranzieht.  Seine  Arbeit  bildet  deshalb  für  die  in  ihr  behandelten 
Fragen,  vor  allem  für  die  Fragen  der  hellenistischen  Orthographie  und 
des  Vokalismus,  neben  Kühner-Blaß  eine  vorzüidiclie  Informationsquelle 
und  es  ist  auffallend,  daß  sie  bisher  verliältnisniäßig  weni<^  berück- 
sichtigt wird.  Der  Grund  dürfte  darin  liegen,  daß  der  Titel  „Quae- 
stiones  Herculanenses'*,  nicht  ,.Quaestiones  Heiculaiienses  grammaticae" 
lautet.     Ciöiierts  Untersnchungen  sind  grüiidlicli  und  geuau. 

Vf.  spricht  zueis-t  von  den  Akzenten-  und  Spisitus-  sowie  Wort- 
trennungszeichen, die  in  den  lierknlanensisrlien  Papyri  ,^ien)lich  spärlich 
sind.  Hierauf  bespricht  er  ausfühilich  dieWoitirennuns.  Er  untt rscheidet 
die  Trennung  von  Kompositionsüliedern  und  durch  Eli-ion  verbundenen 
Wörtern  von  den  üb» igen  Fällen.  An<h  hier  endet  im  allgemeinen  die 
Silbe  auf  den  Vokal;  unr  wenn  auf  den  Vokal  zwei  Konsonanten 
folgen,  von  denen  der  erstere  eine  Nasalis  oder  Liquida  ist,  werden  die 
Konsonanten  getrennt.  Die  Geminaten  werden  ebtufalls  uetreunt;  eriät 
später  setzt  man  sie  in  die  näcnste  Zeile.  Wenn  der  eiste  der  beiden 
Konsonanten  ein  <j  i>t,  schwankt  die  Praxis.  Beim  Komp(»situm  kommt 
der  Endkonsonant  elidierter  Präposition  in  die  zweite  Zeile:  d  ]  irsötoxs 
usw.  Auch  bei  alhiiisteheudeii  Iq,  oux  ou/  kommt  der  Konsonant  in 
die  nächste  Zeile.  Bei  bU,  :tp6c,  o6v  und  ev  bleibt  dagegen  der  Kon- 
sonant in  der  eisten  Zeile 

Was  den  Vokali-;nius  anbelangt,  kommt  nicht  selten  in  der 
Endung  des  Infinitivs  (und  zwar  nur  in  diesem j  meikwüniigerweise 
die  Schreibung  -ev  für  eiv  vor  (s/sv).*)  e  und  tj  werden  nicht  ver- 
wechselt, ebensowenig  o  et  tu.  Für  das  Verhältnis  von  i  und  u  sind 
die  Formen  ßu^Äo?  und  tjixuju  bemerkenswert,  u  und  ot  werden  nie, 
s  und  ai  nur  ausnahmsweise  (an  2  Stellen)  verwechselt  —  Ausführlich 
ist  der  Abschnitt  über  den  Itazismus.  Für  et  vor  Vokal  sttht  t)  nicht 
selten  (dXiQflTrja,  -»X^ov),  für  et  vor  Konsonant  nur  ganz  ausnaiimsweise. 
Das  Umgekehrte,  et  tür  tj,  kommt  fast  nie  vor.    Sehr  selten  wird  auch 


*j  Thumb  Arch.  f  Pap.  2,  S.  40U  knüpft  an  die  doiischen  Infinitive 
auf  -37  an. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  18üS— 190-2  (Witkowski.)     237 

■f^  mit  t  vertauscht.  Ziemlich  oft  erscheint  i  für  et,  sehr  oft  ei  für  \. 
Fälle,  wo  et  lür  •  steht,  sind  ganz  selten.  Natürlich  ist  man  auch  hier 
nicht  selteu  im  Zweifel,  ob  man  bei  gewissen  Nomina  -sta  oder  -la  als 
normal  ansetzen  soll.  tt.  wird  mitunter  kontrahiert;  auch  statt  te'. 
kommt  ei  vor.  Verwechselt  werden  auch  t]  und  ei.  i  adscriptnm  fehlt 
sehr  oft  oder  es  wird  geschrieben  da.  wo  es  unnötig  ist.  Es  fehlt  erst 
seit  dem  2.  Jhd.  v.  Chr.  Vom  3.  Jhd.  n.  Chr.  ab  wird  es  durchweg 
weggelassen. 

Den  literarischen  Papyri  aus  Ägypten  ist  keine  solche  Behandlung 
zuteil  gewoiden  Wünschenswert  wäre  hier  eine  Arbeit  über  Lautliches. 
In  den  Papyrusfrasmenten  des  Platonischen  Laches  findet  sich  an 
drei  Stellen  ou  für  o.  ß.  Koellner,  Bemerkungen  zu  den  Papy- 
rusfragmenten des  platonischen  Laches  (Philol.  58,  1899. 
S.  312 — 4)  glaubt,  daß  der  Schieibe)-  des  Papyrus  einen  nach  alter 
attischer  Oithogiaphie  geschriebenen  Text  als  Vorlage  gehabt  und  bei 
der  Transskiiption  an  diesen  3  Stellen  Fehler  begangen  habe,  was  mir 
wenig  wahrscheinlich  ist.*) 

Ostraka. 
In  dem  Hauptwerke  über  dieses  Gebiet 

ü.  Wilcken,  Griechische  Ostraka  aus  Ägypten  und  Nnbien. 
2  Bde.  Leipzig  und  Berlin  1899 
ist  der  Sprache  leider  kein  besonderer  Abschnitt  gewidmet;  da  jedoch 
in  dem  Werke  die  Bedeutung  zahlreicher  Wörter  festgestellt  wird,  so 
erfährt  durch  es  auch  die  Sprache  wesentliche  Förderung.  Das  Buch 
enthält  ein  Wörterverzeichnis. 

n.    Die  Inschriften. 
a)    Laut-  und  Formeulehre. 

Unter  den  Inschriften  haben  die  pergamenischen  einen  Bearbeiter 
gefunden : 

E.  Schweizer,  Grammatik  der  pergamenischen  In- 
schriften. Beiträge  zur  Laut-  und  Flexionslehre  der  gemein- 
griechischen  Sprache.    Berlin  1898. 

Schw.s  Grammatik  gibt  nicht  nur  statistische  Zusammenstellungen, 
sondern  auch  wissenschaftliche  Erklärung  der  Tatsachen.  Es  ist  ein 
vorzügliches  Buch.  Vf.  besitzt  eine  tüchtige  sprachwissenschaftliche 
Schulung,  st  in  Urteil  ist  umsichtig  und  eindringend.  Schw.s  Buch 
kann  als  Muster  einer  grammatischen  Monographie  dienen. 


*)  Arth.  Ludwich  Über  die  Papyrus -Kommentare  zu  den  Home- 
rischen Gedichten,  Königsberg  1002  (Univ.-Pr.)  handelt  über  Papyri  aus 
römischer  Zeit. 


238     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898  - 1902.  (Witkowski.  i 

Die  pergamenischen  Inschriften  bilden  in  sprachlicher  Hinsicht 
keine  Einheit.  Vf.  unteischeidet  unter  ihnen  3  Gruppen.  1.  Erlasse 
und  andere  Schriften  der  königlichen  Kanzlei  (vor  133  v.  Chr.),  2.  Volks- 
beschlüsse, 3.  Privatinschriften  (wenig  umfangreich).  Eine  besondere 
Gruppe  bilden  außerperganienische  Inschriften,  d.  h.  Inschriften,  welche 
in  Pergamon  gefunden,  aber  niclit  in  Perganion  entstanden  sind.  Hierher 
gehören :  a)  Ei  lasse  i  ömischer  Statthalter  und  Kaiser,  b)  andere  außer- 
perganienische Inschriften;  in  den  letzteren  erscheint  nicht  die  Koine, 
sondern  ein  altgriecliis-cher  Dialekt,  vor  allem  der  äoliscbe  und  rhodische. 
Neben  Prosainscliriften  gibt  es  auch  eine  Anzahl  metrischer  Inschriften. 
Vf.  zieht  sämtliche  Inschriften  heran,  doch  legt  er  das  Hauptgewicht 
mit  Eeclit  auf  die  in  Kotvr]  abgefaL'ten.  Die  letzteren  reichen  von 
ca.  300  V.  Chr.  bis  etwas  nach  200  n,  Chr.  Schon  im  Anfang  des 
3.  Jhd.  V.  Chr.  ist  in  Pergamon  in  öffentlichen  Inschriften  ausschließlich 
die  Koine  verwendet;  den  nahen  äolischen  Dialekt  zeigt  keine  einzige 
Inschrift,  nicht  einmal  die  privaten. 

Diese  sorgfältige  Scheidung  des  wenig  einheitlichen  Materials  ist 
ein  großer  Vorzug  der  Grammatik  und  sollte  in  allen  Arbeiten  auf 
dem  Gebiete  der  Koine  —  vor  allem  bei  den  Papyri  —  nachgeahmt 
werden.  Nur  hätte  ich  gewünscht,  daß  die  metrischen  Inschriften,  deren 
Sprache  einen  ganz  anderen  Charakter  trägt,  auch  nach  außen  hin  ge- 
trennt behandelt  wären,  etwa  unter  Anwendung  kleinerer  Typen ,  wie 
dies  auch  in  dem  Buche  mitunter  geschieht. 

Vf.  zieht  oft  auch  andere  Koineinschriften ,  besonders  klein- 
asiatische, heran.  Das  ist  dankenswert,  nur  hätten  auch  hier  die  nicht- 
pergamenischen  Inschriften  um  größerer  Übersichtlichkeit  willen  immer 
getrennt  (z.  B.  a  capite  und  mit  kleineren  Typen)  vorgeführt  werden 
sollen. 

Die  praktische  Brauchbarkeit  des  Buches  wäre  viel  höher  ge- 
worden, wenn  bei  jedem  Belege  sein  Datum  angegeben  worden  wäre 
(wie  dies  bei  Mayfer  geschieht).  Ferner  hätte  ich  gewünscht  —  eben- 
falls aus  praktischen  Giündeu  —  daß  bei  der  Einteilung  in  Perioden 
am  Christi  Geburt  ein  Einschnitt  gemacht  worden  wäre. 

Es  ist  schade,  daß  teilweise  erhaltene  Buchstaben  auf  dieselbe 
Weise  bezeichnet  werden  wie  gänzlich  verlorene,  d.  h.  beide  Arten  [  J. 

Ein  besonderer  Vorzug  des  Buches  besteht  darin,  daß  neben  den 
Koiueformen  auch  die  gewöhnlichen  attischen  Eormeu  berücksichtigt 
werden,  sofern  sie  noch  in  den  Inschriften  vorkommen. 

Nachträge  gab  W.  Crönert  in  seiner  Besprechung  des  Buches 
Z.  f.  G.  W.  1898,  S.  577—586  und  812  f.  ' 

Um  eine  Einzelheit  zu  berühren,  ist  die  „Metathese"  S.  130  f.  irr- 
tümlich   in    den  Abschnitt    über  den  Konsonantismus  statt  in  den  Ab- 


Ik'richt  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     23!» 

schnitt    über    den  Vokalismus    geraten    (es    handelt  sich  dort  fast  ans- 
.schließlich  nm  Metathese  von  Vokalen). 

Auf  den  wichtigen  Abschnitt  „Begriff,  Umfang  und  Entwickelung 
der  -/.otviQ"  ist  bereits  im  vorstehenden  Rücksicht  genommen  worden. 
Ans  dem  reichen  Inhalte  der  Grammatik  kann  ich  nur  die  aller- 
wichtigsten  Tatsachen  hervorheben. 

L    L  a  u  1 1  e  Ii  r  e. 

A.  Vokalismns. 

Einfache    Vokale. 

SV2-/.EV  ist  die  gewöhnliche  Form.  lepTjTsuiu  sehr  häutig  neben  -a- 
(louismus  nach  Schw.;  anders  Thumb).  iotr).  ava9$u,a  (s  durch  Einfluß 
der  Nomina  auf  -st;),  si  =  i  seit  der  Mitte  des  2.  Jhd.  v.  Chr.  außer 
vor  Vokalen;  es  wurde  aber  auch  vor  Vokalen  zu  i,  wenn  dem  si  ein 
i  vorausging.  Daß  si  vor  Vokalen  erhalten  blieb,  geht  aus  der 
Schreibung  yjo,  vja  (=  eo,  ea)  hervor.  Neben  sio,  r/j  findet  sich  auch 
£0  (e,  geschlossen),  sto,  sta  wurde  zu  io,  la  wahrscheinlich  erst  im 
1.  Jhd.  n.  Chr.  ts'.o  uia  wird  seit  der  Mitte  des  2.  Jhd.  v.  Chr.  zu  iio, 
iia  und  weiter  zu  io,  la. 

r/.  wird  auf  o  verschiedene  Weisen  geschrieben:  a)  si  im  Inlaut 
(Äs'to'jp-a'a)  und  im  Dativ  ('Epp-sr.  Analogie  der  s-Stämme).  Dieses  zi 
ist  in  älterer  Zeit  --^  e,  in  jüngerer  (seit  dem  2.  Jhd.  v.  Chr.)  =  T. 
b)  gewöhnlich  jq-..  c)  t,.  tji  ist  in  älterer  Zeit  (3.  u.  früh.  2.  Jhd.)  =  e, 
in  jüngerer  im  Inlaut  und  Auslaut  der  Mask.  auf  tjc  =;  i,  sonst  ■=^  e 
(Analogie),  r,  (— r,t,  si)  ist  in  älterer  Zeit  —  e  (rji,  £-.  waren  also 
monophthongisch),  in  jüngerer  Zeit  ==  e  (offen). 

Für    den  Wandel    von   -j  zu  >.  gibt  es  keine  Zeugnisse  aus  Perg. 

Diphthonge. 

ai  =  £  nur  auf  zwei  späten  vulgären  Steinen  (davon  ein  Beleg 
nicht  ganz  sicher),     aia  neben  aa:  eXaa;  (att.) ;  immer  «st. 

Ol  zu  u  kein  Beispiel.  In  der  Volkssprache  des  2.  Jhd.  n.  Chr. 
wurde  o:  vielleicht  zu  u;  dies  schließt  Schw.  aus  anderen  kleinasiat.  In- 
schriften.    -oiTicafföa'.  neben  -or^-i  oi  wird  immer  häufiger. 

uto-  neben  Go-. 

ä'.  wird  zu  ö"  in  der  1.  Hälfte  des  2.  Jhd.  v.  Chr. 

cot     .,       .,    CO   ,.     „     2.         „  „  (150—125)  (in 

äol.  Inschriften  schon  im  Anfang  des  3.  Jhd.). 

7.U  wird  zu  ä  in  der  2.  Hälfte  des  1.  Jhd.  v.  Chr.  (iaTov). 

Kombinatorischer  Lautwandel. 

Ausgleichung  der  Quantität  (zuerst  bei  w).  Kontraktion : 
Trpoetpia^fjievo'j,  Trposar/jaRv.    w.  wird  ZU  i. 


i>40     Bericht  üb.  ä.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  189S  - 1902.  (Witkowski. ) 

B.  EonsoDantlsmns. 

1.    Pan fache  Konsonauten. 

Tenues  und  Mediae:  keine  Beispiele  der  Verwechselung,  ß  spi- 
rantisch seit  Christi  Geburt.  7  in  der  Volkssprache  wahrscheinlich 
spirantisch  (in  Pessinunt  dliri<:  2.  Jhd.  v.  Chr  ). 

Aspiratae:  9  wohl  bilabialer  Spirant.  0  spirantisch?  (oüöeis  nicht 
oder  nicht  die  einzige  Form  der  Volkssprache).  7  auf  dem  Wege  zum 
Spiranten  begriffen. 

Spiranten:  Spir.  asper  h  wenigstens  in  der  Umgangssprache 
wohl  aufgegeben.*) 

Nasale:    Vor  Konsonanten  reduziert. 

2.  Kousonantenverbindungeu. 

Doppelkonsonanten:  Vereinfachung  beginnt,  pp  (nicht  pj).  Nur 
33  (xT  nnr  in  "AiraXoc). 

Vei  bindung  beliebiger  Konsonanten :  ut  zu  nd  nicht  nachweisbar. 
Nur  ^tveaöai.     C  =  z  in  jüngerer  Zeit. 

II.  Flexionslelire. 

Dual  kommt  weder  beim  Nomen  noch  beim  Verbum  vor. 

A.  Deklination. 

ä-Stämme.    xcuXea.    Gen.  'AttsaXsoc;  -ac  -5t5o;  selten.    Plur.  i:pz7- 

o-Siämme.  Kontrak.  -oZi  -oöv  (ypuiia  einmal  in  der  Kaiserzeit). 
Att.  DeUl.  nicht  mehr  lebendig,  -t;,  -iv  (=  -10?,  -lov)  spät  und  vulgär. 
Subst.  -apyoc  neben  -apyY)?.  vj  {}£6;  und  yj  Oea.  ex76vr|.  utoc  nie 
nach  3.  Dekl. 

i-Stämrae.     Gen.  -stuc,  einmal  -loc 

u-      „  Fl.  vi[J.t3Y]  (att.  -sa).**) 

s-      ,  Gen.    von   Eigennamen    auf  -ou;,    volkstümlich   anch 

-o'j;  Akk.  nur  -iq.  -xX^c  Gen.  -y.)iooc.     Fl    7£pa,  7epü)v. 

r-Stämme.     ^u-(ixipnw  (I    Beleg,  Kaiserz.). 

n-      .,  Akk.  'At:o/,X(ü,  Uoutioü). 

Adiectiva.     Nur  p-eiCova  usw.  Superl.  uij'tJTo;. 


*)  Auch  mir,  wie  Thumb,  ist  es  wenig  wahrscheinlich,  daß  Formeln 
wie:  xaf^'  £xo;,  xc/l>'  loiav,  l-s.''  ur-,  dialektisciie  Reste  seien.  Sie  können  sehr 
wohl  in  der  Koine  entstinden  sein 

**)  Ob  rt\i'-TQ  eine  altdialektieche  Kontraktion  ist,  ist  mir  zweifelhaft. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  189S— 1902.  (Witkowski.)     241 

Prouom.  iauTüiv  (nie  atpiuv  au-wv)  und  nur  für  3.  Pars.  Nie 
ou  (refl.).     sauToü  neben  auxou. 

Numer.  o-jo  indecl.  xhunpz;  (nie  'sp-).  -svra-  in  Kompos.  os- 
xjtouo.     Ord.  T£5ciap£7y.aio£xaTo;  nsw.  (Ion.). 

B.  KonJngatloD. 

Personalendungen:  sV/ojav  (einmal).  Imperat.  nur  -Tujcjav,  -(j&wsav. 
2.  sg.  M.  ßou^vT)  (einmal).     3.  PI.  nie  -a-at,  -axo. 

Augm.  und  ßedupl.  PIsq.  stets  augmeutiert.  icupwv.  Att. 
Kedupl.  erhalten,  zv.-qixii.  Augm.  ip-,  I-  (geschr.  si-),  aber  su-,  ocpsXov 
Tj  Oso's  (mit  d.  3.  Pers.).  Nie  Doppelsetzung  des  Augm.  Nie  v^'fisXXov 
usw.     dvaX(üp.a. 

Präsensstamm:  s-iixsXsojxat  und  'Xo[xai.  oi[jLat.  apixo'V  (2.  Jhd. 
V.  Chr.).    o|jLvu(u. 

Fut.:  -tcü  von  -1^(0.  -/.aXssü)  (1.  Jhd.  v.  Chr.).  Fnturbildung  der 
verba  liquida  bewahrt,     i'^w.  Xr^'\>o\i.ai. 

Aor.  a)  sigm.  a'jijL[j.£l;at.  £cpY)a£v.  Keine  Aor.  auf  -$a  von  Dental- 
stämmen, b)  asigm.  Nie  £7£vrj»^r,v.  eI-ov  und  si-a.  yjv£-j-/.ov.  esttiv  und 
Icr-vjaa  nie  verwechselt. 

Perf.  TEOvjy.a  (3.  Jhd.),  -EÖstza  (2.  Jhd.).  gsTrjxa  und  (trans.) 
saxaxa;  ijiavat  USW.     a-^-q^io'/oi..  —  VCH-ai  (^^Tw) ;  EiV/fjjxai  (neben  eV/rjy.a). 

Plsq.  -£tv,  -£t;,  -£iT£.     Fut.  3.  nicht  zu  belegen. 

Aor.  Ps.  £K£ji£XTQ9Tf]v.  ot£X£7rjV  und  X£yi>r,va'..  £Ta/i>r,v  und  (2.  Jhd. 
n.  Chr.)  £-a-f/)v. 

Modi.  Nie  iav  mit  Indic. 

Partie.  Pf.  -uXa  und  (1.  Jhd.  v.  Chr.)  -sta. 

Charakteristik  der  einzelnen  Inschriftengruppen:  Am  korrektesten 
sind  die  Inschriften  der  königlichen  Kanzlei.  Ihnen  stehen  die  Demos- 
iuschriften  der  Königszeit  nicht  viel  nach,  während  die  der  römischen 
Zeit  viel  nachlässiger  sind.  Den  letzten  Rang  nehmen  die  Privat- 
inschriften ein:  auch  diese  sind  in  der  Königszeit  viel  sorgfältiger  als 
in  der  römischen.  Nur  in  ihnen  kommt  ai  =  £  vor  (spätröra.  Z.)  und 
wird  der  Quantitätsunterschied  aufgegeben.  Königliche  Kanzlei  atti- 
zisiert  bewußt:  Gen.  Eujxevou;.  Akk.  -yj,  Ptc.  Pf.  -uta  usw.  Unter  den 
königlichen  Inschriften  sind  die  Briefe  an  den  Priester  von  Pessinunt 
nachlässiger  (in  Pessinunt  hergestellt).  Keine  der  drei  Gruppen  schreibt 
die  Umgangssprache;  alle  schreiben  eine  konventionelle  Literatursprache. 

Es  sei  erlaubt,  einige  Bemerkungen  zu  einzelnen  Stellen  anzu- 
sehließen. 

Atvuaiou  BGH.   18,  39  f.,  n.  4,14  dürfte  eine  Verschreibung  sein. 

Die  Schreibung  'Au^iav  512,  3  (nicht  vor  Hadrian)  =  lat.  Appiam 
scheint  zu  zeigen,    daß  «p   in  Pergamon    zu   dieser  Zeit  noch  nicht  spi- 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft    Bd.  CXX.    (1904.    I.)  16 


242     Berichtüb.d.  Literatur  zur  Koinea.d.  Jahren  1898-1902.  (Witkowski.) 

rautisch  war  (=  Apphian,  nicht  Apfian).  Die  vou  Schweizer  aus  anderen 
kleinasiatischen  Inschriften  angeführten  Beispiele  (S.  111),  in  denen  cp 
statt  TT  steht  (opsjßuTspou ,  Ouppou,  nicht  aber  aosATitp  n.  a.),  dürften 
darauf  hinweisen,  daß  auch  in  jenen  Gegenden  9  noch  nicht  spirantisch 
war.  Schweizers  Skeptizismus  scheint  mir  zu  weit  zu  gehen.  Die 
Slaven  und  Litauer  ersetzen  grlech.  9  und  deutsches  f  in  volkstümlichen 
Wörtern  durch  p,  niemals  jedoch  setzen  sie  umgekehrt  f  für  griech.  - 
oder  deutsches  p;  der  Franzose  ersetzt  ein  deutsches,  der  Litauer  ein 
slaviscbes  k  durch  eh.  In  Rhodiapolis  in  Lykieu  ist  9  eher  f  als  ph, 
vgl.  -j'E^pacp'faTs  u.  ähnl.  (Schweizer  a.  a.  0.)  (schwerlich  ist  99  hier 
eine  AfPricata  =  pf). 

S.  153.  Nom.  PI.  au-n£V££c  Ath.  Mitt.  14,  89  Nr.  5  (Myrina  am 
elaitischen  Meerbusen)  ist  neugebildet  nach  dem  Gen.  cju-ffsvEüiv;  man 
wollte  gleiche  Anzahl  von  Silben  in  allen  Kasus  herstellen.  —  S.  159. 
Bei  dem  Korapar.  irpsaßusTepos  (südl.  Kleinas.)  Sterrett,  Papers  of  the 
American  school  IL  Nr.  333,  1  f.  liegt  der  Verdacht  einer  Verschreibuug 
nahe.  —  S.  161.  Die  Bemerkung:  „Wie  bei  sr/a-o;,  empfaPid  man 
ein  Bedürfnis  zur  Superlativisierung  auch  bei  den  adj.  auf  -aio;:  ts- 
ÄsuTato-axov  .  .  .,  7.opu9at6TaTov  ..."  ist  schwerlich  richtig,  da  hier 
nicht  die  Endung,  sondern  die  Bedeutung  die  Rolle  spielt.  Doch  hat 
Schw.  vielleicht  eben  dies  gemeint.  —  S.  161.  korn-oZ  trägt  den  Sieg 
über  auTou  davon  nicht  nur  deshalb,  weil  auroö  nach  dem  Schwund  des 
Spir.  asper  mit  auxou  zusammenfiel,  sondern  —  und  dieser  Grund  wirkte 
sicherlich  schon  früh  —  weil  in  der  Periode,  wo  die  Deutlichkeit  der 
Form  ein  so  wichtiges  Moment  ist,  in  au-roü  die  Person  nicht  deutlich 
genug  ausgedrückt  erschien. 


J.  Valaori,  Der  delphische  Dialekt.  Göttingen  1901 
enthält  eine  Laut-  und  Formenlehre  dieses  Dialektes  von  der  ältesten 
Zeit  bis  zu  seinem  Untergang,  beschränkt  sich  also  nicht  auf  die  Keine; 
wenn  ich  trotzdem  die  Arbeit  hier  nenne,  so  geschieht  es  deshalb,  weil 
unsere  Periode  in  Delphi  durch  besonders  zahlreiche  Inschriften  ver- 
treten ist.  Eine  genauere  Besprechung  dieser  Grammatik  muß  ich  mir 
hier  versagen. 

b)  Lexikalisches. 

*H.  M.  Searles,  A  lexicographical  study  of  tlie  greek 
inscriptions.  Chicago  1898.  (The  University  of  Chicago.  Studie» 
in  classical  philology.     Vol.  IL) 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1 898— 1902.  (Witkowski.)     243 

Hier  werden  zunächst  die  neuen  Wörter,  d.  h.  diejenig-eu,  welche 
nur  aus  Dialektiuschriften  (und  etwa  noch  aus  Glossen)  zu  belegen  sind, 
dann  (S.  82 — 108)  selteue  Wörter  und  Bedeutungen,  endlich  poetische 
Wörter  in  alphabetischer  Folge  zusainmeus:estellt.  S.  arbeitet  an  einem 
Lexikon  zu  den  griechischen  Dialektinschriften.  (Vgl.  W.  Wernberger, 
B.  ph.  W.  1899,  Nr.  7,  Sp.  214  f.) 

c)  Yennischtes. 

Einen  sehr  ausführlichen  und  für  sprachliche  Untersuchungen 
wichtigen  Index  besitzen  ""Die  Inschriften  von  Magnesia  am 
Mäander,  hrsgb.  v.  Otto  Kern,  Berlin  1900  (besprochen  eingehend 
von  Wilamowitz  G.  g.  A.  1900,  S.  558—580,  der  nur  die  Überladung 
des  Index  mißbilligt.  Diese  Besprechung  enthält  auch  einige  Be- 
merkungen über  die  Koine;  s.  bes.  S.  566  f.). 

Manche  Bemerkung  über  die  Sprache  der  Koine  bietet  auch 
K.  Buresch,  Aus  Lj'dien,   Epigraphisch-geographische  Reise- 
früchte.    Leipzig  1898. 

A.  Deißmann,  Die  Rachegebete  von  Rheneia.  (Philol.  61, 
1902,  8.  252—265) 
bespricht  zwei  wahrscheinlich  jüdische  Grabsteine;  nach  D.  stammen 
sie  aus  dem  2/1.  Jhd.  v.  Chr.  und  beweisen  die  Existenz  einer  jüdischen 
Gemeinde  auf  Delos  um  die  Wende  des  2.  Jhd.  Die  Sprache  ist  ein 
Mosaik  aus  der  LXX.  Die  beiden  Steine  sind  ein  Zeugnis  für  die 
frühe  Existenz  der  LXX  und  ihren  frühen  Gebrauch  im  Diaspora- 
judentum. 

Wilamowitz,  Lesefrüchte,  Herrn.  34,  1899,  S.  203  flf.,  601  ff., 

gibt  wichtige  sprachliche  Bemerkungen  zur  Inschrift  von  Ephesos,    die 

von  Benndorf  in  der  Pestschrift  für  Kiepert  veröffentlicht    worden  ist. 

P.  Kretschmer,  Lesbische  Inschriften.     1.  Tempeiinschrift 

von  Eresos  (Jahreshefte  d.  österr.  arch.  Inst.  5,  1902,  S.  139  ff.).*) 

gibt  sprachliche  Bemerkuugen  zu  einer  Inschrift  aus  dem  2/1.  Jhd.  v.  Chr. 

*Th.    Reinach,     Un    temple    eleve    par    les    femmes    de 

Tanagra.     Rev.  d.  etudes  gr.  11  S.  53 — 115 

enthält    einen    ausführlichen    sachlichen    und    sprachlichen    Kommentar 

einer  neugefundenen  größeren  Inschrift  des  3.  Jhd.  v.  Chr. 

*R.  Meister,  Beiträge  zur  griechischen  Epigraphik  und 
Dialektologie.  I.  (Verhandl.  d.  k.  sächs,  Ges.  d.  Wiss.  Phil.-hist. 
Kl.  51,  S.  141—160) 


*)  Derselbe  Band    enthält   einen    epigraphischen  Wortindex   zu   den 
Bänden  I— V  (von  J.  Oehler). 

IG* 


244     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1808—1002.  (Witkowski.) 

gibt  Interpretation  einer  durch  Umfang  und  sprachliche  Bedeutung  sich 
auszeichnenden  Inschrift  von  Thespiai  aus  d.  3,  Jhd.  v.  Chr.  (welche 
Colin  Bull.  corr.  hell.  21,  1898  veröffentlicht  hat). 

F.  Solrasen,  "Ovoixa  v.q  e-i7:a-p6®tov  (Rh.  Mus.  56,  1901, 
S.  475—7) 
bespricht  die  Form  sTrtTcaxpocptov  (^=  'Patrouymikon')  iu  einer  Inschrift 
aus  Tanagra  aus  d.  3.  Jhd.  v.  Chr.  (Rev.  d.  et.  gr.  XII  [irrtümliche 
Aufschrift:  XI]  53  ff);  sie  ist  gebildet  von  e-l  7:a-p69t(v)  (ablativischen 
Ursprungs)  und  entzieht  den  Boden  der  Annahme  Delbrücks  (zuletzt 
Vgl.  Synt.  I  677),  daß  das  Suffix  -<pt(v)  ursprünglich  nur  im  Plur. 
heimatberechtigt  war.  Die  Formation  auf  -<pt  bei  Homer  ist  ein 
Aolismus. 

H.  Diels,  'Apstvo?  (Rev.  de  phil.  22,  1898,  S,  132) 
erklärt    dieses    in    einer    delischen   Inschrift    des  3.  Jhd.  v.  Chi*,    vor- 
kommende Wort  (von  dpi'a,  Name  eines  Baumes). 

Eine    wichtige    Quelle   für    die    Kenntnis    der    attischen    Volks- 
sprache sind 

Die  Flachtafeln. 

E.  Schwyzer,  Die  Vulgärsprache  der  attischen  Fluch- 
tafeln (N.  Jb.  5,  1900,  S.  244—262) 
stellt  in  dankenswerter  "Weise  zusammen,  was  sich  aus  den  Fluchtafeln 
für  die  griechische  Sprachgeschichte  ergibt.  Das  Material  entnimmt  er 
der  Publikation  von  R.  Wünsch:  Defixionum  tabellae  Atticae.  CIA 
Appendix.  Berlin  1897,  sowie  der  Publikation  von  E.  Ziebarth, 
Nene  attische  Fluchtafeln.  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  1899, 
S.  105—135.  Wünsch  gibt  den  Text  von  220  Bleitäfelchen,  die  den 
Feind  der  Rache  der  Todesmächte  der  Unterwelt  überliefern  und 
gewöhnlich  in  Grabkammern  mit  einem  bronzenen  Nagel  befestigt 
werden;  Ziebarth  fügt  weitere  20  Stück  hinzu.  Die  Tafeln  gehören  iu 
ihrer  Hauptmasse  ins  3.  Jhd.  v.  Chr.,  einige  mögen  ins  2.  fallen,  kaum 
eine  ins  4,,  unter  den  Ziebarthschen  sind  einige  nachchristlich.  Die 
Sprache  dieser  Tafeln  ist  vulgär,  wir  haben  also  in  ihr  die  nächste 
Parallele  zu  der  in  den  ägyptischen  Papyri  vorliegenden  Umgangs- 
sprache. Es  finden  sich  hier  auch  schon  mehrere  Erscheinungen, 
die  aus  den  Papyri  bekannt  sind.  So  kommen  hier  Fälle  von  Aus- 
gleichung der  Vokalquautität  vor:  lange  und  kurze  Vokale  werden 
durchaus  verwechselt  (e  und  yj,  o  und  cd).  Wir  sehen  hier  auch  den  An- 
fang der  Monophthongierung  von  Diphthongen:  das  echte  und  das  unechte 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     245 

si  ist  schon  fast  zu  i  geworden  (ic  für  si?)  u.  ähnl.  —  daneben  be- 
zeichnet et  allerdings  immer  noch  ein  ??eschlossenes  kurzes  e  (KXsiavopoi, 
AajjLEiac).  Der  Langdiphthoug  rji  erscheint  schon  als  £i  (-^ttsi  usw.), 
war  also  ebenfalls  fast  zu  i  geworden.  Die  Langdiphthonge  ai,  wi  ver- 
lieren sporadisch  ihren  zweiten  Komponenten  (y.rjpü)).  Dagegen  sind 
7.1,  ot  unverändert.  Es  verdient  auch  ein  konservativer  Zug  der  unteren 
Schichten  der  Bevölkerung  hervorgehoben  zu  werden:  aus  dem  alten 
Alphabete  wird  nocli  E ,  ü  für  si  ou  und  H  als  Zeichen  des  Spiritus 
asper  beibehalten.  —  Auf  dem  Gebiete  des  Konsonantismus  fällt  die 
Vereinfachung  von  Doppelkonsonanten  auf  ('(X(öz7.t.,  'Inovi/oc  usw.). 
Der  Nasal  erscheint  vor  Konsonant  reduziert  (OacptXo?  für  IlaiJ!,- 
91X0;).  'OXi'o;  für  0X170;  in  'OXiav9ior,c.  Vokalassimilatiou  in  'ö'fiXicDv 
für  'ß'fsXitüv  usw.  Metathese:  £v9aÜTa.  Von  den  Erscheinungen  des 
kombinatorischen  Lautwandels  verdienen  erwähnt  zu  werden:  Entfaltung 
eines  Nasals  vor  Explosiven:  -fXiuvxa?  für  ^XojTTotc  Entfaltung  eines 
Sekundärvokals:  'Ep'.;a.^c  für  'Epixr^;.*)  Sandhi:  xa  h  (=  xal  ev);  — 
IxTjOä'v,  [jLTji)a[xoü.  Die  Formen  oixottjC  neben  oi/sttjc,  (tpssocpovr)  neben 
<I>£pas96vr)  erklärt  Schw.,  indem  er  0  in  ihnen  als  einen  allgemeinen 
Kompositionsvokal  ansieht.  Es  könnte  aber  auch  in  den  Formen 
Assimilation  angenommen  werden.  —  Flexion:  Der  Dual  ist  im  Ab- 
sterben: zaiöta  ö'jo  ÖTqXca.  In  den  Nominativen  wie  'AptJToxXsTj?  für 
-y.X%  sieht  Schw.  eine  Wirkung  der  Analogie  (Ausgleichung  der  Silben- 
zahl nach  anderen  Kasus)  (sind  es  nicht  ionische  Formen  V).  Wirkung 
der  Analogie  haben  wir  in  AtoxXsv  (=  lliov.lia).  Sigmatische  Eigen- 
namen auf  -Y)c  bilden  den  Akk.  oft  auf  -r^v.  Die  Kontraktion  ist  unter- 
lassen im  Gen.  Detpaisajc:  auch  dr^Xca  erscheint  unkontrahiert.  Über- 
gang von  der  vokalischen  Deklination  zur  konsonantischen  ist  wohl  an- 
zunehmen in  'ApiTcavopoc  (Gen.).  Wir  finden  in  den  Tafeln  den  frühesten 
Beleg  für  das  noch  heute  lebende  oizo^  für  auro;;  dagegen  erscheint  nur 
aaoTüJ,  nicht,  wie  in  späterer  Zeit  ausschließlich,  csauxco.  Von  oiio 
'binde'  findet  sich  öoüfxev;  das  regelrechte  xaxaoüi  kommt  viel  häufiger 
vor  als  das  analogische  xaraösw ;  neben  diesen  Formen  erscheint  auch 
xaxaotoTjix!,  (wohl  nicht  attisch);  in  xcxTaoEvutu  haben  wir  schon  eine  mit 
V  erweiterte  Form.  Imperat.  3.  PI.  hat  bereits  die  jüngere  Form  mit 
-sav  (xaraosöeaftcujav). 

Wichtig  ist,  daß  fremde  Elemente  in  dem  Attisch  dieser  Tafeln 
unbedeutend  sind:  js  erscheint  einigemal  neben  dem  gewöhnlichen  tt 
(-i'Xuijaa).  Von  den  kleinasiatischen  Bildungen  des  Typus  -5;  -5oo?,  -st 
-siSof,  -oü  -oüöo;  trifft  man  hier  xfjv  -^va^xa  'Ap-sixstv  („mit  i"  Schwyzer) 


*j  Tcc/isTy^v   für   Taybxyjv   hält   Schw.   mit  Recht   für   unsicher.    Es 
könnte  einfach  eine  Verschreibung  sein. 


246     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898  —  1902.  (Witkowski.) 

(neben  dem  Gen.  'ApT£[jLiooc),  Mask.  Kowüj  Gen.  Kovvü  neben  Kowyoo;. 
Ionisch  ist  wohl  ypuj£o-/oo;. 

R.  Wünsch,  Neue  Fluchtafeln  (Rh.  M.  55,   1900,  S.  62—85, 
232—271) 
teilt  Ergebnisse    einer  Revision    der  von  Ziebartli  (a.  a.  0.)  veröffent- 
lichten Tafeln  mit,    die    auch    in    sprachlicher  Beziehung    manche  Be- 
richtiguug  und  Ergänzung-  brachte. 

0.  Hoffmann,  Zwei  neue  arkadische  Inschriften  (Philol. 
59,  S.  201—5). 

Unter  den  von  Ziebarth  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  1899, 
105  ff.  lierausgeg-ebenen  attischen  Fluchtafeln  befinden  sich  zwei 
(Nr.  21.  22)  im  arkadischen  Dialekt;  bemerkenswert  sind  in  ihnen  die 
Formen  auTw  =-  hom.  auttuc  'ebenso'  und  y.tXoi  —  y.thoii  mit  ot  statt  ai  wie 
ark.  -yi'vrjToi  u.  dgl. 


B.    Die  Literatursprache. 
I.    Prosaiker. 

1.    Auf  mehrere  Schriftsteller 

erstreckt  sich  die  lexikalische  Arbeit  in  großem  Stil: 

H.  Diels,  Elementum.  Eine  Vorarbeit  zum  griechischen  und 
lateinischen  Thesaurus.     Leipzig  1899.- 

Diese  Monographie  handelt  über  den  Gebrauch  des  Wortes  ator/stov 
auch  bei  den  hellenistischen  Schriftstellern,  namentlich  Philosophen. 

Die  Geschichte  dieses  Wortes  mit  besonderer  Beziehung  auf  das 
N.  T.  hat  auch  Deißmann  im  Artikel  'Elements'  in  der  Encyclopaedia 
Bibl.  II  (1901)  S.  1258—1262  behandelt;  er  kommt  unabhängig  von 
Diels  zu  gleichem  Ergebnis.     Vgl.  Thumb  Arch.  f.  Pap.  2  S.  424. 

2.  Theophrast  (Charaktere). 

P.  Wendland,  Zu  Theophrasts  Charakteren  (Philol.  57, 
1898) 
bringt  in  dem  zweiten  Teile  dieses  Aufsatzes,  'Exegetisches'  (S.  112 — 
122),  auch  sprachliche  Bemerkungen.  W.  bezeichnet  als  wünschenswert 
einen  vollständigen  Index  zu  den  Charakteren,  da  allein  ein  solcher  die 
sichere  Grundlage  für  eine  sprachgeschichtliche  Verwertung  der  Schrift 
geben  kann.  Über  die  Art,  wie  der  Bearbeiter  mit  seiner  Vorlage 
umgegangen  ist,  wird  das  Urteil  nach  W.  wahrscheinlich  dahin  lauten, 
„daß  er,  abgesehen  von  mancher  (wohl  nicht  mechanisch  zu  erklärender) 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Keine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     247 

Kürzung-  luul  Kontamination  verschiedener  Charaktere  .  .  .,  wenigen 
Änderungen  in  Wertform,  Flexion  und  Syntax,  sehr  wenigen  im  delectus 
verborura,  seine  Vorlage  treu  wiedergegeben  hat."  Die  im  Kon- 
versationston abgefaßte  Schrift  wird  manche  bis  dahin  der  Literatur- 
sprache fremde  Wörter  zuerst  in  dieselbe  eingeführt  haben.  Die  Vor- 
rede, manche  längere  Zusätze  am  Schlüsse  und  wenige  kürzere  im  Texte 
der  Kapitel  sind  unecht. 

0.  Immisch,   Über    Theophrasts    Charaktere    (Philol.  57, 
1898) 
berührt  auch    die  Spraclie  und    den  Stil    dieses  Werkes.     Er  lehnt  die 
Annahme  von  Diels,    wouach  die  Charaktere  eine    weitgehende  byzan- 
tinische Durchsetzung  zeigen. 

3.  Polybios. 

Die  syntaktischen  Arbeiten  von  Purdie  und  Meltzer  sind 
bereits  oben  besprochen  worden. 

K.  Amelung,  De  Polybii  enuntiatis  finalibus.  Diss. 
Halensis.     Halis  S.  1901. 

Vf.  vergleicht  überall  in  dankenswerter  Weise  den  Gebrauch 
Polybios'  mit  demjenigen  der  Inschriften  und  Papyri.  Von  den  Papyrus- 
Publikationen  werden  nur  einige  herangezogen.  Er  teilt  die  Absichtssätze 
in  2  Klassen  ein:  vollständige  und  unvollständige  Absichtssätze.  Außerdem 
werden  die  Verba  imperandi  (postulandi  u.  dgl.)  behandelt,  die  im  Attischen 
in  der  Regel  mit  dem  Inf.,  bei  Pol.  mit  Tva  und  ottw?  verbunden  werden. 
—  A)  Vollständige  Absichtssätze.  Was  die  Modi  betrifft,  so  steht 
nach  den  historischen  Tempora  bei  Pol.  fast  durchweg  der  Coni.  Opt. 
findet  sich  nur  an  9  Stellen.  Den  Coni.  gebrauchen  mitunter  schon 
attische  Eedner  und  ziemlich  oft  Herodot  und  Thukydides.  Bei  den 
späteren  Schriftstellern  (Aristoteles,  Theophrast,  Josephos,  Lukian) 
überwiegt  der  Coni.  Fast  ausschließlich  erscheint  der  Coni.  im  N.  T. 
In  der  Keine  macht  sich  also  in  bezug  auf  den  Gebrauch  der  Modi 
das  Prinzip  der  Nivellierung  und  Vereinfachung  geltend.  In  anderen 
Satzkategorien  kommt  der  Opt.  bei  Polyb.  häufig  vor.  Den  Ind.  Fut. 
in  vollständigen  Absichtssätzen  verwirft  Am.  bei  Pol.,  trotzdem  die 
LXX  und  das  N.  T.  ihn  kennen,  und  zwar  deshalb,  weil  die  beste 
Handschrift  des  Pol.,  Vaticanus,  den  Coni.  bietet  und  weil  die  In- 
schriften das  Fut.  nicht  kennen.  An  einer  Stelle  findet  sich  bei  Pol. 
das  Impf.  (Einfluß  des  Irrealis).  Die  Inschriften  und  Papyri  zeigen 
nach  historischen  Tempora  durchweg  den  Coni.  (2  Beispiele  des  Opt. 
erst  aus  den  Inschriften  des  3.  Jhd.  n.  Chr.)  In  bezug  auf  die  Modi 
stimmt  also  die  Sprache  Polybios'  mit  derjenigen  der  hellenistischen 
Inschriften  und  Papyri  überein.  —  Was  die  Konjunktionen  betrifft 


248     Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898  — 190'2.  (Witkowski.) 

so  ist  bei  den  attischen  Schriftstellern  iva  häufiger,  dagegen  in  den 
attischen  Inschriften  o-wc  «v  das  fast  ausschließliche.  In  den  helle- 
nistischen Inschriften  und  Papj^ri  erscheint  ottcu?  und  ottu)?  av  viel 
häufiger  als  Tva  (sehr  selten  «!>?,  resp.  wc  av).  Bei  Polybios  finden  wir 
dagegen  fast  durchweg  "iv a  (ouw?  nur  an  5  Stellen;  nicht  in  den  5  ersten 
Büchern).  —  B)  Unvollständige  Absichtssätze  nach  den  Verba  curandi, 
deliberandi  («ppovxiCetv,  TxpovosTff&at  .  .  .)  u.  dgl.  Im  Attischen  steht  hier 
oTTtuc  mit  Fut.  (selten  o>?),  seltener  mit  Coni.  (Opt.)  (für  "iva  hat  A.  nur 
3  Belege  gefunden).  In  den  hellenistischen  Inschriften  ist  Fut.  sehr 
selten  (3  Belege);  das  gewöhnliche  ist  hier  sowohl  nach  den  Haupt- 
ais nach  den  historischen  Tempora  der  Coni.  (Opt,  nur  dreimal);  die 
Partikel  ist  ottw?  (selten  oViu?  av  und  i'va;  nie  (oc  oder  w?  av).  Auch 
bei  Pol.  ist  Coni.  das  gewöhnliche,  aber  er  gebraucht  nicht  oitoi?,  sondern 
Tva.  In  den  Modi  stimmt  also  Pol.  mit  den  gleichzeitigen  Inschriften 
und  Pap3^ri  überein,  in  den  Konjunktionen  macht  sich  bei  ihm  das 
Prinzip  der  Vereinfachung  geltend  (Fut.  kommt  einmal  vor,  ötm;  und 
ws  je  einmal).  Vollständige  und  unvollständige  Absichtssätze  hält 
demnach  Polybios  nicht  auseinander.  —  C)  Nach  dem  Verba  imperandi 
u.  dgl.  ist  bei  den  Attikern  der  Inf.  das  gewöhnliche.  Auch  bei  Pol. 
finden  wir  in  der  Pegel  den  Inf.  Doch  kommen  daneben  bei  ihm  auch 
Tva-Sätze  vor.  Keime  dieser  Konstruktion  finden  sich  schon  bei  attischen 
Schriftstellern  (6  Belege),  mit  dem  Unterschiede,  daß  hier  die  Partikel 
durchweg  o-wc  ist.  Die  hellenistischen  Inschriften  und  Papyri  haben 
Sätze  mit  orw?,  ottoj?  av  und  iva  mit  Coni.  —  In  den  Dekreten  römischer 
Magistrate  steht  nach  den  Verba  imperandi  otto);  und  Tva  mit  Coni. 
Finalsätze  sind  in  diesen  Inschriften  nach  Am.  häutiger  als  in  den  echt 
griechischen.  —  Die  Arbeit  ist  umsichtig  und  gründlich. 

C.  Wunderer,  Polybios-Forschungen.  Beiträge  zur  Sprach- 
und  Kulturgeschichte.  I.  Teil:  Sprichwörter  und  sprichwört- 
liche Redensarten  bei  Polybios.    Leipzig  1898. 

W.  untersucht  zunächst  die  als  -apotfxiat  bezeichneten  oder  mit 
To  ör]  Xe76[i.£vov  eingeführten  Redensarten  in  Hinsicht  auf  die  Quellen, 
aus  denen  sie  stammen.  Die  epische  Poesie,  Euripides,  vor  allem  aber 
die  Komödie  (Menander)  haben  den  griechischen  Sprachschatz  beeinflußt. 
Eine  zweite  Gruppe  bilden  Sprichwörter,  welche  nicht  als  solche  be- 
zeichnet werden.  Viele  von  ihnen  gehen  ebenfalls  auf  die  Literatur 
zurück.  Ein  großer  Teil  von  Sprichwörtern  beider  Gruppen  stammt 
aus  der  Volkssprache.  P.  benützt  nach  W.  ein  Sammelwerk  von  Sprich- 
wörtern, wahrscheinlich  das  des  Stoikers  Chrysippos.  (Vf.  hat  dies  m. 
E.  nicht  bewiesen.)  Vf.  redet  dann  von  der  sprichwörtlichen  Verwen- 
dung gewisser  Eigennamen.  S.  85—94  charakterisiert  er  den  Polybia- 
nischen  Stil  und  die  Koine. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1S9S— 1902.  (Witkowski.)     249 

4.     Diodor. 

J.  La  Roche,  Sprachliches  aus  und  zu  Diodor  (W.  St.  21, 
1899,  S.  17—37) 

gibt  statistische  Zusammenstellungen  über  einige  morphologische, 
sj'ntaktische  und  lexikalische  Tatsachen  bei  Diodor  und  anderen 
hellenistischen  Schriftstellern,  besonders  Polybios,  wobei  auf  den 
attischen  Gebrauch  hingewiesen  wird.  Leider  wird  zwischen  Attizisten 
und  Schriftstellern  wie  Polybios  nicht  unterschieden.  Es  ergibt  sich  für 
den  Vf.,  daß  man  bestimmten  Teilen  des  Diodorischen  Werkes  die  Ver- 
schiedenheit seiner  Quellen  anmerkt;  in  spruchlicher  Hinsicht  habe  er 
sich  vorzugsweise  Polybios  zum  Vorbild  genommen.  Letzteres  halte  ich 
für  unbewiesen;  gemeinsame  sprachliche  Eigentümlichkeiten  erklären 
sich  dadurch,  daß  sie  der  Koine  angehören.  —  L.  R.  handelt  über 
Formen  isTavsiv  und  b-rav;  7:i|x-pav;  Pf.  sa-ajj-ai;  über  Formen  von  i^am 
(Pf.  l'Crjxa,  imperat.  praes.  C^9t  u.  a.);  Tzpo-epiui  (Praeter,  -pos-spouv 
Diod.),  rposcp/^teuaa  Sept.  Joseph.  (Sept.  auch  eTrpo^v^—usa),  Pf.  rjp£icj[xai 
(spsi'düj)  und  andere  ähnlich  reduplizierte  Perfekta,  -zixvjyjx  (neben  -tvj- 
yrixa  und  seltenem  TeTu-/a),  zi-zzu-ni-ai,  etsu^^drjv  (Imal  bei Polyb.),  Aoriste: 
£iXafi./)v,  £upa,  e'jTssa,  ^X9a,  sioa,  l'Xet'l'a,  Ptc.  ouva?  (zu  ouvw),  IßXasxrjSa, 
EÖpaaa;  über  al  vaüc  und  xac  v^ac;  Kompar.  -dytov,  Adv.  zpwTcu;;  über 
die  Konstruktion  au-oic  toIs  (iTiTrotc):  Ellipsen  wie:  -oXXv]  -r^c 'Asi'a?  'ein 
großer  Teil  von  Asien' ;  Konstruktion  -oXsfxsiv  xiva  'bellum  inferre  alicui' 
(att.  Tivl  oder  r.poi  xiva);  öaup-a^oj  und  oo^av  lyo)  sv  tivi  (att.  z~i  x'.vt); 
über  Ausdrücke  für  'verscheiden' :  syAsintu  xov  ßiov,  ixtTcaXXdzxui  (mit  und 
ohne  -rov  ß(ov)  und  xataciTpe^cu  (mit  und  ohne  -ov  ßtov);  o  'lovioc  (bei 
Polybios  und  Diodor  immer  mit  einem  Substantiv);  oia^spco  xt  (statt  xiv6;): 
oia  ixayjr]?  y.pivsiv  (att.  isvai,  sXäsTvj;  stti  ^svto:  -/.cxXsrv  (das  dem  Vf.  ver- 
dächtig erscheint);  ^qv-^i^«^  <^-7^o  '^'"'o»  'i^it  etwas  fertig  sein,  etwas  voll- 
bracht haben';  osu-spato;,  xpixalo?  usw.  'am  zweiten,  dritten  .  .  .  Tag", 
8po(xaroc.  —  Leider  sind  die  einzelnen  Gruppen  nicht  gehörig  geordnet. 
H.  Kallenberg,  Textkritik  und  Sprachgebrauch  Diodors. 

L  (Beilage  zum  Jahresbericht  des  Friedrich-Werderschen  Gymnasiums 

zu  Berlin.     1901).     Berlin  1901 
enthält   sorgfältige  Beobachtungen    über    den  Sprachgebrauch  Diodors, 
z.  B.  über  Tptü^oöuxat,  über  den  Gebrauch  des  Artikels,  über  den  Dat. 
temp.  mit  und  ohne  iv,    Wendungen  wie  sv  xoT;  Trpoxlpoi?  ypovot;  usw., 
auvsp-^eiv  und  Verwandtes,  xy]  xpix?]  rjpiepa  u.  ähnl.,  }X£ypi  xou  vuv. 

Th.  Hultzsch,    Die  erzählenden  Zeitformen   bei  Diodor 

von  Sizilien  (Jahresber.  d.  Progymn.  zu  Pasewalk  1902). 

Vf.,  der  in  seiner  Hallenser  Dissertation  1893  über  den  Gebrauch 
des  Aor.  und  Imperf.  bei  Diodor  geschrieben  und  dort  namentlich  die 
Verba  der  Bewegung,    vor  allem  l£va^  und  i'^eiv,    behandelt  hat,    setzt 


950     Bericht  üb.  d.  Literatur  zurKoine  a.  d.  Jahren  1S9S— 1902.  (Witkowski.) 

hier  diese  Studien  fort  und  handelt  von  s/ctv  und  Konipp.  (av-r/etv, 
TTpojsyetv),  ferner  von  -/i'vsaöai  und  Kompp.  (t~qar)ii.n.i,  -poi-iao^iii,  Trapa- 
-,'ivotxai,  TTspqivojjLai) ,  endlich  kurz  über  im'^'-Dloiiii.  Der  Gebrauch  des 
Aor.  und  Impf,  dieser  Verba  wird  mehr  vom  Staudpunkte  der  Text- 
kritik als  demjenigen  der  Syntax  behandelt,  und  obwohl  das  Urteil  des 
Vf.  umsichtig-  ist,  ist  das  ganze  etwas  äuiSerlich  und  die  Ergebnisse 
ziemlich  dürftig. 

5.     Parthenios. 

R.  Mayer-G'schrey,  Parthenins  Nicaeensis  quäle  in  fa- 
bularum  amatoriarura  breviario  diceudi  g-enus  secutus  sit. 
Heidelberg  1898. 

Parthenios'  Büchlein  sind  rasch  hingeworfene  u7:o}i.vr([jLa-a,  Er 
gehört  nicht  zu  den  Attizisten.  Trotzdem  bietet  seine  Sprache  für  die 
Koine  kein  besonderes  Interesse,  weil  sie  sich  oft  an  die,  zumeist  poe- 
tischen, Vorlagen  hält.  Von  dem  reichen  Inhalte  der  Arbeit  kann  ich 
nur  einiges  herausgreifen.  Nach  M.  stammt  ein  großer  Teil  der  bei 
Parth.  zahlreichen  lonismen  aus  der  Lektüre  des  Herodot.  Das  ist  nur 
zum  Teil  richtig;  mancher  lonisraus  ist  poetischen  Quellen  entnommen, 
andere  stammen  aus  der  Koine  (so  z.  B.  Xao?,  vaoc  oder  Periphrasen). 
Sg.  poetische,  ferner  seltene  und  neue  Wörter  sind  bei  Paith.  häufig, 
pp  kommt  vor  neben  pj,  -u-  neben  aj,  attische  Deklination  und  Dualis 
neben  Gen.  auf  -irjc,  -pYjS,  Aor.  £72V7^i}/]v ;  a\i'^i  neben  oia  c.  acc.  (=  evexa), 
£(0?  c.  gen.  Participia  sind  häufiger  als  Nebensätze,  Finalsatz  ist  nur 
einmal  belegt,  Verba  petendi  haben  ottojc  c.  coni. ,  nicht  Inf.,  jxy^  er- 
scheint häufig  statt  orj  usw.  Hiatus  wird  nicht  gemieden.  Zu  loben  ist 
der  konservative  Standpunkt  des  Vf.  in  der  Textkritik  und  seine  Selb- 
ständigkeit gegenüber  der  Ausgabe  Sakolovvskis ,  auf  welcher  er  fußte. 
Die  Arbeit  ist  sehr  fleißig  und  zeugt  von  liebevoller  Vertiefung  in  die 
Sprache  des  Autors,  nur  ist  Vf.  mit  der  methodischen  Seite  der  Koine- 
forschung  etwas  zu  wenig  vertraut. 

IL     Dichter. 

1.    Theokritos. 

*L.  Wahlin,  De  usu  modorum  Theocriteo.    Göteborg  1898. 

'Sorgfältig  und  verständig'  M.  Rannow  W.  f.  k.  Ph.  1899  Nr.  23. 

*H.  R.  Fairclough,  A?  — wc  in  Theocritus  and  Homer. 
Class.  Rev.  14,  S.  394—96. 

Über  die  „exclamative  force"  des  zweiten  (o;  bei  Theokrit  2,  82; 
der  Gebrauch  ist  „a  survival  from  earliest  times".  I.  F.  13,  1902,  Anz. 
S.  180. 


Bericht  üb.  d.  Literatur  zur  Koine  a.  d.  Jahren  1898—1902.  (Witkowski.)     251 

2.     Apollonios  Rhodios. 

*E.  Fitch,  The  proprieties  of  epic  specch  in  the  A.rgo- 
nautica  of  Apollonios  ßhodius.  In;  Proceedings  of  the  Ame- 
rican Philological  Association.     Vol.  33. 

3.    Herodas. 

*L.  Valniaggi,  De  casuum  syntaxi  apud  Herodam.  Riv. 
di  filol.  26,  1898,  S.  37—54. 

Nach  T.  F.  10,  S.  116  enthält  die  Arbeit  kritische  Zusammen- 
stellung der  Tatsachen. 

*S.  Olschewsky,  La  langue  et  la  metrique  d'H6rodas. 
Leiden  1898. 

III.     Vermischtes. 

L.  Eadermacher,  Zu  Isyllos  von  Epidauros  (Philol.  58,  1899, 
S.  314 — 6)  sucht  die  Worte  bei  Isyllos  I  13  xo  vAllo^  6e  Koptovlc  ers- 
y.Xrjö/)  so  zu  erklären,  daß  er  xo  y.dXXo;  ok  für  ein  vorangestelltes 
„Lemma"  im  Nom,  (statt  Akk.)  hält.  Die  von  ihm  herangezogenen 
Fälle  von  Prolepsis  haben  jedoch  mit  dieser  Stelle  wenig  Gemeinsames. 
Ferner  sucht  R.  Diodor  II  52,  4  zu  erklären. 

Derselbe  nimmt  bei  Dionys.  Halic.  de  Isaeo  p.  607  R  r.oXXa 
7ap  av  TU  lowv  supoi  x:ap'  auTw  die  Worte  xi?  locuv  nochmals  in  Schutz 
indem  er  sie  durch  Beispiele  zu  sichern  sucht  (Griechischer  Sprach- 
brauch, Philol.  59,  1900,  S.  596  f.). 

Derselbe  bietet  in  seinen  Analecta  X  (Philol.  59,  1900)  Be- 
merkungen zum  Texte  und  zum  Sprachgebrauche  der  griechischen  Reste 
des  Henochbuches  (S.  166 — 175). 


Nachtrag  zu  Seite  187. 
Bei  der  Erörterung  der  Faktoren,  die  im  5.  und  4.  Jhd.  in  Athen 
der  Entstehung  der  Koine  vorarbeiteten,  ist  die  große  Zahl  der  Me- 
toiken  bisher  nicht,  oder  wenig,  beachtet  worden.  Die  einzige  Volks- 
zählung in  Athen,  von  der  wir  wissen,  die  unter  Demetrios  von  Phaleron 
gegenEnde  des 4.  Jhd.  veranstaltet  wurde,  ergab  bekanntlich  21 000 Bürger, 
10  000  Metoiken  und  400  000  Sklaven.  Die  Anzahl  der  Metoiken  belief 
sich  demnach  etwa  auf  die  Hälfte  der  Bürger.  Unter  ihnen  waren 
viele  Barbaren,  namentlich  Vorderasiaten. 


Verzeiclmis  der  besprochenen  Arbeiten. 

Einfache  Erwähnungen  und  Zitate  aus  Arbeiten,  denen  kein  kritisches  Urteil 
folgt,  ferner  Rezensionen  sind  hier  in  der  Regel  nicht  berücksichtigt. 


Seite 
AI  linsen,  On  causes  etc.  to  the  loss  of  the  Opt.  in  later  greek  .    .     224 

Amelung,  R.,  De  Polybii  enuntiatis  finalibus 247 

Apostolides,  Essai  sur  rhellenisme  egyptien 191 

Aristeae  ad  Philocratem  epistula  ed.  Wendland 209 

Baudissin,  Einleitung  in  die  Bücher  des  Alten  Testaments.    .   .    .     208 

Bück,  The  source  of  the  so-called  Achaean-Doric  /otw) 210 

Bure  seh,  Aus  Lydien 243 

Crönert,  Quaestt.  Herculanenses 158.  235 

—  Über  die  Erhaltung  usw,  der  herk.  Rollen 235. 

—  Zu  den  Eigennamen  der  Papyri  und  Ostraka 233 

—  Zur  Bildung  der  in  Ägypten  vorkommenden  Eigennamen    ....     233 

—  Arch.  f.  Pap.  1  210  ff. 229.  231 

—  W.  St.  20  S.  61  Anm.  u.  S.  79 218 

—  Z.  f.  G.  W.  1898  S.  577  ff. 238 

—  Die  adverbialen  Komparativformen  auf  -w 224 

Deissmann,  Bible  studies 201 

—  Die  sprachliche  Erforschung  der  griechischen  Bibel 201  ff. 

—  Sprache  der  griechischen  Bibel  (Theol.  Rundsch.  1898  u.  1902)  15G.  201 

—  Hellenist.  Griechisch  (Realenc.  f.  protest.  Theol.) 173,  201  ff. 

—  G.  g.  A.  1898  S.  122  ff. IGO.  231 

—  Rachegebete  von  Rheneia 243 

—  Artikel  vor  Personennamen 224 

—  Die  griechische  Titulatur  des  usw.  M.  Antonius 225 

—  Elements 246 

Diels,  Elementum 24G 

—  'ApJivo; 244 

Dieterich,  K.,  Untersuchungen  z.  Gesch.  d,  griech.  Sprache  196 ff.  215 fl". 

—  B.  Z.  1900  S.  535  ff. 229 

—  B.  Z.  1901  (Besprechung  von  Mayser) IGO 

Dittmar,  Vetus  Test,  in  Novo 209 

Erman,  H.,  Die  Habe-Quittung  bei  den  Griechen 235 

Fairclough,  (o;-");  in  Theocritus  and  Homer 250 

Fitch,  Epic  speech  of  etc.  Apollonios  Rhodius 251 

Gradenwitz,  Einführung  in  die  Papyrusurkunden,  1 235 

—  Papyrus  und  Lexikon 235 

Green,  jir^  for  oü  before  Lucian 224 

Hamilton,  Negative  Compounds  in  greek 218 


Verzeichnis  der  besprochenea  Arbeiten.  253 

Seite 

Hatzidakis,  G.  g.  A.  1899  S.  5U6  ff 158.  150.  18.'> 

—  llt[j'.  ~oD  ypovc/'j  T^;  i;[3w3£oj;  T/j;  -fiooioo'.ct; 217 

—  IlsfJ'!  Toö  oyr;u.c(":tau.oö  tujv  fvvojic<'~o)v  si;  -i;  .    , 218 

Uerwerden,  Lexicon  graecum  suppletorium 225 

Iloffmann,  0.,  Zwei  neue  arkadische  Iss 246 

Hultzsch,  Th,  Die  erzählenden  Zeitformen  bei  Diodor 249 

Immisch,  Über  Theophrasts  Charaktere 247 

Kallenberg,  Textkritik  und  Sprachgebrauch  Diodors.     1 249 

Keil,  B.,  Nachrichten  d.  Gott.  Ges.  1899  S.  151  f. 218 

Kennedy,  Recent  research  in  the  language  of  the  N.  T 156 

Kern,  0.,  Inschriften  von  Magnesia 243 

Koellner,  Bemerkungen  zu  den  Papyrusfragmenten  des  plat.  Laches  237 

Korsunskij,  Perevod  LXX  (Übersetzung  der  LXXj 208 

Krauß,  Griechische  und  lateinische  Lehnwörter  im  Talmud    ....  190 

Krcek,  Muzeum  1901  S.  177 166 

Kretschmer,  Entstehung  der  Koine 159.  172  ff.  183  ff. 

—  D.  L.  Z.  1901  Sp.  1049  ff 168.  182.  183 

—  Lesbische  Inschriften,     1 243 

Kroll,  Hermes  30  S.  462 198 

Krumbacher,  Byzantinische  Literaturgeschichte 162 

La  Roche,  Formen  von  zhzh  und  hv(/.zh 218 

—  Sprachliches  aus  und  zu  Diodor , 249 

Levy,  J.,  Sur  quelques  noms  semitiques  d.  plantes 191 

Lewy,  H.,  Die  semitischen  Fremdwörter  im  Griechischen 191 

Lidzbarski,  Handbuch  der  nordsemitischen  Epigraphik 191 

Ludwich,  Über  die  Papyrus-Kommentare  zu  den  Homer.  Gedichten  237 

Mayer-G'schrey,  Parthenius  Nicaeensis 250 

Mayser,  Grammatik  der  griechischen  Papyri  I,  und  II 227 

Meister,  R.,  Beiträge  zur  griechischen  Epigraphik.    1 243 

Meltzer,  Vermeintliche  Perfektivierung  usw.  im  Griechischen    .    .    .  220 

Mitteis,  Trapezitika 235 

Moulton,  Grammatical  notes  from  the  papyri 231 

—  Notes  from  the  papyri 232 

Naber,  Observatiunculae  ad  papyros  iuridicae 235 

Nestle,  Septuaginta  und  Bibelvulgata 208 

—  Ein  moabitischer  Stadtname 208 

—  Geschichte  eines  Druckfehlers  (ravTÖßpoyo;) 209 

—  ap-o; 209 

—  Septuagintastudien.    III 209 

Norden,  Antike  Kunstprosa 204  f.  212 

Olschewsky,  La  langue  etc.  d'Herodas 251 

Pedersen,  Zur  Lehre  von  den  Aktionsarten 224 

Purdie,  The  Perfective  Aktionsart  in  Polybius  ..........  219 

Radermacher,  Baoi^-Eu;  'Avcioya;  $avic^ 210 

—  Griechischer  Sprachbrauch   . 226.  251 


254  Verzeichnis  der  besprochenen  Arbeiten. 

Seite 
RaderiuacLer,  Aus  dem  II.  Bande  der  Amherst  Papyri 234 

—  Zu  Isyllos  von  Epidautos 251 

—  Analecta  X 251 

Reinach,  Tb.,  Un  temple  etc    de  Tanagra 243^ 

Sarauw,  Syntaktisches.     1 224 

Schlatter.  Verkanntes  Griechisch 191 

Schmid,  W.,  Über  den  usw.  Zusammenhang  usw.  d.  griech.  Renaiss.     211 

—  W.  f   k.  Ph.  1901  Sp.  597  ff 175.  197.  205 

Schmitt,  John,  Üb. pbonet.  u.  graph. Erscheinungen  im  Vulgärgriech.    217 

Schulze,  W.,  Graeca  Latina 226 

Schwyzer  (Schweizer),  Gramm,  d.  perg.  Iss 161.  166  f.  171.  237. 

—  Weltsprachen  des  Altertums 188 

—  Vulgärsprache  der  attischen  Fluchtafeln 244 

—  N.  Jb.  1901  S.  244  ff. 197  f. 

Searles,  Lexicograph.  study  of  the  greek  iss 242 

Solmsen,  I.  F.  189S  Anz.  S.  64 160 

—  "Ovou.c  x/;  \~\~axrj6'jj,\'j V 244 

Stratton,  History  of  greek  noun-formation.     1 219 

Swete,  Introduction  to  the  Old  Test,  in  greek 203  f.  206  ff. 

Thumb,  Griech.  Spr.  im  Zeitalt.  d.  Hell.  156.  159.  166.    167.    168.    171  ff. 

183  ff".     189  ff.     196  f.     198  ff.     201  ff. 

—  Zur  Aussprache  des  Griechischen 194 

—  Sprachgeschichtliche  Stellung  des  biblischen  Griechisch  ....    201  ff. 

—  Namen  der  Wochentage  im  Griechischen 225 

—  Arch    f.  Pap.  2  (1903)  S.  396  ff 156  ff. 

Valaori,  Der  delphische  Dialekt 242 

Valmaggi,  De  casuum  syntasi  ap.  Herodam 251 

Viereck,  Bericht  über  die  Papyrusliteratur 227 

Völker,  Papyrorum  graec.  syntaxis  specimen 233 

Wahlin,  De  usu  modorum  Theocriteo 250 

Wendland,  B.  Z.  11  (1902)  S.  184  f 163  f. 

—  Zu  Theophrasts  Charakteren 246 

—  V,  Aristeas. 

Wessely,   Die  lateinischen  Elemente  in  den  usw.  äg.  Papyrusurk.   .     196 
Wilamowitz,  G.  g.  A.  1900  S.  29  ff" 234 

—  G.  g.  A.  1901  S.  30ff 159.  160.  234 

—  Asianismus  und  Attizismus 212 

—  Hermes  34  S.  203  ff.,  601  ff" -243 

35  S.  536  ff 214 

Wilcken,  Griech.  Ostraka 237 

—  Der  heutige  Stand  der  Papyrusforschung 227 

—  Arch.  f.  Pap.  I  (Zusammenstellung  der  Papyri) 159 

Witkowski,  Prodromus  gramm.  papyrorum 159.  228 

Wunderer,  Polybios-Forschungen.    I.  . 248 

Wünsch,  Neue  Fluchtafeln 246 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

Vorbemerkungen 153 

I.  Abschnitt.    Allgemeine  Fragen 15S 

1.  Name,  Grenzen  und  Begriff  der  Koine IGl 

2.  Der  Untergang  der  altgriechischen  Dialekte 1G5 

3.  Wesen  und  Entstehung  der  Koine 169 

a)  Wesen  der  Koine ....  170 

Die  schriftliche  Koine 183 

b)  Entstehung  der  Koine 183 

4.  Der  Einfluß  nichtgriechischer  Völker  auf  die  Koine  ....  189 

5.  Dialektische  Differenzierung  der  Koine 196 

Der  angebliche  alesandrinische  Dialekt 198 

6.  Die  Sprache  der  griechischen  Bibel 200 

Der  Aristeasbrief 209 

7.  Die  achäisch-dorische  und  die  nordwestgriechische  Koine   .  210 

8.  Der  Attizismus 211 

II.  Abschnitt.     Spezialarbeiten 214 

Arbeiten,  welche  sich  auf  mehrere  Quellenklassen  erstrecken  .  215 

a)  Laut-  und  Formenlehre 215 

b)  Wortbildung 218 

c)  Syntax 219 

d)  Lexikalisches 225 

e)  Vermischtes 226 

A.  Die  Umgangssprache 226 

I.  Papyri  (und  Ostraka) 226 

1.    Die  nichtliterarischen  Papyri 227 

a)  Laut-  und  Formenlehre 227 

b)  Wortbildung 232 


c)    Syntax 2 


d)    Vermischtes ,    .    .     234 

2.    Die  literarischen  Papyri 235 

Ostraka 237 


256  Inhaltsübersicht. 

Seite 

II.  Die  Inschriften 237 

a)  Laut-  und  Formenlehre 237 

b)  Lexikalisches 242 

c)  Vermischtes 243 

Die  Fluchtafeln 244 

B.  Die  Literatursprache 24fi 

I.  Prosaiker 24fi 

1.  Mehrere  Schriftsteller 246 

2.  Theophrast  (Charaktere) 246 

3.  Polybios 247 

4.  Diodor 249 

5.  Parthenios 250 

II.  Dichter 250 

1.  Theokritos 250 

2.  Apollonios  Rhodios 251 

3.  Herodae 251 

III.  Vermischtes 251 

Nachtrag  zu  S.  187    , 251 


•IKIHII   IU8H0IUC1(CK1-*0Tm>IIItlL«eM*fT,    tCT tCItMBlH-te^u-.fi    Dfl    LSTTC-« 


JAHRESBERICHT 

über 

die  Fortschritte  der  klassischen 

Altertumswissenschaft 

begründet 

von 

C  0 11  r  <a  d    B  11  r  s  i  a  n 

herausgegeben 

von 

L.    GrVTl-litt    iiiKl   "%V.    ICl'Oll. 


Hunderteinnndzwanzigster  Band. 

Zweiunddreissigster  Janrgang  1904. 

Zweite  Abteilung. 

Grieehisehe  und  lateinische  Autoren. 


LEIPZIG  1905. 

0.    R.    R  E  I  S  L  A  N  D. 


Inhalts  -Yerzeichnis 

des  hunderteiDundzwanzigsten  Bandes. 


Seite 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur   1896 — 1903    von 

Eduard  Wolff 1  —  125 

Bericht  über  (üe  Literatur  zu  späteren  römischen 
Geschichtsschreibern  von  1897  bis  einschliess- 
lich   1902.     Von  Prof.   Dr.   Tlieodor  Opitz, 

Rektor  des  Gymnasiums  in  Zwickau     .     .     .  126 — 142 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903 


Eduard  Wolff. 


I.  Tacitns  als  Schriftsteller.    Seine  Geschichtschreibang.    Qoellen, 
Eanstform  und  Tendenz  seiner  Werke. 

1.  F.  Leo,  Tacitus.     1896. 

2.  H.  Peter,  Geschichtliche  Literatur  der  Kaiserzeit.     1897. 

3.  Ivo  Bruns,  Die  Persönlichkeit  in  der  Geschichtschreibung.     1898. 

4.  E.  Norden,  Antike  Kunstprosa.     1898. 

5.  0.  Seeck,  Entw.  d.  antiken  Geschichtschreibung.     1898. 

6.  F.  Ramorino,  Cornelio  Tacito  nella  storia  della  coltura.     1897. 

7.  0.  Wackermann,  Der  Geschichtsschreiber  P.  Com.  Tacitus.    1898. 

8.  L  Schwabe,  P.  Com.  Tacitus  bei  Pauly-Wissowa.     1900. 

9.  K.  Breysig,  Kulturgeschichte  der  Neuzeit.     1901. 

10.  G.  Boissier,  Tacite.     1903. 

11.  J.  Asbach,  Römisches  Kaisertum  und  Verfassung.     1896. 

12.  0.  Seeck,  Anfang  von  Tacitus'  Historien.     190L 

13.  F.  Rühl,  Zu  Tacitus.     1901. 

14.  A.  Viertel,  Tiberius  und  Germanikus.     1901. 

15.  A.  Spengel,  Zar  Geschichte  des  Kaisers  Tiberius.    1903. 

16.  E.  Groag,  Zur  Kritik  von  Tac.  Quellen  in  den  Historien.     1897. 

17.  F.  MQnzer,  Die  Quelle  des  Tac.  für  die  Germanenkriege.    1899. 

18.  B.  Imendörffer,  Beitr.  z.  Quellenkunde  d.  Ann.  XI— XVI.    1901. 

19.  E.  Wölfflin,  Zur  Komposition  der  Historien  des  Tacitus,     1901. 

20.  „  „         Plinius  und  Cluvius  Rufus.     1901. 

21.  E.  Borenius,  De  Plutarcho  et  Tacito  inter  se  congruentibus.     1902. 

22.  L  Paul,  Kaiser  M.  Salvius  Otho.     1902. 

23.  H.  Vieze,  Domitians  Chattenkrieg.    1902. 

II,   Wortschatz  und  Sprachgebranch. 

24.  A.  Gerber  und  Greef,  Lexikon  Taciteum.    1897—1903. 

25.  Ph.  Fabia,  Onomasticon  Taciteum.     1900. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  OXXI.     (1904.    II.)  1 


2  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

26.  K.  Reissinger,  Die  Präpositionen  ob  und  propter.     1900. 

27.  G.  Landgraf,  Beitr.  zur  histor.  Syntax.     1899. 

III.    Überlieferung  und  Kritik  des  Textes. 

28.  G.  Andresen,  In  Tac.  Hist.  stud.  crit.    Progr.  1899  u.  1900. 

29.  „  „  Zur  hdscbr.  Überlief,  d.  Dialogus.     1900. 

30.  „  ,  Neue  Lesungen  in  Tac.  Annalen.     1902. 

31.  „  „  Zu  Tac.  Germ.  2,  11. 

32.  R.  Noväk,  Analecta  Tacitea.     1897. 

33.  „        ,       Taciti  Germania,  Agricola,  Dialogus.     1902. 

34.  R.  Wuenscli,  Zur  Textgeschichte  der  Germania,     1897. 

35.  R.  Reitzenstein,  Zur  Textgeschichte  der  Germania.     1898. 

36.  0.  Leuze,  Die  Agricola-hdschr.  in  Toledo.     1900. 

37.  Fr.  Abbott,  The  Toledo  mscr.  of  the  Germania.     1903. 

38.  E.  Longhi,  Osservazioni  critiche  ed  esegetiche.     1901. 


1.     Friedr.    Leo,    Tacitus.     Festrede    am   27.  Januar    1896. 
Göttingen.     18  S. 

In  wohlgefügter  und  schwungvoller  Darstellung  gibt  L.  ein  ein- 
drucksvolles Bild  von  der  einsam  in  ihrer  Größe  aufragenden  Gestalt 
des  Historikers,  über  dessen  Lebensgang  wir  so  wenig  wissen,  den  wir 
fast  nur  aus  seinem  Werke  kennen,  „das  die  Probe  der  Zeiten  und 
Geister  bestanden  hat".  Allerdings  ist,  wie  über  manche  Größe  des 
Altertums,  auch  das  Urteil  über  Tacitus  bis  heute  starken  Schwankungen 
ausgesetzt  gewesen;  solche  Schwankungen  treten  besonders  merklich  auf, 
wenn  „ein  Gefühl,  eine  Anschauung  moderner  Kultur  die  historische 
Grundlage  des  Urteils  verschoben  hat".  — -  Mit  wenigen  kräftigen 
Strichen  deutet  L.  die  „tiefen  Schatten"  an,  die  in  Tacitus'  Leben 
fielen,  die  unter  Nero  verbrachte  Jugend,  die  15  Jahre  des  ,, Schweigens" 
während  der  Tyrannei  Domitians.  Seine  Produktion  fällt  in  Trajans 
Zeit;  sie  beginnt  nach  Leos  Meinung  mit  dem  Agricola  (,,eine  Biographie, 
nichts  anderes")  und  der  etwa  gleichzeitig  verfaßten  Germania,  diese 
beiden  Schriften  im  deutlichen  Hinblick  auf  das  geplante  große  Geschichts- 
werk; „wenig  später"  sei  der  Dialogus  de  or.  erschienen. 

Die  dem  Tac.  von  seinem  Publikum  entgegengebrachte  Bewunde- 
rung und  Hochschätzung  ist  ihm  im  wesentlichen  durch  die  Jahrhunderte 
geblieben,  obwohl  jederzeit  auch  Tadel  gegen  seine  Geschichtschreibung 
rege  geworden  ist.  Selbst  Ranke,  der  den  von  ihm  bewunderten  Tac. 
so  fein  und  sicher  charakterisiert,  hat  manchen  Bedenken  Ausdruck 
verliehen.  Daß  die  taciteische  Historiographie  keinen  Anspruch  auf 
Originalität  (geschweige  denn  auf  Exaktheit)  im  modernen  Sinne  machen 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  ISOC— 1903.     (Wolff.)  3 

kann,  darf  zugegeben  werden,  obgleich  für  Leos  spezielle  Voraussetzung, 
Tac.  habe  gleich  Plutarch  aus  einem  älteren  Autor  nicht  nur  historischen 
Stoff  für  (H.  I.  ü),  sondern  gelegentlich  auch  Betrachtungen  und  be- 
zeichnendeWendungen  herübergenommen,  der  Beweis  noch  nichthinreichend 
erbracht  ist.  Wenn  L.  meint.  Plut.  könne  nicht  von  Tac.  entlehnt  haben, 
weil  seine  Schriften  ganz  anders  angelegt  seien  als  die  des  Römers, 
so  setzt  er  eine  einseitige,  ziemlich  unbeholfene  Arbeitsweise  Plutarchs 
voraus,  ohne  einen  Beweis  dafür  zu  liefern. 

Das  Kennzeichen  der  historischen  Forschung  müssen  wir  allerdings 
dem  Werke  des  Tac.  absprechen,  ohne  daß  darum  unsere  relative 
Schätzung  tiefer  zu  sinken  braucht;  die  Grenzen  seiner  Glaubwürdigkeit 
sind  eben  durch  die  auch  von  ihm  befolgte  Sitte  der  alten  Historio- 
graphie gegeben,  für  die  Darstellung  früherer  Zeiten  die  vorhandenen 
Gewährsmänner  zu  vergleichen.  Um  so  mehr  bleibt  zu  bedauern,  daß 
Tac.  nicht  mehr  die  Trajanische  Gegenwart  beschrieben  hat,  wobei  er 
genötigt  gewesen  wäre,  Original  zu  sein.  Die  Wahrheit  als  eigentliches 
Ziel  seiner  Darstellung  zu  betrachten,  mit  ,, objektiver"  Treue  schreiben 
zu  wollen,  ist  Tac,  wohl  nie  in  den  Sinn  gekommen.  ,,Das  Wort  ,sine 
ira  et  studio'  ist,  wie  die  meisten  seiner  Art,  nachdem  es  Flügel  be- 
kommen hat,  schief  geflogen."  Es  soll  nur  bedeuten,  daß  Tac.  keinem 
Kaiser  gegenüber  von  persönlicher  Vorliebe  oder  persönlichem  Haß  er- 
füllt gewesen  sei.  —  li.  erörtert  nun  den  für  das  tiefere  Verständnis 
des  Tac.  maßgebenden  Einfluß,  den  die  Rhetorik  auf  die  gesamte 
Geistesbildung  der  röm.  Kaiserzeit  geübt,  er  weist  auf  die  auch  den 
heutigen  Romanen  eigene,  oft  übergroße  Hochschätzung  der  Form,  des 
wohllautenden  Wortes  hin  und  kennzeichnet  die  wichtigsten  literarischen 
Elemente,  unter  deren  Einwirkung  die  Kunstprosa  des  Tac.  sich  ent- 
wickelt hat,  eine  Entwickelung,  aus  der  sich  die  stilistischen  Ver- 
schiedenheiten der  3  ersten  Schriften  erklären.  Auch  die  meisterhafte 
Kunst  des  Charakterisierens,  die  Tac.  eigen  ist,  entlehnt  ihre  Mittel 
hauptsächlich  der  Rhetorik.  Während  aber  die  Rhetorik  leicht  im 
Äußerlichen  ihr  Genüge  findet  und  zur  Verflachung  neigt,  vereinigt  sich 
in  Tac.  mit  diesem  höchsten  Kulturelement  etwas  anderes,  höheres 
Innerliches:  Tacitus  war  ein  Dichter,  einer  der  wenigen  großen 
Dichter,  die  das  röm.  Volk  besessen  hat."  Mehr  Dramatiker  als  Epiker, 
hat  er  in  den  Annalen  eine  Reihe  der  großartigsten  (teilweise  leider  nur 
fragmentarisch  ej-haltenen)  Tragödien  aufeinander  folgen  lassen.  —  „Der 
Dichter  kann  seine  Persönlichkeit  nicht  verbergen;  Tac.  übergießt  sein 
Kunstwerk  mit  dem  Schimmer  seines  Wesens;  über  ihm  liegt  etwas 
von  dem  tragischen  Bewußtsein,  daß  er  als  der  letzte  einer  vergehenden 
Welt  an  der  Grenze  zweier  Zeitalter  steht.    Auch  die  römische  Historie 

hört  mit  Tacitus  auf."  — 

1* 


4  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—190?.    (Wolff.) 

2.  Hermann  Peter,  Die  geschichtliche  Literatur  über 
die  röm.  Kaiserzeit  bis  Theodosius  I  und  ihre  Quellen.  Leipzig 
1897,  B.  G.  Teubner.     2  Bde.     XII  u.  478  und  VI  u.  410  8. 

Um  die  für  eine  gerechte  Würdigung  historischer  Quellen  ent- 
scheidenden Tragen  recht  gewissenhaft  beantworten  zu  können,  hat  der 
Verf.  dieses  gelehrten  Werkes,  den  Spuren  seines  Vaters  folgend,  das 
Wesen  und  Werden  der  römischen  Geschichtsüberlieferung  bis  in  ihre 
tiefsten  und  feinsten  Wurzeln  verfolgt  und  uns  weit  mehr,  als  der 
Titel  sagt,  geboten:  ein  Stück  römischer  Kultur-,  insbesondere  Kunst- 
geschichte. Außer  einer  allseitigen  Prüfung  der  Individualität  der 
Autoreu  sucht  P.  eine  möglichst  genaue  Kenntnis  der  Kreise  zu  ge- 
winnen, denen  sie  angehört  haben,  des  gesamten  Zeitalters  und  der 
geistigen  Strömungen,  von  denen  sie  beherrscht  oder  wenigstens  berührt 
worden.  So  entwirft  er,  mit  der  „Geschichte  in  der  Jugendbildung" 
beginnend,  ein  farbenreiches  Bild  von  dem  geistigen  Leben  des  kaiser- 
lichen Roms,  „in  dem  die  Schönheit  und  der  Wohllaut  der  bloßen 
Rede  eine  dem  modernen  Menschen  fremde  Rolle  gespielt  hat''.  Daher 
die  allgemeine  Überschätzung  rednerischer  Leistungen,  aus  der  sich 
manche  uns  befremdende  Urteile  über  die  Wirksamkeit  hervorragender 
literarischer  Persönlichkeiten  erklären. 

Die  Gliederung  des  Stoffes  bei  P.  nach  bestimmten  leitenden 
Gesichtspunkten  bringt  es  mit  sich,  daß  die  Schriften  und  die  Persön- 
lichkeit des  Tacitus  (außer  Bd.  II,  4)  an  verschiedeneu  Stellen  des 
Buches  in  den  Bereich  der  Betrachtung  gezogen  werden.  Einzeluuter- 
suchungen  und  Interpretationen  schwieriger  Stellen  sind  überall  einge- 
streut ;  doch  sorgt  eine  Zeittafel  und  ein  Register  für  Übersichtlichkeit. 

Der  vom  , .geschichtlichen  Interesse  des  Publikums"  handelnde 
Abschnitt  zeigt,  wie  die  poetischen  und  prosaischen  Quellen  der  Über- 
lieferung, denen  das  stadtrömische  Publikum  seine  geschichtlichen  Kennt- 
nisse entnahm,  durch  die  Sitte  der  Ahnenbilder  (imagines),  die  damit 
eng  zusammenhängenden  Leichenreden  und  durch  die  Gewohnheiten  der 
Rhetorenschule  verfälscht  wurden.  Die  wissenschaftlichen  und  sozusagen 
historischen  Neigungen  oder  auch  Leistungen  einzelner  Kaiser,  von 
Augustus  bis  zu  den  letzten  Inhabern  des  Thrones,  sind  vielfach  be- 
stimmend gewesen  für  die  Neigung  der  Gebildeten;  ein  der  Geschichte 
zugewandtes  Zeitalter  hat  es  in  Rom  nicht  gegeben. 

Für  das  Verständnis  des  taciteischen  Dialogs  bietet  der  ganze 
erste  Abschnitt  lehrreiche  Betrachtungen.  S.  182  heißt  es  von  Curiatius 
Maternus:  ,, Stolz  rühmt  sich  M.,  durch  einen  ,Nero'  die  Macht  vou 
dessen  Günstling  Vatinius  gebrochen  zu  haben,  ein  Erfolg,  den  er 
übrigens  nur  dem  Vorlesen  verdankte,  wie  denn  diese  gesamte  Literatur 
nicht  auf  die  Bühne  gekommen  ist,    kaum    auf   sie  berechnet  gewesen 


Bericht  über  die  Tacitusliteratar  189G  — 1903.    (Wolff.)  5 

ist."  —  Der  Agricola  findet  seine  Würdigung  im  Zusammenhang  mit 
der  unter  und  nach  Domitian  vorzugsweise  von  den  Stoikern  gepflegten 
Literaturgattung  der  Exitus  illustrium  virorum,  über  die  uns  Plinius 
näher  unterrichtet.  Die  Schrift  „steht  mit  dem  einen  Fuß  auf  dem 
Boden  der  quasi  funebres  laudationes  (Plin.  ep.  VIII,  12,  5;  cf.  V,  5,  3), 
dem  sie  entwachsen  ist,  mit  dem  andern  aber  betritt  sie  schon  die 
freiere  Bahn,  welche  endlich  zu  der  höchsten  Leistung  der  rhetorischen 
Geschichtschreibunc:  der  Annalen  führen  sollte".  Im  Agricola  ,,will  Tac. 
das  verkörperte  Ideal  der  altrömischen  virtus  feiern,  welche  der  Tyrann 
fast  ausgerottet  hätte",  und  insofern  lasse  sich  diesem  Werke  der 
Pietät  ein  tendenziöser  Charakter  nicht  absprechen;  sonst  wäre  ja  auch 
der  wirkungsvolle  Anfang  und  Schluß  ganz  vergriffen;  „es  darum  eine 
Tendenzschrift  zu  nennen,  liegt  mir  fern,  da  ich  es  als  Kunstwerk 
bewundere." 

Die  Autobiographie  beschränkt  sich  seit  Tiberius  im  wesentlichen 
auf  den  kaiserlichen  Hof;  als  Ausnahmen  bezeichnet  P.  die  von  Plinius 
und  Tacitus  benutzten  Memoiren  des  Domitius  Corbnlo  und  des  Suetonius 
Paulinus.  Wenn  bei  der  Schilderung  der  armenischen  Feldzüge  in  den 
Annalen  der  Stoff  einseitig  um  die  Person  des  Corbnlo  gruppiert  und 
dessen  glänzende  Eigenschaften  stark  hervorgehoben  sind,  so  erkennt 
P.  darin  teilweise  wenigstens  des  Tacitus  Werk.  Ahnlich  verhalte  e& 
sich  mit  Germanikus  in  den  ersten  Büchern  der  Annalen.  In  beiden 
Fällen  sei  die  Schilderung  von  Vorgängen  auf  entfernten  Schauplätzen 
schon  durch  die  unverhältnismäßige  Ausführlichkeit  zu  einer  Art  Ver- 
herrlichung der  römischen  Kriegführung  geworden.  Hier  wie  dort 
wundert  sich  der  unbefangene  Leser  schließlich  über  die  geringen  Er- 
folge. Eine  dritte  Parallele  läßt  sich  allenfalls  in  der  Darstellung  der 
Eroberung  Britanniens  durch  Agricola  finden.  Die  Kriegführung  gegen 
die  Parther  wird  von  Tac,  der  dem  Gemüt  des  Lesers  gern  eine  Er- 
holungspause von  den  Vorgängen  in  Rom  gewähren  wollte,  offenbar 
über  Gebühr  verherrlicht,  wenn  auch  das  Verhalten  des  Corbnlo  nicht 
ganz  unkritisiert  bleibt.  Sueton  erwähnt  weder  den  Feldherrn  noch 
die  von  ihm  genommenen  Städte  Artaxata  und  Tigranocerta. 

Über  die  Benutzung  urkundlicher  Quellen,  namentlich  der  acta 
Senat  US  und  der  acta  urbis,  durch  Tacitus  sowie  durch  andere 
Historiker  urteilt  P.  ziemlich  übereinstimmend  mit  Hübner,  Weidemann, 
Kubitschek  (bei  Pauly-Wissowa)  und  Groag.  ,, Unzweifelhaft"  seien  des 
Tac.  ausführliche  Berichte  über  die  Seuatsverhandlungen ,  wenigstens 
in  den  Annalen,  auf  die  acta  senatus  oder,  wie  sie  Tac.  unter  Ver- 
meidung der  technischen  Bezeichnung  nennt,  patrum  acta,  commentarii 
senatus,  zurückzuführen,  —  Acta  urbis  ist  offizielle  Bezeichnung,  daneben 
wird,    weil  es  sich  um  eine  allgemein  bekannte  Zeitung  handelt,    auch, 


6  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

acta,  diurna,  publica  acta  gebraucht ;  Tac.  bebt  das  tageweise  Erscheinen 
hervor:  diurna  populi  Romani,  diurna  actorum  scriptura,  und  mit  be- 
sonderer Absichtlichkeit  ann.  13,  31  cum  ex  dignitate  p.  ß.  repertum 
Sit  res  illustres  annalibus,  talia  diurnis  urbis  actis  mandare.    • 

Was  unter  der  im  Dial.  37  erwähnten  Urkundensammlung  des 
Mucianus  zu  verstehen  sei,  ist  nicht  ganz  klar.  Andresen  sieht  in  den 
„acta"  eine  Sammlung  ausgewählter  Stücke  aus  den  Reden  berühmter 
[Redner  der  Republik;  das  könne  aber  acta  nicht  heißen,  meint  P.,  und 
da  in  die  acta  senatus  jedenfalls  auch  im  Senat  gehaltene  Reden  auf- 
genommen wurden,  so  können  sie  sehr  wohl  eine  Vorstellung  von  der 
Redetüchtigkeit  der  genannten  Männer  gegeben  haben,  nur  daß  nicht 
allein  an  sie  (oder  auch  an  die  acta  populi)  bei  der  Sammlung  des 
Mucianus  zu  denken  ist.  Das  Wort  acta  sei  also  in  der  allgemeinen  Be- 
deutung „Urkunden"  zu  fassen,  wofür  quae  et  .  .  .  manent  spreche.  Ku- 
bitschek  deutet  acta  an  der  erwähnten  Dialogusstelle  willkürlich:  „buch- 
mäßige Publikation  denkwürdiger  Ereignisse". 

Der  Abschnitt  mit  der  Überschrift:  ,,I)ie  Richtungen  in  der 
höfischen  Beeinflussung  der  Überlieferung"  (besonders  S.  308—328) 
enthält  eiüen  trefflichen  Kommentar  zu  den  Eingangsworten  der  Historien 
(simul  veritas  .  .  .  inest)  und  der  Annalen  (Tiberii  Gaique  .  .  .  com- 
positae  sunt);  P.  lehrt  hier  die  taciteische  Beurteilung  der  Cäsaren  im 
Zusammenhang  mit  der  literarischen  Zeitströmung  besser  verstehen;  er 
zeigt,  wie  die  Gewohnheit  der  Literaten  und  Höflinge,  Fürstenideale  zu 
schildern,  wirkliche  oder  vorgebliche  Vorbilder  der  Kaiser  (Alexander 
d.  Gr.  vor  allem)  in  leuchtenden  Farben  auszumalen,  andererseits  die 
Verunglimpfung  der  Gegner,  die  bösartige  Verkleinerung  der  Vorgänger, 
auch  durch  die  Monarchen  selbst  —  wie  alle  diese  Tendenzen  die  Ge- 
schichtschreibung der  Kaiserzeit  nach  entgegengesetzten  Richtungen 
hin  beeinflußt  haben.  P.  ist  der  Meinung,  daß  des  Tacitus  Scharfblick 
im  ganzen  vollkommen  richtig  gesehen  habe.  —  Der  gut  flavianisch 
gesinnte  ältere  Plinius  urteilt  sehr  scharf  über  die  julisch-claudischen 
Kaiser;  über  Tiberius  vgl.  u.  h.  14,  144;  7,  149;  34,  62;  35,  28;  28, 
23;  über  Caligula  und  Nero:  7,  45:  5,  2;  7,  46;  34,  45. 

Im  2.  Kapitel  des  II.  Bandes  sucht  P.  den  politischen  Standpunkt 
der  Schriftsteller  klarzulegen,  welche  dieGeschichte  der  julisch-claudischen 
und  der  flavischen  Dynastie  überliefert  haben,  und  daraus  Schlüsse  auf 
die  Glaubwürdigkeit  dieser  Überlieferung  zu  ziehen.  Er  charakterisiert 
zuerst,  soweit  es  nach  den  wenigen  Notizen  möglich  ist,  die  von  Tacitus 
als  seine  Vorgäuger  genannten  Autoren.  Gelegentliche  Andeutungen 
des  Tac.  lassen  schließen,  daß  die  Kaiser  von  jenen  eine  weit  schärfere 
nnd  ungünstigere  Beurteilung  erfahren  haben  als  von  ihm  (vgl.  ann. 
4,  10).  —  Tacitus  hat  seine  Aufgabe  als  Geschichtscüreiber  ernst  und 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1890—1903.    (Wolff.)  7 

hoch  aufgefaßt;  sein  sittlicher  Maßstab  ist  die  virtus,  das  dem  Menschen 
eigene  unveräußerliche  Gut  (h.  IV,  17).  ,,Sie  steht  im  Mittelpunkt  seiner 
Auffassung  und  Darstellung,  die  Strahlen  dieser  Sonne  schenken  Glück 
und  Ehre,  ihre  Verdunkelung  bringt  Entartung  und  Verfall."  Die  Ver- 
nichtung der  Persönlichkeit  ist  darum  die  ärgste  Wirkung  der  Despotie 
(infesta  virtutibus  terapora;  vgl.  Plin.  ep.  II  1,  3;  VIII  14,  7;  IX 
13,  2),  Die  Einseitigkeit,  mit  der  Tac.  jene  virtus  zum  Mittelpunkte 
des  gesamten  politischen  Lebens  und  zum  bewegenden  Faktor  machte, 
hat  ihm,  nach  P.s  Ansicht,  im  Urteil  der  modernen  Geschichtsforschung 
sehr  geschadet.  Die  als  vornehmste  Verteidiger  der  virtus  angesehenen 
Stoiker  entsprachen  bei  weitem  nicht  immer  dem  Ideal  ihrer  starren 
Tugendlehre;  viele  könnte  man,  um  einen  neuerdings  geprägten  Aus- 
druck zu  gebrauchen,  geradezu  ,, Virtuosen  des  Opportunismus"  nennen. 
Wenn  Tac,  trotz  aller  warmen  Empfindung  für  einzelne  Märtyrer  ihrer 
Überzeugung,  sich  von  überwiegendem  Einfluß  der  Stoiker  freigehalten 
hat,  so  zeugt  das  für  sein  selbständiges  scharfes  Denken  und  seinen 
Wahrheitssinn.  Er  identifiziert  die  Begriffe  gut  und  adelig,  schlecht 
und  nichtadelig;  in  der  Betonung  sozialer  Sympathien  und  Antipathien 
überschreitet  er  oft  das  Maß;  echt  römisch  einseitig  ist  seine  Mißachtung 
alles  „Barbarischen".  Wenn  er  die  Betätigung  der  virtus  bei  Fremden 
und  bei  niederen  Ständen  bewundernd  hervorhebt,  so  kommt  ein  gut 
Teil  des  hellen  Lichts  auf  Rechnung  der  dadurch  erzielten  rhetorischen 
Wirkung.  Von  bewußter  Fälschung  der  geschichtlichen  Überlieferung 
kann  keine  Rede  sein.  Nach  allen  seinen  durch  die  Überlieferung  der 
Rhetorenschulen  genährten  Anschauungen  mußte  Tac.  die  alte  röm. 
Republik  in  glänzender  Beleuchtung  erscheinen;  aber  weder  er  noch 
sein  Freundeskreis  stand  der  Monarchie  als  solcher  feindlich  gegenüber, 
obgleich  er  ihre  Schattenseiten  nicht  verkennt.  Ergreifend  hat  Tac. 
geschildert,  wie  Tiberius  von  Stufe  zu  Stufe  sinkt,  eine  Tugend  nach 
der  anderen  ablegend,  auch  bei  Nero  ist  die  durch  den  Einfluß  der 
Höflinge  gesteigerte  Zunahme  des  Verbrechertums  dramatisch  durch- 
geführt. Unbefangen  deckt  Tac.  auch  die  Schäden  der  bürgerlichen 
Gesellschaft  auf,  namentlich  des  Senatorenstandes,  dessen  teils  freiwillige 
teils  unfreiwillige  Erniedrigung  nach  des  Tac.  Ansicht  mit  dem  Jahre 

23  n.  Chr.  besonders  auffällig  zu  werden  beginnt  (ann.  4,  6).  Schein- 
bar abweichende  Äußerungen  finden  sich  in  panegyrisch  gehaltenen 
Reden  (h.  I  84  und  II  32).  Den  Vorwurf,  daß  Tac,  von  seiner  Vor- 
liebe für  die  aristokratische  Partei  und  Gesellschaft  beeinflußt,  bei  den 
Senatsverhandlungen  übermäßig  lange  verweile,  hält  P.  für  unbegründet; 
eine  besondere  Erklärung  dafür  findet  er  bei  Plinius,  wo  ep.  II,  11  in 

24  Paragraphen  über  einen  Repetundenprozeß ,  unter  Trajans  Vorsitz, 
berichtet  wird.     Einleitend  sagt  Plinius  dort:     Seiet  esse  tibi  (Tacito), 


8  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

si  quid  actum  est  in  senatu  dignum  ordine  illo.  Quamvis  enim  quietis 
araore  secesseris,  insidet  tarnen  animo  tuo  maiestatis  publicae  cura. 
H.  I  55  heißt  es  senatus  populique  Romani  oblitterata  iam 
nomina;  zu  dieser  Charakterisierung  des  Senats,  meint  P.,  stehe  im 
Gegensatz  die  Stelle  ann.  13,  28,  ,,wo  Tac.  selbst  die  Bedeutung  der 
senatorischen  Verhandlung  überschätzt"(?):  manebat  nihilo  minus 
qua 8 dam  imago  rei  publicae;  und  was  „noch  auffallender"  sein  soll, 
ann.  3,  60  magnaque  eins  diei  species  fuit.  Während  Tiber  die  Macht 
dei"  eigenen  Herrschaft  festigt,  gönnt  er  dem  Senat  „das  Scheinbild  alter 
Zeit"  (vgl.  1,  77  ea  simulacra  libertatis  senatui  praebebat),  indem 
er  ihm  Streitigkeiten  über  Tempelasylrechte  in  den  Provinzen  zur  Ver- 
handlung übergibt.  Gleichwohl  freue  sich  Tac.  über  dies  „stattliche 
Schauspiel",  wie  P.  unzutreffend  übersetzt;  denn  die  Worte  magna 
species  (vgl.  h.  I  94,  4  in  speciem  magnificum,  sed  usu  sterile)  sind  wohl 
von  leiser  Ironie  diktiert  wie  die  ganze  genaue  Aufzählung  der  ,,querelles 
grecques"  in  den  Kapiteln  61 — 63.  Des  Tages  „großes  Schaustück" 
(show  of  power)  geht  ja  denn  auch  ziemlich  klanglos  aus. 

Den  Kampf  zwischen  Nobilität  und  Prinzipat  betrachtet  Tac.  mehr 
von  der  ethischen  als  von  der  politischen  Seite.  Für  eine  Bevölkerung, 
„die  weder  die  ganze  Knechtschaft  noch  die  ganze  Freiheit  verträgt", 
ist  sein  Ideal  einer  Staatsform  die  Übertragung  der  Gewalt  durch 
Adoption,  und  dieses  Ideal  hat  sich  unter  Nerva  und  Trajan  verwirklicht. 
„Die  Natur  hatte  Tac.  ein  warmes  Gefühl  für  sittliche  Größe  und  ein 
gewaltiges  Pathos  verliehen;  aber  die  schwere  Zeit  des  Duldens  unter 
Domitian  hatte  sein  Gemüt  in  Melancholie  und  Pessimismus  getaucht 
und  ihn  an  jeder  Sorge  der  Götter  für  das  Menschengeschlecht  so  weit 
verzweifeln  lassen,  daß  er  den  Zorn  zur  treibenden  Kraft  ihrer  Welt- 
regierung macht." 

In  der  Frage  der  Quellenbenutzung  verwirft  P.  entschieden  jene 
mechanische  und  generalisierende  Quellenkritik,  wie  sie  Jahrzehnte 
hindurch  bei  uns  von  ganzen  , »Schulen"  geübt  worden  ist.  Er  hebt 
liervor,  daß  an  und  für  sich  ein  wörtliches  Entlehnen  im  Altertum  wie 
im  Mittelalter  keinen  ernstlichen  Anstoß  erregte,  daß  man  hierfür  keine 
festen  Grundsätze  aufgestellt  hatte.  Im  allgemeinen  galt  der  in  früheren 
Werken  niedergelegte  Stoff  als  Gemeingut;  den  rhetorischen  Schmuck 
hingegen  achtete  man  grundsätzlich  als  fremdes  Eigentum. 

Auch  das  6.  Buch,  „Allgemeine  Würdigung  der  Geschicht- 
schreibung der  röm.  Kaiserzeit"  überschrieben,  bringt  viel  über  Tacitus, 
namentlich  wird  gezeigt,  wie  er  seine  Aufgabe  erfaßt,  wie  er  den  Stoff 
verarbeitet  und  dargestellt  hat.  —  Die  Schilderung  der  Vergangenheit 
betrachtete  man  wegen  der  dazu  erforderlichen  Stoffsammlung  als  die 
schwierigere    Aufgabe,    während    die  Zeitgeschichte    nur    mehr   kunst- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  9 

gerechte  Darstellung  erheischte.  Tiefgreifende  Bedeutung  für  das 
historische  Kunstwerk  hat  die  oft  erwähnte,  im  kaiserlichen  Rom  allge- 
meine Sitte  des  Vorlesens  gewonnen,  wodurch  stete  Rücksicht  auf 
das  Ohr  maßgebend  werden  mußte.  Wohlberechnete  Gruppierung  und 
Abrundung  im  Hinblick  auf  Vortragspausen,  Abschluß  durch  schwung- 
volle und  pointierte  Sätze  wurden  mehr  und  mehr  Gewohnheit.  So 
näherte  sich  die  Geschichtschreibung  der  Poesie  auch  darin,  daß  sie 
gleich  ihr  ästhetischen  Genuß  und  sittlichen  Nutzen  bringen  sollte. 
"Wurde  doch  Lukans  Pharsalia  von  den  Alten  ein  Geschieh ts werk  ge- 
nannt. Für  die  Rede  verlangte  man  „poetischen  Schmuck  aus  der 
Schatzkammer  des  Horaz,  Vergil  und  Lukan". 

Aber  auch  durch  Mannigfaltigkeit  des  Stoffes  suchte  der  Historiker 
anregende  Wirkungen  zu  erzielen :  das  Beiwerk  unterhaltender  Episoden 
und  Digressionen  über  fremde  Völker,  Beschreibung  entlegener  Schau- 
plätze der  Ereignisse  u.  a.  m.  wurde  eifrig  gepflegt.  Solche  Einlagen 
teilt  Ammianus  Marcellinus  in  die  3  Abschnitte  origo,  situs,  mores,  was 
für  die  Richtigkeit  des  umfangreicheren  Titels  der  Genuania  spricht. 
Diese  Schrift,  nimmt  P.  an,  sei  aus  den  Vorarbeiten  zu  den  Historien 
erwachsen;  der  zunehmende  Umfang  habe  den  Rahmen  des  Geschichts- 
werkes gesprengt.  Selbstverständlich  hat  die  kunstvolle  Behandlung 
nach  ethischem  und  ästhetischem  Maßstabe  den  Wert  des  Materials  für 
exakte  Forschung  beeinträchtigt.  In  unbefangener  Würdigung  fremder 
Volksart,  „barbarischer"  Tugenden,  wie  in  Wärme  der  Empfindung  steht 
die  Germania  in  der  römischen  Literatur  einzig  da.  —  Asbachs  Aus- 
führungen über  die  politisch-praktische  Tendenz  des  Werkes  finden  bei 
P.  keinen  Anklang. 

Wie  allen  alten  Schriftstellern  lag  auch  dem  Tac.  ein  planmäßiges 
Verfahren  bei  der  Auswahl  der  Quellen  fern,  doch  wußte  er  den  Wert 
der  Gleichzeitigkeit  oder  der  Autopsie  wohl  zu  schätzen;  auf  mündliche 
Mitteilungen  beruft  er  sich  wiederholt,  auch  übt  er,  ohne  es  jedesmal 
zu  sagen  oder  mit  seinem  besseren  Wissen  zu  prunken,  nicht  selten 
Kritik  an  seinen  Vorgängern. 

Als  gemeinsame  Quelle  für  Tacitus  (in  Buch  1  und  II  der  Historien) 
und  Plutarch  (im  Galba  und  Otho)  ist  P.  geneigt  (im  Gegensatz  zu 
seiner  früheren,  mit  Mommsen  übereinstimmenden  Ansicht),  den  älteren 
Plinius  anzunehmen,  dessen  Spuren  überhaupt  bei  Tac.  weiter  reichen 
möchten,  als  man  nach  den  Zitaten  glauben  sollte.  —  Hiergegen  vgl. 
Groag  S.  777. 

Die  in  der  röm.  Geschichtscbreibung  überwiegende  Rhetorik  hat  in- 
sofern manchen  Schaden  angerichtet  und  manche  Mißdeutung  veranlaßt, 
als  sie  die  für  ihre  Zwecke  geeigneten  Tatsachen  und  Angaben  nach  Will- 
kür auswählte,  andere  dagegen  unbeachtet  ließ,   die  für  das  Erkennen 


10  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

der  inneren  Zusammenhänge  der  Dinge  nicht  minder  wichtig,  vielleicht 
wichtiger  waren.  Als  Eigentümlichkeiten  dieser  rhetorischen  Dar- 
stellungsweise nennt  P.  ferner  die  Scheu  vor  bestimmten  und  genauen 
Zahlen,  woraus  viele  Übertreibungen  entstehen,  die  geringe  Sorgfalt  in 
chronologischen  Fragen,  in  topographischem  Detail,  auch  die  Abneigung 
gegen  den  Gebrauch  barbarischer  Namen,  fremder  oder  technischer 
Ausdrücke  (Umschreibung  von  amn^p,  ann.  15,  71).  Ganz  natürlich  ist, 
daß  gelegentlich  die  Rücksicht  auf  die  Zeitfolge  hinter  dem  stofflichen 
Interesse  zuiücktritt.  Was  die  rhetorische  Erweiterung  und  Zuspitzung 
geschichtlicher  Vorgänge  betriff't,  so  erkläre  Tacitus  zwar,  er  wolle 
uil  componere  miraculi  causa  (ann.  11,  27),  verhalte  sich  aber  nicht  über- 
all ablehnend  gegen  Wuuderberichte,  z.  B.  h.  IV,  81  und  82.  Hier  bleibt 
freilich  zu  beachten ,  daß  die  berichteten  Vorgänge  im  wunderreichen 
Orient  spielen  und  ein  wichtiges  Motiv  für  den  Verlauf  der  Dinge  dort  bilden. 

Die  Anforderungen  der  Rhetorik  machen  sich  weiter  geltend  in 
phantastischer  Behandlung  von  Reden,  in  Schilderung  von  Elementar- 
ereignissen, Berichten  über  Kriegsoperationen  und  Schlachten,  wobei 
der  Schriftsteller  an  Tatsächliches  anknüpft  und  einzelne  charakteristische 
Züge  verwertet,  im  übrigen  aber  seiner  Einbildungskraft  freien  Lauf 
läßt,  so  daß  sein  Gemälde  der  historischen  Forschung  nur  schwachen  An- 
halt bietet.  Situationsmalerei  wurde  überhaupt  in  der  röm.  Geschicht- 
schreibung, namentlich  unter  Trajan  und  Hadrian,  mit  bewußter  Kunst 
betrieben.  P.  weist  darauf  hin,  daß  sich  bei  Tacitus,  namentlich  in 
den  Schilderungen  aus  dem  fernen  Germanien,  der  Einfluß  epischer 
Dichtungen  bemerkbar  mache;  er  erinnert  u.  a.  an  die  Ähnlichkeit 
zwischen  dem  ann.  2,  13  Erzählten  und  Lucan,  Phars.  5,  504  ff.  (plebeio 
tectus  amictu  .  .  .  tentoria  postquam  egressus  vigilum  somno  cadentia 
membra  transsiluit). 

Des  Tac.  Größe  besteht  in  der  Vereinigung  aller  vornehmen 
Mittel  der  darstellenden  Kunst;  man  muß  nicht  nur  den  Psychologen 
oder  den  Dramatiker  oder  den  Maler  einseitig  lühmen.  In  den  Historien 
ist  die  Handlung  eng  geschlossen,  rasch  und  lebendig  vorwärtsschreitend, 
in  den  Annalen  wirkt  erschütternd  das  Drama  „Tiberius",  in  dem  sich 
die  einzelnen  Akte  wieder  zu  besonderen  Dramen  abrunden;  uns  überzeugt 
die  Entwickelung  der  Charaktere,  weil  sie  aus  der  Tiefe  des  Herzens  ge- 
holt sind  und  so  die  geschichtlichen  Handlungen  als  notwendige  oder 
mindestens  verständliche  Äußerungen  der  Charaktere  erscheinen.  Dabei 
herrscht  in  der  Darstellung  feiner  Geschmack,  auch  in  den  Sprachmitteln, 
Kürze,  Maß,  Spannung,  Steigerung.  —  Als  Einzelbilder  aus  den  Ann. 
hebt  der  Verf.  besonders  hervor:  2,  9  Armin  und  Flavus,  2,  23  Sturm  vor 
der  Emsmündung,  3,  1  f.  Agrippinas  Rückkehr,  11,  37;  13,  16;  14,  4—6 
Tod  der  Messalina,  des  Britannikus,  der  Agrippina.  — 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff)  H 

Am  Schluß  faßt  sich  Peter  so  zusammen:  „Die  Rhetorik  gestattete 
dem  Autor  eine  energischere  Ausprägung  seiner  Persönlichkeit  als  die 
heutige  Geschichtschreibung,  und  wie  wir  einen  betendendeu  Menschen 
auch  bei  häufigem  Verkehr  nicht  vollständig  erschöpfen  und  gerade  das 
Unbekannte  uns  reizt,  so  lassen  uns  die  Rätsel  in  dem  nach  antiker  Art 
verschleierten  Wesen  eines  Historikers  nicht  in  Ruhe  und  zwingen  uns 
immer  wieder,  uns  mit  ihm  zu  beschäftigen,  wenn  es  eine  so  großartige 
Persönlichkeit  ist  wie  Tacitus  oder  eine  so  liebenswürdige  wie  Livius." 

3.  Ivo  Bruns,  Die  Persönlichkeit  in  der  Geschicht- 
schreibung der  Alten.  Untersuchungen  zur  Technik  der  antiken 
Historiographie.     Berlin  1898,  W.  Hertz.     102  S.  8. 

Die  an  fruchtbaren  Gedanken  und  feinen  Beobachtungen  reiche 
Studie  des  Frühverstorbenen  bildet  eine  ergänzende  Fortsetzung 
seines  1896  erschienenen  größeren  Werkes  „Das  literarische  Porträt 
der  Griechen  im  5.  und  4.  Jahrhundert  vor  Chr.".  Der  Verf. 
will  zeigen,  daß  die  von  Thukydides  eingeführte  künstlerische  Art  der 
Behandlung  historischer  Personen,  welche  Br. ,  nicht  gerade  glück- 
lich, die  „indirekte"  nennt,  auch  in  der  späteren  Geschichtschreibung 
geübt  worden  sei,  und  zwar  in  bewußtem  Gegensatze  zu  der  direkten 
oder  subjektivistischen  Darstellungsweise.  An  den  zwei  Hauptvertretern 
dieser  Methode,  Livius  und  Polybius,  die  begreiflicherweise  zu  solchen 
vergleichenden  Betrachtungen  besonders  einladen,  sucht  Br.  zu- 
nächst das  Wesen  und  die  tieferen  Gründe  der  verschiedenen  Technik 
der  Charakterisierung  nachzuweisen.  Nun  hat  es  etwas  Mißliches, 
solche  literarischen  Erscheinungen,  denen  psychologische  und  ästhetische 
Motive  individuellster  Art  zugrunde  liegen,  auf  bestimmte  Formeln 
zurückführen  zu  wollen  und  die  bunte  Mannigfaltigkeit  von  Erzeugnissen 
der  menschlichen  Gestaltungskraft  in  künstlich  enge  Schranken  von 
Kategorien  zu  pressen.  „Direkt"  und  „indirekt",  „subjektivistisch"  und 
„objektivierend"  sind  doch  immer  vieldeutige,  dehnbare  Begriffe 
die  man  je  nachdem  auch  durch  die  Antithesen  „realistisch" 
und  ,, idealistisch",  „wissenschaftlich"  —  „künstlerisch",  „verstandes- 
mäßig reflektierend"  —  „intuitiv"  u.  a.  m.  ersetzen  könnte. 

Von  dem  Exkurs  über  den  älteren  Scipio  bei  Polybius  (10,  2 — 5) 
ausgehend,  kennzeichnet  Br.  die  Art,  wie  der  Grieche  bedeutende  Persönlich- 
keiten überhaupt  zu  schildern  pflege;  es  leite  ihn  dabei  nicht  die  aus- 
malende und  häufig  steigernde  Phantasie,  sondern  hauptsächlich  nüchternes 
Streben  nach  wissenschaftlicherAnalyse;  er  gebe  keine  Gesamtcharakteristik, 
knüpfte  vielmehr  reflektierend  einzelneZüge  an  die  berichteten  Handlungen 
der  Individuen  an.  Von  Personen  geringerer  Bedeutung  entwirft  P. 
mitunter  einmalige  und  sehr  wirkungsvolle  Porträts.  —  Daß    nun,    im 


12  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

Gegensatz  zu  Polybius ,  die  selbständigen  subjektiven  Charakteristiken 
bei  Livius  gänzlich  fehlen  sollen,  daß  sein  Urteil  in  der  Erzählung 
„völlig  verschwinde",  kann  nicht  zugegeben  werden;  hier  geht  der 
Verf.  in  der  Zuspitzung  des  ohne  Zweifel  vorhandenen  methodischen 
Gegensatzes  zwischen  den  beiden  Historikern  zu  weit.  Und  wenn  Livius 
in  der  dritten  Dekade,  wo  er  den  Polybius  mitunter  wörtlich  benutzte, 
doch  dessen  kritische  Bemerkungen  niemals  reproduziert  hat,  so  braucht 
der  Grund  nicht  gerade  der  zu  sein,  „weil  jene  polybianischen  Er- 
örterungen seiner  Methode  widersprachen".  Die  Unbefangenheit,  mit 
der  Livius,  gleich  den  meisten  Alten,  bei  der  Entlehnung  des  geschicht- 
lichen Stoffes  verfuhr,  erstreckte  sich  eben  nicht  auf  subjektive  Re- 
flexionen und  rhetorisclien  Schmuck,  es  sei  denn,  daß  der  Autor  auch 
solches  Beiwerk  ganz  zu  seinem  Eigentum  umgemodelt  hätte. 

Die  drei  Hanptmittel  der  ,, indirekten"  Methode  sind:  „die  Urteile 
der  Zeitgenossen,  die  Wirkung  auf  sie  und  Aussprüche  der  zu 
schildernden  Personen".  Br.  zeigt  die  „fast  ausschließliche"  Anwendung 
dieser  Mittel  an  dem  von  Livius  entworfenen  Bilde  des  Scipio  und  ver- 
gleicht einzelne  seiner  Züge  mit  der  polybianischen  Darstellung. 

Daß  auch  Tacitus  die  indirekte  Art  der  Charakterisierung 
namentlich  aber  deren  Hauptmittel  vielfach  angewendet  hat,  insofern 
als  er  es  meisterhaft  verstand,  sein  eigenes  Urteil  über  bedeutende 
Personen  hinter  demjenigen  der  Zeitgenossen  zurücktreten  zu  lassen, 
das  weist  Br.  an  den  ersten  6  Büchern  der  Annalen  nach,  in  denen 
namentlich  drei  Individuen  deutlich  porträtiert  hervortreten:  Äugustus, 
Germanikus,  Tiberius.  Ann.  1,  9  und  10  stellt  der  Autor,  mit  dem 
eigenen  Urteil  zurückhaltend,  die  verschiedenen  ,,sermones"  der  Be- 
wunderer des  verstorbenen  Kaisers,  der  Tadler  und  Nörgler  einander 
gegenüber,  Äußerungen,  die  er  als  den  Niederschlag  entgegengesetzter 
Strömungen  der  öffentlichen  (d.  i.  hauptstädtischen)  Meinung  zusammen- 
gefaßt hat.  Sie  scheinen  gleichsam  als  Korrektiv  zu  dienen  für  des  Äugustus 
selbstbewußtes  politisches  Testament,  seine  „Grabschrift",  wie  Peter  das 
Mon.  Ancyranum  nennt,  worin  der  Monarch  sich  seine  löblichen  Charakter- 
eigenschaften von  Senat  und  Volk  sozusagen  bescheinigen  läßt:  den 
Schild  hätten  sie  ihm  ,,virtutis,  clementiae,  iustitiae,  pietatis  causa" 
gewidmet  (auch  ein  Muster  der  „indirekten"  Methode!).  — 

Die  Charakteristik  des  Germanicus  wird  durch  die  ann.  2,  13 
erzählte  Episode  angedeutet,  wie  der  Feldherr  zu  nächtlicher  Stunde 
an  den  Lagerzelten  lauschend,  aus  Soldatenmund  sein  eigenes  Lob  ver- 
nimmt. Ergänzungen  hierzu  bilden  die  bei  Gelegenheit  seines  Todes 
laut  werdenden  Äußerungen  von  Zeitgenossen.  —  Was  nun  Tiberius 
betrifft,  dessen  Persönlichkeit  im  Mittelpuniit  alles  Geschehens  steht, 
von  dem  Tacitus  fast  auf  jeder  Seite    der  6  Bücher  Annalen    handelt, 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.  ■  (Wolff.)  13 

so  ist  der  Grund,  warum  trotzdem  von  ihm  keine  direkte  zusammen- 
fassende Charakteristik  gegeben  wird  (denn  ann.  6,  51  sei  nur  ein  Elogium 
nach  livianischem  Muster),  vielleicht  in  dem  Satze  angedeutet:  morum 
quoque  tempora  illi  (Tiberio)  diversa  sq.  Danach  ist  es  ganz  natürlich, 
daß  die  taciteische  Darstellung  auf  eine  Verteilung,  „nicht  auf  eine 
Zusammenfassung  des  charakterisierenden  Stoffes  zielte.*'  Wohl  aber 
hat  Tac.  an  dem  Punkte  seiner  Erzählung,  wo  er  Tiberius  als  künftigen 
Herrscher  einführt  (ann.  1,4),  einige  Grundzüge  seines  Wesens,  als  bei 
den  Zeitgenossen  feststehend,  im  voraus  angedeutet,  namentlich  die 
Verstelluugskunst,  den  Hang  zur  Lüge,  zum  Bösen  überhaupt,  der  alle 
ursprünglichen  besseren  Keime  erstickt.  Diese  schlimme  Charakteranlage 
des  Claudiers  ist  für  Tac.  eine  völlig  ausgemachte  Sache,  mag  er  auch  mit- 
unter für  die  Handlungsweise  des  Kaisers  mehrere  Motive  dem  Leser 
zur  Auswahl  bieten.  Br.  ist  sogar  geneigt,  in  solchen  problematischen 
Fassungen  ein  stilistisches  Mittel  zu  erkennen,  um  die  Sicherheit  der 
Grundlinien  des  taciteischen Urteils  noch  stärker  hervortreten  zu  lassen  (?). 
Eine  auffallende  Ausnahme  bilde  das  , .wirkliche"  Schwanken  des  Autors 
in  seinem  Urteil  ann.  4,  57.  —  Weit  häufiger  als  bei  Livius  und  Thu- 
kydides  seien  die  charakterisierenden  Urteile  bei  Tac.  auf  die  Einzel- 
fälle verteilt,  so  daß  das  Bild  aus  der  aunalistischen  Aufzählung  der 
Tatsachen  und  den  zur  Erklärung  beigefügten  kurzen  Anmerkungen 
erwachse. 

Im  ganzen  stellt  Br.  die  durch  Polybius  vertretene  Richtung  der 
„wissenschaftlichen  Exaktheit"  in  einen  viel  zu  schroffen  Gegensatz  zu 
der  Methode  der  „objektivierenden"  Darstellung,  bei  der  uns,  wie  er 
meint,  leider  manches  verschlossen  bleibe.  Polybius  war  eben,  um  mit 
Niebuhr  zu  reden,  ,ein  ganz  praktischer  Mensch,  dem  durchgehend 
Wärme  und  der  Sinn  für  das  Idealische  fehlte".  Seine  Kritik  von 
Eall  zu  Fall  verspricht  uns  freilich  scheinbar  größere  Richtigkeit  und 
Unparteilichkeit,  sie  sucht  verständig  Maß  zu  halten  in  Lob  und  Tadel; 
was  aber  eine  wesentliche  Aufgabe  der  Geschichtschreibung  ist,  ragende 
Gestalten  der  Vergangenheit  in  ihrem  Wesen  und  Wirken  uns  lebendig 
und  gegenwärtig  zu  machen  (durch  „Gesamtcharakteristik"),  das  vermag 
nur  eine  von  schöpferischer  Phantasie  und  von  Leidenschaft  erfüllte 
Persönlichkeit.  Und  diese  Eigenschaften  werden  auch  durch  die  an- 
erkannte Wahrheitsliebe  des  Polybius  nicht  aufgewogen. 

4.    Eduard  Norden,  Die  antike  Kunstprosa  vom  6.  Jahrh. 

v.  Chr.  bis  in  die  Zeit  der  Renaissance.    Leipzig  1898,  B.  G.  Teubner. 

2  Bde. 

Auf  Grund  einer  staunenswerten  Belesenheit  und  mit  erquickender 
Frische  geschrieben,  bietet  das  groß  angelegte,  wenn  auch  nicht  lücken- 
lose Buch    eine  Fülle   anregenden  Stoffes;    es  will  die  Ursprünge,    die 


14  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff.) 

Überlieferung  und  die  inneren  Zusammenhänge  des  Prosastils  im  Geist 
der  Antike  selbst  darlegen.  Auf  „antikes  Fühlen"  rechnet  N.  deshalb 
auch  bei  seinen  Lesern.  „Wir  müssen  versuchen,"  heißt  es  (Einl.  S.  11), 
,ida,  wo  wir  nicht  mitempfinden  können,  wenigstens  nachzuempfinden," 
Und  daß  es  dem  Verf.  g-elingt,  uns  solches  Nachempfinden  (zusammen- 
hängendes Lesen  natürlich  vorausgesetzt)  leichter  zu  machen,  darin 
liegt  nicht  das  geringste  Verdienst  des  eigenartigen  "Werkes,  das  auch 
zum  besseren  Verständnis  und  zur  ästhetischen  Würdigung  des  Tacitus 
einen  schönen  Beitrag  liefert.  —  Es  fehlt  bei  N.  nicht  an  über- 
raschenden, mitunter  allzu  scharf  gespitzten  Wendungen,  auch  Ver- 
allgemeinerungen, als  ob  bei  den  Alten  alles  ganz  anders  gewesen  wäre 
als  bei  uns.  „Im  allgemeinen  darf  man  sagen,  daß  es  im  Altertum 
dem  Schriftsteller  größere  Mühe  machte,  kunstlos  als  kunstvoll  zu 
schreiben  (beatos  quondam  scriptores!  — );  so  stark  war  die  Macht  der 
Tradition,  der  Erziehung  und  vor  allem  der  Anlage."  Mit  übertriebener 
Schärfe  betont  N.  das  Zurücktreten  des  Persönlichen  hinter  den  die  Zeit 
beherrschenden  Stilrichtungen:  „Der  Stil  war  damals  eine  erlernte 
Kunst,  deren  Pegeln  man  im  allgemeinen  keiner  Individualität  zuliebe  über- 
treten durfte"  .  .  .  „Ein  und  derselbe  Schriftsteller  konnte  nebenein- 
ander in  ganz  verschiedenen  Stilarten  schreiben,  indem  er  bald  diese, 
bald  jene  loia  verwendete,  je  nachdem  sie  ihm  für  das  vorliegende  Werk 
zweckentsprechend  schien"  .  .  .  Der  Stil  war  im  Altertum  nicht  „der 
Mensch  selbst"  (oder  doch  nur  in  sehr  beschränktem  Maße), 
vielmehr  „ein  Gewand,  das  er  nach  Belieben  wechseln  konnte".  Denn 
auch  der  von  Seneca  (ep.  114  und  115)  begründete  Satz  Piatons,  oio? 
6  TpoTTo?  ToiouTo?  xal  6  X070C,  habc  in  der  Praxis  nicht  die  gleiche  Be- 
deutung gehabt  wie  bei  uns.  Vgl.  übrigens  Cic.  de  rep.  II  1 ;  Quint.  XI 
I,  30.  —  In  einem  gewissen  Widerspruch  mit  diesen  und  ähnlichen 
Behauptungen  scheint  mir  zu  stehen,  was  N.  an  anderen  Stellen  seines 
Buches  (I  165,  216,  244,  306,  326  u.  ö.)  über  den  Individualismus  in 
der  Literatur  sagt.  —  Zunächst  aber  hat  er  die  eben  berührte,  be- 
sonders auch  von  Leo  vertretene  Auffassung  in  seiner  Erörterung  der 
Dialogusfrage  zur  Grundlage  gemacht.  Und  gerade  in  diesem  Abschnitte 
des  Buches  sind  N.s  Darlegungen,  auch  im  einzelnen,  am  wenigsten 
stichhaltig  und  überzeugend,  teilweise  übrigens  nur  Erneuerungen  älterer 
Erklärungsversuche.  Er  nimmt  den  Ausdruck  Agr.  3  per  XV  annos  .  .  . 
per  Silentium  venimus  buchstäblich,  behauptet  die  Identität  des  Maternus 
(im  Dialog)  mit  dem  von  Domitiau  hingerichteten  ,, Sophisten" 
Maternus  und  bringt  die  schon  früher  widerlegte  Deutung  von  sextam 
stationem  (D.  17,  13)  von  neuem  aufs  Tapet.  John,  in  der  Einleitung 
s.  Dialogusausgabe ,  Andresen,  Jahresber.  25,  287  f.,  Gudeman  n.  a. 
haben  Leos   und  Nordens  Hypothesen    hinsichtlich    der  Abfassungszeit 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  15 

des  Dialogus  in  allen  wesentlichen  Punkten  rait  einleuchtenden  Gründen 
widerleg-t,  so  daß  ich  kaum  etwas  von  Bedeutung  hinzuzufügen  wüßte. 

Erfreulicher  und  vielfach  von  bemerkenswerter  Schönheit  ist  N.s 
Schilderung  der  historiographischen  Tätigkeit  des  Tacitus,  den  er  zu 
der  „Trias  der  ct£[xvoi"  unter  den  alten  Geschichtschreibern  (Thukydides, 
Sallust,  Tacitus)  zählt.  Für  die  antike  Auffassung  vom  Wesen  der 
Historiographie  sind  bekanntlich  zwei  auf  griechische  Quellen  zurück- 
gehende, übrigens  mannigfach  variierte  Sätze  kennzeichnend,  nach  denen 
auch  N.  seinen  Stoff  gegliedert  und  behandelt  hat:  Opus  (historiae) 
Oratorium  maxinie  (Cic.  de  leg.  I  2,  5)  und:  historia  est  proxima 
poetis  et  quodam  modo  Carmen  solutum  (Quint.  X  1,  31),  wobei 
jedoch  bestehen  bleibt,  wie  Polybius  ausdrücklich  erinnert:  oxt  to  xe'Xoc 
bTopiac  xal  zpa'jLooia.i  ou  xauTo'v.  —  "Was  unter  ae|xvoT7)c,  die  dem  ge- 
borenen Dichter  eigen,  zu  verstehen  sei,  zeigt  nach  Nordens  Ansicht 
die  Stelle  bei  Tac.  h.  II  50  procul  gravitate  (j.Vornehmheit")  operis 
coepti.  —  Von  dem  in  der  Literatur  der  Kaiserzeit  hervortretenden 
Individualismus  sagt  N.  mit  besonderer  Beziehung  auf  Seneca  und 
Tacitus:  „Durch  diese  (an  Sallust  anknüpfende)  neue  Richtung  der 
Geister  erstarkte  die  Gabe  der  psychologischen  Analyse,  die  Kunst 
des  Charakterisierens."  Und  so  ist  denn  auch  in  den  kleinen  ,, Essais", 
dem  Agricola  und  der  Germania,  mit  denen  die  Entwickelung  des  Tac. 
als  Historikers  und  als  selbständigen  Stilisten  beginnt,  sallustische  Ein- 
wirkung besonders  deutlich  wahrnehmbar.  „Von  da  ab  ist  es  ein  Weg, 
der  ununterbrochen  aufwärts  führt.  Das  Streben  nach  dem  Ungewöhn- 
lichen und  eine  immer  stärker  sich  ausprägende  Subjektivität  macht 
sich  geltend.  Das  Überströmen  einer  mächtigen  Individualität,  die,  sich 
selbst  dessen  unbewußt,  allen  Menschen  und  Begebenheiten  ihren 
Stempel  aufdrückt,  weist  Tac.  eine  fast  singulare  Stellung  in  der  antiken 
Literatur  an  .  .  .  Und  doch  ist  auch  Tac.  kein  Phänomen,  auch  er 
ist  nur  aus  seiner  Zeit  heraus  zu  verstehen,  die  er  überragt."  Vornehm- 
heit, Kürze  (plus  significat  quam  loquitur),  Kühnheit,  Vorliebe  für  das 
Ungewöhnliche  sind  die  Hauptmerkmale  „seines  Stils,  der  sich  als  eine 
qualitative  und  quantitative  Steigerung  des  sallustischen  darstellt". 
Vgl.  Nipperdey-Andreseu,  Annalenausg.  Einl.  S.  42  ff.  — 

Die  von  Mommsen  eröffnete  historische  Quellenanalyse  der  Werke 
des  Tac.  sei,  meint  N.,  von  einschneidender  Bedeutung  geworden,  sie 
habe  freilich  unserem  Glauben  an  das  rein  individuelle  Gepräge  der 
tacit.  Schöpfungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Eintrag  getan;  dafür 
müsse  uns  der  tiefere  Einblick  in  das  historische  Werden  entschädigen. 
Was  Nipperdey  gegen  Mommsens  Ausführungen  (im  Hermes  4,  295  ff.) 
über  die  Abhängigkeit  der  Hist.  von  einer  dem  Tac.  mit  Plutarch  ge- 
meinsamen Quelle  geschrieben,  sei  „ganz  unantik  empfunden"  (?).   N.  be- 


16  Bericht  über  die  Tacitasliteratur  1896-1903.     (Wolff.) 

tont  übrigens  (I  351  Anm.)  selbst,  „daß  die  Gesellschaft  der  röm. 
Kaiserzeit  eine  erheblich  höhere  Durchschnittsbildung  besaß,  als  es  heute 
der  Fall  ist"  (vgl.  auch  Dial.  19).  Und  dieselbe  Gesellschaft  sollte 
Autoren  ersten  Ranges  ein  solches  Maß  von  (jli[xy](ji;  nachgesehen  haben, 
wie  uns  manche  Gelehrte  glauben  machen  wollen?  —  Mit  Recht  be- 
merkte Nipperdey  (Ann.-Ausg.  S.  29  Anm.):  „Wie  kann  es  glaublich 
erscheinen,  daß  Tacitus  ein  allbekanntes  Werk  aus  der  nächsten  Zeit 
in  dieser  Weise  abgeschrieben  hätte  und  doch  den  Zeitgenossen  als  ein 
so  bedeutender  Schriftsteller  erschienen  wäre,  wie  es  geschehen  ist."  — 
Daß  Plutarch  im  Galba  und  Otho  nicht  von  Tac.  abhängig  sei,  daß 
vielmehr  beide  einen  Anonymus  benutzt  haben,  hält  N.  durch  die  neueren 
Untersuchungen  für  erwiesen.  Gewisse  Koinzidenzen  zwischen  der 
Darstellung  beider  Autoren  zeigen  uns  den  Ton  Senecas  und  seiner 
Zeitgenossen,  so  daß  Tac,  wie  Mommsen  sich  ausdrückt,  „die  Farben, 
die  er  brauchte,  zum  guten  Teil  schon  auf  der  fremden  Palette  hatte". 
—  „Tacitus  hat  als  Historiker  gearbeitet ,  wie  es  im  Altertum  Regel 
war  bei  Darstellung  vergangener  Zeiten:  er  verglich  seine  Vorgänger 
und  bildete  seine  Ansicht  aus  ihrem  Material.  Manches  hat  er  auch 
stilistisch  wörtlich  (?)  herübergenommen,  oft  gerade  das,  was  man 
früher  als  echt  taciteisch  ansah.  Nun  gehört  es  dem  Anonymus,  de» 
man  aus  Vergleichung  des  Tacitus  (H.  I  und  II)  und  Plutarch  (Galba 
und  Otho)  sich  vorstellt."  —  Aller  solcher  Einschränkung  ungeachtet 
lautet  N.s  Gesamturteil:  ,,Der  Stil  des  Tac.  stellt  sich  uns  dar  als 
eine  Vereinigung  des  Besten  aus  der  modernen  Rhetorik  mit  der  dieser 
innerlich  nahe  verwandten  saliustischen  Diktion.  Aber  er  hat  diesen 
modernen  Stil  kraft  seiner  gewaltigen,  ja  gewaltsamen  Individualität  in 
stetiger  Entwickelung  zu  der  Vollendung  gesteigert,  die  nie  wieder 
erreicht  wurde,  eben  weil  sie  nur  von  einer  so  mächtigen  Persönlichkeit 
getragen  werden  konnte,  wie  sie  der  müde  Boden  der  zur  Rüste  gehenden 
alten  Welt  nicht  wieder  hervorgebracht  hat."  — 

5.  Otto  Seeck,  Die  Entwickelung  der  antiken  Geschicht- 
schreibung und  andere  populäre  Schriften.     Berlin  1898. 

In  anziehender  lebendiger  Schilderung  läßt  der  geistreiche  Verf. 
die  mannigfachen  Entwickeluugsstufen  und  Formen  der  ältesten  geschicht- 
lichen Überlieferung  an  unserem  Auge  vorüberziehen:  vom  Epos  und 
den  Mythen,  von  Hesiod  und  Homer,  zu  den  Logographen  und  zu 
Herodot,  von  den  Alten  „Vater  der  Geschichte"  genannt,  ,, insofern 
mit  Recht,  als  er  der  erste  war,  welcher  die  Geschichtschreibung  zur 
Kunst  erhob,  und  ihnen  die  künstlerische  Seite  derselben  immer  viel 
näher  am  Herzen  lag  als  die  wissenschaftliclie"  —  eine  oft  aus- 
gesprochene,   aber    bei  der  Schätzung  der  alten  Historiker  keineswegs 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (WolfF.)  17 

immer  genügend  beachtete  "Wahrheit.  —  Eine  kurze  Charakteristik  der 
Oeschichtschreibung  der  römischen  Kaiserzeit  schließt  S.  an  die  Be- 
urteilung des  Thukydides  an.  In  diesem  habe  „die  antike  Geschicht- 
schreibung sowohl  in  ihrer  künstlerischen  wie  nach  ihrer  wissenschaft- 
lichen Seite  hin  einen  Höhepunkt  erreicht,  den  sie  niemals  überschreiten 
sollte".  Nur  in  einer  Beziehung  ist  die  antike  Geschichtschreibung  noch 
über  Thuk3'dides  hinausgewachsen,  in  dem  Verständnis  und  der  Schilde- 
rung menschlicher  Charaktere,  und  dieser  letzte  Fortschritt,  den  sie  im 
Altertum  gemacht  hat,  gehört  der  röm.  Kaiserzeit  an.  —  In  dem 
,, Memoiren  und  Tendenzgeschichte"  überschriebenen  Kapitel  zeigt 
S.,  wie  diese  mit  den  sonstigen  Verhältnissen  scheinbar  kontrastierende 
Erscheinung  gerade  in  den  Zeitumständen  tief  begründet  war.  „Es 
bildete  sich  in  der  Zeit  des  Verstummens  der  Opposition,  des  tyrannischen 
Drucks  ein  psychologischer  Scharfblick  bei  den  Gebildeten  aus,  den  man 
fi-üher  nicht  gekannt.  Die  Biographie  entfaltete  deshalb  in  der  Kaiser- 
zeit ihre  volle  Blüte."  Der  Verf.  gibt  nun  eine  kurze  Würdigung 
Plutarchs  und  fährt  dann  fort:  „Viel  tiefer  und  bedeutender  aber  sind 
die  Charakteristiken  zweier  anderer  Historiker,  die  nicht  Biographen 
sein  wollen,  des  Tacitus  und  des  Ammianus  Marcellinus.  Beide  schreiben 
allgemeine  Reichsgeschichte,  aber  der  Zug  der  Zeit  ist  mächtig  genug, 
um  auch  ihren  Werken  fast  den  Charakter  einer  Reihe  von  Kaiser- 
biographien zu  geben.  Dabei  wissen  sie  jede  Seelenregung  ihrer 
Helden  so  verständnisvoll  nachzuempfinden,  jeden  Charakter,  mögen  sie 
noch  so  verschieden  sein,  so  allseitig  und  erschöpfend  auszugestalten, 
wie  es  früher  nie  erreicht  und  auch  in  der  Neuzeit  nur  selten  über- 
troffen ist.  Drei  Jahrhunderte  trennen  Ammian  von  Tacitus,  und  in 
seiner  zopfigen  und  geschmacklosen  Schreibweise  spricht  sich  der  Unter- 
schied ihrer  Zeiten  deutlich  genug  aus;  aber  während  sonst  in  dieser 
traurigen  Epoche  jede  geistige  Kraft  eingeschrumpft  ist,  hat  die  Kraft 
der  Charakteristik  eher  gewonnen  als  verloren."  —  In  einer  fach- 
männischen Kritik  des  gehaltvollen  Buches  wurde  gesagt,  der  Verf.  sei 
eine  kräftige  und  feingebildete  Persönlichkeit,  die  gern  ihre  eigenen 
Wege  gehe,  mit  der  man  sich  gern  unterhalte  und  der  man  gern 
widerspreche.  Diese  Sätze  treffen  m.  E.  auch  für  die  letzten  Aus- 
führungen Seecks  im  wesentlichen  zu.  — 

6.  Feiice  Ramorino,  Cornelio  Tacito  nella  storia  della 
coltura.  Discorso  letto  per  la  solenne  Inaugurazione  degli  Studi 
nel  R.  Istituto  Superiore  a  Firenze,  addi  18  Novembre  1897.  Seconda 
edizione  corretta.     Milauo  1898,  Ulrico  Hoepli.     111  S.     8. 

Was  den  historischen  Schöpfungen  des  Tacitus  bei  den  Zeitgenossen, 
wenigstens  bei  der  Elite  der  Nation,  die  von  Plinius  bezeugte  lebhafte 
Bewunderung  und  Teilnahme  erweckte,  waren  nicht  nur  ihre  besonderen 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXI.    (1904.    II.)  2 


18  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

Eigenschafteu  und  die  Persönlichkeit  des  Verfassers;  es  wirkten  auch 
äußere  Umstände  dazu  mit.  Die  Germania  wurde  zu  einem  Zeitpunkt 
herausgegeben,  wo  Trajans  und  mancher  anderer  Römer  Sorgen  sich  vor- 
nehmlich auf  die  nördlichen  Reichsgrenzen ,  an  Rhein  und  Donau, 
richteten,  hinter  denen  noch  wenig  gekannte,  unbezwungene  Germanen- 
stämme hausten.  Die  Schrift  konnte  und  sollte  dem  Vei'stäudigen 
zeigen,  was  jene  Völkerschaften  bisher  unbesiegbar  gemacht,  wessen 
sich  das  Reich  von  ihnen  vielleicht  zu  versehen  habe;  sie  stellte  zugleich 
die  naturwüchsige  Art  der  Germanen  in  wirkungsvollen  Gegensatz  zu 
der  römischen  Überkultur.  —  Der  Agricola  ist  nach  R.s  Ansicht  „una 
vera  e  propria  biografia",  doch  mit  weiter  Perspektive,  wie  sie  dem 
werdenden  Historiker  ziemt.  Die  Abfassung  glaubt  R.,  und  mit  ihm 
einige  seiner  Landsleute,  ins  zweite  oder  gar  ins  dritte  Regieruugsjahr 
Trajans  setzen  zu  sollen,  auf  Grund  der  Worte  „augeat  cotidie  felici- 
tatem"  sq.  (vgl.  Plin.  pan.  24  tu  cotidie  admirabilior  .  .  pollicentur), 
insbesondere  nee  spem  modo  se  . .  robur  adsumpserit,  die  gegenüber  den 
W.  quamquam  primo  statim  ?q.  nicht  auf  den  am  Rheinufer  weilenden 
Regenten  bezogen  werden  könnten.  Die  W.  der  Einleitung  .  .  .  „per 
Silentium  venimus"  will  R.  nur  von  der  eigentlich  historischen  Schrift- 
stellerei  des  Tac.  verstehen,  die  mit  dem  Agricola  begonnen  habe;  die 
Germania  komme  als  „solo  (?)  opuscolo  geografico*  nicht  in  Betracht. 
Die  Biographie  des  Agricola  gab  der  lange  zurückgedrängten  Empörung 
und  dem  Hasse  gegen  den  toten  Tyrannen  leidenschaftlichen  Ausdruck; 
sie  preist  in  der  Person  des  erfolgreichen  Feldherrn  die  altrömische 
„virtus"  und  „constantia"  und  erhält  zugleich  durch  die  ausführliche 
Schilderung  des  Schauplatzes  der  Ereignisse  eine  weitere  allgemeine 
Bedeutung. 

Wenn  auch  minder  leidenschaftlich  und  persönlich,  zittert  doch 
die  gleiche  Gemütsstimmung  noch  fort  in  den  größeren  Werken,  die 
Tac.  im  Agricola  in  Aussicht  gestellt  hatte.  Sie  schilderten  zunächst 
die  um  ein  Menschenalter  zurückliegende  Zeit  und  sodann,  weiter 
rückwärtsgreifend,  die  ganze  Kaiserzeit  seit  Augustus'  Tod  bis  zum 
Ausgang  des  julisch-klaudischen  Hauses,  dessen  Chronik  bereits  von 
einer  üppigen  Legendenbildung  umwuchert  war.  Die  Aufgabe  des 
Historikers,  aus  dieser  Mischung  von  Wahrheit  uud  Dichtung  den  echten 
oder  wenigstens  glaubhaften  Kern  auszulösen  und  objektiv  darzustellen, 
wurde  noch  erschwert  durch  die  nach  Domitians  Ende  in  Rom 
herrschende  allgemeine  Reaktion  gegen  das  Andenken  der  Tyrannen. 
Jedenfalls  aber  konnte  dem  literarischen  Publikum  der  trajanischen  Zeit, 
der  „glücklichen  Gegenwart"  kaum  ein  interessanterer  Gegenstand  ge- 
boten werden  als  die  Geschichte  der  „vergangenen  Knechtschaft".  Und 
mehr  noch  als  die  geschilderten  Ereignisse  mußten  die  handelnden  und 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  19 

leidenden  Personen  an  sich  Eindruck  machen,  wie  sie  Tacitns  mit 
dramatischer  Lebendigkeit  und  Unmittelbarkeit  auftreten  läßt.  Auch 
ihre  innersten  Gedanken  und  Leidenschaften  sieht  man  keimen,  wachsen, 
herrschen,  zur  Tat  werden.  Tiefste  Kenntnis  der  Menschenseele  und 
Beobachtung  des  Lebens  spiegelt  sich  in  dem  Reichtum  der  über  alle 
taciteischen  Schriften  verstreuten  Sentenzen.  Überall  eigenartige  Auf- 
fassungs-  und  Darstellungsweise,  die  zum  Nachdenken  auffordert.  Trotz 
oder  gerade  wegen  solcher  Eigenschaften  aber  konnte  Tacitus  volles 
Verständnis  und  rechte  Schätzung  nur  bei  geistig  Auserwählten  finden; 
seine  "Werke  wurden  nicht  in  dem  Maße  verbreitet,  wie  man  erwarten 
sollte.  Schon  das  Zeitalter  Hadrians  und  der  Antonine,  vor  allem  die 
Curiositas  zu  befriedigen  geneigt,  vernachlässigte  Tacitus  zugunsten 
Suetons,  aus  dessen  Biographien  man  sich  begnügte,  die  erste  Kaiser- 
zeit kennen  zu  lernen.  Gleichgültigkeit  oder  Anfeindung  fand  Tac. 
begreiflicherweise  bei  den  Juden  und  Christen  der  ersten  Jahrhunderte; 
in  Tertullians  Apologeticus  kommt  er  übel  weg,  und  viel  später  zitiert 
ihn  Orosius  einigemal  in  keineswegs  freundlichem  oder  achtungsvollem 
Tone.  Während  der  folgenden  Zelt  des  literarischen  Niedergangs  war 
bekanntlich  der  Kaiser  Tacitus  bemüht,  die  Schriften  seines  vermeint- 
lichen Ahnherrn  der  Vergessenheit  zu  entreißen  oder  wenigstens  durch 
Vervielfältigung  für  die  öffentlichen  Bibliotheken  zu  erhalten.  Einen  Fort- 
setzer und,  freilich  recht  ungelenken,  Nachahmer,  sowohl  hinsichtlich 
des  Gegenstandes  als  auch  in  der  annalistischen  Form,  fand  Tac.  in 
Ammianus  Marcellinus,  der  die  letzten  Jahre  seines  Lebens  dazu  ver- 
wendete, die  Kaisergeschichte  von  Nerva  bis  zum  Tode  des  Valens  zu 
schreiben.  In  Italien  war  zur  Zeit  der  großen  Völkerbewegungen  die 
Erinnerung  an  den  genialen  Historiker  derart  verblaßt,  daß  sogar 
Cassiodor  ihn  als  „quidam  Cornelius"  zitiert.  Der  größere  Teil  der 
30  Historienbücher  ging  verloren;  die  Erhaltung  der  Reste  verdanken 
wir  den  Klöstern;  hin  und  wieder  bezeugt  eine  geistliche  Chronik  Be- 
kanntschaft ihres  Verfassers  mit  Tacitus. 

Ein  weiter  Sprung  über  Jahrhunderte  hinweg  führt  uns  zu 
Boccaccio  (Mitte  des  14.  Jahrb.),  der  die  letzten  Bücher  der  Annalen 
und  die  ersten  der  Historien  (Cod.  Med.  11)  zur  Hand  gehabt  und 
verwertet  hat.  Diese  Bruchstücke  wurden  danach  mehrfach  kopiert 
und  anderen  Gelehrten  zugänglich.  R.  schildert  kurz  die  weiteren 
Entdeckungen  von  Handschriften,  der  ersten  Bücher  der  Annalen 
(Med.  I)  und  der  kleineren  "Werke,  die  eifrigen  Bemühungen  der 
Humanisten  eines  Niccolo  de'  Niccoli,  Poggio  u.  a.  m.,  er  zeigt,  welchen 
Aufschwung  damals,  auch  unter  Pflege  seitens  der  Päpste,  die  Tacitus- 
studien  genommen,  wie  die  politische  Schriftstellerei  eines  Macchiavelli, 
Guicciardini,  Giannotti  u.  a.  dadurch  belebt  und  befruchtet  worden,  wie 

2* 


20  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

infolge  dieser  Studien,  durch  die  neue  schwarze  Kunst  beschleunigt, 
eine  starke  literarische  Strömung  von  Italien  ausgegangen  sei,  an  der 
Europas  Hauptnationen  teilnahmen.  In  rascher  Folge  erschienen 
die  Tacitusausgaben  in  Venedig,  Rom,  Mailand,  Basel,  Florenz, 
Lyon  usw.  Nirgends  aber  dürften  wohl  die  Annalen  und  Historien 
mehr  gelesen,  übersetzt,  nachgeahmt  und  zitert  worden  sein  als  damals 
in  Italien,  wo  einheimische  und  spanische  Zwingherren  in  Tiberius  und 
Nero  ihre  Vorbilder  fanden.  Überhaupt  wurde  die  Autorität  des  Tac. 
oft  genug  angerufen,  wenn  es  galt,  die  absolute  Fürstengewalt  des  16. 
und  17.  Jahrhunderts  zu  rechtfertigen,  aber  auch,  um  sie  zu  bekämpfen. 
Denn  wo  boten  sich  schärfere  Wafien,  treffendere  Schlagworte  als  bei 
Tacitus,  wo  wurden  Hofintrigen,  Zänkereien  von  Kurtisanen,  die 
Schamlosigkeit  der  Emporkömmlinge  so  drastisch  und  mit  solcher 
Menschenkenntnis  geschildert  als  dort? 

Mit  einigen  "Worten  gedenkt  R.  der  rühmlichen  Tätigkeit  der 
Freunde  J.  Lipsius  und  A.  Moretus,  die  sich  um  die  Textkritik  und 
Auslegung  des  Tac.  so  große  Verdienste  erworben  haben.  Bemerkens- 
wert ist,  daß  in  demselben  Jahre  1580,  in  dem  Muret  das  erste  Buch 
der  Annalen  herausgab ,  Montaignes  Essais  erschienen,  die  von  einem 
gründlichen  Studium  des  Tac.  Zeugnis  ablegen.  Überhaupt  haben  die 
Franzosen  ihre  Vorliebe  für  den  großen  Historiker  durch  die  besonders 
hohe  Zahl  von  Übersetzungen  und  Kommentaren  seiner  Schriften  be- 
tätigt; nicht  nur  vom  künstlerischen,  auch  vom  politischen  und 
moralischen  Standpunkt  aus  wußten  sie  ihn  aufs  beste  zu  würdigen  und, 
je  nach  den  wechselnden  Zeittendenzen,  zu  verwerten. 

Nach  einer  weiteren  kurzen  Betrachtung  über  die  Spuren  von 
Tacituskenntnis  in  Spanien,  Holland,  Deutschland  und  England  wendet 
sich  R.  dem  18.  Jahrhundert  zu.  Dieses  Zeitalter  der  großen  literarischen 
und  politischen  Umwälzungen  fand  in  der  Hinterlassenschaft  des  genialen 
Römers  ein  unerschöpfliches  Material  zur  Begründung  und  Verfechtung 
seiner  Ideen  und  Ziele.  Man  weiß,  was  in  dieser  Hinsicht  des  Tac. 
Schriften  während  der  französischen  Revolution  und  der  Reaktion  be- 
deutet haben,  wie  der  Historiker  von  Napoleon  I.  gering  geachtet,  ja 
gehaßt  wurde,  wie  dann  Gelehrte  und  Politiker  des  zweiten  Kaiserreichs 
für  und  wider  Tacitus  leidenschaftlich  Partei  ergriffen;  ein  Streit,  der 
zugleich  rechts  vom  Rhein  mit  erstaunlicher  Wucht  und  Zähigkeit  fort- 
geführt worden  und  noch  heute  nicht  erloschen  ist.  Daß  diese,  von 
R.  nur  angedeutete,  moderne  Ki'itik  dem  Ansehen  des  Tacitus  keinen 
erheblichen  Abbruch  getan  habe,  wenigstens  bei  solchen,  die  einen 
richtigen  und  billigen  Maßstab  an  die  antike  G-eschichtschreibung  an- 
zulegen verstehen  —  darin    stimme  ich  dem  Verf.  gern  bei.     —     Die 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1890-1903.    (Wolff.)  21 

interessanten  Ausführungen  R.s  werden  belegt  und  näher  begründet  in 
zahlreichen  Anmerkungen,  die  von  des  Yerf.  Belesenheit  und  Gelehr- 
samkeit eine  vorteilhafte  Vorstellung  geben.  —  Vgl  Andresen,  J.  B.  24, 
297  ff.;  Opitz,  W.  f.  kl.  Ph.  1900  N.  8,  208—210. 

7.  Otto  Wackermann,  Der  Geschichtsschreiber  P.  Cor- 
nelius Tacitus.  Gymnasial-Bibliothek,  herausgegeben  von  E.  Pohlmey 
und  Hugo  Hoffmann.  28.  Heft.  Gütersloh  1898,  C.  Bertelsmann. 
94  S.  8. 

Dieses  mit  erfreulicher  Wärme  und  großer  Anschaulichkeit  und 
Vollständigkeit  ausgeführte  Lebensbild  des  Tacitus  hat  seitens  der  Fach- 
männer, wie  billig,  allgemeinen  Beifall  gefunden.  (S.  Andresen,  J.  ß. 
24,  293  f.  und  25,  294,  wo  auch  die  übrigen  Besprechungen  angeführt 
sind.)  Die  Abhandlung  bildet  eine  sehr  zweckentsprechende  Einführung 
in  die  Tacituslektüre  und  darf  zu  den  besten  Leistungen  der  G.-B.  ge- 
rechnet werden.  —  In  der  Gesamtauffassung  des  Geschichtschreibers 
(nicht  -forschers!)  und  in  der  Würdigung  seiner  Werke  bekennt  sich 
W.  zu  Bankes  Standpunkt;  doch  geht  er  mit  Recht  auf  die  neueren 
Kontroversen  über  die  Quellenbenutzung  und  die  Glaubwürdigkeit 
des  Tacitus  nicht  näher  ein.  —  Von  dem  Bildungsgange  des  Historikers 
können  wir  uns,  wie  W.  richtig  annimmt,  nach  dem  Dialogus  ein  un- 
gefähres Bild  machen,  von  seiner  Amterlaufbahn  aus  einzelnen  Notizen  der 
übrigen  Werke.  Ob  Tacitus  eine  «frühzeitige  militärische  Ausbildung" 
(S.  14)  zuteil  geworden,  muß  dahingestellt  bleiben,  wenn  ihm  auch  ein 
gewisses  Maß  von  Einsicht  in  das  Heerwesen  und  in  kriegerische  Ver- 
hältnisse nicht  abzusprechen  ist.  Daß  der  Vorname  Publins  „jetzt  in- 
schriftlich beglaubigt"  sei,  hat  sich  bekanntermaßen  inzwischen  als  ein 
Irrtum  herausgestellt.  —  An  der  durch  die  Hss  bezeugten  Echtheit  des 
(um  80  n.  Chr.  herausgegebenen)  Dialogus  zu  zweifeln,  sieht  W.  keinen 
ausreichenden  Grund.  In  bezug  auf  die  Germania  billigt  er  die  voa 
Asbach  u.  a.  vorgetragene,  aber  mangelhaft  begründete  Ansicht:  sie  sei 
,in  erster  Linie  (?)  eine  politische  Broschüre,  bestimmt,  einem  augen- 
blicklichen Staatsinteresse  zu  dienen,  ein  Stück  Tagesliteratur  in  höherem 
Sinne".  Richtiger  und  ausführlich  handelt  W.  über  Entstehung,  Inhalt 
und  Gedankengang  der  anderen  Schriften.  Die  Historien,  wenigstens 
die  ersten  ihrer  14  Bücher  seien  nicht  sehr  lange  nach  dem  J.  100 
bekannt  geworden,  und  zwar  dem  engeren  Kreise  des  Tacitus.  Dem- 
nach hätte  Plutarch,  der  seine  Lebensbeschreibungen  im  J.  107  heraus- 
gab, nach  W.s  Annahme  für  seine  Schilderungen  des  J.  69  (Galba  und 
Otho)  recht  wohl  die  taciteische  Darstellung  (H.  I  u.  II)  benutzen 
können.    Gleichwohl  begnügt  sich  Verf.  mit  der  Erwähnung  des  Cluvius 


22  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (WolfF.) 

Eufus  als  gemeinschaftlicher  Hauptquelle  (?)  des  Tacitus  und  des 
Plutarch.  — 

Wenn  W.  die  Historien,  „dem  Stoffe  und  seiner  Behandlung  nach", 
als  eine  Art  Epos  der  Tragödienfolge  der  Annalen  gegenüberstellt,  so 
scheint  mir  diese  vergleichende  Charakteristik  etwas  gesucht  und,  was 
die  Hist.  betrifft,  mit  dem  üblichen  Begriffe  der  epischen  Poesie  nicht 
recht  im  Einklang  zu  sein.  —  Wie  in  der  Germania  kommt  übrigens 
auch  in  den  Annalen  die  rege  Teilnahme  ihres  Verfassers  für  die  Ge- 
schicke der  germanischen  Völker  deutlich  zum  Ausdruck  durch  die  aus- 
führlichen Berichte  über  ihre  Kämpfe  gegen  Rom  wie  untereinander. 
Auf  der  anderen  Seite  ist  es  die  unvergleichliche  Charakterisierung  der 
einzelnen  Kaisergestalten,  welche  dem  reifsten  Werke  des  Tac.  seinen 
Hauptwert  und  -reiz  verleiht.  Diesen  Bildern  widmet  W.  eine  längere 
feinsinnige  Betrachtung.  Auch  die  kraftvolle  Tendenz  der  taciteischen 
Schriften,  gegen  Tyrannei  und  Herrschsucht  sowohl  wie  gegen  Niedrig- 
keit, Schmeichelei  und  Heuchelei,  stellt  W.  ins  richtige  Licht.  In 
philosophischen  Fragen  bekennt  Tac.  sich  nicht  zu  bestimmten  Lehr- 
sätzen, in  bezug  auf  die  Religion  hegt  er,  ohne  sich  ganz  von  den 
herrschenden  Vorstellungen  loszureißen,  höhere  Ideen  über  das  Wesen 
der  Gottheit  und  deren  Einwirkung  auf  die  Menschenschicksale.  — 
Angesichts  der  vielfach  absprechenden  und  sich  oft  widersprechenden 
modernen  Urteile  über  die  sachlichen  Grundlagen  und  die  Zuverlässigkeit 
der  taciteischen  Geschicbtschreibung  hebt  W.  richtig  hervor,  daß  den 
Alten  eine  Geschichtswissenschaft,  wie  wir  sie  heute  kennen,  fremd  war; 
ihnen  galt  kunstvolle  Darstellung  als  die  Hauptsache.  Und  so  hat  auch 
Tacitus  keine  methodischen  Quellenuntersuchungen  im  einzelnen  au- 
gestellt, sondern  sich  in  der  Regel  damit  begnügt,  den  Erzählungsstoff, 
welchen  er  den  aus  guten  Gründen  von  ihm  bevorzugten  Quellen  ent- 
nahm, wirkungsvoll  zu  gruppieren  und  künstlerisch  auszugestalten.  R. 
kennzeichnet  die  Besonderheiten  der  taciteischen  Sprache,  ihre  Kraft, 
Kürze,  poetische  Färbung,  die  kühne  Anwendung  der  rhetorischen  Kunst- 
mittel, vor  allem  des  Gegensatzes,  und  schließt  mit  einer  kurzen  Be- 
trachtung über  das  Schicksal  der  taciteischen  Schriften  im  Mittelalter 
und  in  der  Neuzeit.  Eine  mit  Asbachs  Ansetzungen  im  ganzen  über- 
einstimmende Zeittafel  ist  beigegeben.  — 

8.  Der  Artikel  P.  Cornelius  Tacitus  von  Schw'abe  in 
Pauly  -  Wissowas  Realcnzyklopädie  der  klass.  Altertumswissenschaft 
(7.  Halbband,  Stuttgart  1900)  behandelt  alle  wesentlichen  den  Autor 
und  seine  Werke  beireffenden  Fragen,  selbstverständlich  in  gedrängter 
Kürze,  mit  verständig  abwägendem  Urteil.  Literatur  ist  ziemlich  reich- 
lich verzeichnet;  natürlich  darf  man  nicht  jede  Dissertation  oder  Schul- 
schrift   zu  finden  erwarten,    wo  ohnehin  Auswahl  geboten  ist.     Solche 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  23 

hätte  mitunter  etwas  strenger  sein  sollen ;  denn  daß  z.  B.  den  formlosen 
und  wenig  fördersameu  Abhandlungen  von  A.  Czyckiewicz  5  Zeilen  ein- 
geräumt sind,  während  unter  der  Germanialiteratur  die  Leistungen  von 
Rühs,  Kießling,  Dilthey  u.  a. ,  beim  Dialogus  die  Arbeiten  Valmaggis 
fehlen,  ist  zu  tadeln.  Überall  ist  freilich  auf  Teuffel-Schwabe,  Geschichte 
der  römischen  Literatur,  am  Schluß  auch  auf  Bahr  und  Bernhardy  (nicht 
auf  M.  Schanz)    verwiesen,    wo  man    weitere  Belehrung  schöpfen  mag. 

Der  Vorname  Publius  steht  nach  Schwabes  Ansicht  ziemlich  fest; 
gegenüber  dem  doppelten  Zeugnis  des  MI  könne  Apollinaris  Sidonius 
keinen  Glauben  beanspruchen,  der  den  Tac.  zweimal  Gaius  nennt.  Der 
Geburtsort  ist  unbekannt;  alle  Vermutungen  betr.  Interamna  oder  ein 
Munizipium  Oberitaliens  sind  unhaltbar.  Nicht  genau  zu  ermitteln  ist 
das  Geburtsjahr;  die  größte  Wahrscheinlichkeit  spricht  für  55  n.  Chr. 
(Plin.  ep.  VII  20,  3.  4.  Dial.  1;  Agr.  9).  —  Die  im  ganzen  normale 
Amterlaufbahn  brachte  den  Tac.  89  in  eine  prätorische  Provinzialstellung, 
etwa  als  legatus  pro  praetore  provinciae  Belgicae.  Nachher  scheint  seine 
«ffentliche  Laufbahn  ins  Stocken  geraten  zu  sein  durch  die  zwischen 
Domitian  und  Agricola  eingetretene  Entfremdung;  daher  ist  Tac.  ver- 
hältnismäßig spät  Konsul  geworden.  Das  durch  die  Lischrift  von 
Mylasa  bestätigte  Prokonsulat  Asiens  wird  nach  der  damals  üblichen 
Ordnung  ums  J.  111  oder  112  erreicht  worden  sein.  —  S.  meint,  es 
habe  große  "Wahrscheinlichkeit,  daß  Quintilian,  wo  er  von  den  hervor- 
ragendsten lebenden  Rednern  spricht,  in  erster  Linie  Tacitus  und  seinen 
Freund  Piinius  im  Auge  habe:  X  1,  122  habebunt  qui  post  nos  de  er. 
scribent  .  .  .  ac  sequitur  industria.  Hingegen  passe  nicht  wohl  auf 
Tacitus  X  1,  104;  denn  im  Munde  eines  65  jährigen  Mannes  klinge  ein 
solches  Lob  des  etwa  35  jährigen  auffällig.  Außerdem  scheinen  die 
Woite  superest  adhuc  auf  einen  älteren  Mann  hinzudeuten.  —  Des  Tac. 
Arbeit  ruht  vorzugsweise  auf  seinen  Vorgängern  in  der  historischen 
Literatur;  formale  künstlerische  Gestaltung  steht  auch  ihm  oben  an, 
daher  Umbildung  von  Reden  und  Aktenstücken  nach  künstlerischen 
stilistischen  Forderungen.  Tac.  schreibt  Reichsgeschichte,  nicht  Fürsten- 
geschichte; natürlich  aber  treten  die  leitenden  Männer,  besonders  die 
Kaiser,  ihr  Kreis  und  Rom  in  den  Vordergrund.  Krittler  und  Mäkler 
haben  unbilligerweise  Anforderungen  an  Tac.  gestellt,  die  man  heute 
an  den  historischen  Forscher  stellt. 

"Was  nun  die  einzelnen  "Werke  des  Tacitus  anlangt,  so  nennt  S. 
den  Dialogus  ,die  bedeutendste  Einzelschrift  zur  römischen  Literatur- 
geschichte". Das  Gespräch  werde  ins  6.  Regierungsjahr  Vespasians 
verlegt  (=  1.  Juli  74  bis  dahin  75);  die  Schrift  sei  später,  doch  nicht 
unter  Domitian,  auch  wohl  nicht  nach  ihm  verfaßt,  weil  sie  dann  dem 


24  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (VVolff.) 

Agr.  und  der  Germ,  zeitlich  so  nahe  käme,    daß  für    den  bedeutenden 
stilistischen  Unterschied  keine  hinreichende  Erklärung  wäre.    Denn  die 
Annahme  (Leos  u.  a.),  Tac.  habe  gleichzeitig  in  den  verschiedenen  Stil- 
arten, bald  zeitgenössisch,   bald  ciceronianisch,   geschrieben,  unterliege 
den  erheblichsten  Zweifeln ,    auch  im  Hinblick   auf  den  Charakter   des 
Tac,  der  einer  solchen  Spielerei  der  Schule,  und  zwar  in  reifem  Lebens- 
alter, wenig  geneigt  und  zugänglich  sein  konnte.    Mit  der  Einkleidung 
des  Dialogs  vereinigt  sich  am  natürlichsten  die  Veröffentlichung  unter 
Titus,    im    26.  oder  27.  Lebensjahr    des  Autors.     Die  Zweifel   an    der 
Urheberschaft    des    Tac.    entspringen     einseitiger    Überschätzung    des 
stilistischen   Gesichtspunktes.  —  Das  Thema    der  Schrift  ist    mit    den 
Worten  K.  1  gegeben:  cur  nostra  aetas  .  .  .  retineat,  doch  gelangt  die 
gelehrte  Unterhaltung  erst  allmählich  zum  eigentlichen  Gegenstand,  und 
gegen  das  Ende  hin  scheint  die  Durchführung  des  Themas  selbst  etwas 
zu  ermatten  (?).  —  Im  Agricola  verflicht  Tac.   seines  Schwiegervaters 
Leben  mit   der  Zeitgeschichte   und   betont    deshalb    namentlich    dessen 
Tätigkeit    und  Leistungen    in    Britannien.     Im    ersten  Teil,    findet  S., 
wirke  das  stetige  Hervorheben  der  , Musterhaftigkeit"  Agricolas  etwas 
erkältend,    später  rege  sich    die  Teilnahme  für    das  Opfer  kaiserlicher 
Mißgunst  und  Tücke.    Die  Darstellung  in  ihrer  gehobenen  rhetorischen 
Form,  voll  innerlicher  Bewegung,  steigere  sich  bis  zum  Schlüsse.     Die 
Sprache  zeigt  viele  Anklänge  an  Sallust.  —  Wie  der  ursprüngliche  Titel 
der  sog.  Germania  gelautet  habe,  läßt  S.  unentschieden;  an  die  „breit- 
spurige" Aufschrift  des  Leidensis    glaubt  er  nicht.     Die  Schilderungs- 
weise zeigt  auch  hier  Verwandtschaft  mit  Sallust.    Mit  Germanien  oder 
wenigstens  mit  Teilen  des  Landes  scheine  Tac.  durch  eigene  Anschauung 
vertraut  geworden  zu  sein.  —  Die  Historiae  sind  im  1.  Jahrzehnt  des 
2.  Jahrhunderts    n.  Chr.    verfaßt  und    allmählich    herausgegeben;    der 
Sondertitel  wird  bestätigt    durch  Tertullian,    Pliuius  den  Jüngern  und 
Apollinaris.    Die  Verbindung  mit  den  später  verfaßten  Aunaleu  in  fort- 
laufender Bücherzählung  ist  wohl  erst    nach  Tacitus  erfolgt.     Die  Be- 
handlung des  ganzen   ist  streng  anualistisch.     Wie  sich  die  30  Bücher 
auf  Historien  und  Annalen  verteilen,    ist    nicht  ganz  sicher,    da  beide 
Werke    am  Schluß    verstümmelt  sind.     Wäre  Ritters  Vermutung,    daß 
die  Behandlung  der  neronischen  Zeit  bis  B.  XVIII  sich  ausgedehnt  habe, 
zutreffend,  so  müßte  die  Erzählung  von  B.  XVI — XVIII  ausführlicher 
gewesen  sein  als  in  irgend  einem  früheren.    Eher  wird  Tac.  den   Stoff 
in  dem  vielleicht    umfänglicheren  16.  Buche    zusammengedrängt  haben. 
Der  Abschluß  der  Annalen  fällt  mit  der  Ausdehnung  des  röm.  Reiches 
bis  zum  „Roten  Meer"  zusammen.    Unter  diesem  Rubrum  mare  wollte 
Asbach  nicht  den  Persischen,    sondern  den  Arabischen  Meerbusen  ver- 
stehen; es  sei  die  im  Jahre  106  erfolgte  Einrichtung  der  Provinz  Arabia 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  25 

gemeint.  Sicher  unrichtig.  Denn  schon  seit  30  v.  Chr.  erstreckte  sich 
das  röm.  Reich  bis  zum  Arabischen  Golf;  an  diesen  konnte  Tac.  hier 
gar  nicht  denken,  nachdem  er  erst  ann,  2,  60  if.  Elephantine  und  Syene 
als  fernste  Punkte  von  Rom  genannt  hat.  Auch  würde  er  dann  nicht 
das  Rote  Meer,  sondern  den  Osten  der  Provinz,  etwa  Petra  oder  Bostra, 
genannt  haben.  — 

Aus  Schwabes  Bemerkungen  über  die  Quellenfrage  hebe  ich  nur 
hervor,  daß  nach  seiner  Meinung  Plutarch  und  Dio  den  Tacitus,  natür- 
lich neben  andern  Gewährsmännern,  benutzt  haben.  Im  ganzen  aber 
konnte  ein  Schriftsteller,  der  nicht  für  das  große  Publikum  schrieb, 
sondern  für  einen  kleinen  Kreis  gleichgesinnter  Patrioten,  nicht  populär 
sein;  er  wurde  bewundert,  aber  wenig  gelesen.  Im  Mittelalter  war 
Tac.  nahezu  verschollen.  —  Die  Schicksale  der  Tacitushandschriften 
werden  von  S.  ziemlich  eingehend  verfolgt,  wobei  er  sich  auf  das  grund- 
legende Werk  Voigts,  Wiederbelebung  der  klassischen  Altertumsw. 
sowie  auf  Manitius,  A.  Hortis,  Nolhac  u.  a.  stützt.  — 

9.    Kurt  Breysig,  Kulturgeschichte  der  Neuzeit.    Bd.  II: 
Altertum  und  Mittelalter.     II,  1.  Berlin  1901. 

Was  der  neben  K.  Lamprecht  „modernste  der  modernen  Historiker" 
über  den  größten  Historiker  der  römischen  Kaiserzeit  zu  sagen 
hat,  ist  jedenfalls  beachtenswert,  mögen  uns  auch  einzelne  seiner  Aus- 
sprüche —  und  Widersprüche  —  noch  so  sehr  befremden.  In  dem  Über- 
blick über  die  alte  Literatur  S.  481  ff.  handelt  Br.  über  Tacitus.  Nachdem 
dieser  schon  S.  473  als  der  etwas  „plu'asenreiche  Tugendrhetor"  gestreift 
ist,  dem  man  ebensowenig  wie  dem  Schelm,  Juvenal  alles  zu  glauben 
brauche,  was  sie  über  die  Ausschweifungen  ihrer  Zeitgenossen  berichten, 
erwarten  wir  keine  allzu  freundliche  Charakteristik.  Diese  beginnt 
mit  einem  kühnen  Bilde:  „Gelangt  man  von  Livius  zu  Tacitus,  so  hat 
man  den  Eindruck  eines  Wanderers,  der  aus  einem  anmutigen,  aber 
wenig  charakteristischen  Hügelland  plötzlich  in  ein  Hochgebirge  gerät, 
das  voll  von  den  bizarrsten,  aber  auch  großartigsten  Abgründen  und 
Gipfeln  ist .  .  .  Tacitus  war  freilich  nicht  Historiker  in  unserem  Sinne, 
noch  weniger  Geschichtsforscher.  Geschichtlichen  Stoff  mit  systematischen 
Augen  zu  betrachten,  war  nicht  seine  Sache;  aber  Tacitus  ist  der  erste 
Psychologe  (S.  435:  Sallust  wurde  der  erste  Psychologe  unter  den 
röm.  Historikern)  unter  allen  Geschichtschreibern  (wie  ziemlich  all- 
gemein anerkannt;  vgl.  Norden  I  87,  Anm.),  ja  man  wird  sagen  können, 
er  war  der  erste  praktische  Psychologe  unter  den  Gelehrten  überhaupt. 
Er  hat  das  historische  Porträt  geschaffen,  eine  nicht  nur  ästhetische, 
sondern  auch    wissenschaftliche  Errungenschaft"  .  .  .  Br.    erkennt 


26  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

an ,  daß  Tac.  auch  aus  der  römischen  Sprache  wie  kein  anderer  ein 
Instrument  zu  machen  wußte;  er  rühmt  die  monumentale  Knappheit 
und  Präzision  dieses  Instruments;  jedoch  sei  der  Wissenschaft  durch 
jenes  Überwiegen  des  Psychologischen  und  Ästhetischen  auch  ein  schlimmer 
Schaden  zugefügt  worden.  „Ist  niemals  wieder  mit  so  viel  Kunst  Ge- 
schichte geschrieben  worden ,  so  auch  nie  wieder  mit  so  viel  Leiden- 
schaft, mit  so  viel  Voreingenommenheit  und,  auch  das  muß  (?)  gesagt 
werden,  mit  so  viel  —  objektiver  —  Unwahrhaftigkeit!  Er  war  ganz 
und  gar  Parteimann  (s.  auch  S.  442 :  Tacitus  furchtbar  erbitterte  Partei- 
nahme gegen  einzelne  Herrscher  nicht  nur,  sondern  ebensosehr,  wenn 
auch  versteckter,  gegen  die  cäsaristischen  Institutionen  selbst)  ...  er 
gedachte  mit  Sehnsucht  der  Zeiten  der  Republik,  in  denen  die  Aristo- 
kratie noch  allein  im  Staate  geherrscht  hatte.  Tac.  war  ein  Sanguiniker 
(vgl.  S.  243),  ein  moralischer  Rigorist,  der  allen  und  jeden  Klatsch 
der  Hofgesellschaft  wiederholt  .  .  .  Wie  maßlos  ungerecht  seine 
ästhetisch  größte  Leistung,  sein  Porträt  des  Kaisers  Tiber  ist,  ist  heute 
fast  allgemein  (?)  zugestanden  .  .  .  Schließlich  ist  man  geneigt,  auch 
die  Sicherheit  der  berichteten  Tatsachen  in  Zweifel  zu  ziehen"  .  .  . 
S.  487.  ,,Man  kann  auf  ihn  schmähen  als  auf  einen  unleidlich  manierierten 
Stilisten,  als  auf  einen  eitlen  Rhetor,  einen  Tugendprediger,  als  auf 
einen  im  Innersten  unwissenschaftlichen  Forscher.  Und  doch  bleibt 
bestehen,  daß  er  die  höchste  Kraft  stilistischer  und  komponierender 
Formgebung  in  den  Dienst  der  Geschichtschreibuug  gestellt  hat.  Ob 
Tac.  willkürlich  urteilt,  ob  er  künstlerisch  stilisiert,  ob  er  wissenschaft- 
lich (also  doch!)  konstruiert,  in  jedem  Falle  erhebt  er  sich  souverän 
über  seinen  Stoff."  —  Schön  gesagt,  aber  es  kommt  gleich  wieder 
anders:  „Die  Fülle  gehässiger  Anekdoten,  durch  die  er  vor  allem  die 
Unbefangenheit  seines  Urteils  so  sehr  bloßgestellt  hat  ...  das  Über- 
handnehmen kleinlich  persönlicher  und  die  Zurückdrängung 
der  großen,  der  charakteristischen  Züge  .  .  .  Trotzdem  ragt 
seine  Gestalt  schroif  und  hoch  über  die  bisherige  Entwickelung  der  röm. 
Geschichtschreibung  hervor"  .  .  .  Man  sieht,  in  B.s  Ausführungen  spielt 
der  Konzessivsatz  eine  derartige  Rolle,  daß  manche  seiner  Urteile  sich 
gegenseitig  geradezu  aufheben.  Er  gibt  zu,  daß  nirgends  mehr  Stoff 
zu  gerechtem  Schelten  sich  bot  als  im  kaiserlichen  Rom ;  trotzdem  teilt 
er  in  der  Beurteilung  der  Glaubwürdigkeit  des  Tac.  ganz  den  Stand- 
punkt jener  älteren  Kritiker,  von  denen  manche  meinten,  was  man 
über  die  Cäsaren  und  ihre  Umgebung  berichte,  verdiene  wenigstens 
dann  keinen  Glauben,  -wenn  es  der  menschlichen  Natur  zu  viel  Schande 
mache,  den  natürlichen  Gesetzen  zuwiderlaufe  usw.  Allein  seit  Voltaire 
und  Linguet  hat  uns  die  historische  Foischung,  nicht  nur  die  Memoiren- 
literatur, in  dieser  Hinsicht  doch  mancherlei  Neues  gelehrt!  — 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolfif.)  27 

10.     Gaston  Boissier,  Tacite.    Paris  1903,  Hachette.    343  S. 

Es  ist  über  30  Jahre  her,  daß  B.  die  Schrift  „L'opposition  sous 
les  Cesars"  erscheinen  ließ,  worin  er  durch  eingehende  Schilderung  des 
Milieu  auch  der  Beurteilung  des  Tacitus  eine  breite,  zuverlässige  Grund- 
lage zu  schaffen  suchte.  Noch  manche  weitere  Publikation  hat  seitdem 
des  Verfassers  reges  Interesse  und  feines  Verständnis  für  den  römischen 
Historiker  bekundet. 

Der  vorliegende  Band  vereinigt  unter  vereinfachtem  Titel  zu- 
nächst 4  bereits  in  der  Revue  des  deux  Mondes  (Jahrg.  1901)  ver- 
öffentlichte Aufsätze:  Comment  Tacite  est  devenu  historien;  La  con- 
ception  de  Fhistoire  dans  Tacite;  Le  jugement  de  T.  sur  les  Cesars; 
Les  opinions  politiques  de  Tacite.  Die  beiden  letzten  berühren  sich 
ihrem  Inhalt  nach  am  meisten  mit  der  obenerwähnten  älteren  Schrift. 
Beigefügt  sind  3  Aufsätze  über  teilweise  konnexe  Gegenstände:  Les 
^coles  de  declamations  äBome;  Le  Journal  de  Rome;  Le  poete  Martial, 

Im  ersten  Kapitel  wird  die  Erziehung  und  die  rhetorische  und 
philosophische  Ausbildung  des  Tacitus  skizziert,  soweit  wir  uns  aus 
dem  Dialogus  eine  Vorstellung  davon  machen  können.  Diese  Schrift 
sei  zu  Anfang  der  Regierung  Domitians  abgefaßt,  vermutlich  zuerst 
einigen  Freunden  vorgelesen,  nachher  vielleicht  mehrfach  retuschiert 
und  endlich  unter  Nerva  oder  Trajan  veröffentlicht  worden.  —  Die  von 
Messalla  im  Dialog  geforderte  tüchtige  Allgemeinbildung  war  auch 
des  Tacitus  Ziel;  nicht  ohne  eine  gewisse  Befriedigung  nimmt  er  oft 
Gelegenheit,  in  gelehrten  Digressionen  sein  Wissen  zu  zeigen,  wenn 
es  gilt,  fremde  Gebräuche,  Einrichtungen  oder  auch  gewisse  Natur- 
phänomene zu  schildern.  Eine  der  bemerkenswertesten  Digressionen,  des 
Germanikus  Besuch  der  Denkmäler  Thebens  betreffend,  bespricht  B.  aus- 
führlicher; um  die  Genauigkeit  dieses  Berichts  prüfen  zu  können,  hat  er 
seinen  früheren  Schüler  Maspero  um  sachkundige  x-^uskunft  ersucht,  die 
er  hier  abdruckt.  —  Ägypten  mit  seinen  zahlreichen  Rätseln  hatte  die 
Einbildungskraft  des  Römers  vornehmlich  angezogen;  er  rühmt  sich, 
es  besser  als  andere  zu  kennen.  Auch  über  den  Serapiskult  glaubt  T. 
(wohl  in  seiner  Eigenschaft  als  XV  vir  sacris  faciundis?)  mehr  Wissen- 
schaft erworben  zu  haben  als  andere.  Selbst  über  das  Alphabet,  dessen 
Erfindung  er,  im  Gegensatz  zu  seinen  Zeitgenossen,  den  Phöniziern  zu- 
schreibt, ist  er  gut  unterrichtet,  und  die  neuere  Forschung  hat  ihm 
recht  gegeben. 

Weiterhin  kennzeichnet  B.  das  Verhältnis  des  Tac.  zum  Studium 
der  Philosophie,  insbesondere  auch  zu  Seneca  und  dessen  weltbürgerlicher 
Humanität,  schildei't  die  politische  Laufbahn  des  T.  bis  zum  Konsulat, 
womit  zugleich  die  schriftstellerische  Tätigkeit  des  Historikers  beginnt; 
hieran  reihen    sich  Betrachtungen    über  Entstehung    und  Tendenz    des 


28  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

Agricola  und  der  Germania.  Land  und  Volk  der  Germanen  habe  der 
Schriftsteller  augenscheinlich  aus  unmittelbarer  Nähe  zu  studieren  Ge- 
legenheit gehabt  (B.  stützt  sich  hierin  vorwiegend  auf  die  von  Kritz 
geltend  gemachten  Argumente).  Von  der  Form  der  Schrift  heißt  es: 
„Tac.  entrebrusquement  en  matiöre  et  s'arrete  quand  il  n'a  plus  rien  ädiie.*^ 

Wie  die  Römer  vor  Tacitus  über  Begriff  und  Aufgabe  der  Ge- 
schichtschreibung dachten,  erfahren  wir  u.  a.  von  Cicero,  der  selbst  in 
seinen  späteren  Jahren  Historiker  zu  werden  Neigung  empfand:  ne 
quid  falsi  dicere  audeat,  ne  quid  veri  uon  audeat  (mit  ähnlicher,  fast 
rührender  Naivetät  äußert  sich  Napoleon  III.  im  Vorwort  zu  seiner 
Vie  de  Cesar).  Freilich  muß  die  Wahrheit  kennen,  wer  sie  sagen  will; 
das  ist  aber  nicht  leicht,  vielmehr  Aufgabe  einer  feinen  Wissenschaft, 
der  Kritik  (lat.  iudicium).  Tac.  übte  oft  genug  Kritik,  auch  ohne  e& 
ausdrücklich  zu  erwähnen.  Vor  allem  aber  bedarf  es  des  neuschaffenden 
Künstlers,  der  die  Ereignisse  der  Vergangenheit  uns  lebendig  ver- 
mittelt. In  der  römischen  Kaiserzeit  nun  war  die  literarische  Form  par 
excellence  die  Beredsamkeit,  über  deren  Anwendung  auf  die  Ge- 
schichtschreibung sich  leicht  schiefe  Auffassung  bilden  konnten;  ja  es 
lag  eine  gewisse  Gefahr  für  die  große  Historiographie  darin,  daß  man 
in  den  Schulen  die  jungen  Leute  anwies,  mageren  Stoffen  „colores" 
hinzuzufügen. 

In  der  Beurteilung  der  historischen  Treue  des  Tac,  der  Art 
seiner  Quellenbenutzung  usw.  steht  B.  auf  gleichem  Standpunkt  mit 
Nipperdey,  Peter,  Groag  u.  a.  Gleichwohl  findet  er,  daß  die  drama- 
tische Saite  bei  Tac.  etwas  zu  oft  und  zu  stark  vortöne;  nach  alten 
Mustern  ersetze  er  in  kunstvoller  Weise  die  Wahrheit  durch  die  Wahr- 
scheinlichkeit. Um  der  stilistischen  Einheitlichkeit  seines  Werkes  willen 
verzichtet  der  Autor  sogar  darauf,  uns  z.  B.  Briefe  und  Reden  von 
Kaisern  im  Wortlaut  zu  geben,  wo  es  ihm  möglich  war.  Die  Neugier 
gelehrter  Forscher  bleibt  überhaupt  gar  oft  unbefriedigt.  Von  gewissen 
Gewohnheiten  der  Rbetorenschule,  mag  er  auch  im  Dialog  wegwerfend 
darüber  reden,  hat  sich  Tac.  nie  völlig  frei  machen  können.  Man  be- 
achte nur,  wie  er  in  dem  Streit  zwischen  Helvidius  Priscus  und  Epriu» 
Marcellus,  obwohl  er  innerlich  ganz  auf  jenes  Seite  steht  >  doch  seine 
Sympathie,  sozusagen,  unterdrückt  und  den  Eprius  eine  überaus  ge- 
schickte Rede  zuungunsten  des  H.  halten  läßt. 

Im  allgemeinen  ist  vornehme  Würde  die  hervorstechendste  Eigen- 
schaft des  Tac,  nicht  nur  in  seinem  Charakter,  sondern  auch  in  seiner 
Auffassung  von  der  Geschichtschreibung  als  einer  Art  praktischer 
Sittenlehre  („une  sorte  d'enseignement  pratique  de  la  morale"). 

Des  Tac.  Urteil  über  die  Kaiser  hat  scharfe  Anfechtungen  nicht 
erst   in    dem  „kritischen"  19.  Jahrhundert   erfahren.     Voltaire    schon 


Bericht  über  die  Tacitusliieratur  1896—1903.    (Wolff.)  29 

wollte  die  schrecklichen  Diiig'e,  die  der  „g'eistsprüheade  Fanatiker" 
einem  Tiberius  oder  Nero  imputierte,  nicht  gelten  lassen;  was  dem  g-e- 
wöhnlichen  Lauf  der  Dinge  zuwider  sei,  verdiene  keinen  Glauben.  Auch 
der  Advokat  Linguet,  später  ein  Opfer  der  Revolution,  sprang  in  seiner 
^Histoire  des  revolutions  de  Tempire  romain"  mit  Tac.  übel  um.  Die 
Vernunft  empöre  sich  dagegen,  auch  sei  es  wider  die  Natur,  daß 
Tiberius,  wie  Tac.  behauptet,  nach  einem  langen  nüchternen  und  vor- 
wurfsfreien Leben,  mit  68  Jahren  noch  angefangen  habe,  sich  Aus- 
schweifungen hinzugeben,  derentwegen  der  verdorbenste  Zwanzigjährige 
rot  werde.  Mit  dem  Achselzucken  des  Welt-  und  Menschenkenners 
lehnt  B.  solche  Begründungen  ab,  und  mit  B,echt.  Die  Geschichte 
bietet  uns  übrigens  grausige  psychologische  Rätsel  in  EüUe,  bei  denen 
selbst  unter  Berechnung  aller  erdenklichen  Momente  nicht  alles  ohne 
Rest  aufgeht,  obwohl  die  Tatsachen  hinlänglich  beglaubigt  sind;  man 
denke  nur  an  die  Chronik  der  Borgia  und  der  Visconti. 

Napoleon  I.  verdachte  es  bekanntlich  Tac.  sehr,  daß  er  von  seinen 
kaiserlichen  Vorgängern  so  übel  geredet;  Chateaubriand  und  Andrö 
Chenier  fielen  in  Ungnade,  weil  sie  Tac.  gelobt  hatten.  Unter  dem 
zweiten  Kaiserreich  entbrannte  der  Streit  von  neuem  ernstlicher,  gründ- 
licher, und  aus  Deutschland  verschaffte  man  sich  Waifen.  „Fünfzehn 
Jahre  lang  war  die  römische  Geschichte  ein  Schlachtfeld,  und  man 
warf  sich  die  Imperatoren  gegenseitig  an  den  Kopf."^)  Hauptsächlich 
drehte  sich  der  Streit  um  Tiberius  und  seine  „Rettung".  So  nackt  wie 
in  Frankreich  trat  diesseits  des  Rheins  die  politische  Parteistellnng 
dabei  nicht  hervor,  obschon  sie  bis  heute  nicht  ohne  Einfluß  auf  die 
Beurteilung  des  Tacitus  sowie  der  von  ihm  Gebrandmarkten  ge- 
blieben ist. 

Um  zu  einem  begründeten  Urteil  in  der  Sache  zu  kommen,  wendet 
sich  B.  an  die  Zeitgenossen  des  Tac.  und  fragt:  Wie  haben  sie  seine 
Werke  aufgenommen?  Auf  Grund  von  Mommsens  Schrift  über  den 
jüngeren  Plinius  und  Fabias  Abhandlung:  Les  ouvrages  de  Tacite 
reussirent-ils  aupres  des  contemporains?  (Rev.  de  philologie  1898)  geht 
er  auf  die  vermutliche  Entstehung  der  Historien,  ihre  sukzessive  Publi- 
kation, zuerst  durch  Vorlesungen,  und  ihre  Wirkung  auf  die  gebildeten 
Kreise  Roms  näher  ein.  Jene  Vorlesungen  vor  einem  eingeladenen 
Kreise  literarisch  gebildeter  Freunde  und  Bekannten  waren  allgemein 
üblich  geworden  und  förderten  das  Streben  nach  rednerischem  Schmuck 
außerordentlich.     Man    gewöhnte    sich    zu    schreiben,    wie    wenn    man 


^J  Eine  Probe  davon,  wie  es  damals  bei  uns  zuging,  gibt  die 
erbauliche  Kontroverse  L.  Freytag— Ed.  Pasch.  Vgl.  Clason,  Tacitus  und 
SuetoQ  S.  133. 


30  Bericht  über  die  Tacitusliteratar  1896—1903.    (Wolff.) 

spräche  und  gehört  würde.  Schöne  geistreiche  und  volltönende  Ab- 
schlüsse (sententiae)  markieren  häufig  einen  ßuhepunkt  im  Lesen,  der 
zugleich  die  Aufmerksamkeit  der  Hörer  wecken  soll.  Eine  lebhafte 
Phantasie  könnte  fast  den  jedesmal  ausbrechendeu  Beifall  vernehmen. 
Der  Beifall  galt  aber  nicht  nur  der  Form,  sondern  auch  dem  Inhalt, 
und  Tac.  konnte  einen  Domitian  gar  nicht  schwärzer  malen,  härter 
verdammen,  als  es  die  Zeitgenossen  allgemein  taten  —  sobald  sie  von 
dem  Ungeheuer  befreit  waren.  Plinius  schreibt  den  bekannten  Brief 
offenbar  unter  dem  Eindruck  eines  überraschenden  Erfolges,  den  Tac. 
mit  dem  Vorlesen  seiner  Historien  erreicht  hatte.  Er  muß  im  ganzefl 
die  Eindrücke  der  großen  Mehrheit  der  Mitlebenden  (und  Mitleidenden) 
wiedergegeben  haben.  Ein  erster  Grund,  ihm  zu  glauben.  —  Tac.  be- 
findet sich  aber  auch  in  Übereinstimmung  mit  den  nachfolgenden 
Historikern,  so  verschieden  sie  sonst  von  ihm  oder  untereinander  sein 
mögen.  Sueton,  Plutarch,  Dio  folgten  großenteils  verschiedenen  Quellen 
und  berichten  ziemlich  unabhängig  voneinander,  und  ihr  Urteil  über  die 
Cäsaren  ist  im  wesentlichen  das  gleiche!  Den  Einwand,  daß  durch 
die  gewaltsamen  Umwälzungen  die  den  Kaisern  günstigere  Tradition 
vernichtet  worden  sein  könne,  läßt  B.  nicht  gelten:  die  Reaktion  sei 
selten  von  Dauer  gewesen  und  das  etwa  zu  berichtende  Gute  wäre 
schließlich  doch  zutage  gekommen.  Was  Martial  und  .Tuvenal  zu 
Ehren  Domitians  geschrieben,  zeigt  gerade  durch  die  Ungeheuerlichkeit 
der  Schmeichelei  ihre  Lügenhaftigkeit.  Die  aus  den  Provinzen  stammen- 
den Lobsprüche  auf  einzelne  Herrscher  mögen  ehrlich  geraeint  und  be- 
gründet gewesen  sein  (vgl.  Velleius),  hatte  man  doch  an  der  Peripherie 
des  Reiches  unter  dem  Wahnsinn  der  Cäsaren  auch  weniger  zu  leiden. 
In  der  Hauptsache  wird  Tac.  damals  von  niemand  widersprochen. 

Die  Gesellschaft  des  kaiserlichen  Roms  wird  schon  im  Dialog 
von  Tac.  streng  beurteilt.  Die  letzten  Jahre  unter  Domitian  vollendeten 
die  bittere  Stimmung,  in  der  er  seine  historischen  Werke  begann.  Um 
sich  her  fand  er  auch  in  der  neuen  Ära  genug  Anlaß,  düster  in  die 
Zukunft  zu  blicken,  ungetäuscht  durch  das  augenblickliche  materielle 
Gedeihen  des  Reichs  und  durch  glänzende  militärische  Erfolge.  Doch 
bemüht  er  sich,  der  Gegenwart  gerecht  zu  werden,  die  auch  Tugenden 
und  Talente  gezeitigt  habe.  —  B  verkennt  nicht  den  starken  Einfluß,  den 
Geburt,  Erziehung,  Umgebung  und  öffentliche  Stellung  (der  Senatoren- 
rang insonderheit)  auf  des  Tac.  Darstellungsweise  ausgeübt  haben.  An 
vielen  antiken,  besonders  römischen  Vorurteilen,  wenn  man  sie  so 
nennen  will,  hatte  Tac.  reichlichen  Anteil:  Sklaven,  Freigelassene, 
Fechter  sind  ihm  „viles":  die  Greuel  des  Zirkus  lassen  ihn  kalt.  Die 
Juden  betrachtet  er  (wie  Mommsen)  als  „ein  Element  der  Dekompo- 
sition  der  großen  Einheit  des  Reichs";    sein  Haß    gegen    die  Christen 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff.)  31 

hat  denselben  Ursprung:.  —  Sein  religiöses  Glaubensbekenntnis  spricht 
Tac.  nicht  bestimmt  aus  (si  quis  manibus  piorum  sq.);  von  seinem 
philosophischen  Standpunkte  aus  machte  er  den  populären  Vorstellung-en 
und  Kulturg-ebräuchen  gewisse  Konzessionen,  fügte  sich  den  alten 
Ih'äuchen  der  Staatsreligion;  im  Innern  neigte  er  der  unpersönlichen 
Anschauung  der  Germanen  zu. 

Wurde  Tacitus  in  seinen  politischen  Ansichten  durch  die  Kreise, 
in  denen  er  lebte,  beeinflußt,  und  waren  diese  republikanisch  gesinnt 
und  Feinde  des  Kaisertums?  Auf  diese  Fragen  antwortet  B.  etwa 
folgendes:  Die  Zahl  der  Unzufriedenen  in  der  römischen  Aristokratie 
war  sehr  groß,  und  man  hatte  unter  Caligula  und  Nero  in  der  Tat 
„einigen  Grund",  unzufrieden  zu  sein.  Die  politischen  Umwälzungen 
hatten  im  übrigen  die  süßen  Gewohnheiten  des  weltlichen  Lebens  nicht 
sehr  tief  berührt;  die  vornehme  Welt  in  ihren  Tischgesellschaften  und 
literarischen  ,Cercles"  pflegte  frei  über  alles  zu  sprechen,  insbesondere 
aber  über  den  Monarchen  und  sein  Haus.  Die  geistreichen  Frondeurs 
fanden  überall  zu  tadeln;  denn  die  „gute  alte  Zeit"  auf  Kosten  der 
Gegenwart  zu  preisen,  war  zu  Rom  wie  anderwärts  frommer  Brauch. 
Die  häufigen  Verschwörungen  aber  in  der  ersten  Zeit  der  Monarchie, 
so  die  Pisonische,  entsprangen  nach  Ansicht  der  Historiker  fast  immer 
dem  Haß  gegen  den  Kaiser,  selten  der  Abneigung  gegen  das  Kaisertum 
an  sich;  sie  waren  deshalb  auch  nicht  danach  angetan,  die  republikanische 
Propaganda  zu  stärken;  denn 

„Einen  Tyrannen  zu  hassen,  vermögen  auch  knechtische  Seelen, 
Nur  wer  die  Tyrannei  hasset,  ist  edel  und  groß."    (Goethe,  Xen.  712.) 

Auch  Tacitus  war  nie  Republikaner  im  modernen  Sinne,  obwohl 
er  gelegentlich  respublica  als  Gegensatz  von  imperium  gebraucht 
(ann.  1,  3);  er  hielt  Prinzipat  und  Freiheit  nicht  für  unvereinbar. 
Beweis  dafür  der  nach  Domitians  Tod  publizierte  Dialog,  der  freilich  den 
Niedergang  der  großen  Beredsamkeit  als  natürliche,  unvermeidliche 
Folge  der  Fiiedensraonarchie  hinstellt  (D.  37).  Zu  den  von  Seneca, 
Quintilian  u.  a.  erkannten  und  ausgesprochenen  Gründen  für  den  Ver- 
fall jener  Kunst  fügt  Tac.  also  einen  neuen  hinzu,  und  indem  er  so 
auf  dem  Wege  der  historischen  Kritik  einen  Schritt  weitergeht,  zieht 
er  zugleich  für  seine  Person  aus  der  gewonnenen  Erkenntnis  die  Kon- 
sequenz: er  vertauscht  den  Bednerberuf  mit  dem  des  Geschichtschreibers, 
in  dem  Gedanken  sich  tröstend,  daß  jene  Blüte  der  republikanischen 
Beredsamkeit  durch  heillose  politische  Kämpfe  allzu  teuer  erkauft  worden 
sei  (Dial.  41).  In  seinen  politischen  Grundanschauungen  ist  Tac.  auch 
später,  trotz  allen  Erfahrungen,  derselbe  geblieben.  Darüber  belehrt 
uns  zunächst  der  Agricola,  dem  B.  eine  genauere  Betrachtung  widmet. 


32  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189G-1903.    (Wolff.) 

ohne  gerade  neue  Gesichtspunkte  aufzustellen.  Agricola  ist  dem  Tac. 
mehr  als  ein  siegreicher  Feldherr  und  tüchtiger  Provinzialbeamter;  er 
ist  ihm  der  Typus  des  patriotischen,  pflichttreuen  Römers,  der,  auf 
bessere  Zeiten  hoffend ,  die  unvermeidbaren  tjbel  der  Monarchie 
zu  ertragen  weiß,  ein  Feind  zweckloser  Opposition.  — 

Der  Senat  war  nur  noch  ein  großer  Name;  er  brauchte  seine 
traditionellen  Rechte  lediglich  wann  und  wie  der  Kaiser  es  zuließ.  Immer- 
hin war  Tac.  stolz  auf  seine  Zugehörigkeit  zum  Senat,  in  dem  er  jedenfalls 
eine  bedeutende  Rolle  spielte.  Mit  Genugtuung  erfüllt  es  ihn,  daß  zu 
Anfang  von  Tibers  Regierung  alle  wichtigen  Sachen  vor  dieser  Körper- 
schaft verhandelt  wurden.  Doch  täuscht  er  sich  nicht  über  den  ent- 
arteten Adel  jener  Zeit;  noch  weniger  allerdings  erfreut  sich  die 
gedankenlose  Volksmenge  seiner  Schätzung;  aber  sein  Urteil  ist  nicht 
von  aristokratischem  Hochmut  und  verblendetem  Parteigeist  bestimmt. 
Er  bewundert  die  Vergangenheit  und  fügt  sich  der  Gegenwart. 

"Wenn  nun  B.  seine  Ansicht  schließlich  dahin  zusammenfaßt,  es 
sei  kein  zwingender  Grund  zu  feindseliger  Gesinnung  des  Tac.  gegen 
die  Kaiser  zu  finden,  kein  Grund,  die  Wahrheit  nicht  zu  sehen  und  zu 
sagen ,  so  gibt  er  doch  zu ,  daß  die  abweichenden  Urteile  verständiger 
Männer  über  Tacitus  erklärlich  seien:  Sein  Bild  der  Kaiserzeit  ist  nicht 
vollständig;  ein  Teil  ist  zu  sehr  im  Schatten  geblieben,  da  er  wie  die 
meisten  alten  Historiker,  besonders  die  römischen,  die  Geschichte  vom 
ethischen  Standpunkt  aus  betrachtete  und  so  z.  B.  die  wirtschaftliche 
Seite  des  Lebens  vernachlässigte.  Die  ^monumentalische"  Geschicht- 
schreibung der  Alten  lehrt  eben,  „was  wir  zu  tun  und  was  zu  meiden 
haben",  um  so  wirksamer,  je  lebendiger  und  greifbarer  uns  die  Menschen 
der  Vorzeit  zu  Zeitgenossen  werden.  Mehr  noch  als  bei  Sallust  liegt 
des  Tacitus  unvergleichliche  Größe  auf  dem  Gebiete  der  künstlerischen 
Komposition  und  der  psychologischen  Vertiefung.  Diese  Eigenschaft 
hat  ihn  der  Renaissance  und  der  modernen  Welt  besonders  anziehend 
gemacht.  Er  hat  übrigens  keineswegs  alles,  was  Tiberius  und  seine 
Nachfolger  Gutes  getan,  verkannt  oder  verschwiegen,  nur  neben  der 
Schilderung  ihrer  Verbrechen  diese  Dinge  zu  sehr  in  den  Hintergrund 
treten  lassen.  Tiberius  wäre  wohl  in  keiner  Lebensstellung  ein  liebens- 
würdiger Mensch  gewesen ,  das  hinderte  die  ihm  innewohnende 
„Appietas";  ein  tüchtiger  Verwaltungsbeamter  hätte  er  werden  können. 
,Was  ihn  wie  die  anderen  Claudier  korrumpierte,  war  der  Cäsarismus. 
Tiberius  und  sein  Nachfolger  sind  die  ersten  Opfer  der  absoluten  Macht 
geworden,  unter  die  sie  andere  beugten." 

L.  Bertrand  spricht  in  seinem  schönen  Buche  La  fin  du  classi- 
cisme  von  dem  „ererbten  Geschmack  der  Franzosen  für  die  römische 
Geschichte".     Insbesondere    mag   ihr    Verständnis   für    die    durch    die 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  33 

Tyraunis  erzeugten  Erscheinungen  im  Volksleben  durch  Erfahrungen 
der  eigenen  Geschichte  geschärft  worden  sein.  Und  so  dürfen  denn 
auch  die  auf  gründlicher  Sachkenntnis  beruhenden  und  beredten  Aus- 
führungen Boissiers  vollen  Anspruch  auf  Beachtung  erheben.  — 

11.  Julius  Asbach,  Römisches  Kaisertum  und  Ver- 
fassung bis  auf  Traian.  Eine  historische  Einleitung  zu  den 
Schriften  des  P.  Cornelius  Tacitus.     Köln  1896.     192  S. 

Das  inhaltreiche  Buch,  in  der  Tat  eine  sehr  zweckentsprechende 
Einleitung  zu  Tacitus'  Schriften,  bringt  frühere  Aufsätze  des  Verfassers 
(Histor.  Taschenbuch  188Ü — 88)  umgearbeitet  und  durch  eine  Dar- 
stellung der  flavischen  Dynastie  vermehrt.  B.  I  behandelt  die  Ent- 
wickelung  des  Prinzipats  bis  zu  Vespasian,  B.  II  die  Flavier,  B.  III 
Nerva,  Traian  und  Cornelius  Tacitus.  Schon  die  letzte  Überschrift 
deutet  genugsam  an,  wie  hoch  A.  die  politische  Bedeutung  und  den 
persönlichen  Einfluß  des  Tacitus  einschätzt,  ja  m.  E.  überschätzt, 
wenn  er  ihn  geradezu  „den  Herold  der  Form  des  Prinzipates,  die  Nerva 
und  Traian  geschaffen  haben",  nennt,  —  In  eingehender  "Würdigung 
des  Buches  hat  Mittag  (W.  f.  kl.  Phil.  1897  N.  35,  942—51)  hervor- 
gehoben, daß  A.  namentlich  Wesen  und  Wandlungen  des  Prinzipates, 
weniger  seinen  Wert,  vortrefflich  entwickelt  und  unter  stetiger  Berück- 
sichtigung der  „auswärtigen"  Verhältnisse  dargelegt  habe,  daß  des  Verf. 
Anschauungen  und  Urteile  auf  unmittelbarem  Quellenstudium  beruhen 
und  meistens  das  Richtige  treffen;  doch  weist  er  auch  auf  empfindliche 
Mängel  und  Widersprüche  (z.  B.  S.  46,  115.  128)  hin,  die  teilweise 
daher  rühren,  daß  A.  sich  mit  den  neueren  Fortschritten  der  Quellenkritik 
nicht  ausreichend  vertraut  gemacht  habe.  Zu  der  Frage  über  das  Ver- 
hältnis zwischen  Tacitus,  Plutarch,  Dio,  Sueton  hat  A.  keine  klar  be- 
stimmte Stellung  genommen,  was  seinen  Deduktionen  natürlich  mehrfach 
zum  Nachteil  gereicht ;  dies  gilt  u.  a.  auch  von  dem  Versuche,  die  Re- 
gierungsweise Domitians,  im  Widerspruch  mit  fast  allen  literarischen 
Quellen,  in  eine  günstigere  Beleuchtung  zu  rücken.  —  Aus  der 
Schilderung  der  Lebensverhältnisse  des  Tacitus  ist  die  durch 
Büdinger  angeregte,  von  A.  selbst  als  „kühn"  bezeichnete  Vermutung 
hervorzuheben ,  daß  der  Schriftsteller  seine  Heimat  in  Norditalien 
gehabt  habe;  zur  Begründung  wird  auf  des  Tac.  Jugendfreundschaft 
mit  Plinius  sowie  auf  die  Beziehungen  zu  Verginius  Rufus  und  zu  Agri- 
cola  hingewiesen.  —  Im  Dialogus  sieht  A.  eine  Jugendschrift  des  Tac, 
die  vielleicht  erst  später  (die  Zeittafel  im  Anhang  nimmt  das  J.  96  an) 
herausgegeben  sei.  In  bezug  auf  die  Entstehung  und  Tendenz  des 
Agricola  stimmen  seine  Ansichten  im  wesentlichen  mit  Boissier  und 
Urlichs  überein:    „Die    politische  Tendenz  des  Agr.  ist  unverkennbar, 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXI.    (1901.    II.)  3 


34  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

wenn  auch  verhüllt  durch  die  professio  pietatis,"  und  S.  137:  ,,Wenn 
wir  den  Agricola  wie  eine  Äußerung  der  Regierung  betrachten  können, 
die  gewisse  Kreise  eines  Besseren  zu  belehren  suchte,  so  führt  uns  die 
unmittelbar  nachher  erschienene  Germania  auf  das  Gebiet  der  aus- 
wärtigen Politik."  Hier  hat  sich  der  Verf.  zu  einer  mehr  geistreichen 
als  zutreffenden  Antithese  verleiten  lassen,  zu  einer  Charakterisierung 
der  beiden  Monographien,  die  durch  deren  Hauptinhalt  durchaus  nicht 
gerechtfertigt  ist.  „Der  Agricola  ist  eine  Biographie,  nichts  anderes" 
(Leo).  Gegen  die  von  Dierauer  (Geschichte  Trajaiis)  am  schärfsten 
formulierte,  von  A.  gebilligte  (Westd.  Zeitschr.  III  12.  1884)  und  ver- 
teidigte Bezeichnung  der  Germania  als  „politische  Broschüre"  habe  ich 
schon  früher  (Einl.  m.  Ausg.  der  Germ.  S.  IX  ff.)  Einspruch  erhoben 
und  weiß  mich  damit  in  Übereinstimmung  mit  den  meisten  Erklärern. 
Im  Anschluß  an  Nitzsch  weist  A.  sehr  richtig  darauf  hin  (S.  145  ff.), 
daß  die  Darstellung  der  Germania  insofern  einseitig  zu  nennen  sei,  als 
Tac.  in  seiner  knappen  und  gedrungenen  Schilderung  gerade  die  Seiten 
des  Germanentums  in  den  Vordergrund  stellt,  die  mit  römischem  Wesen 
und  Brauch  am  stärksten  kontrastierten,  daß  mithin  dieser  Standpunkt 
des  Verfassers  bei  der  Beurteilung  der  Schrift  nie  außer  acht  zu 
lassen  sei. 

Die  Frage,  wann  und  in  welcher  Weise  die  Historien  und  Annalen 
verfaßt  und  herausgegeben  sind ,  wird  eine  genaue  Beantwortung 
schwerlich  finden ,  solange  namentlich  über  die  Chronologie  der 
plinianischen  Briefe  die  Meinungen  derartig  auseinandergehen,  wie  z.  B. 
Mommsens,  der  die  J.  97 — 108,  und  Asbachs,  der  104 — 111  als  Zeit- 
raum der  Abfassung  und  Veröffentlichung  dieser  Schriften  annimmt. 
Doch  glaubt  A.  mit  Mommsen  schließen  zu  dürfen,  daß  die  erste  Gruppe 
der  Historien  nicht  vor  104  erschienen  sei;  um  109,  wahrscheinlich 
schon  früher,  habe  Tac.  das  12  Bücher  (=  2  Hexaden)  umfassende 
Werk  vollendet,  die  Annalen  noch  vor  dem  J.  115.  Die  Stelle  ann.  2,  61, 
aus  der  man  auf  eine  spätere  Abfassung  schließen  zu  müssen  glaube, 
beziehe  sich  wahrscheinlich  auf  die  im  J.  106  durch  A.  Cornelius  Palma 
vollzogene  Okkupation  eines  Striches  Arabiens  von  Damaskus  bis  zum 
Roten  Meer.  Daß  A.  hier  sich  im  Irrtum  befindet,  lehrt  der  Zusammen- 
hang jener  Stelle  und  ein  Blick  auf  die  Karte.     Vgl.  auch  oben  S.  25. 

Des  Tacitus  Urieil  über  die  Vergangenheit,  wie  es  sich  in  den 
Hist.  und  Ann.  kundgibt,  ist  naturgemäß  durch  seine  Stellung  in  und 
zu  der  ,, glücklichen"  Gegenwart  beeinflußt.  Daß  er  ,,eine  Säule  der 
neuen  Regierung"  gewesen,  muß  als  Übertreibung  bezeichnet  werden, 
ebenso  daß  das  Glück  der  Gegenwart  den  Blick  des  Historikers  „geblendet* 
habe;  wenigstens  trifft  das  für  das  letzte  Dezennium  seines  Schaffens 
schwerlich    mehr    zu.     A.    bemerkt,    daß  die  Einleitung  der  Historien 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  35 

mir  auf  die  Greueltaten  Domitians  hinweise,  ohne  seine  äußeren  Erfolgte 
und  seine  tüchtige  ßeichsverwaltung  zu  erwähnen;  Tacitus  sei  hier 
(noch!)  ganz  in  Übereinstimmung;  mit  Plinius,  der  im  Panegyricus  den 
Tyrannen,  die,,immauissima  belua",  nur  zur  Folie  für  Trajan  nimmt.  Später 
sind  gewisse  Euttäuschungen  für  Tac.  wohl  nicht  ausgeblieben,  weshalb 
auch  des  trajanischen  Prinzipats  in  den  Annalen  nirgends  gedacht  wird; 
vermutlich  hat  er  seine  politischen  Ideale  nicht  in  dem  Maße  verwirklicht 
gesehen,  wie  sein  Freund  Plinius,  der  sich  allen  Personen  und  Ver- 
hältnissen anzupassen  aufs  beste  verstand. 

Welche  Bedeutung  Tac.  dem  Senate  beimaß,  dem  Träger  ehr- 
würdiger Traditionen,  dessen  Erhaltung  mit  der  Staatswohlfahrt  eng 
verknüpft  war,  beweisen  viele  Äußerungen  in  seinen  Schriften,  so  auch 
die  Rede  Othos  au  die  Prätorianer  h.  I  83  und  84.  Sein  letztes  Ideat 
aber,  das  mit  den  Anschauungen  Senecas  vielfach  Berührungen  hat, 
bleibt  die  Dyarchie  von  Princeps  und  Senat,  wie  sie  Augustus  gegründet, 
wie  sie  Galba,  Vespasian  und  Nerva  wiederhergestellt  haben.  —  Anzeige 
von  G.  Andresen,  Jahresb.  23,  127  ff. 

12.     Otto   Seeck,    Der   Anfang    von   Tacitus'    Historien. 
Rh.  M.  56  (1901),  227—232. 

Mit  erstaunlicher  Zuversichtlichkeit,  aber  schwacher  Begründung 
wird  hier  der  Satz  aufgestellt:  „Die  beiden  großen  Geschichtswerke  des 
Tacitus  haben  niemals  zwei  gesonderte  Einheiten  gebildet."  Hist.  B.  I 
sei  nach  Vollendung  der  Annalen  als  B.  XVII  gezählt  und  gleichzeitig 
das  Proömium  des  engeren  Anschlusses  wegen  umgestaltet  worden. 
Hinsichtlich  der  Bücherzählung  beruft  sich  S.,  während  er  TertuUian 
vergißt,  auf  Hieronymus,  der  doch  nur  ungenau  von  30  Büchern  Kaiser- 
biographien spricht;  und  was  das  Zeugnis  der  einzigen  Hs  angeht,  so 
kann  dieses  für  die  ursprüngliche  Anordnung  und  Zählung  nicht  be- 
weisend sein.  —  Warum  aber  Tacitus  gerade  den,  nach  Seecks  Theorie, 
sinnlosen  Ausdruck  Initium  operis  sq.  stehen  ließ,  während  er  die  folgen- 
den Worte  sachgemäß  verändert  haben  soll,  dafür  gibt  S.  die  wunder- 
liche Erklärung:  die  Anfangsworte  hätten  so  fest  im  Gedächtnis  des 
Publikums  gehaftet,  daß  der  Verf.  durch  ihre  Änderung  Anstoß  erregt 
haben  würde.  Mit  Recht  fragt  Fr.  Rühl  (s.  unten),  ob  denn  diese 
Worte  so  ungeheuer  eindrucksvoll  und  bewundernswert  seien,  daß  sie 
stehen  bleiben  mußten,  auch  wenn  sie  zum  reinen  Unsinn  wurden.  — 
Im  folgenden  Teil  der  Vorrede,  so  argumentiert  S.,  werde  Tac.  ur- 
sprünglich gesagt  haben ,  daß  die  Ereignisse  bis  zum  J.  69 ,  wo  die 
Historien  einsetzen,  keiner  neuen  Darstellung  mehr  bedurften;  diese 
Phrase  habe  er,  als  er  die  Annalen  hinzufügte,  notwendig  ändern 
müssen,  weil  er  sonst  seine  neue  Arbeit    für  überflüssig  erklärt  hätte. 

3* 


36  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.     (Wolff.) 

Daran,  daß  Tac.  nicht  auch  die  Anfangsworte  der  Kapitel  2,  3  und 
4  gestrichen  hat,  was  doch  folgerichtig  hätte  geschehen  müssen,  scheint 
S.  keinen  Anstoß  zu  nehmen;  die  Wendungen,  die  ihm  als  Einleitung 
der  selbständig  gedachten  Historien  unpassend  erscheinen,  hat  er  falsch 
ausgelegt.  „Ich  beginne  mit  dem  Jahr  69,  weil  die  frühere  Zeit 
schon  von  andern  dargestellt  ist"  —  so  grob  darf  der  Inhalt  der 
Stelle  nicht  zusammengefaßt  werden.  Wie  die  Partikel  nam  (die 
Burnouf  ganz  unübersetzt  läßt)  hier  zu  nehmen  ist,  lehren  Dutzende 
von  Parallelen  aus  Tac.  (s.  Lex.  Tac.  S.  892  ff.);  vor  allem  aber  liegt 
im  folgenden  das  Schwergewicht  nicht  auf  dem  ,,daß",  sondern  auf  dem 
„wie"?  Tac.  sagt:  Ich  werde  die  letzte  Epoche  (das  letzte  Menschen- 
alter) unserer  Greschichte  schreiben,  die  ich  selbst  durchlebt  habe  (die 
ihn  darum  besonders  lockte)  und  die  ich  unparteiisch  schildern  will  und 
kann;  die  Zeit  der  früheren  Monarchie  darzustellen,  ist  (für  mich  noch 
zu)  schwierig  wegen  des  Mangels  au  großen  und  wahrheitsliebenden 
Gewährsmännern  (veritas  pl.  m.  infracta  erinnert  an  Seneca:  unde 
primum  veritas  retro  abiit).  Wenn  Tac.  später  dennoch  seine  geübte 
Kraft  an  jene  schwere  Aufgabe  gesetzt  hat,  so  ist  das  gerade  ein  Beweis 
dafür,  daß  er  im  Eingang  der  Historien  nicht  gesagt  haben  kann,  die 
Zeit  vor  Galba  bedürfe  keiner  neuen  historischen  Darstellung.  —  Da 
nach  Seecks  Ansicht  der  vorliegende  Wortlaut  nur  für  den  Anfang  der 
Annalen  gerechtfertigt  sein  soll,  was  nicht  einmal  völlig  zutrifft,  so 
würde  jedenfalls  die  vermutete  ,, Änderung"  eine  äußerst  überflüssige, 
lästige  und  geschmacklose  Variation  des  ann.  1,  1  Gesagten  dar- 
stellen. 

Weiter  bemängelt  S.  den  Ausgangspunkt  der  Historien,  den  man 
gewöhnlich  mit  dem  1.  Jan.  69  zusammenfallen  läßt.  Das  sei  kein 
Ausgangspunkt,  den  ein  denkender  Historiker  sich  gewählt  hätte,  wenn 
nicht  äußere  Gründe  ihn  dazu  veranlaß teu.  Tac.  habe  offenbar  das 
annalistische  Werk  eines  andern  Historikers  fortgesetzt,  der  mit  dem 
31.  Dez.  68  abgebrochen  hatte  oder  vielleicht  darüber  (gerade  damals?) 
verstorben  war.  Wer  jener  Autor  gewesen,  glaubt  S.  nach  einigem 
Hin-  und  Herraten  (Plinius  und  Cluvius  Rufus  müssen  außer  Betracht 
bleiben)  mit  einer  „nahe  an  Gewißheit  grenzenden  Wahrscheinlichkeit" 
ausgemacht  zu  haben:  Fabius  Rusticus;  denn  erstens  sei  von  seinen 
Schritten  kein  Fragment  erhalten,  das  über  die  Regierungszeit  Neros 
hinausginge,  zweitens  habe  ihn  Tac,  wenigstens  um  seiner  Sprache 
willen  (eloquentissimus),  vor  allen  andern  hochgeschätzt  und  dürfte  ihn 
darum  wohl  sich  zum  „Vorgänger"  gewählt  haben.  Demnach  führten 
die  Historien,  wie  S.  meint,  ehe  sie  ein  Teil  des  großen  Werkes 
wurden,  nach  bekannter  Analogie  den  Titel:  A  fine  Fabii  Rustici 
libri  XIV.     Später    freilich,    als    Tac.    den    Fabius    als    parteiischen 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1  SOG— 1903.     (Wolff.)  37 

Zangen  erkannt  (ann.  13,  20),  habe  er  sich  entschlossen,  dessen  Werk 
durch  die  Annalen  zu  verdrängen.  — 

Abgelehnt  wird  diese  Hypothese  mit  einleuchtenden  Gründen  von 
Fr.  Rühl,  Rh.  M.  56  (1901)  513  ff.;  G.  Andresen,  Jahresb.  d.  ph.  V. 
27,  301  f.  (.,eine  gewagte  Vermutung");  Fr.  Münzer,  Die  Entstehung: 
der  Hist.  des  Tacitus.     Beitr.  z.  a.  Gesch.  12.  — 

13.     Franz  Rühl,  Zu  Tacitus.     Rh.  M.  56  (1901),  508—516. 

Ann.  1,  62  erzählt  Tacitus,  wie  Germanikus,  die  fromme  Ehren- 
pflicht gegen  die  Opfer  der  Varusschlacht  ertüllend,  dadurch  zugleich 
seine  Legionen  zum  erbitterten  Rachekampf  entflammt.  Dann  fährt  er 
fort:  Quod  Tiberio  haut  probatum  .  .  .  debuisse.  Sonach  hätte  der 
Kaiser,  falls  nicht  bloße  Tadelsucht  ihn  bestimmte  (seu  .  .  ,  trahenti), 
das  Verfahren  des  Germanikus  (ob  offiziell?)  getadelt  aus  Gründen, 
von  denen,  wie  der  Zusammenhang  lehrt,  Tac.  den  ersten  offenbar 
nicht  als  triftig  anerkennt.  Wie  dieser  über  das  religiöse  Bedenken  ge- 
urteilt  haben  mag,  läßt  sich  schwer  sagen.  Aus  der  völligen  Unter- 
lassung der  Beerdigung  konnte  dem  Feldherrn  jedenfalls  ein  Vorwurf 
gemacht  werden,  obwohl  moderne  Verteidiger  des  Tiberius  geneigt  sind, 
diesem,  wie  meistens  im  Streitfalle,  die  richtigere  Einsicht  zuzuschreiben, 
daß  nämlich,  mit  Rücksicht  auf  die  Stimmung  des  Heeres,  die  Be-^ 
stattung  der  Varianischen  Legionen  besser  unterblieben  wäre.  Um  so 
mehr  freute  sich  Rühl,  eine  Bestätigung  des  Gegenteils  durch  eine 
Steininschrift  vom  Rhein  erbringen  zu  können,  „ein  gleichzeitiges 
Zeugnis,  das  die  Stimmung  und  die  Wünsche  des  Heeres  unmittelbar 
zum  Ausdruck  bringt".  —  Es  ist  der  Kenotaph  des  in  der  Varusschlacht 
gefallenen  Optio  M.  Caelius  von  Bononia  (Brambach,  C.  I.  Rh.  Nr.  209), 
vom  Bruder  des  Toten  errichtet.  Die  Aufschrift  „Ossa  inferre  licebit* 
deutet  R.  dahin,  daß  im  rheinischen  Heere  die  Hoffnung  auf  einen  dem- 
nächstigen Rachezug  lebendig  war  und  daß  der  überlebende  Bruder 
die  Asche  des  Gefallenen  aus  Germanien  zurückzubringen  und  in  dem 
Grabmal  beizusetzen  gedachte.  Auf  ähnliche  Wünsche  vieler  Soldaten 
lassen  des  Tac.  Worte  schließen:  nullo  noscente  alienas  rellquias  sq. 
Die  von  anderer  Seite  vorgeschlagene  Deutung  der  Grabschrift,  daß 
dadurch  jedermann  die  Erlaubnis  erteilt  worden  sei,  die  Reste  eines 
Verstorbenen  hier  beizusetzen,  erklärt  R.  wohl  mit  Recht  für  unmög- 
lich; es  müsse  dann  vor  allem  „licet"  oder  „liceto"  heißen;  außerdem 
finde  sich  nirgends  ein  Beispiel  für  eine  solche  allgemeine  Erlaubnis, 
durch  die  jener  Caelius  überdies  sein  Eigentumsrecht  an  dem  Grabmal 
beschränkt  hätte.  — 

Sodann  teilt  R.  einige  hübsche  die  Kunstform  des  Tacitus  be- 
treffende Beobachtungen    mit.    —    Der    außergewöhnliche  Beifall,    dea 


38  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

glaubwürdigen  Zeugen  zufolge  Tac.  bei  seinen  Zeitgenossen  gefunden, 
galt  selbstverständlich  nicht  am  wenigsten  der  wundervollen  Dar- 
stellungskunst, deren  intimere  Keize  uns  leider  großenteils  verschlossen 
bleiben  müssen.  Namentlich  gilt  das  von  den  Annaleu,  in  denen  Tac, 
wie  ß.  sich  ausdrückt,  im  Grunde  „mehr  Essayist  als  Geschicht- 
schreiber" ist.  "Wir  sind  oft  auf  bloße  Vermutungen  angewiesen,  ins- 
besondere wo  jene  eigene  Würze  der  Darstellung  in  gewissen  Re- 
miniszenzen literarischer  Natur  und  leichten  Andeutungen  besteht,  mit 
denen  der  Autor  verwandte  Saiten  bei  seinem  ,,leisbeweglichen"  Publikum 
anklingen  machte.  Ob  eine  solche  Anspielung  auch  in  den  berühmten 
"Worten  ann.  2,  88  caniturque  adhuc  barbaras  aput  gentes  zu  finden  ist, 
wie  R.  glaubt?  —  eine  Anspielung  nämlich  auf  die  „einem  jeden 
Römer  geläufige  Stelle*'  Xen.  Kyrupaedie  1,  2,  1  aoerat  ezi  xal  vüv 
UTCO  Twv  ßapßaptuv.  Zwar  bietet  Armins  Schicksal  einige  zum  Nach- 
denken anregende  Vergleichungspunkte  mit  dem  des  Kyros,  und  zwischen 
■dem  Wortlaut  der  erwähnten  Satzanfänge  besteht  ohne  Zweifel  einige 
Ähnlichkeit;  doch  ist  der  Inhalt  nicht  charakteristisch  genug,  um  es 
glaubhaft  erscheinen  zu  lassen,  daß  dem  Tac.  beim  Niederschreiben 
jenes  Passus  ein  Stück  Jugendlektüre  vorgeschwebt  habe.  Im  übrigen 
lehrt  die  tägliche  Erfahrung,  wie  leicht  schon  durch  den  Tonfall  weniger 
Silben,  durch  eine  kleine  Umstellung,  durch  ein  selteneres  Wort  in 
einem  alltäglichen  Zusammenhang  bestimmte  Erinnerungen  in  Wissenden 
geweckt  werden  können.  Man  setze  z.  B.  statt  „ein  glaubwürdiger 
Mann"  nur  die  Jamben  ,,ein  glaubenswerter  Mann",  und  jeder  Schiller- 
fi'eund  wird  darin  eine  Reminiszenz  vernehmen.  — 

Welche  Werke  ann.  2,  88  mit  ..Graecorum  annales"  gemeint 
seien,  dafür  glaubt  R.  keinen  Anhaltspunkt  zu  haben;  für  Plutarchs 
Kaiserbiographien  sei  der  Name  doch  nicht  anwendbar;  wohl  aber 
dürften  die  Worte:  qui  sua  tautum  rairantur  einen  Seitenhieb  auf 
Plutarch  bedeuten,  der  sein  Griechentum,  mehr  als  in  seinen  Schriften, 
im  persönlichen  Umgang  hervorgekehrt  haben  werde.  Die  „griechische 
Eitelkeit"  —  Grai,  geuus  in  gloriam  suam  effusissimum,  Plin.  n.  h.  3,  42  — 
ist  allerdings  ein  in  der  röm.  Literatur  immer  wiederkehrendes  Leit- 
motiv. 

Bei  den  Worten  Germ.  23  Potui  humor  .  .  .  corruptus  („Getränk 
sieht  aus  wie  Wein  .  .  ."),  meint  ß.,  habe  der  Autor  wohl  das  spöttische 
Urteil  im  Sinne  gehabt,  das  (nach  Plin.  n.  h.  19,  145)  der  Kaiser  Tiberius 
einst  über  den  germanischen  Spargel  (wie  sich  die  Zeiten  ändern!)  aus- 
gesprochen: herbam  ibi  quandam  nasci  simillimam  asparago. 

Zum  Schlüsse  beleuchtet  R.  die  „fadenscheinigen  Gründe",  welche 
O.  Seeck  für  seine  oben  besprochene  Hypothese  vorgebracht,  daß  Annalen 
und  Historien  von  vornherein  als  einheitliches  Ganzes  geplant  geweseu 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.     (Wolfl.)  39 

oder  doch  zu  einem  solchen  zusammengeflickt  worden  seien.  Im  ganzen 
befindet  sich  E.  bezüglich  dieser  Frage  in  Übereinstimmung  mit  fast 
allen  Sachverständigen.  — 

14.    A.Viertel,  Tiberius  und  Germanikus.    Eine  historische 
Studie.     Progr.  Göttingen  1901.     60  S.     8. 

Die  Frage,  zu  deren  Klärung  V.  einen  Beitrag  zu  liefern  beab- 
sichtigt, ist  anerkanntermaßen  darum  von  nicht  geringer  Bedeutung, 
weil  gerade  die  im  Verhältnis  des  Tiberius  zu  seinem  Neffen  Germanikus 
hervortretenden  Charaktereigenschaften  des  Kaisers  seinem  traditionellen 
Bilde  das  Hauptgepräge  verliehen  haben.  Die  zugrunde  liegende  Dar- 
stellung des  Tacitus  aber  ist  überreich  an  Problemen  schwierigster  Art, 
und  wie  oft  auch  forschender  Scharfsinn  versucht  hat,  durch  genaue 
Analyse  die  berichteten  Vorgänge  von  dem  sie  begleitenden  Urteil  des 
iSchriftstellers  zu  trennen  und  so  zu  einer  möglichst  „objektiven"  Auf- 
fassung zu  gelangen:  es  bleibt  immer  noch  ein  beträchtlicher  selbst 
dur<',li  die  Genialität  eines  Ranke  (an  den  V.  anknüpft)  nicht  befriedigend 
erklärter  Rest.  —  In  der  Blutsverwandtschaft  des  Germanikus  mit 
Augustus  wurzelte  der  Argwohn  des  Tiberius  gegen  seinen  Neffen  und 
dessen  ehrgeizige  Gattin.  ,,Man  darf  nicht  vergessen,"  bemerkt  Ranke 
(Weltg.  III  1,  47  f.),  „daß  dieser  (G.)  in  einem  näheren  Verhältnis  zur 
augusteischen  Familie  stand  als  sein  Oheim  Tiberius.  Insofern  von 
Erbfolge  die  Rede  sein  konnte,  hätte  der  Neffe  größere  Ansprüche 
gehabt  als  der  Oheim."  Ziehen  wir  nun  in  Erwägung,  welche  Hoff- 
nungen viele  Senatoren  an  die  Person  des  beliebten  Prinzen  knüpften, 
und  wie  prekär,  ja  bedroht  dem  Tiberius  seine  Stellung  als  Princeps 
anfangs  erscheinen  mochte,  so  wird  uns  wohl  verständlich,  wie  aus  dem 
Gefühl  der  Unsicherheit  sich  in  dem  von  Natur  verschlossenen  Manne 
jene  Eigenschaft  ausbildete,  die  Tacitus  als  einen  Grundzug  seines 
Wesens  betrachtet:  die  Verstellungskunst.  Schon  an  dem  Punkt  der 
Erzählung,  wo  der  Autor  den  Tiberius  als  künftigen  Herrscher  ein- 
führt (ann.  1,  4),  deutet  er  diesen  Zug  als  einen  im  Urteil  der  Zeit- 
genossen feststehenden  im  voraus  an.  Und  von  diesem  Gesichtspunkte 
aus  vermindern  sich  die  angeblichen  Widersprüche  in  der  taciteischen 
Schilderung  des  Kaisers  ganz  erheblich,  was  V.  freilich  nicht  zugeben 
will.  Allein  war  es  etwa  nicht  Verstellung,  wenn  Tiberius,  obwohl  er 
mit  den  Erfolgen  des  G.  keineswegs  zufrieden  war  (V.  S.  7.  11),  dessen 
glänzenden  Triumph  durch  besondere  Spenden  an  die  Plebs  noch  glän- 
zender gestaltete?  Jedenfalls  eine  auffallende  Konnivenz  der  Volks- 
stimmung gegenüber.  Wie  reimt  es  sich  ferner  zusammen,  daß  der 
,,von  dem  Bewußtsein  seiner  Regeutenpflichten  erfüllte  Herrscher", 
der  „in  der  Wahl  seiner  Beamten    so  vorsichtig  war"  (V.  S.  18),    zur 


40  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

Ordnung  der  Verhältnisse  des  Orients  zwei  nach  Charakter  und  Talent 
so  völlig  verschiedene,  von  hohen  Aspirationen  erfüllte  Persönlichkeiten 
zusammen  aussendet?  Piso,  von  ererbter,  „heftiger  Gemütsart,  herrischem 
Charakter  und  unbändigem  Stolz,  in  der  Tradition  der  Unabhängigkeit 
groß  und  alt  geworden,    der  kaum    den  Tiberius    über  sich  erkannte", 
untergeordnet  einem  verwöhnten  jungen  Manne  ,,mit  priazlichen  Allüren", 
der    besondere  „Proben  eines  hervorragenden    militärischen    und  diplo- 
matischen Talents  noch  nicht  abgelegt"  (den  glänzenden  Triumph  also 
uuberechtigterweise  erhalten  hatte).    V.  meint,  vielleicht  sei  dem  Tiberius 
die  Erfahrung  und  Willensstärke  Pisos  als  „erwünschte  Ergänzung"  des 
Mangels  in  Germanikus'  Charakter  erschienen ;  im  Widerspruch  hiermit 
sucht  er  (S.  59)  den  Mißgriff  der  Wahl    so    zu  entschuldigen:     „Beide 
Teile  (Tiberius,    der  in  der  W^ahl  seiner  Beamten  so  vorsichtige,    und 
der  Senat)   hatten    eben    keine    genügende  Kenntnis    von  ihm  (Piso)." 
Und    doch    war  Plancina    mit  der  Kaiserin   „eng    liiert".     Keinenfall» 
konnte  es  dem  Herischer  entgehen,  daß  unter  den  gegebenen  Umständen 
ein    auch    für    das    Staatsinteresse    verhängnisvoller    Konflikt    kommen 
mußte,    dazu  brauchte  es  in  der  Tat  keiner  „geheimen  Instruktionen", 
die  Tacitus  übrigens,    was  Ranke  (III  2,  298)  übersehen   hat,    nur  als 
ein  ,,on  dit"  erwähnt:   2,43  credidere  qnidam  data  et  a  Tiberio  occulta 
mandata  (Pisoni)  .  ,  .     Des   Kaisers    einziger  Fehler    in    dieser  Ange- 
legenheit, meint  V.,  sei  der,    daß  er  sich  in  der  Person  des  Piso  ver- 
griffen habe,  freilich  ein  Kardinalfehler,  der  dadurch  nicht  entschuldigt 
wird,  daß  Piso  vom  Senate  vorgeschlagen  war,  wie  ja  auch  das  unheil- 
volle ,, malus  impeiium"  des  Germanikus    formell    auf  einem  Senatsbe- 
schluß beruhte.     Denn  in  der    mangelhaften  Abgrenzung    der    beider- 
seitigen Kompetenzen  (richtiger  wohl  der  außerordentlichen  Vollmacht 
des  Prinzen),    in  der  „latitude"    der  doch    von  Tiberius  erteilten  amt- 
lichen Instruktionen,   lag  der  Keim  zu  der  gefährlichen  Spannung,   die 
durch  weibliche  Eifersüchtelei  und  Leidenschaft,  sowie  durch  das  Über- 
maß von  Huldigungen,  welche  Griechenland,  namentlich  aber  Athen  dem 
Prinzen  als  dem  Vertreter  des  Imperiums  darbrachte,  gesteigert  wurde 
und  bei  der  Regelung  der  armenischen  Königsfrage  zu  offenem  Hader 
zwischen  Germanikus  und  dem  ihm  unterstellten  Piso  führte.    —    Die 
einzelnen  Züge    dieses    unerfreulichen  Bildes    sind  begreiflicherweise  in 
der  VolksüberlieferuDg  wie    auch   in    gewissen  Memoiren    vielfach  ent- 
stellt worden  (etiam  secutis  temporibus  vario  rumoie  tractata,  ann.  3,  19). 
Za    solchen    „Erinnerungen"    gehörten    u.   a.    auch    die   der  jüngeren 
Agrippina,    jene    „vergiftete   Quelle    der   Geschichte  Tibers",    wie    sie 
A.  Stahr  nannte;  die  Art  jedoch,  wie  sie  Tac.  zitiert  (ann.  4,  53),  läßt 
nicht  darauf  schließen,  daß  sie  ihm  Haupt-  oder  gar  einzige  Quelle  für 
die  Schilderang  der  Schicksale  des  Germanikus  gewesen  wäre. 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1S9(;-1903.    (Wolff.)  41 

Die  Unterordnung  Pisos  selbst  in  militärisclien  Dingen,  sagt  V., 
scheine  keine  unbedingte  gewesen  zu  sein,  indem  P.  ganz  uugescheut 
Zenturionen  und  Tribunen  ein-  und  abgesetzt  habe,  „ohne  daß  dies  von 
Tac.  als  ein  Übergriff  gerügt  wäre".  Diese  Ansicht  gründet  sich  jedoch 
auf  eine  unzulässige  Interpretation  der  Worte  ann  3,  12:  si  legatus  officii 
terminos,  obsequium  erga  imperatorem  exuit.  Unzweifelhaft  dient  die 
Hinzufügung  von  obsequium  e.  i.  zur  Erläuterung  und  schärferen  De- 
finition des  Vorhergehenden  und  bezeichnet  nachdrücklich  die  amtliche 
Unterordnung  unter  den  Oberbefehlshaber. 

Die  Politik  des  Tiberius  in  den  parthisch-armenischen  Angelegen- 
heiten macht,  nicht  nur  in  der  Darstellung  des  Tacitus,  keinen  günstigen 
Eindruck.  V.  findet  selbst  (8.  22):  „Am  nächsten  hätte  es  wohl  ge- 
legen, den  Vonones  wenigstens  indirekt  zu  unterstützen"  .  .  .  , Trotzdem 
wurde  er  preisgegeben,  wahrscheinlich  auf  Ordre  des  Tiberius"  .  .  . 
„Silanus  wird  von  Tib.  wohl  ermächtigt  gewesen  sein,  den  Vonones  seinem 
Schicksal  zu  überlassen,"  Silanus  ging  bekanntlich  über  seine  Weisung 
hinaus,  indem  er  den  Vonones  verräterischerweise  in  seine  Oewalt  lockte 
und  festhielt:  ein  schwerer  Mißgriff,  der  die  römische  Staatskunst  als 
falsch  und  schwach  zugleich  den  Parthern  gegenüber  kompromittierte. 
,In  der  Abberufung  des  Statthalters  haben  wir,"  sagt  V.  weiter,  „den 
Ausdruck  der  kaiserlichen  Mißbilligung  zu  sehen,  die  allerdings  un- 
zweideutiger hervortreten  würde,  wenn  sie  von  einer  ßedressierung  der 
Maßregel,  die  das  Mißfallen  des  Kaisers  erregte,  begleitet  gewesen  wäre. 
Aber  wie  oft  ist  es  nicht  geschehen,  daß  man  den  Täter  einer  Handlung 
reprobiert  und  der  öffentlichen  Meinung  opfert,  seine  Tat  aber  und  ihre 
Folgen  sich  gefallen  läßt,"  —  Es  kann  niemand  einfallen,  Aufrichtigkeit 
zur  Richtschnur  der  Staatskunst  machen  zu  wollen;  aber  jedenfalls 
stimmt  das  hier  gekennzeichnete  Verhalten  des  Kaisers  vollkommen 
zu  seiner  von  Tac.  gegebenen  Gesamtcharakteristik:  Doppelzüngigkeit 
und  Verstellnngskunst.  — 

V.  sucht  die  nähere  Ursache  und  Art  des  weiteren  Zerwürfnisses 
zwischen  Piso  und  Germanikus  (ann.  2,  57  ff.)  zu  ergründen,  kommt 
aber  selbstverständlich  über  Vermutungen  nicht  hinaus,  die  hier  über- 
haupt weiten  Spielraum  haben.  S.  26  f  :  „Haben  wir  in  dem  Verhalten 
Pisos  eine  offenbare  Insubordination  zu  sehen?  Es  ist  schwer,  sich  zu 
einer  solchen  Annahme  zu  entschließen  (der  Wortlaut  bei  Tacitus  ge- 
stattet keine  andere  Auslegung,  wie  oben  gezeigt  ist)  .  .  .  Am  wahr- 
scheinlichsten dürfte  ...  die  Annahme  sein,  daß  die  betr.  Ordre  des 
Germ,  nicht  in  die  strikte  Form  des  Befehls  gekleidet  war  .  .  .  Piso 
mag  gedacht  haben  .  .  .  die  Form  des  Befehls  gestattete  ihm  vermutlich, 
ihn  unausgeführt  zu  lassen  ..."  Bei  allem  Raten  darüber,  was  zwischen 
den  beiden  noch  vorgefallen,  wodurch  der  Zwist  verschärft  worden  sein 


42  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

möge,  bleibt  immer  nur  die  Alternative:  entweder  bat  Tiberius  in  diesem 
Falle  mit  tückischer  Bosheit  und  mit  Berechnung  oder  mit  ungeheuer- 
licher Verblendung  gehandelt,  jedenfalls  nicht  „dem  echten  Pflichtgefühl 
des  Herrschers"  (H.  Schiller)  gemäß.  —  Mit  Beziehung  auf  Armenien 
und  Persien  spricht  V.  (S.  33)  von  der  „aktiven  und  aggressiven  Politik 
des  alten  Kaisers",  nach  dessen  Sinne  „das  energischere  und  selbst- 
bewußtere Eingreifen  Pisos"  gewesen  sei.  Das  klingt  nicht  gut  zu- 
sammen mit  der  Kennzeichnung  (S.  11)  der  sonst  befolgten  „klugen  und 
vorsichtigen  Politik"  des  Tiberius,  noch  weniger  mit  der  erwähnten 
Preisgebung  des  Vonones. 

Tacitus  ist  übrigens,  wie  V.  selbst  (S.  31.  33  f.)  zeigt,  auch  nicht 
blind  gegen  die  Mißgriffe  und  Fehler  des  Germanikus;  ergibt  deutlich 
zu  verstehen,  daß  nicht  Pflichtgefühl  den  leichtherzigen  Prinzen  zum 
Besuche  Ägyptens  getrieben;  doch  sollte  sein  menschenfreundliches  Ein- 
greifen bei  der  plötzlichen  großen  Hungersnot  in  Alexandria  nicht  so 
ohne  weiteres  als  „auf  Popularität  berechnet"  ihm  zum  Vorwurf  ge- 
macht werden. 

Der  Bericht  über  des  Germanikus  Ausgang,  den  V.  im  einzelnen 
beleuchtet,  muß  im  ganzen  nach  dem  von  Tac.  selbst  gelieferten  Maß- 
stab beurteilt  werden:  ut  quis  misericordia  in  Germanicum  et  praesumpta 
suspicione  aut  favore  in  Pisonem  pronior  diversi  interpretabautur. 
Danach  stelle  man  sich  den  Wust  von  Legenden  vor  ,  mit  denen  sich 
der  Autor  abzufinden  hatte!  Nicht  jede  Wendung  ist  auf  die  Goldwage 
zu  legen;  „den  logischen  Widerspruch"  aber,  den  V.  in  den  Worten 
(2,  71  a.  E.)  fingentibus  —  non  ignoscent  finden  will,  löse  ich  mir  so: 
„Sollten  sie  (die  Verbrecher,  Piso  und  Plancina),  angeklagt,  sich  auf 
angebliche  ruchlose  Aufträge  (seitens  des  Tib.  und  der  Livia)  berufen 
(um  der  Bestrafung  zu  entgehen),  so  wird  man  ihnen  entweder  (über- 
haupt) nicht  glauben  oder  (selbst  wenn  man  dazu  geneigt  sein  sollte) 
ihnen  (darum)  doch  keine  Verzeihung  gewähren."  Der  Sterbende  will 
Rache  an  Piso  und  Plancina,  und  nur  an  ihnen,  geübt  wissen;  auf 
Tiberius  und  Livia  läßt  er  hier  keinen  Schatten  eines  Verdachtes 
fallen.  — 

Im  übrigen  muß  zugegeben  werden,  daß  Tacitus  bei  seiner  Gabe, 
allen  Winkeln  des  Menschenherzens  nachzuspüren  in  psychologischen 
Motivierungen  und  Deutungen,  namentlich  auch  der  Worte  und  Hand- 
lungen des  Tiberius  mitunter  zu  weit  gegangen  ist;  nicht  neu  ist  der 
Vorwurf,  aber  weniger  begründet,  daß  er  der  „chronique  scandaleuse" 
Roms  und  des  Kaiserhofes  gegenüber  zu  wenig  Skepsis  zeige.  Man  sollte 
doch  nicht  vergessen,  daß  z.  B.  die  „unglaublichsten"  Erzählungen  von 
Lastern  und  Freveln  in  den  Fürsteuhäusern  der  Borgia,  der  Visconti, 
der  Buonaparte  durch  die  neuere  ,, exakte"  Forschung  oft  ihre  Bestäti- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  43 

gung  erhalten  haben.  —  Tast  naiv  möchte  ich  den  Einwand  nennen, 
den  V.  gegen  die  von  Tacitus  behauptete  (von  Ranke  übrigens  un- 
bedenklich geglaubte)  Bestechung  der  Plancina  durch  Vonones  erhebt, 
daß  sie  nämlich  sehr  reich  gewesen;  ich  sollte  meinen,  dieser  gewissen- 
losen Person,  die  ihren  Gatten  in  der  Stunde  der  Gefahr  preisgibt, 
wäre  auch  in  sonstiger  Hinsicht  alles  zuzutrauen,  ganz  abgesehen  davon, 
daß  die  Geschichte  Beispiele  genug  kennt  von  reichen  und  sehr  hoch- 
gestellten Leuten,  die  sich  vom  Auslande  kaufen  ließen.  Ob  andere 
Ton  Tacitus  erwähnte  Einzelheiten,  wie  das  Benehmen  Pisos  in  Athen 
und  bei  dem  Gastmahl  des  Nabatäerkönigs  u.  a.  ra.  glaubhaft  oder 
wahrscheinlich  seien,  das  abzuwägen  ist  mehr  Sache  subjektiver  Auf- 
fassung; wobei  jedoch  m.  E.  der  Besonderheit  südländischen  Temperaments 
und  Brauches  nicht  immer  genügend  Rechnung  getragen  wird.  —  Daß 
des  Tiberins  nachsichtiges  Verhalten  gegen  Plancina  einem  „gewissen 
Billigkeitsgefühl"  entsprungen  sei,  das  ihm  den  Wunsch  eingab,  „eine 
Kompensation  (!)  gegen  die  Feindseligkeiten  eintreten  zu  lassen,  die 
Agrippina  gegen  Plancina  verübt  haben  wird"  (ann.  6,  26)  —  das  zu 
glauben  bin  ich  nicht  imstande.  —  Vgl.  Andresen,  JB.  27,  313  ff. 

15.  Ä.  Spengel,  Zur  Geschichte  des  Kaisers  Tiberins. 
(Sitzungsberichte  der  philos.-philol.  und  der  bist.  Klasse  der  Kgl. 
Bayer.  Akademie  der  Wissenschaften  1903  I.  S.  3—63)  München  1903, 
Verlag  der  Akademie  (G.  Franz). 

Ira  Gegensatz  zu  Viertel,  der,  an  Ranke  und  andere  Autoritäten 
sich  anlehnend,  einen  beschränkten  Teil  des  vielbehandelten  Themas  in 
gemäßigter  Darstellung  bespricht,  greift  Spengel  etwas  weiter  aus  (nicht 
tiefer)  und  nimmt,  unbeeinflußt  durch  die  bisherige  Kritik,  die  Unter- 
suchung des  ,, Justizmords"  von  neuem  auf,  den  seiner  Ansicht  nach  die 
Geschichtschreibung  (und  die  Dichtung)  „an  der  Ehre  des  hochbedeutenden, 
vom  besten  Streben  erfüllten  Kaisers  begangen  hat."  Sp.  sucht  nament- 
lich über  folgende  Ereignisse  grössere  Klarheit  zu  gewinnen:  Die  Er- 
mordung des  Agrippa  Postumus;  Germanikus  und  der  Aufstand  der 
Legionen  am  Rhein;  Germanikus  im  Orient  und  sein  Tod;  die  Ver- 
schwörung des  Seianns ;  der  Tod  des  jüngeren  Drusus.  Er  unterwirft  zu 
dem  Zweck  die  taciteische  Überlieferung  einer  sehr  lebhaften  und  herben 
Kritik,  indem  er  zugleich  auf  die  entsprechenden  Berichte  bei  Velleius, 
Sueton,  Dio,  Josephus  Bezug  nimmt.  Die  Ausführungen  Spengels  sind 
im  einzelnen  nicht  frei  von  Wunderlichkeiten  und  willkürlichen  Deutungen, 
über  die  ich  an  einer  anderen  Stelle  bereits  gesprochen  habe  (N.  Ph. 
Rundsch.  1903  N.  21;  vgl.  auch  Andresen,  Jahresber.  d.  ph.  V.  29, 
232  ff.),  sie  ermangeln  mitunter  einer  unerläßlichen  Vorbedingung:  der 
erschöpfenden  und  genauen  Auslegung  der  in  Frage  kommenden  Schrift- 


44  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189(i— 1903.    (Wolff.) 

Stellertexte.    Auch  legt  der  Verf.  nicht  immer  den  rechten  ästhetischen 
und  ethischen  Maßstab  an  die  antiken  Historiker. 

Das  Geheimnis,  welches  die  Anstifter  des  Prinzenmords  auf  Pla- 
nasia  umgibt,  wird  wohl  nie  ganz  entschleiert  werden.  Ranke  be- 
scheidet sich  mit  der  Bemerkung:  „man  behauptet,  infolge  einer  An- 
ordnung des  Augustus  selbst"  (sei  Agr.  hingerichtet  worden),  fügt  aber 
doch  hinzu,  daß  Tiberius  das  Resultat  einer  Untersuchung  wahrschein- 
lich selber  habe  fürchten  müssen;  er  neigte  also  offenbar  mehr  dazu, 
den  Tiberius  oder  die  Livia  einer  Fälschung  (des  Kodizills)  für  fähig  zu 
halten  als  zu  glauben,  der  Großvater  habe  noch  im  Sterben  einen  Hin- 
richtungsbefehl gegen  seinen  Enkel  ausgefertigt.  Und  in  der  Tat:  er- 
forderte wirklich  das  ,, Staatsinteresse",  wie  Sp.  annimmt,  die  Tötung 
des  unbändigen  Prinzen,  „um  Unruhen  nach  des  Kaisers  Tode  zu  ver- 
hüten", so  mußte  Augustus  den  blutigen  Akt  früher  vollziehen  lassen 
und  das  Odium  auf  sich  nehmen,  um  nicht  mit  einem  solchen  Auftrage 
den  Regierungsantritt  seines  Nachfolgers  zu  belasten  und  dessen  Stellung 
dadurch  noch  prekärer  zu  machen,  als  sie  ohnedies  war.  Sp.  läßt  nun  alle 
sonstigen  Möglichkeiten  zu:  daß  Augustus,  daß  Livia  die  Tat  befohlen, 
daß  gar  der  Kriegstribun  S.  auf  eigene  Verantwortung  gehandelt  habe: 
aber  Tiberius?  nein!  Dieser  leugnet  ja,  den  Befehl  erteilt  zu  haben, 
bedroht  den  Täter  mit  peinlicher  Untersuchung  („invidiam  scilicet  in 
praesentia  vitans"  fügt  Sueton,  Tib.  22,  treffend  hinzu),  und  „nach 
dem  Bericht  des  Tacitus  muß  man  (wirklich?)  annehmen,  daß  er  dazu 
entschlossen  war".  —  Mit  Einwendungen  ähnlicher  Art  sucht  der  Verf. 
auch  sonst  die  Glaubwürdigkeit  des  Tacitus  und  der  anderen  Autoren, 
soweit  sie  dem  Tiberius  ungünstig  sind,  zu  erschüttern.  Der  Kaiser 
habe  den  Germanikus  in  jeder  Hinsicht,  an  Energie,  Erfahrung,  Erfolg, 
Ansehen  so  weit  überragt,  daß  er  ihn  nicht  als  Nebenbuhler  habe  zu 
fürchten  brauchen  (anders  Ranke,  Weltg.  III  1,  31  und  47).  —  Ein 
überaus  weites  Feld  zur  Entfaltung  kritischen  und  hyperkritischen 
Scharfsinus  bieten  die  Feldzüge  des  Germanikus  mit  ihren  rhetorisch 
ausgeschmückten  Wechselfällen,  über  deren  Möglichkeit  oder  innere 
Wahrscheinlichkeit  ein  objektives  Urteil  oft  überhaupt  nicht  zu  ge- 
winnen ist.  In  der  Schilderung  des  Tacitus  zeigt  Germanikus  während 
des  Soldatenaufstands  und  einigemal  auch  im  Verlauf  der  Kriegszüge  eine 
nach  unsern  Begriffen  stark  theatralische  Haltung,  die  als  Ausfluß  eines 
leidenschaftlichen,  südländischen  Temperaments  zu  erklären  sein  dürfte.  Von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  wird  auch  die  Erzählung  des  Tacitus  zu  beurteilen 
sein,  daß  Germanikus  vor  seinem  Ende  sich  selbst  für  vergiftet  gehalten 
habe,  was  Sp.  (S.  45)  für  „unmöglich"  erklärt.  Mit  sehr  fadenscheinigen 
Gründen  und  in  widerspruchsvoller  Ausführung  bemüht  sich  der  Verf. 
ferner,  die  „Verschwörung  des  Sejan"  ins  Reich  der  Fabel  zu  verweisen.  — 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff.)  45 

16.  Edmund  Groag,  Zur  Kritik  von  Tacitus'  Quellen 
in  den  Historien.  Jahrbb.  f.  kl.  Pliilol.  1897  Suppl.-Bd.  XXIII 
S.  711-798. 

Eine  sehr  fleißige  und  besonnene  Behandlung-  der  interessanten 
Frage,  an  der  seit  C.  Hirzel  und  Mommseu  kein  Historiker,  kein 
Tacitusforscher  vorübergegangen  ist,  ohne  sich  mit  ihr  irgendwie  abzu- 
finden. Und  einladende  Hypothesen  stehen  ja  in  Fülle  zur  Auswahl. 
Gr..  der  an  Fabias  von  ihm  sehr  hochgeschätzte  Arbeit  „Les  sources 
de  Tacite"  etc.  anknüpft  und  sie  mehrfach  ergänzt,  geht  von  der  Über- 
zeugung aus,  daß  das  „ Einquellenprinzip "  auf  die  Arbeitsweise  des 
Tacitus  nicht  anwendbar  sei,  daß  seinen  Geschichtswerken  vielmehr  ein 
umtängliches  Quellenstudium  zugrunde  liege.  Zuerst  handelt  er  von  der 
Benutzung  der  urkundlichen  Quellen.  Tac.  hatte  als  Senator  und 
Konsular  das  Recht,  die  Acta  senatus  einzusehen,  und  hat  von  diesem 
Recht  für  die  Annalen  ziemlich  oft  Gebrauch  gemacht;  namentlich  sind 
hier  Schilderungen  von  Senatssitzungen  auf  Grund  der  Protokolle  aus- 
gearbeitet worden;  am  meisten  im  ersten  Buch:  K.  3.  4.  6.  7—10. 
39 — 43.  44.  45.  47.  In  den  Historien  ist  die  Benutzung  der  Senats- 
akten natürlich  nicht  in  gleichem  Maße  zu  verspüren;  oft  sind  es  auch 
nur  wenige  Sätze,  die  solche  offizielle  Herkunft  verraten:  I  19.  47.  74. 
77.  78.  79.  85.  90;  ferner  II  10.  55.  71,  vielleicht  auch  60,  90.  91; 
III  37.  58.  80.  —  Die  Acta  diurna  hat  Tac.  gleichfalls,  wenn  auch 
nicht  so  häufig  verwendet,  vielleicht  für  Schilderung  von  Stadtereignissen, 
wie  der  Einzug  des  Vitellius  oder  die  Grundsteinlegung  des  Kapitols. 
Daß  an  solchen  Stellen  der  „Berichterstatterstil"  noch  erkennbar  sein 
soll,  setzt  eine  unglaublich  feine  Witterung  voraus.  —  Daß  Tac.  in 
seinen  Berichten  über  Senatsverhandlungen  vorzugsweise  ausführlich  ist, 
ein  wärmeres  Interesse  dafür  beweist  als  andere  Autoren,  daß  er  des- 
halb nicht  selten  auch  Tatsachen  von  geringerer  allgemeiner  Bedeutung 
erwähnenswert  findet,  das  erklärt  sich  aus  seiner  hohen  Meinung  von 
den  Pflichten  und  der  Würde  des  Senats.  Darum  kann  es  auch  nicht 
sonderlich  befremden,  wenn  er  viele  genaue  Nachrichten  über  den 
Senat  und  seine  Tätigkeit  bringt,  die  „bei  Plutarch  entweder  voll- 
ständig fehlen  oder  nur  mangelhaft  wiedergegeben  sind"  (Gr.  S,  714; 
vgl.  772).  Der  vom  Verf.  hieraus  gezogene  Schluß  —  und  damit  gehen 
wir  zu  den  literarischen  Quellen  über  — ,  „daß  Plutarch  die  taci- 
teische  Schrift  nicht  benutzt  haben  kann",  wäre  nur  dann  statthaft, 
wenn  zwischen  beiden  Autoren  hinsichtlich  ihrer  Persönlichkeit,  Lebens- 
stellung, ihrer  Studien  sowie  der  Anlage  und  Tendenz  ihrer  Schöpfungen 
größere  Ähnlichkeit  obwaltete,  als  tatsächlich  der  Fall  ist.  So  aber 
erklärt  sich  manche  Divergenz  ganz  einfach;  daß  z.  B.  Plut.  nichts 
bekannt  ist  von  den  ehrgeizigen  Hoffnungen  des  Suet.  Paulinus,  welche 


46  Bericht  über  die  Tacitusiiteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

Tac.  II  37  erwähnt  (Gr.  S.  756).  Dieses  selbe  Kapitel  ist  übrigens 
so  reichlich  mit  rhetorischem  Schmuck  ausgestattet,  daß  aus  einzelnen 
Wendungen  kein  bestimmter  Schluß  auf  die  Herkunft  dieser  oder  jener 
Angabe  gemacht  werden  darf.  So  möchte  ich  in  den  W.  pavore  belli  (37, 1), 
die  ohnehin  mit  qui  pacem  belli  amore  turbaveraut  in  gewissem  Wider- 
spruch stehen,  nichts  weiter  als  eine  rhetorische  Amplifikation  sehen, 
wie  sie  Tac,  häufig  anwendet  auch  in  Fällen,  wo  ganz  klar  ist,  daß 
nur  die  zweite  formelle  Alternative  seiner  eigentlichen  Meinung  ent- 
spricht. Ob  er  an  dieser  Stelle  den  ersten  Teil  der  Motivierung  einer 
anderen  Vorlage  entnommen,  wie  Gr.  behauptet,  halte  ich  trotz  den 
W.  invenio  apud  quosdam  auctores  keineswegs  für  ausgemacht. 

Die  Beantwortung  der  Frage,  woher  die  auffallenden  Ähnlich- 
keiten in  der  Darstellung  Plutarchs  (Galba  und  Otho)  und  Tacitus* 
(h.  I  u.  II)  entsprungen  sein  mögen  —  es  wird  im  folgenden  noch 
davon  zu  handeln  sein  —  hängt  nicht  zum  wenigsten  auch  von  gewissen 
chronologischen  Momenten  ab,  die  mit  dem  plinianischen  Briefwechsel 
in  Beziehung  stehen.  Daß  die  unstreitbar  nahe  Verwandtschaft 
zwischen  vielen  Stellen  der  beiden  Autoren  nur  von  der  Benutzung 
einer  gemeinsamen  Hauptquelle  herstammen  sollte,  ist  ebensowenig 
wahrscheinlich  wie  Groags  Annahme,  jenes  bis  jetzt  anonyme  Werk  sei 
für  Plutarch  einzige  Quelle  gewesen.  —  Im  übrigen  kommt  Gr.  zu 
dem  Ergebnis,  daß  Tacitus  wenigstens  sich  nicht  durchweg  einer  Vor- 
lage angeschlossen,  vielmehr  mit  kritischem  Blick  abwechselnd  bald 
dieser,  bald  jeuer  den  Vorzug  gegeben  habe,  wie  sie  ihm  am  zuver- 
lässigsten und  ergiebigsten  scheinen  mochten.  Fast  ausschließlich  auf 
Grund  der  gemeinsamen  Vorlage  seien  verfaßt  h.  I  13,  21 — 26,  80  —  82; 
n  39—44;  zum  größten  Teil  gehen  auf  sie  zurück  die  Schilderungen 
I  29—47;  71 — 79,  85—90.  —  Über  die  Vorgänge  bei  den  germanischen 
Heeren  ist  Tac.  selbstverständlich  meistens  weit  besser  unterrichtet  als 
der  Grieche,  der  von  der  Westhälfte  des  Reiches  überhaupt  wenig 
weiß.  Manche  Ungenauigkeiten  Plutarchs  und  Abweichungen  von 
Tacitus,  bei  sonstiger  Übereinstimmung,  erklären  sich  wohl  auch  daraus, 
daß  jener  den  Galba  und  Otho  teilweise,  wie  Fabia  annimmt,  aus  dem 
Gedächtnis  niedergeschrieben  hat.  —  Von  Sueton  glaubt  Gr.,  im  Gegen- 
satz zu  Fabia,  daß  er  seine  Lebensbilder  (des  Galba,  Otho  und  Vitellius) 
der  Hauptsache  nach  aus  der  gemeinsamen  Quelle  des  Tac.  und  Plutarch, 
aus  Tacitus  selbst  und  mindestens  noch  aus  einem  dritten  Bericht  zn- 
sammeugestellt  habe. 

Wer  war  nun  der  gemeinsame  Gewährsmann?  Gr.  beantwortet 
zuerst  die  Frage:  wer  kann  es  nicht  gewesen  sein?  Kein  Senator, 
kein  Militär,  kein  Biograph.  Cluvius  ßufus  scheine  durch  Nissen  ond 
Fabia    abgetan    zu  sein;    was  diese  beiden  Gelehrten    für  Plinius  als 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolfif.)  47 

Hauptquelle  vorgebracht,  sucht  Gr.  nicht  ohne  Geschick  zu  widerlegen. 
Vipstanus  Messalla  habe  vermutlich  kein  umfangreiches  Werk  ge- 
schrieben, sich  vielmehr  auf  den  Kampf  zwischen  Vitellius  und  den 
Flaviancrn  beschränkt  und  hierfür  dem  Tacitus  allerdings  wertvolles 
Material  geliefert.  —  Der  Gewährsmann  muß  dem  Otho  persönlich  nahe 
gestanden  haben,  den  Plaviern  freundlich  gesinnt  gewesen  sein;  die 
Schreckenstage  des  J.  69  scheint  er  in  Rom  erlebt  zu  haben.  — 
Schließlich  tritt  Gr.  mit  der  schüchtern  geäußerten  Vermutung  hervor, 
daß  das  Geschichtswerk  des  Fabius  Rusticus,  das,  wie  er  glaubhaft 
machen  möchte,  bis  zu  den  Anfängen  der  Flavier  gereicht  hat,  die  gemein- 
same Vorlage  für  Tacitus  und  Plutarch  gebildet  habe  —  also  eine  neue 
Konjektur,  die  aber  nicht  größeren  Anspruch  auf  Anerkennung  erheben 
darf,  als  die  meisten  übrigen.  —  In  manchen  Einzelheiten  der  Text- 
auslegung scheint  mir  Gr.  das  Richtige  nicht  getroffen  zu  haben;  ich 
habe  sie  s.  Z.  in  der  Woch.  f.  kl.  Philol.  1898  Nr.  43  besprochen. 
Vgl.  auch  K.  Niemeyer,  Berl.  phil.  \Vs.  1897  S.  1296,  und  G.  An- 
dresen,  JB.  24,  305—308.  — 

17.  Fr.  Münzer,  Die  Quelle  des  Tacitus  für  die  Germanen- 
kriege.    Bonner  Jahrbücher  104  (1899)  S.  67—111. 

Schon  die  Überschrift  dieser  gehaltvollen  Abhandlung  zeigt,  wie 
ihr  Verfasser  prinzipiell  über  die  Grundlage  der  in  Frage  stehenden 
Schilderungen  urteilt,  für  die  uns  leider  die  Kontrolle  sehr  erschwert 
ist.  Daß  für  die  Taciteische  Darstellung  der  Germanenkriege  Plinius 
mit  seinen  Bella  Germanica  mindestens  als  eine  wichtige  Quelle  in 
Betracht  kommt,  diese  Ansicht,  sagt  M.,  dürfe  als  allgemein  verbreitete 
gelten,  nur  sei  sie  im  einzelnen  nicht  hinreichend  begründet  und  be- 
wiesen worden,  auch  nicht  von  Fabia  in  seiner  preisgekrönten  Schrift 
über  die  Quellen  des  Tacitus.  Um  nun  den  Wahrscheinlichkeitsbeweis 
zu  führen  —  mehr  läßt  sich  vorläufig  beim  besten  Willen  nicht  er- 
reichen — ,  daß  Plinius  auf  dem  bezeichneten  Gebiet  die  Hauptquelle ^) 
gewesen,  greift  M.  die  Sache  in  sehr  geschickter  und  gründlicher  Weise 
an.  Er  zeigt  zunächst,  wie  die  militärische  und  literarische  Tätigkeit 
des  PI.  zusammengingen,  wie  dieser,  dem  Beruf  als  Reiteroffizier  eifrig 
ergeben,  den  Beifall  seines  obersten  Kriegsherrn,  des  Kaisers  Claudius, 
sowohl  im  Felddienst  als  auch  durch  schriftstellerische  Leistungen 
sich  zu  verdienen  bestrebt  gewesen.  Auch  ohne  den  Hinweis  auf  das 
angebliche  Traumgesicht  läge  es  nahe,  daß  der  Autor  PI.  sich  die  Ver- 
herrlichung   von  Vater    und  Bruder    des  Kaisers    besonders   angelegen 


^)  Außer  Nissen  hätte  M.  auch  Clasons  Erwähnung  tun  sollen,  der 
in  s.  beiden  tüchtigen  Arbeiten  „Plutarch  und  Tacitus"  und  „Tacitus  und 
Sueton"    (S.  62  f.  88  ff.)   den  Plinius  als  histor.  Quelle  gut  charakterisiert. 


48  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

sein  ließ,  znmal  seit  die  jüngere  Agrippina  als  Gattin  des  Claudius 
„Regierende"  geworden  war.  Es  weisen  aber  auch  einzelne  Notizen 
darauf  hin.  Der  verlustreiche  Sieg  des  Drusus  bei  Arbalo  im  Chauken- 
lande,  wo  die  Römer  in  einen  Hinterhalt  gefallen  waren,  wird  von  PI. 
n.  li.  11,  55  ohne  Einschränkung  mit  „prosperrime  pugnatum"  bezeichnet; 
allerdings  lag  in  diesem  Zusammenhang  kein  Anlaß  vor,  den  Gang  des 
Ereignisses  näher  zu  beschreiben.  "Wichtiger  ist,  daß  die  beiden  einzigen 
(bei  Tacitus  ann.  1,  69  und  Suet.  Cal.  8)  erhaltenen  Bruchstücke  der 
Bella  Germanica  gerade  von  der  Familie  des  Germanikus  handeln.  Auch 
ann.  1,  41  und  44  glaubt  M.  Abhängigkeit  von  Plinius  als  sicher  an- 
nehmen zu  dürfen.  Was  freilich  die  von  Suetons  Angaben  abweichende 
Nachricht  über  den  Geburtsort  des  Caligula  betrifft,  so  liegt  keine 
zwingende  Veranlassung  vor,  die  "Worte  in  castris  genitus  (1,  41)  auf 
Plinius  zurückzuführen;  Tacitus  folgte  wohl  unmittelbar  einer  auch  sonst 
verbreiteten  volkstümlichen  Tradition  (s.  Nipp,  zu  1,  41,  4),  nach  welcher 
Caligula  nicht  in  Italien  geboren  war,  sondern  im  Rheinlande,  das,  wie 
M.  richtig  hervorhebt,  im  weitesten  Sinne  damals  als  „castra"  bezeichnet 
werden  konnte.  —  Liebenam  und  Fabia  schlössen  aus  der  singulären 
Antührung  ann.  1,  69  —  und  die  Art  der  Erwähnung  spricht  dafür  — , 
daß  Tac.  den  Pliu.  nur  als  Nebenquelle  herangezogen  haben  werde;  dies 
gibt  M.  für  die  Regierung  des  Tiberius  überhaupt  zu,  nicht  aber  für  die 
germanischen  Kriege.  Hier  mußte  dem  Tac.  eine  solche  Spezialschrift 
ebenso  willkommen  sein,  wie  für  die  ersten  Bücher  der  Historien  die 
Aufzeichnungen  des  Vipstanus  Messalla.  —  Daß  in  der  Frage  nach 
dem  Ursprung  der  Germanen  (G.  2)  der  "Widerspruch  des  Tac.  sich 
gegen  eine  von  Plin.  in  den  Bella  Germ,  vertretene  Hypothese  richtet, 
ist  recht  wohl  möglich,  —  "Volle  Beachtung  verdient,  was  M.  über  G.  3 
ceterum  et  Ulixen  .  .  .  Asciburgium  sagt:  „Epigraphische  Studien 
im  Rheinlande  während  des  1.  Jahrhunderts  waren  etwas  so  Außer- 
gewöhnliches, daß  wir  sie  nicht  wohl  verschiedenen  Personen  zuschreiben 
dürfen;  kein  Römer  aber  hat  so  viele  Inschriften  benutzt  und  kopiert 
als  gerade  Plinius."  Auf  germanische  Inschriften  wird  auch  Suet.  Tit.  4 
verwiesen,  wo  ebenfalls  die  Benutzung  des  Plin.  höchst  wahrscheinlich 
ist;  denn  dieser  war  Kriegskamerad  des  jugendlichen  Titus  und  hat  in 
dem  Geschichtswerk  auch  jene  Zeit  behandelt,  wo  Titus  als  Kriegstribun 
in  Germanien  und  in  Britannien  diente  (57  n.  Chr.). 

Diese  dankenswerten  Zusammenstellungen  gestatten  natürlich  noch 
keine  weitgehenden  Schlüsse.  Wertvoller  ist,  daß  des  Plinius  Auf- 
enthalt im  Chaukengebiet  und  in  anderen  Teilen  Westdeutschlands  nach 
Zeit  und  Gelegenheit  sich  ziemlich  sicher  feststellen  läßt.  Als  24jähriger 
Reiteroffizier  hat  er  an  dem  Zuge  des  Cn.  Domitius  Corbulo  im  J.  47 
teilgenommen  und  vermutlich  bald  nachher  sein  historisches  Werk  be- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  49 

gönnen.  Daß  Tac.  seinen  Bericht  über  diesen  Feldzug  aus  Plinius 
geschöpft  habe,  ist  sehr  glaublich.  M.  erinnert  (S.  74)  noch  an  einzelne 
Notizen  der  Naturgeschichte  (16,  51;  16,  103;  10,  54;  22,  8),  die  diesen 
Bericht  ergänzen  und  erläutern,  ohne  daß  Widersprüche  darin  zutage 
träten.  Er  nimmt  übrigens  an,  Tac.  habe  die  Bella  Germ.,  in  denen 
PI.  auf  die  Verhältnisse  des  inneren  Deutschlands  nicht  eingegangen  sei, 
erst  später,  für  die  Eist,  und  Ann.,  herangezogen.  Auffallend  bleibt 
es  immerhin,  daß  Tac,  der  ann.  11,  19  von  den  maiores  Chauci  als 
etwas  Bekanntem  spricht,  gerade  in  der  Monographie  über  Germanien 
die  Zweiteilung  der  hier  ausführlich  behandelten  Chauken  (im  Gegen- 
satz zu  den  Friesen  K.  34)  nicht  erwähnt,  auch  sonstiges  Detail  aus 
Plin.  nicht  benutzt  hat.  —  Die  Einführung  der  Friesen  (ann.  11,  19) 
knüpft  unmittelbar  an  den  Bericht  4,  72  f.  an;  auch  hier  darf  nach 
M.s  Ansicht  Benutzung  des  PI.  angenommen  werden.  —  Ein  wichtiger 
innerer  Grund  aber  vor  allem  mußte  bestimmend  sein  für  die  Bevor- 
zugung der  plinianischen  Darstellung  jenes  Krieges:  ihre  größere  Auf- 
richtigkeit im  Gegensatz  zu  den  früher  veröffentlichten  Schriften  von 
Zeitgenossen,  die  auf  Tiberius  Rücksicht  zu  nehmen  und  römische  Miß- 
erfolge zu  beschönigen  gehalten  waren.  Mit  der  Expedition  Corbulos 
und  der  von  Claudius  angeordneten  Zurückziehung  der  römischen  Truppen 
aufs  linke  Rheinufer  (47  n.  Chr.)  schloß  vermutlich  die  Schilderung  der 
Gerraanenkriege  ab,  und  einige  Jahre  später  setzte  das  Werk  a  fine  Aufidii 
Bassi  ein,  das  die  Germauenkriege  unter  Nero  eingehend  behandelte.  — 
Die  Bekanntschaft  des  Plinius  mit  Germanien  beschränkte  sich, 
wie  üben  bemerkt,  nicht  etwa  auf  das  Chaukenland;  von  zwei  weit  ent- 
fernten Punkten  innerhalb  der  germ.  Militärgrenze,  dem  Mündungs- 
gebiet des  Rheins  und  dem  Quellgebiet  der  Donau  (n.  h.  12,  98  und 
31,  25),  hat  er  durch  Autopsie  (vgl.  auch  19,  145)  Kenntnis  gewonnen, 
und  sein  Buch  mußte  dem  Tac.  eine  willkommene  Quelle  sein.  Daher 
die  weitgehende  Übereinstimmung  zwischen  n.  h.  4,  79  und  Germ.  1^ 
Der  Mons  Abnoba  kommt  früher  nirgends  vor.  Eine  nachträgliche  Er- 
weiterung seines  Wissens,  Deutschland  betreffend,  bekundet  Tac.  (ähnlich 
wie  bei  der  Zweiteilung  der  Chauken)  durch  den  Bericht  über  Silber- 
bergbau im  Mattiakergebiet  (ann.  11,  10)  insofern,  als  die  Germania 
von  Erzschürfen  in  Deutschland  noch  nichts  weiß.  Jene  Notiz  schließt 
sich  an  den  Bericht  über  den  Zug  des  Corbulo  an,  demnach  wird  auch 
hier  Tac.  demselben  landeskundigen  Gewährsmann  gefolgt  sein,  d.  h.  dem 
Plinius,  der  allein  (.^1,  20)  von  den  heißen  Quellen  des  Mattiakerlandes 
berichtet  hat.  Nach  M.s  ansprechender  Kombination  dürfte  PI.  kurze 
Zeit  nach  47  in  die  dortige  Gegend  gekommen  sein,  und  zwar  gelegentlich 
des  Cbattenfeldzugs  (ann.  12,  27),  den  sein  vertrauter  Freund,  der  Legat 
Obergermaniens,  P.  Pomponius  Secundus,  im  J.  50  unternahm. 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.   Bd.  CXXI.    (1904.   IL)  4 


50  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

"Während  Neros  Regierung  scheint  PL,  wohl  unfreiwillig  von 
amtlicher  Tätigkeit  fern,  vorwiegend  seinen  wissenschaftlichen  Studien 
gelebt  zu  haben.  Doch  macht  M.  auf  Indizien  aufmerksam,  die  auf 
einen  zweiten  Aufenthalt  des  PI.  in  Germanien  im  Jahre  57  (und  58?) 
schließen  lassen.  In  der  Naturgeschichte  33,  143  und  34,  47  zeigt  PI. 
eine  auffallend  genaue  Kenntnis  von  dem  Tafelgeschirr  zweier  in  Nieder- 
germanien stationierten  Personen,  des  Porapeius  Paulinus,  der  bis  Mitte 
57,  und  des  Duvius  Avitus,  der  von  diesem  Termin  an  dort  Kommandant 
war.  Dazu  kommen  Anspielungen  auf  den  ersten  Kriegsdienst  des 
Titus,  bei  Tacitus  (h.  II  77)  und  Sueton  (Tit.  4),  sowie  die  Schilderung 
der  Salzgewinnung  bei  den  Germanen  (ann.  13,  57  und  n,  h.  31,  82). 
Sollte  übrigens  nicht  auch  der  unmotivierte  Exkurs  über  den  Moorbrand 
bei  Köln  und  die  dagegen  angewendeten  sonderbaren  Löschraittel  von 
dem  Kuriositätenfreuud  Plinius  stammen?  M.  erinnert  noch  an  den  „fer- 
tilissimus  ager"  Ubiorum  (n.  h.  17,  47)  und  „fecundissimum  hoc  solum" 
(h.  IV.  73). 

Für  die  Schilderung  der  Gerraanikuszüge  (ann.  1  und  2)  vor 
allem  konnte  Plinius  nicht  nur  durch  seine  eigene  Kenntnis  "West- 
deutschlands ein  zuverlässiger  Gewährsmann  sein,  sondern  auch  dadurch, 
daß  er  in  der  Lage  war,  von  Teilnehmern  und  Augenzeugen  authentische 
Nachrichten  über  die  Vorgänge  zu  erhalten.  Und  ich  möchte  glauben, 
daß  überhaupt  ein  recht  erheblicher  Teil  jener  lebendigen  Schilderungen 
dem  Kerne  nach  aus  dem  Munde  des  Plinius,  wenn  auch  meist  durch 
das  Medium  des  Neffen,  dem  Tacitus  zugeflossen  ist,  daß  das  „saepe  ex 
eo  audivi"  (im  Agr.)  seine  Bedeutung  auch  für  die  Historien  und 
Annalen  gehabt  haben  wird. 

In  dem  zweiten  Abschnitt:  Die  Vorgeschichte  des  Bataver- 
krieges, zeigt  Münzer  sehr  geschickt,  wie  die  meisten  der  von  den 
batavischen  Auxilien  handelnden  Stelleu  der  ersten  Historienbücher  in 
einem  engen,  sogar  äußerlich  bezeichneten  Zusammenhang  stehen,  der 
eine  besondere  Vorlage  vermuten  läßt:  I  58  f.  Hinweis  auf  die  künf- 
tige Bedeutung  der  8  Batavischen  Kohorten  (et  erant— adversae  von 
Tac.  eingeflochtene  Notiz);  K.  64  Gewalttätigkeiten  der  Bat.  im  Lin- 
gonenlande;  II  27 — 29  wird  das  von  ihnen  Gesagte  wiederholt  und  ver- 
vollständigt, ihre  Wichtigkeit  erneut  hervorgehoben.  Tac.  hat  den  zu- 
sammenhängenden Bericht  seiner  Vorlage  stückweise,  nach  dem  Bedarf 
der  sjm chronistischen  Darstellung,  benutzt.  Die  Deutlichkeit  erforderte 
Wiederholungen  und  Verweisungen.  II  66  treten  die  Bat.  wieder  auf; 
Revolte  in  Turin,  68  in  Ticinum;  69  nach  Germanien  zurückgeschickt. 
Hindeutung  auf  den  Bataveraufstand  (principium — fatis).  Hier  bricht 
Tac.  die  Mitteilungen  von  den  Taten  und  Schicksalen  der  8  Kohorten 
ab,    er    knüpft    auch    IV  12    nicht    etwa  an  deren  Zurücksenduntj  an^ 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189fi-1903.    (Wolff.)  51 

sondern  beginnt  nach  kurzer  Einleitung  die  Geschichte  des  Aufstandes 
mit  der  Schilderung  des  Führers,  der  Ursachen  der  Empörung  usw.  — 
K.  15,  wo  von  der  Gesandtschaft  au  die  Kaninefaten  die  Rede  ist, 
fällt  ein  den  glatten  Fluß  der  Erzählung  unterbrechender  Satz  auf: 
mox — agentes;  er  weist  mit  mox  auf  einen  späteren  Zeitpunkt  hin  und 
knüpft  unmittelbar  an  II  69  an  (reraissae,  hier  :  missae) ;  tum  Mog.  agentes 
ist  als  etwas  Neues  hinzugefügt.  Der  ganze  Passus  bildet  einen  der 
Schilderung  des  Aufstandes  eingefügten  fremdartigen  Bestandteil,  wie 
das  Folgende  zeigt.  Denn  schon  in  seiner  Rede  K.  17  antizipiert  Civilis 
den  Übertritt  der  8  Veteranenkohorten,  der  als  vollendete  Tatsache 
erst  K.  21,  nachdem  die  Erlebnisse  jener  Truppen  in  der  Zwischenzeit 
dargestellt  sind,  berichtet  wird.  Eine  andere  Inkongruenz  zwischen 
IV.  15  und  19  tritt  darin  hervor,  daß  dort  nur  von  den  bestimmten 
(8)  Bataverkohorten  die  Rede  ist,  hier  dagegen  Bataver  und  Kanine- 
faten auftreten.  Drittens  erscheinen  die  Kohorten ,  die  bis  dahin 
(K.  15)  aus  Italien  nach  Germanien  marschierten,  nun  (K.  19)  in  ent- 
gegengesetzter Bewegung  begriffen.  Man  kann  sich  zwar,  wie  M.  zeigt, 
bei  einiger  Kombinationsgabe  mit  diesen  kleinen  TJngenauigkeiten  un- 
schwer abfinden,  nichtsdestoweniger  stellen  sie  einen  Mangel  dar,  der 
sich  nur  durch  die  erwähnte  Annahme  erklären  läßt,  daß  nämlich 
Tacitus  zwei  etwas  voneinander  abweichende  Berichte  zusammengearbeitet 
hat.  Die  Notizen  über  die  Bataverkohorten  (h.  I  und  11)  und  die 
Einschaltung  IV  15  lassen  den  Bataveraufstand  seinem  Ursprung  nach 
als  einen  „Krieg  der  Soldaten  zweiter  Klasse  gegen  die  erster"  er- 
scheinen (Mommsen,  R.  G.  V  129),  der  sich  erst  später  mit  einem 
äußeren  Kriege  verquickte.  Der  Ursprung  dieser  Überlieferung  ist 
apokryph.  Die  Schilderung  des  4.  und  5.  Buches  hingegen  stellt  die 
Empörung  als  „Germanenkrieg"  hin,  wie  ihn  auch  der  an  seiner  Be- 
wältigung beteiligte  Frontin  genannt  hat.  ,,Der  Autor  dieser  Schilderung," 
sagt  M.,  „läßt  sich  mit  Sicherheit  (?)  bestimmen;  es  ist  Plinius." 
Dafür  spreche  erstens  die  Vertrautheit  mit  dem  Schauplatz  der  Ereig- 
nisse und  zweitens  die  politische  Tendenz,  genauer  die  politische  Beur- 
teilung des  Aufstandes.  —  M.  legt  großes,  m.  E.  zu  großes  Gewicht 
auf  die  gelegentliche  Erwähnung  der  Schwimmkunst  der  batavischen 
Reiter  (ann.  2,  8  und  11).  Diese  ihre  Kunst  war  doch  ziemlich  allgemein 
bekannt  (Dio  55,  24;  epit.  69,  9),  und  wenn  auch  ann.  14,  29  und 
Agr.  18  kühne  Schwimmer  unter  den  römischen  Auxiliaren  erwähnt 
werden,  so  errieten  die  Leser  des  Tac.  leicht,  daß  es  meistens  Bataver 
gewesen.  Weshalb  hier  der  Berichterstatter  (Agricola)  sich  „gegen  die 
ausdrückliche  Anerkennung  von  deren  Tüchtigkeit  gesträubt"  haben 
sollte,  da  er  doch  Agr.  36  den  batavischen  Kämpfern  reiches  Lob  zollt, 

ist    schwer    einzusehen.     Angesichts    der  ,, alten  Bundesgenossenschaft" 

4* 


52  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (WolfiF.) 

darf  bei  römischen  Beamten  und  Offizieren  einige  Vertrautheit  mit  Land 
und  Volk  der  Bataver  als  selbstverständlich  vorausgesetzt  werden;  sie 
ist    demnach  als  Kriterium   in  der  Quellenfrage  nicht  zu  überschätzen. 

Um  den  Ursprung  des  ,, zweiten"  Kriegsberichts  genauer  fest- 
zustellen, beleuchtet  M.  die  sachlich  übereinstimmenden  Darstellungen, 
die  Tacitus  und  Plutarch  von  dem  Entscheidungskampf  zwischen  Otho 
und  Vitellius  gegeben  haben.  Zu  den  auffälligsten  Übereinstimmungen  (die 
wiederum  deutliche  Beziehungen  mit  h.  IV,  12  aufweisen)  beider  Autoren 
zählt  er  die  von  Batavern  handelnden  Episoden:  h.  II,  35  —  Plut. 
Otho  10  a.  E.  und  h.  II,  43  =  Otho  12;  Stellen,  die  jedoch  mit  den  oben- 
erwähnten Notizen  von  den  batavischen  Kohorten  nichts  zu  tun  haben. 
Die  gemeinsame  Quelle  (d.  h.  Piinius)  mache  sich  u.  a.  darin  geltend, 
daß  beide  Schriftsteller  an  den  ersterwähnten  Stellen  von  ,, Germanen'' 
schlechthin,  an  den  letzten  von  ,, Batavern"  reden,  daß  ferner  der  Name 
des  Führers  gleichmäßig  gegeben  sei:  Varus  Alfenus,  während  Tac. 
sonst  (5  mal)  die  „richtige"  (?)  Namensform  biete.  Hier  scheint  mir 
M.  etwas  voreilig  geschlossen  zu  haben.  Bekanntlich  verfährt  Tac.  in 
bezug  auf  die  Namenfolge  sehr  frei:  Paetus  Thrasea  (5 mal),  Thrasea 
P.  (2 mal),  Quintilius  Varus  (5 mal),  Varus  Qu.  (Imal),  Arulenus 
Rusticus  und  Rusticus  Ar.  (je  1  mal)  usw.  Darf  man  da  dem  anerkannten 
Sprachkünstler  unterstellen,  er  habe,  gleich  Plutarch,  die  etwas  seltenere 
"Wortfolge  einer  gemeinsamen  Vorlage  entnommen,  er  habe  ferner,  mit 
der  Bezeichnung  Germani  und  Batavi  mechanisch  wechselnd,  Piinius 
nachgeschrieben  ?  Spricht  jene  Übereinstimmung  in  Kleinigkeiten  nicht 
vielmehr  dafür,  daß  Plutarch  die  Historien  (I  und  II  wenigstens)  vor 
Augen  hatte  und  eben  wegen  seiner  geringeren  Bekanntschaft  mit  dem 
römischen  Westen  sich  hier  dem  Wortlaut  der  Quelle  enger  anschloß, 
als  er  sonst  zu  tun  pflegte?  — 

Zu  dem  h.  IV,  12  von  den  Batavern  Gesagten  tritt  ergänzend  die 
IV,  15  gegebene  wichtige  Notiz  über  die  Kaninefaten,  die  in  der 
Germania  gar  nicht  genannt  sind.  Nur  zwei  römische  Autoren  über- 
haupt wissen  von  ihnen  zu  berichten:  Piinius  und  Velleius;  denn  die 
römische  Militärverwaltung,  nicht  die  Wissenschaft,  machte  den  Unter- 
schied zwischen  Batavern  und  Kaninefaten.  Die  Stellen  Tac.  ana. 
4,  73  und  11,  18  gehen  um  so  sicherer  auf  Plin.  zurück.  Vgl.  auch  n. 
h.  4,  101.  —  Ahnlich  steht  es  mit  den  Cugerni,  den  Marsaci,  den 
Sunuci;  auch  ihre  Namen  begegnen  außer  auf  Inschriften  nur  bei  Plin,  und 
Tac,  und  bei  diesem  wieder  nicht  in  der  Germania,  sondern  erst  h.  IV, 
26  (V,  16,  18)  bzw.  IV,  56  und  IV,  66.  —  Tac.  bekundet  die  gleiche 
Vorstellung  von  den  Wohnsitzen  jener  Stämme  wie  Piinius,  der  durch 
längeren  Aufenthalt  in  niederrheinischen  Stantlquartiereu  (wie  Asciburg 
und  GelüLiba)  genauere  Landeskunde  erworben  haben   wird.     Ihm  ver- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  53 

dankt  Tac,  meint  M.,  den  im  Gegensatz  zu  seinen  sonstigen  Schilde- 
zungen kriegerischer  Ereignisse  ,, klaren  und  brauchbaren"  Bericht  über 
den  Bataveraufstand. 

Übereinstimmend  mit  Nissen  findet  M.  eine  wesentliche  Bekräfti- 
gung seiner  Ansichten  in  den  engen  persönlichen  Beziehungen  des 
Pliuius  zur  flaviscben  Dynastie,  deren  staaterrettendes  Walten  zu  preisen 
und  gegen  Verdächtigungen  zu  verteidigen,  sei  es  auch  nur  bei  der 
Nachwelt,  er  als  seine  literarische  Aufgabe  betrachtete.  Nun  hatte  der 
Bataverfüist  Civilis  sich  als  alten  Freund  und  Parteigänger  Vespasians 
hingestellt,  auch  von  Briefen  des  Antonius  Primus  gesprochen,  durch 
die  er  gegen  die  Vitellianer  aufgestachelt  worden;  um  so  nachdrück- 
licher suchten  deshalb  die  Kreise,  aus  denen  des  Tacitus  Informationen 
geflossen  sein  werden,  die  Empörung  der  Bataver  als  Germanicum 
bellum  zu  qualifizieren.  Gegen  Antonius  aber,  der  neben  Hordeonius 
Flaccus  für  den  Aufstand  verantwortlich  gemacht  wurde,  erhob  sich 
später  auch  die  Beschuldigung,  die  Zerstörung  Cremonas  verursacht  zu 
haben.  Die  siegreiche  Sache,  so  deduziert  M.,  brauchte  einen  Sünden- 
bock,  auf  den  man  gehässige  Handlungen  der  Drangperiode  abladen 
konnte,  und  diese  Tendenz,  die  gegen  den  trotzigen,  unbequemen 
Antonius  gerichteten  Bestrebungen  (Mucians  u.  a.),  kommen  auch  in 
jener  Anklage  zum  Ausdruck,  die  Plinius,  im  Gegensatz  zu  Vipstanus 
Messalla,  gegen  Antonius  erhoben  hat  (h.  III  28). 

Kleine  Widersprüche  zwischen  der  Darstellung  im  4,  und  im  2.  Buche 
(K.  86  und  97)  der  Historien  in  bezug  auf  die  Beteiligung  der  Provinzial- 
truppen  am  Kriege  lösen  sich  bei  Annahme  verschiedener  Quellen. 

In  einem  Anhang:  Die  prokuratorische  Laufbahn  des  älteren 
Plinius,  zeigt  M.,  daß  der  Autor  auch  in  der  Zeit  nach  dem  Bataver- 
krieg Gelegenheit  gehabt  hat,  sich  über  die  Geschichte  des  Aufstandes 
genauer  zu  unterrichten,  und  zwar  nimmt  er  an,  daß  PI.  im  J.  70  als 
kais.  Prokurator  in  der  Narbonensis  (n.  h.  2,  150;  14,  43),  im  J.  74 
in  der  Belgica  (n.  h.  18,  183)  geweilt  habe.  — 

Nicht  alle  von  M.  vorgebrachten  Beweismomente  sind  überzeugend; 
in  einigen  untergeordneten  Fragen  hat  er  fehlgegriffen;  in  ihrer  Ge- 
samtwirkung aber  hat  die  verdienstliche  Abhandlung  den  sachlichen 
Anteil  des  Plinius  an  der  taciteischen  Darstellung  der  Germanenkriege  in 
ein  helleres  Licht  gerückt  und  als  umfänglicher  bewiesen,  als  die  meisten 
Forscher  bisher  zugeben  wollten.  —  Vgl.  Andresen,  JB.  26,  238  ff. 

18.  Benno  Imendörffer,  Beiträge  zur  Quellenkunde  der 
sechs  letzten  Bücher  der  Annalen  des  Tacitus.  Progr. 
Brunn  1901.     22  S. 

Daß  unser  Wissen  über  die  literarischen  Quellen  des  Tacitus  — 
auf  solche  beschränkt  sich  der  Aufsatz  —  wenig  mehr  ist  als  Stückwerk» 


j54  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

daß  selbst  die  Vermutungen  hier  auf  schwachen  Grundlagen  beruhen 
und  wir  uns  meistens  mit  Möglichkeiten  und  "Wahrscheinlichkeiten  be- 
scheiden müssen  —  mit  diesem  Zugeständnis  beginnt  der  Verf.  seine 
Untersuchung,  in  der  er  sich,  wie  nach  dem  Gesagten  begreiflich  ist, 
häufig  gegen  Fabias  bekannte  Abhandlung  wendet.  —  Zuerst  spricht  I. 
von  den  im  zweiten  Teil  der  Annalen  namentlich  angeführten  Schrift- 
stellern: Cluvius  ßufus,  Fabius  Rusticus,  Plinius  d.  A.,  die  auffallender- 
weise meist  nur  da  genannt  würden,  wo  sie  von  dem  „Consensus 
auctorum",  wie  13,  20,  abwichen.  Tacitus  scheine  hier  und  anderswo 
die  Verantwortung  für  nicht  vertrauenswürdige  Angaben  von  sich  ab 
und  jenen  Autoren  zuweisen  zu  wollen.  Überhaupt  hat  Imendörflfer, 
und  nicht  er  allein,  den  Eindruck  gewonnen,  daß  Tac.  die  Schriften  der 
3  Genannten  wohl  gekannt,  aber  kaum  in  größerem  Umfang  als  Quellen 
benutzt  habe.  Fabius  wird  zwar  von  Tac.  in  dessen  historischer  Erstlings- 
schrift (Agr.  10)  wegen  seiner  Darstellungskunst  anerkannt,  später  wird 
der  prüfende  Blick  die  Unzuverlässigkeit  dieses  Berichterstatters  erkannt 
haben,  der  denn  auch  15,  61  nur  ausnahmsweise  benutzt  ist,  und  zwar 
weil  er  als  vertrauter  Freund  Senecas  Authentisches  über  dessen  Ende 
mitteilen  konnte.  Noch  geringere  Meinung  scheint  Tac.  von  Plinius, 
wenigstens  von  seiner  Urteilskraft  gehegt  zu  haben.  Vgl.  Nipperdey, 
Einl.  und  ann.  15,  53;   13,  31;  n.  h.  16,  200;  19,  24. 

Ausgiebiger  verwertet  sind  augenscheinlich  Berichte  römischer  Feld- 
herren über  die  von  ihnen  selbst  geleiteten  Feldzüge.  In  betreif  des  Dom, 
Corbulo  stimmt  der  Verf.  mit  E.  Egli  (Feldzüge  in  Armenien  v.  41 — 63 
n.Chr.)  darin  überein,  daß  bei  Tac.  die  kriegerischen  Ereignisse  in  Armenien 
und  Parthien  (13,  7—9;  34-41;  14,  23—26;  15,  1—17;  25—31)  derart 
um  die  Gestalt  des  Corbulo  gruppiert  sind,  daß  ferner  die  Darstellung 
eine  so  lebendige  und  verhältnismäßig  einheitliche  ist,  daß  als  Haupt- 
gewährsmann der  General  selbst  gelten  darf,  wenngleich  Tac.  ausdrück- 
lich nur  15,  16  auf  seinen  Bericht  hindeutet.  Diesen  Bericht  hat  er 
übrigens  nicht  unbesehen  übernommen,  sondern  aus  einer  oder  der 
andern  Nebenquelle  —  möglicherweise  Licinius  Mucianus  —  ergänzt 
und  korrigiert.  —  In  ähnlicher  Weise  dürfte  Tac.  die  Memoireu  des 
Feldherrn  Suetonius  Paulinus  zur  Schilderung  der  Kriege  in  Britannien 
(14,  29—38)  verwendet  haben.  Vgl.  Peter,  die  gesch.  Lit.  I  203  Anm.  — 

Zu  einem  negativen  Ergebnis  kommt  I.  hinsichtlich  Corbulos 
Anteil  an  der  taciteischen  Schilderung  des  germanischeu  Krieges  (11, 
16 — 20),  und  zwar  einesteils  wegen  des  für  den  Oberfeldherrn  nicht 
eben  günstigen  Inhalts ,  andernteils  weil  die  Ausdrücke  ,,ferunt" 
und  ,,fama"  sowie  der  wiedergegebeue  Ausruf  Corbulos  ,,Beatos  quon- 
dam  duces  Romanos"  auf  verschiedene  Augen-  und  Ohrenzeugen 
schließen  lassen.    Auch  die  Schilderungen  zahlreicher  anderer  Kämpfe 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189G— 1903.     (WolflF.)  55 

in  den  Provinzen  scheinen  nicht  lediglich  auf  offiziellen  Kriegsberichten, 
sondern  auch  auf  persönlichen  Mitteilungen  von  Beteiligten  zu  beruhen; 
besonders  ausführlich  ist  die  Erzählung  12,  31 — 40.  — 

Der  anekdotenartige  Abschnitt  13,  53 — 57  könnte  möglicher- 
weise wohl  aus  Berichten  des  Legaten  Obergermaniens  L.  Vetus  ent- 
nommen sein,  der  seit  dem  J,  55  dort  kommandierte  und  mehrfach  von 
Plinius  als  Schriftsteller  zitiert  wird.  Wie  hoch  ihn  Tacitus  achtete, 
zeigt  ann.  16,  10—11.  Trotzdem  sollte  man  meinen,  daß  der  eigentüm- 
liche bunte  Inhalt  jenes  Abschnittes  eher  auf  den  Polyhistor  Plinius 
selbst  hinführe. 

Was  Tac.  von  Thrasea  erzählt  (16,  21  ff.),  stammt  nicht  ans 
Senatsakten,  sondern  im  wesentlichen  von  einem  Augen-  und  Ohren- 
zeugen der  entscheidenden  Senatsverhandlungen  und  der  letzten  Stunden 
des  Märtyrers;  daher  die  dramatisch  bewegte  Schilderung  und  der  fort- 
währende Wechsel  des  Schauplatzes.  Dieser  Zeuge  wird  Thraseas 
Freund  und  Verehrer  Arulenus  Rusticus  gewesen  sein,  dessen  Lobschrift 
Thraseas  wohl  in  mehr  als  einem  Exemplar  der  befohlenen  Vernichtung 
entgangen  und  von  Tac.  benutzt  sein  dürfte.  —  Eine  weitere  annehm- 
bare Vermutung  I.s  geht  dahin,  daß  manche  Mitteilungen  aus  Neros 
Umgebung  von  Seneca  herrühren,  dessen  Vertrauter  Fabius  Rusticus 
ihr  literarischer  Vermittler  gewesen  sein  möge.  —  Auch  die  Selbst- 
biographie des  Kaisers  Claudius  könne  für  das  11.  und  12.  Buch  der 
Ann.  einzelne  beachtenswerte  Tatsachen  und  Beobachtungen  geliefert 
haben;  vielleicht  seien  selbst  die  Spottverse  des  Antistius  (14,  48)  und 
die  „Codicilli"  des  Fabricius  Veiento  nicht   ganz  unbeachtet  geblieben. 

Den  auch  bei  Quintüian  mit  Anerkennung  erwähnten  Servilius 
Nonianus  bezeichnet  Tac.  (14,  19)  als  „tradendi.s  rebus  Rom.  celebris"; 
er  kann  mithin  für  die  vorneronische  Zeit  wohl  als  einer  der  von  Tac. 
benutzten,  aber  nicht  genannten  Autoren  in  Betracht  kommen,  ebenso 
Aufidius  Bassus,  den  I.  (nach  einer  Bem.  S.  19)  auszuschließen  scheint. 

Von  den  in  die  Erzählung  eingeflochtenen  Reden  nimmt  der  Verf. 
an,  daß  Tac. ,  wo  er  nicht  wirklich  zitiere,  einen  Anhalt  für  Inhalt  und 
Gedankengang  der  Rede  gewöhnlich  in  gut  verbürgter  schriftlicher  oder 
mündlicher  Überlieferung  (oft  durch  Ohrenzeugen)  gefunden  habe;  als  der- 
artige Stellen  bespricht  er  11,  2.  26.  30;  12,  2.  41;  13,  21. 

Daß  die  berüchtigten  Memoiren  der  Agrippina,  außer  etwa  13, 
14  und  21,  von  Tac.  so  viel  beachtet  worden  seien,  wie  gewöhnlich  an- 
genommen wird,  glaubt  I.  bezweifeln  zu  sollen,  um  so  mehr  als  Tac. 
überall  starken  Widerwillen  gegen  die  Verfasserin  kundgibt.  Die  Frage, 
woher  der  Bericht  über  die  merkwürdige  Unterredung  zwischen  Seneca 
und  Nero  (14,  53  —  56)  stammen  möge,  hat  I.  nicht  berührt;  vermut- 
licü    würde  er  sie  nicht  im  Sinne  Friedländers  (Der  Philosoph  Seneca; 


56  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189G— 1903.    (Wolff.) 

Hißt.  Ztschr,  49,  2.  S.  193  ff.)  beantworten,  daß  nämlich  die  Unterredung^ 
vor  Zeugen  stattgefunden  und  der  Kaiser  vielleicht  eine  offizielle  Be- 
kanntmachung angeordnet  habe,  um  sein  Verhalten  Seneca  gegenüber 
zu  rechtfertigen.  Jedenfalls  ist  der  Bericht  aus  sehr  intimer  Quelle 
geflossen. 

Aus    der   großen  Zahl    (28)    der    unbestimmten    Quellenhinweise 
(quidam,  alii  tradidere,  sunt  qui  Iradant  etc.),  deren  Häufigkeit  in  den 
einzelnen  Büchern  sehr  verschieden  ist,  schließt  I.  mit  Recht,  daß  Tac. 
eine  umfangreiche  Literatur  gekannt  und  wohl  auch  benutzt  hat.     Die 
Sorgfalt  und  Gründlichkeit  seiner  Arbeitsweise  werde  namentlich  durch 
zwei    lehrreiche  Stellen    bestätigt:    11,  27  haud  ignavus  sq.  und  14,  9 
sunt  qui  tradiderint,    sunt  qui    abnuant;    hier  habe  Tac,    wie  man  an- 
nehmen dürfe,  mindestens  4  verschiedene  Quellenschriftsteller  eingesehen. 
Schließlich    fragt  I.    nach    dem  Grunde,    warum  Tac.    so    selten 
seine  Gewährsmänner    nenne    und  sich    in  der  Regel  mit  dunkeln  An- 
deutungen begnüge,    und  findet    eine    ganz    plausible  Erklärung  darin, 
daß    der  Autor  häufig  wenigstens  durch  die  Natur  der   benutzten  Ur- 
kunden   und    vertraulichen  Mitteilungen    zu    einer  gewissen  Diskretion 
verpflichtet  war  oder    doch  sich  verpflichtet  hielt.     Er  schilderte  Vor- 
gänge, die  von  seiner  Zeit  teilweise  nur  durch  einen  kurzen  Zwischenraum 
getrennt  waren,  und  konnte  durch  Nennung  von  Namen  leicht  die  Ur- 
heber   seiner  Nachrichten    bloßstellen   und  schädigen.     Hiermit  trifft  I. 
meiner  Ansicht   nach  das  Richtige.  —  Vgl.  Andresen,    JB.  28,  280  f. 

19.  Eduard  Wölfflin,  Zur  Komposition  der  Historien 
des  Tacitus.  Separatabdr.  aus  den  Sitzungsberichten  der  philos.- 
philol.  und  der  histor.  Klasse  der  kgl.  bayer.  Akad.  d.  Wiss.  1901, 
Heft  I.  S.  3—52. 

Die  frei  und  selbständig  gestaltende  Kunst  des  Tac.  wird  hier 
von  einem  ihrer  besten  Kenner  in  helles  Licht  gestellt.  Nach  einigen 
Betrachtungen  über  römische  Annalistik  und  Biographie  sowie  über  des 
Tac.  Arbeitspläne  und  die  Gliederung  des  Stoffes  zeigt  W.  durch  eine  feine 
Analyse  den  Zweck  des  Vorworts  und  die  Notwendigkeit  der  Einleitung 
zu  den  Historien  (I  1—11),  die  in  ihrer  gedrängten  Form  einen  Ersatz 
bieten  solle  für  die  Erzählung  der  zwischen  Neros  Tod  und  dem  Neujahr 
69  liegenden  Ereignisse.  Zugleich  nimmt  der  Stilistiker  Gelegenheit, 
darauf  hinzuweisen,  wie  geschickt  Tac.  die  Tempora  für  seinen  Zweck 
verwendet:  das  Plusquamperfekt  „fuerat"  (12,  7),  dem  sich  eine  Reihe 
von  Imperfekten  beiordnet,  deutet  auf  das  J.  68,  noch  weiter  zurück 
deuten  die  Formen  egerat  und  deposuerat  (K.  13).  —  Daß  diese  Ein- 
leitung völlig  geistiges  Eigentum  des  Tac.  ist,  hat  ernstlich  wohl  niemand 
bestritten;    selbst  Nissen    war    ehrlich    und   inkonsequent  genug,    dem 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.)  57 

Autor  ,.das  Zeugnis  völliger  Originalität  und  vollendeter  Meisterschaft" 
nicht  vorzuenthalten,  wenigstens  für  den  ersten  Teil  der  Historien.  "Was 
man  in  Rom  nach  Neros  Tode  fürchtete  und  hoffte ,  welche  wichtigen 
Meldungen  in  der  stürmischen  Epoche  aus  den  Provinzen  einliefen,  das 
brauchte  Tac.  nicht  aus  Geschichtsbüchern  zu  entnehmen;  das  konnte 
er,  soweit  die  eigene  Erinnerung  nicht  ausreichte,  zur  genüge  von  älteren 
Zeitgenossen,  auch  aus  den  Acta  diurna  (ann.  16,  22;  Plin.  ep.  7,  33)  er- 
fahren. Bei  widersprechenden  Überlieferungen  hat  er  gewiß  auch  schrift- 
liche Aufzeichnungen  verglichen;  auf  solche  beziehe  ich,  im  Gegensatz 
zu  "Wölfflin,  auch  H.  I  7,  5  fuere  qui  crederent;  vgl.  II  99,  1;  Ann.  4, 
18.  5;  Agr.  40,  6. 

W.  verbreitet  sich  weiterhin  über  die  Nekrologe  (Galba,  Piso, 
Vinius,  Otho),  die  Reden  und  die  Gedanken  des  Tac.  über  die  Bürger- 
kriege —  lauter  durch  Geist  und  Gedankenfülle  hervorragende  Bestand- 
teile der  Historien,  die  zu  unverkennbar  den  Stempel  ihres  Urhebers 
tragen,  um  als  bloße  Umarbeitung  einer  wenig  älteren  historischen 
Darstellung  gelten  zu  können.  So  weit  verdienen  die  in  lebhaftem  Ton 
gehaltenen  Ausführungen  W.s,  die  sich  vielfach  mit  denen  0.  Clasons 
und  R.  Langes  decken,  aufrichtige  Zustimmung.  Sie  sind  freilich  nicht 
nur  als  Selbstzweck  gemeint,  des  Tac.  künstlerisches  Schaffen  zu  würdigen; 
vielmehr  beabsichtigt  der  Verf.,  wie  er  von  vornherein  (S.  5)  erklärt, 
durch  genauere  Betrachtung  der  Komposition  der  Historien  der  alten 
Streitfrage  Tacitus-Plutarch  „eine  neue  Seite  abzugewinnen",  mit  anderen 
Worten:  er  sucht  aus  der  einheitlich  originellen  Gestaltung  der  Hist., 
insbesondere  der  Einleitung,  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  die  Theorie 
von  einer  gemeinsamen  Quelle  des  Tac.  (H.  I  und  II)  und  Plut.  (Galba 
und  Otho)  unhaltbar,  daß  dagegen  gewisse*  charakteristische  Beziehungen 
zwischen  der  beiderseitigen  Darstellung  nur  so  erklärlich  seien,  daß 
Plut.  vor  der  Abfassung  seines  Galba  und  Otho  die  ersten  Bücher  der 
Historien  gelesen  (mitunter  flüchtig  gelesen,  selbst  mißverstanden)  und 
benutzt  habe.  Übrigens  erinnert  W.  daran,  daß  in  jener  Zeit  die  so- 
zusagen manuelle  Schwierigkeit  bei  Benutzung  der  Papyrusrollen  sehr 
ins  Gewicht  fällt,  daß  somit  das  Gedächtnis  für  die  Beurteilung  schrift- 
stellerischer Arbeit  einen  weit  wichtigeren  Faktor  bildete  als  heutzu- 
tage. —  Eür  die  Beweiskraft  der  in  Frage  kommenden  Parallelen  hängt 
selbstverständlich  viel  davon  ab,  wie  weit  die  überlieferten  Tatsachen 
noch  im  Bereich  der  Gegenwart  des  Autors  lagen,  ferner  ob  sie  der- 
artige sind,  daß  ihre  Kenntnis  vermutlich  nur  engere  Kreise  inter- 
essierte, wie  bei  militärischen  und  anderen  technischen  Einzelheiten, 
oder  ob  es  sich  um  epochemachende,  die  Fama  beschäftigende  Ereignisse, 
um  wirkungsvolle  Aussprüche  und  Anekdoten  handelt,  die  von  Mund 
zu  Mund  gingen.     Zu  solchem  Allgemeingut,  an  dem  die  Schriftsteller 


58  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896  —  1903.     (Wolff.) 

keine  größeren  formellen  Änderungen  vorzunehmen  pflegen,  rechne  ich 
n.  a.  die  Erzählung  von  dem  Becherdiebstahl  des  Vinius.  Ob  der 
Becher  von  Gold  oder  von  Silber  gewesen,  verschlägt  nichts:  die  Haupt- 
sache bleibt,  daß  dem  unehrlichen  Gast  nachher  irdenes  Geschirr  vor- 
gesetzt wurde.  Dahin  gehört  ferner  sein  skandalöses  „stuprum  in  ipsis 
principiis"  (H.  I  49;  Plut.  G.  12).  Mehr  noch  hafteten  im  Gedächtnis 
der  Nachwelt  gewisse  Eindrücke  aus  dem  Scbreckensjahr;  auch  die 
äußere  Erscheinung  Galbas  als  eines  gichtbrüchigen,  schwachen  Greises 
(invalidus  senex;  «xsOevt]?  -/.cd  -/sptuv  PL  G.  15.  a.  E.),  „der  fünf  Kaiser 
herrschen  sah";  der  ihm  vorauseilende  Ruf  der  ,,avaritia"  und  „saevitia"; 
diese  betätigt  durch  den  ,,blutigeQ  Einzug".  Sein  Grundsatz:  ,,legi  a 
se  militem,  non  emi"  war  zum  geflügelten  Wort  geworden.  Von  dem 
erwähnten  Gemetzel  sagt  Tac.  übertreibend:  trucidatis  tot  milibus 
inermium  militum  (Die:  7000!),  während  Plutarch  sich  (G.  15)  mit 
vExpüiv  toao'jTtüv  begnügt  und  die  Unzufriedenen  wenigstens  mit  Schwertern 
bewehrt  sein  läßt.  —  Mit  sittlicher  Genugtuung  wird  man  noch  lange 
von  dem  wohlverdienten  Strafgericht  geredet  haben,  das  jene  ,,120" 
—  auf  ein  paar  mehr  oder  weniger  kam  es  ja  nicht  an  —  ereilte,  die, 
unbedachterweise  schriftlich,  den  Lohn  für  ihre  Beteiligung  an  der 
Blutarbeit  des  15.  Januar  von  Otho  verlangt  hatten.  Nichts  ist  also 
natürlicher,  als  daß  die  Berichte  bei  Tac.  (H.  I  44),  Plut.  (G.  27)  und 
Sueton  (Vit.  10)  dem  Inhalt  und  im  wesentlichen  auch  dem  Ausdruck 
nach  aufs  engste  übereinstimmen: 

Tac. :  libellos  praemium  exposcen-  |  Plut. :  owpea?  tqtouv  ßi'ßXia  oioovtsc  . . 
tium  .  .  Vitellius  postea  invenit  om-  EupsOr^jav  usxepov  .  .  oüc  6  Oui-. 
nesque    conquiri  et  interfici  iussit.      dvaCTj-r,-ac  a-avxac  aTrsx-etvev. 

Tacitus  fügt  noch  die  Moral  von  der  Solidarität  monarchischer 
Interessen  hinzu,  indem  er  einen  kurz  vorher  niedergeschriebenen  Satz 
(H.  I  40  scelus  cuius  ultor  est  quisquis  successit)  variiert.  Außerdem 
hat  er  kräftig  betonend :  plures  quam  centum  viginti;  Plutarch  bleibt 
hier  wie  an  anderen  Stellen  bei  der  genauen  Zahlangabe.  Nun  stellt 
Wölfflin  verkehrterweise  nur  die  Alternative:  welcher  Bericht  ist  das 
Original,  welcher  die  Reproduktion?  Sie  sind  wahrscheinlich  beide 
Reproduktionen  einer  mündlichen  Überlieferung,  nicht  aus  Papj'rusrollen 
herausgelesen.  Das  unter  solchen  Umständen  selbstverständliche  „postea" 
(invenit)  glaubt  W.  bei  Tac.  durch  deu  Hinweis  auf  dessen  spätere 
Darstellung  der  Regierung  des  Vitellius  entschuldigen  zu  müssen;  „wie 
Plutarch  davon  (?)  sollte  Kenntnis  gehabt  haben,  da  er  kein  Leben 
des  Vitellius  schrieb  (!),  ist  weniger  erklärlich,  alles  dagegen  voll- 
kommen klar,  wenn  er  direkt  aus  Tacitus  schöpfte,  welchem  er  auch 
sein  ujTepov  entnahm".     Ein  unrichtiger  Schluß.     Angenommen,    es  er- 


Bericht  über  die  Tacitusüteratur  1896-1903.    (Wolff.)  59 

zähle  jemand  von  den  s.  Z.  an  Napoleon  III.  gerichteten,  1870  ans 
Licht  g-ekommenen  Bettelbriefen  —  wird  der  Zusatz,  ,,die  später  den 
Deutschen  in  die  Häude  fielen",  nicht  als  ein  ganz  natürlicher  er- 
scheinen? Übrigens  steht  die  mechaniche  Art  des  xlbschreibens ,  die 
W.  in  diesem  Falle  dem  Plutarch  zutrauen  möchte,  in  starkem  Wider- 
spruch zu  dem,  was  im  Eingänge  des  Aufsatzes  von  der  historischen 
Arbeitsweise  der  Alten  richtig  bemerkt  ist. 

In  solchem  Zusammeuhange  also,  wie  er  in  den  erwähnten  Fällen 
vorliegt,  darf  selbst  aus  augenfälliger  Ähnlichkeit  des  Ausdrucks  nicht 
notwendig  auf  Abhängigkeit  des  einen  Autors  vom  andern  geschlossen 
werden.  Hingegen  genügt  bei  Schilderungen  mehr  untergeordneten 
Inhalts  zuweilen  schon  eine  charakteristische  Wendung,  ein  Name,  eine 
Zahl,  um  den  Ursprung  einer  Stelle  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  fest- 
zustellen. Ein  vortreffliches  Beispiel,  von  Wölfflin  mehr  nebenher  er- 
wähnt, bietet  Tac.  H.  I  27  tres  et  viginti  speculatores  .  .  rapiunt; 
totidem  ferme  in  itinere  adgregantur  .  .  .  paucitate  salutantium, 
veiglichen  mit  Plut.  G.  25  .  .  «paai  jjly)  uXeiou?  xptiov  xal  eT^out 
7ev£(jdai  .  .  .  dcTiTQVTTjaav  sTSpoi  TOjoÜTot  .  .  Hier  schließt  W,  mit 
vollem  Eecht,  daß  Plut.  sich  mit  «paai  auf  Tac.  berufe ;  es  wäre  in  der 
Tat  ein  seltsamer  Zufall,  wenn  noch  ein  anderer  Gewährsmann  die 
,, geringe  Zahl"  der  ersten  Anhänger  Othos  durch  die  Addition  23  +  23 
gegeben  hätte.  Plut.  läßt,  wie  oben  „plures  quam",  hier  „ferme"  un- 
berücksichtigt. —  Die  Worte  G.  18  xal  xa  jjLSTpttüs  7:pa-to[jLeva  (etiam 
quae  modeste  —  maßvoll,  gelinde  —  agebat;  vgl.  I  90,  7;  JI  68,  1) 
bilden  eine  nicht  übele,  dem  Wesen  Plutarchs  entsprechende  Verein- 
fachung der  taciteischen  Wendung  H.  I  7  seu  bene  seu  male  facta;  von 
einem  „Übersetzungsfehler"  kann  keine  Rede  sein. 

Eine  scheinbar  winzige,  aber  wohl  zu  beachtende  Ähnlichkeit  zeigt 
sich  in  den  Berichten  der  beiden  Autoren  von  dem  zweimaligen  Ein- 
greifen der  Bataver  in  die  Kämpfe  am  Po: 


H.  II  35  gladiatores  navi- 
bns  molientes,  Germani  nando 
praelabebantur  .  ,  t-       r-    a  r    r 

II  43  accessit  recens  auxi- 
lium  Varus  Alfenus  cum 
Batavis  .  . 


Otho  10  Ol  6e  Fepixavol  Torj^Oöcovo? 


Otho   12    l7nr^7a-C£v  üuapoc  'AXcp^vos 
Tou;  x(zXou(Ji£vou?  Baxaßouc  .  . 


Tacitus  braucht  an  der  ersten  Stelle,  wie  öfter,  Germani  zur 
Abwechselung  statt  Batavi;  Plut.,  bei  dem  dieser  Name  sonst  nirgends 
vorkommt,  fügt  Otho  12  die  wohl  aus  H.  IV  12  entnommene  Erklärung 
hinzu:  Eiji  8s  Fspixaväiv  iKr.-^iz  aptaioi  xxX.  Hier,  wie  an  der  ersten 
Stelle,  wo  Fepixavoi  ziemlich  unvermittelt  und  ohne  Erläuterung  auftritt. 


60  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

folgt  er  unbedingt  dem  Tacitus,  dem  er  auch  den  Namen  des  Führers 
Varus  Alfenus,  in  der  weniger  gebräuchlichen  Wortfolge,  nachschreibt. 
Diese  formellen  Besonderheiten  fallen  für  die  Quellenfrage  um  so  mehr 
in  die  Wagschale,  als  die  Darstellung  sich  auf  Einzelheiten  von  geringerem 
allgemeinem  Interesse  erstreckt.  — 

Beachtenswert  ist  auch  die,  von  W.  nicht  erwähnte,  Über- 
einstimmung von  H.  I  41  de  percussore  non  satis  constat:  quidam 
Terentium  evocatum,  alii  Lecanium;  crebrior  fama  tradldit  Camurium 
sq.  und  G.  27  dueacpa^e  6e  auxov,  w?  ot  TrXeiJToi  Xe^oüst,  Ka|xoüpioc 
TIC  ...  "Eviot  81  TspevTiov,  Ol  Se  Asxaviov  laxopoüatv.  Wer,  wie  Nissen 
u.  a.,  auch  diese  Koinzidenz  nur  aus  der  „gemeinsamen  Vorlage"  glaubt 
erklären  zu  können,  der  streicht  allerdings  den  Tac.  aus  der  Reihe  der 
ersten  Schriftsteller.  —  Kein  allzu  großes  Gewicht  dürfte  auf  die  von  W. 
gezogene  Parallele  zwischen  H.  II  37  u.  38  und  Plut.  0.  9  zu  legen 
sein;  namentlich  der  vergleichende  Rückblick  auf  den  Äntagoni:<mus 
Sulla — Marius  und  Pompejus — Cäsar  lag  jedem  Historiker  nahe  genug. 
Daß  Tac.  den  Namen  des  Cäsar  „mit  Rücksicht  auf  die  Dynastie  der 
Julier"  unterdrückt  habe,  wie  W.  meint,  ist  unwahrscheinlich;  Tac. 
ließ  sich  hier  offenbar  nur  von  seinem  Stilgefühl  leiten;  er  liebte  eben 
solche  Gleichungen  mit  einer  unbekannt-bekannten  Größe.  —  Zufällig 
kann  die  Ähnlichkeit  sein  zwischen  H.  I  43  Insignem  .  .  aetas  nostra 
vidit  und  Plut.  G.  26  8v  jio'vov  ^Xioc  lireTSev  a$iov  .  .;  auch  die 
zwischen  H.  I  82  Otho  contra  decus  imperii  toro  insistens  precibus 
et  lacrimis  aegre  cohibuit,  redieruntque  in  castra  inviti,  und  PI.  0.  3 
'Opööc  (iiTO  T^c  xXivTjc  ■KoXXot  uapTjYopTqjac  xal  SeYjdel;  xai  |jlt)S^ 
Saxpuojv  «psiadffxevoc  |x6Xt?  dtireirsfjuj^ev  auxouc  braucht  nicht  auf  Ab- 
hängigkeit Plutarchs  von  Tacitus  zurückgeführt  zu  werden;  denn  der 
stürmische  Ausgang  jenes  Gastmahls  im  Kaiserpalaste  gehörte  selbst- 
verständlich bald  zu  den  stadtbekannten  Vorfällen,  über  die  sich  leicht  auch 
etwas  abweichende  Versionen  zu  bilden  pflegen.  Aus  besonderer  Quelle 
entnahm  PI.  die  genaue  Zahl  (80)  der  Gäste;  er  weiß  auch,  daß  die 
wütenden  Soldaten  2  Zenturionen  (Tac:  severissimos  centurionum)  er- 
schlagen haben;  dagegen  hat  er  von  dem  örtlichen  Ursprung  der 
Meuterei  eine  ganz  irrige  Vorstellung  gewonnen,  und  zwar,  wie  W. 
richtig  annimmt,  infolge  flüchtiger  Lektüre  des  Tac,  aus  dem  er  sich 
über  den  „unbedeutenden  Anlaß"  zum  Aufruhr  informierte.  Offenbar 
hat  PI.  von  dem  Kap.  80,  in  welchem  die  Ausdrücke  „castra"  und 
„armamentarium"  jedem  Römer  den  Sachverhalt  klar  genug  andeuteten, 
nur  Anfang  und  Ende  sich  eingeprägt:  Parvo  initio  ...  ex  colonia 
Ostiensi  in  urbem  acciri  —  urbem  ac  Palatium  petunt,  und  so  läßt 
er  die  Aufrührer  von  Ostia,  statt  von  der  Prätorianerkaserne  aus,  zur 
Stadt  eilen! 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  61 

Dieser  in  der  angegebenen  Weise  zu  erklärende  Irrtum  Plutarchs 
spj  icht  für  seine  Abhängigkeit  von  Tac.  mehr  als  die  oben  angeführten 
Stellen  mit  ihren  formalen  Berührungspunkten.  Daß  PI.  auch  sonst 
hin  und  wieder  seinen  Gewährsmann  mißverstanden  hat,  ist  höchst 
wahrscheinlich.  Wölflflin  jedoch  hat  in  seinem  berechtigten  Bestreben, 
die  Originalität  und  Überlegenheit  des  Tac.  darzutun,  mehrfach  über  das 
Ziel  hinausgeschossen  und  sich  zu  unbilliger  Beurteilung  des  Griechen 
überhaupt  fortreißen  lassen,  ihm  namentlich  auch  Mißverständnisse  und 
Flüchtigkeiten  zugeschrieben,  die  sich  nicht  beweisen  lassen. 

Die  Cluviushypothese  weist  W.  ,al8  ein  leeres  Traumbild"  ab  und 
findet  die  natürlichste  Erklärung  für  die  häufigen  Divergenzen  zwischen 
PI.  und  Tac.  darin,  daß  Plutarch  neben  Tac.  auch  andere  Quellenschrift- 
steller las,  doch  nicht  etwa  nach  einzelnen  Kapiteln  oder  Sätzen  ex- 
zerpierte, sondern  „in  seinem  Kopfe  den  gesamten  Stoff  verarbeitete", 
so  daß  die  einzelnen  Elemente  „ineinander  überflössen".  Wäre  dies 
ausnahmslos  und  gleichmäßig  geschehen,  so  würden  allerdings  manche 
der  von  W.  aufgezeigten  Widersprüche  und  Mißverständnisse  unerklär- 
lieh  sein. 

Sehr  beachtenswerte  und  nützliche  Hinweise  gibt  W.  S.  46  ff.  be- 
züglich der  für  Tac.  und  seine  historische  Schreibart  charakteristischen 
Antithese  von  sive  sive,  seu  seu,  ne  an  und  ähnlicher  Satzformen.  Der 
gewissenhafte  Tac.  wolle  keine  Variante  mit  Stillschweigen  übergehen 
und  suche  nach  Erklärungen  für  Widersprüche  und  Abweichungen  in 
der  Überlieferung,  fälle  aber  selten  eine  bestimmte  Entscheidung. 
Plut.  braucht  ähnliche  Sätze  weniger  oft  und  nur  vereinzelt  an  gleichen 
Stellen  wie  Tac,  vielmehr  bevorzugt  er  in  der  ßegel  kurzweg  die  seiner 
optimistischen  Richtung  gemäßere  Auffassung.  Vereinfachungen  liebt  er 
überhaupt;  G.  23,  9  xaxeßaivsv  tU  -co  o-cpaTo-söov ;  bei  Tac.  I  17  geht 
voraus :  consultatum  iude  pro  rostris  an  in  senatu  an  in  castris  adoptio 
nuncuparetur,  und  das  iri  in  castra  placuit  wird  näher  begründet. 

Eine  scharfe,  aber  im  einzelnen  großenteils  berechtigte  Kritik 
hat  Andresen  (W.  f.  kl.Ph.  1901  Nr.  16,  431—439)  an  Wölfflins  Ab- 
handlung geübt.  Er  geht  von  der  Überzeugung  aus,  daß  ein  Gesamt- 
urteil über  diese  Quellenfrage  —  von  den  chronologischen  Schwierigkeiten 
abgesehen  —  nur  zu  gewinnen  sei  durch  eine  in  alle  Einzelheiten  ein- 
dringende Vergleichuug  der  Berichte  beider  Schriftsteller,  und  zeigt, 
wieviel  in  dieser  Hinsicht,  namentlich  in  der  Interpretation  Plutarchs, 
W.  vermissen  lasse;  z.  B.  stimmt  G.  22,  25—27  -atpo;  -e  ti[xy)xoü  — 
ouvocpiavToc  inhaltlich  völlig  überein  mit  H.  I  52  tres  patris  consulatus 
.  .  .  Caesaris  und  mit  Suet.  Vit.  2  ex  consulatu  Syriae  .  .  .  duos 
insu  per  ord.  consulatus  (hier  hat  W.  flüchtig  gelesen).  Daß  Plut.  0.  12 
die  kämpfenden  Parteien  (auf  grund  von  H.  II  43  fusa  glad.  manu)  ver- 


62  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

wechselt  habe,  ist  eine  irrige  Annahme.  In  der  Voraussetzung,  daß 
G.  24,  20 — 28  (Otho  erhält  das  Losungswort  der  Verschworenen)  auf 
H.  I  27  zurückgehen  müsse,  schreibt  W.  dem  Plutarch  eine  kaum  glaub- 
liche Gedankenlosigkeit  oder  Unwissenheit  zu,  vergleichbar  etwa  der 
von  Mommsen  zu  G.  23,  12 — 13  (ta  [xev  Xe-j-siv  .  .  .  xa  ok  avaYi-jVcojxstv) 
und  H.  I  18  (quo  vir  virum  legeret,  pronuntiat)  vermuteten  Irrung. 
Andresen  rügt  auch  die  unrichtige  Auffassung  von  H.  I  29,  1  Proxima 
pecuniae  cura,  zu  der  W.  neigt,  als  „habe  es  sich  zunächst  um  die 
Beschaffung  der  nötigen  Reisegelder  gehandelt".  —  Diese  und  andere 
zutreffende  Ausstellungen  A.s  zeigen,  daß  W.s  Beweismaterial  ein  keines- 
wegs überall  probehaltiges  und  zuverlässiges  ist.  Der  Meinungsaustausch 
zwischen  dem  Verf.  und  dem  Kritiker,  der  sich  an  jene  Besprechung 
anschloß,  hat  übrigens  für  die  genauere  Erkenntnis  des  behandelten 
Gegenstandes  noch  recht  erfreulichen  Gewinn  abgeworfen.  — 

20.     Ed.  Wölfflin,  Plinius  und  Cluvius  Rufus.    Archiv  f. 
lat.  Lexikogr.  u.  Gramm,  XII  3,  345—354. 

Die  auffallende  Übereinstimmung  Plut.  0.  3  (poßo'ufj-evo?  .  .  .  -^v  ^o- 
ßspcr'?  und  Tacitus  H.  I  81  cum  timeret  Otho  timebatur,  welche  W.  im  vo- 
rigen Aufsatz  als  ein  (von  Andresen  nicht  voll  anerkanntes)  Beweismoment 
für  die  Abhängigkeit  Plutarchs  von  Tacitus  erwähnt  hatte,  gab  ihm 
Veranlassung,  eine  Übersicht  ähnlicher  Antithesen  aktiver  und  passiver 
Verbalformen  aufzustellen.  Es  ist  dies  ein  von  Cicero  vielfach  ver- 
wendetes ,  von  Seneca  zu  reichster  Mannigfaltigkeit  ausgebildetes 
rhetorisch  -  philosophisches  System.  W.  zieht  namentlich  die  Begriffe 
des  Besitzens,  Beherrschens,  Besiegens,  Fürchtens  in  Betracht  und 
verfolgt  viele  solcher  Wendungen  ihrem  Ursprung  nach  ziemlich  weit 
rückwärts.  Einen  besonderen  Reiz  haben  diese  Wortspiele,  wenn  der 
Handelnde  und  der  Leidende,  der  Herrscher  und  der  Beherrschte,  der 
Sieger  und  der  Besiegte  ein  und  dieselbe  Person  sind.  —  Tacitus,  der 
die  an  solchen  Antithesen  besonders  reichen  Schriften  Senecas  fleißig 
gelesen,  spricht  einen  ähnlichen  Gedanken  wie  H.  I  81  schon  im 
Dialog  13  aus:  quod  timent  an  quod  timentur?  Diese  Stelle  nennt  W. 
entscheidend  für  die  Frage,  ob  die  Wendung:  cum  timeret  Otho  time- 
batur von  Tacitus  selbst  geprägt  oder  von  einem  anderen  Autor  herüber- 
genommen sei. 

In  der  Anzeige  dieser  Abhandlung  (W.  f.  kl.  Ph.  1902  Nr.  10, 
260 — 271)  vermehrt  Andresen  zunächst  die  Sammlung  W.s  noch  durch 
eine  stattliche  Reihe  interessanter  Beispiele  und  zieht  zugleich  solche 
Stellen  mit  heran,  wo  der  passivische  Begriff  gelegentlich  durch  eine 
aktive  Verbalform  (parere,  servire  z.  B.  sind  pass,  Ergänzungen  zu 
imperare,    dominari  usw.)    und    beide  Begriffe    (oder   einer  von  ihnen) 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189G-1903.    (Wolff.)  63 

durch  Adjektiva  gegeben  werden  können.  —  Dann  kommt  A.  auf  den 
Ausgangspunkt,  die  taciteische  Antithese  H.  I  81  zurück  und  auf  den 
Schluß,  den  W.  und  andere  aus  ihrem  gewiß  nicht  zufälligen  Zusammen- 
treffen mit  der  gleichartigen  Wendung  bei  Plut.  gezogen  haben.  Angesichts 
der  Tatsache,  daß  solche  Gegenüberstellung  des  von  derselben  Person 
ausgesagten  „timere"  und  ,,timeri"  bei  gleichzeitigen  Autoren  wieder- 
holt vorkomme,  gleichsam  literarisches  Gemeingut  gevresen  sei,  könne 
W.  auch  mit  dem  Hinweis  auf  Dial.  13  keinen  zwingenden  Grund  er- 
bringen dafür,  daß  Tac,  die  Antithese  cum  timeret  0.  timebatur  erfunden 
haben  müsse.  Die  Möglichkeit  bleibe  immer  noch,  daß  Tac,  ohne 
sich  damit  eines  Plagiats  schuldig  zu  machen,  den  die  Situation  glücklich 
und  scharf  bezeichnenden  Ausdruck  aus  seiner  (irgend  einer?)  Quelle 
übernommen  habe.  Hiermit  dürfte  A.  das  Richtige  getroffen  haben. 
Man  ziehe  dabei  in  Rechnung,  daß  gewisse  Schlagwörter  und  Reminis- 
zenzen, die  einen  eigenartigen  Vorgang  entsprechend  scharf  kennzeichnen, 
als  solche  bei  mündlichem  Vortrag  schon  durch  die  Betonung  dem 
Wissenden  deutlich  werden,  daß  dagegen  bei  schriftlicher  Festlegung 
den  Alten  die  kleinen  Hilfsmittel  fehlten,  von  denen  wir,  aus  Vorsicht, 
vielleicht  zu  häufig  Gebrauch  machen :  Anführungszeichen,  Gedanken- 
striche, Parenthese,  Sperrdruck  usw.  Wie  oft  gehen  solche  leise  An- 
deutungen, mit  oder  ohne  Gänsefüßchen,  aus  einem  Geschichtswerk  in 
das  andere  über! 

Die  weitere  Kritik  A.s  erstreckt  sich  auf  die  Frage  nach  der 
Entstehungszeit  der  ersten  Bücher  Historien.  W.  glaubte  in  dem  kurz 
nach  dem  J.  100  geschriebenen  Panegyricus  des  Plinius  zahlreiche  An- 
klänge an  H.  I  feststellen  zu  können,  somit  ein  neues  Moment  zur 
Zeitbestimmung  dieser  Schrift  gewonnen  zu  haben.  Dem  gegenüber  weist 
A.  aus  demselben  Panegyricus  eine  Reihe  von  Ähnlichkeiten  auch  mit 
Annalenstellen  nach,  um  zu  zeigen,  wie  wenig  auf  solche  ,, Anklänge" 
zu  geben  sei.  —  Schließlich  wendet  sich  A.  gegen  einige  in  W.s 
Replik    enthaltene  Vorwürfe,    die    er   als  unbegründet  zurückweist.  — 

21.     C.  E.  Borenius,    De    Plutarcho    et   Tacito    inter  se 
congruentibus.     Helsingfors  1902.    XXII,  156  S.  8. 

Eine  breit  augelegte,  von  fleißigem  Studium  der  alten  wie  der 
neuen  Literatur  zeugende  Neuprüfung  der  Frage,  die  einigen  Gelehrten 
im  Sinne  der  Abhängigkeit  Plutarchs  (Galba  und  Otho)  von  Tacitus 
(H.  I.  II),  anderen  durch  die  Voraussetzung  einer  gemeinschaftlichen 
Quelle  als  erledigt  gilt,  während  manche  noch  bei  dem  „non  liquet" 
verharren.  B.  tritt  entschieden  für  die  ersterwähnte  Theorie  ein.  Mit 
der  chronologischen  Vorfrage  findet  er  sich  so  ab,  daß  er  mit  Wölflflin 
annimmt,   die  ersten  3  Bücher  der  Historien  seien  um  105  erschienen; 


64  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

demnach  könne  Plutarch  jedenfalls,  selbst  wenn  ,,Galba"  und  „Otho" 
vor  den  Vitae  parallelae  verfaßt  sein  sollten,  jenen  Teil  der  Hist. 
gekannt  und  benutzt  haben.    Vgl.  übrigens  F.  ßühl,  Rh.  Mus.  56,  512. 

In  betreff  der  historischen  Arbeitsweise  der  Alten  und  namentlich 
des  Verfahrens  der  römischen  Geschichtschreiber  ist  bekanntlich  von 
neueren  Gelehrten  ohne  greifbare  Beweise  die  Ansicht  geltend  gemacht 
worden,  daß  jene  in  der  Nachahmung  älterer  Autoren  viel  weiter  ge- 
gangen seien,  als  sich  mit  unserer  Auffassung  von  literarischer  Selbständig- 
keit vertrage  —  eine  Behauptung,  die,  wie  A.  v.  Gutschmid  bereits 
gezeigt  hat,  mit  Zeugnissen  aus  dem  Altertum  selbst  im  Widerspruch 
steht.  • —  Plutarch  und  Tacitus  freilich,  sagt  B.,  bedienen  sich  in  vielen 
Abschnitten  der  erwähnten  Bücher  fast  derselben  Worte,  sie  stimmen 
in  Satzbildungen  überein,  ebenso  in  Urteilen,  moralischen  Betrachtungen, 
eingeschalteten  Episoden;  auch  sind  ihnen  viele  Stilblüten,  Bilder  und 
Sentenzen  gemeinsam.  Bei  Voraussetzung  gegenseitiger  Unabhängigkeit 
und  einer  gemeinschaftlichen  Hauptquelle  müßte  Tac.  sich  bäuäg  dem 
Wortlaut  dieser  Quelle  enger  und  unselbständiger  angeschlossen  haben 
als  Plutarch,  was  mit  seiner  Eigenart  selbstverständlich  unvereinbar  ist. 
Aus  jener  gemeinsamen  Vorlage  wird  gewöhnlich  auch  das  Mehr  her- 
geleitet, das  Plut.  häufig  bei  Beschreibungen  der  gleichen  Geschehnisse 
bietet.  Solcher  Elemente  unterscheidet  B.  in  Übereinstimmung  mit 
Peter  und  Wöllflin  zwei  Arten:  einmal  eigene  rhetorische  Zutaten 
Plutarchs,  Ausmalung  seelischer  Vorgänge,  in  denen  seine  Phantasie 
sich  gern  ergeht,  zweitens  aber  tatsächliche  Ergänzungen  aus  anderen 
Quellenschriftstellern;  denn  daß  PI.  das  Kontaminieren  fleißig  geübt 
haben  muß,  liegt  auf  der  Hand  (vgl.  A.  v.  Gutschmid,  H.  Peter, 
E.  Norden,  I  90  Anm.  1).  Mitunter  darf  nach  B.  angenommen  werden, 
daß  der  Grieche  auch  des  Tac.  Gewährsmann  direkt  befragt  hat, 
namentlich  in  Fällen,  wo  bei  sonstiger  Übereinstimmung  Tacitus  viel 
kürzer  ist  als  Plutarch.  Die  höchst  schwierige  Aufgabe,  zu  unter- 
scheiden, was  auf  diesem  Wege  gewonnen  und  was  aus  Tac.  selbst 
geschöpft  sei,  läßt  sich  hin  und  wieder,  wie  Fabia  betonte,  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  durch  Heranziehung  Suetous  lösen.  An  manchen 
Stellen,  wo  Plutarch  diesem  näher  steht  als  dem  Tacitus  —  meist  ist 
das  Umgekehrte  der  Fall  —  düi'fte  Benutzung  einer  gemeinsamen  Quelle 
anzunehmen  sein.  Immer  bleibt  jedoch  zu  beachten,  daß  wir  da  keine 
großen  Unterscliiede  im  Ausdruck  voraussetzen  dürfen,  wo  es  sich  um 
einfache  Vorgänge  handelt,  die  ohnedies  in  keiner  zusammenhängenden 
Überlieferung  gefehlt  haben  werden. 

Mit  Verwertung  reichlichen  Materials  sucht  B.  nun  Folgendes  zu 
beweisen:  Plut.  hat  sowohl  Tac.  als  auch  einen  gemeinschaftlichen  Ge- 
wähi'smann  herangezogen,  und  zwar  diesen  vorzugsweise  für  G.  1 — 21 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  65 

(bis  1.  Jan.  69);  für  G.  22  —  0.  18  ist  Tac.  Hauptquelle;  hier  ist 
nur  weniges  anderswoher  genommen.  Der  Verf.  hat  zu  seinem  Zwecke 
alle  irgendwie  in  Betracht  kommenden  (und  noch  einige  mehr!)  Stellen 
aus  Plutarch  nach  der  Kapitelfolge  ausgezogen  und  ihnen  die  ent- 
sprechenden Passus  des  Tacitus  (H.  I.  II )  gegenübergestellt  oder  ihrem 
Inhalt  nach  angegeben,  auch  die  Zitate  aus  Sueton  in  den  Fußnoten 
beigefügt.  In  die  Übersicht  sind  überall  (von  Kap.  zu  Kap.)  Be- 
trachtungen über  Inhalt ,  Charakter  und  vermuteten  Ursprung  der  Be- 
richte eingeschaltet.  Unter  dem  angehäuften  Material  finden  sich  neben 
sehr  markanten  Stellen  begreiflicherweise  manche  nichtssagende;  dem- 
gemäß sind  auch  B.s  Schlußfolgerungen  sehr  ungleichartig.  Gleich  einer 
der  ersten  Bemerkungen  muß  widersprochen  werden;  von  den  "W.  PI. 
G.  7,  18 — 20  TW  o'  dTieXsuÖEptp  —  ouvaixiv  (cf.  Tac.  H.  I.  13  nee  minor 
—  vocitabant)  heißt  es:  „haec  quidem  Plut.  e  fönte  communi  hausisse 
non  potest  negari,  qnoniam  similior  est  Suetonio  quam  Tacito".  Diese 
größere  Ähnlichkeit  zwischen  Suet.  und  Plut.  beschränkt  sich  aber  doch 
auf  das  von  den  beiden  gebrauchte,  von  Tac.  wie  auch  sonst  (bei  anuli 
=^  Ritterring)  unterdrückte  Beiwort  „golden".  Zudem  bringt  Plut.  die 
Notiz  in  anderem  Zusammenhang  als  Tacitus ;  mit  Recht  hält  daher  Fabia 
die  Ähnlichkeit  für  nicht  frappant  genug,  um  daraus  auf  Gemeinsamkeit 
der  Quelle  sicher  schließen  zu  können.  —  Mit  unbegründeter  Zuversicht 
behauptet  B.,  daß  Plut.  G.  10,  15 — 23  xaixoi  cpavepüi?  —  etiretv,  und 
Tac.  H.  I  53  nee  nisi  —  praeventus  erat,  demselben  Autor  entnommen 
seien.  Die  PI.  G.  12,  2 — 9  erzählte  Verführungsgeschichte  des  Vinius 
hat  sicherlich  lange  zum  Stadtklatsch  gehört,  sie  braucht  also  nicht  auf 
Tac.  H.  I  48  zurückgeführt  zu  werden,  ebensowenig  freilich,  wie  Fabia 
wollte,  auf  die  gemeinsame  Quelle.  —  In  diesem  ersten  Teil  der  Unter- 
suchung bewegt  sich  B.  überhaupt  mehrfach  auf  unsicherem  Boden  und 
bedient  sich  zuweilen  wunderlicher  Argumente;  so  leitet  er,  überein- 
stimmend mit  Wöltflin,  die  Erwähnung  des  blutigen  Einzugs  bei  PI.  G- 
15,  31—35  aus  H.  I  6  her  und  meint  mit  Bezug  auf  „tot  milibus": 
Cur  Tacitus  numerum  reticuerit,  Orosius  docet  —  eine  übel  angebrachte 
Berufung;  denn  hätte  Tac.  hier  wirklich  etwas  ..mildern"  wollen,  so 
würde  er  wohl  überhaupt  nicht  von  Tausenden  Erschlagener  gesprochen, 
sondern  sich  etwa    mit    tot    begnügt    haben    wie  Plutarch    mit  vexpiöv 

TOUOUTCUV. 

In  den  sonst  unähnlichen  Abschnitten  PI.  G.  17,  6—20  und  H. 
I  72  findet  sich  eine  höchst  bezeichnende  Übereinstimmung,  die  auch 
B.  nicht  entgangen  ist:  Tioirftxc,  (Tq£>.Xrvos)  a^tov  davaxou  Nspojva  xat  73- 
v6[i.£vov  ToiouTov  l^ X ax oc X rTT cu V  xai  Tipoöouc  TTspi^v  —  corrupto  ad  omne 
facinus  Nerone  .  .  .  postremo  eiusdem  desertor  acproditor;  eine 
wirklich  „echt  taciteische  Wendung",  deren  Nachahmung  im  vorliegenden 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXI.   (1904.    II.)  5 


66  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

Zusammenhang  bei  Plut.  mehr  beweist  als  ein  Dutzend  sonstiger  „Ähn- 
lichkeiteu",  auf  die  B.  oft  übertriebenen  Wert  legt.  Was  wollen  z.  B. 
die  angeblich  wörtlichen  Übereinstimmungen  besagen,  die  der  Verf. 
S.  24  und  25  anführt:  G.  22,  32-34  el,-  u-s^eXf^wv  —  -ap'  a-kcp 
und  H.  I  56  Nocte  —  iurasse;  G.  22,  35 — 37  -piüro;  —  irposEi-ev, 
,,a  Tacito  (I  57  Proxima  —  consalutavit)  ad  verbum  fere  expressa"? 
—  Daß  die  ganze  Erzählung  von  G.  22  ab  aus  Tac.  als  fast  einziger 
Quelle  geflossen  seiu  soll,  ist  wohl  zu  viel  behauptet;  allerdings  findet 
sich  hier  ein  von  Hardy  zuerst  (?)  erwähnter  wichtiger  Berührungspunkt: 
G.  23,  4  dpyatpsjtaCovTa;  —  I  14  comitia  imperii  transigit;  denn  diese 
Pointe  ist  zweifellos  taciteischen  Ursprungs. 

Auf  weitere  Einzelheiten  der  an  feinen  Bemerkungen  und  Winken 
reichen  Abhandlung  kann  hier  nicht  eingegangen  werden,  doch  mögen 
zwei  besonders  sachkundige  Kritiken  in  Kürze  Erwähnung  finden.  G. 
Andresen,  in  der  Quellenfrage  prinzipiell  mehr  zu  Fabias  Standpunkt 
neigend,  findet  (JB.  29,  222—225),  daß  der  Verf.,  dessen  Gründlich- 
keit und  Sorgfalt  er  übrigens  lobend  anerkennt,  zu  leicht  bereit  sei,  aus 
augenfälligen  Ähnlichkeiten  Beweise  für  die  Abhängigkeit  Plutarchs 
von  Tacitus  zu  konstruieren.  Was  die  von  B.  erwähnten  Stellen  be- 
treffe, an  denen  PL  den  taciteischen  Text  mißverstanden  haben  solle, 
so  dürften  nur  2  Fälle  ernstlich  in  Betracht  kommen:  die  Verlegung 
der  Meuterei  nach  Ostia,  0.  3  aus  H.  I  80,  und  der  Ursprung  der  Worte 
xtvooveueiv  6s  xou?  ev  KpEji-cuvT]  0.  7  aus  H.  II  23  ubi  pulsum  Caecinam 
pergere  Cremonam  accepit.  Borenius  glaubt,  wüe  oben  erwähnt,  durch 
Heranziehung  Suetons  erweisen  zu  können,  daß  Plut.  in  vielen  Fällen, 
"WO  er  mehr  hat  als  Tacitus  (oft  unbedeutende  Wörter,  nichtssagende 
Sätze),  dieses  Plus  aus  der  Quelle  des  Tac.  entnommen  und  dem  taci- 
teischen Bericht  hinzugefügt  habe.  Diese  Erklärungsweise  hält  A. 
für  künstlich;  näher  liege  jedenfalls  die  Vermutung,  daß  Tac.  solche 
Angaben,  die  Plut.  wie  Sueton  aus  einer  gemeinsamen  Vorlage  fest- 
gehalten, als  unwichtig  übergangen  habe.  —  H.  Peter  (ßerl.  Ph.  Woch. 
1903  N.  28,  867—868)  rühmt  gleichfalls  die  gründliche  Gelehrsamkeit 
und  die  nichts  übersehende  Sorgfalt  des  Verf.;  er  erkennt  seine  Un- 
befangenheit an,  mit  der  er  in  manchen  Fällen  die  von  anderen  be- 
hauptete Benutzung  des  Tac.  bei  Plutarch  bestreite.  P.  trifft  in  einigen 
Vorbehalten  und  Einwendungen,  die  auch  gegen  Wölflflin  gerichtet  sind, 
mit  Andresen  zusammen.  B.  lege  dem  Fehlen  oder  Vorhandensein 
von  Zeitbestimmungen  (z.  B.  G.  24,  11  scdÖcv;  Suet.  G.  19  und  0.  6 
mane)  eine  übertriebene  Bedeutung  bei.  „Der  rhetorische  Geschicht- 
schreiber liebte  eben  genaue  Zeitbestimmung  (und  Zahlen)  nicht  und 
hat  sie  deshalb  ^YeggeIassen,  während  sie  der  genaue  Sueton  grundsätzlich 
aus  der  gemeinsamen  Quelle    beibehalten    hat,  Plutarch  zufällig."     Die 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.)  67 

Verschiedenheit  der  einzelnen  Berichte  habe  B.  nicht  überall  zutreffend 
gewürdigt;  für  Fabius  Rusticus  als  die  gemeinsame  Grundlage  für  die 
vorliegende  tJberlieferung  lasse  sich  (natürlich)  kein  zwingender  Grund 
anführen.  Doch  sei  die  Arbeit  B.s  als  ein  beträchtlicher  Fortschritt 
zur  Lösung  der  nicht  nur  für  Plut.  und  Tac.  wichtigen  Frage  dankbar 
zu  begrüßen.  — 

22.     L.  Paul,   Kaiser  Marcus  Salvius  Otho.     Rh.  Mus.  57 
(1902)  S.  76—136. 

Diese  Lebensbeschreibung  einer  Persönlichkeit,  die  schon  den 
Zeitgenossen  als  eine  problematische  erschien ,  besteht  der  Hauptsache 
nach  in  der  Übersetzung  oder  Umschreibung  der  alten  Schriftsteller, 
in  erster  Reihe  des  Tacitus  und  des  Plutarch,  zu  denen  Sueton  und 
Dio  ergänzend  hinzutreten.  Die  erzählende  Darstellung  wird  hier  und 
da  von  kritischen  Bemerkungen  unterbrochen,  die,  soweit  sie  den  Text 
des  Tac.  betreffen ,  an  sich  berechtigt ,  doch  mitunter  gegen  solche 
Lesarten  und  Auffassungen  gerichtet  sind,  welche  heute  niemand  mehr 
ernstlich  vertreten  wird.  Die  Verbesserung  Heinses  H.  I  43  ardentis 
bedarf  keiner  besonderen  Rechtfertigung  mehr.  —  Wo  sich  Tacitus  und 
Plutarch  widersprechen,  verdient  nach  P.s  Meinung  der  Römer  das 
größere  Vertrauen;  manche  Züge  bei  Plutarch  verdanken  übrigens  ihren 
Ursprung  dessen  persönlichen  Erfahrungen  und  mündlichen  Mitteilungen 
aus  seinem  Bekanntenkreise.  Was  sonst  das  gegenseitige  Verhältnis  der 
Quellenschriftsteller  angeht,  so  haben  Tacitus,  Plutarch  und  Sueton  eine 
gemeinsame  Vorlage  benutzt,  ob  Cluvius  Rufus,  den  H.  Peter  ohne  zu- 
reichenden Grund  aufgegeben  habe,  oder  Plinius  d.  Ä.,  sei  nicht  sicher 
festzustellen.  Sonach  scheint  alles,  was  Clason,  Nissen  u.  a.  gegen  die 
Cluviushypothese  geschrieben  haben,  für  P.  nicht  von  Gewicht  zu  sein. 

P.  schildert  die  Herkunft  und  Jugend  Othos,  seine  verhängnisvolle 
Freundschaft  mit  Nero  und  Claudius  Senecio,  die  unwürdigen  Beziehungen 
zu  Acte  und  zu  Poppaea.  Als  durch  die  Schuld  des  ,,principale  scor- 
tum"  jene  Freundschaft  mit  dem  jungen  Kaiser  ein  jähes  Ende  nahm 
(58  n.  Chr.)  und  Otho  nach  dem  fernen  Lusitanien  verschickt  wurde, 
da  bewies  er  zehn  Jahre  hindurch  in  der  Verwaltung  der  Provinz,  daß 
er  ,, einer  der  Männer  war ,  in  denen  durch  den  Dienst  niedriger 
Lüste  Herrschsucht  und  Energie  nicht  unterdrückt  werden"  (K.  Peter). 
Sobald  Galba  den  Abfall  von  Nero  erklärt,  tritt  Otho  ihm  zur  Seite 
als  , .glänzendste  Erscheinung"  (H.  I  13  inter  praesentes  splendidissimus), 
und  bildet  nun  einen  geradezu  herausfordernden  Gegensatz  zu  dem  „me- 
dium Ingenium"  des  gebrechlichen,  engherzigen  und  geizigen  Greises. 
Sorge  um  das  Staatswohl  hält  Galba  davon  ab,  den  beim  Heere  be- 
liebten, leichtfertigen  Otho  zu  adoptieren;  er  wählt  sich  zur  Stütze  einen 

5* 


68  Beriebt  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

Jüngling  von  „gutem  Rufe",  von  altrömischer  Denkart;  der  Soldaten 
Gunst  zu  erkaufen,  widerstrebt  seinen  Begriffen  von  Manneszucht;  aber 
diese  lobenswerte  Haltung  besiegelt  Galbas  Schicksal.  —  Plutarch  hat 
in  seinen  beiden  Schriften,  die  ein  Ganzes  bilden,  den  Ausgang  der 
Kaiser  Galba  und  Otho  im  wesentlichen  wie  Tac.  und  Sueton  erzählt,  ,,so 
daß  wir,"  meint  P.,  „die  Annahme  einer  gemeinsamen  Quelle  nicht  ab- 
lehnen können"  (?);  der  Grieche  habe  die  Gewährsmänner  für  seine 
Kaisergeschichten  in  den  Kreisen  des  Tacitus  und  Plinius  gesucht;  mithin 
sei  kein  Grund,  an  der  Wahrheit  auch  der  anekdotenhaften  Züge  zu 
zweifeln.  In  der  quellenmäßigen,  mehrfach  gekürzten  Darstellung  der 
Kämpfe  am  Po  hebt  P.  richtig  hervor,  daß  der  für  Otho  ungünstige 
Ausgang  ebenso  durch  sein  törichtes  Fernbleiben  vom  Eutscheidungs- 
kampf  verschuldet  worden  ist,  wie  durch  den  Kompetenzkonflikt  der 
Führer,  die  schließlich  des  Kaisers  leidenschaftliche  Ungeduld  blindlings 
zur  Aktion  drängte. 

Ohne  rechten  Grund  bezweifelt  P.  die  Richtigkeit  des  taciteischen 
Berichts  (H.  II  51)  von  dem  nach  Othos  Tode  erfolgten  Einstürmen 
der  Soldaten  auf  Verginius:  ein  zweimaliger  Aufruhr  der  Soldaten  lasse 
sicli  schwer  annehmen  —  doch  nur,  wenn  man  den  Zusammenhang  bei 
Tac.  völlig  verkennt! 

Die  von  Plutarch  (0.  15)  und  Tacitus  (H.  II  48.  49)  überlieferten 
rührenden  und  leidenschaftlichen  Szenen  erhalten  eine  greifbare  Be- 
stätigung durch  das,  was  Sueton  (0.  10)  von  seinem  eigenen  Vater 
berichtet.  Othos  Entschluß  zum  Selbstmord  aber ,  meint  P.,  ging 
weniger  aus  der  Übersättigung  durch  alle  ßeize  des  Lebens  oder  aus 
Scheu  vor  weiteren  Anstrengungen  und  Gefahren  hervor  (so  K.  Peter), 
als  aus  Mangel  an  Selbstvertrauen,  aus  dem  Zweifel,  ob  er  die  Sache 
werde  durchführen  können.  Daß  zur  Verstärkung  dieses  Zweifels  auch 
,,superstitiöse"  Momente  mitgewirkt  haben,  wie  Ranke  (W.  G.  III  227  f.) 
annimmt,  stimmt  mit  allem,  was  über  Otho  und  seine  Beziehungen  zu 
den  ,, Mathematikern"  berichtet  wird,  aufs  beste  überein.  Othos 
Charakter,  oder  darf  man  sagen  Charakterlosigkeit?  —  hat  Tacitus 
insbesondere  durch  die  Mittel  der  Parallele  mit  Nero,  wie  des  Gegen- 
satzes zu  Galba  und  selbst  zu  Vitellius  verständlicher  zu  machen 
gewußt.  Othos  „üagrantissimae  cupiditates"  werden,  wie  P.  richtig 
betont,  den  ,,ignavae  voluptates"  seines  Nachfolgers  verglichen  und  ver- 
schaffen ihm  einigen  Anspruch  auf  mildere  Beurteilung  auch  seines 
Kapitalverbrechens;  Vitellius  stirbt  ,,multis  increpantibns,  nullo  in- 
lacriraante";  Othos  selbstgewählter,  von  vielen  beklagter  Tod  hin- 
gegen bildete  in  den  Augen  der  meisten  Zeitgenossen  ein  versöhnendes, 
ausgleichendes  Gegengewicht  zu  seinem  lastervollen  Leben.  Nirgends 
in    der  Tradition    fehlt    der  pathetische  Hinweis  auf  diesen  Gegensatz: 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  69 

Plut.  0.  18,  8—11;  Tac.  H.  II  50;  Suet.  0.  12,  9;  12,  15;  Dio  64, 
15,  2;  Martial.  6,  32,  5  f.  —  Bemerkenswert  ist,  wie  der  Gedanke  an 
ein  zum  Selbstmord  ermutigendes  Beispiel  sowie  das  Motiv  der  Waffen- 
prüfung bei  Sueton  teilweise  wörtlich  sich  wiederholt:  Nero  49,  15; 
Otho  10,  7;  Nero  49,  11;  Otho  11,  7.  —  Pauls  Arbeit  wird  von 
G.  Andresen,  Jahresber.  28,  304 — 306,  als  eine  ,,für  die  historische 
Kritik  und  für  das  Verständnis  des  Überlieferten  nicht  sonderlich  er- 
gebnisreiche, aber  gewandt  geschriebene  Biographie"  bezeichnet;  ein 
Urteil,  dem  ich  nichts  Wesentliches  beizufügen  wüßte.  — 

23.     Hermann  Vieze,  Domitians  Chattenkrieg  im  Lichte 
der  Ergebnisse  der  Limesforschung.     Progr.     Berlin  1902.    30  S.  4. 

Die  uns  zu  Gebote  stehenden  literarischen  Quellen  geben  von 
dem  Chattenkrieg,  der  zu  Anfang  von  Domitians  Herrschaft  stattfand, 
ein  unvollständiges  und  mehrfach  widerspruchsvolles  Bild,  wie  ja  auch 
über  des  Kaisers  Persönlichkeit  und  seinen  Anteil  au  kriegerischen 
Erfolgen  die  Ansichten  weit  auseinander  gehen.  Um  so  wertvoller  sind 
die  durch  die  Archäologie,  insbesondere  durch  die  Limesforschung 
gewonnenen  Resultate,  welche  über  jene  kriegerischen  .Vorgänge 
helleres  Licht  verbreitet  haben.  —  Als  Zeit  des  ersten  Chattenkrieges 
läßt  sich  durch  Münzen  aus  dem  J.  84,  die  Domitian  den  Beinamen 
Germanikus  geben,  mit  einiger  Sicherheit  das  J.  83  bestimmen.  Wer 
der  eigentliche  „Angreifer"  gewesen,  blieb  damals  wohl  ebenso  im  Halb- 
dunkel wie  bei  ähnlichen  Konflikten  zu  allen  Zeiten.  Die  Wahrschein- 
lichkeit spricht  dafür,  daß  die  Chatten  „eine  bedrohliche  Haltung  ein- 
genommen" hatten,  wie  V.  die  Worte  Frontins  richtig  deutet  (Strat.  I 
1,  8):  cum  Germanos,  qui  in  armis  erant,  vellet  opprimere;  wäre 
es  bei  einem  bloßen  Verteidigungskrieg  geblieben,  so  würde  allerdings 
wohl  reprimere  statt  opprimere  geschrieben  worden  sein.  Der  Notiz 
bei  Sueton  (Dom.  6)  expeditiones  partim  sponte  suscepit  partim 
necessario;  sponte  in  Catthos  sq.  (vgl.  übrigens  2,  1),  die  das  Unter- 
nehmen deutlich  als  Angriffskrieg  hinstellt,  sucht  V.  die  Spitze  ab- 
zubrechen: Sueton  habe,  durch  sein  Streben  nach  Kürze  und  Antithese 
verleitet,  den  mißverständlichen  Ausdruck  „sponte''  gebraucht,  und  eine 
so  zwingende  Notwendigkeit  wie  für  den  damaligen  Sarmatenkrieg  habe 
ja  auch  tatsächlich  nicht  vorgelegen.  Dennoch  hätten  auch  persönliche 
Wünsche,  das  Verlangen  des  jungen  Kaisers  nach  kriegerischem  Lorbeer 
und  der  Hinblick  auf  Agricolas  Erfolge  in  Britannien,  einigen  Anteil 
an  der  Expedition  (Rankes  Ansicht:  ,,nach  Kriegsruhm  trug  er  [Dom.] 
wenig  Verlangen"  trat  schon  Asbach  entgegen).  Diese  subjektiven 
Gründe  werden  von  Sueton,  die  objektive  Ursache  von  Frontin,  der 
den  Ereignissen  näher  stand,  mehr  betont  —  so  glaubt  V.  die  ,, schein- 


70  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

bar"  sich  widersprechenden  Angaben  der  beiden  Schriftsteller  vereinigen 
zu  können.  Den  Hauptzweck  des  Krieges  bezeichnet  er  treffend  so:  es 
mußte  größeren  Ruhestörungen  vorgebeugt,  das  Vorterrain  für  das 
Standquartier  der  Legionen,  Mainz  (das  im  J.  70  die  Chatten  belagert 
hatten),  erweitert  und  auf  einen  wirksamen  Schutz  der  Grenze  Bedacht 
genommen  werden.  —  Über  die  gegen  die  Chatten  geführten  Truppen 
schweigen  die  Schriftsteller  völlig,  beredter  sind  die  Steine:  die  Ziegel- 
sterapel  des  damals  entstandenen  Kastells  Friedberg  z.  B.  zeigen  uns, 
daß  jedenfalls  aufgeboten  wurden  die  14.  Legion  aus  Mainz,  die  11. 
aus  Vindonissa,  die  21.  Rapax  aus  Niedergermanien.  Die  1.  Adiutrix 
wird  nicht  gefehlt  haben;  von  der  9.  Hispana  hat  der  Militärtribun 
ßoscius  Aelianus  eine  Vexillation  aus  Britannien  herübergeführt,  auch 
von  den  Gardetruppen  waren  Abteilungen  herangezogen  worden.  Welche 
und  wie  viele  von  den  in  Obergermanien  stehenden  Auxiliaren  zum 
Kriege  gegen  die  Chatten  mitgezogen  sind,  läßt  sich  nur  für  einzelne 
Kohorten  feststellen.  — 

Um  seine  Absicht  zu  verschleiern,  begab  sich  Domitian  zuerst 
nach  Gallien,  angeblich  des  Zensus  wegen,  und  brach  dann  plötzlich 
und  unvermutet  gegen  den  Feind  auf.  Die  Operationsbasis  war  gegeben: 
von  Mainz  auf  der  alten  Beerstraße  durch  den  Maingau  und  die 
Wetterau  (Hofheim—  Okarben — Friedberg).  Über  Ausdehnung  und  Er- 
folg des  Feldzugs  haben  wir  nur  spärliche  und  einander  widersprechende 
Nachrichten:  Sueton,  der  für  Grenzkriege  überhaupt  wenig  Interesse 
zeigt,  sagt  a.  a.  0.  nur:  de  Chattis  Dacisque  post  varia  proelia 
duplicem  triuraphum  egit;  Tacitus  stimmt  in  seinen  gelegentlichen 
Bemerkungen  (Agr.  39  und  Germ.  37)  ganz  mit  Plinius  (pau.  16  und  20) 
überein,  daß  das  Unternehmen  ein  Fiasko,  der  Triumph  ein  Schein- 
triumph gewesen  sei.  Keine  bessere  Vorstellung  davon  hat  Dio  gehabt, 
wie  die  Auszüge  bei  Zonaias  und  Xiphilinus  zeigen.  Diesen,  nach  V.s 
Meinung  voneinander  unabhängigen  Berichten  über  den  Feldzug  —  die 
Hofpoeten  Martial  und  Statins  zählen  nicht  —  steht  nun  als  ältester 
Gewährsmann  Frontin  gegenüber,  der  den  Chattenkrieg  an  4  Stellen 
erwähnt  (1,  1,  8;  2,  3,  23;  1,  3,  10;  2,  11,  7)  und  dabei  den  Kaiser 
jedesmal  mit  voller  Titulatur  Imperator  Caesar  Domitianus  Augustus 
Germanicus  nennt.  Daß  er  an  der  Expedition  selbst  teilgenommen, 
hält  V.  für  wahrscheinlich  (Asbach  für  sicher,  während  Zwanziger  es 
bestreitet).  Einzelne  Ausdrücke  Frontins,  wie  contusa  immanium  ferocia 
nationum  .  .  .,  consecutus  est,  ne  quis  locus  eins  victoriam  moraretur 
(so  ist  zweifellos  zu  emendieren)  .  .  .,  subiecit  dicioni  suae  hostes,  würden 
auf  glänzende  Erfolge  Doraitians  schließen  lassen  —  wenn  der  General 
seine  Strategeraata  etwa  nach  dem  Tode  des  Kaisers  geschrieben  hätte. 
V.  hält  zwar  Frontins  Berichte  für  unverdächtig;  denn  „wenn  er  auch 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  71 

damals  sicherlich  gewissen  Wünschen  des  Kaisers  Rechnung 
tragen  mußte,  so  brauchen  seine  Berichte  nicht  in  jeder  Be- 
ziehung angefochten  zu  werden".  Dies  wird  auch  niemand  ernstlich 
wollen,  vielmehr  können  wir  uns  unter  Zuhilfenahme  der  Mitteilungen 
Frontins  eine  ungefähre  Vorstellnug  von  der  Art  des  Kampfes  machen, 
den  im  J.  83  eine  starke  römische  Heeresmacht  mit  den  durch  ihre 
"Wälder  geschützten  Chatten  zu  bestehen  hatte.  Eine  eigentliche 
Schlacht  hat  angesichts  der  Terrainschwierigkeiten  und  der  bekannten 
Kampfart  der  Gegner  wohl  nicht  stattgefunden,  und  w'enn  Frontin  von 
einem  Siege  rede,  meint  V.  selbst,  so  nehme  er  auf  Domitians  Wunsch 
Rücksicht,  der  einen  entscheidenden  Sieg  davongetragen  haben  wollte. 
Anderseits  dürfen  wir  auch  an  einem  Erfolg  Domitians  im  Chatten- 
lande  nicht  zweifeln;  nur  war  er  nicht  bedeutend  genug,  um  nach 
Tacitus'  Meinung  die  Ehre  eines  Triumphes  zu  verdienen.  Das  Gebiet 
Dämlich,  von  dem  die  Chatten  sich  zurückgezogen  hatten,  blieb  teilweise 
besetzt.  Das  ist  der  unbestreitbare,  durch  die  neueren  Grabungen 
bestätigte  Erfolg  des  Feldzuges.  Verf.  geht  hier  auf  die  bisherigen 
Ergebnisse  der  Limesforschung  in  der  Wetterau  näher  ein,  um  die 
Staudorte  der  Besatzungstruppen,  den  Umfang  der  Okkupation,  die  Be- 
schaffenheit und  Ausdehnung  des  Limes  (den  ursprünglichen  Begriff  hat 
nicht  erst  Mommsen  festgestellt,  wie  V.  meint)  zu  bestimmen. 

Von  den  übrigen  konkurrierenden  Quellen,  sagt  V.,  „stehen  sich 
Tacitus-Pliuius  und  der  Gewährsmann  des  Dio  am  nächsten  und  können 
als  einander  ergänzende  .  .  .  Berichte  angesehen  werden.  Danach  unter- 
nahm Domitian  einen  Zug  nach  Gallien  und  machte  dann  einen  Beute- 
zug über  den  Rhein  gegen  (?)  Bundesgenossen."  Der  Verf.  meinte  (vgl. 
S.  15)  wohl:  „durch  das  Land  von  Bundesgenossen";  denn  nur  so- 
viel berichtet  Zonaras  (11,  19):  XsYiXaxY^aa;  xiva  xüiv  uepav  Tr^vou  xcuv 
£V37:üvoü)v,  und  mit  ihm  übereinstimmend  Plinius,  pan.  20:  quam  dissi- 
milis  nuper  alterius  principis  (Domitiani)  transitus,  si  transitus  ille  non 
populatio  fuit  sq.,  also  ein  Plünderungszug  (mit  zuchtlosem  Heere) 
durch  befreundetes  (Mattiaker)  Gebiet,  das  heutige  „blaue  Ländchen". 
Wie  V.  unter  transitus  hier  den  „Rheinübergang"  hat  verstehen  können, 
ist  kaum  begreiflich,  wenn  man  den  ganzen  Zusammenhang  betrachtet; 
pan.  20  i.  A.  Iter  (Traiani)  inde  (e  castris)  placidum  ac  modestum. 
ut  plane  a  pace  redeuntis  .  .  .  quam  dissimilis  nuper  alterius  principis 
transitus  sq.  —  Mit  jenen  römischen  Bundesgenossen  rechts  vom  Rhein 
konnten  die  Bataver  ebensowenig  wie  die  Hermunduren  gemeint  sein 
(selbstverständlich!);  „es  bleiben  also,"  fährt  V.  fort,  „nur  die  Mattiaker 
und  die  Usipier  übrig,  die  beide  um  diese  Zeit  in  der  Nähe  der  Chatten 
wohnten  und  von  Mainz  aus  am  leichtesten  erreichbar  waren.  Die 
Nachricht    der    diesbezüglichen    (so!)    Schriftstellergruppe    von    einem 


72  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff.) 

Streifzug  Domitians  durch  ihr  (verstehe:  der  Bundesgenossen)  Gebiet 
hat  an  sich  nichts  Verdächtiges,  da  sie  nicht  geeignet  ist,  sein  Ansehen 
herabzusetzen  (?)  bis  auf  die  allerdings  feindselige  Tendenz,  daß  sie, 
die  Bundesgenossen,  allein  davon  betroffen  worden  wären,  während 
Domit.  gegen  die  mehr  zu  fürchtenden  Chatten  nichts  habe  ausrichten 
können."  Dom.  habe  wohl  die  Mattiaker  noch  nachträglich  für  ihren 
Abfall  im  J.  70  züchtigen  wollen.  Ob  damit  freilich  auch  dem  Haupt- 
zweck, das  Vorland  von  Mainz  für  die  Zukunft  zu  sichern,  gedient  ge- 
wesen wäre,  ist  mir  recht  zweifelhaft. 

Die  Erzählung  von  den  im  Triumph  Domitians  aufgeführten 
Pseudo-Chatten  verweist  V.,  wie  auch  Ranke  u.  a.  getan  ,  ins  Fabel- 
reich; nimmt  sich  doch  die  Anekdote  ganz  so  aus  wie  eine  Variation 
des  dem  Caligula  zugeschriebenen  Geniestreichs  (Die  59,  2,  1).  Auch 
dessen  Feldzug  war,  wie  der  domitianische,  „urplötzlich"  unternommen 
worden.  Zu  verwundern  ist  es  übrigens  nicht,  daß  das  Mißverhältnis 
zwischen  Domitians  großen  Worten  (or/xoüxo  cu3T£  [i-i'(oi  xaTcupöcüxtu?) 
und  seinem  bescheidenen  Erfolg  die  Erinnerung  an  die  „Taten"  des 
hirnverbrannten  Gaius  erweckte  und  dadurch  die  Legendenbildung  ge- 
fördert wurde.  —  Manche  Ausführungen  Viezes  ermangeln  noch  sorg- 
fältiger und  eingehender  Begründung;  auch  Einzelheiten  des  Ausdrucks 
lassen,  wie  angeführte  Stellen  zeigen,  an  Korrektheit  zu  wünschen 
übrig.  — 

JI.    Wortschatz  und  Sprachgebraach. 

24.  Lexicon  Taciteum  ediderunt  A.  Gerber  et  A.  Greef. 
Fase.  XIII  et  XIV  ed.  A.  Greef;  fasc.  XV  ed.  A.  Greef  et  C.  John; 
fasc.  XVI  ed.  C.  John.  Lipsiae,  1897.  1900.  1902.  1903,  B.  G. 
Teubner.     S.  1377—1802.     Lex.-8. 

Habent  sua  fata  libelli.  —  Das  1877  herausgegebene  erste  Heft 
dieses  Werkes  trug  auf  der  Eückseite  des  Deckblattes  den  Vermerk: 
„Das  Lexicon  Taciteum  wird  in  6 — 7  fasc.  zum  Preise  von  3,60  M. 
a  fasc.  erscheinen."  Und  nach  25  Jahren  ist,  mit  dem  16.  Heft,  die 
verdienstvolle  Arbeit  zum  Abschluß  gekommen,  nachdem  Greef,  der 
bereits  im  Frühjahr  1888  durch  Gerbers  Tod  seines  Mitarbeiters  be- 
raubt werden,  in  unermüdeter  Tätigkeit,  unter  Hintansetzung  seiner  Ge- 
sundheit, das  Lexicon  bis  zum  15.  Faszikel  gefördert,  dann  aber  sich 
genötigt  gesehen  hatte,  die  Vollendung  (die  Buchstaben  u  und  v)  einem 
andern  Sachkundigen,  C.  John  (der  schon  den  Artikel  sum  bearbeitet 
hatte),  zu  übertragen.  John,  dessen  vorzügliche  Dialogusausgabe  weiter 
nnien  zu  besprechen  ist,  hat  Greels  bewährtes  Verfahren  in  der  An- 
ordnung   und  Behandlung    des  Stoffes    durchweg  festzuhalten,    auch  in 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189f;-1903.    (Wolff.)  73 

Genanigkeit  ihn  zu  erreichen  sich  bemüht,  so  daß  die  allseitig  aner- 
kannten Vorzüge  dem  Lexicon  bis  zum  SchluDartikel  bewahrt  geblieben 
sind.  — 

Die  charakteristischen  Eigenheiten  der  taciteischen  Sprache  und 
ihre  Abweichungen  vom  Wortschatz  und  Wortgebrauch  der  übrigen, 
insbesondere  der  klassischen  Prosaschriftsteller,  treten  auch  in  den  vor- 
liegenden 4  Schlußheften  des  Lexicons  nach  jeder  Richtung  hervor  und 
bieten  in  Menge  Gelegenheit  zu  lehrreichen  Beobachtungen. 

Von  den  mit  re    zusammengesetzten  Zeitwöi'tern    macht  Tac.  im 
ganzen  sparsam  Gebrauch;  renuntio  hat  er  nur  einmal  =  „aufkündigen", 
nie,    wie  Cicero  und  Cäsar,  =  , melden".    Gänzlich    meidet    er   repleo 
(ziemlich  oft  steht    expleo    und  suppleo),    rescindo  (dafür    u.  a.  rumpo 
und   s.  Komposita),  reprehendo  (auch  reprehensio  nur  I  49,  3),  reseco, 
resigno,  respiro,    retexo,    retardo;    rescribo  bedeutet  ihm  nur  „zurück- 
schreiben", „antworten".     Es  fehlen  ferner  retrorsum,   rusticus  (ebenso 
agiicola:    dafür    5  mal    subst.    agrestis,    2  mal    cultor    in    gleicher   Be- 
deutung),   saepissime  (das    volltönende  saepenumero  in  einer  Rede,    14, 
43,  1),  salio,    satius,  sceptrura  (aber  sceptuchus  6,  33,  8),    secerno  (oft 
discerno),  secludo,  seiungo,  sero  „spät"  (oft  serus;  vgl.  subitus,  impro- 
visus,nie  subito,  improviso),serpo,serpens,spondeo;  stupeo,  stupidus,  Stupor 
(teilweise  vertreten  durch  torpeo  und  torpor).     Auch  viele  sonst  häutige 
Komposita  mit  sub  vermissen  wir  im  Wortvorrat    des  Tac:    subiungo, 
suborno,    subsequor,    subsido,    succingo    (dafür  accingo,    8mal    in  eig., 
8 mal  in  metaphorischer  Bedeutung),    succumbo,    suppouo,    suscito;    es 
fehlen  ferner  superus,  tellus,  valde  (validius  ,, wirksamer"  2  mal  in  den 
Ann.),  vehementer,    venustus  (auch  formosus),    vestio ,    vitupero  (5  mal 
castigo),   transporto  (oft  transfero,  transmitto,  transveho,  selten  traicio, 
einmal  transpono).  —  J^ur  dem  Dialogus  gehören  an:  rhetor,  ridiculus, 
salto  (tanze),    sanguinans,    sanus,    schola,    scholasticus,    secedo,   studeo 
„studiere",    Studiosus,  studiose,    sua  spoute,  subministro,  subrideo,  sub- 
stantia  facultatum  ,    subtilis,  supervacuus,  suspicor,  tametsi,  temerarius, 
teuer.   —  Vom  psychologischen  wie  vom  ästhetischen  Gesichtspunkt  aus 
beachtenswert  sind  gewisse  bei  Tac.  besonders  häufige  Beiwörter  von  fama 
und  rumor.  —  Als  von  Tacitus  bevorzugte  Wörter  dürfen  u.  a.  gelten: 
remeo  (dichterisch;  19 mal),  repens  (mehrfach  =  recens),  repente.  repen- 
tinus (einmal,  15,4,  8,  von  Personen  gebr.),  subitus  (33  mal,  von  Pers. 
3 mal);  reputo  (fehlt  bei  Caes.)  vertritt  bei  Tac,  wiederholt  die  seltener 
angewendeten  W.  considero,  cogito,  delibero,  animo  voluto  u.  a.;  reve- 
rentia,  reus.  robur  (oft  in  milit.  Bed.,  so  bei  Caes.  nur  b.  c.  III  87,  5), 
rogito  (rogare    fast  nur    von   amtlichen  Anfragen    und  Anträgen),    ruo 
(fehlt  bei  Caes.),  rumor.     Sehr  oft  tritt  saevitia  auf,  eng  verschwistert 
mit  libido,  licentia,  superbia,  luxus,  luxuria,  impudicitia,  auch  scelus  und 


74  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

seditio  (Aufruhr,  Meuterei,  Krawall).  Eine  weitere  Gruppe  bilden  socordia 
(socors  animus),  inertia,  ignavia,  segnitia  (nicht  segnities),  torpor;  je 
einmal  steht  torpedo  und  stultitia;  8 mal  stuitus,  5  mal  stolidus.  Die 
Wortsippe  servus,  servilis,  servire,  servitus,  servitium  (serva  fehlt,  dafür 
ancilla,  9  mal)  ist  natürlich  stark  vertreten  bei  dem  Autor,  der  sich 
vorg-esetzt  hat,  die  Geschichte  der  verg'ang-enen  Knechtschaft  zu 
schreiben  und  die  „Sklavenseelen"  wie  die  Tyrannen  (und  gerade 
tyrannus  braucht  Tac.  nur  einmal,  6,  6,  7,  mit  Anspielung  auf  eine 
Stelle  des  Plato)  zu  brandmarken.  Dem  entspricht  auch,  daß  simulare, 
simulatio,  suspicere,  suspectare,  suspicio,  auch  secretum  in  mannig- 
fachster Verwendung  in  den  Ann.  besonders  häufig  vorkommen.  Ferner 
steht  mancipium  15 mal,  familia  für  servi  19 mal  bei  Tac,  famulus  fehlt. 

Neben  dem  häufigen  rursus  und  rursum  (in  den  Ann.  vorwiegend) 
tritt  iterum  nur  6  mal  auf,  einmal  (D.  17,  25)  semel  atque  iterum.  — 
Sanguis  steht  oft  raetonj^misch  für  Blutvergießen,  Mord;  Blutsverwandt- 
schaft, Stamm,  Abkömmling,  Kind.  Das  „wenn*  und  ,,aber"  spielt  bei 
Tac.  eine  große  Rolle;  sonach  ist  begreiflich,  daß  im  Lexicon  die  um- 
fänglich ausgeschriebenen  Stellen  mit  „sed"  nicht  weniger  als  24,  die 
Bedingungssätze  mit  ,si"  19  Spalten  füllen.  Die  Häufigkeit  der  Kon- 
struktion mit  sive  —  sive,  seu  —  seu  und  der  Partikel  vel  (6  Sp.) 
entspricht  der  psychologischen  Motivierungsart  des  Tac.  (Vgl.  dazu  die 
Beobachtung  Andresens  in  Jahresb.  d.  ph.  V.  27  S.  321.)  —  Scrutor 
hat  bei  T.  4  mal  die  eig.  Bedeutung  ,. durchwühlen",  8 mal  „unter- 
suchen", 8 mal  ,,nach  etw.  forschen".  Sedes  steht  oft  für  fines,  terra, 
patria,  locus,  loca,  auch  für  ,, Mittelpunkt",  ,,Herd"  (des  Kriegs), 
,, Basis".  —  senectus  (26 mal)  findet  sich  in  allen  Schriften  (außer  D.), 
senecta  (26  mal)  nur  in  Hist.  und  Ann.  Sequor  hat  oft  seine  Stelle 
am  Satzanfang,  um  den  Übergang  zu  vermitteln,  ohne  und  mit  Kon- 
junktion (et,  atque,  que)  oder  Adverb.  Die  Stellen  mit  sermo  füllen 
4  Spalten.  Sehr  häufig  und  vielseitig  ist  die  Verwendung  der  Zeit- 
wörter trade,  traho,  tracto,  turbo.  —  Die  alliterierende  Verbindung 
silvae  saltusque  (A.  34,  6  und  2,  14.  6)  mag  als  Hinweis  dienen,  daß 
Tac.  zur  Schilderung  des  Schauplatzes  der  Kriegszüge  des  Agricola 
und  des  Germanikus  ,.die  gleichen  Farben  auf  der  Palette"  hatte.  Ein 
oft  mißdeuteter  Begriff  ist  sordes  (4V2  Sp.),  I  52,5;  60,  1  in  Ver- 
bindung mit  avaritia  als  „schmutziger  Geiz"  aufgefaßt. 

Zu  den  bei  Tacitus  nur  vereinzelt  vorkommenden,  der  klassischen 
Prosa  fremden,  teilweise  poeti'schen  Wortbildungen  gehören:  regnatrix 
(1,  4,  3),  relatus  (G.  3,  3),  reluctor,  revelo  (G.  31,  5),  relucesco,  secundo, 
sinuo,  sonor,  sanguinans,  trausmeo  (PlinJ,  transmoveo,  turbamentum 
(Sali.),  transgressus  (Sali.),  superventus  (Pün.),  transfugium  (Liv.), 
traiectus  („Überfahrtstelle"),  tabidus,  temnendus,  temptamentum,  trucu- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff.)  75 

lentia,  turpare.  valescere,  uligo  (2  mal  an  charakteristischen  Stellen), 
traditio  („Bericht",  16,  16,  12;  anders  Quintil.);  supplicium  =  snppli- 
catio  (nach  älterem  Spr.gbr.),  sellisternium,  nach  lectisternium  gebildet, 
trudis  (Verg.),  sellula  (III  84,  17;  das  gewöhnlichere  lecticula  III  67,  8), 
trenior  terrae  einmal  für  motus  t.  —  Vor  Tacitus  in  der  Literatur, 
wie  es  scheint,  nicht  nachweisbar  sind  u.  a.  sanctor  (3,  26,  15),  sub- 
versor  (3,  28,  3),  subvectus  „Zufuhr"  (neben  subvectio),  sesquiplaga 
(15.  67,  21),  subsignanus  (I  70,  22;  IV  33,  7,  von  Stowasser  falsch  ge- 
deutet) superstaguare  (1,  79,  8),  superurgere  (2,  23,  18),  venditalor, 
vimentura,  uniformis.  Die  „ignota  antea  vocabula"  sellariorum  et  spin- 
triarum  (6,  1,  11)  sind  noch  bei  Sueton  und  Martial  anzutreffen.  Für 
die  militär.  Bezeichnungen  tertianus  (i),  septimani,  tertiadecumani,  vi- 
cesimani,  unetvicesimani,  duoetvicesimaui  finden  sich  Vorbilder  bei 
Plinius  u.  a.;  auch  tesserarius  ist  sicher  keine  Neubildung  des  Tac. 
Seltene  Wörter  sind  semifactus  (Liv.  31,  46  u.  auct.  b.  Afr.  83,  3), 
supervolitare  (Verg.),  superstruere ,  subter  (12,  63,  8),  sacricola,  sacri- 
ficalis.  — 

Der  Artikel  res  (17  Sp.)  gibt  zu  vielen  stilistischen  Beobachtungen 
Gelegenheit;  hier  sei  nur  erwähnt,  daß  res  publica  von  fremden  Ge- 
meinwesen nicht  gesagt  wird,  außer  G.  13,  6.  Vielfach  variiert  Tac. 
der  Form  nach  den  Gegensatz  von  secundae  (prosperae  I  2,  5;  III  18,  6) 
und  adversae  res  (A.  32,  4):  inter  secunda  —  rebus  adversis  (II  59,  19); 
adversis  —  inter  secunda  (II  14,  17);  adversarum  rerum  —  in  secundis 
(III  77,  21);  fortunam  adversam  —  secundas  res;  sec.  adversisque 
(I  10,  2;  IV  36,  4);  secundis  rebus  suis  —  fortunae  usf.  —  Öffent- 
liche Zustände  und  Stimmungen  zu  schildern,  bedient  sich  Tac.  der 
verschiedensten  Verbindungen  mit  res:  trepidae,  turbidae  (5  mal,  das 
Bild  der  trüben  Flut),  turbatae  (4  mal),  impulsae,  motae,  fractae,  la- 
bantes,  fessae,  perditae,  maestae,  incruentae,  promptae,  quietae,  securae, 
tranquillae  res.  — 

Von  scelus  heißt  es:  „nou  uisi  id  q.  Verbrechen,  Frevel",  und 
gleichsam  zu  genauerer  Definition  folgen  die  Zitate:  14,  62,  7  admissum 
scelus  —  malorum  facinorum,  11,  34,  4  o  facinus,  o  scelus!  u.  a.  m. 
Jene  Übersetzung  deckt  jedoch  nicht  an  allen  Stellen  genau  das,  was 
der  Autor  gemeint  hat;  so  4,  29,  7  scelere  vaecors  „vom  Bewußtsein 
seines  Verbrechens"  (Gewissen)  gepeinigt.  Dagegen  ist  scelus  I  5,  7 
offenbar  auf  den  mißglückten  verbrecherischen  Streich  des  Nymphidius, 
II  23,  22  auf  den  Kaisermord  zu  beziehen,  und  die  Auslegung  Schlüters 
, Frevelmut,  Tücke"  ist  unberechtigt.  —  sceptuchus  (6,  33,  8),  das  sonst 
in  der  ganzen  Latinität  nicht  vorkommt,  mag  Tac.  zur  Bezeichnung 
der  sarmatlschen  Häuptlinge  ,mit  einem  leise  spottenden  Lächeln"  an- 
gewendet haben;  ein  moderner  Schriftsteller  hätte  das  Fremdwort  ver- 


76  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

mutlich  in  Gänsefüßchen  gesetzt.  Stowasser  übersetzt  sceptuchi  ver- 
kehrterweise „Hofmarschälle",  wobei  er  offenbar  an  die  persischen 
Hofeunuchen  Xenophons  gedacht  hat. 

Unter  scire  „c.  acc."  bringt  Gr.  auch  die  Stelle  G.  34,  2  de 
actis  deorum  credere  quam  scire,  fügt  jedoch  hinzu:  Sed  fortasse  ,, scire 
de".  Diese  letztere  Auffassung  ist  m.  E.  die  unzweifelhaft  richtige; 
vgl.  Cic.  p.  Sulla  13,  39  de  ceteris  rebus  sciebat  .  .  .  cum  is,  qui  de 
Omnibus  scierit,  de  Sulla  se  scire  negavit.  —  Bei  secretum  unterscheidet 
Gr.  eine  abstrakte  und  eine  konkrete  Bedeutung;  jedenfalls  aber  ge- 
hören nicht  unter  verschiedene  Rubriken  die  Beispiele  4,  57,  12  Khodi 
secreto  (dans  sa  retraite  de  Rh.)  vitare  coetus,  I  10,  5  secretum  Asiae, 
III  63,  10  secreta  Campaniae  offerre  Vitellio.  —  Die  Bed.  „geheimer 
Verkehr"  liegt  13,  18,  7  crebra  cum  amicis  secreta  habere,  und  IV,  49,  5 
secreto  eorum  nemo  adfuit  gleichermaßen  vor  wie  15,  50,  8  Natalis 
particeps  ad  omne  secretum  Pisoni  erat,  und  I  22,  9  multos  secreta 
Poppaeae  mathematicos  habuerant.  Der  geheime  Verkehr  erfolgte  wohl 
meistens  im  ,, Boudoir"  oder  im  geheimen  Kabinett  der  Poppäa.  Diese 
Zusammenstellung  spricht  auch  für  die  von  Nipperdey-Andresen  ver- 
tretene Auffassung  von  13,  12,  6  ambigua  secreta  =  „vei'dächtige  Zu- 
sammenkünfte", nicht:  zweideutige  Heimlichkeiten  über  andere  Persouen, 
wie  Gr.  will.  Böttichers  Umschreibung :  occultarum  voluptatum  societas 
genügt  nicht.  G.  19,  3  litterarum  secreta  bedeutet  nach  Gr.  „geheimer 
Briefwechsel". 

Zu  den  üblichen  Umschreibungen  von  puer,  puella,  mulier  gehören 
außer  den  mit  pueritia,  puerilis,  puellaris  gebildeten  Wendungen  auch 
die  mit  sexus:  aetate  aut  sexu  imbecilli,  quod  irabecillum  aetate  et  sexu, 
imbecillus  et  impar  laboribus  sexus,  s.  natura  invalidus,  imbellis  s., 
imbellis  s.  aut  fessa  aetas;  ferner  virilis  sexus  stirps,  duos  virilis  sexus 
simul  enisa  est. 

Simul  und  simul  atque  (ac)  kommt  als  unterordnende  Konjunktion 
bei  Tac.  nicht  vor,  um  so  reicher  ist  die  Abwechselung  im  Gebrauch 
von  simul  zu  korrelativer  Wort-  und  Satzverbindung,  auch  mit  et  s., 
ac  s.,  s.-que,  s.  et;  s.  .  .  et,  s.  .  .  que,  s.  ac,  s.  atque,  s.  .  .  atque, 
simul  .  ,  simul.  Dichterisch  und  nachklassisch  steht  s.  als  Präposition 
mit  Abi.  dreimal  in  den  Annalen:  3,  64,  9  septemviris  s.  et  sodalibus 
Aug.,  4,  55,  8;    6,  9.   11. 

Sistere  wendet  Tac.  ziemlich  oft  in  übertragener  und  prägnanter 
Bedeutung  an:  ignem.  sanguinem  bellum,  populationem,  fugam  s.,  so  daß 
auch  die  I  58,  12  überlieferte  La  statis  odiis  annehmbar  wäre,  wenn 
sich  nur  Status  =  sedatus,  compositus  irgendwo  sonst  nachweisen  ließe 
und  nicht  vielmehr  durchweg  im  Sinne  von  ,, feststehend",  „regelmäßig" 
gebraucht  würde.     Das  ursprüngliche  sedatis  kann  durch  einen  Sprech- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189G— 1903.     (Wolff.)  77 

oder  Hörfehler  zu  statis  entstellt  worden  sein.  —  I  35,  9  corpore  sistens 
ist  hingegen  vollkommen  richtig,  und  des  Faernus  billige  Konjektur 
corpore,  resistens,  schon  aus  Gründen  der  Euphonie  (vgl.  unten  Noväk) 
abzulehnen.  Hinsichtlich  der  Bedeutung  „sich  aufrechthalten",  , .stand- 
halten" (to  stand)  vgl.  Heraeus  zu  I  35,  9  und  Weißenborn-Müller  zu 
Liv.  II  29,  8.  —  sinus  ist  oft  mißdeutet  worden.  II  92,  18  per  occaltos 
aut  ambitiosos  sinus  (vgl.  A.  30,  12)  erklärt  Gr.  zutreffend:  „in  heim- 
lichen Verstecken  oder  bei  hohen  Gönnern".  Hätte  Tac.  mit  occ.  s. 
die  Säckel  niedriger,  „obskurer"  Leute  gemeint,  so  bliebe  unverständ- 
lich, warum  er  dann  nicht  lieber  obscuros  geschrieben  haben  sollte.  — 
III  38,  19  in  urbe  ac  sinu,  nach  Heraeus  u.  a.  „im  Schöße  der  Haupt- 
stadt", wofür  Sali.  Cat.  52,  35  sprechen  könnte:  in  sinu  urbis  sunt 
bestes.  Doch  dürfte  im  Hinblick  auf  domesticus  hostis  (I  27,  2)  rich- 
tiger übersetzt  werden:  ,,in  der  Hauptstadt  und  zwar  in  seiner  nächsten 
Umgebung".  —  species  wird  je  nach  dem  Zusammenhang  überaus 
mannigfach  wiedergegeben:  Anblick,  Aussehen,  äußere  Gestalt,  Er- 
scheinung, Bild;  prägnant:  großartige  (imponierende,  eindrucksvolle) 
Erscheinung,  Traumbild,  Glanz,  Gepränge,  Schönheit;  als  philosophisches 
Fachwort:  Form,  Art,  Begriff,  Ideal,  Musterbild  (=  specimen,  das  2 mal 
in  diesem  Sinne  vorkommt);  ferner:  Schein.  Anschein,  Vorwand.  — 
speciosus,  schönklingend,  bestechend,  glänzend,  vom  äußeren  Schein  im 
Gegensatz  zum  inneren  Gehalt  (Hör.  ep.  I  16,  45  speciosa  nomina); 
dämm  ist  die  Gegenüberstellung  A.  44,  11  speciosae  —  nimiae  schwer 
zu  begreifen.  —  Unter  spes  wird  Andresens  Deutung  von  14,  15,  19 
(procaces  .  .  in  spem  potentiae)  erwähnt,  die  jedoch  kaum  haltbar  ist. 
Die  gewöhnlich  vorgezogene  Beziehung  von  in  spem  auf  conscripti  sunt 
wird  wahrscheinlicher  durch  IV  46,  3  lectus  in  eandem  spem  (sc.  prae- 
toriae  miütiae)  e  legionibus  miles  ...  —  Im  Artikel  statim  sind  zwei 
gleichartige  Stellen:  D.  28,  11  quae  natos  st.  excipiunt,  und  A.  4,  11 
quod  St.  parvulus  „gleich  als  Kind"  (auch  13,  3,  17  puerilibus  st, 
annis)  unter  verschiedenen  Eubriken  aufgeführt.  Eine  besondere  Hervor- 
hebung gebührte  wohl  der  Breviloquenz  D.  18,  16  nee  statim  deterius 
esse  .  .  .  „darum  nicht  gleich"  d.  h.  man  braucht  nicht  gleich  (vor- 
eilig) anzunehmen,  daß  .  .  —  statuere  tritt  häufig  ein  für  instituere 
(asyla  st.),  constituere,  decernere;  euphemistisch  vom  Selbstmord:  de  se 
statuere  (vgl.  6,  26,  2  morieudi  consilium  cepit).  —  strenuus  läßt  an 
sich  wohl  keine  Deutung  ,,in  malam  partem"  zu,  wie  sie  Gr.  für  zwei 
Stellen  annimmt:  III  57,  5  neque  fidei  constans  neque  str.  in  perfidia; 
I  52,  12  sicut  modesti  quietique  ita  mali  et  strenui.  Eine  gute  Eigen- 
schaft wie  die  Tatkraft  (Gegensatz  inertia  und  quies)  kann  übel  an- 
gewendet werden,  in  ihrem  Ziele  sich  vergreifen,  auch  auf  selten  der  Bösen 
sein  (wie  im  letzteren  Beispiel);  die  Grundbedeutung  bleibt  doch  dieselbe. 


78  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189G— 1903.    (Wolff.) 

D.  12,  3  liest  Gr.  non  in  strepitu  nee  .  .,  lehnt  also  Schopens 
Eniendation  in  str.  urbis  ab;  allerdings  läßt  sich  nicht  behaupten,  daß, 
trotz  der  deutlichen  Bezugnahme  auf  9  a.  E.,  gerade  urbis  ergänzt 
werden  müßte.  Irgend  ein  Attribut  zu  strepitu  indessen  scheint  mir, 
auch  um  des  Satzrhj^thmus  willen,  durchaus  erforderlich.  Wie  man  sich, 
um  hier  das  attributlose  strepitu  zu  Verteidiger,  auf  Horaz  (ep.  II  2,  79 
Tu  me  inter  strepitus  nocturnos  atque  diurnos  vis  canere)  hat  berufen 
können,  verstehe  ich  nicht.  Paläographisch  leicht  erklärlich  wäre 
eine  Textverderbnis  aus  in  isto  strepitu  (in  Eurem  Großstadtlärm),  das 
dem  Sinne  nach  also  auf  dasselbe  hinauskäme  wie  Schopens  La.» 
Studium  „wissenschaftliche  Tätigkeit",  „Lieblingsbeschäftigung";  hier- 
von wird,  wie  von  cura  und  labor,  die  weitere  Bedeutung  „Werk", 
„Leistung"  abgeleitet;  in  ganz  besonderem  Sinne  16,  4,  7  omnia  studia 
sua  publicaret,  von  Neros  musikalischen  Kompositionen,  ,, Etüden".  — 
III  21,  2  Progressi  equites  sub  ipsa  moenia  vagos  e  Cremoneusibus 
corripiunt;  die  Ortsbestimmung  wird  am  natürlichsten  zu  progressi  ge- 
zogen, deshalb  ist  nicht  zu  vergleichen  V  1 1 ,  2  sub  ipsos  muros  struxere 
aciem  „dicht  unter  den  Mauern  hin".  Für  diese  Stelle  lehnt  übrigens 
Gr.  die  Konjektur  Ph.  Wagners  sub  ipso  muro  ab,  hinzufügend,  daß 
sub  monte,  sub  moenibus  etc.  bei  Tac.  nicht  vorkomme.  IV  48,  4  liest 
Gr.  gleich  Meiser  nach  M:  sub  Divo  Augusto  Tiberioque  principibus.  — 
Das  transitive  suesco  (wie  adsuesco  G.  4,  8)  gehört  der  Dichtersprache 
an;  mit  dem  Neutrum  des  Fürworts  als  Objekt  steht  es  bei  Cicero, 
fam.  XY  8  a  te  id,  quod  suesti,  peto.  —  2,  52,  11  disciplinae  et  im- 
periis  suesceret;  Nipperdey  hält  das  überlieferte  disciplina  fest;  denn 
,,der  Abi.  bei  adsuesco  und  adsuefacio  ist  nicht  ungewöhnlich"  (so  bei 
Liv.);  bei  Tac.  allerdings  findet  er  sich,  soweit  Dativ-  und  Ablativ- 
formen zu  unterscheiden  sind,  nirgends.  — 

Die  Wendung  V  11,  6  crebra  pro  portis  proelia  serebant 
(„lieferten  eine  Eeihe  von  Gefechten")  gehört  m.  E.  nicht  zu  sero 
„säen",  sondern  zu  sero  „anknüpfen",  wie  der  Sprachgebrauch  nament- 
lich des  Sallust  und  Livius  zeigt.  Die  Ausdrucksweise  II  86,  10  serendae 
invidiae  beruht  doch  auf  einer  ganz  anderen  Anschauung.  —  An  manchen 
Stellen  haben  Kritiker  auf  Vermutung  hin  dem  Text  des  Tac.  unnötiger- 
weise ein  Eeflexivpronomen  einverleibt.  Besonders  töricht  war  Ritters 
Konjektur  zu  I  10,  8  quotiens  <se>  expedierat,  als  ob  hier  derselbe 
Fall  vorläge  wie  14,  36,  11  und  14,  8,  8  ad  gratandum  sese  expedire 
„sich  in  Bereitschaft  setzen".  Zu  vergleichen  ist  vielmehr  I  88,  5  und 
II  99,  2  expedire  ad  bellum  „ausrücken",  „zu  Felde  ziehen".  —  Dieses 
absolut  gebrauchte  expedire  gehört  eben  zu  den  vielen,  in  der  Schrift- 
sprache natürlich  selten  gebrauchten,  technischen  Termini,  wie  auch  das 
bloße  derigere  neben  se  d.  (u.  aciem  d.).     IV  58,  30    legiones  contra 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1 896 -1903.    (Wolff.)  79 

derexerint  haben  deshalb  Meiser  u.  Heraeus  mit  Recht  als  korrekte  La 
festgehalten  (vgl.  Liv.  37,  23,  10).  Auch  die  forensische  Sprache  hat 
ihre  kurzen  Fachausdrucke,  wie  excusare  neben  se  excusare  und  excusari, 
weshalb  D.  5,  3  nichts  zu  ändern  ist.  Übrigens  scheint  die  (paläographisch 
leicht  zu  rechtfertigende)  Einschaltung  eines  se  auch  in  folgenden  Fällen 
unnötig  zu  sein:  1,  35, 13  proniptos  ostentavere,  4,  59,  17  ut  erectum  et 
fidentem  aninii  ostende r et,  5, 5,6  paratos  ad  ultionem...  testarentur,  viel- 
leicht selbst  14,  2,  4  offerret  saepius  temulento  comptam  et  incesto  paratara. 

Für  nicht  notwendig  erklärt  Gr.  die  Änderung  Andresens  4,  3,  16 
assumitur  in  conscientiam;  mir  scheint  sie  im  Hinblick  auf  die  Ver- 
bindungen A,  13,  12  adsumpto  in  partem,  3,  44,  2  ads.  in  societatem 
und  vor  allem  natürlich  13,  12,  2  ads.  in  conscientiam  höchst  probabel.  — 
super,  nicht  supra,  wie  Wölfflin  wollte,  ist  zu  lesen  11148,  11  s.  vota 
fluentibus;  auch  11,  38,  12  super  Pallantem  .  .  .  ageret.  Dagegen  muß 
D.  18,  21  supra  gegen  Halm,  dem  Gudeman  und  Wolff  gefolgt  sind, 
wiederhergestellt  werden,  wie  Andresen  gezeigt  hat  (Progr.  1892  S.  8). 

superbus  ,,non  nisi  in  malam  partem"  scheint  mir  zu  viel  gesagt, 
wenigstens  war  die  „stolze  Aufschrift"  2,  22,  2  vom  römischen  Stand- 
punkt aus  nicht  tadelnswert  (man  beachte:  de  se  nihil  addidit).  Auch 
der  Stolz  Agrippinas  auf  ihre  Fruchtbarkeit  (4,  12,  13  superbam  fecundi- 
tate  A.)  galt  wohl  nicht  als  frevelhafte  Überhebnng.  —  Der  singulare 
Komparativ  superius  (memoravimus)  V  19,  14  ist  im  Anbetracht  des 
gewöhnlichen  Sprachgebrauchs  nicht  unbedenklich. 

Ein  kleines  Kapitel  zur  Quellenbenutzung  seitens  des  Tac.  bietet 
sich  (S.  1658  b,  1659)  unter  trade  ,,cum  similibus":  schriftlich  über- 
liefern, berichten,  angeben.  Beachtenswert  ist  dabei,  daß  neben  zahl- 
losen Formen  wie  prodidere,  tradidere  sich  nur  einmal  tradiderunt 
findet  (2,  17,  17^.  —  Ein  von  Tac.  in  allen  möglichen  Bedeutungen 
bevorzugtes  "W.  ist  traho;  zweifelhaft  seine  Auslegung  15,  1,  16  proxima 
trahi;  —  für  die  Bed.  „geplündert,  verheert  werden"  lassen  sich  an- 
führen II  61,  6  Aeduorum  pagos  trahi,  und  3,  74,  6  pagi  impune 
traherentur;  die  Auffassung  Drägers,  Eoths,  Kuauts  u.  a.  ,, werde  nach- 
gezogen, folge  nach"  (ohne  eine  Zielangabe,  wie  in  partes,  in  causam) 
paßt  minder  gut  in  den  Zusammenhang. 

Die  im  Lex.  (S.  1580  b)  abgelehnte  Textänderung  16,  14,  12 
earaque  causam  multis  exitii  (M  exitio)  esse  hat  Andresen  seitdem  (in 
Jahresb.  26  S.  250)  eingehend  und  in  übei'zeugender  Weise  gerecht- 
fertigt. —  Mit  Eecht  wird  dagegen  Halms  Konjektur  14,  13,  1  tamen 
cunctari  als  verfehlt  zu  betrachten  sein,  weil  tamen  bei  Tac.  überhaupt 
nie  am  Anfang  eines  neuen  Satzes  steht.  —  IV  81,  3  oculorum  tabes 
ist  im  wesentlichen  gleichbedeutend  mit  dem  zweimal  folgenden  caecitas. 
Der  Umstand,  daß  der  Unglückliche,  wie  tabes  anzudeuten  scheint,  all- 


80  Bericht  über  die  Tacitusliteratar  1896—1903.     (Wolfif.) 

mählich  blind  geworden  war,  läßt  übrigens  die  im  Lex.  gegebene  Über- 
setzung „Hinschwinden  des  Augenlichts,  Augenleiden"  darum  keineswegs 
als  völlig  angemessenerscheinen. —  Nicht  ganz  gleichartigsind  die  (S.  1628a) 
zusammengestellten  Akkusative  tantum:  D.  13,  17  t.  posse,  III  57,  1  t. 
valet  und  D.  24,  13  t.  recesserimus.  —  Mit  2,  40,  10  haereutia  corpori 
tegmina  sind  schwerlich  „Schilde"  gemeint,  vielmehr  Harnische  (une 
armure  serree  contre  le  corps)  und  Helme;  12,  35,  14  loricarum 
galearumve  tegmina;  2,  21,  11.  —  Unzutrefiend  ist  (S.  1629b)  D.  23, 
27  tardare  wiedergegeben  mit  ,, trüben"  statt:  zurückhalten,  nicht  zum 
vollen  Ausdruck  kommen  lassen.  —  In  dem  Artikel  tempere  gibt  das 
Lex.  die  Nuancen  des  Begriffs  durch  12  verschiedene  Wendungen 
wieder,  tepor  bezeichnet  bei  Tac.  im  eig.  (III  32,  7)  und  uneig. 
Sinne  (D.  21,  27)  den  negativen  Begriff  der  „Lauheit"  (wo  Wärme 
verlangt  wird).  —  Für  teuere  (S.  1642a)  scheint  4,  67,  13  (Graecos  ea 
tenuisse  sq.)  nur  die  eine  Auslegung  annehmbar  zu  sein,  „diese  Gegenden 
innegehabt  haben".  —  Im  Art.  terror  verstehe  ich  nicht,  weshalb 
unter  der  Rubrik  ß,  c.  gen.  obi.  aufgeführt  sind  IV  76,  2  quarum 
terrore  ,, Schrecken,  den  sie  verbreiten  würden,"  4,  24,  6  t.  nominis 
Rom.,  13,  48,  8  cuius  (cohortis)  terrore  neben  1,  21,  3  ad  t.  ceterorura 
i.  q.  ad  ceteros  terrendos.  Hier  waren  die  Beispiele  zweckmäßiger  zu 
ordnen.  —  togatus  wird  I  38,  9  am  besten  weder  durch  „friedlich" 
noch  durch  das  selbstverständliche  ,, ungepanzert"  wiedergegeben,  sondern 
einfach  durch  ,,in  der  Toga". 

Die  Betrachtung  der  unter  tot  und  totiens  zusammengestellten 
Wendungen  legt  den  Gedanken  nahe,  in  diesem  oder  jenem  Falle,  soweit 
es  möglich  ist,  festzustellen,  welche  wirklichen  Verhältnisse  solchen  meist 
rhetorisch  übertreibenden  allgemeinen  Zahlbegriffen  zugrunde  liegen 
dürften.  Als  charakteristisch  hebe  ich  2  Stellen  hervor,  wo  der  tat- 
sächliche Kern  eines  hyperbolischen  tot  nachweisbar  bis  zur  Dreizahl 
zusammenschrumpft.  Drusus  spricht  (3,  34,  31)  von  seiner  Frau  Li  via 
als  „tot  communium  liberorum  parente",  und  doch  war  die  Zahl  ihrer 
Kinder  bekanntlich  nicht  größer  als  die  der  Triumphe  des  Tiberius, 
von  denen  es  3,  47,  4  entsprechend  heißt :  post  tot  receptos  in  iuventa 
triumphos.  Nicht  viel  weniger  freigebig  verfährt  die  Rhetorik  mit 
diesen  Quantitätsbegriffen  auch  an  andern  Stellen,  wie  II  39,  9  tot 
circum  amnibus;  1,  46,  9  Aug.  totiens  commeare  in  Germaniam  potuisse; 
3,  73,  7  Spartaco  post  tot  consularium  exercituum  clades;  zu  2,  37,  15 
en  stirps  et  progenies  tot  consulum,  tot  dictatorum  bemerkt  Lipsius 
ärgerlich:  Vaniloqua  hominis  oratio  et  falsa:  ubinam  isti  tot  consules, 
tot  dictatores?  Gerte  ego  in  Hortensia  gente  uuum  dict.  reperio  et 
cons.  unum.  —  Vgl.  ferner  IV  76,  21;  34,  31  (corrupta  totiens  victoria); 
72,  8;  III  38,  17;  2,  71,  11  u.  ö.  — 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (WolfiF.)  gl 

II  14,  2  trepidi  nuntii  i.  q.  „Eilboten".  Warum  nicht,  wie  in 
den  gleichartigen  Verbindungen  I  39,  12;  50,  1;  IV  18,  6,  „Schreckens- 
boten" (bei  denen  sich  meistens  die  Eile  von  selbst  versteht)?  —  Unter 
tres  (S.  1668a)  sollte  die  gute  La  des  Toletanus  A.  36,  4  quattuor 
Bat.  coliortes,  statt  des  vor  oder  hinter  cohortes  eingeschobenen  tres, 
Erwähnung  gefunden  haben.  —  D.  31,  18  apud  tristes  i.  q.  „nieder- 
geschlagen". Dies  dürfte  kaum  die  angemessene  Schattierung  innerhalb 
der  doch  wohl  beabsichtigten  Gradatio  descendens  von  Stimmungen  und 
Gesinnungen  abgeben,  besser  ,, mürrisch"  oder  ,, unfreundlich".  —  Der 
Ausdi'.  11,  21,  13  tristi  adulatione  hat  recht  wunderliche  Deutungen 
erfahren:  „unheilbringend",  ,, erbärmlich",  „widerlich"  usf.,  und  doch 
ist  dies  nicht  die  einzige  Stelle,  wo  Tac,  der  Menschenkenner,  jene 
besondere  Art  „studierter"  Kriecherei  (meditatae  adulationis  6,  3,  9) 
kennzeichnet.  Man  verfolge  nur  z.  B.,  wie  Valerius  Messala  zu 
schmeicheln  versteht  ,,vel  cum  periculo  offensionis"  (1.  8,  18  f.).  Auch 
Curtius  ßufus  war  eben  ,,ein  Schmeichler  mit  ernstem  Gesicht"  (Nipp.) 
oder  gar  mit  bärbeißiger,  sauertöpfischer  Miene,  nur  des  besseren  Ein- 
drucks wegen ,  eine  Persönlichkeit  wie  sie  ähnlich  Goethe  (auch  ein 
„altius  coniectans")  in  den  Xenien  (53  und  54)  geschildert  hat: 

„Ist  das  Knie  nur  geschmeidig,  so  darf  die  Zunge  schon  lästern. 
Was  darf  der  nicht  begehn,  der  sich  zu  kriechen  nicht  schämt. 
Was  du  mit  Beißen  verbrochen,  das  bringst  du  mit  Schmeicheln 

ins  Gleiche; 
Recht  so!     Auf  hündische  Art  zahlst  du  die  hündische  Schuld." 

Ubi  verbindet  Tac.  mit  den  verschiedensten  Zeitformen  und  in 
allen  möglichen  Kombinationen,  immer  der  Art  des  Vorgangs  wohl  an- 
gepaßt. Ob  dies  auch  12,  54,  4  der  Fall  sei,  ubi  quati  Uterus  et 
viscera  vibrantur,  orare  ut  .  .  bezweifelt  John  nicht  ohne  Grund 
(beachte:  festinatione  continua  .  .  .  primo  .  .  .  postremo  .  .  .)  und  schlägt 
(S.  1691b)  vor,  vibrabantur  herzustellen  (unter  vibro  ist  die  Emendation 
bereits  aufgenommen),  womit  zu  vergleichen  ist:  III  10,  17;  2,  4,  9; 
auch  3,  26,  6;  III  31,  9.  —  Nicht  überzeugend  ist  Johns  Änderung 
(S.  1694a)  D.  18,  6  utinam  ne  in  ulla  parte,  die  dem  überlieferten 
utinam  nulla  gegenüber  sich  recht  schwerfällig  ausnimmt.  S.  1729  b 
(unter  utinam)  ist  dieser  Vorschlag  übrigens  nicht  erwähnt  worden.  — 
Unter  unicus  weist  J.  zustimmend  auf  Andresens  Vermutung  hin,  daß 
4,  11,  7  filium  hinter  unicum  ausgefallen  sein  möge.  —  IV  81,  12 
famam  vanitatis  metuere.  Die  gewöhnliche  (?)  Übersetzung  „Miß- 
erfolg" verwirft  J.  mit  Recht;  er  faßt  vanitatis  =  temere  quaesitae 
gloriae,  also  etwa  ,, eitle  Vermessenheit".  —  S.  1738a  wird  auf  Kobi- 
linskis  (Jahresb.  XXVI  139)  Auslegung  von  G.  6,  11  equi  .  .  .  nee 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXI.    (1904.  II.)  6 


82  Bericht  über  die  Tacitusliteratiir  189G-1903.    (Wolfi.) 

variare  gyros  sq.  verwiesen.  Dieser  hat  sich  nachher,  Jahresb.  XXVII 
190 f.,  korrigiert,  ohne  jedoch  mehr  Klarheit  in  die  kavalleristische 
Streitfrage  bringen  zu  können. 

Das  kleine  "Wörtchen  ve  hat  in  den  Hss,  auch  des  Tac,  manche 
Irrungen  verursacht;  besonders  häufig  und  begreiflicherweise  nicht  leicht 
zu  berichtigen  sind  die  Vervi-echselungen  mit  que.  A.  33,  15  hat  Gude- 
man  die  Vermutung  Urlichs'  aufgenommen  paludes  montesque  et  flumina. 
Die  Disjunktivpartikel  scheint  in  der  Tat  nicht  recht  angebracht. 
Anders  steht  es  G.  4,  8  caelo  solove,  wo  die  besondere  Beziehung 
(man  braucht  darum  nicht  gerade  ve  durch  das  papierne  „beziehungs- 
weise" zu  übersetzen)  von  caelo  auf  frigora,  von  solo  auf  inediam 
scharf  betont  wird.  —  II  75,  6  kann  die  La  unus  alter  ve  (Wurm, 
Halm)  als  sicher  betrachtet  werden.  S.  auch  John,  Einl.  z.  Dialogus- 
ausg.  S.  20.  —  A.  12,  6  hat  Guderaan  mit  cod.  A.  u.  Toi.  duabus 
tribusque  geschrieben,  was  nicht  zu  billigen  ist.  —  Wie  sehr  die 
Frequeutativbedeutung  von  ventitare  abgeschwächt  ist,  zeigt  die  Ver- 
bindung crebro  ventitare  12,  3,  2  und  15,  52,  3.  —  Die  Tacitushss  bieten 
zweimal  die  Ablativform  veteri:  1,  60,  3  veteri  ap.  Rom.  auctoiitate 
und  D.  24,  10  more  veteri.  Im  Lexicon  hat  John  beidemale  vetere  den 
Yorzug  gegeben,  während  er  in  seiner  Dialogusausgabe,  wie  die  meisten 
Herausgeber,  veteri  beibehalten  hat  und  zwar,  was  ich  nicht  recht 
nachempfinden  kann,  „des  Wohllauts  wegen".  —  In  betreff  der  kontro- 
versen Stelle  V  4,  18  hat  John  eine  von  Gi'eef  abweichende,  doch  nicht 
gerade  die  richtigere  Auffassung  zur  Geltung  gebracht.  Unter  „septe- 
ni"  ist  zitiert:  pl.  cael.  vim  suam  et  cursus  septenos  [Halm;  M  Meiser 
septimos]  per  cursus  (Hes:  numeros)  (complent);  im  Art.  via  dagegen: 
pl.  cael.  vi  am  [Bezzenberger ;  M  vim]  suam  et  cursnm  septenos  per 
numeros  commeare  [M;  Halm,  al.  vim  .  .  .  compleant].  —  Ansprechend 
ist  J.s  Vermutung  zu  IV  47,  1  verane  pauperie  au  uti  videretur  [malim 
„ut  ita  videretur"].  —  Daß  II  78,  8  cupressus  procera  et  latior 
[Triller  laetior]  virebat  die  echte  La  sei,  scheint  mir  höchst  zweifelhaft. 
Selbst  wenn  der  Schriftsteller  mit  eigenen  Augen  nie  eine  Zypresse  ge- 
sehen hätte,  würde  er  sich  gescheut  haben,  demselben  Gegenstande 
zwei  80  entgegengesetzte  Eigenschaften  beizulegen.  —  IV  48,  10 
(S.  1784b)  legatorum  vis  [M  ins  corr.  ex  vis]  adolevit.  Nach  Andresens 
Angaben  (Progr.  1900  S.  12)  scheint  doch  ins  ursprüngliche  und  bessere 
La  zu  sein.  S.  1785a  wird  im  Art.  vis  die  Stelle  D.  26,  18  plus  vis 
habeat  quam  sanguinis  nur  in  eckigen  Klammern  angeführt,  denn  J. 
verwirft,  wie  die  meisten  Herausgeber,  den  Gen.  vis.  —  16,  18,  2 
nox  officiis  et  oblectamentis  vitae  transigebatur  (Petronio).  Dazu  be- 
merkt John:  Vulgo  „vitae"  nou  ad  officiis  trahitur;  so  von  Greef,  der 
(S.    1016b)    officia     durch    „Aufwartungen",     „Besuche"     wiedergibt. 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.     (WolfiF.)  83 

Nipperdey:  Höflichkeitsbeweise,  Empfänge,  Visiten.  Mit  dieser  engeren 
Bedeutung  des  W.  läßt  sich  indessen  eine  ungezwungene,  natürliche  Er- 
klärung der  Stelle  nicht  vereinigen.  Pflichtmäßige  oder  auch  Höflich- 
keitsbesuche können  nicht  wohl  beliebig  in  die  Nachtzeit  verlegt  werden; 
, .Empfänge"  im  eigenen  Hause  aber,  zu  denen  der  .,arbiter  elegantiarum" 
gewiß  auch  NachtgSste  genug  haben  konnte,  nannte  man  nicht  „officia". 
Petronins  gehörte  eben  zu  den  von  Seneca  gemeinten  Lebemännern  ,,qui 
officia  lucis  uoctisque  perverterint"  (ep.  122,  2);  er  verschlief  den  Tag 
nnd  „lebte"  bei  Nacht  seinen  pflichtmäßigen  Verrichtungen  und  den  Ver- 
gnügungen, diesen  vermutlich  mit  mehr  Hingebung  als  jenen:  ein  rechter 
Gegensatz  zu  einem  Helvidius  Priscus,  von  dem  es  bei  Tac.  (IV  5,  13) 
heißt:  cunctis  vitae  officiis  aequabilis.  —  Greef  war  geneigt,  G.  31, 13 
der  La  cultu  (Aussehen)  den  Vorzug  zu  geben  (s.  S.  808  a  und  848  a), 
John  ist  anderer  Meinung  und  hat  im  Art.  vultus  die  Stelle  dem- 
gemäß zitiert,  wobei  er  sich  allerdings  in  Übereinstimmung  mit  MüUen- 
hoff  befindet,  ob  auf  dem  rechten  Wege,  möchte  ich  bezweifeln. 

Der  A^ollständigkeit  halber  bringt  das  Lexicon  in  Klammern 
einige  Wörter,  die,  fehlerhafter  Überlieferung  oder  gelehrter,  aber  ver- 
kehrter Vermutung  entsprungen,  kein  Recht  auf  Anerkennung  haben: 
repetitus  14,  6,  14,  rullus  D.  21,  17,  sustentaculum  II  28,  10,  traditor 
IV  24,  13,  uls  12,  56,  4.  —  Die  peinliche  Sorgfalt  der  Bearbeiter  läßt 
sich  bis  ins  kleinste  verfolgen;  so  wird  in  einer  Spalte  nicht  weniger 
als  13  mal  (z.  ß.  durch  ,,cf.  supra  p.  1099b")  auf  Rubriken  zurück- 
verwiesen, unter  denen,  von  einem  anderen  Gesichtspunkte  aus  betrachtet, 
dieselbe  Stelle  zu  finden  ist.  Preilich  genügt  ein  bloßes  „supra",  wie 
es  mehrfach  vorkommt,  nicht  zu  rascher  Orientierung.  Beispielsweise 
ist  S.  1391b  hinter  11,  10,  17  turbatae  sunt  Parthorum  res  bemerkt 
„cf.  supra",  womit  S.  1390b  Z.  20  v.  u.  gemeint  ist.  Mitunter  hat 
eine  allzuweitgehende  Gliederung,  nach  zufälligen  Merkmalen,  die 
Arbeit  unnötig  kompliziert,  wenn  z.  B.  die  Stellen,  wo  remittere  mit 
oder  ohne  Angabe  der  Ortsrichtung  gebraucht  ist,  besonders  rubriziert 
werden:  a)  propr.  i.  q.  zurückschicken,  a)  I  8,  16  dux  deerat  abducto 
Vergiuio  .  .  .,  quem  non  remitti  .  .  .  crimen  accipiebant;  74,  12  legati 
apud  Vit.  remansere  .  .  .  praetoriani  remissi  sunt  usw'.  ß)  III  66,  5 
remitti  eos  (quartadecumanos)  in  Britanniam  placuit.  — 

Wenn  ich  den  Schlußheften  des  Lex.  Tac.  besondere  Aufmerk- 
samkeit gewidmet  und  zahlreiche  Einzelbemerkungen  daran  geknüpft 
habe,  so  hoffe  ich  darum  nicht  den  Vorwurf  unnützer  Breite  zu  ver- 
dienen. Das  in  seiner  Art  einzig  dastehende  Werk  ist  ja  längst  vor 
seiner  Vollendung  allseits  gebührend  anerkannt  und  mit  Gewinn  ver- 
wertet worden.  Sein  genaues  Studium  läßt  aber  zugleich  erkennen, 
wie  weit  wir  noch  immer  von  einer  erschöpfenden ,  stichhaltigen  Inter- 

6* 


84  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

pretation,  geschweige  denn  von  einer  guten  und  geschmackvollen  Über- 
setzung des  Tacitus  entfernt  sind.  Wertvolle  Beiträge  gibt  Andresen, 
JB.  24,  325;  27,  248  ff.;  28,  306  if. ;  29,  239  ff.  — 

25.      Philippus    Fabia,    Onomasticon    Taciteum.      Paris 
1900,  A.  Fontemoing.     772  S.     8. 

Noch  war  der  mühevolle,  solide  Bau  des  Lexicon  Taciteum  nicht 
vollständig  unter  Dach  und  Fach  gebracht,  als  er  bereits  einen  er- 
gänzenden und  höchst  erv^'ünschten  Anbau  erhielt,  in  elegantem 
französischem  Stile  ausgeführt.  Das  Onomasticon  Taciteum,  ein  zur 
Sammlung  der  ,,annales  de  l'universite  de  Lyon"  gehöriges,  splendid  aus- 
gestattetes Buch,  knüpft  an  die  wertvollen  Vorarbeiten  R.  Mackes  über 
die  römischen  Eigennamen  bei  Tacitus  (Progr.  Hadersleben  1886,  1888, 
1889,  1893)  an  und  bringt  'Unter  fleißiger  Benutzung  der  wichtigsten 
Sammelwerke,  namentlich  der  Prosopographia  imp.  Rom.,  in  alpha- 
betischer Ordnung  ein  Verzeichnis  sämtlicher  bei  Tacitns  vorkommen- 
den (subst.  und  adjekt.)  Xamen  von  Personen  und  Örtlichkeiten,  der- 
art, daß  die  einzelnen  Passus  in  genauem  Wortlaut  und  einem  für  das 
Verständnis  des  Zusammenhangs  hinreichenden  Umfang  mitgeteilt 
werden.  Unter  dem  Text  sind  wiederholt  auch  solche  Stellen  abge- 
druckt, wo  der  Schriftsteller  bestimmte  Personen  im  Sinne  gehabt  hat, 
ohne  doch  ihre  Namen  zu  erwähnen.  Als  bestimmend  für  die  alpha- 
betische Reihenfolge  dienen  bei  den  Römern  die  Geschlechtsnamen,  in 
zweiter  Linie  Vor-  und  Beinamen;  wo  bei  Tac.  der  Gentilname  einer 
Persönlichkeit  überhaupt  nicht  genannt  ist,  findet  man  diese  unter  der 
Rubrik  des  Beinamens.  Nur  die  Kaiser  und  Kaiserinnen  sind  unter 
der  bei  dem  Schriftsteller  üblichen  Benennung  aufgeführt;  unter  Livia 
sind  auch  alle  Stellen  angegeben,  wo  diese  als  Kaiserin-Mutter  Augusta 
oder  Julia  Augusta  bezeichnet  wird. 

Die  Zuverlässigkeit  des  „Onomasticon"  ist  von  allen  Seiten  lobend 
anerkannt  worden.  K.  Niemeyer  (B.  Ph.  Woch.  1901  Nr.  15)  hat  z.  B. 
behufs  einer  Stichprobe  sämtliche  Eigennamen  des  11.  Buches  kontrolliert 
und  bei  Fabia  nur  vermißt:  im  Art.  Claudius  (S.  201,  1  v.  u.)  die 
Stelle  11,  28;  unter  Phraates  (S.  534,  18)  11,  10.  —  0.  Andresen 
(Jahresber.  27,  S.  328—34)  bringt  viele  Nachträge  aus  den  Hand- 
schriften, konstatiert  aber  die  Genauigkeit  und  Vollständigkeit  des 
Lexikons  ausdrücklich  durch  eine  besondere  Vergleichung  mit  dem  bis 
dahin  als  vollständigstes  geltenden  Namenverzeichnis,  das  E.  Klebs 
s.  Z.  zu  Nipperdeys  Textausgabe  angefertigt  hatte. 

In  bezug  auf  die  Schreibung  der  Namen  hält  F.  an  der  be- 
glaubigten Überlieferung  grundsätzlich  aufs  genaueste  fest;  gewissenhaft 
notiert  er  abweichende  (durch    einen  Stern    als    unsicher  kenntlich  ge- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189(1  —  1903.    (Wolff.)  85 

machte)  Lesarten,  mögen  sie  nun  auf  irgendwelchen  Urkunden  oder  ge- 
lehrten Vermutungen  beruhen.  Die  ununterbrochen  zunehmende  Be- 
reicherung der  Inschriften-,  Münzen-  und  Handschriftenkunde  wirdjauch 
in  liieser  Hinsicht  noch  manche  Berichtigung  bringen.  Zunächst|hat 
Andresen  a.  a.  0.  auf  Grund  neuester  Untersuchungen  folgende  Punkte 
als  der  Verbesserung  bedürftig  erwähnt:  Statt  Vulcatius,  Hilarias" 
Decius  Samnis,  Vaticanus  sei  zu  schreiben  Vulcacius,  Hilarus  (Andr. 
Progr.  1900  S.  9),  Decidius  Samnis,  Vaticanum  (Neutr.).  Tac.  er^ 
wähnt  4  Angehörige  der  Gens  Volcatia,  wie  man  früher  allgemein 
schrieb.  Die  Hss  schwanken  zwischen  Volcatius,  Vulcatius  (so  Fabia), 
Volcacius  u.  Vulcacius,  doch  dürfen,  scheint  es,  die  beiden  letzten 
Schreibarten  als  die  auch  durch  Inschriften  und  durch  die  entsprechende 
griechische  Namensform  am  besten  beglaubigten  gelten.  Ob  aber  nun 
Vulcacius  oder  Volcacius,  wie  Heraeus  IV  9,  6  hat,  den  Vorzug  ver- 
dient, ist  nicht  leicht  zu  entscheiden.  Bei  Caesar  b.  g.  VI  29,  4  bieten 
die  Hss  BC  und  die  meisten  Herausgeber,  auch  Meusel,  die  Form  C. 
Volcacium  Tullum. —  Vulcacius  Tullinus  (16, 8)  und  Vulcacius  Tertullinus 
(IV  9)  werden  in  der  Prosopographie  mit  Recht  identifiziert;  eine 
Textverderbnis  liegt  ziemlich  sicher  an  der  zweiten  Stelle  vor.  —  D.  21 
hat  John  Decidio  Samnite  statt  Decio  S.  in  den  Text  gesetzt,  weil  ein 
Decius  Samnis  sonst  nirgends  vorzukommen  scheine.  Die  Emendation 
stützt  sich  auf  Cicero  p.  Cluentio  161,  wo  die  Hss  Decitio  und  Decidio 
bieten.  —  Welches  Substantiv  zu  Vaticanus  (II  93)  zu  ergänzen  sei, 
sagt  F.  nicht.  Der  Zusammenhang  der  Stelle  spräche  eher  für  ager 
oder  campus  als  für  mons  oder  collis,  wenn  wir  nicht  lieber  mit 
Andresen,  der  auf  Elter  (Rh.  Mus.  1891  S.  112)  hinweist,  das  subst. 
Neutrum  Vaticanum  voraussetzen  woUen.  Ich  möchte  fast  vermuten, 
daß  Tac.  auch  Aventinum  (wie  Liv.  1,  33,  2  und  5;  3,  67,  11)  so  ge- 
braucht hat,  obwohl  die  3  Stellen,  wo  dieser  Hügel  oder  Stadtteil  er- 
wähnt wird,  nicht  erkennen  lassen,  welches  die  Nominativform  ist.  Sonst 
heißt  es  bei  ihm  stets  Palatinus  mons,  Capitolinus  mons,  Capitolina  arx, 
moDS  Caelius  (III  51  Janiculum).  —  II  65  ist  Hilarus  (der  Name  fehlt 
in  der  Prosopographie)  zu  lesen  (nicht  Hilarins),  wie  13,  32  Lurius 
Varus,  da  beidemale  die  erste  Hand  des  Med.  verbessert  hat.  Aus 
Andresens  neuesten  textkritischen  Beobachtungen  (W.  f.  kl.  Ph.  1902, 
Nr.  26  ff.)  ergibt  sich  ferner,  daß  die  Stelle  16,  23  unter  Illyricum  ein- 
zureihen ist,  da  ursprünglich  supplendis  Illyrici,  nicht  Illyricis,  legionibus 
im  Med.  geschrieben  steht.  —  3,67  hat  des  Schreibers  Hand  die  richtige  Form 
Paconium  an  den  Rand  gesetzt,  so  daß  die  La  ragonium  nicht  ernstlich  in 
Frage  kommt.  —  III  77,  wie  IV  3,  ist  der  auch  durch  Inschriften  be- 
stätigte Name  Vergilius  Capito,  nicht  Verginius  C,  handschriftlich  über- 
liefert, was  Andresen  (Jahresber.  27,  S.  331/32)  berichtigend  nachträgt^ 


86  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

Die  Frage,  ob  der  12,  49  als  Legionslegat,  13,28  als  Volkstribun 
genannte  Helvidius  Priscus  dieselbe  Person  mit  dem  berühmten  Eidam 
des  Thrasea  sein  könne,  wird  von  Fabia  wie  von  den  meisten  Erklärern 
verneint,  hauptsächlich  wegen  der  Notiz  des  Scholiasten  zu  Juvenal 
(5,  36),  daß  H.  Pr.  unter  Nero  Quästor  von  Achaia  gewesen.  Obgleich 
die  Prosopographie  zahlreiche  Helvidii  Prisci  aus  Inschriften  nachweist, 
wird  darin  die  Identität  jener  Personen  angenommen  (auch  von  Willems, 
le  sönat  Romain).  —  iV  45  steht  die  Namensform  Manlius  Patruitus 
nicht  ganz  fest.  Lipsius  vermutete  Patruinus;  in  der  Prosopographie 
heißt  es,  wie  F.  anmerkt,  vielleicht  sei  Matidius  st.  Manlius  zu  lesen, 
so  daß  hier  der  78  n.  Chr.  gestorbene  C.  Salonius  Matidius  Patruinus 
gemeint  wäre:  so  denkt  auch  Willems  a.  a.  0.  S.  69  und  107.  —  F. 
glaubt,  wie  de  Vit  und  Nipperdey,  nicht  an  die  von  der  Prosopographie 
(238)  und  von  Willems  (S.  20)  behauptete  Identität  des  Konsuls  L. 
Calpuruius  Piso  (13,28;  13,31;  15,18)  des  J.  57  mit  dem  Prokousul 
gl.  Namens  des  Jahres  69  (IV  38:  49.  50).  Und  doch  stehen  dieser 
Annahme  m.  E.  keine  triftigen  Gründe  im  Wege. 

IV  44  sollte  unbedenklich  gelesen  werden:  Pontiam  Postum  in  am, 
worauf  einerseits  die  deutlichen  Schriftzüge  der  Hs,  anderseits  die  von 
W.  Heraeus  erwähnten  Analogien  Terentia  Postumina  und  Valeria 
Postumina  hinführen.  —  Der  IV  7  mit  Thrasea  und  Soranus  zusammen 
genannte  Sentius,  mit  welchem  (unter  Nero)  die  Familie  erlosch,  war 
wohl  sicher,  wie  Willems  S.  117  annimmt,  Sohn  des  Konsuls  4  n.  Chr. 
Cn.  Sentius  Saturninus,  (vielleicht)  Stadtprätor  37,  Konsul  41,  und  Feld- 
herr unter  Claudius  in  Britannien.  —  Daß  14,  51,  13  und  I  72,2 
Ofonius  Tigellinus  wiederherzustellen  sei,  hat  F.  schon  vor  einigen 
Jahren  glaubhaft  gemacht.  Wird  doch  der  Gentilname  Ofonius  durch  zwei 
Inschriften,  dagegen  Sofonius  oder  Sophonius  (so  Lipsius)  nirgends  nach- 
gewiesen. Zudem  ist  die  Stelle  des  Dio,  worauf  Lipsius  seine  Ver- 
mutung stützte,  kürzlich  durch  Boissevain  gut  korrigiert  worden.  Ti- 
'fsXXtvoc  ö  ^ocpcuvto?  scheint  durch  Dittographie  aus  Tq.  'O'ftuvioc  ent- 
standen zu  sein.  Übrigens  hat  auch  der  Scholiast  des  Juvenal  (1,  155) 
Ofonius  geschrieben. 

Der  pous  Mulvius  wird  4 mal  von  Tac.  erwähnt:  13,47;  I  87, 
II  89,  III  82 ;  an  den  beiden  letztgenannten  Stellen  hat  die  Hs  auf- 
tallenderweise  ,,mului".  Sollte  dieser  Genetiv  nicht  der  Abwechselung 
halber  absichtlich  statt  des  Adjektivs  geschrieben  sein?  Vgl.  I  41  und 
II  55  lacus  Curtii  st.  Curtius.  Campus  Martis  (5 mal)  tür  C.  Martius 
(3 mal)  will  ich  nicht  als  analoge  Ausdrucksweise  betonen.  —  Pyrrichum 
trierarchum  (II  16;  M  phyrricü)  ist  wohl  ein  Schreib-  oder  Druck- 
fehler für  Pyrrhicum?  —  Daß  Tac.    sowohl    den  gehobenen  Ausdruck 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)'  87 

Graii  (bdsclir.  übrigens  nicht  sicher)  als  auch  das  ironische  und  ver- 
ächtliche Diminutiv  Graeculus  und  Graecula  gerade  im  Dialog  (und 
nur  hier)  anwendet,  erklärt  sich  aus  dem  Zusammenhang,  aus  Ton  und 
Tendenz  der  einzelnen  Redner.  Ob  dem  Römer,  wenn  er  vom  „Grae- 
culus" sprach,  auch  wohl  der  „tumens  inani  graculus  superbia"  der 
Fabel  vorschwebte?  —  Die  Akkusativform  Persen  (12,  38  und  62)  setzt 
als  Nominativ  das  altlateinische  Perses,  nicht  Perseus,  voraus. 

In  der  Fußnote  zu  Tuisto  dürfte  die  ,,gar  nicht  schlecht  (durch 
die  Hssgruppe  E)  überlieferte  und  wohl  mögliche"  (so  Müllenhoff)  Namens- 
form Tuisco  Erwähnung  gefunden  haben.  Im  übrigen  übt  F.  wohl- 
berechtigte Zurückhaltung  gegenüber  MüUenhoffs  Konjekturen  zur  Ger- 
mania. An  Helvecones  (G.  43)  hält  er  fest,  vermutlich  aus  gleichem 
Grunde  wie  Much,  welcher  die  Ansicht  vertritt,  es  sei  in  diesem  Falle, 
wenn  Textesänderungen  unumgänglich  scheinen,  richtiger,  den  Ptolemaus 
(der  AiXouaioivsj  hat)  nach  Tacitus  zu  berichtigen  als  umgekehrt.  Auch 
Oxiones  (G.  46)  bevorzugt  F.,  wohl  mit  Recht,  obgleich  M.  das  minder 
gut  beglaubigte  Etiones  für  die  „allein  richtige"  Form  ausgegeben  und 
zu  fast  allgemeiner  Anerkennung  gebracht  hat.  Hingegen  schreibt  er 
in  Übereinstimmung  mit  M.s  früheren  Darlegungen  (in  Haupts  Zeitschr. 
IX  253  f.)  Lugii  (G.  43)  und  Jazuges  (12,  29.  30).  Inzwischen  aber 
hat  uns  der  gleichzeitig  mit  dem  Onomasticou  erschienene  Kommentar 
M.s  zur  Germania  (D.  A.  IV  484  f.)  belehrt,  daß  sein  Verfasser  später 
zu  einer  anderen  Ansicht  gekommen  ist  und  in  den  Formen  Lygii  (codd. 
iegiorum,  leugiorum,  ligios,  lygios)  und  Jazyges  (M  iazigibus,  iazigies) 
die  echte  Überliefeiung  zu  erkennen  geglaubt  hat.  —  Die  von  Plinius 
(n.  h.  4,99)  gebotenen  Formen  der  Stammnamen:  Istvaeones  und  lag- 
vaeones,  welche  M.  als  die  ursprünglichen  betrachtet,  werden  im  Onom. 
überhaupt  nicht  erwähnt,  ebensowenig  die  Variante  Hermiones  (BC  b^). 
Lemovii  (G.  43)  „kennt  nur  Tacitus;  der  Name  ist  nicht  sicher:  viel- 
leicht ist  Lemonii  richtig,  wie  die  Klasse  D  liest,  b  und  ß  am  Rande" 
(Müllenhoff). 

Die  Form  Sunuci  (IV  66)  findet  sich  zwar  auch  inschriftlich 
(C.  I.  L.  III  p.  872  f.)  und  in  den  Hss  des  Plinius  (n.  h.  4,  106), 
kann  jedoch  nicht  als  unbestritten  gelten.  W.  Heraeus  zitiert  aus  der 
Ephem.  epigr.  III  134  Texandri  (Plin.  Texuandri)  et  Sunici  (auch 
Sunnuci?).  —  Daß  die  handschr.  Überlieferung  Veneti,  die  Fabia  mit 
Recht  beibehält,  durch  die  Erinnerung  an  die  paphlagonischen,  adria- 
tischen  und  keltischen  Veneter  beeinflußt  worden  sein  wird,  wie  Müllenhoff 
bemerkt,  liegt  ja  auch  nahe  genug.  Ob  M.  mit  der  Konjektur  Varisti, 
für  Naristi,  und  mit  seiner  Namensdeutung  das  Richtige  getroffen,  wird 
von  manchen  Forschern  noch  stark  in  Zweifel  gezogen.  — 


88  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

26.  K.  Reissinger,  Über  Bedeutung  nnd  Verwendung- der 
Präpositionen  ob  und  propter.     II.  Teil.    Progr.    Speyer  1900. 

Die  römische  Literatur  nach  Cicero  —  auf  dieses  Gebiet  erstreckt 
sich  der  vorliegende  Teil  von  R.s  Untersuchung  —  zeigt  in  ihren 
verschiedenen  Gattungen  und  Epochen  auffallende  Schwankungen,  un- 
regelmäßige Ebbe  und  Flut,  sozusagen,  im  Gebrauch  der  genannten 
Präpositionen.  Um  nur  die  bedeutendsten  Prosaschriftsteller  der 
augusteischen  Zeit  und  des  ersten  Jahrhunderts  zu  berühren,  so  steht 
2unächst  Livius  in  starkem  Gegensatz  zu  Cicero  in  der  Bevorzugung 
von  ob,  das  er  überaus  häufig  in  mannigfachen  kausalen  Formeln,  aber 
auch  zur  Bezeichnung  des  sog.  inneren  Grundes  verwendet.  Auch  die 
übrigen,  von  der  Dichtersprache  meist  beeinflußten  Prosaiker  (Velleius, 
Val.  Maximus,  Curtius  u.  a.)  zeigen  große  Vorliebe  für  die  in  der 
älteren  Zeit  hinter  propter  fast  ganz  zurückgesetzte  Präposition  ob. 
Unter  den  Späteren  nimmt  Tacitus  eine  Ausnahmestellung  ein;  denn 
während  Seneca,  Quintilian,  die  Plinius  sich  dem  lange  vernachlässigten 
propter  wieder  zuwenden  (das  sie  doppelt  und  dreifach  so  viel  ge- 
brauchen als  ob),  wird  dieses  von  Tac.  im  ganzen  nur  8  mal  gesetzt, 
und  zwar  6  mal  in  der  räumlichen  Bedeutung  =  luxta,  2  mal  übertragen  : 
I  65,  3  propter  Neronem  Galbamque  pugnaretur  (Wölfflin  wollte  pro 
Nerone  emendieren)  „um  —  willen,  für"  (ebenso  singulär  bei  Liv.  VI  18,  9 
in  Verbindung  mit  einem  persönlichen  Fürwort)  und  D.  21,  21  propter 
magnitudinem  cogitationum  „infolge,  wegen,  bei". 

In  bezug  auf  den  Gebrauch  des  ,, selbständigen"  ob  (149  Stellen) 
bei  Tac.  bringt  R.  einige  beachtenswerte  Berichtigungen  zum  Lexicon 
Taciteum,  in  dem  er  namentlich  eine  richtiger  und  feiner  abgestufte, 
von  der  Grundbedeutung  (in  obviam)  ausgehende  Gliederung  der  Be- 
deutungen des  Wörtchens  gewünscht  hätte;  es  fehlen  z.  B.  die  Bed, 
„als  Bezahlung,  zum  Entgelt,  im  Interesse".  Greef  nimmt  für 
12  Stellen  finale  Bedeutung  an;  von  diesen  sind  allerdings  unbedingt 
auszuscheiden:  2,  83,  8;  3,  6,  2;  6,  15,  11  ob  rem  publicam  ,,für, 
um  —  willen".  Doch  auch  12,  39,  G  ob  irara  (innerer  Grund)  14,  14,  16 
ob  delicta  und  V  22,  15  ob  stuprum  (äußere  Veranlassung)  gehören 
wie  R.  zutreffend  beobachtet  hat,  nicht  unter  die  Rubrik  „vis  finalis". 
Verschiedene  Auslegung  ist  denkbar  für  4,  31,  11  und  11,  5,  10,  viel- 
leicht auch  für  1,  79,  1  ob  moderandas  Tiberis  inundationes,  Stellen, 
die  übrigens  Greef  nicht  hierher  gezogen  hat.  Immerhin  bleiben  noch 
Beispiele  genug,  in  denen  die  finale  Kraft  der  Präpos.  nicht  zu  ver- 
kennen ist:  1,  20,  2  ob  itinera  et  pontes  „zur  Unterhaltung  der  W. 
und  Br.",  1,  58,  15  neque  ob  praemiura  neque  ut  sq.,  3,  27,  7  alia 
ob  prava  ,,zu  sonstigen  bösen  Zwecken",  13,  5,  5  ob  id  (vocabantur) 
ut    „afin    que".  —  R.    selbst    umschreibt    ferner   I  63,   4  ob  praedam 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff )  89 

„wegen  der  Beute  (die  in  Aussicht  stand),  sowie  1,  3,  27  dignum  ob 
praemium,  wegen  eines  würdigen  Lohnes,  der  zu  erwerben  war". 
Trotzdem  kommt  er  schließlich  zu  dem  sonderbaren  Resultat:  „Eine 
finale  Bedeutung  von  ob  ist  (wie  in  der  klass.  Literatur)  auch  in  der 
silbernen  Latinität  nicht  sicher  nachzuweisen."  Ich  denke,  bei  einer 
natürlichen  und  ungezwungenen  Auslegungsweise  läßt  sich,  für  Tacitns 
wenigstens,  diese  Behauptung  nicht  aufrechthalten.  Das  ist  auch  die 
Meinung  Andresens,  Jahresber.  26,  251  f.  — 

27.  Gustav  Landgraf,  Beiträge  zur  historischen  Syntax 
der  lateinischen  Sprache.  Progr.  des  K.  Wilhelms-Gymnasiums 
in  München.     1899.     34  S.     8. 

Zu  den  Spracherscheinungen,  die,  obwohl  älteren  und  tieferen 
Wurzeln  entsprungen,  gemeinhin  doch  noch  als  reine  Gräzismen  gelten, 
gehören  u  a.  der  Dativ  der  beteiligten  Person  beim  Passiv  (Dativus 
auctoris)  und  der  Dativ  nach  den  Ausdrücken  des  Zusammenseins  und 
Zusammeukommens,  Vermischens  und  Tiennens.  —  Im  Anschluß  an 
H.  Tillmann,  der  jene  Art  des  Dativs  übersichtlich  behandelt  hat  (acta 
Erlang.  II.  1881),  gibt  L.  eine  auf  die  wichtigsten  Fälle  sich  be- 
schränkende Auswahl  nebst  manchen  dankenswerten  Ergänzungen  des 
Stellenmaterials.  So  ist  bei  Tillmann  das  sonst  nicht  belegte  desertus 
snis  Tac.  ann.  3,  20,  13  nachzutragen  (vielleicht  auch  h.  V  3,  8  utrisque 
desertl?).  Tacitus  liebt  den  Dativ,  im  Gegensatz  zur  klassischen  Prosa, 
auch  beim  gewöhnlichen  Passiv  (etwa  100  Stelleu),  wie  der  ältere 
Plinins,  der  ihn  öfter  setzt  als  den  Ablativ  mit  a.  Als  Kuriosum  be- 
merke ich,  daß  Nipperdey  in  seinem  unvollendeten  Kommentar  zu  den 
Historien  I  11  procuratoribus  (cohibentur),  als  „Abi.  instr.  =  per  procu- 
ratores"  aufgefaßt  hat,  trotz  3,  3;  12,  54  u.  a.  ra.,  vielleicht  im  Hin- 
blick auf  Caesar  b.  g.  7,  69,  7;  1,  8,  1  n.  a.  ähnliche  Beispiele.  — 
Ganz  der  Dichtersprache  (cadere,  iacere  alicui)  gemäß  ist  1,  59  sibi  tres 
piocubuisse  legiones  (=  prostratas  esse)  und  IV  17  cohortes  quibus  .  . 
procubuerint. 

Der  soziative  Dativ,  um  den  kurzen  Ausdruck  zu  gebrauchen, 
findet  sich  bei  lungere  und  einigen  Synonymen  in  allen  Epochen  der 
römischen  Literatur.  In  bezug  auf  Tacitus  wäre  hervorzuheben  ge- 
wesen, daß  er  iungere  überhaupt  nur  mit  dem  Dativ,  nie  mit  Abi.  und 
cum  verbindet;  jene  Konstruktion  war  eben,  wie  L.  zu  Ovid  bemerkt, 
„viel  bequemer  zu  handhaben".  Für  haerere  mit  Dat.  erwähnt  Verf. 
zwei  Stellen  aus  Tacitus  als  sicher:  2,  14  haerentia  corpoii  tegmina  und 
14,4  pectori  haerens;  dazu  darf  wohl  noch  der  figürliche  Gebrauch  IV 
19,  17  se  cum  exercitu  tergis  eorum  haesurum  esse  gezählt  werden; 
weniger  sicher    natürlich,    trotz  Greef  im  lex.  Tac,  IV  23,  9  pleraque 


90  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff.) 

telorum  turribus  pinriisque  .  .  haerebant  und  1,  68,  8  (Germani)  haesere 
munimentis.  —  Die  Adjektiva  Concors  und  discors  hat  Tac.  gewöhnlich 
mit  dem  Dativ  verbunden,  letzteres  auch  je  einmal  mit  cum  und  inter. 
Im  dritten  Abschnitt  gibt  L.  mehrere  gute  Proben  für  eine  me- 
thodisch-historische Behandlung  der  mit  dem  Dativ  verbundenen 
Verba  composita.  Vorbedingung  für  Schaffung  eines  gediegenen,  nütz- 
lichen Gesamtwerkes  solcher  Art  sei,  daß  der  Gebrauch  eines  jeden 
Kompositums  dui'ch  die  gauze  Latinität  hindurch  verfolgt  werde.  Hofifen 
wir,  daß  die  gegebenen  Anregungen  auf  empfänglichen  Boden  fallen!  — 


III.    Überlieferung  und  Kritik  des  Textes. 

28.  Geoi'g  Andresen,  In  Taciti  Historias  studia  critica 
et  palaeographica.  Progr.  des  Askan.  Gymnasiums.  Berlin  1899 
und  1900.     23  und  30  S.  4. 

Bereits  im  Herbst  1890  hatte  Andresen  eine  genaue  Nach- 
vergleichung  der  die  Annalen  enthaltenden  Florentiner  Handschriften 
vorgenommen  und  über  die  wichtigsten  Ergebnisse  seiner  Tätigkeit  im 
Programm  des  Askan.  Gj^mnasiums  (1892)  berichtet.  S.  Jahresbericht 
für  Altertumswissenschaft  Bd.  89  (1896  II)  S.  46  ff.  —  Ein  zweiter 
Aufenthalt  A.s  in  der  Mediceerstadt  1897  ist  vornehmlich  den  Historien 
zugute  gekommen,  indem  viele  auch  nach  Meisers  trefflicher  Arbeit  noch 
isweifelhaft  gebliebene  Stellen  wiederholt  geprüft  wurden.  Der  Um- 
stand, daß  das  Material  des  Med.  II  durch  den  Gebrauch  vielfach  ab- 
gegriffen und  die  Schrift  stark  verblaßt  ist,  erschwert  oft  eine  sichere 
Lesung.  Dazu  kommt,  daß  über  Art  und  Alter  mancher  Randnoten 
und  Korrekturen,  die  einzelne  Buchstaben  wie  gauze  Wörter  betreffen, 
erhebliche  Zweifel  herrschen.  Die  Eigenart  des  Schreibers  hat  A. 
schärfer  als  seine  Vorgänger  beobachtet ,  hat  die  geringsten  Ver- 
schreibungen  oder  Ansätze  dazu  genau  nach  Gattungen  unterschieden 
und  gewissenhaft  registriert.  Jener  Kopist  hatte  eine  ganz  bestimmte 
Gewohnheit,  Versehen  zu  verbessern;  bei  seiner  geringen  Kenntnis  des 
Lateinischen  irrte  er  oft,  indem  er  Silben  falsch  trennte  oder  verband; 
aber  er  hat  nie  willkürlich  weder  zugesetzt  noch  weggelassen  oder 
geäudert.  Sonach  haben  wir  in  den  Verbesserungen  von  seiner  Hand 
mit  geringen  Ausnahmen  den  Originaltext  zu  sehen.  Die  Unterscheidung 
und  Agnoszierung  der  dünnen  schrägen  Tilgungsstriche  (von  A.  genau 
beschrieben)  als  von  erster  Hand  herrührend  ist  selbstverständlich  nicht 
leicht,  aber  sehr  wesentlich  für  die  Beurteilung  des  Schreibers  und 
seiner  Fähigkeiten  und  Gewohnheiten.    Meiser  hatte  in  dieser  Hinsicht 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.)  91 

schon  weit  schärfer  gesehen  als  Halm  und  Ritter,  trotzdem  konnte 
Andresen  noch  beträchtliche  Ergänzungen  und  Berichtigungen  zu  Meisers 
Kollation  liefern. 

Bei  einer  ganzen  Reihe  von  Stellen,  wo  in  M  ein  ra  oder  s  oder 
andere  Buchstaben,  namentlich  am  Wortende,  getilgt  sind,  nahm  Meiser 
für  jene  Tilguugszeichen  späteren  Ursprung  an,  so  H.  I  15,  22  praeci- 
puam,  21,  6  rursüs;  25,  3  eoründem,  3,  1  steriles,  20,  8  exactionis, 
27,  5  interpretantes:  Andresen  dagegen  führt  solche  und  andere  Korrek- 
turen größtenteils  auf  den  Abschreiber  selbst  zurück,  dessen  Zuverlässig- 
keit somit  in  ein  günstigeres  Licht  tritt.  Überhaupt,  bemerkt  A.,  „habet 
etiam  librai'iorum  licentia  leges  quasdam  ac  terminos".  —  I  2,  7  etiam 
prope  etiam;  hier  ist  das  erste  etiam  durch  jene  unverkennbaren  Striche 
getilgt  und  somit  die  sinngemäßere  La  mota  prope  etiam  auch  paläo- 
graphisch  bestätigt.  Ahnliche  bisher  nicht  bemerkte  Verschreibungen 
finden  sich  II  76,  5  non  certe  non,  III  69,  17,  ann.  11,  9,  8  quam 
atrociorem  quam,  in  welchen  Fällen  die  erste  der  gleichen  Formen  zu 
streichen  ist. 

Eine  ganz  bestimmte  Regel  herrscht,  wie  A.  zeigt,  in  M  II  be- 
züglich der  Schreibung  der  Silbe  ti,  wenn  innerhalb  desselben  Wortes 
ein  Vokal  darauf  folgt.  Dann  wurden  die  beiden  Buchstaben  in  einem 
Zuge  geschrieben,  eine  Gewohnheit  des  Schreibers,  deren  Nichtbeachtung 
einige  Mißverständnisse  verursacht  hat.  Den  Ursprung  der  Korruptel 
I  20,  14  (evigilius,  evigiliis  oder  euigililis)  macht  A.  folgendermaßen 
glaubhaft:  Der  Schreiber  habe,  vielleicht  durch  den  Anklang  an 
Virgilius  verleitet,  euigilius  geschrieben,  dieses  dann  in  euigilib;  ge- 
ändert. Die  in  das  s  eingetragene  Abbreviatur  für  us  ist  deutlich  zu 
erkennen;  die  Korrektur  entspricht  ganz  dem  regelmäßigen  Verfahren 
des  Kopisten.  Meiser  hat  also  das  Richtige  zwar  nicht  gelesen,  aber 
durch  Vermutung  getroffen.  —  Auch  sonst  beseitigt  A.  manche  Un- 
sicherheit und  entzieht  gewissen  auf  vermeintliche  Varianten  gestützten 
Konjekturen  den  Boden,  was  auch  als  Gewinn  gelten  darf.  So  ist  I 
26,  4  das  verschriebene  Iduü  dierü,  woraus  0.  Hirschfeld  Iduum  die 
ebrium  (!)  machen  wollte,  von  erster  Hand  in  Iduum  die  korrigiert. 
Die  Zahl  solcher  irriger  Angleichungen  ist  bekanntlich  Legion.  Als 
echte  La  ergibt  sich  ferner  I  39,  4  redire  .  .  .  petere  (aus  peteret 
verbessert);  vgl.  11,  34,  9;  12,  1,  5;  14,  1,  5.  —  Halms  Emendation 
I,  54,  10  ni  sibi  ipsi  consiüerent  wird  durch  IV  20,  19  und  1,  48,  3 
gestützt;  A.  fügt  noch  V  8,  12  hinzu,  wo  si  ipsi,  nicht  sibi  ipsi  in 
der  Hs  steht. 

Die  Ähnlichkeit  der  Buchstaben  a  und  t  in  longobardischer  Schrift 
hat  zu  manchen  Irrtümern  geführt,  z.  B.  daß  I  63,  3  raptisae  ge- 
schrieben stehe.     Dem  gegenüber  zeigt  A.  (Progr.  1900  S.  23  f.),   daß 


92  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1890—1903.    (Wolff) 

M  II  den  Diphthong  ae  nie  mit  zwei  Buchstaben,  sondern  e  oder  seltener 
^  schreibt.  Der  Kopist  schrieb  nun  vermutlich  aus  Versehen  rapente 
und  änderte  dies  ungeschickt  und  mißverständlich  in  raptis,  wobei  je- 
doch das  ursprüngliche  te  erkennbar  blieb.  Gronovs  Lesart  derepente 
kommt  also  in  Wegfall.  —  Sehr  häuög  ist  der  Schreiber  zum  Anfang 
oder  Ende,  auch  zur  Mitte  des  folgenden  "Wortes  übergesprungen;  bald 
ist  er  dann  seines  Irrtums  gleich  gewahr  geworden,  bald  auch  nicht. 
Zu  der  langen  Reihe  dieser  Art  von  Versehen  gehört  III  5,  10 
commissior  patientior,  wozu  A.  bemerkt:  „quid  debuerit  incertum  est". 
Am  nächsten  liegt  doch  wohl  das  Zusammentreffen  eines  Hörfehlers  mit 
einem  Schreibversehen,  wodurch  commissorum  aus  quam  iussorum  (so 
C.  Heraeus)  entstand,  ähnlich  wie  1,  57,  5  rebus  commotis  aus  rebusque 
motis,  15,  3,  3  confestinantius  aus  quam  festinantius  (vgl.  auch  Dial. 
25,  9  cominus,  für  quominus?). 

Auf  Sprechfehler  führt  A.  mit  Recht  die  häufigen  Verwechse- 
lungen von  exilium  und  auxilium  zurück;  dabei  denke  ich  auch  an 
forma  und  fama,  insbesondere  aber  an  die  zahllosen  Vertauschungen 
von  p  und  b,  großenteils  vom  Schreiber  selbst  verbessert:  IV  66,  15 
pettasios  für  bettasios,  V  4,  8  scapies  für  Scabies  usf.  —  I  65,  13 
steht  in  M  nicht  colpniä  (=  colperniam;  so  Meiser),  vielmehr  hatte  der 
Schreiber  coljam  verschrieben  (on  fortgelassen),  das  j  durch  einen  Quer- 
strich getilgt,  der  mit  dem  darübergesetzten  o  eine  dem  p  ähnliche 
Form  bildete.  Fast  ebenso  liegt  der  Fall  IV  72,  8.  —  Manche  Korrop- 
telen  erklären  sich  aus  der  Ähnlichkeit  von  s  und  x  in  der  longo- 
bardischen  Schrift.  Auch  die  Verdoppelung  des  s  spricht  oft  mit: 
III  17,  2  fortissimi  militis,  richtig  fortis  militis;  15,  19,  1  pravissimus 
mos  statt  pravus  mos  (so  NovÄk).  —  I  68,  13  lesen  die  Ausgaben 
iustu  agmine  „in  ordentlichem,  kriegsmäßigem  Heereszuge"  (Her.), 
was,  streng  genommen,  durch  keinen  Gegensatz  bedingt  ist.  M  hat  In 
(am  Ende  der  Zeile)  sto  agmine.  Nun  erinnert  A.  an  IV  84,  9  raanista 
für  manifesta,  II  31,  6  inhostus  für  inhonestus  (vgl.  auch  15,  25,  6; 
II  62,  13  inhora  für  inhonora?  IV  41,  11  destit  für  destitit,  183,  12 
cupidite  für  cupiditate)  und  schlägt  vor  zu  lesen  infesto  agmine.  — 
Überhaupt  begegnet  kein  Schreibfehler  in  M  II  so  oft  wie  die  Aus- 
lassung von  Silben  innerhalb  eines  Wortes,  namentlich  am  Ende  der 
Zeilen;  convivum  st.  convivium ,  Misensis  st.  Misenensis  (je  dreimal), 
Vespani  für  Vespasiani  (5 mal).  Sonach  wird  auch  III  16,  6  die  Lesung 
fuge  ultimus  aus  fuge  velocimus  (oc  mit  t  verwechselt)  entstanden  sein,, 
d.  h.  fugae  velocissimus,  wie  C.  Schenkl  vermutete, 

A.  beschreibt  noch  manche  Stellen  genauer,  wo  die  Feder  des- 
Kopisten, im  Begriffe  abzuirren ,  ein  Verseben  alsbald  wieder  gutzu- 
machen    gesucht    hat ,     und     schließt    die     Erörterung    verschiedener 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189fi-l;)03.    (Wolff.)  93 

Vorschläge  zq  Textänderungen  an.  —  I  69,  5  steht  (in  a  und 
b)  unverkennbar  und  ganz  dem  ausnahmslosen  Gebrauch  des 
Tac,  gemäß:  e  legatis  (nicht  ex).  —  Die  Eraendation  I  71,  9  deos 
teste s  mutuae  reconciliatioais  adhibens  erscheint  auf  den  ersten 
Augenblick  recht  kühn,  fast  gewaltsam,  und  doch  macht,  wie  Nipp, 
betonte,  erst  diese  Lesart  verständlich,  weshalb  Otho  den  Celsus  aufs 
Kapitel,  statt  ins  Palatium ,  berufen  habe.  Die  meisten  Erklärer 
hafteten,  meint  A. ,  zu  sehr  an  der  Verbindung  ne  —  metueret, 
ohne  das  n  als  den  eigentlichen  Sitz  der  Verderbnis  zu  erkennen.  Die 
übrigen  Fehler  haben  nichts  Ungewöhnliches:  mutue  re  wurde  zu  metuere, 
wozu  dann,  wie  öfters,  ein  t  hinzutrat;  tes  für  testes,  wie  decus  für 
dedecus;  endlich  hat  falsche  Aspiration  ne  hos  aus  deos  gemacht,  wie 
IV  63,  10  ubi  hos  für  Ubios,  I  3,  11  de  bis  für  deis  geschrieben  wurde. 

I  74,  3  kam  Madvig  mit  seiner  Vermutung  e  quietis  locum  dem 
Richtigen:  e  quietis  locis  (so  beide  Hss)  sehr  nahe.  77,  16  ist  der 
zweite  Name  des  Saevinus  (oder  Scaevinus)  durchaus  unsicher.  Die  auf 
p  =  prom  folgenden  3  Buchstaben  sind  verändert  (vom  Schreiber 
quo  beabsichtigt?);  promquc  würde  auf  Propinquo  führen  (vgl.  13,  7,  3 
proius  für  propius).  Nur  ist  ein  Saevinus  Propinquus  nirgends  nach- 
weisbar. Die  Prosopographia  imp.  E.  III  S.  157  empfiehlt  jetzt,  unter 
Berufung  auf  CLL.  VIII  2437  S.  17  871,  zu  lesen  Saevinio  Proculo. 
S.  Andresen,  Jahresb.  XXV  307.  —  I  78,  5  hat  Meiser  geglaubt, 
ostentai  zu  lesen;  A.  findet  kein  i,  sondern  nur  einen  von  a  ausgehenden 
leichten  Strich;  das  Ursprüngliche  dürfte  mithin  ostentata  sein.  —  84,  6 
ist  nunmehr  durch  A.s  wiederholte  Prüfung  als  echte  La  erwiesen  ut 
confusi,  statt  des  nur  eine  gezwungene  Erklärung  zulassenden  hinc.  M  zeigt 
3  Buchstaben :  lu  (oder  n)  t.  Der  Schreiber  hatte  irrigerweise  zu  In 
exitium  angesetzt,  dann  aber  das  I  durch  einen  feinen  Strich  darüber 
als  ungültig  bezeichnet.  —  Vom  Schreiber  des  M  rühren  auch  einzelne 
irrtümliche  Änderungen  her  (wie  prorupto  für  proruto  I  88,  10;  12,  43,  2; 
15,  40,  2),  die  jedoch  die  Wertung  seiner  sonstigen  Korrekturen  nicht 
beeinträchtigen  können. 

In  dem  Progr.  von  1900  sind  die  zweifelhaften  Stellen  aus 
H.  II— V  nach  den  verschiedenen  Fehlergattungen  zusammengestellt, 
auch  Heilungsvorschläge  zu  andern  Stellen  finden  sich  dazwischen  ein- 
gestreut. —  Zu  den  gewöhnlichsten  Erscheinungen  der  Paläographie  ge- 
hören Doppelschreibuugen  und  irrtümliche  Wiederholungen  aus  dem 
Vorhergehenden.  II  4,  16  inexperti  belli  labor  rechnet  A.  zu  dieser 
Art  von  Korruptelen.  Das  letzte  Wort  sei  durch  ein  einigermaßen 
ähnlich  klingendes  zu  ersetzen,  etwa  ruber  „das  beschämende  Gefühl"; 
vgl.  II  22,  13  pudore  coeptae  temere  oppugnationis.  Der  Vorschlag 
sagt  mir  jedenfalls  mehr  zu  als  die  meisten  andern;   dolor  kommt  ihm 


•94  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

am  nächsten.  Aach  I  2,  1  opus  adgredior  opibns  (M)  casibus  liegt 
nach  A.s  Ansicht  eine  verkehrte  "Wiederholung  vor,  kompliziert  durch 
Angleichung  an  das  folgende  Wortende,  wodurch  das  ursprüngliche  Ad- 
jektiv verloren  ging.  Ob  Noväk  diese  Vermutung  zuerst  ausgesprochen 
hat,  bezweifle  ich;  sicher  ist,  daß  von  den  bisher  versuchten  Heilungen 
keine  recht  befriedigt;  grave  casibus  (Noväk)  klingt  zu  wenig  an  das 
Überlieferte  an.  Opimum  (a.  b.)  steht  allerdings,  wie  Madvig  einwendete, 
zu  seinem  Ablativ  nicht  in  ganz  gleichem  Verhältnis  wie  die  übrigen 
Arijektiva.  Der  ganze  Ausdruck  op.  casibus  ist  eben  unbestimmter 
(das  würde  auch  grave  c.  sein)  und  umfassender  als  die  folgenden  Ver- 
bindungen, und  darin  finde  ich  eher  eine  Empfehlung  dieser  Lesart.  — 
Solche  Wiederholungen  aus  dem  Vorhergehenden  (I  76,  2;  II  22,  13;  13, 
57,  16;  14,  38,  16;  15,  66,  1)  brauchen  nicht  gerade  immer  Verwirrung  im 
Text  angerichtet  zu  haben;  I  67,  1  plus  praedae  sq.  ist  es  freilich  ge- 
schehen, obschon  die  Silbe  prae  beidemale  mit  dem  bekannten  Ab- 
kürzungszeichen geschrieben,  sonach  die  Streichung  des  zweiten  prae 
selbstverständlich  ist.  Falsch  wiederholte  Silben  im  Anlaut  hat  die 
erste  Hand  oft  selbst  korrigiert:  II  41,  18  clamor  adcurrentium  claman- 
tium  „quod  ipse  aliquo  modo  in  vocantium  correxit".  —  III  74.  14 
sollte  das  a-.  Xe7.  conlaceratum  meiner  Ansicht  nach  nicht  beseitigt 
werden. 

Seltener    kommt    es    vor,    daß    der  Abschreiber    etwas    aus   dem 
Folgenden  vorausnimmt:    I  85,   1  oratio  [per]    od    (ad)   perstringendos ; 

IV  58,  3  [hostium],  aus  dem  nichts  zu  machen  ist.  Anders  steht  es 
II  94,  12,  wo  die  Form  mortem  sich  höchstens,  wie  Heraeus  annimmt, 
als  versprengte  Randglosse  zu  supplicium  in  den  Text  eingeschlichen 
haben  könnte.  Doch  ist  es  kaum  glaublich,  daß  Tacitus  hier,  gegen 
seine  Gewohnheit,  das  bloße  animo  gesetzt  haben  sollte;  das  nachdrück- 
liche   inerti    animo  (Pichena)    bleibt    eine   vorzügliche  Emendation.  — 

V  20,  13  beginnt  nach  defendere  die  neue  Zeile  mit  a  Interim.  Das 
a  (von  einigen  in  et  geändert)  ist  vom  folgenden  ambiguum  vorausge- 
nommen, also  zu  streichen.  Ob  II  16,  5,  iuravere  (st.  iurare)  wirklich 
durch  das  6  Zeilen  tieferstehende  iuravere  verschuldet  ist?  —  Auch 
TU  9,  17  möchte  ich  die  Buchstaben  fo  (f  getilgt)  vor  simni  nicht  mit 
fortuna  (Z.  21)  in  Zusammenhang  bringen.  —  II  38,  18  ist  vom  Schreiber 
selbst  aus  veniunt  korrigiert  worden  venio;  es  zu  ändern,  liegt  kein 
Grund  vor  trotz  der  sonst  ganz  ähnlichen  Stelle  12,  40,  24,  v/o  redeo 
gebraucht  ist.  —  Daß  in  den  Hss  weit  häufiger  eine  Form  der  1.  oder 
2.  Person  in  die  der  3.  verschrieben  ist  als  umgekehrt,  erklärt  A.  wohl 
mit  Recht  daraus,  daß  den  Kopisten  historischer  Werke  —  unseren 
Tertianern  geht  es  infolge  dauernder  Cäsarlektüre  ähnlich  —  die  Formen 
der  3.  Person  weit  geläufiger  als  die  übrigen  waren  und  ihnen  so    oft 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur    1 890— 1903.    (WolfiF.)  95 

uuwillkürlicb,    aus  der  Feder    flössen.     Solche  Versehen    hat    meistens 
die  erste  Hand  verbessert.    IV  73,  3  schrieb  Nipperdey,  und  nach  ihm 
die    meisten:    neque    ego  .  .  .  populus    Romanus  (M    populi  Romani) 
virtutem  armis  adfirmavit.    Das  letzte  t  ist  aber  durch  einen  schrägen 
Strich  getilgt,  und  die  handschriftliche  Überlieferung  bietet  sonach  einen 
(von  Gantrelle    und  Spooner    gebilligten)    guten  Sinn;    der  seiner  Ver- 
dienste stolz  bewußte  Feldherr  durfte  von  sich  sagen,  er  habe  die  virtus 
des  Römervolks  mit  den  Wafifen,  statt  mit  Worten,  bewährt.    Nipperdey 
ist  vermutlich  durch  die    freiere  Stellung   des  ego  zu  der  Meinung  ge- 
kommen, im  zweiten  Satzglied  werde  ein  neues  Subjekt   verlangt,    und 
hielt    darum    eine  Textänderung    für    notwendig.  —  Unverdorben   sind 
nach  A.  auch  folgende  Stellen:  I  60,  4  proruperant;  88,  14  instrumen- 
tum  (a.  b,),  wo  einzelne  Herausgeber  zu  Unrecht  den  Plural  vorziehen; 
11  86,  17  quietis  cupidine:  hier  weise  der  Zusatz  prima  iuventa  sowie 
das  in  adversativem  Sinne  (wie  6,  51,  14)  gebrauchte  idem  darauf  hin, 
daß  Fuscus    sich    später    anderen  Bestrebungen  zugewandt    habe.     Ich 
meine,  A.    legt  hier    zu    wenig  Gewicht    auf    olim  (=  prima  iuventa) 
partis.     Wer  so  jung  schon  Reichtum  erworben  hat,    muß  sich  eifrig 
gerührt,  muß  eine  gewisse  7ioXuT:pa7[xoauvY]  entfaltet  haben,  und  zwar  auf 
einem  Felde,  das  dem  Senatoreustande  verschlossen  war.   Cupido  praedae, 
auri,  praemiorum  sind  häufige  Verbindungen;  nach  allem  hat  die  Kon- 
jektur   quaestus  cupidine    für  mich    die  größte  Wahrscheinlichkeit.  — 
II  87,  8  etiam  si  summa  modestia    regeretur.     Hier  könne,  meint  A., 
regetur  (M)  festgehalten  werden,  wenn  man  den  Satz  allgemein  nehme: 
eine  Begleitung,    die  selbst    dann  nicht  zum  Gehorsam  angetan  zu  sein 
pflegt,  wenn  sie  einmal  in  scharfer  Zucht  gehalten  wird  (?).  —  V  21, 
10  et  iussum  erat  (M),  ;,quod  ego  verum  esse  puto":    „und  dabei  war 
es  doch  ausdrücklich    angeordnet  worden;    aber  (der  Befehl    war  nicht 
ausgeführt  worden;    denn)    im  Wege  stand"  .  .  .  Vgl.  Agr.  15,  14  sie 
Germanias  excussisse  iugum,  et  flumine  „und  dabei  würden"  ...  4,  34, 
19  et  uterque  perviguere.     Sed  obstitit,  wie  Germ.  34,  10;  IV  78,  13. 
—  Nach    ut  iussum    erat    müßte    obstitit    enim    stehen.     Lex.  Tac.  p. 
1457  a  ist  unsere  Stelle  von  denen  auszuscheiden,  wo  sed  nach  negativer 
Partikel  steht  und  „sondern"  bedeutet. 

IV  60,  10  at  qui  ipsos  (M)  ist  nicht  zu  atque  ipsos,  sondern 
zu  et  qui  ipsos  zu  ändern,  weil  so  die  beiden  Arten  Wächter  deutlicher 
unterschieden  werden.  —  II  32,  2  qua  nemo  .  .  .  habebatur  wird  ge- 
wöhnlich erklärt:  quae  tanta  erat,  ut  nemo  .  .  .  haberetur,  doch  paßt 
der  Vergleich  mit  IV  61,  6  more,  quo  .  .  .  arbitrantur,  nicht;  vielmehr 
muß  man  beachten:  II  55,  12  gratior  Caesari  modestia  fuit,  quod  non 
scripsisset;  V  4,  7,  memoria  cladis,  quod  .  .  .  turpaverat;  II  74,  8 
adrogantia  militura,    quod  .  .  .  inridebant,    oder  14,  22,  19  nimia  cu- 


96  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.) 

pido  .  .  .  tulit,  quia  fontem;  vgl.  15,  65,  7;  69,  5.  Es  dürfte  also 
auch  II  32,  2  zu  schreiben  sein:  quia  nemo  .  .  .  habebatur.  Bei  der 
Ähnlichkeit  der  Abbreviaturen  für  qua  und  quia  ist  die  Verwechselnng 
nicht  selten  gewesen;  auch  12,  64,  11;  15,  72,  9  ist  quia  zu  qua  ver- 
derbt worden.  —  II  65,  3  muß  es  heißen  Hilarus,  nicht  Hilarius; 
denn  ri  ist  in  ru  korrigiert  (wie  IV  81,  23;  83,  12).  —  IV  9,  6  und 
16,  8,  8  wird  Vulcacius  Tertullinus  (oder  Tullinus)  endgültig  herzu- 
stellen sein  (Prosopogr.  III  p.  473  f.). 

II  81,  3  inservientium  regum  ditissimus  will  A.  nicht  gelten  lassen: 
„Reges  Orientis  serviebant  non  inserviebant."  Inservire  passe  nicht  an 
diese  Stelle  und  werde  zudem  stets  mit  einem  Dativ  verbunden:  Dial.  28, 
16;  ann.  16,  27,  10.  Anders  Agr.  30,  10;  32,  23.  V  8,  6;  4,  32,  14. 
Schon  Noväk  in  seiner  Ausgabe  1892  hat  servientium  geschrieben. 
Demnach  soll  Th.  Morus  nicht  recht  behalten,  der  in  seiner  Utopia 
sagt,  daß  die  alten  Römer  servire  und  inservire  nur  durch  die  Zahl 
der  Silben  unterschieden.  —  II  95,  11  ist  sumptu  ganeaque  (Palmer) 
besser  als  Meisers  La  sumptu  gula  ganeaque.  -  III  53,  10  hat  der 
Schreiber  diem  zu  dies  geändert;  möglicherweise  ist  das  Ursprüngliche 
per  dies  noctesque;  der  rhetorische  Plural,  wie  1,  42,  3  liberos  meos, 
14,  1,  9  triumphales  avos,  ist  wohl  denkbar.  III  66,  12  schreiben  die 
meisten  extincto  aemulatore  (M  aemulato),  obwohl  dieses  Wort  bei  Tac. 
sonst  nirgends  vorkommt;  der  Sinn  verlangt  Nebenbuhler,  nicht  Nach- 
eiferer, also  ist  mit  Rhenanus  aemulo  zu  lesen;  vgl.  I  44,  6;  II  77, 
3;  III  38,  23;  3,  8,  3  remoto  aemulo.  Die  Korruptel  entstand  durch 
Angleichung  an  die  Schlußsilbe  von  extato  (extincto).  IV  16,  2  ist  zu 
schreiben  se  (nicht  sese)  cum  cohorte;  denn  die  zweite  Silbe  von  sese 
ist  getilgt.  Nicht  ganz  deutlich  ist  die  La  IV  48,  10,  doch  ins  wahr- 
scheinlicher als  vis;  4,  15,  9  non  se  ins  nisi  in  servitia  .  .  .  quod  si 
vim  praetoris  usurpasset  manibusque  militum  usus  foret  (ins  = 
condicio  ac  potestas  legatorum  in  Universum).  IV  65,  4  möchte  A. 
liberatis  st.  libertatis  lesen;  doch  scheint  das  Abstraktum  nach 
64,  13  libertas  und  64,  20  servitutis  angemessener.  IV  65,  15  glaubt 
er  das  überlieferte  donec  —  vertuntur  halten  zu  können;  der  Ind. 
bringe  die  bestimmte  Erwartung  der  Agrippiuenser  zum  Ausdruck  (?). 
79,  3  relictasibi  ist  A.  geneigt  so  abzuteilen:  relictas  ibi  (=  apud 
Agrippinenses)  piguora  societatis;  vgl.  4,  55,  13  Pergamenos  .  .  .  aede 
Aug.  ibi  Sita.  Etwas  zuversichtlicher  proponiert  er  die  Emendation 
zu  15,  28,  7  laetioris  ibi  rei  (s.  W.  f.  kl.  Ph.  1902  Nr.  28).  — 
V  8,  12  wird  aus  volgis  epulsi  (M)  richtiger  volgi  pulsi  oder 
depulsi  als  expulsi  herzustellen  sein,  expellere  ist  bei  Tacitus  ziemlich 
selten  und  wird  ähnlich  wie  an  unserer  Stelle  nur  noch  Agr.  24,  11 
gebraucht. 


Beriebt  über  die  Tacitusliteratur  189^-1903.     (WolfF.)  97 

Die  Zahl  der  Lücken  ist  in  der  Überlieferung-  der  Hist.  nicht 
gering.  II  G5.  11  las  Heraus  früher  richtig:  exemplo  L.  Arruntii.  Sed 
Arruntium;  vgl.  I  15,  8  exemplo  divi  Augusti,  .  .  .  Sed  Augustus,  wo 
gleichfalls  die  Unähnlichkeit  des  angeführten  Vorbildes  durch  den  Satz 
mit  sed  hervorgehoben  wird.  1180,15  stellt  A.  zur  Erwägung,  ob 
nicht  vor  nihil  aeqne  ein  sed  einzuschalten  sei;  denn  7 mal  findet  sich 
bei  Tac.  am  Satzanfang  sed  nihil  aeque  in  älinlichera  Zusammenhang 
wie  hier,  2  mal  in  anderem  Zusammenhang  das  bloße  nihil  aeque.  III 86,  1 
vermutete  Weißenborn  eine  Lücke.  M  hat  patrem  illi  Luceriara.  A.  nimmt 
an.  der  Kopist  sei  von  Lucium  zu  Luceriam  abgeirrt:  die  Stelle  habe  ur- 
sprünglich so  gelautet:  Patrem  illi  <Lucium  Vitellium  censorem  ac  ter 
consulem  fuisse  memoravi,  patriam  habuit>  Luceriara.  Eine  methodisch 
geschickte,  wenn  auch  natürlich  problematische  Ausfüllung. 

Daß  x\uslassungen  am  Ende  der  Zeilen,  Kolumnen  und  Seiten 
besonders  häufig  vorkommen,  ist  bekannt  und  begreiflich.  Somit  hat 
Heraus'  Konjektur  IV  40,  15  diversa  fama  de  Demetrio  einige  Wahr- 
scheinlichkeit; vgl.  3,  62,  14  tribus  de  delubris  sc.  exposuere;  I  50,  21 
arabigua  de  Vespasiauo  fama;  6,  32,  15  eo  de  homiue  .  .  .  sinistram  in 
lube  famam.  —  Weitere  Ergänzungen  vermuteter  Lücken  sind:  I  46,  24 
tamquara  .  .  .  seponeretur  <Ostiam  amotus  ibique> ,  wofür  die  ähn- 
liche Stelle  16,  9,  4  sehr  gut  verwendet  ist:  Silanus  tamquam  Naxum 
deveheretur,  Ostiam  amotus,  post  ...  —  IV  4,  17  prompsit  .  .  .  prin- 
cipem  <ita  ipsi  decoram;  quippe>  falsa  aberant.  III  73,  1  hat  A. 
zwischen  plus  und  pavoris  im  Kod.  die  Spur  eines  i  entdeckt  und  meint, 
daß  id  oder  incendium  (oder  id  incendium)  einzuschalten  sei.  —  Keine 
Lücke  ist  dagegen  zu  statuieren  III  13,  4,  wo  Clemra  vor  transfugisse 
ein  et  einschiebt.  IV  39,  3  haben  alle  Ausgaben  irrigerweise  <et> 
Tettio  Juliano  (M  et  tito);  das  Asyndeton  ist  in  beiden  Fällen  an- 
gemessen. 

Was  die  verschiedenartigen  Randschriften  anlangt,  so  stammt 
der  weitaus  größte  Teil  vom  Schreiber  des  Kodex  selbst  und  gibt  den 
echten  Text;  überall  sind  sie  beachtenswert. 

II  4,  5  steht  in  M  sacerdotis,  wofür  Heinse,  dem  Halm  gefolgt 
ist,  ohne  hinreichenden  Grund  sacerdoti  schrieb.  Hätte  Tac.  den  Priester 
vorher  erwähnt,  so  würde  er  den  Dativ  gesetzt  haben:  „so  hieß  (näm- 
lich) der  Priester".  Sacerdotis  id  nomen  erat  aber  bedeutet:  „der 
Priester  war  es,  der  so  hieß".  Vgl.  die  Stellen  mit  Dativ:  11,  30,  1; 
12,  51,  12;  16,  30,  7;  15,  59,  24;  mit  Genetiv:  III  50,  18;  14,  4,  7 
(villae).  Abweichend  ist  der  Dativ  gebraucht  Agr.  22,  2  aestuario  nomen. 
—  IV  15,  13,  wo  proximo  überliefert  ist,  möchte  A.  nach  Polsters  Vor- 
gang lesen:  proximo  applicata  Oceano  „das  an  den  ganz  nahen  Ozean 
gelehnte  Lager"  (?). 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXX.I.     (1904.    IL)  7 


^8  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff.) 

Durch  Raadnoten  von  erster  Hand  wird  der  Text  berichtigt: 
II  41,  19  vocantium,  aus  dem  zuerst  irrtümlich  geschriebenen  clamantium 
vom  Schreiber  in  nicht  ganz  genauer  Weise  korrigiert. 

II  68,  20  Text:  ome,  Eand:  ois,  also  omiiis  suspiciones  zu  lesen; 
V  18,  5  Text:  cuneus  stranatavit,  Rand:  trans,  mithin  richtig:  trans- 
natavit  (?).  II  20,  5  mag  die  Randuote  (uxores)  quoque  späteren  Ur- 
sprungs sein  (nach  Meiser);  jedenfalls  ist  sie  besser  als  Haases  Kon- 
jektur que.  III  63,  4  steht  im  Text:  ornatusque,  am  Rand:  armatusque, 
was  A.  vorzieht.  Verwechselung  zwischen  ornare  und  armare  ist  über- 
aus häufig.  IV  65,  11  ist  societatis  vortrefflich  durch  die  Randnote 
sociatis  emendiert  worden.  —  Ob  III  39,  7  die  Marginalnote  fides  obsti- 
nata  besser  als  fidei  obstinatio  sei,  läßt  A.  unentscbieden,  wiewohl  ob- 
stinatio  mit  Genet.  nur  hier  bei  Tac.  steht,  während  fides  obstinata 
sich  auch  V  5,  5  findet,  ebenso  15,  21,  10  severitas  obstinata.  Vgl. 
übrigens  den  Gebrauch  von  constantia  G.  8,  2;    II  13.  9;  D,  6,  22.  — 

Höchst  schwierig  ist  eine  Entscheidung  über  den  "Wert  der  Rand- 
notizen in  folgenden  Fällen:  157.2  die  proximo,  Rand:  die  postero 
(Z.  1  steht  Proxima  .  .  .  hiberna!);  44,  12  illa  die,  R.:  illo;  II  29,9 
obire  vigilias,  R. :  circu(m)ire  v.;  jedenfalls  ist  letztere  Verbindung  die 
gewöhnliche  für  „die  Wachen  inspizieren"  (revidieren). 

Eine  Statistik  der  Schreibweise  des  Lautes  ae  ergibt,  daß  M  II 
mit  wenig  Ausnahmen,  wo  es  (wie  12,  5,  4)  eine  besondere  Bewandtnis 
hat,  überall  (j  oder  viel  seltener  e  statt  der  beiden  Vokale  zeigt;  nur 
prae  hat  seine  eigene  Abkürzung.  Der  Schreiber  hat  sogar  öfter  ein 
in  seiner  Vorlage  gefundenes  nicht  zusammengehöriges  ae  zu  e  ver- 
ändert; und  so  sind  verschiedene  Verderbnisse  aus  dieser  Schreib- 
gewohnheit zu  erklären,  wie  invidie  dixit  =  invidia  edixit  u.  a.  m.  — 
Für  oe  läßt  sich  keine  feste  Gepflogenheit  der  Schreibung  nachweisen, 
nur  daß  seltenere  Wörter  und  Eigennamen  (Moesia)  häufiger  mit  2  Buch- 
staben, gewöhnliche  mit  e  oder  e  (nie  proelium)  geschrieben  werden.  — 

29.  G.  Andresen,  Zur  handschriftlichen  Überlieferung 
des  Tacit.  Dialogus.  (W.  f.  kl.  Phil.  1900  Nr.  23,  641—46; 
Nr.  28,  778  ff.) 

Das  auf  R.  Schoenes  Kollation  begründete  günstige  Urteil 
A.  Michaelis'  über  den  von  ihm  E  genannten  cod.  Ottobonianus  1455 
ist  «"heblich  einzuschränken;  denn  seine  Angaben  über  Lesarten  jener 
Hs  sind  mehrfach  unrichtig  oder  ungenau.  Dies  hat  A.s  1898  vor- 
genommene Neuvergleichung  des  Ottob.  und  anderer  Hss  ergeben. 
Unter  Berücksichtigung  aller  scheinbar  unwichtigen,  doch  für  die  Frage 
nach  Herkunft  und  Verwandtschaft  der  Hss  keineswegs  zu  unter- 
schätzenden Varianten  vermag  A.  aus  dem  Ottob.  an  mehr  als  80  Steiler» 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  lSOG-1903.     (Wolff)  99 

Genaueres  als  Michaelis  anzuführen,  und  manche  seiner  Fe^itstellungen 
sind  geeignet,  bisher  gehegte  Zweifel  über  gewisse  Lesungen  zu  besei- 
tigen oder  doch  abzuschwächen.  So  steht  5,  2  modesti  nicht  in  2, 
sondern  in  7  Handschlitten ,  womit  diese  sinngemäßere  La  (s.  Gude- 
man,  Komm.,  John,  Einl.  14)  auch  diplomatisch  hinreichend  gestützt 
wird.  —  Nur  wenige  der  von  Michaelis  dem  Ottob.  zugeschriebenen 
Emeudatiouen  gehören  diesem  ausschließlich  an,  wie  22,  11  esset;  andere 
hat  er  mit  seinem  Bruder  V  gemein:  10,  23  arcem  (auch  CH),  17,  20 
ei  pugnae,  23,  9  Aufidi,  21,  45  in  quautum,  ferner  mit  H:  31,  5  exer- 
cereut  und  40,  18  illius.  Mit  A  stimmt  E  nnr  an  2  Stellen  in  Be- 
sonderheiten überein:  14,  7  minime  nicht  wiederholt  und  19,  19  fere- 
bantur.  —  Die  Vergleichung  ergibt  u.  a.,  daß  eine  Benutzung  des 
cod.  B  bei  der  Anfertigung  von  E  nicht  stattgefunden  haben  kann. 
Erwägenswert  sind  nach  A.s  Ansicht  die  von  E  überlieferten  Laa:  13,  15 
item  (st.  idem)  adnuissent,  wodurch  Secundus  dem  Aper  enger  ange- 
reiht würde;  mehr  noch  40,  17  aut  (st.  ac)  Persarura;  denn  die  Zu- 
sammenfassung der  Makedonier  und  Perser  in  dem  neG;ativen  Satze  hat 
etwas  Unnatürliches.  Andere  Schreibungen  aus  E  (und  V)  haben  längst 
mit  Recht  Aufnahme  in  verschiedenen  Ausgaben  gefunden:  6.  18  quod 
illud  gaudinm,  17,  15  illum,  25,  10  fatear  (John).  —  Auch  aus  dem 
gleichfalls  neu  kollationierten  Parnesianus  (C)  verzeichnet  A.  eine 
Reihe  (über  40)  Berichtigungen  und  Nachträge  zu  Michaelis'  kritischem 
Apparat.  Danach  ist  14,  2  Vibanias,  32,  16  vis  quoqae.  35,  26  pro- 
sequuntar  (so  Wolff,  John,  Helmreich)  als  allgemein  überliefert  zu  be- 
trachten (selbst  D  hat  prosequimur,  nicht  persequiraur).  C  ist  beson- 
ders reich  an  Auslassungen  (16),  von  denen  2  sich  auch  in  D  finden; 
ein  Umstand,  der  außer  der  beiden  codd.  gemeinsamen  Korruptel  ora- 
tionis  19,  18  einen  neuen  Beweis  für  ihre  enge  Verwandtschaft  liefert. 

Was  den  Vaticanus  4498  (DJ  betrifft,  so  hat  er  nach  A.s 
genauer  Prüfung  nnr  2  eigene  Verbesserungen:  26.  1  optirao  (=  U) 
und  38,  4  paucissimas  horas  (so  annähernd  auch  AC).  Von  Verderb- 
nissen hat  er  nur  eine  vor  den  anderen  Hss  voraus:  32,  11  ipse.  Seine 
ausschließliche  Übereinstimmung  mit  C  beschränkt  sich  auf  8  Stellen; 
in  anderen  gehen  Cl  mit  EV  oder  sonstigen  Hss  zusammen.  Scheuer 
hat  richtig  beobachtet,  daß  A  mit  CD  zusammen  einen  besonderen  Zweig 
dieser  Klasse  bildet  {y-),  während  EV  den  anderen  Zweig  repräsentiei  t 
(y*).  In  beiden  Zweigen  müssen  manche  Doppellesarten  ursprünglich 
vorhanden  gewesen  sein.  — 

Von  textgeschichtlichera  Interesse  sind  auch  einige  Bemerkungen 
Andreseus  zur  handschriftlichen  Überlieferung  des  Agricola 
(W.  f.  kl.  Ph.  1900  Nr.  47,  1299  ff.);  hier  berichtigt  er  einige  Zweifel  oder 
ÜDgenauigkeiten ,  die  Urlichs'  grundlegende  Ausgabe  in  bezug  auf  die 

7* 


100  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  180G— 1903.     (Wolff.) 

Lesungen  der  Vaticani  3429  und  4498  noch  hatte  bestehen  lassen.  Die 
Textgestaltung  wird  davon  kaum  berührt  werden;  doch  moniert  A.  mit 
Hecht  die  willkürliche  Änderung  40,  20  uti  statt  ut ,  die  Halm  und 
andere  ohne  weiteres  von  Urlichs  übernommen  haben.  — 

30,     G.  Andresen,  Neue  Lesungen  in  Tacitus'  Anualcn. 
W.  f.  kl.  Ph.  1902  Nr.  24.  26.  28. 

Die  nächste  Veranlassung  zu  diesen  neuesten  paläographischen 
Beobachtungen  bot  das  Erscheinen  eines  Prachtwerks  moderner  Technik, 
das  auch  den  Tacitusstudien  sehr  zustatten  kommt.  Als  7.  Band  des 
großen  Unternehmens  „Codices  graeci  et  latini  photographice  depicti 
duce  Scatone  de  Vries"  hat  die  Firma  A.  W.  Sijthoff  in  Leiden  im 
April  1902  die  beiden  wichtigen  Tacitushandschriften  der  Laurentiana, 
68  I  und  68  II  (mit  Einleitungen  von  E.  ßostagno  versehen)  in  vor- 
züglicher photographischer  Reproduktion  der  Öffentlichkeit  übergeben 
(vgl.  auch  Andresen.  W.  f.  kl.  Ph.  1902  Nr.  9,  231  ff.).  —  In  Anbe- 
tracht der  wiederholten  sorgsamen  Vergleichungen  und  Beschreibungen 
jener  Codices  durch  hervorragende  Gelehrte  ist  begreiflicherweise  nicht 
zu  erw^arten,  daß  auf  Grund  der  Sijthoffschen  Nachbildungen  größere 
Neuerungen  im  bisherigen  Text  der  betr.  Taciteischen  Werke  eintreten 
werden.  Immerhin  ist  nun  der  Kritik  eine  weit  leichter  zugängliche, 
breitere  und  objektive  Basis  geschaffen,  die,  abgesehen  von  ihrem  speziell 
technischen  und  historischen  Interesse,  auch  für  die  Textgestaltung,  die 
uns  hier  vor  allem  angeht,  von  nicht  geringer  Bedeutung  ist.  Schon 
die  von  Andresen  gleich  bei  der  ersten  Durchsicht  des  Sijthoffschen 
Werkes  gehaltene  Nachlese  ist  recht  ansehnlich;  und  ich  glaube  nicht 
zu  irren,  wenn  ich  noch  eine  reichhaltige  Fortsetzung  dieser  Beobach- 
tungen von  der  nächsten  Zukunft  erwarte. 

A.  hat  es  wie  wenige  verstanden,  sich  in  die  Irrungen  und 
Wirrungen  der  Kopistentätigkeit  hineinzudenken,  ihrer  Feder  bis  in  die 
feinsten  Züge  zu  folgen ,  so  daß  auch  scheinbar  unwesentliche  Dinge, 
klug  kombiniert,  ihm  oft  überraschende  Resultate  ergeben  haben.  Je 
strenger  die  Handhabung  des  textkiitischen  Apparats  durch  A.s  Ver- 
trautheit mit  den  Gesetzen  des  Taciteischen  Sprachgebrauchs  kontrolliert 
wird ,  um  so  mehr  überzeugen  uns  die  meisten  seiner  vorsichtigen  Ver- 
besserungsvorschläge. Die  wichtigsten  Ergebnisse  der  „Nachlese",  zu- 
nächst auf  die  letzten  Bücher  der  Anualeu  beschränkt,  mögen  in  Kürze 
verzeichnet  werden:  11,  8,  6  hatte  Muret  (nach  ihm  Holbrooke;  s.  auch 
Phil.  Rundsch.  V  Nr.  22,  678)  das  Richtige  vermutet:  necem  .  .  , 
properaverat  (11,  37,  3;  13,  17,  9).  Wie  die  ursprüngliche  Form  prae- 
paraberat  durch  den  Schreiber  umgestaltet  worden  ist,  läßt  sich  in  den 
einzelnen  Zügen    verfolgen.     Der    größeren  Deutlichkeit  halber  ist   am 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1S9C— 1903.    (VVolfif.)  101 

Raud  von  derselben  Hand  „propera"  hinzugefügt.  Necem  parare  ist  an 
sich  tadellos,  sagt  aber  etwas  zu  wenig.  —  11,  14,  13  ist  in  formas 
das  s  gestriciien;  damit  entfällt  Halms  Konjektur  formast.  —  33,  4 
liest  man  neben  spem  incolumitatis  Caesar is  adfirraat  ein  anscheinend 
vom  Schreiber  selbst  herrührendes  „ari",  wonach  vielleicht  Caesar i 
das  Richtige  ist.  37,  7  steht  postera  die  (Halm  irrtümlich  postero). 
—  12,  1,  5  ist  ostentare  und  damit  auch  contendere  gesichert  (vgl. 
14,  1,  5;  11,  34,  9;  I  39,  4).  6,  11  ist  vor  accipiret  (sie)  eine  Lücke 
von  etwa  7  Buchstaben  Umfang;  das  am  Rande  stehende  a  erklärt  sich 
Andresen  als  den  ersten  der  7  ausgefallenen  Buchstaben,  demnach  mag 
ebensowohl  a  patribus  (patrib;)  als  a  senatu  ergänzt  werden.  —  24,  6  certis 
spatiis  iuteriecti  lapides.  Ist  hier,  wie  A.  angibt,  s  in  certis  von  der 
Hind  des  Schreibers  getilgt,  so  kommt  dadurch  kein  annehmbarer  Satz 
zustande. 

2ö,  10  ist  eundem  in  (Halm)  unberechtigt;  au  Stelle  der  Rasur 
hinter  eundem  hat  que  (q;)  gestanden,  das  der  Schreiber  irrigerweise 
statt  des  folgenden  quem  gesetzt  hatte.  Die  richtige  La  ist  in  eundem 
modum.  —  37,  4  ist,  wie  Becher  vermutete,  die  echte  La:  foedere  et 
pace  accipere.  38,10  lies  e  (nicht  ex)  castellis  (s.  14,  2G.  7;  Noväk 
anal.  Tac).  —  Als  unlösbares  Rätsel  erscheint  die  vom  Schreiber  hei- 
rührende Randnote  12,  55  duri  locis,  die  2  Zeilen  tiefer  als  die  Text- 
worte duri  circum  loci  steht.  —  13,  18,  13  ist  die  Lesung  Gerraanos 
nuper  eundem  in  honorem  custodes  additos  nicht  sicher;  il  hat  super, 
daher  vielleicht  zu  lesen:  G.  per  eundem  honorem.  Vgl.  15,  33,  10 
quiqne  Caesarem  per  honorem  aut  varios  usus  sectantur.  —  20,  17 
liegt  wohl  derselbe  Fall  vor  wie  14,  60,  14  (s.  Progr,  1892  S.  13),  wo 
ex  aus  et  hergestellt,  die  echte  La  aber  et  ex  ist;  somit  dürfte  zu 
korrigieren  sein:  sed  vocem  uuius  et  („noch  dazu")  ex  inimica  domo 
adferri.  —  23,  11  Text:  auxiliumque,  Rand  (pr.  m.):  ex,  d.  i.  exili- 
umque.  25,  14  ist  sicher  überliefert:  Nero  autem  metuentior  in 
posterum,  nicht  tamen.  Der  Irrtum  erklärt  sich  aus  der  Ähnlichkeit 
der  Buchstaben  a  und  t  in  der  longobardischen  Schrift;  die  Hs  hat 
aber  nicht  tu,  sondern  aü.  Freilich  verwendet  Tacitus  autem  in  den 
größeren  Werken  nur  6 mal.  in  direkten  und  indirekten  Reden  (II  20,  5 
ist  nicht  ganz  sicher).  Trotzdem  glaubt  A.  sich  lieber  mit  der  singu- 
lären  Anwendung  von  autem  abfinden  zu  sollen,  als  die  unzweideutige 
Überlieferung  anzutasten. 

14,  1,  5  hat  bereits  Lipsius  das  Rechte  erkannt:  incusare  .  .  . 
vocare.  In  der  Hs  ist  das  t  in  iucusaret  gestrichen,  also  muß  es  auch 
in  invocaret  getilgt  werden.  Vgl.  12,  1,  5;  11,  34,  9;  I  39,  4  redire  .  .  . 
petere  (aus  peteret  verbessert  pr.  m.).  14,  14,  3  lesen  die  meisten: 
concertare  equis  regium  .  .  .  memorabat.    M;  cum  celaret  quis  regium 


102  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

.  .  .  memorat.  Tac.  schrieb  jedenfalls:  certare  equis.  Concertare 
kommt  bei  ihm  sonst  nicht  vor  (concertator  14,  29,  11).  Vielleicht  ist 
cum  aus  dum  verschrieben,  dann  würde  memorat  bestehen  bleiben 
können,  also  dum  certare  equis  .  .  .  memorat.  15, 14  ist  postremus 
aus  postremum  von  erster  Hand  verbessert.  Nero  war  mithin  «der 
letzte*  der  an  den  Juvenalien  Auftretenden.  26,  7  lies  e  (st.  ex)  nobi- 
litate.  39,12  hat  Halm,  was  A.  früher  billigte,  postea  konjiziert, 
doch  zeigt  das  von  später  Hand  korrigierte  Wort  (am  Ende  einer  Zeile) 
als  ursprüngliche  Anfangsbuchstaben  pa,  nicht  po.  Daraus  möchte  A. 
schließen,  daß  der  Kopist  paucas  aus  Versehen  2 mal  geschrieben  habe, 
daß  also  der  echte  Text  nur  lautete:  quod  paucas  naves  amiserat, 
woran  in  der  Tat  nichts  auszusetzen  ist.  51,  15  hat  M:  cognotis,  über 
g  ein  a  geschrieben,  unter  den  Buchstaben  not  Punkte,  wofür  eine 
vernünftige  Deutung  fehlt;  übrigens  entspricht  nach  A.s  Meinung  notis 
dem  Zusammenhang  besser  als  die  Vulgata  cognitis.  57,  20  wird 
Nipperdeys  La  relatura  als  die  richtige  bestätigt;  denn  in  dem  hdschr. 
Prelatum  ist  P  vom  Schreiber  durch  Striche  getilgt.  Vgl.  59,  12  caput 
interfecti  relatum.  61,  2  steht  prorugunt,  das  g  senkrecht  durch- 
strichen, also  proruunt,  nicht  (nach  Weißenborn)  prorumpiint. 

15,  10,  17  ist  hinter  sustentavisset  nichts  ausgefallen,  auch  keine 
Dittographie  des  et  anzunehmen;  das  e  am  Ende  der  Zeile  ist  der 
Anfangsbuchstabe  von  egre  (aegre),  bei  dem  der  Schreiber,  da  der 
Raum  nicht  ausreichte,  abbrach,  einen  Tilgungsstrich  setzte  und  egre 
an  die  Spitze  der  neuen  Zeile  schrieb.  —  Als  Parallele  zu  15,  28,  7 
laetioris  ibi  rei  (s.  Progr.  1900  S.  14)  bringt  Andresen:  V  14,  3 
prospeiarum  illic  rerum.  —  15,34,7  muuus  a  Vatinio  celebre  edebatur. 
In  celebre  ist  der  Buchstabe  b  durchstrichen;  das  etwas  ungewöhnlich 
gestellte  Wort  sage  für  die  Stelle  nichts  von  Bedeutung  aus;  möglicher- 
weise, meint  daher  A.,  sei  zu  lesen:  a  Vatinio  Celere.  Daß  Tacitus 
diese  von  andern  Schriftstellern  wenig  berührte  Persönlichkeit  hier  mit 
nur  einem  Namen  sollte  bezeichnet  haben,  sei  nicht  wahrscheinlich. 
48,  13  lautet  unzweideutig:  qui  .  .  .  summum  Imperium  non  restrictum 
nee  praeseverum  , nicht  straff  und  nicht  übermäßig  strenge".  Die 
Silben  prae  und  pro  sind  in  der  longobardischen  Schrift  nicht  zu  ver- 
wechseln ;  somit  ist  perseverus  aus  den  Wörterbüchern  zu  streichen  und 
dafür  das  echt  taciteische  Prägung  zeigende  praeseverns  aufzunehmen.  — 
72, 15  stehen  über  illusit  einige  alte  Buchstaben,  die  A.  als  erat  liest; 
sonach  lägen  zwei  Laa  vor:  illusit  und  illuserat,  zwischen  denen  zu 
wählen  schwer  fällt,  —  An  den  W.  16,  22,  24  ut  Imperium  evertant 
(M  everterant),  libertatem  praeferunt:  si  perverterint,  lib.  ipsam 
adgredientur,  hat  bisher  niemand,  soviel  wir  wissen,  Anstoß  genommen, 
iand  doch  begründet  A.  in  überzeugender  Weise  eine  Textänderung  als 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189G— 1903.     (Wolff.)  103 

notwendio^,  um  den  echteu  Wortlaut  zu  gewinnen.  Dreierlei  müsse  bei 
scharfer  Beobachtung  auffallen :  1  Warum  wiederholt  Tac.  in  dem 
sonst  ganz  gleichmäßig  gebauten  Satze  nicht  evertere,  sondern  wählt 
ein  anderes  Kompositum?  Die  Berufung  auf  das  „Streben  nach  Ab- 
wechselung" reicht  für  diesen  Zusammenhang  nicht  aus;  2.  pervertere 
verbindet  Tac.  sonst  (10 mal)  nur  mit  persönlichem  Objekt,  evertere 
dagegen  (je  einmal)  mit  Imperium,  orbem,  rem  publicam,  provincias, 
mores!  —  3.  Den  4  Verben  müssen  auch  4  Objekte,  d.  i.  dem  zwei- 
fachen libertatem  zweifaches  Imperium,  entsprechen.  Nun  zeigt  sich, 
was  bisher  unbeachtet  geblieben,  daß  in  der  Vorlage  des  M.  eine  Doppel- 
lesart gestanden  haben  muß;  denn  der  Text  hat  perverterint  mit  über- 
geschriebenem „al."  =  alii,  der  Rand  trägt  von  derselben  Hand  die 
Bern.:  „al.  impetraverint" ,  was  keinen  Sinn  gibt.  Aus  der  Ver- 
schmelzung dieser  beiden  Laa  aber  gewinnt  A.  die  vorzügliche  Ver- 
besserung: si  Imperium  (siipiü)  everterint.  — 

Nachträglich  stellt  A.  (Woch.  f.  kl.  Ph.  1903  Nr.  50)  an  der  Hand 
der  Sijthoffschen  Reproduktion  des  M  II  fest,  daß  11,27  a.  E.  aus 
dem  irrtümlich  gesetzten  tradam  vom  Schreiber  selbst  trado  korrigiert, 
auch  13,  14,  15  rursus  deutlich  getilgt  w^orden  ist.  Somit,  schließt 
A.,  muß  hier  das  nach  Nipperdey  zwar  „nicht  nötige,  aber  nicht  über- 
flüssige Wort"  aus  dem  Texte  entfernt  werden,  und  das  Stilgefühl  des 
Mnret  und  des  Lipsius,  die  es  neben  inde  nicht  dulden  wollten,  besteht 
eine  glänzende  Probe. 

31.    G.  Andresen,    Zu    Tacitus'   Germania.     W.  f.  kl.  Ph. 
1903  Nr.  10,  276  ff. 

Germ.  2,  11  ist  in  einem  Teil  der  Handschriften  nicht  überliefert, 
wie  allgemein  gelesen  wird:  Tuistonem  ...  et  filium  Mannum,  vielmehr 
haben  Vat.  1862  (A),  Vat.  2964,  Ottob.  1796  ei  filium.  während  die 
Gruppe,  welcher  Uibinas  412  augehört,  eins  (aus  ei  verderbt)  bietet. 
Jenes  ei  nun  hält  A.  für  die  echte  La  und  schreibt:  Ei  filium  Mannum 
originem  gentis  conditoremque.  Manne  tris  f.  adsignant  sq.  „Wäre  die 
vulgata  richtig,  so  müßten  wir  nicht  filium  M.,  sondern  filium  eins  M. 
erwarten."  Durch  eine  Reihe  schlagender  Parallelstellen  weist  A.  nach, 
daß  Tac.  in  ähnlichen  Verbindungen  diesen  Genetiv  regelmäßig  zu 
filius,  frater,  uxor  usw.  hinzusetzt.  Halten  wir  also  an  ei  fest  und 
ändern  das  überlieferte  (an  gentis  assimilierte)  conditorisque  in  condito- 
remque, so  gewinnen  wir  folgenden  Text:  Celebrant  c.  a.  .  .  Tuistonem 
deum  terra  editum.  Ei  filium  Mannum,  originem  gentis  conditoremque, 
Mauno  tris  filios  adsignant.  Es  sei  ohnehin  angemessener,  betont  A. 
mit  Recht,  wenn  Mannus  allein,  nicht  auch  sein  Vater  Tuisto  zugleich, 
als  Ahnherr  des  Germanenvolkes    bezeichnet  werde;    zudem  finde  sich 


104  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1890  —  1903.     (Wolff.) 

origo  =  auctor  auch  sonst  nur  von  einer  Person  gebraucht,  wie  Tac. 
ann.  4,  9;  Verg.  Aen.  12,  IGG.  —  Übrigens  werden  durch  A.s  in  jeder 
Hinsicht  ansprechende  Eraendation  nicht  nur  stilistische  Bedenken  ge- 
hoben; auch  für  die  Auslegung  der  folgenden  problematischen  Sätze 
ist  die  leichte  Textäüderung  von  Wichtigkeit,  insofern  als  dadurch 
Mannus  neben  Tuisto  bedeutender  hervorgehoben  und  somit  auch  die 
richtige  Beziehung  der  W.  p Iuris  deo  ortos  näher  gelegt  ist;  freilich 
kann  ich,  im  Gegensatz  zu  Andresen  und  den  meisten  Erklärern,  jenes 
])luris  nicht  anders  ergänzen  als  quam  tris.  Die  natürliche  Wort- 
erklärung der  ganzen  Stelle  hat  seit  J.  Grimm  und  Wackernagel  unter 
der  Fülle  etymologischer  und  mythologischer  Hypothesen  zu  leiden 
gehabt  Ist  Mannus  kein  Gott,  hieß  es.  sondern,  wie  unsere  sprach- 
wissenschaftlichen Autoritäten  lehren,  nur  „der  Mensch",  ,,der  erste 
Mann",  „der  Urmensch",  so  kann  unter  deo  nur  Tuisto  verstanden 
werden,  dem,  wie  Andresen  annimmt,  der  germanische  Mythus  nur  einen 
Sohn  zuschrieb,  während  gewisse  römische  Gelehrte  von  mehr  als  einem 
Sohne  des  Tuisto  sprachen.  Allein  für  Tacitus  —  und  nur  seine  Auf- 
fassung haben  wir  zu  ergründen  — ,  war  auch  Mannus  (trotz  Müllen- 
hoff  II)  ein  Gott  (gleich  dem  Sohn  und  dem  Enkel  der  Gäa),  der  Gott, 
dem  die  einen  drei,  andere  mehr  Söhne  zuschrieben.  Wie  man  auch 
über  das  Sachliche  urteilen  mag:  zu  pluris  läßt  sich  eben  nur  quam 
tris  ergänzen;  denn  der  Gedankensprnng  über  das  bestimmte  Zahlwort 
tris  (fil.  ads.)  hinweg  rückwärts  bis  zu  filium  und  die  Ergän?ung  quam 
unum  ist  ein  Salto  mortale  bedenklichster  Art.  —  Vgl.  übrigens  H. 
Belling,  W.  f.  kl.  Ph.  1892  Nr.  15,  417  f.,  der  in  diesem  Punkte  Kritz 
folgt.  Auch  Fabia,  on.  Tacit.,  ergänzt  unbedenklich:  Deo  (Manno) 
ortos.  — 

32.     ßobert  Xovuk,  Analecta  Tacitea.    Sonderabdruck  aus 
Ceske  Museum  Filologicke  Bd.  II,  Prag,  Selbstverlag.    1897.    23  S. 

Durch  zahlreiche  Publikationen  aus  dem  Gebiete  der  römiscbeu 
Prosaiker,  namentlich  des  Livius  und  des  Tacitus,  hat  sich  N.  als 
tüchtiger  Forscher  und  Kenner  des  Sprachgebrauchs  bekannt  gemacht. 
Seine  Beobachtungen  erstrecken  sich  bis  ins  feinste  Detail  und  sind 
teilweise  von  bleibendem  Werte.  Da  er  zugleich  mit  der  Technik  der 
Paläographie  wohl  vertraut  ist,  so  erhalten  manche  der  von  ihm  emp- 
fohlenen Textänderungen  einen  gewissen  Grad  äußerer  Wahrscheinlich- 
keit; bei  scharfer  Prüfung  freilich,  vornehmlich  des  Zusammenhangs, 
stellen  sich  viele  seiner  Emendationen  nicht  als  notwendig,  andere  gar 
mehr  als  „lusus  ingenii"  dar.  An  solchen  hält  N.  übrigens  durchaus 
nicht  eigensinnig  fest,  sobald  er  eine  Möglichkeit  zu  sehen  glaubt,  die 
Überlieferung  befriedigend  auszulegen,    oder   wenn    ihm   ein  Vorschlag 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  ISOG— 1903.    (Wolff.)  105 

vou  anderer  Seite  einleuchtet .    Jedenfalls  geben  N.s  Studien  zu  weiteren 
fruchtbaren  Untersuchungen  willkommenen  Anstoß. 

Ein  Teil  der  in  den  ,,Analecta"  begründeten  Lesarten  hat  bereits 
in  N.s    bisherigen    Tacitusausgaben     Aufnahme    gefunden.     Agr.  14, 5 
verwirft  er  die  seit  Rheuanus  übliche  Umstellung  vetere  consuetudine  .  .  . 
ut  haberet  und  vertritt  die  Ansicht,  daß  ut  aus  Dittographie  von  mansit 
entstanden    und    habere    zu    lesen    sei.     Der    taciteische  Gebrauch  des 
Infin.  in  ähnlichen  Verbindungen,    mit  mos^    ratio,    cupido,    negotium 
(vielleicht    auch    Dial.    3,  20;    s.  unten),    natura    (I  55,5;   II  20,  7), 
macht  diese  Vermutung  sehr  annehmbar.     Vgl,   auch  Caes.  b.  g.  IV  7 
Germ,   consuetudo  haec  sit  resistere    neque  deprecari.     Dräger,    H.  S. 
IP  278  ff.  und  359  ff.  —  Agr.  16,  12  hält  N.  das  überlieferte  sinnlose 
eiusque  für    nichts    weiter    als    eine  Doppelschreibnng    von  et  ut  suae 
(etusue).     Damit    fiele    in    der  Tat   jede  Schwierigkeit  der  Auslegung 
fort,  und  Burnonf  träfe  so  das  Richtige:   „avec  la  durete  d'un  homrae 
qui  venge  sa  propre  injure".     Der  gewollte  Gegensatz    von    suae    und 
publicae  (rei  p.)  iniuriae  stimmt  ja  auch  am  besten  zum  Vorhergeheuden, 
mögen  wir  nun  proprius  oder,  mit  N.,  praecipuus  lesen.    Vgl.  3,  70,  7 
sane  lentus  in  suo   dolore   esset:    rei    publicae    iuiurias    ne    largirctur; 
14,  43,  18.     Caes.  b.  g.   I  12,  7;    20,  5.  —  Auch    an    der    arg    ver- 
dorbenen   Stelle    6,  16    vermutet  N.    den  Fehler    in    der    irrtümlichen 
Wiederholung  von  lertia  (•=  inertia)  und  möchte  lesen:  idem  praeturae 
[certior  et]  silentiura.     Die  Aushilfe  des  Rheuanus  mißbilligt  N.,   weil, 
tenor  sonst  bei  Tac.  nicht  vorkomme.    Mehr  aber  als  die  lexikologische 
spricht  m.  E.    dagegen    die    diplomatische  Unwahrscheinlichkeit.     Dies 
gilt    auch    für    Urlichs'  Heilungsversuch  K,   19   a.  E.    auctiore    pretio. 
Die  hdschr.  La  ac  ludere  pretio,    verdächtig  schon  wegen  des  voraus- 
gehenden per  ludibrium,  harrt  heute  noch  einer  annehmbaren  Deutung; 
auch  die  durch  den  Toletanus  gestützte    leichte  Konjektur    von  Wex: 
ac  luere  pretio,  die  N.  in  seiner  Neubearbeitung  der  kl.  Schriften  (s.  u.) 
akzeptiert,  läßt  keine  recht  befriedigende  Erklärung  zu. 

Mit  Recht  erklärt  sich  N.  dagegen,  34,  7  ruere,  wie  Selling, 
Spengel  und  nach  ihnen  die  meisten  Gelehrten  wollten,  als  Perfekt  zu 
fassen;  denn  Livius,  Curtius  und  Tacitus  brauchen  das  Perf.  dieses 
Verbs  überhaupt  nicht,  während  ruere  als  historischer  Inf.  gerade  bei 
Tac.  ziemlich  häufig  begegnet.  Einigermaßen  wird  ruere  .  ,  .  pelle- 
bantur  geschützt  durch  3,  26,  5  postquam  exui  .  .  .  incedebat.  Zu 
penetrantibus  ist  natürlich  nobis  zu  ergänzen,  da  Agr.  deutlich  auf 
überstaudene  Schwierigkeiten  des  Marsches  (paludes  moutesve  et  flumina 
.  .  .  tantum  itineris,  Silvas  .  .  .  aestuaria)  und  einzelne  ,in  agmine" 
erlebte  Begegnisse  Bezug  nimmt.  —  37,  20  liest  N.  nacli  der  besseren 
Hs  und  Rhenanus:   persultare,  wie  die  meisten;  perscrutari  kommt  bei 


106  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  18PG— 1903.     (WolfiF.) 

Tac.  sonst  nicht  vor,  würde  auch  gerade  zum  letzten  Objekt  rariores 
(„lichtere")  Silvas  minder  gut  stimmen.  —  Zu  41,  13  comparantibns 
cunctis  merkt  N.  an,  daß  Tac.  durchweg  cunctis  oder  nniversis  setzt, 
so  oft  ein  auf  ibus  ausgehendes  Nomen  vorangeht  oder  folgt.  Omnibus 
dagegen  steht  regelmäßig  bei  den  auf  is  endigenden  Worten.  Noch 
strenger  meidet  ein  solches  Homoeoteleuton  -ibus  -ibus  (-is  -is)  Ammia- 
iius  Maiceliinus. 

Zur  Germania  bringen  die  Analecta  nichts  sonderlich  Neues. 
An  die  Parallelen  zu  11,  5  auspicatissimum  initium:  Quintil.  X  1,  85  a. 
exordiura,  und  Plin.  ep.  9,  17  (Ammou  fügte  ep.  10,  28  hinzu)  ist  schon 
früher  erinnert  worden  (von  Diltbey  und  dem  Ref.).  Vgl.  auch  Plin.  n.  h. 
16,  75.  —  Auch  brauchte  nicht  erst  bewiesen  zu  werden,  daß  die  Gegen- 
überstellung vivere-mori  häufiger  ist  als  vivere-perire;  wenn  aber  N. 
daraufhin  sowie  wegen  der  Varianten  der  Hss  pariendum  (B)  und  perien- 
dum  (G)  —  par  oder  per  sei  nur  versehentliche  Wiederholung  der  ersten 
Silbe  von  paratus  —  G.  18  a.  E.  moriendum  für  das  kiäftige  pereundum 
einsetzen  will,  so  ist  er  auf  dem  Irrwege.  —  Mit  20,  7  pares  validaeque 
vergleicht  N.  sehr  treffend  28,  15  a  similitudine  et  inertia  Gallorum, 
und  IV  86  a.  E.  disparem  mitioremque  naturara;  auch  Decl.  mai.  4, 14 
parem  dignamque  faciem.  Ich  möchte,  vorausgeset-'.t,  daß  meine  Vermutung 
das  Richtige  getroffen  hat,  hinzufügen  II 100,  17  inter  malos  et  similes. 
Jedenfalls  wird  durch  diese  Beispiele  Baumstarks  Auffassung  von  20,  7 
pares  (sc.  aetate)  , gleichaltrig"  als  einseitig  erwiesen.  Sachlich  kommt 
es  freilich  auf  dasselbe  hinaus,  ob  ich  sage:  gleichaltrig  uud  gleichkräftig 
oder:  in  gleicher  (jugendlicher)  Vollkraft.  —  Im  Gegensatz  zu  seiner 
früheren  Ansicht  findet  N.  jetzt  keinen  Anstoß  mehr  in  6,  13  apta  et 
congruente;  er  vergleicht  Sen.  contr.  7  pr.  6  apte  et  convenienter; 
Quint.  V  10,  123  aptum  atqne  conveniens.  —  Ob  die  Änderung  Praramers 
(oder  kommt  Heraus  die  Priorität  zu?)  22,  2  occupet  notwendig  sei, 
will  N.  nicht  entscheiden,  nimmt  sie  jedoch  in  seine  Ausgabe  auf.  — 
Die  Stelle  23,  1  hordeo  aut  frumento  schwebte  wohl  Amm.  Mqrcellinus 
vor,  als  er  26,  8,  2  schrieb:  est  auteni  Sabaia  ex  ordeo  vel  frumento  in 
liquorem  conversis  paupertinus  in  Illyrico  potus.  Übrigens  ist  frumento 
schwerlich  =  alio  frumento.  Ob  man  damals  schon  Weizen  in  Germauien 
baute,  danach  wird  sich  Tac.  kaum  so  genau  erkundigt  haben;  ergreift 
eben  die  beiden  für  die  Dierbereitung  wichtigsten  Getreidearten  heraus. 
Unverständlich  bleibt,  weshalb  N.  15,  8  die  Genetive  vel  armentoruni 
vel  frugnm,  als  von  conferre  „abhängig",  in  Vergleich  zieht  mit  Amm. 
Marc.  21.  16,  7  nee  poniorum  .  .  .  gustaverit. 

Beachtenswert  ist,  was  N,,  an  die  Varianten  der  Hss  30,  4  ac  und 
atque  anknüpfend,  statistisch  nachweist:  1.  Tac.  schreibt  stets  simul  ac, 
pariter  ac,  periude  ac,  aeque  ac  vor  konsonantisch  anlautenden  Wörtern; 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1890-  19(>3.     (Wolff.)  107 

2.  atque  braucht  er  vor  Konsonanten  überhanpt  selten,  und  zwar  nur 
in  der  Verbindung  zweier  Kinzehvöiter,  wenn  kein  weiteies  Wort  da- 
zwischen tritt.  Danach  ist  30.4  die  La  simnl  ac  deponit  vorzuziehen, 
und  die  einzige  x\usnahn)e  von  der  Regel,  V  12,  7  atque  per  avaritiam, 
wird  stark  verdächtig  (auch  schon  im  Hinblick  auf  das  kurz  vorher- 
gehende atque!).  Vielleicht  ist  hier  ita  statt  atque  zu  lesen;  irgendeine 
Übergaugspartikel  dürfte  doch  nötiir  sein.  Jene  il"gel  erweist  auch,  daß 
Brotiers  Vorschlag  1,  8,  9  atque  (statt  aut)  cohoriibus  zu  schreiben, 
verkehrt  war.  —  Tagmanns  Emendation  42,  5  praeciugitur  (Plin.  n.  h. 
II  166;  V  143;  vgl.  den  Gebrauch  von  praetexere  und  praetendere)  ver- 
wirft N.  schon  aus  dem  Grunde,  weil  Tac.  praecintro  sonst  nirtceuds  ge- 
brauche; er  möchte  fiuis  vor  Danuvio  einschalten  und  führt  eine  Menge 
ganz  belangloser  Stellen  für  den  Gebrauch  von  peragere  auf.  Aber 
geht  es  nicht  ohne  jede  Textänderung?  Vgl.  Mela  II  16  (Thraecia) 
qua  laiera  agit,  Histro  pelagoque  contingitur.  An  unserer  Stelle  ent- 
schuldigt velut  offenbar  eine  etwas  ungewöhnliche  Wendung:  frons  (G.) 
Danuvio  peragitur,  soweit  die  „Stirnseite"  Gerraauiens  (auf  der  langen 
Strecke)  durch  die  Donau  gebildet  wird. 

Hist.  I  12,  11  in  Titi  Vini  odium  (.Acidalius:  odio)  sucht  N. 
zum  Überfluß  duich  Analoe:ien  aus  den  Scriptores  hist  Aug.  zu  schützen. 
—  Die  schöne  Periode  I  15,  23  inrumpet  adulatio  —  utilitas  vergleicht 
er,  außer  mit  Agr.  41,4  sed  infensus  —  laudautts,  mit  Sen.  de  beuef. 
1,  10,  2  nunc  conviviorum  vigebit  furor  et  foedissimum  patrimoniorum 
exitium,  culina,  und  4,  11,  5  illa  depravabat  spes  metus  et  inertissiraum 
Vitium,  voluptas  —  das  ist  ganz  der  auch  in  den  Betrachtungen  der 
Germania  wiederklingende  Ton.  —  Ob  I  33,  9  besser  indignatio  re- 
languescat  (Halm;  M  indignatioue  languescat)  oder  nach  J.  Gronov 
elanguescat  (so  die  meisten)  zu  schreiben  ist,  steht  dahin.  Daß  re- 
languesco  bei  Tac.  sonst  nicht,  elanguesco  dagegen  zweimal  vorkommt, 
kann  nicht  entscheidend  sein.  N.  vermutet  als  echte  La  languescat. 
Der  Abschreiber  habe  vielleicht  in  als  Präposition  genommen  und  des- 
halb ans  indignatio  den  Ablat.  gemacht. 

Von  der  Stelle  I  38,  2  ab  exilio  ausgehend,  zeigt  N.,  wie  sorg- 
fältig Tac,  gleich  andern  feinfühligen  Schriftstellern,  vermieden  hat, 
auf  einsilbige  Wörter  solche  mit  gleicher  Anfangssilbe  folgen  zu  lassen. 
Eine  Ausnahme  macht  zunächst  das  häufige  in  in-  (doch  sei  14,  48  a.  E. 
quin  in  insula  unwahrscheinlich  und  vielmehr  quin  et  in  insula  zu  ver- 
bessern); selten  findet  sich  de  de-,  nie  rae-,  re  re-,  si  si-  (hier  darf  auf 
die  berechtigte  Athetese  hingewiesen  werden  II  83,  10  si  [sibi]  Brun- 
disiam);  dagegen  kommen  bei  Tac.  überhaupt  nicht  vor: 

1.  ab  ab-,  ad  ad-  (at-),  cum  cum-,  ex  ex-,  ob  ob-  (op-),  per  per-, 
post  post-,  prae  prae-,  pro  pro-,  sub  sub-. 


108  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1S96— 1903.    (Wolff.) 

2,  at  at-  (ad"),  ne  ne-,  qua  qua-,  qui  qui-,  se  se-  (sae-j  (I  88,  5 
koDJiziere  Ritter  falsch:  se  secum  expedire-),  ut  ut-. 

Diese  Feststellungen  können  natürlich  in  manchen  textkritischen 
Streitfragen  die  Entscheidung  bedeutend  erleichtern:  3,  1,  8  fidissimum 
adpulsu  (M  adpulsü,  Döderlein  ad  adpulsum);  4,  3,  10  adulterio  pellexit 
(so  auch  Nipp.-Andresen  9.  Ausg.,  was  N.  nicht  beachtet);  nicht  in 
Betracht  kommt  ohnehin  13,  48,  4  ne  necem  (Walther)  gegen  Nipper- 
deys  Emendation  ne  caedem;  15,  72,  9  darf  die  Lücke  nicht  ausgefüllt 
werden:  Nymphidio  qui  quia  nunc  .  .  .;  11,  7,  11  ist  die  La  senatores 
qui  quieta  le  publica  (es  genüge  qui  e[ta]re  publica),  und  Agr.  19,  18 
Bezzenbergers  Vorschlag  pro  proximis  (schon  aus  obigem  Grunde) 
zu  verwerfen.  Auch  Halms  Lesart  13,  44,  14  ex  qua  quasi  incensus 
(besser  wäre  auf  jeden  Fall:  ea  quasi  incensus)  ist  angesichts  dieser 
Beobachtungen  ebensowenig  zu  billigen  wie  die  Konjektur  J.  Müllers 
D.  25,  8  qua  quasi  cominus  nisus.  —  14,  2,  4  möchte  N.,  um  das 
, lästige"  se  saepius  zu  vermeiden,  schreiben:  offerre  <t  se  ei> 
saepius;  aber  die  Heilung  ist  durch  vermehrte  Einschaltang  schwerlich 
zu  erzielen.  Die  La  offerret  saepius  temulento  comptam  ist  ganz  ver- 
ständlich und  des  Tac.  Sprachgebrauch  gemäß.  Vgl.  1,  35,  13  promptos 
ostentavere  (sc.  se);  4,  59,  17  ut  erectum  et  fidentem  animi  ostenderet; 
5,  5,  6  paratos  ad  ultionem  vi  piincipis  impediri  testarentur.  An  diesen 
und  ähnlichen  Stellen  hat  die  Kritik  geglaubt,  das  Fürwort  se  ein- 
schalten zu  sollen. 

II  25,  11  liest  N.,  auf  IV  2,  14  und  G,  41,  8  Bezug  nehmend, 
unde  rursus  <erumpere>  ausi;  doch  ist  die  Prägnanz  unde  rursus  ausi 
hinlänglich  gesichert,  durch  V  11,  3  longius  ausuri  und  II  71,  12  ad- 
versus  Neronem  (Urlichs  add.  vim)  ausus;  4,  59,  18  neque  ausurum 
contra  Seianum.  —  Das  Bestreben,  aus  dem  Text  des  Tac.  auffallende 
Anomalien,  durch  Streichung  oder  durch  Einschaltung  von  Worten  oder 
Wortteilen,  zu  beseitigen,  führt  N.,  wie  man  sieht,  öfters  zu  weit.  II  81,  3 
zweifelt  er  (wie  Andresen,  s.  S.  96)  die  Eichtigkeit  von  inservientium 
an.  Das  Kompositum  bezeichne  nicht  politische  Unterwürfigkeit.  In 
sei  Wiederholung  der  ersten  Silbe  von  ingens.  Möglich;  vielleicht  aber 
hat  Tac.  eine  leichte  Schattierung  des  Gedankens  beabsichtigt.  —  I  4t:> 
a.  E.  ist  zu  lesen:  in  M.  Icelum  ut  [in]  libertum;  denn  Tac.  pflegt  in 
solchen  Verbindungen  die  Präposition  nicht  zu  wiederholen.  —  Auch  I 
42,  7  findet  sich  ein  unberechtigtes,  aus  der  Vorzeile  eingeschlichenes 
in:  in  utrumque  latus  transverberatus.  Vgl.  Liv.  21,  7,  10  adversum 
femur  tragula  gr.  ictus  cecidit;  Plin.  n.  h.  7,  103  vulneratus  umerum, 
femur. 

Zu  III  25,  14  hatte  N.  schon  1884  vorgeschlagen,  violatos  zu 
lesen.     Indem  er  dies    von  neuem  empfiehlt,    geht  er    auf  die  von  den 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.     (Wolff.)  101) 

meisten  gebilligte  La  placatos  gar  nicht  ein.  III  65,  5  macht  er  den 
aussichtslosen  Versuch  (ganz  gegen  seine  Gewohnheit)  ein  ar.  Xsyoiievov  : 
praecaute  (M  prae)  einzuschwärzen;  IV  15,  12  beseitigt  er,  wie  Haase 
und  Heraus  („ein  Notbehelf),  das  überlieferte  occupata.  Daß  übrigens 
alle  anderen  Editoren  von  Weißenborns  Kouj.  occnpatum  befriedigt 
seien,  ist  unrichtig,  wenigstens  was  Meiscr  (accubantia)  und  den  Ref. 
betrifft.  —  Wie  leicht  eine  übertriebene  Benutzung  der  Statistik  zu 
Fehlschlüssen  verleiten  kann,  zeigt  N.s  Ausführung  zu  IV  29,  5,  wo  ge- 
wöhnlich effulgens  (M  et  fulgens)  gelesen  wird.  Weil  nämlich  das 
Kompositum  von  Tac.  nur  dreimal,  und  zwar  zufällig  im  Perf.  und 
riusqpf.,  fulgens  aber  öfters  angewandt  wird,  so  will  N.  nur  das 
letztere  an  unserer  Stelle  als  berechtigt  anerkennen;  zieht  aber  den 
ganz  verschiedenen  Zusammenhang  der  einzelnen  Stellen  nicht  in  Rech- 
nung. Man  vergleiche  nur:  1,  24,  11  legioues  non  laetae  .  .  .  nequc 
insignibus  fulgentes,  sed  inluvie  deformes  et  vultu,  und  IV  29,  5  si  quis 
audacia  aut  insignibus  effulgens,  ad  ictum  destinabant!  Die  Erklärung 
der  Textverderbnis :  „spurium  et  ex  superioribus  irrepsit"  ist  außerdem 
hier  gar  zu  wohlfeil.  —  V  4,  14  verlangt  der  Sprachgebranch  des  Tac. 
quod  e  Septem  sideribus,  nicht  de.  Die  Möglichkeit  eines  Schreib- 
versehens lag  allerdings  nahe  genug  (Dial.  21,  3  unum  de  populo  gilt 
für  N.  nicht  als  Gegeninstanz). 

Auch  die  Annalen  hat  N.  mit  vielen  Emendationen  bedacht,  die 
zum  Teil  schon  in  seine  Ausgabe  von  1890  (s.  m.  Anzeige  in  N.  Phil. 
Rdsch.  1891  Nr.  2,  S.  22—25)  aufgenommen  sind.  1,  17,  14  cle- 
mentiam  für  saevitiam  soll  freilich  nur  „Notbehelf"  sein,  allein  wir  be- 
dürfen eines  solchen  gar  nicht.  Gerade  die  auf  den  ersten  Blick  be- 
fremdende Verbindung  verschiedenartigster  Begriffe  ist,  ich  möchte 
sagen,  zu  echt  taciteisch,  als  daß  wir  ändern  sollten.  Ganz  ähnlich 
heißt  es  Agr.  31,  8  Britannia  Servituten!  suam  cotidie  emit,  cotidic 
pascit.  —  2,  64,  10  ipsorumque  regum  <diversa>  ingenia:  ein  ziemlich 
willkürlicher,  durch  den  Hinweis  auf  I  62,  1  und  ähnliche  Beispiele 
mangelhaft  begründeter  Zusatz.  —  2,  69,  4  temptabantur  glaubt  N. 
befriedigend  erklären  zu  können.  Die  gewöhnliche  La  iutentabantur 
(so  nach  Wurm)  stehe  nicht  im  Einklang  mit  dem  Stil  des  Tac,  der 
intentare  (2  mal)  und  intendere  nicht  mit  in  c.  acc,  sondern  mit  dem 
Dativ  der  Person  konstruiere.  Dieses  Bedenken  ist  jedoch  nicht  stich- 
haltig; man  vergleiche  die  analogen  Verbindungen:  contumelias  (probra) 
iacere,  ingerere,  effundere,  selbst  inferre,  dicerc  in  aliquem!  Acerba 
temptare  scheint  mir  nicht  zulässig.  —  Zu  4,  4,  13  exsequendum  veor 
(N.  möchte  etwa  ut  noscatur  oder  sciatur  einschalten)  bemerke  ich,  daß 
derartige  Brachylogie  bei  Tac.  nicht  unerhört  ist;  vgl.  4,  57,  6  pleram- 
que  permoveor,    num  .  .  .  verius  sit,    „ich    werde    (wenn    ich  darüber 


110  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1S96  -1903.     (Wolff  ) 

nachdenke)  unsicher",  , schwanke'  .  .  .  Und  selbst  diese  Redeweise  ist 
nicht  „neu"  (Nipp),  da  schon  Cicero  ad  Att.  I  14  schreibt:  intellexi 
hominera  moveri  (xiveTj&ai)  iitmm  [crederer]  Crassum  iniie  ...  —  Um 
Prammers  (uml  Nippel  dt^ys)  Verdacht,  daß  4,  11,  6  hinter  unicura  das 
W.  filium  ausgefallen  sei,  zu  widerleg;en.  läßt  N.  gleich  eine  ganze 
Kolonne  von  Beispielen  aus  den  , Deklamationen*  aufmarschieren.  Auch 
wir  sprechen  in  ähnlichem  Zusammenhang  vom  „Einzigen",  „Altesten" 
usw.  ohne  Gefahr  eines  Mißverständnisses.  —  Mit  Recht  wird  4,  49,  10 
eque  (M,  =  aeque)  als  iriige  Wiederholung  aus  dem  Vorausgehenden 
bezeichnet.  Die  Korrektur  equi  (Lipsins)  erregt  auch  ein  sachliches 
Bedenken.  Ihren  Bestand  an  Rindvieh  mochten  die  Bewohner  der  un- 
wegsamen Balkanhöhen,  denn  diese  sind  ja  gemeint  (qui  montium  editis 
incultu  .  .  .  agitabant,  46,  2)  mit  sich  unter  demselben  Dache  halten; 
von  Pferden  ist  in  der  ganzen  Erzählung  keine  Rede.  Übrigeus  ist  ja 
der  Ausdruck  armenta  weit  genug,  um  auch  Pferde  und  Esel  miteinzu- 
schließen, wie  1'6,  55,  9  pecora  et  aimeiita  militnm.  —  4,  65,  4  auxi- 
lium  tulisset  (Lipsius).  Döderleins  La  ai.xilium  <por>  tavisset  (nach 
Sali.  Cat.  6,  5)  sei  dem  Spracligebrauch  des  Tac.  zuwider,  der  nur 
opem,  subsidium,  auxilium  ferresagt;  alleidings  kommt  auxilium  ferre  bei 
Tac.  auch  nur  einmal  vor,  —  4,  69,  13  reiiceus  adv.  proximos  (Weißen- 
born) bedeutet  zwar  keine  recht  befiiedisjende  Heilung  der  Stelle,  noch 
weniger  aber  das  von  N.  befürwortete  doppelsinnige  egens  <tidei>  Für 
tegens  (Lipsius)  fehlt  es  an  passenden  Belegen.  —  5,  4,  8  ist  tue  rich- 
tige Wortfolge:  posse  .  .  .  paenitentiae  seni  <esse>  —  so  schon 
Ruperti  — ,  nicht  esse  seni;  denn  so  oft  Tat',  pcsse  von  ilem  zngehö.'igeii 
Infiü.  trennt,  stellt  er  diesen,  wie  2  Dutzen  1  Beispiele  lehren,  aus  Satz- 
ende, —  5,  10,  5  per  ilolumque  (M  qui)  scheint,  unrichtig:,  da  Tac. 
nirgends  (16,  2,  7  ist  die  La  zweifelhaft;  III  ÖO,  10  hat  man  korrigiert, 
s.  Lex.  Tac.  1257a  unten)  que  an  ein  von  einer  Präpositit)n  abhängiges 
Wort  anfügt.  Auch  Caes.  b.  g.  II  11  a.  E.  sab  occasmiique  hat  Meusel, 
dem  Kraner-Dittenberger  folgt,  que  «etilgt.  —  6,  13,  5  ist  quibus  e 
provinciis  (M  et)  nach  fast  konstantem  Gebi-auch  des  Tac.  zu  schreiben. 
Mit  Ausnahme  von  zwei  Fällen  gehören  alle,  wo  ex  vor  pr  sich  findet, 
erst  den  letzten  Büchern  der  Annalen  an  (vor  provincia  hat  er  nur  e). 
Demgemäß  liest  N.  (wie  Meiser)  III  27,  8  dum  ej^tj  proximis  agris;  IE 
24,  16  super  hos  e[t]  praetorio;  III  1  a.  E.  e[t]  praesentibus  (wie  Nipp.). 
—  6,  31  a.  E.  streicht  N.  außer  ut  auch  die  W.  sponte  Caesaris  als  eine 
,, Randglosse"  zu  auctore.  Diese  Athetese  ist  methodisch  kaum  zu  recht- 
fertigen, wenn  auch  das  handschriftlich  Überlieferte  schon  des  Tonfalls 
wegen  ( — uu — uu — uu)  unmöglich  ohne  Änderung  beibehalten  werden  kann. 
11,  1,  7  bietet  M  coutionem  populi  R.,  wofür  Halm  contione  in 
populi  R.  verbesserte.     Das  will  N.    nicht    gelten    lassen.     Tac.    setze 


Bericht  über  die  Tacitu&literatur  1896-1903.    (Wolff.)  Hl 

zwar  mitunter  (in  den  Annalen!)  nach  Dichterweise  die  Präposition 
zwischen  das  Snbstantiv  und  einen  zugehörigen  Genetiv  (Nipp,  zu  3. 
72,  4),  doch  beschränke  sich  dies  auf  die  Präpositionen  ab,  ad,  apud,  inter. 
Was  also  für  ab  in  einem  Einzelfalle,  4.  5,  8  initio  ab  Suriae,  als  zu- 
lässig gilt,  soll  für  in  ganz  unwahrscheinlich  sein!  Die  diplomatische 
Schwierigkeit  kann  doch  gegen  Halms  Emendation  kaum  in  Betracht 
kommen.  Den  bloßen  Ablat.  contione  halte  ich  in  dem  gegebenen  Zn- 
sammenhange nicht  für  passend;  wenigstens  läßt  er  sich  nicht  durch  die 
von  N.  angerufenen,  verschiedenartigen  Beispiele  stützen:  II  82,  10 
Muc.  prima  contione  .  .  .  ostenderat,  und  III  36,  11  frequenti  contione 
laudibus  cumulat.  —  12,  37,  12  vinclis  absoluti  (M)  hat  Lipsius  in  ex- 
solati  geändert  », Ritter  soluti)  ohne  Not;  denn  man  braucht  keineswegs 
in  , ungewöhnlicher  Snperstition"  der  Florentiner  Hs  gegenüber  befangen 
zu  sein  (wie  Oielli  von  Nipperdey  vorgeworfen  wurde),  um  mit  Noväk 
für  das  übeilieferte  absoluti  einzutreten.  Äußer  auf  Germ.  31,  7  donec  se 
(vinculo)  .  .  .  absolvat,  verweist  N.  auf  zahlreiche  Beispiele  ähnlicher 
Verbindungen  bei  Apuleius  hin.  —  13,  25,  12  wird  gewöhnlich,  nach 
Agricolas  Hs,  gelesen:  quia  vi  attemptantem  acriter  reppnlerat  (M  via 
temptautem).  Nach  N.s  Ansicht  ist  via  aus  quia  entstanden  und  als 
entbehrlich  zu  streichen.  "Warum  aber  korrigieren  wir  nicht  lieber 
vim  temptantem  (=  v.  parantem)?  —  Anch  die  Textverderbnis  13.  56,  7 
terra  uiuam  in  qua  glaubt  N.  auf  eine  Art  Dittographie  zurückführen 
zu  sollen;  er  hält  die  Erwähnung  des  Lebens  hier  nicht  für  angebracht  (?) 
und  liest,  wie  schon  Nipp,  (opusc.  S.  364)  wollte,  terra  in  qua  moria- 
mur.  Mir  scheint  Döderleins  Emendation  ubi  vivamus  weitaus  die  sinn- 
reichste und  einfachste  zu  sein.  —  14,  20,  18  auctum  iri  (Madvig;  M 
augurii)  ist  verdächtig.  Der  Inf.  fut.  pass.  findet  sich  nur  noch  11,  27, 
1  Visum  iri;  Lipsius  schrieb  augeri  <debere>.  N.  glaubt  mit  der  Än- 
derung argui  helfen  zu  können  (arguere  =  anfechten,  protestieren  gegen), 
doch  verstehe  ich  nicht,  wie  er  diesen  Begriff  mit  der  Ironie  der  Rede 
in  Einklang  bringen  will.  Am  nächsten  liegt  m.  E.  die  Korrektur 
augeri.  —  13,  47,  9  bietet  M:  fato  quievit  atas,  woraus  man  fast  ebenso 
leicht  fatoque  evitatas  als,  wie  N.  will,  fatoque  vitatas  herauslesen  kann. 
Daß  Tac.  das  einfache  vitare  auch  =  evitare  braucht,  lehrt  I  18,  5 
quae  fato  manent  .  .  .  non  vitantur.  Wir  dürfen  uns  also  nicht  zu 
streng  an  die  Definition  halten,  die  Porcellini  unter  Berufung  auf  Cic. 
de  fin.  V  7,  20  und  Sen.  ep.  XV  1  (93)  a.  E.  gegeben  hat.  —  15, 
19,  1  verdächtigt  N.  den  Superlativ  pravissimus  mos  (M  pravissimos) ; 
denn  1.  komme  pravus  bei  Tac.  zwar  ziemlich  oft  vor,  doch  nur  im 
Positiv  vor  (kein  Grund!  Das  viel  häutigere  honestas  steht  auch  nur 
einmal,  II  71,  6,  im  Superlativ),  2.  der  Positiv  reiche  für  den  Zu- 
sammenhang   völlig  aus;    3.    die  Verderbnis  der  ursprünglichen  La  sei 


112  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189G— 1903.     (Wolff.) 

leicht  zu  erklären;  analoge  Fälle  sind  nicht  selten.  Dieser  kumula- 
tive Beweis  hat  nur  in  seinem  dritten  Glied  einiges  Gewicht,  das  durch 
Andresens  Darlegungen  (Progr.  1899  S.  16  f.)  namentlich  auch  durch 
den  Hinweis  auf  III  17,  2  (fortis  militis)  verstärkt  wird.  Die  arg 
korrupte  Stelle  15,  35,  6  wird  bei  Nipp.-Andresen  so  gelesen:  quin 
inter  libertos  habere,  gewiß  eine  kühne  Emendatiou  des  überlieferten 
quiue  in  nobiles.  Nun  findet  sich  das  affirmative  oder  steigernde  quin 
bei  Tac.  selten  ohne  Zusatz  (sicher  nur  dreimal;  zweifelhafte  Stellen 
sind  II  18,  6;  14,  48  a.  E ).  N.  gibt  eine  vollständige  Übersicht  des 
tacit.  Gebrauchs  von  quin  etiam,  quin  et  (in  den  Ann.  weit  überwiegend), 
quin  immo,  quin  ipse,  and  empfiehlt  au  unserer  Stelle  quin  et  zu  lesen. 
Was  hinter  in  nobiles  stecken  möge,  wagt  er  nicht  zu  entscheiden. 
Sollte  nobiles  durch  Dittographie  aus  novisesse  (e)  entstanden  sein? 
Dann  wäre  zu  leseu:  quin  et  (etiam)  habere,  quos  sq.  Vgl.  16,  22,  12 
Et  habet  sectatores  vel  potius  satellites  sq.  —  15,  57,  5  sie  primus 
quaestionis  dies  contemptus  (M.;  Nipp.  u.  a.).  Dafür  las  Prammer, 
dem  früher  auch  Noväk  beistimmte:  cousumptus.  Wenn  N.  hiergegen 
jetzt  einwendet,  Tac.  schreibe  in  den  Annalen  absumere,  nicht  consumere 
tempus,  diem  —  und  contemptus  könne  doch  nicht  aus  absumptus  ent- 
stellt sein  —  so  läßt  sich  aus  deu  zu  Gebote  stehenden  Beispielen 
keineswegs  ein  stilistisches  ,,Entwickelungsgesetz"  ableiten,  auf  Grund 
dessen  diese  textkritische  Frage  entschieden  werden  könnte.  Man 
betrachte  nur  die  Stellen:  Agr.  21,  1  hiems  absumpta;  23,  1  quarta 
aestas  insumpta;  G.  11,  10  dies  .  .  .  absumitur;  III  40,  9  tempora 
cousultando  consumpsit;  IV  43,  11  consumptus  per  discordiam  dies; 
2,  8,  9  plures  dies  .  .  .  absumpti;  3,  17,  13  biduum  .  .  .  absumptum ; 
5,  7,  1  partem  diei  absumpsit.  Von  D.  3,  16  omne  tempus  .  .  .  con- 
sumas  uud  14  a.  E.  otium  suum  consumere  will  ich  ganz  absehen. 
Jedenfalls  wird  sich  aus  diesem  Überblick  zur  Genüge  ergeben,  daß, 
falls  überhaupt  eine  Textänderung  für  erforderlich  gilt,  Prammers  Kon- 
jektur nach  dieser  Seite  hin  am  wenigsten  bedenklich  ist. 

Im  Anschluß  an  die  ,,Analecta"  sei  noch  die  zweite  Auflage 
der  von  Novak  1889  zuerst  herausgegebenen  Bearbeitung  der  drei  kleinen 
Schriften  des  Tac.  erwähnt. 

33.  Cornelii  Taciti  Germania,  Agricola,  Dialogus  de 
oratoribus,  zum  Schulgebr.  herausg.  von  Robert  Noväk.  Zweite 
Auflage.     Prag,  A.  Storch  Sohn,  1902.     XII,  96  S.     8. 

Die  Einleitung  ist  in  böhmischer  Sprache  geschrieben,  so  daß 
ich  darüber  nicht  referieren  kann.  Die  Zahl  der  in  der  „Adnotatio 
critica"  verzeichneten  Textäuderungen  (einige  sind  bereits  oben  erörtert 
worden)  ist  noch  immer  überaus  groß,  obwohl  N.  einen  Teil  der  be- 
denklichsten Konjekturen  mittlerweile  hat  fallen  lassen. 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  lS0ß-l!)O3.    (Wolff.)  113 

In  der  Grermania  liest  er:  2,  18  eo  (sc.  Maiino)  statt  deo;  2 
a-.  E.  cum  omnes  primum  a  victis  ob  metum,  mox  .  .  .  vocarentur; 
5,  5  sucht  er  den  freilich  höchst  auffallenden  Subjektswechsel  zu  be- 
seiti2:en,  indem  er  improcerorum  liest;  7,  4  wird  admiratione  beseitigt; 
17,  4  ändert  er:  Sarmatarura  ac  Parthorum;  17  a,  E.  nuptis  für  nup- 
tiis;  hier  soll  ambiuiitur  =  cinguntur  sein!  K.  18  wird  nicht  nur 
munera  hinter  probant  (als  „reine  Dittographie"),  sondern  auch  Z.  5 
hinter  baec  ausgestoßen.  '60,  3  schreibt  N.  si  quidem  herum  colles  p. 
rarescunt,  [et]  Chattos  suos  .  .  .  deponit.  Verdächtig  erscheinen  N. 
folgende  überlieferte  Worte;  3,  4  ipso  cantu;  3,  10  hunc;  4,  4  in  tanto: 
8,6  nobiles;  12,6  dum  puniuntur  (als  Interpolation);  19,6  maritus 
(„wenigstens  überflüssig");  37  a.  E.  proxirais  temporibus.  Manche  der 
angeführten  Bedenken  verraten  eine  arge  Verkennuug  des  Zusammen- 
hangs der  betr.  Stellen,  andere  müssen  gerade  bei  einem  so  feinen 
Beobachter  des  Sprachgebrauchs  wie  Noväk  besonders  auffallen. 

Mit  Recht  hingegen  hat  sich  N.  der  Überlieferung  angenommen 
an  folgenden  Stellen:  4,  1  opiniouibus;  6,  12  dextros  agunt;  15,  7  con- 
ferre  armentorum  vel  frugnm  (wegen  des  Gen.  vgl.  Amm.  Marc.  21, 
16,  7);  28,  6  igitur  inter  Hercyniam;  35,  2  redit;  36,  5  nomina  supe- 
riori  sunt.  Die  etwas  zu  gewaltsamen  Umstellungen  in  dem  Text  der 
Schlußkapitel  macht  N.  nicht  mit.  —  In  der  ersten  Ausgabe  hatte  er 
32,  2  geändert  accolunt,  ,^quam  lectionem  paulo  post  proposuit  Zernial"; 
nun  ist  er  wieder  davon  zurückgekommen.  Sehr  willkürlich  verfährt  N. 
mit  dem  Schluß  des  K.  38:  [principes  .  .  .  habent]  ea  cura  .  .  .,  sed 
in  altitudinem  .  .  .  compti  sunt  [ut  hostiura  oculis  ornanturj. 

Eine  noch  weit  lebhaftere  Tätigkeit  entfaltet  er  in  der  Textkritik 
des  Agricola.    Hier  kommen  die  jüngst  bekannt  gewordenen  Lesarten 
der  Toledaner  Hs  mit  in  Betracht,  von  denen  mehrere  sich  in  der  Tat 
als  ursprünglich,  andere  als  wohlerwogene  Korrekturen    erweisen,    wie 
26,  8    nonanis    für   Romanis.     Einzelne    der  bisherigen  Verbesserungs- 
vorschläge erhalten   durch  den  Toletanus  erwünschte  Bestätigung  oder 
Bekräftigung:  17,  8  subiit  sustinuitque  (Halm);    18,  20  subitis  consiliis 
(J.  Fr.  Gronov);    18,  22    patrius  (Puteolan.);    19,  16    ac    luere   pretio 
(Wex).     Beachtung    verdient    ferner   15,  18  et  cedendum  (AB  et  exce- 
dendum);    27,  7   se  victos;    30,  10  nee  uUa;    31,  5  ager  atque  annns, 
wie  F.  Jakob  wollte;  vielleicht  auch  36,  4  quattuor  Batavorum  (Ha- 
plographie?);    38    a.  E.    praelecto.     Das   Bessere    hat    der  Toletanu« 
jedenfalls  6,  12  ac  solacium  (hier  liest  N.  et);    30,  15  ac  saxa,  wo  A 
und  B  et  bieten  (vgl.  30,  9  pp.  ac  subsidiuni;  30,  12  r.  ac  sinus  usw.); 
dagegen  sind  als  verunglückte  Konjekturen  zu  betrachten  6,  11  naetns 
«st  ibi  filiam  und  16,  5  in  barbaris  ingeniis.     N.s  Vorschlag  in  bar 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.   Bd.  CXXl.    (1904.   IL)  S 


114  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

baris  suetum  findet  im  Sprachgebrauch  des  Tac.  keine  Unterstützaa?. 
—  Mit  einiger  Genagtuung  stellt  N.  fest,  daß  seine  Ergänzung  15,  18 
plus  impetus  <felicibu8>  durch  den  Toletanus  bestätigt  worden  sei,  und 
doch  beweist  diese  Übereinstimmung  vielleicht  nur,  daß  auch  jener 
gelehrte  Abschreiber  an  einen  beabsichtigten  Gegensatz  glaubte  und 
deshalb  konjiziereud  zu  dem  nächstliegenden,  dem  Zusammenhang  aber 
nicht  angemessenen  Ausdruck  gegriffen  hat.  Für  solche  äußerliche 
Gegenüberstellungen  sind  dann  (wie  für  vivendum  —  moriendum  G.  18, 
12;  s.  0.)   freilich  Parallelen  in  Hülle  und  Fülle  zu  haben. 

Von  sonstigen  Textäuderungen  N.s  sind  bereits  früher  (von  An-' 
dresen)  als  erwägenswert  bezeichnet  worden:  3,  2  insociabiles  (für  das 
aii.  eip.  dissociabiles);  vgl.  13,  17,  5  insociabile  regnum;  16,  10  i)rae- 
cipuus;  28,  6  profugo;  30,  13  namque  statt  atque.  Auch  die  nach 
Wölfflin  und  Bährens  hergestellte  La  31  a.  E.  nou  in  patientiam  nati 
hat  viel  für  sich;  patientia  „Unterwürfigkeit"  wie  IV  27,  13;  Liv. 
VI  26,  1. 

Daß  N.  den  Dialogus  mit  Agricola  und  Germania  in  einem 
Bändchen  vereint  (auf  dem  Titelblatt  ist  zwar,  wohl  in  symbolischer 
Absicht,  Dial.  de  or.  etwas  kleiner  gedruckt)  herausgegeben  hat,  muß 
füglich  wundernehmen,  da  er  doch  für  die  Textkritik  des  D.  vor- 
nehmlich die  Sprache  Quintilians  als  Maßstab  nimmt.  Denn  davon  ist 
N.  heute  fest  überzeugt:  entweder  hat  das  „Gespräch"*  denselben  Ver- 
fasser wie  die  Institutio  oratoria,  oder  Tacitus  muß,  vorausgesetzt,  daß 
er  es  doch  geschrieben,  Quintilians  Redeweise  ganz  wunderbar  nach- 
geahmt haben.  —  Bekanntlich  wurde  die  Autorschaft  des  Tac.  neuer- 
dings wieder  von  Weidner  und  Valmaggi  bestritten,  von  ßibbeck  als 
„nicht  erwiesen"  betrachtet.  —  Natürlich  kommt  nun  N.  in  vielen  text- 
kritischen Fragen  jetzt  zu  anderen  Ergebnissen  als  zu  der  Zeit,  wo  er 
noch  an  den  taciteischen  Ursprung  des  Dial.  glaubte;  im  ganzen  neigt 
er  zu  einem  konservativen  Verfahren,  das  er  in  einigen  Punkten  dem- 
nächst eingehender  zu  begründen  verspricht.  Andererseits  freilich  hat 
die  Supposition  der  Autorschaft  Quintilians  und  die  dadurch  bedingte 
Rücksicht  auf  dessen  „oratoria  überlas"  gewisse  Einschaltungen  zur 
Herstellung  des  postulierten  „Ebenmaßes"  veranlaßt,  die  ich  nicht  loben 
kann;  z.  B.  3.  2  sedentera  eum  et  ipsum;  denn  daß  in  solchen  Fällen  bei 
Tac,  gerade  die  Auslassung  des  Fürworts  die  Regel  ist,  weiß  N.  jeden- 
falls auch.  Überflüssig  sind  ferner  die  Ergänzungen:  5,  3  se  excusent 
(nach  Pithou);  5,  17  hoc  Studium;  6  a.  E.  quamquam  grata  sint,, 
quae  diu  serantur  sqq.  liest  sich  glatt,  fast  zu  glatt,  selbst  für  Qnintilian; 
9,  20  praecerpta,  languescens  „vel  simile  quid"  (evanescens?  —  eva- 
nescit  et?);  14,  16  primi  oratores;  14  a.  E.  damnari  (Halm);  12  a.  F. 
ist  der  Gleichmäßigkeit    (mit  includi)    wegen  esse  hinter  posteros  ein- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    ^Wolff.)  115 

geschoben  worden.  Dem  „usus  Quintilianeus"  widerstrebt  selbstverständ- 
lich 15,  14  Graiis  (Hs  gratis),  weshalb  nach  Dronkes  Vorgang  Graecis  ge- 
setzt wird.  —  3  a.  E.  liest  N.  wie  L.  Constans  u.  a.  adgregare;  vgl. 
6,  12,  16;  Liv.  III  4,  9.  Dräger,  H.  S.  II-  280.  —  Als  interpoliert 
betrachtet  N  11,  17  cuiusque;  auch  17,  22  et  quidem,  wofür  Nissen  aeque 
idem  emendierte,  erscheint  ihm  verdächtig.  25,  17  numerosior  soll  nicht 
vom  Rhythmus,  sondern  von  dem  Stoffreichtum  (?)  zu  verstehen  sein, 
durch  den  sich  des  Asiiiius  Reden  auszeichneten.  Ein  arger  Irrtum! 
Denn  erstens  ist  numerosior  nicht  =  copioslor,  und  zweitens  kann  bei 
Asinius  von  „Fülle"  ebensowenig  die  Rede  sein  wie  von  rhythmischer 
Anmut.  Er  war  nach  allen  alten  Zeugnissen  so  ziemlich  das  gerade 
Gegenteil  von  Cicero  (D.  21,  32.  Sen.  ep.  100,  7;  114,  15;  Quint.  IX 
4,  76;  XI,  113),  mag  auch  Seneca  in  seiner  Abneigung  gegen  die 
„Alten"  etwas  übertreiben.  Des  Arpinaten  nitor,  copia,  plenitas,  iucun- 
ditas  ging  ihm  jedenfalls  ab,  und  aus  diesem  Grunde  hielt  Meiser  die 
Lesart  numerosior  an  unserer  Stelle  für  durchaus  unwahrscheinlich. 
Seine  leichte  Konjektur  nervosior  habe  ich  deshalb  unbedenklich  auf- 
genommen; vgl.  auch  John,  Krit.  Anh.  —  27,  1  schreibt  N.  at  verere! 
Das  handschr.  apparte  oder  apparate  soll  aus  appareat  im  Vorher- 
gehenden entsprungen  sein.  —  34,  1 1  ist  impune  gestrichen,  ohne  hin- 
länglichen Grund  (s.  John,  Einl.  S.  27). 

Es  kann  ja  der  sprachlichen  Erklärung  und  dem  sachlichen  Ver- 
ständnis des  Dialogus  nur  förderlich  sein,  wenn  diese  anziehende  Schrift 
wieder  einmal  von  einem  solchen  Gesichtspunkte  aus  betrachtet  wird, 
wie  es  s.  Z.  durch  Vogel  geschehen  ist,  der  gleichfalls  Quintiliau  als 
den  Urheber  vermutete.  Mit  um  so  größerer  Sicherheit  wird  schließlich 
die  Autorschaft  des  Tacilus  erkannt  und  anerkannt  werden.  Was  aber 
für  die  Einzeluntersuchnng  dringend  wünschenswert  erscheint,  ist  schär- 
feres Abwägen  und  Prüfen  des  jedesmaligen  Zusammenhangs  problema- 
tischer Stellen,  und  daran  läßt  es  N.  mitunter  fehlen.  — 

34.     R.    "Wünsch,     Zur    Textgeschichte     der    Germania. 
Hermes  XXXII  (1897),  42—59. 

In  seiner  Marburger  Dissertation  De  Taciti  Germaniae  codicibus 
Gerroanicis  (1893)  hatte  W.  die  Beschaffenheit  des  von  Holder  und 
Bährens  weit  überschätzten  Hummelianus  auf  Grund  der  uns  bekannten 
Vergleichungen  genauer  festgestellt,  auch  den  ihm  nahestehenden  Vin- 
dobonensis  II  als  gleich  geringwertig  charakterisiert.  —  Der  oben- 
erwähnte Aufsatz  gibt  zuerst  einen  kleinen  Nachtrag  über  eine  ver- 
schollene deutsche  Hs,  nämlich  einen  von  J.  Lipsius  berücksichtigten 
cod.  Barabergensis,    der,    wie    eine  Zusammenstellung    der    von  L. 

8* 


116  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.     (Wolff.) 

bezeugten  Laa  ergab,  von  der  gewöhnlichen  Überlieferung  stark  ab- 
weicht, und  zwar  in  höchst  willkürlichen  Änderungen,  so  daß  sein 
Verlust  nicht  zu  bedauern  ist.  —  Sodann  sucht  "W".  mehrere  der  ita- 
lienischen Hss  zu  Gruppen  zusammenzufassen  und  so,  nach  dem  von 
Müllenhülf  (D.  A.  IV  83  fi)  besonders  empfohleneu  Verfahren,  den 
kritischen  Apparat  der  Germania  einfacher  und  übersichtlicher  zu 
machen.  Von  Hss  zweiten  Ranges  sind  en^er  verwandt  Vatic.  2964 
und  der  unvollständige  Ottobon.  1795  (Rd  und  ße  bei  Maßmann);  sie 
entstammen  gemeinsamer  Vorlage,  haben  manche  von  der  Vulgata  sich 
entfernende  Lesunsien.  einige  gemeinsam,  andere  wieder  jede  für  sich 
besonders,  so  daß  keine  aus  der  anderen  abgeschrieben  sein  kann.  Die 
Vorlage  war  eine  Mischhandschrift,  die  sowohl  Laa  der  Klasse  AB 
wie  solche  der  Klasse  CD  enthielt.  (Die  Rd  und  Re  mit  A  gemein- 
same La  2,  13    ei  filium  hält  Andresen    für    richtig;    s.  oben  S.  103.) 

Weiter  gibt  W.  die  vollständige  Kollation  einer  bisher  nicht  be- 
kannten, jetzt  in  der  Pariser  Nationalbibliothek  (N.  1180)  aufbewahrten 
Pergamenths  des  15.  Jahrhunderts  (sie  reicht  bis  44,  15  regia  utilitas). 
Die  von  W.  daneben  gesetzten  Laa  von  AB  und  CD  beweisen  jeden- 
falls, daß  auch  diese  Hs,  wie  ihre  Venetianer  Schwesterhs,  auf  Henochs 
Apographum  zurückgeht,  daß  sie  ferner  an  die  Klasse  CD  sich  etwas 
enger  anschließt  als  an  AB,  was  W.  daraus  erklärt,  daß  der  Archetyp 
des  Parisinus  aus  der  Vorlage  von  CD  abgeschrieben  worden  sei, 
nachdem  diese  an  der  Hand  eines  Mscr.  der  Klasse  AB  durch - 
korrigiert  war.  Sonach  stehe  die  Vorlage  des  Parisinus  mit  D  auf 
gleicher  Stufe;  dieser  biete  nichts  Eigenes  von  Belang;  orthographische 
Kleinigkeiten  und  leichte  Verderbnisse  habe  meist  schon  der  Korrektor 
gehoben. 

Eine  andere  Gruppe  italienischer  Hss  —  cod.  Laurent,  plut. 
73,  20  (bei  Maßm.  F),  Roraanus,  Bibl.  angel.  S.  4,  42  (RQ  und  Urbinas 
412  (Rh)  —  ist  ebenfalls  ohne  Wert  für  die  Textgestaltung.  Die  ge- 
meinsame Vorlage  stammte  aus  einer  Mischhandschrift  (CD  aus  AB 
durchkorrigiert)  und  wimmelte  von  Korruptelen  und  Einschaltungen. 
Nicht  ohne  textgeschichtliches  Interesse  ist  dagegen  der  Umstand,  daß 
im  Laurentianus  wie  im  Romanus  hinter  der  Germania  die  Elegie  des 
Fr.  Aretinus  an  Pius  II  sich  befindet,  daß  ferner  auch  der  Venetus 
nicht  nur  das  Wappen  der  Piccolomini  zeigt,  sondern  auch  f.  1  — 16i5 
Traktate,  Reden  und  Bullen  jenes  Papstes  enthält.  Von  f.  167  ab  folgt 
Sueton  de  grammaticis,  f.  172  C.  Cornelii  Taciti  cqu.  Rom.  Dialogus 
de  oratoribus,  dann  die  Germania.  „Damit  kommen  wir,"  schließt  W., 
„für  die  Provenienz  des  Archetypus  in  die  Umgebung  des  Aeneas  Sil- 
vius".  Die  erste  nachweisbare  Benutzung  dieses  Archetypus,  aus  dem 
alle  anderen  Hss  geflossen,  eben  durch  den  späteren  Papst  falle  in  das 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  18l)G-1903.    (Wolff.)  .11,7 

Jahr  1458.  Die  Notiz  des  Pontanus  über  die  ans;ebliche  Auffindung 
des  Apographum  durch  Henoch  von  Ascoli  beruhe,  wie  auch  Voig-t 
annahm,  auf  einer  willkürlichen  Verallg-emeinerune:.  —  Verf.  bemerkt, 
daß  Müllenhoffs  Kollationen  von  AC  und  D  erschöpfend  und  zuver- 
lässig seien,  wovon  er  sich  durch  Stichproben  überzeugt  habe.  In 
seinen  eigenen  Zusammenstellungen  hingegen  finden  sich  einige  Unsenauig- 
keiten;  so  gibt  er  S.  46  als  überliefert  an:  1,  10  arnobe  RdAC  arbone 
KeBD,  S.  48  dagegen:  Arbono  m.  al.  arnobf^  D(AC);  S.  47  steht:  5,  21 
affectatione  RdeAB;  8,  11  Auriniam  RdeCD;  9,  3  Herculera  et  Mar- 
tern EdeCD:  12.  8  penarura  RdeABCD;  aber  8.  49:  affectacione  AB; 
Auriniam  ABDVen:  Herculem  ac  Martern  CDVen;  poenarum 
B  CD  Yen.  — 

35.    E,  ßeitzenstein,  Zur  Textgeschichte  der  Germania. 
Philologus  57  (1898)  S.  306—317. 

R.  berichtet  über  eine  von  H.  Breßlau  kollationierte ,  bis  dahin 
unbekannte  Hs  der  Bibliothek  Gambalunga  zu  Rimini.  Sie  ist  aus  dem 
Jahr  1476  und  enthält  die  Germania  schon  von  Sueton  und  dem  Dia- 
logus  losgelöst.  Aus  den  Mitteilungen  über  diese  Hs  (p)  glaubt  R.  den 
Nachweis  liefern  zu  können,  daß  uns  neben  den  Klassen  AB  und  CD 
noch  eine  dritte  unabhängige  Rezension  in  einigen  jungen  Hss  erhalten, 
somit  eine  neue  kritische  Grundlage  gewonnen  sei.  —  Die  Hs  p  stamme 
zugleich  mit  den  von  Wünsch  (Hermes  32,  46)  besprochenen,  schon  von 
Maßmann  benutzten  Hss  Vat.  2964  (Rd)  und  Ottob.  1795  (Re)  aus  der 
gleichen  Vorlage,  was  durch  die  allen  drei  geraeinsamen  Wortausfälle 
klar  werde.  Jene  Vorlage  (a)  hatte  noch  eine  Fülle  von  Doppel- 
lesungen,  die  sich  schon  im  Archetyp  oder  in  der  ersten  Humanistenhs 
befunden  haben  müssen;  sie  bot  im  ganzen  einen  vorzüglichen  Text. 
R.  zeigt  an  Beispielen,  wie  die  Übereinstimmung  von  p  und  Rd  (aus 
denen  sich  cod.  a  wiedeiherstellen  läßt)  meistens  die  richtige  La  bietet, 
die  sie  bald  mit  Aß,  bald  mit  CD  teilt,  ohne  daß  jedoch  au  Kontami- 
nation zu  denken  wäre.  Jedenfalls  werde  a,  wo  eine  sachliche  Ent- 
scheidung zwischen  AB  und  CD  unmöglich  ist,  den  Ausschlag  geben 
dürfen,  ja  in  einzelnen  Fällen  (wie  9,  3)  gegen  beide  recht  behalten. 
—  Gewisse  Doppellesungen  des  Archetyps  sind  noch  zu  wenig  betont 
und  beachtet  worden.  Man  hat  z.  B.  D  als  kontaminiert  bezeichnet 
(Scheuer  S.  28,  Gudeman  S.  CXXXIII);  das  Auseinandergehen  der 
Hss  wurde  nicht  genügend  erklärt.  Die  Voraussetzung,  daß  von  dem 
interessanten  Werke  die  Humanisten  nur  zwei  Abschriften  direkt  ge- 
nommen haben  sollten,  sei  an  sich  unwahrscheinlich. 

R.  gibt  aus  G.  1 — 13  Proben  von  einigen  Besonderheiten  (vor- 
nehmlich orthographischen)  der  Hs  p: 


118  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896—1903.    (Wolff.) 

3,  10  nlyxem  11,  4  coheunt   (aber  11,  11 

5,  10  gingere   (vgl.  6,  27  Ingo-  coeuntium) 

minioso  Rd)  11,  13  cohercendi  (=  CD) 

5,  12  aut  (—DT)  12,  4  impelles;  ferner: 

5,  15  comertiorum  (=  T)                     43,  12  ligiorum 

5,  20  seratos  43,  14  mannimos 

6,  10  lettissimis  37,  19  raarcho  quoque  mallio 

9,  7  aductam  (marcoque  malio  Rd). 

10,  13  praessagia 

Mit  Rd  übereinstimmend,  weist  p  außerdem  noch  manche  Be- 
sonderheiten auf,  die  sich  gleich  den  eben  erwähnten  größtenteils  als 
Hörfehler,  aus  Diktat  entstanden,  erklären;  manche  sind  auf  allerhand 
Deutungsversuche  von  Abbreviaturen  zurückzuführen:  1,  6  apperuit, 
1,8  occeano  (auch  2,  5:  2,  15;  3,  11),  6,  2  tellornm  (auch  D),  4.  9 
tollerare  (=  DT),  6,  19  diffinitur,  7,  13  und  14  hü;  ferner  humedior, 
perigrino,  arbore  (st.  arbori),  destinctio,  abili  u.  a.  m. 

Ein  enger  Zusammenhang  zwischen  p  4-  Rd  =  a  und  CD  zeigt 
sich  vor  allem  in  solchen  Kleinigkeiten  der  Schreibung  wie:  1,  1  agallis 
(aC),  5,  12  aut  (pD),  6,  2  tellorum  (aD),  13,  14  priücipium  Cui  (pC), 
40,  21  aurit  archanus  (pD),  37,  5  malern  (pD),  aties,  speties,  honerare, 
honeribus,  ille  pavent,  turbe,  rheti^que;  überhaupt  sehr  oft  e  statt  ae. 
—  Für  die  beste  La  der  Hs  p  hält  Reitzenstein  Gr.  9,  3  Herculem  et 
Martern,  was  allerdings  auch  durch  den  Toletanus  gestützt  wird.  — 

O.  Leuze,  Die  Agricola-Handschrift  in  Toledo.  Philo- 
logus,  Suppl.-Bd.  VIII,  4.  Heft  (1900)  S.  515-556. 

Was  R.  Wünsch  und  A.  Gudeman  kurz  vorher  vergeblich 
versucht  hatten,  gelang  1900  0.  Leuze:  von  der  in  der  Kapitular- 
bibliothek  zu  Toledo  aufbewahrten  Hs  (49.  2  der  Zelada-Sammlung) 
Einsicht  nehmen  und  die  wichtigsten  Lesarten  des  Agricolatextes 
notieren  zu  dürfen.  Obwohl  L,  die  zu  einer  erschöpfenden  Prüfung 
nötige  Zeit  nicht  zu  Gebote  stand,  sind  seine  Mitteilungen  dennoch, 
wie  inzwischen  der  Amerikaner  Abbott  bestätigt  hat,  vollkommen  zu- 
verlässig. Er  orientiert  uns  hinreichend  über  den  Toletanus  und  sein 
Verhältnis  zu  den  beiden  vatikanischen  Hss,  in  denen  allein  der  Agricola 
überliefert  ist.  Auf  eine  gemeinsame  Quelle  der  3  Hss  weisen  u.  a. 
die  vielen  gleichen  Korruptelen  und  Randbemerkungen  hin.  Und  um 
den  Ursprung  dieser  Marginalien  zu  bestimmen,  ist  die  Kollation  der 
neugefundenen  Hs  insofern  von  Wert,  als  dadurch  bestätigt  wird,  daß 
im  gemeinsamen  Stammkodex  bereits  sämtliche  Randnoten  vorhanden 
gewesen,  daß  nicht  etwa  Pomponius  für  A  eine  besondere  Hs  zur  Ver- 
gleichung  benutzt  und  daraus  einige  Interlinear-  oder  Randnotizen  ent- 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.    (Wolff.)  119 

nommen  hat.  Der  Schreiber  des  Toi.  hnt  in  5  Fällen  mit  gutem  Urteil 
der  Randnote  den  Vorzug  vor  der  Textlesart  fjegeben:  12,  4  in  pedite, 
22,  15  in  convitiis,  31,  4  fortunaeque,  .36,  4  Batavorum,  38,  9  prelecto 
(nicht  Praelecla;  praelegere  „vorbeisegeln*).  —  Mit  Weglassung  anderer 
Randnoten,  wie  6,  1  digressus,  15,  7  manus,  20.  8  incitamenta,  hat  T, 
nach  L.s  Ansicht,  nichts  Wertvolles  unterdrückt. 

Zahlreiche  Besonderheiten  von  T  in  Fällen,  wo  A  und  ß  über- 
einstimmen, lassen  sich  nur  daraus  erklären,  „daß  zwischen  dem  Ur- 
kodex  und  AB  ein  Mittelglied  einzuschieben  ist,  das  für  A  und  B, 
nicht  aber  für  T  Quelle  war".  Bei  Diskrepanzen  zwischen  den  Vaticani 
steht  T  meistens  auf  der  besseren  Seite,  in  sehr  vielen  (etwa  114)  Fällen 
jedoch  weicht  er  von  dem  A  und  B  gemeinsamen  Text  ab,  weshalb  mit 
ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  anzunehmen  ist,  daß  T  gegenüber 
AB  einen  besonderen  Zweig  der  Überlieferung  re-  x 

präsentiert.  —  Manchmal  bietet  T  offenbar  die  einzig  /v 

richtige  (oder  doch  eine  annehmbare!)  La,  wo  AB      t  /  \,Y 

zweifellos  korrumpiert  sind:  3,  17  servitutis,  9,  13  /\ 

deminuit  (so  Lipsius),  10,  13  enorme,  13,  12  auctor  A/  \B 

operis  (  -  Puteolanus),  aus  dem  Gegensatz  zu  „agitavit"  (Caligula)  de 
intranda  Br.  zu  erklären;  13,  15  domitie  (i  corr.)  gentes  (=  Puteol.), 
14,  1  Plautius  (=  Rhenanus),  17,  8  subiit  sustinuitque  (Halm),  18,  13 
degredi,  18,  19  in  subbitis  (=  J.  Fr.  Gronovius),  19,  2  si  iniuriae 
(=  Puteol.)  sequerentur,  19,  6  per  libertos  (=  Puteol.),  19,  16  ac 
Inere  pretio  (=  Wex),  25,  3  timebantur  (=  Puteol.),  27,  7  non  virtute 
se  victos,  sed  (ähnlich  Lipsius  und  Brotier) ,  34,  5  iraputari 
(=  Puteol.),  36,  4  Agricola  quatuor  Batavorum,  36,  10  tractis 
(=  Puteol.),  «echt  taciteisch'*;  38,2  ßritanni  (=^  Puteol.);  hier  ist 
Anknüpfung  mit  que  unstatthaft,  da  Br.  in  scharfem  Gegensatz  zu 
victoribus  steht.  —  39,  10  cetera  (et  Dittographie  der  Endung 
von  occuparet),  41,  6  Mesia,  42,  22  in  uUura  (Rand;  nuUum)  rei 
publicae  usum  (das  Kompendium  für  publicae  in  der  Vorlage 
von  A  und  B  falsch  aufgelöst),  43,  11  constabat  (=  Rhenanus),  45,  4 
Carus  Mitius  (Rand:  Mettius),  46,  10  formamque  (^  Muret)  ac 
figuram.  In  fast  allen  diesen  Fällen  stellt  T  den  echten  Text  dar  und 
bestätigt  viele  von  Herausgebern  schon  aufgenommene  Konjekturen 
älteren  und  jüngeren  Datums.  Zweifelhaft  bleibt  15,  18  plus  Impetus 
f  aelicibus,  maiorem  constantiara  penes  miseros  esse.  Man  könnte  für 
die  La  des  T  geltend  machen  die  Anwendung  des  Begriffes  felix  in 
Beispielen  wie  ann.  15,  16  certamen  virtutis  et  ambitio  gloriae  felicium 
hominum;  Sen.  de  ben.  I  13,  3  cui  (Alexandro)  pro  virtute  erat  felix 
temeritas;  Tac.  h..  IV  77  felici  temeritate,  Tollkühnheit,  die  in  glück- 
licher d.  h.  die  Gefahren  verkennender  Blindheit  darauf  losgeht.    Anderer- 


120  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-1903.     (Wolff.) 

seits  ist  zu  erwägen,  daß  auch  die  Verzweiflung  der  miseria  den 
Anstoß  zum  kräftigen  Handeln  geben  kann  und  daß  die  Not  o-ft 
zum  äußersten  Widerstände  Kraft  gibt. 

Zu  der  dunkeln  Stelle  31,  4  bemerkt  L,:  Ursprünalich  hieß  es 
Bona  fortunaeque  in  tributum,  ager  atque  annus  in  frumentura  conte- 
runtur.  Daß  Tac.  diese  letzte  Form  geschrieben,  werde  durch  die 
andern  Passiva  wahrscheinlich.  Das  Kompendium  für  nr  fiel  hier  weg, 
und  der  Schreiber  des  T  habe  den  Satz  nicht  verstanden,  aber  keine 
selbständige  Änderung  anzubringen  sich  gestattet.  Ein  anderer  Schreiber 
habe  bona  fortunae  als  Objekt  zu  dem  Aktiv  couterunt  genommen  und 
den  Eelativsatz  quae  in  .  .  .  annus  gebildet;  doch  habe  er  die  ursprüng- 
liche La  que  als  Variante  übergeschrieben. 

Andere  Stellen  zeigen  Abweichungen  von  AB,  wo  T  „zum  Teil 
wenigstens  gleich  gute  Lesarten  hat":  6,  11  nactus  est  ibi  filiam(?j, 
6,  11  ac  solacium;  (s,  auch  30,  15),  9,  21  nullis  in  hoc  ipsius  sermouibus, 
9,  23  eligit  (Rhenan.)  sei  nach  errat  wahrscheinlicher  (?)  als  das  Perfekt; 
11,  5  bellis  (st.  in  bellis)  floruisse;  52,  16  patiens  fiugum  pecudumque 
(Rand:  fecüdö)  ist  wegen  des  folgenden  tarde  mitescunt  nicht  wohl 
möglich,  wie  L.  selbst  fühlt;  13,  2  imperii  munia  (passe  besser  zu  den 
übrigen  Objekten  und  zu  obire),  16,  5  in  barbaris  ingeniis  (eine  ver- 
fehlte Emendation);  18,  22  patrins  (^  Puteol.)  ausgeschrieben,  21,  5 
laudando  promptes  castigando  segues  (Asyndeton;  nicht  übel),  25,  17 
cedendum  (ex  Dittographie  von  et);  26,  8  nonanis  paßt  vorzüglich; 
30,  10  nee  ulla  servientium  litora,  30,  15  ac  saxa,  vielleicht  besser 
(als  et  s.)  wegen  des  folgenden  ut  inf.  Rom.,  dem  gegenüber  fl.  ac  saxa 
enger  zusammengehören;  30,  16  effugias,  31,  3  effugerunt,  32,  9  tarn 
deserent  —  Gerraani  quam  .  .  .,  33,  15  vocem  (Beroald.,  Rhenan)  paßt 
mehr  zufortissimi  cuiusque;  36,  ITminime  que  equestres  ea.  n.(^=nostrorum 
oder  nostris?)  pugnae;  38,  2  palantes  mixto  —  ploratu,  38,  3  notare 
integros  (dies  wird  L.  nicht  ernsthaft  empfehlen  wollen);  39,  8  supra 
principe m  hat  auch  Nipperdey  vermutet,  40,  8  cum  eo  praecepto  ut, 
41,8  cum  totis  cohortibus,  43,6  constans  rnmor  veueuo  intercepti 
(T  interceptiim;  die  Punkte  in  schwarzer  Tinte)  möchte  L.  mit  dem 
Hinweis  darauf  rechtfertigen,  daß  der  Gen.  des  Part,  bei  fama  sehr 
häufig  ist;  analoge  Verbindungen  von  rumor  kommen  bei  Tac.  nicht  vor. 
45,  14  interfuere.  —  An  7  Stellen  hat  T  Abweichungen  in  der  Wort- 
stellung. .Nicht  ganz  sicher  ist  die  Lesung  10,  12  unde  et  in  Universum 
fama  (oder  forma;  dieselbe  Undeutlichkeit  im  Text  der  Germ.  34,  9 
und  35,  16)  est  transgressis  et  universis  fama  sed.  Schenkl  meinte, 
universis  könne  erst  entstanden  sein,  als  das  ursprüngliche  in  Universum 
zu  Universum  geworden  war;  dann  habe  man  das  sinnlose  Wort  ver- 
bessern und  an  transgressis  anlehnen    wollen.     Nun   zeigt  T,    daß  die 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1890-1903.    (Wolö.j  12] 

Variante  transgressis  scliou  im  Archetyp  und  neben  in  Universum  stand; 
damit  fällt  die  Folgerung  selbständiger  Randnoten  in  der  Familie  A.  — 
Ohne  Schönes  Konjektur:  unde  haec  in  Universum  forma  et  sq.  zu  kennen, 
hatte  L.  schon  früher  an  forma  gedacht,  vielleicht  sei  damit  die  La 
unde  et  in  Universum  zu  lialten:  ,und  wirklich  ist  diese  (J estalt  vor- 
handen diesseits  Kaledoniens,  und  im  allgemeinen  bleibt  diese  Form 
auch  in  Geltung,  wenn  man  von  da  aus  (über  Klota  und  Bodotria) 
hinübergeht";  aber  freilich  nur  im  allgemeinen;  denn  zunächst  zwar 
springen  da,  wo  Kl.  und  B.  Kaledonien  und  Britannien  tiennen  (so 
Audresen)  noch  einmal  Landmassen  in  gewaltiger  Breite  und  Aus- 
dehnung vor;  dann  aber  läuft  das  Land  in  eine  keilförmige  Spitze  aus. 

Der  Toletanus  hat  außer  einigen  falschen  Trennungen  und  Zu- 
sammensetzungen 17  bis  IS  Fehler,  die  sich  in  AB  nicht  finden:  1,  3 
mala  (st.  magna),  2,  11  libertade,  3,  15  exaptae,  4,  1  Tulius;  ausge- 
lassen sind  22,  6  ab  (vor  Agricola),  30,  13  omne,  41,  17  deterioribus 
principem,  43,  6  nobis  nihil  comperti,  43,  11  dispositas;  falsch  einge- 
schoben ist  7,  3  uam  vor  matrem  (iiam  classis  geht  voraus),  16,  20  sed 
vor  Trebellius  (der  vorhergehende  Satz  beginnt  mit  sed!),  10,  12  et 
universis  fama  (Eindringen  einer  Randglosse  in  den  Text],  34,  9  de- 
mentium  zwischen  ignavorum  und  et  metuentium;  30,  4  Colitis  et  zwischen 
universi  und  servitutis.  Hier  ist  kein  äußerlicher  Grund  für  die  Ein- 
schaltung ersichtlich;  vielleicht  aber,  meint  L.,  sei  die  La  doch  echt 
und  ihre  Erklärung  möglich  (?). 

Eine  konsequente  Orthographie  herrscht  im  T  ebensowenig  wie 
in  AB;  im  allgemeinen  ist  der  Schreiber  mehr  geneigt,  y  statt  i  odar 
e  zu  setzen,  besonders  in  Eigennamen:  Calj^donia,  lyburnica,  Hyspania, 
Tyberius,  Hyberi,  Trayanus,  auch  phylosophye  (doch  nicht  durchweg 
so);  er  bevorzugt  t  vor  c  (spetles)  und  liebt  (wie  A)  Doppelkousonanz; 
jedenfalls  aber  spricht  die  Schreibweise  eher  für  die  Selbständigkeit  der 
3  Hss  als  für  Abhängigkeit  voneinander. 

Puteolanus  stimmt  in  seiner  editio  princeps  mit  T  in  manchen 
Fällen  überein,  wo  dieser  gegenüber  offenbaren  Korruptelen  in  AB  das 
Richtige  bietet,  aber  so,  daß  es  jeder  gelehrte  Herausgeber  finden  mußte, 
zumal  wo  die  Verbesserung  sehr  nahe  lag,  wie  13,  12  auctor  operis, 
13,  15  domitae  gentes,  19,2  iniuriae,  19,6  per  libertos,  19,  13  aequa- 
litas,  25,  3  timebantur,  32,  20  nee  tiuisquam,  34,  15  imputari,  36,  10 
tractis,  38,  2  Britanni.  —  Die  meisten  besseren  und  teilweise  weniger 
naheliegenden  Laa  des  Toi.  hat  Puteolanus  nicht:  3,  17  servitutis, 
15,  18  felicibus,  17,  8  subiit,  18,  19  subitis,  27,  7  se  victos,  3G,  4  quatuor. 
Von  allen  sonstigen  Abweichungen  des  T  hat  Puteolanus  nur  eine: 
45,  19  contingit  (st.  contigit);  sein  Text  hat  nach  allem  mit  der  Familie 
des  T  nichts  gemeinsam,  sondern  steht  den  Vaticaui  näher.    —    Auch 


122  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1896-  1903.     (Wolff.) 

der  „vetus  codex"  des  Falvius  Ursinus  (Antwerpen  1595)  kann  keinen- 
falls  mit  T  oder  dessen  Familie  identifiziert  werden.  — 

37.  Frank  F.  Abbott,  The  Toledo  manuscript  of  the 
Germania  of  Tacitus.  The  Decennial  Publications  of  the  TFni- 
versity  of  Chicago,  First  Series,  vol.  VI.  44  S.  4°.  The  University 
of  Chicago  Press,  Chicago  1903. 

Es  hat  der  Vermittelnng  des  Erzbi.schofs  von  Nicaea,  Monsignor 
Merry  del  Val,  bedurft,  um  dem  Verf.  die  Genehmigung  zu  einer  voll- 
ständigen Abschrift  des  in  der  Toledaner  Sammelhs  enthaltenen  Ger- 
maniatextes zu  erwirken.  Weshalb  der  Vorstand  der  Kapitular- 
bibliothek  jenen  Kodex  so  streng  sekretiert  hat,  ist  nicht  recht  klar; 
vielleicht  aus  dem  gleichen  Grunde  wie  einst  Kardinal  Orsini,  der 
seinen  plautiuischen  Schatz  vor  Poggios  Neugier  so  eifersüchtig  hütete, 
weil  er  ihn  selbst  zu  bearbeiten  und  zu  publizieren  beabsichtigte.  ,,Tant 
de  bruit"  .  .  .  könnte  man  versucht  sein  zu  sagen,  nachdem  A.s  über- 
aus sorgfältige  und  übersichtliche  Arbeit  den  Germaniatext  des  Toletauus 
vor  uns  aussebi-eitet  und  dessen  Verwandtschaftsverhältnis  zu  den 
übrigen  Hss  klargestellt  hat.  Aus  des  Verf.  umfangreichen  tabellarischen 
Übersichten  ergibt  sich  soviel  ohne  Zweifel,  daß  die  Toledaner  Germaniahs 
aus  demselben  Archetyp  stammt  wie  die  4  maßgebenden,  von  MüUen- 
hofif  Bb  Cc  benannten  Hss,  mit  denen  sie  die  meisten  Fehler  gemeinsam 
hat,  während  sie  fast  nur  in  orthographischen  und  anderen  unwesent- 
lichen Äußerlichkeiten  von  ihnen  abweicht.  Der  Text  der  Germania 
ist,  gleich  dem  von  derselben  Hand  des  „publicus  scriba"  Angelus 
Crullus  Tuders  und  mit  derselben  Tinte  geschriebene  Agricolatext,  von 
zahlreichen  Varianten  am  Rande  begleitet;  Korrekturen  einzelner  Buch- 
staben oder  Silben  sind  von  erster  Hand  über  den  Zeilen  angebracht. 
Außerdem  finden  sich  noch  Verbesserungen  in  braunroter  und  in  hell- 
roter Tinte,  etwas  späteren  Datums,  die  jedoch  A.  ebenfalls  auf  den 
Schreiber  des  Textes  zurückführen  möchte.  Sie  sind  mit  einer  Aus- 
nahme (16,  16  non  aperta,  Konjektur?)  aas  anderen  dem  T  nahe  ver- 
wandten Hss  entnommen. 

Was  nun  das  Verhältnis  des  T  zu  Bb  und  Cc  betrifift,  so  gibt 
jener  die  richtige  La  in  Übereinstimmung  mit  Bb  in  etwa  47  Fällen, 
mit  Cc  in  33  Fällen;  die  unrichtige  La  in  Übereinstimmung  mit  Bb 
in  11,  mit  Cc  in  9  Fällen.  Hieraus  läßt  sich,  auch  ohne  eingehende 
Prüfung  der  verschiedenen  Lesarten,  soviel  schließen,  daß  T  den  Hss 
Bb  zwar  unabhängig  gegenüber,  doch  etwas  näher  steht  als  Cc. 

In  einigen  Fällen  läßt  die  Schreibart  des  T  einen  Schluß  zu,  wie 
die  Irrungen  in  einzelnen  Hss  entstanden  sein  können:  19,  9  invenit, 
28,  1  aucto:^,  30,  12  r6e,  34,  l  Dulgicubuni,   39,  4  oiüs  (Rand:  nomis, 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  189fi— 1903.    (Wolff.)  123 

numis).  —  Eine  besondere  Übereinstimmung  zwischen  T  und  B  besteht 
darin,  daß  jener  die  aus  dem  älteren  Exemplar  überkommenen  Doppel- 
lesarten fast  ebenso  gewissenhaft  wie  B  beibehalten  hat  (B  zeigt  39, 
T  34  Varianten,  davon  20  fast  ganz  mit  B  übereinstimmende).  Hierin 
liegt  wohl  der  wichtigste  und  interessanteste  Vergleichunc;spnnkt  und 
zugleich  ein  Moment,  das  für  die  Einschätzung  der  neuen  Hs  immerhin 
ins  Gewicht  fällt. 

Eine  weitere  vergleichende  Übersicht  zeigt,  daß  T  ein  Augehöriger 
der  Gruppe  von  Hss  und  Ausgaben  ist,  die  MüUenhoff  unter  der  Be- 
zeichnung E  zusammengefaßt  hat.  Bei  der  bekannten  BeschafiFenheit 
dieser  Gruppe  (Müllenh.  D.  A.  IV  78  iT.)  genügt  es,  beispielsweise  die 
Laa  des  T  mit  denjenigen  der  Nürnberger  Ausgaben  zu  vergleichen. 
Seine  Selbständigkeit  den  übrigen  Vertretern  dieses  Zweiges  gegenüber 
beweist  T  einmal  durch  die  umfangreichere  Beibehaltung  von  Varianten, 
sodann  dadurch,  daß  er  öfter  allein  die  richtige  Lesung  zeigt,  wo  alle 
andern  irren.  Hin  und  wieder  könnte  man  vermuten,  der  Kopist  des 
Toletanus  habe  eigene,  freilich  nicht  allzu  glückliche  Konjekturen  in 
den  Text  gesetzt,  z.  B.  14,  2  virtute  principe,  18,  19  viventes  .  .  . 
parientes,  36,  4  potentis.  —  Daß  einige  wirkliche  Verbesserungen  im 
Agricolatext  auf  sein  Konto  zu  setzen  sind,  ist  bereits  erwähnt  worden. 

A.  hat  auch  die  Hss  B  und  C  einer  genauen  Nachprüfung  unter- 
zogen, als  deren  Ergebnis  er  im  Anhang  eine  Reihe  Ergänzungen  und 
Berichtigungen  zu  Müllenhoffs  kritischem  Apparat  bringt;  somit  be- 
reichert die  fleißige  Arbeit  des  amerikanischen  Gelehrten  die  handschr. 
Grundlage  des  Germaniatextes  in  dankenswerter  Weise. 

38.  Enrico  M.  Longhi,  Osservazioni  critiche  ed  ese- 
getiche  sopra  alcuni  luoghi  del  l"'  libro  degli  Annali  di  Tacito. 
(Aus  „Atene  e  Borna"  Nr.  33/34)  Firenze-Roraa  1901,  G.  Beucini. 
30  S. 

Zu  den  bisher  nicht  befriedigend  erklärten  Stellen  bei  Tacitas 
rechnet  L.  u.  a.  1,  24,  10  Druso  propinquanti  quasi  per  officium 
obviae  faere  legiones.  Indessen  braucht  hier  nur  die  Auffassang: 
officium  =  Pflicht,  dovere,  debito  abgewehrt  zu  werden;  daß  per  modal 
zu  nehmen  ist,  versteht  sich  von  selbst.  Die  Sache  liegt  m.  E.  so: 
Hätten  die  Legionen  den  in  stattlicher  Begleitung  kommenden  Prinzen 
mit  den  üblichen  (ut  adsolet)  Ehrenbezeigungen  (Huldigungen),  in 
richtiger  Parade  empfangen,  so  mußten  dem  Vertreter  des  Imperator 
die  Augen  der  Soldaten  entgegenleuchteu,  wie  ihr  Waffenschmuck.  So 
war  es  nur  eine  Quasi-Ehrenbezeigung,  mit  der  sie  rein  äußerlich  ihrer 
Pflicht  genügten.  Von  eigentlicher  Verstellung  ist  keine  Bede;  das 
wäre  per  speciem  officii,  wie  6,  50,  9.  —  Dieser  Auffassung  entsprechen 


124  Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1S9G-1903.    (Wolff.) 

im  gauzen,  soviel  ich  sehe,  die  meisten  Übersetzungen  (abgesehen  von 
Balbo  und  Valeriani):  quasi  a  far  riverenza  (Davauzati);  besser  noch 
come  per  rendergli  gli  onori  dovuti  (Menghini);  as  if  to  pay  res.pect 
(Furneaux);  par  une  apparence  de  respect  (Burnouf);  als  gelte  es  eine 
Ehrenbezeigung  (Andresen).  Auch  Pfitzners  Umschreibung  trifft  das 
Richtige.  —  25,  13  cetera  senatui  servanda  .  .  .  esset  —  eine  dunkle, 
zweideutige  Stelle;  aber  die  Zweideutigkeit,  bemerkt  L.  richtig,  ist 
eine  gewollte:  Tac.  läßt  den  in  seiner  schwierigen  Lage  zwischen  Senat, 
Militär  und  Vulgus  noch  „schwankenden  neuen  Herrscher"  nach  der 
ihm  eigenen  rätselhaften  "Weise  (suspensa  semper  et  obscura  verba  1, 
11,  0;  24,  I;  3,  51,  3)  reden,  und  das  ist  ihm  ja,  wie  die  verschiedenen 
Auffassungen  dieses  Passus  beweisen,  vorzüglich  gelungen.  L.  verwirft 
die  Auslegung  expertem  fieri  =^  privari.  Am  meisten  in  Überein- 
stimmung mit  des  Tiberius  geheimen  Absichten  (24,  4)  sei  wohl  die 
auch  von  Greef  akzeptierte  Deutung  Nipperdeys:  „den  es  sich  zieme 
weder  der  Gnade  noch  der  Strenge  für  bar  zu  halten."  —  Sehr  fein 
hat  L.  die  kraftvolle  Anschaulichkeit  der  taciteischen  Sprache  nach- 
gefühlt in  den  Worten  28,  1  noctem  minacem  .  .  .  languescere.  Dieses 
Verbum  stehe  hier  nicht  für  den  astronomischen  Terminus  deficere  — 
das  folgende  defectionem  solis  gehört  dem  mit  der  ,, ratio"  vertrauten 
Autor  — ,  vielmehr  in  seinem  eigentlichen  wahren  Sinne :  Tac,  läßt  uns 
gleichsam  unmittelbar  die  Worte  der  erschreckten  Soldaten  vernehmen, 
die  den  Mond  „schwinden"  (30,  8  hebescere)  sahen  (egli  s'  immedesima 
talmente  con  ci6  che  narra  o  descn've  da  usare  spesso  le  stesse  parole 
delle  persone  che  ci  presenta).  —  Von  den  alten  Kommentatoren  hat 
Pichena  diesen  Punkt  richtig  aufgefaßt:  ne  intellegas  speciem  tantumraodo 
languescentis  habuisse:  vere  namque  ianguescens  et  deficiens  cerne- 
t)atur  a  militibus.  —  Für  28,  3  schlägt  L.,  gleichzeitig  mit Constans 
und  Giibal,  die  Marginaliesart  des  Med.  quae  peragerent  als  passende 
Heilung  vor:  pensando  che  quanto  essi  tentavano  di  condnrre  a  termine 
avrebbe  avuto  prospero  successo  —  eine  höchst  künstliche  Ausdrucks- 
weise, die  L.  selbst  kaum  befriedigen  kann.  Die  nächstliegenden 
Emendationen  bleiben  agerent  (Davis)  und  pararent.  Vgl.  auch  Sali. 
Cat.  27,  3  ubi  multa  agitanti  nihil  procedit;  Jug.  11,  8  parare  atque 
cum  animo  habere  .  .  .  quae  ubi  tardius  procedunt.  —  28,  14  Hi  (nicht 
ibi)  vigiliis,  stationibus,  custodiis  portarum  se  inserunt.  Wozu,  fragt  L., 
solcher  Wortreichtum,  da  doch  die  custodiae  portarum  lediglich  eine 
Art  der  stationes  sind?  Die  ,, Kürze"  im  Stil  der  Aunalen  bleibt  eben 
immer  noch  Mißverständnissen  ausgesetzt;  hier  mußte  vielleicht  der 
Hinweis  auf  den  rhetorischen  Numerus  zur  Erklärung  genügen.  L. 
findet  indessen  für  die  umständlichen  Ortsangaben  einen  besonderen, 
sachlichen  Grund  in  des  Tac.  Absicht,  die  einzelnen  Punkte  des  Lagecs, 


Bericht  über  die  Tacitusliteratur  1S96-190;5.    (Wolff.)  125 

wo  sich  die  Tätigkeit  der  Mabuer  zur  Ordnung  am  wirksamsten  ent- 
faltete, recht  genau  zu  bestimmen,  und  zwar  entsprechend  den  W.  25,  1 
portas  stationibus  firmaut,  globos  armatorum  certis  castrorumlocis 
opperiri  inbent.  Also  „wo  die  Posten,  die  Wachen,  die  Torhüter 
waren",  dahin  mußten  die  Gutgesinnten  dirigieit  werden.  Die  Auf- 
forderung: quin  potius  at  novissimi  in  culpam,  ita  primi  ad  paenitentiam 
sumos,  ist  natürlich  an  die  jedesmal  zu  bearbeitenden  Meuterer  ge- 
richtet, die  man  klugerweise  als  Veriührte  bezeichnete,  quo  facilius  in 
paenitentiam  et  spem  veniae  perducerent  (Pichena).  Vgl.  Nipp.-Andr. 
zu  d.  St.  —  31,  8  multa  seditionis  ora  vocesque.  Die  wirkungsvolle 
poetische  Personifikation  hat  L.  vollkommen  nachempfunden:  das  viel- 
köpfige Ungeheuer  der  Empörung  speit  aus  100  Rachen  Flammen  der 
Aufreizung  unter  die  unzufriedenen  Krieger.  Man  mag  übersetzen: 
durch  viele  Zungen,  viele  Stimmen  kündete  sich  die  Meuterei  an;  nur 
nicht  ora  durch  „Gesichter"  oder  „Organe"  wiedergeben.  Stark  betont 
wird  der  Gegensatz  der  aufreizenden  Vielheit  hier  und  des  ,, einen" 
Percennius  in  Paunonien  (K.  17.),  Vgl.  übrigens  1,  43,  13  quorum 
alia  nunc  ora  nunc  pectora  contueor;  41,  3  gemitus  ac  planctns  etiam 
militum  aures  oraque  advertere.  —  40,  10  möchte  L.  die  W.  rauliebre 
et  mis.  agmeu  als  antizipierte  Apposition  zu  uxor  und  coniuges  deuten 
und  diese  als  Subj.  von  iucedebat  auflassen.  Der  so  gewonnene  lebendige 
und  markante  Ausdruck  entspreche  dem  Zusammenhang  am  besten.  Mir 
scheint  im  Gegenteil  eine  solche  verstärkte  Hervorhebung  des  Attributs 
muliebre  durchaus  unangemessen.  Davanzati,  auf  dessen  Vorgang  L. 
hinweist,  übersetzt  allerdings  schwungvoll  genug:  Fuggivasi,  miserabile 
donuesco  stuolo,  la  moglie  etc.,  aber  die  Wendung  deckt  sich  mit  dem 
lateinischen  Texte  keineswegs. 


Über  andere,  namentlich  in  deutschen  und  ausländischen  Zeitschriften 
erschienene  Abhandlungen  und  viele  kleinere  Beiträge  wird  später  im  An- 
schluß an  die  Besprechung  der  letzten  Ausgaben  der  einzelnen  taciteischen 
Werke  berichtet  werden.    B.  W. 


Bericht  über   die   Literatur   zu   späteren   römisclien 
Geschichtsschreibern  von  1897  bis  einschliesslich  1902. 

Von 

Prof.  Dr.  Theodor  Opitz, 

Rektor  des  Gymnasiums  in  Zwickau. 


Ämpelius. 

V 

Josef  Sorn,  einige  Bemerkungen  zum  liber  memorialis  des  L. 
Ämpelius.  Jahresbericht  des  k.  k.  ersten  Staatsgymnasiums  zu 
Laibach.     16  Seiten,    gr.  8.     1901. 

Rez.:  Archiv  für  lat.  Lexikographie  XII  S.  438  —  439.  — 
Wochenschrift  für  klass.  Philol.  1903  Nr.  9  S.  241-242  (Opitz). 

Biographisches:  Ämpelius  war  vermutlich  ein  Vorfahr  des  bei 
Ammianus  (28,  4,  3)  erwähnten  Ämpelius  aus  Antiochia  und  stammte 
ebenfalls  dorther,  was  mir  eine  ziemlich  unsichere  Vermutung  zu  sein 
scheint.  Macrinus,  dem  das  Schriftchen  gewidmet  ist,  ist  der  spätere 
Kaiser  (217 — 218).    Daher  ist  Ämpelius  etwa  um  200  anzusetzen. 

Sprachliches:  Die  Sprache  des  Ämpelius  weist  viele  Afrikanis- 
men  auf,  aulierdem  viele  griechische  Wörter.  Als  Afrikanismen  hebt 
der  Verfasser  besonders  hervor:  Substantiva  auf  or  als  Adjektiva;  ni- 
gellus,  limpidus  und  Adjektiva  auf  alis;  Verba  inchoativa,  intensiva, 
mit  derb-drastischer  Bedeutung,  Komposita  statt  Simplicia;  ferner  re- 
gnare  mit  Genetiv;  Eigentümlichkeiten  im  Gebrauche  der  Präpositionen, 
wie  in  paucis  diebus,  a  vento  movetur.  Ausführlich  wird  auch  die  De- 
klination griechischer  Wörter  besprochen. 

Kritisches:  Am  ausführlichsten,  aber  in  sehr  kühner  Weise  be- 
handelt der  Verfasser  das  8.  Kapitel,  miracula  mundi,  in  dem  große 
Veränderungen  im  einzelnen,  Umstellungen,  Ausstoßung  von  Glossemen 
vorgenommen  werden.  Von  diesem  Kapitel  druckt  er  den  vollständigen 
Text  in  seiner  Kezension  ab.  Scharfsinnig  ausgedacht  ist  sehr  vieles; 
doch  kommen  wir  im  wesentlichen  bei  der  schlechten  Überlieferung 
über  eine  größere  oder  geringere  Wahrscheinlichkeit  nicht  hinaus.  In 
ähnlicher  Weise  werden  auch  noch  andere  zahlreiche  Stellen  behandelt. 


Ber. üb.  d.  Lit.  zu  später,  löm.  Geschichtsschreib.   1897—1902.   (.Opitz.)     127 

Für  richtig  balle  ich,  daß  2,  3  qni  noiniuautur  esse,  2,  12  iiobilitati, 
iiO,  1  rebus  perfractis  die  Überliefeiung  verteidigt  und  2,  1  und  6  petit, 
2,  1  iu  sidera,  2,  3  hi  wiederliergestellt  wird.  Sonst  erscheint  mir 
folgendes  recht  beachtenswert:  2,  3  qiii  niysteriis  praesunt,  5,  2  qui 
iiestatis  diebus  flaut  [per  aestatein],  8,  5  Marsyae  autem  quoque  corium, 
9,  4  primus  Saturno  et  Ope  natus,  9,   12  Cronii  filius  et  Asteriae. 

Josef  Sorn,    weitere  Beiträge  zur  Syntax  des  Justinus   (siehe 
unten  S.  137). 

S.  13.  Amp.  9,  12  ist  zu  lesen:  conditorem  et  tutorem  sni 
Hellenes  dicunt. 

Eutropius. 

Hermann  Peter,  die  geschichtliehe  Literatur  über  die  römische 
Kaiserzeit  bis  Theodosius  I.  und  ihre  Quellen.  2.  Band.  Leipzig  1897. 

S.  131  f.  und  348  f.:  Der  Verfasser  stellt  zunächst  das  über 
Eutrops  Leben  Bekannte  zusammen  und  charakterisiert  seine  Schreib- 
weise als  nüchtern  und  sachgemäß,  dabei  sei  er  von  der  Bedeutung 
der  Bildung  für  den  Charakter  durchdrungen. 

Durch  Zusammenstellung  vieler  Stellen  mit  Parallelstellen  einerseits 
aus  Livius  und  Obsequens,  anderseits  aus  Suetonius,  Aurelius  Victor  und 
Festus  kommt  der  Verfasser  hinsichtlich  der  Quellen  etwa  zu  folgendem 
Resultate:  die  Geschichte  der  Republik  ist  nach  einer  Livius -Epitome 
gearbeitet,  die  des  Julisch-Claudischen  Kaiserhauses  nach  Sueton,  die 
weitere  nach  einer  damals  angesehenen  Kaisergeschichte,  jedoch  mit 
Benutzung  einer  Nebenquelle.    Vgl.  auch  unten  bei  Aurelius  Victor  S.  139. 

In  den  folgenden  Zeiten  wurde  Eutropius  viel  gelesen  und  benutzt, 
vor  allem  durch  Hieronymus,  und  auch  ins  Griechische  übersetzt  (Paionios). 

Friedrich  Leo,  die  griechisch-römische  Biographie  nach  ihrer 
literarischen  Form.     Leipzig  1901.     8. 

S.  305  f.:  In  der  Darstellung  Eutrops  sondert  sich- die  Historie 
von  der  Biographie,  Livius  von  Sueton.  Hinsichtlich  des  zugrunde 
liegenden  Schemas  sind  3  Teile  zu  scheiden:  1.  bis  Domitian  einschließ- 
lich: genus,  Charakterisierung,  Politik  und  Kriege,  Tod.  —  2.  bis  Con- 
stantinus  einschließlich.  Diese  vitae  entsprechen  mehr  dem  suetonischen 
Schema,  z.  B.  bei  Trajauus:  genus,  Regierung,  Tugenden,  ein  besondere 
charakteristisches  dictum,  Tod,  Alter,  Regierungszeit,  Konsekration, 
Gedächtnis.  Die  Vorgeschichte  fehlt  zumeist.  —  3.  bis  lovianus.  Hier 
folgt  die  Charakterisierung  auf  den  Tod.  —  Die  Verschiedenheit  der 
Schemata  beruht  wohl  auf  den  drei  verschiedenen  Quellen. 

Gustav  Reinhold,  das  Geschichtswerk  des  Livius  als  Quelle 
späterer  Historiker.  Programm  des  Luisenstädtischen  Gymnasiums 
zu  Berlin.     1898.     4,     S.  20. 


128     Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später.  Jöm.  Geschichtsschreib.    1897—1902.    lOpitz.) 

Rez.:  Wochenschrift  für  klass.  Philol.  1899  Nr.  10  S.  266—268 
(Soltau).  —  Jahresberichte  des  Berl.  philol.  Vereins  XXV  S.  24—25 
(Müller). 

Festus  hat  nicht  Eutropius  ausgeschrieben,  sondern  beide  haben 
eine  gemeinsame  Quelle  benutzt.  Dies  geht  aus  deu  Stellen  hervor,  an 
denen  beide  im  wesentlichen  übereinstimmen,  Festus  aber  Einzelheiten 
hat,  die  bei  Eutrop  nicht  stehen.  Dieselbe  Quelle,  der  der  Name  Chro- 
nicon  beigelegt  wird,  hat  auch,  wie  bereits  Pirogoff  nachgewiesen  hat, 
Cassiodorius  ausgeschrieben.  Mit  diesem  Chronicon  ist  jedoch  die  livia- 
nische  Epitome,  deren  Benutzung  für  Orosius  und  die  Periochä  anzu- 
nehmen ist,  nicht  identisch.  Dies  beweist  der  Verfasser  durch  An- 
führung einer  Anzahl  Stellen,  an  denen  der  Bericht  bei  Orosius  und 
den  Periochä  von  dem  bei  Eutropius  und  Festus,  bzw.  Cassiodorius 
abweicht.  Andererseits  kommt  es  vor,  daß  Eutropius  und  die  Periochä 
zusammen  von  Livius  abweichen.  Indem  der  Verfasser  nun  auch  noch 
Obsequens  zur  Untersuchung  heranzieht,  glaubt  er  durch  nachstehenden 
Stammbaum  alle  Schwierigkeiten  zu  lösen: 
Livius 

Epitome 


Periochae,    Orosius  Chronicon 


Eutropius,  Festus,    Cassiodoiius,   Obsequens. 

Den  Schluß  der  interessanten  Abhandlung  bildet  (S.  13  f.)  die 
Besprechung  mehrerer  schwierigen  Stellen,  an  denen  der  Verfasser  je- 
doch nachweist,  daß  die  von  ihm  „aufgestellte  Hypothese  zur  Erklärung 
der  Erscheinungen  genügt  und  durch  keine  derselben  widei'legt  wird." 

Nicht  recht  verständlich  finde  ich  es,  daß  der  Verfasser  weder 
Florus  noch  die  Schrift  de  viris  illustribus  in  die  Untersuchung  hinein- 
gezogen hat.- 

Wölfflin,  das  Breviarium  des  Festus.     (Siehe  unten  S.  131). 

Eutropius  ist  von  Festus  benutzt  worden. 

Kühl,  Berliner  philol.  Wochenschrift  1897  Nr.  19  S.  589. 

Der  Verfasser  macht  darauf  aufmerksam,  daß  der  Brüsseler 
Kodex  84,  den  Droysen  ins  12.  Jahrh.  setzt  und  aus  dem  ßertiniarnus 
(saec.  10  oder  11)  abgeschrieben  sein  läßt,  von  Thomas,  dem  Heraus- 
geber des  catalogue  des  manuscrits  de  classiqnes  latins  de  la  biblio- 
theque  royale  de  Bruxelles  (1896),  ins  10.  gesetzt  wird. 

R.  Ehwald,  Eutropius.  Philologus  Bd.  59  (N.  F.  13)  S.  627 
—630. 

Die  wichtige  Gothaer  Handschrift  cod.  memb.  I  101  saec.  IX,  die 
außer  Eutropius  auch  das  Breviarium  des  Rufus    und    das    4.  Buch. 


Her.  üb.  d.  Lit.  zu  später,  lörn.  Gcschichtsschreib.    1897-  1902.    (Opitz.)     129 

Frontiiis  enthSlt.  ist  im  Jahre  1795  durch  den  Benediktiner  Maugerard 
uach  Gotha  jrekooimen.  Sie  stammt  aus  Murbach.  Der  erste  Teil  ent- 
hielt Schriften  Angnstins.  die  aber  vor  dem  Verkaufe  abgetrennt  worden 
und,   wie  es  scheint,  verschollen  sind. 

P.  Lambros,    ein    neuer    Kodex    des    Paeanius.     The    classical 
review  XI  S.  382—390. 

Die  ^griechische  Bearbeituus:  des  Eutropius  durch  Paeanius  war 
bis  jetzt  nur  durch  cod.  Monacensis  CCXIII  bekannt.  Der  Verfasser 
hat  eine  neue  Handschrift  im  Iwironkloster  auf  dem  Athos,  cod.  812, 
gefunden.  Diese  ist  besonders  dadurch  wichtig,  daß  sie  das  im  Mo- 
nacensis fehlende  Mittelstück -=  Eutr.  VI,  9—11  und  den  dort  ebenfalls 
fehlenden  Schluß  --  Eutr.  X.  11—16  enthält.  Beide  Stücke  druckt  der 
Verfasser  ab  und  daneben  die  entsprechenden  Kapitel  Eutrops,  letztere 
nach  dem  Texte  von  Dietsch.  Der  Schluß  des  Paeanius  im  Athous 
stammt  jedoch  nicht  ans  Eutropius.  Ein  Ertrag  für  die  Textkritik 
dieses  Schriftstellers  scheint  sich  nicht  zu  eri^eben. 

Beunett,    die  mit  tanquam    und   quasi  eing-eleiteten  Substantiv- 
sätze, Archiv  für  lateinische  Lexikographie  XI  S.  142 
weist  bei  Eutropius  für  tanquam  zwei  Beispiele  nach  (9,  15  und  10,  3). 
Steele,  affirmative  final  clauses  in  the  latin  historians.   American 
Journal  of  Philology  XIX,  255—284. 

Zur  Bezeichnung'  des  finalen  Verhältnisses  bietet  bei  Eutropius 
ut  21,  ad  13,  qui  3,  quo  2,  causa  1,  part.  fnt.  1,  Gerundivum  3  Bei- 
spiele. Dagegen  fehlt  das  Supinum,  sowie  der  Dativ  und  Genetiv  des 
Gerundivurns. 

Nur  der  Vollständigkeit  halber  erwähne  ich: 
Eutropius,    Roman    bistory.     Book   1    and    2,    ed.    by    J.   G. 
Spencer.     London,  Bell.     12. 

Exnperantius. 

Die  Epitome  des  Julius  Exnperantius.  Herausgegeben  von 
Gustav  Landgraf  und  Carl  Weymann.  Leipzig,  Druck  und 
Verlag  von  B.  G.  Teubner,  1902.  20  S.  8.  (Sonderabdruck  aus 
dem  „Archiv  für  lateinische  Lexikographie  und  Grammatik".  XII.  Band. 
4.  Heft.) 

ßez.:  Revue  critique  1903  Nr.   15  S.  299  (Lejay).    —  Wochen- 
schrift für  klass.  Philol.   1903  Nr.  5  S.  120—121  (Opitz). 

Außer    der    schon    von  Bursian  (1868)  benutzten  Pariser  Hand- 
schrift   (6085    saec.   XI)    standen    den    Herausgebern    zur    Verfügung: 
1.    eine    von  Goldast    (f  1635)    vermutlich    aus  einer  Handschrift  ge- 
Jahresbericht für  Altertumswlssenschnft.    Bd.  CXXI.    (1904.    11.)  9 


130     Bcr.  üb.  d.Lit.  zu  später,  röm  Geschichtsschrcib.    1S07  — l!i02.    (Opitz.) 

imachte  Abschrift  und  2.  ein  mit  5,  3  quo  beginnende^;  Münchenev 
Rrnchstück  (cod.  lat.   Mon.  29019,  saec.  XI— XII). 

Aus  dem  apographon  Goldastianum  stammen  die  mit  Kecht  auf- 
genommenen Lesaiten:  1,  5  et  victimas,  I,  11  paratis  suffragiis,  2,  17 
missus  est,  6,  8  et  in  Etruriae  litore,  6,  14  et  impedito,  aus  dem  Mo- 
nacensis:  7,  3  Romanum  und  7,  13  perraiserunt. 

Mit  Recht  sind  an  folgenden  Stellen  Konjekturen  aufgenommen 
worden:  4,  1 1  armatus  gestrichen,  5,  9  quod  statt  ut,  G,  16  cum  Triario  «itatt 
fontrario,  (j,  17  is  eingeschoben,  7,  G  iram  gestrichen,  7,  26  frustrati 
Omnibus.  Anderes  bleibt  zweifelhafter,  so  2,  9  bona  patria  statt  bona 
patriam  oder  3,  4  vis  eingeschoben. 

Beigefügt  sind  zahlreiche  Anmerkungen:  teils  sind  sie  kritisch, 
teils  weisen  sie  die  Entlehnungen  aus  Sallustius  nach,  teils  behandeln 
sie  überhaupt  Sprachliches.  Auf  ihnen  beruht  zum  großen  Teile  der 
Wert  der  neuen  Ausgabe. 

Schmalz,  zur  Epitome  des  Julius  Exuperantius.  Berliner  phi- 
lologische Wochenschrift  1902  Nr.  35  S.  1083—1086. 

Der  Verf.  beabsichtigt,  „einiges  zur  richtigen  Beurteilung  der 
Sprache  des  Epitomators  beizutragen".  1.  nimmt  er  Entlehnung 
aus  Sallust  auch  da  an,  wo  der  betreffende  Ausdruck  sich  zwar  nicht 
bei  Sallust  selbst,  aber  doch  bei  seinen  Nachahmern  nachweisen  läßt 
2.  stellt  er  Stellen  aus  anderen  Schriftstellern  zusammen,  die  den  Exupe- 
rantius beeinflußt  haben  können. 

Festus. 

Hermann  Peter,  die  geschichtliche  Literatur  über  die  römische 
Kaiserzeit  usw.     2.  Band. 

S.  131  f.  und  354  f.:  Festus  war  von  niedriger  Abkunft  aus 
Trient,  Statthalter  in  Syrien,  magister  memoriae,  Prokonsul  in  Asien, 
starb  vermutlich  380.  Der  im  Auftrage  des  Valens  verfaßte  kurze 
Abriß  entbehrt  nicht  völlig  des  rhetorischen  Schmuckes.  Doch  beherrscht 
Festus  die  Sprache  nur  in  geringem  Maße. 

Die  Vorlage  des  ersten,  geographischen,  Teiles  läßt  sich  nicht 
nachweisen,  er  enthält  auch  Notizen  aus  anderen  Qnellen.  Dann  ist 
Florus  benutzt,  die  Livianische  Epitome,  die  Kaisergeschichte  bis  Dio- 
kletian, dann  eine  andere  und  eigene  Erinnerungen.  Näheres  siehe  bei 
Eutropius  S.   127   und  Aurelius  Victor  S.  139. 

Reinhold,  das  Geschichtswerk  des  Livius  als  Quelle  späterer 
Historiker. 

Siehe  unter  Eutropius  S.   128. 


Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später,  röm  Geschichtsschreib.    ISi'T—  Jrt02.    (Opitz.)     131 

Wülffliii,  das  Breviariiim  des  Festus.  Archiv  für  lateinische 
Lexikographie  XIII,  S.  G9— 97  und  S.  173-180. 

cod.  Basil.  und  cod.  Pithoei  sind  insofern  identisch  .  als  ersterer 
aus  letzterem  abgeschrieben  ist.    Bamb.  ist  besser  als  Gotli. 

Das  Blich  zerfällt  in  2  Teile:  1  —  14  Erwerbnn;?  <ler  einzelnen 
Provinzen,  15 — 30  die  Orientkriege.  Diese  Beschränkung  verlangte  der 
Auftrag  des  Kaisers  Valens.  Daher  ist  der  Titel  breviarium  rerum 
gpstarum  populi  Eomani  sachlich  unzutreffend.  Auf  Grund  der  besten 
Handschritten  mu  1.1  er  vielmehr  lauten:  breviarium  de  breviario  r.  g  p.  ß. 

Für  den  2.  Abschnitt  (Orientkriege)  benutzte  Festus  3  (Quellen: 
1.  Eutropius.  Wichtig  ist  z.  B.  der  Ausdruck  Eutr.  9,  2  und  Fest.  24 
exsequiae  =  corpus,  der  vor  Entrop  nicht  nachweisbar  ist.  Daraus,  daß 
ein  Epitomator,  wie  z.  B.  Fe.stus,  einzelne  eigene  Zusätze  einfließen 
läßt,  die  die  Quelle,  wie  z.  B.  Eutropius,  nicht  hat,  folgt  nach  Wölfflin 
keineswegs,  daß  kein  Abhängigkeitsverhältnis  stattfindet.  Denn  „diese 
Freiheit  der  Kontamination"  haben  sich  sämtliche  römische  Epitoma- 
toren  genommen.  Deshalb  sind  die  Darlegungen  von  H.  Peter  nicht 
haltbar.  2.  Florus.  Unter  zahlreichen  angeführten  Stellen  ist  be- 
sonders wichtig  Flor,  praef.  und  Fest.  20  niovit  lacertos.  3.  Epi- 
torae  Livii. 

S.  81  —  95  bespricht  der  Verf.  die  Quellen  des  Florus  (vgl. 
unten  S.  133)  und  erörtert  eine  Anzahl  Fragen  von  grundsätzlicher 
Bedeutung. 

S.  173  ff.:  25 — 29  behandelt  Festus  Selbsterlebtes  in  eigener 
Sprache.  Daher  ist  dieser  Abschnitt  für  die  Analyse  der  Sprache  am 
wichtigsten.  Hervorgehoben  wird  u.  a.  agmina  ~-=  copiae,  congressio, 
suscipere  ^  accipere.  Auch  aus  den  anderen  Teilen  wird  Sprachliches 
besprochen,  z.  B.  gewählte  Ausdrücke,  wie  bellum  formidabile,  obtlnere 
=  ^besetzen  und  behaupten"  auch  im  part.  perf.  pass.,  intimare,  positos 
=  üjv,  apud  statt  des  Lokalis,  adsequi  Bithyniam,  regnare  per- 
missus  est. 

Ehwald,  Eutropius.     Philologus  Bd.  59  (N.  F.  13)  S.  627—630. 
Handelt  von  der  Herkunft  des  cod.  Gothanus  membr.  I,  101,  der 
u.  a.  das  breviarium  enthält.    Siehe  bei  Eutropius  8.  128. 

Florus. 

Hermann  Peter,  die  geschichtliche  Literatur  über  die  römische 
Kaiserzeit.     2.  Band. 

S.  271  f.:  Der  Titel  epitome  de  T.  Livio  ist  für  das  Werk  des 
Florus  gut  bezeugt.  Doch  hat  er  daneben  auch  noch  andere  Quellen 
benutzt,  so  Sallustius,  Caesar,  Lucanus, 

9* 


132     Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später  röm.  Geschieb tsschreib.    1897— 1902.    (Opitz. 

Otto  Hirschfeld,  Anlage  und  Abfassungszeit  der  Epitome  des 
Florus.  Sitzunssberichte  der  Königlich  Preußischen  Akademie  der 
Wissenschafren  zu  Berlin.     Berlin  1899.     S.  542—554. 

Daß  Florus  prooemium  5  die  Köniffszeit,  die  infantia  populi 
Komani,  auf  400  Jahre  angesetzt  haben  sollte,  ist  nicht  anzunehmen. 
Daher  ist  die  Konjektnr  CCL  richtig.  Ebensowenig  darf  die  2.  Periode, 
die  adulescentia,  auf  150  Jahre  angegeben  werden.  Hier  ist  ebenfalls 
CCL  zu  schreiben.  Das  als  Endtermin  von  Florus  angegebene  Konsulat 
des  Appius  Claudius  und  Quintus  Fulvins  ist  das  Jahr  264  (nicht  212, 
wie  Halm  wollte).  Vgl.  I,  17,  9  (pag.  41,  7  ßossb.)  und  I,  18,  1  (pag. 
41,  11).  Fulvius  hat  zwar  in  den  Fasti  M.  als  Pränomen,  aber  die  auf 
Livius  oder  die  epitome  Livii  zurückgehende  Überlieferung  nennt  ihn 
Qu.  Fernerhin  ist  die  Dauer  der  iuventas  mit  150  Jahren  ebenfalls 
falsch  übelliefert,  es  ist  CC  zu  lesen.  Denn  diese  Zahl  wir  ausdrück- 
lich I,  18.  2    (pag.  41,  17)    genannt.     Auch    werden    diese    200   Jahre 

1,  34,  2  (pag  84,  2)  und  I,  47,  2  (pag.  112,  18)  in  C  aurei  und  C  ferrei 
i;eteilt.  Durch  diese  250  +  250  H-  200  Jahre  ergibt  sich  die  im  Anfang 
des  Proömiums  in  Aussiebt  gestellte  Zahl  von  700  Jahren.  Allen  diesen 
Darlegungen  des  Verfassers  wird  man  wohl  im  wesentlichen  beistimmen 
können. 

Das  1.  Buch,  d.  h.  das  ganze  ursprüngliche  Werk,  schließt  etwa 
mit  dem  Jahre  700  d.  St.  ab.  Die  folgenden  Abschnitte  sind  erst 
später  hinzugefügt  worden.    Bei  dieser  späteren  Redaktion  ist  auch  der 

2.  Teil  von  I,  34  (=  II,  19)  einsteschoben  und  im  Proömium  7  und  8 
Caesar  in  Caesar  Augustus  verändert  worden.  Daher  ist  bei  den  dort 
genannten  letzten  haut  multo  minus  anui  ducenti  von  Caesar  (etwa 
700  d.  St.)  auszugehen.  Dies  ist  wichtig  für  die  Abfassungszeit  der 
Epitome.  Am  Schlu-se  des  Proömiums  ist  das  Präsens  revirescit  dem 
in  B  überlieferten  reviruit  vorzuziehen.  Hieraus  ergibt  sich,  daß  Trajan 
bei  Veröffentlichung  des  Werkes  noch  lebte. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Datierung  ist  aber  die  Stelle 
I,  5,  5  (pag.  19,  12),  an  der  im  Anschlüsse  an  den  Latinerkrieg  die 
Ausdehnung  der  damaligen  Herrschaft  Roms  mit  der  späteren  verglichen 
wird.  Hier  hält  der  Verfasser  die  Lesart  Sora  statt  Cora  und  schreibt 
Algidura  (mit  C)  statt  Alsium,  sowie  Pregenae  (mit  Titze)  statt 
Fregellae.  Mit  Recht  erklärt  er,  daß  Faesulae  nicht  die  etruskische 
Stadt  dieses  Namens  sein  kann,  und  schlägt  vor,  Aefula  zn  lesen,  wie 
vor  ihm  schon  Madvig,  Nibby  und  Boot  getan  haben.  Auf  einen  an- 
deren Ausweg  habe  ich  in  Fleckeisens  Jahrbüchern  1886  S.  432  hin- 
gewiesen. Sehr  ansprechend  ist  die  weitere  Annahme,  daß  die  Worte 
quod  Carrhae  nuper  sich  nicht  auf  die  Niederlage  des  Crassns,  sondern 
auf    die  Ende   115   durch  Trajan  erfolgte  Unterwerfung  Mesopotamiens 


Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später,  röm.  Geschichtsschreib.    1897—1902    (Opitz.)     133 

beziehen.     Danach  würde  also  die  Epitome  am  Ende  von  Trajans  Re- 
gierung verfaßt  sein. 

Den  erst  bei  der  zweiten  Auflag-e  hinzugetiie:ten  zweiten  Teil  hat 
Florus  nach  der  Vermutung  des  Verfassers  nnter  Hadrian  geschrieben, 
um  dessen  Friedenspolitik  zu  verherrlichen. 

Die  Einteilung-  in  2  Bücher  ist  die  ursprüngliche.  Der  Verfasser 
der  Epitome  ist  jedenfalls  identisch  mit  dem  Bhetor  und  dem  Dichter. 

Wölt'flin,  Epitome.    Archiv  f.  lat.  Lexikographie,    XII,  S.  337  f. 

Florus  ist  eine  Mittelstufe  zwischen  dem  Livius  der  Kaiserzeit 
und  den  Periochä.  Neben  Livius  sind  Caesar  und  Sallustius  benutzt. 
Vielleicht  betrachtete  er  seine  Arbeit  nur  als  ein  Buch,  das  ans  prak- 
tischen Rücksichten  in  2  Hälften  zerlegt  werden  mochte.  Vgl.  auch 
Wölfflin,  das.  XIII  S.  72  f. 

Derselbe,  das  Breviarium  des  Festus.     (Siehe  oben  S.  131.) 

S.  81  ff.:  IJm  zu  beweisen,  ,wie  die  Historiker  nicht  nur  Irriges 
abschreiben,  sondern  selbst  irren,  Dinge  vei-wechseln  oder  umstellen, 
anf  eigene  Gefahr  hin  Zusätze  machen",  untersucht  der  Verfasser  die 
Berichte  de.s  Florus  über  die  römischen  Könige  und  die  drei  ersten 
Jahre  des  Hanuibalischen  Kriegs.  Venrleicht  man  dessen  Erzählung 
über  Numa  Pompilius  und  über  den  Streit  des  Tarquinius  Priscus  mit 
dem  Augur  Navius  mit  der  bei  Livius,  so  ergeben  sich  Gründe  genug, 
um  eine  direkte  Abhängigkeit  anzunehmen.  Und  doch  ist  als  Mittel- 
glied eine  um  30  nach  Chr.  verfaßte  epitome  Livii  eiu^nschieben 
Denn  z.  B.  von  der  Aussetzung  des  Romulus  und  Remus  sagt  Livius 
dreimal  exponere,  Florus,  Quintilianus,  de  vir.  ill.  u.  a.  abicere  (in 
profluentem).  Daß  in  der  Epitome  immaturum  virginis  amorem  stand, 
ergibt  sich  aus  Flor.  I,  3,  5  und  Val.  Max.  VIII,  1,2.  —  Eiae  beson- 
dere Eigentümlichkeit  des  Florus  ist  die  doppelte  anacephalaeosis.  — 
Überhaupt  weicht  er,  „offenbar  absichtlich,  so  oft  und  so  stark  von 
Livius  ab,  daß  mau  die  Vorstellung  eines  Liviusauszugs  im  modernen 
Sinne  des  Wortes  aufgeben  muß,  der  Titel  ist  nur  a  parte  potiori  za 
verstehen".  Dieses  Resultat  wird  durch  den  Bericht  des  Florus  über 
den  Anfang  des  2.  panischen  Kriegs  bestätigt. 

Petrus  Passowicz,  de  Flori  codice  Cracoviensi.  Seorsum  Im- 
pressum ex  XXVII.  Tomo  Classis  philologicae  Academiae  Litterarum 
Cracoviensis.  Cracoviae,  apud  bibliopolam  societatis  librariae  Polo- 
nicae,  1898,     8.     74  S. 

Rez.:  Berl.  philol.  Wochenschrift  1898  Nr.  45  S  1387— 138Ö 
(Roßbach).  —  Wochenschrift  für  klass.  Philologie  1899  Nr.  22  S.  605 
—606  (Opitz). 

Codex  Cracoviensis  416  gehört  nicht,  wie  Roßbach  praefatio 


134     Ber.  üb.  d.  Lit,  zu  später,  röm.  Geschichtsschreib,    1897—1902.   (Opitz) 

pag.  XXII  behauptet,  dem  16.,  sondern  dem  15.  Jahrhundert  an.  Der 
Schreiber  war,  wie  durch  eine  mehrere  Seiten  füllende  Aufzählung  von 
Beispielen  aller  Art  nachgewiesen  wird,  des  Lateinischen  so  unkundig, 
daß  der  Verfasser  sagt,  daß  ein  codex  peius  habitus  sich  nicht  leicht 
finden  dürfte.  Der  cod.  Cracov.  gehört  der  Klasse  C  an,  ist  aber  weder 
ans  N  noch  aus  L,  sondern  aus  dem  Archetypus  dieser  Klasse  selbst 
per  rivulos  hodie  deperditos  geflossen.  So  kommt  es,  daß  er  ein  paar- 
mal allein  unter  den  von  Roßbach  benutzten  Handschriften  die  richtige 
Lesart  hat,  die  übrigens  bereits  auf  anderem  Wege  gefunden  worden 
ist.  Die  wichtigsten  Stellen  dieser  Art  sind:  pag.  8,  13  (ed.  Roßbach) 
dolose;  70,  9  ahrupta;  87,  22  contentus:  143,  5  redit  et;  151,  9  ßuctus; 
163,  6  praeforiae;  164,  16  Pacorus;  179,  10  praecepere. 

I,  1,  5  (pag.  6,  2)  schreibt  der  Verfasser  circiim  urhem  ipsarn,  ma- 
trem  circum  ipsam.  Über  die  ähnlichen  VeimutuDgen  von  Beck,  Schmi- 
dinger  und  Miodonski  habe  ich  bereits  in  diesen  Jahresberichten  Bd.  97 
S.  83  ff.  gesprochen. 

Wölfflin,    die  Entwickelung    des  Infinitivus  historicns.     Archiv 
für  lateinische  Lexikographie  X  S.  181 
vermutet,    daß  Plorus  I,  38,  3    (pag.  90,  14  R.)    weder    armis  petere 
coeperunt    noch   a.  p.  constituunt  das  Richtige  sei,    sondern  das  bloße 
petere. 

Derselbe,  zur  Differenzierung  der  lateinischen  Partikelu.     Da- 
selbst X  S.  371  und  375 
empfiehlt    mit  Recht  Florus  I,  7,  10    (pag.   14,  13  R.)    die  Lesart  von 
B  aderat  und  I,  20,  4  (pag.  50,  4  R.)  mox  ut. 

Derselbe,  daselbst  XI  S.  6. 

Floius  I,  1,  2   (pag.  6,  18)    abiectus    in  profluentem    ist    richtig 

(nicht  iactatus).     Quint.  3,  7,  5  hat  denselben  Ausdruck.     Dieser  geht 

auf  die  verlorene  Epitome  des  Livius  zurück.  Richtig. 

Derselbe,  matrem  geicre.     Daselbst  XII  S.  453  f. 

Florus  I,  1,  3  (pag.  7,  2)  lupa  ....  ubera  admovit  infantibus 
matremque  egit  (Bamb.)  ist  bedeul  lieh,  denn  es  bedeutet  nicht  „Mutter- 
pflichten erfüllen",  sondern  „die  Rolle  der  Mutter  spielen".  Da  Naz. 
secessit  hat,  ist  zu  lesen  matrem  gessit  (ohne  se).  Wohl  richtig.  Übri- 
gens schon  vorgeschlagen  von  Binsfeld,  quaestiones  Florianae  Ö.   10. 

Derselbe,  über  ubera.     Daselbst  XII  S.  160. 

Florus  I,  1,  13  (pag.  7,  2)  lupa  ....  ubera  admovit  infantibus. 
Der  Plural  ubera  ist  dem  nur  im  Bamb.  überlieferten  über  vorzuziehen 
[mit  Roßbach],  weil  alle  dieses  Ereignis  berichtenden  Schriftsteller,  vor 
allem  der  aus  Florus  schöpfende  Augustinus  civ.  d.  18,  21,  den  Plural  haben. 


Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später.  iftin.Geachichtsschreib.    1807—1902.    (Opitz)     135 

Derselbe,  die  Keitercenturien  des  Tarquinius  Priscus.  Rhein. 
Mus.  57  (1902),  S.   1308. 

Floius  1,  5,  2  (pag-.  12,  4)  ist  statt  der  Überlieferung  tribus 
aiixit  equites,  die  gewöLulich  durch  Einschiebung  von  centuriis  ergänzt 
wird,  zu  lesen:  tribus  auxit  [equites].  Von  ihm  bereits  im  Archiv  für 
lat.  Lexikographie  V  S.  406  A.  vorgeschlagen. 

Holm,  Renzeusion  von  Cocchiu,  la  forma  del  Vesuvio  nelle 
pirture  e  descrizioni  antiche.  Berliner  philologische  Wochenschrift 
1899  S.  1077. 

Florus  11,  8,  4  (pag.  127,  19)  fauces  cavi  niontes  bedeutet  nicht, 
wie  Cocchia  meint,  balze  successive  che  iutersecano  la  linea  diritta  del 
fflonte,  d.  h.  Stufen  des  äußeren  Abhangs,  sondern  vielmehr  'unter- 
irdische Wege'.  Wenn  diese  Angabe  unwalirscheinJich  ist,  so  beweist 
<las  nur,  daß  Florus  oder  sein  Gewährsmann  seine  Phantasie  hat  walten 
lassen,  statt  Tatsachen  zu  geben. 

J.  V.  d.  V(liet),  zu  Vergilius  orator  an  poeta.  Mnemosyne 
XXVI  S.  276, 
pag.  183,  4  (ed.  Roßbac'n)  pulcherrimarum  arborum  amoenitate  statt 
plurimarum.  Gut  erdacht,  aber  überflüssig.  —  pag.  184,  1  nascentem 
amicitiam  fovebamus  statt  foederabamus.  Nicht  übel,  aber  ebenfalls 
überflüssig. 

von  Winterfeld,  ad  Florura.     Philologus  LVIII  S.  299. 
Die  Verse  des  Florus  (bei  Spartianus,  Hadriauus  IG,  3)  müssen, 
da  Hadrians  Antwort  aus  vier  Zeilen  besteht,  ebenfalls  vier  Zeilen  um- 
faßt haben.     Sie  sind  etwa  folgendermaßen  zu  ergänzen: 
Ego  nolo  Caesar  esse, 
ambulare  per  <u— u, 
latitare  per>   Britannos, 
Scythicas  pati  pruinas. 
Kroll,  das  afrikanische  Latein.     Rhein.  Museum  Bd.  52  (1897) 
S.  569—590. 

Manches,  was  Wöllflin  (Archiv  VI.  1)  bei  Florus  als  afrikanisch 
ansieht,  ist  vielmehr  Archaismus,  z.B.  I,  3,  4  (pag.  IG,  7)  ex  summe 
studio,  wo  ex  gegen  BI  zu  halten  ist  [so  schon  Thome,  Egen  und 
Wölfflin]  oder  L  26,  3  (pag,  68,  10)  vix  et  aegre.  Unbegründet  ist 
die  zweimal  in  N  überlieferte  Form  fraglare  statt  flagrare,  I,  34,  7 
(pag.  82,  6)  und  I,  40,  3  (pag.  96,  1). 

Landgraf,  zum  Akkusativ  der  Richtung  im  Lateinischen.  Ber- 
liner philologische  Wochenschrift  1897  S.  927  f. 

Florus  I,  45,  16  (pag.  108,  20)  ist  Britanniam  ti-ansit  mit  BC 
gegen  NL  (in  Britanniam)  zu  lesen.     Richtig. 


136     Ber.  üb.  d.Lit.  zu  später  röm.Geschichtsschreib.    1897—1902.   (Opitz.) 

Steele,  affirmative  final  clauses  in  the  latin  historians.    American 
Journal  of  Pliilolo^y  XIX,  255—284. 

Zur  Bezeichnung  des  finalen  Veihältnisses  bietet  bei  Florus 
ut  32,  ad  9,  qui  2,  quo  3,  Supinum  1,  part.  fut.  2,  Gerundivum  9  Bei- 
spiele. Dagegen  fehlt  causa,  sowie  der  Dativ  und  Genetiv  des  Gerun- 
divuras. 

Bennett,    die  mit  tauquam    und    quasi   eingeleiteten  Substantiv- 
sätze, Archiv  für  lateinische  Lexikographie  XI  S.  146, 
weist  bei  Florus  für  quasi  zwei  Beispiele  nach:    I,  12,  6  (pag.   31,  6) 
und  I,  34,  4  (pas.  81,  19). 

Nicht  zugänglich  war  mir: 

Sabbadini,  del  'numerus'  in  Floro.  Rivista  di  filologia  IV  S.  600  f. 
Ferner  sind  Bemerkungen  zu  Florus  enthalten  in  den  nachstehen- 
den, mir  ebenfalls  nicht  zugänglichen  Werken: 

Omont,    catalogue  des  manuscrits  grecs,    latius,    fran^ais  et  es- 
pagnols  (vgl.  Wochenschrift  für  klass.  Philol.  1898  Nr.  37  S.  1020)  und 
Leopardi,    pensieri    di    varia    filosofia    e    di    belle    letteratura. 
Firenze  1898. 

Justinus. 

Egelhaaf,  der  Sturz  der  Herakliden  und  das  Aufkorameu  der 
Mermnadeu.  Verhandlungen  der  46.  Versammlung  deutscher  Philo- 
logen und  Schulmänner.     Leipzig  1902.     S.  122  f. 

Der  Bericht  Justins  (I,  7,  5)    ist  lediglich    eine  oberflächliche, 
ins  Plumpe  gezogene  Wiedergabe  der  herodotischea  Vorlage. 

Gudeman,  latin  literature  of  the  empire.  New  York  and 
London.  Harper  &  brothers  publishers.  1898.  S.  397  —  422 
enthält  die  praefatio,  sowie  Abschnitte  aus  dem  24.,  31.,  32.,  37.,  38. 
und  41.  Buche.  Zugrunde  liegt  der  Kubische  Text.  Doch  weicht 
Gudeman  ziemlich  oft  von  ihm  ab,  meiner  Ansicht  nach  in  nicht  sehr 
vielen  Fällen  mit  Recht,  aber  z.  B.  37,  2,  6  exquisitioribus  (Vorstius) 
statt  exquisitis  tntioribus;  37,  3,  5  Asiae  statt  Gutschmids  esset  wieder 
eingesetzt;    38,  4,  9    ipsi  numerent  (Madvig  und  Wopkens)    statt    ipse 

uumeret;  41,  5,  8  Streichung  von  nam cognominavere  (Ruperti). 

Im  Gedanken  riclitig  sind  auch  die  Lesarten  praef.  3  inter  se  segregati, 
praef.  5  reddendam  rationem,  37,  17  XXVI  statt  XL  VI,  aber  teils  ist 
der  Ausdruck,  teils  die  Art  der  Änderung  nicht  unbedenklich.  Gar 
nicht  zu  billigen  ist  es,  daß  der  Herausgeber  von  dem  von  Rühl  praef. 
pag.  XIII  aufgestellten  Grundsatz,  daß  die  in  Gl  oder  CT  oder  CIl  über- 
lieferten Lesarten  aufzunehmen  sind,  mitunter  ohne  einen  recht  ersicht- 
lichen Grund  abgewichen  und  geringeren  Handschriften  gefolgt  iit,  so 


Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später,  röm.  Geschichtsschreib.    1897—1902.   (Opitz.)     137 

24,  6,  2  trepidi  statt  et  trepidi,  24,  8,  6  adversus  deos  contendebat 
statt  deos  coDtemnebat,  31,  G,  2  non  tan  tum  statt  non  tarn.  Von  den 
eigenen  Konjekturen  des  Herausgebers  erscheint  mir  37,  3,  7  in  den 
Worten  Laodice  soror  die  Streichung  von  soror  empfehlenswert,  da 
diese  erst  drei  Zeilen  vorher  als  soror  uxorquc  bezeichnet  worden  ist 
38,  3,  9,  wo  der  Herausgeber  die  von  Kühl  nach  den  Worten  mul- 
tum  ibi  auri  ....  regum  an2;enoramene  Lücke  durch  cumulatam  aus- 
füllt, ist  es  mir  zweifelhaft,  ob  überhaupt  eine  solche  vorhanden  ist. 

Justinus  XXIV, cap. 6— 8 ist  abgedruckt  bei  Bernhardt,  Schrift- 
quellen zur  antiken  Kunstgeschichte  (Dresden-Berlin  1898)  Bd.  H  S,  1—3. 

Neu  ha  US,  Eheinisches  Museum  Bd.  57  S.  474 — 76. 

Trogus   prol.  X    ist   zu  lesen:    Ut  Artaxerxes victus. 

Ut  defectores  ....  persecutus  sit omnibusque  victis  decesserit. 

Josef  Sern,  weitere  Beiträge  zur  Syntax  des  M.  Junianas 
Justinus.     Laibach,  K.  K.  I.  Staatsgymnasium.     1902.    13  S.    8, 

ßez. :  Archiv  für  lateinische  Lexikographie  XIU,  S.  145—146. 
—  Wochenschrift  für  klass.  Philol.  1904  Nr.  8  S.  213-214  (tz).  — 
Zeitschrift  für  österr.  Gymnasien  54  S.   1146  (Lutz). 

Im  Anschluß  an  seine  in  diesen  Jahresberichten  Band  97  S.  97  f. 
von  mir  besprochene  Abhandlung  über  den  Gebrauch  der  Präpositionen 
bei  Justinus  (1894)  macht  der  Verfasser  zunächst  einige  Bemerkungen 
zum  Leben  Justins.  Mit  Recht  nimmt  er  an,  daß  er  eine  gründ- 
liche rhetorische  Bildung  genossen  hat.  Die  weitere  Annahme  jedoch, 
daß  er  sogar  Lehrer  an  einer  Rhetorenschule  gewesen  sei  und  sich 
eine  Zeitlang  von  diesem  Amte  zurückgezogen  habe,  um  seine  Epitome 
zu  verfassen,  läßt  sich  aus  der  praefatio  4—5  nicht  beweisen.  Heraus- 
gegeben ist  nach  dem  Verfasser  die  Epitome  bald,  nachdem  das 
Werk  des  Florus  erschienen  war. 

Dann  wird  der  Tempusgebrauch  besprochen.  Die  wichtigsten 
Punkte  sind  etwa:  historisches  Präsens,  consecutio  temporum,  Be- 
dingungssätze, indirekte  Fragesätze,  Verba  des  Wünschens  und  Begehrens, 
Folgesätze,  kausaleSätze,  quod  statt  acc  c.  int.,  quippe,  Vergleichungssätze, 
Konzessivsätze,  oratio  obliqua.  Von  Einzelheiten  ist  besonders  be- 
merkenswert, daß  antequam  gar  nicht  und  num  nur  zweimal  vorkommt. 

Mehrfach  weicht  der  Verfasser  vom  Rühlschen  Texte  ab.  Ich 
erwähne  nur  die  Stellen,  an  denen  ich  ihm  beistimme:  I,  6,  4  esse 
statt  adesse;  I,  8,  9  dolendum  statt  doleret;  18,  7,  8  etsi  statt  tametsi 
und  38,  4,  16  etsi  statt  etiamsi;  22,  4,  1  quod  statt  cum.  An  allen 
diesen  Stellen  wird  die  Lesart  von  Jeep  wiederhergestellt. 

Landgraf,  der  accusativus  des  Zieles  nach  vocare  und  hortari. 
Archiv  für  lateinische  Lexikographie  XI  S.  104 


138     Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später,  röm.  Geschichtsschreib.    1897—1902.    (Opitz.) 

empfiehlt  Just.   14,  1,  5    bellum    mit  TZ    statt  illum  (Rühl    nach  DJ) 
zu  schreiben, 

Benuett,    die  mit  tanquam    und  quasi  eingeleiteten  Substantiv- 
sätze, Archiv  XI  S,  416 
vieist  für  quasi  bei  Justinus  ein  Beispiel  nach  (43,  2,  9). 

Steele,  affirmative  final  clauses  in  the  latin  historians.  American 
Journal  of  Philology  XIX,  255-284. 

Zur  Bezeichnung  des  finalen  Verhältnisses  bietet  bei  Justinus  ut 
78,  ad  96,  qui  35,  quo  6,  causa  5,  Supinum  8,  part.  fut.  30,  Grerun- 
divum  18,  Dativ  des  Gerundivums  1  Beispiel.  Dagegen  fehlt  der 
Genetiv  des  Gerundivs. 

Nicht  zugänglich  war  mir: 

(Jautarelli,  die  Motive  der  Verschwörung  des  Harmodios  und 
Aribtogeitou  (zu  Justinus  II,  9,  1).  Bollettiuo  di  filologia  classica 
1898,  10.  April. 

Nur  der  Vollstäudigkeit  halber  erwähne  ich: 
Selecta  ex  Cornelio  Nepote,  Justiuo  usw.    In  usum  regiae  scholae 
Etoneusis.     New  edition.     London  1897. 

Justinus,  historiae  philippicae.  Extraits  avec  des  sommaires 
et  des  notes  par  A.  Boue,    Paris.     IG. 

Aurelius  Victor. 

1.    Allgemeines. 

Steele,  affirmative  final  clau?es  in  the  latin  historians.  Ame- 
rican Journal  of  Philology  XIX,  255—284. 

Übersicht  der  in  den  vier  Schriften  sich  findenden  Beispiele  von 
Ausdrücken  zur  Bezeichnung  des  finalen  Verhältnisses: 

Oiigo       de  vir.  ill.       Caes.  Epit. 

11  12  7 

15  2  2 

6  11 

—  2  — 
2                   2  — 

—  1  — 
6-2 

2.    de  viris  illastribas. 

Friedrich  Leo,  die  griechisch-römische  Biographie. 
S.  309  f.:  Das  Buch  de  viris  illustribus  ist  ein  nach  Personen 
geordneter  Abriß  der  römischen  Geschichte.     Biographisch  ist  die  An- 


ad 

5 

ut 

4 

qui 

3 

quo 

2 

Supinum 

3 

gratia 

5 

part.  fut. 

— 

Gerundivum 

4 

Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später.  röin.GeschichtsschrC'ib.    1897—1002.    (Opitz.)     X39 

läge  der  meisten  Artikel  nur  in  sein*  beschränktem  Sinne.  Kein  ein- 
ziger enthält  etwas  zur  Beschreibung  des  Charakters.  —  Bei  Beant- 
wortung der  Frage  nach  den  Quelleuschriftstellern  muß  man  sehr  vor- 
sichtig sein. 

Hermann  Peter,    die    geschichtliche    Literatur  usw.     2.  Band, 

S.  367  f.:  Die  Schrift  de  viris  illnstribus  zeigt  Berührung 
mit  den  Elogien.  Ampelius  und  Florus  haben  dieselbe  Quelle  (Hj'ginus?) 
benutzt.  Die  Livianischen  Spuren  sind  fast  völlig  verwischt.  Manche 
wichtige  Notiz  findet  sich  nur  hier,  andererseits  enthält  die  Schrift 
grobe  Irrtümer  und  Verwechselungen,  Sie  ist  „ein  in  einzelnen  Stücken 
stark  gekürztes,  aber  auch  um  mehrere  Einschiebsel  bereichertes 
Exzerpt".  Das  ausführlichere  Originalwerk  setzt  der  Verf.  an  den 
Schluß  des  2.  Jahrhunderts,  den  Kern  der  vorliegenden  Schrift  in  die 
Zeit  der  Breviarien. 

Günther,  Plutarchs  vita  Camilli  in  ihren  Beziehungen  zu 
Livius  und  Aurelius  Victor.  Bernburg,  Jahresbericht  des  Herzog- 
lichen Karls-Eealgymuasiums.     1899.     4.     24  S. 

S.  19  f.:  Die  Kapitel  23  und  24  (Camillus  und  Maulius  Capitoliuus) 
der  Schrift  de  viris  illnstribus  stammen  nicht  aus  derselben  Quelle 
wie  der  Bericht  des  Eloius,  sondern  gehen  auf  Cornelius  Nepos  zurück, 
den  für  den  gleichen  Gegenstand  auch  Plutarch  in  der  Biographie  des 
Camillus  benutzt  hat. 

"Weymanu,  kritisch-sprachliche  Analekten.  Wiener  Studien  XX 
S.  159.  27.  eicere  =  educere. 

De  vir.  ill.  47,  4  hat  Wijga  eiectum  quendam  e  carcere  un- 
nötigerweise beanstandet.  Denn  im  späteren  Latein  'sinkt  eicere  viel- 
fach zu  der  an  unserer  Stelle  erforderlichen  Bedeutung  von  educere 
herab'. 

3.    Caesares. 

Friedrich  Leo,  Die  griechisch-römische  Biographie  usw. 

S.  307  f.:  Die  historiae  abbreviatae  des  Victor  stellen  „für 
sich  allein  eine  Spielart  der  spät-römischen  Historiographie"  dar. 
Scheinbar  ist  es  römische  Geschichte,  tatsächlich  fast  nur  Biographisches, 
jedoch  mit  völliger  Auflösung  der  biographischen  Form,  Die  moralischen 
Betrachtungen  sollen  durch  ihr  ,,sallustisch-taciteisches  Gepräge  und 
Ethos  den  Eindruck  des  großen  historischen  Stils  hervorrufen". 

Hermann  Peter,    die    geschichtliche  Literatur  usw.     2.  Band. 

S.  131  f.  und  357  f.:  Nachdem  der  Verfasser  über  das  Leben  und 
die  Anschauungen  des  Aurelius  Victor  gesprochen  hat,  betont  er, 
daß  die  Caesares  kein  Auszug  aus  einem  größeren  Werke  des  Victor 


140     Ber.  üb.  d.  Lit.  zu  später,  röm.  Geschichtsschreib.    1897—1902.  (Opitz.) 

sind,  sondern  das  Oritrinalwerk.  Namentlich  aus  der  Versleicbung  mit 
dem  Titel  M.  Ceti  Faventini  artis  architectonicae  privatis  usibus 
abbreviatus  liber  ergibt  sich,  daß  Victor  der  Verfasser  der  historiae 
abbreviatae  ist. 

Die  gleiche  Vorlage  wie  Victor  benutzten  auch  Eutropius 
und  Festus.  Ein  Namen  für  sie  hat  sich  nicht  auffinden  lassen.  Bei 
der  Wahl  des  Stoffes  haben  die  drei  Ep'tomatoren  verschiedene  Wege 
eingeschlagen,  so  daß  die  wörtliclieu  Übereinstimmungen  wenig  zahlreich 
sind.  Am  subjektivsten  ist  Victor.  Der  Verf.  bietet  zahlreiche  Zu- 
sammenstellungen. Der  Stoff  zerfällt  nach  den  benutzten  Qnelleu  iu 
drei  Abschnitte:  1.  bis  Domitian  einschließlich.  Das  Wesentliche 
stammt  aus  Suetonius ,  das  Nichtsuetonische  findet  sich  meistens  auch 
bei  Tacitus  oder  Dio.  —  2.  bis  Gordian  III.  Die  Überlieferung  trägt 
auch  hier  senatorischen  Charakter.  Manches  deutet  auf  Marius  Maximus. 
Wichtig  ist,  daß  Victor  und  Eutropius  nur  zwei  Gordiane  kennen.  — 
3.  bis  Diokletian.  Die  Quelle  beurteilte  die  Kaiser  etwa,  wie  die 
historia  Augusta  und  stellte  Diokletian  in  der  Auffassung  eines  alles 
möglichst  zum  Besten  für  ihn  wendenden  Schriftstellers  dar.  —  Auch 
im  folgenden  liegt  eine  gemeinsame  Quelle  zugrunde,  wenngleich  sich 
nicht  mehr  so  viele  Übereinstimmungen  finden.  Bei  Constantinus  und 
Constantius  gehen  Victor  und  Eutrop  auseinander. 

Wölfflin,  Epitorae.      Archiv  für  lat.  Lexikographie  XII  S.  340 
Aum. 

Da  die  Glossarien  epitome  durch  adbreviatio  oder  breviarium  er- 
klären, kann  der  Titel  der  Caesares  „historia  abbreviata"  nicht  be- 
weisen, daß  diese  ein  Auszug  sein  müßten  und  kein  Original  werk  sein 
könnten. 

Petschenig  im  Philologus  LVIII  (N.  F.  XII)  S.  154. 

Beachtenswert  ist  der  Vorschlag  Caes.  3,  8  piaedicarat  statt  des 
überlieferten  praedicaret  (vulg.  praedicavit)  zu  schreiben.  —  20,  13  ist 
die  Ergänzung  niti  ebensogut  möglich,  aber  ebenso  unsicher,  wie  die 
übrigen  vorgeschlagenen.  —  9,  8  wird  in  der  Tat  mit  0  transgressui  zu 
schreiben  sein. 

Heraeus,  Varia  X.     Rhein.  Museum  54  S.  31. 

Caes.  33,6  mimariorum  statt  vinariorum  unter  Vgl.  von  Treb. 
Pollio  Vit.  Gall.  21,  6.  —  33,  30  coniici  datur  statt  coniiciatur  (Schott 
coniicitur).     Beides  gut  ausgedacht,  aber  nicht  zwingend. 

4.    Epitome. 

Friedrich  Leo,  die  griechisch-römische  Biographie  usw. 
S.  308:     Im   ersten  Satze    der    einzelneu  Kapitel    der  Epitome 
wird  zumeist  das  genus  und  die  Begierungszeit  angegeben,  dann  folgeu 


Ber.  üb.  d.Lit.  zu  später,  röm.  Geschichtsschreib.    1897  —  1902.   (Opitz.)     141 

äie  mores,  die  jedoch  einige  Male  fast  ganz  fehlen.  Die  historischen 
Begebenheiten  kommen  erst  mit  Constantinus  zur  Geltung,  und  zwar  in 
der  suetonischen  Form.  Oft  dient  hie  oder  iste  zur  Anrciliung  der 
Notizen. 

Hermann    Peter,    die  geschichtliche  Literatur  usw.     2.  Band. 

S.  152  f.  und  360  f.:  Die  Behandlung  ist  ungleich  und  geht 
nach  gewissen  Schablonen.  Im  1.  Abschnitte  (bis  Domitianus)  begegnet 
sich  die  Epitome  „in  immer  zunehmendem  Maße"  mit  den  Caesares. 
Eine  direkte  Benutzuus  liegt  jedoch  nicht  vor,  sondern  es  ist  wohl  ein 
erweiterter  Suetoiiius  benutzt.  Im  2.  Abschnitte  (bis  Heliogabal)  und 
im  3.  Abschnitte  (bis  Diocletianus)  findet  dasselbe  Verhältnis  zu 
Entropius  statt,  wie  im  ersten  zu  Victor,  Anfang-^  sind  die  Beziehungen 
seltener,  dann  nehmen  sie  immer  mehr  zu.  Auch  hier  liegt  eine  ge- 
meinsame Quelle  zugrunde,  und  zwar  im  2.  Abschnitte  ein  auf  Marius 
Maximus  zurückgehendes  Exzerpt,  doch  ist  noch  ein  Mittelglied  anzu- 
nehmen, das  zur  historia  Angusta  in  Beziehung  steht.  Im  3.  Abschnitte 
hat  der  Vorgänger  der  Epitome  die  griechische  Tradition  sehr  heran- 
gezogen. Der  4.  Abschnitt  bietet  viel  Gemeinsames  mit  Ammianus, 
das  sich  durch  ein  gemeinsames  Mittelglied  erklärt.  —  Stark  benutzt 
ist  die  Epitome  von  Paulus  Diaconus  und  Laudolfus  Sagax. 

Pichlmayr,  L.  Norbanus  Lappius  Maximus.    Hermes  33,  S.  664 
—665. 

Epitome  11,  10  bietet  die  in  Betracht  kommende  Überlieferung 
nicht  L.  Appiura  Norbanum,  sondern  norbanum  (oder  ähnlich)  lappium. 
Der  Vei fasser  weist  den  Namen  Lappius  auch  sonst  nach  und  stellt 
für  den  betreffenden  Offizier  die  in  der  Überschrift  genannten  Namen  fest. 

Wölfflin,  die  Entwickelnng  des  infinitivus  historicus.    Archiv  für 
lateinische  Lexikographie  X  S.  178 
schlägt  Epitome  45,  6  vor    statt   pingere  venustissime,    meminisse  zn 
lesen  pingeie.  vetustissirae  meminisse. 

Derselbe,   zur  Latiuität  der  Epitome  Caesarum.     Daselbst  XII 
S.  445—453. 

Das  eigene  Latein  des  Verfassers  zeigt  sich  in  den  Schlußkapiteüi 
(40 — 4<s);  denn  hier  erzählt  er  seine  eigenen  Erlebnisse  mit  seinen 
eigenen  Worten.  Von  diesen  also  ist  bei  einer  Analyse  seines  Sprach- 
gebrauchs auszugehen.  Treten  die  in  der  genannten  Partie  beobach- 
teten Eigentümlichkeiten  auch  in  den  früheren  Teilen  der  Epitome 
hervor,  so  muß  man  annehmen,  daß  eigener  Sprachgebrauch  des  Epi- 
tomators  vorliegt,  namentlich  wenn  sich  dabei  herausstellt,  daß  die  be- 
nutzte Quelle  eine  andere  Ausdrucksweise  vorzieht.    Die  grammatische 


142     Ber.  üb.  d.Lit.  zu  später,  röm.  Geschichtsschreib.    1897—1902.   (Opitz.) 

Schulung  des  Verfassers  läßt,    trotzdem   er    in  Rom    g-elebt    zu    haben 
scheint,  zu  wünschen  übrig. 

Einzelheiten:  suus  wird  oft  hinzugesetzt,  ohne  daß  ein  Gegen- 
satz bezeichnet  werden  soll.  —  germanus  und  consanguineus  in  der  Be- 
deutung „Bruder".  —  Über  hie  und  iste  vgl.  unten.  —  propter  ist 
durch  ob  verdrängt  (gerade  wie  in  den  Caesares).  —  sub  Augusto 
und  ähnliche  Ausdrücke  finden  sich  oft.  ■ —  apud  zur  Bezeichnung  der 
Orlsruhe  ist  bei  Länder-  und  Städtenamen  häufiger,  als  in  oder  der 
Localis.  —  Beim  Komparativ  findet  sich  longe  statt  raulto,  beim  Positiv 
multum  statt  valde.  —  16  mal  wird  imperator  effectus  (efficitur)  gebraucht. 

Derselbe,  zur  Geschichte  der  Pronomina  Demonstrativa  III. 
Daselbst  XII  S.  356  f. 

In  der  Epitome  sind  die  Kaiser  bald  mit  hie  bald  mit  iste  be- 
zeichnet. Dabei  kommt  letzteres  nur  im  Nominativ  Singularis  vor. 
während  von  ersterem  alle  Kasus  gebraucht  werden.  In  der  Mittelpartie 
der  Epitome  tritt  der  Gegensatz  hie  und  is  auf.  In  den  letzten  zehn 
Kapiteln,  in  denen  der  Verfasser  auf  eigenen  Füßen  steht,  fließt  alles 
in  einander. 


•IRLtN£fl  •UCKDDUOICeitEt.AOTICN-fflCLt.SQKArT,     •CTZEniNNCn-ICNUt.C     CCt  LCTTC-VC^F  nl 


JAHRESBERICHT 

über 

die  Portschritte  der  klassischen 

Altertumswissensehaft 

begründet 

von 

Conrad   Biirsian 

herausgegeben 

von 

L.  GrVTi-litt  1111(1  TV.  Kroll. 


Hundertzweinndzwaiizigster  Band. 

Zweiunddreissigster  Jahrgang  1904. 

Dritte  Abteilang. 

ALTERTUMSWISSENSCHAFT. 


LEIPZIG  1905. 

0.    R.    REISLAND. 


Inhalts-Verzeicliiiis 

des  bundertzweiundzwanzigsten  Bandes. 

Seite 

Bericht  über  die  griecbischcu  Staatsaltertümer  für  die 

Jahre  1893(1890)— 1902   von  J.  Oehler  in  Wien   1  —  115 

Bericht  über  griechische  Geschichte  von  Tb.  Lenschaii 

in  Berlin     (1899—1902.) 116-304 

Register  über  Abteilung  I— III 305—312 

Register  der  in  Band  87 — 122  erschienenen  Berichte    313-314 


Bericht  über  die  griechischen  Staatsaltertümer  für  die 
Jahre  1893(1890)— 1902 


J.  Oehler 

in  Wien. 


Vorbemerkung. 

Nach  dem  umfassenden  Berichte  über  die  griechischen  Staatsalter- 
tümer von  J.  H.  Lipsias  im  XV.  Bande  dieser  Jahresberichte  wurde 
im  LX.  und  LXIV.  die  Fortführung  dieses  Berichtes  durch  Dr. 
C.  Schäfer  angekündigt,  erschien  aber  nicht,  und  erst  im  LXXXI.  Bande 
fand  derselbe  eine  Fortsetzung  durch  O.  Schultheß;  doch  umfaßt  dieser 
Bericht  nur  den  I.  Hauptartikel,  in  dem  eine  beschränkte  Anzahl  von 
wichtigen  Werken  besprochen  wird.  Daher  wollte  Prof.  Dr.  Valerian 
von  Schoeffer  den  Bericht  über  die  Jahre  1878—1898  erstatten,  wurde 
aber  leider  vor  der  Vollendung  der  Arbeit  vom  Tode  hingerafft  und 
hinterließ  nur  die  Einleitung  und  eine  ausführliche  Besprechung  des 
I.  Bandes  der  4.  Auflage  der  Staatsaltertümer  von  Schoemann-Lipsius. 
Durch  die  freundliche  V^ermittelung  des  Herrn  Prof.  Dr.  Lezius  in 
Kiew  erhielt  der  Unterzeichnete  das  Manuskript,  das  im  folgenden 
unter  Anführungszeichen  abgedruckt  wird.  Als  dem  Unterzeichneten 
im  Juli  1900  noch  in  Krems  der  ehrenvolle  Antrag  gestellt  wurde, 
den  Bericht  von  1894  bis  1900  zu  ergänzen,  verhehlte  er  sich  nicht 
die  Schwierigkeit  dieser  Aufgabe:  ist  doch  gerade  die  letzte  Zeit  so 
reich  an  Quellen,  Funden  und  Einzelforschungen  und  ist  in  einer 
kleinen  Landstadt  die  Beschaffung  der  Literatur  ungemein  schwierig 
und  die  Zeit  zur  wissenschaftlichen  Arbeit  bei  der  anstrengenden  beruf- 
lichen Tätigkeit  eine  sehr  beschränkte.  Das  Interesse  für  die  Sache 
aber  bewog  ihn,  zunächst  für  diese  Zeit  als  Lückenbüßer  einzutreten, 
am  dann  von  drei  zu  drei  Jahren  regelmäßige  Berichte  folgen  zu  lassen. 
Um  möglichste  Vollständigkeit  zu  erzielen,  erlaubt  er  sich,  an  alle 
Fachgenossen  die  Bitte  zu  richten,  ihm  durch  direkte  Zusendung  ihrer 
Arbeiten  über  griechische  Staatsaltertümer  (Wien  IX.  Schubertgasse  10) 
seine  Arbeit  gütigst  erleicbtern  zu  wollen  und  diesen  ersten  Bericht 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.    III.)     J 


2    Bericht  üb  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)-  190-2.  ( J.  Oehler.) 

mit  Nachsicht  aufzunehmen.  Absolute  Vollständigkeit  konnte  nicht 
erstrebt  werden,  da  sie  doch  nicht  zu  erreichen  war.  Aus  gewichtigen 
Gründen  sah  sich  Eef,  veranlaßt,  auf  die  Literatur  bis  1890  zurück- 
zugreifen. Was  die  befolgten  Grundsätze  anbelangt,  so  sind  Rezensionen 
soweit  als  möglich  herangezogen  und  benutzt,  wenn  auch  nicht  aus- 
drücklich angeführt.  „Nur  in  den  leider  nicht  ganz  seltenen  Fällen, 
wo  eine  [durch  ein  Sternchen  bezeichnete]  Arbeit  dem  E.ef.  nicht  zur 
eigenen  Prüfung  vorlag,  soll  die  Rezension  wiedergegeben  werden.  Es 
mußte  eine  strenge  Auswahl  unter  den  selbständigen,  das  Gebiet  der 
Staatsaltertüraer  berührenden  Arbeiten  getroffen  werden:  ausgeschieden 
wurden  vor  allem  solche,  die  auch  andere  Fächer  der  Altertumswissen- 
schaft interessieren  und  demgemäß  daselbst  besprochen  oder  zu  be- 
sprechen sind.  Dies  bezieht  sich  besonders  auf  den  Abschnitt  der 
Quellenkunde,  da  die  einschlägigen  Werke  entweder  unter  die  einzelnen 
Autoren  (namentlich  Piaton  und  Aristoteles)  oder  unter  die  Epigraphik 
oder  Papyrusliteratur  fallen.  Weiter  ausgeschieden  wuiden  im  Prinzip 
die  großen  Geschichtswerke;  nur  ausnahmsweise  ist  bei  Behandlung 
besonders  wichtiger  Fragen  auch  auf  diese  Werke  Bezug  genommen, 
aber  ohne  Konsequenz  und  in  knappster  Form.  Es  sind  auch  solche 
Werke  ausgeschlossen  worden,  welche  die  hellenischen  Institutionen  in 
einem  größeren,  meist  vergleichend  historischeu  Zusammenhange  be- 
ti-achten.  Nicht  sowohl  ausgeschlossen,  als  nicht  in  unser  Gebiet  fallend 
sind  diejenigen  Werke,  die  im  Rahmen  der  Kulturgeschichte  des  helle- 
nischen Volkes  auch  die  wichtigeren  staatsrechtlichen  Fragen  behandeln." 
Die  Anordnung  schließt  sich  im  wesentlichen  an  die  2.  Auflage  von 
Busolts  Staats-  undllechtsaltertümer  an  und  umfaßt  folgende  „Hauptartikel 
mit  kurzen  erläuternden  Bemerkungen :  I,  Handbücher.  IL  Arbeiten  über 
die  Grundlagen  des  hellenischen  Staates  (worunter  sowohl  die  allgemeinen 
Normen  des  Personenrechtes,  der  Geschlechtsorduung,  der  Vertussungs- 
formen  wie  auch  die  sozialen  Bestrebungen  des  griechischen  Altertums 
eingeschlossen  sind).  III.  Arbeiten  über  den  homerischen  Staat. 
IV.  Sparta.  V.  Kreta.  VI.  Athen  (nach  der  Gliederung:  1.  Verfassungs- 
geschichte.  2.  Verfassung:  a)  Bürgerschaft  und  die  anderen  Einwohner- 
klassen, b)  Beamte,  c)  Ratsversammlungen,  d)  Volksversammlungen. 
3.  Verwaltung).  VH.  Die  kleinen  Staaten  (nach  der  Einteilung:  Pe- 
loponnesos,  Nordgriechenland,  Inseln,  Kleinasien).  VIII.  Amphiktyonien 
und  Bünde,  Mutterstadt  u.  Kolonie.  IX.  Völkerrechtliche  lustituiioneu. 
Nicht  überflüssig  wird  es  sein,  sich  darüber  zu  verständigen, 
weshalb  dieser  Bericht  nach  wie  vor  über  die  griechischen  Staatsalter- 
tümer benannt  ist  trotz  des  heftigen  Protestes  verschiedener  Forscher 
gegen  diesen  terminus  techuicus."  Schoeffer  und  Toepffer  haben  Vor- 
lesungen   über   griechisches    Staatsrecht   gebalten;    „es    ist    also    kein 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler.l    3 

gedankenloses  Haften  an  der  Tradition,  welches  die  alte  Bezeichnung- 
beibehalten ließ,  sondern  weil  ein  griechisches  Staatsrecht  vorläufig: 
noch  ein  Postulat  der  Zukunft  ist"  (s.  Thumser,  Aufgaben  eines  zu- 
künftigen griechischen  Staatsrechtes  Xenia  Austriaca  T,  257 — 271) 
„und  kein  Gesetz  rückwirkende  Kraft  haben  darf,  da  sonst  manche 
wertvolle  Abhandlung  bei  strenger  Anwendung  des  besagten  Begriffes 
ans  dem  Berichte  herausfallen  würde,  ohne  Unterkunft  in  einem  anderen 
zu  finden."  Schoeffer  hat  die  Eechtsaltertümer  getrennt;  Ref.  hat  sich 
dagegen  entschlossen,  wenigstens  die  entsprechende  Literatur  anzuführen, 
da  einige  Teile  des  Privatrechtes,  wie  besonders  das  Familien-  uml 
Erbrecht,  zu  dem  hellenischen  Staatsrechte  in  viel  engerer  Verbindung 
stehen,  als  dies  im  modernen  Staate  der  Fall  ist,  und  sich  nicht  leicht 
von  ihm  loslösen  lassen. 

I.  Handbücherc 

„Dieser  Abschnitt  hat  dadurch  eine  Verkürzung  erfahren,  daß  die 
meisten  einschlägigen  Werke  schon  in  dem  erwähnten  Berichte  von 
Schultheß  besprochen  wurden,  es  sich  also  nur  um  eine  Ergänzung 
handelt.  Es  ist  hier  eigentlich  nur  ein  Werk  anzuführen,  aber  eines 
von  kapitalem  Wert: 

1.  Schoemann,  Griechische  Altertümer.    4,  Aufl.  neu  bearb.  v. 
H.  J.  Lipsius.     Bd.  I.     Das  Staatswesen.     Berlin    1897. 

Der  bewährte  Meister,  welcher  schon  für  seine  Neubearbeitung 
von  Schoemann-Meiers  'Alttischem  Prozeß'  sich  die  Anerkennung  und 
den  Dank  aller  Altertumsforscher  gesichert  hat,  unternahm  es  gleich 
nach  Bewältigung  jener  Aufgabe,  dieselbe  Sorge  dem  anderen  hervor- 
ragendsten Werke  Schoemanns,  seinen  'Altertümern",  angedeihen  zu 
lassen ,  von  denen  jetzt  nach  einer  Arbeitsunterbrechung  von  zirka 
6  Jahren  der  erste  Band,  das  Staatswesen  betreffend,  uns  vorliegt.  Man 
kann  über  den  prinzipiellen  Wert  solcher  Überarbeitungen  veralteter 
Standart-Works  verschiedener  Meinung  sein  und  Eef.  steht  nicht  an,  zu 
erklären,  daß  er  persönlich  es  vorgezogen  hätte,  ein  vollständig  lieues 
Werk  über  griechisches  Staatsrecht  nach  dem  entsprechend  abgeänderten 
Plane  zu  besitzen  (mit  Erweiterungen,  z.  B.  in  betreff'  der  Quellen, 
der  antiken  Staatslehre  speziell  des  Aristoteles,  von  der  jede  neue  Be- 
handlung ausgeben  sollte,  der  kleineren  hellenischen  Staaten,  aber  auch 
mit  Streichung  alles  desjenigen,  was  eher  in  eine  Kulturgeschichte,  denn 
in  ein  Handbuch  des  Staatsrechtes  pal.it  —  an  solchen  Exkursen  ist 
im  Schoemannschen  Buche  kein  Mangel  - —  und  überhaupt  mit  viel- 
fachen, sehr  wünschenswerten  Änderungen).  Aber  darüber  läßt  sich 
mit    dem  Verfasser    nicht   rechten,    man  darf  nur  Stellung  nehmen  zu 


4    Bericht  üb.  d.  griech.  Staats  altertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler) 

der  Methode,  nach  der  die  Neubearbeitung  durchgeführt  ist.  Und  in 
dieser  Beziehung?  verdient  das  vorliegende  Werk  unzweifelhaft  den 
Vorzug  nicht  nur  vor  der  Fränkelschen  Ausgabe  der  Boeckhschen 
Staatshaushaltung,  sondern  auch  vor  desselben  Verfassers  Neuauflage 
des  attischen  Prozesses. 

Um  sich  eine  genaue  Vorstellung  von  Umfang  und  Methode  der 
Neubearbeitung  zu  bilden,  sah  sich  Ref.  gezwungen,  dieselbe  mit  der 
vorhergehenden  Auflage  von  1871  (die  erste  gehört  dem  Jahre  1855 
an)  nicht  nur  Seite  für  Seite ,  sondern  Zeile  für  Zeile  zu  vergleichen. 
Man  kann  nicht  umhin,  dem  Herausgeber  nicht  nur  die  vollste  An- 
erkennung, sondern  Bewunderung  zu  zollen  für  die  peinliche  Sorgfalt 
und  staunenswerte  Geduld,  mit  der  er  sich  seiner  Aufgabe  unterzogen 
hat.  Wie  er  am  ursprünglichen  Plane  des  Buches  bis  auf  die  Kapitel- 
überschriften festgehalten  hat  (nur  ,die  Verfassungsänderungen  vor 
Solon'  sind  durch  ,die  drakontische  Verfassung'  ersetzt) ,  so  ist  auch 
innerhalb  der  einzelnen  Abschnitte  der  frühere  Inhalt  und  die  frühere 
Form  soweit  irgend  möglich  gewahrt  worden,  dabei  aber  überall  das 
in  mehr  als  einem  Vierteljahrhuudert  stark  bereicherte  Quellenmaterial 
(Inschriften,  Aristoteles'  'At^rjv.  ttoX.  ,  die  neugefundenen  Reden  des 
Hypereides)  wie  die  in  demselben  Maße  angewachsene  wissenschaftliche 
Literatur  durchgehend  ausgenutzt  und  ihre  Resultate  in  den  früheren 
Rahmen  hineingearbeitet  worden.  —  Diesem  Urteil  können  gewisse 
kleine  Unebenheiten,  ja  sogar  etliche  Widersprüche,  die  sich  aus  bis- 
weilen zu  weit  getriebenem  Konservatismus  erklären,  keinen  Abbruch 
tun.  So  liest  man  auf  Seite  127:  ,Die  hellenischen  Stämme  wohnten 
in  Komen,  d.  h.  in  kleinen  Ortschaften,  die  mit  gleicher  Selbständigkeit 
nebeneinander  bestanden,  ohne  einen  Zentralpunkt',  was,  in  dieser 
Allgemeinheit  gesagt,  nicht  richtig  ist,  auch  auf  der  foli; enden  Seite 
widerrufen  wird,  wo  , zweierlei  Arten  von  Komen'  angenommen  werden, 
solche,  die  sich  als  untergeordnete  Glieder  eines  größeren  Staatskörpers 
mit  einer  Hauptstadt  als  Zentralpunkt  verhalten,  nnd  zweitens  solche, 
die  ohne  eigentlichen  Staatsverband  bestehen,  vielmehr  in  selbständiger 
UnVerbundenheit  verharren"  —  der  Widerspruch  erklärt  sich  dadurch, 
(laß  in  der  früheren  Auflage  der  erste  Satz  sich  nicht  auf  „die 
liellenischen  Stämme"  überhaupt,  sondern  nur  auf  Völkerschaften 
Arkadiens  bezog.  Solcher  Unebenheiten  oder  "Widerspräche  sind 
übrigens  nur  eine  verschwindend  geringe  Anzahl  und  zwar  ausschließ- 
lich in  der  ersten  Hälfte  des  Buches;  dieselbe  ist,  wie  gesagt,  6  Jahre 
vor  Abschluß  der  zweiten  gedruckt  worden  und  es  scheint  hier  der 
Herausgeber  seiner  Vorlage  etwas  ultrakonservativ  gegenübergestanden 
zu  sein,  während  die  weiteren  Abschnitte  über  Kreta  und  Athen  ihn 
notwendigerweise  zu  einer  etwas  freieren  Behandlung  drängen  mußten. 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.   (J.  Oehler.)    5 

Das  Verhältnis  des  Herausgebers  zu  dieser  Hälfte  des  Werkes  ist 
innerlicher  geworden,  der  ersteren  stand  er  gewissermaßen  als  Fremder 
gegenüber.  Trotzdem  bietet  auch  dieser  Teil  eine  stattliche  Anzahl 
von  Änderungen.  Auch  in  der  „speziellen  Darstellung  der  Hauptstaaten'- 
bot  das  dem  spartanischen  gewidmete  Kapitel  verhältnismäßig  wenig 
Anlaß  zu  Änderungen.  Die  am  tiefsten  einschneidende  Überarbeitung, 
die  größten  Zusätze,  die  umfassendsten  Besserungen  mußten  natürlich 
Kreta,  in  noch  höherem  Grade  aber  Athen  zuteil  werden.  Dieselbe, 
ja  vielleicht  noch  größere  Sorgfalt  wie  dem  Texte  hat  der  Herausgeber 
den  Anmerkungen  gewidmet.  Der  ursprüngliche  Charakter  derselben 
ist  streng  bewahrt  worden,  nach  wie  vor  sind  sie  nicht  dazu  bestimmt, 
das  Quellenmaterial  vollständig  zu  liefern,  sondern  nur  dem  Leser  die 
bedeutendsten  Belegstellen  an  die  Hand  zu  geben.  Dies  war  vielleicht 
der  schwierigste  Teil  der  Arbeit  und  von  der  darauf  verwandten  Zeit 
und  Mühe  läßt  sich  kaum  noch  eine  Vorstellung  bilden.  Dieser  Teil 
der  Arbeit  ist  an  peinlicher  Sorgfalt  unübertrefflich,  bedauern  könnte 
man  allenfalls,  daß  nicht  die  wichtigsten  Belegstellen  im  Wortlaut  an- 
geführt seien,  was  gerade  bei  einem  für  weitere  Leserkreise  bestimmten 
Buche  sehr  passend  gewesen  wäre." 

2.  Schoemann,  Griechische  Altertümer.  4.  Auflage.  Neu 
bearbeitet  von  J.  H.  Lipsius.  2.  Band:  Die  internationalen  Ver- 
hältnisse und  das  Eeligionswesen.     Berlin  1902. 

Da  der  zweite  Band,  wie  der  Herausgeber  selbst  in  der  Vorrede 
erklärt,  nach  denselben  Grundsätzen  bearbeitet  ist  wie  der  erste,  sah 
Ret  sich  genötigt,  das  Buch  Seite  für  Seite  durchzusehen,  um  die 
Arbeit  der  Herausgeber  zu  erkennen  und  zu  würdigen.  Äußerlich  hat 
die  4.  Aufl.  gegenüber  der  im  Jahre  1873  erschieneneu  3.  eine  Ver- 
mehrung von  30  S.  Text  erfahren;  man  könnte  sich  darüber  wundern, 
wenn  man  erwägt,  was  der  Zeitraum  von  30  Jahren  an  Fanden  und 
Ergebnissen  geliefert  hat.  Doch  das  Buch  wird  nicht  als  eine  er- 
weiterte, sondern  eine  neue  Bearbeitung  mit  Recht  bezeichnet: 
tatsächlich  sind  einzelne  Teile  vollständig  neu  gearbeitet  auf  Grund 
des  neuen,  besonders  des  epigraphischen  Materials  Lipsius  und 
Bischoff  (dieser  hat  die  Kapitel:  Priester  und  andere  Kultusbeamte, 
Staatskulte  und  Feste  bearbeitet)  waren  bestrebt,  unter  Wahrung  des 
alten  wertvollen  Grundstockes  das  Buch  auf  die  Höhe  der  Zeit  zu 
bringen,  so  daß  auch  der  2.  Band  als  ein  im  wesentlichen  neues  Buch 
bezeichnet  werden  kann.  Zu  dem  bewährten  Grundstock  gehören  aber 
nicht  die  Bemerkungen  S.  453  f.  über  Beichtstuhl  usw.,  die  Ref.  daher 
lieber  missen  würde-,  was  sollen  diese  zum  Verständnis  der  griechischen 
Altertümer  beitragen  ? 


C,    Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler.) 

Ref.  hat  nicht  das  ganze  Buch  zu  besprechen,  sondern  nur  die 
Abschnitte,  die  sich  auf  den  Staat  beziehen,  und  hat  S.  1 — 284,  dann 
419  —  607  durchgesehen.  Mit  Anerkennung  ist  es  zu  bemerken,  daß 
die  Literaturangaben  ergänzt  und  die  neuesten  Erscheinungen  nachge- 
tragen sind;  ältere  Werke  werden  nur  selten  zitiert,  eine  Beschränkung, 
die  nur  zu  billigen  ist;  hier  können  nur  die  wichtigsten  Änderungen 
hervorgehoben  werden. 

K.  IV.  Die  internationalen  Verhältnisse.  Neu  eingefügt  ist 
S.  6  und  7  das  Verfahren  bei  internationalen  Rechtshändeln.  S.  21  wird 
die  unrichtige  Erklärung  Schoemanns  über  i/öpoc  berichtigt;  es  hätte 
dabei  auch  auf  das  Institut  der  ^svooixat  in  manchen  Staaten  hinge- 
wiesen werden  können.  S.  25  f.  wird  eine  klare  Darstellung  des 
Wesens  der  Trpoievta  gegeben.  S.  28  f.  werden  Beispiele  für  Verträge 
angeführt,  die  Begriffe  hoxilv.i  und  boiroAitsia  präzisiert.  —  S.  31  er- 
fahren wir  die  Bezeichnung  \\\).(fiy.vjowz;  Aörjvaicuv  für  die  delische 
Amphiktyonie.  Eine  wesentlich  neue  Darstellung  fand  die  delphische 
Amphiktyonie  S.  33 — 44,  manche  Berichtigung  die  Darstellung  über 
das  delphische  Orakel  S.  44 — 53,  wobei  der  Einfluß  des  Orakels  auf 
Koloniegründungen,  die  Ausbreitung  des  Heroenkultus  hervorgehoben 
und  eine  richtigere  Darstellung  der  Verfassung  und  Verwaltung 
von  Delphi  gegeben  wird  (S.  51  f.).  —  In  dem  Abschnitte  ,,Die 
Nationalfeste**  kam  die  bessernde  Hand  besonders  den  Olympien  zu 
gute.  S.  55  ist  das  Wesen  der  i/sysipta  genauer  angegeben,  S.  58  die 
Zeit  des  Festes  berichtigt,  S.  59  ausführlicher  über  die  regelmäßigen 
monatlichen  Opfer  und  den  dabei  tätigen  Personen  gehandelt.  Was  die 
Wettkämpfe  selbst  anbelangt-,  so  sind  eine  Reihe  von  Verbesserungen 
aufgenommen ,  die  nicht  einzeln  angeführt  werden  können.  Größere 
Änderungen  hat  der  Abschnitt  über  die  landschaftlichen  Staatenvereine 
aufzuweisen.  S.  80  wird  hingewiesen  auf  die  Bedeutung  der  Staram- 
verwandtschaft.  über  die  Arkauanen  einzelnes  berichtigt,  neu  behandelt 
sind  S.  81  f.  die  Lokrer,  Phoker  und  Dorer.  Die  Thessaler  und 
Boioter  erfahren  austührlichere  Darstellung,  entsprechend  den  ge- 
wonnenen Kenntnissen,  die  auch  für  die  Arkader  viel  Neues  ergeben 
haben.  Der  Abschnitt  über  die  Kolonialverhältnisse  S.  92 — 101  hätte 
eine  durchgreifendere  Veränderung  verdient;  es  hätte  sich  eine  Gliederung 
nach  Perioden  empfohlen;  mit  Recht  ist  hinzugefügt,  daß  auch 
militärische  Interessen  Veranlassung  zur  Koloniegründung  gaben,  daß 
die  in  eine  schon  bestehende  Ansiedelung  zugesandten  Ansiedler  sTtoixot 
lieißen  und  daß  als  eine  Art  d-oixiai  auch  die  Genossenschaft  der  dionysischen 
Künstler  sowie  die  landsmannschaftlichen  Vereinigungen  der  Ausländer 
in  den  griechischen  Städten  zu  betrachten  sind.  Nicht  genug  scheint 
aber  hervorgehoben,    daß    iu    den    eigentlichen    Kolonien    ein    eigenes 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)  — 190-2.    (J.  Oehler.)    7 

Bürgerrecht  begründet  wurde:  vgl.  Oehler,  'xA 7:01x1a  bei  Panly-Wissowa 
I  2823—2836. 

Größere  Änderungen  weisen  ferner  die  Abschnitte  über  die 
athenische  Syniraachie  und  den  ätolischen  und  achäischen  Bund  auf, 
die  aber  passender  unter  Artikel  VIII  besprochen  werden.  In  dem 
Abschnitte:  Allgemeine  Charakteristik  der  griechischen  Religion  habe 
ich  nur  wenige  Änderungen  bemerkt.  S.  136  ist  die  Bemerkung  mit 
Recht  aufgenommen,  daß  die  ursprüngliche  Naturbedeutung  der  Götter 
nur  vereinzelt  bei  Homer  hervortrete.  S.  148  ist  die  Erklärung  hin- 
zugefügt, daß  zur  Ausübung  des  Herrscheramtes  Liebe  zu  den  Unter- 
gegebenen gehört  und  die  Frommen  gottgeliebt  heißen.  S.  156  ist 
genauer  gesprochen  über  den  Glauben  an  Dämonen  als  Schutzgeister 
der  einzelnen  Menschen,  162  der  Grund  für  Einholung  der  Gebeine 
eines  Heros  angegeben,  weil  die  Wirksamkeit  eines  Heros  zunächst  an 
die  Stätte  seines  Grabes  gebunden  ist.  Im  Abschnitte  „Verhalten  des 
Staates  zum  Kulte"  ist  S.  170  f.  richtig  das  Verhalten  des  Staates  gegen 
fremde  Kulte  besprochen  und  richtig  S.  171  hinzugefügt:  die  Zu- 
stimmung von  Rat  und  Volk  zur  Errichtung  von  Tempeln  der  Isis  und 
kyprischen  Aphrodite  war  nur  darum  notwendig,  weil  ohne  solche  der 
erforderliche  Grundbesitz  nicht  erworben  werden  konnte.  Es  ist  also 
von  einer  staatlichen  Autorisation  zur  Ausübung  eines  fremden  Kultus 
nicht  die  Rede.  S.  174  ist  manches  über  die  Aufnahme  neuer  Kulte 
geändert.  Was  den  Kultus  als  Idololatrie  betrifft,  möchte  Ref.  nur 
bemerken,  daß  er  die  Ansicht  Reicheis:  Vorhellen.  Götterkulte,  gegen 
welche  S.  185,  Anm.  6  gerichtet  ist,  für  richtig  hält;  lesen  wir  auch 
bei  Schoem.-Lips.  S.  180:  Es  gab  eine  Zeit,  wo  man  keine  Bilder 
hatte  .  .  . :  die  Göttin  haben  sich  die  Trojanerinnen  auf  dem  Throne 
sitzend  gedacht  und  so  konnten  sie  auch  den  Peplos  über  ihre  Knie, 
eigentlich  auf  den  Thron  legen.  In  dem  Abschnitte  über  Kultlokale 
ist  zu  beachten  S.  194  die  berichtigte  Beschreibung  des  Altares  und 
seiner  Form  und  die  Bemerkung  S.  205,  daß,  wenn  ein  Tempel  aus 
irgend  einem  Grunde  dem  Bedürfnis  nicht  genügte,  ein  neuer  neben 
ihm  für  denselben  Gott  errichtet  ward.  Neben  den  angegebenen  Bei- 
spiele wäre  auch  der  Parthenon  zu  nennen,  der  neben  den  alten  Athena- 
tempel  trat.  —  S.  207  ist  der  Hypäthraltempel  richtig  erklärt  und  die 
Ausführung  über  die  Nebenteile  berichtigt :  der  Tempel  entwickelte  sich  aus 
der  einfachsten  Form,  in  der  er  die  Gestalt  des  altgriechischen  Herrscher- 
hauses hatte,  durch  zwei  Erweiterungen,  durch  die  Anfügung  einer 
Hinterhalle  und  durch  die  Schaffung  eines  Hallenumgangs.  Eine  ein- 
gehende Umarbeitung  haben  die  Abschnitte  über  ,,die  Priester  und  andere 
Knltusbeamte'  und  „Staatskulte  und  Feste"  durch  Bischoff  erfahren; 
er  spricht  über:    Verwaltung  der  Tempelschätze  unter  Staatskontrolle, 


8    Bericht  üb.  d,  griecb.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler.) 

^m|j.r^vtoi  und  vstuTCoiot,  Verwendung  des  Loses  bei  der  Besetzung 
der  Priest ertümer,  Verkauf  des  Priesterarates,  Leiturgien  der  Priester, 
Befreiung  der  Priester  vom  Kriegsdienste  und  Aratsdauer,  Einweihungs- 
feierlichkeiteu ,  jtecpavo;  für  isposuvr],  ospixaTixov,  Die  zahlreichen 
UmarbeitnngeD  in  dem  Abschnitte  über  Staatskulte  und  Feste  können 
hier  nicht  einmal  aufgezählt  werden :  er  ist  fast  als  völlig  neu  ge- 
arbeitet zu  bezeichnen.  Völlig  neu  gearbeitet  erscheint  auch  der  Ab- 
schnitt über  die  Kultgenossenschaften.  Festgehalten  ist,  daß  alle  Ver- 
eine wenigstens  äußerlich  Kultvereine  waren  und  einen  Schutzgott  ver- 
ehrten und  in  diesem  Sinne  die  Bezeichnung  Thiasoten  im  allge- 
meinen berechtigt  ist.  Daß  die  Innungen  durch  den  Einfluß  römischer 
Sitte  hervorgerufen  sind  (S.  572),  möchte  Eef.  nicht  gelten  lassen. 
Wenn  nach  S.  573  Otaffo?  und  (^p^euivs?  als  offizielle  Bezeichnungen  zu- 
nächst von  solchen  privaten  Kultgenossenschaften  in  Anspruch  genommen 
werden  durften,  die  der  einen  oder  andern  Gottheit  des  Staatskultus 
noch  besondere  Verehrung  widmeten,  durfte  nicht  von  Orgeonen  der 
phrygischen  Göttermutter  gesprochen  werden;  S.  172  ist  ja  mit  Eecht 
unterschieden  worden  zwischen  dem  Dienste  der  Göttermutter  und  dem  der 
phiygischen  Kybele.  Im  Peiraelus  finden  sich  Orgeonen,  aber  auch  Thiasoten 
der  Göttermutter,  wie  schon  Ziebarth  bemerkie;  diese  Orgeonen  waren  ein 
Verein  von  Bürgern,  ähnlich  den  Orgeonen  des  Dionysos,  die  Thiasoten 
umfaßten  Bürger  und  Fremde.  Ref.  wird  an  anderer  Stelle  das  Nähere 
darüber  ausführen.  Die  soziale  und  ökonomische  Bedeutung  dieser 
Kultgenossenschaften  erscheint  noch  immer  nicht  genug  hervorgehoben. 
Daß  der  Abschnitt  über  die  Kulte  der  Phratrien  und  Geschlechte 
manche  Verbesserung  erfahren,  ist  selbstverständlich.  Nicht  unwahr- 
scheinlich erscheint  dem  Ref.  die  von  Stengel  BphW  1902,  778  f.  gegebene 
Erklärung  zu  S.  576  über  [xeiov:  es  bezeichnet  wohl  dasOpfer  für  die  ixetovsc, 
d.  h.  für  die  in  geringerem  Alter  stehenden  Personen.  Hinzugefügt  ist 
S.  578  die  Austührung  über  den  Kultus  des  Apollon  7:a-:pt«o;,  der  ur- 
sprünglich auf  die  adeligen  Geschlechter  beschränkt  war,  dann  aber  auf 
alle  Bürger  ausgedehnt  wurde. 

In  dem  Abschnitte  über  den  häuslichen  Kultus  war  wenig  zu 
ändern.  Größere  Veränderungen  erfuhr  der  letzte  Abschnitt:  Begräbnis- 
und  Totenkult. 

2.   Arbeiten  über   die  Grundlagen  des  hellenischen  Staates 

(worunter  sowohl  die  allgemeinen  Normen  des  Personenrechtes,  der  Ge- 
schlechtsordnung, der  Verfassungsformen  wie  auch  die  sozialen  Be- 
strebungen des  griechischen  Altertums  eingeschlossen  sind). 

Über  die  Stellung  der  Beisassen  in  den  griechischen  Städten  außer 
Athen  handelt: 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d  J.  1S93(1S90)-1902    (J.  Oehler.;    9 

3.  M.  Clerc,  Condition  des  etrangers  domicilies  dans  les  diflförentes 
cit6s  grecques  iu  Revue  des  uuiversites  du  Midi,  tom,  IV  (1898) 
1—32;   153—180;  249—275. 

Der  Verf.  gibt  zunächst  eine  Liste  der  Städte,  in  denen  Bei- 
sassen erwähnt  werden:  es  sind  70  Städte,  für  welche  vom  V.  Jahrh. 
V,  Chr.  bis  in  die  römische  Zeit  Zeugnisse  angeführt  werden.  Die  Bei- 
sassen bildeten  eine  besondere  Klasse  der  Bevölkerung,  waren  durch 
Vermittelung  eines  TrpoaTotTr^c  in  ein  Register  verzeichnet,  hatten  ein 
[xsToty-iov  '^u  zahlen  und  bestimmte  Leistungen  (Leiturgien)  zu  über- 
nehmen. Als  Auszeichnung  erhielten  sie  7^?  -/.al  oixia?  l'YxxYjats,  Iso-Hv.t. 
und  oLTzltioi.  Zu  den  Kulten  der  Stadt  waren  sie  zugelassen.  Clerc 
wirft  auch  die  Frage  auf,  ob  die  ionischen  Städte  wirklich  mehr  als 
die  dorischen  und  aiolischen  die  Niederlassung  der  Fremden  begünstigten 
und  ob  für  die  Stellung  der  Beisassen  die  Verfassungsform  eine  Be- 
deutung hatte.  Er  zeigt,  daß  unter  den  von  ihm  angeführten  Städten 
15  ionische,  23  aiolische  und  30  dorische  sind  und  von  31  Städten, 
deren  Verfassung  wir  kennen,  14  aristokratische  und  17  demokratische 
Verfassung  hatten.  Es  ergibt  sich,  daß  nicht  die  Politik,  sondern 
ökonomische  Interessen  ausschlaggebend  waren:  die  Beisassen  hatten 
als  Kaufleute,  Großhändler  und  Kapitalisten  große  Bedeutung  besonders 
in  Handels-  und  Industrieorten.  Von  den  70  Städten  sind  40  Hafen- 
orte, von  den  anderen  sind  die  meisten  stark  bevölkerte  und  bedeutende 
Orte,  die  auch  iu  ökonomischer  Beziehung  lür  die  ganze  Gegend  von 
Bedeutung  waren.  Gerade  dieser  letzte  Hinweis  ist  nach  des  Ref.  An- 
sicht der  Hauptweit  der  Abhandlung  Clercs.  Von  diesem  Gesichts- 
punkte aus  werden  auch  die  vielfachen  Vereinsbildungen  der  Fremden 
iii  den  griechischen  Städten  zu  betrachten  sein. 

Bürger    und  Bürgerrecht   finden    eine    ausführliche  Behandlung  iu 

4.  E.  Szanto,  Das  griechische  Bürgerrecht.   Freiburg  i.  B.  1892, 
Dieses  durch    gründliche  Quellenkenntnis    und  Vertiefung  in  die 

sich  aufdrängenden  Fragen  ausgezeichnete  Buch  bezeichnet  der  Ver- 
fasser als  Vorarbeit  zu  einem  griechischen  Staatsrecht;  es  ist  ihm  auch 
gelungen,  die  nur  vereinzelten  Tatsachen  zu  einem  System  zu  ver- 
knüpfen und  einen  wichtigen  Teil  des  griechischen  Staatsrechtes  zu 
rekonstruieren.  Aus  der  Beantwortung  der  Frage:  „Was  ist  der 
Bürger?"  ergibt  sich  ja  auch  die  Antwort  auf  die  Frage:  „Was  ist 
der  Staat  .''*  In  der  Einleitung  wird  der  Begriff  des  Bürgerrechtes 
untersucht,  als  entscheidendes  Merkmal  desselben  das  Recht  der  Teil- 
nahme au  der  apy/j,  der  Regierungsgewalt,  hingestellt  und  zwischen 
„Vcllbürgern''  und  „Bürgern  minderen  Rechtes*  unterschieden.  Natür- 
lich   änderte    sich    der  Begriff  „Bürger"    zu    verschiedenen  Zeiten:    in 


10  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)  -1902.   (J.  Oehler.) 

der  ältesten  Zeit  war  die  Kultgenossenscbaft  das  wesentliche  Moment, 
in  der  historischen  Zeit  darf  der  sakrale  Faktor  nicht  mehr  in  den 
Vordergrnnd  gerückt  werden.  Das  Bürgerrecht  ist  ein  gentilizisches, 
wird  also  zunächst  durch  die  Abstammung  von  Bürgern  erworben. 
Fremde  erhalten  es  durch  Schenkung;  darüber  bandelt  der  I.  Teil: 
„Der  Verleihung  des  Bürgerrechtes".  Motive  für  die  Bürgerrechtsver- 
leihung waren  entweder  cüvota  und  dv6pa7aöia,  das  Verdienst  des  Fremden 
um  den  Staat,  oder  o^.YavOpwTiia,  der  Mangel  an  Bürgern  in  dem  ver- 
leihenden Staate,  das  letztere  kommt  bei  der  Verleihung  des  Bürger- 
rechtes an  ganze  Massen  in  Betracht.  Das  verliehene  Bürgerrecht,  für 
Avelches  sich  im  Ilrkundestil  seit  dem  letzten  Drittel  des  V.  Jahrb. 
das  Abstraktum  -oXireta  findet,  war  immer  ein  vollwertiges;  der  Neu- 
bürger erhält  Anteil  an  der  ap-/7j,  wenn  auch  manchmal  mit  gewissen 
Beschränkungen,  und  wird,  sei  es  nach  freier  "Wahl,  sei  es  durch  das 
Los,  in  die  staatlichen  Unterabteilungen  eingereiht  sowie  durch  das 
Ethnikon  bezeichnet.  Dankenswert  ist  die  klare  Darstellung  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Proxenie  und  Politie,  die  nicht  selten  in  demselben 
Volksbeschlusse  verliehen  werden:  das  verliehene  Bürgerrecht  war  meist 
ein  Ehrenbürgerrecht,  wurde  von  dem  Geehrten  selten  faktisch  ausge- 
übt, daher  wurde  als  persönliche  Auszeichnung  die  Proxenie  mit  den 
daran  geknüpften  Rechten  zugleich  verliehen.  Dieser  Grund  ist  wohl 
auch  für  die  Kumulierung  von  Bürgerrechten  in  einer  Person  anzu- 
nehmen. Das  verliehene  Bürgerrecht  war  ein  erbliches:  mit  dem  Vater 
wurden  zugleich  auch  die  minderjährigen  Kinder  in  das  Bürgerrecht 
aufgenommen,  während  für  großjährige  eine  besondere  Verleihung  nötig 
war.  Die  Verleihung  des  Bürgerrechtes  erfolgte  durch  einen  Akt  der 
souveränen  Gew-alt;  gegen  den  Verf.  möchte  Ref.  mit  ThumserBphW  1892, 
1270  f.  die  Verleihung  des  Bürgerrechtes  als  \6iioi  i-'  dvopi  gelten  lassen. 
Die  Formel  der  Verleihung  war  nach  Zeit  und  Ort  verschieden  und 
Verf.  hat  dem  Urkundenstile  die  gebührende  Aufmerksamkeit  zuge- 
wendet. Mit  Szanto  und  Swoboda  glaubt  Ref.,  daß  in  Jasos  und 
Mylilene  bei  der  Verleihung  des  Bürgerrechtes  nicht  zwei  Volksver- 
sanimlungen  erforderlich  waren,  sondern  daß  £vvo|xoi  -/povoi  eine  bestimmte 
Volksversammlung  bedeutet,  die  für  die  Verhandlung  dieser  Dinge  re- 
serviert war.  Der  Ausdruck  „Quasibürgerrecht"  als  Bezeichnung  einer 
Summe  von  Privatrechten  ist  wohl  nur  als  Notbehelf  gebraucht  und 
insofern  nicht  zu  beanstanden.  Verf.  behandelt  auch  die  Fälle,  in  denen 
anscheinend  die  Bürgerrechtserteilung  durch  Magistrate  erfolgte:  es 
handelt  sich  dabei  nur  um  die  Prüfung,  ob  der  Bewerber  den  Be- 
dingungen, welche  für  den  Erwerb  des  Bürgerrechtes  gestellt  waren, 
entspricht;  doch  muß  der  Magistrat  durch  die  souveräne  Gewalt  dazu 
ermächtigt  sein,  vgl.  Anc.  gr.  inscr.  III,  401.  —  Als  Erschwerung  der 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.   (J.  Oebler.)  U 

Verleihung  erscheint  in  Athen    seit  dem  Ende   des  IV.  Jahrb.  die  ge- 
richtliche Dokimasie. 

Der  Verlast  des  Bürgerrechtes  tritt  strafweise  ein  und  wird  durch 
Atimie  bezeichnet,  dann  durch  Exil.  Auch  Kolonisten  verlieren  im 
•Cregensatze  zu  den  Kleruchen  das  Bürgerrecht  der  Mutterstadt.  Da- 
gegen zieht  der  Erwerb  des  Bürgerrechtes  einer  anderen  Stadt  nicht 
wie  in  Eom  den  Verlust  des  Bürgerrechtes  in  der  Heimatstadt  nach 
sich,  so  d jß  wir  häutig  Personen  erwähnt  finden,  welche  Bürger  einer 
Reihe  von  Städten  sind. 

Der  II.  Teil  handelt  von  der  Isopolitie.  (Vgl.  dazu  auch  5.  L6crivain 
in  Daremberg  et  Saglio,  Dict.  III,  586 — 587:  Isopoliteia.)  Es  ist  dem 
Verfasser  gelungen,  das  Wesen  der  Isopolitie  vollständig  aufzuklären, 
indem  er  nachweist,  daß  das  Wort  ursprünglich  „gleichwertiges  Bürger- 
recht", d,  h.  der  Neubürger  mit  den  Altbürgern  bezeichnet  und  di'ei 
Stadien  der  Entwickelung  hat:  1.  ist  es  gleich  TCoAtrsia,  einseitig  ver- 
liehen an  einzelne  Personen  oder  Klassen;  2.  von  zwei  Staaten  gegen- 
seitig erteiltes  Bürgerrecht  und  3.  wechselseitig  sich  bedingendes,  durch 
Vertrag  festgesetztes  Bürgerrecht.  Das  letzte  bot  die  Möglichkeit,  den 
Bürgern  einer  befreundeten  Stadt  für  die  Zeit  eines  vorübergehenden 
Kriegszustandes  Zuflucht  zu  gewähren.  Dabei  aber  bleibt  es  das 
charakteristische  ^Merkmal  der  Isopolitie  zweier  Staaten,  daß  beide 
Staaten  unabhängig  fortbestehen,  d.  h.  ihre  eigenen  Beamten  und  Re- 
gierungskörper behalten,  und  daß  keine  gemeinsame  souveräne  Gewalt 
gescbatfeu  wird.  Es  macht,  wie  Thumser  ßerl.  ph.  Woch.  1892 
Sp.  1300  richtig  bemerkt,  keinen  Unterschied,  ob  das  Gemeindewesen 
der  Fremden,  welche  das  Bürgerrecht  erhalten,  fortbesteht  oder  nicht; 
so  war  das  Verhältnis  der  in  das  Bürgerrecht  aufgenommenen  Platäer 
zu  den  Athenern  kein  anderes  als  das  jener  Samier,  die  attische  Bürger 
geworden  waren.  Zweifelhaft  ist  wohl  was  S.  97  f.  über  die  Fort- 
dauer der  alten  Isopolitie  von  Delphi  für  Sardes  bemerkt  wird.  — 
Erst  spät  wurde  die  Isopolitie  für  Zwecke  der  Staatenvereinigung  ver- 
wendet. Der  III.  Abschnitt  hat  die  ,Sympolitie"  zum  Gegenstande  und 
behandelt  in  gelungener  Weise  diese,  die  sich  charakterisiert  durch  die 
gemeinsame  souveräne  Gewalt  und  das  gemeinsame  Bürgerrecht.  Es 
werden  mit  Recht  zwei  Formen  der  Sympolitie  unterschieden:  1.  die 
synoikistische,  indem  die  vertragschließenden  Staaten  in  einen  Einheits- 
staat aufgehen,  wie  dies  bei  der  Sympolitie  des  Theseus  geschah,  und 
2.  die  bundesstaatliche  Sympolitie,  indem  die  bisherigen  Staaten  fort- 
bestehen, ein  gewisses  Maß  von  Selbständigkeit  behalten,  daneben  aber 
eine  gemeinsame  souveräne  Gewalt  ohne  Vorort  geschaffen  wird,  wie 
dies  z.  B.  beim  achäischen  Bunde  der  Fall  war.  Bei  der  bundesstaat- 
lichen Sympolitie  wird  ein  neues,  gemeinsames  Bürgerrecht,  die  xotvoitoXi- 


12  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler.) 

T£ia  ,  geschaffen ,  während  das  bisherige  Einzelbürgerrecht  der 
Bundesstaaten  bestehen  bleibt.  Das  Sonderbürgerrecht  zieht  das  Gesamt- 
bürgerrecht des  Bandes  nach  sich,  aber  nicht  umgekehrt.  Was  nun 
die  Bezeichnung  der  beiden  Arten  der  Sympolitie  betrifft,  mag  immer- 
hin auch  die  Bemerkung  Thumsers  Sp.  1300  beachtet  werden;  wir 
können  daher  die  Bezeichnung  folgendermaßen  formulieren:  1.  die 
synoikistische  Sympolitie ,  auch  als  auvo'.xisjj-oc  oder  suvxeXsia  be- 
zeichnet, und  2.  die  bundesstaatliche  Sympolitie  oder  Sympolitie  im 
engeren  Sinne. 

Das  gemeinsame  Bundesbürgerrecht  hat  notwendig  auch  eine 
primäre  Volksversammlung  des  Bundes  zur  Folge,  ebenso  einen 
primären  Bundesrat.  Die  eingehenden  Erörterungen  über  die  ver- 
schiedenen Bundesstaaten  werden  im  Artikel  VIII  berücksichtigt  werden. 

Gewissermaßen  als  Ergänzung  zu  dem  Buche  Szantos  ist  zu 
nennen : 

6.  W.  Levison,  Die  Beurkunduog  des  Zivilstandes  im  Altertum. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte    der  Bevölkerungsstatistik.     Bonn  1898. 

Der  Verf.  dieser  lehrreichen  Untersuchung  führt  aus,  wie  die 
Notwendigkeit,  die  Leistungsfähigkeit  des  Staatsganzen  zu  kennen,  sowie 
das  Bedürfnis,  den  Besitz  des  Bürgerrechtes  gegen  Anfechtungen  zu 
sichern  und  Eindringlinge  vom  Genüsse  seiner  Vorteile  und  Ehren 
fernzuhalten,  zu  statistischen  Aufnahmen  der  Bevölkerung  führte.  Was 
Hellas  betrifft,  so  hat  Athen  eigentliche  Geburtslisten  nie  gekannt. 
Die  Phratrien  fülirten  wohl  das  7pa[jL|xaTsrov ,  ein  Bürgerverzeichnis, 
welches  den  Zweck  hatte,  die  Herkunft  des  Eingetragenen  aus  der 
rechtmäßigen  Ehe  eines  Bürgers  mit  einer  Athenerin  zu  beurkunden. 
Diese  Listen  lassen  sich  mit  unseren  Taufbüchern  insofern  vergleichen, 
als  die  Eintragung  die  Aufnahme  in  den  Kultverband  bezeichnete.  Diese 
Verzeichnisse  der  Phratrien  dienten  wahrscheinlich  dem  Gemeinde - 
rcgister  des  8^[aoc  (Xr]^tap-/ixov  7pa[x[xa-:£rov)  nicht  als  Grundlage,  sondern 
nur  znr  Kontrolle.  Von  Sterbelisten  weiß  die  Überlieferung  nichts. 
Ähnliche  Standeslisten  wie  in  Athen  mag  es  in  vielen  griechischen 
Städten  gegeben  haben.  In  Kos  wurden  wahrscheinlich  wirkliche  Ge- 
burtslisten geführt,  wie  Levison  aus  Collitz  3593  schließt. 

Die  Grundlage  der  politischen  und  sozialen  Organisation  bildet  die 
Familie,  die  sich  zum  Geschlechte  erweiterte.  Über  die  Bedeutung  des 
-/svo?,  d.  h.  der  zum  Geschlechte  erweiterten  Familie  handelt: 

7.  Ch.  L6crivain,  in  Daremberg  et  Saglio,  Dict.  des  ant.  gr. 
et  rom.  II,  1494—1504:  Gens,  vsvo^ 

Vgl.  auch:  Fustel  de  Coulanges:  La  cite  ant.  17.  Aufl.  111  f.; 
Thalheim    in  Pauly-Wissowa  I,  2110:    ay/^KJxsU    und    für    das  ^evoj  in 


Bericht  üb.  d.griech.Staatsaltertüm.f  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  13 

Athen:  L.  Beaucbet,    Histoirc    du    droit  priv^  de  la  lepnblique  Atho- 
nienne  I,  6  f. 

Der  Artikel  zeichnet  sich  durch  klare  Darlegung  und  übersicht- 
liche Disposition  aus.     L.  setzt  zunächst   den  Begriff  des  ^evo?  ausein- 
ander;   es  ist  die  natürliche  Gemeinschaft,   die  auf  einen  gemeinsamen 
Stammvater    zurückgeht,    deren  Mitglieder    also    durch   die  Bande  des 
Blutes  verbunden  sind.    Außer  ^evo?  findet  sich  die  Bezeichnung  xrarpa 
und    7ev£a.     Von    dem    7£voc  im    weiteren  Sinne  unteischeidet  sich  das 
■■;iyo;  im  engeren  Sinne,    auch  olxo;,    bei  dem  vier   Grade   in   Betracht 
kommen.    Die  Mitglieder  führen  in  Athen  die  Bezeichnung  7evv^Tai;  für 
andere  Städte    ist    uns    der  Name  nicht  bekannt.     Die  Mitglieder  sind 
verbunden  durch  die  häusliche  Religionsübung  und  durch  die  natürliche 
Verwandtschaft.    Der  Mittelpunkt  des  häuslichen  Kultus  war  der  Haus- 
herd,    die  su-ta  (s.  Eoscher,    Lex.  I,  2622);    die   verwandtschaftlichen 
Bande    legten    den  Kindern    gewisse  Verpflichtungen    gegenüber    ihren 
Eltern,  dann  ihren  Aszendenten  auf   (vgl.   die  avaxpifft?  der  Archonten 
in  Athen).     Eine  der  heiligsten  Pflichten    war  die  der  Bestattung  und 
des  Kultes  der  Toten.    Aus  dem  Totenkult  entstand  dann  der  Heroen- 
knlt,    indem    der  Ahnherr    des  Geschlechtes    als  Heros  verehrt  wurde. 
Auch    die  Ahndung    des  Mörders    war  in  ältester  Zeit  Sache  des  Ge- 
schlechtes.   Der  Kult  des  Herdes  und  der  Toten  sollte  niemals  unter- 
brochen werden  oder  aufliören;  das  Erlöschen  des  Geschlechtes  ist  zu- 
gleich das  Erlöschen  eines  Kultus  und  wurde   als  das  größte  Unglück 
angesehen.     Es    traten    in    der  historischen  Zeit  auch  politische  Erwä- 
gungen zu  dieser  religiösen  Vorstellung.    Daher  erklären  sich  die  Ein- 
richtungen, die  auf  die  Erhaltung   der  -/svo;  abzielen;   die  Ehelosigkeit 
war  in  manchen  Staaten  verboten,    frühe  Ehen  empfohlen,    kinderlose 
Ehen  wurden  getrennt,    den  Beamten  die  Sorge  für  die  Erhaltung  der 
Geschlecliter  zur  Pflicht  gemacht.    Daher  erklärt  sich  die  Adoption  und 
das  Institut  der  Erbtochterehe.    Die  Geschlechter  spielten  in  politischer 
und    sozialer  Beziehung    eine    bedeutende  Rolle;    sie   bildeten  zugleich 
Korporationen.     Als  solche  hatte  jedes  Geschlecht  1.   Seinen  besonderen 
Namen.    2.  Sein  Oberhaupt  (ap/wv  xou  ^svoü?).    3.  Die  Mitglieder  waren 
solidarisch.     4.    Das  Geschlecht    hatte  sein  gemeinsames  Grab,    seinen 
Versammlungsort  {Ht/i],  s.  Bourguet,    Daremberg  et  Saglio,  Biet.  III 
1103 — 1107  Xe3-/Y)).     5.     Außer    dem  Kulte    seines  Heros    hatte   jedes 
-evo?  noch  seinen  besonderen  Kult.     6,    Jedes  Geschlecht  hatte  seinen 
eigenen  Besitz,  den  das  Oberhaupt  verwaltete.    Dabei  erörtert  L.  ein- 
gehend die  Frage,  ob  im  Beginne  der  hellenischen  Gesellschaft  Kommu- 
nismus   herrschte   oder  Privateigentum    des   Bodens.     Er  erklärt  sich, 
Gnii'auds  Auseinandersetzungen  folgend,  mit  Recht  für  Privateigentum. 
Doch  erschien  dasselbe  als  Besitz  des  ^evo;;  aber  schon  in  homerischer 


14  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)-  1902.  (J.  Oehler.) 

Zeit  gab  es  Einzelnbestiz,  der  streng  in  dem  7£voc  erblicb  und  unver-> 
äußerlich  war.  7.  Das  -/e'vos  war  die  erste  Form  der  Gesellschaft,  der 
erste  politische  Organismus;  aus  der  Vereinigung  mehrerer  -/svrj  entstand 
die  r.6}dz.  In  der  historischen  Zeit  haben  die  ^evT]  diese  Bedeutung  verloren, 
da  andere  Abteilungen  von  Bedeutung  wurden,  zu  denen  die  alten  -,'£vrj 
in  einem  nicht  mehr  erkennbaren  Verhältnisse  standen.  8.  Die  alten 
7evY)  bildeten  einen  wesentlichen  Teil  der  Aristokratie;  so  ist  ihre  Ge- 
schichte auch  die  der  hellenischen  Städte  bis  zum  Eintreten  der  Demo- 
kratie. Es  folgt  dann  eine  Übersicht  über  die  verschiedenen  Arten  der 
Aristokratie  und  die  Stellung  der  7£vy)  in  derselben.  Mit  dem  Unter- 
gange der  Aristokratie  verloren  auch  die  7evT]  ihre  Bedeutung  und  be- 
standen nur  mehr  als  religiöse  Korporationen  weiter.  In  einigen 
Städten  wurden  sie  zu  politischen  Abteilungen,  in  welche  alle  Bürger 
ohne  Rücksicht  auf  die  Abstammung  eingeordnet  wurden.  So  geschah 
es  in  Samos;  dort  erscheinen  als  den  alten  7£vrj  entsprechende  Ab- 
teilungen die  zaxpai,  an  anderen  Orten  Tiatpiai  genannt;  s. 

8.  H.  Swoboda,  Zur  Verfassungsgeschichte  von  Samos  in  Fest- 
schrift f.  0.  Benndorf  S.  250  f. 

Über  die  Stammesgenossenschaft  handelt: 

9.  *H.  E.  Seebohm,  Ou  the  sctructure  of  greek  tribal  society. 
London  1895.     Rez.:  BphW  1896,   1239—1240  v.  Thalheim. 

Nach  der  Angabe  Thalheims  versucht  S,,  manche  von  den  Zu- 
ständen, die.  mitunter  nicht  in  Übereinstimmung  mit  dem  Staatsleben, 
in  geschichtlicher  Zeit  unter  den  Griechen  vorwalteten,  in  das  wahre 
Licht  zu  setzen  und  durch  Vergleichung  mit  ähnlichen  Überresten  be- 
kannter Stammesgenossenschaften  ihren  wahren  geschichtlichen  Zu- 
sammenhang mit  einer  früheren  Stufe  der  Sitte  und  des  Glaubens  her- 
zustellen. Es  werden  die  Bedeutung  und  die  Grenzen  des  Verwandt- 
schaftsbandes sowie  die  Beziehungen  zu  Grund  und  Boden  hauptsächlich 
nach  Fustel  de  Coulanges  behandelt,  die  deutsche  Literatur  bleibt  un- 
benutzt; so  wird  der  Wert  der  Abhandlung  als  sehr  gering  bezeichnet. 

Als  grundlegende  Arbeit  über  die  Phylen  ist  zu  verzeichnen: 

10.  E.  Szanto,  Die  griechischen  Phylen.    Sitzungsber.  d.  kais. 
Akad.  d.  Wiss.  in  Wien,  phil.-hist.  Kl.  CXLIV  (1901),  74  S. 

Mit  scharfer  Beobachtungsgabe  und  Besonnenheit  durchmustert  der 
Verf.,  von  der  historischen  Zeit  ausgehend,  das  vorliegende  Material  und 
kommt  zu  Schlüssen,  die  der  bisherigen  Annahme,  „die  Bürgerschaft 
sämtlicher  griechischer  Staaten  sei  in  Phylen  eingeteilt  gewesen  und 
die  Phylen  seien  eine  unbedingte  Notwendigkeit  im  griechischen  Staate''^ 


Bericht  üb.  d  griecli.  Staatsalteitüm.  f.  d  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  15 

entgejjenstelien.  Er  unterscheidet  mit  Recht  zwischen  „ursprünglichen, 
in  vorhistorischer  Zeit  eingerichteten  und  später  eingeführten"  Pliylen. 
Als  ursprüngliche  Phylen  sind  nur  die  dorischen  und  sogenannten 
ionischen  Phylen  anzusehen;  die  späteren  erweisen  sich  als  künstliche, 
nach  den  ursprünglichen  eingerichtete  Bildungen.  i\bschüitt  I  (S.  4 — 
26)  behandelt  die  dorischen  Phylen.  Diese  kommen  in  allen  dorischen 
Staaten  vor  und  sind  entstanden  durch  Teilung  eines  Ganzen  in  Gruppen ; 
der  Grund  für  die  Dreiteilung  liegt  in  dem  Prinzip  der  Ansiedelung 
und  der  Art  der  Bodenteilung  durch  die  als  Eroberer  auftretenden 
Dorier.  T^rsprünglicli  wurden  die  Angehörigen  der  Phyle  durch  das 
Band  örtlicher  Zusammengehörigkeit  der  Grundstücke  verbunden  und 
die  Phylen  hatten  lokale  Bedeutung.  Au  Stelle  des  alten  ius  soli  trat 
im  Laufe  der  Zeit  das  gentilizische  Band,  während  in  Rhodos  die  lokale 
Bedeutung  bis  in  späte  Zeit  erhalten  blieb.  Mit  Recht  hat  der 
Verfasser  auf  die  lokale  Bedeutung  hingewiesen  und  Ref.  möchte 
hinzufügen,  daß  die  Lokalität  auch  noch  in  späterer  Zeit  bei  Vereins- 
bildungen ein  nicht  genug  beachtetes  Band  bildet.  Richtig  sind  die 
Bemerkungen  über  die  lokale  Bedeutung  der  Phylen  in  Argos,  Korinth, 
Sikyon  usw. 

Abschnitt  II  (S.  26—37)  behandelt  die  nichtdorischen  Phylen 
des  Peloponnes.  Im  Gegensatze  zu  den  überall  als  erobernder  Stamm 
auftretenden  Doriern  stehen  die  Stämme,  die  als  autochthone  bezeichnet; 
werden  oder  bei  der  Okkupation  eines  Landstriches  mit  der  ursprüng- 
lichen Bevölkerung  uuterschiedlos  verschmolzen.  Bei  diesen  Jinden  sich 
keine  ursprünglichen  Phylen  und  die  als  Phylen  auftretenden  Gebilde 
gehören  der  späteren  Zeit  an:  so  in  Messenien,  Arkadien,  Tegea. 

Abschnitt  III  (S.  37—39):  Die  Phylen  der  äolischen  Stämme. 
Im  Gebiete  des  äolischen  Stammes  (Böotieu  und  Thessalien)  fehlten 
die  Voraussetzungen  zur  Phylenbildung,  da  es  keine  großen  Staatswesen, 
die  etwa  zur  Teilung  genötigt  hätten,  sondern  nur  Städte  geringen 
Umfanges  gab, 

Abschnitt  IV  (S.  39—61):  'Die  ionischen  Phylen'  scheint  Ref. 
der  gelungenste  Teil  der  Arbeit.  Die  ionischen  Phylen  finden  sich  rein 
nur  in  Attika  und  werden  aus  der  amphiktyonischen  Besiedelung  des 
Landes  erklärt.  Auch  die  Zwölfzahl  findet  ihre  Begründung:  je  ein 
Teil  des  Landes  hatte  durch  einen  Monat  hindurch  für  die  Leistungen 
au  das  gemeinsame  Heiligtum  aufzukommen,  so  daß  im  Jahre  12  Ge- 
meinwesen alternierten.  So  erklären  sich  die  zwölf  Städte  in  Attika, 
ans  denen  durch  Synoikismos  der  Staat  Athen  entstand;  nach  der 
Einigung  erst  konnte  eine  Einteilung  in  die  Phylen  vorgenommen 
werden,  die  nach  Gottheiten  benannt  sind.  Es  kann  hier  nicht  näher 
auf  die  sonst  berührten  Fragen  eingegangen  werden,  sondern  es  genügt, 


16  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  I893(1890)-1902    (J.  Oehler.) 

auf  die  Auseinandersetzung  über  die  Phyleu  in  den  ionischen  Kolonien 
liinzu  weisen, 

Abschnitt  V  (61 — 71):  Die  späteren  Phylen.  Bei  den  später 
geschaffeneu  Phyleuorduuugen  wurde  nach  Möglichkeit  an  der  Stammes- 
genosseuschaft  festgehalten;  daneben  wurden  Phylen  nach  Göttern, 
Heroen,  Fürsten  usw.  benannt.  Ausführlichere  Behandlung  erfahren 
die  Phylen  der  kleinasiatischen  Städte  (S.  62  f.),  und  wird  mit  Recht 
auf  die  Umwandlung  der  Phyleu  zu  Zünften  und  Genossenschaften  hin- 
gewiesen. So  hat  Szanto,  ausgehend  von  faktischen  Tatsachen,  es  ver- 
standen, die  ursprüngliche  Bedeutung  und  spätere  Funktion  der  grie- 
chischen Phyle  als  staatlicher  Abteilung  klarzulegen  und  vielfach  neue 
Gesichtspunkte  zu  eröffnen. 

Über  die  Verfassuugsformen  liegt  folgende  Arbeit  vor: 

11.  B  E.  Hammond,  The  political  institutions  of  the  ancient 
Greeks.     London  1895. 

Wie  Verf.  in  der  Vorrede  selbst  sagt,  gehört  die  Schrift  eigentlich 
d«m  Gebiete  der  vergleichenden  Staatswissenschaft  an;  daher  soll  nur 
kurz  der  Inhalt  angegeben  werden.  Folgende  allgemeine  Sätze  werden 
an  griechischen  Verhältnissen  nachgewiesen:  1.  Alle  Gauverfassungen 
haben  Eegierungeu  gehabt,  welche  voneinander  in  keiner  wichtigen 
Einzelheit  abweichen.  2.  Einfache  Stadtverfassungen,  die  nicht  auf 
Eroberung  ausgingen,  hatten  gewöhnlich  nur  drei  Arten  von  Re- 
gierungen: reine  Oligarchie,  reinen  Despotismus  oder  offene  und  fast 
ungemischte  Demokratie.  3.  In  den  großen  Einheitsstaaten  haben, 
strenge  genommen,  die  drei  Arten  der  Regierung  in  regelmäßiger  Folge 
einander  abgelöst.  4.  Bundesstaaten  gleichen  sich  darin,  daß  sie  eine 
gesetzgebende  und  eine  ausübende  Zentrale  haben,  während  jeder  der 
Bundesgenossen  eine  eigene  Regierung  hat. 

K.  I.  Die  arische  Rasse.  —  K.  II.  Die  Einteilung  der  europäischen 
politischen  Körper.  Es  wird  erwähnt,  daß  in  Griechenland  auf  die 
Stämme  Stadtverfassungen  folgten  und  als  Unterschied  zwischen  den 
Städten  in  Griechenland  und  Italien  angegeben,  daß  die  griechischen 
Städte  nicht  auf  Eroberung  ausgingen,  wohl  aber  die  italischen.  K.  IIL 
Politische  Verfassungen  in  Griechenland:  die  heroischen  Monarchien. 
Es  werden  zwei  Perioden  unterschieden.  Die  erste  Periode  bis  700 
oder  650  v.  Chr.:  Stämme  und  Stammverfassungen;  die  zweite  Periode 
von  700  (650)  bis  338  v.  Chr.:  Städte  und  Stadtverfassungen.  Die 
zweite  Periode  wieder  wird  gegliedert  in  3  Abschnitte:  1.  700—600: 
in  Athen,  Korinth  und  Megara  herrscht  eine  Gruppe  privilegierter 
Familien.  2.  600—500:  Zeit  der  Tyrannen.  3.  500—338:  Demokratie 
und    Oligarchie.  —  Als    Stämme    erscheinen    die  Achaier,    Dorer    und 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  17 

Joner.  —  Über  das  heroische  Zeitalter  s.  III.  Artikel.  —  K.  IV  be- 
handelt Sparta  s.  IV.  Artikel.  —  K.  V.  Die  griechischen  Stadtver- 
t'assungen.  Diese  Zeit  wird  in  4  Perioden  eingeteilt:  1.  Die  älteren 
Aristokratien  und  Oligarchien.  2.  Die  Tyrannen.  3.  Die  Demokratien 
und  die  jüngeren  Oligarchien.  4.  Die  Eroberung  Griechenlands  dnrch 
Makedonien.  K,  VI.  Aristoteles'  Einteilung  der  Verfassungen.  K.  VII. 
Der  Acbäische  Bund  s.  VIII.  Artikel.  Der  Zweck  des  Buches  läßt 
es  begreiflich  erscheinen,  daß  der  Verf.  weder  strenge  Genauigkeit  in 
den  Einzelheiten,  noch  Beherrschung  der  Fachliteratur  anstrebt;  doch 
zeichnet  ihn  die  Kenntnis  eines  freien  Staatslebens  sowie  politischer 
Blick  aus. 

Eine  Art  der  Verfassungen  findet  ausführliche  Behandlung  in 
dem  Buche: 

12.     L.    Whibley,    Greek    Oligarchies ,    their    character    and 
Organisation.     London  1896. 

Das  Buch  zerfällt  in  5  Kapitel:  K.  I.  Klassifikation  der  Ver- 
fassungen. Über  die  Oligarchie,  ihren  Charakter  und  ihr  Verhältnis 
zur  Aristokratie.  K.  II  handelt  von  den  Veränderungen  der  Ver- 
fassungen und  den  Ursachen  derselben.  K.  III  enthält  die  historische 
Entwickelung  der  griechischen  Verfassungen:  1.  Der  Ursprung  der 
Verfassungen.  2.  Die  heroische  Monarchie.  3.  Der  Übergang  von  der 
Monarchie  zur  Aristokratie.  4.  Der  Wechsel  der  Begierung  mit  dem 
Eintreten  der  Aristokratie.  5.  Der  Übergang  von  der  Aristokratie 
zur  Oligarchie.  6.  Die  Entwickelung  der  Verfassungen  im  V.  Jahrh. 
und  7.  im  IV.  Jahrh.  v.  Chr.  —  Appendix  A  behandelt  die  Entwicke- 
lung des  athenischen  Einheitsstaates:  App.  B:  Die  athenischen  7£vt)  und 
ihre  Bedeutung  in  der  älteren  Verfassung.  K.  IV.  Arten  der  Oligarchie. 
K.  V.  Organisation  der  oligarchischen  Begierung.  App.  C:  Die  oligar- 
gische  Erhebung  in  Athen,  ihre  vorläufige  und  beabsichtigte  Verfassung. 

Wie  die  Inhaltsangabe  zeigt ,  gehört  die  fleißige  Arbeit  zum 
großen  Teile  der  Staatsvvissenschaft  an,  zum  Teile  wird  sie  bei  dem 
VI.  Artikel  Berücksichtigung  finden.  Hier  soll  nur  bemerkt  werden, 
daß  W.  die  Oligarchie  als  die  Herrschaft  einer  privilegierten  Klasse 
auffaßt,  die  sich  durch  Reichtum  vom  Volke  absondert.  Es  ist  bei 
ihm  die  Oligarchie  im  Grunde  genommen  der  Verfassung  gleichgesetzt, 
die  gewöhnlich  als  Timokratie  bezeichnet  wird.  Mit  Recht  wendet 
Holm  BphW  1897,  177  f.  ein:  „Die  herrschenden  Wenigen  müssen 
doch  nicht  die  Reicheren  sein.* 

Über  die  Gleichheit  der  grundlegenden  Prinzipien  der  griechischen 
Städteverfassungen,  wie  sie  sich  in  dem  gegenseitigen  Verhältnisse  von 
Rat,  V^olksversammlung,  Beamten  ausprägen,  handelt  ein  Buch,  das  sich 
Jahresbericht  för  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXn.    (1904.    III.)      2 


18  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)-1902.  (J.  Oehler.) 

als    „epigrapbische  Unter suchungen"    bezeichnet,    aber  sowohl  für  die 
Geschichte  als  für  die  Staatsaltertümer  von  Bedeutung  ist. 

13.     H,  Swoboda,    Die    griechischen  Volksbeschlüsse.     Leipzig 
1890. 

Mit  größtem  Fleiße  und  peinlichster  Gewissenhaftigkeit  hat  der 
Verf.  das  epigraphische  Material  gesammelt  und  die  Entwickelung  einer 
Institution  auf  dem  Gesamtboden  Griechenlands,  „die  Volksbeschlüsse'', 
zum  Gegenstande  seiner  Untersuchung  gemacht.  Er  hat  sich  nicht 
begnügt,  das  Formular  derselben  festzustellen,  sondern  war  bemüht,  zu 
zeigen,  daß  „ungeachtet  aller  Abweichungen  im  einzelnen  die  grund- 
legenden Piinzipien  der  griechischen  Städteverfassungen  überall  die 
gleichen  sind"  (s.  NphR  1892,  190).  Damit  hat  er  unsere  Kenntnis 
vom  griechischen  Staatsleben  wesentlich  gefördert  und  eine  weitere 
Vorarbeit  für  das  griechische  Staatsrecht  geliefert.  Die  Einleitung 
handelt  „über  die  Grundlage  für  die  Formulierung  der  griechischen 
Psephismen  und  die  Bescheidenheitsformel".  Es  wird  hervorgehoben,  daß 
auch  bei  den  außerattischen  Beschlüssen  ganz  feste  Regeln  und  sichere 
Formen  getroffen  werden.  Wenn  Schoeffer  BphW  1891,  991  f.  gegen  die 
Stetigkeit  des  Urkundenstiles  bemerkt,  es  war  wohl  mehr  gewohnheits- 
mäßiger Usus,  scheint  er  übersehen  zu  haben,  daß  Sw.  S.  3  selbst  sagt: 
„Die  Macht  einer  konservierenden  Tradition  ist  eben  in  diesen  Dingen  bei 
den  Griechen  eine  ganz  außerordentliche  gewesen."  Gegen  die  bis- 
herige Ansicht,  die  Protokolle  des  Rates  und  des  Volkes  hätten  die 
Grundlage  der  Steinurknnden  gebildet,  so  v.  Hartel,  Hug,  Miller  und 
zuletzt  v.  Willamowitz-Mölleudorf:  Gott.  gel.  Anz.  162  (1900),  563: 
„Das  Psephisma  auf  Stein  ist  ein  Auszug  aus  dem  Protokolle  der  be- 
treffenden Körperschaft,  den  der  mit  der  Aufschrift  betraute  Beamte 
besorgt  hat"  behauptet  Swoboda,  die  Steinurkunden  seien  vom  Stand- 
punkte des  Antrages  oder  Antragstellers  konzipiert.  Gegen  diese  Be- 
hauptung vertreten  Schoeffer  BphW  1891,  097  f.  und  Bauer  Forschungen 
51  f.  mit  Recht  die  herrschende  Ansicht;  die  Bescheidenheitsformel, 
für  welche  Thumser  ZöGg  XLII  310  f.  den  Ausdruck  „Formel  der  even- 
tuellen Ratifikation"  (Sanktion)  vorschlägt,  ist  nach  Bauer  durch  die  un- 
veränderte Herübernahme  des  Wortlautes  des  ursprünglichen  Antrages 
aus  dem  Verhandluugsprotokoll  in  die  inschriftliche  Aufzeichnung  zu  er- 
klären. Auf  gleiche  Weise  läßt  sich  die  Anführung  des  ursprünglichen 
Antrages,  der  durch  Amendements  ganz  oder  teilweise  aufgehoben  war, 
verstehen.  Man  kam  von  der  ursprünglichen  Gewohnheit,  die  Ergebnisse 
der  Verhandlung  in  möglichster  Kürze  aufzuzeichnen,  zu  einer  immer 
ausführlicheren  Wiedergabe  der  Verhandlungsprotokolle. 

K.  I.    Das  Präskript   und    die    einfache    Sanktionsformel.     Mit 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  19 

Eecht  g-eht  Verf.  davon  aus,  daß  uns  das  Präskript  über  die  Faktoren 
unterrichtet,  die  an  dem  Zustandekommen  eines  Volksbeschlusses  mit- 
wirkten; daher  spiegeln  sich  gerade  in  ihnen  die  individuellen  Ver- 
schiedenheiten in  der  Verfassungsform  und  in  dem  parlamentarischen 
Branche  wieder.  In  dem  Präskripte  ist  die  Sanktionierungsformel  das 
wichtigste  Stück;  die  Nennung  des  Antragstellers  ist  nicht  ebenso  nötig. 
Der  Verf.  macht  auf  eine  Gruppe  von  Inschriften  aufmerksam,  welche 
die  Psephismen  nur  durch  die  Sanktionsformel  (gewöhnlich  Bo^s  ttj  -oXs'.) 
beurkunden ;  passend  spricht  er  da  von  einem  „nordgriechischen Lokalstile". 

K,  II.  Der  Antragsteller.  Nachahmung  der  attischen  Dekrete. 
In  der  Nennung  des  Antragstellers  sieht  Sw.  mit  Recht  das  frucht- 
barste Moment  für  die  Entwickelung  des  Präskriptes;  darin  kommt 
das  Prinzip  zum  Ausdrucke,  daß  der  Urheber  eines  Dekretes  für  das- 
selbe verantwortlich  ist  und  haften  muß.  Außerdem  lernen  wir  die 
Beziehungen  des  Rates  und  der  Behörden  zum  Volke  kennen,  wie  sie 
sich  au  verschiedenen  Orten  und  zu  verschiedenen  Zeiten  gestalteten. 
Dabei  ist  vor  allem  darauf  Rücksicht  genommen,  ob  der  Antragsteller 
als  Privatmann  oder  als  Bnleute  oder  in  der  Eigenschaft  eines  Beamten 
den  Vorschlag  eingebracht  hat.  Durch  die  Anführung  des  Antrag- 
stellers konnte  das  legale  Zustandekommen  eines  Beschlusses  genügend 
bezeugt  erscheinen.  Was  nun  die  Nachahmung  Athens  betrifft,  so  zeigt 
Sw.,  daß  die  probulenmatische  Formel  mit  Ausnahme  der  Klernchien 
außerhalb  Athens  sich  nirgends  findet ,  daß  also  der  nachweisbare 
Einfluß  Athens  auf  die  Stilisierung  der  Präskripte  ein  geringer,  da- 
gegen auf  die  Gliederung  des  Inhaltes  der  Volksbeschlüsse  größer  war. 
Gegen  die  Bezeichnung  „abgekürzte  Dekrete"  (S.  47)  hat  Scboeffer 
unnötige  Bedenken  erhoben;  diese  finden  sich  besonders  häufig  in  Nord - 
griechenland.  —  Allmählich  entwickelt  sich  ein  jüngeres  Formular,  bei 
dem  auf  die  Nennung  des  Antragstellers  die  ausführliche  Begründung 
folgt.  —  Das  Formular  bleibt  bis  in  die  Kaiserzeit  erbalten  und  ist 
Athen  tonangebend. 

K.  III.  Scheidung  der  Sanktionsformel.  Für  Athen  kommt  be- 
sonders der  Unterschied  zwischen  probuleumatischen  und  Volksdekreten 
seit  dem  2.  Jahrzehnt  des  IV.  Jahrh.  v.  Chr.  in  Betracht.  In  den 
übrigen  Städten  ist  eine  solche  Unterscheidung  nicht  nachzuweisen ;  aber 
aus  dem  Fehlen  der  probuleumatischen  Formel  ist  nicht  zu  schließen, 
daß  die  ßou>.7^  außerhalb  Athens  nicht  das  Recht  der  Vorberatung  ge- 
habt habe.  Selbst  Ratsdekrete  sind  nur  wenige;  Schoeffer  meint,  daß 
auch  diese  vielleicht  Volksdekrete  sind.  —  In  einigen  Fällen  wird  der 
Versuch   gemacht,    auf  das  Probuleuma  des  Rates  hinzuweisen:  zu  B. 

in  Kyrae:    -j-viupia  ta;  ßoXXac  "  l'oo^s  TÜi  di\).vi.  — 

2* 


20  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)  - 1902.  (J.  Oehler.) 

K.  IV.  Fortbildung  des  Antragstellers,  probuleumatische  and 
Volksdekrete,  Zusammensetzung  des  Ratsvorstandes.  Es  wird  hier  über 
die  Stellung  des  Nicht-Buleuten  gesprochen  und  gezeigt,  daß  ein 
solcher  (iokuttis)  die  Anregung  bei  der  ßouXi^  vorbringen  mußte,  ein 
Bittgesuch  an  sie  richten  zu  können;  er  mußte  sich  an  den  Vorstand 
des  Rates  vpenden,  der  dann  die  Sache  weiter  führte.  Es  war  Be- 
werbung uYn  Auszeichnungen  üblich  und  der  betreffende  Bewerber 
mußte  sich  durch  Freunde  an  den  Rat  wenden.  Die  verschiedene  Her- 
kunft eines  Beschlusses  wird  nur  durch  den  Antragsteller  angezeigt: 
•/vtujxa  TTpooxaxav  bezeichnet  ein  probuleumatisches  Dekret,  6  osTva  slnev 
ein  Volksdekret,  bei  dem  der  Rat  sich  auf  die  verfassungsmäßige  Ein- 
bringung beschränkte.  Dagegen  erklärt  Schoeffer  1041:  ,Die  mit 
0  Seiva  sIkev  bezeichneten  Dekrete  sind  solche,  welche  von  Buleuten  be- 
antragt und  durchgebracht  waren,  natürlich  auf  eigene  Verantwortung; 
die  mit  -jvtuixa  -poj-axäv  signierten  Beschlüsse  waren  eingebracht 
worden  von  den  Prostaten  teils  aus  eigener  Initiative,  teils  auf  Ver- 
wendung von  Privatpersonen,  die  zur  Einbringung  von  Anträgen  gesetz- 
lich kein  Recht  hatten.  Sie  waren  in  diesem  Falle  die  vor  dem  Ge- 
setze verantwortlichen  Antragsteller.  Wir  haben  nur  für  Athen  die 
obligatorische  Einbringung  eines  Ratsprobnleuma  bezeugt  und  kein 
Recht,  dieses  spezifisch  athenische  Gesetz  auf  andere  Städte  und  Staaten 
Griechenlands  mit  ihren  wechselnden  Verfassungen  auszudehnen.  Also 
von  einer  Unterscheidung  von  probuleumatischen  und  Volksdekreten 
läßt  sich  keine  Spur  finden,"  Nun  wird  in  Jasos  Anc.  Gr.  iuscr.  III  444 
und  Lampsakos  Ath.  M.  VI  (1881)  96  das  -poJ^^ouXsüsiv  des  Rates  aus- 
drücklich erwähnt;  Swobodas  Aufstellung  ist  daher  nicht  anzufechten. 
Durch  die  Formel  7rpo(jTa-äv  oder  rpoxavecov  fvwixT)  wird  bezeugt,  daß 
für  diese  Beschlüsse  die  Prytanen  oder  Prostaten  verantwortlich  sind; 
wir  finden  da  eine  solidarische  Verantwortlichkeit  gegenüber  der  in- 
dividuellen in  Athen. 

Was  den  Vorsitz  im  Rate  betrifft,  so  wäre  diese  Frage  besser 
bei  K.  Vin  behandelt  worden.  Recht  hat  der  Verf.  mit  der  Unter- 
scheidung zwischen  den  2  Arten  des  Ratsvorstandes,  nämlich  dem 
wechselnden  Ratsausschuß  und  dem  Magistratskollegium  als  Ratsvorstand. 
Schoeffer  meint,  schon  die  Stellung  eines  jeden  Buleuten  wird  als  dpyy] 
bezeichnet,  daher  sei  jeder  Vorsitzende  des  Rates  eo  ipso  apytuv.  Allein 
es  ist  doch  zu  beachten,  daß  der  Rat  als  solcher  eine  apyr]  war  und 
.laß  der  Beamte  als  solcher  nicht  Buleute  war.  Daher  der  Unterschied 
von  Bedeutung  ist,  ob  ein  aus  der  Mitte  des  Rates  gebildeter  Ausschuß 
oder  ein  außerhalb  des  Rates  stehendes  Beamtenkollegium  den  Vorsitz 
im  Rate  führte.  Dieser  Ratsvorstand  bildete,  wie  Verf.  richtig  be- 
merkt, das  stetige,    oligarchische  Element  in  der  demokratischen  Ver- 


Bericht  üb.  d.  griecfa.  Staatsaltertüra.  f.  d.  J.  1893(1890)-  1!)Ü2.  (J.  Oehler.)  21 

t'assung  als  Gegengewicht  gegen  die  ausgedehnte  Machtvollkommenheit 
der  Ekklesie. 

K.  V.  Stellung  der  Nicht-Buleuten,  Bewerbung  um  Auszeichnungen. 
Es  werden  Beispiele  angeführt  für  den  Grundsatz  des  öifentlichen 
Rechtes,  daß  die  Stellung  von  Anträgen  im  Rate  den  Buleuten  vor- 
behalten war,  sowie  dafür,  daß  Bürger  für  ihre  Schützlinge  beim  Rate 
um  eine  Auszeichnung  nachsuchten.  Mögen  es  nun  Anträge  oder  viel- 
mehr Anregungen  von  Privatleuten,  Anerbietungen  zu  Leistungen  oder 
Vorschläge  von  Gesandtschaften  gewesen  sein,  die  eigentliche  Formulierung 
erfolgte  erst  im  Rate;  der  Rat  also  war  der  entscheidende  Faktor  für 
die  günstige  Erledigung.  Dem  Rate  stehen  auch  die  Beamten  in 
gleicher  Weise  gegenüber:  auch  der  Verkehr  der  Beamten  mit  dem 
Volke  wurde  durch  den  Rat  vermittelt.  Die  Sache  änderte  sich  durch 
die  Einwirkung  der  Römer:  es  wurde  dann  das  Recht  der  Antrag- 
stellung den  Magistraten  allein  vorbehalten.  So  sind  die  Dekrete  von 
Kyzikos  zu  erklären. 

K.  VI.  Auti'äge  von  Magistraten.  Nachdem  sich  ergeben  hat, 
daß  die  zwei  Typen  der  Psephismen  nicht  durch  die  Fassung  der 
Sanktionstbrrael  wie  in  Athen,  sondern  durch  den  den  Antragsteller 
betrefifenden  Bestandteil  bezeichnet  werden,  läßt  sich  an  diesem  Be- 
standteile auch  das  Verhältnis  der  Beamten  zum  Rate  und  zur  Volks- 
versammlung erkennen.  Jeder  Beamte  konnte  als  Bürger  durch  die 
Stellung  eines  Antrages  auf  die  Beschlußfassung  der  Gemeinde  ein- 
wirken. Davon  zu  unterscheiden  sind  die  Fälle,  in  denen  die  Beamten 
ohne  Vermittelung  des  Rates  mit  dem  Volke  verkehrten,  also  kraft 
ihres  Amtes.  Der  Verf.  weist  hin  auf  die  Strategen  in  Athen:  sie 
waren  die  einzige  Behörde  in  Athen,  welche  Buleutenrecht  genoß. 
Ahnlich  war  es  in  anderen  Städten,  wo  bestimmte  Kategorien  oder  die 
Gesamtheit  der  höhereu  Magistrate  ihre  Anträge  dem  Rate  unmittelbar, 
ohne  Beihilfe  eines  Buleuten  vorlegten.  Ob  damit  auch  ein  unmittel- 
bares Verhandlungsrecht  mit  dem  Volke  verbunden  war,  läßt  sich  nicht 
entscheiden.  Swoboda  meint,  der  Rat  habe  sich  in  diesen  Fällen  mit 
einem  formellen  Probuleuma  begnügt,  Schoeffer  dagegen  hält  an  der 
Erklärung  Lenschaus  fest,  die  Beamten  hätten  direkt,  sine  senatus 
consulto,  mit  dem  Volke  verhandelt. 

K.  VII.  Ständiges  Referat  der  Magistrate,  Synarchien.  Wenn 
Beamte  einen  Antrag  stellen ,  so  geschieht  es  zunächst  in  den  Fälle«, 
die  in  die  Kompetenz  der  betreffenden  Beamten  gehörten;  ihr  Antrag 
erhält  dadurch  den  Wert  eines  fachmännischen  Gutachtens,  unter- 
scheidet sich  von  der  Vorlage  durch  den  Ratsvorstand.  Durch  solche 
Anträge,  für  welche  die  Kollegien  hafteten,  wurde  die  Politik  des 
Staates  in  bestimmte  Bahnen  geleitet.     In  manchen  Städten  nun  wurde 


22   Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

den  Beamten,  meistens  den  vereinigten  Kollegien  der  wichtigsten  und 
höchsten  Beamten  die  ständige  Berichterstattung  zugewiesen.  Dadurch 
traten  sie  an  die  Stelle  des  Ratsvorstandes,  der  Ausschüsse,  bildeten  also 
die  vorberatende  Kommission  für  die  Verhandlungen  des  Rates  uod  der 
Ekklesie.  Für  diese  vereinigten  Kollegien  wird  nach  Foucarts  Vorgang 
der  Ausdruck  Synarchien  gebraucht  und  deren  Wesen  erörtert. 
Danach  bedeutet  auvapyta  1.  das  Magistratskollegium;  2.  in  der 
römischen  Zeit  im  griechischen  Osten  das  Archontenkolleginm;  3.  bei 
den  Achaiern  sowohl  in  dem  Bundesstaate  als  in  seinen  Gliedern 
ist  ai  cuvapyioct  der  stehende  Ausdruck  für  dasjenige  Kollegium  vou 
Beamten,  welchem  die  vorbereitende  Tätigkeit  für  die  Bundesver- 
sammlung, beziehungsweise  für  die  lokalen  Vertretuugskörper  zusteht. 
Die  cuvapyiai  waren  ursprünglich  keine  Einschränkung  der  Demokratie, 
sondern  wurden  es  erst  unter  dem  Einflüsse  der  Römer,  denen  sie  sehr 
gut  paßten. 

K.  VIII.  Vorsitz  des  Magistrates  in  Rat  und  Volksversammlung. 
In  manchen  Städten  hatten  Beamte  überhaupt  den  Vorsitz  und  das 
Referat  in  Rat  und  Volksversammlung.  Diese  Einrichtung  steht  im 
Gegensatze  zu  der  andern,  bei  welcher  die  beratenden  Versammluogeu 
ihr  Präsidium  aus  sich  selbst  bestellen.  Es  ist  eine  Übertragung 
römischer  Einrichtungen  auf  griechischem  Boden;  nach  römischer  An- 
schauung hatten  allein  die  höheren  Beamten  das  Recht,  mit  dem  Volke 
zu  verhandeln.  Es  wurden  dann  die  Elemente  der  früheren  Ordnung 
berücksichtigt.  Dabei  fiel  nicht  überall  das  Präsidium  im  Rate  mit 
dem  der  Volksversammlung  zusammen,  sondern  war  öfter  getrennt. 
Schoeffer  macht  wohl  mit  Recht  darauf  aufmerksam,  daß  ein  strenger 
Unterschied  gemacht  werden  mußte  zwischen  dem  Vorsitze  (Referate) 
der  Beamten  in  Rat  und  Volksversammlung  und  dem  ihnen  verlieheneu 
Rechte,  Anträge  zu  stellen.  Dies  letztere  Recht  euthält  nur  dann  eine 
Prärogative,  wenn  es  mit  Ausschluß  aller  Nichtmagistrate  oder  niederen 
Magistrate  als  Reservatrecht  auftritt.  Unrecht  hat  Schoeffer  mit  der 
Behauptung,  daß  der  Vorsitz  überall  und  zu  jeder  Zeit  in  Hellas  ein 
unveräußerliches  Recht  eines  bestimmten  Beamten  oder  Beamteu- 
kollegiums  gewesen  sei. 

K.  IX.  Veränderungen  unter  dem  Einflüsse  der  Römer.  In  den 
meisten  Fällen  erhielten  die  Magistrate,  gewöhnlich  auvap-/tat,  allein 
das  Recht,  an  Rat  und  Volk  zu  referieren,  daher  jeder  Antrag  ihnen 
zur  Prüfung  und  Begutachtung  übermittelt  werden  mußte;  so  hatten 
denn  Beamte  die  Funktionen  übernommen,  welche  früher  dem  Vorstande 
des  Rates  zukamen.  Ausnahmsweise  werden  Nicht-Magistrate  als  Vor- 
sitzende, Private  als  Antragsteller  erwähnt.  Es  spielt  eine  wichtige, 
vielleicht  die  wichtigste  Rolle  der  Schreiber,  dem  die  eigentliche  Vor- 


Bericht  üb  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  23 

bereitung  und  Formulierung  der  Anträge  sowie  die  Geschäftsführung 
im  I^ate  zufiel  und  der  nun  einer  der  ersten  Würdenträger  war.  Die 
Einwirkung  der  Eömer  kommt  auch  in  der  formellen  Gestaltung  der 
Psepbismen,  für  welche  die  römischen  Senatuskonsulte  vorbildlich  waren, 
zum  Ausdrucke,  Wichtig  ist  die  veränderte  Stellung  des  Rates: 
aus  einem  ratgebenden  wurde  er  durch  die  Römer  zu  einem  mitent- 
scheidenden Faktor.  Die  Veiänderung  vollzog  sich  allmählich;  die 
früheren  Stadtverfassungen  blieben  bestehen,  nur  wurden  sie  zweckent- 
sprechend von  den  Römern  umgebildet.  Die  Ausführungen  des  Verf. 
in  diesem  Kapitel  sind  vollkommen  überzeugend  und  fanden  allgemeine 
Billigung.  Über  die  Stellung  Griechenlands  unter  den  Römern  s.  auch 
unten  Liebenam. 

K.  X.  Gliederung  der  Präskripte,  Postskript,  Formulierung  der 
Gesetze,  Kontrakte,  Verträge.  Erweitert  wurde  das  Präskript  durch 
die  Nennung  des  Vorsitzenden,  die  Art  der  Versammlung  und  durch 
die  Datierung.  Diese  Bestandteile  wechseln  nach  Zeit  und  Ort  und 
treten  nebeneinander  in  die  verschiedenartigsten  Verbindungen  ein. 
Am  vollständigsten  ist  das  Präskript  in  Athen  seit  der  Mitte  des 
IV.  Jahrh.  v.  Chr.  —  Zuweilen  stehen  Teile,  die  sonst  im  Präskripte 
vorkommen,  ja  das  ganze  Präskript  am  Schlüsse  des  Dekretes;  dafür 
hat  Verf.  den  passenden  Ausdruck  Postskript;  dieses  findet  sich  häufig 
im  nordgriechischen  Lokalstile.  Nun  entbehrt  eine  Klasse  von  In- 
schriften des  Präskriptes  oder  Postskriptes  vollständig;  es  sind  dies 
Gesetze,  dann  Verordnungen  sakraler  Natur,  Kontrakte,  Verträge. 
Daraus  darf  nicht  geschlossen  werden,  daß  die  Art  der  Entstehung  eine 
von  der  der  übrigen  Dekrete  verschiedene  gewesen  sei.  Wir  kennen 
Nomothesie  und  Nomographie  auch  in  Städten  außer  Athen.  —  Es  ist 
eine  Eigentümlichkeit  des  Urkundenstils,  der  sich  daraus  erklärt,  daß 
man  an  der  Gewohnheit,  einen  Beschluß  durch  kurze  Aufschreibung 
wiederzugeben,  versehen  mit  einer  Überschrift,  festhielt.  Durch  diesen 
älteren  Stil  erhielt  die  Urkunde  das  Gepräge  einer  größeren  Feierlich- 
keit. Die  Vereinbarung  selbst  und  das  Psephisma,  welches  sie  ge- 
nehmigte, brauchten  nicht  beide  aufgezeichnet  zu  werden,  es  genügte  eines 
von  beiden.  Dankenswert  ist  in  diesem  Kapitel  die  Darlegung  über 
die  Gesetzgebung  in  außerattischen  Staaten. 

K.  XI  gibt  ein  Verzeichnis  der  Präskripte  und  Postskripte ;  damit 
wird  der  bisherige  Bestand  an  Material  nachgewiesen  und  eine  rasche 
Orientierung  durch  Nachschlagen  ermöglicht. 

Im  Anschlüsse  an  das  Buch  Swobodas  sei  erwähnt: 

14.   C.  Gnaedinger,    „De  Graecorum    magistratibus    eponymis 
quaestiones  epigraphicae  selectae".    Straßburg  1892. 


24  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertütn.  f  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.Oehler). 

Dei-  Verf.  gibt  zuerst  eine  Erklärung  des  Begriflfes  „eponyme  Be- 
amte" und  behandelt  diese  besonders  auf  Grund  der  Inschriften  vor- 
nehmlich aus  der  Zeit  nach  Alexander  dem  Großen;  es  werden  3  Arten 
von  eponymen  Beamten  besprochen:  1.  Priester;  2.  bürgerliche  Magistrate; 
3.  die  höchsten  politischen  Beamten,  verwendet  zur  Bezeichnung  des 
Jahres.  Es  finden  eine  Reihe  von  Inschriften  nach  diesen  3  Gesichts- 
punkten Besprechung;  interessant  ist  vor  allem  das  erste  Kapitel  „De 
sacerdatibus",  in  dem  der  Nachweis  erbracht  ist,  daß  diese  Art  der  Datie- 
rung viel  ausgedehnteren  Gebrauch  fand,  als  man  ei warten  möchte,  und 
nicht  nach  Stämmen  verschieden  war. 

Mit  den  staatlichen  Einrichtungen  Griechenlands  im  allgemeinen 
befassen  sich  auch  mehrere  umfangreichere  Artikel  in  den  beiden  großen 
Enzyklopädien,  nämlich  in  Daremberg  Saglio ,  Dictionnaire  des  Anti- 
quites  grecques  et  romaines,  von  dem  bis  jetzt  31  Lieferungen  (bis 
Magister)  erschienen  sind,  und  Panly  -  Wissowa,  ßealenzyklopädie 
(Band  I— IV,  Demodoros).  Zu  erwähnen  sind  in  ersterem  Werke: 
xu)}i7]  von  Fougeres  (III  852 — 859);  87][j,ioup7oi  von  Caillemer  (II  66  f.j; 
laoxeXsia  von  Lecrivain  (III  5S7/8).  Aus  Pauly- Wissowa,  ßeal- 
enzyklopädie hebe  ich  hervor  die  Artikel  von  V.  v.  Schoelfer:  ßasiXs-Jc 
(III  58 — 82);  ap/ov-sc  (II  565—99),  in  dem  eine  Übersicht  über  das 
Vorkommen  dieser  Bezeichnung  gegeben  und  mit  Recht  behauptet  wird, 
daß  das  Archontat  als  spezielles  Amt  niemals  bei  den  Dorern  und 
ihnen  nahestehenden  Stämmen  vorkommt,  sondern  daß  es  als  ursprüng- 
lich nur  für  Athen  und  Boiotieu  angenommen  werden  muß;  aus  Boiotien 
wurde  es  von  den  nordgriechischen  Völkerschaften,  aus  Athen  von  den 
Inselbewohnern,  besonders  der  Cykladen  entlehnt;  oyj[jLioup7oi  (IV,  2856 
— 62,  bes.  2858  f.):  diese  Magistratur  war  keineswegs  den  Dorern 
eigentümlich,  erscheint  unzweifelhaft  alt  in  Elis,  Acnaia,  bei  den  Lokrern 
und  Phokern,  in  einigen  Städten  Thessaliens  und  gewann  Bedeutung  in 
den  Bünden.  Der  Artikel  ßouXY^  (III  1020—1037)  vom  Referenten  gibt 
eine  Übersicht  über  Vorkommen  und  Wirkungskreis  des  Rates  auch 
außer  Athen;  dj-uvojxoi  (II  1870—72)  und  axe^^eia  (II  1911—13)  vom 
Referenten  suchen  besonders  auf  Grund  der  Inschriften  die  Verbreitung 
dieser  Einrichtungen  zu  bestimmen. 

Über  die  Verfassung  der  griechischen  Städte  unter  der  römischen 
Herrschaft  handelt 

15.    W.  Liebenam,  Städteverwaltung  im  römischen  Kaiserreiche. 
Leipzig  1900. 

Hier  sollen  nur  die  auf  Griechenland  bezüglichen  Teile  des 
tüchtigen  Buches  erwähnt  werden.  S.  216  f.  gibt  die  politische 
Gliederung  der  Bevölkerung  in  VoUbürger,  Insassen  (Tiapoixoi),  aTisXeudspoi 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  25 

(Freigelassene)  und  e^eXeuöepot  (die  Kinder  der  Freigelassenen),  wozu 
die  Ssvot  i:ap£7ci8yi|jLouvT£?  kommen,  unter  denen  vor  allem  die  römischen 
Kanfleute  von  Bedeutung  waren.  Es  wird  dann  über  die  Bürgerrechts- 
verleihnng  gehandelt  und  die  gestattete  Kumulierung  von  Bürger- 
rechten. S.  220  f.  gibt  die  Einteilung  der  Bürger  in  Pbylen  und  in 
deren  Unterabteilungen,  die  Benennung  derselben  und  ihre  Organisation 
sowie  ihre  Befugnisse.  Mit  Recht  wird  darauf  hingewiesen,  wie  die 
uralten  Einrichtungen  vielfach  fortbestanden  und  mit  Stolz  gepflegt 
wurden.  Dankenswert  ist  die  Zusammenstellung  der  Städte,  in  denen 
uns  Phylennamen  bekannt  sind.  Eingehend  wird  dann  227  f.  über  die 
ßouXv^  gesprochen;  ein  eigener  Anhang  565  f.  behandelt  die  ^spoujia  in 
den  kleinasiatischen  Städten.  Wertvoll  sind  die  Zusammenstellungen  über 
das  Vorkommen  der  einzelnen  Amter. 

Hier  mögen  noch  einige  Werke  angeführt  werden,  die  zwar  nicht 
„Staatsaltertümer "  behandeln,  aber  von  Bedeutung  sind  für  die  Er- 
kenntnis mancher  Zweige  des  griechischen  Staatslebens. 

Dazu  gehört: 

16.    E.  Ziebarth,  Das  griechische  Vereinswesen.    Leipzig  1896. 

Die  Arbeit  ist  grundlegend,  weil  sie  zum  erstenmal  das  inschrift- 
liche Material  gesammelt  darbietet  und  systematisch  verarbeitet.  Dabei 
ist  die  kulturhistorische  und  sozial-ökonomische  Bedeutung  der  Vereine 
hervorgehoben,  aber  nicht  voll  gewürdigt;  eine  solche  Würdigung  ist 
Sache  einer  selbständigen  Arbeit.  Bei  der  Sammlung  des  Materiales 
sind  auch  Inschriften  aufgenommen,  deren  Bezug  auf  einem  Verein 
wohl  sehr  zweifelhaft  ist.  Bei  der  Feststellung  der  Terminologie  ist 
es  dem  Verfasser  gelungen,  Klarheit  über  die  Bezeichnungen  zu  ver- 
schaffen; leider  hat  er  es  vermieden,  auf  den  Unterschied  zwischen 
op7£<Lv£c  und  ötaatÜTat  einzugehen.  Daher  finden  wir  bis  jetzt  noch 
immer  (so  auch  von  Wilhelm  Jahresh.  d.  ö.  arch.  Instit.  V  (1902) 
S.  132)  die  Behauptung,  es  habe  kein  Untei-schied  bestanden.  Referent 
hat  sich  den  Unterschied  dahin  klargemacht:  dp^scüve;  sind  Bürger- 
vereine im  Dienste  staatlich  anerkannter  Gottheiten,  während  diautöxai 
die  Mitglieder  solcher  Vereine  sind,  die  a)  aus  Fremden  allein  oder 
b)  aus  Fremden  und  Bürgern  bestehen  im  Dienste  einer  fremden  oder 
in  den  Staatskult  aufgenommenen  Gottheit.  Der  Nachweis  soll  an 
anderer  Stelle  geführt  werden.  Eine  geographisch  geordnete  Übersicht 
der  Städte  ermöglichte,  sich  ein  Bild  von  dem  Vereinsleben  der  einzelnen 
Städte  zu  machen;  eine  solche  Übersicht  fehlt  leider  und  erschwert  die 
Benützung  des  verdienstlichen  Buches. 

Die  Vereine  und  das  Vereinsleben  bei  den  Griechen  findet  auch 
vielfach  Erwähnung  in  dem  Werke  eines  Amerikaners: 


26  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

17.  C.  0.  Ward,  A  history  of  the  ancient  working  people  frora 
the  earliest  known  period  to  the  adoptiou  of  Christianity  by  Con- 
stantine.     WashingtoD.     I.  Band  1893;  II.  Band  1901. 

Das  "Werk  kann,  besonders  für  den  ersten  Band,  keinen  Anspruch 
auf  strenge  Wissenschaftlichkeit  erheben ,  verdient  aber  schon  deshalb 
Beachtung,  weil  es  uns  zeigt,  wie  in  unserer  Zeit,  die  sich  bei  uns 
nicht  genug  tun  kann  in  Angriffen  gegen  das  klassische  Altertum,  be- 
sonders gegen  das  griechische  und  in  der  selbst  ein  Rektor  Magnifikus 
der  Wiener  Universität  sich  zum  Wortführer  macht  der  Gegner  der 
klassischen  Bildung,  in  dem  nüchternen  Amerika  das  klassische  Altertum 
Wertschätzung  findet.  In  dem  ersten  Teile,  den  39  Abbildungen 
schmücken,  finden  sich  lebensfrische  Bilder  aus  der  Organisation  des 
arbeitenden  Volkes;  die  Aufstände  desselben  und  deren  soziale  Be- 
deutung finden  gerechte  Würdigung.  Es  wird  dann  der  Messias  ge- 
schildert als  Handwerker  und  Prophet,  die  Organisation  der  ersten 
Christengemeinden  mit  Recht  angeknüpft  an  die  Handwerkervereine; 
dabei  läßt  sich  der  Verfasser  freilich  in  seiner  Begeisterung  zu  Be- 
hauptungen hinreißen,  die  sich  nicht  beweisen  lassen.  Der  II.  Band: 
Origins  of  socialism  zeigt  einen  bedeutenden  Fortschritt:  ebenso  wie  im 
ersten  finden  wir  zahlreiche  Stellen  aus  den  Kirchenvätern,  dazu  treten 
inschriftliche  Belege.  Das  5.  Kapitel  behandelt  die  Bedeutung  des 
solonischen  Vereinsgesetzes;  das  8.  die  vorchristlichen  Vereine;  dabei 
ist  S.  169 — 174  in  Anm.  eine  vom  Referenten  dem  Verfasser  zur  Ver- 
fügung gestellte  geographisch  geordnete  Übersicht  über  die  griechischen 
Vereine  abgedruckt.  Gewiß  wird  die  Arbeit  W.  bei  seinen  Lands- 
leuten die  verdiente  Anerkennung  finden  und  Anregung  zur  Forschung 
in  der  angegebenen  Richtung  bieten,  die  geeignet  ist,  das  Interesse  auch 
der  größeren  Menge  für  das  griechische  Altertum  zu  erwecken. 

Ein  neues  Licht  auf  wichtige  Seiten  des  antiken  Kultur-  und 
Geisteslebens  zu  werfen,  stellt  sich  zur  Aufgabe  das  große  Werk: 

18.  R.  Pohl  mann,  Geschichte  des  antiken  Kommunismus  und 
Sozialismus.     München.     I.  Bd.  1893;  II.  Bd.  1901. 

Vgl.  dess.:  „Die  Anfänge  des  Sozialismus  in  Europa«  in  d.: 
HZ  79  (1897)  385-451;  80  (1898)  193-242;  385-435. 

Es  ist  hier  nicht  die  Stelle,  dieses  Buch  eingehend  zu  würdigen, 
das  ja  nicht  in  die  Staatsaltertümer  gehört;  doch  ist  es  für  die  Erkenntnis 
der  staatsrechtlichen  Entwickeluug  von  Bedeutung.  Im  allgemeinen 
ist  es  ausgeweitet  zu  einer  Geschichte  der  sozialen  Frage  im  klassischen 
Altertum  und  gibt  im  II.  Bande  eine  ausführliche  Behandlung  der 
sozialen  Demokratie.  Wir  erhalten  Aufschluß  über  den  Kommunismus 
der  Urzeit  und  die  Hauskommunion    bei  Homer;    die  kommunistischen 


Bericht  üb.  d  griecb.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893!  1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  27 

Einrichtungeu  auf  Lipara  werden  darcli  den  Charakter  dieser  Insel  als 
Korsarenburg  erklärt.  Die  gemeinsamen  Mahlzeiten  in  Sparta  und  auf 
Kreta  beruhen  nicht  auf  kommunistischer  Grundlage,  sondern  sind  aus 
politisch -militärisclien  Motiven  abzuleiien.  Die  neue  politische  und 
soziale  Ordnung  zeigt  sich  als  Ergebnis  der  Bewegungen  des  VI.  Jahrb. ; 
dabei  tritt  ein  Widerspruch  ein  zwischen  der  sozialen  und  politischen 
EntWickelung,  der  zur  Politik  der  Faust  führt  und  zur  Auffassung  des 
Staates  als  einer  Erwerbsgenossenschaft.  Es  wird  hingewiesen  auf  die 
Bedeutung  der  Vereinsbilduogen  bei  den  Griechen ;  auf  solche  sind 
wohl  mit  Dümmler  BphW  1895,  148  auch  die  Nachrichten  über  die  pj-^tha- 
goiäische  Gütergemeinschaft  zurückzuführen,  nicht  aber  mit  Pöhlmann 
als  späte  Erfindung  zu  erklären.  Auch  die  Arbeiteraufstände  sind  be- 
handelt. Soweit  kommt  das  Buch  für  diesen  Bericht  in  Betracht:  Es  sind 
neue  Wege  für  die  Betrachtung  des  klassischen  Altertums  gewiesen  und 
auch  da,  wo  Mängel  sich  zeigen  und  ausgestellt  werden,  ist  der  richtigen 
Erkenntnis  vorgearbeitet  schon  dadurch,  daß  die  betreffende  Frage 
überhaupt  berührt  wurde.  Es  wird  die  Aufgabe  sein,  auf  der  ge- 
gebenen Grundlage  nachzuprüfen,  zu  berichtigen  und  weiter  zu  bauen. 
Anhangsweise  mögen,  da  ein  Bericht  über  die  griechischen  ßechts- 
altertümer  augenblicklich  nicht  gegeben  wird,  aber  gerade  das  griechische 
Recht  vielfache  Behandlung  erfuhr,  die  das  griechische  Recht  betreffen- 
den Schriften  angeführt  werden: 

Th.  Thalheim,  Rechtsaltertümer.  Freiburg  i.  B.  und  Leipzig 
1895  (=K.  Fr.  Hermanns  Lehrbuch  der  griechischen  Antiquitäten, 
IL  B.  1  Abt.  4.  Aufl.). 

H.  F.  Hitzig,  Das  griechische  Pfandrecht.    1895. 

E.  Szanto,  Über  die  griechische  Hypothek.  Arch.  -  epigr. 
Mitt.  XX  (1897)  101—114. 

G.  Gilbert,  Beiträge  zur  Entwickelungsgeschichte  des  grie- 
chischen Gerichtsverfahrens  und  des  griechischen  Rechtes.  Leipzig  1896 
(XXIII.  Supplementband  d.  Jahrb.  f.  kl.  Philol.  S.  445—536). 

E.  Hruza,  Beiträge  zur  Geschichte  des  griechischen  und  römischen 
Familienrechtes.  I.  Die  Ehebegründnng  nach  attischem  Rechte,  1892. 
II.  Polygamie  und  Pellikat  nach  griechischem  Recht,    1894. 

L.  Ott,  Beiträge  zur  Kenntnis  des  griechischen  Eides.  Leip- 
zig 1896. 

E.  Ziebarth,  Der  Fluch  im  griechischen  Recht.  Hermes  XXX 
(1895)  57  —  70. 

E.  Ziebarth,  Popularklagen  mit  Delatoreuprämien  nach  grie- 
chischem Recht.     Hermes  XXXII  (1897)  609-628. 


28  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.  (J.  Oehler., 

L.  Mitteis,  L.,  ßeichsrecht  und  Volksrecht  in  den  östlichen 
Provinzen  des  römischen  Kaiserreiches.    Leipzig  1891. 

Dziatzko,  Autor-  und  Verlagsrecht  im  Altertum.  Rh.  Mus.  XLIX 
(1894)  559  f. 

*P.  Guiraud,  La  propriete  fonciere  en  Grece  jusqtfä  la  con- 
quete  romaine. 

*H.  Francotte,  L'industrie  dans  la  Grece  ancienne. 

*L.  Brehier,  De  Graecoram  iudiciorum  origine.   Paris  1899. 


III.  Der  homerische  Staat. 

Außer  in  den  bereits  bezeichneten  Handbüchern  liegen  besondere 
Arbeiten  über  den  homerischen  Staat  allein  nicht  vor.  Das  Interesse 
wandte  sich  vielmehr  dem  mykenischen  Zeitalter  zu,  das  uns  durch  so 
große  Reste  an  Bauten  und  durch  die  Erzeugnisse  des  Kunstgewerbes 
bekannt  geworden  ist.  So  verlockend  es  auch  ist,  diesen  Artikel  zu 
einem  über  das  mykenische  Zeitalter  zu  erweitern,  so  paßt  doch  ein 
solcher  nicht  in  den  Rahmen  dieses  Berichtes,  da  wir  über  die  staat- 
lichen Verhältnisse  des  mykenischen  Zeitalters  keine  direkte  Kunde 
haben.  Es  wird  noch  die  Aufgabe  zu  lösen  sein,  die  homerischen  Ge- 
dichte nach  dieser  Seite  zu  untersuchen;  in  den  älteren  Stücken  der 
Dichtung  werden  sich  gewiß  Anklänge  an  die  mykenische  Zeit 
linden  lassen. 

Über  Mykenai  und  das  mykenische  Zeitalter  sind  zwei  Werke 
erschienen,  die  nur  erwähnt  werden  mögen: 

21.  X.  Taoüvxa?,  Muxrjvai  xal  Muxifjvato;  ttoXitisixo';.  'ABr^v/jaiv  1893. 

22.  Ch.    Tsountas    and    J.    Manatt,    The    Mycenaean    age. 
London  1897. 

Zu  vgl.  ist  auch:  Ridgeway:  What  people  produced  the  obiects 
calied  Mycenaen?    Journ.  of  hell.  stud.  XVI  (1896),  77  f. 

Das  homerische  Königtum  ist  behandelt  von  v.  Schoeffer  in  dem 
Artikel  ßaatXsus  bei  Pauly-Wissowa  III,  55  f.  —  Hammond  behandelt 
im  3.  Kapitel  S.  26  f.  die  heroische  Monarchie;  er  folgt  Grote  in  der 
Annahme,  es  seien  die  Achaier  allein  in  der  Ilias  und  Odyssee  von  Be- 
deutung; die  bedeutenden  Faktoren  seien:  paatXsuf,  a-jopr],  -/epovisi  und 
endlich  die  Xaoi.  —  Mit  Recht  wird  aufmerksam  gemacht,  daß  nicht 
der  König  allein  entscheidet.  Neues  wird  darin  nichts  geboten.  Auch 
Whibley  bietet  in  §  22  The  Heroic  Monarchy  S.  63  f.  nichts  Neues: 
auch  er  spricht  nach  Grote  von  der  achaischen  Periode.  Die  Gesell- 
schaft erscheint  auf  patriarchalischer  Grundlage  organisiert.     Die  Vei- 


Bericht  üb.  d.  griecb.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  29 

fassnng    umfaßt  den  König,    die  Versammlung  der  Adeligen,    die  Ver- 
sammlung des  Volkes. 

Was  die  Einteilung  des  Volkes  betrifft,  meint  Szanto,  Pbylen 
S.  3/4 :  unter  ^üXa  seien  die  in  der  Boiotia  aufgezählten  Staaten  zu 
verstehen,  nicht  aber  die  Phj'len  der  historischen  Zeit. 

Über  die  Sklaven  im  homerischen  Zeitalter  handelt: 

23.  D.  Seymour,  Slavery  and  Servitude  in  Homer.  In:  The 
American  Journal  of  Archaeology  V  (1901),  S.  23  und  24. 

Er  verweist  darauf,  daß  das  "Wort  ooüXo?  bei  Homer  nicht  vor- 
kommt, daß  die  gewöhnlichen  3  charakteristischen  Merkmale  für  den 
♦Sklaven  bei  den  in  Knechtschaft  lebenden  Menschen  des  homerischen 
Zeitalters  sich  nicht  finden.  Eumaios  bat  selbst  Diener,  Dolios  hat 
Weib  und  Kinder.  —  Männliche  Sklaven  waren  im  Haushalte  des 
homerischen  Zeitalters  unbekannt:  die  achaischen  Häuptlinge  haben  auf 
ihrer  Fahrt  gegen  Troja  ebensowenig  Diener  mitgenommen  wie  die 
Argonauten.  So  war  denn  auch  die  freie  Arbeit  noch  nicht  durch 
Sklaven  verdrängt.  Gekaufte  Sklaven  werden  nur  drei  erwähnt.  — 
Daher  billigt  Seymour  die  Angabe  Herodots,  daß  die  alten  Griechen 
keine  Sklaven  hatten. 

Eine  interessante  Untersuchung  über  das  Seewesen  der  homerischen 
Zeit  ist: 

24.  G.  Glotz,  „Les  naucrares  et  les  Prytanes  des  naucrares 
dans  la  cite  homeiique".  In:  Eevue  des  Etudes  grecques  XIII 
(1900),  S.  137-157. 

Der  Verf.  weist  darauf  hin,  daß  bei  den  Studien  über  die  Ein- 
richtungen des  homerischen  Staates  die  Seemacht  (Marine)  vernach- 
lässigt wurde,  und  meint,  die  Ausfüllung  dieser  Lücke  werde  auch  ein 
Licht  werfen  auf  die  Entstehung  der  Maiineverwaltung  der  historischen 
Zeit.  Er  behandelt  die  Stelle  Od.  VIII,  27—36  und  48—49.  Die 
Bemannung  wird  -ai-A  or^u-oi  rekrutiert,  was  das  Vorhandensein  einer 
staatlichen  Verwaltungseinteilung  voraussetzt.  Diese  stützt  sich  auf 
die  Einteilung  des  Volkes  iu  Phratrien  und  Phyleu.  Der  Verf.  findet 
nnn  eine  Beziehung  zwischen  der  Zahl  der  Schiffe  und  der  Dreizahl  der 
dorischen  Pbjien  ,  bei  den  loniern  zu  der  Vierzahl.  Odysseus  hatte 
12  Schiffe,  ebenso  viele  Phylen  oder  Phratrien  gab  es  in  Ithaka;  die 
Zahl  12  dient  für  alle  Zweige  der  Verwaltung,  auch  für  die  Mai'ine. 
Verf.  stellt  S.  144  die  Behauptung  auf:  die  Flotte  ist  die  auf  das  Meer 
verpflanzte  Bürgerschaft,  die  nach  ihrer  Gliederung  in  Phylen  und 
Phi-atrien  auch  herangezogen  wird  zur  Stellung  des  Schiffsmaterials  und 
der  Bemannung.  Bei  den  Phäaken  werden  von  jedem  der  13  Teile  des 
Volkes  4  Mann  zur  Bemannung  gestellt:  wahrscheinlich  sind  die  erwähnten 


30  Bericht  üb,  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893;  1890)— 1902.  (J.  Oehler;i 

ßaatX^ec  die  Vorstände  der  Phratrien,  deren  je  4  zu  einer  Phyle  ge- 
hören. Es  stellt  also  jede  Phratrie  einen  Mann.  Die  Vorstände  der 
Phratrien  sind  die  Leiter  der  Seeverwaltung  unter  Aufsicht  der  ^uÄo- 
ßaaiXetc,  der  Vorstände  der  Phylen.  Die  Organisation  des  Seewesens 
sei  dann  in  die  historische  Zeit  verpflanzt  worden.  Samos  baute 
704  V.  Chr.  G.  eine  Flotte  von  4  Fahrzeugen,  Polykrates  stellte 
40  Trieren,  während  des  ionischen  Aufstandes  zählte  die  samische  Flotte 
60  Schilfe.  "Wahrscheinlich  bestanden  in  Samos  die  4  ionischen  Phylen. 
mit  deren  Zahl  dann  die  Zahl  der  Schiffe  in  Beziehung  steht.  Auch 
in  den  Naukrarien  Athens  kann  man  vielleicht  eine  alte  Einrichtung 
erkennen;  die  Aufgaben  der  vauxpapot  sind  denen  der  ßaatX^e?  von 
Scheria  gleich;  danach  waren  die  Prytanen  der  Naukraren  die  Phylo- 
basileis.  Im  Athen  des  VII.  Jahrhunderts  waren  die  Archonten  die 
obersten  Beamten,  aber  die  «puXoßaaiXsT?  hatten  die  richterliche,  finanzielle, 
militärische  und  maritime  Verwaltung.  Ref.  kann  auf  die  letzte  Be- 
hauptung erst  bei  der  Besprechung  der  athenischen  Flotte  eingehen: 
was  die  Ausführungen  über  die  Flotte  zur  homerischen  Zeit  betrifft, 
werden  wir  sie  wohl  mit  großer  Vorsicht  aufnehmen. 

Mit  den  Zuständen  des  homerischen  Zeitalters  beschäftigt  sich 
Felix  Moreau  in  3  Aufsätzen: 

25.  F.  Moreau,  Les  finances  de  royautö  homerique.  Revue  des 
Etudes  grecques  VIII  (1895),  S.  287—320. 

Es  wird  das  Wesen  und  die  Bedeutung  des  t£}j.£vo;  erörtert: 
dies  wird  zugleich  mit  der  Königswürde  verliehen  und  bleibt  vom 
Privateigentum  des  Königs  gesondert;  war  das  Königtum  ein  erbliches, 
dann  wurde  auch  das  tIjj-evo?  vererbt,  daher  die  Bezeichnung  Tra-rptuiov 
TEIxevos.  —  Zu  den  Einnahmen  des  Königs  gehört  die  Königsbeute,  deren 
Verteilung  nach  des  Verf.  Ansicht  durch  das  Heer  erfolgte;  dabei  erhielt 
der  König  außer  seinem  Anteil  ([J-otpa)  wohl  noch  ein  besonderes  Stück 
als  -/epac.  Außer  den  Einkünften  aus  dem  tsjjlevoc  und  der  Kriegsbeute 
hatten  die  Untertanen  gewisse  Abgaben  zu  leisten;  ob  ein  Unterschied 
zwischen  OsfAUTsc  und  öiotivcc.  in  der  Weise  zu  machen  ist,  daß  erstere 
die  regelmäßigen  Abgaben,  letztere  aber  freiwillige  Geschenke  des 
Volkes  bezeichnen,  läßt  sich  nicht  bestimmen;  jedenfalls  fehlt  ein  festes 
System  regelmäßiger  Abgaben.  Zu  dem  Reichtum  der  Könige  trug 
ihr  Handel  bei  und  die  Geschenke  der  bewirteten  Gäste  bildeten  einen 
Teil  ihrer  Einkünfte.  Über  die  Ausgaben  des  Königs,  die  seiner 
Würde  entsprangen,  läßt  sich  nichts  bestimmen. 

26.  F.  Moreau,  Les  festins  royaux  et  leur  portee  publique 
d'apres  TDiade  et  TOdyssee.  Rev.  des  fitudes  grecques  VII  (1894), 
S.  133—145. 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  31 

Der  Verf.  zeigt,  daß  die  köuiglichen  Mahlzeiten  in  keiner  not- 
wendigen Verbindung  stehen  mit  dem  politischen  Leben;  daß  sie  nur 
ein  Höflichkeitsakt  sind,  ausgetauscht  mit  den  Freunden  des  Königs, 
und  ihre  politische  Bedeutung  nur  zufällig  ist.  —  Der  König  hatte 
volle  Freiheit  bei  seinen  Einladungen.  Das  V^olk  zahlte  diese  Mahl- 
zeiten nur  indirekt.  Diese  Mahlzeiten  sind  demnach  keine  öffentliche 
Einrichtung,  kein  Vorrecht  der  Könige  und  auch  nicht  die  gewöhnliche 
Form  der  Beratung. 

27.     F.  Moreau,    Les    assemblees    politiques   d' apres  l'Diade  et 
l'Odyssee.     Revue  des  Etudes  grecques  VI  (1893),  S.  204—250. 

Es  ist  ein  Unterschied  zwischen  ßouXiQ  und  070 piQ;  dtSxo?  bezeichnet 
keine    3.    Art    von  Versammlung    neben    den    beiden    genannten.     Die 
a';opr^  ist  die  allgemeine  Versammlung,  an  der  alle  Bürger  teilnehmen. 
Das  Recht,    sie  zu  berufen,   stand  nach  Moreau  jedem  Bürger  zu,  der 
vor  dem  Volke  öffentliche  Angelegenheiten  besprechen  wollte.    Die  Ver- 
sammlung   fand    auf   einem    öffentlichen  Platze    statt,    der  auch  appT] 
hieß ;  während  das  Volk  im  Kreise  herumsaß,  saßen  die  Führer  in  der 
JNIitte  auf  geglätteten  Steinen.    Jeder  hatte  das  Recht  zu  sprechen  und 
genoß  volle  Redefreiheit.  Die  Kompetenz  ist  schwer  zu  bestimmen:  sie 
wurde  wohl  berufen,  um  über  Angelegenheiten  des  allgemeinen  Interesses 
zu  entscheiden ;   dabei  fühlte  sich  die  Minorität  durch  die  Entscheidungen 
der  Majorität  nicht  gebunden.     Die  Zustimmung  erfolgte  durcli  Akkla- 
mation oder   durch  ein  Murmeln  der  Billigung,    Stillschweigen  galt  als 
Zeichen  der  Mißbilligung.    Wenn  die  Tagesordnung  erschöpft  war,  gingen 
die    Leute    von    selbst    auseinander.      Der    allgemeinen    Versammlung 
des    Volkes    steht    gegenüber    die    ßooXiQ,    deren    Bildung    nicht    leicht 
zu    bestimmen    ist;    denn    wir  erkennen   keine  feste  Zusammensetzung, 
auch  keine  bestimmte  Zahl.    Den  Königen  stand  es  frei,  diejenigen  zur 
Beratung  zu  berufen,    die  sie  wollten;    natürlich  wandten  sie  sich  vor 
allem  an  alte,  erfahrene  Männer  und  an  die  im  Kriege  hervorragenden 
Führer.     Nur    nach    dem    Herkommen    bildete    sich    eine    Klasse    von 
ßooXTj'fopot.     Die  Berufung  erfolgt    durch   den  König  zu  verschiedenen 
Zeiten    und    an  verschiedenen  Orten.     Die  Reihenfolge  der  Redner  ist 
an   keine  Regel    gebunden.     Der  König    legt  der  [io-jXiQ  die  Dinge  zur 
Beratung  vor,  zieht  die  verschiedenen  Meinungen  in  Betracht,  ist  aber 
dadurch  nicht  gebunden.     Moreau  sieht  in  der  Einrichtung  der  beiden 
Versammlungen    den    Beweis    für    den    demokratischen    Charakter    der 
homerischen  Institutionen.    Er  präzisiert  den  Unterschied  mit  folgenden 
Worten:    L"agora    est  une  assemblee  generale,    la  boul6  est  un  conseil 
de  chefs;  lagora  d6cide,  la  boule  conseille. 


32  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1 893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

IV.  Sparta. 

Die  Verfassung  und  Staatsordnung  Spartas  ist  mit  Benutzung  der 
Literatur  bis  1893  kurz  dargestellt,  ohne  daß  neue  Aufstellungen 
gemacht  werden,  von: 

28.  Fustel  de  Coulange,  Lacedaemoniorum  respublica  in Darem- 
berg  et  Saglio,  Dictionnaire  III  886  —  900 

und  in  dem  schon  erwähnten  Buche  von  Hammond  im  Kapitel  IV 
S.  37 — 56,  gleichfalls  nur  übersichtlich  auf  Grund  der  früheren  Literatur. 
Über  die  Einteilung  der  Bürger  spricht  Szanto,  Phylen  S.  12  f.:  In 
Sparta  ist  die  ursprüngliche  Existenz  der  drei  dorischen  Phylen  nicht  mehir 
bezweifelt;  in  der  historischen  Zeit  bestanden  5  lokale  Phylen,  neben 
denen  27  Phratrien  bezeugt  sind.  Die  Oben  hatten  bereits  zur  Zeit 
der  lykurgischen  Rhetra  lokalen  Charakter  und  waren  Unterabteiligen 
der  Phylen;  sie  können  mit  den  attischen  Demen  verglichen  werden, 
denn  auch  die  Obenordnung  ist  rein  territorial.  — 

Über  die  lykurgische  Verfassung  handelt  außer  J.  Beloch, 
Gr.  Geschichte  I  S.  306,  Bnsolt,  Gr.  Gesch.  P  S.  510  f.,  Meyer, 
Gesch.  d.  Altert.  II  S.  564. 

29.  J.  Toepffer,  Die  Gesetzgebung  des  Lykurgos  (Vorlesung  zu 
Basel  1894/5  -=  Beiträge  zur  griech.  Altertumswissenschaft  S.  347 
—362). 

Er  kommt  zu  dem  Resultate:  Die  Staatsordnung  der  Rhetra 
handelt  lediglich  von  der  Konstituierung  des  Staates,  ohne  Bezug  zu 
nehmen  auf  die  merkwürdige  Lebensweise  der  Spartaner.  Die  Be- 
gründung der  Gesellschaftsordnung  ist  nicht  das  Werk  eines  Mannes, 
wohl  aber  die  Staatsordnung;  dieser  Mann  war  eine  historische  Persön- 
lichkeit und  trug  den  Namen  Lykurgos.  Historisch  ist  Lykurgos'  Ver- 
bindung mit  Delphi  und  auf  Grund  dieser  Verbindung  ordnete  er  die 
Staatsverfassung;  historisch  ist  seine  Beziehung  zu  Olympia  und  sein 
Kult  in  Sparta.  Mit  Unrecht  wollten  demnach  Stern  und  Kuchtner  in 
den  weiter  unten  zu  nennenden  Schriften  in  Lykurgos  nur  einen  Gott 
sehen. 

Über  das  Königtum  ist  zu  vergleichen  der  Artikel  von  Schoeffer: 
padtXeu;  in  Pauly-Wissowa  III  55  f.,  der  die  bisherigen  Erklärungsver- 
suche des  Doppelkönigtums  für  unzureichend  erklärt,  selbst  aber  keine 
Erklärung  zu  geben  vormag;   vgl.  auch  Kuchtner  S.  20,  Anm.  1.  — 

über  die  Gerusie  hat,  ohne  etwas  Neues  zu  bringen,  gehandelt: 

30.  E.  Caillemer  s.  y.  7spouaia  in  Daremberg  et  Saglio  Dict.  II 
p.  1549. 

Was  die  Beamten  anbelangt,  haben  nur  die  Ephoren  eine  ein- 
gehendere Behandlung   erfahren.    Es   sind   zwei  Schriften    zu  nennen, 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 190'i.  f  J.  Oehler.)  33 

die    sich    dieselbe  Aufgabe  gestellt  haben,    sie    aber    in   verschiedener 
Weise  lösen: 

31.  E.  von  Stern,  Zur  Entstehung:  und  ursprünglichen  Bedeutung 
des  Ephorats  in  Sparta.  (Berl.  Stud.  f.  klass.  Philol.  und  Arch.  XV, 
2.  Heft).     Berlin  1894. 

32.  K.  Kuchtner,  Entstehung  und  ursprüngliche  Bedeutung 
des  spartanischen  Ephorats.     Promotionsschrift.     München  1897. 

Stern  glaubt  von  der  Tradition  absehen  zu  müssen  und  sieht  in 
den  Ephoren  die  Repräsentanten  des  Volkes;  ihr  Ursprung  sei  abzu- 
leiten aus  dem  zwischen  Volk  und  Königtum  geschlossenen  Vertrage, 
durch  den  der  a-rdfuts  ein  Ende  gemacht  und  die  Fortdauer  des  König- 
tums gesichert  wurde.  Dabei  seien  die  Ephoren  als  Hüter  und  Wächter 
der  Volksrechte  bestellt  worden.  Stern  sieht  in  ihnen  also  „  Volks- 
tribunen".  —  Kuchtner  dagegen  versucht  zunächst,  aus  den  frühesten 
Befugnissen  der  Ephoren  auf  die  Zeit  ihrer  Einsetzung  zu  schließen, 
und  erklärt  sie  im  Anschlüsse  an  Holm  als  Staatsanfseher,  als  Wächter 
des  xoijfxo?;  als  solche  hatten  sie  die  Aufsicht  über  den  x6a[jLos  und 
über  alle,  welche  nach  diesem  leben  sollten,  also  über  die  Bürger  und 
Könige.  Schon  daraus  folgt,  daß  sie  niemals  von  den  Königen  ernannt, 
sondern  vom  Volke  gewählt  wurden  und  jeder  Bürger  Zutritt  hatte. 
Allmählich  spielten  sie  sich  als  Volksvertreter  auf  und  erlangten  mit 
Hilfe  des  Volkes  manches  wichtige  Recht.  Mit  der  lykurgischen  Ver- 
fassung stehen  die  Ephoren  in  keinem  engen  Zusammenhange, 
sondern  zwischen  der  Vollendung  der  Verfassung  und  der  Einführung 
der  Ephoren  ist  ein  Zeitraum  von  wenigen  Dezennien  anzunehmen. 
Kuchtner  nimmt  auch  Stellung  zu  der  Frage,  ob  das  Ephorat  eine 
gemeindorische  Einrichtung  sei;  er  verneint  sie  mit  Recht,  denn  es 
findet  sich  nicht  in  allen  dorischen  Staaten,  hat  nicht  überall  dieselben 
Aufgaben  und  hat  sich  wohl  erst  von  Sparta  aus  in  die  Kolonien  ver- 
breitet.    Ferner  sind  zu  erwähnen: 

33.  *A.  Solar i,  Fasti  ephororum  Spartanorum  ab  anno  ante 
Ol.  70,  1  (500  a.  Chr.)  usque  ad  Ol.  148, 1  (188  a.  Chr.).    Pisa  1898. 

Das  Buch  bietet  zunächst  eine  Einleitung  über  die  Ephoren,  ist 
aber  dann  zu  einem  griechischen  Lesebuche  ausgestaltet. 

34.  *A.  Solar i,  Sul  numero  degli  efori  spartani.  Bollettino  di 
tilologia  classica  VI  S.  86  f. 

Es  gab  5  eigentliche  Ephoren  und  5  Stellvertreter. 

35.  *A.  Solari,  Ancora  sulla  locuzione  01  sv  xiXti  relativa 
a  Sparta.     Bollettino  di  filol.  class.  VI  131  f. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.    III.)        3 


34  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.  (J.  Oehler.) 

Gegen  König,  der  iu  einer  Jenenser  Dissertation  zwischen  -ra 
xiKT^  und  Ol  ev  xeXei  einen  Unterschied  gemacht  hatte,  führt  Solari  aus, 
beide  Ausdrücke  bedeuten  die  höchsten  Aufsichtsbeauiten,  in  Sparta 
also  die  Ephoren. 

36.  *A.  Solari,  De  Spartae  patronomia.     Bollettiuo  di  filologia 
classica  VI  p.  10  f.  Torino  1899. 

Das  Institut  der  patronouii  habe  bereits  vor  Kleoraenes  be- 
standen, dieser  habe  ihnen  wesentlich  nur  das  Vorrecht  der  Jahresbe- 
nennung zu  ihrer  früheren  Kompetenz  verliehen. 

37.  *A.  Solari,  La  navarchia  a  Sparta  e  la  lista  dei  navarchi. 
Pisa  1897. 

Diese  Schrift  wird  als  grundlegend  für  jede  weitere  Behandlung 
der  Frage  der  Nauarchi  bezeichnet,  denn  sie  stellt  alles  zusammen,  was 
uns  über  dieses  Amt  bekannt  ist;  dabei  erweist  sich,  daß  Belochs  Be- 
hauptung, „die  Nauarchie  sei  ein  Jahresamt  und  immer  nur  ein  einziger 
Kauarch  gewesen",  durch  die  Tatsachen  keine  Bestätigung  liudet. 
Eichtig  wird  bemerkt:  e-tßaTY);  ist  kein  amtlicher  Titel,  sondern  heißt 
nur  „Krieger". 

Inschrifclich  bekannt  geworden  sind  die  a-ca-oi,   über  die 

38.  Th.  Preger,  Athen.  Mitt.  XXI  (1896)  S.  95/6 

handelt  und  die  er  als   ein  Polizeiamt   ähnlich    den  d-^ailosp^ot    erklärt. 
Was    die  Erziehung  der  jungen  Spartaner  betrifft,    so  bietet  ein 
Papyrus  im  britischen  Museum  eine  Beschreibung  derselben: 

39.  Keuyon,     Fra'iment     d'une    Aax£oa'.|xovtiuv     -oMrtii    (?). 
Revue  de  Philol.  n.  s.  XXI  (1897)  S.  1—4. 

Wir  erfahren  daraus,  daß  die  harte  Erziehung  zwei  Jahre 
dauerte,  wahrscheinlich  vom  19.  Lebensjahre  an.  Vielleicht  stammt 
dies  Fragment  aus  der  Aazsoatjxovtcüv  uoXiTsia  des  Aristoteles. 

40.  P.  Girard,  Krypteia.     Daremb.  et  Saglio  III  871—873. 
Das  Wort    bezeichnet  sowohl  die  jungen  Spartaner ,    welche  eine 

bestimmte  Zeit  Kriegsdienste  leisteten  zur  Übung,  die  xpu-tot,  als  auch 
diesen    Dienst    selbst,    xpuTrn^.      Während    dieses    Dienstes,    der    zwei 
Jahre  dauerte,    durften    die  jungen  Leute  nicht  in  die  Stadt    kommen. 
Über  die  Skytale  handelt 

41.  J.  H.  Leopold,    De  scytala  Lacouica.     Maemos.     XXVIII 
(1900)  365—391. 

Auf  Grund  der  Prüfung  der  Quellen  wird  nachgewiesen,  daß  die 
gewöhnliche  Erklärung  der  Skytale  unrichtig  sei;  sie  habe  nicht  den 
Zweck  gehabt,  einen  geheimen  Auftrag  zu  übermitteln,  sondern  diese 
habe  nur  als  Eest  der  frühereu  Zeit  in  Sparta  eine   gewisse  Feierlich- 


Bericht  üb  d  griech  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  35 

keit  und  Hoheit  behalten,  da  sie  durch  die  Sitte  der  Vorfahren  ge- 
heiligt war.  Der  Brauch,  Aufträge  auf  Holzsttibe  zu  schreiben,  findet 
sich  in  alter  Zeit  auch  sonst  und  wurde  bei  Geldg:eschäften  augewendet, 
indem  die  Schuldsnmme  auf  2  Holzstäbe  geschrieben  wurde,  von  denen 
einen  der  Gläubiger,  den  andern  die  Zeugen  erhielten.  Auch  als  ein- 
fache Alt  eines  Trenbeweises  konnte  der  beschriebene  und  zerbrochene 
Stab  gebraucht  werden:  man  brauchte  die  Teile  nur  zu  vergleichen, 
um  sich  von  der  Wahrheit  zu  überzeugen.  Während  in  den  anderen 
Staaten  dieser  Brauch  verschvand,  bedienten  sich  die  spartanischen 
Ephoren  noch  fernerhin  der  beschriebenen  Stäbe  zur  Übermittelung 
wichtiger  Befehle,  so  daß  die  Skytale  selbst  als  Unterpfand  und  Zeichen 
der  Gewalt  der  Ephoren  erschien.  Zur  Zeit  der  Alexandriner  war  der 
alte  Brauch  in  Vergessenheit  geraten  und  die  neue  Erklärung  erhielt 
die  Oberhand. 

Über  die  Bevölkerungsklassen  handeln  einige  Artikel  bei  Darem- 
berg  et  Saglio: 

42.  E.  Caillemer,  Homoioi  III  233/4. 

Darunter  sind  die  spartanischen  Vollbürger  gemeint,  die  nicht 
bloß  von  spartanischen  Eltern  abstammten,  sondern  auch  das  vorge- 
schriebene Leben  führten.  In  der  klassischen  Zeit  bildeten  sie  2  Gruppen : 
die  xaXot  -/aYaöot,  ^vtuptiiot,  eine  Art  Aristokratie,  aus  der  die  Gerusie 
gebildet  wurde,  und  den  otjjxo?. 

43.  E.  Caillemer,  Hypomeiones  III  350—352. 

Diese  waren  Spartiaten,  aber  nicht  Vollbürger,  w^eil  sie  entweder 
nicht  die  gesetzliche  Erziehung  genossen  harten  oder  wegen  geringer 
Einkünfte  die  Beiträge  nicht  leisten  konnten  oder  aus  Weichlichkeit 
nicht  das  vorgeschriebene  Leben  führten.  Sie  hatten  keine  bürger- 
lichen politischen  Rechte,  behielten  aber  ihre  Privatrechte  und  konnten 
wieder  unter  die  ofjtotot  kommen. 

44.  Ch.  Lecrivain,  Helotae  III  67—71. 

Es  wird  über  die  „glebae  adscripti*  im  allgemeinen  gesprochen, 
dann  auch  über  die  spartanischen.  Ob  der  Name  ETXoj-s?  oder  EiXtüra'. 
herzuleiten  sei  von  dem  Namen  der  Stadt  'EXo?  oder  von  der  Wurzel 
eX-  oder  von  iXo?,  Sumpf,  läßt  Leciivain  .unentschieden.  Besondere 
Abteilungen  bilden  dann  die  veoöafjiwosi?  und  ixoftvxe?;  über  letztere 
handelt 

45.  *L.  Cantarelli,  I  motaci  Spartani.    Estratto  dalla  Rivista 
di  Filologia  ed'  Istruzione  classica.     Anno  XVIII  p.  465 — 484. 

Der  Verfasser  gelaugt  zu  folgenden  Resultaten:  L  Die  Mothakes 
sind  zu  unterscheiden  von  den  Mothones;  letztere  sind  vernae,  Sklaven. 


36  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler). 

erstere  freie  Leute.  2.  Als  ix69axe;  sind  sie  nicht  zu  verwechseln  mit 
den  voOoi,    mit  welchen  sie  nur  die  spartanische  a'itojq  gemein    hatten. 

3.  Die    jxoöaxsc    können    also    nur    Periökenfamilien    entstammt    sein. 

4.  Ihre  Erhebung  in  den  Bürgerstand  war  fakultativ,  nicht  obli- 
gatorisch, sondern  erfolgte  nur  wegen  besonderer  Verdienste,  Diese 
Aufstellungen  sind  wohl  in  manchen  Punkten  zu  modifizieren:  es  be- 
standen die  |x6daxec  zum  größten  Teile  aus  v69oi,  doch  war  nicht  jeder 
voOoc  eo  ipso  auch  p-oba^  und  in  das  Korps  der  txoOaxEc  konnten  sowohl 
einzelne  Fremde  als  auch  Periöken  aufgenommen  werden  Auch  der 
Unterschied  zwischen  [xodaxe;  und  [xoötuvs;  läßt  sich  nicht  beweisen. 

Über  die  Geschichte  und  Verfassung  Spartas  in  der  späteren  Zeit 
handelt  die  Dissertation  von: 

46.  *Petit  -  Dutaillis,     De    Lacedaemoniorum    rei    publicae 
supremis  temporibus.     Paris  1894, 

Ohne  eine  kritische  Würdigung  der  Quellen  zu  versuchen,  hat  der 
Verf,  dieser  als  fleißig  bezeichneten  Arbeit  eine  Geschichte  des 
spartanischen  Staates  von  der  Schlacht  bei  Sellasia  (222  v.  Chr.)  bis  zur 
Eroberung  Korinths  durch  die  Römer  (146  a,  Chr,)  gegeben.  Voraus- 
geschickt ist  eine  Einleitung,  in  der  über  die  Regierung  des  Kleomenes, 
besonders  seine  Reformen  gehandelt  wird.  Am  Schlüsse  folgt  eine 
kurze  Übersicht  über  die  spätere  Geschichte  und  Verfassung  des 
lakedaimonischen  Staates.  Ergebnisse  von  wesentlicher  Bedeutung  liegen 
in  der  Arbeit  nicht  vor. 

V,  Kreta. 

über  die  älteste  Zeit  können  uns  die  Fände  in  Knossos  und 
Phaistos  Aufschluß  geben.  Kreta  war  das  Zentrum  der  mykenischen 
Kultur  und  der  Sitz  mächtiger  Könige;  vgl,  Pernier,  Monuraenti 
antichi  XII  (1902);  A.  J.  Evans,  The  annual  of  thc  British  school 
VII  (1900/1),  S.  1  —  120:  The  Palace  of  Knossos. 

Interessant  sind  die  Funde  bei  Gournja  auf  Kreta,  über  die 

47.  Sam  Wide,    Mykenische  Götterbilder   und  Idole:     Athen. 
Mitt,  XXVI  (1901)  247—257 

berichtet.  Dort  findet  sicli  keine  Herrenburg,  sondern  nur  eine  Dorf- 
gemeinde; Wide  meint,  die  mykenischen  Gemeinden  scheinen  in  der 
ältesten  Zeit  demokratisch  verwaltet  worden  zu  sein  und  lagen  am 
Meere,  Über  Kreta  in  der  historischen  Zeit  liegt  eine  ausführliche 
Arbeit  vor: 

48.  A,  Semen  off,    Antiquitates  iuris  publici  Cretensium  prae- 
misso  conspectu  geographico  ethnographico  historico.    Petropoli  1893. 


Beriebt  üb.  d.  griecb.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)    37 

Für  uuseren  Bericht  kommen  die  Kapitel  4  bis  8  in  Betracht; 
Semenoff  schließt  sich  im  allgemeinen  den  Ansführungen  Busols  Griecli. 
Gesch.  I-  S.  326  f.  an.  Nach  dem  Künigtume  herrscht  etwa  seit 
GOO  V.  Chr.  die  Aristokratie,  seit  etwa  300  v.  Chr.  Demokratie  uud 
etwa  um  200  wird  das  xoivov  twv  Kpi^j-aieujv  geschaffen,  das  bis  in  das 
IV.  Jahrb.  n.  Chr.  bestand.  Die  Bevölkerung  zerfiel  in  Freie  und  Un- 
freie; von  den  Freien  war  die  Minderheit  Bürger,  r.ohd-.ai,  die  Mehrheit 
Nichtbürger,  aitstaipoi.  Die  Bürger  zerfielen  in  Phylen  und  Hetairien. 
Außer  den  3  dorischen  Phylen  nimmt  Sera,  noch  rein  kretische  Phylen 
an,  so  daß  es  im  ganzen  8  Phylen  gegeben  hätte.  Richtiger  sagt  Szanto 
S,  21,  daß  wir  die  dorischen  Phylen  allgemein  in  Kreta  annehmen 
dürfen  und  keinen  Grund  haben,  noch  andere  anzunehmen.  Nach  Sem. 
waren  die  Phylen  regional,  nach  Szantos  richtiger  Ansiebt  aber  gen- 
tilizisch.  Die  ixotipeiai  bildeten  zugleich  Tischgenossenschafteu  uud 
militärische  Abteilungen;  sie  möchte  ich  mit  den  attischen  Phratrien 
vergleichen,  nicht,  wie  es  Sera,  tut,  mit  den  otapTot,  die  als  Geschlechter 
oder  Adelssippeu  aufgefaßt  werden  von  Busolt  und  Szanto.  Eine 
andere  Erklärung  versucht 

49.     G.  de  Sanctis,    The    Startus    in    thc   l'retan  Inscriptions. 
Araer.  journ.  of  archaeology  IL  s.  V  (1901)  319  f. 

Er  erwähnt  den  atapTaysTa;,  das  Haupt  eines  Startus  und  meint 
S.  326 :  axapxoi  where  nothing  eise  than  Colleges  of  raagistrates ;  because 
in  the  passage  quoted  above  aTapio?  means  the  College  of  the  cosnii; 
new  magistracies  beiug  created  along  with  the  cosmi,  all  these  Colleges 
may  very  well  have  taken  the  narae  of  stai'ti,  which  would  have  come 
to  be  an  equivalent  almost  to  cuvapyiai.  —  Frei  waren  die  t^z^'.oiyjj:  : 
sie  waren  des  Bürgerrechtes  beraubt,  konnten  also  keine  Amter  be- 
kleiden, nicht  an  der  Volksversammlung  und  an  den  gemeinsamen 
Mahlzeiten  teilnehmea;  doch  waren  sie  wohl  zum  Kriegsdienste  ver- 
pflichtet. Sie  hatten  Grundbesitz  und  trieben  in  den  Städten  Gewerbe 
uud  Handel.  Sie  hatten  eine  gewisse  Abgabe  zu  leisten  und  unter- 
schieden sich  auch  dadurch  von  den  Bürgern.  Die  Sklaven  lassen 
sich  in  mehrere  Gattungen  einteilen:  1.  [ivotxai,  Hörige,  welche  das 
Gemeindeland  bebauten;  2.  acpafi-tüitai,  xXapuiTat,  Hörige,  welche  Privat- 
äcker bearbeiteten;  dazu  gehören  auch  die  Foi/ss?  des  gortynischen 
Gesetzes;  3.  ooXoi  -/po3u)vr,Toi,  Kaufsklaven  im  Dienste  der  Privatleute* 
4.  ep^axtuvsc,  -/.axaxaüxat,  über  die  sich  nichts  Sicheres  sagen  läßt.  Was 
die  Regierung  anbelangt,  so  war  ein  wichtiger  Faktor  der  Rat,  die 
ßcuXcf.,  der  bis  300  v.  Chr.  aristokratisch  war,  dann  demokratisch  wurde. 
Er  setzte  sich  aus  den  gewesenen  y.65|xo'.  zusammen,  die  Zahl  der  -jEpovxx? 
ist    uns  nicht  bekannt.     Er  hatte  ein  eigenes  Amtslokal:    ap/eiov  oder 


38   Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

TCpuTaveiov.  Daneben  erscheint  die  ttoX-c  =  uoXTxai  =  o%o?,  der  über  die 
Anträge  des  Kosmen  und  Geronten  ohne  Debatte  abzustimmen  hatte  in 
der  Volksversammlung,  exxXrjata.  — 

Von  den  Beamten  sind  die  ersten  die  xocj|xot,  10  an  der  Zahl,  die 
nach  Abschaffung:  der  königlichen  Gewalt  den  Vorsitz  in  der  Volks- 
versammlung hatten,  mit  den  Gesandten  verhandelten,  die  Aufsicht  über 
die  Staatsgüter  und  die  religiösen  Angelegenheiten  hatten,  von  den 
anderen  Beamten  Rechenschaft  entgegennahmen,  selbst  aber  den  ^otld 
rechenschaftspflichtig  waren.  Einer  von  ihnen,  der  in  der  Römerzeit 
TipüJToxosfxo»  heißt,  v/ar  eponym.  Zuerst  wurden  sie  nur  aus  gewissen 
Sippen  oder  Geschlechtern  gewählt,  später  nach  der  Einführung  der 
Demokratie  aus  der  Gesamtheit  der  Phylen.  Die  Amtszeit  betrug  ein 
Jahr;  während  ihrer  Amtsführung  waren  sie  sacrosaucti;  gegeu  die 
Kosmen,'  welche  ihre  Pflichten  nicht  erfüllten,  waren  Geldstrafen  fest- 
gesetzt. Die  fjLva[i.ov£c  hält  Sem.  für  Archivbeamte,  welche  die  Akte 
des  Kosmenkollegiums  oder  der  einzelnen  Kosmen  aufzubew'ahren  hatten. 
Es  werden  dann  7pa[x[i,aT£r?  erwähnt,  deren  Geschäfte  denen  der  [ivapLovs; 
ähnlich  waren,  daher  sie  bisweilen  die  Stelle  der  (xva'ixovsj  einnahmen. 
Die  höchste  Gerichtsbarkeit  war  beim  Rate,  daneben  werden  otxajTai, 
xpitat,  £p£UTai  Tüiv  avDptuirivfov  und  TipsqiaToi  im  suvojjita;  erwähnt.  — 
Sakrale  Beamte  waren  die  tspop^oi,  rupfpopoi,  vaxopot,  xcaiiasa?  (sacerdos 
Dionysii).  —  Verwaltungsbeamte ,  die  dem  Staatsschatze  vorstanden, 
werden  keine  besonderen  genannt. 

An  der  Spitze  des  xoivov  xtüv  KpyjTatstuv  stand  der  Kprjxapy  r,;, 
daneben  wird  ein  ;ujTap-/Y]c  und  ap-/ispsu;,  ein  guXXoyo;,  ein  xoivooix-.ov 
genannt;  die  auch  erwähnten  auveopoi  sind  Mitglieder  des  suveSpiov,  der 
ßooXiQ.  —  An  der  Spitze  des  durch  Vertrag  zustande  gekommenen 
Bundes  standen  Knossos  und  Gortyn. 

Nicht  einsehen  konnte  ich: 

Ciccotti,  Le  istituzioni  pubbliche  cretese.     Studi  di  diritto  XII 
S.  205—240;  XIII  133—186. 


VI.  Athen. 

Unstreitig  der  schwierigste  Teil  des  Berichts  ist  der  über  die 
athenischen  Staatsaltertümer:  man  versucht,  ein  „athenisches  Staats- 
recht" zu  finden,  und  ist  in  emsiger  Kleinarbeit  bemüht,  die  Steine  zu 
bereiten,  die  Lücken  auszufüllen ;  jede  Urkunde  wird  einzeln  interpretiert, 
jede  Frage  eingehend  für  sich  und  mit  Rücksicht  auf  das  Ganze  be- 
handelt. Spaten  und  Hacke  helfen  fleißig  mit  und  die  Funde  an  In- 
schriften treten  unterstützend  ein.    Die  Schrift  des  Aristoteles  «'AOrjv. 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staat saltertüm .  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)   39 

-o).."  bat  selbst  eine  eij^ene  Literatur  geschaffen,  die  nicht  in  diesem 
Belichte  behandelt  werden  kann,  obwohl  v.  Schoeffer  dies  beabsichtist 
nnd  jedenfalls  anch  die  Vorarbeiten  getroffen  hatte.  Außer  den  Ab- 
schnitten in  den  Geschichtswerken  von  Busolt,  Beloch  und  Meyer  sind 
wichtige  Bemerkungen,  Fragen  der  Staatsaltertümer  betreffend,  enthalten 
in  C.  "Wachsmuth,  Die  Stadt  Athen  im  Altertum.  IL  Band,  1.  Abt. 
1890;  A.  Mommsen,  Feste  der  Stadt  Athen  im  Altertum.  1898.  — 
Die  Verfassungsgeschichte  und  einzelne  Fragen  derselben  fanden  im 
Ansclihisse  an  die  Schrift  des  Aristoteles  vielfache  Behandlung.  Zu 
nennen  sind: 

50.  G.  W.  Botsford,  The  Athenian  Constitution.  (Cornell 
Studies  in  classical  philology  Nr.  IV).    Boston  1893. 

51.  U.  V.  Wilamowitz-Moellendorf,  Aristoteles  und  Athen. 
Berlin  1893.  2  Bände. 

52.  B.  Keil,  Anonymus  Argentineusis.  Fragmente  zur  Ge- 
schichte des  perikleischen  Athen  aus  einem  Straßburger  Papyrus. 
Straßburg  1902. 

Botsford  behandelt  in  10  Kapiteln  die  Entwickelung  der  athenischen 
Verfassung  von  den  ältesten  Zeiten  au  bis  zum  Beginne  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges;  dabei  legt  er  das  Hauptgewicht  darauf,  die  Be- 
deutung der  einzelnen  Verfassungsänderungen  zu  kennzeichnen.  Als 
Einleitung  sind  2  Kapitel  vorausgeschickt:  Kapitel  I  weist  nach,  daß 
die  Familie  die  Grundlage  des  Staates  ist;  aus  der  Familie  entsteht 
das  Geschlecht,  gleich  der  Hauscommunio  der  Südslawen;  aus  der  Ver- 
einigung mehrerer  Hausgemeinschaften  geht  die  Brüderschaft  (bratrstvo, 
^pa-pi'a)  hervor.  Kapitel  2  behandelt  die  arische  Geschlechterverfassung. 
Kapitel  3  ist  überschrieben:  The  Grecian  gens,  behandelt  aber  a)  die 
Familie  vor  Solon,  b)  die  gens  als  Ganzes,  c)  abhängige  Klassen  in  der 
gens,  d)  Schwächung  der  gens.  —  Die  Familie  erscheint  als  Eupatriden- 
familie;  7£vv9j-at  ist  die  Bezeichnung  für  die  Deszendenten,  oixoyaXaxTs? 
bezeichnet  die  vornehme  Geburt  und  wird  gebraucht  für  diejenigen, 
welche  dieselbe  Milch  geopfert.  Die  letztere  Erklärung  ist  ebenso  un- 
richtig wie  die  der  op7ccüv£;  als  Klienten  (S.  83)  der  gens;  ausführlicher 
wird  daiüber  im  folgenden  Abschnitte  gesprochen  werden.  Die  Auf- 
fassung der  7sa)p7ot,  YswpLopot,  a-^potxoi  und  oTr)[jLioop7oi  als  abhängiger 
Klassen  gegenüber  den  Eupatriden  ist  unbegründet.  Mit  Recht  wird 
aber  hervorgehoben,  daß  mit  dem  Wachstume  der  Macht  des  Königtums 
sich  die  Lage  der  uichteupatridischen  Stände  besserte  und  mit  dem 
Sinken  des  Bauernstandes  die  Hebung  der  oy]\Lioop';oi  verbunden  war. 
Nachdem  in  Kapitel  4  und  5  über  die  Phratrie  und  Phj^le  gehandelt 
ist,    worüber  der  folgende  Abschnitt  zu  vergleichen,  beginnt  Kapitel  6 


40  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

die  eigeutliche  Verfassungsgeschichte  mit  der  Besprechung  des  König- 
tunis,  wobei  vor  allem  die  Angaben  Homers  berücksichtigt  erscheinen, 
der  'jouXiq  und  d-jopa  sowie  des  Verfalles  der  Köuigsherrschaft. 

V.  Wilamowitz-Moellendorf  gibt  im  II.  Bande,  Abschnitt  2 — 5 
eine  Übersicht  und  behandelt  in  Exkursen  einzelne  Fragen  genauer. 
Abschnitt  2  (S.  34  —  67)  behandelt  die  athenische  Politie  von  Kekrops 
bis  Selon  und  5  (S.  126 — 144)  die  Könige  von  Athen.  Zu  vergleichen 
sind  noch  tür  diese  Zeit: 

53.  J.  Toepffer,  Die  Liste  der  athenischen  Könige.    Hermes 
XXXI  (1896)  S.  105—123  und 

54.  U.    V.    Wilamowitz-Moellendorf,    Die    lebenslänglichen 
Archonten  Athens.     Hermes  XXXIII  (1898)  S.   119—129. 

Wilamowitz  stellt  die  Ansicht  auf:  Das  Königtum  besteht  seit 
Kekrops,  seit  Ion  tritt  dazu  die  Polemarchie,  seit  Akastos  das  Ar- 
choutenamt,  aber  die  Könige  bleiben  Erbkönige.  Schärfer  faßt  Toepffer 
die  Eutwickelung  in  den  Sätzen:  Das  Königtum  wurde  in  Athen 
niemals  abgeschafft,  abgeschafft  wurde  nur  das  Geschlechtskönigtum;  ur- 
sprünglich waren  die  Könige  lebenslänglich,  dann  befristet.  Mit  der 
Abschaffung  des  lebenslänglichen  Königtums  fand  auch  eine  Änderung 
der  Sukzessionsordnung  statt,  indem  an  die  Stelle  der  Vererbung  der 
Königswürde  die  Wahl  aus  der  Gesamtheit  der  Genneten  trat.  Da  in 
der  ältesten  Zeit  Amtsbefristung  unbekannt  war,  ist  anzunehmen,  daß 
auch  der  Polemarchos  lebenslänglich  sein  konnte,  indem  dem  ßasiXsu? 
einmal  die  kriegsherrlichen  Funktionen  entzogen  wurden.  Als  der 
Archen  in  das  staatliche  Eponj^men-Yerzeichnis  eingesetzt  wurde,  war 
das  Königtum  ranglich  der  Arcliontenwürde  untergeordnet  und  die 
Verwandlung  der  alten  Erbmonarchie  in  die  Schattengestalt  des  Sakral- 
königs abgeschlossen.  Wilamowitz  führt  im  Hermes  den  Nachweis,  daß 
lebenslängliche  Archonten  existiert  haben. 

Die  Oligarchie  vor  Drakon  (682  —  621  v.  Ohr.)  behandelt  Botsford 
im  7.  Kapitel.  Kichtig  ist  die  Bemerkung,  daß  der  Keim  eines  ge- 
schriebenen Gesetzes  schon  vor  Drakon  bestand.  Der  Aufstand  Kylons 
wird  als  oligurchische  Reaktion  erklärt,  daher  seine  Tyrannis  unpopulär 
war.  Kapitel  8  beschäftigt  sich  mit  der  drakontischen  Tiaiokratie. 
B.  meint,  Drako  habe  die  Verfassung  im  wesentlichen  nicht  geändert, 
habe  bei  der  Gesetzgebung  unbeschränktes  Recht  gehabt  und  daher  eine 
gewisse  Milderung  in  den  Schärfen  der  früheren  Satzungen  durchgeführt. 
Drakons  Aufgabe  sei  es  gewesen,  die  ey.xXrjaia  ins  Leben  zurückzurufen 
und  in  ihre  Souveränität  einzusetzen;  die  Klasseneinteilung  habe 
lediglich  tinauzielle  Zwecke  geiiabt.  Bemerkenswert  ist  die  Vermutung, 
die  Bezeichnung  7:;v:a-/.oc;toix£0i}j.voi  sei  erst  künstlich  für  eine  besondeie 


Bericht  üb.  d.  griech,  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1093(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  41 

Klasse  gescbaflfeu  worden,  während  die  anderen  Bezeichnungen  der 
ältesten  Zeit  angehörten.    Vgl. 

55.  *C.  Cichorius,  Zu  den  Naraen  der  attischen  Steuerklassen, 
Griechische  Studien,  H.  Lipsius  dargebracht.    Leipzig  1894, 

der  die  herrschende  Klasse  der  i-ttsi;  für  den  eupatridischen  Reiteradel, 
die  Zeugiten  für  die  alten  Hopliten  der  Phalanx  in  der  vorsolonischen 
Zeit  erklärt. 

Über  die  drakontische  Verfassung  liegen  viele  Arbeiten  vor. 
Vor  allem  zu  nennen  ist:  Wilaraowitz-Moellendorf  I  S.  76  f.,  II  55,  dann: 

56.  *P.    Meyer,    Des    Aristoteles    Politik    und    die    'AaTjvaicuv 
-oXiT£ta.  —  Bonn  1891. 

57.  G.  Busolt,  Zur  Gesetzgebung  Drakons.  Philologus  L  (1891) 
S.  393—400. 

58.  E.  Szanto,    Zur    drakonischen  Gesetzgebung.     Arch.-epigr. 
Mitt.  aus  üsterr.  XV  (1892)  S.  180—182. 

59.  M.  Fränkel,  Zur  drakontischen  Verfassung.  Rhein.  Mus. 
.    XLVII  (1892)  S.  473-488. 

60.  L.  Ziehen,    Die    drakontische  Gesetzgebung.    Rhein.  Mu=^. 
LIV  (1899)  S.  321—344. 

61.  Hof  mann,    Studien  zur  drakontischeu  Verfassung.     Progr. 
Straubing  1899. 

Wiiamovvitz  charakterisiert  die  Tätigkeit  Drakons  IS.  83:  „Es 
ist  eine  einfache  und  verständige  Ordnung,  in  der  Bürgerschaft  erst 
einmal  die  Arbeiter  abzusondern,  die  proletarii,  die  für  den  Staat 
nichts  weiter  schatfen  als  die  proles,  dann  die  Wehrfähigen  des  Fuß- 
volkes und  der  Reiter  und  daiüber  eine  oberste  Schicht,  die  einzige  iü 
ViTahrheit,  die  mehr  einnimmt  und  besitzt,  als  für  die  Führung  eines 
staudesgemäßen  Haushaltes  nötig  ist.  Diese  Ordnung  setzt  eine  starke 
bäuerliche  Bevölkerung  voraus,  einen  von  den  Bauern  nicht  eben  stark 
unterschiedenen  ländlichen  Adel.  Sie  setzt  eine  Landwirtschaft  voraus, 
die  wesentlich  auf  den  Körnerbau  gerichtet  ist."*  Die  Klasseneinteilung 
erscheint  als  eine  plutokratische.  Daß  Drakon  nicht  als  ils3iJ.oi)£xrj; 
seine  Gesetze  gegeben,  bemerkt  Wilamowitz  Hermes  XXXIII  S.  129 
ganz  richtig.  Eine  Schwierigkeit  liegt  in  der  Angabe  der  Zensuszahlen : 
diese  hat  Szanto  gelöst.  Die  Lösung  des  Piätsels  liegt  in  dem  den 
Censuszahlen  beigesetzten  Begriffe  „Schuldenfreiheit".  Die  Schatzuugs- 
klassen  bestanden  zwar  schon  zu  Diakons  Zeit,  aber  da  ihr  Einteilungs- 
grund der  Ertrag  war,  so  war  infolge  des  Notstandes  und  der  Über- 
schuldung der  Güter  ein  an  sie  geknüpfter  Zensus  illusorisch.    Drakon 


42    Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.  (J  Oehler.) 

griff  daher  zu  dem  Mittel,  das  VermÖg-en  zum  Einteilungserrund  für 
den  Amterzeusus  zu  machen.  Dieses  Vermö^^en  mußte  wenig-stens 
zengitisch  sein.  Nach  Busolt  ist  ouria  eXsuftspa  ,, hypothekenfreies 
Eigentum".  Nach  diesem  war  die  Amtsfähigkeit  abgestuft.  Eine 
wichtige  Rolle  spielten  die  4  Prytanen  des  Naukrarienrates:  Fränkel 
S.  481  meint,  die  Prytanen  hätten  in  Drakons  Zeit  Kompetenzen  aus- 
geübt, die  sie  zu  einer  wichtigen,  über  andere  hinausgehobeneu  Be- 
hörde machten,  auch  Wilamowitz  sagt  S.  92:  Die  Prytanen  der 
Naukraren  hatten  eine  bedeutende  Machtstellung,  bezeichnet  i^ie  als 
tribuui,  als  plebeische  Magistrate.  Nach  Fränkel  hatten  sie  die  Ober- 
leitung der  Finanzen  und  der  Streitmacht,  führten  den  Vorsitz  in  den 
Versammlungen  des  Volkes  und  des  Rates.  —  Wälirend  Wilamowitz 
4  Prytanen,  entsprechend  den  4  Phylen  als  jährige  Vorsitzende  des 
Rates  annimmt,  behauptet  Fränkel,  wir  können  nicht  erraten,  wie  stark 
an  Zahl  die  Prytanen  der  Naukraren  waren;  er  setzt  sie  also  außer 
Beziehung  zu  den  4  Phylen,  deren  Vorstehern  er  nur  sakralen  Charakter 
zuweist.  Die  Prytanen  wurden  aus  der  Klasse  der  -£v-axo3io|j.soi[xvot 
genommen,  Aj'chonten  und  raixtat  mußten  wenigstens  Ritterzensus  haben, 
während  Strategen  und  Hipparchen  den  Zeugiten  entnommen  wurden. 
Die  ixxXrjjia  setzte  sich  zusammen  aus  allen,  welche  sich  aus- 
rüsten konnten,  und  hatte  nebst  der  Wahl  der  militärischen  Beamten 
die  Entscheidung  über  die  wichtigsten  Dinge,  über  Krieg  und  Frieden. 
Die  anderen  Beamten  wurden  durch  das  Los  bestellt.  Der  Rat,  be- 
stehend aus  401  Mitgliedern,  wurde  aus  der  ganzen  grundbesitzenden 
Bürgerschaft  ausgelost;  der  Eintritt  in  den  Rat  sowie  die  Teilnahme 
an  den  Sitzungen  war  obligatorisch:  so  finden  wir  schon  in  der 
drakontischen  Verfassung  das  Zweikammersystem:  Rat  und  Volk.  Die 
Gesetzgebung  fiel  nach  Botsfords  Meinung  den  Thesmotheten  unter  der 
Aufsicht  des  Areiopags  zu;  der  Areiopag  ergänzte  sich  nach  wie  vor 
aus  den  abgetretenen  Archonten,  blieb  auch  ferner  der  Wächter  der 
Gesetze,  hatte  über  die  Amtsführung  der  Beamten  zu  wachen  und 
Klage  von  jedem  durch  einen  Beamten  gekränkten  Bürger  entgegenzu- 
nehmen. Über  Drakons  Tätigkeit  sagt  Ziehen:  Die  heutige  Forschung 
ist  sich  darüber  einig,  daß  die  Tätigkeit  Drakons  sich  im  wesentlichen 
wie  die  der  römischen  Dezemvirn  auf  die  schriftliche  Fixierung  des 
damals  geltenden  Gewohnheitsrechtes  beschränkte;  was  als  Gesetz 
kodifiziert  wurde,  geschah  unter  Drakons  Verantwortlichkeit,  wie  es 
darin  zu  erkennen  ist,  daß  er  der  Anschauung  vor  der  unvorsätzlichen 
Tötung  zum  gesetzlichen  Siege  verhalf.  Die  drakontische  Timokratie 
bezeichnet  Botsford  als  die  dritte  Periode  in  der  Entwickelung  der 
athenischen  Konstitution;  sie  war  eine  Änderung  des  alten  gentilizischen 
Systems  und  bildet  fortan  die  Basis  der  athenischen  Verfassung. 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J,  Oehler.)    43 

"Wenn  auch  durch  die  Aufzeichnung  des  Rechtes,  ilurch  die  Aus- 
losung des  Rates  und  der  niederen  Ämter  aus  der  Bürgerschaft  der 
Adelsrat  auf  dem  Areiopag  eingeschränkt  wurde,  wurden  doch  die  sozialen 
Gegensätze  nur  verschärft.  Diese  hatten  ihren  Grund  in  dem  wirtschaft- 
lichen Notstande,  der  hervorgerufen  war  durch  den  Übergang  von  der 
Naturalwirtschaft  zur  Herrschaft  des  Geldes.  Die  herrschende  Klasse 
stellt  die  Kapitalisten,  die  Gläubiger,  betreibt  Handel  und  kann  durch 
billige  Sklavenarbeit  den  freien  Handwerker  niederhalten;  das  strenge 
Schuldrecht  gibt  den  Schuldner  mit  Habe  und  Leib  in  die  Gewalt  des 
Gläubigers.  Gar  mancher  ursprünglich  freie  Besitzer  mußte  sein  Grund- 
stück dem  Gläubiger  überlassen  und  bebaute  es  als  exti^ixopo,.  Mit  der 
Aufhebung  dieses  sozialen  Notstandes  befaßt  sich  das  IX.  Kapital  Bots- 
fords: The  Solonian  revolution.  Vgl.  über  Solon  und  seine  Verfassung: 
Wüamowitz-Moellendorf  I,   3  S.  39-75;   II,  2  S.  59  f. 

62.  *A.  Bauer,  Literarische  und  historische  Forschungen  zu 
Aristoteles  'A&rjvaiwv  TroXiieia.     I.     Die  solouische  Gesetzgebung. 

Gute  Bemerkungen  finden  sich  auch  in: 

63.  H.  Landwehr,  Forschungen  zur  älteren  attischen  Geschichte. 
Philologus.  Suppl  V  (1884)  S.  97-^196.  IL  Zur  solonischen  Ver- 
fassung S.  131  f. 

Die  Tätigkeit  Solons  hat  eine  doppelte  Bedeutung:  eine  soziale 
und  eine  politische.  Mit  Recht  legt  Bolsford  diese  nach  3  Punkten 
klar:  1.  die  j£>aa-/8c'.a,  welche  das  Einzelinteresse  dem  Gesamtwohle 
opferte:  2.  die  Reorganisation  des  Staates;  3.  Gesetze  verschiedenen 
Inhaltes,  durch  die  der  strenge  Gentilverband  gelockert  wurde,  z.  B. 
die  Erlaubnis,  ein  Testament  zu  machen.  Solons  Verfassung  begründete 
die  Demokratie:  durch  ihn  erhielten  alle  Athener  Anteil  an  der  Staats- 
verwaltung. Die  3  Klassen  erhielten  wieder  ihre  vordrakontische  Be- 
deutung nach  dem  Einkommen;  die  Beamten  wurden  auf  Grund  einer 
durch  Wahl  festgestellten  Vorschlagsliste  durch  das  Los  bestellt.  — 
Eine  richtige  Würdigung  der  Tätigkeit  Solons  enthält 

64.  J.  Toepffer,  Über  die  Anfänge  der  athenischen  Demokratie, 

Beiträge  S.  305-321, 

der  ausführt,  es  habe  nach  der  Vertreibung  der  Könige  eine  rück- 
sichtslose Alleinherrschaft  der  Geschlechter  bestanden,  die  durch  die 
Tyrauuis  im  Laufe  des  VII.  Jahrhunderts  wohl  öfter  bedroht  wurde. 
Die  solonische  Gesetzgebung  hat  in  alle  Verhältnisse  des  bürgerlichen 
Lebens  tief  eingegriffen  und  auf  vielen  Gebieten  eine  vollständige  Um- 
wälzung bewirkt.  Mit  den  privatrechtlichen  Verhältnissen  vor  Solon 
beschäftigt  sich 


44  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.  ( J.  Oehler). 

65.  *M.  Wilbrandt,  De  rerum  privatarum  ante  Solonis  tempus 
in  Attica  usu.     Diss.  Rostock  1895. 

Eine  populäre  Darstellung  der  solonischen  Verfassung  und  Vev- 
gleichung  mit  der  Verfassung  des  Servius  Tullius  gibt: 

66.  P.  C.  Anfossi,    Le  legislaziooi    di  Solone   e  Servio  Tuilio. 
Studio  storico  comparativo.     Toriao   1899, 

So  hatte  Solon  durch  die  Beseititrung  der  Hypothekensteine,  d.  h. 
durch  die  Schuldentilgung  den  verschuldeten  und  dadurch  auch  in  seinen 
politischen  Rechten  beschränkten  bäuerlichen  Mittelstand  befreit;  doch 
fand  die  Demokratie  nur  Anklang  bei  der  Küstenbevölkerung. 

Die  Tyrannis  des  Peisistratos  und  seiner  Söhne  ist  von  Botsford  be- 
handelt im  10.  Kapitel  und  von  Wilamowitz-Moellendorf  II,  3  S.  68 — 76. 
Peisistratos  hatte  Friede  und  Wohlstand,  Ordnung  und  Fortschritt  auf 
sein  Panier  geschrieben;  seine  Zeit  wird  mit  Recht  als  die  goldene 
Athens  bezeichnet,  in  der  für  die  Verschönerung  der  Stadt,  für  Re- 
ligion, Kunst  und  Literatur  sehr  viel  geschah  und  Maßregeln  von 
wohltätiger  Wirkung  für  das  gemeine  Volk  getroffen  wurden.  Über 
die  Familie  des  Peisistratos  ist  zu  vergleichen 

67.  J.  Toepffer,    Die  Söhne  des  Peisistratos.    Hermes  XXIX 
(1894)  S.  463—467. 

Als  fünfte  Periode  in  der  Geschichte  der  athenischen  Verfassun.: 
bebandelt  Botsford  die  kleisthenische  Verfassung  und  ihre  Entwickeluna 
bis  zur  Schlacht  bei  Salamis.  In  dieser  Zeit  erhielt  die  solonische 
Verfassung  Leben  und  bekam  einen  politischen  Organismus,  verwandelte 
sich  der  Stammstaat  in  einen  politischen.  Der  geutilizische  Charakter 
des  Bürger  rechtes  blieb  beibehalten,  doch  durch  die  Neubildung  du* 
Phylen  wurde  die  Bildung  einer  lokalen  Faktion  unmöglich  gemach^ 
Beachtenswert  ist  die  Bemerkung,  jede  Phyle  habe  eine  Trittye  in  oder 
nahe  der  Stadt  erhalten,  um  in  der  Ekklesia  vertreten  zu  sein;  denn 
die  entfernter  Wohnenden  konnten  nur  mit  gewissen  Opfern  an  Zeit 
der  Ekklesia  beiwohnen.  Über  die  kleisthenische  Verfassung  sind  ferner 
zu  vergleichen: 

Wilamowitz-Moellendorf  II,  3  S.  76/7;  6  S.  145—168:   Trittyen 
und  Demen. 

68.  H.  Francotte,    L'organisatiou  de  la    cit6  athenieiine  et  In 
reforme  de  Clistheues.     Paris  (Brüssel)  1893. 

Hammond  (s.  Nr.  11)  S.  72 — 76:  Moderate  populär  governmeur 
under  the  Clisthenean  Constitution  508 — 480  B    C.  — 

Durch  Kleisthenes  wurden  die  sefjhaften  Bewohner  der  ländlichen 
Demen  Bürger  von  Athen.     Kleisthenes,  der  als  Aristokrat  der  Vater 


Beriebt  üb.  d.  griccb.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1.^93(1890)  - 1902.  (J.  Gebier.)    45 

der  Demokratie  wurde,  beabsichtigte,  die  Stadt-,  Land-  uud  Küsten- 
provinz  an  Stenerkapital  und  Bevölkerung  gleich  zu  machen;  jede 
Provinz  zerfiel  in  10  Kreise,  xptTtus?  genannt.  Die  Einzelgemeinde  als 
Selbstvervvaltungsköiper  ist  das  eine  und  größte,  das  Kleisthenes  ge* 
schaffen  hat.  Dadurch ,  daß  die  Ausübung  der  politischen  Rechte  au 
die  Zugehörigkeit  zu  einem  der  Demen  geknüpft  ward,  wurde  jeder 
Unterschied  zwischen  adelig  und  nicht  adelig  beseitigt.  Um  501/500 
war  die  Konsolidierung  der  Demokratie  zum  Abschlüsse  gelangt  und 
in  diesem  Jahre  wurde  die  Formel  des  Ratseides  festgestellt.  Seit  501 
werden  die  Strategen  nach  Phylen  bestellt,  je  einer  aus  einer  Phyle. 
Wir  wissen  nicht,  seit  wann  es  Strategen  gibt;  nicht  unwahrscheinlich 
ist  es,  daß,  wie  G.  Busolt,  Philologus  L  (1891)  S.  398  f.  vermutet,  die 
Aristokratie  nach  dem  Staatsstreichversuche  Kodons  die  militärische 
Amtsgewalt  des  Polemarchos  beschränkte,  indem  ihm  die  Kommandeure 
der  damaligen  4  Regimenter  mit  erhöhter  Kompetenz  an  die  Seite  ge- 
stellt wurden  und  für  die  Strategie  ein  besonderer  Zensus  festgesetzt 
wurde,  um  diese  Stellen  den  reichsten  Familien  zu  wahren.  Als  Fort- 
se*zer  des  kleisthenischen  Werkes  können  wir  mit  Wilamowitz  den 
Themistokles  ansehen.  Mit  Hilfe  des  Ostrakismos  wurden  die  einfluß- 
reichen alten  Adelshäuser  beseitigt;  die  "Wahl  der  Kandidaten  für  die 
Kandidatenliste  wurde  lieu  Gemeinden  überwiesen. 

Als  sechste  Periode  der  Verfassuugsentwickelung  behandelt  Bots- 
ford im  12,  Kapitel  die  Zeit  von  der  Schlacht  bei  Salamis  bis  zum 
Beginne  des  pelopounesischen  Krieges.  Diese  Periode  beginnt  mit  der 
Wiedereinsetzung  des  Areiopag  in  seine  frühere  Stellung  des  Ansehens 
und  Einflusses  im  Staate  gelegentlich  der  Perserkriege.  Zu  vergleichen 
für  diese  Periode  ist:  Wilamowitz  II  8  S.  186—200:  Der  Areiopag 
vor  Ephialtes  und  3  S.  91  f.  Mit  Recht  sagt  Wilamowitz.  die  Vor- 
herrschaft des  Areiopags  war  das  Hirn  Athens;  doch  mußte  er  an  Be- 
deutung verlieren,  seitdem  keine  bedeutenden  Männer  mehr  in  ihm 
waren.  Charakteristisch  für  diese  Periode  ist  der  Umstand,  daß  seit 
der  Schlacht  bei  Salamis  die  Theten  an  Bedeutung  gewinnen.  Daher 
konstatiert  auch  Hammond  S.  77/8:  The  changes  between  480  and 
432  B.  C.  den  raschen  Fortschritt  der  Demokratie.  Plutarch,  Aristid. 
c  23  berichtet,  auf  den  Autrag  des  Aristeides  hin  seien  nach  der  Schlacht 
bei  Plataiai  alle  Bürger  zum  Archontate  zugelassen  worden.  M.  Frauke!, 
Rhein.  Mus.  XLVII  (1892)  S.  488  Anra.  meint:  das  sei  Übertreibung; 
die  "Wahrheit  ist,  daß  damals  den  Rittern  das  Amt  geöffnet  wurde.  — 
Dagegen  behauptet 

69.    E.  FabriciuB,  Das  Wahlgesetz  des  Aristeides.   Rhein.  Mus. 
LI  (1896)  S.  456-462: 


4(3   Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler. ; 

Seit  dem  Wahlgesetz  von  487/6  wurden  nach  Aristoteles  'A8.  tloa. 
c.  22  die  Archonten  nicht  mehr  einfach  gewählt,  sondern  aus  zuvor 
gewählten  Leuten  ausgelost.  Im  Jahre  478  soll  Aristeides  den  Antrag 
gestellt  haben,  fortan  die  Archonten  aus  allen  Athenern  zu  wählen; 
diese  Nachricht  des  Plutarch  ist  unrichtig.  Es  war  zu  jener  Zeit  wohl 
schwer,  die  erforderlichen  500  Männer  zu  finden,  da^  die  Übernahme 
des  Archoutats  eine  Schädigung  im  Gewerbsleben  zur  Folge  hatte. 
Man  schlug  den  Ausweg  ein,  daß  für  diesmal  aus  allen  Atlienern  die 
Kandidaten  gewählt  werden  sollten. 

Vom  Jahre  457  an  waren  auch  die  Zeugitenwahl  berechtigt.  Im  Jahre 
460  wurde  auf  Antrag  des  Ephialtes  die  in  der  ganzen  Politik  aus- 
schlaggebende Stellung  des  Areiopags  gebrochen.  Die  Eeihe  von  Ob- 
liegenheiten, die  bis  dahin  der  Areiopag  gehabt,  wurden  anderen  Organen 
des  Staates  zugewiesen.  —  Der  Rat  der  500,  die  Volksversammlung 
und  die  Gerichte  haben  die  Amtspflichten  übernommen,  die  EphialiCb 
dem  Areiopag  entzog,  so  daß  dieser  fast  nur  noch  ein  Blutgerichtshoi 
war.  So  wurde  der  letzte  Unterschied  zwischen  Eupatriden  und 
Plebeiern  getilgt.  Als  Schutzmittel  gegen  eine  etwaige  Anarchie  der 
e/xX7]aia  wurden  die  ipcn^y]  Trapavoixwv  und  die  vou-oöexai  eingesetzt; 
B.  Keil,  Anonym.  Arg.  S.  173  behauptet  mit  ßecht,  daß  460  die 
vojjLOfpuXaxe;  bestellt  wurden  mit  der  Bestimmung,  darauf  zu  sehen,  daß 
die  Beamten  die  bestehenden  Gesetze  in  Anwendung  bringen.  Diese 
Behörde  wurde  dann  404/3  von  den  Dreißig  aufgehoben,  da  sie  mii 
den  Absichten  der  Gewalthaber  unvereinbar  war. 

Um  460  V.  Chr.  war  die  Demokratie  in  Athen  vollendet.  Der 
Führer  derselben  war  ein  Menschenalter  hindurch  Perikles ,  von  dem 
Botsford  mit  Recht  sagt,  er  habe  ein  absolutes  Ansehen  gehabt,  mehr 
als  Könige  und  T3Tannen.  In  welcher  Stellung  hat  Perikles  seine  all- 
umfassende Herrschaft  ausgeübt.^  Mit  der  Beantwortung  dieser  Frage 
befaßt  sich: 

80.  H.  Müller-Strübing,  Studien  zur  Verfassung  von  Athen 
während  des  peloponnesischen  Krieges.  I.  Über  die  Civilbeamten. 
Neue  Jahrb.  f.  klass.  Philol.  .147  (1893)  S.  513—554. 

Der  Verf.  behauptet,  Perikles  sei  nicht  als  Stratege  an  der  Spitze 
des  Staates  gestanden,  sondern  als  £-i|xeX7)Trj;  oder  Taixiac  t%  xotvr,.: 
irpojooou,  als  Verwalter  der  öffentlichen  Einkünfte.  Trotz  des  Schweigens 
der  Inschriften  hält  er  an  der  Ansicht  fest,  es  habe  bereits  im  V.  Jahr- 
hunderte einen  Beamten  gegeben ,  der  die  Stelle  eines  Oberaufsehers 
über  das  ganze  Finanzwesen  einnahm,  da  ohne  solch  einheitliche 
Spitze  eine  athenische  Finanzverwaltung  undenkbar  sei.  S.  534  heii'*: 
es:  „Der  rf-oa-atr,?    war    ein  staatsmännisch  gebildeter,    besonders   fü;- 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm  f.  d.  J.  I.s93(l890)  — ]9ÜL^  (J.  Oohler.)   47 

liuaDzielle  Fragen  kompetenter  Fachmann,  den  das  Volk,  dessen  Ver- 
trauen er  sich  erworben  hatte,  beim  Beginne  jeder  4jährigen  Finanzperiode 
durch  Wahl  aus  der  ßouXTQ  als  sachkundigeu  Berater  bestellte.  Er  hatte 
keine  bestimmte,  abgegrenzte  Amtstätigkeit;  denn  alles,  was  der  Rat 
beschließt,  unterliegt  seiner  Begutachtung  und  umgekehrt,  alles  was  er 
oltiziell  tut  und  spricht,  tut  und  spricht  er  im  Auftrage  des  Kates. 
Auf  ihn  paßt,  was  über  den  Beamten  des  IV.  Jahrhunderts,  der  den 
Titel  führt:  6  em  ttq  öioixtjüsi ,  gesagt  wird."  Er  vergleicht  ihn  mit 
dem  unter  dem  Titel  „Großpensionär  von  Holland''  bekannten  nieder- 
ländischen Staatsbeamten.  Da  auch  über  die  Kompetenz  des  Rates  und 
des  avTtYpafps'j^  gehandelt  ist,  wird  die  Arbeit  Müller-Strübings  noch 
in  folgendem  zu  betrachten  sein. 

In  die  Zeit  des  Perikles  fällt  die  Begründung  des  attischen 
Eeicbes,  das  Athen  seit  445  beherrschte.  Die  Reichskasse  wurde  nach 
dem  Anonymus  Argeutinensis  459  nach  Athen  verlegt,  Athena  die 
Schntzgöttin  des  Reiches.  Mit  der  erweiterten  Geschäftstätigkeit  des 
Rates  und  der  Gerichte  war  die  Einführung  der  Diäten  notwendig. 
Es  mögen  gleich  die  auf  die  Besoldungen  bezüglichen  Arbeiten  ange- 
führt werden: 

Wilamowitz-Moellendorf,  II,  10  S.  212-216:  Diobelie. 

71.  F.  Lenormant,  Diobolium  in  Dareraberg  et  Saglio  III  224. 

72.  *E.  Ciccotti,  Le  retribuzione  delle  funzioni  publiche  civili 
neir  antica  Atene  e  le  sue  consequenze.  30  S.  Estratto  dei 
Rendiconti  del  R.  Istituto  Lombarde  di  scienze  e  lettere.  ser.  II. 
vol.  XXX.  1897. 

Wilamowitz  betrachtet  die  Diobelie  mit  Recht  als  Bürgersoid, 
als  Staatspension ;  der  Staat  ist  eine  Aktiengesellschaft  und  verteilt  die 
Dividenden  an  die  Aktionäre.  Wir  sehen  wohl  in  allen  Besoldungen 
das  kommunistische  Streben  der  Bürger,  Anteil  am  Gemeingute  und  a;i 
dessen  Ertrage  zu  erhalten;  aber  auch  eine  Entschädigung  für  die  im 
Interesse  des  Staates  verwendete  Zeit  war  gerecht,  denn  erst  dadurch 
wurde  auch  den  Unbemittelten  die  Teilnahme  an  Rat,  Gericht  und 
Volksversammlung  ermöglicht. 

Ciccotti  kommt  zu  folgenden  Ergebnissen :  1.  Der  Richtersold  ist 
durch  Perikles    eingeführt    und    hat    3   Oboleu    niemals    überschritten. 

2.  Der  Versammluugssold  ist  erst  im  IV.  Jahrhundert  eingeführt 
worden  und  allmählich  von  1  Obolos  auf  1  bis  1 V2  Drachmen  gestiegen. 

3.  Für  den  Anfang  der  Schau-  und  Festgelder  ist  die  gegen  Ende  des 
peleponnesischen  Krieges  durch  Kleophon  eiugeführte  o-wßeXta  anzu- 
sehen; diese  letztere  Behauptung  ist  mit  Cauer  abzuweisen.  Was  die 
politische ,    soziale    und  ethische  Wirkung  der   staatlichen  Besoldungen 


48  Bericht  üb.  d  griecb.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1 890) -1902.  (J.  Oehler.) 

anbelangt,  bemerkt  Ciccotti  mit  Recht:  Die  athenische  Demokratie 
stand  und  fiel  mit  der  Remuneration  fiir  die  Ausübung  politischer 
Fanktiouen,  daher  die  Besoldung  nicht  unpassend  als  der  Kitt  der 
Demokratie  bezeichnet  werden  kann.  Aber  die  Steigerung  der  Be- 
soldungen, die  als  Hauptmittel  zur  Bereicherung  angesehen  wurden, 
ging  weit  über  das  durch  das  Wesen  der  Verfassung  gebotene  Maß 
hinaus,  daher  ist  die  Verurteilung  derselben  durch  die  vornehmsten 
Denker  erklärlich.  Welchen  Umfang  die  Besoldungen  annahmen  ,  be- 
zeichnet Botsford,  indem  er  sagt,  es  lebten  etwa  20  OuO  Bürger  auf 
Kosten  der  Staatskasse.  Dagegen  sorgte  Perikles  für  die  Reinheit  der 
Bürgerschaft  und  somit  für  die  Gesundheit  des  Staates  dadurch,  daß 
auf  seinen  Antrag  im  Jahr  451  v.  Chr.  neuerdings  die  beiderseits  bürger- 
liche Abstammung  zur  Bedingung  für  das  Bürgerrecht  gemacht  wurde. 

Die  Verfassung  während  des  peloponnesischen  Krieges  behandelt 
Hammond  S.  78 — 86:  Democracy  during  the  Pelopouuesian  War 
432—404  B.  C.  Er  bespricht  die  IxxXrjsi'a  und  ßouXT]  der  500,  die 
Exekutivbeamten,  die  Gerichtsbarkeit  und  gibt  erläuternde  Beispiele  für 
die  Wandlung  der  Verfassung. 

Gegenstand  mehrfacher  Erörterungen  ist  die  Oligarchie  des  Jahres 
411;  es  sind  zu  nennen:  Hammond:  Oligarchy  at  Athens.  411  B.  C. 
and  404  B.  C.  S.  88— 97;  Whibley  (s.  Nr.  12),  App.  C:  The  Oligarchie 
revolntion  in  Athens:  the  provisional  and  the  projected  Constitution 
p.  192—207.  Wilamowitz-Moellendorf  II,  4  bes.  S.  113  f.;  U: 
■:i}i%aTa  Trotpsyojxsvot.  A.Bauer,  Literarische  und  historische  Forschungen  3. 

73.  J.  Rohrmoser,  Über  die  Einsetzung  des  Rates  der  Vier- 
hundert nach  Aristoteles  -oX.  'A&/)v.  Wiener  Studien  XIV  (1892) 
S.  323-332. 

74.  U.  Köhler,  Die  athenische  Oligarchie  des  Jahres  411 
V.  Chr.     Sitzungsber.  Berl.  Akad.  1895,  S.  451—468. 

74a.  Derselbe,  Der  thukydideische  Bericht  über  die  oligarchische 
Umwälzung  in  Athen  im  Jahre  411.  Sitzungsber.  Berl.  Akad.  1900, 
S.  803-817. 

75.  L.  Ballet,  Les  constitutious  oligarchiques  d'Athenes  sous 
la  revolntion  de  412—411.  Le  Musee  Beige.  Revue  de  Philol. 
class.  II  (1898)  S.  1—31. 

Dazu  sind  noch  zu  erwähnen  die  dem  Referenten  nicht  zusäng- 
lich  gewesenen  Abhandlungen:  H.  Micheli,  La  revolntion  oligarchiquo 
des  Quatre-cents  k  Athenes  et  ses  causes.  Geneve  1893;  Dufour,  La 
Constitution  d'Athenes  et  l'oeuvre  d'Aristote,  Paris  1895;  E.  Meyer, 
Forschungen   zur  alten  Geschichte  II  S.  406—437.     Zu   unterscheiden 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  ]S!)3(1890)-U)02.  (J.  Oehler.)    40 

sind  die  provisorische  Verfassung,    die   allein  geschichtliche  Bedeutnns 
hat,  und  der  definitive  Verfassungsentwurf,  der  in  Geltung'  treten  sollte; 
sobald  die  vor  Sanios  ankernde  Flottenniannschaft  ihre  Zustinununs:  £>-e- 
^eben  hätte.     Der  Träg-er  der  Gewalt  war    der  Rat    der  400.     Wahr- 
scheinlich sprengten  die  Olig-archen  den  alten  Rat  der  500  früher,  als  die 
formelle  "Wahl    der  400    in    den  Pbylcn    vollzogen    war.     Nach   einem 
Provisorium    von    8  Tagen    übernahmen    die  400    die  Geschäfte;    auch 
dieser  Rat  sollte  nur  provisorisch  sein.     Der  Verfassungsentwurf  selbst 
wollte    das  Zweikammersystem  (Rat  und  Volk)  beseitigen;    als  Grund- 
lage   der    Verfassung    stellt     sich     die    alternierende    Ausübung     der 
Souveränitätsrechte  durch  5000  Bürger  von  einem   bestimmten  Lebens- 
alter   an    in    einem  vierjährigen  Cyklus  dai*.     Mit  Recht  weist  Köhler 
hin  auf  eine  analogeStaatsordnuug  inBoiotien  znrZeit  des  peloponnesischen 
Krieges:  diese  Verfassung  mochte  für  die  athenischen  Gesetzgeber  vor- 
bildlich   sein.     Aus    dem    Rate    sollten    auch    die  Beamten    genommen 
werden:    der  Rat  wäre  etwa  1000  Köpfe  stark  gewesen,    die  Zahl  der 
dem  Rate  entnommenen  Oberbeamten  hätte  etwa  100  betragen.    Ballet 
gibt  die  Darstellung   klar    und    übersichtlich.     Das  1.  Kapitel  handelt 
über  die  cu-ffpacpsT?.     Es  sollten  zu  den  10  -poJ'jouXoi.    die  je  einer  aus 
jeder  Phyle  gewählt  waren,   20  Bürger  hinzutreten;   diese  Kommission 
der  30  au-f^pacpetr    sollte    dem  Volke    die    nach    den  Umständen    beste 
Verfassung  unter  Aufhebung  der  Soldzahlungen,  außer  für  den  Krieg, 
sowie  mit  Beschränkung  des  vollen  Bürgerrechtes  auf  5000  Bürger  vor- 
schlagen.    Im  2.  Kapitel  wird  die  Verfassung  erörtert.     100  y.aTaÄoYeic 
stellten  die  Liste  der  5000  zusammen:    die  5000    wieder  wählten   eine 
Kommission    von    100  Männern,    welche    den  Entwurf   der   Verfassung 
ausarbeiteten;    doch  zeigt  dieser  ganze  Entwurf  so  sehr    einen  Geist, 
ist  so  wohl  durchdacht,    daß   die  Annahme  naheliegt,    es    habe   dieser 
Entwurf  bei  den  Leitern  der  Bewegung  von  Anfang  an    festgestanden. 
Nur  die  provisorische  Verfassung,    in    der    der  Rat  mit   diktatorischer 
Gewalt  tätig  war,    trat  ins  Leben,    dauerte  aber  nur  4  Monate.      Der 
definitive  Verfassungsentwurf   war,    wie  Wilamowitz    mit  Recht    sagt, 
ein  totgeborenes  Kind,    da  ein  solcher  Staat,    wie    ihn  die  Oligarchen 
wollten,  vielleicht   in  dem  ländlichen  Attika    existieren     konnte,    aber 
mit  dem  Reiche    unvereinbar    war.     Köhler  bemerkt:    Solange  Athen 
die    Seeherrschaft    besaß,     war    ihm    mit    einer     solchen    Verfassung 
nicht  gedient;    aber    die  Seeherrschaft    war    damals  bereits  gebrochen, 
den  Oligarchen  war  an  der  eigenen  Macht  und  Herrschaft    viel    mehr 
gelegen    als    an    der    Wahrung    der    auswärtigen    Machtstellung     des 
Staates. 

Doch  eine  solche  oligarchische  Herrschaft  war   gegen    den  Geist 
Athens,  sie  wurde  gestürzt,  trotzdem  die  Oligarchen  sich  auf  die  ::aTptoc 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.    III.)         4 


50  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)-1902.  (J.  Oehler.) 

iroXiTeia  beriefen.  Auch  als  8  Jahre  später  die  30,  die  eie:entlich  auch 
eine  Verfassung  ausarbeiten  sollten,  sich  der  Tyrannis  bemächtigt  lintten, 
wurde  dennoch  die  Herrschaft  der  Masse,  des  8^\i.oi,  wiederhergestellt. 
Während  man  im  Jahre  411  die  politischen  Rechte  auf  die  orrXa 
Traps/ojievot  beschränkt  hatte,  setzte  man  im  Jahre  404  die  Steuer  an 
die  Stelle  der  Bewaffnung :  es  sind  die  Ti[jnr^ixa-:a  rapeyoiJtsvot. 

Die  Zeit  nach  dem  peloponnesischen  Kriege  bis  zum  Jahre 
338  V.  Chr.  finden  wir  kurz  besprochen  bei  Hammond  S.  86 — 88: 
Democracy  after  the  Peloponnesian  War  404—338  B.  C,  der  mit  den. 
Worten  schließt:  „Die  athenische  Demokratie  war  die  beste  von  den 
griechischen  Demokratien,  die  athenische  Oligarchie  die  schlimmste 
unter  den  griechischen  Oligarchien."  Botsford  sagt  S.  233:  „Die  Macht 
Athens  begann  mit  Kleisthenes;  unter  den  400  und  unter  den  30  war 
Athen  schwach,  mit  der  Erneuerung  der  Demokratie  wurde  auch,  soweit 
dies  die  Erschöpfung  durch  die  vielen  Kriege  erlaubte,  seine  Stärke 
erneuert." 

Ich  komme  zur  Besprechung  der  Verfassung  selbst  und  betrachte 
zunächst  die  Bürgerschaft  und  ihre  Gliederung,  wobei  die  auf  die  ysvtj, 
^P7£u)VE?  und  öiaaüjTai  bezüglichen  Fragen  erledigt  werden  sollen. 

Zu  erwähnen  ist  vor  allem: 

76.  *V.  V.  Schoeffer,  Bürgerschaft  und  Volksversammlung  in 
Athen.  I.  Die  Grundlagen  des  Staates  und  die  politische  Gliederung 
der  Bürgerschaft  in  Athen.     Moskau  1891   (russisch). 

Das  2.  Kapitel  enthält  eine  Geschichte  der  Phj^len.  Die  ur- 
sprünglichen 4  Phylen  waren  weder  Berufskasten  noch  eine  ursprüng- 
liche Vierteilung  Attikas,  sondern  sie  sind  allgemein  ionisch.  Auch 
Wilamowitz  II  S.  138  f.  hält  die  4  Phylen  für  ionisch,  erkennt  aber, 
daß  sie  künstlich  gebildet  seien,  berechnet  für  die  Verwaltung,  ebenso 
wie  ihre  Unterabteilung,  die  Phratrien  oder  Trittyen.  Szanto  Phylen 
S.  43  f.  hat  gezeigt  daß  die  4  sogenannten  ionischen  Phylen  eigentlich 
attisch  sind,  genannt  nach  Gottheiten  und  erst  geschaffen,  als  der 
Einheitsstaat  bereits  gebildet  war.  Diese  Phylen  waren  annähernd  gleich 
groß,  jede  war  in  3  Teile  geteilt.  Danach  ist  Botsford  S.  102 — 110 
zn  berichtigen.  Über  die  kleisthenischen  Phylen  wurde  bereits  oben 
gesprochen.  Eine  dankenswerte  Übersicht  über  die  Phylen  bietet  eine 
Tabelle:  danach  gab  es  10  Phylen  von  508—306  v.  Chr.;  12  Phylen: 
306—227;  13  Phylen:  226—201;  11  Phylen  um  200;  12  Phylen 
200  V.  Chr.— 129  n.  Chr.;  13  Phylen  von  129  n.  Chr.  an,  noch  nach- 
zuweisen 262  n.  Chr.  Über  die  nachkleisthenischen  Phylen  liegen 
mehrere  Arbeiten  vor: 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  51 

77.  J.  E.  Kirchner,  Die  Phylen  Antigonis  und  Demetrias. 
Ehein.  Miis.  XLVII  (1892)  S.  550—557. 

78.  '^S.  Shebel6w,  Zur  Geschichte  der  Bildung  der  nach- 
kleisthenischen Phylen.  Ixs^avoc,  Sammlung  von  Aufsätzen,  Th.  Sokolöw 
dargebracht.     St.  Petersburg  1895,  S.  11—48  (russisch). 

79.  *F.  0.  Bat  es,  The  five  post-kleistheneau  tribes.  (Cornell 
studies  of  classical  philology  no.  VlII.)     Boston  1898. 

Kirchner  geht  von  den  Ergebnissen,  die  Beloch  und  Philios  ge- 
wonnen haben,  aus:  Von  307/6  bis  221  bestanden  12  Phylen  in  der 
Reihenfolge,  daß  Antigonis  und  Demetrias  den  1.  und  2.,  die  10  alten 
Phylen  den  3.  bis  12.  Platz  in  der  offiziellen  Reihenfolge  innehatten. 
Zu  diesen  12  trat  zwischen  229  und  221  die  Ptolemais  hinzu,  daß  es 
also  bis  200  13  Phylen  gab,  unter  denen  die  Ptolemais  die  7.  Stelle 
einnahm.  Im  Jahre  200  wurden  Antigonis  und  Demetiias  abgeschaffr, 
dagegen  die  Attalis  neu  errichtet,  diese  erhielt  den  12.  Platz.  Für  die 
Antigonis  ermittelt  Kirchner  10,  für  die  Demetrias  9  Deraen. 

Shebelew  meint,  Antigonis  und  Demetrias  seien  307/6  mit  je 
10  Demen  gebildet,  die  Ptolemais  nicht  vor  225  mit  24  Demen.  Im 
Sommer  200  wurden  die  Antigonis  und  Demetiias  aufgelöst,  dafür  die 
Attalis  mit  12  Demen  eingerichtet.  Die  Bildung  der  Hadrianis,  welche 
die  7.  Stelle  einnahm,  fällt  zwischen  129  und  131  n.  Chr. 

Bates  weist  nach,  daß  die  Antigonis  und  Demetrias  bereits  308/7, 
die  Ptolemais  229  v.  Chr.,  die  Hadrianis  125  n.  Chr.  (im  Anschlüsse 
an  den  ersten  Besuch  Hadrians)  errichtet  wurde.  Die  Anordnung  der 
Ptolemais  und  später  der  Hadrianis  an  der  7.  Stelle  der  offiziellen  Reihen- 
folge wird  darauf  zurückgeführt,  daß  der  Schaltmonat  den  7.  Platz  ira 
athenischen  Kalender  innehatte.  Der  größte  Teil  der  Untersuchung 
befaßt  sich  mit  den  Demen,  welche  den  neu  errichteten  Phylen  zuge- 
wiesen wurden.  Die  Antigonis  hatte  9  Demen,  die  von  den  5  ersten 
Phylen  abgetrennt  wurden ,  je  zwei  aus  einer  Phyle  außer  der  Aka- 
mantis,  welche  nur  einen  Demos  abgeben  mußte.  Die  Demetrias  erhielt 
7  Demen  aus  den  4  letzten  Phylen,  während  die  Aiantis  ungeschmälert 
blieb.  Bei  der  Errichtung  der  Ptolemais  wurden  ihr  24  Demen  aus 
den  10  alten  Phylen  zugewiesen;  die  Attalis  umfaßte  12  Demen,  11  aus 
den  10  alten  Phylen,  1  Demos  wurde  neu  gebildet.  Bei  der  Errichtung 
der  Hadrianis  wurde  von  den  bestehenden  12  Phylen  je  1  Demos  ab- 
gezweigt, 1  Demos  neu  gebildet. 

Was  die  Phratrien  anbelangt,  erinnert  Botsford  an  die  12  Namen 
der  Städte  in  Attika,  die  uns  Philochoros  nennt,  durch  deren  Synoikismos 
Athen  gebildet  wurde.  Die  Zwölfzahl  erklärt  Szanto  Phylen  S.  43 
aus   der    amphiktyonischen  Besied  elung  Attikas    und    der  Synoikismos 


52  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  ]  893(1S90)- 1902.  (J.  Oehler.) 

erfolgte  durch  die  Verbindunsr  der  bis  dahin  selbständigen,  aber  in  der 
Form  einer  Amphiktyonie  vereinigten  Städte.  Als  der  3.  Teil  der 
Phyle  sind  die  Phratrien  die  vorkleisthenischen  alten  Trittyen.  Diese 
alten  Phratrien  hatten  keinen  lokalen,  sondern  einen  religiösen  Cha- 
rakter. Ob  Kleisthenes  für  diejenigen,  welche  nicht  Glieder  einer  gens 
waren,  neue  Phratrien  eingerichtet,  wie  Botsford  S.  194  annimmt,  läßt 
sich  nicht  sicher  behaupten. 

Als  Unterabteilung  der  Phratrie  erscheinen  in  der  ältesten  Zeit 
die  Y^vY).  Diese  sowie  die  Phratrien  waren  ursprünglich  wohl  den 
Nicht- Eupatriden  verschlossen.  Wenn  auch  durch  Kleisthenes  au  die 
Stelle  des  Gescblechterstaates  die  Geraeindeordnung  getreten  war,  be- 
standen doch  die  früheren  Verbände  der  -/svy)  und  rppaTpiai  fort,  wurden 
aber  auch  den  Nicht- Eupatriden  zugänglich,  da  das  Bürgerrecht  immer 
ein  tfentilizisches  blieb.  Als  staatsrechtliche  Bezeichnungen  erscheinen 
auch  op7£aiv£s  und  fltasw-rai. 

Über  die  Phratrien  handelt  auch 

79a.  A.  Körte,  Das  Mitgliederverzeichnis  einer  attischen  Phratrie. 
Athen.  Mitt.  XXVII  (1902)  S.  582-589. 

Er  behauptet,  Athen  habe  nie  mehr  als  12  Phratrien  gehabt; 
doch  verzichteten  wegen  der  hohen  Aufnahmekosten  immer  mehr  Athener 
auf  die  Aufnahme  in  die  Phratie,  so  daß  faktisch  ein  sehr  groHer 
Bruchteil  der  Bürgerschaft  ohne  Bruderschaft  lebte,  woraus  sich  die 
geringe  Mitgliederzahl  erklärt. 

Über  die  Bedeutung  der  attischen  Geschlechter  handeln  Whibley, 
Appendix  B:  The  Athenian  7£vy]  and  their  importance  in  the  ear]}'  Con- 
stitution S.  95-104;  J.  Toepffer,  Eu-arpi'Sai.  Hermes  XXJI  (1887) 
S.  479— 483 -=  Beitr.  113—117,  und  besonders 

80.     M.  Wilbrandt,  Die  politische  und  soziale  Bedeutung  der 
attischen  Geschlechter  vor  Solon.  Leipzig  1899  (Philologus,  Suppl.  VII). 

Toepffer  macht  darauf  aufmerksam,  daß  Eurarpiooti  nicht  bloß  den 
ganzen  Stand,  sondern  eine  engere  Körperschaft  innerhalb  dieses  Standes, 
also  ein  Geschlecht  bezeichnet.  AVhibley  gibt  eine  gute  Übersicht  über  die 
Bedeutung  der  Mitgliedschaft  eines  -'evoc,  welche  die  notwendige  Be- 
dingung für  das  Bürgerrecht  war.  Beachtenswert  ist  sein  Vorschlag 
S.  102,  Aristoteles  \\%.  tzoX.  c.  21  statt  des  überlieferten  Traxpoftev  zu 
schreiben:  „TrarpaSev,  bey  bis  clan  name."  "Wilbrandt  stellt  folgende 
Sätze  auf:  1.  Schon  vor  Drakon  gehörte  die  gesamte  Plebs  den  Ge- 
schlechtern an,  es  deckten  sich  Geschlechtsaugehörigkeit  und  Bürger- 
recht. 2,  Nur  die  Landbesitzer  bildeten  die  Bürgerschaft.  3.  Der 
Privatbesitz  an  Grund  und  Boden   war  bis  auf  Solon    aufs    engste    an 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1  »93(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  53 

die  Geschlechter  geknüpft.  A.  Mommseu,  Feste  der  Stadt  Athen,  be- 
merkt S.  271:  „Was  die  Alten  als  ^evt)  überlieferten,  ist  bald  eine  Be- 
rufsgenossenschaft (z.  B.  die  Keryken  und  Eumolpiden) ,  ein  bloß 
scheinbares,  künstliches  -fsvo?,  das  verschiedene  Familien  einschließt, 
bald  eine  Familie,  die  Teil  eines  künstlichen  7evoc  gewesen  sein  kann." 
Vor  allem  kommen  zur  Erörterung  die  op-fsüivsc  und  ftiaaüJTat, 
ihre  Stellung  zum  -.svoc  und  ihre  Bedeutung  sowie  ihr  Verhältnis  zu- 
einander. In  erster  Linie  kommt  in  Betracht  das  grundlegende  Werk 
von  J.  Toepffer,  Attische  Genealogie  (1889),  wo  es  S.  10  heißt:  „Es 
ist  unter  op-.'eiöviC  die  religiöse  Körperschaft  zu  verstehen,  die  sich  aus- 
schließlich aus  Mitgliedern  der  alten  Geschlechter  zusammensetzte"  und 
S.  14  Anm.:  „Wenn  die  öiajöJTai  nur  eine  Fraktion  der  cppaxeps?  aus- 
machten, so  lag  es  nahe,  anzunehmen,  daß  die  diaaoi  sich  im  Gegen- 
satze zu  den  Orgeonenverbänden  ursprünglich  aus  solchen  Mitgliedern 
zusammensetzten,  die  keinem  der  staatlich  anerkannten  Geschlechts- 
verbände angehörten."  Doch  Rhein.  Mus.  XLV  (1890)  S.  372  f.  schließt 
sich  Toepffer  der  Ansicht  Schoells  an,  die  dieser  „Berichte  der  bayr. 
Akad."  1889,  II  S.  1  f  ausgesprochen  hat:  „Wir  erkennen  in  den  diajo-. 
die  quasi-gentilizischen  Verbände  solcher  Bürger,  welche  außerhalb  der 
Gentilität  stehen.  Der  altursprüngliche  und  regelmäßige  Ausdruck  für 
diese  quasi-gcntilizischen  Kultgenossen  ist  op-^säivE;.  Von  diesen  sind 
die  OtaaiÜTai  weder  der  Bedeutung  noch  der  Sache  nach  verschieden." 
Auch  Lipsius  „Die  Phratrie  der  Demotioniden"  Leipziger  Studien  XVI 
S.  159 — 171  meint,  von  den  öiaacÜTat  seien  nicht  verschieden  die  dp-ßZ^z^, 
die  neben  den  6iJ.o-;aXaxT£;  oder  -/sw^xai  als  gleichberechtigte  Mitglieder 
der  Phratrie  erscheinen.  Tarbell,  American  journ.  of  arch.  V  (1890) 
S.  135  f.  setzt  Orgeonen  und  Thiasoten  einander  gleich,  während  Paton, 
Amer.  journ.  of  arch.  VI  (1891)  S.  314  in  den  Orgeonen  nur  den 
Kreis  der  unmittelbaren  Verwandten  sehen  will.  Die  Gleichheit  der 
Orgeonen  und  Thiasoten  nehmen  auch  an  Gilbert,  Handbuch  I-  S.  164  f.; 
Busolt,  Griech.  Altert.  (Müller  Handb.  IV- 1)  S.  207;  ders.  Gr.  Gesch.  IP 
S.  289;  Lipsius,  Schoemann  I^  S.  387,  Anm.  1.  Thumser,  Hermann 
Antiq.  I^  S.  313  f.  dagegen  sieht  in  den  dp^süJvec  die  neu  hinzuge- 
kommenen eleusinischen  Elemente;  die  Gründung  der  öt'a^oi  als  Unter- 
abteilung der  Phratrien  sei  wohl  auf  Kleisthenes  zurückzuführen. 
Francotte,  L'organisation  de  la  cit6  athenienne  ist  der  Ansicht,  die 
7£vr]  hätten  lange  Zeit  nur  die  Altbürger,  die  Adeligen  enthalten,  welche 
als  Genneten  oder  Homogalakten  bezeichnet  werden;  neben  ihnen  seien 
dann  die  Nichtadeligen  als  Orgeonen  oder  Thiasoten  in  die  Phratrien 
eingetreten.  Auch  Whibley  S.  99  sieht  in  den  op-j'söivs;  nichteupatri- 
dische  Elemente,  welche  auf  Grund  gemeinsamen  Gottesdienstes^zum 
Geschlechte    zugelassen    waren.     Botsford  S.  83    erklärt    opfscöve;    als 


54  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  ( J.  Oehler.) 

Klienten  der  Geschlechter  und  meint  S.  161,  die  nichtadeligen  Glieder 
der  Gentes  waren  Orgeones,  die  den  Phratrien  zugewiesen  wurden;  sie 
mochten  als  plebeische  Geschlechter  angesehen  worden  sein.  Beauchet, 
Histoire  du  droit  prive  de  la  rep.  Athen.  IV  S.  359  erklärt,  die  Orpreones 
seien  eine  ähnliche  Organisation  wie  die  yevy),  umfaßten  aber  die  Neubürger 
sowie  die  diasot,  denen  die  alten  -/evr^  verschlossen  waren.  Wilamowitz- 
Moellendorf,  Arist.  u.  Athen  II  S.  269  f.:  „Die  Phratrie  der  Demotio- 
niden"  bezeichnet  es  als  Willkür,  die  Thiasoten  mit  den  Orgeones,  die 
Dekeleer  mit  den  Genneten  gleichzusetzen.  Rechtlich  hatte  schon  zu 
Drakons  Zeit  jeder  Athener  eine  Phratrie:  es  waren  nur  die  Plebeier 
als  Orgeonen  den  Geschlechtern  beigeordnet.  Die  Thiasoten  konnten 
als  neuer  Name  auch  ältere  ^cw^tai  und  opYeuive;  zusammenfassen. 
Den  von  Wilamowitz  ausgesprochenen  Gedanken  hat  Wilbrandt  weiter 
ausgeführt.  Die  Plebeier  haben  Geschlechter  für  sich  gebildet,  in  jeder 
Phratrie  waren  Eupatridengeschlechter  mit  gentes  minores  verbunden. 
Die  Orgeonen  waren  Mitglieder  der  plebeischen  Kultverbände:  die  alten 
Kultverbände  hätten  sich  in  dtaacÜTai  aufgelöst.  Die  Neubürger  haben 
seit  Kleisthenes  den  Geschlechtern  nachgebildete  Verbände,  in  denen 
dem  Zeus  Herkeios  und  Apollon  Patroos  geopfert  wurde.  Die  fJLajoi 
scheinen  die  Geschlechter  verdrängt  zu  haben,  so  daß  die  Phratrien 
nur  noch  ötasot  als  Unterabteilungen  hatten. 

Wie  über  die  offiziellen,  staatlichen  opYsöive;  und  ^lazCi^Tai,  über 
ihre  Bedeutung,  ihr  Verhältnis  zueinander  herrscht  auch  über  die  mit 
den  gleichen  Namen  bezeichneten  Privatvereine  die  Ansicht,  es  herrsche 
kein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  den  opYcüivsc  und  Oiajoixat;  vgl. 
zuletzt  A.  Wilhelm,  Jahreshefte  d  österr.  arch.  Inst.  V  (1902)  S.  127.  — 
Trotz  dieser  Gleichsetzung  hat  man  manches  auffällig  gefunden: 
C.  Wachsmuth  II  S.  163  findet  es  auffällig,  daß  die  Dionysiasten,  die 
sich  als  op';zw\zi  bezeichnen,  vornehme  Bürger  sind;  Clerc:  Bull.  hell. 
VII  (1883)  S.  73  hebt  hervor,  daß  der  Antragsteller  der  Dionysiasten 
ein  Bürger  sei,  bei  den  Qiaaoi  v.erde  er  nicht  als  solcher  bezeichnet. 
Auf  eines  möchte  ich  aufmerksam  machen:  waren  beide  Bezeichnungen 
wirklich  gleichbedeutend  und  herrschte  kein  wesentlicher  Unterschied, 
dann  ist  es  nicht  verständlich,  weshalb  man  Jahrhunderte  hindurch  beide 
Bezeichnungen  beibehielt.  Foucart  ,,Les  assoc.  rel."  S.  86  sieht  in  den 
Orgeonen  nur  Verehrer  ausländischer  Gottheiten  und  ihm  folgt  Borguet: 
Bull.  hell.  XVIII  (1894)  S.  492;  Schäfer:  Jahrb.  f.  kl.  Philol.  121,  S.  423 
sah  in  ihnen  nur  die  Bezeichnung  für  die  Verehrer  der  Magna  llater.  Diese 
Ansichten  sind  widerlegt,  geben  aber  einen  Fingerzeig,  daß  die  verehrte 
Gottheit  mit  der  Art  des  Vereines  in  Beziehung  stehe.  Obwohl  A.  Mommseu, 
Feste  der  Stadt  Athen  S.  489/90  behauptet,  daß  zwischen  Orgeonen 
und  Thiasoten  kein  wesentlicher  Unterschied  war,  macht  er  S.  165  ge- 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)-1902.  (J.  Oehler.)    :  5 

legentlich  des  Herakleskultes,  welcher  Gott  noch  lans:e  Zeit  in  Attika 
als  Fremder  galt,  die  richtige  Bemerkuüg:  ,,Die  solchen  fremden  Göttern 
dienenden  Vereine  heißen  Oi'aaoi."  Wir  haben  Orgeoneninschriften 
vom  IV. — I.  Jahth.  v.  Chr.,  Oiaaturai  werden  in  Inschriften  des  IV.  und 
III.  Jahrh.  v.  Chr.  genannt;  in  diesen  Inschriften  haben  sich  gewisse 
Eigentümlichkeiten  rücksichtlich  der  verehrten  Gottheiten  und  der  Mit- 
glieder feststellen  lassen,  auf  Grund  deren  ich  definiere:  ,,Orgeones 
siud  die  Mitglieder  einer  Kultgenossenschaft  von  Bürgern  im  Dienste 
einer  vom  Staate  anerkannten  Gottheit.  Thiasoten  sind  die  Mitglieder 
einer  Kultgenossenschaft  im  Dienste  einer  fremden  oder  vom  Staate 
anerkannten  Gottheit,  die  sich  aus  Fremden  (also  Nichtbürgern)  allein 
Oiler  aus  Fremden  und  Bürgern  zusammensetzte."  Die  Thraker  haben 
allein  das  Privilegium  erhalten,  zu  Ehren  der  seit  429/8  v.  Chr.  unter 
den  Staatsgottheiteii  Athens  erscheinenden  Bendis  einen  Orgeonen- 
verein  zu  bilden:  s.  Wilhelm  a.  a.  0.;  das  weist  daraufhin,  daß  Fremde 
solche  Vereine  nicht  bilden  durften,  die  Orgeones  also  eine  exklusive 
Stellung  hatten.  Andererseits  lehrt  uns  die  Bildung  des  Dionysiasten- 
vereiues,  der  sich  als  Orgeoues  bezeichnet,  im  Peiraieus,  wie  Bürger  zu 
einem  solchen  Vereine  sich  zusammentaten ,  die  den  Kult  ihres  Demos 
pflegen  wollten  und  örtlich  zusammenwohnten.  Ich  möchte  daraus  zu- 
1  ückschließen  auf  die  staatlichen  Orgeonen  und  Thiasoten:  die  (5pYeü>^e» 
waren  ^ew^tai  und  zwar  nicht  desselben  ^svo;,  die  infolge  lokaler  Zu- 
sammengehörigkeit sich  auch  zu  gleichem  Kulte  verbanden.  Die 
'ip-|£Ü)V£;  waren  demnach  7ivv^tai,  aber  nicht  alle  7svvr,ta'.  waren  auch 
opYSüivEc.  Die  9iac7Ü)-at  dagegen  wurden  nur  durch  den  Kult  geeinigt 
und  boten  so  die  Unterabteilung  für  die  Neubürger.  Als  die  vornehmere 
nnd  ältere  Vereinsbildung  haben  sich  die  Orgeonen  auch  am  längsten 
erhalten.  So  glaube  ich  die  Ansichten,  die  Toepffer  in  der  Genealogie 
ausgesprochen  hat,  als  die  richtigen  hinstellen  zu  dürfen.  Waren  die 
ötaaor  als  Vereinigungen  der  Neubürger  in  die  staatlichen  Unterab- 
teilungen aufgenommen  und  den  op-^eüivcj  gleichgesetzt,  so  ist  es  be- 
greiflich, daß  der  ursprüngliche  Unterschied  der  staatlichen  Unterab- 
teilungen in  späterer  Zeit  nicht  mehr  bemerkt  wurde,  so  daß  die  Lexiko- 
graphen auch  die  privaten  Vereine  gleichen  Namens  ohne  weiteres 
einander  gleichsetzten,  während  tatsächlich  sich  beide  streng  voneinander 
hielten,  so  daß  im  Dienste  einer  und  derselben  Gottheit  sowohl  op-ye- 
tövs;  als  auch  diajtütai  ZU  gleicher  Zeit  erscheinen,  sogar  an  dasselbe 
Heiligtum   sich  anschließen,    ohne  miteinander  zu  verschmelzen. 

Hier  mögen  auch  die  Naukrarien  besprochen  werden.  Jedenfalls 
sind  diese  eine  alte  Einteilung,  doch  werden  sie  verschieden  erklärt.  Land- 
wehr S.  179  f.  meint,  vauxpapo;  hänge  nicht  zusammen  mit  vayj,  hält 
sie  daher  S.  178  für  nichts  weiter  als  für  Verwaltungsbezirke  wie  später 


56   Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertiim.  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.  (J.  Oehler.) 

die  Demen,  welche  zum  Zwecke  der  Verteilung  der  Leistungen  der 
Bürger  an  den  Staat  bestimmt  waren.  Auf  das  hohe  Alter  der  Ein- 
richtung der  Naukrarien  weist  hin 

■  81.*  W.  Hei  big,  Les  vases  du  Dipylon  et  les  Naucraries. 
Bxtrait  des  Memoires  de  l'Academie  des  Inscriptions  et  Belles-Lettres 
XXXVI.  Paris  1898. 

Heibig  führt  aus,  die  Dipylonvasen  mit  Schiffsdarstellungen  seien 
älter  als  die  2.  Hälfte  des  VIII.  Jahrhunderts.  Daraals  also  besaß 
Athen  Schifte  zur  Sicherung  der  Küste  gegen  Seeräuber,  das  Land  sei 
eingeteilt  gewesen  in  Naukrarien.  Die  Einführung  der  Naukrarien  da- 
tiere von  der  Gründung  des  Staates  her  und  die  zahlreichen  Dar- 
stellungen bezeugen  die  Popularität  der  Einrichtung.  Dieser  Meinung 
ist  auch  Glotz,  Rev.  des  Etudes  grecques  XIII  (1900)  S.  137  f.,  der 
das  Wort  ableitet  von  vauc  und  xpai'vtu  „Commander".  —  Dagegen  be- 
hauptet Aßmann,  BphW  1899,  16  f.,  die  Dipylonschift'e  haben  nichts 
mit  den  Naukrarien,  diese  wieder  ursprünglich  nichts  mit  den  Schiffen 
zu  tun;  in  dem  Worte  vauxpapo;  sei  der  zweite  Teil  ein  recht  zweifel- 
haftes Griechisch,  vielleicht  das  ganze  ein  Fremdwort.  B.  Keil,  Anoym. 
Arg.  S.  221.  f.  meint,  die  Naukrarie  sei  eine  ursprünglich  ionischen 
Städten  eignende  Uaterabteilung  der  Phyle,  die  Athen  übernommen 
habe;  die  Beziehung  auf  die  Schiffe  sei  erst  aus  dem  Namen  erschlossen. 
Dagegen  wendet  sich  mit  Recht 

82.  W.  Kolbe,  Zur  athenischen  Mariueverwaltung.    Athen.  Mitt. 
XXVI  (1901)  S.  377-418. 

Die  richtige  Erklärung  des  Wortes  gibt 

83.  F.  Solmsen,  Nauxpcpoc,  vaux/votpo^,  vauxATjpo;.    ßhein.  Mus. 
LIII  (1898)  S.  151  —  158. 

Solmsen  schließt  sich  der  Anschauung  an,  daß  Athen  bereits  im 
VII.  Jahrh.  eine  Flotte  besaß,  vauxpapoi  ist  der  amtliche  Titel  einer 
Behörde,  die  schon  um  640  v.  Chr.  bestand,  die  Solon  also  schon  vorfand, 
vauxpapoc  heißt  „ Schiffshaupt ",  „Schiffsoberst".  Daraus  wird  die  jüngere 
Form  vaüxXY]poj  „Schiffseigentümer"  verständlich.  Unhaltbar  ist  die 
Erklärung  Botsfords,  der  vauxpapia  auf  vaoc  zurückführen  will:  die 
Glieder  einer  solchen  seien  in  einem  Tempel  versammelt  worden. 

Eingehende  Untersuchungen  liegen  vor  über  die  Demen  und 
Trittyen. 

84.  *Leper,    Sur    la    question    des    demes    attiques    (russisch). 
Journ.  d.  russ.  Ministerium  f.  d.  Volksaufkläruug  1891. 

85.  A.  Milchhöfer,    Untersuchungen    über  die  Demenordnung 
des  Kleisthenes.     Berlin  1892. 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm,  f.  d.  J.  1893(1890)— iy02.(J.  Oehler.)  57 

86.  Derselbe,  Zur  attischen  Lokalverfassung.  Athen.  Mitt. 
XVIII  (1893)  S.  277  f. 

87.  R.  Loeper,  Die  Trittyen  und  Deraen  Attikas.  Athen.  Mitt. 
XVII  (1892)  S.  319—433. 

88.  W.  Judeich,  Attika,  Pauly-Wissowa  II  S.  2184—2237. 

89.  V.  V.  Schoeffer,   ^^jxoi,  Pauly-Wissowa  IV  S.  1—131. 

90.  E.  Szanto,  Die  kleisthenischen  Trittyen.  Hermes  XXVII 
(1892)  S.  312-315. 

Die  Zahl  der  Deinen,  welche  Botsford  und  Scboeflfer  mit  100  an- 
nehmen, war  keine  runde;  100  Demen  hat  es,  wie  Wilamowitz-Moellendorf 
richtig  bemerkt,  nie  gegeben.  Die  Trittyen  kamen  für  die  Aushebung 
in  Betracht  und  erscheinen  in  manchen  Amtern  vertreten:  bei  den 
30   auXXoir^c  tou   ör,|j.o'j,   den  30   xaxd  or|p.ou;  öixasTat. 

Nach  Botsfords  Meinung  traten  die  Trittyeu  an  die  Stelle  der 
alten  Naukrarien. 

Bevölkeriingsklassen. 
1.   Bürger. 

Da  sich  das  Bürgerrecht  auf  der  Abstammung  aus  einer  staudes- 
gleichen,  ebenbürtigen  Ehe,  d.  h.  einer  Ehe  zwischen  einem  Athener 
und  einer  Athenerin,  begründete,  mögen  die  das  Eherecht  behandelnden 
Arbeiten  angeführt  werden. 

91.  E.  Hruza,  Beiträge  zur  Geschichte  des  griechischen  und 
römischen  Familienrechtes.  I.  Die  Ehebegründung  nach  attischem 
Rechte.  Erlangen  und  Leipzig  1892,  145  S.  II.  Polygamie  und 
Pellikat  nach  griechischem  Recht.    1894,  190  S. 

92.  Th.  Thalheim,  Zu  den  griechischen  Rechtsaltertümeru. 
n.  Progr.     Hirschberg  1894. 

93.  N.  Thumser,  'E'/fÜTjai»,  7afi.7]Xia,  sTrioixaaia.  Serta  Harte- 
liana  S.  189—192.     Wien  1896. 

94.  L.  Beauchet,  Histoire  du  droit  prive  de  la  republique 
Athenienne.     Paris  1897,  4  Bände. 

95.  0.  Müller,  Untersuchungen  zur  Geschichte  des  attischen 
Bürger-  und  Eherechtes.  Leipzig  1899  (Jahrb.  f.  klass.  Philo!. 
Suppl.  XXV). 

Hruza  behauptet,  die  e-f/ur^ju  sei  nicht  ,, Verlöbnis",  sondern 
„Ehebegründung",  nämlich  der  Vertrag,  auf  Grund  dessen  der  xuptoc 
der  zu  verheiratenden  Person  sich  bereit  ei-klärt,  dieselbe  zur  Frau  zu 


58  Bericht  üb.  d.  griecb.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

geben,  der  künftige  Ehegatte  aber,  sie  zur  Frau  zu  nehmen.  Bei  einer 
iuixXrjpoc  tritt  an  Stelle  der  e-j-^urjatc  die  iTrtötxaaia  als  Ehebegründung 
in  der  Form  der  gerichtlichen  Anerkennung  des  vom  d^yiaxeuc  nach 
den  bestehenden  Gesetzen  beanspruchten  Rechtes.  —  Faixoj  ist  der 
Ehevollzug;  unter  ■ya[XY)Xia,  die  nicht  zu  den  Voraussetzungen  staatlich 
gültiger  Ehebegründung  gehöre,  sei  kein  Opfer,  vielmehr  eine  Abgabe 
zu  verstehen,  welche  der  Mann  für  seine  Frau  an  die  Phratoreu  ent- 
richtet habe.  Im  II,  Teile  spricht  Hr.  über  Polygamie,  geht  aber  darin 
zu  weit,  wenn  er  behauptet,  das  attische  Recht  habe  die  Polygamie 
nicht  gerade  erlaubt;  richtiger  ist  es,  daß  die  Bigamie  im  allgemeinen 
in  Griechenland  verpönt  war.  Dagegen  gab  es  in  Athen  zwei  Arten 
von  Konkubinen:  die  ::aXXaxai  schlechthin  und  die  TzaXXaxiQ,  r^v  av  e-/7j 
TIC  lii'  eXeuöepoic  iraiatv ;  letztere  ist  die  Kebsfrau,  die  sich  die  begüterten 
Athener  aus  den  Familien  der  verarmten  Bürger  kauften.  Endlich  wird 
über  die  Bedeutung  der  Ausdrücke:  axotto;,  v69os  und  Trapöevto?  ge- 
handelt. 

Thalheim  erklärt  die  i^Yurjciic  als  eine  die  Ehe  vorbereitende 
Handlung,  die  sich  darstellt  als  ein  mündlicher,  vor  Zeugen  ab- 
geschlossener Ehevertrag.  Bei  Erbtöchtern  tritt  an  Stelle  der  lY^uTjat? 
die  STTtSixaata ,  wobei  der  Bescheid  des  apytov  und  das  richterliche 
Urteil  die  entscheidende  Kraft  haben,  nicht  aber,  wie  Hruza  behauptet, 
die  X-^$is  des  ä^yureuc. 

Thumser  schließt  sich  Hruza  an  in  der  Erklärung  der  sY^uYiat?: 
diese  ist  ein  Ehevertrag  im  modernen  Sinne,  dabei  ist  an  £77uav--=ein- 
händigen  nicht  zu  denken.  Dagegen  wird  7a|jLY)Xta  als  Opfer  erklärt, 
welches  öffentlichen  Charakter  hatte.  Da  nämlich  die  l-f^urjaic  nicht  vor 
der  Behörde  erfolgte,  diese  aber  die  bürgerliche  Abkunft  zu  überwachen 
hatte,  wurde  die  Frau  von  dem  Manne  in  seine  Phratrie  eingefülirt 
und  den  Phratoren  als  die  förmlich  angetraute  Gattin  vorgestellt.  Damit 
war  ein  Opferschmaus  ('(a\i.riUa)  verbunden.  Bei  der  IzUlr^^o;  ist  die 
EKiotxaoi'a  der  Ehebegründuugsakt:  dem  l^yucöv  entspricht  der  v6|xoc,  dem 
i77U{ü}ievoc  der  e7:i6ixa^o|x£vo;,  die  Ehebegründung  erfolgt  durch  die 
X^$ic.    Der  Yajxo;  ist  der  Ehevollzug. 

Beauchet  I  S.  80  entscheidet  sich  für  die  Monogamie  in  Athen, 
schließt  sich  S.  100  f.  der  Einteilung  der  Konkubinen  in  zwei  Klassen 
an,  erklärt  S.  120  f.  die  Iy^utjjic  als  Kontrakt,  durch  welchen  der 
xupioc  das  Mädchen  dem  Manne  zur  Frau  gibt;  die  e'/Yurjatc  ist  zu  ver- 
gleichen mit  den  sponsalia,    während  der  -/«[xo;  den  nuptiae  entspricht. 

Müller  sieht  in  der  e77UT)atc  die  Voraussetzung  der  Ehe  und  beu 
schäftigt  sich  besonders  mit  der  Stellung  der  voöot,  die  als  Kinder  as- 
der  Verbindung  eines  Atheners  mit  einer  Nichtathenerin  erklärt  werden. 
Seit  Drakon  seien  sie  vom  Bürgerrechte  ausgeschlossen  gewesen,  durch 


Bericht  üb.  d.  grleob  Staatsaltertam.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)    59 

Kleisthenes  aber  wieder  aufg-enonimen  worden,  bis  durch  Perikles  ihr 
neaerlicher  Ausschluß  erfolgte.  Nach  der  Katastrophe  in  Sizilien  habe 
man  nicht  bloß  die  Verbinflung  mit  Ausländerinnen  anerkannt,  sondern 
SQfrar  eine  Nebenelie  geschaffen,  bis  403  die  Fremdenehe  wieder  ver- 
schwand nnd  die  freie  iraXXaxTQ  der  unfreien  immer  näher  rückte. 

Das  Kind  wurde  in  die  Phratrie  und  den  Demos  des  Vaters  ein- 
geführt Über  den  Namen  des  Bürgers  ist  zu  vergleichen:  Wilamowitz- 
Moellendorf,  Der  athenische  Name,  Aristot.  u.  Athen  II  S.   169 — 185. 

Die  offizielle  Bezeichnung  vereinigt  mit  dem  Namen  auch  den 
Vatersnamen  und  den  Demos-,  diese  Bezeichnung  ist  seit  dem  V.  Jahr- 
hunderte die  übliche.  Die  Einführung  der  Deraosbezeichnung  geht  auf 
Kleisthenes  zurück. 

Vgl.  auch: 

96.  S.  Brück,    Zu  den  athenischen  Heliastentäfelchen.     Athen. 
Mitt.  XIX  (1894)  S.  203—211. 

97.  R.  Zahn,  Ostrakon  des  Themistokles.     Athen.  Mitt.  XXII 
(1897)  p.  345. 

Auf  den  Richtertäfelchen  erscheint  neben  dem  Namen  nur  das 
Demotikon;  in  den  Ostraka  dagegen  ist  bei  Themistokles  nur  das 
Demotikon,  bei  Megakles  der  Name  des  Vaters  und  das  Demotikon,  bei 
Xanthippos  in  alter  Weise  nur  der  Vatersname  beigesetzt.  Daraus 
sehen  wir,  daß  die  Neuerung  des  Kleisthenes  nur  allmählich  in  Ge- 
brauch kam. 

Die  Frage  nach  dem  Eintritt  der  Mündigkeit  finden  wir  be- 
handelt von 

98.  A.  Hoeck,    Der  Eintritt    der  Mündigkeit    nach    attischem 
Recht.     Hermes  XXX  (1895)  S.  347—354, 

der  nachweist,  die  Eintragung  in  das  Geraeindebuch  und  die  Mündig- 
erklärung sei  erfolgt,  wenn  der  Betreffende  das  18.  Lebensjahr  vollendet 
hatte,  also  im  19.  Lebensjahre  stand.  Auch  für  die  Ephebie  ergibt 
sich  das  vollendete  18.  Lebensjahr  als  Beginn  derselben. 

Eine  der  Listen  ist  zum  Gegenstande  eingehender  Untersuchung 
gemacht  worden: 

99.  J.  Toepffer,    Das  attische  Gemeindebuch.     Hermes  XXX 
(1895)  S.  391-400  =  Beiträge  S.  261—270. 

Koch  hatte  in  den  „Giiechischen  Studien,  Hermann  Lipsius  zum 
siebzigsten  Geburtstage  dargebracht",  das  XYi^iapyixov  7pa[i.[jLaT£rov  als 
„athenische  Beamtenlosungsliste"  gedeutet.  Toepffer  sieht  dagegen  in 
dem  X.  7p.  die  Liste,  das  Personalinventar  der  attischen  Gemeinde- 
behörden, in  das  jeder  Gemeindeangehörige  eingetragen  wurde,  sobald 


:60  Bei-icht  üb.  d  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

er  18  Jahre  alt  geworden.  Damit  war  er  mimdig  und  erhielt  die 
Herrschaft  über  die  X^Sic,  das  Erbgut.  Der  Zweck  der  Liste  war  vor 
allem  ein  staatlicher,  da  die  Zugehörigkeit  zu  einer  Gemeinde  das 
staatliche  Bürgerrecht  begründete.  Daher  war  die  Einzeichnung  in  das 
Gemeindebuch  ein  offizieller  Akt,  Die  Lexiarchen  ei'scheinen  als  die 
Kontrollbeamten  der  Volksversammlung,  wobei  ihnen  als  Prüfstein  das 
X£ux(ü[i.a  diente,  das  von  dem  ÄT];tap-/i7.ov  7po([X[xaTcrov  nicht  zu  trennen 
ist.  Da  Xrfiii  auch  im  Sinne  von  fjXty.i'a  einen  Jahrgang  des  Bürger- 
kätalogs  bedeutet,  so  waren  die  XqEiapyoi  wohl  auch  mit  der  Kontrolle 
der  42  Jahrgänge  der  Bürgerliste  betraut. 

Mit  der  Zahl  der  Bürger  beschäftigt  sich 

100.  *P.  Östbye,  Die  Zahl  der  Bürger  von  Athen  im  V.  Jahr- 
liundert.     1894. 

Zur  Zeit  der  Blüte  Athens  betrug  die  Zahl  der  Bürger  nach 
Busolt  35  000— 40  000,  nach  Gilbert  40— 47  000,  nach  Wilamowitz- 
Moellendorf  über  60  000,  Östbye  dagegen  berechnet  die  Zahl  der  Bürger 
von  Attika  auf  mehr  als  40  000  und  für  das  attische  ßeich  auf  55  000. 
Interessant  ist  die  Bestimmung  einzelner  Zahlen:  die  Zahl  der  Kleruchen 
wird  für  den  Beginn  des  peloponnesischeu  Krieges  auf  12  000  be- 
rechnet, dazu  kommen  2000  bis  3000  cppoupoi;  die  Zahl  der  regelmäßig 
außerhalb  Attikas  befindlichen  Bürger  wird  auf  etwa  15  000  geschätzt. 
Etwa  16  000  standen  im  felddienstfähigen  Alter  zwischen  20  bis  50 
Jahren. 

2.  Metöken. 

Nach  der  Abhandlung  V.  Thumsers,  Untersuchungen  über  die 
attischen  Metöken,  Wiener  Studien  VII  (18«5)  S.  45 — 68  hat  diese 
große  Bevölkerungsklasse  eine  ausführliche  Darstellung  gefunden  ia 
dem  Buche: 

101.  M.  Giere,  Les  meteques  Atheniens.     Paris  1893. 

Der  Verf  behandelt  auf  Grund  aller  Dokumente  die  Frage  von 
neuem  in  gründlicher  Weise.  Me-oixo;  bezeichnet  zunächst  „etranger 
domicilie";  dann  kommt  es  in  doppeltem  Sinne  gebraucht  vor:  es  be- 
zeichnet den  Fremden,  den  Wandernden,  in  der  offiziellen  Sprache  aber 
denjenigen,  der  seinen  dauernden  Wohnsitz  in  einer  Stadt  aufschlägt, 
bereits  eine  bestimmte  Zeit  dort  wohnt  und  gewisse  Abgaben  zahlr, 
dafür  aber  einen  gewissen  Anteil  an  den  Hechten  des  Bürgers  hat. 
Die  Spezialabgabe  der  Metöken  war  das  fjLsxoixiov,  welches  zur  Kontrolle 
des  Zivilstandes  diente;  daher  erklärt  sich  die  große  Strenge  in  der 
Eintreibung  dieser  Kopfsteuer,  die  für  Männer  12,  für  Frauen 
6  Drachmen  betrug.    Außerdem  hatten  die  Metöken  die  $£vt/.a  (3  Obolen) 


Bericht  üb  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.J.  1893(1890)— 1902.  ( J.  Oehler.)  61 

zu  entrichten  und  wurden  außer  zur  süscpopa,  von  der  sie  jedesmal  V«. 
aufbringen  niuCten,  auch  zu  anderen  Leistnnceu  berangezog:en.  Im 
Kriege  hatten  sie  als  Hopliten  zu  dienen,  eine  Anzahl  als  <\nXot.  und 
bildeten  die  Territorialarmee,  die  nur  ausnahmsweise  auch  außer  Landes 
geführt  wurde.  Auf  der  Flotte  spielten  sie  eine  g^roße  Rolle  als  Besatzunj? 
der  Trieren:  doch  wurden  sie  zur  Trierarchie  nicht  lierangezog-en ,  da 
diese  Liturgie  zugleich  ein  Amt  war.  Die  Metökenlisten  wurden  in  den 
Pemen  geführt  und  dienten  sowohl  für  die  Zahlung  des  [xstoi'y.iov  als  auch 
für  die  Aushebung  als  Kontrolle.  Die  Söhne  der  Metökeu  w'aren  von 
der  Ephebie  ausgeschlossen,  hatten  aber  wohl  Zutritt  in  die  öffentlichen 
Gymnasien,  um  dort  die  nötige  Ausbildung  für  den  Kriegsdienst  zu. 
erlangen.  Was  ihre  bürgerlichen  Rechte  anbelangt,  hatten  sie  keine 
i-r;i<±'.'x  und  keine  7^^  xoti  oixi'ac  iYy.-cY^jic,  durften  aber  Sklaven  biesitzen, 
wie  sich  aus  den  sogenannten  ..Freilassungsschalen"  ergibt.  Ihren 
Gerichtstand  hatten  sie  im  Zivilrecht  vor  dem  Polemarchos,  die  fovixal 
oixai  dagegen  gehörten  vor  den  entsprechenden  Gerichtshof,  Dabei 
galt  der  Mord  eines  Metöken  als  cpovo?  axo-j^to?  und  wurde  weniger 
strenge  bestraft:  so  erklärt  sich,  daß  das  Gericht  in  Palladion  einen 
solchen  Fall  zu  entscheiden  hatte.  —  AVas  den  Kultus  anbelangt,  so 
hatten  die  Metöken  Anteil  an  den  Kulten  des  Staates.  Anteil  an. 
politischen  Rechten  hatten  die  Metoeken  nicht,  wohl  aber  wurden  ihnen 
bisweilen  Funktionen  übertragen,  von  denen  sich  die  Athener  Nutzea 
erwarteten.  Sie  standen  unter  dem  Schutze  der  reffelmäßigen  Beamten 
der  Stadt,  die  sich  auch  in  der  Fremde  der  Meötken  annahmen,  falls 
diese  die  Kopfsteuer  weiterzahlten. 

Für  Verdienste  erhielten  die  Metöken   Belohnungen:   die  s'yxtyjscc 
-jrjc  xat  otxias  gewöhnlich  in  Verbindung  mit  der  rpoEsvia  und  icoreXsta;  die , 
ariXtioi,  zunächst  jxstoixio'j,  seltener  Xeitoup-icuv.  —  Sehr  wichtig  war  die 
Verleihung  der  Isotelie,  die  ein  finanzielles  Privilegium  gewährte :  end- 
lich konnten  sie  auch  mit  dem  Bürgerrechte  beschenkt  werden. 

Die  Metöken  bildeten  einen  Teil  des  Staates  nnd  waren  ein- 
geteilt in  die  Demen  und  Phylen:  der  [xs-rotxo;  wird  als  oixuiv  iv  .  .  . 
und  dem  Demosnamen  bezeichnet;  diese  Bezeichnung  ist  die  regelmäßige 
in  den  offiziellen  städtischen  Dokumenten.  Die  Hinzufügung  des  Demos 
zu  dem  Namen  beweist,  daß  die  Metöken  einen  Teil  des  Demos  bildeten, 
eingeschrieben  waren  in  die  Liste  des  Demos.  Es  erklärt  sich  daraus 
der  Ausdruck  bei  Pollux  III  57 :  ot  ji.-?]  lYY£-;pajX[X£vot  sie  rouc  [Xctoixoo;. 
Man  konnte  Bürger  einer  anderen  Stadt  und  jxETotxoc  in  Athen  sein; 
daraus  erklärt  sich  die  Hinzufügung  des  Ethnikons  zum  Namen  vor 
oixmv  iv  .  .  .  —  Angegeben  erscheint  das  legale  Domizil.  —  "Wahr- 
scheinlich mußte  der  Fremde,  welcher  den  für  den  Aufenthalt 
gesetzlich  bestimmten   Termin,    nach   welchem    er    also    aufhörte,    ein 


62  Bericht  üb.  d.  griecb.  Staatsaltertüm.  f.  d  J.  1898(1890)-1902.  (J.  Oehler.)- 

sapeTOSrjfjLo;  zn  sein,  überschritten  hatte,  sich  beim  Demarchos  melden, 
der  ihn  in  das  Register  eintragen  ließ;  bei  den  erblichen  Metöken 
worden  wohl  die  Söhne  in  die  Register  eingetragen.  Als  Teil  der 
Demen  bildeten  sie  auch  einen  Teil  der  kleisthenischen  Phylen ;  an 
diese  schließen  sich  die  Choregien  der  Metöken  an.  Thakydides  be- 
zeichnet Bürger  und  Metöken  als  düTot,  so  können  sie  als  demicitoyens 
(Halbbürger)  bezeichnet  werden.  In  der  vielerörterten  Frage  des  -poata-rr,; 
schließt  sich  Clerc  der  Ansicht  Wilamowitz-Moellendorfs  an  und  er- 
klärt ihn  als  den  Demoten,  der  den  neuen  fxe-roixoi;  dem  Demos 
präsentiert  und  ihn  in  das  Register  einschreiben  läßt;  er  erscheint  nicht 
als  Patron  sondern  als  Pathe  und  hat  mit  dem  rpo^Ta-rrj;  eines  Frei- 
gelassenen nichts  gemeinsam.  Die  oUt]  di:po3Taatou  ist  gegen  den 
Metöken  gerichtet,  der  es  unterlassen  hatte,  sich  in  das  Register  der 
Metöken  einschreiben  zn  lassen. 

Unter  die  Metöken  traten  auch  die  Freigelassenen,  die  dTrsXeuöspoi, 
die  ihrem  früheren  Herrn  gegenüber,  der  jetzt  ihr  Trpoj-cd-cTjc  war,  ge- 
wisse Verpflichtungen  hatten  und  nach  ihrer  Eintragung  in  das  Register 
der  Metöken  dem  Staate  gegenüber  perönlich  verantwortlich  waren. 

Mit  Recht  hebt  Clerc  hervor ,  daß  die  Staatsmänner  Athens  die 
Metöken  begünstigten  in  der  richtigen  Erkenntnis,  daß  diese  Klasse  der 
Bevölkerung  große  Bedeutung  für  die  Eutwickelung  der  Industrie  und 
des  Handels  hatte.  Die  Zahl  der  Metöken  betrug  im  V.  Jahrhunderte 
11750  mit  einer  jährlichen  Geburtsziffer  von  545. —  Vom  Ende  desBundes- 
geuossenkrieges  datiert  der  endgültige  Verfall  der  Metökenklasse  und 
Athens  selbst.  Besonders  enge  sind  die  Beziehungen  der  Metöken  zum 
Peiraieus:  dort  wohnten  die  meisten,  vor  allem  aber  die  reichsten 
und  einflußreichsten  Metöken  als  ßankieis,  Rheder,  Großhändler.  — 
Sie  hatten  dort  ihre  nationalen  Heiligtümer,  pflegten  den  Kult  der 
heimischen  Götter  in  Vereinen  und  gaben  dem  Peiraieus  das  Aussehen 
einer  kosmopolitischen  Stadt. 

*P.  Foucart,  De  libertorum  condicione.  Paris  1896,  lag  mir 
nicht  vor. 

3.    Sklaven. 

Über  die  dritte  Bevölkerungsklasse  ist  vor  allem  Beauchet  zu 
vergleichen;  sonst  sind  zu  nennen: 

*Ciccotti,  Del  numero  degli  schiavi  nell'  Attica. 

102.  St.  Waszynski,  De  servis  Atheniensium  publicis.    Dissert. 
Berlin   1898. 

103.  Derselbe,  Über  die  rechtliche  Stellung  der  Staatssklaven 
in  Athen.     Hermes  XXXIV  (1899)  S.  553—567. 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staafsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)-1902.  {J.  Oehler.)  63 

104.  0.    Silverio,  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  attischen 
Staatssklaven.  Progr.deskünigl.Maximilians-Gymnasium.  München  1900. 

105.  K.  Wernicke,  Die  Polizeiwache  auf  der  Burg  von  Athen. 
Hermes  XXVI  (1891)  S.  51—75. 

106.  Caillemer,  othxüsioi  inDaremberg  et  Saglio,  Diction.  III  91f. 
In  der  Dissertation  handelt  Waszynski  über    die  Einteilung  und 

Verwendung;  der  Staatssklaven  und  ordnet  sie  in  3  Kategorien:  1.  37]- 
fxotjiot  uTTYjpsTai,  2.  Sxuöai,  3.  oTjixoatoi  ep-jatai.  In  dem  zweiten  Aufsätze 
bespricht  er  die  rechtliche  Stellung  der  Staatssklaven.  Die  oT,(x6atoi 
waren  Besitz  der  Gesamtheit,  des  Staates;  sie  waren  in  gewissem 
Maße  unabhängig,  da  sie  nur  bestimmte  Dienststunden  hindurch  der 
Behörde  zur  Verfügung  stehen  mußten,  über  die  übrige  Zeit  selbst 
verfügen  konnten.  Am  besten  standen  sich  die  uTnrjpsTat,  von  denen 
wir  solche  unterscheiden  können,  welche  bloß  die  TpocpiQ,  und  solche, 
welche  neben  der  xpocpr]  noch  ein  öritcuviov  erhielten.  Die  xpotpiq  betrug 
3  Oboleu,  das  öyitujviov  1  bis  2  Obolen  täglich.  Sie  konnten  daher 
Geschäfte  treiben,  sich  ein  Vermögen  erwerben,  sich  eine  Frau  halten 
und  mit  ihr  im  Konkubinate  leben;  natürlich  gehörten  die  Kinder  aus 
einer  solchen  Verbindung  dem  Sklavenstande  an,  hatten  kein  Eecht  auf 
das  Erbe  des  Vaters,  sondern  das  Vermögen  fiel  dem  Staate  zu. 

In  staatsrechtlicher  Beziehung  waren  sie  ausgeschlossen  von  dem 
Besuche  der  Palästren  und  Gymnasien  und  von  der  Teilnahme  an  der 
Ekklesia.  Die  apyv),  zu  der  der  Sklave  gehörte,  war  für  ihn  eine  Art  Patron, 
der  auf  Wunsch  des  Sklaven  und  in  dessen  Namen  bei  der  betreffendea 
Instanz  die  Klage  anhängig  machte,  da  der  orjjxo'jio;  nicht  persönlich 
als  Kläger  vor  Gericht  auftreten  durfte.  Dagegen  konnte  er  als  An- 
geklagter gerichtlich  belangt  werden.  Die  äcpx«i  hatten  natürlicli  die 
Disziplinargewalt  über  die  ihnen  untergebenen  Sif)!J.6(jtoi;  die  Todesstrafe 
jedoch  konnte  nur  auf  Grund  des  gefällten  richterlichen  Urteils  an  einem 
Ö7){i6(jtoc  vollstreckt  werden.  Für  gute  Dienstleistungen  gab  es  Be- 
lohnungen verschiedener  Art  wie  eiraivoc  und  axecpavo?;  in  einer  Reihe 
von  Fällen  konnte  die  Freilassung  erfolgen,  wodurch  der  betreffende 
Freigelassene  in  den  Stand  der  Metöken  übertrat.  Ob  ein  gewesener 
oTjjjLocjtoc  irgend  jemals  in  den  Besitz  des  Bürgerrechtes  gelangen  konnte, 
erscheint  sehr  fraglich,  ebenso  wie  kaum  anzunehmen  ist,  daß  je  ein 
Privatsklave  athenischer  Bürger  geworden  wäre.  Die  augeblichen  Vor- 
rechte der  Staatssklaven  erklären  sich  ebenso  aus  ihi*er  Tüchtigkeit  als 
besonders  aus  dem  geringen  Vertrauen,  das  der  athenische  Staat  seinen 
Bürgern  entgegenbringen  konnte.  Richtig  charakterisiert  Giere  ihre 
Stellung:  sie  unterschieden  sich  nicht  tatsächlich,  sondern  nur  recht- 
lich von  den  Metöken.  Silverio  zählt  als  Bezeichnungen  auf:  ornxojto», 
ÖT^fitoc  und  8t)}jl6xoivoc  (für  den  Folter-  und  Henkersknecht),    unTjpErr);. 


64  Berichtüb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.f  d.  J.  1S93(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

Die  Sklaven  hatten  nur  einen  Namen,  wobei  ihnen  die  Führung:  ge- 
wisser Namen  untersagt  war.  Erworben  wurden  sie  durch  Krieg-,  durch 
Vermösenseinziehung  eines  Bürgers,  der  Sklaven  besaß;  strafweise 
wurden  Metöken  zu  Sklaven.  Hauptsächlich  aber  wurden  sie  auf  dem 
Sklavenmarkte  erworben.  Sie  waren  Eigentum  des  Staates  und  unter- 
standen den  Beamten,  denen  sie  zugeteilt  waren  und  welche  Strafgewalt 
über  sie  hatten.  Es  w^ar  ihnen  das  Eingehen  einer  Art  Ehe  in  der 
Form  des  Konkubinates  gestattet,  die  Kinder  aus  solcher  Verbindung 
waren  Eigentum  des  Staates.  Die  Staatssklaven  selbst  konnten  frei  werden 
entweder  zur  Belohnung  für  geleistete  Dienste  oder  durch  Loskauf  und 
traten  dann  in  den  Stand  der  Metöken  über.  Verwendet  wurden  sie  im 
Sicherheits-  und  Wachdienste  in  der  Stadt,  als  Gehilfen  im  Sekretariats- 
und ßechnungsw^esen  sowie  als  Diener  der  Priester,  als  Herolde.  Eine 
wichtige  Rolle  spielten  die  skythischen  Toxoten,  2y.ui>ai,  die  bald  nach 
den  Perserkriegen  eingeführt  und  nicht  beritten  waren.  Ihre  Zahl  be- 
trug anfangs  300,  später  600,  eingeteilt  in  10  Kompagnien,  entsprechend 
den  10  Phyleu,  so  daß  jede  Kompagnie  im  Bereiche  je  einer  Phyle 
verwendet  wurde.  Sie  dienten  den  Beamten  in  der  G-Yipesia  t^c  exxXtj- 
ct'ac,  2.  d~.  Tüiv  5ixaoTY)pto)v,  3.  utt.  töjv  aXXwv  auvoöü>v  und  4.  Ük.  rüiv 
y.oivwv  To::cov  xai  ep^wv  zur  Aufrechthaltuug  der  öffentlichen  Ordnung. 
Nach  Wernicke  spielten  sie  als  Wächter  der  Burg  eine  besondere 
Rolle;  zum  Schutze  des  Heiligtums  wurde  am  Eingange  der  Burg  eia 
eigenes  Wachlokal  errichtet,  in  dem  stets  drei  Polizisten  Wache  halten 
mußten.  Es  war  der  zehnte  Teil  der  ganzen  in  der  Ekklesia  gerade 
fungierenden  Wache  auf  Burgwache,  also  entfiel  auf  jede  Tpixt-j?  der 
Vorsitzenden  Phyle  ein  Wächter.  Dagegen  bemerkt  B.  Keil,  Anonym. 
Arg.  S.  146,  Anm.  1 :  Die  Athener  haben  die  Bewachung  der  Burg 
nie  Fremden  anvertraut.  Nachfolger  der  Bürger-Toxoten  werden 
darin  die  cppoupol  (oi)  Iv  ttoXsi,  nicht  die  Skythen-Toxoten. 

Ihr  Standquartier  hatten  die  Skythen  auf  der  a/opa,  wo  sie  in 
Zelten  lagerten;  sie  w'urden,  da  ihre  Besoldung  den  Staatsschatz  zu  sehr 
belastete,  um  die  Mitte  des  IV.  Jahrh.  abgeschafft  und  ihren  Dienst 
übernahmen  zum  Teil  die  Epheben. 

Im  Finanz-  und  Urkundenwesen  wurde  schon  vor  Beginn  des 
IV.  Jahrh.  eine  große  Anzahl  Staatssklaven  verwendet;  sie  bildeten 
einen  Kern  tüchtiger  Hilfsarbeiter  und  ein  ständiges  Hilfspersonal,  das 
Sachkenntnis  und  Erfahrung  hatte:  so  bildeten  sie  einen  zwar  unter- 
geordneten, aber  nicht  zu  unterschätzenden  Teil  der  Beamtenschaft, 
vergleichbar  unseren  Subalternbeamten  und  Diurnisten. 

Bevor  ich  an  die  Besprechung  der  einzelnen  Beamten  gehe,  mögen 
allgemeine,  auf  die  Beamten  bezügliche  Fragen  behandelt  werden.  Über 
das  Amtsjahr  handelt: 


Bericht  üb.  d.  g^iech.  Staatsaltcrtüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  65 

107.  B.  Keil,  Athens  Amts-  und  Kalenderjahre  im  V.  Jahih. 
Hermes  XXIX  (1894)  S.  32-81. 

108.  Derselbe,  Das  Sj'^stem  des  kleisthenischen  Staatskalenders. 
Ebendort  S.  321-372. 

In  der  ersten  Abhandlung  weist  Keil  nach,  daß  das  Ämtsjahr 
mindestens  15  Tage  nach  dem  Kalenderjahr  begann,  und  da  noch  nicht 
dnrch  eine  regelmäßige  Anordnung  der  Zahl  der  Prytanientage  für  eine 
(Übereinstimmung  zwischen  Amts-  und  Kalenderjahr  gesorgt  war,  die 
Jahre  divei-gierten.  Kleisthenes  hat  ein  Amtsjahr  mit  der  Tagessumme 
von  360  Tagen  fixiert  und  in  10  Teile  eingeteilt.  Am  Ende  des  V. 
Jahrhunderts  glich  man  das  Bulejahr  dem  Kalenderjahre  an,  und  zwar 
aus  praktischem  Bedürfnis.     Dazu  vgl.: 

A.  Mommsen,  Philol.  LXI  (N.  F.  XV)  1902.  S.  214  f.,  der 
S.  220  erklärt:  „daß  Athen  vor  Ol.  93,  1  ein  besonderes,  vom  bürger- 
lichen Kalenderjahr  zu  unterscheidendes  Amtsjahr  hatte,  ist  Tatsache." 

In  der  zweiten  Abhandlung  kommt  Keil  zu  dem  Ergebnisse:  Die 
Tat  des  Kleisthenes  auf  dem  Gebiete  des  Kalenderwesens  besteht  darin, 
daß  er  das  Mondjahr  als  Einzeljahr  aufgab,  das  Sonnenjahr  verschmähte 
und  ein  zwischen  beiden  stehendes  und  vermittelndes  Jahr  einsetzte, 
dessen  Dauer  es  in  der  neuen  Staatsordnung  anwendbar  machte.  Die  Au- 
gleichung  dieses  Amtsjahres  an  das  Kalenderjahr  erfolgte  in  pentadischer 
Anordnung,  indem  auf  je  zwei  kalendarische  Schaltjahre  nur  ein  staat- 
liches Schaltjahr  kam. 

Über  die  Art  der  Beamtenbestellung  handeln: 

109.  *J.  W.  Headlam,  Election  by  lot  at  Athens.  Cam- 
bridge 1891. 

110.  ß.  Heister  her  gk,  Die  Bestellung  der  Beamten  durch 
das  Los.  Historische  Untersuchungen.  (Berliner  Stud.  f.  klass. 
Philol.  u.  Archaeol.  XVI)  1896. 

Headlam  will  die  Bedeutung  und  das  Wesen  der  Bestellung  durch 
das  Los  klarlegen  und  stellt  zunächst  fest,  welche  Beamten  durch 
das  Los,  welche  durch  Wahl  eingesetzt  wurden.  Er  führt  dann  aus, 
das  Los  sei  in  späterer  Zeit  nicht  religiösen  Charakters  gewesen,  es 
sei  ihm  vielmehr  ein  demokratischer  Zug  nicht  abzusprechen.  Es  wird 
dann  im  besonderen  über  die  ßouXv^  und  die  Beamten:  über  die  Finanz-, 
Gerichts-  und  Verwaltungsbeamten  gehandelt.  Ein  Exkurs  ist  der  Ein- 
führung des  Loses  gewidmet.  Heisterbergk  dagegen  führt  aus:  Natur- 
gemäß tritt  die  älteste  Verwendung  des  Loses  in  den  politischen  In- 
stitutionen dort  ein,  wo  zwischen  gleichem  Anspruch  und  gleicher  Be- 
rechtigung entschieden  werden  soll,  wo  also  das  öfifentliche  Interesse 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  OXXII.    (1904.    III.)        5 


66  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

durch  die  Zuwendung  des  Amtes  an  eine  bestimmte  Person  nicht  berührt 
wird.  Es  hat  also  das  Los  seine  Stelle  überall  dort,  wo  ein  Turnus 
der  Ämterbekleidnng  unter  den  Berechtigten  besteht,  die  Reihenfolge 
aber  gleichgültig  ist.  Eine  solche  Funktion  hatte  das  Los  in  der  vor- 
solonisfhen  Zeit,  aber  nur  für  den  Eat,  nicht  für  die  Magistratur.  Solon 
hat  Wahl  und  Los  verbunden  bei  der  Archontenbestellung  eingeführt- 
auf diese  Weise  wurde  durch  die  Vorwahl  dem  Volke  das  Recht  der 
Bestimmung  der  Qualität  der  Beamten  gegeben,  durch  die  darauffolgende 
Losung  aber  die  Bestimmung  der  Person  genommen.  An  und  für  sich 
ist  das  Los  weder  demokratisch  noch  aristokratisch,  sondern  es  kann 
in  beiden  Verfassungsformen  für  deren  Prinzip  verwendet  werden.  Die 
Eröffnuni?  des  Zutritts  zum  Archontate  für  alle  Bürgerklassen  hat  die 
Abschaffung  der  Vorwahl  und  die  Einführung  der  reinen  Erlösung 
hei'beigeführt. 

Thalheim,  BphW  1897,  991  f.  sieht  in  der  Erlösung  eineSchranke  des 
Wahlrechtes;  die  Weiterentwickelung  führte  zur  Trennung  von  Wahl  und 
Los:  Wahl  für  die  militärischen  Beamten  seit  501,  Losung  ohne  Vorwahl 
für  die  Archonten  seit  nicht  näher  zu  bestimmender  Zeit.  Thumser,  BphW 
1891,  1490  f.  meint,  die  Gleichzeitigkeit  der  Abschaft'ung  der  Vorwahl  und 
der  El  Öffnung  des  Zutrittes  zum  Archontate  für  alle  Bürger  sei  unmöglich. 

Zum  erstenmal  wurde  auch  die  Frage  der  Amtsbewerbung  ein- 
gehender behandelt: 

111.     Ch.  Baron,  La  candidature  politique  chez  les  Athöniens. 
Revue  des  Etudes  gr.  XIV  (1901)  S.  372—399. 

Während  in  Rom  der  Amterbewerb  bekannt  ist,  ist  uns  aus  Athen 
nichts  Ähnliches  berichtet.  Man  hat  angenommen,  die  tpcnffri  öexasfioü 
und  7p.  6(upoooxiocc  seien  gegen  Wahlbestechung  gerichtet,  doch  handelt 
es  sich  in  den  uns  bekannten  Fällen  um  Bestechung  der  Richter.  Be- 
stechung und  zwar  durch  Geldzahlung  zum  Zwecke  der  Wahlbeeinflussung 
scheint  in  Athen  ein  Ausnahmsfall  zu  sein.  Der  Wahlkampf  erfolgte 
zunächst  mit  den  Waffen  in  der  Hand  durch  die  Parteien;  tätig  griffen 
bei  den  Wahlen  die  Klubs  ein,  welche  ihre  Anhänger  in  allen  Be- 
völkerungsklassen hatten.  In  Athen  fiel  die  Hoffnung  weg,  durch  die 
Bekleidung  eines  Amtes  zur  Verwaltung  einer  Provinz  und  dadurch  zu 
Reichtum  zu  gelangen. 

Die  gewählten,  resp.  erlosten  Beamten  wurden  einer  Dokimasie 
unterzogen;  vgl.  Weinberger,  Die  Dokimasie.  Wiener  Studien  XV 
(1893)  S.  148/9.  Nach  Abiauf  der  Amtszeit  war  jeder  Beamte  zur 
Rechenscliaftsablage  verpflichtet. 

Wilamowitz-Moellendorf,  Aristot.  u.  Ath.  II  Beil.  12,  S.  231  — 
251 :    A070C  und  suiluvot. 


Bericht  üb.  d.  griecb.  Staatsaltertüm.  f.d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.)  67 

112.     Ae.  Koch,  De  Atheniensium  logistis,  euthynis,  synegoris. 
Progr.  Zittau  1894. 

"Wilamowitz    sagt:    Der    abtretende  Beamte   bat  seine  Rechnung 
bei  den  Logisten  einzureichen;  die  10  Logisten  haben  binnen  30  Tagen 
die  Rechnung    zu    revidieren,    die  Anstände    werden  von  den  auvr^-fopot 
(Anwälten)    vertreten.      Wenn    die    gerichtliche  Verhandlung    vor    den 
Logisten  vorbei  ist,  dann  ist  Rechnung  gelegt:    Xo^oj  osoorat.     Darauf 
folgt    roch    die  eigentliche  euf^uva,    die  mit  der  Geldgebarung  zunächst 
nichts  zu  tun  hat,  sondern  sich  auf  die  ganze  Amtsführung  richtet. 
Die  £!j8uvo[  waren  Ratsherren,  welche  die  vorgebrachten  Beschwerden  zu 
prüfen  hatten.     Im  gewöhnlichen  Leben  wurde  X070V  oioovat  und  £'jf>uvac 
oioovat  für  beides  gesagt;  aber  im  Y.  Jahrb.  bestehen  beide  Piüfungen 
in  voller  Krafr  nebeneinander;  das  IV.  Jahrb.  ändert  rechtlich  nicht.s, 
aber    die   trotz  aller  Kautelen  ziemlich  unverantwortlichen  Demagogen 
rissen   das  Regiment  an  sich,  die  s-Jöuvai  traten  vor  dem  X670C  zurück. 
Koch    meint,    es  gab  zwei  Arten  von  Xo-j-urat:  die  ßouXr]  bestimmte  je 
zehn  Xo7i3Ta(  durch  das  Los,  welche  xara  -pu-avstav  die  Rechnuntren  der 
Beamten  zu  prüfen  hatteu.     Was  die  Verbindung  von  Xo-,'o;  und  s-i&uvai 
betrifft,  so  ergibt  sich,   daß  der  X070J  innerhalb  des  Amtsjahres,  die 
suöuvai    aber    erst    nach    Ablauf    desselben    abgelegt    wurden.     E-jöuvott 
mußten  von  allen  Beamten,  auch  wenn  sie  keine  Staatsgelder  verwaltet 
hatten,  auch  von  den  ßouXsutai  gelegt  werden,  und  zwar  innerhalb  der 
ersten    30  Tage    nach  Ablauf   des  Amtes.     Auch    danach  konnten  die 
abgetretenen  Beamten  noch  im  Gerichte  belangt  werden:  solche  Prozesse 
instruierten   die  Xo7tJTai,    mit  denen  zugleich  die  auvy^Yopoi  in  Tätigkeit 
traten;  es  inteivenieiten  die  euöuvoi  und  ihre  Beisitzer.    Außer  den  vom 
Rate  bestellten  Xo-zisTai  gab  es  noch   10  vom  Volke,  je  einen  aus  einer 
Phyle  ernannte  Logisten. 

112a.     *A.    'A  pßavtTO-o'JXXof ,    ZTjXT^fxaTa    xoü   'Axtr/ou    Stxaiou. 
II.     Ilspl  Ttüv  £ui)uviuv.     Athen   19u0, 

Nach  der  R-z  Bauers  BphW  1901,  1264  beschäftigt  sich  der 
Verf.  mit  den  verschiedeneu  als  Logis'en  bezeichneten  Rechnungs- 
behöiden  Athens  und  <tinimt  den  Ausführnnizen  von  Wilamowitz  darin 
zn,  daß  Xü^o;  die  ReclinuMgs(irüfung,  suöuva  die  Kontrolle  der  Amts- 
führung ist.  Mit  Unreclit  aber  will  er  das  J.  435  v.  Chr.  als  Wende- 
punkt des  attisclien  Recheuschaftsverfahrfns  dahin  bestimmen,  daß  seit 
diesem  Jahre  die  Logi>ten  sowohl  die  Rechnungsprüfung  al.-*  die  Kon- 
trolle der  Amtslühruiig  besorgt  haben.  Bauer  bemerkt  mit  Recht:  wenn 
in  der  luschritt  CIA  I  3i  keine  be.>ondere  Behörde  lür  die  suOuva  ge- 
nannt ist,  kann  nur  geschlossen  werden,  daß  die  dafür  zustehende  Be- 
hörde, die  Euthynen,  zu  verstehen  sei. 

5* 


68  Bericht  üb.  d.gnech.Staatsaltertüm.  f.  d.J.  1893(1890) -1902.  (J.  Oehler.) 

Die  Magistratur. 
"Über  die  Arcbonten  ist  vor  allem  zu  erwähnen 
113      V.  V.  Schoeffer,    apyovxs;    in  Pauly-Wissowa  II   (1896) 
S.  565—599. 

114.  *C.  Lecoutere,  L'archontat  Athenien  d"apies  la  TroXtrei'a 
^Aörjvatwv.    Loavain-Paris  1893.  ßez.  BphW  1894,  1651  f.  v.  Tbumser. 

115.  J.  Rangen,  Das  Archontat  und  Aristoteles'  Staatsverfassung 
der  Athener.    Progr.  Ostrowo  1895. 

116.  ''\V.  Scott  Ferguson,  The  athenian  archous  of  the  third 
and  second  centuvies  before  Christ.  (Cornell  studies  in  classical 
Philology  X)  1899. 

116a.     Kirchner,  Götting.  gel.  Anz.  1900,  S.  433—481. 

116b.  W.  Kolbe,  Zur  athenischen  Archontenliste  des  III.  Jahrh. 
Festsclirift  f.  0.  Hirschfeld  S.  312—318. 

Schoeffer  bespricht  die  geschichtliche  Entwickelung,  die  Stellung 
des  Archontats  in  der  vollendeten  Demokratie  und  das  Fortdauern  des- 
selben bis  in  die  Eömerzeit.  wo  es  durch  Wahl  besetzt  wurde.    §  4  handelt 
über  den  ap/wv,  der  in  der  Römerzeit  iTrcuvufxoc  genannt  wird.    In  §  5 
(S.  581 — ^598}    wird    eine  Liste    der   Arcbonten    vom  J.  1068  v.  Chr. 
bis  485   n.  Cbr.    gegeben.     §  6   endlich  ist   den  Arcbonten    gewidmet, 
die    von    den   Athenern    in    den   Kleruchien    an    die  Spitze    der    Ver- 
waltung gestellt  wurden.  —  Lecoutere  spricht  in  der  Einleitung  über  den 
TJrspruDir  und  die  Entwickelung  des  Archontats;  der  erste  Hauptabschnitt 
bandelt  über  die  Bestellung  der  Arcbonten,  der  zweite  über  die  Funk- 
tionen derselben.     Es  werden  die  Qualifikationen  erörtert,   die  zur  Er- 
langung der  Archontenwürde  nötig  waren,  die  Bedingungen  werden  ge- 
sondert in  solche,    die  zu  allen  Zeiten  gleich  blieben,   und  solche,  die 
sich  im  Laufe  der  Zeit  mannigfach  änderten.     Dann  wird  die  Art  der 
Arcbonten  wähl  besprochen,  die  Dokimasie  und  Eidesleistung,  ihre  Ver- 
antwortlichkeit während  und  nach  ihrer  Amtsführung.   Auch  der  offizielle 
Name,  die  Einkünfte  und  Ehrenrechte  sowie  das  Aratslokal  werden  be- 
handelt.    Rangen  bietet  nur  eine  Inhaltsangabe. 

Ferguson  hat  die  athenische  Chronologie  der  letzten  vorchrist- 
lichen Jahrhunderte  ganz  wesentlich  gefördert  und  Kirchner  zeigte  in 
der  ausführlichen  Besprechung,  wie  weit  wir  bei  dem  derzeitigen  Stande 
der  Dinge  in  der  Feststellung  der  attischen  Arcbonten  vom  Beginne 
des  III.  Jahrhunderts  bis  auf  Augustus'  Zeit  kommen  können;  so  bieten 
beide  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  für  die  Chronologie. 

Kolbe  zeigt,    daß  der  Archon  Kimon  (CIA  IV  2,  614b)    in  das 


Bezieht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)  - 1902.  (J.  Oeblor.)  (J9 

Jahr  237/6  v.  Chr.  zu  setzen  sei,  sein  Vorgänger  Lysias  238/7.  So 
stimmt  die  literarische  und  inschriftliche  Überlieferung  überein. 

F.  Poland  behauptet  in  den  „Griechischen  Studien  für  Lipsius" : 
„Das  Prytaneiou  hat  seinen  Namen  von  dem  ay^tov  selbst  als  dem  zpu- 
xaviv  der  Bürgerschaft  wie  des  ganzen  xArchoutenkollegiums;  es  hat 
schon  in  der  Königszeit  neben  dem  Könisshause  bestanden." 

Eine  reiche  Literatur  liegt  vor  über  die  7pa{Xfi.aTst;. 

117.  E  Caillemer,  Grammatcis  (-fpaiJ-ixaTsic) :  Daremberg  et 
Saglio,  Dictionn.  IV  (1896)  S.  1646—1651. 

118.  J.  Penndorf,  De  scribis  rei  publicae  Atheniensium.  Leipziger 
Studien  XVIII  (1897). 

119.  *W.  Scott  Ferguson,  The  Atheniaa  secretaries.  (Cornell 
studies  in  classical  Philology  VII.)  New  York  1898.  Vgl.  dazu : 
A.  Mommsen,  Philolog.  LXI  (1902)  S.  238  f. 

Nicht  einsehen  konnte  ich :  E.  Drerup,  Über  den  Staatsschreiber  von 
Athen.  Philol.  histor.  Beiträge  C.  Wachsmuth  überreicht.    Leipzig  1897. 

Caillemer  gibt  eine  klare,  übersichtliche  Darstellung  über  die 
verschiedenen  Sekretäre,  die  im  V.  und  IV.  Jahrh.  erwähnt  werden, 
und  handelt  zunächst  über  den  7pa[jL[jiaT£uj  x^sßouXTJ;;  seine  Funktionen 
dauerten  eine  Prytauie,  er  war  ßouXsun^?,  gehörte  aber  nicht  der  pry- 
tanierenden  Phyle  an.  Es  ist  dies  der  von  Aristoteles  als  ^paf^fi-atsus 
xarot  irpuravstav  bezeichnete  Seki'etär.  Sein  Name  gibt,  abgesehen  von 
der  Datierung,  den  Dekreten  Authentizität;  er  läßt  die  Dekrete  in 
Stein  eingraben  und  öffentlich  bekanntmachen  und  hat  die  Aufsicht 
über  das  lletroon,  das  Staatsarchiv.  Seit  363  v.  Chr.  erscheint  neben 
dem  7paji.}jLa-£uc  ttj?  ßoyX^;,  der  jetzt  das  ganze  Jahr  im  Amte  bleibt, 
der  7pa[x[jLat£u;  xaxa  jrpuTavsiav,  der  einer  der  Prytanen  ist,  also  während 
der  Prytanie,  der  er  angehörte,  seine  Funktionen  nicht  ausüben  konnte. 
Der  7pa|jL[j.a-eu;  t%  ßouX%  beginnt  um  diese  Zeit  zu  seinem  Titel  die 
Worte:  xat  Tou  öi^fiou  hinzuzufügen.  Die  Einsetzung  des  7paa.  x.  -p. 
hatte  wohl  den  Zweck,  die  Funktionen  des  7p.  x.  ß.  zu  erleichtern.  Der 
jährige  Sekretär  des  Rates  findet  sich  noch  322;  im  Jahre  321  dagegen 
wird  ein  dva7pa9£u;  erwähnt,  der  nach  Cailleraers  Meinung  jedoch  nur 
der  alte  jährige  Ratssekretär  ist.  Daher  findet  sich  die  ganze  Zeit 
über,  in  der  der  dva7pacp£uc  genannt  wird,  keine  Erwähnung  das  7p.  t. 
ß.  Dagegen  erscheint  in  den  Inschriften  auch  weiterhin  der  7p.  xaxa 
Tip.,  der  der  Prytauie  angehörte;  diesem  scheint  ein  Teil  der  Geschäfte 
des  Ratssekretärs  übertragen  worden  zu  sein.  Vom  Jahre  307  au  nimmt 
der  Ratssekretär  wieder  seinen  alten  Titel  7pa|j..  t.  ß.  auf  unter  Hinzu- 
fügung  der  Worte:  xal  toü  orj|xau,  erscheint  auch  kurz  bezeichnet  als 
7p.  Toü  ÖY^ixou.    Die  Koexistenz  des  jährigen  Sekretärs  und  des  Prytanen- 


70  Bericht  üb,  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1803(1890)— 1902.  (J.  Dehler.) 

Sekretärs  ist  noch  zu  Beginn  des  II.  Jahrh.  bezeugt.  Der  70.  7.1x0.  up. 
bleibt  natürlich  nur  so  lange  ira  Amte,  als  die  Phyle  eine  aktive  Rolle 
spielt,  und  tritt  sein  Amt  an  den  Sekretär  der  folgenden  Prj-tanie  ab. 
Mit  der  Vermehrung  der  Zahl  der  Phj'len  mußte  natürlich  auch  die 
Zahl  der  Seki'etäre  vermehrt  werden.  Seit  276/2  findet  sich  ein  G^o- 
7pa}jL{j.aTeu?  erwähnt;  es  ist  jedoch  nicht  bewiesen,  daß  dieser  Mitglied 
des  Rates  war,  jedenfalls  aber  war  er  Bürger.  Was  den  avTiYpacpetSc 
betrifft,  sind  die  Meinungen  sehr  verschieden:  Müller-Strübiug  hält  ihn 
nicht  für  den  vorgesetzten  Kontrolleur  des  Schatzmeisters,  sondern  für 
den  jährlich  gewählten  Tiapeopoc  und  Stellvertreter  des  Ta[xia;;  Wila- 
mowitz-Moellendorf  dagegen  meint,  er  sei  nur  ein  subalterner  Funktionär 
gewesen,  wohl  richtig.  Was  den  7paix[xatsu?  der  Thesmotheten  anbelangt, 
so  ist  er  keineswegs  der  Repräsentant  der  10.  Phyle. 

Penudorf  erörtert  die  drei  Arten  von  Schreibern,  die  es  zur  Zeit 
des  Aristoteles  gab:  der  dritte  erfüllt  nur  die  Rolle  eines  öffentlichen 
Vorlesers,  wird  in  den  Inschriften  oft  als  6  7pa[Xfj,aT£uc  bezeichnet,  führt 
bei  Thukydides  den  Titel  6  ^pajxfxaxsuc  6  ttj?  TioXetu;.  Der  7pa(xixaTSuc  em 
Tous  voixou?  war  mit  der  Aufsicht  über  die  Gesetze  betraut,  doch  war 
sein  Amt  nur  von  kurzer  Dauer.  Der  wichtigste  war  der  7pa}jL>j,aTeuc 
6  xara  Trputavsiav,  erlost  für  ein  Jahr,  der  zwischen  Ol.  108,  1  und 
104,  2  eingesetzt  zu  sein  scheint;  vor  dieser  Zeit  waren  seine  Funktionen 
einem  prytauienweise  wechselnden  Schreiber,  dem  7pa[x[xaT£'jc  xr^  ßouX^«, 
übertragen,  der  aus  den  Buleuten  der  nicht  prytanierenden  Phylen  ge- 
wählt war.  Aus  diesem  Ratsbeamten  wurde  zwischen  368  und  362 
V.  Chr.  ein  öffentlicher  Jahresbeamte,  wohl  identisch  mit  dem  in  der 
ersten  Hälfte  des  IV.  Jahrh.    auftretenden    7pa[jLtxaT£'j;    tTj;    pouX^c   xal 

Fergusons  Arbeit  hat  vor  allem  chronologischen  Wert:  er  legt 
dar,  daß  vom  Jahre  349/8  an  bis  322/1  die  Phylen,  aus  denen  der 
jährige  7pa|X[xaT£uc  xaxa  Trpuravsiav  genommen  wurde,  in  der  offiziellen 
Ordnung  aufeinander  folgten.  Kirchner  weist  dasselbe  Gesetz  auch  für 
die  Jahre  303/2  bis  299/8  nach  und  meint,  es  lasse  sich  dasselbe  noch 
weiter  verfolgen  bis  zum  Ende  des  II.  Jahrh.  Ferguson  setzt  auch  für 
die  Zeit  nach  363  den  7pa(i.(xaT£'jc  x^j  ßooX^c  dem  späteren  7pafjL[jLaTeuc 
xaxa  TTpoxaveiav  gleich  und  nimmt  an,  der  7pa[xaax£u?  t^c  ßooXf,?  habe 
auch  neben  dem  ava7pa'f£u?  noch  existiert,  der  bereits  335/4  bestanden 
habe.  Bis  gegen  das  Ende  des  V.  Jahrh.  diente  der  Schreibername 
hauptsächlich  zur  Datierung. 

Im  Anschlüsse  an  die  7pafjL[j,axcrc  spricht  Aristoteles,  'Ai).  nnk. 
c.  54  von  den  isponoi:  vgl. 

120.  L.  Ziehen,  Die  panathenäischen  und  eleusinischeu  leporotoi. 
Rhein.  Mus.  LI  (1896)  S.  211—225. 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler.)  71 

Von  den  ispo-oiol  xat'  eviauxov  sind  die  anderen  zu  unterscheiden, 
nämlich  die  auch  upo~oioi  genannte  Festkommission,  die  vom  Rate  aus 
seiner  Mitte  eingesetzt  wurde.  Solche  tspoTcoioi  leiteten  die  kleinen 
Panathenäen.  Die  Upor.om  xax'  sviaurov  hatten  die  Oberleitung  des 
Ganzen,  vor  allem  aber  die  Festfeier  in  Athen  und  die  7:o[jl-tq  zu  be- 
sorgen, während  die  andere  Gruppe  von  icpozotoi  nur  im  Heiliutura  zu 
Eleusis  selbst  funktionierte.  Für  diese  findet  sich  auch  die  Bezeichnung 
iepo-oiol  'EX£uaivo{}Ev,  i.  'EXsuaivt,  t.  ^7  ßouX^;:  der  Unterschied  in  der 
Funktion  war  wohl  nur  quantitativ,  nicht  qualitativ.  Wenn  im  Laufe 
der  Zeit  an  die  Stelle  der  alten  Upo-otol  'EXsosivoOsv  die  i.  h(  ßouX?jc 
traten,  so  betraf  die  Veränderung  die  finanzielle  Seite:  die  finanzielle 
Verwertung  der  von  den  Gläubigen  gespendeten  Feldfrüchte  wurde  in 
der  Zeit  zwischen  419  und  329  v,  Chr.  den  ispo-oioi  genommen  und 
den  i-izia-d-ai  und  Ta|xiai  übertragen. 

Der  von  Aristoteles  'A9.  -oX.  c.  43  genannte  tSv  xpyjvüiv  £;rt[jLsXr|T>^j 
i.-t  jetzt  inschriftlich  erwiesen  in  einem  Dekret  vom  J.  333  v.  Chr.: 
aipsdsl?  ItX  xa?  xpTQva?:  P.  Foucart,  Decret  Athenien  de  Van  333  a.  Chr. 
Revue  des  fitudes  gr.  VI  (1893)  S.   1—17. 

Über  die  Polizeibearaten  (cf.  Aristot.  'Aötjv.  ttoX.  c.  50  u.  51). 
handelt 

J.  Oehler,  'Aaxuvo'ixot,  Panly  Wissowa  II  1870—1872. 

Derselbe,  'A7opav6[i.ot,  Pauly- Wissowa  I  883 — 885. 


Verwaltungs-  und  Kassenbeamte. 

121.  E.  Herzog,  Zur  Verwaltungsgeschichte  des  attischen 
Staats.     Verzeichnis  der  Doktoren.     Tübingen  1897. 

122.  P,  Panske,  De  magistratibus  Atticis,  qui  saeculo  a.Chr. 
D.  quarto  pecunias  pnblicas  curabant.  Pars  prior.  De  magistratibus 
pecunias  publicas  curantibus,  qui  Euclide  archonte  redintegrati  sunt. 
Leipziger  Studien  XIII  (1890)  S.  1—62. 

123.  J.  Oehler,  'ATro8exTat,  Pauly- Wissowa  I  2818/9. 

Herzog  weist  darauf  hin,  daß  die  Verwaltung  des  attischen  Staates 
einen  modernen  Anstrich  zeigt  und  daß  in  der  perikleischen  Zeit  die 
technische  Verwaltungsaufgabe  von  der  politischen  Bedeutung  völlig 
losgelöst  erscheint.  Neben  die  Archonten  treten  die  Schatzmeister,  die 
lediglich  Verwaltungsbeamte  sind.  Organe  der  Selbstverwaltung  sind 
die  vauxpapot,  die  airooexxat  sind  Beamte  im  Zentralkassendienst,  eine 
Vertretung  der  10  Phylen.  Durch  diese  erhielt  der  Rat  Einsicht  in 
den  Verlauf  der  Einnahmen  und  Ausgaben,  nachdem  bis  463  der  Areiopag 


72  Bericht  üb  d.griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(lS90j- 1902.  (J.Oehler.) 

Einfluß  auf  die  Verwaltung  g-enoraraen  hatte.  Eine  Verwaltungsgerichts- 
barkeit  gab  es  nicht,  sondern  die  Gerichtshöfe  dei-  Eeliaia  konamen  auch 
für  die  Verwaltung  in  ausgedehntester  Weise  in  Betracht. 

B.  Keil,  Anonym.  S.  163  spricht  über  die  Kolakreten.  Nach 
Wilamowitz-Moellendorf  waren  die  Kolakreten  die  Kassenbeamten  des 
areiopagitischen  ßates,  dessen  nicht  unbedeateude  Kasse  sie  während 
des  V.  Jahrh.  auch  nach  der  durch  Kleisthenes  vorgenomraensn  Ein- 
setzung der  Apodekten  verwaltet  hätten.  Sie  waren  die  einzigen  Beamten 
rein  staatlicher  Natur,  die  eine  Kasse  mit  bedeutenden  Barbeständen. 
die  Landeshauptkasse,  zu  verwalten  hatten,  während  bei  den  Apodekten 
und  sonstigen  Beamten  eine  Anweisungswirtschatt  üblich  war.  Der 
Verfall  der  Kolakretenkasse  kann  in  das  letzte  Drittel  des  V.  Jahr- 
hunderts gesetzt  werden,  die  Kolakreten  selbst  erscheinen  nicht  mehr 
seit  410  V.  Chr.  G. 

Das  Verschwinden  der  Apodekten  seit  323/2  bringt  B.  Keil, 
BphW  XII  (1892)  S.  618  in  Verbindung  mit  der  Institution  des 
im  1-^  oiotxTQ(7£i,  der  etwa  322  eingesetzt  wurde;  Dittmar  (s.  Nr.  133) 
S.  156  meint,  der  Beamte  mit  dem  Titel  6  eri  tv]  6toix7]cj£'.  sei  298/7 
eingesetzt.  Panske  führt  aus,  daß  die  Hellenotaraiai  nach  Eukleides 
nicht  mehr  gewählt  und  die  xaixiai  der  Athena  mit  denen  der  übrigen 
Götter  in  ein  Kollegium  zusammengezogen  wurden,  und  behandelt  im 
§  1  die  Poletcu,  im  §  2  die  Trpay.Tops;,  im  §  3  die  Ta|xtai  der  Athena 
und  der  anderen  Götter  und  §  4  die  diroSEXTai.  Die  Poleten  waren  10 
an  Zahl,  je  einer  aus  einer  Phyle  erlost;  sie  hatten  zu  tun  mit  den 
7:iTrpa3xo[X£va,  die  unterschieden  werden  in  teXy),  jxsTaXXa,  [xtj&cuseu  und 
8Ti|j.eu6[jLeva.  Die  TcpaxTopss,  gleichfalls  10  an  Zahl,  trieben  die  eirißoXai 
und  die  von  den  Gerichtshöfen  verhängten  Strafgelder  ein  für  den 
Staatsschatz.  In  Kenntnis  wurden  sie  gesetzt  durch  die  e-f/pa'fKJ,  das 
Verzeichnis,  von  selten  der  Beamten;  in  diesem  Verzeichnisse  standen 
die  Namen  der  Schuldner  und  die  Höhe  der  Schuldsumme.  Die  jrpax- 
xope?  löschten  nun  die  Namen  derjenigen,  welche  gezahlt  hatten, 
aus,  die  Namen  derjenigen  aber,  die  in  der  festgesetzten  Zeit  ihrer 
Verpflichtung  nicht  nachgekommen  waren,  verzeichneten  .sie  in  einer 
Liste,  die  sie  den  Ta|xtai  der  Göttin  übeimittelten.  Die  Schatzmeister 
der  Athena  und  der  übrigen  Götter,  10  an  Zahl,  erscheinen  seit 
Eukleides,  während  im  V.  Jahrh.  2  Kollegien  bestanden:  die  Schatz- 
meister der  Athena  und  die  434  eingesetzten  der  anderen  Götter.  Viel- 
leicht hatten  sie  für  einige  Zeit  nach  Eukleides  die  Sorge  für  den 
Staatsschatz  überhaupt.  Zum  letztenmal  werden  die  Schatzmeister  der 
Athena  300/299  v.  Chr.  erwähnt:  sie  haben  den  Anfang  des  III.  Jahrh. 
wohl  nicht  lange  überdauert.  Die  Apodekten  hatten  schon  im  V.  Jahrh. 
das  Amt  dtr  exactores;  sie  traten  au  die  Stelle  der  Kolakreten,  waren 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  189^^(1890)— lOUi?.  (J.  Oehler.)    73 

aber  nicht  mehr  die  Einnehmer  der  Abgaben,  sondern  erhielten  einen 
anderen  Wirkungskreis.     Näheres  über  die  Finanzverwaltung  s.  unten. 

Der  Rat. 

Zur  Zeit  der  Demokratie  bestanden  in  A.then  2  ßouÄai:  die  ß. 
auf  dem  Areiopag  und  der  Rat  im  Prytaneion.  Über  den  Rat  auf  dem 
Areiopag  vgl.: 

124.  Thalheim,  'Apstoc  -a-,o;,  Pauly-Wissowa  II  628  f.  Wila- 
raowitz-MoelJendorf,  Aristoteles  u.  Athen  113;  8.  S.  186—200: 
Der  Ai-eiopag  vor  Ephialtes. 

Mit  Eecht  sagt  Wilamowitz,  die  Vorherrschaft  des  Areiopag  sei 
das  Hirn  Athens  gewesen:  dieser  hatte  die  Kontrolle  der  Beamten,  war 
Beschwerdeinstanz  gegen  die  Beamten,  griff  in  die  meisten  Gebiete  der 
Verwaltung  ein  und  war  der  Wächter  und  Bewahrer  der  Verfassung. 
Die  vorherrschende  Stellung  verlor  er  durch  Ephialtes  und  blieb  fast 
nur  noch  Blutsgerichtshof.  Von  seinen  früheren  Obliegenheiten  erhielten 
die  Dokimasie  der  Beamten  die  Gerichte,  die  Annahme  der  si;a"fiS/.ia 
fiel  dem  Volke  zu,  die  Verwaltung  ging  auf  den  Rat  der  500  über. 

Über  den  Rat  der  500  handeln 

125.  Caillemer  bei  Daremberg  et  Saglio,  Diction.  I  738 — 44. 

126.  J.  Oehler,  BouX7],Pauly-WissowaIII  1020—1037.  H.Müller- 
Strübing,  Studien  S.  535  f.:  Stellung,  Organisation  und  Funktionen 
des  Rates. 

Einzelne  Kompetenzfragen  werden  erörtert  von: 

127.  H.  Francotte,  De  la  Legislation  atheuienne  sur  les  dis- 
tinctions  honorifiques  et  specialement  des  decrets  des  clerouchies  athe- 
uiennes  relatifs  ä  cet  objet.  Le  Musee  Beige  III  (1899)  S.  246—281; 
IV  (1900)  S.  55—75;  105—123. 

Vgl.  G.  Doublet,  Decret  athenien  de  Delos.  Bull.  hell.  XVI 
(1892)  S.  369—378. 

Francotte  bespricht  zwei  Fragen:  1.  Besitzt  der  Rat  das  Recht, 
die  Publikation  der  Volksbeschlüsse  anzuordnen?  2.  Besitzt  der  Rat 
das  Recht,  Proxenie  uudEuergesie  zu  verleihen?  Beide  Fragen  werden 
mit  Recht  verneinend  beantwortet. 

Als  Leiter  der  auswärugen  Angelegenheiten  trat  der  Rat  bei 
Staatsverträgen  in  Tätigkeit ;  vgl. : 

128.  A.  Martin,  Quomodo  Graeci  et  peculiariter  Athenienses 
foedera  publica  iure  iurando  sanxerint.     Paris  18S9, 

der     die    Frage     behandel!:     „Wer     hat     den     Eid     im    Namen     des 
Staates    zu    leisten?    Wer  hat  ihn  entgegenzunehmen?"     Zunächst  war 


74    Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

die  ßouXTf^  dazu  berufen,  die  seit  der  kleisthenischen  Verfassung  als  Ver- 
tretung der  Gesamtheit  den  Mittelpunkt  des  Staatslebens  bildete.  Doch 
genügte  die  Bürgschaft  der  PouXtq  allein  nicht,  sondern  es  wurden  auch 
die  cTpaTY)7oi,  Ta^iapyot  und  iTmap^^ot,  seit  dem  IV.  Jahrh.  auch  die  inrueT? 
herangezogen,  letztere  wohl  deshalb,  weil  sie  sich  aus  den  angesehensten 
Kreisen  der  Bürgerschaft  rekrutierten.  Da  der  Rat  die  oberste  Ver- 
waltungsbehörde war,  wird  diese  seine  Stellung  bei  der  Finanz-  und 
Marineverwaltung  noch  zu  besprechen  sein. 

So  erscheint  der  Rat  der  500  als  permanenter  Ausschuß  der 
athenischen  Bürgerschaft,  dessen  Tätigkeit  sich  auf  ganz  verschiedene 
Dinge  erstreckte,  der  aber  vor  allem  die  Oberaufsicht  über  die  gesamte 
Verwaltung  führte.  Eine  beaufsichtigende  Tätigkeit  führte  er  durch 
Dokimasien,  deren  uns  bezeugt  sind:  1.  die  6oxt|xajt'a  des  neuen  Rates 
vor  dem  alten;  2.  die  ooy.t[jLacjia  der  Archonten  vor  Rat  und  Geriebt: 
3.  die  6oxi|xaata  der  jungen  Bürger  bei  der  Aufnahme  unter  die  De- 
moten;  4.  die  Soxtfxaai'a  der  aouvaxot,  der  Arbeitsunfähigen.  Auch  über 
die  öffentlichen  Gebäude,  für  deren  Instandhaltung  er  sorgte,  führte  er 
die  Aufsicht.  Als  Körperschaft  hatte  er  seine  eigenen  Beamten:  "|'pa|x- 
jj-aTsTc,  Totji-iat,  x^puS  werden  erwähnt;  als  Körperschaft  hatte  er  Diszi- 
plinargewalt gegen  seine  Mitglieder:  ef  übte  sie  aus  durch  die  ex^uXXo- 
«popi'a.  —  W^as  über  die  Ratssitzungen,  über  den  Rat  als  Gericht  be- 
kannt ist,  ist  in  dem  obengenannten  Artikel  bei  Pauly-Wissowa  ausgeführt. 

Die  Volksversammlung. 

Als  zweite  Kammer  erscheint  der  ör^|xoc  in  der  Volksversamm- 
lung.   Eine  gute  Übersicht  über  dieselbe  gibt 

129.  G.  Glotz,  Ekklesia,  Daremberg  et  Saglio  II  S.  511—527, 
der  von  S.  516  über  die  athenische  Ekklesia  handelt.  Zunächst  be- 
spricht er  die  Bedingungen,  au  die  der  Zutritt  zur  Ekklesia  geknüpft 
war:  1.  Abkunft  von  athenischen  Bürgern,  2.  Mündigkeit,  3.  Vollbesitz 
der  büigerlichen  Rechte.  Wer  sich  unberechtigt  eindrängt,  setzt  sich 
der  7pa9T)  ^svi'ac  aus.  Von  Bedeutung  für  den  Besuch  der  Volksversamm- 
lung war  die  Einführung  des  fxi3f>6c  exxXTjaiajttxo?  durch  Agyrrhios. 
Der  Ort  der  Versammlung  war  ursprünglich  die  «-/opa,  dann  die  Pnj^x; 
nur  die  Versammlungen,  in  denen  wenigstens  6000  Stimmen  abgegeben 
werden  mußten,  fanden  auf  der  ayopcz  statt;  ausnahmsweise  versammelte 
sich  das  Volk  im  Dionysostheater  und  in  der  2.  Hälfte  des  IV.  Jahrh. 
auch  im  Peiraieus.  Unter  Selon  hatte  die  Volksversammlung  nur 
die  Beamtenwahl  vorzunehmen  und  die  Rechenschaftsablage  entgegen- 
zunehmen, brauchte  also  nicht  oft  zusammenzutreten.  Seit  Klei- 
sthenes    fand    in    jeder    Prytanie    eine  Volksversammlung    statt,    xupt'a 


Bericht  üb  d.  p;ri(>ch.  Staatsalt^rtüra  f.  d.  J.  1893(1890)  — 1902.  (J.  Oehler.)   75 

l\xkri<3i<x  grenannt;  dazn  traten  noch  3  in  jeder  Prytanie,  welche 
als  vo|xtfxo[  ey.xXTr)3tai.  ah  exxXiQiiat  il  T£Ta7|i.Evat  ex  t(ov  v6[jlü>v  bezeichnet 
werden;  außer  diesen  srab  ps  noch  außerordentrche,  aiSYxXrjToi.  Eio 
fester  Termin  war  nicht  bestimmt;  nur  die  erste  Volksversammlung' 
eines  jeden  Jahres  wurde  am  11.  Hekatombaion  abgehalten.  Für  jede 
Veisammlnne:  pab  es  eine  Tagesordnung',  r.p6^p'x\i[s.a.:  in  jeder  xupia  Ix- 
xXTjjia  wurde  die  e-tystpoTovia  vorgenommen.  Im  V.  Jahrh.  wurde  in 
der  xupta  sxxXT)3ia  der  6  Prytanie  die  Ttpo/stpotovia  über  die  Fratze  vor- 
genommen, ob  der  Ostrakismo-s  anerewendet  werden  solle.  Wilamowitz: 
Aristot.  u.  Athen  II,  18.  S  252—256  handelt  über  die  Kpo-/£ipoTovia 
und  meint,  sie  sei  eine  spätere  lu'^titution.  Über  den  gewöhnlichen  Ver- 
lauf der  Volksversammlung  ist  nichts  Neues  zu  sagen.  Die  Leitung 
haben  die  Prytantr  mt  ihrem  zm-jzdr.rii ,  später  die  Trposopot  mit  ihrem 
irrtJTaTY]?.  Was  die  Kompett^uz  der  Volksversammlung  anbelangt,  er- 
scheint der  0^(10;  als  Souverän,  di>r  selbstverständlich  unverantwortlich 
und  nur  an  die  Gesetze  gebunden  war;  doch  besaß  er  schlechthin  keine 
Initiative.  Wer  den  Souverän  zu  einer  Ungesetzlichkeit  verleiten  wollte, 
konnte  deswegen  gerichtlich  belangt  werden  durch  die  ipa'fY]  irapavo- 
jxtüv.     Vgl. : 

130.     L.  E.  Lögdberg,  Aniraaiversioaes  de  actione  rrapavoji-wv. 
Dissert.     Upsala  189«. 

Nachdem  Verfasser  zunächst  eine  Auseinandersetzung  über  die 
Nomothesie  gegeben,  kommt  er  S  69  zu  dem  Schlüsse:  die  Ypa'fY)  ua- 
pavotJLcüv  wurde  von  Solon  eingesetzt,  um  gesetzwidrige  Volksbeschlüsse 
zu  verhindern;  als  gegen  Ende  des  V.  oder  im  Anfang  des  IV.  Jahrh. 
die  jährliche  Epicheirotonie  und  die  Nomothesie  eingeführt  wurde, 
wurde  bestimmt,  daß  die  'ipi'^ri  Tzapavofxcüv  auch  bei  Gesetzen  Anwen- 
dung finden  könne.  Lögdberg  meint,  die  sTir/stporovia  könne  nicht  von 
Solon  stammen. 

Gerichtliche  Kompetenz  halte  die  exxXrj^ia  im  Falle  der  -poßoXr^ 
und  eipa-f^EXia.  Für  den  Ostrakismus,  für  die  Verleihung  der  aösia  und 
für  die  Bürgerrechtsverleihung  war  die  qualifizierte  Stimmenabgabe  von 
vrenigstens  6000  Bürgern  vorgeschrieben;  die  Versammlung  wurde  von 
den  Prytanen  auf  die  a-^opa  einberufen,  wo  auch  die  Abstimmung  statt- 
fand, während  noch  am  selben  Tage  das  Volk  auf  die  Pnyx  berufen 
wurde,  wo  das  Resultat  der  Abstimmung  verkündet  wurde.  Über  die 
ao£ta  liegt  die  Abhandlung  vor: 

13L     M.  Goldstaub,    De    aosta?  uotione  et  usu  in  iure  attico. 
Breslauer  philol    Abh.  IV.  1889. 

132.     Thalheim,  "ASsta.     Pauly-Wissowa  I  (1893)  354. 
Goldstaub  unterscheidet  die  vom  Volke  selbst  gewährte  und  die 


76  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertiim.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

erbetene  aöeia,  letztere  z.  B.  als  sicheres  Geleite  für  heimkehrende  Ver- 
bannte oder  Angehörige  fiemder  Staaten.  Besser  wird  von  der  aoaia 
für  künftige  Handlangen  nnd  der  aosia  für  vergangene  Handlungen  ge- 
sprochen, wie  es  Thalheira  tut.  Für  die  erstere  Art  (also  für  Bean- 
tragung auf  Aufhebung  der  Atimie  usw.)  war  die  geheime  Abstimmung 
von  mindestens  6000  Bürgern  nötig,  für  die  letztere,  welche  Straf- 
losigkeit für  vergangene  Taten  gewährt,  genügte  ein  einfacher  Volks- 
beschluß. 

In  die  Kompetenz  der  Ekklesia  fiel  die  Verleihung  von  Ehren- 
bezeugungen; von  diesen  hat  die  „Bekränzung"  eingehende  Behandlung 
gefunden  in  zwei  Arbeiten: 

133.  A.  Dittmar,  De  Atheniensium  more  exteros  coronis 
publice  ornandi  quaestiones  epigraphicae.  Leipziger  Stud.  XIII  (1890) 
S.  63-248. 

134.  G.  Schmitthenner,  De  corouarum  apud  Athenienses 
houoribus  quaestiones  epigraphicae.     Berlin  1891. 

Dittmar  bietet  in  seiner  Untersuchung  mehr,  als  der  Titel  er- 
warten läßt.  Er  handelt  I)  De  coronis  pioxenia  et  euergesia  con- 
iunctis;  II)  de  coronis,  quae  inveniuntur  in  civitatis  decretis;  III)  de 
leliquis  coronis  omnibus.  Er  findet,  daß  es  vor  332/1  noch  nicht  üb- 
lich war,  die  Proxenoi  mit  Kränzen  zu  schmücken,  wie  denn  vor  dieser 
Zeit  der  Kranz  die  höchste  Ehre  der  Bürger  Athens  war;  es  w'urde 
nach  332/1  der  Kranz  als  Gipfelpunkt  der  Ehren  derProxenie  nnd  Euergesie 
hinzugefügt.  Während  aber  bis  Ol.  11 J  die  Proxenie  mit  der  Euergesie 
verbunden  erscheint,  findet  sich  vor  Ende  des  IV.  Jahrb.  die  Proxenie  auch 
allein.  Was  die  Euergetai  betrifft,  so  wird  mit  Recht  bemerkt,  daß  die 
£U£p7£Tai  der  späteren  Zeit  w'ohl  zu  untersclieiden  sind  von  denjenigen, 
die  im  IV.  Jahrh.  mit  der  eu£p7£aLa  geehrt  wurden.  Diese  Ebren  wurden 
in  ältester  Zeit  nur  der  betreffenden  Person  verliehen;  allmälilich  aber 
erfolgt  die  Verleihung  auch  an  die  Nachkommen  des  Geehrten  und 
Regel  ist  dies  nach  Ol.  116;  von  Ende  des  IV.  Jahrh.  an  kehrt  mau 
wieder  zur  Gewohnheit  der  älteren  Zeit  zurück.  Was  die  Ladung  ins 
Prytaneion  betrifft,  bemerkt  Dittmai-:  Kein  Melöke,  der  den  Titel 
7:p6$£voc  xal  £U£p7£-Tj?  erhielt,  wurde  ins  Prytaneion  geladen.  Was  die 
„Belobung",  eraivoj,  angeht,  finden  sicli  bis  Ol.  101  mehr  Inschriften, 
in  welchen  Eiiaivoc  nicht  vorkommt,  dagegen  ist  seit  Ol,  111  bei  allen 
Ttpo^Evoi  der  eraivoc  erwähnt.  Ursprünglich  hatte  auch  diese  Ehre  eint'U 
höheren  W'ert,  daher  sie  bisweilen  durch  ein  Amendement  den  bean- 
tragten Ehren  hiuzugelügt  wurde.  Auch  die  Imiiilzici.  ward  nicht,  wie 
Monceaux  fälschlich  aiigenommem  hatte,  von  allem  Anfange  allen 
Proxenen    und  Eueigeten    zuteil.     Eerner    erscheint    die    -po$£via    y.ai 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d  J.  1893(1890)  -  1902.    (J.  Oeliler.)  77 

z'jtp-[tji'x  bis  Ol.  98  fast  nur  oliue  s^xTiriat;  ^rjj  y.al  otxtac  verliehen, 
während  seit  Ol.  116  diese  regelmäßig-  damit  verbunden  ist.  Wichtig 
ist  die  Erörterung  des  Zusatzes  xaxa  xov  v(>[j.ov  bei  der  Verleihung  eines 
f^oldenen  Kranzes:  es  sei  zu  übersetzen  „von  Rechts  wegen";  es  hätte 
demnach  in  Athen  Gesetze  gegeben,  in  denen  vorgeschrieben  war,  daß 
Leute,  die  sich  um  den  Staat  verdient  gemacht  hatten,  mit  Belohnungen 
und  Ehren  ausgezeichnet  werden.  Seit  etwa  296  v.Chr.  trat  eine  Do- 
kimasie  der  Neubürger  ein,  vielleicht  eine  solche  aller  Ehrenbezeugungen. 
Ä.uch  bezüglich  der  Neubürger  findet  sich  der  Zusatz  xata  xov  vrfjjLov 
seit  320,  während  von  346  an  der  Zusatz  erscheint:  wv  oi  v6|xoi 
XS70U31.  Das  Gesetz  über  die  goldenen  Kränze  sei  285  v.  Chr. 
aufgehoben  worden.  Dagegen  s.  Schmitthenner.  Der  übrige  Teil  des 
IT.  Kapitels  befaßt  sich  mit  Bürgen  echtsdiplomen.  Im  Kapitel  III 
wird  über  die  Kränze  im  übrigen  gehandelt  und  es  werden  mehrere 
Perioden  unterschieden:  vor  Ol.  100;  zwischen  Ol.  100  und  112; 
zwischen  Ol.  112  und  116;  116  bis  118;  119—123:  endlich  die  Zeit 
nach  Ol.  123,3.  —  Im  Jahre  286/5  wurde  das  Gesetz  gegeben,  nach 
welchem  die  Prj'tanen  aller  Phylen,  welche  ihr  Amt  gut  geführt, 
oder  diejenigen,  welche  ihr  Geschäft  am  besten  geführt,  mit  einem 
goldenen  Kranze  geschmückt  werden  sollten.  Was  das  Gesetz  über  die 
Bekränzung  des  Rates  wegen  Erbauung  der  Schiffe  betriflft,  meint 
Dittmar:  in  illa  lege  non  scriptum  erat  senatum  coronandum  esse,  si 
munere  bene  functus  esset,  sed  scriptum  erat  senatui  non  licere  coro- . 
nam  petere.  nisi  naves  curasset  aedificandas.  Ergo  illa  lege  non  iussum 
est  qnicquam,  sed  cautum.  In  der  Zeit  zwischen  304  und  286  wird 
entweder  ein  goldener  Kranz  „von  Rechts  wegen**  oder  nur  ein  Öl- 
zweigenkranz verliehen;  nach  286  erfolgt  die  Verleihungeines  goldenen 
Kranzes  an  einen  Fremden  sehr  selten,  nach  dem  chremonideischen 
Kriege  fast  nie. 

Schmitthenner  spricht  zunächst  über  die  öffentliche  Verwendung 
des  Kranzes  in  Athen,  der  einmal  als  Abzeichen  der  Redner  und 
amtierenden  Beamten ,  dann  als  Auszeichnung  verdienter  Personen  er- 
scheint. Aufgekommen  sei  die  Sitte  der  Bekränzung  zur  Zeit  des 
Perikles;  in  der  älteren  Zeit  nun  hätten,  meint  Schm.  im  Gegensätze 
zu  Dittmar,  die  Athener  viel  eher  einem  Fremden  als  einem  Bürger 
eine  Ehre  erwiesen.  Es  gab  verschiedene  Arten  von  Kränzen;  Blatt- 
kränze (Lorbeer- ,  Efeu-,  Myrten-,  Ölbaumkränze)  und  goldene  Kränze. 
Bei  den  Blattkiänzen  (öaXXoü  sTe'favot)  erscheint  niemals  ein  Preis  an- 
gegeben; goldene  Kränze  werden  vor  Ol.  119  entweder  ar.b  yiXiwv 
opayjJLÖjv  oder  a-ö  rsviaxoaiwv  opayjjLÜiv  verliehen,  wozu  die  xaixiai  das 
Geld  zu  zahlen  haben.  Nach  Ol.  119  aber  erscheint  statt  der  Formel 
0.7:0  opayjxtuv  die  Formel  ypuiti)  a-scpavti)   xata  xov  vofxov ,    die  Schmitth. 


78  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  H.  .1   1 8931 1 S90 1  - 1 902.  (.T.  Oehler.} 

S.  24  dahin  erkiSrt:  es  werde  damit  dPi-  PiPis  des  Kranzes  bezeichnet, 
nachdem  bald  nach  Ol.  118,  3  duich  ein  Gesetz  bpstimmt  worden  war, 
es  sollte  weiterhin  kein  Kranz  veiliphen  werden ,  der  mehr  als 
500  Drachmen  kostete;  diese  Erklärnns"  liar  viel  für  sich,  nachdem  auch 
in  anderen  griechischen  Städten  älinliclip  Bestimmunspn  g-etioffen  waren. 
Da  die  Epheben  die  Kosten  für  die  Kränzi-  der  von  ihnen  Geehiten 
selbst  anfbringen  mußten,  brauchtpn  sie  sich  nicht  an  diese  s^esetzliche 
Bestimmung'  zu  halten.  Auch  bei  der  Verleilnuis  der  e^xTirjat?  ist  der 
Zusatz  xa-a  xov  v6[jlov  auf  das  Piiviles-'ii'ni  selbst  zu  beziehen. 

Schon  flühzeitig  wnnie  die  Bt kiäiizunff  öffentlich  au.egerufen,  das- 
Ehrendekret  in  Stein  eingegiaben;  im  Tluatei-  wuiden  nicht  die  Kiänze 
der  Bürger,  sondern  die  den  Fiemiieti  veihVhenen  veikündft. 

War  die  Verleihung  der  Ehrenbtzengnngen  Sache  des  Souveiäns, 
des  o^p-o?,  in  der  Yolksversanmlung,  so  beiiuiften  die  Ehrenbeschliisse 
attischer  Kleruchen  der  Zustimmung:  des  athenischen  Volkes,  wenn  diese 
Beschlüsse  athenische  Bürger  betieffen:  G  Dnnldet,  Bull  hell.  XVI 
(1892)  S    373;  Francotte  in  der  ohengenaniiten  Abhandlung. 

Auch  die  Veihältnisse  der  Kleiuchien  überhaupt  wurden  durch. 
Volksbeschlüsse  geregelt: 

135.  J.  H.  Lipsins,  Zum  ältesten  attischen  Volksbeschluß. 
Leipziger  Studien  XII  (1^90)  S    221—224. 

136.  W.  Judeich,  Der  älttste  attische  Volksbeschluß.  Athen. 
Mitt.  XXIV  (1899)  S.  321  f. 

Judeich  erklärt,  die  Urkunde  steile  sich  dar  als  Grundgesetz  für 
die  eben  dem  attischen  Staatsverbande  eingefügten  Scilaminier.  Es 
blieben  den  Salaminiein  auch  weiterhin  Rechte:  sie  hatten  das  Recht 
des  Giundbesitzes  und  erinnern  an  die  bevorrechteten  Schut^bürger 
(Isotelen). 

Staatsverwaltung. 
a)   Finanzverwaltnng. 

Die  Leitung  des  Finanzwesens  und  die  Kontrolle  über  dasselbe 
war  die  Hauptseite  der  amtlichen  Tätigkeit  des  ßates  der  500.  So 
war  auch  das  Reichsfinan?wesen  ihm  unterstellt,  indem  er  die  Vor- 
arbeiten für  die  Abschätzung  der  Tribute  traf.  Als  Keichsfinanzbeamte 
erscheinen  die  Hellenotamiai. 

136a.  *H.  Lehner,  Über  die  athenischen  Schatzverzeichnisse 
des  vierten  Jahrhunderts.  Straßburg  1890.  Rez.  BphW  1890,  1497  f. 
v.  Schoeffer. 


Bericht  üb.  d.  griecli.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  18;)3(1890)— 1902,  (J.  Dehler.)  79 

Der  Verf.  ueigt  zu  der  Ansicht,  daß  das  vereinigte  Kollegium 
der  Tafxiai  t^c  i)sa;  lind  rw/  aXXtov  ilscov  nicht  seit  Ol.  94,  1  eingesetzt 
sei,  sondern  seit  Ol.  93,  3.  Weiter  stellt  er  fest,  daß  die  ersten  Schatz- 
raeisterkollegien  nach  Eukleides  bis  Ol.  96,  2  jährlich  drei  Urkunden 
veröffentlichten:  ev  tiö  vscu  -m  'Ey.arojx-Eotp,  Iv.  xoZ  'Om39oo6[i.ou,  ir.  to-S 
IlapOsvaivo^.  Seit  Ol.  98,  4,  in  welchem  Jahre  das  Kolleg  der  Tafiiat 
Tcov  aXXüJv  ftscüv  erneuert  worden  sei,  wurden  alle  Schätze  promiscue 
auf  einer  Tafel  verzeichnet,  bis  Ol.  103,  2  die  Dreiteilung  der  Verzeich- 
nisse wiedereingeführt  wurde. 

"Was  die  Tribute  betrifft,  sind  zu  erwähnen: 

137.  G.  Bannier,  De  titulis  aliquot  atticis,  rationes  pecuniarum 
Minervae  exhibentibus.  Berlin  1891. 

138.  W.  Bannier,    Die    Tributeinnahmeordnung    des    attischen 
Staates.     Ehein.  Mus.  LIV  (1899)  S.  544—554. 

Die  erstgenannte  Schrift  behandelt  ohne  besonderes  Ergebnis 
einige  Inschriften;  in  der  zweiten  wird  erörtert:  1.  die  Voreinschätzung; 
2.  die  Veranlagung;  3.  die  Bekanntgabe  der  Veranlagung  und  die 
Entscheidung  über  die  Berufungen;  4.  die  Aufstellung  der  Hebelisten; 
5.  die  Vereinnahmung;  6.  die  Berechnung  des  Sechzigstels  an  die 
Schatzmeister;  7.  die  Zwangsbeitreibung.  Die  Voreinschätzung  nahmen 
die  xaxxai,  welche  ein  jähriges  Amt  bekleideten,  an  Ort  und  Stelle  vor 
und  trugen  ihre  Feststellungen  in  ihre  Listen  ein.  Die  erste  Prytanie 
machte  auf  Grund  dieser  Listen  Vorschläge  an  die  ßouXr,,  welche  an 
den  Panathenäen  die  Höhe  des  Tributes  festsetzte,  worauf  noch  der 
S^fjLOi;  zu  jedem  einzelneu  Beschlüsse  Stellung  nahm.  In  den  ,, Griechischen 
Studien"  für  H.  Lipsius  sucht  Panske  ,,De  contributionibus"  den  Unter- 
schied zwischen  den  Tributen  des  V.  Jahrh.  (dem  ^opoc)  und  den 
Kontributionen  des  IV.  Jahrh.  (cuvTdccstc)  historisch  zu  erklären.  Diese 
letzteren  durfteu  nur  xa-a  zd  oo-iiiairt  xüiv  cu[j.[xaytüv  von  den  Athenern 
den  Bündnern  auferlegt  werden,  welche  Beschränkung  im  V.  Jahrh.  nicht 
bestand. 

Das  Budgetrecht  stand  der  Volksversammlung  zu:  in  der  Volks- 
versammlung wurden  auch  Anleihen  und  Rückzahlungen  beschlossen. 

139.  E.  Szauto,    Zum   attischen  Budgetrecht.     Eranos  Vindo- 
bonensis  1893,  S.  103—107, 

führt  aus:  Die  Bewilligung  von  Taggeldern,  die  nur  durch  Gesetz 
vorgenommen  werden  konnte,  erfolgte  in  der  Volksversammlung  nur 
dann,  wenn  ein  Gesetz  generell  für  alle  subsummierten  Fälle  oder 
speziell  für  einen  einzelnen  Fall  es  gestattete.  Es  wurde  ein  Nach- 
tragskredit eingebracht,  wofür  der  Ausdruck  T:po;vo;j.o&£Tf,c;a'.  gebraucht 
wird.    Die  Gesetzessammlung  der  Athener  war  nach  den  Behörden  ge- 


80  Bericht  üb.  d.griech.Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890) -1902.    (J.  Oehler.) 

ordnet,  die  mit  ihrer  Handhabung  betraut  waren;  so  waren  die  einzelnen 
Budgetposten  in  den  Gesetzen  derjenigen  Behörde  enthalten,  welche  die 
betreffende  Auszahlung  vorzunehmen  hatten,  also  die  Mehrzahl  in  den 
Gesetzen  der  Pinanzbeamten.  Panske  ,,De  magistratibus"  S.  56  be- 
hauptet: stetisse  per  populum  Atheniensium ,  per  simplex  scitura  suum 
apodectis  uon  solum  singulas  pensiones  quasi  subitarias,  verum  etiam 
perennes  nee  tempore  definitas  imperare. 

140.  E.  Szanto,  Anleihen  griechischer  Staaten.  Wiener  Studien 
VII  (1885)  232—252;  VIII  (188G)  1-36. 

141.  E.  Cavaignac,  Le  decret  de  Callias.  Comment  les  Athe- 
uieus  ont  eteint  leur  dette  apres  la  guerre  archidamique.  Revue  de 
Philol.  XXIV  (1900)  S.  135—142. 

Szanto  S.  8  f  :  „Die  Anleihen  des  attischen  Schatzes  sind  nicht 
immer  zurückgezahlt  worden;  sie  waren  nicht  viel  mehr  als  Scheia- 
anleiheu  und  der  Tatbestand  ist  kein  wesentlich  anderer,  als  v.'enn  die 
überreichen  Einnahmen  des  einen  Budgetposteas  für  zu  große  Ausgaben 
des  anderen  verwendet  worden  wären.  Faktisch  wurde  der  heilige  Schatz 
in  Athen  als  ein  staatlicher  Reservefonds  angesehen,  dem  jederzeit  ent- 
liehen werden  konnte:  die  getrennte  Verwaltung  wie  die  Verzinsung 
beweist  nichts  als  die  Anerkennung  des  Eigentumsverhältnisses."'  Um 
die  Forderungen  zurückzuzahlen,  bedurfte  es  eines  Volksbeschlusses, 
welcher  die  Beamten  anwies,  die  Rückzahlung  zu  leisten.  Einen  solchen, 
für  die  Geschichte  der  athenischen  Finanzen  bedeutenden  Beschluß, 
CIA  I  32  vom  Jahre  420  behandelt  Cavaignac,  der  zeigt,  in  welcher 
Weise  die  Rückzahlung  an  die  ,, Göttin"  erfolgte;  bei  der  Zusammen- 
stellung der  Einnahmen  werden  genau  „die  Reichseinnahraen"  und  „die 
städtischen  Einnahmen"  gesondert,  die  Berechnung  nach  4 jährigen 
Finanzperioden  angestellt. 

Die  ganze  athenische  Finanzverwaltung  charakterisiert  B.  Keil 
richtig  als  „Anweisungswirtschaft,  die  von  der  Hand  in  den  Mund  leht", 
wobei  CS  nie  zur  Bildung  eines  wirklichen  Staatsschatzes  kommt.  Nur 
war  Athen  in  der  günstigen  Lage,  Anleihen  bei  den  heimisclien  Tempel- 
schätzen machen  zu  können,  die  mäßig  zu  verzinsen  waren  und  deren 
Rückzahluugstermin  ganz  in  den  Händen  des  Schuldners,  des  Staates, 
lag.  Als  dies  nicht  mehr  möglich  war,  führte  die  Auleiheuswirtschaft 
ebenso  in  Athen  wie  in  den  anderen  griechischen  Städten  den  finanziellen 
Ruin  herbei.  Die  Ilauptuisache  sieht  Szanto  mit  Recht  in  der  Scheu 
vor  außerordentlichen  Steuern,  infolge  deren  die  Städte  zu  Anleihen  ge- 
zwungen wurden.  In  Athen  erscheint  als  solche  außerordentliche  Steuer 
die  Etacpopa,  über  die  übersichtlich  handelt 


Bericht  üb,  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d  J.  1893(1890)  — 1902.  (J.  Dehler.)  gl 

142.  Ch.  Lecrivain,  eijfpopd  in  Daremberg-  et  Saglio,  Diction. 
ir  (1S92)  S.  504—510. 

Die  Haupteinkünfte  des  Staates  stellten  die  indirekten  Gefälle  und 
die  Domäneneiukünfte  dar;  sie  wurden  im  V.  Jalirh.  regelmäßig-  ver- 
pachtet; vgl. 

142a.     M.  Kostow/ew,    Geschichte   der  Staatspacht  in  der  rö- 
mischen Kaiserzeit.     Philol.  Suppl.  IX  (1902)  S    332-336. 
Eine  Ausgabenpost  ist  erörtert  von 

143.  E.   Drerup,    Über    die    Publikationskosten    der    attischen 
Volksbeschlüsse.     N.  Jahrb.  f.  Philol.  153  (1896)  S.  227—257. 

Es  wird  gezeigt,  daß  die  Publikationskosten  der  attischen  Volks- 
beschlüsse sich  nur  nach  dem  Umfang  des  aufzuschreibenden  Dekretes 
richteten,  und  zwar  so,  daß  für  jede  angefangenen  500  Buchstaben 
10  Drachmen  ausgeworfen  wurden. 

In  dem  Dekret  zu  Ehren  des  Pytheas:  Rev.  des  Etudes  grecq. 
VI  (1893)^  S.  1  f.  heißt  es,  der  xafitac  xou  d-q\i.oi)  soll  20  Drachmen  für 
die  Stele   zahlen   ex   tüiv    zl;  toc  xa-ra  <\i-i]<fi(.j\).oizoL  avaXtuxofjtsvwv  tw  Syjiaco. 

Mit  der  Stellung  der  Staatsschuldner  beschäftigt  sich 

144.  *A.  S.  Arvanitopullo,  Questioni  di  diritto  attico.  I.  Dei 
debitori  verso  lo  stato  ateniese,     Roma  1899. 

Es  werden  an  Staatsschuldnern  unterschieden  1.  die  Bundes- 
genossen, die  den  cpopo^  nicht  zahlten  (es  waren  also  Schuldner  an  die 
Eeichskasse),  2.  Athener,  die  dem  Staate  Trierengeräte  schuldeten, 
3.  die  Schuldner  öffentlicher  und  heiliger  Gelder,  4.  Schuldner,  deren 
Verpflichtungen  aus  gerichtlichen  Strafen  wegen  gesetzwidriger  Hand- 
lungen herrührten.  Es  intervenierten  bei  der  Eintreibung  20  Logisten 
und  10  3uvr]7opot  als  Kollegium,  das  in  den  Inschriften  bezeichnet  er- 
scheine als  30  Logisten. 

Militärwesen. 
a)   Landheer. 

Der  Rat  führte  die  Oberaufsicht  über  die  Reiter  und  Hopliten. 
l'ber  die  ßeitertruppe  spricht  ß.  Keil,  Anonym.  S.  I40f. :  In  der  Zeit 
von  447 — 5  wurde  eine  unter  der  Kontrolle  des  demokratischen  Staates 
stehende  ßeitertruppe  aufgestellt  durch  Gewährung  der  xarasrasu  und 
des  31X0?;  naturgemäß  stellte  dazu  der  Ritterstand  das  Hauptkontingent. 
Das  Roß  dient  dann  auch  zur  Bezeichnung  des  Ritterzensus;  vgl. 

145.  A.  Ludwicb,  Zur  aristotelischen  Schrift  vom  Staatswesen 
der  Athener,  Pestschr.  f.  0.  Hirschfeld  S.  61-68, 

der  die  Angabe  K.  VII  §  4  dahin  erklärt,    das  plastische  Werk  habe 
den  Diphilos  und  neben  ihm  ein  Pferd  dargestellt. 

Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  OXXII.    ü90i.    III.)        G 


82   Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüni.  f.  d.  J.  1893(1890)-1902.  (J.  Oehler.) 

145a.    W.  Helbi^,  Les  ir.-zT;  Atli^niens.    Extrait  des  M6raoires 
de   rAcadeiDie    des    inscr.  et    bell,  lettr.     t.  XXXVII.     Paris  1902. 

H,  stellt  hier  die  Vasenkunde  in  den  Dienst  der  Altertümer,  nin 
die  Zeit  zu  bestimmen,  da  die  Athener  ein  Reiterkorps  als  besondere 
Truppe  rekrutierten,  im  Jahre  490  bildete  die  Reiterei  keinen  inte- 
grierenden Bestandteil  der  athenischen  Armee.  Der  Verf.  spricht  zu- 
nächst über  die  iTTTreu  der  Naukrarien,  über  welche  die  Dipylonvasen 
Aufschluß  geben:  die  auf  den  Vasen  dargestellten  Reiter  zeigen  nur, 
daß  die  Bewohner  Attikas  sich  während  der  Periode  des  geometrischen 
Stiles  des  Pferdes  als  Transportmittels  statt  des  Wagens  bedienten,  be- 
weisen aber  nicht  das  Vorhandensein  eines  ßeiterkorps.  Auch  die 
jungen  Reiter  auf  den  Vasen  des  VI.  Jahrhunderts  sind  keine  Reiter- 
soldaten, sondern  berittene  dr^-ripizai.  Auf  den  attischen  Grabstelen  er- 
scheint auf  dem  Sockel  häufig  ein  junger  Reiter,  während  auf  der  Stele 
selbst  ein  Hoplite  dargestellt  ist.  Damit  soll  die  soziale  Stellung  des 
Verstorbenen  bezeichnet  werden  als  iirTrsu;:  er  hatte  als  Hoplite  gedient, 
sein  Vermögen  aber  erlaubte  es  ihm,  ein  Pferd  zu  halten,  das  ihn 
während  des  Marsches  trug,  und  einen  uityjpetyjc.  Wo  zwei  Pferde  dar- 
gestellt sind,  handelt  es  sich  um  einen  TtevTaxostojxsSiixvo;;  diese  konnten 
ein  Korps  der  tr-etc  bilden  unter  einem  iTrTrapyoc  So  erscheinen  die 
mireic  als  berittene  Hopliten ;  ihr  Kommandant,  der  Tn:7:apyo?,  übernahm 
nach  der  Organisation  einer  eigentlichen  Kavallerie  die  Führung  der- 
selben. Bis  zum  Jahre  479  v.  Chr.  waren  die  lizrSiz  berittene  Hopliten 
oder  üTTTipsTai.  Wenn  nun  auf  Vasen  des  VI.  Jahrh.  Soldaten  der 
Kavallerie  dargestellt  sind,  so  handelt  es  sich  da  nicht  um  athenische, 
sondern  um  thessalische  Reiter;  die  thessalische  Reiterei  wird  schon  im 
VII.  Jahrh.  erwähnt  und  spielt  im  VI.  Jahrh.  eine  Rolle  in  der  mili- 
tärischen Geschichte  Athens.  Vasen  des  V.  Jahrh.  stellen  Exerzitien 
und  Manöver  der  Reiter  dar,  die  von  H.  auf  die  Soxi}xa3ia  bezogen 
weiden;  Vasen  mit  derartigen  Darstellungen  gehören  in  die  Zeit  von 
485  bis  455  v.  Chr.  Das  Jahr  477  kann  als  terminus  post  quem  für 
die  Organisation  der  athenischen  Reiterei  angenommen  werden,  der 
terminus  ante  quem  ist  gegeben  durch  das  Jahr  472;  im  Jahre  457 
nahm  die  athenische  Reiterei  bereits  teil  an  der  Schlacht  bei  Tanagra. 
Au  der  Spitze  der  ganzen  Reiterei  stand  der  TTtTiotpyo;,  während  die  Phy- 
larchen  die  Chefs  der  Eskadron  einer  Phyle  waren;  damit  hörten  die 
berittenen  Hopliten  auf,  eine  besondere  Truppe  zu  bilden.  Zunächst 
waren  300  Reitej-,  die  wohl  kurz  vor  438/7  v.  Chr.  auf  1000  vermehrt 
worden.  Die  späte  Eriichtung  einer  besonderen  Reitertruppe  erklärt 
sich  aus  der  Beschaffenheit  des  attischen  Bodens.  Im  VII.  und 
VI.  Jahrh.  v.  Chr.  stützten  sich  alle  Heere  Griechenlands  auf  die  Ho- 
pliten, die  als  hellenische  Truppe  par  excellcnce  erscheinen;  die  berittenen 


Beiichtüb  d  griecli.  Staatsaltertüm.  f.  d  J.  1893(1890)— 1902.  f J.  Oehler.)  83 

llopliten,  t-rsü,  bildeten  eine  Elitetrnppe.  Auch  in  Korinth  gab  es 
tTTKEi?,  berittene  Hopliten;  eine  griechisclie  Armee  jener  Zeit  bot  einen 
eigentümlichen  Anblick:  Hopliten  zu  Fuß,  solche  zu  Pferd,  begleitet  von 
Dienern  zu  Pferd,  manche  hatten  den  Diener  hinter  sich  auf  ihrem  Pferde. 

b)  Marine. 

Eine  der  Hauptaufgaben  des  Rates  war  die  Oberaufsicht  über  die 
Flotte  und  zwar  erhielt  der  demokratische  ßat  der  500  die  volle  Leitung 
des  Marinewesens  etwa  462/1:  Keil,  Anonym.  S.  212.  Zuvor  stand 
die  Flotte,  unter  der  Leitung  des  Areiopaji,  wogegen  Kolbe  (147)  be- 
hauptet, die  SoTge  für  die  neugeschaffene  Flotte  sei  von  vornherein  dem 
Rate  der  500  übertragen  weiden.  Der  Rat  nun  führte  die  Oberaufsicht 
durch  eine  Kommission  aus  seiner  Mitte.  Darüber  handelt  außer  B.  Keil, 
Anonymus,  Beilage  I:  Zur  athenischen  Marineverwaltung  8.  201 — 224, 

146.  W.  Kolbe,  De  Atheniensium  re  navali  quaestiones  selectae. 
Philol.  LVIII  (1899)  S.  503—552. 

147.  Derselbe,  Zur  athenischen  Marineverwaltung.  Athen.  Mitt. 
XXVI  (19(h)  S.  377—418. 

Nach  einer  einleitenden  Darstellung  über  den  Ursprung  der  athe- 
nischen Flotte  handelt  Kolbe  im  I.  Teile  über  das  Wachsen  und  die  Ab- 
nahme der  athenischen  Flotte  bis  zum  Jahre  376  v.  Chr.,  im  IL  Teile 
über  die  Verwaltung  der  Marine,  und  zwar  im  1.  Kapitel  über  die 
Verwaltung  in  der  früheren  Zeit  und  im  2.  Kapitel  über  die  Verwal- 
tung im  V.  Jahrb.,  wobei  die  Beamten,  die  Trierarchie  und  der  Sold 
sowie  die  Verpflegung  erörtert  wird. 

Die  Aufgabe  der  vauxpapot  war  es,  die  Schiffe  zu  bauen,  das  Geld 
dazu  wurde  vom  Staate  gegeben;  die  Naukraren  kommandierten  auch 
die  Schiffe,  der  Polemarch  stand  an  der  Spitze  sowohl  des  Landheeres 
als  der  Flotte.  Theniistokles  hat  die  Naukrarien  beseitigt  und  die 
Marineangelegenheiten  den  Trittyen  übertragen  sowie  die  Leiturgie  der 
Trierarchie  eingeführt.  B.  Keil,  Anonym.  S.  229  mit  Anm.  nimmt  an, 
die  Seemacht  sei  der  Landmacht  analog  organisiert  gewesen  nach  den 
Phylen  und  ihren  Unterabteilungen,  den  Trittyen,  spricht  sich  dagegen 
aus,  daß  Athen  bereits  im  VII.  Jahrh.  im  Besitze  einer  Flotte  war,  die 
nach  den  Naukrarien  organisiert  gevyesen  sei.  Die  Kommission  des  Rates, 
welche  die  Aufsicht  über  die  Schiffsbauten  führt,  sind  die  rptr^poTroiot,  10  vom 
Rate  aus  seiner  Mitte  erwählt;  sie  hatte  den  Abschluß  der  Kontrakte 
mit  den  Unternehmern  zu  besorgen.  Dagegen  besorgten  die  dpxt'extovec 
die  Übeiwachung  der  Ausführung  der  Arbeiten  durch  die  vaunTi^o'',  die 
nach  Keil  im  Dienste  des  Staates  standen,  Bezahlung  erhielten  und  eine 
hohe  Stellung  in  der  gesellschaftlichen  Gliederung  einnahmen,  was  jedoch 

6* 


84    Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltcrtüm.  f.  d.  J.  1S93(1890)-1902.  (J.  Dehler.) 

nicht  wahrscheinlich  ist.  Es  erscheinen  ferner  erwähnt  vetopoi:  diese 
hält  Keil  für  die  eigentlichen  und  höchsten  Verwaltungsbeainten  für  die 
athenische  Marine  im  V.  Jahrb. ,  die  den  Schiffsbau  unter  sich  gehabt 
und  den  [xiaOo?  gezahlt  haben;  Kolbe  dagegen  führt  aus,  die  vsmpoi  hätten 
nicht  über  größere  Summen  verfügt,  hatten  also  auch  den  Schiffsbau  nicht 
unter  sich,  sondern  diesen  besorgten  auch  im  V.  Jahrh.  die  TptY]poTT;oioi. 
Der  Ansicht  Kolbes  können  wir  um  so  leichter  zustimmen,  als  auch  Keil 
die  E7:t|i.cXr,Tal  xtüv  vscupttov  als  Amtsnachfolger  der  vswpoi  ansieht,  so 
daß  wir  ihnen  auch  die  gleiche  Befugnis  zuschreiben.  Eine  eigene 
Kommission  des  Rates  sind  die  10  im^iz'Koii.twi  xou  vewpiou,  welche  im 
V.  Jahrn.  die  Aufsicht  über  Schiffshäuser  und  Werften  führte;  mit  der 
Vernichtung  derselben  durch  die  30  wurde  auch  das  Amt  aufgehoben, 
nach  der  Wiederherstellung  der  Seemacht  wurde  dasselbe  unter  dem 
Titel  „e-iixsXrjxal  xwv  vscupituv'  wiedereingesetzt. 

Verschiedene  Ansichten  haben  Keil  und  Kolbe  über  die  Bedeutung 
des  Wortes  e^ai'pstot.  Nach  Keil  sind  v^s?  eSaipexot,  naves  exemptae, 
mit  besonderen,  nicht  mit  den  für  die  Flottenergänzung  etatsmäßigen 
Mitteln  beschafft  worden,  während  sie  Kolbe  S.  405  als  Reservegeschwader 
auffaßt,  was  wohl  richtiger  ist. 

Der  Vollständigkeit  wegen  sei  auch  erwähnt 

148.  F.  Meindlhumer,  Die  Symmorieneinrichtung  zur  Zeit 
des  Demosthenes.     Progr.     Hörn  1900, 

der  eine  leicht  verständliche  Darstellung  der  Symmorieneinrichtung  gibt. 

Gerichtswesen. 

149.  S.  Brück,  Über  die  Organisation  der  athenischen  Heliasten- 
gerichte  im  IV.  Jahrh.  v.  Chr.  Philol.  LH  (1893)  S.  295—317; 
395—421. 

150.  Derselbe,  Die  Heliastentäfelchen.  Philol.  LIV  (1895) 
S.  64—79. 

151.  Derselbe,  Zu  den  athenischen  Heliastentäfelchen.  Ath. 
Mitt.  XIX  (1894)  S.  203—211. 

152.  *Th.  Teusch,  De  sortitione  iudicum  apud  Athenienses. 
Diss.     Göttingen  1895. 

153.  J.  Vürtheim,  De  Heliaeis  Atheniensibus.  Mnemosyne 
XXVIII  (1900)  S.  228—236. 

Vgl.  auch  B.  Keil:  Anonymus,  Beil.  2:  Zum  athenischen  Gerichts- 
wesen S.  225—269. 

Bei  der  Wiederherstellung  der  demokratischen  Verfassung  nach 
doBi  Sturze  der  Dreißig  wurde  das  Gerichtswesen  neu  organisiert  und 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  0(^lilor.)  85 

in  dieser  Reorganisation  bestand  es  den  größten  Teil  des  IV.  Jabrh. 
hindurch,  während  es  im  III.  Jahrh.  nicht  mehr  in  seiner  alten  Gestalt 
existierte.  Jeder  über  30  Jahre  alte  Bürger,  der  im  Vollbesitze  der 
bürgerlichen  Rechte  war,  konnte  sich  zur  Heliasie  melden;  er  erhielt 
ein  Täfelchen,  das  in  früherer  Zeit  aus  Bronze,  zu  Aristoteles'  Zeit 
aus  Buchsbaumholz  war.  Auf  diesem  Täfelchen  war  der  Name  des 
Bürgers,  der  seines  Vaters,  sein  S^ixo;  und  der  Buchstabe  der  Richter- 
abteilung, der  er  angehörte,  verzeichnet.  Dieses  Legitimationstäfelchen 
behielt  der  Heliast  dauernd;  daher  beschränkte  sich  die  jährliche 
Meldung  nur  auf  die  neu  Eintretenden.  Damit  übernahm  aber  der 
Bürger  keineswegs  die  Verpflichtung,  sich  ein  ganzes  Jahr  hindurch 
an  den  sämtlichen  Gerichtstagen  einzufinden.  Fast  aile  über  30  Jahre 
alten  Bürger  waren  Heliasten;  in  den  Gerichtshöfen  waren  Städter  und 
Landleute,  arm  und  reich,  jung  und  alt,  vertreten.  Die  Richter  waren 
phylenweise,  innerhalb  der  Phylen  in  10  Abteilungen  (A — K)  gegliedert; 
Richtersektionen  und  Phjieu  standen  im  Zusammenhang,  waren  aber 
nicht  identisch.  Die  Zahl  der  Richter  in  den  7pa[j.jj,a-:a  konnte  nur 
annähernd  gleich  sein.  Sixas-n^piov  selbst  bedeutet  nicht  „Richter- 
abteilung", sondern  ganz  allgemein  „Gerichtshof",  und  zwar  sowohl  das 
Gerichtslokal  als  die  in  demselben  versammelten  Richter.  Für  jedes 
Gerichtslokal  wurde  ein  7pci(|jL[jLa  ausgelost.  Von  den  25  000  Bürgern, 
die  Athen  in  der  ersten  Hälfte  des  IV.  Jahrh.  zählte,  waren  15  000 — 
16  000  zur  Heliasie  berechtigt;  man  rechnete  aber  nur  auf  das  Er- 
scheinen eines  Drittels  (5000 — 6000),  daher  wird  als  der  größtmögliche 
Gerichtshof  der  von  500  betrachtet.  Einen  solchen  nun  bezeichnet  im 
prägnanten  und  speziellen  Sinne  der  Ausdruck  oixaatiqptov. 

Teusch  handelt  über  die  Meldung  zum  Richteramt,  über  die  täg- 
liche Auslosung  der  Richter,  Verlosung  der  Gerichtshöfe  an  die  Richter. 
Er  nimmt  an,  daß  die  bronzenen  Richtertäfelchen  auch  zur  Auslosung 
der  Behörden  benützt  worden  seien, 

Vürtheim  spricht  1.  de  numero  heliaearura  Atheniensium,  2.  de 
uominibus  tribunalium.  Der  Ort,  wo  die  Richter  erlost  wurden,  war 
in  10  Teile  eingeteilt,  jeder  Teil  hatte  seinen  besonderen  Eingang  und 
war  nur  für  die  Richter  einer  Phyle  bestimmt.  In  den  einzelnen  Ab- 
teilungen standen  wohl  mehr  als  10  Urnen,  nämlich  so  viele,  wie  viele 
Tribunale  an  dem  Tage  richteten  (gegen  die  bisherige  Meinung,  es  seien 
10  xtßa>-'.a  gewesen).  Es  werden  dann  10  Namen  von  Gerichtshöfen 
aufgezählt. 

Keil  erklärt  die  Zahl  6000  aus  30  Trittyen  mal  200  Gaurichter ; 
die  Gerichtshöfe  zu  500  seien  nach  Analogie  des  Rates  gebildet.  In 
der  Entwickelung  des  Gerichtswesens  der  vormakedonischeu  Zeit  unter- 
scheidet er  4  Perioden,    von  denen  die  beiden  ältesten  durch  das  Jahr 


86  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.    (J.  Oehier. ) 

403/2    geschieden    sind;    die  3.  Periode    beginnt  mit  375,    die    4.    mit 
338  V.  Chr. 

VII.    Die  kleineren  Staaten. 

a)  Feloponnesos. 
Epidauros. 

154.  B.  Keil,  Die  ßechnuDgen  über  den  epidaurischen  Tholos- 
bau.  Athen.  Mitt.  XX  (1895)  S.  20  f.;  405  f.;  vgl.  derselbe: 
Hermes  XXXII  (1899)  S.  400,  Anm.  1. 

Von  ordentlichen  Beamten  erscheinen  der  iapsu?  und  der  xaxaXo- 
70s  (tSc?  ßouXas),  ßatsarchivar,  von  außerordentlichen  die  Mitglieder  der 
leitenden  Baubehörde,  die  l78oTyjp£c  und  dufAeXoTroiat.  Der  lapsuj,  der 
Priester  des  Asklepios,  erscheint  als  Jahreseponym;  der  xaxaXoYo;  ver- 
einigte in  sich  die  Qualitäten  des  athenischen  7pa}A(xaTeuc  x^?  ßouX^c  und 
des  späteren  i-nX  tt]  oiotxT^ast,  ist  v^^ohl  auch,  entsprechend  den  athenischen 
Logisten,  bestimmt,  die  Forderungen  der  einzelnen  Ressorls  mit  den 
jeweilig  einlaufenden  Geldern  in  Balance  zu  halten.  Was  die  Naraen- 
gebung  betrifft,  erscheint,  nach  attischem  Sprachgebrauche  gesprochen, 
stets  das  Demotikon.  —  Die  Bürgerschaft  von  Epidauros  scheint  in 
eine  große  Anzahl  von  Phratrien  eingeteilt  gewesen  zu  sein ,  wie  dies 
die  große  Zahl  der  Phratriennamen  erkennen  läßt. 

Elis. 

155.  E.  Curtius,  der  Synoikismos  von  Elis.  Sitzungsber.  Berl. 
Akad.  1895  S.  793  f. 

156.  E.  Szanto,  Bronzeiuschrift  aus  Olympia.  Jabresh.  d.  österr. 
arch.  Instit.  I  (1898)  S.  197—212. 

Curtius  behandelt  den  Synoikismos,  der  in  das  Jahr  471  v.  Chr. 
fällt.  Es  bestand  zuerst  eine  streng  oligarchische  Verfassung:  90  lebens- 
längliche Geronten  standen  an  der  Spitze.  An  die  Stelle  der  engen 
Oligarchie  wurde  ein  neuer,  größerer  Kreis  von  Geschlechtern  zui* 
Leitung  der  öffentlichen  Angelegenheiten  herangezogen.  Doch  war  der 
Synoikismos  ohne  zentrale  Hauptstadt,  es  gab  kein  freies  Bürgertum 
und  keine  beschließende  Bürgergeraeinde,  sondern  das  Heiligtum  allein 
bildete  den  Mittelpunkt  und  das  Band,  welches  die  Bevölkerung  zu  ge- 
meinsamen Leistungen  verpflichtete. 

Szanto  bespricht  das  wohl  mit  Beziehung  auf  den  Bund  mit 
Alexander  vom  Jahre  336  v.  Chr.  erlassene  Gesetz,  welches  Verbannung 
und  Güterkonfiskation  verbietet. 

156a.  R.  Meister,  Elisches  Amnestiegesetz  auf  einer  Brouzetafel 
ausOlympia.  Verb.  d.  köu.  sächs.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Leipzig  L(1898)218f. 


Beriebt  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)  — 1902.    (J.  Oehler.)  87 

Nach  M.  be^iunt  das  Gesetz  mit  dem  Verbote,  die  Nachkommen 
bestimmter  Leute,  die  vevea,  Deszendenz,  der  'fu-,a5e;,  zu  vertreiben; 
es  erscheint  demnach  als  Zusatzgesetz,  während  das  frühere  Gesetz  die 
<f)U7o8£;  selbst  betraf.  Das  Gesetz  gehört  in  das  Jahr  335  v.  Chr.;  das 
Jahr  desPyrrhou  ist  nicht  das  Jahr  des  Gesetzes,  sondern  wohl  336  v.  Chr., 
in  welchem  Jahre  Alexander  den  Landfrieden  hatte  beschwören  lassen. 
Tav  cjTaXav  «osXtoüv  erklärt  Meister  als:  „Die  Stele  zu  einer  ohne  Schrift- 
tafel machen,  d.  h.  die  Schrifttafel  aus  der  Stele  herausreißen." 

Arkadien. 

156b.     *G.  Fougeres,   Mantinee  et  lArcadie  Orientale.     Paris 
1898.     Rez.  v.  Oberhummer  BphW  1900  Sp.  528-31. 

Das  Werk  behandelt  eine  vielgenannte  Stadt  Griechenlands  auf 
Grund  der  französischen  Ausgrabungen  von  1887 — 1889  in  drei  Ab- 
teilungen: 1.  das  Land,  2.  den  Staat  von  Mantineia,  3.  dessen  Geschichte. 
Das  Schlußkapitel  der  zweiten  Abteilung  enthält  die  Darstellung  der 
Verfassung  und  der  öffentlichen  Einrichtungen  der  Stadt. 
Messenien. 

156c.    *K.  Seeliger,  Messenia  und  der  Achäische  Bund.    Progr. 
Zittau  1897.     Rez.  BphW  1897,  1109  f.  v.  Hertzberg. 

Die  Schrift  behandelt  die  materielle  Entwickelung  des  neuen 
Staates  von  Messenien  oder  „Ithome"  zuerst  seit  Epameiuoudas,  dann 
seit  Philipp  von  Makedonien  möglichst  vollständig  und  planmäßig. 
Dabei  wird  auch  das  innere  Verfassungsleben  und  die  Organisation  ihres 
Beamtenturas  näher  geprüft. 

b)   Mittel*  and  Nordgriechenland. 

Korinth. 

157.  G.  Busolt,  Die  korinthischen  Prytanen.  Hermes  XXVIII 
(1893)  S.  312—320. 

Nach  dem  Sturze  der  Tyranuis  in  Korinthos  wurde  wohl  der 
eponyme  Beamte  upu-avi;  genannt,  wie  denn  in  den  korinthischen  Pflanz- 
städten Anaktorion  und  Korkyra  eponyme  Prytanen  erscheinen. 

Thespiae. 

158.  P.  Jamot.    Le  College    des  hierarques   ä  Thespies.    Bull, 
hell.  XIX  (1895)  S    375—379. 

159.  Colin,  Bull.  hell.  XXI  (1897)  S.  554—559. 

160.  B.     Haussoullier,     Notes     epigraphiques.      Revue     de 
Philol.  XXII  (1898)  S.  359—363. 

Die  lepap/ot  waren  im  III.  Jahrb.  die  Hüter  des  Schatzes;  sie 
bildeten  ein  Kollegium  von  5  Mitgliedern  mit  einem  ^pajxixareu;  und 
einem  x5pu$. 


88  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler.) 

In  der  von  Colin  vevüfFentlichten  Inschrift  werden  genannt  apywv, 
2  r.oXiy.oLpyoi,  7pi|Xfi.aTcuc;  strittig  erscheint  die  Bedeutung  der  in  der- 
selben Inschrift  genannten  TiposTatat.  In  der  Inschrift  IGr  Sept  I  1739 
werden  sie  von  Dittenberger  als  curatores  erklärt;  in  der  von  Colin 
veröffentlichten  Inschrift,  die  in  das  letzte  Viertel  des  III,  Jahrb. 
V.  Chr.  fällt,  sind  sie  nach  Haussoullier  Bürgen,  die  auch  sonst  als 
ä-fj'uoi  in  Thespiae  erscheinen. 

Delphi. 

161.  Hiller    v.  Gaertringen,    Delphi.     Paul}' -  Wissowa    IV 
S.  2517—2700. 

162.  *A.  Nikitsky,  Delphisch-epigraphische  Studien  I.  (russisch.) 
Odessa  1894/5. 

163.  E.  W.  Buchheim,  Beiträge  zur  Geschichte  des  delphischen 
Staatswesens.  I.  Progr.  Freiberg  1898. 

164.  B.  Keil,    Zur  Verwertung    der    delphischen  Rechnungsur- 
kunden.    Hermes  XXXII  (1897)  S.  .399—420. 

164a.     Derselbe,  Von    delphischem  Eechnungswesen.     Hermes 
XXXVII  (1902)  511—529. 

165.  H.  Pomtow,  Die  delphischeu  Buleuten.  Philol.  LVII  (1898) 
S.  524-563. 

166.  Th.  Homolle,    Reglements    de  la  phratrie    des  Aaßudoai. 
Bull.  hell.  XIX  (1895)  S.  1—69. 

167.  B,   Keil,  Zur  delischen  Labyadeninschrift.    Hermes XXXI 
(1896)  S.  508—518. 

168.  H.  Pomtow,  Zum  delphischen  Labyadenstein.     N.  Jahrb. 
f.  kl.  Philol.  153  (1896)  S.  553/4. 

169.  P.  Perdrizet,    Labys.    Rev.    des    Ktud.    gr.    XI    (1898) 
S.  245—249. 

169a.     Derselbe,    Remarques    sur  Tinscription    des   Labyades, 
ebenda  S.  419-422. 

Nach  Buchheim  zeitiel  die  Bevölkerung  Delphis  in  Bürger.  Bei- 
sassen und  Sklaven.  Die  Grundlage  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
bildet  die  Familie,  die  Hausgeraeinde  erweitert  sich  zur  Trarptc«,  deren 
Mitglieder  als  TraTpuÜTai  bezeichnet  werden.  Die  Fremden,  welche  sich 
in  Delphi  niedergelassen  hatten  und  nach  und  nach  das  Bürgerrecht 
erlangten,  sind  die  auvoixot;  in  diese  Klasse  traten  auch  die  Freige- 
lassenen ein. 

Was  die  Verfassung  Delphis  betrifft,  hat  Delphi  wohl  die  in 
den  meisten  griechischen  Staaten  nachweisbaren  Stadien  der  Verfassung 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)  -  1902.    (J.  Oehler.)  89 

durchgemacht.  Nikitsky  findet  22  Priesterperioden  und  unterscheidet 
die  03101,  die  erblichen  Dionysospriester,  von  den  lebenslänglichen  Apollon- 
priestern,  die  identisch  seien  mit  den  Propheten  und  erblich  waren  iu 
bestimmten  Geschlechtern.  Als  Vertreter  des  Tempeldienstes  erscheinen 
die  Demiurg-en  mit  2  jährlich  wechselnden  e::iaTaTot'.  an  der  Spitze. 

Er  handelt  dann  über  das  Eponymat  und  die  ßuleia.  Die  Epo- 
nymie  der  Archonten  datiert  in  Delphi  spätestens  seit  dem  V.  Jahrh. 
V.  Chr.  Der  Archon  nahm  die  erste  Stelle  in  der  Zivilmagistratur  ein. 
Bedingung  für  die  Erlangung  des  Archontats  war  bis  in  die  spätere 
Zeit  altbürgerliche  Abkunft;  mehrmalige  Bekleidung  des  Amtes  war 
ausgeschlossen.  Über  die  Zahl  der  Buleuten  läßt  sich  für  das  Ende 
des  IV.  und  den  Anfang  des  III.  Jahrh.  nichts  bestimmen;  um  die 
Mitte  des  III.  Jahrh.  gab  es  5  für  das  Semester,  seit  dem  Ende  des 
III.  Jahrh.  bis  zum  Beginn  des  I.  waren  es  3  im  Halbjahr,  von  denen 
einer  den  Posten  eines  Sekretärs  für  das  ganze  Semester  versah.  Die 
in  den  Freilassungsurkunden  genannten  Buleuten-Archonten  sind  iden- 
tisch mit  den  rp'jTavsi?.  Buleuten,  Archonten,  Prytanen  bilden  zu- 
sammen den  delphischen  Rat  und  können  als  solche  mit  dem  Namen 
„-poßouXof  bezeichnet  werden. 

Nach  Keil  war  der  Rat  die  oberste  Finanzbehörde  von  Delphi; 
in  den  15  namentlich  aufgeführten  Mitgliedern  desselben  hat  man  den 
geschäftsführenden  Ausschuß  zu  erkennen.  Als  Beamte  der  Baubehörde 
erscheinen  -poccraxsüovTs;,  deren  Obmann  der  vaoTioioc  ist;  später  er- 
scheinen zwei  vao-oioi,  die  vaoitota  war  also  kollegialisch. 

Eingehend  handelt  Pomtow  über  den  Rat:  der  Buleausschuß  be- 
stand aus  15  Männern;  die  ersten  5  erscheinen  als  ßouXs-jovTs;  dem  ap/wv 
adskribiert,  führen  die  Bezeichnung  ßouXsoTai,  während  die  sonstigen 
Mitglieder  des  Rates  -p63ouXoi  heißen.  Der  Vorbeschluß  der  ßouXTj 
heißt  aivo;.  Die  TtpuTavsij  bilden  eine  achtgliedrige  Fiuanzkommission 
des  Rates,  der  seinen  7pa|j.[j.at£u;  hat.  Im  Gegensatze  zum  Rate  wird 
das  Volk  bezeichnet  als  ol  -oXXoi;  die  Volksversammlung  führt  den 
Namen:  aXi'a,  a-.'opa,  £xy.Xr,3ia.  Die  Leiter  der  Volksversammlung  führen 
im  IV.  Jahrh.  den  Namen  TTpoaXtwxai;  doch  bemerkt  v.  Stern,  BphW 
1896,  303  f.,  daß  diese  nicht  nach  Delphi,  sondern  nach  Thurii  gehören. 
Die  Amtsdauer  der  Buleuten  war  1  Semester;  seit  dem  Jahre  87/6 
V.  Chr.  aber  sind  die  Semesterbuleuten  aufgehoben  und  es  erscheinen 
4jährige  Buleuten.  Die  Zahl  der  Ratsmitglieder,  der  TrpoßouXot,  betrug 
im  IV.  Jahrh.  31  oder  32,  so  daß,  da  die  Zahl  der  Vollbürger  etwa 
1200  betrug,  auf  je  40  Bürger  ein  7rp6[iouXo;  entfiel. 

Bezüglich  der  Labyadeninschrift  wird  mit  Recht  darauf  hinge- 
wiesen, daß  die  -a^oi,  die  Vorstände  dieser  gentilizischen  Genossenschaft, 
sonst  nur  in  Thessalien  vorkommen:  vgl. 


so  Bericht  üb.  d.  giiech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

170.  H.  Swoboda,  Festschrift  f.  0.  Hirschfeld  S.  319—321: 
Ta-^oc;  der  thessaliscbe  Ursprang  der  Labyaden  ist  demnach  sehr 
wahrscheinlich.  Interessant  ist  ferner,  daß  die  Bestimmungen  über 
Bestattung  und  Trauer  nicht  vom  Staate,  sondern  von  der  Phratrie 
getroffen  werden,  was  anf  die  staatsrechtliche  Stellung  der  Phratrie  im 
delphischen  Gemeinwesen  schließen  läßt. 

170  a.     A.  Nikitsky,  Die  geographische  Liste  der  delphischen 
Proxenoi.     Mit  zwei  Tafeln.    Jujjew  1902. 

N.  behandelt  die  schon  von  Haussoullier  Bull.  hell.  VII,  189  f.  ver- 
öffentlichte Inschrift,  die  eine  geographisch  geordnete  Proxeuieliste  ist, 
umfassend  die  Zeit  von  196/5 — 166  v.  Chr.  Es  lassen  sich  drei  Be- 
standteile in  derselben  unterscheiden:  1.  die  ursprünglichen  Gruppen 
aus  der  ßedaktionszeit;  2.  die  trüberen  Nachträge  in  den  Abteilungs- 
intervallen; 3.  die  spätesten  Nachträge  am  Schlüsse  der  betreffenden 
Kolumne.  Im  Laufe  des  IV.  Jahrh.  wurde  es  üblich,  die  :ip6Uvot  in 
geogiaphischer  Ordnung  aufzuzeichnen;  die  Aufzeichnung  war  keine 
Ehrenerweisung,  sondern  der  Zweck  war  ein  praktischer.  Als  Vor- 
läufer erscheint  die  chronologische  Proyen ieliste,  welche  die  kürzeste 
Art  war,  Proxeniedekrete  zu  publizieren.  S.  33  Anm.  sind  6  Publikations- 
arten aufgezählt.  Die  Liste  gibt  uns  manchen  Aufschluß  über  die 
ausgedehnten  Beziehungen  Delphis  im  III.  und  IL  Jahrh.  v.  Chr. 

Thessalien. 

In  der  oben  Nr.  170  erwähnten  Abhandlung  führt  Swoboda  aus,  daß 
bereits  Ende  des  V.  Jahrh.  die  Jahresbeamten,  welche  an  der  Spitze  der 
einzelnen  Orte  standen,  den  Titel  xa^ot  führten;  in  älterer  Zeit  haben 
wohl  die  Könige  der  einzelnen  Städte  von  alters  her  die  Bezeichnung 
•ca-^oc  geführt,  welcher  Titel  auf  die  Beamten  übertragen  wurde,  die  an 
die  Stelle  der  Könige  traten. 

Larissa. 

Pridik  publiziert  in  den  „IsveStijsl"  des  lussischen  archaeologischen 
Instituts  zu  Konstantinopel  I  (1896)  eine  Reihe  von  Inschriften,  von 
denen  nr.  121,  S.  129  eine  Liste  enthält  von  Bezeichnungen  mit  der 
Endung  -i'oai;  es  sind  wohl  7£vt),  wie  Pridik  bemerkt. 

Über  Chersonesus  Taurica  ist  zu  vergleichen 

170b.     Brandis,  Pauly-Wissowa  III  2261—69. 

Die  Stadt  zeigt  dieselben  Magistrate  wie  die  anderen  megarischen 
Kolonien;  daher  liest  Brandis  statt  Delier  „Delphier"  als  Teilnehmer  an 
der  Gründung.  Die  Verfassung  der  Stadt  war  demokratisch:  ßouXdt, 
oäjjLo«;    die  Jahre  werden  gezählt  nach  den  ßauiXe?;  oder  ßajiXeuovte;. 

Über  den  Bürgeieid  der  Chersoniten  handelt 


Bericbtüb.d.  griech.  Staatsaltertiim.  f.  d.  J.  1893(1890)- 1902.   (J.  Oehler.)  91 

170c.     B.    Laty sehen,    Berliner    Akad.    1892,    S.    479  f.    vgl. 
BphW  1892,  1278  f. 

Wir  ersehen,  daß  die  STjfxtoop^oi  Oberbeamte  waren  und  die  Ver- 
pflichtung hatten,  über  die  Verfas^^ung-  zu  waclien.  Es  bestand  ferner 
f  in  Volksuericht,  in  welchem  mit  Steinchen  nach  dem  Gesetze  abgestimmt 
wurde.  Die  Inschrift  gehört  dem  Ende  des  IV.  oder  dem  Anfange  des 
III.  Jahrh.  v.  Chr.  an  und  enthält  den  Eid,  den  die  jungen  Bürger  bei 
der  Eintragung  in  das  Gemeindebuch  zu  leisten  hatten. 

c)   lusela 

Euhoia.  In  einer  Inschrift  aus  Chalkis  wird  in  der  Datierung 
ein  fj7£[j.u)v  genannt;  ob  dies  der  eponyme  Beamte  von  Chalkis  oder 
des  euboischen  Bundes  ist,  läßt  sich  nicht  bestimmen.  Der  erste  Beamte 
scheint  der  3-pa-rj6;  gewesen  zu  sein:  Bull.  hell.  XVI  (l>i92)  S.  97  f. 

Delos. 

171.  V.  Schoeffer,  Delos,  Paul-Wissowa  IV  2474—2502. 

Für  Delos  ergibt  sich  eine  gemäßigt  demokratische  Verfassung 
in  der  Zeit  der  Selbständigkeit.  Das  Volk  erscheint  eingeteilt  in 
Phj'leu  und  Phratrien;  daneben  werden  auch  xptT-rue?,  deren  es  wahr- 
scheinlich 12  gab,  unter  Trittyarchen  erwähnt.  Der  JJat  zerfiel  in  12 
monatliche  Piytanien,  hatte  ein  TrpoJiouXeujjLa  für  die  £xxXY]3ia  zu  fassen. 
Unter  den  Beamten  erscheint  an  erster  Stelle  der  ap/wv,  an  zweiter 
Stelle  stehen  die  UpoTzoiot,  deren  es  zuerst  zwei,  dann  4  gab;  außerdem 
werden  -rafiiat,  zwei  7pa[iji.aTerj,  'ko'ii'sxo.i  und  drei  «YopavopLoi  erwähnt. 
Die  Amtsdauer  war  ein  Jahr,  die  Bestellung  der  Beamten  erfolgte 
durch  Wahl. 

Chios. 

172.  Bürchuer,  Chios,  Pauly-Wissowa  III  2286—2297. 

Sp.  2295  ist  eine  kurze  Übersicht  über  die  Verfassung  gegeben. 
Auf  die  ursprüngliche  Königsherrschaft  folgte  eine  Aristokratie,  darauf 
Tyrannen  und  endlich  die  Demokratie.  Die  Bürgerschaft  war  in 
Phratrien  eingeteilt.  An  Beamten  werden  im  V.  Jahrh.  genannt: 
oupoipuXaxec,  Trevcexaiösxa ,  ßasiXeuj;  im  IV.  Jahrh.  TupuTavic,  opurat, 
i^STaaxal,  oi  xa-a  fif^va  taniai,  d7opav6[jLOi. 

Thasos. 

173.  A.  Jacobs,  Thasiaca.    Berlin  1893. 

Im  3.  Kapitel  (S.  34—50)  wird  gehandelt:  De  re  publica 
Thasiorum.  Erwähnt  werden  ouuioexa  apyovTE;,  dann  o'i  ejn^xovxa  xai 
TptTQxosioL  Die  höchste  Gewalt  hatte  der  6^ixo;;  der  ^ouXtj  oblag  die 
Vorberatung    der    in    der    Volksversammlung    zu    stellenden    Anträge. 


92  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler.) 

Neben  der  ßcuXrj  erscheint  auch  eine  -/spousiot.  Die  Einteilung  der 
Bürger  trägt  einen  gentilizischen  Charakter:  die  Traxp-r;  entspricht  dem 
8^|jLoc  in  Attika.  Von  Beamten  werden  genannt:  drei  jährliche 
Archontes,  die  OecDpot,  welche  den  voiJ.09uXa7.ec  gleichzusetzen  sind  und 
TrpoataTat,  die  das  Bürgerverzeichnis  führten,  dafür  sorgten,  daß  kein 
Unwürdiger  unter  die  Zahl  der  Bürger  aufgenommen  wurde,  und  die 
Neubürger  eintrugen;  diioosx-ai,  Upo|j.vr,|Xüjv.  drei  «716X0701,  die  mit  den 
athenischen  -paxTtopsc  zu  vergleichen  sind,  d7oprjv6iJ.o; ,  -oXsfxop/o'., 
lepoTTotoc,  xoj[jl6-oX'?,  ispox^pu?  und  xpor-rcti. 

Rhodos. 

Vor  allem  ist  zu  nennen: 

174.  H.  van  Gelder,  Geschichte  der  alten  ßhodier.    Haag  1900. 

175.  Derselbe,  Ad  corpus  inscr.  Rhodiarum.    Mnemosyne  XXIV 
(1896)  S.  72—98. 

176.  S.  Selivanov   und  F.  Hiller  v.  Gaertringen,  Über  die 
Zahl  der  rhodischen  Piytanen.    Hermes  XXXVIII  (1903)  S.  146. 

Vgl.  auch  Bursian  CX  51  ff.,  Brandis,  Gott.  Gel.  Anz.  1895,  S.  654. 

Gelder  behandelt  Kapitel  IV  S.  178—289:  Staat  und  Recht. 
tJber  die  Einteilung  der  Bürger  ist  auch  zu  vergleichen  Szanto,  Phylen 
S.  6:  die  Besiedelung  durch  die  Dorier  erfolgte  in  Rhodos  nachweisbar 
nach  den  drei  Phylen  lokal  getrennt;  S.  9:  die  überkommenen  Phylen- 
namen  mußten  sehr  bald  dem  vorgefundenen  Stadtnamen  weichen,  bes. 
S.  10  und  11:  für  die  spätere  Zeit  begegnen  wir  sowohl  einer  lokalen 
Einteilung  in  xtoTvai  und  einer  gentilizischen  in  ratpa'. ,  welche  wieder 
Oberabteilungeu  besitzen,  die  vielleicht  als  Phratrien  zu  bezeichnen 
bind,  und  noch  höhere  Oberabteilungeu,  die  ehemals  Phylen  waren, 
damals  aber  vielleicht  3'J7-,'£V£ia'.  genannt  wurden.  Als  oberste  Ab- 
teilungen über  der  lokalen  wie  der  gentilizischen  Einteilung  stehen  die 
drei  nach  den  Städten  genannten  Phylen,  so  daß  sich  in  Rhodos  die 
ursprüngliche,  mit  der  Phyleneiuteilung  identische  Bodeneinteilung  er- 
halten hat.  Über  die  v.zohii  s.  auch  H.  v.  Gaertringen  Hermes  XXXVII 
(1902)  S.  143.  Neben  den  xxoTvai  erscheinen  noch  xwixai  und  |A£pT,. 
Über  die  Demen:  v.  Schoeffer,  Pauly-Wissowa  IV  127  f.  Außer  den  Voll- 
bürgern werden  auch  Halbbürger  erwähnt:  }jiaTp6;£voi,  siziöajjLiosrai, 
vielleicht  auch  die  £'j£p7eTa'..  Die  nichtbürgerlichen  Freien  werden  ge- 
schieden in  [XETotxoi  und  ;£vo'.,  letztere  stehen  unter  einer  eigenen  Be- 
hörde, den  e7it|j.£XT)Tai  -üjv  ce'ujv.  Unter  den  Sklaven  werden  die  Staats- 
sklaven als  ooüXoi  bezeichnet.  Was  die  Beamten  betrifft,  so  sind  zu 
unterscheiden  die  der  einzelnen  Städte  vor  dem  Synoikismos  und  die  des 
Staates  Rhodos.     In  Lindos  und  wahrscheinlich  auch  in  Kameiros  gab 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.    (J.  Oehler.)  93 

es  drei  jährige  e-idTatat,  in  allen  3  Städten  einen  Rat,  fiaatpot,  mit  einem 
7pa|xiJ,aT£'Jc  -rtüv  [xaarpjov;  außerdem  wird  ein  Tafxtaj  genannt.  Volks- 
versaniniluugen  linden  sich  in  allen  drei  Gemeinden,  Im  Staate  Rhodos 
bildeten  die  höchsten  Zivilbeamten  die  Tiputaveu,  deren  Zahl  fünf  be- 
trug (s.  Selivanov  und  H.  v.  Gaertringen)  und  die  auf  ein  halbes  Jahr 
bestellt  wurden:  Brandis  a.  a.  0.,  Hiller  v.  Gaertringen  Jahresh.  d.  ö. 
Inst.  IV  (1901)  S.  160.  Sie  spielen  dieselbe  Rolle  wie  in  Athen  der 
gleichnamige  Ratsausschul).  Der  Rat  wurde  alle  halben  Jahre  ueu 
gebildet,  hatte  einen  7pa[x|xa-£'jc  und  zusammen  mit  den  Prytanen  einen 
67ro7pa}i,{i.arsu;.  Der  65[j.o»  tritt  in  der  exxAr^aia  als  Träger  der  Souveränität 
auf:  Prj'tanen,  Rat  und  ixy.Xvjot'a  bilden  die  drei  Faktoren  der  Regierung 
lies  Freistaates  Rhodos.  Die  Flotte  befehligte  als  Oberadmiral  der 
vauapyo;,  dem  TptTjpapyot  und  a7£[i.ov£c  unterstanden.  Die  Landtruppeu 
standen  unter  aTpaxaYoi,  deren  12,  10,  9  genannt  werden;  sie  waren 
vielleicht  auch  die  höchsten  Finauzbeamten  und  hatten  einen  eigenen 
•jpaiJL[xa-£6;.  Nach  den  arpata^oi  folgt  in  den  Magistratslisten  das 
Kollegium  der  5,  resp.  7  xa[xiai  mit  einem  7pa[xjxat£tjj,  nach  diesem 
Kollegium  werden  noch  3,  resp.  5  eirij/oTcoi  erwähnt,  deren  Kompetenz 
sich  nicht  bestimmen  läßt.  In  den  rbodischen  Besitzungen  auf  dem 
Festlande,  in  der  Peraia,  werden  inuzaTat  genannt,  die  mit  großer 
Machttülle  ausgestattet,  aber  nur  für  kurze  Zeit  gewählt  zu  sein 
scheinen.  Dagegen  vgl.  Bull.  hell.  XVIII  (1894)  S.  31  Nr.  10  und 
S.  400,  VkO  angenommen  ist:  An  der  Spitze  steht  der  aTpa-a^oj  era  xo 
7:epav,  dem  die  verschiedenen  ccyeixovej  unterstehen,  während  jedem  a-j-ejituv 
ein  irtsxaxr,?  oder  mehrere  ETttsxaxa'.  untergeordnet  sind. 

An  sonstigen  Beamten  kennen  wir  -uil-q-ai,  apyix£y.-ov£;,  xXrjpwxac 
TtJüv  Qiy.ajxtüv,  doxuv6}j.ot,  dc7opav6[x.ot,  £7:i[jL£XYixal  xuiv  ^svoiv  (die  von  Gelder 
vorgeschlagene  Lesung  lT:t[jL£XY)xai  xüiv  %£  [opituv]  ist  nicht  anzunehmen, 
da  auch  sonst  ^cvoöiy.at  genannt  erscheinen  in  Städten  der  Phoker*), 
7U}j.vajiapyoi,  STitsxaxirjc  xüiv  TtatSiuv,  x(D|xap'/Yj?. 

Außerhalb  der  Insel  repräsentierten  den  rhodischeu  Staat  außer 
den  erwähnten  Eziaxaxai  noch  der  apywv  ir.i  xs.  xöiv  vfjjtov  xal  xüiv  rXoituv 
xüiv  vr]aia)xtxüiv,  die  ÖEtopoi  und  die  7rp6$£vo'.. 

Astypalaia. 

Bull.  hell.  XV  (1891)  629-636;  XVI  (1892)  140  f.  sind  mehrere 
Inschriften  veröffentlicht,  in  denen  als  Beamte  genannt  erscheinen  ein 
oaijLi£p7oc  -puxavic,  der  den  Vorsitz  im  Kollegium  der  5a|xt£p7ot  hatte, 
xafiiat,  7paixixax£!S;  und  Xo-^i^szaL 


*)    Vgl.   die   ^ivoxf/l-cti   in   Pinard:    Heberdey-Kalinka,  Bericht  1896, 

S.  "Jl   Nr.   7:  o'./.ci'jo6xo'j  xczt  '/;•/  xüjv  ^^v'jx^o'.-Jjv  c<[py_*jv  .  .  . 


94   Bericht  üb  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1S93(  16i90)  -  1902.  (J.  O^bler.) 

Kos. 

177.  W.  R.  PaTon    ard  E.  Hicks,    The    insciiptious    of  Cos. 
Oxford  1H9I. 

178.  E..   Herzog,    Koische  Forschnng'f'n    und  Funde.     Leipzigs 
1899. 

179.  R.   Herzog,    Reisebericht    aus    Kos.     Ath    Mitt.    XXni 
(1898)  441  f. 

Über  die  Einteilung-  der  Bürjier  ist  außer  der  Einleitung  bei 
Paton- Hicks  jetzt  zu  vergleichen  Szaiito,  Phyleii  S.  22  —  24:  es  bestanden 
die  drei  doti-ciien  Pliylen,  die  ursprün£:lich  rein  gentilizisch  waren. 
Unter  der  PhyieneinteiliuiLr  stand  die  in  Cliiliastyen,  nach  Paton  je  9 
zu  einer  Phyle  geliörig'  Mit  Recht  bemerkt  abei  Szanto,  diese  ChiliastyeQ 
seien  im  Wesen  den  Doriem  fremd  und  offenbar  von  einer  der  benach- 
barten Städte  Sanios  oder  Ephesos  entlehnt;  ur-piünglich  mechanisch 
aus  den  Pliylen  grebildet,  muliten  sie  durch  Vererbung  geutilizisch 
werden.  Die  evatai  waren  Unterabteilungen  der  Chiliastyen,  den  evatat 
untergeordnet  die  «[xarai,  die  gleiclizustelleu  sind  dem  Ge^chlechte  oder 
der  Sippe,  Toepffrr  bcrneikt  in  dei  Rez.  des  Buches  Patou-Hicks:  Bei- 
träge S.  224 — 229:  Die  Bezeichnungen  auf  -loon  sind  Geschlechter.  Seit 
dem  oüvotxtajxo;  dl  s  Jahres  366  v.  Chr.  finden  wir  auch  Deraen  in  der- 
selben Stellung  zu  der  Phyle,  wie  sie  die  entsprechenden  Abteilungen 
in  Attika  hatten;  an  der  Spitze  des  Demos  steht  der  3rj[j,ap7oc,  jeder 
i^fio?  hat  seinen  Tajxta?  Die  Verfassung  war  eine  demokratische:  ßouXa 
ond  o3.\j.0i  sind  die  entscheidenden  Faktoren.  Die  Zahl  der  Ratsherren 
ist  nicht  bekannt;  in  der  Römerzeit  erscheint  auch  eine  -(tpouaia.  oder 
oüaTif)}ji.a  Tüiv  ::pe3ßuT£pü)v.  Die  Beamten  überhanpt  erscheinen  als  ap- 
j^ovTE?  bezeichnet;  eponym  war  der  jxovap/o;.  Die  npojraTat  entsprechen 
den  uputavei;  resp.  jip&eSpoi  in  Athen;  sie  hatten  einen  muuatlichen 
ImoTaTTQi  und  ein  Amtshaus,  Tcpuravetov.  Die  Amtszeit  war  wahrschein- 
lich ein  halbes  Jahr,  daher  -/ei|j,£piva  und  Uspiva  £;ot[jLr)vo;  unterschieden 
wird.  Der  Amtswechsel  fand  Ende  des  Geiai>tios  -«tatt.  Von  8ousti<,'ea 
Beamten  werden  erwähnt  ap-/tT£xxov£c,  welche  hei  Akkorden  den  Staat 
resp.  das  Heiligtum  vertraten  und  die  Anszaiiiung  der  Raten  an  die 
Unternehmer  bt stimmten;  ferner  lepoirotot,  a7'jpavo[jLoi,  TrioXrjTai,  otxovofjioc, 
TtotSoTpißTjc.  Militärische  Beamte  sind  die  Grpa-f,7oi,  wahrscheinlich  3, 
vauapyo;,  xpir^pocp'/oi  und  uiTTjpeTat  Ttöv  [xccxpc^v  vaöjv.  Vgl  Pat.  Hicks,, 
Einl.  und  Toepffer,  Kölsches  Sakralgesetz,  Beiw.  Ö    204  —  233. 

d)  Kleiuasien. 

Diesem  Lande    hat    sich    in   der  letzten  Zeit  ein  reges  Interesse 
zugewendet:  zahlreiche  Reisen  wurden  unternommen  zur  geographischen» 


Bericht  üb  d.  griech.  Staatsaltertüm  f.  d.  J.  1893(1890)  -  1902.  (J.  Oehler.)  95 

epigraphischea  und  aichäoIof;:ischen  Aufklärung,  an  einigen  Orten  wurden 
Ausgrabungen  in  großem  Stile  vorgenommen  und  die  Ergebnisse  publi- 
ziert. Die  kaiserliche  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien  ist  durch 
eine  groÜheizige  Spende  des  regierenden  Fürsten  von  und  zu  Liechten- 
stein in  den  Stand  gesetzt,  die  Vorarbeiten  für  die  Tituli  Asiae  Mi- 
nores zu  betreiben,  deren  erster  Band  erschienen  ist.  Zahlreiche  Spezial- 
schrifien  beschäftigen  sich  mit  der  Geschichte  und  der  Verfassung  ein- 
zelner Städte.  Im  folgenden  soll  eine  kurze  Übersicht  gegeben  werden. 
Zu  nennen  ist  der  Artikel 

180.  Asia  von  Brandis,  Pauly-Wissowa  II  1538—1562, 

in  dem  S.  1550  f.  über  die  Verfassungen  der  kleinasiatischen  Städte 
gesprochen  wird.  Die  freien  Städte  behielten  auch  unter  der  römischen 
Herrschaft  ihre  alte  Verfassungsform,  nur  wurden  die  timokratischen 
Verfassungen  begünstigt  und  es  fand  eine  Einschränkung  des  Bürger- 
rechtes auf  die  besitzenden  Klassen  statt.  Die  Beamten  blieben  die 
früheren,  die  Finanzverwaltung  wurde  unter  die  Aufsicht  der  vom 
Kaiser  ernannten  Logisten  gestellt. 

Zum  Gegenstände  eigener  Untersuchungen  hat  die  Verfassung 
die  Städte  Klein asiens  unter  den  Antoninen  gemacht 

181.  J.  Levy,  liltudes  sur  la  vie  mnnicipale  de  FAsie  mineure 
sous  les  Antonines.  Rev.  des  :Et.  gr.  VIII  (1895)  203—250;  XII 
(1899)  255  f.;  XIV  (1901)  350—371. 

In  der  ersten  Serie  (VIII)  behandelt  Levy  die  Ekklesie,  die  Bule 
und  die  Gerusia.  Die  Volksversammlung  umfaßte  alle,  welche  den 
Titel  TTo/äxai  führten;  doch  ihre  Kompetenz  wurde  allmählich  einge- 
schränkt und  endlich  ganz  vernichtet,  so  daß  die  Ekklesie  zu  einer 
wahren  Privatkorporation  wurde,  während  der  Eat  und  die  Beamten  die 
Befugnisse  der  Volksversammlung  übernahmen.  Die  ßouXr^  war  eine  Ab- 
ordnung des  Volkes,  gewählt  im  allgemeinen  xata  ^uXa;,  und  der  Titel 
des  Buleuteu  bezeichnete  nur  ein  zeitweiliges  Amt  eines  Bürgers.  Aber 
bald  hörte  der  Rat  auf,  gewählt  zu  werden,  die  Ernennung  der  Rats- 
herren  wurde  der  Volksversammlung  genommen  und  besonderen  Magi- 
straten zugewiesen:  ßouXeuTiQj  ist  ein  Ehrentitel,  eine  dauernde  Tätigkeit 
bezeichnend.  Die  Zahl  der  Ratsherren  war  eine  feste,  in  Ephesos  z.  B. 
betrug  sie  450.  Die  Soxifiaata ,  welcher  die  Kandidaten  unterworfen, 
wurden,  bezog  sich  auf  das  Alter,  mindestens  30  Jahre,  und  auf  das 
Vermögen.  Den  Vorsitz  führt  der  jährige  ßouXapyo;,  dem  ein  7pa}i,|xa- 
TEuc  zur  Seite  steht,  neben  dem  8o7[ji,aT07pa(poi  die  Beschlüsse  redigiereu 
und  den  authentischen  Text  herstellen.  Die  ßouX>^  ist  von  der  größten 
Bedeutung  in  der  lokalen  Verwaltung;  sie  hat  die  Kandidaten  für  die 
Ämter   vorzuschlagen,    kann  Ehrenbezeugungen    erweisen    und  hat  die 


96  Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm.  f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

öflfentliche  Ordnung  berzustellea.  Neben  der  ^ou^r^  erscbeint  in  vielen 
Städten  eine  Gerusia,  über  deren  Wesen  und  Bedeutung-  verschiedene 
Ansichten  herrschen,  die  Levy  zurückweist:  er  meint,  die  Gerusia  sei 
anzusehen  als  ein  öfifentlicbes,  offizielles  Korps,  dem  aber  jede  positive 
Kompetenz  in  Sachen  der  Verwaltung,  jede  politische  Befugnis  fehlt. 
Dieser  Kontrast  erklärt  sich  aus  der  Geschichte  der  Gerusia.  Sie  knüpft 
an  an  die  Versammlung,  welche  Lysimachos  Ende  des  IV.  Jahrb.  in 
Ephesos  unter  diesem  Namen  einrichtete  und  mit  der  Leitung  des  Heilig- 
tums betraute.  In  der  römischen  Zeit  verbreitete  sich  diese  Einrichtung 
zunächst  in  die  Städte,  in  denen  Artemis  verehrt  wurde,  und  gegen 
Ende  des  ersten  Jahrh.  n.  Chr.  war  die  Gerusia  in  den  meisten  Städten 
Asiens  konstituiert.  Mit  der  Verpflanzung  des  alten  Instituts  änderte 
es  sich,  es  war  schließlich  nichts  mehr  als  ein  Kreis  alter  Leute,  zu 
vergleichen  mit  der  Organisation  der  vsot.  Über  diese  ist  in  der  II.  Serie 
gehandelt  (XII.  Band).  Die  III.  Serie  (XIV.  Band)  handelt  über  die 
Archive,  Finanzen,  über  das  Münzweseu  und  über  die  Gj'mnasiarchie, 
Es  möge  hier  erwähnt  werden  die  Frage  der  tra-pOi^ouXot,  über  die 
zuletzt  gehandelt  haben: 

182.  Fr.  Cumoat,  Rev.  de  philol.  XXVI  (1902)  S.  224  f. 

J.  Levy,  Les  -arpoßouXoi  dans  Tepigraphie  grecque  et  la  littc- 
rature  talmudique.     Ebenda  S.  272—278. 

F.  Hiller  v.  Gaertringen.    Ebenda  278/9. 

Dncange  hatte  zaTpoßouXo;  erklärt  gleich  -axYjp  ßouX^c;  es  sei  ein 
Ehrentitel ;  Cumont  zitiert  nur  die  Autoren,  weist  die  Erklärung  Du- 
canges  zurück  und  setzt  das  Wort  gleich  patronus.  Levy  zitiert  auch 
2  Inschriften  aus  Dorylaion,  die  etwa  250  n.  Chr.  zu  setzen  sind  und 
das  Wort  enthalten;  H.  v.  Gärtringen  führt  eine  Inschrift  aus  Faros 
an,  in  der  als  Teilhaber  an  einer  Spende  erscheinen  YepoujtauTat,  ßou- 
XeuTai  xa)  TraxpoßouXoi.  Levj'  meint,  rarpoßouXoc  bezeichne  den  Sohn 
eines  ßouXsuTi^c,  entspreche  dem  praetextatus  im  Westen.  Diese  Er- 
klärung hat  wohl  das  Richtige  getroffen:  seitdem  die  Würde  eines  ßou- 
Xeoxr,;  erblich  war,  erscheint  dur  Sohn  als  Ratsherr  der  Zukunft.  Die 
Einführung  des  Wortes  -arpoßouXoi  erscheint  als  Nachahmung  der  prae- 
textati  und  als  Bruch  der  griechischen  Städte  mit  den  alten  demokra- 
tischen Tendenzen. 

Eine  besondere  Stellung  beanspruchen  die  makedonischen  Militär - 
kolonien;  darüber  handeln: 

183.  G.  Radet,  De  coloniis  a  Macedonibus  in  Asiam  eis  Taurum 
deductis.    Paris  1892. 

184.  A.  Schulten,  Die  makedonischen  Militärkolonien.  Hermes 
XXXn  (1897)  523-537. 


Borichtüb.d  griecb.Staatsaltertüui.f.d.  J.  1SS)3(,1S90)— rJl>2.  iJ.Oehlor.)        \^^ 

Uadet  gibt  n;ich  einer  kinzcii  Einleitung  im  ersten  Teile  eine 
g-eugrapbiscbe  und  historische  Übersicht  über  die  Kolonien  und  be- 
stimmt die  Zahl  derselben,  dann  behandelt  er  sie  nach  den  ver- 
schiedenen Zeiten:  zunächst  die  Kolonien  des  Alexander,  Autigonos 
und  Lysimachüs,  dann  die  der  Seleuciden  und  endlich  die  der  Atta- 
liden.  Im  zweiten  Teile  spricht  er  von  dem  Gründer  der  xaroixia, 
denn  das  ist  der  Name  der  Militärkolonie,  die  sowohl  von  der  olkqiyJ.'j. 
als  von  der  y.Xrjpooyt^  etwas  Unterscheidendes  aufweist:  charakteristisch 
ist,  sie  hat  ihren  Ursprung  in  einer  militärischen  Ausführung.  Aus 
ieui  königlichen  Regiment  in  Asien  erklärt  es  sich,  daß  viele  Kolonien 
Könige  als  ihre  Gründer  verehrten.  Im  tolgenden  Kapitel  wird  die 
Lage  dieser  Militärkolonien  besprochen:  während  die  alten  Kolonien 
der  Griechen  fast  ausschließlich  am  Meere  gelegen  waren,  lagen  die 
makedonischen  meist  im  Binnenlande  an  einer  sehr  besuchten  Straße. 
Bei  der  Auswahl  der  Kolonisten  wurden  Makedouier  vorgezogen,  denen 
sich  Griechen  aller  Stämme  und  ebenso  Barbaren  zugesellten,  so  daß  iu 
den  Kolonien  ein  buntes  Gemisch  sich  fand.  Bei  der  Ansiedelung 
wurdeu  zunächst  ältere  Soldaten,  die  bereits  untauglich  waren,  iu 
Betracht  gezogen;  ihnen  wurden  Ackerlose  zugewiesen.  Dabei  werden 
uuterschiedeu  solche,  die  von  Abgaben  frei  sind,  und  solche,  welche  Ab- 
gaben zu  zahlen  hatten.  Außer  diesen  Vorteilen  hatten  die  Ansiedler 
noch  manche  Ehrenrechte.  Was  die  Stellung  und  das  Recht  der 
Kolonie  anbelangt,  ist  festzuhalten,  daß  die  Makedoner  sich  bestrebtem, 
die  Bewohner  aus  Dorfleuteu  zu  Städtern  zu  macheu.  Einzelne 
Kolonien  besaßen  eine  gewisse  Autonomie,  waren  aber  in  letzter  Linie 
vom  Könige  abhängig.  Bestehen  blieb  die  Verpflichtung  zum  Kriegs- 
dienste; aber  das  festeste  Band  war  die  religiöse  Verehrung,  welche 
nicht  nur  dem  lebenden  Herrscher,  sondern  auch  den  bereits  ver- 
storbeneu erwiesen  wurde:  es  bestanden  daher  zwei  Priester:  einer 
hatte  dem  lebenden,  der  andere  den  bereits  gestorbenen  Herrschern 
die  Opfer  darzubringen.  Schulten  bestimmt  als  Militärkolonieu  solche 
Gemeinden,  die  durch  Deduktion  der  Veteranen  ihr  Gepräge  bekommen 
haben.  Es  waren  halbmilitärische  Gemeinden;  ein  wesentliches  Merkmal 
ist:  sie  waren  zugleich  Festungen.  Die  Veteranenausiedlung  wurde 
bezeichnet  als  xa-oty.oi,  die  Gemeinde  als  -/.oivov  ,  xa-otxia  aber  ist  die 
eigentliche  Bezeichnung  der  makedonischen  Militärkolonie;  synonym 
damit  wird  bisweilen  y.iufxr,  gebraucht.  Die  Attaliden  ließen  die  Söldner 
in  dem  bürgerlichen  Gemeinwesen  aufgehen. 

Mit  den  Priestern  Carieu.?  und  Lydiens  beschäftigt  sich 

1&5.    A.  Heller,    De  Cariae  Lydiaeque  sacerdotibus.    Suppl.  d. 
Jahrb.  f.  Philol.  XVIII  (1891)  215-264. 

Jahresbericht  für  Altertums-wissenschaft.    Bd.  CXXII.    (.1904.    III.)         7 


98        Bericht  üb.d.griech.Staatsalteitüm  f.  d.J.  1893(1890)-  1902.  (J.Oehler.) 

Der  erste  Teil  beliaüdelt  die  Acker:  -irspi'ßoXoc,  TrspnroXiov  und 
ycupa  tepa,  dann  die  Leute,  die  den  Priestern  unterstanden;  darauf  wird 
über  die  familiae  sacerdotum,  über  cumulatio,  continuatio  ?acerdotiorum 
gesprochen.  Wir  erfahren  Genaneres  über  die  Zeremonien  bei  der 
Übernahme  des  Amtes,  über  die  Pflichten,  die  Einkünfte  der  Priester, 
über  die  Art  der  Erlanaung  der  Priestertümer;  aujäführlich  ist  ge- 
sprochen  über  den  Verkauf  der  Priestertümer,  über  die  Art  und  Weise 
des  Verkaufes.  —  Der  zweite  Teil  bebandelt  die  einzelnen  Priester- 
tümer und  Priester  in  den  Städten  Cariens  und  Lydien>. 

Im  folgenden  werden  nach  der  Zeitfolge  die  Spezialschriften  über 
einzelne  Städte  angegeben: 

P  r  i  e  n  e. 

186.  Hicks,    Ancient    Greek  Inscriptions  III  (1890)  S.  52/53. 

187.  Th.  Lenschan,    De    rebus  Prienensiura.    Leipziger  Stud. 
XII  (1890)  110—220. 

Wir  erfahren,  daß  die  Bewohner  in  Bürger  und  Fremde  zerfielen; 
die  letzteren  hiel.Jen  itapor/oi.  Die  Bürger  waren  in  Phylen  eingeteilt, 
deren  eine  die  Pandionis  war.  Wahrscheinlich  ist  Hickb'  Vermutung, 
daß  es  auch  eine  Akamantis  und  Hippothontis  gab,  dagegen  ungewiß, 
ob  an  der  Spitze  der  Phylen  Phylarchen  standen.  Die  volle  Gewalt 
wird  repräsentiert  durch  Rat  und  Volk,  die  auf  Antrag  der  Strategen 
einen  Beschluß  fassen  können.  Die  Zivil'ueamtea  eischeinen  als  Kollegium 
vereint:  ouvapyiai;  die  meisten  Beaujten  w^areu  jührig;  über  Art  und  Zeit 
der  Wahl  ist  nichts  bekannt.  Epouym  war  der  oTS'favTj'fopoc;  von 
Militärbeamten  werden  die  jTpa-TQ-fci  und  TTr7:ap-/ot  erwähnt.  Die  Ver- 
waltung der  öfl'entlichen  Gelder  besoigte  6  £7:1  xrj;  öioixT^jstu;,  dem  die 
oix&v&iJLot  untergeordnet  waren,  die  unter  anderem  die  Auszahlung  der 
Kosten  für  Ehrenbezeugungen  zu  besorgen  hatten.  Der  7pafjL|iaT£uc  be- 
soi'gt  die  Eintraunng  der  öffentlichen  Beschlüsse.  Zu  den  religiösen 
Beamten  gehören  die  upetj,  Izpoizoio':  und  vscoroioi;  der  a-'ojvoils-Tjc  richtet 
die  öffentlichen  Spiele  aus.  Von  besonderem  Interesse  sind  dieSaiTocpu^-axe?, 
welche  die  Aufsicht  über  das  Getreide  fühlten  und  iu  dem  ange^ebeaeu 
Fall  einen  ins  Bürgerrecht  aufnehmen,  da  er  sich  um  die  Getreidever- 
sorgung verdient  gemacht  hatte. 

Ephesos. 

Hicks  gibt  Piolegomena  zu  den  Inschriften  von  Ephesos  (s.  Nr.  186) 
S.  67  f.,  in  denen  die  Verfassung  dargestellt  wird.  Die  Bürixersrhaft 
zertiel  in  6  Phylen:  'Ecpeast;,  SEpaaTv^.  Tr^toi,  Kaprjvaioi,  EucovufJLot, 
Bsixßeivaiof,  Unterabteilung  der  Pliyle  war  die  ytXtauTui,  die  der  (pparpia 
in  Athen  entspricht.    Neben  der  ßouXTi  bestand  auch  eine  ^epoo^ia.     An 


Bcii.  litüb  d. liriecb.Staatsaltcrtüm. f.d. J.1803(1890)— 1902.  (J.Oehler.)       99 

BeamtiMi  ersclieineu  gionaant  a^opavojAoi,  Gxpo^.■:T^■(Qi,  7pafjL[iLaTei;  u.  z.  ßouX^;, 
7epouariac,   or^jxo'j,    t^puravu,  -cajxtai  ttjc  tioXso);,   orxovojxoc. 

In  Vorbereitung:  ist  ein  g-rol.W^s  Werk:   Forscbungen  iu  Ephesus, 
lieraussej?.  v.  Osten-,  arch.  Institute. 

Jasos. 

Hick.«  stellt  a.  d  g-.  St.  S.  65/6  die  Beamten  zusammen:  4  ap/ovrec, 
4   Ta|xiai,   2   ötJTUvojjLoi,   4   auvr^-fopot,   6   tipuravet?. 

Erythrai. 

188.    H.  Gacbler,    Erythrae.      Untersuchungen    über    die    Ge- 
schichte und  die  Verfasjsung'  der  St;i<lt  im  Zeitalter  des  Hellenismus. 
■     Berlin  1892. 

Das  Buch  behandelt  im  ersten  Hauptteil  (S.  1  —  55)  die  politische 
Geschichte,  im  ersten  Kapitel  des  zweiten  Lliuiptteiles  (S.  58 — 112)  die 
Inschritteu  und  im  zweiten  Kapitel  (S.   113 — 123)   die  Verfas-ung  von 
Erythrai    im    3.    und  2.  Jahrh.      Die    Verfassung    von    Erythrai    war 
streui.'  demokratisch:  das  Volk  repräsentierte  die  souverRuo  Staatsi^ewalt. 
Es   versammelte  sich  in  regelmäßigen  und  außerordentlichen  Voiksver- 
saramlungen.     Zu   den    regelmäßigen  gehörten  die  ap•/a^psJ^'at  zur  Wahl 
der  Beamten  und  wohl  auch  die  Gerichtsversammlungen.    Jeden  Antrag 
an  das  Volk  hatte  zuvor  der  Hat  zu  prüfen    und  in  Gemeinschaft  mit 
den    beiden    obersten  Beamtenkollegien,    den  Strategen  und  Exetasteu, 
ein  Gutachten,    -/vcufXY],    darüber  abzugeben.     Zur  Zeit  Kinious  bestand 
die  von  den  Athenern  eingesetzte  ßouXT]  aus  121  Mitgliedern,  die  durch 
das  Los    bestimmt    wuiden    und   über  30  J,ihre  alt  sein  mußten.     Die 
Bürger  zerfielen  in  3   Pliylen,    so  daß  jede   Pliyle  40  Buleuten    stellte. 
Den  Vor.^itz    in    der  ßouÄiQ    führten    die  Tipu-ävetc,    die    vvahrsciieiulich 
4  Monate  jimtierten.    Von  den  Beamten  steiit  obenan  der  tcpoTioioc,  der 
jährig    und    eponym    ist    und    mit  den  anderen  Beamten  sein  Amt  am 
Ersten    des  Mor.ats  'ApT£[j.>at(uv   (ziika  21.  März)    antritt.     Er   hat  die 
Staatsopfer    zu    besorueu  und  die  Gemeinde  den  Göttern  gegenüber  zu 
vertreten.      Die    wichtigsten    politisciien    Funktionen    aber    hatten    die 
27  aTpatTj-jOi,  je  9  aus  eiuer  Phyle;  es  fni!;.üerten  immer  nur  9,  je  3  aus 
einer  Phyle,    duich  4  Monate  (xsTpaiirjvot).     ihnen  obliegt  die  gesamte 
Verwaltung  des  Staates  im  Krieg  und  Prifden,  die  Führung  des  Ober- 
befehls im  Krieiie.     Sie  berufen  die  Volk^vci Sammlung    und  haben  die 
Oberleitung    iu    der  Finanzverwaliung;    sie    sind  rechenschaftspflichtig. 
Neben  den  aTpaTrj^oi  werden  die  elezazxa!.  genannt,  doch  ist  weder  über 
ihre  Zahl  nocM  über  ihre  Amtsdauer  noch  über  ihre  Kompetenz  etwas 
bekannt.     Die  Gleiehsetzung    mit   den  athenischen  Xo7ioTal  und  euöuvot, 
wie    sie  Lamprecht    ausspricht,    i&t    unrichtig;    eher    trifft  Gabler    das 
ßichtitre,  wenn  er  meint,  sie  seien  Unterbeamten  der  Strategen  für  die 
Piuanzverwaltuiig    gewesen.     Tatsächlich    eischeineu    sie    im  4.  Jahrh. 

7* 


1 00     Bericht  üb. f1.  griech.  Staat .^.iltertüm.f. d.  J .  1  ^^93(1 890)- 1902.  {J.  Oohler.) 

als  die  obersten  Finanzbeamten,  während  im  3.  .Tahrh.  die  c-ooLzr^';oL 
immer  mehr  sich  zu  den  höchsten  Beamten  des  Staates  erhoben.  Für 
die  finanzielle  Tätigkeit  der  i^etasTai  scheint  mir  das  Fehleu  eines 
■ra|xtaj  zu  sprechen.  Als  Polizeibeamter  erscheint  der  ayopavojxo; ,  der 
die  Aufsicht  über  den  Markt  führt  und  in  Marktangelegenheiten  Ge- 
richtsbarkeit hat;  er  ist  4  Monate  im  Amte. 

Bezüglich  des  Gerichtswesens  ist  zu  bemerken,  daß  vom  Volke  ein 
Berufsrichter  für  ein  Jahr  erwählt  wurde.  Wenn  auch,  wie  H.  Swoboda, 
N.  phil.  Rundschau  1893,  S.  254  f.  ausführt,  die  Annahme  eines  einzigen 
Richters  für  ein  Jahr,  die  Zuweisung  der  Finanzverwaltang  an  die 
Strategen  nicht  erwiesen  ist,  verdient  die  Arbeit  doch  alle  Anerkennung. 

Thyateira. 

189,     M.  ClerCj    De   rebus  Tbyatirenorura   commentatio  epigra- 
phica.     Diss.     Paris  1893. 

Das  5.  Kapitel  des  Buches  bandelt  de  re  publica  et  magistratibus. 
Die  Einteilung  der  Bürgerschaft  ist  uns  nicht  bekannt,  wohl  aber  ist 
es  wahrscheinlich,  daß  das  Gebiet  von  Thyateira  in  y.(u[j,ai  eingeteilt 
war,  deren  Zahl  wir  aber  nicht  kennen.  Inschriftlich  sind  9pa-piai  er- 
wähnt. Die  Macht  hatte  der  Rat  und  das  Volk.  Über  den  Rat  wissen 
wir  weder  betreffs  der  Wahl  noch  der  Rechte  und  Pflichten  etwas. 
An  der  Spitze  stand  der  ßouXapyo;:  welche  Stellung  der  dvTapytuv,  der 
neben  dem  ßoyXapyoc  erwähnt  wird,  einnahm,  läßt  sich  nicht  bestimmen ; 
Clerc  vermutet,  derselbe  habe  die  Funktionen  eines  Vizevorsitzenden 
des  Rates  gehabt.  Die  Beamten  werden  im  allgemeinen  als  ap/ov-ü  be- 
zeichnet; doch  erscheint  ein  ^rpiuTo?  apycov  als  ertovujior.  In  einigen  In- 
-schriften  wird  der  s-pa-rj-jo;  als  cTriuvujxoi  genannt.  Zu  den  bedeutendsten 
Beamten  gehörten  die3-:£9avrj-.p6pot  undaxpa-rrj-joi,  sie  bildeten  zusammen  eine 
j'jvapy'a.  Beide  Beamteukollegien  hatten  wahrscheinlich  heilige,  aut  die 
Götter  bezügliche  Geschäfte  zu  besorgen.  Über  die  irpuTavst?  ist  unS' 
nichts  Eingehenderes  bekannt;  der  i'ü-apyo;  hatte  wohl  mit  der  Reiterei 
ebensowenig  zu  tun  wie  die  Strategen  mit  dem  Fußvolk.  Erwähnt  wird 
ferner  der  Eirenarch,  der  Aufseher  über  die  öffentliche  Zucht,  der  aber 
nicht  vom  Volke  erwählt,  sondern  vom  Statthalter  ernannt  wurde.  Ein 
ehrenvolles  Amt  war  das  des  7pajx|xa-cü;;  der  a-ooi'/.-r^i  tcüv  -oXiiTixiöv 
^pT)|xa-(uv  entspricht  dem  a-oos'xTri;  in  Athen.  Die  aYopavofiot,  die  bald 
jährig,  bald  halbjährig  waren,  hatten  die  Aufsicht  über  den  Markt  und 
unterstützten  häufig  den  Staat  auf  ihre  Kosten.  Die  ^trüivai  ergänzten 
das  ihnen  vom  Staate  für  den  Getreideeinkauf  zugewiesene  Geld;  eigen- 
tümlich ist  der  -pt-sutr^c,  der  nach  Boeckhs  Ansicht  die  Aufsicht  über 
die  annona  führte,  welche  den  Armen  zugewiesen  und  nach  den  TpiteT; 
verteilt  wurde.  Ein  ordentlicher  Beamter  war  der  YU|xvatjiapyoc.  Neben 
den  c/pyovTs;    gab  es  noch  eine  Reihe    von    Xctroup-yia'. :    die    otvA-ptoxo: 


Bericht  üb.d.griech.Staatsaltertüm.f.d.J.  1893(1890)- 19U2.(J.UehI.M.)     101 

wurden  alle  Jahre  aus  den  Bürgern  auserwählt,  um  die  Eintreibung  der 
Tribute  durchzaführen  und,    wenn  nötig,    mit  ihrem  Gelde  einzutreten. 

Vgl.  0.  Seeck,  Decemprimat  und  Dekaprotie,  Beiträge  zur  alten 
Geschichte  I  (1901)  147  If.  Brandis,  öey.aTcpojToi,  Paulj'-Wissowa  IV' 
2417  f.  E.  Hula,  Dekaprotie  und  Eikosaprotie,  Jahresh.  d.  öst.  arch. 
Instit.  V  (1902)  197—207. 

Freilich  erscheinen  die  Grenzen  zwischen  «p/ai  und  Xettoup-ztat 
allmählich  verwischt:  es  tritt  der  Ausdruck  9'.XoT£t(j.iat  sowohl  für  beide 
als  auch  neben  beiden  ein.  Hula  hat  richtig  erkannt,  daß  die  Inschrift 
Ath.  Mitt.  XXIV  (1889)  232,  71  gleich  ist  GIG  3491. 

Miletos. 

Zu  nennen  ist 

190.     B.  Haussoullier,   Demes  et  Tribus,  Patries  et  Phratries 
de  Milet.     ßev.  de  Philol.  XXI  (1897)  38-49. 

Derselbe,    Une    liste    de    raeteques   milesiens.     P^ev.  de  Philol. 
XXIII  (1899)  80-87. 

Derselbe,    Etudes    sur    Thistoire    de    Milet    et    du    Didymeion. 
Paris  1902.     XXXII  u.  323  S. 

H.  zählt  die  erhaltenen  Phylen-,  Demen-,  Patrie-  und  Phratrie- 
uameii  auf:  Phj'len  Oivr/i?,  Ilavottovi;,  'Ay.afxavTi?,  'Aau>-i;;  Demen 
'Ap/acTii;,  KaTa-oMTtoi,  Asp'.O'.,  FlXaTatsTc,  Tstyisossi?;  Patrien  NetXsiöat, 
'ExaiTocoai;  Phratrien  neXa-i'ojvioa'.,  Ta-a3i3ai.  Die  Bezeichnung  des 
Bürgers  geschieht  in  einigen  Fällen  mit  oq]xoo  .  .,  Tiairpia?  .  .,  «ppr^tpa?. 
In  einer  Inschrift  der  Xaiserzeit  werden  12  Phylen  genannt;  H.  ver- 
mutet, die  Bürgerschaft  sei  im  V.  Jahrh.  v.  Chr.  in  sechs  Phylen  ein- 
geteilt gewesen  wie  in  Kyzikos,  die  Zahl  sei  in  der  Kaiserzeit  ver- 
doppelt worden.  Von  den  erhaltenen  Phylennamen  sind  drei  athenisch, 
der  vierte.  'AuwTct'?,  ist  böotiscb.  Die  Organisation  der  Demen  ent- 
lehnten die  Milesier  den  Athenern.  Eine  -a-pia  ist  genannt  nach  dem 
Gründer  Xeileus:  neben  den  Ey.atTaoat  können  auch  die  07]Xioat  als 
Patria  angesehen  werden. 

Eine  von  Haussoullier  Rev.  XXIII  publizierte  Inschrift  weist  für 
ililetos  das  Bestehen  von  Metökeu  nach;  dieselbe  zeigt  auch,  daß  das 
Gesetz  in  Miletos  nur  die  Ehe  zwischen  einem  Bürger  und  einer 
Bürgerin,  nicht  aber  zwischen  einem  Bürger  und  einer  Ausländerin 
kennt  und  daß  die  [i.r^-p6lzw.  und  alle  voBoi  den  Piang  von  Metökeu 
hatten  und  in  ihre  Listen  eingetragen  wurden.  Listen  der  Metöken 
gab  es  in  Athen  und  in  Pergamon:  Fränkel,  Nr.  249. 

In  der  Geschichte  Milets  wird  über  die  Tsr/o-otoi  gehandelt:  sie 
hatten  ihre  eigene  Kasse  und  einen  -rajjiiac,  der  einen  Monat  im  Amte  war. 


102     Berichtüb.d  griech.Staatsaltertnra.f.d  J.  1893;i890)-I902.  (J.  Oohler.) 

Zu  erwähnen  sind  die  Inschriftp'.iblikationen  von  Perg-amon, 
Magnesia  am  Maiandros,  Hierapolis.  Ilium,  die,  znm  Teile  mit  treiflichea 
Indices  aus;»estattet,  eine  Übersicht  über  die  Verfassung  der  Städte  geben. 

Lykien. 

191.     (t.  Pougöres,    De  Lyciovum  communi  (Auy.-'wv  -o  y.oivov). 
Paris   1898. 

Der  Verfa;?ser  behandelt  unter  Benutzung  der  einschlägigen  Lite- 
ratur die  Einrichtungen  des  lykischen  Bundes  zunächst  bis  zum  Jahre 
43  n,  Chr.  Bereits  im  V.  Jahrb.  v.  Chr.  sei  auf  Grund  des  geraein- 
samen Kultes  eine  Gemeinschaft  der  lykischen  Stämme  entstanden,  ver- 
gleichbar der  Araphiktyouie  der  Griechen;  doch  konnte  ein  xotvov  erst 
nach  der  Vertreibung  der  Dynasten  gebildet  werden.  Die  Entstehung 
des  xoivov  setzt  F.  in  die  Zeit  zwischen  276  und  204  v.  Chr.  Dann 
von  169  bis  81  v.  Chr.  war  Lykien  eine  civitas  foederata,  nach  81  aber 
eine  libera,  amica  sociaque  civitas.  Das  xotvov  bestand  aus  23  ver- 
bündeten Städten,  deren  Stimmrecht  abgestuft  war:  6  Städte  hatten  je 
3,  8  je  2,  9  je  1  Stimme,  so  daß  im  ganzen  43  Stimmen  waren. 

Das  y.oivov  (juveöpiov  hatte  die  Wahl  der  Beamten  und  Richter 
sowie  die  Entscheidung  über  Krie^;  und  Frieden.  Dazu  versammelten 
sich  nur  die  aus  den  einzelnen  Städten  dafür  gewählten  Bürger,  und 
zwar  an  einem  wechselnden  Orte,  da  das  xoivov  keine  Hauptstadt  hatte. 
Doch  waren  als  Versammlungsorte  nur  die  reichsten  Städte  geeignet, 
die  ein  passendes  Heiligtum,  ein  Theater  und  Stadion  hatten;  sie  werden 
als  fjLYjtpoiToXeu  bezeichnet.  Das  cuvsSpiov  wurde  für  ein  Jahr  bestellt; 
wie  oft  es  im  Jahre  zusammentrat,  ist  nicht  zu  bestimmen.  Die  y.oivoi 
oder  Eilvr/.oi  apyovTs;  sind  1.  Der  Lykiarches,  der  oberste  Beamte  in 
allen  öffentlichen  Angelegenheiten,  auch  der  Feldherr  im  Kriege,  neben 
dem  auch  gtp'xti]-;o(  erwähnt  werden.  Der  Lykiarches  wurde  auf  ein 
Jahr  gewählt.  2.  Der  Hipparchos,  neben  deni  ein  Hypohipparchos  er- 
scheint. 3.  Der  Nauarchos,  da  die  Flotte  zum  Schutze  gegen  die  See- 
räuber eine  große  Bedeutung  hatte.  4.  Außerdem  wird  erwähnt  ein 
ap-/tcpuX7.$  und  ein  ujio^uXaE  too  l'övou;,  ein  Ypaixiia-ceuc  xou  sövouc  und 
ein  T«|xiaf  Toü  xoivoü.  In  den  einzelnen  Städten  waren  voixoYpacoi  zur 
Vorbereitung  und  Aufzeichnung  der  Gesetze.  Jährlicli  wählte  das 
ouv£§piov  auch  die  gemeinsamen  Geiichtshöfe.  Als  -aTpwot  fleoi  wurde 
Apollo  Lykios,  Latona  und  Artemis  verehrt;  der  älteste  Tempel  war 
das  Letoon  bei  Xanthos,  wo  anch  eine  eövtxfj  TtavT^-^upic  gef-üert  wurde. 
Seit  alter  Zeit  bestanden  cuixTroXiTcTa'.,  indem  kleinere  Orte,  x^ixai,  mit 
einer  hervorragenden  Stadt  eine  Gemeinscliaft  bildeten;  appendix  II 
S.  149  enthält  einen  sujxTroXiTetcDv  catalogns.  Neben  den  aufj-iroXiTsiat  be- 
standen noch  auvTEXeia».    zur  gemeinsamen  Münzprägung,    die  nach  dem. 


Bericht  iib.d.griech.Staatsaltertüm.f;d.  J.  1893(1800)— 1002.  (J.Oehler.)     103 

rhodischen  Fuße  erfolgte.  Die  Zwistigkeiten,  die  zwischen  deu  Städten 
ausbrachen,  führten  ira  Jahre  43  n.  Chr.  dazu,  daß  ihnen  Kaiser  Claudius 
die  Freiheit  nahm,  womit  das  freie  xoivov  aufhörte.  Der  zweite  Teil 
behandelt  das  provinciale  Lyciorum  commune.  Das  y.oivov  behielt  nur 
die  äußere  Form  ohne  die  alte  Bedeutung,  das  juvsöptov  wurde  i^u  einem 
heiligen  Kollegium  besonders  zum  Kulte  des  römischen  Kaisers  und 
der  Göttin  Roma.  Es  bestaud  eine  xotv?)  ßo-jXr,,  auch  IvvojjLOi  ßouXi^  oder 
y.oivoßouXiov  genannt,  deren  Mitglieder  ßouXsuxat  hießen  und  zu  regel- 
mäßigen Versammlungen  zusammentraten;  sie  hatten  ::po3ouXeu[i.aTa  ab- 
zufassen, die  sich  vor  allem  auf  ^Ehrenbezeugungen  bezogen.  An  die 
Stelle  des  alten  auveSptov  trat  die  ly.Y.\-r]~ioL,  zn  der  auch  apyocj-atai  ge- 
hörten, über  deien  sonstige  Znsammensetzung  aber  nichts  bekannt  ist. 
Die  Kompetenz  war  gering,  betraf  vor  allem  Ehrenbezeugungen,  Ord* 
jiung  der  religiösen  Dinge  sowie  finanzielle  Angelegenheiten.  Jeder 
Beschluß  mußte  vom  Statthalter  sanktioniert  werden.  Es  finden  dann 
die  einzelnen  Beamten  Besprechung,  wobei  Fougeres  mit  Nachdruck 
dafür  eintritt,  daß  der  Lykiarches  zu  unterscheiden  sei  von  dem  ap-/iepeuj 
Tulv  Ssßaa-dv.  Vgl.  Treuber,  BphW  1899,  74—79,  der  einzelne  Ein- 
wendungen erhebt.  Auszüge  aus  den  lykischen  Bundesprotokollen  teilt 
E.  Kaiinka,  Eranos  Viudob.  S.  83-92  mit. 


YIII.   Amphiktyonien  und  Bünde,  Mutterstadt  uud  Kolonie. 

Hier  möge  Erwähnung  finden: 

191a.  *H.  Franc otte,  Formation  des  villes,  des  etats,  des 
confederations  et  des  ligues  dans  la  Giece  ancienne.  Sonderabdruck 
aus  den  Bulletins  de  TAcaderaie  Royale  de  Belgique,  Classe  des 
lettres  etc.  1901  Nr.  9.  10.     Paris  1901. 

Ref.  kennt  das  Buch  nur  durch  die  Rezension  Lenschaus  BphW 
1902,  850  f.,  der  es  als  einen  Versuch  bezeichnet,  ein  wichtiges  Ka- 
pitel des  griechischen  Staatsrechtes,  nämlich  die  Bildung  von  Staaten 
und  Bünden,  für  sich  im  Zitsammenhang  zu  behandeln:  Unter  Bei- 
bringung reichen  Materiales  werden  die  Formen  der  Staatenvereini- 
gungen: Synoikismos,  Perioikismos,  Konföderation  uud  Liga  scharf  ge- 
trennt und  deutlich  charakterisiert.  Die  wichtigste  Form,  der  Synoi- 
kismos, findet  ira  ersten  Teile  Behandlaug.  Es  sind  zwei  Hauptmerk- 
male hervorgehoben:  1.  Er  ist  die  politische  Vereinigung  vorher 
getrennter  Gemeinwesen,  die  ihre  staatliche  Selbständigkeit  verlieren 
uud  nur  lokale  Bedeutung  behalten;  2.  es  wird  eine  Einheit  des  Bürger- 
rechtes geschaffen.  Dabei  werden  auch  Probleme  der  altgriechischen 
und    speziell  altattischen  Geschichte  behandelt:    bei  der  ürbesiedelung 


104     Bericlitüb. (l.giiocli.Staatsaltertüm. f. d.J.  1893^1890)-  1902.  (J.  Oehler.) 

waren,  wie  Fr.  iumimmt,  die  griechischen  Stämme  noch  durchaus  gen- 
tilizisch  in  Phratrien  und  Denien  gfeg'liedert.  Diese  g^entilizischen  Ver- 
bände waren  nach  Lenschaus  richtiger  Bemerkung  während  der  Periode 
des  Gemeineigentums  unzweifelhaft  lokal,  wurden  mit  der  Entwickelung 
des  Privateigentums  gelockert,  und  an  ihre  Stelle  trat  der  Demos  als 
lokaler  Gauveiband.  Die  Demen  bilden  die  Elemente  der  ältesten  Sy- 
noikismen. 

Im  zweiten  Teile  versucht  Fr.  mit  Glück  eine  scharfe,  staats- 
rechtliche Scheidung  zwischen  Konföderation  (achäischer,  aitolischer 
Bund)  und  Liga  (peloponnesischer  Bund,  delisch-attischer  Seebund);  er 
legt  auch  sehr  geschickt  die  Gründe  dar,  die  im  zweiten  Falle  fast  not- 
wendig zur  Hegemonie  des  Vorortes  führen  mußten.  Das  Hauptver- 
dienst der  Schrift  wird  in  der  scharfen  Begriffsbestimmung  gefunden. 

Über  die  Amphiktyonien  handelt  Schömann-Lipsius  11^  S.  29  f.; 
dazu  ist  zu  erwähnen: 

192.  F.  Cauer,    Amphikty^onia,    Pauly-Wissowa  I  1904—1935. 

Eine  Definition  gibt  Szanto,  Die  griechischen  Phyleu  S.  40:  „Die 
Vereinigung  mehrerer  Staaten  oder  Städte  zum  Zweck  der  Besorgung 
des  Dienstes  in  einem  gemeinsamen  Heiligtume  heißt  Araphiktyonie.* 
Bei  den.  Zusammenkünften  kamen  auch  andere  Angelegenheiten  zur 
Sprache,  so  erhielten  manche  Amphiktyonien  auch  politische  Bedeutung. 
Cauer  zählt  folgende  auf:  1.  Die  A.  von  Argos;  2.  die  von  Onchestos; 
3.  die  von  Kalauria;  4.  die  von  Korinth;  5.  die  delische  und  0.  die 
pyläisch-delphische.    Über  die  A.  von  Kalauria  ist  zu  vergleichen: 

193.  V.  Wilamovvitz-Moellendorf,  Nachr.  d.  Ges.  d.  Wiss. 
zu  Giittingen   1896,  S.  2, 

der  erklärt:  ,,Die  Ausgrabungen  rechtfertigen  die  Annahme  einer  alter., 
politisch  bedeutenden  Amphiktyonie  nicht."   — 

fber  die  delphische  Amphiktyonie  sind  außer  der  klaren,  über- 
sichtlichen Darstellung-  Cauers  zu  nennen: 

194.  H.  Pomtow,  Fasti  Delphici  II.  Neue  Jahrb.  f.  klass. 
Philol.  149  (1894),  497—558;  657—704;  825-842;  ebenda  155 
(1897)  737—765;  785—848,  der  752  f.  Listen  verschiedener  Jahre 
gibt. 

195.  W.  Dittenbcrger,  Die  delphische  Amphiktyonie  im  .lahi*,- 
178  V.  Chr.  Hermes  XXXII  (1897)  161  —  190. 

196.  B.  Keil,  Zur  Verwertung  der  delphischen  ßechnungs- 
Urkunden,  Hermes  XXXII  (1897)  399-420. 

197.  A.  Nikitsky,  Chios  in  der  delphischen  Amphiktyonie, 
Athen.  Mitt.  XIX  (1894)  194—202. 


Bericht  üb.  d.griech  Staatsaltertüm  f.d.  J.  1803(1890)  — 1902.  (J.Oehler.)     Jij.^y 

Von  besonderem  Interesse  ist  es.  die  Zusammensetzung  des  am- 
phiktyonischen  S3'nedrions  vor  und  nach  der  aitolischen  Suprematie 
können  zu  lernen.  Jeder  der  12  Stämme  führte  zwei  Stimmen;  von 
diesen  12  Doppelstimmen  sind  drei  von  alters  her  gespalten:  die  der 
Dorier,  lonier  und  Lokrer.  Im  Jahre  346  wurden  die  zwei  Stimmen 
der  Piioker  auf  den  König  der  Makedonen  und  seine  iNachkommen 
übertragen;  später  wurde  das  Stimmrecht  der  ozolischen  Lokrer  zu- 
gunsten der  Aitoler  suspendiert. 

Über  die  Aitoler  selbst  sagt  Pomtow  S.  747:  „Die  Aitoler  als 
Stamm  haben  überhaupt  niemals  zur  Amphiktyonie  gehört,  niemals, 
weder  vorher  noch  nachher,  ein  amphiktyonisches  Stimmrecht  besessen, 
sondern  ein  solches  nur  auf  dem  Umwege  durch  die  Hieronraemonen 
ihrer  am  Synedrion  teilnehmenden  Bundesangehörigen  ausüben  können. 
Diese  Bundesangehörigen  nun  werden  als  AkuiXoi  bezeichnet."  Weiter 
wuiden  die  Phoker  wegen  ihrer  tapferen  Taten  gegen  Brennus  und  die 
Galater  wieder  aufgenommen  und  erhielten  278  v.  Chr.  die  zwei  Stimmen 
des  jVIakedonenkönigs.  Im  Jahre  275  wurde  die  malische  Doppelstimme 
gespalten,  die  zweite  aitolische  Stimme  gebildet  durch  die  Stimme  der 
Dorier  aus  der  Metropolis.  Wenn  die  Aitoler  5  Stimmen  haben,  so  er- 
klärt es  sich  daraus,  daß  zu  den  angegebenen  zwei  Halbstimmen  noch 
die    zwei    der  Ainianen  uud  die  eine  opnntisch-lokrische  hinzukommen. 

Über  die  Kompetenz  geben  die  von  den  Franzosen  gefundenen 
Inschriften  Aufschluß:  eine  erschöpfende  Darstellung  wird  erst  nach  der 
Veröffentlichung  aller  Inschriften  möglich  sein. 

Nikitsky  meint,  die  Chier  hätten  nicht  bloß  in  aitolischer  Periode 
als  Quasi-Aitoler,  sondern  auch  sonst  der  Amphiktyonie  angehört  und 
es  hätte  zwischen  Chios  und  anderen  ionischen  Inseln  bei  der  Re- 
präsentation der  zweiten  ionischen  Stimme  eine  Abwechselung  in  der 
Reihenfolge  geherrscht. 

Außer  den  Amphiktj^oneu  gab  es  noch  andere  Vereine  von  Staaten 
und  Städten,  die  Schömann  als  landschaftliche  Staateuvei'eine  bezeichnet, 
die  wir  aber  unter  dem  Namen  der  xoiva  zusammenfassen.  Darüber 
bietet  das  Notwendige: 

198.     G.  Fougeres,    xo'.vov,    Daremberg  et  Saglio,    Dictiou.  V 
(1899)  832-851. 

Er  erklärt  S.  834  das  xoivov  als  eine  Kombination  der  Amphik- 
tyonie, der  bympolitie  und  der  Symmachie.  Das  xo-.vov  behält  die  au-o- 
TToXi-Eia,  die  lokale  Selbständigkeit,  bei,  darüber  aber  ordnet  sich  die 
xoivojroAtT£i7. ,  das  Recht  des  Staatenbundes.  Daher  wurde  auch  ein 
Bundesbürgerrecüt  geschaffen.  Das  xoivov  übt  seine  Souveränität  in  den 
Bundesversammlungen:    die    beiden  Faktoren  sind  die  sxxXYjsia  und  die 


1 06     Bericht  üb.  d.  griecli  Staat-altertüm. f.  d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.  Oehler.) 

ßouXrj  oder  das  auvsSptov.  Das  Verhältuis  zwischen  dem  xoivov  und  der 
einzelnen  Stadt  wird  durch  eine  Spezialkonvention,  eine  6jj.oXo7ia,  ge- 
regelt. Es  werden  dann  3  Perioden  unterschieden  in  der  Geschichte  der 
xotva,  die  einzelnen  xoiva  aufgezählt  und  besprochen.  Im  folifendeo  8oll 
zu  den  einzelnen  Bünden  die  letzte  Literatur  anjjeg'eben  werden. 


Der  athenische  Seebiind. 

Über  diesen  handeln  außer  anderen: 

199.  J.  Zingerle,  Zur  Geschichte  des  zweiten  athenischen 
Bundes.     Eranos  Vindobonensis  S.  359 — 371. 

200.  H.  Swoboda,  Der  hellenische  Bund  des  Jahres  371  v.  Chr. 
Rhein.  Mus.  XLIX  (1894)  S.  321—352. 

201.  J.  Lipsius,  Beiträge  zur  Geschichte  griechischer  Bundes- 
verfassungen. I.  Der  athenische  Seebund.  Verh.  d.  kön.  iächs.  Ges. 
d.  Wiss.  zu  Leipzig  L  (1898)  S.  145-160. 

Z.  meint,  die  Neuorganisation  des  Bundes  im  Jahre  377  bedeute 
<;ine  Stärkung  der  Befugnisse  der  einzelnen  Bundesstaaten  auf  Kosten 
Athens;  sie  sei  erfolgt  durch  die  Rücksicht  auf  Theben,  um  diesem  den 
Beitritt  zu  erleichtern.  Die  einzelnen  Staaten  seien  wie  früher  durch 
Sondervertrag  an  Athen  gebunden,  hätten  aber  einen  doppelten  Eid  zu 
leisten  gehabt,  einen  an  Athen,  einen  an  das  auvsopiov. 

Sw.  gibt  eine  Übersicht  über  die  früheren  Aufstellungen  und  stellt 
den  Vorgang  bei  der  Aufnahme  neuer  Mitglieder  folgendermaßen  dar: 
die  Einleitung  bildete  ein  Sondervertrag  zwischen  Athen  und  dem  be- 
treffenden Staate,  wobei  auch  auf  den  Bund  Rücksicht  genommen  wurde. 
Das  Synedrion  des  Bundes  gab  bei  der  Aufnahme  sein  Votum  ab  und 
eist  nach  dem  zustimmenden  Beschluß  des  Synedrions  wurde  der  Sonder- 
vertrag dem  attischen  Demos  zur  Genehmigung  vorgelegt;  die  Auf- 
nahme selbst  erfolgte  durch  die  Aufschreibung  auf  die  gemeinsame  Stele 
und  durcli  die  gegenseitige  Eidesleistung:  das  neue  Mitglied  hatte  nur 
dem  athenischen  Volke  den  Eid  zu  leisten.  Von  einer  Bundeskonstitution 
im  eigentlichen  Sinne  kann  nicht  die  Rede  sein,  das  Bundesrecht  hat 
sich  aus  den  geschichtlichen  Verbältnissen  heraus  entwickelt.  Die  Ver- 
fassung des  Bundes  stellt  sich  als  Kompromiß  dar  zwischen  unverein- 
baren Elementen,  da  sie  eine  Epimachie,  die  ihrem  Begiiffe  nach  nur 
zwischen  gleichberechtigten  Staaten  abgeschlossen  werden  kann,  und 
Folgeleistung  den  Beschlüssen  des  Vorortes  und  des  Synedrions  gegen- 
über enthält.  Athen  hatte  keinen  Vertreter  im  Bundesrate,  konnte  daher 
nie  überstimmt  werden;  gerade  in  dem  Mangel  der  Teilnahme  am  Sy- 
nedrion   lag  Athens  Stärke.     Dem  Synedrion    ging  jede  Exekutive  ab; 


BerJcl.tüb  d  griecli.Staatsaltertüra.f..L J.lS93(lS90)-100-2.(J.OohIer.)      107 

die  Exekutive  des  Bnnles  his;  in  den  Händen  des  Vorortes,  de?  athe- 
nischen Demos.  So  konnte  Athon  dnicl»  kein  learales  Mittel  znr  Unter- 
ovdnunsj  unter  den  Willen  des  Bniides  g^ezvvnne^en  wei'den,  jeder  der 
Bnndesstaatt^n  dagegen  hatte  bei  Außerachtlassun?  seiner  Pflicht  die 
gesamte  Macht  Athens  und  des  Bundes  «e^'en  sich.  Das  Synedrion 
seihst  hatte  in  BnndesanereleL'enheiteri  eine  mit  dem  athenisclien  Rate 
konknrrierende,  mit  ihm  gleichai  tigfp  Kompetenz,  doch  mnßte  das  Gnt- 
achten  des  Synedrions  dnreh  den  Rat  an  die  Ekkle-^ie  ^ehen,  welche 
die  letzte  EntscheiduDe  hatte.  —  L.  führt  aus:  eine  eigentliche  Bandes- 
akte hat  nie  bestanden,  deren  Existenz  ist  vielmehr  ansgeschlosscn, 
doch  mußten  mit  den  Staaten  die  Grnndlasreu  des  Bundes  und  die  Er- 
richtung eines  Synedrions  vereinbart  worden  sein.  Als  feststehend  darf 
gelten,  daß  Athen  im  Sjaiedrion  nicht  vertreten  war,  der  Voroit  stand 
also  neben  dem  Bunde;  diese  Nebeuordnnng  des  Vorortes  mnßte  not- 
wendig zur  Überordnun«-  desselben  führen.  Die  Anfnahme  neuer  Mit- 
glieder des  Bundes  war  leiijjlich  in  das  Ermessen  »ies  Vorortes  gestellt. 
Die  BnndesmitglieJer  mußten  sich  verpflichten,  ohne  Athen  und  das 
-X7j9o;  TÜ)v  aujxixdywv  weder  Krieg  zu  führen  noch  Frieden  zu  schließen. 
Die  Meinung,  es  sei  bei  der  Eirichtuug  des  Bundes  auch  ein  Bundes 
gericht  eingesetzt  worden,  in  dem  neben  dem  attischen  Demos  auch  das 
Synedrion  vertreten  gewesen  sei  und  eine  entscheidende  Stimme  geführt 
habe,  ist  unrichtig:  die  gerichtliche  Verfolgun'^  wurde  den  Bundes- 
genossen nur  gegen  diejenigen  übertragen,  die  sich  in  ihrem  Gebiete 
aufhielten.  Dem  Synedrion  stand  nur  eine  richterliche  Befugnis  zu; 
diese  sollte  die  Erfüllung  der  von  Athen  übernommeneu  Veipflichtun?, 
keinei'lei  staatlichen  oder  privaten  Grandbesitz  im  Bundesgebiete  zu 
erwerben,  gewährleisten.  Daher  hatte  das  Synedrion  das  Recht,  An- 
zeigen wegen  Übertretung  dieses  Verbotes  entgegenzunehmen  und  das 
widerrechtlich  erworbene  Besitztum  zu  verkaufen.  Ein  Gerichtszwang 
im  weiteren  Sinne  wurde  den  Bundesstaaten  im  zweiten  Bunde  nicht 
auferlegt;  irrig  wurde  er  aus  ein  paar  Äußerungen  des  Isokrates  ge- 
folgert, die  sich  jedoch  nicht  auf  den  zweiten  Bund,  sondern  auf  den 
ersten  beziehen. 

Achäischer  Bund. 

H.  Swoboda,    Die  griechischen  Volksbeschlüsse  255.     E.  Szanto, 
Das  griechische  Bürgerrecht  S.  111  f.    Schoemann-Lipsius  II*  123 — 132. 

202.     Brandis,  Achaia,  Pauiy-Wissowa  I  156— 198,  Verfassung 
8.  166—169. 

Der    achaische  Bund    erscheint  als  ein  Achaierstaat  nach  außen, 
r.ach  innen  gab  es  gemeinsame  Freiheit  und  gleiche  Berechtigung.    Nach 


108     Bericbtüb.d  griech  Staatsaltertöm.f.d.  J.  1893(1890)— 1902.  (J.Oehler.) 

Szanto  war  der  Bund  im  staatsrechtlichen  Sinne  eine  Sj'mpolitie,  daher 
ging  Rat  und  Volksversammlung-  des  Bundes  aus  dem  Gesamtstaat 
hervor,  die  Bürger  erschienen  persönlich;  jeder  Bürger,  der  30  Jahre 
alt  war,  hatte  Zutritt,  konnte  vorschlagen  und  reden,  aber  nur  zu  den 
Gegenständen,  die  auf  der  Tagesordnung  standen.  Die  Volksversamm- 
lung hatte  die  Entscheidung  über  Krieg  und  frieden,  Aufnahme  in  den 
Bund,  Unterhandlungen,  Erteilung  von  Ehren,  Wahl  des  Bundes- 
beamten, die  Bestrafung  der  Vergehen  des  Eundesbeamten.  Die 
Vorberatuug  traf  ein  ständiger  Ausschuß,  die  ßouXiQ.  An  der  Spitze 
des  Bundes  stand  der  c-rpa-rfpc,  der  mit  einem  Hipparchos  und  einem 
Nauarchos  das  vom  Bunde  aufgestellte  Heer  befehligte  und  die  Ober- 
leitung des  Krieges  hatte.  Als  oberster  Beamter  des  Bundes  war  er 
der  offizielle  Leiter  der  Bundespolitik,  berief  im  Verein  mit  den  dq- 
Ij.ioup7oi  die  Bundesversammlungen  und  führte  deren  Beschlüsse  au^. 

203.  J.  Lipsius,  Beiträge  zur  Geschichte  griechischer  Bundes- 
verfassungen. II.  Der  achäische  Bund.  V^erh.  d.  köc.  sächs.  Ges 
d.  Wiss.  zu  Leipzig  L  (1898)  160  f. 

Der  Verf.  spricht  über  die  Zusammensetzung  und  Zuständigkeit 
der  Bundesversammlungen  und  über  die  Existenz  eines  Bnndesiates 
Zu  den  di'ei  regelmäßigen  Tagsatzungen  (den  v.abf^xoüsat  auvoSoi)  und 
den  Amtswahlen  (ö.pyaipzzion)  des  Jahres  treten  noch  außerordentliche 
(cju^xXrjTO'.),  die  sich  mit  gesetzlich  bestimmten  Dingen  zu  befassen  hatten. 
Gegen  Gilbert  und  Busolt  sieht  L.  in  der  [iouXr^  eine  repräsentative 
Körperschaft,  deren  Mitglieder  verpflichtet  waren,  sich  bei  den  regel- 
mäßigen cuvoooi  einzufinden;  die  große  Menge  der  stimmberechtigten 
Bürger  dagegen  fanden  sich  wegen  der  zeitraubenden  Reise  nur  ein. 
wenn  wichtige  Gegenstände  auf  der  Tagesordnung  standen.  Da  aber 
bei  den  Bundesversammlungen  nicht  nach  Köpfen,  sondern  nach  Städten 
abgestimmt  wurde,  war  es  notwendig,  für  die  Vertretung  aller  Städte 
zu  sorgen,  was  durch  die  ßouXrj  geschah;  doch  wuide  der  Bundesrat 
nicht  durch  das  Zusammentreten  der  pouXai  der  einzelnen  Städte  ge- 
bildet, war  auch  nicht  ständig,  sondern  trat  nur  im  Bedürfnisfalle  zu- 
sammen. 

Der  Aitolische  Bund. 

Swoboda  S.  256/7;    Szanto  S.  81;  Schoemann-Lipsius  117 — 122. 

204.  Wilcken,  Aitolia,  Pauly-Wissowa  I  1113—1127;  Bundes- 
verfassung Sp.   1118-1121. 

205.  -H.    Gillischewski,    De    Aetolonim    praetoribus    intra. 
aunos  221  et  168  a.  Chr.  n.  muneie  funetis.    Berlin  1896. 


Bericht  üb.  d.  griech.  Staatsaltertüm  f.  d.  J.  1 893(1890)  - 1902.  (J.  Dehler.)     100 

In  dem  aitolischen  Bunde  bestand  eine  freie  Zentralgewalt,  die 
in  den  Btmdesbeamten.  dem  Bundesrat  und  in  der  Bundesversammlung 
ihren  Ausilruck  fand.  Die  Bundesverfassung  war  im  Grunde  durchaus 
deffiokratiscb,  alle  Bundesaugehörigen  hatten  dasselbe  Recht.  Die 
Bundesbeamten  wurden  alljährlich  von  der  Bundesversammlung  gewählt. 
Der  erste  Bundesbeamte  war  der  axpataYoc,  der  als  Bundespräsident 
sowohl  das  Kommando  über  die  Truppen  führte  als  auch  als  der  höchste 
Zivilbeamte  den  Bundesrat  und  die  Bundesversammlung  einzuberufen 
hatte  und  in  den  Yersamnilungen  den  Vorsitz  führte.  Neben  dem 
sTpaTaYOi  erscheint  der  irirap-za^  und  wohl  auch  ein  vaüotpyo;.  Der 
Bundesrat,  juviopiov,  ßouXrj,  erscheint  als  Vertretung  der  Bundesgemeinden, 
die  nach  der  Größe  eine  größere  oder  geringere  Zahl  ßouXcOxat  entsenden. 
Die  Verhandlungen  wurden  geleitet  durch  zwei  -poozd-ai.  Der  eigent- 
liche Souverän  des  Bundes  war  die  Gesamtheit  der  Aitoler:  AixtuXoi 
hießen  alle  Stämme  zur  Zeit  ihrer  Bundeszugehörigkeit;  von  ihnen 
werden  unterschieden  ol  iv  AirtoXia  xaxoixsovxe«. 

Akarnanen. 
Swoboda  S.  257;  Schoemann-Lipsius  II*  80/1. 

206.  W.  Judeich,  Akarnanien,  Pauly-Wissowa  I  1150 — 1157; 
Verfassung  1156  f. 

Die  Akarnanen  bildeten  einen  sehr  lose  zusammengefügten 
Bundesstaat.  Die  Bevölkerung  gliederte  sich  in  10  bis  12  Gaue  mit 
je  einem  befestigten  städtischen  Mittelpunkt;  die  einzelnen  Gaue  stellten 
ihre  Kontingente  zum  Bundesheere  unter  eigenen  itpa-rjot,  deren  einer 
wahrscheinlich  dann  das  Oberkommando  luhi'te.  Seit  dem  4.  Jahrh. 
erscheint  ein  xotvöv  xuiv  'Axapvavojv,  eine  Art  Bundesrat.  Seit  230  v.  Chr. 
bestand  ein  jüngerer  Bund. 

Arkader. 
Swoboda  S.  261;  Schoemann-Lipsius  IP  88  f. 

207.  B.  Kiese,    Beiträge    zur  Geschichte    Arkadiens.     Hermes 
XXXIV  (1899)  520  f. 

208.  Hiller  v.  Gaertringcu,    Arkadia,    Pauly-Wissowa    II 
1120—1137. 

209.  *P.  Herthum,    De    Megaiopolitarum    rebus    gestis    et  de 
conniiuni  Arcadum  republica.     Commeniationes  Jenenses  V.  1894. 

Boiotia. 
Swoboda  8.  263—266 ;  Szauto  S.  157/8;  Schoemann-Lipsius  11^  84  f. 
21U.     F.  Cauer,    Boiotia,    Pauly-Wissowa  III  637—663.     Vgl. 
Bull.  heil.  XVI  (1892)  456  f. 


110     Bericht  üb.d.griech.Staatsaltortüm  f  d.J  1893(1890) -1902.  (J.Oehler.) 

Euboia 

Bull.  hell.  XVI  (1892)  97;  101. 

Die  Existenz  eines  xoivov  xojv  EuJ^oie'tuv  in  der  Zeit  von  196 — 146 
V.  Chr.  ist  aus  Livius  bekannt;  es  wird  eine  ßouXi^  und  ix/Xr^aia  erwähnt. 
"Vielleicht  ist  der  in  einer  Inschrift  von  Chalkis  erwähnte  TjYeixoiv  der 
eponyme  Beamte  des  Euboeischei\  Biuide?. 

Ilischer  Bund 
Die  Inschriften  dieses  Bundes  sind  jetzt  zusamniei;f*-e  teilt  in  dem 
Buche  von 

Dörpfeld,  Troja  und  Ilion.    Athen  1902,  II  S.  462  f.,  Nr.  2—13. 

Koivöv    Tüiv    lüJVtUV. 

Swobo.ia  S.  276;  277. 

211.  U.  Köhler,    Das    asiatische    Eeich    des    Antii^onos,    Ber. 
Berl.  Akad.  1898,  824—843. 

Korinthischer  Bund. 

212.  J.  Kaerst.  Der  korinthiscbe  Büud   ßhein.  Mus.  LH  (1897) 
519—556. 

213.  U.  Köhler,    Die  Eroberung  Asiens    durch  Alesander  den 
Großen  und  der  korintbische  Bund,  Ber.  Berl.  Akad   1h98,   120 — 134. 

Kaerst  erkläit:  Dei-  korinthische  Bund  wai-  ein  xoivov  tiöv  'EXXy^vtov 
oüve6piov,  eine  Vereinigung  der  Vertieter  aller  Hellenen.  Der  eigent- 
liche Ort  für  die  politische  wie  ricbierliche  Tagnnjj-  des  Synedrion  war 
ausschließlich  Koiinth.  Die  Mitglieder  waren  EXsui^epot  und  auTov6|jLOi; 
der  Bundesteidherr  hatte  die  Hübe  des  Antgebotes.  resp.  des  Geldbei- 
trages auf  Grund  einer  von  der  Bnndesversaninilung  entworfenen  Taxe 
zu  bestimmen.  Die  korinthische  Föderation  war  auf  eine  Vertretung 
der  gesaniteii  hellenischen  Nation  angelegt  und  erieichte  dieses  Ziel  in 
einem  Umfange  wie  keine  andere  hellenische  Symmachie  zuvor  oder 
nachher. 

Bund  der  Magneten. 
Swoboda  S.  143  f. 

214.  A.  Reichl,  Der  Bundesstaat  der  Magneten  und  das  Orakel 
des  'At:6XXwv  Kopo-afo;.     Progr.     Prag,  Kleinseite  1891. 

2)5.    M.  Holleaux,  Note  sur  deux  inscriptiuns  de  la  confedöration 
des  Magnetes.  Revue  de  Philol.  XXI  (1897)   181—188. 

Vgl.  auch:  Ath.  Mitt.  XIV,  54  f.;  XV  283  f.;  Bull.  hell.  XIII  274. 

"Wir  kennen  7  von  den  zu  dem  freien,  selbständigen  Bundesstaat 

gehörigen  Städten  der  Bewohner  der  Halbinsel  Magnesia  in  Thessaliea. 


Bericht  üb.  d.  griech .  Staatsaltortüm.  f.  d.  J.  1893(1 890)  - 1902.  ( J.  Oehler.)     1 1 1 

Au  der  Spitze  dürfte  der  xotvo?  atpaTT]7oj  g:estanden  haben,  dem  die 
arpaTr,7oi,  die  jährlich  von  den  einzelnen  Städten  des  Bundes  für  ein 
Jahi'  gewählt  wnvden,  untergeordnet  waren.  Ihre  Amtsbefngnisse  teilten 
die  aTpsTTj-jOi  mit  den  vofxocpuXaxsc ;  beide  Beamtenklassen  werden  be- 
zeichnet als  apyovxec  Daneben  weiden  mehrere  Prytanen  nnd  Taixt'ai 
erwähnt,  ferner  die  e^sTasToti,  welche  vor  der  l'wofxo;  ixy.XTjjta  einer 
Reihe  von  Beamten  den  Amtseid  abnehmen,  die  demnach  eine  Aufsichts-, 
Prüflings-  nnd  Rechenschaftsbehörde  waien,  denen  der  Eid  statt  der 
Rechenschaftsablag-e  geleistet  wird.  Die  exxXricia  bestand  aus  allen 
vollberechtigten  Bürgern  des  Bundesstaates  und  hatte  über  wichtige 
Angelegenheiten  des  Bundesstaates  zu  beraten  und  zu  beschließen. 

Auch  eine  ßouXr^  wird  erwähnt,  welcher  die  Vorberatung  der  an 
die  exxXifjtjia  zu  leitenden  Gegenstände  oblag.  Die  xsr/oTroioi  hatten 
dafür  zu  sorgen,  daß  die  Beschlüsse  in  steinerne  Säulen  eingegraben 
und  an  entsprechenden  Oiten  aufgestellt  wurden;  ihnen  oblag  wohl  auch 
die  Beaufsichtigung  der  öffentlichen  Gebäude  und  Plätze. 

Lokrer. 
Swoboda  S.  282;  Schoemann-Lipsins  IP  81  f. 

K  0 1 V  0  V   -: (u  V    VT)  a i (u T öu  V. 
Swoboda  S.  587;  Szanto  S.  135/6. 

216.  Bull.  hell.  XVII  (1893)  20j;  XVIII  (1894)  402—405. 

217.  J.  Delamarre,  Un  noveau  docunient  relatif  ä  la  con- 
federation  des  Cyclades.  Rev.  ue  Philol.  XXVI  (1902)  291  —  300. 
Vgl.  XX,   103  f. 

Das  xotvov  Twv  vTjGtwTÜiv  konstltuiertc  sich  3u8  v.  Chr.  und 
dauerte  vielleicht  bis  zum  Jahre  168  v.  Chr.  Als  oberster  Beamter 
erscheint  der  vr,c;tap}(o;  tüJv  vrjaKUTcuv ;  die  auvsSpoi  leisteten  den  Eid  im 
Namen  der  von  ihnen  vertretenen  Staaten.  Die  von  Delamarre  mit- 
raitgeteiite  Inschrift  aus  der  2.  Hälfte  des  III.  Jahrb.  v.  Chr.  enthält 
dkiu  Schluß  eines  Psephisma,  wodurch  bestimmt  wird,  die  Kosten  tür 
die  Stele  und  die  Aufzeichnung  sollten  ano  xoü  xoivoü  geleistet  werden. 
Der  Beschluß  selbst  ist  gefaßt  zugunsten  der  Bewohner  der  Insel 
Herakleia. 

Phokis. 

Swoboda  S.  294/5;  Szanto  S.   120;  Schömann-Lipsius  II*  82. 

218.  G.  Kazarow,  De  foederis  Phocensium  institutis.  Diss. 
Leipzig  1899. 

Im  xoivov  Tiüv  OtüXEüjv  hatten  alle  Mitglieder  gleiche  Rechte  und 
nahmen  an  der  Verwaltung  teil;  es  bestand  bereits  im  VI.  Jahrh.  v.  Chr., 


i  1 2     Bericht  üb. d. griech  Staatsaltertiim.  f. d.  J.  1893(1  b90)  — 1902.  ( J. Ouhler.) 

wurde  durch  Philipp  aufgelöst,  aber  338  wiederhergestellt.  Im  III.  Jahrh. 
iBußteu  sich  die  Phuker  den  Aitoleru  anschließen,  bis  der  Bund  146 
von    den    Römern    aufgehoben    wurde.      Die    oberste    Behörde    waren 

3  sTpaTTj-'Ot,  wohl  jährig  nnd  durch  das  Volk  bestellt.  Die  3TpaTY)7oi 
hatten  die  ixy.Xr^jia  zu  berufen  und  zu  leiten,  in  der  die  Beamten  ge- 
wählt und  die  ßecheuschaftsablage  entgegengenommen  wurde;  ebenso 
hatte  die  ExxXr,3ta  die  Verleihung  von  Ehrenbezeugungen.  Auch  ein 
Bundesrat,  auv£optov,  wird  genannt.  Sie  hatten  einen  gemeinsamen 
Staatsschatz,  dem  der  Tafxiac  vorstand;  auch  ein  7pa|X}jLat£uc  wird  erwähnt. 
In   späterer  Zeit  werden  Phokarchen  genannt,    und    zwar    3,    daneben 

4  otpyovTs;;  welche  Funktionen  die  apTt3TY)p£?  hatten,  ist  nicht  übei-- 
lietert,  vielleicht  bezogen  sie  sich  auf  den  Staatsschatz.  Kazarow  gibt 
auch  an,  was  über  die  einzelnen  Städte  des  Bundes  bekanut  ist:  es 
erscheinen  ötp/w^  cruvsopiov,  sxxXYjjia,  xa[xia;  und  ap7upoTa[xia;,  ^svoSt'y.ai, 
rpay.Tfjp£;,  örifjLioupYoi',  -cu[JivaaLap/oi,  eVor/.oi,   dann  tspsT?  und  ispapyat. 

Über  das  ^'erhältuis  zwischen  Mutterstadt  und  Kolonie  handelt. 
Schömann-Lipsius  11^  S.  93  — 101.  Wir  haben  zu  unterscheiden:  aT^otxia, 
iro'.xta  und  xXr,pouyta.     Über  dirotxia  handelt 

219.     J.   Oehler,  'A-otxi'a,  Pauly-Wissowa,  I  2823—26  ebender- 
selbe auch  'E-oixta,  Pauly-Wissowa  V  (im  Drucke). 


IX.    Völkerrechtliche  Institutionen. 

Die  allgemeinen  völkerrechtlichen  Grundsätze  sind  in  Schoeraann- 
Lipsius  II*  S.  3—29  in  klarer,  übersichtlicher  Weise  dargestellt.  Gegen- 
stand einer  speziellen  Schritt  sind  die  Schiedse;erichte: 

220.  V.  Berard,  De  arbitrio  iuter  liberas  Graecorum  civitates. 
Paris   1894. 

Im  ersten  Teile  ist  eine  Sammlung  der  uus  erhaltenen  Nachrichten 
gegeben,  die  zeigt,  welche  Städte  von  den  Schiedsgerichten  Gebrauch 
machten;  es  sind  48,  geoi'duet  nach  folgenden  Gruppen:  Städte  des 
Pelopounes  und  Siziliens;  Städte  des  griechischen  Festlandes;  Städte 
Asiens  und  der  Inseln.  Bei  jedem  einzelnen  Falle  ist  eine  kurze  Er- 
klärung gegeben.  Der  zweite  Teil  handelt  über  die  Regeln  und  die 
Geschichte  des  Schiedsgerichts  in  den  griechischen  Staaten:  zunächst 
über  die  Einsetzung  des  Schiedsgerichts;  dann  über  die  Art,  wie  die 
Schiedsrichter  ihres  Amtes  walteten;  endlich  über  die  Folgen  und  die 
Geschichte  des  Schiedsgerichts.  Auf  Seite  103/4  ist  eine  Übersicht 
gegeben,  welche  die  streitenden  Paiteieu,  die  Schiedsrichter  und  endlich 
das  Jahr  des  Schiedsgerichts  enthält:  wir  ersehen  daraus,  daß  die 
Schiedsgerichte    vom   Jahre  743  v.  Chr.    bis    in   die  zweite  Hälfte  des 


Bericht  üb. d.griech.Staatsaltertüm.fd.J.  1893(1890) -1902.  (J.Oehler.)     113 

zweiten  vorchristlichen  Jahrh.  von  verschiedenen  Parteien  in  Anspruch 
genommen  wurden. 

Eine  andere  Arbeit  befaßt  sich  mit  den  Staatsverträgen: 
221.    R.    von    Scala,    Die    Staats  vertrage    des    Altertums.     I. 
Leipzig  1898. 

Es  sind  nicht  bloß  die  Staatsverträge  der  griechischen  Städte, 
sondern  die  aller  Staaten  aufgenommen;  doch  bildet  die  Mehrzahl  grie- 
chische Verträge  vom  Jahre  650  v.  Chr.  an  bis  338  v.  Chr.  Die  Zu- 
sammenstellung gibt  zunächst  Aufschluß  über  die  oft  weitreichenden 
auswärtigen  Beziehungen  mancher  griechischer  Städte,  dann  gibt  sie  uns 
die  Terminologie.  Wir  finden  den  Ausdruck  au|X[i,ayia,  Bundesvertrag, 
3-ovoa'',  Friedensvertrag,  auvö^xoti,  Vertrag  im  allgemeinen.  Das  Do- 
kument selbst  führt  die  gleiche  Bezeichnuug,  nur  bei  den  Dorieru  findet 
sich  ein  besonderer  Ausdruck:  Fpa-pa;  vgl.  Scala  Xr.  27:  'AFpa-pa 
TOis  FaXeiot;  '/.cd  toi?  'HpFacuot;  '  ouvfiayta  y.xX.  (588/7  v.  Chr.);  ebenda 
Xr.  33  im  Vertrage  zwischen  Anaitern  und  Metapiern:  aFparpa  .  .  . 
<l''.Xi'av   TTcVTaxov-a  Yixzoi. 


Nachträge. 

Zu  S.   17  Nr.  IIa: 

''A.    H.  .1.  Greenidge.    A    handbook    of   greek    coustitutional 
history.     London  1896.     Rez. :  BplAY  1898,  1203  v.  Thalheim. 

Der  Verf.  beabsichtigt,  in  erzählender  Darstellung  die  Haupt- 
linien der  Eutwickelung  des  griechischen  Rechtes  zu  geben,  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Staaten  in  der  Reihenfolge  ihrer  Eutwickelung 
darzustellen,  wobei  er  mehr  Aufmerksamkeit  dem  lebendigen  Wirken 
der  Verfassungen  als  ihrer  Gestaltung  zuwendet.  Einige  einleitende 
Kapitel  handeln  über  die  Eutwickelung  des  griechischen  Staates  zum 
Verfassungsstaate,  über  Kolonisation  und  internationales  Recht;  darauf 
werden  die  Staaten  eingeteilt  in  Oligarchien,  gemischte  Verfassungen, 
Demokratien  und  Bundesstaaten.  Nach  dieser  Einteilung  werden  die 
einzelnen  Staaten  behandelt,  wobei  vielfach  Zusammengehöriges  zer- 
rissen wird. 

Bei    der  Darstellung  der  einzelnen  Verfassungen  zeigt  der  Verf. 
einen  praktischen  Blick  für  das  Wirken  der  staatlichen  Einrichtungeu. 
'Als  Quellen    sind    wesentlich    deutsche  Werke    bezeichnet,    dabei    aber 
■  wurden  nicht  immer  die  neuesten  Auflagen  benutzt,    was  manche  Un- 
richtigkeiten zur  Folge  hat. 

Jaaresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (190^.  III.)  8 


1 14     Bericht  üb.dgriech.Staatsaltertüm.f.d.J.  1893(1890)— 1902.  (J.Oehler.) 

Zu  S.  32  Nr.  29  a: 

*S.  "Wide,  Bemerkungen  zur  spartanisclien  Lykurgoslegende. 
Skandinavisches  Archiv  I  (1892)  90  f.;  s.  BphW  1892,  982. 

Verf.  stellt  folgende  Vermutung  auf:  Lykurg  ist  ein  über  Hellas 
verbreiteter  alter  chthonischer  Gott,  sein  Name  aus  der  Wurzel  Xux 
abgeleitet.  Götter  als  Beamte  der  hellenischen  Städte  sind  nicht  selten 
und  so  mag  sich  auch  die  Wandlung  des  alten,  verdrängten  Landes- 
gottes in  den  spartanischen  Gesetzgeber  vollzogen  haben. 

Zu  S.  44  Nr.  68: 

*H.  Francotte,  L'oigaüisation  de  la  cite  athenienne  et  la  re- 
forme de  Clisthenes.  Extrait  du  T.  XL VII  des  Mera.  couronn.  et 
autres  mem.  publ.  par  TAcad.  royale  de  Belgique.  Paris  (Brüssel) 
1893.     Bez.:  BphW  1893,  1298  v.  Holm. 

Nachdem  die  -lirq  lange  Zeit  nur  die  Altbürger,  die  Adligen,  als 
Genneten  oder  Homogalakten  bezeichnet,  enthalten  hatten,  traten  dann 
die  Nichtadeligen  als  Orgeonen  oder  Thiasoten  in  die  Phratrien.  Die 
Bedeutung  der  Nichtadligen  steigt  durch  die  Reformen  Drakons  und 
Solons,  wenn  auch  dann  nur  die  x\dligen  politisch  Geltung  haben.  Erst 
Kleisthenes  beseitigt  vollständig  die  politischen  Unterschiede  zynischen 
Adligen  und  Nichtadligen,  indem  er  die  Ausübung  der  politischen  Rechte 
an  die  Zugehörigkeit  zu  einem  Demos  knüpft,  freilich  auch  an  die  Zu- 
gehörigkeit zu  einer  Phratrie  wegen  deren  religiösen  Charakter:  er  war 
kein  Revolutionär,  sondern  ein  Reformator. 

Zu  S.  48: 

*L.  Whibley,  Political  parties  in  Athens  during  the  Pelopon- 
nesian  war.  Cambridge  1889.  Rez,:  BphW  1890,  183  f.  v.  Egel- 
haaf. 

Verf.  viüU  die  Parteiverhältnisse  in  Athen  während  des  pelopon- 
nesischen  Krieges  nach  allen  Seiten  einer  neuen  Prüfung  unterziehen; 
in  4  Kapiteln  betrachtet  er  die  athenische  Verfassung  und  das  athenische 
Reich;  Teilung  und  Zusammensetzung  der  Parteien;  Stellung  der  Par- 
teien zum  Krieg  und  Parteiherrschaft  in  Athen.  Der  demokratischen 
Partei  stellt  er  die  oligarchische  gegenüber;  dann  wendet  er  sich  der 
von  Nikias  gegründeten  und  von  Aristophanes  vertretenen  „Mittelpartei" 
zu,  deren  Programm  die  doppelte  Forderung  enthielt:  1.  es  solle  die 
Macht  der  Volksversammlung  beschränkt  und  2.  jeder  Sold,  abgesehen 
von  dem  für  die  Truppen,  abgeschafft  werden. 

Zu  S.  4''>  Nr.  62: 

B.  Keil,  Die  solonische  Verfassung  in  Aristoteles'  Verfassungs- 
geschichte Athens.  Berlin  1892.  Rez.:  BphW  1893,  485  f.  v. 
Bauer. 


Bericht  üb.d.griech.Staatsaltertüm.f.d.J.  1893(1 890)— 1902.  (J.Oehler.)     Il5 

Der  Verf.  sieht  in  Solon  vor  allem  einen  Sozialreformer,  bespricht 
ausführlieh  die  Klasseneinteilung  Solons  und  meint,  die  Bezeichnung 
der  ersten  Klasse  als  Pentakosiomedimnen  weise  in  eine  Zeit  zurück, 
da  die  Olivenkultur  in  xAttika  noch  keine  Rolle  spielte.  Als  Folge  des 
timokratischen  Prinzips  für  die  spätere  Zeit  sieht  er  es  an,  daß  infolge 
des  sinkenden  Geldwertes  viele  bedenkliche  Elemente  tatsächlich  ins 
Archontat  und  in  den  Areiopag  aufstiegen;  Bauer  bemerkt  dazu,  es  er- 
scheine von  größerer  Bedeutung,  daß  diese  Elemente  zu  den  übrigen 
Ämtern  das  passive  Wahlrecht  und  in  der  Volksversammlung  das 
Stimmrecht  erwarben. 


8* 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte 

von 
Thomas  Leuschau  in  Berlin. 

(1899—1902.) 


Erstes  Kapitel. 

Die  Anfänge  der  griechischen  Kultur. 

Ausgrabangen. 

Melos  (Phyläkopi):  Bericht  von  Hogarth  und  Walters  Annual 
of  the  British  school  at  Athens,  vol.  IV.  V.  1897/9.  Knossos:  Bericht 
von  Evans,  Annual  VII.  VIII.  1900/2.  Kato  Zakro:  Ber.  v.  Hogarth 
Annual  vol.  VII.  Grournia:  vgl.  Bosanquet  in  JHSt.  1900.  Amer. 
Journ.  of  Archeol.  1902  p.  72.  Phaestos:  vgl.  Bosanquet  a.  a.  0. 
p.  339.     Wide,  BphW  1901. 

Volo:  Ber.  v.  Wide,  BphW  1901,  S.  795/6.  Bosöjük:  Ber. 
V.  Körte,  Mitt.  d.  arch.  Instituts  1901.  Gordion:  Ber.  v.  Körte, 
Arch.  Anzeiger  1901,  S.  5.  Kli  revag :  Ber.  v.  Vassits,  Revue  Archeolo- 
gique  1902,  p.  172  ff. 

J.  B.  Bury,    A  History    of  Greece    to   the  death  of  Alexander 
the  Great.  London  1900. 

W.  Ridgeway,  The  early  age  of  Greece  vol.  I.    London  1901. 

S.  Wide,  geometrische  Vasen  in  Mitt.  d.  Arch.  Inst.  1896,  385 
und  Jahrb.  d.  arch.  Inst.  1899,  S.  49. 

Boehlau,  aus  altiouischen  und  italischen  Nekropolen.    Mitt.  1898. 


Wie  in  der  späteren  griechischen  Geschichte  die  Inschriften  als 
Marksteine  betrachtet  werden,  nach  denen  die  Fülle  der  überlieferten 
Ereignisse  einzuordnen  ist,  so  haben  für  die  vorgeschichtliche  Entwicke- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  117 

lung-  des  griechischen  Volkes  die  Ausgrabungen  in  Hissarlik,  Tiryns 
und  Mykene  eine  alles  überragende  Bedeutung  gewonnen.  Sie  zuerst 
gestatteten  da  einen  sicheren  Grund  zu  legen,  wo  man  bisher  auf  un- 
sichere Analogieschlüsse  aus  der  Entwickelung  der  übrigen  indoger- 
manischen Völker,  auf  sprachgeschichtliche  Forschungen,  auf  gelegent- 
liche Erwähnungen  in  ägyptischen  Inschriften  und  nicht  zum  wenigsten 
auf  den  losen  Triebsand  der  hellenischen  Sagen  zu  bauen  gewohnt  war. 
Allein  die  Kombination  jener  Funde  mit  der  uns  von  anderen  Seiten 
her  zu  Gebote  stehenden  Kenntnis  ergab  eine  Reihe  einander  seltsam 
widersprechender  Hypothesen,  zwischen  denen  die  Entscheidung  un- 
möglich war.  und  so  gewöhnte  man  sich,  auf  neue  Funde  zu  hoifen,  die 
Ordnung  in  diese  Verwirrung  bringen  würden.  Diese  Hoffnung  hat  sich 
zum  Teil  erfüllt,  indem  die  Ausgrabungen  der  letzten  Jahre  uns  vor 
eine  Reihe  von  neuen  Tatsachen  gestellt  haben  ,  mit  deren  Hilfe  das 
Bild  der  ältesten  griechischen  Zustände  allmählich  deutlichere  Umrisse 
gewinnt,  und  so  wird  jede  Darstellung  der  griechischen  Vorgeschichte 
von  den  Ergebnissen  der  neuesten  Ausgrabungen  ausgehen  müssen,  ob- 
wohl über  die  meisten  von  ihnen  noch  keineswegs  endgültige  Berichte 
vorliegen. 

Verhältnismäßig  am  günstigsten  liegt  die  Sache  in  dieser  Hinsicht 
bei  den  Ausgrabungen,  die  die  britische  Schule  unter  Hogarths  Leitung 
in  den  Jahren  1898/9  auf  Melos  vorgenommen  hat  und  in  den  Jahres- 
berichten der  Britischen  Schule  in  Athen  beschrieben  hat.  Im  NW. 
der  Insel  bei  dem  heutigen  Dorfe  Phyläkopi  lag  in  vorgeschichtlicher 
Zeit  eine  nicht  unbedeutende  Ansiedelung,  die  den  Zugang  zu  einem 
ziemlich  flachen,  aber  gut  geschützten  Hafen  beherrschte,  der  im  Laufe 
der  Jahrtausende,  wie  es  scheint  durch  Zurückweichen  des  Meeres,  völlig 
trocken  gelegt  ist.  Der  Platz  war  äußerst  fest,  da  er  mit  dem  Ufer 
nur  durch  eine  schmale  Landzunge  verbunden  war,  die  in  der  Blütezeit 
der  Stadt  eine  gewaltige  Befestigung  trug,  wovon  noch  heute  deutliche 
Spuren  vorhanden  sind.  Für  das  Alter  der  Ansiedelung  spricht  der 
Umstand,  daß  die  Ausgrabungen  außer  ein  paar  Gegenständen  ans 
klassischer  Zeit  auch  in  den  obersten  Schichten  nichts  ergeben  haben,  was 
unter  die  mykenische  Blüteperiode  herabreichte:  man  hat  es  also  im 
wesentlichen  mit  einer  durchaus  vormykenischen  Anlage  zu  tun.  Diese 
frühe  Besiedelung  hing  unzweifelhaft  mit  einem  besonderen  Vorzug  der 
Insel  zusammen:  sie  ist  im  ganzen  Umkreis  der  ägäischen  Kultur  die 
einzige  Stätte,  wo  sich  der  glasharte  Obsidian  findet,  der  in  der  Stein- 
zeit und  noch  weit  darüber  hinaus  zu  Messerklingen,  Pfeilspitzen  und 
allerhand  Werkzeugen  Verwendung  fand  und  unzweifelhaft  den 
Hauptexportartikel  der  Insel  gebildet  hat.  Vier  Schichten  der  Be- 
siedelung sind  nach  den  Entdeckern  zu  unterscheiden.    Von  der  untersten 


118  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

und  ältesten  Schicht  sind  nur  Scherben  übrigg-eblieben,  die  eine  selt- 
same Ähnlichkeit  mit  den  in  Stentinello  auf  Sizilien  gefundenen  zeigen: 
an  beiden  Orten,  wie  auch  bei  den  ältesten  Inselnekropoleu,  sind  keinerlei 
Spuren  menschlicher  Wohnungen  entdeckt  worden,  was  darauf  hindeutet, 
daß  diese  ältesten  Ansiedler  nur  in  ganz  rohen  Hütten  von  vergäng- 
lichem Material  gewohnt  haben  können.  Die  Töpferware  dieser  ältesten 
Schicht  ist  mit  der  Hand  gemacht  und  poliert,  wie  in  den  ältesten 
Gräberanlagen  der  Kykladen  (Amorgos),  zuweilen  auch  mit  Eiuritzungen 
versehen,  aber  nicht  bemalt.  Die  zweite  Schicht  enthielt  die  bereits 
solid  gebauten  Häuser,  die  zu  einer  allerdings  noch  gänzlich  unbefestigten 
Stadt  vereinigt  waren:  eines  von  ihnen  enthielt  offenbar  eine  Obsidian- 
werkstatt,  wie  die  Masse  der  dort  gefundenen  Gegenstände  aus  diesem 
Material  bewies.  Die  Töpferwaren  zeigten  eine  Entwickelung  der  rohen 
Ornamentik  aus  der  ersten  Periode  zu  einer  Art  geometrischen  Stils, 
der  besonders  in  der  Zeichnung  eine  entschiedene  Verwandtschaft  mit 
dem  Dipylonstil  aufweist  und  somit  hier  vor  dem  mykenischen  er- 
scheint; die  Ornamente  sind  nur  zum  Teil  noch  eingeritzt,  vielfach  da- 
gegen bereits  aufgemalt  und  zeigen  eine  Vorliebe  für  organische  Wesen, 
Vögel,  Fische,  Vierfüßler,  Menschen,  daneben  kommen  indes  auch  Dar- 
stellungen von  Schiffen  vor.  Die  dritte  Periode  unterschied  sich  zu- 
nächst durch  eine  starke  Befestigung  und  sodann  durch  kunstvollere 
Konstruktion  der  Hänser,  die  besonders  in  der  sorgfältigen  Behandlung 
der  Ecken  und  Türpfosten  zutage  tritt:  einzelne  Räume  zeichneten  sich 
durch  wundervolle  Wanddekoration  aus  (die  weißen  Lilien  auf  karmin- 
rotem Grund,  der  Fries  mit  fliegenden  Fischen).  Sehr  interessant 
waren  die  Tonvasen  aus  dieser  Schicht,  sofern  sie  einen  allmählichen 
Übergang  von  dem  geradlinig-geometrischen  Stil  der  früheren  Zeit  zu 
krummen  Linien  und  naturalistischen  Motiven  erkennen  lassen,  der  sich 
schließlich  immer  stärker  herausbildet:  der  Gebrauch  der  Drehscheibe 
beginnt  zu  überwiegen  und  die  Gefäße  ähneln  durchaus  den  auf  Thera 
unter  der  vulkanischen  Schicht  gefundenen.  Von  Metallen  konnten 
bereits  Bronze  und  Blei  sicher  in  dieser  Schicht  nachgewiesen  werden. 
Die  vierte  Ansiedelung  endlich,  die  von  den  Findern  als  mykenische 
bezeichnet  wird,  stellt  sich  gleichfalls  als  befestigte  Stadt  dar;  hier 
fanden  sich  am  Ostende  der  Stadt  die  Reste  eines  mj^kenischen  Palastes, 
während  die  Häuser  zwar  eine  praktischere  und  entwickeltere  Anlage, 
aber  weit  geringere  Sorgfalt  im  Bau  zeigen,  als  bei  der  vorigen  Schicht. 
Die  Tonwaren  bieten  auch  hier  ein  besonderes  Interesse,  insofern  im 
Anfang  offenbar  die  einheimische  Entwickelung  sich  fortsetzt :  eines  der 
vollendetsten  Stücke,  die  Vase  mit  den  Fischern,  hat  sich  in  dieser 
vierten  Schicht  gefunden.  Dann  aber  beginnt  mykenische  Einfuhrware 
ans  der  dritten  und  vierten  Stilperiode  das  Ganze  zu  überschwemmen. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  119 

so  daß  nur  für  die  gröberen  Hausgeräte  die  alte  einheimische  Weise  er- 
halten bleibt:  in  dem  Brunnen  auf  dem  Hofe  des  Palastes  wurden  neben 
einer  Unzahl  rein  mykenischer  Scherben  des  dritten  und  vierten  Stils 
nur  drei  bemalte  Gefäße  gefunden,  die  der  einheimischen  Fabrikation 
angehören.  Auf  kretischen  Einfluß  deuten  mehrere  Gegenstände  aus 
Steatit  und  sogenannten  Kauiaresvasen;  auch  anderswoher  importierte 
Stücke  linden  sich  und  beweisen  die  Ausdehnung  der  Handelsbeziehungen, 
in  deren  Mittelpunkt  die  Insel  gestanden  haben  muß.  Indessen  das- 
jenige, was  die  Blüte  der  Ansiedelung  hervorgerufen  hatte,  bewirkte 
schließlich  auch  ihr  Absterben:  als  der  zunehmende  Gebrauch  der 
Metalle  die  Obsidianwerkzeuge  und  -waffen  überflüssig  machte,  sank  die 
Handelsblüte  mit  der  Unterbindung  der  Exportmöglichkeit  dahin  und 
nach  dem  Verfall  der  mykenischeu  Anlagen  hat  die  Stätte  eine  neue 
Besiedelung  nicht  mehr  erlebt.  —  Die  Hauptbedeutung  der  Funde  von 
Melos  beruht  darin,  daß  sie  ebenso  wie  die  Entdeckungen  von  Hissarlik 
eine  kontinuierliche  Entwickelung  von  den  Anfängen  der  Kultur  bis  in 
die  Blüte  der  mykenischen  Zeit  aufdecken  und  daß  sie  auf  diese  Weise 
zugleich  die  älteste  Inselkultur  (Amorgos,  Thera)  mit  der  mykenischen 
in  Verbindung  bringen.  Je  vollständiger  aber  die  Entwickelungsreihe 
vorliegt,  um  so  eher  wird  man  geneigt  sein,  das  Alter  dieser  aegaeischen 
Gesamtkultur,  von  der  die  mykenische  zunächst  nur  eine  lokal  ent- 
wickelte Abart  ist,  höher  hinaufzusetzen,  als  man  bisher  getan  hat,  und 
ihre  Anfänge  mindestens  an  den  Beginn  des  dritten  vorchristlichen 
Jahrtausends  zu  verlegen. 

Zu  ähnlichem  Ergebnis  führt  die  Betrachtung  der  neuen  Aus- 
grabungen in  Kreta,  wo  in  den  letzten  beiden  Jahren  1900/01  der 
Spaten  an  den  verschiedensten  Stellen  in  Tätigkeit  gewesen  ist.  Zu- 
nächst hat  an  der  Stätte  des  alten  Phaistos  eine  italienische  Expedition 
unter  Halbherrs  Führung  einen  ausgedehnten  Palast  mykenischer  Bauart 
nebst  einer  dazu  gehörigen  Villa  entdeckt,  worüber  zuletzt  Wide 
einen  kurzen  Bericht  gegeben  hat.  Sodann  haben  zwei  amerika- 
nische Damen,  Miß  Boyd  und  Miß  Wheeler,  in  der  Nähe  von  Ravusi 
bei  Gournia  eine  kleine,  wesentlich  mykenische  Ansiedlung  bloßgelegt, 
die  den  Hafeueingang  vollständig  beherrschte.  Kleine  aus  Ziegeln  ge- 
baute Häuser  sind  zu  zwei  Straßenzügen  geordnet,  die  auf  einen  aus 
Quaderstein  erbauten  Palast  hinführen,  der  im  kleinen  dieselbe  Anlage 
wie  der  von  Phaistos  zeigt;  überall  wurde  eine  große  Menge  mykenischer 
Tonwaren  und  Bronzewerkzeuge,  sowie  Schmuckstücke  aus  Bronze  ge- 
funden. Eine  ähnliche  mykenische  Kolonie  deckte  im  Mai  1902  die 
britische  Schule  unter  Hogarths  Leitung  in  Kato  Zakro  am  Ostende 
der  Insel  auf;  doch  fanden  sich  hier  neben  den  mykenischen  Tonwaren 
auch   viel  einheimische  Kamaresvasen.    Diese  bildeten  auch  die  haupt- 


1 20  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschaa.) 

sächlichste  Ausbeute  bei  Durchforschung'  der  berühmten  diktäischen 
Höhle,  die  Hogarth  gleichfalls  vornahm,  während  die  Ausgrabungen  in 
Praisos  nahezu  nichts  von  Belang  lieferten  außer  einigen  Inschriften  in 
unbekannter  Sprache,  die  Hogarth  für  eteokretisch  hält.  Weitaus  die 
wichtigsten  Ergebnisse  aber  sind  den  Bemühungen  zu  verdanken,  welche 
ebenfalls  im  Auftrag  der  britischen  Schule  Arthur  J.  Evans  seit  Mai 
1900  der  Stätte  des  alten  Knossos  zugewandt  hat.  Diese  liegt  etwa 
eine  Stunde  südlich  von  Megalokastro  (Kandia)  und  etwas  abseits  von 
ihr  gleichfalls  nach  Süden  zu  in  dem  Winkel,  den  der  Kairatos  mit 
einem  Nebenbach  bildet,  erhebt  sich  ein  Hügel,  worauf  sich  ein  unge- 
heurer Palast  ausbreitete,  unmittelbar  auflagernd  auf  einer  ueolithischen 
Schicht  mit  Handtöpferei  und  Steinwerkzeugen,  die  nach  Ansicht  des 
Entdeckers  unmöglich  jünger  sein  kann  als  3000  v.  Chr.  Nach  und 
nach  erst  sind  die  einzelnen  Teile  des  Bauwerks  aufgedeckt  worden, 
darunter  ein  Throngemach  mit  großem  Vorsaal,  das  sich,  wie  es  scheint, 
nach  einem  inneren  Hofe  zu  öffnete,  ferner  eine  zweite,  tieferliegende 
Halle  von  riesigen  Dimensionen,  zu  der  man  von  allen  Seiten  her  auf 
Stufen  hinabstieg,  dazu  ein  Gewirr  von  Korridoren  und  daranstoßenden 
Zimmern.  Die  Innendekoration  zeigte  Wandmalereien  von  einer  Ge- 
nialität und  Feinheit  der  Ausführung,  wie  man  sie  bis  dahin  der  my- 
kenischen  Kunst  nicht  zugetraut  hatte;  auch  eine  Reihe  bemalter  Gips- 
statuen fand  sich,  die  eine  die  mykenische  weit  überragende  Kunsthöhe 
erkennen  lassen.  Das  Interessanteste  vielleicht  aber  war  die  Entdeckung 
einer  Anzahl  von  Vorratskammern,  die  sämtlich  auf  einen  Gang  mündeten 
und  neben  mancherlei  Behältern  für  Vorräte  eine  ungeheure  Masse  von 
Tontäfelchen  mit  einer  Art  linearer  Schrift  bargen,  wie  sie  auf  einzelnen 
kretischen  Funden  aus  vorgeschichtlicher  Zeit  schon  früher  zutage  ge- 
treten war.  Eine  besonders  gelegene  Kammer  enthielt  ebenfalls  eine 
Menge  viereckiger,  halbmondförmiger  oder  sonstwie  gestalteter  Körper 
aus  Ton,  die  mit  einer  andern  offenbar  älteren,  hieroglyphenartigen 
Schrift  bedeckt  waren,  wie  sie  früher  schon  von  Evans  auf  kretischen 
Überbleibseln  nachgewiesen  war.  In  ihrer  Gesamtheit  gaben  nun  diese 
Tontäfelchen  den  Beweis ,  daß  das  Linearsj'stem  sich  aus  der  Bilder- 
schrift entwickelt  habe,  und  damit  die  glänzende  Bestätigung  einer  schon 
früher  von  Evans  ausgesprochenen  Vermutung.  Auffällig  ist  die  ge- 
ringe Anzahl  von  Tongefäßen,  die  innerhalb  der  Palastanlage  zutage 
gefördert  wurden,  um  so  mehr  davon  entdeckte  man  in  den  Wohnhäusern, 
die  um  den  Palast  herumliegen,  und  zwar  ergaben  die  unteren  Schichten 
meist  einheimische  Kamaresvasen,  während  die  Oberschicht  größtenteils 
Vasen  mykenischen  Stils  enthielt.  Unter  den  im  Palast  selbst  vorge- 
fundenen Gegenständen  war  ein  Alabastergefäß  mit  dem  Namen  des 
sonst  ziemlich  unbekannten  Hyksoskönigs  Khyan,  das  sich  in  seiner  Ver- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  12 1 

einzelmig-  jedoch  nicht  für  die  Chronologie  verwerten  läßt.  Doch  wird 
die  Annahme  des  Entdeckers,  daß  die  Brandkatastrophe,  der  die  ganze 
ungeheure  Anlage  zum  Opfer  fiel,  nicht  viel  später  als  1400  v.  Chr. 
eingetreten  sein  kann,  im  allgemeinen  das  Richtige  treffen. 

Die  Frage  ist  nun,  wie  sich  die  Forschung  diesen  Ausgrabungen 
gegenüber  zu  stellen  hat,  und  da  kann  von  vornherein  ein  Ergebnis  als 
gesichert  betrachtet  werden,  daß  nämlich  Mykeue  selbst  nicht  der  ein- 
zige, ja  vielleicht  nicht  einmal  der  wichtigste  Mittelpunkt  der  Kultur 
gewesen  ist,  die  man  gewöhnlich  als  die  mj'kenische  bezeichnet,  sondern 
daß  Kreta  eine  mindestens  ebenso  glänzende  Entwickelung  dieser  Kultur 
gesehen  hat.  Über  das  Verhältnis  beider  zueinander  wird  mau  freilich 
erst  dann  ins  reine  kommen  können,  wenn  ausführliche  und  genaue 
Fundberichte  über  die  Entdeckungen  von  Knossos  vorliegen.  Wir 
wissen  allerdings,  daß  die  speziell  mykenische  d.  h.  die  in  Mykene 
selbst  erwachsene  Kultur  zur  Zeit  ihrer  höchsten  Blüte  auf  nähere  und 
entferntere  Gebiete  übergegriffen  hat  (Melos,  Hissarlik  u.  a.),  und  so 
ist  auch  bei  der  unleugbar  nahen  Verwandtschaft  der  beiden  Kulturen 
die  Annahme  nicht  abzuweisen,  daß  die  glänzende  Blüte,  von  der  der 
Palast  zu  Knossos  Zeugnis  ablegt,  durchaus  auf  mykenischen  Einfluß 
zurückgeht,  wie  das  Hogarth  und  Welch,  lediglich  von  den  Vasenfunden 
ausgehend,  auch  bereits  tatsächlich  behauptet  haben.  Allein  abgesehen 
davon,  daß  es  wohl  noch  zu  früh  ist,  in  dieser  Sache  eine  endgültige 
Entscheidung  zu  fällen,  sprechen  die  chronologischen  A^erhältnisse  eher 
dagegen,  insofern  die  Blüte  in  Kreta  der  von  Mykene  vorausgegangen 
zu  sein  scheint,  und  so  wird  man  wenigstens  mit  der  Möglichkeit  rechnen 
müssen,  daß  sowohl  die  speziell  mykenische,  wie  die  kretische  Kultnr 
selbständige,  unter  besonders  günstigen  lokalen  Verhältnissen  entwickelte 
Blüten  an  einem  und  demselben  Zweige,  der  allgemein  ägäischen  Kultur 
sind,  deren  Reste  überall  im  Gebiet  des  Ägäischen  Meeres  zutage  treten 
und  deren  Entwickelui  g  wir  bereits  in  ziemlicher  Vollständigkeit  zu 
überblicken  vermögen.  Auch  über  das  ungefähre  Alter  dieser  Kultur 
lassen  sich  gewisse  Anhaltspunkte  gewinnen.  Fast  überall  hat  sich 
auf  kretischem  Boden  über  der  ältesten  neolithischen  und  unter  der  so- 
genannten mj'kenischen  Schicht  eine  eigentümliche  Gattung  von  Töpferei - 
erzeugnissen  gefunden,  die  man  nach  ihrem  Hauptfundort  als  Kamares- 
vasen bezeichnet  und  die  zweifellos  als  Produkte  älterer  einheimischer 
Kunstübung  anzusehen  sind:  dieselben  Ornamente,  die  sich  auf  den 
Tongefäßen  der  neolithischen  Periode  eingeritzt  finden,  kehren  in  der 
Bemalung  der  Karaaresvasen  wieder,  um  dann  hier  eine  reichere  Aus- 
bildung zu  erhalten,  und  im  ganzen  entsprechen  die  Kamaresvasen  dem 
sogenannten  ersten  mykenischen  Stil  Furtwängler-Löschkes,  der  sich  auf 
die  ältesten  Schachtgräber  der  Burg    von  Mj^kene    beschränkt.     Solche 


122  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

kretischen  Tong-efäße  sind  nun  sowohl  in  Melos,  wie  auch  unter  der 
vulkanischen  Schicht  auf  Therasia  entdeckt  worden,  wohin  sie  offenbar 
durch  Import  gekommen  sind;  das  wichtigste  aber  ist,  daß  Flinders 
Petrie  auf  diese  speziell  kretischen  Gefäße  auch  in  den  Gräbern  zu 
Kahun  gestoßen  ist,  die  der  zwölften  ägyptischen  Dynastie  (2778 — 2565 
nach  Petrie)  angehören,  und  zwar  unter  Umständen,  die  ein  späteres 
Hineinschaffen  der  Gefäße  ziemlich  ausschließen.  Man  wird  daraus  mit 
Furtwängler  und  Bury  den  Schluß  ziehen  dürfen,  daß  die  ägäische 
Kultur  weit  älter  ist,  als  gewöhnlich  angenommen  wird.  Ihre  ersten 
Anfänge  (älteste  Inselkultur,  zweite  Stadt  in  Hissarlik,  vSchachtgräber 
in  Mykene)  mögen  bis  3000  v.  Chr.,  ja  wenn  die  zwölfte  Dynastie  wirk- 
lich in  die  zweite  Hälfte  des  vierten  Jahrtausends  zu  setzen  sein  sollte, 
sogar  noch  weiter  zurückgehen  und  ihre  Blütezeit  wird  sie  zwischen 
1600  und  1400  zuerst  in  Kreta,  dann  in  Mykene  gehabt  haben,  während 
ihre  letzten  Ausläufer  im  Osten  bis  über  das  Jahr  1000  v.  Chr.  hinab- 
reichen. 

Indessen  der  einheitliche  Charakter  und  die,  soweit  wir  sehen 
können,  ununterbrochene  Entv/ickelung  dieser  Kultur  braucht  ja  nun 
keineswegs  durch  Einheitlichkeit  der  Hasse  bedingt  zu  sein,  und  so 
erhebt  sich  hier  im  Anfang  auch  das  Hauptproblem  der  griechischen 
Urgeschichte:  Wer  w'aren  die  Träger  der  ägäischen  Kultur? 
Waren  es  die  Griechen  oder  ein  anderes  nicht  griechisches  Volk,  das 
wir  zunächst  gar  nicht  kennen?  Da  ist  es  nun  von  vornherein  wichtig, 
ein  Ergebnis  im  Auge  zu  behalten,  das  meines  Erachtens  unter  allen 
Umständen  eine  der  sichersten  Grundlagen  der  griechischen  Vorgeschichte 
bleiben  wird,  nämlich  das  von  Kretschmer  in  seiner  Einleitung  in 
die  Geschichte  der  griechischen  Sprache  (1893  S.  401  ff".)  erschlossene 
Vorhandensein  einer  Bevölkerung,  die  eine  nicht  griechische  Sprache 
redete  und  mindestens  einst  Kleinasien,  die  Inseln  und  Griechenland 
bedeckte,  ja  vielleicht  sogar,  wie  Bury  annimmt,  mit  der  Urbevölkerung 
der  iberischen  und  italischen  Halbinsel  verwandt  war.  Daß  wir  es 
dabei  nun  auch  mit  einer  einheitlichen  Rasse  zu  tun  haben  und  daß 
diese  Rasse  eben  auch  der  Träger  der  mykenischen  Kultur  gewesen 
sei,  wie  Kretschmer  will,  das  ist  freilich  noch  nicht  ohne  weiteres  an- 
zunehmen, allein  wenn  man  das  vorhin  erschlossene  Alter  der  ägäischen 
Kultur  in  Betracht  zieht,  so  wird  man  so  viel  immerhin  als  wahrscheinlich 
zugeben,  daß  die  Anfänge  jener  Kultur  wenigstens  dem  Volke  angehören, 
welches  einst  die  Küstenländer  des  Ägäischen  Meeres  bewohnte. 

Weitaus  am  eingehendsten  hat  sich  über  die  ganzeFrage  Ridgeway 
in  seinem  Buche  The  early  age  of  Greece  ausgesprochen  und  es  empfiehlt 
sich  vielleicht,  den  Gedankengang  des  umfänglichen  Werkes,  von  dem 
bis  jetzt  erst  der  erste  Teil  erschienen  ist,  hier  kurz  darzulegen.    Der 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  123 

Verfasser  beginnt  mit  einer  eingehenden  und  sehr  vollständigen  Auf- 
zählung sämtlicher  Stätten,  an  denen  sich  Reste  der  sogenannten  myke- 
nischen  d.  h.  ägäischen  Kultur  gefunden  haben,  und  einer  Beschreibung 
der  dort  entdeckten  Reste;  soviel  ich  sehe,  wäre  nur  einiges  über  die 
neuesten  Entdeckungen  auf  Kreta,  sowie  der  von  Wolters  beschriebene 
spätmj'kenische  Begräbnisplatz  zu  Tschangli  am  Mykale  nachzutragen. 
(Ath.  Mitt.  XII,  226.)  Als  besonders  charakteristisch  ergeben  sich  ihm 
dabei  folgende  Punkte:  1.  Das  Hauptzentrum  der  mj'kenischen  Kultur 
lag  auf  dem  griechischen  Pestland  —  was  durch  die  kretischen  Funde 
einigermaßen  zweifelhaft  geworden  ist  —  und  von  dort  erstreckte  sie 
sich  über  die  Inseln  des  Ägäischen  Meeres,  die  Troas  und  Phrygien 
bis  zu  den  nördlichen  Gestaden  des  Schwarzen  Meeres.  Nach  Süden 
und  Südwesten  reichte  ihr  Einfluß  über  Kreta  und  Rhodos  bis  nach 
Lykien,  Cj'pern  und  Ägypten,  im  Westen  finden  sich  ihre  Spuren  in 
Mittel-  und  Unteritalien  sowie  in  Sizilien.  2.  Diese  Kultur  zeigt  ein 
großes  Geschick  in  der  Anlage  von  Festungsbauten  aller  Art,  Palästen 
und  Gräbern.  3.  Sie  gehört  im  wesentlichen  dem  Zeitalter  der  Bronze 
an,  die  allgemein  für  Waffen  im  Gebrauch  war.  Eisen  erscheint  nur  in 
einigen  späten  Gräbern  zu  Schmuckstücken  verarbeitet.  4.  Die  Träger 
der  mykenischen  Kultur  kannten  keine  Verbrennung,  ihre  Toten  wurden 
in  zusammengekauerter  Stellung  begraben.  5.  Die  mykenische  Kultur 
hat  sich  unmittelbar  aus  der  steinzeitlichen  entwickelt.  Sodann  geht 
Ridgeway  dazu  über,  das  Volk  zu  bestimmen,  das  als  Träger  der 
mykenischen  Zivilisation  anzusehen  ist,  und  knüpft  dabei  an  eine  be- 
kannte, sehr  alte  Stelle  der  Odysee  an  (t  175  ff.),  wo  als  Bestandteile 
der  kretischen  Bevölkerung  Kydonen,  Eteokreter,  Pelasger,  Achaier  und 
Dorier  genannt  werden.  Die  beiden  ersten  schließt  er  aus,  da  sie  offenbar 
nur  auf  Kreta  ihre  Stätte  haben;  auch  die  erst  in  historischer  Zeit  ein- 
gewanderten Dorier  können  nicht  in  Betracht  kommen,  und  so  bleiben 
nur  Pelasger  und  Achaier.  Da  nun  aber  diese,  das  bei  Homer  vor- 
herrschende Volk,  sich  in  ihier  Kultur  ganz  wesentlich  von  der  myke- 
nischen unterscheiden,  so  kann  es  sich  nur  um  die  Pelasger  handeln, 
und  das  zweite  Kapitel  ist  nunmehr  dem  Nachweis  gewidmet,  daß 
überall  da,  wo  sich  Reste  der  mykenischen  Kultur  finden,  in  der  grie- 
chischen Sage  und  den  anf  ihnen,  sowie  den  Genealogien,  denen  R. 
ganz  besonderes  Gewicht  beimißt,  beruhenden  Schriften  auch  Spuren 
der  Pelasger  anzutreffen  sind.  Das  dritte  Kapitel  befaßt  sich  mit  der 
homerischen  Kultur  und  betont  die  Merkmale,  die  sie  von  der  myke- 
nischen unterscheiden.  Dies  wird  im  einzelnen  auch  durch  Ab- 
bildungen, die  überhaupt  das  ganze  Werk  durchziehen  und  eine  sehr 
wertvolle  Zugabe  bilden,  an  der  Kleidung,  dem  Schmuck,  der  Begräbnisart 
und    vor   allem  an  den  Waffen  erwiesen,    natürlich  unter  vollständiger 


224  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Ablehnung  der  Ergebnisse  Reicheis,  dessen  Forschung  eben  darauf  aus- 
geht, die  homerische  Kultur  als  mit  der  mykenischen  identisch  zu  er- 
weisen. Im  vierten  Kapitel  untersucht  der  Verf.  die  Frage  nach  der 
Herkunft  der  Achaier,  die  er  nach  Analogie  späterer  Wanderungen  aus 
dem  Nordwesten  ableitet.  Als  Bestätigung  dient  ihm  die  im  fünften 
bis  achten  Kapitel  ausführlich  und  in  allen  Einzelheiten  dargelegte 
Ansicht,  daß  die  Hallstattkultur  (das  Gräberfeld  v.  Glasinatz  etc.j, 
die  den  Übergang  von  der  Bronze  zur  Eisenzeit  repräsentiert,  in  wesent- 
lichen Punkten  mit  der  der  homerischen  Achaier  übereinstimmt.  Im 
neunten  Kapitel  kommt  Verf.  dann  auf  die  Verbreitung  des  Eisens  zu 
sprechen  und  das  sehr  interessante  Ergebnis ,  das  allerdings  zur 
herrschenden  Ansicht  im  Widerspruch  steht,  ist  dies,  daß  der  Gebrauch 
des  Eisens  sich  von  Zentraleuropa  aus  allmählich  verbreitet.  Dagegen 
spricht  zunächst  das  zeitliche  Verhältnis:  in  den  homerischen  Gedichten, 
deren  Entstehung  doch  allerspätestens  ins  neunte  Jahrhundeit  gesetzt 
wird,  ist  der  Gebrauch  des  Eisens  bereits  ein  sehr  weit  verbreiteter, 
während  die  Hallstattkultur  bisher  wenigstens  allgemein  in  die  Jahre 
800 — 400  V.  Chr.  gesetzt  worden  ist.  —  Sonach  sind  für  ßidgeway 
die  Achaier  ein  von  Nordwesten  her  eingewanderter  keltischer  Stamm, 
der  durch  gewaltige  Völkerbewegungen  lange  vor  dem  Jahre  1000  v.  Chr. 
in  die  Balkanhalbinsel  hineingeschoben  ward,  und  einen  Beweis  dafür 
sucht  er  auch  der  Sprache  zu  entnehmen,  indem  er  im  letzten  Kapitel 
den  eigentümlichen  Labialismus  im  Griechischen  auf  keltische  Ein- 
wanderung zurückführt.  Trotz  mancher  guten  Bemerkungen  ist  indessen 
das  Kapitel  nach  der  linguistischen  Seite  hin  so  wenig  eindringend  und 
umfassend,  daß  man  den  Eindruck  erhält,  der  Verfasser  hätte  besser 
getan,  die  sprachliche  Seite  der  Frage  nicht  in  Betracht  zu  ziehen: 
mindestens  würde  es  dazu  einer  viel  umfangreicheren  Untersuchung 
bedürfen. 

Ich  habe  damit  schon  die  Kritik  des  Werkes  begonnen,  die  sich 
nunmehr  auch  auf  den  übrigen  Teil  der  Bücher  zu  erstrecken  hat,  an- 
fangend vom  zweiten  Kapitel,  in  dem  der  Verf.  den  Nachweis  aus 
literarischen  Quellen  zu  erbringen  sucht,  daß  überall,  wo  durch  Aus- 
grabungen das  Vorhandensein  mykenischer  Kultur  nachgewiesen  ist, 
auch  wirklich  Pelasger  gewohnt  haben.  Man  kann  gern  zugeben,  daß 
dieser  Beweis  vollständig  gelungen  ist,  allein  damit  kommt  Ridgeways 
Sache  keinen  Schritt  weiter.  Denn  wenn  man  die  Grundlagen  der 
ältesten  giiechischen  Geschichte  prüft,  so  muß  man  unweigerlich  zu 
dem  Ergebnis  kommen,  daß  sagen  wir  über  700  v.  Chr.  hinaus  über- 
haupt kein  sicheres,  einwandfreies  Material  mehr  vorliegt:  höher  hinauf 
reichen  nur  die  Angaben  des  Epos,  die  Genealogien  und  einzelne,  schon 
ziemlich    ausgebildete  Gründungssagen.     Nun    könnten  ja  diese  für  die 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  125 

Geschichte  unzweifelhaft  verwertet  werden,  wenn  sie  uns  in  ihrer 
ursprünglichen  Gestalt  erhalten  wären,  allein  davon  kann  nach  den 
ciudriiisenden  Untersuchungen,  die  Ed.  Meyer  (Forsch,  zur  alt.  Gesch. 
I  37  flf.)  der  Pelasgerfrage  zugewandt  hat,  gar  keine  Rede  sein.  Bereits 
die  ältesten  Logographen,  Hekataios  und  vor  allem  Hellanikos,  haben 
das  unendliche  Gewirr  der  verschiedensten  Sagen,  Genealogien  und 
sonstigen  Lokaltraditionen  rationalistisch  und  chronologisch  zu  klären 
versucht,  nnd  wo  einzelnes  nicht  in  das  festgelegte  Schema  hineinpassen 
wollte,  da  wurde  frischweg  korrigiert.  Dabei  war  es  nun  von  großer 
Bedeutung,  daß  diese  ältesten  Logographen  der  vielleicht  damals  allge- 
mein verbreiteten  Ansicht  huldigten,  daß  vor  den  Griechen  eine  Urbe- 
völkeiuug  vorhanden  gewesen  sei,  die  den  Namen  Pelasger  geführt  habe, 
und  daß  sie  dieser  Ansicht  bei  ihrer  Redaktion  der  älteren  Sagenüber- 
lieferung mannigfach  Ausdruck  gaben.  Man  wird  das  Gewicht  dieser 
Ausfühlungen  nicht  so  unterschätzen  dürfen,  wie  es  Ridgeway  getan 
hat,  wenngleich  sich  natürlich  über  einzelne  Aufstellungen  mit  Meyer 
streiten  läßt.  Sehr  richtig  sagt  z.  B.  Bury  (S.  25  A)  —  um  eine  viel- 
erörterte Frage  zu  berühren  —  ,  es  sei  viel  einfacher,  den  Namen  der 
athenischen  Burg  -sXap-jiy.ov  als  volkstümliche  Nebenform  von  -sXasYtxov 
zu  fassen,  als  anzunehmen,  daß  unter  dem  Einfluß  der  allgemeinen 
Überzeugung  aus  irsXap^ixov  ueXasYtxov  entstanden  sei.  Es  gibt  dazu  eine 
ganz  schlagende  Parallele  aus  dem  Norden  unseres  Vaterlandes,  wo  die 
sonst  allgemein  auch  im  Volke  als  höoengraw  =^  Hünengrab  bezeichneten 
Tumuli  an  einzelnen  Stellen  auch  mit  leicht  erklärbarer  Volksetymo- 
logie hönergraw  =  Hühnergrab  genannt  werden.  Jene  Bezeichnung  ist 
natürlich  die  ursprüngliche,  aber  —  und  darauf  kommt  es  ja  eben  an 
—  ebensowenig  wie  sie  beweist,  daß  jemals  Hunnen  an  den  Gestaden 
der  Ostsee  gesessen  haben,  ebensowenig  kann  man  aus  dem  -eXajYtxov 
■zsXyoi  der  athenischen  Burg  schließen,  daß  jemals  dort  eine  Ansiedelung 
der  Pelasger  gewesen  ist.  Die  Sache  liegt  genau  so  wie  in  türkischen 
Gegenden,  wo  alte  Bauten  stets,  worauf  mich  Herr  Prof.  Kroll  hin- 
weist, als  von  „Franken"  herrührend  bezeichnet  werden.  Tatsächlich 
nachzuweisen  sind  die  Pelasger  eben  doch  nur  in  einigen  wenigen  Ge- 
bieten Nordgriechenlands  und  in  Kreta,  wo  sie  das  größtenteils  von 
jener  herrschenden  Ansicht  noch  unbeeinflußte  Epos  kennt.  Alle  spä- 
teren Angaben  sind  eben  schon  von  dem  zur  Zeit  der  Logographeu 
herrschenden  Vorurteil  infiziert,  und  der  aus  ihnen  geführte  Beweis, 
daß  überall  an  den  Stätten  mykenischer  Kultur  Pelasger  gesessen  haben, 
hat  also  nicht  die  geringste  Beweiskraft,  Nur  das  eine  erfahren  wir 
daraus,  daß  die  Griechen  am  Ende  des  fünften  Jahrhunderts  der  An- 
sicht waren,  daß  jene  Reste  ältester  Kultur  auf  die  Pelasger  zurück- 
zuführen seien. 


126  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Wesentlich  anders  aber  scheint  mir  denn  doch  die  Sache  bei  den 
Ausführungen  Ridgeways  im  dritten  Kapitel  zu  liegen,  wo  er  die  großen 
Unterschiede    feststellt,    die    zwischen  der  Zivilisation  der  homerischen 
Achäer  und  den  Trägern  der  raykenischen  Kultur  vorhanden  sind.    Das 
unleugbare  Geschick,  mit  dem  ßeichel  auf  dein  Gebiet  der  Bewaffnung 
die  IJbereinstimraung  zu  erweisen  gesucht  hat,  kann  doch  nicht  darüber 
wegtäuscheu,  daß  jene  angeblich  vorhandene  Übereinstimmung  eben  der 
Punkt  ist,  von  dem  ßeichel  ausgeht,  daß  also  eine  petitio  principii  vor- 
liegt,   wie  Furtwängler    noch  kürzlich  ausgeführt  hat.     Es  geht  damit 
ähnlich    —    und    dieser  Vergleich  mag  daneben  auch  die  wissenschaft- 
liche Bedeutung    erkennen   lassen,    die  ich  den  Forschungen  des  leider 
zu    früh    verstorbenen  Mannes    beimesse    —  wie  mit  der  Liedertheorie 
Lachmanns,  deren  Grundgedanke  eben  auch  ein  unbewiesenes  Axiom  ist. 
Dieselbe  souveräne  Attitüde,  mit  der  Lachmanu  wegschnitt,  was  seiner 
Theorie  widersprach,  nimmt  auch  Reichel  der  Überlieferung  gegenüber 
ein:    man    erinnere    sich    seiner  Ausführungen    über    die  Beinschienen, 
deren  Erwähnung  überall  als  ein  Zeichen  späterer  Entstehung  galt,  bis 
neuerdings  nun  doch  ein  Exemplar  in  der  unstreitig  mykenischen  Nekro- 
pole    von  Enkomi-Salamis    auf  Cypern    entdeckt  worden  ist.    Wie  sich 
Reichel    mit    dieser  Entdeckung    abgefunden    hätte,    wissen   wir  nicht; 
allein  auch  so  wird  man  zugeben  müssen,  daß  seine  Betrachtungsweise 
den  homerischen  Dichtungen  gegenüber  versagt.    Eine  scharfe  Scheidung 
zwischen    älteren  und  jüngeren  Partien,    zwischen  Ursprünglichem  und 
späteren  Zutaten  läßt  sich  weder  von  kulturgeschichtlichen,    noch  von 
ästhetischen  Gesichtspunkten    aus    finden,    dazu  ist  die  Umarbeitung  in 
Rhapsodenkreisen  viel  zu  langwierig  und  eingehend  gewesen,  so  daß  an 
manchen  Punkten  Ältestes    und  Jüngstes  sich  untrennbar  amalgamiert 
haben ;  es  wird  immer  nur  gelingen,  einzelne  Züge  bei  Homer  als  älter 
zu  bezeichnen.    Dasselbe  Verhältnis  liegt  überall  da  vor,  wo  Dichtungen 
lange    im  Munde   des  Volkes  oder  berufsmäßiger  Sänger  gelebt  haben, 
wie    in    den    deutschen    Märchen    mit    ihrer    buntscheckigen    Mischung 
ältester    und    moderner  Züge,    oder    in    den    deutschen  Volksepen   des 
Mittelalters,    die    gerade    auf  dem  Gebiete  der  Bewaffnung  eine  inter- 
essante Parallele  bieten.    Unzweifelhaft  schildern  die  Dichter  sowohl  im 
Nibelungenlied    wie    in    der  Gudrun   die  Kultur  ihrer  Zeit,    des  hohen 
Mittelalters,    und    daher    ist    die  Bewaffnung  durchweg  die  ritterliche, 
Vollrüstung,  dreieckiger  Turnierschild,  lange  Stoßlanze:  aber  an  manchen 
Stellen,    besonders  solchen,  die  von  jeher  den  Kern  der  Sage  bildeten, 
wie  Saalkampf  und  Schlacht  auf  dem  Wülpensande,  tritt  die  uralte  Be- 
waffnung   des  Kriegers    der  Völkerwanderungszeit,    großer  Rundschild 
und  kurzer  Ger  hervor,  ohne  daß  die  Dichter  das  Bewußtsein  der  Dis- 
krepanz zu  haben  scheinen.    Ähnlich  liegt  die  Sache  bei  Homer-,  auch 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  127 

bei  ihm  heißt  das  Schwert  durchwen;  das  eherne,  und  doch  wird  es  in 
den  ältesten  Partien  der  Ilias  ebensooft  zum  Hieb  wie  zum  Stoß  ge- 
braucht, während  die  Natur  des  Bronzeschwertes  seine  Verwendung  als 
Hiebwafte  ausschließt  und  es  in  der  mykenischen  Darstellung  tatsächlich 
nur  zum  Stoß  gebraucht  wird.  Darin  liegt  eben  der  Beweis,  daß  die 
homerischen  Achäer  bereits  Eisenschwerter  hatten,  und  es  scheint  mir 
ein  Hauptverdienst  Ridgeways  zu  sein,  daß  er  gezeigt  hat,  wie  auch 
die  homerischen  Achäer  trotz  des  gegenteiligen  Anscheins  vollständig 
bereits  im  Eisenzeitalter  leben,  wie  ihre  ganze  Kultur  der  gewöhnlich 
als  Hallstattperiode  bezeichneten  entspricht.  Daraus  zieht  er  den  Schluß, 
daß  die  Achäer  ein  von  Nordwesten  gekommenes  Volk  sind,  und  dies 
ist  dann  freilich  nichts  besonders  Neues:  wenn  Ridgeway  meint,  es  sei 
allgemeine  Ansicht,  daß  die  Griechen  von  Nordosten  her  die  Balkan- 
halbinsel betreten  hätten,  so  ist  das  ein  Irrtum.  Diese  Hypothese  hing 
mit  der  anderen  zusammen,  daß  die  Heimat  der  Indogermaneu  in  Asien 
zu  suchen  sei:  eine  Ansicht,  die  heute  nur  noch  von  wenigen  Forschern 
verfochten  wird. 

Kommen  wir  indessen  noch  einmal  auf  jene  Diskrepanz  in  der 
Bewaffnung  zurück,  die  sich  zwischen  einzelnen  Partien  unserer  mittel- 
alterlichen Volksepen  findet:  beweist  sie  denn  in  Wirklichkeit  die 
Eassenverschiedenheit  zwischen  den  ältesten  Trägern  der  Sage  und 
ihren  späteren  Bearbeitern?  Offenbar  nicht,  und  somit  beweist  streng 
genommen  auch  ßidgeways  Darlegung  der  Verschiedenheit  mykenischer 
und  homerischer  Kultur  nicht,  daß  ihre  Träger  verschiedenen  Rassen 
angehört  haben  müssen.  Hier  aber  treten  andere  Erwägungen  ein. 
Schon  oben  ist  auf  die  Ergebnisse  von  Kretschmers  Forschungen  hin- 
gewiesen, die  das  Vorhandensein  eines  großen,  über  alle  ägäischen 
Inseln  und  Küsten  verbreiteten  nicht  griechischen  Volkes  dargetau  haben. 
Sind  demnach  die  Griechen  erst  später  zugewandert,  so  fragt  sich 
natürlich,  wann  das  geschehen  ist,  und  tatsächlich  geschichtlich  über- 
liefert ist  uns  eben  nur  die  dorische  "Wanderung.  Allein  die  Dorier 
fanden  doch  bei  ihrer  Ankunft  schon  Griechen  vor,  und  so  wird  man 
die  sogenannte  dorische  Wanderung  als  den  letzten  Akt  einer  vielleicht 
tausendjährigen  Wanderungsperiode  betrachten  müssen,  deren  erste 
Schichten  sich  unmittelbar  über  der  Urbevölkerung  lagerten,  während 
die  letzte  noch  über  beide  zu  liegen  kam.  Es  fragt  sich,  ob  in  den 
uns  vorliegenden  Dokumenten  der  ägäischen  Zivilisation  Erscheinungen 
vorhanden  sind,  die  auf  derartige  Völkerbewegungen  gedeutet  werden 
können,  und  das  scheint  allerdings  der  Fall  zu  sein. 

Seit  langem  hat  man  das  Auftreten  des  geometrischen  Stiles,  der 
den  mykenischen  ablöst,  so  jedoch,  daß  beide  noch  eine  Zeitlang  neben- 
einander hergehen  und  sich  gegenseitig  beeinflussen,  mit  der  Einwände- 


128  Jahresbericbt  über  griechische  Geschichte,    (Lenschau.) 

ruug  der  Dorier  in  Beziehung  gebracht,    ohne    in  Betracht  zu  ziehen, 
daß  die  Örtlichkeit,    in    der  der  geometrische  Stil  seine  höchste  Aus- 
bildung erreicht  hat,  daß  gerade  Athen  guter  Überlieferung  zufols:e  fast 
gar  nicht  von  den  Doriern  heimgesucht  worden  ist.    Diese  Auffassung 
ist  nicht  mehr  zu  halten.     In  einer  Reihe  von  Aufsätzen  in  den  Mit- 
teilungen hat  Wide   nachgewiesen,    daß    der  geometrische  Stil  ebenso 
alt  wie  der  mykenische  und  nur  durch  diesen  in  den  Hintergrund  ge- 
drängt worden  sei.     „Es  ist  der  uralte  griechische  Bauernstil,  der  vor 
der  mykenischen  Ornamentik  in  den  Schatten  getreten  ist,   aber  gegen 
Ende  der  mj^kenischen  Periode  wieder  zum  Vorschein  kommt,  nachdem 
er   von    der    mykenischen    Kunst    die    Firnistechnik    und    verschiedene 
Ornamente  übernommen  hat."   Neuere  Entdeckungen  haben  das  bestätigt: 
bei  Volo  in   Thessalien    hat  Wide  Kuppelgräber    gefunden,    die    noch 
keine  Spur  von  Bronze,    sondern  lediglich  Steingeräte,    daneben  aber 
ausgesprochen  geometrisch  dekorierte  Tongefäße  lieferten.    Ebenso  haben 
sich  schon  früher  in  Thera  unter  der  ersten  Tuffschicht  neben   myke- 
nischen Vasen  des  ersten  und  zweiten  Stils  geometrisch  verzierte  Tou- 
waren  gefunden  und  endlich  ist  in  den  ersten  Schichten  von  Pbylakopi 
die   allmähliche  Entwickelung   dieser    geometrischen  Dekoration  genau 
zu    verfolgen.     Dem  gegenüber  steht  die  ganz  verschiedene  Kunst  der 
Kamaresvasen,    die  nach  Furtwängler  die  größte  Ähnlichkeit  mit  dem 
ersten  und  zweiten    mykenischen   Stil   aufweist  und   deren  Erzeugnisse 
sich  bereits  in  ägyptischen  Gräbern  aus  dem  Anfang  des  dritten  Jahr- 
tausends   findet.      Endlich    ist    das    Vorkommen    beider    Stilgattungen 
nebeneinander  noch    vor  kurzem   bei   dem   LTrnenfund   von  Klirovac  in 
Serbien  hervorgetreten,  den  Vassits  eingehend  behandelt  hat.    Danach 
ist  es  zweifellos,    daß    das  Auftreten  des  geometrischen  Stiles  in  eine 
sehr  frühe  Zeit  fällt;    nimmt  man  ihn  also,    wozu  gewichtige  Gründe 
vorliegen,  als  den  eigentlich  griechischen  Stil  in  Anspruch,  so  muß  die 
Einwanderung  der  Griechen   an   die  Küste   des  Agäischen  Meeres  be- 
trächtlich vor  2000  v.  Chr.  erfolgt  sein. 

Wie  verhält  sich  nun  zu  diesen  beiden  ursprünglichen  Stil- 
gattungeu  die  mykenische  Kunst?  Furtwängler  hat  kürzlich  in 
seinem  Werke  'Antike  Gemmen'  (S.  15  ff.)  festgestellt,  daß  im  myke- 
nischen Stil  durchgängig  zwei  Elemente  zu  erkennen  seien,  ein  ein- 
heimisches, das  die  Männer  durch  sehr  leichte  Tracht,  die  Frauen 
durch  Faltenröcke  charakterisiert  und  eine  Vorliebe  für  Löwen,  Sphinxe, 
Greifen  und  Palmen  zeigt,  und  ein  zweites,  das  alle  diese  Zierformen 
verschmäht,  den  Männern  eine  reichere  Kriegstracht  gibt  und  die  Frauen 
im  geradlinigen  Chiton  abbildet.  Es  liegt  nahe,  darin  das  Einströmen 
eines  von  Norden  kommenden  Elementes  in  die  einheimische  Kunst  zu 
sehen,    worin    also  die  Griechen  zu  erkennen  wären.     Den  Gedanken 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  129 

hat  meines  Wissens  zuerst  Tsuntas  aasgesprochen,  indem  er  von  der 
schrägen  Dachform  ausging,  die  die  Gräber  in  der  Unterstadt  von 
Mykene  haben  (Tsnntas-Manatt  the  Myceuean  age.  1897).  Er 
erkannte  darin  eine  Nachbildung  der  nordischen  Dachform,  während 
im  Süden  sonst  durchweg  das  platte  Dach  vorherrscht,  und  ebenso  er- 
blickte er  in  der  Bauart  der  rajivenischen  Hänser  mit  unbenutztem 
ünterstock,  in  den  von  oben  Wirtschaftsabfälle  geworfen  wurden,  eine 
Erinnerung  an  frühere  Wohnungsverhältnisse,  etwa  an  Pfahlbauten,  bei 
denen  ja  auch  Küchenabtälle  direkt  durch  den  Fußboden  ins  Wasser 
geworfen  wurden:  daraus  schloß  er,  daß  die  Träger  der  mykenischen 
Kultur  ein  aus  dem  kältei'en  Norden  gekommenes  Volk  gewesen  seien. 
Nun  hat  allerdings  Dörpfeld  schon  in  der  Vorrede  zu  dem  Tsuntas- 
Manattschen  Werk  darauf  hingewiesen,  daß  die  Dachform  der  Gräber 
sich  ans  der  biöckligen  Natur  des  Kalksteins  erklären  lasse,  in  dem 
sie  angelegt  seien,  und  jene  Küchenabfälle,  ans  denen  Tsuntas  so  weit- 
gehende Schlüsse  zog,  seien  wahrscheinlich  mit  dem  Schutt  hinein- 
gekommen, den  man  zur  Ausfüllung  der  Grundmauern  benutzt  habe: 
immerhin  aber  kann  Tsuntas'  Gedanke  im  Kern  richtig  sein,  wenngleich 
seine  Begründung  verfehlt  war,  und  daß  dem  so  ist,  das  scheint  mir 
doch  durch  Furtwänglers  Beobachtung  einigermaßen  sichergestellt. 

Danach  könnte  man  sich  die  Vorgänge  etwa  folgendermaßen  vor- 
stellen: Die  urspiüngliche  Kunst  der  um  das  Agäische  Meer  herum- 
wohnenden nichtgriechischen  Bevölkerung  tritt  uns  in  den  Kamaresvaseu, 
der  sogenannten  ersten  und  zweiten  mykenischen  Schicht  (den  Schacht- 
gräbern auf  der  Burg),  wohl  auch  in  Menidi  und  anf  Thera  in  den 
unter  der  Tuffschicht  gefundenen  Überbleibseln  entgegen;  nach  allem, 
was  wir  wissen,  waren  in  erster  Linie  Kreta,  dessen  Bedeutung  auch 
Bury  mit  Recht  hervorhebt,  und  Mykene  ihre  wichtigsten  Mittelpunkte. 
Allein  von  Norden  her  wanderten  griechische  Stämme  und  mit  ihnen 
geometrische  Dekorationsformen  ein ,  die  hauptsächlich  in  Mykene  und 
vielleicht  etwas  früher  auf  Kreta  eine  enge  Durchdringung  mit  den 
einheimischen  Kunslformen  erlitten,  so  daß  an  beiden  Punkten  aus 
gegenseitiger  Befruchtung  die  Hochblüte  „mykenischer"  Kunst  hervor- 
ging, die  dann  in  Mykene  selbst,  durch  technische  Fertigkeit  und  soziale 
Verhältnisse  unterstützt,  eine  ungeheure  Exporttätigkeit  entwickelte, 
und  den  alten  geometrischen  Stil  verdrängte,  w-obei  indessen  auch 
politische  Verhältnisse,  wie  der  Machtbereich  der  mykenischen  Könige, 
viel  zu  ihrer  Ausbreitung  beigetragen  haben  mögen.  Hieraus  erklärt 
sich  wohl  der  außerhalb  Kretas  ziemlich  einheitliche  Charakter  der 
mj'keuischen  Kultur,  während  der  geometrische  Stil  durchaus  lokale 
Dififereuzierungen  aufweist,  und  nur  die  Frage  entsteht  naturgemäß, 
■warum  nur  in  Mj^kene  und  Kreta  und  nicht  auch  au  anderen  Stellen,  wo  die 
Jahresbericht  für  Altertumswisseuschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.   III.)         9 


130  Jahresbeiicht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Griechen  mit  den  Ureinwohnern  in  Berührung  kamen ,  eine  derartige 
Entwickelung  vor  sich  ging.  Abgesehen  davon,  daß  Ansätze  dazu  un- 
zweifelhaft vorhanden  sind,  wie  z.  B.  in  Melos,  wo  indes  die  ein- 
heimische Entwickeluug  von  der  Importware  direkt  überschwemmt  und 
vernichtet  ward,  lag  der  Grund  wohl  zunächst  darin,  daß  Mykene  und 
Kreta  eben  schon  vorher  Kultnrmittelpuuktc  waren,  vor  allem  aber  in 
den  ethnologischen  Verhältnissen.  Es  scheint,  als  ob  die  Einw'anderung 
der  Griechen  in  ihre  späteren  Wohnsitze  viel  Ähnlichkeit  mit  der 
allmählichen  Okkupation  Galliens  durch  die  Frauken  gehabt  hat:  sie 
ging  nicht  in  mehreren  oder  einem  großen  Eroberungsznge  vor  sich, 
sondern  es  war  ein  allmähliches  Hinüberschieben  und  Drängen,  so  daß 
die  Bevölkerung,  je  W'eiter  nach  Norden,  je  reiner  griechisch  war, 
während  im  Süden  sich  das  griechische  Element  als  eine  immer  dünner 
werdende  Oberschicht  über  der  unterworfenen  einheimischen  Bevölke- 
rung ausbreitete.  Mj'kene  mag  in  der  Tat  eine  Zeitlang  ein  vorge- 
schobener Posten  gewesen  sein,  so  daß  also  die  Steffensche  Erklärung 
des  Systems  der  von  Mykene  nach  Norden  ausgehenden  Hochstraßen  als 
rückwärtiger  Verbindungen  doch  die  richtige  wäre.  Daraus  würde 
sich  weiter  erklären,  daß  sich  in  den  mittelgriechischen  Landschaften, 
die  immerdar  „Hellenenland"  im  besonderen  geheißen  haben,  sich 
der  nationale  geometrische  Stil  durchsetzte,  während  die  mykenische 
Mischkunst,  den  Bevölkerungsverhältuissen  entsprechend,  einen  viel 
orientalischeren  Charakter  trägt:  in  der  Blutmischung  ihrer  Träger 
überwog  weit  das  einheimische  Element.  Beiläufig  würde  dies  auch 
die  geringe  Widerstandskraft  erklären,  die  die  Staaten  der  Peloponnes 
entwickelten,  als  der  Stoß  der  dorischen  Wanderung  sie  traf:  sie 
erlagen  den  neu  einwandernden  Stämmen  etwa,  wie  die  Westgoten  in 
Südgallien  den  Scharen  Chlodovechs,  während  die  in  den  mittel- 
griechischen Landschaften  sitzende,  reiner  griechische  Bevölkerung  den 
Doriern  gegenüber  eine  beachtenswerte  Festigkeit  im  Widerstände 
zeigt;  nur  ein  ganz  geringer  Bruchteil  der  Einwanderer  hat  hier 
Wohnung  gefunden  in  einem  wahrscheinlich  unbesetzten,  weil  von 
niemand  begehrten  Gebirgsländchen. 

Schwieriger  ist  es,  die  geschilderten  Vorgänge  einigermaßen 
zeitlich  zu  fixieren.  Daß  die  Anfänge  der  ägäischen,  nicht  griechischen 
Kultur  bis  in  die  Steinzeit,  in  den  Anfang  des  dritten  Jahrtausends, 
ja  noch  weiter  zurückgehen,  ist  bekannt:  allein  auch  der  Vortrab 
der  von  NW.  heranrückenden  Stämme  muß  noch  in  der  neolithischen 
Periode  das  Meer  erreicht  haben,  wobei  Volo  und  Melos  unter  den  sehr 
früh  besetzten  Stationen  gewesen  sein  müssen.  Dann  folgten  neue  ge- 
waltige Scharen,  die  Mittelgriechenland  in  dichten  Massen  besetzten 
und  besiedelten;    spätere  Einwanderer    rissen  in  weitem  Ausgreifen  in 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  ]31 

Kreta  und  in  der  Peloponnes  die  Herrschaft  an  sich,  wobei  sie  indes 
unr  eine  dünne  Oberschicht  über  der  unterworfenen  Bevölkerung 
bildeten.  Hier  mag-  bald  nach  2000  bis  1400  und  wohl  noch  länsere 
Zeit  darüber  hinaus  die  sogenannte  niykenische  Kultur  gehei-rscht  haben, 
die  durchaus  dem  Bronzezeitalter  angehört,  wobei  es  fraglich  bleibt,  woher 
der  Gebrauch  der  Bronze  kam;  daß  auch  sie  ans  Mitteleuropa  mit  den 
Einwanderem  nach  Griechenland  gelangte,  dafür  hat  ßidgeway  einiges 
beachtenswerte  Material  beigebracht.  Daß  übrig-ens  die  Einwanderer 
sich  auch  weiter  über  die  südlichen  Kykladen,  ja  bis  nach  Cyperu 
ausbreiteten,  dafür  hat  man  schon  seit  längerer  Zeit  die  Ähnlich- 
keit des  kj'prischeu  mit  dem  arkadischen  Dialekt  geltend  gemacht. 
Allein  auch  in  Samos  und  bei  Milet  sind  Spuren  dieser  Okkupation 
vorhanden  und  sehr  gut  paßt  dazu  die  Entdeckung  Böhlaus,  daß 
die  Kunst  der  sogenannten  Fikellnravasen,  die  von  ihm  als  altsamisch 
erkannt  ist,  und  die  der  sogenannten  altrhodischen  Vasen,  die  er  mit 
Recht  auf  altmilesischen  Ursprung  zurückführt,  eben  die  letzten  Aus- 
läufer der  mykenischen  Kunst  im  Osten  bilden.  Dagegen  erhielten  die  nörd- 
lichen Kj'kladen  und  wohl  auch  die  gegenüberliegende  kleinasiatischeKüste 
ihre  Besiedelung  von  dem  rein  griechischen  Hellas  aus  und  es  scheint 
auch,  als  ob  die  allerdings  ziemlich  seltenen  Funde  aus  älterer  Zeit 
mehr  geometrische  Dekorationsweise  zeigen.  Ans  beiden  Stilgattungen, 
der  geometrischen  und  mykenischen,  die  somit  Einschlag  und  Kette 
lieferten,  entstand  später  auf  asiatischem  Boden  die  altionische  Kunst. 
Danach  fällt  also  die  Besiedelung  der  kieinasiatischen  Westküste  zum 
großen  Teil  noch  in  die  vordorische  oder  mykenische  Zeit,  ein  Gedanke, 
den  meines  "Wissens  zuerst  Eduard  Meyer  ausgesprochen  hat,  und  der 
immer  mehr  an  Boden  gewinnt;  auch  Burys  Darstellung  ist  wesentlich 
von  ihm  beeinflußt. 

Welche  Stellung  aber  ist  nun  in  diesem  Zusammenhange  den 
Ansiedelungen  in  Hissarlik  zn/nweisen?  In  jener  bereits  erwähnten 
Vorrede  zu  dem  Tsuntas-Munattscheu  Werk  hat  Döipfeld  energisch  auf 
die  Verschiedenheiten  hingewiesen,  welche  die  troische  von  der  myke- 
nischen Kultur  trotz  mancher  Verwandtschaft  trennen.  Die  Tatsache 
ist  unzweifelhaft  und  ebenso  die,  daß  der  alttioischen  die  altkyprische 
Kultur  am  nächsten  steht,  so  nahe,  daß  Ed.  Meyer  im  ersten  Bande 
seiner  Geschichte  des  Altertums  noch  an  eine  Beeinflussung  auf 
dem  Seewege  dachte,  da  eine  Einwiikung  über  Land  ausgeschlossen 
erschien.  In  beiden  Hinsichten  haben  die  schönen  Entdeckungen 
A.  Körtes  aufklärend  gewirkt,  die  er  bei  der  Abtragung  des  Tumulus 
von  Bosöjük  gemacht  und  in  den  Mitteilungen  veröffentlicht  hat.  Zu- 
nächst muß  hier  bemerkt  werden,  daß  derartige  Tumnli  in  Kleiuasieu 
sehr  häufig  sind,    sie  finden  sich  nicht  bloß  an  der  Küste,  in  Lydien, 

9* 


132  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenscbau.) 

Phry^ien  und  in  der  Troas,  sondern  auch  weiterhin  im  Inlands  wie  bei 
Gordion  und  Ipsos.  Einen  derselben,  den  von  Bosöjük,  vier  Meilen  süd- 
westlich von  Brussa,  gelang  es  Körte  zu  öffnen,  und  sein  Inhalt  ergab 
das  überraschende  Resultat,  daß  die  hier  gefundene  Kultur  völlig  mit 
der  sog.  fünften  Stadt  von  Hissarlik  identisch  war,  woraus  Körte,  hier 
wohl  mit  Recht,  auf  Identität  der  Bevölkerung  schließt.  Wer  war 
dieses  Volk?  Aus  dem  Voikommen  der  Tumuli  bis  tief  nach  Kleiu- 
asien  hinein,  wo  sie  in  Gordion  nach  einer  späteren  Untersuchung  K.s 
dieselbe  Struktur  zeigen,  sowie  in  Europa  besonders  bei  Saloniki,  fol- 
gert Körte,  daß  es  die  Phrj'ger  waren,  die  nach  und  nach  in  wieder- 
holten Schwärmen  über  den  Hellespont  gingen  und  hier  jene  eigentüm- 
liche Kultur  erzeugten,  die  in  den  Funden  von  Hissarlik  zutage  tritt. 
Diese  auf  anderem  Gebiet  gewonnene  Ansicht  paßt  aber  durchaus  zu 
den  vorhin  geäußerten  Anschauungen  über  die  Besiedelung  Grriecheu- 
lands;  sobald  man  in  Betracht  zieht,  daß  die  griechische  und  die  phry- 
gische  Sprache  nahe  verwandt  sind,  so  ergibt  sich  etwa  folgender  Zu- 
sammenhang. Die  gewaltige  griechische  Völkerwelle,  die  sich  etwa  um 
2500  v.  Chr.  in  die  Balkanhalbinsel  von  Nordwesten  her  hereinschob, 
teilte  sich  etwa  in  der  Gegend  des  Schardagh.  Der  eine  Strom,  das 
phrygische  Volk,  ergoß  sich,  überall  Tumuli  als  Zeichen  seines  Vor- 
handenseins zurücklassend,  über  das  nördliche  Gestade  des  Agäischen 
Meeres  und  den  Hellespont  bis  ans  armenische  Hochland,  wobei  es  das 
phrygische  Reich  und  auf  Grund  der  vorgefundeneu  Zivilisation  eine 
eigene  Kultur  begründete,  die  in  Hissarlik  vorliegt.  Die  letzten  Aus- 
läufer mögen  sogar  bis  Cypern  gelangt  und  in  jenen  ISTordvölkern  zu 
erkennen  sein,  die  den  Hittitern  in  der  Schlacht  von  Qadesch  bei- 
standen; in  einer  sehr  interessanten  Bemerkung  macht  Furtwängler 
a.  a.  0.  auf  den  Zusammenhang  der  bei  Qadesch  erwähnten  Takkara 
mit  den  Teukreru  und  Teukros  aufmerksam,  der  in  einigen  bei  den 
Ausgrabungen  von  Eukomi-Salamis  gefundenen  Gegenständen  eine  archäo- 
logische Stütze  findet  (Antike  Gemmen  HI,  S.  436  —  9)  Der  andere 
Strom,  die  Vorfahren  der  Griechen  ergossen  sich  in  den  südlichen  Teil 
der  Halbinsel,  überall  die  eigene  Art  bewahrend,  wo  sie  zahlreich 
genug  waren,  wie  in  Mittelgriechenland,  weiter  nach  Süden  dagegen 
die  sogenannte  mykenische  Mischkultur  erzeugend.  Beide  Völkerströ- 
mnngen  erscheinen  als  ein  langdauerndes  Vorwärtsschieben  und  -drängen; 
die  letzten  Ausläufer  der  westlichen  Strömung,  die  in  nord-südlicher 
Richtung  vor  sich  ging,  mögen  die  Aqaiwascha  gewesen  sein,  die  samt 
ihren  Bundesgenossen  um  1200  von  König  Merneptah  bei  Prosopis  be- 
siegt wurden:  die  des  östlichen  phrygischen  Zweiges  fanden  ein  Menschen- 
alter  später  vor  Migdol  durch  Ramses  III.  den  Untergang.  Die  letzte 
Phase    der  ganzen  Bewegung,    die  dann  wesentlich  auf  das  eigentliche 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  13 

Griechenland  beschränkt  blieb,  ist  die  dorische  Wanderung-,  deren  her- 
gebrachte Datierung-  möglicherweise  gar  nicht  so  sehr  von  der  Wahrheit 
abweicht. 


Zweites  Kapitel. 
Das  griecnische  Mittelalter. 

De  Sanctis,  'Ar^u.  Storia  della  Republica  Ateniese  dalle  origine 
alle  riforme  di  Clistene.     Koma  1898. 

Ed.  Meyer,  Forschungen  zur  griechischen  Geschichte.  Zweiter 
Band.     Halle  1899. 

C.  Niebuhr,  Einflüsse  orientalischer  Politik  in  Griechenland  im 
6.  u.  5.  Jahrh.  Mitt.  der  Vorderasiat.  Gesellschaft  1899.  3.  Heft. 
Berlin. 

J.  B.  Bury,  A  history  of  Greece.     London  1900. 

H.  Swoboda,  Griechische  Geschichte.  Samml.  Göschen,  Leipzig 
1901. 


U.  V.  "Wilamowitz,   die  lebenslänglichen  Archonten.    Herrn.  33, 
119—129  (1898). 

J.  Kirchner,  zur  Datierung  einiger  attischer  Archonten.    1.  Der 
Archon  Damasias.    Rhein.  Mus.  1898,  380  ff. 

A.  Wilhelm,  der  älteste  attische  Volksbeschluß.    Mitt.  d.  Archäol. 
Inst.    1898.     S.  466—492. 

L.  Ziehen,    die  drakontische  Gesetzgebung.    Rhein.  Mus.  1899. 
S.  321  ff. 

"W.  Judeich,  der  älteste  attische  Volksbeschluß.   Mitt.  d.  Archäol. 
Inst.     1899.     S.  321-338. 

V.  Costanzi,  preistoria  e  protistoria  dell'  Attica  (Rezension  v. 
de  Sanctis  Atthis).     Rivista  di  Storia  autica  1899     p,  189 — 208. 

Ed.  Schwartz,  Tyrtäos.     Herrn.  1899  S.  427—468. 

J.  Bei  och,  zur  Geschichte  des  Eurypontidenhauses.    Herrn.  1900 
S.  254—261. 

Wilisch,   zur  Geschichte  des   alten  Korinth.     Progr.  des  Gym- 
nasiums zu  Zittau  1901. 


134  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

F.  Jacob y,    die    attische  Köuigsliste.     I.     Beitr.    z.    alten  Ge- 
schichte.    1902.    II,  406—439. 

Costanzi,  La  Guerra  Lelantea.     Atene  e  Roma  Dec.  1902. 

Pauly-Wispowa,    Eealencyklopädie :    Artikel  Charillos,  Chilon 
(Niese),  Chalkis  Chersonesos  (Bürchner),  Dareios  I  (Swoboda). 


Für  die  Zeit  vom  Einbruch  der  Gebirgsstämme  bis  zu  deu  Perser- 
kriegen hat  zuerst  Eduard  Meyer  mit  glücklichem  Griff  die  Bezeichnung 
des  griechischen  Mittelalters  gewählt:  in  der  Tat  bietet  die  Geschichte 
der  Griechen  sowohl  in  ihrer  gesamten  Entwickelung  wie  in  einzelneu 
Zügen  manche  interessante  Parallelen  zur  Geschichte  der  abendlän- 
dischen Völker  in  der  Periode,  die  wir  im  besonderen  Sinne  das  Mittel- 
alter zu  nennen  gewohnt  sind.  Dennoch  bilden  unverkennbar  in  dem 
genannten  Zeitraum  die  letzten  Jahrzehnte  des  siebenten  Jahrhunderts 
einen  gewissen  Abschnitt.  Bis  dahin  konnten  die  Griechen  sich  wesent- 
lich aus  sich  selbst  heraus  und  ohne  Einwirkung  von  außen  her  ent- 
wickeln, auch  stand  ihrer  Ausbreitung  über  das  östliche  Becken  des 
Mittelmeeres  und  seiner  Anhängsel  eigentlich  nirgends  ein  ernstliches 
Hindernis  entgegen.  Um  620  herum  aber  haben  die  Griechen  so  ziem- 
lich das  ganze  Gebiet  erfüllt,  das  noch  lür  sie  verfügbar  war;  und  mit 
der  Notwendigkeit,  sich  auf  dem  gegebenen  ßaum  einzurichten,  beginnen 
nun  die  Kämpfe  innerhalb  der  griechischen  Welt,  während  zugleich  der 
Augenblick  gekommen  ist,  wo  die  Politik  der  mächtigen  Nachbarn  in 
Ost  und  West  mitbestimmend  in  die  Geschichte  des  griechischen  Volkes 
einzugreifen  sich  anschickt. 

Das  erste  leidlich  beglaubigte  historische  Faktum  der  griechischen 
Geschichte  bleibt  immernoch  die  dorische  Wanderung:  der  Versuch 
Belochs,  auch  sie  ius  Gebiet  der  Fabel  zu  verweisen  und  als  das  Er- 
gebnis einer  rationalistischen  Geschichtsschreibung  zu  erklären,  die  den 
klaffenden  Zwiespalt  zwischen  den  Zuständen  zur  Zeit  Homers  und  der 
Wirklichkeit  auszufüllen  suchte,  kann  im  allgemeinen  als  von  der  For- 
schung zurückgewiesen  gelten.  Doch  kenneu  wir  von  der  Wanderung 
selbst  nur  die  allgemeinsten  Umrisse:  daß  der  Stoß  der  Eroberer  zu- 
nächst Westhellas  betraf  und  dort  die  blühenden  Landschaften  um  Ka- 
lydon  verheerte,  erscheint  allerdings  sicher;  ob  aber  der  eigentliche  Ein- 
bruch in  die  Peloponnes  von  Nordwesten  her  über  Naupaktos  oder  über 
den  Isthmos,  was  allerdings  der  natürlichste  Weg  gewesen  wäre,  oder 
gar  zur  See  von  Südosten  und  Osten  vor  sich  ging,  das  läßt  sich  mit 
den  gegenwärtigen  Mitteln  der  Forschung  kaum  mit  Sicherheit  aus- 
machen.   Doch  ist  zu  beachten,  daß  die  dorische  Eroberung  hauptsäch- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  135 

lieh  die  Ost-  und  Südküste  betraf,  also  jene  Landschaften,  die  durch 
die  Besiedelung  der  Inseln  und  Kleinasiens  an  Volkskraft  stark  ge- 
schwächt waren:  in  der  Tat  erscheint  es,  als  ob  die  frühere  Ansicht 
wonach  die  Kolonisation  der  kleinasiatischen  Westküste  eine  Folge  der 
dorischen  Wanderung-  wäre,  vielmehr  umzudrehen,  und  die  Kolonisation, 
die  dem  Mutterland  die  Kräfte  entzog",  als  eine  Vorbedingung-  des  Sieges 
der  Eroberer  aufzufassen  sei.  Im  übrigen  ist  die  Geschichte  der  do- 
rischen Wanderung  ein  schwer  zu  entwirrender  Sagenkomplex,  aus  dem 
Bury  in  seiner  Darstellung  S.  58  ff.  meiner  Ansicht  nach  viel  zu  viel 
einzelne  Züge  als  geschichtlich  entnommen  hat.  Ganz  bekannt  und  auch 
von  Bury  S.  80  angenommen  ist  der  spätere  Ursprung  der  Sage  von 
er  Rückkehr  der  Herakleiden,  die  aber  wohl  nicht  allzulange  nach 
dem  Einbruch  entstanden  sein  kann,  da  sie  offensichtlich  den  Zweck 
hat,  die  Invasion  als  eine  rechtmäßige  Wiedereroberung  darzustellen. 
In  dieser  Hinsicht  bietet  die  Geschichte  der  germanischen  Stämme  eine 
genaue  Parallele:  in  der  deutschen  Heldensage  wird  im  Gegensatz  zur 
historischen  Wirklichkeit  die  Eroberung  Italiens  durch  den  Ostgoten  Theo- 
derich als  eine  Rückkehr  des  aus  seinem  Erbe  durch  Otaker  vertriebeneu 
rechtmäßigen  Besitzers  aufgefaßt.  Möglicherweise  kann  dabei  ja  die 
Erinnerung  an  die  frühere  Okkupation  durch  die  stammverwandten  West- 
goten mitgewirkt  haben,  und  partielle  vorübergehende  Besitzergreifungen 
mögen  ja  auch  der  dorischen  Wanderung  voranfgegangeu  sein:  allein  der 
Hauptwert  der  Parallele  liegt  darin,  daß  sie  zeigt,  mit  welcher 
Schnelligkeit  sich  die  historischen  Verhältnisse  im  Gedächtnis  der  Völker 
in  wesentlichen  Punkten  verwischen,  sofern  die  Sagenbildung  in  diesem 
Falle  noch  vor  550  vor  sich  gegangen  sein  muß,  da  sie  nach  der  Ver- 
nichtung des  Ostgotenreiches  in  Italien  keinen  Sinn  mehr  gehabt  hätte. 
Sonach  kann  die  Sage  von  der  Rückkehr  der  Herakleiden  in  sehr  alter 
Zeit  schon  wenige  Geschlechter  nach  der  Besitzergreifung  entstanden 
sein,  die  durch  sie  legitimiert  werden  sollte,  und  insofern  erlaubt  sie 
auch  wohl  den  Schluß,  daß  Messenien  gleichfalls  von  den  Doriern  mit- 
erobert worden  ist,  was  bekanntlich  Niese  in  Zweifel  gezogen  hat 
(Herrn.  26).  Mögen  auch  einzelne  Züge  der  Sage  hinzuerfunden  sein, 
in  ihrem  Kern  ist  sie  wohl  uralt,  da  später  eine  rechte  Veranlassung 
zu  ihrer  Entstehung  nicht  mehr  vorhanden  war.  —  Mit  der  Eroberung 
des  Peloponnes  gleichzeitig  oder  nur  wenig  später  muß  auch  die  Be- 
siedelung  der  südägäischen  Inseln  und  der  dorischen  Städte  an  der 
Westküste  Kleiuasieus  vor  sich  gegangen  sein,  wenigstens  war  sie  längst 
abgeschlossen,  als  um  die  Mitte  des  8.  Jahrhunderts  die  zweite  Kolo- 
nisation^periode  einsetzte. 

Zwischen  diesen  beiden  großen  Bewegungen    liegt  ein  Zeitraum 
der  griechischen  Geschichte,  den  fast  vollständiges  Dunkel  umhüllt,  was 


136  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

nm  so  schlimmer  ist,  als  in  ihm  sich  offenbar  die  wichtigsten  wirtschaft- 
lichen und  politischen  Umwälzungen  vollzogen  haben.  In  ihn  fällt  nicht 
nur  der  Niedergang  des  Königturas  und  das  Aufkommen  der  Adels- 
aristokratie, sondern  auch  die  Entstehung  der  größeren  Stadtgemeinden, 
die  freilich  schon  in  vorhistorischer  Zeit  an  Stätten  wie  Knossos.  Mykene, 
Athen,  vielleicht  auch  Korinth  ihren  Anfang  genommen  haben  muß. 
Den  inneren  Zusammenhang  dieser  Bewegung  hat  Bury  in  wenigen 
glücklichen  Sätzen  S.  73  ff.  dargestellt.  Allein  eben  in  diese  Periode 
gehört  auch  unzweifelhaft  die  letzte  scharfe  Ausbildung  des  Privateigen- 
tums an  Grund  und  Boden  mit  allen  ihren  wirtschaftlichen  und  poli- 
tischen Folgen,  und  gerade  in  dieser  Beziehung  empfinden  wir  die 
Mängel  unserer  Überlieferung  besonders  schwer,  (rewöhnlich  nimmt 
man  an,  daß  nach  einem  Gesetz,  dem  alle  wirtschaftliche  Entwickelung- 
unterliege,  auch  bei  den  Griechen  dem  Privateigentum  das  Familien- 
eigentum voraufgegaugen  sei,  und  wesentlich  daiauf  hat  Guiraud  (La 
propriete  fonciere  en  Grece  Paris  1893)  seine  These  begründet,  daß  in 
homerischer  Zeit  das  Familieneigentum  an  Grund  und  Boden  durchweg- 
die  Regel  gewesen  sei  und  daß  es  sich  in  den  meisten  griechischen 
Staaten  bis  in  verhältnismäßig  späte  Zeit  erhalten  habe.  Nun  ist  es 
ja  einleuchtend  genug,  daß  in  einer  Gesellschaft,  wie  der  homerischen, 
deren  Besitz  wesentlich  auf  der  Menge  des  Viehes  beruhte,  sich  das 
Anrecht  auf  die  Gemeinweide  auf  die  Zugehörigkeit  zur  Familie  be- 
gründete; dergleichen  Zustände  waren  zum  Beispiel  in  Gortyu  noch 
zur  Zeit  des  Gesetzes  nach  einer  unabweisbaren  Vet  mutung  Zitelmanns 
(Bücheler-Z.,  Recht  von  Gortyn  S.  139  f.)  noch  durchaus  die  Regel. 
Allein  man  darf  doch  nicht  Kommunal-  und  Familieneigentura  ver- 
wechseln und  daß  daneben  sich  auch  schon  in  homerischer  Zeit  nicht 
bloß  an  beweglicher  Habe,  sondern  auch  an  Gruud  und  Boden,  viel- 
leicht mit  der  Ausbildung  des  Ackerbaus,  das  Piivatvermögen  voll- 
ständig herausgebildet  hat,  das  lehren  die  homerischen  Gedichte  doch 
fast  auf  Schritt  und  Tritt.  Unzweifelhaft  fällt  also  die  Ausbildung  des 
Privateigentums  an  Giund  und  Boden  in  eine  bedeutend  frühere  Zeit, 
als  Guiraud  Wort  haben  will;  sie  war  um  die  Mitte  des  8.  Jalirhunderts 
wohl  schon  im  grol.'en  und  ganzen  abgeschlossen.  Doch  würde  es  ver- 
kehrt sein,  iu  dieser  Hiusiclit  überall  in  Griechenland  Uniformität  vor- 
aussetzen zu  wollen;  es  ist  klar,  daß  auf  dem  bereits  länger  von 
Hellenen  besiedelten  Boden  von  Osthellas  sich  andere  Verhältnisse 
herausgebildet  haben,  als  in  den  der  dorischen  Eroberung  anheim- 
gefallenen Landschaften.  Wie  sich  bei  einzelnen  Stämmen  desselben 
Volkes  auf  räumlich  benachbarten  Gebieten  die  größten  Verschieden- 
heiten herausbilden  können,  das  zeigt  die  Buntscheckigkeit  der  Ent- 
wickelung des  germanischen  Eigenturas-  und  Erbrechts,  und   sicherlich 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  137 

rinden  in  derartigen  uns  unbekannten  VcFSchiedenheiten  manche  eigen- 
tümlichen Züge  in  der  großen  zweiten  Kolonisationsperiode  ihre  Er- 
kUirung-. 

Über  die  Zeit  dieser  zweiten  Kolonisation  haben  wir  in  den 
Giündunssdaten  der  einzelnen  Siedelungen  eine  ganze  Reihe  genauer 
Angaben,  die  für  die  westgriecliischen  Kolonien  vvolil  auf  Autiochos  und 
den  in  chronologischen  Dingen  genauen  Timaios,  für  die  östlichen  ia 
letzter  Linie  auf  Ephoros  zurückgehen.  Wenn  nun  auch  diese  Forscher 
im  wesentlichen  auf  lokalen  Genealogien  fußten,  bei  denen  ja  mancherlei 
Fälschungen  möglich  waren,  und  wenn  auch  einzelnen  Daten  ganz  ent- 
schieden eigene  Konstruktion  zugrunde  liegt,  so  wird  man  doch  ihre 
Angaben  nicht  ohne  weiteres  von  der  Hand  weisen  dürfen.  Ein  wirk- 
lich grober  Irrtum  liegt  doch  nur  bei  dem  italischen  Kyme  vor,  wo  er 
offensichtlich  aus  einer  Verwechselung  mit  der  äolischen  Stadt  gleichen 
Namens  entstand;  andererseits  haben  die  Alten  mit  der  Ansetzutig  von 
Taras,  die  zwar  rein  auf  Konstruktion  beruht,  wie  Busolt  erwiesen  hat, 
doch  so  ziemlich  das  Richtige  getroffen.  Es  kann  daher  nicht  gebilligt 
werden,  wenn  Bury  S.  88  ff.  eine  gänzlich  willkürliche,  von  aller  Über- 
lieferung abweichende  Chronologie  gibt  und  die  östlichen  Kolonien  im 
Pontos  vor  den  notorisch  älteren  im  Westmeer  behandelt,  offenbar  nur 
aus  dem  Grunde,  weil  er  mit  Wilamowitz  den  ursprünglichen  Schauplatz 
der  Odyssee  ins  Schwarze  Meer  verlegt  und  erst  eine  spätere  Über- 
tragung auf  das  westliche  Alittelmeerbecken  annimmt.  Es  ist  ja  gar 
nicht  ausgeschlossen,  daß  die  kleinasiatischen  lonier  bereits  lange  nach 
dem  Schwarzen  Meer  Handel  trieben,  ehe  sie  dort  Kolonien  anlegten, 
und  möglicherweise  erklären  sich  so  die  sporadisch  von  einigen  Städten 
wie  Trapezus  ü'oerlieferteu  hohen  Gründungsdaten,  allein  daran  ist  kein 
Zweifel,  daß  die  große  Masse  der  ionischen  Pflanzstädte  im  Pontos 
zwischen  700  und  650  gegründet  worden  ist.  Im  großen  und  ganzen 
ergibt  die  Gesamtheit  aller  Gründungsdaten  doch  ein  durchaus  wahr- 
scheinliches Bild,  das  nicht  bloß  zu  dem  stimmt,  was  wir  sonst  über 
die  Geschichte  dieser  Zeit  wissen,  sondern  das  auch  durchaus  der  Art 
und  Weise  entspricht,  wie  sich  derartige  Bewegungen  sonst  in  der  Ge- 
schichte zu  vollziehen  pflegen ;  insbesondere  weist  die  Besiedelung  der 
übrigen  Erdteile  durch  Europa,  die  in  den  letzten  vier  Jahrhunderten 
vor  sich  gegangen  ist,  manche  überraschend  ähnlichen  Züge  auf.  Da- 
nach erscheinen  als  die  Pioniere  der  griechischen  Kolonisation  durchaus 
die  Chalkidier  und  die  Korinther,  die,  ihren  Handelsinteressen  folgend, 
von  750  ab  die  sizilische  und  unteritalische  Küste  besetzen,  wobei  jene 
die  wichtigsten  Positionen,  Kyme  und  Rhegion,  vorwegnehmen,  während 
Korinth  Kerkyi'a  als  Zwischenstation  nach  Italien  in  Besitz  nimmt  und 
die  epirotische  Küste  besiedelt;  charakteristisch  ist,  wie  einzelne  Grün- 


138  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

dungen  von  Rivalen,  wie  das  sizilische  Megara,  von  ihnen  durch  Be- 
siedelung  des  umliegenden  Landes  gleichsam  mattgesetzt  werden.  Wenige 
Jahrzehnte  später  schlägt  das  Kolonialfieber  auf  die  Korinth  benach- 
barten Landschaften  über;  von  Achaia  und  dem  westlichen  Lokris  aus 
erfolgt  die  Besiedelung  der  Küsten  des  tarentinischen  Golfs,  der  eigen- 
tümlicherweise von  den  ersten  Kolonisatoren  außer  acht  gelassen  war, 
offenbar  weil  der  gewöhnliche  Kurs  der  Handelsschiffe  von  Korkyra 
nach  St.  Maria  di  Leuca  und  von  dort  quer  hinüber  zum  lacinischen 
Vorgebirge  ging.  Was  diese  Stämme  zur  Auswanderung  bewogen  haben 
mag,  ob  Übervölkerung,  ob  die  Gestaltung  der  Eigentumsverhältnisse, 
ob  eine  durch  die  Erzählung  der  Korinther  angestachelte  Abenteurerlust 
oder  was  das  wahrscheinlichste,  alles  dieses  zusammen,  das  wissen  wir 
nicht:  sicher  dagegen  ist,  daß  Kroton,  Sybaris,  Metapont,  Lokioi  ur- 
sprünglich Ackerbaukolonien  waren  und  erst  dadurch  zu  Handelsstädten 
wurden,  daß  der  ionische  Handel  ins  Westmeer,  dem  durch  die  ver- 
bündeten Koukun-enten  Chalkis  und  Korinth  der  natürliche  Weg  durch 
die  Straße  von  Messina  verschlossen  war,  nunmehr  über  die  Städte  des 
Golfs  nach  der  Küste  des  Tyrrhenischen  Meeres  geleitet  ward,  was 
sowohl  die  ionische  Gründung  von  Siris  wie  die  andauernd  guten  Be- 
ziehungen dieser  Städte  zu  Milet  erklärt.  —  Zum  zweitenmal  erweisen 
f;ich  dann  die  Chalkidier  als  Bahnbrecher  der  griechischen  Kolonisation, 
als  sie  im  Anfang  des  7.  Jahrhunderts  die  thrakische  Xordküste  be- 
setzen, vor  allem  die  nach  ihnen  genannte  Chalkidike;  sofort  folgen  ihnen 
die  befreundeten  Korinther  mit  Poteidaia,  aber  auch  die  rivalisierenden 
Eretrier  auf  Pallene,  Andres  auf  Akte;  weiterhin  wird  Abdera  von 
Inselgriecheu  begründet,  alles  ein  Beweis,  wie  damals  die  koloniale  Be- 
wegung um  sich  zu  greifen  beginnt.  Aber  noch  immer  rühren  sich  die 
asiatischen  Griechen  nicht,  denen  bis  dahin  ein  reiches  Hinterland  zur 
Verfügung  gestanden  hat,  bis  endlich  die  Abschließung  dieses  Hinter- 
landes durch  das  lydische  Königtum  der  Mermnadeu  erfolgt,  und  nun 
besiedeln  die  lonier  unter  Führung  Milets  von  675—650  in  rascher 
Folge  die  Küsten  des  Schwarzen  Meeres  und  der  Propontis.  wobei  es 
als  ein  Zeichen  der  Handelsfreundschaft  mit  Megara  anzusehen  ist,  daß 
den  Megareru  die  ungemein  wichtige  Position  von  Byzanz  und  Chalkedon 
am  Eingang  des  Bosporos  überlassen  bleibt.  Damit  war  so  ziemlich 
alles  zunächst  verfügbare  Land  besetzt  und  die  Kolonisation  würde  auf- 
gehört haben,  wenn  nicht  gerade  damals,  um  die  Mitte  des  7.  Jahr- 
hunderts, Egypten  dem  Verkehr  geöffnet  und  Naukratis  als  eine  Art 
von  antikem  Schanghai  gegründet  worden  wäre.  Auch  hier  waren  die 
asiatischen  Griechen  die  ersten  und  es  gelang  ihnen,  die  konkurrieren- 
den Haudelsmächte  Chalkis  und  Korinth  gänzlich  fernzuhalten,  nur 
Korinths    neuer    Rivale,    Aigina,    erhielt    den   Zutritt.     Zwanzig  Jahre 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  139 

später  erfolgte  dann  noch  die  ganz  isoliert  dastehende  Gründung  von 
Kyrene;  sonst  ist  die  griechische  Kolonisation,  die  um  750  begonnen 
hatte,  ein  Jahrhundert  später  bereits  abgeschlossen.  Spätere  Aus- 
wanderer mußten  schon  in  das  gefährliche  westliche  Mittelraeer,  wo 
Karthager  und  Tyrrhener  herrschten.  Von  allen  dorthin  unternommenen 
Versuchen  hat  nur  die  phokäische  Gründung  Massalia  sich  behaupten 
können  —  und  wie  schwierig  es  nach  und  nach  ward,  zur  Kolonisation 
geeignete  Plätze  zu  finden,  zeigt  die  Geschichte  von  dem  unglücklichen 
Dorieus,  die  Herodot  erzählt  hat. 

Im  ganzen  ergibt  sich  aus  der  vorstehenden  Übersicht  doch  mit 
Sicherheit,   daß  es  wesentlich  Handelsinteressea  gewesen  sind,   die  der 
zweiten  helleDischeu  Kolonisation  Antrieb  und  Richtung  gegeben  haben; 
wie  Swoboda  (S.  26)  zu  der  Behauptung  kommt,  alle  älteren  Kolonien 
seien  Ackerbaukolonieu  gewesen,  ist  mir  rätselhaft,  denn  wenn  es  auch 
unzweifelhaft  ist,    daß   mit  jeder  Besiedelung  eine  Landaufteilung  ver- 
bunden war,    so  berechtigt  das  doch  nicht  zu  einem  derartig  generali- 
sierenden Urteil.     Dieses    trifft    vielmehr  nur    auf  die    achäischen  Ko- 
lonien am   tarentiuischen  Golf  zu,    bei   denen    in    der  Tat  Landhunger 
das  treibende  Motiv  gewesen  sein  mag,  und  diese  haben  denn  auch  einen 
besonders   starken  Zusammenhang  mit    dem  Mutterlande    bewahrt:    mit 
Recht  weist  Bury  (S.  144)  darauf  hin,  daß  die  olympischen  Spiele  aus 
einer  Vereinigung  wesfgiiechischer  Stämme  mit  ihren  Stammesgenossen 
über  See  hervorgegangen  sind;  darauf  deutet  nicht  bloß  ihre  für  West- 
griecheuland  zentrale  Lage,  sondern  auch  der  Umstand,  daß  der  xlnfang 
des  Siegerverzeichuisses  fast  nur  achäische  Xamen  enthält.    Indes  auch 
die  Städte  am  tarentinischen  Golf  haben  sich  bald  zu  Haudelsemporien 
ausgebildet  und  auch  das  weist  auf  kommerzielle  Gründe  als  treibende 
Kraft  hin,    daß  fast  nur  Handelsstaaten    sich  an  der  Kolonisation  be- 
teiligten, während  Argos,  Elis,  Athen  trotz  ihrer  maritimen  Lage  keinen 
Anteil  genommen  haben.     Sicherlich  sind  daneben  auch  andere  Gründe 
wie  Unzufriedenheit  einzelner  hervorragender  Männer,  Parteikämpfe  usw. 
maßgebend   für  die  Kolonisation,    aber  im  Grunde    war    es  doch  eben 
das  kommerzielle  Interesse,  das  damals  die  griechische  Welt  hauptsächlich 
beherrschte.   Sieht  man  sich  aber  das  Gesamtergebnis  der  Kolonisation 
an,    so  ist  keine  Frage,    daß  die  kleinasiatischen  lonier    und  an  ihrer 
Spitze  Milet,    weitaus  am  günstigsten    abgeschnitten  hatte,    obwohl  sie 
erst    verhältnismäßig    spät    in    die    Kolonisationstätigkeit    eiogetreten 
waren.     Seitdem  Cbalkis  und  Korinth    ihnen    die  Straße    von  Messina 
verschlossen  hatten,  ging  ihre  Handelsstraße  nach  Westen  über  Aigina 
und  Megara  und  weiter  über  die  achäischen  Kolonien  und  ihre  Depen- 
denzen   am  Tyrrhenischen  Meer.     Vielleicht    haben    auch    sie  Korkyra 
als  Stützpunkt  benutzt,    und    so    würde   sich  das  sofort  feindliche  Ver- 


140  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

hältnis  zwischen  Korinth  und  Kerkyra  daraus  erklären,  daß  dieses  eben 
nicht  rein  korinthische  Handelspolitik  trieb,  sondern  die  Gunst  seiner 
Lage  ausnützte,  um  auch  den  loniern  zu  dienen.  Nach  Osten  hin  be- 
herrschten die  lonier  den  Pontes  allein,  wo  nur  das  befreundete  Megfara 
Anteil  an  der  Kolonisation  hatte,  und  ebenso  war  der  Verkehr  mit 
Ägypten  die  eifersüchtig  bewachte  Domäne  der  lonier,  zu  der  von  allen 
Festlandgriechen  nur  Aigina  zugelassen  war.  Demgegenüber  herrschte 
der  Zweibund  Chalkis-Korinth  im  Westen  und  ausschließlich  an  der 
thrakischen  Nordküste  des  Ägäischen  Meeres,  indessen  hat  man  im  Laufe 
des  siebenten  Jahrhunderts  oifenbar  von  Korinth  aus  versucht,  auch  in 
den  übrigen  Handelsgebieten  festen  Fuß  zu  fassen  und  sich  zu  diesem 
Behufe  wohl  mit  dem  ewig  gegen  Milet  in  Krieg  liegenden  Samos  ver- 
bündet. Wenigstens  wird  es  kein  Zufall  sein,  daß  um  die  Mitte  des 
7.  Jahrhunderts  Korinth  den  euböischen  Münzfuß  annahm,  der  auch  auf 
Samos  herrschte,  und  auf  alte  Beziehungen  deutet  auch  die  Notiz  des 
Thukydides  (1.  13),  daß  der  Koiinther  Ameinokles  um  700  herum  den 
Samiern  Schifte  gebaut  habe.  Doch  wußte  Milet  den  Zug  dadurch  zu 
parieren,  daß  es  nun  seinerseits  mit  Eretria  anknüpfte  und  dadurch  zu 
der  ihm  bisher  verschlossenen  thrakischen  Nordküste  Zutritt  gewann. 
Die  räumliche  Annäherung  der  rivalisierenden  Interessen  in  Chalkis- 
Eretria  und  Milet-Samos  hat  dann  zu  vielfachen  Reibereien  und  endlich 
zum  Ausbruch  des  lelantischen  Krieges  geführt,  der  sich  bald  zu  einem 
allgemeinen  Handelskrieg  auswnchs.  Von  ihm  wird  später  die  Rede 
sein;  jetzt  gilt  es  zunächst,  die  innere  Entwickelung  Spartas  und  Athens 
im  Lichte  der  neuesten  Forschung  zu  betrachten. 

Es  kann  nach  den  grundlegenden  Untersuchungen  der  hervor- 
ragendsten Forscher  nicht  mehr  als  zweifelhaft  angesehen  werden,  daß 
die  gesamte  Lykurgtradition,  wie  sie  am  vollständigsten  in  Plutarchs 
Lykurgos  vorliegt,  tils  eine  Konstruktion  durch  Rückdatierung  aus  ver- 
hältnismäßig später  Zeit  betrachtet  werden  muß,  in  der  es  für  uns 
schwer  ist,  Fiktion  und  geschichtliche  Wahrheit  zu  unterscheiden.  Dem- 
nach sind  wir  für  die  Urgeschichte  Spai  tas  auf  mehr  oder  minder  wahr- 
scheinliche Vermutungen  angewiesen,  und  dies  gilt  gleich  anfangs  von 
der  Entstehung  der  Stadt  selber,  der  den  meisten,  und  so  auch  Bury 
(S.  120)  als  ein  Synoikismos  mehrerer  kleiner,  später  noch  als  Quartiere 
weiterbestehender  Ortschaften  erscheint.  Die  auf  die  Weise  entstandene 
Stadt  gewann  allmählich  die  Herrschaft  über  das  umliegende  Land  und 
seine  Bewohner,  deren  Name  Periöken  dies  Verhältnis  andeutet  Daraus 
geht  zunächst  nicht  ganz  klar  hervor,  ob  sich  Bury  die  Periöken  selbst 
als  dorischen  Stammes  denkt,  wie  z.  B.  Niese  (Histor.  Zeitschrift  26,  58) 
tut,  oder  ob  er  der  verbreiteteren  Annahme  gemäß  in  ihnen  eine  vor- 
dorische Bevölkerung  sieht.     Aber    auch  in  betreff  jenes  Synoikismos, 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lcnschau.)  141 

der  bei  Biuy  ah  eine  Art  spontanen  Aktes  erscheint,  wird  man  anderer 
Ansicht  sein  dürfen:  der  vollkommen  militärische  Charakter,  den  die 
spartanische  Verfassiiug  später  trägt,  legt  es  doch  nahe,  auch  die  Ent- 
stehung der  Stadt  selbst  und  den  Ursprung  der  Verfassung  in  einer 
militärischen  Notwendigkeit  zu  suchen.  Nun  sind  wir  ja  über  die  Vor- 
gänge bei  der  Eroberung  nicht  unterrichtet,  nimmt  man  aber,  etwa 
nach  Analogie  der  germanischen  Reiche  in  der  Völkerwanderung  an, 
daß  die  vielleicht  nicht  allzu  zahlreichen  Eroberer  in  den  Genuß  der 
Ländereien  des  unterworfenen  Volkes  eingewiesen  wurden  und  sich 
6omit  über  das  ganze  Gebiet  verteilten,  so  mußten  sich  bei  hinreichender 
Anzahl  der  unterworfenen  Bevölkerung  leicht  lokale  Aufstände  bilden, 
die  wenigstens  zuerst  stets  mit  Menschenverlust  für  die  Eroberer  ver- 
bunden waren  und  bei  ihrer  Zersplitterung  über  das  ganze  Land  hin 
erst  allmählich  unterdrückt  wurden.  Mithin  erschien  es  vom  militärischen 
Standpunkt  aus  zweckmäßiger,  die  Eroberer  auf  einem  Punkt  zu  steter 
Kriegsbereitschaft  zu  vereinigen,  um  von  dieser  zentralen  Stelle  aus 
das  Land  in  Gehorsam  zu  ei halten,  eine  Maßregel,  wie  sie  unter 
ähnlichen,  aber  gi  ößeren  Verhältuissen  Gaiserich  anwandte,  als  er  seine 
Wandalen  rings  um  Karthago  herum  ansiedelte.  Waren  also  die  Vor- 
bedingungen für  diesen  Syuoikismos  in  dem  Vorhandensein  einer  starken 
vordorischen  Bevölkeruug  gegeben,  so  kann  die  zentralisierende  Be- 
wegung einer  natürlichen  Landesteiiung  folgend  sich  in  Nord-  und  Süd- 
lakonien  getrennt  vollzogen  haben,  möglicherweise  waren  Sparta  und 
Amyklai  die  beiden  Zentrallager,  die  erst  später  vereinigt  wurden. 
Im  selben  Maße  aber,  wie  das  in  Unterwerfung  zu  erhaltende  Terri- 
torium wuchs,  ward  die  Aufgabe  der  Eroberer  natürlich  immer  schwieriger 
und  so  würde  sich  ganz  gut  die  zuerst  von  Ed.  Meyer  hervorgehobene 
Tatsache  erklären,  daß  das  alte  Sparta  wesentlich  freiere  Lebensformen 
gehabt  hat  als  die  spätere  Zeit;  die  Eroberung  Messeniens  und  die 
daraus  hervorgehende  Erweiterung  des  Gebietes  werden  es  gewesen  sein, 
die  trotz  der  natürlichen  Vermehrung  des  dorischen  Herreuvolkes  eine 
immer  stärkere  Inanspruchnahme  des  einzelnen  und  eine  immer  straffere 
Ausbildung  der  militärischen  Disziplin  nach  sich  gezogen  haben.  Über 
die  Eroberung  selbst  sind  wir  sehr  mangelhaft  unterrichtet.  Sicher  ist 
nur  soviel,  daß  sie  unter  König  Theopompos  stattfand,  daß  sie  noch 
ins  8.  Jahrhundert  zu  setzen  ist,  und  daß  sie  mit  der  Besiedelung  von 
Tarent  irgendwie  in  Zusammenhang  stand,  wobei  jedoch  die  Art  der 
Beziehung  nicht  mehr  zu  ermitteln  ist.  Entweder  man  nimmt  an,  daß 
die  Kolonisten  dorischen  Stammes  sind,  dann  würde  sich  der  Name 
Parthenier  ganz  gut  erklären;  denn  es  ist  an  sich  sehr  wohl  möglich, 
daß  das  natürliche  Anwachsen  der  dorischen  Bevölkerung  einen  Mangel 
au    Landlosen    und    dadurch    eiue  Erschwerung    der  Familiengründung 


142  Jabresbericbt  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

sowie  ein  AnwacLsen  der  unehelichen  Geburten  hervorrief.  Alsdann 
hat  eben  die  Gefahr,  durch  Kolonisation  die  besten  Kräfte  zu  verlieren, 
die  Machthaber  Spartas  zn  jener  Eroberungspolitik  geführt,  die  sich 
zuerst  mit  Erfolg-  gegen  Messenien  richtete.  Danach  vväie  die  Gründung 
von  Taras  die  Veranlassung  zum  Kriege  gewesen,  und  da  sie  später 
als  die  der  ersten  achäischen  Kolonien,  also  wohl  nicht  vor  720  erfolgte, 
so  müßte  der  Krieg  in  die  letzten  Jahrzehnte  des  ausgehenden  Jahrhunderts 
fallen.  Oder  aber  man  hält  mit  Geffcken  die  Ansiedler  von  Tarent 
für  Achäer,  die  die  Heimat  verließen,  offenbar  nachdem  die  schärfere 
militärische  Beherrschung  des  Landes,  die  nach  der  Eroberung  Messeniens 
eintrat,  die  Eeste  einer  selbständigen  Urbevölkerung  vollständig  zu  er- 
drücken drohte.  Dann  ist  die  Gründung  Tarents  eine  Folge  des  messe- 
nischen Krieges,  der  somit  in  das  dritte  und  vierte  Jahrzehnt  des  Jahr- 
hunderts zu  setzen  wäre,  was  mehr  zu  der  traditionellen  Datierung 
stimmen  würde. 

Noch  weniger  sicher  ist  die  Ansetzung  des  zweiten  messenischen 
Krieges.  Daß  das  TraTsptuv  yjij.£T£pcdv  TiarspEj  bei  Tyrtaios  ebensowohl 
'unsere  Vorfahren'  als  'unsere  Großväter'  bedeuten  kann,  hat  schon 
Beloch  gesehen;  dennoch  ist  es  im  allgemeinen  immer  üblich  gewesen, 
den  Aufstand  des  Aristomenes  etwa  80  Jahre  später  als  den  ersten 
Eroberungskrieg  anzusetzen,  also  etwa  zwischen  660  und  620,  bis 
Eduard  Schwartz  in  seinem  obengenannten  Aufsatz  „Tyrtäos"  eine 
wesentlich  neue  Theorie  aufgestellt  hat.  Schw.  weist  zunächst  nach, 
daß  sowohl  Sosibios  wie  Apollodor,  auf  deren  Angaben  wesentlich  die 
Chronologie  beruht,  jene  Worte  des  Tyrtaios  mit  „Großväter"  über- 
setzten und  danach  eben  einen  Zwischenraum  von  etwa  80  Jahren  an- 
nahmen, sodann  aber  zeigt  er,  daß  es  im  Altertum  noch  eine  ab- 
weichende Ansicht  gab,  die  des  bei  Pausanias  (IV,  15  sqq.)  benutzten 
alexandrinischen  Dichters  Rhianos  von  Kreta,  der  in  seinem  Epos 
Messeniaka  den  Krieg  unter  König  Laotychidas,  d.  h.  also  an  den 
Beginn  des  fünften  Jahrhunderts  setzte.  Diese  Tradition,  die  Schw. 
sofort  als  die  richtige  erkennt,  ist  bis  auf  geriuge  Überbleibsel  ver- 
schollen. Doch  scheint  sie  bei  Plat.  Ges.  6,  362  vorzuliegen  und  auch 
Apollodor  scheint  sie  im  Sinne  gehabt  zu  haben,  wenn  er  (bei  Strab. 
362)  von  vier  messenischen  Kriegen  redet.  In  diesen  Aufstand  fällt 
nun  die  V/irksamkeit  des  Tyrtaios,  der  also  um  die  Wende  des  6.  und 
5.  Jahrhunderts  v,  Chr.  blühte,  und  jener  zweite  Krieg,  der  Aufstand  des 
Aristomenes,  ist  nur  eine  Erdichtung,  die  sich  aus  der  wörtlichen  Inter- 
pretation jener  obengenannten  Worte  des  Tyrtaios  unter  dem  Einfluß 
der  Wiederherstellung  Messeniens  durch  Epamiuondas  gebildet  hat.  In 
Wahrheit  fällt  der  gefährliche  Aufstand  der  Messenier,  auf  den  sich 
Tyrtaios' Gedichte  beziehen,  eben  unter  Laotychidas,  und  von  dieser  durch 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Leaschau.)  143 

ihn  neu  erschlossenen  Tatsache  aus  ergeben  sicli  für  Schw.  die  wichtigsten 
Zusammcnhänsie  mit  der  auswärtigen  Politik  Spartas  von  500  bis  490 
und  ihren  eigentümlichen  Schwankungen:  die  anfängliche  Unterstützung 
der  lonier  und  ihre  Preisgabe  nachher,  sowie  die  unzulängliche  Unter- 
stützung Athens  vor  der  Marathonschlacht  erklärt  Schw.  daraus,  daß 
Sparta  eben  damals  zu  Hause  einen  Kampf  auf  Leben  und  Tod  mit  den 
aufständischen  Messeniern  zu  führen  hatte.  Sodann  geht  Schw.  dazu 
über,  mit  großem  Scharfsinn  und  unleugbarem  Geschick  die  Entstehung 
der  Tradition  vom  zweiten  raeissenischen  Kriege  zu  erweisen.  —  Dennoch 
ruhen  alle  diese  Behauptungen  auf  einer  wenig  soliden  Grundlage,  wie 
JBeloch  in  dem  Aufsatz  „Zur  Geschichte  des  Eurypontidenhauses'- 
(Herm.  22)  dargetan  hat.  Schw.  sieht  in  Laotychidas  ohne  weiteres 
den  bekannten  Spartanerkönig,  der  dem  Damaratos  nach  dessen  Ab- 
setzung folgte  und  dessen  Teilnahme  an  der  Schlacht  am  Mykale  479 
jedem  geläufig  ist.  Seine  Mitkönige  aus  dem  Agiadenhause  waren 
Kleomeues  I.  und  Leouidas;  allein  aus  dem  Verlauf  der  Erzählung  des 
Pausanias  ergibt,  daß  nach  Rhianos  der  dem  Laotychidas  gleich- 
zeitige x\giade  Auaxandros  hieß  (Paus.  4,  16  f.),  der  reichlich 
100  Jahre  früher  regierte.  Das  Rätsel  löst  sich,  sobald  man  die 
beiden  bei  Herodot  erhaltenen  Königslisten  des  Agiadeu-  und  des 
Eurypontidenhauses  gegeneinanderhält.  Nach  Herodot  8,  131  war  die 
Reihenfolge  seit  Theopompos  diese:  Auaxandridas,  Archidamos,  Anaxi- 
laos,  Laotychidas,  Hippokratidas,  Menares,  Agasilaos,  Laotychidas.  Von 
diesen  waren  die  beiden  vorletzten,  wie  Herodot  hinzufügt,  nicht  Könige; 
also  muß  nach  Hippokratidas  das  Königtum  auf  die  jüngere  Linie  des 
Eurypontidenhauses  übergegangen  sein,  aus  der  Her.  drei,  Agasikles, 
Ariston,  Damaratos  als  Könige  bezeichnet:  mit  der  Absetzung  des  letzt- 
genannten ist  also  die  ältere  Linie  wieder  zur  Regierung  gekommen, 
und  zwar  mit  Laotychidas  II.  Vergleicht  man  die  Agiadenliste 
(Her.  7,  204) ,  so  entspricht  Laotychidas  L  genau  dem  Agiaden 
Anaxaudros,  und  es  ist  somit  klar,  daß  Rhianos  nach  derselben  Liste 
gerechnet  und  daß  der  von  ihm  erzählte  Aufstand  des  Aristomenes  unter 
Laotychidas  I.,  d.  h.  also  etwa  ein  Jahrhundert  früher  fällt,  als  Schwartz 
annimmt;  wir  kommen  damit  auf  die  Zeit  um  600  hei'um.  Nun  ist 
allerdings  richtig,  daß  man  bis  dahin  bei  Her.  8,  131  die  Worte  tz^v  tüjv 
ouo  in  t:Xtjv  twv  srxa  geändert  hat,  wodurch  Laotychidas  I.  aus  der 
Königsreihe  ausscheidet,  allein  das  geschieht  nur,  um  Herodots  Liste 
mit  der  bei  Paus.  HI,  7,  5  und  Plut.  Lyk.  1  überlieferten  in  Einklang 
zu  bringen,  die  gleich  nach  Theopompos  die  bei  Her.  jüngere  Linie 
mit  Archidamos  L  auf  den  Thron  gelangen  läßt:  auf  diesen  folgen 
Zeuxidamos,  Anaxidamos,  Archidamos  IL,  Agasikles,  Ariston, Damaratos, 
und  nun  erst  tritt  mit  Laotychidas  die  andere  Linie  ein,  die  also  hier- 


144  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

nach  vielmehr  die  jüngere  der  beiden  von  Theopompos  ausgehenden 
Linien  wäre.  ludessen  ist  eine  solche  Änderung-  unmethodisch,  man 
w^ird  eben  eine  zweifache  Version  der  Königsliste  annehmen  müssen, 
und  da  verdient  die  des  Herodot,  der  also  auch  Rhiauos  folgte,  den 
Vorzug  vor  der  andern,  unbekannten  Ursprungs,  die  sich  bei  Paus,  und 
Plutarch  findet.  So  weit  Beloch,  dem  man  die  Wahrscheinlichkeit  der 
Gleichung- Anaxandros-Laotychidas  I.  nicht  bestreiten  wird.  Dann  aber 
fällt  nach  Ehianos  der  Aufstand  des  Aristomenes  um  die  Wende  des  7. 
und  6.  Jahrhunderts,  und  von  all  den  glänzenden  Vermutungen 
Schwartz'  bleibt  w'enig  mehr  übiig  als  ein  Scherbenberg,  aus  dem  sich 
freilich  noch  manches  wertvolle  Stück  gewinnen  läßt.  Dahin  zähle  ich 
die  Bemerkungen  über  die  Entstehung  der  Aristomenessage,  sowie  über 
den  Einfluß,  den  Messeniens  Wiederherstellung-  durch  Eparainondas  auf 
alle  diese  Geschichten  gehabt  hat,  und  auch  das  scheint  mir  von 
Schwartz  richtig  erkannt,  daß  die  Eroberung  von  der  Südostecke 
Messeniens  begann,  dann  die  Küstenebene  ergriff  und  endlich  durch  Ithomes 
Fall  und  die  Besetzung  der  Ebene  von  Stenyklaros  vollendet  ward. 
Dagegen  ist  der  Hauptzweck  des  Aufsatzes  nicht  erreicht  und  nach  wie 
vor  bleibt  für  den  zweiten  messenischen  Krieg  Tyrtaios  die  einzig 
brauchbare  Quelle;  wenn  Schw.  seine  Gedichte  als  eine  athenische 
Fälschung  des  ausgehenden  sechsten  Jahrhunderts  hinzustellen  sucht,  so 
halte  ich  diese  Ansicht  durch  die  Bemerkungen  Ed. Meyers  (Forschungen!!, 
545  ft.},  für  erledigt. 

Bedeutend  kompliziertere  Probleme  als  das  W^erden  Spartas  bietet 
die  älteste  Geschichte  Athens,  da  hier  die  Quellen,  wenn  auch  durch 
spätere  Erdichtung  und  Rekonstruktion  getrübt,  sehr  viel  reichlicher 
fließen.  Um  so  erfreulicher  ist  es,  daß  die  letzten  Jahre  ein  Buch  ge- 
biacht  haben,  das  alle  einschlägigen  Fragen  mit  großer  Gründlichkeit 
und  Sachkenntnis  erörtert:  ich  meine  Gaet.  de  Sanctis  Atthis,  die  das 
"Werden  Athens  bis  auf  Kleisthenes  schildert  und  ein  ganz  unentbehr- 
liches Hilfsmittel  für  jeden  bildet,  der  sich  mit  der  älteren  attischen 
Geschichte  beschäftigen  will:  aus  diesem  Grunde  wäi-e  es  auch 
wünschenswert,  daß  das  Buch  bald  in  einer  guten  deutschen  Übersetzung 
vorläge.  —  Ein  Hauptgrund  für  das  Interesse,  das  die  attische  Ur- 
geschichte bietet,  ist  der,  daß  wir  es  hier  mit  einer  rein  griechischen, 
durch  fremde  Einflüsse  wenig  gestörten  Entwickelung  zu  tun  haben. 
"Während  noch  die  ältere  Forschung  ziemlich  ungeniert  mit  der  An- 
nahme nicht jiriechischer  Siedelungen  auf  attischem  Boden  vorging,  ist 
man  neuerdings  in  dieser  Hinsicht  viel  zurückhaltender  geworden: 
, "Weder  die  Tradition,  noch  die  Ortsbenennungen,  noch  die  m^'thologische 
noch  die  prähistorische  Archäologie  liefern  einen  sicheren  Anhalt  dafür, ' 
daß  nach  Etablierung  der  Griechen  in  Attika  dieses  Land  teilweise  oder 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lonschau.)  145 

gänzlich  von  Barbaren  bewohnt  gewesen  sei"  —  das  ist  das  Erg^ebnis, 
welches  de  Sauctis  (S.  14)  aus  der  Untersuchung  der  einschlägigen 
Fragen  gezogen  hat,  und  darin  stimmt  ihm  die  gegenwärtige  Forschung 
unzweifelhaft  zu.  Schwieriger  ist  es,  sich  über  die  Art  und  Weise  zu 
einigen,  in  der  die  griechische  Besitzergreifung  Attikas  vor  sich  ge- 
gangen ist,  und  hierbei  ist  besondei-s  die  Frage  nach  der  ältesten 
Gliederung  des  attischen  Volkes  von  Interesse.  Soviel  erscheint  sicher, 
daß  von  allen  Einteilungen  die  Phratrie  die  älteste  war;  wie  sie  sich 
aus  einer  ursprünglich  loseren  Vereinigung,  einer  Verbrüderung  zum 
Zwecke  des  persönlichen  Schutzes  im  Kriege,  zu  einer  dauernden  In- 
Rtitutioa  auswuchs,  hat  de  Sanctis  (S.  39)  sehr  hübsch  mit  Heranziehung 
der  kretischen  Hetairien  und  spartanischen  Syssisitien  gezeigt.  Diesen 
übergeordnet  und  zweifellos  später  sind  die  Phylen,  Verbände,  welche 
von  mehreren  Phiatrien  unter  sich  zur  besseren  Wahrnehmung  ihrer 
Interessen  geschlossen!  wurden:  doch  gehören  Phratrien  wie  Phylen  noch 
der  Urzeit  an,  sie  existierten  bei  den  loniern  bereits  vor  der  Besitzer- 
greifung Attikas  und  müssen  sich  daher,  wie  de  Sanctis  annimmt,  in 
der  ursprünglichen  Landesteilung  auch  geographisch  ausgeprägt  haben. 
Ich  glaube,  daß  dieser  Schluß  auf  einer  unzulänglichen  Vorstellung  der 
Zustände  bei  der  Eroberung  beruht.  An  sich  freilich  ist  es  durchaus 
glaublich,  dalj  die  Aufteilung  des  eroberten  Landes  in  der  Weise  vor 
sich  ging,  daß  die  einzelnen  Pliratrien-  und  Phylengenossen  räumlich 
aneinander  grenzende  Gebietsteile  erhielten ;  allein  die  Okkupation  ging 
doch  höchst  wahlscheinlich  nicht  mit  einem  Schlage  vor  sich,  und  indem 
nun  jedesmal,  wenn  ein  neues  größeres  Stück  der  Urbevölkerung  abge- 
nommen war,  abermals  die  Aufteilung  nach  Phylen  und  Phratrien  er- 
folgte, ward  das  Gebiet  derselben  über  ganz  Attika  zerstückelt  und 
sie  bildeten  nunmehr  keine  geschlossene  geographische  Einteilung.  Eben 
darum  konnten  sie  auch  passend  die  Abteilungen  abgeben,  als  jene 
Einigung  des  Landes  vor  sich  ging,  die  die  Sage  dem  Theseus  zu- 
schreibt. Daß  die  Daistellung  dieser  Einigung  bei  Thuc.  II,  15  stark 
von  den  Synoikismen  seiner  eigenen  Zeit  beeinflußt  ist,  wird  man  de  S. 
ohne  weiteres  zugeben;  insbesondere  ist  wohl  von  einer  friedlichen  Zu- 
sammensiedelung  aus  den  Einzelstaaten,  deren  später  auftauchende  Zwölt- 
zahl  natüilich  ganz  problematisch  ist,  nicht  die  ßede  gewesen,  sondern 
die  Gaufürsten  von  Athen  haben  allmählich  ihre  Macht  weiter  und 
weiter  ausgedehnt.  Als  den  letzten  Akt  dieser  Einigung,  die  sehr  früh 
vor  sich  gegangen  sein  muß,  da  Homer  sie  voraussetzt,  faßt  de  S.  die 
Angliederung  von  Eleusis,  die  nach  ilim  am  Ende  des  VIII.  Jahr- 
hunderts erfolgte.  Dagegen  leitet  Ed.  Meyer  (Forschungen  II,  517)  die 
Einheit  Athens  aus  der  Urzeit  ab,  die  wesentlich  größere  Staaten- 
.gebilde  gegenüber  der  Zersplitterung  der  historischen  Periode  kannte, 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.  III.)         10 


146  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau) 

und  folgerichtig  sind  ihm  die  Phylen  eine  politische  Einrichtung  des 
Einheitsstaats,  wesentlich  jünger  als  die  Phratrien  und  vorwiegend  zu 
dem  Zweck  geschaffen,  „abwechselnd  die  Führung  zu  übernehmen,  die 
Ämter  zu  bekleiden  und  im  Kat  zu  sitzen,  während  die  Angehörigen 
der  übrigen  Phylen  währenddessen  ihren  Geschäften  nachgehen  können." 
Da  sich  die  Namen  der  athenischen  Phjien  auch  bei  den  kleinasiatischen 
Toniern  finden  und  eine  spätere  Übertragung  doch  wohl  unwahrscheinlich  ist,, 
so  müßte  ihre  Einrichtung  doch  noch  vor  die  erste  Kolonisationsperiode, 
also  in  die  mykenische  Zeit  fallen.  Nun  sind  die  damaligen  politischen 
Verhältnisse  wohl  sicher  nicht  so  primitiv  gewesen,  wie  sie  nns  z.  B. 
bei  Homer  entgegentreten;  allein  eine  derartige  Kompliziertheit  der 
politischen  Tätigkeit,  besonders  eine  so  starke  Beteiligung  des  Volkes, 
daß  zu  seiner  Entlastung  die  abwechselnd  amtierenden  Phylen  geschaffen 
wurden,  läßt  sich  doch  kaum  annehmen.  Ich  kann  daher  in  der  ent- 
wickelten Ansicht  Meyers  gegenüber  seiner  älteren  GdA.  II,  58  geäußerten 
Überzeugung  keinen  Fortschritt  erblicken,  noch  weniger  freilich  in  der 
Meinung  Burys  (p.  179),  wonach  die  Einrichtung  der  Phjden  erst  ins 
9  Jahrhundert  hin  die  politische  Einigung  Attikas  fällt  und  die  Namen 
aus  Milet  nach  Athen  übertragen  sind. 

Völlige  Übereinstimmung  dagegen  herrscht  bei  Meyer  und  de  S; 
über  die  Entstehung  der  Gene,  der  Geschlechter:  sie  sind  im  wesent- 
lichen aus  der  zersetzenden  Wirkung  entsprungen,  welche  die  Seßhaftig- 
keit im  Laufe  der  Jahrhunderte  auf  die  attische  Bevölkerung  ausgeübt 
hat.  Es  war  natürlich,  daß  nach  und  nach,  wenn  auch  das  Bewußtsein 
der  Zusammengehörigkeit  unter  den  Phratrien-  und  Phylengenossen  nicht 
ganz  verloren  ging,  sich  daneben  die  lokale  Gemeinschaft  des  Gaus  und  die 
soziale  Ungleichheit  geltend  machten.  Indem  einzelne  Geschlechter  inner- 
halb ihres  Gaus  eine  durch  Ansehen  und  Reichtum  führende  Stellung 
einnahmen,  bildete  die  Zugehörigkeit  zu  ihnen  bald  ein  stärkeres  Band 
als  die  Zugehörigkeit  zu  den  alten  Verbänden  der  Phylen  und  Phratrien; 
die  Genneten,  welche  sich  von  einem  wirklichen  Ahn  ableiten,  sonderten 
sich  aus  der  Masse  der  übrigen  Phratriengenossen  ab,  die  nur  einen 
fiktiven  Ahnherrn  besaßen.  Je  höher  das  Ansehen  eines  Geschlechtes 
war,  um  so  mehr  suchten  andere  Anschluß  zu  gewinnen,  und  so  hat 
sich  auf  attischem  wie  auf  deutschem  Boden  in  nachkarolingischer  Zeit 
jene  Grundaristokratie  entwickelt,  die  bald  die  bestimmende  Macht  im 
Staate  ward.  Sodann  erfolgte  der  Abschluß  dadurch,  daß  die  Zu- 
gehörigkeit zum  Verband  von  der  Abstammung  abhängig  gemacht  ward, 
und  ein  weiterer  Schritt  zur  Begründung  des  reinen  Adelsstaats  war 
es,  daß  nunmehr  die  Genneten  sich  als  die  allein  echten  Phratrien- 
genossen bezeichneten-  und  alle  Nichtgenneteu  auszuschließen  suchen: 
jener  spätere  Schematismus  von  cpuÄiQ  — cpparpia  — ^evoc  war  das  Ziel,  dem 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lecschau.)  147 

diese  Bevveguü^  zustrebte.  Erreicht  scheint  es  nicht  zu  sein;  später 
gab  es  in  der  Pbratrie  neben  den  Homogalakten  oder  Genueten  auch 
die  Orgeonen,  wie  de  S.  S.  61  ff.  und  Bury  S.  171  annehmen,  Verbände, 
zu  denen  sich  die  Nichtgeiineten  vereinigten.  Das  Bedenken,  welches 
Costanzi  (S.  194)  dagegen  geltend  gemacht  hat,  daß  die  Ausdrücke 
opYSüivei  und  das  ähnlich  gebrauchte  i^iajtüxat  auf  den  Bakchoskultus 
hinweisen  und  daß  von  diesem  die  Genneten  doch  wohl  nicht  aus- 
geschlossen gewesen  wären,  kann  nicht  allzu  schwer  wiegen,  zumal  in 
Hinsicht  auf  die  vielen  Spuren  späteren  Ursprungs,  die  der  attische 
Dionysosknlt  aufweist.  Man  braucht  ja  darum  noch  nicht  gleich  an 
eine  religiöse  Neuerung  mit  politischem  Hintergrund  zu  deaken. 

Mit  der  Entvvickelnng  der  Geschlechter,  die  sich  schon  auf 
dem  Boden  des  Einheitsstaats  vollzogen  haben  muß,  geht  die  Ent- 
wickelung  der  Adelsherrschaft  auf  Kosten  des  Königtums  parallel. 
Wie  es  dabei  zugegangen  ist,  hat  zuerst  Aristoteles  in  der  pol.  Ath.  3  zu 
zeigen  versucht,  und  die  meisten  neueren  Forscher,  auch  Bury  S.  169, 
haben  sich  ihm  angeschlossen.  Abweichend  von  ihnen  ist  de  S.  (p.  120  flf.) 
der  Ansicht,  daß  der  zuerst  dem  König  beigegebene  Beamte  der  apycuv 
war,  dessen  Befugnisse  übrigens  nicht  von  denen  des  Königs  abgezweigt 
wurden;  vielmehr  übernahm  der  äp'/ui-*  eine  Eeihe  von  Obliegenheiten, 
die  erst  nach  und  nach  dem  Staate  erwachsen  waren  und  die  de  S. 
a.  a.  0.  zu  definieren  sucht.  Erst  das  Amt  des  Polemarchen,  den  Ar. 
an  erster  Stelle  nennt,  bedeutet  eine  Einschränkung  der  Königsgewalt, 
mit  der  es  dann  rasch  bergab  ging.  Die  chronologischen  Verhältnisse 
der  ältesten  attischen  Geschichte,  die  Köuigslisten  usw.  hat  de  S. 
gleichfalls  in  Kap,  3  seines  Buches  einer  eingehenden  Betrachtung 
unterzogen;  hier  wäre  noch  anzumerken,  daß  sowohl  de  S.  als  auch 
Bury  in  dem  Areopag,  der  damals  die  eigentliche  Staatsleitung  hatte, 
ein  Überbleibsel  des  ursprünglichen  Beirats  der  Könige  in  homerischer 
Zeit  erkennen,  während  Ed.  Meyer  hieraus  den  Rat  am  Prytaneion  ent- 
stehen läßt,  der  sich  später  zur  Bule  entwickelte.  Über  die  Zeit  der 
vollkommenen  Ausbildung  des  Adelsstaats  sind  natürlich  nur  ungefähre 
Angaben  möglich:  de  Sanctis'  Ansatz,  Ende  des  8.  und  Anfang  des 
7.  Jahrhunderts,  wird  wohl  das  Richtige  treffen,  wie  sich  sofort  zeigen 
wird. 

Eigentlich  das  einzige,  was  uns  über  diese  Zeit  aus  dem  Alter- 
tum überliefert  ist,  sind  die  attischen  Eponymenlisten,  die  im  wesent- 
lichen in  zwei  Versionen  vorliegen,  von  denen  die  eine  bei  den  Chrono- 
graphen erhaltene  auf  Kastor  zurückgeht,  während  die  andere  durch 
das  Marmor  Barium  vertreten  wird.  Ihnen  hat  Wilamowitz  eine  Unter- 
j suchung  gewidmet,  deren  Hauptbedeutung  in  den  Grundanschauungen 
[liegt,    von    denen    der  Verfasser   ausgeht.     Als  den  festen  Punkt  der 

10* 


148  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

ganzen  Liste  betrachtet  er  das  Jahr  des  ersten  jährlichen  Archonten, 
indem  er  annimmt,  daß  von  ihm  ab  ein  amtliches  Verzeichnis  vorlag, 
wie  es  z.  B.  auch  Aristoteles  bei  der  Abfassung  der  pol.  Ath.  zur 
Hand  war.  Andererseits  w^aren  wohl  die  Namen  der  ältesten  Könige 
bekannt;  dazwischen  aber  klaifte  eine  Lücke,  die  erst  nach  und  nach 
mit  den  Namen  der  lebenslänglichen  und  der  zehnjährigen  Archonten 
ausgefüllt  ward.  Unter  jenen  fällt  Alkmeon  durch  seine  kurze  Re- 
gierung auf;  offenbar  war  er  ein  Eindringling,  der  nach  zwei  Jahren 
beseitigt  ward,  woi-auf  die  Söhne  des  letzten  lebenslänglichen  Archonten 
das  Amt  weiterführten:  diese  Usurpation  des  Alkmeon  und  die  Rück- 
gabe des  Amts  an  die  Medontiden,  die  indes  mit  seiner  Befristung  aut 
10  Jahre  verbunden  war,  ist  nach  "W.  die  erste  einigermaßen  sicher 
bezeugte  Tatsache  der  attischen  Verfassungsgeschichte.  Wie  aber  steht 
es  nun  mit  den  lebenslänglichen  Archonten?  Sind  sie  wirklich  als 
Archonten  aufzufassen,  wie  Aristoteles,  Diodor,  Vellejus,  Nikolaos  von 
Damaskos  und  die  Chronoui'aphen  sie  nennen,  oder  als  Könige,  wie  sie 
im  Marmor  Parium  und  späteren  Grammatikeruotizeu  bezeichnet  werden? 
W.  erklärt  den  Unterschied  für  nicht  so  wesentlich,  je  nachdem 
man  von  oben  herab  oder  von  unten  herauf  wie  Aristoteles  zählte, 
konnte  man  sie  bald  noch  als  Könige,  bald  als  Archonten  auffassen. 
Danach  sind  denn  auch  die  Spekulationen,  die  Aristoteles  an  den 
Übergang  des  Regiments  an  die  Medontiden  knüpft,  für  uns  unverbind- 
lich; W.  selber  stellt  sich  den  Ütiergang  so  vor,  daß  neben  das  alte 
Königsgeschlecht  die  aus  der  Fiemde  gekommenen  Medontiden  als 
eigentliche  Regenten  getreten  sind,  etwa  wie  die  pippinidischen  Haus- 
nieier  neben  die  Merowjnge  treten.  Dann  wäre  allerdings  die  Bezeich- 
nung Archonten  passender. 

Bedeutend  unitas>ender  ist  die  Untersuchung,  die  neueidings 
F.  Jacoby  dem  Gegenstande  gewidmet  hat:  von  der  doppelten  Über- 
lieferung ausgehend,  stellt  er  zuerst  den  methodisch  lichtigen  Grund- 
satz auf,  daß  es  vor  allem  daiauf  ankomint,  die  ursprüngliche  Form 
der  Eponymenliste  möghctist  leiii  her/.n<r.elleii ,  oline  sich  dabei  auf 
verfassungsgeschichtliche  EröitemuLieii  einzulassen  Auch  er  geht  davon 
aus,  daß  das  Jahr  des  Kivon  d^r  feste  Punkt  ist,  von  dem  aus  ab- 
wäi'ts  eine  sichere  cliroudoi^isehe  Üheiliefeiuug  vorlag,  und  sucht 
dieses  zeitlich  zu  hestimnien.  Da  nie  Cluonom-aphen  zwischen  zwei 
Jahren  683/2  (Hieronyn.us)  uni  682/1  (Ainieniei_)  scliwanken,  so  zieht 
er  in  der  Über/eugentr,  daß  die  Übeilieteinug  als  auf  amtlicher  Auf- 
zeichnung beruhend  nicht  «eM-hwankt  hahen  kann,  das  Maim.  Par.  heran, 
das  bei  der  bekannten  Unsidierlieit  dei  "Epoc.iie  die  Ansätze  684/3  und 
683/2  erlaubt;  danach  i-t  68:V2  mit  Sicherheit  als  das  Jalir  des  Kreon 
anzusehen.    Ob  diese  gegenseitige  Koi-rektur  statihatt  ist,  kann  immer- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  149 

liin  fraglich  erscheinen;  es  wird  sich  später  doch  bei  Solou  ein 
Schwanken  ergeben,  obwohl  andererseits  dem  Verf.  zug'egeben  werden 
muß,  daß  Aristoteles  bei  der  pol.  Ath.  in  der  Hand  des  Lesers  ein 
Exemplar  der  Liste  voraussetzt  und  nirgends  eine  Unsicherheit  be- 
rücksichtigt. —  Durch  eine  genaue  Vergleichung  der  Überlieferung 
weist  nun  Jac.  nach,   daß  der  Schluß  der  Liste  bei  Kastor  so  aussah: 

Ol.  1      776/5  =:     2  Jahr  des  Aischylos, 

6.1  756/5  ~r=  23       „ 

6.2  755/4  ==     1       „     des  Alkmeon, 
6,4  753'2  =^^     1       „     des  Charops 

und  nach  70jähriger  Regierung  der  osxasTei;  endlich 

Ol.  24,2  68312  Kreon. 
Was  den  Anfang    der  Liste    angeht,    so    setzte    Kastor,    wie  Schwartz 
erwiesen  hat,  Trojas  Fall  1184/3  ins  letzte  Jahr  des  Menestheus,    der 
Anfang  der  Liste,  Kekrops  1.  Jahr,  tiel  bei  ibm  auf  1556/5.    In  einem 
Teil  der  Überlieferung  aber  macht  sich  die  Tätigkeit  eines  luterpolators 
geltend,    der    mit    1182/1  als  Jahr  von  Trojas  Fall  rechnete  und  nun 
die  voraufgehenden  Regierungen  um  2  Jahre  verlängern  mußte:  er  tat 
das,    indem  er  den  beiden  letzten,   Theseus  und  Menestheus,    ein  Jahr 
mehr  gab;    um  aber  die  Summe  nicht  zu  ändern,    mußten    diese    zwei 
Jahre    bei    den    folgenden    Regierungen    wieder    abgenommen    werden, 
Ist  somit  bis  Theseus  die  Überlieferung  in  ihrem   ersten  Teil  als   ein- 
heitlich auf  Kastor  zurückgehend  erkannt,  so  ist  eine  "Wiederherstellung 
des  folgenden  Teils  von  1069/8  unmöglich,    da    hier  die  Chronik  und 
die  excerpta  barbari  aus  dem  Kanon  und  außerdem  der  Barbarus  aus 
Julius  Afrikanus  interpoliert  sind;    als    sicher    kastorisch    ist    nur   der 
erste  Teil  der  Liste  von  Kekrops  bis  Menestheus  und   der  Schluß  von 
Aischylos  bis  Kreon   anzusehen.  —  Eine  ältere  Stufe  als  Kastor  stellt 
das  Marm.  Par.  dar;    Hauptunterschied  ist  der,    daß   hier  Trojas  Fall 
auf  1209/8,  nicht  wie  bei  Kastor  auf  1184/3  angesetzt  ist.    Demgemäß 
mußte  Eratosthenes,  der  zuerst  Trojas  Fall  auf  1184/3  berechnete  und 
also  mittelbar   oder    unmittelbar  die  Quelle  Kastors  gewesen    ist,    bei 
dieser  älteren  Liste  Streichungen  im  Gesamtbetrag  von  25  Jahren  vor- 
nehmen, und  es  fragt  sich  nun,  wo  er  sie  angebracht  hat.    Eine  genaue 
Vergleichung   ergibt  zunächst  die  Übereinstimmung  in    der  Dauer   der 
Königsregierungen    bis    Menestheus:    weiterhin    zeigt    sich    dann    sogar 
noch  eine  Erhöhung  der  Diflerenz  auf  30  Jahre  und  endlich  stellt  sich 
heraus,    daß    die  Abstriche  gerade  im  letzten  Teil  der  Liste  zwischen 
Aischylos  und  Kreon  gemacht  sein    müssen;    mehr    ist    mit  Sicherheit 
nicht  zu  sagen,  da  das  Marm.  Pai-.  gerade  aus  diesem  Zeitpunkt  keine 
Angaben  erhalten  hat.  Es  ergeben  sich  nun  drei  Möglichkeiten,  entweder 


150  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

Eratosthenes  hat  einem  der  ota  ßtou  apyovTsc  die  dreißig  Jahre  abge- 
nomraen,  wo  denn  natürlich  Alkraeon  mit  seiner  zweijährigen  Regierung 
zuerst  in  Frage  käme,  oder  er  hat  drei  von  den  Xamen  der  os/ctETcTs 
getilgt,  so  daß  die  dem  Marm.  Par.  vorliegende  Liste  10  öcxac-sic 
aufwies  (-^  lüO  Jahre  —  3  7£veai),  oder  er  degradierte  die  letzten 
öta  ßi'ou  ap/ovTec  zu  osy.asTsr?  und  gewann  dadurch  gerade  30  Jahre, 
wobei  zu  beachten  bleibt,  daß  der  Überlieferung  nach  die  4  ersten 
dvAazzzU  Medontiden  (Kodriden)  waren,  so  daß  also  mit  dem  Wechsel 
des  Geschlechts  zugleich  die  Befristung  des  Herrscheramts  eintrat. 
"Welche  Möglichkeit  vorliest,  kann  nur  die  historische  Untersuchung 
ergeben,  und  es  wäre  wünschenswert,  daß  dieser  zweite  Teil  von 
Jacobys  Untersuchung  nicht  allzulange  auf  sich  warten  läßt.  Einst- 
weilen wird  man  so  viel  sagen  können ,  daß  mit  dem  Beginn  der 
Dekaeteis  gegen  das  Ende  des  8.  Jahrhunderts  der  Beginn  des  Ge- 
schlechterstaats anzusetzen  ist. 

Bekanntlich  ist  die  Herischaft  des  Adels  kein  Segen  für  Attika 
gewesen;  unter  ihr  haben  sich  im  Laufe  des  7.  Jahrhunderts  geradezu 
unerträgliche  soziale  Zustände  entwickelt,  die  besonders  den  ländlichen 
Grundbesitz  in  Mitleidenschaft  zogen.  Unsere  Quellen  drücken  das  da- 
durch aus,  daß  sie  berichten:  es  sei  damals  ein  großer  Teil  der  klei- 
neren Eigentümer  in  den  Stand  der  ~z)A-:'xi  und  exxrjiJLopo'.  herabgedrückt 
worden.  Während  nun  über  die  -sXdtTat  keine  Meinungsverschiedenheit 
herrscht  —  sie  gelten  als  freie  landlose  Arbeiter,  die  sich  im  Tagelohn 
verdangen  —  besteht  über  die  Stellung  der  sx-nrjfxopoi  große  Unsicher- 
heit, was  um  so  eigentümlicher  ist,  als  die  Überlieferung  so  ziemlich 
einheitliche  Angaben  macht.  Die  Worte  des  Ar.  pol.  Ath.  c.  2  ixa- 
Xo'jv-o  0£  -üd-ii  y.al  iy.zr^^l6pol '  i-l  Taurrp  7ap  t^;  [xuÖcujeü)?  sipifa^ov-o 
-üiv  ttXo'jji'ojv  t«c  d-'po'jj  lassen  sich  doch  nur  so  erklären,  daß  die  Hek- 
temoroi  Pächter  waren,  die  gegen  Abgabe  von  einem  Sechstel  des  Er- 
trages den  Reichen  das  Land  bewirtschafteten,  und  daß  es  sich  hier 
tatsächlich  um  die  Pacht  ([x-'^öu)?'.;)  handelte,  zeigen  die  folgenden 
Worte  -/7.1  El  [XYj  Tocc  }jLi38tu3£ii  a-ootooi£v ,  a7tu7t[jLoi  usw.  Damit  stimmt 
nun  durchaus  überein,  was  Flut.  Sol.  13  über  die  Lage  dieser  Leute 
bemerkt  ■?,  7ap  k-(tuip-;o'rj  Ixeivot;  zy-i  twv  7'.vo|j.£vtuv  tsXoüvxe?,  und  nur 
das  kann  zweifelhaft  bleiben,  ob  Plutarch  dieselbe  Quelle  wie  Ar.  be- 
nutzte; jedenfalls  hat  er  noch  andere  Gewährsmänner  daneben  gehabt, 
da  er  ausdrijcklich  zwischen  landwirtschaftlichem  Hypothekarkredit  und 
Personalveischulduug  scheidet,  wovon  sich  bei  Ar.  nichts  findet.  Auch 
insofern  ist  ein  kleiner  Unterschied  vorhanden,  als  Ar.  die  Hektemoroi 
deutlich  als  Pächter  btzeichnet,  während  die  Worte  Plutarchs  eher 
darauf  schließen  lassen,  daß  er  kleine  Eigentümer  im  Sinne  hatte,  wenn 
man  nicht  ixsi'vot;  mit  i-.'stup-jouv  verbindet,  wo  die  Sache  denn  auf  das- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Leaschau.)  151 

selbe  hinauskäme.  Dageg:en  berichten  beide  übereinstimmend,  daß  eiu 
Sechstel  des  Ertiages  als  Abgabe  bezahlt  ward.  Hiergegen  hat  man  zu- 
nächst geltend  gemacht,  daß  eine  solche  Pachtsumme  ja  sehr  gering 
gewesen  wäre  und  keineswegs  die  Klagen  der  Pächter  gerechtfertigt 
haben  würde  (de  Sanctis  S.  196);  vielmehr  sei  die  Sache  so  gewesen, 
daß  sie  fünf  Sechstel  des  Ertrages  abgeliefert  und  nur  ein  Sechstel 
für  sich  behalten  halten  (ßury  S.  174).  Eben  daher  will  auch  Meyer, 
GdA.  II,  643  Anm.  sie  nicht  mehr  als  Pächter  gelten  lassen,  da  „für 
diese  eine  so  hohe  Pachtsumme  auch  in  den  schlimmsten  Zeiten  eine 
bare  Uumöglichkeit"  gewesen  wäre;  er  bezeichnet  sie  daher  geradezu 
als  Tagelöhner.  Dies  ist,  nun  sicherlich  unnötig.  Wenn  man  auch  nicht 
alles  zu  glauben  braucht,  was  uns  von  der  notleidenden  Landwirtschaft 
erzählt  wird,  so  gibt  es  doch  hichetlich  bei  uns  gegenwärtig  eine  ganze 
Menge  Pächter,  die  aus  dem  Gute  nur  den  Lebensunterhalt  herauswirt- 
schaften, der  in  barem  Gelde  oft  gewiß  nur  ein  Sechstel  des  Ertrages 
ausmacht;  ja,  mancher  Eigentümer  braucht  unzweifelhaft  fünf  Sechstel 
des  Ertrages  nur,  um  seine  Hypothekeugläubiger  zu  befiiedigen,  ohne 
daß  mau  ihn  darum  als  Tagelöhner  bezeichnete.  Allein  diese  Ansicht, 
wonach  die  Hektemoroi  fünf  Sechstel  als  Pacht  zahlten  und  ein  Sechstel 
als  Lohn  behielten,  widerspricht  der  Überlieferung,  denn  [xi3i>cu3ij  bei 
Ar.  ist  Pacht,  nicht  Lohn  (|xta&6?),  und  wie  de  Sanctis  S.  196  richtig 
hervorhebt,  handelt  es  sich  in  der  besten  Quelle,  bei  Ar.  und  Plut., 
um  ein  gegebenes,  nicht  um  ein  empfangenes  Sechstel:  diese  letzte 
Version  findet  sich  offenbar  durch  ein  Mißverständnis  der  Aristoteles- 
stelle erst  bei  Phot.  s.  v.  TtsÄarat  und  Hesych.  s.  v.  exTYjfiopoi.  Allein 
dann  bleibt  die  Schwierigkeit,  die  in  der  Geringfügigkeit  der  Pacht- 
summe liegt,  und  was  de  Sanctis  a.  a.  0.  zu  ihrer  Beseitigung  vor- 
bringt, ist  gleichfalls  nicht  recht  haltbar.  Er  sieht  in  der  Hektemorie 
nur  eine  Form  des  landwirtschaftlichen  Hypothekarkredits  und  meint, 
die  Reichen  hätten  ein  Gut  stets  bis  zur  Höhe  des  Bruttoertrages  be- 
liehen und  alsdann  von  dem  Schuldbetrag  ein  Sechstel  d.  h.  I6-/3  Pro- 
zent als  Zins  verlangt.  Allein  dem  stehen  die  Worte  des  Ar.  entgegen, 
der  von  einem  Pachtverhältnis  spricht,  während  doch  bei  dem  von 
de  Sanctis  angegebenen  Modus  der  Eigentümer  im  Besitz  blieb,  und 
dann,  wenn  wirklich  die  Sache  sich  so  verhalten  hätte,  würde  nicht 
Ar.  einfach  das  in  seiner  Zeit  schon  gang  und  gäbe  Wort  Zins  ge- 
braucht haben  {t6%o^)'?  Also  bleibt  es  dabei:  nach  den  Angaben  der 
Alten  sind  die  Hektemoroi  Pächter,  die  ein  Sechstel  des  Ertrages 
als  Pacht  bezahlen,  und,  bei  Lichte  besehen,  verschwindet  auch  die 
vorhin  genannte  Schwierigkeit.  Allerdings,  wenn  der  Bruttoertrag  eines 
Gutes  beispielsweise  30  OuO  Mark  beträgt,  so  würde  5000  Mark  eine 
sehr  mäßige  Pacht  sein,  nimmt  man  aber  an,  daß  die  attischen  Pacht- 


152  JahresbericLt  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

guter  der  damaligen  Zeit  nur  eben  so  groß  waren,  daß  sie  den  Lebens- 
unterhalt hergaben,  so  war  die  Sechstelabgabe  sehr  drückend  und  bei 
Mißwachs  oder  sonstigen  Kalamitäten  geradezu  unerschwinglich.  Hier 
also  treften  wir  auf  den  Kern  der  Sache:  neben  der  Hypothekarver- 
schuldung der  Eigengüter  ist  es  die  Zerschlagung  größeren  Eigentums 
in  Zwergwirtschaften  gewesen,  die,  von  der  Gier  der  Reichen,  möglichst 
viel  aus  dem  Lande  herauszuwirtschafteu,  diktiert,  den  Ruin  der  bäuer- 
lichen Pächter  herbeigeführt  hat.  Liegt  eine  Spur  davon  etwa  noch  in 
den  seltsamen  Worten  f^  ok  täz%  7^  öi'  dXr;ui^  -^v  bei  Ar.  vor?  Daß  sie 
so,  wie  sie  dastehen,  eine  Übertreibung  sind,  hat  Ed.  Meyer,  GdA.  II, 
643  Anm.  gezeigt;  sind  sie  vielleicht  aus  einem  Mißverständnis  ent- 
standen und  bezog  sich  jene  Notiz  in  der  Quelle  des  Ar.  etwa  auf 
die  Kleinheit  der  Pachtparzelleu?  Wir  wissen  es  nicht,  weil  Plutarch 
nichts  Entsprechendes  erhalten  hat.  Im  übrigen  standen  die  kleinen 
Grundbesitzer,  deren  Zahl  ziemlich  bedeutend  gewesen  sein  muß,  wegen 
der  aus  Solons  Gedichten  ersichtlichen  Hypothekaiverschuldung  nicht 
viel  besser  da,  und  so  trieben  die  ländlichen  ßesitzverhältnisse  in  Attika 
etwa  seit  650  einer  Katastrophe  entgegen,  die  dann  freilich  noch  zur 
rechten  Zeit,    wenn    auch   durch  ein  radikales  Mittel,  verhindert  ward. 


Das  Ende  der  großen  Kolonisationsbewegung  um  630  herum  ist 
auf  die  inneren  Verhältnisse  der  hellenischen  Staaten  von  hervorragendem 
Einfluß  gewesen:  seitdem  der  Weg  verschlossen  war,  auf  dem  mau  bis 
dahin  unzufriedene  Elemente  abgeschoben  hatte,  nahmen  überall  in  den 
iiellenischen  Gemeinwesen  die  politischen  Gegensätze  bedeutend  schärfere 
Formen  an.  Mächtig  erhob  die  werdende  Demokratie  ihr  Haupt,  unter- 
stützt vor  allem  durch  die  Umwälzung  im  Heerwesen,  welche  die  Ent- 
scheidung in  die  Massen  des  schwergerüsteten  Fußvolks  verlegte,  und 
durch  das  Aufkommen  einer  starken  Industrie,  wie  sie  sich  in  den  ionischen 
Städten  Kleinasiens,  in  Athen,  besonders  in  Korinth  (Wilisch  a.  a.  0. 
S.  18  ff.)  entwickelte.  Je  nach  der  Schnelligkeit  dieser  Entwickelung 
vollzog  sich  in  den  einzelnen  Staaten  bald  früher,  bald  später  der  Über- 
gang von  der  Adelsherrschaft  zu  demokratischeren  Staatsformen,  meistens 
durch  das  Medium  der  Tyrannis  hindurch,  als  deren  mächtigster  Ver- 
treter Periandros  von  Korinth  anzusehen  ist.  In  dieser  Hinsicht  macht 
jedoch  Sparta  eine  Ausnahme,  wo  die  demokratische  Fortentwickelang 
durch  das  Anwachsen  der  Macht  des  Ephorates  charakterisiert  wird. 
Wie  sich  die  Vorgänge  im  einzelnen  abgespielt  haben,  ist  uns  unbe- 
kannt: mit  Recht  nimmt  Bury  S.  124  f.  im  Anschluß  an  Ed.  Meyer 
an,    daß    die  Anfänge    des  Amtes  in  sehr  alte  Zeit  zurückreichen  und 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  153 

daß  der  Ephor  ebenso  wie  der  Archoii  in  Atlien  zuerst  als  Zivilrichter 
den  Köuigcn  zur  Seite  trat.  Indessen  in  den  Kämpfen  gegen  Ende  des 
siebenten  Jahrhunderts,  von  denen  aucli  Sparta  nicht  verschont  blieb, 
müssen  sie  die  Partei  des  Volkes  ergriffen  und,  von  der  demokratischen 
Strömung  getragen,  um  550  jene  Stellung  eilangt  haben,  die  sie  bald 
nachher  zur  ausschlat:gebenden  Macht  im  Staate  erhob.  Wenn  daher 
Cheilou  ülter  in  (ieii  Quellen  als  erster  Ephor  genannt  wird  (auch  Niese, 
Paulj'-Wissowa  s.  v.  Cheilon,  drückt  sich  so  aus),  so  soll  das  w'ohl  nur 
bezeugen,  daß  unter  seiner  Amtsführuug  das  Ephorat  jene  Erweiterung 
seiner  Machtbefugnis  erfuhr,  und  daraus  wird"  man  mit  Meyer  und 
Burj'  schließen  dürfen,  daß  Cheilon  bei  dieser  Umgestaltung  eine  be- 
deutende Rolle  gespielt  hat.  Mit  ihr  ist  jedenfalls  der  eigentümliche 
Charakter  der  spartanischen  Staatsverfassung  vollendet,  jene  seltsame 
Mischung  patriarchalischer,  aristokratischer  und  demokratischer  Züge, 
die  schon  das  Altertum  iu  Verwunderung  setzte  uud  für  die  ßury  die 
beste  Erkläiung  in  jenem  tief  konservativen  Zuge  des  spartanischen 
Volkes  gefunden  hat,  das  die  ehrwürdigen  Formen  auch  dann  zu  er- 
halten strebte,  wenn  der  Inhalt  längst  verschwunden  war  (S.  125).  Kein 
Wunder,  daß  es  ein  englischer  Gelehrter  ist,  der  darauf  zuerst  hinge- 
wiesen hat:  liegt  doch  auch  im  englischen  Nationalcharakter  derselbe 
Zug,  die  tiefe  Ehrfurcht  vor  dem  vorhandenen  Recht,  die  nicht  bloß  in 
der  englischen  Verfassung,  sondern  auch  im  gewöhnlichen  Leben  so 
manche  überlebte  Institution  erhalten  hat,  die  nicht  nur  den  radikaler 
veranlagten  romanischen  Völkern,  sondern  auch  uns  Deutschen  fast  ein 
Lächeln  abnötigt. 

Bedeutend  genauer  sind  wir  über  den  Ausgang  der  Adelsherr- 
schaft in  Athen  unterrichtet,  und  da  wird  bekanntlich  als  der  erste 
Markstein  der  demokratischen  Entwickeluug  die  Gesetzgebung  Drakons 
betrachtet.  Auf  Gruud  von  Aristoteles'  Staat  der  Athener  hat  man  ja 
nun  schon  Drakon  zu  einem  politischen  Reformer  ersten  Ranges  stempeln 
wollen,  der  die  meisten  fruchtbaren  Gedanken  Solous  bereits  vorweg- 
genommen habe;  allein  es  kann  wohl  jetzt  als  ziemlich  ausgemacht 
gelten,  daß  Arist.  seine  Angaben  über  Diakon  einer  politischen  Flug- 
schrift entlehnt  hat,  die  im  Zusammenhang  mit  der  reaktionären  Be- 
wegung von  411  entstanden  ist  uud  der  ein  historischer  Wert  nicht 
zukommt.  Sowohl  Bury  wie  auch  de  Sanctis  haben  sich  diesem  Urteil 
angeschlossen,  und  in  der  Tat  sind  es  heute  nur  noch  wenige  Forscher, 
die  in  Drakon  den  Staatsmann  großen  Stiles  auf  Kosten  Solons  erblicken 
möchten.  Doch  braucht  er  darum  noch  nicht  die  untergeordnete  Per- 
sönlichkeit gewesen  zu  sein,  zu  der  ihn  allerdings  ganz  gegen  seinen 
Willen  Busolt  macht,  wenn  er  Gr.  Gesch.  II  die  Ansicht  aufstellt,  die 
schriftliche  Fixierung    der  Gesetze    sei    die  Pflicht    der    etwa  seit  der 


154  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

Mitte  des  Jahrhunderts  jährlich  gewählten  Thesmotheten  gewesen:  dann 
bleibt  für  Drakon  in  der  Tat  nur  die  ziemlich  untergeordnete  Rolle  des 
Redaktors  einer  bereits  vorliegenden  schriftlichen  Gesetzgebung.  Gegen 
diese  Auffassung  wendet  sich  L.  Ziehen  in  einem  beachtenswerten 
Aufsatz  (Rh.  M.  54),  in  welchem  er  zunächst  über  das  Ansehen,  das 
Drakon  im  Altertum  genoß,  und  über  die  Kenntnis  handelt,  die  man 
in  Athen  tatsächlich  noch  von  seiner  Gesetzgebung  hatte.  Dabei  kommt 
er  zu  dem  interessanten  Ergebnis,  daß  der  Name  des  Gesetzgebers  so 
gut  wie  verschollen  war,  bis  die  Parteikämpfe  von  411  und  wahrschein- 
lich jene  vorhin  genannte  oligarchische  Parteischrift  sein  Andenken 
wieder  belebte:  damals,  als  nach  der  sizilischen  Katastrophe  das  einzige 
Heil  in  der  Rückkehr  zu  früheren,  besseren  Zuständen  zu  liegen  schien 
und  alles  unter  der  Flagge  der  -arpia  TroXiieia  segelte,  mußte  Drakous 
Name  als  Empfehlung  für  den  Verfassungsentwurf  der  Oligarchen  her- 
halten, sowie  Kleisthenes'  und  Solons  Name  Radikalen  und  Mittelpar- 
teilern  als  Aushängeschild  dienton,  und  damals  erst  scheint  das  athenische 
Publikum  wieder  auf  ihn  aufmerksam  geworden  sein.  Allein  der  Kern 
von  Z.s  Ausführungen  liegt  in  der  von  Ihm  entwickelten  Ansicht  über 
die  Thesmotheten:  es  erscheint  ihm  völlig  undenkbar,  daß  die  Athener 
eines  ständigen,  jährlich  erneuerten  und  aus  sechs  Köpfen  bestehenden 
Kollegiums  bedurft  hätten,  lediglich  um  das  attische  Gewohnheitsrecht 
aufzuzeichnen,  wie  Busolt  will.  Vielmehr  war  es  ihre  Pliicht,  die  wäh- 
lend  ihrer  Amtsperiode  gefällten  richterlichen  Entscheidungen,  öiifiia, 
die  zwar  keine  bindende,  wohl  aber  eine  rechtsbildende  Kraft  besaßen, 
schriftlich  zu  fixieren,  und  auf  Grund  des  von  ihnen  gesammelten  Ma- 
terials schuf  dann  Drakon  die  erste  Kodifikation  des  attischen  Rechts. 
Demgemäß  war  seine  Tätigkeit  also  keineswegs  eine  bloße  Aufzeich- 
nung des  attischen  Gewohnheitsrechts,  sondern  eine  vollständige  Neu- 
schöpfung, eine  wiikliche  Rechtsbildung,  die  im  engen  Anschluß  an  das 
Volksbewußtsein  vor  sich  ging:  sehr  schön  führt  Ziehen  das  au  der  Idee 
der  Unterscheidung  zwischen  vorsätzlicher  und  nicht  vorsätzlicher  Tötung 
aus,  die  zwar  im  Rechtsbewuütsein  der  Massen  schon  lauge  vorhanden 
war,  aber  erst  von  Drakon  wirklich  gesetzlich  fixiert  ward.  —  Es  ist 
nicht  zu  leugnen,  daß  diese  Ansicht  etwas  ungemein  Bestechendes  hat, 
indem  sie  eine  genaue  Parallele  zu  dem  Entstehen  des  germanischen 
Rechts  aus  den  Weistümern  schafft,  und  um  so  bedauerlicher  ist  es, 
daß  sie  an  einem  sprachlichen  Bedenken  leidet:  Oej^-oi  und  öiafita  sind 
eben  nach  griechischem  Sprachgebrauch  doch  niemals  gerichtliche  Ent- 
scheidungen, sondern  formulierte  Gesetze,  einerlei  ob  staatlicher  oder 
moralischer  Natur,  und  ich  fürchte,  daß  dadurch  die  Ziehensche  Er- 
klärung von  der  Tätigkeit  der  Thesmotheten  unmöglich  gemacht  wird. 
Bekanntlich    hat    die    drakonische    Gesetzgebung    dem    attischen 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  155 

Lande,  das  vorwiegend  an  sozialen  Schäden  litt,  nicht  den  Frieden 
bringen  können  nnd  somit  mußte  die  Adelsherrschaft  auf  eine  Ableitung 
der  unzufriedeneo  Elemente  nach  außen  bedacht  sein:  in  diesen  Zu- 
sammenhang gehört  m.  E.  der  Versuch,  durch  Besetzung  Sigeions 
am  Hellespont  festen  Fuß  zu  fassen,  der  dem  Scharfblick  der  damaligen 
Machthaber  alle  Ehre  macht.  Allein  die  gute  Zeit  der  Kolonisation 
war  vorüber:  Athen  sah  sich  sofort  in  einen  schweren  Krieg  mit  Mi- 
tylene  verwickelt,  an  dem  Alkaios  und  Pittakos  von  feindlicher  Seite 
teilnahmen,  und  wenn  Periaiidros'  Schiedsspruch  den  Athenern  auch 
Sigeion  beließ,  so  war  doch  jede  Ausdehnung  des  Gebiets  ihnen  dadurch 
zugleich  unterbunden  und  eine  Ansiedelung  der  landlosen  Proletarier- 
masseu  Attikas  unmöglich  gemacht  worden.  Auch  scheint  Sigeion  später 
wieder  verloren  gegangen  zu  sein ;  erst  Pisistratos  hat  es  wieder  erobert 
und  von  da  an  blieb  es  in  athenischem  Besitz  als  Schlüssel  des  Helles- 
ponts.  Dies  die  gegenwärtig  ziemlich  allgemein  gültige  Ansicht;  gegen 
sie  wendet  sich  de  8.  S.  284  if.,  indem  er  nur  einen  einzigen  Krieg 
statuiert,  der  in  die  Zeit  des  Pisistratos  fällt.  Dabei  ist  zunächst  zu- 
zugeben, daß  Her.  5,  94  allerdings  nur  von  einem  Kriege  spricht  nnd 
die  Anknüpfung  mit  ^ap  zeigt,  daß  er  ihn  unter  die  Regierung  von 
Pisistratos'  Sohn  Hegesistratos  veilegt.  Allein  dem  widerspricht  die  Er- 
wähnung des  Alkaios  und  des  Periandrischen  Schiedsspruches,  und  dem- 
gegenüber genügt  es  doch  nicht,  auf  die  zweifelhafte  Chronologie  dieser 
Zeiten  hinzuweisen,  die  erst  von  den  Alexandrinern  festgesetzt  sei 
(S.  286)  oder  auf  die  Unzuverlässigkeit  des  ältesten  Teils  der  Olympio- 
nikenliste, die  den  von  Pittakos  besiegten  Olympioniken  Phrynon  ins 
Jahr  636  versetzt.  Oder  glaubt  de  S.  wirklich,  daß  Periandros  noch 
um  540  gelebt  hat?  Ist  aber  an  der  historischen  Realität  seines  Schieds- 
spruchs nicht  zu  zweifeln,  so  ergibt  sich  daraus  doch  mit  Notwendigkeit, 
daß  Her.  Ereignisse  aus  den  veischiedenen  Kriegen  vermengt,  und  daß 
tatsächlich  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  7.  Jahrhunderts  von  Athen 
aus  der  Versuch  gemacht  ist,  in  der  Troas  ein  Kolonialreich  zu  gründen. 
In  dieselbe  Zeit  fällt  auch  der  Beginn  des  Kampfes  um  Salamis, 
dessen  Veranlassung  m.  E.  ebenfalls  in  den  zerrütteten  sozialen  Ver- 
hältnissen Attikas  zu  suchen  ist.  Zu  allen  Zeiten  hat  in  solchen  Fällen 
die  Ablenkung  nach  außen  als  ein  bewährtes  Mittel  gegolten,  das  sich 
hier  um  so  mehr  empfahl,  als  der  Erfolg  den  Machthabern  Attikas  zu- 
gleich einen  bequemen  Abfluß  der  unzufriedenen  Bevölkerung  nach  der 
Insel  Salamis  schaffen  mußte.  Über  den  Verlauf  des  Krieges  besitzen 
wir  eine  Menge  Angaben,  deren  vollständige  Unzuverlässigkeit  de  S. 
p.  257  mit  Recht  betont  und  die  bald  Selon,  bald  Pisistratos  die  Haupt- 
rolle zuerteilen ;  sicher  ist  nur,  daß  unter  Pisistratos'  Regierung  die  end- 
gültige Regelung    durch   den  spartanischen  Schiedsspruch  erfolgte,    der 


1 56  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

Salamis  den  Athenern  zuwies.  Daß  Solon  irgendwie  am  Kriege  beteiligt 
gewesen  ist,  das  steht  allerdings  durch  seine  Elegie  fest;  neuere 
Forscher,  unter  anderen  auch  Bury  S.  192,  verlegen  deshalb  den 
entscheidenden  Krieg  um  das  Jahr  570  herum,  um  so  einerseits  die 
Möglichkeit  zu  gewinnen,  Solon  und  Peisistratos  beide  am  Krieg  zu  be- 
teiligen und  andererseits  den  Streit  zwischen  Athen  und  Megara  nicht 
über  einen  zu  langen  Zeitraum  auszudehnen.  Allein  mit  Recht  weist 
de  Sanctis  auf  die  jahrhundertelangen  Grenzstreitigkeiten  zwischen  Samos 
und  Priene,  sowie  zwischen  den  italienischen  Stadtrepubliken  des  Mittel- 
alters hin,  und  insofern  steht  nichts  der  Annahme  im  Wege,  Solons  Be- 
teiligung noch  ans  Ende  des  7.  Jahrhunderts  zu  setzen.  Vielleicht  war 
es  ein  unter  seiner  Leitung  errungener  vorübergehender  Erfolg,  der  ihm 
den  Weg  zum  Archoutat  bahnte. 

Das  vorläufige  Scheitern  der  Expansionspläne  ergab  die  Notwendig- 
keit einer  gütlichen  Vereinigung  zwischen  den  streitenden  Parteien:  um 
sie  herbeizuführen,  ward  Solon  im  Jahre  594/3  zum  leitenden  Archon 
erwählt.     Diese  Zeitangabe  beruht,  wie  bekannt,   auf  der  Autorität  des 
Sosikrates  bei  Diog.  Laert.   1,  65;  eine  andere  Bestimmung  ergibt  sich 
aus  der  parischen  Marmorchronik  in  Verbindung  mit  den  Angaben  des 
Aristoteles  in  der  Ath.  Polit.  und  ist  von  Kirchner  in  dem  angeführten 
Aufsatz  über  das  Jahr  des  Archon  Damasias  verfochten.     K.  geht  aus 
vom  Jahr  des  Komeas,  in  dem  Peisistratos  zur  Regierung  kam  und  das 
er  auf  560/59  fixiert.     Nach  Ar.  pol.  Ath.  c.  14  nahm  Peisistratos  die 
Akropolis  32  Jahre  nach  Solons  Gesetzgebung  in  Besitz,  was  für  diese 
auf  591/0  führt.     Nach  Ar.  c.  13    trat  nun  im  5.  Jahre    nach  Solons 
Archontat  Anarchie  ein,    d.  h.    587/6,    fünf  Jahre  später  noch  einmal 
583/2,  darauf  folgte  Damasias,  der  also  582/1  Archon  wa;",  was  wieder 
genau    mit    dem    Marmor    Parium    stimmt,    das    hier    die    Worte    hat 
Aafxajtou  ap'/o\-zoi  xoü  oeutipou.     Daß  dies  bedeutet  „als  D.  II.  Archon 
war"  (Damasias  I.  =  639)  und  nicht  „als  D.  zum  zweitenmal  A.  war", 
erscheint  mir  allerdings  sicher:  sehr  richtig  bemerkt  K.,  daß  dies  durch 
xo  Seutepov  hätte  ausgedrückt  werden  müssen.     Mißlich  ist  für  K.s  Er- 
kläiung    nur  der  Anfang    von  Ar.  pol.  13,    wo  es  heißt,    die  Athener 
hätten  nach  Solons  Abreise,  die  doch  frühestens  auch  nach  K.s  Ansicht 
Ende  591/0  erfolgt  sein  kann,  vier  volle  Jahre  iu  Ruhe  gelebt:  erst  im 
fünften,  d.  h.  also  doch  586/5,  sei  zum  erstenmal  das  Archonteuamt  nicht 
besetzt  worden,    und  es  ist  kein  gutes  Auskunftsmittel,    wenn   er  hier 
vorschlägt,  vom  Amtsantritt  Solons  zu  rechnen.    Vielmehr  ergibt  sich 
daraus,  da  das  Damasia.«jahr  aus  dem  Marmor  Parinm  feststeht,  592/1 
als  Solons  Amtsjahr,  wobei  denn  das  Jahr  des  Komeas  auf  561/0  anzu- 
setzen wäre,  was  bei  dem  Schwanken  der  Epoche  des  Marmor  Parium, 
die  auch  K.    nicht  ganz  leugnen  kann,    wohl  nicht  bedenklich  ist.     In 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  157 

der  Tat  stehen  also  für  Solons  Amtsjahr  zwei  Daten  594/3  (Sosikrates) 
und  592/1  (Aiist.  und  Marmor  Parinm)  zur  Wahl,  beide  haben,  wie  Bury 
S  182  hervorliebt,  einiges  für  sich.  Jedenfalls  aber  empfiehlt  es  sich 
nicht,  durch  Konjekturen  wie  die  von  A.  Bauer,  der  Ar.  pol.  Ath. 
14  statt  32  Tptaxovxa  xai  6'  schreiben  will,  den  Unterschied  zu  ver- 
wischen und  auch  de  S.  Verniittelungsversuch  (S.  203/4)  scheint  mir 
mißglückt,  zumal  er  die  Worte  apyov-ro?  Aa|xajiou  xoü  Ssu-epou  vom 
zweiten  Amtsjahr  des  Damasias  versteht,  was  sprachlich  unmöglich  ist. 

Was  nun  das  Werk  Solons  selber  betrifft,  so  herrscht  darüber 
jetzt  allgemeine  Übereinstimmung,  daß  jene  Verquickung  der  Seisach- 
theia mit  der  Münzreform,  wie  man  sie  lange  auf  Androtions  Autorität 
hin  angenommen  hat,  auf  einem  vollständigen  Irrtum  beruht:  beide 
haben  nicht  das  geringste  miteinander  zu  tun.  Vielmehr  war  die  Sei- 
sachtheia  eine  der  radikalsten  Maßregeln,  die  es  je  gegeben  hat:  eine 
vollständige  Aufhebung  sämtlicher  Hypothekenschulden  und  sämtlicher 
auf  den  eigenen  Leib  aufgenommener  Personalschulden.  Sie  ward  er- 
gänzt durch  das  Verbot  des  oavöi^e'.v  l-\  awiiizi,  das  die  Wiederkehr 
solcher  Zustände  unmöi>;lich  machte:  daß  aber  auch  der  Hypothekar- 
kredit von  Solon  verboten  oder  wenigstens  nur  in  ganz  bestimmten 
Fällen  zugelassen  ward,  das  hat  de  Sanctis  (S.  206  f.)  wohl  mit  Recht 
aus  der  Ausdehnung  geschlossen,  die  im  späteren  attischen  Güterverkehr 
die  -pajic  irA  Xysst  gewonnen  hat.  Unabhängig  davon  war  die  Münz- 
reforra  eine  wesentlich  handelspolitische  Neuerung,  auf  die  der  Ausgang 
des  lelantischen  Krieges  und  die  neue  Gruppierung  der  Handelsraächte 
(s.  u.)  von  maßgebendem  Einfluß  gewesen  ist:  das  sog.  euböische  Talent, 
das  Solon  einführte,  war  dasselbe,  dessen  sich  die  neuen  Freunde  Athens, 
Korinth  und  Milet,  bedienten,  und  seine  Annahme  muß  für  den  auf- 
blühenden Handel  Athens  eine  große  Erleichterung  gewesen  sein. 
Über  die  mancherlei  mit  der  Münzreform  zusammenhängenden  Pi'agen 
hat  de  Sanctis  S.  215  ff.  mit  gewohnter  Gründlichkeit  gehandelt. 

Geringere  Übereinstimmung  herrscht  über  die  eigentliche  Ver- 
fassung Solons,  besonders  über  die  Klasseneinteilung,  und  hier  ist 
die  Hauptfrage  die,  ob  jene  Einteilung  nach  dem  timokratischen  Prinzip 
erst  von  Solon  jietroffen  oder  ob  sie  schon  vor  ihm  vorhanden  gewesen 
ist.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  manche  Stellen  bei  den  Alten  auf 
ein  früheres  Vorhandensein  der  Klassen  hindeuten,  und  so  hält  denn 
auch  Bur}^  die  timokratische  Einteilung  für  eine  Konzession  der  Eupa- 
triden,  durch  die  sie  schon  um  die  Mitte  des  7,  Jahrhunderts  dem  Volke 
entgegenzukommen  suchten  (S.  176).  Sicher  ist  zunächst,  daß  die 
Klassen namen  bereits  vor  Solon  existierten;  ob  sie  aber  einer  festen 
timokratischen  Einteilung  des  Volkes  entsprachen,  das  ist  doch  sehr 
zweifelhaft;    denn   jene    obenerwähnten    Stellen    der  Alten    gehen  fast 


158  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

immer  in  letzter  Linie  auf  Aristoteles  zurück  und  dieser  mußte  natür- 
lich die  vorsolonische  Existenz  der  Klassen  behaupten,  da  er  sich  durch 
die  apokryphe  Verfassung  Drakons  hatte  täuschen  lassen.  Aus  diesen 
Gründen  nimmt  de  Sanctis  an  (S.  225  flf.)  —  und  das  wird  auch  wohl 
das  richtige  sein  — ,  daß  Solon  jene  Namen  als  volkstümliche  Bezeich- 
nungen für  den  ungefähren  Vermögensstand  einzelner  vorfand,  daß  da- 
gegen die  scharfe  Scheidung  der  einzelnen  Klassen  durch  die  Festsetzung 
eines  Minimaleinkommens  sein  Werk  ist.  Daß  dies  Einkommen  in  Na- 
turalien festgesetzt  ward  und  somit  nur  der  Grundbesitzer  Aufnahme 
in  die  drei  oberen  Klassen  fand,  ist  allerdings  charakteristisch:  es 
zeigt,  welches  die  mächtigste  Partei  im  Lande  war,  mit  der  auch  Solon 
zu  rechnen  hatte.  Nun  erscheint  es  freilich  sonderbar,  daß  selbst  reiche 
Leute,  sofern  sie  keinen  Grundbesitz  hatten,  der  politischen  Rechte  ent- 
behrten, und  noch  sonderbarer  vielleicht,  daß  seinerseits  der  Staat  bei 
außerordentlichen  Geldauflagen,  die  nach  den  Klassen  verteilt  wurden, 
auf  die  Mitwirkung  dieser  äußerst  zahlungsfähigen  Klasse  verzichtet 
haben  sollte,  daher  hat  bekanntlich  Ed.  Meyer  (Gesch.  d.  Alt.  II 
S.  655)  die  Ansicht  aufgestellt,  die  Zensussätze  seien  in  Geld  umge- 
rechnet worden  und  hiernach  seien  auch  die  reinen  Geldeinkommen  zu 
den  Klassen  veianlagt.  Materiell  ist  dies  Bedenken  durchaus  gerecht- 
fertigt, allein  da  wir  auch  nicht  das  geringste  über  diese  Sache  aus 
dem  Altertum  erfahren,  so  bleibt  Meyers  Annahme  immerhin  unsicher 
und  vielleicht  ist  sie  gar  nicht  einmal  notwendig.  Vielleicht  brauchte 
Solon  mit  Leuten,  die  ein  großes  Geldeinkommen,  aber  kein  Land  be- 
saßen, gar  nicht  zu  rechnen,  da  jeder,  der  Geld  hatte  und  eine  politische 
ßoUe  spielen  wollte,  tatsächlich  sehr  leicht  Land  erwerben  konnte,  weil 
infolge  der  massenhaften  Zwangsversteigerungen  das  Angebot  in  Grund- 
stücken sehr  groß  gewesen  sein  muß.  Auch  in  der  Folgezeit  nach  Solon 
muß  das  Aufblühen  von  Handel  und  Industrie  einen  starken  Übergang 
kleiner  Landbesitzer  in  die  neuen  Erwerbszweige  begünstigt  haben,  so 
daß  für  den  Bemittelten  die  Grundlage  politischer  Berechtigung  leicht 
zu  erweiben  war.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  erscheint  sogar  Solons 
Maßregel  als  eine  wirtschaftlich  äußerst  verständige,  indem  sie  dauernde 
Nachfrage  nach  Land  schuf  und  damit  den  Wert  der  Grundstücke  er- 
höhte oder  ihn  doch  vor  allzu  starkem  Sinken  bewahrte.  —  Beiläufig 
ergibt  die  Gleichsetzung  von  1  Med.  Gerste  und  1  Metr.  Ol,  daß  die 
Preise  zu  Solons  Zeit  noch  ziemlich  gleich  waren:  offenbar  stand  der 
Getreidepreis  sehr  hoch,  da  die  Einfuhr  wenig  entwickelt  war,  und  der 
Ölpreis  sehr  niedrig,  da  es  an  Ausfuhrgelegenheit  mangelte;  auch  das 
ist  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  nach  den  interessanten,  wenn  auch  nur 
annähernden  Berechnungen  von  de  S.  (S.  229  f.)  zur  Produktion  eines 
Metr.  Ol  die  doppelte  Anbaufläche   nötig  war,   wie  zur  Erzeugung  von 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  159 

einem  Med.  Gerste.  Später  änderte  sich  das  Verhältnis  unter  dem  Ein- 
fluß reichlicher  Getreidezufuhr  aus  dem  Pontos  und  eines  starken  01- 
exportes  sehr  rasch:  für  den  Anfang-  des  4.  Jahrhunderts  berechnet 
de  S.  aus  dem  Opfertarif  CIA.  II,  631  das  Preisverhältnis  von  Ol  und 
Getreide  wie  4 :  1  in  Athen,  ja  für  Lampsakos,  das  dem  ^etreidereichen 
Pontos  so  viel  näher  lag-,  stellte  es  sich  nach  dem  pseudoaristotelischen 
Oekononiikos  II,  1347a  sogar  auf  9:1.  Indem  die  Anfänge  dieser 
Preisverschiebung  bald  nach  Solon,  der  durch  seiu  Getreideausfuhrverbot 
noch  dazu  mitwirkte,  sich  geltend  gemacht  haben  müssen,  sind  die  Grund- 
lagen von  Solons  Klasseneinteiluni?  sehr  bald  erschüttert  worden:  schon 
zu  Peisistratos'  Zeit  wird  ein  Mann,  der  200  Metr.  Öl  erntete,  ein  viel 
.größeres  Einkommen  gehabt  haben  als  ein  Mitglied  der  Pentakosio- 
medinnenklasse,  das  etwa  600  Scheffel  Getreide  produzierte  (de  S. 
p.  228  f.). 

Es  ist  natürlich  unmöglich,  hier  auf  alle  Einzelfragen  einzugehen, 
die  über  den  Einfluß  der  Klassen  auf  die  Wahl  der  Beamten,  über 
deren  Zahl  und  Befugnisse  existieren:  sie  sind  sämtlich  mit  großer 
Gründlichkeit  bei  de  Sanctls  behandelt.  Von  den  vielen  streitigen 
Punkten  mögen  hier  nur  noch  drei  erörtert  werden,  welche  die  Ein- 
setzung des  Kate s  der  Vierhundert,  die  Volksgerichtsbarkeit  und 
die  Art  und  Weise  der  Ämterbesetzung  betreffen.  Bekanntlich  ist 
Niese  der  erste  gewesen,  der  (Histor.  Ztschr.  69,60  1892)  dem  solonischen 
Rat  der  Vierhundert  die  Existenz  abgesprochen  hat,  und  ihm  schließt 
sich  de  Sanctis  an  (S.245),  während  Bury  auch  hier  einen  konservativeren 
Standpunkt  behauptet  (S.  185).  In  der  Tat  läßt  sich  bei  der 
notorisch  geringen  Bedeutung,  welche  die  Volksversammlung  bei  Solon 
einnimmt,  nicht  absehen,  was  denn  der  Rat  bei  Solon  für  Befugnisse 
gehabt  haben  sollte.  Auch  das  argumentum  ex  silentio  erscheint  zu- 
lässig: in  allen  den  Parteikämpfen,  die  auf  die  solonische  Gesetzgebung 
folgen,  spielt  der  Rat  der  Vierhundert  nicht  die  geringste  Rolle,  während 
die  Bule  des  Kleisthenes'  höchst  energisch  in  die  politischen  Verhältnisse 
nach  Kleisthenes'  Vertreibung  eingegriffen  hat.  Allerdings  widerstrebt  dem 
die  Überlieferung  bei  Ar.  pol.  Ath.  c.  8,  der  ausdrücklich  die  Einsetzung 
des  Rates  berichtet,  und  viele  andere  Stellen,  die  seinen  Ursprung  auf 
Solon  zurückführen.  Demgegenüber  aber  ist  festzuhalten,  daß  es  eine 
wirklich  authentische  Überlieferung  über  Solons  Verfassungswerk  nicht 
gegeben  hat,  schon  die  Atthidenschreiber  und  Ar.  waren,  wie  auch  die 
Ausdrucksweise  der  Ath.  pol.  zeigt,  in  den  meisten  Punkten  durchaus 
auf  Rückschlüsse  angewiesen.  Außerdem  aber  liegt  ja  bekanntlich  bei 
den  Athenern  der  späteren  Zeit  die  entschiedene  Neigung  vor,  demo- 
kratische Einrichtung  auf  Solon  als  den  Vater  der  Demokratie  zurück- 
zuführen.    Alles    in    allem  genommen  wird  man  also  das  bei  Ar.  vor- 


IfO  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

liegende,  merkwürdig  kurze  Zeugnis  für  die  Einsetzung  des  Rates  nicht 
sehr  hoch  veranschlagen  und  auch  die  in  Plut.  Solon  vorliegenden 
Gesetzesbruchstücke,  in  denen  der  Rat  erwähnt  wird,  bilden  keinen 
Gegenbeweis,  da  der  wirklich  solonische  Ursprung  dieser  (iesetze 
mindestens  sehr  zweifelhaft  ist. 

Dagegen  sehen  fast  alle  Forscher  (so  auch  Bury  und  de  Sanctis) 
die  eigentlich  demokratische  Hauptreform  Solons  in  der  Einsetzung 
der  fjXiaia,  deren  alten  Ursprung  das  schon  in  der  Sprache  sehr 
altertümliche  Gesetz  bei  Lys.  10,  16  bezeugt,  und  wenn  man  auch  dem 
Zeugnis  der  Alten,  die  die  Geschworenengerichte  sämtlich  von  Solou 
datieren,  nicht  allzuviel  Gewicht  beimessen  wird,  so  liegt  doch 
nicht  der  geringste  Grund  vor,  an  seiner  Richtigkeit  zu  zweifeln.  Nun 
ist  festzuhalten,  daß  ihre  Tätigkeit  unter  Solon  eine  rein  richterliche 
war.  Allerdings  hat  Wilamowitz  (Ar.  und  Athen  1,  71)  aus  Ar.  pol. 
1274  a,  wo  gesagt  wird,  Solon  habe  dem  Volke  xo  apyac  atpsij&at  xal  suöuvstv 
gegeben,  den  Schluß  gezogen,  das  Volk  habe  nicht  bloß  die  Beamten 
erwählt,  sondern  auch  ihre  Amtsführung  überwacht,  so  daß  sogar  ein 
Appell  von  ihren  Anordnungen  an  die  Heliaia  möglich  gewesen  sei. 
Demgegenüber  hebt  de  S.  (p.  246  ff.)  zunächst  hervor,  daß  s'jOüveiv  hier 
ebenso  wie  1281b  in  rein  technischem  Sinne  gebraucht  sei  und  sich  auf 
die  bekannte  Rechenschaftsablage  nach  vollendetem  Amtsjahr  bezöge. 
Allein  auch  innere  Gründe  sprechen  gegen  W.s  Annahme:  wäre  die 
Heliaia  wirklich  berechtigt  gewesen,  in  der  gedachten  Art  in  die  Amts- 
führung einzugreifen,  so  hätte  sie  ja  tatsächlich  das  Heft  in  Händen 
gehabt  und  wie  konnte  dann  Solon  von  sich  rühmen,  „er  habe  dem 
Volke  nicht  mehr  gegeben,  als  gerade  genüge"?  Und  wie  erklärt  es 
sich  ferner,  daß  noch  nach  Solon  die  erbittertsten  Kämpfe  um  das 
Archontat  geführt  wurden,  wenn  dieses  tatsächlich  zu  einer  Marionette 
in  der  Hand  der  Heliaia  geworden  wäre,  wozu  es  durch  W.s  Annahme 
degradiert  wird?  Vielmehr  ist  daran  festzuhalten,  daß  die  Heliaia  nur 
richterliche  Befugnisse  hatte,  selbstverständlich  mit  Ausnahme  der  Blut- 
gerichtsbarkeit, für  die  der  Areopag  zuständig  war.  Den  Umfang  der 
Prozesse,  die  vor  der  Heliaia  zu  führen  waren,  sucht  de  S.  p.  248  wohl 
im  ganzen  mit  Glück  zu  bestimmen;  weniger  annehmbar  erscheint  seine 
Ansicht,  die  Heliaia  sei  nur  aus  den  ersten  drei  Klassen  zusammen- 
gesetzt gewesen.  Er  begründet  sie  damit,  daß  eine  Entschädigung 
damals  noch  nicht  gezahlt  sei  und  daß  daher  nur  Wohlhabendere  ihre 
Zeit  zu  opfern  imstande  gewesen  wären.  Allein  die  Heliasten- 
geschäfte  waren  damals  ja  bei  weitem  nicht  so  umfangreich  und  zeit- 
raubend wie  in  den  Zeiten  der  ausgebildeten  Demokratie,  und  dann 
fragt  es  sich  doch  noch  sehr,  für  wen  das  Zeitopfer  größer  war,  für 
den  entfernt  wohnenden  Zeugiten  oder  den  in  Athen  ansässigen  Theten. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  161 

Es  steht  also  nichts  im  Wege,  an  der  Überlieferung  festzuhalten,  wonach 
auch  der  untersten  Klasse  die  Teilnahme  an  der  Heliaia  zustand,  wenn- 
gleich an  sich  die  Überlieferung  nicht  viel  taugen  nias:. 

Endlich  der  Modus  der  Beamtenwahl  unter  Solon,  bei  dem  uns 
abermals  die  Überlieferung  im  Stich  läßt.  Scheinbar  klar  und  bestimmt 
sagt  Ar,  pol.  Ath.  c.  8.  es  habe  eine  x^.-iQptuji;  iy.  Tcpo/piTcov,  also  eine 
Art  Kombination  von  AVahl  und  Los  stattgefunden,  allein  sofort  folgt 
der  bedenkliche  Zusatz  arnj-ziov  ok,  der  beweist,  daß  es  sich  nicht  um 
eine  überlieferte  Tatsache,  sondern  um  einen  Rückschluß  des  Arist. 
handelt,  und  dazu  ist  der  solonische  Ursprung  des  von  ihm  zum  Beweis 
angeführten  Gesetzes  keineswegs  über  jeden  Zweifel  erhaben.  Nun  aber 
fagt  derselbe  Ar.  in  der  Politik  1274a,  unter  Solou  seien  die  Ämter 
durch  Wahl  besetzt  und  das  ist  auch  die  Ansicht  des  Atthidographen 
gewesen,  den  Ar.  pol.  Ath.  22,  5  benutzt  hat  und  der  berichtet,  vor 
Telesinos  (487/6)  seien  alle  Archonten  gewählt:  der  Zusatz  -ots  ixsii 
TTjV  Tupavvt'oa  zpwrov  ist  offenbar  gemacht,  um  den  Widerspruch  mit 
c.  8,  1  zu  verdecken.  Bei  diesem  Widerspruch  der  Zeugnisse  bleibt 
nichts  übrig,  als  die  Sache  aus  inneren  Gründen  zu  entscheiden,  und  das 
ist  de  S.  (p.  244)  zuzugeben,  daß  die  Erlösung  mit  der  selbständigen 
Bedeutung,  die  die  Ämter  zu  Solons  Zeit  hatten,  nicht  zu  vereinigen 
ist:  umgekehrt  sagt  er  sehr  richtig,  daß  das  Archontat  von  dem  Augen- 
blick au,  als  es  durch  Los  besetzt  ward,  jegliche  Bedeutung  verloren 
hat.  Sodann  führt  er  gegen  Fustel  de  Coulanges,  der  auf  das  religiöse 
Element  bei  der  Erlösung  hingewiesen  hatte,  den  Umstand  ins  Feld,  daß 
die  Athener  sicherlich  nicht  eine  Soxifxania  der  Erlosten  veranstaltet 
hätten,  wenn  sie  der  Ansicht  gewesen  wären,  daß  der  Erloste  der  Er- 
wählte der  Götter  sei,  was  sich  ja  hören  läßt,  obwohl  das  Volk  in 
diesen  Dingen  keineswegs  immer  so  konsequent  denkt,  wie  de  S.  an- 
zunehmen scheint.  Endlich  ist  es  richtig,  daß  die  Archontenliste  jener 
Zeit  eine  ganze  Eeihe  hervorragender  Männer  enthält,  und  es  wäre  doch 
seltsam,  daß  das  Los  so  oft  den  Rechten  getroffen  hätte.  Alles  dieses 
spricht  für  die  Wahl  der  Beamten,  für  die  sich  auch  de  S.  entscheidet. 
Allein  gegen  die  Wahl  läßt  sich  doch  auch  geltend  machen,  daß  die 
Archontenliste  neben  einigen  hervorragenden  so  viele  gänzlich  unbekannte 
Ildamen  enthält,  und  so  kommt  man  doch  schließlich  wieder  auf  dieErlosung 
Ix  Trpoxpixüjv,  bei  der  sich  die  Zusammensetzung  der  Archontenliste 
noch  am  ersten  erklärt:  beruht  Aristoteles'  Annahme  ihrer  Einrichtung 
durch  Solon  auch  nur  auf  einem  Schluß  aus  zweifelhaften  Prämissen, 
so  kann  er  darum  doch  das  Richtige  getroffen  haben.  Auch  Bury 
(S.  186)  kommt  zu  einem  ähnlichen  Ergebnis. 

Paßt  man  endlich  das  Gesamturteil  über  Solon  und  sein  Werk 
zusammen,  so  wird  sich  nicht  leugnen  lassen,  daß  seine  Gesetzgebung 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.  III.)         11 


162  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

im  allgemeinen  segensreich  gewirkt  hat,  insbesondere  hat  die  Seisachtheia 
für  die  sozialen  Verhältnisse  wieder  eine  gesunde  Grundlage  geschaffen. 
Aber  nicht  überall  hielt  seine  Staatsmann ische  Erfahrung  mit  seiner 
Einsicht  und  der  Reinheit  seiner  Zwecke  gleichen  Schritt,  und  wenn 
auch  Wilamowitzens  bekanntes  Urteil,  wonach  „Solons  eigenes  Gewissen 
es  verneint  haben  wird,  wie  wir  es  verneinen  müssen,  daß  er  ein  großer 
Staatsmann  gewesen",  zu  hart  ausgefallen  ist,  das  wird  man  zugeben 
müssen,  daß  Solon  seinen  Zweck  nicht  erreicht  hat:  den  Frieden  hat 
er  seinem  Lande  nicht  geben  können.  Der  Hauptfehler  seiner  Ver- 
fassung —  das  hat  de  S.  (S.  252)  klar  gesehen  —  ist  der  Mangel 
einer  einheitlichen  Zentralgewalt;  indem  er  diese  in  seiner  Person  schuf, 
ist  Peisistratos,  der  äußerlich  betrachtet  Solons  Lebenswerk  vernichtete, 
in  Wahrheit  der  Wohltäter  seines  Volkes  geworden,  der  nach  langen 
Kämpfen  für  sein  ]jand  den  ersehnten  Frieden  heraufgeführt  hat. 


Um  die  Zeit  von  Solons  Archontat  herum  scheinen  sich  in  der 
griechischen  Welt  mehrere  größere  Bewegungen  vollzogen  zu  haben, 
an  denen  zwar  ein  direkter  Anteil  Athens  kaum  mehr  nachzuweisen 
ist,  die  aber  schwerlich  spurlos  am  athenischen  Staat  vorübergegangen 
sind.  Die  erste  ist  der  sogenannte  lelantische  Krieg,  eine  Fehde 
zwischen  Chalkis  und  Eretria  um  das  zwischen  beiden  Städten  liegende, 
fruchtbare  lelantische  Gefilde,  die  sich  nach  und  nach  zu  einem  allge- 
meinen Handelskriege  der  griechischen  Staaten  untereinander  ausweitete 
und  endlich  mit  der  Niederlage  von  Eretria  endete.  Leider  besitzen 
wir  keine  einzige,  zuverlässige  Zeitangabe  über  den  Krieg,  und  auch 
der  neueste  Versuch  Costanzis  (Ateue  e  Roma  Dez.  1902),  ihn  chrono- 
logisch festzulegen,  ist  nicht  von  durchschlagendem  Erfolge  begleitet 
gewesen.  Darin  allerdings  wird  man  ihm  beistimmen,  daß  weder  aas 
dem  Aufhören  der  Kolonisationstätigkeit  von  Eretria  um  650,  noch  ans 
der  Erwähnung  des  sagenhaften  Königs  Amphidamas,  noch  aus  der 
bekannten  Stelle  bei  Archilochos  über  die  Kampfesweise  der  speer- 
berühmten, euböischen  Herren  etwas  über  die  Zeit  zu  schließen  ist;  und 
so  bleiben  denn  relativ  noch  die  sicherste  Angabe  die  oft  zitierten 
Verse  des  Theognis  891  —  4,  die  von  der  Zerstörung  Keriuths  und  der 
Verwüstung  der  lelantischen  Ebene  ausgehend  mit  einer  Verfluchung 
des  Kypselidengeschlechts  endigen.  Nun  ist  es  richtig,  daß  Her.  5,  65 
unter  der  Bezeichnung  Peisistratiden  auch  Peisistratos  selbst  begreift, 
wie  auch  wir,  wenn  wir  von  Karolingern  sprechen,  wohl  meist  Karl 
den  Großen  einschließen,  aber  im  Munde  eines  Zeitgenossen  (xei'psTat 
Vs.  892)  will  sich  das  doch  nicht  schicken,  und  so  deuten  die  Theognis- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau  )  1(33 

Verse  wohl  mit  Sicherheit  auf  die  Zeit  des  Periandros,  der  nach  der 
gewöhnlichen  Chronologie  von  625 — 585  regierte.  Genaueres  sucht 
Costanzi  zu  ermitteln.  Er  geht  davon  aus,  daß  Milets  Teilnahme  am 
Kriege  nicht  in  die  Zeit  der  inneren  Kämpfe  fallen  kann,  von  denen 
Her.  5,28  ^pricht,  und  deren  Zeit  er  auf  560 — 520  in  mühevoller 
Untersuchung  bestimmt,  so  daß  also  560  einen  terminus  ante  quem  für 
den  Ausgang  des  Krieges  bilden  würde.  Immerhin  bleibt  dabei  ein 
Widerspruch  mit  Her.,  der  die  Dauer  jener  Kämpfe  auf  zwei  Generationen, 
d.  h.  nach  seiner  Rechnung  66  Jahre  beziffert,  und  es  ist  C.  nicht  ganz 
gelungen,  diese  Schwierigkeit  zu  beseitigen.  Einen  Terminus  a  quo  ge- 
winnt er  aus  der  Bemerkung  Herodots  (6,  127),  wonach  zur  Zeit  der 
Hochzeit  der  Agariste  Eretria  noch  geblüht  habe,  d.  h.  um  582  herum, 
und  zugleich  möchte  er  daraus,  daß  ein  Pharsalier  das  Kontingent  der 
Thessalier  im  lelantischeu  Krieg  führte,  auf  eine  Vormachtstellung  von 
Pharsalos  schließen,  die  erst  nach  dem  Niedergang  Larisas  um  570 
möglich  war;  es  ergibt  sich  also  für  ihn  der  Ansatz  570 — 560  für  den 
Ausgang  des  Krieges.  Ich  gestehe,  daß  es  mir  unmöglich  ist,  dieser 
Ansicht  beizutreten,  und  zwar  eben  wegen  jeuer  Theognisverse,  aus 
denen  doch  hervorzugehen  scheint,  daß  das  Ende  zu  Periandros  Zeit, 
ja  zum  Teil  durch  seine  Schuld  eintrat.  Nun  aber  ist  P.  nach  der  über- 
lieferten Chronologie  um  585  gestorben  und  es  genügt  doch  nicht  ein 
einfacher  Hinweis  auf  die  Unsicherheit  dieser  Chronologie,  die  ich  gern 
zugebe,  um  alle  ihre  Ansätze  vernachlässigen  zu  dürfen.  Wahrschein- 
lich fällt  also  das  Ende  des  lelantischen  Krieges  noch  in  Periandros' 
Zeit  und  vor  den  Beginn  des  heiligen  Krieges  gegen  Kirrha  (um  590), 
also  noch  ins  erste  Jahr  des  6.  Jahrhunderts.  Sein  Anfang  mag  immer- 
hin ziemlich  weit  ins  siebente  zurückgehen,  wenngleich  nach  den  oben 
geschilderten  Verhältnissen  der  Krieg  kaum  vor  630  begonnen  haben 
kann;  sicherlich  ist  es  eine  lange,  oft  unterbrochene  Fehde  gewesen, 
wie  etwa  die  holländisch-englischen  Kriege  im  17.  Jahrhundert.  Worin 
eigentlich  Periandros'  entscheidendes  Eingreifen  bestanden  hat,  ist  nicht 
mehr  zu  erkennen,  mir  persönlich  erscheint  die  Vermutung  Burys  S.  151 
sehr  plausibel,  wonach  gegen  Ende  des  Krieges  die  Häupter  der  krieg- 
führenden Parteien,  Korinth  und  Milet,  über  die  Köpfe  der  Kleinen, 
die  die  Zeche  bezahlen  mußten,  hinweg  eine  Verständigung  fanden,  die 
vielleicht  durch  das  Aufkommen  von  Thrasybulos'  Tyranuis  in  Milet 
erleichtert  ward.  Jedenfalls  bestand  um  Solons  Archontat  herum  ein 
Übergewicht  Korinths,  darauf  scheint  seine  Münzreform  hinzudeuten, 
die  in  einer  Annahme  des  in  Korinth  und  Milet  gebräuchlichen  euböischeu 
Talents  bestand. 

Ganz    eigentümliche    Ansichten    über    die    politischen  Verhältnisse 
Griechenlands    in    damaliger  Zeit  hat  C.  Niebuhr    in   seinem  obener- 

11* 


1Ü4  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

wähnten  Buche  entwickelt.  Er  geht  davon  aus,  daß  schon  vor  Kroisos 
die  griechischen  Städte  Kleinasiens  in  einem  gewissen  losen  Abhängig- 
keitsverhältnisse von  den  Herren  des  Hinterlandes  gestanden  haben, 
woran  nicht  zu  zweifeln  sein  wird.  Wenn  auch  Gj'ges"  Versuche  nach 
dieser  Richtung  hin  durch  seinen  frühen  Tod  vereitelt  wurden,  so  haben 
doch  Ardj's  und  Alyattes  den  Kampf  wieder  aufgenommen ,  und  eine 
Verständigung  mit  den  Herischern  des  reichen  Hinterlandes  bot  zu 
große  kommerzielle  Vorteile,  als  daß  man  sie  nicht  durch  eine  simple 
Anerkennung  der  Oberhoheit  erkauft  hätte;  in  dieser  Hinsicht  pflegen 
Handelsstädte  nicht  sehr  skrupulös  zu  denken ,  wie  die  Geschichte 
mancher  mittelalterlichen  Städterepublik  beweist.  Auch  darin  hat 
Niebuhr  unzweifelhaft  recht,  daß  der  mächtigste  Mann  im  damaligen 
Griechenland,  daß  Periandros  von  Korinth  in  genauer  Verbindung  mit 
Alyattes  einerseits,  mit  Psammetichos  und  Necho  andrerseits  gestanden 
hat.  Allein  er  geht  entschieden  zu  weit,  wenn  er  meint,  Periandros' 
Macht  habe  sich  auch  beispielsweise  über  Athen  und  Lesbos  erstreckt, 
die  in  ihm  ihren  Suzerän  anerkannt  hätten.  Dies  schließt  er  aus  der 
Darstellung  des  Kampfes  um  Sigeion  zwischen  Athen  und  Mitj-leue,  der 
nach  Her.  5,  94,  wo  allerdings  die  erste  Besetzung  Sigeious  im  7.  Jahr- 
hundert und  die  Wiedereroberuug  durch  Peisistratos  zusammengeworfen 
sind,  durch  einen  Schiedsspruch  des  Periandros  auf  Grund  des  Status 
quo  beigelegt  ward.  Dies  Übereinkommen  erscheint  ihm  vielmehr  als 
ein  Vertrag  zwischen  Periandros  als  Oberherrn  von  Athen  und  Alyattes 
als  Suzejän  der  kleinasiatischen  Griechen,  welche  die  Wiederherstellung 
des  früheren  Besitzstandes  verabredeten  und  den  beiden  in  Streit  ge- 
ratenen unbotmäßigen  Untertanenstädten  je  einen  Aisymneteu,  Solon 
in  Athen,  Pittakos  in  Lesbos,  als  Kurator  bestellten,  der  Ordnung  in 
die  verfahrenen  Verhältnisse  bringen  sollte.  Eine  Bestätigung  dieser 
Ansicht  sieht  N.  ferner  darin,  daß  gleichzeitig  mit  dem  Tode  des  Peri- 
andros, dem  der  Sturz  seiner  Dynastie  sehr  bald  folgte,  auch  in  Athen 
von  neuem  Parteikämpfe  begannen,  die  schließlich  Solons  Werk  ver- 
nichteten. Gegen  diese  Auffassung  ist  nun  zunächst  geltend  zu  machen, 
daß  im  lesbisch-athenischen  Vertrag  nicht  der  frühere  Besitzstand  (v£- 
ixeaöat  xrjv  sl/ov),  sondern  der  gegenwärtige,  im  Krieg  erworbene ,  ttjV 
e-/ou3i,  wie  Her.  sagt,  die  Grundlage  der  Verständigung  bildete,  was 
für  die  Beurteilung  der  Rolle  des  Periandros  gegen  Nieb.  doch  sehr  ins 
Gewicht  fällt;  sodann  aber  steht  seine  Behauptung  zu  allem,  was  wir 
wissen,  in  einem  so  bedenklichen  Widerspruch,  daß  man  doch  mindestens 
den  Nachweis  erwarten  müßte,  die  Neuordnung  der  Verhältnisse  in 
Athen  und  Lesbos  sei  im  speziell  korinthischen  Interesse  erfolgt.  Das 
ist  freilich  bei  Lesbos  unmöglich,  da  wir  viel  zu  wenig  über  die  gesetz- 
geberische Tätigkeit  des  Pittakos  wissen,  allein  für  Athen  vermißt  raaa 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  165 

den  Nachweis  ungern,  zumal  N.  hier  wirklich  einiges  anführen  konnte, 
was  für  seine  Ansicht  zu  sprechen  scheint.  Denn  die  Annahme  des  in 
Korinth  geltenden  j\Iünzfnl.)es  und  die  ganze  Tendenz  der  athenischen 
Gesetzgebung,  die  den  ackerbauenden  Stand  entschieden  auf  Kosten 
der  handel  und  industrietreibenden  Bevölkerung  begünstigt,  konnte 
dem  Herrn  der  Handels-  und  Industriestadt  Korinth  unmöglich  unan- 
genehm sein.  Allein  dies  alles  erklärt  sich  hinlänglich  aus  den  inneren 
Verhältnissen  Athens  und  der  damaligen  Lage  der  merkantilen  Inter- 
essen von  selber  und  jedenfalls  genügt  es  nicht,  um  Solon  als  einen 
Agenten,  einen  Bevollmächtigten  des  korinthischen  Tyrannen  zu  be- 
zeichnen; würde  Solon  wirklich  in  seinen  Gedichten  so  scharfe  Worte 
gegen  die  Tyrannis  gefunden  haben,  wenn  er  selbst  nichts  weiter  war, 
als  ein  Beauftragter  des  Periandros?  Was  aber  endlich  das  zeitliche 
Zusammenfallen  der  Anarchie  in  Athen  mit  dem  Sturz  der  Kypseliden 
betrifft,  so  stimmt  erstens  die  Sache  nicht  ganz  genau,  denn  nach  Ar. 
pol.  Ath.  c.  13  dauerte  die  Ruhe  nach  Solons  Archontat  vier  Jahre, 
d.  h.  also  bis  589  oder  587,  je  nachdem  man  die  Verfassung  chrono- 
logisch bestimmt,  Periandros  aber  starb  der  überlieferten  Chronologie 
zufolge  erst  585.  Nun  mag  diese  ja  falsch  sein  —  übrigens  stellt  sich 
immer  mehr  heraus,  wie  notwendig  eine  umfassende  Untersuchung  über 
die  Chronologie  des  sechsten  Jahrhunderts  ist  — ,  aber  selbst  wenn 
Gleichzeitigkeit  vorläge,  gibt  es  denn  wirklich  kein  Beispiel,  daß  re- 
volutionäre Bewegungen  von  einer  Stadt  auf  eine  benachbarte  über- 
springen, ohne  daß  an  einen  derartigen  Znsammenhang,  wie  ihn  N.  sich 
vorstellt,  zu  denken  wäre  ?  Die  Geschichte  der  Julirevolution  und  der 
Bewegung  von  1848  bietet  Belege  genug,  und  so  wird  man,  denke  ich, 
die  Ergebnisse  Niebuhrs  bis  jetzt  wenigstens  rundweg  ablehnen  müssen. 
Immerhin  haben  seine  Untersuchungen  das  Verdienst,  auf  die  große 
Bedeutung  Peiianders  und  seinen  Einfluß  auf  die  Geschichte  Griechen- 
lands, der  von  manchen  Forschern  entschieden  unterschätzt  wird,  von 
neuem  energisch  hingewiesen  zu  haben,  und  auch  den  Spuren  lydischer 
und  ägyptischer  Politik  würden  wir  bei  genauerer  Kenntnis  dieses  Zeit- 
raums sicherlich  viel  häufiger  begegnen,  als  gemeinhin  angenommen  wird. 
Endlich  gewähren  auch  die  Bemerkungen  Niebuhrs  über  die  Rolle,  die 
Delphi  in  den  finanziellen  Verhältnissen  Griechenlands  gespielt  hat, 
manche  interessanten  Ausblicke,  bei  denen  jedoch  immer  festzuhalten 
ist,  daß  es  sich  vorab  nur  um  Möglichkeiten  handelt. 

Inwieweit  Athen  von  den  großen  Bewegungen  der  damaligen  Zeit 
in  Mitleidenschaft  gezogen  wurde,  das  läßt  sich  kaum  mehr  feststellen : 
daß  die  Angaben  über  seine  Teilnahme  am  Heiligen  Kriege  jedenfalls 
mit  Vorsicht  aufzunehmen  sind,  hat  de  Sanctis  S.  254  ff.  gezeigt. 
Allerdings    muß    eine    kräftige    äußere  Politik    schon  allein  durch  die 


166  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

inneren  Kämpfe  verhindert  sein,  die  bald  nach  Solons  Archoatat  von 
neuem  ausbrachen.  Diese  haben  nicht  nur  zu  der  seltsamen  Maßregel 
geführt,  einmal  im  Jahre  581/0  an  Stelle  des  ersten  Archon  zehn  Ar- 
chonten  zu  wählen,  die  sich  unter  die  drei  Stände  verteilten  —  auf  diese 
unzweifelhaft  richtige  Deutung  von  Ar.  pol.  Ath.  13,  2  sind  unabhängig 
voneinander  de  Sanctis  S.  257  und  Meyer,  Forschungen  II,  537  ff.,  ge- 
kommen — ,  sondern  sie  haben  sicherlich  auch  vor  Peisistratos'  ehr- 
geizigen Leuten  den  Gedanken  der  Tyrannis  nahegelegt.  Nichts  anderes 
beabsichtigte  Daraasias,  dessen  Archontat  Kirchner  a.  a.  0.  auf  582/1 
und  das  Polgejahr  zu  fixieren  sucht,  und  an  sich  ist  es  durchaus  wahr- 
scheinlich, daß  damals  noch  mehrere  solche  Versuche  gemacht  worden 
sind.  Es  liegt  daher  in  den  allgemeinen  Verhältnissen  nichts,  was  der 
Annahme  Belochs  (Rh.  Mus.  1895)  im  Wege  stände,  daß  der  kylo- 
nische  Aufstand  in  diese  Zeit  zu  setzen  ist.  Daß  die  überlieferte 
Chronologie  wertlos  ist,  weist  de  Sanctis  S.  275  im  Anschluß  an  Beloch 
nach;  auch  über  Theagenes  haben  wir  keine  bestimmten  Angaben,  und 
das  wahrscheinlichste  bleibt  doch  immer,  daß  er  erst  nach  Periandros' 
Tod  (585)  in  Megara  aufkam.  Anderseits  macht  de  S.  mit  ßecht  darauf 
aufmerksam,  daß  wir  über  Kylon  einen  ausführlichen  und  in  allen 
Punkten  einen  durchaus  wahrheitsgemäßen  Eindruck  machenden  Bericht 
haben,  während  wir  über  die  Ereignisse  des  7.  Jahrhunderts,  ja  sogar 
über  Solon  selbst,  wenn  man  seine  Gedichte  ausnimmt,  nahezu  gar  nichts 
Sicheres  wissen.  Deutet  dies  schon  auf  eine  spätere  Zeit  hin,  so  läßt 
auch  das  Wiederaufleben  des  Krieges  in  Salamis,  der  diesmal  durch 
Peisistratos'  Eingreifen  glücklich  beendet  ward,  vermuten,  daß  irgend 
ein  Grund  für  den  Wiederausbruch  der  Feindseligkeiten  vorlag,  und  da 
konnte  ja  das  Mißlingen  der  mit  megarischer  Hilfe  versuchten  Ver- 
schwörung ganz  gut  den  Anlaß  gegeben  haben.  Paßt  nun  die  Ver- 
schwörung Cylons  unzweifelhaft  den  Verhältnissen  nach  sehr  gut  in  die 
Zeit  um  570  hinein,  so  hängt  doch  mit  ihr  noch  eine  zweite  Frage  zu- 
sammen, die  nach  der  Einsetzung  der  Naukrarien,  deren  Oberbeamte 
in  dem  bekannten  Bericht  Herodots  erwähnt  werden.  Daß  die  Erwäh- 
nung der  TipuTavte?  TÜiv  vauxpaptuv  für  ihre  damalige  Existenz  beweisend 
ist,  selbst  wenn  sie  wirklich  die  bei  Her.  ihnen  zugedachte  Holle  nicht 
gespielt  haben,  wie  aus  der  stillschweigenden  Berichtigung  des  Thuky- 
dides  (1,  126)  hervorzugehen  scheint,  wird  woiil  keines  Beweises  be- 
dürfen. Nun  glaubt  de  S.  p.  298  aus  allgemeinen  Erwägungen  heraus 
die  Einrichtung  der  Naukrarien  erst  Peisistratos  zuschreiben  zu  müssen, 
und  er  ist  daher  geneigt,  den  Aufstand  Kylons  nach  Peisistratos'  'Ver- 
treibung anzusetzen.  Allein  dem  widerspricht  die  ungezwungene  Er- 
klärung von  Herodots  Ausspruch,  daß  Kylons  Attentat  -po  Trj;  fTsiat- 
aTpdtTou  rjXixiTfjc  geschehen  sei:  dies  weist  vielmehr  ebenfalls  in  die  Zeit 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  167 

vor  560.  Es  fragt  sich  nun,  wann  die  Naukrarien  eing'esetzt  sind.  Die 
alte  (iberlioferuDg  setzt  sie  noch  vor  Solou,  aber  allzu  weit  ins  6.  Jahr- 
hundert wird  man  sie  schwerlich  zurückverlegen  dürfen,  dagegen  spricht 
<^in  wichlig-es  Bedenken.  Wie  sich  aus  Pollux'  (8,  108)  Worten  ergibt, 
hatte  eine  jede  der  48  Naukrarien  ein  Schiff  zu  stellen;  dann  aber 
müßte  also  Athen  bereits  im  7.  Jahrhundert  eine  Flotte  von 
48  Schiffen  gehabt  haben,  eine  für  die  damalige  Zeit  sehr  erlicbliche 
Seemacht  —  hat  doch  Korinth  selbst  im  5.  Jahrhundert  selten  mehr 
als  50  Schiffe  unterhalten  (vgl.  Wilisch  a.  a.  0.).  Man  würde  erwarten, 
daß,  im  Besitz  einer  solchen  Flotte,  Athen  im  7.  Jahrhundert  eine  sehr 
bemerkenswerte  Eolle  gespielt  hatte,  und  da  davon  keine  Spur  vor- 
handen ist,  so  wird  nur  die  Annahme  übrig  bleiben,  daß  man  die  Ein- 
setzung der  Naukrarien  als  eine  Maßregel  des  Adelsregiments  be- 
trachtet, die  mit  seinen  verspäteten  Expansiousbestrebungen  im  letzten 
Jahrzehnt  des  7.  Jahrhunderts  zusammenhing  und  später  in  Verfall 
kam,  bis  sie  unter  der  zielbewußten  auswärtigen  Politik  des  Peisistratos 
wieder  neues  Leben  gewann. 

Nimmt  man  diesen  Zusammenhang  an,  so  muß  die  Wiederer- 
oberung von  Salamis  kurz  vor  dem  Sta.itsstreich  des  Pisistratos 
augesetzt  werden,  dem  sie  den  Weg  zur  Herrschaft  bahnte;  tatsächlich 
kann  sie  auch  nicht  viel  früher  fallen,  wie  die  Rolle  der  fünf  Spar- 
taner als  Schiedsrichter  zeigt:  erst  kurz  vor  der  Mitte  des  6.  Jahr- 
hunderts beginnt  sich  spartanischer  Einfluß  am  Isthmos  geltend  zu 
machen.  Mit  der  endgültigen  Eroberung  der  Insel  hängt  nun  aber  eine 
Reihe  von  Fragen  zusammen,  die  sich  auf  den  ältesten  uns  erhaltenen 
attischen  Volksbeschluß  CIA.  IV,  2,  la.  IV,  3,  1  beziehen.  Zunächst 
hat  Wilhelm  in  dem  angeführten  ^Aufsatz  aus  den  Mitt.  durch  Wieder- 
herstellung der  richtigen  Lesart  oixsv  ia  2aXa[j.rvi  (^  eav  'S,a'k'X[ivn)  statt 
SV  2aXa[xrvt,  wie  man  meist  mit  Annalime  eines  Versehens  las,  die  Sache 
dahin  festgestellt,  daß  es  sich  bei  dem  Beschluß  nicht  um  die  athe- 
nischen Kleruchen,  sondern  um  die  früheren  Einwohner  handle,  deren 
Rechte  hier  i^mschrieben  werden.  Eine  solche  Festsetzung  aber  wird 
wahrscheinlich  doch  —  das  ist  Judeich  a.  a.  0.  zuzugeben  —  bald 
nach  der  endgültigen  Wiedereroberung  der  Insel,  also  zwischen  570 — 560, 
vor  sich  gegangen  sein.  Dagegen  spricht  nur  eines:  A.  Wilhelm,  der 
als  der  beste  Kenner  altattischer  Inschriften  gelten  kann,  möchte  das 
Dekret  dem  Schriftcharakter  nach  in  die  spätere  Zeit  des  5.  Jahrhun- 
derts näher  an  Kleisthenes  heransetzen,  und  so  ergeben  die  beiden  An- 
sätze vorderhand  eine  Abweichung  von  40  bis  50  Jahren.  Nun  wäre 
es  ja  möglich,  daß  der  Beschluß  erst  bei  Gelegenheit  späterer  Nach- 
schübe von  Kolonisten  —  solche  haben  unzweifelhaft  stattgefunden  (Ti- 
modemos  v.  Acharnai  Schol.  Pind.  Nem.  II,  19)  —  erlassen  worden  ist, 


168  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

um  die  Rechte  der  alten  Bewohner  zu  schützen;  auch  sieht  das  Verbot 
der  Verpachtung-  des  Loses  so  aus,  als  ob  damit  Mißstände  beseitigt 
werden  sollen,  die  sich  im  Lauf  der  Zeit  herausgebildet  haben.  Wenn 
de  S.  (p.  350)  dagegen  geltend  macht,  die  Insel  könne  erst  nach  Kiei- 
sthenes  mit  Kleruchen  besiedelt  sein,  da  die  doit  wohnhaften  Athener 
kleisthenische  Demotika  tragen,  während  der  Gesetzgeber  sonst  doch 
wohl  eigene  Demen  auf  Salamis  eingerichtet  hätte,  so  kann  dies  Be- 
denken doch  auch  in  seinen  Augen  nicht  allzu  schwer  wiegen,  da  das- 
selbe von  Lemnos  und  Imbros  gilt,  deren  Besiedelung  er  im  Anschluß 
an  Meyer,  Forschungen  I,  15  ff.  in  Peisistratos'  Zeit  verlegt  (S.  291), 
Wenn  aber  dort  die  nachträgliche  Annahme  der  kleisthenischen  Demeu- 
einteilung  statuiert  wird,  warum  nicht  auch  in  Salamis?  Staatsrechtlich 
interessant  wäre  bei  diesem  Sachverhalt  immerhin,  daß  auch  das  ganz 
nahe  gelegene  Salamis  nicht  als  athenischer  Laudesteil,  sondern  als  eine 
Außenbesitzung  so  gut  wie  jene  weiter  entfernten  Inseln  angesehen 
worden  ist. 

Etwa  mit  dem  Jahre  560  beginnt  dann  in  Athen  die  Herrschaft 
des  Peisistratos;  allein  gleich  der  Anfang  ist  nicht  sichergestellt,  da 
es  bei  dem  Schwanken  des  Ausgangsjahres  im  Marmor  Parium  zwischen 
263  und  264  nicht  sicher  ist,  ob  Komeas  561/0  oder  560/59  das  Ar- 
chontat  bekleidete,  auch  Kirchners  Ausführungen  zugunsten  des  Jahres 
263  in  dem  mehrfach  erwähnten  Aufsatz  haben  m.  E.  die  Unsicher- 
heit nicht  beseitigt.  Dazu  kommt  nun,  daß  Aristoteles'  Angaben  nicht 
übereinstimmen;  in  der  Politik  1315  b.  30  beziffert  er  die  Regierung 
des  Peisistratos  auf  33  Jahre,  davon  17  wirklicher  Herrschaft,  die  der 
Söhne  auf  18,  so  daß  als  effektive  Gesamtregierung  35  herauskommt. 
In  der  pol.  Ath.  c.  17  gibt  er  allerdings  dem  Peisistratos  dieselbe  Ge- 
samtzahl, aber  19  Jahre  effektiver  Herrschaft;  die  Söhne  regieren  nach 
c.  19  Ende  17  Jahre;  die  Gesamtzeit  aber  vom  Staatsstreich  unter 
Komeas  bis  zur  Vertreibung  unter  Harpaktides  dauert  49  Jahre. 
Immerhin  ist  der  Widerspruch  nicht  so  groß,  wie  es  zuerst  den  An- 
schein hat;  begann  die  Regierung  des  Peisistratos  unter  Korneas  560/59 
und  starb  er  im  Jahre  des  Philoneos  528/7,  so  sind  das  mit  iuklusiver 
Zählung  der  Endtermine  33  Jahre.  Dieselbe  Zählungsart,  auf  die  Re- 
gierung der  Söhne  augewandt,  ergibt  von  528/7  bis  51 1/0  (Harpaktides) 
allerdings  18  Jahre:  dies  die  Rechnung  in  der  Politik,  wo  eine  ganz  ge- 
naue Berechnung  für  Aristoteles'  Zwecke  unnötig  war.  Anders  lag  die 
Sache  in  der  Verfassungsgeschichte  Athens,  wo  es  ihm  auf  Genauigkeit 
ankam,  und  hier  erkläien  sich  die  überlieferten  Zahlen  am  besten  durch 
die  Annahme  Ed.  Meyers  (Forsch.  II,  240  ff.),  daß  Peisistratos'  Staats- 
streich in  die  zweite  Hälfte  des  Komeasjahres  (Frühling  559),  sein  Tod 
noch  unter  Philoneos  (Anfang  Sommer  527),  die  Vertreibung  der  Söime 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  109 

Anfang-  510  unter  Harpaktides  (511/0)  fiel.  Alsdann  hatte  Pislstratos 
kurz  vor  seinem  Tode  sein  33.  Regierungsjahr  angetreten,  Hippias  re- 
p'.orte  nicht  ganz  17  Jahre  und  die  wirklich  verflossene  Zeit  vom  Staats- 
streich bis  zum  Sturz  Frühling  559  bis  Frühling  510  betrug  genau  49 
Jahre.  So  weit  läßt  sich  Übereinstimmung  erzielen;  allein  es  bleibt  der 
Widerspruch,  daß  nach  der  Politik  Peisistratos'  wirkliche  Herrschaft  17 
nach  der  pol.  Ath.  aber  19  Jahre  gedauert  hat  und  gerade  die  Kapitel  der 
pol.  Ath.,  die  hierüber  Aufschluß  geben  könnten  (14  und  15),  befinden 
sich  in  einer  heillosen  chronologischen  Verwirrung,  au  der  bisher  auch 
die  scharfsinnigsten  Hypothesen  zuschauden  geworden  sind.  Die  Haupt- 
sache ist,  daß  die  zweimalige  Verbannung  des  Peisistratos  keines- 
wegs sicher  erscheint;  sowohl  de  Saudis  (S.  266)  wie  Ed.  Mej'er 
(Forsch.  II,  248)  haben  sich  mit  guten  Gründen  für  Belochs  Ansicht 
entschieden,  wonach  hier  eine  Dittographie  vorliegt  und  Pisi.stratos  in 
Wirklichkeit  nur  einmal  vertrieben  ist,  Schwierigkeiten  macht  nur  die 
chronologische  Bestimmung  der  Verbannung.  De  S.  hält  als  Jahr 
der  Vertreibung  das  des  Hegesias  fest  (556/5,  da  er  Komeas  auf 
561/0  fixiert)  und  rechnet  nach  Her.  1,  61  für  das  Exil  10  Jahre;  da- 
nach sei  also  Peisistratos  546/5  zurückgekehrt.  Eine  weitere  Bestäti- 
gung sieht  er  in  Her.  5,  65,  wo  die  Regierungszeit  des  Peisistratos  und 
seiner  Sohne  auf  36  Jahre  normiert  wird,  indem  er  meint,  es  sei  hier 
von  dem  zusammenhängenden  Regiment  der  Peisistratiden  von  der  Rück- 
kehr 546/5  bis  zur  Vertreibung  Frühling  510  die  Rede.  Völlig  unab- 
hängig von  de  Sanctis,  aber  in  allem  wesentlichen  übereinstimmend  hat 
auch  Meyer,  Forsch.  II,  248  ff.  die  Chronologie  der  Peisistratidenzeit 
behandelt,  wobei  er  aus  allgemein  historischen  Gründen  eine  möglichst 
lange  Dauer  für  die  zweite  Herrschaft  des  Peisistratos  fordert.  Allein 
die  de  Sanctis- Meyersche  Hypothese  steht  nicht  nur  mit  den  Angaben 
über  die  Gesamtdauer  von  Peisistratos'  effektiver  Herrschaft  in  Wider- 
spruch, sondern  auch  mit  der  durchaus  glaubwürdigen  Angabe  Herodots 
1,  63,  daß  Peisistratos'  Söhne  in  der  Schlacht  von  Pallene,  die  nach 
de  Sanctis-Meyer  ins  Jahr  546  fällt,  sich  an  der  Verfolgung  beteiligten ; 
denn  da  Hippias,  unzweifelhaft  doch  der  älteste,  noch  490  bei  Marathon 
mit  dabei  war  (Her.  6,  103),  so  kann  er  nicht  wohl  vor  560  geboren 
sein,  war  also  zur  Zeit  der  Schlacht  von  Pallene  höchstens  14  Jahre 
alt.  Andererseits  liegt  kein  Grund  vor,  mit  de  S.  273  die  Wahrheit 
von  Herodots  Angabe  zu  bezweifeln,  und  so  bleibt  immer  eine  ungelöste 
Schwierigkeit  zurück.  Aber  vielleicht  verschwindet  auch  diese,  wenn 
man  Belochs  Hypothese  konsequent  durchführt.  Ist  tatsächlich  die 
doppelte  Verbannung  des  Pisistratos  nur  dadurch  entstanden,  daß  zwei 
selbständige  Versionen  nebeneinander  gesetzt  wurden,  so  liegt  es 
nahe,    dasselbe    auch    als    Giund    der    chronologischen    Verwirrung    in 


170  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

Ar.  pol.  Ath.  c.  14  und  15  anzanehmen.  Hier  werden  folgende  Daten 
gegeben : 

Beginn  der  Tyi'annis  unter  Korneas  560/59. 

Erste  Verbannung  l'-ei  e/.z(o  unter  Hegesias. 

Erste  Rückkehr  erei  ocoosy.aTco. 

Zweite  Verbannung  l'rsi  ixaXtJxa  ej^oojico. 

Zweite  Rückkehr  evosxäTw  erst. 

Tod  des  Peisistratos  33  Jahre  nach  Korneas  unter  Philoneos  528/7. 

Nimmt  mau  nun  an,  daß  hier  die  Vermischung'  zweier  Versionen 
vorliegt,  sowie  daß  in  beiden  als  feste  chronologische  Punkte  nur  Pei- 
sistratos' Anfang-  und  Tod  unter  Korneas  und  Philoneos  fixiert  waren, 
so  lassen  sich  die  Versionen  selbst  folgendermaßen  rekonstruieren.  Die 
eine  gab  an,  daß  P.  im  6.  Jahr  nach  dem  Staatsstreich  vertrieben 
ward  und  daß  sein  Tod  im  11.  Jahr  nach  seiner  Rückkehr  erfolgte; 
offenbar  kam  es  ihr  darauf  an,  die  Dauer  der  wirklichen  Regierung 
festzustellen  und  ihr  zufolge  hat  Aristoteles  in  der  Politik  die  Dauer 
der  effektiven  Herrschaft  auf  17  Jahre  berechnet.  Die  zweite  Version 
legte  die  Verbannung  in  das  7.  Jalir  nach  dem  Staatsstreich,  seinen 
Tod  ins  12.  Jahr  nach  der  Rückkehr,  so  erklären  sich  die  19  Jahre 
effektiver  Regierung  bei  Ar.  pol.  Ath.  17,  1.  Beide  Versionen  aber  kommen 
chronologisch  auf  dasselbe  heraus,  sobald  man  annimmt,  daß  die  erste 
die  exklusive,  die  zweite  die  inklusive  Zählung  befolgte,  dann  fällt  die 
Verbannung  in  das  6.  resp.  7.  Jahr  bei  inklusiver  Zählung,  d.  i.  wenn 
man  Korneas  auf  560/59  setzt,  das  Jahr  des  Hegesias  oder  554/3,  die 
Rückkehr  in  das  11.  bzw.  12.  Jahr  vor  seinem  Tod  (528/7),  das  heißt 
539/8.  Jedenfalls  sind  das  die  Zahlen,  auf  die  die  attische  Überliefe- 
rung führt;  ob  sie  historisch  brauchbar  sind,  ist  noch  eine  andere  Frage. 
Indessen  erklärt  die  lange  Verbannung  554'3 — 539/8  nicht  bloß  die 
Angaben  Herodots  über  das  Alter  der  Söhne,  sondern  auch  die  Stim- 
mung im  Kriegsrat  zu  Eretria,  wo  offenbar  die  Bedenklichkeit  des 
alternden  Vaters  durch  Hippias  jugendlichen  Ungestüm  mitfortgerissen 
ward  (Her.  1,  61):  das  stimmt  besser,  wenn  man  die  Schlacht  von 
Pallene,  der  doch  jener  Kriegsi-at  unmittelbar  vorherging,  ins  Jahr  539 
als  ins  Jahr  546  setzt.  Daß  aber  jene  Konfusion  der  Zahlen  in  Ar. 
pol.  Ath.  14,  15  aus  einer  Vermischung  der  beiden  Versionen  hervor- 
gegangen ist,  scheint  mir  auch  daraus  sich  zu  ergeben,  daß  nur  bei  vier 
von  den  wechselnden  Phasen  in  Peisistratos'  Leben  die  Dauer  augegeben 
ist;  da  nur  vier  Angaben  vorlagen,  so  blieb  die  Läui^e  der  letzten 
Herrschaft  unbezeiclinet.  Wie  die  Kontamination  entstanden  ist,  w^age 
ich  nicht  zu  bestimmen;  ^ie  dein  Aristoteles  selber  auf  die  Rechnung 
zu  setzen,  halte  ich  mit  Wilamowitz  (Arist.  und  Atlicn  I,  17)  für  un- 
möglich. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  171 

Allerdings  wird  durch  die  oben  gegebenen  chronologischen  An- 
sätze die  letzte  Regierung  des  Peisistratos  auf  etwa  1 1  Jahre  verkürzt 
und  das  erscheint  etwas  wenig,  wenn  man  die  gewaltige  Wirksamkeit 
des  Mannes  bedenkt,  der  überall  den  Grund  zu  der  späteren  Macht- 
stellung Athens  im  5.  Jahrhundert  gelegt  hat  (Meyer  a.  a.  0.  S.  247). 
Die  Wiedereroberung  Sigeions,  die  Kolonisation  von  Lemnos  und  Irabros, 
die  Unterstützung  des  älteren  Miltiades  auf  der  thrakischen  Chersones, 
alles  dies  sicherte  Athen  die  wichtige  Einfahrt  in  den  Hellespont;  Rhai- 
kelos  gab  eine  gute  Position  an  der  thrakischen  Küste  und  die  Be- 
ziehungen des  Tyrannen  zu  Naxos  und  Sanios  verschafften  ihm  be- 
deutenden Einfluß  irn  südlichen  Ägäischen  Meere,  während  die  Demüti- 
gung Megaras  und  die  dauernde  Besetzung  von  Salamis  der  Stadt  ihre 
beherrschende  Stellung  im  Saronischen  Golf  garantierte.  Alles  das  be- 
weist,  daß  Peisistratos  sich  die  Weiterentwickelung  Athens  hauptsächlich 
auf  maritimem  Wege  dachte,  und  annähernd  zehn  Jahre  lang  ist  Hippias' 
Politik  durchaus  den  Spuren  des  Vaters  gefolgt.  Die  entscheidende 
Wendung  —  das  hat  de  Sanctis  S.  295  richtig  gesehen  —  trat  ein,  als 
Hippias  519  sich  entschloß,  das  Hilfsgesuch  der  Plataier  anzunehmen 
und  damit  eine  Ausdehnung  des  athenischen  Einflusses  nach  Mittel- 
griechenlaud  vorzubereiten.  Damit  verließ  er  die  rein  maritime  Politik 
des  Vaters,  der  es  verstanden  hatte,  fast  mit  allen  größeren  Land- 
mächten, mit  Thessalien  und  Argos  so  gut  wie  mit  Sparta  und  Boiotien, 
gute  Beziehungen  zu  pflegen.  Die  nächste  Folge  war  die  bittere  Ver- 
feindung mit  Theben,  das  vor  allem  seinem  Vater  den  Weg  zur  Rück- 
kehr gebahnt  hatte.  Wie  viel  gerade  sie  zum  Sturz  des  Tyrannen  bei- 
getragen hat,  das  hat  de  S.  bei  alier  Kürze  S.  296  sehr  richtig  ent- 
wickelt. 

Über  die  Ermordung  des  Hipp archos  geben  bekanntlich  Thu- 
kydides  und  Aristoteles  verschiedene  Berichte,  indem  bei  diesem  es 
Thessalos  ist,  der  den  eigentlichen  Anlaß  zur  Verschwörung  gibt.  Mit 
Recht  schließen  sich  de  S.  S.  309  und  Bury  (S.  205)  der  Version  des 
Thukydides  an  und  seiner  Auffassung,  wonach  die  Verschwörung  wesent- 
lich auf  Privatrache  beruhte.  Den  Einwurf,  daß  dann  die  Demokratie 
die  Verschwörer  nicht  als  ihre  Heroen  und  als  Begründer  ihrer  Freiheit 
g-efeiert  haben  würde,  weist  er  bezeichnend  mit  den  Worten  ab:  „in 
Wahrheit  hat  dies  Argument  wenig  Beweiskraft  für  uns,  die  wir  täglich 
sehen,  aus  welchem  Schmutz  die  Revolution  ihre  Helden  bildet."  In- 
dessen stimmte  Thukydides'  Bericht  wenig  zu  dem  Idealbilde,  das  man 
sich  später  von  Hipparchos  machte,  wie  es  in  Piatons  Hipparch  zutage 
tritt,  und  von  diesem  beeinflußt,  hat  dann  die  spätere  Geschichtschreibung, 
der  Aristoteles  folgt,  den  angeblich  unechten  Sohn  zu  dem  eigentlichen 
Missetäter  gemacht,    um  das  Andenken  Hipparchs    zu  entlasten.     Zum 


172  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Sturz  hat  jedenfalls  die  Empörung  nichts  beigetragen;  er  ist  haupt- 
sächlich durch  die  Alkmeoniden  unter  Kleisthenes  mit  spartanischer 
Hilfe  erfolgt. 

Die  Verfassung  des  Kleisthenes  wird  gewöhnlich  als  die  Voll- 
endung der  Demokratie  betrachtet,  nicht  ganz  mit  Recht,  wie  de  S. 
hervorhebt.  Die  äußerlich  am  meisten  hervortretende  Veränderung  ist 
die  Neueinteilung  des  Volkes  in  10  Phylen  und  100  Demen,  die  mit 
einer  umfassenden  Aufnahme  von  Neubürgern  Hand  in  Hand  ging.  Die 
Aufstellung  der  neuen  Bürgerlisten  muß  unmittelbar  auf  den  Erlaß  der 
Verfassung  gefolgt  sein  und  dieses  wäre  nach  de  S.  p.  326  der  erste 
öia'l'TjcpiafjLo?,  den  Ar.  pol.  erwähnt.  Allerdings  muß  das  Verfahren  dem 
bei  den  späteren  oia^jyYjcptJsij  beobachteten  ziemlich  ähnlich  gewesen  sein, 
und  so  würde  sich  der  Widerspruch  lösen,  den  Beloch  (Gr.  Gesch.  1,  334) 
zwischen  der  genannten  Stelle  und  Ar.  pol,  1275  b  gefunden  hat.  Allein 
der  Kern  von  Kleisthenes'  Reformen  ist  die  Einsetzung  des  Rates,  wo- 
mit er  eben  jene  Zentralbehörde  geschaffen  hat,  die  der  solonischen  Ver- 
fassung fehlte.  Die  Wahl  der  Ratsherren  erfolgte  durchs  Los  (wahr- 
scheinlich von  Anfang  au  de  S.  339)  und  es  ist  sehr  wohl  möglich, 
daß  von  hier  aus  die  Erlösung  sich  mehr  und  mehr  auch  auf  die 
Besetzung  der  Beamtenstellen  ausdehnte,  wie  de  S.  a.  a.  O.  meint; 
die  Anwendung  des  Loses  beim  Archontat  487/6  ist  nach  ihm  die  letzte 
Phase  dieser  Bewegung.  Um  so  stärker  tritt  die  Bedeutung  der  ge- 
gewählten Strategen  hervor,  und  im  Anschluß  au  Belochs  attische  Politik 
entwickelt  de  S.  (p.  339  f.),  wie  es  kam,  daß  Rat  und  Strategen  zu 
der  beherrschenden  Stellung  im  5.  Jahrhundert  gekommen  sind,  bis 
dann  mit  dem  4.  Jahrhundert  Volksversammlung  und  Redner  au  ihre 
Stelle  treten.  Das  wenige,  was  wir  von  der  Volksversammlung  unter 
Kleisthenes  wissen,  hat  de  S.  S.  345  zusammengestellt;  daß  ihre  Tätig- 
keit nur  beschränkt  war,  hat  er  mit  Recht  aus  allgemeinen  Erwägungen 
geschlossen.  Kleisthenes  hat  sehr  wohl  gesehen,  daß  die  Entwickelung 
zur  Seeherrschaft  die  Theten  ans  Ruder  bringen  und  der  Volksver- 
sammlung die  Gewalt  in  die  Hände  spielen  müsse,  um  das  zu  verhindern, 
hat  er  die  festländische  Politik  verfolgt,  die  Hippias  durch  das  Bündnis 
mit  Plataiai  inauguriert  hatte.  Daher  hat  er  die  Macht  des  Demos 
beschränkt  und  den  Zutritt  zu  den  Ämtern  nur  den  drei  obersten 
Klassen,  den  oirXa  :Tap£-/&[j.£voi  gestattet;  auf  sie  mußte  Athens  Macht 
begiündet  werden,  wenn  es  eine  kraftvolle  Landpolitik  treiben  wollte. 
Die  Korinther  wußten  sehr  wohl,  was  sie  taten,  als  sie  Kleomenes' 
Rachezug  gegen  Athen  durch  ihre  Weigerung  vereitelten;  dies  Athen 
konnte  ihnen  nicht  gefährlich  werden,  während  sie  seine  maritime  Ent- 
wickelung unter  Peisistratos  sicher  mit  geheimer  Sorge  betrachtet 
haben.     Daß  dann  doch   alles    anders    kam,    lag    an    dem    wachsenden 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschaii.)  ]73 

Übergewicht  Aiginas  und  dem  Herandrängen  der  persischen  Weltmacht. 
Beiden  zu  widerstehen  war  nur  durch  eine  starke  Flotte  möglich,  und 
daß  Athen  nach  kurzem  Schwanken  entschlossen  wieder  in  die  von 
Peisistratos  vorgezeichnete  Bahn  der  Entwickelung  zur  Seemacht  einge- 
lenkt hat,  das  ist  das  Verdienst  des  größten  Staatsmannes,  den  Hellas 
hervorgebracht  hat,  das  Veidienst  des  Themistokles. 


Drittes  Kapitel. 

Die  Perserkriege 
und  das  Emporsteigen  der  attischen  Seemacht. 

500-431. 

Ed.    Meyer,    Geschichte    des  Altertums.    (GdA.)    Bd.  III,  IV, 
1—272. 

Ed.  Meyer,  Forschungen  zur  Griechischen  Geschichte.    Bd.  11. 
Halle  1899. 

.7,  B.  Bury,  History  of  Greece. 

H.    Delbrück,    Geschichte    der    Kriegskunst    im    Rahmen    der 
politischen  Geschichte.     Erster  Band:    Das  Altertum.     Berlin  1900. 


Prasek,  Forschungen  zur  Geschichte  des  Altertums.    III.     Zur 
Chronologie  des  Cj'ras.    Zur  Behistuninschrift.     Leipzig  1900. 

—  Über   die  Bedeutung  der  persischen  Monatsnamen.  Beitr.  zur 
alten  Gesch.  1902  I,  26—50. 

Kießling,  zur  Geschichte    der   ersten  Regierungsjahre  des  Da- 
reios  H3'staspes.    Leipziger  Diss.  1900. 

Swoboda,     Artikel    Dareios    und    Datis    in    Pauly  -  Wissowas 
Realencyklopädie. 

Niebuhr,  Einflüsse  oriental.  Politik  auf  Griechenland  im  6.  und 
5.  Jahrh.    1899. 

Bury,  the  epicene  oracle  concerning  Argos  and  Miletus.   Beitr. 
z.  alt.  Geschichte  1902.    II,  14—25. 

"Wachsmnth,    Bemerkungen    zu    griech.    Historikern.      Rhein. 
Mus.  56  (1901)  220  fi.  (über  Herod.). 


174  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

Köhler,  der  thukydideische  Bericht  über  die  oligarchische  Um- 
wälzung in  Athen  411.  Sitz.-Ber.  der  Berl.  Akad.  d.  Wiss.  1900, 
S.  803—817. 

Munro,    J.    A.    R.,    Some    observations    on    the  Persian    wars. 

1.  The  battle  of  Marathon.    Journ.  of  Hell.  Studies  1899  p.  185  sqq. 

2.  The  campaign  of  Xerxes  ib.  vol.  XXII,  294  ff.  1902. 

Olsen,  Wald.,  die  Schlacht  bei  Platää.  Progr.  d.  Stadt. 
Gymnasiums  zu  Greifswald  1903. 

Keil,  Bruno,  Anonymus  Argentinensis.  Fragmente  zur  Ge- 
schichte des  perikleischen  Athens  aus  einem  Straßb.  Papyrus. 
Straßburg  1902. 

Poucart,  P.,  Les  constructions  de  TAcropole  d'apres  T Anonymus 
Argentinensis  in  Revue  de  philol.   1903  p.  1  — 12, 

Bannier,  Wilh.,  Die  Tributeinnahmen  des  attischen  Staates. 
Rhein.  Mus.    Bd.  54  (1899)  S.  544—54. 


Mit  dem  Beginn  der  Perserkriege  setzt  der  dritte  Band  von 
Eduard  Meyers  Geschichte  des  Altertums  ein,  die  er  in  zwei  weiteten 
Bänden  bis  zum  Ende  des  Bundesgenossenkrieges  und  zur  Vernichtung 
des  von  Dionys  I.  auf  Sizilien  geschaffenen  Reiches  hinabgeführt  hat. 
Bei  der  fundamentalen  Bedeutung  des  Werkes  wird  es  sich  nicht  ver- 
meiden lassen,  daß  der  Gang  der  Berichterstattung  von  nun  au  sich 
vorwiegend  an  Meyers  Darstellung  anschließt,  um  wenigstens  die  haupt- 
sächlichen Ergebnisse  zur  Sprache  zu  bringen,  durch  die  M.  unsere 
Kenntnis  der  griechischen  Geschichte  bereichert  hat.  Allein  es  ist 
natürlich,  daß  dabei  die  streitigen  Punkte  vor  allem  zu  berücksichtigen 
sind,  und  so  möchte  ich,  um  jeden  falschen  Schein  zu  vermeiden,  von 
vornherein  hier  bemerken,  daß  ich  Meyers  Werk  für  die  beste  neuere 
Bearbeitung  der  griechischen  Geschichte  überhaupt  halte:  ganze  Partien 
sind  durch  Beloch  und  ihn  auf  neue  Grundlagen  gestellt  worden,  so 
daß  auch  die  Einzelforschung  sich  fortan  stets  au  seiner  Darstellung 
wird  orientieren  müssen. 

Es  ist  ein  altes  Herkommen,  die  Vorgeschichte  des  persischen 
Reiches  an  der  Stelle  zu  behandeln,  wo  die  Perser  zum  erstenmal  be- 
stimmend in  die  Geschicke  Griechenlands  eingreifen,  und  so  beginnt 
auch  M.  mit  einer  Darstellung  der  politischen,  administrativen  und 
kulturellen  Verhältnisse  Persiens,  die  zum  Teil  auch  die  Folgezeit  be- 
rücksichtigt und  als  die  beste  Zusammenfassung  unserer  Kenntnisse  auf 
dem  Gebiet  der  eranischen  Geschichte  betrachtet  werden  kann.  Die 
Anfänge    des  Reiches    sind  bereits  im  ersten  Bande  der  GdA.  erzählt: 


Jahresbericlit  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  175 

für    ^ie    sind    von    besonderer  Wichtigkeit    die   chronoloi,'ischen  Unter- 
suchungen   zur  persischen  Königsreihe  (Forsch.  II,  437 — 502),  die  zu- 
gleich eine  gute  Einführung  in  die  antike  Chronologie  bilden.    Die  Er- 
gebnisse   der    ungemein    mühevollen    und   mit  Benutzung  des  gesamten 
keilschriftlichen  Materials    geführten  Untersuchung    hat    M.  selbst    auf 
S.  501  f.  zusammengefaßt;  unter  ihnen  ist  vor  allem  die  Fixierung  der 
Einnahme  Babylons    durch  Kyros    auf  den  10.  Okt.  539  zu  erwähnen. 
Ermöglicht  wird  sie  durch  eine  glänzende  Konjektur  in  den  Nabonned- 
anualen,    wo    M.    die  Monatsbezeichnuug  Tammuz    durch  Tisri   ersetzt 
(S.  469),  ein  "Vorschlag,  der  mittlerweile  auch  Prascheks  Zustimmung 
gelur.dcu    hat    (S.  6).     Überhaupt    kommt    dieser    auf  anderem  Wege, 
indem    er  Peisers  Ausetzung  auf  das  Jahr  540  ablehnt,    zu  wesentlich 
demselben  Ergebnis  wie  Meyer;  dagegeu  stimmen  beide  Forscher  nicht 
in    der  Datierung  von  Kyros'  Tod  überein,    der  nach  Praschek  (S.  4) 
noch  im  Jahre  530,  nach  Meyer  dagegen  erst  im  Frühjahr  528  eintrat. 
Die  Sache    beruht    darauf,    daß  die  nach  Kuras  sär  Babili  sär  mätäti 
(Kyros,  König  von  Babel,  König  der  Länder)  datierten  babylonischen 
Kontrakttäfelchen    in    ununterbrochener    ßeihe    bis    zum    24.   Tammuz 
(Juni/ Juli)  des  9.  Regierungsjahres  gehen,  d.  h.  des  Jahres  530,  da  das 
erste  Jahr  des  Kju-os  mit  postdatierender  Fortlassung  des  Antrittsjahres 
vom  1,  Nisan  538  {=  20.  März  538)  rechnet,  während  schon  mit  dem 
12.  Ab.  530  die  Datierung  nach  dem  Antrittsjahr  des  Kambuzi-i-a  sär 
Babili  sär  mätäti  eintritt.    Daraus  schließt  nun  Praschek,  daß  eben  der 
Tammuz  (Juni/ Juli)  der  Sterbemonat  des  Kyros  gewesen  ist;    wenn  in 
unleugbar  späteren  Kontrakttäfelchen  noch  der  Name  des  Kj^ros  genannt 
wild,    so    erklärt    er    das    für    eine    gelegentliche  Erwähnung  (Forsch. 
S.  2—3).     Allein   offenbar  ist  ihm  das  von  Meyer  erwähnte  Täfelchen 
(Straßmaier,  Leid.  Orient  Kongr.  n.  17)  entgangen,  das  vom  21.  des  letzten 
Monats  im  10.  Jahre  des  Kjtos,  Königs  v.  Babel,  König  der  Länder, 
d.  h.    also    noch    vom  Februar  528  datiert  ist,    und  so  wird  man  sich 
wohl    zu    der   von  Meyer    (Forsch.  II,  S.  471  f.)    entwickelten  Ansicht 
bequemen  müssen.    Danach  setzte  Kyios  bei  seinem  Mitte  530  erfolgten 
Aufbruch    gegen    die    massagetischen    Skythen  Kambyses    zum  K.  von 
Babylon  ein,  weshalb  denn  auch  ganz  richtig  mit  Postdatierung  das  mit 
1 .  Nisan  529  beginnende  Jahr  als  erstes  Jahr  des  Kambj'ses  bezeichnet 
wird;    allein    erst   im  Frühjahr  528  hat  er  im  Kampfe  seinen  Tod  ge- 
funden.    Demgemäß    fällt  der  Anfang  seiner  Regierung  in  den  Herbst 
558/7,    da    es    wahrscheinlich    ist,    daß   die  von  Her.  3,  67  gegebenen 
Zahlen    etwa    durch  Dionysios    von  Milet    auf   eine  persische  offizielle 
Quelle  zurückgehen,  die  nach  dem  mit  dem  Herbst  beginnenden  persischen 
Jahre    zählt.     Die    übrigen  chronologischen  Ergebnisse  Meyers  werden 
nach  und  nach  Erwähnung  finden. 


"1  76  Jahresbericlit  über  griechische  Geschichte.    (Lenscbau.) 

Über  den  Anfang  von  Dareios'  ßegiening  berichtet  die  Inschrift 
von  Behistun ,  deren  kürzlich  von  Winkler  und  Rost  angefochtene 
Glaubwürdigkeit  Praschek  mit  Glück  verteidigt  (Forsch.  S.  24—38). 
Schwierig  und  unsicher  bleibt  die  Chronologie  der  Inschrift,  deren 
Satrapienverzeichnis  mit  dem  auf  der  Inschrift  Persepolis  e  und  dem 
von  Naksch-i-Rustem  zu  vergleichen  ist:  jedenfalls  fällt  ihre  Abfassung 
nach  dem  Sk^thenzug,  den  Praschek  auf  511/0  ansetzt  (Forsch.  S.  86  ff.), 
womit  auch  Meyer  (GdA.  III,  114  f.)  im  ganzen  stimmt,  während 
Kießling  die  Inschrift  unmittelbar  an  das  Ende  der  großen  Aufstände, 
d,  h.  in  das  Jahr  519  verlegt.  Bei  diesem  Schwanken  iü  der  An- 
setzuug  der  Ereignisse  sind  die  Ergebnisse  Prascheks  in  der  zweit- 
genaunten  Abhandlung  von  Wichtigkeit.  Indem  es  ihm  gelingt,  die 
Identität  der  persischen  Monatsnamen  Bagajädis  und  Garmapada  mit 
den  babylonischen  Ti.sri  und  Tammuz  (auch  Adakätiis-Marcheswan, 
Markazaua-Sebat?)  zu  erweisen,  konstruiert  er  auf  Grund  der  genauen 
Angaben  in  der  Behistuninschrift  folgende  Anordnung  der  Begeben- 
heiten: Kambyses'  Tod  522,  Ermordung  des  Usurpators  Ti^ri,  d.  h. 
September/Oktober  522,  sofern  in  den  Kontrakttäfelchen  noch  am 
1.  Tisri  nach  Bardes,  am  17.  aber  bereits  nach  Nidiutubel-Nebu- 
kadnezar  datiert  ist  (Beitr.  S.  43),  also  Antrittsjahr  des  Darius  522 
bis  zum  1.  Nisan  des  Folgejahrs  (Straßmaier  1  —  10).  Dann  von  522 
— 514  die  großen  Aufstände,  die  mit  dem  Fall  Babylons  Oktober  5 14 
im  VIII.  Jahre  des  Dareios  enden.  Dies  Datum  erschließt  Pr.  aus 
der  eigentümlichen  Tatsache,  daß  in  der  Reihe  der  Kontrakttäfelchen 
plötzlich  vom  25.  Adar  des  VI.  bis  zum  28.  Ab.  des  VIII.  Dareios - 
Jahres  eine  große  Lücke  klafft:  Der  Grund  ist  nach  Pr.,  daß  infolge 
der  während  der  Belagerung  herrschenden  geschäftlichen  Unsicherheit 
die  Tätigkeit  des  Egibischen  Bankhauses  unterbrochen  und  erst  nach 
der  Einnahme  Babylons  kurz  vor  dem  28.  Ab.  des  VIII.  Dareiosjahres 
wieder  aufgenommen  ward. 

Danach  ist  also  der  Kießlingsche  Ansatz  der  Inschrift  519  zn 
verwerfen;  sie  fällt  nach  514  und  jedenfalls  auch  nach  der  Neuordnung 
der  Satrapien,  jener  wichtigen  Neuerung  des  Dareios,  auf  der  sich  von 
da  ab  die  Verwaltung  des  Persischen  Reiches  begründet.  Ihr  hat  Mej'^er 
eine  eingehende  Untersuchung  gewidmet  (GdA.  S.  68  ff.),  die  zu  dem 
Ergebnis  kommt,  daß  die  Satrapen  auch  das  militärische  Kommando 
in  ihren  Bezirken  haben:  „sie  sind  gewissermaßen  die  Generale  der 
Armeekorps  ihrer  Provinz"  (S.  74).  Die  gegenteilige  Ansicht,  daß 
Dareios  eine  grundsätzliche  Scheidung  zwischen  Militäi'-  und  Zivil - 
gewalt  vornahm  und  den  Satrapen  ausschließlich  die  bürgerliche  Ver- 
waltung zuwies,  habe  ich  zuerst  vor  fünfzehn  Jahren  in  den  Leipziger 
Studien  XII,  p.  13  ff.  auszuführen  gesucht  und  nach  und  nach  mancherlei 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  177 

Zustimmung  gefunden,  zuletzt  bei  Kießling  und  .Swoboda  (Art. 
Dareios  bei  Pauly-Wissowa);  ich  halte  aber  auch  heute  noch  dies  für 
das  wahrscheinlichere.  Gerade  die  gewaltigen  Aufstände  im  Anfang 
seiner  Regierung  müssen  Dareios  darüber  belehrt  haben,  wie  gefährlich 
es  ist,  die  zivile  und  militärische  Gewalt  in  einer  Hand  zu  vereinigen; 
insofern  erwies  sich  ihm  die  Teilung  der  Gewalten  als  das  sicherste 
und  einzige  Mittel,  die  Wiederkehr  dieser  Zustände  zu  verhüten.  Daß 
das  von  seinen  Nachfolgern  nicht  beachtet  ward,  daß  schon  unter  Arta- 
xerxes  I.  sich  die  Fälle  mehren,  wo  der  Satrap  der  Provinz  zugleich 
das  militärische  Oberkommando  seiner  Provinz  erhält,  das  habe  ich 
schon  damals  zugegeben  und  ebenso,  daß  vor  Dareios  von  dieser  Teilung 
keine  Rede  ist:  insofern  entbehrt  ein  großer  Teil  dei-  von  Meyer  S.  72 
geltend  gemachten  Stellen  der  rechten  Beweiskraft.  Die  Mißbräuche 
der  späterer  Zeit  aber,  die,  wie  ich  überzeugt  bin,  hauptsächlich  zum 
Zerfall  des  Reiches  beigetragen  haben,  schließen  doch  nicht  aus. 
daß  Dareios  sehr  viel  schärfer  gesehen  hat  als  seine  Nachfolger,  und 
tatsächlich  ist  das  Prinzip  der  Teilung  wohl  niemals  vollständig  ver- 
gessen worden,  wie  daraus  hervorzugehen  scheint,  daß  Alexander  gerade 
in  diesem  Punkt  auf  den  großen  Organisator  zurückgegriffen  hat.  In- 
dessen hoffe  ich  auf  diese  Sache  demnächst  ausführlicher  zurück- 
zukommen. 

Mit  vollem  Recht  dagegen  hat  M.  mehr  als  seine  Vorgänger  die 
kulturelle  Bedeutung  des  gewaltigen  Reiches  hervorgehoben,  das 
wenigstens  in  den  ersten  150  Jahren  seines  Bestehens  den  in  ihm  ver- 
einigten Völkern  die  Segnungen  eines  fast  ungestörten  Friedens,  einer 
geordneten  und  wohlwollenden  Verwaltung,  sowie  einer  weitgehenden 
religiösen  Toleranz  verschaffte.  Insbesondere  kommen  die  Bemühungen 
des  Dareios  um  die  Sicherung  und  den  Ausbau  der  vorhandenen 
Handelsstraßen  (Suezkanal,  Fahrt  des  Skylax  S.  96  ff.)  zur  Darstellung, 
und  eingehend  wird  nicht  nur  Religion  und  Kunst  des  herrschenden 
Volkes  (S.  115  ff.),  sondern  auch  die  Ent Wickelung  der  übrigen  Nationen 
(S.  128  ff.)  im  Reiche  der  Achaemeniden  geschildert,  das  somit  zuerst 
unter  allen  geschichtlichen  Bildungen  mit  einem  gewissen  Recht  den 
Anspruch  auf  den  Namen  eines  Weltreichs  erheben  kann.  Doch  ist 
hier  ein  Unterschied  nicht  zu  übersehen,  den  M.  andeutet,  den  aber 
erst  Kaerst  in  seinem  Vortrag  Die  antike  Idee  der  Oekumene  (Leipzig 
1903.  S.  30  Anm.  15)  ins  rechte  lacht  gesetzt  hat.  Trotz  aller  Uni- 
versalität des  Reiches  ist  eine  dauernde  Verschmelzung  der  unter  der  Perser- 
herrschaft vereinigten  Völker  niemals  möglich  gewesen,  da  die  Grund- 
lagen jener  Herrschaft  durchaus  nationaler  Natur  waren:  die  Perser 
waren  das  Herrenvolk,  das  über  die  Untertauen  gebot;  daher  auch 
4ie  bevorzugte  Stellung  der  eranischen  Provinzen  im  persischen  Reichs- 
Jahresbericht  für  Alterhimswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.    III.)      12 


178  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

verband  (vgl.  Meyer,  GdA.  III,  S.  30  ff.  110).  Niemals  ist  wie  im 
Reiche  Alexanders  oder  im  späteren  römischen  Reich  die  Gleich- 
berechtigung auch  der  Unterworfenen,  der  Kosmopolitisnms  zum  Prinzip 
erhoben,  und  schon  aus  diesem  Grunde  mußte  die  Kultureinwirkung  des 
Perserreichs,  das  doch  reichlich  zwei  Jahrhunderte  bestanden  hat,  so 
weit  hinter  der  zurückbleiben,  die  Alexanders  kurze  Herrschaft  auf  die 
Völker  des  Orients  ausgeübt  hat. 

Mit  dem  Skythenzng  des  Dareios  beginnen  die  engeren  Be- 
ziehungen des  Perserreichs  zur  hellenischen  Kultur,  die  innerhalb  20 
Jahren  zum  Angriff  auf  das  Mutterland  geführt  haben,  und  somit  lenkt 
hier  die  Darstellung  M.s  wieder  in  den  Strom  der  griechischen  Ge- 
schichte ein ,  den  sie  am  Ausgange  des  zweiten  Bandes  verlassen  hat. 
Passend  steht  daher  an  dieser  Stelle  GdA.  III,  238  ff.  eine  Würdigung 
der  Quellen  für  den  Zeitraum  bis  431,  wobei  allerdings  nur  die  Resultate 
gegeben  werden,  während  der  Begründung  im  einzelnen  der  größte 
Teil  der  Forschungen  gewidmet  ist  (Bd.  II,  1—87,  196—437).  Unter 
den  Quellen,  deren  allgemeiner  Charakter  GdA.  III,  258  ff.  erörtert 
wird,  nimmt  für  die  Perserzeit  Herodot  die  hervorragendste  Stellung 
ein,  und  wenn  auch  die  eigentliche  Analyse  seines  Geschichtswerks 
nicht  an  diese  Stelle  gehört,  so  müssen  doch  diejenigen  Ansichten  und 
Tendenzen  des  Schriftstellers  untersucht  werden,  die  von  wesentlichem 
Einfluß  auf  seine  Darstellung  gewesen  sind.  Diesem  Zwecke  dient  vor 
allem  Ms  Untersuchung  über  Herodots  Weltanschauung  (Forsch.  II, 
252- 2G8,  GdA.  III,  245  ff".),  in  der  er  ihm  seine  Stelle  in  der  Ent- 
wickeluug  des  griechischen  Geistes  neben  Sophokles  zwischen  Aischylos 
und  den  Sophisten  anweist.  Statt  des  alten  naiven  Götterglaubens,  um 
dessen  Wiederherstellung  auf  gereinigter  Grundlage  sich  noch  Asclu'los 
bemüht,  ist  eine  neue  Weltanschauung  aufgekommen,  die  auch  Herodot 
bekennt  und  deren  Vertreter  auf  politischem  Gebiete  Perikles  gewesen 
ist:  in  ihrem  Grundsatz,  daß  die  Menschheit  überirdischen  Gewalten 
unterworfen  ist,  die  lediirlich  nach  ihren  Launen  die  Welt  i'egieren,  er- 
kennt man  einen  entschlossenen  Realismus,  der  auf  eine  ethische  Er- 
klärung des  Weltlaufs  verzichtet  und  die  Dinge  hinnimmt,  wie  sie  eben 
sind.  Sehr  viel  wichtiger  für  die  Darstellung  zunächst  aber  erscheinen 
die  politischen  Tendenzen,  die  in  dem  Geschichtswerk  zum  Ausdruck 
kommen.  In  der  Art,  wie  Herodot  sich  zu  den  einzelnen  griechischen 
Staaten  stellt,  wie  er  die  Spartaner  mit  Ironie  von  oben  herab,  die 
Korinther  und  Thebaner  mit  unverhohlenem  Haß,  dagegen  mit  äußerster 
Vorsicht  die  in  nationalem  Sinne  doch  sehr  bedenkliche  Haltung  von 
Thessalien  und  Argos  behandelt,  während  Athens  Verdienste  bei  jeder 
Gelegenheit  hervorgehoben  werden,  erkennt  man  mit  M.  (Forsch.  II, 
19G    ff.)    deutlich    die    politische    Konstellation    der    ersten    Jahre    dea 


Jahresbcriclit  über  {.'riecliische  Goscliichte.     (Lenschau.)  I79 

peloponnesischen  Krieges,  imd  so  ergibt  sich,  daß  Herodot   seiu  Werk 
wesentlich  zur  Verherrlichung  des  damals    so    viel    verlästerten  Athens 
geschrieben  hat,    so  jedoch,    daß  diese  Tendenz  seiner  innersten  tlber- 
zeugung  entsprach.     Darum  schließt  eben  das  Werk  auch  mit  der  Er- 
oberung von  Sestos;  die  Begründung  des  Seebundes,    der    sich  zu  dem 
viel  verhaßten  Reiche    ausgewachsen  hatte ,    mußte   notgedrungen  fort- 
bleiben.    Die  Tendenz  aber  erklärt  zugleich  die    begeisterte  Aufnahme 
des  Werkes  in  Athen:    offenbar    haben    die  Athener    das  Werk   eben- 
sosehr als  eine  moralische  Uuterstüizung  in  ihrem  Kampfe  empfunden, 
wie  die  Engländer  beim  Ausbruch  des  Transvaalkrieges  die  Loyalitäts- 
bezeugungen   in    Kanada    und    Australien.     Wenn    nun    allerdings    M. 
weiterschließt,    eben    wegen  dieser  ausgesprochenen  Stellungnahme  zu- 
gunsten Athens  habe  Herodot  nicht  in  Thurioi  bleiben  können,  sondern 
sei  nach  Athen  zurückgegangen,  wo  demnach  auch  die  Entstehung  des 
Werks  zu  denken  sei,    so    ist    dem    nicht    ohne  weiteres  zuzustimmen. 
M.s  Argumente    sind   im   einzelnen    von   Wachsmuth    in    dem    oben- 
genannten Aufsatz    gewürdigt    und  im   ganzen  zuiückgewiesen  worden. 
Von  sonstigen  allgemeinen  Tendenzen  bei  Her.  hebt  M.    die  Be- 
vorzugung der  Alkmeouiden  hervor,    die    ihre  Ergänzung    in    der    ge- 
flissentlichen Zurücksetzung    ihres    größten  Feindes,    des    Thenüstokles 
findet:    sicherlich    einer    der    am    wenigsten    sympathischen    Züge    des 
Historikers.    Daneben  aber  tritt  deutlich  die  Absicht  der  Verherrlichung 
des  delphischen  Orakels    hervor,    die  M.  nicht  ganz  übergehen    durfte. 
Hierin    ist    er  in  der  Ablehnung    der  Ergebnisse  C.  Niebuhrs  —  denn 
auf  ihn  zielt  wohl  die  Bemerkung  in  der  Vorrede    des    vierten  Bandes 
S.  VIII  —  offenbar  zu  weit  gegangen.   Allerdings  ist  Niebuhrs  Ansicht, 
der  in  Her.  schließlich  nicht  mehr  als  einen  gewissenlosen  Betrü^'er  und 
finanziellen  Agenten  der  delphischen  Priesterschaft  sehen  will ,  ja  auch 
nicht    im  entferntesten  hinreichend  begründet;    aber  das  muß  doch  ge- 
sagt w'erden,  daß  Her.  den  Erzählungen  delphischer  Priester  eine  recht 
bedenkliche  Leichtgläubigkeit  entgegenbringt.  —  Übrigens  ist  M.  in  der 
Annahme  schriftlicher  Quellen  bei  Her.  (Forsch.  H,  229  ff.)  sehr  vor- 
sichtig;   mit  Recht    wird  Trautweins   Dikaioshypothese    verworfen    und 
auch  bei  Hekataios  will  M.  nur  eine  Bekanntschaft,  nicht  eine  Benutzung 
zugeben  (S.  233  A.  1).    Eher  möchte  er  eine  Benutzung  des  Dionysios 
v.  Milet  annehmen;  was  übrigens  auch   C.  F.  Lehmann  Beitu'.  z.  alt, 
Gesch.  II,  334 — 40    befürw'ortet.     Woher    das  Satrapien Verzeichnis    in 
3,  90,  die  Beschreibung  der  Königstraße  5,  52  und  das  Heer  des  Xerxes 
7,  21 — 131  stammen,   ist  zweifelhaft;  doch  gehen  alle  diese  Stellen  auf 
ein  vorzügliches,  vielleicht  amtliches  Material  zurück,  aus  dem  sie  voll- 
ständig übernommen  sind.     Für  die  ältere  Zeit  liegen  vielfach,  wie  au 
der  Geschichte  des  Atys  1,  34  nachgewiesen  wird,  Erzählungen  orienta- 

12--^-- 


180  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

lischer  Geschichtenerzähler  (XoYOTrotot)  vor,  in  deren  Munde  jene  Ge- 
schichten bereits  ein  ganz  bestimmtes,  auch  bei  Her.  noch  kenntliches 
Gepräge  erhalten  haben.  Aus  diesem  allen  ergeben  sich  die  Grundsätze 
für  die  Benutzung  Herodots,  die  in  GdA.  III,  242  kurz  zusammen- 
gefaßt sind. 

Für  die  Zeit  nach  den  Perserkriegen  bis  zum  Beginn  des  pelopon- 
nesischen  Krieges  bietet  sodann  Thukydides  das  sicherste  Material,  und 
so  empfiehlt  es  sich,  gleich  hier  die  Erörterung  über  seinen  Wert  als 
Quelle  anzuschließen,  zumal  die  daiauf  bezüglichen  Untersuchungen  zu 
dem  Besten  gehören,  was  M.  geschrieben  hat  (Forsch.  II,  269—436). 
Bekanntlich  hat  uns  die  Auffindung  der  athenischen  Politie  des  Aristoteles 
in  den  Stand  gesetzt,  an  zwei  Stellen ,  in  der  Geschichte  voa  der  Er- 
mordung Hipparchs  und  in  der  Darstellung  der  Parteikämpfe  von  411, 
Thukydides  Erzählung  an  Aristoteles  zu  prüfen,  und  die  Sache  wird 
dadurch  nur  interessanter,  daß  Ar.  offenbar  an  beiden  Stellen  gegen 
Thuk.  polemisiert,  obwohl  er  seineu  Namen  nicht  genannt  hat.  Was 
die  Ermordung  Hipparchs  betrifft,  so  ist  man  jetzt  wohl  allgemein  der 
Ansicht,  daß  hier  bei  Thuk.  und  Ar.  zwei  verschiedene  Berichter- 
stattungen vorliegen,  die  an  sich  beide  nicht  einwand^frei  sind,  daß 
dagegen  Thuk.  Bericht  im  ganzen  noch  der  bessere  ist;  die  entscheidende 
Bedeutung,  die  noch  Wilamowitz  Ar.  und  Ath.  I,  109  dem  Waffen- 
trageu  beimaß,  wird  jetzt  bedeutend  geringer  eingeschätzt.  Immerhin 
würde,  auch  wenn  Ar.  Bericht  sich  als  der  bessere  erweisen  sollte,  das 
für  Thuk.  Glaubwürdigkeit  noch  nicht  entscheidend  sein,  da  es  sich  bei 
ihm  nur  um  eine  gelegentliche  Erwähnung  handelt:  gleichsam  im  Vor- 
übergehen hat  er  die  athenische  Überlieferung  berichtigen  wollen,  da 
er,  vielleicht  irrigerweise,  die  ihm  bekannte  Version  für  zuverlässiger 
hielt.  Dagegen  greift  die  Erörterung  über  die  Vierhundert  an  die 
Grundfesten  der  Glaubwürdigkeit  des  Thuk.;  w'enn  er  sich  hier  bei 
Vorgängen,  die  recht  eigentlich  zu  seinem  Thema  gehören,  mangelhaft 
oder  gar  falsch  unterrichtet  zeigt,  so  kann  ihm  dasselbe  natürlich  zehn- 
oder  zwanzigmal  im  Verlauf  seines  Werkes  passiert  sein,  und  seine 
Berichterstattung  hätte  ebensowenig  Anspruch  auf  die  hohe  Zuverlässig- 
keit, die  wir  ihr  beimessen,  wie  die  irgend  eines  anderen  zeitgenössischen 
Historikers.  Daß  dem  nicht  so  ist,  daß  Thuk.  vielmehr  seine  ganz 
einzige  Stellung  als  Geschichtsschreiber  behält,  das  hat  Meyer  m.  E.  in 
der  Abhandlung  über  den  Sturz  der  400  nachgewiesen  (Forsch.  II, 
406—437),  die  ich  deswegen  auch  für  den  Kern  seiner  Thukydides- 
forschung  halte. 

Bekanntlich  gibt  Ar.  eine  Reihe  von  unanfechtbaren  Aktenstücken, 
die  eine  ganze  Menge  von  größeren  oder  geringeren  Abweichungen  ent- 
halten und  deshalb  seiner  Ansicht  nach  genügten,  die  Darstellung  seines 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  181 

Vorgängers  als  falsch  zu  erweisen.  Genügen  sie  aber  dazu  auch  wirk- 
lich? Schon  Wilamowitz  hat  hier  vorübergehend  den  richtigen  Gedanken 
geäußert:  das,  was  in  einer  solchen  Zeit  geschieht,  ist  wirklich  nicht 
mit  dem  erschöpft,  was  in  die  Akten  kommt  (Ar.  u.  Athen  I,  109). 
Da  setzt  auch  II.  ein  und  deckt  nun  vor  allem  die  IJnwabrscheinlich- 
keiten  in  dem  aristotelischen  Bericht  auf,  die  darin  gipfeln,  daß  nach 
ihm  von  14.— 22.  Thargelion  (8. — 17.  Juni)  411  tatsächlich  ein  Rat 
d.  h.  eine  Regierung  überhaupt  nicht  existiert  habe.  Sodann  weist  er 
im  einzelnen  nach,  wie  die  Dokumente  des  Ar.  eben  nur  die  offizielle 
Darstellung  geben,  der  natürlich  daran  lag,  die  ganze  Umwälzung,  die 
zweifellos  in  revolutionärer  Form  vor  sich  ging,  als  eine  möglichst 
harmlose  und  eigentlich  ganz  gesetzlich  verlaufene  Sache  darzustellen. 
Dazu  gehölt  auch  die  Berufung  der  Fünftausend,  deren  Wahl  und  Zu- 
sammenberufung Ar.  berichtet,  während  Thuk.  entschieden  leugnet,  daß 
sie  jemals  zusammengetreten.  Bei  schärferem  Hinsehen  aber  erkennt 
mau  deutlich,  daß  Ar.  sich  über  diesen  Punkt  sehr  widerspruchsvoll 
ausdrückt,  ja  c.  32,  2  sagt  er  direckt  X6-{w  |j.6vov  vjps&Tjjav,  womit  er 
in  die  thukydideische  Darstellung  einlenkt.  Demgegenüber  gibt  Thuk. 
eine  Darstellung  der  Ereignisse,  wie  sie  sich  ihm  nach  seinen  Er- 
kundigungen auf  Grund  vor  allem  seiner  Kenntnis  der  Verhältnisse 
und  Parteiführer  darstellen  müßte,  eine  Darstellung,  die  in  jeder  Hin- 
sicht das  Gepräge  der  Wahrheit  trägt  und  jedenfalls  nicht  durch  offizielle 
Dokumente  von  der  Art,  wie  sie  bei  Ar.  vorliegen,  widerlegt  werden 
kann.  Ja,  noch  mehr,  an  einzelnen  Stellen  schimmert,  wie  M.  zeigt 
(S.  418  A.  2.  S.  420)  sogar  noch  die  Bekanntschaft  mit  den  von  Ar. 
ans  Licht  gezogenen  Aktenstücken  duich,  die  also  Thuk.  als  offizielles 
Machwerk  erkannt  und  demgemäß  nicht  berücksichtigt  hat.  Um  so 
weniger  fallen  kleine  üngenauigkeiten  ins  Gewicht,  wie  sie  U.  Köhler 
in  seiner  gegen  M.  gerichteten  Abhandlung  mit  Benutzung  des  aristote- 
lischen Materials  Thuk.  nachzuweisen  sich  bemüht,  indem  schließlich  das 
eine  oder  andere  Versehen  in  Nebendingen  sicherlich  entschuldbar  ist. 
Keineswegs  aber  genügt  das  vorhandene  Material.  Thuk.  der  Nachlässig- 
keit oder  der  Verwendung  ungeeigneter  Informationen  zu  beschuldigen: 
scheinbare  Lücken  in  der  Darstellung,  die  man  mit  dem  unfertigen  Zu- 
stand des  8.  Buches  hat  entschuldigen  wollen,  beruhen  darauf,  daß  Thuk. 
überhaupt  nicht  alles  berichten  will,  sondern,  wie  überall,  eine  sorg- 
fältige Auswahl  der  Geschehnisse  getroffen  hat. 

Damit  aber  kommen  wir  auf  eine  Grundfrage  der  Thukjdides- 
kritik  überhaupt,  auf  die  Frage  nach  den  Grundsätzen,  die  Thuk.  bei 
der  Abfassung  seines  Werks  geleitet  haben,  und  auch  hier  hat  M.  mit 
sicherer  Hand  S.  362 — 406  diese  Prinzipien  gekennzeichnet.  Schlechter- 
dings   nur  das    historisch  Wirksame    will  Tliuk.  berichten,    und    daher 


182  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

kommt  es,  daß  er  manche  Ding-e  gar  nicht  erwähnt,  die  wir  bei  ihm 
zu  finden  erwarten  und  deren  Auslassung  besonders  im  fünften  Bucb 
man  abermals  mit  mangelndem  Abschluß  der  Darstellung  hat  erklären 
wollen  Vielmehr  tritt  hier  jenes  Prinzip  der  Darstellung  hervor,  an 
das  Thuk.  sich  mit  unverbrüchlicher,  wenn  auch,  wie  M.  zugibt,  manch- 
mal zu  weit  gehender  Strenge  gehalten  hat.  Auch  Persönlichkeiten  hat 
er  nur  insoweit  dargestellt,  als  sie  zielbewußt  und  mit  selbständigem 
"Willen  auf  den  Gang  der  Ereignisse  eingewirkt  haben :  dann  aber  hat  er 
auch  fast  alles  von  ihnen  beigebracht,  auch  wenn  sie  wie  Nikias  persön- 
lich unbedeutend  waren  und  nur  durch  die  Macht  der  Verhältnisse  in 
eine  politische  Rolle  gedrängt  wurden.  Dagegen  ist  ihr  persönliches 
Schicksal  dem  Geschichtschreiber  gleichgültig;  wo  ihre  Wirkung  auf- 
hört, schwindet  auch  sein  Interesse  an  ihnen  und  nur  zugunsten  des 
größten  Hellenen,  den  er  kannte,  des  Themistokles,  hat  er  eine  Aus- 
nahme gemacht,  indem  er  seine  persönlichen  Schicksale  auf  persischem 
Boden  mitgeteilt  hat.  Nicht  anders  steht  Thuk.  den  Massen  gegen- 
über, die  zwar  in  dem  Ringen  der  intellektuellen  Kräfte  um  eine 
historische  Entscheidung  keine  selbständige  Rolle  spielen,  die  aber  mit 
ihren  Impulsen  und  Stimmunaren  sich  bei  jedem  Ereignis  bald  hemmend, 
bald  fördernd  geltend  machen.  Allein  da  alles  dies  sich  ewig  wieder- 
holt, kann  es  nicht  immer  wieder  Objekt  der  Darstellung  sein,  und  so 
hat  Thuk.  sich  begnügt,  in  der  Zeit  zwischen  Perikles'  Tod  und  der 
sizilischen  Expedition,  wo  wir  von  den  inneren  Zuständen  Athens  fast 
nichts  durch  ihn  erfahren,  an  drei  ihm  besonders  wichtigen  Stellen  die 
Stimmung  der  Massen  zu  schildern.  Das  sind  die  Vorgänge  beim 
mityleuischen  Aufstand,  bei  den  Verhandlungen  nach  der  Einnahme  von 
Sphakteria,  nach  Thuk.  dem  Wendepunkt  des  Krieges,  da  Athen  damals 
die  einzige  Möglichkeit  eines  günstigen  Ausgangs  versäumte,  und  end- 
lich bei  den  Verhandlungen  mit  den  Meliern.  Das  Mittel,  dessen  Thuk. 
sich  überall  bedient,  sind  bekanntlich  die  Reden,  die  durchweg  nur 
ideale,  nicht  ephemere  Wirklichkeit  haben.  Nach  alledem  freilich  ist 
Thuk.  nicht  ein  objektiver  Historiker  im  gewöhnlichen  Sinne.  In  allem, 
was  er  sagt,  ist  sein  Urteil  schon  drin  und  ebenso  in  dem,  was  er  ver- 
schweigt: daß  aber  völlige  Objektivität  im  populären  Sinne  für  einen 
Historiker  unmöglich  ist,  daran  hat  M.  mit  wahien  und  tretfendcn 
Worten  erinnert  (S.  386  f.). 

Es  ist  klar,  daß  bei  dieser  Auffassung  der  Grundsätze,  die  Thuk. 
bei  seinem  Werke  geleitet  haben,  ein  großer  Teil  der  Anstöße  fortfällt, 
die  man  in  seiner  Darstellung  gefunden  und  seit  Ullrichs  Vorgange  (1845) 
bald  durch  Annahme  einer  gesonderten  Heiausgabe  einzelner  Teile, 
bald  durch  den  Mangel  einer  letzten  Überarbeitung  erklärt  hat.  Dies 
hat  M.  an  einem  Falle  besondeis  instruktiv  entwickelt,  an  der  Ansicht 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  183 

Xirchhoflfs,  wonach  Thuk.  die  di-ei  Urkunden  des  Waffenstillstandes, 
des  Friedens  und  des  Bündnisses  zwischen  Athen  und  Sparta  421  bei 
seiner  Niederschrift  nicht  im  Wortlaut  gekannt  und  erst  404  nach  seiner 
Heimkehr  in  das  Werk  eingelegt  habe,  ohne  doch  die  kleinen  dabei 
sich  ergebenden  Widersprüche  ganz  zu  verwischen.  Indessen  gehört  die 
Einzelbesprechung  dieser  Dinge  in  den  Jahresbericht  über  Thukydides. 
Meyers  Ansicht  über  die  Entstehung  des  Werkes  läßt  sich  dahin  zu- 
sammenfassen, daß  Thuk.  die  Ausarbeitung  einzelner  Teile  natürlich 
gleichzeitig  oder  bald  nach  den  Ereignissen  begonnen  bat,  daß  aber  diese 
vorläufigen  Ausarbeitungen  nach  seiner  Rückkehr  von  ihm  wieder  durch- 
gearbeitet sind  und  daß  er  mit  der  endj^ültigen  Fassung  etwa  bis  Mitte 
411  gelangt  war,  als  ihn  der  Tod  abrief.  Wie  dies  im  einzelnen  ver- 
treten wird,  läßt  sich  hier  nicht  ausführen.'  das  aber  ist  nicht  zu  ver- 
kennen, daß  die  sog.  thukydideische  Fräse,  soweit  sie  sich  auf  die  Ab- 
fassung des  Werkes  bezieht,  von  M.  auf  eine  ganz  neue  Grundlage 
gestellt  ist  und  jedenfalls  einer  erneuten  Revision  bedarf.  Daß  deren 
Ergebnisse  der  von  M.  vertretenen  Ansicht  näher  stehen  wird,  als  der 
von  Ullrich  inaugurierten  Forschun^sweise,  ist  mir  nicht  zweifelhaft: 
allein  wie  bei  der  homerischen  Frage,  die  von  Lachmanns  kühnem 
Vorstoß  ausging,  liegt  der  Wert  derartiger  Hypothesen,  wie  sie  Ullrich 
und  seine  Nachfolger  aufgestellt  haben,  eben  darin,  daß  sie  durch  die 
zu  ihrer  Widerlegung  aufgewandte  Geistesarbeit  jenes  tiefere  Verständnis 
angebahnt  haben,  das  für  Thuk.  Meyer  in  den  besprochenen  Aufsätzen 
geschaffen  hat. 

Neben  Herodot  und  Thukydides  stehen  als  wichtigste  zeit- 
genössische Quellen  die  immer  noch  wachsende  Anzahl  von  Inschriften 
aller  Art;  von  den  übrigen  Historikern  dieser  und  der  Folgezeit  ist 
außer  Ephoros,  von  dem  bei  Diodor  größere  Partien  im  Wortlaut 
vorliegen  mögen,  keine  in  der  ursprünglichen  Passung  erhalten.  Viel- 
mehr ist  uns  nur  der  Niederschlag  in  der  biographischen  Literatur  ge- 
blieben, deren  Hauptvertreter  für  uns  Plutarch  und  Nepos  in  ihren 
Lebensbeschreibungen  sind.  Eine  von  diesen,  die  Biographie  Kiraons, 
hat  Meyer  genauer  untersucht  (Forsch.  II,  1  ff.)  und  dabei  zunächst 
festgestellt,  daß  die  Darstellung  der  Eurymedonschlacht  aus  Kallisthenes' 
Hellenika  entnommen  ist,  der  einen  im  wesentlichen  zuverlässigen  Be- 
richt über  dieses  wichtige  Ereignis  gegeben  hat,  während  Ephoros' 
parallele  Darstellung  (Diod.  XI,  60—62)  ersichtlich  durch  das  unter 
Simonides'  Namen  gehende  Epigramm  der  Anth.  7,  296  beeinflußt  worden 
ist.  In  Wahrheit  aber  geht  dies  Epigramm  auf  die  letzte  Schlacht  vor 
Salamis,  die  die  Athener  nach  Kimons  Tod  gewannen,  und  die  Ver- 
wechselung ist  dadurch  möglich  geworden,  daß  das  Weihgeschenk,  dem 
das  Epigramm  entnommen  ist,  keine  deutliche  Bezeichnung  der  Aktion 


1S4  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

enthielt  und  daher  schon  früh  als  durch  die  Eurymedonschlacht  veran- 
laßt angesehen  ward.  Übrigens  deutet  doch  wohl  das  oiot,  mit  dem 
das  Epigramm  beginnt,  mehr  aut  eine  Grabinschrift,  als  auf  ein  Weih- 
geschenk ;  das  wird  trotz  M.s  Bemerkungen  S.  14  immer  die  natürlichste 
Beziehung  bleiben.  Nun  aber  schließt  M.  aus  der  ganzen  Behandluuss- 
weise  bei  Plut. ,  daß  dieser  nicht  den  Kallisthenes  selber  eingesehen 
hat,  sondern  einer  biographischen  Quelle  folgt,  deren  historische  Urteils- 
kraft sich  darin  zeigt,  daß  sie  den  trügerischen  Bericht  des  Ephorcs 
verworfen  und  dafür  die  sehr  klare  Darstellung  des  Kallisthenes  bevor- 
zugt hat.  Nebenbei  ergibt  sich,  da  Kallisthenes  in  den  Hellenika,  die 
vom  Autalkidasfrieden  bis  zur  Besetzung  Delphis  durch  die  Phokier 
reichten  (Wachsmuth  a.  a,  0.  S.  223  f.),  die  Eurymedonschlacht  nur 
eingangsweise  erwähnte,  die  Belesenheit  von  Plutarchs  Gewährsmann» 
der  auf  gutem,  uns  nicht  mehr  erhaltenen  Material  fußte.  Aus  ihm 
stammt  der  größte  Teil  von  Kimons  Lebensbeschreibung,  selbständig 
scheint  Plut.  nur  noch  ein  Werk  des  Didymos  benutzt  zu  haben» 
dessen  Spuren  M.  in  Kap.  4,  15,  16  nachzuweisen  sucht.  Diese  Er- 
gebnisse werden  nun  von  M.  sofort  verallgemeinert.  Er  glaubt,  die 
antike  Biographie  ebensosehr  als  Einheit  behandeln  zu  können,  wie  die 
antike  Chronographie:  Plutarch  und  Nepos  dürfen  nicht  wie  Livius 
oder  Arrian,  sondern  nur  wie  Diogenes,  Laertios,  Markellinos  und  die 
biographischen  Artikel  des  Suidas  benutzt  werden,  d.  h.  sie  sind  für 
uns  nur  die  Ausläufer  einer  gewaltigen  biographischen  Literatur,  deren 
Hauptvertreter  in  den  drei  letzten  Jahrhunderten  der  vorchristlichen 
Zeitrechnung  uns  verloren  sind.  Von  einer  direkten  Benutzung  der  bei 
ihm  namhaft  gemachten  Quellen  ist  bei  Plut.  niemals  die  Rede,  obwohl 
er  unzweifelhaft  Herodot,  Thukydides,  Aristoteles  gekannt  hat;  darauf 
kam  ihm  bei  der  ethischen  Tendenz  seiner  Darstellung  viel  zu  wenig 
an.  In  diesem  Punkte  steht  Nepos  viel  selbständiger  da,  der  nicht 
bloß  die  Vulgatbiographie,  die  auch  er  benutzte,  mit  eigenen  Exzerpten 
aus  Thuk.  und  anderen  Historikern  versetzte,  sondern  auch  einzelne 
Lebensbeschreibungen  wie  Pausanias  aus  Thuk.,  Datames  vielleicht  aus 
Deinon  selbständig  auszog  und  gestaltete.  Allein  jene  Bequemlichkeit, 
die  Plut.  walten  ließ,  erhöht  für  uns  nur  den  Wert  des  vou  ihm  Über- 
lieferten, das  somit  als  der  Niederschlag  der  gelehrten,  alexandrinischeu 
Forschung  aufzufassen  ist,  die  nicht  bloß  über  jetzt  verlorene  Quellen, 
sondern  auch  über  das  in  Archiven,  Weihgescheuken  usw.  vorhandene 
vorzügliche  Material  verfügte.  Von  ihrer  Belesenheit  und  historischen 
Urteilskraft  den  verschiedenen  Berichten  gegenüber  gibt  das  Leben 
Kimons  einen  vorteilliaften  Begriff;  dagegen  versagt  sie  völlig  in  chrono- 
logischen Fragen  und  in  der  Beurteilung  des  geschichtlichen  Zusammen- 
hangs.    Vollständig  hat  keine  der  uns  erhaltenen  Viten  den  Strom  der 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  18,") 

Überlieferung  erhalten,  aber  unbedenklich  können  sie  und  selbst  einzelne 
Notizen,  die  nachweislich  auf  jene  Biographen  zurückgehen,  zur  wechsel- 
seitigen Ergtinzung  benutzt  werden:  nur  ist  jede  Einzclangabe  dabei 
auf  ihren  historischen  Wert  zu  prüfen. 

Diese  methodischen  Grundsätze  wird  man  ohne  weiteres  unter- 
schreiben können:  anders  dagegen  steht  es  mit  ihrer  theoretischen  Be- 
gründung und  der  Ansicht  Me\'ers  über  Plutarchs  Wert  als  Quellen- 
schriftsteller überhaupt.  So  bestechend  diese  auf  den  ersten  Blick 
wirkt,  so  läßt  sich  doch  nicht  verkennen,  daß  sie  auf  einem  recht 
schmalen  Grunde  ruht,  nämlich  allein  auf  der  Analyse  der  Kimon- 
biographie.  Allerdings  deutet  M.  an,  daß  in  andern  Lebensbeschreibungen 
die  Sache  ebenso  liegt,  und  in  der  Tat  hat  sich  an  der  einzigen  Stelle, 
wo  die  Quellenkritik  des  Plutarch  zu  einem  eiuigermaßeu  reinlichen 
Resultat  gekommen  ist,  so  ziemlich  derselbe  Befund  ergeben:  wir  wissen, 
daß  das  Leben  Solons  ziemlich  genau  dem  Hermippos,  einem  der 
schlimmsten  jener  späteren  Biographen,  nachgearbeitet  ist.  Allein  im 
besten  Falle  sind  das  Stichproben  und  es  ist  ein  bißchen  gewagt,  danach 
einen  Mann  wie  Plutarch  abzuurteilen,  auf  dem  doch  ein  nicht  geringer 
Teil  unserer  geschichtlichen  Kenntnisse  beruht.  Vielmehr  zeigt  sich 
hier,  wie  notwendig  eine  umfassende,  neue  Darstellung  von  Plutarchs 
schriftstellerischer  Tätigkeit  und  Arbeitsweise  ist,  die  sich  denn  freilich 
nicht  auf  die  Lebensbeschreibungen  beschränken,  sondern  auch  auf  die 
philosophischen  Schriften  erstrecken  müßte.  Allein  da  liegt  noch  sehr 
vieles  im  Argen:  vorderhand  existiert  für  die  Lebensbeschreibungen 
noch  nicht  einmal  eine  genügende  Textrezension,  da  die  vv'eitaus  besten 
Handschriften,  der  Matritensis  und  Seitenstettensis  erst  nach  Sintenis 
Ausgabe  zum  Vorschein  gekommen  sind.  Dennoch  bleibt  jene  Unter- 
suchung eine  unabweisbare  Notwendigkeit;  erst  wenn  sie  gemacht  ist, 
wird  man  ein  abschließendes  Urteil  gewinnen  können  und  sie  würde 
selbst  dann  noch  für  unsere  Kenntnis  der  Überlieferung  vom  höchsten 
Werte  sein,  wenn  ihr  Endergebnis  sich  schließlich  mit  Meyers  Resultaten 
decken  würde. 


Während  in  Athen  die  Demokratie  des  Kleisthenes  ihre  ersten 
Erfolge  errang,  bereitete  sich  mit  Naturnotwendigkeit  der  Zusammen- 
stoß zwischen  Persien  und  der  hellenischen  Kultur  vor,  der  vor  allem 
in  dem  Expansionsbedürfnis  des  persischen  Reiches  begründet  lag;  „au 
den  Meerengen  des  Hellespont  und  des  Bosporus  kann  kein  Staat  Halt 
machen-  (GdA.  III,  296).  Allein  es  war  ein  verhältnismäßig  gering- 
fügiger Anlaß ,  der  den  im  geheimen  längst  vorhandenen  Gegensatz 
plötzlich  akut  werden  ließ:  der  Aufstand  der  Ostgriechen,  der  ab- 


186  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

g'esehen  von  dem  ziemlich  drücl^enden  persischen  Joch  von  Arista- 
g-oras  aus  wesentlich  persönlichen  Gründen  herbeigeführt  ward,  und 
die  Hilfe,  die  die  athenische  Volksversammlung  ohne  das  ge- 
ringste Gefühl  der  politischen  Tragweite  ihrer  Handlung  den  Auf- 
ständischen gewährte,  brachte  den  Stein  ins  Eollen.  Sehr  richtig 
führt  M.  aus,  daß  trotz  aller  Verschleierungsversuche  Herodots 
es  keinem  Zweifel  unterliegt,  daß  für  jenen  verhängnisvollen  Schritt 
eben  die  Alknieoniden  veiantwortlich  waren,  die  damals  Athen  leiteten 
(GdA.  III,  303).  Unerklärt  dagegen  bleibt  in  der  Geschichte  des  Äuf- 
standes  hauptsächlich  ein  Punkt,  die  schnelle  Rückkehr  des  athenischen 
Geschwaders  nach  dem  Treffen  von  Ephesos,  wenn  man  eben  nicht  an- 
nehmen will,  daß  die  Athener  sehr  bald  anderes  Sinnes  geworden  sind 
und  die  Flotte  abberufen  haben. 

Und  dies  wird  auch  wohl  tatsächlich  das  Richtige  sein,  da  man 
sich  kaum  zu  dem  Ausweg  verstehen  wird,  den  Niebuhr  in  seiner 
schon  im  vorigen  Kapitel  erwähnten  Schrift  aus  dieser  Schwierigkeit 
gefunden  zu  haben  glaubt.  Bekanntlich  erzählt  Her.  6,  19,  daß  der 
Tempel  zu  Didyma  von  Dareios'  Truppen  geplündert  und  zerstört  worden 
sei;  es  gibt  aber  noch  eine  zweite,  angeblich  auf  Kallisthenes  zurück- 
gehende Veision,  wonach  der  Tempel  und  seine  Schätze  von  den  Bran- 
chiden  an  Xerxes  verraten  wurden  und  von  ihm  die  Vernichtung  aus- 
ging: später  hätten  dann  beim  Rückzug  des  Königs  479  die  Branchideu 
aus  Furcht  vor  ihren  Landsleuten  ihre  Heimat  verlassen  und  seien  in 
Sogdiana  angesiedelt  worden,  wo  Alexanders  Rache  sie  später  ereilt 
habe.  Diese  Erzählung  findet  sich  an  zwei  Stellen  bei  Strabo  (p.  518 
und  634).  Nun  aber  wissen  wir  durch  Her.  bestimmt,  daß  der  Tempel 
von  Dareios  zerstört  ward,  man  wird  also  annehmen  müssen,  daß  Strabo 
oder  seine  Quelle  an  seine  Stelle  den  Xerxes  gesetzt  hat,  der  ja  all- 
gemein als  Tempelschäuder  bekannt  war,  und  eine  Spur  dieser  Ver- 
wechselung findet  sich  m.  E.  auch  noch  in  Strabos  Worten  p.  634, 
iv£-pTjCJi)rj  o'  'J7T0  Espcoy,  xaOa-sp  xai  xa  aXXa.  tspa  7:>.rjV  -oü  sv  Eoiaio:  der 
Zusatz  macht  deutlich,  daß  die  Worte  nur  auf  die  kleinasiatischen 
Tempel  gehen,  die  eben  mit  Ausnahme  des  ephesischen  am  Ende  des 
ionischen  Aufstandes  vernichtet  wurden.  Da  nun  N.  auch  die  Über- 
siedelung dem  Dareios  zuschreibt,  kann  er  den  Grund  dieser  Maßregel 
nicht  einsehen,  weil  die  Perser  in  dem  unterworfenen  Lande  doch  sicher 
ihre  Freunde  hätten  schützen  können;  indem  er  aber  an  dem  Faktum 
festhält,  wird  ihm  die  Ansiedelung  zur  Deportation,  und  deren  Grund 
kann  natürlich  unmöglich  ein  den  Persern  freundlicher  Akt,  wie  die 
Überlieferung  der  Schätze,  gewesen  sein.  Also,  schließt  N.,  fand 
Dareios  die  Schätze  eben  nicht  mehr  vor  und  darum  bestrafte  er  die 
Branchiden  mit  Deportation.    Aber  auch  auf  die  Frage,  wo  die  Schätze 


Jahresbericht  über  griechische  Geschieht^.     (Lenschau.)  187 

geblieben  sind,  weiß  N.  die  Antwort:  Aiistagoras  und  der  athenische 
Adiniral,  der  Alkmeonide  Mclanthios,  haben  sie  unmittelbar  nach  der 
Schlacht  von  Epliesos  in  Sicherheit  gebracht  und  sich  dann  aus  dem 
Staube  gemacht.  Aristagoras  fiel  in  Thrakien,  Melanthios  brachte  die 
Kostbarkeiten  nach  Delphi  und  hier  kratzte  man  sorgfältig  die  Weih- 
inschriften aus:  die  inschriftloseu  angeblichen  Weihgeschenke  des 
Kreises  sind  nichts  weiter  als  eben  jene  Schätze  von  Di'lyma,  wie  denn 
in  Wirklichkeit  nach  den  Vorstellungen  jener  Zeit  Kroisos  das  Reichs- 
heiligtum  der  Brauchiden  gar  nicht  übergehen  konnte,  um  einen  so 
weit  entlegenen  Tempel  wie  den  delphischen  zu  beschenken.  Herodot 
aber  hat  wissentlich  den  Tatbestand  durch  die  Fabel  von  der  doppelten 
Schenkung  (Her.  1,  92)  verdunkelt  und  damit  den  Betrug  der  Alkmeo- 
niden  und  der  delphischen  Priesterschaft  unterstützt.  —  Die  Darstellung 
Niebuhrs  liest  sich,  um  eioen  von  ihm  angedeuteten  Vergleich  zu  be- 
nutzen, stellenweise  spannend  wie  ein  Kriminalroman,  allein  sie  vermag 
ebensowenig  wie  dieser  über  die  Unwahrscheinlichkeit  seiner  Voraus- 
setzungen hinwegzutäuschen.  Diese  besteht  darin,  daß  N.  den  ganzen 
Inhalt  der  Erzählung  Strabos  auf  Dareios  überträgt:  die  Sache  kann 
aber  sehr  wohl  so  gewesen  sein,  daß  die  Branchiden,  um  sich  in  dem 
allgemeinen  Untergang  zu  salvieren,  tatsächlich  die  Schätze  au  die 
Generale  des  Dareios  auslieferten  und  unbehelligt  unter  seinem  Schutz 
im  Lande  verblieben ;  erst  als  nach  der  Schlacht  am  Mykale  die  Perser- 
herrschaft an  der  Küste  gestürzt  war,  hat  Xerxes  sie  auf  ihre  Bitten, 
<la  sie  sich  nicht  mehr  sicher  fühlten,  nach  Sogdiana  verpflanzt.  Somit 
bezieht  sich  die  Verwechselung  der  Königsnamen  nur  auf  den  ersten 
Teil  der  Strabonotiz,  auf  die  Verbrennung  des  Tempels:  wem  sie  aufs 
Kerbholz  zu  setzen  ist,  ob  Strabo,  ob  Kallisthenes  oder  einem  vielleicht 
vorhandenen  Mittelsmann,  das  ist  nicht  mehr  auszumachen. 

Andeis  wieder  sucht  Bury  die  Sache  in  dem  oben  angeführten 
Aufsatz  zu  erklären,  indem  er  von  dem  bei  Her.  VI,  19  und  77  über- 
lieferten Doppelorakel  ausgeht,  das  die  Argeier  kurz  vor  der  ver- 
nichtenden Niederlage  von  Sepeia  erhielten  und  das  am  Ende  zugleich 
einen  Ausspruch  über  Milet  enthielt.  Diese  eigentümliche  Beschaifen- 
heit  deutet  nach  B.  darauf  hin ,  daß  damals  ein  enger  politischer  Zu- 
sammenhang zwischen  Argos  und  Milet  bestand,  und  diesen  findet  er 
darin,  daß  Aristagoras  von  den  Spaitanern  mit  seinem  Hilfsgesuch  nach 
Argos  ging,  wo  man  zwar  geneigt  war,  ihm  zu  willfahren,  aber  doch 
infolge  des  drohenden  Krieges  mit  Sparta  die  Entscheidung  von  dem 
Orakelspruch  abhängig  machte.  Nun  macht  sich  in  den  auf  Milet  be- 
züglichen Worten  eine  ganz  entschieden  gereizte  Stimmung  des  Gottes 
gegen  Milet  Luft,  die  nach  Bury  auf  das  dort  vorhandene  Bestreben 
zurückgeht,    die  Tempelschätze  von  Didyma  für  den  Aufstand  zu  ver- 


188  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

werten;  wenn  auch  der  bekannte  Vorschlag  des  Hekataios  zunächst 
nicht  durchdrang,  so  hat  er  doch  in  Milet  selbst  Anklang  gefunden 
und  sicherlich  drohte  den  Tempelschätzen  von  dort  Gefahr.  Wenn  auch 
B.  es  nicht  direkt  ausspricht,  so  legt  doch  seine  ganze  Darstellung  die 
Schlußfolgerung  nahe,  daß  die  Braachidenpriester  selber  die  Schätze 
und  zwar  nach  Delphi  in  Sicherheit  gebracht  haben,  wofür  der  Tempe 
zerstört  und  sie  selber  deportiert  wurden.  B.  also,  der  m.  E.  richtig 
an  der  Zerstörung  durch  Dareios  festhält,  mußte  nunmehr  folgerichtig 
ihm  auch  die  Deportation  auf  die  Rechnung  schreiben,  die  indes  in 
unseren  Quellen  von  Xerxes  behauptet  wird.  Man  sieht,  wie  nahe  sich 
seine  Ansichten  mit  denen  Nieb.;  )  5  berühren,  und  wenn  auch  die  Lösung 
noch  nicht  befriedigen  mag,  auf  die  hier  liegenden  Schwierigkeiten 
energisch  hingewiesen  zu  haben,  bleibt  immer  Niebuhrs  Verdienst,  das 
ihm  niemand  bestreiten  kann.  Übrigens  erscheint  mir  doch,  wie  ich 
beiläufig  bemeiken  will,  Aristagoras'  Hilfsgesuch  in  Athen  darauf  hin- 
zudeuten, daß  damals  Athen  nicht,  wie  Wilaraowitz,  Meyer  und  andere 
Forscher  glauben,  und  wie  vor  kurzem  noch  C.  F.  Lehmann  (Beitr.  z. 
alt.  Gesch.  II,  334 — 440)  wieder  ausgeführt  hat,  Mitglied  des  peloponne- 
sischen  Bundes  war:  wäre  es  das  gewesen,  so  wäre  doch  wohl  in  dieser 
wichtigen  Frage  die  Entscheidung  des  Vororts  auch  für  Athen  maß- 
gebend gewesen. 

Der  Ausgang  des  ionischen  Aufstandes  hat  den  Alkmeoniden  ihre 
Stellang  gekostet:  jetzt  endlich  sah  man  die  Persergefahr  unmittelbar 
vor  Augen.  Die  Lage  in  Athen  hat  M  GdA.  III,  310  richtig  und 
bedeutend  schärfer  als  seine  Voi-gänger  gezeichnet.  Noch  immer  besaß 
die  Peisistratidenpartei  einen  starken  Anhang,  so  daß  sie  für  496/5 
Hipparchos,  den  Sohn  des  Charmos,  bei  der  Archoutenwahl  durch- 
brachte; man  mochte  hoffen,  durch  Anknüpfung  mit  dem  alten Hippias  den 
Zorn  des  Königs  zu  besänftigen.  Aber  bald  siegte  die  Partei,  die  energische 
Vorbereitung  zum  Kampfe  forderte:  493/2  ist  ihr  Haupt  Themistokles 
an  die  Spitze  des  Staates  getreten  und  hat  die  Aufregung  über  den 
Fall  Milets  benutzt,  um  den  Hafenbau  im  Piräus  zu  beginnen  und  die 
Seemacht  Athens  vorzubereiten,  in  der  Athens  Rettung  und  die  künftige 
Größe  der  Stadt  vereinigt  lag.  Allein  auf  kurze  Zeit  ward  der  geniale 
Mann  in  den  Hintergrund  gedrängt:  die  o-?.a  zap£-/o|i.£voi,  die  Kleisthenes' 
Reform  zum  entscheidenden  Faktor  im  Staate  gemacht  hatte  und  deren 
Selbstgefühl  durch  die  Siege  über  Theben  und  Chalkis  mächtig  gewachsen 
war,  wollten  den  Kampf  zu  Lande,  und  ihnen  bot  sich  in  Miltiades,  der 
sein  thrakisches  Herzogtum  im  Stich  gelassen  hatte  —  die  Geschichte  an  dar 
Donaubrücke  wird  auch  von  Meyer  verworfen  —  der  geeignete  Führer  dar. 

Die  Schlacht  von  Marathon  ist  lange  der  Gegenstand  vieler 
Kontroversen    gewesen;    ihr   eigentlicher  Verlauf    ist  wesentlich   durch 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  189 

H.  Delbrück   anfffehellt,    der   seine  zuerst  in  den  ,,Perser-  und  Bar- 
gunderkriegen"    aufg-estellte  Ansicht    in  seinem  neuesten  "Werke    noch 
einmal  eingehend  begründet  und  verteidigt  hat  (I,  S.  41— 59).    Danach 
lagerte  ]\Iiltiades  mit  dem  athenischen  Bürgeraufgebot  am  Ausgang  des 
engen  Tales  von  Vrana,    in    einer    gegen   die  Angriffe    der  persischen 
Reiterei  g-esicherten  Stellung,    die    zugleich   die  an   der  Küste  entlang 
führende  Hauptstraße  nach  Athen  flankierte.    Während  er  hier  die  ver- 
sprochene Bundeshilfe  der  Lakedaimonier  erwartete,  mußten  die  persi- 
schen Führer  womöglich  vorher  die  Entscheidung  herbeizuführen  suchen; 
sie  beschlossen  deshalb  den  Angriff.     Als  die  Perser  bis  auf  Pfeilschuß- 
weite d.  h.  etwa  150  Schritt  herangekommen  waren,    stürzte  sich  Mil- 
tiades  im  Laufschritt  auf  den  Feind,  der  zuerst  auf  den  Flügeln,  dann 
auch  im  Zentrum  geworfen  und  bis  zu  den  Schiffen  verfolgt  ward.    Für 
die  in  der  siegreichen  Schlacht  Gebliebenen  ward  auf  dem  Schlachtfelde 
dort,    wo  der  letzte  Mann    gefallen  war,    ein  noch  heute  erkennbarer 
Grabhügel  errichtet,  der  genau  8  Stadien  vom  Eingang  des  Vranatales 
entfernt  ist.    Von  seiner  Spitze  aus  mag  Herodot  das  Schlachtfeld  über- 
blickt haben  und  dabei  hat  sich  in  ihm.  dem  militärisch  Ungeschulten, 
die  Vorstellung  festgesetzt,  der  Hügel  sei  an  der  Stelle  des  ersten  Zu- 
sammenstoßes errichtet  und  die  Athener  hätten  die  ganze  Strecke  vom 
Eingang  des  Vranatales  bis  zu  diesem  Punkte  im  Laufschritt  zurück- 
gelegt.    So  ist  nach  D.  die  fabelhafte  Erzählung  von  dem  Achtstadien- 
lauf entstanden,    der   phj'sisch   wie  militärisch    eine  Unmöglichkeit  ist. 
Gegenüber  dieser  Darstellung,    die  ich  in  manchen  Punkten   für 
richtig  halte,    verschlägt  es  sehr  wenig,    daß  sie  in  manchen  Punkten 
wie  z.  B.  auch  darin,    daß  bei  D.  die  Perser  die  Angreifer  sind,    von 
dem  Schlachtbericht  des  Herodot  abweicht;   wird   doch  die  militärische 
ünbrauchbarkeit    dieses   Berichts    von    allen  Seiten   jetzt   zugestanden. 
Die  Schwierigkeit  liegt  darin,  die  Abwesenheit  der  Reiterei  zu  erklären. 
Wir  wissen  ganz  genau  aus  Her.,    daß  die  Perser    mit  Reiterei    wohl- 
versehen waren,  und  gerade  in  dem  Zusammenwirken  von  Bognern  und 
Reitern  beruhte,  wie  D.  mit  Recht  hervorhebt  (S.  42),  die  den  Persern 
eigentümliche  Taktik,    die  ihnen  so  oft  den  Sieg  verschafft  hatte    und 
auch   der  griechischen  Phalanx  gegenüber    die   taktische  Überlegenheit 
sicherte.     D.    erklä-t    die  Sache    nun    so,    daß    bei    der    unerwarteten 
Wirkung  des  athenischen  Stoßes  die  Reiterei  überhaupt  nicht  in  Aktion 
getreten  sei,  eine  nicht  sehr  wahrscheinliche  Sache,   da  sie  doch,  wenn 
sie  überhaupt  vorhanden  war,    während  der  Verfolgung    immerhin  Zeit 
gehabt    hätte,    wenigstens    zum    Schutz    der    Fliehenden    einzugreifen. 
Auch  damit  ist  nicht  viel  gewonnen,  wenn  man  sagt,  die  Perser  hätten 
von  vornherein  auf  die  Mitwirkung  der  Reiterei  verzichtet,  die  auf  dem 
Gelände,  wo  die  Schlacht  stattfand,  doch  nicht  zu  verwenden  war;  denn 


190  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

dann  hätten  die  persischen  Feldherren  ja  von  vornherein  die  Möglichkeit 
eines  Rückzugs  in  die  Ebene  gar  nicht  erwogen;  sie  wären  ihres  Sieges 
vollkommen  sicher  gewesen  und  das  würde  nur  bei  starker  numerischer 
Überlegenheit  möglich  gewesen  sein,  die  bekanntlich  von  D.  verneint 
wird.  Es  bleibt  also  nichts  übrig,  als  das  Fehlen  der  Reiteiei  aus  der 
Vorgeschichte  der  Schlacht  zu  erklären,  und  hier  tritt  ergänzend  die  Ab- 
handlung von  Munro  ein,  die  auch  trotz  der  Anlehnung  an  deutsche 
Vorgänger  (Busolt,  Schillings)  einen  durchaus  selbständigen  Wert  besitzt. 

M.  geht  von  der  bereits  mehrfach  aufgeworfeneu  Frage  aus,  wes- 
halb die  Perser  gerade  in  Marathon  gelandet  sind.  Her.  sagt  (VI,  102), 
Hippias  habe  sie  aus  zwei  Gründen  dorthin  geführt:  einmal,  weil 
Marathon  Eretria  sehr  nahe  lag  —  aber  natürlich  auch  um  soviel  weiter 
von  Athen,  dem  Zielpunkt  der  ganzen  Kriegsfahrt,  und  zweitens,  weil 
die  Ebene  für  die  Reiterei  günstig  war  —  aber  diese  hätte  ja  in  der 
großen  Ebene  bei  Athen  ebenso  gute,  wenn  nicht  bessere  Verwendung 
gefunden.  Neuere  Historiker  nehmen  daher  andere  Motive  bei  Hippias 
an:  einen  gewissen  Aberglauben,  der  ihn  denselben  Weg  wählen  ließ, 
auf  dem  vor  48  Jahren  sein  Vater  die  Herrschaft  zurückgewonnen  hatte, 
oder  aber  die  Absicht,  von  Marathon  aus  die  Diakria  in  Aufstand  zu 
bringen,  wo  seit  alter  Zeit  starke  Sympathien  für  das  Peisistratiden- 
geschlecht  vorhanden  waren.  Ob  die  persischen  Feldherren  sich  um  die 
sentimentalen  Erinnerungen  des  alten  Herrschers  viel  gekümmert  habeu, 
steht  dahin;  jedenfalls  fingen  sie,  wenn  die  Diakria  zum  Anschluß  ge- 
bracht werden  sollte,  ihre  Sache  sehr  verkehrt  an;  dann  hätten  sie  so- 
fort die  ins  Tal  von  Marathon  hinabführenden  Pässe  besetzen  müssen, 
anstatt  den  Feind  mitten  in  das  zu  insurgierende  Gebiet  hineinzulassen. 
Eben  diese  Nichtbesetzung  der  Pässe  deutet  aber  nach  M.  darauf  hin, 
daß  die  Perser  absichtlich  das  Heer  der  Athener  nach  Marathon  locken 
wollten,  und  dann  kann  ihr  Plan  eben  nur  der  gewesen  sein,  daß  sie 
Miltiades  mit  einem  Teil  ihres  Heeres  bei  Marathon  festhalten,  mit  dem 
andern  aber  einen  Angriff  auf  Athen  machen  vrollten,  wo  sie  ähnliche 
verräterische  Hilfe  wie  in  Eretria  zu  finden  hofften.  Ob  in  dieser  Hin- 
sicht die  Dinge  in  Athen  wirklich  so  günstig  für  die  Perser  lagen,  wie 
Munro  sie  darstellt,  ist  vielleiclit  fraglich;  jedenfalls  erscheint  so  der 
Plan  der  Perser  durchaus  veiständlich.  Und  nun  erklärt  sich  auch  das 
Fehlen  der  Reiterei,  als  Miltiades' Angriff  erfolgte;  sie  war  bereits  ein- 
geschifft, da  sie  bei  dem  Hauptschlage  gegen  Athen  Verwendung 
finden  sollte. 

Hiergegen  läßt  sich  zunächst  das  einwenden,  was  Delbrück  bei 
der  Besprechung  der  ähnlichen  Hypothese  Schillings  geltend  gemacht 
hat  (S.  53),  daß  dieser  Plan  eine  bedeutende  numerische  Überlegenheit 
der  Perser  voraussetze    und  daß   in   dem  Falle  Miltiades'  Stellung  voa 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Leaschau.)  191 

Yornherein  ganz  unhaltbar  gewesen  wäre.  Allein  dieser  Einwand  ist 
nicht  zwingend,  da  das  zur  Deckung  der  Abfalirt  aufgestellte  Korps  ja 
keineswegs  ebenso  stark  zu  sein  brauchte  wie  das  athenische  Heer. 
Wenn  es  sich  streng  auf  die  Defensive  beschränkte,  so  konnte  bei 
einigermaßen  zähem  Widerstände  uüd  bei  der  Entfernung  des  Schlacht- 
feldes Zeit  genug  zur  Einschiffung  vorhanden  seiu;  tatsächlich  war  sie 
ja  auch  fast  beendet,  als  die  siegreichen  Athener  herankamen.  Anderer- 
seits haben  die  persischen  Feldherren  wohl  von  vornherein  mehr  damit 
gerechnet,  daß  Miltiades  sofort,  nachdem  er  die  Einschiffung  eines  Teils 
der  persischen  Macht  erkannt  hätte,  den  Abmarsch  zum  Schutz  der 
Hauptstadt  antreten  winde,  und  dann  hätte  auch  ein  an  Zahl  geringeres 
Deckungskorps  hingereicht,  das  atüenische  Heer  zu  verfolgen  und  so 
lauge  hinzuhalten,  bis  die  Hauptmacht  vor  Athen  anlangte  und  der 
Veri'at  seiu  Werk  volliührte.  Alle  diese  Berechnungen  machte  der 
energische  und  über  Erwarten  erfolgreiche  Angriff  des  Miltiades  —  in 
diesem  Punkte  käme  also  Herodots  Schlachtbericht  doch  wieder  zu 
Ehren  —  vollständig  zuschanden;  aber  zugleich  zeigt  sich  doch  auch, 
daß  die  eigentliche  Rettung  Athens  nicht  in  dem  siegreichen  Ausgang 
der  Schlacht,  der  die  Hauptmacht  der  Perser  nicht  berührte,  sondern 
in  dem  sofortigen  Rückmarsch  nach  Athen  beruhte,  und  daß  die  Athener 
das  fertig  brachten  unmittelbar  nach  der  siegreichen  Schlacht  und  trotz 
des  Siegesrausches,  in  dem  sie  sich  befunden  haben  müssen  (vgl.  das 
Beispiel  des  preußischen  Heeres  nach  der  Schlacht  von  Soor,  Delbrück 
S.  53),  das  ist  allerdings  eine  Leistung,  die  die  höchste  Achtung  vor 
der  Euei'gie  des  Feldherrn  und  der  Disziplin  des  Bürgerheeres  erzwingt. 
Das  Jahrzehnt  zwischen  Marathon  und  dem  Zuge  des  Xerxes  hat 
den  beiden  führenden  Staaten  Griechenlands  schwere  innere  Erschütte- 
rungen gebracht,  die  zum  Glück  noch  überwunden  wurden,  ehe  der 
König  heranrückte.  Der  Versuch  des  Kleomeues,  die  spartanische  Ver- 
fassung umzustüizen,  der  endlich  mit  seinem  Tode  und  einer  dauernden 
Schwächung  der  Königsmacht  endete,  ist  uns  nur  noch  in  seinen  Um- 
rissen erkennbar;  etwas  mehr  wissen  wir  von  den  Parteikämpfen  in 
Athen,  in  denen  schließlich  Theraistokles  durch  kluges  Zuwarten  und  ge- 
schickteste Diplomatie  den  Sieg  gewann,  nachdem  er  zunächst  voll- 
ständig durch  Miltiades  in  den  Hintergrund  gedrängt  war.  Den  Wende- 
punkt der  Kämpfe  bildet  die  große  Verfassungsänderung  von  487/6 
unter  dem  Archontat  des  Telesiuos,  die  entweder  in  der  Einführung 
des  Loses  für  die  Archouteuwahl,  oder  wenn  man  diese  schon  unter 
Solon  verlegt  (vgl.  S.  161)  in  der  Erhöhung  der  Anzahl  der  Tzpoxp-.-oi  von 
40  auf  500.  Mit  Pvccht  hat  Meyer  (GdA.  III,  340  ff.)  darauf  hinge- 
wiesen, daß  hier  eiue  Maßregel  einschneidendster  Art  vorliegt,  sofern 
die  Besetzung  der  wichtigsten  Staatsämter  durchs  Los  unweigerlich  zur 


]92  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

Folge  haben  mußte,  daß  sie  eben  dieser  Wichtigkeit  entkleidet  wurden. 
Tatsächlich  ist  denn  auch  von  diesem  Tase  ab  das  Volk  von  Athen 
sein  eigener  Regent  geworden,  dessen  Wille  Gesetz  war;  zugleich  aber 
muß  auch  in  der  Leitung  des  Strategeukollegiums  eine  Änderung  ein- 
getreten sein,  da  ein  durchs  Los  gewählter,  vielleicht  also  militärisch 
ganz  ungeschulter  Polemarch  unmöglich  die  hervorragende  Stellung 
einnehmen  durfte,  in  der  sich  Kallimachos  noch  bei  Marathon  befindet. 
Ob  nun  aber  sofort  die  Änderung  eingetreten  ist,  wie  M.  meint,  daß 
nunmehr  neun  Strategen  aus  den  einzelnen  Phylen,  der  zehnte  als 
Oberstratege  aus  dem  gesamten  Volke  gewählt  ward,  und  ob  es  wirk- 
lich damals  schon  Sitte  gewesen  ist,  daß  der  leitende  Staatsmann  dauernd 
die  Oberstrategie  bekleidete  (so  Themistokles  481/0  und  480/79)  das 
läßt  sich  bei  der  Lückenhaftigkeit  der  Überlieferung  nicht  beweisen, 
doch  bleibt  es  immerhin  wahrscheinlich.  Als  Urheber  der  neuen  Ver- 
fassung wird  man  mit  M.  doch  wohl  Themistokles  betrachten  müssen, 
der  von  da  an  das  Übergewicht  erhält  und  nun  Schlag  auf  Schlag  seine 
Gegner,  Peisistratiden ,  Alkmeoniden  und  Aristides,  den  Leiter  der 
Miltiadespartei,  stürzt,  um  alsdann  483/2  seinen  Flottenplan  durchzu- 
drücken. Der  unglückliche  Verlauf  des  aiginetischen  Krieges  hat 
sicherlich  seine  Anstrengungen  unterstützt,  vor  allem  aber  die  Nachricht 
von  der  Niederwerfung  des  ägyptischen  und  babylonischen  Aufstandes, 
sowie  von  den  neuen  gewaltigen  Vorbereitungen  des  Königs;  ward  doch 
seit  483  schon  am  Athoskanal  gearbeitet,  dessen  Zweck  kein  Geheimnis 
war.  Zugleich  bot  die  Entdeckung  einer  besonders  reichen  Silberader 
im  Laureioubergwerk  die  Möglichkeit,  den  Flottenplan  ohne  besondere 
Anstrengung  der  Staatsfinauzen  durchzuführen.  Daß  freilich  in  der 
Abwehr  der  Perser  sich  die  politischen  Absichten  des  Themistokles 
nicht  erschöpften,  ist  klar,  seine  staatsmäuuischen  Gesichtspunkte 
haben  Meyer  GdA.  III,  3^1  und  in  gleichfalls  selbständiger  Weise 
Munro  S.  301  dargelegt. 

Nach  umfassenden  und  sehr  sorgfältigen  Vorbereitungen  begann 
mit  dem  Frühjahr  480  der  Zug  des  Xerxes,  unzweifelhaft  (Meyer  GdA. 
III,  353)  im  Einverständnis  mit  Karthago,  das  sich  durch  die  Fort- 
schritte von  Gelons  Militärmouarchie  in  seiner  sizilischen  Provinz  be- 
droht sah.  Wie  günstig  außerdem  in  Griechenland  die  Dinge  für  eine 
persische  Invasion  lagen,  ist  bekannt:  ein  großer  Teil  der  griechischen 
Staaten  sympathisierte  insgeheim  oder  offen  mit  dem  herannahenden 
Feinde,  und  daß  auch  dieser  Standpunkt  sich  mit  guten  Gründen  recht- 
fertigen ließ,  hat  Meyer  S.  368  f.  auseinandergesetzt.  Über  die  Größe 
des  persischen  Heeres  besitzen  wir  die  genauen  Angaben  Herodots, 
allein  daß  die  Zahlen  absolut  wertlos  sind,  hat  Delbrück  in  den  „Perser- 
und   Burgunderkriegen"    und    neuerdings    wieder    in    seiner  Geschichte 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte,    (Lenschau.)  193 

der  Kriegskunst  dargetan.     Indessen    geht    er  zn    weit,    wenn   er  nun 
seinerseits    das    Heer    auf   höchstens  70—75  000  Kombattanten  veran- 
schlagt, offenbar  mit  völlige)'  Unterschätzung  des  moralischen  Eindrucks, 
den  der  Sieg  von  Marathon  gemacht  haben  muß.    Wäre  Xerxes'  Heer 
tatsächlich  nicht  größer  gewesen  wie  die  angegebene  Zahl,  so  wäre  die 
Angst  der  Hellenen  psychologisch  unbegreiflich,  40 — 50  000  Mann  konnten 
sie  doch  auch  nach  D.s  niedriger  Schätzung  ins  Feld    stellen  und  Ma- 
rathon  hatte    doch    gezeigt,    daß    auch    einem    numerisch    überlegenen 
Gesamtheer   gegenüber    ein    griechischer  Heerbann    bei    entschlossener 
FühriM.g    immer    noch  Chancen    hatte.     Man    wird    daher    eine    starke 
Überzahl  der  Perser  annehmen  müssen,    auch  Mej-ers  Ausatz,    100  000 
Kombattanten,  halte  ich  eher  noch  für  zu  gering.    Einen  eigentümlichen 
Weg.  auf  dem  er  übrigens  nicht  ohne  Vorgänger    ist,    schlägt    Munro 
S.  297  ein,    um    die  Stärke    des  persischen  Heeres  zu  ermitteln.     Die 
Liste  Herodots  im  7.  Buch  hält  er  für  eine  Aufstellung  der  militärischen 
Leistungsfähigkeit  überhaupt,  nicht  der  wirklichen  Heeresstärke.    Indem 
er  nun  eine  dezimale  Gliederung  des  Heeres  annimmt,  erscheint  es  ihm 
nicht  als  Zufall,    daß  gerade  30  Generale  erwähnt  werden;    gibt  man 
jedem  von  ihnen  eine  Division  von  10  000  Mann,  so  macht  das  300  000 
Mann  ans;    zu   demselben  Ergebnis  ist  auch  Bury  S.  269  offenbar  aus 
ähnlichen  Erwägungen  heraus    gekommen.     Indem    nun  Herodot    diese 
Divisionsgenerale    mit    den    Korpskommandeuren    verwechselte,    die  je 
60  000  Mann  hatten,  gelangte  er  zu  der  unglaublichen  Zahl  von  1,8  Mill. 
Kombattanten,  einschließlich  der  80  000  Reiter  und  20000  Kamelreiter.  — 
Daran  mag  manches  richtig    sein,    insbesondere  scheinen  10  000  Mann 
eine  Art  höherer  Truppeueinheit    bei    den  Persern    gebildet  zu  haben ; 
allein  wie  bei  allen  diesen  Dingen  geht  es  nicht  ohne  Willkürlichkeiten 
ab  (z,  ß.  die  6  Reiterdivisiouen ,    wo   Her.    ausdrücklich    nur   3  nennt 
S.  297),  um  die  Angaben  der  Quelle  mit  dem  Schema  in  Einklang  zu 
bringen.   So  problematisch  indessen  Muuros  Ansätze  im  einzelnen  sind, 
das  Endergebnis,  180  000  Kombattanten,  wird  sich  von  der  wirklichen 
Zahl  nicht  allzuweit  entfernen,  die  vielleicht  zwischen  diesem  und  dem 
Meyerschen  Ansatz  in  der  Mitte  liegt.  —  Ebenfalls  wertlos  sind  Her.s 
Detailangaben  über  die  Flotte.    Die  Gesamtzahl  hat  er  Aschylos'  Persern 
entlehnt  und  diese  dann  nach  Gutdünken  unter  die  einzelnen  Teilnehmer 
verteilt.     Seine  Xaivität    dabei    wird    durch    die    Bemerkungen  Mej^ers 
(Forsch.  II,  231  A.  2)  und  Munros   S.  299    gut    illustriert,    immerhin 
kommen  seine  Angaben  hier  der  Wirklichkeit  bedeutend  näher  als  die 
ganz  imaginären  Zahlen  über  das  Landheer. 

Für  den  Verlauf  des  Feldzugs  und  die  Beurteilung  der  Ereignisse 
ist  es  nun  von  höchster  Wichtigkeit,  den  Kriegsplan  der  Griechen  fest 
im  Ange    zu    behalten,    wie    ihn  Mej^er  zuerst  Forsch,  11,  207  ff,   und 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.   (1904.  III.)  13 


194  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

noch  einmal  kürzer  GdÄ.  III,  372  f.  dargelegt  hat.  Danach  ist  im 
Gegensatz  zu  der  von  Her,  beeinflußten  Vulgata,  der  z.  B.  auch  Bury 
S.  269  ff.  folgt  und  die  das  Verhalten  der  Lakedaimoier  hart  verurteilt, 
dieses  vielmehr  als  eine  Folge  der  geheimen  Verabredung  zwischen  den 
spartanischen  Behörden  und  dem  leitenden  athenischen  Staatsmann  an- 
zusehen, die  von  vornherein  darauf  abzielte,  die  Entscheidung  auf  der 
See  zu  suchen.  Dies  erkannt  zu  haben,  ist  meiner  Ansicht  nach  ein 
Hauptverdienst  Meyers  —  einzelne  gute  Bemerkungen  auch  bei  Munro 
S.  303  — ;  erst  hierdurch  rücken  die  Ereignisse  in  die  rechte  Be- 
leuchtung und  ich  zweifle  nicht,  daß  auch  Delbrück  seine  Ausführungen 
danach  modifiziert  haben  würde  (S.  60  ff".),  wenn  er  Mej'ers  Darstellung 
bereits  gekannt  hätte.  Andrerseits  ist  es  klar,  daß  Xerxes  die  Ent- 
scheidung zu  Lande  suchen  mußte,  wo  seine  Hauptstärke  lag;  die  Flotte 
sollte  ursprünglich  nur  dazu  dienen,  schwierige  Verteidigungsstellungen  zu 
umgehen  und  das  Landheer  in  seinen  Operationen  zu  unterstützen.  Es 
kam  also  für  die  Griechen  alles  darauf  an,  eine  Seeschlacht  herbeizu- 
führen, und  dazu  eignete  sich  allerdings  die  Doppelstellung  Thermo- 
pylen- Artemision  ausgezeichnet;  verlegte  man  dem  König  in  dem  Eng- 
paß den  Weg,  so  war  es  für  ihn  das  einfachste,  die  Stellung  mit  der 
Flotte  zu  umgehen;  bei  diesem  Versuch  sollte  dann  eben  die  griechische 
Flotte  sich  der  persischen  entgegenstellen  und  die  Seeschlacht  erzwingen. 
Es  galt  also  nur,  Xerxes  in  den  Thermopylen  aufzuhalten,  und  dafür 
genügte  allerdings  die  verhältnismäßig  kleine  Truppenmacht,  die  Leonidas 
befehligte;  mehr  einzusetzen,  wäre  Torheit  gewesen.  Hin  zu  opfern, 
lag  gar  nicht  in  der  Absicht  der  Spartaner,  erst  die  eigentümliche  Ver- 
kettung der  Umstände  machte  den  Heldentod  des  Königs  auch  zu  einer 
militärischen  Notwendigkeit. 

Es  ist  nicht  ganz  leicht,  sich  über  den  Vezüauf  der  Doppelschlacht 
Thermopylen -Artemision  klar  zu  werden:  daß  die  beiden  Kämpfe 
gleichzeitig  waren,  sagt  Her.  ausdrücklich  und  ebenso  erfahren  wir  von 
ihm,  daß  die  beiden  Streitkräfte  der  Griechen  miteinander  in  dauern- 
der Verbindung  standen  (8,  21).  Man  wird  daher  grundsätzlich  an- 
nehmen müssen,  daß  die  Ereignisse  auf  den  beiden  Kampfplätzen  sich 
gegenseitig  bedingt  haben,  und  eben  weil  sie  hierauf  nicht  genügend 
Rücksicht  nimmt,  steht  die  Darstellung  bei  Meyer  (GdA.  III,  380)  und 
Delbrück  (S.  60  ff.)  hinter  der  von  Munro  (S.  307  ff.)  zurück,  der 
wenigstens  an  den  Hauptpunkten  den  Zusammenhang  der  Ereignisse 
hervorhebt.  Die  Hauptsache  ist  die  richtige  Verwertung  der  Zeitangaben 
Herodots.  Die  Flotte  war  von  Therma  aus  bereits  11  Tage  unterwegs 
und  lagerte  am  Strande  von  Sepias  (7,138)  als  der  dreitägige  Sturm 
losbrach,  der  ihr  schwere  Verluste  zufügte.  Ohne  ihn  wäre  sie  bereits 
am  12.  Tage  abends  in  Aphetai   eingetroffen,    während    sie   jetzt    erst 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  195 

am  15.  nachmittags  anlangte.  Dazu  stimmt  es  genau,  daß  Xerxes 
bereits  xpiTaio?  7, 196  vor  den  Thermopylen  stand:  offenbar  sollten  Heer 
und  Flotte  in  je  12  Etappen  den  Weg  bis  zu  den  Therniopj^len  und 
Aphetai  zurücklegen,  was  nun  durch  den  Sturm  verhindert  ward.  In- 
zwischen hatte  Xerxes  die  Flotte  erwartet,  da  sie  die  Stellung  der 
Griechen  bei  Artemision  forcieren  und  ihm  auf  diese  Weise  den  Weg 
bahnen  sollte;  deshalb  entsendet  die  Flotte  noch  am  Tage  ihrer  An- 
kunft das  Umgehungsgeschwader  und  läßt  sich  noch  am  Abend  mit  den 
heranfahrenden  Griechen  in  einen  Kampf  ein,  der  denn  freilich  ziemlich 
übel  für  sie  abläuft  (Her.  8,  10—12).  Xerxes  mag  sich  bei  der  Mhe 
seines  Standpunktes  persönlich  davon  überzeugt  haben,  daß  mit  der  arg 
mitgenommenen  Flotte  niclits  zu  machen  sei  und  erst  die  Sturmschäden 
ausgebessert  werden  müßten;  dennoch  ließ  er  noch  einen  Tag,  den 
vierten  seit  seiner  Ankunft,  verstreichen,  offenbar  weil  er  den  Ausgang 
des  Umgehungsmanövers  abwarten  wollte  (Munro  S.  315).  Wann  er 
die  Nachricht  von  der  Vernichtung  der  200  Schiffe  erhalten  hat,  steht 
nicht  fest,  wahrscheinlich  im  Laufe  der  Nacht  vom  vierten  auf  den 
fünften;  vielleicht  fällt  auch  auf  den  4.  Tag  noch  ein  vergeblicher 
Versuch  der  Flotte,  bei  dem  die  kilikischen  Schiffe  verloren  gingen 
(Her,  8,  14).  Jetzt  blieben  dem  König,  wenn  er  rasch  vorwärts  kommen 
wollte,  nur  noch  zwei  Möglichkeiten,  entweder  den  Paß  zu  forcieren 
oder  die  griechische  Stellung  von  Westen  her  zu  umgehen.  Allein  die 
Frontalangriffe  am  5.  Tage  überzeugten  ihn,  daß  die  Forderung 
unmöglich  sei,  und  so  begann  Hydarnes  seine  Umgehungsbewegung 
wolil  schon  im  Laufe  des  6.  Tages,  denn  es  scheint  durch  Munro 
S.  312  ff.  hinlänglich  erwiesen,  daß  die  Zehntausend  nicht  den  von 
Herodot  bezeichneten  Fußpfad  einschlugen,  sondern  einen  längeren  Um- 
weg durch  das  Gebiet  der  Ainianen  machten.  Um  diese  Bewegung  zu 
maskieren,  wurden  die  Frontalangriffe  auch  am  6.  Tage  fortgesetzt, 
ohne  jedoch  so  ernstlich  gemeint  zu  sein,  wie  die  Griechen  dachten 
(Munro  S.  315).  Am  Morgen  des  7.  erscheint  Hydarnes  im  Rücken  der 
Griechen,  und  da  mittlerweile  auch  die  Flotte  mit  ihren  Reparaturen 
zn  Rande  gekommen  ist,  erfolgt  am  7.  Tage  nach  Xerxes'  Ankunft 
zugleich  der  Kampf  im  Passe  und  die  Schlacht  am  Artemision:  abends 
erfährt  die  griechische  Flotte  den  Fall  des  Passes  und  zieht  sich  in 
der  Nacht  darauf  zurück. 

Unter  diesen  Umständen  erscheint  die  Handlungsweise  des 
[Leonidas  in  einem  etwas  anderen  Lichte  als  gewöhnlich.  Ob  er  wirklich, 
wie  Bury  S.  276  meint,  die  Absicht  gehabt  hat,  Hydarnes  im  Passe 
'selber  zu  erdrücken,  erscheint  bei  der  Überzahl  der  Perser  mehr  als 
i  zweifelhaft.  Daß  die  Stellung  nach  der  Umgehung  durch  die  persischen 
Garden  nicht  mehr  zu  halten  war,  mußte  er  wissen;  darum  rettete  er, 

13* 


19G  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte     (Lenscbau.) 

was  noch  zu  retten  war,  und  schickte  die  Bundesgenossen  nach  Hause. 
Er  selbst  hielt  aus,  nicht  dem  Buchstaben,  sondern  dem  Geist  seiner 
Instruktion  getreu,  der  eine  entscheidende  Aktion  der  Flotte  ver- 
langte. Diese  war  noch  nicht  gefallen  und  danach  handelte  er.  Der 
wütende  Ausfall  der  Lakedaimonier,  die  sich  bis  dahin  in  der  Defensive 
gehalten  hatten  —  man  denkt  unwillkürlich  an  den  Angriff  der  Brigade 
Bredow  bei  Vionville  — ,  mußte  bei  Xerxes  den  Glauben  erwecken,  daß 
die  Umgehung  durch  Hydarues  gescheitert  oder  durch  unvorhergesehene 
Umstände  aufgehalten  sei,  und  nun  sandte  er  seinen  Admiralen  den 
drohenden  Befehl  (t6  oltzo  Eeplou  oEifxaivov-rs;  Her.  8,  15),  sofort  anzu- 
greifen. Der  Beginn  der  Schlacht  am  Mittag  läßt  vermuten,  daß  die 
Ordre  erst  im  Laufe  des  Morgens  ankam:  wäre  Leonidas  mit  den 
übrigen  Bundesgenossen  früh  am  Morgen,  gleich  auf  die  Nachricht  von 
Hj'darnes'  Eintreffen  hin  abgezogen,  so  würde  der  persische  Flotten- 
angriff selbstverständlich  unterblieben  sein.  Der  Zweck  des  griechischen 
Feldzugsplanes  war  erreicht,  und  Leonidas  hat  dafür  nicht  zu  teuer 
mit  seinem  Leben  gezahlt:  noch  in  einem  höheren  Sinne,  als  man  ge- 
wöhnlich annimmt,  konnten  die  Gefallenen  von  sich  sagen  xetjxeöa  toi; 
xeivojv  p7^|xa(jt  ueiöoixevot.  Auch  nur  als  Opfertod  für  die  hellenische  Frei- 
heit betrachtet,  war  die  Tat  des  Leonidas  von  unermeßlichem  Wert  — 
das  ist  Delbrück  zuzugeben  (S.  65);  aber  sie  war  weit  mehr:  indem 
der  König  durch  sein  Ausharren  den  letzten  Kampf  am  Artemision  er- 
zwang, hat  er  viel  zum  endlichen  Siege  der  griechischen  Waffen  bei- 
getragen. 

Leider  aber  befindet  sich  nun  in  der  Zeitfolge  der  Ereignisse,  auf 
der  die  vorstehende  Darstellung  beruht,  bei  Her.  ein  schwer  zu  lösender 
Widerspruch.  Der  letzte  Kampf  in  den  Thermopylen  erfolgte  nach  seinen 
Angaben  am  7.  Tage  nach  Xerxes'  Ankunft  vor  dem  Passe,  der  letzte 
Kampf  am  Artemision  aber  am  2.  Tage  nach  der  Ankunft  der 
Flotte,  d.  h.  am  5.  Tage  nach  Xerxes'  Ankunft  vor  Thermopylae; 
dennoch  betont  Her.  8,  15  die  Gleichzeitigkeit  der  Ereignisse  und  läßt 
die  Griechen  erst  abziehen,  als  ihnen  der  Fall  des  Passes  gemeldet  ist 
(8,  21).  Die  meisten  nehmen  an,  daß  der  Fehler  in  den  Zeitangaben 
über  die  Kämpfe  des  Landheers  steckt  (so  Bury  und  mit  einigen  Modi- 
fikationen auch  Munro  S.  307);  nur  Busolt  meint,  daß  in  den  Ope- 
rationen der  Flotte  zwei  Tage  übergangen  sind,  und  dies  erscheint  als 
(las  Richtige;  offenbar  handelt  es  sich  um  die  beiden  Tage,  an  denen 
die  Flotte  in  Aphetai  lag,  am  die  Sturmschäden  auszubessern.  Die  all- 
gemeine Vorstellung,  die  auch  Herodot  hatte,  war  eben  die,  daß  die 
Schlacht  am  Artemision  drei  Tage  hintereinander  gewährt  habe;  das 
stimmt  aber  nur  insofern,  als  tatsächlich  au  drei  Tagen  gekämpft 
worden  ist.     Auch  wir,    wenn    wir  von  der  dreitägigen  Völkerschlacht 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  197 

von  Leipzig  sprechen,  rechnen  meistens  nicht  damit,  daß  der  17.  Ok- 
tober 1813  ein  Sonntag  war,  an  dem  der  Kampf  ruhte.  Chronologisch 
wird  also  gegen  die  vorstehende  Schilderung  der  Doppelschlacht  nicht 
viel  einzuwenden  sein:  im  einzelnen  bleibt  natürlich  manches  unklar, 
auch  nach  der  die  örtlichen  Verhältnisse  genau  berücksichtigenden  Er- 
örterung Munros.  Die  zuerst  von  Bury  gefundene  Erklärung  der  nach- 
kommenden 53  athenischen  Schiffe,  die  in  Wahrheit  gegen  das  üm- 
gehungsgeschw'ader  detachiert  waren,  wird  jetzt  auch  von  Meyer  (GdÄ.. 
S.  370)  angenommen.  Ebenso  halten  alle  Forscher  an  der  Entsendung 
der  200  Schiffe  um  Euböa  herum  fest,  die  denn  freilich  eine  bedenk- 
liche Ähnlichkeit  mit  dem  gleichen  Manöver  bei  Salamis  hat.  Aber 
vielleicht  hofften  die  persischen  Admirale,  die  sich  über  die  mangelnde 
Seetüchtigkeit  ihrer  durch  den  Sturm  beschädigten  Flotte  wohl  keinen 
Täuschungen  hingegeben  haben,  durch  das  Umgehungsmanöver  die 
Griechen  zur  Aufgabe  der  Stellung  zu  bewegen ;  es  ist  daher  gar  nicht 
so  unwahrscheinlich,  wie  Munro  p.  309  meint,  daß  die  Bewegung  sich 
vor  den  Augen  der  Griechen  vollzog.  Auch  Bury,  der  früher  ebenfalls 
der  Ansicht  war,  die  persischen  Schiffe  seien  bereits  bei  Sepias  abge- 
schwenkt, hat  in  seiner  Geschichte  den  Verlauf  jetzt  nach  Herodot  darge- 
stellt (S.  274).  Ob  die  kilikisehen  Schiffe,  die  nachher  in  die  Gewalt 
der  Griechen  fielen,  zu  dem  Umgehungsgeschwader  gehörten,  wie  Munro 
S.  311  will,  läßt  sich  nicht  ausmachen. 

Die  Niederlage  der  Griechen  bei  Arteraision-Thermopylae  hat 
Athens  Schicksal  besiegelt,  jetzt  war  nur  noch  die  Verteidigungs- 
stellung am  Isthmos  möglich,  die  eine  Preisgabe  Athens  erforderte,  und 
daß  die  Athener  und  Themistokles  zu  diesem  Opfer  bereit  waren,  sichert 
ihnen  die  Anerkennung  aller  Zeiten.  Teils  um  die  athenischen  Flücht- 
linge auf  der  Insel  zu  schützen,  teils  um  in  günstigem  Fahrwasser  zu 
schlagen,  wo  die  größere  Zahl  und  die  überlegene  Manövriertüchtigkeit 
der  Perser  nicht  zur  Geltung  kam,  hatte  die  griechische  Flotte  im 
Sund  von  Salamis  Aufstellung  genommen.  Abgesehen  von  Burj-,  der 
noch  im  w^eseutlichen  der  Darstellung  Herodots  folgt,  herrscht  jetzt 
darüber  allgemeine  Übereinstimmung,  daß  Her.  die  Dinge  nicht  nur 
falsch  berichtet,  sondern  auch  tendenziös  entstellt,  was  besonders  in  der 
Schilderung  vom  Verhalten  der  Korinther  und  ihres  Feldherrn  Adeimantos 
hervortritt.  Natürlich  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß  die  Korinther 
tapfer  mitgefochten  haben:  die  ganze  Erzählung  von  ihrer  Flucht  ist 
nichts  weiter  als  böswillige  athenische  Mache,  die  wahrscheinlich,  wie 
Munro  S.  3-29  ausführt,  daher  ihren  Ausgang  nahm,  daß  die  Korinther 
dem  um  Salamis  herumsegelnden  Umgehungsgeschwader  entgegenge- 
sandt waren.  Somit  bleibt  als  einzig  brauchbarer  Bericht  der  eines 
Augenzeugen     des  Aschylos    in    den  Persern;    die  Erzählung  Ephoros- 


198  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Diodors  beruht  nur  auf  einer  allerdings  verständigen  Benutzung  Äschylos^ 
und  Herodots,  hat  aber  manchmal  das  Richtige  getroffen  (Munro  329  f.). 
Danach  waren  die  Griechen  zum  Kampf  bereit;  die  Schwierigkeit  lag 
nur  darin,  die  Perser  zum  Schlagen  zu  bringen.  Wäre  die  persische 
Flotte  direkt  nach  dem  Peloponues  gesegelt,  so  hätten  die  Griechen 
sie  auf  offener  See  angreifen  müssen,  wo  ihre  Chancen  bedeutend  un- 
günstiger lagen.  Es  ist  Themistokles'  Verdienst,  durch  die  bekannte 
Botschaft  an  den  König  die  Schlacht  herbeigeführt  zu  haben;  ihr  Wort- 
laut, wie  ihn  Her.  angibt,  mag  nicht  authentisch  sein,  aber  daß  sie 
noch  mehr  enthalten  und  insbesondere  den  Abfall  Athens  von  der  ge- 
meinsamen Sache  in  Aussicht  gestellt  habe  (Munro  S.  331),  ist  mindestens 
unerweislich.  Auch  so  erscheint  Xerxes'  Entschluß  durchaus  begreif- 
lich. Gewiß  hätte  er  bei  reiflicher  Überlegung  der  VersuchuDg  nicht 
nachgeben  sollen;  wenn  die  Griechenflotte  davonsegelte,  so  konnte  ihm 
das  höchstens  angenehm  sein,  da  jede  andere  Stellung  den  Persern 
größere  Vorteile  bot.  Aber  er  ist  nicht  der  einzige,  der  in  Aussicht 
auf  einen  glänzenden  Erfolg  sich  zu  einer  Schlacht  unter  ungünstigen 
Umständen  hinreißen  ließ:  auch  bei  Austerlitz  lag  die  Sache  so,  daß 
ein  Hinhalten  von  wenig  Tagen  Napoleons  Rückzug  bewirkt  und  alle 
seine  bisherigen  Erfolge  vernichtet  hätte,  allein  Alexanders  I.  Ehrgeiz 
warf  alle  Vernunftgründe  über  den  Haufen  und  stürzte  ihn  ins  Ver- 
derben. Ebenso  mag  auch  Xerxes  in  seiner  Umgebung  auf  warnende 
Stimmen  gestoßen  sein  —  die  Rede  der  Artemisia  8,  68  kennzeichnet 
die  Lage  durchaus  richtig  — ,  aber  der  Entschluß  zur  Schlacht  ging  eben 
von  ihm  allein  aus,  und  auf  diesen  Ei-folg  war  Themistokles'  Botschaft 
mit  feinster  psychologischer  Berechnung  (Meyer  Forsch.  II,  204)  an- 
gelegt. Mit  Salamis  war  dann  der  Feldzug  zunächst  entschieden:  der  König 
hatte  die  Seegeltung  verloren  und  mußte  nun  darauf  denken,  seine 
rückwärtigen  Verbindungen,  vor  allem  lonien  zu  sichern.  (Meyer  GdA. 
o,  394).  Eine  scharfe  Verfolgung  hätte  vielleicht  die  Gesamtmacht 
der  Perser  zum  Rückzug  gebracht,  allein  mit  dem  Antrag  darauf  drang 
Themistokles  nicht  durch.  Die  zweite  Sendung  an  X.  erklären  Bury 
sowohl  wie  Meyer  mit  Recht  für  Erfindung. 

Die  Vorgänge  zwischen  den  Schlachten  von  Salamis  und  Plataiai 
hat  M.  (GdA.  III,  401  ff.)  wesentlich  richtiger  beurteilt  als  seine 
Vorgänger:  daß  Themist.  479  nicht  mehr  an  der  Spitze  der  athenischen 
Politik  steht,  deutet  allerdings  eine  Wendnug  derselben  an.  In  der 
Tat  hatte  sich  die  Lage  völlig  verschoben ,  dadurch,  daß  man  im  Vor- 
jahr nicht  sofort  zum  Flottenaugriff  vorgegangen  war,  was,  wie  gesagt, 
wahrscheinlich  den  Rückzug  des  ganzen  Perserheers  bewirkt  haben 
würde.  Jetzt  drohte  der  Angriff  des  Mardonios,  der  in  erster  Linie 
Athen  treffen  mußte,  und  da  durften  die  Athener  die  Flotte  nicht  aus 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  199 

dor  Hand  geben,  zumal  es  unsicher  war,  ob  Sparta  zur  rechten  Zeit 
im  Felde  erscheinen  würde.  Unter  diesen  Umständen  mußte  Athen  ab- 
lehnen, als  die  Spartaner  im  Frühjahr  479  zur  Wiederaufnahme  des 
themistokleischen  Feldzng-splanes  aufforderten,  und  dies  drückt  sich  auch 
uarin  aus,  daß  Themistokl^s  479  in  den  Hintergrund  tritt.  Nur  möchte 
ich  dies  Zurücktreten  für  ein  freiwilliges  halten:  er  selber  war  in  ge- 
wisser Beziehuug  zum  Festhalten  an  seinem  Plan  von  480  verpflichtet, 
da  die  Spartaner  ebenfalls  ihre  Verpflichtungen  erfüllt  hatten;  um  so 
lieber  mochte  ihm  jetzt  der  Rücktritt  sein,  den  er  unbedenklich  aus- 
lühren  konnte,  da  offenbar  zwischen  ihm  und  Aristides  eine  Verständigung 
stattgefunden  hat:  in  der  nächsten  Zeit  wirken  beide  zusammen  und  es 
.sind  im  wesentlichen  die  Grundlinien  der  themistokleischen  Politik,  auf 
ilenen  auch  Aristeides  vorgeht.  In  der  Benutzung  von  Mardouios'  An- 
trägen zum  Druck  auf  Sparta  kann  man  noch  die  sichere  Hand  des 
Themistokles  erkennen:  sein  scheinbar  unfreiwilliger  Rücktritt  sicherte 
ihm  Spartas  Wohlwollen,  das  ihm  nachher  so  ?ehr  beim  Mauerbau  zu- 
statten kam. 

über  den  Hergang  der  Schlacht  von  Plataiai,  über  die  wir  Her, 
den  einzigen  ausführlichen,  aber  anerkanntermaßen  militärisch  unbrauch- 
baren Bericht  verdanken,  hat  Biuy  S.  289  eine  auf  den  Arbeiten  von 
Grundy  1894  und  Woodhouse  (Journ.  of  Hell.  Studies)  beruhende  und 
in  wesentlichen  Paukten  neue  Ansicht  aufgestellt,  wonach  die  Griechen 
der  angreifende  Teil  sind  und  durch  ihre  Manöver  schließlich  die 
Schlacht  erzwingen.  Die  ursprüngliche  Stellung  der  Griechen  befand 
sich  nach  Bury  am  nördlichen  Abhang  des  Kithäron,  nicht  sehr  weit 
unterhalb  des  Kammes,  und  erstreckte  sich  westwärts  von  den  Pässen 
?o  weit,  daß  der  linke  Flügel  frei  in  die  Ebene  von  Plataiai  hinaus- 
ragte: ihnen  gegenüber  in  der  Asoposebene  lag  Mardonios,  entschlossen 
sich  auf  die  Defensive  zu  beschränken,  nur  daß  er  durch  Reiterangriffe 
den  linken  Flügel  der  Gegner  belästigte.  Allein  Pausauias,  dessen 
Ziel  die  Eroberung  Thebens  und  die  Abdränguug  des  Mardouios  von 
dieser  seiner  Operationsbasis  war,  beschloß,  den  Asopos  westlich  von 
der  persischen  Stellung  zu  kreuzen  und  so  die  große  Heerstraße 
Plataiai — Theben  zu  gewinnen,  wodurch  seines  Gegners  Stellung  un- 
haltbar geworden  wäre.  Er  befahl  daher  in  der  Nacht  den  Abmarsch 
nach  NW.,  hierbei  aber  ward  durch  die  Schuld  der  Athener  die  Asopos- 
brücke  nicht  erreicht,  und  am  Morgen  befand  sich  das  Heer  in  der 
zweiten  Stellung  an  der  Quelle  Gargaphia  und  dem  Androkratesheilig- 
tum.  Sofort  bemerkte  Mard.  die  ungünstige  Lage  des  Gegners  und  be- 
setzte den  Kithäronpaß,  wo  er  noch  einen  Transport  abfing,  so  dal.l 
nunmehr  die  Verpflegung  der  Griechen  sehr  schwierig  ward;  wenig 
später    gelaug    der    persischen    Reiterei    auch    die    Verschattung    der 


200  Jahresbericht  über  giiechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Gargaphia.  Durch  Proviant-  und  Wassermangel  gezwungen,  beschloß 
jezt  Paus,  wieder  zurück  an  den  Abhang  des  Kithäron  zu  gehen,  wo 
wenigstens  Zufuhr  von  Süden  her  übers  Gebirge  gebracht  werden  konnte 
und  die  Quellflüsse  des  Asopos  Wasser  genug  darboten.  Allein  auch 
diesmal  waren  seine  Bewegungen  in  der  Nacht  nicht  schnell  genug  aus- 
geführt worden ;  als  der  Morgen  anbrach,  befand  sich  sein  Heer  noch  in 
aufgelöster  Ordnung  auf  dem  Marsche  südostwärts  nach  dem  Kithäron  zu, 
und  diesen  Augenblick  ersehend,  griff  Mardonios  mit  der  Reiterei  an, 
der  er  das  Fußvolk  folgen  ließ.  So  entwickelt  sich  die  Schlacht,  deren 
weiterer  Verlauf  dann  Her.  zu  entnehmen  ist. 

An  dieser  Darstellung  ist  zunächst  das  eine  richtig,  was  zuerst 
Delbrück  (vgl.  jetzt  Gesch.  d.  Kriegskunst  S.  80  ff.)  betont  hat,  dal.) 
sich  Mardonios  durchaus  in  der  Defensive  hielt:  im  Besitz  vorzüglicher 
Verbindungen  mit  Theben  und  mit  der  reichen  böotischen  Ebene  im  Rücken 
hatte  er  allerdings  nicht  den  geringsten  Grund  zum  Losschlagen,  während 
die  Verpflegung  der  Griechen  von  Süden  her  über  den  Kithairon  von 
vornherein  schwierig  gewesen  sein  muß.  Er  legte  sich  also  aufs  Ab- 
warten und  griff  erst  an,  als  sich  ihm  die  denkbar  günstigste  Gelegen- 
heit bot:  jedenfalls  genügt  die  schwierige  Lage,  in  der  sich  das 
Griechenheer  am  Morgen  der  Schlacht  befand,  vollkommen,  um  ein 
Aufgeben  der  Defensive  seitens  der  Perser  zu  motivieren,  und  es  bedart 
kaum  der  Vermutung  Delbrücks  und  Meyers  (GdA.  III,  410),  nach  der 
Mardonios  durch  das  Vorgehen  der  Flotte  gegen  Kleinasien  wider  seinen 
Willen  in  die  Offensive  gedrängt  sei.  Auch  der  Grund,  den  Olsen 
(S.  6)  für  Mardonios'  Angriff  anführt,  die  Perser  hätten  losschlagen 
müssen,  da  das  griechische  Heer  sich  noch  fortwährend  durch  Zuzug 
vermehrt  habe,  ist  wenig  durchschlagend:  einmal  wußte  M.  sehr  wohl, 
(laß  allzuviel  nicht  mehr  zu  erwarten  war,  und  dann  hatte  er  ja,  wie 
wenigstens  Olsen  zugibt,  immer  noch  eine  bedeutende  numerische  Über- 
legenheit. Allein  gerade  dieser  Punkt  wird  bekanntlich  bestritten: 
Delbrück  hat  sogar  behauptet,  die  Perser  seien  bei  Plataiai  eher  in  der 
Minderzahl  gewesen;  denn  da  sie  nach  dem  Zeugnis  des  Herodot 
Xri^LCLTi  y.al  (>«ujx7)  oux  eAasjovs?  gewesen,  so  seien  bei  numerischer  Über- 
legenheit ihre  Niederlagen  unerklärlich.  Indes  die  Bemerkung  Herodots 
geht,  wie  Olsen  (S.  14)  richtig  gesehen  hat,  auf  die  Perser  allein,  und 
daß  im  Heere  des  Xerxes  viel  minderwertiges  Material  vorhanden  war, 
ist  bei  der  Buntscheckigkeit  seiner  Zusammensetzung  kein  Wunder. 
Für  den  ungünstigen  Ausgang  bei  Plataiai  aber  kommen  neben  der 
für  den  Nahkampf  wenig  geeignete  Bewaffnung  noch  andere  Umstände 
in  Betracht:  der  Verlust  des  tüchtigsten  Reiterführers  und  vor  allem 
der  Tod  des  Obergenerals,  der  gleich  im  Beginn  der  Schlacht  tiel. 
Artabazos,  an  den  das  Kommando  überging,  war  von  vornherein  gegen 


Jabiosbericbt  über  griechiscbe  Geschichte.     (Lenschau.)  201 

die  Schlacht  gewesen;  er  begnügte  sich  jetzt,  den  Kampf  abzubrechen, 
und  zwar  ohne  grülSereu  Verlust,  was  ihm  auch,  wie  allseitig  zuge- 
standen, vollkommen  gelungen  ist. 

Andererseits  werden  auch  durch  Burys  Hypothese  die  Bewegungen 
des  griechischen  Heeres  verständlicher:  an  Stelle  des  planlosen  flin- 
und  Herziehens  bei  Her.  tritt  ein  strategisches  Manöver  mit  bestimmtem 
Grundgedanken,  dessen  Durchführung  denn  freilich  mancherlei  zu 
wünschen  übrigließ.  Übrigens  müssen  bei  den  nächtlichen  Operationen 
und  der  mangelhaften  Lokalkenntnis  vielfach  Verschiebungen  vorge- 
kommen sein,  die  dann  nachher  durch  Stellungswechsel  wieder 
auszugleichen  waren,  und  daraus  ist  dann  die  alberne  Geschichte 
von  dem  zweimaligen  Stellungswechsel  der  Spartaner  im  An- 
gesicht des  Feindes  entstanden ,  die  jetzt  allseitig  als  böswillige 
athenische  Mache  anerkannt  ist.  Immerhin  fragt  es  sich,  was  Pausanias 
bewog,  seine  zuerst  gewählte  Stellung  aufzugeben  und  sich  in  da? 
schwierige  von  Bury  geschilderte  Manöver  einzulassen.  Mej'er  meint,  es 
sei  der  Erfolg  gegen  Masistios  und  die  Aussicht  gewesen,  das  Heer  auf 
dem  niedrigeren  Terrain  besser  entwickeln  zu  können.  Allein  die  dann 
zu  zweit  gewählte  Stellung  würde  auf  Pausanias'  strategisches  Geschick 
kein  günstiges  Licht  werfen,  wie  sie  denn  tatsächlich  zwei  Tage  später 
aufgegeben  werden  mußte.  Entweder  muß  man  also  Pausanias  wirklicli 
aggressive  Tendenz  zuschreiben  wie  Bury,  und  darin  wird  man  sich  gegen- 
über Herodots  Dai Stellung,  die  in  den  allgemeinen  Grundlagen  doch 
wohl  das  Richtige  bewahrt  haben  wird,  schwer  entschließen,  oder  es 
bleibt  nur  die.  Annahme,  daß  Pausanias  wirklich  die  geheime  In- 
struktion hatte,  anzugreifen.  Und  das  wird  begreiflich,  wenn  mau  den 
gleichzeitigen  Gang  des  Seekrieges  in  Betracht  zieht.  Wie  angekettet 
lagen  die  Schiffe  bei  Delos,  offenbar  auf  Anstiften  Athens,  das  die 
Elotte  nicht  aus  der  Hand  geben  durfte,  ehe  nicht  In  Böotien  die  Ent- 
scheidung gefallen  war,  die  Attika  ein  für  allemal  von  der  Gefahr 
der  Invasion  befreite.  Um  endlich  den  Seekrieg  in  Gang  zu  bringen, 
mögen  sich  die  spartanischen  Behörden  zum  entscheidenden  Vorgehen 
am  Kithäron  entschlossen  und  Pausanias  demgemäß  mit  neuen  In- 
struktionen versehen  haben.  Man  sieht,  es  ist  die  Umkehrung  der 
Delbrück-Meyerschen  Vermutung:  nicht  das  Vorgehen  der  Flotte  hat 
die  Entscheidung  in  Boiotien,  sondern  der  Sieg  von  Asopos  hat  die 
Schlacht  am  Mykale  und  die  Befreiung  loniens  herbeigeführt. 

Einzelheiten  aus  dem  Bericht  Herodots  mögen  immerhin  wahr 
sein,  wie  das  V^erhalten  des  Amompharetos  oder  die  Botschaft  König 
Alexandres  L.  die  Bury  S.  295  verwirft,  da  sie  ja  involviert,  daß 
Mardonios  schon  am  Vorabend  den  Entschluß  zur  Schlacht  gefaßt 
haben  mußte  (Lleyer  S,  410),  während  diese  nach  Bury  sich  ganz  von 


202  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

selber  am  Morgen  entwickelt.  Indessen  Ist  es  doch  denkbar,  daß  M. 
die  griechische  Stellung  für  so  erschüttert  hielt,  daß  er  bereits  den  An- 
griff für  den  folgenden  Tag  erwog,  und  dann  sofort  anrückte,  als  er  die 
ungünstige  Lage  der  Griechen  am  Morgen  der  Schlacht  bemerkte.  Sehr 
gut  ist  auch  noch  in  Herodots  Schilderung  Pausanias'  Verhalten  un- 
mittelbar vor  der  Schlacht  zu  erkennen,  das  Meyer  (Forsch.  II,  207)  mit 
Recht  rühmt;  daß  er  die  Opfer  nach  seinen  Zwecken  benutzte,  durfte 
Olsen  (S.  4  f.)  nicht  für  eine  unerhörte  und  deswegen  unglaubliche 
Frivolität  halten:  dergleichen  frommer  Betrug  ist  doch  zu  allen  Zeiten 
von  den  Eegierenden  geübt  worden,  die  der  Religion  freier  gegenüber- 
standen. 

Von  der  Schlacht  am  Mykale  und  dem  Ende  des  Perserzuges  ist 
wenig  Neues  zu  melden,  übrigens  bricht  sich  doch  mehr  und  mehr  die 
Überzeugung  bei  den  Historikern  Bahn,  daß  Sestos  Einnahme  tatsächlich 
der  Schluß  des  Kampfes  ist,  der  also  auch  für  Herodot  den  Schluß  der 
Darstellung  bilden  mußte.  (Meyer  GdA.  III,  416  ff.).  Über  die  sizilischen 
Dinge  sind  wir  nur  in  den  Hauptpunkten  unterrichtet;  den  Schlacht- 
bericht über  den  Kampf  am  Himeras  hat  Bnry  noch  benutzt,  während 
Meyer    ihn    unzweifelhaft   mit  Recht  als  ganz  unglaubwürdig  verwirft. 


Nahezu  auf  allen  Gebieten  des  griechischen  Lebens  hat  der  Aus- 
gang der  Perserkriege  eine  ungeheure  Umwälzung  hervorgerufen:  wie 
sie  zunächst  in  den  geistigen  Kämpfen,  die  sich  im  6.  Jahrhundert  vor- 
bereiteten, die  Entscheidung  gebracht  haben,  das  hat  Meyer  (GdA.  III, 
418  ff.)  eingehend  dargelegt.  Ihr  stellt  sich  die  ökonomische  Umwälzung 
an  die  Seite,  für  die  auch  weiterhin  das  darauf  sich  beziehende  Kapitel 
bei  Beloch  (Gr.  Gesch.  I,  393)  maßgebend  bleibt.  In  politischer  Hin- 
sicht bestand  die  Hauptwirkuug  darin,  daß  infolge  ihrer  Siege  im  Osten 
und  Westen  die  Griechen  die  erste  Nation  der  damaligen  Welt  geworden 
waren:  es  kam  nun  vor  allen  Dingen  darauf  an,  die  so  gewonnene 
Stellung  zu  behaupten,  und  dies  war  nur  möglich,  wenn  es  gelang,  die 
Kräfte  der  griechischen  Nation  unter  einheitlicher  Führung  zusammen- 
zufassen. Allein,  wie  Bury  in  den  von  politischem  Verständnis  ge- 
tragenen Ausführungen  auf  S.  323  auseinandersetzt,  der  Druck  der  aus- 
wärtigen Feinde  war  nicht  andauernd  genug,  um  das  Volk  zu  einer 
politischen  Einheit  zusammenzuschmieden,  und  so  ist  Griechenland  nicht 
über  den  Dualismus  der  beiden  führenden  Mächte  herausgekommen,  w'enn- 
gleich  unzweifelhaft  Tiiemistokles'  Grundgedanke  kein  anderer  gewesen 
ist,  als  jene  Einigung  durch  Zwang  zu  bewirken  und  Athen  an  die 
Spitze  der  Gesamtnation  zu  stellen. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  203 

Unstreitig  aber  hatte  Sparta  durch  seine  bisherige  Suprematie  die 
geschichtlich  besser  begründete  Anwartschaft  auf  die  Führung,  und  das 
scheint  Pausanias  begriffen  zu  haben,  wenn  ihm  auch  die  staatsmännischen 
Fähigkeiten  abgingen,  die  zur  Durchführung  der  Aufgabe  nötig  waren. 
Immerhin  sticht  ei"  in  dieser  Hinsicht  vorteilhaft  von  den  übrigen 
Spartanern  ab.  Allein  der  Hauptgrund,  weshalb  Sparta  in  den  Hinter- 
grund gedrängt  ward,  lag  doch  in  den  inneren  Verhältnissen  des  Staates, 
die  Meyer  vortrefflich  auseinandergesetzt  hat  (GdA.  III,  459  f.).  Es 
war  die  geringe  Anzahl  der  herrschenden  Klasse  und  ihre  Exklusivität, 
die  mangelhafte  Ausnutzung  seines  an  sich  großen  Territoriums,  die 
gänzlich  unzulängliche  Finanzwirtschaft  Spartas,  die  ihm  wohl  erlaubten, 
seine  Stellung  an  der  Spitze  des  peloponnesischen  Bundes  zu  behaupten, 
über  ein  Hinausgreifen  Spartas  über  die  Peloponnes  und  eine  wahrhaft 
gesamthellenische  Politik  unmöglich  machten.  Das  einzige  Mittel,  das 
hier  geholfen  hätte,  wäre  die  Aufnahme  starker  Elemente  aus  der 
untertänigen  Bevölkerung  in  die  herrschende  Kaste  gew'esen,  und  auch 
diese  llöglichkeit  hat  sich  Pausanias'  beweglichem  Geiste  dargeboten, 
als  es  mit  seinen  persischen  Verbindungen  niclit  recht  vorwärts  wollte. 
Allein  die  Masse  der  Bürgerschaft  und  an  ihrer  Spitze  die  Ephoren, 
sahen  offenbar  nicht  den  geringsten  Grund,  an  der  Verfassung  des 
lakedaimonischen  Staates  zu  rütteln,  die  sich  ihrer  Ansicht  nach  in  den 
Perserkriegeu  so  wohl  bewährt  hatte,  und  an  dem  Widerstand,  den  sie 
leisteten,  ist  König  Pausanias  zugrunde  gegangen. 

Anders  Athen,  wo  eben  ein  Staatsmann  ersten  Ranges  an  der 
Spitze  der  Verhältnisse  stand,  der  die  Gunst  der  Lage  klar  durch- 
schaute und  die  geeigneten  Mittel  ohne  Skrupel  anzuwenden  verstand. 
Es  ist  klar,  daß  die  Gründung  des  delisch-attischeu  Seehundes  die  Folge 
von  Themistokies'  Flottenpolitik  war,  die  er  selber  mit  Sicherheit  voraus- 
gesehen hat:  daß  er  die  Ausführung  Aristidcs  überließ,  zeigt  einmal 
das  innige  Einvernehmen  zwischen  beiden  Männern,  das  mehrere  Jahre 
andauerte  (Meyer  S.  481  ff.)  und  andererseits  auch  die  Selbstbescheidung 
des  großen  Mannes,  der  seine  Unliebenswürdigkeit  in  persönlichen  Ver- 
handlungen wohl  gefühlt  haben  mag.  Durch  die  Begründung  des  See- 
bundes wird  Athen  der  Vertreter  des  Einheitsgedaukens,  ebenso  wie 
Sparta  der  Hort  des  Partikularismus,  der  grollend  beiseite  stand. 
Doch  ist  der  feindliche  Gegensatz  nicht  sofort  zutage  getreten:  es  gab 
in  Sp.  eine  Partei,  die  der  Entwickelung  Athens  ruhig  zusah,  ihm  auch 
die  Herrschaft  über  Hellas  gönnte,  sofern  nur  das  spartanische  Bundes- 
gebiet unangetastet  und  die  Ehrenstellung  gewahrt  blieb,  ebenso  wie 
es  umgekehrt  in  Athen  immer  sentimentale  Politiker  vom  Schlage 
Kiraons  gab,  die  ein  einträchtiges  Zusammenwirken  der  beiden  Groß- 
mächte   befürworteten.     Dem    gegenüber    hat  Themistokies    gerade    in 


204  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.^ 

den  Tagen,  in  denen  der  Gedanke  an  die  eben  geschlossene  "Waffen- 
brüderschaft noch  alle  Gemüter  beherrschte,  mit  scharfem  Blick  die 
Unmöglichkeit  erkannt,  eine  endgültige  Auseinandersetzung  zwischen 
den  beiden  Großstaaten  zu  vermeiden.  Sofort  nach  den  Perserkriegen 
wird  seine  Politik  lakonerfeindlich :  wie  beim  Mauerbau  (vgl.  den  Ex- 
kurs: die  Berichte  über  den  themistokleischen  Mauerbau.  Keil,  An.  Arg. 
p.  282  ff.),  so  ist  er  ihnen  in  der  pyläischen  Amphiktionie  entgegen- 
getreten, und  als  er  durch  den  Ostrakisraos  aus  Athen  vertrieben  ward, 
hat  er  noch  von  Arges  aus  für  seine  Vaterstadt  gewirkt,  indem  er  den 
gefährlichen  Aufstand  gegen  Sparta  schürte,  der  damals  in  der  Pelo- 
ponnes  noch  nicht  erloschen  war. 

Die  Organisation  des  Bundes  ist  vor  allem  das  Werk  des 
Aristeides,  dem  als  Feldherr  der  junge  Kimon  zur  Seite  trat,  und  sie 
ist  auf  der  Basis  eines  Gesamtbeitrages  von  460  tal.  von  ihm  unter 
gewissenhafter  Berücksichtigung  der  Leistungsfähigkeit  zur  Zufriedenheit 
aller  geordnet  worden.  Daß  die  Summe  des  Phoros  dieselbe  blieb,  auch 
wenn  die  Zahl  der  Bundesgenossen  sich  vergrößerte,  war  eine  weise 
Maßregel,  die  die  werbende  Kraft  des  Bundes  hinlänglich  erklärt.  Hin- 
gegen sind  wir  über  die  innere  Eutwickelung  in  der  ersten  Zeit  des 
Bundes  nur  mangelhaft  unterrichtet,  und  so  könnte  es  zweifelhaft  er- 
scheinen, ob  die  Anfänge  der  Einheitsbewegung  auf  rechtlichem  Gebiet 
in  eine  so  frühe  Zeit  hineinragen,  wie  Meyer  S.  496  ff.  ausführt.  Immer- 
hin ist  für  ein  großes  Handelsgebiet,  wie  es  der  Band  darstellte,  eine 
gewisse  Übereinstimmung  des  bürgerlichen  Rechtes  eine  Notwendigkeit, 
und  so  werden  wohl  in  der  Tat  die  Staatsverträge  zwischen  Athen  und 
den  Bundesgliedern  über  handelsrechtliche  und  vermögensrechtliche  Be- 
stimmung in  frühe  Zeit  hinaufgehen:  Meyer  verweist  besonders  auf  das 
Psephisma  für  Phaseiis  CIA  11,  11  =  DS^  72),  das  er  mit  Wilhelm  in 
die  Zeit  der  Eurymedoaschlacht  setzt  und  in  welchem  bereits  ein  Ver- 
trag mit  Chios  über  die  Behandlung  von  Schuldvertiägen  (?u}x|i6Xaia) 
erwähnt  wird  (Meyer  499).  Später  jedenfalls  erst  beginnt  die  einheit- 
liche Gestaltung  der  Kapitalgerichtsbarkeit  durch  Einzelverträge  mit 
den  Bundesgliedern,  wovon  noch  manche  Reste  erhalten  sind. 

Die  Chronologie  des  auf  die  Perserkriege  folgenden  Zeitraums 
liegt  bekanntlich  sehr  im  argen:  um  so  wichtiger  ist  daher  jedes  neu- 
gewonnene sichere  Datum,  und  nach  dieser  Richtung  hin  haben  Meyers 
Untersuchungen  über  die  spartanische  Künigsliste  zu  wichtigen  Ergeb- 
nissen geführt  (Forsch.  II,  392  ff.).  Indem  er  den  Grundfehler  in 
Diodors  Eurypontidenliste  aufdeckt,  der  die  Zahlen  durchweg  um  8  Jahre 
zu  hoch  ansetzt,  gewinnt  er  als  sicheres  Datum  die  Absetzung  des 
Laotychidas  469/8,  wodurch  dessen  Feldzug  gegen  Thessalien,  den  Bury 
S.  326  noch  nach  älterer  Weise  auf  476  verlegt,  nunmehr  auf  das  Jahr 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  205 

469  bestimmt  wird.  Zugleich  würde  nach  Plut.  Cim.  16  das  Erdbeben 
465/4  fallen  und  dazu  stimmen  durchaus  dieAngaben  desThuk.  (I,  101  ff.) 
über  den  tliasischen  Aufstand,  der  bekanntlich  mit  dem  Erdbeben  in 
Zusammenhang  entstand  (Meyer,  G.  G.  III,  534);  ebenso  müssen  die 
Bewegungen  im  Peloponnes,  die  Schlachten  von  Tegea  und  Dipaia,  sowie 
der  S^^noikisraos  von  Elis  in  das  Ende  der  siebziger  Jahre  fallen.  Daß 
Sparta  bei  allen  diesen  Kämpfen  von  Athen  gänzlich  unbehelligt  blieb, 
haben  zuerst  Nordin  und  nach  ihm  Mej'er  (S.  518  f.)  dadurch  erklärt, 
daß  Sparta  dafür  um  diese  Zeit  den  Athenern  freie  Hand  gegen  den 
ßegenten  Pausauias  ließ,  dessen  Vertreibung  aus  Byzanz  (etwa  472) 
den  Athenern  den  Besitz  der  Meerenge  nach  dem  Pontos  verschaffte. 
Bis  dahin  hatten  ihn  die  Ephoren  gewähren  lassen,  denen  seine  Fest- 
setzung an  jener  wichtigen  Stelle  keineswegs  unangenehm  war.  Da- 
gegen schritten  (Meyer  S.  516  ff.)  die  Athener  sofort  ein,  als  Sparta 
mit  der  thessaiischen  Expedition  nach  Nordgriechenland  hinübergriff: 
nach  einer  m.  E.  von  Meyer  mit  Unrecht  verworfenen  Notiz  des 
Plutarch  (Them.  20  Meyer  521)  hat  Themistokles  als  Pylagor  Spartas 
Maßregeln  verhindert,  die  seinen  Einfluß  im  Norden  befestigen  sollten. 
Es  ist  der  letzte  Dienst,  den  er  seinem  Vaterlande  erwiesen  hat;  bald 
darauf  ist  er  verbannt  worden. 

Das  Jahr  dieser  Verbannung  ist  allerdings  ungewiß.  Zwar 
darin  stimmen  jetzt  fast  alle  Forscher  überein,  daß  die  bekanntlich 
von  Ad.  Bauer  verteidigte  Angabe  des  Ar.  pol.  Ath.  25,  wonach  Them. 
noch  462/ 1  in  Athen  gewesen  sein  müßte,  vollkommen  wertlos  ist; 
andererseits  ergibt  sich  aus  der  Darstellung  des  Aiscbylos  in  den 
Persern,  daß  Themistokles  noch  471  in  hohem  Ansehen  stand;  er  kann 
also  weder  zwischen  474  und  472  (Swoboda  S.  73)  noch  472  (Bury  S.  334) 
dem  Ostrakismos  zum  Opfer  gefallen  sein.  Was  ihn  gestürzt  hat,  ist 
fraglich:  doch  müssen  die  Erfolge  Kimons  viel  dazu  beigetragen 
haben.  Während  dieser  zur  Fortsetzung  des  Krieges  gegen  Persieu 
drängte,  hat  Them.  unzweifelhaft,  wie  Meyer  S.  511  richtig  gesehen 
hat,  diesen  mit  der  Befreiung  der  Ostgriechen  für  abgeschlossen 
erachtet:  je  mehr  seine  Politik  auf  Sparta  und  den  griechischen  Westen 
ihr  Augenmerk  richtete,  um  so  gleichgültiger  ward  ihm  der  Kampf 
gegen  Persieu,  und  das  hat  ihm  den  Vorwurf  der  Perserfreundlichkeit 
eingetragen,  der  dann  zu  seiner  Verurteilung  wegen  [L-i)o:^ii.6i  geführt 
hat.  Als  Zeitpunkt  der  Vertreibung  nimmt  Meyer  etwa  470  an,  allein 
es  fehlt  ein  äußerer  Anlaß  und  diesen  gewinnt  man  vielleicht,  wenn 
man  um  diese  Zeit  einen  erneuten  Vorstoß  des  Großkönigs  annimmt. 
Daß  die  Verhandlungen  zwischen  diesem  und  Pausanias  so  ganz  ohne 
Erfolg  gewesen  sind,  wird  man  kaum  annehmen  dürfen;  Ende  469 
mögen    die    ersten  Nachrichten  über  große  persische  Flottenrüstungeu 


206  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

nach  Athen  gekommen  sein  und  dieses  hat  nnn  einerseits  in  Sparta 
Pausanias'  Heimberufung  durchgesetzt,  andererseits  zu  Hause  der  Politik 
Kimons,  die  sich  also  doch  als  die  richtige  erwiesen  hatte,  dadurch 
freie  Bahn  geschaffen,  daß  es  seinen  großen  Gegner  ostrakisierte. 
Danach  würden  Pausanias'  Rückkehr  und  Themistokles'  Verbannung 
etwa  gleichzeitig  468  erfolgt  sein.  Pausanias  benutzte  seinen  Aufenthalt 
in  Sparta  zur  Aufwiegelung  der  Heloten;  Themistokles  ging  nach 
Argos  und  suchte  von  hier  aus  die  eben  erst  unterworfenen  pelo- 
ponnesischen  Bundesgenossen  wieder  in  Bewegung  zu  setzen.  Beides 
mißlang.  Paus,  ward  der  Prozeß  gemacht  und  auf  Grund  des  in 
seinen  Papieren  beschlagnahmten  Materials  verlangten  die  Spartaner  in 
Athen  Them.  Verurteilung  wegen  ixYjoia[x6;,  die  denn  auch  erfolgte: 
zugleich  ward  der  persische  Angriff  noch  im  Entstehen  durch  die 
Enrymedonschlacht  vernichtet.  Themistokles'  Flucht  nach  Westen  er- 
klärt M.  unzweifelhaft  zutreffend  daraus,  daß  er  zu  Hieron  wollte, 
dessen  Tod  467  seinen  Plan  vereitelte  (GdA.  III,  522  ff).  Darauf  ging 
er  während  der  Belagerung  von  Naxos  nach  Ephesos  und  bald  darauf 
zum  König,  bei  dem  er  kurz  nach  der  Thronbesteigung  des  Artaxerxes 
465  anlangte.  Wann  Them.  gestorben  ist,  bleibt  unsicher;  über  die 
gewaltsame  Art  seines  Todes  waren  bald  verschiedene  Erzählungen  im 
Umlauf,  die  auch  Thuk.  gekannt  hat  und  deren  Entstehung  Bury  S.  335, 
gestützt  auf  Rhusopoulos  und  Gardner  Class.  ßev.  1898,  zu  erklären 
sucht.  —  Von  der  Eurymedonschlacht  aus,  die  nach  den  vorherigen 
Ausführungen  etwa  noch  468  fallen  würde  (Meyer  467  oder  466),  er- 
gibt sich  dann  das  Weitere.  Indem  der  Angriff  der  Perser  nunmehr 
dauernd  abgeschlagen  erschien,  hatte  der  Bund  nach  Ansicht  vieler 
seinen  Zweck  erfüllt  und  um  so  drückender  ward  seine  Last  empfunden. 
Das  war  die  Stimmung  in  Büudnerkreisen,  die  zum  Abfall  von  Naxos 
(466)  und  Thasos  (465/3,  vgl.  Meyer  GdA.  III,  534)  führte.  Die  von  den 
Thasiern  erbetene  lakedämonische  Hilfe  versagte  im  letzten  Augenblick 
infolge  des  Erdbebens  mit  dem  darauf  folgenden  Helotenaufstand  (464), 
der  dann  zur  Hilfssendung  Athens  und  nach  deren  Abweisung  zu 
Kimons  Sturz  führte  (461). 

Inzwischen  war  in  Athen  durch  Ephialtes  und  Perikles  der  letzte 
Schritt  getan,  der  zur  Ausbildung  der  vollendeten  Demokratie  führte. 
Die  wirtschaftlichen  Gründe,  aus  denen  heraus  diese  letzte  Umwälzung 
vor  sich  ging,  hat  M.  (S.  542  ff.)  in  glänzender  Zusammenfassung  ent- 
wickelt; ebendort  findet  sich  auch  eine  vortreffliche  Schilderung  der 
beiden  Parteien  und  ihrer  politischen  Überzeugungen.  Der  Angriff" 
der  radikalen  Demokratie  begann  mit  dem  Vorstoß  gegen  Kiraon,  der 
Biegreich  von  Thasos  zurückkam  (463);  allein  der  Prozeß  ward  nicht 
ernstlich  geführt,  da  die  Radikalen  die  rechte  Zeit  noch  nicht  für  ge- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  207 

kommen  erachteten.  Erst  das  Ililfsgesuch  von  Sparta  und  die  Absendunj? 
von  4000  Hopliten,  wohl  meistens  Anhängern  der  konservativen  Rieh- 
twüg  Kimons,  macht  die  Bahn  frei:  462/1  wird  der  Areopag  gestürzt 
nud  die  schnöde  Zurückweisnng  zieht  Kimons  Verbannung  nach  sich. 
Sehr  gut  zeigt  M.,  daß  eben  diese  Zurückweisung  es  war,  die  den  Weg 
zu  einer  Verständigung  zwischen  beiden  Parteien  bahnte,  indem  der 
angetane  Schimpf  aucli  die  konservative  Partei  mit  fortriß:  auch 
Äschylos  hat  das  neue  Bündnis  mit  Argos  und  Thessalien  gebilligt 
(Eumeniden  458).  So  vollzieht  sich  nun  460  die  entscheidende  Wendung 
in  dei"  athenischen  Politik:  die  radikale  Demokratie  nimmt  im  Ein- 
verständnis mit  den  Gegnern  den  Krieg  gegen  Sparta  und  zugleich, 
den  Traditionen  von  Kimons  Partei  gemäß,  auch  den  Kampf  gegen 
Persien  auf  (Meyer  582  ff.). 

Der  Verlauf  des  großen  Krieges  steht  im  allgemeinen  fest,  doch 
sind  in  der  chronologischen  Bestimmung  der  Einzelheiten  manche  Fort- 
schritte gemacht.  Die  Besetzung  von  Nanpaktos  setzt  Mej'er  (GdA. 
3,  519)  auf  455  an,  da  nach  Thuk.  1,  103  der  Krieg  10  Jahre  dauerte: 
es  liegt  kein  Grund  vor,  hier  in  Tetaptci)  Irei  zu  ändern,  wie  noch 
Burj"^  annimmt,  der  die  Ansiedlung  der  Messenier  ins  Jahr  460  legt 
(S.  353).  Auch  die  Ansetzung  der  Schlacht  von  Oinoe  nach  Roberts 
Vorgang  auf  460  wird  Beifall  finden,  da  sie  sich  den  bekannten  Er- 
eignissen gut  einfügt.  Dagegen  ist  die  Verlegung  des  Bundesschatzes 
von  Delos  nach  Athen,  die  nach  der  allgemeinen,  auch  von  Meyer  ge- 
teilten Ansicht  454/3  stattfand,  neuerdings  recht  zweifelhaft  geworden. 
Bekanntlich  beruht  der  Ansatz  auf  der  Inschrift  CIA  I,  260,  die 
Koehler  mit   vollständiger  Sicherheit  folgendermaßen  ergänzt  hat:    km 

zr^q  ßouXTJ?,  f,i npuJTo;  l7p]a[jL|Ji,aT£U£v,  ^pys  8i  'Adrjvaiotc  'Apioiicuv 

folgt  Name  der  Hellenotamien  und  ihres  Schreibers  im.  tr^c  -s-cdp-ri; 
xai  Tp[iaxo(jTTJc  «P7/(?  oi  xptaxovxa  ai:£Cprjva]v  -rrjv  aTrapyfjV  t^v  öecöi  (iv5v 
oLTzb  TaXav[Tou.  Aristion,  unter  dem  die  34.  Zahlung  stattfand,  war 
421/0  Archon,  also  haben  die  Zahlungen  454'3  begonnen.  Daraus  schloß 
man  bisher,  daß  damals  der  Schatz  nach  Athen  gebracht  sei  und  die 
Zahlungen  als  eine  Abgabe  an  die  Göttin  für  Aufbewahrung  des 
Schatzes  eingerichtet  seien;  im  Zusammenhang  damit  hat  dann  Meyer 
gezeigt,  daß  damals  nach  Niederwerfung  des  ägyptischen  Aufstandes 
allerdings  Gefahr  vorlag,  daß  eine  persische  Flotte  in  keckem  Hand- 
streich Delos  genommen  hätte.  Nun  aber  hat  Bruno  Keil  kürzlich 
unter  dem  Titel  Anonymus  Argentinensis  ein  Papyrosblatt  herausgegeben, 
auf  dessen  Rückseite  Exzerpte  aus  einer  Geschichte  Athens  stehen, 
deren  Herkunft  bisher  noch  nicht  aufgeklärt  ist  (Vermutungen  darüber 
bei  Keil  181  ff.),  und  unter  diesen  findet  sich  in  §  2  die  zwar  arg 
verstümmelte,    aber    doch  mit  aller  wünschenswerten  Genauigkeit  her- 


208  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

stellbare  Notiz,  daß  unter  Euthyderaos  (450'49)  auf  Antrag  des  Perikles 
die  Bundesversammlung  die  Überführung:  des  Schatzes  beschlossen  habe. 
Allerdings  ist  der  Wert  der  Notiz  einigermaßen  zweifelhaft,  und  stände 
sie  mit  der  Inschrift  in  Widerspruch,  so  würde  man  dieser  den  Vorzug 
geben  müssen-,  allein  beide  lassen  sich  wohl  vereinigen:  454/3  begann 
die  Zahlung  der  Sechzigstel  und  450/49,  als  die  Perser  einen  neuen 
Angriff  planten,  der  dann  durch  die  Seeschlacht  bei  Salamis  vereitelt 
ward,  ist  der  Schatz  nach  Athen  überführt  worden. 

Dieser  Ansatz  findet  nun  scheinbar  eine  Bestätigung  durch   eine 
scharfsinnige  Hj'pothese  Bruno  Keils.     Es  war  schon    manchmal    auf- 
gefallen, daß  in  jenen  Abrechnungen  in  der  Einleitung  dem  Namen  des 
Archonten  ^pyev  6  osiva  stets  'Aör^vaiotj  hinzugefügt  wird,  was  doch  in 
Athen  sehr  überflüssig  war:  dies  erklärt  sich  nun  nach  K.  so,  daß  die 
ersten  jener  Abrechnungen   noch   in  Delos  aufgestellt    waren,    wo    der 
Zusatz  seine  Berechtigung  hatte,    und  daß   die  einmal  gewählte  Form 
des  Einganges  dann  auch  beibehalten  ward,  als  der  Schatz  nach  Athen 
kam.    Allein  mit  Recht  hat  Foucart  gegen  diese  Ansicht  geltend  ge- 
macht, daß  sich  derselbe  Zusatz  'AOrjvaiots  ja  auch  in  den  Baureclinungen 
des  Parthenon  finde,  wo  er  doch  schlechterdings  nicht  ebenso  berechtigt 
sei,    und    hierauf   fußend    schlägt  er  eine   andere  Erklärung  vor.     Er 
meint,  wo  der  Zusatz  'Alirjvaioi;  zu  dem  Archontennamen  in  Urkunden 
stände,   da  bedeute  er  allemal,   daß  an  den  in  der  Urkunde  gegebenen 
Abrechnungen    nicht    bloß    die    Athener    finanziell    interessiert    seien, 
sondern  auch  die  Bundesgenossen,    die   sich  an  dem  Wiederaufbau  der 
von    den  Persern  zerstörten  Tempel  beteiligt  hätten.    Bekanntlich    ist 
die  Forderung  des  Wiederaufbaus  einer  der  Hauptpunkte,  die  Perikles 
456  (über  das  Datum   s.  u.)    auf   dem    panhellenischen  Kongreß  vor- 
brachte,   allerdings    ohne  jeden  Erfolg:    zwei  Jahre  später  fand  er  im 
Bundesrat  mehr  Entgegenkommen,   und  so  haben  tatsächlich  454/3  die 
Bundesgenossen  auf  seine  Anregung  hin    votiert,    daß    ein  Sechzigstel 
der  Tribute  für  diesen  Zweck  Verwendung  finden  sollte;  demgemäß  wäre 
der  Zusatz  'Ai)r,vaiot;   auch  in   den  Eingang  der  auf  den  Propyläenbau 
bezüglichen    Abrechnungen     einzufügen.      Die    Ansicht    Foucavts     hat 
zweifellos  manches  für  sich,    und  ich   halte  es  für  möglich,    daß    auch 
Meyer    sich    ihr    anschließt.     Dieser  hat  allerdings  vorderhand  in  der 
Vorrede  des  4.  Bandes  der  GdA.  Keils  Ansichten  zurückgewiesen  und 
an   der  Überführung  des  Schatzes  im   Jahre   454/3    festgehalten:    daß 
indessen  der  Schluß,  auf  dem  dies  Datum  beruht,  ziemlich  brüchig  ist, 
kann  nach  den  Bemerkungen  von  Keil  S.  127  keinem  Zweifel  unterliegen. 
Auch    in    der    Behandlung    der    Eingangsworte    des    Fragments 
weicht  Foucart    von  Keil    ab.     Nachdem    zunächst    von  dei-  Wahl  der 
Baubeamten   die  Rede  gewesen  ist,    heißt  es  weiter  xal  xov  Ilapösvoiva 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lcnschau.)  200 

}j.jr     £'[T]r,     t    [xaTaj:oXe|X7)8evTcüv    rfiq    xtov   Ikpjtjcov     rjp^avTO     oty.ooojxrjsa'.. 
Keil  faßt  das  [xer'  stt)  i,  wie  das  nächstliegende  ist.  als  von  dem  Zeit- 
punkt   ab    zu    rechnen,    dem    die    vorhergehende  Notiz  über   die  Bau- 
bearaten  angehört,  und  da  nun  der  Anfang  des  Parthenonbaus  auf  447/6 
feststeht,  so  hat  er  es  wahrscheinlich  zu  machen  gesucht,  daß  tatsäch- 
lich zehn  Jahre  früher,  im  Ausclilur)  an  den  panhellenischeu  Kongreß  des 
Perikles    wichtige  Entscheidungen   in   betreff    der  Bebauung   der  Burg- 
flache  gefallen  sind  (S.  78  ff.).     Die  Verzögerung  im  Beginn  des  Baus 
erklärt  er  aus  den  notwendigen  Vorbereitungen  und  den  schweren  Nieder- 
lagen Athens  in  der  zweiten  Hälfte  der  fünfziger  Jahre,  die  Unsummen 
versehlangen;    erst    die   Überführung    des  Schatzes    brachte    die    dafür 
nötigen   Geldmittel  (Keil  S.  116  ff).     Bei    dieser  Auffassung    ist    nun 
allerdings    xaTajzoXEfjLTiöIvTwv   r^0T^  tojv  llspsuüv  ein  ziemlich  überflüssiger 
Zusatz,    der    sich    natürlich    auf   die  Seeschlacht    bei  Cypern    und  den 
Kalliasfrieden  bezieht;    daß  er  sachlich  nicht  richtig  ist,  bildet  keinen 
Anstoß:    wenn    auch  von  einer  y.aTaTioXeixYjjtc  der  Perser  449  nicht  im 
entferntesten    die  Rede    war,    so    hat  in   der    patriotischen  Geschicht- 
Echreibung  doch  der  Abschluß  der  Perserkriege  dafür  gegolten.    Anders 
faßt  Foucart  die  Sache  an,    er  sucht  in  der  Lücke,    die  Keil  mit  den 
Worten  •Ka■:ar.oX^\).r^\}iv-^o^/   xxe    ausfüllt,    die  Angabe  des  Terrains,    von 
dem  die  zehn  Jahre  an  zu  rechnen  sind,   und  da  dafür  natürlich  Keils 
Ergänzung  viel  zu  unbestimmt  ist,    so  schlägt  er  vor,    [xt-"  e-r)  t'  lAsri 
Ty;v   ava-/ü)prjaiv  xcov  Ospsiuv  zu  lesen,    wobei  natürlich  diese  ava/iupr^j'.; 
in  das  Jahr  47 i)  zu  setzen  wäre.    Es  ergäbe  sich  also  aus  den  Worten 
des  Fragments  die  interessante  Tatsache,  daß  bereits  469  mit  dem  Bau 
des  Parthenon  begonnen  worden  ist.    Nur  war  das  eben  nicht  der  peri- 
kleische  Bau,  der  447  6  augefangen  ward,  sondern  ein  anderer,  älterer, 
dessen  Grundmauern  schon  seit  längerer  Zeit  auf  der  Akropolis  aufge- 
df!ckt    sind:    es    sind    die   von  Roß  1835  gefundenen  Fundamente,    die 
lange  Zeit  für  Reste  des  pisistratischen  Hekatompedos  gehalten  wurden. 
Daß    dieser  Bau    zugleich  und  in  organischem  Zusammenhang  mit  der 
südlichen  Burgmauer  geplant  ist,    hat  Keil  S.  84  ff.  erwiesen,  und  da 
<jie  Südmauer,    die  sog.  kimonische  Mauer,  alter  Überlieferung  zufolge, 
aus  der  Beute  der  Eurymedouschlacht  gebaut  ward,  so  stimmt  die  Chro- 
nologie genau.    Möglich  wäi'e  nach  dem  oben  Gesagten  ja  durchaus,  daß 
der  Bauplan  noch  unter  Themistokles'  Mitwirkung  festgesetzt  wäre,  und 
so  hätte  danach  Furtwäiiglers  Bezeichnung  „themistokleischer  Parthenon" 
«twas   tür  sich.     Weshalb  der  ursprüngliche  Plan  später  zugunsten  des 
perikleischen    aufgegeben  ward,    hat  Foucart  ebenfalls  S.   7  ff.  ausein- 
andergesetzt.   —    Eine  Entscheidung    zwischen   den  beiden  Hypothesen 
ist  .zunächst  unmöglich;    was  Foucart  gegen  Keil  vorgebracht  hat,    ist 
ohne  Belang    und    dient    offenbar    nur,    seiner  Hypothese  den  Weg  zu 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.  III.)         14 


210  Jahresbericht  über  griechische    Geschichte.    (Leaschau.) 

bahnen,  die  dann  freilich  auch  annehmbar  erscheint.  Danach  sind  die 
Angaben  des  Anonymus  für  die  Chronologie  kaum  verwendbar,  zumal 
ja  auch  nicht  ausgeschlossen  ist,  daß  hinter  dem  t  noch  ein  weiteres 
Zahlzeichen  stand. 

Endlich  das  Ende  des  großen  Kampfes,  der  Kallias friede  von  449 
und  die  dreißigjährigen  Verträge  von  "446.  Wie  der  sog.  kimonische 
Friede  längst  ins  Gebiet  der  Legende  verwiesen  ist,  so  hat  man  auch 
wohl  die  Existenz  des  Kalliasfriedeus  völlig  bestritten  und  nur  ein  fak- 
tisches Aufhören  des  Kriegszustandes  zwischen  Athen  und  dem  Perser- 
könig zugeben  wollen.  Dennoch  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  ein  Ab- 
kommen in  irgendwelcher  Form  vorhanden  gewesen  sein  muß,  und  daÜ 
es  auch  tatsächlich  durch  Kallias'  Yermittelung  zum  Abschluß  ge- 
kommen ist:  die  Gründe  dafür  hat  Meyer,  Forsch.  II,  471  ff.  noch  ein- 
mal ausführlich  dargelegt.  Freilich  ein  besonderer  Grund ,  das  Ab- 
kommen, das  die  kyprischeu  Städte  dem  König  auslieferte,  als  einen 
hervorragenden  Erfolg  zu  feiern,  war  nicht  vorhanden,  um  so  weniger 
als  in  dem  Kriegszustand  mit  Persien  auch  die  Existenberechtigung  des 
delischen  Bundes  wegfiel.  Daß  man  das  in  bundesgenössischen  Kreisen 
wohl  fühlte,  zeigt  der  Abfall  Euboias,  und  die  Notwendigkeit,  jetzt  vor 
allem  das  Reich  zusammenzuhalten,  nachdem  der  äußere  Druck  weg- 
gefallen war,  hat  Perikles  dann  446  zu  den  dreißigjährigen  Verträgen 
bewogen,  durch  die  endgültig  mit  der  Angriffspolitik  von  461/0  ge- 
brochen und  die  kontinentale  Machtstellung  Athens  aufgegeben  ward. 
Aber  die  erste  Großmacht  zur  See  war  Athen  geblieben,  und  wah)- 
scheinlich  sind  es  gerade  die  Kriegsjabre  gewesen,  die  dem  Handel  Athens 
seine  dominierende  Stellung  durch  Lahmlegung  der  wichtigsten  Kon- 
kurrenten verschafften,  vor  allem  auch  im  Westen,  de}'  bis  dahin  so 
ziemlich  korintldsche  Domäne  gewesen  war.  Wie  günstig  hier  nach 
Zurückdrängung  der  Karthager  durch  Gelou,  nach  dem  Sturz  der  Mili- 
tärmonarchie von  Syrakus  und  der  Niederwerfung  des  Duketios  für  das 
Eingreifen  Athens  lagen,  das  zeigt  die  ausführliche  Schilderung,  die 
Meyer  am  Ende  des  dritten  Bandes  (III,  625  ff.)  von  den  Verhältnissen 
der  Westgriechen  im  5.  Jahrhundert  entworfen  hat. 

Die  beiden  Friedensschlüsse  von  449  und  446  bedeuteten  das  un- 
verhohlene Eingeständnis,  daß  die  Eroberungspolitik  von  461,  mit  der 
die  demokratische  Partei  so  glänzend  begonnen  hatte,  vollständig  ge- 
scheitert sei;  um  so  schwieriger  war  die  Stellung  des  Staatsraaune?, 
der  einst  in  jugendlicher  Tatenlust  der  energischste  Vorkämpfer  jener 
Politik  gewesen  war  und  jetzt,  der  erkannten  Notwendigkeit  folgend, 
mit  fester  Hand  ihre  Liquidation  durchgeführt  hatte.  In  der  Tat  ist 
die  durch  die  Friedensschlüsse  geschaffene  Lage  die  stärkste  Probe  auf 
Perikles'  staatsmännische  Kunst  gewesen,  und  rein  politisch  genommen. 


Jaliresbericlit  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  211 

(las  vvivfl  man  Areyers  Darstelluiii;  dieser  Ilauptperiode  in  Perikles' 
Leben  (OdA.  IV,  1  —  52)  zucreben,  hat  er  die  Probe  glänzend  bestanden. 
Zunächst  galt  es  den  Anspruch  der  Stadt,  nach  außen  hin  die  Gesamt- 
vertreterin der  hellenischen  Nation  zn  sein,  nicht  fallen  zu  lassen,  und 
in  diese  Richtung  seiner  Politik  würde  sich  die  bekannte  Xotiz  über 
Perikles' panhellenischen  Kong-rel.l  (Plut.  Per.  17)  einfüg'en,  den  des- 
halb Meyer  (GdA.  TV,  S.  6)  zwischen  Kalliasfrieden  und  Beg-inn  des 
Parthenonbaus  verlegt,  obwohl  der  Zusammenhang,  in  dem  Plutarch  die 
Sache  erwähnt,  mehr  auf  die  Zeit  von  456  hindeutet.  Nun  mag  es  ja 
sein,  daß  die  historischen  Notizen,  in  die  in  der  Plutarchbiographie  jene 
Erwähnung  eingebettet  ist.  an  sich  wertlos  sind,  und  das  Ereignis  selber 
so  gut  wie  zeitlos  überliefert  ist.  Dennoch  kann  man  bezweifeln,  ob 
die  Zeit  nach  449  für  ein  solches  Unternehmen  wie  den  panhellenischen 
Kongreß  wirklich  geeignet  war.  Wenn  selbst  in  Athen  der  Abschluß 
des  Friedens  einen  derartigen  Sturm  der  Entrüstung  erregte,  daß  ihm 
der  Unterhändler  Kallias  zum  Opfer  fiel  und  in  die  Verbannung  gehen 
mußte,  wie  viel  mehr  mag  man  sich  in  Griechenland  über  den  Ausgang 
des  gi'oßen  Kampfes  skandaliert  haben,  der  sogar  griechische  Gemein- 
wesen dem  Könige  preisgab  und  durch  den  Athen  auf  den  einzigen 
ßuhmestitel,  den  ihm  niemand  streitig  machte,  auf  die  Führung  im 
Kampf  gegen  den  Erbfeind  verzichtete!  Das  war  sicherlich  nicht  die 
für  einen  panhellenischen  Kongreß  günstige  Stimmung.  Das  erkennt 
auch  M.  an,  wenn  er  meint,  Perikles  habe  schwerlich  einen  günstigen 
Ausgang  erwartet,  allein  er  sei  auch  darin  ein  echter  Athener  gewesen, 
dalj  er  derartige  Demonstrationen  geliebt  habe,  in  denen  Athen  selbst 
das  aussprach,  was  der  Neid  der  übrigen  Griechen  ihm  nicht  zubilligen 
wollte.  Mag  sein,  wenn  aber  die  Demonstration  einen  "Wert  haben 
sollte,  so  gehörte  dazu  doch  vor  allem  eine  starke  Beteiligung  von 
Seiten  der  übrigen  Staaten,  und  die  wäre  449  bei  der  allgemeinen  Ver- 
haßtheit  Athens  sicherlich  ausgeblieben.  Viel  günstiger  lagen  die  Dinge 
für  das  Zustandekommen  des  Kongresses  im  Jahre  456,  als  Athen  nach 
dem  glänzenden  Siege  von  Oinophyta  auf  der  Höhe  seiner  Macht  über 
ein  weites  Landaebiet  gebot  und  auch  äußerlich  an  der  Spitze  der 
Nation  stand.  Nicht  einmal  die  Spartaner  vermochten  sich  damals  dem 
Einflüsse  Athens  zu  entziehen,  wenn  sie  auch  den  Erfolg  des  Kongresses 
zu  verhindern  wußten;  447  hätte  sich  kein  Staat  in  Hellas  um  die 
Aufforderung  der  Athener  gekümmert.  —  Dagegen  sieht  M.  mit  vollem 
Eecht  in  der  Besiedelung  von  Thurioi  ein  Stück  jener  panhellenischen 
Politik,  die  zugleich  das  Interesse  Athens  im  Auge  hatte.  Die  Stadt 
sollte  eine  gesamthellenische  Kolonie  sein  und  zugleich  Athens  Stellung 
im  Westen  stärken,  wo  seine  Beziehungen  immer  mächtiger  sich  ent- 
wickelten.    Der  Gedanke    war  großartig:    er  stammte  in  letzter  Linie 

14* 


212  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

von  Themistokles,  dem  Verhaßten,  dessen  Politik  Perikles  doch  lang- 
sam, Stück  für  Stück,  hat  übernehmen  müssen.  Aber  die  Ausführung 
scheiterte  endlich:  ein  Staatsmann  vom  Range  des  Themistokles  ist  Pe- 
rikles eben  nicht  gewesen. 

Geradezu  bewunderungswürdig  dagegen  vom  rein  partei- 
politischen Standpunkt  aus  ist  die  Art,  wie  sich  Perikles  trotz  der  von 
ihm  selbst  herbeigeführten  Niederlage  seiner  eigenen  Politik  von  461 
die  Gunst  der  radikalen  Massen  zu  erhalten  gewußt  bat  (Meyer  GdA. 
IV,  8),  indem  er  das  attische  Bürgerrecht  zu  einem  lukrativen  Geschäft 
zu  machen  verstand.  Zunächst  ist  er  auf  der  mit  dem  Richtersold  einmal 
eingeschlagenen  Bahn  konsequent  weiter  gegangen,  die  Verteilungen  von 
Kleruchenland  kommen  gleichfalls  den  ärmeren  Bürgern  zugute  und 
unmittelbar  mit  den  Friedensschlüssen  setzt  jene  glänzende  Bauperiode 
ein,  die  einer  Unzahl  von  Bürgern  Arbeit  und  lohnenden  Gewinn 
brachte.  In  diesen  Zusammenhang  fügt  M.  mit  Recht  nun  auch  das  früher 
angezweifelte,  jetzt  durch  Aristoteles  sichergestellte  Bastardgesetz 
ein,  das  dazu  bestimmt  w^ar,  den  Bürgern  den  legitimen  Genuß  der  aus 
den  Staatsüberschüssen  gewährten  Emolumente  zu  sichern  und  die 
Illegitimen  auszuschließen,  die  durch  ihre  Menge  den  Anteil  der  Bürger 
verkürzten.  Staatsmäunisch  betrachtet  dagegen  unterliegen  alle  diese 
Maßregeln  den  schwersten  Bedenken;  mit  Recht  weist  M.  darauf  hin. 
daß  hier  die  faule  Stelle  der  perikleischen  Politik  lag,  au  der  das 
attische  Reich  schließlich  zugrunde  gegangen  ist,  und  sehr  passend  zieht 
er  die  großartige  römische  Bürgerrechtspolitik  heran,  die  sich  nicht 
scheute,  selbst  eben  erst  unterwoifene  Feinde  in  den  Bürgerverband 
aufzunehmen.  Wäre  ähnliches  gegenüber  den  Metökeu ,  wie  es 
Kleisthenes  510  gewagt  hatte,  und  den  Bundesgenosssen  geschehen,  so 
wäre  der  Verfall  des  Reiches  abzuwenden  gewesen.  Eben  das  Beispiel 
des  Kleisthenes  und  die  von  der  Not  eingegebenen  Vorschläge  nach  414 
zeigen,  daß  derartige  Gedanken  den  Athenern  nicht  fern  lagen: 
Perikles  hat  sie  nicht  aufgenommen,  weil  sie  seine  Stellung  gefährdet 
haben  würden.  Mag  er  das  auch  nicht  aus  grober  Selbstsucht,  sondern 
aus  dem  Bewußt-ein  heraiis  getan  haben,  daß  niemand  außer  ihm  im- 
stande sei,  den  Staat  durch  die  kommenden  Gefahren  hindurchzusteuern, 
es  bleibt  doch  seine  Schuld,  daß  Athen  bei  dieser  engherzigen  Auffassung 
des  Bürgerrechts  verharrte,  und  so  ist  das  Reich  daran  zugrunde  ge- 
gangen, daß  sein  erfolgreichster  Staatsmann  persönliche  Interessen  über 
die  Sache  gestellt  hat. 

Dagegen  erkannte  Perikles  schon  früh  die  Unvermeidlichkeit  des 
Konflikts  mit  Spaita  und  seine  Vaterstadt  für  den  heraufziehenden 
Kampf  so  zu  stärken,  daß  sie  ihn  siegreich  bestehen  mußte,  das  ist  die 
vornehmste  Sorge    seines    Lebens    geworden.      Aus    dieser    T^berlegung 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Leuschau.)  213 

heraus    hat    er    den  Büudnern    gegenüber    eine    ungemein  zielbewußte 
Politik  eingeschlagen,  die  mit  Benutzung  der  vorhandenen  Ansätze  un- 
weigerlich zur  vollendeten  Ausbildung  des  Reiches,  zur  Umwandlung 
der  Bundesgenossen  in  Untertanen  führen  mußte.    Auch  hier  trieben  ihn 
die  Ereignisse  vorwärts.     Mit  dem  Kalliasfrieden  war   dem   Bunde  der 
Existenzgrund  genommen :  war  kein  Krieg  mehr  mit  Persien,  so  bedurfte 
er  des  Bundes  nicht  mehr  und  der  unmittelbar  folgende    Abfall  Eubüas 
wirft    ein    grelles    Streiflicht    auf    die    damals    unter    den    Bünduern 
herischende   Gärung.     Hier    hat    Perikles    scharf  zugegriifen:    als    das 
Hauptmittel,    wodurch    er  die  athenische  Herrschaft  über  das  Bundes- 
gebiet befestigte,    erkennt  Meyer  die  Kleruchien  in  ihren  beiden  zuerst 
von  Beloch  erkannten  Abarten:    die  einen    wie  Hestiaia,    Samos  u.  u. 
lediglich    aus    athenischen    Bürgern    bestehend  —  nur    in    Amphipolis 
wurden  Bundesgenossen  zugelassen  —  und  den  römischen  Militärkoloniea 
nicht  unähnlich,  die  andern  mehr  im  Charakter  einer  Besatzung,  indem 
ein  Teil    der   bundesgeuüssischen  Feldmark  gegen  teilweiseu  Erlaß  des 
Tributes  annektiert  und  mit  athenischen  Bürgern    besiedelt  ward.     Mit 
ßecht  hat  M.  nach  Busolts  Vorgang    die  plötzlichen  starken  Verände- 
rungen der  Tributzahluugen,  wie  sie  sich  in  den  Listen  finden,  als  ein 
Anzeichen  verwertet,  daß  au  dem  betreffenden  Orte  derartige  Besatzungen 
eingerichtet  wurden  (GdA.  IV,  19  ff.).    Durch  diese  Maßregeln  erhielt 
jiatürlich  die  Herrschaft  Athens  über  das  Bundesgebiet  eine  bedeutende 
Stärkung,  aber  zugleich  lastete  sie  immer  schwerer   auf  den  Büudnern 
und    hier    ist    denn    auch    der  Punkt,    an    dem  die  attische  Opposition 
einsetzte,  au  ihrer  Spitze  Thukydides,  der  Sohn  des  Melesias,  der  jahre- 
lang die  Sache  der  Bünduer  vertrat.    In  eingehender  Untersuchung  hat 
M.  (Forsch.  II,  82  ff.)  es  wahrscheinlich  gemacht,  daß  der  Ostrakismos 
des    Thukj'^dides    der    neuen    Bezirkseiuteiluug    des    Bandes,    die    im 
Jahre  443/2  erfolgte,    unmittelbar    vorausgeht    und  mit  ihr  in  ursäch- 
lichem Zusammenhang  steht.     Mit  der  Bezirkseinteilung  kam  die  Neu- 
organisation des  Reiches  auch  äußerlich  zum  Abschluß ;  sie  blieb  von  da 
ab  bestehen,  nur  daß  wenige  Jahre  nachher  der  karische  und  der  ionische 
Bezirk  zusammengeworfen  wurden.     Die    späteren  Anschlüsse,    die  be- 
sonders durch  Perikles'  poutische  Fahrt  zustande  kamen,  blieben  außer- 
halb   des  Bezirksverbandes    und    erscheinen  deshalb  auch  nicht  in  den 
Tributlisteu,  offenbar  weil  man  für  diese  an  dem  Xormalsatz  des  Aristides 
festhalten  wollte;  hätte  man  neue  Mitglieder  in  den  alten  Verband  auf- 
genommen, so  hätte  bei  den  früheren  Bündnern  eine  entsprechende  Ver- 
rainderuDg  stattfinden  müssen  (Meyer  GdA.  IV,  44).    Über  die  Art  und 
Weise,  wie  man  sich  die  Pestsetzung,  Beitreibung  und  Verrech- 
nung der  Tribute  zu  denken  habe,  hat  W.  B an ni er  in  anschaulicher 
und    größtenteils    durchaus  einleuchtender  Weise    auf  Grund    der  vor- 


214  Jabresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

handenen  Tributlisteu  gehandelt.  Danach  ward  zunächst  für  jeden 
Bezirk  eine  Voreinschätzung  (1)  durch  2  xa/xai  wohl  auf  Grund  der 
vorigen  Hebelisten  veranstaltet,  welche  dann  als  Grundlage  für  die  vom 
Kate  vorzunehmende,  vom  Volk  ev.  abzuändernde  Veranschlagung  (2) 
diente.  Nach  ßekannt^'abe  (3)  dieser  Veranlagung  erfolgte  die  Erledi- 
gung der  Berufungen,  die  beim  Rat  eingebracht,  dem  Volke  vorgelegt 
und  vor  den  Heliastengerichten  entschieden  wurden.  Alsdann  ward  die 
Hebeliste  aufgestellt  (4)  von  der  eine  Abschrift  an  die  Hellenotamieu 
ging.  Nun  begann  die  Vereinnahmung  (5);  über  die  eingegangenen  Be- 
träge ward  Buch  geführt  und  die  Logisten  erhielten  ein  Verzeichnis, 
um  die  Sechzigstel  zu  berechnen;  auch  ward  eine  Ausfallliste  ange- 
fertigt. Hierauf  folgte  die  Berechnung  und  Abführung  der  Sechzigstel 
(G)  und  endlich  die  Beitreibung  der  nicht  gezahlten  Tribute  (7).  Wenn 
auch  im  einzelnen  natürlich  einiges  Hypothetische  mit  unterläuft,  so  ist 
im  ganzen  das  umständliche  Geschäft  der  Tributerhebung  doch  un- 
zweifelhaft in  den  von  Bannier  geschilderten  Formen  vor  sich 
gegangen. 

So  groß  indessen  Perikles'  Verdienste  um  die  Befestigung  des 
Reiches  sind,  noch  höher  ist  vielleicht  die  umfassende  und  geradezu 
organisatorische  Tätigkeit  anzuschlagen,  die  er  auf  finanziellem  Ge- 
biet entfaltete,  um  Athen  die  nötigen  Geldmittel  für  den  bevorstehenden 
Krieg  zu  sichern.  In  ihr  sieht  Meyer  das  eigentlich  Schöpferische  der 
perikleischen  Politik  und  die  Darstellung  derselben,  anknüpfend  an  die 
Besprechung  des  bekannten  Kalliaspsephismas,  für  das  Meyer  gegen 
Beloch  an  der  Kirchhoffschen  Datierung  festhält  (434/3),  erweitert  sich 
zu  einer  Finanzgeschichte  Athens  im  5.  Jahrhundert,  die  einen  großen 
Teil  des  2.  Bandes  der  Forschungen  einnimmt  (11,  88 — 148).  In  den 
Hauptgruudzügen  wird  M.  entschieden  beizustimmen  sein:  daß  sowohl 
die  athenischen  Staatseinnahmen,  die  er  (GdA.  4,  29)  auf  annähernd 
1000  tal.  berechnet,  keine  Überschüsse  ergeben  haben,  ist  ziemlich 
klar  und  ebenso  müssen  die  während  des  Kriegszustandes  auf  600  tal. 
erhöhten  Einnahmen  aus  dem  Bundesgebiet  (vgl.  Keil  S.  117  ff.)  be- 
sonders in  den  unglücklichen  Kriegsjahren  nach  456  völlig  darauf 
gegangen  sein.  Sobald  also  ein  Krieg  in  Hellas  ausbrach,  wäre  der 
Staat  in  einer  schlimmen  Lage  gewesen,  wenn  ihm  nicht  Anleihen  aus 
dem  stattlichen  Schatz  der  Athena  zur  Verfügung  gestanden  hätten, 
und  in  eingehender  Darstellung  hat  Meyer  die  Ansicht  begründet,  daß 
Perikles  prinzipiell  den  Schatz  der  Burggöttin  als  Reservefonds  ange- 
sehen hat,  für  den  die  Festsetzung  einer  oberen  Grenze  eben  durch  das 
Psephisma  des  Kallias  erfolgt  ist.  Nun  ist  es  allerdings  zweifellos,  daß 
in  dem  Beschluß  selbst  die  Gründung  eines  Reichsschatzes  aus  den  zu 
erwartenden  Überschüssen  ins  Auge  gefaßt  wird,  und  daraufliin  hat  be- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  215 

kanutlich  Kirchhoft'  die  gesonderte  Existenz  eines  solchen  für  die  Folge- 
zeit angenommen.  Allein  M.  hat  überzeugend  aiisgeführt,  daß  in  betreff 
des  Reichsschatzes  der  Beschluß  nur  auf  dem  Papier  geblieben  ist, 
indem  der  Beginn  der  kriegerischen  Verwickelungen  im  Jahre  433  den 
Überschüssen,  die  auch  nach  434  aus  den  Bundessteuern  erzielt 
wurden  und  aus  denen  der  Schatz  angesammelt  werden  sollte,  ein  für 
allemal  ein  Ende  bereitete  (Forsch.  II,  114  ff.). 

Im  einzelnen  freilich  lassen  sich  manche  Bedenken  gegen  M.  er- 
heben, wie  denn  seine  Ansicht  über  die  relative  Bedeutungslosigkeit 
der  Kolakreten  im  5.  Jahrhundert  (Forsch.  II,  134  f.)  bereits  in  Keil 
einen  energischen  Gegner  gefunden  hat  (S.  163  ff.),  allein  das  ist  auf 
einem  Gebiete  nicht  zu  vermeiden,  wo  selbst  die  wichtigsten  überlieferten 
Tatsachen  noch  kontrovers  sind.  So  sieht  Beloch  in  den  2012  tal.,  die 
nach  Heliodoros  bei  Harp.  der  Bau  der  Propyläen  gekostet  haben  soll, 
die  Gesamtkosten  aller  Tempelbauten  auf  der  Burg  (Gr.  Gesch.  l,  427 
u.  a.),  während  M.  dem  Wortlaut  gemäß  die  Angabe  nur  auf  die  Pro- 
pyläen bezieht;  es  ist  ja  aber  klar,  daß  danach  alle  Berechnungen  voll- 
kommen verschieden  ausfallen  müssen.  Ferner  spielt  in  Meyers  Berech- 
nungen der  450/49  überführte  Bundesschatz  überhaupt  keine  Rolle, 
offenbar  weil  er  seiner  Ansicht  nach  ganz  geringfügig  gewesen  ist. 
Nun  ist  allerdings  richtig,  daß  die  5000  tal.,  die  der  Anon.  Argent. 
gibt,  viel  zu  hoch  gegriffen  sind;  Keil  selber  hat  wahrscheinlich  gemacht, 
auf  welche  Weise  der  Verfasser  zu  seinem  x\nsatz  gekommen  ist 
(S.  117  ff.).  Allein  Keil  weist  doch  auch  darauf  hin,  daß  450/49  ein 
ziemlich  beträchtlicher  Ivassenbestand  vorhanden  gewesen  sein  muß, 
indem  die  erhöhten  cpopo-.  doch  wohl  aufgespart  wurden  für  eine  neue 
Expedition  gegen  die  Perser,  die  dann  tatsächlich  449  erfolgte,  und 
andererseits,  wenn  der  Schatz  wirklich  nur  einen  ganz  minimalen  Be- 
stand hatte,  wie  M.  meint,  weshalb  war  es  denn  nötig,  ihn  zu  flüchten? 
Dazu  bleibt  es  ja  gerade  bei  Meyers  Ansicht,  wonach  die  Staatsein- 
nahmen auch  im  Frieden  aufgebraucht  wurden,  vollständig  unerklärt, 
woher  die  großen  Überschüsse  kamen,  die  es  den  Athenern  ermöglichten, 
von  446  bis  433  bei  einem  Eingang  von  höchstens  6500  tal.  aus  dem 
Bundesgebiet  nicht  bloß  jene  gewaltige  Bautätigkeit  zu  entwickeln, 
sondern  auch  noch  die  3000  tal.  auf  die  Burg  zu  bringen,  von  denen 
im  Beginn  des  Kalliaspsephismas  gesprochen  wird.  Mag  die  Göttin 
immerhin  einen  großen  Teil  der  Kosten  getragen  haben,  die  Aus- 
schmückung der  Akropolis  muß  Unsummen  verschlungen  haben,  wie  sie 
aus  den  gewöhnlichen  Staats-  und  Reichseinnahmen  niemals  gedeckt 
w'erden  konnten.  Um  so  wahrscheinlicher  ist  es,  daß  eine  ziemlich  be- 
trächtliche Summe  im  Bundesschatz  lag,  die  nunmehr  für  athenische 
Zwecke  Verwendung  fand.    Auch  ist  offenbar  doch  ein  Kausalzusammen- 


216  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

hang  zwisclieu  der  Verlegung'  des  Schatzes  einerseits  und  dem  Beginn 
sowie  dem  ununterbrochenen  Fortgang  der  Bautätigkeit  andererseits, 
und  eben  dahin  deutet  der  schon  im  Altertum  den  Athenern  oft  geaug 
gemachte  Vorwurf,  daß  es  sich  auf  Kosten  der  Bundesgenossen  mit 
Bauten  geschmückt  habe.  Die  beschlußmäßig  abgeführten  Sechzigste!, 
im  Jahr  höchstens  7 — 10  tal.,  können  unmöglich  die  Grundlage  einer 
solchen  Behauptung  abgegeben  haben. 

Soweit  die  allgemeinen  Richtungslinien  der  Perikleischen  Politik: 
das  Bild  des  Mannes  selber  hat  auf  dieser  Grundlage  M.  ia  einzelnen 
Zügen  schärfer  und  richtiger  gezeichnet,  als  das  bisher  möglich  war 
(GdA..  4,  46  ff.).  Er  ist  ihm  nicht  mehr  der  erste  Staatsmann,  den  die 
hellenische  Welt  hervorgebracht  hat:  diese  Stelle  gebührt  dem  Themi- 
stokles,  den  Perikles  im  Anfang  seiner  Laufbahn  heftig  befehdete  und 
auf  dessen  Gedanken  er  doch  zuletzt  wieder  hingedrängt  ward,  sondern 
auch  M.  schließt  sich  Belochs  Ansicht  au,  der  zuerst  das  entscheidende 
Wort  über  Perikles  geprägt;  er  ist  der  große  Parlamentarier,  der  von 
der  inneren  Politik  herkam  und  auf  diesem  Gebiet  zeitlebens  Meister 
geblieben  ist.  In  der  Kunst,  die  Massen  zu  lenken,  steht  er  unerreicht 
da;  wenn  seine  Mittel  dabei  auch  nicht  immer  einwandsfrei  W'aren  — 
sein  Ziel  hat  er  niemals  verfehlt.  Allein  M.  ist  doch  gerecht  genug, 
anzuerkennen,  daß  Per.  sich  allmählich  auch  in  das  Verständnis  der 
großen  Politik  hineingearbeitet  hat;  sein  Bruch  mit  der  von  ihm  selber 
461  empfohlenen  Offensivpolitik,  die  er  als  undurchführbar  erkannt 
hatte,  beweist  das  hinlänglich.  „Auch  P.  ist  ein  anderer,  Größerer 
geworden,  als  er  vom  Parteihaupt  zum  Regenten  emporstieg.  Er  wurde 
freier  und  eben  deshalb  gemäßigter."  Dennoch  bleibt  es  richtig,  daß 
er  die  harten  Realitäten  in  der  äußeren  Politik  nicht  hinlänglich  ge- 
würdigt hat,  wie  die  verfehlte  Gründung  von  Thurioi  beweist.  Schöpfe- 
risch ist  er  eben  nur  in  der  inneren  Politik  und  auf  ihrem  wichtigsten 
Gebiet,  dem  Finanzwesen,  geblieben. 

Au  diese  Darstellung  der  Person  des  Perikles  schließt  sich  bei 
Meyer  eine  umfassende  Darstellung  der  hellenischen  Kultur  im  5.  Jahr- 
hundert überhaupt.  Soweit  uie  materiellen  Grundlagen  dabei  in  Frage 
koniuien,  ist  sie  später  zu  behandeln;  w'as  die  Schilderung  der  geistigen 
Entwickelung  betrifft,  so  muß  ich  mich  mit  Anführung  der  Haupt- 
gedanken und  einiger  besonders  prägnanter  Sätze  begnügen.  Dahin 
gehört  zunächst  der  Gedanke,  daß  nirgendwo  und  nirgendwann  die 
Bildung  so  tief  in  die  breiten  Schichten  des  Volkes  eingedrungen  ist, 
wie  im  perikleischen  Athen  (S.  99  f.).  eine  Bildung  allerdings,  die  sicli 
vorwiegend  mit  künstlerischen  Problemen  befaßte  und  ursprünglich  ebenso 
sehr  die  Ergebnisse  der  Fachwissenschaften  ablehnte,  wie  die  der  Phi- 
losophie, besonders  wo  diese  zu  dem  alten  Götterglauben  in  Gegensatz 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (LenscLau.)  217 

trat.  Die  Weltanschauung,  die  sich  auf  dieser  Grundlage  bei  den  Ge- 
bildeten des  perikleischen  Zeitalters  entwickelte  und  die  er  mit  dem 
Namen  des  empirischen  Kealismus  bezeichnet,  hat  M.  ausführlich  ge- 
schildert (GdA.  4,  121 — 139,  vgl.  auch  den  Aufsatz  über  Herodots  Welt- 
anschauung Forsch.  II,  256  ff.);  ihre  Vertreter  sind  ihm  in  erster  Linie 
Herodot,  Sophokles  und  Perikles  selber.  Allein  stärker  und  stärker 
machte  sich  die  Gegenströmung  geltend:  der  Zweifel  an  den  Göttern, 
die  der  sittlichen  Forderung  nicht  genügten,  der  Zweifel  an  der  Vor- 
trefflichkeit der  herrschenden  Demokratie,  deren  Schäden  zu  deutlich 
hervortraten,  und  endlich  das  Betonen  der  Eiuzelpersönlichkeit,  deren 
überrtvgeuder  Intellekt  die  der  Menge  gezogeneu  Schranken  mißachtet 
und  deren  Beispiel  man  in  einem  Menschen  wie  Alkibiades  vor  Augen 
hatte  (S.  139  ff.).  Der  Vertreter  und  Prophet  dieser  neuen  Ideen  ist 
Euripides,  dessen  Leben  ein  fortwährender  Kampf  gegen  die  alte  Welt- 
anschauung gewesen  ist  und  der  eben  darum  bei  seinen  Lebzeiten  so 
bitterwenig  Anerkennung  gefunden  hat  (S.  149  ff'.). 

Nebenall  dem  her  aber  geht  die  gewaltige  Umwälzung  der  gesamt- 
hellenischen  Kunst,  Literatur  und  Wissenschaft  (GdA.  4,  163  ff.).  An- 
geregt durch  das  gewaltige  politische  p]reiguis  der  Perserkriege  streift 
die  bildende  Kunst  überall  die  starre  Gebundenheit  der  älteren  Kunst- 
weise  und  ringt  sich  von  der  Schöpfung  bewegter  Idealgestalten  all- 
mählich zum  Realismus  durch;  ein  ähnlicher  Vorgang  vollzieht  sich  in 
der  Eutwickeluug  der  Dichtkunst,  in  dem  Entstehen  der  Kunstprosa. 
Infolge  des  überwiegenden  Interesses  aber,  das  Athen  gerade  den  künst- 
lerischen Problemen  entgegenbringt,  spielen  sich  alle  diese  Entwicke- 
lungen  in  Athen  ab;  nur  Argos,  die  zweite  große  Demokratie  Griechen- 
lands, hat  in  der  Plastik  eine  eigene  Kunstblüte  erzeugt.  Anders  die 
Ausbildung  der  exakten  Wissenschaften  und  der  Philosophie,  der  M. 
ebenfalls  ein  Kapitel  gewidmet  hat,  worin  eine  gewisse  Vorliebe  für 
Pj'thagoras  und  die  Eleaten  neben  einer  Unterschätzung  der  leukippisch- 
demokritischen  Atomistik  hervortritt:  beide  sind  fern  von  Athen  im 
Osten  und  Westen  erwachsen  und  seiner  Art  ursprünglich  fremd.  Allein 
indem  an  Stelle  der  ontologischen  und  metaphysischen  Spekulationen 
wesentlich  praktische  Fragen  treten,  vor  allen  Dingen  das  Erziehungs- 
problem, dessen  sich  sofort  die  Sophisten  bemächtigen,  wird  Athen  auch 
in  dieser  Hinsicht  der  Hauptschauplatz  des  Streites  zwischen  alter  und 
neuer  Weltanschauung,  der  schon  in  vollem  Gange  w'ar,  als  am  poli- 
tischen Horizont  drohend  der  Kampf  um  die  Vorherrschaft  in  Hellas 
heraufzog. 


218  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Viertes  Kapitel. 
Der  Kampf  um  die  Vorherrschaft  431 — 338. 

J.  B.  Bury,  a  bistory  of  Greece  p.  390—737. 

H.  Delbrück,  Geschichte  der  Kriegskunst  im  Rahmen  der  polit. 
Geschichte  Bd.  1. 

J.  Kaerst,  Geschichte  des  Hellenismus.    I.  1 — 200.  Leipzig  1901. 

J.  Kromayer,  Antike  Schlachtfelder  in  Griechenland.  Bd.  1. 
Von  Eparainondas  bis  zum  Eingreifen  der  Römer,  8.  1 — 195 
(Mantineia  u.  Chaironeia).    Leipzig  1903. 

Ed.  Meyer,  Geschichte  des  Altertums.    Bd.  4,  273—666.  Bd.  5. 

—  Forschungen  z.  griech.  Geschichte  IL 


0.    Neuhaus,    die    Überlieferung    über    Aspasia    von    Phokäa. 
Rh.  Mus.     N.  F.  56,  272—283. 

W.  Kolbe,    ein    chronologischer  Beitrag    zui'   Vorgeschichte    d. 
peloponnesischeu  Krieges.    Herm.  34,  380—394.     1899. 

E.  Dammauu,  der  Anfang    des  peloponu.  Krieges.     Philol.  58, 
133—147.     1899. 

Edm.  Lange,  noch  einmal  der  Anfang  des  pelop.  Krieges  ibid. 
553—556. 

G.    Busolt,    zur  Aufhebung    der  Verbannung   des    Thukydides. 
Herm.  33,  336—40.     1898. 

—  Aristoteles  oder  Xenophon.  Herm.  33,  71—86.     1898. 

—  zur    Chronologie    des  Peloponnesischeu  Krieges.     Herm.    35, 
573—584.     1900. 

—  zur  Chronologie  Xenophons.  Herm.  33,  661—664.     1898. 

\V.    Di tten berger,    die    Familie    des    Alkibiades.     Herm.    37, 
1—13.     1902. 

Awdry,    a    new  historical    aspect    of  the  Pylos  and  Sphacteria 
incidents.  Jouin  of  Hell.  Stud.  1900  p.  14—20. 

Lenschau,   die  Zeitfolge  der  Ereignisse  von  Ende  Sommer  411 
bis  zur  Arginusenschlacht.    Philol.  Suppl.    Bd.  VIII  30J— 336.    1900. 

V.  V.  Schöffer,    Artikel  oi  oexa  in  Pauly-Wissowas  Realenzykl. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  219 

P.  Füucart,  Atheues  et  Samos  de  405  ä  403.  ßevue  des  etudes 
aucieuues  1.  181-207.     1899. 

Jos.  Mesk,  zum  kypiischen  Kriege.  Wiener  Studien  II,  309 
—  312.     1902. 

H.  Lipsius,  Bemerkungen  zur  Geschichte  des  zweiten  att.  See- 
bundes. Berichte  der  sächs.  Gesellschaft  d.  Wissenschaften  1898. 
S.  146  ff. 

B.  Niese,  Beiträge  zur  Geschichte  Arkadiens.  Herrn.  34,  520 — 
552.     1899. 

H.  Swoboda,  zur  Geschichte  des  Epaminondas.  Rhein.  Mus.  55, 
460—475.     1900. 

Ad.  Hoeck,  die  Söhne  des  Kersebleptes.  Herrn.  33,  626—636. 
1898. 


Über  die  Ursachen  des  großen  Krieges,  dessen  Ausgang  Athens 
Großmachtstelhing  in  der  damaligen  Welt  zwischen  den  Karthagern  im 
Westen  und  dem  Großkönig  im  Osten  für  immer  vernichtete,  hat  es 
bereits  unter  den  Zeitgenossen  zwei  wesentlich  verschiedene  Ansichten 
gegeben,  aus  deren  Vermengung,  wie  Meyer  (Forsch.  II,  296  und 
Exkurs  326  ff.)  dargetan  hat,  alle  Angaben  der  Späteren  abzuleiten 
sind.  Die  eine,  die  für  uns  hauptsächlich  durch  das  Zeugnis  der 
attischen  Komödie  vertreten  wird,  läßt  Perikles  aus  durchaus  persön- 
lichen Motiven  den  Krieg  beginnen:  in  ihr  spielt  das  im  Sommer  432 
gegen  Megara  erlassene  Psephisma  eine  ganz  besondere  Rolle.  Die 
zweite  Auffassung  ist  die  des  Thukydides,  wonach  als  letzter  und 
eigentlicher  Grund  des  Kampfes  die  wachsende  Kriegslust  der  Spartaner 
anzusehen  ist,  die  mit  Besorgnis  das  weitere  Umsichgreifen  Athens 
verfolgen  und  so  von  den  Koriutbern  gedrängt  sich  zum  Kriege  ent- 
&chließen:  die  Verwickelungen  in  Korkyra  und  der  Chalkidike  sind  danach 
nur  der  zufällige  Anlaß  des  Krieges,  der  so  wie  so  unvermeidlich  war, 
und  das  megarische  Psephisma  ist  gar  nur  eine  Episode  aus  der  Vor- 
geschichte, die  bei  der  Aufzählung  der  Gründe  überhaupt  nicht  in 
Frage  kommen  kann.  Derselbe  Gegensatz  beherrscht  auch  die  Dar- 
stellung der  modernen  Historiker :  bekanntlich  hat  Beloch  am  energischsten 
den  Standpunkt  vertreten,  Perikles  habe  den  Krieg  aus  Selbstsucht  ent- 
zündet, um  seine  schwer  gefährdete  Stellung  durch  Ablenkung  der  Un- 
zufriedenheit nach  außen  wieder  zu  sichern.  Daran  ist  zunächst  so  viel 
richtig,  daß  etwa  seit  der  Mitte  der  dreißiger  Jahre  sich  in  Athen  eine 
Mißstimmung  bildete  und  in  einer  Reihe  von  Prozessen  entlud,  die 


220  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

gegen  Leute  aus  Perikles  Umgebung  gerichtet  doch  auf  ihn  allein  ge- 
münzt waren.  Unter  ihnen  nimmt  zeitlich  der  Hechenschaftsprozeß  des 
Pheidias  die  erste  Stelle  ein,  obwohl  auch  er  mit  Beloch  und  Nissen 
nicht  allzulange  vor  dem  Ausbruch  des  großen  Krieges  anzusetzen  ist. 
Denn  wenn  auch  die  Vollendung  der  Parthenosstatue  nach  Philochoros 
ins  Jahr  438/7  fällt,  so  braucht  deswegen  der  Prozeß  noch  nicht  un- 
mittelbar nachher  sich  abgespielt  zu  haben,  wie  Meyer  (Forsch.  II,  301) 
annimmt:  im  Gegenteil,  je  später  der  Prozeß  angestrengt  ward,  um  so 
schwerer  ward  der  Erweis  der  Unschuld  und  um  so  größer  für  den 
Ankläger  die  Aussicht  auf  Erfolg.  Bald  darauf  folgte  der  Prozeß 
gegen  Anaxagoras  und  endlich  einer,  der  Perikles  persönlich  besonders 
nahe  gegangen  sein  muß,  der  gegen  Aspasia. 

•  Über  das  Leben  der  Aspasia  hat  kürzlich  Neuhaus  in  dem  an- 
geführten Aufsatz  gehandelt  und  die  Nachrichten,  die  wir  über  sie  be- 
sitzen, auf  Deinen  zurückgeführt;  über  ihre  Persönlichkeit  wird  man 
der  Natur  der  Sache  nach  schwerlich  jemals  zu  einem  allgemeinen  an- 
erkannten Ergebnis  gelangen.  Gegen  die  bekannten  bitteren  Be- 
merkungen von  Wilamowitz  (Ar.  u.  Athen  II,  99)  hat  Meyer  Berufung 
eingelegt  (Forsch.  I,  55  f.),  aber  nur  kurz  und  das  mit  vollem  Recht, 
denn  alle  diese  Erörterungen  über  den  moralischen  Wert  oder  Unwert 
verstorbener  weiblicher  Personen  erinnern  mehr  oder  weniger  an  den 
berühmten  Streit  über  Friederike  von  Sesenheiui ,  der  vor  einiger  Zeit 
bei  vielen  Freunden  des  Dichters  stille  Heiterkeit  erregte.  In  dem 
einen  aber,  und  das  ist  die  Hauptsache,  hat  Meyer  unbedingt  recht: 
für  Perikles  ist  sie  sehr  viel  gewesen,  der  Prozeß  muß  ihn  aufs  tiefste 
getroffen  haben  und  von  diesem  Standpunkt  aus  erscheint  Belochs  An- 
sicht, daß  Perikles  zum  Kriege  trieb,  um  weiteren  Auseinandersetzungen 
mit  seinen  Gegnern  zu  entgehen,  menschlich  durchaus  begreiflicli. 
Allein  mit  Hecht  macht  M.  gegen  diese  Auffassung  geltend,  daß  sie 
durch  Perikles'  Art  der  Kriegführung  widerlegt  wird:  wollte  Perikles 
seinen  Feinden  das  Maul  stopfen,  so  mußte  er  in  energischem  Drauf- 
losgehen glänzende  Erfolge  zu  erzielen  suchen  und  nicht  jene  Ermattungs- 
strategie anwenden,  wie  sie  Delbrück  treffend  genannt  hat,  die  mit  der 
Vermeidung  großer  Aktionen  und  gelegentlichen  ßückschlägen  un- 
weigerlich verbunden  nur  seinen  Feinden  Wasser  auf  die  Mühle  treiben 
mußte.  In  der  Tat,  „nicht  weil,  sondern  trotzdem  seine  Stellung  er- 
schüttert war,  hat  Perikles  den  Kampf  begonnen"  (Meyer,  Forsch.  II,  302) 
und  also  müssen  es  andere  Gründe  sein,  die  ihn  zu  seinem  Voigeheu 
bewogen  haben. 

Diese  sehen  Nissen  (Hist.  Ztschr.  27)  und  Wilamowitz  (Ar.  u. 
Ath.  II,  101)  darin,  daß  Peiikles  geglaubt  habe,  jetzt  sei  der  rechte 
Augenblick  gekommen,    um  für  Athen  die  Vorherrschaft   in  Hellas  zu 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  221 

erringen:  denn  weun  auch  Nissen  nur  zunächst  von  Megara  als  Kriegs- 
objekt spricht,  so  erkennt  er  infolge  der  strategischen  Wichtigkeit  des 
Ländchens  in  ihm  den  Schlüssel  zu  jener  beherrschenden  Stellung,  die 
Perikles  für  Athen  anstrebte.    Diese  Ansicht  schließt  zunächst  die  An- 
nahme ein,  daß  Perikles  die  Lehren  der  politischen  Vergangenheit  Athens, 
ja  die  Erfahrungen  seiner  eigenen  früheren  Jahre  vergessen  habe.    Un- 
zweifelhaft deutlich  hatte  es  Sparta  gemacht,  sowohl  510  wie  457  und 
447,  daß  es  eine  Hegemonie  Athens  über  Landstaaten  als  einen  Eingriff 
in  sein  Machtgebiet  betrachte,    und  jedesmal  hatte    sich  seine  absolute 
rborlegenheit  im  Landkrieg    gezeigt.     Wenn    also  Perikles  jetzt    noch 
tiumal  den  Krieg  wagen  wollte,  so  mußte  eine  Verschiebung  der  Macht- 
verhältnisse eingetreten  sein,    die  gegründete  Aussicht    auf  Erfolg  bot. 
Das  war    aber  431    nicht  der  Fall:    die  Konsolidierung   des    attischen 
Reichs    und  die    besseren  finanziellen  Grundlagen    ersetzten    kaum    die 
überwiegenden  Machtmittel,  mit  denen  das  Athen  von  461   in  den  Kampf 
gegangen  war,  und  wenn  man  meint,  eben  darin  die  Gunst  des  Augen- 
blicks zu  erblicken,  daß  es  Athen  eben  431  nur  mit  dem  einen  Feinde, 
mit  Sparta,  zu  tun  gehabt  habe,  so  ist  auch  das  ein  Irrtum,  den  man 
Perikles    nicht    zutrauen  darf:    er  wußte    sofort,    daß  ein  Angriff   auf 
Sparta  bei  jeder  für  Athen    ki'itischen  Wendung  die  alte  Konstellation 
von  461,  Athen  gegen  Sparta  und  Persien,  herstellen  mußte  und  darin 
hat  er  sich    ja  auch   nicht    getäuscht.     Die  Entscheidung    brirgt    eben 
auch  hier  der  aus  Thukydides  mit  Sicherheit  sich  ergebende  Kriegsplan : 
ihrem  innersten  Wesen    nach    konnte    die  Ermattungsstrategie    niemals 
große  Erfolge  zu  Laude  erringen,  sondern  höchstens  den  selbständigen 
Bestand  des    attischen  Reiches  schützen.     Das  Beispiel  Englands,    das 
ebenfalls  durch  die    gegen  Napoleon  im    großen  Stile    angewandte  Er- 
mattungsstrategie auf  fünfzig  Jahre  die  Vorherrschaft  gewann,  trifft  nicht 
zu,  weil  die  Bedingungen  andere  sind:  Englands  Stellung  beruhte  damals  und 
beruht  heute  noch  auf  der  Uneinigkeit  der  Kontinentalmächte,  aber  für 
Athen  war  bei  dem  allgemeinen  Haß,  den  seine  Herrschaft  erregte,  auf 
eine  derartige  Eventualität  niemals    zu  hoffen    und  zu  Lande  war  ihm 
schon  Theben  allein  gewachsen,  wie  Bury  mit  Recht  hervorhebt  (S.  400). 
Somit  scheint   doch  Thukydides'  Ansicht    die  richtigere    zu  sein, 
wonach  es  die  wachsende  Besorgnis  Spartas   vor  der  steigenden  Macht 
Athens  und  die  Kriegslust    der  peloponnesischen  Jugend    gewesen  ist, 
die  schließlich  den  Ausbruch   des  Krieges    hervorgerufen    hat.     Allein 
mit  Recht    weist  Meyer  a.  a.  0.  darauf  hin,    daß    nach  Thuk.   eigener 
Darstellung  Athen  den  Höhepunkt  seiner  Macht  etwa  456  erreicht  hat; 
von  da  ab  erfolgen  die  Rückschläge    bis  zu  den  Friedensschlüssen  von 
449  und  446,  in  denen  Perikles,  um  den  Bestand  des  Reiches  zu  retten, 
sich  zur  Aufgabe  der  Expansionspolitik  gezwungen  sieht.     Seitdem  hat. 


222  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

wenigstens  soweit  Thuk.  die  Ereignisse  erzählt,  die  athenische  Macht 
keine  nennenswerte  Ausdehiuing  erfahren,  auch  die  pontische  Fahrt 
des  Perikles  erwähnt  er  nicht,  weil  sie  ihm  zu  unbedeutend  erschien; 
nur  hatte  sich  der  Bestand  des  Reiches  insbesondere  durch  die  kluge 
Finanzpolitik  des  leitenden  Staatsmannes  weiter  befestigt.  Andererseits 
ist  zwar  die  wachsende  Kriegslust  im  Peloponnes  zuzugeben,  aber  dem- 
gegenüber steht  die  Erwägung,  daß  die  spartanischen  Behörden  trotz 
dem  durchaus  militärischen  Charakter  des  Staates  stets  eine  überaus 
vorsichtige  Politik  befolgt  haben,  die  sich  nur  im  äußersten  Notfall  zum 
Kriege  verstand.  Ein  solcher  Fall  aber  trat  nicht  ein,  solange  Athen 
sich  der  Übergriffe  ins  spartanische  Bundesgebiet  enthielt,  und  das  hat 
es  nach  Thuk.  Darstellung  seit  446  wirklich  getan.  Wenn  trotzdem 
Thuk.  gerade  in  Spartas  Furcht  vor  der  wachsenden  Macht  Athens 
den  eigentlich  treibenden  Grund  zum  Kriege  sieht,  so  liegt  das  eben 
daran,  daß  er  den  Krieg  durchaus  als  Ganzes  betrachtet,  und  dem 
athenischen  Staatsmann,  der  nach  17 jähriger  Verbannung  in  seine  ver- 
wüstete und  gederaütigte  Vaterstadt  zurückkam,  mußte  allerdings  der 
ganze  Krieg  als  ein  gewaltiges  Ringen  um  die  Herrschaft  von  Hellas 
vorkommen :  der  Staat,  der  schließlich  obsiegte,  war  es  gewesen,  der 
von  Anfang  an  zum  Kriege  getrieben  hatte,  weil  er  einsah,  daß  die 
Chancen  für  einen  endlichen  Erfolg  günstig  lagen.  Daraus  würde  sich 
dann  ergeben,  daß  bei  Thuk.  die  Auffassung  des  ganzen  Kampfes 
durchaus  von  seinem  Ausgang  beherrscht  wird :  für  Meyer,  und  zweifel- 
los mit  Recht,  einer  der  stärksten  Beweise  dafür,  daß  das  ganze  Werk 
mit  Einschluß  auch  des  ersten  Buches  erst  nach  dem  Frieden  von  404 
niedergeschrieben  ist. 

Aber  ebenso  sicher  ist  es,  daß  wir  nicht  genötigt  sind,  uns  diese 
Auffassung  zu  eigen  zu  machen,  sondern  den  letzten  Grund  für  den 
Ausbruch  des  Krieges  anderswo  zu  suchen  habeo,  und  dies  ist  offenbar 
die  Stelle,  an  welcher  Nisse ns  bekannter  Aufsatz  (Histor.  Ztschr. 
Bd.  27)  ergänzend  eintritt,  der  den  Hauptgrund  des  Krieges  in  den 
westgriechischen  Verhältnissen  und  Korinth  als  die  treibende  Kraft  be- 
trachtet. Bis  in  die  sechziger  Jahre  des  5.  Jahrhunderts  ist  die  korin- 
thische Politik  Athen  durchweg  freundlich  gesinnt:  sie  war  es,  die 
König  Klcomenes  508  in  den  Arm  fiel,  sie  hat  Athen  gegen  den  alten 
Handelsrivalen  Aigina  unterstützt,  und  erst  als  Athen  seinen  Einfluß 
über  Megara,  Mittelgriechenland  und  die  nördliche  Peloponnes  ausdehnte, 
trat  notwendigerweise  eine  Entfremdung  ein,  die  aber  sofort  wieder 
weicht,  als  Athen  446  sich  auf  sein  eigentliches  Machtgebiet,  das 
Ägäische  Meer  und  seine  Nebenmeere,  zurückzieht:  im  saraischen  Krieg 
hat  Korinth  eine  musterhaft  loyale  Haltung  an  den  Tag  gelegt.  Es 
müssen   also    sehr  schwerwiegende  Gründe    gewesen    sein,    die  in    dem 


Jahreaberictt  über  griechisclie  Geschichte.     (Lenschau.)  223 

.lalir/.ehiit    vor    dem  Ausbruch    des  pelopoimesisclien  Krieges    zu  einer 
iundamentalen  Änderung:  in    der  Politik  Korinths    geführt  haben,    und 
diese  sind  in  dem  Vorgehen  Athens  zu  erkennen.     Zurückj^edrRngt  auf 
seine  ursprüngliche  Position    durch    die  Friedensschlüsse    von  449  und 
445  mußte,  Athen  für  das  jeder  Großmacht  innewohnende  Expansions- 
bcdnrfnis  einen  anderen  Ausweg  suchen  und  die  Richtlinien  der  themisto- 
kleischeu  Politik,    auf  die  Perikles  in  seinen  letzten  Jahren  mehr  und 
mehr  hingediängt  ward,  wiesen  nach  Westen,  wo  noch  eine  bedeutende 
I^lachterweiteruug    zu    gewinnen    war.     Eine    ganze  Reihe  von  Spuren, 
daß  Athen  hier  allmählich  festen  Fuß  gefaßt  hat,  sind  von  Nissen  auf- 
gedeckt, wenngleich  seine  Ansicht  von  der  großen  Aktion  des  Jahres  433 
vielleicht  unrichtig  ist,  sofern  sie  wesentlich  darauf  beruht,  daß  zwischen 
der  Ausfahrt  des  ersten  athenischen  Hilfsgeschwaders  Mitte  433  und  der 
Schlacht    von  Sybota,    nach  N.    Mitte  März  432,    mehr    als  9  Monate 
liegen,    in    denen    wir  über  dies  Geschwader    nichts  erfahren.     Nissen 
meint  eben,    dieses    habe  damals    wesentlich    im  Westen    verweilt,    um 
dort  Athens  Stellung    zu    stärken    und    zu    befestigen.     Nnn    ist    aber 
Xissens  Ansatz  der  Schlacht  keineswegs  sicher;  Kolbe  (Herm.  34)  hat 
nachgewiesen,  daß  der  Abfall  von  Potidaia  in  die  erste  Julihälfte  432 
zu  verlegen  ist,  und  da  nunmehr  der  Zwischenraum  zwischen  der  Schlacht 
nach  Nissens  Ansatz  und  dem  Abfall  für  die  Menge  der  sich  drängenden 
Ereignisse  offenbar  zu  kurz  erscheint,  so  ist  er  zu  der  alten  Bestimmung 
der  Schlacht  auf    den  Sept.  433  zurückgekehrt.     Indes    kommt    darauf 
so  viel  nicht  au;  selbst  wenn  jene  von  Nissen  im  Jahre  433/2  im  West- 
meer unternommene  athenische  Aktion    nicht    auf  Wirklichkeit  beruht, 
so    bleibt    auch  ohne    sie    genug  übrig,    um  Athens  Anstrengungen  im 
westlichen  Becken  des  Mittelmeers  zu  erhärten:    schon    die  Gründung 
von  Thurioi  zeigt  deutlich  die  Richtung  an,  in  der  sich  damals  Athens 
Politik    bewegte.     Alle    diese    Bestrebungen    aber    richteten    sich    im 
wesentlichen  gegen  Korinth,  das  das  Fundament  seiner  Handelsstellung 
bedroht    sah,    und  aus    der  Absicht,    Athen  ein  für  alleraal  ein  Paroli 
zu  biegen,    ging  das  korinthische  Unternehmen    gegen  Korkyra  hervor, 
welches    damals    wahrscheinlich,    wie    schon    zwei  Jahrhunderte  früher 
(vgl.  S.  140),  die  Gunst  seiner  Lage  benutzend,  sich  mit  beiden  rivali- 
sierenden Handelsmächten  freundlich  stellen  wollte,     indem  der  Versuch, 
Korkyra  zu  zwingen,  mißlang,  ward  dieses  auf  Athens  Seite  gedrängt: 
allein  noch  zeigt  sich    das   ungemein    vorsichtige  Vorgehen  Athens    in 
dem  defensiven  Charakter  des  Bündnisses  mit  Korkyra  und  der  zögernden 
Art  der  Unterstützung:  seinen  Zweck,  daß  beide  Gegner  sich  schwächen 
sollten,    hat  Athen    gründlich    erreicht.     Mit   dem  Anschluß    der  Insel 
war  Athens  Sieg    im  Westmeer  endgültig  entschieden,    und    nun    trieb 
die  Erbitterung  Korinth  zu  dem  Schritt,  der  eigentlich  schon  den  Kriegs- 


224  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (LenschauO 

fall  bedeutete,  zur  Unterstützung  Poteidaias.  Sofort  antwortete  Perikles 
mit  dem  megarischen  Psephisma:  den  gelegentlichen  Charakter  der 
Maßregel,  die  über  Athens  Entschlossenheit  keinen  Zweifel  lassen 
sollte,  haben  sowohl  Meyer  a.  a.  0.  wie  auch  Bury  (S.  394)  unab- 
hängig voneinander  hervorgehoben.  Jetzt  aber  setzten  die  Korinther 
den  Spartanern  die  Pistole  auf  die  Brust,  und  unter  ihrem  Druck  hat 
der  Vorort  den  Krieg  beschlossen.  So  haben  die  Verhältnisse  des 
Westens  den  Ausbruch  des  archidamischen  Krieges  bewirkt;  das  Auf- 
geben der  Ansprüche  Athens  auf  eine  Stellung  im  Westmeer  brachte 
den  Nikiasfrieden,  die  Wiederaufnahme  dieser  Pläne  im  großen  Stil  415 
hat  auch  den  Krieg  wieder  aufleben  lassen,  und  so  ist  es  eben  dieser 
Versuch  Athens,  seine  Macht  auch  über  das  westliche  Mittelmeerbecken 
auszudehnen,  gewesen,  der  es  zugrunde  gerichtet  hat.  Sizilien  wußte, 
wessen  es  sich  von  Athen  zu  versehen  hatte :  sobald  Korkyra  im  zweiten 
Seebund  wieder  auf  athenische  Seite  trat,  erschienen  auch  Dionysios' 
Flotten  auf  dem  Plan,  um  jeden  Gedanken  an  eine  Erneuerung  der 
Pläne  von  435  und  415  von  vornherein  zu  ersticken  und  noch  Agathokles 
hat  den  Anschluß  Kerkyras  an  eine  andere  Großmacht  verhindert. 
Wo  aber  bleibt  dann  Thukydides?  Es  ist  klar,  daß  sein  Werk 
lür  die  eben  entwickelte  Auffassung  keinen  Raum  läßt,  und  Nissen  hat 
meines  Erachtens  schon  sehr  richtig  den  Grund  erkannt,  weshalb  sich  der 
Geschichtschreiber  in  den  sizilischen  Dingen  solche  Zurückhaltung  auf- 
erlegt. Unmittelbar  nach  der  Befreiung  Athens  403  traten  Verhält- 
nisse ein,  die  eine  Annäherung  zwischen  Athen  und  Korinth  samt 
Dionysios  I.  bewirkten;  es  ist  die  Zeit,  die  dem  korintliischen  Kriege 
unmittelbar  vorhergeht.  Damals,  wo  man  in  Athen  ein  Bündnis  mit  dem 
Herrscher  Siziliens  brennend  ersehnte,  kam  alles  darauf  an,  jeden  Anstoß 
gegenüber  den  neuen  Freunden  zu  vermeiden,  und  das  hat  Thukydides 
getan:  jenen  ersten  Versuch  in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren 
Athens  Herrschaft  über  den  Westen  auszudehnen,  hat  er,  soweit  es 
möglich  war,  mit  Stillschweigen  übergangen;  den  zweiten  von  415  hat 
er  mit  seiner  großen  Kunst  zur  Peripetie  des  ganzen  Krieges  gemacht, 
die  Athens  Verderben  herbeiführte.  So  liegt  denn  der  letzte  Grund  — 
darin  kann  ich  Meyer  beipflichten  —  im  Dualismus  der  beiden  helle- 
nischen Großmächte,  deren  Gebiete  zwischen  Land  und  See  sich  nicht 
reinlich  scheiden  ließen;  die  Doppelstellung  Koriuths  als  Handels-  und 
Seemacht  des  peloponnesischen  Bundes  hat  zuletzt  doch  den  Kampf  un- 
vermeidlich gemacht.  Und  auch  mir  bleibt  schließlich  Thukydides'  An- 
sicht die  richtige,  aber  in  anderem  Sinne,  wie  Meyer  S.  326  meint: 
Athens  Macht  ist  in  der  Tat  noch  nach  446  gewachsen,  eben  durch  seine 
Erfolge  im  Westen,  und  dadurch,  daß  er  dies  zum  Motiv  des  Krieges 
macht,  erweist  sich  Thukvdides  als  der  unbestochene  Geschichtschreiber. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  225 

der  sein  Urteil  nicht  trüben  läßt;  allein  in  seiner  Darstellung  hat  er 
die  Ereignisse  des  "Westens,  in  denen  auch  er  den  Keim  des  Krieges 
erkannte,  mehr  zurückgedrängt,  wenn  er  auch  nichts  verschwiegen  hat, 
(Meyer  a.  a.  0.)  und  sie  nur  als  Anlaß  hingestellt  —  das  war  die 
Rücksicht,  die  er  auf  die  Lage  nehmen  zu  müssen  glaubte,  in  der  sich 
seine  gedemütigte  Vaterstadt  von  403 — 394  befand. 

Mit  dem  Einfall  der  Thebaner  in  Plataiai  beginnt  der  große 
Krieg,    wie  Thuk.  schreibt  (2,  1,  2),    zwei    Monate    vor    Ablauf   des 
Archontats    von    Pythodoros,    allein    seine    sonstigen    Angaben    lassen 
darüber  keinen  Zweifel,  daß  die  Zahl  im  Text  verderbt  ist.    Mau  pflegt 
seit  Krüger  ^'  für  ouo  zu  lesen,  und  da  der  1.  Hekatombaion  431  mit 
dem   1.  August  unserer  Zeitrechnung  zusammenfällt,    so  würde  danach 
der  Einfall    der  Thebaner    auf  Anfang  April    anzusetzen    sein.     Aber 
zunächst  fragt  es  sich,  ob  Thuk.  in  diesem  Ereignis  wirklich  den  An- 
fang des  großen  Krieges  gesehen  hat,  was  Dam  mann  in  der  genannten 
Abhandlung  bezweifelt.    Er  geht  davon  aus,  daß  das  ap-/£rat  o  6  ttoXeixo; 
in  II,  1.  1.  nicht  bedeute  incipit  bellum,  sondern  bellum  describi  incipitur, 
und  nachdem  es  ihm  gelungen   ist,    diese    von  Ullrich  und  Steup  ver- 
tretene Eiklärung  als  richtig  zu  erweisen,    sucht    er    nun   weiter  dar- 
zutuD,  daß  nach  der  Auffassung  des  Thuk.  trotz  des  thebanischen  An- 
griffs der  Friede  noch  nicht  gebrochen  sei :    erst    mit  dem  Einfall  der 
Peloponnesier    beginne    der  wirkliche   Kriegszustand.     Hiergegen    aber 
hat   sofort  Edmund  Lange  a.  a.  O.  ein  schwerwiegendes  Bedenken  er- 
hoben.    Nach    der    genauen   Angabe    des  Thuk.  ward  der  Nikiasfriede 
gleich    nach    den    großen    Dionysien    (8 — 13  Elapheboliou  421),    d.  h. 
Anfang  April  abgeschlossen;  da  nun  der  Einfall,  der  nach  D.  für  Thuk. 
den  Anfang  des  Krieges  bildet,  axfia^ov-o;  toü  jitou  stattfand,  d.  h.  also 
Mitte    Mai    nach    der    gewöhnlichen    Annahme,    so    hätte    der    Krieg 
10  Jahre  weniger  IV2  Monate  und  nicht,    wie  Thuk.  au  dieser  Stelle 
V,  20,  1  ausdrücklich  angibt,  10  volle  Jahre  und  wenige  Tage  gedauert. 
Es  bleibt    also    dabei,    daß   der  Einfall  der  Thebaner  tatsächlich  auch 
für  Thuk.  den  Anfang  des  Krieges  bildet,  und  es  gilt  nun,  diesen  Zeit- 
punkt näher  zu  bestimmen.    Zwei  Neumonde  kommen  hier  in  Betracht, 
der  eine  Anfang  März,  der  andere  Anfang  April,  und  da  nun  der  Ein- 
fall des  peloponuesischen  Heeres  80  Tage  nach  der  Überrumpelung  von 
Plataiai  axfxa^ovTo;  xoü  öipouc  xal  toü  cjirou,  d.  h.  nach  der  gewöhnlichen 
Annahme,  die  mit  den  jetzigen  Verhältnissen  übereinstimmt,  Mitte  Mai 
stattfand,  so  haben  sich  sowohl  Lange  wie  Meyer  (Forsch.  IL  360  A.  2) 
für  Anfang  März  entschieden:    allerdings    muß   dann  II,  1,  2,    wie  M. 
richtig  hervorhebt,    öuo    nicht    in  xesaaps;,    sondern  in  tlevts  geändert 
werden.    Anders  Busolt  (Herm.  35),  der  die  Grundlagen  der  oben  ge- 
gebenen Berechnung   in  Zweifel    zieht    und    den  Beginn   der  Ernte  im 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.   III.)        15 


226  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

Altertum  bedeutend  später  ansetzt  als  im  heutigen  Griechenland.  Zu- 
nächst ergeben  die  normalen,  gregorianischen  Daten  eine  Differenz  von 
9  Tagen,  dazu  kommen  2  Tage  Verspätung  infolge  Verschiebung  d?r 
Sonnennähe,  endlich  ist  die  Entwaldung  des  Landes  in  Betracht  zu 
ziehen,  unter  deren  Einfluß  sich  z.  B.  in  Italien  die  Weizenernte  um 
einen  ganzen  Monat  gegen  das  Altertum  verfrüht  hat.  Alles  dies 
deutet  nach  ßusolt  darauf  hin,  daß  der  gewöhnliche  Beginn  der  Ernte, 
der  mit  ay.|xa^ov-:oc  xoy  sitou  bezeichnet  wird,  im  Altertum  in  die  Mitte 
Juni  fiel,  wozu  auch  der  Ausdruck  axixa^ovToc  toü  st-ou  xal  tou  öioo'j? 
besser  stimmt.  Dann  aber  kann  für  den  Überfall  Plataias  nur  der 
Neumond  vom  3/4.  oder  4/5.  April,  nicht  der  vom  5/6.  oder  6/7.  März 
in  Betracht  kommen,  und  in  der  Tat  gelingt  es  B.,  eine  ganze  Reihe 
von  Stellen  geltend  zu  machen,  an  denen  der  beim  Überfall  Plataias 
zur  Zeitbestimmung  gebrauchte  Ausdruck  ajxa  ^p-,  ap/oasviu  von  Thuk. 
auf  die  Zeit  von  Mitte  März  bis  Anfang  April  bezogen  wird.  Das  Ge- 
wicht der  von  Bnsolt  beigebrachten  Gründe  wird  mau  nicht  verkennen, 
doch  liegt  die  Sache  wohl  so,  daß  sie  sich  mit  den  bisher  uns  zur 
Verfügung  stehenden  Mitteln  nicht  mehr  ins  reine  bringen  läßt. 

Die  ersten  Jahre  des  peloponnesischen  Krieges  sind  arm  au 
äußeren  Ereignissen,  und  diese  schleppende  Art  der  Kriegführung  ist 
von  neueren  Kritikern  öfter  dem  Perikles  vorgeworfen :  sie  meinen, 
ein  energischeres  Vorgehen  würde  bessere  Erfolge  erzielt  haben.  Allein 
diese  Ansicht  beruht,  wie  M.  mit  Recht  ausführt,  auf  einer  volligen 
Verkennung  der  Machtmittel  Athens  wie  des  peri:deischen  Kriegsplans, 
dessen  Ermattungsstrategie  eben  auf  die  für  einen  Angriffskrieg  im 
großen  Stil  unzulänglichen  Kräfte  Athens  berechnet  war.  Dazu  kam 
bald  die  Lähmung  der  athenischen  Macht  durch  die  Pest,  die,  entweder 
aus  dem  Osten  (Meyer  IV,  315)  oder  von  Karthago  her  (Bury  S.  407) 
eingeschleppt,  die  Blüte  Athens  knickte  und  endlich  auch  den  leitenden 
Staatsmann  dahinraffte.  Perikles' Tod  war  vor  allem  deshalb  ein  Un- 
glück, weil  sein  ganzes  politisches  System  auf  dem  t^bergewicht  des 
leitenden  Staatsmannes  beruhte:  ein  Ersatzmann  für  ihn  war  aber  nicht 
vorhanden,  denn  Alkibiades,  den  er  offenbar  als  seinen  Nachfolger  ge- 
dacht hat,  hatte  eben  damals  das  zwanzigste  Jahr  überschritten  (Meyer 
4,  324  ff.,  vgl.  auch  den  Aufsatz  von  Dittenberger  im  Herm.  1903  S,  1). 
Die  schlimmste  Folge  davon  war,  wie  Meyer  und  Bury  übereinstimmend 
hervorheben,  daß  Leitung  des  Staates  und  Führung  des  Krieges  nicht 
mehr  in  einer  Hand  lagen,  indem  jene  den  Demagogen,  diese  den  Feld- 
herren zufiel,  und  um  das  Verhältnis  beider  zu  kennzeichnen,  weist  M. 
mit  Recht  auf  die  unzähligen  Rechenschaftsprozesse  der  Feldherren  hin, 
die  so  manchem  Gut  und  Blut  gekostet  haben  (379  ft\). 

Unter  den  Demagogen  dieses  Schlages  ragt  als  Typus   vor   allen 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  2"J7 

Kleoii  liervor,  und  es  ist  oft  darauf  hingewiesen,  wie  wenig  wir  in  der- 
T-a^e  sind,  den  vielgescholtenen  Mann  zu  beurteilen:  sein  Bild  liegt 
uns  nur  in  der  Darstellung  seiner  erbittertsten  Feinde  vor,  von  denen 
der  eine  der  größte  Geschichtschreiber,  der  andere  der  größte  Komödien- 
dichter  Athens  gewesen  ist.  Demgemäß  schwankt  die  Beurteilung 
auch  bei  den  neueren  Historikern,  sie  ist  bei  Burj'  bedeutend  günstiger 
ausgefallen  als  bei  Meyei-.  Indessen  wird  man  zweierlei  Kleon  niemals 
abstreiten  können:  einmal  die  revolutionäre  Energie,  die  au  die  Männer 
des  Wohlfahrtsausschusses  von  1793  gemahnt,  und  zweitens,  daß  er  es 
war,  der  die  Mittel  zur  "Weiterführuug  des  Krieges  beschaffte,  dessen 
Kosten  denn  doch  von  Perikles  ganz  erheblich  unterschätzt  worden 
sind.  Dies  bleibt  unter  allen  Umständen  sein  Verdienst;  daß  er  in 
seinen  Methoden  nicht  wählerisch  war,  ist  allerdings  richtig,  aber  ii  la 
guerre  comme  a  la  guerre,  und  da  das  von  ihm  zunächst  428/7  ver- 
suchte Mittel  der  siTOopa  versagte,  so  blieb  ihm  freilich  nichts  übrig, 
als  die  erst  späte!-  durchgesetzte  Erhöhung  der  Tribute  vorzunehmen. 
Auch  war,  worauf  M.  wenigstens  gelegentlich  hingewiesen  hat  (S.  364), 
die  energische  Fortführung  des  Krieges  ökonomisch  eine  Notwendigkeit, 
insofern  der  ländliche  Teil  der  Bevölkerung  seinen  Erwerb  völlig  ver- 
loren hatte  und  auf  den  Dienst  als  Ruderer  und  Hopliten  angewiesen 
war,  um  mit  dem  Sold  sein  Leben  zu  fristen.  Somit  wird  gleich  nach 
der  blutigen  Unterdrückung  des  lesbischen  Aufstandes  —  übrigens  ver- 
bessert Burj'  mit  Mahaffj-  und  Schütz  die  Zahl  der  Hingerichteten  aus 
A'  1000  in  A  =  30,  schwerlich  richtig,  denn  um  30  Getötete  wäre  nicht  so 
viel  Aufhebens  gemacht  — ,  der  Krieg  mit  großer  Energie  aufgenommen: 
auswärtige  Bündnisse  werden  gesucht  und  im  Westen  wird  durch  den  zuletzt 
glücklichen  Ausgang  des  amphilochischen  Krieges  ein  neues  Bundesgebiet 
erworben,  zugleich  als  wertvolles  Birdeglied  für  alle  nach  Westen  ge- 
richteten Unternehmungen.  Nichts  ist  charakteiistischer  für  die  Haupt- 
tendenz der  gesamten  athenischen  Politik,  daß  jetzt  sofort  Sizilien  in  Angritt' 
genommen  wird:  zwei  Jahre  lang  hat  hier  Laches  mit  geringen  Streit- 
kräften, aber  doch  mit  Erfolg  operiert,  so  daß  die  Vorwürfe,  die  seiner 
Kriegführung  gemacht  sind  (Holm,  Gr.  Gesch.  II,  4,  Bury  S.  465),  sich 
als  unbegründet  herausstellen  (Meyer  360).  Bis  hierhin  wi)-d  man  Kleons 
Tätigkeit  alle  Anerkennung  zollen  müssen ;  sicher  stand  Ende  426  Athen 
ganz  anders  da,  als  zwei  oder  auch  drei  Jahr  früher  beim  Tode  des  Perikles. 
Allein  wollte  man  weiter  kommen,  so  mußte  man  Sparta  selbst 
zu  fassen  suchen,  und  dazu  bot  sich  425  die  erwünschte  Gelegenheit. 
Die  Meinung  Burj^s,  daß  Demosthenes  und  Kleon  schon  bei  der  Aus- 
fahrt im  Einverständnis  gewesen  sind  (428/9  S.),  hat  viel  für  sich;  es 
ist  doch  mindestens  merkwürdig,  daß  Demosthenes  wegen  seines  Feld- 
zugs in  Atollen,    der  Handhabe  genug  bot,    nicht  zur  Verantwortung 

15* 


228  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

gezogen  ward,  wie  Phormion,  der  doch  einen  glänzenden  Sieg  gewonnen 
hatte.  Auch  paßte  der  energische  und  fähige,  wenn  auch  tollkühne 
General  viel  mehr  zu  Kleons  Politik  als  seine  bedächtigeren  Kollegen: 
daß  Kleon  solch  einen  Mann  gerade  brauchte,  hat  B.  (S.  428)  mit  Recht 
auseinandergesetzt.  Diese  geheimen  Beziehungen  zwischen  beiden  hat 
Thukydides  offenbar  nicht  gekannt  und  daher  beurteilt  er  Kleons 
ganzes  Verhalten  in  militärischer  Beziehung  offenbar  unrichtig:  das 
erkennt  auch  Meyer  an,  indem  er  Delbrücks  Einwände  zurückweist,  die 
dieser  zur  Unterstützung  von  Thukydides  Auffassung  beibringt  (Forsch. 
II,  333  ff.,  341).  Vielmehr  erklärt  sich  Thukydides'  Urteil  aus  seinem 
politischen  Gesichtspunkt,  wonach  er  ein  aggressives  Vorgeheu  von 
Athens  Seite  überhaupt  verwirft,  weil  es  dem  von  ihm  gebilligten 
Kriegsplan  des  Perikles  zuwiderläuft.  Ich  glaube  aber,  man  kann 
noch  ein  Stück  weitergehen  und  auch  die  Zurückweisung  der  ersten 
lakedaimonischen  Friedensgesandtschaft  dnrch  Kleon  billigen.  Als  prak- 
tischer Politiker  hat  auch  er  gewußt,  daß  der  Vogel  in  der  Hand 
besser  sei  als  der  auf  dem  Dache;  daher  die  zunächst  wohl  mit  Absicht 
überschiobene  Forderung  von  Megara,  Achaia  usw.  Als  dann  die 
Spartaner  in  ihrer  ersten  Angst  selbst  dazu  bereit  waren,  hat  Kleon 
nicht  ohne  Geschick  die  Verhandlungen  hintertrieben;  denn  daß  ein 
Friede  auf  diese  Bedingungen  hin  unmöglich  von  Dauer  sein  könne, 
konnte  er  sich  nicht  verhehlen;  seine  Annahme  und  Durchführung  von 
Spartas  Seite  wäre  politischer  Selbstmord  gewesen.  Vor  allem  kam  es 
darauf  an,  die  Spartaner  auf  Sphakteria  in  die  Hand  zu  bekommen, 
und  diesen  Dienst  hat  ihm  Demosthenes  geleistet,  dem  er  die  Ausführung 
überließ.  In  betreff  der  topographischen  Grundlage  sind  sowohl  Meyer 
wie  Bury  den  vortrefflichen  Untersuchungen  Grundys  (JHSt.  1896)  ge- 
folgt, aus  denen  sich  ergibt,  daß  Thuk.  die  Örtlichkeit  nicht  aus  eigener 
Anschauung  kannte,  sondern  zwei  Berichte  benutzte,  einen  ausgezeich- 
neten für  die  Kämpfe  auf  Sphakteria  und  einen  zweiten,  weniger  zu- 
verlässigen für  die  Vorgänge  in  Pylos.  Einige  Nachträge,  wenn  auch 
bedeutend  weniger,  als  der  etwas  hochtrabende  Titel  erwarten  läßt, 
gibt  Awdry  in  JHSt.  1900.  Seine  Annahme,  daß  Euiymedon  auf  die 
Fahrt  nach  Sizilien  als  Nebeninstruktion  die  Vernichiung  der  sparta- 
nischen Flotte  mitgenommen  habe,  wird  schwerlich  zu  erweisen  sein; 
auch  ist  sie  nicht  so  wichtig,  wie  Awdry  anzunehmen  scheint;  an- 
sprechend ist  dagegen  die  Vermutung,  daß  zwei  wichtige  Anstöße  in 
Thuk.  Erzählung,  die  Angabe  der  Länge  von  Sphakteria  und  der 
Breite  des  Südeingangs  in  die  Bucht  von  Navarino,  auf  falscher  Distanz- 
schätzung beruhen,  die  um  so  weniger  auffällt,  wenn  man  als  Thuk. 
Gewährsmann  einen  der  gefangen  eingebrachten  Spartiaten  vermutet; 
erfahrungsgemäß  pflegen  Landbewohner  Meeresdistanzen  stark  zu  unter- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  229 

schätzen.  Auch  die  Notiz  des  Thuk.  über  die  Blockierung  des  Süd- 
eingangs durch  die  Spartaner,  die  als  eine  physische  Unmöglichkeit  er- 
kannt ist,  erklärt  sich  nach  A.  am  leichtesten  daraus,  daß  die  sparta- 
nischen Führer  zwar  die  Absicht  hatten  und  auch  UntersuchuDgen  an- 
gestellt haben,  die  dann  allerdings  die  Unmöglichkeit  ergaben,  daß  sie 
dagegen  von  der  Eifolglosigkeit  ihrer  Bemühungen  den  ihnen  unter- 
stellten Soldaten  nichts  mitgeteilt  haben. 

Die    Gefangennahme    der    Spartiateu    hat    Athens  Stellung    noch 
bedeutend  verbessert,    allein  hier,    auf  der  Höhe  des  Erfolges,   den  ei- 
herbeigeführt  hatte,  beginnt  die  Verblendung  Kieons.   Unzweifelhaft 
mußte    er    damals  einen  dauerhaften  Fiieden,    den  auch  Sparta  halten 
konnte,    herbeizuführen  suchen,    einen  Frieden  etwa,  wie  ihn  Preußen 
und  Österreich  im  Jahre  1866  geschlossen  haben:    das  hat  Meyer  vor- 
treft'lich    ausgelührt    (Forsch.  II,  346  f.)    und  das  ist  auch  Thuk.  Auf- 
lassung   gewesen,  die    er    den    spartanischen  Gesandten  IV,  17  in  den 
Mund    legt.     Bei    dem  Dualismus    der    beiden  Mächte    war    die  Sache 
schwierig,    aber    wenn    man    sich  Korinth  etwa  in  der  Rolle  Sachsens 
denkt,  nicht  unmöglich.    Inde?sen  Kleon  wollte  mehr.    Bis  dahin  hatte 
er    sich    im  Rahmen    der  perikleischen  Kriegsführuug  gehalten  —  De- 
fensive   mit    gelegentlichen   wertvollen  Erfolgen  — ,  jetzt  faßte  er  den 
Plan    zu   einer  umfassenden  Offensive  in  Hellas  sowohl  wie  in  Sizilien. 
Allein    diese    brach    nach    anfänglichen    Erfolgen    (Methone,    Kytheru, 
Nisaia)    zuerst    im  Westen  infolge  des  Übereinkommens  der  sizilischeu 
Städte,  sodann  in  Griechenland  selbst  bei  Delion  vollkommen  zusammen, 
und  sofort  sieht  sich  Athen  durch  Brasidas  auf  die  Verteiditrung  zurück- 
geworfen: bei  dem  Versuch,  die  verlorene  Stellung  in  Thrakien  wieder- 
zugewinnen,  ist  Kleon  gefallen  und  hat  damit,  soweit  seine  Person  in 
Betracht    kommt,    seine  Fehler    gesühnt.     Als  Typus    betrachtet   aber 
verdient  er  allerdings  die  herbe  Verurteilung  durch  Tlmkydides:  diese 
Staatsmänner,    die    im  Erfolg    sich   nie  zu  bescheiden  wußten  und  die 
Kräfte    des  Staates    in    unverantwortlicher  Weise    überschätzten,    sind 
Athens  Verderben    geworden    (Meyer  Forsch.  11,  349  f.).     Doch  wird 
man    zweierlei    nicht  außer  acht  lassen  düifen,    einmal  daß  persönlich 
unlautere  Motive    sich  bei  Kleon  nicht  nachweisen  lassen  und  daß  der 
Erfolg    von  Sphakteria,    der    sein  Werk   und  sein  alleiniges  Werk  ist, 
Athen   die  Behauptung  seiner  Positionen  im  Nikiasfrieden  ermöglichte. 
Allein    dazu    gehört    Athens    Stellang    im  Nordwesten,    die    es   immer 
wieder  auf  Sizilien  verwies,    und  hat  nicht  insofern  Thukydides  recht, 
der  den  Erfolg  von  Sphakteria  für  das  größte  Unglück  Athens  gehalten 
hat?     Von  seinem  Standpunkt  aus,  unzweifelhaft  ja.     Thukydides  war, 
wenn  man  den  Ausdruck  gestatten  will,  ein  Kleinathener,  der  das  Heil 
in    der  Behauptung    der  Position    sah,    die  Perikles   geschaffen  hatte; 


230  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

aber  die  Mehrzahl  der  Athener  von  425  und  415  dachte  nicht  so  und 
stand  hinter  Kleon,  wie  heute  ein  großer  Teil  der  englischen  Nation 
hinter  Chamberlain  steht.  Wenn  einst  die  Morley  und  Asquith  und 
Rosebery  oder  ihre  Nachfolger  die  Geschichte  Englands  schreiben,  so 
^Yird  ihr  Urteil  über  Chamberlain  vermutlich  nicht  anders  ausfallen, 
wie  das  des  Thnkydides  über  Kleon;  allein  das  bringt  die  Tatsache 
nicht  aus  der  Welt,  daß  diese  Männer  einmal  die  Vertreter  des  Volks- 
willens gewesen  sind.  Und  wenn  irgend  etwas,  so  dient  dies  dazu,  den 
einzelnen  zu  entschuldigen. 

Das  Entscheidende  beim  Nikiasfrieden  ist  jedenfalls  das,  daß 
Athen  seine  dominierende  Stellung  in  Nordwestgriechenland  behält,  denn 
damit  war  der  Wiederausbruch  des  Krieges  zur  Gewißheit  geworden: 
bei  der  fundamentalen  Bedeutung,  die  die  Eroberung  des  Westens  für 
Athen  hatte,  mußte  es,  sobald  die  Lage  nur  einigermaßen  günstig  war, 
seine  Versuche  auf  Sizilien  erneuern  und  damit  jenen  unüberbrückbaren 
Gegensatz  zu  Koriuth  wiederherstellen,  der  431  den  Krieg  entzündet 
hatte.  Darin  eben  liegt  die  Berechtigung  der  Auffassung  des  Thuky- 
dides,  der  den  Krieg  als  Einheit  und  die  Zeit  von  421 — 414  als  latenten 
Kriegszustand  auffaßt,  nur  daß  er  bei  der  Beschränkung,  die  ihm  die 
politische  Lage  nach  403  auferlegte,  diesen  Grund  nicht  direkt  aus- 
spricht: Meyer,  der  die  Wichtigkeit  der  sizilischen  Dinge  etwas  unter- 
schätzt, hat  deshalb  große  Mühe,  die  Auffassung  des  Thukydides  zu 
rechtfertigen,  und  sieht  sich  schließlich  außerstande,  die  Frage,  ob 
diese  grundlegende  Auffassung  des  Historikers  richtig  sei,  zu  bejahen: 
er  meint  sogar,  der  Friede  habe  ganz  gut  aus  dem  Provisorium  ein 
Definitivum  werden  können  (Forsch,  II,  359).  Allein  wer  Athen  kannte 
und  die  athenische  Demokratie  wie  Thukydides,  der  konnte  darüber 
nicht  im  Zweifel  sein,  daß  das  Abkommen  von  421  nur  ein  fauler 
Friede  war,  da  er  Athen  im  Besitz  der  Ausfallstellung  nach  Westen 
(Akarnanien,  Korkyra)  beließ:  auch  ohne  das  Auftreten  des  Alkibiades  und 
sein  Verhalten  im  Sonderbundskrieg,  wo  er  alle  Künste  eines  verschlagenen 
Politikers  spielen  ließ,  war  der  Wiederausbruch  des  Krieges 
eine  Notwendigkeit,  sobald  sich  Athen  wieder  dem  Westen  und  Sizilien 
zuwandte.  Mit  demselben  Nachdruck  wie  431  mußte  Korinth  von 
Sparta  den  Krieg  verlangen  und  seine  Worte  mußten  jetzt  noch  viel 
schwerer  ins  Gewicht  fallen,  seitdem  Sparta  die  Gefahren  des  Sonder- 
bundes kennen  gelernt  hatte.  Sicher  ist  es  freilich,  daß  ohne  Alkibiades 
Athen  sich  schwerlich  gleich  so  stark  engagiert  haben  würde,  und 
ebenso  sicher,  daß  jener  dabei  im  wesentlichen  eigensüchtige  Zwecke 
verfolgte:  mit  Recht  braucht  Meyer  mehrfach  mit  Bezug  auf  ihn  den 
Ausdruck  Kronprätendent,  Eine  andere  Frage  ist,  ob  er  der  Situation 
gewachsen    war.     Bekanntlich  hat  ihm  Beloch  vorgeworfen,  daß  er  im 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  231 

entscheidenden  Moment,    bei  der  Kückberufung  von  Italien,    nicht  den 
Miu  gehabt  habe,  offen  dem  Demos  den  Gehorsam  zu  verweigern,  allein 
mit  Recht  wendet  Meyer  ein  (IV,  515),   dal.',  er  schwerlich  ein  loyales 
-Biirgerheer,  wie  das  auf  der  Fahrt  nach  Syrakus  befindliche,  zum  Ab- 
tall verleiten  konnte.    Er  ging  in  die  Verbannung  und  hier  hat  er  den 
Plan  gefaßt,    Athen  zu  demütigen,    um  alsdann  als  Helfer  in  der  Not 
zu    erscheinen.     Das    ist    ihm    geglückt:    auch    darin    hat  M.  die  her- 
gebrachte Ansicht  gegen  Beloch  verteidigt,  der  dem  Tun  des  Alkibiades 
in  Sparta  nur  geringe  Wirkung  auf  den  Gang  des  Krieges  zuschreibt. 
Es  ist  das  beste  Zeichen  für  die  Güte  der  thukydideischen  Dar- 
sielluug  des  Krieges,  daß  sofort  da,  wo  sie  aufhört,  die  Schwierigkeiten 
beginnen,  insbesondere  ist  die  Chronologie  der  Jahre  411 — 406  seit 
Jahrzehnten  bereits  Gegenstand  wissenschaftlicher  Meinungsverschieden- 
heit.    Bekanntlich  beruht  sie,    da  Diodor  als  unbrauchbar  ausscheidet, 
wesentlich  auf  der  Darstellung  Xeuophons,    die  wenigstens  die  Jahres- 
wechsel genau  angibt.     Daß  die  Angaben    echt  sind,    hat   Busolt   im 
Herrn.  33,  661  fi.    daraus    erwiesen,    daß    der  Interpolator   sie  bereits 
benutzte    und  die  von  ihm  gemachten  Fehler  sich  nur  aus  ihrem  Vor- 
handensein erklären:  über  ihre  Verwertung  stehen  sich  seit  langem  zwei 
Ansichten  gegenüber,  die  indessen  darin  übereinstimmen,  daß  sie  Xeno- 
phons  Darstellung    direkt    an  Thuk.   anschließen  und  daher  gezwungen 
sind,    im    ersten  Buch    der    Hellenika    eine    Lücke    anzunehmen.     Die 
einen,    Dodwell,    Grote,    E.  Müller,    setzen    sie    nach  1.  1.  8    an    und 
erhalten  demgemäß  für  Thrasj'los'  Zug  nach  lonien  409,  für  Alkibiades 
Kückkehr  407;  die  anderen,  Haacke,  Breitenbach,  Unger,  Boerner,  denen 
sich    auch  Meyer  IV,  617  anschließt,   glauben,  daß  nach  1.  5.  10  die 
Erwähnung  eines  Jahreswechsels  ausgefallen  ist,  wodurch  die  erwähnten 
Ereignisse    ein  Jahr  hinaufrücken.     In  der  eingangs  genannten  Arbeit 
habe  ich  den  Nachweis  zu  führen  versucht,  daß  bei  Xen.  sich  nirgends 
eine  Spur  von  einer  Lücke  findet  und  daß  der  Grundirrtum  beider  An- 
schauungen   in    dem  von  ihnen  angenommenen  unmittelbaren  Anschluß 
Xenophons    an  Thuk.    zu   suchen  ist.     In  Wirklichkeit  liegt,    wie  das 
schon  1859  von  Büchsenschütz  ausgeführt  ist,  rund  ein  Jahr  dazwischen; 
der    in    Hell.  1.  1.  2    erwähnte    Winteranfang    ist    nicht  der  von  411, 
sondern    der  von   410,  und  die  Schlacht  von  Kyzikos  ist  nicht  auf  das 
Frühjahr    410,    sondern    auf   den   November  410  anzusetzen.     Für  die 
Begründung  dieser  Annahmen  muß  ich  auf  die  Arbeit  selbst  verweisen: 
ihre  Ergebnisse    sind    mittlerweile    in    einer  nachträglichen  Bemerkung 
von  Meyer  (IV,  619  A.)  abgelehnt,  der  gegen  sie  die  formelle  und  sach- 
liche Evidenz   ins  Feld  führt,    mit  der  sich  Xen.  an  Thuk.  anschließe. 
In    der    Tat    ist  es  eben  diese  Evidenz,    die  ich  leugne  und  die  schon 
früher  geleugnet  worden  ist.    Die  Entscheidung  muß  ich  anderen  über- 


232  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

lassen:  hier  nur  soviel,  daß  mir  die  von  Meyer  (IV,  606  A.)  angeführten 
Synchronismen  nicht  zu  genügen  scheinen,  um  den  oft  behaupteten  An- 
schluß des  Xen.  an  Thuk.  Darstellung  zu  erweisen. 

Etwas  besser  dagegen  sind  wir  durch  die  neuereu  Darstellungen 
über  das  Wesen  der  Diobelie  unterrichtet:  nach  Wilaraowitz' Vorgan? 
(Ar.  und  Athen  2,  212  ff.)  stimmen  jetzt  Meyer  (IV,  612)  und  Bury 
(S.  498)  darin  überein,  in  ihr  eine  sich  nur  auf  den  Teil  der  Be- 
völkerung beziehende  Maßregel  zu  erblicken,  der  nicht  anderweitig  in 
irgend  welcher  Form  vom  Staate  Geld  erhielt.  Offenbar  sollte  sie  der 
entsetzlichen  Not  und  Verarmung  steuern,  in  die  viele,  auch  sonst 
wohlhabende  athenische  Familien  durch  den  seit  der  Besetzung  von 
Dekeleia  ungemein  verschärften  Kriegsdruck  geraten  waren.  Auch 
die  plötzliche  "Wiederaufnahme  der  Bauten,  der  wir  die  Vollendung  des 
Erechtheions  verdanken ,  hat  offenbar  den  Charakter  von  Notstands- 
arbeiten gehabt  (vgl.  Kap.  VI).  Beide  Maßregeln  gehen  auf  Kleophon 
zurück,  rätselhaft  ist  nur  —  auch  Meyer  und  Bury  berühren  diesen 
Punkt  nicht  —  wo  man  in  diesen  Tagen  der  Erschöpfung  noch  das 
Geld  hernahm.  Die  Beute  der  hellespontischen  Siege  muß  ja  geradezu 
ungeheuer  gewesen  sein,  wenn  sie  dazu  ansreichte. 

Ebensowenig  erlaubt  uns  der  traurige  Zustand  unserer  Überliefe- 
rung die  Gründe  zu  erkennen,  die  Alkibiades  407  bei  seiner  Rück- 
kehr verhindert  haben,  nach  der  Tyranuis  zu  greifen.  Wie  fast  alle 
Forscher,  so  nehmen  auch  Meyer  und  Bury  an,  daß  eben  407  der  ge- 
eignete Zeitpunkt  war;  sehr  gut  zeigt  B  ,  wie  eben  die  Deckung  des 
Mjrstenzuges  nach  Eleusis  eine  Art  Sühuung  des  Mj'sterienfrevels  dar- 
stellen sollte,  um  dessen  willen  er  einst  verbannt  war.  Daß  es  trotzdem 
nicht  zu  dem  Versuche  kam,  erklärt  ßeloch  eben  aus  Alk,  Charakter, 
der  im  entscheidenden  Augenblick  nicht  den  Mut  des  Zugreifens  hatte, 
während  M.  die  asiatischen  Ereignisse,  Ankunft  des  Kjtos  und  Auf- 
treten des  Lysandros,  heranzieht,  die  Alk.  Anwesenheit  auf  dem  Kriegs- 
schauplatz nötig  machten.  Allein  um  so  weniger  erklärt  sich  dann  das 
lange  Zaudern  des  Mannes,  der  monatelang  in  Athen  verweilte  —  eine 
Spur  dieses  Aufenthalts  ist  neuerdings  in  dem  von  ihm  beantragten 
Ehren. lekret  für  die  Bewohner  von  Daphnu«,  einem  Flecken  im  Stadt- 
gebiet Klazomenais  hervorgetreten,  das  Tsuntas  in  der  Eph.  arch.  1898 
S.  1  behandelt  und  in  den  Zusammenhang  bei  Thuk.  8,  23  ff.  einge- 
gliedert hat.  Er  muß  doch  wohl  den  günstigen  Augenblick  für  den 
Staatsstreich  haben  abwarten  wollen,  und  wenn  ihm  dieser  nicht  ge- 
lungen ist,  so  lagen  doch  wohl  die  Dinge  so,  daß  es  eben  nicht  ging. 
Die  allgemeine  Begeisteining,  mit  der  der  siegreiche  Feldherr  empfangen 
ward,  darf  nicht  über  das  Mißtrauen  täuschen,  mit  dem  ihn  die  Extremen 
von  rechts    nach  links    betrachteten:    Kleophon   saß    seit    der  Diobelie 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  233 

fester  im  Sattel  als  je  und  aristokratische  Umtriebe  haben  in  diesen 
letzten  Zeiten  eine  wichtige  Rolle  gespielt;  mit  Recht  hebt  Bury  S.  506 
diese  für  nus  jetzt  unfaßbaren  Machinationen  hervor.  Auch  das  Fallen- 
lassen des  Siegers  nach  Notion  deutet  darauf  hin,  daß  sein  Anhang  ent- 
weder nicht  bedeutend  odei-  nicht  tatkräftig  genug  war:  selbst  im  Heer 
hatte  er  nach  Xen.  Hell.  1.  5.  17  keinen  Boden  mehr  unter  den  Füßen, 
als  er  ging.  Es  scheint,  als  ob  seine  Anhänger  sich  über  die  Verhält- 
nisse getäuscht  haben,  als  sie  ihn  nach  Hause  beriefen;  zu  der  glänzen- 
den Inszenierung  seines  i^inzugs  reichte  ihr  Einfln.ß,  weiter  aber  auch 
nicht.  Alkibiades  wird  gemerkt  haben,  daß  die  Zeit  noch  nicht  reif 
war,  und  ging,  um  abzuwarten.  Inzwischen  trieb  die  Wirkung  der 
oligarchischen  Umtriebe,  die  Meyer  zu  unterschätzen  scheint,  Athen 
dorn  Ende  zu.  In  der  Darstellung  der  letzten  Ereignisse  des  Krieges 
haben  sich  M.  und  Bury  beide  mit  Recht  der  Darstellung  Xeoophon« 
angeschlossen:  zu  erwähnen  ist  noch,  daß  damals  nach  Aigospotamoi, 
im  Zusammenhang  mit  der  Amnestie  des  Patrokleides,  auch  Thukydides 
heimberufen  ward.  Das  hat  Busolt  (Herrn,  33)  m.  E.  mit  Recht 
daraus  geschlossen,  daß  Oinobios  als  Antragsteller  genannt  wird;  nach 
dem  Frieden,  in  dem  die  Rückkehr  der  Verbannten  ausdrücklich  fest- 
gesetzt ward,  wäre  ein  besonderer  Antrag  unnötig  gewesen  und  eben 
darum  unerklärlich.  Gefolgt  ist  Thuk.  dem  Rufe  nicht:  die  zwanzig 
Jahre  der  Verbannung  (Thuk.  5,  26)  sind  somit  als  runde  Zahl  aufzu- 
fassen. —  Endlich  gehört  in  diese  letzte  Zeit  noch  der  athenische 
Volksbeschluß  zugunsten  der  Samier,  den  zuerst  LoUing  1889  heraus- 
gegeben hat  (Ditt.  S}'!].^  56)  und  der  neuerdings  von  Foucart  behandelt 
worden  ist:  er  stellt  sich  nach  ihm  als  eine  Kopie  des  ursprünglichen, 
von  den  Dreißig  zerstörten  Volksbeschlusses  dar,  wie  das  der  an  der 
Spitze  stehende  Xame  des  Kephisophou  ergibt.  Die  geschichtlichen 
Vorgänge,  die  den  Hintergrund  des  Dekiets  bildeten  hat  Foucart  a.  a.  0. 
dargelegt;  ich  werde  weiterhin  noch  einmal  auf  seine  Abhandlung  zu- 
rückkommen müssen. 

Die  Reihenfolge  der  Ereignisse  unter  den  Dreißig  gehört  bekannt- 
lich zu  den  umstrittensten  Partien  der  griechischen  Geschichte,  da  die 
beiden  Hauptzeugen,  Xenophon  und  Aristoteles,  oder  wie  man  nach 
Busolts  Forschungen  (Herrn.  33)  jetzt  sagen  kann,  Androtion  in  der 
Atthis  in  manchen  Dingen  diametral  Entgegengesetztes  berichten;  während 
Lj'sias  der  Natur  der  Sache  nach  bei  seiner  notorischen  Parteilichkeit 
erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht  kommt.  Die  beiden  wichtigsten 
Punkte  sind  die  Berufung  des  Harmosten  Kallibios,  die  Ar.  erst  nach 
der  Hinrichtung  des  Theramenes,  Xen.  ziemlich  im  x\nfang  der  Gewalt- 
herrschaft berichtet,  und  in  der  Einsetzung  der  Zehn  nach  Kritias 
Tod,    wo  Ar.  zwei  Kommissionen  unterscheidet,    von   denen    die  erste 


234  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

den  Kampf  gegen  die  Männer  im  Peiraieus  energisch  fortführt,  während 
die  zweite  unter  Rhinon  und  Phayllos  die  Versöhnung  zustande  bringt. 
Gegen  die  Darstellung  des  Ar,,  die  zuletzt  und  am  eingehendsten  vor 
Busolt  a.  a.  0.  verteidigt  worden  ist,  läßt  sich  aber  zweierlei  geltend 
macheu  (Meyer  V,  39  A.):  erstens,  daß  seine  Ansctzuug  der  Berufung 
des  Kallibios  aus  dem  auch  bei  Ephoros-Diodor  beme)kbaren  Bestreben 
hervorgeht,  Theramenes  möglichst  weiß  zu  waschen,  und  zweitens,  daß 
das  von  Ar.  selbst  überlieferte  Aranestiedekret  nur  von  ol  rjiy.oL  ev  -ct^ 
TtoXsi  redet,  was  nicht  möglich  wäre,  wenn  kurz  hintereinander  zwei 
Zehnerkonimissionen  die  Herrschaft  geführt  hätten.  Dem  gegenüber 
kann  auch  v.  Schöffers  Ansicht  nicht  aufkommen  (Pauly-Wissowa, 
Art.  Ol  oexa),  der  Xen.  direkt  Gescbichtsfälschung  vorwirft;  daß  Xen. 
in  dem  Friedensinstrument  Hell.  11,  4,  38  die  ör/a  ev  -y;  -oXzi  fortge- 
lassen hat,  beruht  nicht  auf  Unterschlagung,  sondern,  wie  Meyer  a.  a.  0. 
S.  41  A.  auseinandersetzt,  darauf,  daß  diese  sämtlich  Rechenschaft  ge- 
legt und  in  der  Stadt  verblieben  waren.  —  Kurz  nach  dem  Sturz  der 
Dreißig  und  der  durch  Pausanias  herbeigeführten  Versöhnung  fällt  nun  auch 
das  zweite  der  auf  Samos  bezüglichen  und  von  Foucart  in  der  ange- 
führten Abhandlung  behandelten  Dekrete.  Es  stellt  sich  als  ein  Pro- 
buleuma  dar,  das  sieben  Punkte  enthält:  1.  Lob  der  Samier,  2.  Be- 
stätigung der  früheren  Beschlüsse  über  die  Verleihung  des  Bürgerrechts, 
3.  Gesandtschaft  der  Samier  noch  Lakedaimou,  4.  Anschluß  der 
athenischen  Gesandten,  5.  Belobigung  der  Bewohner  von  Ephesos  und 
Xotion,  6.  Vorstellung  der  Gesandten,  7.  Einladung  ins  Prytaneum 
(vgl.  Ditt.'  48,  ^56).  Darauf  folgt  das  Amendement  des  Kephisophon, 
das  die  Punkte  2  und  7  noch  einmal  ausdiücklich  hervorhebt,  während 
die  übrigen  nicht  erwähnt  werden.  Diesen  Tatbestand  suchte  zuletzt 
Swoboda  (?ymb.  Pragenses  1893)  so  zu  erklären,  daß  er  meinte,  die 
nicht  erwähnten  Punkte  seien  aus  Furcht  vor  den  Lakedaimoniern  ab- 
gelehnt worden.  Demgegenüber  zeigt  nun  F.,  daß  damals  nach  Lysauders 
Sturz  die  Lage  sich  wesentlich  geändert  hatte,  so  daß  die  Furcht  vor 
den  Lakedaimoniern  schwerlich  auf  die  Gestaltung  des  Beschlusses  ein- 
wirkte: vielmehr  sei  das  Probuleuma  tatsächlich  angenommen,  es  seien 
jedoch  2  und  7  noch  einmal  wiederholt  worden,  um  jeden  Irrtum  in 
betreff  des  Bürgerrechts  auszuschließen,  Nr.  7  besonders  weil  es  die 
Formel  xaliait.  im  oeiTrvov  enthielt,  also  auf  einen  Bürger  ging,  da  es 
bei  einem  Fremden  im  Sevia  hätte  heißen  müssen.  Eine  solche  Vor- 
sicht sei  damals  geboten  gewesen ,  als  das  von  Thrasybul  den  Metöken 
verliehene  Bürgerrecht  nachträglich  ihnen  durch  Archiuos  wieder  ge- 
nommen wäre.  Wie  wenig  übrigens  damals  Athen  von  Sparta  zu 
fürchten  gehabt  habe,  das  erkennt  Fouc.  auch  aus  dem  dritten  Beschluß, 
sofern  hier  bei  den  Ehrungen,  die  Poses  wegen  seiner  doch  gegen  Sparta 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  235 

gerichteten  Politik  erhielt,  wesentlich  über  die  vom  Rat  vorgeschlagenen 
Ansätze  herausgegangen  wird. 


Wenn  die  Feinde  Athens  geglaubt  hatten,  mit  seiner  Nieder- 
werfung werde  ein  neuer,  glücklicher  Zustand  eintreten,  so  hatten  sie 
sich  gründlich  getäuscht:  auch  ohne  es  zu  wollen  sah  Sparta  sich  ge- 
nötigt, au  die  Stelle  Athens  zu  treten  und  seinen  Bund  über  ganz 
Hellas  auszudehnen.  Selbst  die  Tribute  wurden  weitergezahlt:  sie 
waren  bei  dem  gänzlich  unentwickelten  und  für  eine  moderne  Groß- 
macht völlig  unzulänglichen  Finanzwesen  Spartas  eine  unumgängliche 
Notwendigkeit.  Lysandros  ist  es  gewesen,  der  Sparta  diese  Stellung 
verschafft  hat;  allein  er  hat  auch  eingesehen,  daß  die  Hegemonie  von 
Hellas  eine  Aufgabe  war,  der  das  damalige  Sparta  in  keiner  Weise 
genügen  konnte:  vor  allem  infolge  der  geringen  Anzahl  von  VoU- 
bürgeru,  die  die  Grundlage  der  spartanischen  Kriegsmacht  und  Ver- 
fassung bildeten.  An  sich  gab  es  zwei  Wege,  hier  eine  Änderung  zu 
schaffen:  einmal  den  Übergang  zur  Monarchie,  und  ihn  hat  Lysandros 
mit  Bezug  auf  seine  eigene  Person  unzweifelhaft  beabsichtigt,  anderer- 
seits die  Verbreiterung  der  Grundlagen  des  spartanischen  Staats  durch 
Hereinnahme  der  Periöken,  Neodamodeu,  Fremden  ev.  sogar  der 
Heloten  in  die  Bürgerschaft,  wie  sie  offenbar  der  Aufstand  des 
Kiuadon  zum  Ziele  hatte.  Jener  Versuch  Lysanders  brach  sich  an 
dem  Widerstände  des  legitimen  Königtums,  das  sich  von  ihm  in  den 
Schatten  gestellt  sah:  als  das  Ende  seiner  politischen  Macht  ist  die 
Restauration  der  athenischen  Demokratie  durch  König  Pausanias  an- 
zusehen. Mit  Recht  bezeichnet  diese  Meyer  als  einen  schweren  politischen 
Fehler,  zugleich  aber  als  die  größte  Ruhmestat  Spartas,  wie  es  denn  über- 
haupt nicht  zu  bezweifeln  ist,  daß  M.  im  Anschluß  an  Beloch  ein  ent- 
schieden besseres  Verständnis  der  lakedaimonischen  Politik  angebahnt 
hat,  die  bislang  allzusehr  durch  die  athenische  Brille  betrachtet  ward. 
Ebenso  scheiterte  Kinadons  Verschwörung  und  daß  damit  auch  der  in 
ihr  liegende  fruchtbare  Gedanke  zugrunde  ging,  das  liegt  an  der  Un- 
fähigkeit der  damaligen  Politiker,  über  die  Grenzen  des  Stadtstaates 
hinauszudenken.  Der  einzige  Fall,  in  dem  das  geschehen  ist,  die  Er- 
teilung des  athenischen  Bürgerrechts  an  die  Samier,  blieb  ein  unfrucht- 
bares Experiment:  nichts  ist  charakteristischer,  wie  M.  mit  Recht 
hervorhebt  (V,  221  f.),  als  daß  die  neue  athenische  Demokratie  401/0 
auf  Perikles'  Bastardgesetz  zurückgriff;  Thrasybulos'  weitgehende  Neue- 
rungen, die  mit  gesundem,  politischem  Instinkt  die  Kräftigung  der 
Bürgerschaft  bezweckten,  sind  damals  durch  Archinos  vereitelt. 


236  Jahresbericht  über  giiechische  Geschichte.     (Lenschaa.) 

Immerhin  hat  Sparta  seine  panhellenische  Aufgabe  begriffen, 
wie  die  Aufnahme  des  Kampfes  gegen  Persien  beweist,  die  allerdings  durch 
den  verunglückten  Aufstand  des  Kyros  veranlaßt  ward.  Daß  die 
spartanische  Regierung  Kj'ros  unterstützte,  ließ  sich  bei  den  engen 
Beziehungen  zu  dem  persischen  Prinzen  nicht  vermeiden ;  die  Konnivenz 
der  spartanischen  Behörden  gegen  Klearchs  Werbungen  ward  endlich 
durch  eine  direkte  Hilfssendung  gekrönt:  als  solche  faßt  M.  die  Ab- 
sendung des  Nauarchen  Samios.  der  allerdings  Xen.  Anab.  1.  4.  2. 
Pythagoras  genannt  wird,  ein  naives  Versteckspiel  Xenophons,  für  das 
Meyer  noch  andere  Beispiele  anführt.  Allerdings  mißglückte  dei-  Ver- 
such, indem  durch  Klearchs  Eigensinn  die  Schlacht  von  Kunaxa  ver- 
loren ging;  aber  das  war  ein  unberechenbarer  Gewinn  für  Hellas,  da 
Kyros  als  König  ganz  anders  in  die  griechischen  Verhältnisse  einge- 
griffen haben  würde  wie  sein  Bruder  Artaxerxes  (Bury  S.  523). 
Immerhin  war  durch  die  Unterstützung  des  Empörers  der  casus  belli 
zwischen  dem  Großkönig  und  Sparta  gegeben,  wenngleich  die  Sache 
unzweifelhaft  noch  in  Güte  beigelegt  werden  konnte:  daß  Sparta  dazu 
keinen  Versuch  machte,  das  eben  ist  der  Beweis  dafür,  daß  es  seine 
panhellenische  Aufgabe  begriff.  Im  Gefühl  dieser  Verpflichtung  hat  es 
durch  Agesilaos  den  Kampf  in  Asien  aufgenommen,  den  dann  der 
König  durch  eine  Diversion  in  Hellas  zu  seinen  Gunsten  entschied. 
Die  Seeschlacht  von  Knidos,  die  Spartas  Seegeltung  vernichtete,  und 
die  Koalition  der  Gegner  im  korinthischen  Krieg,  die  den  Spartanern 
den  Weg  nach  Mittelgriechenland  verlegte  und  sie  auf  die  Peloponnes 
beschränkte,  hat  ihnen  die  Unmöglichkeit  gezeigt,  aus  eigener  Kraft 
die  Herrschaft  über  Hellas  zu  behaupten.  Seit  390  beginnen  die  Be- 
mühungen um  sja'akusische  Hilfe  und  das  Königsbündnis,  die  durch 
die  drohende  Wiederaufrichtung  des  athenischen  Bundes,  wie  sie  nach 
Thrasybulos'  Zug  388/7  möglich  erschien,  noch  verstärkt  wurden.  Die 
Konstellation  der  drei  Hauptmächte:  Persien,  Sparta  und  Syrakus,  hat 
dann  den  Königsfrieden  erzwungen.  Spartas  Herrschaft  war  gesichert; 
allein  die  innere  Berechtigung  zur  Hegemonie  der  Osthellenen,  die  im 
Vorkampf  gegen  den  persischen  Erbfeind  lag,  hat  es  damit  preisgegeben: 
,,es  war  von  jeder  Anwandlung  einer  nationalistischen  und  idealen 
Politik  gründlich  kuriert"  (Meyer  GdA,  5,  274). 

Der  Königsfriede  ist  die  Stelle,  an  der  zuerst  die  Westgriecben 
bestimmend  in  die  Geschicke  des  Mutterlandes  eingegriffen  haben,  und 
so  ist  hier  der  Ort,  die  Geschicke  Siziliens  nach  413  und  die  Ent- 
stehung der  Militärmonarchie  Dionys  I.  zu  behandeln.  Bald  nach  der 
athenischen  Niederlage  vor  Syrakus,  die  den  Fall  der  ersten  hellenischen 
Macht  nur  noch  als  eine  Frage  der  nächsten  Zeit  erscheinen  ließ,  be- 
ginnen sich  in  Ost  und  West  die  dem  Griechentum  feindlichen  Gewalten 


Jahresbericht  übf^r  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  237 

wieder  zu  regen:  wie  damals  Tissaphernes  sich  in  die  Verhältnisse  Ost- 
griechenlands  einzumischen  anfängt,  so  ist  es  auch  offenbar  dies  Er- 
eignis gewesen,  das  Karthago  zum  Einschlagen  der  seit  480  verlassenen 
Angriffspolitik  gegen  Sizilien  bewog.  Daß  in  Karthago  selbst  eine  starke 
Minderheit  der  Kriegspartei  entgegentrat,  möchte  Me3^er  (GdA.  5,  64) 
daraus  schließen,  daß  die  Karthager  zunächst  Syrakus  das  Schiedsge- 
richt zwischen  Egesta  und  Selinns  antrugen:  ich  kann  darin  nur  einen 
durchaus  gelungeneu  Versuch  sehen,  die  eigenen  Absichten,  über  deren 
Tragweite  man  sich  völlig  im  klaren  war,  so  lange  wie  möglich  zu 
maskieren.  Im  Jahre  409,  wie  Meyer  und  Bury  mit  Kecht  gegen 
Beloch  festhalten,  beginnt  dann  der  Kampf  mit  der  Eroberung  von 
Selinus  und  Himera;  auch  hier  glaube  ich  im  Gegensatz  zu  Meyer 
(5,  69),  daß  es  nicht  die  gelegentlichen  Streifzüge  des  Hermokrates 
gewesen  sind,  die  den  Wiederausbruch  des  Krieges  hervorriefen, 
sondern  daß  von  vornherein  die  Eroberung  Siziliens  im  umfassendsten 
Sinne  geplant  war  und  daher  die  Kampagne  von  406  nur  als  die 
natürliche  Fortsetzung  der  Unternehmungen  von  409  aufzufassen  ist. 
Der  abermalige  Erfolg  Himilkons,  die  Vernichtung  von  Akragas,  hat 
dann  der  Wahl  des  Dionys  die  Wege  geebnet. 

Freilich  hat  auch  er  das  Geschick  von  Gela  und  Kamarina  nicht 
mehr  zu  wenden  vermocht,  und  hier  am  Eingang  seiner  Laufbahn  er- 
hebt sich  nun  sofoit  eine  Frage,  von  deren  Beantwortung  die  Gesarat- 
auttassung  von  Diouysios'  Persönlichkeit  abhängt.  Während  Meyer  die 
Niederlage  des  Dionj^s  vor  Kamarina  auf  die  verfahrenen  Verhältnisse 
zurückführt,  glaubt  Buiy  (S.  641)  an  ein  beabsichtigtes  Fehlschlagen, 
das  Dionys  die  Wege  zur  Tyraunis  mit  Hilfe  der  Kaithager  bahnen 
sollte.  Aber  das  erscheint  unverständlich:  ein  Sieg  würde  Dionys  aus 
eigener  Kraft  das  gewährt  haben,  was  diese  beabsichtigte  Niederlage 
ihm  nach  B.s  Ansicht  mit  Hüte  der  Karthager  verschaffen  sollte. 
Der  Verdacht  B.s  hängt  eben  damit  zusammen,  daß  er  annimmt,  Dionys 
habe  von  vornherein  nie  die  ernstliche  Absicht  gehabt,  ganz  Sizilien 
zu  erobern,  vielmehr  die  karthagische  Herrschaft,  wenn  auch  im  be- 
schränkten Umfange  zu  belassen,  um  so  die  Syrakusier  in  beständiger 
Furcht  zu  halten  und  seine  Unentbehrlichkeit  darzutuu.  Die  gegen- 
teilige Autfassung  wird  von  M.  vertreten;  danach  beruht  die  Möglich- 
keit von  Dionys'  Herrschaft  eben  darauf,  daß  er  von  vornherein  als 
Verteidiger  des  Griechentums  gegen  die  Karthager  aufgetreten  ist.  Die 
Dichtigkeit  dieser  Annahme  wird  meines  Erachtens  durch  nichts  deutlicher 
dai  getan  als  durch  Dionys'  Verhalten  bei  der  Belagerung  von  Motye  398, 
wo  er  die  gefangenen  griechischen  Söldner,  die  auf  karthagischer  Seite 
gefochten  haben,  als  Hochverräter  hinrichten  läßt.  Dieser  Vorgang  ist 
durchaus  mit  der  Vernichtung  der  griechischen  Söldner  nach  der  Schlacht 


238  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

am  Granikos  oder  dem  Untergang-  der  schwarzen  Fähnlein  bei  Pavia 
auf  eine  Stufe  zu  stellen:  wie  dort  Alexander  und  die  deutschen  Lands- 
knechte, so  betrachtet  sich  Dionys  als  Vollstrecker  des  Willens  der 
Nation,  die  ihre  eigenen  Söhne  vernichtet,  wenn  sie  an  ihr  zu  Ver- 
rätern geworden  sind.  —  Wenn  endlich  B.  665  gegen  diese  Auf- 
fassung des  Dionys  als  Vorkämpfer  des  hellenischen  Volkstums  gegen 
<lie  Barbaren  anführt,  daß  er  mehrfach  blühende  griechische  Gemein- 
v/esen  vernichtet  und  mit  Barbaren  gegen  Griechen  paktiert  habe,  so 
erklärt  sich  jenes  aus  den  zentralistischen  Tendenzen,  die  im  Interesse 
der  Stärkung  des  hauptsächlichsten  Gemeinwesens  z.  B.  auch  die 
Römer  bewog,  unterworfene  Gemeinden  nach  Rom  zu  verpflanzen,  und 
das  Bündnis  mit  den  Lukanern  muß  durchaus  unter  dem  Gesichtspunkt 
seines  Erfolges  betrachtet  werden,  sofern  es  endlich  den  Anschluß  der 
unteritalischen  Griechen  bewirkte.  Als  Realpolitiker  war  Dionj^s  eben 
in  seinen  Mitteln  nicht  wählerisch;  aber  das  wird  man  ihm  zugestehen 
müssen,  daß  er  den  großen  Gedanken  seines  Lebens  durchgeführt  hat. 
Noch  in  Agathokles"  Persönlichkeit  hat  dieser  Gedanke  weiter  gewirkt 
und  den  Griechen  Siziliens  den  Widerstand  gegen  Karthago  ermöglicht, 
den  die  Demokratie  und  der  Partikularismus  der  einzelnen  Städte  nie 
geleistet  haben  würde  und  der  wenigstens  so  lange  aashielt,  bis  eine 
stärkere  Macht  gegen  die  Panier  auf  den  Kampfplatz  trat.  Und  die 
Anerkennung  dieser  Idee  wird  es  gewesen  sein,  nicht  bloß  seine  aller- 
dings ungemeine  Vorsicht  und  die  Reinheit  seines  Privatlebens,  die 
schließlich  das  Volk  mit  ihm  aussöhnte  und  jeden  Widerspruch  gegen 
seine  Herrschaft  verstummen  ließ:  er  war  eben  doch  der  Hort  des 
Griechentums,  durch  vierzigjährige  Kämpfe  als  solcher  bewährt.  Daß 
diese  seine  Stellung  nicht  sofort  rein  hervortrat,  daß  der  unglückliche 
Ausgang  des  Kampfes  um  Gela  und  der  Friede  von  405  ihn  zwang, 
den  Ruhm,  der  Schützer  der  hellenischen  Freiheit  zu  sein,  sozusagen 
auf  Kredit  vorwegzunehmen  und  seiner  Stadt  Opfer  zuzumuten,  die 
nur  der  Befestigung  der  eigenen  Herrschaft  zu  dienen  schienen,  das 
ist  in  der  Tat  das  Unglück  seines  Lebens  gewesen:  um  so  weniger 
kann  man  annehmen,  daß  er  selbst  verräterischerweise  die  Niederlage 
von  Gela  herbeigeführt  hat. 

Beruht  demnach  die  Stellung  des  Dionys  in  erster  Linie  darauf, 
daß  er  der  Vertreter  der  nationalen  Sache  gegen  den  karthagischen 
Erbfeind  gewesen  ist,  so  kommen  daneben  auch  seine  bedeutenden  Eigen- 
schaften als  Staatsmann  und  Feldherr  in  Betracht.  Doch  wird  man  im 
ganzen  sagen  müssen,  daß  er  mehr  ein  genialer  militärischer  Organi- 
sator, als  ein  großer  Feldherr  gewesen  sein  muß.  Wenigstens  hat  er, 
worauf  Bury  nach  Freemans  Vorgang  S.  C51  mit  Recht  hinweist,  die 
Entscheidung  in  offener  Peldschlacht,  die  der  geborene  Feldherr  sucht. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschieht'^.     (Lenschau.)  239 

nach  Kräfteu  gemieden;  fast  alle  seine  Erfolge  sind  durch  tJbeifälle 
lind  Kriegslisten,  durch  schlaue  Diplomatie  und  kluu'e  Benutzung  der 
T'mstände  errungen.  Möglich  ist  aber  auch,  daß  hier  der  traurige 
Zustand  unserer  tiberliefernng  ist:  vor  allem  bedauerlich  ist  es  freilich, 
wie  Meyer  GdA.  5,  102  hervorhebt,  daß  wir  über  die  Finanzpolitik 
des  Dionys  fast  gar  nichts  wissen.  Seine  Kriegführung  muß  Unsummen 
verschlungen  haben  und  über  die  Art,  wie  er  diese  aufbrachte,  ist  so 
gut  wie  nichts  bekannt,  außer  ein  paar  gehässigen  Anekdoten,  die 
Timaios  in  Umlauf  gebracht  hat.  Auch  staatsrechtlich  bleibt  die 
Stellung,  die  Dionys  einnahm,  ziemlich  unklar:  wahrscheinlich  bestanden 
die  Formen  der  Verfassung  weiter  und  Dion^'s  übte  seine  Gewalt  als 
Oberstratege  aus.  In  den  athenischen  Volksbeschlüssen  heißt  er  ap/wv 
StxeXta?,  vielleicht  ist  das  die  offizielle  Titulatur,  der  sich  Dionys  von 
Anfang  an  bediente,  mit  unverhüllter  Aagabe  des  Ziels,  das  er  sein 
Leben  lang  im  Auge  gehabt  hat  (Meyer  GdA.  5,  95). 

In  die  Verhältnisse  des  Mutterlandes  hat  Dionys  mehrfach  und 
zwar  stets  zugunsten  Spartas  eingegriffen,  einmal  wegen  des  Gegen- 
satzes zu  Athen,  dem  er  und  wohl  nicht  mit  Unrecht  noch  lange  Zeit 
Eingriffe  ins  westliche  Mittelmeer  zutraute.,  und  sodann,  weil  die  Spar- 
taner ihn  ebenfalls  in  den  schweren  Anfangszeiten  seiner  Herrschaft 
unterstützt  hatten:  er,  der  König,  und  Sparta  sind  die  Garanten  des 
Antalkidasfriedens  geworden,  der  auf  Jahrzehnt e  und  in  einzelnen 
Aitikeln  auf  ein  Jahrhundert  hinaus  die  Verhältnisse  Griechenlands  be- 
stimmt hat:  die  Schlußformel  über  die  Autonomie  der  Einzelstädte 
spielt  noch  in  den  Staatsverträgen  der  Diadochenzeit  eine  wichtige 
ßolle.  Den  ersten  Vorteil  zog  davon  der  König,  der  durch  den  Frieden 
endlich  die  Hände  gegen  Euagoras  frei  bekam:  nach  zehnjährigem 
Kampfe,  dessen  Dauer  sowohl  Meyer  wie  Bury  in  Übereinstimmung 
mit  Beloch  auf  390/89  bis  381/80  ansetzten,  ward  er  allerdings  auf 
sehr  erträgliche  Bedingungen  hin  zur  Unterwerfung  gezwungen.  Über 
die  Verteilung  der  Ereignisse  auf  die  einzelnen  Jahre  ist  der  Aufsatz  von 
Mesk  zu  vergleichen,  der  auch  die  obengenannte  Datierung  mit  Glück 
gegen  Blaß  Att.  Bereds.  II-  254  verteidigt  hat.  Alsdann  ging  auch 
Sparta  dai-an,  mit  den  unbotmäßigen  Elementen  in  Hellas  aufzuräumen, 
zunächst  bekam  Mantineia,  dann  Phleius  und  Olynth  seine  schwere 
Hand  zu  spüren.  Auch  hier  ermöglicht  die  von  Meyer  (F.  II,  511) 
wiederhergestellte  spätere  spartanische  Königsliste  eine  genauere  Chro- 
nologie: danach  erfolgte  382  das  erste  Eingreifen  Spartas  in  die  Ver- 
hältnisse des  Nordens  und  die  Besetzung  der  Kadmeia  381  der  Auszug 
des  x'\gcsipoli3  nach  Olynth  und  einige  Zeit  darauf  der  Beginn  der  Be- 
lagerung von  Phleius,  380  während  beide  Belagerungen  andauern  (Isokr. 
Paneg.   126)  der  Tod  des  Agesipolis,  endlich  Sommer  379  die  Kapitu- 


240  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

latiou  erst  von  Pbleius,  dann  von  Olynth  (GdA.  5,  305  f.).  Damit 
■war  die  Eube  wiederhergestellt  und  Sparta  stand  völlig  intakt  wieder 
da,  ein  festes,  in  sich  geeinigtes  Staatswesen,  neben  dem  Athen  nur 
t'ice  sehr  geringe  Rolle  spielte.  Wie  mächtig  es  den  Zeitgenossen 
imponierte,  ergibt  sich  daraus,  daß  die  damaligen  politischen  Theore- 
tiker, auch  Piaton,  in  Sparta  die  ihrem  Ideal  noch  am  nächsten  kommende 
Staatsverfassung  verwirklicht  sahen  (GdA.  5,  364  f.}.  Eist  nach  und 
nach  hat  Piaton,  besonders  nach  dem  Scheitern  seiner  sizilischen  Pläne 
seine  Hoffnung  auf  einen  aufgeklärten  Despotismus  gesetzt  und  eben 
dieses  hat  auch  Xenophon  am  Ende  eines  langen  Lebens,  das  in  auf- 
richtiger Verehrung  Spartas  begonnen  hatte,  als  der  Weisheit  letzten 
Schluß  in  der  Kyrupaideia  anerkannt.  So  bereitet  die  Theorie  auf  die 
Hegemonie  der  makedonischen  Könige  vor  und  auch  der  Gedanke,  kraft 
dessen  sie  schließlich  die  innere  Einigung  der  Osthellenen  vollziehen, 
klingt  bereits  um  diese  Zeit  an:  im  Panegyrikos  an  den  Olympien  380 
predigt  Isokrates  den  Nationalkrieg  gegen  Persien,  allerdings  auf  Grund 
des  Zusammenwirkens  von  Sparta  und  Athen.  Die  Gleichstellung  beider 
Mächte,  deren  Machtbereich  damals  so  ungleich  wie  möglich  war,  zeigt, 
daß  Athen  jetzt  nach  einer  Reihe  von  Eriedensjahren  Kraft  und  Mut 
genug  zur  Wiederherstellung  des  alten  Dualismus  in  sich  fühlte,  inso- 
fern Isokrates  einer  zeitgemäßen  Wiederherstellung  der  athenischen  See- 
herrschaft das  Wort  redet,  kann  sein  Panegyrikos  mit  Wilaraowitz  als 
das  Programm  des  zweiten  Seebundes  bezeichnet  werden. 

Der  Augenblick,  den  Plan  ins  Werk  zu  setzen,  trat  ein,  als 
Theben  mit  Unterstützung  Athens  die  Kadmeia  befreite.  Bald  darauf 
ward  durch  den  schnöden  Überfall  des  Sphodrias  und  seine  Ereisprechung 
in  Sparta  der  Bruch  zwischen  beiden  Staaten  unheilbar  und  nun  beginnt 
i^ofort  unter  Leitung  von  Chabrias,  Timotheos  und  Iphikrates  jene 
plötzliche  Expansion,  die  zur  Gründung  des  zweiten  Seebundes  geführt 
hat.  Mit  den  inneren  Verhältnissen  dieses  Bundes  befaßt  sich  der 
erste  Teil  der  eingangs  erwähnten  Abhandlung  von  Lipsius,  derzunächst 
mit  der  eine  Zeitlang  in  Mode  gewesenen  Bezeichnung  „Dritter  athenischer 
Seehund"  autiäunit.  Mit  Recht  weist  er  darauf  hin,  daß  jener  Versuch 
des  Thrasybulos  im  Jahre  388/7,  der  durch  dessen  Tod  und  den  An- 
lalkidasfrieden  ein  schnelles  Ende  fand,  eben  nichts  weiter  bezweckte, 
als  die  Erneuerung  des  ersten  Seebundes  in  der  Form,  die  er  vor  seiner 
Vernichtung  gehabt  hatte:  wirklich  neue  staatsmännische  Gedanken 
liegen  erst  dem  Bündnis  aus  dem  Jahre  des  Nausinikos  zugrunde,  das 
deswegen  allein  die  Bezeichnung  Zweiter  attischer  Seebund  verdient. 
Sodann  sucht  Lipsius  die  Stellung  Athens  zum  Bunde  genauer  zu  prä- 
zisieren: das  allgemein  zugegebene  Übergewicht  des  Vororts  zeigt  sich 
nach  ihm   am    schärfsten    in    der  Tatsache,    daß    die  Aufnahme    neuer 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lcnschau.)  241 

Mitglieder  des  Bundes  lediglich  in  sein  Ermessen  gestellt  war.  Diese 
Ansicht  hat  Meyer  (GdA.  5,  383  A.)  kurz  zurückgewiesen,  dennoch  ist 
nicht  recht  abzusehen,  wie  sich  die  Sache  in  der  Praxis  anders  gestaltet 
haben  kann,  als  so  wie  L.  sicii  den  Hergang  vorstellt.  Wollte  eine 
Stadt  dem  Bunde  beitreten,  so  war  es  doch  sicherlich  das  Naturgemäße, 
daß  sie  sich  zunächst  der  Zustimmung  des  mächtigen  Vororts  versicherte, 
dessen  Stimme  so  viel  galt  wie  die  aller  übrigen  ßundesglieder  zusammen, 
und  dem  es  nicht  leicht  an  Mitteln  fehlen  konnte,  seinem  Willen  im 
Syuedrion  Geltuug  zu  verschaffen  (Lipsins  a.  a.  0.  S.  150).  So  erklärt 
es  sich,  daß  in  den  uns  erhaltenen  athenischen  Volksbeschlüssen  bei 
Aufnahme  neuer  Mitglieder  einer  Mitwirkung  des  Synedrions  abgesehen 
von  der  Eidesleistung  nirgends  gedacht  wird,  weil  tatsächlich  die  Auf- 
nahme zunächst  durch  Athen  erfolgte:  ob  aber  schon  bei  der  Gründung 
dies  Athen  als  ausdrückliches  Vorrecht  zugestanden  ist,  das  ist  eine 
staatsrechtliche  Frage,  bei  deren  Entscheidung  ich  mich  meinem  ver- 
ehrten Lehrer  nicht  ohne  weiteres  anschließen  möchte.  Denn  so  gewiß 
es  ist,  dciß  Athen  durch  seine  Stellung  außerhalb  des  Synedrions  sich 
die  Grundlage  sicherte,  aus  der  sich  notwendigerweise  ein  Übergewicht 
des  Vororts  ergeben  mußte,  ebenso  gewiß  ist  es  doch  auch,  daß  seine 
Staatsmänner  bemüht  waren,  jeden  Schein  eines  Athen  zustehenden 
Vorrechts  zu  vermeiden-,  vielmehr  stellten  sie  dies  der  natürlichen  Ent- 
wickelung  anheim,  die  ja  tatsächlich  bald  genug  zu  einer  Vormacht- 
stellung geführt  hat.  Daß  Athen  die  Gelegenheit  benutzte,  wo  es  anging, 
diese  Stellung  zu  verstärken,  ist  selbstverständlich  und  in  dieser  Hinsicht 
ist  die  Beschränkung  der  Jurisdiktion  bemerkenswert,  die,  wie  Lipsius 
a.  a.  0.  ausführt,  abgefallenen  und  mit  Gewalt  zurückgebrachten  Buudes- 
gliedern  iu  der  Eorm  auferlegt  ward,  daß  von  dem  Spruch  ihrer  Gerichts- 
höfe die  £'p£3t?  an  die  athenischen  Gerichte  gestattet  ward.  Daß  ecpetjt; 
Appellation  bedeutet,  hat  Lipsius  m.  E.  überzeugend  gegen  Wilamowitz 
ausgeführt  (a.  a,  0  ). 

Thebens  Zutritt  zum  Bunde  hat  ihm  mit  der  Rückendeckung 
gegen  Sparta  zugleich  die  Möglichkeit  gewährt,  die  Vereinigung  der 
boiotischen  Städte  unter  seiner  Führung  zu  bewerkstelligen.  Daß  ei 
sich  dabei  tatsächlich  um  die  Gründung  eines  Einheitsstaates  gehandelt 
hat,  wie  zuerst  Vischer  aussprach,  hat  Meyer  GdA,  5,  391  gegen 
Beloch  festgehalten:  m.  E.  wird  es  durch  das  Verhalten  des  Eparaeinon- 
das  auf  dem  Friedenskongreß  zu  Sparta  bewiesen  (s.  u.).  Dadurch  aber 
trat  zwischen  Theben  und  Athen  eine  Entfremdung  ein,  die  bereits  374 
zu  einem  Separatfrieden  zwischen  Athen  und  Sparta  führte.  Allein 
durch  Timotheos'  Verschulden  kam  es  sofort  zu  neuen  Feindseligkeiten, 
indem  Sparta  im  Vertrauen  auf  die  mittlerweile  zugesagte  Hilfe  des 
Dionys  den  Konflikt  verschärfte  (GdA.  5,  399),  bis  endlich  371  auf  dem 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd   CXXII.    (1904.  III.)         16 


242  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

Kong^reß  zu  Sparta  die  Mißhelligkeiten  beigelegt  wurden.  Die  Grund- 
lage der  dortigen  Verhandlungen  bildete  der  Königsfriede:  darauf 
konnten  Sparta  und  Athen  eingehen,  da  ihre  Bünde  auf  Autonomie 
beruhten.  So  richtig  Meyer  (GdA.  V,  397  und  406,),  während  Bury  aus 
der  Annahme  des  Grundsatzes  der  Autonomie  folgert,  daß  beide  Bünde 
ihre  Kraft  verloren,  Athen  und  Sparta  auf  ihr  Reich  verzichtet  hätten 
(S.  573). 

Dagegen  war  nun  allerdings  der  Boiotische  Bund  mit  der  Klausel 
des  Königsfriedeus  nicht  vereinbar  und  dies  scheint  die  allgemeine 
Ansicht  auf  dem  Friedenskongreß  zu  Sparta  gewesen  zu  sein.  Auch 
Epameinondas  hat  nicht  das  Gegenteil  behauptet,  sondern  nur  daß 
Theben  über  Boiotien  kraft  desselben  Rechtes  herrsche,  wie  Sparta 
über  Lakedaimon,  seitdem  es  in  grauer  Vorzeit  die  Landschaft  zum 
Einheitsstaat  umgeschaffen  habe:  jedenfalls  ist  das  der  Sinn,  der  seiner 
Frage  an  Agesilaos,  ob  er  die  Periöken  freigeben  wolle,  zugrunde  liei^t. 
Aber  er  blieb  mit  seiner  Ansicht  allein;  Theben  ward  vom  Frieden 
ausgeschlossen  und  König  Kleombrotos  mit  der  Exekution  gegen  die 
renitente  Stadt  beauftragt,  deren  Verderben  besiegelt  schien.  Allein  die 
Niederlage  von  Leuktra  vernichtete  sofort  das  spartanische  Übergewicht, 
und  die  bald  darauf  folgende  Einigung  Arkadiens,  sowie  die  Wieder- 
herstellung Messeniens  lähmten  die  Kraft  des  spartanischen  Staates^ 
der  durch  eine  Reihe  gewaltiger  Festungen  Argos,  Mantineia,  Tegea, 
Megalopolis,  Messene,  von  den  wenigen  ihm  treugebliebenen  Bundes- 
genossen abgeschnitten,  auf  den  Seeweg  und  dadurch  auf  die  Ver- 
ständigung mit  Athen  angewiesen  war,  wo  er  wenigstens  in  Kallistratos 
einen  beredten  Anwalt  und  Veitreter  seiner  Politik  gefunden  hat. 
Welche  Rolle  lason  v.  Pherae  bei  Leuktra  gespielt  hat,  ist  nicht  ganz 
klar,  da  die  Darstellung  des  Ephoros  (Diod.  15,  51 — 56)  der  xeno- 
phontischen  in  weseiitlicheu  Punkten  widerspricht:  sie  wird  von  Meyer 
abgewiesen  (GdA.  5,  414,),  während  Bury  ihr  Glauben  beimessen  möchte 
(S.  596).  Die  Abhandlung  von  Tropea,  Giasone,  il  tago  della  Tessaglia, 
habe  ich  nicht  einschen  können;  ohne  wesentlich  Neues  zu  bringen,  soll 
sie  den  Besprechungen  nach  ein  gutes  Gesamtbild  des  merkwürdigen 
Mannes  geben,  der  ein  Menschenalter  vor  König  Philipp  dessen  Rolle 
in  Griechenland  zu  spielen  bes-timmt  schien. 

Über  die  Verhältnisse  des  arkadischen  Bundes,  der  unabhängig 
von  Theben  bald  nach  dem  Siege  von  Leuktra  entstand  und  dann  mit 
Epaminondas'  Beihilfe  begründet  ward,  hat  Niese  (Hermes  34,  520  ff.) 
eine  eingehende  Abhandlung  veröffentlicht,  aus  der  zunächst  seine  Aus- 
führungen über  das  Gründungsjahr  von  Megalopolis  zu  erwähnen  sind. 
Die  Angaben  schwanken  zwischen  371/0  bei  Paus.  8,  27,  1 — 8,  ferner 
370  bei  Paus.  9,  14,  4  und   368/7  Diod.  15,  72;    von    ihnen    verwirft 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  243 

Niese  die  beiden  Daten  des  Pausanias,  indem  er  darauf  hinweist,  daß 
der  bei  Paus,  als  tegeatischer  Kommissar  genannte  Proxenos  unmöglich 
mit  dem  370  getöteten  Führer  der  Demokratie  von  Tegea  (Xen.  hell. 
6,  5,  6)  identisch  sein  kann.  Nach  genauer  Durchmusterung  der  Zeit- 
ereignisse kommt  er  sodann  zu  dem  Schluß,  daß  weder  370  noch  369 
die  Verhilltüisse  die  Begründung  von  Megalopolis  und  vor  allem  eine 
Beteiligung  des  Epaminondas  daran  ermöglichten,  und  so  entscheidet 
er  sich  für  das  Datum  Diodors  368/7,  das  vor  allem  daher  zu  passen 
scheint,  weil  der  Ausgang  des  lakedaimonischen  Einfalls  von  368/7  den 
Arkadern  die  Notwendigkeit  einer  starken  Festung  an  dieser  Stelle 
erwiesen  hatte.  Die  Natur  der  Beweisfülirung  bringt  es  mit  sich,  daß 
eine  absolute  Sicherheit  in  diesen  Ausätzen  nicht  zu  erzielen  ist:  dazu 
ist  unsere  Kenntnis  der  Zeitereignisse  denn  doch  zu  lückenhaft  und  au 
sich  ist  es  nicht  nur  möglich,  sondern  sehr  wahrscheinlich,  daß  der 
Bau  sich  über  eine  Reihe  von  Jahren  hinzog;  Anregung  und  Förderung 
können  also  sehr  wohl  von  Epaminondas  bei  seiner  Anwesenheit  auf 
dem  ersten  und  zweiten  Zuge  in  die  Peloponnes  gegeben  sein  (ähnlich 
Meyer  GdA.  5,  432  f.).  Bedenklicher  aber  ist  es,  wenn  Niese  aus  dem 
so  gewonnenen  Gründuugsjabr  die  Folgernng  zieht,  daß  die  Gründung 
von  Megalopolis  mit  dem  Zusammenschluß  des  arkadischen  Bundes  ur- 
sprünglich gar  nichts  zu  tun  gehabt  habe,  und  daß  es  nie  Bundeshauptstadt 
gewesen  sei.  Dies  widerspricht  aufs  schärfste  UDserer  gesamten  Über- 
lieferung, und  auch  der  Umstand,  daß  die  einzige  Bundesversammlung, 
von  der  wir  wissen,  in  Tegea  stattgefunden  hat,  kann  ihr  gegenüber 
nicht  in  Betracht  kommen.  Weder  Meyer  noch  Bury  sind  dieser 
Nieseschen  Ansicht  gefolgt;  ja  Bury  geht  sogar  nach  der  andern  Seite 
hin  einen  Schritt  weiter  (S.  599  ff.  vgl.  JHSt,  18,  lö^;  er  glaubt  in 
Megalopolis  noch  den  doppelten  Charakter  als  einfache  Bundesstadt 
und  als  Hauptstadt  des  arkadischen  Gesamtbundes  zu  erkennen.  Die 
Nordhälfte  der  Stadt  nördlich  vom  Helisson  bildete  das  neue  selb- 
ständige Gemeinwesen,  die  Südhälfte  war  der  Sitz  der  Bundesbehörden, 
der  z-ndpi-oi,  und  trug  durchweg  den  Charakter  der  Bundeshauptstadt. 
Hierzu  läßt  sich  nur  so  viel  sagen,  daß  der  archäologische  Befund  der 
Buryschen  Ansicht  nicht  widerspricht  Dagegen  sind  wir  über  die  Ver- 
fassung des  Bundes  selbst,  über  seine  Behörden  usw.  wieder  recht  im 
unklaren,  seitdem  das  Ehrendekret  für  Phylarchos  (D.  S.  I^  106),  das 
man  bisher  in  dieser  Beziehung  verwerten  konnte,  nunmehr  von  Niese 
als  der  Zeit  von  255 — 245  angehörig  erwiesen  ist,  während  es  Ditteu- 
berger  a,  a.  O.  kurz  nach  Mantineia  ansetzte;  und  ob  man  mit  Meyer 
die  damaligen  Verhältnisse  ohne  weiteres  auf  die  Zeit  der  Gründung 
übertragen  kann  (GdA.  5,  432),  scheint  doch  fraglich. 

Das  ursprünglich  gute  Verhältnis  zwischen  dem  arkadischen  Bunde 

16* 


244  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

und  Theben  erlitt  bald  eine  leichte  Trübung,  wozu  unzweifelhaft  die 
Vernachlässigung  der  peloponnesischen  Dinge  beigetragen  hat,  der  sich 
Theben,  mit  Ausdehnung  seines  Einflusses  im  Norden  beschäftigt,  wäh- 
rend der  auf  369  folgenden  Jahre  schuldig  machte.  Diese  hängt  un- 
zweifelhaft mit  dem  Prozeß  des  Epaminondas  zusammen,  über  den 
zuletzt  Swob  oda  im  Rh.  Mus.  Bd.  55  gehandelt  hat.  Auch  er  hält  daran 
fest,  daß  es  sich  nur  um  einen  einmaligen  Prozeß  handelt,  der  von 
Diodor  15,  72  ans  Ende  369  nach  dem  zweiten  Zuge,  von  allen  übrigen 
Quellen  370/69  nach  dem  ersten  Zuge  verlegt  wird.  Sw.  entscheidet 
sich  für  das  letztgenannte  Datum :  sonach  v.'ar  der  Prozeß  ein  Vorstoß 
der  thebauischen  Friedenspartei,  der  Epaminondas  sofort  nach  dem  ersten 
Zuge  zu  Leibe  ging,  da  er  durch  den  Angriff  auf  Lakedaimon  seine 
Instruktion,  das  Gebiet  der  Arkader  zu  schützen,  überschritten  hatte. 
Epaminondas  und  der  mitaugeklagte  Pelopidas  wurden  mit  Glanz  frei- 
gesprochen und  sofort  369  wieder  zu  Boiotarchen  gewählt.  Indessen 
hat  schon  Beloch  (Griech.  Gesch.  II,  266  A.)  darauf  hingewiesen,  daß 
die  Gegenpartei  leiu  verrückt  gewesen  sein  müßte,  wenn  sie  Ep.  im 
Winter  370  nach  den  ungeheuren,  in  der  Peloponnes  erzielten  Erfolgen 
angeklagt  hätte;  nimmt  man  hinzu,  daß  368  beide  nicht  Boiotarchen 
sind,  so  ist  es  allerdings  wahrscheinlicher,  daß  die  Gegenpartei  die 
günstige  Gelegenheit  nach  dem  zweiten  ergebnislosen  Zuge  ergriff  und 
Diodor  mit  seiner  Ansetzung  des  Prozesses  auf  Ende  369  zufällig  das 
Rechte  getroffen  hat.  Demnach  haben  sich  sowohl  Mej'er  GdA.  5,  436 
und  Bury  S.  608  für  Diodors  Ansatz  entschieden;  der  Ausgang  des 
Prozesses  bedeutet  zugleich  die  entschiedene  Abkehr  Thebens  von  den 
peloponnesischen  Dingen  und  seine  Einmischung  in  die  nordischen  Ver- 
hältnisse, wo  durch  lasons  Ermordung  die  Bahn  frei  geworden  war. 
Daran  hat  auch  der  dritte  Einfall  des  Epaminondas  in  die  Pelo- 
ponnes 367,  der  im  wesentlichen  bestimmt  war,  Thebens  Stellung  gegen 
den  selbständig  vorgehenden  arkadischen  Bund  zu  kräftigen,  wenig  zu 
ändern  vermocht:  sein  anfänglicher  Erfolg,  die  Gewinnung  Achajas, 
ward  durch  die  unsinnigen  Maßregeln  der  thebanischen  Volksversamm- 
lung in  sein  Gegenteil  verkehrt.  Man  wird  schweilich  fehlgehen,  wenn 
man  diese  Maßregeln  auf  die  demokratische  Opposition  zurückführt,  die 
Epaminondas'  Politik  diskreditieren  wollte  (anders  Meyer  GdA.  5,  446), 
und  der  Erfolg  blieb  nicht  aus:  in  den  nächsten  .Tahren  ist  das  Gesicht 
der  thebanischen  Politik  beharrlich  nach  Norden  gerichtet.  Inzwischen 
ging  der  arkadische  Bund,  unbeirrt  durch  den  Frieden  von  366,  seine 
eigenen  Wege,  die  zunächst  zum  Konflikt  mit  Elis  führten.  Den  Ver- 
lauf des  Kampfes  hat  Niese  a.  a.  O.  durchaus  zutreffend  dargestellt; 
doch  scheint  es,  als  ob  die  von  Fränkel  (Sitz.-Ber.  der  Berl.  Akademie 
1898  41,  635)  auf  die  Rückzahlung  der  dem  Tempelschatz  von  Olympia 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  245 

entnommenen  Gelder  durch  den  arkadischen  Bund  bezogene  argivische 
Urkunde  in  eine  spätere  Zeit  gehört  (R.  "Weil,  Zeitschr.  für  Numisni. 
22,  1).  Eben  über  diese  Benutzung  der  Tempelschätze  aber  entstanden 
Streitigkeiten  unter  den  Buudesgliedern,  die  dem  Bestände  des  Bundes 
gefiihrlicli  zu  werden  drohten,  und  nun  mußte  Theben,  wenn  es  nicht 
alle  Früchte  seiner  Politik  im  Süden  verloren  gehen  lassen  wollte,  so 
schnell  wie  möglich  eingreifen:  an  der  Spitze  bedeutender  Heeresraassen 
überschritt  Epaminondas  im  Anfang  362  den  Isthmos,  um  die  Bundes- 
genossen im  Süden  an  sich  zu  ziehen  und  womöglich  die  Vereinigung 
der  Gegner  zu  hindern. 

Über  diesen  letzten  Feldzug  des  Epaminondas  und  die  Schlacht 
von  Mantineia  haben  wir  eine  eingehende  Monographie  von  Joh.  Kro- 
mayer,  die  mit  großem  Geschick  sämtliche  einschlagenden  Fragen  be- 
handelt und  im  ganzen  m.  E.  völlig  gesicherte  Resnltate  ergibt.  Be- 
ginnen wir  mit  der  Zeitbestimmung.  Ende  Juni  362  ist  die  Schlacht 
geschlagen,  wie  man  lange  Zeit  übereinstimmend  geglaubt  hat,  bis  die 
Auffindung  der  Urkunde  des  Fünfbnndes  Arkadien,  Elis,  Achaia,  Athen 
und  Sparta  CIA.  II,  57b  eine  anderweitige  Datierung  zu  erfordern 
schien.  Sie  stammt  aus  dem  Jahre  des  Molon,  der  am  1.  Hekatombaion 
=  15.  Juli  362  sein  Amt  antrat;  da  nun  kraft  des  Bündnisvertrages 
die  Hilfeleistung  Athens  bei  Mantineia  erfolgte,  so  erschien  es  evident, 
daß  die  Schlacht  später  fallen  mußte,  und  so  hat  sie  Köhler  zuerst  auf 
den  Spätsommer  362  verlegt.  Allein  Kromayer  zeigt,  daß  dann  die 
Zeit  zwischen  der  Hilfeleistung  der  Athener  und  dem  Treffen  selbst 
viel  zu  kurz  wird,  abgesehen  davon,  daß  auch  die  Jahreszeit  nicht  mit 
Xenophons  Erzählung  stimmt:  man  war  mitten  in  der  Ernte,  die  nach 
dem  grundlegenden  Werke  von  Fougeres,  Mantinee  et  l'Arcadie  Orien- 
tale p.  100,  auf  der  arkadischen  Hochebene  spätestens  mit  Ende  Juli 
vorbei  ist.  Auch  der  früher  von  Beloch  vertretene  Ansatz  der  Schlacht 
in  den  Sommer  361,  sowie  Ungeis  Annahme,  daß  sie  363  falle  und 
mit  dem  Vertrage  gar  nichts  zu  tun  habe,  verwickeln  in  Schwierigkeiten, 
und  so  sieht  sich  Krom.  zu  dem  Schluß  gedrängt,  den  übrigens  auch 
Bury  S.  623  selbständig  geäußert  hat,  daß  die  vorläufigen  Abmachungen 
in  betreff  des  Bundes  bereits  Anfang  362  getroffen  sind  und  daß  daraufhin 
die  Hilfssendung  der  Athener  erfolgte,  während  die  wirkliche  ßatifi- 
kation  des  Vertrages  erst  nach  dem  Beginn  von  Molons  Amtsjahr  vor 
sich  ging  (Krom.  Beil.  II,  S.  100—113).  Das  ist  in  der  Tat  die  ein- 
fachste Lösung  der  Schwierigkeiten,  die  alle  künstlichen  Verschiebungen 
überflüssig  macht. 

Ebenso  glücklich  scheint  mir  die  Frage  nach  dem  Orte  des 
Kampfes  behandelt  zu  sein.  Wer  die  genaue,  durch  vortreffliche  Karten 
und  einige  Photographien  unterstützte  Beschreibung   des  Schlachtfeldes 


246  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

liest  (S.  47 — 55),  wird  zu  der  Überzeugung  gelangen,  daß  die  Stellung 
der  Verbündeten  sich  eben  da  befand,  wo  Grote,  Loring  und  Fougeres 
sie  gesucht  haben.  Es  ist  die  engste  Stelle  der  ostarkadischen  Hoch- 
ebene, zwischen  Mytika  und  Kapnistra:  hier  standen  die  Verbündeten, 
die  nördliche  Ebene  und  den  Pelagoswald  im  Eücken,  mit  vortrefflicher 
Flankendeckung  auf  beiden  Seiten,  während  Epamiuondas  von  Tegea  im 
Süden  her  heranmarschierte.  Die  Wahl  des  Kampfplatzes,  der  den  Ver- 
bündeten die  mannigfachsten  Vorteile  bot,  macht  dem  Scharfblick  des 
alten,  vorsichtigen  Agesilaos,  der  offenbar  der  leitende  Manu  im  ver- 
bündeten Heere  war,  alle  Ehre  und  seine  Beschaffenheit  stimmt  mit  dem 
Gange  der  Schlacht  aufs  vortrefflichste  überein. 

Über  diesen  Gang  haben  wir  bekanntlich  zwei  Berichte,  den  an- 
erkannt sachgemäßen  Xenophons,  der  aber  leider  nur  die  Vorgänge  auf 
dem  rechten  spartanischen  Flügel  und  den  Durchbruch  des  Eparainondas 
schildert,  und  den  des  Diodor,  der  auch  hier  in  seinen  brauchbaren 
Teilen  auf  Ephoros  zurückgeht.  Dieser  zweite  Bericht  scheint  zunächst 
gänzlich  wertlos:  es  ist  die  richtige  diodorische  Xormalschlacht,  wie 
Holm  es  einmal  glücklich  ausgedrückt  hat,  die  hier  geboten  wird,  und 
so  ist  es  verständlich,  wenn  Delbrück  S.  135  mit  Grote  den  Bericht 
als  durchaus  unbrauchbar  verwirft.  Da  ist  es  nun  ein  entschiedenes 
Verdienst  Kromayers,  darauf  hingewiesen  zu  haben  (Beil.  I,  S.  90  ff.), 
daß  nach  Abzug  aller  diodoreischen  Redensarten,  die  bei  jeder  Schlacht- 
schilderung vorkommen,  doch  ein  Kern  übrigbleibt,  der  sich  als  ein 
natürlich  ganz  einseitiges  Bild  der  Vorgänge  auf  dem  athenischen  linken 
Flügel  enthüllt,  und  mau  wird  ihm  beistimmen,  wenn  er  mit  Köchly 
und  E-üstow  das  Bild  der  Schlacht  aus  einer  Kontamination  beider  Be- 
richte gewinnt:  der  eine  stammt  von  dem  spartanischen  Gewährsmann 
Xenophons,  der  auf  dem  rechten  Flügel  stand,  den  andern  erhielt 
Ephoros  von  einem  Athener,  der  auf  dem  linken  Flügel  an  der  Schlacht 
teilnahm  und  die  Wirksamkeit  der  dortigen  Truppen  nach  Möglichkeit 
herauszustreichen  suchte.  Dabei  bleibt  es  vollkommen  bei  der  Ver- 
urteilung von  Diodors  Bericht,  der  von  den  Vorgängen  auf  dem  rechten 
Flügel,  wo  doch  die  Hauptentscheidung  fiel,  überhaupt  nichts  erzählt: 
das  abfällige  Urteil  des  Polybios  12,  25  über  Ephoros"  Schlachtschilde- 
rungen ist  in  allen  Punkten  bestätigt.  Dennoch  bildet  der  diodorische 
Bericht  eine  wesentliche  Ergänzung  und  tatsächlich  ist  es  Krom.  infolge 
seiner  Benutzung  gelungen,  ein  derartig  klares  Bild  der  Schlacht  in 
allen  ihren  Phasen  zu  zeichnen  (S.  55  ff.),  daß  selbst  einzelne  Züge  da- 
durch den  Stempel  der  Wahrscheinlichkeit  erhalten. 

Allein  hiermit  sind  die  Ergebnisse  der  Kromayerschen  Forschungen 
noch  nicht  erschöpft.  Während  Delbrück  a.  a.  0.  noch  das  wesentliche 
Verdienst  des  Epamiuondas  in  einer    taktischen  Neuerung  erkennt,  er- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  247 

scheint  diese  bei  Kr.  sofort  in  einen  höheren  Zusammenhang  ein;^e- 
gliedert.  Ihm  ist  Epaminondas  der  erste  große  Vertreter  der  Ver- 
uichtungsstrategie:  wie  er  entscheidende  Schläge  vorzubereiten  und 
auszuführen  versteht,  zeigt  die  Vorgeschichte  der  Schlacht  mit  dem 
doppelten,  allerdings  beidemal  durch  plötzlich  eintretende  Ereignisse 
gescheiterten  Überfall  von  Sparta  und  Mantineia;  in  dieser  Hinsicht 
steht  seine  Feldherrnkunst  in  scharfem  Gegensatz  zu  der  Kunst  der 
kleinen  Erfolge,  wie  sie  Condottieri  vom  Schlage  des  Iphikrates  und 
Agesilaos  zu  üben  verstanden  (Krom.  S.  39).  Das  Mittel  dazu  sind 
ihm  ungeheure  Marschleistungen  und  eiserne  Disziplin  der  Truppen, 
Dinge,  die  ein  ei*fahrener  Kriegsmann,  wie  Xenophon,  schon  damals 
als  einen  wesentlichen  Teil  der  Kriegskunst  des  tliebanischen  Heer- 
führers erkannte  (Krom,  S.  44  f.  Xen.  7.  5.  19).  Dazu  aber  stimmt 
nun  auch  die  taktische  Neuerung:  die  Flügelschlacht  mit  dem  konzen- 
trierten Angriff  auf  einen  Punkt,  der  Durchbruch  und  die  Aufrollung 
der  gegnerischen  Linie  ermöglichen  in  ganz  anderer  Weise  die  völlige 
■Vernichtung  der  feindlichen  Feldarmee,  wie  die  alten  Parallelschlachteu. 
Aber  auch  in  betreff  jener  taktischen  Neuerung  selbst,  die  als 
sogenannte  schiefe  Schlachtordnung  bezeichnet  wird,  führen  Kr.s 
Untersuchungen  über  Delbrück  hinaus.  Dieser  erkennt  als  das  wesentlich 
Neue  bei  der  schiefen  Schlachtordnung  die  Verstärkung  gerade  des 
linken  Flügels,  der  nun  jedesmal,  zum  Augriffsflügel  bestimmt,  den 
stärksten  Teil  des  feindlichen  Heeres,  den  rechten  Flügel,  zu  werfen 
und  so  dessen  Niederlage  zu  vollenden  hat.  So  hat  schon  Xen.  Hell. 
7,  5,  23  die  Sache  aufgefaßt,  ohne  doch  den  Kern  zu  berühren;  hätte 
darin  das  ganze  Geheimnis  bestanden,  so  wäre  der  Stoß  leicht  zu  parieren 
gewesen.  Demgegenüber  hebt  Kr.  als  das  Wesentliche  die  Konzen- 
trierung des  Angriffs  auf  einen  Punkt  hervor,  der  sich  alle  übrigen 
Dispositionen  unterordnen  müssen;  wo  aber  dieser  Angriff  ansetzt,  das 
entscheiden  die  jedesmal  vorhandenen  Umstände.  Unter  ihnen  Ist  die 
natürliche  Beschaffenheit  des  Schlachtfeldes  weitaus  der  wichtigste ;  wie 
sie  sämtliche  Dispositionen  des  Epaminondas  bei  Mantineia  bedingt  hat, 
das  hat  Kr.  überzeugend  ausgeführt  (S.  76  ff.).  Delbrücks  Irrtum  ist 
dadurch  begreiflich,  daß  wir  nur  zwei  Schlachtdispositiouen  von  Epa- 
minondas selber  haben :  beidemal  ist  zufällig  der  rechte  feindliche  Flügel 
der  Angriffspunkt  gewesen,  weil  es  die  Umstände  so  verlangten;  daß 
dies  nicht  in  der  Natur  der  Sache  lag,  zeigt  Kr.  an  der  Schlacht  des 
Pammenes,  der  in  Epaminondas'  Schule  groß  geworden  war  (S.  78  ff.). 
Überhaupt  aber  ist  ra.  E.  der  Irrtum  Delbrücks  dadurch  hervorge- 
rufen, daß  er  zuviel  Gewicht  auf  Leuktra  legt  und  Ep.  nach  dieser  Schlacht 
beurteilt,  die  die  Technik  der  schiefen  Schlachtordnung  sozusagen  erst 
im    embryonalen  Stadium    zeigt:    manche    entscheidende   Momente    wie 


248  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

z.  B.  das  Umwenden  nach  dem  Durchbruch  uud  das  Aufrollen  der 
feindlichen  Linie  fehlen  hier  noch  oder  sie  sind  infolge  der  Eilfertig- 
keit des  Rückzugs  gar  nicht  zur  Geltung  gekommen.  Dem  militärischen 
Beobachter  von  dazumal  mußte  infolgedessen  der  Durchbruch  bei  Leuktra 
nicht  anders  erscheinen,  als  der  bei  Tegyra  und  Koroneia;  das  Ent- 
scheidende war  nur,  daß  der  Durchbrach  die  Stelle  traf,  wo  der  Kr.nig 
und  die  Spartiaten  standen.  Hätte  aber  nur  darin  das  Verdienst  des 
Epaminondas  bestanden,  wie  Delbrück  doch  meint,  so  wäre  es  nicht 
sonderlich  groß,  zumal  auch  die  tiefen  Gewalthaufen  der  boiotisohen 
Taktik  überhaupt  angehört  haben,  und  Xen.  scheint  das  auch  nicht  ge- 
funden zu  haben;  wenigstens  würde  es  sich  so  erklären,  daß  er  Epa- 
minondas gar  nicht  nennt.  Leuktra  war  ihm  eine  Art  verbesserter  Auf- 
lage von  Koroneia,  nur  mit  vernichtendem  Ausgange  für  Sparta,  dessen 
Mißerfolg  er  denn  auch  nach  Kräften  durch  allerhand  ungünstige  Zufällig- 
keiten zu  erklären  sucht.  Dagegen  erscheint  bei  Mantineia  alles  in 
höchster  Vollendung,  der  geniale  Flankenmarsch,  der  die  Feinde  über 
das  Angriffsziel  täuscht,  die  Flankendeckung  für  die  Angriffskolonne, 
der  Durchbruch  und  die  Einleitung  der  Bewegung  zum  Aufrollen  durch 
den  Führer  selber,  die  dann  durch  seinen  Tod  zu  plötzlichem  Stillstand 
kommt  —  alles  das  zeigt  den  Schlachtendenker,  der  zuerst  die  Schlacht 
nach  einem  einheitlichen  Gesichtspunkt  zu  leiten  gelehrt  hat  uud  auch 
in  unserm  Sinne  der  erste  große  Feldherr  ist,  den  die  Geschichte  auf- 
zuw'eisen  hat.  Hier  hat  ihm  auch  Xeuophon  seine  Bewunderung  nicht 
versagt:  sie  wiegt  um  so  schwerer,  als  sie  von  einem  erbitterten  Feinde 
Thebens  kommt. 

Je  höher  aber  dadurch  die  Stellung  wird,  die  Epaminondas  als 
Feldherr  einnimmt,  um  so  einmütiger  sind  die  Historiker  in  der  Ver- 
urteilung des  Staatsmannes,  und  das  wird  man  Meyer  (GdA.  5,  473  ff.) 
zugeben  müssen,  er  ist  der  große  Vernichter  gewesen,  der  auch  das 
letzte  noch  einigermaßen  haltbare  politische  Gebilde  von  Hellas,  den 
spartanischen  Staat,  zerschmettert  hat,  ohne  doch  Neues  an  seine  Stelle 
setzen  zu  können.  Allein  die  Gerechtigkeit  erfordert  doch  auch  zweierlei 
hervorzuheben:  daß  er  mit  einer  scharfen  mehrfach  siegreichen  Oppo- 
sition zu  kämpfen  gehabt  hat  und  daß  ei-  aus  der  Mitte  seiner  Lauf- 
bahn hinwegserissen  ist,  ohne  sein  Werk  vollenden  zu  können.  A'iel- 
leic)it  ifct  ihm  <hidurch  die  bitterste  Enttäuschung  erspart  geblieben: 
der  Zweifel  bleibt  berechtigt,  ob  das  boiotische  Volk  überhaupt  im- 
stande war,  die  Kolle  zu  tragen,  die  sein  größter  Sohn  ihm  zugedacht 
hatte.  Nach  seinen  letzten  Worten  scheint  es  Ep.  ja  selber  nicht  ge- 
glaubt zu  haben  und  so  erhält  sein  Untergang  etwas  Tragisches:  wie 
es  damals  unmöglich  war,  Hellas  aus  sicli  selbst  heraus  zu  regenerieren, 
hat  Meyer  (GdA.  ö,  475)  mit  schönen  Worten  auseinandergesetzt.     Als 


Jahresbericht  über  griechiselie  Geschichte.     (Lenschau.)  249 

wenige  Jahre  daraut'  im  Bundesgenossenkriege  der  athenische  Seebund 
zugrunde  ging  und  die  Militärmonarchie  des  Dionys  in  den  schwachen 
Händen  seines  Sohnes  zerbrach,  da  war  die  Kraft  der  Nation  zu  Ende, 
die  sich  in  jahrhundertlangem  Kampf  um  die  Vorherrschaft  erschöpft 
hatte.  ^In  derselben  Zeit,  wo  die  griechische  Kultur  ihr  Höchstes  ge- 
leistet hat  und  reif  geworden  ist,  zur  Weltkultur  zu  werden,  hat  die 
Xation  politisch  alle  Bedeutung  verloren.  Sie  ist  in  Stücke  zerschlagen 
und  die  Trümmer  liegen  da,  eine  leichte  Beute  für  jeden,  der  sich 
bücken  will,  sie  aufzuheben."  (Meyer  5,  572).  Aber  der  Mann,  der 
die  zerbrochenen  Stücke  zu  dem  Schwerte  zusammenschmiedete,  mit 
dem  sein  Sohn  die  Welt  erobern  sollte,  war  bereits  am  Werke:  Philippos, 
der  Sohn  des  Amyntas,  der  König  von  Makedonien. 


Die  Beurteilung  der  späteren  griechischen  Geschichte  häugt  sehr 
wesentlich  mit  der  Beantwortung  derFrage  zusammen,  ob  die  Makedonen 
als  den  Griechen  stammverwandt  oder  als  ein  fremdes  Volk  anzusehen 
sind:  je  nachdem  die  Entscheidung  fällt,  wird  man  die  griechische  Ge- 
schichte mit  dem  Ausgang  des  Bundesgenossenkrieges  und  der  Partei- 
kämpfe in  Syrukus  abschließen,  wie  Meyer  tut,  oder  man  wird  sie 
weiter  bis  zur  Eroberung  Asiens  (Sommer  330)  mit  Beloch  oder  mit 
Bury  noch  weiter  bis  zu  Alexanders  Tod  sich  erstrecken  lassen.  Leider 
aber  ist,  v.'ie  Kaerst  in  seiner  Geschichte  des  Hellenismus  I,  97  bei 
Erörterung  der  Frage  bemerkt,  eine  vollständig  sichere  Entscheidung 
unmöglich.  Auf  der  einen  Seite  steht  die  nicht  wegzuleugnende  Tat- 
sache, daß  sowohl  im  Bewußtsein  des  griechischen  wie  des  makedonischen 
Volkes  ein  sehr  deutliches  Gefühl  der  Xichtzusammeugehörigkeit  vor- 
handen war,  das  sich  auf  griechischer  Seite  in  dem  charakteristischen 
Worte  ausprägt,  es  sei  ein  hellenisches  Köuigsgeschlecht,  das  über 
makedonische  Männer  herrschte:  sicher  hatte  Demosthenes,  der  es  liebt, 
seinen  großen  Gegner  und  dessen  Volk  als  Barbaren  hinzustellen,  das 
Gefühl  der  Zuhörer  auf  seiner  Seite.  Andererseits  aber  hat  kein  sonst 
bekanntes  Volk  sich  in  so  kurzer  Zeit  griechisches  Wesen  so  völlig  zu 
eigen  gemacht  wie  das  makedonische,  das  später  zur  ßömerzeit  mit 
dem  griechischen  fast  völlig  verschmolzen  und  eins  war,  und  es  ist  nicht 
zu  bezweifeln,  daß  dieser  einzig  dastehende  Vorgang  sich  bedeutend 
besser  erklären  läßt,  wenn  man  ursprüngliche  Stammesvervvandtschaft 
annimmt,  als  unter  Voraussetzung  des  Gegenteils.  Unglücklicherweise 
versagt  hier  völlig  das  Kriterium,  das  die  Sprache  an  die  Hand  gibt: 
ihre  Erforschung  zeigt  zwar  deutlich  die  Verwandtschaft  der  Makedonen 
und  I^peiroten,  sowie  ihre  Verschiedenheit  von  den  illyrischen  Stämmen, 


250  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

allein  die  Untersuchung,  ob  dtis  makedonische  den  nordgriechischen  Dia- 
lekten hinzuzurechnen  sei,  wird  nicht  bloß  durch  die  Spärlichkeit  älterer 
makedonischer  Sprachreste  erschwert ,  sondern  auch  durch  die  Schwierig- 
keit zu  unterscheiden,  was  als  ursprüngliches  Gut,  was  als  griechisches 
Lehnwort  anzusehen  ist.  Die  Frage  muß  daher  vorweg  unentschieden 
bleiben,  wenngleich  man  im  allgemeinen  Kaerst  zustimmen  wird,  der 
das  Gewicht  der  für  Stammesverwandtschaft  sprechenden  Gründe  für 
stärker  hält.  Einen  eigentümlichen  Ausweg  schlägt  ßury  S.  683  ein; 
er  läßt  das  makedonische  Volk  aus  einer  Mischung  hervorgehen  zwischen 
der  ursprünglich  griechischen  Bevölkerung  der  makedonischen  Ebene 
und  den  nördlich  wohnenden  nichtgriechischen  Stämmen  der  Ürestis, 
Lynkestis  und  Elimiotis,  die  teilweise  bis  auf  Philipp  die  Selbständig- 
keit bewahrten:  ein  Vorgang  also,  wie  er  sich  etwa  in  Finland  zwischen 
den  Küstenfinen  germanischer  Abstammung  und  der  ugroaltaischen  Be- 
völkerung des  Innern  abgespielt  hat.  Dagegen  spricht  (vgl.  Kaerst  106), 
daß  Oresten  wie  Perdikkas  der  Eeichsverweser  und  Krateros,  sogar 
der  Liebling  des  makedonischen  Heeres,  sich  in  den  höchsten  Stellungen 
befunden  haben,  was  bei  der  bekannten  Empfindlichkeit  der  Makedonen 
gegen  fremdes  Oberkommando  schwerlich  möglich  gewesen  wäre,  wenn 
jene  Nord-  oder  Bergmakedonen  nicht  desselben  Stammes  gewesen  wären, 
wie  die  Makedonen  der  Ebene.  So  viel  ist  dagegen  an  der  Burj^schen 
Annahme  unzweifelhaft  richtig,  daß  jene  Makedonen  der  Ebene  viel 
früher  dem  griechischen  Einfluß  verfielen,  der  seit  den  Tagen  der 
chalkidischen  Kolonisation  hier  mächtig  war,  als  die  von  der  Küste 
eutternteren  Bewohner  des  oberen  Hochlandes. 

Dagegen  hat  man  für  dasKönigsgeschlecht  vielfach  griechischen 
Ursprung  angenommen  und  so  viel  ist  sicher,  daß  die  Griechen,  seit 
sie  mit  dem  Königsgeschlecht  in  engere  Berührung  kamen,  dieses  für 
griechischen  und  zwar  heraklidischen  Stammes  gehalten  haben.  Allein 
mit  Recht  weist  Kaerst  S.  107  ft".  darauf  hin,  daß  sich  nirgends  in  der 
makedonischen  Geschichte  eine  Kluft  zwischen  Volk  und  Königtum 
zeigt,  dieses  vielmehr  gerade  nur  als  ein  durchaus  nationales  begriffen 
werden  kann.  Also  stellt  sich  die  griechische  Abstammung  als  Er- 
dichtung dar,  die  aus  dem  bewul.lten  Streben  der  herrschenden  Ge- 
schlechter in  den  Nordstämraen,  sich  der  kulturell  höher  stehenden 
hellenischen  Nation  zu  nähern,  hervorgeht;  Kaerst  führt  eine  ganze 
Reihe  ähnlicher  Versuche  ans  den  makedonischen  Teilfürstentümern  und 
aus  Epeiros  an  (S.  118),  die  die  Sache  aufs  beste  erläutern.  Wahr- 
scheinlich gehen  diese  Bestrebungen  auf  Alexander  den  Philhellenen 
zurück,  dem  es  zuerst  gelang,  den  Anspruch  durchzudrücken,  und  dabei 
ist  er,  wie  Kaerst  überzeugend  dailegt,  durch  die  Tatsache  unterstützt, 
daß  das  makedonische  Königsgeschlecht  den  vom  orestischen  Argos  ab- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  251 

zuleitenden  Namen  Argeadai  führte,  der  die  Anknüpfung  an  das  pelo- 
pounesische  Argos  und  die  Heraklessage  ermöglichte.  —  Im  ganzen 
wird  CS  doch  wohl  das  Wahrscheinlichste  sein,  daß  Königtum  und  Volk 
der  -Makedonier  in  untrennbarer  Vereinigung  aus  den  im  Norden 
zurückgebliebenen  Resten  jener  Gebirgsstämme  erwachsen  sind,  deren 
Einbruch  einst  zur  sog.  dorischen  Wanderung  den  Anlaß  gab. 

Die  Entwickelung  Makedoniens  denkt  sich  Kaerst  im  wesent- 
lichen in  der  Weise,  daß  die  Bergstämme,  etwa  wie  die  Samniten  in 
Kampanlen,  allmählich  die  Herrschaft  über  die  Ebene  gewannen:  wichtig 
ist  sein  Hinweis  darauf  (S.  113),  daß  sich  daraus  allein  schon  mit 
Naturnotwendigkeit  der  Interessengegensatz  gegen  die  das  Küstenland 
beherrschende  Macht,  also  seit  den  Perserkriegen  gegen  Athen  heraus- 
bilden mußte.  Daraus  erklärt  sich  die  zweideutige  Politik  der  späteren 
makedonischen  Könige,  die  fast  immer  bei  scheinbar  guten  äußeren 
Beziehungen  zu  den  Herren  der  See  die  Hand  im  Spiele  hatten,  wenn 
es  galt,  die  hellenische  Vormacht  an  der  Küste  zu  erschüttern:  das 
trifft  für  den  Zug  des  ßrasidas  ebensogut  zu,  wie  für  die  Unter- 
nehmungen der  Spartaner  gegen  Olynth,  bei  denen  König  Amyntas  III. 
die  treibende  Kraft  gewesen  ist.  In  der  Tat  befanden  sich  diese 
Herrscher  in  derselben  Übeln  Lage  wie  die  nordischen  Königreiche  der 
Hansa  gegenüber;  in  dem  Augenblick,  wo  das  Volk  seiner  Kraft  be- 
wußt wird,  empfindet  es  die  kaufmännische  Ausbeutung  durch  die  Herren 
der  Küste  als  einen  unerträglichen  Druck  und  so  berechtigt  es  ist,  den 
prinzipiellen  Gegensatz  in  dem  Kampf  zwischen  Philipp  und  den 
Athenern  hervorzuheben,  den  Ausgangspunkt  bildet  immer  doch  der 
Gegensatz  der  wirtschaftlichen  Interessen,  der  in  den  besonderen  lokalen 
Besitzverhältnissen  wurzelt. 

Wenig  genug  ist  es,  was  wir  sonst  von  den  wirschaftlichen, 
sozialen  und  politischen  Zuständen  der  Frühzeit  Makedoniens  wissen, 
aber  auch  das  wenige  genügt,  die  vollkommene  Verschiedenheit  von  der 
hellenischen  Kultur  auf  der  von  ihr  damals  erreichten  Stufe  erkennen 
zu  lassen.  Das  fast  vollständige  Fehlen  städtischer  Siedelungen,  die 
hervorragende  Stellung  des  Adels  in  militärischer  und  politischer  Hinsicht, 
endlich  die  ausschlaggebende  Gewalt  des  Herrschers  sind  die  wichtigsten 
Züge,  die  in  Kaersts Schilderung  (8.1200".)  hervortreten,  und  auch  darin  hat 
K.  unzweifelhaft  recht,  daß  der  Beginn  der  neuen  Zeit  Makedoniens  nicht 
etwa  schon  in  die  Regierung  des  Königs  Archelaos  fällt,  der  freilich 
der  griechischen  Kultur  das  Land  in  ganz  besonders  hohem  Maße  er- 
schlossen hat.  Auf  Grund  der  Äußerung  des  Thukydides  (2,  100,  2), 
dal]  dieser  König  mehr  getan  habe  als  alle  die  anderen  vor  ihm  und  sich 
besonders  um  das  Heer  verdient  gemacht  habe,  glaubte  Köhler  eine 
Stelle  des  Anaximenes  v.  Lampsakos  (fr.  7  Müll.)  auf  ihn  beziehen  zu 


252  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.l 

dürfen,  wonach  Alexander  die  Pezetairen  organisiert  habe :  nach  Köhlers 
Annahme,  der  Beloch  gefolgt  ist,  war  hier  der  Name  des  Archelaos  in 
Alexander  verschrieben  und  jener  wäre  demnach  als  der  Organisator 
des  schweren  makedonischen  Fußvolks  anzusehen.  Allein  die  Worte 
des  Thuk.  Ttt-o'.?  te  y.al  o-Xoic  7.al  t/j  riXX-q  rapaszsuY^  oiExoaixrjas  können 
doch  nur  auf  die  Bewaffnung  des  Heeres  bezogen  werden,  wobei 
charakteristisch  die  Beschaffung  besseren  Pferdematerials  als  die  Haupt- 
sache vorangestellt  wird,  und  ferner  wäre  dagegen  das  direkte  Zeugnis 
des  Diodor  anzuführen,  der  die  Einrichtung  des  schweren  Fußvolks 
König  Philipp  zuschreibt  (16,  32).  Entscheidend  fällt  nach  Kaerst 
(S.  115  A.  5)  dagegen  ins  Gewicht,  daß  die  Neuformation  des  makedo- 
nischen Heeres,  wie  sie  unter  Philipp  und  Alexander  erfolgte,  bereits 
unter  dem  Einfluß  der  taktischen  Neuerungen  steht,  die  in  den  ersten 
Jahrzehnten  des  vierten  Jahrhunderts  aufkommen,  und  auch  eine  all- 
gemeine Beobachtung  läßt  sich  m,  E.  im  selben  Sinne  verwerten:  bis 
auf  König  Philipp  hat  das  Land  schutzlos  den  Barbareneinfällen  offen 
gelegen,  gegen  die  offenbar  die  Organisation  des  Ritterheeres  nicht 
genügte:  von  da  ab  sind  zwar  derartige  Raubzüge  noch  oft  von  den 
illyrischen  und  thrakischen  Völkern  versucht,  aber  stets  mit  leichter 
Mühe  zurückgetrieben  worden.  Das  legt  doch  die  Vermutung  nahe,  daß 
eben  in  Philipps  Zeit  jene  militärische  Organisation  fällt,  die  Makedonien 
das  Übergewicht  über  die  Nachbarvölker  verleiht,  mit  anderen  Worten, 
daß  er  der  Schöpfer  Makedoniens  ist  und  in  jener  Notiz  des  Anaximenes 
wie  so  oft  der  Name  seines  großen  Sohnes  den  seinigen  verdrängt  hat. 
Der  vierundzwanzigjährige  Prinz,  der  Anfang  359  den  makedo- 
nischen Thron  bestieg,  trat  zunächst  als  Vormund  seines  unmündigen 
Neffen  Amyntas  auf:  kurz  darauf  w'ard  ihm  nach  altem  makedonischen 
Herkommen,  das  sich  auch  auf  die  Dynastien  der  Diadochen  fortgepflanzt 
hat  (Antigonos  Doson,  Attalos  IL  vgl.  Breccia,  H  diritto  dinastico  uelle 
monarchie  dei  successori  di  Alessandio  Magno— Studi  di  Storia  Antica. 
IV,  p.  57),  die  persönliche  Königswürde  übertragen,  die  er  dann  aller- 
dings benutzt  hat,  das  legitime  Recht  seines  Neffen  ganz  beiseite  zu 
schieben.  Infolge  eines  Einfalls  der  Nachbarvölker  befand  sich  das 
Land  in  furchtbarster  Verwirrung,  aber  mit  fester  Hand  griff  der  junge 
Fürst  zu  und  schuf  in  der  neuen  Heeresorganisation  die  Grundlage 
einer  w'irksameu  Landesverteidigung.  Neben  die  Kavallerie  der  i-aXpoi, 
des  makedonischen  Adels,  trat  gleichberechtigt,  wie  der  Name  andeuten 
soll,  das  schwere  Fußvolk  der  7:c^£Tatpot;  auch  die  Hypaspisten,  die 
etwa  den  Peltasten  entsprechen,  erhalten  deu  Ehrennamen  staTpot  xuiv 
G-aaiTiaTüiv  und  ein  Teil  von  ihnen,  das  sog.  Agema  der  Hypaspisten, 
wurde  sogar  die  vornehmste  Truppe  des  Heeres,  der  der  persönliche 
Schutz    des  Königs    anvertraut    war.     Der    gemeinsame  Name  und  der 


Jahresbericht  über  griechische  Geschiebte.     (Lenschau.)  253 

gemeinsame  Dienst  des  Königs  waren  es  jetzt,  die  das  makedonische 
Volk  einigten:  die  bisherigen  Teilfürstentümer  wurden  beseitigt,  blieben 
aber  als  Aushebungsbezirke  für  das  ileer  bestehen  (so  Kaerst  138). 
Unzweifelhaft  ist  dieser  Organisation  vor  allem  auch  eine  politische 
Tragweite  beizumessen :  sie  bedeutet  eine  wesentliche  Demokratisierung 
der  makedonischen  Verfassung,  und  indem  jetzt  nicht  mehr  der  Adel 
allein,  sondern  das  gesarate  Volk  in  Waffen  als  Gefährten  des  Königs 
bezeichnet  ward,  erhielt  das  Königtum  Philipps  eine  breitere  Grund- 
lage und  eine  selbständigere  Stellung,  als  seine  Vorfahren  sie  dem  Adel 
gegenüber  gehabt  haben.  Es  ist  ein  besonderes  Verdienst  Kaersts, 
auf  diese  gewöhnlich  z.  B.  auch  von  Bury  übersehene  Seite  von  Philipps 
Heeresreform  energisch  hingewiesen  zu  haben  (S.  137  if.).  —  Was  die 
militärische  Dedeutung  angeht,  so  ist  hier  zunächst  jene  Dioiorstelle 
zu  beachten,  durch  die  die  Einrichtung  der  makedonischen  Phalanx 
aut  Philipp  zurückgeführt  wird.  Allein  sehr  richtig  zeigt  Delbrück 
(I,  363  ff.),  daß  die  Phalanx  Philipps  und  Alexanders  wesentlich  anders 
beschaffen  gewesen  sein  muß  als  der  ausgebildete  Gewalthaufeu  der 
späteren  Diadochenzeit,  den  Polybios  so  anschaulich  schildert:  er  schließt 
das  hauptsächlich  aus  der  Leichtigkeit,  mit  der  sich  die  Phalanx  in 
Alexanders  Schlachten  bewegt,  eine  Tatsache,  die  Bury  seltsamerweise 
damit  zu  erklären  sucht,  daß  in  der  Phalanx  eine  weitere  Aufstellung 
der  einzelnen  Soldaten  Platz  gegriffen  habe,  als  sie  bisher  üblich  ge- 
wesen sei  (S.  680).  Auch  die  Bemerkung  Delbrücks  (I,  144)  wird 
richtig  sein,  daß  der  einzelne  Phalangit  sowohl,  wie  die  Phalanx  als 
Masse  dem  in  den  vielen  damaligen  Kriegen  aufs  vielseitigste  aus- 
gebildeten Söldnerkrieger  und  seiner  taktischen  Fügung  nicht  gewachsen 
war:  das  scheinen  nicht  bloß  die  ersten  Schlachten  gegen  Onomarchos 
zu  beweisen,  in  denen  Philipp  unterlag,  sondern  auch  die  Zurückhaltung 
im  Gebrauch  der  Phalanx,  die  sich  noch  Philipp  und  Alexander  auf- 
erlegen, bei  denen  der  Offensivstoss  und  die  Umfassungsbewegung  stets  von 
der  schweren  Reiterei  ausgeht.  Doch  möchte  ich  nicht  mit  Delbrück 
eben  in  der  Inferiorität  von  Philipps  Pezetairen  das  Motiv  sehen,  das 
ihn  dazu  bewog,  sie  zur  Phalanx  zusammenzuballen,  sondern  viel  eher 
in  dem  Vorbild  der  Gewalthaufeu  des  Epaminondas,  auf  dessen  Schultern 
Alexanders  und  Philipps  Kriegskunst  durchaus  steht  (Kaerst  S.  140). 
Das  wirklich  Neue  in  der  makedonischen  Kriegskunst  liegt  (Delbrück 
8.  145  und  danach  Kaerst  S.  141)  in  der  Taktik  der  verbundenen 
Waffen,  die  durch  die  Beschaffenheit  des  makedonischen  Heeres  erfordert 
ward:  neben  der  verhältnismäßig  wenig  geübten  makedonischen  Phalanx, 
die  ihren  Weg  als  taktische  Erfindung  erst  machen  mußte,  stand  dem 
König  in  dem  altbewährten,  kriegstüchtigen  Adel  Makedoniens  und 
Thessaliens  ein  Reitermaterial  erster  Güte  zur  Verfügung,  das  sie  dem- 


254  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

entsprechend  in  den  Vordergrund  schoben.  Tatsächlich  hatte  schon 
Epaminondas  bei  Mantineia  gleichsam  tastend  diese  Verwendung  der 
Reiterei  versucht:  daß  sein  Beispiel  zunächst  keine  Nachahmung  fand, 
lag  in  der  großenteils  mangelhaften  Beschaifenheit  und  geringen  Anzahl 
der  hellenischen  Bürgerreiterei  begründet.  Im  übrigen  scheinen  mir, 
was  die  Ausbildung  und  Einrichtung  der  Phalanx  betrifft,  Delbrücks 
Ansichten,  wie  ich  hier  nur  andeuten  kann,  durch  die  Ausführungen 
Kromayers  in  Hermes  35,  216  in  sehr  wesentlichen  Punkten  modifiziert 
'/Ä\  sein. 

Das  neugebildete  Heer  und  Philipps  kluge  Diplomatie  ließen  ihn 
bald  der  Eindringlinge  Herr  werden,  die  Erwerbung  der  Goldbergwerke 
des  Pangaion  schufen  seinem  Reiche  die  gesicherte  finanzielle  Grund- 
lage (vgl.  Kaerst  152  ff.),  und  so  ist  er  trotz  augenblicklicher  Rück- 
schläge (352  und  340)  von  Erfolg  zu  Erfolg  geschritten,  bis  er  sein 
Ziel,  die  Hegemonie  über  Hellas,  erreicht  hat.  Die  Geschichte  dieses 
seines  Erfolges  liegt  in  ihren  Grundzügen  ziemlich  klar  vor  uns;  wie 
viel  trotzdem  in  Einzelheiten  hier  gewonnen  ist,  zeigt  eine  genaue  Ver- 
gleichung  der  einschlagenden  Partien  bei  Bury  S.  683  ff.  und  besonders 
bei  Kaerst  (Kap.  II)  mit  älteren  Darstellungen,  die  hier  nicht  vor- 
genommen werden  kann.  Für  keine  Periode  der  griechischen  Geschichte 
liegt  uns  ein  so  reiches,  aber  auch  freilich  kein  so  unzuverlässiges 
Material  vor,  als  für  diesen  letzten  Kampf  um  die  Vorherrschaft  von 
Griechenland,  und  das  mag  zum  Teil  den  totalen  Umschwung  der 
Gesamtauffassung  erklären,  der  in  den  letzten  Jahren  eingetreten  ist. 
Aber  auch  nur  zum  Teil;  in  Wirklichkeit  stehen  wir  vor  einem  Wechsel 
der  geschichtlichen  Grundanschauungen  überhaupt,  der  wieder  einmal 
das  bedenkliche  Wort  bestätigt,  welches  wir  alle  uns  zu  jeder  Zeit  vor- 
halten mögen;  daß  es  zumeist  der  Herreu  eigener  Geist  ist,  in  dem  die 
Zeiten  sich  bespiegeln.  Die  ältere  Generation,  die  in  den  Tagen  der 
konstitutionellen  Kämpfe  wurzelt,  wie  sie  in  den  dreißiger  bis  sechziger 
Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  ausgefochten  wurden,  hat  diese  ganze 
Periode  mit  den  Augen  des  Demosthenes  gesehen,  auf  den  ein  ver- 
klärenden Schimmer  fällt  als  den  letzten  unglücklichen  Vorkämpfer  des 
freien,  hellenischen  Bürgertums,  gegen  den  alles  niederdrückenden 
Absolutismus  einer  skrupellosen  Königsgewalt:  alles  Unrecht,  alle 
Schande,  die  Demosthenes  im  Eifer  des  Kampfes  auf  König  Philipps 
Haupt  gehäuft  hat,  ist  willig  geglaubt  und  womöglich  noch  vermehrt 
worden.  Aber  ein  neues  Geschlecht  von  Historikern  ist  herangewachsen, 
dessen  Jugend  die  gewaltsame  Einigung  Italiens  und  Deutschlands  von 
Norden  her  erlebte,  das  den  genialsten  Staatsmann  an  der  Arbeit  sah, 
und  ihm  hat  sich  unwillkürlich  das  Bild  verschoben:  auf  Philipps  Seite 
fällt  jetzt  das  Licht  und  Demosthenes  ist  der  große  Redner,    aber    im 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  25') 

letzten  Gründe  doch  der  kurzsichtige  Staatsraauu ,  der  eine  verlorene 
und  schlechte  Sache  vertritt,  niclit  ohne  daß  die  Schlechti{?keit  der 
Sache  auch  auf  die  Art  und  Weise  seiner  Politik  abfärbt  Sicherlicli 
kommt  dabei  auch  ein,  wenn  ich  so  sagen  darf,  ästhetisches  Vergnügen 
in  Betracht,  mit  dem  man  der  bei  aller  Verschlagenheit  doch  geraden, 
großzügigen  und  in  ihren  letzten  Zügen  bis  Chaironeia  vollkommen 
klaren  Politik  König  Philipps  zuschaut,  aber  das  Hauptmotiv  liegt 
doch  anderswo.  Es  ist  natürlich,  daß  eine  Zeit  wie  die  unsrige,  die 
den  Willen  zur  Macht  bewundert,  die  politisches  Unrecht  mit  dem 
besseren  Recht  höherer  Zivilisation  oder  rücksichtsloserer  Volksnatiir 
rechtfertigt ,  die  nationale  Politik  zur  "Weltpolitik  zu  erweitern  strebt, 
ihre  eigenen  Züge  in  dem  Werke  Philipps  und  seines  großen  Sohnes 
vviedcrrtndet  und  sich  rückhaltlos  auf  die  makedonische  Seite  stellt. 
Auch  Bury  und  Kaerst  stehen  auf  diesem  Standpunkt,  und  wenn  die 
vorhergehenden  Darlegungen  richtig  sind ,  so  können  sie  nicht  anders 
stehen.  Doch  ist  in  ihrer  Darstellung  ein  wesentlicher  Unter.echied. 
Bury  ist  ganz  Parteigänger  Philipps,  dadurch  ist  sein  Urteil  bestimmt 
und  so  ist  die  interessante  und  viel  Wahres  enthaltende  Charakteristik 
des  Demosthenes  S.  736  im  Grunde  eine  enorme  Ungerechtigkeit;  sie 
ist  nur  dadurch  begreiflich,  daß  in  einem  Lande,  in  dem  Grotes  Darstellung 
noch  mehr  oder  weniger  die  Geister  beherrscht,  die  Reaktion  gegen 
ihn  fast  mit  Notwendigkeit  nach  der  entgegengesetzten  Seite  zu  weit 
gehen  mußte.  In  Deutschland  war  es  Beloch,  der  zuerst  einer  ge- 
rechteren Beurteilung  König  Philipps  die  Bahn  gebrochen  hat,  und  so 
hat  Kaerst  hier  auf  einem  bereits  vorbereiteten  Boden  zu  arbeiten: 
daher  ist  bei  seiner  mehr  vorsichtig  abwägenden  Natur  seine  Behandlung 
des  Demosthenes  weit  maßvoller  ausgefallen  (S.  161  ff.).  Er  hat  vor 
allem  den  Staudpunkt  eingenommen,  von  dem  allein  eine  gerechte 
Würdigung  möglich  ist,  die  Bücksicht  auf  die  Gesamtentwickelung,  und 
sie  gibt  allerdings  Philipp  recht.  Der  Ausgang  der  griechischen 
Geschichte  zeigt,  daß  die  Nation  ihre  politische  Kraft  in  demselben 
Augenblick  verausgabt  hatte,  in  dem  ihre  Kultur  zur  Weltkultur  reif 
geworden  Vvar  (vgl.  oben  S.  249).  Sollte  sie  diese  ihre  Mission  erfüllen, 
so  konnte  das  nur  auf  dem  Wege  der  politischen  Expansion  ge- 
schehen, zu  der  Griechenland  nicht  mehr  fähig  war,  weil  die  hellenische 
Polis,  der  Stadtstaat,  völlig  abgewirtschaftet  hatte :  diesen  Dienst  haben 
Philipp  und  Alexander  der  hellenischen  Kultur  und  der  Gesamtent- 
wickelung geleistet.  Aber  neben  dieser  Auffassung  sub  specie  aeterni- 
tatis  gibt  es  eine  zweite,  die  ebenfalls  historisch  berechtigt  ist  Und  die 
den  geschichtlichen  Charakter  aus  sich  selbst  und  aus  seiner  Umgebung 
heraus  zu  begreifen  sucht:  ihr  wird  Demosthenes  immer  eine  ehr- 
würdige Gestalt   bleiben    und    bitter    wird  sie  die  Ungerechtigkeit  der 


256  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Pointe  empfinden,  mit  der  Bury  seine  Beurteilung  schließt,  daß  alles 
io  allem  Deraosthenes  eben  auch  nur  ein  typischer  Vertreter  des  Athens 
seiner  Zeit  gewesen  sei. 

Es  ist  ganz  interessant,  zu  sehen,  wie  die  veränderte  Grund- 
anschauung auch  die  Wertschätzung  einzelner  Personen  beeinflußt. 
Durchweg  gilt  der  älteren  Geschichtschreibung  Isokrates  als  ein  Wort- 
drechsler  und  Phrasendrescher,  dessen  Deklamationen  nur  geringen  Einfluß 
auf  seine  Mitbürger  hatten  und  der  nur  als  Redelehrer  eine  tiefer  gehende 
"Wirkung  erzielt  hat.  Heute  ist  eine  derartige  Ansicht,  wenn  sie  auch  noch 
hier  und  da,  wie  z.  B.  von  Eoepp,  (Alexander  d.  Große  S.  4)  ausgesprochen 
wird,  geradezu  eine  Seltenheit:  Beloch  und  Meyer  so  gut  wie  Kaerst  und 
Bury  sehen  in  ihm  den  ersten  aller  Publizisten  des  vierten  Jahr- 
hunderts, der  im  Gegensatz  zu  allen  den  mitten  im  politischen  Treiben 
stehenden  Staatsmännern  allein  die  richtige  Schätzung  der  realen 
politischen  Kräfte  gewonnen  hat.  Das  mag  vielleicht  ein  wenig 
übertrieben  sein  —  kein  Geschichtsschreiber,  der  die  Politik  seiner 
eigenen  Zeit  beurteilen  will,  kann  in  Isokrates  sich  selber  verdammen 
—  aber  das  ist  sicher,  niemand  ist  von  der  älteren  Richtung  der 
Geschichtschreiber  so  ungerecht  beurteilt  worden  wie  dieser  Mann, 
.,rait  dessen  Schriften  anfangen  muß ,  wer  die  griechische  Geschichte 
des  vierten  Jahrhunderts  und  die  Zeit  Philipps  verstehen  lernen  will" 
(Meyer  5,  280  A.). 

Eine  Einzelheit  ist  indessen  noch  aus  dieser  Zeit  des  Empor - 
steigens  der  makedonischen  Macht  zu  erwähnen,  weil  sie  zugleich  ge- 
stattet, einen  allgemeinen  Gesichtspunkt  zu  markieren,  der  öfters  ver- 
nachlässigt wird.  Unter  den  französischen  Funden  zu  Delphi  ist  eine 
Tafel  mit  einem  Dekret  zutage  gekommen,  durch  welches  den  vier 
Söhnen  des  Kersebleptes  die  Tipo^evta  -poii-av-usra  -posopta  upoor/.ta  gewährt 
wird.  Es  ist  zuerst  von  Perdrizet  in  BCH.  20,  466  (1896).  dann 
noch  einmal  von  Hoeck  im  Hermes  1898  besprochen,  der  dabei  Ge- 
legenheit genommen  hat,  seine  früheren  Forschungen  über  die  thra- 
kischen  Reiche  zu  berichtigen  und  zu  erweitern.  Aus  dem  Archouten- 
namen  ergibt  sich  die  Zeit  351/0  —  der  Ansatz  Homolies  356/5  er- 
scheint weniger  wahrscheinlich  (vgl.  Pomtow,  Delph.  Chronologie  in 
Pauly-Wiss.  Realenz.  S.  25.  113)  — ,  daraus  hat  Hoeck  mit  Recht  ge- 
folgert, daß  die  Angabe  in  Demostheues'  AristoUratea  163,  wonach  bei 
Kotys  Tod  359  Kersebleptes  und  seine  übrigen  Söhne  noch  |j.£'.paxuXXta 
gewesen  seien,  auf  einer  Unwahrheit  beruht.  Die  politische  Lage,  unter 
der  das  Dekret  entstanden  ist,  hat  H.  ebenfalls  richtig  geschildert:  an 
den  Thermopylen  352  von  den  Griechen  zurückgewiesen,  wandte  sich 
Philipp  wieder  dem  Nordosten  seines  Reiches  zu,  und  nun  versuchte 
Kersebleptes    es,    um    dem   drohenden  Kriege  zu  begegnen,    die  Hilfe 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  257 

Atheus  zn  gewinnen.  Diese  versag-te  indes  sofort,  als  es  hieß,  Philipp 
sei  krank  geworden,  und  nun  richtete  der  thrakische  Fürst  sein  Bündnis- 
gesnch  nach  Delphi  au  Phalaikos:  das  vorliegende  Dekret  läßt  ver- 
muten, daß  die  Verhaudluugen  von  Erfolg  gekrönt  waren.  Die  Sache 
ist  iu  mehrfacher  Hinsicht  interessant,  einmal  dadurch,  da(.l  sie  zeigt, 
wie  der  Gegensatz  zwischen  Philipp  und  den  Phokeru  damals  die  poli- 
tischen Verhältnisse  auch  über  die  Grenzen  Griechenlands  hinaus  be- 
herrschte, und  zweitens,  weil  sie  erkennen  läßt,  daß  die  Sölduerherr- 
schaft  in  Delphi  keineswegs  anarchische  Zustände  geschaften  hatte,  wie 
das  manchmal  nach  den  Berichten  zeitgenössischer  Schriftsteller  so  er- 
schtiut:  daß  der  Ausbau  des  Tempels  unter  der  phokischen  Usurpation 
ruhig  seinen  Fortgang  genommen  hat,  das  haben  die  delphischen  Aus- 
grabungen erwiesen  (Bury  S.701),  und  wenn  diePhokier  sich  der  Tempel- 
schätze bedienten,  so  haben  sie  sich  wohl  ebenso  gerechtfertigt  wie  die 
Athener,  wenn  sie  beim  Schatz  der  Athene  ihre  Zwangsanleiheu  machten. 
Allein  eben  die  Gesetzlichkeit  dieser  Zustände  legte  die  Gefahr  uahe, 
daß  sie  dauernd  wurden,  vor  allem,  daß  ein  tatkräftiger  und  fähiger 
Mann,  wie  es  Ouoraarchos  zweifellos  war,  gestützt  auf  die  Tempel- 
schätze und  ein  immer  weiter  anwachsendes  Heer  von  Reisläufern,  von 
<lenen  das  damalige  Griechenland  wimmelte,  in  Phokis  eine  Militärmon- 
archie begründete,  ideenlos  und  ohne  geschichtliche  Vergangenheit,  der 
Griechenland  lettungslos  verfallen  gewesen  wäre.  Der  Versuch  des  rein 
auf  sich  selbst  gestellten,  vaterlandslosen  Söldnertums,  Griechenland  zu 
knechten,  ist  tatsächlich  gemacht  worden,  und  davor  die  Nation  be- 
wahrt zu  haben,  ist  wahrlich  kein  geringes  Verdienst  König  Philipps 
(Bury  S.  714  und  bes.  Kaerst  S.  157  f.).  Neben  dies  negative  tritt  ein 
weiteres  positives  Verdienst,  das  in  der  Erschließung  der  nördlichen 
Balkanhalbinsel  für  die  griechisch- makedonische  Kolonisation  liegt. 
Diente  sie  auch  zunächst  der  Sicherung  der  Landesgrenzen,  so  kam  sie 
doch  einem  der  dringendsten,  auch  von  Isokrates  öfter  ausgesprochenen 
Bedürfnis  der  hellenischen  Welt  entgegen,  und  Tausende  von  Griechen 
sind  dem  Euf  des  Königs  gefolgt.  Es  ist  sehr  zu  loben,  dali  Kaerst 
S.  178  fif.  diese  sonst  wenig  beachtete  Tätigkeit  des  Königs  im  Zu- 
sammenhang dargestellt  hat:  allerdings,  eine  tiefgreifende  Wirkung  ist 
dieser  Kolonisation  nicht  beschieden  gewesen,  weil  unter  Alexander  der 
Schwerpunkt  des  Reiches  sich  nach  Asien  verschob  und  die  kolonisato- 
rischen Kräfte  iu  anderer  Richtung  verwandt  wurden. 

Es  war  um  die  Mitte  des  Jahres  339,  als  Philipp  zum  letzten 
entscheidenden  Schlage  gegen  Griechenland  ausholte.  Die  diplomatische 
Vorgeschichte  des  Feldzugs  oder,  mit  anderen  Worten,  die  Frage,  wie 
es  kam,  daß  das  Verfahren  gegen  Amphissa  nicht  in  Athens,  sondern 
in  Philipps  Hände  gelegt  ward,  der  damit  den  Vorwand  zum  entschei- 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    [VMi.  III.)        17 


258  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

denden  Eingreifen  erhielt,  wird  wohl  für  immer  dunkel  bleiben,  da  die 
Äußerungen  der  beiden  Hanptbeteiligten ,  Aschiaes  und  Demosthenes, 
sich  hier  diametral  widersprechen  (Kaerst  S.  192  f.).  Dagegen  hat  der 
militärische  Verlauf  der  Kampagne  eine  wesentlich  neue  und  erschöpfende 
Behau dlunnj  durch  Kr omay er  erfahren,  so  daß  nur  noch  in  verhältnis- 
mäßig nebensächlichen  Dingen  Unsicherheiten  zurückgeblieben  sind.  Die 
Grundlage  bilden  auch  hier  die  chronologischen  Fragen,  die  Kromayer 
in  der  Beil.  I,  S.  172—187  erledigt  hat:  seine  Ergebnisse  decken  sich 
hier  in  wesentlichen  Punkten  mit  der  Darstellung  Belochs  im  zweiten 
Band  seiner  Griechischen  Geschichte,  doch  tritt  der  Zusammenhang  der 
Ereignisse  bei  Kr.  schärfer  hervor.  Danach  beginnt  um  Mittsommer  340 
die  Belagerung  von  Perinthos;  auf  der  Herbstpylaia  desselben  Jahres 
kommt  es  zum  Streit  mit  Amphissa,  in  den  Winter  fällt  die  Blockade 
von  Byzanz,  die  offizielle  Kriegserklärung  Athens  und  Demosthenes' 
trierarchisches  Gesetz  (ebenso,  bis  auf  den  letzten  Punkt,  Kaerst  190  f.). 
Ins  Frühjahr  339  fallen  nacheinander  die  Aufhebung  der  Belagerung 
von  Byzanz,  Philipps  Skythenzug  und  nun  in  der  Frühlingsversammlung 
der  Amphiktionen,  zwischen  dem  11.  Mai  und  10.  Juni,  die  Übertragung 
des  Kommandos  gegen  Amphissa  (anders  Kaerst  193  ff.,  der  den  Skythen- 
zug Philipps  in  den  Sommer ^  den  Auftrag  der  Amphiktionen  auf  die 
Herbstpylaia  339  verlegt).  Anfang  September  besetzt  Philipp  Elateia-, 
es  folgt  das  Bündnis  Athens  und  Thebens,  das  Gesetz  über  den  Theo- 
rikenfonds  und  der  Auszug  gegen  Philipp,  alles  wohl  noch  vor  Beginn 
des  Winters.  In  diesen  Winter  339/8  hinein  setzt  Kr,  sodann  kleinere 
siegreiche  Gefechte  der  Verbündeten  und  den  Wiederaufbau  der  Phokier- 
städte:  im  Juni  tritt  mit  dem  Fall  Amphissas  die  Wendung  ein,  der 
am  2.  Aug.  die  Schlacht  von  Chaironeia  folgt.  DenAugelpunkt  dieser 
ganzen  Chronologie,  für  deren  Begründung  im  einzelnen  auf  die  Ab- 
handlung selbst  zu  verweisen  ist,  bildet  die  Ansetzung  des  tJberfalls 
von  Elateia  auf  den  Anfang  Sept.  339:  sie  ist  aus  einer  eigentümlichen 
Interpretation  der  Stelle  Asch.  3,  130  erschlossen.  Ein  Unfall  am  Tage 
otÄaos  [jL'JjTat  des  Mysterienfestes  (21.  Sept.)  legte  eine  Befragung  des 
delphischen  Orakels  nahe:  AYjfj-oa&svTf];  6'  ätvTsXeYe  ©iXittki^siv  xtjv  HuBiav 
cp'/axcuv,  a-aiosuTos  &^  xal  (JiroXaucav  y.al  £[J!.m[i,T:Xa[jLevo;  t^c  ucp'  uio-wv  oioo- 
jjLEVYjc  ilouaicL^.  Diese  letzten  Worte  übersetzt  Kr.  etwa  „sich  brüstend 
mit  der  ihm  von  euch  übertragenen  Amtsgewalt".  Da  nun  diese  Über- 
tragung bekanntlich  eben  infolge  der  Besetzung  Elateias  eintrat,  so  muß 
diese  allerdings  ihr  vorausliegen  und  zwar  etwa  14  Tage,  wie  Kr.  mit 
plausibeln  Gründen  dartut.  Allein  sowohl  das  (iirat^suToc  a»v  wie  das 
Part.  Präs.  otoo|xevY)c  deuten  an,  daß  die  Stelle  eher  so  zu  erklären  ist: 
„in  renommistischem  Vertrauen  auf  eure  gewöhnlich  bewährte  Nach- 
sicht".    Äschines  will  damit  nur  sagen,   daß  jenes  Bonmot  des  Demo- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  259 

sthenes  durchaus  ungehörig  sei,  und  daß  er  es  nur  riskiert  habe,  weil 
er  wußte,  daß  ihm  die  Athener  so  leicht  nichts  übelnahmen.  Kann 
demnach  die  Stelle  selber  für  die  Chronologie  nicht  verwendet  werden, 
so  verliert  auch  der  Schluß,  der  die  Ansetzung  von  Philipps  Ernennung 
zum  Bundesfeldjierrn  ergiebt,  S.  182,  seine  zwingende  Kraft;  dennoch 
stehe  ich  nicht  an,  Krom.s  Chronologie  in  den  Hauptpunkten  für  richtig 
zu  halten,  da  sie  einen  innerlich  wahrscheinlichen  Zusammenhang  der 
Dinge  herstellt. 

Mit  der  Besetzung  von  Elateia,  das  30  km  abseits  der  Straße 
von  Amphissa  liegt,  hatte  Philipp  allerdings  seine  Absichten  gegen  Athen 
deutlich  kundgegeben,  wie  man  denn  auch  dort  über  den  Sinn  der 
Maßregel  keinen  Augenblick  im  Zweifel  war:  indem  er  aber  auch  Ky- 
tinion  nahm,  das  den  Weg  nach  Amphissa  beherrscht,  sicherte  er  seinem 
Heere  die  feste  Stellung  südlich  vom  Öta  zwischen  den  beiden  genannten 
Städten  mit  einer  ausgezeichneten  Verbindung  nach  rückwärts  und  sich 
selber  die  Strategie  der  freien  Hand,  Sofort  tritt  nun  die  Diplomatie 
in  Aktion ;  der  König  blieb  ruhig  abwartend  in  seiner  Stellung  und  ver- 
suchte, dui-ch  eine  Gesandtschaft  Theben  auf  seine  Seite  zu  ziehen.  Die 
ungeheure  Gefahr  veranlaßte  Athen  zu  gewaltigen  x\nstreuguugeu ,  die 
diesmal  von  einem  doppelten  Erfolg  gekrönt  wurden  sowohl  in  diplo- 
matischer wie  in  militärischer  Beziehung:  die  glänzende  Beredsamkeit 
des  Demosthenes  zog  Theben  auf  die  Seite  Athens,  und  unmittelbar 
darauf  gelang  es  den  Verbündeten,  jene  hervorragende  Verteidigungs- 
stellung vom  Paß  von  Parapotamioi  bis  zum  Paß  von  Graviä,  der  aus 
der  nordphokischen  Ebene  nach  Amphissa  führt,  zu  besetzen  und  damit 
Philipp  den  Weg  nach  Hellas  vollständig  zu  verlegen.  Wie  das  im 
Angesicht  des  Königs  möglich  war,  wie  es  insbesondere  kam,  daß  dieser 
nicht  wenigstens  das  Defilee  von  Gravia  besetzte  und  sich  damit  die 
Straße  nach  Amphissa  völlig  sicherte,  bleibt  unklar:  hier  eben  ist 
eine  Stelle,  w^o  unsere  Quellen  vollständig  versagen.  Doch  scheint  der 
König  versucht  zu  haben,  die  Verteidigungslinie  zu  durchbrechen; 
darauf  bezieht  Kr.  jene  flüchtige  Erwähnung  der  Winterschlacht  und 
der  Schlacht  am  Flusse  bei  Demosthenes.  Gelungen  ist  der  Versuch 
nicht,  vielmehr  verstrich  der  Winter  damit,  daß  beide  Heere  sich  ab- 
wartend gegenüberlagen. 

Dies  scheinbar  nutzlose  Herumliegen  in  der  Verteidigungsstellung, 
das  die  Verbündeten  noch  im  Sommer  fortsetzten  und  das  vielfach  ge- 
tadelt worden  ist,  hat  Kr.  zutreffend  erklärt:  bei  der  Neuheit  der  make- 
donischen Verhältnisse  erwartete  man  eine  Verwickelung  im  Norden, 
die  den  König  zum  Abzug  bewog,  und  dachte  auch  wohl,  Zeit  gewonnen, 
alles  gewonnen  (S.  137).  Dazu  kam,  daß  die  Stellung  absolut  sicher 
erschien:    die   gegenteilige  Ansicht  Belochs    ist   gegenüber  Kromayers 

17* 


260  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte,    (Lenschau.) 

genauen,  durch  eine  vortreffliche  Karte  unterstützten  Ausführungen 
nicht  mehr  zu  halten  (S.  139  ff.):  selbst  eine  Umgehung  war  nur  unter 
großen  Schwierigkeiten  und  Gefahren  möglich.  Es  blieb  Philipp  schließ- 
lich nichts  übrig,  als  sich  durch  einen  Handstreich  aus  seiner  täglich 
unangenehmer  werdenden  Lage  zu  befreien.  Er  streute  das  Gerücht 
aus,  in  Makedonien  sei  ein  Aufstand  ausgebrochen,  und  fingierte  den 
Abzug,  der  ein  sofortiges  Nachlassen  der  Wachsamkeit  nach  sich  zog, 
worauf  der  König  gerechnet  hatte.  Ein  nächtlicher  Gewaltmarsch  bringt 
ihn  zurück,  er  erstürmt  den  Pass  von  Graviä,  das  Söldnerheer  und 
Ampbissa  werden  vernichtet.  Damit  ist,  von  rechts  her  umgangen,  die 
Verteidigungsstellung  der  Griechen  unhaltbar  geworden. 

Es  ist  das  Verdienst  Kr. s,  in  diesem  Überfall  von  Amphissa,  der 
uns  nur  in  späten  Quellen  überliefert  ist ,  die  entscheidende  Wendung 
des  Feldzugs  erkannt  zu  haben.  Wie  die  Dioge  lagen,  war  jetzt  die 
Schlacht  für  die  Verbündeten  eine  Notwendigkeit,  und  auch  das  Terrain 
war  gegeben:  es  war  die  Enge  zwischen  Chaironeia  und  dem  Akontion- 
gebirge,  das  von  Norden  her  hier  dicht  an  den  Kephissos  herantritt, 
eine  vortreffliche  Stellung,  deren  Vorzüge  Kr.  darlegt  und  deren  Wahl 
denselben  sicheren  strategischen  Blick  zeigt,  der  sich  schon  bei  der 
Besetzung  der  Linie  Parapotamioi — Graviü  bewährt  hatte.  Da  das 
Schlachtfeld  selbst  fast  mit  absoluter  Genauigkeit  zu  bestimmen  ist 
(Kroni.  S.  159),  so  ist  auch  die  Stellung  der  Truppen  nicht  zweifelhaft: 
auf  dem  linken  Flügel,  gedeckt  durch  die  Stadt  und  den  unmittelbar 
sich  anschljelienden  Gebirgszug,  der  eine  Umgehung  während  des  Ge- 
fechts unmöglich  machte,  standen  die  Athener,  rechts,  in  der  Flanke 
nur  durch  den  Kephissos  gedeckt,  das  thebanische  Aufgebot.  Die  militä- 
rische Schwäche  der  Stellung  sollte  eben  durch  die  Güte  der  Truppe 
ersetzt  werden,  auch  fiel  dem  thebanischen  Flügel  der  Angriff  zu.  Der 
Gesamtraum  betrug  von  der  Stadt  bis  zum  Kephissos  etwa  2  km,  das 
ergibt  nach  der  Stärkeberechnung  von  Krora,  (Beil.  III)  eine  Tiefe 
von  etwa  16  Mann;  die  Front  des  griechischen  Heeres  stand  nach 
NW.  Auf  der  gegnerischen  Seite  ordnete  Philipp  seine  Truppen: 
nach  alter  Sitte,  von  der  er  nicht  abweichen  durfte,  hatte  er  den 
rechten  Flügel  mit  der  Phalanx,  die  zum  Hinhalten  bestimmt  war, 
während  die  Reiterei  auf  dem  linken  Flügel  die  von  dem  Kronprinzen 
Alexander  befehligt  ward,  den  Oftensivstoß  zu  führen  hatte.  Trotzdem 
nur  wenige  Notizen  aus  Polyäu,  Frontin  und  ein  Schlachtbericht 
Diodors  erhalten  sind,  ergibt  sich  doch  ein  sicheres  Bild  des  Verlaufes 
der  Schlacht ;  während  beim  Kephissos  die  beiden  Offensivflügel  auf- 
einander prallten,  wich  Philipp  langsam  zurück  unter  lebhaftem  Nach- 
drängen von  athenischer  Seite,  so  daß  die  Front  des  griechischen 
Heeies    sich  nach  N.  drehte.     Erst    als  Alexander    gesiegt    hatte    und 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  261 

seine  Truppen  zum  Aufrollen  einschwenkten,  ^ebot  Philipp  Halt,  und 
nun  erlagen  auch  die  Athener  dem  Druck  der  Phalanx,  So  die  Dar- 
stellung Kromayers,  die  auch  hier  das  Gepräge  der  inneren  Wahrheit 
trägt,  wie  eine  Vergleichniig  mit  den  älteren  Darstellungen  von  Del- 
brück 1,  47  und  Bnry  S.  728  auf  den  ersten  Blick  lehrt. 

Eine  Verfolgung  der  Geschlagenen  hat  nicht  stattgefunden:  erst 
Alexander  hat  es  verstanden,  in  dieser  Hinsiclit  seine  Siege  energisch 
auszubeuten.  Allein  auch  so  war  der  Erfolg  des  Tages  gesichert.  Der 
"Widerstand  der  Verbündeten  war  gebrochen,  der  lange  Kampf  um  die 
Vorherrschaft  hatte  sein  Ende  erreicht:  endgültig  ist  von  da  ab  Make- 
donien die  Vormacht  Griechenlands  geworden. 


Fünftes  Kapitel. 
Die  Expansion  Griechenlands  338 — 323. 

J.  B.  Bury,  history  of  Greece.    p.  737  —  836. 

Jul.  Kaerst,    Geschichte  des  Hellenismus.    Bd.  1,    201 — 433. 

H.  Delbrück,  Geschichte  der  Kriegskunst,     Bd.   1. 

Fr.  Koepp,  Alexander  der  Grosse,    Bielefeld  und  Leipzig  1899, 


E,  Schwartz,  Artikel  Aristobulos,  Arrian,  Curtius  ßufus  in 
Fauly-V/issowas  ßealenzyklopädie. 

Fr,  Reuß,  Arrian  und  Appian,  Rhein.  Mus.  54,  446—465.   1899. 

—  Die  Überlieferung  der  Geschichte  Alexanders  d.  Grollen, 
Rh.  Mus.  57,  556—598.     1902. 

C,  F.  Lehmann,  zu  den  Ephemeriden  Alexanders  d.  Großen. 
Herm.  36,  320  f.     1901. 

ü.  Wilcken,  zu  den  pseudo-aristotelischenOeconomica.  Herm.  36, 
187—200.     1901, 

U.  Köhler,  die  Eroberung  Asiens  durch  Alexander  den  Großen 
und  der  Korinthische  Bund.  Sitz.-Ber,  der  Kgl,  Preuß.  Akademie 
d,  AVisseuschaften.  1898,   120—134, 

H.  Willrich,  Wer  ließ  König  Philipp  ermorden?  Herm.  34, 
174—182,     1899. 

Ad.  Bauer,  die  Schlacht  bei  Issos.  Jahreshefte  des  Österreich. 
Archäol.  Instituts,     1899.     S.  105—128. 


262  Jahresbericht  über  griechische   Geschichte.    (Lenschau.) 

E.  Koruemann,    zur    Geschichte    der    antiken  Herrscherkulte. 
Beitr.  zur  alten  Gesch.   1901.     I,  51  —  146 

ß.  Schubert,  der  Tod  des  Kleitos.     Rhein.  Mus.  53,  98—120. 

1898. 

—  die  Porosschlacht.     Rhein.  Mus.  56,  543—562.     1901. 

Jul.  Kaerst,    die  antike  Idee  der  Oekumene.     Akad.  Antritts- 
vorlesung.    Leipz.  1903. 


Die  ganz  verschiedene  Beurteilung,  die  Alexander  der  Große 
auch  in  den  neueren  und  neuesten  Darstellungen  gefunden  hat,  hängt, 
abgesehen  von  den  persönlichen  Sympathien  und  Antipathien,  die  bei 
der  Auffassung  geschichtlicher  Größen  eine  besondere  Rolle  spielen., 
ganz  vornehmlich  von  den  Quellen  ab,  und  gerade  in  dieser  Hinsicht 
sind  wir  bei  Alexander  besonders  ungünstig  gestellt,  da  wir  außer 
einigen  Inschriften  an  Primärquellen  so  gut  wie  nichts,  vielmehr  nur 
Bearbeitungen  kennen,  deren  älteste  in  das  erste  Jahrhundert  der 
römischen  Kaiserzeit  fällt.  Aber  noch  mehr:  auch  im  Altertum  hat  es 
eine  Alexanderfrage  gegeben,  und  fast  alle  unsere  Gewährsmänner  stehen 
ihrem  Stoff  nicht  unbefangen  gegenüber,  sondern  zeigen  sich  von  ge- 
wissen Tendenzen  beherrscht,  die  bald,  wie  bei  Arrian  und  Plutarch, 
auf  die  Verherrlichung,  bald,  wie  bei  Trogus-Justin  und  Curtius  Rufus, 
aut  seine  Herabsetzung  hinauslaufen.  Diese  Tendenzen  aufgehellt  und 
damit  zugleich  eine  richtigere  Wertschätzung  der  Alexanderhistoriker 
ermöglicht  zu  haben,  ist  das  Verdienst  der  modernen  Quellenforschung, 
die  in  den  letzten  Jahren  unter  den  Händen  von  Schwartz,  Reuß  und 
Schubert  einige  wichtige  neue  Ergebnisse  gezeitig  hat. 

Der  eine  Zweig  der  Überlieferung,  und  zwar  der  bei  weitem  beste, 
wird  durch  Arrians  Werk  dargestellt,  das  im  wesentlichen  auf  Ptole- 
raaios  und  Aristobulos,  zeitgenössischen  Quellen  von  hohem  Werte,  be- 
ruht, ohne  daß  doch  daneben  die  Alexandervulgata  ganz  vernachlässigt 
wäre;  diese  wird  vielmehr  vom  Schriftsteller  meist  mit  den  Ausdrücken 
X£70'jai,  Xe^exat,  Xe^o'ijlsvov  eingeführt.  Nun  wird  allerdings  infolge  von 
Schwartzens  energischem  Einspruch  (Pauly-Wissowa,  Art.  Aristob.) 
Aristobulos  gegenwärtig  nicht  mehr  so  sehr  hoch  eingeschätzt,  allein  schon 
durch  die  Benutzung  des  Ptolemaios  wird  Arrian  für  uns  eine  Quelle 
ersten  Ranges,  und  bei  einer  solchen  ist  es  auch  von  Wichtigkeit,  Zeit 
und  Umstände  zu  kennen,  unter  denen  sie  entstand.  Man  hat  nun  meist 
nach  Nissens  Vorgang  angenommen,  Arrian  habe  im  Alter,  als  er  sich 
von  der  höheren  Beamtenkarriere  zurückzog,    und  zwar  von  166 — 168 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  263 

sein  Werk  verfallt.  Demgegenüber  hat  uun  F.  ßeuß  in  dem  ersten 
der  j,'euauuten  Aufsätze  den  m.  E.  bündig-eu  Beweis  geführt,  dal.i  die 
Anabasis  viclmeiu"  ein  Jugend  werk  ist  und  sicherlich  vor  130  fällt, 
als  Arriau  noch  unter  dem  beherrschenden  Einfluß  seines  Lehrers 
Epiktet  stand,  und  daß  es  vielleicht  gerade  dies  Werk  war,  durch  das 
Hadrian  auf  den  jungen  Mann  aufmerksam  ward,  der  dann  später  im 
höheren  Verwaltungsfach  erfolgreiche  Verwendung  fand.  Es  ist  klar, 
daß  dies  Faktura  die  Schätzung  Arrians  beeinflussen  muH :  wir  haben 
es  also  nicht  mit  der  Arbeit  eines  alten,  vielfach  bewährten  höhereu 
Verwaltungsbeamten,  sondern  mit  der  Arbeit  eines  jungen  Mannes  zu 
tun,  bei  dem  sich  noch  manche  Einflüsse  der  epiktetischen  Lehre  (s.  ßeuß 
a.  a.  0.)  zeigen  und  dem  auch  die  etwas  reichlich  naive  Äußerung  über 
die  Wahrhaftigkeit  des  Ptolemaios  praef.  2  allenfalls  zuzutrauen  ist. 
Auch  kann  es  fraglich  erscheinen,  ob  man  bei  einem  Erstlingswerk, 
wie  es  demnach  doch  die  Anab.  Alex,  war,  jene  reinliche  Scheidung 
der  Quellen  voraussetzen  darf,  die  wir  gewöhnlich  bei  Arriau  annehmen. 
Hin  und  wieder  sind  schon  Zweifel  dagegen  rege  gev/orden,  und  dahin 
würde  auch  die  Beobachtung  zielen,  die  Schubert  in  Arrians  Bericht 
über  die  Porosschlacht  gemacht  hat:  daß  Arr.  nämlich  hier  und  da,  wo 
ihm  die  Relation  der  Hauptquellen  nicht  zu  genügen  schien,  einfach 
Stücke  der  Vulgata  hineinarbeitete,  ohne  diese  jedesmal  ganz  genau 
durch  Xi'(z-aL  usw.  zu  bezeichnen.  Und  um  so  woniger  kann  es  auf- 
fallen, daß  er  ab  und  zu  die  Gelegenheit  benutzt  hat.  Reden  eigener 
Erfindung  einzulegen,  wie  die  Alexandeis  am  Hyphasis  (5,  27  ff.),  die 
jetzt  nach  Nieses  Vorgang  von  den  meisten  für  nicht  authentisch  ge- 
halten wird.  Daß  in  der  Tat  die  Quellenfrage  bei  Arriau  gar  nicht 
so  einfach  liegt,  wie  es  nach  der  Vorrede  scheint,  ist  freilich  schon 
öfters  bemerkt  worden. 

Ein  zweiter  Strom  der  Überlieferung  ist  es,  der  in  Diodor,  Trogus- 
Justin,  und  Curtius  Rufus  zutage  tritt.  Daß  er  sich  im  wesentlichen 
aus  Kleitarchüs  herleite,  ist  eine  alte,  bewährte  Hypothese:  für  Curtius 
Rufus  hat  sie  neuerlich  noch  Schwartz  durch  eingehende  Zusammen- 
stellungen erwiesen  (Pauly-Wiss. ,  Art.  Curtius  Rufus).  Das  Inter- 
essanteste an  dieser  Quelleuklasse  ist  das  Vorhandensein  einer  ziemlich 
starken,  alexanderfeindlicheu  Tradition,  die  sich  vor  allem  bei  Trogus- 
Justin  und  Curtius  Rufus  geltend  macht  und  für  die  man  mannigfach 
nach  Erklärungen  gesucht  hat.  Lange  Zeit  galt  die  Vermutung 
Gustav  Schwabs,  daß  jene  alexanderfeindliche  Färbung  auf  Timagenes 
zurückginge,  der  im  ersten  vorchristlichen  Jahrhundert  in  Rom  lebte 
und  eine  Alexandergeschichte  geschrieben  haben  soll:  nur  das  erschien 
zweifelhaft,  ob  er  auf  Curtius  durch  Trogus  hindurch  oder  gleichmäßig 
auf  beide  eingewirkt    habe.     Indessen    ist    diese  ganze  Einwirkung  des 


264  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Timagenes  eine  sehr  problematische  Sache:  besonders  Schwartz  hat  darauf 
hingewiesen,  daß  wir  bei  Timagenes  eigentlich  nur  von  einer  Diadochen- 
geschichte, nicht  von  einer  Geschichte  Alexanders  des  Großen  Kenntnis 
haben.  Auch  Reuß  kommt  bei  seiner  Behandlung  der  Sache  Rh.  M. 
57,  556  ff.  zu  einem  negativen  Resultat:  doch  läßt  er  es  nach  Ab- 
lehnung der  Timageneshypothese  unentschieden,  ob  Cnrtius  direkt  von 
Trogus  abhängig  ist  oder  nicht.  Wesentlich  hat  dagegen  Schwartz  die 
ganze  Sache  durch  den  Nachweis  gefördert,  daß  die  Tendenz  bei  Trogus 
und  Curtius  zwar  gleichmäßig,  aber  doch  keineswegs  im  gleichen  Sinne 
alexanderfeindlich  sei.  Bei  Trogus  erscheint  A.  als  der  gewaltige,  un- 
widerstehliche Sieger  und  Tyrann,  der  niemand  neben  sich  duldet  und 
mächtig  ins  TJngeraessene  strebt;  bei  Curtius  liegt  die  Sache  so,  daß  er 
Alexanders  Erfolge  nicht  sowohl  seinem  überlegenen  Genie,  als  vor- 
nehmlich auch  der  tu'/y),  dem  Zufall  zuschreibt,  und  diese  Auffassung 
liegt  offenbar  auch  den  Ausführungen  des  Livius  zugrunde  in  Lib.  9, 
17 — 19,  wo  er  gegen  einen  Schriftsteller  polemisiert,  der  behauptet 
hatte,  auch  die  Römer  würden  dem  Genie  Alexanders  nicht  wider- 
standen haben.  Ob  das  derselbe  war,  den  Dionysios  in  der  Vorrede 
der  Aut.  Rom.  1.  4.  3  tadelt,  weil  er  alle  Erfolge  Roms  dem  Glücke 
zuschrieb  und  der  direkt  im  parthischen  Solde  gestanden  haben  soll, 
wird  sich  schwer  ausmachen  lassen;  sicher  ist  nur  die  höchst  inter- 
essante Tatsache,  die  Schwartz  aus  allem  diesem  erschließt:  daß  nämlich 
im  ersten  Jahrhundert  der  Kaiserzeit  das  glänzende  Bild  Alexanders 
eine  Trübung  erfuhr  und  eine  Geistesrichtung  aufkam,  die  das  Werk 
des  großen  Königs  herabzusetzen  geneigt  war.  Erst  Arrian  und  Plu- 
tarch  bezeichnen  die  Reaktion  gegen  diese  Richtung :  früliere  Historiker 
von  geringerer  Selbständigkeit  wie  Livius,  Trogus,  Curtius  haben 
ihr  Tribut  gezollt,  zumal  das  Material  für  eine  solche  Beurteilung 
damals  massenhaft  vorlag.  Denn  ob  Alex,  seine  Erfolge  der  dpsTv^ 
oder  der  tu/t]  verdanke,  das  muß,  wie  Schwartz  mit  Recht  hervorhebt, 
einer  der  beliebtesten  tottoi  in  den  hellenistischen  Rhetorenschuleii  ge- 
wesen und  dort  nach  allen  Richtungen  hin  durchgesprochen  sein.  Da- 
gegen geht  jene  Auffassung,  die  seine  Weltherrschaft  als  ein  Erzeugnis 
frevelhafter  u^-ipi;  hinstellte,  in  ihren  ersten  Anfängen  schon  auf  die 
makedonische  Umgebung  des  Königs  zui  ück :  der  ülynthier  Kallistheiies 
war  nach  Schwartz  ihr  erster  Vertreter,  und  sie  mußte  um  so  mehr 
»um  Dnrchbruch  kommen,  als  eins  der  hellenistisclien  Reiche  nach  dem 
anderen  zerfiel  und  so  das  Werk  Alexanders  der  Vernichtung  anheim- 
gegeben schien.  Aus  dem  Betonen  jener  beiden  Mächte,  der  -r-j/rj  und 
der  ußpi»,  erwuchs  die  alexanderfeindliche  Stimmung  der  ersten  Kaiser- 
zeit, die  erst  seit  Plut.  und  Arrian  wieder  der  Bewunderung  wich: 
Trogus  und  Cnrtius  haben  ihr,  jeder  in  seine  Weise,  nachgegeben. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschaii.)  205 

Indessen  sind  die  beiden  Vei'f^ionen  der  Alexandergescliichte,  wie 
sie  durch  Arrian  einerseits,  durch  Diodor,  Trogus- Justin,  Curtius 
andererseits  vertreten  werden,  keineswegs  streng  voneinander  geschieden. 
Zur  Erklärung  der  mannigfachen  Bezieliungen,  die  zwischen  ihnen  vor- 
liauden  sind,  hat  Ecul.!  vor  allem  dai'auf  hingewiesen,  daß  Kleitarch  eben 
aucli  Aristobulos  benutzt  habe,  während  Schwartz  einen  Augenblick 
das  gegenteilige  Verhältnis  anzunehmen  geneigt  war.  Vielmehr  ist 
Kleitai'ch  nach  Reuß  a.  a.  0.  der  große  Kompilator,  der  um  etwa  260 
im  wesentlichen  die  Alexandergeschichte  zum  Abschluß  gebracht  und 
damit  die  Grundlage  für  unsere  zweite  Quellenklasse  geschaffen  hat. 
Daneben  aber  hat  Schwartz  noch  eine  zweite  Mögliclikeit  für  die  Er- 
klärung jener  vorhin  genannten  Beziehungen  aufgedeckt:  er  nimmt 
nicht  ohne  Grund  an,  daß  die  vornehmlich  von  Kleitarch  heriührende 
Vulgata  immer  wieder  nach  der  arrianischen  Version  retuscliiert  ward, 
indem  die  Alexanderhistoriker  sich  stets  von  neuem  an  dem  Werk  des 
Ptolemaios  orientierten.  Höchst  eigentümlich  ist  endlich  die  Stelluni; 
Plu'tarchs.  Seine  ganze  apologetische  Tendenz  mußte  ihn  auf  dieselben 
Quellen  wie  Arrian  hinweisen,  und  so  ist  denn  zwischen  beiden  eine 
weit  gehende  Übereinstimmung  vorhanden,  die  sich  auch  auf  die  Notizen 
aus  der  Alexandergeschichte  erstreckt,  welche  an  vielen  Stellen  Stiabos 
sich  verstreut  finden.  Diese  Übereinstimmung  hat  nach  Schönes  Vorgang 
Lüdecke  seinerzeit  dadurch  zu  erklären  gesucht,  daß  er  ein  allgemeines 
Sammelwerk,  die  Alexandergeschichte  Strabos,  als  gemeinsame  Grund- 
lage annahm.  Dagegen  hat  aber  Schwartz  mit  vollem  Rechte  einge- 
wandt, daß  ein  derartiges  Sammelwerk  mit  reinlich  geschiedenen  Quellen, 
wie  es  dann  doch  mindestens  Arrian  vorgelegen  haben  müsse,  im  Alter- 
tum einfach  undenkbar  sei,  und  hauptsächlich  deshalb  hat  es  Lüdeckes 
Annab.me  auch  nicht  zu  allgemeiner  Geltung  bringen  können.  Indessen 
hat  der  Gedanke  immerhin  eine  gewisse  Anziehungskraft:  das  zeigt  die 
Annahme  von  Reuß,  daß  die  Älexaudergeschichte  einmal  von  einem 
großen  Kritiker  behandelt  worden  sei ,  dessen  Grundsätze  jene  drei 
Schrittstsller  sich  übereinstimmend  zu  eigen  gemacht  hätten.  Einzelne 
dieser  Grundsätze  glaubt  Reuß  noch  erkennen  zu  können,  z.  B.  die 
Verwerfung  des  Onesikritos,  Polykleitos,  Kleitarch,  die  den  Grund  bilde, 
weshalb  sie  bei  jenen  drei  Schriftstellern  überhaupt  nicht  oder  nur  sehr 
selten  erwähnt  werden.  Selbstverständlich  kann  der  Kritiker  niemand 
anders  gewesen  sein  als  Eratosthenes,  der  im  dritten  Buch  seiner  Geo- 
graphie genügend  Gelegenheit  hatte,  sich  mit  diesen  Fragen  zu  be- 
schäftigen. Die  Sache  ist  einigermaßen  problematisch,  besonders  bei 
der  Naivität,  mit  der  Arrian  über  seine  Quellen  spricht,  würde  mau 
wohl  eine  Andeutung  seines  Verhältnisses  zu  Eratosthenes  erwarten; 
für  Plutarch  aber  trifft  sie  auch  nicht  zu.    Überhaupt  scheint,  wie  sich 


266  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

bereits  oben  gezeigt  hat,  die  Selbständigkeit  dieses  Schriftstellers  noch 
immer  unterschätzt  zu  werden.  Sehr  lehrreich  ist  in  dieser  Hinsicht 
Schuberts  Untersuchung  über  den  Tod  des  Kleitos,  in  der  er  bei  dem 
Bericht  Plutarchs  nicht  weniger  als  vier  Gewährsmänner  aufweist; 
Kallisthenes,  Chares,  Duris  und  Kleitarch;  sollte  Plutarch  in  der 
Tat  alle  diese  bereits  einem  Sammelwerk  entnommen  haben,  ohne  einen 
einzigen  selber  nachzuschlagen? 

Eine  wichtige  Stelle  unter  den  verlorenen  Quellen  nehmen  die  Ephe- 
mer iden   ein,   jene  kurzen  tagebuchartigeu  Berichte,  deren  Charakter 
zuerst  Wilcken  genauer  dargelegt  hat.    Arrian  hat  sie  durch  Ptolemaios. 
hindurch  benutzt,  allein  auch  bei  Plutarch  finden  sich  Stücke,  die  den 
tagebuchartigen  Charakter    sogar    noch    deutlicher   liervortreten  lassen. 
Über  die  Art,    wie  Plut.  zu  diesen  Berichten  gelangt  sein  könnte,  hat 
C.F.Lehmann  kürzlich  im  Vorbeigehen  sich  geäußert:  er  nimmt  aa, 
dal)  Eumenes,    dem    die  Führung    der  Ephemerideu    oblag,    neben    der 
Reinschrift  noch    eine  Abschrift  (warum   nicht   das  Brouillon,  nachdem 
es  von  Alex,  genehmigt  war?)    aufbewahrt  habe.     Jenes,  das  offizielle 
Exemplar,  ging  in  Perdikkas' ,    des  Reichsverwesers,  Besitz  über,    mit 
dessen    Habe    es   321   von  Ptolemaios    erbeutet  ward;    dieses    blieb    in 
Eumenes'  Händen  und  kam  aus  seinem  Nachlaß  au  seineu  Freund  und 
Landsmann  Hieronymos    v.  Kardia,    aus    dessen  Werk   Plutarch    seine 
Kenntnis    der  Ephemeriden    geschöpft    haben    wird.      Es    ist    durchaus 
möglich,    daß    die  Sache  so  zugegangen  ist:    jedenfalls  ist  man  so  der 
immerhin  zweifelhaften  Annahme  überhoben,  daß  die  königlichen  Ephe- 
merideu irgendwann  in  Buchform  herausgegeben  seien.  —  Eine  andere 
Primärquelle,    die  allerdings  nicht  allzuviel  hergibt,  ist  kürzlich  durch 
Wilcken    aufgedeckt    worden.     Er  hat  gezeigt,    daß    der  sog.  aristote- 
lische Oikonomikos,    der  nach  der  bisherigen,    auf  Niebuhr    zurück- 
gehenden Annahme  zwischen  308  und  188  in  Kleiuasien  entstanden  sein 
soll,  in  seinem  zweiten  Teil  keine  einzige  Tatsache  vorbringt,  die  über 
Alexanders  Tod    hinabgiuge.     Daraus    zieht  er  mit  Recht  den  Schluß, 
daß   die  Beispielsammlung,    die    offenbar    von    einem    Schüler    auf  den 
Wink    des  Lehrers    gemacht    ist,    um    die  Zeit    kurz    vor    oder    nach 
Alexanders  Tod  zusammengestellt    sein  muß.     Den    gegenwärtigen  Zu- 
stand der  Schrift  erklärt  sich  Wilcken  so,  daß  später  ein  Peripatetiker, 
der  eine  Theorie  der  Ökonomie  geschrieben  hatte,  um  seinem  Elaborat 
einen    gewissen    praktischen  Wert    zu    verleihen,    die    ältere    Beispiel- 
sammlung daran  hängte;    der  Übergang  ist  allerdings  in  ß.  1,  8  noch 
deutlich  erkennbar. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau  )  267 

Der  Tag:  von  Chaironeia  hatte  König  Philipp  die  V^orherrschaft 
über  die  griechischen  Staaten  gegeben;  der  korinthische  Landfriedens- 
buud  stellte  die  Form  fest,  in  denen  die  makedonische  Hegemonie  über 
Hellas  zum  Ausdruck  kommen  sollte.  Über  seine  einzelnen  Bestim- 
nnuigen  sind  wir  sehr  mangelhaft  unterrichtet.  Alles,  was  sich  darüber 
sagen  läßt,  hat  Kaerst  auf  Grund  seiner  früheren  Forschungen  noch 
einmal  ausführlich  und  übersichtlich  zusammengestellt.  Eine  Hauptfrage 
bleibt  die,  ob  hier  bereits,  auf  der  Tagsatzung  zu  Korinth,  der  allge- 
mein hellenische  Kampf  gegen  Persien  verkündet  worden  ist:  mit  an- 
dern Worten,  ob  Philipp  bereits  den  Krieg  gegen  den  Großkönig  geplant 
hat,  dessen  Ausführung  nachher  seinem  Sohne  beschieden  war.  Gegen 
diese  Ansicht  hat  zuerst  Ulrich  Köhler  seine  Stimme  erhoben,  indem 
er  auf  die  Stelle  bei  Trogus- Justin  hinwies,  wo  bei  der  Erwähnung  der 
Oruudbestimrauug  des  korinthischen  Landfriedens  das  Motiv  des  Krieges 
gegen  Persien  nichb  als  ein  integrierender  Teil,  sondern  mit  den  Worten 
neque  erat  dubium  IX,  5,  5  als  die  allgemeine  damalige  Vermutung, 
als  ein  Schluß  aus  dem  Charakter  der  vorausgehenden  Bestimmungen 
«rwähut  wird.  Ebenso  hat  Ranke  in  seiner  Weltgeschichte  die  ältere 
Darstellung  stillschweigend  durch  eine  andere  ersetzt.  Die  Sache  ist 
demnach  noch  nicht  vollkommen  klar,  und  da  sie  für  die  Beurteilung 
der  Politik  König  Philipps  und  seines  Sohnes  von  grundlegender  Be- 
deutung ist,  so  hat  Kaerst  a.  a.  0.  die  ganze  Erage  einer  erneuten 
Besprechung  unterzogen,  deren  Ergebnisse  im  wesentlichen  mit  der 
älteren .  Ansicht  zusammeutreft'en. 

Was  zunächst  die  äußere  Beglaubigung  angeht,  so  ist  es  nicht 
Diodor  allein,  der  die  asiatischen  Pläne  des  Königs  ausdrücklich  be- 
zeichnet, sondern  auch  Polybios  3,  2,  6  und  beide  Stellen  berühren  sich 
in  ihrem  Wortlaut  so  nahe,  daß  nur  an  eine  gemeinsame  Quelle  gedacht 
werden  kann  (Kaerst,  Beilage  III).  Andererseits  erwähnt  zwar  Trogus- 
Justin  den  Beweggrund  des  Angriffskrieges  nur  als  bloße  Vermutung, 
allein  die  ganze  übrige  Darstellung  setzt,  wie  Kaerst  erwiesen  hat,  doch 
■das  Vorhandensein  eines  solchen  Planes  voraus,  und  so  ist  es  ganz  wohl 
möglich,  jene  Bemerkung,  an  die  Köhler  anknüpft,  als  durch  die  Un- 
genauigkeit  des  Auszuges  entstanden  zu  denken.  Immerhin  ist  dieser 
äußere  Anhalt  zu  schwach,  um  dauach  die  Streitfrage  zu  entscheiden; 
hier  müssen  wesentlich  innere  Gründe  mitsprechen  und  diese  lassen 
keinen  Zweifel  darüber,  daß  ein  Angriffskrieg  gegen  Persien  tatsächlich 
im  Plane  Philipps  gelegen  hat.  Zunächst  hat  Kaerst  mit  Recht  darauf 
hingewiesen  (203  ff),  daß  etwa  seit  dem  korinthischen  Kriege  der  Groß- 
könig die  leitende  Rolle  in  der  griechischen  Politik  spielt:  sowohl  der 
Antalkidas-  wie  der  Pelopidasfriede  waren  in  seinem  Namen  geschlossen 
und  Thebens  Aufruf   zum   Widerstand    gegen   Philipp    erging    an    alle 


268  Jahresbericht  über  griechische  Gescbiclite.     (Lenschau.) 

griechischen  Staaten,  ,,die  mit  dem  Großkönig  und  den  Thebancru  die 
Hellenen  befreien  wollten";  tatsächlich  galt  er  also  als  Garant  der 
hellenischen  Freiheit  und  Unabhängigkeit.  Eine  solche  Stellung  durfte 
Philipp,  der  die  alleinige  Führung  der  Hellenen  beanspruchte,  unmöglich 
dulden;  eine  ähnliche  politische  Notwendigkeit,  wie  sie  1866  die  Aus- 
einandersetzung zwischen  PreuBen  und  Österreich  herbeifühite,  mußte 
auch  Philipp  zum  Kriege  gegen  Persien  treiben.  Sodann  aber  kann 
sich  der  König  nicht  verhehlt  haben,  daß  die  Verfassung,  die  er  Griechen- 
land im  Landfriedensbund  gegeben  hatte,  so  segensreich  sie  auch  war, 
doch  eben  eine  aufgezwungene  war  und  als  solche  empfunden  wurde. 
Nun  aber  gab  es  siche)lich  kein  Mittel,  Makedonier  und  Griechen  ein- 
ander näher  zu  bringen,  als  ein  gemeinsam  geführter  großer  und  sieg- 
reicher Krieg,  zumal  wenn  dieser  Krieg  seit  langem  in  Griechenland 
populär  war.  Hier  tritt  besonders  hervor,  wie  Isokrates  durch  seine 
panhellenischen  Schriften  dem  König  vorgearbeitet  hatte;  der  Krieg 
galt  als  Nationalkrieg  und  möglich  ist  es  auch,  daß  die  Rache  für  die 
Schändung  der  nationalen  Heiligtümer  durch  Xerxes  direkt  von  Philipp 
mit  als  Zweck  des  Zuges  genannt  ist  (S.  205  Kaerst):  hat  doch  auch 
1870  noch  die  Schändung  der  Kaisergräber  in  Speier  und  die  Ver- 
wüstung der  Pfalz  eine  EoUe  gespielt.  Entsprechend  dem  ganzea 
Charakter  des  Nationalkrieges  hatte  nun  aber  der  König  die  Absicht, 
die  griechischen  Staaten  in  viel  stärkerem  Maße  heranzuziehen,  obwohl 
immerhin  die  von  Trogus-Justin  gegebene  Zahl  von  200  000  Mann  nur 
die  Gesamtwehrkraft  des  Bundes,  nicht  das  für  diesen  einen  Krieg  zu 
stellende  Kontingent  bezeichnen  mag.  Daß  das  nachher  ganz  anders 
kam,  daß  in  dem  Heere  Alexanders,  welches  334  den  Hellespont  über- 
schritt, die  Zahl  der  Griechen  verhältnismäßig  gering  war,  beruht 
darauf,  daß  Alexander  diesen  Gedanken  seines  Vaters  von  vornherein 
lallen  ließ  und  sich  viel  ausschließlicher  auf  die  makedonische  Wehr- 
kraft stützte;  es  ist  daher  falsch,  mit  Koepp  (S.  4)  aus  der  geringen 
Beteiligung  der  Griechen  zu  schließen,  der  Kiieg  sei  unpopulär  und 
Isokrates  ein  Schwätzer  gewesen,  dessen  Worte  niemals  einen  Wider- 
hall in  Griechenland  gefunden  hätten.  Und  so  sehr  auch  Alexander 
aus  besonderen  Beweggründen  heraus  den  Anteil  der  Hellenen  be- 
schränkte, auf  den  Gedanken  des  Nationalkrieges  selber  hat  auch  er, 
wie  sich  bald  zeigen  wird,  nicht  verzichten  zu  können  geglaubt. 

Aber  es  muß  für  Philipp  noch  ein  dritter  und  nicht  der  unbe- 
deutendste Grund  zum  Kriege  hinzugekommen  sein.  Wie  Kaerst  mit 
Recht  hervorhebt,  hat  Ph.  alle  gewaltsamen  Umwälzungen  und  Ände- 
rungen in  den  Besitzverhältnissen  verboten,  insbesondere  auch  der  Rück- 
kehr der  Verbannten  einen  Riegel  vorgeschoben;  mit  einem  Wort,  er 
hat  eine  Politik  der  Besitzenden  getrieben   und  damit  zunächst  in  den 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  260 

einzelnen  Staaten  sich  die  Uuterstützung;  einfiußreicher  und  politisch 
wiiksanicr  Kieise  g^esichert.  Allein  damit  war  der  besitzlosen  Masse 
die  Hotfuuug;  auf  ein  Wiederemporkommen  völlig  abgeschnitten  und  bei 
dem  gewaltigen  Überschuß  an  kriegerischer  Volkskraft,  der  damals  in 
Griechenland  steckte,  mußte  diese  Bestimmung  entschieden  gefährliche 
Ausbrüche  herbeiführen,  wenn  es  nicht  gelang,  diese  Kräfte  nach  außen 
abzulenken.  Das  aber  konnte  nachhaltig  nur  durch  eine  Unternehmung 
gegen  Persien  geschehen,  die  große  Teile  des  Weltreichs  für  die  helle- 
nische Besiedelung  im  großen  Stil  nutzbar  machte;  denn  auf  solche 
Glückszufälle  wie  die  Neubesetzung  Siziliens  durch  griechische  Ansiedler 
nach  Timoleons  Sieg  am  Krimisos  '(3ö9),  die  eine  ungeheure  Menschen- 
menge absorbierte,  konnte  nicht  immer  gerechnet  werden.  Eben  die 
Leichtigkeit,  mit  der  jene  Neukolonisation  vor  sich  ging,  zeigt,  welche 
]\Iassen  überschüssiger  Kraft  Griechenland  damals  für  auswärtige  Auf- 
gaben zur  Verfügung  hatte,  und  der  Gedanke,  diese  im  Dienste  seiner 
Politik  zu  verwerten,  muß  gerade  Philipp  nicht  fern  gelegen  haben, 
der  bereits  einmal  eine  ähnliche  Ablenkung  mit  seiner  Kolonisation  im 
Norden  (vgl.  S.  257)  versucht  hatte.  Im  wesentlichen  also,  wenngleich 
Kaersts  Gedanken  hier  etwas  anders  formuliert  erscheinen,  stimme  ich 
seiner  Ansicht  bei,  daß  wir  vorwiegend  auch  aus  inneren  Gründen  bei 
Philipp  den  Gedanken  eines  Krieges  gegen  Persien  und  in  gewissem 
Sinne  auch  eine  Ankündigung  in  Korinth  voraussetzen  müssen.  Damit 
ist  nicht  gesagt,  daß  das  mit  dürren  Worten  ausgesprochen  worden  ist, 
was  ja  gar  nicht  einmal  politisch  klug  gewesen  wäre,  allein  der  Cha- 
rakter der  Landfriedensbestimmuugen  muß  keinen  Zweifel  darüber  ge- 
lassen haben,  worauf  sie  hinauswollten:  ich  glaube,  die  Worte  Trogus- 
Justins  neque  erat  dubium  entsprechen  auch  in  ihrer  Passung  durchaus 
der  Wahrheit.  Die  eigentliche  Kriegsankündigung  sollte  wohl  in  einem 
besonderen  Manifest  erfolgen,  unmittelbar  vor  Ausbruch  des  Krieges, 
sobald  Philipp  mit  seinen  Rüstungen  völlig  zurande  war. 

Allein  eine  andere  Frage  ist  es,  wie  weit  die  Absichten  des 
Königs  gingen  (Kaerst  205  &.),  und  da  läßt  sich  wohl  soviel  mit  Sicher- 
heit sagen,  daß  er  eine  Eroberung  des  gesamten  Perserreiches,  wie  sie 
Isokrates  empfahl,  Aristoteles  widerriet  und  Alexander  nachher  durch- 
führte, nicht  im  Auge  gehabt  hat.  Vielmehr  erstreckten  sich  seine 
Pläne  wohl  zunächst  nur  so  weit,  wie  sie  sich  aus  den  Grundbestim- 
mungen des  Landfriedens  ergeben,  die  für  uns  das  letzte  und  wichtigste 
Dokument  von  Philipps  politischen  Anschauungen  bilden.  Darin  war 
die  Vereinigung  aller  Griechen  verkündet,  also  auch  der  Osthelleneu, 
die  noch  unter  persischer  Herrschaft  standen,  und  um  ihren  Anschluß 
herbeizuführen,  würde  die  Eroberung  Kleiuasiens  mit  Einschluß  von 
Cypern  genügt   haben,    zugleich  ein  vollkommen  ausreichendes  Koloni- 


270  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

sationsgebiet  für  den  Überschuß  der  grieohischeu  Bevölkerung.    Keinen- 
falls  hat  der  König  beabsichtigt,    den  Schwerpunkt  des  Reiches    nach 
Asien  zu  verlegen:    er  hat  wesentlich  makedonische,  nicht  Weltmacht- 
politik  getrieben.    Ob  ihn  ebenso  wie  seinen  Sohn  die  Ereignisse  darüber 
hinausgeführt    hätten,    das    läßt  sich  nicht  mehr  ausmachen;    wie    die 
Dinge  liegen,    müssen  wir    auch  hier  bei  Alexander    eine  Abänderung 
und  in  diesem  Fall  eine  Erweiterung  der  Pläne  seines  Vaters  feststellen. 
Kurz    bevor    es    zum  Entscheidungskampf  mit  Persieu  kam,    ist 
König  Philipp  zu  Pella  ermordet  worden.    Die  Zeit  der  Ermordung 
erschließt  man  aus  der  Angabe  des  Aristobulos,    daß  Alexander  zwölf 
Jahr  und  acht  Monat  regiert  habe,  das  ergäbe  Okt./Nov.  336.     Streng 
genommen    beweist  die  Notiz  allerdings    nur,    wie    Meyer    Forsch.  II, 
445  ff.    gezeigt    hat,    daß  Philipp    nach    dem    makedonischen  Neujahr 
(Herbst)  336    starb,    indes    führt    der    Zusammenhang    der   Ereignisse 
(loch  auf  denselben  Zeitpunkt  Herbst  336,    den  die  allgemeine  Ansicht 
vertritt.     Schwieriger  ist  die  Schuldfrage  zu  entscheiden,  mit  der  sich 
"W  Ulrich    befaßt    hat,    um    im  Gegensatz  zu   Köhler  Alexanders  und 
Olympias'  Unschuld  zu  erweisen.     Daß  Pausanias  nur  ein  Werkzeug  in 
den  Händen    anderer    war,    wird    allseitig    zugegeben,    und    als  solche 
galten    in    der    offiziellen    makedonischen  Version    die    Lynkesten    und 
ßagoas.     Was    die  Lynkesten  bewogen  haben  sollte  oder  richtiger  ge- 
sagt,   warum    die  Lynkesten    gerade    diesen  Zeitpunkt,    ihre  verlorene 
Teilfürstenstellung  wiederzugewinnen,  für  passend  gehalten  haben,    das 
wissen    wir    nicht.     Von    Bagoas    dagegen    erscheint    die    Sache    ganz 
glaublich,    das    wird    man  Willrich    zugeben,    und    auch    der    Einwurf 
Köhlers,  daß  er  dann  auch  Alexander  gleich  hätte  raitermordeu  lassen 
müssen,  verfängt  nicht  viel;  über  Alexanders  Fähigkeiten  täuschte  sich 
sogar  Demosthenes    und  Kommt  Zeit,    kommt  Rat    ist    immer   ein  be- 
währter Grundsatz  orientalischer  Politik  gewesen.    Andererseits  richtet 
sich  doch  aber  auch  auf  Olympias  und  Alexander  ein  Verdacht,  dessen 
Widerlegung  Willrich  nicht  ganz  gelungen  ist.   Dass  Olympias  die  Sache 
zuzutrauen    ist,    bedarf    bei    ihrem    Naturell    keiner    Erörterung;    für 
Alexander    aber     kam    die  Teilnahme    an   der  Verschwörung  doch  nur 
dann  in  Betracht,  wenn  seine  Erbfolge  ernstlich  bedroht  war.    Nun  ist 
es  freilich  keine  Frage,    daß  im  makedonischen  Königshaus  das  Recht 
der  Erstgeburt  galt,  und  insofern  Iiätte  Alexander  ja  nichts  zu  fürchten 
gehabt;  allein  es  gab  eine  Möglichkeit,  ihn  auszuschließen,  wenn  näm- 
lich Philipp  nachträglich  seine  Ehe  mit  Olympias  als  unrechtmäßig  er- 
klären ließ.     Dann  war  Alexander  ein  voöo;  und  stand  in  der  Erbfolge 
gegen  den  Sohn  der  Kleopatra  zurück,    ein  Vorgang,  der  bekanntlich 
in  der  seleukidischen  Dynastie  eintrat,  als  Antiochos  H.  bei  seiner  Heirat 
mit    der  ägyptischen  Berenike    seine    frühere  Ehe   mit  Laodikeia,    der 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  271 

Mutter  seiner  Söhne  Seleukos  und  Antiocbos,  für  unrechtmäßig-  erklären 
ließ.  Daß  auf  etwas  Ahnliches  die  Pläne  des  Attalos  hinausgingen, 
mag  man  aus  seiner  beim  Wein  gefallenen  Äußerung  schließen:  die 
JEakedoneu  sollten  um  einen  echten  Sproß  Philipps  beten.  Natürlich 
ist  damit  nicht  gesagt,  nnd  es  ist  auch  im  höchsten  Grade  unwahr- 
.scheinlich,  daß  Philipp,  der  seinen  Sohn  auf  seine  große  Aufgabe  plan  - 
mäßig  vorbereitet  hatte,  wirklich  mit  seiner  Enterbung  umging;  aber 
darauf  kommt  es  ja  auch  nicht  an :  es  genügt,  daß  in  Olympias'  leiden- 
schaftlicher Seele  der  Gedanke  aufkeimte,  Philipp  könne  damit  um- 
gehen, um  ihre  Mitwirkung  zu  erklären,  und  dazu  mögen  solche  un- 
bedachten Woite,  wie  das  des  Attalos,  vielleicht  auch  im  heftigen  Wort- 
wechsel mit  seiner  Frau  von  Philipp  hervorgestoßene  nnd  niemals  ernstlich 
gemeinte  Drohungen  den  Anlaß  gegeben  haben.  Daß  Ol5'mpias  also  im 
Komplott  war,  ist  keineswegs  unwahrscheinlich;  bei  Alexander  wird 
man  wohl  so  weit  nicht  gehen  dürfen,  im  schlimmsten  Fall  ließ  er 
wohl  nur  geschehen,  was  er  nicht  hindern  wollte,  und  dieser  ,,Zug  kalter 
Tücke"  würde  dann  auf  ihm  haften  bleiben.  Sicher  ist,  daß  er  den 
Tod  seines  Vaters  benutzt  hat,  um  sich  aller  etwa  in  Frage  kommen- 
den Prätendenten  zu  entledigen ;  daß  er  Attalos  wie  später  Parmenion 
nur  heimlich  aus  dem  Wege  zu  schaffen  wagte,  zeigt  das  Ansehen,  das 
Kleopatras  Vater  bei  den  Makedonen  genoß.  Alles  in  allem  genommen, 
bleibt  doch  etwas  mehr  an  Alexander  hängen,  als  Willrich  und  Kaerst 
S.  237  Wort  haben  wollen;  besser  trifft  Bury  die  Sache  (S.  735),  ^/ler 
wahre  Mörder  war  Olymplas,  und  Alexander  war  es,  der  die  Früchte 
des  Verbrechens  erntete." 

Im  Frühling  des  Jahres  334  beginnt  der  Krieg  gegen  Persien:  es 
war  ein  verhältnismäßig  kleines  und  im  wesentlichen  makedonisches 
Heer,  das  der  König  hinüberführte.  Auf  die  geringe  Anzahl  der 
Griechen  (7000  Mann  zu  Fuß,  600  Reiter)  hat  ü.  Köhler  in  dem  er- 
wähnten Aufsatz  hingewiesen  und  zugleich  auf  die  bemerkenswerte  Tat- 
sache aufmerksam  gemacht  (S.  12G  ff.),  daß  Alexander  diese  Bundes- 
truppen mit  Ausnahme  der  Reiterei  nie  zur  Feldschlacht  herangezogen, 
sondern  nur  zu  Besatzungen  und  vorübergehender  militärischer  Besitz- 
ergreifung benutzt  hat.  Offenbar  hat  er  (Köhler  S.  132  f.)  sowohl 
der  politischen  Gesinnung,  wie  auch  der  Kriegstüclitigkeit  dieser  Milizen 
mißtraut  und  mit  der  Reiterei  nur  darum  eine  Ausnahme  gemacht, 
weil  er  in  dieser  Waffe  den  Persern  au  Zahl  von  vornherein  nicht  ge- 
wachsen war  und  keinen  Mann  entbehren  zu  können  glaubte.  Man 
kann  doch  zweifeln,  ob  diese  Beweggründe  wirklich  für  Alexander  aus- 
schlaggebend gewesen  sind;  waren  es  wirklich  Bürgermilizen,  so  war 
es  sicherlich  besser,  ihre  Zahl  nicht  zu  beschränken,  da  sie  als  Geiseln 
für    die  Treue    der  Staaten    gelten  konnten,    und    waren    es,    wie  mir 


272  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

richtiger  scheint,  zum  größten  Teil  von  den  einzelnen  Staaten  gestellte 
Söldner,  so  kann  ihre  Kriegstüchtig-keit  nicht  der  der  Pezetairen  nach- 
gestanden haben.  Es  scheint  also,  daß  A.  die  griechischen  Kontingente 
nur  sozusagen  als  Dekoration  mitführte,  da  er  auf  den  Gedanken  eines 
Xationalkrieges  nicht  verzichten  VvoUte.  Das  bezeugt  seine  Haltung 
gegenüber  den  griechischen  Söldnern  am  Grauikos  und  vor  allem, 
worauf  Köhler  mit  Recht  S.  130  hinweist,  ihre  Entsendung  in  die 
Heimat  im  Fiühjahr  330:  mit  der  Verbrennung  der  Köuigsbiirg  von 
Persepolis  war  das  Programm  des  Rachekrieges  gegen  Persien  erfüllt, 
und  vom  politischen  Staudpunkt  aus  hatte  die  Heimkehr  kein  Bedenken 
mehr,  nachdem  Autipatros  331  bei  Megalopolis  den  letzten  Widerstand 
in  Griechenland  gebrochen  hatte.  Am  Kampf  dagegen  ließ  der  König 
die  Griechen  nicht  teilnehmen ,  offenbar  weil  er  den  Sieg  über  den 
Großkönig  nur  den  Makedonen  allein  gewahrt  wissen  wollte.  Das  tritt 
noch  deutlicher  bei  der  Flotte  hervor,  wo  es  dem  König  ein  leichtes 
gewesen  wäre,  gestützt  auf  die  Kräfte  des  korinthischen  Bundes  — 
Athen  hielt  damals  350  Trieren  —  den  Persern  ebenbürtig  entgegen- 
zutreten. Nicht  Saumseligkeit  oder  Übelwollen,  wie  Köhler  S.  122 
und  Bury  S.  747  meinen,  sondern  des  Königs  eigener  Wille  trägt  die 
Schuld  an  der  mangelhaften  Beschaffenheit  der  Elotte,  die  in  einem 
Augenblick  sogar  das  Gelingen  des  ganzen  Zuges  in  Frage  stellte:  Wie 
wenig  das  alles  dem  ursprünglichen  Plan  Philipps  entsprach,  ist  schon 
vorhin  hervorgehoben. 

Dagegen  ist  es  nun  sehr  schwer,  sich  über  die  Absichten  klar 
zu  werden,  mit  denen  Alexander  334  nach  Asien  hinüberging:  ob  sclion 
damals  in  seinem  Kopfe  der  Plan  einer  Eroberung  des  persischen 
Reiches,  ja  der  Weltherrschaft  fertig  war,  wie  Kaerst  S.  232  ff.  und 
zum  Teil  auch  Burj^  (S.  747)  annehmen  oder  ob  es  sich  damals  für 
ihn  noch  lediglich  um  eine  umfassende  Landeroberuug  liandelte,  wie  sie 
etwa  Philipp  beabsichtigt  haben  mag.  Sehr  vieles  wäre  gewonnen,  wenn 
wir  über  die  Stellung  der  befreiten  Griechenstädte  Kleinasiens  etwas 
mehr  wüßten,  vor  allem,  ob  sie  dem  korinthischen  Bunde  angeschlossen 
oder  sofort  in  ein  besonderes  Verhältnis  zu  Alexander  getreten  sind. 
Die  Tatsachen  liegen  so:  von  Tenedos  und  Chios  wissen  wir,  daß  sie 
dem  korinthischen  Bunde  angehört  haben,  während  die  anderen  klein- 
asiatischen  Städte  später  in  eigene  Verbände  eingegliedert  erscheinen 
und  unter  Alexander  jedenfalls  eine  Zeitlang  eine  auvra^i^  bezahlt  haben 
müssen,  von  der  die  Mitglieder  des  korinthischen  Bundes  satzungs- 
gemäß befreit  waren  (Inscr.  Brit.  Mus.  III,  400,  soviel  ich  sehe,  von 
Kaerst  seltsamerweise  nirgends  herangezogen).  Daraus  hat  Kaerst  ge- 
schlossen, daß  A.  von  vornherein  nur  die  Inselgriechen  in  den  Bund 
aufgenommen,  Asien  dagegen  sofort  als  ein  gesondertes  Gebiet  behandelt 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Leaschau.)  273 

habe,  und  das  würde  allerdings  darauf  schließen  lassen,  daß  er  schon 
damals  ein  Großkönigtuni  von  Asien  angestrebt  habe.  Allein  dem 
widersimcht  z.  B.,  daß  er  llitylene  den  Besitz  der  Peraia  be- 
stätigte und  diese  sogar  erweiterte,  und  wenn  auch  sicher  bereits 
unter  Alexandros  ein  besonderes  Verhältnis  zu  den  giiechisciieu  Städten 
bestanden  hat,  so  wissen  wir  doch  nicht,  ob  es  gleich  nach  der  Schlacht 
am  Granikos  eingerichtet  ward.  Darauf  aber  kommt  für  unsere  Frage 
alles  au:  nachher  hat  AI.  im  Sinne  des  ßeichsgedankens  sich  sehr 
schwere  Eingriffe  in  die  Stellung  der  griechischen  Städte  erlaubt  und 
so  wäre  es  möglich,  daß  jenes  ganze  Verhältnis  zu  den  asiatischen 
Griecheustädten  auf  nachträglicher  Verfügung  von  Susa  aus  beruht  hat. 
Die  Hoffnung  ist  ja  nicht  ausgeschlossen,  daß  irgendwo  in  den  klein- 
asiatischen Städten  ein  Dokument  zutage  kommt,  das  über  die  Ver- 
hältnisse von  334  und  damit  über  Alexanders  Absichten  Licht  ver- 
breitet; bis  dahin  aber  können  Kaersts  Ausführungen  261  ff.  nur  die 
Geltung  einer  Hypothese  beanspruchen.  Vielmehr  ist  bis  auf  weiteres 
festzuhalten,  daß  bis  zur  Schlacht  von  Issos  —  die  eine  militärische 
Notwendigkeit  auch  dann  war,  wenn  Alexander  nur  Kleinasieu  be- 
haupieu  wollte  —  kein  Anzeichen  dafür  vorliegt,  daß  vor  Alexanders 
Seele  schon  beim  Auszug  der  große  Plan  des  Weltreichs  gestanden 
hat.  Auch  daß  Alexander  die  Verwaltung  der  eroberten  Provinzen 
nur  Makedouen  anvertraut,  ist  in  diesem  Zusammenhang  keineswegs 
unwichtig. 

Über  die  Schlacht  von  Issos  hatAd. Bauer  in  den  österreichischen 
archäologischen  Jahrheften  eine  ausführliche  Abhandlung  veröffentlicht, 
die  durch  Verwertung  von  Heberdej's  und  Wilhelms  Reiseberichten  zum 
erstenmal  eine  zuverlässige  topographische  Grundlage  ermöglicht;  dem- 
entsprechend haben  sowohl  Vorgeschichte  wie  Darstellung  des  Auf- 
marsches in  der  Schlacht  durch  Bauer  mannigfache  Förderung  erfahren . 
Dareios  stand  in  Sochoi  jenseits  des  Amanos  in  breiter  Ebene,  bereit, 
Alexanders  Truppen,  sobald  sie  aus  dem  Beilau-PaC  heraustretend  in 
dem  ausgedehnten  Gelände  sich  entwickeln  wollten,  unter  den  günstigsten 
Umständen  anzugreifen.  Auf  die  Nachricht  jedoch,  daß  Alexander  in 
Tarsos  verweile,  gab  er  diese  vorteilhafte  Stellung  auf,  beschloß  wo- 
möglich Alexander  noch  in  Kilikieu  anzugreifen  und  marschierte  nord- 
wärts in  weitem  Bogen  über  den  Arslan  Boghas-Paß,  der  iu  die  kilikische 
Ebene  hinabführt.  Dies  ist  von  Bauer  als  eiu  schwerer  Fehler  gerügt 
worden  (ähnlich  Kaerst  S.  275  ff.),  sofern  die  Bewegung  auf  einer 
Unterschätzuug  der  Schnelligkeit  Alexanders  beruht  habe.  Das  kann 
ich  nicht  finden:  das  lange,  allerdings  teilweise  unfreiwillige  Verweilen 
Alexanders  in  Tarsos  mochte  den  Gedanken  nahe  legen,  daß  er  den 
Angriff  in  Kilikieu  abwarten  wolle;  auch  mögen  übertriebene  Gerüchte 
Jahresbericht  für  Altertumswisseuächaft.    Bd.  CXXII.    (1904.    IIL)        IS 


274  Jahresbericht  über  griochische  Geschichte.     (Lenschau.) 

über  Alexanders  Krankheit  mitgewirkt  haben.  Vor  allem  aber  hatte 
auch  wohl  der  Großkönig  seine  Gründe,  rasch  zu  schlagen;  die  Ver- 
pflegung so  gewaltiger  Truppenmasseu  raulite  schwierig  werden  und  die 
persischen  Großen  haben  sicherlich  zum  Kampfe  gedrängt.  Sowenig 
man  danach  Dareios  Entschluß  als  schweren  Fehler  bezeichnen  kann,  so 
wenig  Grund  liegt  doch  auch  andererseits  vor,  in  ihm  ein  glänzendes 
strategisches  Manöver  zu  sehen,  das  Alexander  von  seiner  Rückzugs- 
linie abschnitt,  eine  Ansicht,  die  Beloch  in  dei'  Griech.  Geschichte  II 
vertreten  hat.  Vielmehr  ist  es  lediglich  dem  Zufall  zuzuschreiben,  daß 
Alex,  am  selben  Tage  wie  Dareios  von  Socboi  seinerseits  von  Tarsos 
zum  Marsch  durch  die  Küstenpässe  aufbrach  und  so  jene  Verkettung 
der  Umstände  eintrat,  welche  dazu  führte,  daß  die  Schlacht  mit  ver- 
kehrter Front  geschlagen  ward.  Was  man  Alexander  vorwerfen  kann, 
ist  dies,  daß  er  nach  dem  Arslan  Boghas  zu  nicht  genügend  aufklärte 
und  besonders  Koepp  S.  32  hat  diesen  Fehler  betont,  doch  macht  Del- 
brück I,  170  wohl  mit  Recht  auf  die  Schwierigkeit  aufmerksam,  zwei 
Tagemärsche  weit  über  Gebirgspässe  weg  in  feindlichem  Lande  zu  re- 
kognoszieren. Auch  Delbrück  ist  übrigens  der  Ansicht,  daß  Dareios' 
Marsch  als  einfacher  Vormarsch  gedacht  war  und  nur  durch  Zufall 
zum  Umgehungsmarsch  wurde  (S.   169  f.). 

In  der  Rekonstruktion  des  Aufmarsches  zur  Schlacht  geht  Bauer 
von  der  bekannten  Kritik  aus,  die  Polybios  12,  17 — 22  dem  Bericht 
des  Kallisthenes  angedeihen  läßt,  und  die  auf  dem  Mißverhältnis  der 
von  Kallisthenes  angegebenen  Breite  des  Schlachtfeldes  (14  Stadien  -^ 
2,5  km)  mit  den  nach  seiner  Dai  Stellung  darauf  operierenden  Massen 
beruht.  Es  fragt  sich  nur,  wo  der  Fehler  steckt.  Beloch  und  ihm 
folgend  Delbrück  (I,  154)  finden  ihn  in  den  Massenangaben,  ja  dieser 
meint  sogar,  das  persische  Heer  sei  nicht  größer  als  30 — 40  000  Mann 
gewesen;  danach  würde  also,  wenn  man  Arrians  Zahlen  für  das  make- 
donische Heer  gelten  läßt,  Alexander  sogar  die  Übermacht  gehabt 
haben.  Ich  muß  gestehen,  das  heißt  doch  einen  an  sich  richtigen 
Grundsatz  übertreiben.  Gewiß  sind  Delbrücks  Forschungen  für  die 
Perserkriege  bahnbrechend  gewesen:  die  unmöglichen  Zahlen  Herodots 
sind  durch  ihn  endgültig  beseitigt  und  in  der  Tat,  auch  von  vornheiein 
ist  es  ja  völlig  unwahrscheinlich,  daß  die  Perser,  denen  bis  dahin  kein 
Volk,  auch  die  Griechen  nicht,  widerstanden  hatten,  eine  so  gewaltige 
Übermacht  zur  Unterwerfung  Griechenlands  aufgeboten  haben  sollten. 
Allein  333  lagen  die  Dinge  doch  wesentlich  anders:  hundertundfünfzig 
Jahre  von  Kämpfen  hatten  die  unbedingte  Überlegenheit  der  Griechen 
über  die  gleiche  Anzahl  von  Persern  dargetan,  worauf  sollten  sich  also 
wohl  Dareios'  Siegesholfnungen  gegründet  haben,  wenn  nicht  auf  dem 
Bewußtsein    seiner  tjberzahl?     Man    braucht    darum   noch  nicht  gleich 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau)  275 

die  phantastischen  Zahlen  der  zweiten  Quellenklasse  anzunehmen,  allein 
die  160  000  Mann,  die  sich  aus  Arrians,  auf  Ptolemaios  beruhender 
Darstellung-  ergeben ,  würden  auch  dann  noch  Beachtung  verdienen, 
wenn  sie,  wie  Bauer  m.  E.  allerdings  mit  Recht  aus  II,  8,  6,  folgert, 
auf  einer  schätzungsweisen  Berechnung  beruhen;  sicherlich  war  dazu 
niemand  befähigter  als  Ptolemaios,  der  in  der  unmittelbaren  Umgebung 
des  Königs  die  Schlacht  mitmachte.  Sobald  man  die  Zahlen  Arrians 
aber  auch  nur  für  annähernd  richtig  hält,  ist  es  unmöglich,  mit  Del- 
brück den  Paias-Tschai  für  den  Pinaros  zu  halten,  an  dem  bekanntlich 
die  Schlacht  stattfand.  Die  Breite  der  Ebene  (2V2  km)  würde  hier 
allerdings  genau  mit  Kallisthenes  stimmen,  aber  die  Unterbringung  der 
Massen  wäre  unausführbar  gewesen;  nicht  einmal  das  makedonische 
Heer  konnte  auf  diesem  Zwischenraum  recht  entwickelt  werden,  ein 
Vorgang,  der  doch  nach  Kallisthenes'  und  Ptolemaios'  Zeugnis  gänzlich 
glatt  und  unbehindert  vor  sich  ging.  Delbrück  siebt  das  auch  wohl  ein 
und  nimmt  deswegen  Curtius'  Angabe  zu  Hilfe,  wonach  die  Phalanx 
.32  Mann  tief  stand;  allein  das  „nach  Ptolemaios",  das  er  zu  Curtius' 
Namen  hinzusetzt,  unterliegt  schweren  Bedenken  und  andererseits  ist 
es  doch  merkwürdig,  daß  Arrian,  der  hier  eingestandenermaßen  aut 
Ptolemaios  zurückgeht,  eine  so  außergewöhnliche  Aufstellung  gar  nicht 
erwähnt.  Es  ist  also  wahrscheinlich  richtiger,  mit  Bauer  den  Deli- 
Tschai,  der  weiter  nach  Norden  die  hier  9  km  breite  Küstenebene 
in  südöstlicher  Richtung  durchfließt,  für  den  Piuaros  anzusehen,  hinter 
dem  Dareios'  Heeresmassen  aufgestellt  waren,  und  bei  Kallisthenes 
einen  Fehler  im  Distanzschätzen  vorauszusetzen,  wie  er  allerdings  öfter 
vorkommt.  Weniger  überzeugend  dagegen  ist  die  Art  und  Weise,  wie 
Bauer  die  persische  Aufstellung  selbst  zu  rekonstruieren  sucht.  Er 
nimmt  an,  daß  das  schwergerüstete  Fußvolk  von  den  Bergen  an  etwa 
bis  zur  Mitte  der  Ebene,  bis  Otschaklu,  hinter  dem  Pinaros  mit  der 
Front  ziemlich  nach  Südosten  aufmarschiert  war,  von  da  ab  aber  folgte 
seiner  Ansicht  die  Front  nicht  mehr  dem  Pinaros,  sondern  reichte  in 
genau  westlicher  Richtung  bis  ans  Meer,  so  daß  hier  die  Trappen  mit 
dem  Gesicht  nach  Süden  standen.  In  dem  Dreieck,  das  somit  vom 
rechten  Flügel,  vom  Meeresnfer  und  vom  Unterlauf  des  Pinaros  gebildet 
ward,  fanden  nach  Bauer  die  von  Arrian  genannte  und  auf  30  000 
Mann  bezifferte  Reiterei  sowie  20  000  Leichte  Platz.  Die  ganze  Auf- 
stellung erscheint  auf  den  ersten  Blick  künstlich  und  wenig  praktisch 
(vgl.  Delbrücks  Bemerkungen  S.  166  Anm.),  vor  allem  aber  wider- 
spricht sie  eingestandenermaßen  unseren  Quellen,  die  übereinstimmend 
die  Reiterei  auf  den  rechten  Flügel  ans  Meer  und  von  da  an  bis  ans 
Gebirge  das  schwere  Fußvolk  postieren.  Nun  ist  die  Überlegung,  die 
Bauer  zu  dieser  künstlichen  Anordnung  mit  gebrochener  Front  geführt 

18* 


276  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

hat,  diese :  indem  er  an  Arrians  Zahl  von  90  000  Schwerbewaffneten 
festhält  und  eine  Tiefe  von  8  Mann  nimmt,  erhält  er  11  250  Mann  in 
der  Front,  die  bei  0,92  m  Abstand  bereits  10  km,  also  die  ganze 
Pinaroslinie  einnehmen,  so  daß  für  die  Reiterei  gar  kein  Platz  bleibt; 
um  sie  also  überhaupt  unterzubringen,  muß  B.  sie  vor  die  Front  des 
rechten  Flügels  stellen.  Es  ist  klar,  daß  alles  davon  abhängt,  wie  tief 
man  die  Aufstellung  des  persischen  Heeres  annimmt  und  hierbei  geht 
B.  von  den  "Worten  Arrians  II,  8,  6  aus-  Toaouxouc  -/ap  iirl  cpaXa-j-zoc 
aTCX%  e6r/£To  to  ytuptov ;  indem  er  der  einfachen  Phalanx  eine  Tiefe  von 
a  Mann  gibt,  wie  in  den  griechischen  Schlachten  der  ersten  Hälfte  des 
4.  Jahrhunderts,  kommt  er  zu  seinen  abweichenden  Ergebnissen.  Allein 
Delbrück  hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  eine  so  dünne  Phalanx 
ein  Unding  sei  (S.  168),  regleraentsmäßig  betrug  später  die  Tiefe  der 
Sarissenphalanx  IG  Manu  und  das  ist  bei  dem  Ursprung  der  Phalanx 
aus  dem  Gewalthaufen  des  Epaminondas  für  die  Anfangszeit  ebenfalls 
vorauszusetzen.  Setzt  mau  diesen  Wert  ein,  so  ergibt  sich  für  die 
Front  des  persischen  Fußvolks  rund  5  km  Länge  von  den  Bergen  bis 
zur  Mitte  der  Ebene,  den  Rest  der  Pinaroslinie  von  der  Mitte  bis  zum 
Meer  nahm  in  beträchtlicher  flacherer  Aufstellung  die  Reiterei  samt 
den  Leichten  ein.  Das  würde  zu  unseren  Quellen  stimmen.  Dieselbe 
Tiefenaufstellung  auch  für  die  Makedonier  anzunehmen ,  hindert 
Kallisthenes  ausdrückliches  Zeugnis,  wonach  die  Makedonen  8  Mann 
tief  standen.  Dies  Zeugnis  wird  von  Delbrück  verworfen  (8.  168), 
verhielt  sich  die  Sache  wirklich  so,  so  hat  AI.  offenbar  die  gewöhnliche 
Phalanxtiefe  auf  die  Hälfte  verringert,  um  seiner  Linie  eine  größere 
Ausdehnung  zu  geben.  Den  Verlauf  des  Kampfes  hat  Delbrück  in 
überzeugender  Weise  geschildert  (S.  154  ff.). 

Die  Schlacht  von  Issos  ist  m.  E.  die  entscheidende  Wendung  in 
Alexanders  Leben  geworden.  Bald  nach  der  Schlacht  —  wir  kennen 
weder  genau  den  Zeitpunkt  des  Erscheinens  der  Gesandtschaft,  noch 
den  Umfang  der  Auerbietungen  (vgl.  Kaerst  S.  289  A.  1)  —  kamen 
Boten  von  Dareios  mit  Friedensvorschlägeu,  die  im  wesentlichen  auf 
Landabtretungeu,  nach  der  höchsten  Angabe  der  Provinzen  bis  zum 
Euphrat,  hinausliefen.  Alexander  lehnte  ab;  alleiu  nach  dem  überein- 
stimmenden Bericht  unserer  Quellen  (von  Arr.  II,  25,  1  allerdings  mit 
li'iootji  eingeführt)  riet  in  dem  voraufgehenden  Kriegsrat  Parmenion  zur 
Annahme.  Mag  auch  die  epigrammatische  Zuspitzung,  die  Alexander 
seiner  Ablehnung  gab,  spätere  Erfindung  sein,  an  der  Tatsache  wird 
man  nicht  zweifeln  dürfen  und  diese  ist  allerdings  höchst  charakteristisch. 
Zum  erstenmal  zeigt  sich  hier  der  Zwiespalt  zwischen  der  altmakedo- 
nischen Partei,  an  deren  Spitze  Parmenion  stand,  und  den  Ansichten 
des  Königs;  es  wird  nicht  zuviel  gefolgert  sein,  wenn  man  mit  Kaerst 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  277 

annimmt,  daß  bis  hierhin  etwa  Philipps  Programm  g'ingf  und  Parmenion, 
der  Vertraute  seiner  Pläne,  sich  für  befugt  hielt,  vor  einem  Darüber- 
hinausgeheu  zu  warnen.  Doch  ist  aus  Alexanders  Ablehnung  nicht  zu 
schließen,  daß  damals  der  Plan  der  Weltherrschaft  schon  in  seinem 
Kopfe  fertig  war;  vielmehr  läßt  sie  sich  zunächst  aus  rein  militärischen 
Erwägungen  erklären.  Die  Sicherheit  des  Heeres  erforderte  unbedingt 
die  Eroberung  Phöniziens,  Syriens  und  auch  Ägyptens,  um  der  persi- 
schen Flotte,  die  immer  noch  drohend  im  Agäischen  Meere  stand,  die 
OperatioKsbasis  zu  rauben.  Vor  allem  aber  —  und  das  hat  schon 
Beloch,  Gr.  Gesch.  li,  640  gesehen  —  bedeutete  ein  sofortiger  Friede 
bei  noch  so  großer  Gebietsabtretung  immer  nur  ein  Hinausschieben  der 
Entscheidung;  denn  es  war  von  vornherein  klar,  daß  die  Kräfte  des 
persischen  Reiches  noch  keineswegs  gebrochen  waren  und  daß  es  stets 
danach  streben  würde,  die  verlorenen  Provinzen  zurückzuerobern.  Diese 
militärischen  Beweggründe  werden  Alexander  in  erster  Linie  bestimmt 
haben:  er  ist  nicht  der  einzige  Eroberer,  der  weiter  und  weiter  vor- 
wärts gehen  mußte,  um  das  Errungene  zu  sichern.  Allein  sein  staats- 
männisches Genie  mußte  ihm  auch  sofort  klarmachen,  daß  er  mit  der 
Erobeiung  des  persischen  Reiches  zugleich  die  Grundlagen  seiner  make- 
donischen Monarchie  verrücke  und  damals  zuerst  wird  das  Bild  des 
makedonisch-persischen  Weltreiches  vor  seiner  Seele  aufgetaucht  sein. 
Denn  von  jetzt  an  beginnen  erst  schüchtern,  dann  immer  stärker  seine 
Versuche,  die  auf  eine  Verschmelzung  von  Persern  und  Makedoniern 
hinzielen.  Ihre  frühsten  Anzeichen  erkennt  man  in  der  Belassung  der 
Satrapien  in  der  Hand  vornehmer  Perser  und  in  der  bewußten  An- 
knüpfung an  die  orientalische  Idee  des  Gottkönigtums,  die  nach 
und  nach  immer  deutlicher  hervortritt. 

Zu  den  ersten  Spuren  gehört  das  Interesse  für  einheimische  Götter- 
kulte, das  Alexander  an  den  Tag  zu  legen  beginnt;  so  z.  B.  seine  Ab- 
sicht, im  Tempel  des  Melqart  zu  Tyros  zu  opfern,  die  den  Widerstand 
der  Tyrier  hervorruft,  ferner  der  allerdings  sehr  schlecht  bezeugte 
Besuch  zu  Jerusalem  und  vor  allem  die  Fahrt  zum  Amun  Ha,  deren 
Beweggründe  schon  im  Altertum  nicht  verstanden  vurden.  Auch  von 
den  neueren  Forschern  haben  manche  auf  Erklärung  verzichtet  und 
allerdings  „es  hat  unergründliche  Tiefen  in  Alexanders  Seele  gegeben, 
aus  denen  Entschlüsse  emporquollen,  für  die  es  eine  ganz  glatt  auf- 
gehende Erklärung  nicht  gibt"  (Droysen).  Trotzdem  sieht  Kaerst  wohl 
mit  Recht  als  Beweggrund  die  Absicht  an,  durch  den  Besuch  seinem 
Königtum  die  göttliche  Weihe  zu  geben,  vor  allem  auch  in  den  Augen 
der  Hellenen,  bei  denen  das  Ammonsheiligtnm  seit  langer  Zeit  in  hohem 
Ansehen  stand  (Kaerst  S.  294).  Allein  ungemein  charakteristisch  ist 
doch  wieder  Alexanders  Verhalten;  er  bewahrte  absolutes  Stillschweigen 


278  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

über  das  Gespräch,  das  er  mit  dem  Oberpriester  g-eführt  hatte,  und 
dies  Schweigen  ist  um  so  seltsamer,  als  es  eigentlich  nicht  aus  Rücksicht 
auf  die  Griechenwelt  hervorgegangen  sein  kann;  sicherlich  lag  die  Ver- 
götterung auch  noch  Lebender  dem  griechischen  Gefühl  in  der  damaligen 
Zeit  gar  nicht  so  sehr  fern.  Es  scheint  aber,  als  ob  Alexander  in 
dieser  ersten  Zeit  sich  noch  nicht  recht  mit  der  Sprache  herausgetraut 
hat.  Das  stimmt  nun  freilich  nicht  zu  dem  Bilde  des  phantastischen, 
in  orientalischen  Vorstellungen  sich  bewegenden  Gewaltherrschers,  als 
der  AI.  bei  Niebuhr,  Grote  und  zum  Teil  auch  bei  Kaerst  erscheint; 
besonders  der  letztgenannte  Forscher  vertritt  die  Ansicht,  daß  A.  un- 
umwunden auch  von  den  Griechen  seine  persönliche  Verehrung  gefordert 
hat.  Demgegenüber  behauptet  Korneraaun,  Alexander  habe  sich  überall 
in  diesen  Dingen  völlig  passiv  verhalten:  ,,er  nahm  an,  was  ihm  in 
dieser  Beziehung  geboten  ward,  einmal  um  nicht  durch  Ablehnung  zu 
beleidigen,  sodann  aber  auch  deshalb,  weil  ihm  daran  gelegen  sein  mußte, 
für  Orientalen  und  Griechen  das  gleiche  Verhältnis  zu  seiner  Person 
zu  schaffen"  (S.  59).  Der  Streit  beider  Anschauungen  darf  nicht  un- 
nötig verschärft  werden;  gerade  hier  liegt  die  Wahrheit  wohl  wirklich 
einmal  in  der  Mitte  und  der  letzte  Teil  jener  Bemerkung  Kornemanns 
ist  wohl  geeignet,  einen  Ausgleich  herbeizuführen.  In  dem  Augenblick, 
wo  AI.  in  der  Begründung  des  persisch-makedonischen  Weltreichs  eine 
Notwendigkeit  erkannte,  hat  er  mit  dem  Zweck  natürlich  auch  die 
Mittel  gewollt,  und  da  ihm  klar  war,  daß  die  Herrschaft  über  Orientalen 
nur  in  der  Form  eines  Gottkönigtums  möglich  war,  so  hat  er  alles 
getan,  um  dieser  Auffassung  seiner  Person  Vorschub  zu  leisten.  Allein 
die  in  seiner  Person  begründete  Reichseiuheit  verlangte  vor.  allem  auch 
TTniformität  in  der  Verehrung,  die  der  Person  des  Herrschers  galt,  und 
so  mußte  er  dahin  kommen,  die  Formen  dieser  Verehrung  auch  von 
Griechen  und  Makedouiern  zu  verlangen.  Das  als  ein  Zeichen  beginnen- 
der Ti Übung  in  Alexanders  Geist  zu  betrachten,  scheint  mir  nur  mög- 
lich, wenn  man  annimmt,  Alexander  habe  selbst  an  diesen  Schwindel 
geglaubt;  vielmehr  ist  es  gerade  ein  Beweis  seiner  staatsmännischen 
Klarheit,  die  den  Wert  der  Imponderabilien  richtig  einschätzte.  Wirk- 
lichen Glauben  an  seine  Göttlichkeit  hat  er  nie  von  den  Griechen  ver- 
langt, sondern  nur  die  äußeren  Zeichen,  nur  soviel,  wie  nötig  war,  um 
seine  orientalischen  Untertanen  nicht  irre  zu  machen,  die  denn  freilich 
mit  diesen  Zeichen  einen  tieferen  Sinn  verbanden.  Aber  AI.  hat  doch 
deutlich  das  Gefühl  gehabt,  daß  er  besonders  bei  seinen  Makedoniern 
hier  auf  harten  Widerstand  stoßen  würde,  und  so  hat  er  332  noch  vor- 
sichtig das  Ergebnis  seiner  Unterredung  mit  Amun-Ea  verschwiegen. 
Erst  in  den  Jahren  der  vollständigen  Unterwerfung  des  Perserreiches 
glaubte   er    fester  zufassen    zu  können;    allein   der  plötzlich  erfolgende 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte     (Lenschau.)  279 

Stimraungsumschla^,  die  Vorfälle  mit  Kleitos  und  Kallisthenes,  brachten 
ihm  zum  Bewußtsein,  daß  die  Sache  so  nicht  ging,  und  so  ist  er  klug 
einen  Schritt  zurückgewichen :  die  Proskynese  hat  er  von  Makedoniern 
und  Griechen  nicht  mehr  verlangt.  Aber  die  Forderung  selbst  konnte 
er  nicht  aufgeben,  da  sie  mit  dem  Gedanken  der  Reichseinheit  unlösbar 
vei'bunden  war,  und  er  versuchte  nun,  sie  auf  indirektem  Wege  durch- 
zusetzen. Sicher  ist  es  kein  Zufall,  daß  jene  Anträge  in  den  helle- 
nischen Städten,  die  auf  Alexanders  göttliche  Verehrung  abzielten, 
gerade  kurz  nach  der  324  befohlenen  Rückkehr  der  Verbannten  auf- 
tauchen: offenbar  gingen  sie  von  diesen  aus,  die  recht  wohl  wußten, 
daß  sie  damit  in  Alexanders  Sinne  handelten.  Ganz  ähnlich  ist  auch 
das  Verfahren  des  Königs  bei  der  Münzprägung  gewesen,  die  Kaerst 
mit  Recht  heranzieht  (S.  392  f.):  wenn  überhaupt,  so  hat  erst  ganz 
zuletzt  der  König  dem  Herakleskopf  seiner  Münzen  persönliche  Züge 
geben  lassen,  die  dann  bei  seinen  Nachfolgern  die  Regel  werden. 
Unter  diesen  Umständen  erscheint  Kornemanns  Ansicht,  daß  AI.  nur 
zugelassen  habe,  was  ihm  an  göttlichen  Ehren  dargebracht  ward,  in 
dieser  Schärfe  nicht  haltbar;  unzweifelhaft  hat  er  vielmehr  göttliche 
Ehren  veranlaßt  und  vielleiclit  in  einzelneu  Fällen  verlangt,  aber  ledig- 
lich nur  aus  Gründen  der  Staatsräson,  nicht  aus  einer  persönlichen 
Überzeugung  von  seiner  Göttlichkeit,  wie  sie  Kaerst  anzunehmen  geneigt 
ist  (vgl.  bes.  383  ff.).  Auch  in  der  Form,  die  ihr  Koepp  S.  41  bei- 
mißt, wo  er  sie  mit  dem  Glauben  an  ein  Gottesgnadentum  vergleicht, 
wird  die  persönliche  Überzeugung  A  s  von  seiner  Göttlichkeit  abzu- 
lehnen sein  und  so  bleibt  nur  jenes  Bewußtsein,  wie  es  die  Größten 
dieser  Erde  immer  ausgezeichnet  bat:  daß  sie  turmhoch  ans  der  Menge 
der  gewöhnlichen  Sterblichen  heivoriagen  und,  der  Gottheit  näher 
stehend,  nur  mit  ihrem  eigenen  Maße  zu  messen  sind. 

Im  Frühjahr  des  Jahres  331  brach  Alexander  aus  Ägypten  zum 
letzten  Entscheidungskampf  gegen  Dareios  auf,  der  ihn  in  der  weiten 
Tigiisebene  erwartete.  Von  den  vier  großen  Alexandei'schlachten  ist 
die  von  Gaugamela  die  in  ihren  Einzelheiten  am  wenigsten  bekannte: 
besonders  die  Aufstellung  des  makedonischen  Heeres  ist  trotz  der  ge- 
nauen Angaben  Arrians  nicht  völlig  geklärt.  In  dieser  Hinsicht  be- 
zeichnet die  Behandlung,  die  Delbrück  S.  171  ff.  der  Schlacht  ange- 
deihen  läßt,  einen  wesentlichen  Fortschritt.  Vor  allem  hat  er  mit  der 
alten  Ansicht  Köchly-Rüstows  (danach  noch  Bury  S.  776  ff.)  gebrochen, 
nach  der  Alexander  zwei  Treffen  hintereinander  gebildet  habe;  vielmehr 
verdoppelte  er  die  Tiefe  der  Phalanx  und  gab  Befehl,  daß  im  Falle 
einer  Umgehung  die  letzten  Reihen  kehrt  machen  und  eine  zweite  Front 
bilden  sollten.  Dazu  paßt  nicht  nur  Arrians  Ausdruck  l-.ixci.^z  os  /.at 
OE'jTEpav  T7;'.v  w;  slvat  ttjv  '^aXa'fi'a  d|x9''3TO[j.ov  3,   12,  1,   sondern  vor 


280  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.) 

allem  das  put  bezeugte  Durchreißen  der  Phalanx  während  der  Schlacht^ 
das  einem  Teil  der  persischen  Reiterei  die  Möglichkeit  gewährte, 
Alexanders  Schlachtreihe  zu  durchbrechen:  wäre  ein  zweites  Treff eu 
vorhanden  gewesen,  so  wären  die  Reiter  notwendig  auf  dieses  gestoßen, 
wenn  man  nicht  annehmen  will,  daß  auch  dies  zweite  Treffen  genau  zur 
selben  Zeit  und  an  derselben  Stelle  gerissen  sei.  Schwieriger  sind  die 
folgenden  Worte  ec  eTrt/wjj-ZYjv  ok,  ei  ttou  ava-f/T)  y.aTotXajx^avoi  ir,  ava- 
T.zu^'j.i  r^  ^'j-fAXsTacrt  rr^v  cpaXa-f,'0!,  xara  p.ev  to  oectov  -/.cpa;  eyojxsvoi  -rfjC  3a3i- 
Xix^S  iXyj;  Tüiv  'A7piav(Tjv  e-ayilriaav  oi  Yjjxtjss?  xts.  D.  faßt  die  Worte  zi 
ro'j-xaTo;>.7.ij/-iavo'.  als  Zwischensatz  für  sich  und  die  in  Rede  stehenden 
Truppen  als  Subjekt  zu  Eu^x^sTjat  und  avarTuEoti  auf,  worauf  er  sich 
dann  viele  Mühe  gibt,  die  Bedeutung  der  beiden  Worte  zu  ergründen 
(S.  177),  ohne  doch  zu  einem  sicheren  Ergebnis  zu  gelangen.  Richtiger 
scheint  es,  die  Infinitive  unmittelbar  von  xaTaXaio-^iotvoi  abhängen  zu 
lassen:  „wenn  sich  die  Notwendigkeit  ergeben  würde,  die  Phalanx  zu 
lockern  oder  zusammenzuziehen".  Mit  dieser  Notwendigkeit  mußte  AI. 
wegen  der  Sichelwagen  rechnen;  da  die  Soldaten  den  Befelil  hatten, 
bei  ihrem  Herannahen  auseinanderzutreten  (Arr.  3,  13,  ß),  so  ergab 
sich  eine  plötzliche  Verbreiterung  der  Front,  der  nachher  die  sofortige 
Zusammenziehung  folgen  mußte.  Eben  hierbei  war  leicht  eine  Vber- 
flügelung  möglich,  besonders  in  der  rechten  Flanke,  die  ja  durch  den 
Offensivstoß  der  Hetärenreiterei  entblößt  war;  Alexander  konnte  deshalb 
zur  Flankendeckung  nur  leichte  Truppen  brauchen,  die  imstande  waren, 
jeder  Bewegung  der  Phalanx  zu  folgen.  Diese  Aufgabe  erscheint  wesent- 
lich erleichtert,  wenn  man  sie  sich  mit  Delbrück  nicht  in  Schlacht- 
ordnung, sondern  noch  in  Kolonnen  aufgestellt  denkt,  alsdann  würde 
is  E7:txa[X7:rjv  nicht  „hakenförmig",  sondern  „zur  Hakenbildung"  zu  über- 
setzen sein:  sie  sollten  also  im  Falle  einer  Überflügelung  eine  haken- 
förmig angesetzte  Seitenfront  zur  Phalanx  bilden.  Der  Verlauf  der 
Schlacht  ist  nur  in  seinen  Gesamtzügen  klar;  im  einzelnen  bleibt  noch 
manches  zweifelhaft  (vgl.  Delbrück  a.  a.  0.).  Beachtenswert  erscheint 
die  Vorsicht,  mit  der  Alexander  Vorkehrungen  gegen  eine  TJmflügelung 
trifft:  sie  beweist  doch  wohl,  daß  Dareios  sehr  überlegene  Massen  gegen 
ihn  heranführte. 

Der  Sieg  von  Gaugamela  hat  Alexander  tatsächlicl)  die  Herr- 
schaft über  den  damals  bekannten  Teil  Asiens  verschafft:  die  Nieder- 
werfung des  nationaliranischen  Widerstandes  in  den  Ostprovinzen  konnte, 
so  langwierig  und  schwierig  sie  auch  war,  den  Gang  der  Ereignisse 
nicht  mehr  ändern.  Um  diese  Zeit  scheint  AI.  die  Zügel  etwas  straffer 
angezogen  und  die  Würde  seiner  neuen  Stellung  als  Nachfolger  der 
asiatischen  Großkönige  stärker  betont  zu  haben.  Eine  Spur  davon 
findet  sich  sogar  in  dem  entlegenen  Delphi:    es  kann  kein  Zufall  sein. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  281 

flaß   bis  zur  Herbstpylaia  332  in  den  Hierammamonenlisten  die  make 
donisclien  (resandlen    mit    der  Bezeichnung-    rap'  A>.£;avopo'j   ei  neeführ 
werden,    während    zuerst   in   der  Frühjahrspylaia  329  —  Archon  Clia- 
rixenos   330/29    v^l.  Pomtow,    Delph.  Chronologie    (S.-A.    ans  Paulj^- 
Wissowa,  Realenzykl.)  S.  IIG    —    ja  vielleicht  schon   ein  Jahr  früher 
der  Name    mit    dem  Titel    uapa  ßac7t?i(oc  'AXe^avopo'j  erscheint.     Dabei 
aber  stieß  der  König  auf  den  entschiedenen  Widerstand  seiner  makedo- 
nisclien  TJmcrebnng-,  und  deren  Mißstimmung-  entlud  sich  in  einer  Reihe  von 
Katastrophen,  deren  letzte,  die  Ermordung:  des  Kleitos,  von  Schubert 
in  einem  besonderen  Aufsatz  behandelt  ist.     In  der  Überlieferung,  wie 
sie    bei  Plut.  AI.  50 — 52    vorliegt,    unterscheidet  Seh.    zunächst    zwei 
Quellen,  deren  eine  durch  das  Erscheinen  des  Wahrsagers  Kleomantis. 
die   andere  durch  das  des  Aristandros  charakterisiert  wird:    diese  läßt 
sich    mit    guten  Gründen    auf  Kallisthenes    zurückführen.     Ein  zweiter 
Gewährsmann  ist  Chares,  der  hauptsächlich  an  der  Vorliebe  für  Kalli- 
sthenes  und   der  Parteilichkeit  gegen  Anaxarchos  erkannt  wird,    seine 
Spuren    linden    sich   auch  bei  Justin  und  Arrian.     Die  Ausmalung  der 
ganzen  Szene    hat    sich  sodann  Duris  angelegen  sein  lassen,    von  dem 
die  Euripidesverse,  die  hier  ganz  unsinnigen  Alarmsignale,  die  schwarzen 
Gewänder  stammen,  und  endlich  auch  Kleitarch,  der  Hauptgewährsmann 
für  Justin  und  Curtius:    bei  ihm  ist  Alexander  stärker  in  den  Mittel- 
punkt geschoben,  das  Motiv  geändert  und  endlich  die  Reue  Alexanders 
mit  lebhaften  Farben  ausgestattet.    Daneben  liegen  zwei  makedonische 
Berichte  bei  Arrian  vor,    Ptolemaios  und  Aristobulos,    die  den  eigent- 
lichen Grund  nicht  angeben  und  nur  Kleitos  die  Hauptschuld  beimessen. 
Dies  zeigt  besonders  die  Erzählung-  des  Ptolemaios,  die  erkennbar  durch 
die  Vorliebe  für  ägyptische  Wahrsager  bei  Curt.  IV,  10,  1 — 7  erhalten 
ist,  allerdings  stark  mit  kleitarchischen  Bruchstücken  untermischt;  eine 
einwandsfreie  Scheidung  der  Bestandteile  scheint  mir  unmöglich.     Da- 
nach ergibt  sich  für  Seh.  der  Schluß,  dem  man  beistimmen  kann:   den 
Anlaß  zum  Streit  g-aben,  wie  allgemein  berichtet  wird,  Spottlieder  auf 
die  altmakedouischen  Feldherren,    denen  A.  Beifall  zollte;    abweichend 
davon    erzählte    nur    Kallisthenes,    daß    Kleitos    sich    über  Alexanders 
Gleichstellung  mit  den  Dioskuren  ereifert  habe.    Allein  mit  Recht  hebt 
Seh.  hervor,  daß  Kallisthenes  als  Hofhistoriograph  weder  den  wirklichen 
Anlaß  noch  die  AI.  im  höchsten  Grade  verletzenden  Äußerungen  des  Kleitos 
aufzeichnen  konnte:   es  blieb  ihm  also  nichts  anderes  übri?,  als  ein  neues 
Motiv  zu  erfinden,  und  dabei  kam  er  auf  die  ihm  persönlich  höchst  anstößige 
Tatsache,  daß  AI.  eine  Gleichstellung  mit  den  Göttern  keineswegs  übel- 
nahm.    Für  den  Verlauf  des  Streites  ist  dann  Ptolemaios'  Bericht  maß- 
gebend, der  selber  dabei  tätig  war,  und  Kleitos'  unsinniges  Verhalten  dient 
allerdings  dazu,  Alexanders  Schuld  in  milderem  Licht  erscheinen  zu  lassen. 


282  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  ' 

Der  indische  Feldzug  ist  die  letzte  große  Unternehmung  des 
Königs,  und  an  ihn  hat  besonders  die  Auffassung  angeknüpft,  die  in 
Alexander  einen  ins  Ungemessene  strebenden  Eroberer  und  Weltherrscher 
erblickt,  dem  diesmal  durch  die  Weigerung  seines  Heeres  ein  energisches 
Halt  zugerufen  wird.  Allerdings  kann  dies  aus  der  Tatsache  des  Feld- 
zugs allein  nicht  geschlossen  werden:  Indien,  d.  h.  das  Pendschabland, 
bildete  tatsächlich  unter  Dareios  I.  und  auch  später  noch  eine  Satrapie 
des  persischen  Reiches,  deren  ßeiterkontingente  auch  bei  Gaui,^amela 
erwähnt  werden,  seine  Eroberung  würde  also  auch  dann  nicht  aus  dem 
Rahmen  von  Alexanders  Programm  herausfallen,  wenn  dieses  nur  die 
vollständige  Eroberung  des  Perserreichs  umfaßte.  Für  weitere  Pläne 
Alexanders  wird  dagegen  hauptsächlich  die  Größe  von  Alexanders  Heer 
(120  000  Mann  nach  Arr.  Ind.  c.  19)  geltend  gemacht,  insofern  für  die 
Eroberung  des  Pendschab  allein  wesentlich  geringere  Streitkräfte  genügt 
haben  würden  (Kaerst  S.  358  ff.).  Gewiß  ist  kein  Grund,  mit  Delbrück 
S.  183  an  der  Höhe  der  angegebenen  Zahl  zu  zweifeln,  zumal  man 
sonst  Arrian  bei  seinen  Zahlenangaben  über  das  makedonische  Heer 
Glauben  beizumessen  pflegt:  daß  die  Angabe  in  den  Indika  steht,  kann 
ihre  Glaubwürdigkeit  nicht  erschüttern,  da  Arrian  auch  hier  Quellen 
ersten  Ranges  wie  Nearchos  zu  Gebote  standen.  Aber  richtig  ist  aller- 
dings die  von  Köchly-Rüstow  bereits  gemachte  Bemerkung,  daß  „jetzt 
die  Avantgarde  des  Heeres  die  Schlachten  schlägt",  und  dies  führt 
darauf,  daß  AI.  den  Asiaten,  durch  deren  Anwesenheit  die  großen 
Ziiferu  sich  erklären,  eine  ähnliche  Rolle  zugedacht  hat  wie  den  Helleneu 
im  Perserkrieg.  Es  kam  ihm  hier  im  wesentlichen  darauf  an,  beide 
Heeresteile,  Makedouen  und  Asiaten,  nicht  bloß  auf  dem  Exerzierplatz, 
sondern  durch  die  gemeinsamen  Gefahren  und  Erfolge  eines  Feldzugs 
zu  verschmelzen,  wobei  er  allerdings  zunächst  in  der  Feldschlacht  nur 
einzelne  ausgewählte  asiatische  Truppen  verwandte.  Von  dieser  Seite 
her  betrachtet,  gliedert  sich  also  der  indische  Feldzug  in  die  Reihe  der 
]\Jaßregeln  ein,  durch  die  AI.  Makedonen  und  Perser  einander  näher  zu 
bringen  suchte,  und  insofern  kann  die  große  Heereszahl  nicht  gut  be- 
nutzt werden,  um  daraus  einen  Schluß  auf  weitgehende  Pläne  Alexanders 
zu  ziehen. 

Andererseits  aber  kann  man  auch  nicht  sagen,  Alexander  liabe 
von  vornherein  nichts  anderes  beabsichtigt  als  die  Eroberung  des 
Fünfstromlandes.  Der  Bau  der  Flotte  auf  dem  Hydaspes  ist,  wie 
Kaerst  S.  365  A.  richtig  gegen  Niese  (Histor.  Ztschr.  1897)  ausführt, 
noch  lange  kein  Beweis  dafür,  daß  AI.  schon  beim  Einmarsch  in  Indien 
die  Rückkehr  auf  dem  Indes  in  Betracht  gezogen  hat,  und  ebensowenig 
darf  man  die  Beschränkung  des  damaligen  geographischen  Gesichtskreises 
heranziehen,  um  daraus  etwas  über  AI.  letzte  Ziele  zu  entnehmen:  das 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  283 

ist  ja  gerade  das  Großartige  au  diesen  späteren  Unternehmungen 
Alexanders,  daß  sie  niclit  bloß  die  Eroberung,  sondern  auch  die  Ent- 
deckung und  Erschließung  neuer  Länder  bezweckeu.  Vollends  aber 
den  Widerstand  der  Soldaten  als  rhetorische  Ausschmückung  hinzu- 
stellen und  den  Konflikt  in  Alexanders  eigene  Brust  zu  verlegen 
(Koepp  S.  60),  ist  rein  unmöglich;  die  Tatsache  der  Weigening  steht 
doch  durch  Arrian  fest  und  ihre  Leugnung  würde  für  die  Glaubwürdig- 
keit Arrians  sehr  schlimme  Folgen  haben.  Daß  allerdings  im  Detail 
Ausschmückungen  vorliegen,  ist  sicher  und  insbesondere  scheint  auch 
mir  die  AI.  in  den  Mund  gelegte  Rede  arrianisches  Erzeugnis  zu  sein,  das 
historisch  für  Alexanders  Absichten  nicht  zu  verwerten  ist.  Allein  der 
Anlaß,  die  Weigerung  der  Soldaten,  bleibt  doch  bestehen  und  vor  allem, 
warum  sollte  sich  denn  gerade  am  Hyphasis  der  Kampf  in  Alexanders 
Brust  erhoben  haben?  Ein  besonders  schweies  Hindernis  des  Weiter- 
rnarsches  lag  nicht  vor;  die  Bedeutung  der  Wüste  Tharr  als  Schranke 
zwischen  dem  Indus  und  Gangesgebiet  ist  von  Niese  recht  erheblich 
übertrieben :  tatsächlich  hat  sie  bei  keiner  Invasion  Indiens  vom  Kabul- 
paß her  ein  ernsthaftes  Hindernis  gebildet,  zumal  sie  gar  nicht  bis 
unmittelbar  aus  Gebirge  reicht.  So  kommt  man  endlich  zu  dem  Schluß, 
daß  A.  als  erstes  Ziel  seines  Feldzugs  die  Sicherung  des  Fünfstrom- 
landes betrachtet  hat,  daß  er  aber  dabei  auch  einen  weiteren  Vormarsch 
ins  Auge  faßte,  falls  die  Umstände  es  verlangten  und  erlaubten.  Der- 
artige Umstände  müssen  tatsächlich  eingetreten  sein,  allein  der  Weiter- 
marsch scheiterte  an  dem  Widerstände  der  Soldaten.  Was  AI.  weiter 
bezweckte  und  wie  weit  er  gehen  wollte,  läßt  sich  heute  nicht  mehr 
feststellen. 

Eine  einzige  Feldschlacht  von  großer  Bedeutung  enthält  die  Ex- 
pedition: den  Kampf  gegen  Porös,  den  sowohl  Delbrück  183  ff.  wie 
auch  Schubert,  dieser  in  einem  besonderen  Aufsatz,  behandelt  haben. 
Auch  hier  geht  Seh.  zunächst  auf  eine  möglichst  scharfe  Scheidung  der 
Quellen  aus  und  beginnt  mit  der  Untersuchung  von  Arrian  5,  9,  3,  wo 
dieser  die  Mittel  angibt,  durch  welche  Alexander  Porös'  Wachsamkeit 
zu  täuschen  sucht.  Da  die  beiden  angegebenen  Mittel  einen  Wider- 
spruch untereinander  enthalten,  so  entstammen  sie  verschiedenen  Quellen, 
als  die  Seh.  Aristobulos  und  Ptolemaios  erkennt;  beide  sind  in  Arrians 
Bericht  zusammengearbeitet.  Einen  dritten  Bericht  gibt  Curt.  8,  13, 
20 — 21;  in  ihm  gelingt  die  Überlistung  dadurch,  daß  der  Alexander 
sehr  ähnliche  Attalos,  mit  den  königlichen  Insignien  bekleidet,  im  Lager 
zurückbleibt,  während  Alexander  heimlich  ausmarschiert  und  den  Über- 
gang bewerkstelligt,  eine  echte  Verkleidungsgeschichte  im  Stil  des  Duris, 
auf  den  denn  auch  wohl  Curtius'  Schilderung  zurückgeht.  Endlich  der 
Bericht  des  Plutarch,  der  angeblich  auf  einem  Briefe  Alexanders  selbst 


284  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    fLenschau.') 

beruht:  sowohl  Schubert  wie  Bauer  (Festschrift  für  M.  Büdinger  1898) 
erklären  den  Brief  für  ein  späteres  Machwerk,  das  aber  auf  gntea 
Quellen  (bes.  Ptölemaios)  iberuht;  eine  Ansicht,  die  jedenfalls  mehr  für 
sich  hat  als  Delbrücks  Annahme;  man  habe  es  hier  mit  einem  zwar 
niclrt  von  Alexander  selbst,  aber  aus  seiner  Umgebung  herrührenden 
Bulletin  zu  tun  (Delbrück  S.  189).  Nun  aber  finden  sich  in  dem 
Arrianischen  Schlachtbericht  mehrfach  Berührungen  mit  den  andern 
Versionen,  insbesondere  mit  der  kleitarchischen,  die  bei  Diodor  vorliegt. 
Diese  erklärt  Seh.  dadurch,  daß  er  annimmt,  Arrian  habe,  ohne  es 
ausdrücklich  anzudeuten,  in  seineu  hauptsächlich  auf  Ptölemaios  be- 
ruhenden Bericht  Stücke  der  Kleitarchischen  Version  hineingearbeitet; 
und  er  hält  es  deshalb  für  die  erste  Pflicht  der  Kritik,  Ptölemaios' 
Bericht  möglichst  rein  wiederherzustellen,  indem  man  sozusagen  Kleitarch 
(Diodor)  von  Arrians  Darstellung  abzieht.  Das  ist  nun  in  der  Praxis 
nicht  so  einfach,  wie  es  aussieht;  es  scheint  mir  aber  auch  an  sich  be- 
denklich, da  doch  auch  Kleitarch  Ptölemaios  und  Aristobul  benutzt 
und  aus  ihnen  jene  übereinstimmenden  Züge  entlehnt  haben  kann. 
Man  läuft  also  Gefahr,  bei  einem  solchen  Subtraktionsexempel ,  wie  es 
Seh.  vorschlägt,  auch  echte  Züge  aus  dem  Schlachtbild  des  Ptölemaios 
zu  tilgen.  Obwohl  daher  die  Möglichkeit  der  Versetzung  mit  ander- 
weitigen Zutaten  zugegeben  werden  muß,  so  scheint  es  doch  richtiger, 
den  Gesamtbericht  des  Arrian,  wie  er  nun  einmal  ist,  der  Rekon- 
struktion zugrunde  zu  legen. 

Das  hat  Delbrück  getan,  allerdings  mit  Zuhilfenahme  jenes  an- 
geblichen Bulletins  aus  AI.  Umgebung;  was  denn  freilich  den  Erfolg 
hat,  daß  er  gerade  in  den  wesentlichsten  Punkten  von  Arrian  abweicht. 
Zunächst  kommandiert  bei  Delbrück  Alexander  den  linken,  Koinos  den 
rechten  makedonischen  Flügel,  während  Arrian  die  Sache  gerade  um- 
gekehrt darstellt.  Allein  hier  unterliegt  Arrian  nach  Delbrück  bereit.5 
einem  Mißverständnis,  das  er  aus  den  Worten  des  Bulletins  cpoßY)f>£k 
üE  xa  dyjpia  xal  xo  ttX^Hqc  xöiv  TroX£|xuüv  aOxo;  [xlv  evjsraa!  xaxa  Oaxspov 
xepac,  Koivov  ok  xw  Ö£^uo  r.poa'^j'x'kEh  zu  erklären  sucht.  Indem  D.  richtig 
betont  (S.  19B  ff.),  daß  in  den  Worten  (poßTjOeW  xxs,  der  Grund  für  die 
Anordnungen  Alexanders  gegeben  sei,  folgert  er,  daß  in  der  Verteilung 
der  Flügel  etwas  Besonderes  liegen  müsse,  und  das  könne  eben  nur 
darin  bestehen,  daß  abweichend  von  dem  gewöhnlichen  Brauch  AI.  den 
linken,  Koinos  den  rechten  Flügel  kommandiert  habe;  es  sei  also  zu 
übersetzen:  „er  selber  habe  aus  Furcht  usw.  den  einen  (d.  h.  den 
feindlichen  rechten)  Flügel  angegriffen,  Koinos  dagegen  sei  mit  dem 
(makedonischen)  rechten  Flügel  vorgegangen."  Das  ist  sprachlich  un- 
möglich, die  Gegenüberstellung  von  ffaxcpov  und  ööEtov  hat  nur  dann 
einen  Sinn,  wenn  beide  im  gleichen  Verstände,  nämlich  von  den  feind- 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.     (Lenschau.)  285 

liehen  Flügeln,  gebraucht  werden,  auch  verlangen  evaeijai  und  -pojßaXciv 
gleichmäßig  die  Angabe  des  Zieles,  gegen  das  sich  der  Angrift'  richtet. 
Also  ist  zu  übersetzen:  „Koinos  dagegen  sei  gegen  den  rechten  indischen 
Flügel  vorgegangen"  und  die  Anordnung  der  Flügel  ist  hier  dieselbe 
wie  bei  Arrian.  Die  Worte  (fo';ir^x)t\;  y.xi  sollen  nicht  etwa  eine  be- 
sondere, abweichende  Anordnung  der  Flügel  begründen,  sondern  nur 
das  Motiv  angeben,  warum  AI.  auf  den  Flügeln  und  nicht  im  Zentrum 
angreift,  und  endlich  der  sachliche  Grund,  den  D.  noch  für  die  Ver- 
tauschuug  des  Kommandos  anführt,  (S.  193),  wird  sich  weiterhin  als  nicht 
stichhaltig  erweisen.  ISo  viel  über  die  Anordnung;  auch  den  Verlauf 
der  Schlacht  stellt  sich  D.  anders  vor,  als  bei  Arrian  angegeben  ist. 
Während  bei  diesem  der  Kampf  nur  auf  dem  linken  Flügel  entbrennt, 
wirft  sich  die  makedonische  Kavallerie  bei  Delbrück  auf  beide  Flügel 
und  drängt  die  hier  befindliche  indische  Reiterei  auf  das  Fußvolk 
zurück,  das  nun,  in  der  Flanke  und  im  Rücken  von  der  makedonischen 
Kavallerie,  in  der  Front  von  der  Phalanx  bedrängt,  dem  allgemeinen 
Augriff  erliegt.  Gegen  diese  Darstellung  ist  ein  sachliches  Bedenken 
zu  erheben.  Nach  Arrian  wird  die  Reiterei  der  Inder  auf  die  Elefanten 
zurückgedrängt,  diese  aber  standen  in  der  Front,  nicht  in  den  Flanken 
der  indischen  Phalanx,  auf  die  doch  die  indischen  Reiter  bei  D.s  Ansicht 
zurückgeworfen  sein  müßten.  D.  fühlt  das  selbst  und  meint:  die 
Elefanten  hätten  wohl  z.  T.  kehrt  gemacht  und  wären  durch  die  In- 
fanterie hindurchgegangen,  um  den  Makedoniern  zu  begegnen  (S.  187), 
ein  xAuskunf tsmittel ,  das  man  mit  Stillschweigen  übergehen  könnte, 
wenn  es  nicht  eben  Delbrück  wäre,  der  es  gebraucht. 

Gerade  in  diesem  Punkt  aber  liegt  m.  E.  der  Schlüssel  zum 
Verständnis  der  Schlachtbeschreibung  Arrians:  die  Flucht  der  indischen 
Reiterei  ging  auf  die  Elefanten  zu,  diese  standen  in  der  Front,  also 
hat  der  Reiterkampf  vor  der  Front,  zwischen  beiden  Heeren  stattge- 
funden und  der  Gang  der  Schlacht  läßt  sich  so  rekonstruieren.  Porös 
war  zuerst  am  Platz,  seine  Aufstellung  war  schon  ziemlich  weit  vor- 
geschritten, als  Alexanders  Fußvolk  atemlos  herankam.  Er  gönnte  ihm 
Zeit,  sich  zu  erholen,  und  deckte  es  so  lange  mit  der  Reiterei,  natürlich 
wird  er  es  in  achtungsvoller  Entfernung  von  den  ludern  aufgestellt 
haben,  so  daß  Porös  sich  nicht  sofort  mit  den  Elefanten  darauf  werfen 
konnte.  Der  Zwischenraum  zwischen  beiden  Heeren  war  also  ziemlich 
groß.  Dann  ging  AI.  zum  Angriff  vor:  er  schickte  Koinos  mit  seinen 
Reitern,  vielleicht  hinter  der  eigenen  Phalanx  herum  auf  den  linken 
Flügel  und  warf  sich  schräg  rechts  vorwärts,  da  die  indische  Front 
bedeutend  ausgedehnter  war,  auf  den  linken  indischen  Flügel,  der  ihm 
entgegenritt,  Arr.  5,  17,  1.  In  diesem  Augenblick  kam  vom  rechten 
indischen  Flügel  her    die  dort  postierte  Reiterei    den  Ihrigen  zu  Hilfe 


286  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

(TzavToöev  ^uvaXi'sav-s?  An*.  5,  17,  1  vgl.  mit  15,  7)  und  warf  sich  auf 
Alexanders  linke  Flanke,  ward  aber  selber  jetzt  durch  Koinos  vom 
linken  makedonischen  Flügel  her  in  der  Flanke  gefaßt  Nach  hartem 
Kampf  wird  die  ßeiterei  der  Indier  auf  die  Elefanten  zurückgeworfen, 
allein  ihre  Vernichtung  ist  unmöglich,  da  die  makedonischen  Pferde  scheuen. 
Jetzt  führt  AI.  leichtbewaffnetes  Fußvolk,  das  vor  der  Phalanx  stand  — 
dies  hat  Schubert  S.  556  mit  glücklichem  Scharfblick  aus  dem  Namen 
Taurons  erschlossen  —  gegen  die  Elefanten  heran  (Arr.  c  17,  3);  es 
gelingt,  die  Tiere  wild  zu  machen.  Inzwischen  wirft  sich  AI.  mit  der 
gesammelten  Pieiterei  auf  die  Flanken  des  indischen  Fußvolks,  und  da 
somit  der  Raum  zwischen  den  Fronten  frei  wird,  befiehlt  er  endlich 
den  Angriff  der  Phalanx  (Arr.  5,  17,  7).  So  von  allen  Seiten  bedrängt, 
erliegt  das  Fußvolk  und  sucht  endlich  zu  flüchten,  wo  es  nur  eine 
Öffnung  in  dem  Ring  der  andrängenden  Feinde  findet.  —  Wesentlich 
anders  stellt  Bury  S.  804  f.  die  Schlacht  dar,  er  postiert  Alexanders 
Reiterei,  wie  es  scheint  auf  Polyän  basierend,  in  zwei  Abteilungen  auf 
ilen  linken  Flügel,  entfernt  sich  aber  damit  ebenfalls  fast  völlig  vou 
der  im  wesentlichen  als  richtig  erkannten  Darstellung  Arrians. 

Noch  ein  Punkt  ist  zu  erledigen ,  die  Mitwirkung  des  Krateros, 
der  nach  dem  Siege  Alexanders  über  den  Fluß  geht  und  unter  den 
Fliehenden  ein  großes  Blutbad  anrichtet.  Nun  hat  nach  der  gewöhn- 
lichen Annahme  A.  den  Fluß  150  Stadien  oberhalb  des  Lagers  über- 
schritten, alsdann  schlugen  die  Indier  mit  der  Front  nach  Norden,  ihr 
linker  Flügel  stand  am  Flusse  und  der  Angriff  AI.  würde  sie  von  diesem 
abgedrängt  haben.  Dann  wäre  die  Flucht  landeinwärts  gegangen  und 
schwerlich  konnte  sich  Krateros,  der  doch  erst  über  den  Fluß  mußte, 
noch  stark  an  der  Verfolgung  beteiligen.  Mit  Recht  gibt  daher  Schubert 
der  Ansicht  York  v.  Wartenburgs  den  Vorzug,  der  die  IJbergangsstelle 
stromabwärts  sucht.  Alsdann  war  die  indische  Front  nach  Süden  ge- 
richtet, der  linke  Flügel  stand  landeinwärts  und  ihn  wählte  Alexander 
als  Angriffspunkt,  da  ein  Erfolg  an  dieser  Stelle  die  Indier  gegen  den 
Strom  und  dem  heranrückenden  Krateros  gerade  in  die  Arme  treiben 
mußte.  Tatsächlich  sind  denn  auch  die  Verluste  der  Inder  sehr  schwer 
gewesen. 

Mit  Alexanders  Tod  schließen  sowohl  Burys  Griechische  Ge- 
schichte, wie  auch  der  erste  Band  von  Kaersts  Geschichte  des  Hellenis- 
mus ab  und  so  ist  hier  der  Ort,  ein  zusammenfassendes  Urteil  über 
diese  beiden  Werke  abzugeben.  Bury  gibt  in  seinem  Buche  eine  mit 
unleugbarem  Geschick  geschriebene  Darstellung  der  gesamten  Ent- 
wickelung,  die  in  erster  Linie  für  den  Studenten,  im  weiteren  Sinne 
auch  auf  das  größere  Publikum  berechnet  ist:  für  den  erstgenannten 
Zweck  sind  die  kurzen  Quellenangaben  und  Literaturnachweise  am  Schluß 


Jahresbericht  über  griecbische  Geschichte.     (Lenschau.)  2i^7 

besouders  geeignet.  lu  den  ftlteven  Partien  bat  der  Verfasser  m.  E. 
der  griechischen  Sageugeschichte  zu  viel  Wert  beigelegt;  es  ist  sehr 
fraglich,  ob  alles  das,  was  B.  daraus  anführt,  wirklich  zur  Rekon- 
struktion gebraucht  werden  kann.  Die  späteren  Partien,  etwa  vom 
6.  Jahrhundert  ab,  geben  dagegen  ein  klares  Bild,  dem  der  Verf.  aus 
eigenen  Forschungen  manche  Züge  hinzugefügt  hat ,  und  zeichnen  sich 
duich  eiu  tieflfendes  Urteil  in  politischen  und  wirtschaftlichen  Dingen, 
weniger  in  kriegsgeschichtlichen  Fragen  aus.  Der  AVert  des  Buches 
wird  durch  eine  große  Anzahl  anspruchsloser  Kartenskizzen  und  Münz- 
bilder erhöht,  während  die  nach  Photographien  reproduzierten  Ansichten 
aus  Griechenland  besonders  in  technischer  Hinsicht  einiges  zu  wünsclien 
übriglassen.  Im  allgemeinen  ist  das  Buch  eine  gute  Zusammenfassung 
der  neueren  Forschungen  über  die  Griechische  Geschichte,  die  auch 
infolge  ihres  billigen  Preises  weiter  Verbreitung  in  ihrem  Heimatlande 
sicher  sein  kann. 

Während  Burys  Werk  die  Gesamtentwickelung  der  griechischen 
Geschichte  zum  Gegenstand  hat,  bezieht  sich  Kaersts  Buch  nur  auf 
einen  verhältuisniä(.)ig  geringen  Zeitraum,  etwa  die  Jahre  360 — 323: 
hier  aber  bezeichnet  es  einen  wesentlichen  Fortschritt  über  den  bis- 
hei-igen  Stand  der  Forschung  hinaus.  Es  ist  jetzt  wohl  allgemein  zu- 
gegeben, daß  die  letzte  Behandlung  der  Geschichte  Alexanders  duicli 
Niese  (1893)  der  Persönlichkeit  des  großen  Königs  nicht  gerecht  wird: 
in  dem  Bestreben,  nur  das  tatsächlich  Verbürgte  —  und  als  tatsächlich 
verbürgt  gilt  Niese  eigentlich  nur  das,  was  die  erste  Quellenklasse 
(.Arrian)  überliefert  —  zugrunde  zu  legen,  ist  ihm  das  wahrhaft  Geniale 
und  geradezu  Dämonische  in  Alexanders  Natur  völlig  entgangen.  Hier 
tritt  Kaersts  Darstellung  ein,  die  zum  Teil  eben  auf  der  zweiten  Quellen- 
klasse beruht,  in  der  K.  mit  Recht  eine  wertvolle  Ergänzung  Arrians 
erblickt:  nur  ist  es  ihm  hier  und  da  passiert,  daß  er  in  denselben 
Fehler  verfällt, 'den  diese  Quellenklasse  so  oft  macht,  indem  sie,  schwachen 
Dramatikern  des  vorigen  Jahrhunderts  gleich,  die  Pläne  und  Gedanken 
des  volieutwickelten  Mannes  bereits  in  seine  Jugend  hineinverlegt  und 
so  ein  kaum  zu  ertragendes  Zerrbild  schafft.  Als  Beispiel  mag  der 
Gedanke  der  Weltherrschaft  dienen.  So  sehr  ich  glaube,  daß  er  in 
den  letzten  Jahren  klar  und  deutlich  vor  Alexandeis  Seele  stand,  so 
wenig  kann  ich  mich  davon  überzeugen,  daß  er  den  König  bereits  er- 
füllte, als  er  an  der  Spitze  seiner  Scharen  den  Hellespont  überschritt. 
Auch  das  größte  Genie  ist  nicht  von  Anfang  an  fertig,  sondern  ent- 
faltet erst  nach  und  nach  allseitig  seine  Kräfte  und  im  Hinblick  hierauf 
scheint  mir  Kaersts  Darstellung  eine  Berichtigung  zu  erfordern.  Ein 
zweiter  wesentlicher  Vorzug  des  Buches  aber  liegt  m,  E.  darin,  daß 
hier  zum  erstenmal  und  in  umfassendster  Weise  gezeigt  wird,   wie  die 


288  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Entwickelung  der  politischen  Ideen  in  Griechenland  vor  Alexander  das 
althellenische  Ideal  des  geschlossenen  Stadtstaats  sprengt  und  zu  jener 
Erweiterung  hindrängt,  die  von  Bury  mit  dem  glücklichen  Ausdruck 
The  Expansion  of  Greece  bezeichnet  ist.  Der  Begriif  der  Oikumene 
dämmert  herauf  und  Alexander  hat  ihm  zum  erstenmal  die  Wirklichkeit 
verliehen:  seit  jener  Zeit  ist  er  nicht  wieder  untergegangen,  sondern 
ein  Gemeingut  der  wissenschaftlichen  Bildung  aller  Zeiten  geblieben, 
wie  Kaerst  in  jener  Antrittsvorlesung  sehr  schön  ausgeführt  hat.  Die 
Darlegung  des  geistigen  Zusammenhangs  zwischen  dem  ausgehenden 
Griechentum  und  der  Periode  des  Hellenismus  ist  es,  für  welche  die 
Geschichtswissenschaft  vor  allem  dem  Kaerstschen  Buche  verpflichtet  ist. 


Sechstes  Kapitel. 

Zur  griechischen  Wirtschaftsgeschichte. 

Ed.  Meyer,  Forschungen  II. 

H.  Francotte,  Tindustrie  dans  la  Grece  ancienne  vol.  1.  2 
(Bibliotheque  de  la  faculte  de  Philosophie  et  de  lettres  de  Tuni- 
versite  de  Liege  fasc.  7.  8.)  Bruxelles  1900/01. 

P.  Guiraud,  la  main  d'oeu vre  industrielle  dans  1' ancienne  Grece 
(Bibliotheque  de  la  fac.  de  lettres  de  Tuniversite  de  Paris,  vol.  XII). 
Paris  1900. 

Rob.  Poehlmann,  Geschichte  des  antiken  Kommunismus  und 
Sozialismus.     Bd.  II.     München  1901. 


Jul.  Bei  och,  Antike  und  moderne  Großstädte  in  Wolfs  Zeitschr. 
f.  Sozialwisscnschaft  I,  413  ff.  500  ff.  1898. 

—  Die  Großindustrie  im  Altertum  ibid.   1899. 

—  Die  Bevölkerung  im  Altertum  Wolfs  Zeitschr.  II,  600 — 621. 
1899. 

—  Die   Handelsbewegung    im    Altertum    in  Conrads    Jahrb.    für 
Volkswirtschaft.     Dritte  Folge,  Bd.  18,  8.  626  ff. 

M.  Weber,  Artikel  über  Griechische  Agrargeschichte  in  Conrads 
Handwörterbuch  der  Staatswissenschatt  Bd.  1. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  289 

Ed.  Meyer,   Art.  Bevölkerung  d.  Altertums  in  Conrads  Handw. 
der  Staatswiss.  Bd.  2,  674  ft.  Nachtrag.  S.  1216. 

—  Griechische  Finanzen  ebd.  IlT,  936—948. 

—  Orientalisches  und  Griechisches  Münzwesen  ebda.  V,  906—914. 


Wenngleich  im  Verlauf  der  vorhergehenden  Darstellung  bereits 
hier  und  da  wirtschaftliche  Probleme  berührt  worden  sind,  so  empfiehlt 
es  sich  doch,  hier  noch  einmal  die  einschlägigen  Forschungen,  soweit 
sie  der  Berichtsperiode  angehören,  zasammenzufassen,  zumal  unter  ihnen 
einige  Werke  sind,  die  sich  mit  Gesamterscheinungen  des  wirtschaft- 
lichen Lebens  im  griechischen  Altertum  befassen  und  schon  darum  eine 
eingehendere  Besprechung  verdienen.  Und  zwar  wird  von  der  Be- 
völkerungsforschung auszugehen  sein,  die  bei  unserer  lückenhaften 
Kenntnis  der  ökonomischen  Tatsachen  des  Altertums  mehr  als  sonst  die 
Grundlage  bilden  muß,  da  sie  allein  imstande  ist,  den  richtigen  Maßstab 
für  die  einzelnen  wirtschaftlichen  Erscheinungen  an  die  Hand  zu  geben. 

Es  ist  das  Verdienst  Belochs,  mit  Benutzung  sämtlicher  ein- 
schlägigen Stellen  und  der  Gesetze,  die  die  moderne  Bevölkerungs- 
forschung an  die  Hand  gibt,  auf  diesem  Gebiet  die  Grundlagen  ge- 
schaffen zu  haben,  deren  Haltbarkeit  sich  mehr  und  mehr  herausstellt. 
Seine  Ergebnisse,  die  er  im  übrigen  als  Minimalzahlen  betrachtet  wissen 
will,  haben  allmälilich  allgemeine  Anerkennung  gefunden:  sie  werden 
daher  nicht  bloß  von  Delbrück  im  ersten  Band  der  Geschichte  der 
Kriegskunst,  sondern  auch  von  Meyer  in  dem  Artikel  Griechische  Be- 
völkerung durchweg  zugrunde  gelegt.  Allein  auf  Grund  späterer  Er- 
wägungen ist  gerade  Ed.  Meyer  in  einem  der  wichtigsten  Punkte,  in 
der  Berechnung  der  Volkszahl  Attikas  im  Beginn  des  peloponnesischen 
Krieges,  zu  wesentlich  abweichenden  Ergebnissen  gelangt,  die  er  zu- 
nächst im  Nachtrag  zum  3.  Bande  des  Handwörterbuchs  kurz  skizzierte, 
um  sie  sodann  im  2.  Bande  der  Forschungen  ausführlicher  zu  begründen. 
M.  geht  von  der  bekannten  Stelle  Thuk.  2,  13  aus,  wo  Perikles  die 
Stärke  der  athenischen  Feldarmee  auf  13  000  Mann  angibt;  dazu  sind 
nach  ihm  als  Garnison  noch  aus  den  ältesten  und  jüngsten  Jahrgängen 
sowie  aus  den  Metöken  16  000  Hopliten  verfügbar.  Zieht  man  die  fest- 
stehende Zahl  von  3000  Metökenhopliten  ab,  so  haben  die  ältesten  und 
jüngsten  Jahrgänge  für  sich  allein  13  000  Hopliten  geliefert,  d.  h.  eben- 
soviel wie  sämtliche  übrigen  Jahrgänge,  die  in  die  Feldarmee  einge- 
stellt waren.  Da>  das  unmöglich  erscheint,  so  hat  man  eine  Änderung 
für  nötig  gehalten,  und  zwar  hat  zuerst  Beloch  die  Schreibung  6000 
Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft.    Bd.  CXXII.    (1904.    III.)       U> 


290  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

vorgeschlagen,  so  daß  also  nach  Abzug  der  3000  Metöken  die  vswTarot 
und  Tipsaß'j-aTot  3000  Hopliten  geliefert  hätten.  Allein  abgesehen  davon, 
daß  schon  Ephoros  bei  Diod.  12,  40  die  thukydideiscben  Zahlen  so  ge- 
lesen haben  muß,  v^le  sie  uns  überliefert  sind,  ist  es  vollkommen  un- 
möglich, wie  Meyer  S.  154  treifend  ausführt,  daß  6000  Mann  auch  nur 
im  ertferntesten  zur  Verteidigung  einer  solchen  Riesenfestung  ausgereicht 
hätten,  wie  sie  das  damalige  Athen  mit  dem  Peiraieus  bildete.  Viel- 
mehr läßt  sich  an  den  Zahlen  nicht  rütteln,  und  genauer  betrachtet 
sind  sie  auch  unanstößig,  da  Thnk.  ja  eine  Bestimmung  der  Alters- 
grenze nicht  gibt  und  nichts  uns  an  der  Annahme  hindert,  daß  man 
mit  der  Bezeichnung  TrpscrßuTaTot  ziemlich  tief  hinabgegangen  ist.  Dem- 
nach stellt  sich  M.  die  Sache  so  vor,  daß  aus  der  Gesamtzahl  der 
Wehrpflichtigen  zunächst  die  Epheben,  d.  h.  die  Jahrgänge  von  18 — 20, 
sodann  die  13  000  Hopliten  der  Feldarmee  sowie  2500  Mann  Besatzungen 
im  Bundesgebiet  ausgehoben  seien,  wobei  die  Jahrgänge  von  21  an  so 
weit  wie  nötig  herangezogen  wurden.  Aus  dem  Rest  der  körperlich 
minder  Tauglichen  und  den  älteren  Jahrgängen,  sei  sodann  die  Be- 
lagerungsarroee  auf  13  000  -f  3000  Metökenhopliten  ergänzt.  —  Indem 
M.  ferner  die  übrigen  noch  verfügbaren  Angaben  heranzieht,  kommt 
er  endlich  auf  eine  Anzahl  von  rund  35  500  für  die  erwachsenen  männ- 
lichen Angehörigen  der  drei  oberen  Klassen.  Daß  damals  schon  Theten 
als  Hopliten  dienten,  stellt  er  wohl  mit  Recht  in  Abrede,  vielmehr  hat 
erst  die  wachsende  Not  des  Krieges  dazu  gezwungen;  anfangs  taten 
sie  nur  als  Ruderknechte  Dienst  auf  der  Flotte  und  nach  den  in  Aktion 
tretenden  Schiffszahlen  berechnet  M.  ihre  Zahl  auf  etwa  20—25  000 
Mann.  Dazu  stimmt  die  Angabe  des  Philochoros  Schol.  Ar.  vesp.  728 
=  Plut.  Per.  37,  nach  der  445/4  bei  einer  Getreideverteilung  19  000 
Bürger  gezählt  wurden;  da  die  Zahl  als  Gesamtzahl  zu  gering  ist,  so 
nimmt  M.  mit  Beloch  sie  als  die  Zahl  der  Theten,  der  wirklichen 
Empfänger,  wodurch  eben  das  auf  anderem  Wege  gewonnene  Ergebnis 
bestätigt  wird.  Aus  der  Gesamtzahl  der  Bürger  über  18  Jahre 
(55  500)  zuzüglich  von  etwa  14  000  Metöken,  berechnet  M.  sodann  nach 
dem  Verhältnis  1 :  3,  welches  dem  seiner  ökonomischen  Struktur  nach 
Attika  am  nächsten  stehenden  Frankreich  entnommen  ist  (Forsch.  II, 
162  f.),  die  gesamte  freie  Bevölkerung  auf  rund  170  000  Bürger  und 
42  000  Metöken  also  rund  210  000  Seelen,  während  Beloch  sie  in  der 
Griech.  Gesch.  1,399  noch  auf  100  000  Bürger  und  30  000  Metöken 
ansetzt.  Übrigens  hält  der  zuletzt  genannte  Forscher  auch  jetzt  noch 
daran  fest,  daß  man  mit  der  Zahl  der  erwachsenen  Bürger  keinesfalls 
über  40  000  hinausgehen  dürfe  und  daß  die  Zahlen  des  Thukydides  einen 
Fehler  enthielten,  wobei  er  jedoch  die  früher  von  ihm  vorgeschlagene 
Änderung  von  16  000  in  6000  aufgegeben  zu  haben  scheint. 


Jahresbericht  über  griechische  Geschiebte.    (Lenschau.)  291 

Bliebe  noch  die  Zahl  der  Sklaven  zu  bestimmen,  was  indessen  un- 
j»eraein  schwierig  ist.  Allgemein  werden  die  ungeheuren  Angaben  des 
Ath.  VI,  272  als  irreführend  verworfen;  nur  Guiraud  sucht  sie  zu 
halten  (p.  103  f.),  erklärt  aber  eine  Lösung  des  Problems  für  unmög- 
lich. Immerhin  hat  M.  mit  Verwertung  aller  zu  Gebote  stehenden  An- 
gaben die  Anzahl  der  Sklaven  in  Attika  um  431  auf  rund  150  000  be- 
ziffert (Forsch.  II.  185  ff.),  diesmal  in  völliger  Übereinstimmung  mit 
Beloch,  der  etwa  zu  dem  gleichen  Ergebnis  kommt.  Sonach  würde 
also  als  Gesamtbevölkerungszahl  Attikas  360  000  Menschen  anzusetzen 
sein,  wovon  reichlich  die  Hälfte  ihren  Wohnsitz  in  der  Stadt  hatte; 
damit  stimmt  im  ganzen  das  überein,  was  wir  von  der  Eigenproduktion 
und  der  Einfuhr  von  Getreide  wissen,  obwohl  die  Schlüsse  daraus, 
worauf  M.  mit  Recht  aufmerksam  macht,  infolge  der  Lückenhaftigkeit 
des  Materials  nur  als  sehr  unsicher  bezeichnet  werden  können.  Dennoch 
wird  im  ganzen  das  Bild,  das  Meyer  von  der  Bevölkerungsgeschichte 
Attikas  entwirft  (S.  179),  wohl  zutieffen:  insbesondere  verdient  die  Be- 
rechnung der  freien  erwachsenen  Bevölkerung  von  431  auf  rund  55  000 
entschieden  den  Vorzug  vor  Belochs  niedrigeren  Zahlen,  insofern  sie 
die  gewaltige  Kraftentfaltung  des  athenischen  Staats  und  seine  zähe 
Ausdauer  trotz  der  ungeheuren  Verluste  durch  die  Pest  und  die  sizi- 
lische  Niederlage  sehr  viel  besser  erklärt. 

Während  so  in  den  Bevölkerungsverhältnissen  des  Altertums  die 
Forschung  allmählich  an  festem  Boden  gewinnt,  liegt  die  Darstellung 
der  einzelneu  Zweige  antiker  Volkswirtschaft  noch  sehr  im  argen. 
Insbesondere  vermißt  man  eine  solche  für  die  antike  Landwirtschaft: 
einen  kurzen  tiberblick  gibt  MaxWebers  Artikel  über  Griechische  Agrar- 
geschichte  und  das  sechste  Kapitel  im  zweiten  Bande  von  Pöhlmanns  Ge- 
schichte des  antiken  Sozialismus.  Mit  Recht  hebt  P.  hervor,  wie  in  den 
Zeiten  der  ausgehenden  Adelsherrschaft  überall  die  Tendenz  zur  Ver- 
nichtung der  kleinen  Grundbesitzer  und  zurLatifundienwirtschaft  vorhanden 
war,  wie  aber  die  soziale  Gesetzgebung,  vorzüglich  Solon  und  die  ein- 
sichtige Tyrannis  (Periandros,  Peisistratos)  hier  energisch  hemmend  ein- 
griff (S.  143  ff.).  Vielmehr  besaßen  Attika  und  mit  ihm  manche  andere 
griechische  Staaten  noch  im  V.  Jahrhundert  einen  kraftvollen  Bauern- 
stand, der  erst  durch  die  rund  ein  Jahrhundert  dauernden  Kriege  um 
die  Hegemonie  mit  ihrer  furchtbaren  Verwüstung  der  Bodenkultur  ver- 
nichtet ward:  treffend  vergleicht  Weber  die  Wirkung  des  peloponne- 
sischen  Krieges  auf  die  griechischen  Agrarverhältnisse  mit  der  des 
hannibalischen  Krieges  auf  den  italischen  Bauernstand.  Später  ver- 
schwindet der  freie  Bauer  mehr  und  mehr,  und  im  Attika  des  4.  Jahr- 
hunderts ist  der  Teilpächter  an  seine  Stelle  getreten  (Poehlmann  S.  161  ff'.); 
wo  der  Bauer  sich  hält,  arbeitet  er  im  wesentlichen  unter  dem  Druck 

19* 


292  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

starker  Hypothekarverschuldung.  Dennoch  muß  damit  ein  gewisser 
Stillstand  eingetreten  sein;  zu  einer  wirklichen  Latifnndieuwirtschaft 
ist  es,  wie  Weber  hervorhebt,  nicht  gekommen.  —  Interessant  sind 
übrigens  Meyers  Bemerkungen  über  die  Bodenkultur  Attikas  (189  ff.), 
in  denen  er  Böckhs  Aufstellungen  im  Staatshaushalt  (I^  108  ff.)  als 
im  wesentlichen  irrig  erweist.  An  der  Hand  der  modernen  Statistik 
weist  er  nach,  daß  höchstens  25  Prozent  der  Bodenfläche  Attikas  für 
den  Körnerbau  in  Betracht  kommen  und  daß  davon  noch  jährlich  die 
Hälfte  in  Brache  lag,  während  Böckh  noch  Vii  der  Fläche  als  mit 
Getreide  bestanden  annahm  und  nur  wenig  auf  Brachfelder  abgerechnet 
wissen  wollte.  Demgemäß  sind  Böckhs  Schätzungen  des  Bodenertrages 
viel  zu  hoch:  die  eleusinischen  Zehntenlistea  ergeben  etwa  insgesamt 
für  das  Ende  des  4.  Jahrhunderts  eine  Ernte  von  400  000  Med.  Ge- 
treide, wozu  noch  nach  Meyers  Rechnung  reichlich  200  000  Med.  aus 
dem  Kleruchenland  kommen.  Nun  besitzen  wir  außerdem  noch 
Demosthenes'  allerdings  auch  keineswegs  genaue  Angabe  in  der  Lep- 
tinea  (20,  31),  wonach  die  Einfuhr  im  Jahre  B55  mehr  als  800  000  Med. 
betragen  haben  muß.  So  mißlich  es  ist,  die  Zahlen  in  Beziehung  zu 
setzen,  da  wir  weder  über  den  Gesamtausfall  der  Ernte  355  noch  über 
die  Einfuhr  im  Jahre  der  eleusinischen  Zehntenlisten  (329/8)  etwas  wissen, 
so  wurde  doch  die  Gesamtmenge  des  vertügbaren  Getreides  —  1,4  Mill. 
Med.,  wenn  beide  Zahlen  zusammengenommen  werden  —  für  eine  Bevölke- 
rung von  250  000  Seelen  ausreichen,  und  mehr  hat  Athen  zur  Zeit 
des  Demetrios  von  Phaleron  auch  sicher  nicht  gehabt. 

Auch  in  betreff  der  Handelsbewegung  im  Altertum  ist  die  For- 
schung bis  jetzt  noch  kaum  zu  den  ersten  Grundlagen  gelangt;  wie  wäre  es 
sonst  möglich,  daß  ein  mit  Recht  so  angesehener  Nationalökonom  wie 
Bücher  die  mehr  als  wunderliche  Ansicht  äußern  konnte,  der  antike 
Veikehr  habe  sich  auf  seltene  Produkte  und  gewerbliche  Handelsartikel 
von  hohem  Werte  beschränkt  und  sei  deswegen  in  keiner  Weise  mit 
dem  modernen  Masseuverkehr  zu  vergleichen.  Daß  unsere  Angaben 
dieser  Ansicht  aufs  bestimmteste  widersprechen,  hat  Bei  och  in  den 
Conradschen  Jahrbüchern  (III.  Folge  18,  626  ff.)  kurz  dargelegt. 
Noch  im  Notjahr  401/0,  wo  Handel  und  Wandel  aufs  schwerste  dar- 
uiederlag,  ergab  die  Verpachtung  der  Hafenzölle  im  Piräus  30  tal., 
was  auf  eine  Handelsbewegnug  von  11  Mill.  M.  schließen  läßt,  der 
etwa  40  Mill.  M.  nach  dem  heutigen  Geldwert  ensprechen  würden.  In- 
dessen schon  im  folgenden  Jahr  stieg  die  Pachtsumme  auf  36  tal., 
woraus  sich  eine  Handelsbcwegung  im  Werte  von  48  Mill.  M.  nach 
heutigem  Geldwert  ergibt;  dabei  ist  aber  zu  beachten,  daß  diese  Summe 
die  Ein-  und  Ausgänge  in  den  kleineren  attischen  Häfen,  insbesondere 
dem  sehr  lebhaften  Oropos,  nicht  mit  umfaßt.    Andererseits  wissen  wir, 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  293 

daß  Atheu  413  deu  damals  1000  tal.  betragenden  Tribut  durch  eine 
Er/oatr,  ersetzte,  wobei  es  besser  zu  fahren  hoffte:  es  muß  also  die 
damalige  Handelsbewegung  in  den  Häfen  des  attischen  Reiches 
20  000  tal.  --  110  Mill.  M.  (=400  Mill.  M.  nach  heutigem  Geldwert) 
überstiegen  haben.  Dabei  waren  aber  Athen,  Samos,  Cliios  nicht  mit 
eingerechnet,  da  sie  keinen  Tribut  zahlten:  im  ganzen  muß  also  die 
Handelsbewegung  im  attischen  Reiche  5—600  Mill.  M.  betragen  haben, 
was  auf  den  einzelnen  berechnet  auch  nach  heutigen  Begriffen  eine 
.sehr  erhebliche  Handelstätigkeit  bedeutet.  Ganz  zuletzt  ist  übrigens 
von  der  Handelsgeschichte  des  Altertums  von  Speck  der  zweite  Band 
erschienen,  der  die  Griechen  nmfaßt:  ich  bedaure,  ihn  zu  spät  erhalten 
zu  haben,  so  daß  er  dem  nächsten  Bericht  aufbehalten  bleiben  muß. 
Allerdings  erweckt  die  Kritik  Poehlmanns  (Hist.  Zs.  90,  106  f.  1903) 
über  den  wissenschaftlichen  Wert  des  Werkes  keine  sehr  günstige  Vor- 
stellung. 

Dagegen  sind  über  die  griechische  Industrie  zwei  ausführlichere 
AVerke  erschienen,  die  eine  eingehende  Besprechung  erfordern,  Guirauds 
Main  d'oeuvre  industrielle  dans  la  Grece  ancienne  und  Francottes 
Histoire  de  l'industrie  dans  la  Grece  antique,  von  denen  das  zweite 
nicht  bloß  dem  Umfange  nach  das  entschieden  bedeutendere  ist.  Trotz- 
dem wird  man  der  Tendenz  des  Verf.  kaum  beistimmen  können,  der 
sich,  in  Übereinstimmung  mit  Büchers  Ansichten,  durchweg  bemüht,  die 
Geringfügigkeit  der  griechischen  Industrie  darzutun,  die  nicht  im  ent- 
ferntesten mit  unserer  jetzigen  Großindustrie  verglichen  werden  könne. 
Den  Beweis  dafür  findet  er  zunächst  in  der  relativ  sehr  geringen 
Handelsbewegung,  die  eine  Exportindustrie  überhaupt  unmöglich  gemacht 
habe;  wenn  demnach  die  griechische  Industrie  im  wesentlichen  für  den 
Inlandbedarf  aufgekommen  sei,  so  verstände  es  sich  von  selbst,  daß  sie 
überhaupt  nur  geringe  Dimensionen  gehabt  habe.  Das  klingt  sehr 
scheinbar,  dennoch  gibt  auch  F.  zu,  daß  einzelne  Artikel  wie  z.  B. 
Getreide  in  großen  Massen  in  Athen  eingeführt  ward;  Bauholz  für  die 
Trieren  und  andere  Rohmaterialien  dürften  einen  zweiten  recht  beträcht- 
lichen Posten  ausgemacht  haben,  und  jahrelang  muß  im  peloponnesischen 
Kriege,  als  die  Eigenproduktion  Attikas  gleich  Null  war,  die  Getreide- 
zufuhr sicherlich  2  Mill.  Med.  beti-agen  haben.  Nun  aber  ist  es  be- 
kanntlich ein  Hauptsatz  der  Volkswirtschaft,  daß  auf  die  Dauer  kein 
Land  importieren  kann,  ohne  zu  exportieren,  und  da  fragt  es  sich  doch, 
womit  deckte  Athen  denn  den  sehr  bedeutenden  Import?  Sicherlich 
zum  Teil  mit  seiner  blühenden  Ölausfuhr,  die  aber  gerade  im  pelo- 
ponnesischen Krieg  und  noch  lauge  nachher,  bis  die  verwüsteten 
Pflanzungen  wieder  einen  Ertrag  gaben,  auf  ein  Minimum  gesunken 
sein  muß.     Dagegen  repräsentiert    ein  Teil    der  Einfuhr  sicherlich  die 


294  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Zinsen  auswärtig  angelegter  Kapitalien,  so  gut  wie  Thukydides  werden 
noch  andere  Athener  auswärts  Bergwerks-  und  andere  Unternehmungen 
betrieben  haben;  und  ebenso  mag  ein  Teil  der  Einfuhr  als  Äquivalent 
für  die  Frachten  angesehen  werden,  die  die  attische  Eeederei  an  der 
Beförderung  der  auswärtigen  Handelsbewegiing  verdiente.  Allein  diese 
Posten  zusammen  reichten  schw^erlich  hin,  auch  nur  die  Hälfte  der  Ein- 
fuhr zu  decken,  und  da  Länder  doch  eben  nur  in  Waren,  nicht  in  Geld 
bezahlen  können,  so  muß  im  letzten  Grunde  eben  die  attische  Industrie 
den  Einfuhrüberschuß  gedeckt  haben,  so  daß  sie  also  keineswegs  bloß 
für  den  Inlandabsatz,  sondern  auch  für  den  Auslandmarkt  gearbeitet 
haben  wird,  über  den  sie  durch  die  Seeherrschaft  Athens  verfügte.  Nichts 
ist  charakteristischer,  als  daß  in  dem  Augenblick,  wo  Athen  die  See- 
geltung verliert,  es  auch  wirtschaftlich  zusammenbricht. 

Einen  zweiten  Beweis  tür  die  geringe  Ausdehnung  der  Industrie 
m  Athen  und  danach  in  Griechenland  überhaupt  findet  Fr.  in  der  ge- 
ringen Anzahl  der  unbemittelten  Bevölkerung,  aus  der  die  Großindustrie 
ihr  Arbeitermaterial  hätte  entnehmen  müssen.    Es  ist  natürlich,  daß  F. 
bei  der  Berechnung  der  Bevölkerung  Attikas  (1,  161  ff.)  durchweg  den 
niedrigen  Belochschen  Ansätzen  folgt  und  gelegentlich,  in  der  Sklaven- 
zahl, noch  unter  sie  herabgeht.    Sehr  charakteristisch  ist  dabei  die  Be- 
handlung der  Thukydidesätelle:  die  Belagerungsarmee,   16  000  Hopliten, 
läßt  er  sich  aus  1150  vecuTatoi  und  2750  r.pzj^/jxzpo'.  —  die  Zahlen  be- 
ruhen   auf  Analogien    der    belgischen    Statistik  —  sowie    endlich    aus 
12  000  Metökeuhopliten  zusammensetzen,    so  daß  also  die  Athener  die 
Verteidigung  ihrer  Vaterstadt  fast  ausschließlich  den  Metöken  anvertraut 
hätten:  eine  Behauptung,  die  man  nur  auszusprechen  braucht,  um  ihre 
TJnwahrscheinlichkeit    zu    erkennen.     Auch  liegt  kein  Grund  vor,    die 
Angaben    des  Perikles  mit  Fr.  für  übertrieben  zu  halten,    seitdem  M. 
die  Notwendigkeit    einer  so  starken  Besatzung  dargetan  hat.     Endlich 
schlägt  Fr.  auch  die  Sklavenzahl  weit  geringer  an,  als  es  Beloch  und 
Meyer  getan  haben,  wobei  er  aus  der  Getreideproduktiou  bzw.  Einfuhr 
auf    die  Stärke  der  Bevölkerung  schließt,    ohne  freilich  über  die  Un- 
sicherheit seiner  Berechnung    sich  Täuschungen    hinzugeben:    übrigens 
ist  der  von  ihm  zugrunde  gelegte  Durchschnittsverbrauch  von  7  Med. 
Getreide  pro  Kopf    und  Jahr    doch    wohl    zu    hoch.     Vor    allem   aber 
scheint  Fr.  gar  nicht  damit  zu  rechnen,  daß  das  Zusammenströmen  der 
ländlichen  Bevölkerung    im  Beginne    des  peloiionnesischen  Krieges  der 
Industrie  einen  mächtigen  Impuls  gegeben  hat:  wenn  auch  von  den  Land- 
leuten viele  zum  Kriegsdienst  gebraucht  wurden,  alle  läudlichen  Sklaven 
und  die  zum  Kriegsdienst  minder  tauglichen  Freien    müssen   doch  das 
Heer    der  Arbeitswilligen    vermehrt    und  der  Industrie  billige  Arbeits- 
kräfte genug  zur  Verfügung  gestellt  haben.    Legt  man  die  Meyerschen 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  295 

Zahlen  zugrunde,  so  ergibt  sich  immerhin  eine  aus  unbemittelten  Freien, 
Metöken  und  Sklaven  bestehende  Bevölkerung  von  rund  200  bis 
250  000  Seelen,  auf  der  sich  eine  recht  beachtenswerte  Industrie  auf- 
bauen konnte.  Allerdings  gehörte  zur  freien  bürgerlichen  Bevölkerung 
davon  wohl  kaum  mehr  an  als  ein  Fünftel  und  darin  wird  man  Franc,  recht 
geben,  dal.l  hauptsächlich  in  den  Händen  der  Metöken  und  Sklaven  die 
Industrie  lag.  Ein  weiteres  Anzeichen  für  die  verhältnismälüg  unbe- 
deutende Rolle,  welche  die  Industrie  in  Athen  spielte,  sucht  Fr.  daraus 
zu  gewinnen,  daß  die  Kapitalanlagen,  die  uns  in  den  Gerichtsreden 
am  häufigsten  begegnen,  dem  Landbesitz;,  dem  Ausleihen  auf  Kredit, 
dem  Handel  sich  zuwenden,  während  Geldaufwenduugen  für  industrielle 
Unternehmungen  seltener  vorkommen.  Selbst  wenn  das  der  Fall  wäre, 
so  würde  daraus  ein  bestimmter  Schluß  kaum  zu  ziehen  sein,  da  unser 
Material  ja  zufällig  gerade  in  dieser  Hinsicht  lückenhaft  sein  kann 
(1.  188  &.).  Jedenfalls  darf  man  die  Stücke  des  Aristophanes,  die  sich 
vorwiegend  an  ein  ländliches  Publikum  richten,  nicht  dazu  verwenden, 
um  aus  ihueu  darauf  zu  schließen,  daß  die  attische  freie  Bevölkerung 
damals  noch  größtenteils  im  Landbau  beschäftigt  gewesen  sei. 
Aristophanes"  Partei  war  im  wesentlichen  die  der  kleinen  Landleute, 
die  der  Krieg  um  alles  gebracht  hatte;  auf  sie  waren  seine  Stücke 
vorwiegend  berechnet  und  wenn  daher  die  gewerbliche  Bevölkerung  in 
ihnen  schlecht  wegkommt  und  ihrem  Geschmack  nur  wenij;  Rechnung 
getragen  wird,  so  beweist  das  noch  niclit,  daß  sie  überhaupt  nur  einen 
geringen  Teil  der  Bevölkerung  ausmachte:  auf  wen  stützte  sich  denn 
die  den  Landleuten  wesentlich  ungünstige  Kriegspolitik  Athens  während 
des  peloponnesischen  Krieges?  Vielmehr  geht  gerade  daraus,  daß  diese 
trotz  des  Widerstandes  der  ländlichen  Bevölkerung  so  lange  erfolgreich 
aufrechterhalten  werden  konnte,  doch  wohl  mit  Sicherheit  hervor,  daß 
die  Landleute  eine  zwar  beträchtliche  Minderheit,  aber  doch  eben  die 
Minderheit  gebildet  haben.  —  Allein  Fr.  verwendet  das  Zeugnis  des 
Aristophanes  noch  in  einem  andern  Sinne,  es  dient  ihm  dazu,  die 
Minderwertigkeit  der  industriellen  Beschäftigung  in  der  öffentlichen 
Meinung  zu  bekräftigen,  die  seiner  Ansicht  nach  unbegreiflich  wäre, 
wenn  die  Industrie  tatsächlich  eine  große  Rolle  in  Athen  gespielt  habe. 
"Wie  aber  liegen  die  Dinge  denn  heute?  Sehen  wir  einmal  von  Amerika  ab, 
wo  das  demokratische  Prinzip  sich  am  stärksten  geltend  macht,  ist 
nicht  in  allen  Ländern,  in  denen  der  Grundadel  eine  lebensfähige 
Volksschicht  ausmacht,  hier  und  da  eine  derartige  Minderbewertung  des 
in  Handel  und  Industrie  erworbenen  Reichtums  hervorgetreten?  Aus- 
drücke wie  Schlotjunker  und  Grubenbarone  (Xay.y.6-XouToi)  hat  es  immer 
gegeben,  aber  lassen  sie  auf  einen  niedrigen  Stand  der  Industrie 
schließen?     Eher    doch  wohl  das  Gegenteil,    und  wenn  es  uns  als  ein 


296  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Zeichen  der  starken  Industrialisierung  Großbritanniens  und  zum  Teil 
auch  Deutschlands  gilt ,  daß  sich  in  diesen  Landern  sogar  der  Hoch- 
adel an  industriellen  und  kommerziellen  Unternehmungen  beteiligt,  so 
lassen  sich  seit  Solons  und  Theognis'  Tagen  ähnliche  Beispiele  auch  für 
Griechenland  nachweisen.  Mißfällige  Äußerungen  über  die  Handels- 
und gewerbliche  Tätigkeit  aus  Piaton  und  Aristoteles  kann  man  genug 
anführen,  allein  es  ist  anerkannt,  daß  diese  bei  beiden  einer  persönlichen 
Überzeugung  entspringen,  die  mit  dem  allgemeinen  Urteil  ihrer  Zeit 
in  starkem  Widerspruch  stand.  Jedenfalls  gibt  das  Kapitel  bei  Guiraud 
(p.  37)  ein  sehr  viel  richtigeres  Bild  der  öffentlichen  Meinung  über 
die  Beschäftigung  mit  der  Industrie,  als  die  entsprechenden  Ausführungen 
Francottes  (1,  234  ff.). 

Endlich  noch  eine  letzte  Überlegung,  die  Fr.  für  seine  Ansicht 
ins  Feld  führt:  die  freie  Arbeit  hat  durchweg  in  Konkurrenz  mit  der 
Sklaverei  gestanden,  wenn  es  nun  dieser  nicht  möglich  gewesen  ist,  jene 
zu  töten,  so  kann  der  Grund  nur  der  gewesen  sein,  daß  entweder  die 
Nachfrage  sehr  groß  oder  das  Angebot  sehr  gering  gewesen  ist.  Fr. 
(1,  346)  entscheidet  sich  natürlich  für  diese  letzte  Auffassung,  da  sie 
mit  seiner  Ansicht  übereinstimmt,  wonach  die  Industrie  eine  ganz  ge- 
ringe Rolle  spielte  und  nur  sehr  wenig  freie  Arbeiter  beschäftigte. 
Allein  die  Voraussetzungen  stimmen  doch  nicht  ganz;  man  erkennt 
auch  bei  unserem  lückenhaften  Material  noch  ganz  deutlich,  wie  die 
Sklavenarbeit  allmählich  die  Löhne  auf  einen  immer  tieferen  Stand 
hinabdrückte.  Zur  Bestimmung  des  Lohn  verhältnisses  zwischen  beiden 
Kategorien  von  industriellen  Arbeitern  besitzen  wir  eine  Reihe  inschrift- 
licher Angaben,  die,  von  Francotte  1,  309  und  Guiraud  p.  181  be- 
handelt, im  wesentlichen  das  gleiche  Resultat  ergeben  haben.  Danach 
kann  es  als  feststehend  betrachtet  werden,  daß  bei  den  Bauten  ara 
Erechtheion,  die  der  athenische  Staat  wahrscheinlich  408/7  vornehmen 
ließ,  der  durchschnittliche  Tagelohu  unterschiedslos  für  Sklaven  und 
freie  Arbeiter  1  dr.  pro  Tag  betrug,  ein  Ergebnis,  dessen  Verwertung 
nur  dadurch  einigermaßen  erschwert  wird,  daß  es  sich  hier  offenbar 
um  sogenannte  Xotstandsarbeiten  gehandelt  hat.  Ein  Jahrhundert 
später  in  den  Baurechuuugen  von  Eleusis  betrugen  die  an  freie  Arbeiter 
gezahlten  Löhne  1  V2  bis  2V2  dr.  pro  Tag,  während  bei  den  Skhiven 
für  Nahrung  3  ob.  pro  Tag  angesetzt  werden.  Noch  anders  stellt  sicii 
um  280  das  Verhältnis  in  Delos,  hier  werden  für  Ernährung  des 
Sklaven  zunächst  2  ob.  pro  Tag  —  120  dr.  im  Jahr  gerechnet,  während 
der  freie  Arbeitei'  zuerst  in  Naturalien  bezahlt,  später  bei  der  Um- 
wandlung in  Geld  mit  240  dr.  pro  Jahr  =^  4  ob.  pro  Tag  entlohnt 
wird.  Daneben  kommen  höher  bezahlte,  weil  offenbar  höher  qualifizierte 
Arbeiter    bis    zu    2  dr.  Tagelohn   vor.     Das  alles  scheint  mir  nun  das 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  297 

Gegenteil  von  Fr.  Ansicht  zu  erweisen,  der  ein  Herabdrücken  der 
Löhne  für  den  freien  Arbeiter  bestreitet.  Allerdings  ist  in  Eleusis  329 
der  Unterschied  in  der  Entlohnung  der  freien  Arbeiter  und  der  Sklaven 
noch  recht  bedeutend,  wobei  es  immerhin  sehr  zweifelhaft  bleibt,  ob 
jene  Lohnangaben  von  1  ^'2 — 2  V'2  dr.  nicht  besondere  hochbezahlte 
Klassen  von  Arbeitern  darstellen:  fünfzig  Jahre  später  in  Delos  ist 
schon  kaum  mehr  ein  Unterschied  vorhanden.  Denn  das  dortige  Ver- 
hältnis der  Kosten  der  Sklavenarbeit  zu  denen  der  Arbeit  des  freien 
Tagelöhners  ist  ja  nur  scheinbar  wie  1:2  (2:4  ob.),  sofern  bei  dem 
Sklaven  noch  die  Zinsen  des  Ankaufspreises,  die  Risikoprämie  und  die 
Amortisation  hinzugerechnet  werden  müssen.  Nimmt  man  nun  den 
Preis  des  Sklaven  nach  ilaßgabe  der  delphischen  Urkunden  mit  durch- 
schnittlich 300  dr.,  den  Kapitalzins  nach  Billeter  mit  12,  Amortisation 
und  Risiko  mit  18  Prozent  an,  so  ist  den  jährlichen  Kosten  des  Sklaven 
mit  120  dr.  noch  die  Summe  von  90  dr.  oder  1  V2  ob.  pro  Tag  hinzu- 
zuschlagen. Daß  diese  Ansätze  nicht  zu  hoch  sind,  ergibt  sich  daraus, 
daß  im  V.  Jahrhundert,  als  der  Kaufpreis  eines  Bergvverksklaven  etwa 
150  dr.  betrug,  die  tagliche  Miete  eines  solchen  sich  auf  1  ob.  stellte. 
Tatsächlich  also  kostete  damals  in  Delos  die  Sklavenarbeit  oVs  ob. 
und  der  Unterschied  zwischen  den  Kosten  des  Sklaven  und  dem  Lohn 
für  freie  Arbeit  betrug  nur  V2  ob.,  offenbar  der  Ausdruck  für  die 
bessere  Qualität  der  freien  Arbeit.  Diese  will  nun  allerdings  Fr. 
(II,  1  ff.)  nicht  gelten  lassen;  er  schlägt  die  Sklavenarbeit  für  mindestens 
ebenso  produktiv  an,  da  der  Sklave  durch  die  Aussicht  auf  den  Los- 
kauf veranlaßt  worden  sei,  mit  aller  Kraft  zu  arbeiten,  um  die  nötige 
Sum.me  zu  ersparen  (II,  14  f.).  Allein  abgesehen  davon,  daß  das 
Eigentumsrecht  des  Sklaven  ganz  vom  Belieben  des  Herrn  abhängig 
war  (Guiraud  p.  113),  so  war  doch  auch  der  gewöhnliche  Fabrik- oder 
Bergwerkssklave  gar  nicht  in  der  Lage,  Eigentum  zu  erwerben:  er 
bezog  ja  keinen  Lohn  oder  doch  nur  eine  Geldentschädigung,  die  zur 
Bestreitung  der  Lebensbedürfnisse  eben  hinreichte.  Wollte  er  von  dieser 
ersparen,  so  war  das  nicht  durch  Anspannung  seiner  Produktionskraft 
möglich,  sondern  nur  durch  Unterkonsumption,  die  mit  der  Zeit  seine 
Arbeitskraft  notwendig  beeinträchtigen  mußte.  Einzig  und  allein  dann, 
wenn  der  Sklave  ein  Geschäft  selbständig  gegen  eine  Abgabe  an  den 
Herrn  betrieb,  wirkte  die  Aussicht  auf  Gewinn  anspornend  auf  seine 
Tätigkeit,  ähnlich  etwa  wie  der  Stücklohn  auf  den  freien  Arbeiter; 
allein  im  Vergleich  zur  Masse  war  die  Anzahl  dieser  bevorzugten 
Sklaven  nur  gering.  Für  alle  übrigen  kamen  als  Ansporn  der  Tätig- 
keit nur  Zwangsmittel  in  Betracht,  die  bekanntlich  zur  Erzielung  einer 
höheren  Arbeitsleistung  sehr  ungeeignet  sind,  während  der  freie  Ar- 
beiter, auch  wenn  er  im  Tagelohn  arbeitete,  immer  doch  eine  gewisse 


298  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

Mindestleistung-  liefern  mußte,  wenn  er  nicht  seine  Entlassung  befürchten 
wollte.  Im  großen  und  ganzen  also  muß  doch  die  freie  Arbeit  mehr 
wert  gewesen  sein  und  es  ist  ein  Beweis  des  Drucks,  den  die  Sklaven- 
arbeit auf  die  Löhne  ausübte,  daß  in  Delos  280  der  wirkliche  Kosten- 
unterschied nur  noch  V2  ob.  pro  Tag  betrug.  Daß  es  daneben  besondere 
hochbezahlte  Kategorien  von  Arbeitern,  eine  Art  Arbeiteraristokratie 
gegeben  hat,  ist  natürlich:  solche  finden  sich  immer,  auch  in  Zeiten 
sinkender  Löhne.  Aber  mit  4  ob.  war  wohl  tatsächlich  das  Existenz- 
minimum erreicht.  Wenn  es  zu  Aristophanes'  Zeit  noch  anging,  bei 
ganz  bescheidenen  Ansprüchen  mit  3  ob.  eine  Frau  und  ein  Kind  zu 
ernähren,  so  war  dies  um  280  sicher  nicht  mehr  möglich,  da  fast 
sämtliche  Lebensmittel  im  Preise  gestiegen  waren.  Denn  es  kommt 
natürlich  nicht  auf  die  Lohnhöhe,  sondern  auf  die  Kaufkraft  des  Lohnes 
an.  das  ist  einer  der  wesentlichen  Punkte,  die  Fr.  meiner  Ansicht  nach 
richtig  erkannt  hat:  seine  Ausführungen  I,  327  fi.  über  das  Budget 
einer  altgriechisclien  Arbeiterfamilie  gehören  zu  den  interessantesten 
Partien  des  ganzen  Buches.  Gewiß  beruhen  sie  nur  auf  sehr  unsicherem 
Grunde.  Man  kann  sich  fragen,  welchen  Wert  haben  denn  die  ver- 
einzelten uns  überlieferten  Angaben  über  den  Getreidepreis,  der  doch 
die  Grundlage  aller  solcher  Berechnungen  bilden  muß,  wenn  wir  sehen, 
wie  innerhalb  weniger  Monate  in  Delos  Schwankungen  von  4  V2 — 10  dr. 
im  Preis  des  Medimnos  Weizen  vorkommen?  Es  ist  sehr  schwer,  dai'auf- 
hin  einen  mittleren  Getreidepreis  zu  ermitteln  und  diesen  der  Berechnung 
zugrunde  zu  legen:  dennoch  wird  es  immer  wieder  versucht  werden 
müssen,  wenn  man  eine  klare  Anschauung  der  Dinge  erhalten  will,  und 
das  hat  Fr.  mit  Anwendung  der  Hilfsmittel  unserer  moderneu  Statistik 
getan.  Aber  auch  er  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  das  Existenz- 
miniraum für  eine  Familie  von  5  Köpfen  in  Delos  280  etwa  380  dr. 
pro  Jahr  betragen  haben  muß.  Man  sieht,  wie  tief  der  freie  Arbeiter 
mit  seiner  Entlohnung  darunter  bleibt:  es  ist  eben  auch  damals  nicht 
anders  gewesen,  wie  heute  auf  den  niedrigen  Einkommenstufen,  Frau 
und  Kinder  müssen  mitarbeiten,  um  den  Unterhalt  zu  erwerben.  Denn 
daß  jene  mit  4  ob.  pro  Tag  ==  240  dr.  pro  .lahr  entlohnten  Arbeiter 
sämtlich  unverheiratet  gewesen  sein  sollen,  wie  Fr.  1,  325  annehmen 
möchte,  scheint  mir  eine  ganz  unbegründete  Behauptung  zu  sein,  und 
selbst  wenn  es  so  wäre,  der  Satz  „Gleicher  Lohn  iür  gleiche  Leistung" 
wird  auch  im  Altertum  gegolten  haben. 

Es  ist  also  durchaus  berechtigt,  im  Gegensatz  zu  Francotte  von 
einer  zunehmenden  Verelendung  und  Proletarisierung  der  Massen 
im  IV.  und  III.  Jahrhundert  zu  sprechen,  die  im  wesentlichen  durch  den 
Kapitalismus  mit  Hilfe  der  Sklavenarbeit  ins  Werk  gesetzt  ist.  Diese 
ökonomische  Tatsache  wird  man  in  die  geschichtliche  Entwickelung  des 


Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.)  299 

IV.  uud  III.  Jahrhunderts  einstellen  müssen.  Übrigens  gibt  auch  Fr. 
zu,  daß  in  manchen  Betrieben,  besonders  in  den  „schweren"  Industrien 
wie  z.  B.  dem  Bergbau,  die  freie  Arbeit  allmählich  vollständig  durch 
Sklavenarbeit  ersetzt  ward.  Daß  der  freie  Arbeiter  dennoch  daneben 
seinen  Platz  behielt,  lag  in  dem  verhältnismäßig  häufigen  Vorkommen 
der  Krisen.  Solche  Fabriken,  die  häufiger  mit  Absatzstockungen 
zu  rechnen  hatten,  konnten  sich  vernünttigerweise  nur  so  viel  Sklaven- 
material beschaöen,  wie  sie  ihrer  Ansicht  nach  unter  allen  Umständen 
zu  beschäftigen  imstande  waren:  ging  das  Geschäft  flotter,  so  stellte 
man  freie  Lohnarbeiter  ein,  die  dann  bei  Beginn  der  Krise  wieder  aufs 
Pflaster  geworfen  wurden.  Danach  mag  man  die  Unsicherheit  der  Lage 
des  freien  Arbeiterstandes  ermessen.  Daß  er  dabei  nicht  völlig  zu- 
grunde ging,  verhinderte  der  Staat  durch  die  in  verschiedener  Form 
verteilten  Unterstützungen  oder  Diäten,  die  nicht  bloß  in  Athen  vor- 
handen ,  sondern  in  der  ganzen  griechischen  Welt  weit  verbreitet  waren. 
Daß  sie  nicht  als  Entschädigungen,  sondern  nach  naiver,  rein  demo- 
kratischer Ansicht  als  Verteilung  der  Überschüsse  der  Staatskasse  an- 
zusehen sind,  hat  Fr.  II,  46  ff.  richtig  begründet:  übrigens  hat  Ed.  Meyer 
früher  schon  in  dem  Artikel  Griech.  Finanzen  dieselbe  Ansieht  ent- 
wickelt (S.  938  ft'.).  Die  Wirkung  der  Diäten  war  die,  daß  ein  öko- 
nomisch in  der  Verelendung  begriffener  Stand  künstlich  erhalten  ward, 
uud  indem  aus  den  höheren  Stauden  immer  mehr  durch  die  zunehmende 
Konzentration  des  Kapitals  herabsinken,  hat  der  Staat  künstlich 
Proletariermassen  herangezüchtet  und  so  die  soziale  Revolution  im  IV. 
und  III.  Jahihundert  vorbereitet,  deren  Entstehung  und  Verlauf  Poehl- 
manu  II,  224  ff,  in  meisterhafter  Weise  geschildert  hat. 

Es  ist  unmöglich,  auf  weitere  Einzelheiten  des  Fraucotteschen 
Werkes  einzugehen,  das  aber  muß  hier  zum  Schluß  noch  gesagt  werden; 
trotz  der  m.  E.  verfehlten  Tendenz  des  Herrn  Verf.,  die  Industrie  als 
eine  (luautite  negligeable  im  griechischen  Wirtschaftsleben  hinzustellen, 
verdient  sein  Werk  nicht  geringe  Anerkennung,  da  es  manche  Probleme 
der  griechischen  Wirtschaftsgeschichte  in  energischer  Weise  gefördert 
hat.  Und  in  einem  Punkt,  scheint  mir,  wird  Fr.  auch  sein  Ziel  er- 
reichen: mau  wird  aufhören  müssen,  von  einer  antiken  Großindustrie 
zu  sprechen,  da  dieser  Ausdruck  die  durchaus  unrichtige  Vorstellung 
hervorruft,  als  ob  die  griechische  Industrie  in  irgend  einer  Hinsicht  mit 
der  Eutwickelung  verglichen  werden  könne,  die  die  Industrie  unserer 
Tage  genommen  hat.  Maschinen  und  Aktiengesellschaft  —  das  hat 
Guiraud  in  seinem  ebenfalls  lesenswerten  Buch  richtig  betont  p.  91  — 
sind  die  Hebel  des  modernen  Großgewerbes  geworden,  sie  vor  allem  haben 
auch  jene  Konzentration,  jene  Aufsaugung  der  kleinen  Betriebe 
durch  die  größeren  und  großen  geschaffen,    von  der  im  Altertum  noch 


300  Jahresbericht  über  griechische  Geschichte.    (Lenschau.) 

wenig  zu  spüren  ist  (Guiraud  p.  91).  Auch  die  Organisation  der 
Arbeit  war  im  Altertum  viel  weniger  differenziert  als  heutzutage,  wie 
denn  die  Werkzeuge  der  Alten  ebenfalls  stets  auf  einem  recht  primi- 
tiven Zustand  verblieben  sind  (Guiraud  61),  und  um  es  mit  einem 
Wort  zu  sagen:  über  den  Punkt  in  der  Entwickelung,  den  die  Manu- 
fakturindustrie des  ausgehenden  18.  Jahrhunderts  in  einzelnen  gewerb- 
reichen  Gegenden  von  England,  Frankreich  und  Flandern  erreicht  hatte, 
ist  die  Industrie  von  Athen  und  Korinth  auch  in  ihrer  Blütezeit  nie- 
mals hinausgekommen. 


Dem  ursprünglichen  Plane  gemälj  sollten  die  chronologischen 
Fragen  in  einem  besonderen  Anhang  behaudelt  werden;  im  Verlauf  der 
Arbeit  stellte  es  sich  jedoch  als  bequemer  heraus,  die  Ergebnisse  für 
die  Zeitrechnung  gleich  in  der  Darstellung  mit  zu  verwerten.  Über 
die  rein  technischen  Fragen  dagegen  und  die  sich  mit  ihnen  befassenden 
Schriften  hat  erst  kürzlich  A.  Mommsen  (Philol.  61,  201—244.  1902) 
in  so  ausführlicher  und  sachkundiger  Weise  gesprochen,  daß  hier 
ein  einfacher  Hinweis  auf  die  genannte  Abhandlung  genügt,  zumal 
ich  in  allen  wesentlichen  Punkten  der  Ansicht  Mommsens  nur  bei- 
stimmen kann. 


Sachregister. 


Ägäische  Kultur  Kap.  1.  Zeit  130. 
Verschiedenheiten  131.  Kamares- 
vasen 119  S.  129.  Träger  derselben 
122,  s.  a.  Mykene,  Hissarlik. 

Alexander  d.  Gr.  bei  Philipps  Ermor- 
dung 271  f.  Polit.  Ideen  2RS.  270  ff. 
Stellung  als  Nachf.  d.  persischen 
Könige  280.  Vergötterung  278  f. 
Indischer  Feldzug  283  ff. 

Alexanderhistoriker  2G2  ff.  Epheme- 
riden  266.     Oikonomikos  266. 

Alkibiades  232  f. 

Alyattes  164. 

Aqaiwascha   132. 

Arkadischer  Bund,  seine  Geschichte 
242  ff. 

Aspasia  220. 

Athen,  ältere  Geschichte  144  ff. 
Eponymenlisten  147  ff.  Phylen, 
Phratrien,  Gene  145  ff.  Königtum 
147.  Adelsherrschaft  147.  153.  So- 
ziale Zustände,  £z-:r,u.op'.o'.  150  ff. 
Naukrarien  166,s.  a.  Drakon,  Solon, 
Peisistratos. 

Attika,  Bevölkerungsgeschichte  287  ff. 
Bodenertrag  292. 

Attischer  Seebund,  erster:  Tribute 
213  f.  Kleruchien  213.  Bundes- 
schatz und  seine  Verlegung  207  ff. 
215.  Ernouerung  durch  Thrasybul. 
236.  —  Zweiter  240  ff. 

Bevölkerungsforschung  289  f. 
Bevölkerung  v.  Attika  289  ff. 
Biographische     Literatur:    Plutarch 
1S3  ff.     Nepos   184.     Suidas   184. 
Bosöjük  131. 

Chaironeia,  Schlacht  v.  257  ff. 
Chalkidier  als  Kolonisatoren   137  f. 

Delphi,  Zustände  unter  d.  Söldner- 
herrschaft 257. 

Demosthenes,  Beurteilg.  254  f. 

Diäten,  Bedeutung  299.  Wirkung  299. 

Diobelie  232. 

Dionys  I.  Persönlichkeit  237  ff. 
Finanzpolitik  239. 

Dorische  Wanderung  127.  130.  133  f. 

Drakons  Gesetzgebung  154  ff. 

Dreißig,  die  233  f. 


Eigentum,  Familien  E.  136.  Aus- 
bildung d.  Privateig    136. 

Enkomi-Salamis  126.  132. 

Epaminondas,  Prozeß  244.  Dritter 
Einfall  in  die  Pelop  244.  Be- 
deutung als  Feldherr  246  ff.,  als 
Staatsmann  248  f. 

Euagoras  Krieg  gegen  E.  239. 

Fikelluravasen  131. 

Finanzgescbichte  Athens  im  5.  Jahrh. 
214  ff.  Schatz  d.  Athena  u.  Reichs- 
schatz 245  f. 

Gaugamela,  Schlacht  v.  279  f. 
Geometrischer  Stil.  117.  118.  129. 

Hallstattkultur  124. 

Handelsgeschichte  137  ff.  Kriege 
162  ff.Umfang  d.  Handelsbewegung 
292  f. 

Heliaia,  Einsetzung  160  f. 

Herakleidensage  135. 

Herodot  178  f. 

Hippias'  Politik  171.  Hipparchs  Er- 
mordung 171. 

Hissarlik  119.  122  f.  131. 

Jason  v.  Pherai  242. 

Industrie,  griechische  293  f.  Arbeiter- 
material 293  ff.  Lohnverhältnisse 
296  f. 

Isokrates  240.  255.  257.  268  f. 

Issos,  Schlacht  v.  273  ff. 

Kahun,  Funde  v.  122. 

Kalliasfriede  210  f. 

Kato  Zakro  119 

Kerkyra,  Politik  140.  224. 

Kersebleptes  255. 

Khyau  120. 

Kleiüasiatische  Griechen,    Besiedig. 

131.    Aufstand  185  ff.  unter  Alex. 

272. 
Kleisthenes  172  f. 
Kleitos  Ermordung  281  f. 
Kleon,  Politik  u.  Beurteilung  227  ff. 
KliQOvaQ  128. 
Kolakreten  215. 
Kolonisation,    erste  in  myken.   Zeit 

131.     Zweite  136  ff.     Motive  138. 
Knossos,  Ausgrabungen  120  ff. 


302 


Sachregister. 


KöDigsfriede  von  386.  242. 
Korinther  als  Kolonisatoren   136  ff. 

Verhältnis    zu   Kerkyra   140.   222. 

Politik   222   f.  treibt  zum  Kriege 

g.  Athen  225. 
Kylonischer  Aufstand  166  f. 
Kyme,  Griindungsjahr  137. 
Kyros  d.  Ältere,  Chronologie  175. 
Kyros  d.  Jüngere,  Aufstand  236. 

Landfriedensbund,  Korinthischer 

267  ff. 
Landwirtschaft,    Griechische    291    f. 

Kornpreise  298. 
Laotychidas  142  f. 
Lelantischer  Krieg  162  f. 
Leonidas  196  f. 
Los  b.  d.  Beamtenwahl  161,  172.  191. 

Makedonen,    Abstammung     249     f. 

Königsgeschlecht    250   f.     Älteste 

Entwickelung    d.    Landes    251    f. 

Heeresorganisation  252  ff. 
Mantineia,  Schlacht  v.  245  ff. 
Marathon.  Schlacht  v.    1S8  ff. 
Melos,  Funde  v.  117  ff. 
Merneptah  132. 
Münzfuß,     korinthischer     165,     eu- 

boeischer  ib. 
Mykenische  Kultur  121  ff. 

Obsidian  117. 
Olympische  Spiele  139. 

Panhellenischer  Kongreß  208.  211. 

Parmenion  276  f. 

Parthenon,  Baugeschichte  209  fi. 

xaxpic.  zoXiXcioc  154. 

Pausanias  199  ff.  203  ff. 

Peisistratos,  Kampf  um  Salamis  155, 

um  Sigeion  164,  Chronologie  167  ff. 
Pelasgeritrage  123  ff.  :t;/,ap7'x(jv  125. 
Peloponnesischer    Krieg,    Ursachen 

219  ff.    Einfall  d.  Thebaner  223  f. 

Perikles'   strategischer    Plan    226. 

Pylos-Sphakteria  228  f.     Nikias- 

friede  230.     Letzte  Zeiten  231  f. 
Pentekontaetie  204  ff. 
Periandros  163  ff. 
Perikles   206  flf.     Bastardgesetz    211. 

Finanzpolitik    214  ff.      Bedeutung 

216.     Beim  Ausbruch  des  Krieges 

219  ff.    Strategie  226. 
Persische  Königsreihe  175  f.     Kyros 

175.    Dareios  176  f. 


Persische  Monatsnamen  176.  Reichs- 
verwaltung, Satrapien  176. 

Phaistos,  Ausgrabungen  119. 

Pheidias,  Prozess  220. 

Philippos  V.  Maked.  252  ff.  Koloni- 
sationstätigkeit 257.  Pläne  267  ff. 
272  ff.     Beurteilung  255. 

Phryger  in  Hissarlik  132. 

Phyläkopi-Melos,  Funde  v.  117. 

Plataiai,  Schlacht  v.  199  ff. 

Piaton,  polit.  Theorien  240. 

Plutarch  als  Quelle  185  ff.  Lebens- 
beschreibung Kimons  183  f. 

Proletarisierung  d.  Massen  im  4.  Jahr- 
hundert 299. 

Psammetichos  164. 

Psephisma  d.  Kallias  214  f.  Mega- 
risches  219.  224. 

Ramses  III  132. 

Salamis,  Krieg  um  S.  155.  166. 
Schlacht  V.  197  ff. 

Solon,  Chronologie  156  f.  Teilnahme 
am  Krieg  um  Salamis  155.  Ver- 
fassung 157  ff.  Seisachtheia,  Münz- 
reform, Klasseneinteilung  157  f. 
Rat  der  Vierhundert  159.  Heliaia 
160.  Beamtenwahl  161.  Beur- 
teilung 162. 

Sparta,  Urgeschichte  140  ff.  Königs- 
listen 143  f.  Ursprung  des  Epho- 
rats  152.  Zweiter  messenischer 
Krieg  142  ff.  Haltung  in  den  Perser- 
kriegen 193  f.  Nach  403  235  f. 
Allgemeine  Politik  203. 

Stentinello  HS. 

Tarent,  Gründung  141  f. 

Themistokles  198  f.  Politik  199.  203  f. 
212.  223  f.  Verbannung  205.  Tod 
206. 

Thermopylen -Artemision,  Doppel- 
schlacht bei  194  ff. 

Thukydides,  Auffassung  des  Krieges 
222.  228  f.  230.  Glaubwürdigkeit 
180  f.  Grundsätze  181.  Thukydi- 
deische  Frage  1 83  f.  Heimberufung 
233. 

Thukydides  d.  Melesias  Sohn  213. 

Thurioi,  Gründung  211.  225. 

Timagenes  264  f. 

Tyrtaios  142  ff. 

Waffen,  homerische  126  f. 


Autorenverzeiehnis. 


Awdry  228  f. 

Bannier  213  f. 

Bauer,  Ad.,  157.  273  ff.  284. 

Beloch,  Jul,  143.  166.  169.  202.  220. 

231  f.    235.    237.   241.   244  ff.  249. 

252.    258  f.    268.   274.  277.  289  ff. 

292  ff. 
Böhlau   132. 
Boyd,  Mm,  119. 
Bücher.  K.,  292  f. 

Bury,  J.  B.,  136.  139.  140.  147  usw. 
Busolt,  G.,  153  f.  225  f.  233  f. 

Costanzi,  V.,  147.  162. 

Dammann  225. 

Delbrück,   H.,   189  ff.    192  ff.    200  ff. 

220.  226.  228.  246  ff.  253  ff.  274  ff. 

279  ff.    289  f. 
Dörpfeld  129.  131. 
Evans,  A.  E.,  120  ff. 

Foucart,  P.,  208  f.  233  f. 
Francotte,  H.,  293  ff. 
Fränkel,  M.,  245. 

Grundy  22s. 

Guiraud,  P.,  136.  291  f.  293  ff. 

Hoeck,  Adalb.,  255  f. 
Hogarth  120  f. 

Jacoby,  F.,  148  ff. 
Judeich,  W.,  166. 

Kaerst,  Jul.,  177.  247  ff.  usw. 
Keil  Bruno,  207—215. 
Kießling  176. 
Kirchner  156. 
Köchly-Rüstow  282  f. 


Köhler,  U.,  245.  252.  267.  270  ff. 

Kolbe,  W.,  225. 

Kopp,  Fr.  255.  274.  279.  283. 

Kornemann,  E.,  278.  279. 

Körte,  A.,  132  f. 

Kretschmer,  F.,  122. 

Kromayer,  Joh.,   245  ff.    254.    257  ff. 

Lange,  Edm.,  225. 
Lehmann,  C.  F.,  179.  188.  266. 
Lenschau,  Th.,  231  f. 
Lipsius,  J.  H.,  240  f. 

Mahaffy  227. 
Mesk,  Jos.,  240. 
Meyer,  Ed.,  125  usw. 
Munro,  J.  B.,  190  ff.   193  ff. 

Neuhaus,  0.,  220. 

Niebuhr,  C.  163.   179.  186. 

Niese,  Bened.,  135.  140.  159.  242  ff. 

2(53  ff.  282.  287. 
Nissen,  H.,  220  ff. 

Olsen,  Wald  ,  200  ff. 

Poehlmann,  Rob  ,  291.  293. 
Pomtow  255 
Praschek  175  f. 

Ranke,  L.  v.,  267. 
Reichel,  W.,  126. 
Reuß,  Fr.,  263  ff. 
Ridgeway  122  ff. 

Sanctis,  G.  de,  144—172. 

Schilling  191. 

V.  Schöffer,  V.,  234. 

Schubert  263.  266.  283  f.  286. 

Schwartz  142  f.  263  f. 

Speck  293. 

Swoboda  139.  205.  234. 


304 


Autorenverzeichnis. 


Trautwein  179. 
Tropea  242, 
Tsuntas-Manatt  129. 

Vassits  128. 

Wachsmuth,  K.,  179. 
Weber,  Max,  291. 
Weil,  R.,  245. 
Wheeler,  Miß,  119. 
Wide,  Sam,  119.  128. 


Wilamowitz-Möllendorff,   U.  v.,  147. 

160.  170.  220.  232.  241. 
Wilhelm,  A.,  166.  273. 
Wilisch  133. 
Wilcken,  U.,  266. 
Willrich,  Hugo,  270  f. 

York  V.  Wartenburg  286. 

Ziehen,  L.,  154  f. 


Yerzeichnis  der  besprochenen  Schriften. 


Abbott,  F.  F.,  the  Toledo  manuscript 
of  tlie  Germania  of  Tacitus  II  122 

Amelung,  R.,  de  Polybii  enuntiatis  fina- 
libus  I  247 

Andresen,  G.,  in  Taciti  Histor.  studia 
crit.  et  paleaeograph.  II  90 

—  zu  Tacitus'  Germania  II  103 

—  zur  handschriftl.  Überlieferung  des 
Tacit.  Dialoges  II  98 

—  neue   Lesungen    in   Tac.   Annalen 

II  100 

'Af/ßav'.-OTrooXÄ.oc,  A.,  Criiq^a-a  -ou  'A'X'.- 

•/jto  ö'./«i&'j.  II.    III  67 
Aristeae  ad  Philocratem  epistula  .  .  . 

ed.  P.  Wen  dl  and  I  209 
Arnold,  E.  V,   a.   R.  S.  Conway,   the 

restored    pronunciation  of  Greek  a. 

Latin  I  21 
Asbach,  J.,    röm.    Kaisertum    u.    Ver- 
fassung bis  auf  Trajan  III  33 
Awdry,    historieal   aspect  of  the  Pylos 

a.  Sphacteria  incidents  III  218 
Azelius,  J.  E.,  de  assimiiatione  syntac- 

tica  apud  Sophoclem  I  89 
Bannier,  G.,    de   titulls   aliquot  atticis 

III  79 

—  W.,  die  Tributeinnahmeordnung  des 
attischen  Staates  III  79.  174. 

Baron,  Ch ,  le  pronom  relativ  et  la 
conjonction  en  grec  I  124 

—  la  candidature  politique  chez  les 
Atheniens  III  66 

Bates,  F.  0.,  the  five  post-kleisthenean 
tribes  III  51 

Bauer,  A.,  die  Schlacht  bei  Issos  III  261 

Beauchet,  L.,  histoire  du  droit  prive 
de  la  republique  Athen.  III  57 

Bechtel,  F.,  die  einstämmigen  männ- 
lichen Personennamen  des  Griech. 
I  57 

—  die  attischen  Frauennamen  I  57 
Behaghel,  0.,  Gebrauch  der  Zeitformen 

im  konjunktiv.  Nebensatz  I  114 
Jahresbericht  für  Altertumswissensohaft. 


Beloch,  J.,  z.  Geschichte  des  Eurypon- 
tidenhauses  III  133 

—  antike  u.  moderne  Großstädte 
III  288 

—  die  Großindustrie  im  Altertum 
III  288 

—  die  Bevölkerung  im  Altertum  III 
288 

—  die  Handelsbewegung  im  Altertum 
III  288 

Berard.  V.,    de    arbitrio    intra  liberas 

Graecorum  civitatis  III  112 
Berdolt  W.,zurEctwickelungsgeschichte 

der  Konstruktionen  mit   '')3-:s   I  126 
Bieiecki,    Fr.    J.,   les    mots    composes 

dans  Eschyle    et    dans  Aristophane 

I  51 
Bishop,  Ch.  E.,    the    Greek    verbal  in 

-TEO  1  120 
Boehlau,  aus  altion.  u.  ital.  Nekropolea 

III   116 
Boissier,  G.,  Tacite  II  27 
BolUnd.  G.  J.  P.  J.,  die  althellen  Wort- 

lietonung   im  Licht   dei-  Geschichte 

I  22 

Borenius,  C.  E.,  de  Plutarcho  et  Tacito 

II  63 

Botsford,  G.  W.,  the  Athenian  Consti- 
tution III  39 

Brandis,  Achaia  III  107 

Brück,  S  ,  die  Organisation  der  athen. 
Heliastengerichte  im  4.  Jh.  v.  Chr. 

III  84 

—  die  Heliastentäfelchen  III  84 
Brugmann,  K.,  die  Herkunft  der  griech. 

Subbtantiva  auf  sü;,  Gen.  /Fo;  I  62 

—  der  Ursprung  der  Barytona  auf 
-3o:  I  64 

—  griech.  Grammatik  I  8 

Bruns,  J ,  die  Persönliclikeit  in  der 
Geschichtsschreibung  der  Alten  U  11 

Buciheim,    £.    W.,    z.   Gtschichte   des 
delph    Staatswesens  III  88 
Bd.  CXXII.    (1904.    III.)  20 


306 


Register. 


Buck.  C.  D.,  the  souree  of  the  so- 
called  Achaean-Doric  Koiv/j  I  210 

Bury,  J.  B.  history  of  Greece  III  116. 
173.  218.  261 

—  the  epicene  oracIe  concercing  Argos 
a.  Miletus  III  173 

Busolt,  G.,  zur  Gesetzgebung  Drakons 
III  41 

—  z  Aufhebung  der  Verbannung  des 
Thukydides  III  218 

—  Aristoteles  oder  Xenophon  III  218 

—  z.  Chronologie  des  Peloponnes. 
Krieges  III  218 

—  z.  Chronologie  Xenophons    III  218 
Caillemer,  E ,  Homoioi  III  35 

—  Hypomeiones  III  35 

—  grammateis  Cjoo.^^azal:,)  III  69 

—  or,.)/--'.o.  III  63 

Cantarelli.  L.,  i  motaci  Spartani  III  35 
Cavaignac,    E.,    le    decret    de    Callias 

!II  m 

Christ,  W  ,  die  verbalen  Abhängigkeits- 

komiiosita  des  Griech.  I  52 
Ciccotti,  E,   le  retribuziooe  delle  fun- 

zioni  publiche  civili  nell'  antica  Atene 

III  49 
Clerc,  Nl..  condition  des  etrangers  do- 

micilies    dans    les    differentes   cites 

grecques  III  9 

—  les  meteques  Atheniens  III  60 

—  de  rebus  Thyatirenorum  commen- 
tatio  epigraphica  III  100 

Cohn,  L.,  i'iiech    Lexikographie  I  133 
Costanzi,    V.    ureistoria    e    protistoria 
dell'  Attica  III   133 

—  la  g'i  na  Lelant  a  III  134 
Crönert,  W ,    Memoria    Graeca  Hercu- 

lanenbis  I   19 

—  die  adverbialen  Komparativformen 
auf  -..I  1  68.  224 

—  quacstionns  Hereulanenses  1  2^6 
Crusius,  0,  die  Anwendung  von  Voll- 

u    Kutziuimen  etc.  I  59 

Curtius,  E,  der  Synoikismos  von  Elia 
III  8G 

Dammann.  E ,  der  Anfang  des  pelo- 
ponnes   Krii'ges  III  218 

Danielsson.  0  A.,  zur  i-Epenthese  im 
Gnech     I  4U 

Dawes,  E.  A  S  ,  the  pronuaciation  of 
tlie  Greek  as|>irate8  I  36 

Deiäsmann,  A.,  die  .sprach i  Erforschung 
der  «riech.  Bib.4  I  201 

—  Helleuistisclies  Grie' hisch  I  201 
Delbrück,  H.,  Gesch.  d.  Kriegskunst.  I. 

III   173.  21S.  2(;i 
Dieterich,  K,  zur  Geschichte  der  griech. 
S;. räche  I  IG.  215 


Dittenberger,  W..  die  delphische  Am- 
phiktyonie  i.  J.  178  v.  Chr.  III  104 

—  die  Familie  des  Alkibiades  III  218 
Dittmar,    A.,    de    Atheniensium    more 

exteros     coronis     publice     ornandi 

III  76 
Dottin,  6.,  etude  de  grammaire  bome- 

rique  I  79 
Dyroif.  A.,    Geschichte    des  Pronomen 

reflexivum  I  92 
Earle,  M.  L.,  development  of  the  Greek 

Optative  I  110 
Ebeiing,  H.  L.,    statistics  on  the  order 

of  words  in  Greek  I  131 
Eulenburg,  K.,  zur  Vokalkontraktion  im 

ionisch-attischen  Dialekt  I  31 
Fabia,  Ph.,  onomasticon  Taciteum  II  84 
Fabricius,    E.,    das    Wahlgesetz    des 

Aristeides  III  45 
Ferguson,   W.    S.,    the   Athenian    ar- 

chons    of   the    III.    a.  II.    centuries 

b.  C.  III  68 

—  the  Athenian  secretaries  III  69 
Fick,  A.,   die    griech.   Personennamen 

1  55 

—  die  griech.  Verbandnamen  I  58 

—  die  griech.  Götterbeinamen  I  59 

—  altgriech.  Ortsnamen  I  61 
Flensburg,  N.,  Ursprung  u.  Bildung  des 

Pronomens  o.ü-6z  I  75 
Foucart,    P ,    les    constructions    de    1' 
Acropole  d'apres  1' Anonymus  Argent. 
III  174 

—  Athenes  et  Samos  de  405  ä  403 
III  219 

Fougeres,  G.,  Mantinee  et  I'Arcadie 
Orientale  III  S7 

—  de  Lyciorum  communi  III  102 

—  y.m.6v  III   105 

Fowler,  Fr.  H,  the  negatives  of  the 
indoeuropean  languages  I  77 

Francotte,  H.,  formation  des  villes  etc. 
djDs  la  Grece  III  103 

—  i'organisation  de  la  cite  athen.  et 
la  reforme  de  Clisthenes  III  44.   114. 

—  I'  industrie    dans  la  Grece  III  288 
Fränkel,    M.,    z.    drakont.    Verfassung 

III  41 
Fuchs,  A.,  die  Temporalsätze  mit  den 

Konjunktionen     „bis"     u.     „solange 

als"  I   127 
Gaebler.  K.,  Erythrae  III  99 
Gelder,  H.  van,    Geschichte   der   alten 

Rhodicr  lll  92 

—  ad  corpus  inscr.  Rbodiarum  III  92 
Gerber,  A.,  »t  A.  Graef,   lexicon  Taci- 
teum II  72 

Gercke,  A.,  Abriss  d.  griech.  Lautlehre 
I  22 


Register. 


307 


Gildersleeve,  B.  L.,  syntax  of  classical 
Greek.  1.  I  87 

—  Problems  in  Greek  syntax  I  88 

—  on  the  article  with  proper  names 
I  96 

—  temporal  sentences  of  limit  in  Greek 
I   1-28 

6illischew8ki,  H.,  de  Aetolorum  praeto- 
ribus  Hl    108 

Glaser,  M.,  die  zusammengesetzten  No- 
mina bei  Pindar  1  52 

Glotz,  G.,  les  naucrares  et  les  prytanes 
des  naucrares  dans  la  cite  liome- 
rique  111  29 

—  Ekklesia  III  74 

Gnaedinger,  C,  de  Graecorum  magistia- 

tibus  eponymis  III  23 
Goldstaub,  M.,  de  dosia;  notione  et  usu 

in  iure  attico  III  75 
Gradenwitz,  0.,  Einführung  in  die  Pa- 

pyriiskunde  I  235 
Greenidge,  A.  H.  J.,  handbook  of  Greek 

coustitutional  history  111  113 
Groag,    E.,    zur    Kritik    von    Tacitus' 

Quellen  in  den  Historien  II  45 
Grosspietsch,  A.,  de  -i-r^u-iM-j  vocabu- 

lorum  genere  quodam  I  54 
Gudeman.    Latin  literature  of  the  em- 

pire  11  13G 
Guiraud ,    P.,    la    main    d'oeuvre    in- 
dustrielle    dans     l'ancienne     Grece 

111  288 
Haie,  W.  G.,  the  anticipatory  subjunc- 

tive  in  Greek  a.  Latin  I  113 

—  „extended"  a.  ,remote-  delibera- 
tives  in  Greek  I  113 

Hamilton,  A.,   the  negative  Compounds 

in  Greek  1  218 
Hammerschmidt,    K.,    Grundbedeutung 

von  Konjunktiv  u.  Optativ  1   110 
Hammond.  ß.  E ,    the  political  institu- 

tions  of  the  ancient  Greek  III  16 
Hasse,    E.,    der   Dualis    im    Attischen 

1  74 
X  a^C'-oa/. '.  c,   r.    N.,    äxaörjjiaix«   äva- 

■jvubajia'ca  it;    t/)v  'EX^r,v'.zy-)v,    Aa^ivt- 

7./;v  xczt  jiixpöv  st;  T^jV  'lvoixv;v  fpc.ji|icz- 

-'.xrjy  I  5 

—  na^l  "ZW  ypovou  t?^;  E^too'jjcO);  ty^z 
z(503(oo'.o'c  iv  ■:r*'EX>.ifjv'.xi^j"  7>ao:3jy'|  I  45 

—  -^'Kwoooko-'^'.y.rA  att.i~a'.  1    14 

Haussoullier ,  B. ,  Demes  et  Tribus, 
l'atries  et  Phratries  de  Milet  III  101 

—  unp  liste  de  meteques  milesiens 
III  101 

—  sur  Ihistoire  de  Milet  et  du  Didy- 
meion  111  101 

Headiam,  J.  W.,  election  by  lot  at 
Athens  III  65 


Heine,  M.,  Substantiva  mit  a  privati- 
vum  I  55 

Heisterbergk,  B ,  Bestellung  der  Be- 
amten durch  das  L  is  III  65 

Heibig,  W.,  les  vases  du  Dipyloo  et 
les  Naucraries  III  56 

—  les  i-T.v.z  Atheniens  III  82 
Heller,  A ,  de  Cariae  Lydiaeque  sacer- 

dotibus  III  97 
Herwerden,    H.  van,   lexicon   Graecum 

suppletorium   et  dialecticum   I  135. 

225 
Herzog,    E.,    zur  Verwaltungsgesch.  d. 

attibcben  Staates  III  71 

—  R.,  koische  Forschungen  u.  Funde 
111  94 

—  Reisebericht  aus  Kos  III  94 
Kicks,  Greek  inscriptions  III  98 
Hildebrand.  A  ,  de  verbis  <  t  intransitive 

et    causative  apud  Homerum    usur- 

patis  I  104 
Hiller  von  Gaertringen,    Delphi   III   88 
Hirschfeld,  0.,  zur  Epitome  des  Florua 

11  132 
Hirt,  H. ,    Handbuch  der  griech.  Laut- 

u.  Formenlehre  I  5 
Hoeck,  Ad.,  die  Söhne  des  Kersebleptes 

Hl  219 
Hofmann,     Studien    t..    drakont.    Ver- 
fassung? III  41 
Homoile,  Th.,  reglements  de  la  phratrie 

des   X'/^jQoa:  III   88 
Horlon-Smith,  R.,  the  theory  of  condi- 

lional  sentences  I  129 
Hruza,  E ,  z  Geschichte  des  griech.  u. 

röiu.  FamilieurccHts.  I.     III  57 
Hultsch,  F.,  die  erzählenden  Zeitformen 

bei  Polybios  1  107 
Hultzsch,    Th.,    die  erzähl.  Zeitformen 

bei  Diodor  v.  Sizilien  1  249 
Jacobs,  A,  Thasiaca  Hl  91 
Jacoby.    F..    die  attische  Königsliste  I. 

IH  134  ' 
Jannaris,     A.     N.,     an     histor.     Greek 

grammar  1  3 
Imendörffer,    B ,    z.    Quellenkunde    der 

6    letzten  Bücher    der  Annalen   des 

Tacitus  11  53 
Johansson,    K.  F.,    zur  griech,  Sprach- 
kunde 1  50 
Judeich,  W.,  der  älteste  attische  Volks- 

beschlu.ss  III  133 
Julius    Exuperantius,     Epitome,     hrsg. 

V.    G.  Landgraf   u.    C.    Weyman 

II  129 
Kaerst,  J ,  Geschichte  des  Hellenismus. 

Hl  218.  261 
—  die  antike  Idee  der  Oekumene  III  262 

20* 


308 


Register. 


Kazarow,  G.,   de  foederis  Phocensium 

institutis  III  111 
Keil.     B.,     Anonymus    Argentinensis 

III  39.     174 

—  Athens  Amts-  u.  Kalenderjahre  im 
5.  Jahrh    III  65 

—  das  System  des  kleisthen.  Staats- 
kalenders  III  65 

—  die  Rechnungen  üb.  d.  epidaurischen 
Tholosbau  III  80 

—  z.  Verwertung  der  delphischen 
Rechnungsurkunden  III  88.    104 

—  vom  delphischen  Rechnungswesen 
III  88 

—  zur  delischen  Labyadeninschrift 
JII  88 

—  die  solon.  Verfassung  in  Aristoteles' 
VerfassungsgesehichteAthens  III  114 

Kiessling,  zur  Geschichte  der  ersten 
Regierun^^sjahre  des  Dareios  Hystas- 
pes  m  173 

Kirchner,  J.  E-,  die  Phylen  Antigonis 
u.  Deuietrias  III  51 

—  z.  Datierung  einiger  attischer  Ar- 
chonten.  I.     III  133 

Koch,    Ae. ,    de  Atht-niensium  logistis, 

euthynis,  synegoris  111  67 
Köhler,  A..  die  Eroberung  Asiens  durch 

Alexander  d.  Gr.  u.  d.  Korinth.  Bund 

III  261 

—  d.  thukydid.  Bericht  üb.  d.  oligarch. 
Umwälzung   in  Athen  411.    111  174 

Kolbe,  W ,  z.  atben.  Archontenliste  d. 
3    Jahrh.  III  68 

—  de  Atheniensium    re  navali  III  83 

—  zur  atheu.  Marineverwaltung  III  83 

—  z.  Vorgeschichte  des  peloponnes. 
Krieges  III  218 

K(i)va-(zvT'.vi6ou,  'A.,  iiqa  ?.c^'.xöv  t-^; 
e/.Xyjv'x:^;  y^w^ov];  I   133 

Koepp,  Fr  ,  Alexander  der  Grosse  III 219 

Kornttnann,  E.,  z.  Geschichte  der  an- 
tik, n  llerrscherkulte  III  262 

Körte,  A  ,  das  Mittiliederverzeichnis 
einer  attischen  Pbratrie  III  52 

Ko'JiKzvouor,  c,  w~.  'A.,  auvccfoi-f/j  viojv 
/.s^EOjv  ü~'j  ~y)v  "/,c-Yt'.ov  "Xasf^eiaöJv 
d~b  xjj;  «X(Ö3E(ij-,  jir/fvt  tojv  y.a&-'  ^jji** 

■/rjflywv    I    135 

Krapp,  Fr.,  d.  Substantiv.  Ihfioitiv  I  117 
Krauss,    S.,    griech.    u.    lat.'in.    Lehn- 
wörter   im     Talmud,     Midrasch    u. 
Targum  I  190 
Kretschmer.    P.,    die    griech.  Vasenio- 
schiiften  I  14 

—  der  Wandel  von  t  vor  '.  in  3  I  41 

—  der  Übergang  von  der  musikal.  zur 
exspirator.  Betonung  im  Griech.  I  45 

—  die  Eutstehung  der  Koiue  I  179 


Kromayer,  J.,    antike  Schlachtfelder  in 

Griechenland.  I.  III  218 
Kuchtner,  K..  Entstehung  u.  ursprüngl. 

Bedeutung    des  Ephorats  in  Sparta 

III  33 
Kühner,    R.,    Grammatik    der   griech. 

Spra'he.  I.     I  7 

—  Grammatik  der  griech.  Sprache.  IL 
1^86 

Kvicala,  J.,  badäni  v  oboru  skladby 
jazykuv  indoeuropkych.  I.  I  95 

Lagercrantz,  0.,  zur  griech.  Lautge- 
schichte I  38 

Lsnibros,  P.,  ein  neuer  Kodex  des 
Paeanius  11  129 

Landgraf,  G.,  z.  histor.  Syntax  der 
latein.  Sprache  II  89 

Landwehr,  H.,  Forschungen  zur  älteren 
attiscnen  Geschichte  III  43 

Lange,  E.,  dtr  Anfang  des  peloponnes. 
Krieges  III  218 

La  Roche,  J.,  Beiträge  z.  griech. 
Grammatik  I  10 

—  Sprachliches  aus  u.  zu  Diodor  I  249 
Lattmann.  H.,  Bedeutung  der  Modi  I  1 10 
Laurent,  0.,  et  G.  Hartmann,  vocabuiaire 

etymologique  I  141 
Lautensach.  0  ,   grammat.  Stud.  zu  d. 

griech.  Tragikern  u.  Komikern  I  7S 
Lecoutere,    C,    l'archontat    Athenes 

d'apres    la    rjilx-v.a  'Abvczuuv  III  68 
Lecrivain,  Ch.,  gens,  fjvo:  III  12 

—  Helotae  III  35 

Lehmann,  C.  F.,  zu  den  Ephemeriden 
Alexanders  d.  Gr.  III  261 

Lehner,  H  ,  die  athen.  Schatzverzeich- 
nisse des  4.  Jahrh.  III  78 

Leil,  Fr.,  der  absolute  Accusativ  im 
Griech.  I  92 

Lenschau,  Th.,  de  rebus  Prienensium 
III  98 

—  die  Zeitfolge  der  Ereignisse  von 
Ende  Sommer  411  bis  zur  Arginusen- 
schlacht  111  21. s 

Leo,  Fr,  Tacitus  II  2 
-    die  griech. -röm.  Biographie  II  127 

Leopold.  J.  H.,  de  scytala  Laconica 
111  31 

Leuze.  0.,  die  Agricola-Handschrift 
in  Toledo  II  118 

Levison,  W.,  d  Beurkundung  des  Zivil- 
standes III  12 

Levy,  J ,  sur  la  vic  municipale  de  l'Asie 
mineure   sans    les  Antonines  III  95 

—  les  T.az^i'j'^i'j'SlMK  dans  l'epigraphie 
grecque  et  la  litterature  talmudique 
III  96 

Liebenam,  W.,  Städteverwaltung  im 
röm.  Kaiserreiche  III  24 


Register. 


309 


Liljeblad,  J.,  de  assimilatione  syntactica 
apud  Thucydidem  I  90 

Lipsius,   J.,    z.  Gesch.  griech,  Bundes- 
verfassungen. I.  III  106 
IL     III  108 

—  H.,  z.  Geschichte  des  2.  attischen 
Seebundes  III  219 

Lögdberg,  L.  E,,  animadversiones  de 
actione  "«pav&jiUDv  III  75 

Longhi,  E.  M.,  1°  libro  degli  Annali  di 

Tacito  II  123 
Lorentz,    P.,    de    pronominum    perso- 

nalium    apud   poetas   Alexandrinos 

usu  I  94 
Luft,  W.,  die  Umschreibung  der  fremden 

Namen  bei  Wulfiia  I  2-4 
Martin,  A.,  quomodo  Graeci  et  peculia- 

riter    Athenienses    foedera    publica 

iure  iurando  sanxeriut  III  73 

Mayer-G'schrey,  R.,  Parthenius  Nicae- 
ensis  1  250 

Mayser,  E.,  Grammatik  der  griech.  Pa- 
pyri aus  der  Ptolemäerzeit  I  227 

Meiliet,  A ,  Hellenica  I  142 

Meister,  R.,  Elisches  Amnestiegesetz 
III  86. 

Meisterhans,  K.,  Grammatik  der  atti- 
schen Inschriften  I  14 

Meltzer,  G.,  griech.  Grammatik  I  9 

—  H  ,  vernieintl.  Perfektivierung  durch 
präpositive  Zusammensetzung  im 
Griech.  I  220 

Mesk,  J.,  zum  kyprischen  Kriege  III  219 
Meyer.  Ed  ,  Geschichte  des  Altertums 
III  116  u.  ff    173.  219 

—  Forschungen  z  griech  Gescbichte.II. 
III  133.   173    219.  288 

—  Bevölkerung  d.  Altertums    III  289 

—  griech.  Finanzen  III  2S9 

—  oriental.  u.  griech.  Münzwesen 
III  289 

—  G.,  griech.  Grammatik  I  8 

—  L.,  Handbuch  der  griech.  Etymo- 
logie I  137 

—  P. ,  des  Aristoteles'  Politik  u.  d. 
A>)"/;vcziii)v  Tji'ij.-i'irj  \\{  4X 

Mommsen,  T.,  zur  Lehre  von  den  griech. 

Präpositionen  I  101 
Moreau,   F.,    les   finances   de  royaute 

homerique  III  30 

—  les  festins  royaux  et  leur  portee 
publique  d'apres  l'Iliade  etl'Odyssee 
III  30 

Moree,   les    assemblees  polit.  d'apres 

l'Iliade  et  l'Odyssee  III  31 
Moulton.  J.  H.,  grammatical  notes  from 

the  papyri  I  231 


I   MQIIer,  G.  H.,  de  Graecorum  modo  op- 
i       tativo  I  HO 

—  H.  C,  histor.  Grammatik  der  hellen. 
Sprache  I  3 

—  0.,  Z.Geschichte  des  attischen  Bürger- 
u.  Eherechtes  lil  57. 

—  -Strübing,  .H.,  z.  Verfassung  von 
Athen.  I.  Über  die  Civilbeamten 
III  46 

Munro,  J.  A.  R.,  on  the  Persian  wars 
III  174 

MOnzer,  Fr.,  die  Quelle  des  Taci*us  für 
die  Germanenkriege  II  47 

Mutzbauer,  C,  Grundlagen  der  griech. 
Tempuslehre  u.  homer.  Tempus- 
gebrauch I  105 

—  Konjunktiv  u.  Optativ  im  Griech. 
I  110 

—  Entwickelung  des  sogen.  Irrealis 
bei  Homer  I  1 1.6 

Neuhaus,  0  ,  die  Überlieferung  üb.  As- 

pasia  von  Phokäa  III  218 
Niebuhr,  C ,  Einflüsse  oriental.  Politik 

in    Griechenland    im    6.    u.    5.    Jh. 

m  133 

—  Einflüsse  oriental.  Politik  auf  Grie- 
chenland im  6.  u.  5.  Jh.  III  173 

Niese,    B.,   zur  Geschichte  Arkadiens 

ni  219 
Nikitsl<y,  A.,  delphisch-epigraph.  Studien 

III  88 

—  die  geograph.  Liste  der  delphischen 
Proxenoi  III  90 

—  Cbios  in  d.  delphischen  Amphik- 
tyonie  III  104 

Norden,    Ed.,    die   antike   Kunstprosa 

I  212 

Novak,  R.,  analecta  Tacitea  II  104 

Oehler,  J,  cz-ooix-cc.  III  71 

Olsen,   W.,   die   Schlacht   bei   Platäa 

III  174 
Osthoff,    H.,    etymolog.  Parerga  1  141 
Östbye,    F.,    die  Zahl  der  Bürger  von 

Athen  im  V.  Jahrb.  III  60 
Panske,    P.,    de  magistratibus  Atticis 

m71 
Passowicz,  P.,  de  Flori  codice  Craco- 

viensi  II  133 
Paton,  W.  R.,  a.  E.  Hicks,  the  inscrip- 

tions  of  Cos  III  94 
Paul,   L.,  Kaiser  Marcus  Salvius  Otho 

II  67 

Penndorf,    J.,    de   scribis  rei  publicae 

Atheniensium  III  69 
Perdrizet,  P ,  Labys  III  88 

—  sur  I'inscription  des  Labyades 
in  88 

Peter,  H.,  die  geschichtl.  Literatur  üb. 
die  röm.  Kaiserzeit  II  4 


310 


Register. 


Peter,  H.,  die  geschieht).  Literatur  üb. 
d.  rora    Kaiserzeit  II  127  u.  ff. 

Petit- Dutaiilis,  de  Lacedaemoniorumrei 
publirae  supremis  temporibus  HI  .36 

Pöhlmann,  R. ,  Geschichte  d  antiken 
Kommunismus  u.  Sozialismus  III  2(1. 
2S8 

Polaschek,  A.,  z.  Erkenntnis  der  Par- 
tikeln «v  u.  xiv  I  122 

Pomtow,  H.,  die  deipbischen  Buleuten 
III  88 

—  z.  delphischen  Labyadenstein  III  88 

—  fasti  Delphici  II.  III  104 
Prasek,   z.   Geschichte    des  Altertums 

111   III  173 

—  die  Bedeutung  der  persischen  Mo- 
natsnamen III  173 

Prellwitz,   W. ,    etymolog.    Wörterbuch 

der  griech.  Sprache  I  130 
Purdie,  E.,  the  pirfective  „Aktionsart" 

in  Polybius  I  219 
Radermacher, L., griech  Sprachgebrauch 

I  226 

Badet,  6.,    de  coloniis  a  Macedoribus 

in  Asiam  eis  Taurum  reductis  III  96 
Ratnorino,  F.,  Tacito  nelia  storia  della 

coltura  II  17 
Rangen,  J.,  das  Archontat  u.  Aristoteles' 

Staatsverfassung  der  Athener  III  68 
Reichelt,  C,    de  dativis  in  -oi;  et  -r/.; 

(-«'.;)  exeuntibus  I  72 
Reinhold,  G.,   das  Geschichtswerk  des 

Livius  als  Quelle  späterer  Historiker 

II  127 

Reissinger,  K.,  die  Präpositionen  ob  u. 

propter  II  88 
Reitzensteln,  R.,  zur  Textgeschichte  der 

Germania  11  117 
Renel,  Ch.,  compositorum  Graec.  quo- 

rum  in  XI  prior  pars  exit  de  orifiine 

et  usu  I  53 
Reuss,  ..Fr.,    Arrian  u.  Appian  III  261 

—  z.  Überlieferung  der  Geschichte 
Alexanders  d.  Gr.  III  261 

Ridgeway,  W.,  the  early  age  of  Greece.  I. 

HI  116 
ROhl,  Fr.,  zu  Tacitus  II  37 
Sanctis,  6.  de,  the  Startus  in  the  Cre- 

tan  inscriptions  IH  37 

—  'ATl>i:  III  133 

Scala,    R.  v.,    die  Staatsverträge    des 

Altertums.    1.    III  113 
Schmid,  W  ,    der  Atticismus  in  seinen 

Hauptvertretern  I  17 

—  kulturgeschichtl.  Zusammenhang  u. 
Bedeutung  der  griech.  Renaissance 
in  der  Römerzeit  1  211 

Schmidt,  H  ,  de  duali  Graecorum  et 
emoriente  et  reviviscente  I  74 


Schmidt,  J.,  zur  Geschichte  der  Lang- 
diphtonge  im  Griech.  I  29 

—  die  griech.  Praesentia  auf  nxm  I  83 

—  üb.  d.  gnomischen  Aorist  der 
Griechen  I  108 

Schmitthenner,  G.,  de  coronarum  apud 
AtLenienses  honoribus  III  76 

Schoefter,  V.  v.,  Bürgerschalt  u.  Volks- 
versammlung in  Athen.    I.    III  50 

—  vv/ov-i  III  68 

—  Delos  IH  91 

—  oi  Ziv.o.  III  218 

Schoemann,  J.,  griech.  Altertümer.  4.  A. 
V.  H.  J.  Lipsius.    Bd.  I.     III  3 

Bd.  II.     HI  3.  5 

Schubert,  R.,  der  Tod  des  Kleitos  III  262 

—  die  Porosschlacht  III  262 
Schulten,  A.,    die  makedon.  Militärko- 
lonien III  96 

Schuize,  G.,  quaestiones  epicae  I  12 

—  orthographica  I  23 

—  W.,  graeca  latina  I  226 

Schwab,  0.,  histor.  Syntax  der  griech. 

Komparation  in  der  klass,  Literatur 

198 
Schwabe,  Tacitus  II  23 
Schwartz.  E.,  Aristobulos,  Arrian,  Cur- 

tius  Ruf  US  III  261 

—  Tyrtäos  III  133 

Schweizer,    E.,  Grammatik  der  perga- 

uien.  Inschriften  I  237 
Schwyzer,    E.,    die  Vulgärsprache  der 

attischen  Fluchtafeln  I  15.  245 

—  die  Weltsprachen  des  Altertums 
I  188 

Searles,  H  M.,  a  lexicograph.  study  of 
the  Greek  inscriptions  I  135 

Seebohm,  H.  E,,  on  the  structure  of 
Greek  tribal  society  III  14 

Seeck,  0  ,  die  Entwickelung  der  antiken 
Geschichtschreibung  II  16 

—  der  Anfang  von  Tacitus'  Historien 
H  35 

Seeliger,  K.,  Messenia  u.  d.  Achäische 

Bund  III  87 
Selivanov,   S.,    u.    F.  Hiller  von  Gaert« 

ringen,  die  Zahl  der  rhodischen  Pry- 

tanen  HI  92 
Semenoff,  A.,  antiquitates  iuris  public! 

Oretensium  III  3(1 
Seymour,    D.,    slavery    a.  servitude  in 

Homer  HI  29 
Shebelew,  S.,  z.  Gesch.  der  Bildung  der 

nachkleistheu.  Phylen  III  51 
Siiverio,  0.,  z.  Geschichte  der  attischen 

Staatssklaven  IH  63 
Soiari,  A.,  la  navarchia  a  Sparta  e  la 

lista  dei  navarohi  III  34 


Register. 


311 


Solmsen,  F.,  zur  griech.  Laut-  u.  Vers- 
lehre 112 

—  d.  Wesen  des  griech.  Akzents  I  45 
Sorn,  J  ,  zum  über  memorialis  des  L. 

Ampelius  II  l"2ii 

—  weitere  Beiträge  zur  Syntax  des 
M.  Junianus  .Tustinus  II  137 

Spengel,  A.,  zur  Geschichte  des  Kaisers 

Tiberius  II  43 
Stern.  E.  v  ,  z.  Entstehung  u.  ursprüngl. 

Bedeutung    des  Ephorats   in  Sparta 

III  33 
Stolz.  Fr,  z.  Doppt'laugmentierung  der 

griech.  Verba  I  80 
Stratton,  Ä.  W.,  history  of  Greek  noun- 

forrnntion  I  (i3 
Stuart-Jones.  H.,  the  division  of  syllabies 

in  Greek  I  49 
Sütterlin,  L.,  z.  Geschichte  der  Verba 

demonstrativa    im  Altgriech.  I.  I  78 
Swete,    H.  B.,    an  introduetion  in  the 

Old  Testament  in  Greek  I  20fi 
Swoboda,  H.,  die  griech.  Volksbeschlüsse 

III  18 

—  d.  hellen.  Bund  d.  J.  371  v.  Chr. 
III  106 

—  griech.  Geschichte  III  133 

—  Dareios  u.  Datis  III  173 

—  zur  Geschichte  des  Epaminondas 
111  219 

Szanto,  E.,  d.  griech.  Bürgerrecht  III  9 

—  die  griech.  Phylen  III  14 

—  zur  drakon.  Gesetzgebung  III  41 

—  zum    attischen  Budgetrecht    III  79 

—  Anleiben  griech.  Staaten  III  80 

—  Bronzfinschrift  aus  Olympia  III  8G 
Tacitus,  Germania,  Agricola.  Dialogus 

de  oratoribus,  hrsg.  v.  R.  Novak 
II  112 

Teify,  J.,  Chronologie  u.  Topographie 
der  griech.  Aussprache  I  21 

Teusch,  Th.,  de  sortitione  iudicum  apud 
Athenienses  III  84 

Tha'heim.  Th ,  zu  den  griech.  Rechts- 
altertümern III  57 

—  CZ,03'.o;    -riyj'^  III  73 

—  rpjv.a  III  75 

Thiele,  G.,  ionisch-attische  Studien  1 143 
Thumb,  A ,  die  griech.  Lehnwörter  im 
Armenischen  T  26 

—  die  griech.  Sprache  im  Zeitalter 
des  Hellenismus  I  156 

—  zur  Aussprache  des  Griechischen 
I  194 

—  die  sprachgeschichtl.  Stellung  des 
biblischen  Griechisch  I  201 

Thumser  N.,  'E(pvr;3'.c,  ^u^rjjM,  i-wi- 
■y.o.T.u  III  57 


Toeptfer,  ].,  die  Gesetzgebung  des  Ly- 
kurgos  III  32 

—  d.  Liste  d.  athen.  Köniere  III  40 

—  die  Anfänge  der  athen.  Demokratie 
III  43 

—  die  Söhne    des   Pei.sistratos    TU  44 

—  das    attische  Gemeindebuch   III  59 
Torp,  A.,    den  graeske  Nominalflexion 

sammenlignende    fremstillet   i    sine 
Ilovedtraek  I  69 

T3£fji--/;;,  T.  N.,  -ä  aüvi>=;cz  x^;  'E>.- 
>.r,v>x-^;  -f'/.öjaari;  I  51 

Vandaele,  H,  l'optatif  grec  I  111 
Viertel,    A.,    Tiberius    u.   Germanikus 

1139 
VIeze.  H.,  Domitians  Chattenkrieg  im 

Lichte    der   Ergebnisse    der  Limes- 
forsch  ung  II  69 
Völker.  F.,  papyrorum  graecorum  syn- 

taxis  specimen  I  233 
Vürtheim,  J.,  de  Heliaeis  Atheniensibus 

III  84 
Wachsmuth,  zu  griech  Historikern  III 173 
Wackermann,0.,  der  Geschichtsschreiber 

Tacitus  II  21 
Wackernagel,   J.,    zur  griech.  Sprach- 

kunde  I  11 

—  zur  Lehre   v.   griech.  Akzent   I  46 

—  zur  griech.  Nominalflexion  I  70 

—  üb.  e.  Gesetz  der  idg.  Wortstellung 
I  131 

Ward.   CO.,  a  history  of  the  ancient 

working  people  III  26 
Warzynski,  St.,  de  servis  Atheniensium 

publicis  III  62 

—  die  rechtl.  Stellung  der  Staats- 
sklaven in  Athen  III  62 

Weber,    M.,    griecii.   Agrargeschichte 

ni  288 
Weiske.  A ,  zum  Handwörterbuche  der 

griech.  Sprache  l  134 
Wendland,    P.,   die   Berechtigung    des 

Namens  xo'.v/j  I  163 

—  zu  Theophrasts  Charakteren  I  246 
Wernicke,  K.,  die  Polizeiwache  auf  der 

Burg  von  Athen  III  63 
Whibley,    L,    Greek  oligarcbies  III  17 

—  political    parties    in  Athen  III  114 
Wide,  S.,  geometr.  Vasen  III  116 
Wilamowitz-Moellendorff,   U   v.,    Asia- 

nismus  u.  Attizismus  I  212 

—  Aristoteles  u.  Athen  III  39 

—  die  lebenslänglichen  Archonten 
Athens  III  40.  133 

Wilbrandt,  M.,  d.  polit.  u.  soziale  Be- 
deutung der  attischen  Geschlechter 
vor  Solon  III  52 


312 


Register. 


Wllcken,  Aitolia  III  108 

—  zu  denpseudo-aristotel.Oeconomica 
III  261 

Wilhelm,  A.,  der  älteste  attische  Volks- 
beschluss  III  133 

Wilisch,  zur  Geschichte  des  alten  Ko- 
rinth  III  133 

Willrich,  H.,  wer  Hess  König  Philipp 
ermorden?  III  261 

Wimmerer,  R.,  das  mediale  Futurum 
sonst  aktiver  Verba  im  Griech.  1 104 

Wölfflin,  Ed.,  zur  Komposition  der  Hi- 
storien des  Tacitus  II  56 

—  Plinius  u.  Cluvius  Rufus  II  62 

—  dasBreviariumdesFestusII13L  133 


Wölfflin,  Ed.,  zur  Latinität  der  Epitc 

Caesarum  II  141 
Wunderer,    C,    Polybios-Forschuni 

1248 
Wünsch,    R.,    zur  Textgeschichte    i 

Germania  II  115 
Zarncke,  E,,  die  Entstehung  der  grie 

Litteratursprachen  I  2 
Ziebitrth,  E.,  das  griech.  Vereinswes 

III  25 
Ziehen,    L.,    d.    drakont.    Verfassu 

III  41 
—  die  drakont.  Gesetzgebung  III  1 
ZIngerle,    J.,    z.  Gesch.   d.    2.   ath« 

Bundes  III  106 


MIKIKI  •UOHtauatlHU-UTIfll-IIIB.LaMtFT,    •EriUlKHCN-ICMUlE    DU   ICTTC-VCKtint 


Register 
der  in  Band  87—122  erschieuenen  Berichte. 


Aristoteles,    ältere    Akademiker    und 

Peripatetiker  v.   F.  Susemihl    189-1 

88,  1-48. 
Bibelübersetzungen,    lateinische    v.    F. 

Corssen  bis  1899  101,  1-83. 
Bflhnenwesen    v.  E.  Bodensteiner  1885 

-95  GO.  1—70.    106,  113-167. 
Caesar  v.  J.  Heller  1893/94  89,   86— 

119.  —  1895-97  97,  220-226. 
Catull  V.  H.Magnus  1887-96  97,  190 

—219.     101,  84—141. 
Christlich-lateinische  Poesie  v.  K.  Wey- 

man  1894—97  93,  165-219.  —  1897 

-99  105,  54—87. 
Cicero,  Briefe  v.  L.  Gurlitt  1885(95)— 

97  97,    1—60.    —    1898—1900  105, 

145-202.  —  1900/01  109,  1-16. 
Cicero,   philosophische  Schriften  v.  H. 

Deiter  1894-97  101,  148-164. 
Cicero,    Reden  v.  G.  Landgraf  1893— 

95  89,  62-85.  —  1896-1902    113, 

74-88. 
Cicero,  rhetorische  Schriften  v.  G.Ammon 

1893—1900  105,  203-258.  —  1900 

—  1902  117,  138-154. 

Dialekte,   griechische   v.  W.  Prellwitz 

1882-99  lOG,  70-112. 
—  italische  v.  G.  Herbig  1894-97106, 

1-69. 
Geographie  des  Nordens   und  Westens 

V.  D.  Detlefsen  1881—93  90,  152— 

279. 
Geschichte,  griechische  v.  Tb.  Lenschau 

1899—1902  122,  116-304. 
Geschichte,  römische  v.  L.  Hüter  1889 

—93    94,    1-277.    v.   L.  Holzapfel 

1894-1900   114,    1—25.     188—217. 

118,  177-211. 
Geschichtsschreiber,   spätere   römische 

V.  Tb.  Opitz  1891-96  97,  81—125. 

—  1897—1902  121,  126—142. 


Grammatiker,  lateinische,  Scbolien  und 

Glossare  v.  P.  Wessner  1891—1901 

113,  113—227. 
Herodot    v.   J.  Sitzler   1895-97   100, 

1-32.  —  1898-1901  117,  74-109. 
Hesiodor  v.  A.  Rzach    1884-98  100, 

92-170. 
Homer,  höhere  Kritik  v.  P.  Cauer  1888 

-1901  112,  1—131. 
HotTier,  Realien  v.  A.  Gemoll  1885—95 

92,  233-276.    —    1896-1902   117, 

1-46. 
Horaz,    v.  J.  Haeussner  1892-96    93, 

1-76.    —    1897-99  105,    88—144. 
Juristen,   Feldmesser  und   scr.    de   re 

rustica    v.   W.   Kalb    1891  —  95    89, 

206-312.- 1896-1900109,  17-85. 
Komoedie,  griechische  v.  K.  v.  Holzinger 

1892-1901  liüj  159-328. 
Lexikographie,  lateinische  v.  K.  Wagener 

1886—99  114,  83—187. 
Litteratur,  griechische  v.  K.  Haeberlin 

1894-99  106,  234—289. 
Litteratur,  römische  v.  F.  Aly  1891—96 

98,  1—32. 
Livius   V.  F.  Fügner  1889-96  97,    61 

—  80.  —  1897-1900  105,  259—272. 
Lucrez    v.   A.   Brieger    1890—95    89, 

120-205.  —  1896-98  105,  1—53. 

—  189911900  109,  145-161. 
Lyriker,  griechische  v.  J.  Sitzler  1891 

—  94  92,   1—204.  —  1895-98  104, 
76-164. 

Mathematiker  und  Mechaniker,  grie- 
chische V.  W.  Schmidt  1890-1901 
108,  59-128. 

Metrik  v.  H.  Gleditsch  1892-97  102, 
1-64. 

Musik,  griechische  v.  K.  v.  Jan  1884 
-99  104,  1-75.  V.  E.  Graf  1899— 
1902  118,  212-235. 


314 


Register. 


Mythologie  v.  0.  Gruppe  1893—97  102, 

133-243. 
Naturgeschichte  usw.   v.  M.   Schmidt 

1891—96  90,  71—151.  v.  H.  Stadler 

1895—97  114,  26-82. 
Ovid   V.   R.  Ehwald   1894—1902   109, 

162-302. 
Palaeographie  und  Handschriftenkunde 

V.  W.  Weinberger  1874—96  98,  187 

—310.—  1897—1900106,  168-233. 
Papyrusforschung  v.P.  Viereck  bis  1870 

98, 135-186.  bis  1898102, 244-312. 
Phaedrus  und  Avienas  v.  H.  Draheim 

1895—98  101,  142-147. 
Philosophen    nacharistotelische   v.   K. 

Praechter  1889-95  96,  1—106.   — 

1896—99  108,  129-211. 
Philosophen,  vorsokratische  v.  F.  Lort- 

ziDg   1876—97  96,    156—276.     112, 

132-322.    116,  1-158. 
Philosophie,  jQdisch-hellenIstische  v.  P. 

Wendland  1889—98  98,  118—134. 
Pindar  v.  L.  Bornemann  1892-96  92, 

205-232.  —  1837-1900  104,    165 

—180.  —  1901/02  117,  110-137. 
Plastik  V.  B.  Graef  bis  1901 :  110,  1—50. 

111—165. 
PJinius  d.  J.  v.K.  Burkhard  1895—1901 

109,  303—308. 
Plutarch,  Moralia  v.  A.  Dyroff  1889-99 

108,  1-58. 

PrivataltertUmer,  griechische  v.H.BIüm- 

ner  1891—1900  110,  66-110. 
Quintilian   v.   G.   Ammon   1888—1901 

109,  86—144. 

—  Declamationen  (und  Calpurnius)  v. 
G.Lehnert  1888-1901  113,  89—112. 


Redner,  römische  v.  K.  Burkhard  1891 

—96  93,   77-115.   —    1897-1902 

117,  155—180. 
Rhodos  V.  Hiller  v.  Gaertringen  HO, 

51—65. 
Saoralaltertflmer,   griechische  v.  H.  v. 

Prott  bis  1899  102,  65-132. 
Sallust  V.  B.  Maurenbrecher  1878—98 

101,  165-248.    113,  228-272. 
Sophistik,  zweite  v.  W.  Schmid  1894— 

1900  108,  212-280. 
Sprache,   griechische   v.  E.  Schwyzer 

1890—1903  120,  1—152.     Koine  v. 

St.  Witkowski  1898-1902  120,  153 

—256. 
StaatsaltertQmer,  griechische  v.J.  Dehler 

1893—1902  122,  1-115. 

—  römische  v.  W.  Liebenam  1889 

—  1901  118  1-148. 

Tacllus  V.  G.  Helmreich  1892—95   89 

1-62.    V.  G.  Wolff  1896-1903  121, 

1—125. 
Terenz  v.  F.  Schlce  1889—96  93,  116 

—164. 
Thera   v.    Hiller    v.    Gärtringen   118, 

149-176. 
Thukydides  v.  Widmann  1888-99  100, 

171—216. 
Tragiker,    griechische  v.  N.  Wecklein 

1892-95  88,    49-125.  —    1896/97 

96,  107-155. 
Valerlus  Maximus  v.  W.  Heraeus  1391 

97  97    i2Q 147. 

Vergll   v.  R.  Helm    1892-96  97,    148 

—  189.  —  1897—1901  113,  1—73. 
Vulgär-    und    Spätlatein    v.   P.    Geyer 

1891—97  98,  33-117. 
Xenophon  v.  E.  Richter  1889-98  100, 
33-91.  —  1899—1902  117,  47—73. 


►o;f:> 


PA  Jahresbericht  über  die  Fort- 

3  schritte  der  klassischen 

J3  Altertumswissenschaft 

Bd. 120-122 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY